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Full text of "Die anfänge der musik"

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Date  Due 

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Die 


Anfange  der  Musik 


Von 


Carl  Stumpf 


Mit  6  Figuren,  60  Melodiebeispielen  und  11  Abbildungen 


Leipzig 

Verlag  von  Johann  Ambrosius  Barth 

1911 


Copyright  by  Johann  Ambrosius  Barth,  Leipzig  1911 


Spamersche  Buclidruckerei  in  Leipzig 


Herrn 

Dr.  Erich  M.  von  Hornbostel 

dem  Leiter  des  Berliner  Phonogramm-Archivs 
in  Freundschaft  zugeeignet 


Vorwort. 

Diese  Schrift  ist  aus  einem  Vortrage  in  der  Ber- 
liner Urania  hervorgegangen,  dessen  Text  bereits 
verOffentlicht  ist.  Er  ist  hier  erweitert,  es  sind  An- 
merkungen  zur  wissenschaftliclien  Erlauterung  und 
Begriindung  einzelner  Punkte,  ferner  zahlreiche  zu- 
verlassige  Beispiele  primitiver  Melodien  mit  tech- 
nischen  Analysen,  endlich  einige  Abbildungen  pri- 
mitiver Instrumente  beigefugt. 

Es  war  mir  ein  Bedurfnis,  die  Friichte  ethno- 
logischer  Musikstudien,  die  mich  seit  Dezennien 
immer  wieder,  in  steigendem  MaBe  seit  dem  Auf- 
kommen  des  Phonographen,  beschSftigt  hatten,  ein- 
mal  fUr  weitere  Kreise  wie  fur  Fachleute  zusammen- 
zufassen.  Aber  es  ware  mir  nicht  moglich  gewesen 
ohne  die  Hilfe  meiner  jungen  Mitarbeiter  aus  dem 
Berliner  Plionogramm-Archiv  und  in  erster  Linie 
dessen,  dem  die  Schrift  gewidmet  ist.  Keine  Zeile, 
die  nicht  mit  ihm  besprochen,  keine  Melodic,  die 
nicht  Note  fUr  Note  von  ihm  nachgepruft  ware. 
Ich  kann  dem  Buchlein  nur  den  Wunsch  mitgeben, 
da6  es  bald  durch  ein  umfassendes  Werk  aus  seiner 
Hand  ersetzt  werde. 

AuBer  ihm  habe  ich  aber  auch  Herrn  Dr.  Erich 
Fischer  fur  seine  Mitwirkung  bei  der  miihsamen 
Transskription  mehrerer  noch  unveroffentlichter  pho- 
nographischer  Aufnahmen  besten  Dank  zu  sagen. 

Berlin,  im  April  1911.  C.  Stumpf. 


Inhalt. 

Seite 

Erster  Teil.    Ursprung  und  Urformen  des 

Musizierens 7 

Einleitung 7 

I.  Neuere  Theorien 8 

II.  Ursprung  und  Urformen  des  Gesanges    .    .  22 

III.  Primitive  Instrumente  und  ihr  EinfluB    ...  34 

IV.  Mehrstimmigkeit,  Rhythmik,  Sprachgesang  .  41 
V.  Entwicklungsrichtungen 52 

Anmerkungen 61 

Zweiter  Teil.    Gesange  der  Naturvolker     .  102 
Abbildungen  primitiver  Instrumente 197 


Erster  Teil. 

Ursprung  und  Urformen  des  Musizierens. 

Im  Laufe  langer  Jahrtausende  hat  das  Menschen- 
geschlecht  in  Sprache,  Wissenschaft,  Kunst,  ethischer, 
sozialer  und  technischer  Betatigung  Entwicklungen 
hervorgebracht,  die  uns  immer  wieder  vor  die  Frage 
stellen,  aus  welchen  Anfangen  alle  diese  Herrlich- 
iceiten  entsprungen  sind,  und  welcher  gottliche  Funke 
zuerstunscheinbaraufglUhend,  allmahlich  diese  Licht- 
fulle  entzundet  hat.  Ohne  nun  tiefer  in  die  Abgrunde 
der  menschlichen  Natur  oder  gar  in  metaphysische 
Geheimnisse  dringen  zu  wollen,  mochte  ich  hier  nur 
versuchen,  mit  Hilfe  der  Erfahrungen  und  Kennt- 
nisse,  die  uns  die  heutige  Volkerkunde,  die  ver- 
gleichende  Musikwissenschaft  und  die  experimen- 
telle  Psychologie  darbieten,  der  Frage  nach  den 
Ursprungen  und  ersten  Erscheinungsformen  der  Mu- 
sik  naherzutreten. 

Immer  wird  es  sich  dabei  urn  Hypothesen  han- 
deln.  Aber  zurAufstellungglaubwurdiger  Hypothesen 
sind  wir  Heutigen  doch  besser  ausgerUstet  als  un- 
sere  Vorganger.  WShrend  noch  1886  Virchow  in 
der  Berliner  Anthropologischen  Gesellschaft  den 
Mangel  aller  Teilnahme  fur  die  Urgeschichte  der 
Musik  als  die  einzige  vollstandige  Lucke  in  ihren 
Bestrebungen    beklagte    —    eine   Teilnahmlosigkeit, 


—     8     — 

die  durch  dieSpSrlichkeit  des  zuverlassigen  Materials 
entschuldigt  war  — ,  konnte  1903  Waldeyer  in  dem- 
selben  Kreise  die  durch  das  neue  Hilfsmittel  des 
Phonographen  und  durch  Messungen  an  exotischen 
Instrumenten  ermoglichten  Forschungen  als  ein  Ge- 
biet  von  ungeahnter  Ausdehnung  und  Bedeutung 
charakterisieren.  Allerdings  ist  es  dringend  an  der 
Zeit,  das  Inventar  alles  noch  aus  ursprunglicheren 
Zustanden  Vorhandenen  aufzunehmen,  da  durch  die 
Modernisierung  der  Naturvolker  und  das  Aussterben 
vieler  Stamme  in  kurzer  Frist  die  Gelegenheit  auf 
immer  verpaBt  sein  wird,  wenn  nicht  fiir  eine  syste- 
matische  Sammlung  und  Aufbewahrung  der  Do- 
kumente  gesorgt  wird,  aus  denen  wir  uns  ein  Bild 
grauer  Vorzeit  machen  konnen.  Aber  schon  das  vor- 
liegende  Material  laBt  die  Umrisse  primitiver  Musik- 
tibung  weit  deutlicher  als  frliher  erkennen^ 

I. 
Neuere  Theorien. 

Vergegenwartigen  wir  uns  zuerst  kurz  mit  einigen 
kritischen  Bemerkungen  die  Hypothesen,  die  in 
neuerer  Zeit  tiber  den  Ursprung  der  Musik  aufge- 
stellt  worden  sind^. 

1.  FOr  die  Darwinsche  Lehre,  wonach  alle  Ver- 
vollkommnung  im  wesentlichen  aus  der  natUrlichen 
Auslese  oder  dem  Uberleben  des  besser  AngepaBten 


—     9     — 

begriffen  werden  muB,  bildet  die  Tonkunst  zunSchst 
eine  seltsame  Anomalie.  Sancta  Cacilia  blickt  zum 
Himmel  —  was  hilft  sie  uns  im  Kampf  ums  Dasein? 
Ihre  Nachfolger  verdienen  ja  zuweilen  reichlich  Geld 
und  helfen  sich  mit  wohlausgebildeten  Klavier- 
muskeln  vorwarts,  aber  fUr  die  Mehrzahl  der  Men- 
schen  hSngt  das  undefinierbare  gegenstandlose  Luft- 
gebilde,  das  wir  Musik  nennen,  mit  den  realen 
NUtzlichkeiten  und  Bedurfnissen  des  Alltagslebens 
nicht  zusammen. 

Dennoch  wuBte  Darwin  Rat.  Seine  L5sung  kann 
man  in  die  Worte  fassen:  „Im  Anfang  war  die  Lie  be." 
Freilich  nicht  die  himmlische,  sondern  die  irdische, 
die  Geschlechtsliebe.  Die  Mannchen  bestrebten  sich, 
den  Weibchen  zu  gefallen,  und  die  Weibchen  wahl- 
ten  die  aus,  die  die  groBten  Vorzuge  aufwiesen. 
Wie  die  schOnsten  an  Gestalt  und  Farbe,  so  wur- 
den  auch  die  besten  Sanger  oder  Bruller  von  alters 
her  vorgezogen.  Bei  den  Tieren  finden  wir  darum 
vorzugsweise  das  mannliche  Geschlecht  farbenprachtig 
und  sangeslustig.  Produktive  Klinstler  waren  zu- 
nachst  nur  die  Mannchen,  aber  die  Weibchen 
brachten  den  kritischen  Geschmack  hinzu.  Bei  den 
Menschen  singen  und  spielen  heutzutage  beide  Ge- 
schlechter,  das  weibliche  fast  mehr  als  das  mann- 
liche;  aber  produktiver  sind  in  der  Musik  unstreitig 
immer  noch  die  Manner,  und:  „SuBe  Liebe  denkt 
in  Tonen"  —  das  gilt  heute  wie  in  alter  Zeit. 


—     10     - 

Geht  man  nun  freilich  ins  einzelne,  so  entstehen 
groBe  Schwierigkeiten.  Ich  will  nicht  dabei  ver- 
weilen,  daB  Vogel  vielfach  auch  auBer  der  Zeit  der 
Liebeswerbung  singen,  daB  ihre  Rufe  auch  Signale 
zu  anderen  Zwecken  oder  bloBe  AuBerungen  eines 
allgemeinen  LebensgefUhls  sein  mogen,  daB  die  dem 
Menschen  naher  stehenden  Tiere  nicht  singen,  son- 
dern  nur  rauhe  Schreilaute  von  sich  geben,  daB 
endlich  die  Gesange  der  Naturvolker  nicht  gerade 
vorwiegend  Liebeslieder,  sondern  in  groBerer  Anzahl 
kriegerische,  arztliche,  religiose  Gesange  sind.  Ich 
will  nur  einen,  aber  entscheidenden  Punkt  etwas 
naher  beleuchten. 

Wir  nennen  Musik  nicht  das  Hervorbringen  von 
Tonen  aberhaupt,  sondern  von  gewissen  Anord- 
nungen  der  Tone,  seien  sie  noch  so  einfach.  Und 
dabei  ist  es  fur  die  Musik  im  menschlichen  Sinne 
ein  ganz  wesentliches  Merkmal,  daB  diese  Anord- 
nungen  unabhangig  von  der  absoluten  Tonhohe 
wiedererkannt  und  wiedererzeugt  werden  konnen. 
Eine  Melodic  bleibt  die  namliche,  mag  sie  vom  BaB 
Oder  vom  Sopran,  mag  sie  in  C  oder  in  E  gesungen 
werden.  Diese  Fahigkeit  des  Wiedererkennens  und  des 
Transponierens  von  Melodien  finden  wir  unter  den 
Naturvolkern,  soweit  unsere  Kenntnisse  reichen,  all- 
gemein.  Einem  Indianer  oder  Siidsee-Insulaner  macht 
es  nichts  aus,  sein  Lied  etwas  hoher  oder  tiefer  an- 
zufangen;  solange  es  fur  seine  Stimmlage  bequem 


—    11    — 

ist,  trifft  er  die  Intervaile  ebenso.  Zum  Zweck  phono- 
graphischer  Aufnahmen  wird  von  den  Forschungs- 
reisenden  vorschriftsmaBig  der  Ton  eines  Stimm- 
pfeif Chens  in  den  Aufnahmetrichter  geblasen,  urn 
spater  danach  die  ursprungliche  Geschwindigkeit 
der  Walze,  also  die  Tonhohe  und  das  Tempo  des 
Gesanges,  wiederherstellen  zu  konnen.  Dabei  wurde 
beobachtet,  daB  die  Eingeborenen  sich  bei  der  In- 
tonation ihres  Liedes  haufig  nach  der  Hohe  des 
Pfeifchentones  richteten. 

Wie  verhalt  es  sich  nun  damit  bei  den  Tieren? 
Es  ist  meines  Wissens  bisher  nicht  beobachtet,  daB 
ein  Gimpel  oder  Star,  dem  man  ein  bestimmtes  me- 
lodisches  Motiv,  sagen  wir  „Morgen  muB  ich  fort 
von  hier"  oder  „Dein  ist  mein  Herz",  beigebracht  hat, 
diese  Erklarungen  einmal  in  seinen  vielen  MuBe- 
stunden  in  einer  anderen  Tonart,  sei  es  auch  nur 
einen  Ganzton  hoher  oder  tiefer,  v^iederholt  hatte, 
obgleich  seine  Stimmittel  ihm  dies  erlauben  wiirden. 
Dr.  Abraham  hat  jahrelang  mit  einem  Papagei  darauf 
zielende  Versuche  angestellt,  ohne  anderen  Erfolg. 
Ich  will  nicht  behaupten,  daB  nicht  kleine  Verande- 
rungen  in  der  Hohe  eines  Vogelrufes  oder  des  Kuh- 
gebrulles  bei  dem  namlichen  Individuum  vorkamen, 
im  Gegenteil  ist  es  von  vornherein  klar,  daB  mathe- 
matisch  gleiche  Intonation  nur  der  Grenzfall  ist,  die 
Regel  hingegen  Abweichungen  sein  werden,  die  sich 
innerhalb  gewisser  Grenzen   um  einen  Mittelpunkt 


-     12     — 

herum  bewegen.  Allein  diese  zufalligen  Schwan- 
kungen,  namentlich  infolge  verschiedener  Exspirations- 
starke,  die  wieder  mit  dem  augenblicklichen  Korper- 
gefUhl  und  Befinden  zusammenhangen  mag,  durfen 
nicht  mit  eigentlicher  Transposition  verwechselt  wer- 
den. 

Soweit  man  aus  der  erwahnten  Tatsache  schlie- 
Ben  kann,  dUrfte  auch  das  Lustgefuhl  der  Vogel, 
soweit  es  an  die  Tone  selbst  geknupft  ist  (denn 
die  Muskelempfindungen  tragen  wohl  auch  dazu  bei), 
wesentlich  verschieden  sein  von  dem  der  Menschen 
beim  Anhoren  der  menschlichen  wie  der  Vogel- 
musik.  Das  tierische  LustgefUlil  scheint  eben  durch- 
aus  abhangig  zu  sein  von  dieser  speziellen  Auf- 
einanderfolge  absoluter  Tonhohen,  deren  geringe 
Verschiebungen  den  Sangern  selbst  entgehen  mogen; 
das  menschliche  ist  in  erster  Linie  bestimmt  durch 
die  Tonverhaltnisse,  wobei  gewaltige  Verschiebungen 
der  absoluten  Tonhohen  nicht  blo6  vorkommen,  son- 
dern  den  Sangern  und  Horern  ganz  klar  zum  Be- 
wuBtsein  kommen  konnen,  ohne  daB  die  Melodic 
unkenntlich  oder  ungenieBbar  wurde=^.  Wir  sagen: 
In  erster  Linie.  DaB  die  absolute  Tonhohe  starke 
Unterschiede  bewirken  kann,  soil  nicht  geleugnet 
werden.  Bei  den  Chinesen  spielt  sie  eine  be- 
deutende  Rolle^.  Bei  uns  selbst  ware  die  „Charak- 
teristik  der  Tonarten"  und  die  Abneigung  Feinfuhliger 
gegen  die  Transposition  eines  ftir  eine  bestimmte 


-     13     - 

Tonart  geschriebenen  Liedes  heranzuziehen.  Aber 
das  Stuck  bleibt  uns  doch  immer  ebenso  ver- 
stSndlich  und  wird  als  dasselbe  ohne  weiteres  wieder- 
erkannt.  Die  M5glichkeit  der  Ubertragung  zu  be- 
streiten,  wird  niemand  einfallen;  nur  der  Ausdruck 
und  die  Wirkung  scheinen  uns  nicht  unabhangig 
von  der  absoluten  H5he. 

Das  ist  der  springende  Punkt,  und  diesen  Punkt 
hatDarwins  umfassender  Forscherblick  nicht  beachtet, 
wie  er  uberhaupt  von  Zoologen  merkwurdigerweise 
allgemein  als  quantite  negligeable  behandelt  wird^ 

Es  ist  mit  der  Musik  ahnlich  wie  mit  der  Sprache. 
Auch  die  Tiere  haben  eine  Sprache.  Aber  Sprache 
in  unserem  Sinne  beginnt  erst  da,  wo  die  Laute  als 
Zeichen  allgemeiner  Begriffe  gebraucht  werden,  eine 
Anwendung,  die  bei  den  Tieren  ebensowenig  nach- 
gewiesen  ist,  wie  der  Gebrauch  transponierter  Inter- 
valle.  Was  wir  von  den  tierischen  Vorfahren  in 
beiden  Beziehungen  ererbt  haben,  das  ist  nur  der 
Kehlkopf  und  das  Ohr. 

So  wenigstens  steht  die  Frage  gegenwartig. 
Sollten  irgendwelche  in  dieser  Hinsicht  noch  un- 
gepriifte  menschliche  Stamme  sich  zu  melodischer 
Transposition  ganz  unfahig  finden,  so  wiirden  wir 
eben  auch  ihnen  Musik  im  engeren  Sinn  absprechen. 
Sollte  umgekehrt  sich  bei  talentvollen  Tieren  doch 
einmal  diese  Fahigkeit  konstatieren  oder  kUnstlich 
anerziehen   lassen,   so   wUrden   wir   sie   sofort   als 


—     14    — 

unsere  rechten  Briider  in  Apoll  in  Anspruch  nehmen. 
Aber  augenblicklich  ist  keines  von  beiden  der  Fall, 
und  besonders  geringe  Aussicht  bieten  gerade  unsere 
nachsten  korperlichen  Verwandten,   die  Saugetiere. 

Wenn  die  Musik  uberhaupt  aus  dem  Tierreiche 
hergeleitet  werden  soil,  wurde  die  Idee  des  alten 
Demokrit  fast  mehr  fur  sich  haben,  wie  die  Dar- 
wins:  daB  man  namlich  durch  Nachahmung  der 
Vogel  darauf  gekommen  sei^.  Dann  hatte  freilich 
die  Deszendenz  nichts  damit  zu  tun.  Man  findet 
tatsachlich  bei  Naturvolkern  solche  Vogelnachahmun- 
gen.  Die  Berliner  Phonogrammsammlung  besitzt  da- 
fur  Belegstilcke.  Aber  die  einzige  oder  auch  nur  die 
Hauptquelle  der  Musik  kann  auch  darin  nicht  liegen. 
Die  uns  vorliegenden  Proben  betreffen  keineswegs 
Vogelweisenvonbesondersmelodischer,musikalischer 
Art.  Es  ist  mehr  das  Rhythmische  und  das  Trillern 
und  Schnalzen,  was  den  Naturmenschen  zur  Nach- 
ahmung reizt.  Sollten  aber  in  der  Urzeit  mehr 
melodische  Weisen  nachgeahmt  sein,  so  wUrde  es 
sich  sofort  fragen:  wie  kam  man  zu  dieser  Auswahl, 
warum  zog  man  melodische  mit  bestimmten  Inter- 
vallen  vor?   Die  Frage  ist  also  nur  zuriickgeschoben. 

2.  Fine  andere  moderne  Hypothese,  die  man 
schon  bei  Rousseau,  Herder  u.  a.  findet,  hat  ohne 
Kenntnis  seiner  Vorganger  Herbert  Spencer  aufge- 
stellt.  Man  kann  sie  in  die  Formel  fassen:  „Im  An- 
fange   war   das  Wort."     Sie  lehrt  Entstehung   der 


—     15    — 

Musik  aus  den  Akzenten  und  Tonfallen  der  mensch- 
lichen  Sprache.  Beim  erregten  Sprechen,  unter  dem 
EinfluB  starker  Gemutsbewegungen,  treten  diese 
tonalen  Eigenschaften  deutlicher  hervor.  Wenn  wir 
jemand  rufen  und,  falls  er  nicht  kommt,  zum  zweiten 
und  dritten  Male  rufen,  oder  wenn  wir  mit  steigen- 
dem  Affekt  bitten  oder  befehlen,  wenn  wir  in  Wor- 
ten  jubeln  oder  trauern:  immer  wird  nach  Spencer 
die  Sprache  musikalisch,  man  beginnt  schon  zu  singen. 
Diese  Tonbewegungen  des  erregten  Sprechens  wur- 
den  spater  ganz  von  den  Worten  abgelost  und  auf 
Instrumente  ubertragen,  und  so  ist  die  absolute 
Musik  entstanden. 

Es  liegt  hierin  viel  Wahres,  auf  das  wir  spater 
zuruckkommen  werden:  der  „Sprachgesang"  bildetbei 
den  Naturvolkern  eine  sehr  verbreitete  Rezitierungs- 
form.  Aber  am  eigentlichen  Zentrum  der  Sache  schieBt 
auch  Spencer  vorbei.  Denn  Musik  unterscheidet  sich 
vom  singenden  Sprechen  durchaus  wesentlich  dadurch, 
da6  sie  feste  Stufen  gebraucht,  wahrend  das  Sprechen 
zwar  Hohenunterschiede  von  wechselnder  GroBe,  aber 
keine  fasten  Intervalle  kennt,  vielfach  sogar  in  Form 
einer  stetig  gleitenden  Tonbewegung  erfolgt.  Ihre 
unendliche  Ausdrucksfahigkeit  erlangt  die  mensch- 
liche  Sprache  gerade  durch  diese  in  der  Musik  gar 
nicht  wiederzugebenden  kleinsten  NUancen  und 
stetigen  Ubergange.  E.  W.  Scripture  hat  durch  Ver- 
groBerung  und  genaue  Analyse  der  Kurven,  die  ein 


—     16    — 

gesprochener  Satz  auf  dem  Grammophon  gibt,  nach- 
gewiesen  (was  iibrigens  einem  feineren  Ohr  auchnicht 
verborgen  bleibt) ,  daB  oftschon  auf  einer  einzigen  Silbe 
ein  betrachtliches  Schwanken  der  Tonhohe  stattindet, 
das  musikalisch  ein  grober  Fehler  sein  wurde^. 


Fig.  1. 


Fig.  2. 


Fig.  3. 


Bei  jeder  dieserdreiTonkurven  wurdenur  dielnter- 
jektion„0!"ausgesprochen,  das  erstemal  kummervoll, 
das  zweitemal  bewundernd,  das  drittemal  fragend. 
Hierbei  geht  die  Stimme,  die  in  verschiedener  ab- 
soluter  H5he  einsetzt,  das  erstemal  urn  eine  Doppel- 
oktave,  das  zweitemal  um  eine  Duodezime,  das 
drittemal  um  eine  Oktave  (natUrlich  immer  nur 
ungefahr)  in  die  Hohe,  um  dann  wieder  zu  sinken. 
Bei  weniger  geflihlvollem  Sprechen  ist  diese  stetige 
Tonbewegung  geringer,   erreicht  aber  immer  noch 


—     17     - 

auf  einem  einzigen  Vokal  oder  Diphthong  etwa  den 
Umfang  einer  Quarte,  wie  folgende  von  Dr.  Effen- 
berger  nach  Scripture's  Methode  untersuchten  Bel- 
spiele  zweier  Individuen  zeigen,  die  die  Verse 
„1  remember,  I  remember  the  house,  were  I  was 
born"  zu  sprechen  hatten^ 


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IM- 

Fig.  4  und  5. 


Das  Zeichen  fur  den  altgriechischen  Zirkumflex 
(Perispomenon)  bedeutete  bekanntlich  ein  solches 
Steigen  und  Fallen  der  Stimme  auf  einem  Vokal 
Oder  Diphthong.  Seine  ursprtingliche  Form  A,  ana- 
log den  Kurven  Scripture's,  veranschaulichte  diese 
Stimmbewegung.  Und  zwar  gibt  Dionys  von  Hali- 
karnaB  den  Umfang  einer  Quarte  dafUr  an^.  Bei 
Schauspielern  wird  man  allerdings  ofters  auch  eine 

Stumpf    Anfange  der  Musik  2 


—     18    — 

ganz  unveranderte  Tonhohe  auf  einer  Silbe,  ja  auf 
ganzen  Satzen  beobachten,  wenn  ein  besonderer 
Effekt  beabsichtigt  ist.  Da6  z.  B.  das  bedeutsame 
englische  „I",  dessen  Bewegung  wir  eben  verfolgten, 
von  einem  Kunstsprecher  so  gehalten  werden  kann, 
scheint  der  Verlauf  der  Grammophonkurven  des  Schau- 
spielers  Jefferson  beim  „I"  des  Satzes  „I,  said  the 
owl"  zu  beweisen^^: 


Fig.  6. 

Hier  sieht  man  die  einzelnen  Original -Wellen- 
linien,  aus  deren  Messung  dann  Hohenkurven  wie 
die  vorhergehenden  gewonnen  werden.  Auch  hier 
erleiden  zwar  die  Tonwellen  in  der  kurzen  Zeit 
Starke  Veranderungen.  Aber  diese  Veranderungen 
betreffen  vom  zweiten  Drittel  an  nur  die  Wellenform, 
d.  h.  die  Klangfarbe,  nicht  die  Wellenlange.  Wenn 
man  die  Abstande  der  aufeinanderfolgenden  Maxima 
miBt,  findet  man  eine  erhebliche  (und  zwar  stetige) 
Abnahme,  also  Tonerhohung,  nur  im  ersten  Drittel 
des  ganzen  Verlaufes.  Von  da  ab  haben  wir  hier 
schon  ein  singendes  Sprechen,  ohne  stetig  glei- 
tende  Tonbewegung.  Ausnahmsweise,  zu  besonderen 


—     19    — 

Wirkungen,   ist   es   zulSssig   und   nlitzlich,   im   all- 

gemeinen  aber  wirkt  es  nicht  erfreulich.    Besonders 

unerfreulich,  wenn  nicht  bloB  einzelne  betonte  und 

lange  Silben  in  konstanter  Hohe  gehalten,  sondern 

auch  in  der  Aufeinanderfolge  der  Tonhohen  ofters 

feste  musikalische  Intervalle  gebraucht  werden,  ohne 

daB  doch  wirklich  gesungen  wUrde.  Das  fUr  manche 

Menschen  gewohnheitsmaBige,  in  gewissen  Gegen- 

den  auch  landesubliche  singende  Sprechen  ist  gerade 

darum  unschon,  weil  es  sich  den  festen  Intervallen 

der  Musik  nahert  und  dadurch  den  Vorzug  der  Sprache 

aufgibt,  ohne  den  der  Musik  zu  gewinnen. 

Wenn  man  dieTonbewegung  eines  guten  Sangers 

genau  untersucht,  findet  man  freilich  auch  kein  ide- 

ales  Festhalten  der  Tonhohe,  vielmehr  oft  auf  einer 

Note  ein  bedenkliches  Schwanken  und  beim  Into- 

nieren    eines    Intervalls    zahlreiche    Abweichungen, 

manchmal  beabsichtigte,  meistens  unbeabsichtigte^^ 

Auch  ein  umfangreicheres  Gleiten  der  Stimme  (Por- 

tament)  wird  bekanntlich  hie  und  da  beliebt.    Bei 

den  Naturvolkern  finden  sich  solche  gleitende  Be- 

wegungen  haufiger,  und  zwar  offenbar  mit  Absicht 

an  bestimmten  Stellen  und  zu  bestimmten  Wirkungen 

gebraucht  1-.    Dennoch  ist  kein  Zweifel:  das  Gesetz 

und  der  Geist  der  Tonkunst   verlangen  prinzipiell 

feste  Tonhohen   und   Intervalle,  und   auf   ihre  Er- 

zeugung  ist  die  Intention  des  Sangers  und  Spielers, 

abgesehen  von  Ausnahmefallen,  gerichtet.    Bei  der 

2* 


—    20     - 

Sprache  dagegen  liegt  eine  solche  Intention  im  all- 
gemeinen  nicht  vor  und  darf  nicht  vorliegen,  wenn 
sie  nicht  ihr  Bestes  opfern  will. 

Die  ausgezeichnete  Stellung  der  festen,  reinen 
Tonverhaltnisse  1:2,  2:3  usf.  mu6  daher  einen 
anderen  als  blo6  sprachlichen  Ursprung  haben. 
Sollte  die  Sprache  bei  der  Geburt  der  Musik  oder 
bei  ihrer  Aufziehung  irgendwie  mitgeholfen  haben: 
die  Mutter  war  sie  jedenfalls  nicht.  Das,  was  Mu- 
sik grundwesentlich  von  der  Sprache  unterscheidet, 
kann  nicht  aus  der  Sprache  gewonnen  sein^^. 

3.  Einer  dritten  Anschauung  kann  man  Hans  v. 
Bulows  Wort  zugrunde  legen:  „Im  Anfange  war 
der  Rhythmus",  namlich  die  rhythmisch  geordnete 
Bewegung. 

Die  Verbindung  von  Tanz  und  Gesang  bei  Na- 
turvolkern  ist  oft  betont  worden.  Der  Musikforscher 
Wallaschek  hat  speziell  in  dem  Singen  bei  Kriegs- 
und  Jagdtanzen  und  in  der  Notwendigkeit  rhyth- 
mischer  Formen  fur  das  Zusammensingen  vieler  den 
Ursprung  der  Musik  gefunden.  Dann  ist  der  Leip- 
ziger  Nationalokonom  Karl  Bucher  in  seinem  in- 
teressanten  und  stoffreichen  Buche  „Arbeit  und 
Rhythmus"  von  ganz  anderem  Standpunkte  darauf 
gekommen.  Die  geordnete  Bewegung,  die  fur  ihn 
den  Ursprung  aller  Kunste  bildet,  ist  keine  andere 
als  die  der  korperlichen  Arbeit,  namentlich  der  ge- 
meinsamen  Arbeit.  Zahlreiche  Verrichtungen,  die  zum 


—     21      - 

taglichen  Leben,  zur  Gewinnung  der  Lebensmittel, 
zum  Bauen,  Rudern,  Hammern  usw.  erforderlich 
sind,  werden  besser  vollzogen,  wenn  sie  rhythmisch 
erfolgen.  Dies  fuhrt  auf  die  Begleitung  der  Arbeit 
durch  allerlei  Verse,  die  BUcher  in  groBer  Anzahl 
gesammelt  hat,  und  nicht  minder  durch  Trommeln 
und  durch  Singen.  Poesie  und  Musik  entstehen  so 
gemeinschaftlich  aus  dem  Bedurfnis  des  Rhythmus, 
und  dieser  selbst  ist  eine  naturliche  Folge  der  Er- 
leichterung,  die  er  bei  der  Arbeit  schafft,  und  der 
Bewegungen,  in  denen  die  Arbeit  sich  vollzieht,  des 
Stampfens,  Schlagens,  Hebens  usw. 

Auch  die  Rhythmustheorie  aber,  sonst  so  ein- 
leuchtend,  lost  uns  nicht  das  Hauptproblem.  Sie  macht 
wohl  Anlasse  und  Motive  namhaft,  die  zum  Singen 
fuhren  konnten,  aber  die  Erklarung  versagt  wieder 
gerade  da,  wo  das  spezifisch  Unterscheidende  der 
Musik  beginnt,  namlich  bei  der Frage,  wie  die  Menschen 
dazu  kamen,  die  Linie  der  Tone,  die  an  und  fur  sich 
durchaus  stetig  ist,  in  bestimmte  Intervalle  zu  gliedern. 
Den  Rhythmus  konnten  sie  durch  abgehackte  unarti- 
kulierte  Laute  oder  Gerausche  ebenso  gut  und  besser 
ausdriicken.  Die  Verstarkung  der  betonten  Silbe 
fuhrte  zwar  naturgemaB  zu  einer  Tonerhohung  fur 
diese  Silbe  und  so  zu  Unterschieden  der  Intonation; 
aber  die  konsonanten  Intervalle,  auf  deren  Ursprung 
es  vorzugsweise  ankommt,  zeichnen  sich  in  dieser 
Hinsicht,  nach  ihrer  Eignung  ftir  rhythmische  Zv/ecke, 


—    22     — 

nicht  im  mindesten  vor  beliebigen  anderen  Schwin- 
gungsverhMltnissen  aus.  Nach  der  instrumentalen 
Seite  hatte  die  Ausbildung  der  Rhythmuskunst  nur 
zum  Trommeln  gefiihrt.  Aber  eine  noch  so  fein  dif- 
ferenzierte  Trommelsonate  ist  noch  nicht  Musik, 
wenigstens  nicht  die  Musik,  deren  Ursprung  wir 
suchen.  SchlieBlich  gibt  es  einen  Rhythmus  ja  nicht 
nur  fur  das  Gehor,  sondern  auch  fur  das  Muskel- 
gefiihl  fiir  sich  allein;  und  wenn  die  ganze  Mensch- 
heit  ewig  taub  geblieben  ware,  hatte  sie  recht  wohl  eine 
Tanzkunst  ausbilden  konnen,  aber  nicht  eine  Musik. 
Die  Urkeime  dermusikalischen  Leiterbildungen  mussen 
selbstandigentstandensein,  dann  erstkonntedas  melo- 
dische  mit  dem  rhythmischen  Bedlirfnis  (das  immer- 
hin  frliher  dagewesen  sein  mag)  zusammenwirken. 
Ein  anderes  Bedenken  scheint  mir  daraus  zu  ent- 
springen,  da6  unter  den  unendlich  zahlreichen  Ge- 
sangen  der  Naturvolker  Arbeitsgesange  zwar  vor- 
kommen  (z.  B.  Bootsgesange  bei  den  Indianern  oder 
den  Siidseeinsulanern,  MarschHeder  in  Afrika),  aber 
einen  auBerst  geringen  Bruchteil  ausmachen.  Man 
vergleiche  nur  die  Melodien  unserer  Notenbeilage: 
sie  sind  nicht  mit  RUcksicht  auf  den  Gegenstand 
Oder  AnlaB  sondern  auf  den  musikalischen  Bau  der 
Lieder  ausgewahlt,  es  findet  sich  darunter  aber 
nicht  ein  einziger  Arbeitsgesang,  es  sei  denn,  daB 
man  (mit  Bucher)  Gesange  der  Priester  und  Medi- 
zinmanner  darunter  rechne,  was  mir  doch  zu  modern 


—     23     — 

gedacht  scheint.  Regelrecht  rhythmisches  und  nament- 
lich  gemeinschaftliclies  Arbeiten  stellt  sich  eben  erst 
bei  nicht  mehr  ganz  primitiven  VOlkern  ein.  Da 
mehren  sich  in  der  Tat  die  Arbeitsgesange,  und 
von  solchen  V6li<ern  stammen  auch  die  meisten,  die 
Bticher  gesammelt  hat. 

So  gibt  denn  keine  der  uberkommenen  Theorien 
eine  genUgende  Antwort  auf  die  gestellte  Frage. 

II. 
Ursprung  und  Urformen  des  Gesanges. 

Verstehen  wir  nunmehr  Musik  als  die  Kunst, 
deren  Material  wesentlich  aus  festen  und  transponier- 
baren  Tonschritten  besteht,  und  suchen  wir  uns  den 
Ursprung  dieser  Kunst  begreiflich  zu  machen,  so 
miissen  wir  zwei  Fragen  auseinander  halten: 

Wie  ist  tiberhaupt  die  Fahigkeit  entstanden,  Ver- 
haltnisse  von  Sinnesempfindungen  unabhangig  von 
der  besonderen  Beschaffenheit  dieser  Empfindungen 
wiederzuerkennen?  und: 

Wie  kam  man  zu  diesen  bestimmten  Intervallen, 
die  wir  in  der  Musik  der  verschiedenen  V5lker  und 
Zeiten  tatsachlich  finden? 

Die  erste  Frage  betrifft  die  Fahigkeit  der  Ab- 
straktion,  die  auch  anderen  Sinneseindrticken  gegen- 
iiber  getibt  wird,  etwa  wenn  wir  ein  Ornament  oder 
Bildnis  in  der  Verkleinerung  wiedererkennen.   Diese 


—     24     — 

allgemeine  Frage  scheint  mit  der  Definition  des  ganzen 
menschlichen  Seelenlebens,  mit  seiner  Abgrenzung 
gegen  das  tierisclie  zusammenzuhangen.  Wie  weit 
sind  Tiere  iiberhaupt  imstande,  gleiche  Verhaltnisse 
an  ungleichem  Material  zu  erkennen  und  hervorzu- 
bringen?  Wie  weit  konnen  sie  z.  B.  beim  Erkennen  von 
Personen,  Gegenstanden,  Ortlichkeiten  von  der  Ver- 
schiedenheit  der  Farbung  und  Beleuchtung,  der  augen- 
blicklichen  ErscheinungsgroBe  usf.abstrahieren?  Ge- 
v^i6  durfen  wir  nicht  von  vornherein  sagen,  daB  ihnen 
dies  unmoglich  sei.  Aber  andrerseits  beweist  die 
gleichformige  Reaktion,  wenn  z.  B.  ein  Hund  den 
Herrn  in  verschiedenen  Entfernungen  oder  bei  ver- 
schiedener  Beleuchtung  erkennt,  nicht  ohne  weiteres, 
daB  es  dem  Tiere  gelungen  ist,  die  Gestalt  aus  den 
veranderlichen  Umstanden  in  Gedanken  herauszu- 
schalen.  Auch  wenn  nicht  der  Geruch  oder  die 
Stimme  des  Herrn  mitwirken,  wenn  ausschlieBlich 
visuelle  Anhaltspunkte  die  Bewegung  auslosen,  kann 
man  aus  der  Tatsache  zunachst  doch  nur  schlieBen, 
daB  das  Sinnesorgan  und  das  Nervensystem  sich 
an  gewisse  Reize  derart  gewohnt  hat,  daB  diese  auch 
unter  merklich  veranderten  Umstanden  noch  ihre 
Wirkung  tun.  Es  geht  freilich  auch  beim  Menschen 
in  vielen  Fallen  nicht  anders  zu,  wenn  er  in  gleicher 
Weise  auf  merklich  abweichende  EindrOcke  reagiert. 
Aber  im  entwickelten  Seelenleben  kommt  daneben 
doch  auch  jenes  Wiedererkennen  im  eigentlicheren 


-     25     — 

Sinne  vor,  das  nicht  bios  gleiche  Reaktion,  sondern 
auch  Erkennen  derGleichheitoderldentitat  bedeutet. 

Wie  das  nun  immer  bei  den  Tieren  sich  ver- 
halten  moge:  bei  den  Naturvolkern  ist  diese  Fahigkeit 
der  Abstraktion  schon  in  hohem  MaBe  entwickelt, 
und  beim  Urmenschen  miissen  wir  sie  in  gewissem 
Grade  voraussetzen,  wenn  wir  niclit  vollstandig  auf 
ein  Begreifen  der  Entwicklung  verzichten  wollen. 
Denn  hier  liegt  eine  der  Wurzeln  aller  menschlichen 
Fortschritte.  Eine  andere,  nahe  damit  zusammen- 
hangende,  liegt  in  der  Generalisation,  der  Bildung 
von  Begriffen.  Beide  zusammen  legen  den  Grund 
des  geistigen  Lebens,  auch  nach  der  Gefiihls-  und 
Willensseite.  Dies  ist  jener  gottlicher  Funke,  von 
dem  wir  zu  Anfang  gesprochen.  Wie  er  in  die  Seele 
gekommen  und  wie  sein  erstes  Aufgluhen  in  den 
Rahmen  der  Entwicklungslehre  sich  einfugt,  dar- 
uber  wird  man  an  dieser  Stelle  keine  Untersuchung, 
keine  Aufklarung  erwarten.  Wir  setzen  das Vorhanden- 
sein  der  Abstraktionsfahigkeit  beim  Urmenschen  vor- 
aus  und  stellen  nur  die  konkrete  Frage,  wie  man 
zuerst  dazu  gekommen  sein  mag,  bestimmte  zur  Trans- 
position geeignete  Tonschritte  von  den  anderen  ab- 
zusondern. 

Auch  hierin  liegen  noch  zwei  Unterfragen:  Welches 
war  der  AnlaB?  und:  Wodurch  eignen  sie  sich  zur 
Transposition?  Die  erste  konnen  wir  nur  hypothe- 
tisch,   die  zweite  aber  mit  Sicherheit  beantworten. 


-     26     - 

Der  Hypothese  mogen  wir  den  viel  ausgesproche- 
nen  Gedanken  zugrunde  legen,  der  auch  Bucher 
leitete,  daB  alle  KUnste  aus  der  Praxis  des  Lebens 
geboren  sind.  Die  Formel  von  Goethes  Faust  sei 
die  unsrige:  „Im  Anfang  war  die  Tat."  Aber  welche 
Tat  und  welches  praktische  BedUrfnis  war  der  An- 
fang der  Musik?  Moglicherweise  waren  mehrere 
verschiedene  Aniasse  beteiligt.  Doch  mochte  ich  es 
als  eine  nicht  unwahrscheinliche  Vermutung  hinstellen, 
da6  das  BedUrfnis  akustischer  Zeichengebung  im 
Spiele  war.  Wir  wollen  dabei  zunachst  nur  die 
menschliche  Stimme  als  Tonwerkzeug  voraussetzen. 

Versucht  man  auf  groBere  Entfernung  bin  jemand 
durch  die  Stimme  ein  Zeichen  zu  geben,  so  verweilt 
die  Stimme  mit  groBer  Starke  fest  auf  einem  hohen 
Tone,  wie  er  naturgemaB  eben  durch  die  starkste 
Anspannung  der  Stimmlippen  hervorgebracht  wird, 
wahrend  sie  am  Schlusse  mit  nachlassender  Lungen- 
kraft  heruntergeht;  wie  wir  an  den  Juchzern  beobachten, 
die  sich  die  Sennen  im  Gebirge  gegenseitig  zurufen. 
Dieses  Verweilen  auf  einem  festen  Ton  ist,  meine 
ich,  der  erste  Schritt  zum  Gesang,  es  zieht  die  Grenz- 
linie  gegen  das  bloBe  Sprechen. 

Der  zweite  Schritt  und  der  eigentliche  Schopfungs- 
akt  flir  die  Musik  ist  dann  der  Gebrauch  eines  festen 
und  transponierbaren  Intervalls,  und  auch  dazu  konn- 
ten  akustische  Signale  hinfuhren.  Wenn  namlich  die 
Stimme  eines  einzelnen  nicht  ausreicht,  werden  mehrere 


—     27     — 

zusammen  rufen.  Sind  es  Manner  und  Knaben  oder 
Manner  und  Weiber,  so  werden  sie  T5ne  ungleicher 
H5he  erzeugen,  weil  jeder  die  hochste  Tonstarke  nur 
innerhalb  seiner  Stimmregion  erreicht.  So  mochten 
zahllose  Mehrklange  zufallig  entstehen. 

Unter  alien  Kombinationen  hat  aber  eine  die 
Eigenschaft,  daB  der  Zusammenklang  dem  Eindruck 
eines  einzelnen  Tones  zum  Verwechseln  ahnlich  ist: 
die  Oktave.  Man  nennt  daher  das  Zusammensingen 
von  Mannern  und  Frauen  in  Oktaven  immer  noch 
einstimmigen  Gesang,  obgleich  es,  wenn  auf  die 
Verschiedenheit  der  Hohe  allein  geachtet  wird, 
schon  Mehrstimmigkeit  heiSen  muBte.  In  der  psy- 
chologischen  Akustik  kennen  wir  diese  Eigenschaft 
der  Oktave  unter  dem  Namen  der  Verschmelzung, 
und  schon  griechische  Musiktheoretiker  haben  darin 
das  Wesen  der  „Konsonanz"  gefunden.  Diese  Ein- 
heitlichkeit  desZusammenklanges  ist  der  Oktave  nicht 
etwa  erst  durch  die  Musik  selbst  zugewachsen.  Sie 
ist  nicht  eine  Folge  der  musikalischen  Entwicklung, 
sondern  eine  durch  die  Natur  der  Tone  oder  der 
ihnen  zugrundeliegenden  Gehirnprozesse  notwendig 
bedingte  Erscheinung^^.  Sie  ist  darum  wahrscheinlich 
auch  bei  den  Tieren  vorhanden,  nur  daB  diese  darauf 
nicht  aufmerksam  wurden  und  nichts  daraus  gemacht 
haben.  Die  Urmenschen  aber  mogen  diese  Ein- 
heitlichkeit  einmal  bemerkt  und  Zusammenklange  die- 
ser  Art  dann  mit  Vorliebe  benutzt  haben,  indem  sie 


—     28     — 

den  Eindruck  hatten,  den  namlichen  Ton,  also  einen 
verstarkten  Ton  zu  singen.  (Ob  dabei  iibrigens  eine 
wirkliche  Verstarkung  oder  nur  eine  groBere  Fulle  des 
Klanges  erzielt  wurde,  mag  hier  dahingestellt  bleiben.) 
Wir  konnen  heute  noch  an  Unmusikalischen  beob- 
achten,  da6  sie  die  Oktave  fur  Einen  Ton  halten. 
Versuche  haben  ergeben,  daB  dies  unter  100  Fallen 
etwa  75mal  geschieht^^  Also  gerade  solche,  die 
durch  die  musikalische  Erziehung  am  wenigsten 
beeinfluBt  sind,  unterliegen  am  meisten  dieser  Tau- 
schung. 

Es  gibt  aber  noch  andere  Zusammenklange,  die 
dieselbe  Eigenschaft  in  geringerem,  doch  immer 
noch  betrachtlichem  MaBe  besitzen:  vor  allem  die 
Quinte  und  die  Quarte.  Bei  der  Quinte  kann  man 
auf  40—60%,  bei  der  Quarte  auf  28—36%  Falle 
rechnen,  in  denen  sie  von  UngeUbten  und  Unmusi- 
kalischen miteinem  einzigenTon  verwechseltwerden. 
So  konnten  sich  auch  diese  Zusammenklange  dem 
Gehor  allmahlich  durch  ihre  einheitliche  Wirkung 
bemerkbar  machen.  Selbst  auf  unserer  Orgel  ist  bei 
gewissen  Registern  einem  jeden  Ton  die  Quinte  bei- 
gefUgt,  ohne  daB  es  jemand  merkt.  Der  Klang  wird 
voller,  ohne  seine  Einheitlichkeit  einzubiiBen. 

DaB  die  Signalgebung  der  AnlaB  oder  einer  der 
Anlasse  zur  Aussonderung  bestimmter  Intervalle  war, 
ist,  wie  gesagt,  Hypothese.  DaB  aber  die  auffallende 
Verschmelzung  der  beiden  gleichzeitigen  Tone  ge- 


-     29     — 

wissen  Schwingungsverhaltnissen  unabhangig  von  der 
absoluten  Tonhohe  zukommt,  sie  somit  zur  Trans- 
position geeignet  macht,  ist  sicher. 

Da  aus  dem  Bedtirfnis  der  Zeichengebung  auch 
die  Sprache  entstanden  sein  mu6  (zunachst  in  Ge- 
stalt  eng  miteinander  verknlipfter,  durch  sich  ver- 
standlicher  Laut-  und  Gebardezeichen),  so  ist  durch 
unsere  Hypothese  eine  gemeinschaftliche  Wurzel  fUr 
Musik  und  Sprache  gesetzt. 

Wenn  man  ferner  religiose  Bediirfnisse  schon  in 
der  Urzeit  des  Menschengeschlechts  wirksam  denkt, 
kann  man  annehmen,  da6  auBer  der  Zeichengebung 
gegentiber  Menschen  auch  die  Anrufung  der  Gotter, 
bzw.  der  damonischen  Zauberkrafte  in  Luft  und 
Wasser,  zu  den  Anlassen  gemeinschaftlicher  stark- 
ster  Stimmgebung  gehorte.  Man  kann  so  auch  diese 
Seite  der  menschlichen  Natur  in  Beziehung  zu  den 
Ursprungen  der  Musik  setzen. 

Nun  mochte  weiter  ein  Affekt  ins  Spiel  treten, 
dem  wir  in  der  Urgeschichte  der  Menschheit  auf  alle 
Falle  eine  machtige  Rolle  zuschreiben  mtissen,  der 
allerdings  auch  schon  bei  den  hOheren  Tieren,  nament- 
lich  den  Affen,  deutHch  ist:  die  Neugier.  Sie  ist 
neben  dem  Zufall  und  der  Not  die  Quelle  aller  Ent- 
deckungen  und  Erfindungen,  undsie  istdiePflegeamme 
auch  derjenigen,  die  der  Zufall  oder  die  Not  geboren 
hatte.  Beim  Zusammentreffen  zweier  Stimmen  in  der 
Oktave,  in  der  Quinte  oder  Quarte  konnte  einem  f  eineren 


—    30    — 

Gehor  doch  allmahlich  nicht  entgehen,  daB  es  sich  in 
Wirklichkeit  urn  zwei  verschiedene  Tone  handelte. 
Wenn  man  sie  nacheinander  angab,  war  dies  voll- 
i<ommen  deutiich.  Man  mochte  sich  dariiber  freuen, 
solche  Zweii<lange  hervorzubringen,  die  doch  einem 
Einklang  ahnlich  waren;  und  man  sang  dann  die 
namlichen  Tone  auch  absichtlich  nacheinander,  um 
sich  ihren  Eindruck  auch  in  dieser  Form  einzupragen. 
Dabei  mochte  dann  der  leereZwischenraum,  den  auch 
das  kleinste  dieser  Intervalle,  die  Quarte,  noch  dar- 
bietet,  zunachst  willkiirlich  durch  Zwischentone  aus- 
gefOllt  werden.  Und  so  konnen  wir  uns  die  ersten 
melodischen  Phrasen,  sowie  die  ersten  Keime  einer 
Leiter  entstanden  denken.  Die  Oktave  wird  dabei 
allerdings  im  melodischen  Gebrauch  weniger  benutzt 
worden  sein.  Obgleich  Oktavenschritte  in  recht 
primitiven  Gesangen  vorkommen,  finden  sie  sich 
naturgemaB  doch  nur  an  einzelnen  Stellen.  Zum 
melodischen  Gebrauche  sind  die  kleinen  Stufen  ge- 
eigneter.  Quarten-  oder  Quintenschritte  sind  daher 
bei  vielen  primitiven  Gesangen  die  groBten  Inter- 
valle, die  in  unmittelbarer  Aufeinanderfolge  der 
beiden  Tone  gesungen  v^erden.  Aber  auch  der  ge- 
samte  Tonumfang  eines  Liedes,  der  Abstand  seines 
tiefsten  Tones  von  seinem  hochsten,  uberschreitet 
haufig  nicht  diese  Grenze. 

Man  konnte  wohl  fragen,  ob  die  ersten  konso- 
nanten   Intervalle   nicht   doch   auch   in   der   bloBen 


—     31     - 

Aufeinanderfolge  der  T5ne  sich  schon  fOr  das  BewuBt- 
sein  der  Urmenschen  auszeichnen  muBten.  Bei  der 
Oktave  z.  B.  sprechen  wir  doch  von  einer  gewissen 
Verwandtschaft  oder  Ahnlichkeit  oder  gar  Identitat 
der  beiden  Tone,  die  auch  den  Urmenschen  auf- 
fallen  konnte.  Ich  will  eine  solche  Moglichkeit  nicht 
ausschlieBen,  halte  aber  die  Verschmelzung  bei  gleich- 
zeitigem  Angeben  der  Tone  fur  das  aufdringlichere  Pha- 
nomen  und  darum,  zumal  da  es  gleichzeitig  jene  prak- 
tische  Bedeutung  haben  konnte,  fUr  den  wahrschein- 
lichsten  Ausgangspunkt  der  ganzen  Entwicklung^*^. 
Nur  zum  Gebrauche  gewisser  kl einer  Intervalle 
konnte  man,  und  zwar  sogar  schon  viel  fruher, 
durch  das  Singen  aufeinanderfolgender  Tone  ge- 
langen,  ohne  uberhaupt  irgendwelche  konsonante 
Zusammenklange  dabei  zu  benotigen.  Man  sang 
eben  —  vielleicht  nur  dem  Spieltriebe  folgend  oder 
wieder  zu  Signalzwecken  —  Tone,  die  deutlich  ge- 
nug  voneinander  verschieden  waren,  und  erwarb 
sich  in  der  Hervorbringung  solcher  Stufen,  die  dann 
auch  absichtlich  etwas  groBer  oder  kleinergenommen 
werden  konnten,  eine  gewisse  Ubung;  so  daB  da- 
durch  schon  Gesange  moglich  wurden,  die  man 
von  anderen  Ausgangstonen  aus  wiederholen  konnte. 
Denn  solche  kleine  Tonstufen  lassen  sich  in  der  Tat 
von  beliebigen  Ausgangstonen  aus  mit  einiger  Ge- 
nauigkeit  in  gleicherGroBe  herstellen,  und  man  erhalt 
auch  so  eine  Art  transponierbarer  Intervalle  ^l    Ihre 


—     32     — 

Abstimmung  wird  freilich  nur  schwer  die  Genauigkeit 
und  GleichmaBigkeit  der  Intervalle  erreichen,  die 
auf  das  Prinzip  der  Konsonanz  gegrtindet  sind. 

