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Die
Analyse der Empfindungen
und das
Verhältniss des Physischen zum Psychischen
Dr. E. Mach,
em. Professor an der Universität Wien.
Mit 36 Abbildungen.
Dritte vermehrte Auflage.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
1902.
Von demselben Verfasser sind ferner erschienen:
Die Geschichte und die Wurzel des Satzes
von der
Erhaltung der Arbeit.
Prag. Calve. 1872. 8*^, 58 Seiten mit 8 Holzschnitten,
Optisch-akustische Versuche.
Die spectrale und stroboskopische Untersuchimg tönender Kö
Prag. Calve. 1873. 8^, iio S. mit 39 Holzschnitten.
Grrundlmieii der Lehre
von den
Bewegungsempfindungen
Leipzig. Engelmann. 1875. 8", 127 S. mit 18 Holzschn
Die
jyiechanilv in ihrer Entwiekelung.
Historisch-kritisch dargestellt.
Leipzig. Brockhaus. 4. Aufl. igoi. 546 S. mit 257 Abbildur
Leitfaden der Physik
für Studierende.
Prag. Tempsky. 2. Aufl. i8gi. 8^, 24g S. mit 328 Abbildur
Populärwissensehaftliehe Vorlesunge
J>eipzig. J. A. Barth. 2. Aufl. i8g7, 8 <>, 335 S.
Die Prinzipien der Wärmelehn
Leipzig. J. A. Barth. 2. Aufl. igoo. 8", 484 S.
Die
Analyse der Empfindungen
und das
Verhältniss des Physischen zum Psychischen
Dr. E. Mach,
em. Professor an der Universität Wien.
Mit 36 Abbildungen.
Dritte vermehrte Auflage.
f
1
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
1902.
Alle Rechte vorbehalten.
HERRN KARL PEARSON MA. FRS.
Professor der angewandten Mathematik und Mechanik am University College
in London
als Zeichen der Sympathie und Hochachtung
gewidmet vom Verfasser.
Vorwort zur ersten Auflage.
Durch die tiefe Ueberzeugung', dass die Gesammtwissenschaft
überhaupt, und die Physik insbesondere, die nächsten grossen
Aufklärungen über ihre Grundlagen von der Biologie und zwar
von der Analyse der Sinnesempfindung'en zu erwarten hat, bin
ich wiederholt auf dieses Gebiet geführt worden.
Freilich habe ich nur wenig zur Erreichung dieses Zieles bei-
tragen können. Schon dadurch, dass ich meine Untersuchungen
nur gelegentlich, nicht als eigentlichen Beruf, betreiben, und oft
nur nach langen Unterbrechungen wieder aufnehmen konnte,
mussten meine zerstreuten Publicationen an Gewicht verlieren,
vielleicht mir sogar den stillen Vorwurf der Zersplitterung ein-
tragen. Um so mehr bin ich jenen Forschern, welche wie E. Hering,
V. Hensen, W. Frey er u. A., theils auf den sachlichen Inhalt,
theils auf die methodologischen iVusführungen meiner Arbeiten
Rücksicht genommen haben, zu besonderem Dank verpflichtet.
Vielleicht erscheint nun die vorliegende zusammenfassende
und erg-änzende Darstellung- in einem etwas günstigem Licht,
indem sie deutlich macht, dass es überall dasselbe Problem
war, welches mir aus den vielen einzelnen untersuchten That-
sachen entgegengeblickt hat. Obwohl ich durchaus nicht auf den
Namen eines Physiologen, noch weniger auf jenen eines Philo-
sophen Anspruch machen kann, hoffe ich doch, dass die lediglich
mit dem lebhaften Wunsche nach Selbstbelehrung unternommene
— VI —
Arbeit eines über die conventionellen Fachgrenzen ausblickenden
Physikers auch für Andere niclit ganz ohne Nutzen sein wird,
selbst wenn ich nicht überall das Richtige getroffen haben
sollte.
Die stärkste Anregung- erhielt vor 25 Jahren meine natür-
liche Neigung für die hier behandelten Fragen durch Fechner's
„Elemente der Psychophysik" (Leipzig 1860), und am meisten
gefördert wurde ich durch Hering's J^ösung zweier in den
folgenden Blättern (S. 55 und S. 126) näher bezeichneter Probleme.
Lesern, welche aus irgend welchen Gründen allgemeineren
Erörterungen g^ern aus dem Wege gehen, empfehle ich, das erste
und letzte Kapitel zu überschlagen. Für mich hängt allerdings
die Ansicht des Ganzen und die Ansicht des Einzelnen so zu-
sammen, dass ich beide nur schwer zu trennen vermöchte.
Prag im November 1885.
D. V.
Vorwort zur zweiten Auflage.
Diese Schrift, welche bestimmt war als Apergu zu wirken,
und welche als solches wohl auch gewirkt hat, wie ich aus den
gelegentlichen Aeusserungen von Avenarius, LL Cornelius,
James, Külpe, Loeb, Pearson, Petzoldt, W^ill}'' u. A. zu
entnehmen glaube, erscheint nun nach 14 Jahren in neuer Auf-
lage. Es ist dies ein etwas gewagtes LInternehmen. Denn es
verträgt sich nicht mit dem Character der Schrift, dieselbe durch
P2infügung vieler experimenteller Einzeluntersuchungen und aus-
— VII —
führliche Berücksichtigung der seither erschienenen Litteratur zu
einem dicken Buche anschwellen zu lassen. Ich möchte jedoch
diese letzte Geleg-enheit nicht vorübergehen lassen, ohne über den
mir wichtigen Gegenstand noch einmal das Wort zu ergreifen.
Deshalb habe ich die nothwendigsten Erg'änzungen und Er-
läuterung^en, meist in Form kurzer eingeschalteter Capitel, ein-
gefügt. Das eine derselben, das zweite, habe ich schon in die
1897 erschienene engiische Ausgabe des Buches aufgenommen.
Meinen erkenntnisskritisch-physikalischen und den vorliegen-
den sinnesphysiologischen Versuchen liegt dieselbe Ansicht zu
Grunde, dass alles Metaphysische als müssig und die
Oekonomie der Wissenschaft störend zu eliminiren sei.
Wenn ich nun hier auf abweichende Ansichten nicht ausführlich
kritisch und polemisch eingehe, so geschieht dies wahrlich nicht
aus Missachtung' derselben, sondern in der Ueberzeug'ung, dass
derartig-e Fragen nicht durch Discussionen und dialectische Ge-
fechte ausgetragen werden. Fördernd ist hier nur, wenn man
einen halben Gedanken, oder einen solchen von paradoxem Ge-
halt, jahrelang geduldig mit sich herum trägt und sich redlich
bemüht, denselben zu ergänzen, beziehungsweise das Paradoxe
abzustreifen. Leser, welche nach Ueberfliegen der ersten Seiten
das Buch weglegen, weil sie nach ihrer Ueberzeugung nicht
weiter zu folgen vermög"en, werden sich eben nicht anders ver-
halten, als ich selbst es nothgedrungen mitunter thun musste.
Diese Schrift hat in ihrer älteren Form vielfache freundliche
Aufnahme, aber auch starken Widerspruch gefunden. Für Leser,
welche auf den Inhalt näher eingehen wollen, möchte es von
Belang sein zu wissen, dass Willy in seiner eben erschienenen
vSchrift ,,Die Krisis in der Psychologie" (Leipzig 1899), die einen
dem meinigen nahe verwandten Standpunkt einnimmt, in Bezug
auf viele Einzelheiten meinen Ansichten entgegentritt.
Wien im April 1900.
D. V.
— YIII —
Vorwort zur dritten Auflage.
Gegen alle Erwartung war die zweite Auflage in einigen
Monaten vergriffen. Ich habe nicht versäumt hinzuzufügen, was zur
Verdeutlichung meiner Ansichten beitragen kann, ohne übrigens
den Grundtext von 1886 im Wesentlichen zu ändern. Nur zwei
Stellen, Absatz 7, S. 11 und Absatz 11, S. 15 der zweiten Auf-
lage erhielten eine schärfere Fassung. Es hat nämlich Herr
Dr. A. Lampa, Privatdocent der Physik an hiesiger Universität
im Gespräche mit verschiedenen Lesern die Erfahrung gemacht,
dass diese Stellen oft in einseitig idealistischem Sinne verstanden
wurden, was keineswegs in meiner Intention lag. Ich bin Herrn
Dr. Lampa für seine freundlichen Mittheilungen zu aufrichtigem
Dank verpflichtet. Die Capitel IX und XV, welche in der
zweiten Auflage Angedeutetes weiter ausführen, sind neu hinzu-
gekommen.
Wenn nicht alle Anzeichen trügen, so stehe ich mit meinen
Ansichten doch bei weitem nicht mehr so isolirt da, als es noch
vor wenigen Jahren der Fall war. Neben der Schule von
Avenarius finden sich doch auch jüngere Forscher, wie
H. Gomperz, welche sich auf ihren eigenen Wegen annähern.
Die übrig bleibenden Differenzen scheinen mir nicht unausgleich-
bar. Doch wäre es verfrüht, über dieselben jetzt schon zu discu-
tiren. „But the question is one in v^^hich it is peculiarly difficult
to make out precisely what another man means, and even what
one means one's seif". So spricht mit köstlichem Humor der
Mathematiker W. K. Clifford (On the nature of things-in-
themselves, Lectures, II, p. 88), ein Mann, dessen Forschungsrich-
tung der meinigen recht nahe liegt.
Wien im November lyoi.
E. Mach.
Inhalt
Seite
I. Antimetaphysische Vorbemerkungen i
■ II. Ueber vorgefasste Meinvmgen 30
III. Mein Verhältniss zu R. Avenarius 37
IV. Die Hauptgesichtspunkte für die Untersuchung der Sinne . 46
V. Physik und Biologie. Causalität und Teleologie .... 66
VI. Die Raumempfindungen des Auges 80
VII. Weitere Untersuchungen der Raumempfindungen .... 97
VIII. Der Wille 127
IX. Eine biologisch-teleologische Betrachtung über den Raum . 134
X. Beziehungen der Gesichtsempfindungen zu einander und zu
anderen psychischen Elementen 146
XI. Empfindung, Gedächtniss und Association 177
XII. Die Zeitempfindung 185
XIII. Die Tonempfindungen ...., 198
XIV. Einfluss der vorausgehenden Untersuchungen auf die Auf-
fassung der Physik 235
XV. Die Aufnahme der hier dargelegten Ansichten 271
Sach-Register 282
Namens-Register 285
L Antimetaphysische Vorbemerkungen.
Die grossen Erfolge, welche die physikalische Forschung in
den verflossenen Jahrhunderten nicht nur auf eigenem Gebiet,
sondern auch durch Hilfeleistung in dem Bereiche anderer Wissen-
schaften errungen hat, bringen es mit sich, dass physikalische
Anschauungen und Methoden überall in den Vordergrund treten,
und dass an die Anwendung derselben die höchsten Erwartungen
geknüpft werden. Dem entsprechend hat auch die Physiologie
der Sinne, die von Männern wie Goethe, Schopenhauer u. A,,
mit grösstem Erfolge aber von Johannes Müller eingeschlagene
Methode, die Empfindungen an sich zu untersuchen, allmälig
verlassend, fast ausschliesslich einen physikalischen Character an-
genommen. Diese Wendung muss uns als eine nicht ganz zweck-
entsprechende erscheinen, wenn wir bedenken, dass die Physik
trotz ihrer bedeutenden Entwicklung doch nur ein Theil eines
grösseren Gesammtwissens ist, und mit ihren für einseitige
Zwecke geschaffenen einseitigen intellectuellen Mitteln diesen
Stoff nicht zu erschöpfen vermag. Ohne auf die Unterstützung
der Physik zu verzichten, kann die Physiologie der Sinne nicht
nur ihre eigenthümliche Entwicklung fortsetzen, sondern auch der
Physik selbst noch kräftige Hilfe leisten. Folgende einfache Be-
trachtung mag dazu dienen, dies Verhältniss klar zu legen.
2.
Farben, Töne, Wärmen, Drücke, Räume, Zeiten u. s. w. sind
in mannigfaltiger Weise miteinander verknüpft, und an dieselben
Mach, Analyse. 3. Aufl. 1
sind Stimmungen, Gefühle und Willen gebunden. Aus diesem
Gewebe tritt das relativ Festere und Beständigere hervor, es prägt
sich dem Gedächtnisse ein, und drückt sich in der Sprache aus.
Als relativ beständiger zeigen sich zunächst räumlich und zeitlich
verknüpfte Complexe von Farben, Tönen, Drücken u. s. w., die
desshalb besondere Namen erhalten, und als Körper bezeichnet
werden. Absolut beständig sind solche Complexe keineswegs.
Mein Tisch ist bald heller, bald dunkler beleuchtet, kann
wärmer und kälter sein. Er kann einen Tintenfleck erhalten.
Ein Fuss kann brechen. Er kann reparirt, polirt, Theil für Theil
ersetzt werden. Er bleibt für mich doch der Tisch an dem ich
täglich schreibe.
Mein Freund kann einen andern Rock anziehen. Sein Ge-
sicht kann ernst und heiter werden. Seine Gesichtsfarbe kann
durch Beleuchtung oder Affecte sich ändern. Seine Gestalt kann
durch Bewegung oder dauernd alterirt werden. Die Summe des
Beständigen bleibt aber den allmälig'en Veränderungen gegenüber
doch immer so gross, dass diese zurücktreten. Es ist derselbe
Freund mit dem ich täglich meinen Spaziergang mache.
Mein Rock kann einen Fleck, ein Loch erhalten. Schon der
Ausdruck zeigt, dass es auf eine Summe von Beständigem an-
kommt, welchem das Neue hinzugefügt, von welchem das Fehlende
nachträglich in Abzug gebracht wird.
Die grössere Geläufigkeit, das Uebergewicht des Beständigen
gegenüber dem Veränderlichen drängt zu der theils instinctiven
theils willkürlichen und bewussten Oekonomie des Vorstellens und
der Bezeichnung, welche sich in dem gewöhnlichen Denken und
Sprechen äussert. Was auf einmal vorgestellt wird, erhält eine
Bezeichnung, einen Namen.
Als relativ beständig zeigt sich ferner der an einen be-
sondern Körper (den Leib) gebundene Complex von Erinnerungen,
Stimmungen, Gefühlen, welcher als Ich bezeichnet wird. Ich
kann mit diesem oder jenem Ding beschäftigt, ruhig und heiter
oder aufgebracht und verstimmt sein. Doch bleibt (pathologische
Fälle abgerechnet) genug Beständiges übrig, um das Ich als das-
selbe anzuerkennen. Allerdings ist auch das Ich nur von rela-
tiver Beständigkeit. Die scheinbare Beständigkeit des Ich be-
steht vorzüglich nur in der Continuität, in der langsamen
Aenderung. Die vielen Gedanken und Pläne von gestern, welche
heute fortgesetzt werden, an welche die Umgebung im Wachen
fortwährend erinnert (daher das Ich im Traume sehr verschwommen,
verdoppelt sein, oder ganz fehlen kann), die kleinen Gewohn-
heiten, die sich unbewusst und unwillkührlich längere Zeit er-
halten, machen den Grundstock des Ich aus. Grössere Ver-
schiedenheiten im Ich verschiedener Menschen, als im Laufe der
Jahre in einem Menschen eintreten, kann es kaum geben. Wenn
ich mich heute meiner frühen Jugend erinnere, so müsste ich den
Knaben (einzelne wenige Punkte abgerechnet) für einen Andern
halten, wenn nicht die Kette der Erinnerungen vorläge. Schon
manche Schrift, die ich selbst vor 20 Jahren verfasst, macht mir
einen höchst fremden Eindruck. Die sehr allmälige Aenderung
des Leibes trägt wohl auch zur Beständigkeit des Ich bei, aber
viel weniger als man glaubt. Diese Dinge werden noch viel
weniger analysirt und beachtet als das intellectuelle und das
moralische Ich. Man kennt sich persönlich sehr schlecht^). Als
ich diese Zeilen schrieb (1886), war mir Ribot's schönes Buch
„Les maladies de la personalite", in welcher dieser die Wichtigkeit
der Gemeingefühle für die Constitution des Ich hervorhebt, noch
nicht bekannt. Ich kann seiner Ansicht nur zustimmen.
Das Ich ist so wenig absolut beständig als die Körper. Was
wir am Tode so sehr fürchten, die Vernichtung der Beständigkeit,
das tritt irri Leben schon in reichlichem Masse ein. Was uns das
Werthvollste ist, bleibt in unzähligen Exemplaren erhalten, oder
I) Als junger Menscli erblickte ich einmal auf der Strasse ein mir höchst un-
angenehmes widerwärtiges Gesicht im Profil. Ich erschrank nicht wenig , als ich er-
kannte, dass es mein eigenes sei, welches ich an einer Spiegelniederlage vorbeigehend
durch zwei gegen einander geneigte Spiegel wahrgenommen hatte. — Ich stieg einmal
nach einer anstrengenden nächtlichen Eisenbahnfahrt sehr ermüdet in einen Omnibus,
eben als von der andern Seite auch ein Mann hereinkam. „Was steigt doch da für
ein herabgekommener Schulmeister ein", dachte ich. Ich war es selbst, denn mir
gegenüber befand sich ein grosser Spiegel. Der Classenhabitus war mir also viel ge-
läufiger, als mein Specialhabitus.
1*
erhält sich bei hervorragender Besonderheit in der Regel von
selbst. Im besten Menschen liegen aber individuelle Züge, um
die er und andere nicht zu trauern brauchen. Ja zeitweilig kann
der Tod, als Befreiung von der Individualität, sogar ein ange-
nehmer Gedanke sein. Das physiologische Sterben wird durch
solche Ueberlegungen natürlich nicht erleichtert.
Ist die erste Orientirung durch Bildung der Substanzbegriffe
„Körper", „Ich" (Materie, Seele) erfolgt, so drängt der Wille zur
genauem Beachtung der Veränderungen an diesem relativ
Beständigen. Das Veränderliche an den Körpern und am Ich ist
es eben, was den Willen i) bewegt. Erst jetzt treten die Bestand-
theile des Comple^^es als Eigenschaften desselben hervor. Eine
Frucht ist süss; sie kann aber auch bitter sein. Auch andere
Früchte können süss sein. Die gesuchte rothe Farbe kommt an
vielen Körpern vor. Die Nähe mancher Körper ist angenehm,
jener anderer unangenehm. So erscheinen nach und nach ver-
schiedene Complexe aus gemeinsamen Bestandtheilen zusammen-
gesetzt. Von den Körpern trennt sich das Sichtbare, Hörbare,
Tastbare ab. Das Sichtbare löst sich in Farbe und Gestalt. In
der Mannigfaltigkeit der Farben treten wieder einige Bestand-
theile in geringerer Zahl hervor, die Grundfarben u. s. w. Die
Complexe zerfallen in Elemente 2), d. h. in letzte Bestandtheile,
die wir bisher nicht weiter zerlegen konnten. Die Natur dieser
Elemente bleibe dahin gestellt; dieselbe kann durch künftige
Untersuchungen aufgeklärt werden.
3-
Die zweckmässige Gewohnheit, das Beständige mit einem
Namen zu bezeichnen und ohne jedesmalige Analyse der Bestand-
theile in einen Gedanken zusammenzufassen, kann mit dem Be-
streben die Bestandtheile zu sondern in einen eigenthümlichen
i) Nicht in metaphysischem Sinne zu nehmen.
2) Fasst man diesen Vorgang auch als Abstraction auf, so verlieren doch hie-
durch die Elemente, wie wir sehen werden, nichts von ihrer Bedeutung. Vgl. die
s}jäteren Ausfülirung(;n über den Bcrjriff im vorletzten Capitel.
— 5 —
Widerstreit gerathen. Das dunkle Bild des Beständigen, welches
sich nicht merklich ändert, wenn ein oder der andere Bestand-
theil ausfällt, scheint etwas für sich zu sein. Weil man jeden
Bestandtheil einzeln wegnehmen kann, ohne dass dies Bild auf-
hört die Gesammtheit zu repräsentiren und wieder erkannt
zu werden, meint man, man könnte alle wegnehmen und es
bliebe noch etwas übrig. So entsteht in natürlicher Weise der
Anfangs imponirende, später aber als ungeheuerlich erkannte
philosophische Gedanke eines (von seiner „Erscheinung" ver-
schiedenen unerkennbaren) Dinges an sich.
Das Ding, der Körper, die Materie ist nichts ausser dem
Zusammenhang der Elemente, der Farben, Töne u. s. w. ausser
den sogenannten Merkmalen. Das vielgestaltige vermeintliche
philosophische Problem von dem einen Ding mit seinen vielen
Merkmalen entsteht durch das Verkennen des Umstandes, dass
übersichtliches Zusammenfassen und sorgfältiges Trennen, obwohl
beide temporär berechtigt und zu verschiedenen Zwecken er-
spriesslich, nicht auf einmal geübt werden können. Der Körper
ist einer und unveränderlich, so lange wir nicht nöthig haben,
auf Einzelheiten zu achten. So ist auch die Erde oder ein
Billardballen eine Kugel, so bald wir von allen Abweichungen
von der Kugelgestalt absehen wollen, und grössere Genauigkeit
unnöthig ist. W^erden wir aber dazu gedrängt, Urographie
oder Mikroskopie zu treiben, so hören beide Körper auf Kugeln
zu sein.
4-
Der Mensch hat vorzugsweise die Fähigkeit sich seinen
Standpunkt willkürlich und bewusst zu bestimmen. Er kann jetzt
von den imposantesten Einzelnheiten absehen, und sofort wieder
die geringste Kleinigkeit beachten, jetzt die stationäre Strömung
ohne Rücksicht auf den Inhalt (ob Wärme, Electricität oder
Flüssigkeit) betrachten, und dann die Breite einer Fraunhofer-
schen Linie im Spectum schätzen; er kann nach Gutdünken zu
den aUgemeinsten Abstraktionen sich erheben, oder ins Einzelne
sich vertiefen. Das Thier besitzt diese Fähigkeit in viel ge-
ringerem Grade. Es steht sich nicht auf einen Standpunkt, es
wird meist durch die Eindrücke auf denselben gestellt. Der
Säugling, welcher den Vater mit dem Hut nicht erkennt, der
Hund, der durch den neuen Rock des Herrn irre wird, unter-
liegen im Widerstreit der Standpunkte. Wer wäre nie in einem
ähnlichen Falle unterlegen? Auch der philosophirende Mensch
kann gelegentlig unterliegen, wie das angeführte wunderliche
Problem lehrt. Besondere Uumstände scheinen noch für die Be-
rechtigung des erwähnten Problems zu sprechen. Farben, Töne,
Düfte der Körper sind flüchtig. Es bleibt als beharrlicher nicht
leicht verschwindender Kern das Tastbare zurück, welches als
Träger der daran gebundenen flüchtigeren Eigenschaften erscheint.
Die Gewohnheit hält nun den Gedanken an einen solchen Kern
fest, auch wenn sich schon die Erkenntniss Bahn gebrochen hat,
dass Sehen, Hören, Riechen und Tasten durchaus verwandt
sind. Hiezu kommt noch, dass dem Räumlichen und Zeitlichen
in Folge der eigenthümlichen grossen Entwicklung der mecha-
nischen Physik eine Art höherer Realität gegenüber den
Farben, Tönen, Düften zugeschrieben wird. Dem entsprechend
erscheint das zeitliche und räumliche Band von Farben, Tönen,
Düften realer als diese selbst. Die Physiologie der Sinne legt
aber klar, dass Räume und Zeiten ebenso gut Empfindungen
genannt werden können als Farben und Töne. Hievon später.
5-
Auch das Ich, so wie das Verhältniss der Körper zum Ich,
gibt Anlass zum Auftreten analoger Scheinprobleme, deren Kern
im Folgenden kurz angegeben werden sollen. Die zuvor statu-
irten Elemente wollen wir durch die Buchstaben ABC....
KLM... a ß y . . . andeuten. Die Complexe von Farben
Tönen u. s. w., welche man gewöhnlich Körper nennt, bezeichnen
wir der Deutlichkeit wegen mit A, B, C . . . . , den Complex,
der unser Leib heisst, und der ein durch Besonderheiten
ausgezeichneter Theil der ersteren ist, neuen wir K, L,
M den Complex von Willen, Erinnerungsbildern u. s. w.
stellen wir durch a, ß, y . . . . dar. Gewöhnlich wird nun der
Complex a, /?, 7 . . . K L M . . . als Ich dem Complex A B
C ... als Körperwelt gegenübergestellt; zuweilen wird auch
a ß y .... als Ich, K L M .... A B C .... als Körperwelt
zusammengefasst. Zunächst erscheint A B C . . . . als unab-
hängig vom Ich und diesem selbstständig gegenüber stehend.
Diese Unabhängigkeit ist nur relativ, und hält vor gesteigerter
Aufmerksamkeit nicht Stand. In dem Complex a ß y ... kann
sich allerdings manches ändern, ohne dass an ABC.... viel
bemerklich wird, ebenso umgekehrt. Viele Aenderungen in
a ß y • . ■ gehen aber durch Aenderungen in K L M . . . nach
ABC.... über und umgekehrt. (Wenn z. B. lebhafte Vor-
stellungen in Handlungen ausbrechen, oder die Umgebung in
unserm Leib merkliche Aederungen veranlasst.) Hiebei scheint
K L M . . . . mit a ß y . . . . und auch mit A B C . . . .
stärker zusammenzuhängen, als diese untereinander. Diese Ver-
hältnisse finden eben in dem gewöhnlichen Denken und Sprechen
ihren Ausdruck.
Genau genommen zeigt sich aber, dass A B C .... immer
durch K L M . . . . mitbestimmt ist. Ein Würfel wird, wenn
er nahe, gross, wenn er fern, klein, mit dem rechten Auge anders
als mit dem linken, gelegentlich doppelt, bei geschlossenen Augen
gar nicht gesehen. Die Eigenschaften eines und desselben Körpers
erscheinen also durch den Leib modificirt, sie erscheinen durch
denselben bedingt. Wo ist denn aber derselbe Körper, der so
verschieden erscheint? Alles was man sagen kann ist, dass
verschiedene A B C . . . . an verschiedene K L M gebunden
sindi).
i) Ich habe diesem Gedanken vor langer Zeit (Vierteljahrsschrift für Psychiatrie,
Leipzig und Neuwied 1868 „über die Abhängigkeit der Netzhautstellen von einander'')
in folgender Weise Ausdruck gegeben: „Der Ausdruck „Sinnestäuschung" beweist,
dass man sich noch nicht recht zum Bewusstsein gebracht, oder wenigstens noch nicht
nöthig gefunden hat dies Bewusstsein auch in der Terminologie zu bekunden, dass
die Sinne weder falsch noch richtig zeigen. Das einzig Richtige, was man
von den Sinnesorganen sagen kann, ist, dass sie unter verschiedenen Umständen
— 8 —
Man pflegt in der populären Denk- und Redeweise der
Wirklichkeit den Schein gegenüber zu stellen. Einen Blei-
stift, den wir in der Luft vor uns halten, sehen wir gerade;
tauchen wir denselben schief ins Wasser, so sehen wir ihn geknickt.
Man sagt nun in letzterem Falle: Der Bleistift scheint geknickt,
ist aber in Wirklichkeit gerade. Was berechtigt uns aber eine
Thatsache der andern gegenüber für Wirklichkeit zu erklären
und die andere zum Schein herabzudrücken? In beiden Fällen
liegen doch Thatsachen vor, welche eben verschieden bedingte,
verschiedenartige Zusammenhänge der Elemente darstellen. Der
eingetauchte Bleistift ist eben wegen seiner Umgebung optisch
geknickt, haptisch und metrisch aber gerade. Das Bild im Hohl-
oder Planspiegel ist nur sichtbar, während unter andern (ge-
wöhnlichen) Umständen dem sichtbaren Bild auch ein tastbarer
Körper entspricht. Eine helle Fläche ist neben einer dunklen
heller als neben einer noch helleren. Unsere Erwartung wird
allerdings g'etäuscht, wenn wir verschiedene Fälle des Zusammen-
hanges, auf die Bedingungen nicht genau achtend, mit einander
verwechseln, den natürlichen Fehler begehen, in ungewöhnlichen
Fällen dennoch das gewöhnliche zu erwarten. Die Thatsachen
sind daran unschuldig. Es hat nur einen praktischen aber keinen
wissenschaftlichen Sinn, in diesen Fällen von Schein zu sprechen.
Ebenso hat die oft gestellte Frage, ob die Welt wirklich ist, oder
ob wir sie bloss träumen, gar keinen wissenschaftlichen Sinn
Auch der wüsteste Traum ist eine Thatsache, so gut als jede
andere. Wären unsere Träume regelmässiger, zusammenhängen-
der, stabiler, so wären sie für uns auch praktisch wichtiger.
Der populäre Gedanke eines Gegensatzes von Schein und
Wirklichkeit hat auf das wissenschaftlich-philosophische Denken
sehr anregend gewirkt. Dies zeigt sich z. B. in Piatons g'eist-
verschiedene Empfindungen und Wahrnehmungen auslösen. Weil diese
„Umstände" so äusserst mannigfaltiger Art, theils äussere (in den Objecten gelegene),
theils innere (in den Sinnesorganen sitzende) , theils innerste (in den Centralorganen
thätige) sind, kann es allerdings den Anschein haben , wenn man nur auf die äussern
Umstände Acht hat, dass das Organ ungleich unter gleichen Umständen wirkt. Die
ungewöhnlichen AVirkungen pflegt man nun Täuschungen zu nennen".
— 9 —
reicher und poetischer Fiction der Höhle, in der wir mit dem
Rücken gegen das Feuer gekehrt blos die Schatten der Vorgänge
beobachten (Staat VII, i). Indem aber dieser Gedanke nicht ganz zu
Ende gedacht wurde, hat derselbe auf unsere Weltanschauung einen
ungebührlichen Einfluss genommen. Die Welt, von der wir doch
ein Stück sind, kam uns ganz abhanden, und wurde uns in un-
absehbare Ferne gerückt. So glaubt auch mancher Jüngling, der
zum erstenmal von der astronomischen Strahlenbrechung hört,
die ganze Astronomie sei nun in Frage gestellt, während doch durch
eine leicht zu ermittelnde unbedeutende Correctur alles wieder
berichtigt wird.
6.
Wir sehen einen Körper mit einer Spitze S. Wenn wir S
berühren, zu unserm Leib in Beziehung bringen, erhalten wir
einen Stich. Wir können S sehen, ohne den Stich zu fühlen.
Sobald wir aber den Stich fühlen, werden wir S finden. Es ist
also die sichtbare Spitze ein bleibender Kern, an den sich
der Stich nach Umständen wie etwas Zufälliges anschliesst. Bei
der Häufigkeit analoger Vorkommnisse gewöhnt man sich endlich,
alle Eigenschaften der Körper als von bleibenden Kernen aus-
gehende durch Vermittlung des Leibes dem Ich beigebrachte
„Wirkungen", die wir Empfindungen nennen, anzusehen.
Hiermit verlieren aber diese Kerne den ganzen sinnlichen Inhalt,
werden zu blossen Gedankensymbolen. Es ist dann richtig, dass
die Welt nur aus unsern Empfindungen besteht. Wir wissen
aber dann eben nur von den Empfindungen, und die Annahme
jener Kerne, so wie einer Wechselwirkung derselben^ aus welcher
erst die Empfindungen hervorgehen würden, erweist sich als gänz-
lich müssig und überflüssig. Nur dem halben Realismus oder
dem halben KJriticismus kann eine solche Ansicht zusagen.
7-
Gewöhnlich- wird der Complex a ^ 7 . . . K L M . . . als
Ich dem Complex ABC.... gegenübergestellt. Nur jene
Elemente von ABC...., welche a ß y . . . . stärker alteriren,
lO
wie einen Stich, einen Schmerz pflegt man bald mit dem Ich zu-
sammenzufassen. Später zeigt sich aber durch Bemerkungen der
oben angeführten Art, dass das Recht, ABC.... zum Ich zu
zählen, nirgends aufhört. Dem entsprechend kann das Ich so
erweitert werden, dass es schliesslich die ganze Welt umfasst^).
Das Ich ist nicht scharf abgegrenzt, die Grenze ist ziemlich un-
bestimmt und willkürlich verschiebbar. Nur indem man dies
verkennt, die Grenze unbewusst enger und zugleich auch weiter
zieht, entstehen im Widerstreit der Standpunkte die metaphysischen
Schwierigkeiten.
So bald wir. erkannt haben, dass die vermeintlichen Einheiten
„Körper," „Ich" nur Nothbehelfe zur vorläufigen Orientirung
und für bestimmte praktische Zwecke sind (um die Körper zu
ergreifen, um sich vor Schmerz zu wahren u. s. w.), müssen wir
sie bei vielen weitergehenden wissenschaftlichen Untersuchungen
als unzureichend und unzutreffend aufgeben. Der Gegensatz
zwischen Ich und Welt, Empfindung oder Erscheinung
und Ding fällt dann weg, und es handelt sich lediglich um
den Zusammenhang der Elemente aßy.... AliC...
K L M . . . ., für welchen eben dieser Gegensatz nur ein theil-
vveise zutreffender unvollständiger Ausdruck war. Dieser Zu-
sammenhang ist nichts weiter als die Verknüpfung jener Elemente
mit andern gleichartigen Elementen (Zeit und Raum). Die Wissen-
schaft hat ihn zunächst einfach anzuerkennen, und sich in dem-
selben zu Orientiren, anstatt die Existenz desselben sofort erklären
zu wollen.
Bei oberflächlicher Betrachtung scheint der Complex a ß y . .
aus viel flüchtigeren Elementen zu bestehen, als A B C . . . .
I) Wenn ich sage, der Tisch, der Baum u. s. w. sind meine Empfindungen,
so liegt darin, der Vorstellung des gemeinen Mannes gegenüber, eine wirkliche Er-
weiterung des Ich. Al)or aucli nach der Gefühlsseile ergibt sicii eine solche Er-
weiterung für den Virtuosen , der sein Instrument fast so gut beherrscht als seinen
I.fil), für den gewandten lledner, in dem alle Augenaxen convergiren , und der die
Gedanken seiner Zuhörer leitet, für den kräftigen Politiker, der seine Partei mit
Leichtigkeit führt u. s. w, — In De]ircssionszuständen hingegen, wie sie nervöse
Menschen zeitweilig zu ertragen haben, scliriimiiri das Ich zusanuuen. ICiiu- Wand
scheint es von der Welt zu trennen.
II —
und K L M . . . . , in welchen letzteren die Elemente stabiler
und in mehr beständiger Weise (an feste Kerne) geknüpft zu
sein scheinen. Obgleich bei weiterem Zusehen die Elemente aller
Complexe sich als gleichartig erweisen, so schleicht sich doch
auch nach dieser Erkenntniss die ältere Vorstellung eines Gegen-
satzes von Körper und Geist leicht wieder ein. Der Spiritualist
fühlt wohl gelegentlich die Schwierigkeit, seiner vom Geist ge-
schaffenen Körperwelt die nöthige Festigkeit zu geben, dem
Materialisten wird es sonderbar zu Muth, wenn er die Körperwelt
mit Empfindung beleben soll. Der durch Ueberlegung erworbene
monistische Standpunkt wird durch die älteren stärkeren in-
stinctiven Vorstellungen leicht wieder getrübt.
Die bezeichnete Schwierigkeit wird besonders bei folgender
Ueberlegung empfunden. In dem Complex ABC . . . , den wir
als Körperwelt bezeichnet haben, finden wir als Theil nicht nur
unsern Leib K L M . . . . , sondern auch die Leiber anderer
Menschen (oder Thiere) K' L' M' . . . . , K" L" M" . . . . , an
welche wir nach der Analogie dem Complex a ß y ähn-
liche o! ß' f . . . . , a" ß" y") . . . gebunden denken. So lange
wir uns mit K' L' M' . . . . beschäftigen, befinden wir uns in
einem uns vollständig geläufigen, uns überall sinnlich zugäng-
lichen Gebiet. Sobald wir aber nach den Empfindungen oder
Gefühlen fragen, die dem Leib K' L' M' . . . . zugehören, finden
wir dieselben in dem sinnlichen Gebiet nicht mehr vor, wir denken
sie hinzu. Nicht nur das Gebiet, auf welches wir uns da begeben,
ist uns viel weniger geläufig, sondern auch der Uebergang auf
dasselbe ist verhältnissmässig unsicher. Wir haben das Gefühl,
als sollten wir uns in einen Abgrund stürzen i). Wer immer nur
i) Als ich in einem Alter von 4 — 5 Jahren zum erstenmal vom Lande nach
Wien kam, und von meinem Vater auf die Bastei (die ehemalige Stadtmauer) geführt
wurde, war ich sehr überrascht, im Stadtgraben unten Menschen zu sehen, und konnte
nicht begreifen, wie dieselben von meinem Standpunkt aus hatten hinunter gelangen
können, denn der Gedanke eines anderen möglichen Weges kam mir gar nicht in den
Sinn. Dieselbe Ueberraschung beobachtete ich nochmals an meinem etwa 3-jährigen
diesen Gedankenweg einschlägt, wird das Gefühl der Unsicher-
heit, das als Quelle von Scheinproblemen sehr ergiebig ist, nie
vollständig los werden.
Wir sind aber auf diesen Weg nicht beschränkt. Wir be-
trachten zunächst den gegenseitigen Zusammenhang der Elemente
des Complexes ABC. , . . ohne auf K L M . . . . (unsern Leib)
zu achten. Jede physikalische Untersuchung ist von dieser
Art. Eine weisse Kugel fällt auf eine Glocke ; es klingt. Die
Kugel wird gelb vor der Natrium-, roth vor der Lithiumlampe.
Hier scheinen die Elemente (ABC....) nur untereinander
zusammenzuhängen, von unserm Leib (K L M . . . .) unabhängig
zu sein. Nehmen wir aber Santonin ein, so wird die Kugel auch
gelb. Drücken wir ein Auge seitwärts, so sehen wir zwei Kugeln.
Schliessen wir die Augen ganz, so ist gar keine Kugel da. Durch-
schneiden wir den Gehörnerv, so klingt es nicht. Die Elemente
ABC.... hängen also nicht nur untereinander, sondern auch
mit den Elementen K L M . . . . zusammen. Insofern, und
nur insofern, nennen wir ABC.... Empfindungen und
betrachten ABC als zum Ich gehörig. Wo in dem folgenden
neben oder für die Ausdrücke „Element", „Elementencomplex" die
Bezeichnungen „Empfindung", „Empfindungscomplex" gebraucht
werden, muss man sich gegenwärtig halten, dass die Elemente
nur in der bezeichneten Verbindung und Beziehung, in der
bezeichneten functionalen Abhängigkeit Empfindungen
sind. Sie sind in anderer functionaler Beziehung zugleich physi-
kalische Objecte. Die Nebenbezeichnung der Elemente als Em-
pfindungen wird blos deshalb verwendet, weil den meisten Menschen
die gemeinten Elemente eben als Empfindungen (P^arben, Töne,
Knaben bei Gelegenheit eines Spazierganges auf der Prager Stadtmauer. Dieses Ge-
fühls erinnerte ich mich jedesmal bei der im Text bezeichneten Ueberlegung, und gern
gestehe ich , dass mein zufälliges Erlebniss bei Befestigung meiner vor langer Zeit
gefassten Ansicht über diesen Punkt wesentlich mitgewirkt hat. Die Gewohnheit,
materiell und psychisch stets dieselben Wege zu gehen , wirkt sehr desorientirend.
Ein Kind kann beim Durchbrechen einer Wand im längst bewohnten Hause eine
wahre Erweiterung der Weltanschauung erfahren, und eine kleine wissenschaftliche
Wendung kann selir aufklärend wirken.
— 13 —
Drucke, Räume, Zeiten u. s. w.) viel geläufiger sind, während nach
der verbreiteten Auffassung die Massentheilchen als physika-
lische Elemente gelten, an welchen die Elemente in dem hier
gebrauchten Sinne als „Eigenschaften," „Wirkungen" haften.
Auf diesem Wege finden wir also nicht die vorher bezeichnete
Kluft zwischen Körpern und Empfindungen, zwischen aussen und
innen, zwischen der materiellen und geistigen Welt^). Alle Elemente
ABC... KLM.... bilden nur eine zusammenhängende Masse,
welche an jedem Element angefasst ganz in Bewegung geräth, nur
dass eine Störung bei KLM.... viel weiter und tiefer greift, als
bei ABC.... Ein Magnet in unserer Umgebung stört die
benachbarten Eisenmassen, ein stürzendes Felsstück erschüttert
den Boden, das Durchschneiden eines Nerven aber bringt das
ganze System von Elementen in Bewegung. Ganz unwillkürlich
führt das Verhältniss zu dem Bilde einer zähen Masse, welche an
mancher Stelle (dem Ich) fester zusammenhängt. Oft habe ich
mich dieses Bildes im Vortrage bedient.
9-
So besteht also die grosse Kluft zwischen physikalischer und
psychologischer Forschung nur für die gewohnte stereotype Be-
trachtungsweise. Eine Farbe ist ein physikalisches Object,
sobald wir z. B. auf ihre Abhängigkeit von der beleuchtenden
Lichtquelle (andern Farben, Wärmen, Räume u. s. w.) achten.
Achten wir aber auf ihre Abhängigkeit von. der Netzhaut
(den Elementen K L M . . . .) so ist sie ein psychologisches
Object, eine Empfindung. Nicht der Stoff, sondern die
Untersuchungsrichtung ist in beiden Gebieten verschieden.
(Vgl. auch Capitel II, S. 34, 35).
wSowohl wenn wir von der Beobachtung fremder Menschen-
oder Thierleiber auf deren Empfindungen schliessen, als auch.
ij Vgl. meine Grundlinien der Lehre von den Bewegungsempfindungen. Leip-
zig. Engelmann 1875 , S. 54. Daselbst habe ich meine Ansicht zuerst kurz aber
bestimmt ausgesprochen, in den Worten : „Die Erscheinungen lassen sich in Elemente
zerlegen, die wir, insofern sie als mit bestimmten Vorgängen des Körpers verbunden
und durch dieselben bedingt angesehen werden können, Empfindungen nennen".
— 14 —
wenn wir den Einfluss des eigenen Leibes auf unsere Empfin-
dungen untersuchen, müssen wir eine beobachtete Thatsache durch
Analogie ergänzen. Diese Ergänzung fällt aber viel sicherer
und leichter aus, wenn sie etwa nur den Nervenvorg-ang betrifft,
den man am eignen Leib nicht vollständig beobachten kann, wenn
sie also in dem geläufigem physikalischen Gebiet spielt, als
wenn sich die Erg'änzung auf Psychisches, die Empfindungen,
Gedanken anderer Menschen erstreckt. Sonst besteht kein we-
sentlicher Unterschied.
lO.
Die dargelegten Gedanken erhalten eine grössere Festigkeit
und Anschaulichkeit, wenn man dieselben nicht bloss in abstracter
i-
Fig. I.
Form ausspricht, sondern direkt die Thatsachen ins Auge fasst,
welchen sie entspringen. Liege ich z. B. auf einem Ruhebett,
— 15 —
und schliesse das rechte Auge, so bietet sich meinem Hnken Auge
das Bild der beistehenden Figur i. In einem durch den Augen-
brauenbog-en, die Nase und den Schnurrbart gebildeten Rahmen
erscheint ein Theil meines Körpers, so weit er sichtbar ist, und
dessen Umgebung^). Mein Leib unterscheidet sich von den
andern menschlichen Leibern nebst dem Umstände, dass jede leb-
haftere Bewegungsvorstellung sofort in dessen Bewegung aus-
bricht, dass dessen Berührung auffallendere Veränderungen bedingt
als jene anderer Körper, dadurch dass er nur theilweise und ins-
besondere ohne Kopf gesehen wird. Beobachte ich ein Element
A im Gesichtsfelde, und untersuche dessen Zusammenhang mit
einem andern Element B desselben Feldes, so komme, ich aus
dem Gebiet der Physik in jenes der Physiologie oder Psychologie,
wenn B, um den treffenden Ausdruck anzuwenden, den ein Freund
beim Anblick dieser Zeichnung gelegentlich gebraucht hat 2), die
Haut passirt. Aehnliche Ueberlegungen wie für das Gesichtsfeld
lassen sich für das Tastfeld und die Wahrnehmungsfelder der
übrigen Sinne anstellen ^).
1 1.
Es ist schon auf die Verschiedenheit der Elementengruppen,
die wir mit ABC.... und a ß y . . . . bezeichnet haben, hin-
gewiesen worden. In der That, wenn wir einen grünen Baum
vor uns sehen, oder uns an den grünen Baum erinnern, uns
denselben vorstellen, so wissen wir diese beiden Fällen ganz
i) Von dem binocularen Gesichtsfeld, dass mit seiner eigen tbümlichen Stereo-
scopie jedermanii geläufig ist, das aber schwieriger zu beschreiben und durch eine
ebene Zeichnung nicht darstellbar ist, wollen wir hier absehen.
2) Herr Ingenieur J. Popper in Wien.
3) Zur Entwerfung dieser Zeichnung bin ich vor etwa 30 Jahren durch einen
drolligen Zufall veranlasst worden. Ein längst verstorbener Herr v. L. , dessen wahr-
haft liebenswürdiger Character über manche Excentricität hinweg half, nöthigte mich
eine Schrift von E. Krause zu lesen. In derselben findet sich folgende Stelle:
„Aufgabe: Die Selbstschauung ,Ich' auszuführen.
Auflösung: Man führt sie ohne weiteres aus."
Um nun dieses philosophische „Viel Lärm um Nichts" scherzhaft zu illustriren , und
zugleich zu zeigen, wie man wirklich die Selbstschauung ,,Ich" ausführt, entwarf ich
die obige Zeichnung.
— i6 —
wohl zu unterscheiden. Der vorgestellte Baum hat eine viel
weniger bestimmte viel mehr veränderliche Gestalt, sein Grün ist
viel matter und flüchtiger, und er erscheint vor allem deutlich in
einem anderen Feld. Eine Bewegung, die wir ausführen
wollen, ist immer nur eine vorgestellte Bewegung und er-
scheint in einem andern Feld als die ausgeführte Bewegung,
welche übrigens immer erfolgt, wenn die Vorstellung lebhaft
genug wird. Die Elemente A oder a erscheinen in einem ver-
schiedenen Feld, heisst nun, wenn man auf den Grund geht, nichts
anderes, als dass sie mit verschiedenen andern Elementen ver-
knüpft sind. So weit wären also die Grundbestandtheile in
A B C . . . . a ^ 7 dieselben (Farben, Töne, Räume, Zeiten,
Bewegungsempfindungen ....), und nur die Art ihrer Verbindung
verschieden.
Schmerz und Lust pflegt man als von den Sinnesempfindungen
verschieden zu betrachten. Allein nicht nur die Tastempfindungen
sondern auch alle übrigen Sinnesempfindungen können allmälig
in Schmerz und Lust übergehen. Auch Schmerz und Lust können
mit Recht Empfindungen genannt werden. Sie sind nur nicht
so gut analysirt und so geläufig als die Sinnesempfindungen,
vielleicht auch nicht auf so wenige Organe beschränkt als letztere.
Schmerz- und Lustempfindungen, mögen sie noch so schattenhaft
auftreten, bilden einen wesentlichen Inhalt aller sogenannten Ge-
fühle. Was uns sonst noch zum Bewusstsein kommt, wenn
wir von Gefühlen ergriffen werden, können wir als mehr
oder weniger diffuse, nicht scharf localisirte Empfindungen be-
zeichnen. W. James ^) und später Th. Ribot^) sind der physio-
logischen Mechanik der Gefühle nachgegangen und sehen das
Wesentliche in zweckmässigen, den Umständen entsprechenden,
durch die Organisation ausgelösten Actionstendenzen des Leibes.
Nur ein Theil derselben tritt ins Bewusstsein. Wir sind traurig,
weil wir weinen, und nicht umgekehrt, sagt James. Und Ribot
findet mit Recht den niedern Stand unserer Kenntniss der Ge-
1) W. James, Psychology. New York 1890, II, p. 442.
2) Th. Kil)ot, La psycholgic des senliineiUs 1899.
— 17 —
fühle dadurch bedingt, dass wir stets nur beachtet haben, was
bei diesen physiologischen Processen ins Bewusstsein tritt. Aller-
dings geht er zu weit, wenn er alles Psychische für dem Phy-
sischen bloss „surajoute", und nur das Physische für wirksam hält.
Für uns besteht ein solcher Unterschied nicht.
Somit setzen sich die Wahrnehmungen so wie die Vor-
stellungen, der Wille, die Gefühle, kurz die ganze innere und
äussere Welt, aus einer geringen Zahl von gleichartigen
Elementen in bald flüchtiger bald festerer Verbindung zu-
sammen. Man nennt diese Elemente gewöhnlich Empfin-
dungen. Da aber in diesem Namen schon eine einseitige
Theorie liegt, so ziehn wir vor, kurzweg von Elementen zu
sprechen, wie wir schon gethan haben. Alle Forschung geht
auf die Ermittlung der Verknüpfung dieser Elemente aus^).
Sollte man mit einer Art dieser Elemente durchaus nicht das
Auskommen finden, so werden eben mehrere statuirt werden. Es
ist aber nicht zweckmässig für die hier behandelten Fragen, die
Annahmen gleich von vornherein zu compliciren.
12.
Dass aus diesem Elementencomplex, welcher im Grunde nur
einer ist, die Körper und das Ich sich nicht in bestimmter
für alle Fälle zureichender Weise abgrenzen lassen, wurde schon
gesagt. Die Zusammenfassung der mit Schmerz und Lust am
nächsten zusammenhängenden Elemente in einer ideellen denk-
ökonomischen Einheit, dem Ich, hat die höchste Bedeutung für
den im Dienste des schmerzmeidenden und lustsuchenden Willens
stehenden Intellect. Die Abgrenzung des Ich stellt sich daher
instinctiv her, wird geläufig und befestigt sich vielleicht sogar
durch Vererbung. Durch ihre hohe praktische Bedeutung
i) Vgl. S. 4, 6, 10, 12, 13 der vorliegenden Schrift, endlich auch die allge-
meine Anmerkung am Schluss meiner Schrift: Die Geschichte und die Wurzel des
Satzes der Erhaltung der Arbeit. Prag. Calve 1872.
Mach, Analyse. 3. Auf!. '^
nicht nur für das Individuum sondern für die ganze Art machen
sich die Zusammenfassungen „Ich" und „Körper" instinctiv geltend,
und treten mit elementarer Gewalt auf. In besonderen Fällen
aber, in welchen es sich nicht um praktische Zwecke handelt,
sondern die Erkenntniss Selbstzweck wird, kann sich diese
Abgrenzung als ungenügend, hinderlich, unhaltbar erweisen ^),
Nicht das Ich ist das Primäre, sondern die Elemente (Empfin-
dungen). Man berücksichtige das in Bezug auf den Ausdruck
„Empfindung" S. 17 Gesagte. Die Elemente bilden das Ich.
Ich empfinde Grün, will sagen, dass das Element Grün in einem
gewissen Complex von andern Elementen (Empfindungen, Er-
innerungen) vorkommt. Wenn ich aufhöre Grün zu empfinden,
wenn ich sterbe, so kommen die Elemente nicht mehr in der
gewohnten geläufigen Gesellschaft vor. Damit ist alles gesagt.
Nur eine ideelle denkökonomische, keine reelle Einheit hat auf-
gehört zu bestehen. Das Ich ist keine unveränderliche bestimmte
scharf begrenzte Einheit. Nicht auf die Un Veränderlichkeit
nicht auf die bestimmte Unterscheidbarkeit von andern und
nicht auf die scharfe Begrenzung kommt es an, denn alle diese
Momente variiren schon im individuellen Leben von selbst, und
deren Veränderung wird vom Individuum sogar angestrebt.
Wichtig ist nur die Continuität. Diese Ansicht stimmt mit der-
jenigen, zu welcher Weis mann durch biologische Untersuchungen
(zur Frage der UnsterbHchkeit der Einzelligen. Biolog. Central-
blatt, IV. Bd. Nr. 21, 22) gelangt. (Vergl. besonders S. 654 und
655, wo von der Theilung des Individuums in zwei gleiche
i) So kann auch das Standesbewusstsein und das Standesvorurteil, das Gefühl
für Nationalität, der bornirteste Localpatriotismus für gewisse Zwecke sehr wichtig
sein. Solche Anschauungen werden aber gewiss nicht den weitblickenden Forscher
auszeichnen, wenigstens nicht im Momente des Forschens. Alle diese egoistischen An-
schauungen reichen nur für praktische Zwecke aus. Natürlich kann der Gewohnheit
auch der Forscher unterliegen. Die kleinen gelehrten Lumpereien, das schlaue Be-
nützen und das perfide Verschweigen, die Schlingbeschwerden bei dem unvermeidlichen
Worte der Anerkennung und die schiefe Beleuchtung der fremden Leistung bei dieser
Gelegenheit zeigen hinlänglich, dass auch der Forscher den Kampf ums Dasein kämpft,
dass auch die Wege der Wissenschaft noch zum Munde führen, und dass der reine
Erkenntnisstrieb bei unscrn heutigen socialen Verhältnissen noch ein Ideal ist.
— 19 — =
Hälften die Rede ist.) Die Continuität ist aber nur ein Mittel
den Inhalt des Ich vorzubereiten und zu sichern. Dieser In-
halt und nicht das Ich ist die Hauptsache. Dieser ist aber nicht
auf das Individuum beschränkt. Bis auf geringfügige werthlose
persönliche Erinnerungen bleibt er auch nach dem Tode des In-
dividuums in andern erhalten. Die Bewusstseinelemente eines
Individuums hängen unter einander stark, mit jenen eines andern
Individuums aber schwach und nur gelegentlich merklich zu-
sammen. Daher meint jeder nur von sich zu wissen, indem er
sich für eine untrennbare von anderen unabhängige Einheit
hält. Bewusstseinsinhalte von allgemeiner Bedeutung durchbrechen
aber diese Schranken des Individuums und führen, natürlich
wieder an Individuen gebunden, unabhängig von der Person,
durch die sie sich entwickelt haben, ein allgemeineres unper-
sönliches, überpersönliches Leben fort. Zu diesem beizu-
tragen, gehört zu dem grössten Glück des Künstlers, P^orschers,
Erfinders, Socialreformators u. s. w.
Das Ich ist unrettbar. Theils diese Einsicht, theils die Eurcht
vor derselben führen zu den absonderlichsten pessimistischen und
optimistischen , religiösen , asketischen und philosophischen Ver-
kehrtheiten. Der einfachen Wahrheit, welche sich aus der psycho-
logischen Analyse ergibt, wird man sich auf die Dauer nicht ver-
schliessen können. Man wird dann auf das Ich, welches schon
während des individuellen Lebens vielfach variirt, ja im Schlaf
und bei Versunkenheit in einer Anschauung, in einen Gedanken,
gerade in den glücklichsten Augenblicken, theilweise oder ganz
fehlen kann, nicht mehr in den hohen Werth legen. Man wird dann
auf individuelle Unsterblichkeit^) gern verzichten, und nicht
auf das Nebensächliche mehr Werth legen als auf die Hauptsache.
Man wird hierdurch zu einer freieren und verklärten Lebens-
auffassung gelangen, welche Missachtung des fremden Ich und
Ueberschätzung des eigenen ausschliesst. Das ethische Ideal,
I) Indem wir unsere persönlichen Erinnerungen über den Tod hinaus zu er-
halten wünschen , verhalten wir uns ähnlich wie der kluge Eskimo, der die Unsterb-
lichkeit ohne Seehunde und Wairosse dankend ablehnte.
2*
20
welches sich auf dieselbe gründet, wird gleich weit entfernt sein
von jenem des Asketen, welches für diesen biologisch nicht haltbar
ist, und zugleich mit seinem Untergang erlischt, wie auch von
jenem des Nietzsche'schen frechen „Uebermenschen," welches
die Mitmenschen nicht dulden können, und hoffentlich nicht dul-
den werden?^)
Genügt uns die Kenntniss des Zusammenhanges der Elemente
(Empfindungen) nicht, und fragen wir, „wer hat diesen Zusammen-
hang der Empfindungen, wer empfindet"?, so unterliegen wir der
alten Gewohnheit, jedes Element (jede Empfindung) einem un-
analysirten Complex einzuordnen, wir sinken hiermit unver-
merkt auf einen älteren, tiefern und beschränktem Standpunkt
zurück. Man weisst wohl oft darauf hin, dass ein psychisches
Erlebniss, welches nicht das Erlebniss eines bestimmten Subjects
wäre, nicht denkbar sei, und meint damit die wesentliche Rolle
der Einheit des Bewusstseins dargethan zu haben. Allein, wie
verschiedene Grade kann das Ichbewusstsein haben, und aus wie
mannigfaltigen zufälligen Erinnerungen setzt es sich zusammen.
Man könnte ebensogut sagen, dass ein physikalischer Vorgang,
der nicht in irgend einer Umgebung, eigentlich immer in der
Welt, stattfindet, nicht denkbar sei. Von dieser Umgebung,
welche ja in Bezug auf ihren Einfluss sehr verschieden sein und
in Specialfällen auf ein Minimum zusammenschrumpfen kann, zu
abstrahiren, muss uns hier wie dort erlaubt sein, um die Unter-
suchung zu beginnen. Man denke an Empfindungen der
niedern Thiere, welchen man kaum ein ausgeprägtes Subject
wird zuschreiben wollen. Aus den Empfindungen baut sich
das Subject auf, welches dann allerdings wieder auf die Empfin-
dungen reagirt.
Die Gewohnheit, den unanalysirten Ich -Complex als eine
untheilbare Einheit zu behandeln, hat sich wissenschaftlich oft in
eigenthümlicher Weise g'eäussert. Aus dem Leibe wird zunächst
das Nervensystem als Sitz der Empfindungen ausgesondert. In
i) So weit auch der Weg ist von der theoretischen Einsicht zum praktischen
Verhallen, so kann letzteres der ersteren auf die Dauer doch nicht wiederstehen.
21
dem Nervensystem wählt man wieder das Hirn als hiezu geeignet
aus, und sucht schliesslich, die vermeintliche psychische Einheit
zu retten, im Hirn noch nach einem Punkt als Sitz der Seele.
So rohe Anschauungen werden aber schwerlich geeignet sein,
auch nur in den gröbsten Zügen die Wege der künftigen Unter-
suchung über den Zusammenhang des Physischen und Psych-
ischen vorzuzeichnen. Dass die verschiedenen Organe, Theile des
Nervensystems, mit einander physisch zusammenhängen und
durch einander leicht erregt werden können, ist wahrscheinlich
die Grundlage der „psychischen Einheit." Ich hörte einmal ernst-
lich die Frage discutiren: „Wieso die Wahrnehmungen eines
grossen Baumes in dem kleinen Kopfe des Menschen Platz fände"?
Besteht auch dieses Problem nicht, so w4rd doch durch die
Frage die Verkehrtheit fühlbar, die man leicht begeht, indem man
sich die Empfindungen räumlich in das Hirn hineindenkt. Ist
von den Empfindungen eines andern Menschen die Rede, so
haben diese in meinem optischen oder überhaupt physischen Raum
natürlich gar nichts zu schaffen; sie sind hinzugedacht, und ich
denke sie causal (oder besser functional), aber nicht räumlich an
das beobachtete oder vorgestellte Menschenhirn gebunden. Spreche
ich von meinen Empfindungen, so sind dieselben nicht räumiich
in meinem Kopfe, sondern mein „Kopf" theilt vielmehr mit
ihnen dasselbe räumliche Feld, wie es oben dargestellt wurde.
(Vergl. das über Fig. i, S. 14, 15 Gesagte) i).
i) Schon bei Johannes Müller finden wir einen Ansatz zu ähnlichen Be-
trachtungen. Sein metaphysischer Hang hindert ihn aber, dieselben consequent zu
Ende zu führen. Bei Hering aber stossen wir (Hermann's Handbuch der Physio-
logie, Bd. III I, S. 345) auf folgende characteristische Stelle: ,,Der Stoff, aus welchem
die Sehdinge bestehen , sind die Gesichtsempfindungen. Die untergehende Sonne ist
als Sehding eine flache, kreisförmige Scheibe, welche aus Gelbroth, also aus einer Ge-
sichtsempfindung besteht. Wir können sie daher geradezu als eine kreisförmige, gelb-
rothe Empfindung bezeichnen. Diese Empfindung haben wir da, wo uns eben
die Sonne erscheint." Ich kann wohl nach den Erfahrungen, die ich gelegentlich
im Gespräch gemacht habe , sagen , dass die meisten Menschen, welche diesen Fragen
nicht durch ernstes Nachdenken näher getreten sind, diese Auffassung einfach haar-
sträubend finden werden. Natürlich ist das gewöhnliche Confundiren des sinnlichen
und begrifflichen Raumes an diesem Entsetzen wesentlich schuld. Geht man, wie ich
es gethan habe, von der ökonomischen Aufgabe der Wissenschaft aus, nach welcher
Man betone nicht die Einheit des Bewusstseins. Da der
scheinbare Gegensatz der wirklichen und der empfundenen
Welt nur in der Betrachtungsweise liegt, eine eigentliche Kluft
aber nicht existirt, so ist ein mannigfaltiger zusammen-
häng'ender Inhalt des Bewusstseins um nichts schwerer
zu verstehen, als der mannigfaltige Zusammenhang in
der Welt.
Wollte man das Ich als eine reale Einheit ansehen, so käme
man nicht aus dem Dilemma heraus, entweder eine Welt von
unerkennbaren Wesen demselben gegenüberzustellen (was ganz,
müssig und ziellos wäre), oder die ganze Welt, die Ich anderer
Menschen eingeschlossen, nur als in unserm Ich enthalten anzu-
sehen (wozu man sich ernstlich schwer entschliessen wird).
Fasst man aber ein Ich nur als eine praktische Einheit
für eine vorläufige orientirende Betrachtung, als eine stärker zu-
sammenhängende Gruppe von Elementen, welche mit andern
Gruppen dieser Art schwächer zusammenhängt, so treten Fragen
dieser Art gar nicht auf, und die Forschung hat freie Bahn.
In seinen philosophischen Bemerkungen sagt Lichtenberg:
„Wir werden uns gewisser Vorstellungen bewusst, die nicht von
uns abhängen; andere, glauben wir wenigstens, hingen von uns
ab; wo ist die Grenze? Wir kennen nur allein die Existenz
unserer Empfindungen, Vorstellungen und Gedanken. Es denkt,
sollte man sagen, so wie man sagt: es blitzt. Zu sagen cogito,
ist schon zu viel, sobald man es durch Ich denke übersetzt. Das
Ich anzunehmen, zu postuliren, ist praktisches Bedürfniss". Mag-
nur der Zusammenhang des Beobachtbaren, Gegebenen für uns von Bedeutung ist,
alles Hypothetische , Metaphysische , Müssige aber zu eliminiren ist , so gelangt man
zu dieser Ansicht. Den gleichen Standpunkt wird man wohl Avenarius zuschreiben
müssen, denn wir lesen bei ihm (Der menschliche Weltbegriff S. 76) die Sätze: „Das
Gehirn ist kein Wohnort, Sitz, Erzeuger, kein Instrument oder Organ, kein Träger,
oder Substrat u. s. w. des Denkens." „Das Denken ist kein Bewohner oder Befehls-
haber, keine andere Hälfte oder Seite u. s. w. , aber auch kein Product , ja nicht ein-
mal eine physiologische Function oder ni;r ein Zustand überhaupt des Gehirns." Ohne
für jedes Wort von Avenarius und dessen Interpretation einstehen zu können und
zu wollen, scheint mir doch seine Auffassung der meinigen sehr nahe zu liegen. Der
Weg, den Avenarius verfolgt, ,,die Ausschaltung der Introjection", ist nur eine be-
sondere Form der Elimination des Metaphysischen.
— 23 —
auch der Weg, auf dem Lichtenberg zu diesem Resultate ge-
langt, von dem unsrigen etwas verschieden sein, dem Resultate
selbst müssen wir zustimmen.
13-
Nicht die Körper erzeug'en Empfindungen, sondern Ele-
men tencompl exe (Empfindungscomplexe) bilden die Körper. Er-
scheinen dem Physiker die Körper als das Bleibende, Wirkliche,
die ,Elemente' hingeg-en als ihr flüchtiger vorübergehender
Schein, so beachtet er nicht, dass alle „Körper" nur Gedanken-
symbole für Elementencomplexe (Empfindungscomplexe) sind.
Die eigentliche nächste und letzte Grundlage, welche durch
physiologisch-physikalische Untersuchungen noch weiter zu er-
forschen ist, bilden auch hier die bezeichneten Elemente. Durch
diese Einsicht gestaltet sich in der Psychologie und in der
Physik manches viel durchsichtiger und ökonomischer, und durch
dieselbe werden manche vermeintlichen Probleme beseitigt.
Die Welt besteht also für uns nicht aus räthselhaften Wesen,
welche durch Wechselwirkung mit einem andern ebenso räthsel-
haften Wesen, dem Ich, die allein zugänglichen ,Empfindungen'
erzeugen. Die Farben, Töne, Räume, Zeiten . . . sind für uns die
letzten Elemente, (vgl. S. 12, 13), deren gegebenen Zusammenhang
wir zu erforschen haben ^). Bei dieser Forschung können wir uns
i) Ich habe es stets als besonderes Glück empfunden, dass mir sehr früh (im
einem Alter von 15 Jahren etwa) in der Bibliothek meines Vaters Kant 's ,,Prole-
gomena zu einer jeden künftigen Metaphysik" in die Hand fielen. Diese Schrift hat
damals einen gewaltigen unauslöschlichen Eindruck auf mich gemacht, den ich in
gleicher Weise bei späterer philosophischer Leetüre nie mehr gefühlt habe. Etwa
2 oder 3 Jahre später empfand ich plötzlich die müssige Rolle, welche das „Ding an
sich" spielt. An einem heitern Sommertage im Freien erschien mir einmal die Welt
sammt meinem Ich als eine zusammenhängende Masse von Empfhidungen, nur im
Ich stärker zusammenhängend. Obgleich die eigentliche Reflexion sich erst später
hinzugesellte, so ist doch dieser Moment für meine ganze Anschauung bestimmend
geworden. Uebrigens habe ich noch einen langen und harten Kampf gekämpft, bevor
ich im Stande war, die gewonnene Ansicht auch in meinem Specialgebiete festzuhalten.
Man nimmt mit dem Wertvollen der physikalischen Lehren notwendig eine bedeutende
Dosis falscher Metaphysik auf, welche von dem, was beibehalten werden muss, recht
schwer losgeht, gerade dann, wenn diese Lehren geläufig geworden. Auch die über-
kommenen instinctiven Auffassungen traten zeitweilig mit grosser Gewalt hervor und
stellten sich hemmend in den Weg. Erst durch abwechselnde Beschäftigung mit
— 24 —
durch die für besondere praktische temporäre und beschränkte
Zwecke gebildeten Zusammenfassungen und Abgrenzungen
(Körper, Ich, Materie, Geist . . . .) nicht hindern lassen. Viel-
mehr müssen sich bei der Forschung selbst, wie dies in jeder
Specialwissenschaft geschieht, die zweckmässigsten Denkformen
erst ergeben. Es muss durchaus an die Stelle der überkommenen
instinktiven eine freiere, naivere, der entwickelten Erfahrung sich
anpassende Auffassung treten.
14.
Die Wissenschaft entsteht immer durch einen Anpassungs-
process der Gedanken an ein bestimmtes Erfahrungsgebiet. Das
Resultat des Processes sind die Gedanken elemente, welche das
ganze Gebiet darzustellen vermögen. Das Resultat fällt natürlich
verschieden aus, je nach der Art und der Grösse des Gebietes.
Erweitert sich das Erfahrungsgebiet, oder vereinigen sich mehrere
bisher getrennte Gebiete, so reichen die überkommenen geläufigen
Physik und Physiologie der Sinne, sowie durch historisch-physikalische Studien habe
ich (etwa seit 1863), nachdem ich den Widerstreit in meinen Vorlesungen über Psycho-
physik (im Auszug in ,,Zeitschr. f. prakt. Heilkunde", Wien 1863, S.364) noch durch eine
physikalisch-psychologische Monadologie vergeblich zu lösen versucht hatte, in meinen
Ansichten eine grössere Festigkeit erlangt. Ich mache keinen Anspruch auf den Namen
eines Philosophen. Ich wünsche nur in der Physik einen Standpunkt einzunehmen,
den man nicht sofort verlassen muss, wenn man in das Gebiet einer andern Wissen-
schaft hinüberblickt, da schliesslich doch alle ein Ganzes bilden sollen. Die heutige
Molekularphysik entspricht dieser Forderung entschieden nicht. Was ich sage, habe
ich vielleicht nicht zuerst gesagt. Ich will meine Darlegung auch nicht als eine be-
sondere Leistung hinstellen. Vielmehr glaube ich, dass jeder ungefähr denselben Weg
einschlagen wird, der in besonnener Weise auf einem nicht zu beschränkten Wissens-
gebiet Umschau hält. Meinem Standpunkt nahe liegt jener von Avenarius, den ich
1883 kennen gelernt habe (Philosophie als Denken der Welt nach dem Princip des
kleinsten Kraftmaasses, 1876). Auch Hering in seiner Rede über das Gedächtniss
(Almanach der Wiener Akademie 1870, S. 258) und J. Popper in dem schönen Buche
„Das Recht zu leben und die Pflicht zu sterben", Leipzig 1878, S. 62, bewegen sich
in ähnlichen Gedanken. Vergl. auch meine Rede „Ueber die öconomische Natur der
physikalischen Forschung" (Almanach der Wiener Akademie 1882, S. 179 Anmerkung).
Endlich muss ich hier noch auf die Einleitung zu W. Preyer's ,, Reine Empfindungs-
lehre" sowie auf Riehl's Freiburger Antrittsrede S. 40 und auf R. Wahle's ,, Gehirn
und Bewusstsein", 1884, hinweisen. Meine Ansichten hatte ich 1882 und 1883 zuerst
ausführlicher dargelegt, nachdem ich dieselbe 1872 und 1875 ^^'-'''^ angedeutet hatte.
Wahrscheinlich müsste ich noch viel mehr oder weniger Verwandtes anführen, wenn
ich eine ausgebreitere Literaturkenntniss hätte.
— 25 —
Gedankenelemente für das weitere Gebiet nicht mehr aus. Im
Kampfe der erworbenen Gewohnheit mit dem Streben nach An-
passung entstehen die Probleme, welche mit der vollendeten
Anpassung verschwinden, um andern, die einstweilen auftauchten,
Platz zu machen.
Dem blossen Physiker erleichtert der Gedanke eines Körpers
die Orientirung, ohne störend zu werden. Wer rein praktische
Zwecke verfolgt, wird durch den Gedanken des Ich wesentlich
unterstützt. Denn ohne Zweifel behält jede Denkform, welche
unwillkürlich oder willkürlich für einen besondern Zweck ge-
bildet wurde, für eben diesen Zweck einen bleibenden Werth.
Sobald aber Physik und Psychologie sich berühren, zeigen sich
die Gedanken des einen Gebietes als unhaltbar in dem andern.
Dem Bestreben der gegenseitigen Anpassung entspringen die
mannigfalltigen Atom- und Monadentheorieen, ohne doch ihrem
Zweck genügen zu können. Die Probleme erscheinen im Wesent-
lichen beseitigt, die erste und wichtigste Anpassung demnach aus-
geführt, wenn wir die Elemente (in dem oben S. lo bezeich-
neten Sinne) als Weltelemente ansehen. Diese Grundanschau-
ung kann (ohne sich als eine Philosophie für die Ewigkeit aus-
zugeben) gegenwärtig allen Erfahrungsgebieten gegenüber fest-
gehalten werden ; sie ist also diejenige, welche mit dem geringsten
Aufwand, ökonomischer als eine andere, dem temporären Ge-
sammt wissen gerecht wird. Diese Grundanschauung tritt auch
im Bewusstsein ihrer lediglich ökonomischen Function mit der
höchsten Toleranz auf. Sie drängt sich nicht auf in Gebieten, in
welchen die gangbaren Anschauungen noch ausreichen. Sie ist
auch stets bereit, bei neuerlicher Erweiterung des Erfahrungs-
gebietes einer besseren zu weichen.
15-
Die Vorstellungen und Begriffe des gemeinen Mannes von
der Welt werden nicht durch die volle, reine Erkenntniss als
Selbstzweck, sondern durch das Streben nach günstiger An-
passung an die Lebensbedingungen gebildet und beherrscht.
— 26 —
Darum sind sie weniger genau, bleiben aber dafür auch vor den
Monstrositäten bewahrt, welche bei einseitiger eifriger Verfolgung
eines wissenschaftlichen (philosophischen) Gesichtspunktes sich leicht
ergeben. Dem unbefangenen, psychisch voll entwickelten Menschen
erscheinen die Elemente, die wir mit ABC., bezeichnet haben,
räumlich neben und ausserhalb der Elemente K L M . .
und zwar unmittelbar, nicht etwa durch einen psychischen
Projections- oder einen logischen Schluss- oder Constructions-
process, der, wenn er auch existiren würde, sicher nicht ins Be-
wusstsein fiele. Er sieht also eine von seinem Leib K L M . .
verschiedene, ausser diesem existirende ,,Aussenwelt" ABC..
Indem er zunächst die Abhängigkeit der ABC., von den, sich
immer in ähnlicher Weise wiederholenden, und daher wenig be-
merkten, K L M . . nicht beachtet, sondern den festen Zusammen-
hängen der ABC., untereinander nachgeht, erscheint ihm eine
von seinem Ich unabhängige Welt von Dingen. Dieses Ich bildet
sich durch die Beachtung der besonderen Eigenschaften des Einzel-
dinges K L M . ., mit welchen Schmerz, Lust, Fühlen, Wollen u. s. w.
aufs Engste zusammenhängen. Er bemerkt ferner Dinge K' L' M',
K" L" M" . ., die sich ganz analog K L M verhalten, und deren
Verhalten im Gegensatz zu demjenigen von ABC., ihm erst
recht vertraut wird, sobald er sich an dieselben ganz analoge
Empfindungen, Gefühle u. s. w. g'ebunden denkt, wie er dieselben
an sich selbst beobachtet. Die Analogie, welche ihn hiezu treibt,
ist dieselbe, die ihn bestimmt, an einem Draht, an dem er alleEig'en-
schaften eines elektrisch durchströmten Leiters, mit Ausnahme
einer jetzt nicht direct nachweisbaren, beobachtet, auch diese eine
als vorhanden anzusehen. Indem er nun die Empfindungen der
Mitmenschen und Thiere nicht wahrnimmt, sondern nur nach
der Analogie ergänzt, während er aus dem Verhalten der Mit-
menschen entnimmt, dass sie sich ihm gegenüber in demselben
Falle befinden, sieht er sich veranlasst, den Empfindung-en, Erinne-
rungen u, s. w. eine besondere, von ABC...KLM...
verschiedene Natur zuzuschreiben, die je nach der Kulturstufe
ungleich aufgefasst wird, was, wie oben g-ezeigt wurde, unnöthig
— 27 —
ist und auf wissenschaftliche Irrwege führt, wenn dies auch fürs
praktische Leben von geringer Bedeutung ist.
Diese, die intellectuelle Situation des naiven Menschen be-
stimmenden Momente treten je nach Bedürfniss des praktischen
Lebens in diesem abwechselnd hervor und bleiben in einem nur
wenig schwankenden Gleichgewicht. Die wissenschaftliche Welt-
betrachtung betont aber bald das eine, bald das andere Moment
stärker, nimmt bald von dem einen, bald von dem andern ihren
Ausgangspunkt, und sucht in ihrem Streben nach Verschärfung,
Einheitlichkeit und Consequenz die entbehrlichen Auffassungen,
so viel als ihr möglich scheint, zu verdrängen. So entstehen die
dualistischen und die monistischen Systeme.
Der naive Mensch kennt die Blindheit, Taubheit, und weiss
aus den alltäglichen Erfahrungen, dass das Aussehen der Dinge
durch seine Sinne beeinflusst wird; es fällt ihm aber nicht ein,
die ganze Welt zu einer Schöpfung seiner Sinne zu machen. Ein
idealistisches System oder gar die Monstrosität des Solipsismus
wäre ihm praktisch unerträglich.
Die unbefangene wissenschaftliche Betrachtung wird leicht
dadurch getrübt, dass eine für einen besonderen engbegrenzten
Zweck passende Auffassung von vornherein zur Grundlage aller
Untersuchungen gemacht wird. Dies geschieht z. B., wenn alle
Erlebnisse als in das Bewusstsein sich erstreckende „Wirkungen"
einer Aussenwelt angesehen werden. Ein scheinbar unentwirr-
bares Knäuel von metaphysischen Schwierigkeiten ist hiemit ge-
geben. Der Spuk verschwindet jedoch sofort, wenn man die Sache
sozusagen in mathematischem Sinne auffasst, und sich klar macht,
dass nur die Ermittelung von Function albeziehungen für
uns Werth hat, dass es ledigHch die Abhänigigkeiten der
Erlebnisse voneinander sind, die wir zu kennen wünschen.
Zunächst ist dann klar, dass die Beziehung auf unbekannte, nicht
gegebene Urvariable (Dinge an sich) eine rein fictive und müssige
ist. Aber auch wenn man diese zwar unökonomische Fiction zu-
nächst bestehen lässt, kann man leicht die verschiedenen Classen
28
der Abhängigkeit unter den Elementen der „Thatsachen des Be-
wusstseins" unterscheiden, und das ist für uns allein wichtig.
ABC . .
. . KL AI . . .
aßy . .
K'L' M' . . .
a ß' y . .
K"r'M" ....
«" ß" f . .
In vorstehendem Schema ist das System der Elemente an-
g-edeutet. Innerhalb des einfach umzogenen Raumes liegen die
Elemente, welche der Sinnen weit angehören, und deren gesetz-
mässige Verbindung, deren eigenartige Abhänigkeit von ein-
ander, die physikalischen (leblosen) Körper, sowie die Leiber
der Menschen, Thiere und Pflanzen darstellt. Wieder in ganz
besonderer Abhängigkeit stehen alle diese Elemente von einigen
der Elemente K L M, den Nerven unseres Leibes, worin sich
die Thatsachen der Sinnesphysiologie aussprechen. Der doppelt
umzogene Raum enthält die dem höhern psychischen Leben an-
gehörigen Elemente, die Erinnerungsbilder, Vorstellungen, darunter
auch diejenigen, welche wir uns von dem psychischen Leben der
Mitmenschen bilden, die durch Accente unterschieden werden mögen.
Die Vorstellungen hängen zwar untereinander wieder in an-
derer Weise zusammen (Association, Phantasie) als die sinnlichen
Elemente ABC . . . K L M, doch lässt sich nicht zweifeln, dass
sie mit den letzteren in der intimsten Verwandtschaft stehen, und
dass ihr Verhalten in letzter Linie durch A B C . . . K LM, die
gesammte physikalische Welt, insbesondere durch unsern Leib,
und das Nervensystem bestimmt ist. Die Vorstellungen a ß' y . .
von dem Bewusstseinsinhalt unserer Mitmenschen spielen für uns
die Rolle von Zwischensubstitutionen, durch welche uns das
Verhalten der Mitmenschen, die Functionalbeziehung von K' L' M'
zu A B C, soweit dasselbe für sich allein (physikalisch) unaufge-
klärt bliebe, verständlich wird.
Es ist also für uns wichtig zu erkennen, dass es bei allen
Fragen, die hier vernünftiger Weise gestellt werden, und die uns
interessiren können, auf die Berücksichtigung verschiedener Grund-
variablen und verschiedener Abhängigkeitsverhältnisse
— 29 —
ankommt. Das ist die Hauptsache. An dem Thatsächlichen, an
den Functionalbeziehungen, wird nichts geändert, ob wir alles
Gegebene als Bewusstseinsinhalt, oder aber theilweise oder
ganz als physikalisch ansehen. Die biologische Aufgabe der
Wissenschaft ist, dem vollsinnigen menschlichen Individuum eine
möglichst vollständige Orientirung zu bieten. Ein anderes
wissenschaftliches Ideal ist nicht realisirbar, und hat auch keinen
Sinn.
Der philosophische Standpunkt des gemeinen Mannes, wenn
man dessen naivem Realismus diesen Namen zuerkennen will,
hat Anspruch auf die höchste Werthschätzung. Derselbe hat sich
ohne das absichtliche Zuthun des Menschen in unmessbar langer
Zeit ergeben; er ist ein Naturprodukt und wird durch die Natur
erhalten. Alles, was die Philosophie geleistet hat — die bio-
logische Berechtigung jeder Stufe, ja jeder Verirrung zugestanden
— ist dagegen nur ein unbedeutendes ephemeres Kunstpro-
dukt. Und wirklich sehen wir jeden Denker, auch jeden Philo-
sophen, sobald er durch praktische Bedrängniss aus einer einseitigen
intellectuellen Beschäftigung vertrieben wird, sofort den allgemeinen
Standpunkt einnehmen. Professor X, welcher theoretisch Solipsist
zu sein glaubt, ist es praktisch gewiss nicht, sobald er dem Mi-
nister für einen erhaltenen Orden dankt, oder seinem Auditorium
eine Vorlesung hält. Der geprügelte Pyrrhonist in Moliere's
„Mariage force" sagt nicht mehr: „il me semble que vous me
battez," sondern nimmt die Schläge als wirklich erhalten an.
Die „Vorbemerkungen" suchen auch keineswegs den Stand-
punkt des gemeinen Mannes zu discreditiren. Dieselben stellen
sich nur die Aufgabe und zeigen, warum und zu welchem
Zweck wir den grössten Theil des Lebens diesen Standpunkt
einnehmen, und warum, zu welchem Zweck und in welcher
Richtung wir denselben vorübergehend verlassen müssen. Kein
Standpunkt hat eine absolute bleibende Geltung; jeder ist nur
wichtig für einen bestimmten Zweck.
IL Ueber vorgefasste Meinungen.
Der Physiker hat oft Gelegenheit zu sehen, wie sehr die Er-
kenntniss eines Gebietes dadurch gehemmt werden kann, dass
anstatt der vorurtheilslosen Untersuchung desselben an sich, die
auf einem andern Gebiet gefassten Ansichten auf dasselbe über-
tragen werden. Weit bedeutender ist die Störung, welche durch
solche Uebertragung vorgefasster Meinungen aus dem Gebiet der
Physik in jenes der Psychologie entsteht. Erläutern wir dies
durch einige Beispiele.
Ein Physiker beobachtet das verkehrte Netzhautbild an einem
ausgeschnittenen Auge, und stellt sich die Frage, wie es kommt,
dass ein Punkt, der im Räume unten liegt, sich auf der Netz-
haut oben abbildet. Diese Frage beantwortet er durch dioptrische
Untersuchungen. Wenn nun dieselbe Frage, welche im Gebiete
der Physik vollkommen berechtigt ist, in die Psychologie über-
tragen wird, erzeugt sie nur Unklarheiten. Die Frage, warum
wir die verkehrten Netzhautbilder aufrecht sehen, hat als
psychologisches Problem keinen Sinn. Die Lichtempfindungen
der einzelnen Netzhautstellen sind von Anbeginn mit Raum-
empfindungen verknüpft, und wir nennen die Orte, welche den
unten gelegenen Stellen der Netzhaut entsprechen^ „oben." Dem
empfindenden Subject kann sich eine solche Frage gar nicht
ergeben.
Ebenso verhält es sich mit der bekannten Theorie der Pro-
jection nach aussen. Es ist die Aufgabe des Physikers, den
leuchtenden Objectpunkt zu dem Bildpunkt auf der Netzhaut in der
— 31 —
Verlängerung des durch den Bildpunkt und den Kreuzungspunkt
des Auges gezogenen Strahles zu suchen. Für das empfindende
Subject existirt ein solches Problem nicht, da die Lichtempfin-
dungen von Anfang an an bestimmte Raumempfindungen ge-
knüpft sind. Die ganze Theorie des psychologischen Ursprungs
der Aussenwelt durch Projection der Empfindungen nach aussen
beruht nur auf einer miss verständlichen Anwendung physikalischer
Gesichtspunkte. Unsere Gesichts- und Tastempfindungen sind an
verschiedene Raum empfindun gen gebunden, d. h. sie sind neben-
einander und aussereinander, sie befinden sich in einem
räumlichen P'eld, von welchem unser Leib nur einen Theil
erfüllt. Der Tisch, der Baum, das Haus liegt also selbstverständ-
lich ausserhalb meines Leibes. Ein Projectionsproblem liegt
also niemals vor, wird weder bewusst noch unbewusst gelöst.
