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Date Due
Utof.ry Bure.u Cat. no. (137 1
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Die
Anfange der Musik
Von
Carl Stumpf
Mit 6 Figuren, 60 Melodiebeispielen und 11 Abbildungen
Leipzig
Verlag von Johann Ambrosius Barth
1911
Copyright by Johann Ambrosius Barth, Leipzig 1911
Spamersche Buclidruckerei in Leipzig
Herrn
Dr. Erich M. von Hornbostel
dem Leiter des Berliner Phonogramm-Archivs
in Freundschaft zugeeignet
Vorwort.
Diese Schrift ist aus einem Vortrage in der Ber-
liner Urania hervorgegangen, dessen Text bereits
verOffentlicht ist. Er ist hier erweitert, es sind An-
merkungen zur wissenschaftliclien Erlauterung und
Begriindung einzelner Punkte, ferner zahlreiche zu-
verlassige Beispiele primitiver Melodien mit tech-
nischen Analysen, endlich einige Abbildungen pri-
mitiver Instrumente beigefugt.
Es war mir ein Bedurfnis, die Friichte ethno-
logischer Musikstudien, die mich seit Dezennien
immer wieder, in steigendem MaBe seit dem Auf-
kommen des Phonographen, beschSftigt hatten, ein-
mal fUr weitere Kreise wie fur Fachleute zusammen-
zufassen. Aber es ware mir nicht moglich gewesen
ohne die Hilfe meiner jungen Mitarbeiter aus dem
Berliner Plionogramm-Archiv und in erster Linie
dessen, dem die Schrift gewidmet ist. Keine Zeile,
die nicht mit ihm besprochen, keine Melodic, die
nicht Note fUr Note von ihm nachgepruft ware.
Ich kann dem Buchlein nur den Wunsch mitgeben,
da6 es bald durch ein umfassendes Werk aus seiner
Hand ersetzt werde.
AuBer ihm habe ich aber auch Herrn Dr. Erich
Fischer fur seine Mitwirkung bei der miihsamen
Transskription mehrerer noch unveroffentlichter pho-
nographischer Aufnahmen besten Dank zu sagen.
Berlin, im April 1911. C. Stumpf.
Inhalt.
Seite
Erster Teil. Ursprung und Urformen des
Musizierens 7
Einleitung 7
I. Neuere Theorien 8
II. Ursprung und Urformen des Gesanges . . 22
III. Primitive Instrumente und ihr EinfluB ... 34
IV. Mehrstimmigkeit, Rhythmik, Sprachgesang . 41
V. Entwicklungsrichtungen 52
Anmerkungen 61
Zweiter Teil. Gesange der Naturvolker . 102
Abbildungen primitiver Instrumente 197
Erster Teil.
Ursprung und Urformen des Musizierens.
Im Laufe langer Jahrtausende hat das Menschen-
geschlecht in Sprache, Wissenschaft, Kunst, ethischer,
sozialer und technischer Betatigung Entwicklungen
hervorgebracht, die uns immer wieder vor die Frage
stellen, aus welchen Anfangen alle diese Herrlich-
iceiten entsprungen sind, und welcher gottliche Funke
zuerstunscheinbaraufglUhend, allmahlich diese Licht-
fulle entzundet hat. Ohne nun tiefer in die Abgrunde
der menschlichen Natur oder gar in metaphysische
Geheimnisse dringen zu wollen, mochte ich hier nur
versuchen, mit Hilfe der Erfahrungen und Kennt-
nisse, die uns die heutige Volkerkunde, die ver-
gleichende Musikwissenschaft und die experimen-
telle Psychologie darbieten, der Frage nach den
Ursprungen und ersten Erscheinungsformen der Mu-
sik naherzutreten.
Immer wird es sich dabei urn Hypothesen han-
deln. Aber zurAufstellungglaubwurdiger Hypothesen
sind wir Heutigen doch besser ausgerUstet als un-
sere Vorganger. WShrend noch 1886 Virchow in
der Berliner Anthropologischen Gesellschaft den
Mangel aller Teilnahme fur die Urgeschichte der
Musik als die einzige vollstandige Lucke in ihren
Bestrebungen beklagte — eine Teilnahmlosigkeit,
— 8 —
die durch dieSpSrlichkeit des zuverlassigen Materials
entschuldigt war — , konnte 1903 Waldeyer in dem-
selben Kreise die durch das neue Hilfsmittel des
Phonographen und durch Messungen an exotischen
Instrumenten ermoglichten Forschungen als ein Ge-
biet von ungeahnter Ausdehnung und Bedeutung
charakterisieren. Allerdings ist es dringend an der
Zeit, das Inventar alles noch aus ursprunglicheren
Zustanden Vorhandenen aufzunehmen, da durch die
Modernisierung der Naturvolker und das Aussterben
vieler Stamme in kurzer Frist die Gelegenheit auf
immer verpaBt sein wird, wenn nicht fiir eine syste-
matische Sammlung und Aufbewahrung der Do-
kumente gesorgt wird, aus denen wir uns ein Bild
grauer Vorzeit machen konnen. Aber schon das vor-
liegende Material laBt die Umrisse primitiver Musik-
tibung weit deutlicher als frliher erkennen^
I.
Neuere Theorien.
Vergegenwartigen wir uns zuerst kurz mit einigen
kritischen Bemerkungen die Hypothesen, die in
neuerer Zeit tiber den Ursprung der Musik aufge-
stellt worden sind^.
1. FOr die Darwinsche Lehre, wonach alle Ver-
vollkommnung im wesentlichen aus der natUrlichen
Auslese oder dem Uberleben des besser AngepaBten
— 9 —
begriffen werden muB, bildet die Tonkunst zunSchst
eine seltsame Anomalie. Sancta Cacilia blickt zum
Himmel — was hilft sie uns im Kampf ums Dasein?
Ihre Nachfolger verdienen ja zuweilen reichlich Geld
und helfen sich mit wohlausgebildeten Klavier-
muskeln vorwarts, aber fUr die Mehrzahl der Men-
schen hSngt das undefinierbare gegenstandlose Luft-
gebilde, das wir Musik nennen, mit den realen
NUtzlichkeiten und Bedurfnissen des Alltagslebens
nicht zusammen.
Dennoch wuBte Darwin Rat. Seine L5sung kann
man in die Worte fassen: „Im Anfang war die Lie be."
Freilich nicht die himmlische, sondern die irdische,
die Geschlechtsliebe. Die Mannchen bestrebten sich,
den Weibchen zu gefallen, und die Weibchen wahl-
ten die aus, die die groBten Vorzuge aufwiesen.
Wie die schOnsten an Gestalt und Farbe, so wur-
den auch die besten Sanger oder Bruller von alters
her vorgezogen. Bei den Tieren finden wir darum
vorzugsweise das mannliche Geschlecht farbenprachtig
und sangeslustig. Produktive Klinstler waren zu-
nachst nur die Mannchen, aber die Weibchen
brachten den kritischen Geschmack hinzu. Bei den
Menschen singen und spielen heutzutage beide Ge-
schlechter, das weibliche fast mehr als das mann-
liche; aber produktiver sind in der Musik unstreitig
immer noch die Manner, und: „SuBe Liebe denkt
in Tonen" — das gilt heute wie in alter Zeit.
— 10 -
Geht man nun freilich ins einzelne, so entstehen
groBe Schwierigkeiten. Ich will nicht dabei ver-
weilen, daB Vogel vielfach auch auBer der Zeit der
Liebeswerbung singen, daB ihre Rufe auch Signale
zu anderen Zwecken oder bloBe AuBerungen eines
allgemeinen LebensgefUhls sein mogen, daB die dem
Menschen naher stehenden Tiere nicht singen, son-
dern nur rauhe Schreilaute von sich geben, daB
endlich die Gesange der Naturvolker nicht gerade
vorwiegend Liebeslieder, sondern in groBerer Anzahl
kriegerische, arztliche, religiose Gesange sind. Ich
will nur einen, aber entscheidenden Punkt etwas
naher beleuchten.
Wir nennen Musik nicht das Hervorbringen von
Tonen aberhaupt, sondern von gewissen Anord-
nungen der Tone, seien sie noch so einfach. Und
dabei ist es fur die Musik im menschlichen Sinne
ein ganz wesentliches Merkmal, daB diese Anord-
nungen unabhangig von der absoluten Tonhohe
wiedererkannt und wiedererzeugt werden konnen.
Eine Melodic bleibt die namliche, mag sie vom BaB
Oder vom Sopran, mag sie in C oder in E gesungen
werden. Diese Fahigkeit des Wiedererkennens und des
Transponierens von Melodien finden wir unter den
Naturvolkern, soweit unsere Kenntnisse reichen, all-
gemein. Einem Indianer oder Siidsee-Insulaner macht
es nichts aus, sein Lied etwas hoher oder tiefer an-
zufangen; solange es fur seine Stimmlage bequem
— 11 —
ist, trifft er die Intervaile ebenso. Zum Zweck phono-
graphischer Aufnahmen wird von den Forschungs-
reisenden vorschriftsmaBig der Ton eines Stimm-
pfeif Chens in den Aufnahmetrichter geblasen, urn
spater danach die ursprungliche Geschwindigkeit
der Walze, also die Tonhohe und das Tempo des
Gesanges, wiederherstellen zu konnen. Dabei wurde
beobachtet, daB die Eingeborenen sich bei der In-
tonation ihres Liedes haufig nach der Hohe des
Pfeifchentones richteten.
Wie verhalt es sich nun damit bei den Tieren?
Es ist meines Wissens bisher nicht beobachtet, daB
ein Gimpel oder Star, dem man ein bestimmtes me-
lodisches Motiv, sagen wir „Morgen muB ich fort
von hier" oder „Dein ist mein Herz", beigebracht hat,
diese Erklarungen einmal in seinen vielen MuBe-
stunden in einer anderen Tonart, sei es auch nur
einen Ganzton hoher oder tiefer, v^iederholt hatte,
obgleich seine Stimmittel ihm dies erlauben wiirden.
Dr. Abraham hat jahrelang mit einem Papagei darauf
zielende Versuche angestellt, ohne anderen Erfolg.
Ich will nicht behaupten, daB nicht kleine Verande-
rungen in der Hohe eines Vogelrufes oder des Kuh-
gebrulles bei dem namlichen Individuum vorkamen,
im Gegenteil ist es von vornherein klar, daB mathe-
matisch gleiche Intonation nur der Grenzfall ist, die
Regel hingegen Abweichungen sein werden, die sich
innerhalb gewisser Grenzen um einen Mittelpunkt
- 12 —
herum bewegen. Allein diese zufalligen Schwan-
kungen, namentlich infolge verschiedener Exspirations-
starke, die wieder mit dem augenblicklichen Korper-
gefUhl und Befinden zusammenhangen mag, durfen
nicht mit eigentlicher Transposition verwechselt wer-
den.
Soweit man aus der erwahnten Tatsache schlie-
Ben kann, dUrfte auch das Lustgefuhl der Vogel,
soweit es an die Tone selbst geknupft ist (denn
die Muskelempfindungen tragen wohl auch dazu bei),
wesentlich verschieden sein von dem der Menschen
beim Anhoren der menschlichen wie der Vogel-
musik. Das tierische LustgefUlil scheint eben durch-
aus abhangig zu sein von dieser speziellen Auf-
einanderfolge absoluter Tonhohen, deren geringe
Verschiebungen den Sangern selbst entgehen mogen;
das menschliche ist in erster Linie bestimmt durch
die Tonverhaltnisse, wobei gewaltige Verschiebungen
der absoluten Tonhohen nicht blo6 vorkommen, son-
dern den Sangern und Horern ganz klar zum Be-
wuBtsein kommen konnen, ohne daB die Melodic
unkenntlich oder ungenieBbar wurde=^. Wir sagen:
In erster Linie. DaB die absolute Tonhohe starke
Unterschiede bewirken kann, soil nicht geleugnet
werden. Bei den Chinesen spielt sie eine be-
deutende Rolle^. Bei uns selbst ware die „Charak-
teristik der Tonarten" und die Abneigung Feinfuhliger
gegen die Transposition eines ftir eine bestimmte
- 13 -
Tonart geschriebenen Liedes heranzuziehen. Aber
das Stuck bleibt uns doch immer ebenso ver-
stSndlich und wird als dasselbe ohne weiteres wieder-
erkannt. Die M5glichkeit der Ubertragung zu be-
streiten, wird niemand einfallen; nur der Ausdruck
und die Wirkung scheinen uns nicht unabhangig
von der absoluten H5he.
Das ist der springende Punkt, und diesen Punkt
hatDarwins umfassender Forscherblick nicht beachtet,
wie er uberhaupt von Zoologen merkwurdigerweise
allgemein als quantite negligeable behandelt wird^
Es ist mit der Musik ahnlich wie mit der Sprache.
Auch die Tiere haben eine Sprache. Aber Sprache
in unserem Sinne beginnt erst da, wo die Laute als
Zeichen allgemeiner Begriffe gebraucht werden, eine
Anwendung, die bei den Tieren ebensowenig nach-
gewiesen ist, wie der Gebrauch transponierter Inter-
valle. Was wir von den tierischen Vorfahren in
beiden Beziehungen ererbt haben, das ist nur der
Kehlkopf und das Ohr.
So wenigstens steht die Frage gegenwartig.
Sollten irgendwelche in dieser Hinsicht noch un-
gepriifte menschliche Stamme sich zu melodischer
Transposition ganz unfahig finden, so wiirden wir
eben auch ihnen Musik im engeren Sinn absprechen.
Sollte umgekehrt sich bei talentvollen Tieren doch
einmal diese Fahigkeit konstatieren oder kUnstlich
anerziehen lassen, so wUrden wir sie sofort als
— 14 —
unsere rechten Briider in Apoll in Anspruch nehmen.
Aber augenblicklich ist keines von beiden der Fall,
und besonders geringe Aussicht bieten gerade unsere
nachsten korperlichen Verwandten, die Saugetiere.
Wenn die Musik uberhaupt aus dem Tierreiche
hergeleitet werden soil, wurde die Idee des alten
Demokrit fast mehr fur sich haben, wie die Dar-
wins: daB man namlich durch Nachahmung der
Vogel darauf gekommen sei^. Dann hatte freilich
die Deszendenz nichts damit zu tun. Man findet
tatsachlich bei Naturvolkern solche Vogelnachahmun-
gen. Die Berliner Phonogrammsammlung besitzt da-
fur Belegstilcke. Aber die einzige oder auch nur die
Hauptquelle der Musik kann auch darin nicht liegen.
Die uns vorliegenden Proben betreffen keineswegs
Vogelweisenvonbesondersmelodischer,musikalischer
Art. Es ist mehr das Rhythmische und das Trillern
und Schnalzen, was den Naturmenschen zur Nach-
ahmung reizt. Sollten aber in der Urzeit mehr
melodische Weisen nachgeahmt sein, so wUrde es
sich sofort fragen: wie kam man zu dieser Auswahl,
warum zog man melodische mit bestimmten Inter-
vallen vor? Die Frage ist also nur zuriickgeschoben.
2. Fine andere moderne Hypothese, die man
schon bei Rousseau, Herder u. a. findet, hat ohne
Kenntnis seiner Vorganger Herbert Spencer aufge-
stellt. Man kann sie in die Formel fassen: „Im An-
fange war das Wort." Sie lehrt Entstehung der
— 15 —
Musik aus den Akzenten und Tonfallen der mensch-
lichen Sprache. Beim erregten Sprechen, unter dem
EinfluB starker Gemutsbewegungen, treten diese
tonalen Eigenschaften deutlicher hervor. Wenn wir
jemand rufen und, falls er nicht kommt, zum zweiten
und dritten Male rufen, oder wenn wir mit steigen-
dem Affekt bitten oder befehlen, wenn wir in Wor-
ten jubeln oder trauern: immer wird nach Spencer
die Sprache musikalisch, man beginnt schon zu singen.
Diese Tonbewegungen des erregten Sprechens wur-
den spater ganz von den Worten abgelost und auf
Instrumente ubertragen, und so ist die absolute
Musik entstanden.
Es liegt hierin viel Wahres, auf das wir spater
zuruckkommen werden: der „Sprachgesang" bildetbei
den Naturvolkern eine sehr verbreitete Rezitierungs-
form. Aber am eigentlichen Zentrum der Sache schieBt
auch Spencer vorbei. Denn Musik unterscheidet sich
vom singenden Sprechen durchaus wesentlich dadurch,
da6 sie feste Stufen gebraucht, wahrend das Sprechen
zwar Hohenunterschiede von wechselnder GroBe, aber
keine fasten Intervalle kennt, vielfach sogar in Form
einer stetig gleitenden Tonbewegung erfolgt. Ihre
unendliche Ausdrucksfahigkeit erlangt die mensch-
liche Sprache gerade durch diese in der Musik gar
nicht wiederzugebenden kleinsten NUancen und
stetigen Ubergange. E. W. Scripture hat durch Ver-
groBerung und genaue Analyse der Kurven, die ein
— 16 —
gesprochener Satz auf dem Grammophon gibt, nach-
gewiesen (was iibrigens einem feineren Ohr auchnicht
verborgen bleibt) , daB oftschon auf einer einzigen Silbe
ein betrachtliches Schwanken der Tonhohe stattindet,
das musikalisch ein grober Fehler sein wurde^.
Fig. 1.
Fig. 2.
Fig. 3.
Bei jeder dieserdreiTonkurven wurdenur dielnter-
jektion„0!"ausgesprochen, das erstemal kummervoll,
das zweitemal bewundernd, das drittemal fragend.
Hierbei geht die Stimme, die in verschiedener ab-
soluter H5he einsetzt, das erstemal urn eine Doppel-
oktave, das zweitemal um eine Duodezime, das
drittemal um eine Oktave (natUrlich immer nur
ungefahr) in die Hohe, um dann wieder zu sinken.
Bei weniger geflihlvollem Sprechen ist diese stetige
Tonbewegung geringer, erreicht aber immer noch
— 17 -
auf einem einzigen Vokal oder Diphthong etwa den
Umfang einer Quarte, wie folgende von Dr. Effen-
berger nach Scripture's Methode untersuchten Bel-
spiele zweier Individuen zeigen, die die Verse
„1 remember, I remember the house, were I was
born" zu sprechen hatten^
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Fig. 4 und 5.