Manche  Gesange  primitivster  Natur,  z.  B.  bei 
den  Wedda  auf  Ceylon,  sind  von  dieser  Art  und 
wohl  auf  diesem  Wege  entstanden.  Mag  man  sie 
als  bloBe  Vorstufen  oder  schon  als  Anfange  der 
Tonkunst  bezeichnen,  jedenfalls  gilt,  daB  diese  von 
kleinen  Tonstufen  ausgehende  Stromung  erst  mit 
der  vorher  geschilderten,  aus  den  Konsonanzerleb- 
nissen  flieBenden,  sich  vereinigen  muBte,  ehe  eine 
hohere  Entwicklung  moglich  war.  Wenn  solche  Ge- 
sange aus  willkiirlichen  kleinen  Stufen  die  zeitlich 
friiheren  waren,  was  moglich,  ja  sehr  wahrscheinlich 
ist,  so  wUrden  wir  sagen:  der  Nebenstrom  hat  einen 
langeren  Lauf,  aber  er  wird  dadurch  nicht  zum  Haupt- 
strom.  Dieser,  der  Gebrauch  konsonanter  Grundinter- 
valle,  ist  es,  der  sich  mehr  und  mehr  als  das  Wesen 
der  Musik  enthullt  und  dessen  Quelle  die  Quelle 
der  Musik  ist. 

Uberdies  kann  man  sich  leicht  vorstellen,  auf 
welche  Art  die  beiden  FluBlaufe  bald  zusammentreffen 
muBten.  Kurze  melodische  Motive  aus  kleinen  Stufen 
eigneten  sich  offenbar  vortrefflich  zu  Signalzwecken, 
zumal  da  durch  die  Unterschiede  der  Akzentuierung 
aus  wenigen  Tonen  eine  Fulle  verschiedenerZeichen 
entsteht,  die  z.  B.  als  Familienrufe  gebraucht  werden 
konnten.  Wenn  nun  Manner  und  Weiber  oder  Knaben 


—     33     — 

ein  solches  aus  zwei  oder  drei  Tonen  gebildetes  Si- 
gnal zusammen  angaben,  so  muBten  wieder  die  FSlle, 
in  denen  sie  in  Oktav-  oder  Quintenparallelen  neben- 
einander  her  sangen,  sich  vor  anderen  durch  den  Ein- 
druck  des  Unisono  auszeichnen  und  darum  allmahlich 
bevorzugt  werden.  Und  war  dieshaufiggeschehen,  so 
konnte  leicht  auch  ein  einzelner  sich  versucht  fuhlen, 
den  Ruf  des  Partners,  den  er  soeben  gehort,  in  dessen 
eigener  Stimmlage  nachzuahmen  (oder  auch  zu  pf  eif  en), 
womit  er  also  seinen  eigenen  Ruf  urn  eine  Oktave, 
bzw.  Quinte  oder  Quarte,  hoher  oder  tiefer  transponiert 
hatte.  Der  Gebrauch  des  Falsetts,  der  sich  bei  Natur- 
volkern  ofters  findet,  konnte  unter  anderem  mit  solchen 
Nachahmungsversuchen  zusammenhangen.  So  wurde 
das  Parallelsingen  zugleich  eine  gute  Schule  der 
Transpositionsfahigkeit. 

Waren  einmal  die  Motive  aus  zwei  oder  drei 
Tonen  zu  groBeren  Gebilden  erweitert,  denen  wir 
schon  den  Namen  von  Melodien  beilegen  konnen, 
so  konnte,  ja  muBte  derselbe  ProzeB  sich  wieder- 
holen.  In  der  Tat  finden  wir  nicht  nur  das  Parallel- 
singen ganzer  Melodien  in  Oktaven,  sondern  auch 
das  Singen  und  Spielen  in  Quinten-  oder  Quarten- 
parallelen  bei  Naturvolkern  weit  verbreitet.  Man 
kann  selbst  in  unserem  zivilisierten  Europa  noch 
oft  bei  Natursangern  beobachten,  da6  sie  quintieren, 
wahrend  sie  einstimmig  zu  singen  glauben.  In  einem 
Moment  der  Zerstreuung  oder  unter  ungewohnlichen 

Stunipf ,  Anfange  der  Musik  ■^ 


—     34     — 

Umstanden  kann  dies  sogar  einem  Musiker  passieren. 
Legte  man  nun  wieder  das  gleichzeitig  Gesungene 
auseinander,  so  war  die  Melodie  um  eines  der 
konsonanten  Intervalle  verschoben.  Auch  fur  solche 
Wiederholungen  finden  sich  schon  frtihzeitig  Beispiele. 
In  der  spateren  griechischen  Musik  und  den  Anfangen 
der  christlichen  nannte  man  sie  Antiphonien.  Bei 
uns  selbst  gibt  es  auBer  den  Oktavenverschiebungen, 
die  gar  nicht  mehr  als  Transpositionen  gerechnet 
werden,  die  regelmafiige  Quintenverschiebung  des 
Themas  in  der  Fuge  und  anderen  kontrapunktischen 
Formen.  Es  mag  lacherlich  klingen,  ist  aber  buch- 
stablich  richtig,  daB  die  Anfange  der  Kontrapunktik  in 
vorhistorische  Zeiten  zuriickreichen. 

V.  Hornbostel  hat  darauf  hingewiesen,  da6  auch 
umgekehrt  aus  Wechselgesangen,  die  zunachst  ganz 
ungeregelt  sein  mochten,  Mehrstimmigkeit  entstehen 
konnte.  Es  findet  sich  namlich  haufig  bei  Natur- 
volkern,  daB,  wenn  zwei  Sanger  oder  ein  Sanger  und 
ein  Chor  abwechseln,  der  zweite  Partner  schon  be- 
ginnt,  wahrend  der  erste  noch  seine  letzten  T5ne  vor- 
tragt.  In  dieser,  zuerst  wohl  nur  der  Ungeduld  des 
Sangers  entsprungenen,  Unartfandman  dannvielleicht 
einen  gewissen  Reiz  (wie  ja  das  Verfahren  in  unserer 
Kunstmusik  zu  schonen  Wirkungen  benutzt  wird), 
Ubte  es  auch  absichtlich  und  entdeckte  dabei  aufs 
neue  und  von  hoherem,  schon  kunstlerischem  Stand- 
punkte  den  Eindruck  konsonanter  Intervalle. 


—    35    — 

III 
Primitive  Instrumente  und  ihr  EinfluB. 

Ganz  derselbe  ProzeB,  wie  beim  Singen,  vollzog 
sich  nun  auch  sicherlich  schon  sehr  friihe  beim  Ge- 
brauche  von  Instrumenten.  Wir  mussen  allerdings 
damit  rechnen,  da6  manche  anscheinend  primi- 
tive Musilcinstrumente,  die  wir  jetzt  finden,  Ruck- 
bildungen  lioher  stehender  Instrumente  sein  mogen, 
die  von  Kulturvolkern  v^ieder  zu  Naturvolkern  ge- 
v^^andert  sind;  wie  z.  B.  die  Negerharfe  in  diesem 
Verhaltnis  zur  altagyptisclien  Harfe  stehen  dtirfte, 
ebenso  die  Pfeifen  der  Kubu  auf  Sumatra  zu  denen 
des  javanischen  Kulturvolkes^^.  Immerhin  konnen 
wir  das  bei  Naturvolkern  Vorgefundene  auch  dann 
benutzen,  um  uns  ein  annalierndes  Bild  von  den  ur- 
sprunglichen  Zustanden  zu  machen. 

Pfeifen  sind,  wenn  nicht  die  altesten,  jedenfalls 

sehr  alte  Musikwerkzeuge.   Man  findet  durchlocherte 

Knochen  erlegter  Tiere,  namentlich  von  Vogeln,  in 

Verbindung   mit   Steinwerkzeugen    in    europaischen 

wie  in  amerikanischen  Grabern  und  Hohlen.    Auch 

das  Horn  der  Antilope  oder  des  Urstieres  und  aus- 

gehohhe  Mammutzahne  wurden  verwendet,  besonders 

aber  Bambusrohre,  spater  auch  kunstlich  gefertigte 

Terrakottapfeifen.    Sie  wurden  entweder  am  offenen 

Ende  angeblasen  oder  mit  einem  Seitenloche  ver- 

sehen.    Am  offenen  Ende  wurde  schon  in  alter  Zeit 

3* 


—     36     - 

durch  eine  Asphaltmasse  ein  Mundstiick  mit  enger 
Spalte  angebracht,  entsprechend  dem  Prinzip  unse- 
res  Flageolets. 

Solche  zunachst  nur  auf  einen  Ton  abgestimmte 
Pfeifen  mochten  nun  wiederum  zu  Signalen  Anwen- 
dung  finden,  wie  denn  auch  die  heutigen  Naturvolker 
Signalpfeifen  in  zahllosen  Formen  gebrauchen.  DaB 
man  das  Bedurfnis  der  Verstarkung  hatte,  zeigen  die 
nicht  selten  vorkommenden  Doppelpfeifen.  Wurden 
Pfeifen  verschiedener  Tonhohe  von  mehreren  Indivi- 
duen  zusammen  angeblasen,  so  konnten  dabei  nach 
und  nach  wieder  jene  drei  Grundintervalle  aus- 
gesondert  werden,  die  dem  Gehor  durch  ihre  Ein- 
heitlichkeit  auffielen,  auch  wenn  man  sie  nicht  schon 
vom  Singen  her  kannte.  Gegen  die  ungeschulte 
Menschenstimme  hat  die  Pfeife  den  Vorteil,  dafi  sie 
den  Ton  besser  halt,  wahrend  die  Stimme  leicht  in 
weiten  Grenzen  schwankt.  So  konnten  die  kon- 
sonanten  Verhaltnisse  sich  hier  noch  leichter  offen- 
baren,  sind  vielleicht  auch  wirklich  fruher  da  auf- 
gefunden. 

Es  wurden  dann  auch  auf  einem  einzelnen  Instru- 
mente  durch  Anbringung  mehrerer  Locher  von  einem 
findigen  Instrumentenmacher  der  Urzeit  verschiedene 
Tone  hergestellt.  Dabei  sind  aber  die  Locher  zuerst 
nicht  bloB  nach  akustischen  Bedurfnissen,  so  wie 
man  die  Tone  zu  h5ren  wunschte,  angebracht 
worden,  sondern  man  hat  zunachst  aufs  Geratewohl 


—     37    — 

Oder  nach  auBerlichen  Motiven,  wie  es  sich  etwa 
innerhalb  der  Bambusknoten  am  besten  einrichten 
lieB,  besonders  aber  nach  raumlicher  Symmetrie  die 
Locher  gebohrt  und  dann  die  Tone  so  geblasen 
und  so  schon  gefunden,  wie  sie  eben  herauskamen. 
Auf  eine  bequeme  Stellung  der  drei,  bzw.  sechs,  haupt- 
sSchlich  verwendbaren  Finger  ist  naturlich  auch  ge- 
sehen  worden.  Allmahlich  erst  griff  das  inzwischen 
vervollkommnete  Gehor  korrigierend  ein  und  brachite 
die  akustisch  ausgezeichneten  Intervalle,  wenigstens  mit 
Hilfe  der  Spieltechnik,  auch  auf  den  Pfeif en  zur  Geltung. 
AuBerdem  wurde  aber  zur  Hervorbringung  ver- 
schiedener  Tone  wahrscheinlich  sehr  frtihe  das  System 
der  Panpfeife  benutzt,  die  Aneinanderreihung  einer 
Anzahl  verschieden  abgestimmter  Pfeifen.  Man  findet 
sie  bei  primitiven  Volkern  aller  Weltteile.  Die  Pfei- 
fen sind  nach  verschiedenen  Prinzipien  abgestimmt. 
Zuerst  hat  vielleicht  uberhaupt  keine  Abstimmung 
stattgefunden,  sondern  sind  auBerliche  Motive  oder 
ist  der  Zufall  fur  die  Zusammenstellung  mafigebend 
gewesen.  Auf  den  meisten  gegenwartigen  Panpfeifen 
sind  aber  akustisch  ausgezeichnete  Intervalle  zu 
finden.  Dabei  folgen  die  Pfeifen  entweder  nach 
ihrer  Tonhohe  aufeinander,  oder  sie  bilden  Gruppen, 
die  uns  wie  auseinandergelegte  Akkorde  anmuten.  In 
gewissen  Fallen  endlich  scheint  eine  bestimmteMelo- 
die  ein  fur  allemal  in  der  Anordnung  der  Pfeifen  fixiert 
zu  sein  oder  von  Fall  zu  Fall  fixiert  zu  werden^^ 


—     38     — 

Besonders  merkwurdig  sind  noch  die  Doppelpan- 
pfeifen,  aus  einer  vorderen  und  hinteren  Reihe  be- 
stehend;  die  zwei  zueinander  gehorigen  Pfeifen  sind 
immer  gleichgroB,  aber  die  eine  ist  offen,  die  andere 
gedeckt,  infolgedessen  stehen  sie  im  Oktavenverhaltnis. 
Man  sieht  daran,  wie  die  akustischen  Erfahrungen 
sich  mehren^o. 

Nun  wurde  aber  bei  den  Blasinstrumenten  (auch 
Trompeten  verschiedener  Art  kamen  allmahlich  auf) 
noch  eine  Erscheinung  beobachtet,  die ganz unabhangig 
von  den  Erfahrungen  an  gleichzeitigen  Tonen  die 
Aufmerksamkeit  auf  die  konsonanten  Intervalle  hin- 
lenken  muBte:  namlich  die  Obertone,  die  durch  das 
„Uberblasen"  zum  Vorschein  kommen.  Auf  dem 
Alphorn  ruft  sie  der  Schweizer  Hirte  heute  noch  der 
Reihe  nach  hervor.  Die  Intervalle  der  Teiltone 
sind  zuerst  die  Oktave,  dann  die  Quinte,  Quarte 
und  Terz.  Die  drei  ersten  Intervalle  sind  identisch 
mit  denen,  die  beim  Zusammensingen  und  Zu- 
sammenpfeifen  die  groBte  Verschmelzung  aufweisen, 
und  muBten  so  aufs  neue  im  BewuBtsein  befestigt 
werden.  Ja  es  ist  sehr  wohl  denkbar,  daB  man 
beim  Zusammenfugen  von  Panpfeifen  sich  in  vielen 
Fallen  durch  die  Obertone  leiten  lieB.  Die  einzige 
Quelle  konsonanter  Intervalle  konnten  aber  diese 
aufeinanderfolgenden  Uberblasungstoneschon  darum 
nicht  sein,  well  jene  Intervalle  sich  auch  bei  Stammen 
finden,  denen  Blasinstrumente  fehlen,  well  ferner  der 


—     39     — 

Gebrauch  gleiclizeitiger  Oktaven-  oder  Quintentone 
doch  wieder  durch  besondere  Eigenschaften  dieserZu- 
sammenklange  veranlaBt  werden  muBte,  weil  endlich 
die  Uberblasungstone  vielfach  nicht  rein,  sondern  etwas 
zu  tief  herauskommen,  wahrend  das  Ohr  nach  Reinheit 
drangt.  Das  Gehor  fugt  sich  auf  die  Dauer  nicht  den 
Instrumenten,  sondern  die  Instrumente  dem  Gehor  ^i. 
Nachdem  einmal  Pfeifen  mit  mehreren  Lochern 
und  die  ersten  Panpfeifen  erfunden  waren,  mu6  das 
Musizieren  einen  groBen  Aufschwung  genommen 
haben.  Die  Hervorbringung  immer  neuer  abwech- 
selnder  Tonfolgen,  sei  es  auch  mit  ganz  wenigen 
Tonen,  muBte  auf  solche,  die  uberhaupt  an  Tonen 
Freude  hatten  (und  darin  waren  die  Individualitaten 
urspriinglich  wohl  ebenso  verschieden  wie  heute) 
einen  groBen  Reiz  ausiiben.  Es  entstanden  die 
ersten  instrumentalen  Melodien.  Jetzt  konnte  auch 
der  Tanz,  das  Opfer  und  jede  andere  feierliche  oder 
unfeierliche  Gelegenheit  zur  Ausubung  dieser  Kunst 
benutzt  werden.  Zugleich  bot  das  Instrument  mit 
seinen  festen  Tonen  eine  willkommene  Unterstiitzung 
fiir  den  Gesang.  Es  war  jetzt  moglich,  Tonwen- 
dungen,  die  der  und  jener  beim  Singen  gebraucht 
und  die  andere  nachgeahmt  hatten,  zu  fixieren.  Und 
man  konnte  mit  Hilfe  der  Pfeifen  die  Weisen  treuer 
von  Geschlecht  zu  Geschlecht  uberHefern  als  mit 
bloBem  Singen.  „Er  schnitzt  sich  eine  Pfeif  aus 
Rohr  und  blast  den  Kindern  schone  Tanz'  und  Lieder 


—     40     — 

vor."  Die  instrumentale  Fixierung  tritt  zum  Gesang 
in  ahnlicher  Weise  unterstutzend  hinzu,  wie  spater 
die  Schrift  zur  Sprache. 

Au6er  den  Pfeifen  sind  Saiteninstrumente  in  pri- 
mitiver  Form  weit  verbreitet,  haben  sich  aber  wohl 
langsamer  entwickelt.  Sie  sind  nach  wahrschein- 
licher  Annahme  aus  dem  gespannten  Bogen  der 
jager  entstanden.  Man  konnte  bald  bemerken,  daB 
der  Ton  der  Sehne  sich  mit  der  Spannung  andert, 
und  mochte  sich  wieder  zu  allerlei  Experimenten 
angetrieben  finden.  Es  entstand  der  sogenannte 
Musikbogen,  das  ursprunglichste  Saiteninstrument, 
das  sich  noch  in  mehreren  Weltteilen  findet.  Die 
Saite  wird  mit  einem  Stabchen  geschlagen,  auch 
gezupft,  nur  selten  gestrichen.  Der  auBerst  durf- 
tige  Ton  wird  haufig  dadurch  verstarkt,  daB  der 
Spielende  die  Saite  in  den  offenen  Mund  halt,  der 
dabei  als  Resonator  gebraucht  wird.  Aber  auch 
die  Verstarkung  durch  objektive  Hohlraume  ist  den 
Naturvolkern  langst  bekannt.  Namentlich  dienen 
schon  beim  Musikbogen  ausgehohlte  Klirbisse  die- 
sem  Zweck.  Dann  wurden,  wie  bei  den  Pfeifen, 
die  Tone  vervielfaltigt,  indem  man  mehrere  ver- 
schieden  gespannte  oder  verschieden  lange  Saiten 
aufzog.  Es  entstanden  die  Harfe  und  die  Leier  mit 
Schildkrotenschalen  als  primitiven  Resonanzkasten. 
So  war  auch  hier  die  Unterlage  fUr  instrumentale 
Melodiebildungen  gewonnen. 


—     41     — 

Endlich  wurden  auch  Schlaginstrumente22,  bei 
denen  es  ursprUnglich  nur  auf  Tonstarke  ankam, 
dem  musikalischen  Gehor  dienstbar  gemacht.  Den 
ersten  Schritt  dazu  zeigt  die  Kombination  von  zwei 
Klangholzern,  Brettern  von  ungleicher  Tonhohe,  die 
abwechselnd  geschlagen  werden.  Kunstlicher  ist 
schon  die  Signaltrommel,  ein  ausgehohlter  Holzblock, 
an  dessen  oberer  Seite  durch  Einschnitte  zwei  Zungen 
gebildet  sind.  Sie  dient  in  Afrika  und  anderwarts 
fiir  die  Trommelsprache,  d.  h.  die  VerstSndigung  auf 
weite  Entfernungen  hin  durch  bestimmte,  teils  kon- 
ventionelle,  teils  der  gewohnlichen  Sprache  nachgebil- 
dete  Schallzeichen.  Die  beiden  Zungen  sind  von 
verschiedener  Dicke  und  geben  darum  verschiedene 
Tone.  Dasselbe  Instrument  war,  kunstvoll  aus- 
gearbeitet,  im  alten  Mexiko  bei  Priesterkonzerten 
gebrauchlich.  Aber  auch  der  Gebrauch  abgestimmter 
Membranen  ist  allverbreitet.  Wir  finden  sehr  mannig- 
fache  Pauken,  die  auf  verschiedene  Tone  eingestellt 
werden.  Die  konsonanten  Intervalle  selbst  sind  aber 
an  diesen  Instrumenten  sicherlich  nicht  aufgefunden, 
sondern  nur  auf  sie  iibertragen  worden. 

Einer  hoheren  Entwicklungsstufe  gehoren  dann 
die  vielbenutzten  Xylophone  und  Metallophone  an  (die 
in  Amerika  allerdings  ebenso  wie  die  Musikbogen 
erst  von  Afrika  aus  importiert  scheinen).  Da  ist  eine 
ganze  Anzahl  von  klingenden  Holz-  oder  Metall- 
staben   vereinigt  und   vielfach   mit   entsprechenden 


—     42     — 

Resonatoren  verbunden.  Diese  Instrumente  sind  fUr 
die  Musikforschung  auBerordentlich  wertvoll,  weil 
man  an  gut  erhaltenen  Exemplaren  die  Tonleitern, 
die  darauf  vertreten  sind,  mit  physikalischer  Genauig- 
keit  messen  kann.  In  Afrika  sind  die  handlichen 
kleinen  Sansa's,  deren  holzerne  oder  metallene  Stab- 
chen  durch  Herabdrucken  mit  dem  Daumen  zum 
Schwingen  gebraclit  werden,  so  beliebt  wie  bei  uns 
das  Klavier. 

Man  kann  die  Frage  stellen,  ob  Instrumente  fiir 
die  Musik  ganz  unentbehrlich  seien,  ob  es  nicht 
Stamme  gebe,  die  nur  Gesangmusik  ausgebildet 
haben.  Tatsachlich  gibt  es  solche;  z.  B.  die  Wedda 
in  Ceylon  haben  keine  Instrumente.  Ihre  Gesange 
stehen  aber  auch  auf  einer  auBerst  niedrigen  Stufe. 
Die  nordamerikanischen  Indianerstamme  freilich,  die 
nur  wenige  und  durftige  Instrumente  gebrauchen,  be- 
sitzen  eine  sehr  entwickelte  Gesangmusik.  Man  wird 
daher  nicht  umhin  konnen,  eine  rein  vokale  Entwick- 
lung  der  Musik  bis  zu  einer  gewissen  Stufe  fur  mog- 
lich  zu  halten. 


IV. 
Mehrstimmigkeit,  Rhythmik,  Sprachgesang. 

Wir  wollen  nun  die  primitive  Musik,  empirisch 
gesprochen  die  Musik  der  NaturvOlker,  noch  be- 
sonders   in  drei  Richtungen   kurz   charakterisieren: 


—     43     — 

hinsichtlich  der  ersten  nachweisbaren  Formen  der 
Mehrstimmigkeit,  hinsichtlich  der  Rhythmik,  und  hin- 
sichtlich der  Verkntipfung  von  Singen  und  Sprechen. 

1.  Wie  steht  es  vor  allem  mit  dem  Ursprunge  der 
Harmonie,  die  fur  uns  so  wesentlich  zur  Musik  ge- 
hort,  daB  wir  auch  die  einstimmige  unbegleitete 
Melodic  im  harmonischen  Sinne  auffassen,  und  daB 
alle  Spannungen  und  Losungen  der  Melodic  uns 
zugleich  harmonische  Spannungen  und  Losungen 
bedeuten?  Sind  Dreiklange,  Akkorde  tiberhaupt,  ein 
ganz  spates  Produkt,  eine  gotische  Barbarei,  wie 
sie  Rousseau  nannte?  Oder  sind  sie  so  alt  wie 
die  Musik?  1st  vielleicht  auch  die  urspriingliche 
Melodic  ebenso  wie  die  unsrige  aus  der  Harmonie 
herzuleiten? 

So  viel  darf  als  ausgemacht  gelten,  daB  die  Freude 
an  der  mannigfaltigen  Verbindung,  Verwicklung  und 
Auflosung  von  Akkorden  erst  eine  modern-europaische 
Errungenschaft,  etwa  seit  dem  13.  Jahrhundert,  ist. 
Noch  die  alten  Griechen,  die  von  ihrem  offenbar  reich 
entwickelten  Musiksystem  die  tiefsten  seelischen 
Wirkungen  erfuhren,  kannten  keinen  Dur-  oder  Moll- 
akkord,  geschweige  denn  ein  Harmoniesystem.  Die 
beliebte  Harmonisierung  der  erhaltenen  BruchstUcke 
griechischer  Melodien  ist  eine  Falschung.  Dasselbe 
gilt,  soweit  die  bisherigen  Kenntnisse  reichen,  bei  den 
gegenwartigen  Naturvolkern.     Aber  zwischen   dem 


—     44    — 

modern-europaischen  Akkordsystem  und  derstrengen 
Einstimmigkeitliegen  doch  noch  verschiedene  Formen 
der  Mehrstimmigkeit,  deren  Anfange  sehr  weit  zurtick- 
reichen  miissen.  1st  unsere  Annahme  uber  den  Un- 
sprung der  Musik  richtig,  so  liegt  er  ja  gerade  im  mehr- 
stimmigen,  wenn  auch  unbewuBt  mehrstimmigen, 
Singen  oder  Spielen.  Und  es  ist  keine  geringe  Bekrafti- 
gung  daftir,  daB,  wie  erwahnt,  bei  den  gegenwartigen 
Naturvolkern  auBer  den  Oktaven-  auch  Quarten-  und 
Quintengange  vorkommen.  Sie  wurden,  nachdem 
sie  sich  zuerst  unbemerkt  eingeschlichen,  allmahlich 
auch  mit  Absicht  herbeigefuhrt,  weil  man  etwas 
Schones  darin  fand,  daB  der  Klang,  ohne  seine 
Einheitlichkeit  einzubuBen,  doch  an  Fiille  gewann. 
Sie  treten  zu  regelmaBig  an  bestimmten  Stellen  der 
Gesange  auf,  urn  als  unwillkiirliche  Entgleisungen 
angesehen  werden  zu  konnen.  In  Asien  (China, 
Japan,  Siam,  Sumatra  usf.)  ist  es  etwas  ganz  Ge- 
wohnliches,  daB  Instrumente  unter  sich  oder  mit 
der  Stimme  in  Quinten  oder  Quarten  gehen.  Dieses 
Quintieren  ist  um  so  bemerkenswerter,  als  es  nach 
unbezweifelbaren  Berichten  genau  ebenso  im  9. 
und  10.  Jahrhundert  n.  Chr.  (bei  den  Kartausermonchen 
noch  im  13.  Jahrhundert)  ausgeiibt  und  fur  schon 
gehalten  wurde.  Daraus  ist  dann  unsere  ganze 
mehrstimmige  Musik  hervorgegangen,  in  der  jetzt 
allerdings  solche  Parallelen  im  allgemeinen  nicht 
mehr  als  erlaubt  gelten.  Auch  Terzengange  kommen 


-     45     - 

hie  und  da  vor,  besonders  in  Afrika;  ob  unabhangig 
von  europaischem  EinfluB,  ist  allerdings  die  Frage. 

Man  kann  also  ganz  wohl  sagen,  daB  die  Wurzeln 
der  Harmonic  sich  bei  den  Naturvolkern  finden. 
Sie  sind  nur  nicht  zu  weiterem  Wachstum  gekommen; 
die  Harmonie  selbst  ist  ausgeblieben.  Der  Natur- 
mensch  findet  zwar  einen  Durakkord  nicht  Ubel,  aber 
er  verlangt  nicht  danach,  uberhaupt  nicht  nach  Drei- 
klangen;  und  wo  er  Zweiklange  gebraucht,  werden 
sie  wieder  von  unserem  Gehor  meistens  als  un- 
passend  empfunden.  Man  findet  ausgesprochene 
Dissonanzen  zwischen  Gesang  und  Begleitung  oder 
zwischen  den  Instrumenten  an  hervorragender  Stelle 
und  ohne  jede  Auflosung.  Noch  in  der  chinesischen 
und  japanischen  Musik  ist  das  namliche  der  Fall 
und  scheint  auch  in  der  altgriechischen  Musik, 
Plutarch  zufolge,  ebenso  gev^esen  zu  sein. 

Das  Wohlgefallen  an  der  Mehrstimmigkeit  hatte 
also  vermutlich  im  Anfange  ganz  andere  Griinde 
als  jetzt  bei  uns,  die  wir  durchaus  unter  den  Ein- 
wirkungen  der  ungeheuren  Entwicklung  des  letzten 
Jahrtausends  stehen.  Man  freute  sich  eben  nur  am 
gleichzeitigen  Hervorbringen  mehrerer  Tone  uber- 
haupt und  etwa  noch  an  dem  vollen  und  einheit- 
lichen  Eindruck,  der  bei  gewissen  Verbindungen 
entstand.  Zuweilen  scheint  es  bei  den  Naturvolkern  so- 
gar  auf  eine  gewisse  Rauhigkeit  desZusammenklangs 
durch    Hervorbringung    benachbarter,     miteinander 


—     46     — 

schwebender  Tone  abgesehen  zu  sein,  wodurch 
Sekundenparallelen  entstehen^^. 

AuBer  dem  Parallelsingen  in  konsonanten  Inter- 
vallen  findet  sich  noch  ein  anderer  Ansatz  zur 
Mehrstimmigkeit  bei  den  Naturvolkern:  das  Liegen- 
bleiben  oder  die  Wiederholung  eines  Tones  wahrend 
einer  ganzen  Melodie.  Auch  diese  Art  des  Dis- 
kantierens  finden  wir  zu  Beginn  unserer  Musikepoche 
wieder,  man  nannte  sie  Diaphonia  basilica.  Die 
alte  Drehleier  mit  ihren  „Bordun"-Saiten  und  die 
namentlich  im  Orient  weitverbreitete  Dudelsack- 
pfeife  sind  gleichfalls  NachzOgler  dieser  primi- 
tiven  Art  von  Mehrstimmigkeit.  In  der  gegenwartigen 
Musik  bieten  der  Orgelpunkt  und  der  Basso  osti- 
nato  Analogien  dazu.  Ja  im  groBten  Instrumental- 
werk  der  klassischen  Epoche,  der  9.  Symphonie 
Beethovens,  bringt  das  Trio  des  zweiten  Satzes  eine 
ausgefuhrte  Dudelsackweise:  Primitives  als  Wirkungs- 
element  hochster,  heiligster  Kunst. 

2.  So  viel  iiber  die  ersten  Spuren  mehrstimmiger 
Musik.  Wahrend  nun  aber  dieser  Faktor  in  seiner 
gewaltigen  Wirkungskraft  erst  sehr  spat  zur  reiferen 
Entfaltung  kam,  verhalt  es  sich  umgekehrt  mit 
dem  Rhythmus.  Diese  Seite  der  Musik,  deren  grund- 
wesentliche  Bedeutung  wir  nicht  verkennen^^,  ist  sehr 
frUh  zu  einer  merkwurdig  reichen  Durchbildung  ge- 
diehen.  Das  hangt  teilweise  wieder  mit  dem  prak- 
tischen  Bedlirfnis  zusammen.    Denn  fUr  die  Signale, 


-     47     - 

speziell  die  Trommelsprache,  boten  rhythmische  Ver- 
anderungen  das  einfachste  Mittel,  mit  wenigen  Tonen 
die    mannigfaltigsten    Tonzeichen    hervorzubringen. 
Andererseits  hangt  es  aber  auch  gerade  mit  dem 
Zuriickbleiben  der  Mehrstimmigkeit  zusammen.    In 
einer  wesentlich  einstimmigen  Musik  kann  sich  der 
Rhythmus   viel   freier   entfalten   als   in   einer   poly- 
phonen  und  harmonischen.     Denn  wenn  viele  zu- 
sammen musizieren,  und  wenn  vollends  die  Stimmen 
verschiedene  Melodien  singen,  dann  mtissen  sie  sich 
um  so  fester  an  gewisse  stereotype  und  leicht  fest- 
zuhaltende  Rhytlimen  binden,  wenn  nicht  ein  volliges 
Chaos  entstehen  soli.    Daher  fuhrte  die  Polyphonic 
alsbald  zur  Mensuralmusik,  und  daher  beschranken 
wir  uns  auf  wenige  einformige  Taktarten,  wie  V4»  ^Uj 
und  halten  sie  durch  ein  ganzes  Stuck  fest.    Auch 
bei  den  Chinesen,  Japanern,  Siamesen,  wo  eine  ge- 
wisse   Art    von   Mehrstimmigkeit    gebrauchlich    ist, 
finden  wir  nur  diese  einfachsten  Taktarten,  beson- 
ders  die  geradzahligen.    Dagegen  in  der  ursprting- 
lichen,  wesentlich  homophonen  Musik  war  der  ver- 
schiedenartigsten  Rhythmisierung  die  Bahn  geoffnet. 
Die   Griechen  waren  uns  hierin  uberlegen.     Aber 
selbst   die   Naturvolker  sind   uns   Uberlegen.     Wir 
finden  da  z.  B.  bei  den  Indianern  haufig  V4-  ""^ 
V^-Takte,  die  in  unserer  Kunstmusik  immer  zu  den 
KUhnheiten  gehoren,  wenn  sie  auch  in  europaischer 
Volksmusik   ofter  vorkommen;   ja   diese   Taktarten 


-     48    — 

wechseln  innerhalb  eines  Stuckes  untereinander  und 
mit  geradzahligen  Taktarten  in  rascher  Folge  ab. 
Singt  ein  ganzer  Chor,  so  werden  diese  kompli- 
zierten  Rhythmen  gleichwohl  einhellig  durchgefuhrt, 
well  man  eben  Unisono  singt  und  alle  auf  die  be- 
sondere  Rhythmisierung  des  betreffenden  Liedes  ein- 
getibt  sind.  Ebenso  ist  es  aber  auch  bei  vielen 
anderen  Naturvolkern.  Manche  sudasiatische  Volker 
scheinen  geradezu  eine  Vorliebe  fur  siebenteilige 
Gruppierung  zu  haben.  Es  finden  sich  aber  auch 
Rhythmen  von  solcher  Kompliziertheit,  daB  wir  sie 
uberhaupt  nicht  mehr  durchs  Ohr  auffassen  k5nnen, 
vielmehr  nur  bei  genauer  Nachmessung  der  be- 
zuglichen  Zeitabschnitte  als  vorhanden  erkennen^^ 
Eine  merkwiirdige  und  auBerst  weitverbreitete  Ge- 
wohnheit  ist  ferner  das  Schlagen  auf  Taktteilen,  die  wir 
als  „schlechte"  bezeichnen  wurden.  Man  findet  es 
ebenso  bei  den  Indianern  wie  bei  den  Kulturvolkern 
von  Siam  und  Java.  Ferner  gehen  oft  mehrere  ganz 
verschiedene  Rhythmen,  z.  B.  im  Gesang  und  in  der 
begleitenden  Pauke,  deren  gleichzeitige  Auffassung 
uns  nicht  oder  nur  sehr  schwer  moglich  ist,  unab- 
hangig  nebeneinander  her  (Rhythmische  Polyphonic, 
Polyrhythmie)26. 

Wir  miissen  aus  diesen  Tatsachen  freilich  auch 
schlieBen,  daB  das  meiste,  was  bei  den  Naturvolkern 
an  Musik  beobachtet  wird,  keineswegs  die  aller- 
primitivsten  Zustande  darstellt,  sondern  mindestens 


—     49     - 

in  Hinsicht  der  Rhythmik  und  des  ganzen  Aufbaues 
doch  schon  vielfach  eine  lange  Geschichte  hinter 
sich  hat,  so  roh  und  barbarisch  es  fur  uns  klingt.  Die 
Verwendung  rhythmisierter  Gesange  bei  der  Arbeit, 
die  Bucher  mit  Recht  als  eine  treibende  Kraft  fur 
die  Ausbildung  des  RhythmusgefUhles  betont,  mochte 
ich  aber  nur  fur  die  einfacheren  Rhythmen  in  Anspruch 
nehmen.  Jene  verwickelten  Rhythmen  und  ihre 
klinstliche  Zusammenfugung  miissen  schon  auf  andere 
als  bloB  praktischeBedurfnissezuruckgefuhrtwerden. 
Da  mUssen  wir  wieder  die  Neugierde,  das  Spielbe- 
dlirfnis,  die  Freude  am  Experimentieren  und  an  der 
fortschreitenden  Fahigkeit  zur  Auffassung  und  Zu- 
sammenfassung  verwickelterer  Gebilde,  auch  schon 
das  Bedurfnis  eines  angemessenen  Ausdruckes  fur 
die  religiosen  Vorstellungen  und  ritualen  Zeremonien 
und  fur  alles,  was  das  Gemiit  bewegte,  —  kurz, 
wir  miissen  immer  mehr  der  hoheren  Natur  des 
Menschen  entspringende  Motive  wirksam  denken. 
3.  Ebenso  wie  der  Rhythmus  zwar  nicht  den  Ur- 
sprung  der  Musik,  aber  eine  besonders  reich  und 
schnell  voranschreitende  Eigenschaft  der  Urmusik 
darstellt,  so  ist  die  Sprache,  in  der  wir  gleichfalls 
nicht  den  Ursprung  finden  konnten,  fur  die  Ent- 
wicklung  der  Musik  von  groBerBedeutung  geworden. 
Die  musikalischen  Intervalle  wurden,  nachdem  sie 
einmal  dem  BewuBtsein  aufgegangen  waren,  auch 
beim    Sprechen   vielfach    verwendet.      Es   entstand 

Stunipf,  Anfange  der  Musik  4 


—     50     - 

tatsachlich  eine  Art  Sprachgesang,  d.  h.  ein  Rezitieren 
und  Deklamieren,  bei  welchem  die  Stimme  langer 
als  gewOhnlich  auf  bestimmten  T5nen  verweilt,  ganze 
Satze  in  einer  unveranderten  Tonhohe  vortragt  und 
an  besonderen  Stellen  die  musikalischen  Intervalle 
zu  Hilfe  nimmt.  Wir  haben  davon  eine  Menge 
Proben  bei  den  Naturvollcern,  aber  auch  bei  den 
ostasiatischen  Kulturnationen.  Die  Grenze  gegen 
das  gewohnliche  Sprechen  ist  nicht  immer  leicht 
zu  Ziehen.  Aber  den  ausgebildeten  Sprachgesang 
mochte  ich  durchaus  als  wahren  Gesang  bezeichnen. 
Bei  uns  gibt  das  Singen  der  Domherren  und  Monche, 
die  in  der  Kirche  ihre  Vesper  oder  Matutin  rezi- 
tieren, ein  Beispiel  davon.  Die  Rhythmik  und  das 
ZeitmaB  des  Sprechens  ist  dabei  aus  der  gew5hn- 
lichen  Sprache  ziemlich  unverandert  herubergenom- 
men,  und  man  hat  infolgedessen  den  Eindruck  eines 
nur  wenig  modifizierten  Sprechens.  Gleichwohl  ist 
durch  die  festen  Tonhohen  und  Intervalle  ein  wesent- 
lich  neues  Element  hineingekommen. 

Dabei  sind  aber  die  musikalischen  Intervalle 
nicht  etwav^illktirlich  in  das  Sprechen  hineingetragen, 
sondern  diejenigen  ausgewahlt  worden,  die  mit  den 
sprachlichen  Tonfallen  die  groBte  Ahnlichkeit  be- 
sitzen.  Beim  liturgischen  Gesang  ist  dies  ja  be- 
kannt.  Bei  den  Naturvolkern  finden  sich  aber  auch 
schon  solche  Obertragungen.  So  haben  die  Togo- 
Neger  die  Tonfalle  ihrer  Sprache  (die  fur  sie  eine 


—     51     — 

besondere  Wichtigkeit  haben,  weil  dasselbe  Wort 
durch  verschiedene  Tonfalle  eine  ganze  Anzahl  von 
Bedeutungen  erhalt)  auch  auf  die  Trommelsprache 
Ubertragen,  die  durch  abgestimmte  Schlaginstrumente 
erfolgt.  Daher  sind  deren  akustische  Zeichen  den 
Eingeborenen  leicht  verstandlich.  Phonographische 
Aufnahmen  setzen  diesen  Zusammenhang  auBer 
Zweifel. 

Fur  die  von  uns  nicht  gebilligte  Hypothese  vom 
Ursprunge  der  Musik  aus  der  Sprache  lassen  sich 
diese  erfahrungsmaBig  erwiesenen  Sprachgesange 
nicht  etwa  als  Sttitze  anfuhren.  Es  ist  meines  Er- 
achtens  kein  Grund  zu  der  Annahme  vorhanden, 
da6  das  sprechende  Singen  dem  eigentlichen,  ich 
mochte  sagen  musikalischen,  Singen  zeitlich  vor- 
hergegangen  ware.  Dieses  unterscheidet  sich  vom 
Sprachgesang  durch  den  Besitz  festerer  rhythmischer 
Formen,  durch  Verlegung  des  Schwerpunktes  auf  die 
melodische  Seite  (stellen  doch  die  Gesangtexte  ofters 
nur  sinnlose  Silben  dar,  und  linden  wir  bei  manchen 
Stammen  Lieder,  die  sie  mit  den  Texten  von  anderen 
Stammen  iiberkommen  haben,  ohne  die  Texte  zu 
verstehen),  vor  allem  aber  durch  das  Auftreten 
fester  und  Ubertragbarer  Intervalle.  Psychologisch 
ware  es  nun  zwar  denkbar,  daB  die  Intervalle,  mit 
deren  Auftauchen  wir  die  eigentliche  Musik  beginnen 
lassen,  zuerst  in  der  Form  des  Sprechsingens  an- 
gewandt  worden  waren,  namlich  bei  den  Anfangs-  und 

4* 


-     52     — 

SchluBwendungen  der  Abschnitte  der  Rezitation,  die 
im  ubrigen  auf  einem  Tone  verweilte^^.  Aber  warum 
man  dazu  gerade  die  Oktave  oder  Quinte  und  niclit 
ebenso  alle  mogliclien  Tonabstande  durcheinander 
hatte  benUtzen  sollen,  ware  niclit  im  mindesten  ein- 
zusehen;  dafur  mtissen  also  doch  besondere  Ursachen 
gesucht  werden,  und  damit  erst  kommt  man  auf  die 
Anfange  der  Musik.  Oberdies  mochte  ich's  auch  in 
zeitlicher  Hinsicht  ftir  wahrscheinlicher  halten,  da6 
der  erste  Gebrauch  musikalischer  Intervalle  ganz  un- 
abhangig  von  der  Sprache  erfolgte,  und  da6  erst 
nachher,  als  bereits  ein  Singen  und  Spielen  in  Inter- 
vallmelodien  sich  eingeburgert  hatte,  die  erzahlende 
und  die  dramatische  Form  der  Rede  das  neue 
Hilfsmittel  zur  Steigerung  ihrer  Wirkungen  heran- 
zogen. 

Will  man  sagen,  der  Sprachgesang  sei  eine  unter- 
geordnete,  minderwertige  Form,  und  darum  als  die 
friihere  anzusehen,  so  wurden  wir  dies  nicht  in  jeder 
Hinsicht  unterschreiben.  Mag  man  auch  die  Rezitative 
unserer  klassischen  Opern  und  Oratorien  geringer 
schatzen  als  die  Arien,  und  vollends  die  ganzliche 
Verdrangung  der  Liedform  durch  das  Rezitativ  als  eine 
Art  von  Atavismus  miBbilligen:  wer  einmal  die  feier- 
liche  Prafation  in  der  katholischen  Messe,  die  dem 
mystischen  Schweigen  der  „Wandlung"  vorangeht,  in 
wurdiger  Form  hat  vortragen  horen,  wird  ihre  gewaltige 
Ausdruckskraft  nicht  leugnen  und  sich  ein  Bild,  zwar 


—     53     — 

nicht  der  griechischen  Musik  selbst,  aber  ihrer  Wir- 
kungen  und  Wirkungsmittel  machen  konnen. 


V. 
Entwicklungsrichtungen. 

Blicken  wir  zuriick!  Wir  verzichteten  darauf, 
eine  genaue  zeitliche  Reihenfolge  fiir  das  Auftreten 
der  ersten  LautauBerungen,  die  als  musikalische  be- 
zeichnet  werden  konnen,  aufzustellen.  Es  kam  uns 
mehr  darauf  an,  die  Wurzeln  bloBzulegen,  ihre  Trieb- 
kraft  abzuschatzen,  ihren  Zusammenhang  mit  dem 
Stamme  zu  verfolgen.  Docli  wollen  wir  jetzt  bei 
der  Zusammenfassung  auch  die  mutmaBliche  Zeit- 
ordnung  mit  berticksichtigen  und  der  Ktirze  halber 
sogar  in  kategorischer  Form  sprechen  —  die  hypo- 
thetischen  Vorbehalte  verstehen  sich  ja  in  diesen  Din- 
gen  von  selbst. 

Vor  aller  Musik  wurden  durch  Scnlaginstrumente 
und  inartikulierte  Laute  der  Stimme  bereits  Arbeits- 
und  Tanzrhythmen  markiert.  Aber  als  Element  der 
Musik  wurde  der  Rhythmus  erst  eingefuhrt,  nachdem 
an  die  Stelle  der  Gerausche  Tone,  und  nicht  nur 
Tone  sondern  Tonintervalle  getreten  waren.  Zu  Sig- 
nalzwecken,  auch  aus  bloBem  Spielbediirfnis,  wurden 
zuerst  kleine  Intervalle  gebraucht,  die  man  in  an- 
nahernd  gleicher  Weise  auch  auf  anderen  absoluten 
Tonhohen  wiedererzeugen  lernte.    Solche  Intervalle 


—     54     — 

wurden  sowohl  durch  die  Stimme  als  durch  primi- 
tive Instrumente  (Klangholzer  u.  dgl.)  hergestellt. 
Musik  im  pragnanten  Sinn  entstand  aber  erst,  als 
die  konsonanten  Intervalle,  vor  allem  die  Oktave, 
entdeckt  wurden,  die  dann  auch  zugleich  einen  festen 
Rahmen  fur  die  kleineren  Stufen  abgaben.  Diese 
Entdeckung  erfolgte  auf  Grund  der  Verschmelzungs- 
eigenschaft  und  aus  AnlaB  der  gleichzeitigen  Zeichen- 
gebung  mehrerer  Individuen.  Dabei  konnte  wieder 
die  Stimme,  konnten  auch  Instrumente  Trager  der 
Tongebung  sein:  an  beiden  Klangquellen  muBten 
dieselben  Grundintervalle  herauskommen.  Jedenfalls 
waren  die  Instrumente  durch  die  objektive  Fixierung 
der  Intervalle  iiberaus  wichtig  zur  weiteren  Entwick- 
lung  des  Singens  selbst.  AuBer  den  Verschmelzungs- 
erscheinungen  konnte  bei  aufeinanderfolgendenTonen 
auch  die  Klangverwandtschaft,  wenigstens  an  oberton- 
reichen  Klangen,  zu  den  Grundintervallen  fuhren. 
Bei  den  Blasinstrumenten  wirkten  ferner  die  Uber- 
blasungstone  mit,  um  diese  Intervalle  dem  Bev^uBt- 
sein  aufzudrMngen.  Aber  die  Hauptursache  waren 
sie  nicht. 

Gleichzeitig  mit  der  Einfuhrung  von  festen  Inter- 
vallen,  kleinen  wie  groBen,  wurden  im  Dienste  der 
Signalgebung,  aber  auch  schon  aus  ktinstlerischen 
Interessen  (in  diesem  Fall  in  Verbindung  mit  Tanz 
und  Dichtung  bei  Kulthandlungen  u.  dgl.)  die  rhyth- 
mischen  Eigenschaften  der  Tongebung  immer  mehr 


—     55     — 

differenziert,  und  es  entstanden  die  ersten  melo- 
dischen  Formen.  Auch  wurde  das  Verweilen  auf 
festen  TonhOhen  und  der  Gebrauch  fester  Intervalle 
auf  die  gehobene  Sprache  ubertragen  und  so  der 
Sprachgesang  als  eine  besondere  Form  der  Musik 
geschaffen  28. 

Es  wird  nun  die  Aufgabe  umfassender  Analysen 
und  Vergleichungen  sein,  die  Hauptformen  primi- 
tiverMelodiebildung  und  ihre  allmahliche  Vervoll- 
kommnung  aufzudecken.  Die  Gesetzlichkeiten  im 
rhythmischen  Verlauf  der  Melodien  werden  sich 
teilweise  in  Verbindung  mit  der  Metrik  der  natUr- 
lichen  und  der  kUnstlichen  Rede  entwickelt  haben, 
teilweise  aber  auch  unabhangig  davon.  Die  ver- 
schiedene  Haufigkeit  und  Dauer  der  einzelnen  Tone, 
die  GroBe  der  Schritte,  die  Abstimmung  der  Inter- 
valle, die  GleichmaBigkeit  ihrer  Intonation,  die  Lange 
der  einzelnen  melodischen  Motive  und  der  ganzen 
Melodie,  die  Vortragsnuancen  —  kurz,  alle  Merk- 
male  der  Melodien  mUssen  statistisch  und  psycho- 
logisch  an  dem  Material,  das  hoffentlich  noch  zu 
rechter  Zeit  in  die  Scheune  gebracht  wird,  unter- 
sucht  werden.  GegenwMig  sind  wir  von  einer  solchen 
Melopoie  der  Naturvolker  noch  weit  entfernt,  nur 
die  allerersten  Anfange  sind  vorhanden,  aber  Zu- 
sammenfassendes  laBt  sich  noch  nicht  sagen. 

Nur  in  wenigen  Worten  m5chte  ich  noch  andeuten, 
welche  Wege  die  Weiterbildung  des  Tonsystems 


—     56     — 

selbst  nach  den  ersten  Anfangen  eingeschlagen 
hat,  Oder  —  urn  uns  sogleich  auf  das  empi- 
rische  Material  zu  beziehen  —  welche  wesentlichen 
rein  tonalen  Verschiedenheiten,  aus  denen  man  sich 
etwa  ein  Bild  des  Entwicklungsganges  machen  kann, 
sich  bei  den  auBereuropaischen  Volkern  gegenwartig 
finden. 

Erstlich  bemerken  wir  eine  fortschreitende  Zen- 
tralisierung  des  Tonmaterials.  Ein  Hauptton  tritt 
allmahlich  in  den  Melodien  hervor.  Wir  nennen 
ihn  jetzt  Tonika.  Es  gibt  fiir  uns  keine  Melodic 
und  keinen  Akkord  ohne  Beziehung  auf  diesen  Haupt- 
ton. Sobald  wir  einen  Ton  auf  eine  andere  Tonika 
beziehen,  verandert  er  seinen  musikalischen  Cha- 
rakter.  Aber  diese  straffe  Zentralisierung,  diese  be- 
stimmte  Stellung  des  Haupttones  als  des  tiefsten 
der  Leiter  und  diese  seine  harmonischen  und  melo- 
dischen  Funktionen  sind  spate  Errungenschaften. 

