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Full text of "Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen"

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http://www.archive.org/details/dieanalysederemp1902mach 


Die 


Analyse  der  Empfindungen 


und  das 


Verhältniss  des  Physischen  zum  Psychischen 


Dr.  E.  Mach, 

em.  Professor  an  der  Universität  Wien. 


Mit  36  Abbildungen. 


Dritte  vermehrte  Auflage. 


Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 
1902. 


Von  demselben  Verfasser  sind   ferner  erschienen: 

Die  Geschichte  und  die  Wurzel  des  Satzes 

von  der 

Erhaltung  der  Arbeit. 

Prag.     Calve.     1872.     8*^,  58  Seiten  mit  8  Holzschnitten, 


Optisch-akustische  Versuche. 

Die  spectrale  und  stroboskopische  Untersuchimg  tönender  Kö 

Prag.     Calve.      1873.     8^,   iio  S.  mit  39  Holzschnitten. 

Grrundlmieii  der  Lehre 

von  den 

Bewegungsempfindungen 

Leipzig.     Engelmann.     1875.     8",     127    S.    mit    18    Holzschn 

Die 

jyiechanilv  in  ihrer  Entwiekelung. 

Historisch-kritisch  dargestellt. 
Leipzig.    Brockhaus.   4.  Aufl.    igoi.    546  S.  mit  257  Abbildur 


Leitfaden  der  Physik 

für  Studierende. 

Prag.    Tempsky.    2.  Aufl.    i8gi.     8^,  24g  S.  mit  328  Abbildur 

Populärwissensehaftliehe  Vorlesunge 

J>eipzig.     J.  A.  Barth.      2.  Aufl.      i8g7,   8  <>,  335   S. 

Die  Prinzipien  der  Wärmelehn 

Leipzig.     J.  A.  Barth.     2.  Aufl.      igoo.     8",  484  S. 


Die 


Analyse  der  Empfindungen 


und  das 


Verhältniss  des  Physischen  zum  Psychischen 


Dr.  E.  Mach, 

em.  Professor  an  der  Universität  Wien. 


Mit  36  Abbildungen. 


Dritte  vermehrte  Auflage. 


f 


1 


Verlag  von  Gustav  Fischer  in  Jena. 

1902. 


Alle  Rechte  vorbehalten. 


HERRN  KARL  PEARSON  MA.  FRS. 

Professor  der  angewandten  Mathematik  und  Mechanik  am  University  College 

in  London 


als  Zeichen  der  Sympathie  und  Hochachtung 


gewidmet  vom  Verfasser. 


Vorwort  zur  ersten  Auflage. 

Durch  die  tiefe  Ueberzeugung',  dass  die  Gesammtwissenschaft 
überhaupt,  und  die  Physik  insbesondere,  die  nächsten  grossen 
Aufklärungen  über  ihre  Grundlagen  von  der  Biologie  und  zwar 
von  der  Analyse  der  Sinnesempfindung'en  zu  erwarten  hat,  bin 
ich  wiederholt  auf  dieses  Gebiet  geführt  worden. 

Freilich  habe  ich  nur  wenig  zur  Erreichung  dieses  Zieles  bei- 
tragen können.  Schon  dadurch,  dass  ich  meine  Untersuchungen 
nur  gelegentlich,  nicht  als  eigentlichen  Beruf,  betreiben,  und  oft 
nur  nach  langen  Unterbrechungen  wieder  aufnehmen  konnte, 
mussten  meine  zerstreuten  Publicationen  an  Gewicht  verlieren, 
vielleicht  mir  sogar  den  stillen  Vorwurf  der  Zersplitterung  ein- 
tragen. Um  so  mehr  bin  ich  jenen  Forschern,  welche  wie  E.  Hering, 
V.  Hensen,  W.  Frey  er  u.  A.,  theils  auf  den  sachlichen  Inhalt, 
theils  auf  die  methodologischen  iVusführungen  meiner  Arbeiten 
Rücksicht  genommen  haben,  zu  besonderem  Dank  verpflichtet. 

Vielleicht  erscheint  nun  die  vorliegende  zusammenfassende 
und  erg-änzende  Darstellung-  in  einem  etwas  günstigem  Licht, 
indem  sie  deutlich  macht,  dass  es  überall  dasselbe  Problem 
war,  welches  mir  aus  den  vielen  einzelnen  untersuchten  That- 
sachen  entgegengeblickt  hat.  Obwohl  ich  durchaus  nicht  auf  den 
Namen  eines  Physiologen,  noch  weniger  auf  jenen  eines  Philo- 
sophen Anspruch  machen  kann,  hoffe  ich  doch,  dass  die  lediglich 
mit  dem  lebhaften  Wunsche  nach  Selbstbelehrung  unternommene 


—     VI     — 

Arbeit  eines  über  die  conventionellen  Fachgrenzen  ausblickenden 
Physikers  auch  für  Andere  niclit  ganz  ohne  Nutzen  sein  wird, 
selbst  wenn  ich  nicht  überall  das  Richtige  getroffen  haben 
sollte. 

Die  stärkste  Anregung-  erhielt  vor  25  Jahren  meine  natür- 
liche Neigung  für  die  hier  behandelten  Fragen  durch  Fechner's 
„Elemente  der  Psychophysik"  (Leipzig  1860),  und  am  meisten 
gefördert  wurde  ich  durch  Hering's  J^ösung  zweier  in  den 
folgenden  Blättern  (S.  55  und  S.  126)  näher  bezeichneter  Probleme. 

Lesern,  welche  aus  irgend  welchen  Gründen  allgemeineren 
Erörterungen  g^ern  aus  dem  Wege  gehen,  empfehle  ich,  das  erste 
und  letzte  Kapitel  zu  überschlagen.  Für  mich  hängt  allerdings 
die  Ansicht  des  Ganzen  und  die  Ansicht  des  Einzelnen  so  zu- 
sammen, dass  ich  beide  nur  schwer  zu  trennen   vermöchte. 

Prag  im  November   1885. 

D.  V. 


Vorwort  zur  zweiten  Auflage. 


Diese  Schrift,  welche  bestimmt  war  als  Apergu  zu  wirken, 
und  welche  als  solches  wohl  auch  gewirkt  hat,  wie  ich  aus  den 
gelegentlichen  Aeusserungen  von  Avenarius,  LL  Cornelius, 
James,  Külpe,  Loeb,  Pearson,  Petzoldt,  W^ill}''  u.  A.  zu 
entnehmen  glaube,  erscheint  nun  nach  14  Jahren  in  neuer  Auf- 
lage. Es  ist  dies  ein  etwas  gewagtes  LInternehmen.  Denn  es 
verträgt  sich  nicht  mit  dem  Character  der  Schrift,  dieselbe  durch 
P2infügung  vieler  experimenteller  Einzeluntersuchungen    und   aus- 


—     VII     — 

führliche  Berücksichtigung  der  seither  erschienenen  Litteratur  zu 
einem  dicken  Buche  anschwellen  zu  lassen.  Ich  möchte  jedoch 
diese  letzte  Geleg-enheit  nicht  vorübergehen  lassen,  ohne  über  den 
mir  wichtigen  Gegenstand  noch  einmal  das  Wort  zu  ergreifen. 
Deshalb  habe  ich  die  nothwendigsten  Erg'änzungen  und  Er- 
läuterung^en,  meist  in  Form  kurzer  eingeschalteter  Capitel,  ein- 
gefügt. Das  eine  derselben,  das  zweite,  habe  ich  schon  in  die 
1897    erschienene    engiische  Ausgabe    des  Buches    aufgenommen. 

Meinen  erkenntnisskritisch-physikalischen  und  den  vorliegen- 
den sinnesphysiologischen  Versuchen  liegt  dieselbe  Ansicht  zu 
Grunde,  dass  alles  Metaphysische  als  müssig  und  die 
Oekonomie  der  Wissenschaft  störend  zu  eliminiren  sei. 
Wenn  ich  nun  hier  auf  abweichende  Ansichten  nicht  ausführlich 
kritisch  und  polemisch  eingehe,  so  geschieht  dies  wahrlich  nicht 
aus  Missachtung'  derselben,  sondern  in  der  Ueberzeug'ung,  dass 
derartig-e  Fragen  nicht  durch  Discussionen  und  dialectische  Ge- 
fechte ausgetragen  werden.  Fördernd  ist  hier  nur,  wenn  man 
einen  halben  Gedanken,  oder  einen  solchen  von  paradoxem  Ge- 
halt, jahrelang  geduldig  mit  sich  herum  trägt  und  sich  redlich 
bemüht,  denselben  zu  ergänzen,  beziehungsweise  das  Paradoxe 
abzustreifen.  Leser,  welche  nach  Ueberfliegen  der  ersten  Seiten 
das  Buch  weglegen,  weil  sie  nach  ihrer  Ueberzeugung  nicht 
weiter  zu  folgen  vermög"en,  werden  sich  eben  nicht  anders  ver- 
halten, als  ich  selbst  es  nothgedrungen  mitunter  thun  musste. 

Diese  Schrift  hat  in  ihrer  älteren  Form  vielfache  freundliche 
Aufnahme,  aber  auch  starken  Widerspruch  gefunden.  Für  Leser, 
welche  auf  den  Inhalt  näher  eingehen  wollen,  möchte  es  von 
Belang  sein  zu  wissen,  dass  Willy  in  seiner  eben  erschienenen 
vSchrift  ,,Die  Krisis  in  der  Psychologie"  (Leipzig  1899),  die  einen 
dem  meinigen  nahe  verwandten  Standpunkt  einnimmt,  in  Bezug 
auf  viele  Einzelheiten  meinen  Ansichten  entgegentritt. 

Wien  im  April    1900. 

D.  V. 


—     YIII     — 

Vorwort  zur  dritten  Auflage. 

Gegen  alle  Erwartung  war  die  zweite  Auflage  in  einigen 
Monaten  vergriffen.  Ich  habe  nicht  versäumt  hinzuzufügen,  was  zur 
Verdeutlichung  meiner  Ansichten  beitragen  kann,  ohne  übrigens 
den  Grundtext  von  1886  im  Wesentlichen  zu  ändern.  Nur  zwei 
Stellen,  Absatz  7,  S.  11  und  Absatz  11,  S.  15  der  zweiten  Auf- 
lage erhielten  eine  schärfere  Fassung.  Es  hat  nämlich  Herr 
Dr.  A.  Lampa,  Privatdocent  der  Physik  an  hiesiger  Universität 
im  Gespräche  mit  verschiedenen  Lesern  die  Erfahrung  gemacht, 
dass  diese  Stellen  oft  in  einseitig  idealistischem  Sinne  verstanden 
wurden,  was  keineswegs  in  meiner  Intention  lag.  Ich  bin  Herrn 
Dr.  Lampa  für  seine  freundlichen  Mittheilungen  zu  aufrichtigem 
Dank  verpflichtet.  Die  Capitel  IX  und  XV,  welche  in  der 
zweiten  Auflage  Angedeutetes  weiter  ausführen,  sind  neu  hinzu- 
gekommen. 

Wenn  nicht  alle  Anzeichen  trügen,  so  stehe  ich  mit  meinen 
Ansichten  doch  bei  weitem  nicht  mehr  so  isolirt  da,  als  es  noch 
vor  wenigen  Jahren  der  Fall  war.  Neben  der  Schule  von 
Avenarius  finden  sich  doch  auch  jüngere  Forscher,  wie 
H.  Gomperz,  welche  sich  auf  ihren  eigenen  Wegen  annähern. 
Die  übrig  bleibenden  Differenzen  scheinen  mir  nicht  unausgleich- 
bar.  Doch  wäre  es  verfrüht,  über  dieselben  jetzt  schon  zu  discu- 
tiren.  „But  the  question  is  one  in  v^^hich  it  is  peculiarly  difficult 
to  make  out  precisely  what  another  man  means,  and  even  what 
one  means  one's  seif".  So  spricht  mit  köstlichem  Humor  der 
Mathematiker  W.  K.  Clifford  (On  the  nature  of  things-in- 
themselves,  Lectures,  II,  p.  88),  ein  Mann,  dessen  Forschungsrich- 
tung der  meinigen  recht  nahe  liegt. 

Wien  im   November    lyoi. 

E.  Mach. 


Inhalt 


Seite 

I.   Antimetaphysische  Vorbemerkungen i 

■   II.   Ueber  vorgefasste   Meinvmgen 30 

III.  Mein   Verhältniss   zu  R.   Avenarius 37 

IV.  Die  Hauptgesichtspunkte  für  die   Untersuchung  der  Sinne     .  46 
V.   Physik  und  Biologie.      Causalität  und  Teleologie     ....  66 

VI.  Die  Raumempfindungen  des  Auges 80 

VII.  Weitere  Untersuchungen  der  Raumempfindungen    ....  97 

VIII.  Der  Wille 127 

IX.   Eine  biologisch-teleologische   Betrachtung  über  den   Raum     .  134 
X.   Beziehungen  der  Gesichtsempfindungen  zu  einander  und  zu 

anderen  psychischen  Elementen 146 

XI.  Empfindung,  Gedächtniss  und  Association 177 

XII.   Die  Zeitempfindung 185 

XIII.  Die  Tonempfindungen  ...., 198 

XIV.  Einfluss    der   vorausgehenden   Untersuchungen    auf    die  Auf- 

fassung der  Physik 235 

XV.  Die  Aufnahme  der  hier  dargelegten  Ansichten 271 

Sach-Register 282 

Namens-Register 285 


L  Antimetaphysische  Vorbemerkungen. 


Die  grossen  Erfolge,  welche  die  physikalische  Forschung  in 
den  verflossenen  Jahrhunderten  nicht  nur  auf  eigenem  Gebiet, 
sondern  auch  durch  Hilfeleistung  in  dem  Bereiche  anderer  Wissen- 
schaften errungen  hat,  bringen  es  mit  sich,  dass  physikalische 
Anschauungen  und  Methoden  überall  in  den  Vordergrund  treten, 
und  dass  an  die  Anwendung  derselben  die  höchsten  Erwartungen 
geknüpft  werden.  Dem  entsprechend  hat  auch  die  Physiologie 
der  Sinne,  die  von  Männern  wie  Goethe,  Schopenhauer  u.  A,, 
mit  grösstem  Erfolge  aber  von  Johannes  Müller  eingeschlagene 
Methode,  die  Empfindungen  an  sich  zu  untersuchen,  allmälig 
verlassend,  fast  ausschliesslich  einen  physikalischen  Character  an- 
genommen. Diese  Wendung  muss  uns  als  eine  nicht  ganz  zweck- 
entsprechende erscheinen,  wenn  wir  bedenken,  dass  die  Physik 
trotz  ihrer  bedeutenden  Entwicklung  doch  nur  ein  Theil  eines 
grösseren  Gesammtwissens  ist,  und  mit  ihren  für  einseitige 
Zwecke  geschaffenen  einseitigen  intellectuellen  Mitteln  diesen 
Stoff  nicht  zu  erschöpfen  vermag.  Ohne  auf  die  Unterstützung 
der  Physik  zu  verzichten,  kann  die  Physiologie  der  Sinne  nicht 
nur  ihre  eigenthümliche  Entwicklung  fortsetzen,  sondern  auch  der 
Physik  selbst  noch  kräftige  Hilfe  leisten.  Folgende  einfache  Be- 
trachtung mag  dazu  dienen,  dies  Verhältniss  klar  zu  legen. 

2. 

Farben,  Töne,  Wärmen,  Drücke,  Räume,  Zeiten  u.  s.  w.  sind 
in  mannigfaltiger  Weise  miteinander  verknüpft,  und  an  dieselben 

Mach,  Analyse.    3.  Aufl.  1 


sind  Stimmungen,  Gefühle  und  Willen  gebunden.  Aus  diesem 
Gewebe  tritt  das  relativ  Festere  und  Beständigere  hervor,  es  prägt 
sich  dem  Gedächtnisse  ein,  und  drückt  sich  in  der  Sprache  aus. 
Als  relativ  beständiger  zeigen  sich  zunächst  räumlich  und  zeitlich 
verknüpfte  Complexe  von  Farben,  Tönen,  Drücken  u.  s.  w.,  die 
desshalb  besondere  Namen  erhalten,  und  als  Körper  bezeichnet 
werden.     Absolut  beständig  sind  solche  Complexe  keineswegs. 

Mein  Tisch  ist  bald  heller,  bald  dunkler  beleuchtet,  kann 
wärmer  und  kälter  sein.  Er  kann  einen  Tintenfleck  erhalten. 
Ein  Fuss  kann  brechen.  Er  kann  reparirt,  polirt,  Theil  für  Theil 
ersetzt  werden.  Er  bleibt  für  mich  doch  der  Tisch  an  dem  ich 
täglich  schreibe. 

Mein  Freund  kann  einen  andern  Rock  anziehen.  Sein  Ge- 
sicht kann  ernst  und  heiter  werden.  Seine  Gesichtsfarbe  kann 
durch  Beleuchtung  oder  Affecte  sich  ändern.  Seine  Gestalt  kann 
durch  Bewegung  oder  dauernd  alterirt  werden.  Die  Summe  des 
Beständigen  bleibt  aber  den  allmälig'en  Veränderungen  gegenüber 
doch  immer  so  gross,  dass  diese  zurücktreten.  Es  ist  derselbe 
Freund  mit  dem  ich  täglich  meinen  Spaziergang  mache. 

Mein  Rock  kann  einen  Fleck,  ein  Loch  erhalten.  Schon  der 
Ausdruck  zeigt,  dass  es  auf  eine  Summe  von  Beständigem  an- 
kommt, welchem  das  Neue  hinzugefügt,  von  welchem  das  Fehlende 
nachträglich  in  Abzug  gebracht  wird. 

Die  grössere  Geläufigkeit,  das  Uebergewicht  des  Beständigen 
gegenüber  dem  Veränderlichen  drängt  zu  der  theils  instinctiven 
theils  willkürlichen  und  bewussten  Oekonomie  des  Vorstellens  und 
der  Bezeichnung,  welche  sich  in  dem  gewöhnlichen  Denken  und 
Sprechen  äussert.  Was  auf  einmal  vorgestellt  wird,  erhält  eine 
Bezeichnung,  einen  Namen. 

Als  relativ  beständig  zeigt  sich  ferner  der  an  einen  be- 
sondern Körper  (den  Leib)  gebundene  Complex  von  Erinnerungen, 
Stimmungen,  Gefühlen,  welcher  als  Ich  bezeichnet  wird.  Ich 
kann  mit  diesem  oder  jenem  Ding  beschäftigt,  ruhig  und  heiter 
oder  aufgebracht  und  verstimmt  sein.  Doch  bleibt  (pathologische 
Fälle  abgerechnet)  genug  Beständiges  übrig,  um  das  Ich  als  das- 


selbe  anzuerkennen.  Allerdings  ist  auch  das  Ich  nur  von  rela- 
tiver Beständigkeit.  Die  scheinbare  Beständigkeit  des  Ich  be- 
steht vorzüglich  nur  in  der  Continuität,  in  der  langsamen 
Aenderung.  Die  vielen  Gedanken  und  Pläne  von  gestern,  welche 
heute  fortgesetzt  werden,  an  welche  die  Umgebung  im  Wachen 
fortwährend  erinnert  (daher  das  Ich  im  Traume  sehr  verschwommen, 
verdoppelt  sein,  oder  ganz  fehlen  kann),  die  kleinen  Gewohn- 
heiten, die  sich  unbewusst  und  unwillkührlich  längere  Zeit  er- 
halten, machen  den  Grundstock  des  Ich  aus.  Grössere  Ver- 
schiedenheiten im  Ich  verschiedener  Menschen,  als  im  Laufe  der 
Jahre  in  einem  Menschen  eintreten,  kann  es  kaum  geben.  Wenn 
ich  mich  heute  meiner  frühen  Jugend  erinnere,  so  müsste  ich  den 
Knaben  (einzelne  wenige  Punkte  abgerechnet)  für  einen  Andern 
halten,  wenn  nicht  die  Kette  der  Erinnerungen  vorläge.  Schon 
manche  Schrift,  die  ich  selbst  vor  20  Jahren  verfasst,  macht  mir 
einen  höchst  fremden  Eindruck.  Die  sehr  allmälige  Aenderung 
des  Leibes  trägt  wohl  auch  zur  Beständigkeit  des  Ich  bei,  aber 
viel  weniger  als  man  glaubt.  Diese  Dinge  werden  noch  viel 
weniger  analysirt  und  beachtet  als  das  intellectuelle  und  das 
moralische  Ich.  Man  kennt  sich  persönlich  sehr  schlecht^).  Als 
ich  diese  Zeilen  schrieb  (1886),  war  mir  Ribot's  schönes  Buch 
„Les  maladies  de  la  personalite",  in  welcher  dieser  die  Wichtigkeit 
der  Gemeingefühle  für  die  Constitution  des  Ich  hervorhebt,  noch 
nicht  bekannt.     Ich  kann  seiner  Ansicht  nur  zustimmen. 

Das  Ich  ist  so  wenig  absolut  beständig  als  die  Körper.  Was 
wir  am  Tode  so  sehr  fürchten,  die  Vernichtung  der  Beständigkeit, 
das  tritt  irri  Leben  schon  in  reichlichem  Masse  ein.  Was  uns  das 
Werthvollste  ist,  bleibt  in  unzähligen  Exemplaren  erhalten,    oder 


I)  Als  junger  Menscli  erblickte  ich  einmal  auf  der  Strasse  ein  mir  höchst  un- 
angenehmes widerwärtiges  Gesicht  im  Profil.  Ich  erschrank  nicht  wenig ,  als  ich  er- 
kannte, dass  es  mein  eigenes  sei,  welches  ich  an  einer  Spiegelniederlage  vorbeigehend 
durch  zwei  gegen  einander  geneigte  Spiegel  wahrgenommen  hatte.  —  Ich  stieg  einmal 
nach  einer  anstrengenden  nächtlichen  Eisenbahnfahrt  sehr  ermüdet  in  einen  Omnibus, 
eben  als  von  der  andern  Seite  auch  ein  Mann  hereinkam.  „Was  steigt  doch  da  für 
ein  herabgekommener  Schulmeister  ein",  dachte  ich.  Ich  war  es  selbst,  denn  mir 
gegenüber  befand  sich  ein  grosser  Spiegel.  Der  Classenhabitus  war  mir  also  viel  ge- 
läufiger, als  mein  Specialhabitus. 

1* 


erhält  sich  bei  hervorragender  Besonderheit  in  der  Regel  von 
selbst.  Im  besten  Menschen  liegen  aber  individuelle  Züge,  um 
die  er  und  andere  nicht  zu  trauern  brauchen.  Ja  zeitweilig  kann 
der  Tod,  als  Befreiung  von  der  Individualität,  sogar  ein  ange- 
nehmer Gedanke  sein.  Das  physiologische  Sterben  wird  durch 
solche  Ueberlegungen  natürlich  nicht  erleichtert. 

Ist  die  erste  Orientirung  durch  Bildung  der  Substanzbegriffe 
„Körper",  „Ich"  (Materie,  Seele)  erfolgt,  so  drängt  der  Wille  zur 
genauem  Beachtung  der  Veränderungen  an  diesem  relativ 
Beständigen.  Das  Veränderliche  an  den  Körpern  und  am  Ich  ist 
es  eben,  was  den  Willen  i)  bewegt.  Erst  jetzt  treten  die  Bestand- 
theile  des  Comple^^es  als  Eigenschaften  desselben  hervor.  Eine 
Frucht  ist  süss;  sie  kann  aber  auch  bitter  sein.  Auch  andere 
Früchte  können  süss  sein.  Die  gesuchte  rothe  Farbe  kommt  an 
vielen  Körpern  vor.  Die  Nähe  mancher  Körper  ist  angenehm, 
jener  anderer  unangenehm.  So  erscheinen  nach  und  nach  ver- 
schiedene Complexe  aus  gemeinsamen  Bestandtheilen  zusammen- 
gesetzt. Von  den  Körpern  trennt  sich  das  Sichtbare,  Hörbare, 
Tastbare  ab.  Das  Sichtbare  löst  sich  in  Farbe  und  Gestalt.  In 
der  Mannigfaltigkeit  der  Farben  treten  wieder  einige  Bestand- 
theile  in  geringerer  Zahl  hervor,  die  Grundfarben  u.  s.  w.  Die 
Complexe  zerfallen  in  Elemente 2),  d.  h.  in  letzte  Bestandtheile, 
die  wir  bisher  nicht  weiter  zerlegen  konnten.  Die  Natur  dieser 
Elemente  bleibe  dahin  gestellt;  dieselbe  kann  durch  künftige 
Untersuchungen  aufgeklärt  werden. 

3- 

Die  zweckmässige  Gewohnheit,  das  Beständige  mit  einem 
Namen  zu  bezeichnen  und  ohne  jedesmalige  Analyse  der  Bestand- 
theile in  einen  Gedanken  zusammenzufassen,  kann  mit  dem  Be- 
streben  die   Bestandtheile   zu    sondern   in   einen    eigenthümlichen 


i)  Nicht  in  metaphysischem  Sinne  zu  nehmen. 

2)  Fasst  man  diesen  Vorgang  auch  als  Abstraction  auf,  so  verlieren  doch  hie- 
durch  die  Elemente,  wie  wir  sehen  werden,  nichts  von  ihrer  Bedeutung.  Vgl.  die 
s}jäteren  Ausfülirung(;n  über  den   Bcrjriff  im   vorletzten   Capitel. 


—      5      — 

Widerstreit  gerathen.  Das  dunkle  Bild  des  Beständigen,  welches 
sich  nicht  merklich  ändert,  wenn  ein  oder  der  andere  Bestand- 
theil  ausfällt,  scheint  etwas  für  sich  zu  sein.  Weil  man  jeden 
Bestandtheil  einzeln  wegnehmen  kann,  ohne  dass  dies  Bild  auf- 
hört die  Gesammtheit  zu  repräsentiren  und  wieder  erkannt 
zu  werden,  meint  man,  man  könnte  alle  wegnehmen  und  es 
bliebe  noch  etwas  übrig.  So  entsteht  in  natürlicher  Weise  der 
Anfangs  imponirende,  später  aber  als  ungeheuerlich  erkannte 
philosophische  Gedanke  eines  (von  seiner  „Erscheinung"  ver- 
schiedenen unerkennbaren)  Dinges  an  sich. 

Das  Ding,  der  Körper,  die  Materie  ist  nichts  ausser  dem 
Zusammenhang  der  Elemente,  der  Farben,  Töne  u.  s.  w.  ausser 
den  sogenannten  Merkmalen.  Das  vielgestaltige  vermeintliche 
philosophische  Problem  von  dem  einen  Ding  mit  seinen  vielen 
Merkmalen  entsteht  durch  das  Verkennen  des  Umstandes,  dass 
übersichtliches  Zusammenfassen  und  sorgfältiges  Trennen,  obwohl 
beide  temporär  berechtigt  und  zu  verschiedenen  Zwecken  er- 
spriesslich,  nicht  auf  einmal  geübt  werden  können.  Der  Körper 
ist  einer  und  unveränderlich,  so  lange  wir  nicht  nöthig  haben, 
auf  Einzelheiten  zu  achten.  So  ist  auch  die  Erde  oder  ein 
Billardballen  eine  Kugel,  so  bald  wir  von  allen  Abweichungen 
von  der  Kugelgestalt  absehen  wollen,  und  grössere  Genauigkeit 
unnöthig  ist.  W^erden  wir  aber  dazu  gedrängt,  Urographie 
oder  Mikroskopie  zu  treiben,  so  hören  beide  Körper  auf  Kugeln 
zu  sein. 

4- 
Der  Mensch  hat  vorzugsweise  die  Fähigkeit  sich  seinen 
Standpunkt  willkürlich  und  bewusst  zu  bestimmen.  Er  kann  jetzt 
von  den  imposantesten  Einzelnheiten  absehen,  und  sofort  wieder 
die  geringste  Kleinigkeit  beachten,  jetzt  die  stationäre  Strömung 
ohne  Rücksicht  auf  den  Inhalt  (ob  Wärme,  Electricität  oder 
Flüssigkeit)  betrachten,  und  dann  die  Breite  einer  Fraunhofer- 
schen  Linie  im  Spectum  schätzen;  er  kann  nach  Gutdünken  zu 
den  aUgemeinsten  Abstraktionen  sich  erheben,   oder  ins  Einzelne 


sich  vertiefen.  Das  Thier  besitzt  diese  Fähigkeit  in  viel  ge- 
ringerem Grade.  Es  steht  sich  nicht  auf  einen  Standpunkt,  es 
wird  meist  durch  die  Eindrücke  auf  denselben  gestellt.  Der 
Säugling,  welcher  den  Vater  mit  dem  Hut  nicht  erkennt,  der 
Hund,  der  durch  den  neuen  Rock  des  Herrn  irre  wird,  unter- 
liegen im  Widerstreit  der  Standpunkte.  Wer  wäre  nie  in  einem 
ähnlichen  Falle  unterlegen?  Auch  der  philosophirende  Mensch 
kann  gelegentlig  unterliegen,  wie  das  angeführte  wunderliche 
Problem  lehrt.  Besondere  Uumstände  scheinen  noch  für  die  Be- 
rechtigung des  erwähnten  Problems  zu  sprechen.  Farben,  Töne, 
Düfte  der  Körper  sind  flüchtig.  Es  bleibt  als  beharrlicher  nicht 
leicht  verschwindender  Kern  das  Tastbare  zurück,  welches  als 
Träger  der  daran  gebundenen  flüchtigeren  Eigenschaften  erscheint. 
Die  Gewohnheit  hält  nun  den  Gedanken  an  einen  solchen  Kern 
fest,  auch  wenn  sich  schon  die  Erkenntniss  Bahn  gebrochen  hat, 
dass  Sehen,  Hören,  Riechen  und  Tasten  durchaus  verwandt 
sind.  Hiezu  kommt  noch,  dass  dem  Räumlichen  und  Zeitlichen 
in  Folge  der  eigenthümlichen  grossen  Entwicklung  der  mecha- 
nischen Physik  eine  Art  höherer  Realität  gegenüber  den 
Farben,  Tönen,  Düften  zugeschrieben  wird.  Dem  entsprechend 
erscheint  das  zeitliche  und  räumliche  Band  von  Farben,  Tönen, 
Düften  realer  als  diese  selbst.  Die  Physiologie  der  Sinne  legt 
aber  klar,  dass  Räume  und  Zeiten  ebenso  gut  Empfindungen 
genannt    werden    können    als  Farben   und  Töne.     Hievon  später. 

5- 
Auch  das  Ich,  so  wie  das  Verhältniss  der  Körper  zum  Ich, 
gibt  Anlass  zum  Auftreten  analoger  Scheinprobleme,  deren  Kern 
im  Folgenden  kurz  angegeben  werden  sollen.  Die  zuvor  statu- 
irten  Elemente  wollen  wir  durch  die  Buchstaben  ABC.... 
KLM...  a  ß  y  .  .  .  andeuten.  Die  Complexe  von  Farben 
Tönen  u.  s.  w.,  welche  man  gewöhnlich  Körper  nennt,  bezeichnen 
wir  der  Deutlichkeit  wegen  mit  A,  B,  C  .  .  .  .  ,  den  Complex, 
der  unser  Leib  heisst,  und  der  ein  durch  Besonderheiten 
ausgezeichneter    Theil    der    ersteren    ist,    neuen    wir  K,  L, 


M den  Complex   von  Willen,   Erinnerungsbildern   u.  s.  w. 

stellen  wir  durch  a,  ß,  y  .  .  .  .  dar.  Gewöhnlich  wird  nun  der 
Complex  a,  /?,  7  .  .  .  K  L  M  .  .  .  als  Ich  dem  Complex  A  B 
C  ...  als  Körperwelt  gegenübergestellt;  zuweilen  wird  auch 
a  ß  y  ....  als  Ich,  K  L  M  ....  A  B  C  ....  als  Körperwelt 
zusammengefasst.  Zunächst  erscheint  A  B  C  .  .  .  .  als  unab- 
hängig vom  Ich  und  diesem  selbstständig  gegenüber  stehend. 
Diese  Unabhängigkeit  ist  nur  relativ,  und  hält  vor  gesteigerter 
Aufmerksamkeit  nicht  Stand.  In  dem  Complex  a  ß  y  ...  kann 
sich  allerdings  manches  ändern,  ohne  dass  an  ABC....  viel 
bemerklich  wird,  ebenso  umgekehrt.  Viele  Aenderungen  in 
a  ß  y  •  .  ■  gehen  aber  durch  Aenderungen  in  K  L  M  .  .  .  nach 
ABC....  über  und  umgekehrt.  (Wenn  z.  B.  lebhafte  Vor- 
stellungen in  Handlungen  ausbrechen,  oder  die  Umgebung  in 
unserm  Leib  merkliche  Aederungen  veranlasst.)  Hiebei  scheint 
K  L  M  .  .  .  .  mit  a  ß  y  .  .  .  .  und  auch  mit  A  B  C  .  .  .  . 
stärker  zusammenzuhängen,  als  diese  untereinander.  Diese  Ver- 
hältnisse finden  eben  in  dem  gewöhnlichen  Denken  und  Sprechen 
ihren  Ausdruck. 

Genau  genommen  zeigt  sich  aber,  dass  A  B  C  ....  immer 
durch  K  L  M  .  .  .  .  mitbestimmt  ist.  Ein  Würfel  wird,  wenn 
er  nahe,  gross,  wenn  er  fern,  klein,  mit  dem  rechten  Auge  anders 
als  mit  dem  linken,  gelegentlich  doppelt,  bei  geschlossenen  Augen 
gar  nicht  gesehen.  Die  Eigenschaften  eines  und  desselben  Körpers 
erscheinen  also  durch  den  Leib  modificirt,  sie  erscheinen  durch 
denselben  bedingt.  Wo  ist  denn  aber  derselbe  Körper,  der  so 
verschieden  erscheint?  Alles  was  man  sagen  kann  ist,  dass 
verschiedene  A  B  C  .  .  .  .  an  verschiedene  K  L  M  gebunden 
sindi). 


i)  Ich  habe  diesem  Gedanken  vor  langer  Zeit  (Vierteljahrsschrift  für  Psychiatrie, 
Leipzig  und  Neuwied  1868  „über  die  Abhängigkeit  der  Netzhautstellen  von  einander'') 
in  folgender  Weise  Ausdruck  gegeben:  „Der  Ausdruck  „Sinnestäuschung"  beweist, 
dass  man  sich  noch  nicht  recht  zum  Bewusstsein  gebracht,  oder  wenigstens  noch  nicht 
nöthig  gefunden  hat  dies  Bewusstsein  auch  in  der  Terminologie  zu  bekunden,  dass 
die  Sinne  weder  falsch  noch  richtig  zeigen.  Das  einzig  Richtige,  was  man 
von  den  Sinnesorganen  sagen  kann,  ist,  dass  sie  unter  verschiedenen  Umständen 


—       8      — 

Man  pflegt  in  der  populären  Denk-  und  Redeweise  der 
Wirklichkeit  den  Schein  gegenüber  zu  stellen.  Einen  Blei- 
stift, den  wir  in  der  Luft  vor  uns  halten,  sehen  wir  gerade; 
tauchen  wir  denselben  schief  ins  Wasser,  so  sehen  wir  ihn  geknickt. 
Man  sagt  nun  in  letzterem  Falle:  Der  Bleistift  scheint  geknickt, 
ist  aber  in  Wirklichkeit  gerade.  Was  berechtigt  uns  aber  eine 
Thatsache  der  andern  gegenüber  für  Wirklichkeit  zu  erklären 
und  die  andere  zum  Schein  herabzudrücken?  In  beiden  Fällen 
liegen  doch  Thatsachen  vor,  welche  eben  verschieden  bedingte, 
verschiedenartige  Zusammenhänge  der  Elemente  darstellen.  Der 
eingetauchte  Bleistift  ist  eben  wegen  seiner  Umgebung  optisch 
geknickt,  haptisch  und  metrisch  aber  gerade.  Das  Bild  im  Hohl- 
oder Planspiegel  ist  nur  sichtbar,  während  unter  andern  (ge- 
wöhnlichen) Umständen  dem  sichtbaren  Bild  auch  ein  tastbarer 
Körper  entspricht.  Eine  helle  Fläche  ist  neben  einer  dunklen 
heller  als  neben  einer  noch  helleren.  Unsere  Erwartung  wird 
allerdings  g'etäuscht,  wenn  wir  verschiedene  Fälle  des  Zusammen- 
hanges, auf  die  Bedingungen  nicht  genau  achtend,  mit  einander 
verwechseln,  den  natürlichen  Fehler  begehen,  in  ungewöhnlichen 
Fällen  dennoch  das  gewöhnliche  zu  erwarten.  Die  Thatsachen 
sind  daran  unschuldig.  Es  hat  nur  einen  praktischen  aber  keinen 
wissenschaftlichen  Sinn,  in  diesen  Fällen  von  Schein  zu  sprechen. 
Ebenso  hat  die  oft  gestellte  Frage,  ob  die  Welt  wirklich  ist,  oder 
ob  wir  sie  bloss  träumen,  gar  keinen  wissenschaftlichen  Sinn 
Auch  der  wüsteste  Traum  ist  eine  Thatsache,  so  gut  als  jede 
andere.  Wären  unsere  Träume  regelmässiger,  zusammenhängen- 
der, stabiler,  so  wären  sie  für  uns  auch  praktisch  wichtiger. 

Der  populäre  Gedanke  eines  Gegensatzes  von  Schein  und 
Wirklichkeit  hat  auf  das  wissenschaftlich-philosophische  Denken 
sehr   anregend  gewirkt.     Dies  zeigt  sich  z.  B.   in  Piatons  g'eist- 


verschiedene  Empfindungen  und  Wahrnehmungen  auslösen.  Weil  diese 
„Umstände"  so  äusserst  mannigfaltiger  Art,  theils  äussere  (in  den  Objecten  gelegene), 
theils  innere  (in  den  Sinnesorganen  sitzende) ,  theils  innerste  (in  den  Centralorganen 
thätige)  sind,  kann  es  allerdings  den  Anschein  haben ,  wenn  man  nur  auf  die  äussern 
Umstände  Acht  hat,  dass  das  Organ  ungleich  unter  gleichen  Umständen  wirkt.  Die 
ungewöhnlichen  AVirkungen  pflegt  man  nun  Täuschungen  zu  nennen". 


—      9      — 

reicher  und  poetischer  Fiction  der  Höhle,  in  der  wir  mit  dem 
Rücken  gegen  das  Feuer  gekehrt  blos  die  Schatten  der  Vorgänge 
beobachten  (Staat  VII,  i).  Indem  aber  dieser  Gedanke  nicht  ganz  zu 
Ende  gedacht  wurde,  hat  derselbe  auf  unsere  Weltanschauung  einen 
ungebührlichen  Einfluss  genommen.  Die  Welt,  von  der  wir  doch 
ein  Stück  sind,  kam  uns  ganz  abhanden,  und  wurde  uns  in  un- 
absehbare Ferne  gerückt.  So  glaubt  auch  mancher  Jüngling,  der 
zum  erstenmal  von  der  astronomischen  Strahlenbrechung  hört, 
die  ganze  Astronomie  sei  nun  in  Frage  gestellt,  während  doch  durch 
eine  leicht  zu  ermittelnde  unbedeutende  Correctur  alles  wieder 
berichtigt  wird. 

6. 
Wir  sehen  einen  Körper  mit  einer  Spitze  S.  Wenn  wir  S 
berühren,  zu  unserm  Leib  in  Beziehung  bringen,  erhalten  wir 
einen  Stich.  Wir  können  S  sehen,  ohne  den  Stich  zu  fühlen. 
Sobald  wir  aber  den  Stich  fühlen,  werden  wir  S  finden.  Es  ist 
also  die  sichtbare  Spitze  ein  bleibender  Kern,  an  den  sich 
der  Stich  nach  Umständen  wie  etwas  Zufälliges  anschliesst.  Bei 
der  Häufigkeit  analoger  Vorkommnisse  gewöhnt  man  sich  endlich, 
alle  Eigenschaften  der  Körper  als  von  bleibenden  Kernen  aus- 
gehende durch  Vermittlung  des  Leibes  dem  Ich  beigebrachte 
„Wirkungen",  die  wir  Empfindungen  nennen,  anzusehen. 
Hiermit  verlieren  aber  diese  Kerne  den  ganzen  sinnlichen  Inhalt, 
werden  zu  blossen  Gedankensymbolen.  Es  ist  dann  richtig,  dass 
die  Welt  nur  aus  unsern  Empfindungen  besteht.  Wir  wissen 
aber  dann  eben  nur  von  den  Empfindungen,  und  die  Annahme 
jener  Kerne,  so  wie  einer  Wechselwirkung  derselben^  aus  welcher 
erst  die  Empfindungen  hervorgehen  würden,  erweist  sich  als  gänz- 
lich müssig  und  überflüssig.  Nur  dem  halben  Realismus  oder 
dem  halben  KJriticismus  kann  eine  solche  Ansicht  zusagen. 

7- 
Gewöhnlich-  wird    der  Complex  a  ^  7  .  .  .  K  L  M  .  .  .  als 
Ich   dem    Complex   ABC....   gegenübergestellt.      Nur   jene 
Elemente  von  ABC....,  welche  a  ß  y  .  .  .  .  stärker  alteriren, 


lO       

wie  einen  Stich,  einen  Schmerz  pflegt  man  bald  mit  dem  Ich  zu- 
sammenzufassen. Später  zeigt  sich  aber  durch  Bemerkungen  der 
oben  angeführten  Art,  dass  das  Recht,  ABC....  zum  Ich  zu 
zählen,  nirgends  aufhört.  Dem  entsprechend  kann  das  Ich  so 
erweitert  werden,  dass  es  schliesslich  die  ganze  Welt  umfasst^). 
Das  Ich  ist  nicht  scharf  abgegrenzt,  die  Grenze  ist  ziemlich  un- 
bestimmt und  willkürlich  verschiebbar.  Nur  indem  man  dies 
verkennt,  die  Grenze  unbewusst  enger  und  zugleich  auch  weiter 
zieht,  entstehen  im  Widerstreit  der  Standpunkte  die  metaphysischen 
Schwierigkeiten. 

So  bald  wir.  erkannt  haben,  dass  die  vermeintlichen  Einheiten 
„Körper,"  „Ich"  nur  Nothbehelfe  zur  vorläufigen  Orientirung 
und  für  bestimmte  praktische  Zwecke  sind  (um  die  Körper  zu 
ergreifen,  um  sich  vor  Schmerz  zu  wahren  u.  s.  w.),  müssen  wir 
sie  bei  vielen  weitergehenden  wissenschaftlichen  Untersuchungen 
als  unzureichend  und  unzutreffend  aufgeben.  Der  Gegensatz 
zwischen  Ich  und  Welt,  Empfindung  oder  Erscheinung 
und  Ding  fällt  dann  weg,  und  es  handelt  sich  lediglich  um 
den  Zusammenhang  der  Elemente  aßy....  AliC... 
K  L  M  .  .  .  .,  für  welchen  eben  dieser  Gegensatz  nur  ein  theil- 
vveise  zutreffender  unvollständiger  Ausdruck  war.  Dieser  Zu- 
sammenhang ist  nichts  weiter  als  die  Verknüpfung  jener  Elemente 
mit  andern  gleichartigen  Elementen  (Zeit  und  Raum).  Die  Wissen- 
schaft hat  ihn  zunächst  einfach  anzuerkennen,  und  sich  in  dem- 
selben zu  Orientiren,  anstatt  die  Existenz  desselben  sofort  erklären 
zu  wollen. 

Bei  oberflächlicher  Betrachtung  scheint  der  Complex  a  ß  y  .  . 
aus  viel  flüchtigeren  Elementen  zu  bestehen,  als  A  B  C  .  .  .  . 


I)  Wenn  ich  sage,  der  Tisch,  der  Baum  u.  s.  w.  sind  meine  Empfindungen, 
so  liegt  darin,  der  Vorstellung  des  gemeinen  Mannes  gegenüber,  eine  wirkliche  Er- 
weiterung des  Ich.  Al)or  aucli  nach  der  Gefühlsseile  ergibt  sicii  eine  solche  Er- 
weiterung für  den  Virtuosen ,  der  sein  Instrument  fast  so  gut  beherrscht  als  seinen 
I.fil),  für  den  gewandten  lledner,  in  dem  alle  Augenaxen  convergiren ,  und  der  die 
Gedanken  seiner  Zuhörer  leitet,  für  den  kräftigen  Politiker,  der  seine  Partei  mit 
Leichtigkeit  führt  u.  s.  w,  —  In  De]ircssionszuständen  hingegen,  wie  sie  nervöse 
Menschen  zeitweilig  zu  ertragen  haben,  scliriimiiri  das  Ich  zusanuuen.  ICiiu-  Wand 
scheint  es  von  der  Welt  zu  trennen. 


II      — 


und  K  L  M  .  .  .  .  ,  in  welchen  letzteren  die  Elemente  stabiler 
und  in  mehr  beständiger  Weise  (an  feste  Kerne)  geknüpft  zu 
sein  scheinen.  Obgleich  bei  weiterem  Zusehen  die  Elemente  aller 
Complexe  sich  als  gleichartig  erweisen,  so  schleicht  sich  doch 
auch  nach  dieser  Erkenntniss  die  ältere  Vorstellung  eines  Gegen- 
satzes von  Körper  und  Geist  leicht  wieder  ein.  Der  Spiritualist 
fühlt  wohl  gelegentlich  die  Schwierigkeit,  seiner  vom  Geist  ge- 
schaffenen Körperwelt  die  nöthige  Festigkeit  zu  geben,  dem 
Materialisten  wird  es  sonderbar  zu  Muth,  wenn  er  die  Körperwelt 
mit  Empfindung  beleben  soll.  Der  durch  Ueberlegung  erworbene 
monistische  Standpunkt  wird  durch  die  älteren  stärkeren  in- 
stinctiven  Vorstellungen  leicht  wieder  getrübt. 


Die  bezeichnete  Schwierigkeit  wird  besonders  bei  folgender 
Ueberlegung  empfunden.  In  dem  Complex  ABC  .  .  .  ,  den  wir 
als  Körperwelt  bezeichnet  haben,  finden  wir  als  Theil  nicht  nur 
unsern  Leib  K  L  M  .  .  .  .  ,  sondern  auch  die  Leiber  anderer 
Menschen  (oder  Thiere)  K'  L'  M'  .  .  .  .  ,  K"  L"  M"  .  .  .  .  ,  an 
welche  wir  nach  der  Analogie  dem  Complex  a  ß  y ähn- 
liche o!  ß'  f  .  .  .  .  ,  a"  ß"  y")  .  .  .  gebunden  denken.  So  lange 
wir  uns  mit  K'  L'  M'  .  .  .  .  beschäftigen,  befinden  wir  uns  in 
einem  uns  vollständig  geläufigen,  uns  überall  sinnlich  zugäng- 
lichen Gebiet.  Sobald  wir  aber  nach  den  Empfindungen  oder 
Gefühlen  fragen,  die  dem  Leib  K'  L'  M'  .  .  .  .  zugehören,  finden 
wir  dieselben  in  dem  sinnlichen  Gebiet  nicht  mehr  vor,  wir  denken 
sie  hinzu.  Nicht  nur  das  Gebiet,  auf  welches  wir  uns  da  begeben, 
ist  uns  viel  weniger  geläufig,  sondern  auch  der  Uebergang  auf 
dasselbe  ist  verhältnissmässig  unsicher.  Wir  haben  das  Gefühl, 
als  sollten  wir  uns  in   einen  Abgrund  stürzen  i).    Wer  immer  nur 


i)  Als  ich  in  einem  Alter  von  4 — 5  Jahren  zum  erstenmal  vom  Lande  nach 
Wien  kam,  und  von  meinem  Vater  auf  die  Bastei  (die  ehemalige  Stadtmauer)  geführt 
wurde,  war  ich  sehr  überrascht,  im  Stadtgraben  unten  Menschen  zu  sehen,  und  konnte 
nicht  begreifen,  wie  dieselben  von  meinem  Standpunkt  aus  hatten  hinunter  gelangen 
können,  denn  der  Gedanke  eines  anderen  möglichen  Weges  kam  mir  gar  nicht  in  den 
Sinn.     Dieselbe  Ueberraschung    beobachtete    ich    nochmals    an  meinem  etwa  3-jährigen 


diesen  Gedankenweg  einschlägt,  wird  das  Gefühl  der  Unsicher- 
heit, das  als  Quelle  von  Scheinproblemen  sehr  ergiebig  ist,  nie 
vollständig  los  werden. 

Wir  sind  aber  auf  diesen  Weg  nicht  beschränkt.  Wir  be- 
trachten zunächst  den  gegenseitigen  Zusammenhang  der  Elemente 
des  Complexes  ABC.  ,  .  .  ohne  auf  K  L  M  .  .  .  .  (unsern  Leib) 
zu  achten.  Jede  physikalische  Untersuchung  ist  von  dieser 
Art.  Eine  weisse  Kugel  fällt  auf  eine  Glocke ;  es  klingt.  Die 
Kugel  wird  gelb  vor  der  Natrium-,  roth  vor  der  Lithiumlampe. 
Hier  scheinen  die  Elemente  (ABC....)  nur  untereinander 
zusammenzuhängen,  von  unserm  Leib  (K  L  M  .  .  .  .)  unabhängig 
zu  sein.  Nehmen  wir  aber  Santonin  ein,  so  wird  die  Kugel  auch 
gelb.  Drücken  wir  ein  Auge  seitwärts,  so  sehen  wir  zwei  Kugeln. 
Schliessen  wir  die  Augen  ganz,  so  ist  gar  keine  Kugel  da.  Durch- 
schneiden wir  den  Gehörnerv,  so  klingt  es  nicht.  Die  Elemente 
ABC....  hängen  also  nicht  nur  untereinander,  sondern  auch 
mit  den  Elementen  K  L  M  .  .  .  .  zusammen.  Insofern,  und 
nur  insofern,  nennen  wir  ABC....  Empfindungen  und 
betrachten  ABC  als  zum  Ich  gehörig.  Wo  in  dem  folgenden 
neben  oder  für  die  Ausdrücke  „Element",  „Elementencomplex"  die 
Bezeichnungen  „Empfindung",  „Empfindungscomplex"  gebraucht 
werden,  muss  man  sich  gegenwärtig  halten,  dass  die  Elemente 
nur  in  der  bezeichneten  Verbindung  und  Beziehung,  in  der 
bezeichneten  functionalen  Abhängigkeit  Empfindungen 
sind.  Sie  sind  in  anderer  functionaler  Beziehung  zugleich  physi- 
kalische Objecte.  Die  Nebenbezeichnung  der  Elemente  als  Em- 
pfindungen wird  blos  deshalb  verwendet,  weil  den  meisten  Menschen 
die  gemeinten  Elemente   eben   als  Empfindungen    (P^arben,    Töne, 


Knaben  bei  Gelegenheit  eines  Spazierganges  auf  der  Prager  Stadtmauer.  Dieses  Ge- 
fühls erinnerte  ich  mich  jedesmal  bei  der  im  Text  bezeichneten  Ueberlegung,  und  gern 
gestehe  ich ,  dass  mein  zufälliges  Erlebniss  bei  Befestigung  meiner  vor  langer  Zeit 
gefassten  Ansicht  über  diesen  Punkt  wesentlich  mitgewirkt  hat.  Die  Gewohnheit, 
materiell  und  psychisch  stets  dieselben  Wege  zu  gehen ,  wirkt  sehr  desorientirend. 
Ein  Kind  kann  beim  Durchbrechen  einer  Wand  im  längst  bewohnten  Hause  eine 
wahre  Erweiterung  der  Weltanschauung  erfahren,  und  eine  kleine  wissenschaftliche 
Wendung  kann   selir  aufklärend  wirken. 


—      13     — 

Drucke,  Räume,  Zeiten  u.  s.  w.)  viel  geläufiger  sind,  während  nach 
der  verbreiteten  Auffassung  die  Massentheilchen  als  physika- 
lische Elemente  gelten,  an  welchen  die  Elemente  in  dem  hier 
gebrauchten  Sinne  als  „Eigenschaften,"  „Wirkungen"  haften. 
Auf  diesem  Wege  finden  wir  also  nicht  die  vorher  bezeichnete 
Kluft  zwischen  Körpern  und  Empfindungen,  zwischen  aussen  und 
innen,  zwischen  der  materiellen  und  geistigen  Welt^).  Alle  Elemente 
ABC...  KLM....  bilden  nur  eine  zusammenhängende  Masse, 
welche  an  jedem  Element  angefasst  ganz  in  Bewegung  geräth,  nur 
dass  eine  Störung  bei  KLM....  viel  weiter  und  tiefer  greift,  als 
bei  ABC....  Ein  Magnet  in  unserer  Umgebung  stört  die 
benachbarten  Eisenmassen,  ein  stürzendes  Felsstück  erschüttert 
den  Boden,  das  Durchschneiden  eines  Nerven  aber  bringt  das 
ganze  System  von  Elementen  in  Bewegung.  Ganz  unwillkürlich 
führt  das  Verhältniss  zu  dem  Bilde  einer  zähen  Masse,  welche  an 
mancher  Stelle  (dem  Ich)  fester  zusammenhängt.  Oft  habe  ich 
mich  dieses  Bildes  im  Vortrage  bedient. 

9- 

So  besteht  also  die  grosse  Kluft  zwischen  physikalischer  und 
psychologischer  Forschung  nur  für  die  gewohnte  stereotype  Be- 
trachtungsweise. Eine  Farbe  ist  ein  physikalisches  Object, 
sobald  wir  z.  B.  auf  ihre  Abhängigkeit  von  der  beleuchtenden 
Lichtquelle  (andern  Farben,  Wärmen,  Räume  u.  s.  w.)  achten. 
Achten  wir  aber  auf  ihre  Abhängigkeit  von.  der  Netzhaut 
(den  Elementen  K  L  M  .  .  .  .)  so  ist  sie  ein  psychologisches 
Object,  eine  Empfindung.  Nicht  der  Stoff,  sondern  die 
Untersuchungsrichtung  ist  in  beiden  Gebieten  verschieden. 
(Vgl.  auch  Capitel  II,  S.  34,  35). 

wSowohl  wenn  wir  von  der  Beobachtung  fremder  Menschen- 
oder  Thierleiber    auf   deren   Empfindungen   schliessen,    als    auch. 


ij  Vgl.  meine  Grundlinien  der  Lehre  von  den  Bewegungsempfindungen.  Leip- 
zig. Engelmann  1875 ,  S.  54.  Daselbst  habe  ich  meine  Ansicht  zuerst  kurz  aber 
bestimmt  ausgesprochen,  in  den  Worten :  „Die  Erscheinungen  lassen  sich  in  Elemente 
zerlegen,  die  wir,  insofern  sie  als  mit  bestimmten  Vorgängen  des  Körpers  verbunden 
und  durch   dieselben  bedingt  angesehen  werden  können,   Empfindungen  nennen". 


—      14     — 

wenn  wir  den  Einfluss  des  eigenen  Leibes  auf  unsere  Empfin- 
dungen untersuchen,  müssen  wir  eine  beobachtete  Thatsache  durch 
Analogie  ergänzen.  Diese  Ergänzung  fällt  aber  viel  sicherer 
und  leichter  aus,  wenn  sie  etwa  nur  den  Nervenvorg-ang  betrifft, 
den  man  am  eignen  Leib  nicht  vollständig  beobachten  kann,  wenn 
sie  also  in  dem  geläufigem  physikalischen  Gebiet  spielt,  als 
wenn  sich  die  Erg'änzung  auf  Psychisches,  die  Empfindungen, 
Gedanken  anderer  Menschen  erstreckt.  Sonst  besteht  kein  we- 
sentlicher Unterschied. 

lO. 

Die  dargelegten  Gedanken  erhalten  eine  grössere  Festigkeit 
und  Anschaulichkeit,  wenn  man  dieselben  nicht  bloss  in  abstracter 


i- 


Fig.   I. 
Form  ausspricht,   sondern   direkt   die  Thatsachen  ins  Auge  fasst, 
welchen   sie   entspringen.     Liege   ich    z.  B.    auf  einem  Ruhebett, 


—     15     — 

und  schliesse  das  rechte  Auge,  so  bietet  sich  meinem  Hnken  Auge 
das  Bild  der  beistehenden  Figur  i.  In  einem  durch  den  Augen- 
brauenbog-en,  die  Nase  und  den  Schnurrbart  gebildeten  Rahmen 
erscheint  ein  Theil  meines  Körpers,  so  weit  er  sichtbar  ist,  und 
dessen  Umgebung^).  Mein  Leib  unterscheidet  sich  von  den 
andern  menschlichen  Leibern  nebst  dem  Umstände,  dass  jede  leb- 
haftere Bewegungsvorstellung  sofort  in  dessen  Bewegung  aus- 
bricht, dass  dessen  Berührung  auffallendere  Veränderungen  bedingt 
als  jene  anderer  Körper,  dadurch  dass  er  nur  theilweise  und  ins- 
besondere ohne  Kopf  gesehen  wird.  Beobachte  ich  ein  Element 
A  im  Gesichtsfelde,  und  untersuche  dessen  Zusammenhang  mit 
einem  andern  Element  B  desselben  Feldes,  so  komme,  ich  aus 
dem  Gebiet  der  Physik  in  jenes  der  Physiologie  oder  Psychologie, 
wenn  B,  um  den  treffenden  Ausdruck  anzuwenden,  den  ein  Freund 
beim  Anblick  dieser  Zeichnung  gelegentlich  gebraucht  hat  2),  die 
Haut  passirt.  Aehnliche  Ueberlegungen  wie  für  das  Gesichtsfeld 
lassen  sich  für  das  Tastfeld  und  die  Wahrnehmungsfelder  der 
übrigen  Sinne  anstellen  ^). 

1 1. 

Es  ist  schon  auf  die  Verschiedenheit  der  Elementengruppen, 
die  wir  mit  ABC....  und  a  ß  y  .  .  .  .  bezeichnet  haben,  hin- 
gewiesen worden.  In  der  That,  wenn  wir  einen  grünen  Baum 
vor  uns  sehen,  oder  uns  an  den  grünen  Baum  erinnern,  uns 
denselben    vorstellen,    so  wissen  wir  diese  beiden  Fällen  ganz 


i)  Von  dem  binocularen  Gesichtsfeld,  dass  mit  seiner  eigen tbümlichen  Stereo- 
scopie  jedermanii  geläufig  ist,  das  aber  schwieriger  zu  beschreiben  und  durch  eine 
ebene  Zeichnung  nicht  darstellbar  ist,  wollen  wir  hier  absehen. 

2)  Herr  Ingenieur  J.  Popper  in  Wien. 

3)  Zur  Entwerfung  dieser  Zeichnung  bin  ich  vor  etwa  30  Jahren  durch  einen 
drolligen  Zufall  veranlasst  worden.  Ein  längst  verstorbener  Herr  v.  L. ,  dessen  wahr- 
haft liebenswürdiger  Character  über  manche  Excentricität  hinweg  half,  nöthigte  mich 
eine  Schrift  von  E.  Krause  zu  lesen.     In  derselben  findet  sich  folgende  Stelle: 

„Aufgabe:  Die  Selbstschauung  ,Ich'  auszuführen. 

Auflösung:  Man  führt  sie  ohne  weiteres  aus." 
Um    nun    dieses  philosophische  „Viel  Lärm  um  Nichts"  scherzhaft  zu  illustriren ,  und 
zugleich  zu  zeigen,  wie  man    wirklich    die    Selbstschauung  ,,Ich"  ausführt,    entwarf  ich 
die  obige  Zeichnung. 


—      i6     — 

wohl  zu  unterscheiden.  Der  vorgestellte  Baum  hat  eine  viel 
weniger  bestimmte  viel  mehr  veränderliche  Gestalt,  sein  Grün  ist 
viel  matter  und  flüchtiger,  und  er  erscheint  vor  allem  deutlich  in 
einem  anderen  Feld.  Eine  Bewegung,  die  wir  ausführen 
wollen,  ist  immer  nur  eine  vorgestellte  Bewegung  und  er- 
scheint in  einem  andern  Feld  als  die  ausgeführte  Bewegung, 
welche  übrigens  immer  erfolgt,  wenn  die  Vorstellung  lebhaft 
genug  wird.  Die  Elemente  A  oder  a  erscheinen  in  einem  ver- 
schiedenen Feld,  heisst  nun,  wenn  man  auf  den  Grund  geht,  nichts 
anderes,  als  dass  sie  mit  verschiedenen  andern  Elementen  ver- 
knüpft sind.  So  weit  wären  also  die  Grundbestandtheile  in 
A  B  C  .  .  .  .  a  ^  7  dieselben  (Farben,  Töne,  Räume,  Zeiten, 
Bewegungsempfindungen  ....),  und  nur  die  Art  ihrer  Verbindung 
verschieden. 

Schmerz  und  Lust  pflegt  man  als  von  den  Sinnesempfindungen 
verschieden  zu  betrachten.  Allein  nicht  nur  die  Tastempfindungen 
sondern  auch  alle  übrigen  Sinnesempfindungen  können  allmälig 
in  Schmerz  und  Lust  übergehen.  Auch  Schmerz  und  Lust  können 
mit  Recht  Empfindungen  genannt  werden.  Sie  sind  nur  nicht 
so  gut  analysirt  und  so  geläufig  als  die  Sinnesempfindungen, 
vielleicht  auch  nicht  auf  so  wenige  Organe  beschränkt  als  letztere. 
Schmerz-  und  Lustempfindungen,  mögen  sie  noch  so  schattenhaft 
auftreten,  bilden  einen  wesentlichen  Inhalt  aller  sogenannten  Ge- 
fühle. Was  uns  sonst  noch  zum  Bewusstsein  kommt,  wenn 
wir  von  Gefühlen  ergriffen  werden,  können  wir  als  mehr 
oder  weniger  diffuse,  nicht  scharf  localisirte  Empfindungen  be- 
zeichnen. W.  James ^)  und  später  Th.  Ribot^)  sind  der  physio- 
logischen Mechanik  der  Gefühle  nachgegangen  und  sehen  das 
Wesentliche  in  zweckmässigen,  den  Umständen  entsprechenden, 
durch  die  Organisation  ausgelösten  Actionstendenzen  des  Leibes. 
Nur  ein  Theil  derselben  tritt  ins  Bewusstsein.  Wir  sind  traurig, 
weil  wir  weinen,  und  nicht  umgekehrt,  sagt  James.  Und  Ribot 
findet   mit  Recht   den    niedern  Stand   unserer  Kenntniss  der  Ge- 


1)  W.  James,  Psychology.     New  York   1890,  II,  p.  442. 

2)  Th.   Kil)ot,   La  psycholgic  des   senliineiUs    1899. 


—     17     — 

fühle  dadurch  bedingt,  dass  wir  stets  nur  beachtet  haben,  was 
bei  diesen  physiologischen  Processen  ins  Bewusstsein  tritt.  Aller- 
dings geht  er  zu  weit,  wenn  er  alles  Psychische  für  dem  Phy- 
sischen bloss  „surajoute",  und  nur  das  Physische  für  wirksam  hält. 
Für    uns    besteht    ein    solcher    Unterschied  nicht. 

Somit  setzen  sich  die  Wahrnehmungen  so  wie  die  Vor- 
stellungen, der  Wille,  die  Gefühle,  kurz  die  ganze  innere  und 
äussere  Welt,  aus  einer  geringen  Zahl  von  gleichartigen 
Elementen  in  bald  flüchtiger  bald  festerer  Verbindung  zu- 
sammen. Man  nennt  diese  Elemente  gewöhnlich  Empfin- 
dungen. Da  aber  in  diesem  Namen  schon  eine  einseitige 
Theorie  liegt,  so  ziehn  wir  vor,  kurzweg  von  Elementen  zu 
sprechen,  wie  wir  schon  gethan  haben.  Alle  Forschung  geht 
auf  die  Ermittlung  der  Verknüpfung  dieser  Elemente  aus^). 
Sollte  man  mit  einer  Art  dieser  Elemente  durchaus  nicht  das 
Auskommen  finden,  so  werden  eben  mehrere  statuirt  werden.  Es 
ist  aber  nicht  zweckmässig  für  die  hier  behandelten  Fragen,  die 
Annahmen  gleich  von  vornherein  zu  compliciren. 

12. 

Dass  aus  diesem  Elementencomplex,  welcher  im  Grunde  nur 
einer  ist,  die  Körper  und  das  Ich  sich  nicht  in  bestimmter 
für  alle  Fälle  zureichender  Weise  abgrenzen  lassen,  wurde  schon 
gesagt.  Die  Zusammenfassung  der  mit  Schmerz  und  Lust  am 
nächsten  zusammenhängenden  Elemente  in  einer  ideellen  denk- 
ökonomischen Einheit,  dem  Ich,  hat  die  höchste  Bedeutung  für 
den  im  Dienste  des  schmerzmeidenden  und  lustsuchenden  Willens 
stehenden  Intellect.  Die  Abgrenzung  des  Ich  stellt  sich  daher 
instinctiv  her,  wird  geläufig  und  befestigt  sich  vielleicht  sogar 
durch    Vererbung.      Durch    ihre    hohe    praktische    Bedeutung 


i)  Vgl.  S.  4,  6,  10,  12,  13  der  vorliegenden  Schrift,  endlich  auch  die  allge- 
meine Anmerkung  am  Schluss  meiner  Schrift:  Die  Geschichte  und  die  Wurzel  des 
Satzes  der  Erhaltung  der  Arbeit.     Prag.     Calve    1872. 

Mach,  Analyse.     3.  Auf!.  '^ 


nicht  nur  für  das  Individuum  sondern  für  die  ganze  Art  machen 
sich  die  Zusammenfassungen  „Ich"  und  „Körper"  instinctiv  geltend, 
und  treten  mit  elementarer  Gewalt  auf.  In  besonderen  Fällen 
aber,  in  welchen  es  sich  nicht  um  praktische  Zwecke  handelt, 
sondern  die  Erkenntniss  Selbstzweck  wird,  kann  sich  diese 
Abgrenzung  als  ungenügend,  hinderlich,  unhaltbar  erweisen  ^), 

Nicht  das  Ich  ist  das  Primäre,  sondern  die  Elemente  (Empfin- 
dungen). Man  berücksichtige  das  in  Bezug  auf  den  Ausdruck 
„Empfindung"  S.  17  Gesagte.  Die  Elemente  bilden  das  Ich. 
Ich  empfinde  Grün,  will  sagen,  dass  das  Element  Grün  in  einem 
gewissen  Complex  von  andern  Elementen  (Empfindungen,  Er- 
innerungen) vorkommt.  Wenn  ich  aufhöre  Grün  zu  empfinden, 
wenn  ich  sterbe,  so  kommen  die  Elemente  nicht  mehr  in  der 
gewohnten  geläufigen  Gesellschaft  vor.  Damit  ist  alles  gesagt. 
Nur  eine  ideelle  denkökonomische,  keine  reelle  Einheit  hat  auf- 
gehört zu  bestehen.  Das  Ich  ist  keine  unveränderliche  bestimmte 
scharf  begrenzte  Einheit.  Nicht  auf  die  Un Veränderlichkeit 
nicht  auf  die  bestimmte  Unterscheidbarkeit  von  andern  und 
nicht  auf  die  scharfe  Begrenzung  kommt  es  an,  denn  alle  diese 
Momente  variiren  schon  im  individuellen  Leben  von  selbst,  und 
deren  Veränderung  wird  vom  Individuum  sogar  angestrebt. 
Wichtig  ist  nur  die  Continuität.  Diese  Ansicht  stimmt  mit  der- 
jenigen, zu  welcher  Weis  mann  durch  biologische  Untersuchungen 
(zur  Frage  der  UnsterbHchkeit  der  Einzelligen.  Biolog.  Central- 
blatt,  IV.  Bd.  Nr.  21,  22)  gelangt.  (Vergl.  besonders  S.  654  und 
655,    wo   von    der   Theilung    des   Individuums   in    zwei    gleiche 


i)  So  kann  auch  das  Standesbewusstsein  und  das  Standesvorurteil,  das  Gefühl 
für  Nationalität,  der  bornirteste  Localpatriotismus  für  gewisse  Zwecke  sehr  wichtig 
sein.  Solche  Anschauungen  werden  aber  gewiss  nicht  den  weitblickenden  Forscher 
auszeichnen,  wenigstens  nicht  im  Momente  des  Forschens.  Alle  diese  egoistischen  An- 
schauungen reichen  nur  für  praktische  Zwecke  aus.  Natürlich  kann  der  Gewohnheit 
auch  der  Forscher  unterliegen.  Die  kleinen  gelehrten  Lumpereien,  das  schlaue  Be- 
nützen und  das  perfide  Verschweigen,  die  Schlingbeschwerden  bei  dem  unvermeidlichen 
Worte  der  Anerkennung  und  die  schiefe  Beleuchtung  der  fremden  Leistung  bei  dieser 
Gelegenheit  zeigen  hinlänglich,  dass  auch  der  Forscher  den  Kampf  ums  Dasein  kämpft, 
dass  auch  die  Wege  der  Wissenschaft  noch  zum  Munde  führen,  und  dass  der  reine 
Erkenntnisstrieb   bei  unscrn  heutigen  socialen  Verhältnissen  noch  ein  Ideal   ist. 


—      19     — = 

Hälften  die  Rede  ist.)  Die  Continuität  ist  aber  nur  ein  Mittel 
den  Inhalt  des  Ich  vorzubereiten  und  zu  sichern.  Dieser  In- 
halt und  nicht  das  Ich  ist  die  Hauptsache.  Dieser  ist  aber  nicht 
auf  das  Individuum  beschränkt.  Bis  auf  geringfügige  werthlose 
persönliche  Erinnerungen  bleibt  er  auch  nach  dem  Tode  des  In- 
dividuums in  andern  erhalten.  Die  Bewusstseinelemente  eines 
Individuums  hängen  unter  einander  stark,  mit  jenen  eines  andern 
Individuums  aber  schwach  und  nur  gelegentlich  merklich  zu- 
sammen. Daher  meint  jeder  nur  von  sich  zu  wissen,  indem  er 
sich  für  eine  untrennbare  von  anderen  unabhängige  Einheit 
hält.  Bewusstseinsinhalte  von  allgemeiner  Bedeutung  durchbrechen 
aber  diese  Schranken  des  Individuums  und  führen,  natürlich 
wieder  an  Individuen  gebunden,  unabhängig  von  der  Person, 
durch  die  sie  sich  entwickelt  haben,  ein  allgemeineres  unper- 
sönliches, überpersönliches  Leben  fort.  Zu  diesem  beizu- 
tragen, gehört  zu  dem  grössten  Glück  des  Künstlers,  P^orschers, 
Erfinders,  Socialreformators  u.  s.  w. 

Das  Ich  ist  unrettbar.  Theils  diese  Einsicht,  theils  die  Eurcht 
vor  derselben  führen  zu  den  absonderlichsten  pessimistischen  und 
optimistischen ,  religiösen ,  asketischen  und  philosophischen  Ver- 
kehrtheiten. Der  einfachen  Wahrheit,  welche  sich  aus  der  psycho- 
logischen Analyse  ergibt,  wird  man  sich  auf  die  Dauer  nicht  ver- 
schliessen  können.  Man  wird  dann  auf  das  Ich,  welches  schon 
während  des  individuellen  Lebens  vielfach  variirt,  ja  im  Schlaf 
und  bei  Versunkenheit  in  einer  Anschauung,  in  einen  Gedanken, 
gerade  in  den  glücklichsten  Augenblicken,  theilweise  oder  ganz 
fehlen  kann,  nicht  mehr  in  den  hohen  Werth  legen.  Man  wird  dann 
auf  individuelle  Unsterblichkeit^)  gern  verzichten,  und  nicht 
auf  das  Nebensächliche  mehr  Werth  legen  als  auf  die  Hauptsache. 
Man  wird  hierdurch  zu  einer  freieren  und  verklärten  Lebens- 
auffassung gelangen,  welche  Missachtung  des  fremden  Ich  und 
Ueberschätzung    des    eigenen    ausschliesst.      Das    ethische    Ideal, 


I)  Indem  wir  unsere  persönlichen  Erinnerungen  über  den  Tod  hinaus  zu  er- 
halten wünschen ,  verhalten  wir  uns  ähnlich  wie  der  kluge  Eskimo,  der  die  Unsterb- 
lichkeit ohne  Seehunde  und  Wairosse  dankend  ablehnte. 

2* 


20 


welches  sich  auf  dieselbe  gründet,  wird  gleich  weit  entfernt  sein 
von  jenem  des  Asketen,  welches  für  diesen  biologisch  nicht  haltbar 
ist,  und  zugleich  mit  seinem  Untergang  erlischt,  wie  auch  von 
jenem  des  Nietzsche'schen  frechen  „Uebermenschen,"  welches 
die  Mitmenschen  nicht  dulden  können,  und  hoffentlich  nicht  dul- 
den werden?^) 

Genügt  uns  die  Kenntniss  des  Zusammenhanges  der  Elemente 
(Empfindungen)  nicht,  und  fragen  wir,  „wer  hat  diesen  Zusammen- 
hang der  Empfindungen,  wer  empfindet"?,  so  unterliegen  wir  der 
alten  Gewohnheit,  jedes  Element  (jede  Empfindung)  einem  un- 
analysirten  Complex  einzuordnen,  wir  sinken  hiermit  unver- 
merkt auf  einen  älteren,  tiefern  und  beschränktem  Standpunkt 
zurück.  Man  weisst  wohl  oft  darauf  hin,  dass  ein  psychisches 
Erlebniss,  welches  nicht  das  Erlebniss  eines  bestimmten  Subjects 
wäre,  nicht  denkbar  sei,  und  meint  damit  die  wesentliche  Rolle 
der  Einheit  des  Bewusstseins  dargethan  zu  haben.  Allein,  wie 
verschiedene  Grade  kann  das  Ichbewusstsein  haben,  und  aus  wie 
mannigfaltigen  zufälligen  Erinnerungen  setzt  es  sich  zusammen. 
Man  könnte  ebensogut  sagen,  dass  ein  physikalischer  Vorgang, 
der  nicht  in  irgend  einer  Umgebung,  eigentlich  immer  in  der 
Welt,  stattfindet,  nicht  denkbar  sei.  Von  dieser  Umgebung, 
welche  ja  in  Bezug  auf  ihren  Einfluss  sehr  verschieden  sein  und 
in  Specialfällen  auf  ein  Minimum  zusammenschrumpfen  kann,  zu 
abstrahiren,  muss  uns  hier  wie  dort  erlaubt  sein,  um  die  Unter- 
suchung zu  beginnen.  Man  denke  an  Empfindungen  der 
niedern  Thiere,  welchen  man  kaum  ein  ausgeprägtes  Subject 
wird  zuschreiben  wollen.  Aus  den  Empfindungen  baut  sich 
das  Subject  auf,  welches  dann  allerdings  wieder  auf  die  Empfin- 
dungen reagirt. 

Die  Gewohnheit,  den  unanalysirten  Ich -Complex  als  eine 
untheilbare  Einheit  zu  behandeln,  hat  sich  wissenschaftlich  oft  in 
eigenthümlicher  Weise  g'eäussert.  Aus  dem  Leibe  wird  zunächst 
das  Nervensystem    als  Sitz    der  Empfindungen  ausgesondert.     In 


i)  So  weit  auch  der  Weg    ist  von    der    theoretischen  Einsicht  zum  praktischen 
Verhallen,  so  kann  letzteres  der  ersteren  auf  die  Dauer  doch  nicht  wiederstehen. 


21        

dem  Nervensystem  wählt  man  wieder  das  Hirn  als  hiezu  geeignet 
aus,  und  sucht  schliesslich,  die  vermeintliche  psychische  Einheit 
zu  retten,  im  Hirn  noch  nach  einem  Punkt  als  Sitz  der  Seele. 
So  rohe  Anschauungen  werden  aber  schwerlich  geeignet  sein, 
auch  nur  in  den  gröbsten  Zügen  die  Wege  der  künftigen  Unter- 
suchung über  den  Zusammenhang  des  Physischen  und  Psych- 
ischen vorzuzeichnen.  Dass  die  verschiedenen  Organe,  Theile  des 
Nervensystems,  mit  einander  physisch  zusammenhängen  und 
durch  einander  leicht  erregt  werden  können,  ist  wahrscheinlich 
die  Grundlage  der  „psychischen  Einheit."  Ich  hörte  einmal  ernst- 
lich die  Frage  discutiren:  „Wieso  die  Wahrnehmungen  eines 
grossen  Baumes  in  dem  kleinen  Kopfe  des  Menschen  Platz  fände"? 
Besteht  auch  dieses  Problem  nicht,  so  w4rd  doch  durch  die 
Frage  die  Verkehrtheit  fühlbar,  die  man  leicht  begeht,  indem  man 
sich  die  Empfindungen  räumlich  in  das  Hirn  hineindenkt.  Ist 
von  den  Empfindungen  eines  andern  Menschen  die  Rede,  so 
haben  diese  in  meinem  optischen  oder  überhaupt  physischen  Raum 
natürlich  gar  nichts  zu  schaffen;  sie  sind  hinzugedacht,  und  ich 
denke  sie  causal  (oder  besser  functional),  aber  nicht  räumlich  an 
das  beobachtete  oder  vorgestellte  Menschenhirn  gebunden.  Spreche 
ich  von  meinen  Empfindungen,  so  sind  dieselben  nicht  räumiich 
in  meinem  Kopfe,  sondern  mein  „Kopf"  theilt  vielmehr  mit 
ihnen  dasselbe  räumliche  Feld,  wie  es  oben  dargestellt  wurde. 
(Vergl.  das  über  Fig.  i,  S.   14,   15  Gesagte) i). 


i)  Schon  bei  Johannes  Müller  finden  wir  einen  Ansatz  zu  ähnlichen  Be- 
trachtungen. Sein  metaphysischer  Hang  hindert  ihn  aber,  dieselben  consequent  zu 
Ende  zu  führen.  Bei  Hering  aber  stossen  wir  (Hermann's  Handbuch  der  Physio- 
logie, Bd.  III  I,  S.  345)  auf  folgende  characteristische  Stelle:  ,,Der  Stoff,  aus  welchem 
die  Sehdinge  bestehen ,  sind  die  Gesichtsempfindungen.  Die  untergehende  Sonne  ist 
als  Sehding  eine  flache,  kreisförmige  Scheibe,  welche  aus  Gelbroth,  also  aus  einer  Ge- 
sichtsempfindung besteht.  Wir  können  sie  daher  geradezu  als  eine  kreisförmige,  gelb- 
rothe  Empfindung  bezeichnen.  Diese  Empfindung  haben  wir  da,  wo  uns  eben 
die  Sonne  erscheint."  Ich  kann  wohl  nach  den  Erfahrungen,  die  ich  gelegentlich 
im  Gespräch  gemacht  habe ,  sagen  ,  dass  die  meisten  Menschen,  welche  diesen  Fragen 
nicht  durch  ernstes  Nachdenken  näher  getreten  sind,  diese  Auffassung  einfach  haar- 
sträubend finden  werden.  Natürlich  ist  das  gewöhnliche  Confundiren  des  sinnlichen 
und  begrifflichen  Raumes  an  diesem  Entsetzen  wesentlich  schuld.  Geht  man,  wie  ich 
es  gethan  habe,  von  der  ökonomischen  Aufgabe  der  Wissenschaft  aus,  nach  welcher 


Man  betone  nicht  die  Einheit  des  Bewusstseins.  Da  der 
scheinbare  Gegensatz  der  wirklichen  und  der  empfundenen 
Welt  nur  in  der  Betrachtungsweise  liegt,  eine  eigentliche  Kluft 
aber  nicht  existirt,  so  ist  ein  mannigfaltiger  zusammen- 
häng'ender  Inhalt  des  Bewusstseins  um  nichts  schwerer 
zu  verstehen,  als  der  mannigfaltige  Zusammenhang  in 
der  Welt. 

Wollte  man  das  Ich  als  eine  reale  Einheit  ansehen,  so  käme 
man  nicht  aus  dem  Dilemma  heraus,  entweder  eine  Welt  von 
unerkennbaren  Wesen  demselben  gegenüberzustellen  (was  ganz, 
müssig  und  ziellos  wäre),  oder  die  ganze  Welt,  die  Ich  anderer 
Menschen  eingeschlossen,  nur  als  in  unserm  Ich  enthalten  anzu- 
sehen (wozu  man  sich  ernstlich  schwer  entschliessen  wird). 

Fasst  man  aber  ein  Ich  nur  als  eine  praktische  Einheit 
für  eine  vorläufige  orientirende  Betrachtung,  als  eine  stärker  zu- 
sammenhängende Gruppe  von  Elementen,  welche  mit  andern 
Gruppen  dieser  Art  schwächer  zusammenhängt,  so  treten  Fragen 
dieser  Art  gar  nicht  auf,  und  die  Forschung  hat  freie  Bahn. 

In  seinen  philosophischen  Bemerkungen  sagt  Lichtenberg: 
„Wir  werden  uns  gewisser  Vorstellungen  bewusst,  die  nicht  von 
uns  abhängen;  andere,  glauben  wir  wenigstens,  hingen  von  uns 
ab;  wo  ist  die  Grenze?  Wir  kennen  nur  allein  die  Existenz 
unserer  Empfindungen,  Vorstellungen  und  Gedanken.  Es  denkt, 
sollte  man  sagen,  so  wie  man  sagt:  es  blitzt.  Zu  sagen  cogito, 
ist  schon  zu  viel,  sobald  man  es  durch  Ich  denke  übersetzt.  Das 
Ich  anzunehmen,  zu  postuliren,  ist  praktisches  Bedürfniss".     Mag- 


nur  der  Zusammenhang  des  Beobachtbaren,  Gegebenen  für  uns  von  Bedeutung  ist, 
alles  Hypothetische ,  Metaphysische ,  Müssige  aber  zu  eliminiren  ist ,  so  gelangt  man 
zu  dieser  Ansicht.  Den  gleichen  Standpunkt  wird  man  wohl  Avenarius  zuschreiben 
müssen,  denn  wir  lesen  bei  ihm  (Der  menschliche  Weltbegriff  S.  76)  die  Sätze:  „Das 
Gehirn  ist  kein  Wohnort,  Sitz,  Erzeuger,  kein  Instrument  oder  Organ,  kein  Träger, 
oder  Substrat  u.  s.  w.  des  Denkens."  „Das  Denken  ist  kein  Bewohner  oder  Befehls- 
haber, keine  andere  Hälfte  oder  Seite  u.  s.  w. ,  aber  auch  kein  Product ,  ja  nicht  ein- 
mal eine  physiologische  Function  oder  ni;r  ein  Zustand  überhaupt  des  Gehirns."  Ohne 
für  jedes  Wort  von  Avenarius  und  dessen  Interpretation  einstehen  zu  können  und 
zu  wollen,  scheint  mir  doch  seine  Auffassung  der  meinigen  sehr  nahe  zu  liegen.  Der 
Weg,  den  Avenarius  verfolgt,  ,,die  Ausschaltung  der  Introjection",  ist  nur  eine  be- 
sondere Form  der  Elimination  des  Metaphysischen. 


—       23       — 

auch  der  Weg,  auf  dem  Lichtenberg  zu  diesem  Resultate  ge- 
langt, von  dem  unsrigen  etwas  verschieden  sein,  dem  Resultate 
selbst  müssen  wir  zustimmen. 

13- 

Nicht  die  Körper  erzeug'en  Empfindungen,  sondern  Ele- 
men  tencompl  exe  (Empfindungscomplexe)  bilden  die  Körper.  Er- 
scheinen dem  Physiker  die  Körper  als  das  Bleibende,  Wirkliche, 
die  ,Elemente'  hingeg-en  als  ihr  flüchtiger  vorübergehender 
Schein,  so  beachtet  er  nicht,  dass  alle  „Körper"  nur  Gedanken- 
symbole für  Elementencomplexe  (Empfindungscomplexe)  sind. 
Die  eigentliche  nächste  und  letzte  Grundlage,  welche  durch 
physiologisch-physikalische  Untersuchungen  noch  weiter  zu  er- 
forschen ist,  bilden  auch  hier  die  bezeichneten  Elemente.  Durch 
diese  Einsicht  gestaltet  sich  in  der  Psychologie  und  in  der 
Physik  manches  viel  durchsichtiger  und  ökonomischer,  und  durch 
dieselbe    werden   manche   vermeintlichen  Probleme  beseitigt. 

Die  Welt  besteht  also  für  uns  nicht  aus  räthselhaften  Wesen, 
welche  durch  Wechselwirkung  mit  einem  andern  ebenso  räthsel- 
haften Wesen,  dem  Ich,  die  allein  zugänglichen  ,Empfindungen' 
erzeugen.  Die  Farben,  Töne,  Räume,  Zeiten  .  .  .  sind  für  uns  die 
letzten  Elemente,  (vgl.  S.  12,  13),  deren  gegebenen  Zusammenhang 
wir  zu  erforschen  haben  ^).    Bei  dieser  Forschung  können  wir  uns 


i)  Ich  habe  es  stets  als  besonderes  Glück  empfunden,  dass  mir  sehr  früh  (im 
einem  Alter  von  15  Jahren  etwa)  in  der  Bibliothek  meines  Vaters  Kant 's  ,,Prole- 
gomena  zu  einer  jeden  künftigen  Metaphysik"  in  die  Hand  fielen.  Diese  Schrift  hat 
damals  einen  gewaltigen  unauslöschlichen  Eindruck  auf  mich  gemacht,  den  ich  in 
gleicher  Weise  bei  späterer  philosophischer  Leetüre  nie  mehr  gefühlt  habe.  Etwa 
2  oder  3  Jahre  später  empfand  ich  plötzlich  die  müssige  Rolle,  welche  das  „Ding  an 
sich"  spielt.  An  einem  heitern  Sommertage  im  Freien  erschien  mir  einmal  die  Welt 
sammt  meinem  Ich  als  eine  zusammenhängende  Masse  von  Empfhidungen,  nur  im 
Ich  stärker  zusammenhängend.  Obgleich  die  eigentliche  Reflexion  sich  erst  später 
hinzugesellte,  so  ist  doch  dieser  Moment  für  meine  ganze  Anschauung  bestimmend 
geworden.  Uebrigens  habe  ich  noch  einen  langen  und  harten  Kampf  gekämpft,  bevor 
ich  im  Stande  war,  die  gewonnene  Ansicht  auch  in  meinem  Specialgebiete  festzuhalten. 
Man  nimmt  mit  dem  Wertvollen  der  physikalischen  Lehren  notwendig  eine  bedeutende 
Dosis  falscher  Metaphysik  auf,  welche  von  dem,  was  beibehalten  werden  muss,  recht 
schwer  losgeht,  gerade  dann,  wenn  diese  Lehren  geläufig  geworden.  Auch  die  über- 
kommenen instinctiven  Auffassungen  traten  zeitweilig  mit  grosser  Gewalt  hervor  und 
stellten    sich    hemmend    in    den    Weg.      Erst    durch    abwechselnde   Beschäftigung    mit 


—       24       — 

durch  die  für  besondere  praktische  temporäre  und  beschränkte 
Zwecke  gebildeten  Zusammenfassungen  und  Abgrenzungen 
(Körper,  Ich,  Materie,  Geist  .  .  .  .)  nicht  hindern  lassen.  Viel- 
mehr müssen  sich  bei  der  Forschung  selbst,  wie  dies  in  jeder 
Specialwissenschaft  geschieht,  die  zweckmässigsten  Denkformen 
erst  ergeben.  Es  muss  durchaus  an  die  Stelle  der  überkommenen 
instinktiven  eine  freiere,  naivere,  der  entwickelten  Erfahrung  sich 
anpassende  Auffassung  treten. 

14. 
Die  Wissenschaft  entsteht  immer  durch  einen  Anpassungs- 
process  der  Gedanken  an  ein  bestimmtes  Erfahrungsgebiet.  Das 
Resultat  des  Processes  sind  die  Gedanken elemente,  welche  das 
ganze  Gebiet  darzustellen  vermögen.  Das  Resultat  fällt  natürlich 
verschieden  aus,  je  nach  der  Art  und  der  Grösse  des  Gebietes. 
Erweitert  sich  das  Erfahrungsgebiet,  oder  vereinigen  sich  mehrere 
bisher  getrennte  Gebiete,  so  reichen  die  überkommenen  geläufigen 


Physik  und  Physiologie  der  Sinne,  sowie  durch  historisch-physikalische  Studien  habe 
ich  (etwa  seit  1863),  nachdem  ich  den  Widerstreit  in  meinen  Vorlesungen  über  Psycho- 
physik  (im  Auszug  in  ,,Zeitschr.  f.  prakt.  Heilkunde",  Wien  1863,  S.364)  noch  durch  eine 
physikalisch-psychologische  Monadologie  vergeblich  zu  lösen  versucht  hatte,  in  meinen 
Ansichten  eine  grössere  Festigkeit  erlangt.  Ich  mache  keinen  Anspruch  auf  den  Namen 
eines  Philosophen.  Ich  wünsche  nur  in  der  Physik  einen  Standpunkt  einzunehmen, 
den  man  nicht  sofort  verlassen  muss,  wenn  man  in  das  Gebiet  einer  andern  Wissen- 
schaft hinüberblickt,  da  schliesslich  doch  alle  ein  Ganzes  bilden  sollen.  Die  heutige 
Molekularphysik  entspricht  dieser  Forderung  entschieden  nicht.  Was  ich  sage,  habe 
ich  vielleicht  nicht  zuerst  gesagt.  Ich  will  meine  Darlegung  auch  nicht  als  eine  be- 
sondere Leistung  hinstellen.  Vielmehr  glaube  ich,  dass  jeder  ungefähr  denselben  Weg 
einschlagen  wird,  der  in  besonnener  Weise  auf  einem  nicht  zu  beschränkten  Wissens- 
gebiet Umschau  hält.  Meinem  Standpunkt  nahe  liegt  jener  von  Avenarius,  den  ich 
1883  kennen  gelernt  habe  (Philosophie  als  Denken  der  Welt  nach  dem  Princip  des 
kleinsten  Kraftmaasses,  1876).  Auch  Hering  in  seiner  Rede  über  das  Gedächtniss 
(Almanach  der  Wiener  Akademie  1870,  S.  258)  und  J.  Popper  in  dem  schönen  Buche 
„Das  Recht  zu  leben  und  die  Pflicht  zu  sterben",  Leipzig  1878,  S.  62,  bewegen  sich 
in  ähnlichen  Gedanken.  Vergl.  auch  meine  Rede  „Ueber  die  öconomische  Natur  der 
physikalischen  Forschung"  (Almanach  der  Wiener  Akademie  1882,  S.  179  Anmerkung). 
Endlich  muss  ich  hier  noch  auf  die  Einleitung  zu  W.  Preyer's  ,, Reine  Empfindungs- 
lehre" sowie  auf  Riehl's  Freiburger  Antrittsrede  S.  40  und  auf  R.  Wahle's  ,, Gehirn 
und  Bewusstsein",  1884,  hinweisen.  Meine  Ansichten  hatte  ich  1882  und  1883  zuerst 
ausführlicher  dargelegt,  nachdem  ich  dieselbe  1872  und  1875  ^^'-'''^  angedeutet  hatte. 
Wahrscheinlich  müsste  ich  noch  viel  mehr  oder  weniger  Verwandtes  anführen,  wenn 
ich    eine  ausgebreitere  Literaturkenntniss  hätte. 


—     25     — 

Gedankenelemente  für  das  weitere  Gebiet  nicht  mehr  aus.  Im 
Kampfe  der  erworbenen  Gewohnheit  mit  dem  Streben  nach  An- 
passung entstehen  die  Probleme,  welche  mit  der  vollendeten 
Anpassung  verschwinden,  um  andern,  die  einstweilen  auftauchten, 
Platz  zu  machen. 

Dem  blossen  Physiker  erleichtert  der  Gedanke  eines  Körpers 
die  Orientirung,  ohne  störend  zu  werden.  Wer  rein  praktische 
Zwecke  verfolgt,  wird  durch  den  Gedanken  des  Ich  wesentlich 
unterstützt.  Denn  ohne  Zweifel  behält  jede  Denkform,  welche 
unwillkürlich  oder  willkürlich  für  einen  besondern  Zweck  ge- 
bildet wurde,  für  eben  diesen  Zweck  einen  bleibenden  Werth. 
Sobald  aber  Physik  und  Psychologie  sich  berühren,  zeigen  sich 
die  Gedanken  des  einen  Gebietes  als  unhaltbar  in  dem  andern. 
Dem  Bestreben  der  gegenseitigen  Anpassung  entspringen  die 
mannigfalltigen  Atom-  und  Monadentheorieen,  ohne  doch  ihrem 
Zweck  genügen  zu  können.  Die  Probleme  erscheinen  im  Wesent- 
lichen beseitigt,  die  erste  und  wichtigste  Anpassung  demnach  aus- 
geführt, wenn  wir  die  Elemente  (in  dem  oben  S.  lo  bezeich- 
neten Sinne)  als  Weltelemente  ansehen.  Diese  Grundanschau- 
ung kann  (ohne  sich  als  eine  Philosophie  für  die  Ewigkeit  aus- 
zugeben) gegenwärtig  allen  Erfahrungsgebieten  gegenüber  fest- 
gehalten werden ;  sie  ist  also  diejenige,  welche  mit  dem  geringsten 
Aufwand,  ökonomischer  als  eine  andere,  dem  temporären  Ge- 
sammt wissen  gerecht  wird.  Diese  Grundanschauung  tritt  auch 
im  Bewusstsein  ihrer  lediglich  ökonomischen  Function  mit  der 
höchsten  Toleranz  auf.  Sie  drängt  sich  nicht  auf  in  Gebieten,  in 
welchen  die  gangbaren  Anschauungen  noch  ausreichen.  Sie  ist 
auch  stets  bereit,  bei  neuerlicher  Erweiterung  des  Erfahrungs- 
gebietes einer  besseren  zu  weichen. 

15- 
Die  Vorstellungen    und  Begriffe  des  gemeinen  Mannes  von 
der    Welt    werden    nicht    durch    die    volle,  reine  Erkenntniss  als 
Selbstzweck,   sondern    durch   das  Streben   nach   günstiger  An- 
passung   an    die  Lebensbedingungen  gebildet  und  beherrscht. 


—       26       — 

Darum  sind  sie  weniger  genau,  bleiben  aber  dafür  auch  vor  den 
Monstrositäten  bewahrt,  welche  bei  einseitiger  eifriger  Verfolgung 
eines  wissenschaftlichen  (philosophischen)  Gesichtspunktes  sich  leicht 
ergeben.  Dem  unbefangenen,  psychisch  voll  entwickelten  Menschen 
erscheinen  die  Elemente,  die  wir  mit  ABC.,  bezeichnet  haben, 
räumlich  neben  und  ausserhalb  der  Elemente  K  L  M  .  . 
und  zwar  unmittelbar,  nicht  etwa  durch  einen  psychischen 
Projections-  oder  einen  logischen  Schluss-  oder  Constructions- 
process,  der,  wenn  er  auch  existiren  würde,  sicher  nicht  ins  Be- 
wusstsein  fiele.  Er  sieht  also  eine  von  seinem  Leib  K  L  M  .  . 
verschiedene,  ausser  diesem  existirende  ,,Aussenwelt"  ABC.. 
Indem  er  zunächst  die  Abhängigkeit  der  ABC.,  von  den,  sich 
immer  in  ähnlicher  Weise  wiederholenden,  und  daher  wenig  be- 
merkten, K  L  M  .  .  nicht  beachtet,  sondern  den  festen  Zusammen- 
hängen der  ABC.,  untereinander  nachgeht,  erscheint  ihm  eine 
von  seinem  Ich  unabhängige  Welt  von  Dingen.  Dieses  Ich  bildet 
sich  durch  die  Beachtung  der  besonderen  Eigenschaften  des  Einzel- 
dinges K  L  M  .  .,  mit  welchen  Schmerz,  Lust,  Fühlen,  Wollen  u.  s.  w. 
aufs  Engste  zusammenhängen.  Er  bemerkt  ferner  Dinge  K'  L'  M', 
K"  L"  M"  .  .,  die  sich  ganz  analog  K  L  M  verhalten,  und  deren 
Verhalten  im  Gegensatz  zu  demjenigen  von  ABC.,  ihm  erst 
recht  vertraut  wird,  sobald  er  sich  an  dieselben  ganz  analoge 
Empfindungen,  Gefühle  u.  s.  w.  g'ebunden  denkt,  wie  er  dieselben 
an  sich  selbst  beobachtet.  Die  Analogie,  welche  ihn  hiezu  treibt, 
ist  dieselbe,  die  ihn  bestimmt,  an  einem  Draht,  an  dem  er  alleEig'en- 
schaften  eines  elektrisch  durchströmten  Leiters,  mit  Ausnahme 
einer  jetzt  nicht  direct  nachweisbaren,  beobachtet,  auch  diese  eine 
als  vorhanden  anzusehen.  Indem  er  nun  die  Empfindungen  der 
Mitmenschen  und  Thiere  nicht  wahrnimmt,  sondern  nur  nach 
der  Analogie  ergänzt,  während  er  aus  dem  Verhalten  der  Mit- 
menschen entnimmt,  dass  sie  sich  ihm  gegenüber  in  demselben 
Falle  befinden,  sieht  er  sich  veranlasst,  den  Empfindung-en,  Erinne- 
rungen u,  s.  w.  eine  besondere,  von  ABC...KLM... 
verschiedene  Natur  zuzuschreiben,  die  je  nach  der  Kulturstufe 
ungleich  aufgefasst  wird,  was,  wie  oben  g-ezeigt  wurde,  unnöthig 


—       27       — 

ist  und  auf  wissenschaftliche  Irrwege  führt,  wenn  dies  auch  fürs 
praktische  Leben  von  geringer  Bedeutung  ist. 

Diese,  die  intellectuelle  Situation  des  naiven  Menschen  be- 
stimmenden Momente  treten  je  nach  Bedürfniss  des  praktischen 
Lebens  in  diesem  abwechselnd  hervor  und  bleiben  in  einem  nur 
wenig  schwankenden  Gleichgewicht.  Die  wissenschaftliche  Welt- 
betrachtung betont  aber  bald  das  eine,  bald  das  andere  Moment 
stärker,  nimmt  bald  von  dem  einen,  bald  von  dem  andern  ihren 
Ausgangspunkt,  und  sucht  in  ihrem  Streben  nach  Verschärfung, 
Einheitlichkeit  und  Consequenz  die  entbehrlichen  Auffassungen, 
so  viel  als  ihr  möglich  scheint,  zu  verdrängen.  So  entstehen  die 
dualistischen  und  die  monistischen  Systeme. 

Der  naive  Mensch  kennt  die  Blindheit,  Taubheit,  und  weiss 
aus  den  alltäglichen  Erfahrungen,  dass  das  Aussehen  der  Dinge 
durch  seine  Sinne  beeinflusst  wird;  es  fällt  ihm  aber  nicht  ein, 
die  ganze  Welt  zu  einer  Schöpfung  seiner  Sinne  zu  machen.  Ein 
idealistisches  System  oder  gar  die  Monstrosität  des  Solipsismus 
wäre  ihm  praktisch  unerträglich. 

Die  unbefangene  wissenschaftliche  Betrachtung  wird  leicht 
dadurch  getrübt,  dass  eine  für  einen  besonderen  engbegrenzten 
Zweck  passende  Auffassung  von  vornherein  zur  Grundlage  aller 
Untersuchungen  gemacht  wird.  Dies  geschieht  z.  B.,  wenn  alle 
Erlebnisse  als  in  das  Bewusstsein  sich  erstreckende  „Wirkungen" 
einer  Aussenwelt  angesehen  werden.  Ein  scheinbar  unentwirr- 
bares Knäuel  von  metaphysischen  Schwierigkeiten  ist  hiemit  ge- 
geben. Der  Spuk  verschwindet  jedoch  sofort,  wenn  man  die  Sache 
sozusagen  in  mathematischem  Sinne  auffasst,  und  sich  klar  macht, 
dass  nur  die  Ermittelung  von  Function albeziehungen  für 
uns  Werth  hat,  dass  es  ledigHch  die  Abhänigigkeiten  der 
Erlebnisse  voneinander  sind,  die  wir  zu  kennen  wünschen. 
Zunächst  ist  dann  klar,  dass  die  Beziehung  auf  unbekannte,  nicht 
gegebene  Urvariable  (Dinge  an  sich)  eine  rein  fictive  und  müssige 
ist.  Aber  auch  wenn  man  diese  zwar  unökonomische  Fiction  zu- 
nächst bestehen  lässt,  kann  man  leicht  die  verschiedenen  Classen 


28 


der  Abhängigkeit  unter  den  Elementen  der  „Thatsachen   des  Be- 
wusstseins"  unterscheiden,  und  das  ist  für  uns  allein  wichtig. 


ABC  .  . 

.  .  KL  AI .  .  . 

aßy  .   . 

K'L'  M'  .  .  . 

a   ß'  y    .  . 

K"r'M"  .... 

«"  ß"  f    .  . 

In  vorstehendem  Schema  ist  das  System  der  Elemente  an- 
g-edeutet.  Innerhalb  des  einfach  umzogenen  Raumes  liegen  die 
Elemente,  welche  der  Sinnen  weit  angehören,  und  deren  gesetz- 
mässige  Verbindung,  deren  eigenartige  Abhänigkeit  von  ein- 
ander, die  physikalischen  (leblosen)  Körper,  sowie  die  Leiber 
der  Menschen,  Thiere  und  Pflanzen  darstellt.  Wieder  in  ganz 
besonderer  Abhängigkeit  stehen  alle  diese  Elemente  von  einigen 
der  Elemente  K  L  M,  den  Nerven  unseres  Leibes,  worin  sich 
die  Thatsachen  der  Sinnesphysiologie  aussprechen.  Der  doppelt 
umzogene  Raum  enthält  die  dem  höhern  psychischen  Leben  an- 
gehörigen  Elemente,  die  Erinnerungsbilder,  Vorstellungen,  darunter 
auch  diejenigen,  welche  wir  uns  von  dem  psychischen  Leben  der 
Mitmenschen  bilden,  die  durch  Accente  unterschieden  werden  mögen. 
Die  Vorstellungen  hängen  zwar  untereinander  wieder  in  an- 
derer Weise  zusammen  (Association,  Phantasie)  als  die  sinnlichen 
Elemente  ABC  .  .  .  K  L  M,  doch  lässt  sich  nicht  zweifeln,  dass 
sie  mit  den  letzteren  in  der  intimsten  Verwandtschaft  stehen,  und 
dass  ihr  Verhalten  in  letzter  Linie  durch  A  B  C  .  .  .  K  LM,  die 
gesammte  physikalische  Welt,  insbesondere  durch  unsern  Leib, 
und  das  Nervensystem  bestimmt  ist.  Die  Vorstellungen  a  ß'  y  .  . 
von  dem  Bewusstseinsinhalt  unserer  Mitmenschen  spielen  für  uns 
die  Rolle  von  Zwischensubstitutionen,  durch  welche  uns  das 
Verhalten  der  Mitmenschen,  die  Functionalbeziehung  von  K'  L'  M' 
zu  A  B  C,  soweit  dasselbe  für  sich  allein  (physikalisch)  unaufge- 
klärt bliebe,  verständlich  wird. 

Es  ist  also  für  uns  wichtig  zu  erkennen,  dass  es  bei  allen 
Fragen,  die  hier  vernünftiger  Weise  gestellt  werden,  und  die  uns 
interessiren  können,  auf  die  Berücksichtigung  verschiedener  Grund- 
variablen    und     verschiedener     Abhängigkeitsverhältnisse 


—       29       — 

ankommt.  Das  ist  die  Hauptsache.  An  dem  Thatsächlichen,  an 
den  Functionalbeziehungen,  wird  nichts  geändert,  ob  wir  alles 
Gegebene  als  Bewusstseinsinhalt,  oder  aber  theilweise  oder 
ganz  als  physikalisch  ansehen.  Die  biologische  Aufgabe  der 
Wissenschaft  ist,  dem  vollsinnigen  menschlichen  Individuum  eine 
möglichst  vollständige  Orientirung  zu  bieten.  Ein  anderes 
wissenschaftliches  Ideal  ist  nicht  realisirbar,  und  hat  auch  keinen 
Sinn. 

Der  philosophische  Standpunkt  des  gemeinen  Mannes,  wenn 
man  dessen  naivem  Realismus  diesen  Namen  zuerkennen  will, 
hat  Anspruch  auf  die  höchste  Werthschätzung.  Derselbe  hat  sich 
ohne  das  absichtliche  Zuthun  des  Menschen  in  unmessbar  langer 
Zeit  ergeben;  er  ist  ein  Naturprodukt  und  wird  durch  die  Natur 
erhalten.  Alles,  was  die  Philosophie  geleistet  hat  —  die  bio- 
logische Berechtigung  jeder  Stufe,  ja  jeder  Verirrung  zugestanden 
—  ist  dagegen  nur  ein  unbedeutendes  ephemeres  Kunstpro- 
dukt. Und  wirklich  sehen  wir  jeden  Denker,  auch  jeden  Philo- 
sophen, sobald  er  durch  praktische  Bedrängniss  aus  einer  einseitigen 
intellectuellen  Beschäftigung  vertrieben  wird,  sofort  den  allgemeinen 
Standpunkt  einnehmen.  Professor  X,  welcher  theoretisch  Solipsist 
zu  sein  glaubt,  ist  es  praktisch  gewiss  nicht,  sobald  er  dem  Mi- 
nister für  einen  erhaltenen  Orden  dankt,  oder  seinem  Auditorium 
eine  Vorlesung  hält.  Der  geprügelte  Pyrrhonist  in  Moliere's 
„Mariage  force"  sagt  nicht  mehr:  „il  me  semble  que  vous  me 
battez,"  sondern  nimmt  die  Schläge  als  wirklich  erhalten  an. 

Die  „Vorbemerkungen"  suchen  auch  keineswegs  den  Stand- 
punkt des  gemeinen  Mannes  zu  discreditiren.  Dieselben  stellen 
sich  nur  die  Aufgabe  und  zeigen,  warum  und  zu  welchem 
Zweck  wir  den  grössten  Theil  des  Lebens  diesen  Standpunkt 
einnehmen,  und  warum,  zu  welchem  Zweck  und  in  welcher 
Richtung  wir  denselben  vorübergehend  verlassen  müssen.  Kein 
Standpunkt  hat  eine  absolute  bleibende  Geltung;  jeder  ist  nur 
wichtig  für  einen  bestimmten  Zweck. 


IL  Ueber  vorgefasste  Meinungen. 


Der  Physiker  hat  oft  Gelegenheit  zu  sehen,  wie  sehr  die  Er- 
kenntniss  eines  Gebietes  dadurch  gehemmt  werden  kann,  dass 
anstatt  der  vorurtheilslosen  Untersuchung  desselben  an  sich,  die 
auf  einem  andern  Gebiet  gefassten  Ansichten  auf  dasselbe  über- 
tragen werden.  Weit  bedeutender  ist  die  Störung,  welche  durch 
solche  Uebertragung  vorgefasster  Meinungen  aus  dem  Gebiet  der 
Physik  in  jenes  der  Psychologie  entsteht.  Erläutern  wir  dies 
durch  einige  Beispiele. 

Ein  Physiker  beobachtet  das  verkehrte  Netzhautbild  an  einem 
ausgeschnittenen  Auge,  und  stellt  sich  die  Frage,  wie  es  kommt, 
dass  ein  Punkt,  der  im  Räume  unten  liegt,  sich  auf  der  Netz- 
haut oben  abbildet.  Diese  Frage  beantwortet  er  durch  dioptrische 
Untersuchungen.  Wenn  nun  dieselbe  Frage,  welche  im  Gebiete 
der  Physik  vollkommen  berechtigt  ist,  in  die  Psychologie  über- 
tragen wird,  erzeugt  sie  nur  Unklarheiten.  Die  Frage,  warum 
wir  die  verkehrten  Netzhautbilder  aufrecht  sehen,  hat  als 
psychologisches  Problem  keinen  Sinn.  Die  Lichtempfindungen 
der  einzelnen  Netzhautstellen  sind  von  Anbeginn  mit  Raum- 
empfindungen verknüpft,  und  wir  nennen  die  Orte,  welche  den 
unten  gelegenen  Stellen  der  Netzhaut  entsprechen^  „oben."  Dem 
empfindenden  Subject  kann  sich  eine  solche  Frage  gar  nicht 
ergeben. 