Ein Ph3^siker (Mariotte) findet, dass eine bestimmte Stelle
der Netzhaut blind ist. Der Ph3^siker ist gewohnt, jedem Raum-
punkt einen Bildpunkt und jedem Bildpunkt eine Empfindung
zuzuordnen. So entsteht die Frage : Was sehen wir an den
dem blinden Fleck entsprechenden Raumstellen? Wie wird die
Lücke ausgefüllt? Wenn die unberechtigte physikalische Fragen-
form aus der psychologischen Untersuchung ausgeschaltet wird,
finden wir, dass ein Problem hier überhaupt nicht besteht. Wir
sehen nichts an der blinden Stelle, die Lücke im Bild wird
überhaupt nicht ausgefüllt. Die Lücke wird vielmehr gar nicht
empfunden, einfach darum, weil ein Fehlen der Lichtempfundung
an einer von Haus aus blinden Stelle so wenig bemerkt werden
kann, als etwa die blinde Haut des Rückens eine Lücke im
Gesichtsfeld bedingen kann.
Ich habe absichtlich einfache und naheliegende Beispiele ge-
wählt, um zu zeigen, welche unnöthige Verwirrung durch die
unvorsichtige Uebertragung der in einem Gebiet gültigen An-
sicht oder Denkweise auf ein gänzhch anderes entstehen kann.
In dem Werk eines berühmten deutschen Ethnographen las
ich den folgenden Satz: „dieser Stamm hat sich durch Menschen-
fresserei tief entwürdigt". Daneben lag das Buch eines englischen
^ 32 —
Forschers, welches sich mit demselben Gegenstande beschäftigt.
Der letztere stellt einfach die Frage auf, warum gewisse Südsee-
insulaner Canibalen sind, findet im Verlaufe der Untersuchung, dass
auch unsere Vorfahren Canibalen waren, und gelangt auch zum
Verständniss der Anschauungen der Indier in dieser Frage. Dieses
leuchtete auch einmal meinem 5 Jahre alten Knaben auf, der
beim Verspeisen eines Bratens plötzlich erschreckt und betroffen
inne hielt, und ausrieft . „Wir sind für die Thiere Menschenfresser!"
„Du sollst nicht Menschen fressen"' ist ein sehr lobenswerther
Grundsatz. In dem Munde des Ethnographen vernichtet er aber
den erhabenen milden Glanz der Unbefangenheit, in dem wir den
P^orscher so gern erblicken. Noch einen Schritt weiter, und wir
sagen auch: ,,Der Mensch darf nicht vom Affen abstammen", „die
Erde soll sich nicht drehen", „die Materie soll den Raum nicht
continuirlich ausfüllen", „die Energie muss constant sein" u. s. w,
Ich glaube, dass unser Vorgehen sich nur dem Grade nach und
nicht der Art nach von dem eben bezeichneten unterscheidet, wenn
wir physikalische Ansichten mit dem Anspruch der absoluten
Gültigkeit, ohne vorher deren Verwendbarkeit erprobt zu haben,
in das Gebiet der Psychologie übertragen. In solchen Fällen unter-
liegen wir dem Dogma, wenn auch nicht dem aufgezwungenen,
wie unsere scholastischen Vorfahren, so doch dem selbstgemachten.
Und welches Forschungsergebniss könnte durch lange Gewohn-
heit nicht zum Dogma werden? Dieselbe Gewandtheit welche
wir uns für oft wiederkehrende intellectuelle Situationen erworben
haben, benimmt uns ja die Frische und Unbefangenheit, deren
wir in neuen Situationen so sehr bedürfen.
Nach diesen allgemeinen Bemerkungen kann ich die nöthigen
erläuternden Ausführungen über meine Stellung zum Dualismus
des Physischen und Psychischen vorbringen. Derselbe ist meines
Erachtens künstlich und ohne Noth herbeigeführt.
2.
Bei Untersuchung rein physikalischer Processe verwenden
wir gewöhnlich so abstracte Begriffe, dass wir in der Regel nur
flüchtig' oder gar nicht an die Empfindungen (Elemente) denken,
welche diesen Begriffen zu Grunde liegen. Wenn ich z. B. fest-
stelle, dass der elektrische Strom von der Intensität i Ampere
in der Minute 10Y2 ccm Knallgas von o*^C und 760 mm Queck-
silberdruck entwickelt, bin ich sehr geneigt, den definirten Ob-
jecten eine von meinen Sinnesempfindungen ganz unabhängige
Realität zuzuschreiben. Um aber zu dem Definirten zu gelangen,
bin ich genöthig't, den Strom, dessen* ich mich nur durch Sinnes-
empfindungen versichern kann, durch einen kreisförmigen Draht
von bestimmtem Radius zu leiten, so dass derselbe bei gegebener
Intensität des Erdmagnetismus die Magnetnadel um einen be-
stimmten Winkel aus dem Meridian ablenkt. Die Bestimmung
der magnetischen Intensität, der Knallgasmenge u. s. w., ist nicht
weniger umständlich. Die ganze Bestimmung gründet sich auf
eine fast unabsehbare Reihe von Sinnesempfindungen, insbesondere
wenn noch die Justirung der Apparate in Betracht gezogen wird,
welche der Bestimmung vorausgehen muss. Nun kann es dem
Physiker, der nicht die Psychologie seiner Operationen
studirt, leicht begegnen, dass er, um eine bekannte Redeweise um-,
zukehren, die Bäume vor lauter Wald nicht bemerkt, dass er die
Empfindungen als Grundlage seiner Begriffe übersieht. Ich halte
nun aufrecht, dass ein physikalischer Begriff nur eine bestimmte
Art des Zusammenhanges sinnlicher Elemente bedeutet,
welche in dem Vorigen mit ABC., bezeichnet wurden. Diese
Elemente — Elemente in dem Sinne, dass eine weitere Auflösung
bisher noch nicht gelungen ist — sind die einfachsten Bausteine
der physikalischen (und auch der psychologischen) Welt.
Eine physiologische Untersuchung kann einen durchaus
physikalischen Charakter haben. Ich kann den Verlauf eines
physikalischen Processes durch einen sensiblen Nerv zum Central-
organ verfolgen, von da seine verschiedenen Wege zu den Muskeln
aufsuchen, deren Contraction neue physikalische Veränderungen
in der Umgebung bedingt. Ich muss hiebei an keine Empfin-
dung des beobachteten Menschen oder Thieres denken. Was ich
untersuche, ist ein rein physikalisches Object. Ohne Zweifel fehlt
Mach, Analyse. 3. Aufl. «J
— 34 —
hier sehr viel zum Verständniss der Einzelheiten, und die Ver-
sicherung-, dass Alles auf „Bewegamg der Moleküle" beruhe, kann
mich über meine Unwissenheit nicht trösten und nicht täuschen,
Lange vor Entwicklung- einer wissenschaftlichen Psychologie
hat jedoch der Mensch bemerkt, dass das Verhalten eines Thieres
unter physikalischen Einflüssen viel besser vorausg-esehen, d. h.
verstanden wird, indem ihm Empfindungen, Erinnerungen ähnlich
den unsrigen zugeschrieben werden. Das, was ich beobachte,
meine Empfindungen, habe ich in Gedanken zu ergänzen durch
die Empfindungen des Thieres, welche ich nicht im Gebiete meiner
Empfindung-en antreffe. Dieser Gegensatz erscheint dem Forscher,
welcher einen Nervenprocess mit Hilfe farbloser abstracter Be-
griffe verfolg't, und der z. B. genöthigt ist, diesem Process in Ge-
danken die Empfindung Grün hinzuzufügen, sehr schroff. Diese
letztere erscheint in der That als etwas gänzlich Neues und
Eremdartiges, und wir stellen uns die Frage, wie dieses wunder-
bare Ding aus chemischen Processen, electrischen Strömen u. dgl.
hervorgehen kann.
3-
Die psychologische Analyse belehrt uns darüber, dass diese
Verwunderung nicht gerechtfertig't ist, indem der Ph3^siker immer
mit Empfindungen operirt. Dieselbe Anatyse zeigt auch, dass die
Ergänzung von Complexen von Empfindung'en in Gedanken nach
der Analogie durch aug'enblicklich nicht beobachtete Elemente,
oder solche, welche überhaupt nicht beobachtet werden können,
vom Physiker tagtäglich geübt wird. Dies g-eschieht z. B., wenn
er sich den Mond als eine greifbare, schwere, träg-e Masse vor-
stellt. Die gänzliche Fremdartigkeit der oben bezeichneten
Situation ist also eine Illusion.
Die Illusion verschwindet aucli durch eine andere Betrach-
tung, welche sich auf die eigene sinnliche Sphäre beschränkt.
Vor mir liegt das Blatt einer Pflanze. Das (xriin (A) des IMattes
i.st vcrl)undcn mit einer gewissen optischen Kaunicmpriiuhuig (!>),
einer gewissen 'J'astenipriiidung ((") und mit der Sichtbarkt'il der
— 35 —
Sonne oder der Lampe (D). Wenn das Gelb (E) der Natrium-
flamme an die Stelle der Sonne tritt, so übergeht das Grün des
Blattes in Braun (F). Wenn das Chlorophyll durch Alkohol ent-
fernt wird, eine Operation die ebenfalls durch sinnliche Elemente
darstellbar ist, verwandelt sich das Grün (A) in Weiss (G). Alle
diese Beobachtungen sind physikalische. Doch das Grün (A)
ist auch mit einem Process meiner Netzhaut verknüpft. Nichts
hindert mich principiell, diesen Process in meinem Auge in der-
selben Weise zu untersuchen, wie in den oben erwähnten Eällen,
und denselben in Elemente X Y Z . . . aufzulösen. Stehen der
Untersuchung am eignen Aug^e Schwierigkeiten im Wege, so
kann sie am fremden Auge ausgeführt und die Lücke nach der
Analogie ausgefüllt werden, genau so, wie bei andern physi-
kalischen Untersuchungen. Nun ist A in seiner Abhängigkeit
von B C D E . . . ein physikalisches Element, in seiner Ab-
hängigkeit von X Y Z ... ist es eine Empfindung, und kann
auch als psychisches Element aufgefasst werden. Das Grün
(A) an sich wird aber in seiner Natur nicht geändert, ob wir
unsere Aufmerksamkeit auf die eine oder auf die andere Form
der Abhängigkeit richten. Ich sehe daher keinen Gegen-
satz von Ps3^chischem und Physischem, sondern ein-
fache Identität in Bezug auf diese Elemente. In der
sinnlichen Sphäre meines Bewusstseins ist jedes Object zugleich
physisch und psychisch. (Vgl. S. 13).
4-
Die Dunkelheit, die man in dieser intellectuellen Situation ge-
funden hat, entspringt meines Erachtens nur einer physikali-
schen Voreingenommenheit, welche in das psychologische Gebiet
übertragen wurde. Der Physiker sagt : Ich finde überall nur
Körper und Bewegungen von Körpern , keine Empfindungen ;
Empfindungen müssen also etwa.s von den physikalischen Ob-
iecten, mit welchen ich verkehre, Grundverschiedenes sein.
Der Psycholog'e acceptirt den zweiten Theil der Behauptung. Ihm
sind, das ist richtig', zunächst die Empfindungen gegeben ; den-
3*
- 36 -
selben entspricht aber ein mysteriöses physikalisches Etwas, welches
nach der vorgefassten Meinung von Empfindungen gänzlich ver-
schieden sein muss. Was ist aber in Wirklichkeit das Myste-
riöse? Ist es die Physis oder ist es die Psyche? oder sind es
vielleicht gar beide? Fast scheint es so, da bald die eine, bald
die andere, in undurchdringliches Dunkel gehüllt, unerreichbar
scheint. Oder werden wir hier vom bösen Geist im Kreis herum
geführt ?
Ich glaube das letztere. Für mich sind die Elemente ABC...
unmittelbar und unzweifelhaft gegeben, und für mich können die-
selben nachträglich nicht durch Betrachtungen verflüchtigt werden,
welche sich in letzter Linie doch immer auf deren Existenz
gründen.
Die Specialuntersuchung der sinnlichen physisch-psychischen
Sphäre, welche durch diese allgemeine Orientirung nicht über-
flüssig wird, hat die Aufgabe, den eigenartigen Zusammenhang
der A B C , . . zu ermitteln. Dies kann symbolisch so ausg"edrückt
werden, dass man der Specialforschung das Ziel setzt, Gleichungen
von der Form F (A, B, C . .) = o zu finden.
III. Mein Verhältniss zu R. Avenarius.
I.
Auf Berührungspunkte der hier vertretenen Ansichten mit
jenen verschiedener Philosophen und philosophisch denkender Natur-
forscher ist schon früher hingewiesen worden. Sollte ich dieselben
vollständig aufzählen, so müsste ich wohl bei Spinoza beginnen.
In Bezug auf R. Avenarius ist aber die Verwandtschaft eine
so nahe, als sie bei zwei Individuen von verschiedenem Ent-
wicklungsgang und verschiedenem Arbeitsfeld, bei voller gegen-
seitiger Unabhängigkeit überhaupt erwartet werden kann. Die
Uebereinstimmung wird etwas verdeckt durch die grosse Ver-
schiedenheit der Form. Avenarius gibt eine sehr ausführliche,
dabei doch allgemein gehaltene schematische Darstellung, deren
Durchschauen noch durch eine fremdartige, ungewöhnliche Termino-
logie erschwert wird. Zu solcher Darstellung hatte ich weder An-
lass noch Beruf, weder Neigung noch auch Talent. Ich bin eben
Naturforscher und nicht Philosoph. Ich suchte lediglich einen
sicheren klaren philosophischen Standpunkt zu gewinnen, von dem
aus sowohl in das Gebiet der Psychophysiologie, als auch in jenes
der Physik gangbare Wege sich zeigten, auf welchen keine meta-
physischen Nebel lagerten. Hiermit hielt ich alles für gewonnen.
Meine Darstellung hat, obwohl sie ebenfalls auf langjährigem und
in früher Jugend begonnenen Nachdenken beruht, in ihrer Kürze
die Form eines Apergu, und ich werde gar nicht gekränkt sein,
wenn man sie als ein solches auffassen will. Ich gebe gern zu,
dass ich in meiner Abneigung gegen eine künstliche Terminologie
vielleicht in das entgegengesetzte Extrem verfallen bin als
Avenarius. Ist dieser oft gar nicht verstanden, jedenfalls spät
verstanden worden, so hat man meine Worte oft genug miss-
- 38 ~
verstanden. Ein geistreicher Kritiker, welcher findet, dass ich zu
manchen Resultaten gelangt bin, zu welchen ich nicht hätte
kommen sollen (!) — der sich also die Mühe der Untersuchung
wohl ersparen kann, da er die Resultate schon kennt, zu welchen
dieselbe führen soll — wirft mir auch vor, dass ich nicht recht zu
fassen sei, da ich mich nur der ganz g'ewöhnlichen Sprache bediene,
und demnach das „System," dem ich mich anschliesse, nicht er-
sichtlich sei. Man hat also vor allem ein System zu wählen; dann
darf man innerhalb desselben auch denken und sprechen. So hat
man in meine Worte landläufige geläufige Ansichten recht bequem
hineingelesen, mich zu einem Idealisten , Berkeleyaner, auch Ma-
terialisten u. s. w. gemacht, woran ich unschuldig zu sein glaube.
Jede der beiden extremen Darstellungsweisen hat eben ihre
Vor- und Nachtheile. Aber auch auf die gegenseitige Verständigung
zwischen Avenarius und mir hat die Formverschiedenheit nach-
theiligen Einfluss geübt. Ich erkannte ja die Verwandtschaft der
Ansichten sehr bald, und gab meiner Ueberzeugamg-, dass eine solche
bestehe, 1883 in der „Mechanik" und 1886 in der ersten Auflage
dieses Buches Ausdruck, wobei ich aber nur auf eine kleine Schrift
von Avenarius^), welche 1876 erschienen, und mir kurz vor
Ausgabe der Mechanik durch einen Zufall bekannt geworden war,
hinweisen konnte. Die Gleichartig'keit der Tendenz trat für mich
erst 1888, 1891 und 1894 durch Avenarius' Publikationen:
,, Kritik der reinen Erfahrung," „Der menschliche Weltbegriff" und
seine psychologischen Artikel in der Vierteljahrsschrift voll hervor.
Hier hinderte mich aber bei ersterer Schrift die etwas hyper-
trophische Terminologie, die Freude der Zustimmung in vollen
Zügen zu geniessen. Es ist ja von einem älteren Menschen viel
verlangt, dass er zu den vielen Sprachen der Völker auch noch die
Sprache eines Einzelnen erlerne. Es blieb also natürlich der
jüngeren Generation vorbehalten, die Arbeit von Avenarius
nutzbar zu machen. Ich freue mich hier auf die Schriften von
C. Flauptmann und J. Petzoldt hinweisen zu können, welche
l) Denken der Welt nach dem rrinzip des kleinstes Kraftmaasses, 1876.
— 39 —
daran sind, den Kern der Avenarius'schen Arbeiten bloss zu
legen und weiter zu entwickeln. Auch Avenarius hat seiner-
seits die Verwandtschaft erkannt, und in den 1888 bis 1895 er-
schienenen Schriften darauf Bezug" genommen. Doch scheint sich
die Ueberzeugamg- von einer tiefergehenden Uebereinstimmung
auch bei ihm erst allmälig' entwickelt zu haben, wie ich nach
älteren Aeusserungen geg"en dritte Personen annehmen muss.
Persönlich habe ich Avenarius nie kennen gelernt.
2.
Ich möchte nun diejenig'en Punkte der Uebereinstimmung
insbesondere bezeichnen, auf welche ich Werth lege. Die Oeko-
nomie des Denkens, die ökonomische Darstellung des That-
sächlichen habe ich zuerst 187 i, 1872 in aller Kürze als die wesent-
liche Aufgabe der Wissenschaft bezeichnet und 1882, 1883 darauf
bezügliche weitere Ausführungen gegeben. Wie ich anderwärts
g'ezeigt habe, ist diese Auffassung, welche auch den Kirchhoff-
schen Gedanken der „vollständigen einfachen Beschreibung" (1874)
implicite enthält und anticipirt, keineswegs ganz neu, sondern lässt
sich bis auf Adam Smith und, wie P. Volkmann meint, in den
Anfängen bis auf Newton zurück verfolg"en. Dieselbe Auffas-
sung finden wir nun, abg'esehen von einem gewissen verhüllten
Zug in der Darstellung, sehr ausgebildet bei Avenarius
wieder (1876).
Die eben bezeichnete Ansicht erhält sofort eine breite Grund-
lage und wird von neuen Seiten aufgeklärt, wenn man, den An-
regungen der Darwin 'sehen Theorie folgend, das ganze psychische
Leben — die Wissenschaft eingeschlossen — als biologische
Erscheinung auffasst, che Darwin "sehen Vorstellungen vom
Kampf ums Dasein, von der Entwicklung und Auslese auf die-
selbe anwendet. Diese Ansicht ist untrennbar von der Annahme,
dass alles und jedes Psychische physisch fundirt, be-
stimmt sei. In seiner „Kritik der reinen Erfahrung" versucht
nun Avenarius im Einzelnen alles theoretische und praktische
Verhalten als bestimmt durch Aenderungen des Centralnerven-
— 40 —
Systems darzustellen. Hiebei geht er nur von der sehr allgemeinen
Voraussetzung aus, dass das Centralorgan nicht nur als Ganzes,
sondern auch in seinen Theilen ein Streben hat, sich zu erhalten,
eine Tendenz, seinen Gleichgewichtszustand zu bewahren. Diese
stimmt sehr gut mit den Vorstellungen, die Hering von dem
Verhalten der lebendigen Substanz entwickelt hat. Mit diesen
Ansichten steht Avenarius der modernen positiven Forschung,
speciell der physiologischen, sehr nahe. Auch in meinen Arbeiten
treten entsprechende Aeusserungen zwar kurz, aber bestimmt
schon seit 1863 hervor, und 1883 habe ich dieselben breiter dar-
gelegt, ohne jedoch ein vollständiges System zu etwickeln wie
Avenarius.
Den höchsten Werth lege ich aber auf die Uebereinstimmung
in der Auffassung des Verhältnisses des Physischen und Psychischen.
Diese ist für mich der Kernpunkt. Von dieser Coincidenz mit
Avenarius wurde ich eigentlich erst durch dessen psychologische
Artikel überzeugt. Um ganz sicher zu gehen, richtete ich eine
darauf bezüghche Frage an Herrn Dr. Rudolf Wlassak, der
durch seinen mehrjährig'en Verkehr mit Avenarius mit dessen
Standpunkt wohl vertraut sein musste. Ich lasse hier seine Ant-
wort folgen:
„Die Auffassung des Verhältnisses des .,Physischen" zum
„Psychischen" ist bei Avenarius und Mach dieselbe. Beide
kommen zu dem Resultat, dass der Unterschied des Physischen
und Psychischen nur in der Verschiedenheit der Abhängigkeits-
verhältnisse gegeben ist, die einerseits Object der Physik — im
weitesten Sinn des Wortes — , andererseits der Psychologie sind.
Untersuche ich die Abhängigkeit eines Umg'ebungsbestandtheils A
von einem zweiten Umgebungsbestandtheil B, so treibe ich Physik;
untersuche ich, inwiefern A durch eine Aenderung der Sinnes-
organe oder des Centralnervensystems eines lebenden Wesens ge-
ändert wird, so treibe ich Psychologie. Avenarius hat dem-
gemäss vorgeschlagen, die Termini physisch und psychisch zu
eliminiren und nur mehr von physikahschen und psychologischen
Abhängigkeiten zu sprechen (Bemerkungen, Vierteljahrsschrift XIX,
— 41 —
S. i8). Bei Mach erscheint diese Anschauung-, ohne (?) dass die
Unhaltbarkeit der alten Auffassung des Psychischen und dem-
g-emäss der Aufgabe der Psychologie dargethan wird."
„Diese Aufgabe löst die Aufdeckung der „Introjection,"
resp. des formal-logischen Fehlers, der der Introjection zu
Grunde liegt. Avenarius geht davon aus, dass am Anfang
alles Philosophiren s der naive Realismus, die „natürliche Welt-
ansicht" steht. Innerhalb dieser natürlichen Weltansicht kann
sich eine relative Abgrenzung des Complexes „Ich" und des Com-
plexes „Umgebung," ,, Körperwelt" vollziehen, ohne dass dies zu
dem ,, Dualismus" von „Körper" vmd ,, Seele" zu führen braucht, da
vom Standpunkt des naiven Realismus, die dem „Ich," dem eigenen
Körper angehörenden Bestandtheile durchaus vergleichbar den Be-
standtheilen der Umgebung sind. Selbst wenn die erste Orientirung
zur Bildung von Substanzbegriffen fortschreitet (Mach, Analyse,
S. 4), so ist damit die völlige Wesensverschiedenheit von Körper
und Seele nicht gegeben. Die eigentliche Spaltung der ursprüng-
lich einheitlich — naiv -realistisch — aufgefassten Welt vollzieht
sich nach Avenarius bei der Deutung der Aussagen der Mit-
menschen. So lange ich sage, der Baum ist nicht nur für mich
da, sondern die Aussagen des Mitmenschen lassen mich annehmen,
dass er für ihn in derselben Weise da ist, wie für mich, über-
schreite ich in keiner Weise die formal-logisch zulässige Analogie
zwischen mir und den Mitmenschen. Dies thue ich aber, wenn
ich sage, der Baum ist als ,, Abbild," ,, Empfindung," „Vorstellung"
in dem Mitmenschen, wenn ich den Baum einlege, introjicire,
da ich dann für den Mitmenschen etwas annehme, was ich in
keiner Weise in meiner eigenen Erfahrung vorfinde, die mir die
Umgebungsbestandtheile immer nur in einer bestimmten räum-
lichen Beziehung zu meinem Körper, niemals in meinem Bewusst-
sein oder dergl. aufweist. Da die Introjection eineUeberschreitung
der Erfahrung ist, so muss jeder Versuch, sie mit den Thatsachen
der Erfahrung in Einklang zu bringen, zu einer unerschöpflichen
Quelle von Scheinproblemen werden. Das zeigt sich am klarsten
an den verschiedenen Formen, die sie im Laufe der Geschichte
der Philosophie angenommen hat. Die ältesten, rohesten Theorien
der Wahrnehmung'en zeigten die Einlegung' in ihrer rohesten und
einfachsten Form, indem sie von den Gegenständen sich Abbilder
ablösen Hessen, die in das Innere des Körpers hineingehen. — In
dem Maasse nun, als man einsieht, dass die Umgebungsbestand-
theile im Innern des Körpers nicht in derselben Weise vorhanden
sind, als wie ausserhalb desselben, in dem Maasse müssen sie,
sobald sie im Innern sind, zu etwas von der Umgebung Wesens-
verschiedenem werden. In der Ausdeutung der Introjection, in
dem Versuch, sie mit den Erfahrungen, die dem Complex der
Umgebung entstammen, in Einklang zu setzen, liegt die Wurzel
des Dualismus."
„Es kann zweifelhaft bleiben, ob Avenarius die Motive der
Introjection alle richtig gewürdigt hat. Nach seiner Darstellung"
knüpft die Introjection immer an die Erklärung- der „Wahr-
nehmungen" eines Mitmenschen an. Dageg-en kann man wohl
sagen, dass die Thatsache, dass ein und derselbe Umgebungs-
bestandtheil einmal als sinnlich gegebene „Sache," ein anderes Mal
als „Erinnerung" geg^eben ist, ein g^enügentes Motiv sein kann,
diesen Umgebungsbestandtheil als zweimal vorhanden anzunehmen,
nämlich einmal ,, materiell," in der Umgebung-, und ein zweites Mal
in meinem „Bewusstsein/' in meiner „Seele." Dann scheint noch
zu erwägen zu sein, ob nicht die Traumerfahrungen ^) der primitiven
Cultur ebenfalls ein selbständiges Motiv des Dualismus sein können.
Avenarius stellt zwar die Introjection als die Voraussetzung der
dualistischen Ausdeutung- der Traumerfahrungen hin, ohne aber
überzeugende Gründe dafür anzuführen. Unzulässig- ist es aber,
den prähistorischen Animismus als die Wurzel des Dualismus an-
zusehen, wenn man unter Animismus lediglich die Annahme ver-
steht, dass sämmtliche leblose Umgebung-sbestandtheile Wesen wie
wir selbst sind. Auch auf dem Boden der natürlichen Weltansicht
kann, solange tiefere physiologische Gründe dies nicht \-erlundern,
di(! Annahme entstehen, dass z. B. für den l'aum in demselben
Sinne Umgebungsbestandtheile existiren wie für den Menschen.
ij Gewiss sind sie (Tyloi) eines der ]\iiirti<;slen Mulive. Miicli.
— 43 —
Mit anderen Worten: Jemand, der die Avenarius-Mach'sche
Auffassung des Psychischen hätte, könnte, wenn ihm jede physio-
logische Kenntniss mangehe, annehmen, dass ein Baum oder ein
Stein seine Umgebung tastet und sieht. Er wäre dann noch kein
Duahst. Dies wird er erst, wenn er zur Erklärung dieses Tastens
und Sehens des Baums und Steins annimmt, dass die von dem
Baum und Stein getasteten und gesehenen Umgebungsbestand-
theile in den Baum als dessen „Empfindungen," dessen ,.Bewusst-
sein" nochmals vorhanden sind. Erst dann ist die Welt verdoppelt,
in eine geistige und körperliche gespalten."
„Die Auflärung, die durch die Aufdeckung der Unzulässigkeit
der Introjection geleistet wurde, geht nach zwei Richtungen. Einer-
seits nach der erkenntniss-theoretischen Seite. Als Scheinprobleme
erweisen sich alle jene Probleme, die nach dem Verhältniss unserer
„Empfindungen", „Vorstellungen", „Bewusstseinsinhalte", zu den
„materiellen Dingen" fragen, deren Abbilder, Zeichen u. s. w. die erst-
genannten Producte der Introjection sein sollen. Als Scheinprobleme
erweisen sich die Projectionsprobleme der Raumtheorien, das Nach-
aussenversetzen der Raumempfindungen u. s. w."
„Andererseits besagt die Ausschaltung der Introjection, dass
eine andere Psychologie als eine physiologische unzulässig ist.
Sobald man eingesehen hat, dass die „Bewusstseinsinhalte", die
neben den Veränderungen des Nervensystems sich abspielenden
„psychischen Processe", nichts anders sind als die Umgebungs-
bestandtheile, die ich dem Mitmenschen und schliesshch auch mir
selbst eingelegt habe, kann ich im Nervensystem nichts anderes
suchen als physiologische Vorgänge. Es enfällt jede besondere
psychische Causalität, es entfallen alle die Fragen, ob das Ein-
greifen psychischer Kräfte in die physiologischen Vorgänge des
Hirns mit dem Princip der Erhaltung der Energie vereinbar ist"^).
i) Ich muss hier meiner Verwundei-ung darüber Ausdruck geben, das Energir-
princip so oft in Bezug auf die Frage , ob es ein besonderes psychisches Agens gibt,
herangezogen worden ist. Mit der Constanz der Energie ist der Ablauf physikaUscher
Processe beschränkt, aber keineswegs vollkommen eindeutig bestimmt. Die Erfüllung
des Energieprincips in allen physiologischen Eällen lehrt bloss , dass die Seele weder
Arbeit verbraucht, noch leistet. Darum könnte sie noch mitbestimmend sein. In der
— 44 —
„Wenn man vom „Fortleben der Vorstellungen, ohne dass
sie im Bewusstsein sind" (Mach, Wärmelehre, vS. 441), spricht,
so ist dies, strenge genommen, nur als abgekürzter Ausdruck für
bestimmte centralnervöse Vorgänge zulässig, der aber immerhin
stark an dualistische Vorstellung-en erinnert."
3-
Der Unterschied in der Darstellung von Avenarius und
mir, der noch übrig bleibt, lässt sich auf leicht ersichtliche Gründe
zurückführen. Erstens beabsichtigte ich keine vollständige Dar-
stellung der Emtwicklung des eingenommenen Standpunktes aus
den vorausgehenden Phasen der Weltansicht. Zweitens geht Ave-
narius' Darstellung von einer realistischen, die meinige hin-
gegen von einer idealistischen Phase (S. 23 Anm.) aus, wie ich
dieselbe in derThatin früher Jugend erlebt habe. Ich hätte da etwa
von Beseitigung der Extrajection sprechen können (S. 5, 9 — 17,
23 — 26, 35). Drittens liegt keine Nothwendigkeit vor, die Aussage
des Mitmenschen und der Introjection, in dem getadelten Sinne,
vor Erreichung des neuen Standpunktes eine so gewichtige Rolle
spielen zu lassen, und dann hat man auch nicht nöthig, diese
Introjection wieder auszuschalten. Auch der einsame Denker
könnte den neuen Standpunkt erreichen, und allerdings auch, wie
Wlassak bemerkt, dualistische Anwandlangen zu überwinden
haben. Ist dieser Standpunkt aber erreicht, und ist die Ver-
schiedenartigkeit der Abhängigkeit der Elemente einmal als das
Wesentliche erkannt, so erscheint die realistische oder idea-
listische Ausgangsphase von keiner grösseren Bedeutung, als
für den Mathematiker oder Physiker ein Wechsel der Grund-
variablen in seinen Gleichungen.
auf diesen Fall bezüglichen Frage des Philosophen erscheint das Energieprinzip meist
nicht richtig bewerthet , und die Verlegenheitsantwort des Physikers hat keinen fass-
baren Sinn in Bezug auf diesen seinem Denken fernliegenden Fall. Vgl. das Referat
über eine derartige Diskussion bei Höfler, Psychologie, 1897, S. 58 f., Anm. Ich
sehe in der Annahme eines besonderen psychischen Agens, von den obigen Erwägungen
ganz abgesehen, nur unglückliche, ungünstige, die Forschung erschwerende, ausserdem
unnöthigc und unwahrscheinliche Voraussetzungen. Mach.
— 45 — ^
Die Aufstellungen von Avenarius, und demnach auch die
meinigen, scheinen mir nur fast Selbstverständliches aus-
zusprechen, Selbstverständliches wenigstens für jeden, der sich von
dem Drucke der „Ueberlebsel der wilden Philosophie" befreit hat,
wie Tylor sich ausdrückt. Solche Selbstverständlichkeiten waren
es immer, auf welche die Wissenschaft ihren Bau sicher gründen
konnte. In dem Zusammentreffen allgemein philosophischer und
positiv fachwissenschaftlicher Enwägungen glaube ich aber eine
günstige Vorbedeutung für den gegenseitigen Anschluss der
Wissenschaften sehen zu dürfen.
IV. Die Hauptgesichtspunkte für die Untersuchung
der Sinne.
I.
Wir versuchen nun von dem gewonnenen vStandpunkte einen
orientirenden Ausblick für unsern besonderen Zweck.
Hat der forschende Intellect durch Anpassung" die Gewohn-
heit erworben, zwei Dinge A und B in Gedanken zu verbinden,
so sucht derselbe diese Gewohnheit auch unter etwas veränderten
Umständen nach Möglichkeit festzuhalten. Ueberall wo A auf-
tritt, wird B hinzugedacht. Man kann das sich hierin aussprechende
Princip welches in dem Streben nach Oekonomie seine Wurzel
hat, welches bei den grossen Forschern besonders klar hervor-
tritt, das Princip der ^Stetigkeit oder Continuität nennen.
Jede thatsächlich beobachtete Variation in der Verbindung
von A und B, welche gross genug ist, um bemerkt zu werden,
macht sich aber als Störung der bezeichneten Gewohnheit geltend,
so lange, bis die letztere genügend modificirt ist, um diese Störung
nicht mehr zu empfinden. Man hätte z. B. sich g-ewöhnt, das auf
die Grenze von Luft und Glas einfallende Licht abgelenkt zu
sehen. Die Ablenkungen variiren aber von Fall zu Fall in merk-
licher Weise, und man kann die an einigen Fällen gewonnene
Gewohnheit so lange nicht ungestört auf neu vorkommende Fälle
übertragen, bis man im Stande ist, jedem besonderen Einfallswinkel
A einen besonderen Brechungswinkel B zuzuordnen, was durch
Auffindung" des sogenannten Brechung'sgesetzes, beziehungsweise
durch Geläufigwerden der in demselben enthaltenen Reg"el, er-
eicht ist. Es tritt also dem Princip der Stetigkeit ein anderes
Princip modificirend entgegen; wir wollen es das Princip der
— 47 —
zureichenden Bestimmtheit oder der zureichenden Diffe-
renzirung nennen.
Das Zusammenwirken beider Principien lässt sich nun durch
weitere Ausführung des berührten Beispieles recht gut erläutern.
Um den Thatsachen gerecht zu werden, welche bei Aenderung
der Farbe des Lichtes auftreten, hält man den Gedanken des
Brechungsg'esetzes fest, muss aber jeder besonderen Farbe einen
besonderen Brechungsexponenten zuordnen, bald merkt man dann,
dass man auch jeder besondern Temperatur einen besondern
Brechungsexponenten zuordnen muss, u. s. w.
Dieser Process führt schliesslich zur zeitweiligen Beruhi-
gung- und Befriedig"ung-, indem die beiden Dinge A und B so
verbunden gedacht werden, dass jeder der augenblicklichen Er-
fahrung' zugänglichen Aenderung- des einen eine zugehörig-e
Aenderung des andern entspricht. Es kann der Fall eintreten,
dass sowohl A als B sich als Complexe von Bestandtheilen dar-
stellen, und dass jeder Bestandtheil von A einem Bestandtheil von
B zugeordnet ist. Dies findet z. B. statt, wenn B ein Spectrum
und A die zugehörige Probe eines Gemenges ist, wo je einem
Bestandtheil des Spectrums je ein Bestandtheil der vor dem
Spectralapparat verflüchtigten Probe unabhängig von den übrigen
zugeordnet ist. Erst durch die vollständige Geläufigkeit dieses
Verhältnisses kann dem Princip der zureichenden Bestimmtheit
entsprochen werden.
Stellen wir uns nun vor, wir betrachten eine Farbenempfin-
dung B nicht in ihrer Abhängigkeit von der glühenden Probe A,
sondern in ihrer Abhängigkeit von den Elementen des Netz-
hautprocesses N. Hierdurch ist nicht die Art, sondern nur die
Richtung der Orientirung geändert, ahes eben Besprochene
verhört dadurch nicht seine Geltung, und die zu befolgenden
Grundsätze bleiben dieselben. Und dies gilt natürlich für aUe
Empfindungen.
Die Empfindung kann nun an sich, unmittelbar, psychologisch
anatysirt werden (wie dies Joh. Müller gethan hat) oder es können
die ihr zugeordneten physikalischen (ph3^siologischen) Processe
nach den Methoden der Physik untersucht werden (wie dies vor-
zugsweise die moderne Physiologenschule thut), oder endlich (was
am weitesten führen wird, weil hierbei die Beobachtung an allen
Punkten angreift, und eine Untersuchung die andere stützt) kann
der Zusammenhang des psychologisch Beobachtbaren mit dem
zugehörigen physikalischen (physiologischen) Process verfolgt
werden. Dieses letztere Ziel streben wir überall an, wo es er-
reichbar scheint.
Mit diesem Ziel im Auge werden wir dem Princip der Conti-
nuität und jenem der zureichenden Bestimmtheit nur genügen
können, wenn wir dem gleichen B (irgend einer Empfindung)
immer und überall nur das gleiche N (denselben Nervenprocess)
zuordnen, zu jeder beobachtbaren Aenderung von B aber eine
entsprechende Aenderung von N auffinden. Können wir B
psychologisch in mehrere von einander unabhängige Be-
standtheile zerlegen, so können wir nur in der Auffindung eben-
solcher den ersteren entsprechender Bestandtheile in N Beruhigung
finden. Sollten aber an B Eigenschaften oder Seiten zu bemerken
sein, die nicht gesondert auftreten können, wie z. B. Höhe und
Intensität des Tones, so würde dasselbe Verhalten auch von N zu
erwarten sein. Mit einem Worte, zu allen psychisch beobachtbaren
Einzelheiten von B haben wir die zugeordneten physikalischen
Einzelheiten von N aufzusuchen.
Wir wollen natürlich nicht behaupten, dass nicht auch durch
recht complicirte Umstände eine (psychologisch) einfache
Empfindung- bedingt werden kann. Denn die Umstände hängen
kettenförmig zusammen, und lösen keine Empfindung- aus, wenn
die Kette nicht bis in den Nerv reicht. Da aber die Empfindung
auch als Plallucination auftreten kann, wenn gar keine ausserhalb
des Leibes liegende physikalische bedingende Umstände vor-
handen sind, so sehen wir, dass ein gewisser Nervenprocess, als
Endglied jener Kette, die wesentliche und unmittel-
— 49 —
bare Bedingung der Empfindung ist. Diese unmittelbare Be-
dingung kön len wir nun nicht vaiirt denken, ohne uns auch die
Empfindung variirt vorzustellen, und umgekehrt. Für den Zu-
sammenhang dieses Endgliedes und der Empfindung wollen wir
das ausgesprochene Princip als gültig ansehen.
3-
Wir können also einen leitenden Grundsatz für die Unter-
suchung der Empfindungen aufstellen, der als Princip des voll-
ständigen Parallelismus des Psychischen und Phy-
sischen bezeichnet werden mag. Nach unserer Grundanschauung,
welche eine Kluft zwischen den beiden Gebieten (des Psychischen
und Physischen) gar nicht anerkennt, ist diesess Princip fast
selbstverständlich, kann aber auch ohne Hilfe dieser Grundan-
schauung als heuristisches Princip aufgestellt werden, wie ich
dies vor Jahren gethan habe ^).
Das hier verwendete Princip geht über die allgemeine Vor-
aussetzung, dass jedem Psychischen ein Physisches entspricht und
umgekehrt in seiner Specialisirung hinaus. Letztere allgemeine
Annahme, die in vielen Fällen als richtig nachgewiesen ist, wird
in allen Fällen als wahrscheinlich richtig festgehalten werden
können, und bildet zudem die nothwendige Voraussetzung der
exacten Forschung. Von der Fechn er 'sehen Auffassung des
Physischen und Psychischen als zweier verschiedener Seiten
ein und desselben Realen ist die unsrige ebenfalls ver-
schieden. Erstens hat unsere Auffassung keinerlei metaphysi-
schen Untergrund, sondern entspricht nur dem verallgemeinerten
Ausdruck von Erfahrungen. Dann unterscheiden wir auch nicht
zwei verschiedene Seiten eines unbekannten Dritten, sondern die
i) Vergl. meine Abhandlung ,,Ueber die Wirkung der räumlichen Verth eilung
des Lichtreizes auf die Netzhaut'' (Sitzungsbericht der Wiener Akademie, Bd. 52,
Jahrg. 1865). Ferner Reichert's und Dubois' Arch. 1865, S. 634 und Grund-
linien der Lehre von den Bewegungsempfindungen. Leipzig. Engelmann 1875, S. 63.
— Auch in meiner Ausführung in Fichte's Zeitschrift für Philosophie, Bd. 46,
Tahrg. 1865, S. 5 ist der Grundsatz implicite schon enthalten. (Abgedruckt in den
Populärwissenschaftlichen Vorlesungen. Leipzig, 2. Aufl., 1897.)
Mach, Analyse. 3. Aiifl. 4
— 50 —
in der Erfahrung vorgefundenen Elemente, deren Verbindung wir
untersuchen, sind immer dieselben, nur von einerlei Art und
treten nur je nach der Art ihres Zusammenhanges bald als
physische, bald als psychische Elemente auf^). Man hat mich ge-
fragt, ob denn der Parallehsmus des Psychischen und Physischen
überhaupt noch einen Sinn hätte und nicht eine blosse Tautologie
sei, wenn man das Psychische und das Physische überhaupt nicht
als wesentlich verschieden ansieht? Dies beruht auf einer miss-
verständlichen Auffassung meiner obigen Ausführungen. Wenn
ich ein grünes Blatt sehe, was durch gewisse Gehirnprocesse be-
dingt ist, so ist jenes Blatt in seiner Form und Farbe allerdings
verschieden von den Formen, Farben u. s. w., die ich an dem
untersuchten Gehirn finde, wenn auch alle Formen, Farben u. s. w.
an sich gleichartig, an sich weder psychisch noch physisch sind.
Das gesehene Blatt, als abhängig gedacht vom Gehirnprocess, ist
etwas Psychisches, während dieser Process in dem Zusammen-
hang seiner Elemente etwas Physisches vorstellt. Und für die
Abhängigkeit der ersteren unmittelbar gegebenen Elementen-
gruppe von der durch (vielleicht complicirte) physikalische Unter-
suchung sich erst ergebenden zweiten Gruppe besteht das
Parallelismusprincip. (Vgl. S. 35.)
4-
Zur Erläuterung des vielleicht etwas zu abstract ausge-
sprochenen Grundsatzes mögen sofort einige Beispiele dienen.
U eberall wo ich Raum empfinde, ob durch das Gesicht, den
Tastsinn oder auf andere Weise, werde ich einen in allen Fällen
gleichartigen Nervenprocess als vorhanden anzunehmen haben.
Für alle Zeitempfindung supponire ich gleiche Nervenprocesse.
I ) In Bezug auf die verschiedenen Seiten der Parallelismusfrage vergl. : C.
Stumpf , Ansprache beim Psychologenkongress in München. München 1897. — G. Hey-
mans, Zur Parallelismusfrage. Zeitschr. f. Psychologie der Sinnesorgane, Bd. XVII. —
O. Külpe, Ueber die Beziehung zwischen körperlichen und seelischen Vorgängen.
Zeitschr. f. Hypnotismus, Bd. 7. — J. v. Kries, Ueber die materiellen Grundlagen
der Bewusstseinserscheinungen. Freiburg i. B. 1898. — C. Hauptmann, Die Meta-
physik in der Physiologie. Dresden 1893.
_ 51 —
Sehe ich gleiche verschiedenartige Gestalten, so suche ich
neben den verschiedenen Farbempfindungen besondere gleiche
Raumempfindungen und zugehörige gleiche Nervenprocesse. Sind
zwei Gestalten ähnlich (liefern sie theilweise gleiche Raum-
empfindungen), so enthalten auch die zugehörigen Nervenprocesse
theilweise gleiche Bestandtheile. Haben zwei verschiedene Melo-
dien gleichen Rhythmus, so besteht neben den verschiedenen Ton-
empfindungen in beiden Fällen eine gleiche Zeitempfindung mit
gleichen zugehörigen Processen. Sind zwei Melodien in ver-
schiedener Tonlage gleich, so haben die Tonempfindungen und
ihre physiologiechen Bedingungen trotz den ungleichen Tonhöhe
gleiche Bestandtheile. Kann die scheinbar unbegrenzte Mannig-
faltigkeit der Farbenempfindungen durch psychologische Analyse
(Selbstbeobachtung) auf 6 Elemente (Grundempfindungen) reducirt
werden, so dürfen wir die gleiche Vereinfachung für das System
der Nervenprocesse erwarten. Zeigt sich das System der Raum-
empfindungen als eine dreifache Mannigfaltigkeit, so wird sich
auch das System der zugeordneten Nervenprocesse als eine
solche darstellen.
5.
Dieses Prinzip ist übrigens mehr oder weniger bewust, mehr
oder weniger consequent stets befolgt worden. Wenn z.B. Helm-
holtz^) für jede Tonempfindung eine besondere Nervenfaser (mit
dem zugehörigen Process) statuirt, wenn er den Klang in Ton-
empfindungen auflöst, die Verwandtschaft der Klänge auf den Ge-
halt an gleichen Tonempfindungen (und Nervenprocessen) zu-
rückführt, so liegt hierin eine Bethätigung des ausgesprochenen
Princips. Die Anwendung ist nur keine vollständige, wie später
gezeigt werden soll. Brewster^) Hess sich durch eine, wenn
i) Helmholtz, Die Lehre von den Tonempfindungen. Braunschweig, Vie-
weg, 1863.
2) Brewster, A treatise on optics. London 183 1. Brewster, denkt sich
das rothe , das gelbe und das blaue Licht über das ganze Sonnenspectrum reichend,
jedoch in verschiedener Intensität vertheilt, so dass für das Auge das Roth an beiden
Enden (am rothen und violetten), das Gelb in der Mitte , das Blau am brechbareren
Ende hervortritt. 4*
— 52 —
auch mangehafte, psychologische Analyse der Farben empf in -
düngen und unvollkommene physikalische Versuche i) geleitet, zu
der Ansicht führen, dass den drei Empfindungen Roth, Gelb, Blau
entsprechend auch physikalisch nur drei Lichtsorten existiren, und
dass demnach die Newton'sche Annahme einer unbegrenzten
Anzahl von Lichtsorten mit continuirlich abgestuften Brechungs-
exponenten falsch sei. Leicht konnte Brewster in den Irrthum
verfallen, Grün für eine Mischempfindung zu halten. Hätte er
aber überlegt, dass Farbenempfindungen ganz ohne physikali-
sches Licht auftreten können, so hätte er seine Folgerungen
auf den Nervenprocess beschränkt und Newton's physi-
kalische Aufstellungen, die ebenso wohl begründet sind,
unangetastet gelassen. Th. Young hat diesen Fehler wenigstens
principiell verbessert. Er hat erkannt, dsss eine unbegrenzte An-
zahl physikalischer Lichtsorten von continuirlich abgestuften
Brechungsexponenten (und Wellenlängen) mit einer geringen
Zahl von Farbenempfindungen und Nervenprocessen vereinbar
ist, dass dem Continuum der Ablenkungen im Prisma (dem Con-
tinuum der Raum empf indun gen) eine discrete Zahl von P'arben-
empfindungen entspricht. Aber auch Young hat das ausge-
sprochene Princip nicht mit vollem Bewusstsein und nicht mit
strenger Consequenz angewandt, abgesehen davon, dass er sich
bei bei psychologischen Analyse noch durch physikalische Vor-
urtheile beirren liess. Auch Young nahm zuerst Roth, Gelb,
Blau als Grundempfindungen an, die er später durch einen physi-
kalischen Irrthum Wollaston's verleitet, wie Alfred Mayer
(in Hoboken) in einer trefflichen Arbeit gezeigt hat -), durch Roth,
i) Brewster meinte nämlich die Nuance von Newton für einfach gehal-
tener Spectralfarben durch Absorption ändern zu können, was, wenn es richtig wäre,
die N e wton'sche Anschauung wirklich erschüttern würde. Er experinientirte jedoch,
wie Helmhol tz (Physiologische Optik) gezeigt hat, mit einem unreinen Spectrum.
2) Phiiosophical Magazine. February 1876, p, III. Wollaston beobachtete
(1802) zuerst die später nach Fraunhofer benannten dunklen Linien des Sonnen-
spectrums , und glaubte sein schmales Spectrum durch die stärksten Linien in einen
rothen , grünen und violetten Theil getrennt zu sehen. Er hielt diese Linien für
Grenzen physikalischer Farben. Young nahm diese Ansicht an, und setzte an die
Stelle seiner Grundempfindungen Roth , Gelb , Blau die Farben Roth , Grün , Violett.
— 53 —
Grün und Violett ersetzt hat. In welcher Richtung die Theorie
der Farbenempfindung zu modificiren ist, welche seither durch
Hering einen hohen Grad der Vollendung erreicht hat, habe ich
vor Jahren an einem andern Ort angedeutet.
6.
Ich will hier nur kurz zusammenfassen, was ich heute über
die Behandlung der Theorie der Farbenempfindung zu sagen
habe. Man findet in neueren Schriften häufig die Angabe, dass
die von Hering acceptirten sechs Grundfarbenempfindungen,
Weiss, Schwarz, Roth, Grün, Gelb, Blau zuerst von Leonardo
da Vinci, nachher von Mach und Aubert aufgestellt worden
seien. Dass die Angabe in Bezug auf Leonardo da Vinci
auf einem Irrthum beruhe, war mir von vornherein, in Anbetracht
der Anschauungen seiner Zeit, höchst wahrscheinlich. Hören
wir, was er selbst in seinem „Buche von der Malerei" sagt^):
„254. Der einfachen Farben sind sechs. Die erste davon ist
das Weiss, obwohl die Philosophen weder Weiss noch Schwarz
unter die Zahl der Farben aufnehmen, da das eine die Ursache
der Farben ist, das andere deren Entziehung. Da indess der
Bei der ersteren Aufstellung hielt also Young das Grün für eine Mischempfindung,
bei der zweiten aber dieses und Violett für einfach. — Die zweifelhaften Resultate,
welche die psychologische Analyse hiernach liefern kann , könnten leicht den Glauben
an ihre Brauchbarkeit überhaupt erschüttern. Wir dürfen aber nicht vergessen , dass
man bei Anwendung eines jeden Principes in Irrthum verfallen kann. Die U e b u n g
wird auch hier entscheidend sein. Der Umstand, dass die physikalischen Bedingungen
der Empfindung fast immer Mischempfindungen auslösen , und die Empfindungsbe-
standtheile nicht leicht gesondert auftreten, erschwert die psychologische Analyse
sehr bedeutend. So ist z. B. Grün eine einfache Empfindung. Ein vorgelegtes Pig-
ment- oder Spectralgrün wird aber in der Regel eine Gelb- oder Blauempfindung
miterregen und dadurch die irrthümliche (auf Mischergebnissen von Pigmenten
beruhende) Ansicht begünstigen, dass die Grünempfindang aus Gelb- und Blauempfindung
zusammengesetzt sei. Das sorgfältige physikalische Studium ist also auch bei
der psychologischen Analyse nicht zu entbehren. Andrerseits darf man auch die
physikalische Erfahrung nicht überschätzen. Die blosse Erfahrung, dass ein
gelbes und blaues Pigment gemischt ein grünes Pigment liefert, kann uns allein
nicht bestimmen, im Grün, Gelb und Blau zu sehen, wenn nicht das eine oder das
andere wirklich darin enthalten ist. Sieht doch im Weiss niemand Gelb und Blau,
obgleich Spectralgelb und Spectralblau gemischt wirklich Weiss geben.
I) Nr. 254 und 255 nach der Uebersetzung von Heinrich Ludwig, Quellen-
schriften zur Kunstgeschichte. Wien, Braumüller, 1882, Bd. 18.
— 54 —
Maler nicht ohne diese beiden fertig werden kann, so
werden wir sie zu der Zahl der übrigen hierhersetzen und sagen,
das Weiss sei in dieser Ordnung unter den einfachen die erste.
Gelb die zweite, Grün die dritte, Blau die vierte, Roth die fünfte»
Schwarz die sechste. Und das Weiss werden wir für Licht
setzen, ohne das man keine Farbe sehen kann, das Gelb für die
Erde, das Grün fürs Wasser, Blau für die Luft, Roth für Feuer
und das .Schwarz für die Finsterniss, die sich über dem Feuer-
element befindet, weil dort keine Materie oder dichter Stoff ist,
auf den die Sonnenstrahlen ihren Stoss ausüben, und den sie in
Folge dessen beleuchten könnten". — »255. Das Blau und das
(jrün sind nicht einfache für sich. Denn das Blau setzt sich
aus Licht und Finsterniss zusammen, wie das Blau der Luft,
aus äusserst vollkommenem Schwarz und vollkommen reinem
Weiss nämlich". „Das Grün setzt sich aus einer einfachen und
einer zusammengesetzten zusammen, nämlich aus Gelb und aus
Blau". Dies wird genügen zu zeigen, dass es sich bei Leonardo
da Vinci theils um Beobachtungen über Pigmente, theils um
naturphilosopische Betrachtungen, nicht aber um die Grund-
farben empfind ungen handelt. Die vielen wunderbaren und
feinen naturwissenschaftlichen Beobachtungen aller Art, welche
in-Leonardo's Buch enthalten sind, führen zu der Ueberzeugung,
dass die Künstler und insbesondere Er, wahre Vorläufer der
grossen bald folgenden Naturforscher waren. Sie mussten die
Natur kennen, um sie angenehm vorzutäuschen; sie beboachteten
sich und anderen zum Vergnügen. Doch hat Leonardo bei
weitem nicht alle Entdeckungen und Erfindungen gemacht,
welche ihm z. B. Groth^) zuschreibt. — Meine nur gelegent-
lichen Aeusserungen über die Theorie der Farbenempfindung
waren vollkommen deutlich. Ich nahm die Grundempfindungen:
Weiss, Schwarz, Roth, Gelb, Grün, Blau und diesen entsprechend
in der Netzhaut sechs verschiedene (chemische) Processe (nicht
Nervenfasern) an. Vergl. Reichert's uud Duboi's Archiv 1865,
1) Leonardo da Vinci als Ingenieur und Philosoph. Betlin 1874.
— 55 —
S. 633 u. ff.) Das Verhältniss der Complementärfarben war natür-
lich, wie jedem Physiker, auch mir bekannt und geläufig. Ich
stellte mir aber vor, dass die beiden Complementärprocesse zu-
sammen einen neuen, den Weissprocess anregen (a. a. O. S. 634).
Die grossen Vorzüge der Heringschen Theorie erkenne ich
freudig an. Sie bestehen für mich in Folgendem. Zunächst
wird der Schwarzprocess als eine Reaction gegen den Weiss-
process aufgefasst. Ich weiss die Erleichterung, welche darin
liegt, umsomehr zu würdigen, als mir das Verhältniss von Schwarz
und Weiss gerade die grösste Schwierigkeit einzuschliessen schien.
Ausserdem werden Roth und Grün, ebenso Gelb und Blau, als
antagonistische Processe aufgefasst, die nicht einen neuen Process
erzeugen, sondern die sich gegenseitig vernichten. Das Weiss
wird hiernach nicht erst erzeugt, sondern es ist schon vorher
vorhanden, und bleibt bei der Vernichtung einer Farbe durch die
Complementärfarbe übrig. Was mich an der Hering'schen
Theorie allein noch gestört hat, war, dass man nicht sah, warum
die beiden Gegenprocesse Schwarz und Weiss zugleich auf-
treten und zugleich empfunden werden können, während dies
bei Roth-Grün und Blau-Gelb nicht möglich ist. Dieses Be-
denken ist aber durch die Darlegung Hering's (Zur Lehre vom
Lichtsinne, Wien 1878, S. 122) beseitigt. (Vergl. auch meine
oben citirte Abhandlung, Sitzungsberichte der Wiener Akademie
Bd. 52, Jahrg. 1865, Oktober).
7-
Die angeführten Beispiele werden genügen, denn Sinn des
aufgestellten Forschungsgrundsatzes zu erläutern, und zugleich
zu zeigen, dass dieser Grundsatz nicht durchaus neu ist. Als
ich mir vor Jahren den Satz formulirte, hatte ich auch keine
andere Absicht, als etwas instinctiv längst Gefühltes mir selbst
zur vollen Klarheit zu bringen.
Es schien mir ein einfacher und natürlicher, ja beinahe
selbstverständlicher Gedanke, dass Aehnlichkeit auf einer theil-
weisen Gleichheit, auf einer theilweisen Identität be-
- 56 -
ruht, und dass man demnach bei ähnhchen Empfindungen nach
den gemeinsamen identischen Empfindungsbestandtheilen und den
entsprechenden gemeinsamen physiologischen Processen zu suchen
hat. Ich kann jedoch den Leser darüber nicht im Unklaren
lassen, dass diese Ansicht sich keineswegs allgemeiner Zustimmung
erfreut. In philosophischen Schriften findet man vielfach die
Behauptung, dass eine Aehnlichkeit auch wahrgenommen werden
kann, ohne dass im geringsten von solchen identischen Bcstand-
theilen die Rede sein könnte. Ein Physiologe^) spricht sich in
folgender Weise über das hier dargelegte Princip aus: „Denn
dessen Anwendung auf die obigen Probleme führt ihn (Mach)
direct dazu, nach dem physiologischen Element zu fragen, welches
jenen postulirten Qualitäten entspreche. Mir scheint nun, dass
von allen Axiomen und Principien keines bedenklicher, keines
grösseren Missverständnissen ausgesetzt ist, als dieser Satz. Sollte
er nichts anderes sein als eine Umschreibung des sog. Parallel-
princips, so würde er weder als neu, noch als besonders frucht-
bar gelten können, und das Gewicht, das auf ihn gelegt wird,
nicht verdienen. Wenn er dagegen besagen soll, dass allem,
was wir psychologisch als etwas Einheitliches herausheben können,
jedem Verhältniss, jeder Form, kurz allem, was wir durch eine
Allgemeinvorstellung bezeichnen können, ein bestimmtes Element,
ein Bestandtheil des ph3^siologischen Geschehens, entsprechen
muss, so kann, glaube ich, diese Formulirung nur als bedenklich
und irreführend bezeichnet werden." Allerdings will ich den
Satz (unter dem S. 48 gemachten Vorbehalt) in diesem letzteren
„bedenklichen und irreführenden" Sinn verstanden wissen. Ich
muss es nun ganz dem Leser überlassen, ob er mir noch weiter
folgen und in den durch jenen Grundsatz deutlich bezeichneten
Anfang der Untersuchung eingehen, oder ob er, der Autorität
der Gegner folgend, umkehren, und sich lediglich mit der Be-
trachtung der vorgehaltenen Schwierigkeiten begnügen will.
i) J. V. Kries, Ueber die materiellen Grundlagen der Bewusstseinserschei-
nungen, Freiburg i, B, 1898.
— 57 —
In ersterem Falle wird er, wie ich hoffe, die Erfahrung machen,
dass nach Erledigung einfacherer Fälle, in Fällen tiefer liegender,
abstracter Aehnlichkeit die Schwierigkeiten nicht mehr in der
abschreckenden Beleuchtung erscheinen, in welcher sie zuweilen
gesehen wurden. Ich möchte nur gleich hinzufügen, dass in
solchen complicirteren Fällen von Aehnlichkeit dieselbe nicht auf
einem gemeinschaftlichen Element, sondern auf einem gemein-
schaftlichen System von Elementen beruht, wie ich dies wiederholt
in Bezug auf das begriffliche Denken ausgeführt habe (Vgl.
das vorletzte Capitel).
8.
Da wir eine eigentliche Kluft zwischen Physischem und
Psychischem überhaupt nicht anerkennen, so versteht es sich,
dass beim Studium der Sinnesorgane sowohl die allgemein physi-
kalischen, als auch die speciell biologischen Erfahrungen Ver-
wendung finden können. Manches, was uns schwer verständlich
bleibt, wenn wir das Sinnesorgan mit einem physikalischen
Apparat parallelisiren, an welchem die „Seele" beobachtet, wird
durchsichtig im Lichte der Entwicklungslehre, wenn wir annehmen,
dass wir mit einem lebenden Organismus mit besonderem Ge-
dächtniss, besonderen Gewohnheiten und Manieren, die einer
langen und schicksalsreichen Stammesgeschichte ihren Ursprung
verdanken, zu thun haben. Die Sinnesorgane sind selbst ein
Stück Seele, leisten selbst einen Theil der psychischen Arbeit,
und überliefern das Ergebniss fertig dem Bewusstsein. Was ich
hierüber zu sagen habe, will ich hier kurz zusammenfassen.
9-
Der Gedanke, die Entwicklungslehre auf die Physiologie der
Sinne inbesondere, und auf die Physiologie überhaupt, anzuwenden,
tritt schon vor Darwin bei Spencer (1855) auf. Derselbe hat
eine mächtige Förderung durch Darwin 's Buch „Ueber den Aus-
druck der Gemüthsbewegungen" erfahren. Später hat Schuster
die Frage, ob es „ererbte Vorstellungen" gebe, in Darwin 'schem
Sinne erörtert. Auch ich habe mich (Sitzungsberichte der Wiener
- 58 -
Akademie, October 1866) für die Anwendung- der Entwicklungs-
lehre auf die Theorie der Sinnesorgane ausgesprochen. Eine der
schönsten und auf klärendsten Ausführungen im Sinne einer psycho-
logisch-physiologischen Anwendung der Entwicklungslehre enthält
die akademische Festrede von Hering^). Gedächtniss und Ver-
erbung fallen in der That fast in einen Begriff zusammen^ wenn
wir bedenken, dass Organismen, welche Theile des Elternleibes
waren, auswandern, und die Grundlage der neuen Individuen
werden. Die Vererbung wird uns durch diesen Gedanken fast
ebenso verständlich als z. B. der Umstand, dass die Amerikaner
englisch sprechen, dass ihre Staatseinrichtungen in vieler Beziehung
den englischen gleichen u. s. w. Das Problem, welches darin liegt,
dass Organismen ein Qedächtniss haben, welches der unorganischen
Materie zu fehlen scheint, wird hierdurch selbstverständlich nicht
berührt, und besteht fort (Vgl. Cap. V, XI). — Will man an Herings
Darstellung nicht unbillige Kritik üben, so muss man in Betracht
ziehen, dass er den Begriff Gedächtniss in einem weiteren Sinne
nimmt. Er hat die Verwandtschaft erschaut, die besteht zwischen
den länger anhaltenden Spuren, welche die Stammesgeschichte den
Organismen aufprägt und den flüchtigeren Eindrücken , die das
individuelle Leben zurücklässt. Das spontane Wiederaufleben
eines einmal eingeleiteten Processes auf einen leisen Anstoss hin
erkennt er als wesentlich denselben Vorgang, ob derselbe nun
in dem engen Rahmen des Bewusstseins beobachtet werden kann,
oder nicht. Das Erschauen dieses gemeinsamen Zuges in
einer grossen Reihe von Erscheinungen ist nun ein wesentlicher
Fortschritt, wenn auch dieser Grundzug selbst noch unaufge-
klärt bleibt. — In neuerer Zeit hat Weis mann 2) auch den Tod
als eine Vererbungserscheinung' aufgefasst. Auch diese schöne
Schrift wirkt sehr aufklärend. Die Schwierigkeit, die man darin
sehen könnte, dass sich eine Eigenschaft vererben soll, die im
Elternorganismus erst sich geltend machen kann, nachdem der
Process der Vererbung- schon abgeschlossen ist, liegt wohl nur
1) Uqjjer das Gedächtniss als eine allgem. Function der organisirten Materie, 1870.
2) Ucber die Dauer des Lebens, 1882.
— 59 —
im Ausdruck. Sie fällt weg, wenn man darauf achtet, dass die
Vermehrungsfälligkeit der Körperzellen auf Kosten der Vermeh-
rung der Keimzellen (wie Weismann andeutet) wachsen kann.
Somit kann man sagen, dass die längere Lebensdauer der
Zellengemeinschaft und die verminderte Fortpflanzung zwei
sich gegenseitig bedingende Anpassungserscheinungen seien. —
Noch als Gymnasiast hörte ich einmal, dass Pflanzen der südlichen
Hemisphäre bei uns blühen, wenn in ihrer Heimath Frühling
ist. Ich erinnere mich lebhaft der geistigen Erschütterung, die
mir diese Mittheilung verursacht hat. Ist dies richtig, so kann
man hierbei in der That an eine Art Gedächtniss der Pflanze denken,
auch dann, wenn die Periodicität der Lebenserscheinungen hiebei
die Hauptsache sein sollte. — Die sogenannten Reflexbewe-
gungen der Thiere lassen sich in natürlicher Weise als Gedächt-
nisserscheinungen ausserhalb des Bewusstseinsorgans auffassen.
Eine der merkwürdigsten dieser Erscheinungen sah ich (ich glaube
1865) bei Rollett an enthirnten Tauben. Diese Thiere trinken
jedesmal, wenn sie mit den Füssen in eine kalte Flüssigkeit ge-
setzt werden, ob dieselbe nun Wasser, Quecksilber oder Schwefel-
säure ist. Da nun ein Vogel gewöhnlich in die Lage kommen
wird, seine Füsse zu benetzen , wenn er seinen Durst zu stillen
sucht, so ergibt sich die Anschauung ganz ungezwungen , dass
hier eine durch die Lebensweise bedingte zweckmässige, durch
Vererbung befestigte Gewohnheit vorliegt, welche (auch bei Aus-
schaltung des Bewusstseins) auf den entsprechenden auslösenden
Reiz mit der Präcision eines Uhrwerks abläuft. Goltz hat in
seinem wunderbaren Buch^) und in späteren Schriften viele der-
artige Erscheinungen beschrieben. — Ich will nun bei dieser Ge-
legenheit noch einige Beobachtungen erwähnen, deren ich mich
mit grossem Vergnügen erinnere. In den Herbstferien 1873 brachte
mir mein kleiner Junge einen wenige Tage alten Sperling, welcher
aus dem Nest gefallen war, und wünschte ihn aufzuziehen. Die
Sache war jedoch nicht einfach. Das Thierchen war nicht zum
Schlingen zu bewegen , und wäre den unvermeidlichen Insulten
i) Die Nervencentren des Frosches, 1869.
— 6o —
beim gewaltsamen Füttern sicherlich bald erlegen. Da stellte ich
folgende Ueberlegung an: „Das neugeborene Kind wäre (ob die
Darwin 'sehe Theorie richtig ist oder nicht) unfehlbar verloren,
wenn es nicht die vorgebildeten Organe und den ererbten Trieb
zum Saugen hätte, welche durch den passenden Reiz ganz auto-
inatisch und mechanisch in Thätigkeit gerathen. Etwas Aehnliches
muss in anderer Form auch beim Vogel existiren." Ich bemühte
mich nun den passenden Reiz zu finden. Ein kleines Insect
wurde an ein spitzes Stäbchen gesteckt und an diesem um den
Kopf des Vogels rasch herumbewegt. Sofort sperrte das Thier
den Schnabel auf, schlug mit den Flügeln und schlang gierig die
dargebotene Nahrung' hinab. Ich hatte also den richtigen Reiz
für die Auslösung des Triebes und der automatischen Bewegung
gefunden. Das Thier wurde zusehends stärker und gieriger, es fing-
an nach der Nahrung zu schnappen, erfasste einmal auch ein zufällig
vom Stäbchen auf den Tisch gefallenes Insect, und frass von da an
ohne Anstand selbstständig. In dem Maasse als sich der Intellect,
die Erinnerung, entwickelte, war ein immer kleinerer Theil des
auslösenden Reizes nothwendig. Das selbstständig gewordene
Thier nahm nach und nach alle characteristischen Sperlingsmanieren
an, die es doch nicht eigens gelernt hatte. Bei Tage (bei wachem
Intellect) war es sehr zutraulich und liebenswürdig'. Des Abends
traten regelmässig andere Erscheinungen auf. Das Thier wurde
furchtsam. Es suchte immer die höchsten Orte der Stube auf,
und beruhigte sich erst, wenn es durch die Zimmerdecke verhindert
wurde, noch höher zu steigen. Wieder eine andere zweckmässige
ererbte Gewohnheit! Bei einbrechender Dunkelheit war das Thier
vollends verändert. Näherte man sich dann , so sträubte es die
Federn, fing an zu fauchen und zeigte den Ausdruck des Entsetzens
und der leibhaftigen Gespensterfurcht. Auch diese ist ganz
wohlbegründet und zweckmässig bei einem Wesen, das unter
normalen Verhältnissen jeden Aug'enblick von irgend einem Un-
gethüm verschlungen werden kann. — Diese letztere Beobachtung
bekräftigte mir die schon vorher gefasste Ansicht, dass die Ge-
spensterfurcht meiner Kinder nicht von den (sorgfältig fernge-
— 6i —
haltenen) Ammenmärchen herrührte, sondern angeboren war.
Eines meiner Kinder fing gelegentlich an, den im Dunkeln stehen-
den Lehnstuhl zu beanstanden, ein anderes wich Abends sorgfältig
einem Kohlenbehälter beim Ofen aus, besonders wenn derselbe
mit geöffnetem Deckel dastand, und einem aufgesperrten Rachen
glich. Die Gespensterfurcht ist die wirkliche Mutter der Religionen.
Weder die naturwissenschaftliche Analyse, noch die sorgfältige
historische Kritik eines D. Strauss Mythen gegenüber, welche
für den kräftigen Intellect schon widerlegt sind, bevor sie noch
erfunden wurden, werden diese Dinge plötzlich beseitigen und
hinwegdecretiren. Was so lange einem wirklichen ökonomischen
Bedürfniss entsprach und theilweise noch entspricht (Furcht eines
Schlimmem, Hoffnung eines Bessern), wird in den dunkleren un-
contro lirbaren instinctiven Gedankenreihen noch lange fort-
leben. Wie die Vögel auf unbewohnten Inseln (nach Darwin)
die Menschenfurcht erst im Laufe mehrerer Generationen er-
lernen müssen, so werden wir erst nach vielen Generationen
das unnöthig gewordene „Gruseln" verlernen. Jede Faustauf-
führung kann uns darüber belehren, wie sympathisch uns insge-
heim die Anschauungen der Hexenzeit noch sind. Nützlicher
als die Furcht vor dem Unbekannten wird dem Menschen die
genaue Kenntnis der Natur, seiner Lebensbedingungen. Und
bald ist es für ihn am wichtigsten , dass er auf der Hut sei vor
Nebenmenschen, die ihn roh vergewaltigen, oder durch Irreleitung
seines Verstandes und Gefühls perfid missbrauchen wollen. —
Noch eine eigenthümliche Beobachtung will ich hier mittheilen,
deren Kenntniss ich meinem Vater (zuletzt Gutsbesitzer in Krain),
einem begeisterten Darwinianer, verdanke. Mein Vater beschäf-
tigte sich viel mit Seidenzucht, zog Yama Mai frei im Eichen-
walde u. s. w. Die gewöhnliche Morus-.Seidenraupe ist seit vielen
Jahrhunderten ein Hausthier und dadurch höchst unbehilflich und
unselbstständig geworden. Kommt die Zeit des Einspinnens
heran, so pflegt man den Thier.en Strohbündel darzubieten, auf
welchen sie sich verpuppen. Mein Vater kam nun eines Tages
auf den Einfall, einer Gesellschaft von Morus-Raupen die üblichen
— 62 —
Strohbündel nicht bereit zu legen. Die Folge war, dass der
grösste Theil der Raupen zu Grunde ging, und nur ein geringer
Bruchtheil, die Genies (mit grösserer Anpassungsfähigkeit), sich
einspann. Ob, wie meine Schwester beobachtet zu haben glaubt,
die Erfahrungen einer Generation schon in der nächsten merklich
benützt werden, muss wohl noch weiter untersucht werden. Aus
den Versuchen, die C. Lloyd Morgan (Comparative psychology,
London 1894), mit jungen Hühnchen, Enten u. s. w. angestellt
hat, geht hervor, dass wenigstens bei höheren Thieren kaum
etwas Anderes angeboren ist als die Reflexe. Das frisch aus-
geschlüpfte Hühnchen pickt gleich mit grosser Sicherheit nach
allem was es sieht. Was aber aufzupicken erspriesslich ist, muss
es durch individuelle Erfahrung lernen. Je einfacher der Or-
ganismus, desto geringer die Rolle des individuellen Gedächt-
nisses. — Aus allen diesen merkwürdigen Erscheinungen brauchen
wir keine Mystik des Unbewussten zu schöpfen. Ein über das
Individuum hinausreichendes Gedächtniss (in der oben bezeichneten
erweiterten Bedeutung) macht sie verständlich. Eine Psychologie
in Spencer-Darwin'schem Sinne auf Entwicklungslehre ge-
gründet, aber auf positiver Detailforschung fussend, verspricht
reichere Resultate als alle bisherigen Spekulationen. — Meine
Beobachtungen und Betrachtungen waren längst angestellt und
niedergeschrieben, als Schneider 's werthvolle Schrift („Der thie-
rische Wille", Leipzig 1880) erschien, die viele ähnliche enthält.
Den Detailausführungen Schneider's, soweit dieselben nicht
durch Lloj^d Morgans Versuche problematisch werden, muss
ich fast durchaus zustimmen, wenngleich seine naturwissenschaft-
lichen Grundanschauungen (das Yerhältniss von Empfindung und
physikalischem Process, die Bedeutung der Arterhaltung u. s. w.
betreffend) von den meinigen wesentlich verschieden sind, und
obgleich ich z. B. auch die Unterscheidung von Empfindungs-
und Wahrnehmungstrieben für ganz überflüssig halte. —
Eine wichtige Umgestaltung unserer Anschauungen über die
Vererbung dürfte durch Weismann's Schrift (Ueber die Ver-
erbung, Jena 1883) eingeleitet sein. Weismann hält die Ver-
- 63 -
erbung durch Uebung- erworbener Eigenschaften für höchst un-
wahrscheinHch und sieht das wichtige Moment in der zufälhgen
Variation der Keimesanlagen und der Auslese der Keimes-
anlagen. Wie man sich auch zu Weismann's Ausführungen
stellen mag, jedenfalls kann die durch ihn angeregte Discussion
zur Klärung der Fragen nur beitragen. Der fast mathematischen
Schärfe und Tiefe seiner Problemstellung wird man gewiss nicht
die Anerkennung versagen , und seinen Argumenten nicht die
Kraft absprechen können. Die Bemerkung z. B. gibt sehr zu
denken, dass die eigenthümlichen, ungewöhnlichen, scheinbar auf
Gebrauch und Anpassung zurückzuführenden Formen der ge-
schlechtslosen Ameisen, welche zudem von der Form ihrer fort-
pflanzungsfähigen Genossen so sehr abweichen , nicht auf einer
Vererbung durch Uebung erworbener Eigenschaften beruhen
können. Dass die Keimesanlagen selbst sich durch äussere Ein-
flüsse ändern können, scheint aber doch durch die Bildung neuer
Racen, welche sich als solche erhalten, ihre Raceneigenschaften
vererben, und die selbst wieder unter andern Umständen einer
Umbildung fähig sind, deutlich hervorzugehen. Auf das Keim-
plasma muss also doch auch der dasselbe umschliessende Leib
Eintluss nehmen (wie Weismann selbst zugibt). Somit ist ein
Einfluss des individellen Lebens auf die Nachkommen doch nicht
auszuschliessen , wenn auch eine direkte Uebertragimg der
Resultate der Uebung des Individuums auf die Descendenten
(nach Weismann's Darlegung) nicht mehr erwartet werden
kann. — Wenn man sich vorstellt, dass die Keimesanlagen zu-
fällig variiren, so ist zu bedenken, dass der Zufall kein Actions-
princip ist. Wenn ganz gesetzmässig wirksame periodische
Umstände verschiedener Art und Periodicität zusammentreffen,
so überdecken sich dieselben derart, dass man im Einzelnen kein
Gesetz mehr wahrnimmt. Dennoch äussert sich das Gesetz im
Verlauf eines längeren Zeitraumes und erlaubt uns auf gewisse
Mittelwerthe, Wahrscheinlichkeiten der Effecte zu rechnen i).
I) Vorlesungen über Psychophysik. Zeitschr. f. prakt. Heilkunde. Wien 1863,
S. 148, 168, 169.
- 64 -
Ohne ein solches Actionsprincip hat die Wahrscheinhckeit, der
Zufall gar keinen Sinn. Welches Actionsprincip sollte aber auf
die Variation der Keimesanlagen mehr Einfluss haben als der
Elternleib? — Ich für meine Person kann mir nicht vorstellen,
dass die Art dem Einflüsse variirender Umstände unterliegen
sollte, welche gleichwohl nicht am Individuum angreifen wür-
den. Meine eigene Variation wird mir aber zudem gewiss,
durch jeden Gedanken, jede Erinnerung, jede Erfahrung, welche
ja mein ganzes physisches Verhalten ändern^).
lO.
Auch teleologische Betrachtungen haben wir als Hilfsmittel
der Forschung keineswegs zu scheuen. Gewiss wird uns das
Thatsächliche nicht verständlicher durch Zurückführung desselben
auf einen selbst problematischen unbekannten ,, Weltzweck", oder
den ebenso problematischen Zweck eines Lebewesens. Allein
die Frage, welchen Werth diese oder jene Function für das that-
sächliche Bestehen des Organismus hat, oder was sie zu der
Erhaltung desselben beiträgt, kann das Verständniss dieser
Function selbst fördern 2). Deshalb dürfen wir natürlich noch
i) Populär-wissenschaftliche Vorlesungen 1897, S. 248, 249.
2) Solche teleologische Betrachtungen sind mir oft nützlich und aufklärend
gewesen. Die Bemerkung z. B., dass ein sichtbares Object bei wechselnder Be-
leuchtungsintensität nur dann als dasselbe wiedererkannt werden kann, wenn die
ausgelöste Empfindung von dem Verhältniss der Beleuchtungsintensitäten des Ob-
jectes und der Umgebung abhängt, macht eine ganze Reihe organischer Eigenschaften
des Auges verständlich. Man versteht durch dieselbe auch, wie der Organismus sich
im Interesse seines Bestehens der bezeichneten Forderung anpassen , und sich darauf
einrichten musste , Lichtintensitätsverhältnisse zu empfinden. Das sogenannte
Weber'sche Gesetz, oder die Fechner'sche psychophysische Fundamentalformel er-
scheint demnach nicht als etwas Fundamentales, sondern als erklärbares Ergebniss
organischer Einrichtungen. Natürlich ist damit der Glaube an die Allgemeingültigkeit
dieses Gesetzes aufgegeben. Ich habe die betreffenden Ausführungen in verschiedenen
Abhandlungen gegeben (Sitzungsberichte der Wiener Akademie, Bd. 52, Jahrg. 1865,
Vierteljahrschrift für Psychiatrie. Neuwied und Leipzig 1868, Sitzungsberichte der
Wiener Akademie, Bd. 57, Jahrg. 1868). In der letzterwähnten Abhandlung habe
ich von der Annahme des Parallelismus zwischen Psychischem und Physischem, oder,
wie ich damals mich ausdrückte, von der Proportionalität zwischen Reiz und
Empfindung ausgehend, die Fechner'sche Massformel (das Logarithmusgesetz)
fallen gelassen, und eine andere Auffassung der Fundamentalformel ange-
- 65 -
nicht glauben, dass wir, wie manche Darwinianer sich ausdrücken,
eine Function „mechanisch erklärt" haben , wenn wir erkennen,
dass sie für das Bestehen der Art noth wendig ist. Darwin selbst
ist von dieser kurzsichtigen Auffassung wohl vollkommen frei.
Durch welche physikalische Mittel die Function sich entwickelt,
bleibt noch immer ein physikalisches, und wie und warum
sich der Organismus anpassen will, ein psychologisches
Problem. Die Erhaltung der Art ist überhaupt nur ein that-
sächlicher werthvoller Anhaltspunkt für die Forschung, keines-
wegs aber das Letzte und Höchste. Arten sind ja wirklich zu
Grunde gegangen , und neue wohl ebenso zweifellos entstanden.
Der lustsuchende und schmerzfliehende Wille ^) muss also wohl
weiter reichen als an die Erhaltung der Art. Er erhält die Art,
wenn es sich lohnt, er vernichtet sie, wenn ihr Bestand sich nicht
mehr lohnt. Wäre er nur auf die Erhaltung der Art gerichtet,
so bewegte er sich, alle Individuen und sich selbst betrügend,
ziellos in einem fehlerhaften Cirkel. Dies wäre das biologische
Seitenstück des berüchtigten physikalischen „perpetuum mobile".
Derselben Verkehrtheit machen sich jene Staatsmänner schuldig,
welche den Staat als Selbstzweck ansehen.
nommen, deren Gültigkeit für die Lichtempfindung ich nicht bestritten habe. Dies
geht aus der daselbst befindlichen mathematischen Entwicklung unzweifelhaft hervor.
Man kann also nicht sagen, wie es Hering gethan hat, dass ich überall auf dem
psychophysischen Gesetz fusse, sofern man unter diesem die Massformel versteht.
Wie hätte ich auch die Proportionalität von Reiz und Empfindung zugleicli
mit der logarithmischen Abhängigkeit festhalten können? Mir war es genügend,
meine Meinung deutlich zu machen, die Fe ebner 'sehe eingehend zu kritisiren und zu
bekämpfen, hatte ich aus vielen naheliegenden Gründen kein Bedürfniss. Genau ge-
nommen halte ich auch den Ausdruck Proportionalität für unzutreffend, da von einer
eigentlichen Messung der Empfindung doch nicht die Rede sein kann, sondern höch-
stens von einer genauen Characterisirung und Inventarisirung durch Zahlen. Vergl.
„Principien der Wärmelehre", S. 56, was über die Bezeichnung der Wärmezustände
gesagt ist.
i) Man kann den Schopenhauer 'sehen Gedanken der Beziehung von Willen
und Kraft ganz wohl annehmen, ohne in beiden etwas Metaphysisches zu sehen.
Mach, Analyse. 3. Aufl.
V. Physik und Biologie. Causalität und Teleologie.
I.
Verschiedene Wissensgebiete entwickeln sich oft lange Zeit
nebeneinander, ohne dass eines auf das andere Einfluss nimmt.
Gelegentlich können sie aber wieder in engern Contact treten,
wenn bemerkt wird, dass die Lehren des einen durch jene des
andern eine unerwartete Aufklärung erfahren. Dann zeigt sich
sogar das natürliche Bestreben, das erstere Gebiet ganz in dem
letzteren aufgehen zu lassen ^). Der Zeit der Hoffnungsfreudig-
keit, der Ueberschätzung dieser vermeintlich alles aufklärenden
Beziehung folgt aber bald eine Periode der Enttäuschung und
abermaligen Trennung- dieser Gebiete, in welcher wieder jedes
seine eigenem Ziele verfolgt, seine besonderen Fragen stellt, und
seine eigenthümlichen Methoden anwendet. Jeder solche zeit-
weilig'e Contact hinterlässt bleibende Spuren. Ausser dem. posi-
tiven Wissensgewinn, welcher nicht zu unterschätzen ist, wird
aber durch die zeitweilige Beziehung verschiedener Gebiete eine
Metamorphose der Begriffe eingeleitet, wodurch diese geklärt
und über das Gebiet ihrer Entstehung hinaus anwendbar werden.
2.
Wir befinden uns nun in einer solchen Periode mannig-
faltiger Beziehungen, und die eingeleitete Gährung' der Begriffe
bietet recht merkwürdige Erscheinungen dar. Während manche
Physiker die physikalischen Begriffe psychologisch, logisch und
mathematisch zu säubern bestrebt sind, finden sich andere Ph}^-
siker hiedurch beunruhigt und treten, philosophischer als die
i) Veri^l. \V. Pauli, Plij'silcalisch -chemische Methoden in der Medicin. Wien
1900. — Daselbst wird eine verwandte enger begrenzte ]<"iage beliandelt.
1
- 67 -
Philosophen, für die von diesen vielfach schon aufgegebenen alten
metaphysischen Begriffe ein. Philosophen, Psychologen, Biologen,
und Chemiker wenden den Energ-iebeg'riff und andere physikalische
Begriffe in so freier Weise auf die weitesten Gebiete an, wie
dies der Physiker auf eigenem Gebiet kaum wagen würde.