Ferner  bilden  sich  allmahlich  immer  festere  Lei- 
tern  innerhalb  des  Oktavenbezirkes,  wobei  die  fUnf- 
stufigen  und  siebenstufigen  die  allgemeinste  Ver- 
breitung  erringen.  Diese  Leiterbildungen  erfolgen 
nach  verschiedenen  Gesichtspunkten,  und  es  sind 
vorztiglich  zwei  Wege,  die  man  einschlSgt.  Ein- 
mal  die  folgerichtige  Durchbildung  des  Konsonanz- 
prinzips,  indem  man  reine  Quinten  und  Quarten, 
viel  spater  auch  reine  Terzen  zur  Gewinnung  neuer 
Intervalle  und  zur  genauen  Fixierung  der  Schritte 


—     57     — 

verwendet.  Sodann  aber  das  Distanzprinzip.  Bei 
diesem  fragt  man  nur:  welcher  Ton  liegt  zwischen 
zwei  gegebenen  in  der  Mitte?  So  konnen  wir 
innerhalb  der  Quarte  oder  Quinte  einen  Ton  ein- 
schalten  und  erhalten  im  ersten  Falle  einen  zu  groBen 
Ganzton,  im  zweiten  Falle  eine  neutrale  Terz.  DaB 
man  tatsachlich  auch  so  vorgegangen  ist,  wurde 
zuerst  durch  die  Untersuchung  der  siamesischen 
und  javanischen  Musik  festgestellt.  Es  entstehen 
auf  diesem  Wege  gleichstufige  Leitern  (ohne  den 
Unterschied  der  ganzen  und  halben  Tone).  Es 
gibt  ftinfstufige  wie  siebenstufige  Leitern  dieser  Art, 
die  keinen  einzigen  Ton  mit  der  unsrigen  gemeinsam 
haben  und  einem  feinen  europaischen  Ohre  ganzlich 
verstimmt  erscheinen^^.  Aber  das  sind  naturlich  nicht 
mehr  Anfangsstadien,  sondern  weit  fortgeschrittene 
Kulturschopfungen,  nur  von  anderer  Art  als  die 
unsrigen.  Man  kann  in  diesen  nach  dem  Prinzip 
des  bloBen  Tonabstandes  gebildeten  Leitern  eine 
Fortfuhrung  jener  Anfange  erblicken,  wie  wir  sie  bei 
den  Wedda  fanden,  der  Bildung  kleiner  Tonstufen 
ohne  Rucksicht  auf  Konsonanz,  nur  auf  Grund  eines 
annahernd  gleichgeschatzten  Unterschiedes  der  Ton- 
hohen.  Auch  diese  Wurzel  also  hat  getrieben,  und 
es  ist  die  Fahigkeit  zur  Wiedererkennung  distanz- 
gleicher  Stufen  zur  Virtuositat  entwickelt,  wie  bei  uns 
die  zur  Erkennung  und  Unterscheidung  der  Konso- 
nanzgrade.     Aber   doch   nicht  fUr   sich   allein   und 


—     58     — 

nicht  nur  aus  eigener  Kraft.  Denn  die  Siamesen 
und  Javaner  gehen  doch  immer  wenigstens  von  der 
Oktave  aus.  Diese  bildet  den  Rahmen,  innerhalb 
dessen  dann  die  Stufen  in  bestimmter  Anzahl  nach 
dem  Distanzprinzip  abgeteilt  werden.  Wahrscheinlich 
sind  indirekt  doch  sogar  auch  Quinte  und  Quarte 
beteiligt^^  Es  gibt  also  keine  ausgebildeten  Lei- 
tern,  die  nur  auf  das  Distanzprinzip  gegrundet 
waren. 

Drittens  entwickeln  sich  sehr  verschiedene  Stile 
des  Melodienbaues.  Wahrend  er  bei  Naturvolkern 
vielfach  dem  unsrigen  ahnelt,  auch  die  siamesische 
Melodik  uns  durchaus  verstandlich  ist,  zeigte  ktirz- 
lich  die  Analyse  phonographischer  Aufnahmen  von 
sUdchinesischen  Musikstucken  Prinzipien  der  Bildung 
und  Umbildung  von  Melodien,  die  ftir  unseren  Ge- 
schmack  unmoglich  waren  (Herausnehmen  einzelner 
Takte,  Ersetzen  von  einzelnen  Tonen  durch  ihre 
Quinten  u.  dgl.)^^  Vielleicht  sind  dies  Produkte 
einer  verfallenden  Kunst,  aber  so  oder  so  erscheinen 
sie  uns  ganz  fremdartig  und  seltsam. 

Endlich  finden  sich  Unterschiede  in  der  An- 
wendung  gleichzeitiger  Tone  und  Tonfolgen.  Was 
wir  davon  schon  erwahnten,  gehort  noch  zu  den 
relativ  urspriinglichen  Erscheinungen.  Dagegen  ist 
bei  den  Kulturvolkern  Asiens  eine  Art  der  Viel- 
stimmigkeit  zum  System  ausgebildet,  die  von  der 
unsrigen  durchaus  verschieden  ist.   Es  gibt  in  China, 


—     59     - 

japan,  Hinterindien  und  den  Sundainseln  ganze  Or- 
chester,  die  eine  Melodic  ungefahr  so  vortragen, 
als  wenn  mehrere  Variationen  eines  Themas  zu  glei- 
cher  Zeit  statt  nacheinander  gespielt  wurden.  Das 
eine  Instrument  tragt  das  Thema  unverandert  vor, 
das  andere  gibt  mehr  oder  weniger  freie  Um- 
schreibungen.  Aber  im  ganzen  klingt  doch  die 
Grundmelodie  durch.  Dabei  kommen  natUrlich  fUr 
unser  Ohr,  wenn  man  genauer  analysiert,  schlimme 
Zusammenklange  vor.  Da  aber  jene  Volker  das  Har- 
moniegefUhl  uberhaupt  nicht  entwickelt  haben,  finden 
sie  sich  durch  solche  Zusammenklange  nicht  un- 
angenehm  beriihrt.  Ich  habe  diese  Art  der  Viel- 
stimmigkeit  gegenuber  der  harmonischen  Musik  als 
Heterophonie  bezeichnet,  in  Erinnerung  an  einen 
Ausdruck,  den  Plato  bei  der  Beschreibung  einer  ge- 
wissen  mehrstimmigen  Musiktibung  im  alten  Grie- 
chenland  einmal  gebraucht.  Und  es  ist  in  der  Tat 
wohl  m5glich,  daB  die  siamesische  und  japanische 
Musik  uns  ein  Bild  von  dieser  Form  altgriechischer 
Musikubung  geben^^.  Demgegeniiber  ist  nun  unsere 
gegenwSrtige  europaische  Musik,  obgleich  sie  im 
einzelnen  verv^andte  Erscheinungen  aufweist,  durch 
und  durch  auf  das  Akkordsystem  gebaut,  das  der 
folgerichtigen  und  ausschlieBlichen  Durchfuhrung 
des  Konsonanzprinzips  entsprungen  ist.  Und  eben 
darum,  well  sie  das  Urphanomen,  aus  dem  die 
Musik    Uberhaupt   entsprungen    ist   und   v^orin    ihr 


—     60    — 

Kern  und  Lebenselement  besteht,  weil  sie  diese 
Grundtatsache  am  reinsten  und  vollendetsten  zur 
Erscheinung  gebracht  und  daraus  das  Stilprinzip 
fur  den  ganzen  imposanten  Bau  hergenommen  hat, 
darum  durfen  wir  sie  ohne  Engherzigkeit  auch  vom 
volkerpsychologischen  und  entwicklungsgeschicht- 
lichen  Standpunkt  als  die  bisher  hochste  Erschei- 
nungsform  der  Musik  bezeichnen. 

Ich  mochte  damit  einem  MiBverstandnisse  be- 
gegnen,  dem  vergleichende  Untersuchungen  dieser 
Art  zuweilen  ausgesetzt  sind :  als  sollte  aller  Wert- 
unterschied  geleugnet  oder  gar  das  Primitive  als 
Muster  zur  Nachahmung  hingestellt  werden.  Dieser 
Rousseausche  Ungedanke,  der  in  asthetischen  wie 
ethischen  Diskussionen  bei  Enthusiasten  immer 
noch  zu  finden  ist,  steht  geradezu  in  Wider- 
spruch  mit  dem  Entwicklungsgedanken.  Wir  wollen 
uns  doch  nicht  wieder  riickwarts  entwickeln.  Das 
goldene  Zeitalter  liegt  nicht  hinter  uns,  sondern 
vor  uns,  so  wenigstens  hoffen  und  wunschen  wir. 
Wenn  wir  in  anscheinend  tierisch-rohen  Produkten 
ursprtinglichen  Menschentums  doch  schon  die  wesent- 
lichen  Kennzeichen  menschlicher  Geistesarbeit  er- 
blicken,  wenn  die  liebevolle  Versenkung  in  das  Ein- 
fachste,  die  „Andacht  zum  Kleinen",  uns  auch  darin 
eine  Struktur,  ein  Zusammenfassen  von  Teilen,  ein 
verschiedenes  Bewerten  der  einzelnen  Telle,  ein  Ober- 
tragen  gleicher  Verhaltnisse  auf  verschiedenartiges 


—     61     — 

Material,  kurz  alle  Merkmale  geistiger  Durchdringung 
des  Stoffes  offenbart,  so  verlieren  wir  damit 
nicht,  sondern  gewinnen  erst  den  rechten  MaB- 
stab  fur  die  Schatzung  spSterer  Kulturen.  Alles 
wahrhaft  GroBe  wird  durch  Vergleichen  und  Ver- 
stehen  nur  groBer.  Die  vergleichende  Kunstbe- 
trachtung  fUhrt  zur  Gerechtigkeit  und  Objektivitat 
des  Urteils,  indem  sie  eine  ungeahnte  Mannigfaltig- 
keit  moglicher  Kunststile  in  den  Gesichtskreis  ruckt, 
sie  kann  dadurch  sogar  dem  schaffenden  Kiinst- 
ler  Nahrung  geben  (man  denke  nur  an  die  An- 
regungen,  die  sich  Goethe  und  unsere  neueren  Maler 
aus  dem  Orient  holten):  aber  sie  zeigt  zugleich 
himmelweite  Abstande  in  der  Durchfuhrung  der  ein- 
geschlagenen  Wege  und  ungleiche  Fruchtbarkeit  der 
verschiedenen  Kunstprinzipien.  Unter  vielen  an  sich 
gleich  moglichen  und  gleich  berechtigten  Arten  der 
Kunstubung  fuhren  eben  doch  nur  wenige  zu  rei- 
cherer  Blutenfulle.  So  lernen  wir  die  herrliche 
letzte  Epoche  der  Tonkunst  erst  recht  schatzen  und 
zugleich  der  —  in  jedem  Sinne  des  Wortes  —  uner- 
grtindlichen  kUnstlerischen  Zeugungskraft  vertrauen, 
die  selbst  nach  den  erhabensten  Schopfungen  der 
Vergangenheit  noch  immer  auf  neuen  Bahnen  neue 
Wunderwerke  erstehen  lieB. 


Anmerkungen. 

1  (S.  8)  Der  Begriinder  der  vergleichenden  Musikwissen- 
schaft  nach  exakt-naturwissenschaftlicher  Methode  ist  Alex- 
ander J.  Ellis,  der  in  seiner  Abhandlung  „0n  the  Musical 
Scales  of  Various  Nations",  Journ.  of  the  Society  of  Arts, 
Vol.  XXXIII,  1885  zuerst  umfangreiche  Messungen  an  exotischen 
Musikinstrumenten,  die  von  Eingeborenen  gespielt  und  als 
gut  gestimmt  bezeichnet  wurden,  veroffentlichte  und  zur  Ver- 
gleichung  der  Ergebnisse  die  Cents-Berechnung  (nach  Hun- 
dertstel  der  temperierten  Halbtonstufe)  eingefiihrt  hat.  Auch 
Gehorspriifungen  an  exotischen  Musikern  hat  er  bereits  vor- 
genommen.  Uber  seine  Abhandlung  (von  der  Separata  kaum 
mehr  zu  bekommen  sind)  habe  ich  in  der  Vierteljahrschr.  f. 
Musikwissenschaft  II,  1886,  ausfiihrlich  berichtet.  Ellis'  Unter- 
suchungen  bezogen  sich  allerdings  weniger  auf  Naturvolker 
als  auf  die  exotischen  Kulturnationen;  aber  die  Genauigkeit 
seiner  Bestimmungen  ist  vorbildlich  geworden  und  mu6  auch 
gegeniiber  den  Naturvolkern  festgehalten  werden,  sei  es  auch 
nur,  urn  die  Grenzen  zu  ermitteln,  innerhalb  deren  dort  iiber- 
haupt  eine  feste  Intonation  besteht. 

Eine  sichere  Grundlage  fiir  die  Erforschung  der  Melodien 
haben  wir  erst  einige  Jahre  spater  durch  die  Anwendung  der 
phonographischen  Methode  (B.  J.  Gilman  1891  auf  Grund  der 
Aufnahmen  von  W.  Fewkes)  erhalten.  Seitdem  hatdieVerwer- 
tung  dieses  Hilfsmittels  groBe  Dimensionen  angenommen. 

Uber  die  Zwecke  und  die  Entwickelung  des  Berliner 
wissenschaftlichen  Phonogrammarchivs,  das  vorlaufig  im  Psy- 
chologischen  Institut  der  Universitat  aufbewahrt  und  verwaltet 
wird,  gibt  bis  zum  Anfang  des  Jahres  1908  mein  Artikel  „Das 
Berliner  Phonogrammarchiv"  (s.  u.  Nr.  13)  AufschluB.  Darin 
sind  auch  einige  in  der  gegenwartigen  Abhandlung  besprochene 
Fragen  schon  beriihrt,  neben  anderen,  die  mit  Hilfe  phono- 
graphischer  Aufnahmen  untersucht  werden  konnen.  Inzwischen 


—     63     - 

ist  die  Beteiligung  von  Forschungsreisenden  und  die  Zahl 
der  eingelieferten  Walzen  noch  erheblich  gestiegen,  so  daB 
letztere  schon  iiber  3000  betragt.  Die  Reisenden  bekommen 
eine  genaue  Instruktion  iiber  die  bei  den  Aufnahmen  zu  be- 
obachtenden  MaBregeln,  wodurch  die  wissenschaftliche  Ver- 
wertbarkeit  der  Aufnahmen  gewahrleistet  wird  (s.  u.  Nr.  17). 
Von  den  leicht  verganglichen  Wachswalzen  werden  auf  gal- 
vanoplastischem  Wege  Metal Imatrizen  hergestellt,  die  die 
beliebige  Anfertigung  von  Kopien  ermoglichen.  Durch  solche 
Kopien  sind  aus  der  hiesigen  Sammlung  andere  in  Koln,  Liibeck, 
Leiden,  Stockholm  ganz  oder  teilweise  begriindet  worden. 
Unser  Archiv  ist  aber  gleichfalls  durch  Kopien,  namentlich 
aus  Amerika,  vermehrt. 

In  Wien  besteht  bereits  seit  1900  ein  von  der  Akade- 
mie  der  Wissenschaften  auf  Anregung  S.  Exners  begriindetes 
und  von  der  Regierung  unterstiitztes  Phonogrammarchiv  (s.  die 
jahrlichen  Berichte  in  den  Akademieschriften)  mit  einer  groBen 
Sammlung  von  Aufnahmen  in  Plattenform,  die  mittels  eines 
besonderen  „Archivphonographen"  hergestellt  sind,  sich  jetzt 
aber  auch  auf  Walzen  iibertragen  lassen.  Andere  Sammlungen 
sind  in  Frankreich,  England,  RuBland  und  Amerika  ent- 
standen. 

Natiirlich  ist  nicht  die  Sammlung  sondern  die  Verwertung 
letztes  Ziel.  Die  Melodien  miissen  Note  fiir  Note  nach  Ton- 
hohe  und  Rhythmus  bestimmt  werden.  Dies  ist  eine  sehr 
muhsame  Aufgabe;  aber  sie  ist  betreffs  der  Tonhohen  mit 
physikalischer  Exaktheit  losbar.  Fiir  den  Rhythmus  gibt  es 
auch  mancherlei  Hilfsmittel,  urn  schlieBlich  auch  fremdartige 
und  komplizierte  Rhythmen  festzulegen.  In  alien  Fallen  aber 
ist  eine  langjahrige  Obung  und  groBte  Gewissenhaftigkeit  er- 
forderlich. 

Mit  der  Untersuchung  der  Musikstiicke  mu6  die  der  et- 
waigen  Instrumente  Hand  in  Hand  gehen.  Fiir  die  Erkennt- 
nis  des  in  den  Musikstiicken  vorkommenden  Tonmaterials, 
der  „Leitern",  wenn  solche  vorhanden  sind,  haben  Messun- 
gen  an  Instrumenten  mit  hinreichend  festen  Tonhohen  sogar 
groBere  Bedeutung.  Die  vielverbreiteten  Panpfeifen  und 
die  Xylophone  und  Metallophone  sind  dazu  besonders  ge- 
eignet. 


-     64    — 

Im  folgenden  versuche  ich  die  wesentlichsten  neueren 
BeitrSge  zur  Kenntnis  exotischer  Musik  zusammenzustellen, 
soweit  sie  auf  eigenes  Horen  der  Verfasser  gegrlindet  und 
mit  hinreichender  Zuverlassigkeit  durchgefiihrt  sind, 

I.  Noch  vor  der  phonographischen  Ara  ist  iiber 
Indianermusik  eine  sorgfaltige  Studie  erschienen,  die  heute 
noch  als  Quelle  mitbeniitzt  werden  kann,  da  der  Verfasser  beim 
Abhoren  der  Gesange  den  musikalischen  Eigentiimlichkeiten 
viel  mehr  Beachtung  geschenkt  und  sie  detaillierter  beschrie- 
ben  hat,  als  es  vorher  iiblich  war: 

Th.  Baker:  Uber  die  Musik  der  nordamerikanischen  Wil- 
den.    1882. 

Dann  habe  ich  selbst  einmal  versucht,  die  Lieder  einer 
von  Kapitan  Jacobsen  mitgebrachten  Indianertruppe  nach  viel- 
maligem  Vorsingen  durch  den  Hauptsanger  mit  Riicksicht  auf 
die  genaue  Intonation  jeder  Note  zu  fixieren,  und  glaube  auch 
die  eigentumlichen  Abweichungen  der  Intonation  von  der 
unsrigen  in  der  beigefiigten  Beschreibung  richtig  charakte- 
risiert  zu  haben: 

C.  Stumpf:  Lieder  der  Bellakula-Indianer,  Vierteljahrschr. 
f.  Musikwissenschaft  II,  1886. 

Aber  zu  einer  derartigen  Vertiefung  in  das  Detail  jeder 
Melodie  pflegen  sich  Forschungsreisende  nicht  die  Zeit  zu 
nehmen,  auch  nicht  dazu  vorgebildet  zu  sein.  AuBerdem  fehlt 
bei  Notierungen  nach  direktem  Vorsingen  im  allgemeinen  die 
Moglichkeit  der  Nachpriifung  und  die  des  Herausgreifens  be- 
liebiger  kleinster  Abschnitte,  wodurch  man  Melodien  wie 
Naturobjekte  untersuchen  kann.  Hierin  liegt  der  unendliche 
Vorteil  der  phonographischen  Methode 

Unter  den  vor-phonographischen  Aufzeichnungen  primi- 
tiver  Melodien  erwahne  ich  noch: 

Fr.  Boas:  The  Central  Eskimo.  Bureau  of  Ethnology, 
6.  Annual  Report  1888.  Im  Anhang  sind  eine  Anzahl  Melo- 
dien wiedergegeben.  Ebenso  in  der  Abhandlung  iiber  die 
nordwestlichen  Indianerstamme  von  Kanada,  Britisch  Asso- 
ciation, Report  for  1890.  Der  Verfasser  ist  als  ausgezeichneter 
Beobachter  bekannt.  Doch  scheint  er  auf  die  Abweichungen 
der  Intonation  nicht  so  sehr  wie  auf  die  Eigentiimlichkeiten 
der  Rhythmik  und  Struktur  geachtet  zu  haben,  da  iiber  jene 


-     65     — 

nichts  naheres  bemerkt  ist.   Spater  hat  er  die  phonographische 
Methode  angewandt  (s.  u.).    Ebenso: 

(Miss)  A.  C.  Fletcher:  A  Study  of  Omaha  Indian  Music  (mit 
J.  C.  Fillmore),  Archaeol.  and  Ethnol.  Papers  of  the  Peabody 
Museum  Vol.  1,  1893. 

II.  In  Amerika  hat  B.J.  Oilman  auf  Orund  phono  graph  i- 
scher  Aufnahmen  drei  lehrreiche  Abhandlungen  veroffentHcht: 

Oilman:  Zuni  Melodies,  Journal  of  American  Archaeology 
and  Ethnology  Vol.  I,  1891  —  die  erste  Untersuchung,  die  iiber- 
haupt  nach  dieser  Methode  gemacht  ist.  Dazu  vgl.  meine  Ab- 
handlung:  Phonographierte  Indianermelodien,  Vierteljahrsschr. 
fiir  Musikwissenschaft  VIII,*  1892. 

Oilman:  Some  Psychological  Aspects  of  the  Chinese  Mu- 
sical System,  Philosophical  Review  I,  1892. 

Oilman:  HopiSongs,Journ. of  American  Archaeology  V,  1908. 

Reiches  phonographisches  Material  sodann  bei: 

Fr.  Boas:  The  Social  Organisation  and  the  Secret  Societies 
of  the  Kwakiutl  Indians.  U.  S.  A.  National  Museum,  Report  for 
1895  (1897). 

Fr.  Boas:  Songs  of  the  Kwakiutl  Indians.  Internationales 
Archiv  f.  Ethnographie  IX,  1896. 

A.  C,  Fletcher:  The  Hako,  a  Pawnee  Ceremony.  Bureau  of 
American  Ethnology,  22.  Report,  1903. 

(Miss)  Fr.  Densmore:  Chippewa  Music.  Bureau  of  American 
Ethnology,  Bull.  45,  1910. 

Natalie  Curtis  hat  in  ihrer  groBen  Sammlung  „The  Indians 
Book"  (1907)  den  Phonographen  leider  als  „inadaequat  und 
unnotig"  verschmaht  und  damit  fiir  ihre  Aufzeichnungen,  wenn 
sie  auch  sonst  einen  vertrauenswlirdigen  und  technisch  sau- 
beren  Eindruck  machen,  jede  Kontrolle,  auch  ihre  eigene, 
abgeschnitten.  Mindestens  waren  mehr  Angaben  iiber  die 
Eigentiimlichkeiten  der  Intonation,  der  Rhythmik  und  des  Vor- 
trags  erwunscht.  Oliicklich  und  verdienstlich  scheint  mir  die 
iiberall  durchgefiihrte  Strukturanalyse  derMelodien,  die  in  der 
Form  ihrer  Wiedergabe  zum  Ausdruck  kommt. 

III.  Folgende  Arbeiten,  auf  die  unsere  Darstellung  sich 
hauptsachlich  stiitzt,  sind  bisher  aus  dem  Berliner  Phono- 
gramm-Archiv  hervorgegangen  (sie  werden  spater  mit 
„Ph.-A.  Nr. ..."  zitiert): 

Stumpf,  Anfange  der  Musik  5 


-     66    ^ 

1.  C.  Stumpf:  Tonsystem  und  Musik  der  Siamesen.  Bei- 
trage  zur  Akustik  u.  Musikwissenschaft,  herausg.  von  C.  Stumpf, 
Heft  3,  1901. 

2.  O.  Abraham  und  E.  v.  Hornbostel:  Studien  iiber  das 
Tonsystem  und  die  Musik  der  Japaner.  Sammelbande  der 
Internat.  Musikgesellschaft  IV  (1902). 

3.  Abraham  und  v.  Hornbostel:  Phonographierte  indische 
Melodien.    Ebenda  V  (1904). 

4.  F.  V.  Luschan:  Einige  tiirkische  Volkslieder  und  die 
Bedeutung  phonographischer  Aufnahmen  fiir  die  Volkerkunde. 
Zeitschr.  f.  Ethnologie  Bd.  36  (1904)  Heft  2. 

5.  Abraham  und  v.  Hornbostel:  Phonographierte  turkische 
Melodien.    Ebenda. 

6.  Dieselben:  Uber  die  Bedeutung  des  Phonographen  fur 
die  vergleichende  Musikwissenschaft  (mit  Diskussionsbericht 
aus  der  Berliner  Anthropolog.  Gesellschaft).    Ebenda. 

7.  Dieselben:  Uber  die  Harmonisierbarkeit  exotischer  Me- 
lodien. Sammelbande  der  internat.  Musikgesellschaft  VII  (1905). 

8.  V.  Hornbostel:  Die  Probleme  der  vergleichenden  Musik- 
wissenschaft.   Zeitschr.  d.  Int.  Musikges.  VII  (1905). 

9.  V.  Hornbostel:  Phonographierte  tunesische  Melodien. 
Sammelb.  d.  Int.  Musikges.  VIII  (1906). 

10.  Abraham  und  v.  Hornbostel:  Phonographierte  Indianer- 
melodienausBritisch-Columbia.  In:  Boas  Memorial  Volume  1906. 

11.  V.  Hornbostel:  Uber  den  gegenwartigen  Stand  der 
vergleichenden  Musikwissenschaft.  Ber.  iib.  d.  II.  Kongr.  d. 
Int.  Musikges.  1907,  S.  56  ff. 

12.  V.  Hornbostel:  Notiz  iiber  die  Musik  der  Bewohner 
von  Siid-Neu-Mecklenburg.  In:  Stephan  und  Graebner,  Neu- 
Mecklenburg.     1907. 

13.  C.  Stumpf:  Das  Berliner  Phonogrammarchiv.  Internat. 
Wochenschrift  fiir  Wissenschaft  usw.    22.  Februar  1908. 

14.  V.  Hornbostel:  Phonographierte  Melodien  aus  Mada- 
gaskar  und  Indonesien.  In:  „Forschungsreise  S.  M.  S.  Planet 
1906/7".   V.  Band.     1908. 

15.  E.  Fischer:  Patagonische  Musik.  Ztschr.  „Anthropos"  III 
(1908). 

16.  v.  Hornbostel:  Uber  die  Musik  der  Kubu.  In:B.  Hagen, 
Die  Orang-Kubu  auf  Sumatra.     1908. 


—     67     — 

17.  Abraham  und  v.  Hornbostel  in  den  „Anleitungenfur  ethno- 
graphischeBeobachtungen  undSammlungen."  Herausgeg.  vom 
Kgl.  Museum  f.  Volkerkunde,  Berlin.  1908.  Abteilung  L:  Musik. 

18.  Abraham  und  v.  Hornbostel:  Vorschlage  fur  dieTrans- 
skription  exotischer  Melodien.  Sammelb.  d.  Int.  Musikges.  IX 
(1909). 

19.  V.  Hornbostel:  Wanyamwezi-Gesange.  Ztschr.  Anthro- 
pos  IV  (1909). 

20.  M.  Wertheimer:  Musik  der  Wedda.  Sammelb.  d.  Int. 
Musikges.  XI  (1909). 

21.  V.  Hornbostel:  Uber  Mehrstimmigkeit  in  der  auBer- 
europaischen  Musik.  Bericht  iiber  den  III.  KongreB  der 
Internat.  Musikgesellschaft.    1909.    S.  298ff. 

22.  V.  Hornbostel:  Uber  einige  Panpfeifen  aus  Nordwest- 
brasilien.  In :  Th.  Koch-Griinberg,  2  Jahre  unter  den  Indianern, 
2.  Bd.,  1910. 

23.  V.  Hornbostel:  Uber  vergleichende  akustische  und 
musikpsychologische  Untersuchungen.  Ztschr.  f.  angewandte 
Psychologic  III  (1910). 

24.  V.  Hornbostel:  Abschnitt  „Musik"  in  R.  Thurnwald, 
Im  Bismarckarchipel  und  auf  den  Salomoinseln.  Ztschr.  f. 
Ethnol.  Bd.  42.    1910.    S.  140  ff. 

25.  V.  Hornbostel:  Wasukuma-Melodie.  Bulletin  de  I'Aca- 
demie  des  Sciences  de  Cracovie.    Sc.  naturelles.    1910. 

26.  V.  Hornbostel:  U.  S.  A.  National  Music.  Ztschr.  d. 
Internat.  Musikgesellschaft.  XII  (1910). 

27.  V.  Hornbostel:  Notizen  iiber  kirgisische  Musikinstru- 
mente  und  Melodien.  In:  R.  Karutz,  Unter  Kirgisen  und  Turk- 
menen.    1911. 

28.  Stumpf  und  v.  Hornbostel:  Uber  die  Bedeutung  ethno- 
logischer  Untersuchungen  fiir  die  Psychologic  und  Asthetik 
derTonkunst.  Bericht  iiber  den  IV.  KongreB  fur  experimentelle 
Psychologic,  herausg.  v.  F.Schumann.  1911.  Auch  in  Stumpfs 
Beitragen  zur  Akustik  und  Musikwissenschaft  Heft  6. 

29.  E.  Fischer:  Beitrage  zur  Erforschung  der  chinesischen 
Musik.    Sammelb.  d.  Internat.  Musikges.  XII  (1911). 

30.  V.  Hornbostel,  Ober  die  Musik  auf  den  deutschen  Salo- 
mon-Inseln.  In :  Thurnwald,  Ethnograph.  Forschungen  in  Buin 
auf  Bouginville.    (Im  Druck.) 

5* 


—     68     - 

IV.  AuBerdem  liegen  phonographisch  fundierte  Arbeiten 
europaischer  Autoren  uber  Naturvolker  vor  von: 

G.  Adler:  Sokotri-Musik.  In  D.  H.  Miiller,  Die  Mehri- 
und  Sokotrisprache.  Sudarabische  Expedition  der  Kais.  Aka- 
demie  d.  Wissensch.  Bd.  VI.    1905. 

P.  Fr.  Witte:  Lieder  und  Gesange  der  Ewe-Neger.  Ztschr. 
Anthropos  I  (1906),  S.  65ff.,  194  ff. 

W.  Thalbitzer  und  Hj.  Thuren:  Musik  aus  Ostgronland. 
Zeitschrift  der  Internat.  Musikgesellschaft  XII,  Heft  2  (1910). 

Ch.  S.  Myers:  Abschnitt  „Music"  in  C.  G.  und  B.  Z.  Selig- 
mann,  The  Veddas,  1911. 

Die  phonographische  Methode  ist  aber  in  Europa  mehr- 
fach  auch  zur  Aufnahme  alter  Volksgesange  verwendet  wor- 
den,  die  das  Material  der  vergleichenden  Musikwissenschaft 
in  einer  wichtigen  Richtung  erweitern.  Ich  erwahne  unter  den 
Publikationen  besonders: 

Frau  E.  Lineff :  The  Peasant  Songs  of  Great  Russia  I  1905, 
II  1909. 

F.  Kolessa:  Ruthenische  Volkslieder,  in  den  Mitteilungen 
der  Sevdenko-Gesellsch.  d.  Wissensch.    1906—1911. 

Hjalmar  Thuren :  Folkesangen,  Kopenh.  1908. 

A.  Launis:  Lappische  Juoigos-Melodien.    1908. 

F.  Kolessa:  Ober  die  sog.  KosakenHeder  (der  Klein- 
russen),  Bericht  iiber  den  III.  KongreB  d.  Intern.  Musik- 
gesellsch.  1909.    S.  276ff. 

V.  In  neueren  Monographien  und  Reisewerken  haben, 
auch  wenn  keine  phonographischen  Aufnahmen  gemacht 
wurden,  doch  wenigstens  die  Postulate  kritischer  For- 
schung  mehr  Beachtung  gefunden  als  fruher.  Ich  nenne 
z.  B.  die  Studie  von  Fr.  Densmore:  The  Music  of  the 
Filipinos,  American  Anthropologist  Vol.  VIII  (1906),  p.  61  Iff. 
J.  Schonharl:  Volkskundliches  aus  Togo  (1909).  H.  Rehse: 
Kiziba  (am  Westufer  des  Viktoria-Nyanza),  Land  und  Leute, 
1910. 

VI.  Als  iibersichtliche  Zusammenstellungen  der  von  der 
musikalischen  Ethnologic  bisher  gewonnenen  allgemeinen  Ge- 
sichtspunkte  seien  noch  erwahnt: 

Charles  S.  Myers:  The  Ethnological  Study  of  Music. 
Anthropological  Essays  presented  to  E.  B.  Tylor,  1907. 


—     69     — 


B.J.  Oilman:  The  Science  of  Exotic  Music,  Ztschr.  Science 
N.  S.  XXX,  15.  Oct.  1909. 

Wie  wenig  man  sich  auf  die  zahlreichen,  in  Reise- 
werken  mitgeteilten  unkontrollierbaren  Notierungen  verlassen 
kann,  mogen  zwei  Beispiele  aus  neuester  Zeit  erlautern.  Ein 
so  beruhmter  Psychologe  wie  W.  Wundtgibt  in  seiner  Volker- 
psychologie  (III-  468)  vier  Proben  primitiver  Gesange,  von 
denen  die  dritte  und  vierte,  so  wie  sie  dastehen,  unmoglich 
echt  sein  konnen.    (Uber  die  erste  s.  u.  Anm.  27.)    Sielauten: 

Australische  Melodic. 


't:t::^z^^;t^=±tU^XJ-iXT=^ 


•a 


a^ 


^rl^^  j+rx^ 


^ 


M= 


^r^r-^^  iU4^'^  ^'^T^ 


tt 


m 


(Nach  Lumholtz,  Unter  Menschenfressern,  S  59.) 
Negermelodie. 


^^  I  p  n  ^'l^gj-  P  *'\  f>  J'  :rf: 


jF^  J'^^t-^^-^^if^^^^^^ 


(Nach  Schweinfurth,  Im  Herzen  von  Afrika  I,  S.  450.) 

Von  der  letzten  sagt  Wundt  selbst,  sie  sei  unserem 
Melodiegefiihl  schon  homogener.  In  Wahrheit  unterscheiden 
sich  die  beiden  Melodien  (den  SchluB  der  ersten  ausgenommen) 
in  keiner  Beziehung  von  unseren  popularen  Weisen.  Die 
erste,  die  so  wenig  nach  Menschenfressern  klingt,  ist  im 
Original  von  Lumholtz  noch  dazu  mit  „Tempo  di  Valse.  Allegro" 
iiberschrieben.  Stlickweise  klingt  sie  in  der  Tat  z.  B.  an  den 
Hauptwalzer  aus  Oskar  StrauB'  Operette  „Walzertraum"  an. 
So  wie  sie  hier  steht,  wird  jeder  Sachverstandige  sagen,  da6 


—     70     — 

sie  ebensowenig  bei  den  Ureinwohnern  Australiens  entstanden 
sein  kann,  wie  etwa  ein  silberner  Suppenloffel  oder  eine 
Schreibmaschine.  Ob  sie  nun  aus  Gegenden,  die  schon  unter 
europaischem  EinfluB  stehen,  dahin  gewandert  ist,  oder  ob 
Lumholtz  beim  Aufschreiben  einer  echt  australischen  Weise 
sein  europaisches  Gehor  einen  Streich  gespielt  hat,  mu6 
dahingestellt  bleiben.  Wahrscheinlich  haben  beide  Faktoren  zu- 
sammengewirkt.  Lumholtz  sagt  Seite  198  seines  Werkes,  ein 
gutes  Lied  wandere  von  Stamm  zu  Stamm,  und  ein  bestimmtes 
Lied  (ahnlich  dem  hier  zitierten)  habe  er  spater  von  den  zivili- 
sierten  Schwarzen  bei  Rockhampton,  500  Meilen  in  gerader 
Linie  siidlich  vom  ersten  Orte  singen  horen.  Urspriinglich  sei 
es  wahrscheinlich  in  der  Gegend  von  Rockhampton  entstanden 
und  habe  diesen  langen  Weg  gemacht,  bevor  es  in  die  Berge 
von  Herbert  River  kam,  wo  es  nun  gesungen  werde,  ohne 
daB  man  auch  nur  die  Worte  verstehe.  Unter  solchen  Um- 
standen  ist  es  gewiB  denkbar,  daB  auch  europaische  Ge- 
sange  einen  so  langen  Weg  gemacht  haben.  (Was  in  dieser 
Hinsicht  vorkommt,  sieht  man  daran,  daB  v.  Hornbostel  kurzlich 
auf  einem  bei  den  Kirgisen  im  westlichen  Turkistan  aufgenom- 
menen  Phonogramm  unser  „Fuchs,  du  hast  die  Gans  gestohlen" 
fast  ganz  unverandert  vorgefunden  hat;  nur  die  groBe  Sep- 
time  war  in  die  kleine  verwandelt.  Ph.-A.  Nr.  27.)  Einiges 
mag  aber  auch  das  europaische  Ohr  hinzugetan,  es  mag  das 
Gehorte  „assimiliert"  haben;  nur  den  SchluB,  namlich  das 
lange  Verweilen  auf  dem  tiefen  Grundton,  halte  ich  fur  ein 
echtes  Produkt,  da  wir  diese  Gewohnheit  sehr  haufig  bei 
Primitiven  finden  (wahrend  Wundt  gerade  „das  ganzliche  Feh- 
len  eines  melodischen  Abschlusses"  charakteristisch  findet). 
Auch  Lumholtz  sagt:  „Den  letzten  Ton  recht  lang  anhalten  zu 
konnen,  gilt  als  Fertigkeit  in  der  Kunst  des  Gesanges". 

Da  mir  das  Beispiel  aus  Schweinfurths  Buch  nicht 
minder  erstaunlich  schien,  bat  ich  den  groBen  Afrika- 
forscher  brieflich  um  Auskunft,  auf  welche  Weise  er  dieses 
Lied  in  Noten  gebracht  habe,  und  ob  es  nicht  etwa  in  jene 
Gegend  eingewandert  sein  konne.  Er  antwortete  (27.  XII. 
1905):  „Die  Melodie  ist  von  mir  so  wiedergegeben  worden, 
wie  sie  meinem  Ohr  erschien.  Vielleicht  wurde  die  Melodie 
unbewuBt  in  demselben  europaisch  stilisiert.  Damals  machte 


—     71     — 


sie  auf  mich  einen  tiefen  Eindruck.  Ich  habe  sie  oft  vor  niir 
hergesummt  auf  meinen  Wanderungen;  es  war  von  jeher  meine 
Gewohnheit,  alle  Melodien,  deren  ich  habhaft  werden  konnte, 
auf  dem  Marsche  zu  markieren.  Daher  glaube  ich  wohl,  sie 
spater  ziemlich  getreu  wiedergegeben  zu  haben.  Ein  rhyth- 
mischer  Gesang  von  100  Stimmen  mu6  doch  wohl  eine  domi- 
nierende  Melodic  haben,  eine  Diagonale,  und  diese  habe  ich 

in  dieser  Art  erfaBt Die  Notierung  der  Melodie  ist  damals 

(als  ich  mein  Buch  schrieb)  in  Gemeinschaft  mit  meinem  ver- 
storbenen  Bruder  Alexander  (den  A.  Dorn  einen  Musiker  durch 
und  durch  genannt  hat)  entstanden.  Ich  habe  ihm  den  Gesang 
wiederholt  vorgefUhrt;  man  konnte  denselben  nicht  anders 
zum  Ausdruck  bringen." 

Damit  ist  meines  Erachtens  alles  Notige  gesagt.  Der 
Bericht  ist  sicherlich  typisch  fiir  auBerst  zahlreiche  Falle. 
Welche  Wandlungen  mu6  eine  Melodie  erleiden,  wenn  man 
sie  auf  langen  Marschen  vor  sich  hin  summt,  und  vollends 
wenn  sie  nach  dieser  ersten  unabsichtlichen  Bearbeitung  auch 
noch  von  einem  durch  und  durch  musikalischen  Europaer, 
der  vielleicht  niemals  exotische  Weisen  im  Original  gehort 
hat,  in  Noten  gesetzt  wird!  Ich  will  dem  hochverdienten 
Forscher,  der  vor  der  Erfindung  des  Phonographen  reiste 
und  schrieb  und  die  genaue  Aufzeichnung  an  Ort  und  Stelle 
sich  nicht  zutraute,  keinen  Vorwurf  machen.  Aber  was  er 
als  Garantien  fiir  treue  Uberlieferung  ansieht,  ist  das  Gegenteil 
davon.  Zum  UberfluB  macht  mich  Kollege  M.  Friedlander  auf- 
merksam,  da6  es  ein  altes  Soldatenmarschlied  gibt,  das  eine 
verdachtige  Verwandtschaft  mit  diesem  auf  Marschen  nach- 
gesungenen  Mitu-Liede  darbietet: 

S4- 


g-l-r;  I  ;■  ^rT^^Ep=M=g 


Hur-ra,    hur-  ra,    hu  -  ral  -  le  -  ral  -  le  -  ra,  hur- 


i 


^ 


■^ 


-^ 


^ 


^^^ 


usw. 


ra,  hur-ra,  hu- ral-le-ral-le-ra. 


(Liederkranzvon  Erk,  Ausgabe  fur  Berliner  Gemeindeschulen  I,  Nr.  115, 
S.  106.  Vgl.  Soldatenliederbuch,  herausgegeben  von  Hauptmann  Maschke, 
1906,  Nr.  189.) 


—     72     — 

GewiB  hat  die  urspriingliche  Mitu-Melodie  eine  Ahnlich- 
keit  und  vielleicht  sogar  eine  starke  Ahnlichkeit  mit  der  von 
Schweinfurth  veroffentlichten.  In  Afrika  haben  sich  viele 
solche  Weisen  mit  kurzen  zweiteiligen  Rhythmen  gefunden, 
auf  die  man  auch  Hurra  singen  konnte.  Ich  behaupte  nur, 
da6  von  einer  wissenschaftlichen  Genauigkeit  der  Wiedergabe 
unter  den  obigen  Umstanden  nicht  gesprochen  werden 
kann.  Kaum  kann  es  einen  besseren  Beweis  als  die  beiden 
Wundtschen  Musterbeispiele  geben,  wie  unerlaSiich  phono- 
graphische  Aufnahmen  an  Ort  und  Stelle  sind,  und  wie  wenig 
es  auBerdem  niitzt,  in  Sachen  der  Volkerpsychologie  sich  nur 
aus  Biichern  Rat  zu  holen. 

Keineswegs  mochte  ich  so  weit  gehen,  die  Notierungen 
an  Ort  und  Stelle  nach  dem  bloBen  Gehor,  wie  wir  sie  in  so 
vielen  friiheren  Reisewerken  finden,  als  iiberhaupt  unbrauch- 
bar  zu  verwerfen.  Vielmehr  werden  wir  auch  jetzt  noch,  oder 
besser  gesagt  erst  jetzt,  ofters  einen  guten  Gebrauch  von 
solchen  Notenbeispielen  machen  konnen.  Aber  nur  unter  der 
Bedingung,  da6  der  sie  Beniitzende  vorher  durch  eigenes 
Horen  nach  phonographischen  Aufnahmen  und  nach  der  Natur 
(es  kommen  ja  genug  exotische  Gaste  in  die  Hauptstadte 
Europas,  freilich  durfen  sie  nicht  schon  europaisiert  sein),  sich 
ein  Bild  dessen  gemacht  hat,  was  in  Wirklichkeit  vorkommt; 
da6  ferner  in  den  beniitzten  Reiseberichten  selbst  die  Urn- 
stande,  unter  denen  der  Reisende  die  Notierungen  vorgenom- 
men,  die  Methode  der  Notierung  oder  nahere  Angaben  iiber 
Details  eine  gewisse  Sicherheit  fiir  die  annahernd  richtige 
Wiedergabe  bieten.  Gewohnlich  geben  allerdings  die  Reise- 
berichte  gar  keine  Anhaltspunkte  dieser  Art,  und  haufig  er- 
wecken  schon  rein  technische  Nachlassigkeiten  in  der  Nota- 
tion Zweifel  und  Bedenken.  Es  ist  hochste  Zeit,  da6  das 
Ma6  gewissenhafter  Kritik,  das  die  neue  Volkerkunde  in  an- 
deren  Gebieten  von  ihren  Vertretern  beansprucht,  auch  dem 
Gebiete  der  Musik  zuteil  werde. 

Die  groBte  Sicherheit  wird  naturlich  erreicht  sein,  wenn 
der  Forschungsreisende  selbst  akustisch-psychologisch  durch- 
gebildet  ist,  wenn  er  das  ganze  Musikwesen  der  Eingeborenen 
an  Ort  und  Stelle  studiert,  zugleich  phonographische  Auf- 
nahmen macht  und  diese  dann  nach  der  Riickkehr  selbst 


-     73     — 

wissenschaftlich  bearbeitet.  Aber  daswird  nur  ausnahiiiswcisc 
der  Fall  sein  konnen. 

Von  den  Anhangern  der  alten  Methode,  sagen  wir  des 
alten  Schlendrians,  ist  der  exakten  Wiedergabe  exotischer 
und  primitiver  Gesange  nach  dem  Phonographen  der  Vorvvurf 
zwecklos  ubertriebener  Genauigkeit  gemacht  worden,  da  die 
Intonation  der  „Wilden"  eine  viel  zu  schwankende  sei,  als 
da6  sich  Notierungen  mit  diakritischen  Zeichen  fiir  die  von 
den  unsrigen  abweichenden  Intervalle  oder  gar  Messungen 
der  Tonhohen  in  Schwingungszahlen  verlohnten.  Diesen  Punkt 
habe  ich  selbst  bereits  1892  gelegentlich  der  ersten  Veroffent- 
lichung  nach  Phonogrammen  durch  Gilman,  lange  vor  unse- 
ren  Kritikern  H.  Riemann  und  Wallaschek,  besprochen.  Es 
folgt  aus  solchen  Schwankungen  naturlich  nicht,  dafi  man 
der  alten  Notierungsweise  ein  groBeres  Vertrauen  schenken 
diirfe  als  der  neuen.  Es  folgt  nur,  da6  man  bei  der 
Deutung  des  phonographisch  aufgenommenen  Materials  die 
unvermeidlichen  Schwankungen  mit  in  Rechnung  Ziehen 
und  nicht  ohne  weiteres  alle  Abweichungen  von  den  dia- 
tonischen  Leitern  fiir  irgendwelche  neuen  und  unerhorten 
Skalen  in  Anspruch  nehmen  darf.  Aber  unsere  Messungen 
dienen  gerade  auch  zur  Feststellung  des  Umfangs,  inner- 
halb  dessen  Schwankungen  bei  bestimmten  Stammen  oder 
einzelnen  Sangern  vorkommen.  Zu  diesem  Behufe  sind  die 
Forschungsreisenden  instruiert,  des  ofteren  den  namlichen 
Gesang  von  mehreren  Individuen,  auch  zu  verschiedener  Zeit 
von  demselben  Individuum  aufzunehmen.  Ferner  hat,  schon 
ehe  solche  Einwande  erhoben  wurden,  Dr.  Abraham  begonnen, 
die  Schwankungsbreite  der  Intonation  unserer  eigenen  Inter- 
valle wahrend  eines  Liedes  bei  unseren  eigenen  Sangern, 
Kunst-  wie  Natursangern,  festzustellen,  um  einen  MaBstab 
zu  haben,  in  welchen  Grenzen  und  mit  welcher  Konstanz 
hinsichtlich  der  Richtung  solche  Abweichungen  vorkommen. 
Sie  haben  sich  recht  groB  gefunden.  Aber  es  ist  noch  nicht 
einmal  gesagt,  daB  sie  bei  Naturvolkern  durchweg  ebenso- 
groB  Oder  groBer  sein  miissen.  Gewisse  Tone  und  Intervalle 
ihrer  Weisen  scheinen  sie  vielmehr  mit  groBer  Genauigkeit 
zu  wiederholen,  wahrend  bei  anderen  Tonen  und  Intervallen 
Starke  Varianten  vorkommen.    Das  alias  kann  nur  auf  dem 


-     74     — 

eingeschlagenen  Wege  untersucht  werden.  Vielleicht  wird 
sich  einmal  herausstellen,  da6  wir  wirklich  in  manchen  Fallen 
veranderliche  und  willkiirliche  Tongebungen  mit  uberfliissiger 
Liebesmiihe  fixiert  haben.  Nur  von  vornherein  darf  man  dies 
nicht  voraussetzen,  und  noch  immerwar  ubertriebeneGenaiiig- 
keit  das  geringere  Ubel  gegeniiber  kritikloser  Leichtfertigkeit. 

2  (S.  8)  Die  Theorien  Darwins  und  Spencers  habe  ich 
ausfuhrlicher  besprochen  in  der  Abhandlung  „Musikpsychologie 
in  England.  Betrachtungen  iiber  Herleitung  der  Musik  aus  der 
Sprache  und  aus  dem  tierischen  EntwicklungsprozeB,  iiber 
Empirismus  und  Nativismus  in  der  Musiktheorie".  Viertel- 
jahrsschrift  fur  Musikwissenschaft  I,  1885. 

3  (S.  12)  Man  findet  von  alten  Autoren  mit  groBer  Vor- 
liebe  die  Wirkungen  der  Musik  auf  Tiere  (Elefanten,  Spinnen 
usw.)  geschildert,  wobei  eine  fiirchterliche  Menge  unbeglau- 
bigter  Anekdoten  bis  zuriick  zu  den  assyrischen  Konigen  auf- 
getischt  wird.  Neuerdings  hat  wieder  Mario  Pilo  ganz  un- 
kritischen  Gebrauch  davon  gemacht;  und  daB  man  sein  Buch 
fiir  wichtig  genug  hielt,  ins  Deutsche  iibertragen  zu  werden, 
zeigt,  wie  wenig  auch  bei  uns  das  Urteil  noch  entwickelt  ist. 
Mehr  Gewicht  hat,  was  ein  Forscher  wie  August  We ismann 
iiber  die  Musikliebe  von  Katzen  und  Hunden  gelegentlich  sagt 
(Gedanken  iiber  Musik  bei  Tieren  und  bei  Menschen.  Deutsche 
Rundschau  1890,  S.  67).  Aber  die  Erklarung  des  beziig- 
lichen  Verhaltens  von  Tieren  scheint  mir  auBerst  schwierig. 
Wenn  der  Hund  bei  der  Musik  heulend  sitzen  bleibt  —  was 
geht  eigentlich  in  ihm  vor?  Welchen  Zweck  hat  das  Heulen 
mit  emporgestrecktem  Kopf  ?  Und  was  ist  es,  das  bei  der  Ge- 
horsreizung  vom  Hunde,  sei  es  angenehm,  sei  es  unangenehm, 
empfunden  wird?  Hat  es  mit  Intervallen,  Akkorden,  Modu- 
lationen,  mit  rhythmischer  Gliederung  etwas  zu  tun?  Dies 
scheint  mir  ausgeschlossen.  Uber  die  wirkliche  Qualitat  seiner 
Gefiihlsempfindung  liegen  beweiskraftige  Beobachtungen  bis- 
her  nicht  vor. 

Untersuchen  wir  die  Tongebung  der  Tiere  selbst,  so 
finden  sich  deutliche  Intervalle  im  allgemeinen  nur  bei  den 
Vogeln,  wahrend  bei  dem  Geschrei  der  Saugetiere  die  ein- 
zelnen  Tone  sich  gewohnlich  nicht  hinreichend  scharf  von- 
einander  unterscheiden  und  ihre  Hohe  nicht  so  genau  beibehalten. 