Ebenso  verhält  es  sich  mit  der  bekannten  Theorie  der  Pro- 
jection  nach  aussen.  Es  ist  die  Aufgabe  des  Physikers,  den 
leuchtenden  Objectpunkt  zu  dem  Bildpunkt  auf  der  Netzhaut  in  der 


—     31      — 

Verlängerung  des  durch  den  Bildpunkt  und  den  Kreuzungspunkt 
des  Auges  gezogenen  Strahles  zu  suchen.  Für  das  empfindende 
Subject  existirt  ein  solches  Problem  nicht,  da  die  Lichtempfin- 
dungen von  Anfang  an  an  bestimmte  Raumempfindungen  ge- 
knüpft sind.  Die  ganze  Theorie  des  psychologischen  Ursprungs 
der  Aussenwelt  durch  Projection  der  Empfindungen  nach  aussen 
beruht  nur  auf  einer  miss verständlichen  Anwendung  physikalischer 
Gesichtspunkte.  Unsere  Gesichts-  und  Tastempfindungen  sind  an 
verschiedene  Raum empfindun gen  gebunden,  d.  h.  sie  sind  neben- 
einander und  aussereinander,  sie  befinden  sich  in  einem 
räumlichen  P'eld,  von  welchem  unser  Leib  nur  einen  Theil 
erfüllt.  Der  Tisch,  der  Baum,  das  Haus  liegt  also  selbstverständ- 
lich ausserhalb  meines  Leibes.  Ein  Projectionsproblem  liegt 
also  niemals  vor,  wird  weder  bewusst  noch  unbewusst  gelöst. 

Ein  Ph3^siker  (Mariotte)  findet,  dass  eine  bestimmte  Stelle 
der  Netzhaut  blind  ist.  Der  Ph3^siker  ist  gewohnt,  jedem  Raum- 
punkt einen  Bildpunkt  und  jedem  Bildpunkt  eine  Empfindung 
zuzuordnen.  So  entsteht  die  Frage :  Was  sehen  wir  an  den 
dem  blinden  Fleck  entsprechenden  Raumstellen?  Wie  wird  die 
Lücke  ausgefüllt?  Wenn  die  unberechtigte  physikalische  Fragen- 
form aus  der  psychologischen  Untersuchung  ausgeschaltet  wird, 
finden  wir,  dass  ein  Problem  hier  überhaupt  nicht  besteht.  Wir 
sehen  nichts  an  der  blinden  Stelle,  die  Lücke  im  Bild  wird 
überhaupt  nicht  ausgefüllt.  Die  Lücke  wird  vielmehr  gar  nicht 
empfunden,  einfach  darum,  weil  ein  Fehlen  der  Lichtempfundung 
an  einer  von  Haus  aus  blinden  Stelle  so  wenig  bemerkt  werden 
kann,  als  etwa  die  blinde  Haut  des  Rückens  eine  Lücke  im 
Gesichtsfeld  bedingen  kann. 

Ich  habe  absichtlich  einfache  und  naheliegende  Beispiele  ge- 
wählt, um  zu  zeigen,  welche  unnöthige  Verwirrung  durch  die 
unvorsichtige  Uebertragung  der  in  einem  Gebiet  gültigen  An- 
sicht   oder  Denkweise  auf  ein  gänzhch  anderes  entstehen  kann. 

In  dem  Werk  eines  berühmten  deutschen  Ethnographen  las 
ich  den  folgenden  Satz:  „dieser  Stamm  hat  sich  durch  Menschen- 
fresserei tief  entwürdigt".    Daneben  lag  das  Buch  eines  englischen 


^      32      — 

Forschers,  welches  sich  mit  demselben  Gegenstande  beschäftigt. 
Der  letztere  stellt  einfach  die  Frage  auf,  warum  gewisse  Südsee- 
insulaner Canibalen  sind,  findet  im  Verlaufe  der  Untersuchung,  dass 
auch  unsere  Vorfahren  Canibalen  waren,  und  gelangt  auch  zum 
Verständniss  der  Anschauungen  der  Indier  in  dieser  Frage.  Dieses 
leuchtete  auch  einmal  meinem  5  Jahre  alten  Knaben  auf,  der 
beim  Verspeisen  eines  Bratens  plötzlich  erschreckt  und  betroffen 
inne  hielt,  und  ausrieft .  „Wir  sind  für  die  Thiere  Menschenfresser!" 
„Du  sollst  nicht  Menschen  fressen"'  ist  ein  sehr  lobenswerther 
Grundsatz.  In  dem  Munde  des  Ethnographen  vernichtet  er  aber 
den  erhabenen  milden  Glanz  der  Unbefangenheit,  in  dem  wir  den 
P^orscher  so  gern  erblicken.  Noch  einen  Schritt  weiter,  und  wir 
sagen  auch:  ,,Der  Mensch  darf  nicht  vom  Affen  abstammen",  „die 
Erde  soll  sich  nicht  drehen",  „die  Materie  soll  den  Raum  nicht 
continuirlich  ausfüllen",  „die  Energie  muss  constant  sein"  u.  s.  w, 
Ich  glaube,  dass  unser  Vorgehen  sich  nur  dem  Grade  nach  und 
nicht  der  Art  nach  von  dem  eben  bezeichneten  unterscheidet,  wenn 
wir  physikalische  Ansichten  mit  dem  Anspruch  der  absoluten 
Gültigkeit,  ohne  vorher  deren  Verwendbarkeit  erprobt  zu  haben, 
in  das  Gebiet  der  Psychologie  übertragen.  In  solchen  Fällen  unter- 
liegen wir  dem  Dogma,  wenn  auch  nicht  dem  aufgezwungenen, 
wie  unsere  scholastischen  Vorfahren,  so  doch  dem  selbstgemachten. 
Und  welches  Forschungsergebniss  könnte  durch  lange  Gewohn- 
heit nicht  zum  Dogma  werden?  Dieselbe  Gewandtheit  welche 
wir  uns  für  oft  wiederkehrende  intellectuelle  Situationen  erworben 
haben,  benimmt  uns  ja  die  Frische  und  Unbefangenheit,  deren 
wir  in  neuen  Situationen  so  sehr  bedürfen. 

Nach  diesen  allgemeinen  Bemerkungen  kann  ich  die  nöthigen 
erläuternden  Ausführungen  über  meine  Stellung  zum  Dualismus 
des  Physischen  und  Psychischen  vorbringen.  Derselbe  ist  meines 
Erachtens  künstlich  und  ohne  Noth  herbeigeführt. 

2. 
Bei  Untersuchung   rein    physikalischer  Processe   verwenden 
wir  gewöhnlich  so  abstracte  Begriffe,  dass  wir  in  der  Regel  nur 


flüchtig'  oder  gar  nicht  an  die  Empfindungen  (Elemente)  denken, 
welche  diesen  Begriffen  zu  Grunde  liegen.  Wenn  ich  z.  B.  fest- 
stelle, dass  der  elektrische  Strom  von  der  Intensität  i  Ampere 
in  der  Minute  10Y2  ccm  Knallgas  von  o*^C  und  760  mm  Queck- 
silberdruck entwickelt,  bin  ich  sehr  geneigt,  den  definirten  Ob- 
jecten  eine  von  meinen  Sinnesempfindungen  ganz  unabhängige 
Realität  zuzuschreiben.  Um  aber  zu  dem  Definirten  zu  gelangen, 
bin  ich  genöthig't,  den  Strom,  dessen*  ich  mich  nur  durch  Sinnes- 
empfindungen versichern  kann,  durch  einen  kreisförmigen  Draht 
von  bestimmtem  Radius  zu  leiten,  so  dass  derselbe  bei  gegebener 
Intensität  des  Erdmagnetismus  die  Magnetnadel  um  einen  be- 
stimmten Winkel  aus  dem  Meridian  ablenkt.  Die  Bestimmung 
der  magnetischen  Intensität,  der  Knallgasmenge  u.  s.  w.,  ist  nicht 
weniger  umständlich.  Die  ganze  Bestimmung  gründet  sich  auf 
eine  fast  unabsehbare  Reihe  von  Sinnesempfindungen,  insbesondere 
wenn  noch  die  Justirung  der  Apparate  in  Betracht  gezogen  wird, 
welche  der  Bestimmung  vorausgehen  muss.  Nun  kann  es  dem 
Physiker,  der  nicht  die  Psychologie  seiner  Operationen 
studirt,  leicht  begegnen,  dass  er,  um  eine  bekannte  Redeweise  um-, 
zukehren,  die  Bäume  vor  lauter  Wald  nicht  bemerkt,  dass  er  die 
Empfindungen  als  Grundlage  seiner  Begriffe  übersieht.  Ich  halte 
nun  aufrecht,  dass  ein  physikalischer  Begriff  nur  eine  bestimmte 
Art  des  Zusammenhanges  sinnlicher  Elemente  bedeutet, 
welche  in  dem  Vorigen  mit  ABC.,  bezeichnet  wurden.  Diese 
Elemente  —  Elemente  in  dem  Sinne,  dass  eine  weitere  Auflösung 
bisher  noch  nicht  gelungen  ist  —  sind  die  einfachsten  Bausteine 
der  physikalischen  (und  auch  der  psychologischen)  Welt. 

Eine  physiologische  Untersuchung  kann  einen  durchaus 
physikalischen  Charakter  haben.  Ich  kann  den  Verlauf  eines 
physikalischen  Processes  durch  einen  sensiblen  Nerv  zum  Central- 
organ  verfolgen,  von  da  seine  verschiedenen  Wege  zu  den  Muskeln 
aufsuchen,  deren  Contraction  neue  physikalische  Veränderungen 
in  der  Umgebung  bedingt.  Ich  muss  hiebei  an  keine  Empfin- 
dung des  beobachteten  Menschen  oder  Thieres  denken.  Was  ich 
untersuche,  ist  ein  rein  physikalisches  Object.    Ohne  Zweifel  fehlt 

Mach,  Analyse.    3.  Aufl.  «J 


—      34     — 

hier  sehr  viel  zum  Verständniss  der  Einzelheiten,  und  die  Ver- 
sicherung-, dass  Alles  auf  „Bewegamg  der  Moleküle"  beruhe,  kann 
mich  über  meine  Unwissenheit  nicht  trösten  und  nicht  täuschen, 
Lange  vor  Entwicklung-  einer  wissenschaftlichen  Psychologie 
hat  jedoch  der  Mensch  bemerkt,  dass  das  Verhalten  eines  Thieres 
unter  physikalischen  Einflüssen  viel  besser  vorausg-esehen,  d.  h. 
verstanden  wird,  indem  ihm  Empfindungen,  Erinnerungen  ähnlich 
den  unsrigen  zugeschrieben  werden.  Das,  was  ich  beobachte, 
meine  Empfindungen,  habe  ich  in  Gedanken  zu  ergänzen  durch 
die  Empfindungen  des  Thieres,  welche  ich  nicht  im  Gebiete  meiner 
Empfindung-en  antreffe.  Dieser  Gegensatz  erscheint  dem  Forscher, 
welcher  einen  Nervenprocess  mit  Hilfe  farbloser  abstracter  Be- 
griffe verfolg't,  und  der  z.  B.  genöthigt  ist,  diesem  Process  in  Ge- 
danken die  Empfindung  Grün  hinzuzufügen,  sehr  schroff.  Diese 
letztere  erscheint  in  der  That  als  etwas  gänzlich  Neues  und 
Eremdartiges,  und  wir  stellen  uns  die  Frage,  wie  dieses  wunder- 
bare Ding  aus  chemischen  Processen,  electrischen  Strömen  u.  dgl. 
hervorgehen  kann. 

3- 

Die  psychologische  Analyse  belehrt  uns  darüber,  dass  diese 
Verwunderung  nicht  gerechtfertig't  ist,  indem  der  Ph3^siker  immer 
mit  Empfindungen  operirt.  Dieselbe  Anatyse  zeigt  auch,  dass  die 
Ergänzung  von  Complexen  von  Empfindung'en  in  Gedanken  nach 
der  Analogie  durch  aug'enblicklich  nicht  beobachtete  Elemente, 
oder  solche,  welche  überhaupt  nicht  beobachtet  werden  können, 
vom  Physiker  tagtäglich  geübt  wird.  Dies  g-eschieht  z.  B.,  wenn 
er  sich  den  Mond  als  eine  greifbare,  schwere,  träg-e  Masse  vor- 
stellt. Die  gänzliche  Fremdartigkeit  der  oben  bezeichneten 
Situation  ist  also  eine  Illusion. 

Die  Illusion  verschwindet  aucli  durch  eine  andere  Betrach- 
tung, welche  sich  auf  die  eigene  sinnliche  Sphäre  beschränkt. 
Vor  mir  liegt  das  Blatt  einer  Pflanze.  Das  (xriin  (A)  des  IMattes 
i.st  vcrl)undcn  mit  einer  gewissen  optischen  Kaunicmpriiuhuig  (!>), 
einer   gewissen   'J'astenipriiidung  ((")  und   mit  der  Sichtbarkt'il  der 


—     35      — 

Sonne  oder  der  Lampe  (D).  Wenn  das  Gelb  (E)  der  Natrium- 
flamme an  die  Stelle  der  Sonne  tritt,  so  übergeht  das  Grün  des 
Blattes  in  Braun  (F).  Wenn  das  Chlorophyll  durch  Alkohol  ent- 
fernt wird,  eine  Operation  die  ebenfalls  durch  sinnliche  Elemente 
darstellbar  ist,  verwandelt  sich  das  Grün  (A)  in  Weiss  (G).  Alle 
diese  Beobachtungen  sind  physikalische.  Doch  das  Grün  (A) 
ist  auch  mit  einem  Process  meiner  Netzhaut  verknüpft.  Nichts 
hindert  mich  principiell,  diesen  Process  in  meinem  Auge  in  der- 
selben Weise  zu  untersuchen,  wie  in  den  oben  erwähnten  Eällen, 
und  denselben  in  Elemente  X  Y  Z  .  .  .  aufzulösen.  Stehen  der 
Untersuchung  am  eignen  Aug^e  Schwierigkeiten  im  Wege,  so 
kann  sie  am  fremden  Auge  ausgeführt  und  die  Lücke  nach  der 
Analogie  ausgefüllt  werden,  genau  so,  wie  bei  andern  physi- 
kalischen Untersuchungen.  Nun  ist  A  in  seiner  Abhängigkeit 
von  B  C  D  E  .  .  .  ein  physikalisches  Element,  in  seiner  Ab- 
hängigkeit von  X  Y  Z  ...  ist  es  eine  Empfindung,  und  kann 
auch  als  psychisches  Element  aufgefasst  werden.  Das  Grün 
(A)  an  sich  wird  aber  in  seiner  Natur  nicht  geändert,  ob  wir 
unsere  Aufmerksamkeit  auf  die  eine  oder  auf  die  andere  Form 
der  Abhängigkeit  richten.  Ich  sehe  daher  keinen  Gegen- 
satz von  Ps3^chischem  und  Physischem,  sondern  ein- 
fache Identität  in  Bezug  auf  diese  Elemente.  In  der 
sinnlichen  Sphäre  meines  Bewusstseins  ist  jedes  Object  zugleich 
physisch  und  psychisch.     (Vgl.  S.    13). 

4- 
Die  Dunkelheit,  die  man  in  dieser  intellectuellen  Situation  ge- 
funden hat,  entspringt  meines  Erachtens  nur  einer  physikali- 
schen Voreingenommenheit,  welche  in  das  psychologische  Gebiet 
übertragen  wurde.  Der  Physiker  sagt :  Ich  finde  überall  nur 
Körper  und  Bewegungen  von  Körpern ,  keine  Empfindungen ; 
Empfindungen  müssen  also  etwa.s  von  den  physikalischen  Ob- 
iecten,  mit  welchen  ich  verkehre,  Grundverschiedenes  sein. 
Der  Psycholog'e  acceptirt  den  zweiten  Theil  der  Behauptung.   Ihm 

sind,    das   ist   richtig',   zunächst  die  Empfindungen  gegeben ;  den- 

3* 


-     36      - 

selben  entspricht  aber  ein  mysteriöses  physikalisches  Etwas,  welches 
nach  der  vorgefassten  Meinung  von  Empfindungen  gänzlich  ver- 
schieden sein  muss.  Was  ist  aber  in  Wirklichkeit  das  Myste- 
riöse? Ist  es  die  Physis  oder  ist  es  die  Psyche?  oder  sind  es 
vielleicht  gar  beide?  Fast  scheint  es  so,  da  bald  die  eine,  bald 
die  andere,  in  undurchdringliches  Dunkel  gehüllt,  unerreichbar 
scheint.  Oder  werden  wir  hier  vom  bösen  Geist  im  Kreis  herum 
geführt  ? 

Ich  glaube  das  letztere.  Für  mich  sind  die  Elemente  ABC... 
unmittelbar  und  unzweifelhaft  gegeben,  und  für  mich  können  die- 
selben nachträglich  nicht  durch  Betrachtungen  verflüchtigt  werden, 
welche  sich  in  letzter  Linie  doch  immer  auf  deren  Existenz 
gründen. 

Die  Specialuntersuchung  der  sinnlichen  physisch-psychischen 
Sphäre,  welche  durch  diese  allgemeine  Orientirung  nicht  über- 
flüssig wird,  hat  die  Aufgabe,  den  eigenartigen  Zusammenhang 
der  A  B  C  , . .  zu  ermitteln.  Dies  kann  symbolisch  so  ausg"edrückt 
werden,  dass  man  der  Specialforschung  das  Ziel  setzt,  Gleichungen 
von  der  Form  F  (A,  B,  C  .  .)  =  o  zu  finden. 


III.  Mein  Verhältniss  zu  R.  Avenarius. 

I. 

Auf  Berührungspunkte  der  hier  vertretenen  Ansichten  mit 
jenen  verschiedener  Philosophen  und  philosophisch  denkender  Natur- 
forscher ist  schon  früher  hingewiesen  worden.  Sollte  ich  dieselben 
vollständig  aufzählen,  so  müsste  ich  wohl  bei  Spinoza  beginnen. 
In  Bezug  auf  R.  Avenarius  ist  aber  die  Verwandtschaft  eine 
so  nahe,  als  sie  bei  zwei  Individuen  von  verschiedenem  Ent- 
wicklungsgang und  verschiedenem  Arbeitsfeld,  bei  voller  gegen- 
seitiger Unabhängigkeit  überhaupt  erwartet  werden  kann.  Die 
Uebereinstimmung  wird  etwas  verdeckt  durch  die  grosse  Ver- 
schiedenheit der  Form.  Avenarius  gibt  eine  sehr  ausführliche, 
dabei  doch  allgemein  gehaltene  schematische  Darstellung,  deren 
Durchschauen  noch  durch  eine  fremdartige,  ungewöhnliche  Termino- 
logie erschwert  wird.  Zu  solcher  Darstellung  hatte  ich  weder  An- 
lass  noch  Beruf,  weder  Neigung  noch  auch  Talent.  Ich  bin  eben 
Naturforscher  und  nicht  Philosoph.  Ich  suchte  lediglich  einen 
sicheren  klaren  philosophischen  Standpunkt  zu  gewinnen,  von  dem 
aus  sowohl  in  das  Gebiet  der  Psychophysiologie,  als  auch  in  jenes 
der  Physik  gangbare  Wege  sich  zeigten,  auf  welchen  keine  meta- 
physischen Nebel  lagerten.  Hiermit  hielt  ich  alles  für  gewonnen. 
Meine  Darstellung  hat,  obwohl  sie  ebenfalls  auf  langjährigem  und 
in  früher  Jugend  begonnenen  Nachdenken  beruht,  in  ihrer  Kürze 
die  Form  eines  Apergu,  und  ich  werde  gar  nicht  gekränkt  sein, 
wenn  man  sie  als  ein  solches  auffassen  will.  Ich  gebe  gern  zu, 
dass  ich  in  meiner  Abneigung  gegen  eine  künstliche  Terminologie 
vielleicht  in  das  entgegengesetzte  Extrem  verfallen  bin  als 
Avenarius.  Ist  dieser  oft  gar  nicht  verstanden,  jedenfalls  spät 
verstanden    worden,    so   hat   man    meine  Worte    oft    genug  miss- 


-      38      ~ 

verstanden.  Ein  geistreicher  Kritiker,  welcher  findet,  dass  ich  zu 
manchen  Resultaten  gelangt  bin,  zu  welchen  ich  nicht  hätte 
kommen  sollen  (!)  —  der  sich  also  die  Mühe  der  Untersuchung 
wohl  ersparen  kann,  da  er  die  Resultate  schon  kennt,  zu  welchen 
dieselbe  führen  soll  —  wirft  mir  auch  vor,  dass  ich  nicht  recht  zu 
fassen  sei,  da  ich  mich  nur  der  ganz  g'ewöhnlichen  Sprache  bediene, 
und  demnach  das  „System,"  dem  ich  mich  anschliesse,  nicht  er- 
sichtlich sei.  Man  hat  also  vor  allem  ein  System  zu  wählen;  dann 
darf  man  innerhalb  desselben  auch  denken  und  sprechen.  So  hat 
man  in  meine  Worte  landläufige  geläufige  Ansichten  recht  bequem 
hineingelesen,  mich  zu  einem  Idealisten ,  Berkeleyaner,  auch  Ma- 
terialisten u.  s.  w.  gemacht,  woran  ich  unschuldig  zu  sein  glaube. 
Jede  der  beiden  extremen  Darstellungsweisen  hat  eben  ihre 
Vor-  und  Nachtheile.  Aber  auch  auf  die  gegenseitige  Verständigung 
zwischen  Avenarius  und  mir  hat  die  Formverschiedenheit  nach- 
theiligen Einfluss  geübt.  Ich  erkannte  ja  die  Verwandtschaft  der 
Ansichten  sehr  bald,  und  gab  meiner  Ueberzeugamg-,  dass  eine  solche 
bestehe,  1883  in  der  „Mechanik"  und  1886  in  der  ersten  Auflage 
dieses  Buches  Ausdruck,  wobei  ich  aber  nur  auf  eine  kleine  Schrift 
von  Avenarius^),  welche  1876  erschienen,  und  mir  kurz  vor 
Ausgabe  der  Mechanik  durch  einen  Zufall  bekannt  geworden  war, 
hinweisen  konnte.  Die  Gleichartig'keit  der  Tendenz  trat  für  mich 
erst  1888,  1891  und  1894  durch  Avenarius'  Publikationen: 
,, Kritik  der  reinen  Erfahrung,"  „Der  menschliche  Weltbegriff"  und 
seine  psychologischen  Artikel  in  der  Vierteljahrsschrift  voll  hervor. 
Hier  hinderte  mich  aber  bei  ersterer  Schrift  die  etwas  hyper- 
trophische Terminologie,  die  Freude  der  Zustimmung  in  vollen 
Zügen  zu  geniessen.  Es  ist  ja  von  einem  älteren  Menschen  viel 
verlangt,  dass  er  zu  den  vielen  Sprachen  der  Völker  auch  noch  die 
Sprache  eines  Einzelnen  erlerne.  Es  blieb  also  natürlich  der 
jüngeren  Generation  vorbehalten,  die  Arbeit  von  Avenarius 
nutzbar  zu  machen.  Ich  freue  mich  hier  auf  die  Schriften  von 
C.  Flauptmann  und   J.  Petzoldt  hinweisen    zu  können,  welche 


l)  Denken  der  Welt  nach  dem  rrinzip  des  kleinstes  Kraftmaasses,    1876. 


—     39     — 

daran  sind,  den  Kern  der  Avenarius'schen  Arbeiten  bloss  zu 
legen  und  weiter  zu  entwickeln.  Auch  Avenarius  hat  seiner- 
seits die  Verwandtschaft  erkannt,  und  in  den  1888  bis  1895  er- 
schienenen Schriften  darauf  Bezug"  genommen.  Doch  scheint  sich 
die  Ueberzeugamg-  von  einer  tiefergehenden  Uebereinstimmung 
auch  bei  ihm  erst  allmälig'  entwickelt  zu  haben,  wie  ich  nach 
älteren  Aeusserungen  geg"en  dritte  Personen  annehmen  muss. 
Persönlich  habe  ich  Avenarius  nie  kennen  gelernt. 

2. 

Ich  möchte  nun  diejenig'en  Punkte  der  Uebereinstimmung 
insbesondere  bezeichnen,  auf  welche  ich  Werth  lege.  Die  Oeko- 
nomie  des  Denkens,  die  ökonomische  Darstellung  des  That- 
sächlichen  habe  ich  zuerst  187  i,  1872  in  aller  Kürze  als  die  wesent- 
liche Aufgabe  der  Wissenschaft  bezeichnet  und  1882,  1883  darauf 
bezügliche  weitere  Ausführungen  gegeben.  Wie  ich  anderwärts 
g'ezeigt  habe,  ist  diese  Auffassung,  welche  auch  den  Kirchhoff- 
schen  Gedanken  der  „vollständigen  einfachen  Beschreibung"  (1874) 
implicite  enthält  und  anticipirt,  keineswegs  ganz  neu,  sondern  lässt 
sich  bis  auf  Adam  Smith  und,  wie  P.  Volkmann  meint,  in  den 
Anfängen  bis  auf  Newton  zurück  verfolg"en.  Dieselbe  Auffas- 
sung finden  wir  nun,  abg'esehen  von  einem  gewissen  verhüllten 
Zug  in  der  Darstellung,  sehr  ausgebildet  bei  Avenarius 
wieder  (1876). 

Die  eben  bezeichnete  Ansicht  erhält  sofort  eine  breite  Grund- 
lage und  wird  von  neuen  Seiten  aufgeklärt,  wenn  man,  den  An- 
regungen der  Darwin 'sehen  Theorie  folgend,  das  ganze  psychische 
Leben  —  die  Wissenschaft  eingeschlossen  —  als  biologische 
Erscheinung  auffasst,  che  Darwin  "sehen  Vorstellungen  vom 
Kampf  ums  Dasein,  von  der  Entwicklung  und  Auslese  auf  die- 
selbe anwendet.  Diese  Ansicht  ist  untrennbar  von  der  Annahme, 
dass  alles  und  jedes  Psychische  physisch  fundirt,  be- 
stimmt sei.  In  seiner  „Kritik  der  reinen  Erfahrung"  versucht 
nun  Avenarius  im  Einzelnen  alles  theoretische  und  praktische 
Verhalten    als    bestimmt    durch   Aenderungen    des  Centralnerven- 


—      40      — 

Systems  darzustellen.  Hiebei  geht  er  nur  von  der  sehr  allgemeinen 
Voraussetzung  aus,  dass  das  Centralorgan  nicht  nur  als  Ganzes, 
sondern  auch  in  seinen  Theilen  ein  Streben  hat,  sich  zu  erhalten, 
eine  Tendenz,  seinen  Gleichgewichtszustand  zu  bewahren.  Diese 
stimmt  sehr  gut  mit  den  Vorstellungen,  die  Hering  von  dem 
Verhalten  der  lebendigen  Substanz  entwickelt  hat.  Mit  diesen 
Ansichten  steht  Avenarius  der  modernen  positiven  Forschung, 
speciell  der  physiologischen,  sehr  nahe.  Auch  in  meinen  Arbeiten 
treten  entsprechende  Aeusserungen  zwar  kurz,  aber  bestimmt 
schon  seit  1863  hervor,  und  1883  habe  ich  dieselben  breiter  dar- 
gelegt, ohne  jedoch  ein  vollständiges  System  zu  etwickeln  wie 
Avenarius. 

Den  höchsten  Werth  lege  ich  aber  auf  die  Uebereinstimmung 
in  der  Auffassung  des  Verhältnisses  des  Physischen  und  Psychischen. 
Diese  ist  für  mich  der  Kernpunkt.  Von  dieser  Coincidenz  mit 
Avenarius  wurde  ich  eigentlich  erst  durch  dessen  psychologische 
Artikel  überzeugt.  Um  ganz  sicher  zu  gehen,  richtete  ich  eine 
darauf  bezüghche  Frage  an  Herrn  Dr.  Rudolf  Wlassak,  der 
durch  seinen  mehrjährig'en  Verkehr  mit  Avenarius  mit  dessen 
Standpunkt  wohl  vertraut  sein  musste.  Ich  lasse  hier  seine  Ant- 
wort folgen: 

„Die  Auffassung  des  Verhältnisses  des  .,Physischen"  zum 
„Psychischen"  ist  bei  Avenarius  und  Mach  dieselbe.  Beide 
kommen  zu  dem  Resultat,  dass  der  Unterschied  des  Physischen 
und  Psychischen  nur  in  der  Verschiedenheit  der  Abhängigkeits- 
verhältnisse gegeben  ist,  die  einerseits  Object  der  Physik  —  im 
weitesten  Sinn  des  Wortes  — ,  andererseits  der  Psychologie  sind. 
Untersuche  ich  die  Abhängigkeit  eines  Umg'ebungsbestandtheils  A 
von  einem  zweiten  Umgebungsbestandtheil  B,  so  treibe  ich  Physik; 
untersuche  ich,  inwiefern  A  durch  eine  Aenderung  der  Sinnes- 
organe oder  des  Centralnervensystems  eines  lebenden  Wesens  ge- 
ändert wird,  so  treibe  ich  Psychologie.  Avenarius  hat  dem- 
gemäss  vorgeschlagen,  die  Termini  physisch  und  psychisch  zu 
eliminiren  und  nur  mehr  von  physikahschen  und  psychologischen 
Abhängigkeiten  zu  sprechen  (Bemerkungen,  Vierteljahrsschrift  XIX, 


—      41      — 

S.  i8).  Bei  Mach  erscheint  diese  Anschauung-,  ohne  (?)  dass  die 
Unhaltbarkeit  der  alten  Auffassung  des  Psychischen  und  dem- 
g-emäss  der  Aufgabe  der  Psychologie  dargethan  wird." 

„Diese  Aufgabe  löst  die  Aufdeckung  der  „Introjection," 
resp.  des  formal-logischen  Fehlers,  der  der  Introjection  zu 
Grunde  liegt.  Avenarius  geht  davon  aus,  dass  am  Anfang 
alles  Philosophiren s  der  naive  Realismus,  die  „natürliche  Welt- 
ansicht" steht.  Innerhalb  dieser  natürlichen  Weltansicht  kann 
sich  eine  relative  Abgrenzung  des  Complexes  „Ich"  und  des  Com- 
plexes  „Umgebung,"  ,, Körperwelt"  vollziehen,  ohne  dass  dies  zu 
dem  ,, Dualismus"  von  „Körper"  vmd  ,, Seele"  zu  führen  braucht,  da 
vom  Standpunkt  des  naiven  Realismus,  die  dem  „Ich,"  dem  eigenen 
Körper  angehörenden  Bestandtheile  durchaus  vergleichbar  den  Be- 
standtheilen  der  Umgebung  sind.  Selbst  wenn  die  erste  Orientirung 
zur  Bildung  von  Substanzbegriffen  fortschreitet  (Mach,  Analyse, 
S.  4),  so  ist  damit  die  völlige  Wesensverschiedenheit  von  Körper 
und  Seele  nicht  gegeben.  Die  eigentliche  Spaltung  der  ursprüng- 
lich einheitlich  —  naiv -realistisch  —  aufgefassten  Welt  vollzieht 
sich  nach  Avenarius  bei  der  Deutung  der  Aussagen  der  Mit- 
menschen. So  lange  ich  sage,  der  Baum  ist  nicht  nur  für  mich 
da,  sondern  die  Aussagen  des  Mitmenschen  lassen  mich  annehmen, 
dass  er  für  ihn  in  derselben  Weise  da  ist,  wie  für  mich,  über- 
schreite ich  in  keiner  Weise  die  formal-logisch  zulässige  Analogie 
zwischen  mir  und  den  Mitmenschen.  Dies  thue  ich  aber,  wenn 
ich  sage,  der  Baum  ist  als  ,, Abbild,"  ,, Empfindung,"  „Vorstellung" 
in  dem  Mitmenschen,  wenn  ich  den  Baum  einlege,  introjicire, 
da  ich  dann  für  den  Mitmenschen  etwas  annehme,  was  ich  in 
keiner  Weise  in  meiner  eigenen  Erfahrung  vorfinde,  die  mir  die 
Umgebungsbestandtheile  immer  nur  in  einer  bestimmten  räum- 
lichen Beziehung  zu  meinem  Körper,  niemals  in  meinem  Bewusst- 
sein  oder  dergl.  aufweist.  Da  die  Introjection  eineUeberschreitung 
der  Erfahrung  ist,  so  muss  jeder  Versuch,  sie  mit  den  Thatsachen 
der  Erfahrung  in  Einklang  zu  bringen,  zu  einer  unerschöpflichen 
Quelle  von  Scheinproblemen  werden.  Das  zeigt  sich  am  klarsten 
an  den  verschiedenen    Formen,    die   sie   im  Laufe  der  Geschichte 


der  Philosophie  angenommen  hat.  Die  ältesten,  rohesten  Theorien 
der  Wahrnehmung'en  zeigten  die  Einlegung'  in  ihrer  rohesten  und 
einfachsten  Form,  indem  sie  von  den  Gegenständen  sich  Abbilder 
ablösen  Hessen,  die  in  das  Innere  des  Körpers  hineingehen.  —  In 
dem  Maasse  nun,  als  man  einsieht,  dass  die  Umgebungsbestand- 
theile  im  Innern  des  Körpers  nicht  in  derselben  Weise  vorhanden 
sind,  als  wie  ausserhalb  desselben,  in  dem  Maasse  müssen  sie, 
sobald  sie  im  Innern  sind,  zu  etwas  von  der  Umgebung  Wesens- 
verschiedenem werden.  In  der  Ausdeutung  der  Introjection,  in 
dem  Versuch,  sie  mit  den  Erfahrungen,  die  dem  Complex  der 
Umgebung  entstammen,  in  Einklang  zu  setzen,  liegt  die  Wurzel 
des  Dualismus." 

„Es  kann  zweifelhaft  bleiben,  ob  Avenarius  die  Motive  der 
Introjection  alle  richtig  gewürdigt  hat.  Nach  seiner  Darstellung" 
knüpft  die  Introjection  immer  an  die  Erklärung-  der  „Wahr- 
nehmungen" eines  Mitmenschen  an.  Dageg-en  kann  man  wohl 
sagen,  dass  die  Thatsache,  dass  ein  und  derselbe  Umgebungs- 
bestandtheil  einmal  als  sinnlich  gegebene  „Sache,"  ein  anderes  Mal 
als  „Erinnerung"  geg^eben  ist,  ein  g^enügentes  Motiv  sein  kann, 
diesen  Umgebungsbestandtheil  als  zweimal  vorhanden  anzunehmen, 
nämlich  einmal  ,, materiell,"  in  der  Umgebung-,  und  ein  zweites  Mal 
in  meinem  „Bewusstsein/'  in  meiner  „Seele."  Dann  scheint  noch 
zu  erwägen  zu  sein,  ob  nicht  die  Traumerfahrungen  ^)  der  primitiven 
Cultur  ebenfalls  ein  selbständiges  Motiv  des  Dualismus  sein  können. 
Avenarius  stellt  zwar  die  Introjection  als  die  Voraussetzung  der 
dualistischen  Ausdeutung-  der  Traumerfahrungen  hin,  ohne  aber 
überzeugende  Gründe  dafür  anzuführen.  Unzulässig-  ist  es  aber, 
den  prähistorischen  Animismus  als  die  Wurzel  des  Dualismus  an- 
zusehen, wenn  man  unter  Animismus  lediglich  die  Annahme  ver- 
steht, dass  sämmtliche  leblose  Umgebung-sbestandtheile  Wesen  wie 
wir  selbst  sind.  Auch  auf  dem  Boden  der  natürlichen  Weltansicht 
kann,  solange  tiefere  physiologische  Gründe  dies  nicht  \-erlundern, 
di(!  Annahme  entstehen,  dass  z.  B.  für  den  l'aum  in  demselben 
Sinne  Umgebungsbestandtheile   existiren    wie   für    den   Menschen. 

ij   Gewiss  sind   sie   (Tyloi)   eines  der  ]\iiirti<;slen   Mulive.      Miicli. 


—     43      — 

Mit  anderen  Worten:  Jemand,  der  die  Avenarius-Mach'sche 
Auffassung  des  Psychischen  hätte,  könnte,  wenn  ihm  jede  physio- 
logische Kenntniss  mangehe,  annehmen,  dass  ein  Baum  oder  ein 
Stein  seine  Umgebung  tastet  und  sieht.  Er  wäre  dann  noch  kein 
Duahst.  Dies  wird  er  erst,  wenn  er  zur  Erklärung  dieses  Tastens 
und  Sehens  des  Baums  und  Steins  annimmt,  dass  die  von  dem 
Baum  und  Stein  getasteten  und  gesehenen  Umgebungsbestand- 
theile  in  den  Baum  als  dessen  „Empfindungen,"  dessen  ,.Bewusst- 
sein"  nochmals  vorhanden  sind.  Erst  dann  ist  die  Welt  verdoppelt, 
in  eine  geistige  und  körperliche  gespalten." 

„Die  Auflärung,  die  durch  die  Aufdeckung  der  Unzulässigkeit 
der  Introjection  geleistet  wurde,  geht  nach  zwei  Richtungen.  Einer- 
seits nach  der  erkenntniss-theoretischen  Seite.  Als  Scheinprobleme 
erweisen  sich  alle  jene  Probleme,  die  nach  dem  Verhältniss  unserer 
„Empfindungen",  „Vorstellungen",  „Bewusstseinsinhalte",  zu  den 
„materiellen  Dingen"  fragen,  deren  Abbilder,  Zeichen  u.  s.  w.  die  erst- 
genannten Producte  der  Introjection  sein  sollen.  Als  Scheinprobleme 
erweisen  sich  die  Projectionsprobleme  der  Raumtheorien,  das  Nach- 
aussenversetzen  der  Raumempfindungen  u.  s.  w." 

„Andererseits  besagt  die  Ausschaltung  der  Introjection,  dass 
eine  andere  Psychologie  als  eine  physiologische  unzulässig  ist. 
Sobald  man  eingesehen  hat,  dass  die  „Bewusstseinsinhalte",  die 
neben  den  Veränderungen  des  Nervensystems  sich  abspielenden 
„psychischen  Processe",  nichts  anders  sind  als  die  Umgebungs- 
bestandtheile,  die  ich  dem  Mitmenschen  und  schliesshch  auch  mir 
selbst  eingelegt  habe,  kann  ich  im  Nervensystem  nichts  anderes 
suchen  als  physiologische  Vorgänge.  Es  enfällt  jede  besondere 
psychische  Causalität,  es  entfallen  alle  die  Fragen,  ob  das  Ein- 
greifen psychischer  Kräfte  in  die  physiologischen  Vorgänge  des 
Hirns  mit  dem  Princip  der  Erhaltung  der  Energie  vereinbar  ist"^). 


i)  Ich  muss  hier  meiner  Verwundei-ung  darüber  Ausdruck  geben,  das  Energir- 
princip  so  oft  in  Bezug  auf  die  Frage ,  ob  es  ein  besonderes  psychisches  Agens  gibt, 
herangezogen  worden  ist.  Mit  der  Constanz  der  Energie  ist  der  Ablauf  physikaUscher 
Processe  beschränkt,  aber  keineswegs  vollkommen  eindeutig  bestimmt.  Die  Erfüllung 
des  Energieprincips  in  allen  physiologischen  Eällen  lehrt  bloss ,  dass  die  Seele  weder 
Arbeit  verbraucht,  noch  leistet.     Darum  könnte  sie  noch  mitbestimmend  sein.     In  der 


—     44     — 

„Wenn  man  vom  „Fortleben  der  Vorstellungen,  ohne  dass 
sie  im  Bewusstsein  sind"  (Mach,  Wärmelehre,  vS.  441),  spricht, 
so  ist  dies,  strenge  genommen,  nur  als  abgekürzter  Ausdruck  für 
bestimmte  centralnervöse  Vorgänge  zulässig,  der  aber  immerhin 
stark  an  dualistische  Vorstellung-en  erinnert." 

3- 
Der  Unterschied  in  der  Darstellung  von  Avenarius  und 
mir,  der  noch  übrig  bleibt,  lässt  sich  auf  leicht  ersichtliche  Gründe 
zurückführen.  Erstens  beabsichtigte  ich  keine  vollständige  Dar- 
stellung der  Emtwicklung  des  eingenommenen  Standpunktes  aus 
den  vorausgehenden  Phasen  der  Weltansicht.  Zweitens  geht  Ave- 
narius' Darstellung  von  einer  realistischen,  die  meinige  hin- 
gegen von  einer  idealistischen  Phase  (S.  23  Anm.)  aus,  wie  ich 
dieselbe  in  derThatin  früher  Jugend  erlebt  habe.  Ich  hätte  da  etwa 
von  Beseitigung  der  Extrajection  sprechen  können  (S.  5,  9 — 17, 
23  —  26,  35).  Drittens  liegt  keine  Nothwendigkeit  vor,  die  Aussage 
des  Mitmenschen  und  der  Introjection,  in  dem  getadelten  Sinne, 
vor  Erreichung  des  neuen  Standpunktes  eine  so  gewichtige  Rolle 
spielen  zu  lassen,  und  dann  hat  man  auch  nicht  nöthig,  diese 
Introjection  wieder  auszuschalten.  Auch  der  einsame  Denker 
könnte  den  neuen  Standpunkt  erreichen,  und  allerdings  auch,  wie 
Wlassak  bemerkt,  dualistische  Anwandlangen  zu  überwinden 
haben.  Ist  dieser  Standpunkt  aber  erreicht,  und  ist  die  Ver- 
schiedenartigkeit der  Abhängigkeit  der  Elemente  einmal  als  das 
Wesentliche  erkannt,  so  erscheint  die  realistische  oder  idea- 
listische Ausgangsphase  von  keiner  grösseren  Bedeutung,  als 
für  den  Mathematiker  oder  Physiker  ein  Wechsel  der  Grund- 
variablen in  seinen  Gleichungen. 


auf  diesen  Fall  bezüglichen  Frage  des  Philosophen  erscheint  das  Energieprinzip  meist 
nicht  richtig  bewerthet ,  und  die  Verlegenheitsantwort  des  Physikers  hat  keinen  fass- 
baren Sinn  in  Bezug  auf  diesen  seinem  Denken  fernliegenden  Fall.  Vgl.  das  Referat 
über  eine  derartige  Diskussion  bei  Höfler,  Psychologie,  1897,  S.  58  f.,  Anm.  Ich 
sehe  in  der  Annahme  eines  besonderen  psychischen  Agens,  von  den  obigen  Erwägungen 
ganz  abgesehen,  nur  unglückliche,  ungünstige,  die  Forschung  erschwerende,  ausserdem 
unnöthigc  und  unwahrscheinliche  Voraussetzungen.      Mach. 


—     45     —       ^ 

Die  Aufstellungen  von  Avenarius,  und  demnach  auch  die 
meinigen,  scheinen  mir  nur  fast  Selbstverständliches  aus- 
zusprechen, Selbstverständliches  wenigstens  für  jeden,  der  sich  von 
dem  Drucke  der  „Ueberlebsel  der  wilden  Philosophie"  befreit  hat, 
wie  Tylor  sich  ausdrückt.  Solche  Selbstverständlichkeiten  waren 
es  immer,  auf  welche  die  Wissenschaft  ihren  Bau  sicher  gründen 
konnte.  In  dem  Zusammentreffen  allgemein  philosophischer  und 
positiv  fachwissenschaftlicher  Enwägungen  glaube  ich  aber  eine 
günstige  Vorbedeutung  für  den  gegenseitigen  Anschluss  der 
Wissenschaften  sehen  zu  dürfen. 


IV.  Die  Hauptgesichtspunkte  für  die  Untersuchung 

der  Sinne. 

I. 

Wir  versuchen  nun  von  dem  gewonnenen  vStandpunkte  einen 
orientirenden  Ausblick  für  unsern  besonderen   Zweck. 

Hat  der  forschende  Intellect  durch  Anpassung"  die  Gewohn- 
heit erworben,  zwei  Dinge  A  und  B  in  Gedanken  zu  verbinden, 
so  sucht  derselbe  diese  Gewohnheit  auch  unter  etwas  veränderten 
Umständen  nach  Möglichkeit  festzuhalten.  Ueberall  wo  A  auf- 
tritt, wird  B  hinzugedacht.  Man  kann  das  sich  hierin  aussprechende 
Princip  welches  in  dem  Streben  nach  Oekonomie  seine  Wurzel 
hat,  welches  bei  den  grossen  Forschern  besonders  klar  hervor- 
tritt, das  Princip  der  ^Stetigkeit  oder  Continuität  nennen. 

Jede  thatsächlich  beobachtete  Variation  in  der  Verbindung 
von  A  und  B,  welche  gross  genug  ist,  um  bemerkt  zu  werden, 
macht  sich  aber  als  Störung  der  bezeichneten  Gewohnheit  geltend, 
so  lange,  bis  die  letztere  genügend  modificirt  ist,  um  diese  Störung 
nicht  mehr  zu  empfinden.  Man  hätte  z.  B.  sich  g-ewöhnt,  das  auf 
die  Grenze  von  Luft  und  Glas  einfallende  Licht  abgelenkt  zu 
sehen.  Die  Ablenkungen  variiren  aber  von  Fall  zu  Fall  in  merk- 
licher Weise,  und  man  kann  die  an  einigen  Fällen  gewonnene 
Gewohnheit  so  lange  nicht  ungestört  auf  neu  vorkommende  Fälle 
übertragen,  bis  man  im  Stande  ist,  jedem  besonderen  Einfallswinkel 
A  einen  besonderen  Brechungswinkel  B  zuzuordnen,  was  durch 
Auffindung"  des  sogenannten  Brechung'sgesetzes,  beziehungsweise 
durch  Geläufigwerden  der  in  demselben  enthaltenen  Reg"el,  er- 
eicht ist.  Es  tritt  also  dem  Princip  der  Stetigkeit  ein  anderes 
Princip    modificirend    entgegen;    wir    wollen    es    das   Princip   der 


—      47      — 

zureichenden  Bestimmtheit  oder  der  zureichenden  Diffe- 
renzirung  nennen. 

Das  Zusammenwirken  beider  Principien  lässt  sich  nun  durch 
weitere  Ausführung  des  berührten  Beispieles  recht  gut  erläutern. 
Um  den  Thatsachen  gerecht  zu  werden,  welche  bei  Aenderung 
der  Farbe  des  Lichtes  auftreten,  hält  man  den  Gedanken  des 
Brechungsg'esetzes  fest,  muss  aber  jeder  besonderen  Farbe  einen 
besonderen  Brechungsexponenten  zuordnen,  bald  merkt  man  dann, 
dass  man  auch  jeder  besondern  Temperatur  einen  besondern 
Brechungsexponenten  zuordnen  muss,  u.  s.  w. 

Dieser  Process  führt  schliesslich  zur  zeitweiligen  Beruhi- 
gung- und  Befriedig"ung-,  indem  die  beiden  Dinge  A  und  B  so 
verbunden  gedacht  werden,  dass  jeder  der  augenblicklichen  Er- 
fahrung' zugänglichen  Aenderung-  des  einen  eine  zugehörig-e 
Aenderung  des  andern  entspricht.  Es  kann  der  Fall  eintreten, 
dass  sowohl  A  als  B  sich  als  Complexe  von  Bestandtheilen  dar- 
stellen, und  dass  jeder  Bestandtheil  von  A  einem  Bestandtheil  von 
B  zugeordnet  ist.  Dies  findet  z.  B.  statt,  wenn  B  ein  Spectrum 
und  A  die  zugehörige  Probe  eines  Gemenges  ist,  wo  je  einem 
Bestandtheil  des  Spectrums  je  ein  Bestandtheil  der  vor  dem 
Spectralapparat  verflüchtigten  Probe  unabhängig  von  den  übrigen 
zugeordnet  ist.  Erst  durch  die  vollständige  Geläufigkeit  dieses 
Verhältnisses  kann  dem  Princip  der  zureichenden  Bestimmtheit 
entsprochen  werden. 


Stellen  wir  uns  nun  vor,  wir  betrachten  eine  Farbenempfin- 
dung B  nicht  in  ihrer  Abhängigkeit  von  der  glühenden  Probe  A, 
sondern  in  ihrer  Abhängigkeit  von  den  Elementen  des  Netz- 
hautprocesses  N.  Hierdurch  ist  nicht  die  Art,  sondern  nur  die 
Richtung  der  Orientirung  geändert,  ahes  eben  Besprochene 
verhört  dadurch  nicht  seine  Geltung,  und  die  zu  befolgenden 
Grundsätze  bleiben  dieselben.  Und  dies  gilt  natürlich  für  aUe 
Empfindungen. 


Die  Empfindung  kann  nun  an  sich,  unmittelbar,  psychologisch 
anatysirt  werden  (wie  dies  Joh.  Müller  gethan  hat)  oder  es  können 
die  ihr  zugeordneten  physikalischen  (ph3^siologischen)  Processe 
nach  den  Methoden  der  Physik  untersucht  werden  (wie  dies  vor- 
zugsweise die  moderne  Physiologenschule  thut),  oder  endlich  (was 
am  weitesten  führen  wird,  weil  hierbei  die  Beobachtung  an  allen 
Punkten  angreift,  und  eine  Untersuchung  die  andere  stützt)  kann 
der  Zusammenhang  des  psychologisch  Beobachtbaren  mit  dem 
zugehörigen  physikalischen  (physiologischen)  Process  verfolgt 
werden.  Dieses  letztere  Ziel  streben  wir  überall  an,  wo  es  er- 
reichbar scheint. 

Mit  diesem  Ziel  im  Auge  werden  wir  dem  Princip  der  Conti- 
nuität  und  jenem  der  zureichenden  Bestimmtheit  nur  genügen 
können,  wenn  wir  dem  gleichen  B  (irgend  einer  Empfindung) 
immer  und  überall  nur  das  gleiche  N  (denselben  Nervenprocess) 
zuordnen,  zu  jeder  beobachtbaren  Aenderung  von  B  aber  eine 
entsprechende  Aenderung  von  N  auffinden.  Können  wir  B 
psychologisch  in  mehrere  von  einander  unabhängige  Be- 
standtheile  zerlegen,  so  können  wir  nur  in  der  Auffindung  eben- 
solcher den  ersteren  entsprechender  Bestandtheile  in  N  Beruhigung 
finden.  Sollten  aber  an  B  Eigenschaften  oder  Seiten  zu  bemerken 
sein,  die  nicht  gesondert  auftreten  können,  wie  z.  B.  Höhe  und 
Intensität  des  Tones,  so  würde  dasselbe  Verhalten  auch  von  N  zu 
erwarten  sein.  Mit  einem  Worte,  zu  allen  psychisch  beobachtbaren 
Einzelheiten  von  B  haben  wir  die  zugeordneten  physikalischen 
Einzelheiten  von  N  aufzusuchen. 

Wir  wollen  natürlich  nicht  behaupten,  dass  nicht  auch  durch 
recht  complicirte  Umstände  eine  (psychologisch)  einfache 
Empfindung-  bedingt  werden  kann.  Denn  die  Umstände  hängen 
kettenförmig  zusammen,  und  lösen  keine  Empfindung-  aus,  wenn 
die  Kette  nicht  bis  in  den  Nerv  reicht.  Da  aber  die  Empfindung 
auch  als  Plallucination  auftreten  kann,  wenn  gar  keine  ausserhalb 
des  Leibes  liegende  physikalische  bedingende  Umstände  vor- 
handen sind,  so  sehen  wir,  dass  ein  gewisser  Nervenprocess,  als 
Endglied    jener    Kette,    die    wesentliche    und     unmittel- 


—     49     — 

bare  Bedingung  der  Empfindung  ist.  Diese  unmittelbare  Be- 
dingung kön  len  wir  nun  nicht  vaiirt  denken,  ohne  uns  auch  die 
Empfindung  variirt  vorzustellen,  und  umgekehrt.  Für  den  Zu- 
sammenhang dieses  Endgliedes  und  der  Empfindung  wollen  wir 
das  ausgesprochene  Princip  als  gültig  ansehen. 

3- 

Wir  können  also  einen  leitenden  Grundsatz  für  die  Unter- 
suchung der  Empfindungen  aufstellen,  der  als  Princip  des  voll- 
ständigen Parallelismus  des  Psychischen  und  Phy- 
sischen bezeichnet  werden  mag.  Nach  unserer  Grundanschauung, 
welche  eine  Kluft  zwischen  den  beiden  Gebieten  (des  Psychischen 
und  Physischen)  gar  nicht  anerkennt,  ist  diesess  Princip  fast 
selbstverständlich,  kann  aber  auch  ohne  Hilfe  dieser  Grundan- 
schauung als  heuristisches  Princip  aufgestellt  werden,  wie  ich 
dies  vor  Jahren  gethan  habe  ^). 

Das  hier  verwendete  Princip  geht  über  die  allgemeine  Vor- 
aussetzung, dass  jedem  Psychischen  ein  Physisches  entspricht  und 
umgekehrt  in  seiner  Specialisirung  hinaus.  Letztere  allgemeine 
Annahme,  die  in  vielen  Fällen  als  richtig  nachgewiesen  ist,  wird 
in  allen  Fällen  als  wahrscheinlich  richtig  festgehalten  werden 
können,  und  bildet  zudem  die  nothwendige  Voraussetzung  der 
exacten  Forschung.  Von  der  Fechn  er 'sehen  Auffassung  des 
Physischen  und  Psychischen  als  zweier  verschiedener  Seiten 
ein  und  desselben  Realen  ist  die  unsrige  ebenfalls  ver- 
schieden. Erstens  hat  unsere  Auffassung  keinerlei  metaphysi- 
schen Untergrund,  sondern  entspricht  nur  dem  verallgemeinerten 
Ausdruck  von  Erfahrungen.  Dann  unterscheiden  wir  auch  nicht 
zwei  verschiedene  Seiten  eines  unbekannten  Dritten,  sondern  die 


i)  Vergl.  meine  Abhandlung  ,,Ueber  die  Wirkung  der  räumlichen  Verth eilung 
des  Lichtreizes  auf  die  Netzhaut''  (Sitzungsbericht  der  Wiener  Akademie,  Bd.  52, 
Jahrg.  1865).  Ferner  Reichert's  und  Dubois'  Arch.  1865,  S.  634  und  Grund- 
linien der  Lehre  von  den  Bewegungsempfindungen.  Leipzig.  Engelmann  1875,  S.  63. 
—  Auch  in  meiner  Ausführung  in  Fichte's  Zeitschrift  für  Philosophie,  Bd.  46, 
Tahrg.  1865,  S.  5  ist  der  Grundsatz  implicite  schon  enthalten.  (Abgedruckt  in  den 
Populärwissenschaftlichen  Vorlesungen.     Leipzig,   2.  Aufl.,   1897.) 

Mach,  Analyse.    3.  Aiifl.  4 


—     50     — 

in  der  Erfahrung  vorgefundenen  Elemente,  deren  Verbindung  wir 
untersuchen,  sind  immer  dieselben,  nur  von  einerlei  Art  und 
treten  nur  je  nach  der  Art  ihres  Zusammenhanges  bald  als 
physische,  bald  als  psychische  Elemente  auf^).  Man  hat  mich  ge- 
fragt, ob  denn  der  Parallehsmus  des  Psychischen  und  Physischen 
überhaupt  noch  einen  Sinn  hätte  und  nicht  eine  blosse  Tautologie 
sei,  wenn  man  das  Psychische  und  das  Physische  überhaupt  nicht 
als  wesentlich  verschieden  ansieht?  Dies  beruht  auf  einer  miss- 
verständlichen Auffassung  meiner  obigen  Ausführungen.  Wenn 
ich  ein  grünes  Blatt  sehe,  was  durch  gewisse  Gehirnprocesse  be- 
dingt ist,  so  ist  jenes  Blatt  in  seiner  Form  und  Farbe  allerdings 
verschieden  von  den  Formen,  Farben  u.  s.  w.,  die  ich  an  dem 
untersuchten  Gehirn  finde,  wenn  auch  alle  Formen,  Farben  u.  s.  w. 
an  sich  gleichartig,  an  sich  weder  psychisch  noch  physisch  sind. 
Das  gesehene  Blatt,  als  abhängig  gedacht  vom  Gehirnprocess,  ist 
etwas  Psychisches,  während  dieser  Process  in  dem  Zusammen- 
hang seiner  Elemente  etwas  Physisches  vorstellt.  Und  für  die 
Abhängigkeit  der  ersteren  unmittelbar  gegebenen  Elementen- 
gruppe von  der  durch  (vielleicht  complicirte)  physikalische  Unter- 
suchung sich  erst  ergebenden  zweiten  Gruppe  besteht  das 
Parallelismusprincip.     (Vgl.  S.  35.) 

4- 
Zur  Erläuterung  des  vielleicht  etwas  zu  abstract  ausge- 
sprochenen Grundsatzes  mögen  sofort  einige  Beispiele  dienen. 
U eberall  wo  ich  Raum  empfinde,  ob  durch  das  Gesicht,  den 
Tastsinn  oder  auf  andere  Weise,  werde  ich  einen  in  allen  Fällen 
gleichartigen  Nervenprocess  als  vorhanden  anzunehmen  haben. 
Für  alle  Zeitempfindung  supponire  ich  gleiche  Nervenprocesse. 


I )  In  Bezug  auf  die  verschiedenen  Seiten  der  Parallelismusfrage  vergl. :  C. 
Stumpf ,  Ansprache  beim  Psychologenkongress  in  München.  München  1897.  —  G.  Hey- 
mans,  Zur  Parallelismusfrage.  Zeitschr.  f.  Psychologie  der  Sinnesorgane,  Bd.  XVII.  — 
O.  Külpe,  Ueber  die  Beziehung  zwischen  körperlichen  und  seelischen  Vorgängen. 
Zeitschr.  f.  Hypnotismus,  Bd.  7.  —  J.  v.  Kries,  Ueber  die  materiellen  Grundlagen 
der  Bewusstseinserscheinungen.  Freiburg  i.  B.  1898.  —  C.  Hauptmann,  Die  Meta- 
physik  in   der  Physiologie.      Dresden    1893. 


_     51      — 

Sehe  ich  gleiche  verschiedenartige  Gestalten,  so  suche  ich 
neben  den  verschiedenen  Farbempfindungen  besondere  gleiche 
Raumempfindungen  und  zugehörige  gleiche  Nervenprocesse.  Sind 
zwei  Gestalten  ähnlich  (liefern  sie  theilweise  gleiche  Raum- 
empfindungen), so  enthalten  auch  die  zugehörigen  Nervenprocesse 
theilweise  gleiche  Bestandtheile.  Haben  zwei  verschiedene  Melo- 
dien gleichen  Rhythmus,  so  besteht  neben  den  verschiedenen  Ton- 
empfindungen in  beiden  Fällen  eine  gleiche  Zeitempfindung  mit 
gleichen  zugehörigen  Processen.  Sind  zwei  Melodien  in  ver- 
schiedener Tonlage  gleich,  so  haben  die  Tonempfindungen  und 
ihre  physiologiechen  Bedingungen  trotz  den  ungleichen  Tonhöhe 
gleiche  Bestandtheile.  Kann  die  scheinbar  unbegrenzte  Mannig- 
faltigkeit der  Farbenempfindungen  durch  psychologische  Analyse 
(Selbstbeobachtung)  auf  6  Elemente  (Grundempfindungen)  reducirt 
werden,  so  dürfen  wir  die  gleiche  Vereinfachung  für  das  System 
der  Nervenprocesse  erwarten.  Zeigt  sich  das  System  der  Raum- 
empfindungen als  eine  dreifache  Mannigfaltigkeit,  so  wird  sich 
auch  das  System  der  zugeordneten  Nervenprocesse  als  eine 
solche  darstellen. 

5. 
Dieses  Prinzip  ist  übrigens  mehr  oder  weniger  bewust,  mehr 
oder  weniger  consequent  stets  befolgt  worden.  Wenn  z.B.  Helm- 
holtz^)  für  jede  Tonempfindung  eine  besondere  Nervenfaser  (mit 
dem  zugehörigen  Process)  statuirt,  wenn  er  den  Klang  in  Ton- 
empfindungen auflöst,  die  Verwandtschaft  der  Klänge  auf  den  Ge- 
halt an  gleichen  Tonempfindungen  (und  Nervenprocessen)  zu- 
rückführt, so  liegt  hierin  eine  Bethätigung  des  ausgesprochenen 
Princips.  Die  Anwendung  ist  nur  keine  vollständige,  wie  später 
gezeigt   werden   soll.     Brewster^)   Hess   sich   durch  eine,    wenn 


i)  Helmholtz,  Die  Lehre  von  den  Tonempfindungen.  Braunschweig,  Vie- 
weg,   1863. 

2)  Brewster,  A  treatise  on  optics.  London  183 1.  Brewster,  denkt  sich 
das  rothe  ,  das  gelbe  und  das  blaue  Licht  über  das  ganze  Sonnenspectrum  reichend, 
jedoch  in  verschiedener  Intensität  vertheilt,  so  dass  für  das  Auge  das  Roth  an  beiden 
Enden  (am  rothen  und  violetten),  das  Gelb  in  der  Mitte ,  das  Blau  am  brechbareren 
Ende  hervortritt.  4* 


—      52      — 

auch  mangehafte,  psychologische  Analyse  der  Farben  empf  in - 
düngen  und  unvollkommene  physikalische  Versuche  i)  geleitet,  zu 
der  Ansicht  führen,  dass  den  drei  Empfindungen  Roth,  Gelb,  Blau 
entsprechend  auch  physikalisch  nur  drei  Lichtsorten  existiren,  und 
dass  demnach  die  Newton'sche  Annahme  einer  unbegrenzten 
Anzahl  von  Lichtsorten  mit  continuirlich  abgestuften  Brechungs- 
exponenten falsch  sei.  Leicht  konnte  Brewster  in  den  Irrthum 
verfallen,  Grün  für  eine  Mischempfindung  zu  halten.  Hätte  er 
aber  überlegt,  dass  Farbenempfindungen  ganz  ohne  physikali- 
sches Licht  auftreten  können,  so  hätte  er  seine  Folgerungen 
auf  den  Nervenprocess  beschränkt  und  Newton's  physi- 
kalische Aufstellungen,  die  ebenso  wohl  begründet  sind, 
unangetastet  gelassen.  Th.  Young  hat  diesen  Fehler  wenigstens 
principiell  verbessert.  Er  hat  erkannt,  dsss  eine  unbegrenzte  An- 
zahl physikalischer  Lichtsorten  von  continuirlich  abgestuften 
Brechungsexponenten  (und  Wellenlängen)  mit  einer  geringen 
Zahl  von  Farbenempfindungen  und  Nervenprocessen  vereinbar 
ist,  dass  dem  Continuum  der  Ablenkungen  im  Prisma  (dem  Con- 
tinuum  der  Raum  empf  indun  gen)  eine  discrete  Zahl  von  P'arben- 
empfindungen  entspricht.  Aber  auch  Young  hat  das  ausge- 
sprochene Princip  nicht  mit  vollem  Bewusstsein  und  nicht  mit 
strenger  Consequenz  angewandt,  abgesehen  davon,  dass  er  sich 
bei  bei  psychologischen  Analyse  noch  durch  physikalische  Vor- 
urtheile  beirren  liess.  Auch  Young  nahm  zuerst  Roth,  Gelb, 
Blau  als  Grundempfindungen  an,  die  er  später  durch  einen  physi- 
kalischen Irrthum  Wollaston's  verleitet,  wie  Alfred  Mayer 
(in  Hoboken)  in  einer  trefflichen  Arbeit  gezeigt  hat  -),  durch  Roth, 


i)  Brewster  meinte  nämlich  die  Nuance  von  Newton  für  einfach  gehal- 
tener Spectralfarben  durch  Absorption  ändern  zu  können,  was,  wenn  es  richtig  wäre, 
die  N  e  wton'sche  Anschauung  wirklich  erschüttern  würde.  Er  experinientirte  jedoch, 
wie  Helmhol tz  (Physiologische  Optik)  gezeigt  hat,  mit  einem  unreinen  Spectrum. 

2)  Phiiosophical  Magazine.  February  1876,  p,  III.  Wollaston  beobachtete 
(1802)  zuerst  die  später  nach  Fraunhofer  benannten  dunklen  Linien  des  Sonnen- 
spectrums ,  und  glaubte  sein  schmales  Spectrum  durch  die  stärksten  Linien  in  einen 
rothen ,  grünen  und  violetten  Theil  getrennt  zu  sehen.  Er  hielt  diese  Linien  für 
Grenzen  physikalischer  Farben.  Young  nahm  diese  Ansicht  an,  und  setzte  an  die 
Stelle  seiner  Grundempfindungen  Roth ,  Gelb  ,  Blau  die  Farben  Roth ,  Grün ,  Violett. 


—     53     — 

Grün  und  Violett  ersetzt  hat.  In  welcher  Richtung  die  Theorie 
der  Farbenempfindung  zu  modificiren  ist,  welche  seither  durch 
Hering  einen  hohen  Grad  der  Vollendung  erreicht  hat,  habe  ich 
vor  Jahren  an  einem  andern  Ort  angedeutet. 

6. 
Ich  will  hier  nur  kurz  zusammenfassen,  was  ich  heute  über 
die  Behandlung  der  Theorie  der  Farbenempfindung  zu  sagen 
habe.  Man  findet  in  neueren  Schriften  häufig  die  Angabe,  dass 
die  von  Hering  acceptirten  sechs  Grundfarbenempfindungen, 
Weiss,  Schwarz,  Roth,  Grün,  Gelb,  Blau  zuerst  von  Leonardo 
da  Vinci,  nachher  von  Mach  und  Aubert  aufgestellt  worden 
seien.  Dass  die  Angabe  in  Bezug  auf  Leonardo  da  Vinci 
auf  einem  Irrthum  beruhe,  war  mir  von  vornherein,  in  Anbetracht 
der  Anschauungen  seiner  Zeit,  höchst  wahrscheinlich.  Hören 
wir,  was  er  selbst  in  seinem  „Buche  von  der  Malerei"  sagt^): 
„254.  Der  einfachen  Farben  sind  sechs.  Die  erste  davon  ist 
das  Weiss,  obwohl  die  Philosophen  weder  Weiss  noch  Schwarz 
unter  die  Zahl  der  Farben  aufnehmen,  da  das  eine  die  Ursache 
der  Farben  ist,  das  andere    deren   Entziehung.      Da  indess   der 

Bei  der  ersteren  Aufstellung  hielt  also  Young  das  Grün  für  eine  Mischempfindung, 
bei  der  zweiten  aber  dieses  und  Violett  für  einfach.  —  Die  zweifelhaften  Resultate, 
welche  die  psychologische  Analyse  hiernach  liefern  kann ,  könnten  leicht  den  Glauben 
an  ihre  Brauchbarkeit  überhaupt  erschüttern.  Wir  dürfen  aber  nicht  vergessen ,  dass 
man  bei  Anwendung  eines  jeden  Principes  in  Irrthum  verfallen  kann.  Die  U  e  b  u  n  g 
wird  auch  hier  entscheidend  sein.  Der  Umstand,  dass  die  physikalischen  Bedingungen 
der  Empfindung  fast  immer  Mischempfindungen  auslösen ,  und  die  Empfindungsbe- 
standtheile  nicht  leicht  gesondert  auftreten,  erschwert  die  psychologische  Analyse 
sehr  bedeutend.  So  ist  z.  B.  Grün  eine  einfache  Empfindung.  Ein  vorgelegtes  Pig- 
ment- oder  Spectralgrün  wird  aber  in  der  Regel  eine  Gelb-  oder  Blauempfindung 
miterregen  und  dadurch  die  irrthümliche  (auf  Mischergebnissen  von  Pigmenten 
beruhende)  Ansicht  begünstigen,  dass  die  Grünempfindang  aus  Gelb-  und  Blauempfindung 
zusammengesetzt  sei.  Das  sorgfältige  physikalische  Studium  ist  also  auch  bei 
der  psychologischen  Analyse  nicht  zu  entbehren.  Andrerseits  darf  man  auch  die 
physikalische  Erfahrung  nicht  überschätzen.  Die  blosse  Erfahrung,  dass  ein 
gelbes  und  blaues  Pigment  gemischt  ein  grünes  Pigment  liefert,  kann  uns  allein 
nicht  bestimmen,  im  Grün,  Gelb  und  Blau  zu  sehen,  wenn  nicht  das  eine  oder  das 
andere  wirklich  darin  enthalten  ist.  Sieht  doch  im  Weiss  niemand  Gelb  und  Blau, 
obgleich  Spectralgelb  und  Spectralblau  gemischt  wirklich  Weiss  geben. 

I)  Nr.   254  und  255  nach  der  Uebersetzung  von  Heinrich  Ludwig,  Quellen- 
schriften zur  Kunstgeschichte.     Wien,  Braumüller,    1882,  Bd.    18. 


—     54     — 

Maler  nicht  ohne  diese  beiden  fertig  werden  kann,  so 
werden  wir  sie  zu  der  Zahl  der  übrigen  hierhersetzen  und  sagen, 
das  Weiss  sei  in  dieser  Ordnung  unter  den  einfachen  die  erste. 
Gelb  die  zweite,  Grün  die  dritte,  Blau  die  vierte,  Roth  die  fünfte» 
Schwarz  die  sechste.  Und  das  Weiss  werden  wir  für  Licht 
setzen,  ohne  das  man  keine  Farbe  sehen  kann,  das  Gelb  für  die 
Erde,  das  Grün  fürs  Wasser,  Blau  für  die  Luft,  Roth  für  Feuer 
und  das  .Schwarz  für  die  Finsterniss,  die  sich  über  dem  Feuer- 
element befindet,  weil  dort  keine  Materie  oder  dichter  Stoff  ist, 
auf  den  die  Sonnenstrahlen  ihren  Stoss  ausüben,  und  den  sie  in 
Folge  dessen  beleuchten  könnten".  —  »255.  Das  Blau  und  das 
(jrün  sind  nicht  einfache  für  sich.  Denn  das  Blau  setzt  sich 
aus  Licht  und  Finsterniss  zusammen,  wie  das  Blau  der  Luft, 
aus  äusserst  vollkommenem  Schwarz  und  vollkommen  reinem 
Weiss  nämlich".  „Das  Grün  setzt  sich  aus  einer  einfachen  und 
einer  zusammengesetzten  zusammen,  nämlich  aus  Gelb  und  aus 
Blau".  Dies  wird  genügen  zu  zeigen,  dass  es  sich  bei  Leonardo 
da  Vinci  theils  um  Beobachtungen  über  Pigmente,  theils  um 
naturphilosopische  Betrachtungen,  nicht  aber  um  die  Grund- 
farben empfind ungen  handelt.  Die  vielen  wunderbaren  und 
feinen  naturwissenschaftlichen  Beobachtungen  aller  Art,  welche 
in-Leonardo's  Buch  enthalten  sind,  führen  zu  der  Ueberzeugung, 
dass  die  Künstler  und  insbesondere  Er,  wahre  Vorläufer  der 
grossen  bald  folgenden  Naturforscher  waren.  Sie  mussten  die 
Natur  kennen,  um  sie  angenehm  vorzutäuschen;  sie  beboachteten 
sich  und  anderen  zum  Vergnügen.  Doch  hat  Leonardo  bei 
weitem  nicht  alle  Entdeckungen  und  Erfindungen  gemacht, 
welche  ihm  z.  B.  Groth^)  zuschreibt.  —  Meine  nur  gelegent- 
lichen Aeusserungen  über  die  Theorie  der  Farbenempfindung 
waren  vollkommen  deutlich.  Ich  nahm  die  Grundempfindungen: 
Weiss,  Schwarz,  Roth,  Gelb,  Grün,  Blau  und  diesen  entsprechend 
in  der  Netzhaut  sechs  verschiedene  (chemische)  Processe  (nicht 
Nervenfasern)  an.     Vergl.  Reichert's  uud  Duboi's  Archiv  1865, 


1)  Leonardo  da   Vinci  als  Ingenieur  und  Philosoph.     Betlin   1874. 


—     55     — 

S.  633  u.  ff.)  Das  Verhältniss  der  Complementärfarben  war  natür- 
lich, wie  jedem  Physiker,  auch  mir  bekannt  und  geläufig.  Ich 
stellte  mir  aber  vor,  dass  die  beiden  Complementärprocesse  zu- 
sammen einen  neuen,  den  Weissprocess  anregen  (a.  a.  O.  S.  634). 
Die  grossen  Vorzüge  der  Heringschen  Theorie  erkenne  ich 
freudig  an.  Sie  bestehen  für  mich  in  Folgendem.  Zunächst 
wird  der  Schwarzprocess  als  eine  Reaction  gegen  den  Weiss- 
process aufgefasst.  Ich  weiss  die  Erleichterung,  welche  darin 
liegt,  umsomehr  zu  würdigen,  als  mir  das  Verhältniss  von  Schwarz 
und  Weiss  gerade  die  grösste  Schwierigkeit  einzuschliessen  schien. 
Ausserdem  werden  Roth  und  Grün,  ebenso  Gelb  und  Blau,  als 
antagonistische  Processe  aufgefasst,  die  nicht  einen  neuen  Process 
erzeugen,  sondern  die  sich  gegenseitig  vernichten.  Das  Weiss 
wird  hiernach  nicht  erst  erzeugt,  sondern  es  ist  schon  vorher 
vorhanden,  und  bleibt  bei  der  Vernichtung  einer  Farbe  durch  die 
Complementärfarbe  übrig.  Was  mich  an  der  Hering'schen 
Theorie  allein  noch  gestört  hat,  war,  dass  man  nicht  sah,  warum 
die  beiden  Gegenprocesse  Schwarz  und  Weiss  zugleich  auf- 
treten und  zugleich  empfunden  werden  können,  während  dies 
bei  Roth-Grün  und  Blau-Gelb  nicht  möglich  ist.  Dieses  Be- 
denken ist  aber  durch  die  Darlegung  Hering's  (Zur  Lehre  vom 
Lichtsinne,  Wien  1878,  S.  122)  beseitigt.  (Vergl.  auch  meine 
oben  citirte  Abhandlung,  Sitzungsberichte  der  Wiener  Akademie 
Bd.  52,  Jahrg.   1865,  Oktober). 

7- 

Die  angeführten  Beispiele  werden  genügen,  denn  Sinn  des 
aufgestellten  Forschungsgrundsatzes  zu  erläutern,  und  zugleich 
zu  zeigen,  dass  dieser  Grundsatz  nicht  durchaus  neu  ist.  Als 
ich  mir  vor  Jahren  den  Satz  formulirte,  hatte  ich  auch  keine 
andere  Absicht,  als  etwas  instinctiv  längst  Gefühltes  mir  selbst 
zur  vollen  Klarheit  zu  bringen. 

Es  schien  mir  ein  einfacher  und  natürlicher,  ja  beinahe 
selbstverständlicher  Gedanke,  dass  Aehnlichkeit  auf  einer  theil- 
weisen    Gleichheit,    auf     einer    theilweisen    Identität    be- 


-     56     - 

ruht,  und  dass  man  demnach  bei  ähnhchen  Empfindungen  nach 
den  gemeinsamen  identischen  Empfindungsbestandtheilen  und  den 
entsprechenden  gemeinsamen  physiologischen  Processen  zu  suchen 
hat.  Ich  kann  jedoch  den  Leser  darüber  nicht  im  Unklaren 
lassen,  dass  diese  Ansicht  sich  keineswegs  allgemeiner  Zustimmung 
erfreut.  In  philosophischen  Schriften  findet  man  vielfach  die 
Behauptung,  dass  eine  Aehnlichkeit  auch  wahrgenommen  werden 
kann,  ohne  dass  im  geringsten  von  solchen  identischen  Bcstand- 
theilen  die  Rede  sein  könnte.  Ein  Physiologe^)  spricht  sich  in 
folgender  Weise  über  das  hier  dargelegte  Princip  aus:  „Denn 
dessen  Anwendung  auf  die  obigen  Probleme  führt  ihn  (Mach) 
direct  dazu,  nach  dem  physiologischen  Element  zu  fragen,  welches 
jenen  postulirten  Qualitäten  entspreche.  Mir  scheint  nun,  dass 
von  allen  Axiomen  und  Principien  keines  bedenklicher,  keines 
grösseren  Missverständnissen  ausgesetzt  ist,  als  dieser  Satz.  Sollte 
er  nichts  anderes  sein  als  eine  Umschreibung  des  sog.  Parallel- 
princips,  so  würde  er  weder  als  neu,  noch  als  besonders  frucht- 
bar gelten  können,  und  das  Gewicht,  das  auf  ihn  gelegt  wird, 
nicht  verdienen.  Wenn  er  dagegen  besagen  soll,  dass  allem, 
was  wir  psychologisch  als  etwas  Einheitliches  herausheben  können, 
jedem  Verhältniss,  jeder  Form,  kurz  allem,  was  wir  durch  eine 
Allgemeinvorstellung  bezeichnen  können,  ein  bestimmtes  Element, 
ein  Bestandtheil  des  ph3^siologischen  Geschehens,  entsprechen 
muss,  so  kann,  glaube  ich,  diese  Formulirung  nur  als  bedenklich 
und  irreführend  bezeichnet  werden."  Allerdings  will  ich  den 
Satz  (unter  dem  S.  48  gemachten  Vorbehalt)  in  diesem  letzteren 
„bedenklichen  und  irreführenden"  Sinn  verstanden  wissen.  Ich 
muss  es  nun  ganz  dem  Leser  überlassen,  ob  er  mir  noch  weiter 
folgen  und  in  den  durch  jenen  Grundsatz  deutlich  bezeichneten 
Anfang  der  Untersuchung  eingehen,  oder  ob  er,  der  Autorität 
der  Gegner  folgend,  umkehren,  und  sich  lediglich  mit  der  Be- 
trachtung   der    vorgehaltenen     Schwierigkeiten     begnügen     will. 


i)  J.  V.  Kries,    Ueber     die   materiellen     Grundlagen    der    Bewusstseinserschei- 
nungen,  Freiburg  i,  B,   1898. 


—     57     — 

In  ersterem  Falle  wird  er,  wie  ich  hoffe,  die  Erfahrung  machen, 
dass  nach  Erledigung  einfacherer  Fälle,  in  Fällen  tiefer  liegender, 
abstracter  Aehnlichkeit  die  Schwierigkeiten  nicht  mehr  in  der 
abschreckenden  Beleuchtung  erscheinen,  in  welcher  sie  zuweilen 
gesehen  wurden.  Ich  möchte  nur  gleich  hinzufügen,  dass  in 
solchen  complicirteren  Fällen  von  Aehnlichkeit  dieselbe  nicht  auf 
einem  gemeinschaftlichen  Element,  sondern  auf  einem  gemein- 
schaftlichen System  von  Elementen  beruht,  wie  ich  dies  wiederholt 
in  Bezug  auf  das  begriffliche  Denken  ausgeführt  habe  (Vgl. 
das  vorletzte  Capitel). 

8. 
Da  wir  eine  eigentliche  Kluft  zwischen  Physischem  und 
Psychischem  überhaupt  nicht  anerkennen,  so  versteht  es  sich, 
dass  beim  Studium  der  Sinnesorgane  sowohl  die  allgemein  physi- 
kalischen, als  auch  die  speciell  biologischen  Erfahrungen  Ver- 
wendung finden  können.  Manches,  was  uns  schwer  verständlich 
bleibt,  wenn  wir  das  Sinnesorgan  mit  einem  physikalischen 
Apparat  parallelisiren,  an  welchem  die  „Seele"  beobachtet,  wird 
durchsichtig  im  Lichte  der  Entwicklungslehre,  wenn  wir  annehmen, 
dass  wir  mit  einem  lebenden  Organismus  mit  besonderem  Ge- 
dächtniss,  besonderen  Gewohnheiten  und  Manieren,  die  einer 
langen  und  schicksalsreichen  Stammesgeschichte  ihren  Ursprung 
verdanken,  zu  thun  haben.  Die  Sinnesorgane  sind  selbst  ein 
Stück  Seele,  leisten  selbst  einen  Theil  der  psychischen  Arbeit, 
und  überliefern  das  Ergebniss  fertig  dem  Bewusstsein.  Was  ich 
hierüber  zu  sagen  habe,  will  ich  hier  kurz  zusammenfassen. 

9- 
Der  Gedanke,  die  Entwicklungslehre  auf  die  Physiologie  der 
Sinne  inbesondere,  und  auf  die  Physiologie  überhaupt,  anzuwenden, 
tritt  schon  vor  Darwin  bei  Spencer  (1855)  auf.  Derselbe  hat 
eine  mächtige  Förderung  durch  Darwin 's  Buch  „Ueber  den  Aus- 
druck der  Gemüthsbewegungen"  erfahren.  Später  hat  Schuster 
die  Frage,  ob  es  „ererbte  Vorstellungen"  gebe,  in  Darwin 'schem 
Sinne  erörtert.    Auch  ich  habe  mich  (Sitzungsberichte  der  Wiener 


-     58     - 

Akademie,  October  1866)  für  die  Anwendung-  der  Entwicklungs- 
lehre auf  die  Theorie  der  Sinnesorgane  ausgesprochen.  Eine  der 
schönsten  und  auf klärendsten  Ausführungen  im  Sinne  einer  psycho- 
logisch-physiologischen Anwendung  der  Entwicklungslehre  enthält 
die  akademische  Festrede  von  Hering^).  Gedächtniss  und  Ver- 
erbung fallen  in  der  That  fast  in  einen  Begriff  zusammen^  wenn 
wir  bedenken,  dass  Organismen,  welche  Theile  des  Elternleibes 
waren,  auswandern,  und  die  Grundlage  der  neuen  Individuen 
werden.  Die  Vererbung  wird  uns  durch  diesen  Gedanken  fast 
ebenso  verständlich  als  z.  B.  der  Umstand,  dass  die  Amerikaner 
englisch  sprechen,  dass  ihre  Staatseinrichtungen  in  vieler  Beziehung 
den  englischen  gleichen  u.  s.  w.  Das  Problem,  welches  darin  liegt, 
dass  Organismen  ein  Qedächtniss  haben,  welches  der  unorganischen 
Materie  zu  fehlen  scheint,  wird  hierdurch  selbstverständlich  nicht 
berührt,  und  besteht  fort  (Vgl.  Cap.  V,  XI).  —  Will  man  an  Herings 
Darstellung  nicht  unbillige  Kritik  üben,  so  muss  man  in  Betracht 
ziehen,  dass  er  den  Begriff  Gedächtniss  in  einem  weiteren  Sinne 
nimmt.  Er  hat  die  Verwandtschaft  erschaut,  die  besteht  zwischen 
den  länger  anhaltenden  Spuren,  welche  die  Stammesgeschichte  den 
Organismen  aufprägt  und  den  flüchtigeren  Eindrücken ,  die  das 
individuelle  Leben  zurücklässt.  Das  spontane  Wiederaufleben 
eines  einmal  eingeleiteten  Processes  auf  einen  leisen  Anstoss  hin 
erkennt  er  als  wesentlich  denselben  Vorgang,  ob  derselbe  nun 
in  dem  engen  Rahmen  des  Bewusstseins  beobachtet  werden  kann, 
oder  nicht.  Das  Erschauen  dieses  gemeinsamen  Zuges  in 
einer  grossen  Reihe  von  Erscheinungen  ist  nun  ein  wesentlicher 
Fortschritt,  wenn  auch  dieser  Grundzug  selbst  noch  unaufge- 
klärt bleibt.  —  In  neuerer  Zeit  hat  Weis  mann  2)  auch  den  Tod 
als  eine  Vererbungserscheinung'  aufgefasst.  Auch  diese  schöne 
Schrift  wirkt  sehr  aufklärend.  Die  Schwierigkeit,  die  man  darin 
sehen  könnte,  dass  sich  eine  Eigenschaft  vererben  soll,  die  im 
Elternorganismus  erst  sich  geltend  machen  kann,  nachdem  der 
Process   der  Vererbung-  schon  abgeschlossen    ist,   liegt   wohl  nur 


1)  Uqjjer  das  Gedächtniss  als  eine  allgem.  Function  der  organisirten  Materie,  1870. 

2)  Ucber  die  Dauer  des  Lebens,    1882. 


—     59     — 

im  Ausdruck.  Sie  fällt  weg,  wenn  man  darauf  achtet,  dass  die 
Vermehrungsfälligkeit  der  Körperzellen  auf  Kosten  der  Vermeh- 
rung der  Keimzellen  (wie  Weismann  andeutet)  wachsen  kann. 
Somit  kann  man  sagen,  dass  die  längere  Lebensdauer  der 
Zellengemeinschaft  und  die  verminderte  Fortpflanzung  zwei 
sich  gegenseitig  bedingende  Anpassungserscheinungen  seien.  — 
Noch  als  Gymnasiast  hörte  ich  einmal,  dass  Pflanzen  der  südlichen 
Hemisphäre  bei  uns  blühen,  wenn  in  ihrer  Heimath  Frühling 
ist.  Ich  erinnere  mich  lebhaft  der  geistigen  Erschütterung,  die 
mir  diese  Mittheilung  verursacht  hat.  Ist  dies  richtig,  so  kann 
man  hierbei  in  der  That  an  eine  Art  Gedächtniss  der  Pflanze  denken, 
auch  dann,  wenn  die  Periodicität  der  Lebenserscheinungen  hiebei 
die  Hauptsache  sein  sollte.  —  Die  sogenannten  Reflexbewe- 
gungen der  Thiere  lassen  sich  in  natürlicher  Weise  als  Gedächt- 
nisserscheinungen ausserhalb  des  Bewusstseinsorgans  auffassen. 
Eine  der  merkwürdigsten  dieser  Erscheinungen  sah  ich  (ich  glaube 
1865)  bei  Rollett  an  enthirnten  Tauben.  Diese  Thiere  trinken 
jedesmal,  wenn  sie  mit  den  Füssen  in  eine  kalte  Flüssigkeit  ge- 
setzt werden,  ob  dieselbe  nun  Wasser,  Quecksilber  oder  Schwefel- 
säure ist.  Da  nun  ein  Vogel  gewöhnlich  in  die  Lage  kommen 
wird,  seine  Füsse  zu  benetzen ,  wenn  er  seinen  Durst  zu  stillen 
sucht,  so  ergibt  sich  die  Anschauung  ganz  ungezwungen ,  dass 
hier  eine  durch  die  Lebensweise  bedingte  zweckmässige,  durch 
Vererbung  befestigte  Gewohnheit  vorliegt,  welche  (auch  bei  Aus- 
schaltung des  Bewusstseins)  auf  den  entsprechenden  auslösenden 
Reiz  mit  der  Präcision  eines  Uhrwerks  abläuft.  Goltz  hat  in 
seinem  wunderbaren  Buch^)  und  in  späteren  Schriften  viele  der- 
artige Erscheinungen  beschrieben.  —  Ich  will  nun  bei  dieser  Ge- 
legenheit noch  einige  Beobachtungen  erwähnen,  deren  ich  mich 
mit  grossem  Vergnügen  erinnere.  In  den  Herbstferien  1873  brachte 
mir  mein  kleiner  Junge  einen  wenige  Tage  alten  Sperling,  welcher 
aus  dem  Nest  gefallen  war,  und  wünschte  ihn  aufzuziehen.  Die 
Sache  war  jedoch  nicht  einfach.  Das  Thierchen  war  nicht  zum 
Schlingen  zu  bewegen ,   und    wäre   den   unvermeidlichen  Insulten 

i)  Die  Nervencentren  des  Frosches,    1869. 


—     6o     — 

beim  gewaltsamen  Füttern  sicherlich  bald  erlegen.  Da  stellte  ich 
folgende  Ueberlegung  an:  „Das  neugeborene  Kind  wäre  (ob  die 
Darwin 'sehe  Theorie  richtig  ist  oder  nicht)  unfehlbar  verloren, 
wenn  es  nicht  die  vorgebildeten  Organe  und  den  ererbten  Trieb 
zum  Saugen  hätte,  welche  durch  den  passenden  Reiz  ganz  auto- 
inatisch  und  mechanisch  in  Thätigkeit  gerathen.  Etwas  Aehnliches 
muss  in  anderer  Form  auch  beim  Vogel  existiren."  Ich  bemühte 
mich  nun  den  passenden  Reiz  zu  finden.  Ein  kleines  Insect 
wurde  an  ein  spitzes  Stäbchen  gesteckt  und  an  diesem  um  den 
Kopf  des  Vogels  rasch  herumbewegt.  Sofort  sperrte  das  Thier 
den  Schnabel  auf,  schlug  mit  den  Flügeln  und  schlang  gierig  die 
dargebotene  Nahrung'  hinab.  Ich  hatte  also  den  richtigen  Reiz 
für  die  Auslösung  des  Triebes  und  der  automatischen  Bewegung 
gefunden.  Das  Thier  wurde  zusehends  stärker  und  gieriger,  es  fing- 
an  nach  der  Nahrung  zu  schnappen,  erfasste  einmal  auch  ein  zufällig 
vom  Stäbchen  auf  den  Tisch  gefallenes  Insect,  und  frass  von  da  an 
ohne  Anstand  selbstständig.  In  dem  Maasse  als  sich  der  Intellect, 
die  Erinnerung,  entwickelte,  war  ein  immer  kleinerer  Theil  des 
auslösenden  Reizes  nothwendig.  Das  selbstständig  gewordene 
Thier  nahm  nach  und  nach  alle  characteristischen  Sperlingsmanieren 
an,  die  es  doch  nicht  eigens  gelernt  hatte.  Bei  Tage  (bei  wachem 
Intellect)  war  es  sehr  zutraulich  und  liebenswürdig'.  Des  Abends 
traten  regelmässig  andere  Erscheinungen  auf.  Das  Thier  wurde 
furchtsam.  Es  suchte  immer  die  höchsten  Orte  der  Stube  auf, 
und  beruhigte  sich  erst,  wenn  es  durch  die  Zimmerdecke  verhindert 
wurde,  noch  höher  zu  steigen.  Wieder  eine  andere  zweckmässige 
ererbte  Gewohnheit!  Bei  einbrechender  Dunkelheit  war  das  Thier 
vollends  verändert.  Näherte  man  sich  dann ,  so  sträubte  es  die 
Federn,  fing  an  zu  fauchen  und  zeigte  den  Ausdruck  des  Entsetzens 
und  der  leibhaftigen  Gespensterfurcht.  Auch  diese  ist  ganz 
wohlbegründet  und  zweckmässig  bei  einem  Wesen,  das  unter 
normalen  Verhältnissen  jeden  Aug'enblick  von  irgend  einem  Un- 
gethüm  verschlungen  werden  kann.  —  Diese  letztere  Beobachtung 
bekräftigte  mir  die  schon  vorher  gefasste  Ansicht,  dass  die  Ge- 
spensterfurcht  meiner  Kinder    nicht    von    den    (sorgfältig  fernge- 


—     6i      — 

haltenen)  Ammenmärchen  herrührte,  sondern  angeboren  war. 
Eines  meiner  Kinder  fing  gelegentlich  an,  den  im  Dunkeln  stehen- 
den Lehnstuhl  zu  beanstanden,  ein  anderes  wich  Abends  sorgfältig 
einem  Kohlenbehälter  beim  Ofen  aus,  besonders  wenn  derselbe 
mit  geöffnetem  Deckel  dastand,  und  einem  aufgesperrten  Rachen 
glich.  Die  Gespensterfurcht  ist  die  wirkliche  Mutter  der  Religionen. 
Weder  die  naturwissenschaftliche  Analyse,  noch  die  sorgfältige 
historische  Kritik  eines  D.  Strauss  Mythen  gegenüber,  welche 
für  den  kräftigen  Intellect  schon  widerlegt  sind,  bevor  sie  noch 
erfunden  wurden,  werden  diese  Dinge  plötzlich  beseitigen  und 
hinwegdecretiren.  Was  so  lange  einem  wirklichen  ökonomischen 
Bedürfniss  entsprach  und  theilweise  noch  entspricht  (Furcht  eines 
Schlimmem,  Hoffnung  eines  Bessern),  wird  in  den  dunkleren  un- 
contro  lirbaren  instinctiven  Gedankenreihen  noch  lange  fort- 
leben. Wie  die  Vögel  auf  unbewohnten  Inseln  (nach  Darwin) 
die  Menschenfurcht  erst  im  Laufe  mehrerer  Generationen  er- 
lernen müssen,  so  werden  wir  erst  nach  vielen  Generationen 
das  unnöthig  gewordene  „Gruseln"  verlernen.  Jede  Faustauf- 
führung kann  uns  darüber  belehren,  wie  sympathisch  uns  insge- 
heim die  Anschauungen  der  Hexenzeit  noch  sind.  Nützlicher 
als  die  Furcht  vor  dem  Unbekannten  wird  dem  Menschen  die 
genaue  Kenntnis  der  Natur,  seiner  Lebensbedingungen.  Und 
bald  ist  es  für  ihn  am  wichtigsten ,  dass  er  auf  der  Hut  sei  vor 
Nebenmenschen,  die  ihn  roh  vergewaltigen,  oder  durch  Irreleitung 
seines  Verstandes  und  Gefühls  perfid  missbrauchen  wollen.  — 
Noch  eine  eigenthümliche  Beobachtung  will  ich  hier  mittheilen, 
deren  Kenntniss  ich  meinem  Vater  (zuletzt  Gutsbesitzer  in  Krain), 
einem  begeisterten  Darwinianer,  verdanke.  Mein  Vater  beschäf- 
tigte sich  viel  mit  Seidenzucht,  zog  Yama  Mai  frei  im  Eichen- 
walde u.  s.  w.  Die  gewöhnliche  Morus-.Seidenraupe  ist  seit  vielen 
Jahrhunderten  ein  Hausthier  und  dadurch  höchst  unbehilflich  und 
unselbstständig  geworden.  Kommt  die  Zeit  des  Einspinnens 
heran,  so  pflegt  man  den  Thier.en  Strohbündel  darzubieten,  auf 
welchen  sie  sich  verpuppen.  Mein  Vater  kam  nun  eines  Tages 
auf  den  Einfall,  einer  Gesellschaft  von  Morus-Raupen  die  üblichen 


—       62        — 

Strohbündel  nicht  bereit  zu  legen.  Die  Folge  war,  dass  der 
grösste  Theil  der  Raupen  zu  Grunde  ging,  und  nur  ein  geringer 
Bruchtheil,  die  Genies  (mit  grösserer  Anpassungsfähigkeit),  sich 
einspann.  Ob,  wie  meine  Schwester  beobachtet  zu  haben  glaubt, 
die  Erfahrungen  einer  Generation  schon  in  der  nächsten  merklich 
benützt  werden,  muss  wohl  noch  weiter  untersucht  werden.  Aus 
den  Versuchen,  die  C.  Lloyd  Morgan  (Comparative  psychology, 
London  1894),  mit  jungen  Hühnchen,  Enten  u.  s.  w.  angestellt 
hat,  geht  hervor,  dass  wenigstens  bei  höheren  Thieren  kaum 
etwas  Anderes  angeboren  ist  als  die  Reflexe.  Das  frisch  aus- 
geschlüpfte Hühnchen  pickt  gleich  mit  grosser  Sicherheit  nach 
allem  was  es  sieht.  Was  aber  aufzupicken  erspriesslich  ist,  muss 
es  durch  individuelle  Erfahrung  lernen.  Je  einfacher  der  Or- 
ganismus, desto  geringer  die  Rolle  des  individuellen  Gedächt- 
nisses. —  Aus  allen  diesen  merkwürdigen  Erscheinungen  brauchen 
wir  keine  Mystik  des  Unbewussten  zu  schöpfen.  Ein  über  das 
Individuum  hinausreichendes  Gedächtniss  (in  der  oben  bezeichneten 
erweiterten  Bedeutung)  macht  sie  verständlich.  Eine  Psychologie 
in  Spencer-Darwin'schem  Sinne  auf  Entwicklungslehre  ge- 
gründet, aber  auf  positiver  Detailforschung  fussend,  verspricht 
reichere  Resultate  als  alle  bisherigen  Spekulationen.  —  Meine 
Beobachtungen  und  Betrachtungen  waren  längst  angestellt  und 
niedergeschrieben,  als  Schneider 's  werthvolle  Schrift  („Der  thie- 
rische  Wille",  Leipzig  1880)  erschien,  die  viele  ähnliche  enthält. 
Den  Detailausführungen  Schneider's,  soweit  dieselben  nicht 
durch  Lloj^d  Morgans  Versuche  problematisch  werden,  muss 
ich  fast  durchaus  zustimmen,  wenngleich  seine  naturwissenschaft- 
lichen Grundanschauungen  (das  Yerhältniss  von  Empfindung  und 
physikalischem  Process,  die  Bedeutung  der  Arterhaltung  u.  s.  w. 
betreffend)  von  den  meinigen  wesentlich  verschieden  sind,  und 
obgleich  ich  z.  B.  auch  die  Unterscheidung  von  Empfindungs- 
und Wahrnehmungstrieben  für  ganz  überflüssig  halte.  — 
Eine  wichtige  Umgestaltung  unserer  Anschauungen  über  die 
Vererbung  dürfte  durch  Weismann's  Schrift  (Ueber  die  Ver- 
erbung,  Jena   1883)   eingeleitet   sein.     Weismann    hält   die  Ver- 


-     63     - 

erbung  durch  Uebung-  erworbener  Eigenschaften  für  höchst  un- 
wahrscheinHch  und  sieht  das  wichtige  Moment  in  der  zufälhgen 
Variation  der  Keimesanlagen  und  der  Auslese  der  Keimes- 
anlagen. Wie  man  sich  auch  zu  Weismann's  Ausführungen 
stellen  mag,  jedenfalls  kann  die  durch  ihn  angeregte  Discussion 
zur  Klärung  der  Fragen  nur  beitragen.  Der  fast  mathematischen 
Schärfe  und  Tiefe  seiner  Problemstellung  wird  man  gewiss  nicht 
die  Anerkennung  versagen ,  und  seinen  Argumenten  nicht  die 
Kraft  absprechen  können.  Die  Bemerkung  z.  B.  gibt  sehr  zu 
denken,  dass  die  eigenthümlichen,  ungewöhnlichen,  scheinbar  auf 
Gebrauch  und  Anpassung  zurückzuführenden  Formen  der  ge- 
schlechtslosen Ameisen,  welche  zudem  von  der  Form  ihrer  fort- 
pflanzungsfähigen Genossen  so  sehr  abweichen ,  nicht  auf  einer 
Vererbung  durch  Uebung  erworbener  Eigenschaften  beruhen 
können.  Dass  die  Keimesanlagen  selbst  sich  durch  äussere  Ein- 
flüsse ändern  können,  scheint  aber  doch  durch  die  Bildung  neuer 
Racen,  welche  sich  als  solche  erhalten,  ihre  Raceneigenschaften 
vererben,  und  die  selbst  wieder  unter  andern  Umständen  einer 
Umbildung  fähig  sind,  deutlich  hervorzugehen.  Auf  das  Keim- 
plasma muss  also  doch  auch  der  dasselbe  umschliessende  Leib 
Eintluss  nehmen  (wie  Weismann  selbst  zugibt).  Somit  ist  ein 
Einfluss  des  individellen  Lebens  auf  die  Nachkommen  doch  nicht 
auszuschliessen ,  wenn  auch  eine  direkte  Uebertragimg  der 
Resultate  der  Uebung  des  Individuums  auf  die  Descendenten 
(nach  Weismann's  Darlegung)  nicht  mehr  erwartet  werden 
kann.  —  Wenn  man  sich  vorstellt,  dass  die  Keimesanlagen  zu- 
fällig variiren,  so  ist  zu  bedenken,  dass  der  Zufall  kein  Actions- 
princip  ist.  Wenn  ganz  gesetzmässig  wirksame  periodische 
Umstände  verschiedener  Art  und  Periodicität  zusammentreffen, 
so  überdecken  sich  dieselben  derart,  dass  man  im  Einzelnen  kein 
Gesetz  mehr  wahrnimmt.  Dennoch  äussert  sich  das  Gesetz  im 
Verlauf  eines  längeren  Zeitraumes  und  erlaubt  uns  auf  gewisse 
Mittelwerthe,  Wahrscheinlichkeiten  der  Effecte  zu  rechnen i). 

I)  Vorlesungen  über  Psychophysik.    Zeitschr.  f.  prakt.   Heilkunde.    Wien  1863, 
S.   148,   168,    169. 


-      64      - 

Ohne  ein  solches  Actionsprincip  hat  die  Wahrscheinhckeit,  der 
Zufall  gar  keinen  Sinn.  Welches  Actionsprincip  sollte  aber  auf 
die  Variation  der  Keimesanlagen  mehr  Einfluss  haben  als  der 
Elternleib?  —  Ich  für  meine  Person  kann  mir  nicht  vorstellen, 
dass  die  Art  dem  Einflüsse  variirender  Umstände  unterliegen 
sollte,  welche  gleichwohl  nicht  am  Individuum  angreifen  wür- 
den. Meine  eigene  Variation  wird  mir  aber  zudem  gewiss, 
durch  jeden  Gedanken,  jede  Erinnerung,  jede  Erfahrung,  welche 
ja  mein  ganzes  physisches  Verhalten  ändern^). 

lO. 

Auch  teleologische  Betrachtungen  haben  wir  als  Hilfsmittel 
der  Forschung  keineswegs  zu  scheuen.  Gewiss  wird  uns  das 
Thatsächliche  nicht  verständlicher  durch  Zurückführung  desselben 
auf  einen  selbst  problematischen  unbekannten  ,, Weltzweck",  oder 
den  ebenso  problematischen  Zweck  eines  Lebewesens.  Allein 
die  Frage,  welchen  Werth  diese  oder  jene  Function  für  das  that- 
sächliche Bestehen  des  Organismus  hat,  oder  was  sie  zu  der 
Erhaltung  desselben  beiträgt,  kann  das  Verständniss  dieser 
Function    selbst    fördern  2).      Deshalb    dürfen    wir    natürlich    noch 


i)  Populär-wissenschaftliche  Vorlesungen   1897,  S.   248,   249. 

2)  Solche  teleologische  Betrachtungen  sind  mir  oft  nützlich  und  aufklärend 
gewesen.  Die  Bemerkung  z.  B.,  dass  ein  sichtbares  Object  bei  wechselnder  Be- 
leuchtungsintensität nur  dann  als  dasselbe  wiedererkannt  werden  kann,  wenn  die 
ausgelöste  Empfindung  von  dem  Verhältniss  der  Beleuchtungsintensitäten  des  Ob- 
jectes  und  der  Umgebung  abhängt,  macht  eine  ganze  Reihe  organischer  Eigenschaften 
des  Auges  verständlich.  Man  versteht  durch  dieselbe  auch,  wie  der  Organismus  sich 
im  Interesse  seines  Bestehens  der  bezeichneten  Forderung  anpassen ,  und  sich  darauf 
einrichten  musste ,  Lichtintensitätsverhältnisse  zu  empfinden.  Das  sogenannte 
Weber'sche  Gesetz,  oder  die  Fechner'sche  psychophysische  Fundamentalformel  er- 
scheint demnach  nicht  als  etwas  Fundamentales,  sondern  als  erklärbares  Ergebniss 
organischer  Einrichtungen.  Natürlich  ist  damit  der  Glaube  an  die  Allgemeingültigkeit 
dieses  Gesetzes  aufgegeben.  Ich  habe  die  betreffenden  Ausführungen  in  verschiedenen 
Abhandlungen  gegeben  (Sitzungsberichte  der  Wiener  Akademie,  Bd.  52,  Jahrg.  1865, 
Vierteljahrschrift  für  Psychiatrie.  Neuwied  und  Leipzig  1868,  Sitzungsberichte  der 
Wiener  Akademie,  Bd.  57,  Jahrg.  1868).  In  der  letzterwähnten  Abhandlung  habe 
ich  von  der  Annahme  des  Parallelismus  zwischen  Psychischem  und  Physischem,  oder, 
wie  ich  damals  mich  ausdrückte,  von  der  Proportionalität  zwischen  Reiz  und 
Empfindung  ausgehend,  die  Fechner'sche  Massformel  (das  Logarithmusgesetz) 
fallen    gelassen,    und    eine    andere    Auffassung    der    Fundamentalformel    ange- 


-     65     - 

nicht  glauben,  dass  wir,  wie  manche  Darwinianer  sich  ausdrücken, 
eine  Function  „mechanisch  erklärt"  haben ,  wenn  wir  erkennen, 
dass  sie  für  das  Bestehen  der  Art  noth wendig  ist.  Darwin  selbst 
ist  von  dieser  kurzsichtigen  Auffassung  wohl  vollkommen  frei. 
Durch  welche  physikalische  Mittel  die  Function  sich  entwickelt, 
bleibt  noch  immer  ein  physikalisches,  und  wie  und  warum 
sich  der  Organismus  anpassen  will,  ein  psychologisches 
Problem.  Die  Erhaltung  der  Art  ist  überhaupt  nur  ein  that- 
sächlicher  werthvoller  Anhaltspunkt  für  die  Forschung,  keines- 
wegs aber  das  Letzte  und  Höchste.  Arten  sind  ja  wirklich  zu 
Grunde  gegangen ,  und  neue  wohl  ebenso  zweifellos  entstanden. 
Der  lustsuchende  und  schmerzfliehende  Wille  ^)  muss  also  wohl 
weiter  reichen  als  an  die  Erhaltung  der  Art.  Er  erhält  die  Art, 
wenn  es  sich  lohnt,  er  vernichtet  sie,  wenn  ihr  Bestand  sich  nicht 
mehr  lohnt.  Wäre  er  nur  auf  die  Erhaltung  der  Art  gerichtet, 
so  bewegte  er  sich,  alle  Individuen  und  sich  selbst  betrügend, 
ziellos  in  einem  fehlerhaften  Cirkel.  Dies  wäre  das  biologische 
Seitenstück  des  berüchtigten  physikalischen  „perpetuum  mobile". 
Derselben  Verkehrtheit  machen  sich  jene  Staatsmänner  schuldig, 
welche  den  Staat  als  Selbstzweck  ansehen. 


nommen,  deren  Gültigkeit  für  die  Lichtempfindung  ich  nicht  bestritten  habe.  Dies 
geht  aus  der  daselbst  befindlichen  mathematischen  Entwicklung  unzweifelhaft  hervor. 
Man  kann  also  nicht  sagen,  wie  es  Hering  gethan  hat,  dass  ich  überall  auf  dem 
psychophysischen  Gesetz  fusse,  sofern  man  unter  diesem  die  Massformel  versteht. 
Wie  hätte  ich  auch  die  Proportionalität  von  Reiz  und  Empfindung  zugleicli 
mit  der  logarithmischen  Abhängigkeit  festhalten  können?  Mir  war  es  genügend, 
meine  Meinung  deutlich  zu  machen,  die  Fe  ebner 'sehe  eingehend  zu  kritisiren  und  zu 
bekämpfen,  hatte  ich  aus  vielen  naheliegenden  Gründen  kein  Bedürfniss.  Genau  ge- 
nommen halte  ich  auch  den  Ausdruck  Proportionalität  für  unzutreffend,  da  von  einer 
eigentlichen  Messung  der  Empfindung  doch  nicht  die  Rede  sein  kann,  sondern  höch- 
stens von  einer  genauen  Characterisirung  und  Inventarisirung  durch  Zahlen.  Vergl. 
„Principien  der  Wärmelehre",  S.  56,  was  über  die  Bezeichnung  der  Wärmezustände 
gesagt  ist. 

i)  Man  kann  den  Schopenhauer 'sehen  Gedanken  der  Beziehung  von  Willen 
und  Kraft  ganz  wohl  annehmen,  ohne  in  beiden  etwas  Metaphysisches  zu  sehen. 


Mach,  Analyse.     3.  Aufl. 


V.   Physik  und  Biologie.     Causalität  und  Teleologie. 

I. 