Man könnte fast sag-en, die gewöhnlichen Rollen der Fächer
seien vertauscht. Ob nun diese Bewegung theils positiven, theils
negativen Erfolg hat, jedenfalls wird sich aus derselben eine
präcisere Bestimmung der Begriffe, eine genauere Abgrenzung
ihres Anwendungsbereiches, eine klarere Vorstellung von der
Verschiedenheit und der Verwandtschaft der Methoden der ge-
nannten Gebiete ergeben.
3-
Uns handelt es sich hier insbesondere um die Beziehungen
des physikalischen und biologischen Gebietes im weitesten Sinne.
Schon Aristoteles unterschied wirkende Ursachen und End-
ursachen oder Zwecke. Es wurde nun vorausgesetzt, dass die
Erscheinungen des ersteren Gebietes durchaus durch wirkende
Ursachen, jene des letzteren aber auch durch Zwecke bestimmt
seien. Die Beschleunigung eines Körpers z. B. ist nur durch
die wirkenden Ursachen, durch die augenblicklichen Umstände,
die Gegenwart anderer gravitirender, magnetischer oder elec-
trischer Körper bestimmt. Die Wachsthumsentwicklnng eines
Thieres oder einer Pflanze in ihren eigentümlichen bestimmten
Formen, oder die Instincthandlungen eines Thieres vermögen wir
gegenwärtig aus den wirkenden Ursachen allein nicht abzuleiten,
doch werden uns dieselben aus dem Zweck der Selbsterhaltung
unter diesen besonderen Lebensumständen wenigstens th eil weise
verständlich. Welche theoretische Bedenken gegen die An-
wendung des Zweckbegriffes in der Biologie man auch hegen
möchte, gewiss wäre es verkehrt, auf einem Gebiete, wo die
„causale" Betrachtung noch so unvollkommene Aufklärungen
gibt, die leitenden Fäden, welche die Zweckbetrachtung liefert,
ungenützt liegen zu lassen. Ich weiss nicht, wodurch die Raupe
— 68 —
des Nachtpfauenauges gezwungen wird, einen Cocon mit einer
nach aussen sich öffnenden Borstenklappe zu spinnen, aber ich
sehe ein , dass gerade ein solcher Cocon dem Zwecke ihrer
Lebenserhaltung entspricht. Ich bin weit davon entfernt, die
vielen merkwürdigen Entwicklungserscheinungen und Instinct-
handlungen der Thiere, die schon Reimarus und Autenrieth
beschrieben und studirt haben, „causal" zu verstehen, aber ich
verstehe sie nach dem Zweck der Lebenserhaltung und unter
ihren besonderen Lebensbedingungen. Jene Erscheinungen ziehen
dadurch die Aufmerksamkeit auf sich und fügen sich dem
Lebensbild des organischen Wesens als unverlierbare Bestand-
theile ein, welches sich dadurch erst zu einem einheitlichen, zu-
sammenhängenden Ganzen gestaltet. Reimarus und Auten-
rieth haben auf diesem Wege die Verwandtschaft zwischen den
Wachsthumserscheinungen und den Instincterscheinungen schon
erkannt. Aber erst in neuester Zeit sind, besonders durch die
pflanzenphysiologischen Untersuchungen von Sachs und die
thierphysiologischen Arbeiten von Loeb über Geotropismus, He-
liotropismus, Stereotropismus u. s. w. die Beziehungen zwischen
Wachsthum und Instinct wirklich aufgeklärt worden, und man
fängt an, dieselben auch „causal" zu begreifen. Wie nützlich der
Zweckbegriff der biologischen Forschung war, darüber kann dem
Zeugniss der Geschichte gegenüber gar kein Streit sein. Man
denke nur an Kepler's Untersuchung des Auges. Die Existenz
der Accommodation war für ihn nach dem Zweck des Auges,
der Thatsache des deutlichen Sehens in verschiedene Entfernungen,
unzweifelhaft, die Vorgänge aber, welche die Accommodation
bewirken, wurden erst dritthalb Jahrhunderte später wirklich ent-
hüllt. Harvey gelangte zur Entdeckung der Blutbewegung, in-
dem er sich den problematischen Zweck der Stellung der Herz-
und Venenklappen klar machen wollte.
4-
Wenn ein Gebiet von Thatsachen teleologisch auch voll-
kommen durchschaut ist, so bleibt das Bedürfniss nach dem „cau-
- 69 -
salen" Verständniss dennoch bestehen. Der Glaube an eine gänz-
lich verschiedene Natur der beiden betrachteten Gebiete, vermöge
welcher das eine überhaupt nur causal, das andere überhaupt
nur teleologisch zu begreifen wäre, ist nicht gerechtfertigt. Der
physikalische Thatsachencomplex ist einfach, oder lässt sich
wenigstens in vielen Fällen willkürlich (durch das Experiment) so
einfach- g'estalten, dass die unmittelbaren Zusammenhänge sicht-
bar werden. Haben wir uns nun durch genügende Beschäftigung
mit diesem Gebiete Begriffe B von der Art dieser Zusammenhänge
erworben, die wir für den Thatsachen allgemein entsprechend
halten, so müssen wir mit logischer Nothwendigkeit er-
warten, dass auch jede vorkommende Einzelthatsache den Be-
griffen B entspricht. Hierin liegt aber keine Naturnothwen-
digkeit^). Das ist das „causale" Verständniss. Der biologische
Thatsachencomplex ist nun so zusammengesetzt, dass die un-
mittelbaren Zusammenhänge nicht übersehen werden. Des-
halb begnügen wir uns, auffallende, nicht unmittelbar zusammen-
hängende Theile des Thatsachencomplex als zusammenhängend
hervorzuheben. Der an dem einfacheren Causalverhältniss ge-
schulte Intellect findet nun in dem Fehlen der Zwischenglieder
Schwierigkeiten, die er entweder nach Möglichkeit durch Auf-
suchen dieser Zwischenglieder zu beheben sucht, oder er verfällt
auf die Hypothese einer ganz neuen Art von Zusammenhängen.
Letzteres ist unnöthig% wenn wir unsere Kenntnisse als unvoll-
ständig und provisorisch ansehen und bedenken, dass in physi-
kalischen Gebiet ganz analoge Fälle vorkommen. Die antiken
Forscher unterschieden auch nicht so genau zwischen beiden Ge-
bieten. Aristoteles lässt z. B. die schweren Körper ihren Ort
suchen; Heron glaubt, dass die Natur aus Erspar ungs-
rücksichten das Licht auf den kürzesten Wegen und in der
kürzesten Zeit führe, u. s. w. Diese Forscher zogen keine so
scharfe Grenze zwischen dem Physikalischen und Biologischen.
Durch eine unscheinbare Wendung des Gedankens kann man
I) Principien der Wärmelehre. 2. Aufl., Leipzig 1900, S. 434, 457.
— 70 —
übrigens jede teleologische Frage so formuliren, dass der Zweck-
begriff ganz aus dem Spiel bleibt. Das Auge sieht in
verschiedenen Entfernungen deutlich; dessen dioptrischer Apparat
muss also veränderlich sein ; worin besteht diese Veränderung? Herz-
und Venenklappen öffnen sich alle in demselben Sinne; nur ein-
seitige Blutbewegung ist unter diesen Umständen möglich. Ist
sie vorhanden ? Die modere Entwicklung-sichre hat sich diese
nüchterne Denkweise ang-eeignrt. Selbst in hoch entwickelten
Partien der Physik finden wir andererseits Ueberlegungen, welche
mit jenen der biologischen Wissenschaften sehr verwandt sind.
Wir untersuchen z. B. die stehenden Schwingungen, welche unter
gegebenen Verhältnissen möglich sind, d. h. sich erhalten
können. Die Art, wie dieselben aber entstehen, ist uns
durchaus noch nicht genau bekannt. Die Lichtbewegung auf den
kürzesten Wegen erklären wir durch eine Auslese der wirk-
samen Wege. Die Denkweise des Chemikers steht zuweilen jener
des Biologen noch viel näher. Alle möglichen Verbindungen
bilden sich nach seiner Auffassung in einer Lösung', die unlös-
lichen aber, welche neuen Angriffen stärker widerstehen, tragen
über die andern den Sieg davon, und bleiben übrig. Es scheint
also zunächst noch keine Nöthigung zu bestehen, einen tief-
gehenden Unterschied zwischen teleologischer und causaler
Untersuchung anzunehmen. Die erstere ist einfach eine vor-
läufige.
5-
Um dies noch näher zu begründen, gehen wir nochmals auf
die Vorstellungen von der Causalität ein. Die alte, hergebrachte
Vorstellung von der Causalität ist etwas ungelenkig: einer Dosis
Ursache folgt eine Dosis Wirkung. Es spricht sich hierin eine
Art primitiver, pharmaceutischer Weltanschauung aus, wie in der
Lehre von den vier Elementen. Schon durch das Wort Ursache
wird dies deutlich. Die Zusammenhänge in der Natur sind selten
so einfach, dass man in einem gegebenen Falle eine Ursache
und eine Wirkung angeben könnte. Ich habe deshalb schon vor
— 71 --
langer Zeit versucht, den Ursachenbegriff durch den mathe-
matischen Functionsbegriff zu ersetzen: Abhängigkeit
der Erscheinungen von einander, genauer Abhängig-
keit der Merkmale der Erscheinungen von einander i).
Dieser Begriff ist einer beliebigen Erweiterung und Einschränkung
fähig, je nach der Forderung der untersuchten Thatsachen. Die
gegen denselben erhobenen Bedenken möchten also wohl zu be-
seitigen sein 2). Betrachten wir als einfaches Beispiel das Ver-
halten gravitirender Massen. Tritt einer Masse A eine Masse B
gegenüber, so folgt hierauf eine Bewegung von A gegen B
hin. Dies ist die alte Formel. Genauer betrachtet, zeigt sich
aber, dass die Massen A, B, C, D . . . einander gegenseitig
Beschleunigungen bestimmen, welche also mit der Setzung der
Massen zugleich gegeben sind. Die Beschleunigungen geben
die Geschwindigkeiten an, welche in einer künftigen Zeit er-
reicht sein werden. Es sind hiedurch nun auch die Lagen von
A, B, C, D . . . für jede Zeit bestimmt. Das physikalische
Maass der Zeit gründet sich aber wieder auf Raummessung
(Drehung der Erde). Es ergiebt sich also schliesslich Abhängigkeit
der Lagen voneinander. Schon in diesem einfachsten Falle ver-
mag die alte Formel der Mannigfaltigkeit der Beziehungen, welche
in der Natur bestehen, nicht zu fassen. So kommt auch in andern
Fällen alles auf gegenseitige Abhängigkeit hinaus, über
deren Form selbstverständlich von vornherein gar nichts ausge-
sagt werden kann, da hierüber nur die Specialforderungen zu
entscheiden hat. Eine gegenseitige Abhängigkeit lässt Ver-
i) Die Geschichte und die Wurzel des Satzes der Erhaltung der Arbeit. Prag,
Calve, 1872.
2) Solche Einwendungen wurden erhoben von: Külpe, „Ueber die Beziehungen
zwischen körperlichen und seelischen Vorgängen" fZeitschr. für Hypnotismus, Bd. 7,
S. 97), ferner von Cossniann , „Empirische Teleologie". Stuttgart 1899, S. 22. Ich
glaube nicht, dass meine Auffassung von jener Cossmann's so sehr abweicht, dass
eine "Verständigung nicht möglich wäre. Bei längerer Erwägung würde Cossmann
wahrscheinlich erkannt haben, dass ich den P'unctionsbegriff an die Stelle des alten
Causalitätsbegriffes gesetzt habe, und dass dieser auch für jene Fälle genügt, welche
er im Auge hat. Gegen die „empirische Teleologie" habe ich übrigens nichts ein-
zuwenden. Vgl. auch C. Hauptmann, Die Metaphysik in der Physiologie. Dresden 1893.
- ■]2 —
änderung nur zu, wenn irgend eine Gruppe der in Beziehung
stehenden Stücke als unabhängig variabel betrachtet werden
kann. Deshalb ist es zwar möglich, das Weltbild in wissen-
schaftlich bestimmter Weise im Einzelnen zu ergänzen, wenn ein
ausreichender Theil desselben gegeben ist, wo aber die glänze
Welt hinaus will, kann wissenschaftlich nicht ermittelt werden.
Wenn ein (etwa durch Centralkräfte) gut definirtes mecha-
nisches System in seinen Lagen und Geschwindigkeiten gegeben
ist, so ist dessen Configuration als Function der Zeit bestimmt. Man
kennt dieselbe zu einer beliebigen Zeit vor und nach der An-
fangszeit, kann also voraus und rückwärts prophezeien. Dies
gilt in beiden Fällen nur, wenn Störungen von aussen nicht
eintreten, das System also in gewissem Sinne als ein für sich
abgeschlossenes angesehen werden kann. Als ganz von der
übrigen Welt isolirt kann man kein System auffassen, da die
Bestimmung der Zeit, demnach auch der Geschwindigkeiten, die
Abhängigkeit von einem Parameter voraussetzen, der durch den
zurückgelegten Weg eines ausserhalb des S)^stems lieg-enden
Körpers (Planeten) bestimmt wird. Die thatsächliche Abhängig-
keit, wenn auch nicht die unmittelbare Abhängigkeit aller Vor-
gänge von der Lage eines Weltkörpers verbürgt uns den Zu-
sammenhang der ganzen Welt. Analoge Ueberlegungen gelten
für ein beliebiges physikalisches System, wenn man dasselbe auch
nicht als ein mechanisches auffasst. Alle genau und klar er-
kannten Abhängigkeiten lassen sich als gegenseitige Simul-
tanbeziehungen auffassen.
Betrachten wir im Gegensatz hierzu die populären Begriffe
v/ \/\/ \/ Ursache und Wirkung.
S^.— —.— -.— -' K Die Sonne, S, Fig'. i b,
/ \ /^\ / '^\ /\ bestrahle einen in ir-
^^g""" '^- gend einem Medium
eingetauchten K(')rper K. Datin ist die Sonne, oder die Sonnen-
wärme, die Ursache der Erwärmung- des Körpers K, welche
regelmässig auf die Bestrahlung folgt. Andererseits kann der
Körper K oder dessen rcMupcratürändorung nicht als Ursache
— 73 —
der Temperaturänderung der Sonne angesehen werden, wie es
allerdings der Fall wäre, wenn S und K allein in unmittel-
barer Wechselbeziehung stünden. Die beiden Aenderungen
wären dann simultan und würden sich gegenseitig bestimmen.
Es liegt dies also an den Zwischengliedern, den Elementen A, B
des Mediums, welche nicht nur an K, sondern auch an andern
Elementen Aenderungen bestimmen und von letzteren Bestimm-
ungen erfahren. K steht ebenso mit unzähligen Elementen in
Wechselbeziehung, und nur ein verschwindender Theil seiner
Strahlung gelangt zur Sonne zurück. An analogen Umständen liegt
es, dass ein Körper auf die Netzhaut ein Bild wirft, eine Gesichts-
empfindung auslöst, und dass von dieser eine Erinnerung zurückbleibt,
während durch die Erinnerung nicht das Netzhautbild oder gar
der ganze Körper restituirt wird. Darin liegt für mich der Vor-
zug des Functionsbegriffes vor dem Ursachenbegriff, dass ersterer
zur Schärfe drängt, und dass demselben die Un Vollständigkeit,
Unbestimmtheit und Einseitigkeit des letzteren nicht anhaftet.
Der Begriff Ursache ist in der That ein primitiver vorläufiger
Nothbehelf. Ich meine, das muss jeder moderne Naturforscher
fühlen, der z. B. die Mill'schen Ausführungen über die Methoden
der experimentellen Forschung in Augenschein nimmt. Er würde
beim Versuch der Anwendung nicht über das Vorläufigste
hinauskommen. — Man kann zwischen räumlich und zeitlich sehr
weit Abliegendem functionale Beziehungen vermuthen, von der
Gegenwart aus in. die ferne Zukunft oder Vergangenheit zu
prophezeien versuchen, und kann darin Glück haben. Der Ge-
danke wird aber auf desto weniger sicherer Basis ruhen, je
grösser die Entfernung ist. Deshalb ist es unbeschadet der
Grösse des Newton 'sehen Gedankens ein so wichtiger Fortschritt
der modernen Physik, dass sie, wo sie es kann, die Berück-
sichtigung der räumlichen und zeitlichen Continuität fordert.
6.
Es möchte demnach scheinen, dass man mit dem Func-
tionsbegriff sowohl im physikalischen als im biologischen Ge-
— 74 —
biet auskommen, und dass derselbe allen Forderungen entsprechen
könnte. Der sehr verschiedene Anblick, welchen die beiden Ge-
biete zeigen, braucht uns nicht abzuschrecken. Ganz nahe ver-
wandte Gruppen von physikalischen Erscheinungen,, wie die
Reibungselectricität und die galvanische Electricität sehen so ver-
schieden aus, dass man von vornherein kaum eine Zurückführung
beider auf dieselben Grundthatsachen erwarten möchte. Die
magnetischen und chemischen Erscheinungen, w^elche im ersteren
Gebiete kaum merklich sind, und dort schwerlich hätten ent-
deckt werden können , treten im letzteren gewaltig' hervor,
während umgekehrt die ponderomotorischen und Spannungs-
erscheinungen nur im ersteren Gebiete sich leicht und ungesucht
darbieten. Bekannt ist aber, wie sehr beide Gebiete sich gegen-
seitig ergänzen und aufklären. Ist man doch daran, die chemische
Natur der Reibungselectricität durch die galvanische Electricität
zu enthüllen. Ein analoges Verhältniss besteht wohl auch
zwischen dem physikalischen und biologischen Gebiet.
Beide enthalten wohl dieselben Grundthatsachen; manche Seiten
derselben äussern sich aber nur in dem einen , manche nur in
dem andern merklich, so dass nicht nur die Physik der Biologie,
sondern auch die letztere der erstem hilfreich und aufklärend zur
Seite stehen kann. Den unbezweifelten Leistungen der Physik
in der Biologie stehen ebenso andere Fälle gegenüber, in welchen
erst die Biologie neue physikalische Thatsachen ans Licht ge-
fördert hat (Galvanismus, Pfeffer'sche Zelle u. s. w.). Die
Physik wird in der Biologie noch mehr leisten, wenn sie erst
noch durch die letztere gewachsen sein wird.
7-
Wer nur mit physikalischen Betrachtungen vertraut in das
Gebiet der Biologie kommt und nun vernimmt, das einem Thier
eigenthümliche Organe wachsen, welche es erst in einem
spätem Lebensstadium zu zweckmässiger Verwendung bereit
findet, dass es Instincthandlungen ausführt, die es nicht gelernt
haben kann, und die erst dem künftigen Geschlecht zu Gute
— 75 —
kommen, dass es sich in seiner Färbung der Umgebung anpasst
um möglichen künftigen Feinden zu entg'ehen, kann in der That
leicht zur Annahme ganz besonderer hier wirksamer Factoren
gelangen. Diese räthselhafte Fernvvirkung der Zukunft
kann schon deshalb nicht mit einer physikalischen Beziehung
parallelisirt werden, weil sie nicht ausnahmslos exact besteht,
denn viele Organismen bereiten sich für ein späteres Lebens-
stadium vor, gehen aber zu Grunde, ohne dasselbe zu erreichen.
Man wird nicht etwas, das selbst nicht oder nur mangelhaft be-
stimmt ist, als bestimmend für ein Gegenwärtiges, uns vor Augen
liegendes ansehen wollen. Bedenken wir aber, dass die Vorgänge
im Leben der Generationen periodisch wiederkehren, so sehen
wir, dass die Auffassung eines bestimmten Lebensstadiums als
eines Zukünftigen und Fernwirkenden etw^as willkürlich und
gewagt ist, und dass dasselbe auch als ein Vergangenes der
Vorfahren, als ein Gegebenes, welches Spuren zurückgelassen hat,
ang'esehen w^erden kann, wobei das ungewohnte Unbegreifliche
sich sehr vermindert. Es ist dann nicht eine mögliche Zu-
kunft, die wirken könnte, sondern eine gew^iss unzählige Mal
dagewesene Vergangenheit, die gewiss gewirkt hat.
Um Beispiele dafür anzuführen, dass die Physik die Fähig-
keit besitzt, an der Lösung scheinbar specifisch biologischer
Fragen wirksam mitzuarbeiten, gedenken wir des merkwürdigen
Aufschwungs der experimentellen Embryologie, der Ent-
wicklungsmechanik mit ihren physikalisch-chemischen Methoden.
Sehr bemerkenswerth ist auch O. Wiener's Nachweis des wahr-
scheinlichen Zusammenhanges der Farbenphotographie und der
P^arbenanpassung in der Natur ^). Ausser der Schichtenbildung
eines lichtempfindlichen Mediums durch stehende Lichtwellen,
welche die Farbe des beleuchtenden Lichtes als Interferenzfarbe
wiedergibt, kann eine der Beleuchtung entsprechende Färbung
noch auf eine andere Art entstehen. Es gibt lichtempfindliche
Stoffe, die fast jede Färbung annehmen können. Werden die-
l) O. Wiener, Farbenphotographie und Farbenanpassung in der Natur. Wiede-
mann's Annalen, Bd. 55 (1895), S. 225.
- 76 -
selben farbiger Beleuchtung ausgesetzt, so behalten sie die
Farbe der Beleuchtung, weil sie nun die vStrahlen derselben
Farbe nicht absorbiren und folglich nicht weiter der Veränderung
durch das Licht unterliegen. Nach Poulton's^) Beobachtungen
ist es wahrscheinlich, dass viele Anpassungsfarben von Schmetter-
lingspuppen auf diese Art entstehen. In solchen Fällen ist
also das wirksame Mittel nicht weit von dem „Zweck" zu
suchen, welcher erreicht wird. Sagen wir nüchtern: Der
Gleichgewichtszustand ist durch die Umstände bestimmt, unter
welchen derselbe erreicht wird.
Die Begriffe „wirkende Ursache" und „Zweck" stammen ur-
sprüngiich beide von animistischen Vorstellungen ab, wie
man an dem Beispiel der antiken Forschung noch ganz deutlich
sieht. Gewiss wird der Wilde über seine eigenen spontanen, ihm
natürlich und selbstverständlich scheinenden Bewegungen sich
nicht den Kopf zerbrechen. Sobald er aber unerwartete auf-
fallende Bewegungen in der Natur wahrnimmt, setzt er dieselben
instinctiv mit seinen eig-enen in Analogie. Es leuchtet ihm hier-
durch der Gedanke des eigenen und fremden Willens auf-).
Nach und nach treten abwechselnd die Aehnlichk eiten und
Unterschiede der physikalischen und biologischen Vorgänge
mit dem Grundschema der Willenshandlung immer deutlicher
hervor, und hiemit gestalten sich die Begriffe schärfer. In der
bewussten Willenshandlung fallen Ursache und Zweck noch zu-
sammen. Die grosse Einfachheit, die Berechenbarkeit der phy-
I
i) Poulton, The Colours of Animals. London 1890.
2) Ich setzte meinem etwa 3-jährigen Jungen eine Hol tz 'sehe Electrisirmaschine
in Gang, und er erfreute sich an dem Funkenspiel derselben. Als ich aber die
Maschine losliess und dieselbe weiterrotirte, zog er sich furchtsam zurück, und hielt
sie augenscheinlich für belebt. ,,Sie läuft allein"! rief er betroffen und ängstlich.
Vielleicht verhalten sich Hunde, die jedem bewegten Wagen bellend nachlaufen, ähn-
lich. Ich erinnere mich, dass ich im Alter von etwa 3 Jahren erschrak, als die
elastische Samenkapsel einer Balsamine beim Drücken sich öffnete und meinen Finger
umfasste. Dieselbe erschien mir belebt, als ein Thier.
— 77 -
sikalischen Vorgänge drängt in Bezug auf diese die ani-
mistische Auffassung- immer mehr zurück. Der Begriff Ursache
geht allmähg durch ungelenkige P'ormen in den Begriff der Ab-
hängigkeit, in den Functionsbegriff über. Nur für die Erschein-
ungen des org-anischen Lebens, welche der animistischen Auf-
fassung weniger widerstreben, wird der ZweckbegrifF, die An-
sicht des zielbewussten Handelns, noch aufrecht erhalten, und wo
letzteres dem organischen Wesen selbst nicht zugemuthet werden
kann, denkt man sich ein anderes über demselben schwebendes,
zielstrebiges Wesen (Natur u. s. w.), durch welches ersteres g"e-
leitet wird.
Der Animismus (Anthropomorphismus) ist an sich kein er-
kenntnisstheoretischer Fehler, es müsste denn jede Analogie ein
solcher sein. Der Fehler liegt nur in der Anwendung dieser An-
sicht in Fällen, in welchen die Prämissen dafür fehlen, oder nicht
zureichen. Die Natur, welche den Menschen bildet, hat Analoges
von niederer, und zweifellos auch höherer Entwicklung", reichlich
erzeugt
9-
Jeder Organismus und die Theile desselben unterliegen den
physikalischen Gesetzen. Daher das berechtigte Bestreben, den-
selben nach und nach physikalisch zu begreifen und die „causale"
Betrachtung allein zur Geltung zu bringen. Versucht man aber
dies, so stösst man immer auf ganz eigenthümliche Züge des
Organischen, für welche sich in den bisher durchschauten physi-
kalischen Erscheinungen (der ,, leblosen" Natur) keine Analogie
darbietet. Ein Organismus ist ein System, dass eine Beschaffen-
heit (chemischen. Wärmezustand u. s. w.) gegen äussere Einflüsse
zu erhalten vermag, das einen dynamischen Gleichgewichtszu-
stand von beträchtlicher Stabilität darbietet i). Der Organismus
vermag durch Aufwand von Energie aus der Umgebung andere
Energie an sich zu ziehen, welche jene Verlust ersetzt oder über-
i) Hering, Vorgänge in der lebendigen Substanz. Lotos, Prag i<
^ 78 -
bietet^). Eine Dampfmaschine, die ihre Kohle selbst herbeischafft
und sich selbst heizt, ist nur ein schlechtes künstliches Bild des
Organismus. Der Organismus besitzt diese Eigenschaften in sehr
kleinen Theilen und regenerirt sich aus diesen, d. h. er wächst
und pflanzt sich fort. Die Physik wird also aus dem Studium
des Organischen an sich noch sehr viel neue Einsicht schöpfen
müssen, bevor sie auch das Organische bewältigen kann.'-).
Vergleichen wir unsere Willenshandlung mit einer an uns
selbst beobachteten, zu unserer eigenen Ueberraschung eintreten-
den Reflexbewegung, oder mit der Reflexbewegung- eines Thieres.
In den beiden letzteren Fällen werden wir die Neigung verspüren,
den ganzen Vorgang als durch die augenblicklichen Umstände im
Organismus physikalisch bestimmt anzusehen. Was wir Willen
nennen, ist nun nichts Anderes, als die Gesammtheit der theil-
weise bewussten und mit Voraussicht des Erfolges ver-
bundenen Bedingungen einer Bewegung. Analysiren wir
diese Bedingungen, soweit sie ins Bewusstsein fallen, so finden
wir nichts als die Erinnerungsspuren früherer Erlebnisse und
deren Verbindung (Association). Es scheint, dass die Aufbe-
wahrung solcher Spuren und deren Verbindungen eine Grund-
function der Elementarorganismen ist, wenngleich wir da
nicht mehr von einem Bewusstsein, von einer Einordnung in ein
System von Erinnerungen sprechen können.
Könnte man Gedächtniss und Association im weiterem
Hering' sehen Sinne als Grundeigenschaften der Elementaror-
ganismen ansehen, so würde die Anspassung verständlich ^). Was
sich begünstigt, trifft öfter zusammen als im Verhältniss der zu-
sammengesetzten Wahrscheinlichkeit, und bleibt associirt. Gegen-
wart der Nahrung, Sättigungsgefühl und Schling'bewegung- bleiben
verbunden. Dass in der Ontogenie gekürzt die Phylogenie wie-
derholt wird, wäre eine Parallele zu der bekannten Erscheinung,
1) Hirth, Energische Epigcncsis. München 1898, S. X, XI.
2) Hering, Zur Theorie der Nerventhätigkeit. Leipzig 1899.
3) Hering, Ueber das Gedächtniss als allgemeine Function der organisirteu
Malerie. Wien 1870.
— 79 --
dass Gedanken mit VorHebe auf den einmal eingeschlagenen Wegen
wiederkehren, und unter ähnlichen Verhältnissen auch ähnlich
wieder entstehen. In der That entwickelt sich jeder Organismus
embr3''onal und auch später unter sehr ähnlichen Verhältnissen.
Was nun physikalisch dem Gedächtniss und der Association
entspricht, wissen wir nicht. Alle Erklärungsversuche sind sehr
gewaltsame. Es scheint da fast keine Analogie zwischen Organi-
schem und Unorganischem zu bestehen. In der Sinnesphysio-
logie können aber vielleicht die psychologische und physika-
lische Beobachtung bis zu gegenseitiger Berührung vordringen,
und uns so neue Thatsachen zur Kenntniss bringen i). Aus dieser
Untersuchung wird kein Dualismus hervorgehen , sondern eine
Wissenschaft, welche Organisches und Unorganisches umfasst,
und die den beiden Gebieten gemeinsamen Thatsachen darstellt.
i) Die erste schüchterne Andeutung dieses Gedankens, noch in Fechn er 'scher
Färbung, habe ich gegeben: Compendium der Physik für Medianer 1863, S. 234.
VI. Die Raumempfindungen des Auges.
I.
Der Baum mit seinem grauen harten rauhen Stamm, den
vielen im Winde bewegten Zweigen, mit den glatten, glänzenden
weichen Blättern erscheint uns zunächst als ein untrennbares
Ganze. Ebenso halten wir die süsse runde gelbe Frucht, das helle
warme Feuer mit seinen mannigfaltig bewegten Zungen für ein
Ding. Ein Name bezeichnet das Ganze, ein Wort zieht wie an
einem Faden alle zusammengehörigen Erinnerungen auf einmal
aus der Tiefe der Vergessenheit hervor.
Das Spiegelbild des Baumes, der Frucht, des Feuers ist sicht-
bar, aber nicht greifbar. Bei abgewendetem Blick oder ge-
schlossenen Augen können wir den Baum tasten, die Frucht
schmecken, das Feuer fühlen, aber nicht sehen. So trennt sich
das scheinbar einheitliche Ding in Theile, welche nicht nur an-
einander, sondern auch an andern Bedingungen haften. Das
Sichtbare trennt sich von dem Tastbaren, Schmeckbaren u. s. w.
Auch das bloss Sichtbare erscheint uns zunächst als ein
Ding. Wir können aber eine gelbe runde Frucht neben einer
gelben sternförmigen Blüthe sehen. Eine zweite F>ucht kann
ebenso rund sein als die erste, sie ist aber grün oder roth. Zwei
Dinge können von gleicher Farbe aber ungleicher Gestalt sein;
sie können von verschiedener Farbe und gleicher Gestalt sein.
Hierdurch theilen sich die Gesichtsempfindungen in Farben-
empfindungen und Raumempfindungen', die wohl von ein-
ander unterschieden, wenn auch nicht von einander isoliert
dargestellt werden können.
8i
2.
Die Farbenempfindung, auf welche wir hier nicht näher ein-
gehen, ist im Wesentlichen eine Empfindung der günstigen oder
ungünstigen chemischen Lebensbedingungen. In der Anpassung
an diese möchte sich die Farbenempfindung entwickeln und
modificiren ^). Das Licht leitet das org'anische Leben ein. Das
grüne Chlorophyll und das (compl ementär) rothe Hämo-
globin spielen in dem chemischen Process des Pflanzenleibes
und dem chemischen Gegenprocess des Thierleibes eine hervor-
i) Vergl. Grant Allen, ,,Der Farbensinn", Leipzig 1880. Der Versuch von
H. Magnus, eine bedeutende Entwicklung des Farbensinns in historischen Zeiten
nachzuweisen, muss wohl als ein nicht glücklicher bezeichnet werden. Gleich nach
dem Erscheinen der Schriften von Magnus correspondirte ich mit einem Philologen,
Herrn Prof. F. Polle in Dresden über dieses Thema, und wir kamen beide alsbald
zur. Ueberzeugung, dass die Ansichten von Magnus weder vor einer naturwissenschaft-
lichen noch von einer philologischen Kritik Stand halten. Da Jeder dem Andern die
Publication der Resultate zuschob , so kam es zu einer Publication nicht. Die Sache
ist übrigens einstweilen von E. Krause und eingehend von A. Marty erledigt
worden. Ich erlaube mir hier nur kurz folgende Bemerkungen. Aus dem Mangel
der Bezeichnung darf man nicht auf das Fehlen der betreffenden Empfindungsqualität
schliessen. Die Bezeichnungen sind auch heute noch unscharf, verschwommen, mangel-
haft und gering an der Zahl , wo eben das Bedürfniss einer scharfen Sonderung nicht
vorhanden ist. Die Farbenbezeichnung des heutigen Eandmannes und seine Bezeich-
nung der Empfindungen überhaupt ist nicht entwickelter als jene der griechischen
Dichter. Die Bauern im Marchfelde sagen z. B., wie ich selbst oft gehört habe, dass
das Kochsalz ,, sauer" sei, weil ihnen der Ausdruck ,, salzig" nicht geläufig ist. Die
Farbenbezeichnung muss man nicht bei Dichtern, sondern in technischen Schriften
suchen. Dann darf man aber nicht, wie es Herr Magnus thut, und wie mein
College Benndorf bemerkt hat, etwa die Aufzählung der Vasenpigmente für eine
Aufzählung sämmtlicher Farben halten. Betrachten wir noch die Polychromie
der alten Aegypter und Pompejaner, ziehn wir in Erwägung, dass diese Malereien doch
kaum vor Farbenblinden herrühren können , bemerken wir , dass etwa 70 Jahre nach
Vergil's Tode Pompeji verschüttet wurde, während Vergil noch beinahe farbenblind
gewesen sein soll, so ergibt sich hieraus wohl genügend die Unhaltbarkeit der ganzen
Anschauung. Noch in einer andern Richtung muss man mit Anwendungen der
Darwin'schen Theorie vorsichtig sein. Wir lieben es, uns einen Zustand ohne Farben-
sinn oder mit geringem Farbensinn einem andern mit hoch entwickeltem Farbensinn
vorausgehend zu denken. Es ist eben dem Lernenden natürlich, vom Einfachem
zum Zusammengesetzten fortzuschreiten. Die Natur braucht nicht denselben Weg zu
gehn. Der Farbensinn ist da, und er ist wohl variabel. Ob er reicher oder ärmer
wird? Wer kann das wissen? Ist es nicht möglich, dass mit dem Erwachen der
Intelligenz und der Anwendung künstlicher Mittel die ganze Entwicklung sich auf
den Verstand wirft, der ja von da an häuptsächlich in Anspruch genommen wird,
und dass die Entwicklung der niederen Organe des Menschen in den Hintergrund tritt?
Mach, Analyse. 3. Aufl. 0
ragende Rolle. Beide Stoffe treten uns modificirt in dem mannig-
faltigsten Farbenkleide entgegen. Die Entdeckung des Sehpurpurs,
die Erfahrungen der Photographie und Photochemie lassen auch
die Sehvorgänge als chemische Vorgänge auffasssn. Die Rolle,
welche die Farbe in der analytischen Chemie, bei der Spectral-
analyse, in der Krystallphysik spielt, ist bekannt. Sie legt den
Gedanken nahe, die sogenannten Lichtschwingungen nicht als
mechanische, sondern als chemische vSchwingungen aufzu-
fassen, als eine wechselnde Verbindung und Trennung, als einen
oscillatorischen Process von der Art, wie er bei photochemischen
Vorgängen nur in einer Richtung eingeleitet wird. — Diese
Anschauung, welche durch die neueren Untersuchungen über
anomale Dispersion wesentlich unterstützt wird, kommt der
electromagnetischen Lichttheorie entgegen. Auch von dem electri-
schen Strom gibt ja die Chemie die fassbarste Vorstellung im
Falle der Electrolyse, wenn sie beide Bestandtheile der Electro-
lyten als im entgegengesetzten Sinne durcheinander hindurch-
wandernd ansieht. So dürften also in einer künftigen Farben-
lehre viele biologisch -ps3^chologische und chemisch-physikahsche
Fäden zusammenlaufen.
3-
Die Anpassung an die chemischen Lebensbedingung"en, welche
sich durch die Farbe kundgeben, erfordert Locomotion in
viel ausgiebigerem Masse, als die Anpassung an jene, die durch
Geschmack und Geruch sich äussern. Wenigstens beim Menschen,
über den allein wir ein directes und sicheres Urtheil haben, und um
den es sich hier handelt, ist es so. Die eng'e Verknüpfung" (eines
mechanischen Momentes) der Raumempfindung mit (einem
chemischen Moment) der Farbenempfindung- wird hierdurch
verständlich. Auf die Analyse der optischen Raumempfindung-en
wollen wir nun zunächst eingehen.
4-
Wenn wir zwei gleiche verschiedenfarbige Gestalten, z. B.
zwei gleiche verschiedenfarbige Buchstaben, betrachten, so er-
- 83 -
kennen wir die g-leiche Form trotz der Ver-
schiedenheit der Farbenempfindung auf den
ersten Blick. Die Gewichtswahrnehmungen müssen
also gleiche Empfindungsbestandtheile enthalten.
im
P'igur
Diese sind eben die (in beiden Fällen gleichen) Raumempfindungen.
Wir wollen nun untersuchen, welcher Art die Raumempfin-
dungen sind, welche physiologisch das Wiedererkennen einer
Gestalt bedingen. Zunächst ist klar, dass dieses Wiedererkennen
nicht durch geometrische Ueberlegung^en herbeigeführt wird,
welche nicht Empfindungs-, sondern Verstandessache sind. Viel-
mehr dienen die betreffenden Raumempfindungen aller Geometrie
zum Ausgangspunkt und zur Grundlage. Zwei Gestalten können
geometrisch congruent, physiologisch aber ganz ver-
Figur 3.
schieden sein, wie dies die beiden obenstehenden Quadrate ver-
anschaulichen, welche ohne mechanische und intellectuelle
Operationen niemals als gleich erkannt werden können i). Um
uns die bisher gehörigen Verhältnisse geläufig zu machen,
stellen wir einige recht einfache Versuche an. Wir be-
trachten einen ganz beliebigen Fleck (Fig. 4). Stellen
wir denselben Fleck zweimal oder mehrmal in gleicher Figur 4.
/
i) Vergl. meine kleine Abhandlung „Ueber das Sehen von Lagen und Winkeln".
Sitzungsberichte der Wiener Al<ademic, Bd. 43, Jahrg. 1861, S. 215.
6*
- 84 -
Orientirung in eine Reihe, so bedingt dies einen eigenthümlichen
angenehmen Eindruck, und wir erkennen ohne Schwierigkeit auf
llllll
Figur 5.
den ersten BHck die Gleichheit aller Gestalten (Fig. 5). Die
Formgleichheit wird aber ohne intellectuelle Mittel nicht mehr
erkannt, wenn wir den einen Fleck gegen den
andern genügend verdrehen (Fig. 6). Eine auf-
fallende Verwandtschaft beider Formen wird dafür
Figur 6. bemerklich, wenn man dem Fleck einen zweiten
in Bezug auf die Medianebene des Beobachters
^^ symmetrischen hinzufügt (Fig. 7). Nur durch
^K^ ^^L Drehung der Figur oder durch intellectuelle
^^^ «äPfiP Operationen erkennt man aber die Formverwandt-
jTj - Schaft, wenn die Symmetrieebene bedeutend, z. B.
wie in Fig. 8 von der Medianebene des Beobach-
ters abweicht. Dagegen wird die Form Verwandtschaft wieder
merklich, wenn man dem Fleck denselben Fleck, um 180*^ in der
eigenen Ebene gedreht, hinzufügt (Fig. 9). Es entsteht
^^ auf diese Weise die sogenannte centrische Symmetrie.
^^ Verkleinern wir nun alle Dimensionen des Fleckes
^^ in demselben Verhältniss, so erhalten wir einen geo-
^ metrisch ähnlichen Fleck. Allein so wenig das
Fi"ur 8. geometrisch Congruente auch schon physiologisch
(optisch) congTuent, das geometrisch Symmetrische
optisch symmetrisch ist, so wenig ist das geometrisch
^r Aehnliche. auch schon optisch ähnlich. Wenn der
^^ geometrisch ähnliche Fleck neben den andern in
y gleicher Orientirung gesetzt wird, so erscheinen beide
auch optisch ähnlich (Fig. 10). Eine Verdrehung
P^igiu- 9. des einen Fleckes hebt diese Aehnlichkeit wieder auf
(Fig. 1 1). Setzt man statt des einen
Fleckes den in Bezug auf die Median-
ebene des Beobachters symmetrischen,
so entsteht eine symmetrische Aehn-
lichkeit, welche auch einen optischen
Werth hat (Fig. 12). Auch die Drehung
der einen Figur um 180'^ in ihrer Ebene,
wobei die centrisch-symmetrische Aehn-
lichkeit entsteht, hat noch einen phy-
siologisch-optischen Werth (Fig. 13).
1,1^
Figur 10. Figur ii.
Ixl
Figur 12. Figur 13.
6.
Worin besteht nun das Wesen der optischen Aehnlichkeit
gegenüber der geometrischen Aehnlichkeit? In geometrisch ähn-
lichen Gebilden sind alle homologen Entfernungen proportionirt.
Das ist aber Verstandessache und nicht Sache der Empfin-
dung. Wenn wir einem Dreiecke mit den Seiten a, b, c ein
anderes mit den Seiten 2 a, 2 b, 2 c gegenüberstellen, so erkennen
wir diese einfache Beziehung nicht unmittelbar, sondern intellec-
tuell durch Abmessung. Soll die Aehnlichkeit auch optisch
hervortreten, so muss noch die richtige Orientirung hinzukommen.
Dass eine einfache Beziehung zweier Objcete für den Verstand
nicht auch eine Aehnlichkeit der Empfindung bedingt, sehen
wir, wenn wir die Dreiecke mit den Seiten a, b, c und a -j- m, b
-[- m, c -|- m vergleichen. Beide Dreiecke sehen einander keines-
wegs ähnlich. Ebenso sehen nicht alle Kegelschnitte einander
ähnlich, obgleich alle in einer einfachen geometrischen Ver-
wandtschaft stehen; noch weniger zeigen die Curven dritter Ord-
nung unter einander eine optische Aehnlichkeit u. s. w.
7-
Die geometrische Aehnlichkeit zweier Gebilde ist bestimmt
dadurch, dass alle homologen Entfernungen proportionirt, oder da-
durch, dass alle homologen Winkel gleich sind. Optisch ähnlich
werden die Gebilde erst, wenn sie auch ähnlich liegen, wenn
also alle homologen Richtungen parallel, oder wie wir vor-
ziehen wollen zu sagen, gleich sind (Fig. 14). Die Wichtigkeit
der Richtung für die Empfindung
geht schon aus der aufmerksamen Be-
trachtung der Figur 3 hervor. Die
Gleichheit der Richtungen ist es
'^^" ^4- also, wodurch die gleichen Raumem-
pfindungen bedingt sind, welche die physiologisch-optische Aehn-
lichkeit der Gestalten characterisiren i).
Die physiologische Bedeutung der Richtung einer betrachte-
ten Geraden oder eines Curvenelementes können wir uns noch
durch folgende Betrachtung vermitteln. Es sei y =^ f {x) die
Gleichung einer ebenen Curve. Durch den blossen Anblick können
dv
wir den Verlauf der Werthe von ~f~ an der Curve absehen, denn
dx
dieselben sind durch deren Steigung bestimmt, und auch über
die Werthe von —^ gibt das Auge qualitativen Aufschluss, denn
sie sind durch die Krümmung der Curve characterisirt. Es liegt
die Frage nahe, warum man über die Werthe von -—,, -—r^
^ dx^ dx^
u. s. w. nicht ebenso unmittelbar etwas aussagen kann? Die
Antwort ist einfach. Man sieht natürlich nicht die Differen-
tialquotienten, welche Verstandessache sind, sondern man sieht
die Richtung der Curvenelemente und die Abweichung der
Richtung eines Elementes von jener eines andern.
i) Vor etwa 37 Jahren brachte ich in einer Gesellschaft von Physikern und
Physiologen die Frage zur Sprache, woran es liege, dass geometrisch ähnliche
Gebilde auch optisch ähnlich seien. Ich weiss mich ganz wohl zu erinnern, dass
man diese Frage nicht nur überflüssig , sondern sogar auch komisch fand. Nichts-
destoweniger bin ich heute noch so wie damals überzeugt, dass diese Frage das ganze
Problem des Gestaltensehens einschliesst. Das ein Problem nicht gelöst werden kann,
welches gar nicht als solches anerkannt wird , ist klar. In dieser Nichtanerkennung
spricht sich aber meines Erachtens jene einseitig mathematisch-physikalische Gedanken-
richtung aus, durch die es allein erklärlich wird, dass man z. B. den Herin g'schen
Ausführungen so vielfach , und so lange , Opposition statt freudiger Zustimmung ent-
gegengebracht hat.
Da man nun die Aehnlichkeit ähnlich liegender Gebilde un-
mittelbar erkennt, und auch den Specialfall der Congruenz von
einem andern ohne weiters zu unterscheiden vermag, so geben uns
also unsere Raumenpfindung'en Aufschluss über Gleichheit oder
Ungleichheit der Richtungen und über Gleichheit oder
Ungleichheit der Abmessungen.
Dass die Raumempfindungen mit dem motorischen
Apparat der Augen irgendwie zusammenhängen, hat von vorn-
herein eine hohe Wahrscheinlichkeit. Ohne noch auf die Einzelheiten
näher einzugehen, bemerken wir zunächst, dass der ganze Augen-
apparat, und insbesondere der motorische Apparat, in Bezug auf
die Medianebene des Kopfes symmetrisch ist. Dementsprechend
werden auch mit symmetrischen Blickbewegungen gleiche, oder
doch fast gleiche Raumempfindungen verbunden sein. Kinder
verwechseln fortwährend die Buchstaben b und d, p und q. Auch
Erwachsene merken eine Umkehrung von rechts nach links nicht
leicht, wenn nicht besondere sinnliche oder intellectuelle Anhalts-
punkte dieselbe bemerklich machen. Der motorische Apparat
der Augen ist von sehr vollkommener vS^^mmetrie. Für sich allein
würde die gleiche Erregung seiner symmetrischen Organe die
Unterscheidung von rechts und links kaum ermöglichen. Allein
der ganze Menschenleib, und insbesondere das Hirn, ist mit einer
geringen Asymmetrie behaftet, welche z. B. dazu führt, die eine
(gewöhnlich die rechte) Hand bei motorischen Functionen zu be-
vorzugen. Dies führt wieder zu einer weitern und bessern Ent-
wicklung der rechtsseitigen motorischen Functionen und zu einer
Modification der zugehörigen Empfindungen. Haben sich einmal
beim Schreiben die Raumempfindungen des Auges mit den
motorischen Empfindungen der rechten Hand verknüpft, so tritt
eine Verwechslung jener vertical-symmetrischen Gestalten, auf
welche sich die Schreibefertigkeit und Schreibegewohnheit er-
streckt, nicht mehr ein. Diese Verknüpfung kann sogar so
stark werden, dass die Erinnerungen nur in den gewohnten
Bahnen ablaufen, und dass man z. B. Spiegelschrift nur mit der
grössten Schwierigkeit hest. Die Verwechslung von rechts und
links kommt aber immer noch vor in Bezug auf Gestalten, die
ein rein optisches (z. B. ornamentales), kein motorisches Interesse
haben. Eine merkliche Differenz zwischen rechts und links
müssen übrigens auch die Thiere empfinden, da sie in vielen
wichtigen Fällen sich nur hiedurch orientiren können. Wie
ähnlich übrigens die Empfindungen sind, welche an symme-
trische motorische Functionen geknüpft sind, darüber kann sich
der aufmerksame Beobachter leicht belehren. Wenn ich z. B.,
weil meine rechte Hand zufällig beschäftigt ist, mit der linken
Hand eine Mikrometerschraube oder einen Schlüssel anfasse, so
drehe ich (ohne vorausgegangene Ueberlegung) sicherlich ver-
kehrt, d. h. ich führe die symmetrische Bewegung zu der ge-
wohnten aus, indem ich beide wegen der Aehnlichkeit der
Empfindung verwechsle. Die Beobachtungen von Heidenhain
über die Spiegelschrift halbseitig Hypnotisirter gehören auch
hierher.
9.
Der Gedanke, dass die Unterscheidung von rechts und links
auf einer Asymmetrie, und in letzter Linie möglicher Weise auf
einer chemischen Verschiedenheit beruhe, verfolgt mich seit meiner
Jugend; ich habe denselben schon bei Gelegenheit meiner ersten
Vorlesungen ausgesprochen (i86i). Seither hat sich derselbe
wiederholt her vorgedrängt. Von einem alten Officier erfuhr ich
gelegentlich, dass Truppen in dunkler Nacht, im Schneeg'estöber,
wenn äussere Anhaltspunkte fehlen, in der Meinung-, geradlinig
in einer Richtung zu marschiren, sich annähernd in einem Kreise
von grossem Radius bewegen, so dass sie fast auf den Aus-
gangsort zurückkommen. In Tolstoi's Erzählung „Herr und
Diener" wird von einer analogen Erscheinung- berichtet. Diese
Phänomene sind wohl nur durch eine geringe motorische Asym-
metrie verständlich. Sie sind analog dem Rollen eines vom
Cylinder wenig abweichenden Kegels in einem Kreis von grossem
- 89 -
Radius. In der That hat F. O. Guldberg^), der über die
hieher gehörigen Erscheinungen an verirrten Menschen und
Thieren eingehende Untersuchungen angestellt hat, die Sache so
aufgefasst. Desorientirte Menschen und Thiere bewegen sich
ausnahmslos nahezu in Kreisen, deren Radien nach der Species,
variiren, während der Mittelpunkt, je nach dem Individuum und
der Species, bald auf der rechten, bald auf der linken Seite des
die Kreisbahn durchlaufenden Individuums liegt. Guldberg
sieht hierin auch eine teleologische Einrichtung zum Wieder-
finden der pflegebedürftigen Jungen. Versuche an niederen
Thieren, bei welchen letzteres Moment wegfällt, wären daher
von Interesse. Unvollkommene wSymetrie wird man übrigens
schon aus allgemeinen Wahrscheinlichkeitsgründen auch bei nie-
deren Thieren erwarten.
Auch Loeb's-) Untersuchungen ,,Ueber den Fühlraum der
Hand" haben nebst andern Ergebnissen gelehrt, dass eine ge-
gebene Bewegung der rechten Hand (bei verbundenen Augen)
mit der linken nachgeahmt, je nach dem Individuum, constant
vergrössert oder verkleinert wiedergegeben wird. Loeb glaubt
aus Regenerationserscheinungen schliessen zu dürfen, dass der
Unterschied zwischen rechts und links ein specifi scher ist.
Ich kann aber versichern, dass ich denselben ebenfalls nicht als
einen bloss geometrischen und quantitativ motorischen aufge-
fasst habe.
IG.
Mit dem Blick nach oben und dem Blick nach unten
sind grundverschiedene Raumempfindungen verbunden, wie dies
die gewöhnlichste Erfahrung lehrt. Das ist auch verständlich,
weil der motorische Augenapparat in Bezug auf eine horizontale
Ebene unsymmetrisch ist. Die Richtung der Schwere ist auch
für den übrigen motorischen Apparat viel zu massgebend und
i) F. O. Guldberg, Die Circularbewegung. Zeitschr. f. Biologie, Bd. 25,
1897, S. 419. — Herr Dr. W. Pauli hat mich im Gespräche auf diese Arbeit auf-
merksam gemacht.
2) Loeb, Ueber den Fühlraurn der Haad. Pflüger's Archiv, Bd. 41 u. 46.
— go —
wichtig, so dass dieser Umstand auch in dem Apparat des
Auges, welcher dem übrigen dient, wohl seinen Ausdruck finden
muss. Dass die Symmetrie einer Landschaft und ihres Spiegel-
bildes im Wasser gar nicht empfunden wird, ist bekannt. Das
von oben nach unten umgekehrte Portrait einer bekannten Per-
sönlichkeit ist fremd und räthselhaft für jeden, der nicht durch
intellectuelle Anhaltspunkte sie erkennt. Wenn man sich hinter
den Kopf einer auf einem Ruhebette liegenden Person stellt,
und ohne Speculation sich dem Eindrucke des Gesichtes ganz
hingiebt (namentlich wenn die Person spricht), so ist derselbe
ein durchaus fremdartiger. Die Buchstaben b und /, ferner d
und q werden auch von Ivindern nicht verwechselt.
Unsere bisherigen Bemerkungen über Symmetrie, Aehnlich-
keit u. s. w. gelten natürlich nicht nur für ebene, sondern auch
für räumliche Gebilde. Dementsprechend haben wir noch über
die Raumempfindung der Tiefe eine Bemerkung- hinzuzufügen.
Der Blick in die Ferne und der Blick in die Nähe bedingt
verschiedene Empfindungen. Sie dürfen auch nicht verwechselt
werden, weil der Unterschied von nah und fern für Mensch und
Thier zu wichtig ist. Sie können nicht verwechselt werden,
weil der motorische Apparat der Augen unsymmetrisch ist in
Bezug auf eine Ebene, welche auf der Richtung vorn-hinten
senkrecht steht. Die Erfahrung-, dass die Büste einer bekannten
Persönlichkeit nicht durch die Matrize dieser Büste ersetzt werden
kann, ist ganz analog den Beobachtungen bei Umkehrungen von
oben nach unten.
1 1.
Wenn gleiche Abmessungen und gleiche Richtungen
gleiche Raumempfindungen, zur Medianebene des Kopfes sym-
metrische Richtungen ähnliche Raumempfindungen aus-
lösen, so werden hierdurch die oben berührten Thatsachen sehr
verständlich. Die Gerade hat in allen Elementen dieselbe
Richtung, und löst überall einerlei Raumempfindungen aus. Darin
Hegt ihr ästhetischer Vorzug. Ausserdem treten noch Gerade,
welche in der Medianebene Hegen oder zu derselben senkrecht
stehen, in eigenthümlicher Weise hervor, indem sie sich bei dieser
Symmetrielage zu beiden Hälften des Sehapparates gleich ver-
halten. Jede andere Stellung der Geraden wird als eine ,, Schief-
stellung" empfunden, als eine Abweichung von der Symmetrie-
stellung.
Die Wiederholung desselben Raumgebildes in gleicher Orien-
tirung bedingt Wiederholung derselben Raumempfindungen. Alle
Verbindungslinien homologer ausgezeichneter (auffallender) Punkte
haben die gleiche Richtung, und lösen dieselbe Empfindung aus.
Auch bei Nebeneinanderstellung bloss geometrisch ähnlicher Ge-
bilde in gleicher Orientirung bleibt dies Verhältniss bestehen.
Nur die Gleichheit der Abmessung'en geht verloren. Bei Störung
der Orientirung ist aber auch dies Verhältniss und hiermit der
einheitliche (ästhetische) Eindruck gestört.
Bei einem in Bezug auf die Medianebene symmetrischen
Gebilde treten an die Stelle der gleichen Raumempfindungen
die ähnlichen, welche den symmetrischen Richtungen ent-
sprechen. Die rechte Hälfte des Gebildes steht zur rechten
Hälfte des Sehapparates in demselben Verhältniss, wie die linke
Hälfte des Gebildes zur linken Hälfte des Sehapparates. Lässt
man die Gleichheit der Abmessungen fallen, so wird noch die
symmetrische Aehnlichkeit empfunden. Schiefstellung der Sym-
metrieebene stört das ganze Verhältniss.
Stellt man neben ein Gebilde dasselbe Gebilde, aber um
iSo*' gedreht, so entsteht die centrische Symmetrie. Ver-
bindet man nämlich zwei Paare homologer Punkte, so schneiden
sich die Verbindungslinien in einem Punkte O, durch welchen
als Halbirungspunkt alle Verbindungslinien homologer Punkte
hindurchgehen. Auch im Falle der centrischen Symmetrie sind
alle homologen Verbindungslinien gleich gerichtet, was an-
genehm empfunden wird. Geht die Gleichheit der Abmessungen
verloren, so bleibt noch die centrisch symmetrische Aehnlichkeit
für die Empfindung übrig.
— 92 —
Die Regelmässigkeit scheint der Symmetrie gegen-
über keinen eigenthümlichen physiologischen Werth zu haben,
Der Werth der Regelmässigkeit dürfte vielmehr nur in der
vielfachen Symmetrie liegen, welche nicht bloss bei einer
Stellung merklich v^ird.
12.
Die Richtigkeit der gegebenen Ausführungen wird sehr
fühlbar, wenn man das Werk von Owen Jones (Grammar of
Ornament, London 1865) durchblättert. Fast auf jeder Tafel
wird man die verschiedenen Arten der Symmetrie als Belege
für die gewonnenen Anschauungen wiederfinden. Die Orna-
mentik, welche, wie die reine Instrumentalmusik, keinen Neben-
zweck verfolgt, sondern nur dem Vergnügen an der Form (und
P^arbe) dient, liefert am besten die Thatsachen für die vorliegenden
Studien. Die Schrift wird durch andere Rücksichten als jene
der Schönheit beherrscht. Gleichwohl findet man z. B. unter
den 24 grossen lateinischen Buchstaben 10 vertical symmetrische
(A, H, I, M, O, T, V, W, X, Y), fünf horizontal symmetrische
(B, C, D, E, K), drei centrisch symmetrische (N, S, Z) und nur
sechs unsymmetrische (F, G, L, P, Q, R).
Das Studium der Entwicklung der primitiven Kunst ist
für die uns beschäftigenden Fragen sehr lehrreich. Der Character
dieser Kunst ist bestimmt: durch die Naturobjecte, welche sich
der Nachahmung- darbieten, durch den Grad der mechanischen
Geschicklichkeit, und endlich durch das Streben, die Wieder-
holung in ihren verschiedenenen Formen zur Anwendung zu
bringen ^).
13-
Die ästhetische Bedeutung der hier besprochenen That-
sachen habe ich schon in äUeren Schriften kurz dargelegt. Aus-
l) Alfred C. Haddon, Evolution in .irt. : as illustrated by tlie life-histories
jf designs. Londtjn 1895.
— 93 —
führlich darüber zu handeln, lag nicht in meinem Plan. Ich kann
jedoch nicht unerwähnt lassen, dass der verstorbene Physiker
J. L. Soret^) in Genf in einem schönen 1892 erschienenen Buch
dies gethan hat, als dessen Vorläufer ein 1886 von ihm auf der
schweizer Naturforscherversaramlung gehaltener Vortrag anzu-
sehen ist. Soret knüpft an Helmholtz an, ohne wie es scheint,
meine Ausführungen zu kennen. Die physiologische Seite der
Frage wird von ihm nicht weiter erörtert, dagegen sind die
Ausführungen über Aesthetik sehr reich und durch ansprechende
Beispiele belegt. Soret betrachtet die ästhetische Wirkung
der Symmetrie, der Wiederholung, der Aehnlichkeit und der
Continuität, welche letztere er als einen Fall der Wiederholung
ansieht. Kleinere Abweichungen von der Symmetrie können
nach seiner Auffassung durch die eingeführte Mannigfaltigkeit
und das hiemit verbundene intellectuelle ästhetische Vergnügen
für den Ausfall des sinnlichen Vergnügens reichlich entschädigen.
Dies wird an Ornamenten und den Sculpturen gothischer Dome
erläutert. Dieses intellectuelle Vergnügen wird auch durch die
virtuelle (potentielle) Symmetrie ausgelöst, welche man an un-
symmetrischen Stellungen der symmetrischen menschlichen Figur,
oder anderer Gebilde, wahrnimmt. Diese Betrachtungen wendet
er übrigens nicht bloss auf optische Fälle an, sondern dehnt sie
auf alle Gebiete aus, wie ich es ebenfalls gethan habe. Er be-
rücksichtigt den Rhythmus, die Musik, die Bewegungen, den
Tanz, die Naturschönheiten und sog'ar die Litteratur. Von be-
sonderem Interesse sind Soret 's Beobachtungen über Blinde,
zu welchen ihm das Asyl von Lausanne Gelegenheit bot. Blinde
erfreuen sich der periodischen Wiederholung derselben Formen
an tastbaren Gegenständen, haben einen entschiedenen Sinn für
Symmetrie der Formen. Auffallende Störungen derselben sind
ihnen unangenehm und erscheinen ihnen zuweilen komisch. Ein
Blinder, welcher seine Studien an einer grossen Reliefkarte von
i) J. L. Soret, Sur les conditions physiques de la perception du beau. Ge-
neve i8q2.
— 94 --
Europa gemacht hatte, erkannte diesen Erdtheil vermöge der
geometrischen Aehnlichkeit, als er denselben in verkleinertem
Massstab als Theil einer gTösseren Reliefkarte fand. Das sym-
metrische Tastorgan, die beiden Arme und Hände, sind ja analog
angelegt, wie das Sehorgan. Die Uebereinstimmung darf uns
also nicht wundern. Dieselbe hat schon auf die antiken Forscher,
nicht minder auf die modernen (Descartes) gewirkt, und auch
manche nicht eben giückliche Ideen erzeugt, die zum Theil
noch fortwirken. Weniger gelungen scheint das Kapitel über
Litteratur in dem Sor et 'sehen Buche. An Metrum, Reim u. s. w.
zeigen sich ja ähnliche Erscheinungen wie in den vorher be-
handelten Gebieten. Wenn aber Sor et z. B. die Wirkung der
sechsmal wiederkehrenden Phrase: „Que diable allait il faire sur
cette galere" in dem bekannten Moliere'schen Stück ^) mit der
Wiederholung eines ornamentalen Motivs in Parallele setzt, so
wird er wohl wenig Zustimmung finden. Die Wiederholung
wirkt hier gewiss nicht als solche, sondern durch successive
Steigerung eines komischen Gegensatzes, nur intellectuell.
Ich möchte hier noch auf die kürzlich erschienene Arbeit
von Arnold Emch: Mathematical principles of esthetic forms
(the Monist, October 1900) aufmerksam machen. Emch gibt an-
ziehende Beispiele, in welchen eine Reihe von Eormen durch Be-
folgen desselben geometrischen Princips zu einem ästhetischen
Eindruck zusammenwirkt. Er verfolgt denselben Gedanken, den
ich in meiner Vorlesung von 1871 berührt habe, dass eine Pro-
duction nach einer festen Regel ästhetisch wirkt. (Populär-
wissenschcftliche Vorlesung"en Leipzig 1896 S. 102.) Ich habe
aber zugleich hervorgehoben und möchte es hier nochmals thun,
dass die Regel als Verstandesangelegenheit an sich keinen
ästhetischen Effect hat, sondern nur die hiedurch bedingte
Wiederholung- desselben sinnlichen Motivs.
l) Les foiirberies de Sca])in.
— 95 —
.14.
Es sei hier nochmals hervorgehoben, dass geometrische und
physiologische Eigenschaften eines Raumgebildes scharf zu
scheiden sind. Die physiologischen Eigenschaften sind durch
geometrische mitbestimmt, aber nicht allein durch diese be-
stimmt. Dagegen haben physiologische Eigenschaften höchst
wahrscheinlich die erste Anregung zu geometrischen Untersuch-
ungen gegeben. Die Gerade ist wohl nicht durch ihre Eigen-
schaft die Kürzeste zwischen zwei Punkten zu sein, sondern zu-
erst durch ihre physiologische Einfachheit aufgefallen. Auch
die Ebene hat, neben ihren geometrischen Eigenschaften, einen be-
sondern physiologisch-optischen (ästhetischen) Werth, durch welchen
sie auffällt, wie dies noch ausgeführt werden soll. Die Theilung
der Ebene und des Raumes nach rechten Winkeln hat nicht
nur den Vorzug der gleichen Theile, welche hierbei entstehen,
sondern auch noch einen besondern Symmetrie werth. Der
Umstand, dass congruente und ähnliche geometrische Gebilde in
eine Orientirung gebracht werden können , in welcher ihre Ver-
wandtschaft physiologisch auffällt, hat ohne Zweifel bewirkt, dass
diese Arten der geometrischen Verwandtschaft früher untersucht
worden sind, als minder auffällige, wie Affinität, Collineation und
andere. Ohne Zusammenwirken der sinnlichen Anschauung und
des Verstandes ist eine wissenschaftliche Geometrie nicht denkbar.
H. Hankel hat aber in seiner „Geschichte der Mathematik"
(Leipzig 1B74) sehr schön ausgeführt, dass in der griechischen
Geometrie das Verstandesmoment, in der indischen hingegen
das sinnliche Moment bedeutend überwiegt. Die Inder ver-
wenden das Prinzip der Symmetrie und der Aehnlichkeit (a. a. O.
S. 206) in einer Allgemeinheit, welche den Griechen vollkommen
fremd ist. Der Vorschlag Hankel's, die vSchärfe der griechischen
Methode mit der Anschaulichkeit der indischen zu einer neuen
Darstellungs weise zu verbinden, ist sehr beherzigenswerth. Man
brauchte übrigens hierin nur den Anregungen von Newton
und Joh. Bernoulli zu folgen, welche das Princip der Aehnlich-
- 96 -
keit selbst in der Mechanik in noch allgemeinerer Weise ver-
wendet haben. Welche Vortheile auf dem letzteren Gebiete das
Princip der Symmetrie bietet, habe ich an einem andern Orte
vielfach ausgeführt ^).
i) AVeniger vollständige Ausführungen der Hauptgedanken dieses Kapitels habe
ich gegeben in der citirten Abhandlung „Ueber das Sehen von Lagen und Winkeln"
(l86l), ferner in Fichte's Zeitschrift für Philosophie, Bd. 46, Jahrg. 1865, S. 5 und
„Gestalten der Flüssigkeit. Die Symmetrie-', Prag 1872. (Die zwei letzten Artikel
sind abgedruckt in den ,, Populär-wissenschaftlichen Vorlesungen", Leipzig, 2. Aufl.,
1897.) In Bezug auf die Verwerlhung des Principes der Symmetrie in der Mechanik
vergl. meine Schrift: ,, Die Mechanik in ihrer Entwicklung". Leipzig, Brockhaus, 1883,
4. Aufl. 1901.
VII. W^eitere Untersuchung der Raumempfindungen ^).
I.
Die Kenntniss des räumlichen Sehens hat im Verlauf des
19. Jahrhunderts wesentliche P'ortschritte gemacht, nicht allein
durch den Gewinn an positiver Einsicht, sondern auch durch die
Beseitigung der in diesem Gebiete von verschiedenen Philosophen
und Physikern, namentlich seit Descartes, angehäuften Vor-
urtheile, wodurch erst die für positive Entdeckungen nöthige
Unbefangenheit gewonnen werden musste.
Johannes Müller-) schuf die Lehre von den specifischen
Energ-ien, und derselbe vertrat auch in sehr klarer Weise die
Vorstellung von den identischen Netzhautstellen, welche sich
übrigens in deutlichen Spuren und x\nfängen bis auf Ptolemäus
zurückverfolgen lässt. Nach seiner Ansicht, dass die Netzhaut
in ihrer eigenen Thätigkeit sich selbst empfinde, ist ihm der
„Sehraum" etwas unmittelbar Gegebenes. Im Sehfeld erscheint
auch der eigene Leib. Alle Orientirungsfragen können nur auf
i) Der im vorigen Kapitel behandelte Stoff ist meines Wissens (drei kleine
Arbeiten von mir selbst und die spätere von Soret abgerechnet) noch nicht be-
sprochen worden. Die Erörterungen in diesem Kapitel aber gründen sich für mich
auf jene des vorigen. Ich lege hier die Wege dar, auf welchen ich selbst zu Auf-
klärungen über die Raumempfindung gelangt bin, ohne etwas von dem in An-
spruch zu nehmen, was von anderer Seite in dieser Richtung geleistet wurde und was
namentlich in der Hering'schen Theorie enthalten ist. Die grosse hieher gehörige
Litteratur ist mir auch zu unvollständig bekannt, um nach jeder Richtung hin genaue
Nachweise zu geben. Denjenigen Punkt der Hering'schen Theorie, der mir der wich-
tigste scheint, werde ich übrigens besonders hervorheben.
2)Joh. Müller, Vergleichende Physiologie des Gesichtssinnes, 1826, —
Handbuch der Physiologie, Bd. 2, 1840.
Mach, Analyse. 3. Aufl. 7
- 98 -
die Lage der Theile des Sehfeldes g'egeneinander Bezug haben.
Die Sehrichtung hängt nur von der Anordnung der empfindenden
Netzhautstellen ab. Alle Projektionstheorien und Probleme des
Aufrechtssehens entfallen. Die Schätzung- der Entfernung des
Gesehenen ist aber für Müller durchaus noch Sache des Ver-
standes.
Durch das von Wheastone') erfundene Stereoscop konnte
man sich leicht überzeugen, dass nicht nur auf identische Netzhaut-
stellen, sondern auch auf andere nicht zu sehr differente Stellen
fallende Bilder unter Umständen einfach, und je nach der stereo-
scopischen Differenz in verschiedener Tiefe g-esehen werden. Dies
führte nun wieder zu Zweifeln an der Identitätslehre und be-
günstigte das Auftreten psychologischer Erklärungen des Tiefen-
sehens. So entstand Brücke's Theorie des successiven Fixirens
beim räumlichen Sehen, welche durch Dove's Stereoscop ver-
suche bei Momentbeleuchtung wieder als unhaltbar erwiesen wurde.
Panum^) trat solchen Theorien durch gewichtige Ueber-
legungen und trefflich ausg'edachte Versuche entg^egen. Gestützt
auf die Phänome des binocularen Wettstreites und die hervor-
ragende Rolle der Conturen bei denselben, gelangt er zu der
Ansicht, dass das Tiefensehen auf einer Wechselwirkung (Synergie)
der beiden Netzhäute beruhe, dass die Tiefenempfindung eine
angeborne specifische Energie sei. Je ähnlicher die beiden
monocularen Bilder, namentlich die Conturen, in Form, Farbe
und Lage sind, desto leichter verschmelzen sie zu einem binocu-
laren Bilde, dessen Tiefe durch die stereoscopische Differenz be-
stimmt wird. Diese Tiefe entspricht aber, wie Panum noch
meint, der durch die Projectionslinien gegebenen.
Am gründlichsten hat Hering^) mit alten Vorurtheilen
aufgeräumt. Flering" geht von der Ansicht aus, dass der uns
i) Wheatstone, Contributions to the theory of vlsion. Pliil. transact. 1838,
1852.
2) Panum, Untersuchungen über das Sehen mit zwei Augen, 1858.
3) Hering, Beiträge zur Physiologie, 1861 — 1865. — Archiv für Anatomie
und Physiologie, 1864, 1865. — Der Raumsinn und die Bewegungen des Auges.
Plermann, Handbuch der Physiologie, Bd. Hl, i, 1879.
— 99 —
unmittelbar g-egebene Sehraum von unserem durch besondere
Erfahrungen gewonnenen Raum begriff durchaus zu unter-
scheiden sei. Wie er durch schlagende Experimente nachweist,
ist die Richtung, in welcher wir ein Object sehen, von jener der
Verbindungslinie zwischen Object und Netzhautbild, der Visir-
linie oder Projectionslinie, verschieden. Dem Paar der Visirlinien
der beiden Augen entspricht eine deren Winkel halbirende Seh-
richtung, welche wir von dem Halbirungspunkte der Ver-
bindungslinie beider Augen ausgehend zu denken haben. Um
jede Beziehung auf den geometrischen Raum auszuschalten,
können wir sagen: Die beiden Augen zusammen sehen dieselbe
Breiten- und Höhenanordnung, welche ein einzelnes mitten zwischen
denselben liegendes Auge sehen würde. Fixiren wir mit horizon-
talen Blicklinien und s}^! metrischer Convergenz einen Punkt auf
der Fensterscheibe, so sehen wir diesen in der Medianebene,
zugleich aber in derselben dahinter weit seitwärts abliegende
Objecte. Auch bei schwacher Divergenz der Augenachsen sehen
wir im stereoscopischen Versuch noch Objecte vor uns, während
die Projectionsrichtung-en überhaupt nicht mehr zu solchen führen,
wenigstens keinen ph3^sikalischen oder physiologischen Sinn mehr
haben. Auch die gesehenen Entfernungen stimmen nicht
zu den Ergebnissen der Projectionslehre. Wenn wir bei hori-
zontalen Blicklinien durch den Müller 'sehen Horopterkreis ver-
ticale Fäden legen, so erscheint uns der so entstandene Cylinder
als eine Ebene. Wir sehen nicht nur das Bild des fixirten
Punktes (den „Kernpunkt"), sondern auch den Inbegriff aller
sich auf identischen („correspondirenden") Stellen abbildender
Punkte (die „Kernfläche") als eine in bestimmter Entfernung vor
uns liegende Ebene. Diese und viele andere analoge That-
sachen sind nach der Projectionslehre ganz unverständlich. Das
Raumsehen führt Hering auf ein einfaches Princip zurück.
Identische („correspondirende") Netzhautstellen haben iden-
tische Höhen- und Breitenwerthe, symmetrische Netz-
hautstellen dagegen identische Tiefen werthe, welche letztere
von den Aussenseiten der Netzhäute nach innen zu wachsen.
lOO —
Tritt wegen Aehnlichkeit der monccularen Bilder in Farbe,
Form und Lag'e Verschmelzung derselben zu einem binocularen
Bilde ein, so erhält dieses den Mittel vverth der Tiefenwerthe
der Einzelbilder. Solche Mittelwerthe der Einzelbilder spielen
überhaupt eine maassgebende Rolle, so auch bei den Sehrichtungen.
Diese Andeutung-en mögen genügen, da es hier nicht möglich
ist, auf die reichhaltigen Einzelarbeiten einzugehen, durch welche
Hering^) diesem Capitel eine sichere Grundlage geschaffen hat.
Es sei nur noch bemerkt, dass nach demselben Forscher die
beiden Augen als einheitliches Organ aufzufassen sind, deren
associirte Bewegungen auf einer angeborenen anatomischen
Grundlage beruhen, worauf schon Johannes Müller hinge-
wiesen hatte.
Die biologische und die psychologische -) Untersuchung führen
übereinstimmend zu der Ueberzeug'ung, dass in Bezug auf die
Raumanschauung nur mehr die nativistische Ansicht aufrecht er-
halten werden kann. Das Hühnchen, welches eben aus dem Ei
geschlüpft ist, zeigt sich schon im Räume orientirt und pickt schon
nach allen Gegenständen, welche seine Aufmerksamkeit erregen.
Für den neug'eborenen Menschen können wir höchstens eine ge-
ringere Reife, sonst aber nicht wesentlich verschiedene Verhältnisse
annehmen. Schon Panum hat auf diesen Punkt hingewiesen. Die
Raumanschauung' ist also bei der Geburt vorhanden. Ob wir
im Stande sein werden, dieselbe durch die Entwicklungsgeschichte
oder die Stammesgeschichte aufzuklären, etwa in der von Helm-
holtz versuchten Weise, ist eine Frage für sich.
Die phylogenetische Entwicklung", die Variation der Corre-
spondenz der Netzhäute beim Uebergang von einer Tliicrspecies
zur andern, welche Johannes Müller^) untersucht hat, möchte
hiefür schon Anhaltspunkte bieten. Vielversprechend scheint
ferner die Verfolgung der pathologischen Anomalien bei Schielen-
i) Unter den an Heriny's Untersuchungen anknüpfenden Arbeiten jüngerer
Forscher sind besonders jene F. Hillel)raiid 's von Inlercsse für die Psychologie.
2) Stumpf, Der psychologische Ursprung der Raunivoistellungen, 1873.
3) Vergleichende Physiologie des Gesichtssinnes. S. 106 11. f.
den und der Anpassungserscheinungen, welche in diesen Fällen
zu beobachten sind^).
Dass die Raumempfindung mit motorischen Processen zu-
sammenhängt, wird seit langer Zeit nicht mehr bestritten. Die
Meinungen gehen nur darüber auseinander, wie dieser Zusammen-
hang aufzufassen sei.
Fallen zwei verschiedenfarbige congruente Bilder nach einander
auf dieselben Netzhautstellen, so werden sie ohne weiteres als
gleiche Gestalten erkannt. Wir können uns also zunächst ver-
schiedene Raumempfindungen an verschiedene Netzhautstellen ge-
bunden denken. Dass aber diese Raumempfindungen nicht un-
abänderlich am bestimmte Netzhautstellen geknüpft sind, er-
kennen wir, indem wir frei und willkürlich die Augen bewegen,
wobei die Objecte, obgleich ihre Bilder auf der Netzhaut sich
verschieben, ihren Ort und ihre Gestalt nicht ändern.
Wenn ich geradeaus vor mich blicke, ein
Object O fixirend, so erscheint mir ein Object
A, das sich auf der Netzhaut in «, in einer
bestimmten Tiefe unter der Stelle des deut-
lichsten Sehens o abbildet, in einer gewissen Figur i;.
Höhe zu liegen. Erhebe ich nun den Blick,
B fixirend, so behält A hierbei seine frühere Höhe bei. Es
müsste tiefer erscheinen, wenn der Ort des Bildes auf der Netz-
haut, bezw. der Bogen o a allein die Raumempfindung bestimmen
w^ürde. Ich kann den Blick bis zu A und darüber hinaus er-
heben, ohne dass an diesem Verhältniss etwas geändert wird.
Der physiologische Process also, der die willkürliche Erhebung
des Aug'es bedingt, vermag die Höhenempfindung ganz oder
theilweise zu ersetzen, ist mit ihr gieichartig, kurz g'esagt alge-
i) Tschermak, Ueber anomale Sehrich tungsgemeinschaft der Netzhäute bei
Schielenden. Graefe's Archiv, XLVII, 3, S. 508. — Tschermak, Ueber physio-
logische mid pathologische Anpassung des Auges. Leipzig iqoo. — Schlodtmann,
Studien über anomale Sehrichtungsgemeinschaft bei Schielenden. Graefe's Archiv,
LI, 2, 1900.
— I02
braisch mit derselben summirbar. Drehe ich den Aug'apfel durch
einen leichten Ruck mit dem Finger aufwärts, so scheint sich
hierbei das Object A, der Verkleinerung des Bog'ens o a ent-
sprechend, in der That zu senken. Dasselbe geschieht, wenn
durch irgend einen andern unbewussten oder unwillkürlichen
Process, z. B. durch einen Krampf der Augenmuskel, der Aug-
apfel sich aufwärts dreht. Nach einer seit mehreren Decennien
bekannten Erfahrung der Augenärzte greifen Patienten mit einer
Lähmung des Rectus externus zu weit nach rechts, wenn sie
ein rechts liegendes Object ergreifen wollen. Da dieselben eines
stärkeren Willensimpulses bedürfen als Gesunde, um ein rechts
liegendes Object zu fixiren, so liegt der Gedanke nahe, dass der
Wille, rechts zu blicken, die optische Raumempfindung „rechts''
bedingt. Ich habe vor Jahren^) diese Erfahrung in die Form
eines Versuches gebracht, den jeder sofort anstellen kann. Man
drehe die Augen möglichst nach links und drücke nun an die
rechten Seiten der Augäpfel zwei grosse Klumpen von ziemlich
festem Glaserkitt gut an. Versucht man alsdann rasch nach
rechts zu blicken, so g'elingt dies wegen der ungenauen Kug'el-
form der Augen nur sehr unvollkommen, und die Objecte ver-
schieben sich hierbei ausgiebig nach rechts. Der blosse Wille,
rechts zu blicken, giebt also den Netzhautbildern an bestimmten
Netzhautstellen einen grösseren Rechtswerth, wie wir kurz
sagen wollen. Der Versuch wirkt anfangs überraschend. Wie
man aber bald merkt, lehren die beiden einfachen Erfahrungen,
dass durch willkürliche Rechtswendung der Augen die Objecte
nicht verschoben, und dass durch gewaltsame unwillkürliche
Linkswendung die Objecte nach rechts verschoben werden, zu-
sammen genau dasselbe. Mein Auge, welches ich rechts wenden
will und nicht kann, lässt sich als ein willkürlich rechts g'e-
wendetes und durch eine äussere Kraft gewaltsam zurück-
gedrehtes Auge ansehen. Professor W. Jamcs'-^) wollte der
i) Kurz nach Abscliliiss meiner ,, Grundlinien der Lehre von den Bewegungs-
empfindungen" (1875).
2) W. James, The principles 01 Psychology, II, 509.
erwähnte Versuch nicht gelingen. Ich habe denselben oft wieder-
holt und immer bestätigt g'efunden. Die Thatsache, glaube ich,
steht fest, womit aber natürlich nicht über die Richtigkeit der
Auffassung entschieden ist.
3-
Der Wille, Blickbewegungen auszuführen, oder die Inner-
vation (?), ist die Raumempfindung selbst. Dies ergibt sich un-
gezwungen aus der angeführten Betrachtung- 1). Wenn wir an
einer Hautstelle ein Jucken oder einen Stich empfinden, wodurch
unsere Aufmerksamkeit genügend gefesselt wird, so greifen wir
sofort mit dem richtigen Ausmaass der Bewegung dahin. Ebenso
drehen wir die Augen mit dem richtigen Ausmaass nach einem
Netzhautbild, sobald dasselbe uns genügend reizt, und wir es
demnach beachten. Vermöge organischer Einrichtungen und
langer Uebung treffen wir sofort die zur Fixirung eines auf
bestimmter Netzhautstelle sich abbildenden Objectes eben zu-
reichende Innervation. Sind die Augen schon rechts gewendet,
und fangen wir an, ein neues mehr rechts oder links gelegenes
Object zu beachten, so fügt sich eine neue gleichartige Inner-
vation der schon vorhandenen algebraisch hinzu. Eine Störung
entsteht erst, wenn zu den willkürlich abgemessenen Innervationen
fremdartige unwillkürliche oder äussere bewegende Kräfte hin-
zutreten.
4-
Als ich mich vor Jahren mit den hierher gehörigen Fragen be-
schäftigte, bemerkte ich eine eigen-
thümliche Erscheinung, die meines
Wissens noch nicht beschrieben
worden ist. Wir betrachten in
einem recht dunklen Zimmer ein
Licht A und führen dann eine
rasche Blickbewegung nach dem
tieferen Licht B aus. Das Licht A
i) Ich halte hier den Ausdruck fest, welcher sich mir unmittelbar ergeben hat,
ohne der weitern Untersuchung zu präjudiciren. Ich lasse es hier und in dem zunächst
— I04 —
scheint hierbei einen (rasch verschwindenden) Schweif AA' nach
oben zu ziehen. Dasselbe thut natürHch auch das Licht B, w^as
zur Vermeidung von Complicationen in der Figur nicht an-
gedeutet ist. Der Schw^eif ist selbstverständlich ein Nachbild,
welches erst bei Beendigung oder kurz vor Beendigung der
Blickbewegung zum Bewusstsein kommt, jedoch, was eben merk-
würdig ist, mit Ortswerthen, welche nicht der neuen Augen-
stelJung und Innervation, sondern noch der frühern Augenstellung
und Innervation entsprechen. Aehnliche Erscheinungen bemerkt
man oft beim Experimentiren mit der Holtz'schen Electrisir-
maschine. Wird man während einer Blickbewegung abwärts
von einem Funken überrascht, so erscheint derselbe oft hoch
über den Electroden. Liefert er ein dauerndes Nachbild, so
zeigt sich dieses natürlich unter den Electroden. Diese Vor-
gänge entsprechen der sogenannten persönlichen Differenz der
Astronomen, nur dass sie auf das Gebiet des Gesichtssinnes
beschränkt sind. Durch welche organischen Einrichtungen dies
Verhältniss bedingt ist, muss dahingestellt bleiben, wahrscheinlich
hat es aber einen g-ewissen Werth zur Verhinderung der Des-
orientirung bei Augenbeweg-ungen ^).
5-
Wir dachten uns bisher der Einfachheit wegen nur die
fixirenden Augen bewegt, hingegen den Kopf (und überhaupt
den Körper) ruhig. Drehen wir nun den Kopf ganz beliebig,
ohne ein optisches Object absichtlich ins Auge zu fassen, so bleiben
die Objecte hierbei ruhig. Zugleich kann aber ein anderer Be-
obachter bemerken, dass die Augen wie reibungslose träge Massen
an den Drehbewegungen keinen Antheil nehmen. Noch auffallen-
der wird der Vorgang, wenn man sich continuirlich activ oder
passiv um die Verticalaxe, von oben g'esehen etw^a im Sinne des
Folgenden noch dahingestellt, ob die Innervation eine Folge der Raumempfindiuig ist,
oder umgekehrt. Gewiss sind l^eide eng verbunden.