—     75     — 


Allerdings  singt  bei  Athanasius  Kircher  ein  anierikanischcs 
Faultier  die  Cdur-Leiter  von  c  bis  a  und  zuruck,  und  einmal 
soil,  wie  seit  Waterhouse  und  Darwin  immer  wieder  ernsthaft 
versichert  wird,  ein  Gibbonaffe  sogar  eine  ganze  chroma- 
tische  Tonleiter  auf  und  ab  exakt  gesungen  haben,  was 
fur  einen  gebildeten  menschlichen  Sanger  schon  zu  den 
schwereren  Aufgaben  gehort.  Ja  ein  Pferd  hatte  diese  Aufgabe 
durch  sein  Wiehern  und  eine  Kuh  durch  ihr  Bruilen  gelost, 
wenn  wir  den  Noten  glauben  wollen,  die  ein  amerikanischer 
Beobachter  aufgeschrieben: 


Pferd. 


Kuh. 


'^ 


m 


i^^^rjrt=f^^ 


t^^ 


(A.  P.  Camden  Pratt  bei  Th.  Wilson,  Praehistoric  Art, 
Institution,  Ann.  Rep.  1896  [Washington  1898],  p.  516.) 


Smithsonian 


Auf  diese  Weise  kann  man  freilich  alles  in  Noten  setzen, 
auch  das  I-A  des  Esels,  das  Sausen  des  Sturmes  und  das 
Knarren  der  Stiefel.  Aber  mit  solchen  Kindereien  sollte  man 
wissenschaftliche  Biicher  nicht  verunzieren.  DaB  die  Stimm- 
bewegung  des  wiehernden  Pferdes  von  oben  nach  unten 
verlauft,  wird  wohl  richtig  sein  und  mit  denselben  physio- 
logischen  Bedingungen  zusammenhangen,  die  auch  den  Juchzer 
und  so  viele  primitive  Melodien  (s.  unsere  Beispiele)  hoch 
beginnen  und  tief  endigen  lassen.  Aber  eine  so  schone  chro- 
matische  Leiter  —  nein! 

Besser  lassen  sich  gewisse  Vogelweisen  aufschreiben. 
Neben  ganz  wildem  Zwitschern  und  Schreien  finden  wir  da 
auch  Motive,  die  uns  einen  unleugbar  melodischen  Eindruck 
machen,  melodischer  als  manche  Sangesweisen  der  Natur- 
volker.  Das  Krahen  des  Hahnes,  der  Kuckucksruf  sind  leicht 
notierbar  (obschon  verschiedene  Individuen  verschieden  in- 


—     76     — 

tonieren).  Gelegentlich  hort  man  auch  so  gut  wie  reine  Drei- 
klange,  besondersin  aufsteigender  Folge  derTone.  Dr.  Sapper 
will  in  den  Urwaldern  Guatemalas  unter  87  Vogelweisen 
30  beobachtet  haben,  die  sich  nur  in  Dreiklangstonen  bewegen, 
und  bringt  damit  das  Vorkommen  zahlreicher  Dreiklangsmelo- 
dien  bei  den  Indianern  (s.  Melodienbeispiele)  in  Verbindung. 
Immerhin  ist  auch  bei  Vogeln  von  phantasievoUen  Noten- 
schreibern  viel  gesundigt  worden.  So  glaubt  z.  B.  der  Ame- 
rikaner  Xenos  Clark  (The  American  Naturalist  XIII,  1879, 
p.  20)  folgende  Cdur-Leiter  mit  Ganz-  und  Halbtonstufen  bei 
einem  Laubsanger  zu  finden: 

Sva—      —      —      —     —      —     — 


fe=£=M-P  ^'  J^^^ 


Ich  habe  in  Feld  und  Wald  viele  Vogelweisen  notiert, 
aber  eine  solche  tadellose  Dur-Leiter  niemals  vernommen. 
Sie  diirfte  den  Vogeln  selbst  im  Lande  der  unbegrenzten 
Moglichkeiten  unmoglich  sein.  Man  mu6  nur  wissen,  welche 
Summe  geistiger  Arbeit  und  geschichtlicher  Entwicklung  in 
einer  diatonischen  Leiter  steckt.  In  einem  anderen  Falle 
macht  bei  Clark  ein  in  Cmoll  singender  Waldsperling  (Nr.  25) 
sogar  enharmonische  Unterschiede  zwischen  dis  und  es.  Die 
Naivitat,  mit  der  hier  die  drei  b-Zeichen  vorgeschrieben  sind, 
obgleich  die  Tone  b  und  as  gar  nicht  vorkommen,  beweist 
auch  wieder,  da6  der  Autor  den  guten  Spatzen  einfach  unser 
TonartenbewuBtsein  geliehen  hat.  Ebenso  sind  bei  Nr.  14  drei 
Kreuze  vorgezeichnet,  obschon  der  Gesang  nur  aus  dem 
einzigen  Tone  ais  besteht,  usf.  Man  mochte  sich  wundern, 
warum  Vogel,  die  es  so  weit  gebracht  haben,  nun  nicht  auch 
einmal  Duette  und  Terzette  singen,  mindestens  in  Oktaven- 
oder  Quintenparallelen,  wie  es  die  Naturvolker  tun.  Der 
These,  die  Clark  aus  seinen  Aufschreibungen  ableitet  und  die 
auch  sonst  oft  ausgesprochen  wird:  da6  harmonische  Intervalle 
im  Vogelgesange  vorwiegen,  wird  man  vorlaufig  schon  darum 
miBtrauisch  gegeniiberstehen  miissen,  well  wir  infolge  der  Ge- 
wohnung  an  unsere  Intervalle  und  der  VorHebe  fiir  sie  geneigt 
sind,  solche  in  das  Gehorte  hineinzulegen. 

Noch  weniger  darf  man  selbstverstandlich  daran  denken, 
einen  SchluB  auf  die  Gefuhle  zu  ziehen,  die  die  kleinen 


77 


Musikanten  damit  ausdriicken  wollen.  Wundt,  der,  auch  hier 
von  erstaunlicher  Glaubigkeit,  Clarks  Noten  ohne  weiteres  als 
kanonische  Vogelmusik  hinnimmt,  meint  daraus  tatsachlich  auch 
noch  die  Gefiihle  dieser  Tierchen  heraushoren  zu  konnen  (Volker- 
psychologie  I,  1'^  261).  Ja  er  entdeckt  darin  sogar  die  drei 
„Dimensionen"  des  Fiiiilens,  die  in  seiner  von  den  Menschen 
so  bestrittenen  Theorie  unterschieden  werden: 


Freude 


^rsr^^^ 


Niedergeschlagenheit : 

tr.      tr.     tr. 


t'  1^'    1^' 


Da6  ein  Vogel  freudig,  niedergeschlagen,  heftig  erregt 
sein  kann,  mag  man  glaublich  finden.  Nur  warum  er  just 
z.  B.  bei  der  zweiten  Melodie  niedergeschlagen  sein  mu6, 
und  nicht  vielmehr  bei  jeder  von  den  dreien  jedes  der  drei 
Gefiihle  und  noch  verschiedene  andere  haben  kann,  ist  ab- 
solut  nicht  einzusehen.  Nicht  einmal  beim  Menschen.  wenn 
einer  diesc  Tone  pfeift,  singt  oder  spielt,  waren  sie  im  ge- 
ringsten  eindeutig  darin  ausgesprochen.  Beim  Vogel,  dessen 
ganzes  Seelenleben  dem  unsrigen  so  feme  stehen  diirfte  wie 
seine  korperliche  Organisation,  ist  die  Deutung  im  vollsten 
Sinn  aus  der  Luft  gegriffen.  Wir  diirfen  unsere  Melodiegefuhle, 


-     78     - 

selbst  wennsieganz  bestimmte  waren,  dem  Vogelherzen  eben- 
sowenig  ohne  weiteres  zuschreiben,  wie  man  etwa  den  Ein- 
druck,  den  wir  von  einer  Kuh  odereiner  Wiese  haben,  demjenigen 
gleichsetzen  darf,  den  der  Ochse  davon  hat. 

Mit  alledem  brauchen  wir  uns  die  Freude  an  unseren  lieben 
Waldmusikanten  nicht  verderben  zu  lassen.  Es  handelt  sich 
nur  um  die  Scheidung  der  Wissenschaft  von  willkiirlichen 
Zutaten.  Die  neuere  Tierpsychologie  ist  darin  strenger 
als  die  alte.  Aber  im  Leben  soil  der  Phantasie  und  der  un- 
willkiirlichen  „Einfuhlung"  ihr  Recht  nicht  genommen  werden. 
Es  gibt  auBer  den  theoretisch  und  praktisch  nutzlosen  No- 
tierungen  Clarks  und  anderer  auch  Notierungen  mit  nur  prak- 
tischen  Zielen,  namlich  zum  Erkennen  und  Unterscheiden 
der  Vogelarten:  und  dafiir  konnen  sie  wirklich  niitzen.  Be- 
sonders  mochte  ich  als  ausgezeichneten  Fiihrer  das  „Exkur- 
sionsbuch  zum  Studium  der  Vogelstimmen"  von  A,  Voigt 
empfehlen.  Es  sind  da  auBer  den  Noten  noch  eine  Menge  an- 
derer anschaulicher  Zeichen  benutzt,  da  sich  eben  viele  Weisen 
nicht  Oder  nicht  hinreichend  in  Noten  wiedergeben  lassen. 

Wahrend  der  Drucklegung  dieser  Anmerkungen  hat 
v.  Hornbostel  aus  AnlaB  eines  Buches  von  B.  Hoffmann 
(Kunst  und  Vogelgesang  1908),  worin  reiches  Material  wieder 
in  unkritisch-iiberschwanglicher  Weise  verwertet  wird,  eine 
Studie  iiber  den  Vogelgesang  veroffentlicht,  auf  die  ich  zur 
weiteren  Orientierung  hinweisen  mochte  (Musikpsychologische 
Bemerkungen  iiber  Vogelsang.  Ztschr.  d.  Internat.  Musik- 
gesellsch.  XII,  1911,  S.  227ff.).  In  Hinsicht  derTranspositions- 
frage  tragt  er  jedoch  Bedenken,  mir  beizustimmen,  indem  er 
u.  a.  auf  einen  von  Hoffmann  erwahnten  Fall  hinweist,  wo 
ein  Griinspecht  seinen  Ruf  zuerst  zwischen  c^  und  a-  sang, 
dann  aber  nach  und  nach  in  derTonhohe  sinken  lieB,  so  daB 
er  zuletzt  zwischen  a-  und  fis^  zu  liegen  kam.  v.  Hornbostel 
findet  daher  den  wesentlichen  Unterschied  zwischen  Vogel- 
und  Menschenmusik  nicht  so  sehr  in  der  Transpositionsfahig- 
keit  als  in  der  Verwendung  von  Motiven  zu  melodischen 
Formen.  Es  kommt  nun  hierbei  ganz  darauf  an,  was  man 
unter  Transposition  versteht.  Wenn  die  koordinierten  Muskel- 
kontraktionen,  deren  Folge  die  Gesangmelodie  ist,  schwacher 
und  schwacher  werden,  muB  die  Tonhohe  des  Ganzen  sinken. 


—     79     — 

Aber  eine  Transposition  wurde  ich  dies  nicht  nennen,  auch 
wenn  die  Veranderung  noch  groBer  ware,  sondern  wiirde  nur 
dann  von  einer  solchen  sprechen,  wenn  der  Sanger  sich  einer 
vorgegebenen  (oder  von  ihm  selbst  vorgestellten)  Tonhohe 
akkommodiert,  wie  es  die  Naturvolker  gegeniiber  dem  Stimm- 
pfeifchen  tun,  wenn  er  also  bestimmte  Verhaltnisse  auf  andere 
als  die  gewohnten  Toniiohen  ubertragt.  Allerdings  waren 
noch  ausgedehntere  Versuche  erforderlich,  um  nachzuweisen, 
da6  eine  solche  Akkommodation  an  vorgegebene  Tonhohen 
den  Vogeln  unmoglicli  sei.  (Die  im  Text  erwahnten  Beob- 
achtungen  O.  Abrahams  finden  sich  in  seiner  Abhandlung: 
Das  absolute  TonbewuBtsein.  Sammelbande  d.  Internat.  Musik- 
gesellsch.  Ill,  S.  69.)  Aber  fiir  sehr  unwahrscheinlich  mu6  ich 
einen  Erfolg  im  positiven  Sinne  schon  nach  den  bisherigen 
Erfahrungen  halten. 

Ich  stimme  v.  Hornbostel  darin  bei,  daB  das  Vorhandensein 
bestimmter  Formen  den  menschlichen  Gesang  charakterisiert, 
daB  es  sogar  das  wesentlichere,  tiefer  dringende  Merkmal 
ist,  aber  es  diirfte  mit  der  Transpositionsfahigkeit  Hand  in 
Hand  gehen,  da  das  Erfassen  von  Verhaltnissen  als  solchen 
fiir  beide  Leistungen  Bedingung  ist.  Jedenfalls  wird  es  nicht 
so  leicht  zu  definieren  und  nicht  so  leicht  auf  Beobachtung 
und  Experiment  anzuwenden  sein.  Darum  meine  ich,  daB  die 
Frage  nach  den  musikalischen  Fahigkeiten  derTiere  sich  doch 
zunachst  auf  die  Transpositionsfahigkeit  im  obigen  Sinne  zu 
richten  habe. 

4  (S.  12)  Louis  Laloy,  La  musique  chinoise  (1910),  p.  55, 120. 
Nach  Laloy  wiirde  sich  die  chinesische  Melodieauffassung  von 
der  unsrigen  dadurch  unterschelden,  daB  dort  eine  Folge  be- 
stimmter absoluter  Tonhohen,  deren  jede  eine  feststehende 
Bedeutung  hat,  die  Melodie  ausmacht,  wahrend  bei  uns  die 
Funktion  der  Tone  in  der  beliebig  transponierbaren  Leiter 
entscheidend  ist.  Diese  Sache  bediirfte  aber  einer  genaueren 
Untersuchung. 

5  (S.  13)  Selbst  A.  Weismann  geht  in  dem  oben  (Anm.  3) 
erwahnten  Artikel  daruber  hinweg.  Sein  Grundgedanke,  daB 
der  Mensch  sein  feines  und  hochentwickeltes  Gehor  durch 
Selektionsprozesse  erhalten  habe,  weil  es  ihm  im  Kampf  ums 
Dasein  notwendig  war,  und  daB  dieses  Gehororgan  sich  bei 


—     80    — 

uns  zufallig  auch  zum  Musikhoren  verwenden  lasse,  mag 
eine  Wahrheit  einschlieBen:  aber  da6  das  Vermogen,  die 
Intervalle  als  solche  wahrzunehmen  und  wiederzuerkennen, 
jm  Gehororgan,  in  der  Schnecke  des  Ohres,  wurzle  (S.  68), 
scheint  mir  auBerst  bestreitbar.  Diese  Fahigkeit  kann  meines 
Erachtens  nur  cerebral  bedingt  sein,  wie  die  gesamte  hohere 
psychische  Leistungsfahigkeit  des  Menschen.  Auch  die  Unter- 
schiede  der  Musikalischen  und  Unmusikalischen  unter  den 
Menschen  (S.  70)  diirften  zum  geringsten  Teil  im  Gehororgan 
selbst  liegen.  Die  Unterschiedsempfindlichkeit  scheint  bei 
Unmusikalischen  nicht  notwendig  geringer  zu  sein. 

6  (S.  14)  Man  pflegt  als  Urheber  dieser  Idee  Lukrez  zu 
zitieren,  De  rerum  natura  V,  378: 

At  liquidas  avium  voces  imitarier  ore 
Ante  fuit  multo  quam  laevia  carmina  cantu 
Concelebrare  homines  possent  aureisque  juvare. 
Aber  Kollege  H.  Diels  v^eist  mich  darauf  hin,  da6  Lukrez 
den  Gedanken  durch  Vermittlung  Epikurs  von  Demokrit  haben 
wird,  der  fr.  154  (Diels,  Fragmente  der  Vorsokratiker  I-  462, 
15)  sagt:   „Die  Menschen  sind  in   den  wichtigsten  Dingen 
Schiller  der  Tiere  geworden,  der  Spinne  im Weben  und  Stopfen, 
der  Schwalbe  im  Bauen,  der  Singvogel,  des  Schwans  und  der 
Nachtigall  im  Gesang,  indem  sie  ihre  Kunst  nachahmen." 

Da6  auBer  dem  bloBen  Nachahmungstrieb  auch  prak- 
tische  Zwecke  zum  Nachahmen  der  Vogel-  und  Tier- 
stimmen  treiben  konnen,  sehen  vj'ir,  wie  W.  Pastor  richtig 
bemerkt,  heute  noch  bei  den  Jagern.  Auch  mochte  in  der 
Urzeit  Aberglaube  mitwirken:  der  Glaube  an  die  Warme 
und  Regen  bringende  Kraft  singender  Tiere  (K.  Th.  PreuB), 
deren  Slimme  darum  nachgeahmt  v^urde. 

7  (S.  16)  E.  W.  Scripture,  Researches  in  Experimental 
Phonetics.  The  Study  of  Speech  Curves.  Publ.  by  the  Car- 
negie Institution.  1906.  p.  63.  Scripture  hat  auf  eine  ingeniose 
Weise  die  v^inzigen  Grammophonkurven  so  vergroBert,  daB 
siemessendenVergleichungenundAnalysenzuganglichwerden. 
Die  umfangreiche  Einrichtung  war  dank  der  Gefalligkeit  des 
Urhebers  einen  Winter  hindurch  im  Berliner  Psychologischen 
Institut  aufgestellt,  wodurch  die  in  der  folgenden  Anmerkung 
erwahnte  Untersuchung  moglich   wurde.    Freilich  garantiert 


—  ai- 
der Obertragungsmechanismus  nicht  in  jeder  Hinsicht  eine 
genaue  Wiedergabe.  Aber  die  Veranderungen  der  Wellenlange 
sind  genau  genug  aus  den  vergroBerten  Kurven  zu  entneh- 
men.  Die  im  Text  angefuhrten  Kurven  sind  enstanden,  indem 
eine  groBe  Anzahl  aufeinanderfolgender  Wellenlangen  gemes- 
sen,  daraus  die  zugehorigen  Tonhohen  (Schwingungszahlen) 
berechnet  und  dann  die  Tonhohen  als  Ordinaten  aufgetragen 
sind. 

Andere  Mittel  zur  objektiven  Darsteliung  der  Sprach- 
melodie  sind  der  von  F.  Krueger  verbesserte  Rousselotsche 
„Kehltonschreiber"  (vgl.  Bericht  tiber  den  2.  KongreB  fiir 
experimentelle  Psychologic,  1905,  S.  115)  und  die  Marbesche 
„Ru6methode",  wobei  eine  ruBende  Flamme  ihre  Mitbewe- 
gungen  aufschreibt  (Zeitsch.  f.  Psychol.  Bd.  49,  S.  206 ff). 

Die  Schwankungen  beim  gewohnlichen  Sprechen  umfassen 
wohl  bei  den  meisten  Kulturnationen  mindestens  eine  Oktave 
Oder  Duodezime.  Doch  scheint  der  Umfang  in  gewissen  Fallen 
viel  geringer,  auch  abgesehen  von  der  beabsichtigten  Mono- 
tonie,  deren  wir  im  Text  Erwahnung  tun.  Scripture  fand  bei 
seinem  eigenen  Sprechen  des  Vaterunser,  daB  die  Stimme  sich 
fast  nur  auf  den  Tonen  gis,  a,  ais  bewegte  (Ztschr.  „Die  neu- 
eren  Sprachen"  1903,  S.  Iff.).  Der  tiefe  monotone  Vortrag 
des  Vaterunser  ist  aber,  wie  er  selbst  bemerkt,  ein  besonderer 
Fall,  Scriptures  gewohnlicher  Sprechton  bewegt  sich  in  viel 
weiteren  Grenzen.  Sehr  auffallend  ist  der  geringe  Umfang 
bei  F.  Saran,  der  (allerdings  nach  dem  bloBen  Gehor)  seine 
Sprachmelodie  bei  der  Deklamation  eines  langen  Gedichts 
fast  durchweg  zwischen  cis  und  dis  unterbringt  (Melodie  und 
Rhythmik  der  Zueignung  Goethes  1903.  Deutsche  Verslehre 
1907,  S.  216  ff.).  Unstreitig  gibt  es  in  dieser  Hinsicht  indi- 
viduelle  Eigentumlichkeiten.  Aber  an  einen  so  winzigen 
habituellen  Tonumfang  mochte  ich  doch  erst  glauben,  wenn 
er  durch  objektive  Methoden  erhartet  ist. 

8  (S.  16)  W.  Effenberger,  Uber  den  Satzakzent  im  Eng- 
lischen  I.  Teil.  Berliner  Dissertation  1908.  Das  Ganze  ist  noch 
nicht  erschienen,  die  im  Text  abgebildeten  Kurven  sind  mir 
vom  Verfasser  zur  Verfiigung  gestellt. 

9  (S.  17)  Auch  diesen  Hinweis  verdanke  ich  meinem 
Kollegen  H.  Diels. 

Stumpf,  Anfange  der  Masik  6 


-     82     - 

10  (S.  18)  E.  W.  Scripture,  How  the  Voice  looks.  Century 
Magazine,  Febr.  1902.   p.  150. 

11  (S.  19)  Vgl.  m.  Tonpsychologie  I,  164  (Klunders  Mes- 
sungen).  Die  schon  erwahnte  Arbeit  Dr.  Abrahams  wird  Na- 
heres  hieriiber  bringen. 

12  (S.  19)  Namentlich  am  Anfang  und  am  Ende  von  Ge- 
sangen  findet  man  bei  den  Naturvolkern  haufig  eine  schlei- 
fende  Bewegung,  speziell  Abwartsbewegung  der  Stimme.  Doch 
kommen  auch  im  Verlaufe  solche  mit  groBer  Raschheit  aus- 
gefiihrte  Bewegungen  zu  Beginn  oder  SchluB  einer  Note  vor. 
Sie  sind  schon  in  alteren  Aufzeichnungen  angegeben;  z.  B.  im 
1.  und  3.  der  von  G.  Grey,  Polynesian  Mythology  1855,  wieder- 
gegebenen  neuseelandischen  Lieder,  die  sich  sonst  kaum 
von  der  Stelle  bewegen  (Grey  meinte  Vierteltonstufen  zu 
zu  horen),  vom  letzten  Ton  aber  um  eine  ganze  Oktave  ab- 
warts  schleifen.  Beim  1.  Lied  bedeutet  die  hingeschriebene 
Tonleiter  sicher  auch  eine  gleitende  Bewegung.  Ferner  vgl. 
meine  oben  in  Anmerkung  1  zitierten  Bellakula-Lieder  S.  415 
(I  und  II),  S.  421,  423  (Umfang  der  Schleif bewegung  eine  Ok- 
tave Oder  Quinte);  sowie  Bakers  Indianerlieder  1.  c.  S.  17. 
Haufige  Beispiele  bieten  die  phonographischen  Aufnahmen; 
einige  siehe  in  unseren  Melodieproben.  Unter  den  uns  von  dem 
Museumsdirektor  Dr.  Dorsey  (Chicago)  iibersandten,  noch 
nicht  bearbeiteten  Pawnee-Gesangen  ist  ein  Doktorgesang, 
der  mit  einer  mehrmals  wiederholten  stetigen  Tonbewegung 
von  oben  nach  unten  anhebt,  deren  Anfangs-  und  SchluBpunkt 
nicht  leicht  bestimmbar  ist.  Sie  hat  fur  unsere  Auffassung 
etwas  unheimlich  Drohendes. 

Ein  interessantes  Seitenstuck  bildet  ein  sehr  alter  Appen- 
zeller  „Lockler"  (Lockruf  beim  Eintreiben  der  Kiihe),  der  ge- 
rade  so  schlieBt  wie  Greys  neuseelandische  Lieder: 

Portamento 


'^^^^^^^^ 


Lo  -  be  -  la  .^ j^ 

(Alfred  Tobler,  Kiihreihen  usw.   in  Appenzell,  1890,  S.  9.    Derselbe, 
Das  Volkslied  im  Appenzellerlande,  1903,  S.  119  f.) 

Aber  auch  im  heutigen  Italien  kann  man  bei  VolkssSngern 
oft   ein    liber   den    Zwischenraum    einer    groBen  Terz   sicli 


—    83     — 

erstreckendes  Portamento  horen.  So  vernahm  ich  in  Venedig 
folgenden  immerfort  wiederholten  Gesang,  worin  zum  SchluB 
die  Stimme  regelmafiig  vom  e  zum  c  stetig  herunterging: 


^^jnri-^W=3t^^=^^^^ 


In  unserer  Kunstmusik  ist  diese  Vortragsweise  fiir  den 
guten  Geschmack  nur  in  sehr  geringem  Umfange  und  aus- 
nahmsweise  gestattet  (so  gelegentlich  vom  Leitton  zur  To- 
nika),  im  allgemeinen  aber  mit  Recht  ausgeschlossen,  weil  sie 
den  Unterschied  gegeniiber  der  Sprache,  aber  auch  gegen- 
iiber  dem  elementaren  Heulen  und  anderen  kunstlosen  Affekt- 
vertonungen  verwischt.  Ahnliches  gilt  von  sonstigen  primi- 
tiven  Vortragsmanieren,  wie  dem  Knurren  oder  Summen  durch 
SchlieBen  der  Zahne  bei  Indianern,  das  z.  B.  in  einem  Skalp- 
tanz  der  Dakota  vorkommt  und,  verbunden  mit  schleifendem 
Toniibergang,  „wirklich  schaudererregend  wirken  kann"  (Baker, 
S.  17). 

13  (S.  20)  Der  Ethnologe  Prof.  Pater  Schmidt  nimmt  in 
einem  Artikel,  auf  den  mich  nach  der  Veroffentlichung  des 
dieser  Schrift  zugrunde  liegenden  Vortrages  Herr  v.  Hornbostel 
aufmerksam  machte,  gleichfalls  gegen  die  Herleitung  der  Musik 
aus  der  Sprache  Stellung,  wobei  er  auf  die  stetigen  Uber- 
gange  des  Sprachtons  hinweist  (Uber  Wundts  Volkerpsycho- 
logie.  Mitteilungen  deranthropologischen  GesellschaftinWien, 
Bd.  33,  S.  365  f.).  Er  erklart  gleichwohl  eine  musikalische 
Wiedergabe  des  gewohnlichen  Sprechtons  fiir  notwendig  und 
stelit  Wundtschen  Notierungen  andere  gegeniiber,  die  ihm 
richtiger  scheinen.  Indessen  gibt  es  hier  iiberhaupt  keine  all- 
gemeinen und  genauen  Regeln  (vgl.  die  Ausfiihrungen  der  in 
Anm.  2  erwahnten  Abhandlung  S.  278  ff.).  Es  kommt  ja  auch 
sehr  auf  den  Dialekt  an.  Da6  besonders  viele  Sprachnotie- 
rungen  aus  sachsischem  Milieu  kommen,  ist  bezeichnend.  Ich 
glaube  sogar,  da6  bei  Richard  Wagner,  der  (ein  Anhanger 
der  Sprachtheorie)  den  Tonfall  der  Sprache  in  seinen  Rezi- 
tativen  nachzuahmen  suchte,  sich  Anklange  seines  sachsischen 
Sprechens  in  den  Tonwendungen  deutlich  bemerkbar  machen. 

Positiv  leitet  P.  Schmidt  die  Musik,  statt  aus  dem  leiden- 
schaftlichen  Sprechen,  aus  dem  leidenschaftslosen  aber  lauten 

6* 


—     84     — 

Rufen  her,  besonders  aus  den  Signalrufen,  wie  man  sie  noch 
heutzutage  etwa  von  Verkaufern  in  den  StraBen  hort.  Zumal 
wenn  viele  Personen  zusammen  irgend  etwas  laut  sprechen, 
z.  B.  gemeinsam  beten,  stellten  sich  musikalische  Intervalle  ein. 
In  der  Tat  verdienen  die  musikalischen  Wendungen  in  solchen 
Fallen  eine  statistische  Zusammenstellung  und  eine  kausale 
Betrachtung.  Was  indessen  heute  dabei  zutage  kommt,  steht 
schon  unter  dem  EinfluB  unserer  Musik  und  kann  nicht  die  erste 
Entstehung  von  f  esten  Intervallen  uberhaupt  begreiflich  machen ; 
vielmehr  miissen  wir  umgekehrt  die  musikalischen  Qualitaten 
dieser  Rufe  aus  denen  der  bereits  vorhandenen  Intervalle  zu 
verstehen  suchen  (in  welcher  Hinsicht  ich  z.  B.  in  der  er- 
wahnten  Abhandlung  S.  283  f.  die  weitverbreitete  Bevorzugung 
der  kleinen  Terz  beim  Rufen  aus  einem  Zusammenwirken 
physiologischer  Faktoren  mit  musikalischen  Gewohnheiten 
abzuleiten  suchte). 

Richtig  erscheint  mir  aber  der  allgemeine  Gedanke 
P.  Schmidts,  da6  das  Rufen,  und  zumal  das  gemeinschaftliche 
einer  der  Ausgangspunkte  der  Musik  war  und  speziell  zur 
Entdeckung  der  konsonanten  Intervalle  hingefiihrt  hat.  Was 
dabei  den  Ausschlag  gab,  werden  wir  im  Text  erlautern.  Ich 
hebe  gern  dieses  Zusammentreffen  in  einer  wichtigen  An- 
schauung  hervor. 

14  (S.  27)  Mit  der  Entwicklung  des  Gehirns  haben  sich 
natiirlich  auch  diese  Eigenschaften  derTonempfindungen,  bzw. 
der  zugrundeliegenden  Gehirnprozesse,  allmahlich  heraus- 
gebildet.  Eine  Hypothese  iiber  die  dabei  beteiligten  Faktoren 
(die  relative  Haufigkeit,  mit  der  ein  Intervall  unter  den  Ober- 
tonen  vorkommt,  auch  die  kleineren  Verhaltniszahlen  der  Dif- 
ferenztone  gegeniiber  Primartonen)  versuchte  ich  Tonpsycho- 
logie  II,  215  f.  aufzustellen.  Auf  das  gleichzeitige  Ausrufen 
von  Signalen  durch  Manner  und  Weiber  ist  auch  schon  in 
diesem  Zusammenhange  hingewiesen;  ebenso  in  „Konsonanz 
und  Dissonanz",  Beitr.  z.  Akustik  und  Musikwiss.  I,  62.  Aber 
in  der  Tonpsychologie  legte  ich  die  Meinung  zugrunde,  da6  in 
den  Uranfangen  des  Menschengeschlechts  dieVerschmelzungs- 
unterschiede  doch  noch  nicht  vollstandig  ausgebildet  gewesen 
seien,  was  ich  jetzt  nicht  mehr  fUr  wahrscheinlich  halte.  Die 
Untersuchung    der    Sinnesempfindungen    bei    den    heutigen 


—     85     — 

Naturvolkern  hat  immer  mehr  gezeigt,  daB  wesentliche  Unter- 
schiede  gegeniiber  den  unsrigen  nicht  vorhanden  sind.  Fast 
alles  reduziert  sich  auf  Unterschiede  der  Auffassungsfahigkeit 
und  Auffassungsrichtung.     Vgl.  v.  Hornbostel,  Ph.-A.  Nr.  23. 

15  (S.  28)  Tonpsychologie  II,  145,  148.  Beitr.  z.  Akustik  u. 
Musikwiss.  II,  20. 

16  (S.  31)  Es  ist  noch  strittig,  ob  der  Begriff  der  Ton- 
verwandtschaft  auch  auf  einfache  Tone  ausgedehnt  werden 
darf.  Trotz  gewisser  Schwierigkeiten,  die  ich  (Tonps.  II,  198  ff., 
Beitr.  I,  45  ff.)  hervorgehoben,  glaubt  Ch.  Lalo  (Esquisse  d'une 
esthetique  musicale,  1908,  p.  146  ff.)  diese  Lehre  vertreten  zu 
miissen.  Auch  v.  Hornbostel  neigt  dazu  (Ph.-A.  Nr.  23).  Die 
Annahme  wurde  unstreitig  das  Verstandnis  fur  die  Entwick- 
lung  einer  rein  melodischen  Musik  erleichtern.  Aber  da  die 
Stimme  und  die  Instrumente  (auch  die  Floten)  tatsachlich 
Obertone  besitzen,  konnten  wir  fiir  diesen  Zweck  auch  mit 
der  Verwandtschaft  der  Klange  im  Helmholtzischen  Sinn  aus- 
kommen. 

Vielleicht  ware  auch  zu  erwagen,  ob  nicht  statt  der  Ver- 
wandtschaft eine  Art  „Koharenz"  (nach  dem  Ausdruck  G.  E. 
Miillers)  Oder  „Attraktion"  (Oilman,  Hopi  Songs  p.  15)  zwischen 
aufeinanderfolgenden  einfachen  Tonen  mitspielen  konnte.  Das 
bestandige  Zusammenvorkommen  der  konsonanten  TeiUone 
in  den  Klangen  der  Stimme  sowie  der  Instrumente  konnte. 
sogar  rein  physiologisch,  den  Fortgang  von  dem  einen  zum 
anderen  begunstigen.  Wir  miissen  die  Frage  hier  dahingestellt 
sein  lassen. 

17  (S.  31)  Die  Herren  Abraham  und  v.  Hornbostel  haben 
in  den  letzten  Jahren  langere  Versuchsreihen  iiber  sog.  Distanz- 
urteile  bei  Tonen  gemacht,  d.h.  iiber  das  Problem,  welche  Ton- 
abstande  als  gleich  beurteilt  werden,  wenn  man  die  Gewohnung 
an  unsere  Intervaiie  moglichst  beiseite  setzt  oder  durch  die 
Versuchsumstande  unschadlich  macht.  Sie  fanden  dabei,  daB 
es  tatsachlich  moglich  ist,  kleine  Tonabstande  mit  einer  ge- 
wissen  Sicherheit  bei  verschiedenen  absoluten  Tonhohen  ein- 
ander  gleichzuschatzen;  und  zwar  weisen  die  so  als  gleich 
beurteilten  Abstande  die  gleichen  Verhaltnisse  der  Schwin- 
gungszahlen  auf,  nicht  etwa  die  gleichen  Differenzen.  Die- 
selbe    Annahme    hatten    friiher    E.  H.  Weber   und   Fechner 


—     86     — 

gemacht,  nicht  minder  Wundt  („da6  wir  in  der  Empfindung 
ein  MaB  fiir  qualitative  Abstufungen  der  Tone  besitzen  und 
daB  dieses  Ma6  dem  Weberschen  Gesetze  folge",  Physiol. 
Psychologie-  I.  394).  Wundt  hat  sie  spater  auf  Grund  falsch 
gedeuteter  Versuchsergebnisse  eines  seiner  Schiiler  durch  die 
Annahme  ersetzt,  da6  wir  gleiche  Abstande  da  finden,  wo 
gleiche  Differenzen  der  Schwingungszahlen  gegeben  sind; 
was  zu  ganz  unmoglichen  Konsequenzen  fuhrt.  Die  urspriing- 
liche  Annahme  stimmt  auch  iiberein  mit  der  weiter  unten 
noch  zu  besprechenden  Tatsache  des  Vorkommens  ganzer 
Tonleitern,  bei  denen  alle  benachbarten  Stufen  voneinander  um 
ein  und  dasselbe  gleichbleibende  Schwingungsverhaltnis  ab- 
stehen. 

Aus  diesen  Griinden  halte  ich  es  fiir  durchaus  moglich 
und  wahrscheinlich,  daB  man  durch  bloBe  „Distanzschatzungen" 
auf  gewisse  transponierbare  kleine  Tonschritte  gekommen  sei. 
Nur  die  Entstehung  fester,  durch  ein  besonderes  Merkmal 
ausgezeichneter  Schritte,  die  Absonderung  der  konsonanten 
Intervalle  Oktave,  Quinte,  Quarte  wiirden  auf  diesem  Wege 
nicht  begreiflich  sein. 

18  (S.  35)  Ph.-A.  Nr.  16,  S.  248  ff.  Der  SchluB  auf  kausalen 
Zusammenhang  wird  fast  unabweisbar  in  Fallen,  wo  an  In- 
strumenten  mit  zahlreichen  Tonen  sich  genaue  Ubereinstim- 
mungen  der  absoluten  Tonhohen  (Schwingungszahlen)  zeigen. 
So  stimmen  nach  v.  Hornbostels  Messungen  melanesiche  Pan- 
pfeifen  (aus  Neu-Mecklenburg)  mit  javanischen  Instrumenten 
ganz  auffallend  in  der  absoluten  Tonhohe  der  einzelnen  Tone 
iiberein  (Ph.-A.  Nr.  12,  S.  132  ff.),  ferner  Blasinstrumente  der 
Indianer  in  Nordwestbrasilien  mit  ausgegrabenen  altperuani- 
schen  Pfeifen  (Ph.-A.  Nr.  22,  S.  388 ff.). 

19  (S.  37)  Panpfeifen,  die  nach  diesem  Prinzip  zusammen- 
gestellt  werden,  fand  A.  Fric  bei  brasilianischen  Indianern 
(nach  V.  Hornbostel,  Ztschr.  d.  Internat.  Musikges.  X,  S.  4). 

20  (S.  38)  Solche  Doppelpanpfeifen  von  Indianern  in  Peru 
hat  V.  Hornbostel  untersucht  und  dabei  eine  interessante  (noch 
unveroffentlichte)  Tatsache  beobachtet.  Die  offenen  Pfeifen 
sind  namlich  alle  am  Ende  etwas  ausgekerbt,  offenbar  zu  Ab- 
stimmungszwecken.  Offene  Pfeifen  geben  nicht  genau  die 
reine  Oktave  der  gleichlangen  gedackten,  sondern  eine  etwas 


—     87     — 

vertiefte.  Dies  hat  man  bemerkt  und  darum  die  Schnitte  an- 
gebracht,  um  die  reine  Oktave  zu  erhalten,  Ein  schoner  Be- 
weis  fiir  die  Kraft  des  fortschreitenden  Gehors.  Auch  wenn 
man  etwa  annehmen  wollte,  da6  das  Oktavintervall  iiberhaupt 
erst  durch  den  Tonunterschied  einer  offenen  und  einer  gleich- 
langen  gedackteii  Pfeife  gefunden  sei,  muBte  man  doch  zu- 
geben,  da6  das  Gehor  dann  sich  zum  Richter  aufgeschwungen 
und  das  von  der  Natur  gegebene  Intervall  nach  seinen  For- 
derungen  umgestaltet  habe. 

Dies  ist  um  so  bemerkenswerter,  als  dieselbe  Erscheinung 
sich  nicht  blo6  an  modern-indianischen  sondern  auch  an  aus- 
gegrabenen  Pfeifen  aus  der  altperuanischen  Zeit  findet. 

21  (S.  39)  Die  Herleitung  der  konsonanten  Intervalle  aus 
den  ersten  Obertonen  findet  man  oft  ausgesprochen,  z.  B.  bei 
Tylor  (Anthropology),  bei  Wallaschek  (AnfangederTonkunst); 
wie  ja  seit  Helmholtz  die  Obertone  Heifer  in  alien  Noten  sein 
miissen.  (Mir  selbst  allerdings  hat  W.  Pastor,  Geburt  der  Musik, 
S.  52,  diese  Ansicht  ganz  mit  Unrecht  zugeschrieben.)  Aber 
abgesehen  von  der  im  Text  erwahnten  Schwierigkeit  spricht 
auch  sonst  vieles  gegen  die  Annahme,  daB  Uberblasungstone 
die  einzige  oder  die  Hauptquelle  gewesen  waren.  Oft  sind 
z.  B.  die  hoheren,  zum  Teil  disharmonischen  Teiltone  leichter 
herauszubringen  wie  der  Grundton. 

Damit  will  ich  aber  nicht  sagen,  daB  die  Oberblasungs- 
tone  einfluBlos  gewesen  waren.  DaB  das  Gehor  der  Natur- 
volker  sich  gelegentlich  sogar  den  Verstimmungen  dieser  Tone 
anbequemt,  geht  wieder  aus  der  Untersuchung  einer  brasi- 
lianischen  Panpfeife  durch  v.  Hornbostel  hervor  (Ph.-A.  Nr. 
22.)  Ein  aus  11  Pfeifen  bestehendes  Instrument,  dessen  Zu- 
sammensetzung  zuerst  ganz  unverstandlich  schien,  ist  allem 
Anscheine  nach  dadurch  entstanden,  daB  man  von  einer 
Pfeife  ausgehend  eine  andere  so  schnitzte,  daB  ihr  3.  Teil- 
ton  mit  dem  Grundton  der  ersten  eine  Doppeloktave  bildete. 
Man  erhielt  so  eine  (etwas  zu  groBe)  Quarte.  Nach  dem 
gleichen  Prinzip  ging  man  von  der  zweiten  zu  einer  dritten 
Pfeife  usf.  Dabei  findet  sich  aber  zugleich  der  5.  Teilton  der 
ersten  Pfeife  gleich  dem  Grundton  der  siebenten,  was  akustisch 
nur  darum  moglich  ist,  weil  die  Obertone  alle  ein  wenig  zu  tief 
sind.    Dann  wurde  in  das  so  entstandene  Pfeifensystem  ein 


—    88     - 

zweites,  in  derselben  Weise  gebildetes  eingeschaltet,  dessen 
Tone  aber  immer  zwischen  je  zweien  des  ersten  in  der  Mitte 
liegen;  jedenfalls  darum,  weil  der  Tonschritt  einer  Quarte  fiir 
den  melodischen  Gebrauch  zu  groB  erschien.  In  einer  ahn- 
lichen  Weise  ist  das  Obertonprinzip  auch  bei  einem  andern 
Exemplar  verwendet. 

An  diesem  Falle  sieht  man,  daB  allerdings  eine  Benutzung 
der  Oberblasungstone  vorkommt,  daB  man  aber  durch  das 
bloBe  mechanische  Obertragungsverfahren,  die  Verfertigung 
neuer  Pfeifen  in  Ubereinstimmung  mit  den  Oberblasungstonen 
der  ersten,  nicht  zu  den  reinen  Intervallen,  nicht  einmal  zu 
reinen  Oktaven,  Quinten,  Quarten  gefuhrt  wurde. 

DaB  wir  den  7.,  11.,  13.  Teilton  nicht  benutzen  (Debussys 
Sechsstufenleiter  darauf  zuruckzufuhren,  ware  ganz  verkehrt), 
ist  ja  auch  schon  ein  Beweis,  daB  die  Obertone  als  solche 
fiir  unser  Gehor  nicht  das  Ausschlaggebende  sind.  Jene  Teii- 
tone  horen  wir  gelegentlich  bei  Oberblasungen,  aber  sie  im- 
ponieren  uns  nicht,  auBer  den  Schwarmern,  die  Naturprodukte 
als  solche  anbeten:  wir  konnen  sie  im  Zusammenhang  un- 
seres  auf  gutem  Grund  aufgebauten  Tonsystems  nicht  brauchen. 
In  urwiichsigeren  Musikzustanden  dagegen  findet  man  tat- 
sachlich  auch  jetzt  noch  den  7.  und  11.  Teilton  im  Gebrauch. 
So  bei  den  „Kiihreien"  in  der  Schweiz,  wo  sie  zweifellos 
auf  den  EinfluB  des  Alphorns  zuriickzufUhren  sind.  Sie  wan- 
derten  von  diesem  Instrument  auf  den  Gesang  hiniiber,  ohne 
durch  das  Ohr  korrigiert  zu  werden.  Der  Senn,  der  solche 
Jodler  mit  der  iibermaBigen  Quarte  (11.  Teilton)  bei  der  Stall- 
arbeit  singt,  nennt  sie  „Chiiadreckeler"  und  findet  den  leiter- 
fremdenTon  angenehm,  —  vielleicht  auch  mehr  charakteristisch 
fiir  das  Geschaft. 

Auf  dem  Alphorn  selber  wurde  z.  B.  Anfang  des  vorigen 
Jahrhunderts  folgende  Weise  geblasen  (nach  WyB,  Sammlung 
von  Schweizer  Kiihreien,  3,  Ausgabe,  1818,  bei  Alfred  Tobler, 
Kuhreien,  1890,  S.  46): 


fP#£^=gg^^g^fe^fe^ 


Die   alteste  Notierung   eines    Kiihreiens    findet    sich   in 
Rhaws  Bicinia  1545  (die  untere  Stimme  hat  die  Melodic).  Man 


89 


erkennt  in  der  Weise  deutlich  das  Alphorn-Vorbild,  vgl.  die 
Stelle: 


Aber  die  erhohte  Quarte  ist  hier  in  die  reine  umkorrigiert. 
Ein  1710  notierter  Kuhreien  dagegen  weist  an  verschiedenen 
Stellen  ausdrucklich  die  erhohte  Quarte  auf.  (S.  daruber  A.  Gluck, 
Vierteljahrschr.  f.  Musikwiss.  VIII,  77 ff.)  Wie  ich  bei  Berlepsch 
(Die  Alpen  1861,  S.  360)  lese,  wurden  die  gesungenen  Kuhreien 
fruher  mit  dem  Alphorn  begleitet.  Dadurch  ist  die  erhohte 
Quarte  auch  in  den  unbegleiteten  Gesang  ubergegangen.  In 
den  ersten  Dezennien  des  19.  Jahrhunderts  soil  sie  noch  viel 
haufiger  gebraucht  worden  sein  (Szadrowsky  im  Jahrbuch  des 
Schweizer  Alpenklubs  1868,  S.  283). 

AIs  eine  aus  derselben  Wurzel  entstandene  Gesangs- 
melodie  (unter  vielen  anderen)  setzen  wir  die  alteste  Auf- 
zeichnung  eines  Appenzeller  Alpengesanges  hierher  (nach 
Ebel,  Schilderung  der  Gebirgsvolker  der  Schweiz  1798,  bei 
Tobler  a.  a.  0.  S.  57): 


m^^ 


'I^i 


a^j  ^Tx3=N^a^^Ey^-^ 


^fJPJ]  J  ^^'^  |^3^^=?^^tT^^^^^ 


Auch  in  einem  der  alten  „Alpensegen",  wie  sie  heute  noch 
in  der  Urschweiz  gesungen  werden,  ist  die  ubermaBige  Quart 
erhaiten.  S.  die  Notierung  des  Alpensegens  aus  der  Melch- 
thaler  Frutt  (wo  ich  ihn  auch  selbst  horte)  bei  A.  Schering, 
Sammelbande  d.  Intern.  Musikges.  II,  669.    Er  beginnt: 


wobei  nicht  b  sondern  ganz  bestimmt  h  intoniert  wird. 


90    — 


Aus  der  heutigen  Steiermark  hat  Dr.  Pommer  in  seiner 
Sammlung  ,,444  Jodler  und  Juchezer  aus  Steiermark"  u.  a. 
folgendes  Beispiel  gegeben,  das  jedesmal  in  genau  gleicher 
Intonation  gesungen  wurde  (vgl.  Bericht  iiber  den  III.  KongreB 
der  Internat.  Musikges.  1909,  S.  251): 


p^^^#^^^^g 


Ju  -  hu       hu-hu-hu-hu! 

In  einem  Falle  hat  dieses  Alphorn-fis  seinen  Weg  auch  zu 
den  tiefsten  Wirkungen  der  Kunstmusik  gefunden:  wenigstens 
halte  ich  es  fur  sehr  wahrscheinlich,  da6  die  wie  eine  Sieges- 
und  Heilsverkiindigung  aus  Bergeshohe  tonende  Hornweise  im 
letzten  Satze  von  Brahms  C-Moll-Symphonie,  die  dann  von  der 
Flote  antwortend  aufgenommen  wird, 

Horn. 


i 


^-f^rl  _  LB 


s 


£ 


Flote. 


i^. 


m 


^ 


^ 


usw. 


r 


unter  der  Nachwirkung  solcher  Schweizer  Tone  entstanden 
ist.  In  humoristischer  Absicht  hat  aber  bereits  der  12jahrige 
Mozart  in  „Bastien  und  Bastienne"  (in  dem  kleinen  Dudel- 
sacksatz,  mit  dem  Colas  auftritt)  und  hat  auch  Mendelssohn 
in  der  klaglichen  Trauermusik  auf  Pyramus'  Tod  diesen  Ober- 
blasungston,  der  bei  ungeschickten  Blasern  ungewollt  da- 
zwischenkommt,  verwendet.  Also  gelegentliche  Einfliisse  auch 
von  unharmonischen  Oberblasungstonen  auf  unsere  Kunst- 
musik sind  moglich,  aber  eine  systematische  Verwendung  nicht. 

Die  erhohte  Quarte  der  sog.  Zigeunerleiter,  orientalischer 
Melodien  oder  gar  des  5.  Kirchentons  darf  man  aber  nicht 
hierher  ziehen,  sie  haben  nichts  mit  dem  11.  Oberton  zu  tun. 

In  ahnlicher  Weise  wie  das  Alphorn  mogen  auch  die  nor- 
dischen  „Luren",  uralte  groBe  Bronzehorner,  auf  denen  zwolf 


-     91      - 

und  mehrObertone  durch  Oberblasung  hervorgebracht  werden 
konnen,  auf  die  Entwicklung  der  dortigen  Musik  eingewirkt 
haben.  Da  fast  immer  zwei  Luren  von  gleicher  Abstimmung 
zusammen  gefunden  wurden,  hat  man  vermutet,  da6  auf  ihnen 
zweistimmig  geblasen  wurde  (Hammerich,  Vierteljahrsschr.  f. 
Musikwiss.  X,  29  ff.  W.  Pastor  in  der  vorher  genannten  Schrift 
S.  68ff.).  Doch  lassen  sich  auch  andere  Grtinde  fur  das  Vor- 
kommen  in  Paaren  denken.  Hammerich,  der  genaueste  Kenner 
dieser  Instrumente,  driickt  sich  dariiber  sehr  zuriickhaltend 
aus.  Bei  uns  selbst  pfiegt  man  ftir  mehrstimmiges  Blasen 
doch  gerade  Instrumente  verschiedener  Hohe  zu  nehmen. 
Auch  die  Genauigkeit,  mit  der  die  paarweise  gefundenen  Exem- 
plare  gleich  gestimmt  sind,  deutet  eher  darauf,  da6  sie  unison 
geblasen  wurden. 

22  (S.  41)  Die  Unterscheidung  von  Bias-,  Saiten-  und 
Schlaginstrumenten,  wie  sie  im  Texte  steht,  moge  in  dieser 
kurzen  Darstellung  passieren.  Aber  sie  will  nicht  als  er- 
schopfend  gelten  (z.  B.  kommen  auch  Rilleninstrumente  vor, 
bei  denen  der  Ton  durch  Dariiberstreichen  erzeugt  wird).  Sie 
ist,  wenn  man's  genau  nimmt,  auch  logisch  nicht  einwandfrei. 
Man  kann  entweder  klassifizieren  nach  den  Einrichtungen, 
deren  unmittelbare  Folge  die  Luftschwingungen  sind  (z.  B. 
scharfen  Randern,  an  denen  ein  Luftstrom  vorbeistreicht, 
Schwingungen  von  Saiten  oder  Membranen  usf.),  oder  nach 
den  Tatigkeiten,  durch  die  wir  diese  Einrichtungen  in  Gang 
setzen  (z.  B.  Schlagen  oder  Driicken,  dann  Streichen,  Blasen 
usf.).  Je  nach  dem  Einteilungsprinzip  gehoren  die  Orgel 
und  das  Klavier  das  erstemal  zu  verschiedenen,  das  zweite- 
mal  zu  derselben  Klasse,  die  Saiteninstrumente  umgekehrt 
das  erstemal  alle  zu  derselben,  das  zweitemal  zu  verschie- 
denen Klassen.  Indessen  auf  diese  logischen  Verfeinerungen 
kommt  es  hier  nicht  an. 