Verschiedene  Wissensgebiete  entwickeln  sich  oft  lange  Zeit 
nebeneinander,  ohne  dass  eines  auf  das  andere  Einfluss  nimmt. 
Gelegentlich  können  sie  aber  wieder  in  engern  Contact  treten, 
wenn  bemerkt  wird,  dass  die  Lehren  des  einen  durch  jene  des 
andern  eine  unerwartete  Aufklärung  erfahren.  Dann  zeigt  sich 
sogar  das  natürliche  Bestreben,  das  erstere  Gebiet  ganz  in  dem 
letzteren  aufgehen  zu  lassen  ^).  Der  Zeit  der  Hoffnungsfreudig- 
keit, der  Ueberschätzung  dieser  vermeintlich  alles  aufklärenden 
Beziehung  folgt  aber  bald  eine  Periode  der  Enttäuschung  und 
abermaligen  Trennung-  dieser  Gebiete,  in  welcher  wieder  jedes 
seine  eigenem  Ziele  verfolgt,  seine  besonderen  Fragen  stellt,  und 
seine  eigenthümlichen  Methoden  anwendet.  Jeder  solche  zeit- 
weilig'e  Contact  hinterlässt  bleibende  Spuren.  Ausser  dem.  posi- 
tiven Wissensgewinn,  welcher  nicht  zu  unterschätzen  ist,  wird 
aber  durch  die  zeitweilige  Beziehung  verschiedener  Gebiete  eine 
Metamorphose  der  Begriffe  eingeleitet,  wodurch  diese  geklärt 
und  über  das  Gebiet  ihrer  Entstehung  hinaus  anwendbar  werden. 

2. 

Wir  befinden  uns  nun  in  einer  solchen  Periode  mannig- 
faltiger Beziehungen,  und  die  eingeleitete  Gährung'  der  Begriffe 
bietet  recht  merkwürdige  Erscheinungen  dar.  Während  manche 
Physiker  die  physikalischen  Begriffe  psychologisch,  logisch  und 
mathematisch  zu  säubern  bestrebt  sind,  finden  sich  andere  Ph}^- 
siker    hiedurch    beunruhigt    und    treten,    philosophischer    als     die 

i)  Veri^l.  \V.  Pauli,  Plij'silcalisch -chemische  Methoden  in  der  Medicin.  Wien 
1900.   —   Daselbst  wird   eine   verwandte  enger   begrenzte   ]<"iage  beliandelt. 


1 


-     67      - 

Philosophen,  für  die  von  diesen  vielfach  schon  aufgegebenen  alten 
metaphysischen  Begriffe  ein.  Philosophen,  Psychologen,  Biologen, 
und  Chemiker  wenden  den  Energ-iebeg'riff  und  andere  physikalische 
Begriffe  in  so  freier  Weise  auf  die  weitesten  Gebiete  an,  wie 
dies  der  Physiker  auf  eigenem  Gebiet  kaum  wagen  würde. 
Man  könnte  fast  sag-en,  die  gewöhnlichen  Rollen  der  Fächer 
seien  vertauscht.  Ob  nun  diese  Bewegung  theils  positiven,  theils 
negativen  Erfolg  hat,  jedenfalls  wird  sich  aus  derselben  eine 
präcisere  Bestimmung  der  Begriffe,  eine  genauere  Abgrenzung 
ihres  Anwendungsbereiches,  eine  klarere  Vorstellung  von  der 
Verschiedenheit  und  der  Verwandtschaft  der  Methoden  der  ge- 
nannten Gebiete  ergeben. 

3- 
Uns  handelt  es  sich  hier  insbesondere  um  die  Beziehungen 
des  physikalischen  und  biologischen  Gebietes  im  weitesten  Sinne. 
Schon  Aristoteles  unterschied  wirkende  Ursachen  und  End- 
ursachen oder  Zwecke.  Es  wurde  nun  vorausgesetzt,  dass  die 
Erscheinungen  des  ersteren  Gebietes  durchaus  durch  wirkende 
Ursachen,  jene  des  letzteren  aber  auch  durch  Zwecke  bestimmt 
seien.  Die  Beschleunigung  eines  Körpers  z.  B.  ist  nur  durch 
die  wirkenden  Ursachen,  durch  die  augenblicklichen  Umstände, 
die  Gegenwart  anderer  gravitirender,  magnetischer  oder  elec- 
trischer  Körper  bestimmt.  Die  Wachsthumsentwicklnng  eines 
Thieres  oder  einer  Pflanze  in  ihren  eigentümlichen  bestimmten 
Formen,  oder  die  Instincthandlungen  eines  Thieres  vermögen  wir 
gegenwärtig  aus  den  wirkenden  Ursachen  allein  nicht  abzuleiten, 
doch  werden  uns  dieselben  aus  dem  Zweck  der  Selbsterhaltung 
unter  diesen  besonderen  Lebensumständen  wenigstens  th  eil  weise 
verständlich.  Welche  theoretische  Bedenken  gegen  die  An- 
wendung des  Zweckbegriffes  in  der  Biologie  man  auch  hegen 
möchte,  gewiss  wäre  es  verkehrt,  auf  einem  Gebiete,  wo  die 
„causale"  Betrachtung  noch  so  unvollkommene  Aufklärungen 
gibt,  die  leitenden  Fäden,  welche  die  Zweckbetrachtung  liefert, 
ungenützt  liegen  zu  lassen.     Ich  weiss  nicht,  wodurch  die  Raupe 


—     68      — 

des  Nachtpfauenauges  gezwungen  wird,  einen  Cocon  mit  einer 
nach  aussen  sich  öffnenden  Borstenklappe  zu  spinnen,  aber  ich 
sehe  ein ,  dass  gerade  ein  solcher  Cocon  dem  Zwecke  ihrer 
Lebenserhaltung  entspricht.  Ich  bin  weit  davon  entfernt,  die 
vielen  merkwürdigen  Entwicklungserscheinungen  und  Instinct- 
handlungen  der  Thiere,  die  schon  Reimarus  und  Autenrieth 
beschrieben  und  studirt  haben,  „causal"  zu  verstehen,  aber  ich 
verstehe  sie  nach  dem  Zweck  der  Lebenserhaltung  und  unter 
ihren  besonderen  Lebensbedingungen.  Jene  Erscheinungen  ziehen 
dadurch  die  Aufmerksamkeit  auf  sich  und  fügen  sich  dem 
Lebensbild  des  organischen  Wesens  als  unverlierbare  Bestand- 
theile  ein,  welches  sich  dadurch  erst  zu  einem  einheitlichen,  zu- 
sammenhängenden Ganzen  gestaltet.  Reimarus  und  Auten- 
rieth haben  auf  diesem  Wege  die  Verwandtschaft  zwischen  den 
Wachsthumserscheinungen  und  den  Instincterscheinungen  schon 
erkannt.  Aber  erst  in  neuester  Zeit  sind,  besonders  durch  die 
pflanzenphysiologischen  Untersuchungen  von  Sachs  und  die 
thierphysiologischen  Arbeiten  von  Loeb  über  Geotropismus,  He- 
liotropismus, Stereotropismus  u.  s.  w.  die  Beziehungen  zwischen 
Wachsthum  und  Instinct  wirklich  aufgeklärt  worden,  und  man 
fängt  an,  dieselben  auch  „causal"  zu  begreifen.  Wie  nützlich  der 
Zweckbegriff  der  biologischen  Forschung  war,  darüber  kann  dem 
Zeugniss  der  Geschichte  gegenüber  gar  kein  Streit  sein.  Man 
denke  nur  an  Kepler's  Untersuchung  des  Auges.  Die  Existenz 
der  Accommodation  war  für  ihn  nach  dem  Zweck  des  Auges, 
der  Thatsache  des  deutlichen  Sehens  in  verschiedene  Entfernungen, 
unzweifelhaft,  die  Vorgänge  aber,  welche  die  Accommodation 
bewirken,  wurden  erst  dritthalb  Jahrhunderte  später  wirklich  ent- 
hüllt. Harvey  gelangte  zur  Entdeckung  der  Blutbewegung,  in- 
dem er  sich  den  problematischen  Zweck  der  Stellung  der  Herz- 
und  Venenklappen  klar  machen  wollte. 

4- 
Wenn    ein    Gebiet    von    Thatsachen    teleologisch    auch  voll- 
kommen durchschaut  ist,  so  bleibt  das  Bedürfniss  nach  dem  „cau- 


-     69     - 

salen"  Verständniss  dennoch  bestehen.  Der  Glaube  an  eine  gänz- 
lich verschiedene  Natur  der  beiden  betrachteten  Gebiete,  vermöge 
welcher  das  eine  überhaupt  nur  causal,  das  andere  überhaupt 
nur  teleologisch  zu  begreifen  wäre,  ist  nicht  gerechtfertigt.  Der 
physikalische  Thatsachencomplex  ist  einfach,  oder  lässt  sich 
wenigstens  in  vielen  Fällen  willkürlich  (durch  das  Experiment)  so 
einfach- g'estalten,  dass  die  unmittelbaren  Zusammenhänge  sicht- 
bar werden.  Haben  wir  uns  nun  durch  genügende  Beschäftigung 
mit  diesem  Gebiete  Begriffe  B  von  der  Art  dieser  Zusammenhänge 
erworben,  die  wir  für  den  Thatsachen  allgemein  entsprechend 
halten,  so  müssen  wir  mit  logischer  Nothwendigkeit  er- 
warten, dass  auch  jede  vorkommende  Einzelthatsache  den  Be- 
griffen B  entspricht.  Hierin  liegt  aber  keine  Naturnothwen- 
digkeit^).  Das  ist  das  „causale"  Verständniss.  Der  biologische 
Thatsachencomplex  ist  nun  so  zusammengesetzt,  dass  die  un- 
mittelbaren Zusammenhänge  nicht  übersehen  werden.  Des- 
halb begnügen  wir  uns,  auffallende,  nicht  unmittelbar  zusammen- 
hängende Theile  des  Thatsachencomplex  als  zusammenhängend 
hervorzuheben.  Der  an  dem  einfacheren  Causalverhältniss  ge- 
schulte Intellect  findet  nun  in  dem  Fehlen  der  Zwischenglieder 
Schwierigkeiten,  die  er  entweder  nach  Möglichkeit  durch  Auf- 
suchen dieser  Zwischenglieder  zu  beheben  sucht,  oder  er  verfällt 
auf  die  Hypothese  einer  ganz  neuen  Art  von  Zusammenhängen. 
Letzteres  ist  unnöthig%  wenn  wir  unsere  Kenntnisse  als  unvoll- 
ständig und  provisorisch  ansehen  und  bedenken,  dass  in  physi- 
kalischen Gebiet  ganz  analoge  Fälle  vorkommen.  Die  antiken 
Forscher  unterschieden  auch  nicht  so  genau  zwischen  beiden  Ge- 
bieten. Aristoteles  lässt  z.  B.  die  schweren  Körper  ihren  Ort 
suchen;  Heron  glaubt,  dass  die  Natur  aus  Erspar ungs- 
rücksichten  das  Licht  auf  den  kürzesten  Wegen  und  in  der 
kürzesten  Zeit  führe,  u.  s.  w.  Diese  Forscher  zogen  keine  so 
scharfe  Grenze  zwischen  dem  Physikalischen  und  Biologischen. 
Durch    eine    unscheinbare  Wendung    des    Gedankens    kann   man 


I)  Principien  der   Wärmelehre.    2.   Aufl.,   Leipzig    1900,   S.   434,   457. 


—      70      — 

übrigens  jede  teleologische  Frage  so  formuliren,  dass  der  Zweck- 
begriff ganz  aus  dem  Spiel  bleibt.  Das  Auge  sieht  in 
verschiedenen  Entfernungen  deutlich;  dessen  dioptrischer  Apparat 
muss  also  veränderlich  sein ;  worin  besteht  diese  Veränderung?  Herz- 
und  Venenklappen  öffnen  sich  alle  in  demselben  Sinne;  nur  ein- 
seitige Blutbewegung  ist  unter  diesen  Umständen  möglich.  Ist 
sie  vorhanden  ?  Die  modere  Entwicklung-sichre  hat  sich  diese 
nüchterne  Denkweise  ang-eeignrt.  Selbst  in  hoch  entwickelten 
Partien  der  Physik  finden  wir  andererseits  Ueberlegungen,  welche 
mit  jenen  der  biologischen  Wissenschaften  sehr  verwandt  sind. 
Wir  untersuchen  z.  B.  die  stehenden  Schwingungen,  welche  unter 
gegebenen  Verhältnissen  möglich  sind,  d.  h.  sich  erhalten 
können.  Die  Art,  wie  dieselben  aber  entstehen,  ist  uns 
durchaus  noch  nicht  genau  bekannt.  Die  Lichtbewegung  auf  den 
kürzesten  Wegen  erklären  wir  durch  eine  Auslese  der  wirk- 
samen Wege.  Die  Denkweise  des  Chemikers  steht  zuweilen  jener 
des  Biologen  noch  viel  näher.  Alle  möglichen  Verbindungen 
bilden  sich  nach  seiner  Auffassung  in  einer  Lösung',  die  unlös- 
lichen aber,  welche  neuen  Angriffen  stärker  widerstehen,  tragen 
über  die  andern  den  Sieg  davon,  und  bleiben  übrig.  Es  scheint 
also  zunächst  noch  keine  Nöthigung  zu  bestehen,  einen  tief- 
gehenden Unterschied  zwischen  teleologischer  und  causaler 
Untersuchung  anzunehmen.  Die  erstere  ist  einfach  eine  vor- 
läufige. 

5- 
Um  dies  noch  näher  zu  begründen,  gehen  wir  nochmals  auf 
die  Vorstellungen  von  der  Causalität  ein.  Die  alte,  hergebrachte 
Vorstellung  von  der  Causalität  ist  etwas  ungelenkig:  einer  Dosis 
Ursache  folgt  eine  Dosis  Wirkung.  Es  spricht  sich  hierin  eine 
Art  primitiver,  pharmaceutischer  Weltanschauung  aus,  wie  in  der 
Lehre  von  den  vier  Elementen.  Schon  durch  das  Wort  Ursache 
wird  dies  deutlich.  Die  Zusammenhänge  in  der  Natur  sind  selten 
so  einfach,  dass  man  in  einem  gegebenen  Falle  eine  Ursache 
und  eine  Wirkung  angeben  könnte.     Ich  habe  deshalb  schon  vor 


—     71      -- 

langer  Zeit  versucht,  den  Ursachenbegriff  durch  den  mathe- 
matischen Functionsbegriff  zu  ersetzen:  Abhängigkeit 
der  Erscheinungen  von  einander,  genauer  Abhängig- 
keit der  Merkmale  der  Erscheinungen  von  einander i). 
Dieser  Begriff  ist  einer  beliebigen  Erweiterung  und  Einschränkung 
fähig,  je  nach  der  Forderung  der  untersuchten  Thatsachen.  Die 
gegen  denselben  erhobenen  Bedenken  möchten  also  wohl  zu  be- 
seitigen sein  2).  Betrachten  wir  als  einfaches  Beispiel  das  Ver- 
halten gravitirender  Massen.  Tritt  einer  Masse  A  eine  Masse  B 
gegenüber,  so  folgt  hierauf  eine  Bewegung  von  A  gegen  B 
hin.  Dies  ist  die  alte  Formel.  Genauer  betrachtet,  zeigt  sich 
aber,  dass  die  Massen  A,  B,  C,  D  .  .  .  einander  gegenseitig 
Beschleunigungen  bestimmen,  welche  also  mit  der  Setzung  der 
Massen  zugleich  gegeben  sind.  Die  Beschleunigungen  geben 
die  Geschwindigkeiten  an,  welche  in  einer  künftigen  Zeit  er- 
reicht sein  werden.  Es  sind  hiedurch  nun  auch  die  Lagen  von 
A,  B,  C,  D  .  .  .  für  jede  Zeit  bestimmt.  Das  physikalische 
Maass  der  Zeit  gründet  sich  aber  wieder  auf  Raummessung 
(Drehung  der  Erde).  Es  ergiebt  sich  also  schliesslich  Abhängigkeit 
der  Lagen  voneinander.  Schon  in  diesem  einfachsten  Falle  ver- 
mag die  alte  Formel  der  Mannigfaltigkeit  der  Beziehungen,  welche 
in  der  Natur  bestehen,  nicht  zu  fassen.  So  kommt  auch  in  andern 
Fällen  alles  auf  gegenseitige  Abhängigkeit  hinaus,  über 
deren  Form  selbstverständlich  von  vornherein  gar  nichts  ausge- 
sagt werden  kann,  da  hierüber  nur  die  Specialforderungen  zu 
entscheiden    hat.      Eine    gegenseitige   Abhängigkeit    lässt    Ver- 


i)  Die  Geschichte  und  die  Wurzel  des  Satzes  der  Erhaltung  der  Arbeit.  Prag, 
Calve,    1872. 

2)  Solche  Einwendungen  wurden  erhoben  von:  Külpe,  „Ueber  die  Beziehungen 
zwischen  körperlichen  und  seelischen  Vorgängen"  fZeitschr.  für  Hypnotismus,  Bd.  7, 
S.  97),  ferner  von  Cossniann ,  „Empirische  Teleologie".  Stuttgart  1899,  S.  22.  Ich 
glaube  nicht,  dass  meine  Auffassung  von  jener  Cossmann's  so  sehr  abweicht,  dass 
eine  "Verständigung  nicht  möglich  wäre.  Bei  längerer  Erwägung  würde  Cossmann 
wahrscheinlich  erkannt  haben,  dass  ich  den  P'unctionsbegriff  an  die  Stelle  des  alten 
Causalitätsbegriffes  gesetzt  habe,  und  dass  dieser  auch  für  jene  Fälle  genügt,  welche 
er  im  Auge  hat.  Gegen  die  „empirische  Teleologie"  habe  ich  übrigens  nichts  ein- 
zuwenden. Vgl.  auch  C.  Hauptmann,  Die  Metaphysik  in  der  Physiologie.  Dresden  1893. 


-         ■]2        — 

änderung  nur  zu,  wenn  irgend  eine  Gruppe  der  in  Beziehung 
stehenden  Stücke  als  unabhängig  variabel  betrachtet  werden 
kann.  Deshalb  ist  es  zwar  möglich,  das  Weltbild  in  wissen- 
schaftlich bestimmter  Weise  im  Einzelnen  zu  ergänzen,  wenn  ein 
ausreichender  Theil  desselben  gegeben  ist,  wo  aber  die  glänze 
Welt  hinaus  will,  kann  wissenschaftlich  nicht  ermittelt  werden. 
Wenn  ein  (etwa  durch  Centralkräfte)  gut  definirtes  mecha- 
nisches System  in  seinen  Lagen  und  Geschwindigkeiten  gegeben 
ist,  so  ist  dessen  Configuration  als  Function  der  Zeit  bestimmt.  Man 
kennt  dieselbe  zu  einer  beliebigen  Zeit  vor  und  nach  der  An- 
fangszeit, kann  also  voraus  und  rückwärts  prophezeien.  Dies 
gilt  in  beiden  Fällen  nur,  wenn  Störungen  von  aussen  nicht 
eintreten,  das  System  also  in  gewissem  Sinne  als  ein  für  sich 
abgeschlossenes  angesehen  werden  kann.  Als  ganz  von  der 
übrigen  Welt  isolirt  kann  man  kein  System  auffassen,  da  die 
Bestimmung  der  Zeit,  demnach  auch  der  Geschwindigkeiten,  die 
Abhängigkeit  von  einem  Parameter  voraussetzen,  der  durch  den 
zurückgelegten  Weg  eines  ausserhalb  des  S)^stems  lieg-enden 
Körpers  (Planeten)  bestimmt  wird.  Die  thatsächliche  Abhängig- 
keit, wenn  auch  nicht  die  unmittelbare  Abhängigkeit  aller  Vor- 
gänge von  der  Lage  eines  Weltkörpers  verbürgt  uns  den  Zu- 
sammenhang der  ganzen  Welt.  Analoge  Ueberlegungen  gelten 
für  ein  beliebiges  physikalisches  System,  wenn  man  dasselbe  auch 
nicht  als  ein  mechanisches  auffasst.  Alle  genau  und  klar  er- 
kannten Abhängigkeiten  lassen  sich  als  gegenseitige  Simul- 
tanbeziehungen auffassen. 

Betrachten   wir  im  Gegensatz  hierzu  die  populären  Begriffe 

v/         \/\/         \/  Ursache  und  Wirkung. 
S^.— —.— -.— -'  K  Die  Sonne,  S,  Fig'.  i  b, 

/        \         /^\  /  '^\         /\  bestrahle    einen    in  ir- 

^^g"""  '^-  gend    einem    Medium 

eingetauchten  K(')rper  K.  Datin  ist  die  Sonne,  oder  die  Sonnen- 
wärme, die  Ursache  der  Erwärmung-  des  Körpers  K,  welche 
regelmässig  auf  die  Bestrahlung  folgt.  Andererseits  kann  der 
Körper  K  oder    dessen     rcMupcratürändorung    nicht    als    Ursache 


—     73     — 

der  Temperaturänderung  der  Sonne  angesehen  werden,  wie  es 
allerdings  der  Fall  wäre,  wenn  S  und  K  allein  in  unmittel- 
barer Wechselbeziehung  stünden.  Die  beiden  Aenderungen 
wären  dann  simultan  und  würden  sich  gegenseitig  bestimmen. 
Es  liegt  dies  also  an  den  Zwischengliedern,  den  Elementen  A,  B 
des  Mediums,  welche  nicht  nur  an  K,  sondern  auch  an  andern 
Elementen  Aenderungen  bestimmen  und  von  letzteren  Bestimm- 
ungen erfahren.  K  steht  ebenso  mit  unzähligen  Elementen  in 
Wechselbeziehung,  und  nur  ein  verschwindender  Theil  seiner 
Strahlung  gelangt  zur  Sonne  zurück.  An  analogen  Umständen  liegt 
es,  dass  ein  Körper  auf  die  Netzhaut  ein  Bild  wirft,  eine  Gesichts- 
empfindung auslöst,  und  dass  von  dieser  eine  Erinnerung  zurückbleibt, 
während  durch  die  Erinnerung  nicht  das  Netzhautbild  oder  gar 
der  ganze  Körper  restituirt  wird.  Darin  liegt  für  mich  der  Vor- 
zug des  Functionsbegriffes  vor  dem  Ursachenbegriff,  dass  ersterer 
zur  Schärfe  drängt,  und  dass  demselben  die  Un Vollständigkeit, 
Unbestimmtheit  und  Einseitigkeit  des  letzteren  nicht  anhaftet. 
Der  Begriff  Ursache  ist  in  der  That  ein  primitiver  vorläufiger 
Nothbehelf.  Ich  meine,  das  muss  jeder  moderne  Naturforscher 
fühlen,  der  z.  B.  die  Mill'schen  Ausführungen  über  die  Methoden 
der  experimentellen  Forschung  in  Augenschein  nimmt.  Er  würde 
beim  Versuch  der  Anwendung  nicht  über  das  Vorläufigste 
hinauskommen.  —  Man  kann  zwischen  räumlich  und  zeitlich  sehr 
weit  Abliegendem  functionale  Beziehungen  vermuthen,  von  der 
Gegenwart  aus  in.  die  ferne  Zukunft  oder  Vergangenheit  zu 
prophezeien  versuchen,  und  kann  darin  Glück  haben.  Der  Ge- 
danke wird  aber  auf  desto  weniger  sicherer  Basis  ruhen,  je 
grösser  die  Entfernung  ist.  Deshalb  ist  es  unbeschadet  der 
Grösse  des  Newton 'sehen  Gedankens  ein  so  wichtiger  Fortschritt 
der  modernen  Physik,  dass  sie,  wo  sie  es  kann,  die  Berück- 
sichtigung der  räumlichen  und  zeitlichen  Continuität  fordert. 

6. 
Es  möchte  demnach    scheinen,    dass   man    mit   dem    Func- 
tionsbegriff  sowohl  im  physikalischen  als  im  biologischen    Ge- 


—      74      — 

biet  auskommen,  und  dass  derselbe  allen  Forderungen  entsprechen 
könnte.  Der  sehr  verschiedene  Anblick,  welchen  die  beiden  Ge- 
biete zeigen,  braucht  uns  nicht  abzuschrecken.  Ganz  nahe  ver- 
wandte Gruppen  von  physikalischen  Erscheinungen,,  wie  die 
Reibungselectricität  und  die  galvanische  Electricität  sehen  so  ver- 
schieden aus,  dass  man  von  vornherein  kaum  eine  Zurückführung 
beider  auf  dieselben  Grundthatsachen  erwarten  möchte.  Die 
magnetischen  und  chemischen  Erscheinungen,  w^elche  im  ersteren 
Gebiete  kaum  merklich  sind,  und  dort  schwerlich  hätten  ent- 
deckt werden  können ,  treten  im  letzteren  gewaltig'  hervor, 
während  umgekehrt  die  ponderomotorischen  und  Spannungs- 
erscheinungen nur  im  ersteren  Gebiete  sich  leicht  und  ungesucht 
darbieten.  Bekannt  ist  aber,  wie  sehr  beide  Gebiete  sich  gegen- 
seitig ergänzen  und  aufklären.  Ist  man  doch  daran,  die  chemische 
Natur  der  Reibungselectricität  durch  die  galvanische  Electricität 
zu  enthüllen.  Ein  analoges  Verhältniss  besteht  wohl  auch 
zwischen  dem  physikalischen  und  biologischen  Gebiet. 
Beide  enthalten  wohl  dieselben  Grundthatsachen;  manche  Seiten 
derselben  äussern  sich  aber  nur  in  dem  einen ,  manche  nur  in 
dem  andern  merklich,  so  dass  nicht  nur  die  Physik  der  Biologie, 
sondern  auch  die  letztere  der  erstem  hilfreich  und  aufklärend  zur 
Seite  stehen  kann.  Den  unbezweifelten  Leistungen  der  Physik 
in  der  Biologie  stehen  ebenso  andere  Fälle  gegenüber,  in  welchen 
erst  die  Biologie  neue  physikalische  Thatsachen  ans  Licht  ge- 
fördert hat  (Galvanismus,  Pfeffer'sche  Zelle  u.  s.  w.).  Die 
Physik  wird  in  der  Biologie  noch  mehr  leisten,  wenn  sie  erst 
noch  durch  die  letztere  gewachsen  sein  wird. 

7- 
Wer  nur  mit  physikalischen  Betrachtungen  vertraut  in  das 
Gebiet  der  Biologie  kommt  und  nun  vernimmt,  das  einem  Thier 
eigenthümliche  Organe  wachsen,  welche  es  erst  in  einem 
spätem  Lebensstadium  zu  zweckmässiger  Verwendung  bereit 
findet,  dass  es  Instincthandlungen  ausführt,  die  es  nicht  gelernt 
haben  kann,  und  die   erst   dem    künftigen    Geschlecht   zu    Gute 


—     75     — 

kommen,  dass  es  sich  in  seiner  Färbung  der  Umgebung  anpasst 
um  möglichen  künftigen  Feinden  zu  entg'ehen,  kann  in  der  That 
leicht  zur  Annahme  ganz  besonderer  hier  wirksamer  Factoren 
gelangen.  Diese  räthselhafte  Fernvvirkung  der  Zukunft 
kann  schon  deshalb  nicht  mit  einer  physikalischen  Beziehung 
parallelisirt  werden,  weil  sie  nicht  ausnahmslos  exact  besteht, 
denn  viele  Organismen  bereiten  sich  für  ein  späteres  Lebens- 
stadium vor,  gehen  aber  zu  Grunde,  ohne  dasselbe  zu  erreichen. 
Man  wird  nicht  etwas,  das  selbst  nicht  oder  nur  mangelhaft  be- 
stimmt ist,  als  bestimmend  für  ein  Gegenwärtiges,  uns  vor  Augen 
liegendes  ansehen  wollen.  Bedenken  wir  aber,  dass  die  Vorgänge 
im  Leben  der  Generationen  periodisch  wiederkehren,  so  sehen 
wir,  dass  die  Auffassung  eines  bestimmten  Lebensstadiums  als 
eines  Zukünftigen  und  Fernwirkenden  etw^as  willkürlich  und 
gewagt  ist,  und  dass  dasselbe  auch  als  ein  Vergangenes  der 
Vorfahren,  als  ein  Gegebenes,  welches  Spuren  zurückgelassen  hat, 
ang'esehen  w^erden  kann,  wobei  das  ungewohnte  Unbegreifliche 
sich  sehr  vermindert.  Es  ist  dann  nicht  eine  mögliche  Zu- 
kunft, die  wirken  könnte,  sondern  eine  gew^iss  unzählige  Mal 
dagewesene  Vergangenheit,  die  gewiss  gewirkt  hat. 

Um  Beispiele  dafür  anzuführen,  dass  die  Physik  die  Fähig- 
keit besitzt,  an  der  Lösung  scheinbar  specifisch  biologischer 
Fragen  wirksam  mitzuarbeiten,  gedenken  wir  des  merkwürdigen 
Aufschwungs  der  experimentellen  Embryologie,  der  Ent- 
wicklungsmechanik mit  ihren  physikalisch-chemischen  Methoden. 
Sehr  bemerkenswerth  ist  auch  O.  Wiener's  Nachweis  des  wahr- 
scheinlichen Zusammenhanges  der  Farbenphotographie  und  der 
P^arbenanpassung  in  der  Natur  ^).  Ausser  der  Schichtenbildung 
eines  lichtempfindlichen  Mediums  durch  stehende  Lichtwellen, 
welche  die  Farbe  des  beleuchtenden  Lichtes  als  Interferenzfarbe 
wiedergibt,  kann  eine  der  Beleuchtung  entsprechende  Färbung 
noch  auf  eine  andere  Art  entstehen.  Es  gibt  lichtempfindliche 
Stoffe,    die    fast  jede   Färbung   annehmen    können.     Werden  die- 


l)  O.  Wiener,  Farbenphotographie  und  Farbenanpassung  in  der  Natur.  Wiede- 
mann's   Annalen,   Bd.   55    (1895),  S.    225. 


-      76      - 

selben  farbiger  Beleuchtung  ausgesetzt,  so  behalten  sie  die 
Farbe  der  Beleuchtung,  weil  sie  nun  die  vStrahlen  derselben 
Farbe  nicht  absorbiren  und  folglich  nicht  weiter  der  Veränderung 
durch  das  Licht  unterliegen.  Nach  Poulton's^)  Beobachtungen 
ist  es  wahrscheinlich,  dass  viele  Anpassungsfarben  von  Schmetter- 
lingspuppen auf  diese  Art  entstehen.  In  solchen  Fällen  ist 
also  das  wirksame  Mittel  nicht  weit  von  dem  „Zweck"  zu 
suchen,  welcher  erreicht  wird.  Sagen  wir  nüchtern:  Der 
Gleichgewichtszustand  ist  durch  die  Umstände  bestimmt,  unter 
welchen  derselbe  erreicht  wird. 


Die  Begriffe  „wirkende  Ursache"  und  „Zweck"  stammen  ur- 
sprüngiich  beide  von  animistischen  Vorstellungen  ab,  wie 
man  an  dem  Beispiel  der  antiken  Forschung  noch  ganz  deutlich 
sieht.  Gewiss  wird  der  Wilde  über  seine  eigenen  spontanen,  ihm 
natürlich  und  selbstverständlich  scheinenden  Bewegungen  sich 
nicht  den  Kopf  zerbrechen.  Sobald  er  aber  unerwartete  auf- 
fallende Bewegungen  in  der  Natur  wahrnimmt,  setzt  er  dieselben 
instinctiv  mit  seinen  eig-enen  in  Analogie.  Es  leuchtet  ihm  hier- 
durch der  Gedanke  des  eigenen  und  fremden  Willens  auf-). 
Nach  und  nach  treten  abwechselnd  die  Aehnlichk  eiten  und 
Unterschiede  der  physikalischen  und  biologischen  Vorgänge 
mit  dem  Grundschema  der  Willenshandlung  immer  deutlicher 
hervor,  und  hiemit  gestalten  sich  die  Begriffe  schärfer.  In  der 
bewussten  Willenshandlung  fallen  Ursache  und  Zweck  noch  zu- 
sammen.    Die  grosse  Einfachheit,  die  Berechenbarkeit    der  phy- 


I 


i)  Poulton,  The  Colours  of  Animals.     London   1890. 

2)  Ich  setzte  meinem  etwa  3-jährigen  Jungen  eine  Hol  tz 'sehe  Electrisirmaschine 
in  Gang,  und  er  erfreute  sich  an  dem  Funkenspiel  derselben.  Als  ich  aber  die 
Maschine  losliess  und  dieselbe  weiterrotirte,  zog  er  sich  furchtsam  zurück,  und  hielt 
sie  augenscheinlich  für  belebt.  ,,Sie  läuft  allein"!  rief  er  betroffen  und  ängstlich. 
Vielleicht  verhalten  sich  Hunde,  die  jedem  bewegten  Wagen  bellend  nachlaufen,  ähn- 
lich. Ich  erinnere  mich,  dass  ich  im  Alter  von  etwa  3  Jahren  erschrak,  als  die 
elastische  Samenkapsel  einer  Balsamine  beim  Drücken  sich  öffnete  und  meinen  Finger 
umfasste.     Dieselbe  erschien  mir  belebt,  als  ein  Thier. 


—     77      - 

sikalischen  Vorgänge  drängt  in  Bezug  auf  diese  die  ani- 
mistische  Auffassung-  immer  mehr  zurück.  Der  Begriff  Ursache 
geht  allmähg  durch  ungelenkige  P'ormen  in  den  Begriff  der  Ab- 
hängigkeit, in  den  Functionsbegriff  über.  Nur  für  die  Erschein- 
ungen des  org-anischen  Lebens,  welche  der  animistischen  Auf- 
fassung weniger  widerstreben,  wird  der  ZweckbegrifF,  die  An- 
sicht des  zielbewussten  Handelns,  noch  aufrecht  erhalten,  und  wo 
letzteres  dem  organischen  Wesen  selbst  nicht  zugemuthet  werden 
kann,  denkt  man  sich  ein  anderes  über  demselben  schwebendes, 
zielstrebiges  Wesen  (Natur  u.  s.  w.),  durch  welches  ersteres  g"e- 
leitet  wird. 

Der  Animismus  (Anthropomorphismus)  ist  an  sich  kein  er- 
kenntnisstheoretischer Fehler,  es  müsste  denn  jede  Analogie  ein 
solcher  sein.  Der  Fehler  liegt  nur  in  der  Anwendung  dieser  An- 
sicht in  Fällen,  in  welchen  die  Prämissen  dafür  fehlen,  oder  nicht 
zureichen.  Die  Natur,  welche  den  Menschen  bildet,  hat  Analoges 
von  niederer,  und  zweifellos  auch  höherer  Entwicklung",  reichlich 
erzeugt 

9- 
Jeder  Organismus  und  die  Theile  desselben  unterliegen  den 
physikalischen  Gesetzen.  Daher  das  berechtigte  Bestreben,  den- 
selben nach  und  nach  physikalisch  zu  begreifen  und  die  „causale" 
Betrachtung  allein  zur  Geltung  zu  bringen.  Versucht  man  aber 
dies,  so  stösst  man  immer  auf  ganz  eigenthümliche  Züge  des 
Organischen,  für  welche  sich  in  den  bisher  durchschauten  physi- 
kalischen Erscheinungen  (der  ,, leblosen"  Natur)  keine  Analogie 
darbietet.  Ein  Organismus  ist  ein  System,  dass  eine  Beschaffen- 
heit (chemischen.  Wärmezustand  u.  s.  w.)  gegen  äussere  Einflüsse 
zu  erhalten  vermag,  das  einen  dynamischen  Gleichgewichtszu- 
stand von  beträchtlicher  Stabilität  darbietet  i).  Der  Organismus 
vermag  durch  Aufwand  von  Energie  aus  der  Umgebung  andere 
Energie  an  sich  zu  ziehen,  welche  jene  Verlust  ersetzt  oder  über- 


i)   Hering,   Vorgänge  in   der  lebendigen  Substanz.      Lotos,   Prag    i< 


^     78      - 

bietet^).  Eine  Dampfmaschine,  die  ihre  Kohle  selbst  herbeischafft 
und  sich  selbst  heizt,  ist  nur  ein  schlechtes  künstliches  Bild  des 
Organismus.  Der  Organismus  besitzt  diese  Eigenschaften  in  sehr 
kleinen  Theilen  und  regenerirt  sich  aus  diesen,  d.  h.  er  wächst 
und  pflanzt  sich  fort.  Die  Physik  wird  also  aus  dem  Studium 
des  Organischen  an  sich  noch  sehr  viel  neue  Einsicht  schöpfen 
müssen,  bevor  sie  auch  das  Organische  bewältigen  kann.'-). 

Vergleichen  wir  unsere  Willenshandlung  mit  einer  an  uns 
selbst  beobachteten,  zu  unserer  eigenen  Ueberraschung  eintreten- 
den Reflexbewegung,  oder  mit  der  Reflexbewegung-  eines  Thieres. 
In  den  beiden  letzteren  Fällen  werden  wir  die  Neigung  verspüren, 
den  ganzen  Vorgang  als  durch  die  augenblicklichen  Umstände  im 
Organismus  physikalisch  bestimmt  anzusehen.  Was  wir  Willen 
nennen,  ist  nun  nichts  Anderes,  als  die  Gesammtheit  der  theil- 
weise  bewussten  und  mit  Voraussicht  des  Erfolges  ver- 
bundenen Bedingungen  einer  Bewegung.  Analysiren  wir 
diese  Bedingungen,  soweit  sie  ins  Bewusstsein  fallen,  so  finden 
wir  nichts  als  die  Erinnerungsspuren  früherer  Erlebnisse  und 
deren  Verbindung  (Association).  Es  scheint,  dass  die  Aufbe- 
wahrung solcher  Spuren  und  deren  Verbindungen  eine  Grund- 
function  der  Elementarorganismen  ist,  wenngleich  wir  da 
nicht  mehr  von  einem  Bewusstsein,  von  einer  Einordnung  in  ein 
System  von  Erinnerungen  sprechen  können. 

Könnte  man  Gedächtniss  und  Association  im  weiterem 
Hering' sehen  Sinne  als  Grundeigenschaften  der  Elementaror- 
ganismen ansehen,  so  würde  die  Anspassung  verständlich  ^).  Was 
sich  begünstigt,  trifft  öfter  zusammen  als  im  Verhältniss  der  zu- 
sammengesetzten Wahrscheinlichkeit,  und  bleibt  associirt.  Gegen- 
wart der  Nahrung,  Sättigungsgefühl  und  Schling'bewegung-  bleiben 
verbunden.  Dass  in  der  Ontogenie  gekürzt  die  Phylogenie  wie- 
derholt wird,   wäre  eine  Parallele  zu  der  bekannten  Erscheinung, 


1)  Hirth,  Energische  Epigcncsis.     München   1898,  S.  X,  XI. 

2)  Hering,  Zur  Theorie  der  Nerventhätigkeit.     Leipzig   1899. 

3)  Hering,    Ueber    das  Gedächtniss    als    allgemeine  Function    der    organisirteu 
Malerie.  Wien    1870. 


—     79     -- 

dass  Gedanken  mit  VorHebe  auf  den  einmal  eingeschlagenen  Wegen 
wiederkehren,  und  unter  ähnlichen  Verhältnissen  auch  ähnlich 
wieder  entstehen.  In  der  That  entwickelt  sich  jeder  Organismus 
embr3''onal  und  auch  später  unter  sehr  ähnlichen  Verhältnissen. 
Was  nun  physikalisch  dem  Gedächtniss  und  der  Association 
entspricht,  wissen  wir  nicht.  Alle  Erklärungsversuche  sind  sehr 
gewaltsame.  Es  scheint  da  fast  keine  Analogie  zwischen  Organi- 
schem und  Unorganischem  zu  bestehen.  In  der  Sinnesphysio- 
logie können  aber  vielleicht  die  psychologische  und  physika- 
lische Beobachtung  bis  zu  gegenseitiger  Berührung  vordringen, 
und  uns  so  neue  Thatsachen  zur  Kenntniss  bringen  i).  Aus  dieser 
Untersuchung  wird  kein  Dualismus  hervorgehen ,  sondern  eine 
Wissenschaft,  welche  Organisches  und  Unorganisches  umfasst, 
und  die    den  beiden  Gebieten    gemeinsamen  Thatsachen    darstellt. 


i)  Die  erste  schüchterne  Andeutung  dieses  Gedankens,   noch  in   Fechn  er 'scher 
Färbung,  habe   ich  gegeben:   Compendium   der  Physik  für  Medianer    1863,   S.   234. 


VI.  Die  Raumempfindungen  des  Auges. 

I. 

Der  Baum  mit  seinem  grauen  harten  rauhen  Stamm,  den 
vielen  im  Winde  bewegten  Zweigen,  mit  den  glatten,  glänzenden 
weichen  Blättern  erscheint  uns  zunächst  als  ein  untrennbares 
Ganze.  Ebenso  halten  wir  die  süsse  runde  gelbe  Frucht,  das  helle 
warme  Feuer  mit  seinen  mannigfaltig  bewegten  Zungen  für  ein 
Ding.  Ein  Name  bezeichnet  das  Ganze,  ein  Wort  zieht  wie  an 
einem  Faden  alle  zusammengehörigen  Erinnerungen  auf  einmal 
aus  der  Tiefe  der  Vergessenheit  hervor. 

Das  Spiegelbild  des  Baumes,  der  Frucht,  des  Feuers  ist  sicht- 
bar, aber  nicht  greifbar.  Bei  abgewendetem  Blick  oder  ge- 
schlossenen Augen  können  wir  den  Baum  tasten,  die  Frucht 
schmecken,  das  Feuer  fühlen,  aber  nicht  sehen.  So  trennt  sich 
das  scheinbar  einheitliche  Ding  in  Theile,  welche  nicht  nur  an- 
einander, sondern  auch  an  andern  Bedingungen  haften.  Das 
Sichtbare  trennt  sich  von  dem  Tastbaren,  Schmeckbaren  u.  s.  w. 

Auch  das  bloss  Sichtbare  erscheint  uns  zunächst  als  ein 
Ding.  Wir  können  aber  eine  gelbe  runde  Frucht  neben  einer 
gelben  sternförmigen  Blüthe  sehen.  Eine  zweite  F>ucht  kann 
ebenso  rund  sein  als  die  erste,  sie  ist  aber  grün  oder  roth.  Zwei 
Dinge  können  von  gleicher  Farbe  aber  ungleicher  Gestalt  sein; 
sie  können  von  verschiedener  Farbe  und  gleicher  Gestalt  sein. 
Hierdurch  theilen  sich  die  Gesichtsempfindungen  in  Farben- 
empfindungen und  Raumempfindungen',  die  wohl  von  ein- 
ander unterschieden,  wenn  auch  nicht  von  einander  isoliert 
dargestellt  werden  können. 


8i 


2. 

Die  Farbenempfindung,  auf  welche  wir  hier  nicht  näher  ein- 
gehen, ist  im  Wesentlichen  eine  Empfindung  der  günstigen  oder 
ungünstigen  chemischen  Lebensbedingungen.  In  der  Anpassung 
an  diese  möchte  sich  die  Farbenempfindung  entwickeln  und 
modificiren  ^).  Das  Licht  leitet  das  org'anische  Leben  ein.  Das 
grüne  Chlorophyll  und  das  (compl ementär)  rothe  Hämo- 
globin spielen  in  dem  chemischen  Process  des  Pflanzenleibes 
und  dem  chemischen   Gegenprocess    des  Thierleibes    eine  hervor- 


i)  Vergl.  Grant  Allen,  ,,Der  Farbensinn",  Leipzig  1880.  Der  Versuch  von 
H.  Magnus,  eine  bedeutende  Entwicklung  des  Farbensinns  in  historischen  Zeiten 
nachzuweisen,  muss  wohl  als  ein  nicht  glücklicher  bezeichnet  werden.  Gleich  nach 
dem  Erscheinen  der  Schriften  von  Magnus  correspondirte  ich  mit  einem  Philologen, 
Herrn  Prof.  F.  Polle  in  Dresden  über  dieses  Thema,  und  wir  kamen  beide  alsbald 
zur.  Ueberzeugung,  dass  die  Ansichten  von  Magnus  weder  vor  einer  naturwissenschaft- 
lichen noch  von  einer  philologischen  Kritik  Stand  halten.  Da  Jeder  dem  Andern  die 
Publication  der  Resultate  zuschob ,  so  kam  es  zu  einer  Publication  nicht.  Die  Sache 
ist  übrigens  einstweilen  von  E.  Krause  und  eingehend  von  A.  Marty  erledigt 
worden.  Ich  erlaube  mir  hier  nur  kurz  folgende  Bemerkungen.  Aus  dem  Mangel 
der  Bezeichnung  darf  man  nicht  auf  das  Fehlen  der  betreffenden  Empfindungsqualität 
schliessen.  Die  Bezeichnungen  sind  auch  heute  noch  unscharf,  verschwommen,  mangel- 
haft und  gering  an  der  Zahl ,  wo  eben  das  Bedürfniss  einer  scharfen  Sonderung  nicht 
vorhanden  ist.  Die  Farbenbezeichnung  des  heutigen  Eandmannes  und  seine  Bezeich- 
nung der  Empfindungen  überhaupt  ist  nicht  entwickelter  als  jene  der  griechischen 
Dichter.  Die  Bauern  im  Marchfelde  sagen  z.  B.,  wie  ich  selbst  oft  gehört  habe,  dass 
das  Kochsalz  ,, sauer"  sei,  weil  ihnen  der  Ausdruck  ,, salzig"  nicht  geläufig  ist.  Die 
Farbenbezeichnung  muss  man  nicht  bei  Dichtern,  sondern  in  technischen  Schriften 
suchen.  Dann  darf  man  aber  nicht,  wie  es  Herr  Magnus  thut,  und  wie  mein 
College  Benndorf  bemerkt  hat,  etwa  die  Aufzählung  der  Vasenpigmente  für  eine 
Aufzählung  sämmtlicher  Farben  halten.  Betrachten  wir  noch  die  Polychromie 
der  alten  Aegypter  und  Pompejaner,  ziehn  wir  in  Erwägung,  dass  diese  Malereien  doch 
kaum  vor  Farbenblinden  herrühren  können  ,  bemerken  wir ,  dass  etwa  70  Jahre  nach 
Vergil's  Tode  Pompeji  verschüttet  wurde,  während  Vergil  noch  beinahe  farbenblind 
gewesen  sein  soll,  so  ergibt  sich  hieraus  wohl  genügend  die  Unhaltbarkeit  der  ganzen 
Anschauung.  Noch  in  einer  andern  Richtung  muss  man  mit  Anwendungen  der 
Darwin'schen  Theorie  vorsichtig  sein.  Wir  lieben  es,  uns  einen  Zustand  ohne  Farben- 
sinn oder  mit  geringem  Farbensinn  einem  andern  mit  hoch  entwickeltem  Farbensinn 
vorausgehend  zu  denken.  Es  ist  eben  dem  Lernenden  natürlich,  vom  Einfachem 
zum  Zusammengesetzten  fortzuschreiten.  Die  Natur  braucht  nicht  denselben  Weg  zu 
gehn.  Der  Farbensinn  ist  da,  und  er  ist  wohl  variabel.  Ob  er  reicher  oder  ärmer 
wird?  Wer  kann  das  wissen?  Ist  es  nicht  möglich,  dass  mit  dem  Erwachen  der 
Intelligenz  und  der  Anwendung  künstlicher  Mittel  die  ganze  Entwicklung  sich  auf 
den  Verstand  wirft,  der  ja  von  da  an  häuptsächlich  in  Anspruch  genommen  wird, 
und  dass  die  Entwicklung  der  niederen  Organe  des  Menschen  in  den  Hintergrund  tritt? 
Mach,  Analyse.     3.  Aufl.  0 


ragende  Rolle.  Beide  Stoffe  treten  uns  modificirt  in  dem  mannig- 
faltigsten Farbenkleide  entgegen.  Die  Entdeckung  des  Sehpurpurs, 
die  Erfahrungen  der  Photographie  und  Photochemie  lassen  auch 
die  Sehvorgänge  als  chemische  Vorgänge  auffasssn.  Die  Rolle, 
welche  die  Farbe  in  der  analytischen  Chemie,  bei  der  Spectral- 
analyse,  in  der  Krystallphysik  spielt,  ist  bekannt.  Sie  legt  den 
Gedanken  nahe,  die  sogenannten  Lichtschwingungen  nicht  als 
mechanische,  sondern  als  chemische  vSchwingungen  aufzu- 
fassen, als  eine  wechselnde  Verbindung  und  Trennung,  als  einen 
oscillatorischen  Process  von  der  Art,  wie  er  bei  photochemischen 
Vorgängen  nur  in  einer  Richtung  eingeleitet  wird.  —  Diese 
Anschauung,  welche  durch  die  neueren  Untersuchungen  über 
anomale  Dispersion  wesentlich  unterstützt  wird,  kommt  der 
electromagnetischen  Lichttheorie  entgegen.  Auch  von  dem  electri- 
schen  Strom  gibt  ja  die  Chemie  die  fassbarste  Vorstellung  im 
Falle  der  Electrolyse,  wenn  sie  beide  Bestandtheile  der  Electro- 
lyten  als  im  entgegengesetzten  Sinne  durcheinander  hindurch- 
wandernd ansieht.  So  dürften  also  in  einer  künftigen  Farben- 
lehre viele  biologisch -ps3^chologische  und  chemisch-physikahsche 
Fäden  zusammenlaufen. 

3- 

Die  Anpassung  an  die  chemischen  Lebensbedingung"en,  welche 
sich  durch  die  Farbe  kundgeben,  erfordert  Locomotion  in 
viel  ausgiebigerem  Masse,  als  die  Anpassung  an  jene,  die  durch 
Geschmack  und  Geruch  sich  äussern.  Wenigstens  beim  Menschen, 
über  den  allein  wir  ein  directes  und  sicheres  Urtheil  haben,  und  um 
den  es  sich  hier  handelt,  ist  es  so.  Die  eng'e  Verknüpfung"  (eines 
mechanischen  Momentes)  der  Raumempfindung  mit  (einem 
chemischen  Moment)  der  Farbenempfindung-  wird  hierdurch 
verständlich.  Auf  die  Analyse  der  optischen  Raumempfindung-en 
wollen  wir  nun  zunächst  eingehen. 

4- 
Wenn  wir  zwei    gleiche    verschiedenfarbige   Gestalten,  z.  B. 
zwei    gleiche    verschiedenfarbige    Buchstaben,    betrachten,    so    er- 


-     83      - 

kennen  wir  die  g-leiche  Form  trotz  der  Ver- 
schiedenheit der  Farbenempfindung  auf  den 
ersten  Blick.  Die  Gewichtswahrnehmungen  müssen 
also    gleiche   Empfindungsbestandtheile    enthalten. 


im 


P'igur 


Diese  sind  eben  die  (in  beiden  Fällen  gleichen)  Raumempfindungen. 


Wir  wollen  nun  untersuchen,  welcher  Art  die  Raumempfin- 
dungen  sind,  welche  physiologisch  das  Wiedererkennen  einer 
Gestalt  bedingen.  Zunächst  ist  klar,  dass  dieses  Wiedererkennen 
nicht  durch  geometrische  Ueberlegung^en  herbeigeführt  wird, 
welche  nicht  Empfindungs-,  sondern  Verstandessache  sind.  Viel- 
mehr dienen  die  betreffenden  Raumempfindungen  aller  Geometrie 
zum  Ausgangspunkt  und  zur  Grundlage.  Zwei  Gestalten  können 
geometrisch   congruent,   physiologisch   aber  ganz  ver- 


Figur 3. 

schieden  sein,  wie  dies  die  beiden  obenstehenden  Quadrate  ver- 
anschaulichen, welche  ohne  mechanische  und  intellectuelle 
Operationen  niemals  als  gleich  erkannt  werden  können  i).  Um 
uns  die  bisher  gehörigen  Verhältnisse  geläufig  zu  machen, 
stellen  wir  einige  recht  einfache  Versuche  an.  Wir  be- 
trachten einen  ganz  beliebigen  Fleck  (Fig.  4).  Stellen 
wir  denselben  Fleck  zweimal  oder  mehrmal  in  gleicher      Figur  4. 


/ 


i)  Vergl.  meine  kleine  Abhandlung  „Ueber  das  Sehen  von  Lagen  und  Winkeln". 
Sitzungsberichte  der  Wiener  Al<ademic,  Bd.  43,  Jahrg.   1861,  S.   215. 

6* 


-      84      - 

Orientirung  in  eine  Reihe,  so  bedingt  dies  einen  eigenthümlichen 
angenehmen  Eindruck,  und  wir  erkennen  ohne  Schwierigkeit  auf 


llllll 


Figur  5. 

den    ersten    BHck    die    Gleichheit    aller    Gestalten    (Fig.    5).      Die 
Formgleichheit    wird    aber    ohne    intellectuelle  Mittel   nicht  mehr 
erkannt,    wenn    wir    den    einen    Fleck    gegen    den 
andern    genügend    verdrehen    (Fig.   6).      Eine    auf- 
fallende Verwandtschaft  beider  Formen  wird  dafür 
Figur  6.         bemerklich,    wenn   man    dem  Fleck    einen  zweiten 
in    Bezug    auf   die    Medianebene    des    Beobachters 
^^  symmetrischen     hinzufügt     (Fig.     7).       Nur     durch 

^K^    ^^L        Drehung    der   Figur  oder    durch    intellectuelle 
^^^  «äPfiP     Operationen  erkennt  man  aber  die  Formverwandt- 
jTj       -  Schaft,  wenn  die  Symmetrieebene  bedeutend,  z.  B. 

wie  in  Fig.  8  von  der  Medianebene  des  Beobach- 
ters   abweicht.      Dagegen    wird    die    Form  Verwandtschaft    wieder 
merklich,  wenn  man  dem  Fleck  denselben  Fleck,  um  180*^  in  der 
eigenen  Ebene  gedreht,  hinzufügt  (Fig.  9).    Es  entsteht 
^^  auf  diese  Weise  die  sogenannte  centrische  Symmetrie. 

^^  Verkleinern  wir  nun  alle  Dimensionen  des  Fleckes 

^^        in  demselben  Verhältniss,  so  erhalten  wir   einen    geo- 
^  metrisch    ähnlichen    Fleck.      Allein    so    wenig    das 

Fi"ur  8.        geometrisch     Congruente     auch     schon     physiologisch 
(optisch)     congTuent,     das    geometrisch     Symmetrische 
optisch  symmetrisch  ist,  so  wenig  ist  das   geometrisch 
^r  Aehnliche.  auch    schon  optisch  ähnlich.     Wenn    der 

^^  geometrisch     ähnliche    Fleck     neben     den     andern    in 

y         gleicher  Orientirung  gesetzt  wird,  so  erscheinen  beide 
auch    optisch    ähnlich    (Fig.   10).      Eine    Verdrehung 
P^igiu-  9.        des  einen  Fleckes  hebt  diese   Aehnlichkeit    wieder  auf 


(Fig.  1 1).  Setzt  man  statt  des  einen 
Fleckes  den  in  Bezug  auf  die  Median- 
ebene des  Beobachters  symmetrischen, 
so  entsteht  eine  symmetrische  Aehn- 
lichkeit,  welche  auch  einen  optischen 
Werth  hat  (Fig.  12).  Auch  die  Drehung 
der  einen  Figur  um  180'^  in  ihrer  Ebene, 
wobei  die  centrisch-symmetrische  Aehn- 
lichkeit  entsteht,  hat  noch  einen  phy- 
siologisch-optischen Werth  (Fig.   13). 


1,1^ 


Figur   10.  Figur   ii. 


Ixl 


Figur   12.  Figur   13. 


6. 
Worin  besteht  nun  das  Wesen  der  optischen  Aehnlichkeit 
gegenüber  der  geometrischen  Aehnlichkeit?  In  geometrisch  ähn- 
lichen Gebilden  sind  alle  homologen  Entfernungen  proportionirt. 
Das  ist  aber  Verstandessache  und  nicht  Sache  der  Empfin- 
dung. Wenn  wir  einem  Dreiecke  mit  den  Seiten  a,  b,  c  ein 
anderes  mit  den  Seiten  2  a,  2  b,  2  c  gegenüberstellen,  so  erkennen 
wir  diese  einfache  Beziehung  nicht  unmittelbar,  sondern  intellec- 
tuell  durch  Abmessung.  Soll  die  Aehnlichkeit  auch  optisch 
hervortreten,  so  muss  noch  die  richtige  Orientirung  hinzukommen. 
Dass  eine  einfache  Beziehung  zweier  Objcete  für  den  Verstand 
nicht  auch  eine  Aehnlichkeit  der  Empfindung  bedingt,  sehen 
wir,  wenn  wir  die  Dreiecke  mit  den  Seiten  a,  b,  c  und  a  -j-  m,  b 
-[-  m,  c  -|-  m  vergleichen.  Beide  Dreiecke  sehen  einander  keines- 
wegs ähnlich.  Ebenso  sehen  nicht  alle  Kegelschnitte  einander 
ähnlich,  obgleich  alle  in  einer  einfachen  geometrischen  Ver- 
wandtschaft stehen;  noch  weniger  zeigen  die  Curven  dritter  Ord- 
nung unter  einander  eine  optische  Aehnlichkeit  u.  s.  w. 

7- 
Die  geometrische  Aehnlichkeit  zweier  Gebilde   ist   bestimmt 
dadurch,  dass  alle  homologen  Entfernungen  proportionirt,  oder  da- 
durch, dass  alle  homologen  Winkel  gleich  sind.     Optisch  ähnlich 
werden  die  Gebilde  erst,  wenn  sie   auch  ähnlich   liegen,    wenn 


also  alle  homologen  Richtungen  parallel,  oder  wie  wir  vor- 
ziehen wollen  zu  sagen,    gleich  sind  (Fig.   14).     Die  Wichtigkeit 

der  Richtung  für  die  Empfindung 
geht  schon  aus  der  aufmerksamen  Be- 
trachtung der  Figur  3  hervor.  Die 
Gleichheit  der  Richtungen  ist  es 
'^^"  ^4-  also,   wodurch  die   gleichen   Raumem- 

pfindungen bedingt  sind,  welche  die  physiologisch-optische  Aehn- 
lichkeit  der  Gestalten  characterisiren  i). 

Die  physiologische  Bedeutung  der  Richtung  einer  betrachte- 
ten Geraden  oder  eines  Curvenelementes  können  wir  uns  noch 
durch  folgende  Betrachtung  vermitteln.  Es  sei  y  =^  f  {x)  die 
Gleichung  einer  ebenen  Curve.    Durch  den  blossen  Anblick  können 

dv 
wir  den  Verlauf  der  Werthe  von  ~f~  an  der  Curve  absehen,  denn 

dx 

dieselben   sind   durch  deren  Steigung  bestimmt,   und    auch  über 

die  Werthe  von  —^  gibt  das  Auge  qualitativen  Aufschluss,  denn 

sie  sind  durch  die  Krümmung  der  Curve  characterisirt.     Es  liegt 

die    Frage    nahe,    warum    man    über   die  Werthe    von  -—,,  -—r^ 
^  dx^    dx^ 

u.  s.  w.  nicht  ebenso  unmittelbar  etwas  aussagen  kann?  Die 
Antwort  ist  einfach.  Man  sieht  natürlich  nicht  die  Differen- 
tialquotienten, welche  Verstandessache  sind,  sondern  man  sieht 
die  Richtung  der  Curvenelemente  und  die  Abweichung  der 
Richtung  eines  Elementes  von  jener  eines  andern. 


i)  Vor  etwa  37  Jahren  brachte  ich  in  einer  Gesellschaft  von  Physikern  und 
Physiologen  die  Frage  zur  Sprache,  woran  es  liege,  dass  geometrisch  ähnliche 
Gebilde  auch  optisch  ähnlich  seien.  Ich  weiss  mich  ganz  wohl  zu  erinnern,  dass 
man  diese  Frage  nicht  nur  überflüssig ,  sondern  sogar  auch  komisch  fand.  Nichts- 
destoweniger bin  ich  heute  noch  so  wie  damals  überzeugt,  dass  diese  Frage  das  ganze 
Problem  des  Gestaltensehens  einschliesst.  Das  ein  Problem  nicht  gelöst  werden  kann, 
welches  gar  nicht  als  solches  anerkannt  wird ,  ist  klar.  In  dieser  Nichtanerkennung 
spricht  sich  aber  meines  Erachtens  jene  einseitig  mathematisch-physikalische  Gedanken- 
richtung aus,  durch  die  es  allein  erklärlich  wird,  dass  man  z.  B.  den  Herin g'schen 
Ausführungen  so  vielfach ,  und  so  lange ,  Opposition  statt  freudiger  Zustimmung  ent- 
gegengebracht hat. 


Da  man  nun  die  Aehnlichkeit  ähnlich  liegender  Gebilde  un- 
mittelbar erkennt,  und  auch  den  Specialfall  der  Congruenz  von 
einem  andern  ohne  weiters  zu  unterscheiden  vermag,  so  geben  uns 
also  unsere  Raumenpfindung'en  Aufschluss  über  Gleichheit  oder 
Ungleichheit  der  Richtungen  und  über  Gleichheit  oder 
Ungleichheit  der  Abmessungen. 


Dass  die  Raumempfindungen  mit  dem  motorischen 
Apparat  der  Augen  irgendwie  zusammenhängen,  hat  von  vorn- 
herein eine  hohe  Wahrscheinlichkeit.  Ohne  noch  auf  die  Einzelheiten 
näher  einzugehen,  bemerken  wir  zunächst,  dass  der  ganze  Augen- 
apparat, und  insbesondere  der  motorische  Apparat,  in  Bezug  auf 
die  Medianebene  des  Kopfes  symmetrisch  ist.  Dementsprechend 
werden  auch  mit  symmetrischen  Blickbewegungen  gleiche,  oder 
doch  fast  gleiche  Raumempfindungen  verbunden  sein.  Kinder 
verwechseln  fortwährend  die  Buchstaben  b  und  d,  p  und  q.  Auch 
Erwachsene  merken  eine  Umkehrung  von  rechts  nach  links  nicht 
leicht,  wenn  nicht  besondere  sinnliche  oder  intellectuelle  Anhalts- 
punkte dieselbe  bemerklich  machen.  Der  motorische  Apparat 
der  Augen  ist  von  sehr  vollkommener  vS^^mmetrie.  Für  sich  allein 
würde  die  gleiche  Erregung  seiner  symmetrischen  Organe  die 
Unterscheidung  von  rechts  und  links  kaum  ermöglichen.  Allein 
der  ganze  Menschenleib,  und  insbesondere  das  Hirn,  ist  mit  einer 
geringen  Asymmetrie  behaftet,  welche  z.  B.  dazu  führt,  die  eine 
(gewöhnlich  die  rechte)  Hand  bei  motorischen  Functionen  zu  be- 
vorzugen. Dies  führt  wieder  zu  einer  weitern  und  bessern  Ent- 
wicklung der  rechtsseitigen  motorischen  Functionen  und  zu  einer 
Modification  der  zugehörigen  Empfindungen.  Haben  sich  einmal 
beim  Schreiben  die  Raumempfindungen  des  Auges  mit  den 
motorischen  Empfindungen  der  rechten  Hand  verknüpft,  so  tritt 
eine  Verwechslung  jener  vertical-symmetrischen  Gestalten,  auf 
welche  sich  die  Schreibefertigkeit  und  Schreibegewohnheit  er- 
streckt, nicht  mehr  ein.  Diese  Verknüpfung  kann  sogar  so 
stark    werden,    dass    die    Erinnerungen    nur   in    den    gewohnten 


Bahnen  ablaufen,  und  dass  man  z.  B.  Spiegelschrift  nur  mit  der 
grössten  Schwierigkeit  hest.  Die  Verwechslung  von  rechts  und 
links  kommt  aber  immer  noch  vor  in  Bezug  auf  Gestalten,  die 
ein  rein  optisches  (z.  B.  ornamentales),  kein  motorisches  Interesse 
haben.  Eine  merkliche  Differenz  zwischen  rechts  und  links 
müssen  übrigens  auch  die  Thiere  empfinden,  da  sie  in  vielen 
wichtigen  Fällen  sich  nur  hiedurch  orientiren  können.  Wie 
ähnlich  übrigens  die  Empfindungen  sind,  welche  an  symme- 
trische motorische  Functionen  geknüpft  sind,  darüber  kann  sich 
der  aufmerksame  Beobachter  leicht  belehren.  Wenn  ich  z.  B., 
weil  meine  rechte  Hand  zufällig  beschäftigt  ist,  mit  der  linken 
Hand  eine  Mikrometerschraube  oder  einen  Schlüssel  anfasse,  so 
drehe  ich  (ohne  vorausgegangene  Ueberlegung)  sicherlich  ver- 
kehrt, d.  h.  ich  führe  die  symmetrische  Bewegung  zu  der  ge- 
wohnten aus,  indem  ich  beide  wegen  der  Aehnlichkeit  der 
Empfindung  verwechsle.  Die  Beobachtungen  von  Heidenhain 
über  die  Spiegelschrift  halbseitig  Hypnotisirter  gehören  auch 
hierher. 

9. 
Der  Gedanke,  dass  die  Unterscheidung  von  rechts  und  links 
auf  einer  Asymmetrie,  und  in  letzter  Linie  möglicher  Weise  auf 
einer  chemischen  Verschiedenheit  beruhe,  verfolgt  mich  seit  meiner 
Jugend;  ich  habe  denselben  schon  bei  Gelegenheit  meiner  ersten 
Vorlesungen  ausgesprochen  (i86i).  Seither  hat  sich  derselbe 
wiederholt  her  vorgedrängt.  Von  einem  alten  Officier  erfuhr  ich 
gelegentlich,  dass  Truppen  in  dunkler  Nacht,  im  Schneeg'estöber, 
wenn  äussere  Anhaltspunkte  fehlen,  in  der  Meinung-,  geradlinig 
in  einer  Richtung  zu  marschiren,  sich  annähernd  in  einem  Kreise 
von  grossem  Radius  bewegen,  so  dass  sie  fast  auf  den  Aus- 
gangsort zurückkommen.  In  Tolstoi's  Erzählung  „Herr  und 
Diener"  wird  von  einer  analogen  Erscheinung-  berichtet.  Diese 
Phänomene  sind  wohl  nur  durch  eine  geringe  motorische  Asym- 
metrie verständlich.  Sie  sind  analog  dem  Rollen  eines  vom 
Cylinder  wenig  abweichenden  Kegels  in  einem  Kreis  von  grossem 


-     89     - 

Radius.  In  der  That  hat  F.  O.  Guldberg^),  der  über  die 
hieher  gehörigen  Erscheinungen  an  verirrten  Menschen  und 
Thieren  eingehende  Untersuchungen  angestellt  hat,  die  Sache  so 
aufgefasst.  Desorientirte  Menschen  und  Thiere  bewegen  sich 
ausnahmslos  nahezu  in  Kreisen,  deren  Radien  nach  der  Species, 
variiren,  während  der  Mittelpunkt,  je  nach  dem  Individuum  und 
der  Species,  bald  auf  der  rechten,  bald  auf  der  linken  Seite  des 
die  Kreisbahn  durchlaufenden  Individuums  liegt.  Guldberg 
sieht  hierin  auch  eine  teleologische  Einrichtung  zum  Wieder- 
finden der  pflegebedürftigen  Jungen.  Versuche  an  niederen 
Thieren,  bei  welchen  letzteres  Moment  wegfällt,  wären  daher 
von  Interesse.  Unvollkommene  wSymetrie  wird  man  übrigens 
schon  aus  allgemeinen  Wahrscheinlichkeitsgründen  auch  bei  nie- 
deren Thieren  erwarten. 

Auch  Loeb's-)  Untersuchungen  ,,Ueber  den  Fühlraum  der 
Hand"  haben  nebst  andern  Ergebnissen  gelehrt,  dass  eine  ge- 
gebene Bewegung  der  rechten  Hand  (bei  verbundenen  Augen) 
mit  der  linken  nachgeahmt,  je  nach  dem  Individuum,  constant 
vergrössert  oder  verkleinert  wiedergegeben  wird.  Loeb  glaubt 
aus  Regenerationserscheinungen  schliessen  zu  dürfen,  dass  der 
Unterschied  zwischen  rechts  und  links  ein  specifi scher  ist. 
Ich  kann  aber  versichern,  dass  ich  denselben  ebenfalls  nicht  als 
einen  bloss  geometrischen  und  quantitativ  motorischen  aufge- 
fasst habe. 

IG. 

Mit  dem  Blick  nach  oben  und  dem  Blick  nach  unten 
sind  grundverschiedene  Raumempfindungen  verbunden,  wie  dies 
die  gewöhnlichste  Erfahrung  lehrt.  Das  ist  auch  verständlich, 
weil  der  motorische  Augenapparat  in  Bezug  auf  eine  horizontale 
Ebene  unsymmetrisch  ist.  Die  Richtung  der  Schwere  ist  auch 
für   den    übrigen    motorischen    Apparat   viel   zu   massgebend  und 


i)  F.  O.  Guldberg,  Die  Circularbewegung.  Zeitschr.  f.  Biologie,  Bd.  25, 
1897,  S.  419.  —  Herr  Dr.  W.  Pauli  hat  mich  im  Gespräche  auf  diese  Arbeit  auf- 
merksam gemacht. 

2)   Loeb,   Ueber  den   Fühlraurn   der  Haad.      Pflüger's  Archiv,   Bd.   41    u.   46. 


—     go     — 

wichtig,  so  dass  dieser  Umstand  auch  in  dem  Apparat  des 
Auges,  welcher  dem  übrigen  dient,  wohl  seinen  Ausdruck  finden 
muss.  Dass  die  Symmetrie  einer  Landschaft  und  ihres  Spiegel- 
bildes im  Wasser  gar  nicht  empfunden  wird,  ist  bekannt.  Das 
von  oben  nach  unten  umgekehrte  Portrait  einer  bekannten  Per- 
sönlichkeit ist  fremd  und  räthselhaft  für  jeden,  der  nicht  durch 
intellectuelle  Anhaltspunkte  sie  erkennt.  Wenn  man  sich  hinter 
den  Kopf  einer  auf  einem  Ruhebette  liegenden  Person  stellt, 
und  ohne  Speculation  sich  dem  Eindrucke  des  Gesichtes  ganz 
hingiebt  (namentlich  wenn  die  Person  spricht),  so  ist  derselbe 
ein  durchaus  fremdartiger.  Die  Buchstaben  b  und  /,  ferner  d 
und  q  werden  auch  von   Ivindern  nicht  verwechselt. 

Unsere  bisherigen  Bemerkungen  über  Symmetrie,  Aehnlich- 
keit  u.  s.  w.  gelten  natürlich  nicht  nur  für  ebene,  sondern  auch 
für  räumliche  Gebilde.  Dementsprechend  haben  wir  noch  über 
die  Raumempfindung  der  Tiefe  eine  Bemerkung-  hinzuzufügen. 
Der  Blick  in  die  Ferne  und  der  Blick  in  die  Nähe  bedingt 
verschiedene  Empfindungen.  Sie  dürfen  auch  nicht  verwechselt 
werden,  weil  der  Unterschied  von  nah  und  fern  für  Mensch  und 
Thier  zu  wichtig  ist.  Sie  können  nicht  verwechselt  werden, 
weil  der  motorische  Apparat  der  Augen  unsymmetrisch  ist  in 
Bezug  auf  eine  Ebene,  welche  auf  der  Richtung  vorn-hinten 
senkrecht  steht.  Die  Erfahrung-,  dass  die  Büste  einer  bekannten 
Persönlichkeit  nicht  durch  die  Matrize  dieser  Büste  ersetzt  werden 
kann,  ist  ganz  analog  den  Beobachtungen  bei  Umkehrungen  von 
oben  nach  unten. 

1 1. 

Wenn  gleiche  Abmessungen  und  gleiche  Richtungen 
gleiche  Raumempfindungen,  zur  Medianebene  des  Kopfes  sym- 
metrische Richtungen  ähnliche  Raumempfindungen  aus- 
lösen, so  werden  hierdurch  die  oben  berührten  Thatsachen  sehr 
verständlich.  Die  Gerade  hat  in  allen  Elementen  dieselbe 
Richtung,  und  löst  überall  einerlei  Raumempfindungen  aus.   Darin 


Hegt  ihr  ästhetischer  Vorzug.  Ausserdem  treten  noch  Gerade, 
welche  in  der  Medianebene  Hegen  oder  zu  derselben  senkrecht 
stehen,  in  eigenthümlicher  Weise  hervor,  indem  sie  sich  bei  dieser 
Symmetrielage  zu  beiden  Hälften  des  Sehapparates  gleich  ver- 
halten. Jede  andere  Stellung  der  Geraden  wird  als  eine  ,, Schief- 
stellung" empfunden,  als  eine  Abweichung  von  der  Symmetrie- 
stellung. 

Die  Wiederholung  desselben  Raumgebildes  in  gleicher  Orien- 
tirung  bedingt  Wiederholung  derselben  Raumempfindungen.  Alle 
Verbindungslinien  homologer  ausgezeichneter  (auffallender)  Punkte 
haben  die  gleiche  Richtung,  und  lösen  dieselbe  Empfindung  aus. 
Auch  bei  Nebeneinanderstellung  bloss  geometrisch  ähnlicher  Ge- 
bilde in  gleicher  Orientirung  bleibt  dies  Verhältniss  bestehen. 
Nur  die  Gleichheit  der  Abmessung'en  geht  verloren.  Bei  Störung 
der  Orientirung  ist  aber  auch  dies  Verhältniss  und  hiermit  der 
einheitliche  (ästhetische)  Eindruck  gestört. 

Bei  einem  in  Bezug  auf  die  Medianebene  symmetrischen 
Gebilde  treten  an  die  Stelle  der  gleichen  Raumempfindungen 
die  ähnlichen,  welche  den  symmetrischen  Richtungen  ent- 
sprechen. Die  rechte  Hälfte  des  Gebildes  steht  zur  rechten 
Hälfte  des  Sehapparates  in  demselben  Verhältniss,  wie  die  linke 
Hälfte  des  Gebildes  zur  linken  Hälfte  des  Sehapparates.  Lässt 
man  die  Gleichheit  der  Abmessungen  fallen,  so  wird  noch  die 
symmetrische  Aehnlichkeit  empfunden.  Schiefstellung  der  Sym- 
metrieebene stört  das  ganze  Verhältniss. 

Stellt  man  neben  ein  Gebilde  dasselbe  Gebilde,  aber  um 
iSo*'  gedreht,  so  entsteht  die  centrische  Symmetrie.  Ver- 
bindet man  nämlich  zwei  Paare  homologer  Punkte,  so  schneiden 
sich  die  Verbindungslinien  in  einem  Punkte  O,  durch  welchen 
als  Halbirungspunkt  alle  Verbindungslinien  homologer  Punkte 
hindurchgehen.  Auch  im  Falle  der  centrischen  Symmetrie  sind 
alle  homologen  Verbindungslinien  gleich  gerichtet,  was  an- 
genehm empfunden  wird.  Geht  die  Gleichheit  der  Abmessungen 
verloren,  so  bleibt  noch  die  centrisch  symmetrische  Aehnlichkeit 
für  die  Empfindung  übrig. 


—     92     — 

Die  Regelmässigkeit  scheint  der  Symmetrie  gegen- 
über keinen  eigenthümlichen  physiologischen  Werth  zu  haben, 
Der  Werth  der  Regelmässigkeit  dürfte  vielmehr  nur  in  der 
vielfachen  Symmetrie  liegen,  welche  nicht  bloss  bei  einer 
Stellung  merklich  v^ird. 

12. 

Die  Richtigkeit  der  gegebenen  Ausführungen  wird  sehr 
fühlbar,  wenn  man  das  Werk  von  Owen  Jones  (Grammar  of 
Ornament,  London  1865)  durchblättert.  Fast  auf  jeder  Tafel 
wird  man  die  verschiedenen  Arten  der  Symmetrie  als  Belege 
für  die  gewonnenen  Anschauungen  wiederfinden.  Die  Orna- 
mentik, welche,  wie  die  reine  Instrumentalmusik,  keinen  Neben- 
zweck verfolgt,  sondern  nur  dem  Vergnügen  an  der  Form  (und 
P^arbe)  dient,  liefert  am  besten  die  Thatsachen  für  die  vorliegenden 
Studien.  Die  Schrift  wird  durch  andere  Rücksichten  als  jene 
der  Schönheit  beherrscht.  Gleichwohl  findet  man  z.  B.  unter 
den  24  grossen  lateinischen  Buchstaben  10  vertical  symmetrische 
(A,  H,  I,  M,  O,  T,  V,  W,  X,  Y),  fünf  horizontal  symmetrische 
(B,  C,  D,  E,  K),  drei  centrisch  symmetrische  (N,  S,  Z)  und  nur 
sechs  unsymmetrische  (F,  G,  L,  P,  Q,  R). 

Das  Studium  der  Entwicklung  der  primitiven  Kunst  ist 
für  die  uns  beschäftigenden  Fragen  sehr  lehrreich.  Der  Character 
dieser  Kunst  ist  bestimmt:  durch  die  Naturobjecte,  welche  sich 
der  Nachahmung-  darbieten,  durch  den  Grad  der  mechanischen 
Geschicklichkeit,  und  endlich  durch  das  Streben,  die  Wieder- 
holung in  ihren  verschiedenenen  Formen  zur  Anwendung  zu 
bringen  ^). 

13- 
Die    ästhetische     Bedeutung     der    hier    besprochenen     That- 
sachen habe  ich  schon   in   äUeren  Schriften  kurz  dargelegt.    Aus- 


l)   Alfred  C.   Haddon,    Evolution   in    .irt. :    as    illustrated  by   tlie  life-histories 
jf  designs.      Londtjn    1895. 


—     93     — 

führlich  darüber  zu  handeln,  lag  nicht  in  meinem  Plan.  Ich  kann 
jedoch  nicht  unerwähnt  lassen,  dass  der  verstorbene  Physiker 
J.  L.  Soret^)  in  Genf  in  einem  schönen  1892  erschienenen  Buch 
dies  gethan  hat,  als  dessen  Vorläufer  ein  1886  von  ihm  auf  der 
schweizer  Naturforscherversaramlung  gehaltener  Vortrag  anzu- 
sehen ist.  Soret  knüpft  an  Helmholtz  an,  ohne  wie  es  scheint, 
meine  Ausführungen  zu  kennen.  Die  physiologische  Seite  der 
Frage  wird  von  ihm  nicht  weiter  erörtert,  dagegen  sind  die 
Ausführungen  über  Aesthetik  sehr  reich  und  durch  ansprechende 
Beispiele  belegt.  Soret  betrachtet  die  ästhetische  Wirkung 
der  Symmetrie,  der  Wiederholung,  der  Aehnlichkeit  und  der 
Continuität,  welche  letztere  er  als  einen  Fall  der  Wiederholung 
ansieht.  Kleinere  Abweichungen  von  der  Symmetrie  können 
nach  seiner  Auffassung  durch  die  eingeführte  Mannigfaltigkeit 
und  das  hiemit  verbundene  intellectuelle  ästhetische  Vergnügen 
für  den  Ausfall  des  sinnlichen  Vergnügens  reichlich  entschädigen. 
Dies  wird  an  Ornamenten  und  den  Sculpturen  gothischer  Dome 
erläutert.  Dieses  intellectuelle  Vergnügen  wird  auch  durch  die 
virtuelle  (potentielle)  Symmetrie  ausgelöst,  welche  man  an  un- 
symmetrischen Stellungen  der  symmetrischen  menschlichen  Figur, 
oder  anderer  Gebilde,  wahrnimmt.  Diese  Betrachtungen  wendet 
er  übrigens  nicht  bloss  auf  optische  Fälle  an,  sondern  dehnt  sie 
auf  alle  Gebiete  aus,  wie  ich  es  ebenfalls  gethan  habe.  Er  be- 
rücksichtigt den  Rhythmus,  die  Musik,  die  Bewegungen,  den 
Tanz,  die  Naturschönheiten  und  sog'ar  die  Litteratur.  Von  be- 
sonderem Interesse  sind  Soret 's  Beobachtungen  über  Blinde, 
zu  welchen  ihm  das  Asyl  von  Lausanne  Gelegenheit  bot.  Blinde 
erfreuen  sich  der  periodischen  Wiederholung  derselben  Formen 
an  tastbaren  Gegenständen,  haben  einen  entschiedenen  Sinn  für 
Symmetrie  der  Formen.  Auffallende  Störungen  derselben  sind 
ihnen  unangenehm  und  erscheinen  ihnen  zuweilen  komisch.  Ein 
Blinder,  welcher  seine  Studien  an   einer  grossen    Reliefkarte   von 


i)  J.  L.  Soret,    Sur    les    conditions  physiques  de  la  perception  du  beau.     Ge- 
neve    i8q2. 


—     94     -- 

Europa  gemacht  hatte,  erkannte  diesen  Erdtheil  vermöge  der 
geometrischen  Aehnlichkeit,  als  er  denselben  in  verkleinertem 
Massstab  als  Theil  einer  gTösseren  Reliefkarte  fand.  Das  sym- 
metrische Tastorgan,  die  beiden  Arme  und  Hände,  sind  ja  analog 
angelegt,  wie  das  Sehorgan.  Die  Uebereinstimmung  darf  uns 
also  nicht  wundern.  Dieselbe  hat  schon  auf  die  antiken  Forscher, 
nicht  minder  auf  die  modernen  (Descartes)  gewirkt,  und  auch 
manche  nicht  eben  giückliche  Ideen  erzeugt,  die  zum  Theil 
noch  fortwirken.  Weniger  gelungen  scheint  das  Kapitel  über 
Litteratur  in  dem  Sor  et 'sehen  Buche.  An  Metrum,  Reim  u.  s.  w. 
zeigen  sich  ja  ähnliche  Erscheinungen  wie  in  den  vorher  be- 
handelten Gebieten.  Wenn  aber  Sor  et  z.  B.  die  Wirkung  der 
sechsmal  wiederkehrenden  Phrase:  „Que  diable  allait  il  faire  sur 
cette  galere"  in  dem  bekannten  Moliere'schen  Stück ^)  mit  der 
Wiederholung  eines  ornamentalen  Motivs  in  Parallele  setzt,  so 
wird  er  wohl  wenig  Zustimmung  finden.  Die  Wiederholung 
wirkt  hier  gewiss  nicht  als  solche,  sondern  durch  successive 
Steigerung  eines  komischen  Gegensatzes,  nur  intellectuell. 

Ich  möchte  hier  noch  auf  die  kürzlich  erschienene  Arbeit 
von  Arnold  Emch:  Mathematical  principles  of  esthetic  forms 
(the  Monist,  October  1900)  aufmerksam  machen.  Emch  gibt  an- 
ziehende Beispiele,  in  welchen  eine  Reihe  von  Eormen  durch  Be- 
folgen desselben  geometrischen  Princips  zu  einem  ästhetischen 
Eindruck  zusammenwirkt.  Er  verfolgt  denselben  Gedanken,  den 
ich  in  meiner  Vorlesung  von  1871  berührt  habe,  dass  eine  Pro- 
duction  nach  einer  festen  Regel  ästhetisch  wirkt.  (Populär- 
wissenschcftliche  Vorlesung"en  Leipzig  1896  S.  102.)  Ich  habe 
aber  zugleich  hervorgehoben  und  möchte  es  hier  nochmals  thun, 
dass  die  Regel  als  Verstandesangelegenheit  an  sich  keinen 
ästhetischen  Effect  hat,  sondern  nur  die  hiedurch  bedingte 
Wiederholung-  desselben  sinnlichen  Motivs. 


l)   Les   foiirberies  de  Sca])in. 


—     95     — 

.14. 

Es  sei  hier  nochmals  hervorgehoben,  dass  geometrische  und 
physiologische  Eigenschaften  eines  Raumgebildes  scharf  zu 
scheiden  sind.  Die  physiologischen  Eigenschaften  sind  durch 
geometrische  mitbestimmt,  aber  nicht  allein  durch  diese  be- 
stimmt. Dagegen  haben  physiologische  Eigenschaften  höchst 
wahrscheinlich  die  erste  Anregung  zu  geometrischen  Untersuch- 
ungen gegeben.  Die  Gerade  ist  wohl  nicht  durch  ihre  Eigen- 
schaft die  Kürzeste  zwischen  zwei  Punkten  zu  sein,  sondern  zu- 
erst durch  ihre  physiologische  Einfachheit  aufgefallen.  Auch 
die  Ebene  hat,  neben  ihren  geometrischen  Eigenschaften,  einen  be- 
sondern physiologisch-optischen  (ästhetischen)  Werth,  durch  welchen 
sie  auffällt,  wie  dies  noch  ausgeführt  werden  soll.  Die  Theilung 
der  Ebene  und  des  Raumes  nach  rechten  Winkeln  hat  nicht 
nur  den  Vorzug  der  gleichen  Theile,  welche  hierbei  entstehen, 
sondern  auch  noch  einen  besondern  Symmetrie  werth.  Der 
Umstand,  dass  congruente  und  ähnliche  geometrische  Gebilde  in 
eine  Orientirung  gebracht  werden  können ,  in  welcher  ihre  Ver- 
wandtschaft physiologisch  auffällt,  hat  ohne  Zweifel  bewirkt,  dass 
diese  Arten  der  geometrischen  Verwandtschaft  früher  untersucht 
worden  sind,  als  minder  auffällige,  wie  Affinität,  Collineation  und 
andere.  Ohne  Zusammenwirken  der  sinnlichen  Anschauung  und 
des  Verstandes  ist  eine  wissenschaftliche  Geometrie  nicht  denkbar. 
H.  Hankel  hat  aber  in  seiner  „Geschichte  der  Mathematik" 
(Leipzig  1B74)  sehr  schön  ausgeführt,  dass  in  der  griechischen 
Geometrie  das  Verstandesmoment,  in  der  indischen  hingegen 
das  sinnliche  Moment  bedeutend  überwiegt.  Die  Inder  ver- 
wenden das  Prinzip  der  Symmetrie  und  der  Aehnlichkeit  (a.  a.  O. 
S.  206)  in  einer  Allgemeinheit,  welche  den  Griechen  vollkommen 
fremd  ist.  Der  Vorschlag  Hankel's,  die  vSchärfe  der  griechischen 
Methode  mit  der  Anschaulichkeit  der  indischen  zu  einer  neuen 
Darstellungs weise  zu  verbinden,  ist  sehr  beherzigenswerth.  Man 
brauchte  übrigens  hierin  nur  den  Anregungen  von  Newton 
und  Joh.  Bernoulli  zu  folgen,  welche  das  Princip  der  Aehnlich- 


-     96     - 

keit  selbst  in  der  Mechanik  in  noch  allgemeinerer  Weise  ver- 
wendet haben.  Welche  Vortheile  auf  dem  letzteren  Gebiete  das 
Princip  der  Symmetrie  bietet,  habe  ich  an  einem  andern  Orte 
vielfach  ausgeführt  ^). 


i)  AVeniger  vollständige  Ausführungen  der  Hauptgedanken  dieses  Kapitels  habe 
ich  gegeben  in  der  citirten  Abhandlung  „Ueber  das  Sehen  von  Lagen  und  Winkeln" 
(l86l),  ferner  in  Fichte's  Zeitschrift  für  Philosophie,  Bd.  46,  Jahrg.  1865,  S.  5  und 
„Gestalten  der  Flüssigkeit.  Die  Symmetrie-',  Prag  1872.  (Die  zwei  letzten  Artikel 
sind  abgedruckt  in  den  ,, Populär-wissenschaftlichen  Vorlesungen",  Leipzig,  2.  Aufl., 
1897.)  In  Bezug  auf  die  Verwerlhung  des  Principes  der  Symmetrie  in  der  Mechanik 
vergl.  meine  Schrift:  ,, Die  Mechanik  in  ihrer  Entwicklung".  Leipzig,  Brockhaus,  1883, 
4.   Aufl.    1901. 


VII.  W^eitere  Untersuchung  der  Raumempfindungen  ^). 

I. 

Die  Kenntniss  des  räumlichen  Sehens  hat  im  Verlauf  des 
19.  Jahrhunderts  wesentliche  P'ortschritte  gemacht,  nicht  allein 
durch  den  Gewinn  an  positiver  Einsicht,  sondern  auch  durch  die 
Beseitigung  der  in  diesem  Gebiete  von  verschiedenen  Philosophen 
und  Physikern,  namentlich  seit  Descartes,  angehäuften  Vor- 
urtheile,  wodurch  erst  die  für  positive  Entdeckungen  nöthige 
Unbefangenheit  gewonnen  werden  musste. 

Johannes  Müller-)  schuf  die  Lehre  von  den  specifischen 
Energ-ien,  und  derselbe  vertrat  auch  in  sehr  klarer  Weise  die 
Vorstellung  von  den  identischen  Netzhautstellen,  welche  sich 
übrigens  in  deutlichen  Spuren  und  x\nfängen  bis  auf  Ptolemäus 
zurückverfolgen  lässt.  Nach  seiner  Ansicht,  dass  die  Netzhaut 
in  ihrer  eigenen  Thätigkeit  sich  selbst  empfinde,  ist  ihm  der 
„Sehraum"  etwas  unmittelbar  Gegebenes.  Im  Sehfeld  erscheint 
auch  der  eigene  Leib.     Alle  Orientirungsfragen    können    nur  auf 


i)  Der  im  vorigen  Kapitel  behandelte  Stoff  ist  meines  Wissens  (drei  kleine 
Arbeiten  von  mir  selbst  und  die  spätere  von  Soret  abgerechnet)  noch  nicht  be- 
sprochen worden.  Die  Erörterungen  in  diesem  Kapitel  aber  gründen  sich  für  mich 
auf  jene  des  vorigen.  Ich  lege  hier  die  Wege  dar,  auf  welchen  ich  selbst  zu  Auf- 
klärungen über  die  Raumempfindung  gelangt  bin,  ohne  etwas  von  dem  in  An- 
spruch zu  nehmen,  was  von  anderer  Seite  in  dieser  Richtung  geleistet  wurde  und  was 
namentlich  in  der  Hering'schen  Theorie  enthalten  ist.  Die  grosse  hieher  gehörige 
Litteratur  ist  mir  auch  zu  unvollständig  bekannt,  um  nach  jeder  Richtung  hin  genaue 
Nachweise  zu  geben.  Denjenigen  Punkt  der  Hering'schen  Theorie,  der  mir  der  wich- 
tigste scheint,  werde  ich  übrigens  besonders  hervorheben. 

2)Joh.  Müller,  Vergleichende  Physiologie  des  Gesichtssinnes,  1826,  — 
Handbuch  der  Physiologie,  Bd.   2,    1840. 

Mach,  Analyse.    3.  Aufl.  7 


-      98      - 

die  Lage  der  Theile  des  Sehfeldes  g'egeneinander  Bezug  haben. 
Die  Sehrichtung  hängt  nur  von  der  Anordnung  der  empfindenden 
Netzhautstellen  ab.  Alle  Projektionstheorien  und  Probleme  des 
Aufrechtssehens  entfallen.  Die  Schätzung-  der  Entfernung  des 
Gesehenen  ist  aber  für  Müller  durchaus  noch  Sache  des  Ver- 
standes. 

Durch  das  von  Wheastone')  erfundene  Stereoscop  konnte 
man  sich  leicht  überzeugen,  dass  nicht  nur  auf  identische  Netzhaut- 
stellen, sondern  auch  auf  andere  nicht  zu  sehr  differente  Stellen 
fallende  Bilder  unter  Umständen  einfach,  und  je  nach  der  stereo- 
scopischen  Differenz  in  verschiedener  Tiefe  g-esehen  werden.  Dies 
führte  nun  wieder  zu  Zweifeln  an  der  Identitätslehre  und  be- 
günstigte das  Auftreten  psychologischer  Erklärungen  des  Tiefen- 
sehens. So  entstand  Brücke's  Theorie  des  successiven  Fixirens 
beim  räumlichen  Sehen,  welche  durch  Dove's  Stereoscop  ver- 
suche bei  Momentbeleuchtung  wieder  als  unhaltbar  erwiesen  wurde. 

Panum^)  trat  solchen  Theorien  durch  gewichtige  Ueber- 
legungen  und  trefflich  ausg'edachte  Versuche  entg^egen.  Gestützt 
auf  die  Phänome  des  binocularen  Wettstreites  und  die  hervor- 
ragende Rolle  der  Conturen  bei  denselben,  gelangt  er  zu  der 
Ansicht,  dass  das  Tiefensehen  auf  einer  Wechselwirkung  (Synergie) 
der  beiden  Netzhäute  beruhe,  dass  die  Tiefenempfindung  eine 
angeborne  specifische  Energie  sei.  Je  ähnlicher  die  beiden 
monocularen  Bilder,  namentlich  die  Conturen,  in  Form,  Farbe 
und  Lage  sind,  desto  leichter  verschmelzen  sie  zu  einem  binocu- 
laren Bilde,  dessen  Tiefe  durch  die  stereoscopische  Differenz  be- 
stimmt wird.  Diese  Tiefe  entspricht  aber,  wie  Panum  noch 
meint,  der  durch  die  Projectionslinien   gegebenen. 

Am  gründlichsten  hat  Hering^)  mit  alten  Vorurtheilen 
aufgeräumt.      Flering"    geht    von    der   Ansicht  aus,  dass  der    uns 


i)  Wheatstone,  Contributions  to  the  theory  of  vlsion.  Pliil.  transact.  1838, 
1852. 

2)  Panum,   Untersuchungen  über  das  Sehen  mit  zwei  Augen,    1858. 

3)  Hering,  Beiträge  zur  Physiologie,  1861  — 1865.  —  Archiv  für  Anatomie 
und  Physiologie,  1864,  1865.  —  Der  Raumsinn  und  die  Bewegungen  des  Auges. 
Plermann,   Handbuch  der  Physiologie,   Bd.   Hl,    i,    1879. 


—      99       — 

unmittelbar  g-egebene  Sehraum  von  unserem  durch  besondere 
Erfahrungen  gewonnenen  Raum  begriff  durchaus  zu  unter- 
scheiden sei.  Wie  er  durch  schlagende  Experimente  nachweist, 
ist  die  Richtung,  in  welcher  wir  ein  Object  sehen,  von  jener  der 
Verbindungslinie  zwischen  Object  und  Netzhautbild,  der  Visir- 
linie  oder  Projectionslinie,  verschieden.  Dem  Paar  der  Visirlinien 
der  beiden  Augen  entspricht  eine  deren  Winkel  halbirende  Seh- 
richtung, welche  wir  von  dem  Halbirungspunkte  der  Ver- 
bindungslinie beider  Augen  ausgehend  zu  denken  haben.  Um 
jede  Beziehung  auf  den  geometrischen  Raum  auszuschalten, 
können  wir  sagen:  Die  beiden  Augen  zusammen  sehen  dieselbe 
Breiten-  und  Höhenanordnung,  welche  ein  einzelnes  mitten  zwischen 
denselben  liegendes  Auge  sehen  würde.  Fixiren  wir  mit  horizon- 
talen Blicklinien  und  s}^! metrischer  Convergenz  einen  Punkt  auf 
der  Fensterscheibe,  so  sehen  wir  diesen  in  der  Medianebene, 
zugleich  aber  in  derselben  dahinter  weit  seitwärts  abliegende 
Objecte.  Auch  bei  schwacher  Divergenz  der  Augenachsen  sehen 
wir  im  stereoscopischen  Versuch  noch  Objecte  vor  uns,  während 
die  Projectionsrichtung-en  überhaupt  nicht  mehr  zu  solchen  führen, 
wenigstens  keinen  ph3^sikalischen  oder  physiologischen  Sinn  mehr 
haben.  Auch  die  gesehenen  Entfernungen  stimmen  nicht 
zu  den  Ergebnissen  der  Projectionslehre.  Wenn  wir  bei  hori- 
zontalen Blicklinien  durch  den  Müller 'sehen  Horopterkreis  ver- 
ticale  Fäden  legen,  so  erscheint  uns  der  so  entstandene  Cylinder 
als  eine  Ebene.  Wir  sehen  nicht  nur  das  Bild  des  fixirten 
Punktes  (den  „Kernpunkt"),  sondern  auch  den  Inbegriff  aller 
sich  auf  identischen  („correspondirenden")  Stellen  abbildender 
Punkte  (die  „Kernfläche")  als  eine  in  bestimmter  Entfernung  vor 
uns  liegende  Ebene.  Diese  und  viele  andere  analoge  That- 
sachen  sind  nach  der  Projectionslehre  ganz  unverständlich.  Das 
Raumsehen  führt  Hering  auf  ein  einfaches  Princip  zurück. 
Identische  („correspondirende")  Netzhautstellen  haben  iden- 
tische Höhen-  und  Breitenwerthe,  symmetrische  Netz- 
hautstellen dagegen  identische  Tiefen werthe,  welche  letztere 
von    den    Aussenseiten    der   Netzhäute    nach   innen   zu   wachsen. 


lOO      — 

Tritt  wegen  Aehnlichkeit  der  monccularen  Bilder  in  Farbe, 
Form  und  Lag'e  Verschmelzung  derselben  zu  einem  binocularen 
Bilde  ein,  so  erhält  dieses  den  Mittel vverth  der  Tiefenwerthe 
der  Einzelbilder.  Solche  Mittelwerthe  der  Einzelbilder  spielen 
überhaupt  eine  maassgebende  Rolle,  so  auch  bei  den  Sehrichtungen. 
Diese  Andeutung-en  mögen  genügen,  da  es  hier  nicht  möglich 
ist,  auf  die  reichhaltigen  Einzelarbeiten  einzugehen,  durch  welche 
Hering^)  diesem  Capitel  eine  sichere  Grundlage  geschaffen  hat. 
Es  sei  nur  noch  bemerkt,  dass  nach  demselben  Forscher  die 
beiden  Augen  als  einheitliches  Organ  aufzufassen  sind,  deren 
associirte  Bewegungen  auf  einer  angeborenen  anatomischen 
Grundlage  beruhen,  worauf  schon  Johannes  Müller  hinge- 
wiesen hatte. 

Die  biologische  und  die  psychologische -)  Untersuchung  führen 
übereinstimmend  zu  der  Ueberzeug'ung,  dass  in  Bezug  auf  die 
Raumanschauung  nur  mehr  die  nativistische  Ansicht  aufrecht  er- 
halten werden  kann.  Das  Hühnchen,  welches  eben  aus  dem  Ei 
geschlüpft  ist,  zeigt  sich  schon  im  Räume  orientirt  und  pickt  schon 
nach  allen  Gegenständen,  welche  seine  Aufmerksamkeit  erregen. 
Für  den  neug'eborenen  Menschen  können  wir  höchstens  eine  ge- 
ringere Reife,  sonst  aber  nicht  wesentlich  verschiedene  Verhältnisse 
annehmen.  Schon  Panum  hat  auf  diesen  Punkt  hingewiesen.  Die 
Raumanschauung'  ist  also  bei  der  Geburt  vorhanden.  Ob  wir 
im  Stande  sein  werden,  dieselbe  durch  die  Entwicklungsgeschichte 
oder  die  Stammesgeschichte  aufzuklären,  etwa  in  der  von  Helm- 
holtz   versuchten  Weise,  ist  eine  Frage  für  sich. 

Die  phylogenetische  Entwicklung",  die  Variation  der  Corre- 
spondenz  der  Netzhäute  beim  Uebergang  von  einer  Tliicrspecies 
zur  andern,  welche  Johannes  Müller^)  untersucht  hat,  möchte 
hiefür  schon  Anhaltspunkte  bieten.  Vielversprechend  scheint 
ferner  die  Verfolgung  der  pathologischen  Anomalien  bei  Schielen- 

i)  Unter  den  an  Heriny's  Untersuchungen  anknüpfenden  Arbeiten  jüngerer 
Forscher  sind  besonders  jene  F.   Hillel)raiid 's  von   Inlercsse  für  die  Psychologie. 

2)  Stumpf,   Der  psychologische  Ursprung  der   Raunivoistellungen,    1873. 

3)  Vergleichende  Physiologie  des  Gesichtssinnes.     S.    106  11.  f. 


den  und  der  Anpassungserscheinungen,  welche   in    diesen    Fällen 
zu  beobachten  sind^). 


Dass  die  Raumempfindung  mit  motorischen  Processen  zu- 
sammenhängt, wird  seit  langer  Zeit  nicht  mehr  bestritten.  Die 
Meinungen  gehen  nur  darüber  auseinander,  wie  dieser  Zusammen- 
hang aufzufassen  sei. 

Fallen  zwei  verschiedenfarbige  congruente  Bilder  nach  einander 
auf  dieselben  Netzhautstellen,  so  werden  sie  ohne  weiteres  als 
gleiche  Gestalten  erkannt.  Wir  können  uns  also  zunächst  ver- 
schiedene Raumempfindungen  an  verschiedene  Netzhautstellen  ge- 
bunden denken.  Dass  aber  diese  Raumempfindungen  nicht  un- 
abänderlich am  bestimmte  Netzhautstellen  geknüpft  sind,  er- 
kennen wir,  indem  wir  frei  und  willkürlich  die  Augen  bewegen, 
wobei  die  Objecte,  obgleich  ihre  Bilder  auf  der  Netzhaut  sich 
verschieben,  ihren  Ort  und  ihre  Gestalt  nicht  ändern. 

Wenn  ich  geradeaus  vor  mich  blicke,  ein 
Object  O  fixirend,  so  erscheint  mir  ein  Object 
A,  das  sich  auf  der  Netzhaut  in  «,  in  einer 
bestimmten  Tiefe  unter  der  Stelle  des  deut- 
lichsten Sehens  o  abbildet,  in  einer  gewissen  Figur  i;. 
Höhe  zu  liegen.     Erhebe  ich  nun  den  Blick, 

B  fixirend,  so  behält  A  hierbei  seine  frühere  Höhe  bei.  Es 
müsste  tiefer  erscheinen,  wenn  der  Ort  des  Bildes  auf  der  Netz- 
haut, bezw.  der  Bogen  o  a  allein  die  Raumempfindung  bestimmen 
w^ürde.  Ich  kann  den  Blick  bis  zu  A  und  darüber  hinaus  er- 
heben, ohne  dass  an  diesem  Verhältniss  etwas  geändert  wird. 
Der  physiologische  Process  also,  der  die  willkürliche  Erhebung 
des  Aug'es  bedingt,  vermag  die  Höhenempfindung  ganz  oder 
theilweise  zu  ersetzen,    ist  mit   ihr    gieichartig,  kurz    g'esagt  alge- 


i)  Tschermak,  Ueber  anomale  Sehrich tungsgemeinschaft  der  Netzhäute  bei 
Schielenden.  Graefe's  Archiv,  XLVII,  3,  S.  508.  —  Tschermak,  Ueber  physio- 
logische mid  pathologische  Anpassung  des  Auges.  Leipzig  iqoo.  —  Schlodtmann, 
Studien  über  anomale  Sehrichtungsgemeinschaft  bei  Schielenden.  Graefe's  Archiv, 
LI,  2,    1900. 


—        I02        

braisch  mit  derselben  summirbar.  Drehe  ich  den  Aug'apfel  durch 
einen  leichten  Ruck  mit  dem  Finger  aufwärts,  so  scheint  sich 
hierbei  das  Object  A,  der  Verkleinerung  des  Bog'ens  o  a  ent- 
sprechend, in  der  That  zu  senken.  Dasselbe  geschieht,  wenn 
durch  irgend  einen  andern  unbewussten  oder  unwillkürlichen 
Process,  z.  B.  durch  einen  Krampf  der  Augenmuskel,  der  Aug- 
apfel sich  aufwärts  dreht.  Nach  einer  seit  mehreren  Decennien 
bekannten  Erfahrung  der  Augenärzte  greifen  Patienten  mit  einer 
Lähmung  des  Rectus  externus  zu  weit  nach  rechts,  wenn  sie 
ein  rechts  liegendes  Object  ergreifen  wollen.  Da  dieselben  eines 
stärkeren  Willensimpulses  bedürfen  als  Gesunde,  um  ein  rechts 
liegendes  Object  zu  fixiren,  so  liegt  der  Gedanke  nahe,  dass  der 
Wille,  rechts  zu  blicken,  die  optische  Raumempfindung  „rechts'' 
bedingt.  Ich  habe  vor  Jahren^)  diese  Erfahrung  in  die  Form 
eines  Versuches  gebracht,  den  jeder  sofort  anstellen  kann.  Man 
drehe  die  Augen  möglichst  nach  links  und  drücke  nun  an  die 
rechten  Seiten  der  Augäpfel  zwei  grosse  Klumpen  von  ziemlich 
festem  Glaserkitt  gut  an.  Versucht  man  alsdann  rasch  nach 
rechts  zu  blicken,  so  g'elingt  dies  wegen  der  ungenauen  Kug'el- 
form  der  Augen  nur  sehr  unvollkommen,  und  die  Objecte  ver- 
schieben sich  hierbei  ausgiebig  nach  rechts.  Der  blosse  Wille, 
rechts  zu  blicken,  giebt  also  den  Netzhautbildern  an  bestimmten 
Netzhautstellen  einen  grösseren  Rechtswerth,  wie  wir  kurz 
sagen  wollen.  Der  Versuch  wirkt  anfangs  überraschend.  Wie 
man  aber  bald  merkt,  lehren  die  beiden  einfachen  Erfahrungen, 
dass  durch  willkürliche  Rechtswendung  der  Augen  die  Objecte 
nicht  verschoben,  und  dass  durch  gewaltsame  unwillkürliche 
Linkswendung  die  Objecte  nach  rechts  verschoben  werden,  zu- 
sammen genau  dasselbe.  Mein  Auge,  welches  ich  rechts  wenden 
will  und  nicht  kann,  lässt  sich  als  ein  willkürlich  rechts  g'e- 
wendetes  und  durch  eine  äussere  Kraft  gewaltsam  zurück- 
gedrehtes   Auge    ansehen.     Professor   W.   Jamcs'-^)    wollte   der 

i)  Kurz  nach  Abscliliiss  meiner  ,, Grundlinien    der  Lehre    von    den  Bewegungs- 
empfindungen"  (1875). 

2)   W.  James,   The  principles  01   Psychology,   II,    509. 


erwähnte  Versuch  nicht  gelingen.  Ich  habe  denselben  oft  wieder- 
holt und  immer  bestätigt  g'efunden.  Die  Thatsache,  glaube  ich, 
steht  fest,  womit  aber  natürlich  nicht  über  die  Richtigkeit  der 
Auffassung  entschieden  ist. 

3- 
Der  Wille,  Blickbewegungen  auszuführen,  oder  die  Inner- 
vation (?),  ist  die  Raumempfindung  selbst.  Dies  ergibt  sich  un- 
gezwungen aus  der  angeführten  Betrachtung- 1).  Wenn  wir  an 
einer  Hautstelle  ein  Jucken  oder  einen  Stich  empfinden,  wodurch 
unsere  Aufmerksamkeit  genügend  gefesselt  wird,  so  greifen  wir 
sofort  mit  dem  richtigen  Ausmaass  der  Bewegung  dahin.  Ebenso 
drehen  wir  die  Augen  mit  dem  richtigen  Ausmaass  nach  einem 
Netzhautbild,  sobald  dasselbe  uns  genügend  reizt,  und  wir  es 
demnach  beachten.  Vermöge  organischer  Einrichtungen  und 
langer  Uebung  treffen  wir  sofort  die  zur  Fixirung  eines  auf 
bestimmter  Netzhautstelle  sich  abbildenden  Objectes  eben  zu- 
reichende Innervation.  Sind  die  Augen  schon  rechts  gewendet, 
und  fangen  wir  an,  ein  neues  mehr  rechts  oder  links  gelegenes 
Object  zu  beachten,  so  fügt  sich  eine  neue  gleichartige  Inner- 
vation der  schon  vorhandenen  algebraisch  hinzu.  Eine  Störung 
entsteht  erst,  wenn  zu  den  willkürlich  abgemessenen  Innervationen 
fremdartige  unwillkürliche  oder  äussere  bewegende  Kräfte  hin- 
zutreten. 