I) Eine andere Ansicht hierüber entvv^ickelt Lipps, Zeitschr. f. Psychologie
u. Physiologie der Sinnesorgane, Bd. I, S. 60.
— I05 —
Uhrrzeigers, herumdreht. Die offenen oder geschlossenen Augen
drehen sich dann, wie Breuer beobachtet hat, etwa zehnmal auf
eine volle Umdrehung des Körpers gleichmässig verkehrt wie
der Uhrzeiger, und ebenso oft ruckweise im Sinne des Uhrzeigers
zurück. Die Figur veranschaulicht diesen
Vorgang. Nach OT sind die Zeiten als Ab-
scissen, aufwärts als Ordinaten die Drehungs-
winkel im Sinne des Uhrzeigers, abwärts im
entgegengesetzten Sinne aufgetragen. Die Figur 17.
Curve OA entspricht der Drehung des Körpers,
OBB der relativen und OCC der absoluten Drehunpf der Augen.
Niemand wird sich bei Wiederholung der Beobachtung der Ueber-
zeugung verschliessen können, dass man es mit einer durch die
Köperdrehung reflectorisch vom Labyrinth ausgelösten automati-
schen (unbewussten) Augenbewegung zu thun hat. Dieselbe ver-
schwindet, sobald die (passive) Drehung nicht mehr empfunden
wird. Wie diese Bewegung zu Stande kommt, bleibt natürlich
zu untersuchen. Eine einfache Vorstellung wäre die dass von
zwei antagonistischen Innervationsorg-anen der ihnen bei der Körper-
drehung gleichmässig zufliessende Reiz, von dem einen wieder
mit einem gleichmässigen Innervationsstrom beantwortet wird,
während das andere immer erst nach einer gewissen Zeit wie ein
gefüllter und plötzlich umkippender Regenmesser einen Innervations-
stoss abgibt. Für uns genügt es vorläufig zu wissen, dass diese
automatische compensirende unbewusste Augenbewegung thatsäch-
lich vorhanden ist.
Bekannt ist die compensatorische Raddrehung der Augen,
welche bei Seitwärtsneigung des Kopfes auftritt. NageU) hat
nachgewiesen, dass dieselbe ^/^q — Ve ^^^ Winkels der Kopfneigung
beträgt. Kürzlich haben nun Breuer 2) und Kreidl auch im
Drehapparat solche Versuche angestellt und g'efunden:
i) Nagel, Ueber compensatorische Raddrehungen der Augen. Zeitschr. f.
Psychol. u. Physiol. der Sinnesorgane, Bd. 12, S. 338.
2) Breuer und Kreidl, Ueber scheinbare Drehung des Gesichtsfeldes während
der Einwirkung einer Centrifugalkraft. Pflüger's Archiv, Bd. 70, S. 494.
— io6 —
„Wir empfinden, wie Purkynie und Mach gesagt haben,
die Richtung der Massenbeschleunigung. Aendert sich diese
Richtung durch Hinzutritt einer seitlicli auf den Körper wirkenden
liorizontalen Beschleunigung, so tritt eine Raddrehung der Augen
auf, welche während der Dauer jener Einwirkung anhält und
die Hälfte, 0,6 des Ablenkungswinkels beträgt. Die Drehung
des Sehraums, die Schiefstellung verticaler Linien, welche unter
solchen Verhältnissen wahrgenommen wird, beruht also auf
einer wirklichen unbewussten Drehung der Augen."
Ich muss hier ferner noch zweier Arbeiten über compen-
sirende Augenbewegungen gedenken, welche von Crum Brown ^)
herrühren.
Die langsamere unbewusste compensirende Augenbewegung
(die ruckweise hinterlässt keinen optischen Eindruck) ist also die
Ursache, dass die Objecto bei Kopfdrehungen ihren Ort beizube-
halten scheinen, was für die Orientirung sehr wächtig' ist. Drehen
wir nun mit dem Kopf in demselben Sinn, das fixh-te Object
wechselnd, auch willkürlich die Augen, so müssen wir durch
die willkürliche Innervation die automatische unwillkürliche über-
compensiren. Wir bedürfen derselben Innervation, als ob der
ganze Drehungswinkel vom Auge allein zurückgelegt worden
wäre. Hierdurch erklärt es sich auch, warum, wenn wir uns um-
drehen, der ganze optische Raum uns als ein Continuum und
nicht als ein Aggregat von Gesichtsfeldern erscheint, und warum
hierbei die optischen Objecte festliegend bleiben. Was wir beim
Umdrehen von unserm eigenen Körper sehen, sehen wir aus
klarliegenden Gründen optisch bewegt.
So gelangen wir also zu der praktisch werthvollen Vorstellung
unseres bewegten Körpers in einem festliegenden Räume.
Es wird uns verständlich das wir bei mehrfachen Drehungen
i) Crum Brown, Note on normal nystagmus. Preceedings of the Royal
Society of Edinburgh, Fcbruary 4, 1895. — ^he relation between the movements of
the eyes and the movements of the head. Robert Boyle lecture, May 13, 1895.
— loy —
und Wendungen in vStrassen, in Gebäuden, und bei passiven
Drehungen im Wagen, oder in der Cajüte eingeschlossen (ja selbst
in der Dunkelheit) die Orientirung nicht verlieren. Allerdings
schlafen die Urcoordinaten, von welchen wir ausgingen, allmälig
und unvermerkt ein, und bald zählen wir wieder von den Objecten
aus, welche vor uns liegen. Der eigenthümlichen Desorientirung,
in welcher man sich zuweilen Nachts beim plötzlichen Erwachen
befindet, rathlos das Fenster, den Tisch u. s. w. suchend, mögen
wohl dem Erwachen unmittelbar vorausgehende motorische Träume
zu Grunde liegen.
Aehnliche Verhältnisse wie bei Körperdrehungen zeigen sich
bei Körperbewegungen überhaupt. Bewege ich den Kopf oder
den ganzen Körper seitwärts, so verliere ich ein optisch fixirtes
Object nicht. Dasselbe scheint fest zu stehen, während die fernem
Objecte eine der Körperbewegung gleichsinnige, die nähern eine
entgegengesetzte parallactische Verschiebung erfahren. Die ge-
wohnten parallactischen Verschiebungen werden gesehen, stören
aber nicht, und werden richtig interpretirt. Bei monocularer In-
version eines Plateau 'sehen Drahtnetzes aber fallen die dem
Sinne und dem Ausmaass nach ungewohnten parallactischen
Bewegungen sofort auf, und spiegeln uns ein gedrehtes Ob-
ject vor 1).
7-
Wenn ich meinen Kopf drehe, so sehe ich nicht nur jenen
Theil desselben, den ich überhaupt sehen kann, gedreht, was
nach dem Vorausgeschickten sofort verständlich ist, sondern ich.
fühle ihn auch gedreht. Dies beruht darauf, dass im Gebiete
des Tastsinnes ganz analoge Verhältnisse bestehen, wie im
Gebiete des Gesichtssinnes 2). Greife ich nach einem Object, so
i) Vergl. meine „Beobachtungen über monoculare Stereoscopie". Sitzungs-
berichte d. Wiener Aliademie (1868), Bd. 58.
2) Die Ansicht, das Gesichtssinn und Tastsinn sozusagen denselben Raumsinn
als gemeinsamen Bestandtheil enthalten, ist von Locke aufgestellt, von Berkeley
wieder bestritten worden. Auch Diderot ist (Lettres sur les aveugles) der Ansicht,
dass der Raumsinn des Blinden von jenem des Sehenden gänzlich verschieden ist.
— io8 —
complicirt sich eine Tastempfindung mit einer Innervation. Blicke
ich nach dem Object, so tritt an die Stelle der Tastempfindung-
eine Lichtempfindung. Da Hautempfindungen auch ohne Tasten
von Objecten immer vorgefunden werden, sobald man ihnen die
Aufmerksamkeit zuwendet, so geben diese, mit wechselnden Inner-
vationen complicirt, ebenfalls die Vorstellung- unseres beweg'ten
Körpers, welche mit der auf optischem Wege gewonnenen in
voller Uebereinstimmung- steht."
Bei activen Bewegungen werden also die Hautempimdungen
dislocirt, wie man kurz sagen kann. Bei passiven Bewegungen
unseres Körpers treten reflectorisch ausgelöste unbewusste com-
pensirende Innervationen und Beweg'ungen auf. Drehe ich mich
z. B. rechts herum, so compliciren sich meine Hautempfindungen
mit denselben Innervationen, die mit Berührung von Objecten bei
Rechtsdrehung verbunden wären. Ich fühle mich rechts gedreht.
Werde ich passiv rechts gedreht, so entsteht reflectorisch das Be-
Man vergl. hierüber die scharfsinnigen Ausführungen von Dr. Th. Loewy (Common
sensibles. Die Gemein-Ideen des Gesichts- und Tastsinnes nach Locke und Berkeley,
Leipzig 1884), deren Resultat ich übrigens nicht beistimmen kann. Der Umstand,
dass ein Bhndgeborner nach der Operation den ihm durch das Getast wohlbekannten
Würfel, und die ebenso bekannte Kugel, durch das Gesicht nicht unterscheidet, be-
weist für mich gar nichts gegen Locke und nichts für Berkeley und Diderot.
Auch der Sehende erkennt die einfach umgekehrte Fignr erst nach mehrfacher Uebung.
Wie hätte auch der blinde Saunderson, wenn Locke Unrecht hätte, eine für Sehende
verständliche Geometrie schreiben können. Möge der Blinde versuchen, eine Farben-
lehre zu schreiben! Analogien zwischen dem Raumsinn des Gesichts und des Ge-
tastes bestehen gewiss. Etwas' hiervon wurde schon bei Besprechung der Arbeit von
Soret (S. 93) erwähnt, und Manches war schon in der Aristotelischen Schule bekannt.
So erwähnen schon die ,, Parva naturalia" das Experiment mit dem Kügelclien, welches
zwischen dem Zeigefinger und dem kreuzweise über diesen gelegten Mittelfinger
doppelt empfunden wird. Dasselbe gelingt mir noch viel schlagender, wenn ich die
so gelegten P'inger an einem Stäbchen hin- und herführe. Und einfach empfinde ich
zwei parallele .Stäbchen, zwischen welchen ich die in gleicher Weise gelegten Finger
schleifend l)ewege. Die Analogie mit dem Doppeltsehen des Einfachen und dem Ein-
fachsehen des Doppelten ist hier vollständig. Aber auch die Unterschiede sind so
gross, dass der Sehende sich sehr schwer in die Raumvorstellung des Blinden hinein-
zufinden vermag, da er immer seine Gesichtsvorstellungen interpretirend einmischt.
Selbst ein Kopf wie Diderot verfällt gelegentlich in den sonderbaren Irrthum, dem
Blinden die Raumphanlasie abzusprechen. Arbeiten wie jene Loeb's über den Fühl-
raum (vergl. S. 89) und Heller's Studien zur Blinden-Psychologie (Leipzig 1895)
werden zur Aufklärung, mitwirken.
— I09 —
streben die Drehung zu compensiren. Ich bleibe entweder wirk-
Hch stehen, und empfinde mich dann auch ruhig-, oder ich unter-
drücke die Linksdrehung. Dazu bedarf ich aber derselben will-
kürlichen Innervation, wie zu einer activen Rechtsdrehung, welche
auch die gleiche Empfindung zur Folge hat.
Das hier dargelegte einfache Verhältniss übersah ich noch
nicht vollständig bei Abfassung- meiner Schrift über Bewegung-s-
empfindungen. In Folge dessen blieben mir einige theils von
Breuer, theils von mir beobachtete Erscheinung-en schwer ver-
ständlich, die sich nun ohne Schwierigkeit erklären, und die ich
kurz berühren will. Bei passiver Drehung eines in einem Kasten
eingeschlossenen Beobachters nach rechts erscheint demselben der
Kasten optisch gedreht, obgleich jeder Anhaltspunkt zur Beur-
theilung- einer Relativdrehung fehlt. Führen seine Augen unwill-
kürliche compensirende Bewegungen nach links aus, so verschieben
sich die Netzhautbilder so, dass er eine Bewegung nach rechts sieht.
Fixirt er aber den Kasten, so muss er die unwillkürlichen Be-
wegungen willkürlich compensiren, und sieht nun wieder eine
Bewegung nach rechts. Es vvird hierdurch deutlich, dass die
Breuer'sche Erklärung- der Scheinbeweg-ung des Augenschwindels
richtig ist, und dass gleichwohl durch willkürliches Fixiren
diese Bewegung nicht zum Verschwinden gebracht werden kann.
Auch die übrigen in meiner Schrift erwähnten Fälle des Aug'en-
schwindels finden auf analoge Weise ihre Erledigung i).
Wenn wir uns bewegen z. B., vorwärts schreiten oder uns
drehen, so haben wir nicht nur eine Empfindung der jedesmaligen
Lage unserer Körpertheile, sondern auch noch die viel ein-
fachere Empfindung einer Vorwärtsbeweg'ung oder Drehung.
In der That setzen wir die Vorstellung der Vorwärtsbewegung*
nicht aus den Vorstellung-en der einzelnen Beinschwingungen zu-
i] Grundlinien der Lehre von den Bewegungsempfindungen. Leipzig, Engei-
mann, 1875, S. 83.
I I o —
sammen, oder haben wenigstens nicht nöthig" dies zu thun. Ja
es gibt sogar Fälle, in welchen die Empfindung der Vorwärtsbe-
wegung entschieden vorhanden ist, jene der Beinbewegung aber
ebenso entschieden fehlt. Dies trifft z. B. bei einer Eisenbahnfahrt
zu, auch schon bei dem Gedanken einer Reise, andeutungsweise
bei der Erinnerung an einen fernem Ort u. s. w. Dies kann nur
daran liegen, dass der Wille, sich vorwärts zu beweg'en oder
zu drehen, aus welchem die Extremitäten ihre motorischen An- ■
regung'en schöpfen, die ja durch besondere Innervationen noch
modificirt werden können, verhältnissmässig einfacher Natur
ist. Es bestehen hier wohl ähnliche, wenn auch complicirtere
Verhältnisse , wie jene bei den Augenbewegungen , welche
Hering so glücklich durchschaut hat, worauf wir alsbald zu-
rückkommen.
Man wird kaum fehl gehn, wenn man annimmt, dass die
vom Labyrinth aus erregten, verhältnissmässig einfachen Be-
wegungsempfindungen ^) mit dem Willen, sich zu bewegen, im
engsten Zusammenhange stehen. Diese Bewegung"sempfindungen
möchten auch den von RiehP) postulirten, bezw. von ihm ge-
suchten Richtungsgefühlen entsprechen. Sie sind dem Blin-
den ebenso eigen wie dem Sehenden, und bilden wohl mit eine
wichtige Grundlage des Verständnisses des Tastraums.
Ich habe eine Reihe von Beobachtungen über optische und
Bewegungsempfindungen in den Ausdruck zusammengefasst: „Es
sieht so aus, als ob der sichtbare Raum sich in einem
zweiten Raum drehen würde, den man für unverrückt
fest hält, obgleich letzteren nicht das mindeste Sicht-
bare kennzeichnet." Der auf die Bewegungsempfindungen
aufgebaute Raum scheint in der That das Ursprüngliche zu
sein ^).
Befangen in physikalischer Denkweise, war ich geneigt zu
glauben, dass die Empfindungen der Progressivbeschleunigung
i) a. a, S. 124.
2) Riehl, Der philosophlsclie Kriticismus, Bd. 2, S. 143.
3) Bewegungsempfindungen S. 26.
III
sich vollkommen analog verhalten den Empfindungen derWinkel-
beschleunig'ung. In der That werden jedem Physiker, der sich
mit unserem Geg-enstand beschäftigt, sofort die drei Gleichungen
für die drohende, und die drei Gleichungen für die fortschreitende
Bewegung eines Körpers in den Sinn kommen. Ausserdem
glaubte ich, entsprechend dem Princip der specifischen Energ-ie,
besondere Empfindungen der Kopflage vermuthen zu dürfen.
Breuer^) hat durch eine spätere Untersuchung wahrscheinlich
gemacht, dass die Empfindungen der Progressivbeschleunigung
sehr viel rascher verschwinden als jene der Winkelbeschleunigung,
beziehungsweise, dass vielleicht das Org'an der ersteren, wenig-
stens beim Menschen, verkümmert ist. Ferner findet Breuer,
ausser den Bogengängen B, nur noch den Otolithenapparat O
mit seinen den Bog'engan geben en entsprechenden Gleitebenen
geeignet, Progressivbeschleunig-ungen und Lagen zugleich zu
signalisiren. Die drei Schwerecomponenten nach den drei Gleit-
ebenen characterisiren die Lage des Kopfes. Jede Aenderung
der Lage ändert die Componenten und setzt zugleich den Bogen-
gangapparat momentan in Function. Progressivbeschleunigungen
ändern diese Componenten ebenfalls, ohne den Bogengangapparat
zu beanspruchen. Demnach würden nach Breuer die drei Com-
binationen: O allein, O -j- B, und B allein für die Unterscheidung
aller Fälle genügend. Diese Auffassung wäre also, wenn sie sich
bewährt, eine bedeutende Vereinfachung'.
Wäre ich überhaupt noch in der Lage zu experimentiren,
so würde ich die Bewegungsempfindungen an sich nochmals von
Grund aus untersuchen. Der Unterschied in dem Verhalten der
Empfindungen ^ der Winkel- und Progressivbeschleunigungen
scheint mir jetzt bedeutend. Die Drehbeschleunigung löst eine
Empfindung aus, welche lang-e nachdem die Beschleunigung- Null
geworden in abnehmender, quantitativ'^) zu verfolgender Stärke
fortbesteht. Die Progressivbeschleunigung wird rein nur beim
i) Breuer, Ueber die Function des Otolithen-Apparates. Pflüger's Archiv,
XLVI, S. 195.
2) Bewegungsempfindungen, S. 96, Versuch 2.
112
verticalen beschleunigten Fallen oder Steigen empfunden. Ver-
schwindet die Beschleunigung, so ist auch die Empfindung rasch
vernichtet. Das einfachste Mittel, eine constante Beschleunigung
von constanter Richtung g'egen den Leib zu erzeug'en, ist die
gleichförmige Rotation. Wir empfinden die gleichförmige
Drehung bald nicht mehr. Aber auch die constante Centrifugal-
beschleunigung ruft nicht die Illusion des Fortfliegens nach deren
Richtung', sondern die Empfindung einer geänderten Lage her-
vor, welche mit jener Centrifugalbeschleunigung' zugleich wieder
verschwindet. Erschöpft sich also die constane Progressivbeschleu-
nigung als Reiz, oder ändert die Empfindung beim Constant-
werden des Reizes ihren Character? Dann müssten doch zwei
Elemente in derselben vermuthet werden.
Nicht die gleichförmige Bewegung, sondern lediglich die
Beschleunigung- wird empfunden. Den Elementen der Aende-
rung der Progressiv- und Winkelgeschwindigkeiten entsprechen
Elemente der Bewegungsempfindung'en, von welchen wenigstens
die Letzteren in langsam abnehmender Stärke persistiren, und
übrigens so wie jene algebraisch summirbar sind, so dass einer
(gewöhnlich von der Geschwindig^keit Null an) in kurzer Zeit ein-
geleiteten Bewegamg- eine der totalen Geschwindigkeitsänderung',
also der erreichten Geschwigdigkeit v, entsprechende Empfindung q
zugeordnet ist^). Die Menge der vorbeigeführten Gesichts- oder
Tasteindrücke wächst nun mit q und mit der /. Es darf uns da-
her nicht wundern, dass die Erfahrung' uns q als eine Geschwin-
digkeit und Q.t als einen Weg begrifflich interpretirten lehrt,
wenngleich q an sich natürlich mit eineni räumlichen Maassbegriff
gar nichts zu schaffen hat. Es scheint mir hiermit ein paradoxer
Rest beseitigt, welcher mich noch 1875 in der Auffassung der
Bewegungsempfindungen störte, und welcher, wie ich sehe, auch
Andere gestört hat.'-).
i) a. a. O. 116 u. f<,'.
2) a. a. O. S. 122 (10)
— 113 —
9-
Die folgenden Versuche und Ueberlegungen, welche an eine
ältere Mittheilung anknüpfen i), werden vielleicht die richtige Aut-
fassung dieser Erscheinungen fördern. Wir stellen uns auf eine
Brücke und betrachten das unter derselben durchfliessende Wasser.
Dann empfinden wir gewöhnlich uns in Ruhe, das Wasser aber
in Bewegung". Längeres Hinblicken auf das Wasser hat aber
bekanntlich fast regelmässig zur Folge, dass plötzlich die Brücke
mit dem Beobachter und der ganzen Umgebung dem Wasser
entgegen in Bewegung zu gerathen scheint, während umgekehrt
das Wasser den Anschein der Ruhe gewinnt'-). Die relative
Bewegung der Objecte ist in beiden Fällen dieselbe, und es
rauss demnach einen triftigen ph3^siologischen Grund haben,
warum bald der eine, bald der andere Theil der Objecte bewegt
empfunden wird. Um dies bequem untersuchen zu können, habe
ich mir einen einfachen Apparat con-
struirt, der in Figur 18 dargestellt ist.
Ein einfach gemusterter Ledertuchlauf-
teppich wird horizontal über zwei 2 m
lange, 3 m von einander in Lagern be-
festigte Walzen gezogen und mit Hülfe
einer Kurbel in gleichmässige Bewegung
gesetzt. Quer über den Teppich, etwa 30 cm über demselben,
ist ein Faden ff mit einem Knoten K gespannt, der dem bei A
aufgestellten Beobachter als Ruhepunkt für das Auge dient.
Folgt der Beobachter mit den Aug'en den Zeichnungen des
im Sinne des Pfeiles bewegten Teppichs, so sieht er diesen in
Bewegung, sich und die Umgebung aber ruhig. Fixirt er hin-
1) a. a. O. S. 85.
2) Derartige Eindrücke erhält man bekanntlich in der mannigfaltigsten Form,
wenn man sich zwischen mehreren theils bewegten, theils ruhenden Eisenbahnzügen
befindet. — Als ich einmal auf der Elbe mittelst Dampfschiffs einen Ausflug unter-
nahm, hatte ich unmittelbar vor der Landung den überraschenden Eindruck, als ob
das Schiff stünde, und die ganze Landschaft sich demselben entgegenbewegte, was
nach den folgenden Auseinandersetzungen unschwer verständlich ist.
Mach, Analyse. 3. Aiifl. 8
— 114 —
gegen den Knoten, so glaubt er alsbald mit dem ganzen Zimmer,
dem Pfeile entgegen, in Bewegung zu gerathen, während er den
Teppich für stillstehend hält. Dieser Wechsel des Anblicks voll-
zieht sich je nach der Stimmung- in längerer oder kürzerer Zeit,
gewöhnlich nach einigen Secunden. , Weiss man einmal, worauf
es ankommt, so kann man ziemlich rasch und willkürlich mit den
beiden Eindrücken wechseln. Jedes Verfolgen des Teppichs bringt
den Beobachter zum Stehen, jedes Fixiren von K oder Nicht-
beachten des Teppichs, wobei dessen Zeichnungen verschwimmen,
setzt den Beobachter in Bewegung. Bezüglich des Ausfalls dieses
Versuchs unter den ang'egebenen Umständen stimmen mir zwei
von mir hochg^eschätzte Forscher nicht zu. Der eine ist W. James^),
der andere Cr um Brown-). Ich habe den Versuch oft und oft
immer mit dem gleichen Erfolg'e angestellt. Da ich gegenwärtig
nicht in der Lage bin zu experimentiren, muss ich auf eine neuer-
liche Prüfung verzichten, für welche sich die von Brown be-
schriebene Nachbildmethode empfohlen würde. Von den Differenzen
in der theoretischen Auffassung" des Versuches soll hier zunächst
abgesehen werden.
lO.
Die Erscheinung" ist selbstredend gänzlich verschieden von
der bekannten Plateau-Oppel'schen, die eine locale Netzhaut-
erscheinung ist. Bei dem obigen Experiment bewegt sich die
deutlich gesehene ganze Umgebung, bei dem letztern Phänomen
zieht ein bewegter Schleier über das ruhige Object hin. Auch
die nebenbei auftretenden stereoscopischen Erscheinungen, bei
welchen z. B. der Faden mit dem Knoten unter dem sich als
durchsichtig darstellenden Teppich erscheint, sind hier g"anz gleich-
gültig.
In meiner .Schrift über „BewegungsemiDfindung"en" S. 63 habe
ich constatirt, dass den Plateau-OppeFschen Erscheinungen
ein besonderer Process zu Grunde liegt, der mit den übrig-on Be-
i) W. James, Piiiicipics of I'sycholfigy, II, 5 1 2 f f .
2) Criim Brown, Oii iioniial N)-sta<fnuis. Vcrgl. S. 105 dieser Schrift.
— 115 — '
wegung-sempfindungen nichts zu schaffen hat. Es heisst daselbst:
„Dementsprechend werden wir daran denken müssen, dass mit
der Bewegung" eines Netzhautbildes ein besonderer Process er-
regt wird, der in der Ruhe nicht vorhanden ist, und dass bei
entg-egengesetzten Bewegungen g^anz ähnliche Processe in ähnlichen
Organen erregt werden, welche sich aber gegenseitig in der Art
ausschliessen, dass mit dem Eintreten des einen der andere er-
löschen muss, und mit der Erschöpfung des einen der andere ein-
tritt." — Dies scheinen S. Exner und Vi er or dt übersehen zu
haben, welche später ähnliche Ansichten über denselben Gegen-
stand ausg"esprochen haben.
1 1.
Bevor wir an die Erklärung' des Versuches (Fig". 18) gehen,
wollen wir denselben noch variiren. Ein Beobachter, der sich bei
B aufstellt, meint unter den angegebenen Umständen mit seiner
ganzen Umg'ebung nach links zu fliegen. Wir bringen ferner
über dem Teppich TT, Fig'ur 19, einen g'egen
S'
■/^ -n.
T
den Horizont um 45 ^ geneigten Spiegel SS an
Durch ,SS betrachten wir das Spiegelbild T'F,
nachdem wir auf die Nase noch einen Schirm
nn g"esetzt haben, welcher dem Auge O den -
direkten Anblick von TT entzieht. Bewegt Figur 19.
.sich TT im Sinne des Pfeiles, während wir das
Spiegelbild K' von K fixiren, so glauben wir alsbald mit dem
ganzen Zimmer zu versinken, bei umgekehrter Bewegung glauben
wir hingegen wie in einem Luftballon zu steigen ^). Endlich gehören
hierher noch die Versuche mit der Papiertrommel, welche ich
bereits beschrieben habe -), und auf die auch die nachfolgende Er-
klärung anzuwenden ist. Alle diese Erscheinungen sind keine
rein optischen, sondern sie sind von einer unverkennbaren
Bewegungsempfindung des ganzen Körpers begleitet.
1) Derartige Erscheinungen treten oft ganz ungesucht auf. Als einmal im
Wmter bei Windstille und starkem Schneefall meine kleine Tochter am Fenster stand,
rief sie plötzlich, sie steige mit dem ganzen Hause in die Höhe.
2) Bcwegungsenipfinduiigen S. 85.
1 16
12.
Wie haben wir nun unsere Gedanken einzurichten, um in
denselben die besprochenen Thatsachen in einfachster Weise dar-
zustellen ? Bewegte Objecte üben bekanntlich einen besondern
Bewegungsreiz auf das Auge aus, ziehen die Aufmerksamkeit
und den Blick auf sich. Folgt ihnen der Blick wirklich, so
müssen wir nach allem bisher Besprochenen annehmen, dass die
Objecte bewegt erscheinen. Soll das Auge trotz der bewegten
Objecte auf die Dauer ruhig bleiben, so muss der von denselben
ausgehende constante Bewegungsreiz durch ein constanten, dem
motorischen Apparat des Auges zufliessenden Innervationsstrom
compensirt werden, ganz so, als wäre der ruhige fixirte Punkt
gleichmässig entgegengesetzt bewegt, und als wollte man dem-
selben mit den Augen folgen. Tritt dies aber ein, so muss alles
fixirte Unbewegte bewegt erscheinen. Dass dieser Innervations-
strom immer mit bewusster Absicht eingeleitet werde, wird
kaum nothwendig sein, wenn er nur von demselben Centrum aus
und auf denselben Wegen verläuft, von welchen das willkürliche
Fixiren ausgeht.
Um die zuvor besprochenen Erscheinungen zu beobachten,
bedarf es gar keiner besondern Vorkehrungen. Wir sind vielmehr
immer von denselben umgeben. Ich schreite durch einen einfachen
Willensact vorwärts. Meine Beine vollführen ihre Schwingamgen,
ohne dass ich mich besonders darum kümmere, und meine Augen
sind fest auf das Ziel gerichtet, ohne sich von den durch das Aus-
schreiten bewegten Netzhautbildern ablenken zu lassen. Mit einem
Willensact ist alles dies eingeleitet, und dieser Willensact selbst
ist die Empfindung der Vorwärtsbewegung. Derselbe Process,
oder doch ein Theil desselben, wird auch auftreten müssen, sollen
die Augen dem Reize einer Masse von bewegten Objecten dauernd
widerstehen. Daher die Bewegungsempfindung bei den obigen
Versuchen.
Beobachten wir ein Kind auf einen) Eisenbahnzuge, so folgen
dessen Augen fast unnusgesetzt in zuckender Bewegung den äussern
- 117 —
Objecten, welche ihm zu laufen scheinen. Auch der Erwachsene
hat die g-leiche Empfindung, wenn er sich den Eindrücken zwanglos
hingibt. Eahre ich vorwärts, so dreht sich, aus naheliegenden
Gründen, der ganze Raum zu meiner Linken um eine sehr ferne
verticale Axe im Sinne des Uhrzeigers, der ganze Raum zu meiner
Rechten ebenso umgekehrt. Erst wenn ich dem Verfolgen der
Objecte widerstehe, tritt für mich die Empfindung der Vor-
wärtsbewegung auf.
13-
Meine Ansichten über Bewegungsempfindungen sind be-
kanntlich mehrfach angefochten worden, wobei allerdings die Pole-
mik immer nur gegen die H3^pothese gerichtet war, auf welche
ich selbst keinen besondern Werth gelegt habe. Dass ich sehr
gern bereit bin, meine Ansichten nach Maassgabe der bekannt
gewordenen Thatsachen zu modificiren, dafür mag eben die vor-
liegende Schrift den Beweis liefern. Ich will die Entscheidung"
darüber, wieweit ich das Richtige getroffen habe, mit Beruhigung
der Zukunft überlassen. Andererseits möchte ich nicht unbemerkt
lassen, dass sich auch für die von mir, Breuer und Brown auf-
gestellte Ansicht günstige Beobachtungen ergeben haben. Hierher
gehören zunächst die von Dr. Guye (in Amsterdam) gesammelten
Erfahrungen (Du Vertigo de Meniere. Rapport lu dans la section
d'otologie du congres periodique international de sciences medi-
cales a Amsterdam, I879). Guye beobachtete bei Erkrankungen
des Mittelohres reflectorische Kopfdrehungen beim Einblasen von
Luft in die Trommelhöhle, und fand einen Patienten, der genau
den Sinn und die Anzahl der Drehungen angeben konnte, welche
er beim Einspritzen von Flüssigkeiten empfunden hatte. Professor
Crum Brown, on a case of dyspeptic vertigo (Proceedings of
the Royal Society of Edinburgh 1881-82) beschreibt einen an
sich beobachteten interessanten Fall von pathologischem Schwindel,
welcher sich in seiner Gesammtheit durch eine gesteigerte Inten-
sität und verlängerte Dauer der jeder Drehung folgenden Em-
pfindung erklären Hess. — Am merkwürdigsten sind aber die Be-
.— ii8 —
obachtungen von William James (the seise of dizzines in deaf-
mutes. American Journal of Otology. Volume IV, Octoben 1882.)
James fand eine relative vorwiegende auffallende Unempfindlich-
keit der Taubstummen geg'en den Drehschwindel, häufig eine
grosse Unsicherheit des Ganges derselben bei geschlossenen
Augen, und in manchen Fällen eine überraschende Desorientirung-
beim Untertauchen unter Wasser, wobei Beängstigung und
gänzliche Unsicherheit über das Oben und Unten eintrat. Diese
Beobachtungen sprechen sehr dafür, dass bei den Taubstummen,
wie es nach meiner Auffassung zu erwarten war, der eigentliche
Gleichgewichtssinn sehr zurücktritt, und dass dieselben die beiden
andern orientirenden Sinne, den Gesichtssinn und den Muskel-
sinn (welcher letztere beim Versinken im Wasser mit der Auf-
hebung' des Körpergewichtes alle Anhaltspunkte verliert), desto
nöthiger haben.
Die Ansicht ist nicht haltbar, dass wir zur Kenntniss des
Gleichgewichtes und der Bewegungen nur durch die Halbcirkel-
kanäle gelangen. Höchst wahrscheinlich haben vielmehr auch
niedere Thiere, denen das entsprechende Organ ganz fehlt,
Bewegungsempfindungen. Es war mir bisher nicht möglich, in
dieser Richtung Versuche anzustellen. Die Versuche aber, w^elche
Lubbock in seiner Schrift über „Ameisen, Bienen und Wespen"
(Leipzig, Brockhaus, 1883, S. 220) beschrieben hat, werden mir
durch die Annahme von Bewegungsempfindungen viel verständ-
licher. Da möglicherweise Anderen derartige Versuche näher
liegen, ist es vielleicht nicht unnütz, wenn ich einen Apparate be-
spreche, den ich (Anzeiger der Wiener Akademie, 30. December
1875) schon kurz beschrieben habe. Andere Apparate dieser Art
sind später von Govi und Ewald construirt worden. Man hat
sie nachher Cyclostaten genannt.
Der Apparat dient dazu, das Verhalten von Thieren bei
rascher Rotation derselben zu beobachten. Da nun das Bild durch
die Rotation verwischt wird, so muss die passive Rotation optisch
aufgehoben und ausgeschaltet werden, so dass die activen Be-
wegung-en des Thieres allein übrig bleiben und beobachtbar werden.
— iig —
Man erreicht die optische Aufliebung der Rotation einfach da-
durch, dass man über der Scheibe der Centrifugalmaschine genau
um dieselbe Axe mit Hilfe einer Zahnradübertragung ein Reflex-
ionsprisma mit der halben Winkelgeschwindigkeit der Scheibe
und in demselben Sinne rotiren lässt.
n
A
Figur 20.
Die Figur 20 gibt eine Ansicht des Apparates. Auf der
Scheibe der Centrifugalmaschine befindet sich ein Glasbehälter g,
in welchem die zu beobach-
tenden Thiere eingeschlossen ^
werden. Durch eine Zahnrad-
übertragung Vv^ird das Ocular o
mit der halben Winkelge-
schwindigkeit und in dem-
selben Sinne wie g gedreht.
Die folgende Figur zeigt die ' '^
Verzahnungin einer besondern
Darstellung. Das Ocular O O und der Behälter gg drehen sich
um die Axe A A, während ein Paar von Zahnrädern, die fest mit
einander verbunden sind, sich um BB drehen. Der Radius des
Figur 21.
I20
2 ;'
Zahnrades aa sei = r, dann ist r jener von bb, — jener von cc,
3
/IT
jener von rt'ß^ aber = — , womit das A^erlangte Geschwindigkeits-
3
verhältniss von oo und gg erzielt ist.
Um den Apparat zu centriren, legt man auf die Bodenscheibe
des Behälters einen mit Stellschrauben versehenen Spiegel S und
justirt denselben so, dass beim Rotiren die Bilder in demselben
ruhig bleiben. Dann steht er senkrecht auf der Rotation saxe des
Apparates. Einen zweiten kleinen Spiegel S , dessen Belegung
ein kleines Loch L enthält, bringt man an dem leeren Ocularrohr
mit der spiegelnden Fläche nach unten so an, das bei der Rotation
die Bilder unbewegt bleiben, die man durch das Loch hindurch
in dem Spiegelbilde von S' in S sieht. Dann steht S' senkrecht
auf der Ocularaxe. Nun bringt man, was nach einigen Versuchen
leicht gelingt, mit Hilfe eines Pinsels auf dem Spiegel S einen
Punkt P an, welcher beim Rotiren seine Lage nicht ändert, und
stellt das Loch im Spiegel S' so, dass es bei der Rotation eben-
falls an Ort und Stelle bleibt. Hierdurch sind Punkte der beiden
Rotationsaxen gewonnen. Stellt man nun das Ocular (mit Hilfe
von Schrauben) so^ dass man, durch das Loch in S' hindurch-
sehend, den Punkt P auf S und das Spiegelbild von L in S (oder
eigentlich die vielen Spiegelbilder von P und L) in Deckung
sieht, so sind die beiden Axen nicht nur parallel, sondern sie
fallen auch zusammen.
Als Ocular könnte man in der einfachsten Weise einen
Spiegel, dessen Ebene die Axe enthält, anwenden, und ich habe
dies bei dem ersten Rudiment meines Apparates auch gethan.
Allein man verliert hierdurch die Hälfte des Gesichtsfeldes. Ein
total reflectirendes Prisma ist deshalb viel vortheilhafter. lx\ der
Figur 22 stelle ABC einen ebenen Schnitt senkrecht zu der Hypo-
thenusenfläche und den Kathetenflächen des total reflectirenden
Ocularprismas vor. Dieser Schnitt enthalte zugleich die Rotations-
axe ONPQ, welche parallel zu A B ist. Der Strahl, welcher
nach der Axe QP fortgeht, muss nach der Brechung und Re-
flexion im Prisma wieder nach der Axe A-^ O fortgehen und das
121
Figur 2 2.
(in der Axe befindliche) Auge O treffen.
Wenn dies erfüllt ist, können die Punkte
der Axe bei der Rotation keine Verschieb-
ung erfahren und der Apparat ist cen-
trirt. Der betreffende Strahl muss also
den Mittelpunkt M von A B treffen und
schneidet demnach, weil er unter dem In-
cidenzwinkel von 45 ^ auf Crown glas fällt
AB unter etwa 16*^ 40'. Hiernach muss
OP um etwa 0.115. AB von der Axe
abstehen, welches Verhältniss am besten
empirisch hergestellt wird, indem man das
Prisma im Ocular so verschiebt, dass
Schwankungen der Objecte in gg bei
der Rotation wegfallen.
Die Figur 22 macht zugleich das Gesichtsfeld für das Auge
in O ersichtlich. Der Strahl OA (welcher eben senkrecht auf
A C fällt) wird an A B nach A C reflectirt und geht nach S. Der
Strahl OR hingegen wird bei B reflectirt und tritt gebrochen
nach T aus.
Der Apparat erwies sich bei meinen bisherigen Versuchen
in jeder Beziehung als ausreichend. Bringt man ein gedrucktes
Blatt nach gg, und rotirt so rasch, dass dessen Bild ganz verwischt
wird, so kann man die Schrift durch das Ocular bequem lesen.
Die Umkehrung wegen der Spiegelung könnte beseitigt werden,
wenn man ober dem rotirenden Ocularprisma ein zweites festes
Reflexionsprisma anbringen würde, welche Complication mir aber
unnöthig schien.
Bisher habe ich, ausser einigen physikalischen Versuchen, nur
Rotationsversuche mit verschiedenen kleinen Wirbelthieren (Vögeln,
Fischen) angestellt, und meine (in der Schrift über „Bewegungs-
empfindungen" angegebenen) Daten durchaus bestätigt gefunden.
Es wäre aber wohl auch förderlich, wenn man mit Insecten und
andern, namentlich niederen Thieren (Seethieren) ähnliche Ver-
suche durchführen würde.
122
Seither sind solche Versuche, die sich als recht lehrreich er-
wiesen haben, von Schäfer (Naturwissenschafliche Wochenschrift,
No. 25, i8gi), von Loeb (Heliotropismus der Thiere, Würzburg
'1890, vS. 117) u. a. ausgeführt worden. Was ich gegenwärtig sonst
noch über den Orientirungssinn zu sagen hätte, findet sich in
meinem Vortrag ,,Ueber Orientirungsempfindungen" (Schriften des
Vereins zur Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse in
Wien, 1897, auch „Populär scientific lectures", 3. edit., 1898). Ins-
besonderemöchte ich aber hinweisen auf Breuer's Untersuchungen
über die Otohthenapparate, Pollak's und Kreidl's Versuche an
Taubstummen, Kreidl's Experimente an Krebsen, vor allem aber
auf das grundlegende Werk von Ewald „Ueber das Endorgan
des Nervus octavus", Wiesbaden 1892^).
14-
Ohne den Thatsachen Gewalt anzuthun, welche in meiner
Schrift über Bewegungsempfindungen beschrieben sind, legen die
eben besprochenen Beobachtung-en die Möghchkeit nahe, die Auf-
fassung dieser Thatsachen zu modificiren, wie wir dies im Folgen-
den andeuten wollen. Es bleibt höchst wahrscheinlich, dass ein
Organ im Kopfe existirt, wir wollen es das Endorgan {EO) nennen,
welches auf Beschleunigungen reagirt, und durch dessen Ver-
mittlung wir zur Kenntniss von Bewegungen gelangen. Mir
selbst erscheint die Existenz von Bewegungsempfindungen von der
Natur der Sinnesempfindungen nicht zweifelhaft, und ich kann
kaum verstehn, wie Jemand, der die fraglichen Versuche an sich
selbst wirklich wiederholt hat, diese Empfindungen leugnen kann.
Statt sich aber vorzustellen, dass das Endorgan besondere Be-
wegungsempfindungen erregt, welche von diesem Apparat wie
von einem Sinnesorgan ausgehen, könnte man auch annehmen,
dass dasselbe lediglich reflectorisch Innervationen auslöst. Inner-
vationen können willkürlich und bewusst oder unwillkürlich und
unbewusst sein. Die beiden verschiedenen Organe, von welchen
I) Ich kann nur erwähnen, dass mir während des Drucks eine Arbeit zukam
von N. Ach, über die Otolithenfunction und den Labyrinthtoniis. PfKigers Archiv 1901.
— 123 —
sie ausg'ehen, bezeichnen wir mit W/ und UI. Beide können
auf den oculomotorischen {021) und den locomotorischen Apparat
{LM) übergehen.
Betrachten wir nun das nebenstehende Schema. Wir leiten
im Sinne des glatten Pfeiles willkürlich, also von WI aus, eine
active Beweg'ung ein, welche sich
im Sinne der glatten Pfeile auf OM
und LM überträgt. Die zugehörig'e
Innervation, deren Antecedens oder
Consequens empfinden wir unmittel-
bar. Eine besondere hiervon ver-
schiedene Bewegungsempfindung
wäre also in diesem Fall unnöthig.
Ist nun die Bewegung im Sinne des
glatten Pfeiles eine (uns überraschende) passive, so gehen er-
fahr ungsmässig von EO über 6^/ Reflexe aus, welche compen-
sirende Bewegungen hervorbringen, was wir durch die gefiederten
Pfeile andeuten. Betheiligt sich IVI nicht, und gelingt die Com-
pensation, so fällt hiermit auch die Bewegung und die Forderung-
einer Beweg'ungsempfindung weg. Wird aber die compensirende
Bewegung von IVI aus (absichtlich) unterdrückt, so ist hierzu
wieder dieselbe Innervation wie bei der activen Bewegung nöthig,
und sie liefert auch wieder die gieiche Bew^egaingsempfindung.
Das Organ E O ist also zu IV I und UI so gestimmt, dass
in den beiden letzteren mit denselben Bewegungsreiz des ersteren
entgegengesetzte Innervationen zusammentreffen. Ausserdem haben
wir aber noch folgende Verschiedenheit in der Beziehung' von
EO z\i WI und UI zu bemerken. Für E O ist der Bewegungs-
reiz natürlich derselbe, ob die eingeleitete Bewegung' eine passive
oder active ist. Auch bei einer activen Bewegung würden die von
WI ausgehenden Innervationen in ihrem Erfolg durch E O und
£// aufgehoben, wenn nicht zugleich von WI mit der willkürlichen
Innervation eine Hemmung nach EO oder UI ausginge. Den
Einfluss von EO auf WI haben wir uns viel schwächer vorzu-
stellen, als jenen auf UI. Denken wir uns etwa drei Thiere WI,
— 124 —
UI und E O, welche die Arbeit so getheilt hätten, dass das erste
nur iVngr iffs-, das zweite nur Abwehr- oder Fluchtbewegunge
ausführte, während das dritte als Wächter aufgestellt wäre, mit
einander zu einem neuen Wesen verbunden, wobei WI eine
dominirende Stellung einnähme, so würde dies ungefähr dem dar-
gestellten Verhältniss entsprechen. Es wird sich auch manches
zu Gunsten einer derartigen Auffassung der höheren Thiere an-
führen lassen ^).
Ich will das eben Ausgesprochene nicht für ein vollständiges
und nach allen Seiten zutreffendes Bild der Thatsachen ausgeben,
bin mir vielmehr der Mängel meiner Ausführung bewusst. Das
dem entwickelten Hauptgrundsatz (S. 48) entsprechende Streben
aber, alle Raum- und Bewegungsempfindungen, welche
im Gebiete des Gesichts- und Tastsinnes, bei der Ortsbe-
wegung, als Schatten selbst bei der Erinnerung an die
Locomotion, beim Gedanken an einen fernen Ort u. s. w.
auftreten, auf einerlei Empfindungsqualität zurückzu-
führen, wird man gerechtfertigt finden. Die Annahme, dass diese
Empfindungsqualität der Wille sei, soweit er sich auf Raumlage
und räumliche Bewegung bezieht, oder die Innervation, präjudicirt
der weitern Forschung- nicht, und stellt nur die Thatsachen dar,
soweit sie bis jetzt bekannt sind ^).
15-
Aus den Erörterungen des vorigen Kapitels über Symmetrie
und Aehnlichkeit können wir ohne weiteres den Schluss ziehen,
dass gleichen Richtungen gesehener Linien gleichartige Inner-
vationen, zur Medianebene symmetrischen Linien sehr ähnliche
i) Wenn ich einen kleinen Vogel mit der Hand anfassen will, so benimmt
er sich dieser Hand gegenüber gerade so, wie sich etwa ein Mensch gegen einen
riesigen Tintenfisch verhalten würde. — Bei Betrachtung einer Gesellschaft kleiner
Kinder, deren Bewegungen noch wenig überlegt und geübt sind, machen namentlich
die Hände und die Augen sehr stark den Eindruck polypenartiger Wesen. Selbst-
verständlich können solche Eindrücke keine wissenschaftliche Frage entscheiden, es
kann aber sehr anregend sein, sich denselben zeitweilig hinzugeben.
2j Vcrgl. die Ansicht von Hering in Hermann's Handbuch der Physiologie,
Bd. UJ, I. Tb., S. 547.
— 12,5 —
Innervationen, dem Blick nach oben und unten, in die Ferne
und in diö Nähe aber sehr verschiedene Innervationen ent-
sprechen, was nach den Symmetrieverhältnissen des motorischen
Apparates der Augen grössentheils auch von vornherein zu er-
warten ist. Hiermit allein ist schon eine ganze Reihe eigenthüm-
licher physiologisch-optischer Phänomene aufklärt, die bisher kaum
beachtet worden sind. Ich komme nun aber zu dem, nach physi-
kalischer Schätzung wenigstens, wichtig'sten Punkt.
Der Raum des Geometers ist ein Vorstellungsgebilde von
dreifacher Mannigfaltigkeit, welches sich auf Grundlage von
manuellen und intellectuellen Operationen entwickelt hat. Der
optische Raum (Herin g's Sehraum) steht in einer ziemlich com-
plicirten geometrischen Verwandschaft zu dem vorigen. Man
kann mit Hülfe bekannter Ausdrücke die Sache noch am besten
darstellen, wenn man sagt, dass der optische Raum den geo-
metrischen (Euklides'schen) in einer Art Reliefperspecti ve
abbilde, w^as sich teleologisch auch erklären lässt. Jedenfalls ist
aber auch der optische Raum eine dreifache Mannigfaltigkeit.
Der Raum des Geometers zeigt in jedem Punkte und nach allen
Richtungen dieselben Eigenschaften, was vom physiologischen
Raum durchaus nicht gilt. Der Einfluss des physiologischen
Raumes ist aber in der Geometrie noch vielfach zu bemerken.
Wenn wirz. B. convexe und concave Krümmung unterscheiden,
so ist dies ein solcher Fall. Der Geometer sollte eig"entlich nur
die Abweichung vom Mittel der Ordinaten kennen.
i6.
So lange man sich vorstellt, dass die (12) Augenmuskel ein-
zeln innervirt werden, ist man' nicht im Stande die fundamentale
Thatsache zu verstehen, dass der optische Raum als dreifache
Mannigfaltigkeit sich darstellt. Ich habe diese Schwierigkeit Jahre
lang gefühlt und auch die Richtung erkannt, in welcher nach dem
Princip des Parallelismus des Physischen und Psychischen die Auf-
klärung zu suchen ist; die Auflösung selbst blieb mir wegen mangel-
hafter Erfahrung auf diesem Gebiet verborgen. Desto besser weiss
126 —
ich Hering' s Verdienst zu schätzen, der dieselbe gefunden hat.
Den drei optischen Raumcoordinanten, Höhen-, Breiten- und Tiefen-
empfindung (Hering', Beiträge zur Physiologie. Leipzig, Engel-
mann, 1861 — 65) entspricht nämlich nach den Ausführungen des-
selben Forschers (Die Lehre vom binocularen Sehen. Leipzig, Eng'el-
mann, 1868) auch nur eine dreifache Lmervation, welche be-
ziehungsweise Rechts- oder Linkswendung, Erhebung oder Senkung
und Convergenz der Augen hervorruft. Darin liegt für mich die
wichtigste und wesentlichste Aufklärung ^). Ob man nun die Inner-
vation selbst für die Raumempfindung- hält, oder sich vor oder
hinter derselben erst die Raumempfindung- vorstellt, was sofort zu
entscheiden weder leicht noch nothwendig sein dürfte, jedenfalls
wirft die Hering'sche Darlegung ein ausgiebiges Licht in die
psychische Tiefe des Sehprocesses. Auch die in Bezug- auf S3''mme-
trie und Aehnlichkeit von mir ang-eführten Erscheinung-en füg-en
sich dieser Auffassung sehr gut, was weiter auszuführen wohl
unnöthig ist -).
i) Dies ist der Punkt, aut welchen oben (S. 97 Anmerkung i und S. 110) hin-
gewiesen wurde.
2) Hiermit verschwindet auch die Schwierigkeit, die ich noch 187 1 empfand,
und in meinem Vortag über ,,die Symmetrie", Prag, Calve (1872) mit den AVorten
aussprach: ,,Wenn nun auch von Geburt Einäugige ein gewisses Gefühl für Symmetrie
haben, so ist dies frcilicli ein Rätlisel. Freiiicli kann das Symmetriegefülif , wenn
aucli zunäclist durcli die Augen erworben, niclit auf diese beschränkt bleiben. Es
muss sich wohl auch noch in andern Theilen des Organismus durch mehrtausendjährige
Uebung des Menschengeschlechtes festsetzen und kann dann niclit mit dem Verlust
des einen Auges sofort wieder verschwinden." — In der That bleib t der symmetrische
I nn er vationsap parat, auch wenn das eine Auge verloren geht.
VITL Der Wille.
Im Vorigen wurde vielfach der Ausdruck „Wille" gebraucht
und es sollte damit nur ein allgemein bekanntes psychisches Phä-
nomen bezeichnet werden. Ich verstehe unter dem Willen kein
besonderes psychisches oder metaphysisches Agens, und
nehme keine eigene psychische Causalität an. Ich bin vielmehr
mit der überwiegenden Zahl der Physiologen und modernen Psycho-
logen überzeugt, dass die Willenserscheinungen aus den organisch-
physischen Kräften allein, wie wir kurz aber allgemein verständlich
sagen wollen, begreiflich sein müssen. Ich würde dies als selbst-
verständlich gar nicht besonders betonen, wenn nicht die Be-
merkungen mancher Kritiker bewiesen hätten, dass es doch
nöthig ist.
Die Beweg'ungen niederer Thiere, nicht minder die ersten
Bewegungen der Neugebornen, werden unmittelbar durch den
Reiz ausgelöst, erfolgen ganz maschinenmässig', sind Reflex-
bewegungen. Auch in spätem Lebensstadien der höhern Thiere
fehlen solche Reflexbewegungen nicht, und wenn wir Gelegenheit
haben dieselben, etwa die Sehnenreflexe, an uns zum ersten Mal
zu beobachten, so sind wir von denselben nicht minder überrascht,
als von irgend einem unerwarteten Ereigniss in unserer Umg'ebung,
Das beschriebene Verhalten des jungen Sperling's beruht auf Reflex-
bewegungen. Das junge Hühnchen pickt ganz maschinenmässig
nach allem, was es sieht, so wie das Kind nach allem Auffallen-
den greift, und andererseits die Glieder vor jeder unangenehmen
Berührung ohne Mitwirkung des Intellects zurückzieht. Es bestehen
~ 128 —
eben organische Einrichtungen, welche die Erhaltung des Organis-
mus bedingen. Folgen 'wir den Ansichten von Hering über die
lebendige Substanz, wonach diese dem Gleichgewicht der anta-
gonistischen Vorgänge in derselben zustrebt, so müssen wir eine
solche Erhaltungstendenz schon den Elementen der Organismen
zuschreiben.
Sinnliche Reize können durch Erinnerungsbilder theil-
weise oder ganz vertreten werden. Alle im Nervensystem zurück-
bleibenden Gedächtnissspuren wirken mit den Sinnesempfindungen
reflexauslösend, fördernd, hemmend, modificirend zusammen. So
entsteht die willkürliche Beweg'ung", welche wir als eine durch Er-
innerungen modificirte Reflexbewegung wenigstens im Princip
begreifen können, soviel auch an dem Verständniss im Einzelnen
noch fehlen mag. Das Kind, welches sich einmal an der glänzen-
den Flamme gebrannt hat, ergreift dieselbe nicht mehr, weil der
Angriffsreflex durch den antagonischen Fluchtreflex, welchen die
Schmerzerinnerung auslöst, gehemmt ist. Das Hühnchen pickt
anfangs nach allem, wählt aber bald unter dem Einflüsse der
theils hemmenden, theils fördernden Geschmackserinnerung. Der
allmäliche Uebergang der Reflexbewegung in die Willkürhandlung
ist an unserm Sperling (S. 60) sehr schön zu verfolgen. Für das
reflectirende Subject liegt das Characteristische der Willkürhandlung
zum Unterschiede von der Reflexbewegung darin, dass es das Be-
stimmende derselben in den eigenen Vorstellungen erkennt,
welche diese Handlung aniticipiren (S. 78).
2.
Die psychischen Vorgänge, welche die Willkürhandlung, die
willkürliche Bewegung begleiten, sind von W. James ^) und
H. Münsterberg 2) vortrefflich analysirt worden. Es scheint
eine einfache und natürliche Ansicht, dass die wirkliche Bewegung
an die vorgestellte sich ebenso associirt, wie eine Vorstellung an
die andere. Bezüglich der Emptindungen aber, der Art, des Aus-
i) James, Psycliologie, II, 486 ff'.
2) Münsterberg, Die Willenshandlung, 1888.
I 2 9 —
maasses, der Anstrengung der Bewegung, welche mit Ausführung
der Bewegung verbunden sind, stehen sich zwei Ansichten gegen-
über. Die eine von Bain, Wundt, Helmholtz u. A. ver-
tretene nimmt an, dass die auf die Muskel abgehende Inner-
vation selbst empfunden wird. Anderer Meinung sind James
und Münsterberg. Sie halten alle kinästhetischen, die Be-
wegung begleitenden Empfindungen für peripherisch durch
sensible Elemente in der Haut, dem Muskel, den Gelenken erregt.
Gegen den centralen Ursprung der- kinästhetischen Em-
pfindungen sprechen vor allem die Beobachtungen an Anästhe-
tischen ^), welche bei Ausschluss der Sinnesempfindungen über die
passive Bewegung ihrer Glieder nichts auszusagen wissen, obgleich
sie dieselben unter Leitung des Gesichtssinnes zu bewegen ver-
mögen. Die Anstrengung eines faradisirten Muskels empfinden
wir gerade so, wie jene eines willkürlich innervirten ^). Die An-
nahme besonderer Innervationsempfmdungen ist zur Erklärung der
Erscheinungen unnöthig, daher nach dem Princip der Sparsamkeit
zu vermeiden. Endlich werden solche Innervationsempfindungen
auch nicht direct beobachtet. Eine besondere Schwierigkeit bilden
gewisse optische Erscheinungen, auf die wir noch zurück-
kommen.
Das Gesetz der Association verbindet nicht nur ins Bewusst-
sein fallende Processe (Vorstellungen), sondern auch die verschie-
denartigsten organischen Vorgänge. Wer in der Verlegenheit
leicht erröthet, wer leicht an den Händen schwitzt u. s. w., be-
obachtet diese Processe meist sofort an sich, sobald er an die-
selben erinnert wird. Ein Blendungsbild, welches sich Newton^)
zum Zwecke des Studiums durch Blicken in die Sonne verschafft
hatte, verschwand zwar wieder, trat aber trotz mehrtägigen
Aufenthalts im Dunkeln durch mehrere Monate hindurch immer
wieder mit voller sinnlicher Intensität hervor, sobald er sich
desselben erinnerte. Nur durch lange fortgesetzte gewaltsame
1) Jaraes, a. a. O. II, 489.
2) James, a. a. O. II, 502.
3) King's Life of Locke, 1830, Vol. I, p. 404. — Brewster, Memoirs of
Newton, 1855, Vol. I, p. 236.
Mach, Analyse. 3. Aufl. "
- I30 —
psychische Ablenkung konnte er die lästige Erscheinung wieder
los werden. Eine ähnliche Beobachtung- theilt Boyle in seinem
Buch über die Farben mit. Zusammengehalten mit diesen That-
sachen erscheint die Association motorischer Processe an Vor-
stellungen nicht befremdlich.
3-
Durch einen apoplectischen Anfall, den ich ohne die geringste
Bewusstseinstrübung erlitten habe, bin ich mit einem Theil der
hier in Betracht kommenden Thatsachen vertraut geworden. Auf
einer Eisenbahnfahrt merkte ich plötzlich, ohne sonstiges Uebel-
befinden, eine vollständige Lähmung des rechten Armes und Beines,
welche intermittirte, so dass ich mich zeitweilig anscheinend wieder
ganz normal bewegen konnte. Nach einigen Stunden blieb dieselbe
dauernd, und es gesellte sich auch eine Affection des rechten Fa-
cialis hinzu, welche mir nur leises und etwas erschwertes Sprechen
gestattete. Meinen Zustand während der Perioden der vollständigen
Lähmung kann ich nur so bezeichnen, dass ich sage: ich fühlte
keine Anstrengung- bei der Absicht die Glieder zu bewegen, konnte
aber in keiner Weise den Willen zur Bewegung aufbringen.
In den Perioden der unvollständigen Lähmung und in der Zeit
der Reconvalescenz hingegen schienen mir Arm und Bein un-
geheure Lasten, die ich mit der grössten Anstrengung erhob.
Es scheint mir sehr plausibel, dass dies von der energischen
Innervation anderer Muskelgruppen neben jenen der gelähmten
Extremitäten herrührte ^). Die Sensibilität der gelähmten Glieder,
mit Ausnahme einer Stelle am Schenkel, war vollständig erhalten,
wodurch auch die Kenntniss der Lage und der passiven Be-
wegung vermittelt wurde. Die Reflexerregbarkeit der gelähmten
Glieder fand sich enorm gesteigert, was sich namentlich durch
heftiges Zucken beim leichtesten Erschrecken äusserte. Die
optischen und haptischen Bewegungsbilder verblieben im
Gedächtniss. Sehr oft des Tages wollte ich mit der rechten
Hand etwas verrichten und musste mich erst auf die Unmöglich-
keit, dies zu thun, besinnen. Lebhafte Träume v^on Ciavierspielen
i) James, a. a. Ü. II, 503.
— 131 —
und Schreiben, begleitet von Verwunderung, wie gut das wieder
von Statten gehe und gefolgt von bitterer Enttäuschung beim
Erwachen, sind auf dieselbe Quelle zurückzuführen. Auch motorische
Hallucinationen kamen vor. Ich meinte oft ein Oeffnen und
Schliessen der gelähmten Hand zu empfinden, wobei die Ex-
cursionen wie durch einen weiten, aber steifen Handschuh ein-
geschränkt schienen. Daraufsehen überzeugte mich aber, dass
jede Spur von Bewegung fehlte. Ueber die Strecker dieser Hand
habe ich noch jetzt (nach 3 Jahren) keine Herrschaft.
4.
Die Auffassung von James und Münsterberg schliesst
sich diesen Thatsachen, wie ich glaube, ohne Zwang an, und wir
dürfen sie daher im Wesentlichen für richtig halten. Nicht die
Innervation wird empfunden, sondern die Folgen derselben
setzen neue peripherische sensible Reize, welche an die Ausfüh-
rung der Bewegung gebunden sind. Einige Schwierigkeiten
hindern mich jedoch zu glauben, dass mit dieser Ansicht, welche
ursprünglich auch die meinige ^) war, der Sachverhalt voll-
ständig durchschaut ist.
Man sollte meinen, dass der centrale Process, welcher die
blosse Vorstellung einer Bewegung bedingt, doch in etwas sich
von demjenigen unterscheiden müsste, der auch eine wirkliche
Bewegung auslöst. Allerdings kann die Stärke des Processes,
das Fehlen antagonistischer Vorgänge, die Ladung der Inner-
vationscentren, mitbestimmend sein, doch wird man ein Bedürfniss
nach weiterer Aufklärung kaum in Abrede stellen. Insbesondere
muss der Unterschied im Verhalten der Augenmuskel und
der übrigen willkürlich erregbaren Muskel näher untersucht werden.
Die meisten Muskel haben variable Arbeiten zu verrichten, deren
Betrag ungefähr zu kennen für uns von praktischer Wichtigheit
ist. Die Arbeit der Augenmuskel ist im Gegentheil nur gering
und immer genau an die Stellung der Augen gebunden, welche
letztere allein von optischer Bedeutung ist, während die Arbeit
I) Bevor mir die Erscheinungen bei Lähmung der Augenmuskel bekannt waren
(vor 1863),
9*
— 132 —
als solche gleichgültig ist. Daher mögen die kin ästhetischen
Empfindungen bei den Muskeln der , Extremitäten eine so viel
grössere Rolle spielen.
5-
Von wie geringer Bedeutung die von den Augenmuskeln aus-
gehenden Empfindungen sind, hat Hering i) g'ezeigt. Gewöhnlich
achten wir kaum auf die Bewegungen unserer Augen, und die
Lage der Objecto im Räume bleibt von dieser Bewegung un-
beeinflusst. Stellt man sich zw^ei mit den beweglichen Netzhäuten
sich deckende Kugelflächen vor, welche im Räume fest bleiben,
während sich die Netzhäute drehen, so könnte man bei flüchtiger
Ueberlegung sogar glauben, dass die Raumwerthe der gesehenen
Objecto nur durch die beiden Abbildungsorte auf den festen
Kugeln bestimmt seien. DieS. loi erwähnten Thatsachen nöthigen
aber, diese Raumwerthe in zwei Componenten zu zerlegen, deren
eine von den Coordinaten des Bildpunktes auf der Netzhaut, deren
andere von den Coordinaten des Blickpunktes abhängt, und welche
Componenten bei willkürlichen Aenderungen des Blickpunktes
sich gegenseitig compensirende Aenderungen erfahren -). Wenn
man nun eine Empfindung- der Innervation nicht annimmt, den
peripherisch erregten kinästhetischen Empfindungen der Augen-
muskel aber die Bedeutung abspricht, so bleibt allerdings nur übrig,
(mit Hering) den Ort der Aufmerksamkeit als durch
einen bestimmten psychoph3^sischen Process bedingt
anzusehen, der zugleich das physische Moment ist,
welches die entsprechende Innervation der Augen-
muskel auslöst^). Dieser Process ist aber doch ein centraler,
und die „Aufmerksamkeit" von dem „Willen zu sehen" doch kaum
1) Hering in Hermann's Handbuch der Physiologie, III, i, 547. Vgl.
auch Hillebrand, Verhältniss der Accomodation und Convergenz zur Tiefeniocalisation.
Zeitschr. f. Psych, u. Phys. d. Sinnesorgane, VII, S. 97 fg.
2) Vgl. S. 94; Hering, a. a. O. 533, 534. — Ob die Ansieht, dass die
Aenderung der Raumwerthe sofort mit dem Wechsel der Aufmerksamkeit vollzogen
ist, mit der S. 103 — 4 erwähnten Thatsache in Einklang gebracht werden kann, vermag
ich jetzt nicht zu entscheiden.
3) Hering, a. a. O. 547, 548,
— 133 —
verschieden. Somit könnte ich meinen Ausdruck S. 103 im Wesent-
lichen doch festhalten, denn welcher von der Reihe der vom Centrum
aus erregten und ablaufenden Processe in die Empfindung eingeht,
kann für manche Frage zunächst dahingestellt bleiben.
6.
In der S. 123 versuchten Erklärung könnte man nach dem
Obigen die beiden antagonistischen Innervationen durch zwei
antagonistische Aufmerksamkeitsprocesse ersetzen, einen
durch den sensiblen Reiz und einen central erregten. Der von
James ^) vorgebrachten Erklärung der Erscheinungen bei Augen-
muskellähmungen, welche wenigstens in der Form in das be-
denkliche Fahrwasser der „unbewussten Schlüsse" einzulenken
scheint, könnte ich nicht zustimmen. Es handelt sich in dem
fraglichen Fall wohl um Empfindungen und nicht um die Er-
gebnisse der Ueberlegung.
Die Augenmuskel dienen nur der räumlichen Orientirung,
die Muskel der Glieder vorzugsweise der mechanischen Arbeit.
Es liegen also hier zwei extreme Fälle vor, zMdschen welchen es
auch Mittelfälle geben wird. Sieht man das neugeborene Hühn-
chen mit voller Sicherheit picken und treffen, so kann man wohl
glauben, dass dessen Kopf- und Halsmuskel sich einigermaassen
ähnlich wie die Augenmuskel, als räumlicher Orientirungsapparat,
verhalten. Die zuckenden Kopfbewegungen vorwärtsschreitender
Vögel werden wohl wie die nystagmischen Kopfwendungen bei
Drehung im Interesse der Orientirung ausgeführt. Ganz ohne
Analogie" zu den Augenmuskeln werden auch die Muskel der
Extremitäten nicht sein. Wie sollten wir sonst die haptische
Raumvorstellung des Blinden verstehen? Es ist doch schwer,
eine nativistische Theorie des Sehraumes mit einer empiristischen
Theorie des Tastraumes zu vereinigen -).
i) James, a. a. O. II, 506.
2) Vgl. S. 107, Anm. 2 u. S. i ro.
IX. Eine biologisch-teleologische Betrachtung
über den Raum ^).
Es ist schon wiederholt darauf hingewiesen worden, wie
sehr sich das S3^stem unserer Raumempfindungen, der physiolo-
gische Raum, wenn wir so sagen dürfen, von dem geometrischen
Raum (wir meinen hier den Euklidischen Raum) unterscheidet.
Dies gilt nicht nur für den Sehraum, sondern auch für den hap-
tischen Raum des Blinden im Vergleich zum geometrischen
Raum. Der geometrische Raum ist überall und nach allen
Richtungen gleich beschaffen, unbegrenzt und unendlich (im
Riemannschen Sinne). Der Sehraum ist begrenzt und endlich,
ja sogar, wie der Anblick des abgeplatteten „Himmelsgewölbes"
lehrt, in verschiedener Richtvmg von ungleicher Ausdehnung.
Durch das Schrumpfen der Körper bei Entfernung, durch das
vSchwellen bei Annäherung" derselben gleicht, der Sehraum viel
mehr manchen Gebilden der Metag-eometer als dem Euklidischen
Raum. Die Verschiedenheit des „oben" und „unten", des „vorn"
und „hinten", genau genommen auch des „rechts" und „links",
theilt der haptische Raum mit dem Sehraum. Solche Unter-
schiede fehlen im geometrischen Raum. Der physiologische
i
i) Dieser Gegenstand kann hier nicht avisführlich erörtert werden. Ich ver-
weise auf meine Artikel in „The Monist", von welchen der erste im April 1901
erschienen ist. — Die hier angedeuteten physiologischen Betrachtungen sind zum Theil
mit jenen Wiassaks verwandt, welche er am Schluss seines schönen Referates „über
die statischen Functionen des Ohrlabyrinthes" (Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche
Philosophie XVII, i, S. 28) mittheilt, nur nehme ich nicht eine sondern zwei
Reactioncn auf die betreffenden Reize an. Vgl. auch die oben citirten Stellen von
Hering und James, Psychology II, S. 134 u. f.
— 135 —
Raum verhält sich zum geometrischen für den Menschen und
die Thiere von ähnHchem Bau ungefähr wie ein triklines zu
einem tesseralen Medium. Dies gilt für Menschen und Thiere,
so lange diesen nicht die Freiheit der Bewegung und der Orien-
tirung zukommt. Mit der Beweglichkeit nähert sich der physio-
logische Raum dem Euklidischen, ohne ihn jedoch in der Ein-
fachheit seiner Eigenschaften vollständig zu erreichen. Mit dem
geometrischen Raum hat der physiologische gemein die drei-
fache Mannigfaltigkeit und die Continuität. Der stetigen Be-
wegung eines Punktes A im geometrischen Raum entspricht
eine eben solche des Punktes A' im physiologischen Raum. Es
genügt auf die Schwierigkeit hinzuweisen, welche die Lehre von
den Antipoden zu überwinden hatte, um zu zeigen, dass geome-
trische Raum Vorstellungen durch physiologische getrübt werden
können. Auch unsere abstracteste Geometrie bedient sich nicht
rein metrischer Begriffe, sondern verwendet noch physiologische
Vorstellungen, wie Richtung, Sinn, rechts, links u. s. w.
Um Physiologisches und Geometrisches reinlich zu sondern,
haben wir zu bedenken, dass unsere Raumempfindungen be-
stimmt sind durch die Abhängigkeit der Elemente, die wir
ABC . . . genannt haben, von Elementen unseres Leibes KLM . . .,
dass aber die geometrischen Begriffe sich ergeben durch
räumliche Vergleichung der Körper, durch die Beziehungen
der ABC . . . untereinander.
t
2.
Betrachten wir die Raumempfindungen nicht als isolirte
Erscheinungen, sondern in ihrem biologischen Zusammenhang, in
ihrer biologischen Function, so werden dieselben, teleologisch
wenigstens, verständlicher. Sobald ein Organ oder ein System
von Organen gereizt wird, treten reflectorisch, als Reaction, im
allgemeinen zweckmässige Bewegungen ein, welche je nach der
Art des Reizes Abwehr- oder Angriffsbewegungen sein können.
Einem Frosch mögen z. B. nacheinander verschiedene Haut-
stellen durch Säuretropfen gereizt werden. Er wird auf jede
— 136 ~
Reizung mit einer specifischen, der gereizten Stelle entsprechen-
den Abwehrbewegung antworten. Reizung der Netzhautstellen
lösen den ebenso specificirten Schnappreflex aus. Das heisst:
Auf verschiedenen Wegen in den Organismus eintretende Ver-
änderungen pflanzen sich auch nach aussen wieder auf ver-
schiedenen Wegen in die Umgebung' des Thieres fort. Sollen
nun derartige Reactionen bei complicirteren Lebensbedingungen
auch spontan, d. h. auf einen leisen Anstoss hin, durch Erinne-
rung eintreten, und durch Erinnerungen modificirbar sein, so
müssen Spuren, welche der Art des Reizes und den gereizten
Organen entsprechen, im Gedächtniss zurückbleiben. Wie die
Selbstbeobachtung lehrt, erkennen wir nicht nur die Gleichheit
der Reizqualität des Brennens, welche Stelle auch davon betroffen
sei, sondern unterscheiden zugleich auch die gereizten Stellen.
Wir dürfen also annehmen, dass der qualitativ gieichen Empfin-
dung ein diff er enter Bestandtheil anhaftet, der von der spe-
zifischen Natur des gereizten Elementarorgans, von der gereizten
Stelle, oder mit Hering zu reden von dem Ort der Aufmerk-
samkeit abhängt. So gewinnt also jedes Sinnesgebiet sein
eigenes Gedächtniss mit seiner eigenen räumlichen Ordnung.
Die intime gegenseitige biologische Anpassung einer Vielheit
von zusammenhängenden Elementarorganen kommt eben in der
Raumwahrnehmung besonders deutlich zum Ausdruck.
3-
Wir nehmen bloss eine Art von Bewusstseinselementen an:
Empfindungen. vSofern wir räumlich wahrnehmen, beruht dies
nach unserer Auffassung auf Empfindungen. Welcher Art diese
Empfindungen sind, und welche Organe hierbei thätig werden,
müssen wir dahin gestellt sein lassen. Wir denken uns ein
System von Elementarorganen gemeinsamer embryologischer Ab-
stammung natürlich so angeordnet, dass die benachbarten Ele-
mente die grösste ontogenetische Verwandtschaft aufweisen, dass
diese aber mit deren Entfernung abnimmt. Die von der Indivi-
dualität des Organs allein abhängige Organempfindung, welche
— 137 —
dem Verwandtschaftsgrade parallel variirt, soll der Räum-
ern pfindnng entsprechen, von welcher wir die von der Reiz-
qualität abhängige Empfindung als Sinnesempfindung unter-
scheiden. Organempfindung-en und Sinnesempfindungen können
nur miteinander auftreten i). Die sich gleichbleibenden Organ-
empfindungen bilden aber den variirenden Sinnesenipfindungen
gegenüber bald ein festes Register, in welches letztere ein-
geordnet werden. Wir machen hier über die Elementarorgane
nur ähnliche Voraussetzungen, wie wir sie in Bezug auf getrennte
Individuen gieicher Abstammung, aber verschiedenen Grades der
Verwandtschaft, natürlich finden würden.
4-
Die Raumwahrnehmung ist aus dem biologischen ßedürfniss
hervorgegangen, und wird auch aus diesem am besten zu ver-
stehen sein. Ein unendliches System von Raumempfindungen
wäre für den Organismus nicht nur zwecklos, sondern auch
physikalisch und physiologisch unmöglich. Werthlos wären auch
gegen den Leib nicht orientirte Raumempfindungen. Vortheil-
haft ist auch, dass der Sehraum für nähere, biologisch wichtigere
Objecte die Empfindungsindices stärker abstuft, während dafür
in Bezug auf fernere, weniger wichtig'e Objecte mit dem be-
grenzten Vorrath der Indices gespart wird. Auch ist dies Ver-
hältniss das einzig physikalisch mögliche.
Die motorische Organisation des Sehapparates wird durch
folgende Ueberlegung verständlich. Die grössere Deutlichkeit,
feinere Unterscheidung an einer Netzhautstelle des Wirbelthier-
auges ist eine ökonomische Einrichtung. Hiemit ist eine dem
Wechsel der Aufmerksamkeit folgende Bewegung der Augen
ebenso als vortheilhaft, wie ein (irreführender) Einfluss der
willkürlichen Augenbewegung auf die von ruhenden Objecten
ausgelöste Raumempfindung als nachtheilig erkannt. Die Bild-
verschiebung auf der ruhenden Netzhaut, die Objectbewegung
l) So werden auch die innern Organe erst dann empfunden und localisirt,
wenn deren Gleichgewichtszustand überhaupt gestört wird.
— 138 -
bei ruhendem Blick zu erkennen, ist jedoch eine biologische Noth-
wendig-keit. Unnötliig war es nur für den Organismus, die Wahr-
nehmung der Ruhe des Objectes auch in dem sehr seUenen FaH
zu sichern, dass das Auge durch einen bewusstseinfremden Um-
stand (eine äussere mechanische Kraft, Muskelzucken) bewegt
wird. Die obigen Forderungen sind nur zu vereinigen, indem
bei willkürlicher Augenbewegung die derselben entsprechende
Bildverschiebung auf der Netzhaut in Bezug auf den Raumwerth
durch die willkürliche Bewegung eben compensirt wird. Hieraus
folgt aber, dass bei festgehaltenem Auge die ruhenden Objecte
durch die blosse Bewegungsintention des Auges eine Ver-
schiebung im Sehraum erfahren müssen. Durch das betreffende Ex-
periment (S. 102) ist auch die zweite der beiden sich compensiren-
den Componenten direkt nachgewiesen. Auf diesen organischen
Einrichtungen beruht es, dass wir unter besonderen Umständen mit
ruhendem Auge ruhende Objecte bewegt, mit fliessenden
Raumwerthen sehen, dass wir bewegte Körper sehen, die doch
ihre relative Lage gegen unsern Leib nicht ändern, die sich
weder entfernen oder nähern. Was aber unter diesen besondern
Umständen paradox erscheint, hat unter den gewöhnlichen, der
spontanen Locomotion, seine hohe biologische Wichtigkeit.
Die Verhältnisse des haptischen Raumes sind von gewissen
Eigenthümlichkeiten abgesehen ganz ähnliche, wie jene des Seh-
raums. Der Tastsinn ist kein P^ernsinn, womit das perspectivische
Schrumpfen und vSchwellen der Tastobjecte entfällt. Sonst aber
begegnen wir hier verwandten Erscheinungen. Der Macula lutea
entsprechen die Fingerspitzen. Wir wissen es ganz wohl zu unter-
scheiden, ob wir mit den Fingerspitzen über ein ruhendes Object
hinstreichen, oder ob sich ein Object über die ruhenden Finger-
spitzen hinbewegt. Auch die analogen paradoxen Erscheinungen
bei Drehschwindel treten hier ein. Sie waren schon Purkinje
bekam nt.
5-
Allgemein biologische Erwägungen drängen zu einer
homogenen Auffassung des optischen und haptischen Raumes.
— 139 —
Ein neugeborenes Hühnchen bemerkt ein kleines Object und
blickt und pickt sofort nach demselben. Durch den Reiz wird
ein gewisses Gebiet des Sinnesorgans und des Centralorgans er-
regt, wodurch ganz automatisch sowohl die Blickbewegung der
Augenmuskel, als auch die Pickbewegung- der Kopf- und Hals-
muskel ausgelöst wird. Die Erregung desselben Nervengebietes,
das einerseits durch den geometrischen Ort des physikalischen
Reizes bestimmt ist, muss andererseits als die Grundlag'e der
Raumempfindung angesehen werden. Aehnlich wie jenes Hühn-
chen verhält sich auch ein Kind, das einen glänzenden Gegen-
stand bemerkt, nach demselben blickt und greift. Ausser dem
optischen Reizen können auch andere Reize, akustische, thermische,
Geruchsreize, selbstverständlich auch bei Blinden, Greif- oder
Abwehrbewegungen auslösen. Denselben Bewegungen werden
auch dieselben Reizstellen und dieselben Raumempfindungen ent-
sprechen. Die den Blinden erregenden Reize sind nur im all-
gemeinen auf einen engeren Umkreis beschränkt und von weniger
scharfer Ortsbestimmung. Daher wird auch das System seiner
Raumempfindungen etwas dürftiger und verschwommener sein,
und bei Mangel besonderer Erziehung auch bleiben, Man denke
etwa an einen Blinden, der eine ihn umschwirrende Wespe
abwehrt.
Es müssen, wenn auch nahe liegende, doch zum Theil ver-
schiedene Gebiete des Centralorgans in Anspruch genommen
werden, je nachdem mich ein Object reizt, demselben den Blick
zuzuwenden, oder dasselbe zu ergreifen. Geschieht beides zu-
gleich, so ist das Gebiet natürlich grösser. Aus biologischen
Gründen werden wir erwarten, dass die zwar verwandten, wenn
auch nicht identischen, Ranmempfindungen verschiedener Sinnes-
gebiete associativ verschmelzen, und sich gegenseitig unterstützen,
wie es in der That der Fall ist.
Hiemit ist das Gebiet der Erscheinungen, welche uns an-
gehen nicht erschöpft. Ein Hühnchen kann nach einem Object
blicken, nach demselben picken, oder durch den Reiz sogar be-
stimmt werden, sich hinzuwenden, hinzulaufen. Ein Kind,
— 140 —
das nach einem Ziel kriecht, das dann eines Tages aufsteht und
mit einigen Schritten auf das Ziel zuläuft, verhält sich ebenso.
Wir werden alle diese Fälle, welche allmälig in einander über-
gehn, in homogener Weise auffassen müssen. Es werden wohl
immer gewisse Hirntheile sein, welche in verhältnissmässig ein-
facher Weise gereizt, einerseits die Raumempfindungen bestimmen,
anderseits die zuweilen recht complicirten automatischen Be-;
wegungen auslösen. Optische, thermische, akustische, chemische,
galvanische Reize können zu ausgiebiger Locomotion und
Aenderung der Orientirung anregen, und diese kann auch bei
Thieren, die von Haus aus oder durch Rückbildung blind sind,
eingeleitet werden.
.6.
Wenn man einen gleichförmig dahin kriechenden Tausend-
fuss (Julus) beobachtet, kann man sich des Gedankens nicht er-
wehren, dass von irgend einem Organ desselben ein gleich-
massiger Reizstrom ausgeht, der von den Bewegungsorganen der
aufeinanderfolgenden Leibessegmente mit rhythmischen auto-
matischen Bewegungen beantwortet wird. Durch den Phasen-
unterschied der hinteren Segmente gegen die vorderen entsteht
die Longitudinalwelle, welche mit maschinenmässiger Regelmässig-
keit durch die Füsschen des Thieres dahinzuziehen scheint.
Analoge Vorgänge bei höher organisirten Thieren können nicht
fehlen, und fehlen auch nicht. Wir weisen nur auf die Er-
scheinungen bei Labyrinthreizungen hin, z. B. auf die bekannten
nystagmischen Augenbewegungen, welche bei activer und passiver
Drehung ausgelöst werden. Gibt es nun Organe, wie bei jenem
Tausendfuss, durch deren einfache Reizung- die complizirten
Bewegungen einer bestimmten Art von Locomotion eingeleitet
werden, so kann man diese einfache Reizung, falls sie bewusst
ist, als den Willen zu dieser Locomotion ansehn, oder als die
Aufmerksamkeit auf diese Locomotion, welche von selbst
letztere nach sich zieht. Zugleich erkennt man es als ein Be-
dürfniss des Organismus, den Effect der Locomotion in ent-
sprechend einfacher Weise zu empfinden. In der That er-
— 141 —
scheinen jetzt die Gesichts- und Tastobjecte mit varriirenden,
fliessenden Raumwerthen, anstatt mit stabilen. Auch bei mög-
lichstem Ausschluss von Gesichts- und Tastempfindungen bleiben
Beschleunigungsempfindungen übrig, welche Bilder varriiren-
der Raumwerthe, mit welchen sie oft verknüpft waren, associativ
hervorrufen. Zwischen dem Anfangs- und Endglied des Processes
liegen die Empfindungen der bewegten Extremitäten, die aber
gewöhnlich nur bei Eintritt eines Hindernisses, welches zu Modi-
fication der Bewegung nöthigt, zu vollem Bewusstsein kommen.
Während der als Ganzes unbewegte Mensch nur begrenzte,
örtlich individuelle, und in Bezug auf seinen Leib orientirte
Raumempfindung-en kennt, haben die bei Locomotion und
Aenderung der Orientirung auftretenden Sensationen den Character
der Gleichmässigkeit und Unerschöpflichkeit. Erst auf
Grund aller dieser Erfahrungen kann eine Raumvorstellung sich
bilden, die der Euklidischen sich nähert. Abgesehen davon, dass
die erstere nur Uebereinstimmungen und Verschiedenheiten, keine
Grössen, keine metrischen Bestimmungen kennt, wird die absolute
Gleichförmigkeit der letzteren wegen der Hindernisse, die sich
einer dauernden und ausgiebigen Desorientirung gegen die Verti-
cale in den Weg stellen, nicht vollkommen erreicht.
7-
Für den thierischen Organismus sind zunächst die Be-
ziehungen der Theile des eigenen Leibes zu einander von der
höchsten Wichtigkeit. Fremdes erhält nur dadurch Werth, dass
es zu Leibestheilen in Beziehung steht. Der niedrigsten Organisa-
tion genügen die Empfindungen, darunter die Raumempfindungen,
zur Anpassung an die primitiven Lebensbedingungen. Werden
aber diese Lebensbedingungen complicirter, so drängen sie zur
Entwicklung des Intellects. Dann gewinnen die Beziehungen
jener Functional-Complexe von Elementen (Empfindungen) zu
einander, die wir Körper nennen, ein indirectes Interesse.