Das Zeichen fur den altgriechischen Zirkumflex
(Perispomenon) bedeutete bekanntlich ein solches
Steigen und Fallen der Stimme auf einem Vokal
Oder Diphthong. Seine ursprtingliche Form A, ana-
log den Kurven Scripture's, veranschaulichte diese
Stimmbewegung. Und zwar gibt Dionys von Hali-
karnaB den Umfang einer Quarte dafUr an^. Bei
Schauspielern wird man allerdings ofters auch eine
Stumpf Anfange der Musik 2
— 18 —
ganz unveranderte Tonhohe auf einer Silbe, ja auf
ganzen Satzen beobachten, wenn ein besonderer
Effekt beabsichtigt ist. Da6 z. B. das bedeutsame
englische „I", dessen Bewegung wir eben verfolgten,
von einem Kunstsprecher so gehalten werden kann,
scheint der Verlauf der Grammophonkurven des Schau-
spielers Jefferson beim „I" des Satzes „I, said the
owl" zu beweisen^^:
Fig. 6.
Hier sieht man die einzelnen Original -Wellen-
linien, aus deren Messung dann Hohenkurven wie
die vorhergehenden gewonnen werden. Auch hier
erleiden zwar die Tonwellen in der kurzen Zeit
Starke Veranderungen. Aber diese Veranderungen
betreffen vom zweiten Drittel an nur die Wellenform,
d. h. die Klangfarbe, nicht die Wellenlange. Wenn
man die Abstande der aufeinanderfolgenden Maxima
miBt, findet man eine erhebliche (und zwar stetige)
Abnahme, also Tonerhohung, nur im ersten Drittel
des ganzen Verlaufes. Von da ab haben wir hier
schon ein singendes Sprechen, ohne stetig glei-
tende Tonbewegung. Ausnahmsweise, zu besonderen
— 19 —
Wirkungen, ist es zulSssig und nlitzlich, im all-
gemeinen aber wirkt es nicht erfreulich. Besonders
unerfreulich, wenn nicht bloB einzelne betonte und
lange Silben in konstanter Hohe gehalten, sondern
auch in der Aufeinanderfolge der Tonhohen ofters
feste musikalische Intervalle gebraucht werden, ohne
daB doch wirklich gesungen wUrde. Das fUr manche
Menschen gewohnheitsmaBige, in gewissen Gegen-
den auch landesubliche singende Sprechen ist gerade
darum unschon, weil es sich den festen Intervallen
der Musik nahert und dadurch den Vorzug der Sprache
aufgibt, ohne den der Musik zu gewinnen.
Wenn man dieTonbewegung eines guten Sangers
genau untersucht, findet man freilich auch kein ide-
ales Festhalten der Tonhohe, vielmehr oft auf einer
Note ein bedenkliches Schwanken und beim Into-
nieren eines Intervalls zahlreiche Abweichungen,
manchmal beabsichtigte, meistens unbeabsichtigte^^
Auch ein umfangreicheres Gleiten der Stimme (Por-
tament) wird bekanntlich hie und da beliebt. Bei
den Naturvolkern finden sich solche gleitende Be-
wegungen haufiger, und zwar offenbar mit Absicht
an bestimmten Stellen und zu bestimmten Wirkungen
gebraucht 1-. Dennoch ist kein Zweifel: das Gesetz
und der Geist der Tonkunst verlangen prinzipiell
feste Tonhohen und Intervalle, und auf ihre Er-
zeugung ist die Intention des Sangers und Spielers,
abgesehen von Ausnahmefallen, gerichtet. Bei der
2*
— 20 -
Sprache dagegen liegt eine solche Intention im all-
gemeinen nicht vor und darf nicht vorliegen, wenn
sie nicht ihr Bestes opfern will.
Die ausgezeichnete Stellung der festen, reinen
Tonverhaltnisse 1:2, 2:3 usf. mu6 daher einen
anderen als blo6 sprachlichen Ursprung haben.
Sollte die Sprache bei der Geburt der Musik oder
bei ihrer Aufziehung irgendwie mitgeholfen haben:
die Mutter war sie jedenfalls nicht. Das, was Mu-
sik grundwesentlich von der Sprache unterscheidet,
kann nicht aus der Sprache gewonnen sein^^.
3. Einer dritten Anschauung kann man Hans v.
Bulows Wort zugrunde legen: „Im Anfange war
der Rhythmus", namlich die rhythmisch geordnete
Bewegung.
Die Verbindung von Tanz und Gesang bei Na-
turvolkern ist oft betont worden. Der Musikforscher
Wallaschek hat speziell in dem Singen bei Kriegs-
und Jagdtanzen und in der Notwendigkeit rhyth-
mischer Formen fur das Zusammensingen vieler den
Ursprung der Musik gefunden. Dann ist der Leip-
ziger Nationalokonom Karl Bucher in seinem in-
teressanten und stoffreichen Buche „Arbeit und
Rhythmus" von ganz anderem Standpunkte darauf
gekommen. Die geordnete Bewegung, die fur ihn
den Ursprung aller Kunste bildet, ist keine andere
als die der korperlichen Arbeit, namentlich der ge-
meinsamen Arbeit. Zahlreiche Verrichtungen, die zum
— 21 -
taglichen Leben, zur Gewinnung der Lebensmittel,
zum Bauen, Rudern, Hammern usw. erforderlich
sind, werden besser vollzogen, wenn sie rhythmisch
erfolgen. Dies fuhrt auf die Begleitung der Arbeit
durch allerlei Verse, die BUcher in groBer Anzahl
gesammelt hat, und nicht minder durch Trommeln
und durch Singen. Poesie und Musik entstehen so
gemeinschaftlich aus dem Bedurfnis des Rhythmus,
und dieser selbst ist eine naturliche Folge der Er-
leichterung, die er bei der Arbeit schafft, und der
Bewegungen, in denen die Arbeit sich vollzieht, des
Stampfens, Schlagens, Hebens usw.
Auch die Rhythmustheorie aber, sonst so ein-
leuchtend, lost uns nicht das Hauptproblem. Sie macht
wohl Anlasse und Motive namhaft, die zum Singen
fuhren konnten, aber die Erklarung versagt wieder
gerade da, wo das spezifisch Unterscheidende der
Musik beginnt, namlich bei der Frage, wie die Menschen
dazu kamen, die Linie der Tone, die an und fur sich
durchaus stetig ist, in bestimmte Intervalle zu gliedern.
Den Rhythmus konnten sie durch abgehackte unarti-
kulierte Laute oder Gerausche ebenso gut und besser
ausdriicken. Die Verstarkung der betonten Silbe
fuhrte zwar naturgemaB zu einer Tonerhohung fur
diese Silbe und so zu Unterschieden der Intonation;
aber die konsonanten Intervalle, auf deren Ursprung
es vorzugsweise ankommt, zeichnen sich in dieser
Hinsicht, nach ihrer Eignung ftir rhythmische Zv/ecke,
— 22 —
nicht im mindesten vor beliebigen anderen Schwin-
gungsverhMltnissen aus. Nach der instrumentalen
Seite hatte die Ausbildung der Rhythmuskunst nur
zum Trommeln gefiihrt. Aber eine noch so fein dif-
ferenzierte Trommelsonate ist noch nicht Musik,
wenigstens nicht die Musik, deren Ursprung wir
suchen. SchlieBlich gibt es einen Rhythmus ja nicht
nur fur das Gehor, sondern auch fur das Muskel-
gefiihl fiir sich allein; und wenn die ganze Mensch-
heit ewig taub geblieben ware, hatte sie recht wohl eine
Tanzkunst ausbilden konnen, aber nicht eine Musik.
Die Urkeime dermusikalischen Leiterbildungen mussen
selbstandigentstandensein, dann erstkonntedas melo-
dische mit dem rhythmischen Bedlirfnis (das immer-
hin frliher dagewesen sein mag) zusammenwirken.
Ein anderes Bedenken scheint mir daraus zu ent-
springen, da6 unter den unendlich zahlreichen Ge-
sangen der Naturvolker Arbeitsgesange zwar vor-
kommen (z. B. Bootsgesange bei den Indianern oder
den Siidseeinsulanern, MarschHeder in Afrika), aber
einen auBerst geringen Bruchteil ausmachen. Man
vergleiche nur die Melodien unserer Notenbeilage:
sie sind nicht mit RUcksicht auf den Gegenstand
Oder AnlaB sondern auf den musikalischen Bau der
Lieder ausgewahlt, es findet sich darunter aber
nicht ein einziger Arbeitsgesang, es sei denn, daB
man (mit Bucher) Gesange der Priester und Medi-
zinmanner darunter rechne, was mir doch zu modern
— 23 —
gedacht scheint. Regelrecht rhythmisches und nament-
lich gemeinschaftliclies Arbeiten stellt sich eben erst
bei nicht mehr ganz primitiven VOlkern ein. Da
mehren sich in der Tat die Arbeitsgesange, und
von solchen V6li<ern stammen auch die meisten, die
Bticher gesammelt hat.
So gibt denn keine der uberkommenen Theorien
eine genUgende Antwort auf die gestellte Frage.
II.
Ursprung und Urformen des Gesanges.
Verstehen wir nunmehr Musik als die Kunst,
deren Material wesentlich aus festen und transponier-
baren Tonschritten besteht, und suchen wir uns den
Ursprung dieser Kunst begreiflich zu machen, so
miissen wir zwei Fragen auseinander halten:
Wie ist tiberhaupt die Fahigkeit entstanden, Ver-
haltnisse von Sinnesempfindungen unabhangig von
der besonderen Beschaffenheit dieser Empfindungen
wiederzuerkennen? und:
Wie kam man zu diesen bestimmten Intervallen,
die wir in der Musik der verschiedenen V5lker und
Zeiten tatsachlich finden?
Die erste Frage betrifft die Fahigkeit der Ab-
straktion, die auch anderen Sinneseindrticken gegen-
iiber getibt wird, etwa wenn wir ein Ornament oder
Bildnis in der Verkleinerung wiedererkennen. Diese
— 24 —
allgemeine Frage scheint mit der Definition des ganzen
menschlichen Seelenlebens, mit seiner Abgrenzung
gegen das tierisclie zusammenzuhangen. Wie weit
sind Tiere iiberhaupt imstande, gleiche Verhaltnisse
an ungleichem Material zu erkennen und hervorzu-
bringen? Wie weit konnen sie z. B. beim Erkennen von
Personen, Gegenstanden, Ortlichkeiten von der Ver-
schiedenheit der Farbung und Beleuchtung, der augen-
blicklichen ErscheinungsgroBe usf.abstrahieren? Ge-
v^i6 durfen wir nicht von vornherein sagen, daB ihnen
dies unmoglich sei. Aber andrerseits beweist die
gleichformige Reaktion, wenn z. B. ein Hund den
Herrn in verschiedenen Entfernungen oder bei ver-
schiedener Beleuchtung erkennt, nicht ohne weiteres,
daB es dem Tiere gelungen ist, die Gestalt aus den
veranderlichen Umstanden in Gedanken herauszu-
schalen. Auch wenn nicht der Geruch oder die
Stimme des Herrn mitwirken, wenn ausschlieBlich
visuelle Anhaltspunkte die Bewegung auslosen, kann
man aus der Tatsache zunachst doch nur schlieBen,
daB das Sinnesorgan und das Nervensystem sich
an gewisse Reize derart gewohnt hat, daB diese auch
unter merklich veranderten Umstanden noch ihre
Wirkung tun. Es geht freilich auch beim Menschen
in vielen Fallen nicht anders zu, wenn er in gleicher
Weise auf merklich abweichende EindrOcke reagiert.
Aber im entwickelten Seelenleben kommt daneben
doch auch jenes Wiedererkennen im eigentlicheren
- 25 —
Sinne vor, das nicht bios gleiche Reaktion, sondern
auch Erkennen derGleichheitoderldentitat bedeutet.
Wie das nun immer bei den Tieren sich ver-
halten moge: bei den Naturvolkern ist diese Fahigkeit
der Abstraktion schon in hohem MaBe entwickelt,
und beim Urmenschen miissen wir sie in gewissem
Grade voraussetzen, wenn wir niclit vollstandig auf
ein Begreifen der Entwicklung verzichten wollen.
Denn hier liegt eine der Wurzeln aller menschlichen
Fortschritte. Eine andere, nahe damit zusammen-
hangende, liegt in der Generalisation, der Bildung
von Begriffen. Beide zusammen legen den Grund
des geistigen Lebens, auch nach der Gefiihls- und
Willensseite. Dies ist jener gottlicher Funke, von
dem wir zu Anfang gesprochen. Wie er in die Seele
gekommen und wie sein erstes Aufgluhen in den
Rahmen der Entwicklungslehre sich einfugt, dar-
uber wird man an dieser Stelle keine Untersuchung,
keine Aufklarung erwarten. Wir setzen das Vorhanden-
sein der Abstraktionsfahigkeit beim Urmenschen vor-
aus und stellen nur die konkrete Frage, wie man
zuerst dazu gekommen sein mag, bestimmte zur Trans-
position geeignete Tonschritte von den anderen ab-
zusondern.
Auch hierin liegen noch zwei Unterfragen: Welches
war der AnlaB? und: Wodurch eignen sie sich zur
Transposition? Die erste konnen wir nur hypothe-
tisch, die zweite aber mit Sicherheit beantworten.
- 26 -
Der Hypothese mogen wir den viel ausgesproche-
nen Gedanken zugrunde legen, der auch Bucher
leitete, daB alle KUnste aus der Praxis des Lebens
geboren sind. Die Formel von Goethes Faust sei
die unsrige: „Im Anfang war die Tat." Aber welche
Tat und welches praktische BedUrfnis war der An-
fang der Musik? Moglicherweise waren mehrere
verschiedene Aniasse beteiligt. Doch mochte ich es
als eine nicht unwahrscheinliche Vermutung hinstellen,
da6 das BedUrfnis akustischer Zeichengebung im
Spiele war. Wir wollen dabei zunachst nur die
menschliche Stimme als Tonwerkzeug voraussetzen.
Versucht man auf groBere Entfernung bin jemand
durch die Stimme ein Zeichen zu geben, so verweilt
die Stimme mit groBer Starke fest auf einem hohen
Tone, wie er naturgemaB eben durch die starkste
Anspannung der Stimmlippen hervorgebracht wird,
wahrend sie am Schlusse mit nachlassender Lungen-
kraft heruntergeht; wie wir an den Juchzern beobachten,
die sich die Sennen im Gebirge gegenseitig zurufen.
Dieses Verweilen auf einem festen Ton ist, meine
ich, der erste Schritt zum Gesang, es zieht die Grenz-
linie gegen das bloBe Sprechen.
Der zweite Schritt und der eigentliche Schopfungs-
akt flir die Musik ist dann der Gebrauch eines festen
und transponierbaren Intervalls, und auch dazu konn-
ten akustische Signale hinfuhren. Wenn namlich die
Stimme eines einzelnen nicht ausreicht, werden mehrere
— 27 —
zusammen rufen. Sind es Manner und Knaben oder
Manner und Weiber, so werden sie T5ne ungleicher
H5he erzeugen, weil jeder die hochste Tonstarke nur
innerhalb seiner Stimmregion erreicht. So mochten
zahllose Mehrklange zufallig entstehen.
Unter alien Kombinationen hat aber eine die
Eigenschaft, daB der Zusammenklang dem Eindruck
eines einzelnen Tones zum Verwechseln ahnlich ist:
die Oktave. Man nennt daher das Zusammensingen
von Mannern und Frauen in Oktaven immer noch
einstimmigen Gesang, obgleich es, wenn auf die
Verschiedenheit der Hohe allein geachtet wird,
schon Mehrstimmigkeit heiSen muBte. In der psy-
chologischen Akustik kennen wir diese Eigenschaft
der Oktave unter dem Namen der Verschmelzung,
und schon griechische Musiktheoretiker haben darin
das Wesen der „Konsonanz" gefunden. Diese Ein-
heitlichkeit desZusammenklanges ist der Oktave nicht
etwa erst durch die Musik selbst zugewachsen. Sie
ist nicht eine Folge der musikalischen Entwicklung,
sondern eine durch die Natur der Tone oder der
ihnen zugrundeliegenden Gehirnprozesse notwendig
bedingte Erscheinung^^. Sie ist darum wahrscheinlich
auch bei den Tieren vorhanden, nur daB diese darauf
nicht aufmerksam wurden und nichts daraus gemacht
haben. Die Urmenschen aber mogen diese Ein-
heitlichkeit einmal bemerkt und Zusammenklange die-
ser Art dann mit Vorliebe benutzt haben, indem sie
— 28 —
den Eindruck hatten, den namlichen Ton, also einen
verstarkten Ton zu singen. (Ob dabei iibrigens eine
wirkliche Verstarkung oder nur eine groBere Fulle des
Klanges erzielt wurde, mag hier dahingestellt bleiben.)
Wir konnen heute noch an Unmusikalischen beob-
achten, da6 sie die Oktave fur Einen Ton halten.
Versuche haben ergeben, daB dies unter 100 Fallen
etwa 75mal geschieht^^ Also gerade solche, die
durch die musikalische Erziehung am wenigsten
beeinfluBt sind, unterliegen am meisten dieser Tau-
schung.
Es gibt aber noch andere Zusammenklange, die
dieselbe Eigenschaft in geringerem, doch immer
noch betrachtlichem MaBe besitzen: vor allem die
Quinte und die Quarte. Bei der Quinte kann man
auf 40—60%, bei der Quarte auf 28—36% Falle
rechnen, in denen sie von UngeUbten und Unmusi-
kalischen miteinem einzigenTon verwechseltwerden.
So konnten sich auch diese Zusammenklange dem
Gehor allmahlich durch ihre einheitliche Wirkung
bemerkbar machen. Selbst auf unserer Orgel ist bei
gewissen Registern einem jeden Ton die Quinte bei-
gefUgt, ohne daB es jemand merkt. Der Klang wird
voller, ohne seine Einheitlichkeit einzubiiBen.
DaB die Signalgebung der AnlaB oder einer der
Anlasse zur Aussonderung bestimmter Intervalle war,
ist, wie gesagt, Hypothese. DaB aber die auffallende
Verschmelzung der beiden gleichzeitigen Tone ge-
- 29 —
wissen Schwingungsverhaltnissen unabhangig von der
absoluten Tonhohe zukommt, sie somit zur Trans-
position geeignet macht, ist sicher.