4- 
Als  ich  mich  vor  Jahren  mit  den  hierher  gehörigen  Fragen  be- 
schäftigte, bemerkte  ich  eine  eigen- 
thümliche  Erscheinung,  die  meines 
Wissens  noch  nicht  beschrieben 
worden  ist.  Wir  betrachten  in 
einem  recht  dunklen  Zimmer  ein 
Licht  A  und  führen  dann  eine 
rasche  Blickbewegung  nach  dem 
tieferen  Licht  B  aus.    Das  Licht  A 


i)  Ich  halte  hier  den  Ausdruck  fest,   welcher  sich   mir  unmittelbar  ergeben  hat, 
ohne  der  weitern  Untersuchung  zu  präjudiciren.     Ich  lasse  es  hier  und  in  dem  zunächst 


—      I04      — 

scheint  hierbei  einen  (rasch  verschwindenden)  Schweif  AA'  nach 
oben  zu  ziehen.  Dasselbe  thut  natürHch  auch  das  Licht  B,  w^as 
zur  Vermeidung  von  Complicationen  in  der  Figur  nicht  an- 
gedeutet ist.  Der  Schw^eif  ist  selbstverständlich  ein  Nachbild, 
welches  erst  bei  Beendigung  oder  kurz  vor  Beendigung  der 
Blickbewegung  zum  Bewusstsein  kommt,  jedoch,  was  eben  merk- 
würdig ist,  mit  Ortswerthen,  welche  nicht  der  neuen  Augen- 
stelJung  und  Innervation,  sondern  noch  der  frühern  Augenstellung 
und  Innervation  entsprechen.  Aehnliche  Erscheinungen  bemerkt 
man  oft  beim  Experimentiren  mit  der  Holtz'schen  Electrisir- 
maschine.  Wird  man  während  einer  Blickbewegung  abwärts 
von  einem  Funken  überrascht,  so  erscheint  derselbe  oft  hoch 
über  den  Electroden.  Liefert  er  ein  dauerndes  Nachbild,  so 
zeigt  sich  dieses  natürlich  unter  den  Electroden.  Diese  Vor- 
gänge entsprechen  der  sogenannten  persönlichen  Differenz  der 
Astronomen,  nur  dass  sie  auf  das  Gebiet  des  Gesichtssinnes 
beschränkt  sind.  Durch  welche  organischen  Einrichtungen  dies 
Verhältniss  bedingt  ist,  muss  dahingestellt  bleiben,  wahrscheinlich 
hat  es  aber  einen  g-ewissen  Werth  zur  Verhinderung  der  Des- 
orientirung  bei  Augenbeweg-ungen  ^). 

5- 
Wir  dachten  uns  bisher  der  Einfachheit  wegen  nur  die 
fixirenden  Augen  bewegt,  hingegen  den  Kopf  (und  überhaupt 
den  Körper)  ruhig.  Drehen  wir  nun  den  Kopf  ganz  beliebig, 
ohne  ein  optisches  Object  absichtlich  ins  Auge  zu  fassen,  so  bleiben 
die  Objecte  hierbei  ruhig.  Zugleich  kann  aber  ein  anderer  Be- 
obachter bemerken,  dass  die  Augen  wie  reibungslose  träge  Massen 
an  den  Drehbewegungen  keinen  Antheil  nehmen.  Noch  auffallen- 
der wird  der  Vorgang,  wenn  man  sich  continuirlich  activ  oder 
passiv  um  die  Verticalaxe,  von  oben  g'esehen  etw^a  im  Sinne  des 


Folgenden  noch  dahingestellt,  ob  die  Innervation  eine  Folge  der  Raumempfindiuig  ist, 
oder  umgekehrt.      Gewiss   sind   l^eide  eng  verbunden. 

I)  Eine    andere    Ansicht    hierüber    entvv^ickelt    Lipps,    Zeitschr.    f.  Psychologie 
u.  Physiologie  der  Sinnesorgane,  Bd.  I,  S.   60. 


—     I05     — 

Uhrrzeigers,  herumdreht.  Die  offenen  oder  geschlossenen  Augen 
drehen  sich  dann,  wie  Breuer  beobachtet  hat,  etwa  zehnmal  auf 
eine  volle  Umdrehung  des  Körpers  gleichmässig  verkehrt  wie 
der  Uhrzeiger,  und  ebenso  oft  ruckweise  im  Sinne  des  Uhrzeigers 
zurück.  Die  Figur  veranschaulicht  diesen 
Vorgang.  Nach  OT  sind  die  Zeiten  als  Ab- 
scissen,  aufwärts  als  Ordinaten  die  Drehungs- 
winkel im  Sinne  des  Uhrzeigers,  abwärts  im 
entgegengesetzten    Sinne     aufgetragen.      Die  Figur  17. 

Curve  OA  entspricht  der  Drehung  des  Körpers, 

OBB  der  relativen  und  OCC  der  absoluten  Drehunpf  der  Augen. 
Niemand  wird  sich  bei  Wiederholung  der  Beobachtung  der  Ueber- 
zeugung  verschliessen  können,  dass  man  es  mit  einer  durch  die 
Köperdrehung  reflectorisch  vom  Labyrinth  ausgelösten  automati- 
schen (unbewussten)  Augenbewegung  zu  thun  hat.  Dieselbe  ver- 
schwindet, sobald  die  (passive)  Drehung  nicht  mehr  empfunden 
wird.  Wie  diese  Bewegung  zu  Stande  kommt,  bleibt  natürlich 
zu  untersuchen.  Eine  einfache  Vorstellung  wäre  die  dass  von 
zwei  antagonistischen  Innervationsorg-anen  der  ihnen  bei  der  Körper- 
drehung gleichmässig  zufliessende  Reiz,  von  dem  einen  wieder 
mit  einem  gleichmässigen  Innervationsstrom  beantwortet  wird, 
während  das  andere  immer  erst  nach  einer  gewissen  Zeit  wie  ein 
gefüllter  und  plötzlich  umkippender  Regenmesser  einen  Innervations- 
stoss  abgibt.  Für  uns  genügt  es  vorläufig  zu  wissen,  dass  diese 
automatische  compensirende  unbewusste  Augenbewegung  thatsäch- 
lich  vorhanden  ist. 

Bekannt  ist  die  compensatorische  Raddrehung  der  Augen, 
welche  bei  Seitwärtsneigung  des  Kopfes  auftritt.  NageU)  hat 
nachgewiesen,  dass  dieselbe  ^/^q — Ve  ^^^  Winkels  der  Kopfneigung 
beträgt.  Kürzlich  haben  nun  Breuer  2)  und  Kreidl  auch  im 
Drehapparat  solche  Versuche  angestellt  und  g'efunden: 


i)  Nagel,  Ueber  compensatorische  Raddrehungen  der  Augen.  Zeitschr.  f. 
Psychol.  u.   Physiol.   der  Sinnesorgane,   Bd.    12,   S.   338. 

2)  Breuer  und  Kreidl,  Ueber  scheinbare  Drehung  des  Gesichtsfeldes  während 
der  Einwirkung  einer  Centrifugalkraft.     Pflüger's  Archiv,  Bd.   70,  S.  494. 


—      io6     — 

„Wir  empfinden,  wie  Purkynie  und  Mach  gesagt  haben, 
die  Richtung  der  Massenbeschleunigung.  Aendert  sich  diese 
Richtung  durch  Hinzutritt  einer  seitlicli  auf  den  Körper  wirkenden 
liorizontalen  Beschleunigung,  so  tritt  eine  Raddrehung  der  Augen 
auf,  welche  während  der  Dauer  jener  Einwirkung  anhält  und 
die  Hälfte,  0,6  des  Ablenkungswinkels  beträgt.  Die  Drehung 
des  Sehraums,  die  Schiefstellung  verticaler  Linien,  welche  unter 
solchen  Verhältnissen  wahrgenommen  wird,  beruht  also  auf 
einer  wirklichen  unbewussten  Drehung  der  Augen." 

Ich  muss  hier  ferner  noch  zweier  Arbeiten  über  compen- 
sirende  Augenbewegungen  gedenken,  welche  von  Crum  Brown  ^) 
herrühren. 


Die  langsamere  unbewusste  compensirende  Augenbewegung 
(die  ruckweise  hinterlässt  keinen  optischen  Eindruck)  ist  also  die 
Ursache,  dass  die  Objecto  bei  Kopfdrehungen  ihren  Ort  beizube- 
halten scheinen,  was  für  die  Orientirung  sehr  wächtig'  ist.  Drehen 
wir  nun  mit  dem  Kopf  in  demselben  Sinn,  das  fixh-te  Object 
wechselnd,  auch  willkürlich  die  Augen,  so  müssen  wir  durch 
die  willkürliche  Innervation  die  automatische  unwillkürliche  über- 
compensiren.  Wir  bedürfen  derselben  Innervation,  als  ob  der 
ganze  Drehungswinkel  vom  Auge  allein  zurückgelegt  worden 
wäre.  Hierdurch  erklärt  es  sich  auch,  warum,  wenn  wir  uns  um- 
drehen, der  ganze  optische  Raum  uns  als  ein  Continuum  und 
nicht  als  ein  Aggregat  von  Gesichtsfeldern  erscheint,  und  warum 
hierbei  die  optischen  Objecte  festliegend  bleiben.  Was  wir  beim 
Umdrehen  von  unserm  eigenen  Körper  sehen,  sehen  wir  aus 
klarliegenden   Gründen  optisch  bewegt. 

So  gelangen  wir  also  zu  der  praktisch  werthvollen  Vorstellung 
unseres  bewegten  Körpers  in  einem  festliegenden  Räume. 
Es    wird    uns    verständlich    das    wir    bei    mehrfachen    Drehungen 

i)  Crum  Brown,  Note  on  normal  nystagmus.  Preceedings  of  the  Royal 
Society  of  Edinburgh,  Fcbruary  4,  1895.  —  ^he  relation  between  the  movements  of 
the  eyes  and  the  movements  of  the  head.     Robert  Boyle  lecture,  May   13,    1895. 


—     loy     — 

und  Wendungen  in  vStrassen,  in  Gebäuden,  und  bei  passiven 
Drehungen  im  Wagen,  oder  in  der  Cajüte  eingeschlossen  (ja  selbst 
in  der  Dunkelheit)  die  Orientirung  nicht  verlieren.  Allerdings 
schlafen  die  Urcoordinaten,  von  welchen  wir  ausgingen,  allmälig 
und  unvermerkt  ein,  und  bald  zählen  wir  wieder  von  den  Objecten 
aus,  welche  vor  uns  liegen.  Der  eigenthümlichen  Desorientirung, 
in  welcher  man  sich  zuweilen  Nachts  beim  plötzlichen  Erwachen 
befindet,  rathlos  das  Fenster,  den  Tisch  u.  s.  w.  suchend,  mögen 
wohl  dem  Erwachen  unmittelbar  vorausgehende  motorische  Träume 
zu  Grunde  liegen. 

Aehnliche  Verhältnisse  wie  bei  Körperdrehungen  zeigen  sich 
bei  Körperbewegungen  überhaupt.  Bewege  ich  den  Kopf  oder 
den  ganzen  Körper  seitwärts,  so  verliere  ich  ein  optisch  fixirtes 
Object  nicht.  Dasselbe  scheint  fest  zu  stehen,  während  die  fernem 
Objecte  eine  der  Körperbewegung  gleichsinnige,  die  nähern  eine 
entgegengesetzte  parallactische  Verschiebung  erfahren.  Die  ge- 
wohnten parallactischen  Verschiebungen  werden  gesehen,  stören 
aber  nicht,  und  werden  richtig  interpretirt.  Bei  monocularer  In- 
version eines  Plateau 'sehen  Drahtnetzes  aber  fallen  die  dem 
Sinne  und  dem  Ausmaass  nach  ungewohnten  parallactischen 
Bewegungen  sofort  auf,  und  spiegeln  uns  ein  gedrehtes  Ob- 
ject vor  1). 

7- 
Wenn  ich  meinen  Kopf  drehe,  so  sehe  ich  nicht  nur  jenen 
Theil  desselben,  den  ich  überhaupt  sehen  kann,  gedreht,  was 
nach  dem  Vorausgeschickten  sofort  verständlich  ist,  sondern  ich. 
fühle  ihn  auch  gedreht.  Dies  beruht  darauf,  dass  im  Gebiete 
des  Tastsinnes  ganz  analoge  Verhältnisse  bestehen,  wie  im 
Gebiete  des  Gesichtssinnes  2).     Greife  ich  nach  einem  Object,  so 


i)  Vergl.  meine  „Beobachtungen  über  monoculare  Stereoscopie".  Sitzungs- 
berichte d.   Wiener  Aliademie  (1868),   Bd.   58. 

2)  Die  Ansicht,  das  Gesichtssinn  und  Tastsinn  sozusagen  denselben  Raumsinn 
als  gemeinsamen  Bestandtheil  enthalten,  ist  von  Locke  aufgestellt,  von  Berkeley 
wieder  bestritten  worden.  Auch  Diderot  ist  (Lettres  sur  les  aveugles)  der  Ansicht, 
dass    der  Raumsinn    des    Blinden    von   jenem    des  Sehenden    gänzlich    verschieden   ist. 


—      io8      — 

complicirt  sich  eine  Tastempfindung  mit  einer  Innervation.  Blicke 
ich  nach  dem  Object,  so  tritt  an  die  Stelle  der  Tastempfindung- 
eine Lichtempfindung.  Da  Hautempfindungen  auch  ohne  Tasten 
von  Objecten  immer  vorgefunden  werden,  sobald  man  ihnen  die 
Aufmerksamkeit  zuwendet,  so  geben  diese,  mit  wechselnden  Inner- 
vationen complicirt,  ebenfalls  die  Vorstellung-  unseres  beweg'ten 
Körpers,  welche  mit  der  auf  optischem  Wege  gewonnenen  in 
voller  Uebereinstimmung-  steht." 

Bei  activen  Bewegungen  werden  also  die  Hautempimdungen 
dislocirt,  wie  man  kurz  sagen  kann.  Bei  passiven  Bewegungen 
unseres  Körpers  treten  reflectorisch  ausgelöste  unbewusste  com- 
pensirende  Innervationen  und  Beweg'ungen  auf.  Drehe  ich  mich 
z.  B.  rechts  herum,  so  compliciren  sich  meine  Hautempfindungen 
mit  denselben  Innervationen,  die  mit  Berührung  von  Objecten  bei 
Rechtsdrehung  verbunden  wären.  Ich  fühle  mich  rechts  gedreht. 
Werde  ich  passiv  rechts  gedreht,  so  entsteht  reflectorisch  das  Be- 


Man  vergl.  hierüber  die  scharfsinnigen  Ausführungen  von  Dr.  Th.  Loewy  (Common 
sensibles.  Die  Gemein-Ideen  des  Gesichts-  und  Tastsinnes  nach  Locke  und  Berkeley, 
Leipzig  1884),  deren  Resultat  ich  übrigens  nicht  beistimmen  kann.  Der  Umstand, 
dass  ein  Bhndgeborner  nach  der  Operation  den  ihm  durch  das  Getast  wohlbekannten 
Würfel,  und  die  ebenso  bekannte  Kugel,  durch  das  Gesicht  nicht  unterscheidet,  be- 
weist für  mich  gar  nichts  gegen  Locke  und  nichts  für  Berkeley  und  Diderot. 
Auch  der  Sehende  erkennt  die  einfach  umgekehrte  Fignr  erst  nach  mehrfacher  Uebung. 
Wie  hätte  auch  der  blinde  Saunderson,  wenn  Locke  Unrecht  hätte,  eine  für  Sehende 
verständliche  Geometrie  schreiben  können.  Möge  der  Blinde  versuchen,  eine  Farben- 
lehre zu  schreiben!  Analogien  zwischen  dem  Raumsinn  des  Gesichts  und  des  Ge- 
tastes  bestehen  gewiss.  Etwas'  hiervon  wurde  schon  bei  Besprechung  der  Arbeit  von 
Soret  (S.  93)  erwähnt,  und  Manches  war  schon  in  der  Aristotelischen  Schule  bekannt. 
So  erwähnen  schon  die  ,, Parva  naturalia"  das  Experiment  mit  dem  Kügelclien,  welches 
zwischen  dem  Zeigefinger  und  dem  kreuzweise  über  diesen  gelegten  Mittelfinger 
doppelt  empfunden  wird.  Dasselbe  gelingt  mir  noch  viel  schlagender,  wenn  ich  die 
so  gelegten  P'inger  an  einem  Stäbchen  hin-  und  herführe.  Und  einfach  empfinde  ich 
zwei  parallele  .Stäbchen,  zwischen  welchen  ich  die  in  gleicher  Weise  gelegten  Finger 
schleifend  l)ewege.  Die  Analogie  mit  dem  Doppeltsehen  des  Einfachen  und  dem  Ein- 
fachsehen des  Doppelten  ist  hier  vollständig.  Aber  auch  die  Unterschiede  sind  so 
gross,  dass  der  Sehende  sich  sehr  schwer  in  die  Raumvorstellung  des  Blinden  hinein- 
zufinden vermag,  da  er  immer  seine  Gesichtsvorstellungen  interpretirend  einmischt. 
Selbst  ein  Kopf  wie  Diderot  verfällt  gelegentlich  in  den  sonderbaren  Irrthum,  dem 
Blinden  die  Raumphanlasie  abzusprechen.  Arbeiten  wie  jene  Loeb's  über  den  Fühl- 
raum (vergl.  S.  89)  und  Heller's  Studien  zur  Blinden-Psychologie  (Leipzig  1895) 
werden  zur  Aufklärung,  mitwirken. 


—     I09     — 

streben  die  Drehung  zu  compensiren.  Ich  bleibe  entweder  wirk- 
Hch  stehen,  und  empfinde  mich  dann  auch  ruhig-,  oder  ich  unter- 
drücke die  Linksdrehung.  Dazu  bedarf  ich  aber  derselben  will- 
kürlichen Innervation,  wie  zu  einer  activen  Rechtsdrehung,  welche 
auch  die  gleiche  Empfindung  zur  Folge  hat. 


Das  hier  dargelegte  einfache  Verhältniss  übersah  ich  noch 
nicht  vollständig  bei  Abfassung-  meiner  Schrift  über  Bewegung-s- 
empfindungen.  In  Folge  dessen  blieben  mir  einige  theils  von 
Breuer,  theils  von  mir  beobachtete  Erscheinung-en  schwer  ver- 
ständlich, die  sich  nun  ohne  Schwierigkeit  erklären,  und  die  ich 
kurz  berühren  will.  Bei  passiver  Drehung  eines  in  einem  Kasten 
eingeschlossenen  Beobachters  nach  rechts  erscheint  demselben  der 
Kasten  optisch  gedreht,  obgleich  jeder  Anhaltspunkt  zur  Beur- 
theilung-  einer  Relativdrehung  fehlt.  Führen  seine  Augen  unwill- 
kürliche compensirende  Bewegungen  nach  links  aus,  so  verschieben 
sich  die  Netzhautbilder  so,  dass  er  eine  Bewegung  nach  rechts  sieht. 
Fixirt  er  aber  den  Kasten,  so  muss  er  die  unwillkürlichen  Be- 
wegungen willkürlich  compensiren,  und  sieht  nun  wieder  eine 
Bewegung  nach  rechts.  Es  vvird  hierdurch  deutlich,  dass  die 
Breuer'sche  Erklärung-  der  Scheinbeweg-ung  des  Augenschwindels 
richtig  ist,  und  dass  gleichwohl  durch  willkürliches  Fixiren 
diese  Bewegung  nicht  zum  Verschwinden  gebracht  werden  kann. 
Auch  die  übrigen  in  meiner  Schrift  erwähnten  Fälle  des  Aug'en- 
schwindels  finden  auf  analoge  Weise  ihre  Erledigung  i). 

Wenn  wir  uns  bewegen  z.  B.,  vorwärts  schreiten  oder  uns 
drehen,  so  haben  wir  nicht  nur  eine  Empfindung  der  jedesmaligen 
Lage  unserer  Körpertheile,  sondern  auch  noch  die  viel  ein- 
fachere Empfindung  einer  Vorwärtsbeweg'ung  oder  Drehung. 
In  der  That  setzen  wir  die  Vorstellung  der  Vorwärtsbewegung* 
nicht  aus  den  Vorstellung-en  der  einzelnen  Beinschwingungen  zu- 


i]  Grundlinien    der  Lehre    von    den  Bewegungsempfindungen.     Leipzig,    Engei- 
mann,    1875,   S.   83. 


I  I  o       — 

sammen,  oder  haben  wenigstens  nicht  nöthig"  dies  zu  thun.  Ja 
es  gibt  sogar  Fälle,  in  welchen  die  Empfindung  der  Vorwärtsbe- 
wegung entschieden  vorhanden  ist,  jene  der  Beinbewegung  aber 
ebenso  entschieden  fehlt.  Dies  trifft  z.  B.  bei  einer  Eisenbahnfahrt 
zu,  auch  schon  bei  dem  Gedanken  einer  Reise,  andeutungsweise 
bei  der  Erinnerung  an  einen  fernem  Ort  u.  s.  w.  Dies  kann  nur 
daran  liegen,  dass  der  Wille,  sich  vorwärts  zu  beweg'en  oder 
zu  drehen,  aus  welchem  die  Extremitäten  ihre  motorischen  An- ■ 
regung'en  schöpfen,  die  ja  durch  besondere  Innervationen  noch 
modificirt  werden  können,  verhältnissmässig  einfacher  Natur 
ist.  Es  bestehen  hier  wohl  ähnliche,  wenn  auch  complicirtere 
Verhältnisse ,  wie  jene  bei  den  Augenbewegungen ,  welche 
Hering  so  glücklich  durchschaut  hat,  worauf  wir  alsbald  zu- 
rückkommen. 

Man  wird  kaum  fehl  gehn,  wenn  man  annimmt,  dass  die 
vom  Labyrinth  aus  erregten,  verhältnissmässig  einfachen  Be- 
wegungsempfindungen ^)  mit  dem  Willen,  sich  zu  bewegen,  im 
engsten  Zusammenhange  stehen.  Diese  Bewegung"sempfindungen 
möchten  auch  den  von  RiehP)  postulirten,  bezw.  von  ihm  ge- 
suchten Richtungsgefühlen  entsprechen.  Sie  sind  dem  Blin- 
den ebenso  eigen  wie  dem  Sehenden,  und  bilden  wohl  mit  eine 
wichtige  Grundlage  des  Verständnisses  des  Tastraums. 

Ich  habe  eine  Reihe  von  Beobachtungen  über  optische  und 
Bewegungsempfindungen  in  den  Ausdruck  zusammengefasst:  „Es 
sieht  so  aus,  als  ob  der  sichtbare  Raum  sich  in  einem 
zweiten  Raum  drehen  würde,  den  man  für  unverrückt 
fest  hält,  obgleich  letzteren  nicht  das  mindeste  Sicht- 
bare kennzeichnet."  Der  auf  die  Bewegungsempfindungen 
aufgebaute  Raum  scheint  in  der  That  das  Ursprüngliche  zu 
sein  ^). 

Befangen  in  physikalischer  Denkweise,  war  ich  geneigt  zu 
glauben,    dass    die   Empfindungen    der    Progressivbeschleunigung 


i)  a.  a,  S.   124. 

2)  Riehl,  Der  philosophlsclie  Kriticismus,   Bd.   2,  S.    143. 

3)  Bewegungsempfindungen  S.   26. 


III 


sich  vollkommen  analog  verhalten  den  Empfindungen  derWinkel- 
beschleunig'ung.  In  der  That  werden  jedem  Physiker,  der  sich 
mit  unserem  Geg-enstand  beschäftigt,  sofort  die  drei  Gleichungen 
für  die  drohende,  und  die  drei  Gleichungen  für  die  fortschreitende 
Bewegung  eines  Körpers  in  den  Sinn  kommen.  Ausserdem 
glaubte  ich,  entsprechend  dem  Princip  der  specifischen  Energ-ie, 
besondere  Empfindungen  der  Kopflage  vermuthen  zu  dürfen. 
Breuer^)  hat  durch  eine  spätere  Untersuchung  wahrscheinlich 
gemacht,  dass  die  Empfindungen  der  Progressivbeschleunigung 
sehr  viel  rascher  verschwinden  als  jene  der  Winkelbeschleunigung, 
beziehungsweise,  dass  vielleicht  das  Org'an  der  ersteren,  wenig- 
stens beim  Menschen,  verkümmert  ist.  Ferner  findet  Breuer, 
ausser  den  Bogengängen  B,  nur  noch  den  Otolithenapparat  O 
mit  seinen  den  Bog'engan geben en  entsprechenden  Gleitebenen 
geeignet,  Progressivbeschleunig-ungen  und  Lagen  zugleich  zu 
signalisiren.  Die  drei  Schwerecomponenten  nach  den  drei  Gleit- 
ebenen characterisiren  die  Lage  des  Kopfes.  Jede  Aenderung 
der  Lage  ändert  die  Componenten  und  setzt  zugleich  den  Bogen- 
gangapparat momentan  in  Function.  Progressivbeschleunigungen 
ändern  diese  Componenten  ebenfalls,  ohne  den  Bogengangapparat 
zu  beanspruchen.  Demnach  würden  nach  Breuer  die  drei  Com- 
binationen:  O  allein,  O  -j-  B,  und  B  allein  für  die  Unterscheidung 
aller  Fälle  genügend.  Diese  Auffassung  wäre  also,  wenn  sie  sich 
bewährt,  eine  bedeutende  Vereinfachung'. 

Wäre  ich  überhaupt  noch  in  der  Lage  zu  experimentiren, 
so  würde  ich  die  Bewegungsempfindungen  an  sich  nochmals  von 
Grund  aus  untersuchen.  Der  Unterschied  in  dem  Verhalten  der 
Empfindungen  ^  der  Winkel-  und  Progressivbeschleunigungen 
scheint  mir  jetzt  bedeutend.  Die  Drehbeschleunigung  löst  eine 
Empfindung  aus,  welche  lang-e  nachdem  die  Beschleunigung-  Null 
geworden  in  abnehmender,  quantitativ'^)  zu  verfolgender  Stärke 
fortbesteht.    Die  Progressivbeschleunigung  wird  rein  nur  beim 


i)  Breuer,    Ueber    die    Function    des    Otolithen-Apparates.      Pflüger's  Archiv, 
XLVI,  S.    195. 

2)  Bewegungsempfindungen,  S.   96,  Versuch   2. 


112        

verticalen  beschleunigten  Fallen  oder  Steigen  empfunden.  Ver- 
schwindet die  Beschleunigung,  so  ist  auch  die  Empfindung  rasch 
vernichtet.  Das  einfachste  Mittel,  eine  constante  Beschleunigung 
von  constanter  Richtung  g'egen  den  Leib  zu  erzeug'en,  ist  die 
gleichförmige  Rotation.  Wir  empfinden  die  gleichförmige 
Drehung  bald  nicht  mehr.  Aber  auch  die  constante  Centrifugal- 
beschleunigung  ruft  nicht  die  Illusion  des  Fortfliegens  nach  deren 
Richtung',  sondern  die  Empfindung  einer  geänderten  Lage  her- 
vor, welche  mit  jener  Centrifugalbeschleunigung'  zugleich  wieder 
verschwindet.  Erschöpft  sich  also  die  constane  Progressivbeschleu- 
nigung als  Reiz,  oder  ändert  die  Empfindung  beim  Constant- 
werden  des  Reizes  ihren  Character?  Dann  müssten  doch  zwei 
Elemente  in  derselben   vermuthet  werden. 

Nicht  die  gleichförmige  Bewegung,  sondern  lediglich  die 
Beschleunigung-  wird  empfunden.  Den  Elementen  der  Aende- 
rung  der  Progressiv-  und  Winkelgeschwindigkeiten  entsprechen 
Elemente  der  Bewegungsempfindung'en,  von  welchen  wenigstens 
die  Letzteren  in  langsam  abnehmender  Stärke  persistiren,  und 
übrigens  so  wie  jene  algebraisch  summirbar  sind,  so  dass  einer 
(gewöhnlich  von  der  Geschwindig^keit  Null  an)  in  kurzer  Zeit  ein- 
geleiteten Bewegamg-  eine  der  totalen  Geschwindigkeitsänderung', 
also  der  erreichten  Geschwigdigkeit  v,  entsprechende  Empfindung  q 
zugeordnet  ist^).  Die  Menge  der  vorbeigeführten  Gesichts-  oder 
Tasteindrücke  wächst  nun  mit  q  und  mit  der  /.  Es  darf  uns  da- 
her nicht  wundern,  dass  die  Erfahrung'  uns  q  als  eine  Geschwin- 
digkeit und  Q.t  als  einen  Weg  begrifflich  interpretirten  lehrt, 
wenngleich  q  an  sich  natürlich  mit  eineni  räumlichen  Maassbegriff 
gar  nichts  zu  schaffen  hat.  Es  scheint  mir  hiermit  ein  paradoxer 
Rest  beseitigt,  welcher  mich  noch  1875  in  der  Auffassung  der 
Bewegungsempfindungen  störte,  und  welcher,  wie  ich  sehe,  auch 
Andere  gestört  hat.'-). 


i)  a.   a.   O.    116  u.    f<,'. 
2)  a.   a.   O.   S.    122   (10) 


—      113      — 

9- 
Die  folgenden  Versuche  und  Ueberlegungen,  welche  an  eine 
ältere  Mittheilung  anknüpfen  i),  werden  vielleicht  die  richtige  Aut- 
fassung dieser  Erscheinungen  fördern.  Wir  stellen  uns  auf  eine 
Brücke  und  betrachten  das  unter  derselben  durchfliessende  Wasser. 
Dann  empfinden  wir  gewöhnlich  uns  in  Ruhe,  das  Wasser  aber 
in  Bewegung".  Längeres  Hinblicken  auf  das  Wasser  hat  aber 
bekanntlich  fast  regelmässig  zur  Folge,  dass  plötzlich  die  Brücke 
mit  dem  Beobachter  und  der  ganzen  Umgebung  dem  Wasser 
entgegen  in  Bewegung  zu  gerathen  scheint,  während  umgekehrt 
das  Wasser  den  Anschein  der  Ruhe  gewinnt'-).  Die  relative 
Bewegung  der  Objecte  ist  in  beiden  Fällen  dieselbe,  und  es 
rauss  demnach  einen  triftigen  ph3^siologischen  Grund  haben, 
warum  bald  der  eine,  bald  der  andere  Theil  der  Objecte  bewegt 
empfunden  wird.  Um  dies  bequem  untersuchen  zu  können,  habe 
ich  mir  einen  einfachen  Apparat  con- 
struirt,  der  in  Figur  18  dargestellt  ist. 
Ein  einfach  gemusterter  Ledertuchlauf- 
teppich wird  horizontal  über  zwei  2  m 
lange,  3  m  von  einander  in  Lagern  be- 
festigte Walzen  gezogen  und  mit  Hülfe 
einer  Kurbel  in  gleichmässige  Bewegung 
gesetzt.  Quer  über  den  Teppich,  etwa  30  cm  über  demselben, 
ist  ein  Faden  ff  mit  einem  Knoten  K  gespannt,  der  dem  bei  A 
aufgestellten  Beobachter  als  Ruhepunkt  für  das  Auge  dient. 
Folgt  der  Beobachter  mit  den  Aug'en  den  Zeichnungen  des 
im  Sinne  des  Pfeiles  bewegten  Teppichs,  so  sieht  er  diesen  in 
Bewegung,    sich   und    die  Umgebung  aber  ruhig.     Fixirt  er  hin- 


1)  a.   a.   O.   S.   85. 

2)  Derartige  Eindrücke  erhält  man  bekanntlich  in  der  mannigfaltigsten  Form, 
wenn  man  sich  zwischen  mehreren  theils  bewegten,  theils  ruhenden  Eisenbahnzügen 
befindet.  —  Als  ich  einmal  auf  der  Elbe  mittelst  Dampfschiffs  einen  Ausflug  unter- 
nahm, hatte  ich  unmittelbar  vor  der  Landung  den  überraschenden  Eindruck,  als  ob 
das  Schiff  stünde,  und  die  ganze  Landschaft  sich  demselben  entgegenbewegte,  was 
nach  den  folgenden  Auseinandersetzungen   unschwer  verständlich  ist. 

Mach,  Analyse.     3.  Aiifl.  8 


—      114      — 

gegen  den  Knoten,  so  glaubt  er  alsbald  mit  dem  ganzen  Zimmer, 
dem  Pfeile  entgegen,  in  Bewegung  zu  gerathen,  während  er  den 
Teppich  für  stillstehend  hält.  Dieser  Wechsel  des  Anblicks  voll- 
zieht sich  je  nach  der  Stimmung-  in  längerer  oder  kürzerer  Zeit, 
gewöhnlich  nach  einigen  Secunden.  ,  Weiss  man  einmal,  worauf 
es  ankommt,  so  kann  man  ziemlich  rasch  und  willkürlich  mit  den 
beiden  Eindrücken  wechseln.  Jedes  Verfolgen  des  Teppichs  bringt 
den  Beobachter  zum  Stehen,  jedes  Fixiren  von  K  oder  Nicht- 
beachten  des  Teppichs,  wobei  dessen  Zeichnungen  verschwimmen, 
setzt  den  Beobachter  in  Bewegung.  Bezüglich  des  Ausfalls  dieses 
Versuchs  unter  den  ang'egebenen  Umständen  stimmen  mir  zwei 
von  mir  hochg^eschätzte Forscher  nicht  zu.  Der  eine  ist  W.  James^), 
der  andere  Cr  um  Brown-).  Ich  habe  den  Versuch  oft  und  oft 
immer  mit  dem  gleichen  Erfolg'e  angestellt.  Da  ich  gegenwärtig 
nicht  in  der  Lage  bin  zu  experimentiren,  muss  ich  auf  eine  neuer- 
liche Prüfung  verzichten,  für  welche  sich  die  von  Brown  be- 
schriebene Nachbildmethode  empfohlen  würde.  Von  den  Differenzen 
in  der  theoretischen  Auffassung"  des  Versuches  soll  hier  zunächst 
abgesehen  werden. 

lO. 

Die  Erscheinung"  ist  selbstredend  gänzlich  verschieden  von 
der  bekannten  Plateau-Oppel'schen,  die  eine  locale  Netzhaut- 
erscheinung ist.  Bei  dem  obigen  Experiment  bewegt  sich  die 
deutlich  gesehene  ganze  Umgebung,  bei  dem  letztern  Phänomen 
zieht  ein  bewegter  Schleier  über  das  ruhige  Object  hin.  Auch 
die  nebenbei  auftretenden  stereoscopischen  Erscheinungen,  bei 
welchen  z.  B.  der  Faden  mit  dem  Knoten  unter  dem  sich  als 
durchsichtig  darstellenden  Teppich  erscheint,  sind  hier  g"anz  gleich- 
gültig. 

In  meiner  .Schrift  über  „BewegungsemiDfindung"en"  S.  63  habe 
ich  constatirt,  dass  den  Plateau-OppeFschen  Erscheinungen 
ein  besonderer  Process  zu  Grunde  liegt,  der  mit  den  übrig-on  Be- 

i)   W.  James,    Piiiicipics   of  I'sycholfigy,   II,    5  1 2  f f . 

2)   Criim    Brown,   Oii   iioniial   N)-sta<fnuis.      Vcrgl.   S.    105    dieser  Schrift. 


—      115     —  ' 

wegung-sempfindungen  nichts  zu  schaffen  hat.  Es  heisst  daselbst: 
„Dementsprechend  werden  wir  daran  denken  müssen,  dass  mit 
der  Bewegung"  eines  Netzhautbildes  ein  besonderer  Process  er- 
regt wird,  der  in  der  Ruhe  nicht  vorhanden  ist,  und  dass  bei 
entg-egengesetzten  Bewegungen  g^anz  ähnliche  Processe  in  ähnlichen 
Organen  erregt  werden,  welche  sich  aber  gegenseitig  in  der  Art 
ausschliessen,  dass  mit  dem  Eintreten  des  einen  der  andere  er- 
löschen muss,  und  mit  der  Erschöpfung  des  einen  der  andere  ein- 
tritt." —  Dies  scheinen  S.  Exner  und  Vi  er  or  dt  übersehen  zu 
haben,  welche  später  ähnliche  Ansichten  über  denselben  Gegen- 
stand ausg"esprochen  haben. 

1 1. 

Bevor  wir  an  die  Erklärung'  des  Versuches  (Fig".  18)  gehen, 
wollen  wir  denselben  noch  variiren.  Ein  Beobachter,  der  sich  bei 
B  aufstellt,  meint  unter  den  angegebenen  Umständen  mit  seiner 
ganzen  Umg'ebung  nach  links  zu  fliegen.  Wir  bringen  ferner 
über  dem  Teppich  TT,  Fig'ur   19,  einen  g'egen 


S' 


■/^       -n. 


T 


den  Horizont  um  45 ^  geneigten  Spiegel  SS  an 
Durch  ,SS  betrachten   wir  das  Spiegelbild  T'F, 
nachdem   wir  auf  die  Nase  noch  einen  Schirm 
nn  g"esetzt  haben,  welcher  dem    Auge    O   den     - 
direkten    Anblick    von    TT    entzieht.     Bewegt  Figur  19. 

.sich  TT  im  Sinne  des  Pfeiles,  während  wir  das 
Spiegelbild  K'  von  K  fixiren,  so  glauben  wir  alsbald  mit  dem 
ganzen  Zimmer  zu  versinken,  bei  umgekehrter  Bewegung  glauben 
wir  hingegen  wie  in  einem  Luftballon  zu  steigen  ^).  Endlich  gehören 
hierher  noch  die  Versuche  mit  der  Papiertrommel,  welche  ich 
bereits  beschrieben  habe  -),  und  auf  die  auch  die  nachfolgende  Er- 
klärung anzuwenden  ist.  Alle  diese  Erscheinungen  sind  keine 
rein  optischen,  sondern  sie  sind  von  einer  unverkennbaren 
Bewegungsempfindung    des    ganzen    Körpers    begleitet. 

1)  Derartige  Erscheinungen  treten  oft  ganz  ungesucht  auf.  Als  einmal  im 
Wmter  bei  Windstille  und  starkem  Schneefall  meine  kleine  Tochter  am  Fenster  stand, 
rief  sie  plötzlich,   sie  steige  mit  dem  ganzen   Hause  in   die   Höhe. 

2)  Bcwegungsenipfinduiigen   S.   85. 


1 16 


12. 

Wie  haben  wir  nun  unsere  Gedanken  einzurichten,  um  in 
denselben  die  besprochenen  Thatsachen  in  einfachster  Weise  dar- 
zustellen ?  Bewegte  Objecte  üben  bekanntlich  einen  besondern 
Bewegungsreiz  auf  das  Auge  aus,  ziehen  die  Aufmerksamkeit 
und  den  Blick  auf  sich.  Folgt  ihnen  der  Blick  wirklich,  so 
müssen  wir  nach  allem  bisher  Besprochenen  annehmen,  dass  die 
Objecte  bewegt  erscheinen.  Soll  das  Auge  trotz  der  bewegten 
Objecte  auf  die  Dauer  ruhig  bleiben,  so  muss  der  von  denselben 
ausgehende  constante  Bewegungsreiz  durch  ein  constanten,  dem 
motorischen  Apparat  des  Auges  zufliessenden  Innervationsstrom 
compensirt  werden,  ganz  so,  als  wäre  der  ruhige  fixirte  Punkt 
gleichmässig  entgegengesetzt  bewegt,  und  als  wollte  man  dem- 
selben mit  den  Augen  folgen.  Tritt  dies  aber  ein,  so  muss  alles 
fixirte  Unbewegte  bewegt  erscheinen.  Dass  dieser  Innervations- 
strom immer  mit  bewusster  Absicht  eingeleitet  werde,  wird 
kaum  nothwendig  sein,  wenn  er  nur  von  demselben  Centrum  aus 
und  auf  denselben  Wegen  verläuft,  von  welchen  das  willkürliche 
Fixiren  ausgeht. 

Um  die  zuvor  besprochenen  Erscheinungen  zu  beobachten, 
bedarf  es  gar  keiner  besondern  Vorkehrungen.  Wir  sind  vielmehr 
immer  von  denselben  umgeben.  Ich  schreite  durch  einen  einfachen 
Willensact  vorwärts.  Meine  Beine  vollführen  ihre  Schwingamgen, 
ohne  dass  ich  mich  besonders  darum  kümmere,  und  meine  Augen 
sind  fest  auf  das  Ziel  gerichtet,  ohne  sich  von  den  durch  das  Aus- 
schreiten bewegten  Netzhautbildern  ablenken  zu  lassen.  Mit  einem 
Willensact  ist  alles  dies  eingeleitet,  und  dieser  Willensact  selbst 
ist  die  Empfindung  der  Vorwärtsbewegung.  Derselbe  Process, 
oder  doch  ein  Theil  desselben,  wird  auch  auftreten  müssen,  sollen 
die  Augen  dem  Reize  einer  Masse  von  bewegten  Objecten  dauernd 
widerstehen.  Daher  die  Bewegungsempfindung  bei  den  obigen 
Versuchen. 

Beobachten  wir  ein  Kind  auf  einen)  Eisenbahnzuge,  so  folgen 
dessen  Augen  fast  unnusgesetzt  in  zuckender  Bewegung  den  äussern 


-      117     — 

Objecten,  welche  ihm  zu  laufen  scheinen.  Auch  der  Erwachsene 
hat  die  g-leiche  Empfindung,  wenn  er  sich  den  Eindrücken  zwanglos 
hingibt.  Eahre  ich  vorwärts,  so  dreht  sich,  aus  naheliegenden 
Gründen,  der  ganze  Raum  zu  meiner  Linken  um  eine  sehr  ferne 
verticale  Axe  im  Sinne  des  Uhrzeigers,  der  ganze  Raum  zu  meiner 
Rechten  ebenso  umgekehrt.  Erst  wenn  ich  dem  Verfolgen  der 
Objecte  widerstehe,  tritt  für  mich  die  Empfindung  der  Vor- 
wärtsbewegung auf. 

13- 
Meine  Ansichten  über  Bewegungsempfindungen  sind  be- 
kanntlich mehrfach  angefochten  worden,  wobei  allerdings  die  Pole- 
mik immer  nur  gegen  die  H3^pothese  gerichtet  war,  auf  welche 
ich  selbst  keinen  besondern  Werth  gelegt  habe.  Dass  ich  sehr 
gern  bereit  bin,  meine  Ansichten  nach  Maassgabe  der  bekannt 
gewordenen  Thatsachen  zu  modificiren,  dafür  mag  eben  die  vor- 
liegende Schrift  den  Beweis  liefern.  Ich  will  die  Entscheidung" 
darüber,  wieweit  ich  das  Richtige  getroffen  habe,  mit  Beruhigung 
der  Zukunft  überlassen.  Andererseits  möchte  ich  nicht  unbemerkt 
lassen,  dass  sich  auch  für  die  von  mir,  Breuer  und  Brown  auf- 
gestellte Ansicht  günstige  Beobachtungen  ergeben  haben.  Hierher 
gehören  zunächst  die  von  Dr.  Guye  (in  Amsterdam)  gesammelten 
Erfahrungen  (Du  Vertigo  de  Meniere.  Rapport  lu  dans  la  section 
d'otologie  du  congres  periodique  international  de  sciences  medi- 
cales  a  Amsterdam,  I879).  Guye  beobachtete  bei  Erkrankungen 
des  Mittelohres  reflectorische  Kopfdrehungen  beim  Einblasen  von 
Luft  in  die  Trommelhöhle,  und  fand  einen  Patienten,  der  genau 
den  Sinn  und  die  Anzahl  der  Drehungen  angeben  konnte,  welche 
er  beim  Einspritzen  von  Flüssigkeiten  empfunden  hatte.  Professor 
Crum  Brown,  on  a  case  of  dyspeptic  vertigo  (Proceedings  of 
the  Royal  Society  of  Edinburgh  1881-82)  beschreibt  einen  an 
sich  beobachteten  interessanten  Fall  von  pathologischem  Schwindel, 
welcher  sich  in  seiner  Gesammtheit  durch  eine  gesteigerte  Inten- 
sität und  verlängerte  Dauer  der  jeder  Drehung  folgenden  Em- 
pfindung erklären  Hess.  —  Am  merkwürdigsten  sind  aber  die  Be- 


.—     ii8     — 

obachtungen  von  William  James  (the  seise  of  dizzines  in  deaf- 
mutes.  American  Journal  of  Otology.  Volume  IV,  Octoben  1882.) 
James  fand  eine  relative  vorwiegende  auffallende  Unempfindlich- 
keit  der  Taubstummen  geg'en  den  Drehschwindel,  häufig  eine 
grosse  Unsicherheit  des  Ganges  derselben  bei  geschlossenen 
Augen,  und  in  manchen  Fällen  eine  überraschende  Desorientirung- 
beim  Untertauchen  unter  Wasser,  wobei  Beängstigung  und 
gänzliche  Unsicherheit  über  das  Oben  und  Unten  eintrat.  Diese 
Beobachtungen  sprechen  sehr  dafür,  dass  bei  den  Taubstummen, 
wie  es  nach  meiner  Auffassung  zu  erwarten  war,  der  eigentliche 
Gleichgewichtssinn  sehr  zurücktritt,  und  dass  dieselben  die  beiden 
andern  orientirenden  Sinne,  den  Gesichtssinn  und  den  Muskel- 
sinn (welcher  letztere  beim  Versinken  im  Wasser  mit  der  Auf- 
hebung' des  Körpergewichtes  alle  Anhaltspunkte  verliert),  desto 
nöthiger  haben. 

Die  Ansicht  ist  nicht  haltbar,  dass  wir  zur  Kenntniss  des 
Gleichgewichtes  und  der  Bewegungen  nur  durch  die  Halbcirkel- 
kanäle  gelangen.  Höchst  wahrscheinlich  haben  vielmehr  auch 
niedere  Thiere,  denen  das  entsprechende  Organ  ganz  fehlt, 
Bewegungsempfindungen.  Es  war  mir  bisher  nicht  möglich,  in 
dieser  Richtung  Versuche  anzustellen.  Die  Versuche  aber,  w^elche 
Lubbock  in  seiner  Schrift  über  „Ameisen,  Bienen  und  Wespen" 
(Leipzig,  Brockhaus,  1883,  S.  220)  beschrieben  hat,  werden  mir 
durch  die  Annahme  von  Bewegungsempfindungen  viel  verständ- 
licher. Da  möglicherweise  Anderen  derartige  Versuche  näher 
liegen,  ist  es  vielleicht  nicht  unnütz,  wenn  ich  einen  Apparate  be- 
spreche, den  ich  (Anzeiger  der  Wiener  Akademie,  30.  December 
1875)  schon  kurz  beschrieben  habe.  Andere  Apparate  dieser  Art 
sind  später  von  Govi  und  Ewald  construirt  worden.  Man  hat 
sie  nachher  Cyclostaten   genannt. 

Der  Apparat  dient  dazu,  das  Verhalten  von  Thieren  bei 
rascher  Rotation  derselben  zu  beobachten.  Da  nun  das  Bild  durch 
die  Rotation  verwischt  wird,  so  muss  die  passive  Rotation  optisch 
aufgehoben  und  ausgeschaltet  werden,  so  dass  die  activen  Be- 
wegung-en  des  Thieres  allein  übrig  bleiben  und  beobachtbar  werden. 


—      iig     — 

Man  erreicht  die  optische  Aufliebung  der  Rotation  einfach  da- 
durch, dass  man  über  der  Scheibe  der  Centrifugalmaschine  genau 
um  dieselbe  Axe  mit  Hilfe  einer  Zahnradübertragung  ein  Reflex- 
ionsprisma  mit  der  halben  Winkelgeschwindigkeit  der  Scheibe 
und  in  demselben  Sinne  rotiren  lässt. 


n 


A 


Figur  20. 

Die  Figur  20  gibt  eine  Ansicht  des  Apparates.  Auf  der 
Scheibe  der  Centrifugalmaschine  befindet  sich  ein  Glasbehälter  g, 
in  welchem  die  zu  beobach- 
tenden Thiere  eingeschlossen  ^ 
werden.  Durch  eine  Zahnrad- 
übertragung Vv^ird  das  Ocular  o 
mit  der  halben  Winkelge- 
schwindigkeit und  in  dem- 
selben Sinne  wie  g  gedreht. 
Die  folgende  Figur  zeigt  die  '  '^ 
Verzahnungin  einer  besondern 
Darstellung.  Das  Ocular  O  O  und  der  Behälter  gg  drehen  sich 
um  die  Axe  A  A,  während  ein  Paar  von  Zahnrädern,  die  fest  mit 
einander  verbunden  sind,   sich  um  BB  drehen.     Der  Radius  des 


Figur  21. 


I20       

2 ;' 
Zahnrades  aa  sei  =  r,  dann  ist  r  jener  von  bb,  —  jener  von   cc, 

3 

/IT 

jener  von  rt'ß^  aber  =  — ,    womit    das    A^erlangte    Geschwindigkeits- 

3 
verhältniss  von  oo  und  gg  erzielt  ist. 

Um  den  Apparat  zu  centriren,  legt  man  auf  die  Bodenscheibe 
des  Behälters  einen  mit  Stellschrauben  versehenen  Spiegel  S  und 
justirt  denselben  so,  dass  beim  Rotiren  die  Bilder  in  demselben 
ruhig  bleiben.  Dann  steht  er  senkrecht  auf  der  Rotation saxe  des 
Apparates.  Einen  zweiten  kleinen  Spiegel  S ,  dessen  Belegung 
ein  kleines  Loch  L  enthält,  bringt  man  an  dem  leeren  Ocularrohr 
mit  der  spiegelnden  Fläche  nach  unten  so  an,  das  bei  der  Rotation 
die  Bilder  unbewegt  bleiben,  die  man  durch  das  Loch  hindurch 
in  dem  Spiegelbilde  von  S'  in  S  sieht.  Dann  steht  S'  senkrecht 
auf  der  Ocularaxe.  Nun  bringt  man,  was  nach  einigen  Versuchen 
leicht  gelingt,  mit  Hilfe  eines  Pinsels  auf  dem  Spiegel  S  einen 
Punkt  P  an,  welcher  beim  Rotiren  seine  Lage  nicht  ändert,  und 
stellt  das  Loch  im  Spiegel  S'  so,  dass  es  bei  der  Rotation  eben- 
falls an  Ort  und  Stelle  bleibt.  Hierdurch  sind  Punkte  der  beiden 
Rotationsaxen  gewonnen.  Stellt  man  nun  das  Ocular  (mit  Hilfe 
von  Schrauben)  so^  dass  man,  durch  das  Loch  in  S'  hindurch- 
sehend, den  Punkt  P  auf  S  und  das  Spiegelbild  von  L  in  S  (oder 
eigentlich  die  vielen  Spiegelbilder  von  P  und  L)  in  Deckung 
sieht,  so  sind  die  beiden  Axen  nicht  nur  parallel,  sondern  sie 
fallen  auch  zusammen. 

Als  Ocular  könnte  man  in  der  einfachsten  Weise  einen 
Spiegel,  dessen  Ebene  die  Axe  enthält,  anwenden,  und  ich  habe 
dies  bei  dem  ersten  Rudiment  meines  Apparates  auch  gethan. 
Allein  man  verliert  hierdurch  die  Hälfte  des  Gesichtsfeldes.  Ein 
total  reflectirendes  Prisma  ist  deshalb  viel  vortheilhafter.  lx\  der 
Figur  22  stelle  ABC  einen  ebenen  Schnitt  senkrecht  zu  der  Hypo- 
thenusenfläche  und  den  Kathetenflächen  des  total  reflectirenden 
Ocularprismas  vor.  Dieser  Schnitt  enthalte  zugleich  die  Rotations- 
axe  ONPQ,  welche  parallel  zu  A  B  ist.  Der  Strahl,  welcher 
nach  der  Axe  QP  fortgeht,  muss  nach  der  Brechung  und  Re- 
flexion im  Prisma  wieder  nach  der  Axe  A-^  O  fortgehen  und  das 


121 


Figur   2  2. 


(in  der  Axe  befindliche)  Auge  O  treffen. 
Wenn  dies  erfüllt  ist,  können  die  Punkte 
der  Axe  bei  der  Rotation  keine  Verschieb- 
ung erfahren  und  der  Apparat  ist  cen- 
trirt.  Der  betreffende  Strahl  muss  also 
den  Mittelpunkt  M  von  A  B  treffen  und 
schneidet  demnach,  weil  er  unter  dem  In- 
cidenzwinkel  von  45  ^  auf  Crown  glas  fällt 
AB  unter  etwa  16*^  40'.  Hiernach  muss 
OP  um  etwa  0.115.  AB  von  der  Axe 
abstehen,  welches  Verhältniss  am  besten 
empirisch  hergestellt  wird,  indem  man  das 
Prisma  im  Ocular  so  verschiebt,  dass 
Schwankungen  der  Objecte  in  gg  bei 
der  Rotation  wegfallen. 

Die  Figur  22  macht  zugleich  das  Gesichtsfeld  für  das  Auge 
in  O  ersichtlich.  Der  Strahl  OA  (welcher  eben  senkrecht  auf 
A  C  fällt)  wird  an  A  B  nach  A  C  reflectirt  und  geht  nach  S.  Der 
Strahl  OR  hingegen  wird  bei  B  reflectirt  und  tritt  gebrochen 
nach  T  aus. 

Der  Apparat  erwies  sich  bei  meinen  bisherigen  Versuchen 
in  jeder  Beziehung  als  ausreichend.  Bringt  man  ein  gedrucktes 
Blatt  nach  gg,  und  rotirt  so  rasch,  dass  dessen  Bild  ganz  verwischt 
wird,  so  kann  man  die  Schrift  durch  das  Ocular  bequem  lesen. 
Die  Umkehrung  wegen  der  Spiegelung  könnte  beseitigt  werden, 
wenn  man  ober  dem  rotirenden  Ocularprisma  ein  zweites  festes 
Reflexionsprisma  anbringen  würde,  welche  Complication  mir  aber 
unnöthig  schien. 

Bisher  habe  ich,  ausser  einigen  physikalischen  Versuchen,  nur 
Rotationsversuche  mit  verschiedenen  kleinen  Wirbelthieren  (Vögeln, 
Fischen)  angestellt,  und  meine  (in  der  Schrift  über  „Bewegungs- 
empfindungen" angegebenen)  Daten  durchaus  bestätigt  gefunden. 
Es  wäre  aber  wohl  auch  förderlich,  wenn  man  mit  Insecten  und 
andern,  namentlich  niederen  Thieren  (Seethieren)  ähnliche  Ver- 
suche durchführen  würde. 


122        

Seither  sind  solche  Versuche,  die  sich  als  recht  lehrreich  er- 
wiesen haben,  von  Schäfer  (Naturwissenschafliche  Wochenschrift, 
No.  25,  i8gi),  von  Loeb  (Heliotropismus  der  Thiere,  Würzburg 
'1890,  vS.  117)  u.  a.  ausgeführt  worden.  Was  ich  gegenwärtig  sonst 
noch  über  den  Orientirungssinn  zu  sagen  hätte,  findet  sich  in 
meinem  Vortrag  ,,Ueber  Orientirungsempfindungen"  (Schriften  des 
Vereins  zur  Verbreitung  naturwissenschaftlicher  Kenntnisse  in 
Wien,  1897,  auch  „Populär  scientific  lectures",  3.  edit.,  1898).  Ins- 
besonderemöchte ich  aber  hinweisen  auf  Breuer's  Untersuchungen 
über  die  Otohthenapparate,  Pollak's  und  Kreidl's  Versuche  an 
Taubstummen,  Kreidl's  Experimente  an  Krebsen,  vor  allem  aber 
auf  das  grundlegende  Werk  von  Ewald  „Ueber  das  Endorgan 
des  Nervus  octavus",  Wiesbaden   1892^). 

14- 
Ohne  den  Thatsachen  Gewalt  anzuthun,  welche  in  meiner 
Schrift  über  Bewegungsempfindungen  beschrieben  sind,  legen  die 
eben  besprochenen  Beobachtung-en  die  Möghchkeit  nahe,  die  Auf- 
fassung dieser  Thatsachen  zu  modificiren,  wie  wir  dies  im  Folgen- 
den andeuten  wollen.  Es  bleibt  höchst  wahrscheinlich,  dass  ein 
Organ  im  Kopfe  existirt,  wir  wollen  es  das  Endorgan  {EO)  nennen, 
welches  auf  Beschleunigungen  reagirt,  und  durch  dessen  Ver- 
mittlung wir  zur  Kenntniss  von  Bewegungen  gelangen.  Mir 
selbst  erscheint  die  Existenz  von  Bewegungsempfindungen  von  der 
Natur  der  Sinnesempfindungen  nicht  zweifelhaft,  und  ich  kann 
kaum  verstehn,  wie  Jemand,  der  die  fraglichen  Versuche  an  sich 
selbst  wirklich  wiederholt  hat,  diese  Empfindungen  leugnen  kann. 
Statt  sich  aber  vorzustellen,  dass  das  Endorgan  besondere  Be- 
wegungsempfindungen erregt,  welche  von  diesem  Apparat  wie 
von  einem  Sinnesorgan  ausgehen,  könnte  man  auch  annehmen, 
dass  dasselbe  lediglich  reflectorisch  Innervationen  auslöst.  Inner- 
vationen können  willkürlich  und  bewusst  oder  unwillkürlich  und 
unbewusst  sein.      Die  beiden  verschiedenen  Organe,    von  welchen 

I)  Ich  kann  nur  erwähnen,  dass  mir   während   des    Drucks    eine  Arbeit   zukam 
von  N.  Ach,  über  die  Otolithenfunction  und  den  Labyrinthtoniis.   PfKigers  Archiv  1901. 


—        123       — 

sie  ausg'ehen,  bezeichnen  wir  mit  W/  und  UI.  Beide  können 
auf  den  oculomotorischen  {021)  und  den  locomotorischen  Apparat 
{LM)  übergehen. 

Betrachten   wir  nun  das  nebenstehende  Schema.    Wir  leiten 
im  Sinne  des  glatten  Pfeiles   willkürlich,  also  von    WI  aus,    eine 
active  Beweg'ung  ein,   welche  sich 
im  Sinne  der  glatten  Pfeile  auf  OM 
und  LM  überträgt.    Die  zugehörig'e 
Innervation,  deren  Antecedens  oder 
Consequens  empfinden  wir  unmittel- 
bar.     Eine   besondere   hiervon    ver- 
schiedene    Bewegungsempfindung 
wäre  also  in  diesem  Fall   unnöthig. 
Ist  nun  die  Bewegung  im  Sinne  des 

glatten  Pfeiles  eine  (uns  überraschende)  passive,  so  gehen  er- 
fahr ungsmässig  von  EO  über  6^/ Reflexe  aus,  welche  compen- 
sirende  Bewegungen  hervorbringen,  was  wir  durch  die  gefiederten 
Pfeile  andeuten.  Betheiligt  sich  IVI  nicht,  und  gelingt  die  Com- 
pensation,  so  fällt  hiermit  auch  die  Bewegung  und  die  Forderung- 
einer Beweg'ungsempfindung  weg.  Wird  aber  die  compensirende 
Bewegung  von  IVI  aus  (absichtlich)  unterdrückt,  so  ist  hierzu 
wieder  dieselbe  Innervation  wie  bei  der  activen  Bewegung  nöthig, 
und  sie  liefert  auch  wieder  die  gieiche  Bew^egaingsempfindung. 

Das  Organ  E  O  ist  also  zu  IV I  und  UI  so  gestimmt,  dass 
in  den  beiden  letzteren  mit  denselben  Bewegungsreiz  des  ersteren 
entgegengesetzte  Innervationen  zusammentreffen.  Ausserdem  haben 
wir  aber  noch  folgende  Verschiedenheit  in  der  Beziehung'  von 
EO  z\i  WI  und  UI  zu  bemerken.  Für  E  O  ist  der  Bewegungs- 
reiz natürlich  derselbe,  ob  die  eingeleitete  Bewegung'  eine  passive 
oder  active  ist.  Auch  bei  einer  activen  Bewegung  würden  die  von 
WI  ausgehenden  Innervationen  in  ihrem  Erfolg  durch  E  O  und 
£// aufgehoben,  wenn  nicht  zugleich  von  WI  mit  der  willkürlichen 
Innervation  eine  Hemmung  nach  EO  oder  UI  ausginge.  Den 
Einfluss  von  EO  auf  WI  haben  wir  uns  viel  schwächer  vorzu- 
stellen, als  jenen  auf  UI.    Denken  wir  uns  etwa  drei  Thiere   WI, 


—       124       — 

UI  und  E  O,  welche  die  Arbeit  so  getheilt  hätten,  dass  das  erste 
nur  iVngr  iffs-,  das  zweite  nur  Abwehr-  oder  Fluchtbewegunge 
ausführte,  während  das  dritte  als  Wächter  aufgestellt  wäre,  mit 
einander  zu  einem  neuen  Wesen  verbunden,  wobei  WI  eine 
dominirende  Stellung  einnähme,  so  würde  dies  ungefähr  dem  dar- 
gestellten Verhältniss  entsprechen.  Es  wird  sich  auch  manches 
zu  Gunsten  einer  derartigen  Auffassung  der  höheren  Thiere  an- 
führen lassen  ^). 

Ich  will  das  eben  Ausgesprochene  nicht  für  ein  vollständiges 
und  nach  allen  Seiten  zutreffendes  Bild  der  Thatsachen  ausgeben, 
bin  mir  vielmehr  der  Mängel  meiner  Ausführung  bewusst.  Das 
dem  entwickelten  Hauptgrundsatz  (S.  48)  entsprechende  Streben 
aber,  alle  Raum-  und  Bewegungsempfindungen,  welche 
im  Gebiete  des  Gesichts-  und  Tastsinnes,  bei  der  Ortsbe- 
wegung, als  Schatten  selbst  bei  der  Erinnerung  an  die 
Locomotion,  beim  Gedanken  an  einen  fernen  Ort  u.  s.  w. 
auftreten,  auf  einerlei  Empfindungsqualität  zurückzu- 
führen, wird  man  gerechtfertigt  finden.  Die  Annahme,  dass  diese 
Empfindungsqualität  der  Wille  sei,  soweit  er  sich  auf  Raumlage 
und  räumliche  Bewegung  bezieht,  oder  die  Innervation,  präjudicirt 
der  weitern  Forschung-  nicht,  und  stellt  nur  die  Thatsachen  dar, 
soweit  sie  bis  jetzt  bekannt  sind  ^). 

15- 
Aus  den  Erörterungen  des  vorigen  Kapitels  über  Symmetrie 
und  Aehnlichkeit  können  wir  ohne  weiteres  den  Schluss  ziehen, 
dass  gleichen  Richtungen   gesehener   Linien  gleichartige  Inner- 
vationen, zur  Medianebene  symmetrischen  Linien  sehr  ähnliche 


i)  Wenn  ich  einen  kleinen  Vogel  mit  der  Hand  anfassen  will,  so  benimmt 
er  sich  dieser  Hand  gegenüber  gerade  so,  wie  sich  etwa  ein  Mensch  gegen  einen 
riesigen  Tintenfisch  verhalten  würde.  —  Bei  Betrachtung  einer  Gesellschaft  kleiner 
Kinder,  deren  Bewegungen  noch  wenig  überlegt  und  geübt  sind,  machen  namentlich 
die  Hände  und  die  Augen  sehr  stark  den  Eindruck  polypenartiger  Wesen.  Selbst- 
verständlich können  solche  Eindrücke  keine  wissenschaftliche  Frage  entscheiden,  es 
kann   aber  sehr  anregend   sein,  sich   denselben   zeitweilig  hinzugeben. 

2j  Vcrgl.  die  Ansicht  von  Hering  in  Hermann's  Handbuch  der  Physiologie, 
Bd.   UJ,    I.  Tb.,  S.   547. 


—        12,5        — 

Innervationen,  dem  Blick  nach  oben  und  unten,  in  die  Ferne 
und  in  diö  Nähe  aber  sehr  verschiedene  Innervationen  ent- 
sprechen, was  nach  den  Symmetrieverhältnissen  des  motorischen 
Apparates  der  Augen  grössentheils  auch  von  vornherein  zu  er- 
warten ist.  Hiermit  allein  ist  schon  eine  ganze  Reihe  eigenthüm- 
licher  physiologisch-optischer  Phänomene  aufklärt,  die  bisher  kaum 
beachtet  worden  sind.  Ich  komme  nun  aber  zu  dem,  nach  physi- 
kalischer Schätzung  wenigstens,  wichtig'sten  Punkt. 

Der  Raum  des  Geometers  ist  ein  Vorstellungsgebilde  von 
dreifacher  Mannigfaltigkeit,  welches  sich  auf  Grundlage  von 
manuellen  und  intellectuellen  Operationen  entwickelt  hat.  Der 
optische  Raum  (Herin g's  Sehraum)  steht  in  einer  ziemlich  com- 
plicirten  geometrischen  Verwandschaft  zu  dem  vorigen.  Man 
kann  mit  Hülfe  bekannter  Ausdrücke  die  Sache  noch  am  besten 
darstellen,  wenn  man  sagt,  dass  der  optische  Raum  den  geo- 
metrischen (Euklides'schen)  in  einer  Art  Reliefperspecti ve 
abbilde,  w^as  sich  teleologisch  auch  erklären  lässt.  Jedenfalls  ist 
aber  auch  der  optische  Raum  eine  dreifache  Mannigfaltigkeit. 
Der  Raum  des  Geometers  zeigt  in  jedem  Punkte  und  nach  allen 
Richtungen  dieselben  Eigenschaften,  was  vom  physiologischen 
Raum  durchaus  nicht  gilt.  Der  Einfluss  des  physiologischen 
Raumes  ist  aber  in  der  Geometrie  noch  vielfach  zu  bemerken. 
Wenn  wirz.  B.  convexe  und  concave  Krümmung  unterscheiden, 
so  ist  dies  ein  solcher  Fall.  Der  Geometer  sollte  eig"entlich  nur 
die  Abweichung  vom   Mittel  der  Ordinaten  kennen. 

i6. 
So  lange  man  sich  vorstellt,  dass  die  (12)  Augenmuskel  ein- 
zeln innervirt  werden,  ist  man' nicht  im  Stande  die  fundamentale 
Thatsache  zu  verstehen,  dass  der  optische  Raum  als  dreifache 
Mannigfaltigkeit  sich  darstellt.  Ich  habe  diese  Schwierigkeit  Jahre 
lang  gefühlt  und  auch  die  Richtung  erkannt,  in  welcher  nach  dem 
Princip  des  Parallelismus  des  Physischen  und  Psychischen  die  Auf- 
klärung zu  suchen  ist;  die  Auflösung  selbst  blieb  mir  wegen  mangel- 
hafter Erfahrung  auf  diesem  Gebiet  verborgen.    Desto  besser  weiss 


126       — 

ich  Hering' s  Verdienst  zu  schätzen,  der  dieselbe  gefunden  hat. 
Den  drei  optischen  Raumcoordinanten,  Höhen-,  Breiten- und  Tiefen- 
empfindung (Hering',  Beiträge  zur  Physiologie.  Leipzig,  Engel- 
mann, 1861  —  65)  entspricht  nämlich  nach  den  Ausführungen  des- 
selben Forschers  (Die  Lehre  vom  binocularen  Sehen.  Leipzig,  Eng'el- 
mann,  1868)  auch  nur  eine  dreifache  Lmervation,  welche  be- 
ziehungsweise Rechts-  oder  Linkswendung,  Erhebung  oder  Senkung 
und  Convergenz  der  Augen  hervorruft.  Darin  liegt  für  mich  die 
wichtigste  und  wesentlichste  Aufklärung  ^).  Ob  man  nun  die  Inner- 
vation selbst  für  die  Raumempfindung-  hält,  oder  sich  vor  oder 
hinter  derselben  erst  die  Raumempfindung-  vorstellt,  was  sofort  zu 
entscheiden  weder  leicht  noch  nothwendig  sein  dürfte,  jedenfalls 
wirft  die  Hering'sche  Darlegung  ein  ausgiebiges  Licht  in  die 
psychische  Tiefe  des  Sehprocesses.  Auch  die  in  Bezug-  auf  S3''mme- 
trie  und  Aehnlichkeit  von  mir  ang-eführten  Erscheinung-en  füg-en 
sich  dieser  Auffassung  sehr  gut,  was  weiter  auszuführen  wohl 
unnöthig  ist  -). 


i)  Dies  ist  der  Punkt,  aut  welchen  oben  (S.  97  Anmerkung  i  und  S.  110)  hin- 
gewiesen wurde. 

2)  Hiermit  verschwindet  auch  die  Schwierigkeit,  die  ich  noch  187 1  empfand, 
und  in  meinem  Vortag  über  ,,die  Symmetrie",  Prag,  Calve  (1872)  mit  den  AVorten 
aussprach:  ,,Wenn  nun  auch  von  Geburt  Einäugige  ein  gewisses  Gefühl  für  Symmetrie 
haben,  so  ist  dies  frcilicli  ein  Rätlisel.  Freiiicli  kann  das  Symmetriegefülif ,  wenn 
aucli  zunäclist  durcli  die  Augen  erworben,  niclit  auf  diese  beschränkt  bleiben.  Es 
muss  sich  wohl  auch  noch  in  andern  Theilen  des  Organismus  durch  mehrtausendjährige 
Uebung  des  Menschengeschlechtes  festsetzen  und  kann  dann  niclit  mit  dem  Verlust 
des  einen  Auges  sofort  wieder  verschwinden."  — In  der  That  bleib  t  der  symmetrische 
I nn er vationsap parat,   auch  wenn  das   eine  Auge  verloren  geht. 


VITL  Der  Wille. 


Im  Vorigen  wurde  vielfach  der  Ausdruck  „Wille"  gebraucht 
und  es  sollte  damit  nur  ein  allgemein  bekanntes  psychisches  Phä- 
nomen bezeichnet  werden.  Ich  verstehe  unter  dem  Willen  kein 
besonderes  psychisches  oder  metaphysisches  Agens,  und 
nehme  keine  eigene  psychische  Causalität  an.  Ich  bin  vielmehr 
mit  der  überwiegenden  Zahl  der  Physiologen  und  modernen  Psycho- 
logen überzeugt,  dass  die  Willenserscheinungen  aus  den  organisch- 
physischen Kräften  allein,  wie  wir  kurz  aber  allgemein  verständlich 
sagen  wollen,  begreiflich  sein  müssen.  Ich  würde  dies  als  selbst- 
verständlich gar  nicht  besonders  betonen,  wenn  nicht  die  Be- 
merkungen mancher  Kritiker  bewiesen  hätten,  dass  es  doch 
nöthig  ist. 

Die  Beweg'ungen  niederer  Thiere,  nicht  minder  die  ersten 
Bewegungen  der  Neugebornen,  werden  unmittelbar  durch  den 
Reiz  ausgelöst,  erfolgen  ganz  maschinenmässig',  sind  Reflex- 
bewegungen. Auch  in  spätem  Lebensstadien  der  höhern  Thiere 
fehlen  solche  Reflexbewegungen  nicht,  und  wenn  wir  Gelegenheit 
haben  dieselben,  etwa  die  Sehnenreflexe,  an  uns  zum  ersten  Mal 
zu  beobachten,  so  sind  wir  von  denselben  nicht  minder  überrascht, 
als  von  irgend  einem  unerwarteten  Ereigniss  in  unserer  Umg'ebung, 
Das  beschriebene  Verhalten  des  jungen  Sperling's  beruht  auf  Reflex- 
bewegungen. Das  junge  Hühnchen  pickt  ganz  maschinenmässig 
nach  allem,  was  es  sieht,  so  wie  das  Kind  nach  allem  Auffallen- 
den greift,  und  andererseits  die  Glieder  vor  jeder  unangenehmen 
Berührung  ohne  Mitwirkung  des  Intellects  zurückzieht.  Es  bestehen 


~     128    — 

eben  organische  Einrichtungen,  welche  die  Erhaltung  des  Organis- 
mus bedingen.  Folgen  'wir  den  Ansichten  von  Hering  über  die 
lebendige  Substanz,  wonach  diese  dem  Gleichgewicht  der  anta- 
gonistischen Vorgänge  in  derselben  zustrebt,  so  müssen  wir  eine 
solche  Erhaltungstendenz  schon  den  Elementen  der  Organismen 
zuschreiben. 

Sinnliche  Reize  können  durch  Erinnerungsbilder  theil- 
weise  oder  ganz  vertreten  werden.  Alle  im  Nervensystem  zurück- 
bleibenden Gedächtnissspuren  wirken  mit  den  Sinnesempfindungen 
reflexauslösend,  fördernd,  hemmend,  modificirend  zusammen.  So 
entsteht  die  willkürliche  Beweg'ung",  welche  wir  als  eine  durch  Er- 
innerungen modificirte  Reflexbewegung  wenigstens  im  Princip 
begreifen  können,  soviel  auch  an  dem  Verständniss  im  Einzelnen 
noch  fehlen  mag.  Das  Kind,  welches  sich  einmal  an  der  glänzen- 
den Flamme  gebrannt  hat,  ergreift  dieselbe  nicht  mehr,  weil  der 
Angriffsreflex  durch  den  antagonischen  Fluchtreflex,  welchen  die 
Schmerzerinnerung  auslöst,  gehemmt  ist.  Das  Hühnchen  pickt 
anfangs  nach  allem,  wählt  aber  bald  unter  dem  Einflüsse  der 
theils  hemmenden,  theils  fördernden  Geschmackserinnerung.  Der 
allmäliche  Uebergang  der  Reflexbewegung  in  die  Willkürhandlung 
ist  an  unserm  Sperling  (S.  60)  sehr  schön  zu  verfolgen.  Für  das 
reflectirende  Subject  liegt  das  Characteristische  der  Willkürhandlung 
zum  Unterschiede  von  der  Reflexbewegung  darin,  dass  es  das  Be- 
stimmende derselben  in  den  eigenen  Vorstellungen  erkennt, 
welche  diese  Handlung  aniticipiren  (S.   78). 

2. 

Die  psychischen  Vorgänge,  welche  die  Willkürhandlung,  die 
willkürliche  Bewegung  begleiten,  sind  von  W.  James  ^)  und 
H.  Münsterberg  2)  vortrefflich  analysirt  worden.  Es  scheint 
eine  einfache  und  natürliche  Ansicht,  dass  die  wirkliche  Bewegung 
an  die  vorgestellte  sich  ebenso  associirt,  wie  eine  Vorstellung  an 
die  andere.     Bezüglich  der  Emptindungen  aber,  der  Art,  des  Aus- 


i)  James,   Psycliologie,   II,   486   ff'. 

2)   Münsterberg,   Die    Willenshandlung,    1888. 


I  2  9       — 

maasses,  der  Anstrengung  der  Bewegung,  welche  mit  Ausführung 
der  Bewegung  verbunden  sind,  stehen  sich  zwei  Ansichten  gegen- 
über. Die  eine  von  Bain,  Wundt,  Helmholtz  u.  A.  ver- 
tretene nimmt  an,  dass  die  auf  die  Muskel  abgehende  Inner- 
vation selbst  empfunden  wird.  Anderer  Meinung  sind  James 
und  Münsterberg.  Sie  halten  alle  kinästhetischen,  die  Be- 
wegung begleitenden  Empfindungen  für  peripherisch  durch 
sensible  Elemente  in  der  Haut,  dem  Muskel,  den  Gelenken  erregt. 

Gegen  den  centralen  Ursprung  der-  kinästhetischen  Em- 
pfindungen sprechen  vor  allem  die  Beobachtungen  an  Anästhe- 
tischen ^),  welche  bei  Ausschluss  der  Sinnesempfindungen  über  die 
passive  Bewegung  ihrer  Glieder  nichts  auszusagen  wissen,  obgleich 
sie  dieselben  unter  Leitung  des  Gesichtssinnes  zu  bewegen  ver- 
mögen. Die  Anstrengung  eines  faradisirten  Muskels  empfinden 
wir  gerade  so,  wie  jene  eines  willkürlich  innervirten  ^).  Die  An- 
nahme besonderer  Innervationsempfmdungen  ist  zur  Erklärung  der 
Erscheinungen  unnöthig,  daher  nach  dem  Princip  der  Sparsamkeit 
zu  vermeiden.  Endlich  werden  solche  Innervationsempfindungen 
auch  nicht  direct  beobachtet.  Eine  besondere  Schwierigkeit  bilden 
gewisse  optische  Erscheinungen,  auf  die  wir  noch  zurück- 
kommen. 

Das  Gesetz  der  Association  verbindet  nicht  nur  ins  Bewusst- 
sein  fallende  Processe  (Vorstellungen),  sondern  auch  die  verschie- 
denartigsten organischen  Vorgänge.  Wer  in  der  Verlegenheit 
leicht  erröthet,  wer  leicht  an  den  Händen  schwitzt  u.  s.  w.,  be- 
obachtet diese  Processe  meist  sofort  an  sich,  sobald  er  an  die- 
selben erinnert  wird.  Ein  Blendungsbild,  welches  sich  Newton^) 
zum  Zwecke  des  Studiums  durch  Blicken  in  die  Sonne  verschafft 
hatte,  verschwand  zwar  wieder,  trat  aber  trotz  mehrtägigen 
Aufenthalts  im  Dunkeln  durch  mehrere  Monate  hindurch  immer 
wieder  mit  voller  sinnlicher  Intensität  hervor,  sobald  er  sich 
desselben    erinnerte.      Nur    durch   lange    fortgesetzte    gewaltsame 

1)  Jaraes,   a.   a.   O.   II,   489. 

2)  James,   a.  a.   O.  II,   502. 

3)  King's  Life  of  Locke,  1830,  Vol.  I,  p.  404.  —  Brewster,  Memoirs  of 
Newton,    1855,  Vol.  I,   p.  236. 

Mach,  Analyse.    3.  Aufl.  " 


-       I30     — 

psychische  Ablenkung  konnte  er  die  lästige  Erscheinung  wieder 
los  werden.  Eine  ähnliche  Beobachtung-  theilt  Boyle  in  seinem 
Buch  über  die  Farben  mit.  Zusammengehalten  mit  diesen  That- 
sachen  erscheint  die  Association  motorischer  Processe  an  Vor- 
stellungen nicht  befremdlich. 

3- 
Durch  einen  apoplectischen  Anfall,  den  ich  ohne  die  geringste 
Bewusstseinstrübung  erlitten  habe,  bin  ich  mit  einem  Theil  der 
hier  in  Betracht  kommenden  Thatsachen  vertraut  geworden.  Auf 
einer  Eisenbahnfahrt  merkte  ich  plötzlich,  ohne  sonstiges  Uebel- 
befinden,  eine  vollständige  Lähmung  des  rechten  Armes  und  Beines, 
welche  intermittirte,  so  dass  ich  mich  zeitweilig  anscheinend  wieder 
ganz  normal  bewegen  konnte.  Nach  einigen  Stunden  blieb  dieselbe 
dauernd,  und  es  gesellte  sich  auch  eine  Affection  des  rechten  Fa- 
cialis hinzu,  welche  mir  nur  leises  und  etwas  erschwertes  Sprechen 
gestattete.  Meinen  Zustand  während  der  Perioden  der  vollständigen 
Lähmung  kann  ich  nur  so  bezeichnen,  dass  ich  sage:  ich  fühlte 
keine  Anstrengung-  bei  der  Absicht  die  Glieder  zu  bewegen,  konnte 
aber  in  keiner  Weise  den  Willen  zur  Bewegung  aufbringen. 
In  den  Perioden  der  unvollständigen  Lähmung  und  in  der  Zeit 
der  Reconvalescenz  hingegen  schienen  mir  Arm  und  Bein  un- 
geheure Lasten,  die  ich  mit  der  grössten  Anstrengung  erhob. 
Es  scheint  mir  sehr  plausibel,  dass  dies  von  der  energischen 
Innervation  anderer  Muskelgruppen  neben  jenen  der  gelähmten 
Extremitäten  herrührte  ^).  Die  Sensibilität  der  gelähmten  Glieder, 
mit  Ausnahme  einer  Stelle  am  Schenkel,  war  vollständig  erhalten, 
wodurch  auch  die  Kenntniss  der  Lage  und  der  passiven  Be- 
wegung vermittelt  wurde.  Die  Reflexerregbarkeit  der  gelähmten 
Glieder  fand  sich  enorm  gesteigert,  was  sich  namentlich  durch 
heftiges  Zucken  beim  leichtesten  Erschrecken  äusserte.  Die 
optischen  und  haptischen  Bewegungsbilder  verblieben  im 
Gedächtniss.  Sehr  oft  des  Tages  wollte  ich  mit  der  rechten 
Hand  etwas  verrichten  und  musste  mich  erst  auf  die  Unmöglich- 
keit, dies  zu  thun,  besinnen.    Lebhafte  Träume  v^on  Ciavierspielen 


i)  James,  a.  a.   Ü.   II,   503. 


—      131      — 

und  Schreiben,  begleitet  von  Verwunderung,  wie  gut  das  wieder 
von  Statten  gehe  und  gefolgt  von  bitterer  Enttäuschung  beim 
Erwachen,  sind  auf  dieselbe  Quelle  zurückzuführen.  Auch  motorische 
Hallucinationen  kamen  vor.  Ich  meinte  oft  ein  Oeffnen  und 
Schliessen  der  gelähmten  Hand  zu  empfinden,  wobei  die  Ex- 
cursionen  wie  durch  einen  weiten,  aber  steifen  Handschuh  ein- 
geschränkt schienen.  Daraufsehen  überzeugte  mich  aber,  dass 
jede  Spur  von  Bewegung  fehlte.  Ueber  die  Strecker  dieser  Hand 
habe  ich  noch  jetzt  (nach  3  Jahren)  keine  Herrschaft. 

4. 

Die  Auffassung  von  James  und  Münsterberg  schliesst 
sich  diesen  Thatsachen,  wie  ich  glaube,  ohne  Zwang  an,  und  wir 
dürfen  sie  daher  im  Wesentlichen  für  richtig  halten.  Nicht  die 
Innervation  wird  empfunden,  sondern  die  Folgen  derselben 
setzen  neue  peripherische  sensible  Reize,  welche  an  die  Ausfüh- 
rung der  Bewegung  gebunden  sind.  Einige  Schwierigkeiten 
hindern  mich  jedoch  zu  glauben,  dass  mit  dieser  Ansicht,  welche 
ursprünglich  auch  die  meinige  ^)  war,  der  Sachverhalt  voll- 
ständig durchschaut  ist. 

Man  sollte  meinen,  dass  der  centrale  Process,  welcher  die 
blosse  Vorstellung  einer  Bewegung  bedingt,  doch  in  etwas  sich 
von  demjenigen  unterscheiden  müsste,  der  auch  eine  wirkliche 
Bewegung  auslöst.  Allerdings  kann  die  Stärke  des  Processes, 
das  Fehlen  antagonistischer  Vorgänge,  die  Ladung  der  Inner- 
vationscentren,  mitbestimmend  sein,  doch  wird  man  ein  Bedürfniss 
nach  weiterer  Aufklärung  kaum  in  Abrede  stellen.  Insbesondere 
muss  der  Unterschied  im  Verhalten  der  Augenmuskel  und 
der  übrigen  willkürlich  erregbaren  Muskel  näher  untersucht  werden. 
Die  meisten  Muskel  haben  variable  Arbeiten  zu  verrichten,  deren 
Betrag  ungefähr  zu  kennen  für  uns  von  praktischer  Wichtigheit 
ist.  Die  Arbeit  der  Augenmuskel  ist  im  Gegentheil  nur  gering 
und  immer  genau  an  die  Stellung  der  Augen  gebunden,  welche 
letztere  allein   von   optischer  Bedeutung   ist,    während   die  Arbeit 

I)  Bevor  mir  die  Erscheinungen  bei  Lähmung  der  Augenmuskel  bekannt  waren 

(vor  1863), 

9* 


—      132     — 

als  solche  gleichgültig  ist.  Daher  mögen  die  kin ästhetischen 
Empfindungen  bei  den  Muskeln  der  ,  Extremitäten  eine  so  viel 
grössere  Rolle  spielen. 

5- 
Von  wie  geringer  Bedeutung  die  von  den  Augenmuskeln  aus- 
gehenden Empfindungen  sind,  hat  Hering  i)  g'ezeigt.  Gewöhnlich 
achten  wir  kaum  auf  die  Bewegungen  unserer  Augen,  und  die 
Lage  der  Objecto  im  Räume  bleibt  von  dieser  Bewegung  un- 
beeinflusst.  Stellt  man  sich  zw^ei  mit  den  beweglichen  Netzhäuten 
sich  deckende  Kugelflächen  vor,  welche  im  Räume  fest  bleiben, 
während  sich  die  Netzhäute  drehen,  so  könnte  man  bei  flüchtiger 
Ueberlegung  sogar  glauben,  dass  die  Raumwerthe  der  gesehenen 
Objecto  nur  durch  die  beiden  Abbildungsorte  auf  den  festen 
Kugeln  bestimmt  seien.  DieS.  loi  erwähnten Thatsachen  nöthigen 
aber,  diese  Raumwerthe  in  zwei  Componenten  zu  zerlegen,  deren 
eine  von  den  Coordinaten  des  Bildpunktes  auf  der  Netzhaut,  deren 
andere  von  den  Coordinaten  des  Blickpunktes  abhängt,  und  welche 
Componenten  bei  willkürlichen  Aenderungen  des  Blickpunktes 
sich  gegenseitig  compensirende  Aenderungen  erfahren  -).  Wenn 
man  nun  eine  Empfindung-  der  Innervation  nicht  annimmt,  den 
peripherisch  erregten  kinästhetischen  Empfindungen  der  Augen- 
muskel aber  die  Bedeutung  abspricht,  so  bleibt  allerdings  nur  übrig, 
(mit  Hering)  den  Ort  der  Aufmerksamkeit  als  durch 
einen  bestimmten  psychoph3^sischen  Process  bedingt 
anzusehen,  der  zugleich  das  physische  Moment  ist, 
welches  die  entsprechende  Innervation  der  Augen- 
muskel auslöst^).  Dieser  Process  ist  aber  doch  ein  centraler, 
und  die  „Aufmerksamkeit"  von  dem  „Willen  zu  sehen"  doch  kaum 


1)  Hering  in  Hermann's  Handbuch  der  Physiologie,  III,  i,  547.  Vgl. 
auch  Hillebrand,  Verhältniss  der  Accomodation  und  Convergenz  zur  Tiefeniocalisation. 
Zeitschr.   f.   Psych,  u.   Phys.   d.   Sinnesorgane,   VII,   S.   97    fg. 

2)  Vgl.  S.  94;  Hering,  a.  a.  O.  533,  534.  —  Ob  die  Ansieht,  dass  die 
Aenderung  der  Raumwerthe  sofort  mit  dem  Wechsel  der  Aufmerksamkeit  vollzogen 
ist,  mit  der  S.  103 — 4  erwähnten  Thatsache  in  Einklang  gebracht  werden  kann,  vermag 
ich  jetzt  nicht  zu  entscheiden. 

3)  Hering,  a.  a.  O.   547,   548, 


—      133      — 

verschieden.  Somit  könnte  ich  meinen  Ausdruck  S.  103  im  Wesent- 
lichen doch  festhalten,  denn  welcher  von  der  Reihe  der  vom  Centrum 
aus  erregten  und  ablaufenden  Processe  in  die  Empfindung  eingeht, 
kann  für  manche  Frage  zunächst  dahingestellt  bleiben. 

6. 

In  der  S.  123  versuchten  Erklärung  könnte  man  nach  dem 
Obigen  die  beiden  antagonistischen  Innervationen  durch  zwei 
antagonistische  Aufmerksamkeitsprocesse  ersetzen,  einen 
durch  den  sensiblen  Reiz  und  einen  central  erregten.  Der  von 
James  ^)  vorgebrachten  Erklärung  der  Erscheinungen  bei  Augen- 
muskellähmungen, welche  wenigstens  in  der  Form  in  das  be- 
denkliche Fahrwasser  der  „unbewussten  Schlüsse"  einzulenken 
scheint,  könnte  ich  nicht  zustimmen.  Es  handelt  sich  in  dem 
fraglichen  Fall  wohl  um  Empfindungen  und  nicht  um  die  Er- 
gebnisse der  Ueberlegung. 

Die  Augenmuskel  dienen  nur  der  räumlichen  Orientirung, 
die  Muskel  der  Glieder  vorzugsweise  der  mechanischen  Arbeit. 
Es  liegen  also  hier  zwei  extreme  Fälle  vor,  zMdschen  welchen  es 
auch  Mittelfälle  geben  wird.  Sieht  man  das  neugeborene  Hühn- 
chen mit  voller  Sicherheit  picken  und  treffen,  so  kann  man  wohl 
glauben,  dass  dessen  Kopf-  und  Halsmuskel  sich  einigermaassen 
ähnlich  wie  die  Augenmuskel,  als  räumlicher  Orientirungsapparat, 
verhalten.  Die  zuckenden  Kopfbewegungen  vorwärtsschreitender 
Vögel  werden  wohl  wie  die  nystagmischen  Kopfwendungen  bei 
Drehung  im  Interesse  der  Orientirung  ausgeführt.  Ganz  ohne 
Analogie"  zu  den  Augenmuskeln  werden  auch  die  Muskel  der 
Extremitäten  nicht  sein.  Wie  sollten  wir  sonst  die  haptische 
Raumvorstellung  des  Blinden  verstehen?  Es  ist  doch  schwer, 
eine  nativistische  Theorie  des  Sehraumes  mit  einer  empiristischen 
Theorie  des  Tastraumes  zu  vereinigen  -). 


i)  James,   a.   a.   O.   II,   506. 

2)  Vgl.  S.    107,  Anm.   2   u.  S.    i  ro. 


IX.  Eine  biologisch-teleologische  Betrachtung 
über  den  Raum  ^). 


Es  ist  schon  wiederholt  darauf  hingewiesen  worden,  wie 
sehr  sich  das  S3^stem  unserer  Raumempfindungen,  der  physiolo- 
gische Raum,  wenn  wir  so  sagen  dürfen,  von  dem  geometrischen 
Raum  (wir  meinen  hier  den  Euklidischen  Raum)  unterscheidet. 
Dies  gilt  nicht  nur  für  den  Sehraum,  sondern  auch  für  den  hap- 
tischen  Raum  des  Blinden  im  Vergleich  zum  geometrischen 
Raum.  Der  geometrische  Raum  ist  überall  und  nach  allen 
Richtungen  gleich  beschaffen,  unbegrenzt  und  unendlich  (im 
Riemannschen  Sinne).  Der  Sehraum  ist  begrenzt  und  endlich, 
ja  sogar,  wie  der  Anblick  des  abgeplatteten  „Himmelsgewölbes" 
lehrt,  in  verschiedener  Richtvmg  von  ungleicher  Ausdehnung. 
Durch  das  Schrumpfen  der  Körper  bei  Entfernung,  durch  das 
vSchwellen  bei  Annäherung"  derselben  gleicht,  der  Sehraum  viel 
mehr  manchen  Gebilden  der  Metag-eometer  als  dem  Euklidischen 
Raum.  Die  Verschiedenheit  des  „oben"  und  „unten",  des  „vorn" 
und  „hinten",  genau  genommen  auch  des  „rechts"  und  „links", 
theilt  der  haptische  Raum  mit  dem  Sehraum.  Solche  Unter- 
schiede   fehlen    im     geometrischen     Raum.       Der    physiologische 


i 


i)  Dieser  Gegenstand  kann  hier  nicht  avisführlich  erörtert  werden.  Ich  ver- 
weise auf  meine  Artikel  in  „The  Monist",  von  welchen  der  erste  im  April  1901 
erschienen  ist.  —  Die  hier  angedeuteten  physiologischen  Betrachtungen  sind  zum  Theil 
mit  jenen  Wiassaks  verwandt,  welche  er  am  Schluss  seines  schönen  Referates  „über 
die  statischen  Functionen  des  Ohrlabyrinthes"  (Vierteljahrsschrift  für  wissenschaftliche 
Philosophie  XVII,  i,  S.  28)  mittheilt,  nur  nehme  ich  nicht  eine  sondern  zwei 
Reactioncn  auf  die  betreffenden  Reize  an.  Vgl.  auch  die  oben  citirten  Stellen  von 
Hering  und  James,  Psychology  II,  S.  134  u.  f. 


—      135     — 

Raum  verhält  sich  zum  geometrischen  für  den  Menschen  und 
die  Thiere  von  ähnHchem  Bau  ungefähr  wie  ein  triklines  zu 
einem  tesseralen  Medium.  Dies  gilt  für  Menschen  und  Thiere, 
so  lange  diesen  nicht  die  Freiheit  der  Bewegung  und  der  Orien- 
tirung  zukommt.  Mit  der  Beweglichkeit  nähert  sich  der  physio- 
logische Raum  dem  Euklidischen,  ohne  ihn  jedoch  in  der  Ein- 
fachheit seiner  Eigenschaften  vollständig  zu  erreichen.  Mit  dem 
geometrischen  Raum  hat  der  physiologische  gemein  die  drei- 
fache Mannigfaltigkeit  und  die  Continuität.  Der  stetigen  Be- 
wegung eines  Punktes  A  im  geometrischen  Raum  entspricht 
eine  eben  solche  des  Punktes  A'  im  physiologischen  Raum.  Es 
genügt  auf  die  Schwierigkeit  hinzuweisen,  welche  die  Lehre  von 
den  Antipoden  zu  überwinden  hatte,  um  zu  zeigen,  dass  geome- 
trische Raum  Vorstellungen  durch  physiologische  getrübt  werden 
können.  Auch  unsere  abstracteste  Geometrie  bedient  sich  nicht 
rein  metrischer  Begriffe,  sondern  verwendet  noch  physiologische 
Vorstellungen,  wie  Richtung,  Sinn,  rechts,  links  u.  s.  w. 

Um  Physiologisches  und  Geometrisches  reinlich  zu  sondern, 
haben  wir  zu  bedenken,  dass  unsere  Raumempfindungen  be- 
stimmt sind  durch  die  Abhängigkeit  der  Elemente,  die  wir 
ABC  .  .  .  genannt  haben,  von  Elementen  unseres  Leibes  KLM  .  .  ., 
dass  aber  die  geometrischen  Begriffe  sich  ergeben  durch 
räumliche   Vergleichung    der    Körper,    durch    die    Beziehungen 

der  ABC  .  .  .  untereinander. 

t 

2. 

Betrachten  wir  die  Raumempfindungen  nicht  als  isolirte 
Erscheinungen,  sondern  in  ihrem  biologischen  Zusammenhang,  in 
ihrer  biologischen  Function,  so  werden  dieselben,  teleologisch 
wenigstens,  verständlicher.  Sobald  ein  Organ  oder  ein  System 
von  Organen  gereizt  wird,  treten  reflectorisch,  als  Reaction,  im 
allgemeinen  zweckmässige  Bewegungen  ein,  welche  je  nach  der 
Art  des  Reizes  Abwehr-  oder  Angriffsbewegungen  sein  können. 
Einem  Frosch  mögen  z.  B.  nacheinander  verschiedene  Haut- 
stellen   durch    Säuretropfen    gereizt    werden.      Er    wird    auf   jede 


—      136     ~ 

Reizung  mit  einer  specifischen,  der  gereizten  Stelle  entsprechen- 
den Abwehrbewegung  antworten.  Reizung  der  Netzhautstellen 
lösen  den  ebenso  specificirten  Schnappreflex  aus.  Das  heisst: 
Auf  verschiedenen  Wegen  in  den  Organismus  eintretende  Ver- 
änderungen pflanzen  sich  auch  nach  aussen  wieder  auf  ver- 
schiedenen Wegen  in  die  Umgebung'  des  Thieres  fort.  Sollen 
nun  derartige  Reactionen  bei  complicirteren  Lebensbedingungen 
auch  spontan,  d.  h.  auf  einen  leisen  Anstoss  hin,  durch  Erinne- 
rung eintreten,  und  durch  Erinnerungen  modificirbar  sein,  so 
müssen  Spuren,  welche  der  Art  des  Reizes  und  den  gereizten 
Organen  entsprechen,  im  Gedächtniss  zurückbleiben.  Wie  die 
Selbstbeobachtung  lehrt,  erkennen  wir  nicht  nur  die  Gleichheit 
der  Reizqualität  des  Brennens,  welche  Stelle  auch  davon  betroffen 
sei,  sondern  unterscheiden  zugleich  auch  die  gereizten  Stellen. 
Wir  dürfen  also  annehmen,  dass  der  qualitativ  gieichen  Empfin- 
dung ein  diff  er  enter  Bestandtheil  anhaftet,  der  von  der  spe- 
zifischen Natur  des  gereizten  Elementarorgans,  von  der  gereizten 
Stelle,  oder  mit  Hering  zu  reden  von  dem  Ort  der  Aufmerk- 
samkeit abhängt.  So  gewinnt  also  jedes  Sinnesgebiet  sein 
eigenes  Gedächtniss  mit  seiner  eigenen  räumlichen  Ordnung. 
Die  intime  gegenseitige  biologische  Anpassung  einer  Vielheit 
von  zusammenhängenden  Elementarorganen  kommt  eben  in  der 
Raumwahrnehmung  besonders  deutlich  zum  Ausdruck. 

3- 
Wir  nehmen  bloss  eine  Art  von  Bewusstseinselementen  an: 
Empfindungen.  vSofern  wir  räumlich  wahrnehmen,  beruht  dies 
nach  unserer  Auffassung  auf  Empfindungen.  Welcher  Art  diese 
Empfindungen  sind,  und  welche  Organe  hierbei  thätig  werden, 
müssen  wir  dahin  gestellt  sein  lassen.  Wir  denken  uns  ein 
System  von  Elementarorganen  gemeinsamer  embryologischer  Ab- 
stammung natürlich  so  angeordnet,  dass  die  benachbarten  Ele- 
mente die  grösste  ontogenetische  Verwandtschaft  aufweisen,  dass 
diese  aber  mit  deren  Entfernung  abnimmt.  Die  von  der  Indivi- 
dualität des  Organs  allein  abhängige  Organempfindung,  welche 


—      137      — 

dem  Verwandtschaftsgrade  parallel  variirt,  soll  der  Räum- 
ern pfindnng  entsprechen,  von  welcher  wir  die  von  der  Reiz- 
qualität abhängige  Empfindung  als  Sinnesempfindung  unter- 
scheiden. Organempfindung-en  und  Sinnesempfindungen  können 
nur  miteinander  auftreten  i).  Die  sich  gleichbleibenden  Organ- 
empfindungen bilden  aber  den  variirenden  Sinnesenipfindungen 
gegenüber  bald  ein  festes  Register,  in  welches  letztere  ein- 
geordnet werden.  Wir  machen  hier  über  die  Elementarorgane 
nur  ähnliche  Voraussetzungen,  wie  wir  sie  in  Bezug  auf  getrennte 
Individuen  gieicher  Abstammung,  aber  verschiedenen  Grades  der 
Verwandtschaft,  natürlich  finden  würden. 

4- 

Die  Raumwahrnehmung  ist  aus  dem  biologischen  ßedürfniss 
hervorgegangen,  und  wird  auch  aus  diesem  am  besten  zu  ver- 
stehen sein.  Ein  unendliches  System  von  Raumempfindungen 
wäre  für  den  Organismus  nicht  nur  zwecklos,  sondern  auch 
physikalisch  und  physiologisch  unmöglich.  Werthlos  wären  auch 
gegen  den  Leib  nicht  orientirte  Raumempfindungen.  Vortheil- 
haft  ist  auch,  dass  der  Sehraum  für  nähere,  biologisch  wichtigere 
Objecte  die  Empfindungsindices  stärker  abstuft,  während  dafür 
in  Bezug  auf  fernere,  weniger  wichtig'e  Objecte  mit  dem  be- 
grenzten Vorrath  der  Indices  gespart  wird.  Auch  ist  dies  Ver- 
hältniss  das  einzig  physikalisch  mögliche. 

Die  motorische  Organisation  des  Sehapparates  wird  durch 
folgende  Ueberlegung  verständlich.  Die  grössere  Deutlichkeit, 
feinere  Unterscheidung  an  einer  Netzhautstelle  des  Wirbelthier- 
auges  ist  eine  ökonomische  Einrichtung.  Hiemit  ist  eine  dem 
Wechsel  der  Aufmerksamkeit  folgende  Bewegung  der  Augen 
ebenso  als  vortheilhaft,  wie  ein  (irreführender)  Einfluss  der 
willkürlichen  Augenbewegung  auf  die  von  ruhenden  Objecten 
ausgelöste  Raumempfindung  als  nachtheilig  erkannt.  Die  Bild- 
verschiebung   auf    der    ruhenden    Netzhaut,    die    Objectbewegung 


l)  So    werden     auch    die    innern    Organe    erst    dann    empfunden    und  localisirt, 
wenn  deren  Gleichgewichtszustand  überhaupt  gestört  wird. 


—      138      - 

bei  ruhendem  Blick  zu  erkennen,  ist  jedoch  eine  biologische  Noth- 
wendig-keit.  Unnötliig  war  es  nur  für  den  Organismus,  die  Wahr- 
nehmung der  Ruhe  des  Objectes  auch  in  dem  sehr  seUenen  FaH 
zu  sichern,  dass  das  Auge  durch  einen  bewusstseinfremden  Um- 
stand (eine  äussere  mechanische  Kraft,  Muskelzucken)  bewegt 
wird.  Die  obigen  Forderungen  sind  nur  zu  vereinigen,  indem 
bei  willkürlicher  Augenbewegung  die  derselben  entsprechende 
Bildverschiebung  auf  der  Netzhaut  in  Bezug  auf  den  Raumwerth 
durch  die  willkürliche  Bewegung  eben  compensirt  wird.  Hieraus 
folgt  aber,  dass  bei  festgehaltenem  Auge  die  ruhenden  Objecte 
durch  die  blosse  Bewegungsintention  des  Auges  eine  Ver- 
schiebung im  Sehraum  erfahren  müssen.  Durch  das  betreffende  Ex- 
periment (S.  102)  ist  auch  die  zweite  der  beiden  sich  compensiren- 
den  Componenten  direkt  nachgewiesen.  Auf  diesen  organischen 
Einrichtungen  beruht  es,  dass  wir  unter  besonderen  Umständen  mit 
ruhendem  Auge  ruhende  Objecte  bewegt,  mit  fliessenden 
Raumwerthen  sehen,  dass  wir  bewegte  Körper  sehen,  die  doch 
ihre  relative  Lage  gegen  unsern  Leib  nicht  ändern,  die  sich 
weder  entfernen  oder  nähern.  Was  aber  unter  diesen  besondern 
Umständen  paradox  erscheint,  hat  unter  den  gewöhnlichen,  der 
spontanen  Locomotion,  seine  hohe  biologische  Wichtigkeit. 

Die  Verhältnisse  des  haptischen  Raumes  sind  von  gewissen 
Eigenthümlichkeiten  abgesehen  ganz  ähnliche,  wie  jene  des  Seh- 
raums. Der  Tastsinn  ist  kein  P^ernsinn,  womit  das  perspectivische 
Schrumpfen  und  vSchwellen  der  Tastobjecte  entfällt.  Sonst  aber 
begegnen  wir  hier  verwandten  Erscheinungen.  Der  Macula  lutea 
entsprechen  die  Fingerspitzen.  Wir  wissen  es  ganz  wohl  zu  unter- 
scheiden, ob  wir  mit  den  Fingerspitzen  über  ein  ruhendes  Object 
hinstreichen,  oder  ob  sich  ein  Object  über  die  ruhenden  Finger- 
spitzen hinbewegt.  Auch  die  analogen  paradoxen  Erscheinungen 
bei  Drehschwindel  treten  hier  ein.  Sie  waren  schon  Purkinje 
bekam  nt. 

5- 
Allgemein      biologische     Erwägungen     drängen     zu      einer 
homogenen  Auffassung   des  optischen  und   haptischen  Raumes. 


—      139     — 

Ein  neugeborenes  Hühnchen  bemerkt  ein  kleines  Object  und 
blickt  und  pickt  sofort  nach  demselben.  Durch  den  Reiz  wird 
ein  gewisses  Gebiet  des  Sinnesorgans  und  des  Centralorgans  er- 
regt, wodurch  ganz  automatisch  sowohl  die  Blickbewegung  der 
Augenmuskel,  als  auch  die  Pickbewegung-  der  Kopf-  und  Hals- 
muskel ausgelöst  wird.  Die  Erregung  desselben  Nervengebietes, 
das  einerseits  durch  den  geometrischen  Ort  des  physikalischen 
Reizes  bestimmt  ist,  muss  andererseits  als  die  Grundlag'e  der 
Raumempfindung  angesehen  werden.  Aehnlich  wie  jenes  Hühn- 
chen verhält  sich  auch  ein  Kind,  das  einen  glänzenden  Gegen- 
stand bemerkt,  nach  demselben  blickt  und  greift.  Ausser  dem 
optischen  Reizen  können  auch  andere  Reize,  akustische,  thermische, 
Geruchsreize,  selbstverständlich  auch  bei  Blinden,  Greif-  oder 
Abwehrbewegungen  auslösen.  Denselben  Bewegungen  werden 
auch  dieselben  Reizstellen  und  dieselben  Raumempfindungen  ent- 
sprechen. Die  den  Blinden  erregenden  Reize  sind  nur  im  all- 
gemeinen auf  einen  engeren  Umkreis  beschränkt  und  von  weniger 
scharfer  Ortsbestimmung.  Daher  wird  auch  das  System  seiner 
Raumempfindungen  etwas  dürftiger  und  verschwommener  sein, 
und  bei  Mangel  besonderer  Erziehung  auch  bleiben,  Man  denke 
etwa  an  einen  Blinden,  der  eine  ihn  umschwirrende  Wespe 
abwehrt. 

Es  müssen,  wenn  auch  nahe  liegende,  doch  zum  Theil  ver- 
schiedene Gebiete  des  Centralorgans  in  Anspruch  genommen 
werden,  je  nachdem  mich  ein  Object  reizt,  demselben  den  Blick 
zuzuwenden,  oder  dasselbe  zu  ergreifen.  Geschieht  beides  zu- 
gleich, so  ist  das  Gebiet  natürlich  grösser.  Aus  biologischen 
Gründen  werden  wir  erwarten,  dass  die  zwar  verwandten,  wenn 
auch  nicht  identischen,  Ranmempfindungen  verschiedener  Sinnes- 
gebiete associativ  verschmelzen,  und  sich  gegenseitig  unterstützen, 
wie  es  in  der  That  der  Fall  ist. 

Hiemit  ist  das  Gebiet  der  Erscheinungen,  welche  uns  an- 
gehen nicht  erschöpft.  Ein  Hühnchen  kann  nach  einem  Object 
blicken,  nach  demselben  picken,  oder  durch  den  Reiz  sogar  be- 
stimmt  werden,    sich   hinzuwenden,   hinzulaufen.     Ein    Kind, 


—      140     — 

das  nach  einem  Ziel  kriecht,  das  dann  eines  Tages  aufsteht  und 
mit  einigen  Schritten  auf  das  Ziel  zuläuft,  verhält  sich  ebenso. 
Wir  werden  alle  diese  Fälle,  welche  allmälig  in  einander  über- 
gehn,  in  homogener  Weise  auffassen  müssen.  Es  werden  wohl 
immer  gewisse  Hirntheile  sein,  welche  in  verhältnissmässig  ein- 
facher Weise  gereizt,  einerseits  die  Raumempfindungen  bestimmen, 
anderseits  die  zuweilen  recht  complicirten  automatischen  Be-; 
wegungen  auslösen.  Optische,  thermische,  akustische,  chemische, 
galvanische  Reize  können  zu  ausgiebiger  Locomotion  und 
Aenderung  der  Orientirung  anregen,  und  diese  kann  auch  bei 
Thieren,  die  von  Haus  aus  oder  durch  Rückbildung  blind  sind, 
eingeleitet  werden. 