Der räumlichen Vergleichung der Körper untereinander ent-
springt die (Tcometrie.
— 142 —
Förderlich für das Verständniss der Entwicklung" der
Geometrie ist die Bemerkung, dass sich das unmittelbare
Interesse nicht an die räumlichen Eigenschaften allein, sondern
an den ganzen beständigen Complex von (materiellen) Eigen-
schaften knüpft, welcher für die Bedürfnissbefriedigung' von
Wichtigkeit ist. Formen, Lagen, Entfernungen,. Ausdehnungen der
Körper sind aber massg'ebend für den Modus und die Quantität
der Bedürfnissbefriedigung. Die blosse Wahrnehmung (Schätzung,
Augenmass, Erinnerung) erweist sich als zu sehr beeinflusst von
schwer controlirbaren physiologischen Umständen, um darauf zu
bauen, wenn es sich um das g'enaue Urtheil über das räumliche
Verhalten der Körper g-egen ein ander handelt. Wir sind daher
genöthigt nach zuverlässigem Merkmalen an den Körper selbst
zu suchen.
Die tägliche Erfahrung lehrt uns die Beständigkeit der
Körper kennen. Unter gewöhnlichen Umständen erstreckt sich
diese Beständigkeit auch auf einzelne Eigenschaften: Farbe, Ge-
stalt, Ausdehnung u. s. w. Wir lernen starre Körper kennen,
die trotz ihrer Beweglichkeit im Räume, sobald sie nur zu un-
serem Leib in ein bestimmtes Verhältniss gebracht werden, beim
Beschauen und Betasten immer wieder dieselben Raumempfindungen
auslösen. Diese Körper bieten räumliche Substanzialität ^)
dar, sie bleiben räumlich constant, identisch. Kann man einen
starren Körper A mit einem andern starren Körper B, oder mit
dessen Theilen, unmittelbar oder mittelbar zur räumlichen Deckung
bringen, so bleibt dies Verhältniss immer und überall bestehen.
Mann sagt dann der Körper B werde durch den Körper A ge-
messen. Bei dieser Vergleichung der Körper miteinander
kommt es auf die Art der Raumempfindungen gar nicht mehr
an, sondern nur mehr auf die Beurtheilung ihrer Identität unter
gleichen Umständen, die mit grosser Genauigkeit und Sicherheit
i) Diese Einsicht war gewiss ein Privatbesitz unzähliger Geometer. In der
ganzen Anlage der Geometrie Euklids tritt sie deutlich hervor, noch klarer bei
Leibnitz, besonders in dessen ,, geometrischer Characteristik". Doch hat erst Helm -
liollz eine (if fen tl iche Discussion darübei' angeregt.
— 143 —
stattfindet. In der That verschwinden die Schwankungen in den
Ergebnissen der Messung gegen jene der unmittelbaren räumlichen
Beurtheilung neben oder nacheinander dargebotener Körper, worin
eben der Vorzug und die rationelle Begründung dieses Verfahrens
liegt. Statt der individuellen Hände und Füsse, die jeder mit sich
herumführt, ohne eine merkliche räumliche Aenderung an den-
selben wahrzunehmen, wird bald ein allgemein zugänglicher
Massstab gewählt, welcher die Bedingung der Unveiänderlichkeit
in höherem Masse erfüllt, womit eine Aera grösserer Genauigkeit
eingeleitet ist.
8.
Alle geometrischen Aufgaben kommen auf Auszählung zu
ermittelnder Räume durch gleiche bekannte Körper hinaus.
Hohlmasse für Flüssigkeiten oder für eine Menge nahe gleicher
dichtliegender Körper, dürften wohl die ältesten Masse sein.
Das Volumen der Körper (die Menge der materiell erfüllten
Orte), welches beim Erblicken und Ergreifen bekannter Körper
instinktiv vorgestellt wird, kommt als Quantität der materiellen
bedürfnissbefriedigenden Eigenschaften in Betracht, und bildet als
solches ein Streitobject. Die Messung der P'läche hat ur-
sprünglich auch keinen andern Sinn, als die Ermittlung der
Menge gleicher dichtliegender Körper, welche dieselbe bedecken.
Die Län g-enmessung, Auszählung durch gleiche Schnur- oder
Kettentheile, bestimmt ein Minimalvolumen, welches in einzig-
artiger Weise zwischen zwei Punkten (sehr kleinen Körpern) ein-
geschaltet werden kann. Sieht man hiebei von einer oder zwei
Dimensionen der Masskörper ab, beziehungsweise setzt man die-
selben überall constant aber unendlich klein, so gelangt man zu
den idealisirten Vorstellungen der Geometrie.
9-
Die Raumanschauung wird durch das Experiment mit
körperlichen Objecten bereichert, indem sich an dieselbe
metrische Erfahrungen knüpfen, welche die Raumanschauung für
sich allein nicht zu g-ewinnen vermag. So lernen wir metrische
— 144 —
Eigenschaften längst bekannter Formen, wie der Geraden, der
Ebene, des Kreises u. s. w. kennen. Die Erfahrung hat auch,
nach dem Zeugniss der Geschichte, zuerst zur Kenntniss gewisser
geometrischen Sätze g'eführt, und gezeigt, dass durch gewisse
Masse eines Objectes andere Masse desselben Objectes mit-
bestimmt sind. Die wissenschaftliche Geometrie stellte sich
die ökonomische Aufgabe, die Abhängig'keit der Masse von ein-
ander zu ermitteln, überflüssige Messungen zu ersparen, und die
einfachsten geometrischen Thatsachen aufzusuchen, durch welche
die andern als deren logische Folgen geg'eben sind. Da wir in
Gedanken nicht die Natur, sondern nur unsere eigenen einfachen
logischen Gebilde beherrschen, so mussten zu diesem Zwecke die
geometrischen Grunderfahrungen begrifflich idealisirt werden.
Nun steht nichts im Wege, in der anschaulichen Vorstellung- vor-
schreitend, welche man an jene idealisirten Erfahrungen gebunden
denkt, im Gedankenexperiment, geometrische Sätze wiederzufinden.
Man verhält sich da durchaus analog, wie in jeder Naturwissen-
schaft. Die Grunderfahrungen der Geometrie reduciren sich nur
auf ein solches Minimum, dass man sie nur allzuleicht übersieht.
Man stellt sich Körper über Schatten oder Gespenster von Kör-
pern hinbewegt vor, und hält hiebei in Gedanken fest, dass
hiebei die Abmessungen, wenn man sie ausführen würde, sich
nicht ändern. Die physischen Körper entsprechen den Folge-
rungen soweit, als sie den Voraussetzungen genügten.
Anschauung, physikalische Erfahrung und begTiffliche Ideali-
sirung, sind also die drei Momente, welche in der wissenschaft-
lichen Geometrie zusammenwirken. Die Ueber- oder Unter-
schätzung des einen oder anderen Momentes hat, die weit diver-
girenden Ansichten verschiedener Forscher über die Natur der
Geometrie veranlasst. Nur die g"enaue Sonderung des Antheiles
eines jeden dieser Momente beim Aufbau der Geometrie kann
eine richtige Auffassung begründen. Unsere im Interesse der
raschen Locomotion erworbene anatomisch-motorisch-symmetrische
Organisation bewirkt z. B., dass die Anschauung uns die beiden
Flälften eines räumlichen symmetrischen Gebildes als aequi-
— 145 —
valent erscheinen lässt, was sie in physikalisch-geome-
trischer Hinsicht keineswegs sind, da sie nicht zur Congruenz
gebracht werden können. Physikahsch sind sie so wenig äqui-
valent, als eine Bewegung" der entgegengesetzten, eine Rotation
der gegensinnigen äquivalent ist. Kants darauf bezügliche Para-
doxen rühren von einer ungenügenden Trennung der in Betracht
kommenden Momente her.
Mach, Analyse. 3. Aufl. 10
X. Beziehungen der Gesichtsempfindungen zu einander
und zu anderen psychischen Elementen.
I.
Die Gesichtsempfindungen treten im normalen psychichen
Leben nicht isolirt auf, sondern mit den Empfindungen anderer
Sinne verknüpft. Wir sehen nicht optische Bilder in einem
optischen Raum, sondern wir nehmen die uns umgebenden Körper
mit ihren mannigfaltigen sinnlichen Eig'enschaften wahr. Erst die
absichtliche Analyse löst aus diesen Complexen die Gesichts-
empfindungen heraus. Allein auch die Wahrnehmungen ins-
gesammt kommen fast nur mit Gedanken, Wünschen, Trieben
verknüpft vor. Durch die Sinnesempfindungen werden die den
Lebensbedingungen entsprechenden Anpassungsbewegungen der
Thiere ausgelöst. Sind diese Lebensbedingungen einfach, wenig
und langsam veränderlich, so wird die unmittelbare Auslösung
durch die Sinne zureichen. Höhere intellectuelle Entwicklung'
wird unnöthig sein. Anders ist dies bei sehr mannigfaltigen und
veränderlichen Lebensbedingungen. Ein so einfacher An-
passungsmechanismus kann sich da nicht entwickeln, noch
weniger zum Ziele führen.
Niedere Thiere verschlingen alles, was in ihre Nähe kommt,
und den entsprechenden Reiz ausübt. Ein höher entwickeltes
Thier muss seine Nahrung mit Gefahren suchen, die gefundene
geschickt fassen oder listig fangen, und vorsichtig prüfen. Ganze
Reihen von verschiedenen Erinnerungen müssen vorbeiziehen,
bevor eine den widerstreitenden gegenüber stark genug wird,
die entsprechende Bewegung auszulösen. Liier muss cdso eine
— 147 —
die Anpassungsbewegungen mitbestimmende Summe von Er-
innerungen (oder Erfahrungen) den Sinnesempfindungen gegen-
überstehen. Darin besteht der Intellect.
Bei hölieren Thieren mit complicirten Lebensbedingungen
sind in der Jug'end die Complexe von Sinnesempfindungen,
welche die Anpassungsbeweg'ung'en auslösen, oft sehr zusammen-
gesetzt. Das Saugen der jungen Säugethiere, das S. 60 be-
schriebene Verhalten des jungen Sperling's sind passende Beispiele
hiefür. Mit der Entwicklung- der Intelligenz werden immer
kleinere Theile dieser Complexe zur Auslösung hinreichend, und
die Sinnesempfindungen werden immer mehr und mehr durch
den Intellect ergänzt und ersetzt, wie sich dies an Kindern und
heranwachsenden Thieren täglich constatiren lässt.
In der Auflage von 1886 habe ich in einer Anmerkung vor
der damals noch verbreiteten Ueberschätzung der Intelligenz der
niederen Thiere gewarnt. Meine Ansicht beruhte nur auf ge-
legentlichen Beobachtung-en über die maschinenmässige Bewegung
von Käfern, den Lichtflug der Motten u. s. w. Seither sind die
wichtigen Arbeiten von J. Loeb erschienen, welche die Ansicht
auf eine solide experimentelle Basis gestellt haben. Man ist
gegenwärtig eher geneigt, die niederen Thiere als Maschinen im
Descartesschen Sinne aufzufassen. Die Interpretation, welche
A. Bethe ') seinen interssanten Beobachtungen und Experimenten
über Ameisen und Bienen gibt, werden allerdings von Wasmann 2)
und H. V. Buttel-Reepen^) bestritten, allein es scheint auf beiden
Seiten vielleicht doch etwas Vorurtheil im Spiel zu sein. Ich kenne
manche der überraschenden Thatsachen, die Bethe •^) beschreibt,
i) Dürfen wir den Ameisen und Bienen psychische Qualitäten zuschreiben?
Pilügers Archiv, Bd. 70, S. 17. — Noch einmal über die psychischen Qualitäten der
Ameisen. Ebendaselbst Bd. 79, S. 39.
2) Die psychischen Fähigkeiten der Ameisen. Stuttgart 1899.
3) Sind die Bienen Reflexmaschinen? Leipzig 1900.
4) Hiezu gehören die Ei scheinungen der Desorientirung bei geringer Verdrehung
des Flugloches. Bei stärkerer Verschiebung des Hausthores würde ja auch „homo
sapiens" sich etwas desorienlirt fühlen. — Ich halte es nicht für unmöglich, dass
weitere Experimente im Sinne Bethes sogar zu neuen physikalischen Aufschlüssen
10*
aus eigener Anschauung, da ich in meiner Jugend Gelegenheit
hatte Bienen zu beobachten. Der Eindruck des Maschinenmässigen
ist überwiegend. Es scheint mir aber unmöglich die Mitwirkung
eines rudimentären Gedächtnisses ganz auszuschhessen. Das
Streben die Thatsachen im Sinne von Beer, Bethe und Uexküll
voraussetzungslos zu beschreiben und einfach zwischen modifizir-
baren und nicht modifizirbaren Reactionen zu unterscheiden, ist
gewiss nur zu billigen ^). Dass es aber absolut unmodifizierbare
Reflexe überhaupt gibt, kann ich nicht recht glauben. Auf die
Abnahme des Gedächtnisses, oder der Fähigkeit Erfahrungen zu
machen, die man beim Hinabsteigen in der Thierreihe beobachtet,
habe ich anderwärts hingewiesen -).
2.
Die Vorstellungen haben also die Sinnesempfindungen, soweit
sie unvollständig sind, zu ersetzen, und die durch letztere an-
fänglich allein bedingten Processe weiter zu spinnen. Die Vor-
stellungen dürfen aber im normalen Leben die Sinnesempfindungen,
soweit letztere vorhanden sind, durchaus nicht dauernd ver-
drängen, wenn hieraus nicht die höchste Gefahr für den Organis-
mus entspring-en soll. In der That besteht im normalen psychischen
Leben ein sehr starker Unterschied zwischen beiden Arten psy-
chischer Elemente. Ich sehe eine schwarze Tafel vor mir. Ich
kann mir mit der grössten Lebhaftigkeit auf dieser Tafel ein mit
scharfen weissen Strichen gezogenes Sechseck oder eine farbige
Figur vorstellen. Ich weiss aber, pathologische Fälle abge-
rechnet, immer, was ich sehe, was ich mir vorstelle. Ich fühle,
führen. — Es sei nebenbei bemerkt, dass sein Versuch mit dem der Biene aufgebun-
denen Magnet keinen Erfolg haben kann, da sie das hievon herrührende magnetische
Feld mit sich führt.
i) Vorschläge zu einer objectivirenden No nenclatur in der Physiologie des
Nervensystems. Centralblatt für Physiologie 1899, Bd. 13, Nr. 6.
2) Populär-wissenschaftliche Vorlesungen. Ueber den Einfluss zufälliger Um-
stände etc. (Leipzig 1896, S. 282, 283.) — Principien der Wärmelehre. (Leipzig 1900.)
S. die beiden Capitel über die Sprache und den Begriff. — Vgl. auch: H. E. Ziegler,
Theoretisches zur Thierpsychologic und vergleichenden Neurophysiologie. (Biologisches
Centralblatt, Bd. 20, Nr. i.)
— 149 —
wie ich bei dem Uebergang zur Vorstellung die Aufmerksamkeit
von dem Auge abwende und anderswohin richte. Der auf der
Tafel g-esehene und der an derselben Stelle vorgestellte Fleck
unterscheiden sich durch diese Aufmerksamkeit wie durch eine
vierte Coordinate. Die Thatsachen würden nicht vollständig
gedeckt, wenn man sagen würde, das Eingebildete lege sich über
das Geschehene wie das Spiegelbild in einer unbelegten Glasplatte
über die hindurchgesehenen Körper. Im Gegentheil scheint mir das
Vorgestellte durch einen qualitativ verschiedenen, widerstreitenden
sinnlichen Reiz verdrängt zu werden und auch letzteren zeitweilig
zu verdrängen. Das ist vorläufig eine psychologische Thatsache,
deren ph3^siologische Erklärung sich gewiss auch finden wird.
Es ist natürlich anzunehmen, dass bei Vorstellungen im
Wesentlichen dieselben org^anischen Processe durch die Wechsel-
wirkung der Theile des Centralnervensystems wieder aufleben,
welche bei den entsprechenden Empfindungen durch den physi-
kalischen Reiz bedingt waren. Die Vorstellungen unterscheiden
sich in normalen Fällen von den Empfindungen wohl durch ihre
geringere Intensität, vor allem aber durch ihre Flüchtigkeit.
Wenn ich mir in der Vorstellung eine geometrische Figur zeichne,
so verhält es sich so, als ob die Linien, bald nachdem sie gezogen
worden, verlöschen würden, sobald die Aufmerksamkeit sich andern
Linien zuwendet. Bei Rückkehr findet man sie nicht mehr vor,
und muss sie aufs Neue reproduciren. In diesem Umstände liegt
hauptsächlich der Vortheil und die Bequemlichkeit, den eine
materielle g'eometrische Zeichnung gegenüber der vorgestellten
bietet. Eine geringe Anzahl Linien, z. B. Centri- und Peripherie-
winkel auf demselben Kreisbogen mit einem Paar zusammen-
fallender oder sich schneidender Schenkel, wird man leicht in der
Vorstellung festhalten. Fügt man im letzteren Falle noch den
Durchmesser durch den Scheitel des Peripheriewinkels hinzu, so
wird es schon schwerer, in der Vorstellung das Maassverhältniss
der Winkel abzuleiten, ohne fortwährend die Figur zu erneuern
und zu ergänzen. Die (leläufigkeit und Geschwindigkeit des
Wiederersetzens gewinnt übrigens ungemein durch die Uebung.
— I50 —
Als ich mich mit der Steiner'schen und v. Staudt'schen Geo-
metrie beschäftigte, konnte ich darin viel mehr leisten, als es mir
jetzt mög-lich ist.
Bei der stärkern Entwicklung der Intelligenz, welche durch
die complicirten Lebensverhältnisse des Menschen bedingt ist,
können die Vorstellungen zeitweilig die ganze Aufmerksamkeit
auf sich ziehen, so dass Vorgänge in der Umgebung des Sinnenden
nicht gesehen, an ihn gerichtete Fragen nicht gehört werden,
was solcher Beschäftigung ungewohnte Menschen ,, Zerstreuung"
nennen, während es viel passender „Sammlung" heissen würde.
Wird nun der Betreffende in einem solchen Falle gestört, so em-
pfindet er sehr deutlich die Arbeit beim Wechsel der Aufmerk-
samkeit.
3-
Die Beachtung dieses Unterschiedes zwischen den Vor-
stellungen und Sinnesempfindungen ist sehr g'eeignet, vor Un-
vorsichtigkeit bei psychologischen Erklärungen der .Sinnesphäno-
mene zu schützen. Die bekannte Theorie der „unbewussten
Schlüsse" wäre nie zu so breiter Entwicklung gelangt, wenn man
mehr auf diesen Umstand geachtet hätte.
Das Organ, dessen Zustände die Vorstellungen bestimmen,
können wir uns vorläufig als ein solches denken, welches (in
einem geringeren Grade) aller specifischen Energieen der Sinnes-
organe und der motorischen Organe fähig ist, so dass je nach
seiner Aufmerksamkeitsstimmung bald diese, bald jene Energie
eines Organs in dasselbe hineinspielen kann. Ein solches Organ
wird vorzüglich geeignet sein, die physiologische Beziehung
zwischen den verschiedenen P^^nergieen zu vermitteln. Wie die
Erfahrungen an Thieren mit entferntem Grosshirn lehren, gibt es
ausser dem „Vorstellungsorgan" wahrscheinlich noch mehrere
andere analoge, mit dem Grosshirn weniger innig zusammen-
hängende Vermittlungsorgane, deren Vorgänge daher nicht ins
Bewustsein fallen.
Der Reichthum des Vorstellungslebens, wie wir denselben
aus der Selbstbeobachtung kennen, tritt gewiss erst beim Menschen
auf. Die Anfänge dieser Lebensäusserung, in welcher sich
durchaus nur die Beziehung aller Theile des Organismus
zu einander ausspricht, reichen ebenso gewiss tief in der
Entwicklungsreihe der Thiere herab. Aber auch die Theile eines
Organs müssen durch gegenseitige Anpassung- zu einander in
eine Beziehung treten, welche jener der Theile des Gesammt-
organismus analog ist. Die beiden Netzhäute mit ihrem von den
Lichtempfindungen abhängigen motorischen Accommodations- und
Blendungsapparat geben ein sehr klares und bekanntes Beispiel
eines solchen Verhältnisses. Das physiologische Experiment und
die einfache Selbstbeobachtung belehren uns darüber, dass ein
solches Organ seine eigenen zweckmässigen Lebensgewohnheiten,
sein besonderes Gedächtniss, fast möchte man sagen seine eigene
Intellegenz hat.
4-
Die lehrreichsten hierher gehörigen Beobachtungen sind
wohl von Johannes Müller in seiner schönen Schrift „Ueber
die phantastischen Gesichtserscheinungen" (Coblenz 1826) zu-
sammeng-estellt worden. Die von Müller u. A. im wachen Zu-
stande beobachteten Gesichtsphantasmen entziehen sich durchaus
dem Einfluss des Willens und der Ueberlegung. Es sind selbst-
ständige, wesentlich an das Sinnesorgan gebundene Erscheinungen,
welche durchaus den Character des objectiv Gesehenen an sich
tragen. Es sind wahre Phantasie- und Gedächtnisserscheinungen
des Sinnes. Müller hält das freie Eigenleben der Phantasie für
einen Theil des organischen Lebens und für unvereinbar mit den
sogenannten Associationsgesetzen, über welche er sich sehr ab-
fällig ausspricht. Es scheint mir, dass die continuirlichen Aende-
rungen der Phantasmen, die Müller beschreibt, nicht gegen die
Associationsgesetze sprechen. Diese Vorgänge können vielmehr
geradezu als Erinnerungen an die lang'samen perspectivischen
Aenderungen der Gesichtsbilder aufgefasst werden. Das Sprung-
hafte in den gewöhnlichen associativen Verlauf der Vorstellungen
kommt doch nur dadurch hinein, dass bald dieses, bald jenes
Sinnesgebiet mitzusprechen beginnt. Vgl. Cap. XL
— 152 —
Jene Processe, welche in der „Sehsinnsiibstanz" (nach Müller)
normaler Weise als Folgen der Netzhauterregung sich abspielen,
und welche das Sehen bedingen, können ausnahmsweise auch
ohne Netzhauterregung spontan in der Sehsinnsubstanz auftreten,
und die Quelle von Phantasmen oder Hallucinationen werden.
Wir sprechen von Sinnengedächtniss, wenn sich die Phan-
tasmen in ihrem Character stark an zuvor Gesehenes anschliessen,
von Hallvicinationen, wenn die Phantasmen freier vmd unver-
mittelter eintreten. Eine scharfe Grenze zwischen beiden Fällen
wird aber kaum festzuhalten sein.
Ich kenne alle Arten von Gesichtsphantasmen aus eigener
Anschauung. Das Hineinspielen von Phantasmen in undeutlich
Gesehenes, wobei letzteres theilweise verdrängt wird, kommt wohl
am häufigsten vor. Besonders lebhaft treten mir diese Erschei-
nungen nach einer ermüdenden nächtlichen Eisenbahnfahrt auf.
Alle Felsen, Bäume nehmen dann die abenteuerlichsten Gestalten
an. — Als ich mich vor Jahren eingehender mit Pulscurven und
Sphygmographie beschäftigte, traten mir die zarten weissen Curven
auf schwarzem Grunde des Abends und auch bei Tage im Halb-
dunkel oft mit voller Lebhaftigkeit und Objectivität vor Augen.
Auch später sah ich bei verschiedenen physikalischen Beschäfti-
gungen analoge Erscheinungen des „Sinnengedächtnisses". —
Seltener traten mir bei Tage Bilder vor Augen, die ich zuvor
nicht gesehen hatte. So leuchtete mir vor Jahren an mehreren
aufeinanderfolgenden Tagen auf dem Buch, in welchem ich las,
oder auf dem Schreibpapier ein hellrothes Capillarnetz (ähnlich
einem sogenannten Wundernetz) auf, ohne dass ich mich mit der-
artigen Formen beschäftigt hatte. — Das Sehen von lebhaft ge-
färbten veränderlichen Tapetenmustern vor dem Einschlafen war
mir in meiner Jugend sehr geläufig; es tritt auch jetzt noch ein,
wenn ich die Aufmerksamkeit darauf richte. Auch eines meiner
Kinder erzählte mir oft vom ,, Blumensehen" vor dem Einschlafen.
Seltener sehe ich Abends vor dem Einschlafen mannigfaltige
menschliche Gestalten, die sich ohne meinen Willen ändern. Ein
einziges Mal versuchte ich mit Erfolg ein menschliches Gesicht
— 153 —
in einen skelettirten Schädel umzuwandeln; dieser vereinzelte Fall
kann aber auch ein Zufall sein. — Dass beim Erwachen im
dunklen Zimmer die letzten Traumbilder in lebhaften Farben mit
einer Fülle von Licht noch vorhanden waren, ist mir oft vor-
gekommen. — Eine eigenthümliche Erscheinung, die mir seit
einigen Jahren häufiger begegnet, ist folgende. Ich erwache
und liege mit geschlossenen Augen ruhig da. Vor mir sehe
ich die Bettdecke mit allen ihren Fältchen, und auf derselben
meine Hände mit allen Einzelheiten ruhig und unveränderlich.
Oeffne ich die Aug'en, so ist es entweder ganz dunkel, oder zwar
hell, aber die Decke und die Hände liegen ganz anders, als sie
mir erschienen waren. Es ist dies ein besonders starres und
dauerndes Phantasma, wie ich es unter andern Verhältnissen nicht
beobachtet habe. Ich glaube an diesem Bild zu bemerken, dass
alle auch weit von einander abliegenden Theile zugleich deut-
lich erscheinen, in einer Weise, wie dies bei objectiv Gesehenem
aus bekannten Gründen unmöglich ist.
Akustische Phantasmen, namentlich musikalische, traten in
meiner Jugend öfter nach dem Erwachen sehr lebhaft auf, sind
aber, seit mein Interesse für Musik sehr abgenommen hat, recht
selten und dürftig geworden. Vielleicht ist aber auch das Inter-
esse für Musik das Sekundäre, Bedingte.
Spuren von Phantasmen, wenn man die Netzhaut dem Ein-
fluss der äusseren Reize entzieht und die Aufmerksamkeit dem
Sehfelde allein zuwendet, sind fast immer vorhanden. Ja sie zeigen
sich schon dann, wenn die äusseren Reize schwach und unbe-
stimmt sind, im Halbdunkel, oder wenn man etwa eine Fläche
mit matten, verschwommenen Flecken, eine Wolke, eine graue
Wand beobachtet. Die Gestalten, die man dann zu sehen meint,
soweit sie nicht auf einem blossen Herausheben und Zusammen-
fassen deutlich gesehener Flecke durch die Aufmerksamkeit be-
ruhen, sind jedenfalls keine vorgestellten, sondern wenigstens
theilweise spontane Phantasmen, welchen zeitweiHg und stellen-
weise der Netzhautreiz weichen muss. Die Erwartung scheint in
diesen Fällen das Auftreten der Phantasmen zu begünstigen. Sehr
— 154 —
oft glaubte ich beim Aufsuchen der Interferenzstreifen die ersten
matten Spuren derselben im Gesichtsfeld deutlich wahrzunehmen,
während mich die Fortführung des Versuches überzeugte, dass ich
mich gewiss getäuscht hatte. Einen Wasserstrahl, dessen Hervor-
treten aus einem Kautschuckschlauch ich erwartete, glaubte ich im
halbdunklen Raum wiederholt deutlich zu sehen, und erkannte
den Irrthum erst durch Tasten mit dem Fing-er. Solche schwache,
Phantasmen scheinen sich gegen den Einfluss des Intellectes sehr
nachgiebig' zu verhalten, während dieser gegen die starken, lebhaft
gefärbten nichts auszurichten vermag'. Erstere stehen den Vor-
stellungen, letztere den Sinnesempfindung'en näher.
Diese schwachen Phantasmen, welche von Sinnesempfindungen
bald überwältigt werden, bald den letzteren das Gleichgewicht
halten, bald diese verdrängen, legen die Möglichkeit nahe, die
Stärke der Phantasmen mit jener der Empfindungen zu ver-
gleichen. Scripture hat diesen Gedanken ausgeführt, indem er
in dem Gesichtsfelde eines Beobachers, der in demselben ein
(nicht vorhandenes) Fadenkreuz zu sehen g'laubte, eine reelle
Linie von unerwarteter Richtung mit von Null an wachsender
Intensität auftreten liess, bis diese bemerkt und dem Phantasma
gleich g'eschätzt wurde i). Es lassen sich alle Ueberg'änge von
der Empfindung zur Vorstellung nachweisen. Nirgends kommen
wir auf ein psychisches Phänomen, welches mit der Empfin-
dung, die wir unzweifelhaft auch als ein physisches Object an-
sehen müssen, unvergleichbar wäre.
5-
Leonardo da Vinci a. a. O. S. 56 bespricht das Hinein-
spielen der Phantasmen in das Gesehene in folgenden Worten :
,,Ich werde nicht ermangeln, unter diese Vorschriften eine neu-
erfundene Art des Schauens herzusetzen, die sich zwar klein und
fast lächerlich ausnehmen mag, nichtsdestoweniger aber doch sehr
brauchbar ist, den Geist zu verschiedenerlei Erfindungen zu wecken.
i) Scripture, The nevv Psychology, London 1897, p.
— 155 —
Sie besteht darin, dass du auf manche Mauern hinsiehst, die mit
allerlei Flecken bedeckt sind, oder auf Gestein mit verschiedenem
Gemisch. Hast du irgend eine Situation zu erfinden, so kannst du
da Dinge erblicken, die verschiedenen Landschaften gleichsehen, ge-
schmückt mit Gebirgen, Flüssen, Felsen, Bäumen, grossen Ebenen,
Thal und Hügeln von mancherlei Art. Auch kannst du da allerlei
Schlachten sehen, lebhafte Stellungen sonderbarer fremdartiger
Figuren, Gesichtsmienen, Trachten und unzählige Dinge, die du
in vollkommene und gute Form bringen magst. Es tritt bei der-
lei Mauern und Gemisch das Aehnliche ein, wie beim Klang der
Glocken, da wirst du in den Schlägen jeden Namen und jedes
Wort wiederfinden können, die du dir einbildest".
„Achte diese meine Meinung nicht gering, in der ich dir rathe,
es möge dir nicht lästig erscheinen, manchmal stehen zu bleiben,
und auf die Mauerflecken hinzusehen, oder in die Asche im P^euer,
in die Wolken, oder in Schlamm und auf andere solche Stellen ;
du wirst, wenn du sie recht betrachtest, sehr wunderbare Er-
findungen in ihnen entdecken. Denn des Malers Geist wird zu
(solchen) neuen Erfindungen (durch sie) aufgeregt, sei es in Com-
positionen von Schlachten, von Thier und Menschen, oder auch
zu verschiedenerlei Compositionen von Landschaften und von un-
geheuerlichen Dingen, wie Teufeln u. dgl., die angethan sind, dir
Ehre zu bringen. Durch verworrene und unbestimmte Dinge
wird nämlich der Geist zu neuen Erfindungen wach. Sorge aber
vorher, dass du alle die Gliedmaassen der Dinge, die du vorstellen
willst, gut zu machen verstehst, so die Glieder der lebenden
Wesen, wie auch die Gliedmaassen der Landschaft, nämlich die
Steine, Bäume u. dgl."
Das stärkere selbstständige Auftreten der Phantasmen, ohne
Anregung durch die Netzhaut, den Traum und den halbwachen
Zustand abgerechnet, muss seiner biologischen Unzweckmässigkeit
wegen als pathologisch angesehen werden. Ebenso müsste
man jede abnorme Abhängigkeit der Phantasmen vom Willen
als pathologisch bezeichnen. Solche Zustände mögen wohl bei
enen Irren vorkommen, welche sich für sehr mächtig, für G ott
- 156 -
11. s. w., halten. Das blosse P^ehlen hemmender Associationen kann
aber ebenfalls zu Grössen Wahnvorstellungen führen. So kann
man im Traum glauben die grössten Probleme gelöst zu haben,
weil die Associationen, welche den Widerspruch aufdecken, sich
nicht einstellen.
6.
Nach diesen Vorbemerkungen wollen wir einig'e physiologisch-
optische Erscheinungen betrachten, deren vollständige Er-
klärung zwar noch fern liegt, die aber als Aeusserungen eines
selbstständigen Lebens der Sinnesorgane relativ noch am ver-
ständlichsten sind.
Man sieht gewöhnlich mit beiden Augen, und zu einem
bestimmten Zweck im Dienste des Lebens, nicht Farben und
Formen, sondern die Körper im Räume. Nicht die Elemente
des Complexes, sondern der ganze physiologisch-optische Com-
plex ist von Wichtigkeit. Diesen Complex sucht das Auge nach
den unter seinen Lebensbedingungen erworbenen (oder ererbten)
Gewohnheiten zu ergänzen, wenn er einmal in Folge besonderer
Umstände unvollständig auftritt. Das g'eschieht zunächst leicht
beim Sehen mit einem Auge, oder auch beim Sehen sehr ferner
Objecte mit beiden Augen, wenn die stereoscopischen Differenzen
in Bezug auf den Augenabstand verschwinden.
Man nimmt gewöhnlich nicht Licht und Schatten, sondern
räumliche Objecte wahr. Der Selbstschatten der Körper wird
kaum bemerkt. Die Helligkeitsdifferenzen lösen Tiefempfindungs-
differenzen aus und helfen den Körper moclelliren, wo die
stereoscopischen Differenzen hierzu nicht mehr ausreichen, wie
dies bei Betrachtung ferner Gebirge sehr auffallend wird.
Sehr belehrend ist in dieser Hinsicht das Bild auf der
matten Tafel der photographischen Kammer. Man erstaunt hier
oft über die LIelligkeit der Lichter und die Tiefe der Schatten,
die man an den Körpern gar nicht bemerkte, solange man nicht
genöthigt war, alles in einer Ebene zu sehen. Ich erinnere mich
aus meiiien Kindcrjahren sehr wohl, dass mir jede Schattirung
— 157
einer Zeichnung als eine ungerechtfertigte und entstellende Manier
erschien, und dass mich eine Contourzeichnung weit mehr be-
friedigte. Es ist ebenso bekannt, dass ganze Völker, wie die
Chinesen, trotz entwickelter artistischer Technik gar nicht oder
nur mangelhaft schattiren.
Folgendes Experiment, das ich vor vielen Jahren angestellt
habe ^), illustrirt sehr deutlich die berührte Beziehung zwischen
Lichtempfindung und Tiefenempfindung. Wir stellen eine ge-
o knickte Visitenkarte vor uns auf den Schreibtisch, so
dass sie die erhabene Kante d e uns zukehrt. Von
links falle das Licht ein. Die Hälfte ab de ist dann
viel heller, b c ef viel dunkler, was aber bei unbefangener
Betrachtung kaum bemerkt wird. Nun schliessen wir
ein Auge. Hiermit verschwindet ein Theil der Raumempfindungen.
Noch immer sehen vvir das geknickte Blatt räumlich und an
der Beleuchtung nichts Auffallendes. Sobald es uns aber gelingt,
statt der erhabenen Kante be eine hohle zu sehen, erscheinen
Licht und Schatten wie mit Deckfarben darauf gemalt. Von
der leicht erklärbaren perspectivischen Verzerrung der Karte sehe
ich zunächst ab. Eine solche „Inversion" ist möglich, weil durch
ein monoculares Bild die Tiefe nicht bestimmt ist. Stellt in Fig-. 25,
I O das Auge, ab c den Durchschnitt eines geknickten Blattes,
t der Pfeil die Lichtrichtung vor, so erscheint
a b heller als b c. In 2 ist ebenso a b
heller als b c. Das Auge muss, wie man
sieht, die Gewohnheit annehmen, mit der
Helligkeit der g^esehenen Plächenelemente
auch das Gefälle der Tiefempfindung
zu wechseln. Das Gefälle und die Tiefe
nimmt mit abnehmender Helligkeit nach
rechts ab, wenn das Licht von links einfällt (i), umgekehrt wenn
es von rechts einfällt. Da die Hüllen des Bulbus, in welchen
Figur 25.
i) Ueber die physiologische Wirkung räumh'ch vertheilter Lichtreize. Sitzb.
d. Wiener Akademie, II. Abth., October 1866.
- 15« -
die Netzhaut eingebettet ist, durchscheinend sind, so ist es auch
für die Lichtvertlieihmg auf den Netzhäuten nicht gleichgültig,
ob das Licht von rechts oder von links einfällt. Die Umstände
sind also ganz danach angethan , dass sich ohne alles Zuthun
des Urtheils eine feste Gewohnheit des Auges herausbilden kann,
vermöge welcher Helligkeit und Tiefe in bestimmter Weise ver-
bunden werden. Gelingt es nun einen Theil der Netzhaut, wie
in dem obig'en Versuch, vermöge einer andern Gewohnheit mit
der ersteren in Widerstreit zu bringen, so äussert sich dies
durch auffallende Empfindungen.
Wie bedeutend die Wirkung des durch die Bulbusdecken
eindringenden Lichtes werden kann, geht aus gewissen Versuchen
von Fechner^) hervor. Eine hieher gehörige Beobachtung ist
folgende. Unter meinem Schreibtisch liegt eine graugrüne Decke,
von welcher ich schreibend ein kleines Stückchen sehe. Wenn
nun bei hellem von links einfallendem Sonnen- oder Tageslicht
von jenem Stückchen zufällig oder absichtlich ein Doppelbild
entsteht, so ist das dem linken stärker beleuchteten Auge an-
gehörige Bild durch Contrast lebhaft grün, während das recht-
seitige Bild ganz matt gefärbt ist. Variation der Intensität und
Farbe der Bulbusbeleuchtung" bei diesen letzteren und bei Inver-
sionsversuchen wäre von Interesse.
Es soll mit dem Gesagten nur der Character der Erscheinung
bezeichnet und die Richtung angedeutet werden, nach welcher
eine physiologische Erklärung (mit Ausschluss psychologischer
Speculationen) zu suchen ist. Bemerken wollen wir noch, dass in
Bezug auf Empfindungsqualitäten, welche mit einander in Wechsel-
beziehung stehen, ein dem Gesetz der Erhaltung der Energie
ähnliches Princip zu herrschen scheint. Die Helligkeitsdifferenzen
verwandeln sich theilweise in Tiefendifferenzen und werden selbst
dabei schwächer. Auf Kosten von Tiefendifferenzen können um-
gekehrt die Flelligkeitsdifferenzen vergrössert werden. Eine anologe
Bemerkung wird sich noch bei einer andern Gelegenheit ergeben.
i) Rechner, Ucber den seitlichen ■Fenster- und Kerzenversuch. Berichte d.
Leipziger Ges. d. Wissenschaften i 8(jo.
159
Die Gewohnheit Körper zu beobachten, ci. h. einer grossem
räumlich zusammenhängenden Masse von Lichtempfindungen die
Aufmerksamkeit zuzuwenden, bringt eigenthümhche, zum Theil
überraschende Erscheinungen-mit sich.
Eine zw^eifarbigeMalerei oder Zeichnung
z. B. sieht im allgemeinen ganz ver-
schieden aus, je nachdem man die eine
oder die andere Farbe als Grund auf-
fasst. Die Vixirbilder, in welchen etwa
ein Gespenst zwischen Baumstämmen
erscheint, sobald man den hellen Himmel
als Object, die dunklen Bäume aber als
Grund auffasst, sind bekannt. Nur aus-
nahmsweise bietet Grund und Object
dieselbe Form dar, worin ein häufig" ver-
wendetes ornamentales Motiv besteht,
wie dies z. B. die Fig. 26 von S. 15 der erwähnten „Grammar of
Ornament", ferner die Figuren 20, 22, der Tafel 35, Figur 13 der
Tafel 43 jenes Werkes veranschaulichen.
Figur 26.
Die Erscheinungen des Raumsehens, welche bei monocularer
Betrachtung eines perspectivischen Bildes, oder, was auf dasselbe
hinauskommt, bei monocularer Betrachtung eines Objectes auf-
treten, werden gewöhnlich als fast selbstverständliche sehr leichthin
behandelt. Ich bin aber der Meinung, dass an denselben noch
Mancherlei zu erforschen ist. Durch dasselbe perspectivische
Bild, welches unendlich vielen verschiedenen Objecten angehören
kann, ist die Raumempfindung nur th eilweise bestimmt. Wenn
also gleichwohl von den vielen dem Bilde zugekörigen denkbaren
Körpern nur sehr wenige wirklich gesehen werden, und zwar
mit dem Character der vollen Objectivität, so muss .dies einen
triftigen physiologischen Grund haben. Es kann nicht auf dem
— i6o —
Hinzudenken von Nebenbestimmungen beruhen, nicht auf be-
wussten Erinnerungen, welche uns auftauchen, sondern auf be-
stimmten Lebensgewohnheiten des Gesichtssinnes.
Verfährt der Gesichtssinn nach den Gewohnheiten, welche
er unter den Lebensbedingungen der Art und des Individuums
erworben hat, so kann man zunächst annehmen, dass er nach
dem Princip der Wahrscheinlichkeit vorgeht, d. h. diejenigen
Functionen, welche am häufigsten zusammen ausgelöst wurden,
werden auch zusammen auftreten, wenn nur eine allein angeregt
wird. Diejenigen Tiefenempfindung^en z. B., welche am häufigsten
mit einem bestimmten perspectivischen Bild verbunden sind, werden
auch leicht reproducirt, wenn jenes Bild auftritt, ohne dass diese
Empfindungen mitbestimmt sind. Ausserdem scheint sich beim
Sehen perspektivischer Bilder ein Princip der Sparsamkeit aus-
zusprechen, d. h. der Gesichtssinn ladet sich von selbst keine
grössere Anstrengung- auf als diejenige, welche durch den Reiz
bestimmt ist. Beide Principien fallen, wie wir sehen werden, in
ihre Wirkunsfen zusammen.
Wir wollen uns das eben Ausgesprochene in den Einzel-
heiten erläutern. Betrachten wir eine Gerade in einem perspec-
tivischen Bilde, so sehen wir diese immer als eine Gerade im
Räume, obgleich die Gerade als perspectivisches Bild unendlich
vielen verschiedenen ebenen Curven als Objecten entsprechen
kann. Allein nur in dem besondern Fall, dass die Ebene einer
Curve durch den Kreuzungspunkt des einen Auges hindurch-
geht, wird sie sich auf der betreffenden Netzhaut als Gerade (be-
ziehungsweise als grösster Kreis) abbilden, und nur in dem noch
specielleren Fall, dass die Curvenebene durch die Kreuzungspunkte
beider Augen hindurchgeht, bildet sie sich für beide Augen als
Gerade ab. Es ist also sehr unwahrscheinlich, dass eine ebene
Curve als Gerade erscheint, während dagegen eine Gerade im
Räume sich immer als Grade auf beiden Netzhäuten abbildet.
— i6i —
Das wahr s c heinlichste Object also, welches einer perspectivischen
Graden entspricht, ist eine Gerade im Räume.
Die Gerade hat mannigfaltige geometrische Eigenschaften.
Diese geometrischen Eigenschaften, z, B. die bekannte Eigen-
schaft, die Kürzeste zwischen zwei Punkten darzustellen, sind aber
physiologisch nicht von Belang". Wichtiger ist schon, dass in
der Medianebene liegende oder zur Medianebene senkrechte Ge-
rade physiologisch zu sich selbst symmetrisch sind. Die in der
Median ebene liegende Verticale zeichnet sich ausserdem noch
durch die grösste Gleichmässigkeit der Tiefenempfindung und
durch ihre Coincidenz mit der Richtung der Schwere physio-
logisch aus. Alle verticalen Geraden können leicht und rasch
mit der Medianebene zur Coincidenz gebracht werden, und nehmen
daher an diesem physiologischen Vorzug theil. Allein die Gerade
im Räume überhaupt muss sich noch durch etwas anderes
psysiologisch auszeichnen. Die Gleichheit der Richtung in allen
Elementen wurde schon früher hervorgehoben. Jedem Punkt der
Geraden im Räume entspricht aber auch das Mittel der Tiefen-
empfindungen der Nachbarpunkte. Die Gerade im Räume bietet
also ein Minimum der Abweichungen vom Mittel der
Tiefenempfindungen dar, wie jeder Punkt einer Geraden das
Mittel der gleichartigen Raumwerthe der Nachbarpunkte darbietet.
Es liegt hiernach die Annahme nahe, dass die Gerade mit der
geringsten Anstrengung gesehen wird. Der Gesichtssinn
geht also nach dem Princip der Sparsamkeit vor, wenn er uns
mit Vorliebe Gerade vorspiegelt, und zugleich nach dem Prin-
cip der Wahrscheinlichkeit.
Noch 1866 schrieb ich in den Sitzungsberichten der Wiener
Akademie Bd. 54: „Da die gerade Linie den civilisirten Menschen
immer und überall umgiebt, so kann man wohl annehmen, dass
jede auf der Netzhaut mögliche Gerade unzähligemal auf jede mög-
liche Art als Gerade im Räume gesehen worden sei. Die Fähig-
keit des Auges im Auslegen der Geraden darf uns daher nicht
befremden." — Ich schrieb schon damals diese Stelle (entgegen
der Darwinistischen Anschauung, die ich in derselben Abhandlung
Mach, Analyse. 3. Aufl. 11
102
geltend machte) mit halbem Herzen. Heute bin ich mehr als je
überzeugt, dass die erwähnte Fähigkeit keine Folge der indi-
viduellen Uebung, ja nicht einmal der menschlichen Uebung
ist, sondern dass sie auch den Thieren zukommt, und theilweise
wenigstens ein Erbstück ist.
IG.
Die Abweichung einer Empfindung vom Mitel der Nachbar-
empfindungen fällt überhaupt immer auf, und fordert von dem
Sinnesorgan eine besondere Anstrengung. Jede Krümmung einer
Curve, jede Hervorragamg oder Vertiefung einer Fläche, bedeutet
immer die Abweichung einer Raumempfindung von dem Mittel
der Umgebung, auf welche die Aufmerksamkeit g-erichtet ist. Die
Ebene zeichnet sich physiologisch dadurch aus, dass jene Ab-
weichung vom Mittel ein Minimum, oder speziell für jeden
Punkt = o ist. Betrachtet man im Stereoscop irgend eine fleckige
Fläche, deren Theilbilder sich noch nicht zu einem binocularen
Bilde vereinigt haben, so macht es einen besonders wohlthuenden
Eindruck, wenn sich dieselbe plötzlich zu einer Ebene ausstreckt.
Der ästhetische Eindruck des Kreises und der Kugel scheint
wesentlich darauf zu beruhen, dass die bezeichnete Abweichung
vom Mittel für alle Punkte gleich ist.
1 1.
Dass die Abweichung von Mittel der Umgebung in Bezug
auf die Lichtempfindung eine Rolle spielt, habe ich in einer
älteren Arbeit nachgewiesen ^). Malt man eine Reihe von schwarzen
und weissen Sectoren, wie dies in Figur 27 angedeutet ist, auf
einen Papierstreifen A A BB, und wickelt diesen nachher als
Mantel auf einen Cylinder, dessen Axe parallel A B ist, so ent-
steht durch die rasche Rotation des letzteren ein graues Feld mit
von B gegen A zu wachsender Helligkeit, in welchem aber ein
i) Ueber die Wirkung der räumlichen Vcrtheilung des Lichtreizes auf die
Netzhaut. Sitzungsberichte der Wiener Akademie (1865) Bd. 52. — Fortsetzungen
dieser Untersuchung: Sitzungsberichte ("1866) Bd. 54, Sitzungsberichte (1868) Bd. 57 —
Vierteljahrsschrift für Psychiatrie, Neuwied-Leipzig 1868 {Ueber die Abhängigkeit der
Netzhautstellen von einandei).
- i63 -
hellerer Streifen a a und ein dunklerer ß ß hervortritt. Die
vStellen, welche den Knickungen a entsprechen, sind nicht physi-
kalisch heller als die Umgebung, ihre Lichtintensität übertrifft
MÄÄmdm
3 £
Fig. 27.
aber das Intensitäts-Mitel der nächsten Umgebung, während
umgekehrt die Intensität bei ß unter der mittleren Intensität
der Umgebung bleibt i). Diese Abweichung vom Mittel wird also
deutlich empfunden, und ladet demnach dem Sehorgan eine be-
sondere Arbeit auf. Die continuirliche Aenderung der Helligkeit
wird hingegen kaum bemerkt, so lange die Helligkeit eines jeden
Punktes dem Mittel der Nachbarn entspricht. Welche teleo-
logische Bedeutung dieser Umstand für das Hervorheben und
die Begrenzung der Objecte hat, darauf habe ich vor langer Zeit
(a. a. O. Sitzb. der Wien. Akad. 1865 Octob. u. 1868 Januar)
schon hingewiesen. Die Netzhaut verwischt kleine Unterschiede
und hebt grössere unverhältnissmässig hervor. Sie schemati-
siert und karikirt. Schon Panum hat seinerzeit auf die Be-
deutung der Conturen für das Sehen aufmerksam gem.acht.
Durch sehr mannigfaltige Versuche, von welchen der in Fig. 27
dargestellte einer der einfachsten ist, habe ich die Ansicht ge-
wonnen, dass die Beleuchtung einer Netzhautstelle nach Maassgabe
der Abweichung von dem Mittel der Beleuchtungen der
Nachbarstellen empfunden wird. Das Gewicht der Netzhautstellen
in jenem Mittel ist hierbei als mit der Entfernung von der be-
trachteten Stelle rasch abnehmend zu denken, was natürlich nur
i) Eine Bemerkung über Analogien zwischen der Lichtempiindung und der
Pontentialfunction findet sich in meiner Note ,,Ueber Herrn Guebhards's Darstellung
der Aepuipotentialcurven". Wiedemann's Annalen (1882) Bd. 17, S. 864 und ,,Prin-
cipien der Wärmelehre", 2. Aufl. 1900, S. 118.
11*
— 704 —
iJürch, eine org-'anische Wechselwirkung der Netzhautele'
4t ente verständlich werden kann. Ist iz:^f\x,y) die auf ein Coor-
dmatens3Astem {X Y) bezogene Beleuchtungsintensität der Netzhaut,
so ist jener für eine beliebige Stelle maassgebende Mittelwerth durch
in-~l dH -rdH''
annähernd dargestellt, wobei alle Krümmungsradien der Fläche
f {x, j)') als gross angenommen werden geg'en die Entfernung,
in welcher sich die Netzhautstellen noch merklich beein-
Aussen; w- ist eine Constante. Je nachdem nun ^rr- -|- —. — 1
\dz^ ' dy-J
positiv öder neg'ativ ist, empfindet sich die Netzhautstelle dunkler,
beziehungsweise heller als bei gleichmässig"er Beleuchtung der
Nachbarstellen mit der ihr selbst entsprechenden Intensität. Hat
- :_ - ' ^ /^2/ d''l\
die Fläche f (x, y) Kanten, Knickungen, so wird \— — 4- -—— )
' \dx^ ' dy^j
unendlich, und die Formel wird unbrauchbar. Der Knickung's-
stelle entspricht in diesem Pralle allerdings eine starke Ver-
dunkkmg oder Erhellung', aber natürlich keine unendliche. Die
Netzhaut besteht eben nicht aus empfindenden Punkten, sondern
aus einer endlichen Zahl von empfindenden Elementen von end-
licher Ausdehnung. Die nähere Kenntniss des Wechselwirkungs-
gesetzes dieser Elemente, welche zur genaueren Bestimmung der
Erscheinung in diesem Specialfalle nöthig wäre, fehlt noch.
Da man leicht irre geführt werden kann, wenn man nach
dem subjectiven Eindruck die objective Licht vertheilung beurtheilt,
so ist die Kenntniss des erwähnten Contrastgesetzes auch für rein
physikalische Untersuchungen von Belang. Schon Grimaldi ist
diurch eine solche Erscheinung" getäuscht worden. Dieselbe be-
gegnet uns bei Betrachtung" der Schatten, der Absorptionsspectren
und in zahllosen anderen Fällen. Durch eigenthümliche Um-
stände fanden meine Mittheilungen wenig Verbreitung, und die
betreffenden Thatsachen sind mehr als 30 Jahre später noch
zweimal entdeckt worden i).
',.'.::.'\,-l) H, Seeliger, Die scheinbare Vergrösserung des Erdschattens bei Mond-
finsternissen. Abh. d, Münchencr Akademie 1896. — PI. Haga und C. IT. Wind,
- i65 -
■ • ■ ■ - - . - 12. ■ ■ - r::..:::l
In Bezug auf die durch ein. monoculares Bild ausgelöste
Tiefenempfindungen sind die folgenden Versuche lehrreich. Die
Zeichnung Figur 28 ist ein ebenes Viereck mit den beiden Dia-
j gonalen. Betrachten wir sie moncocular, so erscheint
sie auch, dem Wahrscheinlichkeits- und Sparsamkeits-
gesetz entsprechend, am leichtesten eben. Nicht
ebene Objecte zwingen in der überwiegenden Mehr-;
zahl der Fälle das Auge zum Tiefensehen. Wo diesen
Zwang- fehlt, ist das ebene Object das wahrschein-
lichste und zugleich für das Sehorgan das bequemste.
Dieselbe Zeichnung kann monocular noch als ein Tetraeder
gesehen werden, dessen Kante dd vor ac liegt, oder als ein
Tetraeder, dessen Kante dd hinter ac liegt. Der Einfluss der
Vorstellung- und des Willens auf den Sehprocess ist ein höchst
beschränkter, er reducirt sich auf die Leitung der Aufmerksamkeit,
und auf die Auswahl der Stimmung des Sehorgans für einen
von mehreren in seiner Gewohnheit lieg'enden Fällen, von "^^elchen
aber jeder einzelne gewählte sich dann mit machinen massiger
Sicherheit und Präcision einstellt. Auf den Punkt e achtend, kann
man in der That willkürlich zwischen den beiden optisch
möglichen Tetraedern wechseln, je nachdem man sich dd näher
oder ferner als ac vorstellt. Für diese beiden Fälle ist das
Sehorgan eingeübt, weil häufig ein Körper durch den anderen
theilweise gedeckt wird.
Loeb^) findet, dass eine Annäherung der Figur 31 Accom-
modation für die Nähe und damit auch Erhabensehen der fixirten
Kante (5^ auslöst. Ich habe einen so bestimmten Erfolg nicht erzielen
Beugung der Röntgenstrahlen. Wiedemann's Annalen, Bd. 68, 1899, S. 866. —
C. H. Wind, zur Demonstration einer von E. Mach entdeckten optischen Täuschung.
Physilv, Zeitschr. v. Rieclce u. Simon I Nr. 10. — A. v. Obermayer, „Ueber die
Säume um die Bilder dunker Gegenstände auf hellem Hintergrande" (Eders Jahrbuch
für Photographie 1900), macht eine Anzahl neuer Thatsachen bekannt, die sich durch
das im Text dargelegte Contrastgesetz erklären lassen. Er kennt jedoch von meinen
vier Abhandlungen nur die erste, und theilt daher das Gesetz in der ersten mangel-
haften Fassung mit.
i) Loeb, Ueber epische Inversion, Pflügers Arch., Bd. 40, 1887, S. 247.
i66
können, und kann auch theoretisch keinen zureichenden (jrund
für denselben finden '), obgleich ich gern zugebe, dass Entfernungs-
änderungen der Figur leicht zum Wechsel der Auffassung führen.
Dieselbe Zeichnung kann endlich als eine vierseitige Pyramide
gesehen werden, wenn man sich den ausgezeichneten Durch-
schnittspunkt e vor oder hinter der Ebene ab cd vorstellt.
Dies gelingt schwer, wenn bed und aec zwei vollkommene Ge-
rade sind, weil es der Gewohnheit des Sehorgans widerstreitet,
eine Gerade ohne Zwang geknickt zu sehen; es gelingt überhaupt
nur, weil der Punkt e eine Sonderstellung hat. Findet sich aber bei e
eine kleine Kinckung, so hat der Versuch keine Schwierigkeit.
Die Wirkung einer linearen perspectivischen Zeichnung auf
den der Perspective Unkundigen, sobald er überhaupt von der
Zeichnungsebene abzusehen vermag, was h€\ monocularer Be-
trachtung leicht gelingt, tritt ebenso sicher ein, wie bei voll-
ständiger Kenntniss der Perspectivlehre. Die Ueb er legung und
auch die Erinnerung an gesehene Objecte hat nach meiner
Ueberzeugung mit dieser Wirkung wenig oder nichts zu schaffen.
Warum die Geraden der Zeichnung als Gerade in Räume ge-
sehen werden, wurde schon erörtert. Wo Gerade in einem Punkt
der Zeichnungsebene zu convergiren scheinen, werden die conver-
girenden oder sich annähernden Enden nach dem Wahrschein-
lichkeitsprincip und dem Sparsamkeitsprincip in gleiche oder
nähe gleiche Tiefe verlegt. Hierdurch ist die Wirkung der
Fluchtpunkte gegeben. Parallel können solche Linien gesehen
werden, die Nothwendigkeit eines solchen Eindrucks besteht aber
nicht. Halten wir die Zeichnung Figur 2g in
gleicher Höhe mit dem Auge, so kann sie uns
den Blick in die Tiefe eines Ganges vorspiegeln.
Die Enden _^ /z ^y^ werden in gleiche Ferne ver-
legt. Ist die Entfernung gross, so scheinen hier-
Figur 29. bei die Linien ae, bf, cg, dh horizontal. Erhebt
i) HiUebrand (,,Verh. v. Accommod. u. Converg. z. Tiefenlocalisation",
Zeitschr. f. Psych, u. Phys. der Sinncsorg., VIT, S. 97) hat die geringe Bedeutung der
Accomraodation für das Tiefensehen nachgewiesen.
löy —
man die Zeichnung, so heben sich die Enden efgh, und der
Boden abef scheint bergan zu steigen. Bei Senkung der
Zeichnung tritt die umgekehrte Erscheinung ein. Analog'e Ver-
änderungen beobachten wir, wenn wir die Zeichnung rechts oder
links zur Seite schieben. Hierbei kommen nun die Elemente
der perspectivischen Wirkung zum einfachen und klaren Ausdruck.
Ebene Zeichnungen, wenn sie durchweg aus geraden Linien
bestehen, die sich überall rechtwinklig durchschneiden, erscheinen
fast nur eben. Kommen schiefe Durchschnitte und
krumme Linien vor, so treten die Linien leicht aus
der Ebene heraus, wie z. B. die Figur 30 zeigt, welche
man ohne Mühe als ein gekrümmtes Blatt auffasst.
Wenn eine solche Contour, wie Fig. 30, eine be-
stimmte Form im ^Raume angenommen hat, und man
igi-^r 30. sjg]-^|- dieselbe als Grenze einer Fläche, so erscheint
letztere, um es kurz zu sagen, möglichst flach, also wieder
mit einem Minimum der Abweichung vom Mittel der Tiefen-
empfindung ^).
13-
Die eigenthümliche Wechselwirkung, sich schief in der Zeich-
nungsebene (beziehungsweise auf der Netzhaut) durchschneidender
Linien, vermöge welcher sich dieselben gegenseitig aus der Zeich-
nungsebene (beziehungsweise aus der zur Visirlinie senkrechten
Ebene) heraustreiben, habe ich zuerst bei Gelegen-
heit des vorher (S. 157) erwähnten Experimentes mit
der monocularen Inversion des Kartenblattes be-
obachtet. Das Blatt Figur 31, dessen gegen mich
convexe Kante be vertical steht, legt sich, wenn
es mir gelingt, be concav zu sehen, wie ein aufge-
schlagenes Buch auf den Tisch, so dass b ferner
NKl
Figur 31.
erscheint als e. Kennt man die Erscheinung einmal, so gelingt
I) Die Tiefenempfindung verhält sich hier wieder ähnlich der Potentialfunction
in einem Raum, an dessen Grenzen sie bestimmt ist. Diese möghchst flache Fläche
fällt nicht zusammen mit der Fläche minimae areae, welche man erhalten würde,
wenn die gesehene räumliche Contour, aus Draht dargestellt, und in Seifenlösung ge-
taucht, sich mit einer Plateau' sehen Flüssigkeitshaut erfüllen würde.
i68 —
Figur
die Inversion fast bei jedem Object, und man kann dann immer
mit der P'ormänderung (Umstülpung) zugleich jene merk-
würdige Aenderung der Orientirung (Stellung) des Objectes
beobachten. Besonders überraschend gestaltet sich der Vorgang
bei durchsichtigen Objecten. Es sei ab c d der Durchschnitt eines
Glaswürfels auf einem Tisch / /, und O
das Auge. Bei der monocularen In-
version rückt die Kante a nach d , b
aber näher heran nach b\ c nach c und
d nach öf'. Der Würfel scheint nun auf
der Kante c schief auf dem Tisch /' /' zu
stehn. Um die Zeichnung' übersichtlicher
zu gestalten, wurden die beiden Bilder nicht ineinander, sondern
hintereinander dargestellt. Ein theilweise mit g-efärbter Flüssig-
keit gefülltes Trinkglas, an die Stelle des Würfels gesetzt, stellt
sich natürlich sammt seiner Flüssigkeitsoberfläche ebenfalls schief.
Dieselben Erscheinungen kann man bei genügender Auf-
merksamkeit auch an jeder Linearzeichnung" beobachten. Wenn
man das Blatt mit der Figur 3 1 vertical vor sich hinstellt und
monocular betrachtet, so sieht man, wenn be convex ist, b vor-
treten, wenn be concav ist ist, e vortreten, sich dem Beobachter nähern,
und b zurückweichen. Loeb^) bemerkt, dass hierbei die Punkte
a, b, e, in der Zeichnungsebene verbleiben. In der That werden
hierdurch die Orientirungsänderungen verständ-
lich. Zieht man die punktirten Linien (Fig. 32a)
und denkt sich die Figur, so weit sie ausserhalb
des punktirten Dreiecks liegt, weggelöscht, so
bleibt uns das Bild einer hohlen oder erhabenen
dreiseitigen Pyramide, welche mit der Basis in
der Zeichnungsebene liegt. Die Inversion hat
keine irgendwie räthselhafte Orientirungsänderung mehr zur
Folge. Es scheint also, dass jeder monocular g'esehene
Punkt nach dem Minimum der Abweichungen vom
Mittel der Tiefenempfindung, und das ganze gesehene-
Figur 32a.
l) Loeb, a. a. O.
— i6g —
Object nach dem Minimum der Entfernung von der
Hering'schen Kernfläche strebt, welches unter den Ver-
suchsbeding^ungen erreichbar ist.
Wenn man die Deformationen beachtet, welche eine ebene
gradlinige Figur bei monocularer räumlicher Auslegung erfährt,
so kann man dieselben qualitativ darauf zurückführen, dass die
Schenkel eines spitzen Winkels sich nach entgegengesetzten
Seiten, jene eines stumpfen Winkels nach derselben Seite aus
der Zeichnungsebene, der zur Visirlinie senkrechten Ebene, her-
austreiben. Spitze Winkel vergrössern, stumpfe Winkel ver-
kleinern, sich hierbei. Alle Winkel streben dem rechten zu.
14-
Der letztere Satz legt die Beziehung der eben besprochenen
Erscheinung zur Zolin er 'sehen Pseudoscopie und den zahlreichen
verwandten Phänomenen nahe. Auch hier kommt alles auf schein-
bare Vergrösserung der spitzen und Verkleinerung der stumpfen
Winkel hinaus, nur dass die Zeichnungen in der Ebene gesehen
werden. Sieht man dieselben aber monocular räumlich, so ver-
schwinden die Pseudoscopien, und es treten dann die zuvor be-
schriebenen Erscheinungen auf. Obgleich nun diese Pseudoscopien
vielfach studirt worden sind, existirt zur Zeit doch keine allseitig
befriedigende Erklärung derselben. Mit so leichtfertigen Er-
klärungen, wie etwa jener, dass wir gewohnt seien vorzugsweise
rechte Winkel zu sehen, darf man natürlich nicht kommen, wenn
die ganze Untersuchung nicht verfahren oder vorzeitig abgebrochen
werden soll. Wir sehen oft genug schiefwinklige Objecte, da-
gegen ohne künstliche Veranstaltung niemals, wie in dem obigen
Experiment, einen ruhigen schiefen Flüssigkeitsspiegel. Dennoch
zieht das Auge, wie es scheint, den schiefen Flüssigkeitsspiegel
einem schiefwinkligen Körper vor.
Die elementare Macht, die sich in diesen Vorgängen aus-
spricht, hat nach meiner Ueberzeugung ihre Wurzel in viel ein-
facheren Gewohnheiten des Sehorgans, welche kaum erst im Cultur-
leben des Menschen entstanden sind. Ich habe seiner Zeit versucht
die Erscheinungen durch einen dem Farbencontrast analogen Rieh-
— lyo —
tungscontrast zu erklären, ohne zu einem befriedigenden Resultat
zu gelang"en. Neuere Untersuchungen von Loeb^), Heymanns^)
u. a., sowie Beobachtungen von Hoefler^) über Krümmungs-
contrast, sprechen nun doch sehr zu Gunsten einer Contrasttheorie.
Auch hat, in letzter Zeit wenigstens, die Neigung für eine rein
physiologische Erklärung entschieden zug"enommen ^).
Auch das Princip der Sparsamkeit hat sich mir in Bezug auf
die Zolin er 'sehe Pseudoscopie als unergiebig erwiesen. Etwas
mehr Aussicht auf Erfolg schien das Princip der Wahrscheinlich-
keit zu bieten. Wir denken uns die Netzhaut als Vollkugel und
den Scheitel eines Winkels a im Räume fixirt. Die Ebenen,
welche durch den Kreuzungspunkt des Auges und die Winkel-
schenkel hindurchgehend die letzteren auf die Netzhaut projiciren,
schneiden auf dieser ein sphärisches Zweieck mit dem Winkel A
aus, welcher den Winkel des monocularen Bildes vorstellt. Dem-
selben beliebigen A können nun unzählige Werthe von a zwischen
o*^ und i8o^ entsprechen, wie man erkennt, wenn man
bedenkt, dass die Schenkel des objectiven Winkels
jede beliebige Lage in den erwähnten projicirenden
Ebenen annehmen können. Einem gesehenen Winkel
A können also alle Werthe des objectiven Winkels a
entsprechen, welche sich ergeben, wenn man jede der
Dreieckseiten b und c zwischen o^ und i8o^ variiren
lässt. Hierbei ergibt sich nun wirklich, wenn man die
Rechnung in einer bestimmten Weise anlegt, dass ge-
sehenen spitzen Winkeln als wahrscheinlichstes Object ein
grösserer Winkel, gesehenen stumpfen Winkeln ein kleinerer
Winkel entspricht. Ich war jedoch nicht in der Lage zu ent-
scheiden, ob jene Fälle, welche man als geometrisch gleich
mögliche anzusehen geneigt ist, auch als physiologisch gleich
mögliche betrachtet werden dürfen, was wesentlich und wichtig
wäre. Auch ist mir die ganze Betrachtung viel zu künstlich.
I^ Loeb, Pflüger's Archiv, 1895, S. 509.
2) Heymans, Zeitschr. f. Psychol. u. Pliysiol. d. Sinnesorgane, XIV, loi.
3) Höfler, Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorgane, XII, i.
4) Witasck, Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorgane, XIX, i.
— 171 —
15-
Es kann hier nicht unerwähnt bleiben, dass A. Stöhr ver-
sucht hat von ganz neuen Gesichtspunkten aus über die zuvor
besprochenen Erscheinungen Aufklärung zu gewinnen. Den all-
gemeinen Erwägungen, von welchen sich Stöhr leiten Hess, muss
ich volle Sympathie und Zustimmung entgegenbringen. Dagegen
habe ich mir bis jezt kein sicheres Urtheil verschaffen können,
ob Stöhrs Hypothesen eine thatsächlich nachweisbare Grundlage
entspricht. Die vorausgesetzten Verhältnisse sind auch so com-
plicirt, dass es nicht leicht ist, darüber zu entscheiden, ohne das
Gebiet selbst von neuem durchzuexperimentiren. Ich weiss also
nicht, ob Stöhrs Ansichten überall zur Erklärung ausreichen
werden. In einer älteren Arbeit^) wird angenommen, dass dem
dioptrischen Bilde des Auges vor der Netzhaut ein katoptrisches
Bild in der Netzhaut entspricht, welches nach deren Tiefe Relief
hat. Die Tiefe in der Netzhaut wäre zugleich das Bestimmende
für die empfundene Tiefe im Sehraum und das Regulirende der
Accomodation. In der That habe ich mich immer gefragt, wo-
durch denn der Sinn der Accomodationsänderung bestimmt sei,
da dieselbe durch die blosse Grösse des Zerstreuungskreises nicht
bestimmt sein kann, da ferner der Zusammenhang zwischen Con-
vergenz und Accomodation nur ein loser ist, und da auch ein
Auge allein sich accommodirt. Anderseits stehen dieser Ansicht
die zahlreichen Beobachtungen über die Werthlosigkeit der Accom-
modation für die Tiefenempfindung entgegen. Die grosse Dicke
der Netzhaut der Insectenaugen ^) legt es wieder nahe, an eine
Function derselben bei der Relief Wahrnehmung- zu denken.
In zwei folgenden Arbeiten ^) wird auf diese Ansicht weiter
gebaut. Die zweite derselben bringt eine Scheffler'sche Ansicht
in eine mehr physiologische Form. Die herrschende Ansicht, nach
welcher die Bilder von Stellen, welche mehr oder weniger von
i) Zur nativistischen Behandlung des Tiefensehens (Wien 1892).
2) Exner, Die Physiologie der facettirten Augen (Wien 1891, S. 188).
3) Zur Erklärung der Zöllnerschen Pseudoskopie (Wien 1898). — Binoculare
Figtumischung und Pseudoskopie (Wien 1900).
— 172 —
correspondirenden abweichen, zu einem einheitlichen Eindruck
verschmelzen, findet Stöhr unbehaglich. „Wo ist der Weichen-
wächter, der den Wechsel nicht nur in ausser gewöhnlicher, sondern
auch in zweckmässiger Weise so stellt, dass jetzt ein ungewöhn-
liches Paar von Leitungsbahnen zwei Reize zur Vereinigung- im
Centralorgan bringen kann?" Es^ wird ang^enommen, dass die
Netzhäute beider Augen von einem Streben nach Minimalisation
des Lichtreizes beherrscht nach Aequalisation ungleicher Bilder
trachten. Die nervösen Elemente erregen den Ciliarmuskel, und
zwar nicht nur in ganz gleichmässiger regelmässiger Weise, son-
dern nach Bedürfniss auch sehr ungleichmässig. Regelmässige
Contraction des Ciliarmuskels bringt eine grössere Linsenwölbung
und eine geringe Contraction der Netzhaut hervor. Nehmen hie-
bei die Netzhautelemente ihre Ortswerthe mit, so erscheint das-
selbe Netzhautbild vergrössert. So soll es nach Stöhr verständ-
lich werden, dass die Panum 'sehen proportionalen Kreissysteme
(bis zum Radienverhältniss 4:5) durch Anpassung- der beiden
Aug'en aneinander mit identischen Netzhautstellen einfach und
in mittlerer Grösse g-esehen werden. Dass die Verschmelzung
der Kreissysteme nicht durch Unterdrückung des einen Bildes
geschieht, weist Stöhr nach, mdem er das eine Kreissystem aus
rothen, das andere aus alternirenden grünen Punkten darstellt,
so dass in dem binocularen Sammelbild die rothen zwischen den
grünen Punkten erscheinen. Unregelmässige Contraction des
Ciharmuskels soll nun eine mehrfache Wirkung hervorbring'en:
Einmal eine unregelmässige Deformation der Linse mit mannig-
faltiger Verschiebung der Spitzen der Diacaustik verschiedener
Strahlenbündel, hiedurch Aenderung" des Reliefs des dioptrischen
und katoptrischen Bildes, und ferner eine mannigfaltige mini-
male Deformation der Netzhaut. Stöhr glaubt durch detaillirte
Rechnungen die Möglichkeit seiner Auffassung darzuthun und
durch Untersuchung- von Beobachtern mit- aphakischen x^ugen
die Thatsächlichkeit seiner Voraussetzungen nachzuweisen. Zu
überraschenden Versuchen, z. B. stereoscopischer Knickung von
Geraden hat ihn seine Theorie jedenfalls geführt, und sie verdient
— 173 —
also schon deshalb Beachtung-. So sehr mir aber seine Auffassung'
des Auges und seiner Theile als lebender Organismen sym-
pathisch ist, habe ich mich doch noch nicht überzeugen können,
dass seine Annahmen zur Erklärung complicirterer Fälle des
Raumsehens überall ausreichen.
St Öhr entfernt sich recht weit von den Traditionen der
physiologischen Optik. An sich kann das kein Grund sein, auf
die g'enaue Prüfung seiner Theorie nicht einzugehen, seit die an
schönen und merkwürdigen Ergebnissen reichen vergleichend
physiologischen Untersuchungen von S. Exner und Th. Beer^)
uns Aug"en von so mannigfaltigen organischen Einrichtungen
kennen gelehrt haben, wie sie ein Physiker a priori kaum ver-
muthen würde.
Dass während des Sehens noch zu erforschende Veränder-
ungen im Aug'e vorgehn , wird durch manche Erscheinungen
wahrscheinlich. Stereoscopbilder mit starken stereoscopischen
Differenzen zeigen bei längerem Hinsehen noch ein successiv
enorm wachsendes Relief, wenn auch die Verschmelzung schein-
bar längst vollendet ist. An feinen glatten parallelen Linien-
S3^stemen hat man wellige Krümmungen und Anschwellungen
beobachtet, und hat dieselben in etwas eigenthümlicher Weise
auf die zur Darstellung von so feinen Geraden unzureichende
Netzhautmosaik zurückgeführt. Ich habe aber diese Erscheinung
an sehr deutlich sichtbaren, keineswegs mikrometrischen, Geraden-
systemen bei andauerndem Hinsehen stets wahrgenommen. Mit
der Netzhautmosaik hat also die Sache gewiss nichts zu thun.
Eher könnte ich glauben, dass durch die Anstrengung, etwa
durch kleine Verschiebungen im Sinne Stöhrs, die Raum-
werthe etwas in Unordnung gerathen seien. 2)
i) Th. Beer, Die Accommodation des Fischauges (Pflügers Archiv Bd. LVIII
S. 523). — Accomödation des Auges in der Thierreihe (Wiener klinische Wochen-
schrift. 1898 Nr. 42). — Ueloer primitive Sehorgane (Ebendaselbst 1901 Nr. 11, 12, 13.)
2) Ueber die physiologische Wirkung räumlich vertheilter Lichtreize (Wiener
Sitzber. 2. Abth., 1866 October, S. 7, 10. des Separatabzuges).
— 174 —
i6.
Der leichte Uebergang vom pseudoscopischen Sehen ebener
Figuren zum monocularen räumHchen Sehen derselben wird wohl
über ersteres noch weitere Aufklärung verschaffefi. Folgende
Thatsachen bestärken diese Vermuthung. Eine ebene Linear-
zeichnung, monocular betrachtet, erscheint gewöhnlich eben.
Macht man aber die Winkel veränderlich und leitet die Bewegung
ein, so streckt sich jede derartige Zeichnung sofort in die Tiefe.
Man sieht dann gewöhnlich einen starren Körper in einer Drehung
begriffen, wie ich dies bei einer früheren Gelegenheit ^) beschrieben
habe. Die bekannten Li ssajous'schen Schwingungsfiguren, welche
bei Wechsel des Phasenunterschiedes auf einem gedrehten C3dinder
zu liegen scheinen, bieten ein schönes Beispiel des betreffenden
Vorganges.
Man könnte nun hier wieder auf die Gewohnheit hinweisen,
mit starren Körpern umzugehen. Starre Körper, in Drehungen
und Wendungen begriffen, umgeben uns in der That fortwährend.
Ja die ganze materielle Welt, in welcher wir uns bewegen, ist
gewissermaassen ein starrer Körper, und ohne die Hilfe starrer
Körper gelangen wir überhaupt nicht zur Vorstellung des geo-
metrischen Raumes. Wir achten auch gewöhnlich nicht auf
die Lage der einzelnen Punkte eines Körpers im Raum, sondern
fassen ohne Weiteres dessen Dimensionen auf. Darin liegt haupt-
sächlich für den Ungeübten die Schwierigkeit, ein perspectivisches
Bild zu entwerfen. Kinder, welche gewohnt sind die Körper in
ihren wahren Dimensionen zu sehen, können sich mit per-
spectivischen Verkürzungen nicht abfinden, und sind, von einem
einfachen Aufriss, von einer Profilzeichnung weit mehr befriedigt.
Ich weiss mich dieses Zustandes sehr wohl zu erinnern, und be-
greife durch diese Erinnerung die Zeichnungen der alten Aegypter,
welche alle Körpertheile der Figuren soweit als möglich in ihren
wahren Dim.ensionen darstellen, und dieselben desshalb in die
i) Beobachtungen über monoculare Stereoskopie. Sitzungsbcriclite der Wiener
Akademie (1868), Bd. 58.
— 175 —
Zeichnungsebene gleichsam hineinpressen, wie die Pflanzen in ein
Herbar. Auch in den Pompejanischen Wandgemälden begegnen
wir, obgleich hier der Sinn für Perspective schon deutlich ist, noch
einer merklichen Scheu vor Verkürzungen. Die alten Italiener
hingegen, im Gefühle ihrer Sachkenntniss, gefallen sich oft in
übermässigen, zuweilen sogar unschönen Verkürzungen, welche
dem Auge mitunter eine bedeutende Anstrengung zumuthen.
17-
Es ist also keine Frage, dass uns das Sehen starrer Körper
mit den festen Abständen ihrer ausgezeichneten Punkte viel ge-
läufiger ist als das Aussondern der Tiefe, welches sich immer
erst durch eine absichtliche Analyse ergibt. Demnach können wir
erwarten, dass überall, wo eine zusammenhängende Masse von
Empfindungen, die vermöge der continuirlichen Uebergänge und
des gemeinsamen Farben characters zur Einheit verschmilzt, eine
räumliche Veränderung zeigt, diese mit Vorliebe als Bewegung
eines starren Körpers gesehen wird. Ich muss aber gestehen,
dass mich diese Auffassung wenig befriedigt. Vielmehr glaube
ich, dass auch hier eine elementare Gewohnheit des Sehorgans
zu Grunde liegt, welche nicht erst durch die bewusste individuelle
Erfahrung entstanden ist, sondern welche im Gegentheil schon das
Auffassen der Bewegungen starrer Körper erleichtert hat. Würden
wir z. B. annehmen, dass jede Verkleinerung der Querdimension
einer optischen Empfindungsmasse, welcher die Aufmerksamkeit
zugewendet wird, eine entsprechende Vergrösserung der Tiefen-
dimensionen herbeizuführen strebt, und umgekehrt, so wäre dieser
Process ganz analog demjenigen, dessen schon oben gedacht (S. 158)
und der mit der Erhaltung der Energie verglichen wurde. Die
berührte Ansicht ist entschieden viel einfacher und zur Erklärung
ebenfalls ausreichend. Man kann sich auch leichter vorstellen, wie
eine so elementare Gewohnheit erworben, wie sie in der Organi-
sation ihren Ausdruck finden, und wie die Stimmung für dieselbe
vererbt werden kann.
— 176 —
Als Gegenstück zu der Drehung starrer Körper, welche uns
das Sehorgan vorspiegelt, will ich hier noch eine andere Be-
obachtung anführen. Wenn man ein Ei oder ein Ellipsoid mit
matter gleichmässiger Oberfläche über den Tisch rollt, jedoch so,
dass es sich nicht um die Axe des Rotationskörpers dreht, sondern
hüpfende Bewegungen ausführt, so glaubt man bei binocularer
Betrachtung einen flüssigen Körper, einen grossen schwingenden
Tropfen, vor sich zu haben. Noch auffallender ist die Erscheinung,
wenn ein Ei, dessen Längsachse horizontal liegt, um eine verticale
Axe eine massig rasche Rotation versetzt wird. Dieser Eindruck
verschwindet sofort, wenn auf der Oberfläche des Eies Flecken
angebracht werden, deren Bewegung man verfolgen kann. Man
sieht dann den gedrehten starren Körper.
Die in diesem Kapitel gegebenen Erklärungen sind von
Vollständigkeit gewiss noch weit entfernt, doch glaube ich, dass
meine Ausführungen ein exacteres und eingehenderes Studium
der besprochenen Erscheinungen anregen und anbahnen können.
XL Empfindung, Gedächtniss und Association.
Es kann nach den vorausgehenden Erörterungen kein Zweifel
bestehen, dass blosse Empfindungen kein dem unsrigen auch nur
entfernt ähnliches psychisches Leben begründen können. Wenn
die Empfindung sofort nach dem Verschwinden vergessen wird,
kann nur eine zusammenhangslose Mosaik und Folgte von psy-
chischen Zuständen sich ergeben, wie wir dieselbe bei den niedersten
Thieren und bei den tiefstehenden Idioten annehmen müssen. Eine
Empfindung, welche nicht etwa als heftiger Bewegungsreiz wirkt,
wie etwa eine Schmerzempfindung, wird auf dieser Stufe schwer-
lich Beachtung finden. Der Anbhck eines lebhaft gefärbten
kugelförmigen Körpers z. B., der nicht durch die Erinnerung
an den Geruch und Geschmack, kurz an die Eigenschaft einer
Frucht, an die mit derselben gemachten Erfahrungen, ergänzt
wird, bleibt unverstanden, ist ohne Interesse, wie dies im Zustande
der „Seelenblindheit" beobachtet wird. Aufbewahrung von Er-
innerungen, Zusammenhang derselben, Wiedererweckbarkeit durch
einander, Gedächtniss und Association, sind die Grund-
bedingung des entwickelten psychischen Lebens.
2.
Was ist nun das Gedächtniss? Ein psychisches Erlebniss
lässt psychische Spuren zurück, dasselbe hinterlässt aber auch
physische Spuren. Das gebrannte oder von der Wespe gestochene
Kind benimmt sich auch physisch ganz anders, als ein Kind, welchem
Mach, Analyse. 3. Aufl. 1-
- 178 -
diese Erfahrung fehlt. Denn das Psychische und das Physische
sind überhaupt nur durch die Art der Betrachtung verschieden.
Dennoch ist es recht schwierig, in den Erscheinung'en der Physik
des Unorganischen Züge zu entdecken, welche dem Gedächtniss
verwandt sind.
In der Physik des Unorganischen scheint alles durch die
augenblicklichen Umstände bestimmt, die Vergangenheit ganz
einfiusslos zu sein. Die Beschleunigung eines Körpers ist durch
die augenblicklichen Kräfte gegeben. Ein Pendel schwingt gleich,
ob es die erste Schwingung vollführt, oder ob schon looo andere
vorausgegangen sind. H verbindet sich mit Cl in derselben
Weise, ob es vorher mit Br oder J verbunden war. Allerdings
gibt es auch in dem ph3^sikalischen Gebiet Eälle, in welchem
die Vergangenheit deutlich ihren Einfluss ausspricht. Die Erde
erzählt uns ihre geologische Vorgeschichte. Der Mond erzählt
sie ebenso. Ich sah an einem Gesteinstück ein System ganz
sonderbarer congruenter Ritzfiguren, welches E. Suess sehr plau-
sibel als ein vorweltliches vSeismogramm interpretirte.
Ein Draht merkt sich sozusagen lange Zeit jede Torsion,
die er erlitten hat. Jeder Entladungsfunke ist ein Individuum
und von den vorausgeg'angenen Entladungen beeinflusst. Die
isolirende Schicht der Leidnerflasche bewahrt eine Geschichte der
vorausgegangenen Ladungen.
Der scheinbare Widerspruch löst sich, wenn wir berück-
sichtigen, dass wir in der Physik die betrachteten Eälle aufs äusserste
zu idealisiren und zu chematisiren, die einfachsten Umstände voraus-
zusetzen pflegen. Wenn wir ein mathematisches Pendel annehmen,
dann ist gewiss die tausendste Schwingung' wie die erste, dann
gibt es keine Spuren der Vergangenheit, weil wir eben von den-
selben absehen. Das wirkliche Pendel nutzt aber seine Schneide
ab, erwärmt sich durch äussere und innere Reibung, und keine
Schwingung- gleicht, genau genommen, der andern. Jede zweite,
dritte Drcihttorsion fällt ctw£is anders aus, als wenn die früheren
nicht gewesen wären. Könnte man in der Psychologie ebenso
schematisiren, so würde man Menschen erlialten, die sich identisch
— 179 -
verhalten, keinen Einfluss der individuellen Erlebnisse erkennen
lassen würden.