23  (S.  46)  V.  Hornbostel  hat  kiirzlich  bei  Untersuchung 
der  von  dem  Forschungsreisenden  Dr.  Thurnwald  aus  den 
Admiralitatsinseln  (Baluan)  mitgebrachten  Phonogramme  von 
Tanzgesangen  gefunden,  da6  sie  samtlich  zweistimmig  sind, 
und  zwar  sich  wesentlich  in  Sekundenparallelen  bewegen,  ja 
sogar  ofters  am  Schlusse  aus  dem  Einklang  in  die  Sekunde 
iibergehen,  um  mit  dieser  abzuschliefien  (Ph.-A.  Nr.  24).  GewiB 


-     92     - 

fiir  unseren  Geschmack  das  Wunderlichste  von  allem,  was 
bisher  gefunden  wurde.  Und  doch  auch  nicht  ohne  Seiten- 
stucke  in  anderen  Weltgegenden,  selbst  in  Europa,  auf  die 
V.  Hornbostel  hinweist.  Ich  mochte  vorlaufig  die  im  Text 
angegebene  Erklarung  fiir  die  wahrscheinlichste  halten.  Man 
hort  aus  den  Walzen  die  Rauhigkeit  des  Zusammenklanges, 
das  Schwirren  der  Schwebungen  deutlich  heraus. 

34  (S.  46)  Sehr  zutreffend  scheint  mir  namentlich,  was 
Billroth  in  dem  lehrreichen  Schriftclien  „Wer  ist  musikalisch?" 
iiber  die  Bedeutung  des  Rhythmischen  beigebracht  hat. 

25  (S.  48)  Ch.  S.  Myers:  The  Rhythm-Sense  of  Primitive 
Peoples.  Bericht  uber  den  5.  Internat.  PsychoIogen-KongreB 
in  Rom  1904.  A  Study  of  Rhythm  in  Primitive  Music.  British 
Journal  of  Psychology  I,  1905,  p.  397.  (Die  Ergebnisse  sind 
durch  graphische  Registrierung  und  durch  Messungen  der 
Zeitabstande  zwischen  den  Akzenten  beim  Gongschlagen  der 
Sarawak -Malaien  auf  Borneo  gewonnen.)  Sonstiges  iiber 
exotische  Rhythmik  und  rhythmische  Polyphonie  namentlich 
in  Boas'  Werk  iiber  die  Kwakiutl-Indianer  und  bei  v.  Horn- 
bostel, Ph.-A.  Nr.  14,  S.  159ff.,  Nr.  16,  S.  252 ff.,  Nr.  23,  S.  266 ff. 

26  (S.  48)  AuBer  den  in  der  Musikbeilage  mitgeteilten 
Proben  rhythmischer  Komplikationen  moge  hier  noch  ein  Bei- 
spiel  fiir  die  gleichzeitige  Verbindung  ungleicher  Rhythmen 
stehen.  Viele  Gesange  mit  Paukenbegleitung  bei  den  Kwakiutl- 
Indianern  haben  nach  Fr.  Boas'  Beobachtung  folgenden  Typus: 

Pauke.    I^rjrjlpr^rjlprprn 

Gesang.     |     f  CJ    f      |    f  LJ    f      i    f      f       f      | 

Jeder  Part  halt  dabei,  wie  Boas  versichert,  seinen  Rhythmus 
aufs  genaueste  inne.  Bei  einem  von  ihm  notierten  Liede 
geht  die  Stimme  in  *  4,  die  Pauke  in  ^/g,  und  zwar  so,  daB 
auf  3  Takte  der  Stimme  4  der  Pauke  kommen,  also  wieder 
auf  je  ^/s  der  Stimme  ^/g  der  Pauke;  wobei  der  Paukenrhyth- 
mus  wieder  der  obige  ist,  der  iiberhaupt  besonders  beliebt 
scheint. 

27  (S.  52)  Hierher  wiirde  das  erste  der  von  Wundt  (Volker- 
psychologie  II,  1)  angegebenen  Musterbeispiele  gehoren.  Es  ist 


—     93     — 

F. Boas'  Werk  iiber  die  Zentral-Eskimos  entnommen.  Aber  Boas 
unterscheidet  scharf  die  Eskimogesange,  die  sich  in  groBen 
Intervallen,  zum  Teil  in  aufgelosten  Dreiklangen,  ]a  selbst  in 
Oktavenschritten  bewegen  (s.  unsere  Melodiebeispiele  Nr.  49 
und50),  und  die  Erzahlungen.  Was  er  Iiierin  Noten  wieder- 
gibt,  ist,  wie  er  ausdrucklich  bemerkt,  der  Erzahlerton,  der 
sich  auf  einer  konstanten  Hohe  halt  und  nur  bei  den  akzen- 
tuierten  Silben  um  einen  Halbton  nach  oben  abweicht.  DaB 
diese  Vortragsmethode  und  Stimmbewegung  bei  den  Eskimos 
die  friihere  gewesen  ware  und  also  hier  ein  Rest  ihres  wirk- 
lich  primitiven  Singens  vorlage,  dafur  existiert  nicht  der  Schatten 
eines  Beweises.   Vgl.  die  folgende  Anmerkung. 

28  (S.  55)  In  dem  groBen  Werke  von  Rowbotham, 
History  of  Music,  wird  (I.  Bd.,  1885)  die  Urgeschichte  der 
Musik  in  der  Weise  dargestellt,  daB  in  einem  ersten  Stadium 
nur  ein  Ton,  in  einem  zweiten  zwei,  in  einem  dritten  drei 
Tone  (immer  nur  um  je  eine  Ganztonstufe  verschieden)  beniitzt 
worden  waren.  In  einem  vierten  Stadium  sei  man  dann  so- 
gleich  zu  einer  5stufigen  Leiter  ubergegangen,  wobei  aber  der 
Schritt  von  der  Terz  zur  Quinte  und  der  von  der  Sexte  zur 
Oktave  des  Grundtons  dem  Urmenschen  als  gleichgroB  mit 
den  vorhergehenden  Ganztonstufen  erschienen  seien. 

Nun  ist  es  natiirlich  leicht,  die  uns  vorliegenden  Musik- 
beispiele  von  Naturvolkern  so  zu  ordnen,  daB  man  unter 
anderem  auch  diese  vier  Klassen  erhalt.  Aber  es  ist  nicht 
moglich,  zu  beweisen,  daB  sie  streng  in  dieser  zeitlichen 
Ordnung  aufeinanderfolgten.  Das  pathetische  Deklamieren 
auf  einem  einzigen  Ton  oder  auf  nur  wenigen  finden  wir  bis  in 
die  neueste  Zeit  bei  alien  Volkern  neb  en  reichentwickelten 
Melodien  (ganz  abgesehen  von  Fallen  eines  besonderen 
Raffinements,  wie  bei  dem  bekannten  Eintonliede  von  Cornelius). 
Wenn  auch  anzunehmen  ist,  daB  die  ersten  Gesange  relativ 
eintonig  waren,  scheint  es  mir  doch  willkiirlich  und  gezwungen, 
absolute  Eintonigkeit  (und  zwar  seltsamerweise  nach  Row- 
botham immer  auf  dem  Tone  G)  als  Ausgangspunkt  anzu- 
nehmen. AuBerdem  bleibt  es  in  Rowbothams  Darstellung 
ganz  dunkel,  wie  man  gerade  auf  solche  Stufen  verfiel,  die 
zueinander  gefugt  die  Oktave  ergaben,  auch  warum  die  beiden 
oberen  Stufen  den   vorhergehenden  gleichgeschatzt  worden 


—     94     — 

sein  sollen.  Es  ist  immer  der  alte  Fehler:  die  Entstehung 
der  konsonanten  Intervalle  bleibt  unerklart. 

Fetis,  der  das  seinerzeit  vorliegende  ethnologische  Ma- 
terial ebenso  kenntnisreich  wie  unkritisch  verwendete,  hatte 
bereits  in  ahnlicher  Weise,  nur  statt  aus  Ganztonstufen  aus 
Halbton-  und  noch  kleineren  Stufen,  die  Leitern  entstehen 
lassen,  wobei  ihm  die  stereotype  Berufung  auf  „fortschrei- 
tende  Gehirnorganisation"  den  Mangel  psychologischer  Er- 
klarungsmittel  ersetzte.  Solche  Darstellungen  erscheinen  mir 
viel  zu  deduktiv.  Die  Wirklichkeit  fiigt  sich  nicht  so  ein- 
fachen  Schematismen. 

29  (S.  57)  Diese  Leitern  sind  von  Land,  Ellis  und  mir 
(nach  gemeinschaftlichen  Beobachtungen  mit  Dr.  Abraham) 
mit  Sicherheit  festgestellt  worden  (Ph.-A.  Nr.  1).  Nach  einer 
brieflichen  Mitteilung  hat  Myers  bei  den  Insulanern  der 
Torres-StraBe  auch  Gesange  aufgenommen,  die  einer  gleich- 
stufigen  Leiter  von  6  Stufen  anzugehoren  scheinen  (s.  unsere  Me- 
lodiebeispiele  Nr.  9  und  10).  Doch  stimmen  die  beobachteten 
Schwingungszahlen  nicht  so  durchgangig  und  genau  mit  den 
berechneten,  daB  man  einen  sicheren  SchluB  darauf  griinden 
konnte.  Bei  Gesangen  wird  man  iiberhaupt  niemals  eine 
so  genaue  Ubereinstimmung  mit  irgendeinem  Prinzip  erhalten 
wie  bei  abgestimmten  Instrumenten  von  der  Art  der  siamesi- 
schen  und  javanischen  Xylophone  und  Metallophone. 

Wundt  halt  (Volkerpsychol.  IIP,  477)  die  Annahme  der 
Bildung  einer  solchen  gleichstufigen  Leiter  nach  dem  bloBen 
Gehor  fur  „selbstverstandlich  unzulassig",  da  sie  den  in 
seinem  Institut  gefiihrten  Experimentaluntersuchungen  wider- 
spreche.  Die  positive  Erklarung  scheint  er  in  gewissen 
regelmaBigen  Abstufungen  der  GroBe  der  Holzstabe  und 
der  Glocken  zu  suchen,  aus  denen  die  siamesischen  Instru- 
mente  bestehen.  Wenigstens  schlieBe  ich  dies  aus  dem 
Umstande,  daB  er  in  meinen  Beschreibungen  die  Angabe 
der  Dimensionen  jener  Instrumente  vermiBt.  Aber  er  iiber- 
sieht  meine  Bemerkung  (Ph.-A.  Nr.  1,  S.  71,  72,  80),  daB  die 
Stabe  an  der  unteren  Seite  ausgekehlt  und  daB  iiberdies  zur 
feineren  Abstimmung  Wachsklumpen  angeklebt  sind;  ebenso 
im  Inneren  der  Glocken.  Infolgedessen  hatte  sich  aus  der  gewis- 
senhaftesten  Beschreibung  der  Dimensionen  nichts  entnehmen 


—     95     — 

lassen.  Ein  Gang  ins  Leipziger  Museum  wUrde  iibrigens 
geniigen,  solche  Ideen  auszuschlieBen.  Dort  ist  z.  B.  ein 
22stufiges  Xylophon  aus  Birma,  dessen  Stabe  unten  in  ver- 
schiedenem  MaBe  ausgekerbt  sind  und  auch  Stellen  erkennen 
lassen,  an  denen  Wachsklumpchen  gesessen  haben  mogen. 
(Naturlich  darf  man  daher  an  soichen  Instrumenten,  die  die 
Stimmung  verloren  haben,  auch  nicht,  wie  Wallaschek  getan, 
Tonhohenmessungen  machen.) 

Nehmen  wir  aber  einmal  an,  urspriinglich  sei  die  Siamesen- 
leiter  doch  auf  mechanischem  Wege  entstanden,  indem  man 
Stabe  von  ganz  homogenem  Material  und  iiberall  gleicher 
Dicke,  nur  von  verschiedenerLangegenommen:  nachwelchem 
Gesetz  muBlen  dann  die  Langen  abgestuft  sein,  um  diese 
Leiter  zu  geben?  Da  die  Schwingungszahlen  je  zweier  be- 
nachbarter  Tone  sich  hier  wie  1  :  \2  verhalten,  und  da  die 
Langen  der  Stabe  unter  den  genannten  einfachsten  Voraus- 
setzungen  im  umgekehrt-quadratischem  Verhaltnis  zu  den 
Schwingungszahlen  stehen  miissen,  so  mu6  man,  um  bei  ge- 
gebener  Lange  l^  eines  Stabes  die  Lange  L  des  nachsten 
Stabes  zu  erhalten,  l^  durch  \2  dividieren.  Wie  sollten  die 
Siamesen  das  wohl  ohne  Logarithmentafel  anfangen?  Ich 
habe  selbst  (a.  a.  O.  S.  101  f.)  eine  Hypothese  ins  Auge  gefaBt, 
nach  welcher  die  Siamesenleiter  mechanisch  durch  eine 
eigentUmliche  Saitenteilung  entstanden  sein  konnte,  habe 
aber  auch  dieses  Prinzip  als  sehr  unwahrscheinlich  er- 
wiesen.  Es  wird  also  wohl  dabei  bleiben  miissen,  daB  die 
siamesische  und  die  javanische  Gleichstufenleiter  demGehor 
entsprungen  sind.  Wenn  dies  mit  den  Leipziger  Experimental- 
untersuchungen  nicht  stimmt,  so  kann  ich  daraus  nur  eine 
neue  Bestatigung  der  darin  nachgewiesenen  prinzipiellen 
Versuchsfehler  entnehmen.  (Vgl.  Ztschr.  f.  Psychologie  I, 
419  ff.  und  oben  Anm.  17.) 

30  (S.  58)  Ph.-A.  Nr.  1,  S.  96ff. 

31  (S.  58)  Ph.-A.  Nr.  21  (Fischer). 

32  (S.  59)  Eine  besondere  Abhandlung  iiber  Heterophonie 
hat  Guido  Adler  veroffentlicht  (Jahrbuch  der  Musikbibliothek 
Peters,  1908).  Da  er  an  Helmholtz  vermiBt,  daB  dieser  nicht 
einmal  den  Namen  der  Heterophonie  anfiihre,  so  scheint 
ihm  entgangen  zu  sein,   daB  vor  meiner  Abhandlung  iiber 


—    96    — 

Siamesenmusik  iiberhaupt  niemand  von  Heterophonie  als  be- 
sonderer  Stilform  gesprochen  hat.  Den  Ausdruck  selbst  ent- 
nahm  ich  einer  platonischen  Stelle,  die  bei  den  Philologen 
viele  Diskussionen  hervorgerufen  hat  und  die  ich  bereits  friiher 
(Geschichte  des  Konsonanzbegriffes  1897)  durch  Auslegung 
des  Wortes  „antiphon"  im  Sinne  von  „diaphon"  verstand- 
licher  gemacht  zu  haben  glaube.  Es  schien  mir,  da6  Plato 
mit  „Heterophonie"  das  gleichzeitige  Umspielen  einer  Melo- 
die  durch  Varianten  gemeint  habe,  wie  es  bei  orientalischen 
Voikern  heute  vorkommt,  und  darum  schlug  ich  fiir  diese  Art 
der  Musikiibung  den  Namen  Heterophonie  vor.  Aber  natur- 
lich  war  es  mir  nicht  urn  den  Namen  zu  tun,  sondern  um  die 
Sache,  d.  h.  um  die  Zusammenfassung  weitverbreiteter  und 
eigenartiger  Erscheinungen  unter  einem  besonderen,  von  dem 
der  Polyphonie  und  Harmonie  ebenso  wie  dem  der  reinen  Ein- 
stimmigkeit  unterschiedenen  Begriff.  Das  ist,  was  in  dieser 
Sache  von  mir  herriihrt,  ohne  da6  ich  es  aber  fiir  eine  groBe 
Leistung  ansehen  mochte.  Lange  vorher  hatten  Dr.  Miiller 
und  V.  Zedtwitz  chinesische  und  japanische,  Land  und  Grone- 
man  javanische  Partituren  veroffentlicht,  aus  denen  der  Sach- 
verhalt  zu  entnehmen  war,  die  ich  ubrigens  auch  bereits  Ton- 
psychol.  II  (1890)  S.  402  erwahnte.  Daniel  de  Lang,  der  von 
Land-Groneman  und  von  mir  (Siamesen  S.  131)  zitiert  wird, 
hatte  diese  Art  des  Musizierens  auch  schon  ganz  richtig  be- 
schrieben.    So  vie!  iiber  das  Historische. 

Viel  mehr  aber  kommt  es  darauf  an,  da6  der  neue  Be- 
griff nicht  sogleich  wieder  seiner  Eigenart  entkleidet  und  mit 
anderen  vermengt  werde.  In  dieser  Hinsicht  mochte  ich  be- 
merken,  da6  das  Parallel-Organum  und  der  Dudelsackstil,  ob- 
gleich  beide  in  Verbindung  mitHeterophonie  vorkommen 
konnen,  doch  keinesfalls  selbst  als  Heterophonie  zu  fassen 
sind,  wie  es  nach  der  Adlerschen  Darstellung,  wenn  ich  sie 
recht  verstehe,  den  Anschein  hat.  Ferner  daB  die  vom  Ver- 
fasser  beigebrachten  Musikbeispiele  nur  zum  kleinsten  Telle 
wirklich  heterophon  sind,  im  iibrigen  aber  entweder  nur  Falle 
verschiedener  Formen  des  beginnenden  Kontrapunkts,  „nota 
contra  notam",  oder,  wie  die  Lineffschen  russischen  Gesange, 
wesentlich  Beispiele  einer  volkstumlich-ungeschickten  Har- 
monisierung.    (Frau  Lineff  beschreibt  sie  allerdings  in  der 


—     97     - 

Einleitung  p.  XV  selbst  ganz  im  Sinne  der  Heterophonie. 
Aber  ihre  Partituren  lassen  nur  erkennen,  da6  man  nach  har- 
monischer  Fiihrung  der  Unterstimmen,  besonders  nachTerzen- 
gangen,  strebt  und  dazwischen  immer  wieder  in  Oktaven- 
parallelen  oder  Unisono  zuriickfallt.  Gelegentlich  treten  zwar 
bei  diesen  Parallelen  audi  melodische  Abweichungen  eiri, 
wie  in  unserer  Dorfmusik  etwa  der  Klarinettist  seine  Seiten- 
spriinge  macht.  Aber  eine  als  Stilprinzip  durchgefiihrte 
Heterophonie  kann  ich  im  allgemeinen  hier  nicht  finden;  am 
ehesten  noch  etwa  in  den  zweistimmigen  Liedern  des  II.  Ban- 
des.) 

Auf  dem  Wiener  KongreB  der  Internationalen  Musikgesell- 
schaft,  Pfingsten  1908,  hat  v.  Hornbostel  eine  Ubersicht  der 
mannigfaltigen  Zwischenstufen  zwischen  rein  unisoner  und  har- 
monisch-polyphoner  Musik  gegeben.  Die  ausfuhrliche  Klassi- 
fikation  der  Formen,  die  gedruckt  unter  die  Horer  verteilt 
wurde,  ist  nicht  in  den  KongreBbericht  ubergegangen;  aber 
es  findet  sich  in  diesem  eine  lehrreiche  Darlegung  der  An- 
schauungen,  die  sich  der  kundigste  Forscher  iiber  exotische 
Musik  bisher  iiber  die  Entwicklung  in  dieser  Hinsicht  gebildet 
hat  (S.  298f.  Vgl.  auch  Ph.-A.  Nr.  19  S.  lOSSff.  uber  die  Ver- 
gleichung  des  exotischen  mit  dem  mittelalterlichen  Organum). 
In  diesen  Dingen  ist  die  Untersuchung  noch  zu  sehr  im  Flu6, 
um  Definitives  sagen  zu  konnen.  Meiner  eigenen  Auffassung 
stellen  sich  die  verschiedenen  Gattungen  des  Musizierens  in 
Hinsicht  auf  Ein-  und  Mehrstimmigkeit  in  folgendem  Schema 
dar,  bei  welchem  aber  von  vornherein  zu  beachten  ist,  daB  die 
Gattungen  sich  in  Wirklichkeit  mehrfach  miteinander  verbinden, 
und  da6  auch  stetige  Ubergange  von  einer  zur  anderen  fiihren. 
Eben  darum  lassen  sich  die  Grenzlinien  in  verschiedener 
Weise  Ziehen. 

1.  Homophonie  =  Einstimmigkeit.  Man  gebraucht  heute 
den  Ausdruck  homophon  vielfach  fur  die  einstimmige  Melo- 
die  mit  akkordlicher  Begleitung.  Dieser  Sprachgebrauch 
wurzelt  in  dem  Vorurteil,  daB  es  Melodien  ohne  Akkordunter- 
lage  uberhaupt  nie  und  nirgends  geben  konne.  Es  wiirde 
mir  zweckmaBig  scheinen,  mit  diesem  Vorurteil  auch  den 
wunderlichen  Sprachgebrauch  aufzugeben,  und  mit  Helmholtz 
als  homophon  nur  die  rein  melodische  Musik  zu  bezeichnen,  die 
Stumpf,  AnfSnge  der  Musik  7 


—     98     — 

weder  objektiv  noch  auch  in  der  bloBen  Vorstellung  des 
Horers  Akkordunterlagen  voraussetzt.  Kann  einer  sich  primi- 
tive Melodien  nicht  anders  als  mit  Akkordbegleitung  vor- 
stellen,  so  mu6  er  wenigstens  in  ihrer  Beurteilung  von  sol- 
chen  subjektiven  Zutaten  abstrahieren. 

Homophonie,  wie  wir  sie  hier  verstehen,  kann  aber  noch 
in  engerem  und  weiterem  Sinne  gefaBt  werden.  Im  weiteren 
Sinne  umfaBt  sie  nocli  die  Oktavenverdoppelung  der  Melodic, 
insofern  man  namlicli  Oktaven  als  gleiche  oder  wenigstens 
aquivalente  Tone  ansieht. 

2.  Organum  =  Singen  oder  Spielen  in  Parallelen.  Gibt 
man  die  Identitat  der  Oktaven  nicht  zu,  so  gehoren  schon 
alle  Oktavenverdoppelungen,  wie  beim  Singen  einer  Me- 
lodie  durch  Manner  und  Frauen,  hierher.  Jedenfalls  aber 
und  vor  allem  handelt  sich's  um  durchgefuhrte  Quinten-  und 
Quartenparallelen.  Terzen-,  Sexten-  und  Sekundenparallelen 
fallen  streng  genommen  nur  dann  unter  diesen  Begriff,  wenn 
dabei  wirklich  das  Intervall  unverandert  bieibt,  also  nicht 
groBe  mit  kleinen  Terzen  wechseln,  wie  dies  in  unserer  Musik 
durch  die  diatonische  Leiter  bedingt  ist.  Da6  in  Afrika  solche 
Quasi-Parallelen  vorkommen,  scheint  eben  auf  einen  euro- 
paischen  EinfluB  hinzudeuten.  Nur  in  gleichstufigen  Leitern, 
also  auch  z.  B.  in  unseren  chromatischen,  gibt  es  Terzen- 
parallelen  mit  vollig  unverandertem  Intervall. 

Natiirlich  konnen  auf  solche  Art  auch  drei  und  mehr  Stim- 
men  sich  verbinden,  indem  z.  B.  zwei  in  Oktaven  gehen,  die 
dritte  zwischen  ihnen  in  der  Quinte  oder  Quarte  des  tieferen 
Tones  mitgeht. 

Zum  Organum  im  weiteren  Sinne  rechnen  wir  auch  die 
Falle,  in  denen  die  Parallelitat  nicht  ausnahmslos,  Note  fiir 
Note,  durchgefuhrt,  sondern  streckenweise  andere  Intervalle 
eingefugt  sind;  wie  wenn  die  Stimmen  vom  Einklang  aus  suk- 
zessive  zur  Quarte  iibergehen,  in  diesem  Intervall  dann  parallel 
weiterschreiten,  um  am  SchluB  wieder  in  den  Einklang  iiber- 
zugehen.  (Schweifendes Organum  Hucbalds,  occursusbeiGuido 
von  Arezzo,  wozu  sich  gleichfalls  Analogien  in  der  exotischen 
Musik  finden.) 

3.  Bordun-  oder  Dudelsack-(Orgelpunkt-)weise  =  das 
Festhalten   eines  Tons,   wahrend   eine   andere   Stimme   eine 


—    99     ^ 

Melodic  angibt.  Der  feste  Ton  kann  dabei  uber  oder  unter 
der  Melodic,  bci  mehr  als  zwei  Stimmen  auch  zwischen  den 
iibrigen  liegen,  er  kann  ununterbrochen  oder  mitPauscn,  etwa 
zu  Anfang  jcdcs  Taktcs,  angegeben  werden,  es  konnen  auch 
zwei  Oder  mehr  Tone  miteinander  regelmaBig  in  unmittel- 
barer  Folge  oder  kurzen  Zeitstanden  wechseln  (Ostinato)  und 
andere  Modifikationen  eintreten,  die  das  Wesen  der  Sache 
doch  nicht  andern. 

Mit  einem  primitiven  Orgelpunkt  fallt  eine  bestimmte 
Form  des  Guidonischen  Organums  zusammen  („saepe  autem . . . 
organum  suspensum  tenemus",  Noten  s.  Oxford  History  of 
Music  1,  69):  ein  Beispiel  des  Oberganges  der  Formen  in- 
einander  durch  Grenzfalle. 

4  Heterophonie  =  gleichzeitiger Vortrag  mehrerer Va- 
rianten  eines  Themas.  In  der  einfachsten  Form  ist  dies  nichts 
als  eine  leichte  Modifikation  der  Homophonie;  wenn  z.  B.  ein 
beweglicheres  Instrument  oder  ein  eigenbrodlerischer  Sanger 
da  und  dort  eine  kleine  Verzierung  anbringt.  Man  mochte 
sagen,  die  Heterophonie  sei  die  unausbleibliche  Folge  des 
Zusammenwirkens  mehrerer,  die  die  namliche  Melodic  vor- 
tragen  woUen;  ebenso  wie  Oktaven-  oder  Quintenparallelen  die 
unausbleibliche  Folge  sind,  wenn  Sanger  oder  Instrumente  mit 
verschicdener  Tonlage  dieselbe  Weise  zugleich  vortragen 
wollcn,  und  der  Orgelpunkt,  wenn  zwei  Klangquellen  zusammen- 
wirken,  deren  eine  iiberhaupt  nur  einen  Ton  besitzt.  Die  Hetero- 
phonie trat  jedenfalls,  wie  die  iibrigen  Formen,  zuerst  zufallig 
ein,  entwickelte  sich  dann  aber  zur  absichtlich  gebrauchten 
Kunstform,  die  auch  angewandt  wurde,  ohne  da6  die  urspriing- 
lichen  Anlasse  dazu  notigten. 

5.  Polyphonie  =  gleichzeitiger  Vortrag  mehrerer  ver- 
schicdener Melodien,  die  nur  etwa  gelegentlich  in  konsonanten 
Intervallen  oder  im  Einklang  zusammentreffen.  Auch  hiervon 
scheinen  sich  Beispiele  oder  Vorstufen  in  der  exotischen 
Musik  zu  finden,  Besonders  aber  bietet  die  Friihzeit  unserer 
Musikepoche  Belege.  Das  Gehor  findet  einen  Reiz  darin, 
mehreren  ganz  verschiedenen  Melodien  zugleich  (bzw.  in 
raschem  Wechsel  der  Aufmerksamkeit)  zu  folgen;  und  je 
verschicdener  die  Melodien  in  der  Richtung,  Geschwindigkeit, 
dem  ganzen  Charakter  derTonbewegung,  urn  so  besser.    Auf 

7* 


-     100     — 

die  Wirkung  der  einzelnen  so  entstehenden  Zusammenklange 
kommt  es  dabei  nicht  prinzipiell  an.  Sobald  dieser  Gesichts- 
punkt  wesentlich  in  Frage  kommt,  das  haufige  Zusammentreffen 
in  Konsonanzen  und  vor  allem  in  konsonanten  Dreiklangen 
angestrebt  wird,  geht  diese  Form  in  die  nachste  iiber. 

Im  weitesten  Sinne  des  Wortes  umfaBt  Polyphonie  natiir- 
lich  alle  Formen  au6er  der  ersten.  Wir  gebrauchen  es  aber 
hier  im  engeren  Sinne,  den  es  in  der  Musikgeschichte  er- 
halten  hat:  fUr  die  Gleichzeitigkeit  mehrerer  Melodien,  die 
als  wesentlich  verschiedene  aufgefaBt  werden.  In  diesem 
Sinne  steht  sie  neb  en  den  ubrigen  Formen,  wenn  auch 
Obergange  iiberall  denkbar  sind. 

6.  Harmonische  Mu3ik  =  die  schon  im  gleichzeitigen 
Erklingen  mehrerer  unterschiedener  Tone  und  in  der  Auf- 
einanderfolge  solcher  Tonkomplexe  Quellen  asthetischer  Lust 
und  Unlust  findet. 

Ich  mochte  nicht  behaupten,  da6  den  Naturvolkern  die 
Freude  am  Mehrklang  als  solchem,  also  cine  Vorstufe  unseres 
Harmoniegefuhls,  ganzlich  und  allenthalben  fehle  (vgl.  Abbil- 
dung  2  und  3).  Aber  unser  Akkordsystem,  wie  es  sich  allmahlich 
entwickelt  hat,  mit  seinen  Hauptdreiklangen  in  Dur  und  Moll  auf 
dem  Grundton,  der  Dominant  und  Subdominant,  mit  den  aus 
den  Dreiklangen  resultierenden  Tonleitern,  in  denen  jeder  Ton 
erst  von  den  Dreiklangen  aus  Sinn  und  Wirkung,  ja  auch  erst 
seine  genaue  Abstimmung  erhalt,  mit  den  dissonanten  Ak- 
korden  (Diskorden),  die  nach  bestimmten  rationellen  Regeln 
in  die  Hauptdreiklange  und  zuletzt  in  den  Grunddreiklang  iiber- 
gehen  —  das  ist  etwas  durchaus  Neues,  wozu  wir  vor  dem 
letzten  Jahrtausend  ebenso  wie  in  der  gegenwartigen  exoti- 
schen  Musik  keine  Seitenstiicke  finden. 

Die  harmonische  Musik  hat  aber  alle  friiheren  Formen 
nach  Moglichkeit  in  sich  aufgenommen.  Wie  sie  sich  mit 
Polyphonie  verkniipft,  lehren  die  groBen  Meister  kontra- 
punktischer  Kunst.  Heterophone  Bildungen  finden  sich  tausend- 
fach  innerhalb  des  harmonischen  Rahmens,  schon  bei  jeder 
die  Melodic  mit  Figuren  verzierendcn  Nebenstimme.  Im  ob- 
stinaten  Ba6,  im  Orgelpunkt  ragt  die  Bordunweise  herein,  das 
Organum  im  Quintieren  des  Volkes,  in  den  „Mixturen"  der 
Orgel,  wie  in  so  manchen  modernen  KUhnheiten,  bei  denen 


—     101     - 

allerdings  vielfach  darauf  gerechnet  ist,  daB  man  die  Par- 
allelen  nicht  deutlich  wahrnimmt.  Nur  die  strenge  Hoino- 
phonie  existiert  fur  unser  BewuBtsein  insofern  nicht,  als 
auch  eine  vollkommen  einstimmig  ausgefiihrte  Melodic,  wenn 
sie  innerhalb  unserer  Dur-  und  Molleitern  liegt  und  den 
sonstigen  Charakter  unserer  Melodien  tragt  (deutliche  Tonika, 
gewohnte  Rhythmik  und  Struktur),  von  uns  unwillkiirlich 
nach  dem  harmonischen  Schema  aufgefaBt  wird.  Immer 
schwingen  Dreiklange  sozusagen  mit.  Anders  freilich,  wenn 
man  sich  durch  Gewohnung  an  exotische  Weisen  umtrainiert. 

Ein  solche  Einf  iigung  anderer  Formen  in  eine  vorherrschende 
Hauptform  finden  wir  aber  auch  in  exotischer  Musik.  So 
sind  in  der  heterophonen  Musik  der  Siamesen,  Javaner, 
Chinesen  haufig  langere  Quartenparallelen  eingefugt.  In  China 
kommt  nach  neueren  uns  zugekommenen  Aufnahmen  sogar 
eine  interessante  Spielart  der  Heterophonie  vor,  bei  der  zwei 
Stimmen  ein  Thema  gleichzeitig  in  Varianten,  aber  im  Ab- 
stand  einer  Quarte  vortragen,  also  eine  durchgefuhrte  Ver- 
kniipfung  von  Prinzip  2  mit  4.     (Ph.-A.  Nr.  29.) 

Alle  bisher  vorfindlichen  Arten  der  Musikiibung  in  Hin- 
sicht  der  Ein-  und  Mehrstimmigkeit  diirften  sich  in  die  ange- 
gebenen  Formen  auflosen  lassen. 


—     102     — 

Zweiter  Teil. 

Ges^nge  der  Naturv51ker. 

Die  folgenden  Beispiele  sollen  die  Ausftihrungen 
des  Textes  und  der  Anmerkungen  wenigstens  teil- 
weise  erlautern  und  belegen.  Die  meisten  davon 
sind  den  in  Anm.  1  naher  bezeichneten  Quellen  ent- 
nommen.  Ph.-A.  Nr.  .  .  bedeutet  die  Nummer  der 
dort  erwahnten  Publikationen  aus  dem  Berliner 
Phonogramm-Archiv. 

Die  Naturvolker  haben  meistens  eine  ungeheure 
Passion  fiir  das  Singen.  Sie  singen  bei  jeder  Ge- 
legenheit  und  stundenlang,  wobei  die  namliche 
Weise  unbegrenzt,  wenn  auch  nicht  immer  unver- 
andert,  wiederholt  werden  kann.  Wo  in  unseren 
Notationen  Wiederholungszeichen  fiir  ein  ganzes  Lied 
angegeben  sind,  bedeuten  sie  in  der  Regel  eine 
solche  vielfache  Wiederholung.  Aber  auch  wo  wir, 
derOriginalschreibung  eines  Verfassers  folgend,  keine 
solchen  Zeichen  hingesetzt  haben,  ist  anzunehmen, 
daB  in  Wirklichkeit  solche  Wiederholungen  statt- 
fanden. 

Nennen  wir  die  folgenden  Melodieproben  „pri- 
mitiv",  so  muB  man  diese  Bezeichnung,  wie  gegen- 
tiber  den  meisten  Produkten  sogenannter  primitiver 
Kunst,    die    der    Gegenwart    angehoren,    nicht    zu 


-     103     — 

wortlich  nehmen.  Es  sind  eben  GesSnge  von  schrift- 
und  literaturlosen  Volkern.  Wenn  man  sich  aber 
in  die  Struktur  der  Melodien  vertieft  und  zugleich 
uberlegt,  was  alles  vorausgegangen  sein  muB,  urn 
die  Entstehung  solcher  Gebilde  moglich  zu  machen, 
so  wird  man  sie  in  den  meisten  Fallen  als  Produkte 
eines  schon  ziemlich  entwickelten  Kunstsinnes  an- 
sehen  mtissen.  Die  Grenzlinie  zwischen  einer  von 
theoretischem  Nachdenken  befruchteten  und  einer 
urwuchsig  reflexionslosen  Kunst  bleibt  dabei  immer- 
hin  bestehen.  Die  Begriffe  „exotisch"  und  „primi- 
tiv"  diirfen  heute  nicht  mehr  zusammengeworfen 
werden,  wie  es  z.  B.  noch  Ambros  tat,  als  er  die 
chinesische,  indische,  arabische  Musik  unter  dem 
Kapitel  „Anfange  der  Tonkunst"  brachte;  wie  es 
aber  sogar  in  einem  neueren  groBen  Werke  uber 
diesen  Gegenstand  geschieht,  wo  in  den  Melodie- 
beispielen  die  alte  chinesische  Tempelhymne  mitten 
zwischen  einem  Gesange  der  Papua  und  einem  der 
Fidschi-Insulaner  angefuhrt  wird. 

Allgemein  gilt,  da6  der  Eindruck  eines  primi- 
tiven  Gesanges  durch  die  Noten  mehr  oder  weniger 
ungeniigend  wiedergegeben  wird.  Schon  die  Into- 
nation unterliegt  an  vielen  Stellen  eigentumlichen 
Abweichungen.  Durch  besondere  Zeichen  (s.  u.) 
suchen  wir  an  bemerkenswerteren  Stellen  diese 
Abweichungen  und  sonstige  Eigentumlichkeiten  der 
Intonation    anzudeuten.     Aber    auch    die    Art    der 


—     104     — 

Stimmgebung  und  zahlreiche  Vortragsgewohnheiten, 
von  denen  unsere  Verzierungen  (Vorschlage  u.  dgl.)  nur 
ein  abgeschwachtes  Bild  geben,  sind  fiir  den  Ge- 
samteindruck  oft  ebenso  wesentlich,  als  der  Noten- 
bestand.  Unsere  eigenen  Gesange  konnten  in  sp^- 
teren  Zeiten,  wenn  nicht  phonographische  Aufnahmen 
da  waren,  nach  den  bloBen  Noten  nur  in  sehr  un- 
adaquater  Weise  wiedergegeben  werden.  Auch  die 
Vortragszeichen  wUrden  nicht  hinreichen,  namentlich 
da  man  uber  ihre  Ausftihrung  ebenso  streiten  wUrde, 
wie  man  heute  iiber  die  Ausftihrung  der  um  zwei 
Jahrhunderte  zuriickliegenden  Zeichen  schon  streitet. 
Wenn  wir  gar  den  wirklichen  Klang  einer  Plica 
Oder  eines  Ochetus  (Schluchzer)  aus  dem  13.  Jahr- 
hundert  horten,  wtirden  wir  uns  wahrscheinlich 
verwundern.  Gerade  der  Gesang  ist  zu  alien  Zeiten 
ganz  durchsetzt  von  Vortragsmanieren,  und  gerade 
die  des  Gesanges  lassen  sich  am  wenigsten  genau 
in  Zeichen  fixieren.  Mit  solchen  jetzt  veralteten 
gesanglichen  Vortragsformen  scheinen  nun  die  der 
Naturvolker  eine  gewisse  Ahnlichkeit  zu  haben. 
Einiges  daruber  ist  bei  unseren  Notenbeispielen  in 
den  Erlauterungen  sowie  oben  in  Anm.  12  bemerkt. 
Naheres  in  Bakers  Indianergesangen,  in  meiner  Arbeit 
iiber  die  Bellakula-Indianer,  in  den  Abhandlungen  aus 
dem  Phonogramm-Archiv  und  in  neueren  Beschrei- 
bungen  von  Forschungsreisenden  (die  alteren  Berichte 
kiimmerten  sich  wenig  um  solches  Detail). 


-     105     - 

Schwierigkeiten  macht  aber  auch  vielfach  der 
Rhythmus  und  die  Takteinteilung.  In  manchen  Fallen 
ist  alles  sofort  klar,  in  anderen  kommt  man  entweder 
uberhaupt  nicht  zu  einem  Rhythmus,  der  sich  in 
unsere  Taktformen  fugt,  oder  man  muB  bestandig 
mit  dem  Takte  wechseln.  Und  doch  ist  es  besser, 
wo  es  geht,  dieses  Hilfsmittel  anzuwenden:  die  Ak- 
zentverteilung,  die  durch  die  Taktgliederung  gegeben 
ist,  erleichtert  die  Ubersicht  der  ganzen  Struktur 
auBerordentlich. 

Die  Texte  der  Gesange  sind  fast  tiberall  weg- 
gelassen,  da  sie  doch  nur  wenigen  Eingeweihten 
verstandlich  waren.  Nur  die  Bestimmung  eines 
Liedes  wird,  wo  Angaben  daruber  vorliegen,  in  den 
Erlauterungen  vermerkt. 

Vielfach  hat  man  die  notierten  Gesange  um  eine 
Oktave  tiefer  zu  denken,  da  von  den  Autoren  der 
Violinschllissel  auch  fur  Mannergesange  gewahlt 
wurde,  wie  er  ja  auch  bei  uns  fur  den  Tenor  benutzt 
wird. 

+  tiber  der  Note  bedeutet  Erhohung,  -  Vertiefung 
eines  Tones,  ^f  f^  ein  schleifendes  Herabsteigen 
aus  nicht  genau  bestimmbarer  Hohe  zu  dem  betref- 
fenden  Ton,  bzw.  ein  Herabsteigen  von  ihm  aus, 
f  ^  I  eine  gleitende  Verbindung  zweier  Tone,  cz:^ 
ein  legatissimo,  J  J  J  eine  mehrmalige  merkliche 
Akzentuierung  eines  Tones,  ohne  da6  er  doch  neu 
einsetzte  (Pulsando,  namentlich  bei  Indianern  stehende 


—     106     - 

Vortragsgewohnheit,  ubrigens  auch  im  Mittelalter 
als  „reverberatio"  und  bis  ins  18.  Jahrhundert  als 
„vocalisazione  aspirata"  oder  „balancement"  ge- 
brSuchlich),  J  das  namliche,  wenn  die  Dauer  des 
Tones  den  Wert  einer  Viertelnote  nicht  iiberschreitet, 
V  eine  Atempause  ohne  Zahlwert.  DieEinklammerung 
eines  Tons  (J)  bedeutet,  da6  seine  Hohe  nicht  genau 
erkennbar  ist.  Die  Vorzeichnung  zweier  Taktarten, 
wie  f  f,  soil  heiBen,  daB  die  beiden  einander  regel- 
maBig,  Takt  urn  Takt  in  dem  ganzen  Gesang  ablosen. 
Die  meisten  der  folgenden  Gesange  sind  nach 
phonographischen  Aufnahmen  wiedergegeben,  wobei 
die  groBte  Zuverlassigkeit  erzielt  werden  kann.  In 
einigen  Fallen  habe  ich  aber  auch  nach  direktem 
Horen  niedergeschriebene  eingefugt,  die  besonders 
gut  beglaubigt  sind  oder,  wenn  auch  in  Einzelheiten 
Zweifel  bleiben,  durch  gewisse  Eigentiimlichkeiten, 
die  man  fur  richtig  wiedergegeben  halten  darf,  be- 
sonderes  Interesse  bieten.  Die  aus  dem  Berliner  Phono- 
gramm-Archiv  stammenden  Notierungen  wurden,  so- 
weit  sie  schon  veroffentlicht  sind,  von  den  Herren 
V.  Hornbostel  und  Fischer  unter  meiner  Mitbeteiligung 
wiederholt  genau  nachgepriift,  woraus  sich  kleine 
Abweichungen  von  der  fruheren  Form  erklaren.  Man 
kann  ja  vielfach  den  Takt,  die  Vorzeichnung,  auch 
einzelne  Tone,  die  zwischen  den  unsrigen  liegen, 
verschieden  schreiben;  iiberdies  ist  durch  die  fort- 
gesetzte  Ubung  den  beiden  Herren  eine  immer  groBere 


—     107     — 

Sicherheit  in  der  raschen  Erfassung  der  Details  zu- 
gewachsen.  Mehrere  Gesange  sind  hier  ausfuhr- 
licher  wiedergegeben  als  bei  der  ersten  Veroffent- 
lichung,  andere  zum  ersten  Male  publiziert. 

Wir  beginnen  die  Reihe  mit  den  primitivsten 
Gesangen,  die  uns  zuverlassig  und  genau  bekannt 
sind,  denen  der  Wedda  in  Ceylon,  ordnen  aber  die 
folgenden  nicht  nach  dem  Prinzip  fortschreitender 
melodischer  Entwicklung,  sondern  gehen,  im  allge- 
meinen  wenigstens,  in  geographischer  Richtung  von 
da  ostlich  weiter  nach  der  Siidsee  zu,  dann  nach 
Amerika,  das  wir  von  Suden  nach  Norden  durch- 
wandern,  weiter  zu  den  Eskimo,  endlich  nach  West- 
und  Ostafrika.  Innerhalb  kleinerer  geographischer 
Gruppen  wird  man  dabei  immerhin  ofters  zugleich 
einen  Fortschritt  in  der  Melodiebildung  bemerken. 
Aber  es  ist  vorlaufig  nicht  mSglich  und  wird  vielleicht 
auch  spater  nicht  moglich  sein,  aus  den  samtlichen 
musikalischen  Produkten  der  Menschheit  eine  ein- 
deutig  fortschreitende  Reihe  aufzustellen,  weil  der 
Fortschritt  von  Anfang  an  in  sehr  verschiedenen 
Richtungen  erfolgt.  Dagegen  werden  wir  allmahlich 
bei  den  geographisch  benachbarten  oder  ethnologisch 
zusammenhangenden  Volkergruppen  auch  immer 
mehr  zusammenhangende  oder  verwandte  musika- 
lische  Zustande  finden  und  so  ein  groBes  einheit- 
liches  Bild  der  musikalischen  Leistungen  gewinnen. 
Die  folgende  Zusammenstellung  erhebt  nicht  den 


—     108    — 

entferntesten  Anspruch  hierauf,  sie  will  nur  ganz 
fragmentarische  Proben  liefern,  an  denen  bestimmte 
EigentUmlichkeiten  besonders  deutlich  hervortreten. 
Man  kann  aber  nicht  daran  zweifeln,  daB  binnen 
kurzer  Zeit  die  musikalischen  Merkmale  ebenblirtig 
neben  die  iibrigen  treten  werden,  die  uns  den  Zu- 
sammenhang  der  Volker  auf  der  Erde  erkennen 
lehren.  Konnen  doch  in  einzelnen  Fallen  schon 
jetzt  die  darauf  gegrUndeten  Schlufifolgerungen  das 
Gewicht  groBter  Wahrscheinlichkeit  beanspruchen, 
namentlich  wenn  man  mit  dem  Bau  der  Melodie  zu- 
gleich  den  der  Instrumente  und  deren  genaue  Ab- 
stimmung  beriicksichtigt,  wobei  sich  in  Hinsicht  der 
absoluten  Tonhohe,  der  Leitern  u.  s.  f.  Koinzidenzen 
gezeigt  haben,  deren  zufalliges  Vorhandensein  alien 
Wahrscheinlichkeitsregeln  widersprechen  wlirde. 

Die  Voraussetzung  fur  solche  Durchschlagskraft 
ist  aber  sorgfaltiges  Studium  aller  Einzelheiten,  bei 
den  Melodien  ebenso  wie  bei  den  Instrumenten. 
Die  unseren  Beispielen  beigefugten  Bemerkungen 
mogen  weiteren  Kreisen  eine  Vorstellung  davon  ge- 
wahren,  auf  welche  Punkte  es  dabei  ankommt.  Ohne- 
hin  verdienen  ja  alle  Dokumente,  die  Licht  auf  die 
Urgeschichte  und  die  noch  bestehenden  tieferen 
Kulturstufen  unseres  Geschlechtes  werfen  konnen, 
genaueste  Analyse.  Untersuchen  wir  gewissenhaft 
prahistorische  T5pfe  und  Scherben  und  jede  Kante 
eines    Eolithen,    vergleichen    und    zergliedern    wir 


—     109     — 

—  und  zwar  mit  Recht  —  die  scheuBlichsten  Fratzen, 
die  rohesten  Zeiciinungsversuche,  so  mUssen  wir 
auch  den  musikalischen  Produkten  primitiver  Volker 
ein  objektives  und  eindringendes  Studium  widmen, 
statt  sie,  bis  zur  Unkenntlichkeit  modernisiert  und 
mit  Klavierbegleitung  versehen,  ais  „U.S.  A.  National 
Music"  sUB  singenden  Saiondamen  oder  erfindungs- 
armen  Komponisten  zu  Uberliefern.  Die  scharfen 
Worte,  mit  denen  v.  Hornbostel  diese  Unsitte  ge- 
geiBelt  hat,  sind  leider  nur  zu  zeitgemSB. 


Metr.  J 


la. 


208. 


-t^^-^^:^!  -'-J  ^  -'  ^-^ 


i 


4_j_;j_j_^ 


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lb. 


Metr.  J  =  208. 


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t 


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Metr.  J  =  210. 


110 

2  a. 


Metr.  J  =  208. 


2b. 


iM^^^^^^ 


usw. 


la  und  lb  sind  zwei  Lieder  der  Wedda  auf  Cey- 
lon nach  phonographischen  Aufnahmen  der  Frau  Pro- 
fessor Selenka  (Ph.-A.  Nr.  20).  Drei  bzw.  zwei  Tone 
bilden  das  mit  geringen  Varianten  immer  wiederholte 
Motiv.  Das  Intervall  der  beiden  tieferenTone  bei  1  ist 
nach  Dr.  Wertheimers  Messungen  ein  Ganzton,  das 
des  mittleren  zum  hochsten  ein  Halbton,  so  da6  hier 
der  Melodieumfang  eine  kleine  Terz  betragt.  Der 
hochste  Ton  kommt  hauptsachlich  im  Anfange  vor, 
in  den  SchluBformeln  niemals.  In  dem  zweiten 
Liede  sind  aber  die  Abstande  verkleinert.  Die  beiden 
tieferen  Tone  stehen  nur  urn  einen  ^/^-Ton  vonein- 
ander  ab,  und  ein  dritter  hoherer,  der  auch  hier  ge- 
legentlich  vorkommt,  liegt  nur  V4"Ton  Uber  dem 
zweiten,  so  da6  der  ganze  Umfang  hier  nur  einen 
Ganzton  ausmacht.  Vielleicht  ist  der  dritte  Ton 
hier  iiberhaupt  nicht  beabsichtigt,  sondern  nur  durch 
eine  starkere  Akzentuierung  des  zweiten  entstanden. 
Da  die  beiden  Lieder  von  verschiedenen  Sangern, 
einem  alten  und   einem  jungen,  gesungen  wurden, 


—    Ill    — 

kann  man  die  verschiedene  StufengroBe  vielleicht 
als  individuelle  Eigentumlichkeit  der  Sanger  betrach- 
ten. 

Die  Metronomisierung  ist  hier  nach  den  Angaben 
von  Frau  Selenka,  die  sich  der  Gesange  noch  sehr 
genau  erinnert,  beigefugt  (sonst  pflegt  das  S.  1 1  er- 
wahnte  Mittel  dazu  zu  dienen).  Das  ZeitmaB  wird 
streng  innegehalten.  Die  Taktstriche  habe  ich  gegen- 
iiber  dem  Original  vermehrt.  Man  konnte  den  hau- 
figen  Taktwechsel  reduzieren,  wenn  man  -^  ^^s 
Haupttaktart  wahlte,  aber  die  Periodisierung  tritt  in 
unserer  Schreibart  deutlicher  hervor.  Die  Einschie- 
bung  Oder  Auslassung  einzelner  Taktteile,  wodurch 
aus  geradzahligen  ungeradzahlige  Taktarten  werden, 
widerstrebt  unserem  Gefiihl,  findet  sich  aber  bei 
Naturvolkern  haufig.  Sie  mag  mit  dem  Text  oder 
der  Vortragsnuancierung  zusammenhangen. 

Wir  wtirden  vom  musikalischen  Standpunkte  die 
beiden  Lieder  als  ziemlich  identisch,  als  wenig 
verschiedene  Formen  derselben  Melodie  betrach- 
ten.  Wahrscheinlich  gelten  sie  den  Wedda  auch  nur 
als  Abarten  innerhalb  eines  Typus.  Die  Texte  sind 
verschieden  (das  erste  ist  nach  einer  Notiz  bei  Selig- 
mann  „The  Vedda"  ein  Unterhaltungslied). 

Dieser  Art  sind  fast  alle  von  Frau  Selenka  mit- 
gebrachten  Gesange.  Auf  einer  (von  Dr.  Wertheimer 
nicht  wiedergegebenen)  Walze  findet  sich  allerdings 
ein  Duett,  bei  dem  unverkennbar  zwei  nach  einer 


—     112     - 

gewissen  Regel,  doch  in  schwer  auflosbarer  Weise, 
gleichzeitig  singen.  Sie  bewegen  sich  dabei  aber 
auch  nur  im  Umfange  einer  kleinen  Terz. 