.6. 
Wenn  man  einen  gleichförmig  dahin  kriechenden  Tausend- 
fuss  (Julus)  beobachtet,  kann  man  sich  des  Gedankens  nicht  er- 
wehren, dass  von  irgend  einem  Organ  desselben  ein  gleich- 
massiger  Reizstrom  ausgeht,  der  von  den  Bewegungsorganen  der 
aufeinanderfolgenden  Leibessegmente  mit  rhythmischen  auto- 
matischen Bewegungen  beantwortet  wird.  Durch  den  Phasen- 
unterschied der  hinteren  Segmente  gegen  die  vorderen  entsteht 
die  Longitudinalwelle,  welche  mit  maschinenmässiger  Regelmässig- 
keit durch  die  Füsschen  des  Thieres  dahinzuziehen  scheint. 
Analoge  Vorgänge  bei  höher  organisirten  Thieren  können  nicht 
fehlen,  und  fehlen  auch  nicht.  Wir  weisen  nur  auf  die  Er- 
scheinungen bei  Labyrinthreizungen  hin,  z.  B.  auf  die  bekannten 
nystagmischen  Augenbewegungen,  welche  bei  activer  und  passiver 
Drehung  ausgelöst  werden.  Gibt  es  nun  Organe,  wie  bei  jenem 
Tausendfuss,  durch  deren  einfache  Reizung-  die  complizirten 
Bewegungen  einer  bestimmten  Art  von  Locomotion  eingeleitet 
werden,  so  kann  man  diese  einfache  Reizung,  falls  sie  bewusst 
ist,  als  den  Willen  zu  dieser  Locomotion  ansehn,  oder  als  die 
Aufmerksamkeit  auf  diese  Locomotion,  welche  von  selbst 
letztere  nach  sich  zieht.  Zugleich  erkennt  man  es  als  ein  Be- 
dürfniss  des  Organismus,  den  Effect  der  Locomotion  in  ent- 
sprechend   einfacher    Weise    zu    empfinden.       In    der    That    er- 


—      141      — 

scheinen  jetzt  die  Gesichts-  und  Tastobjecte  mit  varriirenden, 
fliessenden  Raumwerthen,  anstatt  mit  stabilen.  Auch  bei  mög- 
lichstem Ausschluss  von  Gesichts-  und  Tastempfindungen  bleiben 
Beschleunigungsempfindungen  übrig,  welche  Bilder  varriiren- 
der  Raumwerthe,  mit  welchen  sie  oft  verknüpft  waren,  associativ 
hervorrufen.  Zwischen  dem  Anfangs-  und  Endglied  des  Processes 
liegen  die  Empfindungen  der  bewegten  Extremitäten,  die  aber 
gewöhnlich  nur  bei  Eintritt  eines  Hindernisses,  welches  zu  Modi- 
fication  der  Bewegung  nöthigt,  zu  vollem  Bewusstsein  kommen. 
Während  der  als  Ganzes  unbewegte  Mensch  nur  begrenzte, 
örtlich  individuelle,  und  in  Bezug  auf  seinen  Leib  orientirte 
Raumempfindung-en  kennt,  haben  die  bei  Locomotion  und 
Aenderung  der  Orientirung  auftretenden  Sensationen  den  Character 
der  Gleichmässigkeit  und  Unerschöpflichkeit.  Erst  auf 
Grund  aller  dieser  Erfahrungen  kann  eine  Raumvorstellung  sich 
bilden,  die  der  Euklidischen  sich  nähert.  Abgesehen  davon,  dass 
die  erstere  nur  Uebereinstimmungen  und  Verschiedenheiten,  keine 
Grössen,  keine  metrischen  Bestimmungen  kennt,  wird  die  absolute 
Gleichförmigkeit  der  letzteren  wegen  der  Hindernisse,  die  sich 
einer  dauernden  und  ausgiebigen  Desorientirung  gegen  die  Verti- 
cale  in  den  Weg  stellen,  nicht  vollkommen  erreicht. 

7- 
Für  den  thierischen  Organismus  sind  zunächst  die  Be- 
ziehungen der  Theile  des  eigenen  Leibes  zu  einander  von  der 
höchsten  Wichtigkeit.  Fremdes  erhält  nur  dadurch  Werth,  dass 
es  zu  Leibestheilen  in  Beziehung  steht.  Der  niedrigsten  Organisa- 
tion genügen  die  Empfindungen,  darunter  die  Raumempfindungen, 
zur  Anpassung  an  die  primitiven  Lebensbedingungen.  Werden 
aber  diese  Lebensbedingungen  complicirter,  so  drängen  sie  zur 
Entwicklung  des  Intellects.  Dann  gewinnen  die  Beziehungen 
jener  Functional-Complexe  von  Elementen  (Empfindungen)  zu 
einander,  die  wir  Körper  nennen,  ein  indirectes  Interesse. 
Der  räumlichen  Vergleichung  der  Körper  untereinander  ent- 
springt die  (Tcometrie. 


—        142       — 

Förderlich  für  das  Verständniss  der  Entwicklung"  der 
Geometrie  ist  die  Bemerkung,  dass  sich  das  unmittelbare 
Interesse  nicht  an  die  räumlichen  Eigenschaften  allein,  sondern 
an  den  ganzen  beständigen  Complex  von  (materiellen)  Eigen- 
schaften knüpft,  welcher  für  die  Bedürfnissbefriedigung'  von 
Wichtigkeit  ist.  Formen,  Lagen, Entfernungen,. Ausdehnungen  der 
Körper  sind  aber  massg'ebend  für  den  Modus  und  die  Quantität 
der  Bedürfnissbefriedigung.  Die  blosse  Wahrnehmung  (Schätzung, 
Augenmass,  Erinnerung)  erweist  sich  als  zu  sehr  beeinflusst  von 
schwer  controlirbaren  physiologischen  Umständen,  um  darauf  zu 
bauen,  wenn  es  sich  um  das  g'enaue  Urtheil  über  das  räumliche 
Verhalten  der  Körper  g-egen  ein  ander  handelt.  Wir  sind  daher 
genöthigt  nach  zuverlässigem  Merkmalen  an  den  Körper  selbst 
zu  suchen. 

Die  tägliche  Erfahrung  lehrt  uns  die  Beständigkeit  der 
Körper  kennen.  Unter  gewöhnlichen  Umständen  erstreckt  sich 
diese  Beständigkeit  auch  auf  einzelne  Eigenschaften:  Farbe,  Ge- 
stalt, Ausdehnung  u.  s.  w.  Wir  lernen  starre  Körper  kennen, 
die  trotz  ihrer  Beweglichkeit  im  Räume,  sobald  sie  nur  zu  un- 
serem Leib  in  ein  bestimmtes  Verhältniss  gebracht  werden,  beim 
Beschauen  und  Betasten  immer  wieder  dieselben  Raumempfindungen 
auslösen.  Diese  Körper  bieten  räumliche  Substanzialität ^) 
dar,  sie  bleiben  räumlich  constant,  identisch.  Kann  man  einen 
starren  Körper  A  mit  einem  andern  starren  Körper  B,  oder  mit 
dessen  Theilen,  unmittelbar  oder  mittelbar  zur  räumlichen  Deckung 
bringen,  so  bleibt  dies  Verhältniss  immer  und  überall  bestehen. 
Mann  sagt  dann  der  Körper  B  werde  durch  den  Körper  A  ge- 
messen. Bei  dieser  Vergleichung  der  Körper  miteinander 
kommt  es  auf  die  Art  der  Raumempfindungen  gar  nicht  mehr 
an,  sondern  nur  mehr  auf  die  Beurtheilung  ihrer  Identität  unter 
gleichen  Umständen,   die  mit  grosser  Genauigkeit  und  Sicherheit 


i)  Diese  Einsicht  war  gewiss  ein  Privatbesitz  unzähliger  Geometer.  In  der 
ganzen  Anlage  der  Geometrie  Euklids  tritt  sie  deutlich  hervor,  noch  klarer  bei 
Leibnitz,  besonders  in  dessen  ,, geometrischer  Characteristik".  Doch  hat  erst  Helm - 
liollz  eine  (if  fen  tl  iche  Discussion   darübei'  angeregt. 


—      143      — 

stattfindet.  In  der  That  verschwinden  die  Schwankungen  in  den 
Ergebnissen  der  Messung  gegen  jene  der  unmittelbaren  räumlichen 
Beurtheilung  neben  oder  nacheinander  dargebotener  Körper,  worin 
eben  der  Vorzug  und  die  rationelle  Begründung  dieses  Verfahrens 
liegt.  Statt  der  individuellen  Hände  und  Füsse,  die  jeder  mit  sich 
herumführt,  ohne  eine  merkliche  räumliche  Aenderung  an  den- 
selben wahrzunehmen,  wird  bald  ein  allgemein  zugänglicher 
Massstab  gewählt,  welcher  die  Bedingung  der  Unveiänderlichkeit 
in  höherem  Masse  erfüllt,  womit  eine  Aera  grösserer  Genauigkeit 
eingeleitet  ist. 

8. 
Alle  geometrischen  Aufgaben  kommen  auf  Auszählung  zu 
ermittelnder  Räume  durch  gleiche  bekannte  Körper  hinaus. 
Hohlmasse  für  Flüssigkeiten  oder  für  eine  Menge  nahe  gleicher 
dichtliegender  Körper,  dürften  wohl  die  ältesten  Masse  sein. 
Das  Volumen  der  Körper  (die  Menge  der  materiell  erfüllten 
Orte),  welches  beim  Erblicken  und  Ergreifen  bekannter  Körper 
instinktiv  vorgestellt  wird,  kommt  als  Quantität  der  materiellen 
bedürfnissbefriedigenden  Eigenschaften  in  Betracht,  und  bildet  als 
solches  ein  Streitobject.  Die  Messung  der  P'läche  hat  ur- 
sprünglich auch  keinen  andern  Sinn,  als  die  Ermittlung  der 
Menge  gleicher  dichtliegender  Körper,  welche  dieselbe  bedecken. 
Die  Län  g-enmessung,  Auszählung  durch  gleiche  Schnur-  oder 
Kettentheile,  bestimmt  ein  Minimalvolumen,  welches  in  einzig- 
artiger Weise  zwischen  zwei  Punkten  (sehr  kleinen  Körpern)  ein- 
geschaltet werden  kann.  Sieht  man  hiebei  von  einer  oder  zwei 
Dimensionen  der  Masskörper  ab,  beziehungsweise  setzt  man  die- 
selben überall  constant  aber  unendlich  klein,  so  gelangt  man  zu 
den  idealisirten   Vorstellungen   der  Geometrie. 

9- 

Die    Raumanschauung     wird     durch     das    Experiment     mit 

körperlichen     Objecten     bereichert,     indem     sich     an     dieselbe 

metrische  Erfahrungen  knüpfen,  welche  die  Raumanschauung  für 

sich  allein  nicht  zu  g-ewinnen  vermag.     So   lernen    wir    metrische 


—      144      — 

Eigenschaften  längst  bekannter  Formen,  wie  der  Geraden,  der 
Ebene,  des  Kreises  u.  s.  w.  kennen.  Die  Erfahrung  hat  auch, 
nach  dem  Zeugniss  der  Geschichte,  zuerst  zur  Kenntniss  gewisser 
geometrischen  Sätze  g'eführt,  und  gezeigt,  dass  durch  gewisse 
Masse  eines  Objectes  andere  Masse  desselben  Objectes  mit- 
bestimmt sind.  Die  wissenschaftliche  Geometrie  stellte  sich 
die  ökonomische  Aufgabe,  die  Abhängig'keit  der  Masse  von  ein- 
ander zu  ermitteln,  überflüssige  Messungen  zu  ersparen,  und  die 
einfachsten  geometrischen  Thatsachen  aufzusuchen,  durch  welche 
die  andern  als  deren  logische  Folgen  geg'eben  sind.  Da  wir  in 
Gedanken  nicht  die  Natur,  sondern  nur  unsere  eigenen  einfachen 
logischen  Gebilde  beherrschen,  so  mussten  zu  diesem  Zwecke  die 
geometrischen  Grunderfahrungen  begrifflich  idealisirt  werden. 
Nun  steht  nichts  im  Wege,  in  der  anschaulichen  Vorstellung-  vor- 
schreitend, welche  man  an  jene  idealisirten  Erfahrungen  gebunden 
denkt,  im  Gedankenexperiment,  geometrische  Sätze  wiederzufinden. 
Man  verhält  sich  da  durchaus  analog,  wie  in  jeder  Naturwissen- 
schaft. Die  Grunderfahrungen  der  Geometrie  reduciren  sich  nur 
auf  ein  solches  Minimum,  dass  man  sie  nur  allzuleicht  übersieht. 
Man  stellt  sich  Körper  über  Schatten  oder  Gespenster  von  Kör- 
pern hinbewegt  vor,  und  hält  hiebei  in  Gedanken  fest,  dass 
hiebei  die  Abmessungen,  wenn  man  sie  ausführen  würde,  sich 
nicht  ändern.  Die  physischen  Körper  entsprechen  den  Folge- 
rungen soweit,  als  sie  den  Voraussetzungen  genügten. 

Anschauung,  physikalische  Erfahrung  und  begTiffliche  Ideali- 
sirung,  sind  also  die  drei  Momente,  welche  in  der  wissenschaft- 
lichen Geometrie  zusammenwirken.  Die  Ueber-  oder  Unter- 
schätzung des  einen  oder  anderen  Momentes  hat,  die  weit  diver- 
girenden  Ansichten  verschiedener  Forscher  über  die  Natur  der 
Geometrie  veranlasst.  Nur  die  g"enaue  Sonderung  des  Antheiles 
eines  jeden  dieser  Momente  beim  Aufbau  der  Geometrie  kann 
eine  richtige  Auffassung  begründen.  Unsere  im  Interesse  der 
raschen  Locomotion  erworbene  anatomisch-motorisch-symmetrische 
Organisation  bewirkt  z.  B.,  dass  die  Anschauung  uns  die  beiden 
Flälften  eines  räumlichen  symmetrischen  Gebildes  als  aequi- 


—      145     — 

valent  erscheinen  lässt,  was  sie  in  physikalisch-geome- 
trischer Hinsicht  keineswegs  sind,  da  sie  nicht  zur  Congruenz 
gebracht  werden  können.  Physikahsch  sind  sie  so  wenig  äqui- 
valent, als  eine  Bewegung"  der  entgegengesetzten,  eine  Rotation 
der  gegensinnigen  äquivalent  ist.  Kants  darauf  bezügliche  Para- 
doxen rühren  von  einer  ungenügenden  Trennung  der  in  Betracht 
kommenden   Momente  her. 


Mach,  Analyse.     3.  Aufl.  10 


X.  Beziehungen  der  Gesichtsempfindungen  zu  einander 
und  zu  anderen  psychischen  Elementen. 

I. 

Die  Gesichtsempfindungen  treten  im  normalen  psychichen 
Leben  nicht  isolirt  auf,  sondern  mit  den  Empfindungen  anderer 
Sinne  verknüpft.  Wir  sehen  nicht  optische  Bilder  in  einem 
optischen  Raum,  sondern  wir  nehmen  die  uns  umgebenden  Körper 
mit  ihren  mannigfaltigen  sinnlichen  Eig'enschaften  wahr.  Erst  die 
absichtliche  Analyse  löst  aus  diesen  Complexen  die  Gesichts- 
empfindungen heraus.  Allein  auch  die  Wahrnehmungen  ins- 
gesammt  kommen  fast  nur  mit  Gedanken,  Wünschen,  Trieben 
verknüpft  vor.  Durch  die  Sinnesempfindungen  werden  die  den 
Lebensbedingungen  entsprechenden  Anpassungsbewegungen  der 
Thiere  ausgelöst.  Sind  diese  Lebensbedingungen  einfach,  wenig 
und  langsam  veränderlich,  so  wird  die  unmittelbare  Auslösung 
durch  die  Sinne  zureichen.  Höhere  intellectuelle  Entwicklung' 
wird  unnöthig  sein.  Anders  ist  dies  bei  sehr  mannigfaltigen  und 
veränderlichen  Lebensbedingungen.  Ein  so  einfacher  An- 
passungsmechanismus kann  sich  da  nicht  entwickeln,  noch 
weniger  zum  Ziele  führen. 

Niedere  Thiere  verschlingen  alles,  was  in  ihre  Nähe  kommt, 
und  den  entsprechenden  Reiz  ausübt.  Ein  höher  entwickeltes 
Thier  muss  seine  Nahrung  mit  Gefahren  suchen,  die  gefundene 
geschickt  fassen  oder  listig  fangen,  und  vorsichtig  prüfen.  Ganze 
Reihen  von  verschiedenen  Erinnerungen  müssen  vorbeiziehen, 
bevor  eine  den  widerstreitenden  gegenüber  stark  genug  wird, 
die    entsprechende    Bewegung   auszulösen.      Liier   muss    cdso    eine 


—      147      — 

die  Anpassungsbewegungen  mitbestimmende  Summe  von  Er- 
innerungen (oder  Erfahrungen)  den  Sinnesempfindungen  gegen- 
überstehen.    Darin  besteht  der  Intellect. 

Bei  hölieren  Thieren  mit  complicirten  Lebensbedingungen 
sind  in  der  Jug'end  die  Complexe  von  Sinnesempfindungen, 
welche  die  Anpassungsbeweg'ung'en  auslösen,  oft  sehr  zusammen- 
gesetzt. Das  Saugen  der  jungen  Säugethiere,  das  S.  60  be- 
schriebene Verhalten  des  jungen  Sperling's  sind  passende  Beispiele 
hiefür.  Mit  der  Entwicklung-  der  Intelligenz  werden  immer 
kleinere  Theile  dieser  Complexe  zur  Auslösung  hinreichend,  und 
die  Sinnesempfindungen  werden  immer  mehr  und  mehr  durch 
den  Intellect  ergänzt  und  ersetzt,  wie  sich  dies  an  Kindern  und 
heranwachsenden  Thieren  täglich  constatiren  lässt. 

In  der  Auflage  von  1886  habe  ich  in  einer  Anmerkung  vor 
der  damals  noch  verbreiteten  Ueberschätzung  der  Intelligenz  der 
niederen  Thiere  gewarnt.  Meine  Ansicht  beruhte  nur  auf  ge- 
legentlichen Beobachtung-en  über  die  maschinenmässige  Bewegung 
von  Käfern,  den  Lichtflug  der  Motten  u.  s.  w.  Seither  sind  die 
wichtigen  Arbeiten  von  J.  Loeb  erschienen,  welche  die  Ansicht 
auf  eine  solide  experimentelle  Basis  gestellt  haben.  Man  ist 
gegenwärtig  eher  geneigt,  die  niederen  Thiere  als  Maschinen  im 
Descartesschen  Sinne  aufzufassen.  Die  Interpretation,  welche 
A.  Bethe  ')  seinen  interssanten  Beobachtungen  und  Experimenten 
über  Ameisen  und  Bienen  gibt,  werden  allerdings  von  Wasmann  2) 
und  H.  V.  Buttel-Reepen^)  bestritten,  allein  es  scheint  auf  beiden 
Seiten  vielleicht  doch  etwas  Vorurtheil  im  Spiel  zu  sein.  Ich  kenne 
manche    der  überraschenden   Thatsachen,  die  Bethe  •^)   beschreibt, 


i)  Dürfen  wir  den  Ameisen  und  Bienen  psychische  Qualitäten  zuschreiben? 
Pilügers  Archiv,  Bd.  70,  S.  17.  —  Noch  einmal  über  die  psychischen  Qualitäten  der 
Ameisen.     Ebendaselbst  Bd.   79,  S.  39. 

2)  Die  psychischen  Fähigkeiten  der  Ameisen.     Stuttgart   1899. 

3)  Sind  die  Bienen  Reflexmaschinen?     Leipzig    1900. 

4)  Hiezu  gehören  die  Ei  scheinungen  der  Desorientirung  bei  geringer  Verdrehung 
des  Flugloches.  Bei  stärkerer  Verschiebung  des  Hausthores  würde  ja  auch  „homo 
sapiens"  sich  etwas  desorienlirt  fühlen.  —  Ich  halte  es  nicht  für  unmöglich,  dass 
weitere  Experimente  im  Sinne   Bethes  sogar  zu  neuen  physikalischen  Aufschlüssen 

10* 


aus  eigener  Anschauung,  da  ich  in  meiner  Jugend  Gelegenheit 
hatte  Bienen  zu  beobachten.  Der  Eindruck  des  Maschinenmässigen 
ist  überwiegend.  Es  scheint  mir  aber  unmöglich  die  Mitwirkung 
eines  rudimentären  Gedächtnisses  ganz  auszuschhessen.  Das 
Streben  die  Thatsachen  im  Sinne  von  Beer,  Bethe  und  Uexküll 
voraussetzungslos  zu  beschreiben  und  einfach  zwischen  modifizir- 
baren  und  nicht  modifizirbaren  Reactionen  zu  unterscheiden,  ist 
gewiss  nur  zu  billigen  ^).  Dass  es  aber  absolut  unmodifizierbare 
Reflexe  überhaupt  gibt,  kann  ich  nicht  recht  glauben.  Auf  die 
Abnahme  des  Gedächtnisses,  oder  der  Fähigkeit  Erfahrungen  zu 
machen,  die  man  beim  Hinabsteigen  in  der  Thierreihe  beobachtet, 
habe  ich  anderwärts  hingewiesen  -). 

2. 

Die  Vorstellungen  haben  also  die  Sinnesempfindungen,  soweit 
sie  unvollständig  sind,  zu  ersetzen,  und  die  durch  letztere  an- 
fänglich allein  bedingten  Processe  weiter  zu  spinnen.  Die  Vor- 
stellungen dürfen  aber  im  normalen  Leben  die  Sinnesempfindungen, 
soweit  letztere  vorhanden  sind,  durchaus  nicht  dauernd  ver- 
drängen, wenn  hieraus  nicht  die  höchste  Gefahr  für  den  Organis- 
mus entspring-en  soll.  In  der  That  besteht  im  normalen  psychischen 
Leben  ein  sehr  starker  Unterschied  zwischen  beiden  Arten  psy- 
chischer Elemente.  Ich  sehe  eine  schwarze  Tafel  vor  mir.  Ich 
kann  mir  mit  der  grössten  Lebhaftigkeit  auf  dieser  Tafel  ein  mit 
scharfen  weissen  Strichen  gezogenes  Sechseck  oder  eine  farbige 
Figur  vorstellen.  Ich  weiss  aber,  pathologische  Fälle  abge- 
rechnet, immer,  was  ich  sehe,  was  ich  mir  vorstelle.    Ich  fühle, 


führen.  —  Es  sei  nebenbei  bemerkt,  dass  sein  Versuch  mit  dem  der  Biene  aufgebun- 
denen Magnet  keinen  Erfolg  haben  kann,  da  sie  das  hievon  herrührende  magnetische 
Feld  mit  sich  führt. 

i)  Vorschläge  zu  einer  objectivirenden  No  nenclatur  in  der  Physiologie  des 
Nervensystems.      Centralblatt  für  Physiologie    1899,   Bd.    13,  Nr.   6. 

2)  Populär-wissenschaftliche  Vorlesungen.  Ueber  den  Einfluss  zufälliger  Um- 
stände etc.  (Leipzig  1896,  S.  282,  283.)  —  Principien  der  Wärmelehre.  (Leipzig  1900.) 
S.  die  beiden  Capitel  über  die  Sprache  und  den  Begriff.  —  Vgl.  auch:  H.  E.  Ziegler, 
Theoretisches  zur  Thierpsychologic  und  vergleichenden  Neurophysiologie.  (Biologisches 
Centralblatt,   Bd.   20,  Nr.    i.) 


—      149      — 

wie  ich  bei  dem  Uebergang  zur  Vorstellung  die  Aufmerksamkeit 
von  dem  Auge  abwende  und  anderswohin  richte.  Der  auf  der 
Tafel  g-esehene  und  der  an  derselben  Stelle  vorgestellte  Fleck 
unterscheiden  sich  durch  diese  Aufmerksamkeit  wie  durch  eine 
vierte  Coordinate.  Die  Thatsachen  würden  nicht  vollständig 
gedeckt,  wenn  man  sagen  würde,  das  Eingebildete  lege  sich  über 
das  Geschehene  wie  das  Spiegelbild  in  einer  unbelegten  Glasplatte 
über  die  hindurchgesehenen  Körper.  Im  Gegentheil  scheint  mir  das 
Vorgestellte  durch  einen  qualitativ  verschiedenen,  widerstreitenden 
sinnlichen  Reiz  verdrängt  zu  werden  und  auch  letzteren  zeitweilig 
zu  verdrängen.  Das  ist  vorläufig  eine  psychologische  Thatsache, 
deren  ph3^siologische  Erklärung  sich  gewiss  auch  finden  wird. 

Es  ist  natürlich  anzunehmen,  dass  bei  Vorstellungen  im 
Wesentlichen  dieselben  org^anischen  Processe  durch  die  Wechsel- 
wirkung der  Theile  des  Centralnervensystems  wieder  aufleben, 
welche  bei  den  entsprechenden  Empfindungen  durch  den  physi- 
kalischen Reiz  bedingt  waren.  Die  Vorstellungen  unterscheiden 
sich  in  normalen  Fällen  von  den  Empfindungen  wohl  durch  ihre 
geringere  Intensität,  vor  allem  aber  durch  ihre  Flüchtigkeit. 
Wenn  ich  mir  in  der  Vorstellung  eine  geometrische  Figur  zeichne, 
so  verhält  es  sich  so,  als  ob  die  Linien,  bald  nachdem  sie  gezogen 
worden,  verlöschen  würden,  sobald  die  Aufmerksamkeit  sich  andern 
Linien  zuwendet.  Bei  Rückkehr  findet  man  sie  nicht  mehr  vor, 
und  muss  sie  aufs  Neue  reproduciren.  In  diesem  Umstände  liegt 
hauptsächlich  der  Vortheil  und  die  Bequemlichkeit,  den  eine 
materielle  g'eometrische  Zeichnung  gegenüber  der  vorgestellten 
bietet.  Eine  geringe  Anzahl  Linien,  z.  B.  Centri-  und  Peripherie- 
winkel auf  demselben  Kreisbogen  mit  einem  Paar  zusammen- 
fallender oder  sich  schneidender  Schenkel,  wird  man  leicht  in  der 
Vorstellung  festhalten.  Fügt  man  im  letzteren  Falle  noch  den 
Durchmesser  durch  den  Scheitel  des  Peripheriewinkels  hinzu,  so 
wird  es  schon  schwerer,  in  der  Vorstellung  das  Maassverhältniss 
der  Winkel  abzuleiten,  ohne  fortwährend  die  Figur  zu  erneuern 
und  zu  ergänzen.  Die  (leläufigkeit  und  Geschwindigkeit  des 
Wiederersetzens  gewinnt  übrigens   ungemein    durch   die  Uebung. 


—      I50     — 

Als  ich  mich  mit  der  Steiner'schen  und  v.  Staudt'schen  Geo- 
metrie beschäftigte,  konnte  ich  darin  viel  mehr  leisten,  als  es  mir 
jetzt  mög-lich  ist. 

Bei  der  stärkern  Entwicklung  der  Intelligenz,  welche  durch 
die  complicirten  Lebensverhältnisse  des  Menschen  bedingt  ist, 
können  die  Vorstellungen  zeitweilig  die  ganze  Aufmerksamkeit 
auf  sich  ziehen,  so  dass  Vorgänge  in  der  Umgebung  des  Sinnenden 
nicht  gesehen,  an  ihn  gerichtete  Fragen  nicht  gehört  werden, 
was  solcher  Beschäftigung  ungewohnte  Menschen  ,, Zerstreuung" 
nennen,  während  es  viel  passender  „Sammlung"  heissen  würde. 
Wird  nun  der  Betreffende  in  einem  solchen  Falle  gestört,  so  em- 
pfindet er  sehr  deutlich  die  Arbeit  beim  Wechsel  der  Aufmerk- 
samkeit. 

3- 

Die  Beachtung  dieses  Unterschiedes  zwischen  den  Vor- 
stellungen und  Sinnesempfindungen  ist  sehr  g'eeignet,  vor  Un- 
vorsichtigkeit bei  psychologischen  Erklärungen  der  .Sinnesphäno- 
mene zu  schützen.  Die  bekannte  Theorie  der  „unbewussten 
Schlüsse"  wäre  nie  zu  so  breiter  Entwicklung  gelangt,  wenn  man 
mehr  auf  diesen  Umstand  geachtet  hätte. 

Das  Organ,  dessen  Zustände  die  Vorstellungen  bestimmen, 
können  wir  uns  vorläufig  als  ein  solches  denken,  welches  (in 
einem  geringeren  Grade)  aller  specifischen  Energieen  der  Sinnes- 
organe und  der  motorischen  Organe  fähig  ist,  so  dass  je  nach 
seiner  Aufmerksamkeitsstimmung  bald  diese,  bald  jene  Energie 
eines  Organs  in  dasselbe  hineinspielen  kann.  Ein  solches  Organ 
wird  vorzüglich  geeignet  sein,  die  physiologische  Beziehung 
zwischen  den  verschiedenen  P^^nergieen  zu  vermitteln.  Wie  die 
Erfahrungen  an  Thieren  mit  entferntem  Grosshirn  lehren,  gibt  es 
ausser  dem  „Vorstellungsorgan"  wahrscheinlich  noch  mehrere 
andere  analoge,  mit  dem  Grosshirn  weniger  innig  zusammen- 
hängende Vermittlungsorgane,  deren  Vorgänge  daher  nicht  ins 
Bewustsein  fallen. 

Der  Reichthum  des  Vorstellungslebens,  wie  wir  denselben 
aus  der  Selbstbeobachtung  kennen,  tritt  gewiss  erst  beim  Menschen 


auf.  Die  Anfänge  dieser  Lebensäusserung,  in  welcher  sich 
durchaus  nur  die  Beziehung  aller  Theile  des  Organismus 
zu  einander  ausspricht,  reichen  ebenso  gewiss  tief  in  der 
Entwicklungsreihe  der  Thiere  herab.  Aber  auch  die  Theile  eines 
Organs  müssen  durch  gegenseitige  Anpassung-  zu  einander  in 
eine  Beziehung  treten,  welche  jener  der  Theile  des  Gesammt- 
organismus  analog  ist.  Die  beiden  Netzhäute  mit  ihrem  von  den 
Lichtempfindungen  abhängigen  motorischen  Accommodations-  und 
Blendungsapparat  geben  ein  sehr  klares  und  bekanntes  Beispiel 
eines  solchen  Verhältnisses.  Das  physiologische  Experiment  und 
die  einfache  Selbstbeobachtung  belehren  uns  darüber,  dass  ein 
solches  Organ  seine  eigenen  zweckmässigen  Lebensgewohnheiten, 
sein  besonderes  Gedächtniss,  fast  möchte  man  sagen  seine  eigene 
Intellegenz  hat. 

4- 
Die  lehrreichsten  hierher  gehörigen  Beobachtungen  sind 
wohl  von  Johannes  Müller  in  seiner  schönen  Schrift  „Ueber 
die  phantastischen  Gesichtserscheinungen"  (Coblenz  1826)  zu- 
sammeng-estellt  worden.  Die  von  Müller  u.  A.  im  wachen  Zu- 
stande beobachteten  Gesichtsphantasmen  entziehen  sich  durchaus 
dem  Einfluss  des  Willens  und  der  Ueberlegung.  Es  sind  selbst- 
ständige, wesentlich  an  das  Sinnesorgan  gebundene  Erscheinungen, 
welche  durchaus  den  Character  des  objectiv  Gesehenen  an  sich 
tragen.  Es  sind  wahre  Phantasie-  und  Gedächtnisserscheinungen 
des  Sinnes.  Müller  hält  das  freie  Eigenleben  der  Phantasie  für 
einen  Theil  des  organischen  Lebens  und  für  unvereinbar  mit  den 
sogenannten  Associationsgesetzen,  über  welche  er  sich  sehr  ab- 
fällig ausspricht.  Es  scheint  mir,  dass  die  continuirlichen  Aende- 
rungen  der  Phantasmen,  die  Müller  beschreibt,  nicht  gegen  die 
Associationsgesetze  sprechen.  Diese  Vorgänge  können  vielmehr 
geradezu  als  Erinnerungen  an  die  lang'samen  perspectivischen 
Aenderungen  der  Gesichtsbilder  aufgefasst  werden.  Das  Sprung- 
hafte in  den  gewöhnlichen  associativen  Verlauf  der  Vorstellungen 
kommt  doch  nur  dadurch  hinein,  dass  bald  dieses,  bald  jenes 
Sinnesgebiet  mitzusprechen  beginnt.     Vgl.  Cap.  XL 


—      152     — 

Jene  Processe,  welche  in  der  „Sehsinnsiibstanz"  (nach  Müller) 
normaler  Weise  als  Folgen  der  Netzhauterregung  sich  abspielen, 
und  welche  das  Sehen  bedingen,  können  ausnahmsweise  auch 
ohne  Netzhauterregung  spontan  in  der  Sehsinnsubstanz  auftreten, 
und  die  Quelle  von  Phantasmen  oder  Hallucinationen  werden. 
Wir  sprechen  von  Sinnengedächtniss,  wenn  sich  die  Phan- 
tasmen in  ihrem  Character  stark  an  zuvor  Gesehenes  anschliessen, 
von  Hallvicinationen,  wenn  die  Phantasmen  freier  vmd  unver- 
mittelter eintreten.  Eine  scharfe  Grenze  zwischen  beiden  Fällen 
wird  aber  kaum  festzuhalten  sein. 

Ich  kenne  alle  Arten  von  Gesichtsphantasmen  aus  eigener 
Anschauung.  Das  Hineinspielen  von  Phantasmen  in  undeutlich 
Gesehenes,  wobei  letzteres  theilweise  verdrängt  wird,  kommt  wohl 
am  häufigsten  vor.  Besonders  lebhaft  treten  mir  diese  Erschei- 
nungen nach  einer  ermüdenden  nächtlichen  Eisenbahnfahrt  auf. 
Alle  Felsen,  Bäume  nehmen  dann  die  abenteuerlichsten  Gestalten 
an.  —  Als  ich  mich  vor  Jahren  eingehender  mit  Pulscurven  und 
Sphygmographie  beschäftigte,  traten  mir  die  zarten  weissen  Curven 
auf  schwarzem  Grunde  des  Abends  und  auch  bei  Tage  im  Halb- 
dunkel oft  mit  voller  Lebhaftigkeit  und  Objectivität  vor  Augen. 
Auch  später  sah  ich  bei  verschiedenen  physikalischen  Beschäfti- 
gungen analoge  Erscheinungen  des  „Sinnengedächtnisses".  — 
Seltener  traten  mir  bei  Tage  Bilder  vor  Augen,  die  ich  zuvor 
nicht  gesehen  hatte.  So  leuchtete  mir  vor  Jahren  an  mehreren 
aufeinanderfolgenden  Tagen  auf  dem  Buch,  in  welchem  ich  las, 
oder  auf  dem  Schreibpapier  ein  hellrothes  Capillarnetz  (ähnlich 
einem  sogenannten  Wundernetz)  auf,  ohne  dass  ich  mich  mit  der- 
artigen Formen  beschäftigt  hatte.  —  Das  Sehen  von  lebhaft  ge- 
färbten veränderlichen  Tapetenmustern  vor  dem  Einschlafen  war 
mir  in  meiner  Jugend  sehr  geläufig;  es  tritt  auch  jetzt  noch  ein, 
wenn  ich  die  Aufmerksamkeit  darauf  richte.  Auch  eines  meiner 
Kinder  erzählte  mir  oft  vom  ,, Blumensehen"  vor  dem  Einschlafen. 
Seltener  sehe  ich  Abends  vor  dem  Einschlafen  mannigfaltige 
menschliche  Gestalten,  die  sich  ohne  meinen  Willen  ändern.  Ein 
einziges  Mal    versuchte   ich    mit  Erfolg   ein   menschliches  Gesicht 


—      153     — 

in  einen  skelettirten  Schädel  umzuwandeln;  dieser  vereinzelte  Fall 
kann  aber  auch  ein  Zufall  sein.  —  Dass  beim  Erwachen  im 
dunklen  Zimmer  die  letzten  Traumbilder  in  lebhaften  Farben  mit 
einer  Fülle  von  Licht  noch  vorhanden  waren,  ist  mir  oft  vor- 
gekommen. —  Eine  eigenthümliche  Erscheinung,  die  mir  seit 
einigen  Jahren  häufiger  begegnet,  ist  folgende.  Ich  erwache 
und  liege  mit  geschlossenen  Augen  ruhig  da.  Vor  mir  sehe 
ich  die  Bettdecke  mit  allen  ihren  Fältchen,  und  auf  derselben 
meine  Hände  mit  allen  Einzelheiten  ruhig  und  unveränderlich. 
Oeffne  ich  die  Aug'en,  so  ist  es  entweder  ganz  dunkel,  oder  zwar 
hell,  aber  die  Decke  und  die  Hände  liegen  ganz  anders,  als  sie 
mir  erschienen  waren.  Es  ist  dies  ein  besonders  starres  und 
dauerndes  Phantasma,  wie  ich  es  unter  andern  Verhältnissen  nicht 
beobachtet  habe.  Ich  glaube  an  diesem  Bild  zu  bemerken,  dass 
alle  auch  weit  von  einander  abliegenden  Theile  zugleich  deut- 
lich erscheinen,  in  einer  Weise,  wie  dies  bei  objectiv  Gesehenem 
aus  bekannten  Gründen  unmöglich  ist. 

Akustische  Phantasmen,  namentlich  musikalische,  traten  in 
meiner  Jugend  öfter  nach  dem  Erwachen  sehr  lebhaft  auf,  sind 
aber,  seit  mein  Interesse  für  Musik  sehr  abgenommen  hat,  recht 
selten  und  dürftig  geworden.  Vielleicht  ist  aber  auch  das  Inter- 
esse für  Musik  das  Sekundäre,  Bedingte. 

Spuren  von  Phantasmen,  wenn  man  die  Netzhaut  dem  Ein- 
fluss  der  äusseren  Reize  entzieht  und  die  Aufmerksamkeit  dem 
Sehfelde  allein  zuwendet,  sind  fast  immer  vorhanden.  Ja  sie  zeigen 
sich  schon  dann,  wenn  die  äusseren  Reize  schwach  und  unbe- 
stimmt sind,  im  Halbdunkel,  oder  wenn  man  etwa  eine  Fläche 
mit  matten,  verschwommenen  Flecken,  eine  Wolke,  eine  graue 
Wand  beobachtet.  Die  Gestalten,  die  man  dann  zu  sehen  meint, 
soweit  sie  nicht  auf  einem  blossen  Herausheben  und  Zusammen- 
fassen deutlich  gesehener  Flecke  durch  die  Aufmerksamkeit  be- 
ruhen, sind  jedenfalls  keine  vorgestellten,  sondern  wenigstens 
theilweise  spontane  Phantasmen,  welchen  zeitweiHg  und  stellen- 
weise der  Netzhautreiz  weichen  muss.  Die  Erwartung  scheint  in 
diesen  Fällen  das  Auftreten  der  Phantasmen  zu  begünstigen.    Sehr 


—      154      — 

oft  glaubte  ich  beim  Aufsuchen  der  Interferenzstreifen  die  ersten 
matten  Spuren  derselben  im  Gesichtsfeld  deutlich  wahrzunehmen, 
während  mich  die  Fortführung  des  Versuches  überzeugte,  dass  ich 
mich  gewiss  getäuscht  hatte.  Einen  Wasserstrahl,  dessen  Hervor- 
treten aus  einem  Kautschuckschlauch  ich  erwartete,  glaubte  ich  im 
halbdunklen  Raum  wiederholt  deutlich  zu  sehen,  und  erkannte 
den  Irrthum  erst  durch  Tasten  mit  dem  Fing-er.  Solche  schwache, 
Phantasmen  scheinen  sich  gegen  den  Einfluss  des  Intellectes  sehr 
nachgiebig'  zu  verhalten,  während  dieser  gegen  die  starken,  lebhaft 
gefärbten  nichts  auszurichten  vermag'.  Erstere  stehen  den  Vor- 
stellungen, letztere  den  Sinnesempfindung'en  näher. 

Diese  schwachen  Phantasmen,  welche  von  Sinnesempfindungen 
bald  überwältigt  werden,  bald  den  letzteren  das  Gleichgewicht 
halten,  bald  diese  verdrängen,  legen  die  Möglichkeit  nahe,  die 
Stärke  der  Phantasmen  mit  jener  der  Empfindungen  zu  ver- 
gleichen. Scripture  hat  diesen  Gedanken  ausgeführt,  indem  er 
in  dem  Gesichtsfelde  eines  Beobachers,  der  in  demselben  ein 
(nicht  vorhandenes)  Fadenkreuz  zu  sehen  g'laubte,  eine  reelle 
Linie  von  unerwarteter  Richtung  mit  von  Null  an  wachsender 
Intensität  auftreten  liess,  bis  diese  bemerkt  und  dem  Phantasma 
gleich  g'eschätzt  wurde  i).  Es  lassen  sich  alle  Ueberg'änge  von 
der  Empfindung  zur  Vorstellung  nachweisen.  Nirgends  kommen 
wir  auf  ein  psychisches  Phänomen,  welches  mit  der  Empfin- 
dung, die  wir  unzweifelhaft  auch  als  ein  physisches  Object  an- 
sehen müssen,  unvergleichbar  wäre. 

5- 

Leonardo  da  Vinci  a.  a.  O.  S.  56  bespricht  das  Hinein- 
spielen   der  Phantasmen    in    das  Gesehene    in  folgenden  Worten : 

,,Ich  werde  nicht  ermangeln,  unter  diese  Vorschriften  eine  neu- 
erfundene Art  des  Schauens  herzusetzen,  die  sich  zwar  klein  und 
fast  lächerlich  ausnehmen  mag,  nichtsdestoweniger  aber  doch  sehr 
brauchbar  ist,  den  Geist  zu  verschiedenerlei  Erfindungen  zu  wecken. 


i)   Scripture,   The   nevv   Psychology,   London    1897,   p. 


—      155     — 

Sie  besteht  darin,  dass  du  auf  manche  Mauern  hinsiehst,  die  mit 
allerlei  Flecken  bedeckt  sind,  oder  auf  Gestein  mit  verschiedenem 
Gemisch.  Hast  du  irgend  eine  Situation  zu  erfinden,  so  kannst  du 
da  Dinge  erblicken,  die  verschiedenen  Landschaften  gleichsehen,  ge- 
schmückt mit  Gebirgen,  Flüssen,  Felsen,  Bäumen,  grossen  Ebenen, 
Thal  und  Hügeln  von  mancherlei  Art.  Auch  kannst  du  da  allerlei 
Schlachten  sehen,  lebhafte  Stellungen  sonderbarer  fremdartiger 
Figuren,  Gesichtsmienen,  Trachten  und  unzählige  Dinge,  die  du 
in  vollkommene  und  gute  Form  bringen  magst.  Es  tritt  bei  der- 
lei Mauern  und  Gemisch  das  Aehnliche  ein,  wie  beim  Klang  der 
Glocken,  da  wirst  du  in  den  Schlägen  jeden  Namen  und  jedes 
Wort  wiederfinden  können,  die  du  dir  einbildest". 

„Achte  diese  meine  Meinung  nicht  gering,  in  der  ich  dir  rathe, 
es  möge  dir  nicht  lästig  erscheinen,  manchmal  stehen  zu  bleiben, 
und  auf  die  Mauerflecken  hinzusehen,  oder  in  die  Asche  im  P^euer, 
in  die  Wolken,  oder  in  Schlamm  und  auf  andere  solche  Stellen ; 
du  wirst,  wenn  du  sie  recht  betrachtest,  sehr  wunderbare  Er- 
findungen in  ihnen  entdecken.  Denn  des  Malers  Geist  wird  zu 
(solchen)  neuen  Erfindungen  (durch  sie)  aufgeregt,  sei  es  in  Com- 
positionen  von  Schlachten,  von  Thier  und  Menschen,  oder  auch 
zu  verschiedenerlei  Compositionen  von  Landschaften  und  von  un- 
geheuerlichen Dingen,  wie  Teufeln  u.  dgl.,  die  angethan  sind,  dir 
Ehre  zu  bringen.  Durch  verworrene  und  unbestimmte  Dinge 
wird  nämlich  der  Geist  zu  neuen  Erfindungen  wach.  Sorge  aber 
vorher,  dass  du  alle  die  Gliedmaassen  der  Dinge,  die  du  vorstellen 
willst,  gut  zu  machen  verstehst,  so  die  Glieder  der  lebenden 
Wesen,  wie  auch  die  Gliedmaassen  der  Landschaft,  nämlich  die 
Steine,  Bäume  u.  dgl." 

Das  stärkere  selbstständige  Auftreten  der  Phantasmen,  ohne 
Anregung  durch  die  Netzhaut,  den  Traum  und  den  halbwachen 
Zustand  abgerechnet,  muss  seiner  biologischen  Unzweckmässigkeit 
wegen  als  pathologisch  angesehen  werden.  Ebenso  müsste 
man  jede  abnorme  Abhängigkeit  der  Phantasmen  vom  Willen 
als  pathologisch  bezeichnen.  Solche  Zustände  mögen  wohl  bei 
enen  Irren  vorkommen,    welche  sich  für   sehr  mächtig,    für  G  ott 


-      156     - 

11.  s.  w.,  halten.  Das  blosse  P^ehlen  hemmender  Associationen  kann 
aber  ebenfalls  zu  Grössen  Wahnvorstellungen  führen.  So  kann 
man  im  Traum  glauben  die  grössten  Probleme  gelöst  zu  haben, 
weil  die  Associationen,  welche  den  Widerspruch  aufdecken,  sich 
nicht  einstellen. 

6. 

Nach  diesen  Vorbemerkungen  wollen  wir  einig'e  physiologisch- 
optische Erscheinungen  betrachten,  deren  vollständige  Er- 
klärung zwar  noch  fern  liegt,  die  aber  als  Aeusserungen  eines 
selbstständigen  Lebens  der  Sinnesorgane  relativ  noch  am  ver- 
ständlichsten sind. 

Man  sieht  gewöhnlich  mit  beiden  Augen,  und  zu  einem 
bestimmten  Zweck  im  Dienste  des  Lebens,  nicht  Farben  und 
Formen,  sondern  die  Körper  im  Räume.  Nicht  die  Elemente 
des  Complexes,  sondern  der  ganze  physiologisch-optische  Com- 
plex  ist  von  Wichtigkeit.  Diesen  Complex  sucht  das  Auge  nach 
den  unter  seinen  Lebensbedingungen  erworbenen  (oder  ererbten) 
Gewohnheiten  zu  ergänzen,  wenn  er  einmal  in  Folge  besonderer 
Umstände  unvollständig  auftritt.  Das  g'eschieht  zunächst  leicht 
beim  Sehen  mit  einem  Auge,  oder  auch  beim  Sehen  sehr  ferner 
Objecte  mit  beiden  Augen,  wenn  die  stereoscopischen  Differenzen 
in   Bezug  auf  den  Augenabstand  verschwinden. 

Man  nimmt  gewöhnlich  nicht  Licht  und  Schatten,  sondern 
räumliche  Objecte  wahr.  Der  Selbstschatten  der  Körper  wird 
kaum  bemerkt.  Die  Helligkeitsdifferenzen  lösen  Tiefempfindungs- 
differenzen aus  und  helfen  den  Körper  moclelliren,  wo  die 
stereoscopischen  Differenzen  hierzu  nicht  mehr  ausreichen,  wie 
dies  bei  Betrachtung  ferner  Gebirge  sehr  auffallend  wird. 

Sehr  belehrend  ist  in  dieser  Hinsicht  das  Bild  auf  der 
matten  Tafel  der  photographischen  Kammer.  Man  erstaunt  hier 
oft  über  die  LIelligkeit  der  Lichter  und  die  Tiefe  der  Schatten, 
die  man  an  den  Körpern  gar  nicht  bemerkte,  solange  man  nicht 
genöthigt  war,  alles  in  einer  Ebene  zu  sehen.  Ich  erinnere  mich 
aus   meiiien    Kindcrjahren    sehr   wohl,    dass   mir  jede   Schattirung 


—      157 


einer  Zeichnung  als  eine  ungerechtfertigte  und  entstellende  Manier 
erschien,  und  dass  mich  eine  Contourzeichnung  weit  mehr  be- 
friedigte. Es  ist  ebenso  bekannt,  dass  ganze  Völker,  wie  die 
Chinesen,  trotz  entwickelter  artistischer  Technik  gar  nicht  oder 
nur  mangelhaft  schattiren. 

Folgendes  Experiment,  das  ich  vor  vielen  Jahren  angestellt 
habe  ^),  illustrirt  sehr  deutlich  die  berührte  Beziehung  zwischen 
Lichtempfindung  und  Tiefenempfindung.  Wir  stellen  eine  ge- 
o  knickte  Visitenkarte  vor  uns  auf  den  Schreibtisch,  so 
dass  sie  die  erhabene  Kante  d  e  uns  zukehrt.  Von 
links  falle  das  Licht  ein.  Die  Hälfte  ab  de  ist  dann 
viel  heller,  b  c  ef  viel  dunkler,  was  aber  bei  unbefangener 
Betrachtung  kaum  bemerkt  wird.  Nun  schliessen  wir 
ein  Auge.  Hiermit  verschwindet  ein  Theil  der  Raumempfindungen. 
Noch  immer  sehen  vvir  das  geknickte  Blatt  räumlich  und  an 
der  Beleuchtung  nichts  Auffallendes.  Sobald  es  uns  aber  gelingt, 
statt  der  erhabenen  Kante  be  eine  hohle  zu  sehen,  erscheinen 
Licht  und  Schatten  wie  mit  Deckfarben  darauf  gemalt.  Von 
der  leicht  erklärbaren  perspectivischen  Verzerrung  der  Karte  sehe 
ich  zunächst  ab.  Eine  solche  „Inversion"  ist  möglich,  weil  durch 
ein  monoculares  Bild  die  Tiefe  nicht  bestimmt  ist.  Stellt  in  Fig-.  25, 
I  O  das  Auge,  ab  c  den  Durchschnitt  eines  geknickten  Blattes, 
t  der  Pfeil  die  Lichtrichtung  vor,  so  erscheint 
a  b  heller  als  b  c.  In  2  ist  ebenso  a  b 
heller  als  b  c.  Das  Auge  muss,  wie  man 
sieht,  die  Gewohnheit  annehmen,  mit  der 
Helligkeit  der  g^esehenen  Plächenelemente 
auch  das  Gefälle  der  Tiefempfindung 
zu  wechseln.  Das  Gefälle  und  die  Tiefe 
nimmt  mit  abnehmender  Helligkeit  nach 
rechts  ab,  wenn  das  Licht  von  links  einfällt  (i),  umgekehrt  wenn 
es    von    rechts    einfällt.      Da    die  Hüllen    des  Bulbus,    in    welchen 


Figur  25. 


i)  Ueber    die    physiologische    Wirkung    räumh'ch    vertheilter    Lichtreize.      Sitzb. 
d.  Wiener  Akademie,  II.  Abth.,  October   1866. 


-      15«     - 

die  Netzhaut  eingebettet  ist,  durchscheinend  sind,  so  ist  es  auch 
für  die  Lichtvertlieihmg  auf  den  Netzhäuten  nicht  gleichgültig, 
ob  das  Licht  von  rechts  oder  von  links  einfällt.  Die  Umstände 
sind  also  ganz  danach  angethan ,  dass  sich  ohne  alles  Zuthun 
des  Urtheils  eine  feste  Gewohnheit  des  Auges  herausbilden  kann, 
vermöge  welcher  Helligkeit  und  Tiefe  in  bestimmter  Weise  ver- 
bunden werden.  Gelingt  es  nun  einen  Theil  der  Netzhaut,  wie 
in  dem  obig'en  Versuch,  vermöge  einer  andern  Gewohnheit  mit 
der  ersteren  in  Widerstreit  zu  bringen,  so  äussert  sich  dies 
durch  auffallende  Empfindungen. 

Wie  bedeutend  die  Wirkung  des  durch  die  Bulbusdecken 
eindringenden  Lichtes  werden  kann,  geht  aus  gewissen  Versuchen 
von  Fechner^)  hervor.  Eine  hieher  gehörige  Beobachtung  ist 
folgende.  Unter  meinem  Schreibtisch  liegt  eine  graugrüne  Decke, 
von  welcher  ich  schreibend  ein  kleines  Stückchen  sehe.  Wenn 
nun  bei  hellem  von  links  einfallendem  Sonnen-  oder  Tageslicht 
von  jenem  Stückchen  zufällig  oder  absichtlich  ein  Doppelbild 
entsteht,  so  ist  das  dem  linken  stärker  beleuchteten  Auge  an- 
gehörige  Bild  durch  Contrast  lebhaft  grün,  während  das  recht- 
seitige  Bild  ganz  matt  gefärbt  ist.  Variation  der  Intensität  und 
Farbe  der  Bulbusbeleuchtung"  bei  diesen  letzteren  und  bei  Inver- 
sionsversuchen wäre  von  Interesse. 

Es  soll  mit  dem  Gesagten  nur  der  Character  der  Erscheinung 
bezeichnet  und  die  Richtung  angedeutet  werden,  nach  welcher 
eine  physiologische  Erklärung  (mit  Ausschluss  psychologischer 
Speculationen)  zu  suchen  ist.  Bemerken  wollen  wir  noch,  dass  in 
Bezug  auf  Empfindungsqualitäten,  welche  mit  einander  in  Wechsel- 
beziehung stehen,  ein  dem  Gesetz  der  Erhaltung  der  Energie 
ähnliches  Princip  zu  herrschen  scheint.  Die  Helligkeitsdifferenzen 
verwandeln  sich  theilweise  in  Tiefendifferenzen  und  werden  selbst 
dabei  schwächer.  Auf  Kosten  von  Tiefendifferenzen  können  um- 
gekehrt die  Flelligkeitsdifferenzen  vergrössert  werden.  Eine  anologe 
Bemerkung  wird  sich  noch  bei  einer  andern  Gelegenheit  ergeben. 


i)  Rechner,    Ucber    den    seitlichen  ■Fenster-    und  Kerzenversuch.      Berichte  d. 
Leipziger  Ges.  d.    Wissenschaften    i  8(jo. 


159 


Die  Gewohnheit  Körper  zu  beobachten,  ci.  h.  einer  grossem 
räumlich  zusammenhängenden  Masse  von  Lichtempfindungen  die 
Aufmerksamkeit   zuzuwenden,    bringt    eigenthümhche,    zum  Theil 

überraschende  Erscheinungen-mit  sich. 
Eine  zw^eifarbigeMalerei  oder  Zeichnung 
z.  B.  sieht  im  allgemeinen  ganz  ver- 
schieden aus,  je  nachdem  man  die  eine 
oder  die  andere  Farbe  als  Grund  auf- 
fasst.  Die  Vixirbilder,  in  welchen  etwa 
ein  Gespenst  zwischen  Baumstämmen 
erscheint,  sobald  man  den  hellen  Himmel 
als  Object,  die  dunklen  Bäume  aber  als 
Grund  auffasst,  sind  bekannt.  Nur  aus- 
nahmsweise bietet  Grund  und  Object 
dieselbe  Form  dar,  worin  ein  häufig"  ver- 
wendetes ornamentales  Motiv  besteht, 
wie  dies  z.  B.  die  Fig.  26  von  S.  15  der  erwähnten  „Grammar  of 
Ornament",  ferner  die  Figuren  20,  22,  der  Tafel  35,  Figur  13  der 
Tafel  43  jenes  Werkes  veranschaulichen. 


Figur   26. 


Die  Erscheinungen  des  Raumsehens,  welche  bei  monocularer 
Betrachtung  eines  perspectivischen  Bildes,  oder,  was  auf  dasselbe 
hinauskommt,  bei  monocularer  Betrachtung  eines  Objectes  auf- 
treten, werden  gewöhnlich  als  fast  selbstverständliche  sehr  leichthin 
behandelt.  Ich  bin  aber  der  Meinung,  dass  an  denselben  noch 
Mancherlei  zu  erforschen  ist.  Durch  dasselbe  perspectivische 
Bild,  welches  unendlich  vielen  verschiedenen  Objecten  angehören 
kann,  ist  die  Raumempfindung  nur  th eilweise  bestimmt.  Wenn 
also  gleichwohl  von  den  vielen  dem  Bilde  zugekörigen  denkbaren 
Körpern  nur  sehr  wenige  wirklich  gesehen  werden,  und  zwar 
mit  dem  Character  der  vollen  Objectivität,  so  muss  .dies  einen 
triftigen  physiologischen  Grund  haben.    Es  kann  nicht  auf  dem 


—      i6o     — 

Hinzudenken  von  Nebenbestimmungen  beruhen,  nicht  auf  be- 
wussten  Erinnerungen,  welche  uns  auftauchen,  sondern  auf  be- 
stimmten Lebensgewohnheiten  des  Gesichtssinnes. 

Verfährt  der  Gesichtssinn  nach  den  Gewohnheiten,  welche 
er  unter  den  Lebensbedingungen  der  Art  und  des  Individuums 
erworben  hat,  so  kann  man  zunächst  annehmen,  dass  er  nach 
dem  Princip  der  Wahrscheinlichkeit  vorgeht,  d.  h.  diejenigen 
Functionen,  welche  am  häufigsten  zusammen  ausgelöst  wurden, 
werden  auch  zusammen  auftreten,  wenn  nur  eine  allein  angeregt 
wird.  Diejenigen  Tiefenempfindung^en  z.  B.,  welche  am  häufigsten 
mit  einem  bestimmten  perspectivischen  Bild  verbunden  sind,  werden 
auch  leicht  reproducirt,  wenn  jenes  Bild  auftritt,  ohne  dass  diese 
Empfindungen  mitbestimmt  sind.  Ausserdem  scheint  sich  beim 
Sehen  perspektivischer  Bilder  ein  Princip  der  Sparsamkeit  aus- 
zusprechen, d.  h.  der  Gesichtssinn  ladet  sich  von  selbst  keine 
grössere  Anstrengung-  auf  als  diejenige,  welche  durch  den  Reiz 
bestimmt  ist.  Beide  Principien  fallen,  wie  wir  sehen  werden,  in 
ihre  Wirkunsfen  zusammen. 


Wir  wollen  uns  das  eben  Ausgesprochene  in  den  Einzel- 
heiten erläutern.  Betrachten  wir  eine  Gerade  in  einem  perspec- 
tivischen Bilde,  so  sehen  wir  diese  immer  als  eine  Gerade  im 
Räume,  obgleich  die  Gerade  als  perspectivisches  Bild  unendlich 
vielen  verschiedenen  ebenen  Curven  als  Objecten  entsprechen 
kann.  Allein  nur  in  dem  besondern  Fall,  dass  die  Ebene  einer 
Curve  durch  den  Kreuzungspunkt  des  einen  Auges  hindurch- 
geht, wird  sie  sich  auf  der  betreffenden  Netzhaut  als  Gerade  (be- 
ziehungsweise als  grösster  Kreis)  abbilden,  und  nur  in  dem  noch 
specielleren  Fall,  dass  die  Curvenebene  durch  die  Kreuzungspunkte 
beider  Augen  hindurchgeht,  bildet  sie  sich  für  beide  Augen  als 
Gerade  ab.  Es  ist  also  sehr  unwahrscheinlich,  dass  eine  ebene 
Curve  als  Gerade  erscheint,  während  dagegen  eine  Gerade  im 
Räume   sich   immer   als  Grade   auf  beiden  Netzhäuten    abbildet. 


—      i6i      — 

Das  wahr s c heinlichste  Object  also,  welches  einer  perspectivischen 
Graden  entspricht,  ist  eine  Gerade  im  Räume. 

Die  Gerade  hat  mannigfaltige  geometrische  Eigenschaften. 
Diese  geometrischen  Eigenschaften,  z,  B.  die  bekannte  Eigen- 
schaft, die  Kürzeste  zwischen  zwei  Punkten  darzustellen,  sind  aber 
physiologisch  nicht  von  Belang".  Wichtiger  ist  schon,  dass  in 
der  Medianebene  liegende  oder  zur  Medianebene  senkrechte  Ge- 
rade physiologisch  zu  sich  selbst  symmetrisch  sind.  Die  in  der 
Median  ebene  liegende  Verticale  zeichnet  sich  ausserdem  noch 
durch  die  grösste  Gleichmässigkeit  der  Tiefenempfindung  und 
durch  ihre  Coincidenz  mit  der  Richtung  der  Schwere  physio- 
logisch aus.  Alle  verticalen  Geraden  können  leicht  und  rasch 
mit  der  Medianebene  zur  Coincidenz  gebracht  werden,  und  nehmen 
daher  an  diesem  physiologischen  Vorzug  theil.  Allein  die  Gerade 
im  Räume  überhaupt  muss  sich  noch  durch  etwas  anderes 
psysiologisch  auszeichnen.  Die  Gleichheit  der  Richtung  in  allen 
Elementen  wurde  schon  früher  hervorgehoben.  Jedem  Punkt  der 
Geraden  im  Räume  entspricht  aber  auch  das  Mittel  der  Tiefen- 
empfindungen der  Nachbarpunkte.  Die  Gerade  im  Räume  bietet 
also  ein  Minimum  der  Abweichungen  vom  Mittel  der 
Tiefenempfindungen  dar,  wie  jeder  Punkt  einer  Geraden  das 
Mittel  der  gleichartigen  Raumwerthe  der  Nachbarpunkte  darbietet. 
Es  liegt  hiernach  die  Annahme  nahe,  dass  die  Gerade  mit  der 
geringsten  Anstrengung  gesehen  wird.  Der  Gesichtssinn 
geht  also  nach  dem  Princip  der  Sparsamkeit  vor,  wenn  er  uns 
mit  Vorliebe  Gerade  vorspiegelt,  und  zugleich  nach  dem  Prin- 
cip der  Wahrscheinlichkeit. 

Noch  1866  schrieb  ich  in  den  Sitzungsberichten  der  Wiener 
Akademie  Bd.  54:  „Da  die  gerade  Linie  den  civilisirten  Menschen 
immer  und  überall  umgiebt,  so  kann  man  wohl  annehmen,  dass 
jede  auf  der  Netzhaut  mögliche  Gerade  unzähligemal  auf  jede  mög- 
liche Art  als  Gerade  im  Räume  gesehen  worden  sei.  Die  Fähig- 
keit des  Auges  im  Auslegen  der  Geraden  darf  uns  daher  nicht 
befremden."  —  Ich  schrieb  schon  damals  diese  Stelle  (entgegen 
der  Darwinistischen  Anschauung,  die  ich  in  derselben  Abhandlung 

Mach,  Analyse.     3.  Aufl.  11 


102        

geltend  machte)  mit  halbem  Herzen.  Heute  bin  ich  mehr  als  je 
überzeugt,  dass  die  erwähnte  Fähigkeit  keine  Folge  der  indi- 
viduellen Uebung,  ja  nicht  einmal  der  menschlichen  Uebung 
ist,  sondern  dass  sie  auch  den  Thieren  zukommt,  und  theilweise 
wenigstens  ein  Erbstück  ist. 

IG. 

Die  Abweichung  einer  Empfindung  vom  Mitel  der  Nachbar- 
empfindungen fällt  überhaupt  immer  auf,  und  fordert  von  dem 
Sinnesorgan  eine  besondere  Anstrengung.  Jede  Krümmung  einer 
Curve,  jede  Hervorragamg  oder  Vertiefung  einer  Fläche,  bedeutet 
immer  die  Abweichung  einer  Raumempfindung  von  dem  Mittel 
der  Umgebung,  auf  welche  die  Aufmerksamkeit  g-erichtet  ist.  Die 
Ebene  zeichnet  sich  physiologisch  dadurch  aus,  dass  jene  Ab- 
weichung vom  Mittel  ein  Minimum,  oder  speziell  für  jeden 
Punkt  =  o  ist.  Betrachtet  man  im  Stereoscop  irgend  eine  fleckige 
Fläche,  deren  Theilbilder  sich  noch  nicht  zu  einem  binocularen 
Bilde  vereinigt  haben,  so  macht  es  einen  besonders  wohlthuenden 
Eindruck,  wenn  sich  dieselbe  plötzlich  zu  einer  Ebene  ausstreckt. 
Der  ästhetische  Eindruck  des  Kreises  und  der  Kugel  scheint 
wesentlich  darauf  zu  beruhen,  dass  die  bezeichnete  Abweichung 
vom  Mittel  für  alle  Punkte  gleich  ist. 

1 1. 
Dass  die  Abweichung  von  Mittel  der  Umgebung  in  Bezug 
auf  die  Lichtempfindung  eine  Rolle  spielt,  habe  ich  in  einer 
älteren  Arbeit  nachgewiesen  ^).  Malt  man  eine  Reihe  von  schwarzen 
und  weissen  Sectoren,  wie  dies  in  Figur  27  angedeutet  ist,  auf 
einen  Papierstreifen  A  A  BB,  und  wickelt  diesen  nachher  als 
Mantel  auf  einen  Cylinder,  dessen  Axe  parallel  A  B  ist,  so  ent- 
steht durch  die  rasche  Rotation  des  letzteren  ein  graues  Feld  mit 
von  B  gegen  A  zu  wachsender  Helligkeit,   in  welchem  aber  ein 


i)  Ueber  die  Wirkung  der  räumlichen  Vcrtheilung  des  Lichtreizes  auf  die 
Netzhaut.  Sitzungsberichte  der  Wiener  Akademie  (1865)  Bd.  52.  —  Fortsetzungen 
dieser  Untersuchung:  Sitzungsberichte  ("1866)  Bd.  54,  Sitzungsberichte  (1868)  Bd.  57  — 
Vierteljahrsschrift  für  Psychiatrie,  Neuwied-Leipzig  1868  {Ueber  die  Abhängigkeit  der 
Netzhautstellen  von   einandei). 


-      i63      - 

hellerer  Streifen  a  a  und  ein  dunklerer  ß  ß  hervortritt.  Die 
vStellen,  welche  den  Knickungen  a  entsprechen,  sind  nicht  physi- 
kalisch heller  als  die  Umgebung,   ihre   Lichtintensität  übertrifft 

MÄÄmdm 

3  £ 

Fig.  27. 

aber  das  Intensitäts-Mitel  der  nächsten  Umgebung,  während 
umgekehrt  die  Intensität  bei  ß  unter  der  mittleren  Intensität 
der  Umgebung  bleibt  i).  Diese  Abweichung  vom  Mittel  wird  also 
deutlich  empfunden,  und  ladet  demnach  dem  Sehorgan  eine  be- 
sondere Arbeit  auf.  Die  continuirliche  Aenderung  der  Helligkeit 
wird  hingegen  kaum  bemerkt,  so  lange  die  Helligkeit  eines  jeden 
Punktes  dem  Mittel  der  Nachbarn  entspricht.  Welche  teleo- 
logische Bedeutung  dieser  Umstand  für  das  Hervorheben  und 
die  Begrenzung  der  Objecte  hat,  darauf  habe  ich  vor  langer  Zeit 
(a.  a.  O.  Sitzb.  der  Wien.  Akad.  1865  Octob.  u.  1868  Januar) 
schon  hingewiesen.  Die  Netzhaut  verwischt  kleine  Unterschiede 
und  hebt  grössere  unverhältnissmässig  hervor.  Sie  schemati- 
siert und  karikirt.  Schon  Panum  hat  seinerzeit  auf  die  Be- 
deutung der  Conturen  für  das  Sehen  aufmerksam  gem.acht. 

Durch  sehr  mannigfaltige  Versuche,  von  welchen  der  in  Fig.  27 
dargestellte  einer  der  einfachsten  ist,  habe  ich  die  Ansicht  ge- 
wonnen, dass  die  Beleuchtung  einer  Netzhautstelle  nach  Maassgabe 
der  Abweichung  von  dem  Mittel  der  Beleuchtungen  der 
Nachbarstellen  empfunden  wird.  Das  Gewicht  der  Netzhautstellen 
in  jenem  Mittel  ist  hierbei  als  mit  der  Entfernung  von  der  be- 
trachteten Stelle  rasch  abnehmend  zu  denken,   was   natürlich  nur 


i)  Eine  Bemerkung  über  Analogien  zwischen  der  Lichtempiindung  und  der 
Pontentialfunction  findet  sich  in  meiner  Note  ,,Ueber  Herrn  Guebhards's  Darstellung 
der  Aepuipotentialcurven".  Wiedemann's  Annalen  (1882)  Bd.  17,  S.  864  und  ,,Prin- 
cipien  der  Wärmelehre",   2.  Aufl.    1900,  S.    118. 

11* 


—        704       — 

iJürch,  eine  org-'anische  Wechselwirkung  der  Netzhautele' 
4t ente  verständlich  werden  kann.  Ist  iz:^f\x,y)  die  auf  ein  Coor- 
dmatens3Astem  {X  Y)  bezogene  Beleuchtungsintensität  der  Netzhaut, 
so  ist  jener  für  eine  beliebige  Stelle  maassgebende  Mittelwerth  durch 

in-~l  dH    -rdH'' 


annähernd  dargestellt,  wobei  alle  Krümmungsradien  der  Fläche 
f  {x,  j)')  als  gross  angenommen  werden  geg'en  die  Entfernung, 
in     welcher     sich      die     Netzhautstellen      noch     merklich     beein- 

Aussen;    w-    ist    eine    Constante.     Je    nachdem    nun    ^rr-  -|-  —. —  1 

\dz^     '     dy-J 

positiv  öder  neg'ativ  ist,  empfindet  sich  die  Netzhautstelle  dunkler, 

beziehungsweise    heller    als    bei    gleichmässig"er    Beleuchtung    der 

Nachbarstellen  mit  der  ihr  selbst  entsprechenden  Intensität.     Hat 

-  :_         -       '  ^  /^2/  d''l\ 

die  Fläche  f  (x,  y)  Kanten,    Knickungen,    so    wird    \— —  4-  -—— ) 
'  \dx^     '     dy^j 

unendlich,  und  die  Formel  wird  unbrauchbar.  Der  Knickung's- 
stelle  entspricht  in  diesem  Pralle  allerdings  eine  starke  Ver- 
dunkkmg  oder  Erhellung',  aber  natürlich  keine  unendliche.  Die 
Netzhaut  besteht  eben  nicht  aus  empfindenden  Punkten,  sondern 
aus  einer  endlichen  Zahl  von  empfindenden  Elementen  von  end- 
licher Ausdehnung.  Die  nähere  Kenntniss  des  Wechselwirkungs- 
gesetzes dieser  Elemente,  welche  zur  genaueren  Bestimmung  der 
Erscheinung  in   diesem  Specialfalle  nöthig  wäre,  fehlt  noch. 

Da  man  leicht  irre  geführt  werden  kann,  wenn  man  nach 
dem  subjectiven  Eindruck  die  objective  Licht vertheilung  beurtheilt, 
so  ist  die  Kenntniss  des  erwähnten  Contrastgesetzes  auch  für  rein 
physikalische  Untersuchungen  von  Belang.  Schon  Grimaldi  ist 
diurch  eine  solche  Erscheinung"  getäuscht  worden.  Dieselbe  be- 
gegnet uns  bei  Betrachtung"  der  Schatten,  der  Absorptionsspectren 
und  in  zahllosen  anderen  Fällen.  Durch  eigenthümliche  Um- 
stände fanden  meine  Mittheilungen  wenig  Verbreitung,  und  die 
betreffenden  Thatsachen  sind  mehr  als  30  Jahre  später  noch 
zweimal  entdeckt  worden  i). 

',.'.::.'\,-l)  H,    Seeliger,    Die    scheinbare    Vergrösserung    des    Erdschattens    bei    Mond- 
finsternissen.     Abh.   d,    Münchencr  Akademie    1896.    —    PI.    Haga  und  C.  IT.  Wind, 


-      i65     - 

■  •       ■  ■    -       -  .      -  12.  ■      ■        -    r::..:::l 

In  Bezug  auf  die  durch  ein.  monoculares  Bild  ausgelöste 
Tiefenempfindungen  sind  die  folgenden  Versuche  lehrreich.  Die 
Zeichnung  Figur  28  ist  ein  ebenes  Viereck  mit  den  beiden  Dia- 
j  gonalen.  Betrachten  wir  sie  moncocular,  so  erscheint 

sie  auch,  dem  Wahrscheinlichkeits-  und  Sparsamkeits- 
gesetz entsprechend,  am  leichtesten  eben.  Nicht 
ebene  Objecte  zwingen  in  der  überwiegenden  Mehr-; 
zahl  der  Fälle  das  Auge  zum  Tiefensehen.  Wo  diesen 
Zwang-  fehlt,  ist  das  ebene  Object  das  wahrschein- 
lichste und  zugleich  für  das  Sehorgan  das  bequemste. 
Dieselbe  Zeichnung  kann  monocular  noch  als  ein  Tetraeder 
gesehen  werden,  dessen  Kante  dd  vor  ac  liegt,  oder  als  ein 
Tetraeder,  dessen  Kante  dd  hinter  ac  liegt.  Der  Einfluss  der 
Vorstellung-  und  des  Willens  auf  den  Sehprocess  ist  ein  höchst 
beschränkter,  er  reducirt  sich  auf  die  Leitung  der  Aufmerksamkeit, 
und  auf  die  Auswahl  der  Stimmung  des  Sehorgans  für  einen 
von  mehreren  in  seiner  Gewohnheit  lieg'enden  Fällen,  von  "^^elchen 
aber  jeder  einzelne  gewählte  sich  dann  mit  machinen  massiger 
Sicherheit  und  Präcision  einstellt.  Auf  den  Punkt  e  achtend,  kann 
man  in  der  That  willkürlich  zwischen  den  beiden  optisch 
möglichen  Tetraedern  wechseln,  je  nachdem  man  sich  dd  näher 
oder  ferner  als  ac  vorstellt.  Für  diese  beiden  Fälle  ist  das 
Sehorgan  eingeübt,  weil  häufig  ein  Körper  durch  den  anderen 
theilweise  gedeckt  wird. 

Loeb^)  findet,  dass  eine  Annäherung  der  Figur  31  Accom- 
modation  für  die  Nähe  und  damit  auch  Erhabensehen  der  fixirten 
Kante  (5^  auslöst.  Ich  habe  einen  so  bestimmten  Erfolg  nicht  erzielen 


Beugung  der  Röntgenstrahlen.  Wiedemann's  Annalen,  Bd.  68,  1899,  S.  866.  — 
C.  H.  Wind,  zur  Demonstration  einer  von  E.  Mach  entdeckten  optischen  Täuschung. 
Physilv,  Zeitschr.  v.  Rieclce  u.  Simon  I  Nr.  10.  —  A.  v.  Obermayer,  „Ueber  die 
Säume  um  die  Bilder  dunker  Gegenstände  auf  hellem  Hintergrande"  (Eders  Jahrbuch 
für  Photographie  1900),  macht  eine  Anzahl  neuer  Thatsachen  bekannt,  die  sich  durch 
das  im  Text  dargelegte  Contrastgesetz  erklären  lassen.  Er  kennt  jedoch  von  meinen 
vier  Abhandlungen  nur  die  erste,  und  theilt  daher  das  Gesetz  in  der  ersten  mangel- 
haften Fassung  mit. 

i)  Loeb,   Ueber  epische   Inversion,   Pflügers   Arch.,   Bd.   40,    1887,   S.    247. 


i66 


können,  und  kann  auch  theoretisch  keinen  zureichenden  (jrund 
für  denselben  finden  '),  obgleich  ich  gern  zugebe,  dass  Entfernungs- 
änderungen der  Figur  leicht  zum  Wechsel  der  Auffassung  führen. 
Dieselbe  Zeichnung  kann  endlich  als  eine  vierseitige  Pyramide 
gesehen  werden,  wenn  man  sich  den  ausgezeichneten  Durch- 
schnittspunkt e  vor  oder  hinter  der  Ebene  ab  cd  vorstellt. 
Dies  gelingt  schwer,  wenn  bed  und  aec  zwei  vollkommene  Ge- 
rade sind,  weil  es  der  Gewohnheit  des  Sehorgans  widerstreitet, 
eine  Gerade  ohne  Zwang  geknickt  zu  sehen;  es  gelingt  überhaupt 
nur,  weil  der  Punkt  e  eine  Sonderstellung  hat.  Findet  sich  aber  bei  e 
eine  kleine  Kinckung,  so  hat  der  Versuch  keine  Schwierigkeit. 
Die  Wirkung  einer  linearen  perspectivischen  Zeichnung  auf 
den  der  Perspective  Unkundigen,  sobald  er  überhaupt  von  der 
Zeichnungsebene  abzusehen  vermag,  was  h€\  monocularer  Be- 
trachtung leicht  gelingt,  tritt  ebenso  sicher  ein,  wie  bei  voll- 
ständiger Kenntniss  der  Perspectivlehre.  Die  Ueb  er  legung  und 
auch  die  Erinnerung  an  gesehene  Objecte  hat  nach  meiner 
Ueberzeugung  mit  dieser  Wirkung  wenig  oder  nichts  zu  schaffen. 
Warum  die  Geraden  der  Zeichnung  als  Gerade  in  Räume  ge- 
sehen werden,  wurde  schon  erörtert.  Wo  Gerade  in  einem  Punkt 
der  Zeichnungsebene  zu  convergiren  scheinen,  werden  die  conver- 
girenden  oder  sich  annähernden  Enden  nach  dem  Wahrschein- 
lichkeitsprincip  und  dem  Sparsamkeitsprincip  in  gleiche  oder 
nähe  gleiche  Tiefe  verlegt.  Hierdurch  ist  die  Wirkung  der 
Fluchtpunkte  gegeben.  Parallel  können  solche  Linien  gesehen 
werden,  die  Nothwendigkeit  eines  solchen  Eindrucks  besteht  aber 
nicht.  Halten  wir  die  Zeichnung  Figur  2g  in 
gleicher  Höhe  mit  dem  Auge,  so  kann  sie  uns 
den  Blick  in  die  Tiefe  eines  Ganges  vorspiegeln. 
Die  Enden  _^ /z ^y^  werden  in  gleiche  Ferne  ver- 
legt. Ist  die  Entfernung  gross,  so  scheinen  hier- 
Figur  29.         bei   die  Linien  ae,  bf,  cg,  dh  horizontal.     Erhebt 


i)  HiUebrand  (,,Verh.  v.  Accommod.  u.  Converg.  z.  Tiefenlocalisation", 
Zeitschr.  f.  Psych,  u.  Phys.  der  Sinncsorg.,  VIT,  S.  97)  hat  die  geringe  Bedeutung  der 
Accomraodation  für  das  Tiefensehen  nachgewiesen. 


löy     — 


man    die   Zeichnung,   so    heben   sich   die    Enden    efgh,    und    der 
Boden     abef   scheint    bergan     zu    steigen.      Bei     Senkung    der 
Zeichnung  tritt  die  umgekehrte   Erscheinung  ein.     Analog'e  Ver- 
änderungen beobachten  wir,  wenn  wir  die  Zeichnung  rechts   oder 
links  zur  Seite  schieben.     Hierbei   kommen   nun    die   Elemente 
der  perspectivischen  Wirkung  zum  einfachen  und  klaren  Ausdruck. 
Ebene  Zeichnungen,  wenn  sie  durchweg  aus  geraden  Linien 
bestehen,  die  sich  überall  rechtwinklig  durchschneiden,  erscheinen 
fast    nur    eben.      Kommen    schiefe    Durchschnitte    und 
krumme   Linien    vor,   so  treten  die    Linien    leicht    aus 
der  Ebene  heraus,  wie  z.  B.  die  Figur  30  zeigt,  welche 
man    ohne   Mühe    als   ein    gekrümmtes   Blatt    auffasst. 
Wenn    eine    solche    Contour,    wie    Fig.    30,    eine    be- 
stimmte Form  im  ^Raume  angenommen  hat,   und  man 
igi-^r  30.    sjg]-^|-    dieselbe    als    Grenze    einer   Fläche,    so    erscheint 
letztere,   um   es   kurz   zu   sagen,    möglichst  flach,    also   wieder 
mit    einem    Minimum    der  Abweichung    vom    Mittel   der    Tiefen- 
empfindung ^). 

13- 
Die  eigenthümliche  Wechselwirkung,  sich  schief  in  der  Zeich- 
nungsebene (beziehungsweise  auf  der  Netzhaut)  durchschneidender 
Linien,  vermöge  welcher  sich  dieselben  gegenseitig  aus  der  Zeich- 
nungsebene  (beziehungsweise    aus   der  zur  Visirlinie   senkrechten 
Ebene)  heraustreiben,   habe  ich  zuerst    bei  Gelegen- 
heit des  vorher  (S.  157)  erwähnten  Experimentes  mit 
der  monocularen  Inversion   des  Kartenblattes  be- 
obachtet.    Das   Blatt  Figur  31,    dessen  gegen   mich 
convexe  Kante  be  vertical  steht,  legt  sich,  wenn 
es  mir  gelingt,  be  concav  zu  sehen,  wie  ein  aufge- 
schlagenes Buch   auf  den  Tisch,    so    dass  b  ferner 


NKl 


Figur  31. 


erscheint   als  e.     Kennt   man  die  Erscheinung  einmal,  so   gelingt 

I)  Die  Tiefenempfindung  verhält  sich  hier  wieder  ähnlich  der  Potentialfunction 
in  einem  Raum,  an  dessen  Grenzen  sie  bestimmt  ist.  Diese  möghchst  flache  Fläche 
fällt  nicht  zusammen  mit  der  Fläche  minimae  areae,  welche  man  erhalten  würde, 
wenn  die  gesehene  räumliche  Contour,  aus  Draht  dargestellt,  und  in  Seifenlösung  ge- 
taucht, sich  mit  einer  Plateau' sehen  Flüssigkeitshaut  erfüllen  würde. 


i68     — 


Figur 


die  Inversion  fast  bei  jedem  Object,  und  man  kann  dann  immer 
mit  der  P'ormänderung  (Umstülpung)  zugleich  jene  merk- 
würdige Aenderung  der  Orientirung  (Stellung)  des  Objectes 
beobachten.  Besonders  überraschend  gestaltet  sich  der  Vorgang 
bei  durchsichtigen  Objecten.  Es  sei  ab  c  d  der  Durchschnitt  eines 
Glaswürfels  auf  einem  Tisch  /  /,  und  O 
das  Auge.  Bei  der  monocularen  In- 
version rückt  die  Kante  a  nach  d ,  b 
aber  näher  heran  nach  b\  c  nach  c  und 
d  nach  öf'.  Der  Würfel  scheint  nun  auf 
der  Kante  c  schief  auf  dem  Tisch  /'  /'  zu 
stehn.  Um  die  Zeichnung'  übersichtlicher 
zu  gestalten,  wurden  die  beiden  Bilder  nicht  ineinander,  sondern 
hintereinander  dargestellt.  Ein  theilweise  mit  g-efärbter  Flüssig- 
keit gefülltes  Trinkglas,  an  die  Stelle  des  Würfels  gesetzt,  stellt 
sich  natürlich  sammt  seiner  Flüssigkeitsoberfläche  ebenfalls  schief. 
Dieselben  Erscheinungen  kann  man  bei  genügender  Auf- 
merksamkeit auch  an  jeder  Linearzeichnung"  beobachten.  Wenn 
man  das  Blatt  mit  der  Figur  3 1  vertical  vor  sich  hinstellt  und 
monocular  betrachtet,  so  sieht  man,  wenn  be  convex  ist,  b  vor- 
treten, wenn  be  concav  ist  ist,  e  vortreten,  sich  dem  Beobachter  nähern, 
und  b  zurückweichen.  Loeb^)  bemerkt,  dass  hierbei  die  Punkte 
a,  b,  e,  in  der  Zeichnungsebene  verbleiben.  In  der  That  werden 
hierdurch  die  Orientirungsänderungen  verständ- 
lich. Zieht  man  die  punktirten  Linien  (Fig.  32a) 
und  denkt  sich  die  Figur,  so  weit  sie  ausserhalb 
des  punktirten  Dreiecks  liegt,  weggelöscht,  so 
bleibt  uns  das  Bild  einer  hohlen  oder  erhabenen 
dreiseitigen  Pyramide,  welche  mit  der  Basis  in 
der  Zeichnungsebene  liegt.  Die  Inversion  hat 
keine  irgendwie  räthselhafte  Orientirungsänderung  mehr  zur 
Folge.  Es  scheint  also,  dass  jeder  monocular  g'esehene 
Punkt  nach  dem  Minimum  der  Abweichungen  vom 
Mittel  der  Tiefenempfindung,   und   das   ganze  gesehene- 


Figur   32a. 


l)  Loeb,  a.  a.  O. 


—      i6g     — 

Object  nach  dem  Minimum  der  Entfernung  von  der 
Hering'schen  Kernfläche  strebt,  welches  unter  den  Ver- 
suchsbeding^ungen  erreichbar  ist. 

Wenn  man  die  Deformationen  beachtet,  welche  eine  ebene 
gradlinige  Figur  bei  monocularer  räumlicher  Auslegung  erfährt, 
so  kann  man  dieselben  qualitativ  darauf  zurückführen,  dass  die 
Schenkel  eines  spitzen  Winkels  sich  nach  entgegengesetzten 
Seiten,  jene  eines  stumpfen  Winkels  nach  derselben  Seite  aus 
der  Zeichnungsebene,  der  zur  Visirlinie  senkrechten  Ebene,  her- 
austreiben. Spitze  Winkel  vergrössern,  stumpfe  Winkel  ver- 
kleinern, sich  hierbei.     Alle  Winkel  streben  dem  rechten  zu. 

14- 
Der  letztere  Satz  legt  die  Beziehung  der  eben  besprochenen 

Erscheinung  zur  Zolin  er 'sehen  Pseudoscopie  und  den  zahlreichen 
verwandten  Phänomenen  nahe.  Auch  hier  kommt  alles  auf  schein- 
bare Vergrösserung  der  spitzen  und  Verkleinerung  der  stumpfen 
Winkel  hinaus,  nur  dass  die  Zeichnungen  in  der  Ebene  gesehen 
werden.  Sieht  man  dieselben  aber  monocular  räumlich,  so  ver- 
schwinden die  Pseudoscopien,  und  es  treten  dann  die  zuvor  be- 
schriebenen Erscheinungen  auf.  Obgleich  nun  diese  Pseudoscopien 
vielfach  studirt  worden  sind,  existirt  zur  Zeit  doch  keine  allseitig 
befriedigende  Erklärung  derselben.  Mit  so  leichtfertigen  Er- 
klärungen, wie  etwa  jener,  dass  wir  gewohnt  seien  vorzugsweise 
rechte  Winkel  zu  sehen,  darf  man  natürlich  nicht  kommen,  wenn 
die  ganze  Untersuchung  nicht  verfahren  oder  vorzeitig  abgebrochen 
werden  soll.  Wir  sehen  oft  genug  schiefwinklige  Objecte,  da- 
gegen ohne  künstliche  Veranstaltung  niemals,  wie  in  dem  obigen 
Experiment,  einen  ruhigen  schiefen  Flüssigkeitsspiegel.  Dennoch 
zieht  das  Auge,  wie  es  scheint,  den  schiefen  Flüssigkeitsspiegel 
einem  schiefwinkligen  Körper  vor. 

Die  elementare  Macht,  die  sich  in  diesen  Vorgängen  aus- 
spricht, hat  nach  meiner  Ueberzeugung  ihre  Wurzel  in  viel  ein- 
facheren Gewohnheiten  des  Sehorgans,  welche  kaum  erst  im  Cultur- 
leben  des  Menschen  entstanden  sind.  Ich  habe  seiner  Zeit  versucht 
die  Erscheinungen  durch  einen  dem  Farbencontrast  analogen  Rieh- 


—     lyo     — 

tungscontrast  zu  erklären,  ohne  zu  einem  befriedigenden  Resultat 
zu  gelang"en.  Neuere  Untersuchungen  von  Loeb^),  Heymanns^) 
u.  a.,  sowie  Beobachtungen  von  Hoefler^)  über  Krümmungs- 
contrast,  sprechen  nun  doch  sehr  zu  Gunsten  einer  Contrasttheorie. 
Auch  hat,  in  letzter  Zeit  wenigstens,  die  Neigung  für  eine  rein 
physiologische  Erklärung  entschieden  zug"enommen  ^). 

Auch  das  Princip  der  Sparsamkeit  hat  sich  mir  in  Bezug  auf 
die  Zolin  er 'sehe  Pseudoscopie  als  unergiebig  erwiesen.  Etwas 
mehr  Aussicht  auf  Erfolg  schien  das  Princip  der  Wahrscheinlich- 
keit zu  bieten.  Wir  denken  uns  die  Netzhaut  als  Vollkugel  und 
den  Scheitel  eines  Winkels  a  im  Räume  fixirt.  Die  Ebenen, 
welche  durch  den  Kreuzungspunkt  des  Auges  und  die  Winkel- 
schenkel hindurchgehend  die  letzteren  auf  die  Netzhaut  projiciren, 
schneiden  auf  dieser  ein  sphärisches  Zweieck  mit  dem  Winkel  A 
aus,  welcher  den  Winkel  des  monocularen  Bildes  vorstellt.  Dem- 
selben beliebigen  A  können  nun  unzählige  Werthe  von  a  zwischen 
o*^  und  i8o^  entsprechen,  wie  man  erkennt,  wenn  man 
bedenkt,  dass  die  Schenkel  des  objectiven  Winkels 
jede  beliebige  Lage  in  den  erwähnten  projicirenden 
Ebenen  annehmen  können.  Einem  gesehenen  Winkel 
A  können  also  alle  Werthe  des  objectiven  Winkels  a 
entsprechen,  welche  sich  ergeben,  wenn  man  jede  der 
Dreieckseiten  b  und  c  zwischen  o^  und  i8o^  variiren 
lässt.  Hierbei  ergibt  sich  nun  wirklich,  wenn  man  die 
Rechnung  in  einer  bestimmten  Weise  anlegt,  dass  ge- 
sehenen spitzen  Winkeln  als  wahrscheinlichstes  Object  ein 
grösserer  Winkel,  gesehenen  stumpfen  Winkeln  ein  kleinerer 
Winkel  entspricht.  Ich  war  jedoch  nicht  in  der  Lage  zu  ent- 
scheiden, ob  jene  Fälle,  welche  man  als  geometrisch  gleich 
mögliche  anzusehen  geneigt  ist,  auch  als  physiologisch  gleich 
mögliche  betrachtet  werden  dürfen,  was  wesentlich  und  wichtig 
wäre.     Auch  ist  mir  die  ganze  Betrachtung  viel  zu  künstlich. 

I^  Loeb,  Pflüger's  Archiv,    1895,  S.   509. 

2)  Heymans,  Zeitschr.   f.  Psychol.  u.  Pliysiol.  d.  Sinnesorgane,   XIV,    loi. 

3)  Höfler,   Zeitschr.   f.   Psychol.  u.   Physiol.   d.   Sinnesorgane,   XII,    i. 

4)  Witasck,   Zeitschr.   f.   Psychol.   u.   Physiol.   d.   Sinnesorgane,   XIX,    i. 


—     171     — 

15- 

Es  kann  hier  nicht  unerwähnt  bleiben,  dass  A.  Stöhr  ver- 
sucht hat  von  ganz  neuen  Gesichtspunkten  aus  über  die  zuvor 
besprochenen  Erscheinungen  Aufklärung  zu  gewinnen.  Den  all- 
gemeinen Erwägungen,  von  welchen  sich  Stöhr  leiten  Hess,  muss 
ich  volle  Sympathie  und  Zustimmung  entgegenbringen.  Dagegen 
habe  ich  mir  bis  jezt  kein  sicheres  Urtheil  verschaffen  können, 
ob  Stöhrs  Hypothesen  eine  thatsächlich  nachweisbare  Grundlage 
entspricht.  Die  vorausgesetzten  Verhältnisse  sind  auch  so  com- 
plicirt,  dass  es  nicht  leicht  ist,  darüber  zu  entscheiden,  ohne  das 
Gebiet  selbst  von  neuem  durchzuexperimentiren.  Ich  weiss  also 
nicht,  ob  Stöhrs  Ansichten  überall  zur  Erklärung  ausreichen 
werden.  In  einer  älteren  Arbeit^)  wird  angenommen,  dass  dem 
dioptrischen  Bilde  des  Auges  vor  der  Netzhaut  ein  katoptrisches 
Bild  in  der  Netzhaut  entspricht,  welches  nach  deren  Tiefe  Relief 
hat.  Die  Tiefe  in  der  Netzhaut  wäre  zugleich  das  Bestimmende 
für  die  empfundene  Tiefe  im  Sehraum  und  das  Regulirende  der 
Accomodation.  In  der  That  habe  ich  mich  immer  gefragt,  wo- 
durch denn  der  Sinn  der  Accomodationsänderung  bestimmt  sei, 
da  dieselbe  durch  die  blosse  Grösse  des  Zerstreuungskreises  nicht 
bestimmt  sein  kann,  da  ferner  der  Zusammenhang  zwischen  Con- 
vergenz  und  Accomodation  nur  ein  loser  ist,  und  da  auch  ein 
Auge  allein  sich  accommodirt.  Anderseits  stehen  dieser  Ansicht 
die  zahlreichen  Beobachtungen  über  die  Werthlosigkeit  der  Accom- 
modation  für  die  Tiefenempfindung  entgegen.  Die  grosse  Dicke 
der  Netzhaut  der  Insectenaugen  ^)  legt  es  wieder  nahe,  an  eine 
Function  derselben  bei  der  Relief  Wahrnehmung-  zu  denken. 

In  zwei  folgenden  Arbeiten  ^)  wird  auf  diese  Ansicht  weiter 
gebaut.  Die  zweite  derselben  bringt  eine  Scheffler'sche  Ansicht 
in  eine  mehr  physiologische  Form.  Die  herrschende  Ansicht,  nach 
welcher  die  Bilder   von  Stellen,   welche   mehr   oder  weniger  von 


i)  Zur  nativistischen  Behandlung  des  Tiefensehens  (Wien   1892). 

2)  Exner,   Die  Physiologie  der  facettirten  Augen  (Wien    1891,  S.    188). 

3)  Zur  Erklärung   der    Zöllnerschen    Pseudoskopie  (Wien   1898).    —    Binoculare 
Figtumischung  und  Pseudoskopie  (Wien   1900). 


—      172     — 

correspondirenden  abweichen,  zu  einem  einheitlichen  Eindruck 
verschmelzen,  findet  Stöhr  unbehaglich.  „Wo  ist  der  Weichen- 
wächter, der  den  Wechsel  nicht  nur  in  ausser  gewöhnlicher,  sondern 
auch  in  zweckmässiger  Weise  so  stellt,  dass  jetzt  ein  ungewöhn- 
liches Paar  von  Leitungsbahnen  zwei  Reize  zur  Vereinigung-  im 
Centralorgan  bringen  kann?"  Es^  wird  ang^enommen,  dass  die 
Netzhäute  beider  Augen  von  einem  Streben  nach  Minimalisation 
des  Lichtreizes  beherrscht  nach  Aequalisation  ungleicher  Bilder 
trachten.  Die  nervösen  Elemente  erregen  den  Ciliarmuskel,  und 
zwar  nicht  nur  in  ganz  gleichmässiger  regelmässiger  Weise,  son- 
dern nach  Bedürfniss  auch  sehr  ungleichmässig.  Regelmässige 
Contraction  des  Ciliarmuskels  bringt  eine  grössere  Linsenwölbung 
und  eine  geringe  Contraction  der  Netzhaut  hervor.  Nehmen  hie- 
bei  die  Netzhautelemente  ihre  Ortswerthe  mit,  so  erscheint  das- 
selbe Netzhautbild  vergrössert.  So  soll  es  nach  Stöhr  verständ- 
lich werden,  dass  die  Panum 'sehen  proportionalen  Kreissysteme 
(bis  zum  Radienverhältniss  4:5)  durch  Anpassung-  der  beiden 
Aug'en  aneinander  mit  identischen  Netzhautstellen  einfach  und 
in  mittlerer  Grösse  g-esehen  werden.  Dass  die  Verschmelzung 
der  Kreissysteme  nicht  durch  Unterdrückung  des  einen  Bildes 
geschieht,  weist  Stöhr  nach,  mdem  er  das  eine  Kreissystem  aus 
rothen,  das  andere  aus  alternirenden  grünen  Punkten  darstellt, 
so  dass  in  dem  binocularen  Sammelbild  die  rothen  zwischen  den 
grünen  Punkten  erscheinen.  Unregelmässige  Contraction  des 
Ciharmuskels  soll  nun  eine  mehrfache  Wirkung  hervorbring'en: 
Einmal  eine  unregelmässige  Deformation  der  Linse  mit  mannig- 
faltiger Verschiebung  der  Spitzen  der  Diacaustik  verschiedener 
Strahlenbündel,  hiedurch  Aenderung"  des  Reliefs  des  dioptrischen 
und  katoptrischen  Bildes,  und  ferner  eine  mannigfaltige  mini- 
male Deformation  der  Netzhaut.  Stöhr  glaubt  durch  detaillirte 
Rechnungen  die  Möglichkeit  seiner  Auffassung  darzuthun  und 
durch  Untersuchung-  von  Beobachtern  mit-  aphakischen  x^ugen 
die  Thatsächlichkeit  seiner  Voraussetzungen  nachzuweisen.  Zu 
überraschenden  Versuchen,  z.  B.  stereoscopischer  Knickung  von 
Geraden  hat  ihn  seine  Theorie  jedenfalls  geführt,  und  sie  verdient 


—      173     — 

also  schon  deshalb  Beachtung-.  So  sehr  mir  aber  seine  Auffassung' 
des  Auges  und  seiner  Theile  als  lebender  Organismen  sym- 
pathisch ist,  habe  ich  mich  doch  noch  nicht  überzeugen  können, 
dass  seine  Annahmen  zur  Erklärung  complicirterer  Fälle  des 
Raumsehens  überall  ausreichen. 

St  Öhr  entfernt  sich  recht  weit  von  den  Traditionen  der 
physiologischen  Optik.  An  sich  kann  das  kein  Grund  sein,  auf 
die  g'enaue  Prüfung  seiner  Theorie  nicht  einzugehen,  seit  die  an 
schönen  und  merkwürdigen  Ergebnissen  reichen  vergleichend 
physiologischen  Untersuchungen  von  S.  Exner  und  Th.  Beer^) 
uns  Aug"en  von  so  mannigfaltigen  organischen  Einrichtungen 
kennen  gelehrt  haben,  wie  sie  ein  Physiker  a  priori  kaum  ver- 
muthen  würde. 

Dass  während  des  Sehens  noch  zu  erforschende  Veränder- 
ungen im  Aug'e  vorgehn ,  wird  durch  manche  Erscheinungen 
wahrscheinlich.  Stereoscopbilder  mit  starken  stereoscopischen 
Differenzen  zeigen  bei  längerem  Hinsehen  noch  ein  successiv 
enorm  wachsendes  Relief,  wenn  auch  die  Verschmelzung  schein- 
bar längst  vollendet  ist.  An  feinen  glatten  parallelen  Linien- 
S3^stemen  hat  man  wellige  Krümmungen  und  Anschwellungen 
beobachtet,  und  hat  dieselben  in  etwas  eigenthümlicher  Weise 
auf  die  zur  Darstellung  von  so  feinen  Geraden  unzureichende 
Netzhautmosaik  zurückgeführt.  Ich  habe  aber  diese  Erscheinung 
an  sehr  deutlich  sichtbaren,  keineswegs  mikrometrischen,  Geraden- 
systemen bei  andauerndem  Hinsehen  stets  wahrgenommen.  Mit 
der  Netzhautmosaik  hat  also  die  Sache  gewiss  nichts  zu  thun. 
Eher  könnte  ich  glauben,  dass  durch  die  Anstrengung,  etwa 
durch  kleine  Verschiebungen  im  Sinne  Stöhrs,  die  Raum- 
werthe  etwas  in  Unordnung  gerathen  seien.  2) 


i)  Th.  Beer,  Die  Accommodation  des  Fischauges  (Pflügers  Archiv  Bd.  LVIII 
S.  523).  —  Accomödation  des  Auges  in  der  Thierreihe  (Wiener  klinische  Wochen- 
schrift. 1898  Nr.  42).  —  Ueloer  primitive  Sehorgane  (Ebendaselbst  1901  Nr.   11,  12,  13.) 

2)  Ueber  die  physiologische  Wirkung  räumlich  vertheilter  Lichtreize  (Wiener 
Sitzber.  2.  Abth.,    1866  October,  S.   7,    10. des  Separatabzuges). 


—      174     — 

i6. 

Der  leichte  Uebergang  vom  pseudoscopischen  Sehen  ebener 
Figuren  zum  monocularen  räumHchen  Sehen  derselben  wird  wohl 
über  ersteres  noch  weitere  Aufklärung  verschaffefi.  Folgende 
Thatsachen  bestärken  diese  Vermuthung.  Eine  ebene  Linear- 
zeichnung, monocular  betrachtet,  erscheint  gewöhnlich  eben. 
Macht  man  aber  die  Winkel  veränderlich  und  leitet  die  Bewegung 
ein,  so  streckt  sich  jede  derartige  Zeichnung  sofort  in  die  Tiefe. 
Man  sieht  dann  gewöhnlich  einen  starren  Körper  in  einer  Drehung 
begriffen,  wie  ich  dies  bei  einer  früheren  Gelegenheit  ^)  beschrieben 
habe.  Die  bekannten  Li ssajous'schen  Schwingungsfiguren,  welche 
bei  Wechsel  des  Phasenunterschiedes  auf  einem  gedrehten  C3dinder 
zu  liegen  scheinen,  bieten  ein  schönes  Beispiel  des  betreffenden 
Vorganges. 

Man  könnte  nun  hier  wieder  auf  die  Gewohnheit  hinweisen, 
mit  starren  Körpern  umzugehen.  Starre  Körper,  in  Drehungen 
und  Wendungen  begriffen,  umgeben  uns  in  der  That  fortwährend. 
Ja  die  ganze  materielle  Welt,  in  welcher  wir  uns  bewegen,  ist 
gewissermaassen  ein  starrer  Körper,  und  ohne  die  Hilfe  starrer 
Körper  gelangen  wir  überhaupt  nicht  zur  Vorstellung  des  geo- 
metrischen Raumes.  Wir  achten  auch  gewöhnlich  nicht  auf 
die  Lage  der  einzelnen  Punkte  eines  Körpers  im  Raum,  sondern 
fassen  ohne  Weiteres  dessen  Dimensionen  auf.  Darin  liegt  haupt- 
sächlich für  den  Ungeübten  die  Schwierigkeit,  ein  perspectivisches 
Bild  zu  entwerfen.  Kinder,  welche  gewohnt  sind  die  Körper  in 
ihren  wahren  Dimensionen  zu  sehen,  können  sich  mit  per- 
spectivischen  Verkürzungen  nicht  abfinden,  und  sind,  von  einem 
einfachen  Aufriss,  von  einer  Profilzeichnung  weit  mehr  befriedigt. 
Ich  weiss  mich  dieses  Zustandes  sehr  wohl  zu  erinnern,  und  be- 
greife durch  diese  Erinnerung  die  Zeichnungen  der  alten  Aegypter, 
welche  alle  Körpertheile  der  Figuren  soweit  als  möglich  in  ihren 
wahren    Dim.ensionen    darstellen,    und    dieselben    desshalb    in    die 


i)  Beobachtungen   über   monoculare  Stereoskopie.     Sitzungsbcriclite  der  Wiener 
Akademie  (1868),  Bd.   58. 


—      175     — 

Zeichnungsebene  gleichsam  hineinpressen,  wie  die  Pflanzen  in  ein 
Herbar.  Auch  in  den  Pompejanischen  Wandgemälden  begegnen 
wir,  obgleich  hier  der  Sinn  für  Perspective  schon  deutlich  ist,  noch 
einer  merklichen  Scheu  vor  Verkürzungen.  Die  alten  Italiener 
hingegen,  im  Gefühle  ihrer  Sachkenntniss,  gefallen  sich  oft  in 
übermässigen,  zuweilen  sogar  unschönen  Verkürzungen,  welche 
dem  Auge  mitunter  eine  bedeutende  Anstrengung  zumuthen. 


17- 

Es  ist  also  keine  Frage,  dass  uns  das  Sehen  starrer  Körper 
mit  den  festen  Abständen  ihrer  ausgezeichneten  Punkte  viel  ge- 
läufiger ist  als  das  Aussondern  der  Tiefe,  welches  sich  immer 
erst  durch  eine  absichtliche  Analyse  ergibt.  Demnach  können  wir 
erwarten,  dass  überall,  wo  eine  zusammenhängende  Masse  von 
Empfindungen,  die  vermöge  der  continuirlichen  Uebergänge  und 
des  gemeinsamen  Farben characters  zur  Einheit  verschmilzt,  eine 
räumliche  Veränderung  zeigt,  diese  mit  Vorliebe  als  Bewegung 
eines  starren  Körpers  gesehen  wird.  Ich  muss  aber  gestehen, 
dass  mich  diese  Auffassung  wenig  befriedigt.  Vielmehr  glaube 
ich,  dass  auch  hier  eine  elementare  Gewohnheit  des  Sehorgans 
zu  Grunde  liegt,  welche  nicht  erst  durch  die  bewusste  individuelle 
Erfahrung  entstanden  ist,  sondern  welche  im  Gegentheil  schon  das 
Auffassen  der  Bewegungen  starrer  Körper  erleichtert  hat.  Würden 
wir  z.  B.  annehmen,  dass  jede  Verkleinerung  der  Querdimension 
einer  optischen  Empfindungsmasse,  welcher  die  Aufmerksamkeit 
zugewendet  wird,  eine  entsprechende  Vergrösserung  der  Tiefen- 
dimensionen herbeizuführen  strebt,  und  umgekehrt,  so  wäre  dieser 
Process  ganz  analog  demjenigen,  dessen  schon  oben  gedacht  (S.  158) 
und  der  mit  der  Erhaltung  der  Energie  verglichen  wurde.  Die 
berührte  Ansicht  ist  entschieden  viel  einfacher  und  zur  Erklärung 
ebenfalls  ausreichend.  Man  kann  sich  auch  leichter  vorstellen,  wie 
eine  so  elementare  Gewohnheit  erworben,  wie  sie  in  der  Organi- 
sation ihren  Ausdruck  finden,  und  wie  die  Stimmung  für  dieselbe 
vererbt  werden  kann. 


—     176     — 

Als  Gegenstück  zu  der  Drehung  starrer  Körper,  welche  uns 
das  Sehorgan  vorspiegelt,  will  ich  hier  noch  eine  andere  Be- 
obachtung anführen.  Wenn  man  ein  Ei  oder  ein  Ellipsoid  mit 
matter  gleichmässiger  Oberfläche  über  den  Tisch  rollt,  jedoch  so, 
dass  es  sich  nicht  um  die  Axe  des  Rotationskörpers  dreht,  sondern 
hüpfende  Bewegungen  ausführt,  so  glaubt  man  bei  binocularer 
Betrachtung  einen  flüssigen  Körper,  einen  grossen  schwingenden 
Tropfen,  vor  sich  zu  haben.  Noch  auffallender  ist  die  Erscheinung, 
wenn  ein  Ei,  dessen  Längsachse  horizontal  liegt,  um  eine  verticale 
Axe  eine  massig  rasche  Rotation  versetzt  wird.  Dieser  Eindruck 
verschwindet  sofort,  wenn  auf  der  Oberfläche  des  Eies  Flecken 
angebracht  werden,  deren  Bewegung  man  verfolgen  kann.  Man 
sieht  dann  den  gedrehten  starren  Körper. 

Die  in  diesem  Kapitel  gegebenen  Erklärungen  sind  von 
Vollständigkeit  gewiss  noch  weit  entfernt,  doch  glaube  ich,  dass 
meine  Ausführungen  ein  exacteres  und  eingehenderes  Studium 
der  besprochenen   Erscheinungen  anregen  und  anbahnen   können. 


XL    Empfindung,  Gedächtniss  und  Association. 


Es  kann  nach  den  vorausgehenden  Erörterungen  kein  Zweifel 
bestehen,  dass  blosse  Empfindungen  kein  dem  unsrigen  auch  nur 
entfernt  ähnliches  psychisches  Leben  begründen  können.  Wenn 
die  Empfindung  sofort  nach  dem  Verschwinden  vergessen  wird, 
kann  nur  eine  zusammenhangslose  Mosaik  und  Folgte  von  psy- 
chischen Zuständen  sich  ergeben,  wie  wir  dieselbe  bei  den  niedersten 
Thieren  und  bei  den  tiefstehenden  Idioten  annehmen  müssen.  Eine 
Empfindung,  welche  nicht  etwa  als  heftiger  Bewegungsreiz  wirkt, 
wie  etwa  eine  Schmerzempfindung,  wird  auf  dieser  Stufe  schwer- 
lich Beachtung  finden.  Der  Anbhck  eines  lebhaft  gefärbten 
kugelförmigen  Körpers  z.  B.,  der  nicht  durch  die  Erinnerung 
an  den  Geruch  und  Geschmack,  kurz  an  die  Eigenschaft  einer 
Frucht,  an  die  mit  derselben  gemachten  Erfahrungen,  ergänzt 
wird,  bleibt  unverstanden,  ist  ohne  Interesse,  wie  dies  im  Zustande 
der  „Seelenblindheit"  beobachtet  wird.  Aufbewahrung  von  Er- 
innerungen, Zusammenhang  derselben,  Wiedererweckbarkeit  durch 
einander,  Gedächtniss  und  Association,  sind  die  Grund- 
bedingung des  entwickelten  psychischen  Lebens. 

2. 