Da aus dem Bedtirfnis der Zeichengebung auch
die Sprache entstanden sein mu6 (zunachst in Ge-
stalt eng miteinander verknlipfter, durch sich ver-
standlicher Laut- und Gebardezeichen), so ist durch
unsere Hypothese eine gemeinschaftliche Wurzel fUr
Musik und Sprache gesetzt.
Wenn man ferner religiose Bediirfnisse schon in
der Urzeit des Menschengeschlechts wirksam denkt,
kann man annehmen, da6 auBer der Zeichengebung
gegentiber Menschen auch die Anrufung der Gotter,
bzw. der damonischen Zauberkrafte in Luft und
Wasser, zu den Anlassen gemeinschaftlicher stark-
ster Stimmgebung gehorte. Man kann so auch diese
Seite der menschlichen Natur in Beziehung zu den
Ursprungen der Musik setzen.
Nun mochte weiter ein Affekt ins Spiel treten,
dem wir in der Urgeschichte der Menschheit auf alle
Falle eine machtige Rolle zuschreiben mtissen, der
allerdings auch schon bei den hOheren Tieren, nament-
lich den Affen, deutHch ist: die Neugier. Sie ist
neben dem Zufall und der Not die Quelle aller Ent-
deckungen und Erfindungen, undsie istdiePflegeamme
auch derjenigen, die der Zufall oder die Not geboren
hatte. Beim Zusammentreffen zweier Stimmen in der
Oktave, in der Quinte oder Quarte konnte einem f eineren
— 30 —
Gehor doch allmahlich nicht entgehen, daB es sich in
Wirklichkeit urn zwei verschiedene Tone handelte.
Wenn man sie nacheinander angab, war dies voll-
i<ommen deutiich. Man mochte sich dariiber freuen,
solche Zweii<lange hervorzubringen, die doch einem
Einklang ahnlich waren; und man sang dann die
namlichen Tone auch absichtlich nacheinander, um
sich ihren Eindruck auch in dieser Form einzupragen.
Dabei mochte dann der leereZwischenraum, den auch
das kleinste dieser Intervalle, die Quarte, noch dar-
bietet, zunachst willkiirlich durch Zwischentone aus-
gefOllt werden. Und so konnen wir uns die ersten
melodischen Phrasen, sowie die ersten Keime einer
Leiter entstanden denken. Die Oktave wird dabei
allerdings im melodischen Gebrauch weniger benutzt
worden sein. Obgleich Oktavenschritte in recht
primitiven Gesangen vorkommen, finden sie sich
naturgemaB doch nur an einzelnen Stellen. Zum
melodischen Gebrauche sind die kleinen Stufen ge-
eigneter. Quarten- oder Quintenschritte sind daher
bei vielen primitiven Gesangen die groBten Inter-
valle, die in unmittelbarer Aufeinanderfolge der
beiden Tone gesungen v^erden. Aber auch der ge-
samte Tonumfang eines Liedes, der Abstand seines
tiefsten Tones von seinem hochsten, uberschreitet
haufig nicht diese Grenze.
Man konnte wohl fragen, ob die ersten konso-
nanten Intervalle nicht doch auch in der bloBen
— 31 -
Aufeinanderfolge der T5ne sich schon fOr das BewuBt-
sein der Urmenschen auszeichnen muBten. Bei der
Oktave z. B. sprechen wir doch von einer gewissen
Verwandtschaft oder Ahnlichkeit oder gar Identitat
der beiden Tone, die auch den Urmenschen auf-
fallen konnte. Ich will eine solche Moglichkeit nicht
ausschlieBen, halte aber die Verschmelzung bei gleich-
zeitigem Angeben der Tone fur das aufdringlichere Pha-
nomen und darum, zumal da es gleichzeitig jene prak-
tische Bedeutung haben konnte, fUr den wahrschein-
lichsten Ausgangspunkt der ganzen Entwicklung^*^.
Nur zum Gebrauche gewisser kl einer Intervalle
konnte man, und zwar sogar schon viel fruher,
durch das Singen aufeinanderfolgender Tone ge-
langen, ohne uberhaupt irgendwelche konsonante
Zusammenklange dabei zu benotigen. Man sang
eben — vielleicht nur dem Spieltriebe folgend oder
wieder zu Signalzwecken — Tone, die deutlich ge-
nug voneinander verschieden waren, und erwarb
sich in der Hervorbringung solcher Stufen, die dann
auch absichtlich etwas groBer oder kleinergenommen
werden konnten, eine gewisse Ubung; so daB da-
durch schon Gesange moglich wurden, die man
von anderen Ausgangstonen aus wiederholen konnte.
Denn solche kleine Tonstufen lassen sich in der Tat
von beliebigen Ausgangstonen aus mit einiger Ge-
nauigkeit in gleicherGroBe herstellen, und man erhalt
auch so eine Art transponierbarer Intervalle ^l Ihre
— 32 —
Abstimmung wird freilich nur schwer die Genauigkeit
und GleichmaBigkeit der Intervalle erreichen, die
auf das Prinzip der Konsonanz gegrtindet sind.
Manche Gesange primitivster Natur, z. B. bei
den Wedda auf Ceylon, sind von dieser Art und
wohl auf diesem Wege entstanden. Mag man sie
als bloBe Vorstufen oder schon als Anfange der
Tonkunst bezeichnen, jedenfalls gilt, daB diese von
kleinen Tonstufen ausgehende Stromung erst mit
der vorher geschilderten, aus den Konsonanzerleb-
nissen flieBenden, sich vereinigen muBte, ehe eine
hohere Entwicklung moglich war. Wenn solche Ge-
sange aus willkiirlichen kleinen Stufen die zeitlich
friiheren waren, was moglich, ja sehr wahrscheinlich
ist, so wUrden wir sagen: der Nebenstrom hat einen
langeren Lauf, aber er wird dadurch nicht zum Haupt-
strom. Dieser, der Gebrauch konsonanter Grundinter-
valle, ist es, der sich mehr und mehr als das Wesen
der Musik enthullt und dessen Quelle die Quelle
der Musik ist.
Uberdies kann man sich leicht vorstellen, auf
welche Art die beiden FluBlaufe bald zusammentreffen
muBten. Kurze melodische Motive aus kleinen Stufen
eigneten sich offenbar vortrefflich zu Signalzwecken,
zumal da durch die Unterschiede der Akzentuierung
aus wenigen Tonen eine Fulle verschiedenerZeichen
entsteht, die z. B. als Familienrufe gebraucht werden
konnten. Wenn nun Manner und Weiber oder Knaben
— 33 —
ein solches aus zwei oder drei Tonen gebildetes Si-
gnal zusammen angaben, so muBten wieder die FSlle,
in denen sie in Oktav- oder Quintenparallelen neben-
einander her sangen, sich vor anderen durch den Ein-
druck des Unisono auszeichnen und darum allmahlich
bevorzugt werden. Und war dieshaufiggeschehen, so
konnte leicht auch ein einzelner sich versucht fuhlen,
den Ruf des Partners, den er soeben gehort, in dessen
eigener Stimmlage nachzuahmen (oder auch zu pf eif en),
womit er also seinen eigenen Ruf urn eine Oktave,
bzw. Quinte oder Quarte, hoher oder tiefer transponiert
hatte. Der Gebrauch des Falsetts, der sich bei Natur-
volkern ofters findet, konnte unter anderem mit solchen
Nachahmungsversuchen zusammenhangen. So wurde
das Parallelsingen zugleich eine gute Schule der
Transpositionsfahigkeit.
Waren einmal die Motive aus zwei oder drei
Tonen zu groBeren Gebilden erweitert, denen wir
schon den Namen von Melodien beilegen konnen,
so konnte, ja muBte derselbe ProzeB sich wieder-
holen. In der Tat finden wir nicht nur das Parallel-
singen ganzer Melodien in Oktaven, sondern auch
das Singen und Spielen in Quinten- oder Quarten-
parallelen bei Naturvolkern weit verbreitet. Man
kann selbst in unserem zivilisierten Europa noch
oft bei Natursangern beobachten, da6 sie quintieren,
wahrend sie einstimmig zu singen glauben. In einem
Moment der Zerstreuung oder unter ungewohnlichen
Stunipf , Anfange der Musik ■^
— 34 —
Umstanden kann dies sogar einem Musiker passieren.
Legte man nun wieder das gleichzeitig Gesungene
auseinander, so war die Melodie um eines der
konsonanten Intervalle verschoben. Auch fur solche
Wiederholungen finden sich schon frtihzeitig Beispiele.
In der spateren griechischen Musik und den Anfangen
der christlichen nannte man sie Antiphonien. Bei
uns selbst gibt es auBer den Oktavenverschiebungen,
die gar nicht mehr als Transpositionen gerechnet
werden, die regelmafiige Quintenverschiebung des
Themas in der Fuge und anderen kontrapunktischen
Formen. Es mag lacherlich klingen, ist aber buch-
stablich richtig, daB die Anfange der Kontrapunktik in
vorhistorische Zeiten zuriickreichen.
V. Hornbostel hat darauf hingewiesen, da6 auch
umgekehrt aus Wechselgesangen, die zunachst ganz
ungeregelt sein mochten, Mehrstimmigkeit entstehen
konnte. Es findet sich namlich haufig bei Natur-
volkern, daB, wenn zwei Sanger oder ein Sanger und
ein Chor abwechseln, der zweite Partner schon be-
ginnt, wahrend der erste noch seine letzten T5ne vor-
tragt. In dieser, zuerst wohl nur der Ungeduld des
Sangers entsprungenen, Unartfandman dannvielleicht
einen gewissen Reiz (wie ja das Verfahren in unserer
Kunstmusik zu schonen Wirkungen benutzt wird),
Ubte es auch absichtlich und entdeckte dabei aufs
neue und von hoherem, schon kunstlerischem Stand-
punkte den Eindruck konsonanter Intervalle.
— 35 —
III
Primitive Instrumente und ihr EinfluB.
Ganz derselbe ProzeB, wie beim Singen, vollzog
sich nun auch sicherlich schon sehr friihe beim Ge-
brauche von Instrumenten. Wir mussen allerdings
damit rechnen, da6 manche anscheinend primi-
tive Musilcinstrumente, die wir jetzt finden, Ruck-
bildungen lioher stehender Instrumente sein mogen,
die von Kulturvolkern v^ieder zu Naturvolkern ge-
v^^andert sind; wie z. B. die Negerharfe in diesem
Verhaltnis zur altagyptisclien Harfe stehen dtirfte,
ebenso die Pfeifen der Kubu auf Sumatra zu denen
des javanischen Kulturvolkes^^. Immerhin konnen
wir das bei Naturvolkern Vorgefundene auch dann
benutzen, um uns ein annalierndes Bild von den ur-
sprunglichen Zustanden zu machen.
Pfeifen sind, wenn nicht die altesten, jedenfalls
sehr alte Musikwerkzeuge. Man findet durchlocherte
Knochen erlegter Tiere, namentlich von Vogeln, in
Verbindung mit Steinwerkzeugen in europaischen
wie in amerikanischen Grabern und Hohlen. Auch
das Horn der Antilope oder des Urstieres und aus-
gehohhe Mammutzahne wurden verwendet, besonders
aber Bambusrohre, spater auch kunstlich gefertigte
Terrakottapfeifen. Sie wurden entweder am offenen
Ende angeblasen oder mit einem Seitenloche ver-
sehen. Am offenen Ende wurde schon in alter Zeit
3*
— 36 -
durch eine Asphaltmasse ein Mundstiick mit enger
Spalte angebracht, entsprechend dem Prinzip unse-
res Flageolets.
Solche zunachst nur auf einen Ton abgestimmte
Pfeifen mochten nun wiederum zu Signalen Anwen-
dung finden, wie denn auch die heutigen Naturvolker
Signalpfeifen in zahllosen Formen gebrauchen. DaB
man das Bedurfnis der Verstarkung hatte, zeigen die
nicht selten vorkommenden Doppelpfeifen. Wurden
Pfeifen verschiedener Tonhohe von mehreren Indivi-
duen zusammen angeblasen, so konnten dabei nach
und nach wieder jene drei Grundintervalle aus-
gesondert werden, die dem Gehor durch ihre Ein-
heitlichkeit auffielen, auch wenn man sie nicht schon
vom Singen her kannte. Gegen die ungeschulte
Menschenstimme hat die Pfeife den Vorteil, dafi sie
den Ton besser halt, wahrend die Stimme leicht in
weiten Grenzen schwankt. So konnten die kon-
sonanten Verhaltnisse sich hier noch leichter offen-
baren, sind vielleicht auch wirklich fruher da auf-
gefunden.
Es wurden dann auch auf einem einzelnen Instru-
mente durch Anbringung mehrerer Locher von einem
findigen Instrumentenmacher der Urzeit verschiedene
Tone hergestellt. Dabei sind aber die Locher zuerst
nicht bloB nach akustischen Bedurfnissen, so wie
man die Tone zu h5ren wunschte, angebracht
worden, sondern man hat zunachst aufs Geratewohl
— 37 —
Oder nach auBerlichen Motiven, wie es sich etwa
innerhalb der Bambusknoten am besten einrichten
lieB, besonders aber nach raumlicher Symmetrie die
Locher gebohrt und dann die Tone so geblasen
und so schon gefunden, wie sie eben herauskamen.
Auf eine bequeme Stellung der drei, bzw. sechs, haupt-
sSchlich verwendbaren Finger ist naturlich auch ge-
sehen worden. Allmahlich erst griff das inzwischen
vervollkommnete Gehor korrigierend ein und brachite
die akustisch ausgezeichneten Intervalle, wenigstens mit
Hilfe der Spieltechnik, auch auf den Pfeif en zur Geltung.
AuBerdem wurde aber zur Hervorbringung ver-
schiedener Tone wahrscheinlich sehr frtihe das System
der Panpfeife benutzt, die Aneinanderreihung einer
Anzahl verschieden abgestimmter Pfeifen. Man findet
sie bei primitiven Volkern aller Weltteile. Die Pfei-
fen sind nach verschiedenen Prinzipien abgestimmt.
Zuerst hat vielleicht uberhaupt keine Abstimmung
stattgefunden, sondern sind auBerliche Motive oder
ist der Zufall fur die Zusammenstellung mafigebend
gewesen. Auf den meisten gegenwartigen Panpfeifen
sind aber akustisch ausgezeichnete Intervalle zu
finden. Dabei folgen die Pfeifen entweder nach
ihrer Tonhohe aufeinander, oder sie bilden Gruppen,
die uns wie auseinandergelegte Akkorde anmuten. In
gewissen Fallen endlich scheint eine bestimmteMelo-
die ein fur allemal in der Anordnung der Pfeifen fixiert
zu sein oder von Fall zu Fall fixiert zu werden^^
— 38 —
Besonders merkwurdig sind noch die Doppelpan-
pfeifen, aus einer vorderen und hinteren Reihe be-
stehend; die zwei zueinander gehorigen Pfeifen sind
immer gleichgroB, aber die eine ist offen, die andere
gedeckt, infolgedessen stehen sie im Oktavenverhaltnis.
Man sieht daran, wie die akustischen Erfahrungen
sich mehren^o.
Nun wurde aber bei den Blasinstrumenten (auch
Trompeten verschiedener Art kamen allmahlich auf)
noch eine Erscheinung beobachtet, die ganz unabhangig
von den Erfahrungen an gleichzeitigen Tonen die
Aufmerksamkeit auf die konsonanten Intervalle hin-
lenken muBte: namlich die Obertone, die durch das
„Uberblasen" zum Vorschein kommen. Auf dem
Alphorn ruft sie der Schweizer Hirte heute noch der
Reihe nach hervor. Die Intervalle der Teiltone
sind zuerst die Oktave, dann die Quinte, Quarte
und Terz. Die drei ersten Intervalle sind identisch
mit denen, die beim Zusammensingen und Zu-
sammenpfeifen die groBte Verschmelzung aufweisen,
und muBten so aufs neue im BewuBtsein befestigt
werden. Ja es ist sehr wohl denkbar, daB man
beim Zusammenfugen von Panpfeifen sich in vielen
Fallen durch die Obertone leiten lieB. Die einzige
Quelle konsonanter Intervalle konnten aber diese
aufeinanderfolgenden Uberblasungstoneschon darum
nicht sein, well jene Intervalle sich auch bei Stammen
finden, denen Blasinstrumente fehlen, well ferner der
— 39 —
Gebrauch gleiclizeitiger Oktaven- oder Quintentone
doch wieder durch besondere Eigenschaften dieserZu-
sammenklange veranlaBt werden muBte, weil endlich
die Uberblasungstone vielfach nicht rein, sondern etwas
zu tief herauskommen, wahrend das Ohr nach Reinheit
drangt. Das Gehor fugt sich auf die Dauer nicht den
Instrumenten, sondern die Instrumente dem Gehor ^i.
Nachdem einmal Pfeifen mit mehreren Lochern
und die ersten Panpfeifen erfunden waren, mu6 das
Musizieren einen groBen Aufschwung genommen
haben. Die Hervorbringung immer neuer abwech-
selnder Tonfolgen, sei es auch mit ganz wenigen
Tonen, muBte auf solche, die uberhaupt an Tonen
Freude hatten (und darin waren die Individualitaten
urspriinglich wohl ebenso verschieden wie heute)
einen groBen Reiz ausiiben. Es entstanden die
ersten instrumentalen Melodien. Jetzt konnte auch
der Tanz, das Opfer und jede andere feierliche oder
unfeierliche Gelegenheit zur Ausubung dieser Kunst
benutzt werden. Zugleich bot das Instrument mit
seinen festen Tonen eine willkommene Unterstiitzung
fiir den Gesang. Es war jetzt moglich, Tonwen-
dungen, die der und jener beim Singen gebraucht
und die andere nachgeahmt hatten, zu fixieren. Und
man konnte mit Hilfe der Pfeifen die Weisen treuer
von Geschlecht zu Geschlecht uberHefern als mit
bloBem Singen. „Er schnitzt sich eine Pfeif aus
Rohr und blast den Kindern schone Tanz' und Lieder
— 40 —
vor." Die instrumentale Fixierung tritt zum Gesang
in ahnlicher Weise unterstutzend hinzu, wie spater
die Schrift zur Sprache.