Diese  Wedda-Gesange  mogen  ein  Beispiel  jener 
Ur-  Oder  Vorstufe  der  Musik  geben,  die  nur  kleine 
Tonschritte  verwendet.  Weder  Konsonanz  noch  Ton- 
verwandtschaft  scheinen  dabei  eine  Rolle  zu  spielen. 
Dennoch  haben  sie  schon  eine  gewisse  Struktur, 
bestimmte,  regelmaBig  wiederkehrende  Wendungen 
mit  Varianten,  endlich  besondere,  bestimmt  gebaute 
SchluBformeln.  Der  SchluBformel  selbst  geht  immer 
ein  „Vorbau"  voraus,  dessen  letzter  Ton  regelmaBig 
der  tiefste  ist,  wahrend  der  SchluB  selbst  oft  in  dem 
mittleren  Ton  erfolgt;  z.  B. 

Vorbau  SchluB 


IKJ  ^   ^-^  s 


2a  und  b  sind  gleichfalls  Wedda-Gesange  aus 
dem  Werke  „The  Vedda^'  von  C  G.  und  B.  Z.  Selig- 
mann  (1911),  worin  der  Psychologe  Ch.  S.  Myers 
(Cambridge)  zalilreiche  phonographisch  aufgenom- 
mene  Lieder  wiedergibt  und  analysiert.  Er  teilt  sie 
in  drei  Gruppen,  je  nachdem  sie  nur  2  verschiedene 
Tone  Oder  3  oder  4 — 5  verwenden.  Aber  bei  den 
letzteren  vermutet  er  schon  fremde  Einflusse.  Die 
der  beiden  ersten  Gruppen  sind  den  Wertheimer- 
schen  recht  ahnlicii,  wie  dies  ja  bei  dem  geringen 
Tonvorrat,   den  kleinen  Stufen   und   der   einfachen 


—     113    — 

Rhythmik  kaum  anders  sein  kann.  Die  beiden  hier 
ausgewahlten  (aus  Gruppe  B  und  C),  die  dem  pri- 
mitivsten  Wedda-Stamme,  den  Sitala  Wanniya, 
angehoren,  sind  interessant  durch  die  regelmaBig 
wiederkehrende  Taktfolge  '^U,  ^U,  die  sich  ebenso 
auch  bei  einem  anderen  Liede  desselben  Stammes 
(einem  Schlafliede)  findet.  Die  Akzentverteilung  bei 
2a  hinder!  uns,  etwa  einfach  ^4  vorzuschreiben. 
Die  beiden  Lieder  sind  wieder,  wie  bereits  Myers 
bemerkt  hat,  offenbar  nur  Varietaten  eines  Melodie- 
typus  (oder  melodisch  uberhaupt  identisch)'.  Bei 
dem  zweiten  Liede  wurden  die  beiden  oberen  Tone 
regelmaBig  etwas  vertieft  intoniert,  so  da6  alles  naher 
aneinanderruckt,  ahnlich  wie  im  zweiten  der  Wert- 
heimerschen  Gesange. 

Obrigens  sind  nicht  alle  Myersschen  Gesange  in 
Taktform  geschrieben,  viele  fUgten  sich  einer  solchen 
nicht.  Das  gleiche  ZeitmaB  der  Wertheimerschen 
und  der  Myersschen  Lieder  scheint  Zufall,  es  finden 
sich  auch  viele  andere  Metronomzahlen. 

Die  Wedda,  wenigstens  die  ursprtinglichen  und 
von  Nachbarstammen  unbeeinfluBten,  denen  diese 
Gesange  angehoren,  haben  keine  Instrumente,  nicht 
einmal  Schlaginstrumente. 


*  Beim  ersten  ist  in  Myers  Notierung  nur  aus  Versehen 
ein  drittes  Kreuz,  fiir  ais,  vorgezeichnet;  nach  den  tonometri- 
schen  Angaben  S.  353  ist  das  Intervall  der  beiden  hoheren 
Tone  sogar  noch  etwas  kleiner  als  ein  Halbton. 

S turn p f,  Anfange  der  Musik  o 


—     114 


3. 


Metr.  J  =  132. 

Solo. 


^^^^iSS^^ 


^ 


rit. 


Weiber. 


i 


i 


Chor. 


Manner. 


rit. 


m 


i^i 


Fauken. 


r   r 


IT  ,1) 


I  r   r 


jEJ=g^^-fJ^^j?rr3i-^J7hR^f^^ 


r  l;  r  rlr  1/  r  rlr  lt  r  rlr  c/ 

Wir  lassen  zwei  Beispiele  von  den  Ureinwohnern 
der  Andamanen-Inseln  folgen.  Sie  sind  zwar  nicht 
phonographisch  aufgenommen,  dtirften  aberausauBe- 
ren  und  inneren  Grunden  im  wesentlichen  richtig 
no.tiert  sein.  Besonders  gilt  dies  vom  ersten,  das 
nebst  acht  weiteren  ganz  ahnlichen  Proben  von 
M.  V.  Portman  bei  sudlichen  Stammen  der  Insel- 
gruppe  aufgeschrieben  wurde.  (Andamanese  Music, 
Journ.  of  the  R.  Asiatic  Society,  Vol.  XX,  Part  11, 
p.  181  ff.)  Die  genauen  Detailbeschreibungen  anda- 
manesischer  Musik,  die  Portman  gibt,  erwecken  Ver- 
trauen.    Die  Intervalle  betreffend  bemerkt  Portman 


-     115    — 

(der  statt  f  immer  eis  schreibt),  daB  die  als  Halb- 
tonschritte  notierten  Stufen  eigentlich  als  Vierteltone 
gesungen  wurden,  daB  sie  aber  wahrscheinlich  doch 
als  Halbtonstufen  gemeint  seien.  Sie  werden  wohl, 
wie  bei  den  Wedda,  unseren  Stufen  nicht  genau  ent- 
sprechen,  da  unsere  chromatische  Leiter  ein  spates 
Entwickelungsprodukt  ist,  hier  aber  nur  eben  kleine, 
durch  die  Stimme  noch  unterscheidbare  Stufen  ge- 
sungen werden,  die  naturlicherweise  nicht  immer 
ganz  gleich  ausfallen.  Es  wMre  inkorrekt,  aus 
solchen  Notierungen  und  Berichten  den  Gebrauch 
von  Vierteltonen  im  theoretischen  Sinne  des  Wortes 
zu  erschlieBen.  Uberdies  gibt  Portman  dem  GehOr 
der  Andamanesen  ein  schlechtes  Zeugnis.  Einen 
angegebenen  Ton  konnten  die  besten  Sanger  nur 
nahezu  treffen,  die  meisten  blieben  urn  einen  Halb- 
ton  darunter  oder  darUber.  Urn  so  weniger  darf  man 
ihnen  eine  Leistung  zuschreiben,  die  hohe  Aus- 
bildung  der  Stimme  und  des  Gehors  verlangen 
wurde.  Der  systematische  Gebrauch  von  Viertel- 
tonen und  noch  kleineren  Unterschieden,  v^ie  er 
z.  B.  von  den  Griechen  berichtet  wird,  ist  ein  Pro- 
dukt  raffinierter  Kultur. 

[Einige  vielfach  zitierte  Beispiele  angeblicher 
Viertelton-Musik  seien  hier  nebenbei  beleuchtet.  Es 
sind  aus  Neuseeland  in  dem  Werke  des  Gouver- 
neurs  Grey  (vgl.  unsere  Anm.  12)  vier  Melodien 

iiberliefert,  die  Davies,  der  eine  gelehrte  Einleitung 

8* 


-     116    — 

liber  das  enharmonische  System  der  Griechen  vor- 
ausschickt,  unter  Zuhilfenahme  eines  Monochords 
aufgeschrieben  hat,  und  die  sich  nicht  bloB  in  Viertel- 
tOnen,  sondern  sogar  in  enharmonischen  Intervallen 
bewegen.  Ein  Lied  z.  B.,  das  sich  in  den  bisherigen 
Beispielsammlungen  ohne  eine  kritische  Bemerkung 
aufgenommen  findet,  besteht  fast  nur  aus  den  Noten  d, 
eses,  e,  eis,  f.  Die  Eingeborenen  sollen  also  d  und 
eses,  eis  und  f  unterscheiden.  Das  mag  ein  anderer 
glauben! 

Auch  die  in  dem  alten  Reisewerke  von  Langs- 
do  rff  notierte  und  sehr  haufig  angeftihrte,  ohneFrage- 
zeichen  Ubernommene  Melodie  der  Nukahiwa  (auf 
den  Washington-Inseln  im  Stillen  Ozean)  soil  in 
Vierteltonschritten  gesungen  worden  sein.  Sie  geht 
fortwahrend  von  e  nach  g  und  wieder  zuruck.  In 
der  Notierung  sind  als  Zwischenstufen  nur  f  und  fis 
angegeben,  in  den  Bemerkungen  dazu  (von  Tilesius) 
ist  aber  erwahnt,  daB  es  sich  um  Vierteltonschritte 
handele.  Es  war  wohl  auch  nur  ein  Hinauf-  und 
Herunterziehen  des  Tones,  ein  „brummendes  Ziehen" 
der  Stimme,  wie  es  auch  in  dem  Berichte  genannt 
wird.  Obrigens  ist  die  Notierung  mangelhaft.  Aus 
den  Erlauterungen  geht  z.  B.  hervor,  daB  irrtumlicher- 
weise  der  Violin-  statt  des  BaBschlussels  vorgezeich- 
net  ist,  was  bereits  Fetis  richtiggestellt  hat.] 

Samtliche  Gesange  Portmans  bestehen  aus  Solo 
und  nachfolgendem  Chor,  und  alle  bewegen  sich  in 


—     117     — 

diesen  kleinen  Stufen  aus  drei  Tonen;  nur  die  ab- 
solute Tonhohe  ist  verschieden  angegeben.  Der 
SchluBton  ist  aber  nicht  uberall  der  mittlere,  sondern 
audi  manchmal  der  hochste  oder  tiefste  von  den 
dreien.  Das  Solo  wurde  in  freierem  Tempo  ge- 
sungen,  die  Chore  streng  im  ZeitmaB. 

Sehr  bemerkenswert  sind  die  Oktaven-  und 
Quintenparallelen  des  Chors,  die  sich  ebenso  bei 
jedem  Liede  wiederholen.  Bezuglich  der  Quinten 
bemerkt  Portman  auch  wieder,  daB  er  sie  zwar  fUr 
durchweg  intendiert  halte,  daB  sie  aber  gelegentlich 
als  kleine  Sexten  intoniert  wurden;  wie  aberhaupt 
noch  andere  Intervalle  als  die  notierten  zum  Vor- 
schein  gekommen  seien,  die  er  jedoch  nur  als  Her- 
ausfallen  aus  dem  angestrebten  Unisono  der  einzel- 
nen  Stimmen  auffasse.  Alles  dieses  zeigt  den  guten 
Beobachter. 

An  Instrumenten  besitzen  die  Andamanesen  nur 
Pauken,  die  bei  den  Chorgesangen  in  Tatigkeit  treten, 
wie  das  Beispiel  zeigt. 

Nr.  4  findet  sich  in  dem  Werke  von  E.  H.  Man, 
On  the  Aboriginal  Inhabitants  of  the  Andaman  Is- 
lands, 1883,  S.  172.  Es  ist  von  Dr.  Brandes  notiert. 
Die  Erlauterungen  sind  durftig.  Die  untere  Stimme, 
die  dort  als  die  Note  d  erscheint,  ist  sicherlich  nicht 
als  Gesangsstimme,  sondern  als  Paukenrhythmus  zu 
verstehen.  Der  geringe  Tonumfang  des  Gesanges 
und   die  monotone  Wiederholung  (das  StUck  geht 


—     118    — 

jedenfalls  noch  beliebig  lange  so  weiter,  der  Verfasser 
erzahlt  von  stundenlangen  nachtlichen  GesSngen) 
entspricht  so  sehr  den  vorher  angefuhrten  zuver- 
lassigen  Beispielen,  da6  wir  auch  dieses  im  wesent- 
lichen  als  authentisch  betrachten  durfen.  Es  scheinen 
bei  den  Ureinwohnern  der  Andamanen,  wie  bei  den 
ursprunglichsten  Stammen  der  Wedda,  Melodien 
mit  groBerem  Tonumfange  nicht  vorzukommen.  Urn 
so  wichtiger  ist  der  Gebrauch  der  Oktave  und 
Quinte  bei  den  Chorgesangen. 


j;=#^:ty-:|:::jLj»  ji  nrrtx^m 


JRezit.  auf    tr      tlT 


Rezit. 


^z^ii=f.ziczm=r     P  cr  J^^ 


usw. 


Metr.  j  =  100,  allmahlich  schneller 


[§  J  J  j: 


usw. 


—     119 
7. 


"""--s 


p^=g^r^g=f^m^^"gT-1^i^^ 


Mann 


f^  r'rlr^n  'J  r^=r^^ 


-usw. 


GesSnge  des  Waldvolkes  der  Kubu  auf  Sumatra, 
nach  phonographischen  Aufnahmen  des  Museums- 
direktors  Hagen  in  Frankfurt  a.  M.  (Ph.- A.  Nr.  16). 
Hier  begegnen  wir  einem  ganzlich  anderen  Typus. 
Es  dominieren  die  groBen  konsonanten  Intervalle 
Oktave,  Quinte,  Quarte,  die  auch  ziemlich  rein  ge- 
troffen  werden,  obgleich  die  Kubu  auf  einer  sehr 
tiefen  Kulturstufe  stehen  und  ihre  Gesange  sich 
sonst  nicht  in  unsere  Formen,  namentlich  nicht  in 
eine  Takteinteilung  fUgen.  Wo  eine  Trommelbeglei- 
tung  vorhanden  ist,  scheint  sie  im  wesentlichen  sieben- 
teilig,  aber  auBer  Zusammenhang  mit  den  rhythmisch 
betonten  Stellen  des  Gesanges.  Nur  an  zwei  Ge- 
sangen  glaubt  v.  Hornbostel,  der  aile  untersucht  und 
in  Noten  gebracht  hat,  auch  eine  etwas  festere  und 
zwar  siebenteilige  Rhythmik  zu  erkennen,  die  aller- 
dings  an  verschiedenen  Stellen  durch  Einschaltung 
von  Pausen,  durch  Verkurzungen  oder  Verlangerun- 
gen  des  Tonbestandes  unterbrochen  wird. 

Nr.  5,  als  „Minnelied  eines  Junglings"  bezeichnet, 
aber  von  einem  aiteren  Mann  gesungen,  beginnt  mit 


—     120     — 

einem  Triller  oder  Tremolo  auf  der  Oktave  des 
Grundtons  (wenn  wir  a^  als  Grundton  betrachten), 
senkt  sich  dann  durch  eine  erhohte  groBe  Terz  (cis^), 
die  moglicherweise  als  Quarte  des  Grundtones  zu 
verstehen  ist,  auf  diesen  herab  und  verweilt  lange 
darauf,  mit  Ausweichungen  um  einen  Ganzton  nach 
unten.  Dann  folgt  ein  Rezitieren  auf  den  beiden 
letzten  Tonen,  das  aber  v.  Hornbostel  keineswegs 
als  einen  Sprachgesang  im  eigentlichen  Sinne  be- 
zeichnet  wissen  will,  da  das  tonale  Element  stets 
scharf  ausgepragt  bleibt.  Darauf  setzt  die  Stimme 
wieder  starker  auf  der  frei  angeschlagenen  Quinte 
ein,  steigt  unvermittelt  zur  langgehaltenen  Oktave 
und  sinkt  wieder  in  ahnlicher  Weise  herab.  So 
folgen  noch  verschiedene  Wiederholungen  mit  genau 
gleicher  Intonation. 

Nr.  6,  eine  Zauberformel  zur  Krankheitsheilung, 
vom  Zauberdoktor  gesungen,  zeigt  dieselbe  Ton- 
bewegung,  durchlauft  aber  alle  Tone  einer  fiinf- 
stufigen  Leiter  (bei  der  Wiederholung  ist  noch  ein  f  als 
Durchgangston  eingeschaltet).  Zwischen  den  hier 
mitgeteilten  Stellen  bewegt  sich  die  Stimme  langere 
Zeit  nur  auf  d,  e,  g,  ahnlich  wie  im  ersten  Stack  (g, 
a),  aber  mit  ausgesprochenem  ZeitmaB. 

Von  ahnlicher  Art  sind  die  meisten  ubrigen  Kubu- 
gesange.  Fast  alle  setzen  auf  einer  hohen,  sehr 
lange  gehaltenen  Note,  meistens  der  Oktave  des 
Haupttones  mit  groBerTonstarke  ein.  Der  Klangfarbe 


—     121     — 

nach  ist  es  oft  mehr  ein  Schreien  als  Singen,  aber 
den  Intervallen  nach  Musik  im  eigentlichsten  Sinne 
des  Wortes.  Oberall  treten  die  konsonanten  Intervalle 
als  Ruhepunkte  stark  hervor,  gelegentlich  auch  die 
kieine  Septime  des  Grundtons.  Die  Sekunden- 
schritte,  meist  groBe,  zuweilen  auch  kieine,  mogen 
dabei  immerhin  nur  durch  bloBe  Distanzabmessungen 
getroffen  werden.  Aber  bei  den  unvermittelt  ein- 
setzenden  und  gut  getroffenen  Quarten,  Quinten, 
Oktaven  ist  dies  unmoglich  anzunehmen.  Ofters  wird 
ein  Ton  auch  durch  ein  rasches,  stetiges  Glissando 
von  oben  oder  unten  erreicht,  ohne  da6  die  Sicher- 
heit  der  Intonation  darunter  litte. 

Die  ganze  Tonbewegung  erinnert  offenbar  stark 
an  die  der  tirolischen  Juchzer  und  erscheint  als  ein 
guter  Beleg  fUr  die  vorgetragene  Hypothese  vom 
Ursprung  der  Musik  aus  Signalrufen.  Einer  der 
Gesange  wird  auch  direkt  als  „Zuruf  der  Kubu  im 
Walde"  bezeichnet.  Er  geht  vom  Anfangston  direkt 
um  eine  voile  Duodezime  herab  und  besteht  wesent- 
lich  nur  aus  diesen  beiden  Tonen. 

Nr.  7  ist  ein  Duett,  vom  Zauberdoktor  und  einer 
Frau  gesungen.  Diese  halt  die  hohere  Oktave  des 
Grundtons,  zu  der  sie  von  einer  unbestimmt  intonier- 
ten  Quinte  stetig  herabsteigt,  lang  aus,  wahrend  der 
Mann  auf  dem  Grundton  und  dessen  Unterquarte 
rezitiert.  So  geht  es  auch  weiter.  Interessant  als 
primitivste  Art  einer  Orgelpunktmehrstimmigkeit. 


—     122     — 

Die  Kubu  besitzen  Blasinstrumente,  mehrere  Arten 
von  Floten,  die  allerdings  von  den  benachbarten  Ja- 
vanern  iibernommen  scheinen.  Diese  Instrumente 
haben  zur  Einburgerung  und  Festigung  der  Intervalle 
im  BewuBtsein  der  Sanger  gewiB  beigetragen,  werden 
aber  bei  obigen  Gesangen  nicht  gebraucht. 


Metr.  J  =  120 


dim. 


^w^^^^^^mM^^^^m 


m^^^aE^^^jryj  .^-i^ 


(alias) 


r 

An  der  Westkiiste  von  Australien  (Beagle-Bay) 
von  Missionaren  phonographisch  aufgenommen;  bis- 
her  unveroffentlicht.  Das  Lied  v^ird  immerfort  v^ieder- 
holt,  dabei  aber  statt  des  letzten  c  haufig  das  An- 
fangs-e  vorweggenommen,  so  da6  dieses  funfmal 
auftritt.  Es  wird  in  genauem  ZeitmaB  gesungen  und 
schreibt  sich  am  einfachsten  v^ie  hier,  in  zwei  Ab- 
teilungen  zu  je  12  Vierteln  gegliedert,  die  erste  in 
vier  3/4-Takten,  die  zweite  in  drei  V4-Takten;  doch 
wtirden  nach  der  Akzentuierung  die  ersten  12  Viertel 
sich  noch  besser  in  die  Taktfolge  ^4*  ^4*  '^U  fugen. 
Der  Gesang  M^ird  durch  Trommelschlage  auf  jedem 
Viertel  und  durch  Ratteln  begleitet. 

Das  Beginnen  auf  hohen  starken  Tonen  und  die 
Senkung  auf  tiefe  schwache  scheint  fiir  australische 


123    — 


Gesange  ganz  typisch  zu  sein.  Zahlreiche  Bericht- 
erstatter  aus  alter  und  neuer  Zeit  von  Collins  bis 
Beckler  tun  dieses  Zuges  Erwahnung.  Auch  von 
den  Karesau-Papua  in  Deutsch-Neuguinea  berichtet 
Prof.  P.  Schmidt,  da6  der  Melodiengang  zumeist 
absteigend  sei;  der  SchluB  erfolge  dort  stets  auf 
der  unteren  Tonika  oder  mit  einem  Sprung  von  da 
zu  ihrer  hoheren  Oktave.  (3.  KongreBbericht  der 
Internationalen  Musikgesellschaft  1909,  S.  297.) 

9. 

Metr.  J  =  80. 


JTU-J-J-Je;^^^ 


Metr.  .  =  120. 


10. 


^.J^rm^^^d^^^zn^j. 


i 


^ 


7?^=1^ 


r^ 


Diese  Gesange  hat  Ch.  S.  Myers  auf  den  Murray- 
Inseln  in  der  Torres-StraBe  phonographisch  auf- 
genommen  und  seine  darnach  gemachten  Abschriften 
und  Messungen  mir  freundlichst  uberlassen.  Auf 
den  Triolen  des  ersten  Liedes  v/ird  immerfort  das 
Wort  „semarer"  wiederholt. 


-     124    — 

Das  merkwurdigste  an  beiden  Liedern  ist,  da6 
sie  auf  das  Bestreben  hinzuweisen  scheinen,  die 
Oktave  in  sechs  gleiche  Teile  zu  zerlegen,  ahn- 
lich  wie  dies  durch  unseren  temperierten  Ganzton 
geschehen  kann.  Nach  den  von  Myers  beigegebenen 
tonometrischen  Bestimmungen  entsprechen  die  Inter- 
valle,  wenigstens  bei  dem  ersten  Gesang,  ziemlich 
gut  einer  solchen  Voraussetzung.  Bei  dem  zweiten 
wird  der  Ganzton  mit  dem  Absteigen  immer  kleiner, 
so  daB  der  letzte  der  drei  Schritte  nur  einen  guten 
3/4-Ton  betragt.  In  einem  dritten,  hier  nicht  mit- 
geteilten  Liede,  dessen  Struktur  dem  des  ersten 
gleicht  (stufenweise  absteigend  mit  einem  aufstei- 
genden  Oktavenschritt  in  der  Mitte)  werden  ein- 
zelne  Stufen  doch  erheblich  groBer  als  unser  Ganz- 
ton genommen.  Es  ist  daher  zunachst,  bis  wir 
weitere  Anhaltspunkte  haben,  noch  nicht  als  sicher 
zu  betrachten,  daB  wirklich  eine  gleichstufige  Sechs- 
tonleiter  intendiert  ist. 

Bemerkenswert  ist  jedenfalls  wieder  die  iiberall 
festgehaltene  Tonbewegung  nach  unten,  ebenso  aber 
das  Vorkommen  des  Oktavenschrittes,  der  auch,  wie 
es  scheint,  gut  getroffen  wird. 

11. 
Metr.  J-  =  100. 


m^^=i4=^^±^^^^^^=^ 


125     — 


jlj"  J  J^^E^^^^^^^^^E^ 


^'   zi.  zn 


i 


JJ    ^  I  J     Jt^^Egg^^pEg 


t==* 


^ 


y^  J-i^^i^^fnrTT^lT=j=j 


iFn^3r--°^-^:^rj=rQ=^p^3 


ritard. 


|_ju_^iTjS^4^EgfrrT^^pfegg 


12. 


Metr.  J  =  192. 
F 


f--^-^  r  r  r  c/^^^^'r  r  r  r  ^ 


i^  i  i  i  i  j^"  i  i-^-^-^^^r^ 


i 


HI   J-f|i-i!=tf;  ^  Q 


-J— i — I 


*    5t   ^• 


B 


^  J'f  r  r  Lfc^-j.  J  ^  r^^^f^r^ 


i 


j^^r  r  ^-  ^  n^&^r-if-^.i=^£E^ 


—     126 


i 


P^ 


W^^^i  i  ^  ^ 


usw. 


Zwei  Proben  aus  dem  sudlichen  Telle  von  Neu- 
Mecklenburg  (Ph.-A.  Nr.  12).  Nr.  11  ist  ein  „Regen- 
zauber"  aus  Lamassa,  von  elnem  Hauptling  gesungen. 
Die  Rhythmisierung  bot,  so  elnfach  sle  jetzt  aussleht, 
V.  Hornbostel  enorme  Schwlerlgkelten  und  machte 
die  Notierung  zu  einer  wahren  Geduldsprobe.  Das 
gewahlte  Taktschema  schelnt,  obgleich  es  den  melo- 
dischen  und  dynamlschen  Akzenten  zuwellen  nlcht 
entspricht,  dem  Eindruck  noch  am  ehesten  gerecht 
zu  werden.  Der  erste  Ton  v^ird,  wle  bel  anderen 
Liedern  aus  der  glelchen  Gegend,  mlt  elnem  Ab- 
wrarts-Gllssando  elngeleltet,  das  so  geschlckt  In  den 
ersten  Ton  iibergefuhrt  wlrd,  da6  es  schwer  fallt, 
dlesen  als  den  Anfangston  zu  erkennen.  Den  SchluB 
bildet  elne  Art  Llppentrlller,  aus  elner  auf-  und  ab- 
wartsgleltenden  Tonbewegung  mit  gleichzeitlgem  br 
bestehend;  v.  Hornbostel  vermutet  darin  elne  sym- 
bolislerende  Nachahmung  des  Donners. 

Nr.  12  wird  zum  Sonnentanzfest  in  King  von 
vielen  Sangern  gleichzeitlg  gesungen  und  von  Tanz- 
Evolutlonen   begleitet;  In   den  Phonographen   sang 


—     127     — 

aber  nur  einer.  Die  Periodisierung  ist  klar:  jede 
Strophe  hat  einen  hohen  und  einen  tiefen  Teil,  der 
immer  mit  einem  langeren  Verweilen  auf  dem  tief- 
sten  Ton  endet.  Die  Melodiebewegung  bleibt  sich 
im  allgemeinen  bei  den  Wiederholungen  gleich,  aber 
jede  Strophe  (es  sind  noch  mehrere  in  v.  Horn- 
bostels  Abhandlung  veroffentlicht)  bringt  Varianten. 
Das  ZeitmaB  wird  trefflich  innegehalten;  aber  Takt 
in  unserem  Sinne  ist  nicht  hineinzubringen,  wenn 
auch  zeitweise  ein  ^/^-Takt  hervorzutreten  scheint. 

Sehr  merkwurdig  ist  hier,  wie  auch  bei  anderen 
Neu-Mecklenburgischen  Gesangen,  der  bestandige 
Wechsel  zwischen  Falsett-  und  Bruststimme  (durch 
F  und  B  bezeichnet)  beim  hohen  und  tiefen  Teil, 
wobei  das  Falsett  sehr  weich  und  angenehm  klingt 
und  der  Ubergang  der  Register  ineinander  geschickt 
ausgefuhrt  wird.  Auch  das  freie  Einsetzen  der  Duo- 
dezime  bei  den  Wiederholungen  ist  sehr  bemerkens- 
wert. 

Die  Intonation  der  Intervalle,  die  v.  Hornbostel 
hier  genau  gemessen  hat,  wird  durch  die  Noten  teil- 
weise  nur  annahernd  wiedergegeben.  Bei  Nr.  11, 
welches  nur  aus  den  Tonen  a  —  d^  —  e^  —  g^  be- 
steht,  ist  die  Quarte  a  —  d^  stark  vergroBert.  Die 
Quarte  d^  —  g^  rein,  e^  liegt  fast  genau  in  der 
Mitte  zwischen  d^  und  gK  Man  hat  also  a  immer 
erheblich  tiefer,  e^  erheblich  hoher  zu  nehmen,  als 
es  nach  unserer  Intonation  der  Fall  ware.    Bei  12 


—     128     — 

ist  die  Terz  e^  von  c^  aus  gerechnet  auch  etwas  er- 
hoht.  Sehr  rein  sind  die  Oktaven  c^  —  c^,  d^  —  d^, 
e^  —  e^.  a  ist  gegen  a^  ein  wenig,  aber  auch  nur 
unbedeutend,  zu  tief.  Die  Intonation  der  Oktaven 
ist  uberhaupt  bei  Naturvolkern  durchschnittlich  von 
auffallender  Reinheit. 

In  Neu-Mecklenburg  finden  sich  wohlausgebildete 
Panpfeifen,  auf  denen  Melodien  geblasen  v^erden, 
also  eine  selbstandige  Instrumentalmusik.  Diese 
Pfeifen  weisen  nach  v.  Hornbostels  Untersuchungen 
deutlich  auf  eine  friihere  Verbindung  mit  Java  hin. 
Aber  die  Gesange  scheinen  mit  den  auf  den  Pfeifen 
vorgetragenen  Tonweisen  nicht  enger  zusammen- 
zuhangen. 

13. 


.     Metr.  J  =  144. 

-^4 J-  -^ =4 

^=^^ 

t 


^^i- 


n 


r^Tf ' '  ^T 


i 


F^^ 


r=f-j 


r 


Diese  fur  unsere  Ohren  recht  anmutende  Weise, 
als  „Totenklage  einer  Mutter"  bezeichnet,  hat  nebst 
vielen  anderen  Dr.  Thurnwald  aus  Melanesien   fUr 


—     129     - 

unsere  Sammlung  mitgebracht.  Sie  stammt  aus  der 
kleinen  Insel  Nissan  zwischen  Neu-Mecklenburg  und 
den  Salomon-Inseln.  v.  Hornbostel  hat  sie  nach 
dem  Phonogramm  genau  notiert  und  mir  als  Probe 
der  ganz  eigentumlichen  dort  geubten  Jodel-Gesange 
aberlassen.  Diese  Kunst,  die  uns  schon  in  Neu- 
Mecklenburg  begegnete  und  nicht  minder  afrikani- 
schen  Stammen  wohlbekannt  ist,  findet  sich  hier  in 
hohem  Grade  ausgebildet.  Die  Falsett-Tone  sind 
in  den  Noten  mit  dem  Hals  nach  oben  geschrieben, 
die  Brusttone  nach  unten.  Die  Melodie  wird  immer- 
fort  wiederholt,  aber  immer  mit  Varianten,  wobei 
man  sich  auch  an  die  Takteinteilung  nicht  ganz 
strenge  bindet.  Unter  welchen  Bedingungen  eine 
solche  melodisch  und  technisch  vorgeschrittene 
Sangeskunst  in  Melanesien  entstanden  ist,  dariiber 
werden  nahere  Untersuchungen  hoffentlich  bald  Licht 
verbreiten.  Sie  scheint  in  Verbindung  zu  stehen  mit 
einer  vielfach  durchgefuhrten  Mehrstimmigkeit,  die 
uns  in  Erstannen  setzt,  wovon  aber  hier  noch  keine 
Proben  mitgeteilt  werden  konnen. 

Bemerkenswert  ist  die  ungenierte  Erweiterung 
des  V^-Taktes  durch  Einschiebung  eines  Viertels. 
Aber  auch  an  einem  Melodieton  der  sonst  so  ein- 
ganglichen  Weise  macht  sich  das  Exotische  geltend: 
an  dem  e^  des  vierten  Taktes.  Die  fortgesetzten 
Quartenschritte  d^  —  a^  —  e^  —  a^  —  d^  bertihren 
uns  unmelodisch  und  hart.     Solche  Melodiefuhrung 

Stumpf,  Anfiinge  der  Musik  9 


—     130    — 


wird  aber  notwendig,  wenn  die  Terz  des  Grund- 

tones  aus  irgendeinem  Grunde  vermieden  wird:  sei 

es,  da6  die  in  dieser  Gegend  gebrauchliche  Leiter, 

d.  h.  das  Tonmaterial,  aus  dem  alle  Melodien   ge- 

bildet  werden,  diesen  Ton  iiberhaupt  nicht  enthait, 

Oder  daB  er  bei  einzelnen  Melodien  eines  bestimm- 

ten  Ausdrucks  halber  ausgeschaltet  wird.  Die  Leiter, 

soweit  sie  dieser  Melodie  entnommen  werden  kann, 

ware:  d—  e  —  g  —  a  —  h  —  d^  eine  funfstufige 

ohne  Terz,  wie  sie  auch  vielfach  bei  den  Indianern 

vorkommt.    Darum  wurden  der  Dreiklang  und  der 

Dominant-Septimenakkord,  die  wir  unwillkurlich  zu 

dieser   Melodie    hinzudenken,    unzulassige   Zutaten 

sein,  und  damit  ruckt  uns  die  Melodie  selbst  wieder 

erheblich  ferner. 

14. 
Metr.  J=  116. 


M  ^^  jr^=^^^^^=r^=^^ 


i^^^y^^=h^^S^^^^^j^i±rM] 


Metr.  J  =  152. 
I. 


15. 


l^=^^^y^l^^^3=JLiJXJ; 


fe#=J=J^^?F^^^=3?ih^^=B^ 


#^iN^^=^=^;^gEE^ 


—     131 


rW^nJ'nii^n^Lujjy^^ 


^^ 


TT 


^ 


3/8 


i 


r^.    N 


^f^-Tj  j;.R^^3 


i^at 


^ 


III  u.  IV.        V. 


M=^-=^ 


^^^E5 


^7 1^ 


^i-^.4r^j>^^^=^^i.:J^ 


^ 


^^=j— ^h-j^£g 


usw. 


16. 


Metr.  J.  =  100 
(a) 


-i-:^h^i-J-±3^ 


(c) 


i 


(ao) 


(b) 


:r^:^aa^=[>^^^^j  J,  ^JT^ 


(c) 


(b) 


i^z^j=Ea^j1  J,  J  j^^ 


i 


(ao) 


¥^ 


5=1i^=^ 


-^^—i—it 


#=i=J=* 


usw. 


9* 


Metr.  J-  =  100. 
I. 


132 
17. 


S 


r=g-rTmrf^^tFf^r=tr^ 


tS 


F^RT*''  ^  l1l-^^gl?E;[^^^ 


^^JF^i^^r^J'  oHi'WlJ 


II. 


^glr  g  r  J'T^=J^-^r^=^ 


^|-^z£J77r;n^?^=^i:3=te^^ 


S 


III.  


i 


«=^ 


--MF=f' 


^^^^^1 


:^: 


^      ^ 


9^^^!=^^^^ 


p^^^spiE^^^ 


^' li  J  J)  1 1 AJ=a=?^:?=^l^^ 


IV. 


^S-l=g=^gii;M  ''^  g-^^^ 


USff. 


Mit  diesen  Beispielen  wenden  wir  uns  nach 
Amerika  zu  den  Indianern,  und  zunachst  zu  den  siid- 
amerikanischen.  Die  primitivsten  Weisen,  die  hier 
vorkommen,  dtirften  die  der  Feuerlander  sein,  von 


—     133     — 

denen  uns  Hr.  W.  Furlong  kurzlich  Proben  sandte. 
Sie  haben  eine  gewisse  Ahnlichkeit  mit  den  Wedda- 
Gesangen.  Aber  ich  kann  davon  nichts  mitteilen, 
da  sie  noch  nicht  naher  untersucht  sind. 

Die  obigen  Melodien  sind  Gesange  derTehueltsche 
in  Patagonien,  von  Prof.  Lehmann-Nitsche  phono- 
graphiert.  Dr.  Fischer  hat  51  davon  in  Noten  tiber- 
setzt  (Ph.- A.  Nr.  15).  Sie  stehen  im  allgemeinen 
auf  einer  niedrigen  Stufe,  setzen  sich  aus  kleinen 
Motivchen  zusammen,  innerhaib  deren  sich  die 
Stimme  fast  nur  in  Ganz-  oder  Halbtonstufen  be- 
wegt  und  die  endlos  wiederholt  werden.  Im  ganzen 
kommt  dabei  meistens  ein  Tonumfang  von  einer 
Quarte  oder  Quinte,  selten  ein  groBerer  heraus. 
Dennoch  bieten  auch  diese  Lieder  dem,  der  sich 
darein  vertieft,  bemerkenswerte,  ja  anziehende  Seiten, 
namentlich  in  Hinsicht  ihrer  Struktur*. 


*  In  Fischers  Abhandlung  sind  unsere  vier  Lieder  Nr.  31, 
21,  8  (S.  946)  und  46.  Die  Notenbilder,  die  auf  Grund  der 
oben  erwahnten  Revision  von  uns  als  zutreffendste  befunden 
wurden,  weichen  etwas  von  den  dort  gegebenen  ab.  Aber 
die  Abweichungen  betreffen  entweder  AuBerlichkeiten  der 
Schreibung  (z,  B.  urn  die  Halfte  verkiirzte  Notenwerte  bei 
Nr.  16)  Oder  andere  Setzung  der  Taktstriche  oder  langere 
Fortfuhrung  der  Melodien.  Nur  bei  Nr.  14  weicht  auch  die 
Rhythmisierung  etwas  von  der  Fischerschen  ab,  wahrschein- 
lich  weil  wir  nicht  den  Anfang,  sondern  spatere  Wieder- 
holungen  der  immer  wiederkehrenden  Weise,  die  besonders 
klar  hervortraten,  als  typische  zugrunde  legten.  Gerade  fiir 
diese  auBerst  simple  Weise  war  das  treffendste  Notenbild 
schwer  zu  finden  wegen  der  kleinen  Intervalle  und  des  viel- 
fachen  Uberschleifens  der  Tone. 


■r-  134  — 

Nr.  14  gleicht  ziemlich  den  Wedda-Gesangen: 
Umfang  nur  eine  kleine  Terz,  Melodiefuhrung  ganz 
einformig. 

Nr.  15  ist  schon  ein  wenig  reicher,  als  ware  die 
Weise  aus  der  ersten  durch  Erweiterung  des  Motivs 
herausgebildet.  Teil  II  ist  eine  abgekiirzte  Wieder- 
holung  von  I,  wobei  aber  zweimal  in  den  sonst 
regelmaBigen  3/2-Takt  eine  durch  punktierte  Klammern 
abgegrenzte  Enklave  von  3  Achteln  eingeschoben 
wird,  die  wie  ein  Echo  gemeint  scheint,  ahnlich  den 
beliebten  Echos  in  der  Musik  des  18.  Jahrhunderts. 
Dann  folgen  einige  weitere  Wiederholungen,  von 
denen  die  funfte  noch  angefugt  ist,  weil  hier  sogar 
eine  Enklave  von  9  Achteln  in  die  sonst  unverandert 
wiederholte  Melodic  eingeschoben  ist.  Diese  Ein- 
schiebungen,  die  bei  II  noch  dazu  zwischen  den 
zwei  Achteln  eines  Viertels  stehen,  dunken  uns  ganz 
irrationell,  sind  aber  sicher  nicht  willkiirlich,  sondern 
folgen  gewissen  Regeln.  Man  konnte  auch  sagen, 
der  gewohnliche  ^^l^-Takt  sei  in  II  beide  Male  zum 
i^/g-,  in  V  zum  21/g-Takt  erweitert,  welche  alle  sich 
durch  3  teilen  lassen.  Und  man  konnte,  wenn 
es  nicht  zu  gewagt  ware,  auch  hier  auf  Parallelen 
aus  der  FrUhzeit  unserer  Musik  verweisen:  auf  die 
mannigfaltigen  Unterarten  der  divisio  novenaria 
und  duodenaria  bei  den  Mensuralisten  des  14.  Jahr- 
hunderts (Joh.  Wolf,  Geschichte  der  Mensural- 
Notation  von    1250—1460,   I,  28 ff.,  274 ff.).     Auch 


—     135     — 

Alterationen  der  Pausen  kamen  damals  vor,  wie  sie 
heute  nicht  mehr  gebrauchlich  sind,  wie  sie  uns 
aber  bei  Indianern  noch  begegnen  werden. 

Nr.  16  ist  das  uns  verstandlichste  der  Lieder. 
Es  setzt  sich  aus  3  Motiven  zusammen,  die  immer- 
fort  in  verschiedener  Ordnung  einander  ablosen. 
Das  Motiv  a  erscheint  bald  mit  dem  ersten  Viertel, 
bald  ohne  dieses  (ao).  Gelegentlich  wird  eine  Pause 
von  drei  Achteln  eingeschaltet,  wodurch  der  ^/g-  in 
12/g-Takt  ubergeht,  wie  im  letzten  Takt  unserer  No- 
tierung.  An  spateren  analogen  Stellen  wird  diese 
Pause  ausgefullt,  indem  statt  ao  die  Form  a  einsetzt, 
wodurch   dann   ebenfalls   12  Achtel  herauskommen 

Nr.  17  haben  wir  hier  in  groBerer  Ausdehnung 
wiedergegeben,  weil  es  eine  besonders  lehrreiche 
Struktur  aufweist.  Man  bemerkt  sofort  die  haufig 
eingeschalteten  Vs-^akte.  Der  Abschnitt  II  ist  in 
dieser  Hinsicht  wie  in  der  ganzen  Rhythmisierung 
die  genaue  Wiederholung  von  I.  Der  Abschnitt  III 
ist  wieder  durch  dieEinfugungzweier,  mitpunktierten 
Klammern  zusammengefaBten  Takte,  die  als  Wieder- 
holung der  beiden  vorausgehenden  erscheinen,  so- 
wie  durch  die  drei  letzten  Takte,  die  sich  ebenfalls 
als  eine  wiederholende  Bekraftigung  des  Schlusses 
darstellen,  erweitert;  sonst  ganz  identisch  gebaut. 
Bei  IV  sind  gleich  anfangs,  an  der  durch  den  Stern 
bezeichneten  Stelle,  die  zwei  ersten  Takte  von  I  aus- 
gelassen,  dann  geht  es  analog  wie  dort  weiter.    So 


—     136    — 

folgen  noch  viele  Varianten  der  gleichen  Grund- 
form. 

Nicht  minder  merkwurdig  ist  bei  diesem  Stucke 
die  Tonbewegnng,  die  erst  nach  vielfaltigem  Studium 
festgestellt  werden  konnte.  Physikalisch  gemessen 
sind  die  Tonschritte  noch  nicht,  aber  es  ist  kein 
Zweifel,  da6  die  obige  Notierung  im  ganzen  die 
wirkHchen  Verschiebungen  der  Tonhohe  trifft,  und 
da6  der  Sanger  am  Schlusse  des  Abschnittes  III 
wieder  richtig  auf  dem  Tone  d,  der  tieferen  Oktave 
des  Ausgangstones,  ankommt.  Er  bewirkt  dies  ein- 
fach  durch  Ganzton-,  Quinten-  und  Quartenschritte 
von  einer  Phrase  zur  anderen;  ges — h  ist  ja  fur  den 
Natursanger  sein  gewohnter  Quartenschritt. 

Wer  sich  die  Muhe  nimmt,  auch  nur  einen  ein- 
zigen  derartigen  Gesang  eines  sehr  niedrigstehenden 
Indianerstammes  naher  zu  analysieren,  der  wird  die 
verbreitete  Meinung,  als  handle  es  sich  bei  den 
Naturvolkern  mehr  um  ein  formloses  Heulen  als  um 
kunstlerisch  geformte  Produkte,  oder  auch  nur  die 
Ansicht  K.  Buchers,  als  schatzten  sie  an  der  Musik 
nur  den  Rhythmus,  hatten  aber  „keine  Empfindung 
fur  die  verschiedenen  Tonhohen",  als  seien  ihre 
Gesange  „monoton,  fast  melodienlos",  sicher  nicht 
mehr  teilen  konnen. 

Hervorragend  genau  darf  man  sich  naturlich  die 
Intonation  der  Patagonier  nicht  gerade  denken.  Die 
Terzen  werden  z.  B.  nach  Fischers  Beobachtungen 


137 


in  ein  und  demselben  StUcke  bald  groB,  bald  klein, 
bald  neutral  genommen.  Dagegen  werden  allerdings 
das  Tempo  und  der  Rhythmus  recht  gleichmaBig 
innegehalten,  was  damit  zusamnienhangen  wird,  daB 
die  meisten  Lieder  Tanzlieder  sind. 

Die  Patagonier  haben  als  Instrumente  auBer  der 
Trommel  einen  Musikbogen,  auf  dem  auch  Stucke 
von  ahnlicher  Einformigkeit  wie  Nr.  14  mit  auBerst 
schwacher  Tongebung  vorgetragen  werden. 

18. 

Metr.  J  =  152. 


^ 


Se 


^ 


V  '«/■ 


dim. 


3 


^-^^.^^^ 


fct 


3F^3^*^^^ 


=(*)" 


^^^^^^^^^^^^=^^ 


mf 


S^^^^^^^p 


w-r^r-w 


^ 


9i 


:^=#^N^^^ 


■7-f-*- 


^^ 


—     138    — 


^^^^m^^^^^m- 


(=  ^V4) 


^    T~^^^ry^~^-'^~]  "sw.  (Repetition.) 


Gesang  eines  Toba-Indianers  aus  Bolivien,  von 
Prof.  Lehmann-Nitzsche  in  St.  Pedro  phonographisch 
aufgenommen,  durch  v.  Hornbostel  und  Fischer  auf- 
gezeichnet,  bisher  unveroffentlicht.  Uber  den  Inhalt 
des  pathetisch  vorgetragenen  Liedes  ist  nichts  mit- 
geteilt.  Es  ist  wieder  ein  Beispiel  der  typischen 
Abwartsbewegung  mit  decrescendo.  Nach  langem 
Verweilen  in  der  Tiefe  setzt  die  Wiederholung  in 
voller  Starke  unvermittelt  auf  den  hohen,  sehr  gut 
getroffenen  Anfangstonen  ein.  Die  Einzelheiten  nach 
Tonbewegung  und  Takt  sind  hier  mit  besonderer 
Sorgfalt  wiedergegeben.  Sie  erscheinen  kompliziert 
genug,  kehren  aber  bei  den  Wiederholungen  des  Ge- 
sanges,  sowie  in  den  drei  Aufnahmen  des  Ganzen, 
die  von  demselben  Individuum  vorliegen,  mit  groBer 
Ubereinstimmung  v^ieder.  Wir  haben  z.  B.  abgezahlt, 
wieviele  Viertel  auf  die  Note  c^  im  8.  bis  10.  Takte 
fallen:  es  sind  immer  genau  15.  Ftir  die  Verzierungen 
des  c-  im  2.  bis  4.  Takte  soil  die  nach  verschiedenen 
Versuchen  gewahlte  Schreibweise  nur  als  eine  an- 
nahernde  gelten.  Es  schien  auch  ein  e^  darin  vorzu- 


—     139     — 

kommen,  aber  das  sind  eben  Manieren,  die  wir  weder 
genau  schreiben  noch  nachmachen  konnen.  Selbst 
die  Tongebung  ist  dabei  anders  als  gewohnlich. 
Auch  die  Tonbewegung  in  den  beiden  74-'rakten 
ist  nicht  gut  aufzuschreiben;  jedenfalls  kommen 
aber  beim  Abzahlen  7  Viertel  heraus. 

Der  Gesang  hat  den  auBerordentlichen  Umfang 
von  2V2  Oktaven.  Im  wesentlichen  halt  er  sich  in 
einer  funfstufigen  Leiter  mit  Terz  (bald  groBer  bald 
kleiner);  andere  Tone  werden  nur  im  Durchgange 
gebraucht. 


Manner. 


19. 


^g^El^iSi^p3 


^     4 


^^^r  U  r\^^-^^^-^-^^m 


Frauen. 


i^ 


f= 


is 


Manner. 


S^^^;7=F1^BJL4-CpL 


i 


#=[:: 


i^^ 


e 


^^^ 


—     140    — 

„Sehr  altes  religioses  Lied  der  Yaqui-Indianer" 
im  Staate  Sonora  an  der  Nordgrenze  von  Mexiko. 
Unter  dieser  Bezeichnung  ist  es  mir  nebst  anderen 
Indianergesangen  von  J.  C.  Fillmore  mitgeteilt  (s.  m. 
„Beitrage  zur  Akustik  und  Musikwissenschaft"  III). 
Es  ist  nicht  von  Fillmore  selbst  aufgeschrieben,  son- 
dern  ihm  von  dem  Bruder  eines  Mannes,  der  gegen 
30  Jahre  als  Gefangener  unter  den  Yaqui  lebte,  iiber- 
liefert.  Ich  ubernehme  naturlich  hier  keine  Garantie 
fur  die  Genauigkeit  der  Aufschreibung  und  habe  es 
nur  darum  aufgenommen,  well  es,  wie  auch  Fillmore 
bemerkt,  bisher  ein  Unikum  unter  den  Indianer- 
gesangen bildet,  in  Hinsicht  des  uber  der  Manner- 
stimme  durch  die  Frauen  ausgehaltenen  Begleittones. 
In  dieser  Beziehung  ist  die  Aufschreibung  auch  ge- 
wiB  vertrauenswurdig.  Wenn  man  nicht  einen  euro- 
paischen  EinfluB  vermuten  will,  v^urden  wir  darin 
einen  schonen  Fall  der  Orgelpunktweise  bei  Natur- 
volkern  haben,  analog  Nr.  7.  Beide  Male  liegt  der 
festgehaltene  Ton  oben.  Wir  v^erden  aber  auch  ein 
Beispiel  der  umgekehrten,  heute  gebrauchlicheren 
Lage  finden  (Nr.  27). 

20. 
Metr.  J  =  80. 


-     141     — 


^a^gE^^^^^faE^ 


\^^^^^^^^^^^^^^^3^i^ 


Stammt  von  den  Zuni-Indianern  (Pueblos).  Es 
ist  von  Oilman  nach  phonographischen  Aufnahmen 
von  Walter  Fewkes  (dem  ersten,  der  diese  Methode 
benutzte)  in  Noten  gesetzt  und  von  mir  in  ubersicht- 
licherer  Weise,  aber  materiell  ganz  unverandert,  um- 
geschrieben  (s.  o.  S.  65)*.  Hier  ist  es  urn  einen  hal- 
ben  Ton  tiefer  gesetzt.  Die  eingefugten  Striche  sollen 
die  Hauptabsatze  bezeichnen.  Eine  Taktgliederung 
ist  nicht  eingezeichnet,  doch  v^urden  sich  die  beiden 
mit  mf  beginnenden  Hauptabsatze  in  je  einen  ^4" 
und  einen  ^/4-Takt  zerlegen  lassen  (die  letzte  Note 
nur  urn  Vs  verlangert),  wahrend  der  SchluBpassus 
wesentlich  im  ^  g-Takt  steht. 

Das  Lied,  das  nur  ein  Abschnitt  eines  langeren 
Gesangsstuckes  ist,  zeigtv^ieder  die  absteigendeTon- 
bewegung  und  zugleich  die  abnehmende  Tonstarke 
so  vieler  primitiver  Gesange.  Mit  seiner  fanfaren- 
artigen  Einleitung  und  seiner  leise  verhauchenden 
Coda  ist  es  ein  schones  Beispiel  der  pathetischen, 

*  Nur  bei  +  in  der  vorletzten  Zeile  notiert  Oilman  einen 
halben  Ton  hoher.  Hier  handelt  es  sich  aber  sicher  urn  eine 
zufallige  Entgleisung  des  Sangers.  Die  Tone  liegen  ja  ohne- 
dies  den  Notenwerten  meistens  nur  nahe,  ohne  sich  ganz  da- 
mit  zu  decken,  uberdies  sind  solche  leise,  kurze  und  tiefe 
Tone  oft  schwer  zu  identifizieren. 