Was  ist  nun  das  Gedächtniss?  Ein  psychisches  Erlebniss 
lässt  psychische  Spuren  zurück,  dasselbe  hinterlässt  aber  auch 
physische  Spuren.  Das  gebrannte  oder  von  der  Wespe  gestochene 
Kind  benimmt  sich  auch  physisch  ganz  anders,  als  ein  Kind,  welchem 

Mach,  Analyse.    3.  Aufl.  1- 


-      178     - 

diese  Erfahrung  fehlt.  Denn  das  Psychische  und  das  Physische 
sind  überhaupt  nur  durch  die  Art  der  Betrachtung  verschieden. 
Dennoch  ist  es  recht  schwierig,  in  den  Erscheinung'en  der  Physik 
des  Unorganischen  Züge  zu  entdecken,  welche  dem  Gedächtniss 
verwandt  sind. 

In  der  Physik  des  Unorganischen  scheint  alles  durch  die 
augenblicklichen  Umstände  bestimmt,  die  Vergangenheit  ganz 
einfiusslos  zu  sein.  Die  Beschleunigung  eines  Körpers  ist  durch 
die  augenblicklichen  Kräfte  gegeben.  Ein  Pendel  schwingt  gleich, 
ob  es  die  erste  Schwingung  vollführt,  oder  ob  schon  looo  andere 
vorausgegangen  sind.  H  verbindet  sich  mit  Cl  in  derselben 
Weise,  ob  es  vorher  mit  Br  oder  J  verbunden  war.  Allerdings 
gibt  es  auch  in  dem  ph3^sikalischen  Gebiet  Eälle,  in  welchem 
die  Vergangenheit  deutlich  ihren  Einfluss  ausspricht.  Die  Erde 
erzählt  uns  ihre  geologische  Vorgeschichte.  Der  Mond  erzählt 
sie  ebenso.  Ich  sah  an  einem  Gesteinstück  ein  System  ganz 
sonderbarer  congruenter  Ritzfiguren,  welches  E.  Suess  sehr  plau- 
sibel als  ein  vorweltliches  vSeismogramm  interpretirte. 

Ein  Draht  merkt  sich  sozusagen  lange  Zeit  jede  Torsion, 
die  er  erlitten  hat.  Jeder  Entladungsfunke  ist  ein  Individuum 
und  von  den  vorausgeg'angenen  Entladungen  beeinflusst.  Die 
isolirende  Schicht  der  Leidnerflasche  bewahrt  eine  Geschichte  der 
vorausgegangenen  Ladungen. 

Der  scheinbare  Widerspruch  löst  sich,  wenn  wir  berück- 
sichtigen, dass  wir  in  der  Physik  die  betrachteten  Eälle  aufs  äusserste 
zu  idealisiren  und  zu  chematisiren,  die  einfachsten  Umstände  voraus- 
zusetzen pflegen.  Wenn  wir  ein  mathematisches  Pendel  annehmen, 
dann  ist  gewiss  die  tausendste  Schwingung'  wie  die  erste,  dann 
gibt  es  keine  Spuren  der  Vergangenheit,  weil  wir  eben  von  den- 
selben absehen.  Das  wirkliche  Pendel  nutzt  aber  seine  Schneide 
ab,  erwärmt  sich  durch  äussere  und  innere  Reibung,  und  keine 
Schwingung-  gleicht,  genau  genommen,  der  andern.  Jede  zweite, 
dritte  Drcihttorsion  fällt  ctw£is  anders  aus,  als  wenn  die  früheren 
nicht  gewesen  wären.  Könnte  man  in  der  Psychologie  ebenso 
schematisiren,  so  würde  man  Menschen  erlialten,  die  sich  identisch 


—      179      - 

verhalten,  keinen  Einfluss   der  individuellen   Erlebnisse    erkennen 
lassen  würden. 

In  Wirklichkeit  lässt  jeder  psychische  so  gut  wie  jeder 
physische  Vorgang  seine  unverwischbaren  Spuren  zurück.  In 
beiden  Gebieten  gibt  es  nicht  umkehrbare  Prozesse,  ob  nun 
die  Entropie  vermehrt,  oder  der  Knoten  einer  gestörten  und  wieder 
angeknüpften  Freundschaft  gefühlt  wird.  Und  jeder  wirkliche 
Vorgang  enthält  mindestens  nicht  umkehrbare  Compooenten. 

3- 
Man  wird  nun  mit  Recht  sagen:  Spuren  der  Vergangen- 
heit sind  noch  lange  kein  Gedächtniss.  In  der  That,  damit  die 
Aehnlichkeit  grösser  werde,  müssten  gewesene  Vorgänge  auf 
einen  leisen  Anstoss  hin  aufs  neue  sich  abspielen.  Die  gut 
gespielten  alten  Violinen,  die  Mos  er 'sehen  Hauchbilder,  der 
Phonograph  sind  schon  etwas  bessere  Beispiele.  Allein  Violine 
und  Phonograph  müssen  durch  äussere  Kräfte  gespielt  werden, 
während  der  Mensch  sich  und  sein  Gedächtniss  selbst  spielt.  Die 
organischen  Wesen  sind  nämlich  keine  starren  materiellen  Systeme, 
sondern  im  Wesentlichen  dynamische  Gleichgewichtsformen  von 
Strömen  von  „Materie"  und  ,, Energie".  Die  Abweichungsformen 
dieser  Ströme  von  dem  dynamischen  Gleichgewichtszustand  sind 
es  nun,  die  sich,  je  nachdem  sie  einmal  eingeleitet  wurden,  immer 
in  derselben  Weise  wiederholen.  Solche  Variationen  d)''namischer 
Gleichgewichtsformen  hat  die  anorganische  Physik  noch  wenig 
studirt.  DieAenderung  von  Flussläufen  durch  zufällige  Umstände, 
welche  Läufe  dann  beibehalten  werden,  sind  ein  ganz  rohes  Bei- 
spiel. Schraubt  man  einen  Wasserhahn  so  weit  zu,  dass  ein  ganz 
dünner  ruhiger  Strahl  zum  Vorschein  kommt,  so  genügt  ein  zu- 
fälliger Anstoss,  um  dessen  labiles  Gleichgewicht  zu  stören  und 
dauerndes  rhythmisches  tropfenweises  Ausfliessen  zu  veranlassen. 
Man  kann  eine  lange  Kette  aus  einem  Gefäss,  in  welchem  sie 
zusammengerollt  liegt  über  eine  Rolle,  nach  Art  eines  Hebers, 
in  ein  tieferes  Gefäss  überfliessen  lassen.     Ist  die  Kette  sehr  lang, 

der  Niveauunterschied    sehr    gross,    so    kann  die  Geschwindigkeit 

12* 


sehr  bedeutend  werden,  und  dann  hat  die  Kette  bekanntlich  die 
Eigenschaft,  jede  Ausbiegung,  die  man  ihr  ertheilt,  frei  in  der 
Luft  lange  beizubehalten,  und  durch  diese  Form  hindurchzufliessen. 
Alle  diese  Beispiele  sind  sehr  dürftige  Analogien  der  organischen 
Plasticität  für  Wiederholung  von  Vorgängen  und  von  Reihen  von 
Vorgängen. 

Die  vorausgehenden  Betrachtungen  sollen  zeigen,  dass  ein 
ph3Asikalisches  Verständniss  des  Gedächtnisses  zwar  nicht  un- 
erreichbar, dass  wir  von  demselben  aber  noch  sehr  weit  ent- 
fernt sind.  Ohne  Zweifel  wird  die  Ph3^sik  durch  das  Studium  des 
Organischen  noch  bedeutend  ihren  Blick  erweitern  müssen,  bevor 
sie  dieser  Aufgabe  g'ewachsen  sein  wird.  Gewiss  ist  der  Reich- 
thum  des  Gedächtnisses  in  der  Wechselwirkung,  dem  Zusammen- 
hang der  Organe  begründet.  Allein  ein  Rudiment  von  Gedächt- 
niss  wird  man  wohl  auch  den  Elementarorganismen  zuschreiben 
müssen.  Und  da  kann  man  nur  daran  denken,  dass  jeder  che- 
mische Vorgang"  im  Organ  Spuren  zurücklässt,  welche  den  Wieder- 
eintritt desselben  Vorganges  beglmstigen. 

■  4- 
Es  ist  bekannt,  dass  in  der  Psychologie  den  Associations- 
gesetzen  eine  hervorrag'ende  Bedeutung  zuerkannt  wird.  Diese 
Gesetze  lassen  sich  auf  ein  einziges  zurückführen,  welches  darin 
besteht,  dass  von  zwei  Bewusstseinsinhalten  A,  B,  welche  einmal 
gleichzeitig  zusammentrafen,  der  eine,  wenn  er  eintritt,  den  andern 
hervorruft.  Das  psychische  Leben  wird  in  der  That  viel  verständ- 
licher durch  Erkenntniss  dieses  immer  wiederkehrenden  Grund- 
zuges. Die  Unterschiede  des  Gedankenlaufs,  bei  einfacher 
Erinnerung  an  Erlebtes,  bei  ernster  Berufsbeschäftigung  und  beim 
freien  Phantasiren,  oder  wachen  Träumen,  werden  leicht  begreiflich 
durch  die  begleitenden  Umstände.  Doch  wäre  es  eine  Verkehrt- 
heit alle  (S.  151)  psychischen  Vorgänge  auf  während  des  indi- 
viduellen Lebens  erwoi'bene  Associationen  zurückführen  zu  wollen. 
Die  Psyche  tritt  uns  in  keiner  Phase  als  eine  , tabula  rasa'  ent- 
gegen.    Man    müsste    mindestens    neben    den    erworbenen    Asso- 


ciationen  auch  angeborene  Associationen  annehmen.  Die  an- 
geborenen Triebe  i),  welche  der  introspectiven  auf  sich  selbst 
beschränkten  Psychologie  als  solche  Associationen  erscheinen 
müssten,  führt  der  Biologe  auf  angeborene  organische  Ver- 
bindung-en.  insbesondere  Nervenverbindungen  zurück.  Es  em- 
pfiehlt sich  daher  zu  versuchen,  ob  nicht  alle  Associationen  2), 
auch  die  individuell  erworbenen,  auf  erworbenen,  beziehungsweise 
durch  Gebrauch  verstärkten  Verbindungen  beruhen?  Jedenfalls 
darf  man  aber  auch  fragen,  ob  die  Vorgänge,  für  deren  Verbindung 
in  hochdifferenzirten  Organismen  sich  eig'ene  Bahnen  gebildet 
haben,  nicht  vielmehr  das  Primäre,  schon  in  niederen  Organismen 
Bestehende  sind,  deren  wiederholtes  Zusammentreffen  zur  Bildung 
jener  Bahnen  führt?  Gewiss  kann  eine  rationelle  Ps3Achologie 
mit  den  temporären  Associationen  nicht  auskommen.  Sie  muss 
berücksichtigen,  dass  auch  fertige  Verbindungsbahnen  bestehen. 
Dann  muss  auch  die  Möglichkeit  spontan,  nicht  durch  Asso- 
ciation auftretender  psychischer  Processe  zugegeben  werden,  welche 
die  benachbarten  Theile  des  Nervensystems  erregen,  und  bei 
grosser  Heftigkeit  auch  auf  das  ganze  Nervensystem  sich  ver- 
breiten. Die  Hallucinationen  einerseits  und  die  Reflexbewegungen 
anderseits  sind  Beispiele  aus  dem  sinnlichen  und  motorischen 
Gebiet,  welchen  Analoga  auf  andern  Gebieten  entsprechen  dürften. 

5- 
Die    Ansichten    über    die    Wechselwirkung    der    Theile    des 
Centralnervensystems  scheinen  einer  bemerkenswerthen  Wandlung 

i)  Am  auffallendsten,  weil  in  der  Zeit  voller  psychischen  Entwicklung  und 
Beobachtungsfähigkeit  eintretend,  zeigen  sich  die  ersten  Aeusserungen  des  Geschlechts- 
triebes. Ein  vollkommen  glaubAvürdiger,  sehr  wahrheitsliebender  Mann  erzählte  mir, 
er  habe  als  ganz  unverdorbener  und  unerfahrener  1 6 jähriger  Bursche  die  auffallende 
plötzliche  körperliche  Veränderung,  die  er  beim  Anblick  einer  decolletirten  Dame  mit 
Bestürzung  an  sich  wahrnahm,  für  eine  Krankheit  gehalten,  über  welche  er  einen 
Collegen  consultirte.  Der  ganze  Complex  von  ihm  durchaus  neuen  Empfindungen  tmd 
Gefühlen,  die  sich  da  auf  einmal  offenbarten,  hatte  überhaupt  einen  starken  Zusatz 
von  Schrecken. 

2)  H.  E.  Ziegler,  Theoretisches  zur  Thierphysiologie  und  vergleichenden  Neuro- 
physiologie  (Biol.   Centralblatt,   Leipzig   1900,   Bd.   XX  Nr.    i). 


Ib2 


entgegenzugehen,  wie  diesLoeb^)  auf  Grund  eigener  Arbeiten  und 
jener  von  Goltz  und  Ewald  darlegt.  Hiernach  sind  die  Tro- 
pismen der  Thiere  von  jenen  der  Pflanzen  nicht  wesentlich  ver- 
schieden, und  die  Nerven  gewähren  im  ersteren  Falle  nur  den 
Vortheil  einer  rascheren  Reizleitung.  Das  Leben  des  Nerven- 
systems wird  auf  segmentale  Reflexe,  die  Coordination  der  Be- 
wegungen auf  gegenseitige  Erregung  und  Reizleitung,  die  Instincte 
werden  auf  Kettenreflexe  zurückgeführt.  Der  Schnappreflex  des 
Frosches  löst  z.  B.  den  Schluckreflex  aus.  Complicirt  organisirte 
Centren  werden  nicht  angenommen,  sondern  das  Gehirn  selbst  wird 
als  eine  Anordnung  von  Segmenten  betrachtet.  In  allen  diesen  An- 
sichten liegt,  so  weit  ich  dies  beurtheilen  kann,  ein  glückliches 
und  bedeutsames  Streben,  sich  von  unnöthig  verwickelten,  mit 
Metaphysik  durchsetzten  Annahmen  zu  befreien.  Nur  darin  kann 
ich  Loeb  nicht  beistimmen,  dass  er  in  Darwin's  phylogenetischen 
Forschungen  über  die  Instincte  eine  fehlerhafte  Einseitigkeit  sieht, 
welche  fallen  zu  lassen  und  durch  physikalisch-chemische  Unter- 
suchung zu  ersetzen  wäre.  Gewiss  lag  letztere  Darwin  fern. 
Gerade  dadurch  g'ewann  er  aber  den  freien  Blick  für  seine 
eigenartigen  grossen  Entdeckungen,  die  kein  Physiker  als  solcher 
hätte  machen  können.  Wir  streben  ja  überall,  wo  es  möglich  ist, 
nach  physikalischer  Einsicht,  nach  Erkenntniss  des  unmittel- 
baren („causalen")  Zusammenhanges.  Es  fehlt  aber  sehr  viel 
daran,  dass  diese  schon  überall  erreichbar  wäre.  Und  in  solchen 
Fällen  andere  fruchtbare  Gesichtspunkte,  die  man  immerhin  als 
provisorische  ansehen  mag,  aufgeben,  würde  jedenfalls  eine 
andere  und  sehr  folgenschwere  Einseitigkeit  sein.  Die  Dampf- 
maschine kann,  wie  Loeb  sagt,  nur  physikalisch  verstanden 
werden.  Die  einzelne  gegebene  Dampfmaschine,  ja!  Wenn  es 
sich  aber  darum  handelt,  die  gegenwärtig-en  Formen  der  Dampf- 
maschine zu  verstehn,  dann  reicht  dies  nicht.  Die  ganze  Ge- 
schichte der  technischen  und  socialen  Cultur,  nicht  minder  die 
geologischen    Voraussetzungen,     müssen    heran.      Jedes     einzelne 


l)  Loeb,   Vergleichende  Physiologie  des  Gehirns,  Leipzig    1899. 


—      i83     — 

dieser  Momente  mag  ja  zuletzt  physikalisch  verständlich  werden, 
klärt  uns  aber  auf,  lange  bevor  dies  erreicht  ist^). 

6. 
Denke  ich  mir,  dass,  während  ich  empfinde,  ich  selbst  oder 
ein  anderer  mein  Gehirn  mit  allen  physikahschen  und  chemischen 
Mitteln  beobachten  könnte,  so  würde  es  möglich  sein  zu  ermitteln, 
an  welche  Vorgänge  des  Organismus  Empfindungen  von  bestimmter 
Art  gebunden  sind.  Dann  könnte  auch  die  oft  aufgeworfene  Frage, 
wie  weit  die  Empfindung  in  der  organischen  Welt  reicht,  ob  die 
niedersten  Thiere,  ob  die  Pflanzen  empfinden,  wenigstens  nach 
der  Analogie,  ihrer  Lösung  näher  geführt  werden.  So  lange  diese 
Aufgabe  auch  nicht  in  einem  einzigen  Specialfall  gelöst  ist,  kann 
hierüber  nicht  entschieden  werden.  Zuweilen  wird  auch  gefragt, 
ob  die  (unorg'anische)  „Materie"  empfindet.  Wenn  man  von  den 
geläufigen  verbreiteten  physikalischen  Vorstellungen  ausgeht,  nach 
welchen  die  Materie  das  unmittelbar  und  zweifellos  gegebene 
Reale  ist,  aus  welcher  sich  Alles,  Unorganisches  und  Organisches 
aufbaut,  so  ist  die  Frage  natürlich.  Die  Empfindung  muss  ja  dann 
in  diesem  Bau  irgendwie  plötzlich  entstehen,  oder  von  vornherein 
in  den  Grundsteinen  vorhanden  sein.  Auf  unserm  Standpunkt 
ist  die  Frage  eine  Verkehrtheit.  Die  Materie  ist  für  uns  nicht  das 
erste  Gegebene.  Dies  sind  vielmehr  die  Elemente  (die  in  ge- 
wisser bekannter  Beziehung  als  Empfindungen  bezeichnet  werden). 
Jede  wissenschaftliche  Aufgabe,  die  für  ein  menschliches  Indivi- 
duum einen  Sinn  haben  kann ,  bezieht  sich  auf  Ermittelung  der 
Abhängigkeit  der  Elemente  von  einander.  Auch  was  wir  im 
vulgären  Leben  Materie  nennen,  ist  eine  bestimmte  Art  des  Zu- 
sammenhanges der  Elemente.  Die  Frage  nach  der  Empfindung 
der  Materie  würde  also  lauten:  ob  eine  bestimmte  Art  des  Zu- 
sammenhanges der  Elemente  (die  in  gewisser  Beziehung  auch 
immer  Empfindungen  sind)  empfindet?  In  dieser  Form  wird  die 
Frage  niemand  stellen  wollen-).    Alles,  was  für  uns  Interesse  haben 


1)  Loeb,  a.  a.   O.  S.    130. 

2)  Vgl.   popalär-wissenschattliche  Vorlesungen,   S.    230. 


—      i84     — 

kann,  muss  sich  bei  Verfolgung  der  allgemeinen  Aufgabe  er- 
geben, Wir  fragen  nach  den  Empfindungen  der  Thiere,  'wenn 
deren  sinnlich  beobachtetes  Verhalten  durch  diese  verständlicher 
wird.  Nach  Empfindungen  des  Krystalls  zu  fragen,  die  keine 
weitere  Aufklärung  über  dessen  sinnlich  vollkommen  bestimmtes 
Verhalten  geben,  hat  keinen  praktischen  und  keinen  wissenschaft- 
lichen Sinn. 


XII.    Die  Zeitempfindung  ^). 

I. 

Viel  schwieriger  als  die  Raumempfindung  ist  die  Zeitempfin- 
dung zu  untersuchen.  Manche  Empfindungen  treten  mit,  andere 
ohne  deutliche  Raumempfindung  auf.  Die  Zeitempfindung  begleitet 
aber  jede  andere  Empfindung  und  kann  von  keiner  gänzlich  los- 
gelöst werden.  Wir  sind  also  bei  der  Untersuchung'  darauf  an- 
gewiesen, auf  die  Variationen  der  Zeitempfindung  zu  achten. 
Zu  dieser  psychologischen  Schwierigkeit  gesellt  sich  noch  die 
andere,  dass  die  physiologischen  Processe,  an  welche  die  Zeit- 
empfindung geknüpft  ist,  noch  weniger  bekannt  sind,  tiefer  und 
verborgener  liegen  als  die  andern  Empfindungen  entsprechenden 
Processe.  Die  Analyse  muss  sich  also  vorzugsweise  auf  die  psy- 
chologische Seite  beschränken,  ohne  von  der  physischen,  wie  dies 
in  andern  Sinnesgebieten  wenigstens  theilweise  mögHch  ist,  ent- 
gegenzukommen. 

Die  wichtige  Rolle,  welche  die  zeitliche  Ordnung  der  Ele- 
mente in  unserem  psychischen  Leben  spielt,  braucht  kaum  be- 
sonders betont  zu  werden.  Diese  Ordnung  ist  fast  noch  bedeuten- 
der als  die  räumliche.  Die  Umkehrung  der  zeitlichen  Ordnung 
entstellt  einen  Vorgang  noch  viel  mehr,  als  die  Umkehrung  einer 
Raumgestalt  von  oben  nach  unten.  Sie  macht  aus  demselben 
geradezu  ein  anderes  neues  Erlebniss.  Desshalb  werden  die 
Worte  einer  Rede,  eines  Gedichtes,  nur  in  der  erlebten  Ordnung 
reproducirt  und  nicht  auch  in  der  umgekehrten,  in  welcher  sie  im 

i)  Der  Standpunkt,  den  ich  hier  einnehme,  ist  hier  nur  wenig  verschieden  von 
jenem  meiner  ,, Untersuchungen  über  den  Zeitsinn  des  Ohres"  (Sitzber.  der  Wiener 
Akademie,  Bd.  51,  1865).  Auf  die  Einzelheiten  dieser  älteren  Versuche,  die  ich 
schon  1860  begonnen  habe,  will  ich  hier  nicht  wieder  zurückkommen.  Auch  das 
reiche  Material  kann  hier  nicht  discutirt  werden,  welches  sich  durch  die  Arbeiten  von 
Münsterberg,  Schumann,  Nichols,  Hermann  u.  A.  ergeben  hat.  Vergl. 
Scripture,  The  new  Psychology,  London   1897,  p.    170. 


—      i86     — 

allgemeinen  einen  ganz  andern,  oder  gar  keinen  Sinn  haben. 
Kehrt  man  gar  durch  umg"ekehrtes  Lautiren,  oder  durch  umge- 
kehrten Gang  des  Phonographen  die  ganze  akustische  Folge 
um,  so  erkennt  man  nicht  einmal  mehr  die  Wortbestandtheile  der 
Rede  wieder.  Nur  an  die  bestimmte  Lautfolge  eines  Wortes 
knüpfen  sich  bestimmte  Erinnerungen,  und  nur  wenn  dieselben 
der  Wortfolge  entsprechend  in  bestimmter  Ordnung  geweckt 
werden,  füg'en  sie  sich  zu  einem  bestimmten  Sinn  zusammen. 
Aber  auch  eine  Tonfolge,  eine  einfache  Melodie,  bei  welcher  die 
Gewohnheit  und  die  Association  jedenfalls  eine  sehr  geringe 
Rolle  spielen,  wird  durch  die  zeitliche  Umkehrung  unkenntlich. 
Die  zeitliche  Folge  selbst  sehr  elementarer  Vorstellungen  oder 
Empfindungen  gehört  mit  zu  deren  Erinnerung'sbild. 

Fasst  man  die  Zeit  als  Empfindung  auf,  so  befremdet  es 
weniger,  dass  in  einer  Reihe,  welche  in  der  Ordnung  ABC  DE 
ablief,  irgend  ein  Glied,  z.  B.  C,  bloss  die  nachfolgenden^  nicht 
aber  die  vorhergehenden  in  die  Erinnerung  ruft.  So  taucht  ja 
auch  das  Erinnerungsbild  eines  Gebäudes  nicht  mit  dem  Dach 
nach  unten  gekehrt  auf.  Uebrigens  scheint  es  nicht  einerlei  zu 
sein,  ob  nach  einem  Organ  A  das  Organ  B  erregt  wird,  oder 
umgekehrt.  Es  dürfte  hierin  ein  physiolog'isches  Problem  lieg'en, 
mit  dessen  Lösung  erst  das  volle  Verständniss  der  fundamentalen 
psychologischen  Thatsache  des  Ablaufs  der  Reproductionsreihen 
in  einem  bestimmten  Sinne  gegeben  wäre  ^).  Möglich,  dass 
diese  Thatsache  damit  zusammenhängt,  dass  die  Erregung,  je 
nach  dem  Anfangspunkt,  in  welchem  sie  in  den  Org'anismus  ein- 
tritt, auf  ganz  verschiedenen  Wegen  sich  fortpflanzt,  ähnlich  wie 
dies  für  physikalische  Fälle  durch  die  Betrachtung  S.  72  und  die 
Fig.   12  erläutert  wurde. 


i)  Vielleicht  sind  die  nervösen  Elemente  nicht  nur  mit  einer  dauernden  ange- 
bornen  polaren  Orientirung  behaftet,  wie  dies  durch  die  abwärts  laufende  Welle  im 
Darm,  in  der  Muskulatur  der  Schlange,  durch  die  galvanotropischen  Erscheinungen 
wahrscheinlich  wird,  sondern  sie  sind  vielleicht  auch  einer  temporären  erworbenen  Po- 
larität fähig,  wie  sich  dies  in  der  Einhaltung  der  Zeitfolge  im  Gedächtniss,  in  der 
Uebung  u.  s.  w.  ausspricht.  „Vgl.  Loeb  und  Maxwell,  Zur  Theorie  des  Galvano- 
tropismus. Pflügers  Archiv,  Bd  63,  S.  121.  —  Loeb,  Vergleichende  Gehirnphysio- 
lügie,  S.    io8  u.  ff. 


-      i87     - 

Einem  Ton  C  folge  ein  Ton  D.  Der  Eindruck  ist  ein  ganz 
anderer,  als  wenn  C  auf  D  folgt.  Das  liegt  grossentheils  an  den 
Tönen  selbst,  an  ihrer  Wechselwirkung.  Denn  macht  man  die 
Pause  zwischen  beiden  Tönen  genügend  gross,  so  unterscheidet 
man  möglicher  Weise  beide  Fälle  gar  nicht  mehr.  Analoges 
kann  man  bei  der  Folge  von  Farben,  oder  überhaupt  von  Em- 
pfindungen beliebiger  Sinnesgebiete  beobachten.  Wenn  aber  einem 
Ton  A  eine  Farbe  oder  ein  Geruch  B  folgt,  so  weiss  man 
doch  immer,  dass  B  auf  A  gefolgt  ist,  wobei  die  Schätzung  der 
Pause  zwischen  A  und  B  auch  ganz  unwesentlich  durch  deren 
Qualität  beeinflusst  ist.  Es  muss  also  nebenher  noch  ein  Process 
stattfinden,  der  A^on  der  Variation  der  Empfindungsqualität  nicht 
afficirt  wird,  der  von  derselben  ganz  unabhängig  ist,  und  an  dem 
wir  die  Zeit  schätzen.  Man  kann  ja  eine  Art  Rhythmus  aus  ganz 
heterogenen  Empfindungen,  Tönen,  Farben,  Tasteindrücken  u.  s.  w. 
herstellen. 

2. 

Dass  es  eine  besondere  specifische  Zeitempfindung 
giebt,  scheint  mir  hiernach  nicht  zweifelhaft.  Der  gleiche  Rhyth- 
muss  der  beiden  nebenstehenden  Tacte  von  gänzlich  verschie- 


^l^^^^^i^ 


den  er  Tonfolge  wird  unmittelbar  erkannt.  Dies  ist  nicht 
Sache  des  Verstandes  oder  der  Ueberlegung,  sondern  der  Em- 
pfindung. So  wie  sich  uns  verschieden  gefärbte  Körper  von 
gleicher  Raumgestalt  darstellen  können,  so  finden  wir  hier 
zwei  akustisch  verschieden  gefärbte  Tongebilde  von  gleicher  Zeit- 
gestalt. So  wie  wir  in  dem  einen  Fall  die  gleichen  Raum- 
empfindungsbestandtheile  unmittelbar  herausfühlen,  so  bemerken 
wir  hier  die  gleichen  Zeitempfindungsbestandtheile  oder  die 
Gleichheit  des  Rhythmus. 

Ich  behaupte  natürlich  die  unmittelbare  Zeitempfindung  nur 
bezüglich  kleiner  Zeiten.  Längere  Zeiten  beurtheilen  wir  und 
schätzen  wir   durch   die  Erinnerung  an  die  in  denselben   stattge- 


habten  Vorgänge,  also  durch  Zerlegung  in  kleinere  Theile,  von 
welchen   wir  eine  unmittelbare  Empfindung  hatten. 

3- 

Wenn  ich  eine  Anzahl  akustisch  vollkommen  gleicher  Glocken- 
schläge höre,  unterscheide  ich  den  ersten,  zweiten,  dritten  u.  s.  w. 
Sind  es  vielleicht  die  begleitenden  Gedanken  oder  andere  zufällige 
Empfindungen,  mit  welchen  die  Glockenschläge  sich  verknüpfen^ 
die  diese  Unterscheidungsmerkmale  abgeben?  Ich  glaube  nicht, 
dass  jemand  ernstlich  diese  Ansicht  wird  aufrecht  erhalten  wollen. 
Wie  zweifelhaft  und  unzuverlässig  müsste  da  unser  Zeitmaass 
ausfallen.  Wohin  müsste  es  gerathen,  wenn  jener  zufällige  Ge- 
danken- und  Empfindungshintergrund  aus  dem  Gedächtniss  ver- 
schwinden  würde? 

Während  ich  über  irgend  etwas  nachdenke,  schlägt  die  Uhr, 
die  ich  nicht  beachte.  Nachdem  sie  ausgeschlagen  hat,  kann  es 
mich  interessiren ,  die  Glockenschläge  zu  zählen.  Und  in  der 
That  tauchen  in  meiner  Erinnerung  deutlich  ein,  zwei,  drei,  vier 
Glockenschläge  auf,  während  ich  ganz  dieser  Erinnerung  meine 
Aufmerksamkeit  zuwende,  und  mir  gerade  dadurch  für  den  Augen- 
blick gänzlich  entschwindet,  worüber  ich  während  des  Schiagens 
der  Uhr  nachgedacht  habe.  Der  vermeintliche  Hintergrund,  auf 
dem  ich  die  Glockenschläge  fixiren  könnte,  fehlt  mir  nun.  Wo- 
durch unterscheide  ich  also  den  zweiten  Schlag  vom  ersten? 
Warum  halte  ich  nicht  alle  die  gleichen  Schläge  für  einen?  Weil 
jeder  mit  einer  besonderen  Zeitempfindung  verknüpft  ist,  die  mit 
ihm  zugleich  auftaucht.  Ein  Erinnerungsbild  unterscheide  ich  von 
einer  Ausgeburt  meiner  Phantasie  ebenfalls  durch  eine  specifische 
Zeitempfindung,  welche  nicht  jene  des  gegenwärtigen  Augen- 
blickes ist. 

4- 
Da    die   Zeitempfindung   immer    vorhanden    ist,    solang'e    wir 

bei  Bewusstsein  sind,  so  ist  es  wahrscheinlich,  dass  sie  mit  der 
nothwendig  an  das  Bewusstsein  geknüpften  organischen  Consum- 
tion  zusammenhängt,  dass  wir  die  Arbeit  der  Aufmerksam- 
keit   als    Zeit    empfinden.      Bei    angestrengter    Aufmerksamkeit 


—      iSg     — 

wird  uns  die  Zeit  lang,  bei  leichter  Beschäftigung  kurz.  In 
stumpfem  Zustand,  wenn  wir  unsere  Umgebung  kaum  beachten, 
fliegen  die  Stunden  rasch  dahin.  Wenn  unsere  Aufmerksamkeit 
gänzlich  erschöpft  ist,  schlafen  wir.  Im  traumlosen  Schlaf 
fehlt  auch  die  Empfindung  der  Zeit.  Der  Tag"  von  gestern  ist 
mit  dem  von  heute,  wenn  zwischen  beiden  ein  tiefer  Schlaf  liegt, 
die  gleichbleibenden  Gemeingefühle  abgerechnet,  nur  durch  ein 
intellectuelles  Band  verknüpft. 

Auf  das  wahrscheinlich  verschiedene  Zeitmaass  verschieden 
grosser  Thiere  derselben  Art  habe  ich  schon  bei  früherer  Ge- 
legenheit hingewiesen  ^).  Aber  auch  mit  dem  Alter  scheint  sich 
das  Zeitmaass  zu  ändern.  Wie  kurz  erscheint  mir  jetzt  der  Tag 
gegen  jenen  meiner  Jugendzeit.  Und  wenn  ich  mich  an  den 
Secundenschlag  der  astronomischen  Uhr  erinnere,  welche  ich  in  der 
Jugend  beobachtete,  so  erscheint  mir  dieser  Secundenschlag  jetzt 
merklich  beschleunigt.  Ich  kann  mich  des  Eindrucks  nicht  erwehren, 
dass  meine  ph3^siologische  Zeiteinheit  grösser  geworden  ist. 

Die  Ermüdung  des  Bewusstseinsorgans  schreitet,  solange 
wir  wachen,  continuirlich  fort,  und  die  Arbeit  der  Aufmerksam- 
keit wächst  ebenso  stetig.  Die  Empfindungen,  welche  an  eine 
grössere  Arbeit  der  Aufmerksamkeit  geknüpft  sind,  erscheinen 
uns  als 'die  späteren. 

Normale  wie  anomale  psychische  Vorkommnisse  scheinen 
sich  dieser  Auffassung  wohl  zu  fügen.  Da  die  Aufmerksamkeit 
sich  nicht  zugleich  auf  zwei  verschiedene  Sinnesorgane  erstrecken 
kann,  so  können  deren  Empfindungen  nicht  mit  einer  absolut 
gleichen  Aufmerksamkeitsarbeit  zusammentreffen.  Die  eine  er- 
scheint also  später  als  die  andere.  Ein  solches  Analogon  dieser 
sogenannten  persönlichen  Differenz  der  Astronomen  ergibt  sich 
aber  aus  dem  analogen  Grunde  auch  in  einem  und  demselben 
Sinnesgebiet.  Es  ist  bekannt,  dass  ein  optischer  Eindruck,  der 
physisch  später  entsteht,  unter  Umständen  dennoch  früher  er- 
scheinen kann.  Es  kommt  z.  B.  vor,  dass  der  Chirurg  beim 
Aderlassen  zuerst  das  Blut  austreten,  und  dann  den  Schnepper 

i)  a.  a.   O.    S.    17. 


—      igo     — 

einschlagen  sieht  i).  Dvorak  2)  hat  in  einer  Versuchsreihe,  die 
er  vor  Jahren  auf  meinen  Wunsch  ausgeführt  hat,  gezeigt,  dass 
sich  dies  Verhältniss  willkürlich  herstellen  lässt,  indem  das  mit 
Aufmerksamkeit  fixirte  Object  (selbst  bei  einer  wirklichen  Ver- 
spätung von  Ys — Ye  Secunde)  früher  erscheint  als  das  indirect 
gesehene.  Es  ist  wohl  möglich,  dass  sich  die  bekannte  Erfahrung 
der  Chirurgen  durch  diesen  Umstand  aufklären  lässt.  Die  Zeit 
aber,  welche  die  Aufmerksamkeit  benöthigt,  um  von  einem  Orte, 
an  dem  sie  beschäftigt  wird,  nach  einem  andern  zu^  übersiedeln, 
zeigt  sich  in  folgendem  von  mir  angestellten  Versuch  ^).  Zwei 
intensiv  rothe  Quadrate  von  2  cm  Seite  und 
8  cm  Abstand  auf  schwarzem  Grunde  werden 
in  völliger  Dunkelheit  durch  einen  für  das 
Auge  gedeckten  electrischen  Funken  be- 
■  "^    ■  '  leuchtet.     Das   direct   gesehene  Quadrat   er- 

scheint roth,  das  indirect  gesehene  grün, 
und  zwar  oft  sehr  intensiv.  Die  verspätete  Aufmerksamkeit  findet 
also  das  direct  gesehene  Quadrat  schon  in  dem  Stadium  des  Pur- 
kinje'schen  positiven  Nachbildes  vor.  Auch  eine  Geissler- 
sche  Röhre  mit  zwei  etwas  von  einander  entfernten  roth  leuch- 
tenden Theilen  zeigt  beim  Hindurchgehen  einer  einzelnen  Ent- 
ladung dieselbe  Erscheinung  *)• 

In  Bezug  auf  die  Einzelheiten  muss  ich  auf  die  Abhandlung 
von  Dvoi-ak  verweisen.  Besonders  interessant  sind  Dvoraks^) 
Versuche  über  die  stereoscopische  (binoculare)  Combination  un- 
gleichzeitiger Eindrücke.  Neuere  Versuche  dieser  Art  haben 
Sandford  ^)  und  Münsterberg'')  ang-estellt. 


i 


grün 

roth 

• 

roth 

roth 

i)  Vergl.  Fechner,  Psychophysik,  Leipzig   1860,  Bd.  II,  S.   433. 

2)  Dvofäk,  Ueber  Analoga  der  persönlichen  Differenz  zwischen  beiden  Augen 
und  den  Netzhautstellen  desselben  Auges.  Sitzungsberichte  der  königl.  böhm.  Gesell- 
schaft der  Wissenschaften.     (Matth.-naturw.  Classe)   vom   8.  März   1872. 

3)  Von  Dvorak  a.  a.  O.  mitgetheilt. 

4)  Auch  Professor  G.  Heymanns,  dem  dieser  letztere  Versuch  Anfangs  nicht 
gelingen  wollte,  hat  sich  später  von  der  Richtigkeit  der  Angabe  überzeugt. 

5)  a.  a.  O.   S.   2. 

6)  Sandford,  Amer.  Journ.  Psch.,    1894,  Vol.  VI,  p.   576. 

7)  Münsterberg,  Psch,  Rew.,    1894,    Vol.  I,  p.   56. 


—      191      — 

5- 

Wiederholt  habe  ich  ein  interessantes  hierher  gehöriges  Phä- 
nomen beobachtet.  Ich  sass  in  die  Arbeit  vertieft  in  meinem 
Zimmer,  während  in  einem  Nebenzimmer  Versuche  über  Explo- 
sionen angestellt  wurden.  Regelmässig  geschah  es  nun,  dass  ich 
zuerst  erschreckt  zusammenzuckte,  und  nachher  erst  den 
Knall  hörte. 

Da  im  Traum  die  Aufmerksamkeit  besonders  träge  ist,  so 
kommen  in  diesem  P'all  die  sonderbarsten  Anachronismen  vor, 
und  jeder  hat  wohl  solche  Träume  erlebt.  Wir  träumen  z.  B.  von 
einem  Mann,  der  auf  uns  losstürzt  und  schiesst,  erwachen  plötz- 
lich, und  bemerken  den  Gegenstand,  der  durch  seinen  Fall  den 
ganzen  Traum  erzeugt  hat.  Es  hat  nun  nichts  Widersinniges  an- 
zunehmen, dass  der  akustische  Reiz  verschiedene  Nervenbahnen 
zugleich  einschlägt,  und  hier  in  beliebiger  verkehrter  Ordnung 
von  der  Aufmerksamkeit  angetroffen  wird,  so  wie  ich  bei  der 
obigen  Beobachtung  zu  erst  die  allg-emeine  Erregung-,  und  dann 
den  Explosionsknall  bemerkte.  Freilich  wird  es  in  manchen 
Fällen  zur  Erklärung  auch  ausreichen,  ein  Verweben  einer 
Sinnesempfindung-  in  ein  vorher  schon  vorhandenes  Traumbild 
anzunehmen. 

6. 

Würde  die  Consumtion  oder  etwa  die  Anhäufung  eines  Er- 
müdungsstoffes unmittelbar  empfunden,  so  müsste  man  ein 
Rückwärtsgehen  der  Zeit  im  Traum  erwarten.  —  Die  vSonderbar- 
keiten  des  Traumes  lassen  sich  fast  alle  darauf  zurückführen,  dass 
manche  Empfindungen  und  Vorstellungen  gar  nicht,  andere  zu 
schwer  und  zu  spät  ins  Bewusstsein  treten.  Trägheit  der  Asso- 
ciation ist  ein  Grundzug  des  Traumes.  —  Der  Intellect  schläft 
oft  nur  theilweise.  Man  spricht  im  Traume  sehr  vernünftig  mit 
längst  verstorbenen  Personen,  erinnert  sich  aber  nicht  ihres  Todes. 
Ich  spreche  zu  einem  Freunde  von  einer  dritten  Person,  und 
dieser  Freund  ist  selbst  die  Person,  von  der  ich  sprach.  Man 
reflectirt  im  Traume  über  den  Traum,  erkennt  ihn  als  Traum  an 
den  Sonderbarkeiten,    ist    aber    gleich   wieder   über    dieselben    be- 


—      I  g  2      — 

ruhigt.  —  Mir  träumte  sehr  lebhaft  von  einer  Mühle.  Das  Wasser 
floss  in  einem  geneigten  Canal  von  der  Mühle  herab  und  hart 
daneben  in  einem  eben  solchen  Canal  zur  Mühle  hinauf.  Ich 
war  dadurch  gar  nicht  beunruhigt.  —  Als  ich  viel  mit  Raum- 
fragen beschäftigt  war,  träumte  mir  von  einem  Spazierg-ang  im 
Walde.  Plötzlich  bemerkte  ich  die  mangelhafte  perspectivische 
Verschiebung"  der  Bäume,  und  erkannte  daran  den  Traum.  Sofort 
traten  aber  auch  die  vermissten  Verschiebungen  ein.  —  Im  Traum 
sah  ich  in  ineinem  Laboratorium  ein  mit  Wasser  gefülltes  Becher- 
glas, in  dem  ruhig  ein  Kerzenlicht  brannte.  „Woher  bezieht  das 
den  Sauerstoff?"  dachte  ich.  „Der  ist  im  Wasser  absorbirt." 
„Wo  kommen  die  Verbrennungsg"ase  hin  ?"  Nun  stiegen  Blasen  von 
der  Flamme  im  Wasser  auf,  und  ich  war  beruhigt.  —  W.  Robert i) 
macht  die  vortreffliche  Beobachtung,  dass  es  hauptsächlich  Wahr- 
nehmungen und  Gedanken  sind,  die  man  wegen  einer  Störung" 
bei  Tage  nicht  zu  Ende  führen  konnte,  welche  im  Traume  sich 
fortspinnen.  In  der  That  findet  man  häufig  die  Traumelemente 
in  den  Erlebnissen  des  vorausgehenden  Tages.  So  konnte  ich 
den  Traum  von  dem  Licht  im  Wasser  fast  mit  Sicherheit  auf 
einen  Vorlesungsversuch  mit  dem  electrischen  Kohlenlicht  unter 
Wasser,  jenen  von  der  Mühle,  auf  die  Versuche  mit  dem  Apparat 
Fig.  i8,  S.  113  zurückführen'").  In  meinen  Träumen  spielen 
Gesichtshallucinationen  die  Hauptrolle.  Seltener  habe  ich  aku- 
stische Träume.  Ich  höre  jedoch  deutlich  Unterredungen  im 
Traume,  Glockengeläute  und  Musik  3).  Jeder  Sinn,  selbst  der 
Geschmacksinn,  macht  sich,  wenn  auch  seltener,  im  Traume 
geltend.  Da  im  Traume  die  Reflexerregbarkeit  sehr  gesteigert,  das 
Gewissen  aber  wegen  der  träg'en  Association  sehr  geschwächt 
ist,  so  ist  der  Träumende  fast  eines  jeden  Verbrechens  fähig,  und 
kann  im  Stadium  des  Erwachens  die  ärgsten  Qualen  durchkosten. 
Wer  solche  Erlebnisse  auf  sich  wirken  lässt,  wird    sehr   zweifeln, 


1)  Ueber  den  Traum,   Hamburg   1886. 

2)  Principien  der  Wärmelehre,   2.  Aufl.,    1900,   S.  444. 

3)  Wallasehek,     das    musikalische    Gedächüiiss.      Vierteljahrschr.    f.    Musik- 
wissensch.    1882,  S.   204. 


-      193     — 

dass  die  Methode  unserer  Gerechtigkeit  die  richtige  ist,  ein  Un- 
glück durch  ein  zweites  gut  zu  machen,  welches  in  empörend 
besonnener,  grausamer  und  feierlicher  Weise  hinzugefügt  wird.  — 
Ich  möchte  die  Gelegenheit  nicht  vorbei  gehn  lassen,  dem  Leser 
das  vortreffliche  Buch  von  M.  de  Manaceine  zu  empfehlen^). 
Was  über  das  Unzureichende  der  temporären  Associationen  zur 
Erklärung  des  psychischen  Lebens  S.  151,  180,  181  gesagt  wurde, 
gilt  auch  für  den  Traum.  Es  kommt  noch  hinzu,  dass  im  Traum 
die  leisesten  Spuren  des  für  das  wache  Bewusstsein  längst  Ver- 
gessenen, die  geringsten  Störungen  der  Gesundheit  und  des  Ge- 
müthslebens,  welche  vor  dem  Lärm  des  Tages  in  den  Hinter- 
grund treten  mussten,  sich  geltend  machen  können.  Du  Prel 
vergleicht  in  seiner  „Philosophie  der  Mystik"  (1885,  S.  V,  123) 
diesen  Vorgang  poetisch  und  wahr  zugleich  mit  dem  Sichtbar- 
barwerden des  schwach  leuchtenden  Sternenhimmels  nach  Unter- 
gang der  Sonne.  Das  genannte  Buch  enthält  überhaupt  manche 
bemerkenswerthe  und  tiefe  Blicke.  Gerade  der  Naturforscher, 
dessen  kritischer  Sinn  auf  das  zunächst  Erforschbare  gerichtet 
ist,  liest  dasselbe  mit  Vergnügen  und  Gewinn,  ohne  sich  durch 
die  Neigung  des  Verfassers  für  das  Abenteuerliche,  Wunderbare 
und  Ausserordentliche  beirren  zu  lassen. 

7- 
Wenn  die  Zeitempfindung  an  die  wachsende  organische 
Consumtion  oder  an  die  ebenfalls  stetig  wachsende  Arbeit  der 
Aufmerksamkeit  gebunden  ist,  so  wird  es  verständlich,  warum 
die  physiologische  Zeit  ebenso  wie  die  physikalische  Zeit  nicht 
umkehrbar  ist,  sondern  nur  in  einem  Sinne  abläuft.  Die  Con- 
sumtion   und  Aufmerksamkeitsarbeit   kann,   solange   wir  wachen, 

nur    wachsen    und    nicht   abnehmen. 


3 
ß  ß  p 

LU 


ß  ß  m     ß     o  -^^^  beiden  nebenstehenden  Takte,  wel- 
'       '    che  für    das  Auge  und   den    Verstand 
eine  Symmetrie  darbieten,  zeigen  nichts 


I)  Sleep,  ist  Physiology  etc.  London   1897. 
Mach,  Analyse,  3.  Aufl.  13 


Derartiges   in    Bezug   auf    die   Zeitempfindung.      Im   Gebiete   des 
Rhythmus  und  der  Zeit  überhaupt  gibt  es  keine  Symmetrie. 


Es  möchte  wohl  eine  nahehegende  und  natürliche,  wenn 
auch  noch  unvollkommene  Vorstellung  sein,  sich  das  ,,Bewusst- 
seinsorgan"  in  g'eringem  Grade  aller  specifischen  Energien  fähig 
zu  denken,  von  welchen  jedes  Sinnesorg-an  nur  einige  aufzu- 
weisen vermag.  Daher  das  Schattenhafte  und  Vergängliche  der 
Vorstellung  gegenüber  der  Sinnesempfindung,  durch  welche  letz- 
tere die  erstere  stets  genährt  und  aufgefrischt  werden  muss.  Da- 
her die  Fähigkeit  des  Bewusstseinsorgans  als  Verbindungs- 
brücke zwischen  allen  Empfindungen  und  Erinnerungen  zu 
dienen.  Mit  jeder  specifischen  Energie  des  Bewusstseinsorgans 
hätten  wir  uns  noch  eine  besondere  Energie,  die  Zeitempfin- 
dung, verbunden  zu  denken,  so  dass  keine  der  ersteren  ohne  die 
letztere  erregt  werden  kann.  Sollte  es  scheinen,  dass  diese  letztere 
physiologisch  müssig  und  nur  ad  hoc  erdacht  sei,  so  könnte  man 
ihr  sofort  eine  wichtige  physiologische  Function  zuweisen.  Wie 
wäre  es,  wenn  diese  Energie  den  die  arbeitenden  Hirntheile 
nährenden  Blutstrom  unterhalten,  an  seinen  Bestimmungsort 
leiten  und  reguliren  würde?  Unsere  Vorstellung-  von  der  Auf- 
merksamkeit und  der  Zeitempfindung  würde  dadurch  eine  sehr 
materielle  Basis  erhalten.  Es  würde  verständHch,  dass  es  nur 
eine  zusammenhängende  Zeit  gibt,  da  die  Theilaufmerksamkeit 
auf  einen  Sinn  immer  nur  aus  der  Gesammtaufmerksamkeit  fliesst, 
und  durch  diese  bedingt  ist. 

Die  plethysmographischen  Arbeiten  von  Mosso,  sowie 
dessen  Beobachtungen  über  den  Blutkreislauf  im  Gehirn  ^),  legen 
eine  solche  Auffassung  nahe.  James-)  äussert  sich  über  die  hier 
ausgesprochene    Vermuthung    vorsichtig    zustimmend.      Eine    be- 

i)  Mosso,  Kreislauf  des  Blutes  im  Gehirn,  Leipzig  1881.  —  Vergl.  auch: 
Kornfeld,  Ueber  die  Beziehung  von  Athmung  und  Kreislauf  zur  geistigen  Arbeit, 
Brunn    1869. 

2)  James,   Psychology  I,   635. 


—     195     — 

stimmtere  ausgef  ührtere  Form  derselben,  die  James  als  wünschens- 
werth  bezeichnet,  könnte  ich  leider  nicht  angeben. 

9- 
Wenn  wir  eine  Anzahl  gleicher  Glockenschläge  beobachten, 
so  können  wir,  solange  sie  in  geringer  Anzahl  gegeben  sind,  jeden 
einzelnen  von  den  andern  in  der  Erinnerung  unterscheiden,  und 
können  in  der  Erinnerung  nachzählen.  Bei  einer  grössern  Zahl 
von  Glockenschlägen  aber  unterscheiden  wir  zwar  die  letzten 
von  einander,  doch  nicht  mehr  die  ersten.  Wollen  wir  in  diesem 
Fall  keinem  Irrthum  unterliegen,  so  müssen  wir  gleich  beim  Er- 
klingen derselben  zählen,  d.  h.  jeden  vSchlag  willkürHch  mit 
einem  Ordnungszeichen  verknüpfen.  Die  Erscheinmig  ist  ganz 
analog  derjenigen,  welche  wir  im  Gebiet  des  Raumsinns  beobachten, 
und  wird  auch  nach  demselben  Princip  zu  erklären  sein.  Wenn 
wir  vorwärts  schreiten,  haben  wir  zwar  die  Empfindung,  dass  wir 
uns  von  einem  Ausgangspunkt  entfernen,  allein  das  physio- 
logische Maass  dieser  Entfernung  geht  nicht  proportional 
dem  geometrischen.  So  schrumpft  auch  die  abgelaufene  physio- 
logische Zeit  perspectivisch  zusammen,  und  ihre  einzelnen  Elemente 
werden  weniger  unterscheidbar  i). 

IG. 

Wenn  eine  besondere  Zeitempfindung  existirt,  so  ist  es  selbst- 
verständlich, dass  die  Identität  zweier  Rhythmen  unmittelbar  er- 
kannt wird.  Wir  dürfen  aber  nicht  unbemerkt  lassen,  dass  der- 
selbe physikalische  Rhythmus  physiologisch  sehr  verschieden 
erscheinen  kann,  ebenso  wie  derselben  physikalischen  Raum gestalt 
je  nach  deren  Lage  verschiedene  physiologische  Raumformen  ent- 
sprechen   können.      Der   durch   nebenstehende   Noten   veranschau- 

iir  nricj'  nriCj'lrin 


i)  Vgl.  S.   107. 

13^ 


—      196      — 

lichte  Rythmus  erscheint  z.  B.  ganz  verschieden,  je  nachdem 
man  die  kurzen  dicken,  oder  die  langen  dünnen,  oder  die  punk- 
tierten Verticalstriche  als  Tactstriche  ansieht.  Es  hängt  dies  augen- 
scheinlich damit  zusammen,  dass  die  Aufmerksamkeit  (durch  die 
Betonung  geleitet)  bei  i,  2  oder  3  einsetzt,  d.  h.  dass  die  den 
aufeinanderfolgenden  Schlägen  entsprechenden  Zeitempfindungen 
mit    verschiedenen    Anfangsempfindungen    verglichen    werden. 

Bei  Verlängerung  oder  Verkürzung  aller  Zeiten  eines  Rhythmus 
entsteht  ein  ähnlicher  Rhythmus.  Als  solcher  empfunden 
kann  derselbe  nur  werden,  wenn  die  Verlängerung  oder  Ver- 
kürzung nicht  über  ein  gewisses  Maass  hinausgeht,  das  eben  der 
unmittelbaren  Zeitempfindung  g-esteckt  ist. 

Der  im  Folgenden  dargestellte  Rhythmus  erscheint  dem 
vorigen  physiologisch  ähnlich,  aber  nur  dann,  wenn  in  beiden 
die  gleichbezeichneten  Tactstriche  anerkannt  werden,  wenn  also 
die   Aufmerksamkeit    in    homologen    Zeitpunkten    einsetzt.      Zwei 


P  9 


ß  \  fi  ,  ff  »  \  ß  ]  ß  ,  ß  ß 


physikalische  Zeitgebilde  können  als  ähnlich  bezeichnet 
werden,  wenn  alle  Theile  des  einen  in  demselben  Verhältniss 
zu  einander  stehen,  wie  die  homologen  Theile  des  andern.  Die 
physiologische  Aehnlichkeit  tritt  aber  erst  hervor,  wenn  auch 
die  obige  Bedingung  erfüllt  ist.  So  viel  ich  übrigens  zu  beur- 
theilen  vermag,  erkennt  man  die  Zeitverhältnisse  zweier 
Rhythmen  nur  dann  als  gleich,  wenn  dieselben  durch  sehr 
kleine  ganze  Zahlen  dargestellt  sind.  Eigentlich  bemerkt  man 
also  unmittelbar  nur  die  Gleichheit  oder  Ung-leichheit  zweier 
Zeiten,  und  erkennt  das  Verhältniss  im  letzteren  Fall  nur  da- 
durch, dass  ein  Theil  in  dem  andern  einfach  aufgeht.  Hierdurch 
erklärt  es  sich,  warum  man  beim  Tactgeben  die  Zeit  in  lauter 
durchaus  gleiche  Theile  theilt  i). 


l)  Die  Aehnlichkeit    der  Rauingestalten    würde    hiernach  viel  unmittelbarer  em- 
pfunden  als  die  Aehnliciilceit  der  Rhythmen. 


—     197     — 

Es  wird  hiermit  die  Vermuthung  nahe  gelegt,  dass  die  Em- 
pfindung der  Zeit  mit  periodisch  oder  rhythmisch  sich  wieder- 
holenden Processen  in  nahem  Zusammhange  steht.  Es  wird  sich 
aber  kaum  nachweisen  lassen,  wie  es  gelegentlich  versucht  worden 
ist,  dass  sich  das  allgemeine  Zeitmaass  auf  die  Athmung  oder 
den  Puls  gründet. 

Auch  Herr  Dr.  R.  Wlassak  hat  mir  bei  Gelegenheit  eines 
Gespräches  eine  Bemerkung  mitgetheilt,  die  ich  mit  seinen  eigenen 
Worten  wiedergeben  will: 

„Mit  der  Hypothese,  dass  die  Zeitempfindung  von  der  orga- 
nischen Consumtion  abhängig  ist,  steht  es  in  Einklang,  dass  die 
Zeitwerthe  überall  da  zu  starker  Abhebung  gelangen,  wo  die 
Empfindungen  mit  lebhafter  Gefühlsbetonung  verbunden  sind. 
Dies  gilt  sow^ohl  für  mit  stark  lustvollen  wie  auch  mit  unlust- 
vollen Empfindungen  ausgefüllte  Zeitstrecken.  Dagegen  sind  die 
in  den  Indifferenzwerthen  der  Gefühlsbetonung  sich  bewegenden 
Empfindungen  mit  relativ  undeutlichen  Zeitempfindungen  ver- 
knüpft. Diese  Thatsachen  weisen  darauf  hin,  dass  der  den  Zeit- 
empfindungen und  den  Gefühlen  zugehörige  nervöse  Vorgang 
gewisse  Analogien  darbietet. 

In  der  That  bringen  alle  Versuche  einer  physiologischen 
Theorie  der  Gefühle  diese  in  Beziehung  zur  Consumtion,  z.  B. 
Meynert's  und  auch  Avenarius'  Theorie  der  Gefühle." 


XIII.  Die  Tonempfindungen  ^) 


Auch  in  Bezug  auf  die  Tonempfindungen  müssen  wir  uns 
vorzugsweise  auf  die  psychologische  Analyse  beschränken. 
Es  kann  hier  ebenfalls  nur  der  Anfang  einer  Untersuchung  ge- 
boten werden. 

Zu  den  für  uns  wichtigsten  Tonempfindungen  gehören 
diejenigen,  welche  durch  das  menschliche  Stimm organ  als 
Aeusserungen  von  Lust  und  Schmerz,  zur  sprachlichen  Mittheilung 
von  Gedanken,  als  Ausdruck  des  Willens  u.  s.  w.  erregt  werden. 
Das  Stimmorgan  und  das  Gehörorgan  befinden  sich  auch  zweifellos 
in  enger  Beziehung.  In  einfachster  und  deutlichster  Weise 
enthüllen  die  Tonempfindungen  ihre  merkwürdigen  Eigenschaften 
in  der  Musik.  Wille,  Gefühl,  Lautäusserung  und  Laut- 
empfindung stehen  gewiss  in  einem  starken  physiologischen 
Zusammenhang.  Es  wird  auch  ein  guter  Theil  Wahrheit  darin 
stecken,  wenn  Schopenhauer 2)  sagt,  dass  die  Musik  den  Willen 
darstelle,  wenn  die  Musik  als  eine  Sprache  des  Gefühls  bezeichnet 
wird  u.  s.  w.,  doch  kaum  die  ganze  Wahrheit. 


i)  Den  hier  dargelegten  Standpunkt  habe  ich  (von  der  Detailausführung  abge- 
sehen) schon  vor  35  Jahren  eingenommen.  (Stumpf  (Tonpsychologie,  Leipzig  1883; 
Bd.  1),  dem  ich  für  die  vielfache  Berücksichtigung  meiner  Arbeiten  hier  danken  muss, 
bringt  manche  mir  sehr  sympathische  Einzelheiten.  Seine  S.  119  ausgesprochene  An- 
sicht schien  mir  aber  mit  meinem  Forschungsprincip  des  Parallelismus  unvereinbar. 
Seine  gegen  Lipps  gerichtete  Bemerkiing  jedoch  (Beiträge  zur  Akustik,  Bd.  I,  S.  47, 
Fussnote)  steht  meiner  Auffassung  wieder  näher.  —  Vergi.  meine  Note:  ,,Zur  Analyse 
der  Tonempfindungen",  Sitzungsber.  d.  Wiener  Akademie,  Bd.  92,  IL  Abth.,  S.  1282 
(1895). 

2)  Schopenhauer,  Die  Welt  als  Wille  und  Vorstellung. 


—      199     — 

2. 

H.  Bergi)  hat,  um  es  kurz  zu  sagen,  nach  dem  Vorgange 
Darwin 's  versucht,  die  Musik  aus  dem  Brunstgeheul  der  Affen 
herzuleiten.  Man  müsste  verblendet  sein,  wenn  man  das  Verdienst- 
volle und  Aufklärende  der  Ausführungen  Darwin's  und  Berg's 
verkennen  wollte.  Auch  heute  noch  kann  die  Musik  sexuelle 
Saiten  berühren,  auch  heute  noch  wird  sie  zur  Liebeswerbung 
thatsächlich  benützt.  Auf  die  Frage  aber,  worin  das  Angenehme 
der  Musik  liegt,  gibt  Berg  keine  befriedigende  Antwort.  Und 
da  er  musikalisch  auf  dem  Helmholtz 'sehen  Standpunkt  der 
Vermeidung  der  vSchwebungen  steht,  und  annimmt,  dass  die  am 
wenigsten  unangenehm  heulenden  Männchen  den  Vorzug  er- 
hielten, so  darf  man  sich  vielleicht  wundern,  warum  die  klügsten 
dieser  Thiere  nicht  lieber  ganz  schwiegen. 

Wenn  die  Beziehung  irgend  einer  biologischen  Erscheinung 
zur  Arterhaltung  aufgedeckt,  und  dieselbe  phylogenetisch  her- 
geleitet wird,  so  ist  damit  viel  gethan.  Keineswegs  darf  man 
aber  glauben,  dass  auch  schon  alle  diese  Erscheinung  betreffenden 
Probleme  gelöst  seien.  Niema,nd  wird  wohl  das  Angenehme  der 
specifischen  Wollustempfindung  dadurch  erklären  wollen,  dass  er 
deren  Zusammenhang  mit  der  Arterhaltung  nachweist.  Viel  eher 
wird  man  zugeben,  dass  die  Art  erhalten  wird,  weil  die  Wollust- 
empfindung angenehm  ist.  Mag  die  Musik  immerhin  unsern 
Organismus  an  die  Liebeswerbungen  der  Urahnen  erinnern, 
wenn  sie  zur  Werbung  benützt  wurde,  musste  sie  schon  positiv 
Angenehmes  enthalten,  welches  gegenwärtig  allerdings  durch  jene 
Erinnerung  verstärkt  werden  kann.  Wenn  der  Geruch  einer 
verlöschenden  Oellampe  mich  fast  jedesmal  in  angenehmer  Weise 
an  die  Laterna  magica  erinnert,  die  ich  als  Kind  bewunderte,  so 
ist  dies  ein  ähnlicher  Fall  aus  dem  individuellen  Leben.  Doch 
riecht  darum  die  Lampe  an  sich  nicht  weniger  abscheulich.  Und 
wer  durch  Rosenduft  an  ein  angenehmes  Erlebniss  erinnert  wird, 


i)  H.  Berg,  Die  Lust  an  der  Musik.  Berlin    1879 


—       200       — 

glaubt  darum  nicht,  dass  der  Rosenduft  nicht  schon  vorher  an- 
genehm gewesen  sei.  Derselbe  hat  durch  die  Association  nur 
gewonnen^).  Kann  nun  die  erwähnte  Auffassung  schon  das 
Angenehme  der  Musik  überhaupt  nicht  genügend  erklären,  so 
vermag  sie  zur  Beantwortung  von  Specialfragen,  wie  z.  B.,  warum 
in  einem  gegebenen  Fall  eine  Quarte  einer  Quinte  vorgezogen 
wird,  wohl  noch  weniger  beizutragen. 

3- 

Man  würde  überhaupt  die  Tonempfindungen  etwas  einseitig 
beurtheilen,  wenn  man  nur  das  Gebiet  der  Sprache  und  Musik 
berücksichtigen  wollte.  Die  Tonempfindungen  vermitteln  nicht 
allein  die  Mittheilung,  die  Aeusserung  von  Lust  und  Schmerz, 
die  Unterscheidung  der  Stimmen  von  Männern,  Frauen,  Kindern. 
Sie  bieten  nicht  allein  Merkzeichen  der  Anstrengung,  der  Leiden- 
schaft des  Sprechenden  oder  Rufenden.  Wir  unterscheiden  durch 
dieselben  auch  grosse  und  kleine  schallende  Körper,  die  Tritte 
grosser  und  kleiner  Thiere.  Gerade  die  höchsten  Töne,  welche 
das  Stimmorgan  des  Menschen  nicht  selbst  erzeugt,  sind  für  die 
Beurtheilung  der  Richtung,  aus  welcher  der  Schall  kommt,  muth- 
masslich  sehr  wichtig-).  Ja  diese  letzteren  Functionen  der  Ton- 
empfindungen sind  wahrscheinlich  in  der  Thierwelt  älter  als  die- 
jenigen, welche  erst  im  geselligen  Leben  der  Thiere  eine  Rolle 
spielen.  Wie  man  sich  durch  Neigung  eines  Cartonblattes  vor 
dem  Ohr  überzeugen  kann,  werden  nur  jene  Geräusche,  welche 
sehr  hohe  Töne  enthalten,  das  Sausen  und  Zischen  einer  Gas- 
flamme, eines  Dampfkessels  oder  Wasserfalles,  je  nach  der  Lage 
des  Cartonblattes  durch  Reflexion  modificirt,  während  tiefe  Töne 
ganz  unbeeinflusst  bleiben.    Die  beiden  Ohrmuscheln  können  also 


i)  Auf  die  Bedeutung  der  Association  für  die  Aesthetik  hat  namentlich 
Fechner  hingewiesen. 

2)  Mach,  Bemerkungen  über  die  Function  der  Ohrmuschel  (Tröltsch's  Archiv 
für  Ohrenheilkunde,  N.  F.  Bd.  3,  S.  72).  —  Vergl.  auch  Mach  und  Fischer,  Die 
Reflexion  und  Brechung  des  Schalles.  Pogg.  Ann.,  Bd.  149,  S.  321.  —  A.  Stein- 
hauser, Theorie  des  binaurealen  Hörens,  Wien    1877. 


\ 


20I        

nur  durch  ihre  Wirkung  auf  hohe  Töne  als  Richtungszeiger  ver- 
wendet werden  1). 

4- 

Den  wesentlichen  Fortschritt  in  Bezug  auf  die  Analyse  der 
Gehörsempfindungen,  welcher  durch  Helmholtz2)in  Fortführung 
der  gewichtigen  Vorarbeiten  3)  vonSauveur.Rameau, R.Smith, 
Young,  Ohm  u.a.  bewirkt  worden  ist,  wird  jedermann  freudig 
anerkennen.  Wir  erkennen  mit  Helmholtz  das  Geräusch 
als  eine  Combination  von  Tönen,  deren  Zahl,  Höhe  und  Inten- 
sität mit  der  Zeit  variirt.  In  dem  Klange  hören  wir  mit  dem 
Grundton  n  im  Allgemeinen  noch  die  Obertöne  oder  Partialtöne 
271,  3^2,  /\n  u.  s.  w.,  deren  jeder  einfachen  pendeiförmigen 
Schwingungen  entspricht.  Werden  zwei  Klänge,  deren  Grund- 
tönen die  Schwingungszahlen  n  und  m  entsprechen,  melodisch 
und  harmonisch  verbunden,  so  kann  bei  bestimmten  Ver- 
hältnissen*) von  n  und  m  theilweise  Coincidenz  der  Partialtöne 
eintreten,  wodurch  im  ersteren  Falle  die  Verwandtschaft 
der  Klänge  bemerklich,  im  zweiten  Falle  eine  Verminderung 
der  Schwebungen  herbeigeführt  wird.  Alles  dies  wird  nicht  zu 
bestreiten  sein ,  wenn  es  auch  nicht  als  erschöpfend  aner- 
kannt wird. 

Ebenso  zustimmend  kann  man  sich  gegenüber  Helmholtz' 
physiologischer  Theorie  des  Hörens  verhalten.  Durch  die 
Beobachtungen,  welche  sich  beim  Zusammenklang  einfacher  Töne 
ergeben,    wird    es    äusserst    wahrscheinlich,    dass   der  Reihe    der 


i)  Ich  hatte  Gelegenheit  zu  beobachten,  wie  zahme  Hamster,  welche  gegen 
tiefe  und  laute  Geräusche  ganz  unempfindlich  waren,  jedesmal  plötzlich  erschreckt  und 
ungestüm  in  ihr  Versteck  fuhren,  sobald  man  durch  Reiben  von  Stroh  oder  Zer- 
knittern von  Papier  ein  hohes  Geräusch  hervorbrachte.  Auch  einige  Monate  alte 
Kinder  sind  für  solche  Geräusche  sehr  empfindlich. 

2)  Helmholtz,  Die  Lehre  von  den  Tonempfindungen,  i.  Aufl.,  Braun- 
schweig  1863. 

3)  Vergl.  „zur  Geschichte  der  Akustik"  in  „Populärwissenschaftliche  Vor- 
lesungen" S.  48. 

4)  Der  ^te   Partialton   von    n    fällt   mit  dem  ^te  von  m  zusammen,  wenn,  p  n 

^=  q  m,  also  m  =  —  7t  it.     Hierbei  sind  p,  q  ganze  Zahlen. 


202        

Schwingungszahlen  eine  Reihe  von  Nervenendorganen  entspricht, 
so  dass  für  die  verschiedenen  Schwingung'szahlen  verschiedene  End- 
organe vorhanden  sind,  von  welchen  jedes  nur  auf  einige  wenige 
einander  nahehegende  Schwingungszahlen  anspricht,  Helm- 
holtz'  ph  3^  si  kaiische  Vorstellungen  über  die  Function  des 
Labyrinths  haben  sich  dagegen  als  nicht  haltbar  erwiesen,  worauf 
wir  noch  zurückkommen. 

.5- 
Nach  einem  besonderen  Gehörorgan  für  Geräusche  zu  suchen, 
scheint  für  jeden,  der  mit  Helmholtz  annimmt,  dass  alle  Ge- 
räusche sich  in  länger  oder  kürzer  anhaltende  Tonempfindungen 
auflösen  lassen,  vorläufig'  überflüssig.  Von  dieser  Inconsequenz 
ist  Helmholtz  auch  bald  wieder  zurückgekommen.  Mit  der 
Frage  nach  der  Beziehung  des  Geräusches  (insbesondere  des 
Knalles)  zum  Ton  habe  ich  mich  vor  langer  Zeit  (Winter  1872/73) 
beschäftigt  und  gefunden,  dass  sich  alle  Uebergänge  zwischen 
beiden  aufweisen  lassen.  Ein  Ton  von  128  ganzen  Schwingungen, 
den  man  durch  den  kleinen  Ausschnitt  einer  grossen  langsam 
rotirenden  Scheibe  hört,  schrumpft  zu  einem  kurzen  trockenen 
Schlag  (oder  schwachen  Knall)  von  sehr  undeutlicher  Tonhöhe 
zusammen,  wenn  seine  Dauer  auf  2—3  Schwingungen  reducirt 
wird,  während  bei  4 — 5  Schwingung-en  die  Höhe  noch  ganz  deutlich 
ist.  Andererseits  bemerkt  man  an  einem  Knall,  selbst  wenn  der- 
selbe von  einer  aperiodischen  Luftbewegung  herrührt  (Funkenwelle, 
explodirende  Knallgasblase),  bei  genügender  Aufmerksamkeit  eine 
Tonhöhe,  wenngleich  keine  sehr  bestimmte.  Man  überzeugt  sich 
auch  leicht,  dass  an  einem  von  der  Dämpfung  befreiten  Ciavier 
durch  grosse  explodirende  Knallgasblasen  vorzugsweise  die 
tiefen,  durch  kleine  die  hohen  Saiten  zum  Mitschwing-en  er- 
regt werden.  Flierdurch  scheint  es  mir  nachgewiesen,  dass  das- 
selbe Organ  die  Ton-  und  die  Geräuschempfindung  vermitteln 
kann.  Man  wird  sich  vorzustellen  haben,  dass  eine  schwächere, 
kurz  dauernde  aperiodische  Luftbewegung  alle,  aber  vorzugs- 
weise   die   kleinen   leichter  erregbaren,  eine  stärkere  länger  an- 


—       203       — 

haltende  auch  die  grösseren  trägeren  Endorgane  erregt,  welche 
dann  bei  ihrer  gering^eren  Dämpfung,  länger  ausschwingend,  sich 
bemerklich  machen,  und  dass  selbst  bei  verhältnissmässig  schwachen 
periodischen  Luftbewegungen  durch  Häufung  der  Effecte  an 
einem  bestimmten  Gliede  der  Reihe  der  Endorgane  die  Reizung 
hervortritt  1).  Qualitativ  ist  die  Empfindung,  welche  ein  tiefer 
oder  hoher  Knall  erregt,  dieselbe,  nur  intensiver  und  von  kürzerer 
Dauer,  als  diejenige,  welche  das  Niederdrücken  einer  grossen  Anzahl 
benachbarter  Ciaviertasten  in  tiefer  oder  hoher  Eage  erregt.  Auch 
fallen  bei  der  einmaligen  Reizung  durch  Knall  die  an  die 
periodische  intermittirende  Reizung  gebundenen  Schwebungen  weg. 

6. 

Helmholtz'  Arbeit,  welche  bei  ihrem  Auftreten  zunächst 
allgemeiner  Bewunderung  begegnete,  erfuhr  in  späteren  Jahren 
vielfache  kritische  Angriffe,  und  es  scheint  fast,  als  ob  die  an- 
fängliche Ueberschätzung  dem  Gegentheil  gewichen  wäre.  Phy- 
siker, Physiologen  und  Psychologen  hatten  ja  durch  beinahe  vier 
Decennien  Zeit,  die  drei  Seiten,  welche  diese  Theorie  darbietet, 
zu  mustern,  und  es  wäre  wohl  ein  Wunder  gewesen,  wenn  sie  die 
schwachen  Stellen  nicht  erspäht  hätten.  Ohne  auf  Vollständigkeit 
Anspruch  zu  machen,  wollen  wir  nun  die  hauptsächlichsten  kritischen 
Bedenken  in  Augenschein  nehmen,  zunächst  die  von  physikalischer 
und  physiologischer  Seite  vorgebrachten  unter  einem,  dann  jene 
der  Psychologen. 

Helmholtz  hat,  von  psychologischen  und  physikalischen 
Gesichtspunkten  geleitet,  angenommen,  dass  das  innere  Ohr  aus 
einem  System  von  Resonatoren  besteht,  welches  die  Glieder  der 
Fourier'schen    Reihe,    die    der    dargebotenen    Schwingungsform 


i)  Ueber  einen  Theil  meiner  Versuche,  die  an  Dvorak' s  Experimente  über 
Nachbilder  von  Reizändermigen  (1870)  anknüpften,  habe  ich  berichtet,  in  ,,Lotos", 
Augustnummer  1873.  Die  Versuche,  betreffend  die  Erregung  der  Ciaviertöne  durch 
Explosionen,  habe  ich  überhaupt  noch  nirgends  erwähnt.  Es  wird  vielleicht  nicht  un- 
nütz sein,  wenn  es  hier  geschieht.  —  Dieselben  Fragen  haben  später  Pfaundler, 
S.  Exner,  Auerbach,  Brücke,  W.  Kohlrausch,  Abraham  und  Brühl  u.  A. 
und  zwar  von  verschiedenen  Gesichtspunkten  aus,  ausführlich  behandelt. 


204       — 

entspricht,  als  Theiltöne  heraushört.  Nach  dieser  Auffassung  kann 
auch  das  Phasenverhältniss  der  Theilschwingungen  auf  die  Em- 
pfindung keinen  Einfluss  üben.  Dem  entgegen  versuchte  der 
hochverdiente  Akustiker  König  i)  nachzuweisen,  dass  durch  die 
blosse  Phasenverschiebung  der  pendeiförmigen  Theilschwingungen 
der  sinnliche  Eindruck  (die  Klangfarbe)  geändert  werde.  Aber 
L.  Hermann  2)  konnte  zeigen,  dass  bei  Umkehrung  des  Be- 
wegungssinnes am  Phonographen  keine  Aenderung  der  Klang- 
farbe sich  ergibt.  Nach  Hermann  erzeugen  auch  die  einzelnen 
sinusförmigen  Streifen  der  König 'sehen  Wellensirene  keine  ein- 
fachen Töne,  und  König's  Schlüsse  gründeten  sich  also  auf  eine 
nicht  zutreffende  Voraussetzung  3).  Diese  Schwierigkeit  kann  dem- 
nach als  beseitigt  gelten. 

Nicht  so  leicht  sind  die  Erscheinungen  der  Combinationstöne 
vom  Helmholtz'schen  Standpunkt  aufzuklären.  Young  nahm 
an,  dass  genügend  rasche  Schwebungen  selbst  als  Töne  hörbar, 
d.  h.  zu  Combinationstönen  werden.  Da  aber  kein  Resonator 
durch  Schwebungen  erregt  werden  kann,  auf  deren  Tempo  er 
gestimmt  ist,  sondern  nur  durch  Töne,  so  könnten  solche  Com- 
binationstöne nach  der  Resonanztheorie  nicht  hörbar  sein.  Helm- 
holtz  setzte  also  voraus,  dass  Combinationstöne  entweder  ob- 
jectiv  durch  kräftige  Töne  vermöge  der  Abweichung  von  der 
Linearität  der  Bewegungsgleichungen,  oder  subjectiv  durch 
asymmetrische  oder  nichtlineare  Schwingungsbedingungen  der 
resonirenden    Theile    des   inneren    Ohres  zu   erklären    sein.     Nun 


i)  R.  König,  Quelques  experiences  de  acoustique.     Paris    1882. 

2)  L.  Hermann,  Zur  Lehre  von  der  Klangwahrnehmung.  Pflüger's  Archiv, 
Bd.  56  (1894),  S.  467. 

3)  Ich  habe  schon  1867  Versuche  angestellt  mit  einer  eigenthümlichen  Sirene, 
welche  einem  der  König' sehen  Apparate  sehr  ähnlich  war.  Die  Mantelringe  eines 
Cylinders  trugen  paarweise  gleiche  gegen  einander  verschiebbare  sinusförmige  Aus- 
schnitte, so  dass  man  Intensität  und  Phase  des  betreffenden  Theiltones  beliebig  ändern 
konnte.  Es  zeigte  sich  jedoch  bei  diesen  Versuchen,  dass  die  sinusförmigen  Ausschnitte 
keine  einfachen  Töne  gaben,  wenn  durch  eine  der  Sinusordinate  parallele  Spalte  gegen 
dieselben  geblasen  wurde.  Da  mein  Apparat  noch  ziemlich  unvollkommen  war  und 
seinem  Zweck  einen  Klang  aus  Theiltönen  von  beliebiger  Intensität  und  Phase  zu- 
sammensetzen nach  dem  obigen  nicht  entsprach,  so  habe  ich  nichts  über  diese  Ver- 
suche  publicirt. 


—       205       — 

konnte  König ^)  die  Existenz  von  objectiven  Compinationstönen 
nicht  nachweisen,  fand  dageg-en  auch  zwischen  weit  abstehenden 
Tönen  Schwächungen ,  welche  jedesmal  bei  genügend  ra.scher 
Folge  als  besondere  Töne  hörbar  wurden.  Hermann  2)  vernahm 
Combinationstöne  bei  so  schwachen  zusammenwirkenden  Tönen, 
dass  erstere  nach  der  Helmholtz'schen  Theorie  sowohl  objectiv 
als  subjectiv  ganz  un erklärbar  scheinen.  Deshalb  reagirt 
auch  nach  Hermann's  Ansicht,  der  sich  hierin  der  König'schen 
anschliesst,  das  Ohr  nicht  nur  auf  sinusförmige  Schwingungen, 
sondern  auf  jede  Art  von  Periodicität  mit  einer  durch  die 
Dauer  der  Periode  bestimmten  Empfindung. 

Die  physikalische  Resonanztheorie  scheint,  wenigstens  in 
der  unsprün glichen  Form,  nicht  haltbar;  Hermann  glaubt^)  sie 
aber  durch  eine  physiologische  Resonanztheorie  ersetzen  zu 
können.  Auf  diese,  sowie  auf  die  neue  physikalische  Hör- 
theorie von  Ewald  kommen  wir  noch  zurück. 


Wir  besprechen  nun  die  Einwendungen,  welche  vorzugs- 
weise von  psychologischen  Gesichtspunkten  ausgehn.  Ziemlich 
allgemein  hat  man  das  positive  Moment  bei  Erklärung  der 
Consonanz  vermisst,  indem  man  sich  mit  dem  blossen  Mangel 
an    Schwebungen    als    zureichendem    Merkmal    der    Harmonie 


i)  König,  a.  a.  O.  Schon  nach  König's  Beschreibung,  der  sehr  starke 
Stimmgabeltöne  verwendete,  musste  ich  vermuthen,  dass  bei  den  von  ihm  beobachteten 
Schwebungen  vielfach  die  Obertöne  ins  Spiel  kamen.  Die  Mitwirkung  solcher  Ober- 
töne hat  nun  Stumpf  wirklich  nachgewiesen  (Wiedemann's  Annalen,  N.  F.  Bd.  57, 
S.  660).  Von  dieser  Seite  ist  also  die  Helmholtz'sche  Theorie  sicher.  Allein  be- 
denklich ist  es,  dass  objective  Combinationstöne  nicht  existiren  (König,  Hermann) 
und,  dass  die  subjectiven  unter  Umständen  entstehen,  v/elche  mit  der  Helmholt z- 
schen  Theorie  nicht  vereinbar  sind  (Hermann).  Vgl.  auch  M.  Meyer,  Zur  Theorie 
der  Differenztöne  und  der  Gehörsempfindungen  überhaupt.  (Zeitschr.  f.  Pychologie, 
Bd.   16,  S.   i), 

2)  Hermann,  Zur  Theorie  der  Combinationstöne.  Pflüger's  Archiv,  Bd.  49 
(1891),  S.  499. 

3)  Hermann,  Pflüger's  Archiv,  Bd.   56,  S.  493. 


—     2o6     — 

nicht  zufrieden  geben  wollte.  Auch  A.  v.  Oettingen  ^)  vermisst 
die  Angabe  des  für  jedes  Intervall  characteristischen  positiven 
Elementes  (S.  30),  und  will  den  Werth  eines  Intervalles  nicht 
von  der  physikalischen  Zufälligkeit  des  Gehaltes  der  Klänge  an 
Obertönen  abhänig  machen.  Er  glaubt  das  positive  Element  in 
der  Erinnerung  (S.  40,  47)  an  den  gemeinsamen  Grundton 
(die  Tonica)  zu  finden,  als  dessen  Partialtöne  die  Klänge  des 
Intervalles  oft  aufgetreten  sind,  oder  in  der  Erinnerung  an  den 
gemeinsamen  Ob  er  ton  (die  Phonica),  welcher  beiden  zukommt. 
In  Bezug  auf  den  negativen  Theil  der  Kritik  muss  ich  v.  Oettingen 
vollkommen  beistimmen.  Die  „Erinnerung"  deckt  aber  das 
Bedürfniss  der  Theorie  nicht,  denn  Consonanz  und  Dissonanz 
sind  nicht  Sache  der  Vorstellung,  sondern  der  Empfindung. 
Physiologisch  halte  ich  also  v.  Oettingen's  Auffassung  für  nicht 
zutreffend.  In  v.  Oettingen's  Aufstellung  des  Principes  der 
Dualität  aber  (der  tonischen  und  phonischen  Verwandtschaft  der 
Klänge),  sowie  in  seiner  Auffassung  der  Dissonanz  als  eines 
mehrdeutigen  Klanges  (S,  244)  scheinen  mir  werthvolle  posi- 
tive Leistungen  zu  liegen  -). 

8. 
Sehr  eingehend  hat  Stumpf  in  verschiedenen  Schriften  die 
Helmholtz'sche  Lehre  kritisirt  ^).     Er    beanstandet  zunächst    die 
zwei    verschiedenen    Definitionen,    durch    Wegfall   der    Schwe- 
bungen   und    durch  Coincidenz  der  Partialtöne,   die  Helmholtz 


i)  A.    V.   Oettingen,    Harmoniesystem    in  dualer  Entwicklung.      Dorpat    1866. 

2)  Eine  populäre  Darstellung  des  Princips  der  Dualität,  welches  schon  Euler 
(Tentamen  novae  theoriae  musicae  p.  103),  D'  Alembert  (Elements  de  musique. 
Lyon  1766)  und  Hauptmann  (Die  Natur  der  Harmonik  und  Metrik,  Leipzig  1853, 
geahnt  haben,  findet  sich  in  meiner  kleinen  Schrift:  Die  Gestalten  der  Flüssigkeit. 
Die  Symmetrie,  Prag  1872  (Popul.  wissensch.  Vorles.  S.  100).  —  An  eine  voll- 
werthige  Symmetrie  wie  im  Gebiete  des  Gesichtsinnes  darf  natürlich  im  Gebiete  der 
Musik,  da  die  Tonempfindungen  selbst  kein  symmetrisches  System  bilden,  nicht  gedacht 
werden. 

3)  Wir  halten  uns  hier  vor  allem  an  Stumpf,  Beiträge  zur  Akustik  und 
Musikwissenschaft,  Heft  I,  Leipzig   1898. 


207       — 

von  der  Consonanz  gibt.  Die  erstere  sei  bei  melodischer  Folge, 
die  letztere  bei  harmonischer  Verbindung  nicht  anwendbar  und 
nicht  characteristisch.  Ein  nach  Art  der  Schwebungen  inter- 
mittirender  reiner  Dreiklang  ist  keine  Dissonanz.  Anderseits 
lassen  sich  Beispiele  von  Zusammenklang  weit  abliegender  Töne 
geben,  bei  welchen  die  vSchwebungen  unmerklich  werden,  und 
die  dennoch  stark  dissoniren.  Vertheilt  man  zwei  Stimmgabeltöne 
auf  beide  Ohren,  so  treten  die  Schwebungen  jedenfalls  sehr  zurück, 
ohne  dass  der  Unterschied  zwischen  Consonanz  und  Dissonanz 
geringer  würde.  Auch  subjectiv  gehörte  Töne,  etwa  des  Ohren- 
klingens, kann  man  als  Dissonanzen  empfinden,  ohne  natürlich 
Schwebungen  zu  hören.  Endlich  erweisen  sich  blos  vorgestellte 
Töne  als  consonant  oder  dissonant,  ohne  dass  hierbei  die  Vor- 
stellung der  Schwebungen  eine  wesentliche  Rolle  spielen  würde. 
Die  Coincidenz  der  Partialtöne  endlich  fällt  weg,  wo  keine  Ober- 
töne vorhanden  sind,  ohne  dass  deshalb  der  Unterschied  zwischen 
Dissonanz  und  Consonanz  verschwinden  würde.  Von  den  Aus- 
führungen Stumpfs  gegen  die  Erklärung  der  Consonanz  durch 
unbewusstes  Zählen,  welche  wohl  nur  mehr  wenige  Anhänger  fin- 
den wird,  wollen  wir  absehen.  Ebenso  wird  man  gern  zugeben, 
dass  die  Annehmlichkeit  keine  hinreichend  characteristische  Eig'en- 
schaft  der  Consonanz  ist.  Dieselbe  kann  unter  Umständen  eben- 
sowohl der  Dissonanz  zukommen. 

Stumpf  selbst  findet  das  Characteristische  der  Consonanz 
darin,  dass  sich  der  Zusammenklang  zweier  Töne  bald  mehr  bald 
weniger  dem  Eindruck  eines  Tones  nähert.  Er  definirt  die  Con- 
sonanz durch  die  „Verschmelzung".  Er  kehrt  sozusagen  zu  den 
antiken  Ansichten  zurück,  von  welchen  er  eine  ausführhche  Ge- 
schichte ^)  gibt.  Auch  Helmholtz  ist  diese  Auffassung  nicht 
fremd;  er  discutirt  dieselbe,  glaubt  aber  allerdings  die  erste 
richtige  Erklärung  des  Verschmelzens  der  Klänge  ge- 
geben zu  haben. 


i)  C.  Stumpf,   Geschichte  des  Consonanzbegriffes,  I  Theil.   Abh.  d.  Münchener 
Akademie,  phil.-hist.  Cl.,    1897. 


—        2( 


Dass  bei  Consonanz  eine  Verschmelzung  der  Töne  stattfindet, 
'zeigt  Stumpf  durch  statistische  Versuche.  UnmusikaHsche  halten 
gleichzeitig  angebene  Töne  desto  öfter  für  einen,  je  besser 
dieselben  consoniren.  Das  Bedürfniss,  die  Verschmelzung  weiter 
zu  erklären,  leugnet  Stumpf  nicht.  Verschmelzen  die  Töne 
durch  Aehnlichkeit ,  so  muss  dieselbe  eine  andere  sein,  als  die- 
jenige, auf  welcher  die  Reihenfolge  der  Töne  beruht,  denn  die 
letztere  nimmt  mit  dem  Abstand  der  Töne  stetig  ab.  Da  ihm  aber 
ein  solches  zweites  Aehnlichkeitsverhältniss  rein  hypothetisch 
scheint,  so  zieht  er  es  vor,  an  eine  physiologische  Erklärung 
anderer  Art  zu  denken.  Die  Gehirnprocesse  beim  gleichzeitigen 
Empfinden  zweier  Töne  von  einfacherem  Schwingungszahlenver- 
hältniss sollen  in  einer  engeren  Beziehung  (in  specifischer  Synenergie) 
stehen,  als  wenn  das  Schwingungszahlenverhältniss  complicirter 
ist^).  Auch  aufeinanderfolgende  Töne  können  verschmelzen.  Ob- 
gleich die  homophone  Musik  der  polyphonen  historisch  voraus- 
geht, hält  es  Stumpf  doch  für  wahrscheinlich,  dass  die  Auswahl 
der  Tonstufen  auch  für  erstere  durch  Erfahrungen  beim  gleich- 
zeitigen Hören  der  Töne  geleitet  war.  In  allem  Wesentlichen 
wird  man  der  Stumpf'schen  Kritik  zustimmen  müssen. 

9- 
Ich  selbst  habe  schon  in  einer  18632)  erschienenen  Abhand- 
lung und  auch  später  ^)  einige  kritische  Bemerkungen  über  die 
Helmholtz'sche  Theorie  gemacht,  und  1866  in  einer  kurz  vor 
der  Oettingen'schen  erschienenen  kleinen  Schrift*)  sehr  be- 
stimmt einige  Forderungen  bezeichnet,  welchen  eine  vollständigere 
Theorie  zu  genügen  hätte.  Weitere  Ausführungen  habe  ich  in 
der  ersten  Auflage  dieser  Schrift  (1886)  gegeben. 


i)  C.  Stumpf,  Beiträge  zur  Akustik,  Heft   i,  S.   50. 

2)  Mach,  Zur  Theorie    des    Gehörsorgans.     Sitzungsberichte    der  Wiener  Aka- 
demie,   1863. 

3)  Vgl.    meine:    Bemerkungen    zur    Lehre   von    räumHchen    Sehen.     Fichte's 
Zeitschrift  für  Philosophie,   1865.     (Popul.  wissensch.  Vorl.  S.    117). 

4)  Einleitung    in    die  Helmholtz'sche  Musiktheorie.     Graz   1866.  S.    d,  Vor- 
wort und  SS.   23   fg.,  46,  88. 


2og 


Gehen  wir  von  der  Vorstellung  aus,  dass  eine  Reihe  von 
physikalisch  oder  physiologisch  abgestimmten  Endorganen 
existirt,  deren  Glieder  bei  steigen- 
der Schwingungszahl  nacheinan- 
der im  Maximum  ansprechen,  und 
schreiben  wir  jedem  Endorgan  seine 
besondere  (specifische)  Energie  zu. 
Dann  gibt  es  so  viele  specifische 
Energieen  als  Endorgane  und 
ebenso  viele  für  uns  durch  das  Ge- 
hör unterscheidbare  Schwingungs- 
zahlen. ^^^^^  ^^' 

Wir  unterscheiden  aber  nicht  bloss  die  Töne,  wir  ordnen 
sie    auch    in    eine    Reihe.     Wir    erkennen    von    drei  Tönen  ver- 
schiedener Höhe   den  mittleren    ohne   weiteres    als  solchen.     Wir 
empfinden  unmittelbar,  welche  Schwingungszahlen  einander  näher, 
welche  ferner  liegen.     Das  Hesse  sich  für  naheliegende  Töne  noch 
leidlich   erklären.      Denn   wenn   wir   die    Schwingung-sweiten,    die 
einem  bestimmten  Ton  zukommen,  s3anbolisch  durch  die  Ordinaten 
der  Curve  ade,  Fig'ur  35,  darstellen,  und  diese  Curve  uns  allmälig 
im  Sinne  des  Pfeiles  verschoben  denken,  so  werden  naheliegenden 
Tönen,  w^eil  stets  mehrere  Organe  zugleich  ansprechen,  auch  immer 
schwache  gemeinsame  Reizung'en  zukommen.    Allein  auch  ferner 
liegende  Töne  haben  eine  gewisse  Aehnlichkeit,  und  auch  an  dem 
höchsten    und    tiefsten  Ton    erkennen  wir  noch  eine  solche. 
Nach  dem  uns  leitenden  Forschungsgrundsatze  müssen  wir  also  in 
allen  Tonempfindungen  gemeinsame  Bestandteile  annehmen. 
Es  kann    also    nicht  so    viele  specifische  Energieen  geben,  als  es 
unterscheidbare  Töne  gibt.     Für  das  Verständniss  der  Thatsachen, 
die  wir  hier  zunächst  im  Auge  haben,  genügt  die  Annahme  von 
nur  zwei  Energieen,    die  durch  verschiedene  Schwingungszahlen 
in  verschiedenem  Verhältniss  ausgelöst  werden.  Eine  weitere 
Zusammensetzung    der    Tonempfindungen    ist    aber    durch    diese 
Thatsachen    nicht    ausgeschlossen ,    und  wird    durch  die  später  zu 
besprechenden  Erscheinungen   sehr  wahrscheinlich. 

Mach,  Analyse.    3.  Aufl.  14 


2  lO       

Die  aufmerksame  psychologische  Analyse  der  Tonreihe 
führt  unmittelbar  zu  dieser  Ansicht.  Aber  auch  wenn  man  für 
jedes  Endorgan  zunächst  eine  besondere  Energie  annimmt,  und 
bedenkt,  dass  diese  Energieen  einander  ähnlich  sind,  also  gemein- 
same Bestandtheile  enthalten  müssen,  gelangt  man  auf  denselben 
Standpunkt.  Nehmen  wir  also  an,  nur  um  ein  bestimm- 
tes Bild  vor  uns  zu  haben,  dass  bei  dem  Uebergang 
von  den  kleinsten  zu  den  grössten  Schwingungszahlen 
die  Tonempfindung  ähnlich  variirt  wie  die  P^arben- 
empfindung,  wenn  man  vom  reinen  Roth,  etwa  durch 
allmälige  Zumischung  von  Gelb,  zum  reinen  Gelb  über- 
geht. Hierbei  können  wir  die  Vorstellung,  dass  für  jede  unter- 
scheidbare Schwingungszahl  ein  besonderes  Endorgan  vorhanden 
ist,  vollkommen  aufrecht  erhalten,  nur  werden  durch  verschiedene 
Organe  nicht  g'anz  verschiedene  Energieen,  sondern  immer  die- 
selben zwei  in   verschiedenem   Verhältniss  ausgelöst  i). 


lO. 

Wie  kommt  es  nun,  dass  so  viele  gleichzeitig  erklingende 
Töne  unterschieden  werden,  und  nicht  zu  einer  Empfindung 
verschmelzen,  dass  zwei  ungleich  hohe  Töne  nicht  zu  einem  Misch- 
ton von  mittlerer  Höhe  zusammenfliessen?  Dadurch,  dass  dies 
thatsächlich  nicht  geschieht,  ist  die  Ansicht,  die  wir  uns  zu  bilden 
haben,  weiter  bestimmt.  Wahrscheinlich  verhält  es  sich  ganz 
ähnlich,  wie  bei  einer  Reihe  von  Mischfarben  von  Roth  und  Gelb, 
welche  an  verschiedenen  Stellen  des  Raumes  auftreten,  die  eben- 
falls unterschieden  werden,  und  nicht  zu  einem  Eindruck  zusammen- 
fliessen.    In    der  That    stellt    sich    eine    ähnliche  Empfindung"  ein, 


i)  Die  Ansicht,  dass  auf  verschiedene  Schwingangszahlen  verschiedene  End- 
organe ansprechen,  ist  durch  die  Schwebungen  naheliegender  Töne  und  andere  von 
Helmhol tz  hervorgehobene  Thatsachen  zu  wohl  begründet  und  für  das  Verständniss 
der  Erscheinungen  zu  werthvoll,  als  dass  sie  wieder  aufgegeben  werden  könnte.  — 
Die  hier  dargelegte  Ansicht  benützt  die  (namentlich  von  Hering)  bei  Analyse  der 
Farbenempfindungen   gcwoiinsnen  Erfahrungen. 


wenn  man  von  der  Beachtung  eines  Tones  übergeht  zur  Beachtung 
eines  andern,  wie  beim  Wandern  des  fixirten  Punktes  im  Sehfeld. 
Die  Tonreihe  befindet  sich  in  einem  Analogon  des  Raumes,  in 
einem  beiderseits  begrenzten  Raum  von  einer  Dimension,  der 
auch  keine  Symmetrie  darbietet,  wie  etwa  eine  Gerade,  die 
von  rechts  nach  links  senkrecht  zur  Medianebene  verläuft.  Viel- 
mehr ist  derselbe  anolog"  einer  verticalen  Geraden,  oder  einer 
Geraden,  welche  in  der  Medianebene  von  vorn  nach  hinten  ver- 
läuft. Während  ausserdem  die  Farben  nicht  an  die  Raumpunkte 
gebunden  sind,  sondern  sich  im  Raum  bewegen  können,  weshalb 
wir  die  Raumempfindungen  so  leicht  von  den  Farbenempfindungen 
trennen,  verhält  es  sich  in  Bezug"  auf  die  Tonempfindung  anders. 
Eine  bestimmte  Tonempfindung  kann  nur  an  einer  bestimmten 
Stelle  des  besagten  eindimensionalen  Raumes  vorkommen,  die 
jedesmal  fixirt  werden  muss,  wenn  die  betreffende  Tonempfindung 
klar  hervortreten  soll.  Man  kann  sich  nun  vorstellen,  dass  ver- 
schiedene Tonempfmdungen  in  verschiedenen  Theilen  der  Ton- 
sinnsubstanz auftreten,  oder  dass  neben  den  beiden  Energieen, 
deren  Verhältniss  die  Färbung  der  hohen  und  tiefen  Töne  be- 
dingt, noch  eine  dritte,  einer  Innervation  ähnliche  besteht, 
welche  beim  Fixiren  der  Töne  auftritt.  Auch  beides  zugleich 
könnte  stattfinden.  Zur  Zeit  dürfte  es  weder  möglich,  noch  schon 
nothwendig  sein,  hierüber  zu  entscheiden. 

Dass  das  Gebiet  der  Tonempfindnngen  eine  Analogie  zum 
Raum  darbietet,  und  zwar  zu  einem  Raum,  der  keine  Symmetrie 
aufweist,  drückt  sich  schon  unbewusst  in  der  Sprache  aus.  Man 
spricht  von  hohen  und  tiefen  Tönen,  nicht  von  rechten  und  linken, 
wiewohl  unsere  Musikinstrumente  letztere  Bezeichnung  sehr  nahe 
legen. 

1 1. 

In  einer  meiner  ersten  Arbeiten  i)  habe  ich  die  Ansicht  ver- 
treten, dass  das  Fixiren  der  Töne  mit  der  veränderlichen  Spannung 


I)  Zur  Theorie  des  Gehörgans,   1863.    —    Durch  gemeinschafthch  mit  Kessel 
ausgeführte  Versuche    „über    die    Accommodation    des    Ohres"   (Sitzb.   d.   Wiener  Aka- 

14* 


—        212 


des  Tensor  tympani  zusammenhänge.  Diese  Ansicht  kann  ich 
meinen  eigenen  Beobachtungen  und  Experimenten  gegenüber 
nicht  aufrecht  halten.  Die  Raumanalogie  fällt  hiermit  jedoch 
nicht,  sondern  es  ist  nur  das  betreffende  physiologische  Ele- 
ment erst  aufzufinden.  Die  Annahme,  dass  die  Vorgänge  im  Kehl- 
kopf (beim  Singen)  zur  Bildung  der  Ton  reihe  beitragen,  habe 
ich  in  der  Arbeit  von  1863  ebenfalls  berührt,  aber  nicht  haltbar 
gefunden.  Das  Singen  ist  zu  äusserlich  und  zufällig  mit  dem 
Hören  verbunden.  Ich  kann  Töne  weit  über  die  Grenzen  meiner 
Stimme  hinaus  hören  und  mir  vorstellen.  Wenn  ich  eine  Orchester- 
aufführung mit  allen  Stimmen  höre,  oder  wenn  mir  dieselbe  als 
Hallucination  entgegentritt,  so  kann  ich  mir  unmöglich  denken, 
dass  mir  das  Verständniss  des  ganzen  Stimmengewebes  durch 
meinen  einen  Kehlkopf,  der  noch  dazu  gar  kein  geübter  Sänger 
ist,  vermittelt  wird.  Ich  halte  die  Empfindungen,  die  man  beim 
Hören  von  Musik  gelegentlich  zweifellos  im  Kehlkopf  bemerkt, 
für  nebensächlich,  so  wie  ich  mir  in  meiner  musikalisch  geübteren 
Zeit  rasch  zu  jedem  gehörten  Ciavier-  oder  Orgelstück  nebenbei 
die  gegriffenen  Tasten  vorstellte.  Wenn  ich  mir  Musik  vorstelle, 
höre  ich  immer  deutlich  die  Töne.  Aus  den  die  Musikausführungen 
begleitenden  motorischen  Empfindungen  allein  wird  keine  Musik, 
so  wenig  der  Taube,  der  die  Bewegungen  der  Spieler  im  Orchester 
sieht,  Musik  hört.  Ich  kann  also  in  diesem  Punkte  Stricker's 
Ansicht  nicht  zustimmen,  (Vergl.  Stricker,  Du  langage  et  de  la 
musique,  Paris   1885.) 


demie  Bd.  66,  Abth.  3,  October  1872)  gelang  der  Nachweis  einer  veränderlichen 
Stimmung  und  Resonanzfähigkeit  des  Gehörpräparates  i'ür  verschiedene  Töne,  in- 
dem die  Excursionen  der  durch  einen  Schlauch  zugeführten  Schallschwingungen  mikro- 
skopisch beobachtet  wurden.  Eine  derartige  spontane  Veränderung  der  Stimmung  am 
lebenden  Ohr  nachzuweisen  gelang  aber  nicht  bei  Einleitung  des  Schalles  und  Be- 
obachtung durch  einen  hiezu  construirten  Mikroskop-Ohrenspiegel.  Ich  bin  aber  später 
zweifelhaft  geworden,  ob  die  gewaltigen  Schwingungen,  die  man  so  beobachtet,  über- 
haupt maassgebend  sind,  da  sie  doch  ohne  Schaden  kaum  ungedämpft  ins  Labyrinth 
gelangen  können.  So  lange  man  also  nicht  die  Schwingungen  am  lebenden  Ohr  beim 
normalen  Hören  mit  Sicherheit  zu  beobachten  vermag,  wird  diese  Frage  kaum  end- 
giltig  zu  entscheiden  sein.  Eine  Lichtinterferenzmethode  könnte  zum  Ziele  führen. 
Dieselbe  müsste  aber  von  besonders  einfacher  Form  sein,  um  unter  den  schwierigen 
Verhältnissen  des  lebenden  Ohres  anwendbar  zu  sein. 


—       213       — 

Anders  muss  ich  mich  zu  Stricker 's  Ansicht  über  die 
Sprache  stellen  (vergl.  Stricker,  Die  Sprachvorstellungen,  Wien 
1880).  Zwar  tönt  mir  eine  Rede,  an  die  ich  denke,  voll  ins  Ohr, 
ich  zweifle  auch  nicht,  dass  durch  das  Erklingen  der  Hausglocke, 
durch  einen  Locomotivenpfiff  u.  s.  w.  direct  Gedanken  erregt 
v^erden  können,  dass  kleine  Kinder  und  selbst  Hunde  Worte  ver- 
stehen, die  sie  nicht  nachsprechen  können;  doch  bin  ich  durch 
Stricker  überzeugt  worden,  dass  zwar  nicht  der  einzig  mögliche, 
aber  der  gewöhnliche  uns  geläufige  Weg  des  Sprachverständ- 
nisses der  motorische  ist,  und  dass  wir  sehr  übel  daran  sind, 
wenn  uns  dieser  abhanden  kommt.  Ich  kann  selbst  aus  meiner 
Erfahrung  Bestätigungen  dieser  Ansicht  anführen.  Fremde,  die 
meiner  Rede  folgen  wollen,  sehe  ich  häufig  leise  die  Lippen  be- 
wegen. Gibt  mir  jemand  seine  Wohnung  an,  und  versäume  ich 
den  Strassennamen  und  die  Hausnummer  nachzusprechen,  so 
vergesse  ich  die  Adresse  gewiss,  behalte  sie  aber  bei  Gebrauch 
dieser  Vorsicht  im  Gedächtniss.  Ein  Freund  sagte  mir  kürzlich, 
er  wolle  das  indische  Drama  „Urvasi"  nicht  lesen,  weil  er  die 
Namen  nur  mit  Mühe  zusammenbuchstabire,  und  folglich  nicht 
behalte.  Der  Traum  des  Taubstummen,  von  dem  Stricker  er- 
zählt, ist  überhaupt  nur  nach  seiner  Ansicht  verständlich.  —  Bei 
ruhiger  Ueberlegung  ist  dieses  anscheinend  paradoxe  Verhältniss 
auch  gar  nicht  so  wunderbar.  Wie  sehr  sich  unsere  Gedanken  in 
gewohnten,  einmal  eingeübten  Bahnen  bewegen,  zeigt  die 
überraschende  Wirkung  eines  Witzes.  Gute  Witze  wären  nicht 
so  selten,  wenn  wir  uns  nicht  vorzugsweise  in  ausgefahrenen 
Bahnen  bewegen  würden.  Manchem  fällt  die  naheliegende  Neben- 
bedeutung eines  Wortes  gar  nie  ein.  Und  wer  denkt,  wenn  er 
die  Namen  Schmied,  Schuster,  Schneider  als  Namen  gebraucht, 
an  die  betreffenden  Handwerke?  —  Um  ein  naheliegendes  Beispiel 
aus  einem  andern  Gebiete  anzuführen,  bringe  ich  in  Erinnerung 
(vergl.  S.  88),  dass  ich  Spiegelschrift  neben  dem  Original  sofort 
als  mit  diesem  symmetrisch-congruent  erkenne,  ohne  sie 
doch  direct  lesen  zu  können,  da  ich  die  Schrift  motorisch  mit 
der  rechten   Hand   erlernt   habe.     Daran   kann   ich   am    besten 


—       214       — 

erläutern,  warum  ich  Stricker  nicht  auch  in  Bezug  auf  Musik 
beistimme:  Die  Musik  verhält  sich  zur  ^Sprache,  wie  das  Orna- 
ment zur  Schrift. 


12. 

Die  Analogie  zwischen  dem  Fixiren  von  Raumpunkten  und 
dem  Fixiren  von  Tönen  habe  ich  wiederholt  durch  Experimente 
erläutert,  die  ich  hier  nochmals  anführen  will.  Dieselbe  Combination 
von  zwei  Tönen  klingt  verschieden,  je  nachdem  inan  den  einen 
oder  den  andern  beachtet.  Die  Combinationen  i  und  2  haben 
einen  merklich  verschiedenen  Charakter,  je  nachdem  man  den 
obern  oder  untern  Ton  fixirt.  Wer  die  Aufmerksamkeit  nicht 
willkürlich  zu  leiten  vermag,  helfe  sich  dadurch,  dass  er  den  einen 


^1^^ 


-?^r 


Ff-— r 


Ton  später  eintreten  lässt  (3,  4).  Dieser  zieht  dann  die  Aufmerk- 
samkeit auf  sich.  Bei  einiger  Uebung  gelingt  es,  eine  Harmonie 
(wie  5)  in  ihre  Bestandtheile  aufzulösen,  und  diese  (etwa  wie  bei  6) 
einzeln  herauszuhören.  Diese  und  die  folgenden  Experimente 
werden  der  anhaltenden  Töne  wegen  besser  und  überzeugender 
mit  der  Physhamonica,  als  mit  dem   Ciavier  ausgeführt. 