Au6er den Pfeifen sind Saiteninstrumente in pri-
mitiver Form weit verbreitet, haben sich aber wohl
langsamer entwickelt. Sie sind nach wahrschein-
licher Annahme aus dem gespannten Bogen der
jager entstanden. Man konnte bald bemerken, daB
der Ton der Sehne sich mit der Spannung andert,
und mochte sich wieder zu allerlei Experimenten
angetrieben finden. Es entstand der sogenannte
Musikbogen, das ursprunglichste Saiteninstrument,
das sich noch in mehreren Weltteilen findet. Die
Saite wird mit einem Stabchen geschlagen, auch
gezupft, nur selten gestrichen. Der auBerst durf-
tige Ton wird haufig dadurch verstarkt, daB der
Spielende die Saite in den offenen Mund halt, der
dabei als Resonator gebraucht wird. Aber auch
die Verstarkung durch objektive Hohlraume ist den
Naturvolkern langst bekannt. Namentlich dienen
schon beim Musikbogen ausgehohlte Klirbisse die-
sem Zweck. Dann wurden, wie bei den Pfeifen,
die Tone vervielfaltigt, indem man mehrere ver-
schieden gespannte oder verschieden lange Saiten
aufzog. Es entstanden die Harfe und die Leier mit
Schildkrotenschalen als primitiven Resonanzkasten.
So war auch hier die Unterlage fUr instrumentale
Melodiebildungen gewonnen.
— 41 —
Endlich wurden auch Schlaginstrumente22, bei
denen es ursprUnglich nur auf Tonstarke ankam,
dem musikalischen Gehor dienstbar gemacht. Den
ersten Schritt dazu zeigt die Kombination von zwei
Klangholzern, Brettern von ungleicher Tonhohe, die
abwechselnd geschlagen werden. Kunstlicher ist
schon die Signaltrommel, ein ausgehohlter Holzblock,
an dessen oberer Seite durch Einschnitte zwei Zungen
gebildet sind. Sie dient in Afrika und anderwarts
fiir die Trommelsprache, d. h. die VerstSndigung auf
weite Entfernungen hin durch bestimmte, teils kon-
ventionelle, teils der gewohnlichen Sprache nachgebil-
dete Schallzeichen. Die beiden Zungen sind von
verschiedener Dicke und geben darum verschiedene
Tone. Dasselbe Instrument war, kunstvoll aus-
gearbeitet, im alten Mexiko bei Priesterkonzerten
gebrauchlich. Aber auch der Gebrauch abgestimmter
Membranen ist allverbreitet. Wir finden sehr mannig-
fache Pauken, die auf verschiedene Tone eingestellt
werden. Die konsonanten Intervalle selbst sind aber
an diesen Instrumenten sicherlich nicht aufgefunden,
sondern nur auf sie iibertragen worden.
Einer hoheren Entwicklungsstufe gehoren dann
die vielbenutzten Xylophone und Metallophone an (die
in Amerika allerdings ebenso wie die Musikbogen
erst von Afrika aus importiert scheinen). Da ist eine
ganze Anzahl von klingenden Holz- oder Metall-
staben vereinigt und vielfach mit entsprechenden
— 42 —
Resonatoren verbunden. Diese Instrumente sind fUr
die Musikforschung auBerordentlich wertvoll, weil
man an gut erhaltenen Exemplaren die Tonleitern,
die darauf vertreten sind, mit physikalischer Genauig-
keit messen kann. In Afrika sind die handlichen
kleinen Sansa's, deren holzerne oder metallene Stab-
chen durch Herabdrucken mit dem Daumen zum
Schwingen gebraclit werden, so beliebt wie bei uns
das Klavier.
Man kann die Frage stellen, ob Instrumente fiir
die Musik ganz unentbehrlich seien, ob es nicht
Stamme gebe, die nur Gesangmusik ausgebildet
haben. Tatsachlich gibt es solche; z. B. die Wedda
in Ceylon haben keine Instrumente. Ihre Gesange
stehen aber auch auf einer auBerst niedrigen Stufe.
Die nordamerikanischen Indianerstamme freilich, die
nur wenige und durftige Instrumente gebrauchen, be-
sitzen eine sehr entwickelte Gesangmusik. Man wird
daher nicht umhin konnen, eine rein vokale Entwick-
lung der Musik bis zu einer gewissen Stufe fur mog-
lich zu halten.
IV.
Mehrstimmigkeit, Rhythmik, Sprachgesang.
Wir wollen nun die primitive Musik, empirisch
gesprochen die Musik der NaturvOlker, noch be-
sonders in drei Richtungen kurz charakterisieren:
— 43 —
hinsichtlich der ersten nachweisbaren Formen der
Mehrstimmigkeit, hinsichtlich der Rhythmik, und hin-
sichtlich der Verkntipfung von Singen und Sprechen.
1. Wie steht es vor allem mit dem Ursprunge der
Harmonie, die fur uns so wesentlich zur Musik ge-
hort, daB wir auch die einstimmige unbegleitete
Melodic im harmonischen Sinne auffassen, und daB
alle Spannungen und Losungen der Melodic uns
zugleich harmonische Spannungen und Losungen
bedeuten? Sind Dreiklange, Akkorde tiberhaupt, ein
ganz spates Produkt, eine gotische Barbarei, wie
sie Rousseau nannte? Oder sind sie so alt wie
die Musik? 1st vielleicht auch die urspriingliche
Melodic ebenso wie die unsrige aus der Harmonie
herzuleiten?
So viel darf als ausgemacht gelten, daB die Freude
an der mannigfaltigen Verbindung, Verwicklung und
Auflosung von Akkorden erst eine modern-europaische
Errungenschaft, etwa seit dem 13. Jahrhundert, ist.
Noch die alten Griechen, die von ihrem offenbar reich
entwickelten Musiksystem die tiefsten seelischen
Wirkungen erfuhren, kannten keinen Dur- oder Moll-
akkord, geschweige denn ein Harmoniesystem. Die
beliebte Harmonisierung der erhaltenen BruchstUcke
griechischer Melodien ist eine Falschung. Dasselbe
gilt, soweit die bisherigen Kenntnisse reichen, bei den
gegenwartigen Naturvolkern. Aber zwischen dem
— 44 —
modern-europaischen Akkordsystem und derstrengen
Einstimmigkeitliegen doch noch verschiedene Formen
der Mehrstimmigkeit, deren Anfange sehr weit zurtick-
reichen miissen. 1st unsere Annahme uber den Un-
sprung der Musik richtig, so liegt er ja gerade im mehr-
stimmigen, wenn auch unbewuBt mehrstimmigen,
Singen oder Spielen. Und es ist keine geringe Bekrafti-
gung daftir, daB, wie erwahnt, bei den gegenwartigen
Naturvolkern auBer den Oktaven- auch Quarten- und
Quintengange vorkommen. Sie wurden, nachdem
sie sich zuerst unbemerkt eingeschlichen, allmahlich
auch mit Absicht herbeigefuhrt, weil man etwas
Schones darin fand, daB der Klang, ohne seine
Einheitlichkeit einzubuBen, doch an Fiille gewann.
Sie treten zu regelmaBig an bestimmten Stellen der
Gesange auf, urn als unwillkiirliche Entgleisungen
angesehen werden zu konnen. In Asien (China,
Japan, Siam, Sumatra usf.) ist es etwas ganz Ge-
wohnliches, daB Instrumente unter sich oder mit
der Stimme in Quinten oder Quarten gehen. Dieses
Quintieren ist um so bemerkenswerter, als es nach
unbezweifelbaren Berichten genau ebenso im 9.
und 10. Jahrhundert n. Chr. (bei den Kartausermonchen
noch im 13. Jahrhundert) ausgeiibt und fur schon
gehalten wurde. Daraus ist dann unsere ganze
mehrstimmige Musik hervorgegangen, in der jetzt
allerdings solche Parallelen im allgemeinen nicht
mehr als erlaubt gelten. Auch Terzengange kommen
- 45 -
hie und da vor, besonders in Afrika; ob unabhangig
von europaischem EinfluB, ist allerdings die Frage.
Man kann also ganz wohl sagen, daB die Wurzeln
der Harmonic sich bei den Naturvolkern finden.
Sie sind nur nicht zu weiterem Wachstum gekommen;
die Harmonie selbst ist ausgeblieben. Der Natur-
mensch findet zwar einen Durakkord nicht Ubel, aber
er verlangt nicht danach, uberhaupt nicht nach Drei-
klangen; und wo er Zweiklange gebraucht, werden
sie wieder von unserem Gehor meistens als un-
passend empfunden. Man findet ausgesprochene
Dissonanzen zwischen Gesang und Begleitung oder
zwischen den Instrumenten an hervorragender Stelle
und ohne jede Auflosung. Noch in der chinesischen
und japanischen Musik ist das namliche der Fall
und scheint auch in der altgriechischen Musik,
Plutarch zufolge, ebenso gev^esen zu sein.
Das Wohlgefallen an der Mehrstimmigkeit hatte
also vermutlich im Anfange ganz andere Griinde
als jetzt bei uns, die wir durchaus unter den Ein-
wirkungen der ungeheuren Entwicklung des letzten
Jahrtausends stehen. Man freute sich eben nur am
gleichzeitigen Hervorbringen mehrerer Tone uber-
haupt und etwa noch an dem vollen und einheit-
lichen Eindruck, der bei gewissen Verbindungen
entstand. Zuweilen scheint es bei den Naturvolkern so-
gar auf eine gewisse Rauhigkeit desZusammenklangs
durch Hervorbringung benachbarter, miteinander
— 46 —
schwebender Tone abgesehen zu sein, wodurch
Sekundenparallelen entstehen^^.
AuBer dem Parallelsingen in konsonanten Inter-
vallen findet sich noch ein anderer Ansatz zur
Mehrstimmigkeit bei den Naturvolkern: das Liegen-
bleiben oder die Wiederholung eines Tones wahrend
einer ganzen Melodie. Auch diese Art des Dis-
kantierens finden wir zu Beginn unserer Musikepoche
wieder, man nannte sie Diaphonia basilica. Die
alte Drehleier mit ihren „Bordun"-Saiten und die
namentlich im Orient weitverbreitete Dudelsack-
pfeife sind gleichfalls NachzOgler dieser primi-
tiven Art von Mehrstimmigkeit. In der gegenwartigen
Musik bieten der Orgelpunkt und der Basso osti-
nato Analogien dazu. Ja im groBten Instrumental-
werk der klassischen Epoche, der 9. Symphonie
Beethovens, bringt das Trio des zweiten Satzes eine
ausgefuhrte Dudelsackweise: Primitives als Wirkungs-
element hochster, heiligster Kunst.
2. So viel iiber die ersten Spuren mehrstimmiger
Musik. Wahrend nun aber dieser Faktor in seiner
gewaltigen Wirkungskraft erst sehr spat zur reiferen
Entfaltung kam, verhalt es sich umgekehrt mit
dem Rhythmus. Diese Seite der Musik, deren grund-
wesentliche Bedeutung wir nicht verkennen^^, ist sehr
frUh zu einer merkwurdig reichen Durchbildung ge-
diehen. Das hangt teilweise wieder mit dem prak-
tischen Bedlirfnis zusammen. Denn fUr die Signale,
- 47 -
speziell die Trommelsprache, boten rhythmische Ver-
anderungen das einfachste Mittel, mit wenigen Tonen
die mannigfaltigsten Tonzeichen hervorzubringen.
Andererseits hangt es aber auch gerade mit dem
Zuriickbleiben der Mehrstimmigkeit zusammen. In
einer wesentlich einstimmigen Musik kann sich der
Rhythmus viel freier entfalten als in einer poly-
phonen und harmonischen. Denn wenn viele zu-
sammen musizieren, und wenn vollends die Stimmen
verschiedene Melodien singen, dann mtissen sie sich
um so fester an gewisse stereotype und leicht fest-
zuhaltende Rhytlimen binden, wenn nicht ein volliges
Chaos entstehen soli. Daher fuhrte die Polyphonic
alsbald zur Mensuralmusik, und daher beschranken
wir uns auf wenige einformige Taktarten, wie V4» ^Uj
und halten sie durch ein ganzes Stuck fest. Auch
bei den Chinesen, Japanern, Siamesen, wo eine ge-
wisse Art von Mehrstimmigkeit gebrauchlich ist,
finden wir nur diese einfachsten Taktarten, beson-
ders die geradzahligen. Dagegen in der ursprting-
lichen, wesentlich homophonen Musik war der ver-
schiedenartigsten Rhythmisierung die Bahn geoffnet.
Die Griechen waren uns hierin uberlegen. Aber
selbst die Naturvolker sind uns Uberlegen. Wir
finden da z. B. bei den Indianern haufig V4- ""^
V^-Takte, die in unserer Kunstmusik immer zu den
KUhnheiten gehoren, wenn sie auch in europaischer
Volksmusik ofter vorkommen; ja diese Taktarten
- 48 —
wechseln innerhalb eines Stuckes untereinander und
mit geradzahligen Taktarten in rascher Folge ab.
Singt ein ganzer Chor, so werden diese kompli-
zierten Rhythmen gleichwohl einhellig durchgefuhrt,
well man eben Unisono singt und alle auf die be-
sondere Rhythmisierung des betreffenden Liedes ein-
getibt sind. Ebenso ist es aber auch bei vielen
anderen Naturvolkern. Manche sudasiatische Volker
scheinen geradezu eine Vorliebe fur siebenteilige
Gruppierung zu haben. Es finden sich aber auch
Rhythmen von solcher Kompliziertheit, daB wir sie
uberhaupt nicht mehr durchs Ohr auffassen k5nnen,
vielmehr nur bei genauer Nachmessung der be-
zuglichen Zeitabschnitte als vorhanden erkennen^^
Eine merkwiirdige und auBerst weitverbreitete Ge-
wohnheit ist ferner das Schlagen auf Taktteilen, die wir
als „schlechte" bezeichnen wurden. Man findet es
ebenso bei den Indianern wie bei den Kulturvolkern
von Siam und Java. Ferner gehen oft mehrere ganz
verschiedene Rhythmen, z. B. im Gesang und in der
begleitenden Pauke, deren gleichzeitige Auffassung
uns nicht oder nur sehr schwer moglich ist, unab-
hangig nebeneinander her (Rhythmische Polyphonic,
Polyrhythmie)26.
Wir miissen aus diesen Tatsachen freilich auch
schlieBen, daB das meiste, was bei den Naturvolkern
an Musik beobachtet wird, keineswegs die aller-
primitivsten Zustande darstellt, sondern mindestens
— 49 -
in Hinsicht der Rhythmik und des ganzen Aufbaues
doch schon vielfach eine lange Geschichte hinter
sich hat, so roh und barbarisch es fur uns klingt. Die
Verwendung rhythmisierter Gesange bei der Arbeit,
die Bucher mit Recht als eine treibende Kraft fur
die Ausbildung des RhythmusgefUhles betont, mochte
ich aber nur fur die einfacheren Rhythmen in Anspruch
nehmen. Jene verwickelten Rhythmen und ihre
klinstliche Zusammenfugung miissen schon auf andere
als bloB praktischeBedurfnissezuruckgefuhrtwerden.
Da mUssen wir wieder die Neugierde, das Spielbe-
dlirfnis, die Freude am Experimentieren und an der
fortschreitenden Fahigkeit zur Auffassung und Zu-
sammenfassung verwickelterer Gebilde, auch schon
das Bedurfnis eines angemessenen Ausdruckes fur
die religiosen Vorstellungen und ritualen Zeremonien
und fur alles, was das Gemiit bewegte, — kurz,
wir miissen immer mehr der hoheren Natur des
Menschen entspringende Motive wirksam denken.
3. Ebenso wie der Rhythmus zwar nicht den Ur-
sprung der Musik, aber eine besonders reich und
schnell voranschreitende Eigenschaft der Urmusik
darstellt, so ist die Sprache, in der wir gleichfalls
nicht den Ursprung finden konnten, fur die Ent-
wicklung der Musik von groBerBedeutung geworden.
Die musikalischen Intervalle wurden, nachdem sie
einmal dem BewuBtsein aufgegangen waren, auch
beim Sprechen vielfach verwendet. Es entstand
Stunipf, Anfange der Musik 4
— 50 -
tatsachlich eine Art Sprachgesang, d. h. ein Rezitieren
und Deklamieren, bei welchem die Stimme langer
als gewOhnlich auf bestimmten T5nen verweilt, ganze
Satze in einer unveranderten Tonhohe vortragt und
an besonderen Stellen die musikalischen Intervalle
zu Hilfe nimmt. Wir haben davon eine Menge
Proben bei den Naturvollcern, aber auch bei den
ostasiatischen Kulturnationen. Die Grenze gegen
das gewohnliche Sprechen ist nicht immer leicht
zu Ziehen. Aber den ausgebildeten Sprachgesang
mochte ich durchaus als wahren Gesang bezeichnen.
Bei uns gibt das Singen der Domherren und Monche,
die in der Kirche ihre Vesper oder Matutin rezi-
tieren, ein Beispiel davon. Die Rhythmik und das
ZeitmaB des Sprechens ist dabei aus der gew5hn-
lichen Sprache ziemlich unverandert herubergenom-
men, und man hat infolgedessen den Eindruck eines
nur wenig modifizierten Sprechens. Gleichwohl ist
durch die festen Tonhohen und Intervalle ein wesent-
lich neues Element hineingekommen.
Dabei sind aber die musikalischen Intervalle
nicht etwav^illktirlich in das Sprechen hineingetragen,
sondern diejenigen ausgewahlt worden, die mit den
sprachlichen Tonfallen die groBte Ahnlichkeit be-
sitzen. Beim liturgischen Gesang ist dies ja be-
kannt. Bei den Naturvolkern finden sich aber auch
schon solche Obertragungen. So haben die Togo-
Neger die Tonfalle ihrer Sprache (die fur sie eine
— 51 —
besondere Wichtigkeit haben, weil dasselbe Wort
durch verschiedene Tonfalle eine ganze Anzahl von
Bedeutungen erhalt) auch auf die Trommelsprache
Ubertragen, die durch abgestimmte Schlaginstrumente
erfolgt. Daher sind deren akustische Zeichen den
Eingeborenen leicht verstandlich. Phonographische
Aufnahmen setzen diesen Zusammenhang auBer
Zweifel.