In Wirklichkeit lässt jeder psychische so gut wie jeder
physische Vorgang seine unverwischbaren Spuren zurück. In
beiden Gebieten gibt es nicht umkehrbare Prozesse, ob nun
die Entropie vermehrt, oder der Knoten einer gestörten und wieder
angeknüpften Freundschaft gefühlt wird. Und jeder wirkliche
Vorgang enthält mindestens nicht umkehrbare Compooenten.
3-
Man wird nun mit Recht sagen: Spuren der Vergangen-
heit sind noch lange kein Gedächtniss. In der That, damit die
Aehnlichkeit grösser werde, müssten gewesene Vorgänge auf
einen leisen Anstoss hin aufs neue sich abspielen. Die gut
gespielten alten Violinen, die Mos er 'sehen Hauchbilder, der
Phonograph sind schon etwas bessere Beispiele. Allein Violine
und Phonograph müssen durch äussere Kräfte gespielt werden,
während der Mensch sich und sein Gedächtniss selbst spielt. Die
organischen Wesen sind nämlich keine starren materiellen Systeme,
sondern im Wesentlichen dynamische Gleichgewichtsformen von
Strömen von „Materie" und ,, Energie". Die Abweichungsformen
dieser Ströme von dem dynamischen Gleichgewichtszustand sind
es nun, die sich, je nachdem sie einmal eingeleitet wurden, immer
in derselben Weise wiederholen. Solche Variationen d)''namischer
Gleichgewichtsformen hat die anorganische Physik noch wenig
studirt. DieAenderung von Flussläufen durch zufällige Umstände,
welche Läufe dann beibehalten werden, sind ein ganz rohes Bei-
spiel. Schraubt man einen Wasserhahn so weit zu, dass ein ganz
dünner ruhiger Strahl zum Vorschein kommt, so genügt ein zu-
fälliger Anstoss, um dessen labiles Gleichgewicht zu stören und
dauerndes rhythmisches tropfenweises Ausfliessen zu veranlassen.
Man kann eine lange Kette aus einem Gefäss, in welchem sie
zusammengerollt liegt über eine Rolle, nach Art eines Hebers,
in ein tieferes Gefäss überfliessen lassen. Ist die Kette sehr lang,
der Niveauunterschied sehr gross, so kann die Geschwindigkeit
12*
sehr bedeutend werden, und dann hat die Kette bekanntlich die
Eigenschaft, jede Ausbiegung, die man ihr ertheilt, frei in der
Luft lange beizubehalten, und durch diese Form hindurchzufliessen.
Alle diese Beispiele sind sehr dürftige Analogien der organischen
Plasticität für Wiederholung von Vorgängen und von Reihen von
Vorgängen.
Die vorausgehenden Betrachtungen sollen zeigen, dass ein
ph3Asikalisches Verständniss des Gedächtnisses zwar nicht un-
erreichbar, dass wir von demselben aber noch sehr weit ent-
fernt sind. Ohne Zweifel wird die Ph3^sik durch das Studium des
Organischen noch bedeutend ihren Blick erweitern müssen, bevor
sie dieser Aufgabe g'ewachsen sein wird. Gewiss ist der Reich-
thum des Gedächtnisses in der Wechselwirkung, dem Zusammen-
hang der Organe begründet. Allein ein Rudiment von Gedächt-
niss wird man wohl auch den Elementarorganismen zuschreiben
müssen. Und da kann man nur daran denken, dass jeder che-
mische Vorgang" im Organ Spuren zurücklässt, welche den Wieder-
eintritt desselben Vorganges beglmstigen.
■ 4-
Es ist bekannt, dass in der Psychologie den Associations-
gesetzen eine hervorrag'ende Bedeutung zuerkannt wird. Diese
Gesetze lassen sich auf ein einziges zurückführen, welches darin
besteht, dass von zwei Bewusstseinsinhalten A, B, welche einmal
gleichzeitig zusammentrafen, der eine, wenn er eintritt, den andern
hervorruft. Das psychische Leben wird in der That viel verständ-
licher durch Erkenntniss dieses immer wiederkehrenden Grund-
zuges. Die Unterschiede des Gedankenlaufs, bei einfacher
Erinnerung an Erlebtes, bei ernster Berufsbeschäftigung und beim
freien Phantasiren, oder wachen Träumen, werden leicht begreiflich
durch die begleitenden Umstände. Doch wäre es eine Verkehrt-
heit alle (S. 151) psychischen Vorgänge auf während des indi-
viduellen Lebens erwoi'bene Associationen zurückführen zu wollen.
Die Psyche tritt uns in keiner Phase als eine , tabula rasa' ent-
gegen. Man müsste mindestens neben den erworbenen Asso-
ciationen auch angeborene Associationen annehmen. Die an-
geborenen Triebe i), welche der introspectiven auf sich selbst
beschränkten Psychologie als solche Associationen erscheinen
müssten, führt der Biologe auf angeborene organische Ver-
bindung-en. insbesondere Nervenverbindungen zurück. Es em-
pfiehlt sich daher zu versuchen, ob nicht alle Associationen 2),
auch die individuell erworbenen, auf erworbenen, beziehungsweise
durch Gebrauch verstärkten Verbindungen beruhen? Jedenfalls
darf man aber auch fragen, ob die Vorgänge, für deren Verbindung
in hochdifferenzirten Organismen sich eig'ene Bahnen gebildet
haben, nicht vielmehr das Primäre, schon in niederen Organismen
Bestehende sind, deren wiederholtes Zusammentreffen zur Bildung
jener Bahnen führt? Gewiss kann eine rationelle Ps3Achologie
mit den temporären Associationen nicht auskommen. Sie muss
berücksichtigen, dass auch fertige Verbindungsbahnen bestehen.
Dann muss auch die Möglichkeit spontan, nicht durch Asso-
ciation auftretender psychischer Processe zugegeben werden, welche
die benachbarten Theile des Nervensystems erregen, und bei
grosser Heftigkeit auch auf das ganze Nervensystem sich ver-
breiten. Die Hallucinationen einerseits und die Reflexbewegungen
anderseits sind Beispiele aus dem sinnlichen und motorischen
Gebiet, welchen Analoga auf andern Gebieten entsprechen dürften.
5-
Die Ansichten über die Wechselwirkung der Theile des
Centralnervensystems scheinen einer bemerkenswerthen Wandlung
i) Am auffallendsten, weil in der Zeit voller psychischen Entwicklung und
Beobachtungsfähigkeit eintretend, zeigen sich die ersten Aeusserungen des Geschlechts-
triebes. Ein vollkommen glaubAvürdiger, sehr wahrheitsliebender Mann erzählte mir,
er habe als ganz unverdorbener und unerfahrener 1 6 jähriger Bursche die auffallende
plötzliche körperliche Veränderung, die er beim Anblick einer decolletirten Dame mit
Bestürzung an sich wahrnahm, für eine Krankheit gehalten, über welche er einen
Collegen consultirte. Der ganze Complex von ihm durchaus neuen Empfindungen tmd
Gefühlen, die sich da auf einmal offenbarten, hatte überhaupt einen starken Zusatz
von Schrecken.
2) H. E. Ziegler, Theoretisches zur Thierphysiologie und vergleichenden Neuro-
physiologie (Biol. Centralblatt, Leipzig 1900, Bd. XX Nr. i).
Ib2
entgegenzugehen, wie diesLoeb^) auf Grund eigener Arbeiten und
jener von Goltz und Ewald darlegt. Hiernach sind die Tro-
pismen der Thiere von jenen der Pflanzen nicht wesentlich ver-
schieden, und die Nerven gewähren im ersteren Falle nur den
Vortheil einer rascheren Reizleitung. Das Leben des Nerven-
systems wird auf segmentale Reflexe, die Coordination der Be-
wegungen auf gegenseitige Erregung und Reizleitung, die Instincte
werden auf Kettenreflexe zurückgeführt. Der Schnappreflex des
Frosches löst z. B. den Schluckreflex aus. Complicirt organisirte
Centren werden nicht angenommen, sondern das Gehirn selbst wird
als eine Anordnung von Segmenten betrachtet. In allen diesen An-
sichten liegt, so weit ich dies beurtheilen kann, ein glückliches
und bedeutsames Streben, sich von unnöthig verwickelten, mit
Metaphysik durchsetzten Annahmen zu befreien. Nur darin kann
ich Loeb nicht beistimmen, dass er in Darwin's phylogenetischen
Forschungen über die Instincte eine fehlerhafte Einseitigkeit sieht,
welche fallen zu lassen und durch physikalisch-chemische Unter-
suchung zu ersetzen wäre. Gewiss lag letztere Darwin fern.
Gerade dadurch g'ewann er aber den freien Blick für seine
eigenartigen grossen Entdeckungen, die kein Physiker als solcher
hätte machen können. Wir streben ja überall, wo es möglich ist,
nach physikalischer Einsicht, nach Erkenntniss des unmittel-
baren („causalen") Zusammenhanges. Es fehlt aber sehr viel
daran, dass diese schon überall erreichbar wäre. Und in solchen
Fällen andere fruchtbare Gesichtspunkte, die man immerhin als
provisorische ansehen mag, aufgeben, würde jedenfalls eine
andere und sehr folgenschwere Einseitigkeit sein. Die Dampf-
maschine kann, wie Loeb sagt, nur physikalisch verstanden
werden. Die einzelne gegebene Dampfmaschine, ja! Wenn es
sich aber darum handelt, die gegenwärtig-en Formen der Dampf-
maschine zu verstehn, dann reicht dies nicht. Die ganze Ge-
schichte der technischen und socialen Cultur, nicht minder die
geologischen Voraussetzungen, müssen heran. Jedes einzelne
l) Loeb, Vergleichende Physiologie des Gehirns, Leipzig 1899.
— i83 —
dieser Momente mag ja zuletzt physikalisch verständlich werden,
klärt uns aber auf, lange bevor dies erreicht ist^).
6.
Denke ich mir, dass, während ich empfinde, ich selbst oder
ein anderer mein Gehirn mit allen physikahschen und chemischen
Mitteln beobachten könnte, so würde es möglich sein zu ermitteln,
an welche Vorgänge des Organismus Empfindungen von bestimmter
Art gebunden sind. Dann könnte auch die oft aufgeworfene Frage,
wie weit die Empfindung in der organischen Welt reicht, ob die
niedersten Thiere, ob die Pflanzen empfinden, wenigstens nach
der Analogie, ihrer Lösung näher geführt werden. So lange diese
Aufgabe auch nicht in einem einzigen Specialfall gelöst ist, kann
hierüber nicht entschieden werden. Zuweilen wird auch gefragt,
ob die (unorg'anische) „Materie" empfindet. Wenn man von den
geläufigen verbreiteten physikalischen Vorstellungen ausgeht, nach
welchen die Materie das unmittelbar und zweifellos gegebene
Reale ist, aus welcher sich Alles, Unorganisches und Organisches
aufbaut, so ist die Frage natürlich. Die Empfindung muss ja dann
in diesem Bau irgendwie plötzlich entstehen, oder von vornherein
in den Grundsteinen vorhanden sein. Auf unserm Standpunkt
ist die Frage eine Verkehrtheit. Die Materie ist für uns nicht das
erste Gegebene. Dies sind vielmehr die Elemente (die in ge-
wisser bekannter Beziehung als Empfindungen bezeichnet werden).
Jede wissenschaftliche Aufgabe, die für ein menschliches Indivi-
duum einen Sinn haben kann , bezieht sich auf Ermittelung der
Abhängigkeit der Elemente von einander. Auch was wir im
vulgären Leben Materie nennen, ist eine bestimmte Art des Zu-
sammenhanges der Elemente. Die Frage nach der Empfindung
der Materie würde also lauten: ob eine bestimmte Art des Zu-
sammenhanges der Elemente (die in gewisser Beziehung auch
immer Empfindungen sind) empfindet? In dieser Form wird die
Frage niemand stellen wollen-). Alles, was für uns Interesse haben
1) Loeb, a. a. O. S. 130.
2) Vgl. popalär-wissenschattliche Vorlesungen, S. 230.
— i84 —
kann, muss sich bei Verfolgung der allgemeinen Aufgabe er-
geben, Wir fragen nach den Empfindungen der Thiere, 'wenn
deren sinnlich beobachtetes Verhalten durch diese verständlicher
wird. Nach Empfindungen des Krystalls zu fragen, die keine
weitere Aufklärung über dessen sinnlich vollkommen bestimmtes
Verhalten geben, hat keinen praktischen und keinen wissenschaft-
lichen Sinn.
XII. Die Zeitempfindung ^).
I.
Viel schwieriger als die Raumempfindung ist die Zeitempfin-
dung zu untersuchen. Manche Empfindungen treten mit, andere
ohne deutliche Raumempfindung auf. Die Zeitempfindung begleitet
aber jede andere Empfindung und kann von keiner gänzlich los-
gelöst werden. Wir sind also bei der Untersuchung' darauf an-
gewiesen, auf die Variationen der Zeitempfindung zu achten.
Zu dieser psychologischen Schwierigkeit gesellt sich noch die
andere, dass die physiologischen Processe, an welche die Zeit-
empfindung geknüpft ist, noch weniger bekannt sind, tiefer und
verborgener liegen als die andern Empfindungen entsprechenden
Processe. Die Analyse muss sich also vorzugsweise auf die psy-
chologische Seite beschränken, ohne von der physischen, wie dies
in andern Sinnesgebieten wenigstens theilweise mögHch ist, ent-
gegenzukommen.
Die wichtige Rolle, welche die zeitliche Ordnung der Ele-
mente in unserem psychischen Leben spielt, braucht kaum be-
sonders betont zu werden. Diese Ordnung ist fast noch bedeuten-
der als die räumliche. Die Umkehrung der zeitlichen Ordnung
entstellt einen Vorgang noch viel mehr, als die Umkehrung einer
Raumgestalt von oben nach unten. Sie macht aus demselben
geradezu ein anderes neues Erlebniss. Desshalb werden die
Worte einer Rede, eines Gedichtes, nur in der erlebten Ordnung
reproducirt und nicht auch in der umgekehrten, in welcher sie im
i) Der Standpunkt, den ich hier einnehme, ist hier nur wenig verschieden von
jenem meiner ,, Untersuchungen über den Zeitsinn des Ohres" (Sitzber. der Wiener
Akademie, Bd. 51, 1865). Auf die Einzelheiten dieser älteren Versuche, die ich
schon 1860 begonnen habe, will ich hier nicht wieder zurückkommen. Auch das
reiche Material kann hier nicht discutirt werden, welches sich durch die Arbeiten von
Münsterberg, Schumann, Nichols, Hermann u. A. ergeben hat. Vergl.
Scripture, The new Psychology, London 1897, p. 170.
— i86 —
allgemeinen einen ganz andern, oder gar keinen Sinn haben.
Kehrt man gar durch umg"ekehrtes Lautiren, oder durch umge-
kehrten Gang des Phonographen die ganze akustische Folge
um, so erkennt man nicht einmal mehr die Wortbestandtheile der
Rede wieder. Nur an die bestimmte Lautfolge eines Wortes
knüpfen sich bestimmte Erinnerungen, und nur wenn dieselben
der Wortfolge entsprechend in bestimmter Ordnung geweckt
werden, füg'en sie sich zu einem bestimmten Sinn zusammen.
Aber auch eine Tonfolge, eine einfache Melodie, bei welcher die
Gewohnheit und die Association jedenfalls eine sehr geringe
Rolle spielen, wird durch die zeitliche Umkehrung unkenntlich.
Die zeitliche Folge selbst sehr elementarer Vorstellungen oder
Empfindungen gehört mit zu deren Erinnerung'sbild.
Fasst man die Zeit als Empfindung auf, so befremdet es
weniger, dass in einer Reihe, welche in der Ordnung ABC DE
ablief, irgend ein Glied, z. B. C, bloss die nachfolgenden^ nicht
aber die vorhergehenden in die Erinnerung ruft. So taucht ja
auch das Erinnerungsbild eines Gebäudes nicht mit dem Dach
nach unten gekehrt auf. Uebrigens scheint es nicht einerlei zu
sein, ob nach einem Organ A das Organ B erregt wird, oder
umgekehrt. Es dürfte hierin ein physiolog'isches Problem lieg'en,
mit dessen Lösung erst das volle Verständniss der fundamentalen
psychologischen Thatsache des Ablaufs der Reproductionsreihen
in einem bestimmten Sinne gegeben wäre ^). Möglich, dass
diese Thatsache damit zusammenhängt, dass die Erregung, je
nach dem Anfangspunkt, in welchem sie in den Org'anismus ein-
tritt, auf ganz verschiedenen Wegen sich fortpflanzt, ähnlich wie
dies für physikalische Fälle durch die Betrachtung S. 72 und die
Fig. 12 erläutert wurde.
i) Vielleicht sind die nervösen Elemente nicht nur mit einer dauernden ange-
bornen polaren Orientirung behaftet, wie dies durch die abwärts laufende Welle im
Darm, in der Muskulatur der Schlange, durch die galvanotropischen Erscheinungen
wahrscheinlich wird, sondern sie sind vielleicht auch einer temporären erworbenen Po-
larität fähig, wie sich dies in der Einhaltung der Zeitfolge im Gedächtniss, in der
Uebung u. s. w. ausspricht. „Vgl. Loeb und Maxwell, Zur Theorie des Galvano-
tropismus. Pflügers Archiv, Bd 63, S. 121. — Loeb, Vergleichende Gehirnphysio-
lügie, S. io8 u. ff.
- i87 -
Einem Ton C folge ein Ton D. Der Eindruck ist ein ganz
anderer, als wenn C auf D folgt. Das liegt grossentheils an den
Tönen selbst, an ihrer Wechselwirkung. Denn macht man die
Pause zwischen beiden Tönen genügend gross, so unterscheidet
man möglicher Weise beide Fälle gar nicht mehr. Analoges
kann man bei der Folge von Farben, oder überhaupt von Em-
pfindungen beliebiger Sinnesgebiete beobachten. Wenn aber einem
Ton A eine Farbe oder ein Geruch B folgt, so weiss man
doch immer, dass B auf A gefolgt ist, wobei die Schätzung der
Pause zwischen A und B auch ganz unwesentlich durch deren
Qualität beeinflusst ist. Es muss also nebenher noch ein Process
stattfinden, der A^on der Variation der Empfindungsqualität nicht
afficirt wird, der von derselben ganz unabhängig ist, und an dem
wir die Zeit schätzen. Man kann ja eine Art Rhythmus aus ganz
heterogenen Empfindungen, Tönen, Farben, Tasteindrücken u. s. w.
herstellen.
2.
Dass es eine besondere specifische Zeitempfindung
giebt, scheint mir hiernach nicht zweifelhaft. Der gleiche Rhyth-
muss der beiden nebenstehenden Tacte von gänzlich verschie-
^l^^^^^i^
den er Tonfolge wird unmittelbar erkannt. Dies ist nicht
Sache des Verstandes oder der Ueberlegung, sondern der Em-
pfindung. So wie sich uns verschieden gefärbte Körper von
gleicher Raumgestalt darstellen können, so finden wir hier
zwei akustisch verschieden gefärbte Tongebilde von gleicher Zeit-
gestalt. So wie wir in dem einen Fall die gleichen Raum-
empfindungsbestandtheile unmittelbar herausfühlen, so bemerken
wir hier die gleichen Zeitempfindungsbestandtheile oder die
Gleichheit des Rhythmus.
Ich behaupte natürlich die unmittelbare Zeitempfindung nur
bezüglich kleiner Zeiten. Längere Zeiten beurtheilen wir und
schätzen wir durch die Erinnerung an die in denselben stattge-
habten Vorgänge, also durch Zerlegung in kleinere Theile, von
welchen wir eine unmittelbare Empfindung hatten.
3-
Wenn ich eine Anzahl akustisch vollkommen gleicher Glocken-
schläge höre, unterscheide ich den ersten, zweiten, dritten u. s. w.
Sind es vielleicht die begleitenden Gedanken oder andere zufällige
Empfindungen, mit welchen die Glockenschläge sich verknüpfen^
die diese Unterscheidungsmerkmale abgeben? Ich glaube nicht,
dass jemand ernstlich diese Ansicht wird aufrecht erhalten wollen.
Wie zweifelhaft und unzuverlässig müsste da unser Zeitmaass
ausfallen. Wohin müsste es gerathen, wenn jener zufällige Ge-
danken- und Empfindungshintergrund aus dem Gedächtniss ver-
schwinden würde?
Während ich über irgend etwas nachdenke, schlägt die Uhr,
die ich nicht beachte. Nachdem sie ausgeschlagen hat, kann es
mich interessiren , die Glockenschläge zu zählen. Und in der
That tauchen in meiner Erinnerung deutlich ein, zwei, drei, vier
Glockenschläge auf, während ich ganz dieser Erinnerung meine
Aufmerksamkeit zuwende, und mir gerade dadurch für den Augen-
blick gänzlich entschwindet, worüber ich während des Schiagens
der Uhr nachgedacht habe. Der vermeintliche Hintergrund, auf
dem ich die Glockenschläge fixiren könnte, fehlt mir nun. Wo-
durch unterscheide ich also den zweiten Schlag vom ersten?
Warum halte ich nicht alle die gleichen Schläge für einen? Weil
jeder mit einer besonderen Zeitempfindung verknüpft ist, die mit
ihm zugleich auftaucht. Ein Erinnerungsbild unterscheide ich von
einer Ausgeburt meiner Phantasie ebenfalls durch eine specifische
Zeitempfindung, welche nicht jene des gegenwärtigen Augen-
blickes ist.
4-
Da die Zeitempfindung immer vorhanden ist, solang'e wir
bei Bewusstsein sind, so ist es wahrscheinlich, dass sie mit der
nothwendig an das Bewusstsein geknüpften organischen Consum-
tion zusammenhängt, dass wir die Arbeit der Aufmerksam-
keit als Zeit empfinden. Bei angestrengter Aufmerksamkeit
— iSg —
wird uns die Zeit lang, bei leichter Beschäftigung kurz. In
stumpfem Zustand, wenn wir unsere Umgebung kaum beachten,
fliegen die Stunden rasch dahin. Wenn unsere Aufmerksamkeit
gänzlich erschöpft ist, schlafen wir. Im traumlosen Schlaf
fehlt auch die Empfindung der Zeit. Der Tag" von gestern ist
mit dem von heute, wenn zwischen beiden ein tiefer Schlaf liegt,
die gleichbleibenden Gemeingefühle abgerechnet, nur durch ein
intellectuelles Band verknüpft.
Auf das wahrscheinlich verschiedene Zeitmaass verschieden
grosser Thiere derselben Art habe ich schon bei früherer Ge-
legenheit hingewiesen ^). Aber auch mit dem Alter scheint sich
das Zeitmaass zu ändern. Wie kurz erscheint mir jetzt der Tag
gegen jenen meiner Jugendzeit. Und wenn ich mich an den
Secundenschlag der astronomischen Uhr erinnere, welche ich in der
Jugend beobachtete, so erscheint mir dieser Secundenschlag jetzt
merklich beschleunigt. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren,
dass meine ph3^siologische Zeiteinheit grösser geworden ist.
Die Ermüdung des Bewusstseinsorgans schreitet, solange
wir wachen, continuirlich fort, und die Arbeit der Aufmerksam-
keit wächst ebenso stetig. Die Empfindungen, welche an eine
grössere Arbeit der Aufmerksamkeit geknüpft sind, erscheinen
uns als 'die späteren.
Normale wie anomale psychische Vorkommnisse scheinen
sich dieser Auffassung wohl zu fügen. Da die Aufmerksamkeit
sich nicht zugleich auf zwei verschiedene Sinnesorgane erstrecken
kann, so können deren Empfindungen nicht mit einer absolut
gleichen Aufmerksamkeitsarbeit zusammentreffen. Die eine er-
scheint also später als die andere. Ein solches Analogon dieser
sogenannten persönlichen Differenz der Astronomen ergibt sich
aber aus dem analogen Grunde auch in einem und demselben
Sinnesgebiet. Es ist bekannt, dass ein optischer Eindruck, der
physisch später entsteht, unter Umständen dennoch früher er-
scheinen kann. Es kommt z. B. vor, dass der Chirurg beim
Aderlassen zuerst das Blut austreten, und dann den Schnepper
i) a. a. O. S. 17.
— igo —
einschlagen sieht i). Dvorak 2) hat in einer Versuchsreihe, die
er vor Jahren auf meinen Wunsch ausgeführt hat, gezeigt, dass
sich dies Verhältniss willkürlich herstellen lässt, indem das mit
Aufmerksamkeit fixirte Object (selbst bei einer wirklichen Ver-
spätung von Ys — Ye Secunde) früher erscheint als das indirect
gesehene. Es ist wohl möglich, dass sich die bekannte Erfahrung
der Chirurgen durch diesen Umstand aufklären lässt. Die Zeit
aber, welche die Aufmerksamkeit benöthigt, um von einem Orte,
an dem sie beschäftigt wird, nach einem andern zu^ übersiedeln,
zeigt sich in folgendem von mir angestellten Versuch ^). Zwei
intensiv rothe Quadrate von 2 cm Seite und
8 cm Abstand auf schwarzem Grunde werden
in völliger Dunkelheit durch einen für das
Auge gedeckten electrischen Funken be-
■ "^ ■ ' leuchtet. Das direct gesehene Quadrat er-
scheint roth, das indirect gesehene grün,
und zwar oft sehr intensiv. Die verspätete Aufmerksamkeit findet
also das direct gesehene Quadrat schon in dem Stadium des Pur-
kinje'schen positiven Nachbildes vor. Auch eine Geissler-
sche Röhre mit zwei etwas von einander entfernten roth leuch-
tenden Theilen zeigt beim Hindurchgehen einer einzelnen Ent-
ladung dieselbe Erscheinung *)•
In Bezug auf die Einzelheiten muss ich auf die Abhandlung
von Dvoi-ak verweisen. Besonders interessant sind Dvoraks^)
Versuche über die stereoscopische (binoculare) Combination un-
gleichzeitiger Eindrücke. Neuere Versuche dieser Art haben
Sandford ^) und Münsterberg'') ang-estellt.
i
grün
roth
•
roth
roth
i) Vergl. Fechner, Psychophysik, Leipzig 1860, Bd. II, S. 433.
2) Dvofäk, Ueber Analoga der persönlichen Differenz zwischen beiden Augen
und den Netzhautstellen desselben Auges. Sitzungsberichte der königl. böhm. Gesell-
schaft der Wissenschaften. (Matth.-naturw. Classe) vom 8. März 1872.
3) Von Dvorak a. a. O. mitgetheilt.
4) Auch Professor G. Heymanns, dem dieser letztere Versuch Anfangs nicht
gelingen wollte, hat sich später von der Richtigkeit der Angabe überzeugt.
5) a. a. O. S. 2.
6) Sandford, Amer. Journ. Psch., 1894, Vol. VI, p. 576.
7) Münsterberg, Psch, Rew., 1894, Vol. I, p. 56.
— 191 —
5-
Wiederholt habe ich ein interessantes hierher gehöriges Phä-
nomen beobachtet. Ich sass in die Arbeit vertieft in meinem
Zimmer, während in einem Nebenzimmer Versuche über Explo-
sionen angestellt wurden. Regelmässig geschah es nun, dass ich
zuerst erschreckt zusammenzuckte, und nachher erst den
Knall hörte.
Da im Traum die Aufmerksamkeit besonders träge ist, so
kommen in diesem P'all die sonderbarsten Anachronismen vor,
und jeder hat wohl solche Träume erlebt. Wir träumen z. B. von
einem Mann, der auf uns losstürzt und schiesst, erwachen plötz-
lich, und bemerken den Gegenstand, der durch seinen Fall den
ganzen Traum erzeugt hat. Es hat nun nichts Widersinniges an-
zunehmen, dass der akustische Reiz verschiedene Nervenbahnen
zugleich einschlägt, und hier in beliebiger verkehrter Ordnung
von der Aufmerksamkeit angetroffen wird, so wie ich bei der
obigen Beobachtung zu erst die allg-emeine Erregung-, und dann
den Explosionsknall bemerkte. Freilich wird es in manchen
Fällen zur Erklärung auch ausreichen, ein Verweben einer
Sinnesempfindung- in ein vorher schon vorhandenes Traumbild
anzunehmen.
6.
Würde die Consumtion oder etwa die Anhäufung eines Er-
müdungsstoffes unmittelbar empfunden, so müsste man ein
Rückwärtsgehen der Zeit im Traum erwarten. — Die vSonderbar-
keiten des Traumes lassen sich fast alle darauf zurückführen, dass
manche Empfindungen und Vorstellungen gar nicht, andere zu
schwer und zu spät ins Bewusstsein treten. Trägheit der Asso-
ciation ist ein Grundzug des Traumes. — Der Intellect schläft
oft nur theilweise. Man spricht im Traume sehr vernünftig mit
längst verstorbenen Personen, erinnert sich aber nicht ihres Todes.
Ich spreche zu einem Freunde von einer dritten Person, und
dieser Freund ist selbst die Person, von der ich sprach. Man
reflectirt im Traume über den Traum, erkennt ihn als Traum an
den Sonderbarkeiten, ist aber gleich wieder über dieselben be-
— I g 2 —
ruhigt. — Mir träumte sehr lebhaft von einer Mühle. Das Wasser
floss in einem geneigten Canal von der Mühle herab und hart
daneben in einem eben solchen Canal zur Mühle hinauf. Ich
war dadurch gar nicht beunruhigt. — Als ich viel mit Raum-
fragen beschäftigt war, träumte mir von einem Spazierg-ang im
Walde. Plötzlich bemerkte ich die mangelhafte perspectivische
Verschiebung" der Bäume, und erkannte daran den Traum. Sofort
traten aber auch die vermissten Verschiebungen ein. — Im Traum
sah ich in ineinem Laboratorium ein mit Wasser gefülltes Becher-
glas, in dem ruhig ein Kerzenlicht brannte. „Woher bezieht das
den Sauerstoff?" dachte ich. „Der ist im Wasser absorbirt."
„Wo kommen die Verbrennungsg"ase hin ?" Nun stiegen Blasen von
der Flamme im Wasser auf, und ich war beruhigt. — W. Robert i)
macht die vortreffliche Beobachtung, dass es hauptsächlich Wahr-
nehmungen und Gedanken sind, die man wegen einer Störung"
bei Tage nicht zu Ende führen konnte, welche im Traume sich
fortspinnen. In der That findet man häufig die Traumelemente
in den Erlebnissen des vorausgehenden Tages. So konnte ich
den Traum von dem Licht im Wasser fast mit Sicherheit auf
einen Vorlesungsversuch mit dem electrischen Kohlenlicht unter
Wasser, jenen von der Mühle, auf die Versuche mit dem Apparat
Fig. i8, S. 113 zurückführen'"). In meinen Träumen spielen
Gesichtshallucinationen die Hauptrolle. Seltener habe ich aku-
stische Träume. Ich höre jedoch deutlich Unterredungen im
Traume, Glockengeläute und Musik 3). Jeder Sinn, selbst der
Geschmacksinn, macht sich, wenn auch seltener, im Traume
geltend. Da im Traume die Reflexerregbarkeit sehr gesteigert, das
Gewissen aber wegen der träg'en Association sehr geschwächt
ist, so ist der Träumende fast eines jeden Verbrechens fähig, und
kann im Stadium des Erwachens die ärgsten Qualen durchkosten.
Wer solche Erlebnisse auf sich wirken lässt, wird sehr zweifeln,
1) Ueber den Traum, Hamburg 1886.
2) Principien der Wärmelehre, 2. Aufl., 1900, S. 444.
3) Wallasehek, das musikalische Gedächüiiss. Vierteljahrschr. f. Musik-
wissensch. 1882, S. 204.
- 193 —
dass die Methode unserer Gerechtigkeit die richtige ist, ein Un-
glück durch ein zweites gut zu machen, welches in empörend
besonnener, grausamer und feierlicher Weise hinzugefügt wird. —
Ich möchte die Gelegenheit nicht vorbei gehn lassen, dem Leser
das vortreffliche Buch von M. de Manaceine zu empfehlen^).
Was über das Unzureichende der temporären Associationen zur
Erklärung des psychischen Lebens S. 151, 180, 181 gesagt wurde,
gilt auch für den Traum. Es kommt noch hinzu, dass im Traum
die leisesten Spuren des für das wache Bewusstsein längst Ver-
gessenen, die geringsten Störungen der Gesundheit und des Ge-
müthslebens, welche vor dem Lärm des Tages in den Hinter-
grund treten mussten, sich geltend machen können. Du Prel
vergleicht in seiner „Philosophie der Mystik" (1885, S. V, 123)
diesen Vorgang poetisch und wahr zugleich mit dem Sichtbar-
barwerden des schwach leuchtenden Sternenhimmels nach Unter-
gang der Sonne. Das genannte Buch enthält überhaupt manche
bemerkenswerthe und tiefe Blicke. Gerade der Naturforscher,
dessen kritischer Sinn auf das zunächst Erforschbare gerichtet
ist, liest dasselbe mit Vergnügen und Gewinn, ohne sich durch
die Neigung des Verfassers für das Abenteuerliche, Wunderbare
und Ausserordentliche beirren zu lassen.
7-
Wenn die Zeitempfindung an die wachsende organische
Consumtion oder an die ebenfalls stetig wachsende Arbeit der
Aufmerksamkeit gebunden ist, so wird es verständlich, warum
die physiologische Zeit ebenso wie die physikalische Zeit nicht
umkehrbar ist, sondern nur in einem Sinne abläuft. Die Con-
sumtion und Aufmerksamkeitsarbeit kann, solange wir wachen,
nur wachsen und nicht abnehmen.
3
ß ß p
LU
ß ß m ß o -^^^ beiden nebenstehenden Takte, wel-
' ' che für das Auge und den Verstand
eine Symmetrie darbieten, zeigen nichts
I) Sleep, ist Physiology etc. London 1897.
Mach, Analyse, 3. Aufl. 13
Derartiges in Bezug auf die Zeitempfindung. Im Gebiete des
Rhythmus und der Zeit überhaupt gibt es keine Symmetrie.
Es möchte wohl eine nahehegende und natürliche, wenn
auch noch unvollkommene Vorstellung sein, sich das ,,Bewusst-
seinsorgan" in g'eringem Grade aller specifischen Energien fähig
zu denken, von welchen jedes Sinnesorg-an nur einige aufzu-
weisen vermag. Daher das Schattenhafte und Vergängliche der
Vorstellung gegenüber der Sinnesempfindung, durch welche letz-
tere die erstere stets genährt und aufgefrischt werden muss. Da-
her die Fähigkeit des Bewusstseinsorgans als Verbindungs-
brücke zwischen allen Empfindungen und Erinnerungen zu
dienen. Mit jeder specifischen Energie des Bewusstseinsorgans
hätten wir uns noch eine besondere Energie, die Zeitempfin-
dung, verbunden zu denken, so dass keine der ersteren ohne die
letztere erregt werden kann. Sollte es scheinen, dass diese letztere
physiologisch müssig und nur ad hoc erdacht sei, so könnte man
ihr sofort eine wichtige physiologische Function zuweisen. Wie
wäre es, wenn diese Energie den die arbeitenden Hirntheile
nährenden Blutstrom unterhalten, an seinen Bestimmungsort
leiten und reguliren würde? Unsere Vorstellung- von der Auf-
merksamkeit und der Zeitempfindung würde dadurch eine sehr
materielle Basis erhalten. Es würde verständHch, dass es nur
eine zusammenhängende Zeit gibt, da die Theilaufmerksamkeit
auf einen Sinn immer nur aus der Gesammtaufmerksamkeit fliesst,
und durch diese bedingt ist.
Die plethysmographischen Arbeiten von Mosso, sowie
dessen Beobachtungen über den Blutkreislauf im Gehirn ^), legen
eine solche Auffassung nahe. James-) äussert sich über die hier
ausgesprochene Vermuthung vorsichtig zustimmend. Eine be-
i) Mosso, Kreislauf des Blutes im Gehirn, Leipzig 1881. — Vergl. auch:
Kornfeld, Ueber die Beziehung von Athmung und Kreislauf zur geistigen Arbeit,
Brunn 1869.
2) James, Psychology I, 635.
— 195 —
stimmtere ausgef ührtere Form derselben, die James als wünschens-
werth bezeichnet, könnte ich leider nicht angeben.
9-
Wenn wir eine Anzahl gleicher Glockenschläge beobachten,
so können wir, solange sie in geringer Anzahl gegeben sind, jeden
einzelnen von den andern in der Erinnerung unterscheiden, und
können in der Erinnerung nachzählen. Bei einer grössern Zahl
von Glockenschlägen aber unterscheiden wir zwar die letzten
von einander, doch nicht mehr die ersten. Wollen wir in diesem
Fall keinem Irrthum unterliegen, so müssen wir gleich beim Er-
klingen derselben zählen, d. h. jeden vSchlag willkürHch mit
einem Ordnungszeichen verknüpfen. Die Erscheinmig ist ganz
analog derjenigen, welche wir im Gebiet des Raumsinns beobachten,
und wird auch nach demselben Princip zu erklären sein. Wenn
wir vorwärts schreiten, haben wir zwar die Empfindung, dass wir
uns von einem Ausgangspunkt entfernen, allein das physio-
logische Maass dieser Entfernung geht nicht proportional
dem geometrischen. So schrumpft auch die abgelaufene physio-
logische Zeit perspectivisch zusammen, und ihre einzelnen Elemente
werden weniger unterscheidbar i).
IG.
Wenn eine besondere Zeitempfindung existirt, so ist es selbst-
verständlich, dass die Identität zweier Rhythmen unmittelbar er-
kannt wird. Wir dürfen aber nicht unbemerkt lassen, dass der-
selbe physikalische Rhythmus physiologisch sehr verschieden
erscheinen kann, ebenso wie derselben physikalischen Raum gestalt
je nach deren Lage verschiedene physiologische Raumformen ent-
sprechen können. Der durch nebenstehende Noten veranschau-
iir nricj' nriCj'lrin
i) Vgl. S. 107.
13^
— 196 —
lichte Rythmus erscheint z. B. ganz verschieden, je nachdem
man die kurzen dicken, oder die langen dünnen, oder die punk-
tierten Verticalstriche als Tactstriche ansieht. Es hängt dies augen-
scheinlich damit zusammen, dass die Aufmerksamkeit (durch die
Betonung geleitet) bei i, 2 oder 3 einsetzt, d. h. dass die den
aufeinanderfolgenden Schlägen entsprechenden Zeitempfindungen
mit verschiedenen Anfangsempfindungen verglichen werden.
Bei Verlängerung oder Verkürzung aller Zeiten eines Rhythmus
entsteht ein ähnlicher Rhythmus. Als solcher empfunden
kann derselbe nur werden, wenn die Verlängerung oder Ver-
kürzung nicht über ein gewisses Maass hinausgeht, das eben der
unmittelbaren Zeitempfindung g-esteckt ist.
Der im Folgenden dargestellte Rhythmus erscheint dem
vorigen physiologisch ähnlich, aber nur dann, wenn in beiden
die gleichbezeichneten Tactstriche anerkannt werden, wenn also
die Aufmerksamkeit in homologen Zeitpunkten einsetzt. Zwei
P 9
ß \ fi , ff » \ ß ] ß , ß ß
physikalische Zeitgebilde können als ähnlich bezeichnet
werden, wenn alle Theile des einen in demselben Verhältniss
zu einander stehen, wie die homologen Theile des andern. Die
physiologische Aehnlichkeit tritt aber erst hervor, wenn auch
die obige Bedingung erfüllt ist. So viel ich übrigens zu beur-
theilen vermag, erkennt man die Zeitverhältnisse zweier
Rhythmen nur dann als gleich, wenn dieselben durch sehr
kleine ganze Zahlen dargestellt sind. Eigentlich bemerkt man
also unmittelbar nur die Gleichheit oder Ung-leichheit zweier
Zeiten, und erkennt das Verhältniss im letzteren Fall nur da-
durch, dass ein Theil in dem andern einfach aufgeht. Hierdurch
erklärt es sich, warum man beim Tactgeben die Zeit in lauter
durchaus gleiche Theile theilt i).
l) Die Aehnlichkeit der Rauingestalten würde hiernach viel unmittelbarer em-
pfunden als die Aehnliciilceit der Rhythmen.
— 197 —
Es wird hiermit die Vermuthung nahe gelegt, dass die Em-
pfindung der Zeit mit periodisch oder rhythmisch sich wieder-
holenden Processen in nahem Zusammhange steht. Es wird sich
aber kaum nachweisen lassen, wie es gelegentlich versucht worden
ist, dass sich das allgemeine Zeitmaass auf die Athmung oder
den Puls gründet.
Auch Herr Dr. R. Wlassak hat mir bei Gelegenheit eines
Gespräches eine Bemerkung mitgetheilt, die ich mit seinen eigenen
Worten wiedergeben will:
„Mit der Hypothese, dass die Zeitempfindung von der orga-
nischen Consumtion abhängig ist, steht es in Einklang, dass die
Zeitwerthe überall da zu starker Abhebung gelangen, wo die
Empfindungen mit lebhafter Gefühlsbetonung verbunden sind.
Dies gilt sow^ohl für mit stark lustvollen wie auch mit unlust-
vollen Empfindungen ausgefüllte Zeitstrecken. Dagegen sind die
in den Indifferenzwerthen der Gefühlsbetonung sich bewegenden
Empfindungen mit relativ undeutlichen Zeitempfindungen ver-
knüpft. Diese Thatsachen weisen darauf hin, dass der den Zeit-
empfindungen und den Gefühlen zugehörige nervöse Vorgang
gewisse Analogien darbietet.
In der That bringen alle Versuche einer physiologischen
Theorie der Gefühle diese in Beziehung zur Consumtion, z. B.
Meynert's und auch Avenarius' Theorie der Gefühle."
XIII. Die Tonempfindungen ^)
Auch in Bezug auf die Tonempfindungen müssen wir uns
vorzugsweise auf die psychologische Analyse beschränken.
Es kann hier ebenfalls nur der Anfang einer Untersuchung ge-
boten werden.
Zu den für uns wichtigsten Tonempfindungen gehören
diejenigen, welche durch das menschliche Stimm organ als
Aeusserungen von Lust und Schmerz, zur sprachlichen Mittheilung
von Gedanken, als Ausdruck des Willens u. s. w. erregt werden.
Das Stimmorgan und das Gehörorgan befinden sich auch zweifellos
in enger Beziehung. In einfachster und deutlichster Weise
enthüllen die Tonempfindungen ihre merkwürdigen Eigenschaften
in der Musik. Wille, Gefühl, Lautäusserung und Laut-
empfindung stehen gewiss in einem starken physiologischen
Zusammenhang. Es wird auch ein guter Theil Wahrheit darin
stecken, wenn Schopenhauer 2) sagt, dass die Musik den Willen
darstelle, wenn die Musik als eine Sprache des Gefühls bezeichnet
wird u. s. w., doch kaum die ganze Wahrheit.
i) Den hier dargelegten Standpunkt habe ich (von der Detailausführung abge-
sehen) schon vor 35 Jahren eingenommen. (Stumpf (Tonpsychologie, Leipzig 1883;
Bd. 1), dem ich für die vielfache Berücksichtigung meiner Arbeiten hier danken muss,
bringt manche mir sehr sympathische Einzelheiten. Seine S. 119 ausgesprochene An-
sicht schien mir aber mit meinem Forschungsprincip des Parallelismus unvereinbar.
Seine gegen Lipps gerichtete Bemerkiing jedoch (Beiträge zur Akustik, Bd. I, S. 47,
Fussnote) steht meiner Auffassung wieder näher. — Vergi. meine Note: ,,Zur Analyse
der Tonempfindungen", Sitzungsber. d. Wiener Akademie, Bd. 92, IL Abth., S. 1282
(1895).
2) Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung.
— 199 —
2.
H. Bergi) hat, um es kurz zu sagen, nach dem Vorgange
Darwin 's versucht, die Musik aus dem Brunstgeheul der Affen
herzuleiten. Man müsste verblendet sein, wenn man das Verdienst-
volle und Aufklärende der Ausführungen Darwin's und Berg's
verkennen wollte. Auch heute noch kann die Musik sexuelle
Saiten berühren, auch heute noch wird sie zur Liebeswerbung
thatsächlich benützt. Auf die Frage aber, worin das Angenehme
der Musik liegt, gibt Berg keine befriedigende Antwort. Und
da er musikalisch auf dem Helmholtz 'sehen Standpunkt der
Vermeidung der vSchwebungen steht, und annimmt, dass die am
wenigsten unangenehm heulenden Männchen den Vorzug er-
hielten, so darf man sich vielleicht wundern, warum die klügsten
dieser Thiere nicht lieber ganz schwiegen.
Wenn die Beziehung irgend einer biologischen Erscheinung
zur Arterhaltung aufgedeckt, und dieselbe phylogenetisch her-
geleitet wird, so ist damit viel gethan. Keineswegs darf man
aber glauben, dass auch schon alle diese Erscheinung betreffenden
Probleme gelöst seien. Niema,nd wird wohl das Angenehme der
specifischen Wollustempfindung dadurch erklären wollen, dass er
deren Zusammenhang mit der Arterhaltung nachweist. Viel eher
wird man zugeben, dass die Art erhalten wird, weil die Wollust-
empfindung angenehm ist. Mag die Musik immerhin unsern
Organismus an die Liebeswerbungen der Urahnen erinnern,
wenn sie zur Werbung benützt wurde, musste sie schon positiv
Angenehmes enthalten, welches gegenwärtig allerdings durch jene
Erinnerung verstärkt werden kann. Wenn der Geruch einer
verlöschenden Oellampe mich fast jedesmal in angenehmer Weise
an die Laterna magica erinnert, die ich als Kind bewunderte, so
ist dies ein ähnlicher Fall aus dem individuellen Leben. Doch
riecht darum die Lampe an sich nicht weniger abscheulich. Und
wer durch Rosenduft an ein angenehmes Erlebniss erinnert wird,
i) H. Berg, Die Lust an der Musik. Berlin 1879
— 200 —
glaubt darum nicht, dass der Rosenduft nicht schon vorher an-
genehm gewesen sei. Derselbe hat durch die Association nur
gewonnen^). Kann nun die erwähnte Auffassung schon das
Angenehme der Musik überhaupt nicht genügend erklären, so
vermag sie zur Beantwortung von Specialfragen, wie z. B., warum
in einem gegebenen Fall eine Quarte einer Quinte vorgezogen
wird, wohl noch weniger beizutragen.
3-
Man würde überhaupt die Tonempfindungen etwas einseitig
beurtheilen, wenn man nur das Gebiet der Sprache und Musik
berücksichtigen wollte. Die Tonempfindungen vermitteln nicht
allein die Mittheilung, die Aeusserung von Lust und Schmerz,
die Unterscheidung der Stimmen von Männern, Frauen, Kindern.
Sie bieten nicht allein Merkzeichen der Anstrengung, der Leiden-
schaft des Sprechenden oder Rufenden. Wir unterscheiden durch
dieselben auch grosse und kleine schallende Körper, die Tritte
grosser und kleiner Thiere. Gerade die höchsten Töne, welche
das Stimmorgan des Menschen nicht selbst erzeugt, sind für die
Beurtheilung der Richtung, aus welcher der Schall kommt, muth-
masslich sehr wichtig-). Ja diese letzteren Functionen der Ton-
empfindungen sind wahrscheinlich in der Thierwelt älter als die-
jenigen, welche erst im geselligen Leben der Thiere eine Rolle
spielen. Wie man sich durch Neigung eines Cartonblattes vor
dem Ohr überzeugen kann, werden nur jene Geräusche, welche
sehr hohe Töne enthalten, das Sausen und Zischen einer Gas-
flamme, eines Dampfkessels oder Wasserfalles, je nach der Lage
des Cartonblattes durch Reflexion modificirt, während tiefe Töne
ganz unbeeinflusst bleiben. Die beiden Ohrmuscheln können also
i) Auf die Bedeutung der Association für die Aesthetik hat namentlich
Fechner hingewiesen.
2) Mach, Bemerkungen über die Function der Ohrmuschel (Tröltsch's Archiv
für Ohrenheilkunde, N. F. Bd. 3, S. 72). — Vergl. auch Mach und Fischer, Die
Reflexion und Brechung des Schalles. Pogg. Ann., Bd. 149, S. 321. — A. Stein-
hauser, Theorie des binaurealen Hörens, Wien 1877.
\
20I
nur durch ihre Wirkung auf hohe Töne als Richtungszeiger ver-
wendet werden 1).
4-
Den wesentlichen Fortschritt in Bezug auf die Analyse der
Gehörsempfindungen, welcher durch Helmholtz2)in Fortführung
der gewichtigen Vorarbeiten 3) vonSauveur.Rameau, R.Smith,
Young, Ohm u.a. bewirkt worden ist, wird jedermann freudig
anerkennen. Wir erkennen mit Helmholtz das Geräusch
als eine Combination von Tönen, deren Zahl, Höhe und Inten-
sität mit der Zeit variirt. In dem Klange hören wir mit dem
Grundton n im Allgemeinen noch die Obertöne oder Partialtöne
271, 3^2, /\n u. s. w., deren jeder einfachen pendeiförmigen
Schwingungen entspricht. Werden zwei Klänge, deren Grund-
tönen die Schwingungszahlen n und m entsprechen, melodisch
und harmonisch verbunden, so kann bei bestimmten Ver-
hältnissen*) von n und m theilweise Coincidenz der Partialtöne
eintreten, wodurch im ersteren Falle die Verwandtschaft
der Klänge bemerklich, im zweiten Falle eine Verminderung
der Schwebungen herbeigeführt wird. Alles dies wird nicht zu
bestreiten sein , wenn es auch nicht als erschöpfend aner-
kannt wird.
Ebenso zustimmend kann man sich gegenüber Helmholtz'
physiologischer Theorie des Hörens verhalten. Durch die
Beobachtungen, welche sich beim Zusammenklang einfacher Töne
ergeben, wird es äusserst wahrscheinlich, dass der Reihe der
i) Ich hatte Gelegenheit zu beobachten, wie zahme Hamster, welche gegen
tiefe und laute Geräusche ganz unempfindlich waren, jedesmal plötzlich erschreckt und
ungestüm in ihr Versteck fuhren, sobald man durch Reiben von Stroh oder Zer-
knittern von Papier ein hohes Geräusch hervorbrachte. Auch einige Monate alte
Kinder sind für solche Geräusche sehr empfindlich.
2) Helmholtz, Die Lehre von den Tonempfindungen, i. Aufl., Braun-
schweig 1863.
3) Vergl. „zur Geschichte der Akustik" in „Populärwissenschaftliche Vor-
lesungen" S. 48.
4) Der ^te Partialton von n fällt mit dem ^te von m zusammen, wenn, p n
^= q m, also m = — 7t it. Hierbei sind p, q ganze Zahlen.
202
Schwingungszahlen eine Reihe von Nervenendorganen entspricht,
so dass für die verschiedenen Schwingung'szahlen verschiedene End-
organe vorhanden sind, von welchen jedes nur auf einige wenige
einander nahehegende Schwingungszahlen anspricht, Helm-
holtz' ph 3^ si kaiische Vorstellungen über die Function des
Labyrinths haben sich dagegen als nicht haltbar erwiesen, worauf
wir noch zurückkommen.
.5-
Nach einem besonderen Gehörorgan für Geräusche zu suchen,
scheint für jeden, der mit Helmholtz annimmt, dass alle Ge-
räusche sich in länger oder kürzer anhaltende Tonempfindungen
auflösen lassen, vorläufig' überflüssig. Von dieser Inconsequenz
ist Helmholtz auch bald wieder zurückgekommen. Mit der
Frage nach der Beziehung des Geräusches (insbesondere des
Knalles) zum Ton habe ich mich vor langer Zeit (Winter 1872/73)
beschäftigt und gefunden, dass sich alle Uebergänge zwischen
beiden aufweisen lassen. Ein Ton von 128 ganzen Schwingungen,
den man durch den kleinen Ausschnitt einer grossen langsam
rotirenden Scheibe hört, schrumpft zu einem kurzen trockenen
Schlag (oder schwachen Knall) von sehr undeutlicher Tonhöhe
zusammen, wenn seine Dauer auf 2—3 Schwingungen reducirt
wird, während bei 4 — 5 Schwingung-en die Höhe noch ganz deutlich
ist. Andererseits bemerkt man an einem Knall, selbst wenn der-
selbe von einer aperiodischen Luftbewegung herrührt (Funkenwelle,
explodirende Knallgasblase), bei genügender Aufmerksamkeit eine
Tonhöhe, wenngleich keine sehr bestimmte. Man überzeugt sich
auch leicht, dass an einem von der Dämpfung befreiten Ciavier
durch grosse explodirende Knallgasblasen vorzugsweise die
tiefen, durch kleine die hohen Saiten zum Mitschwing-en er-
regt werden. Flierdurch scheint es mir nachgewiesen, dass das-
selbe Organ die Ton- und die Geräuschempfindung vermitteln
kann. Man wird sich vorzustellen haben, dass eine schwächere,
kurz dauernde aperiodische Luftbewegung alle, aber vorzugs-
weise die kleinen leichter erregbaren, eine stärkere länger an-
— 203 —
haltende auch die grösseren trägeren Endorgane erregt, welche
dann bei ihrer gering^eren Dämpfung, länger ausschwingend, sich
bemerklich machen, und dass selbst bei verhältnissmässig schwachen
periodischen Luftbewegungen durch Häufung der Effecte an
einem bestimmten Gliede der Reihe der Endorgane die Reizung
hervortritt 1). Qualitativ ist die Empfindung, welche ein tiefer
oder hoher Knall erregt, dieselbe, nur intensiver und von kürzerer
Dauer, als diejenige, welche das Niederdrücken einer grossen Anzahl
benachbarter Ciaviertasten in tiefer oder hoher Eage erregt. Auch
fallen bei der einmaligen Reizung durch Knall die an die
periodische intermittirende Reizung gebundenen Schwebungen weg.
6.
Helmholtz' Arbeit, welche bei ihrem Auftreten zunächst
allgemeiner Bewunderung begegnete, erfuhr in späteren Jahren
vielfache kritische Angriffe, und es scheint fast, als ob die an-
fängliche Ueberschätzung dem Gegentheil gewichen wäre. Phy-
siker, Physiologen und Psychologen hatten ja durch beinahe vier
Decennien Zeit, die drei Seiten, welche diese Theorie darbietet,
zu mustern, und es wäre wohl ein Wunder gewesen, wenn sie die
schwachen Stellen nicht erspäht hätten. Ohne auf Vollständigkeit
Anspruch zu machen, wollen wir nun die hauptsächlichsten kritischen
Bedenken in Augenschein nehmen, zunächst die von physikalischer
und physiologischer Seite vorgebrachten unter einem, dann jene
der Psychologen.
Helmholtz hat, von psychologischen und physikalischen
Gesichtspunkten geleitet, angenommen, dass das innere Ohr aus
einem System von Resonatoren besteht, welches die Glieder der
Fourier'schen Reihe, die der dargebotenen Schwingungsform
i) Ueber einen Theil meiner Versuche, die an Dvorak' s Experimente über
Nachbilder von Reizändermigen (1870) anknüpften, habe ich berichtet, in ,,Lotos",
Augustnummer 1873. Die Versuche, betreffend die Erregung der Ciaviertöne durch
Explosionen, habe ich überhaupt noch nirgends erwähnt. Es wird vielleicht nicht un-
nütz sein, wenn es hier geschieht. — Dieselben Fragen haben später Pfaundler,
S. Exner, Auerbach, Brücke, W. Kohlrausch, Abraham und Brühl u. A.
und zwar von verschiedenen Gesichtspunkten aus, ausführlich behandelt.
204 —
entspricht, als Theiltöne heraushört. Nach dieser Auffassung kann
auch das Phasenverhältniss der Theilschwingungen auf die Em-
pfindung keinen Einfluss üben. Dem entgegen versuchte der
hochverdiente Akustiker König i) nachzuweisen, dass durch die
blosse Phasenverschiebung der pendeiförmigen Theilschwingungen
der sinnliche Eindruck (die Klangfarbe) geändert werde. Aber
L. Hermann 2) konnte zeigen, dass bei Umkehrung des Be-
wegungssinnes am Phonographen keine Aenderung der Klang-
farbe sich ergibt. Nach Hermann erzeugen auch die einzelnen
sinusförmigen Streifen der König 'sehen Wellensirene keine ein-
fachen Töne, und König's Schlüsse gründeten sich also auf eine
nicht zutreffende Voraussetzung 3). Diese Schwierigkeit kann dem-
nach als beseitigt gelten.
Nicht so leicht sind die Erscheinungen der Combinationstöne
vom Helmholtz'schen Standpunkt aufzuklären. Young nahm
an, dass genügend rasche Schwebungen selbst als Töne hörbar,
d. h. zu Combinationstönen werden. Da aber kein Resonator
durch Schwebungen erregt werden kann, auf deren Tempo er
gestimmt ist, sondern nur durch Töne, so könnten solche Com-
binationstöne nach der Resonanztheorie nicht hörbar sein. Helm-
holtz setzte also voraus, dass Combinationstöne entweder ob-
jectiv durch kräftige Töne vermöge der Abweichung von der
Linearität der Bewegungsgleichungen, oder subjectiv durch
asymmetrische oder nichtlineare Schwingungsbedingungen der
resonirenden Theile des inneren Ohres zu erklären sein. Nun
i) R. König, Quelques experiences de acoustique. Paris 1882.
2) L. Hermann, Zur Lehre von der Klangwahrnehmung. Pflüger's Archiv,
Bd. 56 (1894), S. 467.
3) Ich habe schon 1867 Versuche angestellt mit einer eigenthümlichen Sirene,
welche einem der König' sehen Apparate sehr ähnlich war. Die Mantelringe eines
Cylinders trugen paarweise gleiche gegen einander verschiebbare sinusförmige Aus-
schnitte, so dass man Intensität und Phase des betreffenden Theiltones beliebig ändern
konnte. Es zeigte sich jedoch bei diesen Versuchen, dass die sinusförmigen Ausschnitte
keine einfachen Töne gaben, wenn durch eine der Sinusordinate parallele Spalte gegen
dieselben geblasen wurde. Da mein Apparat noch ziemlich unvollkommen war und
seinem Zweck einen Klang aus Theiltönen von beliebiger Intensität und Phase zu-
sammensetzen nach dem obigen nicht entsprach, so habe ich nichts über diese Ver-
suche publicirt.
— 205 —
konnte König ^) die Existenz von objectiven Compinationstönen
nicht nachweisen, fand dageg-en auch zwischen weit abstehenden
Tönen Schwächungen , welche jedesmal bei genügend ra.scher
Folge als besondere Töne hörbar wurden. Hermann 2) vernahm
Combinationstöne bei so schwachen zusammenwirkenden Tönen,
dass erstere nach der Helmholtz'schen Theorie sowohl objectiv
als subjectiv ganz un erklärbar scheinen. Deshalb reagirt
auch nach Hermann's Ansicht, der sich hierin der König'schen
anschliesst, das Ohr nicht nur auf sinusförmige Schwingungen,
sondern auf jede Art von Periodicität mit einer durch die
Dauer der Periode bestimmten Empfindung.
Die physikalische Resonanztheorie scheint, wenigstens in
der unsprün glichen Form, nicht haltbar; Hermann glaubt^) sie
aber durch eine physiologische Resonanztheorie ersetzen zu
können. Auf diese, sowie auf die neue physikalische Hör-
theorie von Ewald kommen wir noch zurück.
Wir besprechen nun die Einwendungen, welche vorzugs-
weise von psychologischen Gesichtspunkten ausgehn. Ziemlich
allgemein hat man das positive Moment bei Erklärung der
Consonanz vermisst, indem man sich mit dem blossen Mangel
an Schwebungen als zureichendem Merkmal der Harmonie
i) König, a. a. O. Schon nach König's Beschreibung, der sehr starke
Stimmgabeltöne verwendete, musste ich vermuthen, dass bei den von ihm beobachteten
Schwebungen vielfach die Obertöne ins Spiel kamen. Die Mitwirkung solcher Ober-
töne hat nun Stumpf wirklich nachgewiesen (Wiedemann's Annalen, N. F. Bd. 57,
S. 660). Von dieser Seite ist also die Helmholtz'sche Theorie sicher. Allein be-
denklich ist es, dass objective Combinationstöne nicht existiren (König, Hermann)
und, dass die subjectiven unter Umständen entstehen, v/elche mit der Helmholt z-
schen Theorie nicht vereinbar sind (Hermann). Vgl. auch M. Meyer, Zur Theorie
der Differenztöne und der Gehörsempfindungen überhaupt. (Zeitschr. f. Pychologie,
Bd. 16, S. i),
2) Hermann, Zur Theorie der Combinationstöne. Pflüger's Archiv, Bd. 49
(1891), S. 499.
3) Hermann, Pflüger's Archiv, Bd. 56, S. 493.
— 2o6 —
nicht zufrieden geben wollte. Auch A. v. Oettingen ^) vermisst
die Angabe des für jedes Intervall characteristischen positiven
Elementes (S. 30), und will den Werth eines Intervalles nicht
von der physikalischen Zufälligkeit des Gehaltes der Klänge an
Obertönen abhänig machen. Er glaubt das positive Element in
der Erinnerung (S. 40, 47) an den gemeinsamen Grundton
(die Tonica) zu finden, als dessen Partialtöne die Klänge des
Intervalles oft aufgetreten sind, oder in der Erinnerung an den
gemeinsamen Ob er ton (die Phonica), welcher beiden zukommt.
In Bezug auf den negativen Theil der Kritik muss ich v. Oettingen
vollkommen beistimmen. Die „Erinnerung" deckt aber das
Bedürfniss der Theorie nicht, denn Consonanz und Dissonanz
sind nicht Sache der Vorstellung, sondern der Empfindung.
Physiologisch halte ich also v. Oettingen's Auffassung für nicht
zutreffend. In v. Oettingen's Aufstellung des Principes der
Dualität aber (der tonischen und phonischen Verwandtschaft der
Klänge), sowie in seiner Auffassung der Dissonanz als eines
mehrdeutigen Klanges (S, 244) scheinen mir werthvolle posi-
tive Leistungen zu liegen -).
8.
Sehr eingehend hat Stumpf in verschiedenen Schriften die
Helmholtz'sche Lehre kritisirt ^). Er beanstandet zunächst die
zwei verschiedenen Definitionen, durch Wegfall der Schwe-
bungen und durch Coincidenz der Partialtöne, die Helmholtz
i) A. V. Oettingen, Harmoniesystem in dualer Entwicklung. Dorpat 1866.
2) Eine populäre Darstellung des Princips der Dualität, welches schon Euler
(Tentamen novae theoriae musicae p. 103), D' Alembert (Elements de musique.
Lyon 1766) und Hauptmann (Die Natur der Harmonik und Metrik, Leipzig 1853,
geahnt haben, findet sich in meiner kleinen Schrift: Die Gestalten der Flüssigkeit.
Die Symmetrie, Prag 1872 (Popul. wissensch. Vorles. S. 100). — An eine voll-
werthige Symmetrie wie im Gebiete des Gesichtsinnes darf natürlich im Gebiete der
Musik, da die Tonempfindungen selbst kein symmetrisches System bilden, nicht gedacht
werden.
3) Wir halten uns hier vor allem an Stumpf, Beiträge zur Akustik und
Musikwissenschaft, Heft I, Leipzig 1898.
207 —
von der Consonanz gibt. Die erstere sei bei melodischer Folge,
die letztere bei harmonischer Verbindung nicht anwendbar und
nicht characteristisch. Ein nach Art der Schwebungen inter-
mittirender reiner Dreiklang ist keine Dissonanz. Anderseits
lassen sich Beispiele von Zusammenklang weit abliegender Töne
geben, bei welchen die vSchwebungen unmerklich werden, und
die dennoch stark dissoniren. Vertheilt man zwei Stimmgabeltöne
auf beide Ohren, so treten die Schwebungen jedenfalls sehr zurück,
ohne dass der Unterschied zwischen Consonanz und Dissonanz
geringer würde. Auch subjectiv gehörte Töne, etwa des Ohren-
klingens, kann man als Dissonanzen empfinden, ohne natürlich
Schwebungen zu hören. Endlich erweisen sich blos vorgestellte
Töne als consonant oder dissonant, ohne dass hierbei die Vor-
stellung der Schwebungen eine wesentliche Rolle spielen würde.
Die Coincidenz der Partialtöne endlich fällt weg, wo keine Ober-
töne vorhanden sind, ohne dass deshalb der Unterschied zwischen
Dissonanz und Consonanz verschwinden würde. Von den Aus-
führungen Stumpfs gegen die Erklärung der Consonanz durch
unbewusstes Zählen, welche wohl nur mehr wenige Anhänger fin-
den wird, wollen wir absehen. Ebenso wird man gern zugeben,
dass die Annehmlichkeit keine hinreichend characteristische Eig'en-
schaft der Consonanz ist. Dieselbe kann unter Umständen eben-
sowohl der Dissonanz zukommen.
Stumpf selbst findet das Characteristische der Consonanz
darin, dass sich der Zusammenklang zweier Töne bald mehr bald
weniger dem Eindruck eines Tones nähert. Er definirt die Con-
sonanz durch die „Verschmelzung". Er kehrt sozusagen zu den
antiken Ansichten zurück, von welchen er eine ausführhche Ge-
schichte ^) gibt. Auch Helmholtz ist diese Auffassung nicht
fremd; er discutirt dieselbe, glaubt aber allerdings die erste
richtige Erklärung des Verschmelzens der Klänge ge-
geben zu haben.
i) C. Stumpf, Geschichte des Consonanzbegriffes, I Theil. Abh. d. Münchener
Akademie, phil.-hist. Cl., 1897.
— 2(
Dass bei Consonanz eine Verschmelzung der Töne stattfindet,
'zeigt Stumpf durch statistische Versuche. UnmusikaHsche halten
gleichzeitig angebene Töne desto öfter für einen, je besser
dieselben consoniren. Das Bedürfniss, die Verschmelzung weiter
zu erklären, leugnet Stumpf nicht. Verschmelzen die Töne
durch Aehnlichkeit , so muss dieselbe eine andere sein, als die-
jenige, auf welcher die Reihenfolge der Töne beruht, denn die
letztere nimmt mit dem Abstand der Töne stetig ab. Da ihm aber
ein solches zweites Aehnlichkeitsverhältniss rein hypothetisch
scheint, so zieht er es vor, an eine physiologische Erklärung
anderer Art zu denken. Die Gehirnprocesse beim gleichzeitigen
Empfinden zweier Töne von einfacherem Schwingungszahlenver-
hältniss sollen in einer engeren Beziehung (in specifischer Synenergie)
stehen, als wenn das Schwingungszahlenverhältniss complicirter
ist^). Auch aufeinanderfolgende Töne können verschmelzen. Ob-
gleich die homophone Musik der polyphonen historisch voraus-
geht, hält es Stumpf doch für wahrscheinlich, dass die Auswahl
der Tonstufen auch für erstere durch Erfahrungen beim gleich-
zeitigen Hören der Töne geleitet war. In allem Wesentlichen
wird man der Stumpf'schen Kritik zustimmen müssen.
9-
Ich selbst habe schon in einer 18632) erschienenen Abhand-
lung und auch später ^) einige kritische Bemerkungen über die
Helmholtz'sche Theorie gemacht, und 1866 in einer kurz vor
der Oettingen'schen erschienenen kleinen Schrift*) sehr be-
stimmt einige Forderungen bezeichnet, welchen eine vollständigere
Theorie zu genügen hätte. Weitere Ausführungen habe ich in
der ersten Auflage dieser Schrift (1886) gegeben.
i) C. Stumpf, Beiträge zur Akustik, Heft i, S. 50.
2) Mach, Zur Theorie des Gehörsorgans. Sitzungsberichte der Wiener Aka-
demie, 1863.
3) Vgl. meine: Bemerkungen zur Lehre von räumHchen Sehen. Fichte's
Zeitschrift für Philosophie, 1865. (Popul. wissensch. Vorl. S. 117).
4) Einleitung in die Helmholtz'sche Musiktheorie. Graz 1866. S. d, Vor-
wort und SS. 23 fg., 46, 88.
2og
Gehen wir von der Vorstellung aus, dass eine Reihe von
physikalisch oder physiologisch abgestimmten Endorganen
existirt, deren Glieder bei steigen-
der Schwingungszahl nacheinan-
der im Maximum ansprechen, und
schreiben wir jedem Endorgan seine
besondere (specifische) Energie zu.
Dann gibt es so viele specifische
Energieen als Endorgane und
ebenso viele für uns durch das Ge-
hör unterscheidbare Schwingungs-
zahlen. ^^^^^ ^^'
Wir unterscheiden aber nicht bloss die Töne, wir ordnen
sie auch in eine Reihe. Wir erkennen von drei Tönen ver-
schiedener Höhe den mittleren ohne weiteres als solchen. Wir
empfinden unmittelbar, welche Schwingungszahlen einander näher,
welche ferner liegen. Das Hesse sich für naheliegende Töne noch
leidlich erklären. Denn wenn wir die Schwingung-sweiten, die
einem bestimmten Ton zukommen, s3anbolisch durch die Ordinaten
der Curve ade, Fig'ur 35, darstellen, und diese Curve uns allmälig
im Sinne des Pfeiles verschoben denken, so werden naheliegenden
Tönen, w^eil stets mehrere Organe zugleich ansprechen, auch immer
schwache gemeinsame Reizung'en zukommen. Allein auch ferner
liegende Töne haben eine gewisse Aehnlichkeit, und auch an dem
höchsten und tiefsten Ton erkennen wir noch eine solche.
Nach dem uns leitenden Forschungsgrundsatze müssen wir also in
allen Tonempfindungen gemeinsame Bestandteile annehmen.
Es kann also nicht so viele specifische Energieen geben, als es
unterscheidbare Töne gibt. Für das Verständniss der Thatsachen,
die wir hier zunächst im Auge haben, genügt die Annahme von
nur zwei Energieen, die durch verschiedene Schwingungszahlen
in verschiedenem Verhältniss ausgelöst werden. Eine weitere
Zusammensetzung der Tonempfindungen ist aber durch diese
Thatsachen nicht ausgeschlossen , und wird durch die später zu
besprechenden Erscheinungen sehr wahrscheinlich.
Mach, Analyse. 3. Aufl. 14
2 lO
Die aufmerksame psychologische Analyse der Tonreihe
führt unmittelbar zu dieser Ansicht. Aber auch wenn man für
jedes Endorgan zunächst eine besondere Energie annimmt, und
bedenkt, dass diese Energieen einander ähnlich sind, also gemein-
same Bestandtheile enthalten müssen, gelangt man auf denselben
Standpunkt. Nehmen wir also an, nur um ein bestimm-
tes Bild vor uns zu haben, dass bei dem Uebergang
von den kleinsten zu den grössten Schwingungszahlen
die Tonempfindung ähnlich variirt wie die P^arben-
empfindung, wenn man vom reinen Roth, etwa durch
allmälige Zumischung von Gelb, zum reinen Gelb über-
geht. Hierbei können wir die Vorstellung, dass für jede unter-
scheidbare Schwingungszahl ein besonderes Endorgan vorhanden
ist, vollkommen aufrecht erhalten, nur werden durch verschiedene
Organe nicht g'anz verschiedene Energieen, sondern immer die-
selben zwei in verschiedenem Verhältniss ausgelöst i).
lO.
Wie kommt es nun, dass so viele gleichzeitig erklingende
Töne unterschieden werden, und nicht zu einer Empfindung
verschmelzen, dass zwei ungleich hohe Töne nicht zu einem Misch-
ton von mittlerer Höhe zusammenfliessen? Dadurch, dass dies
thatsächlich nicht geschieht, ist die Ansicht, die wir uns zu bilden
haben, weiter bestimmt. Wahrscheinlich verhält es sich ganz
ähnlich, wie bei einer Reihe von Mischfarben von Roth und Gelb,
welche an verschiedenen Stellen des Raumes auftreten, die eben-
falls unterschieden werden, und nicht zu einem Eindruck zusammen-
fliessen. In der That stellt sich eine ähnliche Empfindung" ein,
i) Die Ansicht, dass auf verschiedene Schwingangszahlen verschiedene End-
organe ansprechen, ist durch die Schwebungen naheliegender Töne und andere von
Helmhol tz hervorgehobene Thatsachen zu wohl begründet und für das Verständniss
der Erscheinungen zu werthvoll, als dass sie wieder aufgegeben werden könnte. —
Die hier dargelegte Ansicht benützt die (namentlich von Hering) bei Analyse der
Farbenempfindungen gcwoiinsnen Erfahrungen.
wenn man von der Beachtung eines Tones übergeht zur Beachtung
eines andern, wie beim Wandern des fixirten Punktes im Sehfeld.
Die Tonreihe befindet sich in einem Analogon des Raumes, in
einem beiderseits begrenzten Raum von einer Dimension, der
auch keine Symmetrie darbietet, wie etwa eine Gerade, die
von rechts nach links senkrecht zur Medianebene verläuft. Viel-
mehr ist derselbe anolog" einer verticalen Geraden, oder einer
Geraden, welche in der Medianebene von vorn nach hinten ver-
läuft. Während ausserdem die Farben nicht an die Raumpunkte
gebunden sind, sondern sich im Raum bewegen können, weshalb
wir die Raumempfindungen so leicht von den Farbenempfindungen
trennen, verhält es sich in Bezug" auf die Tonempfindung anders.
Eine bestimmte Tonempfindung kann nur an einer bestimmten
Stelle des besagten eindimensionalen Raumes vorkommen, die
jedesmal fixirt werden muss, wenn die betreffende Tonempfindung
klar hervortreten soll. Man kann sich nun vorstellen, dass ver-
schiedene Tonempfmdungen in verschiedenen Theilen der Ton-
sinnsubstanz auftreten, oder dass neben den beiden Energieen,
deren Verhältniss die Färbung der hohen und tiefen Töne be-
dingt, noch eine dritte, einer Innervation ähnliche besteht,
welche beim Fixiren der Töne auftritt. Auch beides zugleich
könnte stattfinden. Zur Zeit dürfte es weder möglich, noch schon
nothwendig sein, hierüber zu entscheiden.
Dass das Gebiet der Tonempfindnngen eine Analogie zum
Raum darbietet, und zwar zu einem Raum, der keine Symmetrie
aufweist, drückt sich schon unbewusst in der Sprache aus. Man
spricht von hohen und tiefen Tönen, nicht von rechten und linken,
wiewohl unsere Musikinstrumente letztere Bezeichnung sehr nahe
legen.
1 1.
In einer meiner ersten Arbeiten i) habe ich die Ansicht ver-
treten, dass das Fixiren der Töne mit der veränderlichen Spannung
I) Zur Theorie des Gehörgans, 1863. — Durch gemeinschafthch mit Kessel
ausgeführte Versuche „über die Accommodation des Ohres" (Sitzb. d. Wiener Aka-
14*
— 212
des Tensor tympani zusammenhänge. Diese Ansicht kann ich
meinen eigenen Beobachtungen und Experimenten gegenüber
nicht aufrecht halten. Die Raumanalogie fällt hiermit jedoch
nicht, sondern es ist nur das betreffende physiologische Ele-
ment erst aufzufinden. Die Annahme, dass die Vorgänge im Kehl-
kopf (beim Singen) zur Bildung der Ton reihe beitragen, habe
ich in der Arbeit von 1863 ebenfalls berührt, aber nicht haltbar
gefunden. Das Singen ist zu äusserlich und zufällig mit dem
Hören verbunden. Ich kann Töne weit über die Grenzen meiner
Stimme hinaus hören und mir vorstellen. Wenn ich eine Orchester-
aufführung mit allen Stimmen höre, oder wenn mir dieselbe als
Hallucination entgegentritt, so kann ich mir unmöglich denken,
dass mir das Verständniss des ganzen Stimmengewebes durch
meinen einen Kehlkopf, der noch dazu gar kein geübter Sänger
ist, vermittelt wird. Ich halte die Empfindungen, die man beim
Hören von Musik gelegentlich zweifellos im Kehlkopf bemerkt,
für nebensächlich, so wie ich mir in meiner musikalisch geübteren
Zeit rasch zu jedem gehörten Ciavier- oder Orgelstück nebenbei
die gegriffenen Tasten vorstellte. Wenn ich mir Musik vorstelle,
höre ich immer deutlich die Töne. Aus den die Musikausführungen
begleitenden motorischen Empfindungen allein wird keine Musik,
so wenig der Taube, der die Bewegungen der Spieler im Orchester
sieht, Musik hört. Ich kann also in diesem Punkte Stricker's
Ansicht nicht zustimmen, (Vergl. Stricker, Du langage et de la
musique, Paris 1885.)
demie Bd. 66, Abth. 3, October 1872) gelang der Nachweis einer veränderlichen
Stimmung und Resonanzfähigkeit des Gehörpräparates i'ür verschiedene Töne, in-
dem die Excursionen der durch einen Schlauch zugeführten Schallschwingungen mikro-
skopisch beobachtet wurden. Eine derartige spontane Veränderung der Stimmung am
lebenden Ohr nachzuweisen gelang aber nicht bei Einleitung des Schalles und Be-
obachtung durch einen hiezu construirten Mikroskop-Ohrenspiegel. Ich bin aber später
zweifelhaft geworden, ob die gewaltigen Schwingungen, die man so beobachtet, über-
haupt maassgebend sind, da sie doch ohne Schaden kaum ungedämpft ins Labyrinth
gelangen können. So lange man also nicht die Schwingungen am lebenden Ohr beim
normalen Hören mit Sicherheit zu beobachten vermag, wird diese Frage kaum end-
giltig zu entscheiden sein. Eine Lichtinterferenzmethode könnte zum Ziele führen.
Dieselbe müsste aber von besonders einfacher Form sein, um unter den schwierigen
Verhältnissen des lebenden Ohres anwendbar zu sein.
— 213 —
Anders muss ich mich zu Stricker 's Ansicht über die
Sprache stellen (vergl. Stricker, Die Sprachvorstellungen, Wien
1880). Zwar tönt mir eine Rede, an die ich denke, voll ins Ohr,
ich zweifle auch nicht, dass durch das Erklingen der Hausglocke,
durch einen Locomotivenpfiff u. s. w. direct Gedanken erregt
v^erden können, dass kleine Kinder und selbst Hunde Worte ver-
stehen, die sie nicht nachsprechen können; doch bin ich durch
Stricker überzeugt worden, dass zwar nicht der einzig mögliche,
aber der gewöhnliche uns geläufige Weg des Sprachverständ-
nisses der motorische ist, und dass wir sehr übel daran sind,
wenn uns dieser abhanden kommt. Ich kann selbst aus meiner
Erfahrung Bestätigungen dieser Ansicht anführen. Fremde, die
meiner Rede folgen wollen, sehe ich häufig leise die Lippen be-
wegen. Gibt mir jemand seine Wohnung an, und versäume ich
den Strassennamen und die Hausnummer nachzusprechen, so
vergesse ich die Adresse gewiss, behalte sie aber bei Gebrauch
dieser Vorsicht im Gedächtniss. Ein Freund sagte mir kürzlich,
er wolle das indische Drama „Urvasi" nicht lesen, weil er die
Namen nur mit Mühe zusammenbuchstabire, und folglich nicht
behalte. Der Traum des Taubstummen, von dem Stricker er-
zählt, ist überhaupt nur nach seiner Ansicht verständlich. — Bei
ruhiger Ueberlegung ist dieses anscheinend paradoxe Verhältniss
auch gar nicht so wunderbar. Wie sehr sich unsere Gedanken in
gewohnten, einmal eingeübten Bahnen bewegen, zeigt die
überraschende Wirkung eines Witzes. Gute Witze wären nicht
so selten, wenn wir uns nicht vorzugsweise in ausgefahrenen
Bahnen bewegen würden. Manchem fällt die naheliegende Neben-
bedeutung eines Wortes gar nie ein. Und wer denkt, wenn er
die Namen Schmied, Schuster, Schneider als Namen gebraucht,
an die betreffenden Handwerke? — Um ein naheliegendes Beispiel
aus einem andern Gebiete anzuführen, bringe ich in Erinnerung
(vergl. S. 88), dass ich Spiegelschrift neben dem Original sofort
als mit diesem symmetrisch-congruent erkenne, ohne sie
doch direct lesen zu können, da ich die Schrift motorisch mit
der rechten Hand erlernt habe. Daran kann ich am besten
— 214 —
erläutern, warum ich Stricker nicht auch in Bezug auf Musik
beistimme: Die Musik verhält sich zur ^Sprache, wie das Orna-
ment zur Schrift.
12.
Die Analogie zwischen dem Fixiren von Raumpunkten und
dem Fixiren von Tönen habe ich wiederholt durch Experimente
erläutert, die ich hier nochmals anführen will. Dieselbe Combination
von zwei Tönen klingt verschieden, je nachdem inan den einen
oder den andern beachtet. Die Combinationen i und 2 haben
einen merklich verschiedenen Charakter, je nachdem man den
obern oder untern Ton fixirt. Wer die Aufmerksamkeit nicht
willkürlich zu leiten vermag, helfe sich dadurch, dass er den einen
^1^^
-?^r
Ff-— r
Ton später eintreten lässt (3, 4). Dieser zieht dann die Aufmerk-
samkeit auf sich. Bei einiger Uebung gelingt es, eine Harmonie
(wie 5) in ihre Bestandtheile aufzulösen, und diese (etwa wie bei 6)
einzeln herauszuhören. Diese und die folgenden Experimente
werden der anhaltenden Töne wegen besser und überzeugender
mit der Physhamonica, als mit dem Ciavier ausgeführt.
Besonders überraschend ist die Erscheinung, die eintritt, wenn
man einen fixirten Ton in einer Harmonie erlöschen lässt. Die
Aufmerksamkeit gleitet dann auf einen der nächstliegenden über,
welcher mit einer Deutlichkeit auftaucht, als wenn er eben an-
geschlagen worden wäre. Der Eindruck des Experimentes ist
ganz ähnlich demjenigen, den man erhält, wenn man, in die Arbeit
vertieft, plötzlich den gleichmässigen Schlag der Pendeluhr auf-
tauchen hört, der gänzlich aus dem Bewusstsein geschwunden war.
Im letzteren Falle tritt das ganze Tongebiet über die Schwelle,
während im ersteren ein Theil höher gehoben wird. Fixirt man
— 215
z. B. in 7 die Oberstimme, während man von oben nach unten
;l
:.t±
1
W'^
:*:
irrj
r^
fortschreitend einen Ton nach dem andern erlöschen lässt, so
erhält man ungefähr den Eindruck 8. Fixirt man in g den tiefsten
Ton und verfährt umgekehrt, so erhält man den Eindruck lo. Die-
selbe Harmoniefolge klingt sehr verschiden, je nach der fixirten
Stimme. Fixire ich in ii oder 12 die Oberstimme, so scheint sich
nur die Klangfarbe zu ändern. Beachtet man aber in 1 1 den Bass
so scheint die ganze Klangmasse in die Tiefe zu fallen, dagegen
zu steigen, wenn man in 12 den Schritt ^^/ beachtet, Es wird
hierbei recht deutlich, dass Accorde sich als Vertreter von
Klängen verhalten können. Lebhaft erinnern diese Beobachtungen
mi
-^
m
an den wechselnden Eindruck, den man erhält, wenn man in
einem Ornament bald diesen, bald jenen Punkt fixirt.
Es sei hier noch an das unwillkürliche Wandern der Auf-
merksamkeit erinnert, welches beim (mehrere Minuten) anhaltenden
gleichmässigen Erklingen eines Harmoniumtones eintritt, wobei
nach und nach alle Obertöne von selbst in voller Klarheit auf-
tauchen i). Der Vorgang scheint auf eine Erschöpfung der Auf-
merksamkeit für einen länger beobachteten Ton zu deuten. Diese
Erschöpfung wird auch wahrscheinlich durch ein Experiment,
welches ich an einem andern Orte ausführlicher beschrieben habe 2).
i) Vergl. meine „Einleitung in die Helmholz'sche Musiktheorie", S. 29.
2) Vergl. meine ,, Grundlinien der Lehre von den Bewegungsempfindungen",
S. 58.
— 2 l6
Die hier dargelegten Verhältnisse im Gebiete der Ton-
empfindungen könnten etwa durch folgendes Bild veranschaulicht
werden. Gesetzt, unsere beiden Augen wären nur
einer einzigen Bewegung fähig, sie v^ermöchten
nur die Punkte einer horizontalen, in der Median-
ebene liegenden Geraden durch wechselnde sym-
metrische Convergenzstellung zu verfolgen, der
nächste fixirte Punkt sei rein roth, der fernste,
welcher der Parallstellung entspricht, rein gelb,
und dazwischen lägen alle Uebergänge; so würde
Figur 36- dieses System unserer Gesichtsempfindungen
die Verhältnisse der Tonempfindungen sehr fühlbar nach-
ahmen.