—     142    — 

impetuosen  Art,  die  besonders  dem  Singen  der  Pue- 
blo-Indianer  eigen  scheint.  Wir  wtirden  sagen,  daB 
es  in  der  absteigend  melodischen  Mollleiter  steht, 
mit  SchluB  in  Dur.  Doch  darf  man  es  wohl  auch 
hier  mit  der  groBen  und  kleinen  Terz  nicht  zu  streng 
nehmen,  die  Intonation  nShert  sich  nur  mehr  der 
einen  oder  anderen,  die  nachstliegende  Note  hat 
Oilman  jedesmal  gewahlt.  Eigentiimlich  bertihrt  der 
Anfang  sowohl  des  einleitenden  Teiles  als  auch  des 
Hauptteiles  in  der  Sekunde  des  Tones,  der  uns  als 
Tonika  erscheint  und  es  in  diesem  Falle  wohl  auch 
fur  die  Indianer  ist.  Auch  wir  fangen  zwar  durch- 
aus  nicht  immer  mit  der  Tonika  an,  mit  der  Sekunde 
aber  doch  selten.  In  das  Ethos  dieser  Melodic  kann 
man  sich  bei  ofterem  H5ren  immerhin  gut  hinein- 
leben  und  einen  Eindruck  davon  gewinnen,  womit 
ich  nicht  sagen  will,  daB  er  ganz  derselbe  ware  wie 
bei  den  Indianern. 

Die  nordamerikanischen  Indianer  haben  nur 
auBerst  wenige  und  durftige  Instrumente,  auBer 
Pauke  und  Rattel  nur  gelegentlich  Fl5ten,  in  ein- 
zelnen  Gegenden  auch  ein  Xylophon,  das  aber  aus 
Afrika  importiert  scheint.  Um  so  erstaunlicher  ist 
ihr  unbegrenzter  Reichtum  an  mannigfaltigen  und 
wohlgebauten  Liedern. 

21. 


^EF^^irnST^:^^^^ 


—     143 


PP  m/" 


P^^l^ 


b^j=^^i^ 


Aus  den  von  Oilman  neuerdings  nach  den  Auf- 
nahmen  von  W.  Fewkes  veroffentlichten  religiosen 
Gesangen  der  Hopi-(Moki-)Indianer,  die  gleichfalls 
zu  den  Pueblo  gehoren. 

Oilman  ist  durch  seine  tonometrischen  Analysen 
zu  der  Meinung  gekommen,  daB  die  Puebloindianer 
zwar  eine  Tendenz  zu  konsonanten  Intervallen  haben, 
zur  Oktave  und  besonders  zur  Quinte  und  Quarte, 
daB  sie  aber  sonst  die  groBten  Freiheiten  in  der  In- 
tonation aufweisen.  Auch  vvriirden  die  Intervalle  von 
jedem  Sanger  anders  wiedergegeben.  Es  sei  nur 
der  allgemeine  Weg,  den  die  Melodie  nimmt,  vor- 
gezeichnet.  Er  nennt  diese  Lieder  deshalb  Rote- 
Songs,  Routengesange,  und  erfindet  ein  graphisches 
Schema,  das  sie  besser  als  unsere  Noten  zum  Aus- 
druck  bringe. 

Obiges  ist  der  dritte  deracht„Schlangengesange", 
die  Starke  Ahnlichkeit  miteinander  haben,  alle  ein- 
fach  gebaut,  auch  von  einfachem  Rhythmus  und  mit 
immer  wiederkehrenden  absteigenden  Schritten  urn 
(ungefahr)  eine  Quarte,  Terz  oder  Quinte.  Die  No- 
tierung  ist  hier  nicht  die  von  Oilman  selbst  gegebene, 


—     144    — 

die  nur  seinen  allgemeinen  subjektiven  Eindruck 
darstellen  soil,  sondern  nach  seinen  genauen  Dia- 
grammen  durch  v.  Hornbostel  so  aufgezeichnet,  und 
zwar  gewissermaBen  als  Durchschnitt  (nicht  im  mathe- 
matischen,  sondern  psychologischen  Sinne)  aus  den 
zahlreichen  Varianten  bei  den  Wiederholungen,  die 
Oilman  alle  in  seine  Diagramme  eingetragen  hat. 
Die  Tonhohe  der  einzelnen  Noten  schwankt  dabei 
in  der  Tat  nicht  unbetrachtlich,  doch  meistens  inner- 
halb  eines  Halbtons.  So  wird  der  Hauptton  e,  auf 
den  die  Weise  immer  zuriickkehrt,  vielfach  als  dis 
intoniert,  das  tiefe  gis  umgekehrt  als  a.  Das  Vor- 
herrschen  der  Quartenschritte  ist  jedenfalls  der 
charakteristische  Grundzug  dieses  Gesanges.  Aber 
etwas  Subjektives  bleibt  allerdings  auch  an  v.  Horn- 
bostels  „durchschnittlicher"  Notation  haften;  man 
mtifite  sonst  eben  samtliche  Wiederholungen  mit  um- 
standlichen  diakritischen  Zeichen  in  Noten  setzen, 
und  schliefilich  waren  bei  jeder  neuen  Wiederholung 
sicher  neue  kleine  Veranderungen  aufgetreten. 

Die  Takteinteilung  ist  gleichfalls  nach  den  Dia- 
grammen  als  wahrscheinlich  intendierte  durch  v.  Horn- 
bostel vorgeschlagen;  Oilman  verzichtet  auf  Takt- 
gliederung. 

Die  ubrigen  Lieder  auBer  den  Schlangengesangen 
sind  bedeutend  komplizierter.  Sie  zeigen  eine  ahn- 
liche  Strukturwie  unser  nachstfolgendes  Beispiel,  auch 
einen  groBen  Tonumfang,  z.  B.  den  einer  Duodezime, 


—     145     — 

ebenso  die  absteigende  und  leise  verklingende 
Tonbewegung,  dann  wieder  den  plotzlichen  Uber- 
gang  zu  hoher  und  starkster  Stimmgebung,  wobei 
der  Ton  auch  gelegentlich  noch  urn  eine  halbe  Stufe 
in  die  Hohe  getrieben  wird  (Oilman  p.  171,  181)  usw. 
V.  Hornbostel  hat  versuchsweise  samtliche  Ge- 
sange  mit  alien  Wiederholungen  in  gleicher  Weise 
wie  den  obigen  aus  den  Diagrammen  in  Noten  uber- 
setzt,  und  wir  haben  den  Eindruck  gewonnen,  daB 
trotz  der  unbestreitbaren  UnregelmaBigkeiten  der  In- 
tonation doch  ein  festeres  Ton-  und  Taktgerust  zu- 
grunde  liegt,  als  Oilman  selbst  anzunehmen  geneigt 
ist.  Es  gibt  auch  bei  uns  Sanger,  die  es  mit  der 
Reinheit  genauer,  andere,  die  es  weniger  genau 
nehmen.  Aber  es  scheint  bei  den  Indianern  auch 
gewisse  Tone  der  Leiter  zu  geben,  die  sicherer,  an- 
dere, die  unsicherer  getroffen  werden  oder  vielmehr 
einen  breiteren  Spielraum  fur  die  Intonation  zulassen. 
Dazu  kommen  noch  die  durch  den  Ausdruck  beding- 
ten,  also  keineswegs  zufalligen,  sondern  ganz  regel- 
maBigen  Alterationen  an  bestimmten  wiederkehrenden 
Stellen  einer  Melodic.  Wir  werden  dies  alles  so- 
gleich  beim  nachsten  Liede  bestatigt  finden. 

22. 

Metr.  J=  112. 


^#^riiLgIJg 


Stump f,  Anfange  der  Musik  lU 


146    — 


LkrTX^^^^-jg^s^ 


a ? 


m^''^^  f^^-^^m 


m^^^^^^^^^ 


fe=gyg--jh.g.^^^^P^a=i5^ 


i^  m  oT^^^^^^^ 


B1 


fe-^"n  P^J- 1  ^  gS-jg^ 


teTT]  J  J'  ^  1^*  ^  0  %^^ 


CI 


^^^^^^^^^^ 


^^^p^i^^ 


[?] 


3Ei 


147 


^^^S^^^Ie^P^^e?^ 


"--^  ■ — - "  ^-      dimT' 


te 


Parlando 


s  i  h  \^^^^^ 


V  t'^ 


% 


^^p^p^ 


is;=^:==f 


7-"^ 


^fcj 


^i^pi^^ 


^^^^^^^^^^m 


i^^^^^n^^^^ 


B3 


148    — 

C2 


^ 


a^ZfZTC.,^ 


^ 


^t 


r=^ 


^^^^^^^m 


m 


B4 


^^^S^^^^^ 


i^^^^^^g 


^^-d:r     ^fr 


Alter  „Totengesang"  einer  Truppe  von  Pueblo- 
Indianern,  die  vor  einigen  Jahren  nach  Berlin  kamen. 
Sie  wurden  als  Hopi-Indianer  bezeichnet,  doch  ist 
es  nicht  sicher,  ob  sie  gerade  diesem  Stamme  an- 
gehorten.  Der  Gesang  wurde  nach  einer  von  der 
Favorit-Gesellschaft  aufgenommenen  Grammophon- 
platte  durch  Dr.  Fischer  in  Noten  gebracht,  die 
Notierung  dann  noch  durch  v.  Hornbostel  und  mich 
oftmals  nachgepriift,  da  sie  groBe  Schwierigkeiten 
bereitete.  Das  Lied  klingt  so  temperament-  und 
stimmungsvoll  aus  der  Aufnahme  heraus,  daB  wir 


—     149    — 

versuchen  wollten,  es  der  Vorstellung  und  dem  Ver- 
standnis  moglichst  nahe  zu  bringen.  Das  Bild  ist 
so  treu,  als  es  nur  immer  mit  unseren  Zeichen  her- 
zustellen  ist.  Das  gehaltene  fis  in  der  7.  Zeile  wurde 
auBerst  unrein,  von  verschiedenen  zugleich  ver- 
schieden  intoniert,  im  ganzen  stark  zu  hoch;  auch 
sonst  wird  in  dem  Sttick  gerade  das  betonte  fis 
leicht  etwas  hoher  genommen,  manchmal  (bei  ^v) 
klingt  es  aber  auch  wie  ein  Triller  mit  eis,  einer 
scheint  es   da  zu  tief  gesungen  zu  haben. 

Der  Tonbestand  ist  im  wesentlichen  der  einer 
Funfstufenleiter,  ein  Hauptton  laBt  sich  aber  schwer 
feststellen.  Am  ehesten  noch  cis;  fUr  uns  ware  es 
naturlich  a.  Nur  ganz  wenige  Tone  fallen  aus  der 
funfstufigen  Leiter  heraus:  abgesehen  von  der  un- 
deutlich  intonierten  Einleitungsformel,  kommt  einmal 
gis,  einige  Male  f  und  einmal  i\  sowie  an  bestimm- 
ten  Stellen  (unter  C)  his  vor.  Dies  sind  ganz  sicher 
keine  zufalligen  Entgleisungen,  sondern  Abweichun- 
gen  zu  bestimmten  Ausdruckszwecken.  Hier  ist 
nichts  von  Unreinheit  in  den  Stimmen  zu  merken, 
und  bei  den  Wiederholungen  wird  f  wie  his  genau 
ebenso  genommen. 

Wir  bemerken  noch,  daB  die  Tonhohe  sich 
wahrend  des  Gesanges  langsam  in  die  Hohe  zog, 
im  ganzen  etwa  um  einen  Viertelton.  In  der  Notierung 
ist  dies  nicht  beriicksichtigt.  Bei  Gilmans  Zuni-Ge- 
sangen  wird  derselbe  Zug  ofters  hervorgehoben.  Auch 


—     150    — 

bei  den  Bellakula-Liedern  bemerkte  ich  das  NMm- 
liche.  Ebenso  Hj.  Thuren  bei  den  Eskimo  (s.  u.). 
Deutlich  und  sehr  interessant  ist  die  Struktur. 
Vorausgeschickt  wird,  wie  so  oft  bei  Indianerliedern, 
eine  kurze  Einleitungsformel,  deren  Tonhohen  recht 
unbestimmt  herauskommen,  weshalb  sie  hier  mit 
kleinen  Noten  geschrieben  sind.  Sie  wird  fast  mehr 
gebellt  als  gesungen.  Dann  folgen  die  durch  Doppel- 
striche  getrennten  und  mit  Buchstaben  bezeichneten 
Abteilungen,  unter  denen  die  mit  gleichen  Buch- 
staben offenbar  melodisch  als  Wiederholungen  gel- 
ten.  B  kommt  viermal  vor,  immer  allerdings  mit 
gewissen  Freiheiten,  C  erscheint  zweimal,  A  und  D 
nur  je  einmal.  A  beginnt  mit  den  uns  nun  schon 
bekannten,  fur  unser  Ohr  harten  Quartengangen,  ver- 
lauft  dann  in  ein  lang  ausladendes  melodisches  Mur- 
meln  auf  den  Tonen  fis,  e  und  cis,  das  aber  rhythmisch 
streng  geregelt  bleibt.  B  ist  ein  Zwischensatz,  der 
dreimal  einen  neuen  Aufschwung,  in  Cj,  D  und  Cg 
vorbereitet.  Diej^-Stellen  werden  mit  groBem  Affekt 
vorgetragen.  B  verlauft  das  zweitemal  in  ein  Par- 
lando,  das  von  einzelnen  Sangern  schon  begonnen 
wird,  wahrend  andere  noch  den  SchluBton  cis  aus- 
halten.  Es  wird  rhythmisch  genau  in  der  angegebenen 
Weise  vorgetragen.  Den  SchluB  des  Ganzen  bildet 
eine  Art  Schrei,  ganz  gleichzeitig,  aber  auf  ver- 
schiedenen  Tonhohen,  ungefahr  den  angegebenen. 
Wahrscheinlich  geht  das  Lied  an  sich  noch  viel  langer 


—     151     — 

so  fort,  und  haben  die  Sanger  nur  einen  kUnstlichen 
SchluB  fur  ihren  damaligen  Vortrag  herbeigefUhrt. 

Ganz  kompliziert  und  doch  nicht  regellos  ist  fUr 
unsere  Auffassung  die  Takteinteilung.  Das  ZeitmaB 
wird  auBerordentlich  genau  festgehalten,  obgleich 
der  Gesang  nicht  durch  Pauken  oder  HSndeklatschen 
unterstutzt  wurde.  Im  ganzen  scheint  ein  vierteiliger 
Takt  zugrundezuliegen,  der  aber  vielfach  urn  einen 
Oder  zwei  Teile  verlangert,  auch  gelegentlich  ver- 
kiirzt  wird.  Diese  Anderungen  treten  aber  wieder 
mit  einer  gewissen  RegelmaBigkeit  ein.  Man  ver- 
gleiche  die  drei  ersten  Versionen  von  B.  Ihre  Takt- 
gruppen  sind: 

4+6+5  4+6+4+6  4+6+5 

Die  erste  und  dritte  Version   sind   also   genau 

gleich   eingeteilt,   die  zweite   anders,  aber  in  sich 

selbst  wieder  regelmafiig.     Die  Einteilung  von   C 

ist  beide  Male  fast  genau  dieselbe  (an   einzelnen 

Stellen    sind    von    uns    die    regelmafiig   fehlenden 

Sechzehntelpausen   in   Klammern   erganzt,    urn    die 

Schreibung  in  Vs  zu  ermoglichen,  eigentlich  mUBte 

man  ^^li^-Takt  schreiben;  es  handelt  sich  eben  hier 

urn  eine  sehr  prSzis  innegehaltene  Pause,  die  mit 

unseren  gewohnten  Takten  nicht  wiederzugeben  ist). 

D  zerfallt  wieder  in  zwei  Abteilungen  von  genau 

^  '  u     Ti.*i        4  +  5  +  6        4  +  5  +  6 
gleicher  Taktfolge:  — ^— j-^ —  ;      — —j~^ —  . 


152     — 
23. 


i 


Metr.  J  =  52. 


^^^^^I^SI 


K=^F=^^rJ^^1tJ^4;jj=1 


^^Q=^H^-^^=ffi:ffl#^ 


p^qi^-itjz^gai^^  umm 


fea-^HT^$n-j'  ^ji  J I ;  J^ 


24. 


Metr.  J  =  116. 


^^a^^i^f^^s^^ 


^^^i^^^^^p^^ 


.g =T=— .1 

1^^    JU'^-  J)liU^i  1  i^  1  i     ^ '-^ 

Aus  der  groBen  Sammlung  von  Miss  Curtis  (s.  o. 
S.  65).  Fur  vollige  Genauigkeit  kann  ich  nicht 
einstehen,  aber  die  technisch  gewandte  Schreibung 


—     153     — 

und  die  Strukturanalyse  verraten  so  viel  musikali- 
sches  VerstSndnis,  daB  man  die  Tongestalten  im 
allgemeinen  wohl  als  richtig,  nur  vielleicht  ein  wenig 
impressionistisch  wiedergegeben,  ansehen  darf.  Nr.23, 
S.  489  des  Werkes,  ist  ein  Schlaflied  (Lullaby)  der 
Hopi.  Die  Sechzehnteltriolen  dtirften  wesentlich  einen 
gleitenden  Ubergang  bedeuten.  Das  Lied  klingt 
auch  uns  stimmungsvoll,  wozu  die  absteigende  ver- 
minderte  Quarte  nicht  wenig  beitragt,  wenn  auch 
fis  wahrscheinlich  nur  als  ein  vertieft  intoniertes  g 
zu  verstehen  ist.  Beachtung  verdient  die  Gliederung 
des  Liedes.  Der  L  Teil  hat  sieben  Takte,  die  un- 
verandert  wiederholt  werden,  der  2.  bringt  ein  neues 
Thema  von  flinf  Takten,  das  mit  geringen  Verande- 
rungen  zweimal  wiederholt  wird,  die  letzte  Wieder- 
holung  ist  urn  einen  Takt  verkurzt.  Darauf  beginnt 
(von  mir  durch  Doppelstriche  abgetrennt)  die  Re- 
prise des  ersten  Teiles,  zunachst  in  sieben  Takten 
mit  einer  Veranderung  seines  Anfanges,  die  ihn  dem 
Thema  des  zweiten  Teiles  ahnlich  macht.  Dann  in 
weiteren  sieben  Takten  genau  nach  dem  ersten  Teil. 
Das  Schema  ist  also:  2X7,  3X5,  2X7  (nur  ab- 
gesehen  von  dem  ausgelassenen  Takt  im  zweiten  Teil). 
Nr.  24  (S.  120  des  Werkes)  ist  ein  Gesang  der 
Iruska,  eines  Pawneestammes  in  Oklahoma,  wieder 
von  der  Hohe  zur  Tiefe  gehend  und  lang  auf  dem 
SchluBton  ruhend.  Die  Leiter  ist  die  fUnfstufige 
ohne  Terz. 


154 


25. 


Metr.  Gesang  J,  =  54.    Trommel  ^  =  108. 


^^=M^^^^^^^^ 


Trommel 


iLJ     LJ     LJ 


usw. 


§^  ;  P  cri^Eg^g^^j:ra-fp^ 


^ig-g~p1g  g_E!rMl^^^ 


j^jwiucxiajxTn^^^^ 


i 


;   p   pig   p   ^'m_-g_g-ij.:=g^ 


^M=H=^^^-rrrrm=^^ 


^  ^ 


26. 


Metr.  J-  =  56. 


I 


\}    r>      f  f 


f-p  JlJTgziJl^^ 


^ 


?E^ 


n       Ll 


Trommel,  /rem. 
Ratteln,  Pfeife. 


fe^^^^^^^^^^ 


^^71  i ii^-n*  J  J  ^  i'  J ^^ 


155     — 


^^ 


j-j-r^^^g^EFj 


Schneller. 


^^ 


i^^^^^^ 


LJ    U    LJ  U 

Aus  dem  Werke  von  Miss  A.  Fletcher  uber  die 
Hako-Zeremonie,  ein  religioses  Fest  der  Pawnee- 
Indianer  (s.  o.  S.  65).  Die  Gesange  sind  von 
Mr.  E.  S.  Tracy  nach  phonographischen  Aufnahmen 
wiedergegeben,  er  hat  seine  Wiedergabe  dann  auch 
noch  einmal  mit  dem  Gesange  der  Festleiter  (Kura- 
hus)  verglichen. 

Nr.  25  (S.  171  des  Werkes,  dort  eine  Oktave 
tiefer  notiert,  also  im  Tenor-Sinne  zu  lesen)  wurde 
als  ein  sehr  alter  Gesang  bezeichnet.  Er  bezieht 
sich  auf  den  Laubvogel  (v^ren),  der  den  Pawnee  als 
ein  immer  lachender,  glucklicher  Vogel  gilt.  Man  er- 
kennt  leicht,  daB  das  Lied  aus  sechs  Perioden  von 
je  funf  Takten  besteht.  Wir  haben  sie  durch 
Doppelstriche  gesondert.  In  den  drei  letzten  Tak- 
ten jeder  solchen  Periode  kehren  immer  dieselben 
Silben  wieder:  whe  ke  re  v^e  chi,  die  angeblich 
den  Vogelruf  nachahmen.    Interessant  ist  auch  die 


—     156     - 

Melodiebewegung:  die  ftinf  Takte  nehmen  zuerst 
ihren  Ausgang  von  i\  dann  von  d^,  dann  von 
b,  welches  wohl  als  Hauptton  zu  gelten  hat; 
dann  gehen  sie  noch  eine  Terz  unter  diesen  her- 
unter  und  bleiben  ganz  auf  g  liegen.  Der  nach- 
ste,  vierte  Abschnitt  beginnt  wieder  mit  dem  Haupt- 
ton, der  letzte  endlich  wiederholt  den  ersten.  Fiir 
uns  auffallig,  aber  keineswegs  selten,  ist  der  un- 
gleiche  Rhythmus  der  Pauken  und  des  Gesanges. 

Nr.  26  (S.  251),  von  bestandigen  raschen  Trommel- 
schlagen  (Tremolo)  sowie  von  dem  Larm  der  Rat- 
teln  und  Pfeifen  begleitet,  wird  bei  einer  anderen 
Episode  des  Festes  gesungen.  Es  enthalt  eine 
Aufforderung  an  die  Kinder,  heranzukommen  und 
ihre  Gaben  zu  bringen.  Alle  Viertelnoten  werden 
etwas  tremolierend  mit  „PuIsation"  gesungen.  Nach 
dem  absteigenden  Hauptthema,  in  dem  ein  drei- 
taktiges  Motiv  einmal  wiederholt  und  ein  zweitaktiger 
Anhang  beigefugt  wird,  folgt  ein  Zwischensatz  von 
fUnf  Takten  in  tieferer  Lage,  dann  das  Hauptthema 
und  eine  zweitaktige,  obigem  Anhang  nachgebildete 
SchluBformel.  Die  Leiter  wieder  funfstufig  ohne  Terz. 

27. 


Andante  c.  moto.  y- 


m 


-^=^ 


'v=^ 


d 


f^^^ 


1 


S 


^ 


m^h^^Rr-^ 


^^=^'4 


p^ 


157 


Pf^j-rl^^^^^^^ 


o\  ^  t\ ij-iXt-^U  H=Mj=g  1 1 g-g 


usw. 


usw. 


28. 


gi=LL-^E^^^=^g 


5mal  wiederholt. 


Allegro. 


29. 


-4 


g^g^S^^:^;^^^F=F^I^E^O 


gJn-  J'  J  J'  -^  \^^i^.h^xTf^ 


i 


feF^^=?t±^3F^^^ 


aizzt 


*    ■'V  V' 


[il 


i^^^^^^^^ii^^ 


S^^^^-^^^^^^^^^^^^^^JTTX^ 


^^ 


£5 


j^^^-^^-^^-l-^^  i  i  i 


Andante. 


30. 


%^l=i-^=^^:1=v=P^^-f;=C:p^f-f^^ 


158 


i 


iy#^ 


31. 


Andante. 


^^^^i^M=MMM 


$^ms^ 


^  ^  ^  ^  ^ 

y      /      /      /      / 


-^ — r-Fi^ 


2^S 


t^=p4=t^=tn— t^-t 


i^^^p^Egj^^^^^^d^j 


Diese  Lieder  sind  nebst  vielen  anderen  von 
Th.  Baker  vor  der  Zeit  des  Phonographen,  aber  mit 
sehr  gewissenhafter  Beachtung  und  Erlauterung  des 
Details  aufgeschrieben  (s.  o.  S.  64). 

Nr.  27  ist  ein  Kriegslied  der  Irokesen  (Text:  Ich 
gehe).  Es  scheint  in  Perioden  zu  sechs  bzw.  drei 
Takten  gegliedert  zu  sein.  Als  Fortsetzung  ist  zu- 
nachst  eine  Taktpause  zu  denken.  Bemerkenswert 
ist  der  Gesang  durch  die  zweite  Stimme,  die  jeden 
Takt  im  Grundtone  markiert;  vielleicht  ein  Ersatz 
der  Pauke.  Hier  liegt  der  Orgelpunkt  unten,  gegen- 
uber  den  beiden  schon  besprochenen  Beispielen. 

Nr.  28  ein  uralter  religioser  Dankgesang  der 
Irokesen;  von  Mannern  gesungen,  die  urn  zwei 
mitten  im  Tanzsaal  aufgestellte  Hoizbanke  herum- 


—     159     — 

traben  (Baker  S.  37).  AuBer  den  Hauptakzenten 
wurde  bei  jedem  Schritt  der  ungraziosen  Bewegungen 
auf  den  entsprechenden  Ton  ein  schwacherer  Ak- 
zent  gelegt.  Man  kann  statt  unserer  Einteilung 
(Baker  verzichtet  auf  Taktgliederung),  wenn  die 
Hauptakzente  durchweg  mit  den  Taktakzenten  zu- 
sammenfallen  sollen,  den  Gesang  auch  aus  einem 
V4-  und  einem  ^U-  (2/4  +  ^U)  Takt  zusammen- 
setzen.  Nach  funfmaliger  Wiederholung  wird  mit 
einem  Schleifer  geschlossen,  der  „wie  ein  Juchzer 
ausgefuhrt  wird"  und  jedenfalls  in  einem  stetigen 
Herabgleiten  der  Stimme  besteht  (Baker  S.  17  und 
unsere  Anm.  12).  Das  merkwurdigste  an  dem  Liede 
ist  aber  sein  Tonumfang,  da  es,  abgesehen  von  dem 
SchluB,  aus  einem  einzigen  Ton  besteht.  Solche 
Gesange,  die  manche  als  die  uranfanglichsten  be- 
trachten,  kommen  also  in  der  Tat  vor,  und  dieser 
soli  ja  auch  wirklich  sehr  alt  sein.  Aber  wer  weiB, 
ob  er  nicht  schon  bei  seinem  ersten  Auftauchen  eine 
Ausnahme  war  und  die  Monotonie  absichtlich,  der 
erhabenen  Wirkung  wegen,  gewahlt  wurde. 

Nr.  29,  der  „Omahatanz",  ist  ein  Lieblingstanz 
verschiedener  Indianerstamme  unter  den  Dakota 
(Sioux).  Baker  schreibt  ihn  in  2/4-  Durch  die  Vor- 
zeichnung  ^^  scheint  mir  aber  die  Gliederung  des 
Stuckes  sehr  klar  hervorzutreten.  Der  Teil  nach 
dem  (von  mir  eingefugten)  Doppelstrich  ist  offen- 
bar  eine  Wiederholung  des  ersten.     Man  hat  nur 


—     160    — 

anzunehmen,  daB  im  1.  Takte  dieses  2.  Teiles  die 
Pause  vom  Sanger  urn  ein  (hier  uber  dem  System 
eingeschaltetes)  Viertel  verkurzt  wurde,  ein  Lapsus, 
der  auch  bei  uns  vorkommt,  und  daB  umgekehrt 
im  drittletzten  Takt  eine  bei  Baker  stehende  iiber- 
zahlige  Viertelpause,  vielleicht  als  Atempause,  ein- 
geschaltet  ist. 

Man  sieht  aucli  leicht,  daB  der  zweite  Teil  jedes 
Taktes  mit  seinen  sechs  Vierteln  hinsichtlich  der 
Rhythmik  nur  eine  verlangerte  Wiederholung  der 
vier  Viertel  des  ersten  Teiles  ist.  Das  Ganze  scheint 
mir  rhythmisch  sehr  reizvoll. 

Eigentumlich  ist  auch  der  Beginn  des  Liedes 
auf  der  Sekunde  des  Haupttones. 

Nr.  30  ist  das  erste  Lied  im  Erntefest  der  Iro- 
kesen,  ein  Tanzlied,  dessen  dramatische  Ausfuhrung 
Baker  (S.  39)  beschreibt.  Es  wird  durch  Schlagen 
der  Rattel  auf  eine  Holzbank  begleitet.  Text:  „Er 
kam  vom  Himmel  zu  uns  nieder  und  gab  uns  diese 
Worte."  Das  Lied  ist  von  Baker  ohne  Takteinteilung 
geschrieben,  scheint  mir  aberin  einem  74-Takt  wieder 
ganz  abersichtlich  zu  werden.  Man  muB  nur  vor 
der  Wiederholung  eine  Viertelpause  eingeschaltet 
denken.  Die  Tone  gehoren  ausschlieBlich  dem  Drei- 
klang  an.    Den  SchluB  bilden  Interjektionen. 

Nr.  31,  ein  LiebesHed  der  Kiowa  in  Arkansas,  ist 
wieder  nur  aus  Tonen  des  Durdreiklanges  gebaut.  Die 
Gliederung  ist  von  mir  durch  Doppelstriche  angedeutet. 


—     161     — 

Solche  Dreiklangsmelodien  stUtzen  anschei- 
nend  eine  von  J.  C.  Fillmore  und  Miss  A.  Fletcher 
vertretene  Anschauung,  wonach  den  Indianern  ein 
latentes  Harmoniegefuhl  zukomme  (vgl.  m.  Beitr.  z. 
Akustik  I,  63ff,  II,  Iff.).  Aber  die  Experimente  mit 
Indianern,  die  Fillmore  als  beweisend  ansieht,  indem 
die  Indianer  bestimmte  Akkordbegleitungen  als  ihren 
Intonationen  entsprechend  anerkannt  haben  sollen, 
unterliegen  starken  Bedenken.  Es  scheint  doch  — 
wie  ein  genauer  Kenner,  F.  Boas,  mir  sagte  —  Sug- 
gestion mitgewirkt  zu  haben.  Immerhin  bedarf  das 
hMufige  Vorkommen  von  Indianermelodien,  die  nur 
Oder  fast  nur  aus  T5nen  des  angenaherten  Drei- 
klanges  gebildet  sind,  einer  Erklarung,  liege  sie 
vielleicht  auch  nur  darin,  dafi  man  bei  einem  be- 
stimmten  Melodietypus  sich  auf  drei  Tone  der  ge- 
w5hnlichen  Funfstufenleiter  zu  beschranken  iiebt, 
die  urn  mehr  als  die  kleinste  Stufe  dieser  Leiter 
auseinanderliegen.  v.  Hornbostel,  der  Intonations- 
studien  unter  den  Pawnee  in  Oklahoma  zu  machen 
Gelegenheit  hatte,  vermutet,  daB  der  Gebrauch  des 
zerlegten  Dreiklangs  so  zustande  gekommen  sei,  da6 
man  in  den  Zv^ischenraum  der  Quinte  eben  einen 
annahernd  mittleren  Ton  einschaltete,  also  durch 
Distanzschatzungen.  Dafur  spricht,  daB  gerade  die 
Terzen  oft  in  schwankender  Weise  intoniert  v^erden. 
Sie  bleiben  noch  lange  ein  sozusagen  weicher 
Bestandteil     des     musikalischen     Knochengerlistes, 

Stumpf ,  Anfange  der  Musik  H 


—     162     — 

nachdem    die    Grundkonsonanzen    langst   fest    ge- 
worden. 

Vielfach  wurde  frtiher  auch  behauptet,  da6  die 
Naturvolker  in  Moll  sangen.  Dies  ist  in  solcher 
Allgemeinheit  ganzlich  unbegriindet.  Eher  lieBe  sich 
wohl  Dur  vertreten,  in  Wahrheit  ist  aber  zumeist 
keines  von  unseren  beiden  Tongeschlechtern  ganz 
scharf  ausgesprochen.  (Bezeichnend  ist  ein  Fall,  wo  das 
namliche  Lied  von  Boas  in  Moll,  von  Fillmore  in  Dur 
geschrieben  wurde,  s.  Boas,  Songs  of  the  Kwakiutl- 
Indians  p.  2).  Die  scharfe  Ausbildung  dieses  Gegen- 
satzes  konnte  erst  erfolgen,  als  man  zu  dem  syste- 
matischengleichzeitigenOebrauchevonmindestens 
drei  Tonen  uberging,  was  bekanntlich  sehr  spat  in 
der  Musikgeschichte  eintrat. 


32. 

Metr.  Gesang  J  =  168,  Pauke  J  =  104. 
I. 


H=t 


g"^-^=£ 


s 


9t 


-#^^^ 


^ 


3?^^ 


Pauke:    p      p      p   usw. 


P^i^^^^g^^R^F^M^ 


^^m. 


III. 


IV  =  II 


^^^^^^^^^m^E^^ 


163     — 


[^^-I^Hrt^^^^^^'N^-^^^ 


V. 


a^.=;Mfa 


^^E^ 


^^ 


§Et 


(Pauke:)   f 

33. 

Metr.  J  =  80. 


i^^ 


II. 


f^^  1  r  r  ^^^^ 


^^ 


^^1^^^^^^^ 


#=^=p: 


III. 


2.volta:f    J    J 


g^FS^£F3^^=^=^^"^^J=S=^=^ 


2.volta:    t    J     J     J 


^Er=n^^^n=rr-r    i  ["^n 


gf 


34. 


Metr.  J  =  100. 
I. 


i-^gH^j-LjIl=jz=jb^3^4^=g^ 


164    — 


m 


IV. 


^S^^^^B^^ 


^=r-n^ 


^ 


Proben  aus  den  200  von  Miss  Densmore  kurz- 
lich  nach  phonographischen  Aufnahmen  veroffent- 
lichten  und  mit  Erklarungen  und  Analysen  begleiteten 
Gesangen  der  Chippewa- (Odschibwa-)  Indianer  in 
Nord-Minnesota.  Die  Verfasserin  hat  zwar  tono- 
metrische  Bestimmungen  nicht  versucht,  hebt  aber 
die  eigentUmlichen  Abweichungen  der  Intonation  an 
bestimmten  Stellen  hervor  und  bemerkt,  daB  sie  mit 
groBer  Konstanz  wiederkehren.  Zwei  Sanger,  die 
nach  7  Monaten  etwa  20  Gesange  zu  wiederholen 
hatten,  zeigten  die  namlichen  Abweichungen  an  den 
nSmlichen  Stellen.  Das  Tempo  der  Paukenbegleitung 
weist  bei  diesen  Gesangen  haufig  die  seltsamsten  In- 
kongruenzen  gegentiber  dem  des  Gesanges  auf,  so  da6 
es  unmoglich  war,  das  rhythmische  Verhaltnis  beider 
nach  dem  Gehor  zu  erkennen,  und  da6  selbst  die 
jur  Stimme  und  Pauke  gesondert  angegebenen  Metro- 
nomzahlen  kein  einfaches  Verhaltnis  als  intendiert 
erscheinen  lassen.  Die  Vermutung  liegt  nahe,  daB 
in  solchen  Fallen  beide  Teile  ein  bestimmtes  ab- 
solutes Tempo  ohne  Riicksicht  aufeinander  durch- 
ftihren. 


—     165     — 

Nr.  32,  ein  Aufnahmegesang  bei  der  religiosen 
Hauptzeremonie,  bietet  hierfur  sogleich  ein  Beispiel. 
Die  Pauke  vollfiihrt  gleichmaBige  Schlage  ohne  Ak- 
zente,  von  denen  ungefahr,  aber  nicht  genau,  je  zvvei 
auf  drei  Achtel  des  Gesanges  kommen.  Nur  im 
SchluBteil  fallen  die  Schlage  genau  mit  den  Vierteln 
des  Gesanges  zusammen.  Der  Gesang  selbst  ge- 
wahrt  ein  sehr  ubersichtliches  Bild:  das  Thema 
von  I  wird  in  11  urn  eine  Quarte  tiefer  aufgenommen, 
erweitert  und  in  die  Tiefe  gefuhrt.  Nach  einem 
kurzen,  mit  kuhnem  Nonensprung  beginnendem 
Zwischensatz  (III)  folgt  eine  genaue  Wiederholung 
von  II  (IV),  endlich  eine  kurze  SchluBformel  (V). 
Der  ganze  Habitus  dieses  Liedes,  die  absteigende 
Bewegung,  die  nachahmenden  Wiederholungen  auf 
tieferen  Intervallen,  der  groBe  Tonumfang,  sind 
typisch  fur  die  Mehrzahl  dieser  Chippewa-Gesange. 

In  Nr.  33,  gleichfalls  einem  Aufnahmegesange, 
(ohne  Paukenbegleitung  phonographiert)  ist  II  die  ge- 
naue Nachahmung  von  I  auf  der  Unterterz.  Ill  fuhrt 
mit  einer  Art  Gegenbewegung  zum  Haupttone  zu- 
ruck.  Dann  wird  das  Ganze  genau  wiederholt, 
nur  an  zwei  Stellen  wird  ^Z^-  mit  ^/^-Takt  und  um- 
gekehrt  vertauscht.  Die  Verlangerung  oder  Ver- 
kurzung  um  eine  Einheit  gilt  in  solchen  Fallen  offenbar 
als  unwesentlich,  wie  wir  schon  so  oft  gefunden  haben. 

Nr.  34,  ein  Heilungsgesang,  ebenfalls  ohne 
Pauke  aufgenommen,  von  einer  alten  Frau  mit  rauher 


—     166    — 


Stimme,  aber  sehr  sicherer  Intonation  vorgetragen, 

zeigt  wieder  einen  vollkommen   klaren   Bau.     Das 

rhythmisch  fesselnde  Motiv  von  I  wird  in  II  nach 

alien  Regeln  der  Kunst  auf  der  Unterterz  wieder- 

liolt;  III  ist  tonal  etwas  freier,  fuhrt  aber  die  Melo- 

die    in   genau   gleicher   Riiythmik    und   in   gleicher 

Bewegungsrichtung  weiter,  IV  geht  mit  einer  den 

Anfang    kopierenden   Wendung    vollends    auf    den 

tiefen  Grundton  hinab.  Die  Leiter  ist,  wie  bei  Nr.  32, 

ftinfstufig. 

Den  Umfang  einer  Duodezime  hat   ein  groBer 

Teil  dieser  Lieder,  und  zwar  beginnen  sie  besonders 

gern  mit  der  oberen  Duodezime  des  Haupttons  und 

senken   sich   allmahlich   herab,   um  mit  diesem  zu 

schlieBen.    Manche  erstrecken  sich  sogar  iiber  zwei 

Oktaven.    Es  finden  sich  auch  in  dieser  Sammlung 

ausgesprochene  Dreiklangsmelodien,  bei  denen  an- 

dere  Tone  (der  funfstufigen   Leiter)   hochstens   als 

gelegentliche  Durchgangstone  vorkommen  (z.  B.  Nr. 

115,  128);  doch  tritt  die  Sexte  des  Grundtons  ofters 

als  melodisch  nicht  unwesentlicher  Bestandteil  zu 

den  Dreiklangstonen  hinzu  (z.  B.  Nr.  129). 

35. 
Metr.  J  =  66  (80). 
Solo. 


Pv^^^^f^^i^^^^'=f=g^^gi 


^      y.    0    1   0 


rascher 


^^^^m 


^^m 


167 


Tempo  imo.    Chor. 


Doiif^a.    f  ^     f.      ^     P.        ^     f.      %.      f.        ^     f.      ».      f.        ^     f.      ^     f 


Pauke:     rprp     /p^p     ^P^P     ^P^P  "'"• 


dimin. 


^^-^"m^^^^w^^^^ 


^g^rjT^St^^^-;^  I J  n  j^gj 


Metr.  ^==  108 


36. 


g^|i^£^g^f:^::^t^^ 


a 


^^^^Q^T^^  ^  I  Ql^^lE^ 


dimin. 


9^  ^jjj  jTr;H^^^3-^^3-j-j^^^3=^ 


^r^^J    J  J_£ 


37. 


Metr.  J  =  52.         + 


^ 


^ 


^m 


e^ 


^^ 


viel  langsamer     noch  langsamer 


^^^^^^^^m\ 


—     168    — 

Aus  den  Gesangen  der  Bellakula-(Bilchula-)Indi- 
aner  in  Britisch-Columbien,  die  ich  selbst  vor  der 
phonographischen  Ara,  aber  mit  aller  mir  erreich- 
baren  Genauigkeit  aufgezeichnet  habe  (s.  S.  64). 
Nur  die  Taktformen  blieben  mir  an  einigen  Punkten 
zweifelhaft,  da  ich  damals  noch  niclit  wuBte,  daB 
man  mit  ^/4  u.  dgl.  bei  den  Indianern  als  ganz  ge- 
wohnlichen  Takten  zu  rechnen  hat.  Das  zweite  der 
von  mir  aufgezeichneten  Lieder,  das  ich  in  ^^/g  schrieb, 
steht  nach  einer  Mitteilung  von  Fr.  Boas,  der  es 
spater  in  der  Heimat  der  Truppe  selbst  horte,  in  ^/g; 
wie  es  in  diesen  einzufiigen  ware,  ist  mir  alierdings 
nicht  ganz  klar.  Zwei  andere  Lieder  habe  ich  da- 
mals schon  auf  Boas'  Anregung  hin  in  ^4  geschrie- 
ben  (Doktorgesang  und  Menschenfressergesang). 

Nr.  35  ist  ein  Liebeslied  („Dies  ist  mein  Bruder, 
er  hat  mein  Herz  krank  gemacht,  er  hat  meine  Liebste 
genommen:  so  weine  ich  diesen  Tag.")-  Der  Chor- 
refrain,  der  aus  Interjektionen  besteht,  wurde  auch 
als  selbstandiges  Stuck  beim  „Gesellschaftstanz"  ge- 
sungen  und  dann  etwas  rascher,  J  =  80,  genommen. 
Die  Vor-  und  Nachschlage  bedeuten  mehr  ein  Hin- 
auf-  und  Hinunterziehen  des  Tones;  sie  kehrten  an 
den  betreffenden  Stellen  mit  voller  RegeimSBigkeit 
wieder.  Die  Leiter  ist  funfstufig,  die  allgemeine 
Melodiebewegung  wieder  von  oben  nach  unten,  beim 
Chor  zugleich  decrescendo,  am  Schlusse  fast  mehr 
ein  Brummen  als  ein  Singen.  Auffallend  die  SchluB- 


—     169     - 

wendung  zur  Terz.  Die  Paukenschl^ge  immer  auf 
den  schlechten  Achteln. 

In  erstaunlicher  Weise  ist  hier  die  Melodie  des 
SolosSngers  vom  Chor  umgebildet  (oder  umgekehrt). 
Die  ersten  sechs  Takte  des  Solisten  entsprechen  den 
ersten  drei  des  Chors,  die  letzten  fOnf  des  Solisten 
den  letzten  fUnf  des  Chors.  Die  Umbildung  ist 
frei  und  doch  die  Korrespondenz  unverkennbar,  wie 
man  es  von  einer  guten,  ich  mochte  sagen  stil- 
vollen,  Variation  eines  Themas  in  unserer  Musik 
verlangt. 

Nr.  36,  ein  Tanzgesang  auf  Interjektionen,  wieder 
durchgSngig  mit  Pauken  auf  den  schlechten  Takt- 
teilen,  wieder  von  oben  nach  unten  und  decrescendo, 
wieder  mit  SchluBwendung  zur  Terz.  An  zwei 
Stellen  wurde  e  regelmaBig  in  einer  seltsam  un- 
sicheren  Weise  intoniert,  das  erstemal  anscheinend 
etwas  erhoht,  das  zweitemal  etwas  vertieft,  zugleich 
leiser  als  die  angrenzenden  Tone.  Auch  diese  z6- 
gernd  tastendeTongebung  an  ganz  bestimmten  Stellen, 
als  ob  man  nicht  fest  auftreten  wollte,  scheint  ge- 
radezu  zu  den  Ausdrucksmitteln  primitiver  Musik 
zu  gehoren.  Obrigens  spielt  dieser  Ton  fUr  den 
Indianer  hier  sicher  nicht  die  RoUe  des  Haupttones 
wie  fUr  uns,  die  wir  das  StUck  in  Emoll  harmoni- 
sieren  wOrden.    Vielmehr  ist  ihm  sicher  h  Hauptton. 

Nr.  37  ist  ein  Trauergesang,  der  bei  einer  Leichen- 
verbrennung  vorgetragen  wird,  Fremden  eigentlich 


—     170     — 

nicht  vorgesungen  werden  darf.  Der  Text  scheint 
aus  Interjektionen  (Uai  usw.)  zu  bestehen.  Die 
Notierung  war  hier  besonders  schwer.  Eine  Anzahl 
von  Tonen  wurde  in  der  durch  die  Zeichen  ange- 
gebenen  Weise  alteriert.  Die  Struktur  denkt  man 
sich  vielleicht  am  besten  so,  da6  man  die  zwei  ersten 
Takte  als  Vorbau  betrachtet,  wie  ihn  die  Indianer 
lieben;  dann  folgt  das  Hauptthema  in  3  Takten, 
welches  in  den  folgenden  Takten  mit  einer  an  den 
Vorbau  erinnernden  Anfangswendung  und  verlanger- 
tem  Schlusse  wiederholt  wird.  Zuletzt  herrschte  bei 
dem  Vortrage  eigentlich  kein  Takt  mehr,  die  drei 
letzten  Noten  wurden  fast  wie  halbe  Noten  ausge- 
halten. 


Solo. 


38. 


Chor. 


■^  -w-  -w-  -w-  -w-  -w-       -« 

Pauke.  ''J?p?p     ''5?p?p|  usw. 


T^nrrr^'i  n  i-^^n 


^M 


f—^tr^i^ 


^^-'^^^^^ 


39. 

(Original  eine  groBe  Sexte  tiefer.) 


^S 


=P=i§ 


^ 


P 


^k=tj-tm-j^n^a 


171 


Aus  den  von  Boas  direkt  notierten  Gesangen  der 
Nutka-Indianer,  die  ebenfalls  an  der  Kuste  von  Bri- 
tisch-Columbien  wohnen  (Brit.  Assoc.  Rep.  1890). 
Der  erste  ist  ein  Hauptlingsgesang  beim  Potlachfeste. 
Jeder  Hauptling  hat  sein  Lied,  das  auch  nach  seinem 
Tode  zur  Leichenfeier  gesungen  wird.  Es  steht  hier 
als  v^^eiteres  Beispiel  eines  Eintonliedes  (vgl.  Nr.  28). 
Auch  hier  sol!  wohl  die  Monotonie  hochste  Wurde 
und  Feierlichkeit  ausdrucken.  DaB  sie  nicht  Aus- 
fluB  primitivster  Musikzustande  ist,  lehrt  das  zv^eite 
Lied  desselben  Stammes,  ein  Schlaflied  (Lullaby), 
das  sehr  an  das  der  Hopi,  oben  Nr.  23,  erinnert. 
Es  hat  vielleicht  in  Wirklichkeit  nicht  ganz  so  euro- 
paisch  geklungen,  wie  es  jetzt  nach  den  Noten  scheint, 
ist  aber  jedenfalls  von  Monotonie  trotz  seiner  ein- 
schlafernden  Absicht  v^eit  entfernt. 

40. 

Allegro 


fe^lE^ 


g^ 


1^ 


Stabe:     I-   p  I  p   p   p   p   J   I   p   p   ^   J   ^  I    usw. 


j^^^^^^S^^^^=^ 


I     P     P     P     P     P     P 


i 


1 


I 


p  p  p  p  p 


p  p  p  p  p  p 


m 


-J.       ;    - 

p     p     p     p     p    I    USW. 


^^ 


1^1 


—     172    — 

Ein  gleichfalls  von  Boas  notierter  Gesang  der 
Kwakiutl  beim  Lehalspiel  (Journ.  of  American  Fol- 
klore 1888  p.  51).  Er  steht  im  Vs-Takt,  aber  mit  Ein- 
schaltung  zweier  ^/^-Takte.  Auffallend  ist  die  fiinf- 
stufige  Leiter  mit  der  groBen  Septime  (die  ganze 
Tonbewegung  Takt  3—5  deckt  sich  mit  der  des 
Melchtaler  Alpensegens,  s.  oben  S.  89,  aber  das  h 
kann  hier  doch  kaum  den  gleichen  Ursprung  haben, 
moglicherweise  ,  ist  es  nur  als  ein  vertieftes  c  ge- 
meint,  analog  dem  fis  in  Nr.  23).  Charakteristisch 
der  SchluB  auf  der  Sekunde. 

Die  Kwakiutl  sind  nach  Boas  sehr  erpicht  auf 
genaue  Ausflihrung  der  Gesange  und  Tanze,  jeder 
MiBgriff  gilt  als  Schimpf;  ja  bei  gewissen  Gelegen- 
heiten  wird  der  Tanzer  in  solchem  Falle  getotet. 
Ihre  Floten  sind  ungewohnlich  gut  und  kiinstlich 
gearbeitet  (s.  die  Abbildungen  in  Boas'  groBerem 
Werke  „The  Social  Organisation  etc."  p.  445). 

41. 
Metr.  J  =  126. 


Trommel:  |   ^   r   ^   7   p   r  |  p   p   7   J   7   J  |  7   J   7     pi 

P    p    7  p  7  P  I  7  p  7    p    1 1  p  p  7  p  7  p  1  7  p  7    pi    nsw. 

Ein  von  Boas  phonographierter  und  notierter 
Tanzgesang  des  namlichen  Stammes  (aus  dem  zu- 
letzt    erwahnten    Werke),    den    ich    wegen    seiner 


—     173     — 

rhythmischen  EigentUmlichkeit  hersetze.  Man  kann 
natUrlich  in  der  Gesangsstimme  auch  durchweg 
V4-Takt  annehmen,  indem  man  im  2.,  4.,  6.  Takte 
Synkopierung  eintreten  laBt.  Aber  der  unseren  rhyth- 
mischen Gewohnheiten  widerstreitende  Eindruck  des 
Ganzen  wird  dadurch  doch  nicht  aufgehoben,  nament- 
lich  wenn  noch  die  Akzentuierung  der  schlechten 
Achtel  durch  die  nachschlagende  Trommel  dazu- 
kommt.  Auch  wiirde  durch  die  Verwandlung  der 
^/g-  in  ^U-Takie  das  jeweilige  3.  Achtel  in  diesen 
Takten  einen  Akzent  erhalten,  den  es  im  Munde  der 
Sanger  offenbar  nicht  hatte.  Im  weiteren  Verlaufe 
findet  5ich  der  sonst  regelmaBige  Trommelrhythmus 
auch  an  einigen  Stellen  durch  ^/g-Takte  unterbrochen, 
weshalb  Boas  fur  die  Trommel  ^^/^  Vs  vorzeichnet. 
Der  melodische  Gang  der  Stimme  erinnert  stark  an 
einen  meiner  Bellakula-Gesange  (Nr.  2,  nicht  unter 
den  hier  reproduzierten).  In  diesem  Kiistenstriche 
findet  nach  den  Angaben  der  Indianer  selbst  ein 
starker  musikalischer  Wechselverkehr  statt. 

42. 
Metr.  J^  =  170. 


f^E&s^^^m^^i^^m 


m 


fri^-= N;=t=A=N==^+-l fe=^^=R 


m^^:^^^^^ 


^^^^^^^^Ep£j^.zf^| 


—     174 
43. 


Metr.  J  =  160. 
+  1 


2    I 


i=\- 


,^|E|El^^l^j^ 


¥ — -g^ 


i^ 


Trommel:  l^^i^l^l^l^    usw. 

I     5 


+       3 


^^^^^■^J    .J^=^^ 


+        6    1    I     7  8J_ 


+       9 


feir^^ 


usw. 


Metr.  J^  =  200. 

9 


44. 


:«=1==^ 


Trommel:  ^^^  UJ  LH   IH  LL!  LLI   IL!  UJ   UJ 


^v ^. 0= 


^^¥^^^^~ 


--i=^ 


as  as  L 


Metr.  J  =  158. 