Fur die von uns nicht gebilligte Hypothese vom
Ursprunge der Musik aus der Sprache lassen sich
diese erfahrungsmaBig erwiesenen Sprachgesange
nicht etwa als Sttitze anfuhren. Es ist meines Er-
achtens kein Grund zu der Annahme vorhanden,
da6 das sprechende Singen dem eigentlichen, ich
mochte sagen musikalischen, Singen zeitlich vor-
hergegangen ware. Dieses unterscheidet sich vom
Sprachgesang durch den Besitz festerer rhythmischer
Formen, durch Verlegung des Schwerpunktes auf die
melodische Seite (stellen doch die Gesangtexte ofters
nur sinnlose Silben dar, und linden wir bei manchen
Stammen Lieder, die sie mit den Texten von anderen
Stammen iiberkommen haben, ohne die Texte zu
verstehen), vor allem aber durch das Auftreten
fester und Ubertragbarer Intervalle. Psychologisch
ware es nun zwar denkbar, daB die Intervalle, mit
deren Auftauchen wir die eigentliche Musik beginnen
lassen, zuerst in der Form des Sprechsingens an-
gewandt worden waren, namlich bei den Anfangs- und
4*
- 52 —
SchluBwendungen der Abschnitte der Rezitation, die
im ubrigen auf einem Tone verweilte^^. Aber warum
man dazu gerade die Oktave oder Quinte und niclit
ebenso alle mogliclien Tonabstande durcheinander
hatte benUtzen sollen, ware niclit im mindesten ein-
zusehen; dafur mtissen also doch besondere Ursachen
gesucht werden, und damit erst kommt man auf die
Anfange der Musik. Oberdies mochte ich's auch in
zeitlicher Hinsicht ftir wahrscheinlicher halten, da6
der erste Gebrauch musikalischer Intervalle ganz un-
abhangig von der Sprache erfolgte, und da6 erst
nachher, als bereits ein Singen und Spielen in Inter-
vallmelodien sich eingeburgert hatte, die erzahlende
und die dramatische Form der Rede das neue
Hilfsmittel zur Steigerung ihrer Wirkungen heran-
zogen.
Will man sagen, der Sprachgesang sei eine unter-
geordnete, minderwertige Form, und darum als die
friihere anzusehen, so wurden wir dies nicht in jeder
Hinsicht unterschreiben. Mag man auch die Rezitative
unserer klassischen Opern und Oratorien geringer
schatzen als die Arien, und vollends die ganzliche
Verdrangung der Liedform durch das Rezitativ als eine
Art von Atavismus miBbilligen: wer einmal die feier-
liche Prafation in der katholischen Messe, die dem
mystischen Schweigen der „Wandlung" vorangeht, in
wurdiger Form hat vortragen horen, wird ihre gewaltige
Ausdruckskraft nicht leugnen und sich ein Bild, zwar
— 53 —
nicht der griechischen Musik selbst, aber ihrer Wir-
kungen und Wirkungsmittel machen konnen.
V.
Entwicklungsrichtungen.
Blicken wir zuriick! Wir verzichteten darauf,
eine genaue zeitliche Reihenfolge fiir das Auftreten
der ersten LautauBerungen, die als musikalische be-
zeichnet werden konnen, aufzustellen. Es kam uns
mehr darauf an, die Wurzeln bloBzulegen, ihre Trieb-
kraft abzuschatzen, ihren Zusammenhang mit dem
Stamme zu verfolgen. Docli wollen wir jetzt bei
der Zusammenfassung auch die mutmaBliche Zeit-
ordnung mit berticksichtigen und der Ktirze halber
sogar in kategorischer Form sprechen — die hypo-
thetischen Vorbehalte verstehen sich ja in diesen Din-
gen von selbst.
Vor aller Musik wurden durch Scnlaginstrumente
und inartikulierte Laute der Stimme bereits Arbeits-
und Tanzrhythmen markiert. Aber als Element der
Musik wurde der Rhythmus erst eingefuhrt, nachdem
an die Stelle der Gerausche Tone, und nicht nur
Tone sondern Tonintervalle getreten waren. Zu Sig-
nalzwecken, auch aus bloBem Spielbediirfnis, wurden
zuerst kleine Intervalle gebraucht, die man in an-
nahernd gleicher Weise auch auf anderen absoluten
Tonhohen wiedererzeugen lernte. Solche Intervalle
— 54 —
wurden sowohl durch die Stimme als durch primi-
tive Instrumente (Klangholzer u. dgl.) hergestellt.
Musik im pragnanten Sinn entstand aber erst, als
die konsonanten Intervalle, vor allem die Oktave,
entdeckt wurden, die dann auch zugleich einen festen
Rahmen fur die kleineren Stufen abgaben. Diese
Entdeckung erfolgte auf Grund der Verschmelzungs-
eigenschaft und aus AnlaB der gleichzeitigen Zeichen-
gebung mehrerer Individuen. Dabei konnte wieder
die Stimme, konnten auch Instrumente Trager der
Tongebung sein: an beiden Klangquellen muBten
dieselben Grundintervalle herauskommen. Jedenfalls
waren die Instrumente durch die objektive Fixierung
der Intervalle iiberaus wichtig zur weiteren Entwick-
lung des Singens selbst. AuBer den Verschmelzungs-
erscheinungen konnte bei aufeinanderfolgendenTonen
auch die Klangverwandtschaft, wenigstens an oberton-
reichen Klangen, zu den Grundintervallen fuhren.
Bei den Blasinstrumenten wirkten ferner die Uber-
blasungstone mit, um diese Intervalle dem Bev^uBt-
sein aufzudrMngen. Aber die Hauptursache waren
sie nicht.
Gleichzeitig mit der Einfuhrung von festen Inter-
vallen, kleinen wie groBen, wurden im Dienste der
Signalgebung, aber auch schon aus ktinstlerischen
Interessen (in diesem Fall in Verbindung mit Tanz
und Dichtung bei Kulthandlungen u. dgl.) die rhyth-
mischen Eigenschaften der Tongebung immer mehr
— 55 —
differenziert, und es entstanden die ersten melo-
dischen Formen. Auch wurde das Verweilen auf
festen TonhOhen und der Gebrauch fester Intervalle
auf die gehobene Sprache ubertragen und so der
Sprachgesang als eine besondere Form der Musik
geschaffen 28.
Es wird nun die Aufgabe umfassender Analysen
und Vergleichungen sein, die Hauptformen primi-
tiverMelodiebildung und ihre allmahliche Vervoll-
kommnung aufzudecken. Die Gesetzlichkeiten im
rhythmischen Verlauf der Melodien werden sich
teilweise in Verbindung mit der Metrik der natUr-
lichen und der kUnstlichen Rede entwickelt haben,
teilweise aber auch unabhangig davon. Die ver-
schiedene Haufigkeit und Dauer der einzelnen Tone,
die GroBe der Schritte, die Abstimmung der Inter-
valle, die GleichmaBigkeit ihrer Intonation, die Lange
der einzelnen melodischen Motive und der ganzen
Melodie, die Vortragsnuancen — kurz, alle Merk-
male der Melodien mUssen statistisch und psycho-
logisch an dem Material, das hoffentlich noch zu
rechter Zeit in die Scheune gebracht wird, unter-
sucht werden. GegenwMig sind wir von einer solchen
Melopoie der Naturvolker noch weit entfernt, nur
die allerersten Anfange sind vorhanden, aber Zu-
sammenfassendes laBt sich noch nicht sagen.
Nur in wenigen Worten m5chte ich noch andeuten,
welche Wege die Weiterbildung des Tonsystems
— 56 —
selbst nach den ersten Anfangen eingeschlagen
hat, Oder — urn uns sogleich auf das empi-
rische Material zu beziehen — welche wesentlichen
rein tonalen Verschiedenheiten, aus denen man sich
etwa ein Bild des Entwicklungsganges machen kann,
sich bei den auBereuropaischen Volkern gegenwartig
finden.
Erstlich bemerken wir eine fortschreitende Zen-
tralisierung des Tonmaterials. Ein Hauptton tritt
allmahlich in den Melodien hervor. Wir nennen
ihn jetzt Tonika. Es gibt fiir uns keine Melodic
und keinen Akkord ohne Beziehung auf diesen Haupt-
ton. Sobald wir einen Ton auf eine andere Tonika
beziehen, verandert er seinen musikalischen Cha-
rakter. Aber diese straffe Zentralisierung, diese be-
stimmte Stellung des Haupttones als des tiefsten
der Leiter und diese seine harmonischen und melo-
dischen Funktionen sind spate Errungenschaften.
Ferner bilden sich allmahlich immer festere Lei-
tern innerhalb des Oktavenbezirkes, wobei die fUnf-
stufigen und siebenstufigen die allgemeinste Ver-
breitung erringen. Diese Leiterbildungen erfolgen
nach verschiedenen Gesichtspunkten, und es sind
vorztiglich zwei Wege, die man einschlSgt. Ein-
mal die folgerichtige Durchbildung des Konsonanz-
prinzips, indem man reine Quinten und Quarten,
viel spater auch reine Terzen zur Gewinnung neuer
Intervalle und zur genauen Fixierung der Schritte
— 57 —
verwendet. Sodann aber das Distanzprinzip. Bei
diesem fragt man nur: welcher Ton liegt zwischen
zwei gegebenen in der Mitte? So konnen wir
innerhalb der Quarte oder Quinte einen Ton ein-
schalten und erhalten im ersten Falle einen zu groBen
Ganzton, im zweiten Falle eine neutrale Terz. DaB
man tatsachlich auch so vorgegangen ist, wurde
zuerst durch die Untersuchung der siamesischen
und javanischen Musik festgestellt. Es entstehen
auf diesem Wege gleichstufige Leitern (ohne den
Unterschied der ganzen und halben Tone). Es
gibt ftinfstufige wie siebenstufige Leitern dieser Art,
die keinen einzigen Ton mit der unsrigen gemeinsam
haben und einem feinen europaischen Ohre ganzlich
verstimmt erscheinen^^. Aber das sind naturlich nicht
mehr Anfangsstadien, sondern weit fortgeschrittene
Kulturschopfungen, nur von anderer Art als die
unsrigen. Man kann in diesen nach dem Prinzip
des bloBen Tonabstandes gebildeten Leitern eine
Fortfuhrung jener Anfange erblicken, wie wir sie bei
den Wedda fanden, der Bildung kleiner Tonstufen
ohne Rucksicht auf Konsonanz, nur auf Grund eines
annahernd gleichgeschatzten Unterschiedes der Ton-
hohen. Auch diese Wurzel also hat getrieben, und
es ist die Fahigkeit zur Wiedererkennung distanz-
gleicher Stufen zur Virtuositat entwickelt, wie bei uns
die zur Erkennung und Unterscheidung der Konso-
nanzgrade. Aber doch nicht fUr sich allein und
— 58 —
nicht nur aus eigener Kraft. Denn die Siamesen
und Javaner gehen doch immer wenigstens von der
Oktave aus. Diese bildet den Rahmen, innerhalb
dessen dann die Stufen in bestimmter Anzahl nach
dem Distanzprinzip abgeteilt werden. Wahrscheinlich
sind indirekt doch sogar auch Quinte und Quarte
beteiligt^^ Es gibt also keine ausgebildeten Lei-
tern, die nur auf das Distanzprinzip gegrundet
waren.
Drittens entwickeln sich sehr verschiedene Stile
des Melodienbaues. Wahrend er bei Naturvolkern
vielfach dem unsrigen ahnelt, auch die siamesische
Melodik uns durchaus verstandlich ist, zeigte ktirz-
lich die Analyse phonographischer Aufnahmen von
sUdchinesischen Musikstucken Prinzipien der Bildung
und Umbildung von Melodien, die ftir unseren Ge-
schmack unmoglich waren (Herausnehmen einzelner
Takte, Ersetzen von einzelnen Tonen durch ihre
Quinten u. dgl.)^^ Vielleicht sind dies Produkte
einer verfallenden Kunst, aber so oder so erscheinen
sie uns ganz fremdartig und seltsam.
Endlich finden sich Unterschiede in der An-
wendung gleichzeitiger Tone und Tonfolgen. Was
wir davon schon erwahnten, gehort noch zu den
relativ urspriinglichen Erscheinungen. Dagegen ist
bei den Kulturvolkern Asiens eine Art der Viel-
stimmigkeit zum System ausgebildet, die von der
unsrigen durchaus verschieden ist. Es gibt in China,
— 59 -
japan, Hinterindien und den Sundainseln ganze Or-
chester, die eine Melodic ungefahr so vortragen,
als wenn mehrere Variationen eines Themas zu glei-
cher Zeit statt nacheinander gespielt wurden. Das
eine Instrument tragt das Thema unverandert vor,
das andere gibt mehr oder weniger freie Um-
schreibungen. Aber im ganzen klingt doch die
Grundmelodie durch. Dabei kommen natUrlich fUr
unser Ohr, wenn man genauer analysiert, schlimme
Zusammenklange vor. Da aber jene Volker das Har-
moniegefUhl uberhaupt nicht entwickelt haben, finden
sie sich durch solche Zusammenklange nicht un-
angenehm beriihrt. Ich habe diese Art der Viel-
stimmigkeit gegenuber der harmonischen Musik als
Heterophonie bezeichnet, in Erinnerung an einen
Ausdruck, den Plato bei der Beschreibung einer ge-
wissen mehrstimmigen Musiktibung im alten Grie-
chenland einmal gebraucht. Und es ist in der Tat
wohl m5glich, daB die siamesische und japanische
Musik uns ein Bild von dieser Form altgriechischer
Musikubung geben^^. Demgegeniiber ist nun unsere
gegenwSrtige europaische Musik, obgleich sie im
einzelnen verv^andte Erscheinungen aufweist, durch
und durch auf das Akkordsystem gebaut, das der
folgerichtigen und ausschlieBlichen Durchfuhrung
des Konsonanzprinzips entsprungen ist. Und eben
darum, well sie das Urphanomen, aus dem die
Musik Uberhaupt entsprungen ist und v^orin ihr
— 60 —
Kern und Lebenselement besteht, weil sie diese
Grundtatsache am reinsten und vollendetsten zur
Erscheinung gebracht und daraus das Stilprinzip
fur den ganzen imposanten Bau hergenommen hat,
darum durfen wir sie ohne Engherzigkeit auch vom
volkerpsychologischen und entwicklungsgeschicht-
lichen Standpunkt als die bisher hochste Erschei-
nungsform der Musik bezeichnen.
Ich mochte damit einem MiBverstandnisse be-
gegnen, dem vergleichende Untersuchungen dieser
Art zuweilen ausgesetzt sind : als sollte aller Wert-
unterschied geleugnet oder gar das Primitive als
Muster zur Nachahmung hingestellt werden. Dieser
Rousseausche Ungedanke, der in asthetischen wie
ethischen Diskussionen bei Enthusiasten immer
noch zu finden ist, steht geradezu in Wider-
spruch mit dem Entwicklungsgedanken. Wir wollen
uns doch nicht wieder riickwarts entwickeln. Das
goldene Zeitalter liegt nicht hinter uns, sondern
vor uns, so wenigstens hoffen und wunschen wir.
Wenn wir in anscheinend tierisch-rohen Produkten
ursprtinglichen Menschentums doch schon die wesent-
lichen Kennzeichen menschlicher Geistesarbeit er-
blicken, wenn die liebevolle Versenkung in das Ein-
fachste, die „Andacht zum Kleinen", uns auch darin
eine Struktur, ein Zusammenfassen von Teilen, ein
verschiedenes Bewerten der einzelnen Telle, ein Ober-
tragen gleicher Verhaltnisse auf verschiedenartiges
— 61 —
Material, kurz alle Merkmale geistiger Durchdringung
des Stoffes offenbart, so verlieren wir damit
nicht, sondern gewinnen erst den rechten MaB-
stab fur die Schatzung spSterer Kulturen. Alles
wahrhaft GroBe wird durch Vergleichen und Ver-
stehen nur groBer. Die vergleichende Kunstbe-
trachtung fUhrt zur Gerechtigkeit und Objektivitat
des Urteils, indem sie eine ungeahnte Mannigfaltig-
keit moglicher Kunststile in den Gesichtskreis ruckt,
sie kann dadurch sogar dem schaffenden Kiinst-
ler Nahrung geben (man denke nur an die An-
regungen, die sich Goethe und unsere neueren Maler
aus dem Orient holten): aber sie zeigt zugleich
himmelweite Abstande in der Durchfuhrung der ein-
geschlagenen Wege und ungleiche Fruchtbarkeit der
verschiedenen Kunstprinzipien. Unter vielen an sich
gleich moglichen und gleich berechtigten Arten der
Kunstubung fuhren eben doch nur wenige zu rei-
cherer Blutenfulle. So lernen wir die herrliche
letzte Epoche der Tonkunst erst recht schatzen und
zugleich der — in jedem Sinne des Wortes — uner-
grtindlichen kUnstlerischen Zeugungskraft vertrauen,
die selbst nach den erhabensten Schopfungen der
Vergangenheit noch immer auf neuen Bahnen neue
Wunderwerke erstehen lieB.
Anmerkungen.
1 (S. 8) Der Begriinder der vergleichenden Musikwissen-
schaft nach exakt-naturwissenschaftlicher Methode ist Alex-
ander J. Ellis, der in seiner Abhandlung „0n the Musical
Scales of Various Nations", Journ. of the Society of Arts,
Vol. XXXIII, 1885 zuerst umfangreiche Messungen an exotischen
Musikinstrumenten, die von Eingeborenen gespielt und als
gut gestimmt bezeichnet wurden, veroffentlichte und zur Ver-
gleichung der Ergebnisse die Cents-Berechnung (nach Hun-
dertstel der temperierten Halbtonstufe) eingefiihrt hat. Auch
Gehorspriifungen an exotischen Musikern hat er bereits vor-
genommen. Uber seine Abhandlung (von der Separata kaum
mehr zu bekommen sind) habe ich in der Vierteljahrschr. f.
Musikwissenschaft II, 1886, ausfiihrlich berichtet. Ellis' Unter-
suchungen bezogen sich allerdings weniger auf Naturvolker
als auf die exotischen Kulturnationen; aber die Genauigkeit
seiner Bestimmungen ist vorbildlich geworden und mu6 auch
gegeniiber den Naturvolkern festgehalten werden, sei es auch
nur, urn die Grenzen zu ermitteln, innerhalb deren dort iiber-
haupt eine feste Intonation besteht.