Besonders  überraschend  ist  die  Erscheinung,  die  eintritt,  wenn 
man  einen  fixirten  Ton  in  einer  Harmonie  erlöschen  lässt.  Die 
Aufmerksamkeit  gleitet  dann  auf  einen  der  nächstliegenden  über, 
welcher  mit  einer  Deutlichkeit  auftaucht,  als  wenn  er  eben  an- 
geschlagen worden  wäre.  Der  Eindruck  des  Experimentes  ist 
ganz  ähnlich  demjenigen,  den  man  erhält,  wenn  man,  in  die  Arbeit 
vertieft,  plötzlich  den  gleichmässigen  Schlag  der  Pendeluhr  auf- 
tauchen hört,  der  gänzlich  aus  dem  Bewusstsein  geschwunden  war. 
Im  letzteren  Falle  tritt  das  ganze  Tongebiet  über  die  Schwelle, 
während  im  ersteren  ein  Theil  höher  gehoben  wird.  Fixirt  man 


—     215 


z.  B.  in  7   die  Oberstimme,  während   man    von  oben    nach  unten 


;l 


:.t± 


1 


W'^ 


:*: 


irrj 


r^ 


fortschreitend  einen  Ton  nach  dem  andern  erlöschen  lässt,  so 
erhält  man  ungefähr  den  Eindruck  8.  Fixirt  man  in  g  den  tiefsten 
Ton  und  verfährt  umgekehrt,  so  erhält  man  den  Eindruck  lo.  Die- 
selbe Harmoniefolge  klingt  sehr  verschiden,  je  nach  der  fixirten 
Stimme.  Fixire  ich  in  ii  oder  12  die  Oberstimme,  so  scheint  sich 
nur  die  Klangfarbe  zu  ändern.  Beachtet  man  aber  in  1 1  den  Bass 
so  scheint  die  ganze  Klangmasse  in  die  Tiefe  zu  fallen,  dagegen 
zu  steigen,  wenn  man  in  12  den  Schritt  ^^/ beachtet,  Es  wird 
hierbei  recht  deutlich,  dass  Accorde  sich  als  Vertreter  von 
Klängen  verhalten  können.  Lebhaft  erinnern  diese  Beobachtungen 


mi 


-^ 


m 


an   den    wechselnden    Eindruck,    den    man    erhält,    wenn  man  in 
einem  Ornament  bald  diesen,  bald  jenen  Punkt  fixirt. 

Es  sei  hier  noch  an  das  unwillkürliche  Wandern  der  Auf- 
merksamkeit erinnert,  welches  beim  (mehrere  Minuten)  anhaltenden 
gleichmässigen  Erklingen  eines  Harmoniumtones  eintritt,  wobei 
nach  und  nach  alle  Obertöne  von  selbst  in  voller  Klarheit  auf- 
tauchen i).  Der  Vorgang  scheint  auf  eine  Erschöpfung  der  Auf- 
merksamkeit für  einen  länger  beobachteten  Ton  zu  deuten.  Diese 
Erschöpfung  wird  auch  wahrscheinlich  durch  ein  Experiment, 
welches  ich  an  einem  andern  Orte  ausführlicher  beschrieben  habe  2). 


i)  Vergl.  meine  „Einleitung  in  die  Helmholz'sche  Musiktheorie",  S.  29. 

2)  Vergl.    meine    ,, Grundlinien    der    Lehre    von    den    Bewegungsempfindungen", 


S.  58. 


—  2  l6 


Die  hier  dargelegten  Verhältnisse  im  Gebiete  der  Ton- 
empfindungen könnten  etwa  durch  folgendes  Bild  veranschaulicht 
werden.  Gesetzt,  unsere  beiden  Augen  wären  nur 
einer  einzigen  Bewegung  fähig,  sie  v^ermöchten 
nur  die  Punkte  einer  horizontalen,  in  der  Median- 
ebene liegenden  Geraden  durch  wechselnde  sym- 
metrische Convergenzstellung  zu  verfolgen,  der 
nächste  fixirte  Punkt  sei  rein  roth,  der  fernste, 
welcher  der  Parallstellung  entspricht,  rein  gelb, 
und  dazwischen  lägen  alle  Uebergänge;  so  würde 
Figur  36-  dieses    System     unserer    Gesichtsempfindungen 

die    Verhältnisse     der    Tonempfindungen     sehr     fühlbar     nach- 
ahmen. 


13- 

Nach  der  bisher  gewonnenen  Ansicht  bleibt  eine  in  dem 
Folgenden  zu  betrachtende  wichtige  Thatsache  unverständlich, 
deren  Erklärung  aber  von  einer  vollständigeren  Theorie  unbedingt 
gefordert  werden  muss.  Wenn  zwei  Tonfolgen  von  zwei 
verschiedenen  Tönen  ausgehen  und  nach  denselben 
Schwingungszahlenverhätnissen  fortschreiten,  so  er- 
kennen wir  in  beiden  dieselbe  Melodie  ebenso  unmittel- 
bar durch  die  Empfindung,  als  wir  an  zwei  geometrisch 
ähnlichen,  ähnlich  lieg"enden  Gebilden  die  g'leiche  Ge- 
stalt erkennen.  Gleiche  Melodien  in  verschiedener  Lage 
können  als  Tongebilde  von  gleicher  Tong-estalt  oder  als 
ähnliche  Tong'ebilde  bezeichnet  werden.  Man  kann  sich  über- 
zeugen, dass  dieses  Erkennen  nicht  an  die  Verwendung  ge- 
läufiger musikalischer  Intervalle  oder  oft  verwendeter  einfacherer 
Schwingungszahlenverhältnisse  gebunden  ist.  Wenn  man  an 
einer  Violine,  oder  überhaupt  an  einem  mehrsaitigen  Instrument, 
die  einzelnen  leeren  Saiten  in  beliebige  unharmonische  Stimmung 
bringt,  dann  auf  dem  Griffbrett  ein  ganz  beliebig  in  compli- 
cirten    Verhältnissen     getheiltes    Papier    befestigt,    so    kann    man 


—       2  17       — 

dieselben  Theilungspunkte  in  beliebiger  Folge,  erst  auf  der 
einen,  dann  auf  den  andern  Saiten  greifen,  oder  schleifend  ver- 
binden. Obgleich  nun  das  Gehörte  gar  keinen  musikalichen  Sinn 
hat,  erkennt  man  auf  jeder  Saite  dieselbe  Melodie  wieder.  Das 
Experiment  würde  sich  nicht  überzeugender  g"estalten,  wenn  man 
die  Theilung'  in  irrationalen  Verhältnissen  vornehmen  wollte.  Dies 
gelingt  ja  in  Wirklichkeit  nur  annähernd.  Der  Musiker  könnte 
immer  noch  behaupten,  er  höre  den  bekannten  inusikalischen  Inter- 
vallen nahe  liegende,  oder  zwischen  denselben  liegende.  Nicht  ab- 
gerichtete Singvög-el  bedienen  sich  nur  ausnahmsweise  der  musi- 
kalischen Intervalle. 

Schon  bei  einer  Folge  von  nur  zwei  Tönen  wird  die  Gleich- 
heit des  Schwingungszahlenverhältnisses  unmittelbar  erkannt,  die 
Tonfolgen  c—f,  d — g,  e—a  u.  s.  w.,  welche  alle  dasselbe  wSchwingungs- 
zahlenverhältniss  (3:4)  darbieten,  werden  alle  unmittelbar  als 
gleiche  Intervalle,  als  Quarten  erkannt.  Dies  ist  die 
Thatsache  in  ihrer  einfachsten  Form.  Das  Merken  und  Wieder- 
erkennen der  Intervalle  ist  das  Erste,  was  sich  der  angehende 
Musiker  aneignen  muss,  wenn  er  mit  seinem  Gebiet  vertraut 
werden  will. 

Herr  E.  Kulke  hat  in  einer  kleinen,  sehr  lesenswerthen 
Schrift  1)  eine  hierauf  bezügliche  Mittheilung  über  die  originelle 
Unterrichtsmethode  von  P.  Cornelius  gemacht,  die  ich  hier 
nach  K ulke's  mündlicher  Mittheilung  noch  ergänzen  will.  Um 
die  Intervalle  leicht  zu  erkennen,  ist  es  nach  Cornelius  zweck- 
mässig, sich  einzelne  Tonstücke,  Volkslieder  u.  s.  w.  zu  merken, 
welche  mit  diesen  Intervallen  beginnen.  Die  Tannhäuser-Ouver- 
türe beginnt  z.  B.  mit  einer  Quart.  Höre  ich  eine  Quarte,  so  be- 
merke ich  sofort,  dass  die  Tonfolge  der  Beginn  der  Tannhäuser- 
Ouverture  sein  könnte,  und  erkenne  daran  das  Intervall.     Ebenso 


i)   E.    Kulke,    lieber    die    Umbildung    der    Melodie.      Ein    Beitrag    zur    Ent- 
wicklungslehre, Prag  (Calve)   1884. 


—       2l8       — 

kann  die  Fidelio-Ouvertüre  No.  i  als  Repräsentant  der  Terz  ver- 
wendet werden,  u.  s.  w.  Dieses  vortreffliche  Mittel,  welches  ich 
bei  akustischen  Demonstrationen  erprobt  und  sehr  wirksam  ge- 
funden habe,  ist  anscheinend  eine  Complication.  Man  könnte 
meinen,  es  müsste  leichter  sein,  ein  Intervall,  als  eine  Melodie 
zu  merken.  Doch  bietet  eine  Melodie  der  Erinnerung  mehr 
Hilfen,  so  wie  man  ein  individuelles  Gesicht  leichter  merkt  und 
mit  einem  Namen  verknüpft,  als  einen  bestimmten  Winkel  oder 
eine  Nase.  Jeder  Mensch  merkt  sich  Gesichter  und  verknüpft 
sie  mit  Namen;  Leonardo  da  Vinci  hat  aber  die  Nasen  in 
ein  System  gebracht. 

14. 

So  wie  jedes  Intervall  in  der  Tonfolge  in  charakteristischer 
Weise  sich  bemerklich  macht,  ebenso  verhält  es  sich  in  der 
harmonischen  Verbindung.  Jede  Terz,  jede  Quart,  jeder  Moll- 
dreiklang oder  Durdreiklang  hat  seine  eigenthümliche  Färbung, 
an  welcher  er  unabhängig  von  der  Höhe  des  Grundtons  und 
unabhängig  von  der  Zahl  der  Schwebungen,  welche  ja  mit 
dieser  Höhe  rasch  zunimmt,  erkannt  wird. 

Eine  Stimmgabel,  die  man  vor  ein  Ohr  hält,  hört  man  fast 
nur  mit  diesem  Ohr.  Bringt  man  zwei  etwas  gegeneinander  ver- 
stimmte, stossende  Stimmgabeln  vor  dasselbe  Ohr,  so  sind  die 
Stösse  sehr  deutlich.  Stellt  man  aber  die  eine  Gabel  vor  das 
eine,  die  andere  vor  das  andere  Ohr,  so  werden  die  Stösse 
sehr  schwach.  Zwei  in  einem  harmonischen  Intervall 
stehende  Gabeln  klingen  stets  etwas  rauher  vor  einem  Ohr. 
Der  Character  der  Harmonie  bleibt  aber  auch  bewahrt,  wenn  man 
vor  je  ein  Ohr  eine  Gabel  stellt  ^).  Auch  die  Disharmonie  bleibt 
bei  diesem  Experiment  sehr  deutlich.  Harmonie  und  Dis- 
harmonie sind  jedenfalls  nicht  durch  die  Schwebungen  allein 
bestimmt. 


0  Vgl.  Fechner,    Ueber  einige  Verhältnisse   des  binocularen  Sehens,    Leipzig 
1860,  S.  536.   —  Ich  habe  solche  Versuche  vielfach  selbst  angestellt. 


2ig 


15- 

Sowohl  bei  der  melodischen,  als  bei  der  harmonischen  Ver- 
bindung zeichnen  sich  die  Töne,  welche  in  einfachen  Schwing- 
ungszahlenverhältnissen stehen,  i)  durch  Gefälligkeit  und 
2)  durch  eine  für  jenes  Verhältniss  characteristische  Em- 
pfindung aus.  Was  die  Gefälligkeit  betrifft,  so  kann  nicht 
in  Abrede  gestellt  werden,  dass  dieselbe  th  eil  weise  durch  das 
Zusammenfallen  der  Partialtöne  und  bei  harmonischer  Verbindung 
auch  durch  das  hiermJt  verbundene  Zurücktreten  der  Schwebungen 
bei  bestimmten  Schwingungszahlenverhältnissen  aufgeklärt  ist. 
Der  unbefangene  Musikerfahrene  ist  aber  nicht  ganz  befriedigt. 
Ihn  stört  die  zu  bedeutende  Rolle,  welche  der  zufälligen  Klang- 
farbe eingeräumt  wird,  und  er  merkt,  dass  die  Töne  noch  in  einer 
positiven  Contrastbeziehung  stehen,  wie  die  Farben,  nur 
dass  bei  Farben  keine  so  genauen  gefälhgen  Verhältnisse  an- 
gegeben werden  können. 

Die  Bemerkung,  dass  wirklich  eine  Art  Contrast  unter  den 
Tönen  besteht,  drängt  sich  beinahe  von  selbst  auf.  Ein  constanter 
glatter  Ton  ist  etwas  sehr  Unerfreuliches  und  Farbloses,  wie  eine 
gleichmässige  Farbe,  in  welche  sich  unsere  ganze  Umgebung 
hüllt.  Erst  ein  zweiter  Ton,  eine  zweite  Farbe  wirkt  belebend. 
Lässt  man  einen  Ton,  wie  bei  dem  Experimentiren  mit  der  Sirene, 
langsam  in  die  Höhe  schleifen,  so  g'eht  ebenfalls  aller  Contrast 
verloren.    Derselbe  besteht  hingegen  zwischen  weiter  abstehenden 

12  3  4  5 


Tönen,  und  nicht  nur  zwischen  den  sich  unmittelbar  folgenden, 
wie  das  nebenstehende  Beispiel  erläutern  mag.  Der  Gang  2 
klingt  ganz  anders  nach  i  als  allein,  3  klingt  anders  als  2,  und 
auch  5   anders  als  4  unmittelbar  nach  3. 

16. 
Wenden  wir  uns  nun  zu  dem  zweiten  Punkt,  der  characte- 
ristischen   Empfindung,    welche  jedem   Intervall    entspricht, 


220 

und  fragen  wir,  ob  dieselbe  nach  der  bisherigen  Theorie  erklärt 
werden  kann?  Wenn  ein"  Grundton  ;/  mit  seiner  Terz  ;//  melo- 
disch oder  harmonisch  verbunden  wird,  so  fällt  der  5.  Partialton 
des  ersten  Klanges  (5 '/^)  mit  dem  vierten  des  zweiten  Klanges 
(4;//)  zusammen.  Dies  ist  das  Gemeinsame,  was  nach  der 
Helraholtz 'sehen  Theorie  allen  Terzverbindungen  zukommt. 
Combinire  ich  die  Klänge  C  und  E,  oder  F  und  A,  und  stelle  in 
dem  folgenden   Schema  ihre  Partialtöne  dar 


; 


Y      _     _       -       - 

E     e      h      e     gis    h      d       e 

VI       2ni       3f/i       4:7/1        b7n      ^yin       Iju       ^?ii 


L     -     -     -      - 

Ffcfacesf  Aaea     eis    e      g       a 

4«       5«       6>i       Iti       Sn  Jii       'hii       '?>?n       ^?n       bin      ^iu       Im       'im 


so    coincidiren  in  der  That  in  dem  einen  Fall  die   mit  ^1  ,  in  dem 


g 

C 

e 

g 

b 

c 

■An 

4« 

an 

(i« 

(H 

8« 

^ 

_ 

_ 

_ 

C 

f 

a 

c 

es 

f 

;, 


andern    die   mit    1    bezeichneten  Partialtöne,  in  beiden  Fällen  der 

fünfte  Partialton  des  tieferen  mit  dem  vierten  Par- 
tialton des  höheren  Klanges.  Dieses  Gemeinsame  besteht 
aber  nur  für  den  physikalisch  anal3Asirenden  Verstand,  und  hat 
mit.  der  Empfindung  nichts  zu  schaffen.  Für  die  Empfindung 
coincidiren  in  dem  ersten  Fall  die  e,  in  dem  zweiten  die  ä,  also 
ganz  verschiedene  Töne,  Gerade  dann,  wenn  wir  für  jede 
unterscheidbare  Schwingungszahl  eine  zugehörige  specifische 
Energie  annehmen,  müssen  wir  fragen,  wo  bleibt  der  jeder 
Terzverbindung  geineinsame  Empfindungsbestandtheil? 
Man  halte  diese  meine  Unterscheidung  nicht  für  Pedanterie 
und  Haarspalterei.  So  wenig  meine  Frage,  worin  die  physio- 
logische Aehnlichkeiten  der  Gestalten  zum  Unterschied  von  der 
geometrischen  bestehe,  überflüssig  war,  so  wenig  ist  diese 
gleichzeitig  (vor  etwa  37  Jahren)  gestellte  Frage  unnöthig.  Will 
man  ein  physikalisches  oder  mathematisches  Kennzeichen 
der  Terz   als   ein  Merkmal  der  Terzempfindung   gelten   lassen, 


221 

SO  begnüge  man  sich  nach  Euler  ^)  mit  der  Coincidenz  von  je 
vier  und  fünf  Schwingungen,  welche  Auffassung  gar  nicht  so 
übel  war,  solang'e  man  glauben  konnte,  dass  der  Schall  auch  im 
Nerv  noch  als  periodische  Bewegung  fortgehe,  was  A.  See- 
beck (Pogg.  Ann.  Bd.  68)  noch  für  möglich  gehalten  hat-).  Die 
Helmholtz'sche  Coincidenz  von  ^ii  und  ^ni  ist  in  Bezug  auf 
diesen  Punkt  nicht  weniger  symbolisch  und  nicht  auf- 
klärender. 

17- 
Bis    hierher    habe  ich  meine  Ausführungen    mit   der  Ueber- 

zeugung  vorgebracht,  dass  ich  nicht  nöthig  haben  werde,  einen 
wesentlichen  Schritt  zurück  zu  thun.  Dieses  Gefühl  begleitet 
mich  nicht  in  gleichem  Maasse  bei  der  Entwicklung  der  folgen- 
den Hypothese,  die  sich  mir  im  Wesentlichen  vor  langer  Zeit 
dargeboten  hat.  Sie  mag  aber  wenigstens-  dazu  dienen,  die 
Forderung",  die  ich  an  eine  vollständigere  Theorie  der  Ton- 
empfindungen glaube  stellen  zu  müssen,  auch  von  der  positiven 
Seite  zu  beleuchten,  und  zu  erläutern.  Ich  will  meine  Ansicht 
zunächst  so  darstellen,  wie  dies  in  der  ersten  Auflage  dieser 
Schrift  geschehen  ist. 

Für  ein  Thier  von  einfacher  Organisation  sei  die  Wahr- 
nehmung leiser  periodischer  Bewegungen  des  Mediums,  in  dem 
es  sich  befindet,  eine  wichtige  Lebensbedingung.  Wird  der 
Wechsel  der  Aufmerksamkeit  (wegen  der  zu  grossen  Organe,  in 
welchen  so  rapide  Aenderungen  nicht  mehr  eintreten  können)  zu 
träge  und  die  Oscillationsperiode  zu  kurz,  die  Amplitude  zu 
klein,  als  dass  die  einzelnen  Phasen  der  Reizung  ins  Bewusst- 
sein  fallen  könnten,  so  wird  es  noch  möglich  sein,  die  gehäuften 
Empfindungseffecte  des  oscillatorischen  Reizes  wahrzunehmen. 
Das  Gehörorgan  wird  dem  Tastorgan  den  Rang  ablaufen  3).    Ein 


1)  Euler,   Tentamen   novae   theoriae  musieae.      Petropoli    1739)   S.   36. 

2)  In    neuerer  Zeit    ist    diese  Auffassung    wieder    von  Lipps  versucht  und  von 
Stumpf  kritisirt  worden. 

3)  Es  ist  deshalb  fraglich,    ob  Thiere,    welche    ein  so  kleines  Zeitmaass  haben, 
dass  ihre  willkürlichen  Bewegungen   für  uns   tönen,   in   dem  gewöhnlichen  Sinne  hören, 


schwingungfähiges  Endorgan  (ein  Hörhaar)  spricht  nun  vermöge 
seiner  physikaHschen  Eigenschaften  nicht  auf  jede  Schwingungs- 
zahl an,  aber  auch  nicht  auf  eine,  sondern  gewöhnh'ch  auf 
mehrere  weit  von  einander  abliegende^).  Sobald  also  das  ganze 
Continuum  der  Schwingungszahlen  zwischen  gewissen  Grenzen 
für  das  Thier  von  Wichtigkeit  wird,  genügen  nicht  mehr  einige 
wenige  Endorgane,  sondern  es  stellt  sich  das  Bedürfniss  nach 
einer  ganzen  Reihe  solcher  Org'ane  von  abgestufter  »Stimmung 
ein.  Als  ein  solches  System  wurde  von  Helmholtz  zunächst 
das  Corti'sche  Organ,  dann   die  Basillarmembran  angesehen. 

Schwerlich  wird  nun  ein  Glied  dieses  Systems  nur  auf  eine 
Schwingungszahl  ansprechen.  Wir  müssen  vielmehr  erwarten, 
dass  es  viel  schwächer  in  abgestufter  Intensität  (vielleicht  durch 
Knoten    abgetheilt)    auch    auf    die    Schwingungszahlen    2  n,    3  7i, 

ft     n 
4  n  u.  s.  w.,    und  ebenso   auch   auf  die  Schwingungszahlen   — -,  — , 

2     3 

fi 

—  u.  s.  w.  anspricht.     Da  die  Annahme  einer  besondern  Energie 

für  jede  Schwingungszahl  sich  als  unhaltbar  gezeigt  hat,  so  stellen 
wir  uns  dem  Obigen  gemäss  vor,  dass  zunächst  nur  zwei  Em- 
pfindungsenergieen,  sagen  wir  Dumpf  (D)  und  Hell  (H)  ausgelöst 
werden.  Die  betreffende  Empfindung  wollen  wir  (ähnlich  wie 
dies  bei  Mischfarben  geschieht)  symbolisch  durch  pD  -\-  pH 
darstellen,  oder  wenn  wir  p  -|-  q  ^  i  setzen,  und  q  als  eine 
Function  f  (n)  der  Schwingungszahl  ansehen  2),  durch 

[i--f(n)]   D  +  f(n)H. 
Die     auftretende    Empfindung     soll     nun     der    Schwingungs- 
zahl   des   oscillatorischen  Reizes   entsprechen,   an    welchem  Glied 


oder  ob  vielmehr  nicht  das  ein  Tasten  ist,  was  uns  an  ihnen  den  Eindruck  des 
Hörens  macht.  Vgl.  z.  B.  die  schönen  Versuche  und  Beobachtungen  von  V.  Grab  er 
(Die  chordotonalen  Organe,  Arch.  f.  mikrosk.  Anat. ,  Bd.  20,  S.  506),  —  Vgl. 
,, Bewegungsempfindungen"  S.  123.  —  Diese  Vermuthung  hat  sich  seither  vielfach 
bestätigt. 

i)  Wie  z.  B.  V.  Hensen  beobachtet  hat. 

2)  Will  man  eine  recht  einfache  Darstelllung  haben,  so  setzt  man  _/  ()i)  = 
/'.   logn. 


I 


der  Reihe  der  Endorgane  der  Reiz  auch  angreifen  mag.  Hier- 
durch wird  die  frühere  Darstellung  nicht  wesentlich  gestört.  Denn 
indem  das  Glied  Rn   am  stärksten  auf  n  und  viel  schwächer  auf 

2  n,  3  n  oder  — ,  —  anspricht,  indem  R^  auch  auf  einen  aperio- 
dischen Anstoss  mit  n  ausschwingt,  wird  doch  die  Empfindung 
[i — f(n)]D  -\-  f(n)  H  überwiegend  an  das  Glied  Rn  gebunden 
bleiben. 

Gut  constatirte  Fälle  von  Doppelthören  (vgl.  Stumpf 
a.  a.  O.  I.  S.  266  fg.)  könnten  uns  nöthig'en,  das  Auslösungs- 
verhältniss  von  D  und  H  als  vom  Endorgan  und  nicht  von  der 
Schwingungszahl  abhängig  zu  betrachten,  was  aber  unsere 
Auffassung  ebenfalls  nicht  stören  würde. 

Ein  Glied  R„  spricht  also  stark  auf  n,  schwächer  aber  auch 

auf  2  n,  3  n  .  .  .  .  und  — ,  — ,  .  .  .  .  mit  den  diesen  Schwingungs- 
zahlen zugehörigen  Empfindungen  an.  Es  ist  aber  doch  sehr  un- 
wahrscheinlich,  dass  die  Empfindung   genau   dieselbe   bleibt,    ob 

Rn  auf  n  oder  ob  Rn    auf   n    anspricht.      Es  ist   vielmehr    wahr- 
2 

scheinlich,  dass  jedesmal,  wenn  die  Glieder  der  Organ-Reihe 
auf  einen  Parti alton  ansprechen,  die  Empfindung  eine  schwache 
Zusatzfärbung  erhält,  die  wir  symbolisch  für  den  Grundton  durch 
Z^,  für  die  Obertöne  durch  Zg,  Z3  .  .  .  .  für  die  Untertöne  durch 
Zi,  Zi  ....  darstellen  wollen.  Hiernach  wäre  also  die  Ton- 
empfindung  etwas  reicher  zusammengesetzt  als  dies  der  Eormel 
[i — f(n)]D  -\-  f(n)H  entspricht.  Die  Empfindungen,  welche  die 
Reihe  der  Endorgane  durch  die  Grundtöne  gereizt  gibt,  bilden 
also  ein  Gebiet  mit  der  Zusatzfärbung  Z^,  die  Reizung  derselben 
Reihe  durch  den  ersten  Oberton  gibt  ein  besonderes  Empfindungs- 
gebiet mit  der  Zusatzfärbung  Zg  u.  s.  w.  Die  Z  können  entweder 
unveränderliche  Bestandtheile  sein,  oder  selbst  wieder  aus  zwei 
Bestandtheilen  U  und  V  bestehen,  und  durch 

[i-f(n)]U  +  f(n)V 


224        

darstellbare  Reihen  bilden,  worüber  zu  entscheiden  jetzt  nicht  von 
Belang  ist. 

Allerdings  sind  nun  die  physiologischen  Elemente  Zj^ 
Zg  .  .  .  .  erst  zu  finden.  Allein  schon  die  Einsicht,  dass  sie  zu 
suchen  sind,  scheint  mir  wichtig.  Sehen  wir  zu,  wie  sich  das 
Gebiet  der  Tonempfindungen  ausnimmt,  wenn  man  die  Z^,  Z^  .  .  .  . 
als  gegeben  ansieht. 

Betrachten  wir  als  Beispiel  eine  melodische  oder  harmonische 
Terzverbindung.  Die  Schwingungszahlen  seien  also  n  =  4  p  und 
m  =  5p;  der  tiefste  gemeinsame  Oberton  ist  5  n  =  4  m  =  20p, 
der  höchste  gemeinsame  Unterton  ist  p.  Dann  ergibt  sich 
folgende  Uebersicht: 


10         1, 


-^  o 


c 
i3 

K/ 

5 

c     "^     c 

5  <=>  I 

--1       Ö       D 

5    =>   .S 


<U 


^       .^ 
^     ^ 


:0 


Die   Glieder  der 
Reihe  der  End- 
organe: 

^p 

^ip 

^hp 

R,.p 

sprechen  an   auf  die 
Schwingungs- 
zahlen : 

ip,  öp 

Ap 

bp 

mp. 

20p 
5/=     4 

mit  den 
Zusatz- 
empfindungen : 

z,^  z. 

z. 

Z, 

3             4 

sprechen    ausserdem 

an  auf  die 
Schwingungszahlen  : 

2Qp  =  5  (4/) 

20i>  =  4  [bp) 

mit  den 
Zusatz- 
empfindungen : 

z. 

z. 

Bei  der  Terzverbindung  treten  also  die  für  die  Terz  characte- 
ristischen   Zusatzempfindungen   Z,^ ,  Z^     und    Zj,  Zj     hervor,  auch 

wenn  die  Klänge  gar  keine  Obertöne  enthalten,  und  erstere  (Z^^, 
Zj)  werden  noch  verstärkt,  wenn  in  den  Klängen  entweder  in 
der    freien   r.uft    oder    doch    im    Ohr  Obertöne    vorkommen.     Das 


—        225        — 

Schema  lässt  sich  leicht  für  jedes  behebige  Intervall  verallge- 
meinern ^). 

Diese  Zusatzfärbimgen  werden  also,  obgleich  sie  bei  einzelnen 
Tönen  und  beim  Schleifen  der  Töne  fast  gar  nicht  bemerkt 
werden,  bei  Combination  von  Tönen  mit  bestimmten  Schwingungs- 
zahlenverhältnissen hervortreten,  wie  die  Contraste  schwach 
gefärbter  fast  weisser  Lichter  bei  deren  Combination  lebendig 
werden.  Und  zwar  entsprechen  denselben  Schwingungszahlen- 
verhältnissen bei  jeder  beliebigen  Tonhöhe  immer  dieselben 
Contrastfärbungen. 

So  wird  es  verständlich,  wie  die  Töne  durch  melodische  und 
harmonische  Verbindung  mit  anderen  die  mannigfaltigste  Fär- 
bung erhalten  können,  die  einzelnen  Tönen  fehlt. 

Die  Elemente  Z^,  Z,^  .  .  .  .  darf  man  sich  nicht  in  unver- 
änderlicher bestimmter  Anzahl  gegeben  denken.  Vielmehr  muss 
man  sich  vorstellen,  dass  die  Zahl  der  bemerkbaren  Z  von  der 
Organisation,  Uebung  des  Gehörs  und  von  der  Aufmerksam- 
keit abhängt.  Nach  dieser  Auffassung  werden  auch  nicht  direct 
Schwingungszahlen  Verhältnisse  durch  das  Gehör  erkannt, 
sondern  nur  die  durch  dieselben  bedingten  Zusatz färbun gen.  Die 
durch  [i  — f(n)]D  -|-  f(n)H  symbolisch  dargestellte  Tonreihe  ist 
nicht  unendlich,  sondern  begrenzt.  Da  f(n)  sich  zwischen  den 
Werthen  o  und    i    bewegt,  sind  D  und  H  die  Empfindungen,  die 


i)  Die  hier  gegebene  Darstellung  findet  sich  in  etwas  conciserer  Form  und 
etwas  variirt  in  meiner  Note  ,,Zur  Analyse  der  Tonempfindungen."  Sitzungsber.  der 
Wiener  Akademie  math.-nat.  Cl,  II.  Abth.,  December  1885.  Die  Analyse  der  Ton- 
empfindungen wird  hier  nach  Analogie  der  wesentlich  weiter  vorgeschrittenen  Analyse 
der  Farbenempfindungen  versucht.  Jede  Schwingungszahl  des  Lichtes  löst  einige 
wenige  specifische  Energieen  in  einem  von  dieser  Schwingungszahl  abhängigen  Ver- 
hältnissen aus.  Die  Erregbarkeit  dieser  Energieen  ist  an  verschiedenen  Stellen  der 
Netzhaut  verschieden.  Analoge  Verhältnisse  werden  mutatis  mutandis  auch  für  die 
Tonempfindungen  angenommen.  Der  unendlichen  Mannigfaltigkeit  des  physikalischen 
Reizes  schien  anfänglich  in  beiden  Fällen  eine  unendliche  Mannigfaltigkeit  der  Em- 
pfindungen zu  entsprechen.  Die  psychologische  Analyse  führt  in  beiden  Phallen  dazu, 
eine  geringere  Anzahl  von  Empfindungen  anzunehmen  und  diese  nach  dem  Princip 
des  Parallelismus  nicht  mehr  inimittelbar  von  dem  complicirten  physikalischen  Reiz, 
sondern  von  dem  ebenso  einfachen  psychophysischen  Process  unmittelbar  abhängig 
zu  denken. 

Mach,  Analyse,     b.  Aufl.  15 


einem  tiefsten  und  höchsten  Ton  entsprechen,  die  Endglieder. 
Sinkt  oder  steigt  die  Schwingungszahl  bedeutend  unter  oder  über 
diejenige  des  Grundtones  der  Faser,  so  findet  nur  ein  geringeres 
Ansprechen,  aber  keine  Aenderung  der  Art  der  Empfindung 
mehr  statt.  Auch  die  Empfindung  der  Intervalle  muss  in  der 
Nähe  der  beiden  Hörgrenzen  verschwinden.  Zunächst  weil  der 
Unterschied  der  Tonempfindung-  überhaupt  aufhört,  dann  aber 
noch,  weil  an  der  oberen  Grenze  die  Glieder  der  Reihe  fehlen, 
welche  durch  Untertöne  gereizt  werden  könnten,  an  der  untern 
Grenze  aber  diejenigen,  welche  auf  Obertöne  reagiren. 

Ueberblicken  wir  noch  einmal  die  gewonnene  Ansicht,  so 
sehen  wir,  dass  fast  alles,  was  durch  Helm  hol  tz'  Arbeiten 
statuirt  worden  ist,  beibehalten  werden  kann.  Die  Geräusche  und 
Klänge  lassen  sich  in  Töne  zerlegen.  Jeder  unterscheidbaren 
Schwingungszahl  entspricht  ein  besonderes  Nervenendorgan.  An 
die  Stelle  der  vielen  specifischen  Energieen  setzen  wir  aber  bloss 
zwei,  die  uns  die  Verwandtschaft  aller  Tonempfindungen  ver- 
ständlich machen,  und  erhalten  durch  die  Rolle,  welche  wir  der 
Aufmerksamkeit  zuweisen,  gleichwohl  mehrere  gleichzeitig  ange- 
gebene Töne  unterscheidbar.  Durch  die  Hypothese  des 
mehrfachen  Ansprechens  der  Glieder  der  Reihe  Endorgane  und 
der„Z  usatzfärbunge  n"  tritt  die  Bedeutung  der  zufälligenKlang- 
farbe  zurück,  und  wir  sehen  den  Weg,  auf  welchem  den  posi- 
tiven Merkmalen  der  Intervalle  namentlich  auf  Grund  musika- 
lischer Thatsachen  weiter  nachzuforschen  ist.  Endlich  erhält 
durch  die  letztere  Ansicht  das  v.  Oettin  gen 'sehe  Princip  der 
Dualität  eine  Unterlage,  die  vielleicht  diesem  Forscher  selbst  etwas 
besser  zusagen  dürfte  als  die  „Erinnerung",  während  sich  zu- 
gleich zeigt,  warum  die  Dualität  keine  voUwerthige  Symmetrie 
sein  kann. 

18- 
Die  Hypothese  des  mehrfachen  Ansprechens  der  Reihe  der 
Endorgane,  sowie  jene  der  Zusatzfärbungen,  habe  ich  ausdrücklich 
als  solche  bezeichnet,   und  habe  dieselbe  lediglich  zu  dem  Zweck 


—        227        — 

vorgebracht,  um  den  Sinn  der  Postulate,  welche  sich  durch  die 
psychologische  Analyse  ergeben,  zu  erläutern,  und  andere  vielleicht 
zu  einem  glücklicheren  Griff  anzuregen.  Ich  kann  mich  also  nicht 
wundern,  wenn  andere  diesem  Versuche  nicht  ohne  weiteres  zu- 
stimmen. Dass  aber  diese  H3^pothese  nutzlos  sei,  und  ihren  Zweck 
verfehle,  wie  Stumpft)  sagt,  k^nii  ich  nicht  erkennen.  Das  Zu- 
sammentreffen der  Zusatzfärbungen  Z^,  Zg,  bezw,  Z^,  Z^  in  einem 
Nerv  ist  nicht  bloss  ein  physischer,  sondern  auch  ein  psycho- 
physischer  Umstand.  Die  Empfindung  einer  Mischfärbung 
durch  ein  Element  wird  kaum  gleichgültig  sein.  Es  scheint  mir 
vielmehr,  dass  das,  was  ich  suche:  die  Erklärung  der  bestimmten 
Färbung  der  Intervalle,  und  auch  das,  was  Stumpf  sucht:  die  Er- 
klärung der  Verschmelzung,  durch  die  von  mir  angenommene 
partielle  Coincidenz  auch  ohne  Obertöne  wirklich  dargestellt 
würde.  Wenn  ferner  Stumpf  sagt,  dass  bei  Klängen  mit  Ober- 
tönen für  Helmholtz  keine  Schwierigkeit  besteht,  die  Aehnlich- 
keit  gleicher  Intervalle  zu  verstehen,  so  beruht  dies  auf  einem 
Verkennendessen,  was  ich  gegen  Helmholtz  vorgebracht  habe. 
Niemand  wird  befriedigt  sein,  wenn  man  ihm  sagt,  dass  bei  zwei 
Terzen  gleich  starke  Obertöne  zusammenfallen,  da  es  sich  doch  um 
qualitativ  ähnliche  Empfindungen  handelt.  Wäre  das  Wieder- 
erkennen eines  melodischen  Terzenschrittes  un  mittebar  ver- 
ständlich, so  brauchte  man  für  das  Erkennen  der  harmonischen 
Terzenverbindung  natürlich  keine  besondere  Erklärung  zu  suchen. 
Da  aber  Stumpf  selbst  die  melodischen  Schritte  durch  die 
h  armon  ische  Verbindung  für  characterisirt  hält,  so  würdediese 
Auffassung  einen  Cirkel  einschliessen.  Auch  nach  meiner  Dar- 
legung leitet  die  Thatsache  der  melodischen  und  harmonischen 
Auswahl  bestimmter  Tonstufen ,  bezw.  bestimmter  Schwingungs- 
zahlenverhältnisse auf  dasselbe  Problem.  Meine  Hypothese  lehnt 
sich  an  die  Resonanztheorie  an,  und  ist  nach  Stumpfs  Ansicht 
schon  deshalb  zu  verwerfen.  Letzterer  Punkt  soll  noch  besonders 
zur  Sprache  gebracht  werden. 


i)  Stumpf,    Beilläge   zur  Akustik  und  Musikwissenschaft,  Heft   I,  S.    i;,    i8. 

15* 


IQ- 
Ueber  die  physikalischen  Vorg'änge  beim  Hören,  bezw.  die 
Function  der  Theile  des  inneren  Ohres  ist  schon  sehr  viel  discutirt 
worden.  Trotzdem  scheint  es,  dass  eine  unbefangene  Revision 
der  physikalischen  Hörtheorie  sehr  nothwendig  ist.  Man  hat 
gefrag't,  ob  die  Gehörknöchelchen  als  Ganzes  schwingen,  oder  ob 
die  Schallwellen  durch  dieselben  hindurchziehen.  E.  H.  Weber 
hat  sich  für  die  erstere  Ansicht  entschieden,  welche  experimentell 
von  Politzer  bestätigt  und  theoretisch  wohl  von  mir  zuerst  be- 
gründet worden  ist  ^).  Wenn  nämlich  die  Dimensionen  der  Knöchel- 
chen gegen  die  Länge  der  in  Betrachl  kommenden  Schallwellen 
in  deren  Material  sehr  klein  ist,  wie  es  wirklich  zutrifft,  so  ist  es 
keine  Frage,  dass  in  der  ganzen  Ausdehnung  des  Knöchelchens 
nahezu  dieselbe  Bewegungsphase  auftreten,  demnach  sich  das 
Knöchelchen  als  Ganzes  bewegen  muss.  Man  dachte  sich  nun 
die  Bewegung  der  Gehörknöchelchen  auf  die  Labyrinthflüssigkeit 
übertragen.  Allein  pathologische  Erfahrung-en  lehren,  dass  man, 
wenn  nur  das  Labyrinth  in  Ordnung  ist,  auch  ohne  Mitwirkung 
der  Gehörknöchelchen  und  des  Trommelfelles  noch  recht  gut 
hört.  Diese  Theile  scheinen  nur  von  Wichtig'keit  zu  sein,  wenn  es 
sich  um  die  Uebertragung  der  leisesten  Luftbewegung-en  auf 
das  Labyrinth  handelt.  Da  scheint  die  Reduction  des  auf  die 
ganze  Trommelfellfläche  entfallenden  Druckes  auf  die  kleine  Steig- 
bügelfussplatte  nothwendig.  Sonst  können  die  Schallwellen  auch 
durch  die  Kopfknochen  auf  das  Labyrinth  übertragen  werden. 
Durch  Aufsetzen  von  tönenden  Körpern  (Stimmg'abeln)  auf  ver- 
schiedene Stellen  des  Kopfes  überzeugt  man  sich  davon,  dass  die 
Richtung  der  auf  das  Labyrinth  eindring'enden  wSchall wellen  keine 
besondere  Rolle  spielt.  Alle  Dimensionen  des  Schall-percipirenden 
Apparates  sind  wieder  so  klein  gegen  die  hörbaren  Schallwellen, 
die    .Schallgeschwindigkeit   in    den    Knochen    imd  der  Labyrinth- 


l)  Mach,  Zur  'J'licoiie  des  Geböiorg;ins.  Sit/.iingsbcrichte  der  Wiener 
Akademie,  Bd.  58,  Juli  1863.  Ferner:  Helniliol  t  z.  Die  Mechanik  der  Gehör- 
knöchelchen,   1869. 


I 


flüssigkeit  so  gross,  dass  wieder' in  einem  Moment  nur  merklich 
dieselbe  Wellenphase  in  der  ganzen  Ausdehnung  des  Labyrinthes 
Platz  greifen  kann.  Das  Obige  führt  darauf,  nicht  die  Be- 
wegungen und  die  Bewegung'srichtung,  sondern  die  Druck- 
variationen, welche  im  Labyrinth  nahezu  synchron  auftreten, 
als  empfindungserregend,  als  den  maassgebenden  Reiz  zu  be- 
trachten. 

Betrachten  wir  dennoch  die  Bewegung,  welche  im  Labyrinth 
durch  die  Bewegungen  der  Steigbügelplatte  eingeleitet  werden 
kann.  Wir  denken  uns  zunächst  alle  Weichtheile  herausgenommen, 
und  den  durch  die  Knochenwand  begrenzten  Raum  nur  mit 
Flüssigkeit  gefüllt.  Die  Bewegung',  die  hier  Platz  greifen  kann, 
ist  eine  periodische  Strömung  vom  ovalen  gegen  das  runde  Fenster 
und  umgekehrt,  deren  Form,  bei  der  gegen  die  Schallgeschwindig- 
keit verschwindenden  Geschwindig'keit  der  Störung,  von  der 
Periode  fast  g'anz  unabhängig  sein  wird.  Denkt  man  sich  die 
Flächen  der  beiden  Fenster  als  positive  und  negative  Elektrode 
und  die  Flüssigkeit  leitend,  so  stimmen  die  electrischen  Strom- 
linien mit  den  Linien  der  periodischen  Strömung'  überein.  Daran 
kann  nun  nicht  viel  geändert  werden,  wenn  die  Weichtheile  in 
die  Flüssigkeit  von  so  wenig  verschiedenem  specifischem  Gewicht 
versenkt  werden.  Die  Masse  der  Flüssigkeit  spielt  die  Haupt- 
rolle. Davon,  dass  einzelne  Gebilde  je  nach  der  Tonhöhe,  trotz 
der  Flüssigkeit,  einen  besonderen  localen  Schwingungszustand 
annehmen  könnten,  wird  kaum  die  Rede  sein  dürfen.  Die 
quantitativen  Verhältnisse  sind  hier  ganz  andere,  als  bei  Saiten 
oder  Membranen  in  der  Luft. 

Es  scheint  mir  demnach,  dass  die  neue  Hörtheorie  von 
Ewald  1)  nicht  haltbarer  ist,  als  die  Helmholtz'sche  Theorie 
der  Corti'schen  Fasern,  oder  der  electiven  Schwingung'en  der 
Basilarmembran.  Wenn  eine  mit  Oel  bestrichene  Membran  bei 
Ewald's  Versuchen  schon  bei  stärkerem  Anstrich  keine  deutliche 
Abtheilung    mehr    zeigt,   so  würde    sie    beim  Versenken    in    eine 


i)  Ewald,  Eine  neue  Hörtheoiie,  Bonn   il 


—       22,0       — 

Flüssigkeit,  noch  dazu  bei  entspechend  kleinen  Dimensionen, 
vollends  versagen.  Es  muss  übrigens  hervorgehoben  werden, 
dass  die  Ewald 'sehe  Theorie  sonst  vielfach  ansprechend  ist  und 
manche  Vortheile  bieten  würde.  Die  Membranen  zeigen  z.  E. 
Coincidenzen  der  Knotenlinien  bei  harmonischen  Intervallen,  auch 
ohne  Obertöne.  Diese  Theorie  hat  also  den  Anschein,  einen 
Theil  der  oben  ausgesprochenen  Postulate  zu  erfüllen.  Leider  ist 
sie  physikalisch  nicht  zulässig,  abgesehen  von  andern  Schwierig- 
keiten, welche  auch  sie  nicht  zu  lösen  vermag.  Ich  maasse  mir 
selbstverständlich  nicht  an,  eine  schöne  fleissige  Arbeit  mit 
wenigen  Worten  abzuthun,  kann  aber  meine  Bedenken  doch 
nicht  unterdrücken. 

20. 

Die  Schwierigkeit,  die  Resonanztheorie  physikalisch  zu  be- 
gründen, ist  wohl  von  Allen,  die  sich  mit  derselben  beschäftigt 
haben,  mehr  oder  minder  gefühlt  worden,  wie  mir  scheint  nicht 
am  wenigsten  von  deren  Urheber.  Zugleich  erkannte  man  aber, 
dass  mit  dem  Aufgeben  derselben  dasjenige  Motiv,  welches  das 
Verständniss  der  Klanganalyse,  die  Durchsichtig-keit  der  Lehre  von 
den  Tonempfindungen  bedingt,  verloren  geht.  Daher  die  krampf- 
haften Bemühungen,  die  Resonanztheorie  zu  halten.  L.  Her- 
mann^) scheint  mir  nun  das  richtige  Wort  ausgesprochen  zu 
haben,  wenn  er  meint,  dass  ohne  irgend  eine  Resonanztheorie 
nicht  auszukommen  sei,  dass  diese  aber  nicht  nothwendig  eine 
physikalische  sein  müsse,  sondern  auch  eine  physiologische 
sein  könne.  Man  kann  mit  Hermann  die  plausible  Annahme 
machen,  dass  die  nervösen  Endorgane  selbst  für  Reize  von  einer 
bestimmten  Periode  besonders  empfindlich  sind.  Es  müssen  nicht 
gerade  Elasticitätskräfte  sein,  welche  das  Organ  in  seine  Gleich- 
gewichtslage zurücktreiben,  sondern  man  kann  sich  einen  elec- 
trischen,  chemischen  u.  s.  w.  Gleichgewichtszustand  denken,  und 
Abweichungen  von  demselben,  die  sich  wie  -j-  und  —  verhalten. 
Unter  diesen    Organen    kann    ferner    eine   Verbindung    bestehen, 

l)  Hermann,   Pflügcr's  Archiv,  Bd.   56,  S.  494,  495,  ff.,    1894. 


—       231       — 

wodurch  eines  auf  das  andere  erregend  wirken  kann.  Es  eröffnet 
sich  so  die  begründete  Aussicht,  den  Verlust  der  physikaHschen 
Resonanztheorie  zu  ersetzen.  Auf  die  vollständige  und  genaue 
Wiederg'abe  der  H  e  r  m  a  n '  sehen  Ausführungen  muss  ich  ver- 
zichten und  muss  mich  begnügen,  auf  dessen  Abhandlungen  zu 
verweisen. 

Nur  einen  Punkt  wollen  wir  noch  ins  Auge  fassen.  Wenn  zwei 
sinusförmige  (pendeiförmige)  Schwingungen  von  den  Schwingungs- 
zahlen, n,  11  zusammenwirken,  so  entstehen  Schwebungen,  die  man 
als  ein  (;/ — /2)-maliges  Anschwellen  und  Abschwellen  des  Tones 
n  oder  n  in  der  vSecunde  auffassen  kann.  Niemals  lässt  sich 
aber  die  Luftbewegung  als  eine  solche  ansehen,  in  welcher  die 
Sinusschwingung,  d.  h.  der  Ton  //—  ii,  enthalten  wäre.  Auch  ein 
physikalischer  Resonator  von  der  Schwingungszahl  ii — ii  kann 
durch  solche  Schwebungen,  ob  sie  schnell  oder  langsam  sind, 
niemals  erregt  werden.  Man  übersieht  ja  leicht,  wenn  man  sich 
den  Verlauf  der  Schwebungen  vorstellt  oder  dieselben  zeichnet, 
dass  auf  die  Dauer  der  Resonatorschwingung  [n' — ii)  ebensoviele 
und  gleich  starke  positive  und  negative  Impulse  fallen.  Auch  auf 
die  erste  Hälfte  dieser  Zeit  entfallen  gleiche  gleichsinnige  Impulse 
wie  auf  die  zweite  Hälfte.  Eine  wirksame  Summation  ist  also 
ausgeschlossen.  Dieselbe  wäre  nur  möglich,  wenn  man  den  Re- 
sonator für  die  eine  Art  der  Impulse  empfänglicher  machen  könnte 
als  für  die  andere  Art,  und  empfänglicher  in  der  einen  Hälfte 
seiner  Schwingungsdauer.  Man  sieht,  wie  dieselbe  Ueberlegung 
dazu  führt,  die  Young'sche  Erklärung  der  Combinationstöne 
durch  rasche  Schwebungen  aufzugeben,  und  wie  sie  andererseits 
unter  Festhalten  der  Resonanztheorie  zur  Helmholtz 'sehen 
Theorie  der  Combinationstöne  leitet.  Die  physikalichen  Verhält- 
nisse, welche  Helmholtz  annehmen  musste,  scheinen  unter  den 
Umständen,  unter  welchen  man  Combinationstöne  hört,  nicht  zu 
bestehen.  Wohl  aber  ist  es  denkbar,  dass  ein  nervöses  Organ  für 
entgegengesetzte  Impulse  ungleich  empfänglich  und  ebenso  in 
verschiedenen  Stadien  seiner  Erreg'ung  verschieden  empfänglich  ist. 
Denn    es   folgt   nicht   einfach  den  einwirkenden  Kräften,  sondern 


—         232        — 

enthält  einen  Energievorrath,  auf  welchen  jene  Kräfte  nur  aus- 
lösend einwirken.  Somit  hätte  der  Irrthum  Young's  und  der 
muthmaasslich  misslungene  Verbesserungsv^ersuch  Helmholtz' 
auf  einen  wichtigen   neuen   Gesichtspunkt  geleitet. 

21. 

Bei  ihrem  Auftreten  erschien  die  Helmholtz'sche  Lehre  vorl 
den  Tonempfindungen  als  eine  schöne,  vollendete,  mustergiltige 
Leistung.  Dennoch  haben  fundatuentale  Aufstellungen  derselben 
der  Kritik  nicht  Stand  halten  können.  Und  diese  Kritik  war 
keineswegs  eine  muthwillige,  wie  daraus  genügend  hervorgeht, 
dass  die  Ausführungen  der  verschiedenen  Kritiker  trotz  aller  in- 
dividueller Eigenthümlichkeit  auf  dieselben  Punkte  und  nach 
denselben  Richtungen  hinweisen.  Das  Hauptproblem  erscheint 
durch  die  Kritik  fast  auf  den  Stand  vor  Helmholtz  zurück- 
geschraubt Es  könnte  dies  tragisch  wirken,  wenn  es  überhaupt 
erlaubt  wäre,  diese  Sache  vom  Standpunkt  einer  Person  zu  be- 
trachten. 

Wir  können  aber  die  Helmholtz'sche  Leistung  trotz  ihrer 
angreifbaren  Seiten  nicht  unterschätzen.  Ausser  dem  reichlichen 
positiven  Gewinn,  den  wir  dieser  Arbeit  verdanken,  ist  Bewegung 
in  die  Fragen  gekommen,  sie  hat  den  Forschern  zu  andern  Ver- 
suchen Muth  gemacht,  eine  Meng'e  von  neuen  Untersuchungen 
ist  angeregt,  neue  Aussichten  sind  eröffnet,  mögliche  Irrweg'e 
definitiv  für  immer  verschlossen  worden.  Leichter  knüpft  ja  ein 
neuer  Versuch  und  die  Kritik  an  eine  schon  vorhandene  positive 
Arbeit  an. 

Helmholtz  hat  sich  wohl  darin  getäuscht,  dass  er  meinte, 
diese  Aufgabe,  welche  dem  Psychologen,  Physiologen  und  Physiker 
reichlich  Arbeit  gibt,  hauptsächlich  nach  physikalischen  Gesichts- 
punkten bewältigen  zu  können.  Haben  doch  seine  befreundeten 
Zeitgenossen,  welche  um  die  Mitte  dieses  Jahrhunderts  mit  ihm 
die  physikalische  Physiologenschule  begründeten,  auch  erkennen 
müssen,  dciss  das  Stückchen  anorganischer  Physik,  welches  wir 
beherrschen,  -bei    weitem    noch    nicht    die    ganze   Welt    ist.      Die 


—      233     — 

„Lehre  von  den  Tonempfindung-en"  ist  ein  genialer  Wurf,  der 
Ausdruck  einer  künstlerischen  Intuition,  welcher  uns,  wenn  auch 
nur  symbolisch  durch  ein  physikalisches  Beispiel,  die  Wege  weist, 
die  die  weitere  Untersuchung  einzuschlagen  hat.  Wir  müssen 
deshalb  acht  geben,  dass  wir  mit  den  zu  beseitigenden  Mängeln 
nicht  auclj  werthvollen  Besitz  über  Bord  werfen.  Aus  welchen 
Gründen  Helmholtz  selbst  von  der  Kritik  so  wenig  Notiz  ge- 
nommen hat,  weiss  ich  nicht.  Mit  seiner  letztwilligen  Verfügung 
aber,  nach  welcher  der  Text  der  Tonempfindungen  nach  seinem 
Tode  unverändert  bleibt,  scheint  er  mir  das  Richtige  getroffen 
zu  haben. 

22. 

Für  denjenigen,  welcher  die  Dinge  vom  Standpunkte  der 
Entwicklungslehre  zu  betrachten  pflegt,  ist  die  moderne  Musik  in 
ihrer  hohen  Ausbildung,  sowie  die  spontan  und  plötzHch  auf- 
tretende musikalische  Begabung,  auf  den  ersten  Blick  eine  höchst 
sonderbare  räthselhafte  Erscheinung.  Was  hat  diese  Gehörs- 
entwicklung mit  der  Arterhaltung  zu  schaffen?  Geht  sie  nicht 
weit  über  das  Nothwendige  oder  überhaupt  nur  Nützliche  hinaus? 
Was  soll  uns  die  feine  Unterscheidung-  der  Tonhöhen  ?  Was 
nützt  uns  der  Sinn  für  die  Intervalle,  für  die  Klangfärbungen  des 
Orchesters  ? 

Eigentlich  kann  man  in  Bezug  auf  jede  Kunst  dieselbe  Frage 
stellen,  ob  sie  ihren  Stoff  aus  diesem  oder  jenem  Sinnesgebiet 
schöpft.  Die  P>age  besteht  auch  bezüglich  der  scheinbar  weit 
über  das  nothwendige  Maass  hinausgehenden  Intelligenz  eines 
Newton,  Euler  u.  s.  w.  Die  Frage  liegt  nur  am  nächsten 
bezüglich  der  Musik,  welche  gar  kein  praktisches  Bedürfniss  zu 
befriedigen,  meist  nichts  darzustellen  hat.  Sehr  verwandt  mit  der 
Musik  ist  aber  die  Ornamentik.  Wer  sehen  will,  muss  Rich- 
tungen der  Linien  unterscheiden  können.  Wer  sie  fein  zu  unter- 
scheiden vermag,  dem  kann  sich  aber,  ge wisser maassen  als  ein 
Nebenproduct  seiner  Ausbildung,  das  Gefühl  für  die  Ge- 
fälligkeit der  Combinationen  von  Linien  ergeben.     So   verhält 


—      234     — 

es  sich  auch  mit  dem  Sinn  für  Farbenharmonie  nach  Ent- 
wickhmg  des  Unterscheidungsvermögens  für  Farben,  so  wird  es 
auch  mit  der  Musik  sich  verhalten. 

Wir  müssen  uns  avich  gegenwärtig  halten,  dass  das,  was  wir 
Talent  und  Genie  nennen,  so  gross  uns  auch  dessen  Wirkungen 
erscheinen,  in  der  Begabung  nur  eine  kleine  Differenz  gegen 
das  Normale  darstellt.  Auf  etwas  grössere  psychische  Stärke  in 
einem  Gebiet  reducirt  sich  das  Talent.  Zum  Genie  wird  dasselbe 
durch  die  über  die  Jugendzeit  hinaus  erhaltene  Fähigkeit  der  An- 
passung", durch  die  Erhaltung  der  Freiheit,  sich  ausserhalb  der 
Schablone  zu  bewegen.  Die  Naivität  des  Kindes  entzückt  uns 
und  macht  uns  fast  immer  den  Eindruck  des  Genies.  Gewöhnlich 
schwindet  aber  dieser  Eindruck  bald,  und  wir  merken,  dass  die- 
selben Aeusserungen,  welche  wir  gewohnt  sind  als  Erwachsene 
auf  Rechnung-  der  Freiheit  zu  setzen,  beim  Kinde  noch  auf 
Mangel  an  Festigkeit  beruhten. 

Talent  und  Genie  treten,  wie  Weismann  treffend  hervor- 
gehoben hat  ^),  in  der  Folge  der  Generationen  nicht  allmälig  und 
langsam  hervor,  sie  können  auch  nicht  das  Resultat  einer  ge- 
häuften Uebung  der  Vorfahren  sein,  sie  zeigen  sich  spontan  und 
plötzlich.  Mit  dem  eben  Besprochenen  zusammengehalten,  wird 
dies  auch  verständlich,  wenn  wir  bedenken,  dass  die  Descendenten 
nicht  genau  den  Vorfahren  gleichen,  sondern  etwas  variirend 
die  Eigenschaften  derselben  bald  etwas  abgeschwächt,  bald  etwas 
gesteigert  aufweisen. 


i)  Weismann,   Ueber  die  Vererbung,  Jena   1883,   S.   43. 


XIV.  Einfluss  der  vorausgehenden  Untersuchungen 
auf  die  Auffassung  der  Physik^). 


Welchen  Gewinn  zieht  nun  die  Physik  aus  den  voraus- 
gehenden Untersuchungen?  Zunächst  fällt  ein  sehr  verbreitetes 
Vorurtheil  und  mit  diesem  eine  Schranke.  Es  gibt  keine 
Kluft  zwischen  Psychischem  und  Physischem,  kein  Drinnen  und 
Draussen,  keine  Empfindung,  der  ein  äusseres  von  ihr  ver- 
schiedenes Ding  entspräche.  Es  gibt  nur  einerlei  Elemente, 
aus  welchen  sich  das  vermeintliche  Drinnen  und  Draussen  zu- 
sammensetzt, die  eben  nur,  je  nach  der  temporären  Betrachtung, 
drinnen  oder  draussen  sind. 

Die  sinnliche  Welt  gehört  dem  physischen  und  psyschischen 
Gebiet  zugleich  an.  So  wie  wir  beim  Studium  des  Verhaltens 
der  Gase  durch  Absehen  von  den  Temperaturänderungen  zu  dem 
Mariotte' sehen,  durch  ausdrückliches  Beachten  der  Temperatur- 
änderungen aber  zum  Gay-Lussac'schen  Gesetz  gelangen,  und 
unser  Untersuchungsobject  doch  immer  dasselbe  bleibt,  so  treiben 
wir  auch  Physik  im  weitesten  Sinne,  solange  wir  die  Zusammen- 
hänge in  der  sinnlichen  Welt,  von  unserm  Leib  ganz  ab- 
sehend, untersuchen,  Psychologie  oder  Physiologie  der 
Sinne   aber,   sobald  wir   hierbei    eben  auf   diesen,    und    speciell 


i)  Die  in  diesen  Capitel  erörterten  Fragen  habe  ich  theilweise  schon  früher 
(„Erhaltung  der  Arbeit"  und  „Oekonomische  Natur  d.  physikal.  Forschung"  besprochen. 
Was  die  Auffassung  der  Begriffe  als  ökonomische  Mittel  betrifft,  hat  mich  Herr  Pro- 
fessor W.  James  (von  der  Harvard-Universität  zu  Cambridge  Mass.)  mündlich  auf 
Berührungspunkte  meiner  Schrift  mit  seiner  Arbeit  „The  Sentiment  of  Rationality" 
(Mind.  Vol.  IV.  p.  317  Juli  1879)  aufmerksam  gemacht.  Jedermann  wird  diese  mit 
freiem  Blick,  mit  wohlthuender  Frische  und  Unbefangenheit  geschriebene  Arbeit  mit 
Vergnügen  und   Gewinn  lesen. 


—    236    — 

auf  unser  Nervensystem,  das  Hauptaugenmerk  richten.  Unser 
Leib  ist  ein  Theil  der  sinnlichen  Welt  wie  jeder  andere,  die 
Grenze  zwischen  Physischem  und  Psychischem  lediglich  eine 
praktische  und  Convention  eile.  Betrachten  wir  sie  für  höhere 
wissenschaftliche  Zwecke  als  nicht  vorhanden,  und  sehen  alle  Zu- 
sammenhänge als  gleichwerthig  an,  so  kann  es  an  der  Er- 
öffnung neuer  Forschungswege  nicht  fehlen. 

Als  einen  weiteren  Gewinn  müssen  wir  ansehen,  dass  der 
Physiker  von  den  herkömmlichen  intellectuellen  Mitteln  der 
Physik  sich  nicht  mehr  imponiren  lässt.  Kann  schon  die  ge- 
wöhnliche „Materie"  nur  als  ein  sich  unbewusst  ergebendes,  sehr 
natürliches  Gedankensymbol  für  einen  relativ  stabilen  Complex 
sinnlicher  Elemente  betrachtet  werden,  so  muss  dies  umsomehr 
von  den  künstlichen  hypothetischen  Atomen  und  Molekülen  der 
Physik  und  Chemie  gelten.  Diesen  Mitteln  verbleibt  ihre 
Werthschätzung"  für  ihren  besonderen  beschränkten  Zweck.  Sie 
bleiben  ökonomische  Symbolisirungen  der  physikalisch-chemi- 
schen Erfahrung.  Man  wird  aber  von  ihnen  wie  von  den 
Symbolen  der  Algebra  nicht  mehr  erwarten,  als  man  in  dieselben 
hineingelegt  hat,  namentlich  nicht  mehr  Aufklärung  und  Offenbarung 
als  von  der  Erfahrung  selbst.  Schon  im  Gebiete  der  Physik 
selbst  bleiben  wir  vor  Ueberschätzung'  unserer  Symbole  bewahrt. 
Noch  wenig'er  wird  aber  der  ungeheuerliche  Gedanke,  die  Atome 
zur  Erklärung  der  psychischen  Vorgänge  verwenden  zu  wollen, 
sich  unserer  bemächtigen  können.  Sind  sie  doch  nur  Symbole 
jener  eigenartigen  Complexe  sinnlicher  Elemente,  die  wir  in  den 
engeren  Gebieten  der  Physik  und  Chemie  antreffen. 


Die  Grundanschauungen  der  Menschen  bilden  sich  naturge- 
mäss  in  der  Anpassung  an  einen  engeren  oder  weiteren  Erfahr- 
ungs- und  Gedankenkreis.  Dem  Physiker  genügt  vielleicht  noch  der 
Gedanke  einer  starren  Materie,  deren  einzige  Veränderung  in  der 
Bewegung,  der  Ortsveränderung  besteht.  Der  Physiologe,  bezieh- 
ungsweise  der  Psychologe    vermag  mit  solchem  Ding  gar  nichts 


—     237      — 

anzufangen.  Wer  aber  an  den  Zusammenschluss  der  Wissen- 
schaften zu  einem  Ganzen  denkt,  muss  nach  einer  Vorstellung 
suchen,  die  er  auf  allen  Gebieten  festhalten  kann.  Wenn  wir 
nun  die  ganze  materielle  Welt  in  Elemente  auflösen,  welche 
zugleich  auch  Elemente  der  psychischen  Welt  sind,  die  als 
solche  Empfindungen  heissen,  wenn  wir  ferner  die  Erforschung 
der  Verbindung,  des  Zusammenhanges,  der  g'egenseitigen  Ab- 
hängigkeit dieser  gleichartigen  Elemente  aller  Gebiete  als 
die  einzige  Aufgabe  der  Wissenschaft  ansehen;  so  können  wir 
mit  Grund  erwarten,  auf  dieser  Vorstellung  einen  einheitlichen, 
monistischen  Bau  aufzuführen  und  des  leidig^en  verwirrenden 
Dualismus  los  zu  werden.  Indem  man  die  Materie  als  das 
absolut  Beständige  und  Unveränderliche  ansieht ,  zerstört  man 
ja  in  der  That  den  Zusammenhang  zwischen  Physik  und  Psy- 
chologie. 

Erkenntnisskritische  Erwägungen  können  zwar  keinem  Men- 
schen schaden,  allein  der  Specialforscher,  z.  B.  der  Physiker,  hat 
keinen  Grund  sich  allzusehr  durch  solche  Betrachtungen  beun- 
ruhigen zu  lassen.  Scharfe  Beobachtung  und  ein  glücklicher  In- 
stinkt sind  für  ihn  sehr  sichere  Führer.  Seine  Begriffe,  sofern 
sie  sich  als  unzureichend  erweisen  sollten ,  werden  durch  die 
Thatsachen  am  besten  und  schnellsten  berichtigt.  Wenn  es  sich 
aber  um  die  Verbindung  von  Nachbargebieten  von  verschiedenem 
und  eigenartigem  Entwicklungsgang  handelt,  so  kann  dieselbe 
nicht  mit  Hilfe  der  beschränkteren  Begriffe  eines  engen  Special- 
g'ebietes  vollzogen  werden.  Hier  müssen  durch  allgemeinere 
Erwägungen  für  das  weitere  Gebiet  ausreichende  Begriffe  ge- 
schaffen werden.  Nicht  jeder  Physiker  ist  Erkenntnisskritiker, 
nicht  jeder  muss  oder  kann  es  auch  nur  sein.  Die  Specialforsch- 
ung beansprucht  eben  einen  ganzen  Mann,  die  Erkenntniss- 
theorie aber  auch. 

Bald  nach  Erscheinen  der  ersten  Auflage  dieser  Schrift  be- 
lehrte mich  ein  Physiker  darüber,  wie  ungeschickt  ich  meine  Auf- 
gabe angefasst  hätte.  Man  könne,  meinte  er,  die  Empfindungen 
nicht  analysiren  ,    bevor  die  Bahnen    der  Atome   im  Gehirn  nicht 


—     238     - 

bekannt  seien.  Dann  allerdings  würde  sich  alles  von  selbst  er- 
geben. Diese  Worte,  welche  vielleicht  bei  einem  Jüngling  der 
Laplace'schen  Zeit  auf  fruchtbaren  Boden  gefallen  wären,  und 
sich  zu  einer  psychologischen  Theorie  auf  Grund  „verborgener 
Bewegungen"  (!)  entwickelt  hätten,  konnten  mich  natürlich  nicht 
mehr  bessern.  Sie  hatten  aber  doch  die  Wirkung,  dass  ichDubois 
mit  seinem  „Ignorabimus",  das  mir  bis  dahin  als  die  grössteVer- 
irrung  erschienen  war,  im  stillen  Abbitte  leistete.  War  es  doch 
ein  wesentlicher  Fortschritt,  dass  Dubois  die  Unlösbarkeit  seines 
Problems  erkannte,  und  war  diese  Erkenntniss  doch  für  viele 
Menschen  eine  Befreiung,  wie  der  sonst  kaum  begreifliche  Erfolg 
seiner  Rede  beweist^).  Den  wichtigern  Schritt  der  Einsicht,  dass 
ein  principiell  als  unlösbar  erkanntes  Problem  auf  einer  verkehrten 
Fragenstellung  beruhen  muss,  hat  er  allerdings  nicht  gethan. 
Denn  auch  er  hielt,  wie  unzählige  Andere,  das  Handwerkszeug 
einer  wSpecialwissenschaft  für  die  eigentliche  Welt. 

3- 
Die  Wissenschaften  können  sich  sowohl  durch  den  Stoff  unter- 
scheiden als  auch  durch  die  Art  der  Behandlung  dieses  Stoffes. 
Alle  Wissenschaft  geht  aber  darauf  aus ,  Thatsachen  in  Ge- 
danken darzustellen,  entweder  zu  praktischen  Zwecken  oder 
zur  Beseitigung  des  intellectuellen  Unbehagens.  Knüpfen 
wir  an  die  Bezeichnung  der  „Vorbemerkungen"  an,  so  entsteht 
Wissenschaft,  indem  durch  die  a ßy  .  .  .  .  der  Zusammenhang 
der  übrig'en  Elemente  nachgebildet  wird.     Beispielsweise  entsteht 

Physik  (in  weitester  Bedeutung)  durch  Nachbildung  der  ABC 

in  ihrer  Beziehung  zu  einander,  Physiologie  oder  Ps3^chologie  der 
vSinne  durch  Nachbildung  der  Beziehung  von  ABC  ...  zu  KLM, 
Physiologie  durch  Nachbildung  der  Beziehung  der  KLM  .... 
zu  einander  und  zu  ABC  ....  Die  Nachbildung  der  aßy  .  .  .  . 
durch  andere  aßy  führt  zu  den  eigentlichen  psychologischen 
Wissenschaften . 


l)  Dubois-Reymond,    Ueber     die     Grenzen     des     Naturerkennes.       1872, 

4.   Aufl. 


\ 


—    239    — 

Man  könnte  nun  z.  B.  in  Bezug  auf  Physik  der  Ansicht  sein, 
dass  es  weniger  auf  DarsteUung  der  sinnlichen  Thatsachen  als 
auf  die  Atome,  Kräfte  und  Gesetze  ankommt,  welche  gewisser- 
massen  den  Kern  jener  sinnlichen  Thatsachen  bilden.  Unbefangene 
Ueberlegung  lehrt  aber,  dass  jedes  praktische  und  intellec- 
tuelle  Bedürfniss  befriedigt  ist,  sobald  unsere  Gedanken  die 
sinnlichen  Thatsachen  vollständig  nachzubilden  vermögen.  Diese 
Nachbildung  ist  also  Ziel  und  Zweck  der  Physik,  die  Atome, 
Kräfte,  Gesetze  hingegen  sind  nur  die  Mittel,  welche  uns  jene 
Nachbildung  erleichtern.  Der  Werth  der  letztern  reicht  nur  so 
weit,  als  ihre  Hilfe. 

4- 
AVir  sind  über  irgend  einen  Naturvorgang,  z.  B.  ein  Erdbeben, 
so  vollständig  als  möglich  unterrichtet,  wenn  unsere  Gedanken 
uns  die  Gesammtheit  der  zusammengehörigen  sinnlichen  Thatsachen 
so  vorführen,  dass  sie  fast  als  ein  Ersatz  derselben  angesehen 
werden  können,  dass  uns  die  Thatsachen  selbst  als  bekannte  ent- 
gegentreten, dass  wir  durch  dieselben  nicht  überrascht  werden. 
Wenn  wir  in  Gedanken  das  unterirdische  Dröhnen  hören,  die 
Schwankung  fühlen,  die  Empfindung  beim  Heben  und  Senken 
des  Bodens,  das  Krachen  der  Wände,  das  Abfallen  des  Anwurfs, 
die  Bewegung  der  Möbel  und  Bilder,  das  Stehenbleiben  der  Uhren, 
das  Khrren  und  Springen  der  Fenster,  das  Verziehen  der  Thür- 
stöcke  und  Festklemmen  der  Thüren  uns  vergegenwärtigen,  wenn 
wir  die  Welle,  die  durch  den  Wald  wie  durch  ein  Kornfeld  zieht, 
und  die  Aeste  bricht,  die  in  eine  Staubwolke  gehüllte  Stadt  im 
Geiste  sehen,  die  Glocken  ihrer  Thürme  anschlagen  hören,  wenn 
uns  auch  noch  die  unterirdischen  Vorgänge,  welche  zur  Zeit  noch 
unbekannt  sind,  sinnlich  so  vor  Augen  stehen,  dass  wir  das  Erd- 
beben herankommen  sehen  wie  einen  fernen  Wagen,  bis  wir  end- 
lich die  Erschütterung  unter  den  Füssen  fühlen,  so  können  wir 
mehr  Einsicht  nicht  verlangen.  Können  wir  auch  die  Theil- 
thatsachen  nicht  in  dem  richtigen  Ausmaass  combiniren  ohne  ge- 
wisse (mathematische)  Hilfsvorstellungen,  oder  geometrische  Con- 


—     240     — 

structionen,  so  ermöglichen  letztere  unsern  Gedanken  doch  nur 
nach  und  nach  zu  leisten,  was  sie  nicht  auf  einmal  vermögen. 
Diese  Hilfsvorstellungen  wären  aber  werthlos,  wenn  wir  mit  den- 
selben nicht  bis  zur  Darstellung  der  sinnlichen  Thatsachen  vor- 
dringen könnten. 

Wenn  ich  das  auf  ein  Prisma  fallende  weisse  Lichtbündel  in 
Gedanken  als  Farbenfächer  austreten  sehe,  mit  bestimmten  Winkeln 
die  ich  voraus  bezeichnen  kann,  wenn  ich  das  reelle  Spectralbild 
sehe,  dass  beim  Vorsetzen  einer  Linse  auf  einem  vSchirm  entsteht, 
darin  die  Fraunhofer 'sehen  Linien  an  voraus  bekannten  Stellen, 
wenn  ich  im  Geiste  sehe,  wie  sich  die  letzteren  verschieben,  so 
bald  das  Prisma  gedreht  wird,  sobald  die  Substanz  des  Prismas 
wechselt,  sobald  ein  dasselbe  berührendes  Thermometer  seinen 
Stand  ändert,  so  weiss  ich  alles,  was  ich  verlang'en  kann.  Alle 
Hilfsvorstellungen,  Gesetze,  Formehi  sind  nur  das  quantitative 
Regulativ  meiner  sinnlichen  Vorstellung.  Diese  ist  das  Ziel,  jene 
sind  die  Mittel. 


Die  Anpassung-  der  Gedanken  an  die  Thatsachen  ist  also  das 
Ziel  aller  naturwissenschaftlichen  Arbeit.  Die  Wissenschaft  setzt 
hier  nur  absichtlich  und  b  e  w  u  s  s  t  fort,  was  sich  im  tägiichen 
Leben  unvermerkt  von  selbst  vollzieht.  Sobald  wir  der  Selbst- 
beobachtung fähig  werden,  finden  wir  unsere  Gedanken  den  That- 
sachen schon  vielfach  angepasst  vor.  Die  Gedanken  führen  uns 
die  Elemente  in  ähnlichen  Gruppen  vor  wie  die  sinnlichen  That- 
sachen. Der  begrenzte  Gedankenvorrath  reicht  aber  nicht  für  die 
fortwährend  wachsende  Erfahrung.  Fast  jede  neue  Thatsache 
bringt  eine  Fortsetzung  der  Anpassung  mit  sich,  die  sich  im 
Process  des  Urtheilens  äussert. 

Man  kann  diesen  Vorgang  an  Kindern  sehr  gut  beobachten. 
Ein  Kind  kommt  zum  erstenmal  aus  der  vStadt  auf's  Land,  etwa 
auf  eine  grosse  Wiese,  sieht  sich  da  nach  allen  Seiten  um.  und 
spricht  verwundert:  ,,Wir  sind  in  einer  Kugel.     Die  Welt  ist  eine 


—       241        — 

blaue  Kugel  ^)".  Hier  haben  wir  zwei  Urtheile.  Was  geht  vor, 
indem  dieselben  gebildet  werden  ?  Die  fertige  sinnliche  Vorstellung 
„wir"  (die  begleitende  Gesellschaft)  wird  durch  die  ebenfalls  schon 
vorhandene  Vorstellung  einer  Kugel  zu  einem  Bilde  ergänzt. 
Aehnlich  wird  in  dem  zweiten  Urtheil  das  Bild  der  „Welt"  (alle 
Gegenstände  der  Umgebung)  durch  die  einschliessende  blaue 
Kugel  (deren  Vorstellung  auch  schon  vorhanden  war,  weil  sonst 
der  Name  gefehlt  hätte)  ebenfalls  ergänzt.  Ein  Urtheil  ist  also 
immer  eine  Ergänzung  einer  sinnlichen  Vorstellung  zur  voll- 
ständig'eren  Darstellung  einer  sinnlichen  Thatsache.  Ist  das  Urtheil 
in  Worten  ausdrückbar,  so  besteht  es  sogar  immer  in  einer 
Zusammensetzung  der  neuen  Vorstellung  aus  schon  vorhandenen 
Erinnerungsbildern,  welche  auch  beim  Angesprochenen  durch 
Worte  hervorgelockt  werden  können. 

Der  Process  des  Urtheilens  besteht  also  hier  in  einer  Be- 
reicherung-, Erweiterung,  Ergänzung-  sinnlicher  Vorstellungen  durch 
andere  sinnliche  Vorstellungen  unter  Leitung  der  sinnlichen 
Thatsache.  Ist  der  Process  vorbei  und  das  Bild  geläufig  ge- 
worden, tritt  es  als  fertig-e  Vorstellung  in's  Bewusstsein,  so  haben 
wir  es  mit  keinem  Urtheil,  sondern  nur  mehr  mit  einer  einfachen 
Erinnerung  zu  thun '').     Das  Wachsthum  der  Naturwissenschaft 


i)  Uer  hier  als  Beispiel  angeführte  Fall  ist  nicht  erdichtet,  sondern  ich  habe 
den  Vorgang  an  meinem  3  jährigen  Kinde  beobachtet.  In  diesem  Falle  Avird  eigent- 
lich eine  physiologische  Thatsache  constatirt,  was  freilich  erst  spät  erkannt  worden 
ist.  Die  alte  wissenschaftliche  Astronomie  beginnt  mit  solchen  naiven  Aufstellungen, 
die  sie  für  physikalische  hält. 

2)  Aut  eine  Untersuchung  über  den  Urtheilsprocess  als  solchen  kann  ich  mich 
hier  nicht  einlassen.  Ich  möchte  aber  unter  den  neueren  Schriften  über  den  Gegen- 
stand diejenige  von  W.  Jerusalem  (Die  Urtheilsfunction,  Wien,  1895)  hervorheben. 
Ohne  mit  diesem  Autor  auf  demselljen  Boden  zu  stehen,  habe  ich  doch  aus  der  Leetüre 
seiner  Schrift  durch  die  vielen  Einzeiuntersuchungen  manche  Anregimg  und  Belehrung 
empfangen.  Die  psychologischen  Seiten,  namentlich  die  biologische  Function  des  Ur- 
theiis,  sind  sehr  lebendig  dargestellt.  Die  Auffassung  des  Subjects  als  eines  Kraft- 
centrums wird  man  kaum  glücklich  finden.  Dagegen  gibt  man  gewiss  gern  zu,  dass 
in  den  Anfängen  der  Cultur  und  der  Sprachbildung  anthropomorphische  Vorstellungen 
grossen  Einfluss  üben.  —  Ganz  andere  Fragen  behandelt  A.  Stöhr  in  seinen  Schriften 
(Theorie  der  Namen,  1889;  Die  Vieldeutigkeit  des  Urtheils,  1895;  Algebra  der  Gram- 
matik, 1898).  Unter  diesen  scheinen  mir  die  auf  das  Verhältniss  von  Logik  und  Gram- 
matik bezüglichen  die  interessantesten   zu  sein. 

Mach,  Analyse.     3.  Aufl.  lo 


—      242      — 

und  der  Mathematik  beruht  grösstentheils  auf  der  Bildung  solcher 
intuitiver  Erkenntnisse  (wie  sie  Locke  nennt).  Betrachten  wir 
z.  B.  die  Sätze:  „i.  Der  Baum  hat  eine  Wurzel.  2.  Der  Frosch 
hat  keine  Klauen.  3.  Aus  der  Raupe  wird  ein  Schmetterling. 
4.  Verdünnte  Schwefelsäure  löst  Zink.  5.  Reibung  macht  das 
Glas  electrisch.  6.  Der  electrische  Strom  lenkt  die  Magnetnadel 
ab.  7.  Der  AVürfel  hat  6  Flächen,  8  Ecken,  12  Kanten."  Der 
I.  Satz  enthält  eine  räumliche  Erweiterung  der  Baumvorstellung, 
der  2.  die  Correctur  einer  nach  der  (jewohnheit  zu  voreilig  ver- 
vollständigten Vorstellung,  der  3.,  4.,  5.  und  6.  enthalten  zeitlich 
erweiterte  Vorstellungen.  Der  7.  Satz  gilt  ein  Beispiel  der  geo- 
metrischen intuitiven  Erkenntniss. 

6. 
Derartige  intuitive  Erkenntnisse  prägen  sich  dem  Gedächt- 
niss  ein,  und  treten  als  jede  g-egebene  sinnliche  Thatsache  spontan 
ergänzende  Erinnerungen  auf.  Die  verschiedenen  Thatsachen 
gleichen  sich  nicht  vollständig.  Die  v^erschiedenen  Fällen  ge- 
meinsamen Bestandtheile  der  sinnlichen  Vorstellung"  werden 
aber  gekräftigt,  und  es  kommt  dadurch  ein  Princip  der  mög- 
lichsten Verallgemeinerung  oder  Continuität  in  die  Er- 
innerung. Andererseits  muss  die  Erinnerung,  soll  sie  der  Mannig- 
faltigkeit der  Thatsachen  g'erecht  werden,  und  überhaupt  nützlich 
sein,  dem  Princip  der  zureichenden  Differenzirung  ent- 
sprechen. Schon  das  Thier  wird  durch  lebhaft  roth  und  gelb  ge- 
färbte (ohne  Anstrengung  am  Baum  sichtbare)  weiche  Früchte 
an  deren  süssen,  durch  grüne  (schwer  sichtbare)  harte  Früchte 
an  deren  sauren  Geschmack  erinnert  werden.  Der  Insekten 
jagende  Affe  hascht  nach  allem,  was  schwirrt  und  fliegt,  hütet 
sich  aber  vor  der  gelb  und  schwarz  gefleckten  Fliege,  der  Wespe. 
In  diesen  Beispielen  spricht  sich  deutlich  genug  das  Bestreben 
nach  möglichster  Verallgemeinerung  und  Continuität,  so 
wie  nach  praktisch  zureichender  Differenzirung  der  Erinne- 
rung aus.  'Und  beide  Tendenzen  werden  durch  dasselbe  Mittel, 
die  A  u  s s o n  d  e r u  n  g  und  FI  e r v  o r h  e b  u  n  g"  j  e  n  e r  Bestandtheile 


—      243      — 

der  sinnlichen  Vorstellung,  erreicht,  welche  für  den  zur  Er- 
fahrung' passenden  Gedankenlauf  maassgebend  sind.  Ganz  analog 
verfährt  der  Physiker,  wenn  er  verallgemeinernd  sagt,  „alle 
durchsichtigen  festen  Körper  brechen  das  aus  der  Luft  einfallende 
Licht  zum  Lothe",  und  wenn  er  differenzirend  hinzufügt,  „die 
tesseral  krystallisirten  und  amorphen  einfach,  die  übrigen  doppelt". 

7- 

Ein  guter  Theil  der  Gedankenanpassung  vollzieht  sich  un- 
bewusst  und  unwillkürlich  unter  Leitung  der  sinnlichen  Thatsachen. 
Ist  diese  Anpassung  ausgiebig  genug  geworden,  um  der  Mehr- 
zahl der  auftretenden  Thatsachen  zu  entsprechen,  und  stossen  wir 
nun  auf  eine  Thatsache,  welche  mit  unserm  g'ewohnten  Gedanken- 
lauf in  starkem  Widerstreit  steht,  ohne  dass  man  sofort  das  maass- 
g'ebende  Moment  zu  erschauen  vermöchte,  welches  zu  einer 
neuen  Differenzirung  führen  würde,  so  entsteht  ein  Problem. 
Das  Neue,  das  Ungewöhnliche,  das  Wunderbare  wirkt  als  Reiz, 
welcher  die  Aufmerksamkeit  auf  sich  zieht.  Praktische  Gründe, 
oder  das  intellectuelle  Unbehagen  allein,  können  den  Willen  zur 
Beseitigung  des  Widerstreites,  zur  neuen  Gedankenanpassung  er- 
zeugen. So  entsteht  die  absichtliche  Gedankenanpassung, 
die  Forschung. 

Wir  sehen  z.  B.  einmal  ganz  gegen  unsere  Gewohnheit,  dass 
an  einem  Hebel  oder  Wellrad  eine  grosse  Last  durch  eine 
kleine  gehoben  wird.  Wir  suchen  nach  dem  differenzirenden 
Moment,  welches  uns  die  sinnliche  Thatsache  nicht  unmittelbar 
zu  bieten  vermag.  Erst  wenn  wir,  verschiedene  ähnliche  That- 
sachen vergleichend,  den  Einfluss  der  Gewichte  und  der 
Hebelarme  bemerkt,  und  uns  selbstthätig  zu  den  ab- 
stracten  Begriffen  Moment  oder  Arbeit  erhoben  haben,  ist 
das  Problem  gelöst.  Das  Moment  oder  die  Arbeit  ist  das 
differenzirend e  Element.  Ist  die  Beachtung  des  Momentes  oder 
der    Arbeit     zur    Denkgewohnheit     geworden,     so     existirt     das 

Problem   nicht  mehr. 

16* 


!44 


Was  thut  man  nun,  indem  man  abstrahirt?  Was  ist  eine 
Abstraction?  Was  ist  ein  Begriff?  Entspricht  dem  Begriff  ein 
sinnliches  VorsteUungsbild?  Einen  allgemeinen  Menschen  kann 
ich  mir  nicht  vorstellen,  höchstens  einen  besonderen,  vielleicht 
einen,  der  zufäUige  Besonderheiten  verschiedener  Menschen,  die 
sich  nicht  ausschliessen,  vereinigt.  Ein  allgemeines  Dreieck, 
welches  etwa  zugleich  rechtwinklig  und  g'leichseitig  sein  müsste, 
ist  nicht  vorstellbar.  Allein  ein  solches  mit  dem  Namen  des 
Begriffs  auftauchendes,  die  begriffliche  Operation  begleitendes 
Bild  ist  auch  nicht  der  Begriff.  Ueberhaupt  deckt  ein  Wort, 
welches  aus  Noth  zur  Bezeichnung  vieler  Einzelvorstellungen  ver- 
wendet werden  muss,  durchaus  noch  keinen  Begrifi.  Ein  Kind, 
das  zuerst  einen  schwarzen  Hund  g'esehen  und  nennen  gehört 
hat,  nennt  z.  B.  alsbald  einen  grossen  schwarzen,  rasch  dahin- 
laufenden  Käfer  ebenfalls  ,,Hund",  bald  darauf  ein  Schwein  oder 
Schaf  ebenfalls  Hund^).  Irgend  eine  an  die  früher  benannte 
Vorstellung  erinnernde  Aehnlichkeit  führt  zum  naheliegenden 
Gebrauch  desselben  Namens.  Der  Aehnlichkeitspunkt  braucht  in 
aufeinanderfolgenden  Eällen  gar  nicht  derselbe  zu  sein;  er  liegt 
z.  B.  einmal  in  der  Farbe,  dann  in  der  Bewegung,  dann  in  der 
Gestalt,  der  Bedekung  u.  s.  w. ;  demnach  ist  auch  von  einem  Be- 
griff gar  nicht  die  Rede.  So  nennt  ein  Kind  gelegentlich  die 
Federn  des  Vogels  Haare,  die  Hörner  der  Ivuh  Fühlhörner,  den 
Bartwisch,  den  Bart  des  Vaters  und  den  Samen  des  Löwenzahns 
ohne  Unterschied  „Bartwisch"  u.  s.  w.  -).  Die  meisten  Menschen 
verfahren  mit  den  Worten  ebenso,  nur  weniger  auffallend,  weil 
sie  einen  grösseren  Vorrath  zur  Verfügung-  haben.  Der  gemeine 
Mann  nennt  ein  Rechteck  „Viereck"  und  gelegentlich  auch  den 
Würfel  (wegen  der  rechtwinkligen  Begrenzung)  ebenfalls  „Viereck". 


ij  So  nannten  die  Markomannen  die  von  den  Römern  über  die  Donau  ge- 
setzten Löwen  ,, Hunde"  und  die  Jonier  nannten  (Herodot  II  69)  die  ,,Champsä"  des 
Nils  nach  den  Eidechsen  ihrer  Büsche  ,, Krokodile". 

2)  Sämmtliche   Beis])iele  sind  der  Beobachtung  entnommen. 


—     245     — 

Die  Sprachwissenschaft  und  einzelne  historisch  beglaubigte  Fälle 
lehren,  dass  ganze  Völker  sich  nicht  anders  verhalten  ^). 

Ein  Begriff  ist  überhaupt  nicht  eine  fertige  Vorstellung. 
Gebrauche  ich  ein  Wort  zur  Bezeichnung  eines  Begriffs,  so  liegt 
in  demselben  ein  einfacher  Impuls  zu  einer  geläufigen  sinn- 
lichen Thätigkeit,  als  deren  Resultat  ein  sinnliches  Element 
(das  Merkmal  des  Begriffs)  sich  ergibt.  Denke  ich  z.  B.  an  den 
Begriff  Siebeneck,  so  zähle  ich  in  der  vorliegenden  Figur 
oder  in  der  auftauchenden  Vorstellung  die  Ecken  durch;  komme 
ich  hierbei  bis  sieben,  wobei  der  Laut,  die  Ziffer,  die  Finger 
das  sinnliche  Merkmal  der  Zahl  abgeben  können,  so  fällt  die  ge- 
gebene Vorstellung  unter  den  gegebenen  Begriff.  Spreche  ich 
von  einer  Quadratzahl,  so  versuche  ich  die  vorliegende  Zahl 
durch  die  Operation  5X5,  6x6  u,  s.  w.,  deren  sinnliches  Merk- 
mal (die  Gleicheit  der  beiden  multiplicirten  Zahlen)  auf  der 
Hand  liegt,  herzustellen.  Das  gilt  von  jedem  Begriff.  Die 
Thätigkeit,  welche  das  Wort  auslöst,  kann  aus  mehreren  Opera- 
tionen bestehen;  die  eine  kann  eine  andere  enthalten.  Immer  ist 
das  Resultat  ein  sinnliches  Element,  welches  vorher  nicht 
da  war. 

Wenn  ich  ein  Siebeneck  sehe,  oder  mir  vorstelle,  braucht 
mir  die  Siebenzahl  der  Ecken  noch  nicht  g'egenwärtig  zu  sein. 
Sie  tritt  erst  durch  die  Zählung  hervor.  Oft  kann  dass  neue 
sinnliche  Element,  wie  z.  B.  beim  Dreieck,  so  nahe  liegen,  dass 
die  Zähloperation  unnöthig  scheint;  das  sind  aber  Specialfälle, 
welche  eben  zu  Täuschungen  über  die  Natur  des  Begriffs  führen. 
An  den  Kegelschnitten  (Ellipse,  Hyperbel,  Parabel)  sehe  ich 
nicht,  dass  sie  unter  denselben  Begriff  fallen;  ich  kann  es  aber 
durch  die  Operationen  des  Kegelschneidens,  und  durch  die  Con- 
struction  der  Gleichung  finden. 

Wenn  wir  also  abstracte  Begriffe  auf  eine  Thatsache  an- 
wenden, so  wirkt  dieselbe  auf  uns  als  einfacher  Impuls  zu  einer 
sinnlichen  Thätigkeit,    welche    neue    sinnliche    Elemente    herbei- 


i)  Withney,   Leben  und    Wachsthum   der  Sprache.      Leipzig    1876. 


—      246     — 

schafft,  die  unsern  ferneren  Gedankenlauf  der  Thatsache  entsprechend 
bestimmen  können.  Wir  bereichern  und  erweitern  durch 
unsere  Thätigkeit  die  für  uns  zu  arme  Thatsache.  Wir  thun  das- 
selbe, was  der  Chemiker  mit  einer  farblosen  Salzlösung  thut,  in- 
dem er  ihr  durch  eine  bestimmte  Operation  einen  gelben  oder 
braunen  Niederschlag  ablockt,  der  seinen  Gedankenlauf  zu  differen- 
ziren  vermag.  Der  Begriff  des  Physikers  ist  eine  bestimmte 
Reactionsthätigkeit,  welche  eine  Thatsache  mit  neuen  sinn- 
lichen Elementen  bereichert. 

Eine  sehr  dürftige  Sinnlichkeit  und  eine  sehr  geringe  Be- 
weglichkeit reichen  zur  Bildung  von  Begriffen  aus.  Dies  lehrt 
die  Entwicklung'sgeschichte  der  blinden  und  taubstummen  Laura 
Bridgman,  welche  Jerusalem  in  einer  interessanten  kleinen 
Schrift^)  allgemein  zugänghch  gemacht  hat.  Fast  ganz  ohne  Ge- 
ruch und  auf  die  Wahrnehmung-  von  Erschütterung^en  und  Schall- 
schwingungen durch  die  Fussohlen  und  Fing^erspitzen,  kurz 
durch  die  Haut  angewiesen,  vermochte  Laura  doch  einfache  Be- 
griffe zu  gewinnen.  Durch  Herumgehen  und  durch  die  Bewegung 
der  Hände  findet  sie  die  Tastmerkmale  (Classencharactere)  der 
Thüre,  des  Stuhles,  des  Messers  u.  s.  w.  Allerding-s  reicht  die 
Abstraction  nicht  hoch.  Die  abstractesten  Begriffe,  die  sie  sich 
erwarb,  dürften  die  Zahlen  gewesen  sein.  Im  ganzen  blieb  ihr 
Denken  natürlich  an  Spezialvorstellungen  haften.  Beweis  dafür 
ist  ihre  Auffassung  der  Rechenaufgaben  eines  Schulbuches  als 
speciell  an  sie  gerichtet  (a.  a.  O.  S.  .25),  ihre  Meinung,  dass  der 
Himmel  (das  Jenseits)  eine  Schule  sei  u.  s.  w.  (a.  a.  O.   S.  30). 

9- 
Wenn  wir,  um  an  ein  früheres  Beispiel  anzuknüpfen,  einen 
Hebel  erblicken,  so  treibt  uns  dieser  Anblick,  die  Arme  abzu- 
messen ,  die  Gewichte  zu  wäg'en ,  die  Maasszahl  des  Armes  mit 
der  Maaszahl  des  Gewichtes  zu  multipliciren.  Entpricht  den  beiden 
Producten  dasselbe  sinnhche  Zahlenzeichen,  so  erwarten  wir 
Gleichgewicht.    Wir  haben  so  ein  neues  sinnliches  Element  ge- 


1)   W.  Jerusalem,    Laura    liiidginann,    Wien,   Picliler    1891. 


—      247     — 

Wonnen,  welches  zuvor  in  der  blossen  Thatsache  noch  nicht  ge- 
geben war,  und  das  nun  unsern  Gedankenlauf  differenzirt.  Hält 
man  sich  recht  gegenwärtig,  dass  das  begriffliche  Denken  eine 
Reactionsthätigkeit  ist,  die  wohl  geübt  sein  will,  so  versteht  man 
die  bekannte  Thatsache,  dass  niemand  Mathematik  oder  Physik, 
oder  irgend  eine  Naturwissenschaft  durch  blosse  Leetüre,  ohne 
praktische  Uebung,  sich  aneignen  kann.  Das  Verstehen  beruht 
hier  gänzlich  auf  dem  Thun.  Ja  es  wird  in  keinem  Gebiet  mög- 
lich sein,  sich  zu  den  höheren  Abstractionen  zu  erheben,  ohne 
sich  mit  den  Einzelheiten  beschäftigt  zu  haben. 

Die  Thatsachen  werden  also  durch  die  begriffliche  Behand- 
lung erweitert  und  bereichert,  und  schliesslich  wieder  vereinfacht. 
Denn  wenn  das  neue  maassgebende  sinnliche  Element  (z.  B.  die 
Maasszahl  der  Momente  des  Hebels)  gefunden  ist,  wird  nur  mehr 
dieses  beachtet,  und  die  mannigfaltigsten  Thatsachen  gleichen 
und  unterscheiden  sich  nur  durch  dieses  Element.  Wie  bei 
der  intuitiven  Erkenntniss  reducirt  sich  also  auch  hier  alles  auf 
die  Auffindung,  Hervorhebung  und  Aussonderung 
der  maassgebenden  sinnlichen  Elemente.  Die  Forschung  erreicht 
hier  nur  auf  einem  Umwege,  was  sich  der  intuitiven  Erkennt- 
niss unmittelbar  darbietet. 

Der  Chemiker  mit  seinen  Reagenzien,  der  Physiker  mit 
Maassstab,  Waage,  Galvanometer,  und  der  Mathematiker  verhalten 
sich  den  Thatsachen  gegenüber  eigentlich  ganz  gleichartig;  nur 
braucht  der  letztere  bei  Erweiterung  der  Thatsache  am  wenigsten 
über  die  Elemente  a  ß  y  .  .  .  .  K  L  J/ hinauszugehen.  Seine  Hilfs- 
mittel hat  er  stets  und  sehr  bequem  zur  Hand.  Der  Forscher  mit 
seinem  ganzen  Denken  ist  ja  auch  nur  ein  Stück  Natur  wie  jedes 
Andere.  Eine  eigentliche  Kluft  zwischen  diesem  und  anderen 
Stücken  besteht  nicht.     Alle  Elemente  sind  gleichwerthig. 

Nach  dem  Dargelegten  ist  das  Wesen  der  Abstraction  nicht 
erschöpft,  wenn  man  sie  (mit  Kant)  als  negative  Aufmerksamkeit 
bezeichnet.  Zwar  wendet  sich  beim  Abstrahiren  von  vielen  sinn- 
lichen Elementen  die  Aufmerksamkeit  ab,  dafür  aber  andern  neuen 
sinnlichen  Elementen  zu,  und  das  Letztere  ist  gerade  wesentlich. 


—    248    — 

Jede  Abstraction  gründet   sich   auf   das  Hervortreten   bestimmter 
sinnlicher  Elemente. 


10. 

Indem  ich  hier  meine  Darstellung  von  1886  unverändert  lasse, 
möchte  ich  zugleich  auf  die  weiteren  Ausführungen  in  einer 
spätem  Schrift  hinweisen  ^).  Daselbst  sind  auch  (in  der  zweiten 
Auflage  von  1900)  die  seit  1897  erschienenen  Arbeiten  von 
H.  Gomperz  und  Ribot  erwähnt,  welche  Untersuchungen  ent- 
halten, deren  Ergebnisse  in  mancher  Beziehung  mit  den  raeinigen 
verwandt  sind.  Gomperz  und  Ribot  schliessen  beide  die 
wissenschaftlichen  Begriffe  von  ihrer  Untersuchung  aus,  und  be- 
handeln bloss  die  vulgären  Begriffe,  wie  sie  in  den  Worten  der 
gewöhnlichen  Verkehrssprache  fixirt  sind.  Ich  bin  im  Gegenteil 
der  Meinung,  dass  die  Natur  der  Begriffe  an  den  wissenschaft- 
lichen Begriffen,  welche  mit  Bewusstsein  gebildet  und  an- 
gewendet werden,  sich  viel  besser  offenbaren  muss,  als  an 
den  vulgären  Begriffen.  Letztere  können  wegen  ihrer  Ver- 
schwommenheit kaum  zu  den  eigentlichen  Begriffen  gerechnet 
werden.  Die  Worte  der  Vulgärsprache  sind  einfach  gefäufige 
Merkzeichen,  welche  ebenso  geläufige  Denkgewohnheiten  aus- 
lösen. Der  begriffliche  Inhalt  dieser  Worte,  soweit  er  überhaupt 
in  schärferer  Form  besteht,  kommt  kaum  zum  Bewusstsein,  wie 
dies  auch  Ribot  bei  seinen  statistischen  Versuchen  gefunden 
hat.  Ohne  Zweifel  könnte  ich  Gomperz  und  Ribot  noch  viel 
weiter  zustimmen,  als  es  schon  jetzt  der  Fall  ist,  wenn  sie  auch  die 
wissenschaftlichen  Begriffe  in  ihre  Untersuchung  einbezog'en  hätten. 

Wir  haben  als  einfaches  Beispiel  des  Begriffes  oben  das 
statische  Moment  gewählt.  Comphcirte  Begriffe  werden  ein  com- 
plicirtes  System  von  Reactionen  erfordern,  welche  mehr  oder 
weniger  grosse  Theile  des  Centralnervensystems  in  Anspruch 
nehmen,  und  ein  entsprechend  complicirtes  den  Begriff  charac- 
terisirendes  .System    von    sinnlichen  Elementen    zu  Tage    fördern. 


l)  Principien  der   Wurniclclirc,   2.  Aufl.,    1900,  S.  415,  422. 


—      249     ^ 

Die    von  J.    v.  Kries    erhobenen   Schwierigkeiten  i)    möchten   bei 
dieser  Auffassung"  nicht  unüberwindhch  sein.     (Vergl.  S.  56,    57.) 


Die  sinnhche  Thatsache  ist  also  der  Ausgaiigpunkt  und 
auch  das  Ziel  aller  Gedankenanpassungen  des  Physikers.  Die 
Gedanken,  welche  unmittelbar  der  sinnlichen  Thatsache  folgen,  sind 
die  geläufigsten,  stärksten  und  anschaulichsten.  Wo  man 
einer  neuen  Thatsache  nicht  sofort  folgen  kann,  dräng-en  sich  die 
kräftigsten  und  geläufigsten  Gedanken  heran,  um  dieselbe  reicher 
und  bestimmter  zu  gestalten.  Hierauf  beruht  jede  naturwissen- 
schaftliche Hypothese  und  Speculation,  deren  Berechtigung  in  der 
Gedankenanpassung  liegt,  welche  sie  fördert  und  schliesslich  her- 
beiführt. So  denken  wir  uns  den  Planeten  als  einen  geworfenen 
Körper,  stellen  uns  den  electrischen  Körper  mit  einer  fernwirkenden 
Flüssigkeit  bedeckt  vor,  denken  uns  die  Wärme  als  einen  Stoff, 
der  aus  einem  Körper  in  den  andern  überfliesst,  bis  uns  schliess- 
lich die  neuen  Thatsachen  ebenso  geläufig  und  anschaulich 
werden  als  die  älteren,  die  wir  als  Gedankenhilfe  herangezogen 
hatten.  Aber  auch  wo  von  unmittelbarer  Anschaulichkeit  nicht 
die  Rede  sein  kann,  bilden  sich  die  Gedanken  des  Physikers  unter 
möglichster  Einhaltung  des  Princips  der  Continuität  und  der 
zureichenden  Differenzirung  zu  einem  ökonomisch  ge- 
ordneten System  von  Regriffsreactionen  aus,  welche  wenigstens 
auf  den  kürzesten  Wegen  zur  Anschaulichkeit  führen.  Alle 
Rechnungen,  Constructionen  u.  s.  w.  sind  nur  die  Zwischenmittel 
diese  Anschaulichkeit  schrittweise  und  auf  sinnliche  Wahrnehm- 
ung gestützt  zu  erreichen,  wo  dieselbe  nicht  unmittelbar  zu  er- 
reichen ist. 

12. 
Betrachten     wir     nun     die    Ergebnisse     der    Gedankenan- 
passung.    Nur  dem,  was  an  den  Thatsachen  überhaupt  beständig 


I)  J.    V.    Kries,    Die    materiellen    Grundlagen    der    Bewusstseinserscheinungen. 
Freiburg  i.  Br,    1898. 


—        250       — 

ist,  können  sich  die  Gedanken  anpassen,  und  nur  die  Nach- 
bildung des  Beständigen  kann  einen  ökonomischen  Vortheil 
gewähren.  Hierin  hegt  also  der  letzte  Grund  des  Strebens  nach 
Continuität  der  Gedanken,  d.  h.  nach  Erhaltung  der  möghch- 
sten  Beständigkeit,  und  hierdurch  werden  auch  die  Anpassungs- 
ergebnisse verständhch  ^).  Continuität,  Oekonomie  und  Be- 
ständigkeit bedingen  sich  gegenseitig;  sie  sind  eigentlich  nur 
verschiedene  Seiten  einer  und  derselben  Eigenschaft  des  gesunden 
Denkens. 

13- 

Das  bedingungslos  Beständige  nennen  wir  Substanz. 
Ich  sehe  einen  Körper,  wenn  ich  ihm  den  Blick  zuwende.  Ich 
kann  ihn  sehen,  ohne  ihn  zu  tasten.  Ich  kann  ihn  tasten,  ohne 
ihn  zu  sehen.  Obgleich  also  das  Hervortreten  der  Elemente  des 
Complexes  an  Bedingungen  geknüpft  ist,  habe  ich  dieselben  doch 
zu  sehr  in  der  Hand,  um  sie  besonders  zu  würdigen  und  zu 
beachten.  Ich  betrachte  den  Körper,  oder  den  Elementencomplex 
oder  den  Kern  dieses  Complexes  als  stets  vorhanden,  ob  er  mir 
augenblicklich  in  die  wSinne  fällt  oder  nicht.  Indem  ich  den  Ge- 
danken dieses  Complexes,  oder  das  Symbol  desselben,  den  Ge- 
danken des  Kerns  mir  stets  parat  halte,  gewinne  ich  den  Vor- 
theil der  Voraussicht,  und  vermeide  den  Nachtheil  der  Ueber- 
raschung.  Ebenso  halte  ich's  mit  den  chemischen  Elementen,  die 
mir  als  beding'ungslos  beständig  erscheinen.  Obgleich  hier  mein 
Wille  nicht  genügt,  um  die  betreffenden  Complexe  zur  sinnlichen 
Thatsache  zu  machen,  obgleich  hier  auch  äussere  Mittel  nöthig 
sind,  sehe  ich  doch  von  diesen  Mitteln  ab,  sobald  sie  mir  ge- 
läufig geworden,  und  betrachte  die  chemischen  Elemente  einfach 
als  beständig.  Wer  an  Atome  glaubt,  hält  es  mit  diesen 
analog. 

Aehnlich  wie  mit  dem  Elementencomplex,  der  einem  Körper 
entspricht,    können    wir    auf    einer   höheren    Stufe    der  Gedanken- 

I)  Vergl. :  „die  Mechanik  in  ihrer  Entwicklung".  i.  Aufl.  1883  4.  Aufl. 
S.   519,   520. 


—       251       — 

anpassung  auch  mit  ganz  Gebieten  von  Thatsachen  verfahren. 
Wenn  wir  von  Electricität,  Mag'netismus,  licht,  Wärme  sprechen, 
auch  ohne  uns  hierunter  besondere  Stoffe  zu  denken,  so  schreiben 
wir  diesen  Thatsachengebieten,  wieder  von  den  uns  geläufigen 
Bedingungen  ihres  Hervortretens  absehend,  eine  Beständigkeit 
zu,  und  halten  die  nachbildenden  Gedanken  stets  parat,  mit  gleichem 
Vortheil  wie  in  den  obigen  Fällen.  Wenn  ich  sage,  ein  Körper 
ist  ,,electrisch",  so  ruft  mir  dies  viel  mehr  Erinnerungen  wach, 
ich  erwarte  viel  bestimmtere  Gruppen  von  Thatsachen,  als  wenn 
ich  etwa  die  in  dem  Einzelfall  sich  äussernde  Anziehung  hervor- 
heben würde.  Doch  kann  diese  Hypostasirung  auch  ihre  Nach- 
theile haben.  Zunächst  wandeln  wir,  solange  wir  so  verfahren, 
immer  dieselben  historischen  Weg-e.  Es  kann  aber  wichtig  sein 
zu  erkennen,  dass  es  eine  specifisch  electrische  Thatsache  gar 
nicht  gibt,  dass  jede  solche  Thatsache  z.  B.  ebensogut  als  eine 
chemische  oder  thermische  angesehen  werden  kann,  oder 
vielmehr,  dass  alle  physikalischen  Thatsachen  schliesslich  aus  den- 
selben sinnlichen  Elementen  (Farben,  Drucken,  Räumen,  Zeiten) 
sich  zusammensetzen,  dass  wir  durch  die  Bezeichnung  „electrisch", 
bloss  an  eine  Specialform  erinnert  werden,  in  welcher  wir  die 
Thatsache  zuerst  kennen  gelernt  haben. 