13-
Nach der bisher gewonnenen Ansicht bleibt eine in dem
Folgenden zu betrachtende wichtige Thatsache unverständlich,
deren Erklärung aber von einer vollständigeren Theorie unbedingt
gefordert werden muss. Wenn zwei Tonfolgen von zwei
verschiedenen Tönen ausgehen und nach denselben
Schwingungszahlenverhätnissen fortschreiten, so er-
kennen wir in beiden dieselbe Melodie ebenso unmittel-
bar durch die Empfindung, als wir an zwei geometrisch
ähnlichen, ähnlich lieg"enden Gebilden die g'leiche Ge-
stalt erkennen. Gleiche Melodien in verschiedener Lage
können als Tongebilde von gleicher Tong-estalt oder als
ähnliche Tong'ebilde bezeichnet werden. Man kann sich über-
zeugen, dass dieses Erkennen nicht an die Verwendung ge-
läufiger musikalischer Intervalle oder oft verwendeter einfacherer
Schwingungszahlenverhältnisse gebunden ist. Wenn man an
einer Violine, oder überhaupt an einem mehrsaitigen Instrument,
die einzelnen leeren Saiten in beliebige unharmonische Stimmung
bringt, dann auf dem Griffbrett ein ganz beliebig in compli-
cirten Verhältnissen getheiltes Papier befestigt, so kann man
— 2 17 —
dieselben Theilungspunkte in beliebiger Folge, erst auf der
einen, dann auf den andern Saiten greifen, oder schleifend ver-
binden. Obgleich nun das Gehörte gar keinen musikalichen Sinn
hat, erkennt man auf jeder Saite dieselbe Melodie wieder. Das
Experiment würde sich nicht überzeugender g"estalten, wenn man
die Theilung' in irrationalen Verhältnissen vornehmen wollte. Dies
gelingt ja in Wirklichkeit nur annähernd. Der Musiker könnte
immer noch behaupten, er höre den bekannten inusikalischen Inter-
vallen nahe liegende, oder zwischen denselben liegende. Nicht ab-
gerichtete Singvög-el bedienen sich nur ausnahmsweise der musi-
kalischen Intervalle.
Schon bei einer Folge von nur zwei Tönen wird die Gleich-
heit des Schwingungszahlenverhältnisses unmittelbar erkannt, die
Tonfolgen c—f, d — g, e—a u. s. w., welche alle dasselbe wSchwingungs-
zahlenverhältniss (3:4) darbieten, werden alle unmittelbar als
gleiche Intervalle, als Quarten erkannt. Dies ist die
Thatsache in ihrer einfachsten Form. Das Merken und Wieder-
erkennen der Intervalle ist das Erste, was sich der angehende
Musiker aneignen muss, wenn er mit seinem Gebiet vertraut
werden will.
Herr E. Kulke hat in einer kleinen, sehr lesenswerthen
Schrift 1) eine hierauf bezügliche Mittheilung über die originelle
Unterrichtsmethode von P. Cornelius gemacht, die ich hier
nach K ulke's mündlicher Mittheilung noch ergänzen will. Um
die Intervalle leicht zu erkennen, ist es nach Cornelius zweck-
mässig, sich einzelne Tonstücke, Volkslieder u. s. w. zu merken,
welche mit diesen Intervallen beginnen. Die Tannhäuser-Ouver-
türe beginnt z. B. mit einer Quart. Höre ich eine Quarte, so be-
merke ich sofort, dass die Tonfolge der Beginn der Tannhäuser-
Ouverture sein könnte, und erkenne daran das Intervall. Ebenso
i) E. Kulke, lieber die Umbildung der Melodie. Ein Beitrag zur Ent-
wicklungslehre, Prag (Calve) 1884.
— 2l8 —
kann die Fidelio-Ouvertüre No. i als Repräsentant der Terz ver-
wendet werden, u. s. w. Dieses vortreffliche Mittel, welches ich
bei akustischen Demonstrationen erprobt und sehr wirksam ge-
funden habe, ist anscheinend eine Complication. Man könnte
meinen, es müsste leichter sein, ein Intervall, als eine Melodie
zu merken. Doch bietet eine Melodie der Erinnerung mehr
Hilfen, so wie man ein individuelles Gesicht leichter merkt und
mit einem Namen verknüpft, als einen bestimmten Winkel oder
eine Nase. Jeder Mensch merkt sich Gesichter und verknüpft
sie mit Namen; Leonardo da Vinci hat aber die Nasen in
ein System gebracht.
14.
So wie jedes Intervall in der Tonfolge in charakteristischer
Weise sich bemerklich macht, ebenso verhält es sich in der
harmonischen Verbindung. Jede Terz, jede Quart, jeder Moll-
dreiklang oder Durdreiklang hat seine eigenthümliche Färbung,
an welcher er unabhängig von der Höhe des Grundtons und
unabhängig von der Zahl der Schwebungen, welche ja mit
dieser Höhe rasch zunimmt, erkannt wird.
Eine Stimmgabel, die man vor ein Ohr hält, hört man fast
nur mit diesem Ohr. Bringt man zwei etwas gegeneinander ver-
stimmte, stossende Stimmgabeln vor dasselbe Ohr, so sind die
Stösse sehr deutlich. Stellt man aber die eine Gabel vor das
eine, die andere vor das andere Ohr, so werden die Stösse
sehr schwach. Zwei in einem harmonischen Intervall
stehende Gabeln klingen stets etwas rauher vor einem Ohr.
Der Character der Harmonie bleibt aber auch bewahrt, wenn man
vor je ein Ohr eine Gabel stellt ^). Auch die Disharmonie bleibt
bei diesem Experiment sehr deutlich. Harmonie und Dis-
harmonie sind jedenfalls nicht durch die Schwebungen allein
bestimmt.
0 Vgl. Fechner, Ueber einige Verhältnisse des binocularen Sehens, Leipzig
1860, S. 536. — Ich habe solche Versuche vielfach selbst angestellt.
2ig
15-
Sowohl bei der melodischen, als bei der harmonischen Ver-
bindung zeichnen sich die Töne, welche in einfachen Schwing-
ungszahlenverhältnissen stehen, i) durch Gefälligkeit und
2) durch eine für jenes Verhältniss characteristische Em-
pfindung aus. Was die Gefälligkeit betrifft, so kann nicht
in Abrede gestellt werden, dass dieselbe th eil weise durch das
Zusammenfallen der Partialtöne und bei harmonischer Verbindung
auch durch das hiermJt verbundene Zurücktreten der Schwebungen
bei bestimmten Schwingungszahlenverhältnissen aufgeklärt ist.
Der unbefangene Musikerfahrene ist aber nicht ganz befriedigt.
Ihn stört die zu bedeutende Rolle, welche der zufälligen Klang-
farbe eingeräumt wird, und er merkt, dass die Töne noch in einer
positiven Contrastbeziehung stehen, wie die Farben, nur
dass bei Farben keine so genauen gefälhgen Verhältnisse an-
gegeben werden können.
Die Bemerkung, dass wirklich eine Art Contrast unter den
Tönen besteht, drängt sich beinahe von selbst auf. Ein constanter
glatter Ton ist etwas sehr Unerfreuliches und Farbloses, wie eine
gleichmässige Farbe, in welche sich unsere ganze Umgebung
hüllt. Erst ein zweiter Ton, eine zweite Farbe wirkt belebend.
Lässt man einen Ton, wie bei dem Experimentiren mit der Sirene,
langsam in die Höhe schleifen, so g'eht ebenfalls aller Contrast
verloren. Derselbe besteht hingegen zwischen weiter abstehenden
12 3 4 5
Tönen, und nicht nur zwischen den sich unmittelbar folgenden,
wie das nebenstehende Beispiel erläutern mag. Der Gang 2
klingt ganz anders nach i als allein, 3 klingt anders als 2, und
auch 5 anders als 4 unmittelbar nach 3.
16.
Wenden wir uns nun zu dem zweiten Punkt, der characte-
ristischen Empfindung, welche jedem Intervall entspricht,
220
und fragen wir, ob dieselbe nach der bisherigen Theorie erklärt
werden kann? Wenn ein" Grundton ;/ mit seiner Terz ;// melo-
disch oder harmonisch verbunden wird, so fällt der 5. Partialton
des ersten Klanges (5 '/^) mit dem vierten des zweiten Klanges
(4;//) zusammen. Dies ist das Gemeinsame, was nach der
Helraholtz 'sehen Theorie allen Terzverbindungen zukommt.
Combinire ich die Klänge C und E, oder F und A, und stelle in
dem folgenden Schema ihre Partialtöne dar
;
Y _ _ - -
E e h e gis h d e
VI 2ni 3f/i 4:7/1 b7n ^yin Iju ^?ii
L - - - -
Ffcfacesf Aaea eis e g a
4« 5« 6>i Iti Sn Jii 'hii '?>?n ^?n bin ^iu Im 'im
so coincidiren in der That in dem einen Fall die mit ^1 , in dem
g
C
e
g
b
c
■An
4«
an
(i«
(H
8«
^
_
_
_
C
f
a
c
es
f
;,
andern die mit 1 bezeichneten Partialtöne, in beiden Fällen der
fünfte Partialton des tieferen mit dem vierten Par-
tialton des höheren Klanges. Dieses Gemeinsame besteht
aber nur für den physikalisch anal3Asirenden Verstand, und hat
mit. der Empfindung nichts zu schaffen. Für die Empfindung
coincidiren in dem ersten Fall die e, in dem zweiten die ä, also
ganz verschiedene Töne, Gerade dann, wenn wir für jede
unterscheidbare Schwingungszahl eine zugehörige specifische
Energie annehmen, müssen wir fragen, wo bleibt der jeder
Terzverbindung geineinsame Empfindungsbestandtheil?
Man halte diese meine Unterscheidung nicht für Pedanterie
und Haarspalterei. So wenig meine Frage, worin die physio-
logische Aehnlichkeiten der Gestalten zum Unterschied von der
geometrischen bestehe, überflüssig war, so wenig ist diese
gleichzeitig (vor etwa 37 Jahren) gestellte Frage unnöthig. Will
man ein physikalisches oder mathematisches Kennzeichen
der Terz als ein Merkmal der Terzempfindung gelten lassen,
221
SO begnüge man sich nach Euler ^) mit der Coincidenz von je
vier und fünf Schwingungen, welche Auffassung gar nicht so
übel war, solang'e man glauben konnte, dass der Schall auch im
Nerv noch als periodische Bewegung fortgehe, was A. See-
beck (Pogg. Ann. Bd. 68) noch für möglich gehalten hat-). Die
Helmholtz'sche Coincidenz von ^ii und ^ni ist in Bezug auf
diesen Punkt nicht weniger symbolisch und nicht auf-
klärender.
17-
Bis hierher habe ich meine Ausführungen mit der Ueber-
zeugung vorgebracht, dass ich nicht nöthig haben werde, einen
wesentlichen Schritt zurück zu thun. Dieses Gefühl begleitet
mich nicht in gleichem Maasse bei der Entwicklung der folgen-
den Hypothese, die sich mir im Wesentlichen vor langer Zeit
dargeboten hat. Sie mag aber wenigstens- dazu dienen, die
Forderung", die ich an eine vollständigere Theorie der Ton-
empfindungen glaube stellen zu müssen, auch von der positiven
Seite zu beleuchten, und zu erläutern. Ich will meine Ansicht
zunächst so darstellen, wie dies in der ersten Auflage dieser
Schrift geschehen ist.
Für ein Thier von einfacher Organisation sei die Wahr-
nehmung leiser periodischer Bewegungen des Mediums, in dem
es sich befindet, eine wichtige Lebensbedingung. Wird der
Wechsel der Aufmerksamkeit (wegen der zu grossen Organe, in
welchen so rapide Aenderungen nicht mehr eintreten können) zu
träge und die Oscillationsperiode zu kurz, die Amplitude zu
klein, als dass die einzelnen Phasen der Reizung ins Bewusst-
sein fallen könnten, so wird es noch möglich sein, die gehäuften
Empfindungseffecte des oscillatorischen Reizes wahrzunehmen.
Das Gehörorgan wird dem Tastorgan den Rang ablaufen 3). Ein
1) Euler, Tentamen novae theoriae musieae. Petropoli 1739) S. 36.
2) In neuerer Zeit ist diese Auffassung wieder von Lipps versucht und von
Stumpf kritisirt worden.
3) Es ist deshalb fraglich, ob Thiere, welche ein so kleines Zeitmaass haben,
dass ihre willkürlichen Bewegungen für uns tönen, in dem gewöhnlichen Sinne hören,
schwingungfähiges Endorgan (ein Hörhaar) spricht nun vermöge
seiner physikaHschen Eigenschaften nicht auf jede Schwingungs-
zahl an, aber auch nicht auf eine, sondern gewöhnh'ch auf
mehrere weit von einander abliegende^). Sobald also das ganze
Continuum der Schwingungszahlen zwischen gewissen Grenzen
für das Thier von Wichtigkeit wird, genügen nicht mehr einige
wenige Endorgane, sondern es stellt sich das Bedürfniss nach
einer ganzen Reihe solcher Org'ane von abgestufter »Stimmung
ein. Als ein solches System wurde von Helmholtz zunächst
das Corti'sche Organ, dann die Basillarmembran angesehen.
Schwerlich wird nun ein Glied dieses Systems nur auf eine
Schwingungszahl ansprechen. Wir müssen vielmehr erwarten,
dass es viel schwächer in abgestufter Intensität (vielleicht durch
Knoten abgetheilt) auch auf die Schwingungszahlen 2 n, 3 7i,
ft n
4 n u. s. w., und ebenso auch auf die Schwingungszahlen — -, — ,
2 3
fi
— u. s. w. anspricht. Da die Annahme einer besondern Energie
für jede Schwingungszahl sich als unhaltbar gezeigt hat, so stellen
wir uns dem Obigen gemäss vor, dass zunächst nur zwei Em-
pfindungsenergieen, sagen wir Dumpf (D) und Hell (H) ausgelöst
werden. Die betreffende Empfindung wollen wir (ähnlich wie
dies bei Mischfarben geschieht) symbolisch durch pD -\- pH
darstellen, oder wenn wir p -|- q ^ i setzen, und q als eine
Function f (n) der Schwingungszahl ansehen 2), durch
[i--f(n)] D + f(n)H.
Die auftretende Empfindung soll nun der Schwingungs-
zahl des oscillatorischen Reizes entsprechen, an welchem Glied
oder ob vielmehr nicht das ein Tasten ist, was uns an ihnen den Eindruck des
Hörens macht. Vgl. z. B. die schönen Versuche und Beobachtungen von V. Grab er
(Die chordotonalen Organe, Arch. f. mikrosk. Anat. , Bd. 20, S. 506), — Vgl.
,, Bewegungsempfindungen" S. 123. — Diese Vermuthung hat sich seither vielfach
bestätigt.
i) Wie z. B. V. Hensen beobachtet hat.
2) Will man eine recht einfache Darstelllung haben, so setzt man _/ ()i) =
/'. logn.
I
der Reihe der Endorgane der Reiz auch angreifen mag. Hier-
durch wird die frühere Darstellung nicht wesentlich gestört. Denn
indem das Glied Rn am stärksten auf n und viel schwächer auf
2 n, 3 n oder — , — anspricht, indem R^ auch auf einen aperio-
dischen Anstoss mit n ausschwingt, wird doch die Empfindung
[i — f(n)]D -\- f(n) H überwiegend an das Glied Rn gebunden
bleiben.
Gut constatirte Fälle von Doppelthören (vgl. Stumpf
a. a. O. I. S. 266 fg.) könnten uns nöthig'en, das Auslösungs-
verhältniss von D und H als vom Endorgan und nicht von der
Schwingungszahl abhängig zu betrachten, was aber unsere
Auffassung ebenfalls nicht stören würde.
Ein Glied R„ spricht also stark auf n, schwächer aber auch
auf 2 n, 3 n . . . . und — , — , . . . . mit den diesen Schwingungs-
zahlen zugehörigen Empfindungen an. Es ist aber doch sehr un-
wahrscheinlich, dass die Empfindung genau dieselbe bleibt, ob
Rn auf n oder ob Rn auf n anspricht. Es ist vielmehr wahr-
2
scheinlich, dass jedesmal, wenn die Glieder der Organ-Reihe
auf einen Parti alton ansprechen, die Empfindung eine schwache
Zusatzfärbung erhält, die wir symbolisch für den Grundton durch
Z^, für die Obertöne durch Zg, Z3 . . . . für die Untertöne durch
Zi, Zi .... darstellen wollen. Hiernach wäre also die Ton-
empfindung etwas reicher zusammengesetzt als dies der Eormel
[i — f(n)]D -\- f(n)H entspricht. Die Empfindungen, welche die
Reihe der Endorgane durch die Grundtöne gereizt gibt, bilden
also ein Gebiet mit der Zusatzfärbung Z^, die Reizung derselben
Reihe durch den ersten Oberton gibt ein besonderes Empfindungs-
gebiet mit der Zusatzfärbung Zg u. s. w. Die Z können entweder
unveränderliche Bestandtheile sein, oder selbst wieder aus zwei
Bestandtheilen U und V bestehen, und durch
[i-f(n)]U + f(n)V
224
darstellbare Reihen bilden, worüber zu entscheiden jetzt nicht von
Belang ist.
Allerdings sind nun die physiologischen Elemente Zj^
Zg . . . . erst zu finden. Allein schon die Einsicht, dass sie zu
suchen sind, scheint mir wichtig. Sehen wir zu, wie sich das
Gebiet der Tonempfindungen ausnimmt, wenn man die Z^, Z^ . . . .
als gegeben ansieht.
Betrachten wir als Beispiel eine melodische oder harmonische
Terzverbindung. Die Schwingungszahlen seien also n = 4 p und
m = 5p; der tiefste gemeinsame Oberton ist 5 n = 4 m = 20p,
der höchste gemeinsame Unterton ist p. Dann ergibt sich
folgende Uebersicht:
10 1,
-^ o
c
i3
K/
5
c "^ c
5 <=> I
--1 Ö D
5 => .S
<U
^ .^
^ ^
:0
Die Glieder der
Reihe der End-
organe:
^p
^ip
^hp
R,.p
sprechen an auf die
Schwingungs-
zahlen :
ip, öp
Ap
bp
mp.
20p
5/= 4
mit den
Zusatz-
empfindungen :
z,^ z.
z.
Z,
3 4
sprechen ausserdem
an auf die
Schwingungszahlen :
2Qp = 5 (4/)
20i> = 4 [bp)
mit den
Zusatz-
empfindungen :
z.
z.
Bei der Terzverbindung treten also die für die Terz characte-
ristischen Zusatzempfindungen Z,^ , Z^ und Zj, Zj hervor, auch
wenn die Klänge gar keine Obertöne enthalten, und erstere (Z^^,
Zj) werden noch verstärkt, wenn in den Klängen entweder in
der freien r.uft oder doch im Ohr Obertöne vorkommen. Das
— 225 —
Schema lässt sich leicht für jedes behebige Intervall verallge-
meinern ^).
Diese Zusatzfärbimgen werden also, obgleich sie bei einzelnen
Tönen und beim Schleifen der Töne fast gar nicht bemerkt
werden, bei Combination von Tönen mit bestimmten Schwingungs-
zahlenverhältnissen hervortreten, wie die Contraste schwach
gefärbter fast weisser Lichter bei deren Combination lebendig
werden. Und zwar entsprechen denselben Schwingungszahlen-
verhältnissen bei jeder beliebigen Tonhöhe immer dieselben
Contrastfärbungen.
So wird es verständlich, wie die Töne durch melodische und
harmonische Verbindung mit anderen die mannigfaltigste Fär-
bung erhalten können, die einzelnen Tönen fehlt.
Die Elemente Z^, Z,^ . . . . darf man sich nicht in unver-
änderlicher bestimmter Anzahl gegeben denken. Vielmehr muss
man sich vorstellen, dass die Zahl der bemerkbaren Z von der
Organisation, Uebung des Gehörs und von der Aufmerksam-
keit abhängt. Nach dieser Auffassung werden auch nicht direct
Schwingungszahlen Verhältnisse durch das Gehör erkannt,
sondern nur die durch dieselben bedingten Zusatz färbun gen. Die
durch [i — f(n)]D -|- f(n)H symbolisch dargestellte Tonreihe ist
nicht unendlich, sondern begrenzt. Da f(n) sich zwischen den
Werthen o und i bewegt, sind D und H die Empfindungen, die
i) Die hier gegebene Darstellung findet sich in etwas conciserer Form und
etwas variirt in meiner Note ,,Zur Analyse der Tonempfindungen." Sitzungsber. der
Wiener Akademie math.-nat. Cl, II. Abth., December 1885. Die Analyse der Ton-
empfindungen wird hier nach Analogie der wesentlich weiter vorgeschrittenen Analyse
der Farbenempfindungen versucht. Jede Schwingungszahl des Lichtes löst einige
wenige specifische Energieen in einem von dieser Schwingungszahl abhängigen Ver-
hältnissen aus. Die Erregbarkeit dieser Energieen ist an verschiedenen Stellen der
Netzhaut verschieden. Analoge Verhältnisse werden mutatis mutandis auch für die
Tonempfindungen angenommen. Der unendlichen Mannigfaltigkeit des physikalischen
Reizes schien anfänglich in beiden Fällen eine unendliche Mannigfaltigkeit der Em-
pfindungen zu entsprechen. Die psychologische Analyse führt in beiden Phallen dazu,
eine geringere Anzahl von Empfindungen anzunehmen und diese nach dem Princip
des Parallelismus nicht mehr inimittelbar von dem complicirten physikalischen Reiz,
sondern von dem ebenso einfachen psychophysischen Process unmittelbar abhängig
zu denken.
Mach, Analyse, b. Aufl. 15
einem tiefsten und höchsten Ton entsprechen, die Endglieder.
Sinkt oder steigt die Schwingungszahl bedeutend unter oder über
diejenige des Grundtones der Faser, so findet nur ein geringeres
Ansprechen, aber keine Aenderung der Art der Empfindung
mehr statt. Auch die Empfindung der Intervalle muss in der
Nähe der beiden Hörgrenzen verschwinden. Zunächst weil der
Unterschied der Tonempfindung- überhaupt aufhört, dann aber
noch, weil an der oberen Grenze die Glieder der Reihe fehlen,
welche durch Untertöne gereizt werden könnten, an der untern
Grenze aber diejenigen, welche auf Obertöne reagiren.
Ueberblicken wir noch einmal die gewonnene Ansicht, so
sehen wir, dass fast alles, was durch Helm hol tz' Arbeiten
statuirt worden ist, beibehalten werden kann. Die Geräusche und
Klänge lassen sich in Töne zerlegen. Jeder unterscheidbaren
Schwingungszahl entspricht ein besonderes Nervenendorgan. An
die Stelle der vielen specifischen Energieen setzen wir aber bloss
zwei, die uns die Verwandtschaft aller Tonempfindungen ver-
ständlich machen, und erhalten durch die Rolle, welche wir der
Aufmerksamkeit zuweisen, gleichwohl mehrere gleichzeitig ange-
gebene Töne unterscheidbar. Durch die Hypothese des
mehrfachen Ansprechens der Glieder der Reihe Endorgane und
der„Z usatzfärbunge n" tritt die Bedeutung der zufälligenKlang-
farbe zurück, und wir sehen den Weg, auf welchem den posi-
tiven Merkmalen der Intervalle namentlich auf Grund musika-
lischer Thatsachen weiter nachzuforschen ist. Endlich erhält
durch die letztere Ansicht das v. Oettin gen 'sehe Princip der
Dualität eine Unterlage, die vielleicht diesem Forscher selbst etwas
besser zusagen dürfte als die „Erinnerung", während sich zu-
gleich zeigt, warum die Dualität keine voUwerthige Symmetrie
sein kann.
18-
Die Hypothese des mehrfachen Ansprechens der Reihe der
Endorgane, sowie jene der Zusatzfärbungen, habe ich ausdrücklich
als solche bezeichnet, und habe dieselbe lediglich zu dem Zweck
— 227 —
vorgebracht, um den Sinn der Postulate, welche sich durch die
psychologische Analyse ergeben, zu erläutern, und andere vielleicht
zu einem glücklicheren Griff anzuregen. Ich kann mich also nicht
wundern, wenn andere diesem Versuche nicht ohne weiteres zu-
stimmen. Dass aber diese H3^pothese nutzlos sei, und ihren Zweck
verfehle, wie Stumpft) sagt, k^nii ich nicht erkennen. Das Zu-
sammentreffen der Zusatzfärbungen Z^, Zg, bezw, Z^, Z^ in einem
Nerv ist nicht bloss ein physischer, sondern auch ein psycho-
physischer Umstand. Die Empfindung einer Mischfärbung
durch ein Element wird kaum gleichgültig sein. Es scheint mir
vielmehr, dass das, was ich suche: die Erklärung der bestimmten
Färbung der Intervalle, und auch das, was Stumpf sucht: die Er-
klärung der Verschmelzung, durch die von mir angenommene
partielle Coincidenz auch ohne Obertöne wirklich dargestellt
würde. Wenn ferner Stumpf sagt, dass bei Klängen mit Ober-
tönen für Helmholtz keine Schwierigkeit besteht, die Aehnlich-
keit gleicher Intervalle zu verstehen, so beruht dies auf einem
Verkennendessen, was ich gegen Helmholtz vorgebracht habe.
Niemand wird befriedigt sein, wenn man ihm sagt, dass bei zwei
Terzen gleich starke Obertöne zusammenfallen, da es sich doch um
qualitativ ähnliche Empfindungen handelt. Wäre das Wieder-
erkennen eines melodischen Terzenschrittes un mittebar ver-
ständlich, so brauchte man für das Erkennen der harmonischen
Terzenverbindung natürlich keine besondere Erklärung zu suchen.
Da aber Stumpf selbst die melodischen Schritte durch die
h armon ische Verbindung für characterisirt hält, so würdediese
Auffassung einen Cirkel einschliessen. Auch nach meiner Dar-
legung leitet die Thatsache der melodischen und harmonischen
Auswahl bestimmter Tonstufen , bezw. bestimmter Schwingungs-
zahlenverhältnisse auf dasselbe Problem. Meine Hypothese lehnt
sich an die Resonanztheorie an, und ist nach Stumpfs Ansicht
schon deshalb zu verwerfen. Letzterer Punkt soll noch besonders
zur Sprache gebracht werden.
i) Stumpf, Beilläge zur Akustik und Musikwissenschaft, Heft I, S. i;, i8.
15*
IQ-
Ueber die physikalischen Vorg'änge beim Hören, bezw. die
Function der Theile des inneren Ohres ist schon sehr viel discutirt
worden. Trotzdem scheint es, dass eine unbefangene Revision
der physikalischen Hörtheorie sehr nothwendig ist. Man hat
gefrag't, ob die Gehörknöchelchen als Ganzes schwingen, oder ob
die Schallwellen durch dieselben hindurchziehen. E. H. Weber
hat sich für die erstere Ansicht entschieden, welche experimentell
von Politzer bestätigt und theoretisch wohl von mir zuerst be-
gründet worden ist ^). Wenn nämlich die Dimensionen der Knöchel-
chen gegen die Länge der in Betrachl kommenden Schallwellen
in deren Material sehr klein ist, wie es wirklich zutrifft, so ist es
keine Frage, dass in der ganzen Ausdehnung des Knöchelchens
nahezu dieselbe Bewegungsphase auftreten, demnach sich das
Knöchelchen als Ganzes bewegen muss. Man dachte sich nun
die Bewegung der Gehörknöchelchen auf die Labyrinthflüssigkeit
übertragen. Allein pathologische Erfahrung-en lehren, dass man,
wenn nur das Labyrinth in Ordnung ist, auch ohne Mitwirkung
der Gehörknöchelchen und des Trommelfelles noch recht gut
hört. Diese Theile scheinen nur von Wichtig'keit zu sein, wenn es
sich um die Uebertragung der leisesten Luftbewegung-en auf
das Labyrinth handelt. Da scheint die Reduction des auf die
ganze Trommelfellfläche entfallenden Druckes auf die kleine Steig-
bügelfussplatte nothwendig. Sonst können die Schallwellen auch
durch die Kopfknochen auf das Labyrinth übertragen werden.
Durch Aufsetzen von tönenden Körpern (Stimmg'abeln) auf ver-
schiedene Stellen des Kopfes überzeugt man sich davon, dass die
Richtung der auf das Labyrinth eindring'enden wSchall wellen keine
besondere Rolle spielt. Alle Dimensionen des Schall-percipirenden
Apparates sind wieder so klein gegen die hörbaren Schallwellen,
die .Schallgeschwindigkeit in den Knochen imd der Labyrinth-
l) Mach, Zur 'J'licoiie des Geböiorg;ins. Sit/.iingsbcrichte der Wiener
Akademie, Bd. 58, Juli 1863. Ferner: Helniliol t z. Die Mechanik der Gehör-
knöchelchen, 1869.
I
flüssigkeit so gross, dass wieder' in einem Moment nur merklich
dieselbe Wellenphase in der ganzen Ausdehnung des Labyrinthes
Platz greifen kann. Das Obige führt darauf, nicht die Be-
wegungen und die Bewegung'srichtung, sondern die Druck-
variationen, welche im Labyrinth nahezu synchron auftreten,
als empfindungserregend, als den maassgebenden Reiz zu be-
trachten.
Betrachten wir dennoch die Bewegung, welche im Labyrinth
durch die Bewegungen der Steigbügelplatte eingeleitet werden
kann. Wir denken uns zunächst alle Weichtheile herausgenommen,
und den durch die Knochenwand begrenzten Raum nur mit
Flüssigkeit gefüllt. Die Bewegung', die hier Platz greifen kann,
ist eine periodische Strömung vom ovalen gegen das runde Fenster
und umgekehrt, deren Form, bei der gegen die Schallgeschwindig-
keit verschwindenden Geschwindig'keit der Störung, von der
Periode fast g'anz unabhängig sein wird. Denkt man sich die
Flächen der beiden Fenster als positive und negative Elektrode
und die Flüssigkeit leitend, so stimmen die electrischen Strom-
linien mit den Linien der periodischen Strömung' überein. Daran
kann nun nicht viel geändert werden, wenn die Weichtheile in
die Flüssigkeit von so wenig verschiedenem specifischem Gewicht
versenkt werden. Die Masse der Flüssigkeit spielt die Haupt-
rolle. Davon, dass einzelne Gebilde je nach der Tonhöhe, trotz
der Flüssigkeit, einen besonderen localen Schwingungszustand
annehmen könnten, wird kaum die Rede sein dürfen. Die
quantitativen Verhältnisse sind hier ganz andere, als bei Saiten
oder Membranen in der Luft.
Es scheint mir demnach, dass die neue Hörtheorie von
Ewald 1) nicht haltbarer ist, als die Helmholtz'sche Theorie
der Corti'schen Fasern, oder der electiven Schwingung'en der
Basilarmembran. Wenn eine mit Oel bestrichene Membran bei
Ewald's Versuchen schon bei stärkerem Anstrich keine deutliche
Abtheilung mehr zeigt, so würde sie beim Versenken in eine
i) Ewald, Eine neue Hörtheoiie, Bonn il
— 22,0 —
Flüssigkeit, noch dazu bei entspechend kleinen Dimensionen,
vollends versagen. Es muss übrigens hervorgehoben werden,
dass die Ewald 'sehe Theorie sonst vielfach ansprechend ist und
manche Vortheile bieten würde. Die Membranen zeigen z. E.
Coincidenzen der Knotenlinien bei harmonischen Intervallen, auch
ohne Obertöne. Diese Theorie hat also den Anschein, einen
Theil der oben ausgesprochenen Postulate zu erfüllen. Leider ist
sie physikalisch nicht zulässig, abgesehen von andern Schwierig-
keiten, welche auch sie nicht zu lösen vermag. Ich maasse mir
selbstverständlich nicht an, eine schöne fleissige Arbeit mit
wenigen Worten abzuthun, kann aber meine Bedenken doch
nicht unterdrücken.
20.
Die Schwierigkeit, die Resonanztheorie physikalisch zu be-
gründen, ist wohl von Allen, die sich mit derselben beschäftigt
haben, mehr oder minder gefühlt worden, wie mir scheint nicht
am wenigsten von deren Urheber. Zugleich erkannte man aber,
dass mit dem Aufgeben derselben dasjenige Motiv, welches das
Verständniss der Klanganalyse, die Durchsichtig-keit der Lehre von
den Tonempfindungen bedingt, verloren geht. Daher die krampf-
haften Bemühungen, die Resonanztheorie zu halten. L. Her-
mann^) scheint mir nun das richtige Wort ausgesprochen zu
haben, wenn er meint, dass ohne irgend eine Resonanztheorie
nicht auszukommen sei, dass diese aber nicht nothwendig eine
physikalische sein müsse, sondern auch eine physiologische
sein könne. Man kann mit Hermann die plausible Annahme
machen, dass die nervösen Endorgane selbst für Reize von einer
bestimmten Periode besonders empfindlich sind. Es müssen nicht
gerade Elasticitätskräfte sein, welche das Organ in seine Gleich-
gewichtslage zurücktreiben, sondern man kann sich einen elec-
trischen, chemischen u. s. w. Gleichgewichtszustand denken, und
Abweichungen von demselben, die sich wie -j- und — verhalten.
Unter diesen Organen kann ferner eine Verbindung bestehen,
l) Hermann, Pflügcr's Archiv, Bd. 56, S. 494, 495, ff., 1894.
— 231 —
wodurch eines auf das andere erregend wirken kann. Es eröffnet
sich so die begründete Aussicht, den Verlust der physikaHschen
Resonanztheorie zu ersetzen. Auf die vollständige und genaue
Wiederg'abe der H e r m a n ' sehen Ausführungen muss ich ver-
zichten und muss mich begnügen, auf dessen Abhandlungen zu
verweisen.
Nur einen Punkt wollen wir noch ins Auge fassen. Wenn zwei
sinusförmige (pendeiförmige) Schwingungen von den Schwingungs-
zahlen, n, 11 zusammenwirken, so entstehen Schwebungen, die man
als ein (;/ — /2)-maliges Anschwellen und Abschwellen des Tones
n oder n in der vSecunde auffassen kann. Niemals lässt sich
aber die Luftbewegung als eine solche ansehen, in welcher die
Sinusschwingung, d. h. der Ton //— ii, enthalten wäre. Auch ein
physikalischer Resonator von der Schwingungszahl ii — ii kann
durch solche Schwebungen, ob sie schnell oder langsam sind,
niemals erregt werden. Man übersieht ja leicht, wenn man sich
den Verlauf der Schwebungen vorstellt oder dieselben zeichnet,
dass auf die Dauer der Resonatorschwingung [n' — ii) ebensoviele
und gleich starke positive und negative Impulse fallen. Auch auf
die erste Hälfte dieser Zeit entfallen gleiche gleichsinnige Impulse
wie auf die zweite Hälfte. Eine wirksame Summation ist also
ausgeschlossen. Dieselbe wäre nur möglich, wenn man den Re-
sonator für die eine Art der Impulse empfänglicher machen könnte
als für die andere Art, und empfänglicher in der einen Hälfte
seiner Schwingungsdauer. Man sieht, wie dieselbe Ueberlegung
dazu führt, die Young'sche Erklärung der Combinationstöne
durch rasche Schwebungen aufzugeben, und wie sie andererseits
unter Festhalten der Resonanztheorie zur Helmholtz 'sehen
Theorie der Combinationstöne leitet. Die physikalichen Verhält-
nisse, welche Helmholtz annehmen musste, scheinen unter den
Umständen, unter welchen man Combinationstöne hört, nicht zu
bestehen. Wohl aber ist es denkbar, dass ein nervöses Organ für
entgegengesetzte Impulse ungleich empfänglich und ebenso in
verschiedenen Stadien seiner Erreg'ung verschieden empfänglich ist.
Denn es folgt nicht einfach den einwirkenden Kräften, sondern
— 232 —
enthält einen Energievorrath, auf welchen jene Kräfte nur aus-
lösend einwirken. Somit hätte der Irrthum Young's und der
muthmaasslich misslungene Verbesserungsv^ersuch Helmholtz'
auf einen wichtigen neuen Gesichtspunkt geleitet.
21.
Bei ihrem Auftreten erschien die Helmholtz'sche Lehre vorl
den Tonempfindungen als eine schöne, vollendete, mustergiltige
Leistung. Dennoch haben fundatuentale Aufstellungen derselben
der Kritik nicht Stand halten können. Und diese Kritik war
keineswegs eine muthwillige, wie daraus genügend hervorgeht,
dass die Ausführungen der verschiedenen Kritiker trotz aller in-
dividueller Eigenthümlichkeit auf dieselben Punkte und nach
denselben Richtungen hinweisen. Das Hauptproblem erscheint
durch die Kritik fast auf den Stand vor Helmholtz zurück-
geschraubt Es könnte dies tragisch wirken, wenn es überhaupt
erlaubt wäre, diese Sache vom Standpunkt einer Person zu be-
trachten.
Wir können aber die Helmholtz'sche Leistung trotz ihrer
angreifbaren Seiten nicht unterschätzen. Ausser dem reichlichen
positiven Gewinn, den wir dieser Arbeit verdanken, ist Bewegung
in die Fragen gekommen, sie hat den Forschern zu andern Ver-
suchen Muth gemacht, eine Meng'e von neuen Untersuchungen
ist angeregt, neue Aussichten sind eröffnet, mögliche Irrweg'e
definitiv für immer verschlossen worden. Leichter knüpft ja ein
neuer Versuch und die Kritik an eine schon vorhandene positive
Arbeit an.
Helmholtz hat sich wohl darin getäuscht, dass er meinte,
diese Aufgabe, welche dem Psychologen, Physiologen und Physiker
reichlich Arbeit gibt, hauptsächlich nach physikalischen Gesichts-
punkten bewältigen zu können. Haben doch seine befreundeten
Zeitgenossen, welche um die Mitte dieses Jahrhunderts mit ihm
die physikalische Physiologenschule begründeten, auch erkennen
müssen, dciss das Stückchen anorganischer Physik, welches wir
beherrschen, -bei weitem noch nicht die ganze Welt ist. Die
— 233 —
„Lehre von den Tonempfindung-en" ist ein genialer Wurf, der
Ausdruck einer künstlerischen Intuition, welcher uns, wenn auch
nur symbolisch durch ein physikalisches Beispiel, die Wege weist,
die die weitere Untersuchung einzuschlagen hat. Wir müssen
deshalb acht geben, dass wir mit den zu beseitigenden Mängeln
nicht auclj werthvollen Besitz über Bord werfen. Aus welchen
Gründen Helmholtz selbst von der Kritik so wenig Notiz ge-
nommen hat, weiss ich nicht. Mit seiner letztwilligen Verfügung
aber, nach welcher der Text der Tonempfindungen nach seinem
Tode unverändert bleibt, scheint er mir das Richtige getroffen
zu haben.
22.
Für denjenigen, welcher die Dinge vom Standpunkte der
Entwicklungslehre zu betrachten pflegt, ist die moderne Musik in
ihrer hohen Ausbildung, sowie die spontan und plötzHch auf-
tretende musikalische Begabung, auf den ersten Blick eine höchst
sonderbare räthselhafte Erscheinung. Was hat diese Gehörs-
entwicklung mit der Arterhaltung zu schaffen? Geht sie nicht
weit über das Nothwendige oder überhaupt nur Nützliche hinaus?
Was soll uns die feine Unterscheidung- der Tonhöhen ? Was
nützt uns der Sinn für die Intervalle, für die Klangfärbungen des
Orchesters ?
Eigentlich kann man in Bezug auf jede Kunst dieselbe Frage
stellen, ob sie ihren Stoff aus diesem oder jenem Sinnesgebiet
schöpft. Die P>age besteht auch bezüglich der scheinbar weit
über das nothwendige Maass hinausgehenden Intelligenz eines
Newton, Euler u. s. w. Die Frage liegt nur am nächsten
bezüglich der Musik, welche gar kein praktisches Bedürfniss zu
befriedigen, meist nichts darzustellen hat. Sehr verwandt mit der
Musik ist aber die Ornamentik. Wer sehen will, muss Rich-
tungen der Linien unterscheiden können. Wer sie fein zu unter-
scheiden vermag, dem kann sich aber, ge wisser maassen als ein
Nebenproduct seiner Ausbildung, das Gefühl für die Ge-
fälligkeit der Combinationen von Linien ergeben. So verhält
— 234 —
es sich auch mit dem Sinn für Farbenharmonie nach Ent-
wickhmg des Unterscheidungsvermögens für Farben, so wird es
auch mit der Musik sich verhalten.
Wir müssen uns avich gegenwärtig halten, dass das, was wir
Talent und Genie nennen, so gross uns auch dessen Wirkungen
erscheinen, in der Begabung nur eine kleine Differenz gegen
das Normale darstellt. Auf etwas grössere psychische Stärke in
einem Gebiet reducirt sich das Talent. Zum Genie wird dasselbe
durch die über die Jugendzeit hinaus erhaltene Fähigkeit der An-
passung", durch die Erhaltung der Freiheit, sich ausserhalb der
Schablone zu bewegen. Die Naivität des Kindes entzückt uns
und macht uns fast immer den Eindruck des Genies. Gewöhnlich
schwindet aber dieser Eindruck bald, und wir merken, dass die-
selben Aeusserungen, welche wir gewohnt sind als Erwachsene
auf Rechnung- der Freiheit zu setzen, beim Kinde noch auf
Mangel an Festigkeit beruhten.
Talent und Genie treten, wie Weismann treffend hervor-
gehoben hat ^), in der Folge der Generationen nicht allmälig und
langsam hervor, sie können auch nicht das Resultat einer ge-
häuften Uebung der Vorfahren sein, sie zeigen sich spontan und
plötzlich. Mit dem eben Besprochenen zusammengehalten, wird
dies auch verständlich, wenn wir bedenken, dass die Descendenten
nicht genau den Vorfahren gleichen, sondern etwas variirend
die Eigenschaften derselben bald etwas abgeschwächt, bald etwas
gesteigert aufweisen.
i) Weismann, Ueber die Vererbung, Jena 1883, S. 43.
XIV. Einfluss der vorausgehenden Untersuchungen
auf die Auffassung der Physik^).
Welchen Gewinn zieht nun die Physik aus den voraus-
gehenden Untersuchungen? Zunächst fällt ein sehr verbreitetes
Vorurtheil und mit diesem eine Schranke. Es gibt keine
Kluft zwischen Psychischem und Physischem, kein Drinnen und
Draussen, keine Empfindung, der ein äusseres von ihr ver-
schiedenes Ding entspräche. Es gibt nur einerlei Elemente,
aus welchen sich das vermeintliche Drinnen und Draussen zu-
sammensetzt, die eben nur, je nach der temporären Betrachtung,
drinnen oder draussen sind.
Die sinnliche Welt gehört dem physischen und psyschischen
Gebiet zugleich an. So wie wir beim Studium des Verhaltens
der Gase durch Absehen von den Temperaturänderungen zu dem
Mariotte' sehen, durch ausdrückliches Beachten der Temperatur-
änderungen aber zum Gay-Lussac'schen Gesetz gelangen, und
unser Untersuchungsobject doch immer dasselbe bleibt, so treiben
wir auch Physik im weitesten Sinne, solange wir die Zusammen-
hänge in der sinnlichen Welt, von unserm Leib ganz ab-
sehend, untersuchen, Psychologie oder Physiologie der
Sinne aber, sobald wir hierbei eben auf diesen, und speciell
i) Die in diesen Capitel erörterten Fragen habe ich theilweise schon früher
(„Erhaltung der Arbeit" und „Oekonomische Natur d. physikal. Forschung" besprochen.
Was die Auffassung der Begriffe als ökonomische Mittel betrifft, hat mich Herr Pro-
fessor W. James (von der Harvard-Universität zu Cambridge Mass.) mündlich auf
Berührungspunkte meiner Schrift mit seiner Arbeit „The Sentiment of Rationality"
(Mind. Vol. IV. p. 317 Juli 1879) aufmerksam gemacht. Jedermann wird diese mit
freiem Blick, mit wohlthuender Frische und Unbefangenheit geschriebene Arbeit mit
Vergnügen und Gewinn lesen.
— 236 —
auf unser Nervensystem, das Hauptaugenmerk richten. Unser
Leib ist ein Theil der sinnlichen Welt wie jeder andere, die
Grenze zwischen Physischem und Psychischem lediglich eine
praktische und Convention eile. Betrachten wir sie für höhere
wissenschaftliche Zwecke als nicht vorhanden, und sehen alle Zu-
sammenhänge als gleichwerthig an, so kann es an der Er-
öffnung neuer Forschungswege nicht fehlen.
Als einen weiteren Gewinn müssen wir ansehen, dass der
Physiker von den herkömmlichen intellectuellen Mitteln der
Physik sich nicht mehr imponiren lässt. Kann schon die ge-
wöhnliche „Materie" nur als ein sich unbewusst ergebendes, sehr
natürliches Gedankensymbol für einen relativ stabilen Complex
sinnlicher Elemente betrachtet werden, so muss dies umsomehr
von den künstlichen hypothetischen Atomen und Molekülen der
Physik und Chemie gelten. Diesen Mitteln verbleibt ihre
Werthschätzung" für ihren besonderen beschränkten Zweck. Sie
bleiben ökonomische Symbolisirungen der physikalisch-chemi-
schen Erfahrung. Man wird aber von ihnen wie von den
Symbolen der Algebra nicht mehr erwarten, als man in dieselben
hineingelegt hat, namentlich nicht mehr Aufklärung und Offenbarung
als von der Erfahrung selbst. Schon im Gebiete der Physik
selbst bleiben wir vor Ueberschätzung' unserer Symbole bewahrt.
Noch wenig'er wird aber der ungeheuerliche Gedanke, die Atome
zur Erklärung der psychischen Vorgänge verwenden zu wollen,
sich unserer bemächtigen können. Sind sie doch nur Symbole
jener eigenartigen Complexe sinnlicher Elemente, die wir in den
engeren Gebieten der Physik und Chemie antreffen.
Die Grundanschauungen der Menschen bilden sich naturge-
mäss in der Anpassung an einen engeren oder weiteren Erfahr-
ungs- und Gedankenkreis. Dem Physiker genügt vielleicht noch der
Gedanke einer starren Materie, deren einzige Veränderung in der
Bewegung, der Ortsveränderung besteht. Der Physiologe, bezieh-
ungsweise der Psychologe vermag mit solchem Ding gar nichts
— 237 —
anzufangen. Wer aber an den Zusammenschluss der Wissen-
schaften zu einem Ganzen denkt, muss nach einer Vorstellung
suchen, die er auf allen Gebieten festhalten kann. Wenn wir
nun die ganze materielle Welt in Elemente auflösen, welche
zugleich auch Elemente der psychischen Welt sind, die als
solche Empfindungen heissen, wenn wir ferner die Erforschung
der Verbindung, des Zusammenhanges, der g'egenseitigen Ab-
hängigkeit dieser gleichartigen Elemente aller Gebiete als
die einzige Aufgabe der Wissenschaft ansehen; so können wir
mit Grund erwarten, auf dieser Vorstellung einen einheitlichen,
monistischen Bau aufzuführen und des leidig^en verwirrenden
Dualismus los zu werden. Indem man die Materie als das
absolut Beständige und Unveränderliche ansieht , zerstört man
ja in der That den Zusammenhang zwischen Physik und Psy-
chologie.
Erkenntnisskritische Erwägungen können zwar keinem Men-
schen schaden, allein der Specialforscher, z. B. der Physiker, hat
keinen Grund sich allzusehr durch solche Betrachtungen beun-
ruhigen zu lassen. Scharfe Beobachtung und ein glücklicher In-
stinkt sind für ihn sehr sichere Führer. Seine Begriffe, sofern
sie sich als unzureichend erweisen sollten , werden durch die
Thatsachen am besten und schnellsten berichtigt. Wenn es sich
aber um die Verbindung von Nachbargebieten von verschiedenem
und eigenartigem Entwicklungsgang handelt, so kann dieselbe
nicht mit Hilfe der beschränkteren Begriffe eines engen Special-
g'ebietes vollzogen werden. Hier müssen durch allgemeinere
Erwägungen für das weitere Gebiet ausreichende Begriffe ge-
schaffen werden. Nicht jeder Physiker ist Erkenntnisskritiker,
nicht jeder muss oder kann es auch nur sein. Die Specialforsch-
ung beansprucht eben einen ganzen Mann, die Erkenntniss-
theorie aber auch.
Bald nach Erscheinen der ersten Auflage dieser Schrift be-
lehrte mich ein Physiker darüber, wie ungeschickt ich meine Auf-
gabe angefasst hätte. Man könne, meinte er, die Empfindungen
nicht analysiren , bevor die Bahnen der Atome im Gehirn nicht
— 238 -
bekannt seien. Dann allerdings würde sich alles von selbst er-
geben. Diese Worte, welche vielleicht bei einem Jüngling der
Laplace'schen Zeit auf fruchtbaren Boden gefallen wären, und
sich zu einer psychologischen Theorie auf Grund „verborgener
Bewegungen" (!) entwickelt hätten, konnten mich natürlich nicht
mehr bessern. Sie hatten aber doch die Wirkung, dass ichDubois
mit seinem „Ignorabimus", das mir bis dahin als die grössteVer-
irrung erschienen war, im stillen Abbitte leistete. War es doch
ein wesentlicher Fortschritt, dass Dubois die Unlösbarkeit seines
Problems erkannte, und war diese Erkenntniss doch für viele
Menschen eine Befreiung, wie der sonst kaum begreifliche Erfolg
seiner Rede beweist^). Den wichtigern Schritt der Einsicht, dass
ein principiell als unlösbar erkanntes Problem auf einer verkehrten
Fragenstellung beruhen muss, hat er allerdings nicht gethan.
Denn auch er hielt, wie unzählige Andere, das Handwerkszeug
einer wSpecialwissenschaft für die eigentliche Welt.
3-
Die Wissenschaften können sich sowohl durch den Stoff unter-
scheiden als auch durch die Art der Behandlung dieses Stoffes.
Alle Wissenschaft geht aber darauf aus , Thatsachen in Ge-
danken darzustellen, entweder zu praktischen Zwecken oder
zur Beseitigung des intellectuellen Unbehagens. Knüpfen
wir an die Bezeichnung der „Vorbemerkungen" an, so entsteht
Wissenschaft, indem durch die a ßy . . . . der Zusammenhang
der übrig'en Elemente nachgebildet wird. Beispielsweise entsteht
Physik (in weitester Bedeutung) durch Nachbildung der ABC
in ihrer Beziehung zu einander, Physiologie oder Ps3^chologie der
vSinne durch Nachbildung der Beziehung von ABC ... zu KLM,
Physiologie durch Nachbildung der Beziehung der KLM ....
zu einander und zu ABC .... Die Nachbildung der aßy . . . .
durch andere aßy führt zu den eigentlichen psychologischen
Wissenschaften .
l) Dubois-Reymond, Ueber die Grenzen des Naturerkennes. 1872,
4. Aufl.
\
— 239 —
Man könnte nun z. B. in Bezug auf Physik der Ansicht sein,
dass es weniger auf DarsteUung der sinnlichen Thatsachen als
auf die Atome, Kräfte und Gesetze ankommt, welche gewisser-
massen den Kern jener sinnlichen Thatsachen bilden. Unbefangene
Ueberlegung lehrt aber, dass jedes praktische und intellec-
tuelle Bedürfniss befriedigt ist, sobald unsere Gedanken die
sinnlichen Thatsachen vollständig nachzubilden vermögen. Diese
Nachbildung ist also Ziel und Zweck der Physik, die Atome,
Kräfte, Gesetze hingegen sind nur die Mittel, welche uns jene
Nachbildung erleichtern. Der Werth der letztern reicht nur so
weit, als ihre Hilfe.
4-
AVir sind über irgend einen Naturvorgang, z. B. ein Erdbeben,
so vollständig als möglich unterrichtet, wenn unsere Gedanken
uns die Gesammtheit der zusammengehörigen sinnlichen Thatsachen
so vorführen, dass sie fast als ein Ersatz derselben angesehen
werden können, dass uns die Thatsachen selbst als bekannte ent-
gegentreten, dass wir durch dieselben nicht überrascht werden.
Wenn wir in Gedanken das unterirdische Dröhnen hören, die
Schwankung fühlen, die Empfindung beim Heben und Senken
des Bodens, das Krachen der Wände, das Abfallen des Anwurfs,
die Bewegung der Möbel und Bilder, das Stehenbleiben der Uhren,
das Khrren und Springen der Fenster, das Verziehen der Thür-
stöcke und Festklemmen der Thüren uns vergegenwärtigen, wenn
wir die Welle, die durch den Wald wie durch ein Kornfeld zieht,
und die Aeste bricht, die in eine Staubwolke gehüllte Stadt im
Geiste sehen, die Glocken ihrer Thürme anschlagen hören, wenn
uns auch noch die unterirdischen Vorgänge, welche zur Zeit noch
unbekannt sind, sinnlich so vor Augen stehen, dass wir das Erd-
beben herankommen sehen wie einen fernen Wagen, bis wir end-
lich die Erschütterung unter den Füssen fühlen, so können wir
mehr Einsicht nicht verlangen. Können wir auch die Theil-
thatsachen nicht in dem richtigen Ausmaass combiniren ohne ge-
wisse (mathematische) Hilfsvorstellungen, oder geometrische Con-
— 240 —
structionen, so ermöglichen letztere unsern Gedanken doch nur
nach und nach zu leisten, was sie nicht auf einmal vermögen.
Diese Hilfsvorstellungen wären aber werthlos, wenn wir mit den-
selben nicht bis zur Darstellung der sinnlichen Thatsachen vor-
dringen könnten.
Wenn ich das auf ein Prisma fallende weisse Lichtbündel in
Gedanken als Farbenfächer austreten sehe, mit bestimmten Winkeln
die ich voraus bezeichnen kann, wenn ich das reelle Spectralbild
sehe, dass beim Vorsetzen einer Linse auf einem vSchirm entsteht,
darin die Fraunhofer 'sehen Linien an voraus bekannten Stellen,
wenn ich im Geiste sehe, wie sich die letzteren verschieben, so
bald das Prisma gedreht wird, sobald die Substanz des Prismas
wechselt, sobald ein dasselbe berührendes Thermometer seinen
Stand ändert, so weiss ich alles, was ich verlang'en kann. Alle
Hilfsvorstellungen, Gesetze, Formehi sind nur das quantitative
Regulativ meiner sinnlichen Vorstellung. Diese ist das Ziel, jene
sind die Mittel.
Die Anpassung- der Gedanken an die Thatsachen ist also das
Ziel aller naturwissenschaftlichen Arbeit. Die Wissenschaft setzt
hier nur absichtlich und b e w u s s t fort, was sich im tägiichen
Leben unvermerkt von selbst vollzieht. Sobald wir der Selbst-
beobachtung fähig werden, finden wir unsere Gedanken den That-
sachen schon vielfach angepasst vor. Die Gedanken führen uns
die Elemente in ähnlichen Gruppen vor wie die sinnlichen That-
sachen. Der begrenzte Gedankenvorrath reicht aber nicht für die
fortwährend wachsende Erfahrung. Fast jede neue Thatsache
bringt eine Fortsetzung der Anpassung mit sich, die sich im
Process des Urtheilens äussert.
Man kann diesen Vorgang an Kindern sehr gut beobachten.
Ein Kind kommt zum erstenmal aus der vStadt auf's Land, etwa
auf eine grosse Wiese, sieht sich da nach allen Seiten um. und
spricht verwundert: ,,Wir sind in einer Kugel. Die Welt ist eine
— 241 —
blaue Kugel ^)". Hier haben wir zwei Urtheile. Was geht vor,
indem dieselben gebildet werden ? Die fertige sinnliche Vorstellung
„wir" (die begleitende Gesellschaft) wird durch die ebenfalls schon
vorhandene Vorstellung einer Kugel zu einem Bilde ergänzt.
Aehnlich wird in dem zweiten Urtheil das Bild der „Welt" (alle
Gegenstände der Umgebung) durch die einschliessende blaue
Kugel (deren Vorstellung auch schon vorhanden war, weil sonst
der Name gefehlt hätte) ebenfalls ergänzt. Ein Urtheil ist also
immer eine Ergänzung einer sinnlichen Vorstellung zur voll-
ständig'eren Darstellung einer sinnlichen Thatsache. Ist das Urtheil
in Worten ausdrückbar, so besteht es sogar immer in einer
Zusammensetzung der neuen Vorstellung aus schon vorhandenen
Erinnerungsbildern, welche auch beim Angesprochenen durch
Worte hervorgelockt werden können.
Der Process des Urtheilens besteht also hier in einer Be-
reicherung-, Erweiterung, Ergänzung- sinnlicher Vorstellungen durch
andere sinnliche Vorstellungen unter Leitung der sinnlichen
Thatsache. Ist der Process vorbei und das Bild geläufig ge-
worden, tritt es als fertig-e Vorstellung in's Bewusstsein, so haben
wir es mit keinem Urtheil, sondern nur mehr mit einer einfachen
Erinnerung zu thun ''). Das Wachsthum der Naturwissenschaft
i) Uer hier als Beispiel angeführte Fall ist nicht erdichtet, sondern ich habe
den Vorgang an meinem 3 jährigen Kinde beobachtet. In diesem Falle Avird eigent-
lich eine physiologische Thatsache constatirt, was freilich erst spät erkannt worden
ist. Die alte wissenschaftliche Astronomie beginnt mit solchen naiven Aufstellungen,
die sie für physikalische hält.
2) Aut eine Untersuchung über den Urtheilsprocess als solchen kann ich mich
hier nicht einlassen. Ich möchte aber unter den neueren Schriften über den Gegen-
stand diejenige von W. Jerusalem (Die Urtheilsfunction, Wien, 1895) hervorheben.
Ohne mit diesem Autor auf demselljen Boden zu stehen, habe ich doch aus der Leetüre
seiner Schrift durch die vielen Einzeiuntersuchungen manche Anregimg und Belehrung
empfangen. Die psychologischen Seiten, namentlich die biologische Function des Ur-
theiis, sind sehr lebendig dargestellt. Die Auffassung des Subjects als eines Kraft-
centrums wird man kaum glücklich finden. Dagegen gibt man gewiss gern zu, dass
in den Anfängen der Cultur und der Sprachbildung anthropomorphische Vorstellungen
grossen Einfluss üben. — Ganz andere Fragen behandelt A. Stöhr in seinen Schriften
(Theorie der Namen, 1889; Die Vieldeutigkeit des Urtheils, 1895; Algebra der Gram-
matik, 1898). Unter diesen scheinen mir die auf das Verhältniss von Logik und Gram-
matik bezüglichen die interessantesten zu sein.
Mach, Analyse. 3. Aufl. lo
— 242 —
und der Mathematik beruht grösstentheils auf der Bildung solcher
intuitiver Erkenntnisse (wie sie Locke nennt). Betrachten wir
z. B. die Sätze: „i. Der Baum hat eine Wurzel. 2. Der Frosch
hat keine Klauen. 3. Aus der Raupe wird ein Schmetterling.
4. Verdünnte Schwefelsäure löst Zink. 5. Reibung macht das
Glas electrisch. 6. Der electrische Strom lenkt die Magnetnadel
ab. 7. Der AVürfel hat 6 Flächen, 8 Ecken, 12 Kanten." Der
I. Satz enthält eine räumliche Erweiterung der Baumvorstellung,
der 2. die Correctur einer nach der (jewohnheit zu voreilig ver-
vollständigten Vorstellung, der 3., 4., 5. und 6. enthalten zeitlich
erweiterte Vorstellungen. Der 7. Satz gilt ein Beispiel der geo-
metrischen intuitiven Erkenntniss.
6.
Derartige intuitive Erkenntnisse prägen sich dem Gedächt-
niss ein, und treten als jede g-egebene sinnliche Thatsache spontan
ergänzende Erinnerungen auf. Die verschiedenen Thatsachen
gleichen sich nicht vollständig. Die v^erschiedenen Fällen ge-
meinsamen Bestandtheile der sinnlichen Vorstellung" werden
aber gekräftigt, und es kommt dadurch ein Princip der mög-
lichsten Verallgemeinerung oder Continuität in die Er-
innerung. Andererseits muss die Erinnerung, soll sie der Mannig-
faltigkeit der Thatsachen g'erecht werden, und überhaupt nützlich
sein, dem Princip der zureichenden Differenzirung ent-
sprechen. Schon das Thier wird durch lebhaft roth und gelb ge-
färbte (ohne Anstrengung am Baum sichtbare) weiche Früchte
an deren süssen, durch grüne (schwer sichtbare) harte Früchte
an deren sauren Geschmack erinnert werden. Der Insekten
jagende Affe hascht nach allem, was schwirrt und fliegt, hütet
sich aber vor der gelb und schwarz gefleckten Fliege, der Wespe.
In diesen Beispielen spricht sich deutlich genug das Bestreben
nach möglichster Verallgemeinerung und Continuität, so
wie nach praktisch zureichender Differenzirung der Erinne-
rung aus. 'Und beide Tendenzen werden durch dasselbe Mittel,
die A u s s o n d e r u n g und FI e r v o r h e b u n g" j e n e r Bestandtheile
— 243 —
der sinnlichen Vorstellung, erreicht, welche für den zur Er-
fahrung' passenden Gedankenlauf maassgebend sind. Ganz analog
verfährt der Physiker, wenn er verallgemeinernd sagt, „alle
durchsichtigen festen Körper brechen das aus der Luft einfallende
Licht zum Lothe", und wenn er differenzirend hinzufügt, „die
tesseral krystallisirten und amorphen einfach, die übrigen doppelt".
7-
Ein guter Theil der Gedankenanpassung vollzieht sich un-
bewusst und unwillkürlich unter Leitung der sinnlichen Thatsachen.
Ist diese Anpassung ausgiebig genug geworden, um der Mehr-
zahl der auftretenden Thatsachen zu entsprechen, und stossen wir
nun auf eine Thatsache, welche mit unserm g'ewohnten Gedanken-
lauf in starkem Widerstreit steht, ohne dass man sofort das maass-
g'ebende Moment zu erschauen vermöchte, welches zu einer
neuen Differenzirung führen würde, so entsteht ein Problem.
Das Neue, das Ungewöhnliche, das Wunderbare wirkt als Reiz,
welcher die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Praktische Gründe,
oder das intellectuelle Unbehagen allein, können den Willen zur
Beseitigung des Widerstreites, zur neuen Gedankenanpassung er-
zeugen. So entsteht die absichtliche Gedankenanpassung,
die Forschung.
Wir sehen z. B. einmal ganz gegen unsere Gewohnheit, dass
an einem Hebel oder Wellrad eine grosse Last durch eine
kleine gehoben wird. Wir suchen nach dem differenzirenden
Moment, welches uns die sinnliche Thatsache nicht unmittelbar
zu bieten vermag. Erst wenn wir, verschiedene ähnliche That-
sachen vergleichend, den Einfluss der Gewichte und der
Hebelarme bemerkt, und uns selbstthätig zu den ab-
stracten Begriffen Moment oder Arbeit erhoben haben, ist
das Problem gelöst. Das Moment oder die Arbeit ist das
differenzirend e Element. Ist die Beachtung des Momentes oder
der Arbeit zur Denkgewohnheit geworden, so existirt das
Problem nicht mehr.
16*
!44
Was thut man nun, indem man abstrahirt? Was ist eine
Abstraction? Was ist ein Begriff? Entspricht dem Begriff ein
sinnliches VorsteUungsbild? Einen allgemeinen Menschen kann
ich mir nicht vorstellen, höchstens einen besonderen, vielleicht
einen, der zufäUige Besonderheiten verschiedener Menschen, die
sich nicht ausschliessen, vereinigt. Ein allgemeines Dreieck,
welches etwa zugleich rechtwinklig und g'leichseitig sein müsste,
ist nicht vorstellbar. Allein ein solches mit dem Namen des
Begriffs auftauchendes, die begriffliche Operation begleitendes
Bild ist auch nicht der Begriff. Ueberhaupt deckt ein Wort,
welches aus Noth zur Bezeichnung vieler Einzelvorstellungen ver-
wendet werden muss, durchaus noch keinen Begrifi. Ein Kind,
das zuerst einen schwarzen Hund g'esehen und nennen gehört
hat, nennt z. B. alsbald einen grossen schwarzen, rasch dahin-
laufenden Käfer ebenfalls ,,Hund", bald darauf ein Schwein oder
Schaf ebenfalls Hund^). Irgend eine an die früher benannte
Vorstellung erinnernde Aehnlichkeit führt zum naheliegenden
Gebrauch desselben Namens. Der Aehnlichkeitspunkt braucht in
aufeinanderfolgenden Eällen gar nicht derselbe zu sein; er liegt
z. B. einmal in der Farbe, dann in der Bewegung, dann in der
Gestalt, der Bedekung u. s. w. ; demnach ist auch von einem Be-
griff gar nicht die Rede. So nennt ein Kind gelegentlich die
Federn des Vogels Haare, die Hörner der Ivuh Fühlhörner, den
Bartwisch, den Bart des Vaters und den Samen des Löwenzahns
ohne Unterschied „Bartwisch" u. s. w. -). Die meisten Menschen
verfahren mit den Worten ebenso, nur weniger auffallend, weil
sie einen grösseren Vorrath zur Verfügung- haben. Der gemeine
Mann nennt ein Rechteck „Viereck" und gelegentlich auch den
Würfel (wegen der rechtwinkligen Begrenzung) ebenfalls „Viereck".
ij So nannten die Markomannen die von den Römern über die Donau ge-
setzten Löwen ,, Hunde" und die Jonier nannten (Herodot II 69) die ,,Champsä" des
Nils nach den Eidechsen ihrer Büsche ,, Krokodile".
2) Sämmtliche Beis])iele sind der Beobachtung entnommen.
— 245 —
Die Sprachwissenschaft und einzelne historisch beglaubigte Fälle
lehren, dass ganze Völker sich nicht anders verhalten ^).
Ein Begriff ist überhaupt nicht eine fertige Vorstellung.
Gebrauche ich ein Wort zur Bezeichnung eines Begriffs, so liegt
in demselben ein einfacher Impuls zu einer geläufigen sinn-
lichen Thätigkeit, als deren Resultat ein sinnliches Element
(das Merkmal des Begriffs) sich ergibt. Denke ich z. B. an den
Begriff Siebeneck, so zähle ich in der vorliegenden Figur
oder in der auftauchenden Vorstellung die Ecken durch; komme
ich hierbei bis sieben, wobei der Laut, die Ziffer, die Finger
das sinnliche Merkmal der Zahl abgeben können, so fällt die ge-
gebene Vorstellung unter den gegebenen Begriff. Spreche ich
von einer Quadratzahl, so versuche ich die vorliegende Zahl
durch die Operation 5X5, 6x6 u, s. w., deren sinnliches Merk-
mal (die Gleicheit der beiden multiplicirten Zahlen) auf der
Hand liegt, herzustellen. Das gilt von jedem Begriff. Die
Thätigkeit, welche das Wort auslöst, kann aus mehreren Opera-
tionen bestehen; die eine kann eine andere enthalten. Immer ist
das Resultat ein sinnliches Element, welches vorher nicht
da war.
Wenn ich ein Siebeneck sehe, oder mir vorstelle, braucht
mir die Siebenzahl der Ecken noch nicht g'egenwärtig zu sein.
Sie tritt erst durch die Zählung hervor. Oft kann dass neue
sinnliche Element, wie z. B. beim Dreieck, so nahe liegen, dass
die Zähloperation unnöthig scheint; das sind aber Specialfälle,
welche eben zu Täuschungen über die Natur des Begriffs führen.
An den Kegelschnitten (Ellipse, Hyperbel, Parabel) sehe ich
nicht, dass sie unter denselben Begriff fallen; ich kann es aber
durch die Operationen des Kegelschneidens, und durch die Con-
struction der Gleichung finden.
Wenn wir also abstracte Begriffe auf eine Thatsache an-
wenden, so wirkt dieselbe auf uns als einfacher Impuls zu einer
sinnlichen Thätigkeit, welche neue sinnliche Elemente herbei-
i) Withney, Leben und Wachsthum der Sprache. Leipzig 1876.
— 246 —
schafft, die unsern ferneren Gedankenlauf der Thatsache entsprechend
bestimmen können. Wir bereichern und erweitern durch
unsere Thätigkeit die für uns zu arme Thatsache. Wir thun das-
selbe, was der Chemiker mit einer farblosen Salzlösung thut, in-
dem er ihr durch eine bestimmte Operation einen gelben oder
braunen Niederschlag ablockt, der seinen Gedankenlauf zu differen-
ziren vermag. Der Begriff des Physikers ist eine bestimmte
Reactionsthätigkeit, welche eine Thatsache mit neuen sinn-
lichen Elementen bereichert.
Eine sehr dürftige Sinnlichkeit und eine sehr geringe Be-
weglichkeit reichen zur Bildung von Begriffen aus. Dies lehrt
die Entwicklung'sgeschichte der blinden und taubstummen Laura
Bridgman, welche Jerusalem in einer interessanten kleinen
Schrift^) allgemein zugänghch gemacht hat. Fast ganz ohne Ge-
ruch und auf die Wahrnehmung- von Erschütterung^en und Schall-
schwingungen durch die Fussohlen und Fing^erspitzen, kurz
durch die Haut angewiesen, vermochte Laura doch einfache Be-
griffe zu gewinnen. Durch Herumgehen und durch die Bewegung
der Hände findet sie die Tastmerkmale (Classencharactere) der
Thüre, des Stuhles, des Messers u. s. w. Allerding-s reicht die
Abstraction nicht hoch. Die abstractesten Begriffe, die sie sich
erwarb, dürften die Zahlen gewesen sein. Im ganzen blieb ihr
Denken natürlich an Spezialvorstellungen haften. Beweis dafür
ist ihre Auffassung der Rechenaufgaben eines Schulbuches als
speciell an sie gerichtet (a. a. O. S. .25), ihre Meinung, dass der
Himmel (das Jenseits) eine Schule sei u. s. w. (a. a. O. S. 30).
9-
Wenn wir, um an ein früheres Beispiel anzuknüpfen, einen
Hebel erblicken, so treibt uns dieser Anblick, die Arme abzu-
messen , die Gewichte zu wäg'en , die Maasszahl des Armes mit
der Maaszahl des Gewichtes zu multipliciren. Entpricht den beiden
Producten dasselbe sinnhche Zahlenzeichen, so erwarten wir
Gleichgewicht. Wir haben so ein neues sinnliches Element ge-
1) W. Jerusalem, Laura liiidginann, Wien, Picliler 1891.
— 247 —
Wonnen, welches zuvor in der blossen Thatsache noch nicht ge-
geben war, und das nun unsern Gedankenlauf differenzirt. Hält
man sich recht gegenwärtig, dass das begriffliche Denken eine
Reactionsthätigkeit ist, die wohl geübt sein will, so versteht man
die bekannte Thatsache, dass niemand Mathematik oder Physik,
oder irgend eine Naturwissenschaft durch blosse Leetüre, ohne
praktische Uebung, sich aneignen kann. Das Verstehen beruht
hier gänzlich auf dem Thun. Ja es wird in keinem Gebiet mög-
lich sein, sich zu den höheren Abstractionen zu erheben, ohne
sich mit den Einzelheiten beschäftigt zu haben.
Die Thatsachen werden also durch die begriffliche Behand-
lung erweitert und bereichert, und schliesslich wieder vereinfacht.
Denn wenn das neue maassgebende sinnliche Element (z. B. die
Maasszahl der Momente des Hebels) gefunden ist, wird nur mehr
dieses beachtet, und die mannigfaltigsten Thatsachen gleichen
und unterscheiden sich nur durch dieses Element. Wie bei
der intuitiven Erkenntniss reducirt sich also auch hier alles auf
die Auffindung, Hervorhebung und Aussonderung
der maassgebenden sinnlichen Elemente. Die Forschung erreicht
hier nur auf einem Umwege, was sich der intuitiven Erkennt-
niss unmittelbar darbietet.
Der Chemiker mit seinen Reagenzien, der Physiker mit
Maassstab, Waage, Galvanometer, und der Mathematiker verhalten
sich den Thatsachen gegenüber eigentlich ganz gleichartig; nur
braucht der letztere bei Erweiterung der Thatsache am wenigsten
über die Elemente a ß y . . . . K L J/ hinauszugehen. Seine Hilfs-
mittel hat er stets und sehr bequem zur Hand. Der Forscher mit
seinem ganzen Denken ist ja auch nur ein Stück Natur wie jedes
Andere. Eine eigentliche Kluft zwischen diesem und anderen
Stücken besteht nicht. Alle Elemente sind gleichwerthig.
Nach dem Dargelegten ist das Wesen der Abstraction nicht
erschöpft, wenn man sie (mit Kant) als negative Aufmerksamkeit
bezeichnet. Zwar wendet sich beim Abstrahiren von vielen sinn-
lichen Elementen die Aufmerksamkeit ab, dafür aber andern neuen
sinnlichen Elementen zu, und das Letztere ist gerade wesentlich.
— 248 —
Jede Abstraction gründet sich auf das Hervortreten bestimmter
sinnlicher Elemente.
10.
Indem ich hier meine Darstellung von 1886 unverändert lasse,
möchte ich zugleich auf die weiteren Ausführungen in einer
spätem Schrift hinweisen ^). Daselbst sind auch (in der zweiten
Auflage von 1900) die seit 1897 erschienenen Arbeiten von
H. Gomperz und Ribot erwähnt, welche Untersuchungen ent-
halten, deren Ergebnisse in mancher Beziehung mit den raeinigen
verwandt sind. Gomperz und Ribot schliessen beide die
wissenschaftlichen Begriffe von ihrer Untersuchung aus, und be-
handeln bloss die vulgären Begriffe, wie sie in den Worten der
gewöhnlichen Verkehrssprache fixirt sind. Ich bin im Gegenteil
der Meinung, dass die Natur der Begriffe an den wissenschaft-
lichen Begriffen, welche mit Bewusstsein gebildet und an-
gewendet werden, sich viel besser offenbaren muss, als an
den vulgären Begriffen. Letztere können wegen ihrer Ver-
schwommenheit kaum zu den eigentlichen Begriffen gerechnet
werden. Die Worte der Vulgärsprache sind einfach gefäufige
Merkzeichen, welche ebenso geläufige Denkgewohnheiten aus-
lösen. Der begriffliche Inhalt dieser Worte, soweit er überhaupt
in schärferer Form besteht, kommt kaum zum Bewusstsein, wie
dies auch Ribot bei seinen statistischen Versuchen gefunden
hat. Ohne Zweifel könnte ich Gomperz und Ribot noch viel
weiter zustimmen, als es schon jetzt der Fall ist, wenn sie auch die
wissenschaftlichen Begriffe in ihre Untersuchung einbezog'en hätten.
Wir haben als einfaches Beispiel des Begriffes oben das
statische Moment gewählt. Comphcirte Begriffe werden ein com-
plicirtes System von Reactionen erfordern, welche mehr oder
weniger grosse Theile des Centralnervensystems in Anspruch
nehmen, und ein entsprechend complicirtes den Begriff charac-
terisirendes .System von sinnlichen Elementen zu Tage fördern.
l) Principien der Wurniclclirc, 2. Aufl., 1900, S. 415, 422.
— 249 ^
Die von J. v. Kries erhobenen Schwierigkeiten i) möchten bei
dieser Auffassung" nicht unüberwindhch sein. (Vergl. S. 56, 57.)
Die sinnhche Thatsache ist also der Ausgaiigpunkt und
auch das Ziel aller Gedankenanpassungen des Physikers. Die
Gedanken, welche unmittelbar der sinnlichen Thatsache folgen, sind
die geläufigsten, stärksten und anschaulichsten. Wo man
einer neuen Thatsache nicht sofort folgen kann, dräng-en sich die
kräftigsten und geläufigsten Gedanken heran, um dieselbe reicher
und bestimmter zu gestalten. Hierauf beruht jede naturwissen-
schaftliche Hypothese und Speculation, deren Berechtigung in der
Gedankenanpassung liegt, welche sie fördert und schliesslich her-
beiführt. So denken wir uns den Planeten als einen geworfenen
Körper, stellen uns den electrischen Körper mit einer fernwirkenden
Flüssigkeit bedeckt vor, denken uns die Wärme als einen Stoff,
der aus einem Körper in den andern überfliesst, bis uns schliess-
lich die neuen Thatsachen ebenso geläufig und anschaulich
werden als die älteren, die wir als Gedankenhilfe herangezogen
hatten. Aber auch wo von unmittelbarer Anschaulichkeit nicht
die Rede sein kann, bilden sich die Gedanken des Physikers unter
möglichster Einhaltung des Princips der Continuität und der
zureichenden Differenzirung zu einem ökonomisch ge-
ordneten System von Regriffsreactionen aus, welche wenigstens
auf den kürzesten Wegen zur Anschaulichkeit führen. Alle
Rechnungen, Constructionen u. s. w. sind nur die Zwischenmittel
diese Anschaulichkeit schrittweise und auf sinnliche Wahrnehm-
ung gestützt zu erreichen, wo dieselbe nicht unmittelbar zu er-
reichen ist.
12.
Betrachten wir nun die Ergebnisse der Gedankenan-
passung. Nur dem, was an den Thatsachen überhaupt beständig
I) J. V. Kries, Die materiellen Grundlagen der Bewusstseinserscheinungen.
Freiburg i. Br, 1898.
— 250 —
ist, können sich die Gedanken anpassen, und nur die Nach-
bildung des Beständigen kann einen ökonomischen Vortheil
gewähren. Hierin hegt also der letzte Grund des Strebens nach
Continuität der Gedanken, d. h. nach Erhaltung der möghch-
sten Beständigkeit, und hierdurch werden auch die Anpassungs-
ergebnisse verständhch ^). Continuität, Oekonomie und Be-
ständigkeit bedingen sich gegenseitig; sie sind eigentlich nur
verschiedene Seiten einer und derselben Eigenschaft des gesunden
Denkens.
13-
Das bedingungslos Beständige nennen wir Substanz.
Ich sehe einen Körper, wenn ich ihm den Blick zuwende. Ich
kann ihn sehen, ohne ihn zu tasten. Ich kann ihn tasten, ohne
ihn zu sehen. Obgleich also das Hervortreten der Elemente des
Complexes an Bedingungen geknüpft ist, habe ich dieselben doch
zu sehr in der Hand, um sie besonders zu würdigen und zu
beachten. Ich betrachte den Körper, oder den Elementencomplex
oder den Kern dieses Complexes als stets vorhanden, ob er mir
augenblicklich in die wSinne fällt oder nicht. Indem ich den Ge-
danken dieses Complexes, oder das Symbol desselben, den Ge-
danken des Kerns mir stets parat halte, gewinne ich den Vor-
theil der Voraussicht, und vermeide den Nachtheil der Ueber-
raschung. Ebenso halte ich's mit den chemischen Elementen, die
mir als beding'ungslos beständig erscheinen. Obgleich hier mein
Wille nicht genügt, um die betreffenden Complexe zur sinnlichen
Thatsache zu machen, obgleich hier auch äussere Mittel nöthig
sind, sehe ich doch von diesen Mitteln ab, sobald sie mir ge-
läufig geworden, und betrachte die chemischen Elemente einfach
als beständig. Wer an Atome glaubt, hält es mit diesen
analog.
Aehnlich wie mit dem Elementencomplex, der einem Körper
entspricht, können wir auf einer höheren Stufe der Gedanken-
I) Vergl. : „die Mechanik in ihrer Entwicklung". i. Aufl. 1883 4. Aufl.
S. 519, 520.
— 251 —
anpassung auch mit ganz Gebieten von Thatsachen verfahren.
Wenn wir von Electricität, Mag'netismus, licht, Wärme sprechen,
auch ohne uns hierunter besondere Stoffe zu denken, so schreiben
wir diesen Thatsachengebieten, wieder von den uns geläufigen
Bedingungen ihres Hervortretens absehend, eine Beständigkeit
zu, und halten die nachbildenden Gedanken stets parat, mit gleichem
Vortheil wie in den obigen Fällen. Wenn ich sage, ein Körper
ist ,,electrisch", so ruft mir dies viel mehr Erinnerungen wach,
ich erwarte viel bestimmtere Gruppen von Thatsachen, als wenn
ich etwa die in dem Einzelfall sich äussernde Anziehung hervor-
heben würde. Doch kann diese Hypostasirung auch ihre Nach-
theile haben. Zunächst wandeln wir, solange wir so verfahren,
immer dieselben historischen Weg-e. Es kann aber wichtig sein
zu erkennen, dass es eine specifisch electrische Thatsache gar
nicht gibt, dass jede solche Thatsache z. B. ebensogut als eine
chemische oder thermische angesehen werden kann, oder
vielmehr, dass alle physikalischen Thatsachen schliesslich aus den-
selben sinnlichen Elementen (Farben, Drucken, Räumen, Zeiten)
sich zusammensetzen, dass wir durch die Bezeichnung „electrisch",
bloss an eine Specialform erinnert werden, in welcher wir die
Thatsache zuerst kennen gelernt haben.
Haben wir uns gewöhnt, den Körper, welchem wir die
tastende Hand und den Blick beliebig zu- und abwenden können,
als beständig anzusehen, so thun wir dies auch leicht in Fällen,
in welchen die Bedingungen der Sinnenfälligkeit gar nicht in
unserer Hand liegen, z. B. bei Sonne und Mond, die wir nicht
tasten können, bei den Welttheilen, die wir vielleicht einmal und
nicht wieder sehen können, oder die wir gar nur aus der Be-
schreibung kennen. Dies Verfahren kann für eine ruhige öko-
nomische Weltauffassung seine Bedeutung haben, es ist aber ge-
wiss nicht dass einzig berechtigte. Es wäre nur ein consequenter
Schritt weiter, die ganze Vergangenheit, welche ja in ihren Spuren
noch vorhanden ist (da wir z. B. Sterne dort sehen, wo sie vor
Jahrtausenden waren), und die ganze Zukunft, die im Keime
schon da ist (da man z. B. unser Sonnensystem nach Jahrtausen-
— 252 —
den noch sehen wird, wo es jetzt ist), als beständig" anzusehen.
Ist doch der g'anze Zeitverlauf nur an Bedingung'en unserer
Sinnlichkeit gebunden. Mit dem Bewusstsein eines besonderen
Zweckes wird man auch diesen Schritt unternehmen dürfen.
14.
Eine wirkliche bedingungslose Beständig'keit gibt
es nicht, wie dies aus dem Besprochenen deutlich hervorgeht,
Wir gelangen zu derselben nur, indem wir Bedingungen über-
sehen, unterschätzen, oder als immer g-egeben betrachten, oder
willkürlich von denselben absehen. Es bleibt nur eine Art der
Beständigkeit, die alle vorkommenden Fälle von Beständigkeit
umfasst, die Beständigkeit der Verbindung (oder Beziehung).
Auch die Substanz, die Materie ist kein bedingungslos
Beständiges. Was wir Materie nennen, ist ein gewisser ge-
setzmässiger Zusammenhang der Elemente (Empfindungen).
Die Empfindungen verschiedener Sinne eines Menschen, so wie
die Sinnesempfindungen verschiedener Menschen sind gesetz-
mässig von einander abhängig. Darin besteht die Materie.
Der älteren Generation, namentlich den Physikern und Chemikern,
wird die Zumuthung vSchrecken erregen, die Materie nicht als
das absolut Beständige zu betrachten, und statt dessen ein festes
Verbindungsgesetz von Elementen, welche an sich sehr
flüchtig scheinen, als das Beständige anzusehn. Auch jüngeren
Leuten wird dies Mühe machen, und mich selbst hat es seiner Zeit
eine grosse Uebervvindung gekostet, zu dieser unvermeidlichen
Einsicht zu g'elangen. Doch wird man sich zu einer so radicalen
Aenderung der Denkweise entschliessen müssen, wenn man auf-
hören will, denselben Eragen immer wieder in gleicher Rath-
losigkeit gegenüber zu stehen.
Es kann sich nicht darum handeln, für den Hand- und Haus-
gebrauch den vulgären Begriff der Materie, der sich für diesen
Zweck instinctiv herausgebildet hat, abzuschaffen. Auch alle
physikalischen Maassbegriffe bleiben aufrecht, und erfahren nur
eine kritische Läuterung, wie ich dieselben in Bezug auf Mechanik,
— 253 —
Wärme, Electricität u. s. w. versucht habe. Hierbei treten ein-
fach empirische Begriffe an die Stelle der metaphysischen.