Eine sichere Grundlage fiir die Erforschung der Melodien
haben wir erst einige Jahre spater durch die Anwendung der
phonographischen Methode (B. J. Gilman 1891 auf Grund der
Aufnahmen von W. Fewkes) erhalten. Seitdem hatdieVerwer-
tung dieses Hilfsmittels groBe Dimensionen angenommen.
Uber die Zwecke und die Entwickelung des Berliner
wissenschaftlichen Phonogrammarchivs, das vorlaufig im Psy-
chologischen Institut der Universitat aufbewahrt und verwaltet
wird, gibt bis zum Anfang des Jahres 1908 mein Artikel „Das
Berliner Phonogrammarchiv" (s. u. Nr. 13) AufschluB. Darin
sind auch einige in der gegenwartigen Abhandlung besprochene
Fragen schon beriihrt, neben anderen, die mit Hilfe phono-
graphischer Aufnahmen untersucht werden konnen. Inzwischen
— 63 -
ist die Beteiligung von Forschungsreisenden und die Zahl
der eingelieferten Walzen noch erheblich gestiegen, so daB
letztere schon iiber 3000 betragt. Die Reisenden bekommen
eine genaue Instruktion iiber die bei den Aufnahmen zu be-
obachtenden MaBregeln, wodurch die wissenschaftliche Ver-
wertbarkeit der Aufnahmen gewahrleistet wird (s. u. Nr. 17).
Von den leicht verganglichen Wachswalzen werden auf gal-
vanoplastischem Wege Metal Imatrizen hergestellt, die die
beliebige Anfertigung von Kopien ermoglichen. Durch solche
Kopien sind aus der hiesigen Sammlung andere in Koln, Liibeck,
Leiden, Stockholm ganz oder teilweise begriindet worden.
Unser Archiv ist aber gleichfalls durch Kopien, namentlich
aus Amerika, vermehrt.
In Wien besteht bereits seit 1900 ein von der Akade-
mie der Wissenschaften auf Anregung S. Exners begriindetes
und von der Regierung unterstiitztes Phonogrammarchiv (s. die
jahrlichen Berichte in den Akademieschriften) mit einer groBen
Sammlung von Aufnahmen in Plattenform, die mittels eines
besonderen „Archivphonographen" hergestellt sind, sich jetzt
aber auch auf Walzen iibertragen lassen. Andere Sammlungen
sind in Frankreich, England, RuBland und Amerika ent-
standen.
Natiirlich ist nicht die Sammlung sondern die Verwertung
letztes Ziel. Die Melodien miissen Note fiir Note nach Ton-
hohe und Rhythmus bestimmt werden. Dies ist eine sehr
muhsame Aufgabe; aber sie ist betreffs der Tonhohen mit
physikalischer Exaktheit losbar. Fiir den Rhythmus gibt es
auch mancherlei Hilfsmittel, urn schlieBlich auch fremdartige
und komplizierte Rhythmen festzulegen. In alien Fallen aber
ist eine langjahrige Obung und groBte Gewissenhaftigkeit er-
forderlich.
Mit der Untersuchung der Musikstiicke mu6 die der et-
waigen Instrumente Hand in Hand gehen. Fiir die Erkennt-
nis des in den Musikstiicken vorkommenden Tonmaterials,
der „Leitern", wenn solche vorhanden sind, haben Messun-
gen an Instrumenten mit hinreichend festen Tonhohen sogar
groBere Bedeutung. Die vielverbreiteten Panpfeifen und
die Xylophone und Metallophone sind dazu besonders ge-
eignet.
- 64 —
Im folgenden versuche ich die wesentlichsten neueren
BeitrSge zur Kenntnis exotischer Musik zusammenzustellen,
soweit sie auf eigenes Horen der Verfasser gegrlindet und
mit hinreichender Zuverlassigkeit durchgefiihrt sind,
I. Noch vor der phonographischen Ara ist iiber
Indianermusik eine sorgfaltige Studie erschienen, die heute
noch als Quelle mitbeniitzt werden kann, da der Verfasser beim
Abhoren der Gesange den musikalischen Eigentiimlichkeiten
viel mehr Beachtung geschenkt und sie detaillierter beschrie-
ben hat, als es vorher iiblich war:
Th. Baker: Uber die Musik der nordamerikanischen Wil-
den. 1882.
Dann habe ich selbst einmal versucht, die Lieder einer
von Kapitan Jacobsen mitgebrachten Indianertruppe nach viel-
maligem Vorsingen durch den Hauptsanger mit Riicksicht auf
die genaue Intonation jeder Note zu fixieren, und glaube auch
die eigentumlichen Abweichungen der Intonation von der
unsrigen in der beigefiigten Beschreibung richtig charakte-
risiert zu haben:
C. Stumpf: Lieder der Bellakula-Indianer, Vierteljahrschr.
f. Musikwissenschaft II, 1886.
Aber zu einer derartigen Vertiefung in das Detail jeder
Melodie pflegen sich Forschungsreisende nicht die Zeit zu
nehmen, auch nicht dazu vorgebildet zu sein. AuBerdem fehlt
bei Notierungen nach direktem Vorsingen im allgemeinen die
Moglichkeit der Nachpriifung und die des Herausgreifens be-
liebiger kleinster Abschnitte, wodurch man Melodien wie
Naturobjekte untersuchen kann. Hierin liegt der unendliche
Vorteil der phonographischen Methode
Unter den vor-phonographischen Aufzeichnungen primi-
tiver Melodien erwahne ich noch:
Fr. Boas: The Central Eskimo. Bureau of Ethnology,
6. Annual Report 1888. Im Anhang sind eine Anzahl Melo-
dien wiedergegeben. Ebenso in der Abhandlung iiber die
nordwestlichen Indianerstamme von Kanada, Britisch Asso-
ciation, Report for 1890. Der Verfasser ist als ausgezeichneter
Beobachter bekannt. Doch scheint er auf die Abweichungen
der Intonation nicht so sehr wie auf die Eigentiimlichkeiten
der Rhythmik und Struktur geachtet zu haben, da iiber jene
- 65 —
nichts naheres bemerkt ist. Spater hat er die phonographische
Methode angewandt (s. u.). Ebenso:
(Miss) A. C. Fletcher: A Study of Omaha Indian Music (mit
J. C. Fillmore), Archaeol. and Ethnol. Papers of the Peabody
Museum Vol. 1, 1893.
II. In Amerika hat B.J. Oilman auf Orund phono graph i-
scher Aufnahmen drei lehrreiche Abhandlungen veroffentHcht:
Oilman: Zuni Melodies, Journal of American Archaeology
and Ethnology Vol. I, 1891 — die erste Untersuchung, die iiber-
haupt nach dieser Methode gemacht ist. Dazu vgl. meine Ab-
handlung: Phonographierte Indianermelodien, Vierteljahrsschr.
fiir Musikwissenschaft VIII,* 1892.
Oilman: Some Psychological Aspects of the Chinese Mu-
sical System, Philosophical Review I, 1892.
Oilman: HopiSongs,Journ. of American Archaeology V, 1908.
Reiches phonographisches Material sodann bei:
Fr. Boas: The Social Organisation and the Secret Societies
of the Kwakiutl Indians. U. S. A. National Museum, Report for
1895 (1897).
Fr. Boas: Songs of the Kwakiutl Indians. Internationales
Archiv f. Ethnographie IX, 1896.
A. C, Fletcher: The Hako, a Pawnee Ceremony. Bureau of
American Ethnology, 22. Report, 1903.
(Miss) Fr. Densmore: Chippewa Music. Bureau of American
Ethnology, Bull. 45, 1910.
Natalie Curtis hat in ihrer groBen Sammlung „The Indians
Book" (1907) den Phonographen leider als „inadaequat und
unnotig" verschmaht und damit fiir ihre Aufzeichnungen, wenn
sie auch sonst einen vertrauenswlirdigen und technisch sau-
beren Eindruck machen, jede Kontrolle, auch ihre eigene,
abgeschnitten. Mindestens waren mehr Angaben iiber die
Eigentiimlichkeiten der Intonation, der Rhythmik und des Vor-
trags erwunscht. Oliicklich und verdienstlich scheint mir die
iiberall durchgefiihrte Strukturanalyse derMelodien, die in der
Form ihrer Wiedergabe zum Ausdruck kommt.
III. Folgende Arbeiten, auf die unsere Darstellung sich
hauptsachlich stiitzt, sind bisher aus dem Berliner Phono-
gramm-Archiv hervorgegangen (sie werden spater mit
„Ph.-A. Nr. ..." zitiert):
Stumpf, Anfange der Musik 5
- 66 ^
1. C. Stumpf: Tonsystem und Musik der Siamesen. Bei-
trage zur Akustik u. Musikwissenschaft, herausg. von C. Stumpf,
Heft 3, 1901.
2. O. Abraham und E. v. Hornbostel: Studien iiber das
Tonsystem und die Musik der Japaner. Sammelbande der
Internat. Musikgesellschaft IV (1902).
3. Abraham und v. Hornbostel: Phonographierte indische
Melodien. Ebenda V (1904).
4. F. V. Luschan: Einige tiirkische Volkslieder und die
Bedeutung phonographischer Aufnahmen fiir die Volkerkunde.
Zeitschr. f. Ethnologie Bd. 36 (1904) Heft 2.
5. Abraham und v. Hornbostel: Phonographierte turkische
Melodien. Ebenda.
6. Dieselben: Uber die Bedeutung des Phonographen fur
die vergleichende Musikwissenschaft (mit Diskussionsbericht
aus der Berliner Anthropolog. Gesellschaft). Ebenda.
7. Dieselben: Uber die Harmonisierbarkeit exotischer Me-
lodien. Sammelbande der internat. Musikgesellschaft VII (1905).
8. V. Hornbostel: Die Probleme der vergleichenden Musik-
wissenschaft. Zeitschr. d. Int. Musikges. VII (1905).
9. V. Hornbostel: Phonographierte tunesische Melodien.
Sammelb. d. Int. Musikges. VIII (1906).
10. Abraham und v. Hornbostel: Phonographierte Indianer-
melodienausBritisch-Columbia. In: Boas Memorial Volume 1906.
11. V. Hornbostel: Uber den gegenwartigen Stand der
vergleichenden Musikwissenschaft. Ber. iib. d. II. Kongr. d.
Int. Musikges. 1907, S. 56 ff.
12. V. Hornbostel: Notiz iiber die Musik der Bewohner
von Siid-Neu-Mecklenburg. In: Stephan und Graebner, Neu-
Mecklenburg. 1907.
13. C. Stumpf: Das Berliner Phonogrammarchiv. Internat.
Wochenschrift fiir Wissenschaft usw. 22. Februar 1908.
14. V. Hornbostel: Phonographierte Melodien aus Mada-
gaskar und Indonesien. In: „Forschungsreise S. M. S. Planet
1906/7". V. Band. 1908.
15. E. Fischer: Patagonische Musik. Ztschr. „Anthropos" III
(1908).
16. v. Hornbostel: Uber die Musik der Kubu. In:B. Hagen,
Die Orang-Kubu auf Sumatra. 1908.
— 67 —
17. Abraham und v. Hornbostel in den „Anleitungenfur ethno-
graphischeBeobachtungen undSammlungen." Herausgeg. vom
Kgl. Museum f. Volkerkunde, Berlin. 1908. Abteilung L: Musik.
18. Abraham und v. Hornbostel: Vorschlage fur dieTrans-
skription exotischer Melodien. Sammelb. d. Int. Musikges. IX
(1909).
19. V. Hornbostel: Wanyamwezi-Gesange. Ztschr. Anthro-
pos IV (1909).
20. M. Wertheimer: Musik der Wedda. Sammelb. d. Int.
Musikges. XI (1909).
21. V. Hornbostel: Uber Mehrstimmigkeit in der auBer-
europaischen Musik. Bericht iiber den III. KongreB der
Internat. Musikgesellschaft. 1909. S. 298ff.
22. V. Hornbostel: Uber einige Panpfeifen aus Nordwest-
brasilien. In : Th. Koch-Griinberg, 2 Jahre unter den Indianern,
2. Bd., 1910.
23. V. Hornbostel: Uber vergleichende akustische und
musikpsychologische Untersuchungen. Ztschr. f. angewandte
Psychologic III (1910).
24. V. Hornbostel: Abschnitt „Musik" in R. Thurnwald,
Im Bismarckarchipel und auf den Salomoinseln. Ztschr. f.
Ethnol. Bd. 42. 1910. S. 140 ff.
25. V. Hornbostel: Wasukuma-Melodie. Bulletin de I'Aca-
demie des Sciences de Cracovie. Sc. naturelles. 1910.
26. V. Hornbostel: U. S. A. National Music. Ztschr. d.
Internat. Musikgesellschaft. XII (1910).
27. V. Hornbostel: Notizen iiber kirgisische Musikinstru-
mente und Melodien. In: R. Karutz, Unter Kirgisen und Turk-
menen. 1911.
28. Stumpf und v. Hornbostel: Uber die Bedeutung ethno-
logischer Untersuchungen fiir die Psychologic und Asthetik
derTonkunst. Bericht iiber den IV. KongreB fur experimentelle
Psychologic, herausg. v. F.Schumann. 1911. Auch in Stumpfs
Beitragen zur Akustik und Musikwissenschaft Heft 6.
29. E. Fischer: Beitrage zur Erforschung der chinesischen
Musik. Sammelb. d. Internat. Musikges. XII (1911).
30. V. Hornbostel, Ober die Musik auf den deutschen Salo-
mon-Inseln. In : Thurnwald, Ethnograph. Forschungen in Buin
auf Bouginville. (Im Druck.)
5*
— 68 -
IV. AuBerdem liegen phonographisch fundierte Arbeiten
europaischer Autoren uber Naturvolker vor von:
G. Adler: Sokotri-Musik. In D. H. Miiller, Die Mehri-
und Sokotrisprache. Sudarabische Expedition der Kais. Aka-
demie d. Wissensch. Bd. VI. 1905.
P. Fr. Witte: Lieder und Gesange der Ewe-Neger. Ztschr.
Anthropos I (1906), S. 65ff., 194 ff.
W. Thalbitzer und Hj. Thuren: Musik aus Ostgronland.
Zeitschrift der Internat. Musikgesellschaft XII, Heft 2 (1910).
Ch. S. Myers: Abschnitt „Music" in C. G. und B. Z. Selig-
mann, The Veddas, 1911.
Die phonographische Methode ist aber in Europa mehr-
fach auch zur Aufnahme alter Volksgesange verwendet wor-
den, die das Material der vergleichenden Musikwissenschaft
in einer wichtigen Richtung erweitern. Ich erwahne unter den
Publikationen besonders:
Frau E. Lineff : The Peasant Songs of Great Russia I 1905,
II 1909.
F. Kolessa: Ruthenische Volkslieder, in den Mitteilungen
der Sevdenko-Gesellsch. d. Wissensch. 1906—1911.
Hjalmar Thuren : Folkesangen, Kopenh. 1908.
A. Launis: Lappische Juoigos-Melodien. 1908.
F. Kolessa: Ober die sog. KosakenHeder (der Klein-
russen), Bericht iiber den III. KongreB d. Intern. Musik-
gesellsch. 1909. S. 276ff.
V. In neueren Monographien und Reisewerken haben,
auch wenn keine phonographischen Aufnahmen gemacht
wurden, doch wenigstens die Postulate kritischer For-
schung mehr Beachtung gefunden als fruher. Ich nenne
z. B. die Studie von Fr. Densmore: The Music of the
Filipinos, American Anthropologist Vol. VIII (1906), p. 61 Iff.
J. Schonharl: Volkskundliches aus Togo (1909). H. Rehse:
Kiziba (am Westufer des Viktoria-Nyanza), Land und Leute,
1910.
VI. Als iibersichtliche Zusammenstellungen der von der
musikalischen Ethnologic bisher gewonnenen allgemeinen Ge-
sichtspunkte seien noch erwahnt:
Charles S. Myers: The Ethnological Study of Music.
Anthropological Essays presented to E. B. Tylor, 1907.
— 69 —
B.J. Oilman: The Science of Exotic Music, Ztschr. Science
N. S. XXX, 15. Oct. 1909.
Wie wenig man sich auf die zahlreichen, in Reise-
werken mitgeteilten unkontrollierbaren Notierungen verlassen
kann, mogen zwei Beispiele aus neuester Zeit erlautern. Ein
so beruhmter Psychologe wie W. Wundtgibt in seiner Volker-
psychologie (III- 468) vier Proben primitiver Gesange, von
denen die dritte und vierte, so wie sie dastehen, unmoglich
echt sein konnen. (Uber die erste s. u. Anm. 27.) Sielauten:
Australische Melodic.
't:t::^z^^;t^=±tU^XJ-iXT=^
•a
a^
^rl^^ j+rx^
^
M=
^r^r-^^ iU4^'^ ^'^T^
tt
m
(Nach Lumholtz, Unter Menschenfressern, S 59.)
Negermelodie.
^^ I p n ^'l^gj- P *'\ f> J' :rf:
jF^ J'^^t-^^-^^if^^^^^^
(Nach Schweinfurth, Im Herzen von Afrika I, S. 450.)
Von der letzten sagt Wundt selbst, sie sei unserem
Melodiegefiihl schon homogener. In Wahrheit unterscheiden
sich die beiden Melodien (den SchluB der ersten ausgenommen)
in keiner Beziehung von unseren popularen Weisen. Die
erste, die so wenig nach Menschenfressern klingt, ist im
Original von Lumholtz noch dazu mit „Tempo di Valse. Allegro"
iiberschrieben. Stlickweise klingt sie in der Tat z. B. an den
Hauptwalzer aus Oskar StrauB' Operette „Walzertraum" an.