Haben  wir  uns  gewöhnt,  den  Körper,  welchem  wir  die 
tastende  Hand  und  den  Blick  beliebig  zu-  und  abwenden  können, 
als  beständig  anzusehen,  so  thun  wir  dies  auch  leicht  in  Fällen, 
in  welchen  die  Bedingungen  der  Sinnenfälligkeit  gar  nicht  in 
unserer  Hand  liegen,  z.  B.  bei  Sonne  und  Mond,  die  wir  nicht 
tasten  können,  bei  den  Welttheilen,  die  wir  vielleicht  einmal  und 
nicht  wieder  sehen  können,  oder  die  wir  gar  nur  aus  der  Be- 
schreibung kennen.  Dies  Verfahren  kann  für  eine  ruhige  öko- 
nomische Weltauffassung  seine  Bedeutung  haben,  es  ist  aber  ge- 
wiss nicht  dass  einzig  berechtigte.  Es  wäre  nur  ein  consequenter 
Schritt  weiter,  die  ganze  Vergangenheit,  welche  ja  in  ihren  Spuren 
noch  vorhanden  ist  (da  wir  z.  B.  Sterne  dort  sehen,  wo  sie  vor 
Jahrtausenden  waren),  und  die  ganze  Zukunft,  die  im  Keime 
schon  da  ist  (da  man  z.  B.  unser  Sonnensystem  nach  Jahrtausen- 


—        252        — 

den  noch  sehen  wird,  wo  es  jetzt  ist),  als  beständig"  anzusehen. 
Ist  doch  der  g'anze  Zeitverlauf  nur  an  Bedingung'en  unserer 
Sinnlichkeit  gebunden.  Mit  dem  Bewusstsein  eines  besonderen 
Zweckes  wird  man  auch  diesen  Schritt  unternehmen  dürfen. 

14. 

Eine  wirkliche  bedingungslose  Beständig'keit  gibt 
es  nicht,  wie  dies  aus  dem  Besprochenen  deutlich  hervorgeht, 
Wir  gelangen  zu  derselben  nur,  indem  wir  Bedingungen  über- 
sehen, unterschätzen,  oder  als  immer  g-egeben  betrachten,  oder 
willkürlich  von  denselben  absehen.  Es  bleibt  nur  eine  Art  der 
Beständigkeit,  die  alle  vorkommenden  Fälle  von  Beständigkeit 
umfasst,  die  Beständigkeit  der  Verbindung  (oder  Beziehung). 
Auch  die  Substanz,  die  Materie  ist  kein  bedingungslos 
Beständiges.  Was  wir  Materie  nennen,  ist  ein  gewisser  ge- 
setzmässiger  Zusammenhang  der  Elemente  (Empfindungen). 
Die  Empfindungen  verschiedener  Sinne  eines  Menschen,  so  wie 
die  Sinnesempfindungen  verschiedener  Menschen  sind  gesetz- 
mässig  von  einander  abhängig.  Darin  besteht  die  Materie. 
Der  älteren  Generation,  namentlich  den  Physikern  und  Chemikern, 
wird  die  Zumuthung  vSchrecken  erregen,  die  Materie  nicht  als 
das  absolut  Beständige  zu  betrachten,  und  statt  dessen  ein  festes 
Verbindungsgesetz  von  Elementen,  welche  an  sich  sehr 
flüchtig  scheinen,  als  das  Beständige  anzusehn.  Auch  jüngeren 
Leuten  wird  dies  Mühe  machen,  und  mich  selbst  hat  es  seiner  Zeit 
eine  grosse  Uebervvindung  gekostet,  zu  dieser  unvermeidlichen 
Einsicht  zu  g'elangen.  Doch  wird  man  sich  zu  einer  so  radicalen 
Aenderung  der  Denkweise  entschliessen  müssen,  wenn  man  auf- 
hören will,  denselben  Eragen  immer  wieder  in  gleicher  Rath- 
losigkeit  gegenüber  zu  stehen. 

Es  kann  sich  nicht  darum  handeln,  für  den  Hand-  und  Haus- 
gebrauch den  vulgären  Begriff  der  Materie,  der  sich  für  diesen 
Zweck  instinctiv  herausgebildet  hat,  abzuschaffen.  Auch  alle 
physikalischen  Maassbegriffe  bleiben  aufrecht,  und  erfahren  nur 
eine  kritische  Läuterung,  wie  ich  dieselben  in  Bezug  auf  Mechanik, 


—     253     — 

Wärme,  Electricität  u.  s.  w.  versucht  habe.  Hierbei  treten  ein- 
fach empirische  Begriffe  an  die  Stelle  der  metaphysischen. 
Die  Wissenschaft  erleidet  aber  keinen  Verlust,  wenn  das  starre, 
sterile,  beständige,  unbekannte  Etwas  (die  Materie)  durch 
ein  beständig-es  Gesetz  ersetzt  wird,  das  in  seinen  Einzelheiten 
noch  weiter  durch  die  physikalisch-physiologische  Forschung  auf- 
geklärt werden  kann.  Es  soll  hiermit  keine  neue  Philosophie, 
keine  neue  Metaphysik  geschaffen,  sondern  einem  aug-enblicklichen 
vStreben  der  positiven  Wissenschaften  nach  gegenseitigem  An- 
schluss  entsprochen  werden  ^). 


l5- 
Die    naturwissenschaftlichen    Sätze  drücken    nur   solche  Be- 
ständigkeiten   der  Verbindung    aus:     „Aus   der   Kaulquappe 
wird     ein    Frosch.      Das    Chlornatrium    tritt    in    Würfelform     auf. 
Der    Lichtstrahl    ist    geradlinig.     Die    Körper    fallen    mit    der  Be- 

(111   \ 
^j".     Den  beg-rifflichen  Ausdruck  dieser 

Beständigkeiten  nennen  wir  Gesetze.  Die  Kraft  (im  mechani- 
schen Sinne)  ist  auch  nur  eine  Beständigkeit  der  Verbindung. 
Wenn  ich  sage,  ein  Körper  A  übe  auf  B  eine  Kraft  aus,  so 
heisst  dies,  dass  B  sofort  eine  gewisse  Beschleunigung-  gegen  A 
zeigt,  sobald  es  diesem  gegenübertritt. 

Die  eigenthümliche  Illusion,  als  ob  der  Stoff  A  der  absolut 
beständige  Träger  einer  Kraft  wäre,  welche  wirksam  wird, 
sobald  B  dem  A  gegenübertritt,  ist  leicht  zu  beseitigen.  Treten 
wir,  oder  g^enauer  unsere  Sinnesorg'ane,  an  die  Stelle  von  B,  so 
sehen  wir  von  dieser  jederzeit  erfüllbaren  Bedingung  ab,  und 
A  erscheint  uns  als  absolut  beständig.  So  scheint  uns  das  magne- 
tische Eisen,  das  wir  immer  sehen,  so  oft  wir  hinblicken  wollen, 
als  der  beständige  Träger  der  magnetischen  Kraft,  die  erst  wirk- 
sam   wird,    sobald    ein    Eisenstückchen  hinzutritt,    von  welchem 


I)   Vgl.   Princ.   der  Wärmelehre   2.   Aufl.    1900,   S.   423   u.   fF. 


—     254     — 

wir  nicht  so  unvermerkt  absehen  können,  wie  von  uns  selbst^). 
Die  Phrasen:  „Kein  Stoff  ohne  Kraft,  keine  Kraft  ohne  Stoff", 
welche  einen  selbstverschuldeten  Widerspruch  vergeblich  auf- 
zuheben suchen,  werden  entbehrlich,  wenn  man  nur  Beständig- 
keiten der  Verbindung  anerkennt. 

i6. 

Bei  hinreichender  Beständigkeit  unserer  Umgebung  entwickelt 
sich  eine  entsprechende  Beständig-keit  der  Gedanken.  Vermöge 
dieser  Beständigkeit  streben  sie  die  halbbeobachtete  Thatsache  zu 
vervollständigen.  Dieser  Vervollständigungstrieb  entspringt 
nicht  der  eben  beobachteten  einzelnen  Thatsache,  er  ist  auch 
nicht  mit  Absicht  erzeugt;  wir  finden  ihn,  ohne  unser  Zuthun,  in 
uns  vor.  Er  steht  uns  wie  eine  fremde  Macht  gegenüber,  die 
uns  doch  stets  begleitet  und  hilft,  den  wir  eben  brauchen,  um 
die  Thatsache  zu  ergänzen.  Obgleich  er  durch  die  Erfahrung  ent- 
wickelt, ist  liegt  in  ihm  mehr,  als  in  der  einzelnen  Erfahrung. 
Der  Trieb  bereichert  gewissermaassen  die  einzelne  Thatsache. 
Durch  ihn  ist  sie  uns  mehr.  Mit  diesem  Trieb  haben  wir  stets 
ein  grösseres  Stück  Natur  im  Gesichtsfeld,  als  der  Unerfahrene 
mit  der  Einzelthatsache  allein.  Denn  der  Mensch  mit  seinen  Ge- 
danken und  seinen  Trieben  ist  eben  auch  ein  Stück  Natur,  das 
sich  zur  Einzelthatsache  liinzufügt.  Anspruch  auf  Unfehlbar- 
keit hat  aber  dieser  Trieb  keineswegs,  und  eine  Nothwendig'- 
keit  für  die  Thatsachen ,  ihm  zu  entsprechen,  besteht  durchaus 
nicht.  Unser  Vertrauen  zu  ihm  liegt  nur  in  der  Voraus- 
setzung der  vielfach  erprobten  zureichenden  Anpassung  unserer 


I)  Dem  Kinde  erscheint  alles  als  substanziell,  zu  dessen  Wahrnehmung  es 
nur  seiner  Sinne  bedarf.  Das  Kind  fragt,  ,,wo  der  Schatten,  wo  das  gelöschte 
Licht  hinkömmt?"  Es  will  die  Electrisirmaschine  nicht  weiterdrehen  lassen,  um  den 
Funkenvorrath  derselben  nicht  zu  erschöpfen.  Ein  noch  nicht  ein  Jahr  alter  Knabe 
wollte  seinem  ein  Liedchen  pleifendan  Vater  die  Töne  den  den  Lippen  wegfangen. 
Das  Haschen  nach  larbigcn  Nachbildern  kommt  auch  bei  grösseren  Kindern  noch  vor 
u.  s.  w.  u.  s.  w.  —  Erst  sobald  wir  Bedingungen  einer  Thatsache  ausserhalb  uns 
bemerken,  verschwindet  der  Eindruck  der  Substanzialität.  Die  Geschichte  der  Wärme- 
lehre ist  in   dieser  Beziehung  sehr   lehrreich. 


—     255     — 

Gedanken,  welche  aber  jeden  Augenblick    der  Enttäuschung  ge- 
wärtig sein  muss. 

Nicht  alle  unsere  Thatsachen  nachbildenden  Gedanhen  haben 
die  gleiche  Beständigkeit.  Immer  und  überall,  wo  wir  an  der 
Nachbildung  der  Thatsachen  ein  besonderes  Interesse  haben, 
werden  wir  bestrebt  sein,  die  Gedanhen  von  geringerer  Be- 
ständigkeit durch  solche  von  grösserer  Beständigkeit  zu  stützen 
und  zu  stärken,  oder  sie  durch  solche  zu  ersetzen.  So  denkt  sich 
Newton  den  Planeten,  obgleich  die  Kepler 'sehen  Gesetze  schon 
bekannt  sind,  als  einen  geworfenen  Körper,  die  Masse  der 
Fluthwelle,  obgleich  der  Verlauf  derselben  längst  ermittelt  ist,  als 
vom  Monde  gezogen.  Das  Saugen,  das  Fliessen  des  Hebers 
glauben  wir  erst  zu  verstehen,  wenn  wir  uns  den  Druck  der 
Luft  als  die  Kette  der  Theilchen  zusammenhaltend  hinzudenken. 
Aehnlich  versuchen  wir  die  electrischen,  optischen,  thermischen 
Vorgänge  als  mechanische  aufzufassen.  Dies  Bedürfniss  nach 
Stützung  schwächerer  Gedanken  durch  stärkere  wird  auch  Cau- 
salitäts  bedürfniss  genannt,  und  ist  die  Haupttriebfeder  aller  natur- 
wissenschaftlichen Erklärungen.  Als  Grundlagen  ziehen  wir 
natürlich  die  stärksten  besterprobten  Gedanken  vor,  die  uns 
unsere  viel  geübten  mechanischen  Verrichtungen  an  die  Hand 
geben,  und  die  wir  jeden  Augenblick  ohne  viele  Mittel  auf's  Neue 
erproben  können.  Daher  die  Autorität  der  mechanischen  Er- 
klärungen, namentlich  jener  durch  Druck  und  Stoss.  Eine  noch 
höhere  Autorität  kommt  dementsprechend  den  mathematischen 
Gedanken  zu,  zu  deren  Entwicklung  wir  der  geringsten  äusseren 
Mittel  bedürfen,  für  welche  wir  vielmehr  das  Experimentirmaterial 
grossentheils  stets  mit  uns  herumtragen.  Weiss  man  dies  aber 
einmal,  so  schwächt  sich  eben  damit  das  Bedürfniss  nach  mecha- 
nischen Erklärungen  ab^). 


i)  Aussermechanische  physikalische  Erfahrungen  können  sich,  in  dem  Maasse 
als  sie  geläufiger  werden,  dem  Werlhe  der  mechanischen  nähern.  Stricker  hat 
meines  Erachtens  einen  richtigen  und  wichtigen  Punkt  getroffen,  indem  er 
(Studien  über  die  Association  der  Vorstellungen,  Wien  1883)  die  Causalität  mit 
dem  Willen  in   Zusammenhang  bringt.     Ich   selbst    habe    1861    als  junger  Docent  (bei 


-      256     - 

Dass  man  mit  einer  sogenannten  causalen  Erklärung  auch 
nur  einen  Thatbestand,  einen  thatsächlichen  Zusammenhang  con- 
statirt  (oder  beschreibt),  habe  ich  schon  mehrfach  dargelegt,  und 
ich  könnte  mich  einfach  auf  meine  ausführlichen  Auseinander- 
setzungen in  der  „Wärmelehre"  und  in  den  „Populären  Vor- 
lesungen" berufen.  Da  aber  der  Physik  ferner  Stehende  immer 
wieder  weiter  und  tiefer  zu  denken  g-Jauben,  wenn  sie  einen  funda- 
mentalen Unterschied  zwischen  einer  naturwissenschaftlichen  Be- 
schreibung, z.  ß.  einer  embryonalen  Entwicklung,  und  einer  phy- 
sikalischen Erklärung  annehmen,  so  seien  noch  einige  Worte  ge- 
stattet. Wenn  wir  das  Wachsthum  einer  Pflanze  beschreiben,  so 
bemerken  wir,  dass  so  viele  und  mannigfaltige  Umstände,  die  von 
Fall  zu  Fall  variiren,  hierbei  im  Spiel  sind,  dass  unsere  Be- 
schreibung" höchstens  in  den  gröberen  Zügen  allgemein  passen, 
in  den  feineren  Einzelheiten  aber  nur  für  den  Individualfall  Geltung 
haben  kann.  Gerade  so  verhält  es  sich  in  physikalischen  Fällen 
unter  complicirteren  Umständen;  nur  sind  letztere  im  allg'emeinen 
doch  einfacher  und  besser  bekannt.  Wir  können  die  Umstände 
deshalb  besser  experimentell  und  auch  intellectuell  (durch 
Abstraction)  trennen,  wir  können  leichter  schematisiren.  Die  Be- 
wegung der  Planeten  zu  beschreiben,  war  für  die  antike  Astronomie 
eine  analoge  Aufgabe,  wie  die  Beschreibung  der  Entwicklung 
einer  Pflanze  für  den  modernen  Botaniker.  Die  Auffindung  der 
Kepler'schen  Gesetze  beruht  auf  einer  glücklichen,  ziemlich 
rohen  Schematisirung.  Je  genauer  wir  einen  Planeten  be- 
trachten, desto  individueller  wird  seine  Bewegung",  desto  wenig'er 
folgt  sie  den  Kepler'schen  Gesetzen.  Genau  genommen,  be- 
wegt sich  jeder  Planet  anders,  und  derselbe  Planet  verschieden 
zu    verschiedenen    Zeiten.      Wenn     nun    Newton     die    Planeten- 


Darlegung  der  Bedeutung  der  Mill' sehen  Differenzmethode)  die  später  von  Stricker 
ausgesprochene  Ansicht  mit  grosser  Lebhaftigkeit  und  Einseitigkeit  vertreten.  Der  Ge- 
danke hat  mich  auch  nie  ganz  verlassen  (vergl.  z.  B.  ,,Die  Mechanik  in  ihrer  Ent- 
wickelung",  Leipzig  1883,  S.  78,  282,  456).  Gegenwärtig  bin  ich  aber  wie  die 
obigen  Ausführungen  zeigen,  doch  der  Meinung,  dass  diese  Frage  nicht  so  einfach  ist, 
und  von  mehreren  Seiten  betrachtet  werden  muss.  Vergl.  Wärmelehre,  2.  Aufl., 
1900,  S.  432. 


—     257     — 
bewegungen  „causal  erklärt",  indem  er  statuirt,    dass  ein  Massen- 
theilchen  m  durch  ein  anderes  ;;/  die  Beschleunigung   99   =  — y 

erfährt,  und  dass  die  von  verschiedenen  Massentheilchen  an 
ersterem  bestimmten  Beschleunigungen  sich  geometrisch  summiren, 
werden  wieder  nur  Thatsachen  constatirt  oder  beschrieben, 
welche  sich  (wenn  auch  auf  einem  Umwege)  durch  Beobachtung 
ergeben  haben.  Betrachten  wir,  was  hierbei  geschieht.  Zunächst 
sind  die  bei  der  Planetenbewegung  maassgebenden  Umstände 
(die  einzelnen  Massentheilchen  und  ihre  Entfernungen)  getrennt. 
Das  Verhalten  zweier  Massentheilchen  ist  sehr  einfach,  und  wir 
glauben  alle  Umstände  (Masse  und  Entfernung),  welche  dasselbe 
bestimmen,  zu  kennen.  Wir  nehmen  die  Beschreibung,  die  für 
wenige  Fälle  als  richtig  befunden  ist,  auch  über  die  Grenzen  der 
Erfahrung  als  allgemein  richtig  an,  indem  wir  keine  Störung 
durch  einen  unbekannten  fremdartigen  Umstand  besorgen,  worin 
wir  uns  allerdings  täuschen  könnten,  wenn  sich  z.  B.  die  Gravi- 
tation als  durch  ein  Medium  zeitlich  übertragen  herausstellen 
sollte.  Ebenso  einfach  ist  die  Modification  des  Verhaltens,  wenn 
zu  zwei  Theilchen  ein  drittes,  zu  diesen  ein  viertes  u.  s.  w.  hinzu- 
tritt, wie  dies  angedeutet  wurde.  Die  Beschreibung"  eines  Individual- 
f  all  es  ist  also  die  Newton 'sehe  Beschreibung  allerdings  nicht;  sie 
ist  eine  Beschreibung"  in  den  Elementen.  Indem  Newton 
beschreibt,  wie  sich  die  Massenelemente  in  den  Zeitelementen  ver- 
halten, gibt  er  uns  die  Anweisung,  die  Beschreibung  eines  beliebigen 
Individualfalles  aus  den  Elementen  nach  einer  Schablone  herzustellen. 
So  ist  es  auch  in  den  übrigen  Fällen,  welche  die  theoretische 
Physik  bewältigt  hat.  Dies  ändert  a,ber  nichts  an  dem  Wesen 
der  Beschreibung.  Es  handelt  sich  um  eine  generelle  Be- 
schreibung in  den  Elementen.  Wenn  man  an  einer  Darstellung 
der  Erscheinungen  durch  Differentialgleichungen  sich  genügen 
lässt,  wie  ich  es  vor  langer  Zeit  (Mechanik  1883,  4  Aufl.  1901, 
S.  530)  empfohlen  habe,  und  wie  es  immer  mehr  in  Aufnahme 
kommt,  so  liegt  darin  thatsächlich  die  Anerkennung  der  Erklärung 
als  einer  Beschreibung  in    den  Elementen.     Jeder  Einzelfall   lässt 

Mach,  Analyse.    3.  Aufl.  1' 


—      258      — 

sich  dann  aus  räumlichen  und  zeitlichen  Elementen  zusammen- 
setzen, in  welchen  das  physikalische  Verhalten  durch  die  Glei- 
chungen beschrieben  ist. 

17- 

Es  wurde  zuvor  gesagt,  dass  der  Mensch  selbst  ein  Stück 
Natur  sei.  Es  sei  erlaubt,  dies  durch  ein  Beispiel  zu  erläutern. 
Ein  Stoff  kann  für  den  Chemiker  lediglich  durch  die  Sinnes- 
emptindungen  genügend  characterisirt  sein.  Dann  liefert  der 
Chemiker  selbst  durch  innere  Mittel  den  ganzen  zur  Be- 
stimmung des  Gedankenlaufs  nöthigen  Reichthum  der  Thatsache. 
Es  kann  aber  in  andern  Fällen  die  Vornahme  von  Reactionen 
mit  Hilfe  äusserer  Mittel  nöthig  werden.  Wenn  ein  Strom  eine 
in  seiner  Ebene  befindliche  Magnetnadel  umkreist,  so  weicht  der 
Nordpol  der  Nadel  zu  meiner  Linken  aus,  sobald  ich  mich  in 
den  Strom  als  Ampere 'scher  Schwimmer  denke.  Ich  bereichere 
die  Thatsache  (Strom  und  Nadel),  die  für  sich  meinen  Gcdanken- 
lauf  nicht  genügend  bestimmt,  indem  ich  mich  selbst  zuziehe 
(durch  eine  innere  Reaction).  Ich  kann  auch  tiuf  die  Ebene  des 
Stromkreises  eine  Taschenuhr  legen,  so  dass  der  Zeiger  der 
Strombewegung  folgt.  Dann  schlägt  der  Südpol  vor,  der 
Nordpol  hinter  das  Zifferblatt.  Oder  ich  mache  den  Stromkreis 
zur  Sonnenuhr,  nach  welcher  ja  die  Taschenuhr i)  gebildet  ist, 
so  dass  der  Schatten  dem  Strom  folgt.  Dann  wendet  sich  der 
Nordpol  nach  der  beschatteten  Seite  der  Stromebene.  Die  beiden 
letzteren  Reactionen  sind  äussere.  Beide  Arten  zugleich 
können  nur  brauchbar  sein,  wenn  zwischen  mir  und  der  Welt 
keine  Kluft  besteht.  Die  Natur  ist  ein  Ganzes.  Das  nicht 
in  allen  Fällen  beiderlei  Reactionen  bekannt  sind,  und  dass  der 
Beobachter  in  manchen  Fällen  einflusslos  scheint,  beweist  nichts 
gegen  die  vorgebrachte  Ansicht. 

Rechts  und  links  erscheinen  uns  gleich  im  Gegensatze  zu 
vorn  und  hinten,  oben  und  unten.  Doch  sind  sie  gewiss  nur 
verschiedene  Empfindungen,  welche  durch  stärkere   gleiche 


i)  Die  Uhr  trägt  in  dem  Drehungsinn   des  Zeigers  die  Spur  an  sich  ihrer  Ab- 
stammung von  der  Sonnenuhr  und  ihrer  Erfindung  auf  der  nördhchen  Hemisphäre. 


—     259     — 

übertäubt  sind.  Der  Raum  der  Empfindung-  hat  also  drei  ausge- 
zeichnete wesensverschiedene  Richtungen.  Für  metrische 
Betrachtungen  sind  alle  Richtungen  des  geometrischen  Raumes 
gleich.  Sjaumetrische  Gebilde,  welche  uns  die  unmittelbare  Em- 
pfindung- als  aequivalent  vorg-espieg-elt,  sind  es  aber  in  physischer 
Beziehung  durchaus  nicht.  Auch  der  physische  Raum  hat  drei 
wesensverschiedene  Richtungen,  welche  sich  in  einem  tri- 
klinen  Medium,  in  dem  Verhalten  eines  electromagnetischen  Ele- 
mentes am  deutlichsten  offenbaren.  Dieselben  physischen  Eigen- 
schaften kommen  eben  auch  in  unserem  Leib  zum  Vorschein, 
und  daher  die  Verwendbarkeit  desselben  als  Reagens  in  physi- 
kalischen Fragen.  Die  genaue  physiologische  Kenntniss  eines 
Elementes  unseres  Leibes  wäre  zugleich  eine  wesentliche  Grund- 
lage unseres  physikalischen  Weltverständnisses.     Vgl.  S.  7g. 


Die  wiederholt  berührte  Einheit  des  Physischen  und  Psychischen 
verdient  noch  von  einer  besonderen  Seite  ins  Auge  gefasst  zu 
werden.  Unser  psychisches  Leben,  sofern  wir  darunter  die  Vor- 
stellungen verstehen,  scheint  recht  unabhängig  von  dem 
physischen  Vorgängen  zu  sein,  sozusagen  eine  Welt  für  sich, 
mit  freiem  Gesetzen,  mit  Gesetzen  von  anderer  Ordnung.  Das 
ist  aber  gewiss  nur  ein  Schein,  der  daher  rührt,  dass  immer  nur 
ein  winziger  Theil  der  Spuren  der  physischen  Vorgänge  in  den 
Vorstellungen  lebendig  wird.  Die  Umstände,  welche  diesen  Theil 
bestimmen,  sind  so  unübersehbar  complizirt,  dass  wir  keine  g'enaue 
Regel  angeben  können,  nach  welcher  dies  geschieht.  Um  zu 
bestimmen,  welche  Gedanken  etwa  ein  Physiker  an  die  Beobach- 
tung einer  gewissen  optischen  Thatsache  knüpfen  wird,  müsste 
man  die  Erlebnisse  seiner  früheren  Tage,  die  Stärke  der  Ein- 
drücke, welche  sie  hinterlassen  haben,  die  Thatsachen  der  allge- 
meinen und  technischen  Culturentwicklung,  welche  auf  ihn  Ein- 
fluss  g-enommen  haben,  kennen,  endlich  noch  im  Stande  sein, 
seine  augenblickliche  Stimmung  in  Rechnung  zu  ziehen.  Da- 
zu   wäre    die    gesammtc    Physik    im    weitesten    Sinne,     und     auf 

17* 


2ÖO        

einer  unerreichbar  hohen  Entwickhingsstufe  als  Hilfswissenschaft 
nöthig  1). 

Betrachten  wir  nun  das  Gegenbild.  Eine  ph3^sikalische 
Thatsache,  die  wir  zum  ersten  Mal  erleben,  ist  uns  fremd.  Sie 
könnte  ganz  anders  verlaufen,  als  es  g'eschieht,  sie  würde  uns 
darum  nicht  sonderbarer  scheinen.  Ihr  Verlauf  erscheint  uns  an 
sich  durch  nichts  bestimmt,  am  allerwenigsten  eindeutig  bestimmt. 
Wodurch  der  Verlauf  einer  Thatsache  den  Charakter  der  Be- 
stimmtheit gewinnt,  kann  nur  aus  der  psj^chischen  Entwicklung 
verstanden  werden.  Durch  das  Vorstellungsleben  tritt  die  That- 
sache erst  aus  ihrer  Isolirtheit  heraus,  kommt  dieselbe  mit  einer 
Eülle  anderer  Thatsachen  im  Contact ,  und  gewinnt  nun  Be- 
stimmtheit durch  die  Forderung  der  Uebereinstimmung  mit  letz- 
teren und  durch  die  Ausschliessung  des  Widerspruches.  Die 
Psychologie  ist  Hilfswissenschaft  der  Physik.  Beide  Gebiete 
stützten  sich  gegenseitig  und  bilden  nur  in  ihrer  Verbindung  eine 
vollständige  Wissenschaft.  Der  Gegenstand  von  Subject  und 
Object  (in  gewöhnlichem  Sinne)  besteht  auf  unserem  Standpunkte 
nicht.  Die  Frage  der  mehr  oder  weniger  genauen  Abbildung 
der  Thatsachen  durch  die  Vorstellungen  ist  eine  naturwissen- 
schaftliche P'rage  wie  jede  andere. 

Wenn  in  einem  Complex  von  Elementen  einige  durch  andere 
ersetzt  werden,  so  geht  eine  Beständigkeit  der  V^erbindung  in 
eine  andere  Beständigkeit  über.  Es  ist  nun  wünschenswerth,  eine 
Beständigkeit  aufzufinden,  welche  diesen  Wechsel  überdauert. 
J.  R.  Mayer  hat  zuerst  dies  Bedürfniss  gefühlt,  und  hat  dem- 
selben durch  Aufstellung  seines  Begriffes  „Kraft"  genügt,  welcher 
dem  Begriff  Arbeit  (Poncelet)  der  Mechaniker,  oder  genauer 
dem  allgemeinern  Begriff  Energie  (Th.  Young)  entspricht.     Er 

I)  So  sehr  ich  also  eine  rein  physiologische  Psychologie  als  Ideal  hochschätze, 
würde  es  mir  doch  als  eine  Verkehrtheit  erscheinen,  die  sogenannte  ,,introspective" 
Psychologie  ganz  abzuweisen,  da  die  Selbstbeobachtimg  nicht  nur  ein  sehr  wichtiges, 
sonderu  in  vielen  Fällen  das  einzige  Mittel  ist,  um  über  grundlegende  Thatsachen  Auf- 
schluss  zu  erhalten. 


—        201        — 

stellt  sich  diese  Kraft  (oder  Energie)  als  etwas  absolut  Bestän- 
diges (wie  einen  Vorrath  oder  Stoff)  vor,  und  geht  so  bis  auf 
die  stärksten  und  anschaulichsten  Gedanken  zurück.  Aus  dem 
Ringen  mit  dem  Ausdruck,  mit  allgemeinen  philosophischen 
Phrasen  (in  der  i.  und  2.  Abhandlung  May  er 's)  sehen  wir,  dass 
sich  ihm  zuerst  unwillkürlich  und  instinctiv  das  starke  Be- 
dürfniss  nach  einem  solchen  Begriff  aufgedrängt  hat.  Dadurch 
aber  dass  er  die  vorhanden  physikalischen  Begriffe  den  That- 
sachen  und  seinem  Bedürfniss  angepasst  hat,  ist  erst  die  grosse 
Leistung  zu  Stande  gekommen  ^). 


Bei  genügender  Anpassung  werden  die  Thatsachen  von  den 
Gedanken  spontan  abgebildet,  und  theil weise  gegebene  That- 
sachen ergänzt.  Die  Physik  kann  nur  als  quantitatives  Regu- 
lativ wirken,  und  die  spontan  verlaufenden  Gedanken,  dem  prak- 
tischen oder  wissenschaftlichen  Bedürfniss  entsprechend,  be- 
stimmter gestalten.  Wenn  ich  einen  Körper  horizontal  werfen 
sehe,  kann  mir  das  anschauliche  Bild  der  Wurfbewegung  auf- 
tauchen. Für  den  Artilleristen  oder  Physiker  ist  mehr  nöthig. 
Er  muss  z.  B.  wissen,  dass  wenn  er,  an  die  horizontale  Abscisse 
der  Wurfbahn  den  Maassstab  M  anlegend,  bis  i,  2,  3,  4  ...  . 
zählen  kann,  er  an  die  verticalen  Ordinaten,  den  Maassstab  M' 
anlegend,  zugleich  bis  i,  4,  9  16  ...  .  zählen  muss,  um  zu 
einem  Punkt  der  Wurfbahn  zu  gelangen.  Die  Function  der 
Physik  besteht  also  darin,  zu  lehren,  dass  eine  Thatsache,  welche 
auf  eine  bestimmte  Reaction  R  ein  Empfindungsmerkmal  E 
liefert,  zugleich  noch  auf  eine  andere  Reaction  R'  ein  anderes 
Merkmal  E'  zeigt.  Hierdurch  wird  die  bestimmtere  Ergänzung 
einer  theilweise  gegeben  Thatsache  möglich. 

Die  Einführung  der  allgemein  vergleichbaren,  sogenannten 
absoluten  Maasse  in  die  Physik,  die  Zürückführung  aller  physi- 
kalischen Messungen  auf  die  Einheiten:  Centimeter,  Gramme,  Se- 


I)  Vgl.  Principien  d.  Wärmelehre.     2.  Aufl.    1900. 


102        

cunde  (Länge,  Masse,  Zeit)  hat  eine  eigenthümliche  Folge.  Es 
besteht  ohnehin  die  Neigung,  das  physikalisch  Fassbare  und 
Messbare,  das  g'emeinschaftlich  Constatirbare  ^),  für  „objectiv"  und 
„real"  gegenüber  den  subjectiven  Empfindungen  zu  halten.  Diese 
Meinung  erhält  nun  scheinbar  eine  Stütze,  eine  psychologische 
(wenn  auch  nicht  logische)  Motivirung  durch  die  absoluten  Maasse. 
Es  sieht  so  aus,  als  ob  das,  was  wir  in  bekanntem  Sinne  Em- 
pfindungen nennen,  in  der  Physik  etwas  ganz  Ueberflüssiges 
wäre.  Sehen  wir  genauer  zu,  so  lässt  sich  ja  das  System  der 
Maasseinheiten  noch  weiter  vereinfachen.  Denn  die  Maasszahl 
der  Masse  ist  durch  ein  Beschleunig'ungsverhältniss  gegeben,  und 
die  Zeitmessung"  kommt  auf  eine  Winkel-  oder  Bogenlängen- 
messung zurück.  Demnach  ist  die  Läng'enm essung  die  Grund- 
lage für  alle  Messungen.  Allein  den  blossen  Raum  messen 
wir  nicht,  wir  brauchen  einen  körperlichen  Maasstab,  womit  das 
ganze  System  mannigfaltiger  Empfindungen  wieder  eingeführt 
ist.  Nur  sinnliche  anschaulicheVorstellungen  können  zur  Aufstellung 
der  Gleichungen  der  Physik  führen,  und  in  eben  solchen  besteht 
deren  Interpretation.  Obschon  also  die  Gleichungen  nur  räum- 
liche Maasszahlen  enthalten,  sind  dieselben  auch  nur  das  ordnende 
Princip,  das  uns  anweist,  aus  welchen  Gliedern  in  der  Reihe  der 
sinnlichen  Elemente  wir  unser  Weltbild  zusammenzusetzen  haben. 

21. 

Es  wurde  anderwärts  ^)  ausgeführt,  dass  quantitative  Auf- 
stellungen sich  von  qualitativen  nur  dadurch  unterscheiden,  dass 
erstere  sich  auf  ein  Continuum  von  gleichartigen  Phallen  beziehen. 
Hiernach  wäre  die  vortheilhafte  Anwendung  der  Gleichungen 
zur  Beschreibung  nur  in  einem  sehr  beschränkten  Gebiet  zu- 
lässig. Es  ist  jedoch  Aussicht  vorhanden,  dieses  Gebiet  successive 
ins  Unbegrenzte  zu  erweitern,  und  zwar  in  folgender  Art.  Die 
möglichen  (optischen)  Empfindungen  können,  wenn  auch  nicht 
gemessen,    doch    nach    psychophysischen  Methoden    durch  Zahlen 


i)  In  der  That  weiden  hierbei  individuelle  Zufälligkeilen  eliminirt. 
2)  Zuletzt:    Wärmelchic  S.   438,  459. 


—    263     — 

characterisirt  und  inventarisirt  werden.  Irgend  ein  (optisches) 
Erlebniss  kann  nun  beschrieben  werden,  indem  man  die  Werthe 
der  Zahlencharacteristiken  als  abhängig  von  den  Raum-  und 
Zeitconcendinaten  und  von  einander  durch  Gleichungen 
darstellen.  Aehnliches  wird  man  im  Princip  auch  in  anderen 
Sinnesgebieten  für  erreichbar  halten  dürfen.  Der  S.  36  gebrauchte 
Ausdruck  hat  also  einen  genau  angebbaren  Sinn. 


22. 

Die  Ermitthmg-  der  Abhängig-keit  der  Elemente  ABC.,  von 
einander  unter  Absehen  von  KLM  ist  die  Aufgabe  der  Natur- 
wissenschaft, oder  der  Physik  im  weitesten  Sinne.  In  Wirkhchkeit 
sind  aber  die  ABC . .  immer  auch  von  KLM  abhängig.  Es  bestehen 
immer  Gleichungen  von  der  Form  f  {A,  B,  C, . . .  IC,L,M..)  =  o. 
Indem  riun  viele  verschiedene  Beobachter  KLM . . ,  K L AI' . . , 
K"L"M" . .  sich  betheiligen,  gelingt  es,  den  zufälligen  Einfluss  der 
Variation  Non KLM..  u.  s.  w.  zu  eliminiren  und  nur  das  gemein- 
schaftlich Constatirbare,  die  reine  Abhängigkeit  der  ABC.. 
von  einander  zu  ermitteln.  Hierbei  verhalten  sich  6\.qKLM.., 
K'L'M' ..  wie  physikaHsche  Apparate,  von  deren  Eigenthümlich- 
keiten,  speciellen  Constanten  u.  s.  w.  die  Anzeigen,  die  Ergebnisse 
befreit  werden  müssen.  Handelt  es  sich  aber  nur  um  den  Zu- 
sammenhangeiner quantitativenReaction  mit  andern  quantitativen 
Reactionen,  wie  in  dem  obigen  Beispiele  der  Dynamik,  so  ist  die 
Sache  noch  einfacher.  Es  kommt  dann  alles  auf  die  Constatirung 
von  Gleichheit  oder  Identität  der  ABC.,  unter  gleichen  Um- 
ständen (unter  gleichen  KLM . .),  eigentlich  nur  auf  Constatirung  von 
räumlichen  Identitäten  hinaus.  Die  Art  der  Empfindungsqualitäten 
ist  nun  gleichgiltig ;  nur  deren  Gleichheit  ist  massgebend.  Ein 
einziges  Individuum  genügt  nun,  um  Abhängigkeiten  festzustellen, 
welche  für  jedes  Individuum  gelten.  So  wird  von  hier  aus  eine 
sichere  Basis  für  das  ganze  Gebiet  der  Forschung  gewonnen. 
Auch  der  Psychophysiologie  gereicht  dies  zum  Vortheil. 


—     264     — 

23- 

Der  Raum  des  Geometers  ist  durchaus  nicht  das  blosse  System 
der  Raum empfindun gen  (des  Gesichts-  und  Tastsinnes),  sondern 
derselbe  besteht  vielmehr  aus  einer  Menge  von  physikalischen 
Erfahrungen,  welche  an  die  Raumempfindungen  anknüpfen.  Schon 
indem  der  Geometer  seinen  Raum  als  an  allen  Stellen  und  nach 
allen  Richtungen  gleich  beschaffen  betrachtet,  geht  er  weit  über 
den  dem  Tast-  und  Gesichtssinn  gegebenen  Raum  hinaus,  welcher 
diese  einfache  Eigenschaft  durchaus  nicht  hat  (S.  125,  134  u.  f.). 
Ohne  physikalische  Erfahrung  würde  er  nie  dahin  gelangen. 
Die  grundlegenden  Sätze  der  Geometrie  werden  auch  thatsächlich 
nur  durch  physikalische  Erfahrung'en,  durch  Anlegen  von 
Längen  und  Winkelmaassstäben  gewonnen ,  durch  Anlegen 
starrer  Körper  einander.  Ohne  Congruenzsätze  keine  Geome- 
trie. Abgesehen  davon,  dass  Raumbilder  uns  ohne  physikalische 
Erfahrung  gar  nicht  auftauchen  würden,  wären  wir  auch  nicht 
im  Stande,  dieselben  an  einander  anzulegen  um  ihre  Cogruenz  zu 
prüfen.  Wenn  wir  einen  Zwang  fühlen,  ein  gleichschenkliges 
Dreieck  auch  mit  gleichen  Winkeln  an  der  Grundlinie  vorzustellen, 
so  beruht  derselbe  auf  der  Erinnerung  an  starke  Erfahrungen. 
Beruhte  der  Satz  auf  „reiner  Anschauung",  so  brauchten  wir  ihn 
nicht  zu  lernen.  Dass  man  in  der  blossen  geometrischen  Phanta- 
sie Entdeckungen  machen  kann,  wie  es  täglich  geschieht,  zeigt 
nur,  dass  auch  die  Erinnerung'  an  die  Erfahrung  uns  noch 
Momente  zum  Bewusstsein  bringen  kann,  die  früher  unbeachtet 
blieben,  so  wie  man  an  dem  Nachbild  einer  hellen  Lampe 
noch  neue  Einzelheiten  zu  bemerken  vermag.  Selbst  die  Zahlen- 
lehre muss  in  ähnlicher  Weise  aufgefasst  werden.  Auch  ihre 
grundlegenden  Sätze  werden  von  der  Erfahrung-  nicht  ganz  un- 
abhängig sein. 

Der  Ueberzeugende  der  Geometrie  (und  der  ganzen 
Mathematik)  beruht  nicht  darauf,  dass  ihre  Lehren  durch  eine  ganz 
besondere  Art  der  Erkenntnis  gewonnen  werden^  sondern  nur 
darauf,    dass    ihr    Erfahrungsmaterial    uns    besonders    leicht    und 


—    265    — 

bequem  zur  Hand  ist,  besonders  oft  erprobt  wurde,  und  jeden 
Augenblick  wieder  erprobt  werden  kann.  Auch  ist  das  Gebiet 
der  Raumerfahrung  ein  viel  beschränkteres,  als  das  der  ge- 
sammten  Erfahrung.  Die  Ueberzeugung,  das  erstere  im  Wesent- 
lichen erschöpft  zu  haben,  wird  alsbald  Platz  greifen,  und  das 
nöthige  Selbstvertrauen  erzeugen  i). 

23- 

Ein  ähnliches  Selbstvertrauen,  wie  der  Geometer,  hat  ohne 
Zweifel  auch  der  Componist,  der  in  dem  Gebiet  der  Tonempfin- 
dungen, der  Ornamentenmaler,  der  im  Gebiet  der  Farbenempfin- 
dungen reiche  Erfahrungen  gewonnen  hat.  Dem  einen  wird  kein 
Raumgebilde  vorkommen,  dessen  Elemente  ihm  nicht  wohlbe- 
kannt wären,  die  beiden  andern  werden  auf  keine  neuen  Ton- 
oder Farbencombination  stossen.  Ohne  Erfahrung  wird  aber  der 
Anfänger  in  der  Geometrie  durch  die  Ergebnisse  seiner  Thätig- 
keit  nicht  minder  überrascht  oder  enttäuscht,  als  der  junge 
Musiker  oder  Ornamentist. 

Der  Mathematiker,  der  Componist,  der  Ornamentist  und 
der  Naturforscher,  welche  sich  der  Speculation  ergeben,  ver- 
fahren trotz  der  Verschiedenheit  des  Stoffes  und  Zweckes  ihrer 
Thätigkeit  in  ganz  analoger  Weise.  Der  erstere  ist  allerdings 
wegen  der  grössten  Beschränktheit  des  Stoffes  gegen  alle 
in  Bezug  auf  die  Sicherheit  seines  Vorgehens  im  Vortheil, 
der  letztere  aus  dem  entgegengesetzten  Grunde  gegen  alle  im 
Nachtheil. 

24. 
Die  Unterscheidung  des  physiologischen  und  geometrischen 
Raumes  hat  sich  als  unvermeidlich  erwiesen.  Indem  aber  geo- 
metrische Einsicht  durch  die  räumliche  Vergleichung  der  Körper 
miteinander  gewonnen  wird,  kann  schon  die  Zeit  nicht  ausser 
Betracht  bleiben,  da  es  unmöglich  ist,  hierbei  vom  Transport  der 


i)  Vgl.    Wärmelehre    S.    455.    —    Meinong,    Hume-Studien,    Wien    1877. 
Zindler,  Beitr.  z.  Theorie  d.  raathem.  Erkenntniss,   Wien   1889. 


—      266      — 

Körper  abzusehen.  Raum  und  Zeit  stehen  in  einem  innig-ern 
Zusammenhange,  und  zeigen  sich  hierbei  relativ  unabhängig 
von  andern  physikahschen  Elementen.  Dies  spricht  sich  in  der 
Bewegung  der  Körper  bei  sonstiger  relativer  Constanz  ihrer 
übrigen  Eigenschaften  aus.  Die  Entstehung  einer  reinen  Geo- 
metrie, Phoronomie  und  Mechanik  wird  eben  dadurch  möglich. 

Wenn  wir  genau  zusehen,  so  bedeuten  Raum  und  Zeit  in 
physiologischer  Beziehung  besondere  Arten  von  Empfindungen,' 
in  physikalischer  Beziehung  aber  functionale  Abhängig- 
keiten der  durch  Sinnesempfindungen  charakterisirten  Elemente 
von  einander.  Indem  die  räumlichen  und  zeitlichen  phy.sio- 
logischen  Indices,  welche  durch  Theile  und  Vorgänge  unseres 
Leibes  bedingt  sind,  bei  gleichen  physiologischen  Umständen 
untereinander  verglichen  werden ,  ergeben  sie  Abhängigkeiten 
der  physikalischen  Elemente  von  einander.  (Abhängigkeit 
der  Elemente  eines  Körpers  von  jenen  eines  andern,  Abhängig- 
keit der  Elemente  eines  Vorgang'  von  jenen  eines  andern).  Auf 
Grund  dieser  Einsicht  kann  man  zeitliche  und  räumliche  Bestim- 
mungen rein  ph3^sikalisch  vornehmen.  Was  mit  dem  kleineren 
Theil  eines  stetig  einsinnig  ablaufenden  Vorganges  zusammen- 
trifft, ist  zeitlich  früher.  Im  homogen  erfüllten  Raum  ist  der 
Ort  B  dem  Ort  A  näher  als  ein  anderer,  wenn  B  von  dem  von 
A  aus  erregten  Vorgang  früher  erreicht  wird,  als  jener  andere. 
Die  Gerade  ist  der  Inbegriff  der  durch  die  physikalische  Be- 
ziehung zweier  Punkre  (unendlich  kleiner  Körper)  eindeutig 
bestimmten  Orte.  Der  Ort  C  liegt  im  Halbirungspunkt  der  Ge- 
raden AB,  wenn  derselbe  im  homogenen  Raum  durch  Vorgänge 
von  A  und  B  aus  in  gleicher  Zeit  erreicht  wird,  und  in 
kürzerer  Zeit  als  jeder  andere,  der  erstere  Eigenschaft  mit  ihm 
theilt. 

25- 
Die    Zeit    des    Physikers    fällt    nicht    mit    dem    vSystem    der 
Zeitempfindungen    zusammen.     Wenn    der  Physiker   eine  Zeit 
bestimmen   wiU,  so  legt  er  identische  oder   als  identisch  vor- 


267      — 

ausgesetzte  Vorgänge,  Pendelschwingungen,  Erdrotationen 
u.  s.  \v.,  als  Maassstab  an.  Die  mit  der  Zeitempfindung  verknüpfte 
Thatsache  wird  also  einer  Reaction  unterworfen,  und  das  Ergeb- 
niss  derselben,  die  Zahl,  zu  der  man  gelangt,  dient  nun  statt 
der  Zeitempfindung  zur  nähern  Bestimmung-  des  Gedanken- 
laufs. Ganz  ebenso  richten  wir  unsere  Gedanken  über  Wärme- 
vorgänge nicht  nach  der  Wärmeempfindung,  die  uns  die  Körper 
liefern,  sondern  nach  der  viel  bestimmteren,  welche  durch  die 
Thermometerreaction  bei  Ablesung  des  Standes  des 
Quecksilberfadens  sich  ergibt.  Gewöhnlich  wird  an  die  Stelle  der 
Zeitempfindung  eine  Raumempfindung  (Drehung'swinkel  der  Erde 
Weg  des  Zeigers  auf  dem  Uhrzifferblatt),  und  für  die  letztere 
wieder  eine  Zahl  gesetzt.  Stellt  man  z.  B.  den  Temperatur- 
überschuss  eines  abkühlenden  Körpers  über  die  Umgebung  durch 

— kt 
§■  =  0e        dar,  so  ist  t  jene  Zahl. 

Die  Beziehung,  in  welcher  die  Grössen  einer  Gleichung  stehen, 

ist    gewöhnlich    (anatytisch)    eine    allgemeinere     als     diejenige^ 

welche  man  durch  die  Gleichung  darstellen  will.    So  haben  in  der 

Gleichung  1 — j    -[-  (-£-)      =   i    alle   beliebigen   Werthe    von   x 

einen  anal5^tischen  Sinn,  und  liefern  zugehörige  Werthe  von  y. 
Verwenden  wir  aber  diese  Gleichung  zur  Darstellung  einer 
Ellipse,  so  haben  nur  die  Werthe  von  x  <^  a  und  von  y  ■<!  b 
einen  (reellen)  geometrischen  Sinn. 

Aehnlich  müsste  man,    wenn    dies  nicht  auf  der  Hand  läge. 

— kt 
ausdrücklich  hinzufügen,    dass   die   Gleichung  -0=   0q       nur  für 

wachsende  Werthe  von  t  den  Vorgang  darstellt. 

Denken  wir  uns  den  Verlauf  verschiedener  Thatsachen,  z.  B. 

die  Abkühlung  eines   Körpers  und   den  freien  Fall  eines  andern, 

durch  solche  Gleichungen  dargestellt,   welche   die    Zeit   enthalten, 

so  kann  aus  denselben  die  Zeit  eliminirt,  und  etwa  der  Temperatur- 

überschuss  durch  den  Fallraum  bestimmt  werden.     Die  Elemente 

stellen  sich  dann  einfach  als  abhängig  von  einander  dar.    Man 

müsste  aber  den  Sinn    einer  solchen  Gleichung  durch  die  Hinzu- 


—     268     — 

fügung  näher  bestimmen,   dass   nur  wachsende  Fallräiime  oder 
abnehmende  Temperaturen  nach  einander  einzusetzen  seien. 

Wenn  wir  so  den  Temperaturüberschuss  durch  den  Fallraura 
bestimmt  denken ,  so  ist  die  Abhängigkeit  keine  unmittelbare. 
Darin  stimme  ich  Petzoldt^)  bei.  Die  Abhängigkeit  ist  aber 
ebenfalls  keine  unmittelbare,  wenn  wir  den  Temperaturüberschuss 
durch  den  Drehungswinkel  der  Erde  bestimmt  setzen.  Denn 
Niemand  wird  glauben,  dass  noch  dieselben  Temperaturwerthe , 
auf  dieselben  Winkelwerthe  entfallen  würden,  wenn  die  Erde 
etwa  durch  einen  Stoss  ihre  R.otationsgesch windigkeit  ändern 
würde.  Aus  solchen  Betrachtungen  scheint  mir  doch  zu  folgen, 
dass  unsere  Aufstellungen  provisorische  sind,  welche  auf  theilweiser 
Unkenntniss  gewisser  maassgebender,  uns  unzugänglicher  unab- 
hängig Variablen  beruhen.  Nur  so  wollte  ich  seiner  Zeit  meinen 
Hinweis  auf  eine  Unbestimmtheit  verstanden  wissen  ^).  Diese 
Ansicht  ist  auch  sehr  wohl  verträglich  mit  der  Aufstellung  ein- 
deutiger Bestimmtheiten,  welche  immer  unter  Voraussetzung  ge- 
gebener Umstände  und  unter  Abstraction  von  ungewöhnlichen 
und  unerwarteten  Aenderungen  stattfindet.  Diese  Auffassung  ist, 
wie  mir  scheint,  unvermeidlich,  wenn  man  bedenkt,  dass  der  von 
Petzoldt  betonte  Unterschied  simultaner  und  succedaner  Ab- 
hängigkeiten wohl  für  die  anschauliche  Vorstellung",  nicht  aber 
für  die  Gleichungen  gilt,  welche  für  erstere  das  quantitative 
Regulativ  sind.  Letztere  können  nur  einerlei  Art  sein,  nur 
simultane  Abhängigkeiten  aussprechen.  Der  Indeterminismus 
in  gewöhnlichem  Sinn,  etwa  die  Annahme  einer  Willensfrei- 
heit im  Sinne  mancher  Philosophen  und  Theologen  liegt  mir 
gänzlich  fern. 

Die  Zeit  ist  nicht  umkehrbar.  Ein  warmer  Körper  in  kalter 
Umgebung  kühlt  nur  ab,  und  erwärmt  sich  nicht.  Mit  grösseren 
(späteren)  Zeitempfindungen  sind  nur  kleinere  Temperaturüber- 
schüsse verknüpft.    Ein  Haus  in  Flammen  brennt  nieder,  und  baut 


n)  Petzoldt,    Das    Gesetz    der    Eindeutigkeit.       Vierteljahrsschrift    f.    wissen- 
schaftl.  Philosophie,  XIX,  S.   146  fg. 

2)  Mach,   Erhaltung  der  Arbeit.      Prag    1872. 


—     269     — 

sich  nicht  auf.  Die  Pflanze  kriecht  nicht  sich  verkleinernd  in  die 
Erde,  sondern  wächst  sich  vergrössernd  heraus.  Die  Thatsache 
der  Nichtumkehrbarkeit  der  Zeit  reducirt  sich  darauf,  dass  die 
Werthänderungen  der  physikalischen  Grössen  in  einem  be- 
stimmten Sinne  stattfinden.  Von  den  beiden  analytischen  Mög- 
lichkeiten ist  nur  die  eine  wirklich.  Ein  metaphysisches 
Problem  brauchen  wir  hierin  nicht  zu  sehen. 

Veränderungen  können  nur  durch  Differenzen  bestimmt  sein. 
Im  Unterschiedslosen  gibt  es  keine  Bestimmung.  Die  eintretende 
Veränderung  kann  die  Unterschiede  vergrössern  oder  verkleinern. 
Hätten  aber  die  Differenzen  die  Tendenz  sich  zu  vergrössern,  so 
würde  die  Veränderung  ins  Unendliche  und  Ziellose  gehen..  Mit 
dem  allgemeinen  Weltbild,  oder  vielmehr  jenem  unserer  beschränk- 
ten Umgebung-,  verträgt  sich  nur  die  Annahme  einer  im  All- 
gemeinen d  if  f  er  enz  verkleinern  den  Tendenz.  Es  würde 
aber  bald  überhaupt  nichts  mehr  g'eschehen,  wenn  nicht  von  aussen 
Differenz  setzende  Umstände  eindringen  würden. 

Wir  können  auch,  wie  Petzoldt,  aus  unserem  eigenen  Be- 
stehen, aus  unserer  körperlichen  und  geistigen  Stabilität,  auf  die 
Stabilität,  eindeutige  Bestimmtheit  und  Einsinnigkeit  der  Vorgänge 
in  der  Natur  schliessen.  Denn  nicht  nur  sind  wir  selbst  ein  Stück 
Natur  (S.  258),  sondern  die  genannten  Eigenschaften  in  unserer 
Umgebung  bedingen  unser  Bestehen  und  Denken  (vgl.  Populär- 
wiss.  Vorlesungen,  S.  238).  Allein  zu  viel  lässt  sich  hierauf  nicht 
bauen,  denn  die  Organismen  sind  ein  eigenartiges  Stück 
Natur  von  sehr  begrenzter  und  massiger  Stabilität,  welche  ja 
thatsächlich  auch  zu  Grunde  gehen,  und  zu  deren  Erhaltung 
anderseits  eine  nur  massige  Stabilität  der  Umgebung  genügt. 
Es  wird  also  am  zweckmässigsten  sein,  die  Grenzen  unseres 
Wissens,  die  sich  überall  zeigen,  anzuerkennen  und  das  Streben 
nach  eindeutiger  Bestimmtheit  als  ein  Ideal  anzusehen,  das  wir 
in  unserem  Denken,  so  weit  als  möglich,  verwirklichen. 


—     270     — 

Ich  betrachte  die  Sätze,  die  ich  in  der  Zeit  der  grössten 
Gährung- meiner  Gedanken  (187  i)  niedergeschrieben  habe,  nament- 
lich in  ihrer  Form,  selbstverständlich  nicht  als  unangreifbar,  und 
sehe  auch  die  Einwendungen  von  Petzoldt  keinesweg's  als  muth- 
willige  an,  hoffe  aber,  wenn  ich  ausführlicher  auf  den  Gegenstand 
zurückkomme,  den  ich  hier  nur  kurz  berühren  konnte,  ohne  das 
Wesentliche  meiner  Ansicht  aufzug'eben,  doch  eine  volle  Verstän- 
dig'ung  zu  erzielen. 


d 


XV.  Die    Aufnahme   der   hier   dargelegten   Ansichten. 


Nach  Erscheinen  der  ersten  Auflage  dieser  Schrift  waren  die  Ur- 
theile  über  dieselbe  sehr  getheilt.  Die  Anerkennung  betraf  aber  in 
der  überwiegenden  Zahl  der  Fälle  Einzelheiten,  während  die  Grund- 
ansicht, welche  zu  ersteren  geführt  hatte,  meist  verworfen  wurde. 
Die  öffenthche  Kritik^),  soweit  sie  mir  bekannt  geworden  ist, 
blieb  übrigens  auch  in  der  Ablehnung  maassvoll ,  und  war  in 
ihrer  Aufrichtigkeit  für  mich  sehr  lehrreich. 

Der  günstige  Einfluss,  welchen  die  späteren  Publicationen  von 
R.  Avenarius  auch  auf  das  Urtheil  über  meine  Schrift  geübt 
haben,  ist  nicht  zu  verkennen.  Musste  es  doch  zu  denken  geben, 
dass  ein  Fachphilosoph  in  einer  ausführlichen  systematischen  Dar- 
stellung einen  Standpunkt  begründete,  den  man  bei  einem  Natur- 
forscher als  eine  leicht  begreifliche  dillettantische  Verirrung  an- 
zusehen geneigt  war.  Auch  die  Schüler  von  Avenarius  und 
jüngere  Forscher,  welche  auf  eigenen  Wegen  sich  mir  genähert 
haben,  stehen  mir  heute  hilfreich  zur  Seite.  Dennoch  können 
die  Kritiker  mit  wenigen  Ausnahmen,  und  auch  dienjenigen, 
welche  meinen  Grundgedanken  ganz  richtig  referiren,  und  sicherlich 
verstanden  haben,    schwere  Bedenken  gegen  denselben    nicht  los 


i)  Dass  die  privaten  Urtheile  ebenso  maassvoU  waren,  würde  ich  auch  dann 
nicht  geglaubt  haben,  wenn  mir  solche  nicht  durch  kleine  Indiscretionen  bekannt  geworden 
wären.  Ein  mehr  als  geringschätziges  Urtheil  eines  deutschen  Collegen  wurde  mir  auf 
einem  komischen  Umwege  mitgetheilt  —  sagen  wir  ungefähr  über  die  Antipoden  — 
in  der  unverkennbaren  Absicht  mich  zu  verletzen.  Diesen  Zweck  hat  es  allerdings 
verfehlt.  Denn  es  wäre  gewiss  sehr  unbillig,  wenn  ich  das  Recht  links  liegen  zu 
lassen,  was  mir  unfruchtbar  scheint,  von  dem  ich  ja  selbst  Gebrauch  mache,  nicht 
auch  Andern  zugestehen  wollte.  Eine  Berechtigung  aber,  Leute,  welche  anderer 
Meinung  sind,    zu  insultiren,  habe  ich  allerdings  nie  gefühlt. 


2  7-2        

werden.  Es  ist  dies  kein  Wunder.  Denn  der  Plasticität  meines 
Lesers  werden  sehr  starke  Zumuthungen  gemacht.  Einen-  Ge- 
danken logisch  begreifen  und  denselben  sympathisch  aufnehmen, 
ist  zweierlei.  Die  ordnende  und  vereinfachende  Function  der 
Logik  kann  ja  erst  beginnen,  wenn  das  psychische  Leben  in  der 
Entwicklung  weit  fortgeschritten  ist,  und  schon  einen  reichen 
Schatz  von  instinctiven  Erwerbungen  aufzuweisen  hat.  Diesem 
instinctiven  vorlogisclien  Bestand  von  Erwerbungen  ist  nun  auf 
dem  Wege  der  Logik  kaum  beizukommen.  Es  handelt  sich 
vielmehr  um  einen  psychologischen  Umbildungsprocess,  der,  wie 
ich  an  mir  erfahren  habe,  selbst  in  jungen  Jahren  schwierig  ge- 
nug ist.  Hier  g-leich  auf  Zustimmung  zu  rechnen,  wäre  daher 
unbescheiden.  Ich  bin  vielmehr  zufrieden,  wenn  man  mich  über- 
haupt nur  zu  Wort  kommen  lässt,  und  mich  ohne  Vorein- 
genommenheit anhört.  Ich  will  nun  dem  Eindruck  folgend,  den 
ich  durch  die  Kritiken  erhalten  habe,  nochmals  die  Punkte  her- 
vorheben und  beleuchten,  deren  Aufnahme  auf  besonderen 
Widerstand  trifft.  Hierbei  betrachte  ich  die  vorgebrachten 
Einwendungen  nicht  als  muthwillige  und  nicht  als  persön- 
liche, sondern  als  typische,  unterlasse  also  die  Nennung  von 
Namen. 

2. 

Wenn  wir  uns  keinen  Zwang  anthun,  sehen  wir  die  Erde 
feststehend,  die  Sonne  aber  und  den  Fixsternhimmel  bewegt. 
Diese  Auffassung  ist  für  gewöhnliche  praktische  Zwecke  nicht 
nur  ausreichend,  sondern  sie  ist  auch  die  einfachste  und  vortheil- 
hafteste.  Die  entgegengesetzte  Ansicht  hat  sich  aber  für  ge- 
wisse intellectuelle  Zwecke  als  die  bequemere  bewährt.  Ob- 
gleich beide  gleich  richtig  und  in  ihrem  Gebiet  zweckmässig 
sind,  hat  sich  die  zweite  nur  nach  hartem  Kampfe  gegen  eine 
der  Wissenschaft  widerstrebende  Macht,  welche  hier  mit  der 
instinctiven  Auffassung  des  gemeinen  Mannes  im  Bunde  war, 
geltend  machen  können.  Die  Zumuthung  sich  auf  der  Sonne 
statt    auf  der   Erde   stehend   als    Beobachter    zu    denken,    ist  nun 


—     273     — 

aber  nur  eine  Kleinigkeit  gegen  die  Forderung,  sein  Ich  für 
nichts  zu  achten,  dasselbe  in  eine  vorübergehende  Verbindung 
von.  wechselnden  Elementen  aufzulösen.  Diese  letztere  Auffassung 
ist  ja  längst  von  verschiedenen  Seiten  vorbereitet  i).  Wir  sehen 
solche  Einheiten,  welche  wir  Ich  nennen,  bei  der  Zeugung  ent- 
stehn  und  durch  den  Tod  verschwinden.  Wollen  wir  nicht  die 
heute  schon  abentheuerliche  Fiction  uns  erlauben,  dass  diese  Ein- 
heiten latent  schon  vorher  vorhanden  waren  und  ebenso  nach- 
her fortbestehn,  so  können  wir  nur  annehmen,  dass  es  eben 
temporäre  Einheiten  sind.  Die  Psychologie  und  die  Psycho- 
pathologie lehrt  uns,  dass  das  Ich  wachsen  und  sich  bereichern, 
verarmen  und  schrumpfen,  sich  fremd  werden  und  sich  spalten, 
kurz  schon  während  des  Lebens  sich  ändern  kann.  Trotz  alle- 
dem ist  das  Ich  für  meine  instinctive  Auffassung  das  Wich- 
tigste und  Beständigste.  Es  ist  das  Band  aller  meiner  Erleb- 
nisse und  die  Quelle  aller  meiner  Thätigkeit.  So  ist  auch  ein 
starrer  Körper  für  die  rohe  instinctive  Auffassung-  etwas  sehr 
Beständiges.  Wird  derselbe  g^etheilt,  aufgelöst,  mit  einem  andern 
chemisch  verbunden,  so  vermehrt  und  vermindert  sich  die  An- 
zahl dieser  Beständigkeiten.  Wir  nehmen  jetzt,  um  den  liebge- 
wordenen Gedanken  um  jeden  Preis  festzuhalten,  latente  Be- 
ständigkeiten an,  wir  flüchten  uns  in  die  Atomistik.  Da  wir 
den  verschwundenen  oder  veränderten  Körper  oft  wieder  restis 
tuiren  können,  so  beruht  dies  hier  auf  etwas  besseren  Gründen 
als  in  dem  obigen  Falle. 

Praktisch  können  wir  nun  die  Ichvorstellung  so  wenig  ent- 
behren als  die  Körpervorstellung.  Physiologisch  bleiben  wir 
Egoisten,  so  wie  wir  die  Sonne  immer  wieder  aufgehn  sehen. 
Intellectuell  muss  aber  diese  Auffassung  nicht  festgehalten  wer- 
den.    Aendern   wir   dieselbe   versuchsweise !     Ergibt  sich    hiebei 


i)  Der  Buddhismus  kommt  hier  seit  Jahrhunderten  vorzugsweise  von  der  prak- 
tischen Seite  entgegen.  Vgl.  P.  Carus,  llie  Gospel  of  Buddha,  Chicago  1894.  — 
Vgl  auch  die  wunderbare  Erzählung:  P.  Carus,  Karma,  A.  Story  of  Early  Budd- 
hism.,   Chicago    1894. 

Maeli,  Analyse.     3.  Aufl.  Ib 


—     274     — 

eine  Einsicht,    so    wird  diese  schliesslich  auch  praktische  Früchte 
tragen. 

3- 
Wer  von  dem  Ich  als  einer  Realität,  die  allem  zu  Grunde 
liegt,  nicht  abzusehen  vermag,  der  wird  auch  nicht  umhin  können, 
zwischen  meinen  Empfindungen  und  deinen  Empfindungen 
einen  fundamentalen  Unterschied  zu  machen.  So  erscheinen  dem, 
der  an  die  absolute  Beständigkeit  des  Körpers  glaubt,  alle 
Eigenschaften  als  diesem  einen  Träger  an  gehörig.  Wenn  aber 
dieses  silberweise  Stück  Natrium  schmilzt,  sich  in  Dampf  auf- 
löst, der  dem  ursprünglichen  Ding  gar  nicht  mehr  ähnlich  sieht, 
wenn  das  Natrium  in  verschiedene  Parthien  getheilt ,  in  ver- 
schiedene chemische  Verbindungen  übergeführt  wird,  so  dass 
mehr  oder  auch  weniger  Körper  vorhanden  sind  als  vorher,  so 
lässt  sich  die  gewohnte  Denkweise  nur  mehr  äusserst  künstlich 
aufrecht  halten.  Es  wird  dann  vortheilhafter,  dieselben  einzelnen 
Eigenschaften  als  bald  diesem,  bald  jenem  Complex  (Körper)  an- 
gehörig anzusehen,  und  an  die  Stelle  der  nicht  beständigen 
Körper  das  beständige  Gesetz  treten  zu  lassen,  welches  den 
Wechsel  der  Eigenschaften  vmd  ihrer  Verknüpfungen  überdauert. 
Die  Zumuthung  diese  neue  Denkgewohnheit  anzunehmen,  ist 
wieder  keine  geringe.  Wie  würden  sich  die  antiken  Forscher 
gesträubt  haben,  wenn  man  ihnen  gesagt  hätte:  „Erde,  Wasser, 
Luft,  sind  gar  keine  beständigen  Körper,  sondern  das  Beständige 
sind  die  in  denselben  steckenden  heutigen  chemischen  Elemente, 
von  welchen  viele  nicht  sichtbar,  andere  sehr  schwer  isolirbar,  oder 
aufbewahrbar  sind.  Das  Feuer  ist  gar  kein  Körper,  sondern  ein 
Vorgang  u.  s.  w."  Die  grosse  Wandlung,  welche  in  diesem  Schritt 
liegt,  vermögen  wir  kaum  mehr  richtig  abzuschätzen.  Doch  be- 
reitet sich  in  der  heutigen  Chemie  die  F'ortsetzung  dieser  Wandlung 
vor,  und  dieselben  Wege  der  Abstraction  führen  in  ihrem  Verlauf 
zu  dem  hier  eingenommenen  Standpunkte.  So  wenig  ich  nun  das 
Roth  oder  Grün  als  einem  individuellen  Körper  angehörig  be- 
trachte,   so    wenig   mache    ich    auf    dem  Standpunkt,   den  ich  zur 


—     275     — 

allgemeinen  Orientirung  hier  einnehme,  einen  wesentlichen  Unter- 
schied zwischen  meinen  Empfindungen  und  den  Empfindungen  eines 
Andern.  Dieselben  Elemente  hängen  in  vielen  Verknüpfungs- 
punkten, den  Ich,  zusammen.  Diese  Verknüpfungspunkte  sind 
aber  nichts  Beständiges.  Sie  entstehen,  verg^ehen  und  modificiren 
sich  fortwährend.  Was  aber  augenblicklich  nicht  verknüpft  ist, 
beeinflusst  sich  eben  nicht  merklich.  Meine  Auffassung  wird 
nicht  davon  afficirt,  ob  es  gelingen  mag,  oder  nicht  gelingen 
mag,  durch  eine  Nerven  Verbindung  fremde  Empfindungen  in 
mich  hin  überzugleiten.  Die  bekanntesten  Thatsachen  sind  für 
diese  Auffassung  eine  genügende  Basis. 


Vielleicht  noch  mehr  als  die  Grundgedanken  hat  vielen 
Lesern  der  allgemeine  Charakter  meiner  Weltauffassung  wieder- 
strebt, welchen  sie,  freilich  irrtümlich,  zu  erkennen  glaubten.  Da 
muss  ich  nun  zunächst  sagen,  dass  derjenige  gewiss  von  der 
richtigen  Würdigung  meiner  Ansicht  sehr  weit  entfernt  ist, 
welcher  dieselbe  trotz  wiederholter  Proteste  von  meiner  und  auch 
von  anderer  Seite  mit  der  Berkeleyschen  identificirt.  Etwas 
liegt  ja  daran,  dass  meine  Ansicht  aus  einer  idealistischen  Phase 
hervorgegangen  ist,  welche  noch  Spuren  in  den  Ausdrücken 
zurückgelassen  hat,  die  auch  nicht  ganz  verwischt  werden  sollen. 
Denn  der  bezeichnete  Weg  zu  meinem  Standpunkt  scheint  mir 
der  kürzeste  und  natürlichste.  Hiermit  hängt  es  auch  zusammen, 
dass  meine  Leser  mitunter  die  Scheu  vor  dem  Panpsychismas 
ergreift.  Li  dem  verzweifelten  Kampf  einer  einheitlichen  Welt- 
auffassung gegen  das  instinctive  dualistische  Vorurtheil  verfällt 
mancher  dem  Panpsychismus.  Ich  hatte  in  früher  Jugend  solche 
Anwandlungen  durchzumachen,  und  Avenarius  laborirt  noch  in 
seiner  Schrift  von  1876  daran.  In  Bezug  auf  diese  beiden 
Punkte  empfinde  ich  es  geradezu  als  ein  Glück,  dass  Avenarius 
dieselbe  Auffassung  von  dem  Verhältniss  des  Physischen  und  Psy- 
chischen auf  ganz  realistischer   (wenn   man    will    materialistischer) 

18* 


—     276     — 

Grundlage  entwickelt   hat,    so    dass   ich    auf  seine   Ausführungen 
einfach  verweisen  kann. 


5- 

Nicht  nur  den  Naturforschern,  sondern  auch  den  Fach- 
philosophen scheint  meine  Welt  aus  Elementen  (Empfindungen) 
zu  luftig.  Dass  ich  die  Materie  als  ein  Gedankensymbol  für 
einen  relativ  stabilen  Complex  sinnlicher  Elemente  betrachte,  wird 
als  eine  geringschätzige  Auffassung  bezeichnet.  Die  Aussen- 
welt  sei  als  eine  Summe  von  Empfindungen  nicht  genügend  er- 
fasst,  man  müsse  zu  den  wirklichen  Empfindungen  mindestens 
noch  die  Empfindungsmöglichkeiten  Mills  einführen.  Dagegen 
muss  ich  bemerken,  dass  auch  für  mich  die  Welt  keine  blosse 
Summe  von  Empfindungen  ist.  Vielmehr  spreche  ich  ausdrück- 
lich von  Functionalbeziehungen  der  Elemente.  Damit 
sind  aber  die  Mi  1  Ischen  , Möglichkeiten'  nicht  nur  überflüssig 
geworden,  sondern  durch  etwas  weit  solideres,  den  mathema- 
tischen Functionsbegriff ,  ersetzt.  Hätte  ich  geahnt,  dass  ein 
kurzer  präciser  Ausdruck  so  leicht  übersehen  wird,  und  dass  eine 
breite  populäre  Darstellung  bessere  Dienste  thut,  so  würde  mir 
eine  Darstellung  entsprochen  haben,  wie  sie  etwa  Cornelius^) 
„über  den  Begriff  der  objectiven  Existenz"  in  vorzüglicher  Weise 
giebt.  Allerdings  würde  ich  auch  hier  den  Ausdruck  A'Iöglichkeit 
vermieden    und    dafür    den     Functionsbegriff     verwendet    haben. 

Von  anderer  vSeite  lässt  man  durchblicken,  dass  meine  Posi- 
tion aus  einer  überwiegenden  Sinnlichkeit  und  entsprechend  ge- 
ringem Verständniss  für  den  Werth  der  Abstraction  und  des 
begrifflichen  Denkens  zu  verstehen  sei.  Nun,  ohne  starke  Sinnlich- 
keit kann  der  Naturforscher  nicht  viel  verrichten.  Dieselbe  hindert 
ihn  aber  nicht,  klare  und  scharfe  Begriffe  zu  bilden.  Im  Gegen- 
theil!  Die  Begriffe  der  heutigen  Ph^^sik  können  sich  an  Präcision 
und  Flöhe  der  Abstraction  mit  jenen  irgend  einer  andern  Wissen- 


I)    H.    Cornelius,    I'.^ycliologie   als   lirfaliningswissenscliaft,    Leipzitj    1897,    S.   99 
u.   iiisbcsondcie   S.    i  i  ,0,    i  I ,  I . 


—        2/7        — 

Schaft  messen,  bieten  aber  zugleich  den  Vortheil,  dass  man  sie 
immer  leicht  und  sicher  bis  zu  den  sinnlichen  Elementen,  auf  welche 
sie  aufgebaut  sind,  zurückverfolgen  kann.  Für  den  Naturforscher  ist 
die  Kluft  zwischen  der  anschaulichen  A^orstellung  und  dem  be- 
grifflichen Denken  nicht  so  gross  und  nicht  unüberbrückbar. 
Nebenbei  möchte  ich  bemerken,  dass  ich  über  die  physikalischen 
Begriffe  keineswegs  geringschätzig-  denke,  sondern  seit  fast  vier 
Decennien  mich  vielfach,  und  eingehender  als  es  zuvor  geschehen 
ist,  mit  deren  Kritik  beschäftigt  habe.  Und  da  die  Ergebnisse 
dieser  Beschäftigung  nach  langem  Widerstreben  bei  den  Physikern 
Zustimmung  finden,  so  möchte  diese  doch  wenigstens  keine  leicht- 
fertige sein.  Wenn  aber  der  Physiker,  der  von  Haus  aus  ge- 
wöhnt war,  zu  jeder  Definition  ein  Kilogewicht  in  die  Hand 
gedrückt  zu  bekommen,  sich  allmälig  mit  Definitionen  zufrieden 
gibt,  die  alle  auf  eine  Functionalbeziehung  sinnlicher  Elemente 
hinauslaufen,  so  wird  wohl  auch  der  Philosoph  nicht  noch  physi- 
kalischer sein  wollen.  Die  betreffenden  Einzelausführungen  kön- 
nen aber  natüriich  nicht  in  dieser  Skizze  Platz  finden,  welche  nur 
ein  Programm  für  den  Anschluss  der  exacten  Wissenschaften  an- 
einander sein  will,  sondern  nur  in  den  physikalischen  Schriften 
des  Verfassers. 

6. 
Manchen  Lesern  erscheint  die  Welt  in  meiner  Auffassung 
als  ein  Chaos,  ein  unentwirrbares  Gewebe  von  Elementen. 
Sie  vermissen  die  leitenden  einheitlichen  Gesichtspunkte.  Dies 
beruht  aber  auf  einem  Verkennen  der  Aufgabe  meiner  Schrift. 
Alle  werthvollen  Gesichtspunkte  der  Specialwissenschaften  und 
der  philosophischen  Weltbetrachtung  bleiben  weiter  verwendbar 
und  werden  auch  von  mir  verwendet.  Die  scheinbar  destruc- 
tive  Tendenz  ist  lediglich  gegen  überflüssige  und  deshalb 
irreführende  Zuthaten  zu  unseren  Begriffen  gerichtet.  So 
glaube  ich  gerade  den  Gegensatz  des  Psychischen  und  Physischen, 
des  Subjectiven  und  Objectiven  richtig  auf  das  Wesentliche  zu- 
rückgeführt und  zugleich  von  traditionellen  abergläubischen  Auf- 
fassung gereinigt  zu  haben.      Hiebei   werden  wissenschaftlich  be- 


—    278    — 

währte  Gesichtspunkte  nicht  alterirt  und  für  neue  wird  zugleich 
Raum  gewonnen.  Ich  will  auch  nicht  das  elegisch  oder  fromm 
jammernde  Jgnorabimus'  durch  eine  selbstgenügsame  verstockte 
Abkehr  von  Wissenswerthem  und  Erkennbarem  ersetzen.  Denn 
im  Verzichten  auf  die  Beantwortung  als  sinnlos  erkannter  Fragen 
liegt  durchaus  keine  Resignation,  sondern  der  Masse  des 
wirklich  Erforschbaren  gegenüber  das  einzig  vernünftige  A^erhalten 
des  Forschers.  Kein  Physiker  wird  heute,  wenn  er  das  perpe- 
tuum  mobile  nicht  mehr  sucht,  kein  Mathematiker,  wenn  er  um 
die  Quadratur  des  Cirkels  oder  um  die  Lösung  der  Gleichungen 
fünften  Grades  in  geschlossener  Form  sich  nicht  mehr  bemüht, 
darin  Resignation  sehen  wollen.  So  ist  es  auch  in  allgemeineren 
philosophischen  Fragen.  Die  Probleme  werden  entweder  gelöst 
oder  als  nichtig  erkannt. 

Wo  steckt  der  Fehler  oder  die  Einseitigkeit  in  Mach's 
philosophischen  Ansichten?  Ich  finde  diese  Frage  eines  meiner 
Kritiker  sehr  milde.  Denn  ich  bin  überzeugt,  dass  meine  Aus- 
führungen in  mehr  als  einer  Richtung  sehr  mangelhaft  sind.  Dies 
kann  auch  bei  radicaleren  Umwandlungsprocessen  der  Ansichten 
kaum  anders  sein.  Dieselben  spielen  sich  auch  in  einem  Kopfe 
nie  vollständig  ab.  Ich  kann  darum  diese  Mängel  auch  nur 
fühlen  aber  nicht  aufzeigen.  Ich  wäre  ja  sonst  ein  gutes  Stück 
weiter.  Aber  auch  aus  den  Schriften  meiner  Kritiker  sind  mir 
dieselben  nicht  klar  geworden.    Warten  wir  also  noch  ein  wenig! 

Daraus,  dass  meinen  Ansichten  Argumente  entgegen  ge- 
halten werden,  die  in  meinem  Buche  ausführlich  erörtert  sind, 
möchte  ich  keinem  Menschen  einen  Vorwurf  machen.  Es  muss 
ja  eine  wahre  Qual  sein,  die  Masse  des  Erscheinenden  lesen  und 
noch  dazu  in  kntipp  zugemessener  Zeit  mit  pflichtmässiger  Ueber- 
legenheit  beurtheilen  zu  müssen.  Ich  habe  für  diesen  wichtigen 
Beruf  nie  Geschmack  verspürt,  und  habe  deshalb  in  40  Jahren 
wohlgezählte  3  Recensionen  geschrieben.  Es  sei  also  den  Flerren 
gegönnt,  dass  sie  sich,  wenn  auch  zum  Tlieil  auf  meine  Kosten, 
die  Pein  erleichtert  haben. 


279 


Ob  es  mir  jemals  gelingen  wird  den  Philosophen  meine 
Grundgedanken  plausibel  zu  machen,  muss  ich  dahingestellt  sein 
lassen.  Bei  aller  Hochachtung  vor  der  riesigen  Geistesarbeit  der 
grossen  Philosophen  aller  Zeiten  ist  mir  dies  zunächst  auch  weniger 
wichtig.  Aufrichtig  und  lebhaft  wünsche  ich  aber  eine  Ver- 
ständiguug  mit  den  Naturforschern,  und  diese  halte  ich  auch 
für  erreichbar.  Ich  möchte  denselben  nur  zu  bedenken  geben,  dass 
meine  Auffassung  alle  metaphysischen  P>agen  ausschaltet, 
gleichgiltig  ob  sie  nur  als  gegenwärtig  nicht  lösbar  oder  über- 
haupt und  für  immer  als  sinnlos  angesehen  werden.  Ferner 
möchten  dieselben  erwägen,  dass  alles,  was  wir  von  der  Welt 
wissen  können,  sich  nothwendig  in  den  Sinnesempfindungen  aus- 
spricht, welche  in  genau  angebbarer  Weise  von  den  individuellen 
Einflüssen  der  Beobachter  befreit  werden  können  (S.  263).  Alles  was 
wir  zu  wissen  wünschen  können,  wird  durch  Lösung  einer  Aufgabe 
von  mathematischer  Form  geboten,  durch  die  Ermittlung  der 
functionalen  Abhängigkeit  der  sinnlichen  Elemente  von  einander. 
Mit  dieser  Kenntniss  ist  die  Kenntniss  der  „Wirklichkeit"  erschöpft. 
Die  Brücke  zwischen  der  Physik  im  weitesten  Sinne  und  der 
naturwissenschaftlichen  Psychologie  bilden  eben  dieselben  Ele- 
mente, welche  je  nach  dem  untersuchten  Zusammenhang  phy- 
sische oder  psychische  Objecte  sind. 

8. 

Manche,  wahrscheinlich  viele  Physiologen  dürften  an  meiner 
Stellung  in  einer  Detailfrage  Anstoss  genommen  haben,  über  die 
ich  noch  einige  Worte  sagen  möchte.  Ich  schätzte  Untersuch- 
ungen wie  jene  von  S.  Exneri)  hoch,  und  glaube,  dass  viele 
wichtige   Fragen    betreffend   die   psychischen    Erscheinungen   ge- 


i)  Entwurf   zu  einer  physiologischen  Erklärung  der  psychischen  Erscheinungen, 
Wien    1864- 


2bO        — 


löst  werden  können  durch  blosse  Erforschung  der  nervösen  Ver- 
bindungen der  Central  Organe^)  und  Beachtung"  der  quantitativen 
Abstufungen-)  der  Erreg-ungen.  Exners  Buch  selbst  giebt  ja  da- 
für einen  Beleg.  Die  Hauptprobleme  bleiben  mir  aber  ung'elöst  zu- 
rück. Denn  ich  kann  mir  auf  meinem  Standpunkt  nicht  denken, 
wie  die  qualitative  Mannigfaltigkeit  der  Empfindungen  durch 
Variation  der  Verbindungen  und  blosse  quantitative  Verschieden- 
heiten zu  Stande  kommen  sollte,  und  ich  konnte  dies  schon  vor 
fast  40  Jahren  nicht.  Fechncrs  Ps3xh©physik,  welche  so  be- 
deutend gewirkt  hat,  hat  auch  mich  damals  mächtig  angeregt. 
Ich  hielt,  durch  dieses  Buch  begeistert,  über  diesen  Gegenstand 
recht  mangelhafte  Vorlesungen,  welche  noch  dadurch  an  Werth 
verloren,  dass  ich  den  Fechn ersehen  Gedanken  der  Maassformel 
bald  als  einen  Irrthum  erkannte.  Bei  dieser  Gelegenheit  sagte  ich, 
nachdem  die  H  elmholtzsche  Telegraphendraht-Theorie  der  Em- 
pfindungen auseinandergesetzt  war:  „Sollten  aber  die  electrischen 
Vorgänge  in  den  Nerven  zu  einfach  sein,  um  für  eine  Erklärung 
(verschiedener  Empfindungsqualitäten)  auszureichen  ?  Sollte  es 
nothwendig  sein,  die  Erklärung  hinauszuschieben  in  noch  unbe- 
kannte Gebiete?  Wie  denn,  wenn  wir  nach  Durchforschung  des 
ganzen  Hirnes  überall  nur  electrische  Ströme  finden?  Meine  un- 
maassgebliche  Meinung  ist  diese :  Die  electrischen  Untersuchungen 
der  Nerven  sind  gewiss  sehr  feiner  Art,  in  gewisser  Hinsicht 
sind  sie  aber  auch  wieder  sehr  grob.  Ein  electrischer  Strom  von 
gegebener  Intensität  sagt  uns  nichts,  als  dass  eine  bestimmte 
Quantität  lebendiger  Kraft  in  der  Zeiteinheit  durch  den  Quer- 
schnitt des  Stromes  wandert.  Welche  Vorgänge  und  Molekular- 
bewegungen es  sind,  die  jene  lebendige  Kraft  befördern,  wissen 
wir  nicht.  Es  können  die  verschiedensten  Vorgänge  derselben 
Stromintensität  zu  Grunde  liegen"  ^).   Diesen  Gedanken  bin  ich  bis 


1)  A.  a.  O.   S.  IV. 

2)  A.  a.   O.   S.   3. 

3)  Vorlesungen   über   Psychophysik.     Zeit?chr.    f.   piakt.   Heilkunde,   W^ien    1863, 


—        2Ö1        — 

heute  nicht  los  geworden,  und  muss  denselben  im  wesentlichen 
noch  ebenso,  etwa  durch  Hinweis  auf  denselben  Strom  in  ver- 
schiedenen Electrolyten,  begründen  M.  Die  Fortschritte  der  phy- 
siologischen Chemie'^),  die  Erfahrung'en  bei  Transplantation^)  von 
verschiedenen  Organen,  scheinen  mir  heute  noch  entschiedener 
zu  Gunsten  desselben  zu  sprechen. 


1)  S.  d.  Vorwort   zur   englischen  Ausgabe    vorliegenden  Buches,    Chicago    1897, 
S.  V,  VI. 

2)  Huppert,   über  die  Erhaltung  der  Arteigenschaften,   Prag    1896. 

3)  Ribbert,  über  Transplantation  von  Ovarium,   Hoden  und  Mamma,   Arch.   f. 
Entwicklungsmechanik,    Vol.   VII,    1898. 


Sachregister"^). 


absolute  Maasse   261,    262. 

— ,  Beständigkeit   250,    252. 

Abstraction   244 — 249. 

Accomodation    171,    172. 

Aesthetik  93. 

Aehnlichkeit,  tbeilweise  Gleichheit  55  —  57. 

— ,  geometrische  85. 

— ,   abstrakte   57. 

— ,   optische   85. 

• — ,   des  Rythraus    196. 

— ,   der  Tongebilde   216 — 218. 

Anachronismen  d. Wahrnehmung  1 89 — 191. 

— ,  des  Traumes   191. 

Analogie     von     Sehraum     und     Tastraum 

io7n,    io8n,   134  — 145. 
Analogie     von     Sehraum      und     Tonraum 

210 — 212,   214 — 216. 
Animismus  76,   77. 
Anpassung   24,   65. 
— ,   der  Gedanken   240,    243,    249. 
— ,  und  Association   78. 
Anschauliche  Nachbildung  239. 
Apoplexie    130. 
Arbeit   243. 

Association,   Gesetze    177,    180. 
— ,  in  der  Aesthetik  200. 
— ,   organischer  Vorgänge    129. 
— ,   unzulänglich    180,    181,    193. 
Asymmetrie  d.  motor.  Apparates  87  —  89. 
Atom   24n,   236. 
Aufmerksamkeit   132,    133,    136. 
Augenbewegung   125,   131. 
— ,  und  Kopfbewegung   104 — 107. 
— ,  und  Wille   102,   103. 
Augenmuskel   125. 
Augenschwindel   109. 

Begriffe  244 — 249. 

— ,  Metamorphose  d.  66. 

Beschreibung   256. 

— ,  in  den  Elementen  257. 

Beständigkeit  der  Verbindung   235. 

— ,  der  Gedanken   250,   261. 

— ,  relative  2. 

Bestimmtheit,  zureichende  47. 

Bewegungsempfindungen    1 10  — 124. 

— ,  optisch  erregt   113. 


Bewegungsempfindungen  unerschöpfl.    141. 

— ,   Beziehung  zur  Geometrie    141. 

— ,  antagonistische  Innervation    123. 

— ,  offene  Fragen    11 1  — 112. 

Bewustsein    150 — 151. 

Biologie  66  u.  f. 

Biologische  Aufgabe  der  Wissenschaft  29. 

Blendungsbild    129. 

Blinder  Fleck  31. 

Blutbewegung  68. 

Bulbusbeleuchtung    158. 

Canibalen   32. 

Causalität    66,    255. 

— ,   psychische    127. 

Centralorgan    181,    182. 

Chemische  Lebensbedingungen   81. 

— ,   Lichttheorie  82. 

Combinationston  204,   231. 

Complexe  4. 

Consonanz  201,   207  u.  f. 

Consumtion,  organische    188,    189,    193. 

Continuität  des  Ich   3,    18,    19. 

— ,   Princip  d.   46,   73,    242,  249. 

Cöntrast  d.   Helligkeit   162   u.   f. 

— ,  musikalischer  219,   225.  ^ 

— ,  der  Richtung    169,    170. 

Cyclostat   118 — 121. 

Differenzialgleichungen  257. 

Differenz,  zureichende  242,  249. 

Ding  an  sich  5. 

Dogma,  Einfluss  d.   32. 

Doppelte  Auffassung  d.  Physiologischen  33. 

Dynamisches  Gleichgewicht  77. 

Eindeutigkeit  269. 

Einheit,  psychische  21,   22. 

— ,  praktische    17,    18. 

Einsinnigkeit   267,   268. 

Elemente  4,  6,   25,   275. 

— ,   Gleichartigkeit    17. 

— ,   Functionalbeziehung  27,    28,   36,    276. 

— ,  psychisch  und  physisch    13. 

Elementarorganisnien   78. 

Embrylogie,   experimentelle   75. 

Empfindung  an  sich    1,9,    17,    274. 


*)  Kill  n  bei  der  Seitenzahl   weist  auf  ilie  Fiissiioteii. 


J 


28:.     - 


Empfindung,  Definition   12. 

— ,  einseitige  Auffassung   17. 

— ,  functional  an  das  Hirn  geb.   21. 

— ,  wie  -weit  reicht  die   183. 

— ,   der  unorgan.   Materie    183,    184. 

Energie  260,   261. 

— ,  specifische  97. 

— ,  mindestens   2   d.   Tonempf.    209,   210. 

— ,   Erhaltung  der  43,    158. 

Erdbeben  239,  240. 

Erklärung  255,   256. 

Farbenanpassung  75. 

Farbenempfindung  80. 

— ,  Entwicklung,  d.  81. 

Farbenlehre   52 — 55. 

Ferne,  Nähe  90. 

Festliegender  Raum    106,    107. 

Forschungsgrundsatz  49. 

Fühlraum    89. 

Functionbegriff,  allgem.  anwendb.  71 — 75. 

GJ-edächtniss    177. 

— ,  im  weiteren  Sinne  58. 

• — ,  physikalische  Erklärung   178 — 180. 

Gefühl   16. 

Genie  234. 

Geräusch  202,   203. 

Gesichtsempfindungen   146. 

Gesichtsfeld   14. 

Gespensterfurcht  60. 

Harmonie  220 — 226. 

Helligkeit  und  Tiefe   156 — 158. 

Hören,   Theorie,    physikalische  203 — 205, 

228 — 230, 
— ,  physiologische  202,   231  —  232. 
— ,  phylogenetische  221. 
Hühnchen    100. 

Ich  2,    10,    14,   15,   18,  273. 

— ,  praktische  Einheit   17,   22,   273. 

— ,  unanalysirter  Complex  20. 

— ,  Vergänglichkeit    19. 

— ,   variabler  Umfang   10. 

Ideal,  ethisches   19,   20. 

Identische  Netzhautstellen  97. 

lUusor.  Gegensatz  der  Phys.  u.  Psych.  34. 

Illusor.  Erklärung  der  Harmonie   220. 

Innervation   103,    13 1. 

Instinct  68. 

Intellect   146. 

— ,  thierrischer  überschätzt   147,    148. 

Intervall  217. 

— ,  Empfindung  der   217,   218. 

Introjection  41,  44. 

Intuitive  Erkenntniss  242. 

Introspective  Psychologie  260  n. 

Inversion    167  — 179. 

Italienische  Malerei   175. 


Itehlkopf  212. 

Keimesanlage  63. 

Kernfläche  99. 

Kinästlietische  Empfindung   129. 

Klang  201. 

Kluft  zu  Phys.  und  Psych.    13,  33. 

— ,  Ich  und  Welt   10. 

Körper  2,    lo,    156,   274. 

— ,   scheinbar  starre   174 — 176. 

,  flüssige   176. 

Krebse   122. 
Krümmung  86. 
Kunst,  primitive   92. 

Leben,  kindliche  Auffassung  76. 

Lebendige  Substanz  40. 

Leib  6,   7. 

Lichtempfindung,  Mittel,  d.    162-164. 

]Materie  236,   252. 

— ,   Empfindung,  d.    183,    184. 

Metaphysik  27,  279. 

Methode,  Einseitigkeit  der  physikalischen  i . 

Mittel  der  Helligkeit   162  — 164. 

— ,  der  Raumempfindung   161. 

— ,  der  Tiefenempfindung   161. 

Monismus   11,  237. 

Moment,  mechanisches  243. 

Musik   199,  200,   212,   233. 

- — ,  Entwicklung  der  233,  234. 

]Nrachbild,  posit  complem.    190. 

— ,  Localisation   104, 

Nähe,  Feme  90. 

Niedere  Thiere,  Rotation   123. 

Nothwendigkeit  254. 

Nystagmus    104,    105. 

Oben,  unten  89. 

Objective  Welt  26,   29,   263. 

Ohrmuschel  200. 

Orientirung  der  Inversion   168. 

Panpsychismus    183,    184,    275. 

Parallactische  Verschiebung   107. 

Parallelismus,  Princ,   d.   49. 

Perspective   159. 

Phantasmen    151 — 256. 

— ,  Unabhängigkeit  von   Willen   155. 

— ,  Intensität,   d.    153  — 154. 

— ,  und  Association    151. 

— ,  Messung,  d.    154. 

Phonograph    179. 

Physik  und  Biologie   i,  66,   79,   25g. 

^,  und  Psycho!,    erganz,  sich  259 — 260. 

Physische  Verhältn.  z.  Psych  12,  33,    135. 

Pompeian.  Malerei  175. 

Problem  243. 

Projectionstheorie  30,  98,  99. 

Pseudoscopie    169,   170. 


—    284 


C^ualilät  und  Quantität   262,    263. 
Quantitatives   Regulativ   261. 

üaum   des  Gesichtes   80 — 109,    138. 
— ,   des   Tastsinns    107,    108,    138. 
— ,  des   Blinden   93,    107,    108,    139. 
— ,   geometrischer  85,  95,  125,    141  — 145, 

264. 
Raum,   physischer    145,    259,   266. 
— ,   Raum   und  Zeit  untrennbar   265,    266. 
— ,   functionale  Abhängigkeit   266. 
— ,   und  motorischer  Apparat  87. 
— ,   teleologisch    134 — 145. 
Reactionsthätigkeit  u.   Begriff   245 — 247. 
Reaction,   innere   258, 
— ,  äussere  258. 
Rechts,  links  87  —  89,   258. 
Reflexbewegung   127,    128. 
Regelmässigkeit  92. 
Resonanztheorie,   physikal.    228 — 232. 
. — ,   physiologisch   230 — 232. 

Schein  und  Wirklichkeit  8,   9. 

Scheinprobleme  6,    23,   278. 

Schematisiren    163. 

Schrift  92. 

Schwebungen  205 — 207. 

Sehen,  aufrecht   30,   98. 

Sehrichtung  99. 

Sinne  als  physikalische  Apparate   57. 

— ,   selbständiges  Leben,  d.   57,   156,   173. 

Sinnengedächtniss    152. 

Sinnestäuschung   Jn.  ' 

Solipsismus   27,   29. 

Sparsamkeit,   Princip,  d'    160. 

Sperling  5g,   60. 

Sprache  200,   213. 

Steigung  86. 

Substanz,  Bestand,  d.  Verbindung  250,  252. 

— ,  kindl.   Auffassung   254n. 

— ,   lebendige  40. 

Substanzialität,  räumliche    142. 

Symmetrie,  Arten,  d.   84,   85. 

— ,   physiologische  84,   85,   91 — 94. 

— ,  geometrische    144,    145. 

— ,   physische   259. 

Talent   234. 

Taubstumme    118. 

Tausendfuss    140. 

Teleologie  64,   66. 

— ,  provisorisch  69,   70. 

Tiefe  und  Helligkeit   156 — 158. 

— ,   Minimum   der  Abweichung    161,    162, 

168,    169. 
Tiefenempfindung  98,  99. 


Tiefenempfindung  Mittel,   d.    161. 

— ,   monocularc    165 — 167. 

Tod   3,   4. 

Töne,   höchste   200. 

— ,  als   Richtungszeiger   201. 

Töne,   Reihenbildung,   d.    209. 

Tonempfindungen    198  —  234. 

Traum   8,    191. 

Triebe   62,    181. 

Triklines   Medium    135. 

Tropismen  68. 

XJebermensch   20. 

Uebung  63. 

Umbildung  greift  am   Individuum  an   64. 

— ,   durch  d.  Gedächtniss  verbürgt  64,  177- 

Umkehrbar,   nicht    193,    268. 

Unbewusstes   62. 

Unpersönliches    19. 

Unsterblichkeit  d.   Emzelligen    18. 

— ,   individuelle    19. 

Ursache  67,   76. 

— ,   Mängel  d.   Begriffes   70 — 73. 

Urtheil   240,    241. 

"Verschmelzung  207. 

Vögel  auf  Inseln   61. 

Vorgänge,  problematische  im  Auge    173. 

Vorstellung    148  — 151,    154. 

Vorurtheile  d.   physiolog.   Optik  97,    172. 

"Wahrscheinlichkeit,   63,    160. 

Weltauffassung,  naive   25,    29. 

Wille    127. 

— ,   und  Bewegung   140. 

— ,  und  Augenbewegung   102,    103. 

— -,   Einfachheit    109,    iio,    140. 

— ,   kindliche  Auffassung   76n. 

— ,   Definition   78. 

Wissenschaft    biologische  Aufg.,    d.   39. 

Zeit,  physiologische   185  — 197. 

— ,   physikalische   266 — 269. 

— ,   und  Aufmerksamkeit    188 — 189. 

—^,   und  Biutstrom    194. 

— ,  und  Gefühlston    197. 

— ,   und  Organ.  Consumtion   188,  189,   193. 

— ,   im  Traum    191. 

Zeitfolge  in  der  Reproduktion    185,    186. 

Zeitperspective   195. 

Zufall,   kein   Actionsprincip   63. 

Zukunft,   Fernwirkung  der   75. 

Zusammanhang,  unmittelbar  69. 

— ,   mittelbar  69. 

— ,   physik.   u.  physiol,  Fragen   i,  79,  259, 

Zweck  67,   76. 


Namenregister  *). 


Abraham  203  n. 
Ach,  N.   12  211. 
Allen,  Grant  8 in. 
Aristoteles  67,   69. 
Aubert  53. 
Auerbach   203 n. 
Autenrieth   68. 

Avenarius     22n,     24n,    37,    38,    39,    40, 
197,    271,    275. 

E  ain    129. 

Benndorf  8 in. 

Beer,  Th.    148,    173. 

Berg    199. 

Berkeley  38,    I07n,    275. 

BernouUi,  J.   95. 

Bethe  147,    148. 

Breuer   105,  109,   iii,    117,    122. 

Brewster  5  i . 

Bridgmann,   L.   246, 

Brown,   Crum.    106,    114,    117. 

Brücke  98,   203n. 

Brühl  203n. 

Büttel-Reepen   147. 

Cams,  P.   273. 
Cornelius,   H.   276. 
Cornelius,   P.   217. 
Cossmann   7 in. 

I>'Alembert  2o6n. 

Darwin  39,   57,   65,   8in,    181,    199. 

Descartes  97. 

Diderot   io7n. 

Dove  98. 

Dubois  238. 

Du  Prel   193. 

Dvofäk    190,    203. 

Emch   94. 

Euklid    142. 

Euler   221,   233. 

Ewald  118,    122,    182,    205,    229,   230. 

Exner,  S.    115,    17 in,    173,   203n,   279. 

Fechner    49,     64n,     158,     igon,     200n, 

2i8n.  280. 
Fourier  203. 
Frauenhofer  5,   240. 


GJ-oethe   I. 

Goltz  59,    182.  - 

Gomperz,   H.   248. 
Govi   118. 
Graber   2  22n. 
Grimaldi   164. 
Groth  54. 
'  Guldberg  89. 
Guye   117. 

üaddon  92n. 

Haga    i64n. 

Hankel  95. 

Harvey  68. 

Hauptmann,   C.   38,   50n,    7 in. 

Hauptmann,  M.   2o6n. 

Heidenhain  88. 

Heller   io8n. 

Helmholtz  51,  93,  100,  129,  I42n,  199, 
201,   204,  205,   226,   231,   232,   280. 

Hensen   222n. 

Hering  2 in,  24n,  40,  53,  55,  58.  65n, 
77n,  78,  86n,  97n,  98,  100,  iio,  I24n, 
125,   126,   128,   132,    I34n,   136. 

Hermann   l85n,   204,   205,   230. 

Heron   69. 

Heymans   5on,    170. 

Hillebrand    loon,    i66n. 

Hirth  78n. 

Höfler  44n,    170. 

Holtz    104. 

Huppert   28 in. 


James    16,     102,     iif 

194,   235n. 
Jerusalem  24 in,   246. 
Jones,  Owen  92. 

Kant  23n,   145,   247. 
Kepler  68,  255,   256. 
Kessel  2 im. 
Kirchhoff  39. 
Kohlrausch   2030. 
König  204,   205. 
Kornfeld   I94n. 
Krause   8 in. 
Kreidl   105,    122. 
Kries,  V.   5on,   56n,   249. 
Kulke  217. 
Külpe  5on,   7 in. 


128,     131,     133, 


*)  Ein  n  bei  der  Seitenzahl  Aveist  auf  die  Fiissnoten. 


286 


Laplace  238. 

Leibnitz    14211. 

Leonardo  da  Vinci  53,   54,    154,   218. 

Lichtenberg  22,  23. 

Lipps   I04n,   2 2 in. 

Locke   I07n,  242. 

Loeb  68,  89,  122,  147,  165,  170,  182,  i86n. 

Loewy   io8n. 

Lublock,  Sir.  John    1 1 8. 

ÜVIagnus  8 In. 

Manaceine   193. 

Mariotte  31. 

Marly  8 in. 

Maxwell   i86n. 

Mayer,  A.  52. 

Mayer,   R.   260.  .         • 

Meinong  265n. 

Meyer,  M.   205. 

Meynert   197. 

Mill,   73,   256n,   276. 

Moliere  94. 

Morgan  62. 

Moser   179. 

Mosso   194. 

Miller,  J.    i,    19,  48,  97,   100,    151. 

Münsterberg    128,    129,    131,    i85n,    190, 


]Vagel   105. 
Newton   34,    52, 

256,   257. 
Nichols   i85n. 
Nietsche   20. 


73,  95,   129,  233,  255. 


Obermayer,  v.    i65n. 
Oettingen  v.  206. 
Ohm  201. 
Oppel    114. 

P*anum  98,   loo,    163,    172. 

Pauli  66n,  9911. 

Petzoldt  38,   268,   269,   270. 

Pfaundler  203n. 

Pfeffer  74. 

Plateau    107,    114. 

Piaton  8,   9. 

Politzer  228. 

Poilak   107,   122. 

Polle  8 in. 

Poncelet  260. 

Popper   I5n,   24n. 

Poulton  76. 

Preyer  24n. 

Ptolemaeus  97. 

Purkinje    190. 

Uameau  201. 
Raimarus  68. 
Ribbert  28  in. 
Ribot  16,   248. 
Riehl  24n,  iro. 


Robert  W.    192. 
Rollet  59. 

Sachs  68. 
Sandford   1 90. 
Saunderson   io8n 
Sauveur  201. 
Schaff  er   122. 
Scheffler   171,   173. 
Schlodtmann   10  in. 
Schneider  62. 

Schopenhauer   i,   65n,    198. 
Schumann    i85n. 
Schuster  57. 
Scripture    154,    i85n. 
Seebeck  221. 
Seeliger   i64n. 
Smith,  A.  39. 
Smith,  R.   201. 
'  Soret  93,  94,   io8n. 
Spencer  57. 
Spinoza  37. 
Staudt,  V.    150. 
Steiner   150. 
Steinhauser  200n. 
Stöhr    171,    172.   24in. 
Strauss   61. 

Stricker   212,    213,    214,    255n. 
Stumpf  5on,    loon,   195,   205n,  206.,   207, 

208,   22in,   223,   227. 
Suess   178. 

Tolstoj   88. 
Tschermak    i  o  i  n. 
Tylor  45. 

XJexküll    148. 

"Vergil  8 in. 
Vierordt    115. 
Volkmann  39. 

"Wähle  24n. 

Wallasch ek   I92n. 

Wasmann   147. 

Weber  228. 

Weismann  18,  58,   63,   234. 

Wheatstone  98. 

Wiener  75. 

Wind   i64n. 

Witasek   i7on. 

Withney  245n. 

Wlassak  40,    I34n,    197. 

Woilaston  52. 

Wundt   129. 

"Young  52,   201,  231,   260. 

Ziegler   148,    181. 
Zindlcr  265n. 
Zöllner   169. 


Ant.  Kttmplo,  Buchdruckorcl,  Jena. 


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Inhalt.  Erster  Teil:  Die  Grundlage  des  Dualismus  in  der  Physiologie 
nach  kritischer  Ueberwindung  des  Begriffes:  Lebenskraft.  —  (Hermann  Lotze. 
Paul  Florens).  —  Zweiter  Teil:  Sitzt  die  „Seele"  allein  im  Grosshirn  oder 
noch  in  anderen  Abschnitten  des  Centralnervensysteras?  —  (Eduard  Pflüger.  — 
Friedrich  Goltz).  —  Dritter  Teil:  Sind  die  verschiedenen  seeh'schen  J'ähig- 
keiten  in  von  einander  trennbaren  Abschnitten  des  Grosshirns  lokalisiert?  — 
(Eduard  Hitzig.  —  Hermann  Munk.  —  Friedrich  Goltz).  —  Vierter 
Teil:  Woran  scheitert  eine  konsequente  Durchführung  des  Parallelismus  von  „Leib 
und  Seele"  als  eines  methodologischen  Principes?  —  Fünfter  Teil:  Leitende  Ge- 
sichtspunkte einer  dynamischen  Theorie  der  Lebewesen. 

T2        i       ♦        Osk.,  Direktor  des  anatomisch-biolog.  Institus  der  Berliner  Universität, 

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nachweisen.     1899.     Preis:  1  Mark. 
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bis  Mai  1900.  Autorisierte  und  vom  Verfasser  durchgesehene  deutsche  Ueber- 
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logie.  ^J't  31  Tr*-i"    1^"^^    T>^^j<=.  Fi  Maj-L- 

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Internationale  Litteraturberichte,  Leipzig,   14.  Mai   1896: 

.  .  .  Solche     Bücher    bekommt    man     nicht    alle    Tage    zu    lesen.   | 
legt  sie  aber  auch  nicht  nach  einmaligem  Lesen  aus  der  Hand,  sondern 
immer  wieder  danach  und  freut  sich  an  dem  schönen  Seelenfrieden  des  Verfassers. 
»2*    .  Dr.  August,  Geh.  Eat  und  Prof.  an  der  Univ.  Freiburg  i 

VvClSrndnil,  Das  K^lmplaSma,  eine  Theorie  der  Vererbung.  Mit  2' 
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üetter 


Druck  von  Ant.  Kiiinpfo  in  Jena. 


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QP 

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M18