Die Wissenschaft erleidet aber keinen Verlust, wenn das starre,
sterile, beständige, unbekannte Etwas (die Materie) durch
ein beständig-es Gesetz ersetzt wird, das in seinen Einzelheiten
noch weiter durch die physikalisch-physiologische Forschung auf-
geklärt werden kann. Es soll hiermit keine neue Philosophie,
keine neue Metaphysik geschaffen, sondern einem aug-enblicklichen
vStreben der positiven Wissenschaften nach gegenseitigem An-
schluss entsprochen werden ^).
l5-
Die naturwissenschaftlichen Sätze drücken nur solche Be-
ständigkeiten der Verbindung aus: „Aus der Kaulquappe
wird ein Frosch. Das Chlornatrium tritt in Würfelform auf.
Der Lichtstrahl ist geradlinig. Die Körper fallen mit der Be-
(111 \
^j". Den beg-rifflichen Ausdruck dieser
Beständigkeiten nennen wir Gesetze. Die Kraft (im mechani-
schen Sinne) ist auch nur eine Beständigkeit der Verbindung.
Wenn ich sage, ein Körper A übe auf B eine Kraft aus, so
heisst dies, dass B sofort eine gewisse Beschleunigung- gegen A
zeigt, sobald es diesem gegenübertritt.
Die eigenthümliche Illusion, als ob der Stoff A der absolut
beständige Träger einer Kraft wäre, welche wirksam wird,
sobald B dem A gegenübertritt, ist leicht zu beseitigen. Treten
wir, oder g^enauer unsere Sinnesorg'ane, an die Stelle von B, so
sehen wir von dieser jederzeit erfüllbaren Bedingung ab, und
A erscheint uns als absolut beständig. So scheint uns das magne-
tische Eisen, das wir immer sehen, so oft wir hinblicken wollen,
als der beständige Träger der magnetischen Kraft, die erst wirk-
sam wird, sobald ein Eisenstückchen hinzutritt, von welchem
I) Vgl. Princ. der Wärmelehre 2. Aufl. 1900, S. 423 u. fF.
— 254 —
wir nicht so unvermerkt absehen können, wie von uns selbst^).
Die Phrasen: „Kein Stoff ohne Kraft, keine Kraft ohne Stoff",
welche einen selbstverschuldeten Widerspruch vergeblich auf-
zuheben suchen, werden entbehrlich, wenn man nur Beständig-
keiten der Verbindung anerkennt.
i6.
Bei hinreichender Beständigkeit unserer Umgebung entwickelt
sich eine entsprechende Beständig-keit der Gedanken. Vermöge
dieser Beständigkeit streben sie die halbbeobachtete Thatsache zu
vervollständigen. Dieser Vervollständigungstrieb entspringt
nicht der eben beobachteten einzelnen Thatsache, er ist auch
nicht mit Absicht erzeugt; wir finden ihn, ohne unser Zuthun, in
uns vor. Er steht uns wie eine fremde Macht gegenüber, die
uns doch stets begleitet und hilft, den wir eben brauchen, um
die Thatsache zu ergänzen. Obgleich er durch die Erfahrung ent-
wickelt, ist liegt in ihm mehr, als in der einzelnen Erfahrung.
Der Trieb bereichert gewissermaassen die einzelne Thatsache.
Durch ihn ist sie uns mehr. Mit diesem Trieb haben wir stets
ein grösseres Stück Natur im Gesichtsfeld, als der Unerfahrene
mit der Einzelthatsache allein. Denn der Mensch mit seinen Ge-
danken und seinen Trieben ist eben auch ein Stück Natur, das
sich zur Einzelthatsache liinzufügt. Anspruch auf Unfehlbar-
keit hat aber dieser Trieb keineswegs, und eine Nothwendig'-
keit für die Thatsachen , ihm zu entsprechen, besteht durchaus
nicht. Unser Vertrauen zu ihm liegt nur in der Voraus-
setzung der vielfach erprobten zureichenden Anpassung unserer
I) Dem Kinde erscheint alles als substanziell, zu dessen Wahrnehmung es
nur seiner Sinne bedarf. Das Kind fragt, ,,wo der Schatten, wo das gelöschte
Licht hinkömmt?" Es will die Electrisirmaschine nicht weiterdrehen lassen, um den
Funkenvorrath derselben nicht zu erschöpfen. Ein noch nicht ein Jahr alter Knabe
wollte seinem ein Liedchen pleifendan Vater die Töne den den Lippen wegfangen.
Das Haschen nach larbigcn Nachbildern kommt auch bei grösseren Kindern noch vor
u. s. w. u. s. w. — Erst sobald wir Bedingungen einer Thatsache ausserhalb uns
bemerken, verschwindet der Eindruck der Substanzialität. Die Geschichte der Wärme-
lehre ist in dieser Beziehung sehr lehrreich.
— 255 —
Gedanken, welche aber jeden Augenblick der Enttäuschung ge-
wärtig sein muss.
Nicht alle unsere Thatsachen nachbildenden Gedanhen haben
die gleiche Beständigkeit. Immer und überall, wo wir an der
Nachbildung der Thatsachen ein besonderes Interesse haben,
werden wir bestrebt sein, die Gedanhen von geringerer Be-
ständigkeit durch solche von grösserer Beständigkeit zu stützen
und zu stärken, oder sie durch solche zu ersetzen. So denkt sich
Newton den Planeten, obgleich die Kepler 'sehen Gesetze schon
bekannt sind, als einen geworfenen Körper, die Masse der
Fluthwelle, obgleich der Verlauf derselben längst ermittelt ist, als
vom Monde gezogen. Das Saugen, das Fliessen des Hebers
glauben wir erst zu verstehen, wenn wir uns den Druck der
Luft als die Kette der Theilchen zusammenhaltend hinzudenken.
Aehnlich versuchen wir die electrischen, optischen, thermischen
Vorgänge als mechanische aufzufassen. Dies Bedürfniss nach
Stützung schwächerer Gedanken durch stärkere wird auch Cau-
salitäts bedürfniss genannt, und ist die Haupttriebfeder aller natur-
wissenschaftlichen Erklärungen. Als Grundlagen ziehen wir
natürlich die stärksten besterprobten Gedanken vor, die uns
unsere viel geübten mechanischen Verrichtungen an die Hand
geben, und die wir jeden Augenblick ohne viele Mittel auf's Neue
erproben können. Daher die Autorität der mechanischen Er-
klärungen, namentlich jener durch Druck und Stoss. Eine noch
höhere Autorität kommt dementsprechend den mathematischen
Gedanken zu, zu deren Entwicklung wir der geringsten äusseren
Mittel bedürfen, für welche wir vielmehr das Experimentirmaterial
grossentheils stets mit uns herumtragen. Weiss man dies aber
einmal, so schwächt sich eben damit das Bedürfniss nach mecha-
nischen Erklärungen ab^).
i) Aussermechanische physikalische Erfahrungen können sich, in dem Maasse
als sie geläufiger werden, dem Werlhe der mechanischen nähern. Stricker hat
meines Erachtens einen richtigen und wichtigen Punkt getroffen, indem er
(Studien über die Association der Vorstellungen, Wien 1883) die Causalität mit
dem Willen in Zusammenhang bringt. Ich selbst habe 1861 als junger Docent (bei
- 256 -
Dass man mit einer sogenannten causalen Erklärung auch
nur einen Thatbestand, einen thatsächlichen Zusammenhang con-
statirt (oder beschreibt), habe ich schon mehrfach dargelegt, und
ich könnte mich einfach auf meine ausführlichen Auseinander-
setzungen in der „Wärmelehre" und in den „Populären Vor-
lesungen" berufen. Da aber der Physik ferner Stehende immer
wieder weiter und tiefer zu denken g-Jauben, wenn sie einen funda-
mentalen Unterschied zwischen einer naturwissenschaftlichen Be-
schreibung, z. ß. einer embryonalen Entwicklung, und einer phy-
sikalischen Erklärung annehmen, so seien noch einige Worte ge-
stattet. Wenn wir das Wachsthum einer Pflanze beschreiben, so
bemerken wir, dass so viele und mannigfaltige Umstände, die von
Fall zu Fall variiren, hierbei im Spiel sind, dass unsere Be-
schreibung" höchstens in den gröberen Zügen allgemein passen,
in den feineren Einzelheiten aber nur für den Individualfall Geltung
haben kann. Gerade so verhält es sich in physikalischen Fällen
unter complicirteren Umständen; nur sind letztere im allg'emeinen
doch einfacher und besser bekannt. Wir können die Umstände
deshalb besser experimentell und auch intellectuell (durch
Abstraction) trennen, wir können leichter schematisiren. Die Be-
wegung der Planeten zu beschreiben, war für die antike Astronomie
eine analoge Aufgabe, wie die Beschreibung der Entwicklung
einer Pflanze für den modernen Botaniker. Die Auffindung der
Kepler'schen Gesetze beruht auf einer glücklichen, ziemlich
rohen Schematisirung. Je genauer wir einen Planeten be-
trachten, desto individueller wird seine Bewegung", desto wenig'er
folgt sie den Kepler'schen Gesetzen. Genau genommen, be-
wegt sich jeder Planet anders, und derselbe Planet verschieden
zu verschiedenen Zeiten. Wenn nun Newton die Planeten-
Darlegung der Bedeutung der Mill' sehen Differenzmethode) die später von Stricker
ausgesprochene Ansicht mit grosser Lebhaftigkeit und Einseitigkeit vertreten. Der Ge-
danke hat mich auch nie ganz verlassen (vergl. z. B. ,,Die Mechanik in ihrer Ent-
wickelung", Leipzig 1883, S. 78, 282, 456). Gegenwärtig bin ich aber wie die
obigen Ausführungen zeigen, doch der Meinung, dass diese Frage nicht so einfach ist,
und von mehreren Seiten betrachtet werden muss. Vergl. Wärmelehre, 2. Aufl.,
1900, S. 432.
— 257 —
bewegungen „causal erklärt", indem er statuirt, dass ein Massen-
theilchen m durch ein anderes ;;/ die Beschleunigung 99 = — y
erfährt, und dass die von verschiedenen Massentheilchen an
ersterem bestimmten Beschleunigungen sich geometrisch summiren,
werden wieder nur Thatsachen constatirt oder beschrieben,
welche sich (wenn auch auf einem Umwege) durch Beobachtung
ergeben haben. Betrachten wir, was hierbei geschieht. Zunächst
sind die bei der Planetenbewegung maassgebenden Umstände
(die einzelnen Massentheilchen und ihre Entfernungen) getrennt.
Das Verhalten zweier Massentheilchen ist sehr einfach, und wir
glauben alle Umstände (Masse und Entfernung), welche dasselbe
bestimmen, zu kennen. Wir nehmen die Beschreibung, die für
wenige Fälle als richtig befunden ist, auch über die Grenzen der
Erfahrung als allgemein richtig an, indem wir keine Störung
durch einen unbekannten fremdartigen Umstand besorgen, worin
wir uns allerdings täuschen könnten, wenn sich z. B. die Gravi-
tation als durch ein Medium zeitlich übertragen herausstellen
sollte. Ebenso einfach ist die Modification des Verhaltens, wenn
zu zwei Theilchen ein drittes, zu diesen ein viertes u. s. w. hinzu-
tritt, wie dies angedeutet wurde. Die Beschreibung" eines Individual-
f all es ist also die Newton 'sehe Beschreibung allerdings nicht; sie
ist eine Beschreibung" in den Elementen. Indem Newton
beschreibt, wie sich die Massenelemente in den Zeitelementen ver-
halten, gibt er uns die Anweisung, die Beschreibung eines beliebigen
Individualfalles aus den Elementen nach einer Schablone herzustellen.
So ist es auch in den übrigen Fällen, welche die theoretische
Physik bewältigt hat. Dies ändert a,ber nichts an dem Wesen
der Beschreibung. Es handelt sich um eine generelle Be-
schreibung in den Elementen. Wenn man an einer Darstellung
der Erscheinungen durch Differentialgleichungen sich genügen
lässt, wie ich es vor langer Zeit (Mechanik 1883, 4 Aufl. 1901,
S. 530) empfohlen habe, und wie es immer mehr in Aufnahme
kommt, so liegt darin thatsächlich die Anerkennung der Erklärung
als einer Beschreibung in den Elementen. Jeder Einzelfall lässt
Mach, Analyse. 3. Aufl. 1'
— 258 —
sich dann aus räumlichen und zeitlichen Elementen zusammen-
setzen, in welchen das physikalische Verhalten durch die Glei-
chungen beschrieben ist.
17-
Es wurde zuvor gesagt, dass der Mensch selbst ein Stück
Natur sei. Es sei erlaubt, dies durch ein Beispiel zu erläutern.
Ein Stoff kann für den Chemiker lediglich durch die Sinnes-
emptindungen genügend characterisirt sein. Dann liefert der
Chemiker selbst durch innere Mittel den ganzen zur Be-
stimmung des Gedankenlaufs nöthigen Reichthum der Thatsache.
Es kann aber in andern Fällen die Vornahme von Reactionen
mit Hilfe äusserer Mittel nöthig werden. Wenn ein Strom eine
in seiner Ebene befindliche Magnetnadel umkreist, so weicht der
Nordpol der Nadel zu meiner Linken aus, sobald ich mich in
den Strom als Ampere 'scher Schwimmer denke. Ich bereichere
die Thatsache (Strom und Nadel), die für sich meinen Gcdanken-
lauf nicht genügend bestimmt, indem ich mich selbst zuziehe
(durch eine innere Reaction). Ich kann auch tiuf die Ebene des
Stromkreises eine Taschenuhr legen, so dass der Zeiger der
Strombewegung folgt. Dann schlägt der Südpol vor, der
Nordpol hinter das Zifferblatt. Oder ich mache den Stromkreis
zur Sonnenuhr, nach welcher ja die Taschenuhr i) gebildet ist,
so dass der Schatten dem Strom folgt. Dann wendet sich der
Nordpol nach der beschatteten Seite der Stromebene. Die beiden
letzteren Reactionen sind äussere. Beide Arten zugleich
können nur brauchbar sein, wenn zwischen mir und der Welt
keine Kluft besteht. Die Natur ist ein Ganzes. Das nicht
in allen Fällen beiderlei Reactionen bekannt sind, und dass der
Beobachter in manchen Fällen einflusslos scheint, beweist nichts
gegen die vorgebrachte Ansicht.
Rechts und links erscheinen uns gleich im Gegensatze zu
vorn und hinten, oben und unten. Doch sind sie gewiss nur
verschiedene Empfindungen, welche durch stärkere gleiche
i) Die Uhr trägt in dem Drehungsinn des Zeigers die Spur an sich ihrer Ab-
stammung von der Sonnenuhr und ihrer Erfindung auf der nördhchen Hemisphäre.
— 259 —
übertäubt sind. Der Raum der Empfindung- hat also drei ausge-
zeichnete wesensverschiedene Richtungen. Für metrische
Betrachtungen sind alle Richtungen des geometrischen Raumes
gleich. Sjaumetrische Gebilde, welche uns die unmittelbare Em-
pfindung- als aequivalent vorg-espieg-elt, sind es aber in physischer
Beziehung durchaus nicht. Auch der physische Raum hat drei
wesensverschiedene Richtungen, welche sich in einem tri-
klinen Medium, in dem Verhalten eines electromagnetischen Ele-
mentes am deutlichsten offenbaren. Dieselben physischen Eigen-
schaften kommen eben auch in unserem Leib zum Vorschein,
und daher die Verwendbarkeit desselben als Reagens in physi-
kalischen Fragen. Die genaue physiologische Kenntniss eines
Elementes unseres Leibes wäre zugleich eine wesentliche Grund-
lage unseres physikalischen Weltverständnisses. Vgl. S. 7g.
Die wiederholt berührte Einheit des Physischen und Psychischen
verdient noch von einer besonderen Seite ins Auge gefasst zu
werden. Unser psychisches Leben, sofern wir darunter die Vor-
stellungen verstehen, scheint recht unabhängig von dem
physischen Vorgängen zu sein, sozusagen eine Welt für sich,
mit freiem Gesetzen, mit Gesetzen von anderer Ordnung. Das
ist aber gewiss nur ein Schein, der daher rührt, dass immer nur
ein winziger Theil der Spuren der physischen Vorgänge in den
Vorstellungen lebendig wird. Die Umstände, welche diesen Theil
bestimmen, sind so unübersehbar complizirt, dass wir keine g'enaue
Regel angeben können, nach welcher dies geschieht. Um zu
bestimmen, welche Gedanken etwa ein Physiker an die Beobach-
tung einer gewissen optischen Thatsache knüpfen wird, müsste
man die Erlebnisse seiner früheren Tage, die Stärke der Ein-
drücke, welche sie hinterlassen haben, die Thatsachen der allge-
meinen und technischen Culturentwicklung, welche auf ihn Ein-
fluss g-enommen haben, kennen, endlich noch im Stande sein,
seine augenblickliche Stimmung in Rechnung zu ziehen. Da-
zu wäre die gesammtc Physik im weitesten Sinne, und auf
17*
2ÖO
einer unerreichbar hohen Entwickhingsstufe als Hilfswissenschaft
nöthig 1).
Betrachten wir nun das Gegenbild. Eine ph3^sikalische
Thatsache, die wir zum ersten Mal erleben, ist uns fremd. Sie
könnte ganz anders verlaufen, als es g'eschieht, sie würde uns
darum nicht sonderbarer scheinen. Ihr Verlauf erscheint uns an
sich durch nichts bestimmt, am allerwenigsten eindeutig bestimmt.
Wodurch der Verlauf einer Thatsache den Charakter der Be-
stimmtheit gewinnt, kann nur aus der psj^chischen Entwicklung
verstanden werden. Durch das Vorstellungsleben tritt die That-
sache erst aus ihrer Isolirtheit heraus, kommt dieselbe mit einer
Eülle anderer Thatsachen im Contact , und gewinnt nun Be-
stimmtheit durch die Forderung der Uebereinstimmung mit letz-
teren und durch die Ausschliessung des Widerspruches. Die
Psychologie ist Hilfswissenschaft der Physik. Beide Gebiete
stützten sich gegenseitig und bilden nur in ihrer Verbindung eine
vollständige Wissenschaft. Der Gegenstand von Subject und
Object (in gewöhnlichem Sinne) besteht auf unserem Standpunkte
nicht. Die Frage der mehr oder weniger genauen Abbildung
der Thatsachen durch die Vorstellungen ist eine naturwissen-
schaftliche P'rage wie jede andere.
Wenn in einem Complex von Elementen einige durch andere
ersetzt werden, so geht eine Beständigkeit der V^erbindung in
eine andere Beständigkeit über. Es ist nun wünschenswerth, eine
Beständigkeit aufzufinden, welche diesen Wechsel überdauert.
J. R. Mayer hat zuerst dies Bedürfniss gefühlt, und hat dem-
selben durch Aufstellung seines Begriffes „Kraft" genügt, welcher
dem Begriff Arbeit (Poncelet) der Mechaniker, oder genauer
dem allgemeinern Begriff Energie (Th. Young) entspricht. Er
I) So sehr ich also eine rein physiologische Psychologie als Ideal hochschätze,
würde es mir doch als eine Verkehrtheit erscheinen, die sogenannte ,,introspective"
Psychologie ganz abzuweisen, da die Selbstbeobachtimg nicht nur ein sehr wichtiges,
sonderu in vielen Fällen das einzige Mittel ist, um über grundlegende Thatsachen Auf-
schluss zu erhalten.
— 201 —
stellt sich diese Kraft (oder Energie) als etwas absolut Bestän-
diges (wie einen Vorrath oder Stoff) vor, und geht so bis auf
die stärksten und anschaulichsten Gedanken zurück. Aus dem
Ringen mit dem Ausdruck, mit allgemeinen philosophischen
Phrasen (in der i. und 2. Abhandlung May er 's) sehen wir, dass
sich ihm zuerst unwillkürlich und instinctiv das starke Be-
dürfniss nach einem solchen Begriff aufgedrängt hat. Dadurch
aber dass er die vorhanden physikalischen Begriffe den That-
sachen und seinem Bedürfniss angepasst hat, ist erst die grosse
Leistung zu Stande gekommen ^).
Bei genügender Anpassung werden die Thatsachen von den
Gedanken spontan abgebildet, und theil weise gegebene That-
sachen ergänzt. Die Physik kann nur als quantitatives Regu-
lativ wirken, und die spontan verlaufenden Gedanken, dem prak-
tischen oder wissenschaftlichen Bedürfniss entsprechend, be-
stimmter gestalten. Wenn ich einen Körper horizontal werfen
sehe, kann mir das anschauliche Bild der Wurfbewegung auf-
tauchen. Für den Artilleristen oder Physiker ist mehr nöthig.
Er muss z. B. wissen, dass wenn er, an die horizontale Abscisse
der Wurfbahn den Maassstab M anlegend, bis i, 2, 3, 4 ... .
zählen kann, er an die verticalen Ordinaten, den Maassstab M'
anlegend, zugleich bis i, 4, 9 16 ... . zählen muss, um zu
einem Punkt der Wurfbahn zu gelangen. Die Function der
Physik besteht also darin, zu lehren, dass eine Thatsache, welche
auf eine bestimmte Reaction R ein Empfindungsmerkmal E
liefert, zugleich noch auf eine andere Reaction R' ein anderes
Merkmal E' zeigt. Hierdurch wird die bestimmtere Ergänzung
einer theilweise gegeben Thatsache möglich.
Die Einführung der allgemein vergleichbaren, sogenannten
absoluten Maasse in die Physik, die Zürückführung aller physi-
kalischen Messungen auf die Einheiten: Centimeter, Gramme, Se-
I) Vgl. Principien d. Wärmelehre. 2. Aufl. 1900.
102
cunde (Länge, Masse, Zeit) hat eine eigenthümliche Folge. Es
besteht ohnehin die Neigung, das physikalisch Fassbare und
Messbare, das g'emeinschaftlich Constatirbare ^), für „objectiv" und
„real" gegenüber den subjectiven Empfindungen zu halten. Diese
Meinung erhält nun scheinbar eine Stütze, eine psychologische
(wenn auch nicht logische) Motivirung durch die absoluten Maasse.
Es sieht so aus, als ob das, was wir in bekanntem Sinne Em-
pfindungen nennen, in der Physik etwas ganz Ueberflüssiges
wäre. Sehen wir genauer zu, so lässt sich ja das System der
Maasseinheiten noch weiter vereinfachen. Denn die Maasszahl
der Masse ist durch ein Beschleunig'ungsverhältniss gegeben, und
die Zeitmessung" kommt auf eine Winkel- oder Bogenlängen-
messung zurück. Demnach ist die Läng'enm essung die Grund-
lage für alle Messungen. Allein den blossen Raum messen
wir nicht, wir brauchen einen körperlichen Maasstab, womit das
ganze System mannigfaltiger Empfindungen wieder eingeführt
ist. Nur sinnliche anschaulicheVorstellungen können zur Aufstellung
der Gleichungen der Physik führen, und in eben solchen besteht
deren Interpretation. Obschon also die Gleichungen nur räum-
liche Maasszahlen enthalten, sind dieselben auch nur das ordnende
Princip, das uns anweist, aus welchen Gliedern in der Reihe der
sinnlichen Elemente wir unser Weltbild zusammenzusetzen haben.
21.
Es wurde anderwärts ^) ausgeführt, dass quantitative Auf-
stellungen sich von qualitativen nur dadurch unterscheiden, dass
erstere sich auf ein Continuum von gleichartigen Phallen beziehen.
Hiernach wäre die vortheilhafte Anwendung der Gleichungen
zur Beschreibung nur in einem sehr beschränkten Gebiet zu-
lässig. Es ist jedoch Aussicht vorhanden, dieses Gebiet successive
ins Unbegrenzte zu erweitern, und zwar in folgender Art. Die
möglichen (optischen) Empfindungen können, wenn auch nicht
gemessen, doch nach psychophysischen Methoden durch Zahlen
i) In der That weiden hierbei individuelle Zufälligkeilen eliminirt.
2) Zuletzt: Wärmelchic S. 438, 459.
— 263 —
characterisirt und inventarisirt werden. Irgend ein (optisches)
Erlebniss kann nun beschrieben werden, indem man die Werthe
der Zahlencharacteristiken als abhängig von den Raum- und
Zeitconcendinaten und von einander durch Gleichungen
darstellen. Aehnliches wird man im Princip auch in anderen
Sinnesgebieten für erreichbar halten dürfen. Der S. 36 gebrauchte
Ausdruck hat also einen genau angebbaren Sinn.
22.
Die Ermitthmg- der Abhängig-keit der Elemente ABC., von
einander unter Absehen von KLM ist die Aufgabe der Natur-
wissenschaft, oder der Physik im weitesten Sinne. In Wirkhchkeit
sind aber die ABC . . immer auch von KLM abhängig. Es bestehen
immer Gleichungen von der Form f {A, B, C, . . . IC,L,M..) = o.
Indem riun viele verschiedene Beobachter KLM . . , K L AI' . . ,
K"L"M" . . sich betheiligen, gelingt es, den zufälligen Einfluss der
Variation Non KLM.. u. s. w. zu eliminiren und nur das gemein-
schaftlich Constatirbare, die reine Abhängigkeit der ABC..
von einander zu ermitteln. Hierbei verhalten sich 6\.qKLM..,
K'L'M' .. wie physikaHsche Apparate, von deren Eigenthümlich-
keiten, speciellen Constanten u. s. w. die Anzeigen, die Ergebnisse
befreit werden müssen. Handelt es sich aber nur um den Zu-
sammenhangeiner quantitativenReaction mit andern quantitativen
Reactionen, wie in dem obigen Beispiele der Dynamik, so ist die
Sache noch einfacher. Es kommt dann alles auf die Constatirung
von Gleichheit oder Identität der ABC., unter gleichen Um-
ständen (unter gleichen KLM . .), eigentlich nur auf Constatirung von
räumlichen Identitäten hinaus. Die Art der Empfindungsqualitäten
ist nun gleichgiltig ; nur deren Gleichheit ist massgebend. Ein
einziges Individuum genügt nun, um Abhängigkeiten festzustellen,
welche für jedes Individuum gelten. So wird von hier aus eine
sichere Basis für das ganze Gebiet der Forschung gewonnen.
Auch der Psychophysiologie gereicht dies zum Vortheil.
— 264 —
23-
Der Raum des Geometers ist durchaus nicht das blosse System
der Raum empfindun gen (des Gesichts- und Tastsinnes), sondern
derselbe besteht vielmehr aus einer Menge von physikalischen
Erfahrungen, welche an die Raumempfindungen anknüpfen. Schon
indem der Geometer seinen Raum als an allen Stellen und nach
allen Richtungen gleich beschaffen betrachtet, geht er weit über
den dem Tast- und Gesichtssinn gegebenen Raum hinaus, welcher
diese einfache Eigenschaft durchaus nicht hat (S. 125, 134 u. f.).
Ohne physikalische Erfahrung würde er nie dahin gelangen.
Die grundlegenden Sätze der Geometrie werden auch thatsächlich
nur durch physikalische Erfahrung'en, durch Anlegen von
Längen und Winkelmaassstäben gewonnen , durch Anlegen
starrer Körper einander. Ohne Congruenzsätze keine Geome-
trie. Abgesehen davon, dass Raumbilder uns ohne physikalische
Erfahrung gar nicht auftauchen würden, wären wir auch nicht
im Stande, dieselben an einander anzulegen um ihre Cogruenz zu
prüfen. Wenn wir einen Zwang fühlen, ein gleichschenkliges
Dreieck auch mit gleichen Winkeln an der Grundlinie vorzustellen,
so beruht derselbe auf der Erinnerung an starke Erfahrungen.
Beruhte der Satz auf „reiner Anschauung", so brauchten wir ihn
nicht zu lernen. Dass man in der blossen geometrischen Phanta-
sie Entdeckungen machen kann, wie es täglich geschieht, zeigt
nur, dass auch die Erinnerung' an die Erfahrung uns noch
Momente zum Bewusstsein bringen kann, die früher unbeachtet
blieben, so wie man an dem Nachbild einer hellen Lampe
noch neue Einzelheiten zu bemerken vermag. Selbst die Zahlen-
lehre muss in ähnlicher Weise aufgefasst werden. Auch ihre
grundlegenden Sätze werden von der Erfahrung- nicht ganz un-
abhängig sein.
Der Ueberzeugende der Geometrie (und der ganzen
Mathematik) beruht nicht darauf, dass ihre Lehren durch eine ganz
besondere Art der Erkenntnis gewonnen werden^ sondern nur
darauf, dass ihr Erfahrungsmaterial uns besonders leicht und
— 265 —
bequem zur Hand ist, besonders oft erprobt wurde, und jeden
Augenblick wieder erprobt werden kann. Auch ist das Gebiet
der Raumerfahrung ein viel beschränkteres, als das der ge-
sammten Erfahrung. Die Ueberzeugung, das erstere im Wesent-
lichen erschöpft zu haben, wird alsbald Platz greifen, und das
nöthige Selbstvertrauen erzeugen i).
23-
Ein ähnliches Selbstvertrauen, wie der Geometer, hat ohne
Zweifel auch der Componist, der in dem Gebiet der Tonempfin-
dungen, der Ornamentenmaler, der im Gebiet der Farbenempfin-
dungen reiche Erfahrungen gewonnen hat. Dem einen wird kein
Raumgebilde vorkommen, dessen Elemente ihm nicht wohlbe-
kannt wären, die beiden andern werden auf keine neuen Ton-
oder Farbencombination stossen. Ohne Erfahrung wird aber der
Anfänger in der Geometrie durch die Ergebnisse seiner Thätig-
keit nicht minder überrascht oder enttäuscht, als der junge
Musiker oder Ornamentist.
Der Mathematiker, der Componist, der Ornamentist und
der Naturforscher, welche sich der Speculation ergeben, ver-
fahren trotz der Verschiedenheit des Stoffes und Zweckes ihrer
Thätigkeit in ganz analoger Weise. Der erstere ist allerdings
wegen der grössten Beschränktheit des Stoffes gegen alle
in Bezug auf die Sicherheit seines Vorgehens im Vortheil,
der letztere aus dem entgegengesetzten Grunde gegen alle im
Nachtheil.
24.
Die Unterscheidung des physiologischen und geometrischen
Raumes hat sich als unvermeidlich erwiesen. Indem aber geo-
metrische Einsicht durch die räumliche Vergleichung der Körper
miteinander gewonnen wird, kann schon die Zeit nicht ausser
Betracht bleiben, da es unmöglich ist, hierbei vom Transport der
i) Vgl. Wärmelehre S. 455. — Meinong, Hume-Studien, Wien 1877.
Zindler, Beitr. z. Theorie d. raathem. Erkenntniss, Wien 1889.
— 266 —
Körper abzusehen. Raum und Zeit stehen in einem innig-ern
Zusammenhange, und zeigen sich hierbei relativ unabhängig
von andern physikahschen Elementen. Dies spricht sich in der
Bewegung der Körper bei sonstiger relativer Constanz ihrer
übrigen Eigenschaften aus. Die Entstehung einer reinen Geo-
metrie, Phoronomie und Mechanik wird eben dadurch möglich.
Wenn wir genau zusehen, so bedeuten Raum und Zeit in
physiologischer Beziehung besondere Arten von Empfindungen,'
in physikalischer Beziehung aber functionale Abhängig-
keiten der durch Sinnesempfindungen charakterisirten Elemente
von einander. Indem die räumlichen und zeitlichen phy.sio-
logischen Indices, welche durch Theile und Vorgänge unseres
Leibes bedingt sind, bei gleichen physiologischen Umständen
untereinander verglichen werden , ergeben sie Abhängigkeiten
der physikalischen Elemente von einander. (Abhängigkeit
der Elemente eines Körpers von jenen eines andern, Abhängig-
keit der Elemente eines Vorgang' von jenen eines andern). Auf
Grund dieser Einsicht kann man zeitliche und räumliche Bestim-
mungen rein ph3^sikalisch vornehmen. Was mit dem kleineren
Theil eines stetig einsinnig ablaufenden Vorganges zusammen-
trifft, ist zeitlich früher. Im homogen erfüllten Raum ist der
Ort B dem Ort A näher als ein anderer, wenn B von dem von
A aus erregten Vorgang früher erreicht wird, als jener andere.
Die Gerade ist der Inbegriff der durch die physikalische Be-
ziehung zweier Punkre (unendlich kleiner Körper) eindeutig
bestimmten Orte. Der Ort C liegt im Halbirungspunkt der Ge-
raden AB, wenn derselbe im homogenen Raum durch Vorgänge
von A und B aus in gleicher Zeit erreicht wird, und in
kürzerer Zeit als jeder andere, der erstere Eigenschaft mit ihm
theilt.
25-
Die Zeit des Physikers fällt nicht mit dem vSystem der
Zeitempfindungen zusammen. Wenn der Physiker eine Zeit
bestimmen wiU, so legt er identische oder als identisch vor-
267 —
ausgesetzte Vorgänge, Pendelschwingungen, Erdrotationen
u. s. \v., als Maassstab an. Die mit der Zeitempfindung verknüpfte
Thatsache wird also einer Reaction unterworfen, und das Ergeb-
niss derselben, die Zahl, zu der man gelangt, dient nun statt
der Zeitempfindung zur nähern Bestimmung- des Gedanken-
laufs. Ganz ebenso richten wir unsere Gedanken über Wärme-
vorgänge nicht nach der Wärmeempfindung, die uns die Körper
liefern, sondern nach der viel bestimmteren, welche durch die
Thermometerreaction bei Ablesung des Standes des
Quecksilberfadens sich ergibt. Gewöhnlich wird an die Stelle der
Zeitempfindung eine Raumempfindung (Drehung'swinkel der Erde
Weg des Zeigers auf dem Uhrzifferblatt), und für die letztere
wieder eine Zahl gesetzt. Stellt man z. B. den Temperatur-
überschuss eines abkühlenden Körpers über die Umgebung durch
— kt
§■ = 0e dar, so ist t jene Zahl.
Die Beziehung, in welcher die Grössen einer Gleichung stehen,
ist gewöhnlich (anatytisch) eine allgemeinere als diejenige^
welche man durch die Gleichung darstellen will. So haben in der
Gleichung 1 — j -[- (-£-) = i alle beliebigen Werthe von x
einen anal5^tischen Sinn, und liefern zugehörige Werthe von y.
Verwenden wir aber diese Gleichung zur Darstellung einer
Ellipse, so haben nur die Werthe von x <^ a und von y ■<! b
einen (reellen) geometrischen Sinn.
Aehnlich müsste man, wenn dies nicht auf der Hand läge.
— kt
ausdrücklich hinzufügen, dass die Gleichung -0= 0q nur für
wachsende Werthe von t den Vorgang darstellt.
Denken wir uns den Verlauf verschiedener Thatsachen, z. B.
die Abkühlung eines Körpers und den freien Fall eines andern,
durch solche Gleichungen dargestellt, welche die Zeit enthalten,
so kann aus denselben die Zeit eliminirt, und etwa der Temperatur-
überschuss durch den Fallraum bestimmt werden. Die Elemente
stellen sich dann einfach als abhängig von einander dar. Man
müsste aber den Sinn einer solchen Gleichung durch die Hinzu-
— 268 —
fügung näher bestimmen, dass nur wachsende Fallräiime oder
abnehmende Temperaturen nach einander einzusetzen seien.
Wenn wir so den Temperaturüberschuss durch den Fallraura
bestimmt denken , so ist die Abhängigkeit keine unmittelbare.
Darin stimme ich Petzoldt^) bei. Die Abhängigkeit ist aber
ebenfalls keine unmittelbare, wenn wir den Temperaturüberschuss
durch den Drehungswinkel der Erde bestimmt setzen. Denn
Niemand wird glauben, dass noch dieselben Temperaturwerthe ,
auf dieselben Winkelwerthe entfallen würden, wenn die Erde
etwa durch einen Stoss ihre R.otationsgesch windigkeit ändern
würde. Aus solchen Betrachtungen scheint mir doch zu folgen,
dass unsere Aufstellungen provisorische sind, welche auf theilweiser
Unkenntniss gewisser maassgebender, uns unzugänglicher unab-
hängig Variablen beruhen. Nur so wollte ich seiner Zeit meinen
Hinweis auf eine Unbestimmtheit verstanden wissen ^). Diese
Ansicht ist auch sehr wohl verträglich mit der Aufstellung ein-
deutiger Bestimmtheiten, welche immer unter Voraussetzung ge-
gebener Umstände und unter Abstraction von ungewöhnlichen
und unerwarteten Aenderungen stattfindet. Diese Auffassung ist,
wie mir scheint, unvermeidlich, wenn man bedenkt, dass der von
Petzoldt betonte Unterschied simultaner und succedaner Ab-
hängigkeiten wohl für die anschauliche Vorstellung", nicht aber
für die Gleichungen gilt, welche für erstere das quantitative
Regulativ sind. Letztere können nur einerlei Art sein, nur
simultane Abhängigkeiten aussprechen. Der Indeterminismus
in gewöhnlichem Sinn, etwa die Annahme einer Willensfrei-
heit im Sinne mancher Philosophen und Theologen liegt mir
gänzlich fern.
Die Zeit ist nicht umkehrbar. Ein warmer Körper in kalter
Umgebung kühlt nur ab, und erwärmt sich nicht. Mit grösseren
(späteren) Zeitempfindungen sind nur kleinere Temperaturüber-
schüsse verknüpft. Ein Haus in Flammen brennt nieder, und baut
n) Petzoldt, Das Gesetz der Eindeutigkeit. Vierteljahrsschrift f. wissen-
schaftl. Philosophie, XIX, S. 146 fg.
2) Mach, Erhaltung der Arbeit. Prag 1872.
— 269 —
sich nicht auf. Die Pflanze kriecht nicht sich verkleinernd in die
Erde, sondern wächst sich vergrössernd heraus. Die Thatsache
der Nichtumkehrbarkeit der Zeit reducirt sich darauf, dass die
Werthänderungen der physikalischen Grössen in einem be-
stimmten Sinne stattfinden. Von den beiden analytischen Mög-
lichkeiten ist nur die eine wirklich. Ein metaphysisches
Problem brauchen wir hierin nicht zu sehen.
Veränderungen können nur durch Differenzen bestimmt sein.
Im Unterschiedslosen gibt es keine Bestimmung. Die eintretende
Veränderung kann die Unterschiede vergrössern oder verkleinern.
Hätten aber die Differenzen die Tendenz sich zu vergrössern, so
würde die Veränderung ins Unendliche und Ziellose gehen.. Mit
dem allgemeinen Weltbild, oder vielmehr jenem unserer beschränk-
ten Umgebung-, verträgt sich nur die Annahme einer im All-
gemeinen d if f er enz verkleinern den Tendenz. Es würde
aber bald überhaupt nichts mehr g'eschehen, wenn nicht von aussen
Differenz setzende Umstände eindringen würden.
Wir können auch, wie Petzoldt, aus unserem eigenen Be-
stehen, aus unserer körperlichen und geistigen Stabilität, auf die
Stabilität, eindeutige Bestimmtheit und Einsinnigkeit der Vorgänge
in der Natur schliessen. Denn nicht nur sind wir selbst ein Stück
Natur (S. 258), sondern die genannten Eigenschaften in unserer
Umgebung bedingen unser Bestehen und Denken (vgl. Populär-
wiss. Vorlesungen, S. 238). Allein zu viel lässt sich hierauf nicht
bauen, denn die Organismen sind ein eigenartiges Stück
Natur von sehr begrenzter und massiger Stabilität, welche ja
thatsächlich auch zu Grunde gehen, und zu deren Erhaltung
anderseits eine nur massige Stabilität der Umgebung genügt.
Es wird also am zweckmässigsten sein, die Grenzen unseres
Wissens, die sich überall zeigen, anzuerkennen und das Streben
nach eindeutiger Bestimmtheit als ein Ideal anzusehen, das wir
in unserem Denken, so weit als möglich, verwirklichen.
— 270 —
Ich betrachte die Sätze, die ich in der Zeit der grössten
Gährung- meiner Gedanken (187 i) niedergeschrieben habe, nament-
lich in ihrer Form, selbstverständlich nicht als unangreifbar, und
sehe auch die Einwendungen von Petzoldt keinesweg's als muth-
willige an, hoffe aber, wenn ich ausführlicher auf den Gegenstand
zurückkomme, den ich hier nur kurz berühren konnte, ohne das
Wesentliche meiner Ansicht aufzug'eben, doch eine volle Verstän-
dig'ung zu erzielen.
d
XV. Die Aufnahme der hier dargelegten Ansichten.
Nach Erscheinen der ersten Auflage dieser Schrift waren die Ur-
theile über dieselbe sehr getheilt. Die Anerkennung betraf aber in
der überwiegenden Zahl der Fälle Einzelheiten, während die Grund-
ansicht, welche zu ersteren geführt hatte, meist verworfen wurde.
Die öffenthche Kritik^), soweit sie mir bekannt geworden ist,
blieb übrigens auch in der Ablehnung maassvoll , und war in
ihrer Aufrichtigkeit für mich sehr lehrreich.
Der günstige Einfluss, welchen die späteren Publicationen von
R. Avenarius auch auf das Urtheil über meine Schrift geübt
haben, ist nicht zu verkennen. Musste es doch zu denken geben,
dass ein Fachphilosoph in einer ausführlichen systematischen Dar-
stellung einen Standpunkt begründete, den man bei einem Natur-
forscher als eine leicht begreifliche dillettantische Verirrung an-
zusehen geneigt war. Auch die Schüler von Avenarius und
jüngere Forscher, welche auf eigenen Wegen sich mir genähert
haben, stehen mir heute hilfreich zur Seite. Dennoch können
die Kritiker mit wenigen Ausnahmen, und auch dienjenigen,
welche meinen Grundgedanken ganz richtig referiren, und sicherlich
verstanden haben, schwere Bedenken gegen denselben nicht los
i) Dass die privaten Urtheile ebenso maassvoU waren, würde ich auch dann
nicht geglaubt haben, wenn mir solche nicht durch kleine Indiscretionen bekannt geworden
wären. Ein mehr als geringschätziges Urtheil eines deutschen Collegen wurde mir auf
einem komischen Umwege mitgetheilt — sagen wir ungefähr über die Antipoden —
in der unverkennbaren Absicht mich zu verletzen. Diesen Zweck hat es allerdings
verfehlt. Denn es wäre gewiss sehr unbillig, wenn ich das Recht links liegen zu
lassen, was mir unfruchtbar scheint, von dem ich ja selbst Gebrauch mache, nicht
auch Andern zugestehen wollte. Eine Berechtigung aber, Leute, welche anderer
Meinung sind, zu insultiren, habe ich allerdings nie gefühlt.
2 7-2
werden. Es ist dies kein Wunder. Denn der Plasticität meines
Lesers werden sehr starke Zumuthungen gemacht. Einen- Ge-
danken logisch begreifen und denselben sympathisch aufnehmen,
ist zweierlei. Die ordnende und vereinfachende Function der
Logik kann ja erst beginnen, wenn das psychische Leben in der
Entwicklung weit fortgeschritten ist, und schon einen reichen
Schatz von instinctiven Erwerbungen aufzuweisen hat. Diesem
instinctiven vorlogisclien Bestand von Erwerbungen ist nun auf
dem Wege der Logik kaum beizukommen. Es handelt sich
vielmehr um einen psychologischen Umbildungsprocess, der, wie
ich an mir erfahren habe, selbst in jungen Jahren schwierig ge-
nug ist. Hier g-leich auf Zustimmung zu rechnen, wäre daher
unbescheiden. Ich bin vielmehr zufrieden, wenn man mich über-
haupt nur zu Wort kommen lässt, und mich ohne Vorein-
genommenheit anhört. Ich will nun dem Eindruck folgend, den
ich durch die Kritiken erhalten habe, nochmals die Punkte her-
vorheben und beleuchten, deren Aufnahme auf besonderen
Widerstand trifft. Hierbei betrachte ich die vorgebrachten
Einwendungen nicht als muthwillige und nicht als persön-
liche, sondern als typische, unterlasse also die Nennung von
Namen.
2.
Wenn wir uns keinen Zwang anthun, sehen wir die Erde
feststehend, die Sonne aber und den Fixsternhimmel bewegt.
Diese Auffassung ist für gewöhnliche praktische Zwecke nicht
nur ausreichend, sondern sie ist auch die einfachste und vortheil-
hafteste. Die entgegengesetzte Ansicht hat sich aber für ge-
wisse intellectuelle Zwecke als die bequemere bewährt. Ob-
gleich beide gleich richtig und in ihrem Gebiet zweckmässig
sind, hat sich die zweite nur nach hartem Kampfe gegen eine
der Wissenschaft widerstrebende Macht, welche hier mit der
instinctiven Auffassung des gemeinen Mannes im Bunde war,
geltend machen können. Die Zumuthung sich auf der Sonne
statt auf der Erde stehend als Beobachter zu denken, ist nun
— 273 —
aber nur eine Kleinigkeit gegen die Forderung, sein Ich für
nichts zu achten, dasselbe in eine vorübergehende Verbindung
von. wechselnden Elementen aufzulösen. Diese letztere Auffassung
ist ja längst von verschiedenen Seiten vorbereitet i). Wir sehen
solche Einheiten, welche wir Ich nennen, bei der Zeugung ent-
stehn und durch den Tod verschwinden. Wollen wir nicht die
heute schon abentheuerliche Fiction uns erlauben, dass diese Ein-
heiten latent schon vorher vorhanden waren und ebenso nach-
her fortbestehn, so können wir nur annehmen, dass es eben
temporäre Einheiten sind. Die Psychologie und die Psycho-
pathologie lehrt uns, dass das Ich wachsen und sich bereichern,
verarmen und schrumpfen, sich fremd werden und sich spalten,
kurz schon während des Lebens sich ändern kann. Trotz alle-
dem ist das Ich für meine instinctive Auffassung das Wich-
tigste und Beständigste. Es ist das Band aller meiner Erleb-
nisse und die Quelle aller meiner Thätigkeit. So ist auch ein
starrer Körper für die rohe instinctive Auffassung- etwas sehr
Beständiges. Wird derselbe g^etheilt, aufgelöst, mit einem andern
chemisch verbunden, so vermehrt und vermindert sich die An-
zahl dieser Beständigkeiten. Wir nehmen jetzt, um den liebge-
wordenen Gedanken um jeden Preis festzuhalten, latente Be-
ständigkeiten an, wir flüchten uns in die Atomistik. Da wir
den verschwundenen oder veränderten Körper oft wieder restis
tuiren können, so beruht dies hier auf etwas besseren Gründen
als in dem obigen Falle.
Praktisch können wir nun die Ichvorstellung so wenig ent-
behren als die Körpervorstellung. Physiologisch bleiben wir
Egoisten, so wie wir die Sonne immer wieder aufgehn sehen.
Intellectuell muss aber diese Auffassung nicht festgehalten wer-
den. Aendern wir dieselbe versuchsweise ! Ergibt sich hiebei
i) Der Buddhismus kommt hier seit Jahrhunderten vorzugsweise von der prak-
tischen Seite entgegen. Vgl. P. Carus, llie Gospel of Buddha, Chicago 1894. —
Vgl auch die wunderbare Erzählung: P. Carus, Karma, A. Story of Early Budd-
hism., Chicago 1894.
Maeli, Analyse. 3. Aufl. Ib
— 274 —
eine Einsicht, so wird diese schliesslich auch praktische Früchte
tragen.
3-
Wer von dem Ich als einer Realität, die allem zu Grunde
liegt, nicht abzusehen vermag, der wird auch nicht umhin können,
zwischen meinen Empfindungen und deinen Empfindungen
einen fundamentalen Unterschied zu machen. So erscheinen dem,
der an die absolute Beständigkeit des Körpers glaubt, alle
Eigenschaften als diesem einen Träger an gehörig. Wenn aber
dieses silberweise Stück Natrium schmilzt, sich in Dampf auf-
löst, der dem ursprünglichen Ding gar nicht mehr ähnlich sieht,
wenn das Natrium in verschiedene Parthien getheilt , in ver-
schiedene chemische Verbindungen übergeführt wird, so dass
mehr oder auch weniger Körper vorhanden sind als vorher, so
lässt sich die gewohnte Denkweise nur mehr äusserst künstlich
aufrecht halten. Es wird dann vortheilhafter, dieselben einzelnen
Eigenschaften als bald diesem, bald jenem Complex (Körper) an-
gehörig anzusehen, und an die Stelle der nicht beständigen
Körper das beständige Gesetz treten zu lassen, welches den
Wechsel der Eigenschaften vmd ihrer Verknüpfungen überdauert.
Die Zumuthung diese neue Denkgewohnheit anzunehmen, ist
wieder keine geringe. Wie würden sich die antiken Forscher
gesträubt haben, wenn man ihnen gesagt hätte: „Erde, Wasser,
Luft, sind gar keine beständigen Körper, sondern das Beständige
sind die in denselben steckenden heutigen chemischen Elemente,
von welchen viele nicht sichtbar, andere sehr schwer isolirbar, oder
aufbewahrbar sind. Das Feuer ist gar kein Körper, sondern ein
Vorgang u. s. w." Die grosse Wandlung, welche in diesem Schritt
liegt, vermögen wir kaum mehr richtig abzuschätzen. Doch be-
reitet sich in der heutigen Chemie die F'ortsetzung dieser Wandlung
vor, und dieselben Wege der Abstraction führen in ihrem Verlauf
zu dem hier eingenommenen Standpunkte. So wenig ich nun das
Roth oder Grün als einem individuellen Körper angehörig be-
trachte, so wenig mache ich auf dem Standpunkt, den ich zur
— 275 —
allgemeinen Orientirung hier einnehme, einen wesentlichen Unter-
schied zwischen meinen Empfindungen und den Empfindungen eines
Andern. Dieselben Elemente hängen in vielen Verknüpfungs-
punkten, den Ich, zusammen. Diese Verknüpfungspunkte sind
aber nichts Beständiges. Sie entstehen, verg^ehen und modificiren
sich fortwährend. Was aber augenblicklich nicht verknüpft ist,
beeinflusst sich eben nicht merklich. Meine Auffassung wird
nicht davon afficirt, ob es gelingen mag, oder nicht gelingen
mag, durch eine Nerven Verbindung fremde Empfindungen in
mich hin überzugleiten. Die bekanntesten Thatsachen sind für
diese Auffassung eine genügende Basis.
Vielleicht noch mehr als die Grundgedanken hat vielen
Lesern der allgemeine Charakter meiner Weltauffassung wieder-
strebt, welchen sie, freilich irrtümlich, zu erkennen glaubten. Da
muss ich nun zunächst sagen, dass derjenige gewiss von der
richtigen Würdigung meiner Ansicht sehr weit entfernt ist,
welcher dieselbe trotz wiederholter Proteste von meiner und auch
von anderer Seite mit der Berkeleyschen identificirt. Etwas
liegt ja daran, dass meine Ansicht aus einer idealistischen Phase
hervorgegangen ist, welche noch Spuren in den Ausdrücken
zurückgelassen hat, die auch nicht ganz verwischt werden sollen.
Denn der bezeichnete Weg zu meinem Standpunkt scheint mir
der kürzeste und natürlichste. Hiermit hängt es auch zusammen,
dass meine Leser mitunter die Scheu vor dem Panpsychismas
ergreift. Li dem verzweifelten Kampf einer einheitlichen Welt-
auffassung gegen das instinctive dualistische Vorurtheil verfällt
mancher dem Panpsychismus. Ich hatte in früher Jugend solche
Anwandlungen durchzumachen, und Avenarius laborirt noch in
seiner Schrift von 1876 daran. In Bezug auf diese beiden
Punkte empfinde ich es geradezu als ein Glück, dass Avenarius
dieselbe Auffassung von dem Verhältniss des Physischen und Psy-
chischen auf ganz realistischer (wenn man will materialistischer)
18*
— 276 —
Grundlage entwickelt hat, so dass ich auf seine Ausführungen
einfach verweisen kann.
5-
Nicht nur den Naturforschern, sondern auch den Fach-
philosophen scheint meine Welt aus Elementen (Empfindungen)
zu luftig. Dass ich die Materie als ein Gedankensymbol für
einen relativ stabilen Complex sinnlicher Elemente betrachte, wird
als eine geringschätzige Auffassung bezeichnet. Die Aussen-
welt sei als eine Summe von Empfindungen nicht genügend er-
fasst, man müsse zu den wirklichen Empfindungen mindestens
noch die Empfindungsmöglichkeiten Mills einführen. Dagegen
muss ich bemerken, dass auch für mich die Welt keine blosse
Summe von Empfindungen ist. Vielmehr spreche ich ausdrück-
lich von Functionalbeziehungen der Elemente. Damit
sind aber die Mi 1 Ischen , Möglichkeiten' nicht nur überflüssig
geworden, sondern durch etwas weit solideres, den mathema-
tischen Functionsbegriff , ersetzt. Hätte ich geahnt, dass ein
kurzer präciser Ausdruck so leicht übersehen wird, und dass eine
breite populäre Darstellung bessere Dienste thut, so würde mir
eine Darstellung entsprochen haben, wie sie etwa Cornelius^)
„über den Begriff der objectiven Existenz" in vorzüglicher Weise
giebt. Allerdings würde ich auch hier den Ausdruck A'Iöglichkeit
vermieden und dafür den Functionsbegriff verwendet haben.
Von anderer vSeite lässt man durchblicken, dass meine Posi-
tion aus einer überwiegenden Sinnlichkeit und entsprechend ge-
ringem Verständniss für den Werth der Abstraction und des
begrifflichen Denkens zu verstehen sei. Nun, ohne starke Sinnlich-
keit kann der Naturforscher nicht viel verrichten. Dieselbe hindert
ihn aber nicht, klare und scharfe Begriffe zu bilden. Im Gegen-
theil! Die Begriffe der heutigen Ph^^sik können sich an Präcision
und Flöhe der Abstraction mit jenen irgend einer andern Wissen-
I) H. Cornelius, I'.^ycliologie als lirfaliningswissenscliaft, Leipzitj 1897, S. 99
u. iiisbcsondcie S. i i ,0, i I , I .
— 2/7 —
Schaft messen, bieten aber zugleich den Vortheil, dass man sie
immer leicht und sicher bis zu den sinnlichen Elementen, auf welche
sie aufgebaut sind, zurückverfolgen kann. Für den Naturforscher ist
die Kluft zwischen der anschaulichen A^orstellung und dem be-
grifflichen Denken nicht so gross und nicht unüberbrückbar.
Nebenbei möchte ich bemerken, dass ich über die physikalischen
Begriffe keineswegs geringschätzig- denke, sondern seit fast vier
Decennien mich vielfach, und eingehender als es zuvor geschehen
ist, mit deren Kritik beschäftigt habe. Und da die Ergebnisse
dieser Beschäftigung nach langem Widerstreben bei den Physikern
Zustimmung finden, so möchte diese doch wenigstens keine leicht-
fertige sein. Wenn aber der Physiker, der von Haus aus ge-
wöhnt war, zu jeder Definition ein Kilogewicht in die Hand
gedrückt zu bekommen, sich allmälig mit Definitionen zufrieden
gibt, die alle auf eine Functionalbeziehung sinnlicher Elemente
hinauslaufen, so wird wohl auch der Philosoph nicht noch physi-
kalischer sein wollen. Die betreffenden Einzelausführungen kön-
nen aber natüriich nicht in dieser Skizze Platz finden, welche nur
ein Programm für den Anschluss der exacten Wissenschaften an-
einander sein will, sondern nur in den physikalischen Schriften
des Verfassers.
6.
Manchen Lesern erscheint die Welt in meiner Auffassung
als ein Chaos, ein unentwirrbares Gewebe von Elementen.
Sie vermissen die leitenden einheitlichen Gesichtspunkte. Dies
beruht aber auf einem Verkennen der Aufgabe meiner Schrift.
Alle werthvollen Gesichtspunkte der Specialwissenschaften und
der philosophischen Weltbetrachtung bleiben weiter verwendbar
und werden auch von mir verwendet. Die scheinbar destruc-
tive Tendenz ist lediglich gegen überflüssige und deshalb
irreführende Zuthaten zu unseren Begriffen gerichtet. So
glaube ich gerade den Gegensatz des Psychischen und Physischen,
des Subjectiven und Objectiven richtig auf das Wesentliche zu-
rückgeführt und zugleich von traditionellen abergläubischen Auf-
fassung gereinigt zu haben. Hiebei werden wissenschaftlich be-
— 278 —
währte Gesichtspunkte nicht alterirt und für neue wird zugleich
Raum gewonnen. Ich will auch nicht das elegisch oder fromm
jammernde Jgnorabimus' durch eine selbstgenügsame verstockte
Abkehr von Wissenswerthem und Erkennbarem ersetzen. Denn
im Verzichten auf die Beantwortung als sinnlos erkannter Fragen
liegt durchaus keine Resignation, sondern der Masse des
wirklich Erforschbaren gegenüber das einzig vernünftige A^erhalten
des Forschers. Kein Physiker wird heute, wenn er das perpe-
tuum mobile nicht mehr sucht, kein Mathematiker, wenn er um
die Quadratur des Cirkels oder um die Lösung der Gleichungen
fünften Grades in geschlossener Form sich nicht mehr bemüht,
darin Resignation sehen wollen. So ist es auch in allgemeineren
philosophischen Fragen. Die Probleme werden entweder gelöst
oder als nichtig erkannt.
Wo steckt der Fehler oder die Einseitigkeit in Mach's
philosophischen Ansichten? Ich finde diese Frage eines meiner
Kritiker sehr milde. Denn ich bin überzeugt, dass meine Aus-
führungen in mehr als einer Richtung sehr mangelhaft sind. Dies
kann auch bei radicaleren Umwandlungsprocessen der Ansichten
kaum anders sein. Dieselben spielen sich auch in einem Kopfe
nie vollständig ab. Ich kann darum diese Mängel auch nur
fühlen aber nicht aufzeigen. Ich wäre ja sonst ein gutes Stück
weiter. Aber auch aus den Schriften meiner Kritiker sind mir
dieselben nicht klar geworden. Warten wir also noch ein wenig!
Daraus, dass meinen Ansichten Argumente entgegen ge-
halten werden, die in meinem Buche ausführlich erörtert sind,
möchte ich keinem Menschen einen Vorwurf machen. Es muss
ja eine wahre Qual sein, die Masse des Erscheinenden lesen und
noch dazu in kntipp zugemessener Zeit mit pflichtmässiger Ueber-
legenheit beurtheilen zu müssen. Ich habe für diesen wichtigen
Beruf nie Geschmack verspürt, und habe deshalb in 40 Jahren
wohlgezählte 3 Recensionen geschrieben. Es sei also den Flerren
gegönnt, dass sie sich, wenn auch zum Tlieil auf meine Kosten,
die Pein erleichtert haben.
279
Ob es mir jemals gelingen wird den Philosophen meine
Grundgedanken plausibel zu machen, muss ich dahingestellt sein
lassen. Bei aller Hochachtung vor der riesigen Geistesarbeit der
grossen Philosophen aller Zeiten ist mir dies zunächst auch weniger
wichtig. Aufrichtig und lebhaft wünsche ich aber eine Ver-
ständiguug mit den Naturforschern, und diese halte ich auch
für erreichbar. Ich möchte denselben nur zu bedenken geben, dass
meine Auffassung alle metaphysischen P>agen ausschaltet,
gleichgiltig ob sie nur als gegenwärtig nicht lösbar oder über-
haupt und für immer als sinnlos angesehen werden. Ferner
möchten dieselben erwägen, dass alles, was wir von der Welt
wissen können, sich nothwendig in den Sinnesempfindungen aus-
spricht, welche in genau angebbarer Weise von den individuellen
Einflüssen der Beobachter befreit werden können (S. 263). Alles was
wir zu wissen wünschen können, wird durch Lösung einer Aufgabe
von mathematischer Form geboten, durch die Ermittlung der
functionalen Abhängigkeit der sinnlichen Elemente von einander.
Mit dieser Kenntniss ist die Kenntniss der „Wirklichkeit" erschöpft.
Die Brücke zwischen der Physik im weitesten Sinne und der
naturwissenschaftlichen Psychologie bilden eben dieselben Ele-
mente, welche je nach dem untersuchten Zusammenhang phy-
sische oder psychische Objecte sind.
8.
Manche, wahrscheinlich viele Physiologen dürften an meiner
Stellung in einer Detailfrage Anstoss genommen haben, über die
ich noch einige Worte sagen möchte. Ich schätzte Untersuch-
ungen wie jene von S. Exneri) hoch, und glaube, dass viele
wichtige Fragen betreffend die psychischen Erscheinungen ge-
i) Entwurf zu einer physiologischen Erklärung der psychischen Erscheinungen,
Wien 1864-
2bO —
löst werden können durch blosse Erforschung der nervösen Ver-
bindungen der Central Organe^) und Beachtung" der quantitativen
Abstufungen-) der Erreg-ungen. Exners Buch selbst giebt ja da-
für einen Beleg. Die Hauptprobleme bleiben mir aber ung'elöst zu-
rück. Denn ich kann mir auf meinem Standpunkt nicht denken,
wie die qualitative Mannigfaltigkeit der Empfindungen durch
Variation der Verbindungen und blosse quantitative Verschieden-
heiten zu Stande kommen sollte, und ich konnte dies schon vor
fast 40 Jahren nicht. Fechncrs Ps3xh©physik, welche so be-
deutend gewirkt hat, hat auch mich damals mächtig angeregt.
Ich hielt, durch dieses Buch begeistert, über diesen Gegenstand
recht mangelhafte Vorlesungen, welche noch dadurch an Werth
verloren, dass ich den Fechn ersehen Gedanken der Maassformel
bald als einen Irrthum erkannte. Bei dieser Gelegenheit sagte ich,
nachdem die H elmholtzsche Telegraphendraht-Theorie der Em-
pfindungen auseinandergesetzt war: „Sollten aber die electrischen
Vorgänge in den Nerven zu einfach sein, um für eine Erklärung
(verschiedener Empfindungsqualitäten) auszureichen ? Sollte es
nothwendig sein, die Erklärung hinauszuschieben in noch unbe-
kannte Gebiete? Wie denn, wenn wir nach Durchforschung des
ganzen Hirnes überall nur electrische Ströme finden? Meine un-
maassgebliche Meinung ist diese : Die electrischen Untersuchungen
der Nerven sind gewiss sehr feiner Art, in gewisser Hinsicht
sind sie aber auch wieder sehr grob. Ein electrischer Strom von
gegebener Intensität sagt uns nichts, als dass eine bestimmte
Quantität lebendiger Kraft in der Zeiteinheit durch den Quer-
schnitt des Stromes wandert. Welche Vorgänge und Molekular-
bewegungen es sind, die jene lebendige Kraft befördern, wissen
wir nicht. Es können die verschiedensten Vorgänge derselben
Stromintensität zu Grunde liegen" ^). Diesen Gedanken bin ich bis
1) A. a. O. S. IV.
2) A. a. O. S. 3.
3) Vorlesungen über Psychophysik. Zeit?chr. f. piakt. Heilkunde, W^ien 1863,
— 2Ö1 —
heute nicht los geworden, und muss denselben im wesentlichen
noch ebenso, etwa durch Hinweis auf denselben Strom in ver-
schiedenen Electrolyten, begründen M. Die Fortschritte der phy-
siologischen Chemie'^), die Erfahrung'en bei Transplantation^) von
verschiedenen Organen, scheinen mir heute noch entschiedener
zu Gunsten desselben zu sprechen.
1) S. d. Vorwort zur englischen Ausgabe vorliegenden Buches, Chicago 1897,
S. V, VI.
2) Huppert, über die Erhaltung der Arteigenschaften, Prag 1896.
3) Ribbert, über Transplantation von Ovarium, Hoden und Mamma, Arch. f.
Entwicklungsmechanik, Vol. VII, 1898.
Sachregister"^).
absolute Maasse 261, 262.
— , Beständigkeit 250, 252.
Abstraction 244 — 249.
Accomodation 171, 172.
Aesthetik 93.
Aehnlichkeit, tbeilweise Gleichheit 55 — 57.
— , geometrische 85.
— , abstrakte 57.
— , optische 85.
• — , des Rythraus 196.
— , der Tongebilde 216 — 218.
Anachronismen d. Wahrnehmung 1 89 — 191.
— , des Traumes 191.
Analogie von Sehraum und Tastraum
io7n, io8n, 134 — 145.
Analogie von Sehraum und Tonraum
210 — 212, 214 — 216.
Animismus 76, 77.
Anpassung 24, 65.
— , der Gedanken 240, 243, 249.
— , und Association 78.
Anschauliche Nachbildung 239.
Apoplexie 130.
Arbeit 243.
Association, Gesetze 177, 180.
— , in der Aesthetik 200.
— , organischer Vorgänge 129.
— , unzulänglich 180, 181, 193.
Asymmetrie d. motor. Apparates 87 — 89.
Atom 24n, 236.
Aufmerksamkeit 132, 133, 136.
Augenbewegung 125, 131.
— , und Kopfbewegung 104 — 107.
— , und Wille 102, 103.
Augenmuskel 125.
Augenschwindel 109.
Begriffe 244 — 249.
— , Metamorphose d. 66.
Beschreibung 256.
— , in den Elementen 257.
Beständigkeit der Verbindung 235.
— , der Gedanken 250, 261.
— , relative 2.
Bestimmtheit, zureichende 47.
Bewegungsempfindungen 1 10 — 124.
— , optisch erregt 113.
Bewegungsempfindungen unerschöpfl. 141.
— , Beziehung zur Geometrie 141.
— , antagonistische Innervation 123.
— , offene Fragen 11 1 — 112.
Bewustsein 150 — 151.
Biologie 66 u. f.
Biologische Aufgabe der Wissenschaft 29.
Blendungsbild 129.
Blinder Fleck 31.
Blutbewegung 68.
Bulbusbeleuchtung 158.
Canibalen 32.
Causalität 66, 255.
— , psychische 127.
Centralorgan 181, 182.
Chemische Lebensbedingungen 81.
— , Lichttheorie 82.
Combinationston 204, 231.
Complexe 4.
Consonanz 201, 207 u. f.
Consumtion, organische 188, 189, 193.
Continuität des Ich 3, 18, 19.
— , Princip d. 46, 73, 242, 249.
Cöntrast d. Helligkeit 162 u. f.
— , musikalischer 219, 225. ^
— , der Richtung 169, 170.
Cyclostat 118 — 121.
Differenzialgleichungen 257.
Differenz, zureichende 242, 249.
Ding an sich 5.
Dogma, Einfluss d. 32.
Doppelte Auffassung d. Physiologischen 33.
Dynamisches Gleichgewicht 77.
Eindeutigkeit 269.
Einheit, psychische 21, 22.
— , praktische 17, 18.
Einsinnigkeit 267, 268.
Elemente 4, 6, 25, 275.
— , Gleichartigkeit 17.
— , Functionalbeziehung 27, 28, 36, 276.
— , psychisch und physisch 13.
Elementarorganisnien 78.
Embrylogie, experimentelle 75.
Empfindung an sich 1,9, 17, 274.
*) Kill n bei der Seitenzahl weist auf ilie Fiissiioteii.
J
28:. -
Empfindung, Definition 12.
— , einseitige Auffassung 17.
— , functional an das Hirn geb. 21.
— , wie -weit reicht die 183.
— , der unorgan. Materie 183, 184.
Energie 260, 261.
— , specifische 97.
— , mindestens 2 d. Tonempf. 209, 210.
— , Erhaltung der 43, 158.
Erdbeben 239, 240.
Erklärung 255, 256.
Farbenanpassung 75.
Farbenempfindung 80.
— , Entwicklung, d. 81.
Farbenlehre 52 — 55.
Ferne, Nähe 90.
Festliegender Raum 106, 107.
Forschungsgrundsatz 49.
Fühlraum 89.
Functionbegriff, allgem. anwendb. 71 — 75.
GJ-edächtniss 177.
— , im weiteren Sinne 58.
• — , physikalische Erklärung 178 — 180.
Gefühl 16.
Genie 234.
Geräusch 202, 203.
Gesichtsempfindungen 146.
Gesichtsfeld 14.
Gespensterfurcht 60.
Harmonie 220 — 226.
Helligkeit und Tiefe 156 — 158.
Hören, Theorie, physikalische 203 — 205,
228 — 230,
— , physiologische 202, 231 — 232.
— , phylogenetische 221.
Hühnchen 100.
Ich 2, 10, 14, 15, 18, 273.
— , praktische Einheit 17, 22, 273.
— , unanalysirter Complex 20.
— , Vergänglichkeit 19.
— , variabler Umfang 10.
Ideal, ethisches 19, 20.
Identische Netzhautstellen 97.
lUusor. Gegensatz der Phys. u. Psych. 34.
Illusor. Erklärung der Harmonie 220.
Innervation 103, 13 1.
Instinct 68.
Intellect 146.
— , thierrischer überschätzt 147, 148.
Intervall 217.
— , Empfindung der 217, 218.
Introjection 41, 44.
Intuitive Erkenntniss 242.
Introspective Psychologie 260 n.
Inversion 167 — 179.
Italienische Malerei 175.
Itehlkopf 212.
Keimesanlage 63.
Kernfläche 99.
Kinästlietische Empfindung 129.
Klang 201.
Kluft zu Phys. und Psych. 13, 33.
— , Ich und Welt 10.
Körper 2, lo, 156, 274.
— , scheinbar starre 174 — 176.
, flüssige 176.
Krebse 122.
Krümmung 86.
Kunst, primitive 92.
Leben, kindliche Auffassung 76.
Lebendige Substanz 40.
Leib 6, 7.
Lichtempfindung, Mittel, d. 162-164.
]Materie 236, 252.
— , Empfindung, d. 183, 184.
Metaphysik 27, 279.
Methode, Einseitigkeit der physikalischen i .
Mittel der Helligkeit 162 — 164.
— , der Raumempfindung 161.
— , der Tiefenempfindung 161.
Monismus 11, 237.
Moment, mechanisches 243.
Musik 199, 200, 212, 233.
- — , Entwicklung der 233, 234.
]Nrachbild, posit complem. 190.
— , Localisation 104,
Nähe, Feme 90.
Niedere Thiere, Rotation 123.
Nothwendigkeit 254.
Nystagmus 104, 105.
Oben, unten 89.
Objective Welt 26, 29, 263.
Ohrmuschel 200.
Orientirung der Inversion 168.
Panpsychismus 183, 184, 275.
Parallactische Verschiebung 107.
Parallelismus, Princ, d. 49.
Perspective 159.
Phantasmen 151 — 256.
— , Unabhängigkeit von Willen 155.
— , Intensität, d. 153 — 154.
— , und Association 151.
— , Messung, d. 154.
Phonograph 179.
Physik und Biologie i, 66, 79, 25g.
^, und Psycho!, erganz, sich 259 — 260.
Physische Verhältn. z. Psych 12, 33, 135.
Pompeian. Malerei 175.
Problem 243.
Projectionstheorie 30, 98, 99.
Pseudoscopie 169, 170.
— 284
C^ualilät und Quantität 262, 263.
Quantitatives Regulativ 261.
üaum des Gesichtes 80 — 109, 138.
— , des Tastsinns 107, 108, 138.
— , des Blinden 93, 107, 108, 139.
— , geometrischer 85, 95, 125, 141 — 145,
264.
Raum, physischer 145, 259, 266.
— , Raum und Zeit untrennbar 265, 266.
— , functionale Abhängigkeit 266.
— , und motorischer Apparat 87.
— , teleologisch 134 — 145.
Reactionsthätigkeit u. Begriff 245 — 247.
Reaction, innere 258,
— , äussere 258.
Rechts, links 87 — 89, 258.
Reflexbewegung 127, 128.
Regelmässigkeit 92.
Resonanztheorie, physikal. 228 — 232.
. — , physiologisch 230 — 232.
Schein und Wirklichkeit 8, 9.
Scheinprobleme 6, 23, 278.
Schematisiren 163.
Schrift 92.
Schwebungen 205 — 207.
Sehen, aufrecht 30, 98.
Sehrichtung 99.
Sinne als physikalische Apparate 57.
— , selbständiges Leben, d. 57, 156, 173.
Sinnengedächtniss 152.
Sinnestäuschung Jn. '
Solipsismus 27, 29.
Sparsamkeit, Princip, d' 160.
Sperling 5g, 60.
Sprache 200, 213.
Steigung 86.
Substanz, Bestand, d. Verbindung 250, 252.
— , kindl. Auffassung 254n.
— , lebendige 40.
Substanzialität, räumliche 142.
Symmetrie, Arten, d. 84, 85.
— , physiologische 84, 85, 91 — 94.
— , geometrische 144, 145.
— , physische 259.
Talent 234.
Taubstumme 118.
Tausendfuss 140.
Teleologie 64, 66.
— , provisorisch 69, 70.
Tiefe und Helligkeit 156 — 158.
— , Minimum der Abweichung 161, 162,
168, 169.
Tiefenempfindung 98, 99.
Tiefenempfindung Mittel, d. 161.
— , monocularc 165 — 167.
Tod 3, 4.
Töne, höchste 200.
— , als Richtungszeiger 201.
Töne, Reihenbildung, d. 209.
Tonempfindungen 198 — 234.
Traum 8, 191.
Triebe 62, 181.
Triklines Medium 135.
Tropismen 68.
XJebermensch 20.
Uebung 63.
Umbildung greift am Individuum an 64.
— , durch d. Gedächtniss verbürgt 64, 177-
Umkehrbar, nicht 193, 268.
Unbewusstes 62.
Unpersönliches 19.
Unsterblichkeit d. Emzelligen 18.
— , individuelle 19.
Ursache 67, 76.
— , Mängel d. Begriffes 70 — 73.
Urtheil 240, 241.
"Verschmelzung 207.
Vögel auf Inseln 61.
Vorgänge, problematische im Auge 173.
Vorstellung 148 — 151, 154.
Vorurtheile d. physiolog. Optik 97, 172.
"Wahrscheinlichkeit, 63, 160.
Weltauffassung, naive 25, 29.
Wille 127.
— , und Bewegung 140.
— , und Augenbewegung 102, 103.
— -, Einfachheit 109, iio, 140.
— , kindliche Auffassung 76n.
— , Definition 78.
Wissenschaft biologische Aufg., d. 39.
Zeit, physiologische 185 — 197.
— , physikalische 266 — 269.
— , und Aufmerksamkeit 188 — 189.
—^, und Biutstrom 194.
— , und Gefühlston 197.
— , und Organ. Consumtion 188, 189, 193.
— , im Traum 191.
Zeitfolge in der Reproduktion 185, 186.
Zeitperspective 195.
Zufall, kein Actionsprincip 63.
Zukunft, Fernwirkung der 75.
Zusammanhang, unmittelbar 69.
— , mittelbar 69.
— , physik. u. physiol, Fragen i, 79, 259,
Zweck 67, 76.
Namenregister *).
Abraham 203 n.
Ach, N. 12 211.
Allen, Grant 8 in.
Aristoteles 67, 69.
Aubert 53.
Auerbach 203 n.
Autenrieth 68.
Avenarius 22n, 24n, 37, 38, 39, 40,
197, 271, 275.
E ain 129.
Benndorf 8 in.
Beer, Th. 148, 173.
Berg 199.
Berkeley 38, I07n, 275.
BernouUi, J. 95.
Bethe 147, 148.
Breuer 105, 109, iii, 117, 122.
Brewster 5 i .
Bridgmann, L. 246,
Brown, Crum. 106, 114, 117.
Brücke 98, 203n.
Brühl 203n.
Büttel-Reepen 147.
Cams, P. 273.
Cornelius, H. 276.
Cornelius, P. 217.
Cossmann 7 in.
I>'Alembert 2o6n.
Darwin 39, 57, 65, 8in, 181, 199.
Descartes 97.
Diderot io7n.
Dove 98.
Dubois 238.
Du Prel 193.
Dvofäk 190, 203.
Emch 94.
Euklid 142.
Euler 221, 233.
Ewald 118, 122, 182, 205, 229, 230.
Exner, S. 115, 17 in, 173, 203n, 279.
Fechner 49, 64n, 158, igon, 200n,
2i8n. 280.
Fourier 203.
Frauenhofer 5, 240.
GJ-oethe I.
Goltz 59, 182. -
Gomperz, H. 248.
Govi 118.
Graber 2 22n.
Grimaldi 164.
Groth 54.
' Guldberg 89.
Guye 117.
üaddon 92n.
Haga i64n.
Hankel 95.
Harvey 68.
Hauptmann, C. 38, 50n, 7 in.
Hauptmann, M. 2o6n.
Heidenhain 88.
Heller io8n.
Helmholtz 51, 93, 100, 129, I42n, 199,
201, 204, 205, 226, 231, 232, 280.
Hensen 222n.
Hering 2 in, 24n, 40, 53, 55, 58. 65n,
77n, 78, 86n, 97n, 98, 100, iio, I24n,
125, 126, 128, 132, I34n, 136.
Hermann l85n, 204, 205, 230.
Heron 69.
Heymans 5on, 170.
Hillebrand loon, i66n.
Hirth 78n.
Höfler 44n, 170.
Holtz 104.
Huppert 28 in.
James 16, 102, iif
194, 235n.
Jerusalem 24 in, 246.
Jones, Owen 92.
Kant 23n, 145, 247.
Kepler 68, 255, 256.
Kessel 2 im.
Kirchhoff 39.
Kohlrausch 2030.
König 204, 205.
Kornfeld I94n.
Krause 8 in.
Kreidl 105, 122.
Kries, V. 5on, 56n, 249.
Kulke 217.
Külpe 5on, 7 in.
128, 131, 133,
*) Ein n bei der Seitenzahl Aveist auf die Fiissnoten.
286
Laplace 238.
Leibnitz 14211.
Leonardo da Vinci 53, 54, 154, 218.
Lichtenberg 22, 23.
Lipps I04n, 2 2 in.
Locke I07n, 242.
Loeb 68, 89, 122, 147, 165, 170, 182, i86n.
Loewy io8n.
Lublock, Sir. John 1 1 8.
ÜVIagnus 8 In.
Manaceine 193.
Mariotte 31.
Marly 8 in.
Maxwell i86n.
Mayer, A. 52.
Mayer, R. 260. . •
Meinong 265n.
Meyer, M. 205.
Meynert 197.
Mill, 73, 256n, 276.
Moliere 94.
Morgan 62.
Moser 179.
Mosso 194.
Miller, J. i, 19, 48, 97, 100, 151.
Münsterberg 128, 129, 131, i85n, 190,
]Vagel 105.
Newton 34, 52,
256, 257.
Nichols i85n.
Nietsche 20.
73, 95, 129, 233, 255.
Obermayer, v. i65n.
Oettingen v. 206.
Ohm 201.
Oppel 114.
P*anum 98, loo, 163, 172.
Pauli 66n, 9911.
Petzoldt 38, 268, 269, 270.
Pfaundler 203n.
Pfeffer 74.
Plateau 107, 114.
Piaton 8, 9.
Politzer 228.
Poilak 107, 122.
Polle 8 in.
Poncelet 260.
Popper I5n, 24n.
Poulton 76.
Preyer 24n.
Ptolemaeus 97.
Purkinje 190.
Uameau 201.
Raimarus 68.
Ribbert 28 in.
Ribot 16, 248.
Riehl 24n, iro.
Robert W. 192.
Rollet 59.
Sachs 68.
Sandford 1 90.
Saunderson io8n
Sauveur 201.
Schaff er 122.
Scheffler 171, 173.
Schlodtmann 10 in.
Schneider 62.
Schopenhauer i, 65n, 198.
Schumann i85n.
Schuster 57.
Scripture 154, i85n.
Seebeck 221.
Seeliger i64n.
Smith, A. 39.
Smith, R. 201.
' Soret 93, 94, io8n.
Spencer 57.
Spinoza 37.
Staudt, V. 150.
Steiner 150.
Steinhauser 200n.
Stöhr 171, 172. 24in.
Strauss 61.
Stricker 212, 213, 214, 255n.
Stumpf 5on, loon, 195, 205n, 206., 207,
208, 22in, 223, 227.
Suess 178.
Tolstoj 88.
Tschermak i o i n.
Tylor 45.
XJexküll 148.
"Vergil 8 in.
Vierordt 115.
Volkmann 39.
"Wähle 24n.
Wallasch ek I92n.
Wasmann 147.
Weber 228.
Weismann 18, 58, 63, 234.
Wheatstone 98.
Wiener 75.
Wind i64n.
Witasek i7on.
Withney 245n.
Wlassak 40, I34n, 197.
Woilaston 52.
Wundt 129.
"Young 52, 201, 231, 260.
Ziegler 148, 181.
Zindlcr 265n.
Zöllner 169.
Ant. Kttmplo, Buchdruckorcl, Jena.
Verlag von Gustav Fisclier in Jena.
RsUptmsnn, ^^- c^^^> Die ffletapbyslk in der modernen Pbysio-
lOClie. Eine kritische Untersuchung. Neue, durch ein Autoren Verzeichnis ver-
mehrte Ausgabe. 1894. Preis: 8 Mark, geb. 9 Mark.
Inhalt. Erster Teil: Die Grundlage des Dualismus in der Physiologie
nach kritischer Ueberwindung des Begriffes: Lebenskraft. — (Hermann Lotze.
Paul Florens). — Zweiter Teil: Sitzt die „Seele" allein im Grosshirn oder
noch in anderen Abschnitten des Centralnervensysteras? — (Eduard Pflüger. —
Friedrich Goltz). — Dritter Teil: Sind die verschiedenen seeh'schen J'ähig-
keiten in von einander trennbaren Abschnitten des Grosshirns lokalisiert? —
(Eduard Hitzig. — Hermann Munk. — Friedrich Goltz). — Vierter
Teil: Woran scheitert eine konsequente Durchführung des Parallelismus von „Leib
und Seele" als eines methodologischen Principes? — Fünfter Teil: Leitende Ge-
sichtspunkte einer dynamischen Theorie der Lebewesen.
T2 i ♦ Osk., Direktor des anatomisch-biolog. Institus der Berliner Universität,
DCniülQ, Die Qntiuid^elung der Biologie im 19. Jabrbundert
Vortrag gehalten auf der Versamndung deutscher Naturforscher zu Aachen am
17. September 1900. Preis: 1 Mark.
Die £ebre uom Organismus und ibre Beziehung zur Sozial-
U)iSSensd)aft. Universität&festrede mit erklärenden Zusätzen und Litteratur-
nachweisen. 1899. Preis: 1 Mark.
Norddeutsche Allgemeine Zeitung 7. Mai 1899:
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Arbeit. Dritte dnrchgeschene Auflage. 1901. Preis: 60 Pf.
Zur Rygiene der Arbeit, is^o. Preis: bo Pf.
Zur üeberbürdungsfrage. 1897. Preis: 75 pf.
L0ri3 Achille, Die Soziologie. I^^^ Aufgaben , ihre Schulen und ihre
neuesten Fortschritte. Vorträge, gehalten an der Universität Padua im Januar
bis Mai 1900. Autorisierte und vom Verfasser durchgesehene deutsche Ueber-
setzung aus dem Italienischen von Dr. Clemens Heiss. 1901. Preis: 1 Mark.
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soziales Problem. lOOl. Preis: l Mark 50 Pf.
rr\ Dr. Georg, Arzt an der Irrenanstalt der Stadt Berlin „Herzberge" zu
mZyZVf Lichtenberge, Dieu)issensd)aftlid)en Grundlagen der 6rapbo-
logie. ^J't 31 Tr*-i" 1^"^^ T>^^j<=. Fi Maj-L-
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Dr. phil. Benjamin, Prof. an der Kgl. sächs. technischen Hochschr
, Dresden, f 2. Januar 1893, Die modeme U)eltansd)auung
der fPensd). sechs öffentliche Vorträge. Mit einem Vorwori
Prof. Dr. Ernst Haeckel in Jena. Dritte Auflage. 1901. Preis:
brosch. 2 Mark, geb. 2 Mark 50 Pf.
Internationale Litteraturberichte, Leipzig, 14. Mai 1896:
. . . Solche Bücher bekommt man nicht alle Tage zu lesen. |
legt sie aber auch nicht nach einmaligem Lesen aus der Hand, sondern
immer wieder danach und freut sich an dem schönen Seelenfrieden des Verfassers.
»2* . Dr. August, Geh. Eat und Prof. an der Univ. Freiburg i
VvClSrndnil, Das K^lmplaSma, eine Theorie der Vererbung. Mit 2'
bildungen im Text. 1892. Preis: 12 Mark.
Aufsätze über Oererbung und ueru)andte biologisd)e fra
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Druck von Ant. Kiiinpfo in Jena.
•
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