So wie sie hier steht, wird jeder Sachverstandige sagen, da6
— 70 —
sie ebensowenig bei den Ureinwohnern Australiens entstanden
sein kann, wie etwa ein silberner Suppenloffel oder eine
Schreibmaschine. Ob sie nun aus Gegenden, die schon unter
europaischem EinfluB stehen, dahin gewandert ist, oder ob
Lumholtz beim Aufschreiben einer echt australischen Weise
sein europaisches Gehor einen Streich gespielt hat, mu6
dahingestellt bleiben. Wahrscheinlich haben beide Faktoren zu-
sammengewirkt. Lumholtz sagt Seite 198 seines Werkes, ein
gutes Lied wandere von Stamm zu Stamm, und ein bestimmtes
Lied (ahnlich dem hier zitierten) habe er spater von den zivili-
sierten Schwarzen bei Rockhampton, 500 Meilen in gerader
Linie siidlich vom ersten Orte singen horen. Urspriinglich sei
es wahrscheinlich in der Gegend von Rockhampton entstanden
und habe diesen langen Weg gemacht, bevor es in die Berge
von Herbert River kam, wo es nun gesungen werde, ohne
daB man auch nur die Worte verstehe. Unter solchen Um-
standen ist es gewiB denkbar, daB auch europaische Ge-
sange einen so langen Weg gemacht haben. (Was in dieser
Hinsicht vorkommt, sieht man daran, daB v. Hornbostel kurzlich
auf einem bei den Kirgisen im westlichen Turkistan aufgenom-
menen Phonogramm unser „Fuchs, du hast die Gans gestohlen"
fast ganz unverandert vorgefunden hat; nur die groBe Sep-
time war in die kleine verwandelt. Ph.-A. Nr. 27.) Einiges
mag aber auch das europaische Ohr hinzugetan, es mag das
Gehorte „assimiliert" haben; nur den SchluB, namlich das
lange Verweilen auf dem tiefen Grundton, halte ich fur ein
echtes Produkt, da wir diese Gewohnheit sehr haufig bei
Primitiven finden (wahrend Wundt gerade „das ganzliche Feh-
len eines melodischen Abschlusses" charakteristisch findet).
Auch Lumholtz sagt: „Den letzten Ton recht lang anhalten zu
konnen, gilt als Fertigkeit in der Kunst des Gesanges".
Da mir das Beispiel aus Schweinfurths Buch nicht
minder erstaunlich schien, bat ich den groBen Afrika-
forscher brieflich um Auskunft, auf welche Weise er dieses
Lied in Noten gebracht habe, und ob es nicht etwa in jene
Gegend eingewandert sein konne. Er antwortete (27. XII.
1905): „Die Melodie ist von mir so wiedergegeben worden,
wie sie meinem Ohr erschien. Vielleicht wurde die Melodie
unbewuBt in demselben europaisch stilisiert. Damals machte
— 71 —
sie auf mich einen tiefen Eindruck. Ich habe sie oft vor niir
hergesummt auf meinen Wanderungen; es war von jeher meine
Gewohnheit, alle Melodien, deren ich habhaft werden konnte,
auf dem Marsche zu markieren. Daher glaube ich wohl, sie
spater ziemlich getreu wiedergegeben zu haben. Ein rhyth-
mischer Gesang von 100 Stimmen mu6 doch wohl eine domi-
nierende Melodic haben, eine Diagonale, und diese habe ich
in dieser Art erfaBt Die Notierung der Melodie ist damals
(als ich mein Buch schrieb) in Gemeinschaft mit meinem ver-
storbenen Bruder Alexander (den A. Dorn einen Musiker durch
und durch genannt hat) entstanden. Ich habe ihm den Gesang
wiederholt vorgefUhrt; man konnte denselben nicht anders
zum Ausdruck bringen."
Damit ist meines Erachtens alles Notige gesagt. Der
Bericht ist sicherlich typisch fiir auBerst zahlreiche Falle.
Welche Wandlungen mu6 eine Melodie erleiden, wenn man
sie auf langen Marschen vor sich hin summt, und vollends
wenn sie nach dieser ersten unabsichtlichen Bearbeitung auch
noch von einem durch und durch musikalischen Europaer,
der vielleicht niemals exotische Weisen im Original gehort
hat, in Noten gesetzt wird! Ich will dem hochverdienten
Forscher, der vor der Erfindung des Phonographen reiste
und schrieb und die genaue Aufzeichnung an Ort und Stelle
sich nicht zutraute, keinen Vorwurf machen. Aber was er
als Garantien fiir treue Uberlieferung ansieht, ist das Gegenteil
davon. Zum UberfluB macht mich Kollege M. Friedlander auf-
merksam, da6 es ein altes Soldatenmarschlied gibt, das eine
verdachtige Verwandtschaft mit diesem auf Marschen nach-
gesungenen Mitu-Liede darbietet:
S4-
g-l-r; I ;■ ^rT^^Ep=M=g
Hur-ra, hur- ra, hu - ral - le - ral - le - ra, hur-
i
^
■^
-^
^
^^^
usw.
ra, hur-ra, hu- ral-le-ral-le-ra.
(Liederkranzvon Erk, Ausgabe fur Berliner Gemeindeschulen I, Nr. 115,
S. 106. Vgl. Soldatenliederbuch, herausgegeben von Hauptmann Maschke,
1906, Nr. 189.)
— 72 —
GewiB hat die urspriingliche Mitu-Melodie eine Ahnlich-
keit und vielleicht sogar eine starke Ahnlichkeit mit der von
Schweinfurth veroffentlichten. In Afrika haben sich viele
solche Weisen mit kurzen zweiteiligen Rhythmen gefunden,
auf die man auch Hurra singen konnte. Ich behaupte nur,
da6 von einer wissenschaftlichen Genauigkeit der Wiedergabe
unter den obigen Umstanden nicht gesprochen werden
kann. Kaum kann es einen besseren Beweis als die beiden
Wundtschen Musterbeispiele geben, wie unerlaSiich phono-
graphische Aufnahmen an Ort und Stelle sind, und wie wenig
es auBerdem niitzt, in Sachen der Volkerpsychologie sich nur
aus Biichern Rat zu holen.
Keineswegs mochte ich so weit gehen, die Notierungen
an Ort und Stelle nach dem bloBen Gehor, wie wir sie in so
vielen friiheren Reisewerken finden, als iiberhaupt unbrauch-
bar zu verwerfen. Vielmehr werden wir auch jetzt noch, oder
besser gesagt erst jetzt, ofters einen guten Gebrauch von
solchen Notenbeispielen machen konnen. Aber nur unter der
Bedingung, da6 der sie Beniitzende vorher durch eigenes
Horen nach phonographischen Aufnahmen und nach der Natur
(es kommen ja genug exotische Gaste in die Hauptstadte
Europas, freilich durfen sie nicht schon europaisiert sein), sich
ein Bild dessen gemacht hat, was in Wirklichkeit vorkommt;
da6 ferner in den beniitzten Reiseberichten selbst die Urn-
stande, unter denen der Reisende die Notierungen vorgenom-
men, die Methode der Notierung oder nahere Angaben iiber
Details eine gewisse Sicherheit fiir die annahernd richtige
Wiedergabe bieten. Gewohnlich geben allerdings die Reise-
berichte gar keine Anhaltspunkte dieser Art, und haufig er-
wecken schon rein technische Nachlassigkeiten in der Nota-
tion Zweifel und Bedenken. Es ist hochste Zeit, da6 das
Ma6 gewissenhafter Kritik, das die neue Volkerkunde in an-
deren Gebieten von ihren Vertretern beansprucht, auch dem
Gebiete der Musik zuteil werde.
Die groBte Sicherheit wird naturlich erreicht sein, wenn
der Forschungsreisende selbst akustisch-psychologisch durch-
gebildet ist, wenn er das ganze Musikwesen der Eingeborenen
an Ort und Stelle studiert, zugleich phonographische Auf-
nahmen macht und diese dann nach der Riickkehr selbst
- 73 —
wissenschaftlich bearbeitet. Aber daswird nur ausnahiiiswcisc
der Fall sein konnen.
Von den Anhangern der alten Methode, sagen wir des
alten Schlendrians, ist der exakten Wiedergabe exotischer
und primitiver Gesange nach dem Phonographen der Vorvvurf
zwecklos ubertriebener Genauigkeit gemacht worden, da die
Intonation der „Wilden" eine viel zu schwankende sei, als
da6 sich Notierungen mit diakritischen Zeichen fiir die von
den unsrigen abweichenden Intervalle oder gar Messungen
der Tonhohen in Schwingungszahlen verlohnten. Diesen Punkt
habe ich selbst bereits 1892 gelegentlich der ersten Veroffent-
lichung nach Phonogrammen durch Gilman, lange vor unse-
ren Kritikern H. Riemann und Wallaschek, besprochen. Es
folgt aus solchen Schwankungen naturlich nicht, dafi man
der alten Notierungsweise ein groBeres Vertrauen schenken
diirfe als der neuen. Es folgt nur, da6 man bei der
Deutung des phonographisch aufgenommenen Materials die
unvermeidlichen Schwankungen mit in Rechnung Ziehen
und nicht ohne weiteres alle Abweichungen von den dia-
tonischen Leitern fiir irgendwelche neuen und unerhorten
Skalen in Anspruch nehmen darf. Aber unsere Messungen
dienen gerade auch zur Feststellung des Umfangs, inner-
halb dessen Schwankungen bei bestimmten Stammen oder
einzelnen Sangern vorkommen. Zu diesem Behufe sind die
Forschungsreisenden instruiert, des ofteren den namlichen
Gesang von mehreren Individuen, auch zu verschiedener Zeit
von demselben Individuum aufzunehmen. Ferner hat, schon
ehe solche Einwande erhoben wurden, Dr. Abraham begonnen,
die Schwankungsbreite der Intonation unserer eigenen Inter-
valle wahrend eines Liedes bei unseren eigenen Sangern,
Kunst- wie Natursangern, festzustellen, um einen MaBstab
zu haben, in welchen Grenzen und mit welcher Konstanz
hinsichtlich der Richtung solche Abweichungen vorkommen.
Sie haben sich recht groB gefunden. Aber es ist noch nicht
einmal gesagt, daB sie bei Naturvolkern durchweg ebenso-
groB Oder groBer sein miissen. Gewisse Tone und Intervalle
ihrer Weisen scheinen sie vielmehr mit groBer Genauigkeit
zu wiederholen, wahrend bei anderen Tonen und Intervallen
Starke Varianten vorkommen. Das alias kann nur auf dem
- 74 —
eingeschlagenen Wege untersucht werden. Vielleicht wird
sich einmal herausstellen, da6 wir wirklich in manchen Fallen
veranderliche und willkiirliche Tongebungen mit uberfliissiger
Liebesmiihe fixiert haben. Nur von vornherein darf man dies
nicht voraussetzen, und noch immerwar ubertriebeneGenaiiig-
keit das geringere Ubel gegeniiber kritikloser Leichtfertigkeit.
2 (S. 8) Die Theorien Darwins und Spencers habe ich
ausfuhrlicher besprochen in der Abhandlung „Musikpsychologie
in England. Betrachtungen iiber Herleitung der Musik aus der
Sprache und aus dem tierischen EntwicklungsprozeB, iiber
Empirismus und Nativismus in der Musiktheorie". Viertel-
jahrsschrift fur Musikwissenschaft I, 1885.
3 (S. 12) Man findet von alten Autoren mit groBer Vor-
liebe die Wirkungen der Musik auf Tiere (Elefanten, Spinnen
usw.) geschildert, wobei eine fiirchterliche Menge unbeglau-
bigter Anekdoten bis zuriick zu den assyrischen Konigen auf-
getischt wird. Neuerdings hat wieder Mario Pilo ganz un-
kritischen Gebrauch davon gemacht; und daB man sein Buch
fiir wichtig genug hielt, ins Deutsche iibertragen zu werden,
zeigt, wie wenig auch bei uns das Urteil noch entwickelt ist.
Mehr Gewicht hat, was ein Forscher wie August We ismann
iiber die Musikliebe von Katzen und Hunden gelegentlich sagt
(Gedanken iiber Musik bei Tieren und bei Menschen. Deutsche
Rundschau 1890, S. 67). Aber die Erklarung des beziig-
lichen Verhaltens von Tieren scheint mir auBerst schwierig.
Wenn der Hund bei der Musik heulend sitzen bleibt — was
geht eigentlich in ihm vor? Welchen Zweck hat das Heulen
mit emporgestrecktem Kopf ? Und was ist es, das bei der Ge-
horsreizung vom Hunde, sei es angenehm, sei es unangenehm,
empfunden wird? Hat es mit Intervallen, Akkorden, Modu-
lationen, mit rhythmischer Gliederung etwas zu tun? Dies
scheint mir ausgeschlossen. Uber die wirkliche Qualitat seiner
Gefiihlsempfindung liegen beweiskraftige Beobachtungen bis-
her nicht vor.
Untersuchen wir die Tongebung der Tiere selbst, so
finden sich deutliche Intervalle im allgemeinen nur bei den
Vogeln, wahrend bei dem Geschrei der Saugetiere die ein-
zelnen Tone sich gewohnlich nicht hinreichend scharf von-
einander unterscheiden und ihre Hohe nicht so genau beibehalten.
— 75 —
Allerdings singt bei Athanasius Kircher ein anierikanischcs
Faultier die Cdur-Leiter von c bis a und zuruck, und einmal
soil, wie seit Waterhouse und Darwin immer wieder ernsthaft
versichert wird, ein Gibbonaffe sogar eine ganze chroma-
tische Tonleiter auf und ab exakt gesungen haben, was
fur einen gebildeten menschlichen Sanger schon zu den
schwereren Aufgaben gehort. Ja ein Pferd hatte diese Aufgabe
durch sein Wiehern und eine Kuh durch ihr Bruilen gelost,
wenn wir den Noten glauben wollen, die ein amerikanischer
Beobachter aufgeschrieben:
Pferd.
Kuh.
'^
m
i^^^rjrt=f^^
t^^
(A. P. Camden Pratt bei Th. Wilson, Praehistoric Art,
Institution, Ann. Rep. 1896 [Washington 1898], p. 516.)
Smithsonian
Auf diese Weise kann man freilich alles in Noten setzen,
auch das I-A des Esels, das Sausen des Sturmes und das
Knarren der Stiefel. Aber mit solchen Kindereien sollte man
wissenschaftliche Biicher nicht verunzieren. DaB die Stimm-
bewegung des wiehernden Pferdes von oben nach unten
verlauft, wird wohl richtig sein und mit denselben physio-
logischen Bedingungen zusammenhangen, die auch den Juchzer
und so viele primitive Melodien (s. unsere Beispiele) hoch
beginnen und tief endigen lassen. Aber eine so schone chro-
matische Leiter — nein!
Besser lassen sich gewisse Vogelweisen aufschreiben.
Neben ganz wildem Zwitschern und Schreien finden wir da
auch Motive, die uns einen unleugbar melodischen Eindruck
machen, melodischer als manche Sangesweisen der Natur-
volker. Das Krahen des Hahnes, der Kuckucksruf sind leicht
notierbar (obschon verschiedene Individuen verschieden in-
— 76 —
tonieren). Gelegentlich hort man auch so gut wie reine Drei-
klange, besondersin aufsteigender Folge derTone. Dr. Sapper
will in den Urwaldern Guatemalas unter 87 Vogelweisen
30 beobachtet haben, die sich nur in Dreiklangstonen bewegen,
und bringt damit das Vorkommen zahlreicher Dreiklangsmelo-
dien bei den Indianern (s. Melodienbeispiele) in Verbindung.
Immerhin ist auch bei Vogeln von phantasievoUen Noten-
schreibern viel gesundigt worden. So glaubt z. B. der Ame-
rikaner Xenos Clark (The American Naturalist XIII, 1879,
p. 20) folgende Cdur-Leiter mit Ganz- und Halbtonstufen bei
einem Laubsanger zu finden:
Sva— — — — — — —
fe=£=M-P ^' J^^^
Ich habe in Feld und Wald viele Vogelweisen notiert,
aber eine solche tadellose Dur-Leiter niemals vernommen.
Sie diirfte den Vogeln selbst im Lande der unbegrenzten
Moglichkeiten unmoglich sein. Man mu6 nur wissen, welche
Summe geistiger Arbeit und geschichtlicher Entwicklung in
einer diatonischen Leiter steckt. In einem anderen Falle
macht bei Clark ein in Cmoll singender Waldsperling (Nr. 25)
sogar enharmonische Unterschiede zwischen dis und es. Die
Naivitat, mit der hier die drei b-Zeichen vorgeschrieben sind,
obgleich die Tone b und as gar nicht vorkommen, beweist
auch wieder, da6 der Autor den guten Spatzen einfach unser
TonartenbewuBtsein geliehen hat. Ebenso sind bei Nr. 14 drei
Kreuze vorgezeichnet, obschon der Gesang nur aus dem
einzigen Tone ais besteht, usf. Man mochte sich wundern,
warum Vogel, die es so weit gebracht haben, nun nicht auch
einmal Duette und Terzette singen, mindestens in Oktaven-
oder Quintenparallelen, wie es die Naturvolker tun. Der
These, die Clark aus seinen Aufschreibungen ableitet und die
auch sonst oft ausgesprochen wird: da6 harmonische Intervalle
im Vogelgesange vorwiegen, wird man vorlaufig schon darum
miBtrauisch gegeniiberstehen miissen, well wir infolge der Ge-
wohnung an unsere Intervalle und der VorHebe fiir sie geneigt
sind, solche in das Gehorte hineinzulegen.
Noch weniger darf man selbstverstandlich daran denken,
einen SchluB auf die Gefuhle zu ziehen, die die kleinen
77
Musikanten damit ausdriicken wollen. Wundt, der, auch hier
von erstaunlicher Glaubigkeit, Clarks Noten ohne weiteres als
kanonische Vogelmusik hinnimmt, meint daraus tatsachlich auch
noch die Gefiihle dieser Tierchen heraushoren zu konnen (Volker-
psychologie I, 1'^ 261). Ja er entdeckt darin sogar die drei
„Dimensionen" des Fiiiilens, die in seiner von den Menschen
so bestrittenen Theorie unterschieden werden:
Freude
^rsr^^^
Niedergeschlagenheit :
tr. tr. tr.
t' 1^' 1^'
Da6 ein Vogel freudig, niedergeschlagen, heftig erregt
sein kann, mag man glaublich finden. Nur warum er just
z. B. bei der zweiten Melodie niedergeschlagen sein mu6,
und nicht vielmehr bei jeder von den dreien jedes der drei
Gefiihle und noch verschiedene andere haben kann, ist ab-
solut nicht einzusehen. Nicht einmal beim Menschen. wenn
einer diesc Tone pfeift, singt oder spielt, waren sie im ge-
ringsten eindeutig darin ausgesprochen. Beim Vogel, dessen
ganzes Seelenleben dem unsrigen so feme stehen diirfte wie
seine korperliche Organisation, ist die Deutung im vollsten
Sinn aus der Luft gegriffen. Wir diirfen unsere Melodiegefuhle,
- 78 -
selbst wennsieganz bestimmte waren, dem Vogelherzen eben-
sowenig ohne weiteres zuschreiben, wie man etwa den Ein-
druck, den wir von einer Kuh odereiner Wiese haben, demjenigen
gleichsetzen darf, den der Ochse davon hat.