U    LU 


f  ^  f     f  p 


as 


45. 


to-riQ:^; 


'^ 


Trommel:    J^  T  |  ^^  7    ^  T    ^^  ^  I  J^  ^    ^'^  ^    ^^^  ^  I     "^w. 


^^^^^^^m 


^ 


m 


^=^^-i^iT 


175 
46. 


Metr.  J  =  198. 


Trommel:  f  f  |     usw. 


^*^=5 


-»-1— •- 


47. 


Metr.  J  =  164. 
I-    (Falsett.) 


^^^^=m^m. 


ay 

Trommel:    rprprjrp     ?pyprp7j  usn. 


i^^^^^^^i^l^^j^^r^P^I^I^^^^E^^I^ 


^=l^^^^lEg^;gE^BHr-c^d^^ 


fe^^H=f^gF^i=ij^ 


s 


f¥^=f=TE^^^^^^: 


i 


:^~T~"y 


F^g^fM=^3^ 


t==^ 


fcEf=^^^^ 


*== 


usw. 


—     176    — 

Aus  den  43  nach  Boas'  Phonogrammen  von  Abra- 
ham und  V.  Hornbostel  aufgeschriebenen  und  durch- 
gangig  tonometrisch  bestimmten  Gesangen  der  Thomp- 
son River-Indianer  im  Inneren  von  Britisch-Columbien 
(Ph.- A.  Nr.  10).  Die  meisten  davon  haben  nur  einen 
geringen  Tonbestand  und  Tonumfang;  manche  glei- 
chen  sogar  den  WeddagesMngen.  Doch  sind  auch 
Dreiklangmelodien  darunter  (besonders  fallt  eine  aus 
den  Tonen  des  reinen  absteigenden  Molldreiklanges 
auf,  Nr.  16),  und  einzelne  erreichen  den  Umfang  einer 
Oktave  oder  None.  Die  auBerordentlich  schwierige 
Rhythmisierung  der  meisten  wurde  zum  Teil  nur 
durch  die  begleitenden  Trommelschlage  uberhaupt 
ermoglicht.  Die  Metronomisierung  ist  hier  nur  scha- 
tzungsweise  (auf  Grund  der  Tonlage  der  Manner- 
oder  Frauenstimmen)  beigefugt,  da  kein  Stimmpfeif- 
chen  bei  der  Aufnahme  angegeben  worden  war. 

Nr.  42,  ein  Spielgesang  (hier  gegenliber  der  Vor- 
lage  mit  verkurzten  Notenwerten  geschrieben),  macht 
einen  sehr  temperamentvollen  Eindruck,  wird  mit 
rhythmischer  Verve  und  Exaktheit  gesungen;  das 
Ganze  mit  abnehmender  Starke,  die  dann  bei  der 
Wiederholung(beliebigoft)wiedervolleinsetzt.Dieab- 
steigenden  Quartengange  erinnern  an  frtiher  erwahnte. 

Nr.  43,  ein  nur  aus  drei  Tonen  bestehendes,  me- 
lodisch  einformiges  Tanzlied,  ist  doch  durch  die 
Rhythmisierung,  ja  auch  durch  die  Struktur  inter- 
essant.    Die  gleichformig  taktierende  Trommel,  die 


—     177     — 

auf  dem  zweiten  Achtel  jedes  Viertels  nachschlagt, 
gestattet  die  VierteltOne  als  Tone  gleicher  Zeitdauer 
auseinanderzuhalten  und  zu  zahlen.  Die  gewahlte 
Taktgliederung,  Abwechslung  von  ^4"  und  V4-Takt, 
ist  durch  die  RegelmaBigkeit,  die  so  in  das  Ganze 
kommt,  gerechtfertigt.  Die  Takte  1,  3,  5,  7  usf.  haben 
untereinander  einen  gleichen  oder  verwandten  Ton- 
fall,  ebenso  die  Takte  2,  4,  6,  8  usf.  untereinander. 
AuBerdem  sind  die  ganzen  durch  Doppelstriche 
begrenzten  Teile  melodisch  offenbar  identisch  und 
die  Abweichungen  nur  Varianten.  Die  Fortsetzung 
bringt  denn  auch  nur  weitere  Wiederholungen 
dieser  4  Takte  mit  weiteren  Varianten.  Der  erste 
Takt  des  Ganzen  ist  ein  Vorbau,  wie  er  uns  oft 
begegnet. 

Gleichwohl  konnte  man  nach  Anleitung  der  Uber 
dem  Notensystem  stehenden  Striche  das  Ganze  auch 
in  regelmaBig  abwechselnden  ^4-  u"d  V2-Takten 
schreiben.  Wir  mtissen  dahingestellt  lassen,  welche 
Taktierung  dem  Sinne  der  Indianer  mehr  entspricht; 
ftir  uns  sind  beide  Formen  sehr  ungewohnt,  und 
doch  zeigen  beide  strenge  Konsequenz  in  der  Durch- 
fuhrung. 

Die  beiden  folgenden  Nummern  sind  religiosen 
Inhalts,  Nr.  44  ein  religioser  Tanzgesang;  beide  von 
dreiteiliger  Rhythmik,  wie  wiederum  die  Trommelbe- 
gleitung  erkennen  laBt.  DieMelodiefuhrung  derersten 
bringt  aber  doch  wieder  durch  die  Synkopierungen, 

Stumpf,  AnfSnge  der  Musik  12 


—     178     — 

die  funftaktige  Periode  und  die  uns  fremde  kleine 
Septime  Exotisches  hinein.  Die  zweite,  Nr.  45,  steht 
in  funfstufiger  Leiter,  deren  Hauptton  b  auch  fur 
unser  Gefuhl  Hauptton  sein  wiirde. 

Als  Gegensatz  dazu  ist  Nr.  46,  ein  Tanz- 
gesang  mit  etwas  widerspenstiger  Melodiefuhrung 
in  der  ersten  Halfte,  aufgenommen,  weil  er  besonders 
deutlich  zeigt,  wie  verschieden  unser  Tonikagefuhl 
von  dem  des  Indianers  sein  kann.  Wir  wiirden  doch 
wohl  das  Stuck  in  Fdur  harmonisieren.  Fiir  den 
Indianer  scheint  aber  c  Hauptton  zu  sein,  wie  auch 
Abraham  und  v.  Hornbostel  annehmen.  Da6  am 
Schlusse,  nachdem  der  Hauptton  lange  ausgehalten 
ist,  noch  ein  benachbarter  auftaucht,  haben  wir  schon 
ofters  bemerkt. 

Nr.  47,  als  „Lyrischer  Gesang"  bezeichnet,  be- 
ginnt  mit  einem  kleinen  Vorbau  auf  dem  Anfangston, 
der  bei  der  Wiederholung  wegfallt  (vgl.  42).  Es  ist 
in  seinen  zwei  Abschnitten  schon  gebaut  (man  be- 
achte  die  Nachahmung  des  2.  und  3.  Taktes  auf 
der  hoheren  Quarte  zu  Beginn  des  2.  Teiles),  wird 
mit  klarer  Falsettstimme  gesungen,  und  konnte  auch 
uns  gefallen.  Bei  den  spateren  Wiederholungen 
treten  nur  geringe  Varianten  auf.  Die  Intonation 
weicht  alierdings  besonders  beim  fis  von  der  uns- 
rigen  ab,  indem  es  um  einen  Viertelton  zu  hoch 
genommen  wird.  Auch  das  hohe  e  ist  um  eben- 
soviel  erhoht. 


—     179     — 


48. 
Weiber. 


Chor. 


Hauptling. 


f 


^=i=J=FJ=J^J=^ 


iEt 


:£ 


Manner.       T    T    T        T    T    T 

fc=6=6 


"*^^      ii    i:    ■«-■*•    -^    —    ^    ^    ^4^r   -m-    -^    —    -^ 


r  r  r  r-T  f  r  r  r^N-f  f  f 


^^^ 


^^ffefeEE 


^: 


i 


-^ 


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S: 


f  •     r-r  f  itpf  r 


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9fc=g=£=£ 


-r-r-nt-rr 


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3 


^^ 


f-^f 


f^rrr 


9t 


Ef^E 


r       T 


Ausnahmsweise  greifen  wir  hier  auf  eine  ganz 
alte  Notierung  aus  derselben  Ktistengegend  zuriick. 
Sie  ist  1787  aufgenommen,  100  Jahre  spater  in  den 
Berichten  der  Smithsonian  Institution  fur  1888  ab- 
gedruckt,  sonst  meines  Wissens  in  der  neueren 
Literatur  nirgends  angefUhrt,  ist  aber  aus  inneren 
Grunden  sehr  beachtenswert.  Sie  steht  in  Dixons 
Voyage  Round  the  World  1789,  p.  243,  auch  in  der 

12* 


-     180    — 

deutschen  Obersetzung  von  J.  R.  Forster  1790,  S.  219, 
als  Gesang  der  Sitka-Indianer  nordlich  von  Van- 
couver, vor  dem  Eintreten  in  einen  Handel  (Di- 
xon wollte  Felle  erhandeln).  Der  Berichterstatter, 
ein  Begleiter  Dixons,  denkt  selbst  gering  liber  seine 
musikalischen  Kenntnisse  und  will  fUr  die  Genauig- 
keit  nicht  einstehen,  aber  er  hat  den  Gesang  oft 
gehort  und  beschreibt  seine  Eigentumlichkeiten  in 
genauer  Obereinstimmung  mit  der  Notierung,  hebt 
namentlich  auch  das  Auseinandergehen  der  Chor- 
und  der  Hauptlingsstimme  hervor.  Der  Gesang 
wurde  fast  eine  halbe  Stunde  ohne  Unterbrechung 
immer  wiederholt  und  war  begleitet  von  taktmaBigem 
Handeklatschen  und  Paukenschlagen,  vom  Schwingen 
der  Rattel  und  mannigfachen  Gestikulationen  des 
Hauptlings.  Eine  ubereinstimmende  Beschreibung 
im  Buche  des  Reisegefahrten  Dixons,  Portlock,  aus 
demselben  Jahre.  Er  betont  „the  most  exact  man- 
ner" des  Singens. 

Da  die  Technik  der  Notation  tadellos  ist  (im  Ori- 
ginal ist  auch  der  Tenorschlussel  verwendet),  mochte 
ich  die  Selbstkritik  des  Verfassers  eher  als  ein  Zei- 
chen  dafiir  ansehen,  daB  er  gut  gehort  hat;  denn 
gerade  die  Schwierigkeiten  der  Ubertragung  exoti- 
scher  Intonation  in  unser  Notensystem  pflegen  we- 
niger  musikalische  Ohren  nicht  zu  bemerken.  Ob 
die  einzelnen  Tonschritte  genau  den  hierstehenden 
entsprachen,  ist  naturlich  unsicher.     Aber  die  all- 


181     — 


gemeine  Form  der  Melodiebewegung  wird  wohl 
richtig  erfaBt  sein.  Sie  verdient  in  doppelter  Hin- 
sicht  Beachtung:  einmal  wegen  der  alten  Zeit,  aus 
der  sie  stammt  und  aus  der  uns  sonst  Uber  primitive 
Musik  kaum  etwas  GlaubwUrdiges  in  Noten  uber- 
liefert  ist,  dann  aber  besonders  wegen  der  eigen- 
tumlichen  Art  von  Mehrstimmigkeit.  Die  HSuptlings- 
melodie  setzt,  mehrmals  durch  Pausen  unterbrochen, 
auf  c^  ein  und  senkt  sich  dann  nach  a  herab.  Die 
Chormelodie,  spater  einsetzend,  dann  aber  nicht 
weiter  unterbrochen,  geht  teilweise  mit  ihr  im  Ein- 
klang,  teilweise  umspielt  sie  einen  vom  Hauptling 
festgehaltenen  Ton,  senkt  sich  dabei  gleichfalls  herab, 
geht  zum  Schlusse  sogar  auf  die  untere  Dominante 
und  von  dieser  wieder  zur  Tonika  hinauf.  Jede  der 
beiden  Weisen,  die  einfachere  des  Hauptlings,  die 
reichere  des  Chors,  tragt  aber  den  namlichen  all- 
gemeinen  Charakter.  Am  fuglichsten  ordnet  sich 
daher  diese  Sangesweise  unter  den  Begriff  der 
Heterophonie,  wovon  wir  gegenwartig  unter  den 
Indianern  kein  Beispiel  mehr  finden.  Man  konnte 
aber  sogar  einen  schwachen  Anfang  von  kontra- 
punktischer  Stimmfuhrung  darin  finden. 


Adagio  non  troppo. 


49. 


ig=ugs^=*if^^,^_^si^ 


g  f  f  I J  u^^^^^^ 


i 


IS: 


182 


50. 


Allegro. 

/7\       /TN 


i^^^^^^^ 


i 


g  r  J'-J^'Ti^i^ 


^     # 


^ 


I      J^-J      L     j^^^^fc^ 


/Tv  /CN  /r\  /Tv 


Gesange  der  Zentral-Eskimo  in  den  auBersten 
nordostlichen  Teilen  des  amerikanischen  Kontinents 
und  den  benachbarten  Inseln  (nordlich  der  Hudson- 
Bay),  von  Boas  1883  oder  1884  nach  direktem  Horen 
aufgeschrieben  (s.  Anm.  1).  Auch  da  scheinen  im 
ganzen  einfachere  Weisen  als  bei  den  Indianern  der 
mittleren  Regionen  gesungen  zu  werden.  Die  beiden 
hier  mitgeteilten  Lieder  beginnen  und  schlieBen  mit 
der  Interjektion  „Aia"  auf  den  Fermaten.  Sie  scheinen 
vorzuglich  in  unser  Tonsystem  zu  passen,  der  zweite 
klingt  fast  wie  ein  aufgeloster  Dur-Vierklang.  Da- 
neben  stehen  aber  wieder  andere,  fiir  uns  weniger 
genieBbare.  Genaueres  uber  die  Intervalle  hat  Boas 
nicht  mitgeteilt. 

51. 

Metr.  J  =  72. 


jE^iiz^n^^B^ 


^ 


^^^^^^^^^^^ 


—     183     — 

=>-  -<      :=>-  _     >~        >- > 


S^^^^fei"^"'- 


Kajaklied  aus  Ostgronland,  aus  den  von  Thal- 
bitzer  und  Thuren  klirzlich  veroffentlichten  Proben, 
von  Thuren  selbst  nach  den  phonographischen 
Aufnahmen  gemaB  den  von  Abraham  und  v.  Horn- 
bostel  aufgestellten  Prinzipien  in  Noten  gesetzt, 
zum  groBen  Teil  auch  tonometrisch  untersucht.  In 
unserem  Lied  ist  die  groBe  Terz  rein,  die  Quinte 
erheblich  vertieft.  Die  Verfasser  sind  der  Meinung, 
daB  ein  festes  Tonsystem  in  Ostgronland  nicht  ent- 
wickelt  sei.  Sie  haben  den  Eindruck,  als  besaBe 
jeder  Sanger  seine  individuelle  Tonleiter  (vgl.  Gil- 
man  bezUglich  der  Hopi).  Sie  riihmen  jedoch  die 
bewunderungswurdige  Technik  in  Hinsicht  des  kom- 
plizierten  und  mit  groBter  Konsequenz  durchgefuhr- 
ten  Rhythmus.  Der  Rhythmus  der  Trommel  (des  ein- 
zigen  Instruments  der  Ostgronlander)  scheine  auBer 
Zusammenhang  mit  dem  des  Gesanges;  nur  zuv^eilen 
mache  ein  Ritardando  des  Sangers  den  Eindruck,  daB 
er  sich  mit  den  Schlagen  in  Ubereinstimmung  setzen 
wolle,  worauf  dann  aber  v^ieder  beide  Rhythmen 
auseinandergehen.    Die  ganze  Vortragsweise  zeuge 


—     184     — 

von  einer  uralten  Tradition.  Die  Tonbewegung  sei 
immer  (nach  dem  ersten  Aufsteigen)  eine  absteigende, 
der  gewohnliche  Tonumfang  eine  Quinte  oder  Sexte. 
Soeben  beim  Abschlusse  des  Druckes  erscheint 
die  vollstandige  Sammlung  der  beiden  Forscher: 
The  Eskimo  Music,  1911.  Sie  umfaBt  129  zum 
groBeren  Teile  phonographierte  Lieder  aus  Ostgron- 
land  nebst  einigen  aus  Nordwestgronland.  Eine 
ganze  Anzahl  zeigt  eine  dem  obigen  Lied  (dort 
Nr.  121)  sehr  ahnliche  Tonbewegung:  Aufsteigen 
zur  Quinte  und  Senkung  von  da  durch  die  Terz 
(und  Sekunde)  oder  durch  die  Quarte.  Halbton- 
stufen  kommen  nur  gelegentlich  im  Durchgange  vor. 
In  einem  Liede  begleitet  ein  Chor  den  Sanger  in 
der  Weise,  da6  er  den  Ton  a  M^iederholt  angibt, 
wahrend  der  Solist  von  f  tiber  a  (stark  erhoht)  oder 
direkt  nach  c  hinaufgeht.  Dann  tritt  Unisono  ein.  Den 
SchluB  der  Gesange  bilden  haufig  einige  musikalisch 
unbestimmbare  stark  aspirierte  Laute,  wie  sie  auch  bei 
Indianern  vorkommen,  zu  deren  Gesangen  sich  hier 
iiberhaupt  manche  Analogien  finden  (auch  z.  B.  die 
kleine  allmahliche  Erhohung  der  absoluten  Tonhohe, 
von  der  oben  zu  Nr.  22  die  Rede  war,  die  freilich  auch 
bei  uns  vorkommt).  Die  Musik  spielt  bei  den  Ost- 
gronlandern  eine  solche  Rolle,  daB  sogar  bei  Gerichts- 
verhandlungen  Anklager  und  Verteidiger  singen  (Juri- 
dical Drum  Songs),  woraus  begreiflicherweise  eine 
besonders  lebhafte  Art  von  Musik  entspringt. 


—     185     — 


In  Nordwest-  und  Stidwestgronland  ist  nach 
Thalbitzer  die  Musik  schon  stark  europaisiert.  Bei 
den  Polareskimo,  von  denen  R.  Stein  1902  nach 
direktem  H5ren  39  Gesange  aufgeschrieben,  hat  in 
den  letzten  Jahren  der  Norweger  Leden  phono- 
graphische  Aufnahmen  gemacht,  die  er  selbst  ver- 
5ffentHchen  wird.  Sie  versprechen  weitere  Aus- 
beute  fUr  die  Erkenntnis  der  Beziehungen  zwischen 
den  Eskimo  und  den  Indianern. 


52. 


Metr.  J  =  176. 


^5  iin  f  -^==s=m^^^=s^^ 


53. 


Metr.  J  =  152. 


^l_J_r^^,^^E=^j;^^E;g^g 


rvirri 


§4  i73  ^^t^^^^^^^^^a 


^^^^l^^^m-'Tj  JUl 


Wir  fUgen  noch  einige  Melodien  aus  Afrika  bei. 
Aus  diesem  Erdteil  liegt  zwar  auch  schon  viel 
phonographisches   Material   vor,   es  ist  aber   noch 


—     186     — 

weniger  bearbeitet.  In  den  Ktistenlandern  von  Af- 
rika  und  selbst  in  manchen  inneren  Gegenden  durften 
europaische  Einflusse  vielfach  mitwirken,  auch  sol- 
che  aus  alterer  Zeit.  DaB  die  heutigen  Eingeborenen 
eine  Melodie  als  ihr  ausschlieBliches  Eigentum  und 
Erzeugnis  betrachten,  ist  noch  kein  gentigender  Be- 
weis,  daB  sie  es  wirklich  ist. 

Die  obigen  beiden  Lieder,  die  man  wohl  fur  echt 
halten  darf,  sind  von  Pater  Witte  in  Atakpame,  Togo, 
phonographisch  aufgenommen  und  von  Prof.  Pater 
W.  Schmidt  nach  diesen  Aufnahmen  aufgezeichnet 
(Ztschr.  Anthropos  I,  S.  76  und  71).  Sie  gehoren 
den  Ewe-Negern  an,  und  zwar  den  Ge-  oder  Anecho- 
leuten.  Sie  werden  von  Trommeln  begleitet.  P.  Witte 
halt  es  bei  der  besonderen  Bedeutung  des  Tonfalles 
in  den  Ewesprachen  fur  mogUch,  daB  die  Ton- 
bewegung  der  Melodie  teilweise  mit  der  des  Textes 
zusammenhange,  aber  eine  strenge  Abhangigkeit 
bestehe  keinesfalls.  Die  Melodien  tragen  ja  auch 
einen  rein  musikalisch  durchaus  verstandlichen  Cha- 
rakter. 

Das  erste  Lied  bezieht  sich  auf  ein  altes  Priester- 
verbot,  zweimal  im  Jahre  Yams  zu  pflanzen.  Die 
Gliederung  ist  ubersichtlich:  nach  dem  zweitaktigen 
Thema  ein  Zwischentakt,  dann  die  Wiederholung 
des  Themas  auf  der  Unterquarte.  Die  Funfteiligkeit 
des  Taktes  steht  nach  P.  Schmidt  auBer  Zweifel. 
Ein   diesem   angeftigtes,   ganz   analog   verlaufendes 


—     187     — 

Liedchen  (Kinderspottlied  auf  die  WeiBen),  worin  die 
Gdur-Tonart  noch  deutlicher  hervortritt,  das  aber 
ebenso  mit  d^  beginnt  und  mit  d^  schlieBt,  dUrfte 
schon  stark  europaisch  beeinfluBt  sein. 

Nr.  53  ist  ein  Madchenlied,  worin  die  Sympathie 
fur  einen  jungen  Mann  ausgedriickt  wird.  Wenn  es 
auch  fUr  uns  in  Dmoll  zu  stehen  scheint,  ist  doch 
schwerlich  fUr  die  Eingeborenen  d  Hauptton.  Das  cis 
wird  an  mehreren  betonten  Stellen  vertieft  (die 
Bindung  nach  der  Fermate  und  den  Glissandostrich 
habe  ich  nach  P.  Schmidts  Angaben  eingefugt).  Das 
Lied  wird  in  ziemHch  straff  em,  fast  steifem  Rhyth- 
mus  gesungen.  Der  Takt  auch  hier  zweifellos  fUnf- 
teilig;  nur  einmal  kommt  ein  6.  Viertel  am  Takt- 
schluB  hinzu,  wo  ein  (uniibersetzter)  Ausruf  im  Text 
eingeschaltet  scheint. 


Schnell. 


54. 


1^ 


£^ 


SS 


ii=± 


Lj^     L(^^^^-^=ff^^-EE^ 


:£=£ 


ra^^^a^ 


—     188 
55. 


Gesang: 


§E^=^-^=^=^4^F^^^^^^^^ 


Kleine  Trommel  in  G,  groBe  in  E: 

A  A  A  A  A  A 

i  rm  n  rnTi  n  rm 

r.    1.     r.    1.     r.    1.     r.    1.    usw. 


Brettchen : 
r.     r.  r. 


ip^  i^pS  m  itj 


1.    1 


usw. 


r.  I.  r.    r.  1.  r. 


lr=tr-P-P^ 


USW. 


(Brettchen  wie  vorher.) 


56. 


Gesang: 


i 


^-^  J  f  f  1^ 


-ff       » 


=^t==pt 


Gr.  Trommel: 


Handeklatschen: 


A 

^  J 


i 


—     189     — 


6 


^^^^^m 


usw. 


usw. 


3 

r.  I.   r.  1.       r.       r.  1.      r.  r.     1.      r. 

Diese  Beispiele  sind  dem  Buche  des  Regierungs- 
lehrers  J.  Schonharl  in  Lome  „Volkskundliches  aus 
Togo"  1909  entnommen.  Sie  stammen  gleichfalls 
von  den  Anecho-Leuten.  Schonharl  hat  sie  direkt 
nach  dem  Gehor  aufgezeichnet.  Seine  Erlauterungen 
und  die  sorgfSltige  Beachtung  rhythmischer  Kom- 
plikationen  zeigen  ihn  als  einen  guten  Beobachter. 
Auf  die  Ausfuhrung  der  Rhythmen  mit  den  ein- 
heimischen  Instrumenten  hat  er  sich  selbst  eingelibt. 
Man  darf  also  die  Notierungen  im  allgemeinen  fur 
authentisch  halten.  Die  Melodien  sollen  zum  Teil 
alt  sein,  aber  immer  neue  Texte  erhalten.  Die  dritte 
Melodie  allerdings  wird  als  nur  15  Jahre  alt  be- 
zeichnet  und  scheint  entschieden  europaischen  Ur- 
sprungs.  Sie  ist  hier  nur  wegen  der  rhythmischen 
Begleitung  aufgenommen,  die  die  Eingeborenen  hinzu- 
gefUgt  haben.  Schonharl  versichert,  daB  die  meisten 
Ewelieder  sich  in  zweiteiligen  Rhythmus  gliedern 
lassen;  wie  denn  auch  die  20  von  ihm  mitgeteilten 
zumeist  im  ^/^Takte  geschrieben  sind.  Doch  wurden 


—     190    — 

auch  Lieder,  besonders  wahrend  der  Tanzpausen, 
ohne  Trommelbegleitung  gesungen,  die  sehr  wechsel- 
vollen  Rhythmus  haben  und  sich  in  keinen  Takt 
teilen  lassen.  Metronomzahlen  sind  nicht  beigegeben 
worden,  aber  es  ist  erwahnt,  daB  die  Tanzlieder 
durchweg  in  sehr  heiterem  schnellen,  immer  feuriger 
werdenden  Tempo  gesungen  werden. 

Im  groBen  und  ganzen  lassen  sich  unsere  Ton- 
arten  auch  auf  diese  Lieder  iibertragen,  ja  einige 
(wozu  auch  ein  auf  S.  124  in  eine  Parabelerzahlung 
eingefugtes)  bestehen  fast  ausschlieBHch  aus  Dur- 
Dreiklangstonen,  ahnlich  vielen  IndianerHedern.  Aber 
es  wurde  sich  noch  um  die  genauere  Intonation 
handeln,  und  auBerdem  kommen  doch  fast  tiberall 
Harten  vor,  die  lehren,  daB  das  TonalitatsbewuBtsein 
nicht  ohne  weiteres  dem  unsrigen  gleichzusetzen  ist. 

Als  Beispiel  fur  diese  Seite  mag  hier  Nr.  54 
dienen.  Wir  konnten  es  allenfalls  in  E-moll  denken, 
ohne  die  (auch  bei  uns  spater  eingefuhrte)  Erhohung 
der  Septime.  Aber  schon  dadurch  und  besonders 
durch  den  SchluB  auf  der  Sekunde  wirkt  es  fiir  uns 
hart  und  befremdlich.  Nach  dem  Verfasser  schlieBen 
die  Ewelieder  vielfach  in  der  Sekunde,  Quarte  oder 
Septime,  wie  uns  AhnUches  auch  bei  den  Indianern 
begegnet  ist  (bei  diesen  Intervallnamen  ist  freilich 
bereits  irgendein  Ton  als  Hauptton  angenommen). 
Die  hier  nicht  beigeftigte  Begleitung  durch  Schlag- 
instrumente  ist  noch  einfach. 


—     191     — 


Dagegen    zeigen    Nr.  55    und    56    eine    ausge- 

sprochene  Polyrhythmie  derBegleitung.  r.  1.  bedeuten 

die  Anwendung  der  rechten  und  linken  Hand.    Die 

afrikanische  Musik  ist  hervorragend  durch  rhythmische 

Polyphonic  und  darin  zweifellos  original  gegenuber 

der  europaischen,  ja  sie  vielfach  Ubertreffend.    Die 

Ewe  haben  ein  ganzes  System  von  Trommeln  ver- 

schiedenster   Art,   die   sich   auch   in   verschiedener 

Weise  an  der  Gesangsbegleitung  beteiligen.  In  bezug 

auf  die  Abstimmung  der  einzelnen  Trommelklassen 

und  den  Rhythmus,  in  dem  jede  geschlagen  wird, 

herrschen  bestimmte  Gesetze.    Die  Lieder  werden 

immer  von   einem  kleinen  Trommelorchester,  auch 

durch  Schlage  auf  Holz-  oder  Metallbrettchen  und  durch 

Handeklatschen  in  mannigfaltigen  Rhythmen  begleitet. 

57. 
Metr.  J  =  152. 


Solo. 


Cher. 


^^t^^^^^m 


^i^^a^^^^ 


i 


4^ 


^^ 


-^ ' 


—     192    — 


Solo. 


^=^JU^=j:njr:^p=^ 


58. 


Metr.  J  =  168. 
Solo. 


59. 


Metr.  J-  = 
Solo. 


Chor. 


^^^3)^ 


193 


r-cr-r-^^^p^lf=7~f"pT^^^ 


Drei  phonographisch  beglaubigte  Beispiele  primi- 
tiver  Mehrstimmigkeit  aus  Deutsch-Ostafrika.  Das 
erste,  nach  Aufnahmen  von  Prof.  Weule,  gehort  dem 
Stamme  der  Wanyamwezi  aus  der  Bantu-Familie 
(Ph.- A.  Nr.  19).  Es  ist  ein  Teil  eines  langeren  Tanz- 
liedes,  in  welchem  Chor  und  Solo  in  ahnlicher 
Weise  abwechseln.  Die  untere  Stimme  des  Chors 
klingt  aus  der  Walze  erheblich  starker  heraus,  so 
daB  die  obere  wie  eine  diskrete  Begleitstimme  er- 
scheint  und  das  Ganze  fur  unsere  Ohren  genieBbarer 
wird,  als  es  aussieht.  In  Wirklichkeit  kSnnten  je- 
doch  beide  Stimmen  gleich  stark  gewesen  sein  und 
nur  die  verschiedenen  Entfernungen  vom  Aufnahme- 
trichter  an  der  Starkeverschiedenheit  schuld  sein. 
Weule  erzahlt  in  seinem  Reisewerke,  daB  der  Ein- 
druck,  wenn  er  die  Leute  aus  einiger  Feme  solche 
Weisen  in  der  Dammerung  singen  horte,  ein  ganz 
angenehmer  gewesen  sei;  er  bezeichnet  sich  aller- 
dings  als  einen  Unmusikalischen.  Aber  auch  an- 
dere  Reisende  riihmen  den  Wanyamwezi-Gesang  als 
besonders  eindrucksvoll.  Der  ganzen  Struktur  nach 
gehoren  StUcke  wie  dieses  langst  nicht  mehr  zu  den 
eigentlich  primitiven. 

Auch  in  den  ubrigen  von  v.  Hornbostel  notierten 
Wanyamwezi-Gesangen   geht  mehrmals  gegen   den 

Stumpf,  AnfSnge  der  Musik  *3 


—     194    — 

SchluB  die  Einstimmigkeit  in  Quinten-,  Quarten- 
und  Oktavenparallelen  Uber. 

BezUglich  des  Taktes  ordnen  sich  die  mit  ^4 
bezeichneten  Takte  nach  der  Anzahl  der  Viertel  zwar 
ganz  genau  in  diese  Taktform  (auch  in  anderen 
Aufnahmen,  die  von  diesem  Gesange  vorliegen),  aber 
die  Akzentuierung  macht  den  Eindruck,  als  begannen 
an  den  durch  die  kleinen  Striche  uber  dem  Noten- 
system  angegebenen  Stellen  neue  Takte.  Man  wtirde 
in  diesem  Falle  vor  dem  ersten  ^j^-  zunachst  einen 
74-Takt  bekommen  und  umgekehrt  vor  dem  Wieder- 
beginn  des  3/2-Taktes  einen  V4-Takt.  Stellt  man  sich 
die  Einteilung  so  vor,  so  gewinnt  man  in  der  Tat, 
wie  V.  Hornbostel  bemerkt,  noch  ein  besseres  Bild 
des  wirklichen  Vortrags;  und  wir  wissen  ja,  da6 
VerlMngerungen  und  Verkiirzungen  eines  sonst  fest- 
gehaltenen  Taktschemas  (also  74  ^^^  ^U  bei  sonst 
festgehaltenem  V4)  keine  ungewohnlichen  Vorkomm- 
nisse  sind. 

Nr.  58,  als  Hochzeitstanzlied  bezeichnet,  zeigt 
dieselben  Eigentumlichkeiten.  Es  besteht  aus  einem 
immer  wiederkehrenden  Motiv  von  stets  gleicher 
Lange.  Im  2.  Abschnitt  des  Soloteiles  ist  es  zuerst 
melodisch  modifiziert,  lenktaber in  die  namliche  SchluB- 
formelein.  ImChor  setztdieuntere  Stimme  dieWeise 
fort,  die  obere  begleitet  sie  im  Quartenorganum. 

Die  Wanyamwezi  haben  einen  Musikbogen,  eine 
Harfe,  H5rner,  Glocken  und  wieder  viele  Trommel- 


195 


arten.  Floten  scheinen  selten.  Zur  Unterstlitzung  des 
Rhythmus  der  Gesange  dienen  nur  Trommeln  und 
gelegentlich  derMusikbogen.  Auch  bei  diesem  Stamme 
werden  den  alten  Melodien  immer  neue  Texte  an- 
gepaBt. 

Ein  Seitenstuck  bietet  Nr.  59,  phonographisch 
aufgenommen  von  Dr.  Czekanowski  (Ph.-A.  Nr.  25). 
Es  gehort  dem  benachbarten  Stamme  der  Wasukuma 
an,  der  mit  den  Wanyamwezi  auch  sprachlich  nahe 
Verwandtschaft  zeigt.  Aus  dem  langeren  von  v.  Horn- 
bostel  notierten  Stiick  ist  hier  der  Anfang  und  SchluB 
(der  aber  nicht  SchluB  des  ganzen  Gesanges  zu 
sein  braucht,  da  die  Walze  zu  Ende  war)  wieder- 
gegeben.  Hier  handelt  es  sich  wieder  vorzugsweise 
um  Quartenparallelen.  Interessant  ist  es  aber,  wie 
doch  immer  mit  der  konsonanteren  Quinte  geschlossen 
wird. 


Metr.  J  =  126 
Solo. 


60. 


^^1 


^^^ 


JTTU-J-^ 


W 


^. 


Pauke:   uKT^     tXtT  "^ 
Chor. 


i 


m 


i-t^ 


usw. 
I      ,    Solo. 


usw. 


Ich  flige  schlieBlich  zur  Vergleichung  ein  mun- 
teres  StUcklein  mit  QuartengSngen  bei,  das  ich  nebst 
anderen  Stticken  1887  von  einer  Singhalesentruppe 


13^ 


—     196    — 

horte,  iiber  deren  Vorfiihrungen  ich  eingehende  Auf- 
zeichnungen  gemacht  habe.  Auch  die  Tone  der 
Pauke  waren  die  hier  notierten,  nur  vielleicht  eine 
Oktave  tiefer.  Bei  den  Quartengangen  des  Chors 
ist  es  auch  hier  die  untere  Stimme,  die  in  der  Ton- 
hohe  des  Vorsangers  fortfahrt.  Das  ist  nun  nicht 
mehr  Musik  reiner  Naturvolker,  aber  immerhin  eine 
niedrigstehende  gegenuber  der  der  benachbarten 
asiatischen  Kulturnationen,  wo  sich  dieseiben  Paral- 
lelgange  finden.  Vielleicht  sind  auch  die  Quarten- 
und  Quintenparallelen  in  Ostafrika  nicht  ohne  histori- 
schen  Zusammenhang  mit  diesen  asiatischen. 

So  sind  wir  zum  Anfangspunkte,  Ceylon,  zuriick- 
gekehrt  und  beschlieBen  damit  unsere  musikalische 
Reise  urn  die  Erde. 


197 


Abbildungen  primitiver  Instrumente. 

(Zu  S.  35  ff.  des  Textes). 

Wenige  Proben  sollen  die  Hauptgattungen  und 
die  Spielweise  primitiver  Instrumente  illustrieren. 
Aus  jeder  Gattung  sind  rohere  und  entwickeltere 
Formen  gewahlt. 

Abbildung  1.  Knochenpfeifen  aus  Grabern  auf  den 
Kalifornischen  Inseln.  Nach  Th.  Wilson,  Prehistoric 
Art,  Smithsonian  Institution  Report  for  1896.  Die 
Pfeifen  sind  nach  dem  Flageoletprinzip  gebaut;  gegen- 
uber  dem  seitlichen  Loch  fanden  sich  im  Inneren 
Oberreste  einer  aus  Gummi  oder  Asphalt  bestehenden, 
bis  zum  offenen  Ende  reichenden  Leiste,  die  den 
schmalen  Spalt  des  Flageolets  herstellte.  Die  An- 
blasebffnung  ist  gut  ausgearbeitet.  Das  zweite 
Exemplar  ist  eine  Doppelpfeife.  Am  unteren  Ende 
waren  die  beiden  Teilpfeifen  durch  eine  jetzt  ge- 
sprungene  Asphaltmasse  zusammengehalten;  auBer- 
dem  waren  sie  mit  Bast  umwickelt.  In  anderen 
Grabern  derselben  Inseln  fanden  sich  auch  Knochen- 
floten  mit  vier  Lochern. 

Abbildung  2.  Ein  Orchester  von  Panpfeifen- 
blasern  auf  den  deutschen  Salomon-Inseln.  Nach 
A.  B.  Meyer  und  Parkinson,  Album  von  Papua- 
Typen  I.  Das  Bild  gibt  eine  Vorstellung  der  ver- 
schiedenen  Gr56en  von  Panpfeifen;  und  zwar  sind 


—     198    — 

es  hier  durchweg  zweireihige.  Unser  Phonogramm- 
archiv  besitzt  auch  Aufnahmen  der  mehrstimmigen 
Musikstiicke,  die  von  solchen  Orchestern  geblasen 
werden;  sie  klingen  unserem  Ohre  hochst  drollig. 
(Ph.- A.  Nr.  30.) 

Abbildung  3.  Als  Seitenstiick  dazu  ein  Kameruner 
Orchester  mit  Kurbistrompeten,  dessen  Produktionen 
uns  von  Herrn  Dr.  Ankermann,  Direktor  am  Berliner 
Museum  fur  Volkerkunde,  dem  ich  auch  das  Bild 
verdanke,  auf  Walzen  mitgebracht  sind.  Es  ist  die 
Musik  des  „Voma-Bundes",  einer  religiOsen  Briider- 
schaft  der  Bali  in  Nordwestkamerun. 

Abbildung  4.  Musikbogenspieler  aus  dem  Wald- 
gebiete  des  oberen  Kongo,  westlich  vom  Albert-See. 
Nach  H.Johnston,  The  Uganda  Protectorate,  1902.  Die 
Saite  wird  an  die  Zahne  (aber  nicht  mit  den  Zahnen) 
gehalten;  mit  der  linken  Hand  wird  sie  verktirzt. 

Abbildung  5.  Basuto-MSdchen  (SUdafrika),  auf 
einem  Musikbogen  spielend.  Aus  Henry  Balfours 
Monographic  „The  Natural  History  of  the  Musical 
Bow"  1899,  nach  dem  Original  von  F.  Christol.  An 
dem  Holz  ist  hier  ein  Ktirbisresonator  befestigt 
(haufig  ist  das  Band  auch  noch  um  die  Saite  ge- 
schlungen).  Die  eine  Hand  h^lt  den  Bogen  und  ver- 
ktirzt zugleich  die  Saite,  die  andere  schl^gt  die 
Saite  mit  einem  StSbchen. 

Abbildung  6.  Lyra  in  Kavirondo,  nordwestlich  vom 
Viktoria-See.   Aus  dem  zu  Abb.  4  erwahnten  Werke 


—     199    — 

von  Johnston.  Ein  Schildkrotenpanzer,  auf  der  Innen- 
seite  mit  einem  Fell  Uberspannt,  dutch  das  die 
Saiten  gehen,  dient  als  Resonator. 

Abbildung  7.  Harfe  der Pangwe  (Fan)  in  Westafrika. 
Der  Resonanzkasten  ist  ein  ausgehohltes  StUck  Holz 
mit  einer  kleinen  seitlichen  Offnung.  Das  Bild  ist 
mir  von  Herrn  Dr.  Tessmann,  Direktor  des  LUbecker 
Museums,  dessen  Pangwe -Werk  im  Erscheinen  be- 
griffen  ist,  freundlichst  uberlassen. 

Abbildung  8.  Klangholzer  auf  der  Gazellen-Halb- 
insel  in  Neupommern.  Nach  Dr.  H.  Schnee,  Bilder 
aus  der  Sudsee,  1904. 

Abbildung9.SignaltrommelnebstPauke,zumTanze 
gespielt,  Westafrika.  Aus  dem  Katalog  der  Crossby- 
Brown  Collection  (Metropolitan  Museum)  in  New- 
York. 

Abbildung  10.  Xylophon  (Amadinda  genannt)  bei 
dem  Bagunda-Stamme  in  Ostafrika,  nach  Johnston 
a.  a.  O.  Zwei  Personen  spielen  hier  gleichzeitig  auf 
demselben  Instrument,  die  KlOppel  ruhen  auf  den 
gleichen  Tasten.  An  den  Holzstaben  sieht  man  die 
zur  genaueren  Abstimmung  ausgekerbten  Stellen. 
In  anderen  und  wohl  den  meisten  Fallen  liegen  die 
Auskerbungen  auf  der  unteren  Seite. 

Abbildung  11.  Xylophon  (Marimba)  der  Yaunde 
in  Kamerun.  Aus  B.  Ankermann,  Die  afrikanischen 
Musikinstrumente  (Ethnolog.  Notizblatt,  Bd.  3,  Heft  1). 
Die  zahlreichen  Abbildungen  und  Beschreibungen  in 


-     200    - 

diesem  Buche  geben  dem  Leser,  der  sich  naher  zu 
unterrichten  wUnscht,  am  besten  einen  Begriff  von 
der  Mannigfaltigkeit  der  in  Afrika  vorkommenden 
Instrumente,  namentlich  wenn  er  die  Anschauung 
der  Exemplare,  die  jedes  groBere  Museum  ftir  Volker- 
kunde  in  Fulle  besitzt,  damit  verbindet. 


Abb.  1. 


—     201 


Abb.  2. 


—     202     — 


203 


\ 

w 

Jjj00i 

*-'  -'^ 

.->^ 

Abb.  4. 


—     204     — 


Abb.  6. 


—     205     — 


Abb.  7. 


206 


Abb.  8. 


—     207 


208 


^^ 


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—     209     — 


Abb.  11. 


Stumpf,  Anfange  der  Musik 


14 


Verlag  von  Johann  Ambrosius  Barth  in  Leipzig 

Philosophische 
Reden  und  Vortrage 

von  Carl  Stumpf 

Professor  der  Philosophic  an  der  Universitat  Berlin 

II  und  262  Seiten.    1910.   Broschiert  M.  5.—,  gebunden  M.  5.80 

I nh alt:  Die  Lust  amTrauerspiel.  —  Leib  und  Seele.  —  DerEnt- 
wicklungsgedanke  in  der  gegenwartigen  Philosophie.  —  ZurMe- 
thodik  der  Kinderpsychologie.  —  Die  Wiedergeburt  der  Philoso- 
phie. —  Vom  ethischen  Skeptizismus.  —  Die  Anfange  der  Musik. 

Der  Tag:  Es  ist  sehr  erfreulich,  daB  Stumpf  sich  entschlossen  hat, 
seine  bei  verschiedenen,  zumeist  akademischen  Gelegenheiten  gehaltenen 
Vortrage  philosophischen  Inhalts  nunmehr  auch  in  einem  Bande  gesammelt 
herauszugeben.  Denn  wenn  auch  solche  Vortrage  naturgemaB  nur  in  all- 
gemeinen  Zugen  uber  den  jeweils  in  Frage  stehenden  Gegenstand  Auf- 
klarung  geben  konnen,  so  hat  es  doch  Stumpf  stets  in  ungewohnlicher 
Weise  verstanden,  im  knappen  Rahmen  solcher  Vortrage  das  Recht  seines 
eigenen  Standpunktes  zu  erweisen  und  diesen  zum  Mittelpunkt  der  ganzen 
Darlegung  zu  machen.  .  . .  Stumpfs  gesammelte  philosophische  Vortrage 
sind  in  ihrer  gedanken-  und  ausblicksreichen  Knappheit  keine  sehr  leichte, 
aber  fur  den,  dem  es  um  ein  wirklichesVerstandnis  der  behandelten  Fragen 
zu  tun  ist,  sehr  fruchtbare  und  geradezu  unentbehrliche  LektUre.. 

Zeitschrift  fur  Philosophie:  Darin  besteht  in  erster  Linie  der  groBe 
Reiz  der  Sammlung,  daB  sie  es  ermoglicht,  einen  geschlossenen  Eindruck 
von  der  philosophischen  Personlichkeit  Stumpfs  zu  gewinnen.  Die  Aus- 
fuhrungen  erortern  moglichst  allgemein  gehaltene  Themen  von  der  Warte 
zusammenfassender  Uberschau  aus.  Letzte  und  hochste,  in  der  philoso- 
phischen Besinnung  immer  wieder  auftauchende  Fragen  werden  in  groBen 
Strichen  entwickelt  und  ihre  Losungsversuche  al  fresko  angedeutet.  Die 
Vortrage  bieten  eine  Reihe  meisterhatt  gezeichneter  Skizzen,  die  dem  Fach- 
mann  eine  gedrangte  Ubersicht  und  dem  Studierenden  eine  groBzUgige 
und  darum  vortrefflich  orientierende  Einfuhrung  in  den  Geist  der  philo- 
sophischen Forschung,  in  die  verschiedenen  Probleme  und  in  die  Bemiihungen 
um  deren  begriffliche  Bewaltigung  gewahren. 

Dresdner  Anzeiger  vom  4.  6. 1911:  Er  ist  der  geborene,  wissenschaft- 
liche  Stilkiinstler;  eine  Freude  und  ein  GenuB,  ihm  in  das  Labyrinth 
schwieriger  Gedanken  zu  folgen,  wie  er  das  Wichtige  hervorhebt,  anderes 
anklingen  laot,  wieder  anderes  unterdriickt;  ein  besonderer  Reiz,  u'ie  er, 
ohne  im  Inhaltlichen  irgend  etwas  preiszugeben,  seine  Redeweise  der  je- 
weils gegebenen  Situation  anpaBt,  zu  den  Kommilitonen  anders  spricht 
als  zu  koordinierten  Arbeitsgenossen.  Endlich  ist  er  ein  Meister  objektiver 
Wiedergabe  sowohl  fremder  Gedanken  wie  historischer  Entwicklungen. 
Klassisch  ist  in  der  Philosophie  nicht  nur  das  —  stets  fragliche  —  Bleibende, 
sondern  was  einer  letzterreichbaren  Gesinnung  unter  bestimmten  Denk- 
voraussetzungen  einen  bedeutenden  und  treffenden  Ausdruck  verleiht. 
Das  tut  dieses  Buch,  zu  welchem  man  wie  dem  Verfasser  so  seinen  Zeit- 
genossen  aufrichtig  GlUck  wiinschen  darf. 


Verlag  von  Johann  Ambrosius  Barth  in  Leipzig 


Beitrage,  zur  Akustik  und  Musikwissenschaft. 

Herausg.  von  Prof.  Dr.  Carl  Stum pf.  In  zwanglosen  Heften. 

1.  Heft:  V,  108  S.    1898.    M.  3.60. 
Stumpf,  Konsonanz  und  Dissonanz. 

2.  Heft:  III,  170  S.     1898.    M.  5.—. 

C.  stumpf,  Neueres  iiber  Tonverschmelzung.  M.Meyer,  ZurTheorie  der 
Differenztone  und  der  Gehorsempfindungen  iiberhaupt.  M.Meyer,  Ober 
die  Unterschiedsempfindlichkeit  fiirTonhohen.  C.  Stumpf  und  M.  Meyer , 
MaBbestimmungen  iiber  die  Reinheit  konsonanter  Intervalle.  C.  Stumpf, 
Zum  EinfluB  der  Klangfarbe  auf  die  Analyse  von  Zusammenklangen. 

3.  Heft:  IV,  147  und  11  S.  mit  9  Tafeln.  1901.  M.  6.50. 
J.  C.  F  i  1  m  0  r  e ,  Indianergesange.  P.  von  J  a  n  k  o ,  Uber  mehr  als  zwolfstufige 
gleichscliwebende  Temperaturen.  O.  Abraham  und  K.  L.  Schafer, 
Cber  die  maximaleGeschwindigkeit  vonTonfolgen.  O.  Abraham  und  K.  L. 
Schafer,  Uber  das  Abklingen  vonTonempfindungen.  Carl  Stumpf,  Be- 
obachtungen  iiber  subjektive Tone  und  iiber  Doppelthoren.  K.L.  Schafer. 
Die  Bestimmungen  der  unteren  Horgrenze.  O.  Raif,  Uber  die  Fingerfertig- 
keit  beim  Klavierspiel.   C.  Stumpf,  Tonsystem  und  Musik  der  Siamesen. 

C.  Stumpf  und  K.  L  Schafer,  Tontabellen. 

4.  Heft:    IV,  182  Seiten  mit  3  Tafeln.    1909.    M.  6.50. 

C.  S  t  u  m  p  f ,  Uber  das  Erkennen  von  Intervallen  und  Akkorden  bei  sehr  kurzer 
Dauer.  L.  Wi  1,1  iam  Stern,  DerTonvariator.  K.  L.  Schafe  r  und  Alfred 
Guttmann,  .Uber  die  Unterschiedsempfindlichkeit  fiir  gleichzeitigeTone. 
C.  Stumpf ,  CberzusammengesetzteWellenformen.  C.  Stumpf ,  Differenz- 
tone und  Konsonanz.  C.  S  t  u  m  p  f ,  Akustische  Versuche  mit  Pepito  Arriola. 
Paul  von  Liebermann  und  Geza  Rev6sz,  Uber  Orthosymphonie. 
W.  Kohler,  Akustische  Untersuchungen.    I. 

5.  Heft:    VI,  167  Seiten.    1910.    M.  5.—. 

C.  stumpf,  Beobachtungen  iiber  Kombinationstone.   Erich  M.  v.  Horn - 
bostel,  Ober  vergleichende  akustische  und  musikpsychologische  Unter- 
suchungen. 

Handbuch  der  Akustik.  Von  Prof.  Dr.  F.  Auerbach. 

Gr.-8«.     X  und  714  Seiten.     Mit  367  Abbiidungen.     1909. 

Brosch.  M.  25.—,  geb.  M.  27.—. 
Naturwissenschaftliche  Rundschau:  Eine  besondere  Empfehlung  dieses 
fiir  jeden  in  der  Physik  oder  auf  benachbarten  Gebieten  Tatigen  schlechthin 
unentbehrlichen  Werkes  ist  angesichts  der  Namen  der  Mitarbeiter  wohl  nicht 
notig.  Die  ungemein  groBe  Fiille  der  Tatsachen,  die  hier  geordnet  in  knapper 
tfbersicht,  mit  reichemLiteraturverzeichniszusammengestellt,sichvorfindet, 
wird  das  Werk  mit  seinen  verlaBlichen  Angaben  zu  einem  steten  Heifer  bei 
den  Spezialarbeiten  machen.  Uberaus  lobend  ist  die  schone  Ausstattung 
zu  erwahnen. 

Die  Qrundlagen  der  Musik.    Von  Prof.  Dr.  F.  Auer- 
bach. VI,  209Seiten  mit  71  Abbiidungen.   1911.  Geb.M.5.— . 

Dieses  Buch  wendet  sich  an  alle,  die  fiir  Musik,  sei  es  ein  kiinstlerisches, 
sei  es  ein  wissenschaftliches,  sei  es  ein  rein  menschliches  Interesse  haben 
und  es  macht  in  keiner  Weise  besondere  Ansprliche  an  die  Vorbildung  des 
Lesers.  Es  bildet  zugieich  Band  18  von  Wissen  und  Konnen,  Sammlung  von 
Einzelschriften  aus  reiner  und  angewandterWissenschaft.herausgegebenvon 
Geheimrat  Professor  Dr.  B.  Weinstein,  Charlottenburg. 


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