Mit alledem brauchen wir uns die Freude an unseren lieben
Waldmusikanten nicht verderben zu lassen. Es handelt sich
nur um die Scheidung der Wissenschaft von willkiirlichen
Zutaten. Die neuere Tierpsychologie ist darin strenger
als die alte. Aber im Leben soil der Phantasie und der un-
willkiirlichen „Einfuhlung" ihr Recht nicht genommen werden.
Es gibt auBer den theoretisch und praktisch nutzlosen No-
tierungen Clarks und anderer auch Notierungen mit nur prak-
tischen Zielen, namlich zum Erkennen und Unterscheiden
der Vogelarten: und dafiir konnen sie wirklich niitzen. Be-
sonders mochte ich als ausgezeichneten Fiihrer das „Exkur-
sionsbuch zum Studium der Vogelstimmen" von A, Voigt
empfehlen. Es sind da auBer den Noten noch eine Menge an-
derer anschaulicher Zeichen benutzt, da sich eben viele Weisen
nicht Oder nicht hinreichend in Noten wiedergeben lassen.
Wahrend der Drucklegung dieser Anmerkungen hat
v. Hornbostel aus AnlaB eines Buches von B. Hoffmann
(Kunst und Vogelgesang 1908), worin reiches Material wieder
in unkritisch-iiberschwanglicher Weise verwertet wird, eine
Studie iiber den Vogelgesang veroffentlicht, auf die ich zur
weiteren Orientierung hinweisen mochte (Musikpsychologische
Bemerkungen iiber Vogelsang. Ztschr. d. Internat. Musik-
gesellsch. XII, 1911, S. 227ff.). In Hinsicht derTranspositions-
frage tragt er jedoch Bedenken, mir beizustimmen, indem er
u. a. auf einen von Hoffmann erwahnten Fall hinweist, wo
ein Griinspecht seinen Ruf zuerst zwischen c^ und a- sang,
dann aber nach und nach in derTonhohe sinken lieB, so daB
er zuletzt zwischen a- und fis^ zu liegen kam. v. Hornbostel
findet daher den wesentlichen Unterschied zwischen Vogel-
und Menschenmusik nicht so sehr in der Transpositionsfahig-
keit als in der Verwendung von Motiven zu melodischen
Formen. Es kommt nun hierbei ganz darauf an, was man
unter Transposition versteht. Wenn die koordinierten Muskel-
kontraktionen, deren Folge die Gesangmelodie ist, schwacher
und schwacher werden, muB die Tonhohe des Ganzen sinken.
— 79 —
Aber eine Transposition wurde ich dies nicht nennen, auch
wenn die Veranderung noch groBer ware, sondern wiirde nur
dann von einer solchen sprechen, wenn der Sanger sich einer
vorgegebenen (oder von ihm selbst vorgestellten) Tonhohe
akkommodiert, wie es die Naturvolker gegeniiber dem Stimm-
pfeifchen tun, wenn er also bestimmte Verhaltnisse auf andere
als die gewohnten Toniiohen ubertragt. Allerdings waren
noch ausgedehntere Versuche erforderlich, um nachzuweisen,
da6 eine solche Akkommodation an vorgegebene Tonhohen
den Vogeln unmoglicli sei. (Die im Text erwahnten Beob-
achtungen O. Abrahams finden sich in seiner Abhandlung:
Das absolute TonbewuBtsein. Sammelbande d. Internat. Musik-
gesellsch. Ill, S. 69.) Aber fiir sehr unwahrscheinlich mu6 ich
einen Erfolg im positiven Sinne schon nach den bisherigen
Erfahrungen halten.
Ich stimme v. Hornbostel darin bei, daB das Vorhandensein
bestimmter Formen den menschlichen Gesang charakterisiert,
daB es sogar das wesentlichere, tiefer dringende Merkmal
ist, aber es diirfte mit der Transpositionsfahigkeit Hand in
Hand gehen, da das Erfassen von Verhaltnissen als solchen
fiir beide Leistungen Bedingung ist. Jedenfalls wird es nicht
so leicht zu definieren und nicht so leicht auf Beobachtung
und Experiment anzuwenden sein. Darum meine ich, daB die
Frage nach den musikalischen Fahigkeiten derTiere sich doch
zunachst auf die Transpositionsfahigkeit im obigen Sinne zu
richten habe.
4 (S. 12) Louis Laloy, La musique chinoise (1910), p. 55, 120.
Nach Laloy wiirde sich die chinesische Melodieauffassung von
der unsrigen dadurch unterschelden, daB dort eine Folge be-
stimmter absoluter Tonhohen, deren jede eine feststehende
Bedeutung hat, die Melodie ausmacht, wahrend bei uns die
Funktion der Tone in der beliebig transponierbaren Leiter
entscheidend ist. Diese Sache bediirfte aber einer genaueren
Untersuchung.
5 (S. 13) Selbst A. Weismann geht in dem oben (Anm. 3)
erwahnten Artikel daruber hinweg. Sein Grundgedanke, daB
der Mensch sein feines und hochentwickeltes Gehor durch
Selektionsprozesse erhalten habe, weil es ihm im Kampf ums
Dasein notwendig war, und daB dieses Gehororgan sich bei
— 80 —
uns zufallig auch zum Musikhoren verwenden lasse, mag
eine Wahrheit einschlieBen: aber da6 das Vermogen, die
Intervalle als solche wahrzunehmen und wiederzuerkennen,
jm Gehororgan, in der Schnecke des Ohres, wurzle (S. 68),
scheint mir auBerst bestreitbar. Diese Fahigkeit kann meines
Erachtens nur cerebral bedingt sein, wie die gesamte hohere
psychische Leistungsfahigkeit des Menschen. Auch die Unter-
schiede der Musikalischen und Unmusikalischen unter den
Menschen (S. 70) diirften zum geringsten Teil im Gehororgan
selbst liegen. Die Unterschiedsempfindlichkeit scheint bei
Unmusikalischen nicht notwendig geringer zu sein.
6 (S. 14) Man pflegt als Urheber dieser Idee Lukrez zu
zitieren, De rerum natura V, 378:
At liquidas avium voces imitarier ore
Ante fuit multo quam laevia carmina cantu
Concelebrare homines possent aureisque juvare.
Aber Kollege H. Diels v^eist mich darauf hin, da6 Lukrez
den Gedanken durch Vermittlung Epikurs von Demokrit haben
wird, der fr. 154 (Diels, Fragmente der Vorsokratiker I- 462,
15) sagt: „Die Menschen sind in den wichtigsten Dingen
Schiller der Tiere geworden, der Spinne im Weben und Stopfen,
der Schwalbe im Bauen, der Singvogel, des Schwans und der
Nachtigall im Gesang, indem sie ihre Kunst nachahmen."
Da6 auBer dem bloBen Nachahmungstrieb auch prak-
tische Zwecke zum Nachahmen der Vogel- und Tier-
stimmen treiben konnen, sehen vj'ir, wie W. Pastor richtig
bemerkt, heute noch bei den Jagern. Auch mochte in der
Urzeit Aberglaube mitwirken: der Glaube an die Warme
und Regen bringende Kraft singender Tiere (K. Th. PreuB),
deren Slimme darum nachgeahmt v^urde.
7 (S. 16) E. W. Scripture, Researches in Experimental
Phonetics. The Study of Speech Curves. Publ. by the Car-
negie Institution. 1906. p. 63. Scripture hat auf eine ingeniose
Weise die v^inzigen Grammophonkurven so vergroBert, daB
siemessendenVergleichungenundAnalysenzuganglichwerden.
Die umfangreiche Einrichtung war dank der Gefalligkeit des
Urhebers einen Winter hindurch im Berliner Psychologischen
Institut aufgestellt, wodurch die in der folgenden Anmerkung
erwahnte Untersuchung moglich wurde. Freilich garantiert
— ai-
der Obertragungsmechanismus nicht in jeder Hinsicht eine
genaue Wiedergabe. Aber die Veranderungen der Wellenlange
sind genau genug aus den vergroBerten Kurven zu entneh-
men. Die im Text angefuhrten Kurven sind enstanden, indem
eine groBe Anzahl aufeinanderfolgender Wellenlangen gemes-
sen, daraus die zugehorigen Tonhohen (Schwingungszahlen)
berechnet und dann die Tonhohen als Ordinaten aufgetragen
sind.
Andere Mittel zur objektiven Darsteliung der Sprach-
melodie sind der von F. Krueger verbesserte Rousselotsche
„Kehltonschreiber" (vgl. Bericht tiber den 2. KongreB fiir
experimentelle Psychologic, 1905, S. 115) und die Marbesche
„Ru6methode", wobei eine ruBende Flamme ihre Mitbewe-
gungen aufschreibt (Zeitsch. f. Psychol. Bd. 49, S. 206 ff).
Die Schwankungen beim gewohnlichen Sprechen umfassen
wohl bei den meisten Kulturnationen mindestens eine Oktave
Oder Duodezime. Doch scheint der Umfang in gewissen Fallen
viel geringer, auch abgesehen von der beabsichtigten Mono-
tonie, deren wir im Text Erwahnung tun. Scripture fand bei
seinem eigenen Sprechen des Vaterunser, daB die Stimme sich
fast nur auf den Tonen gis, a, ais bewegte (Ztschr. „Die neu-
eren Sprachen" 1903, S. Iff.). Der tiefe monotone Vortrag
des Vaterunser ist aber, wie er selbst bemerkt, ein besonderer
Fall, Scriptures gewohnlicher Sprechton bewegt sich in viel
weiteren Grenzen. Sehr auffallend ist der geringe Umfang
bei F. Saran, der (allerdings nach dem bloBen Gehor) seine
Sprachmelodie bei der Deklamation eines langen Gedichts
fast durchweg zwischen cis und dis unterbringt (Melodie und
Rhythmik der Zueignung Goethes 1903. Deutsche Verslehre
1907, S. 216 ff.). Unstreitig gibt es in dieser Hinsicht indi-
viduelle Eigentumlichkeiten. Aber an einen so winzigen
habituellen Tonumfang mochte ich doch erst glauben, wenn
er durch objektive Methoden erhartet ist.
8 (S. 16) W. Effenberger, Uber den Satzakzent im Eng-
lischen I. Teil. Berliner Dissertation 1908. Das Ganze ist noch
nicht erschienen, die im Text abgebildeten Kurven sind mir
vom Verfasser zur Verfiigung gestellt.
9 (S. 17) Auch diesen Hinweis verdanke ich meinem
Kollegen H. Diels.
Stumpf, Anfange der Masik 6
- 82 -
10 (S. 18) E. W. Scripture, How the Voice looks. Century
Magazine, Febr. 1902. p. 150.
11 (S. 19) Vgl. m. Tonpsychologie I, 164 (Klunders Mes-
sungen). Die schon erwahnte Arbeit Dr. Abrahams wird Na-
heres hieriiber bringen.
12 (S. 19) Namentlich am Anfang und am Ende von Ge-
sangen findet man bei den Naturvolkern haufig eine schlei-
fende Bewegung, speziell Abwartsbewegung der Stimme. Doch
kommen auch im Verlaufe solche mit groBer Raschheit aus-
gefiihrte Bewegungen zu Beginn oder SchluB einer Note vor.
Sie sind schon in alteren Aufzeichnungen angegeben; z. B. im
1. und 3. der von G. Grey, Polynesian Mythology 1855, wieder-
gegebenen neuseelandischen Lieder, die sich sonst kaum
von der Stelle bewegen (Grey meinte Vierteltonstufen zu
zu horen), vom letzten Ton aber um eine ganze Oktave ab-
warts schleifen. Beim 1. Lied bedeutet die hingeschriebene
Tonleiter sicher auch eine gleitende Bewegung. Ferner vgl.
meine oben in Anmerkung 1 zitierten Bellakula-Lieder S. 415
(I und II), S. 421, 423 (Umfang der Schleif bewegung eine Ok-
tave Oder Quinte); sowie Bakers Indianerlieder 1. c. S. 17.
Haufige Beispiele bieten die phonographischen Aufnahmen;
einige siehe in unseren Melodieproben. Unter den uns von dem
Museumsdirektor Dr. Dorsey (Chicago) iibersandten, noch
nicht bearbeiteten Pawnee-Gesangen ist ein Doktorgesang,
der mit einer mehrmals wiederholten stetigen Tonbewegung
von oben nach unten anhebt, deren Anfangs- und SchluBpunkt
nicht leicht bestimmbar ist. Sie hat fur unsere Auffassung
etwas unheimlich Drohendes.
Ein interessantes Seitenstuck bildet ein sehr alter Appen-
zeller „Lockler" (Lockruf beim Eintreiben der Kiihe), der ge-
rade so schlieBt wie Greys neuseelandische Lieder:
Portamento
'^^^^^^^^
Lo - be - la .^ j^
(Alfred Tobler, Kiihreihen usw. in Appenzell, 1890, S. 9. Derselbe,
Das Volkslied im Appenzellerlande, 1903, S. 119 f.)
Aber auch im heutigen Italien kann man bei VolkssSngern
oft ein liber den Zwischenraum einer groBen Terz sicli
— 83 —
erstreckendes Portamento horen. So vernahm ich in Venedig
folgenden immerfort wiederholten Gesang, worin zum SchluB
die Stimme regelmafiig vom e zum c stetig herunterging:
^^jnri-^W=3t^^=^^^^
In unserer Kunstmusik ist diese Vortragsweise fiir den
guten Geschmack nur in sehr geringem Umfange und aus-
nahmsweise gestattet (so gelegentlich vom Leitton zur To-
nika), im allgemeinen aber mit Recht ausgeschlossen, weil sie
den Unterschied gegeniiber der Sprache, aber auch gegen-
iiber dem elementaren Heulen und anderen kunstlosen Affekt-
vertonungen verwischt. Ahnliches gilt von sonstigen primi-
tiven Vortragsmanieren, wie dem Knurren oder Summen durch
SchlieBen der Zahne bei Indianern, das z. B. in einem Skalp-
tanz der Dakota vorkommt und, verbunden mit schleifendem
Toniibergang, „wirklich schaudererregend wirken kann" (Baker,
S. 17).
13 (S. 20) Der Ethnologe Prof. Pater Schmidt nimmt in
einem Artikel, auf den mich nach der Veroffentlichung des
dieser Schrift zugrunde liegenden Vortrages Herr v. Hornbostel
aufmerksam machte, gleichfalls gegen die Herleitung der Musik
aus der Sprache Stellung, wobei er auf die stetigen Uber-
gange des Sprachtons hinweist (Uber Wundts Volkerpsycho-
logie. Mitteilungen deranthropologischen GesellschaftinWien,
Bd. 33, S. 365 f.). Er erklart gleichwohl eine musikalische
Wiedergabe des gewohnlichen Sprechtons fiir notwendig und
stelit Wundtschen Notierungen andere gegeniiber, die ihm
richtiger scheinen. Indessen gibt es hier iiberhaupt keine all-
gemeinen und genauen Regeln (vgl. die Ausfiihrungen der in
Anm. 2 erwahnten Abhandlung S. 278 ff.). Es kommt ja auch
sehr auf den Dialekt an. Da6 besonders viele Sprachnotie-
rungen aus sachsischem Milieu kommen, ist bezeichnend. Ich
glaube sogar, da6 bei Richard Wagner, der (ein Anhanger
der Sprachtheorie) den Tonfall der Sprache in seinen Rezi-
tativen nachzuahmen suchte, sich Anklange seines sachsischen
Sprechens in den Tonwendungen deutlich bemerkbar machen.
Positiv leitet P. Schmidt die Musik, statt aus dem leiden-
schaftlichen Sprechen, aus dem leidenschaftslosen aber lauten
6*
— 84 —
Rufen her, besonders aus den Signalrufen, wie man sie noch
heutzutage etwa von Verkaufern in den StraBen hort. Zumal
wenn viele Personen zusammen irgend etwas laut sprechen,
z. B. gemeinsam beten, stellten sich musikalische Intervalle ein.
In der Tat verdienen die musikalischen Wendungen in solchen
Fallen eine statistische Zusammenstellung und eine kausale
Betrachtung. Was indessen heute dabei zutage kommt, steht
schon unter dem EinfluB unserer Musik und kann nicht die erste
Entstehung von f esten Intervallen uberhaupt begreiflich machen ;
vielmehr miissen wir umgekehrt die musikalischen Qualitaten
dieser Rufe aus denen der bereits vorhandenen Intervalle zu
verstehen suchen (in welcher Hinsicht ich z. B. in der er-
wahnten Abhandlung S. 283 f. die weitverbreitete Bevorzugung
der kleinen Terz beim Rufen aus einem Zusammenwirken
physiologischer Faktoren mit musikalischen Gewohnheiten
abzuleiten suchte).
Richtig erscheint mir aber der allgemeine Gedanke
P. Schmidts, da6 das Rufen, und zumal das gemeinschaftliche
einer der Ausgangspunkte der Musik war und speziell zur
Entdeckung der konsonanten Intervalle hingefiihrt hat. Was
dabei den Ausschlag gab, werden wir im Text erlautern. Ich
hebe gern dieses Zusammentreffen in einer wichtigen An-
schauung hervor.
14 (S. 27) Mit der Entwicklung des Gehirns haben sich
natiirlich auch diese Eigenschaften derTonempfindungen, bzw.
der zugrundeliegenden Gehirnprozesse, allmahlich heraus-
gebildet. Eine Hypothese iiber die dabei beteiligten Faktoren
(die relative Haufigkeit, mit der ein Intervall unter den Ober-
tonen vorkommt, auch die kleineren Verhaltniszahlen der Dif-
ferenztone gegeniiber Primartonen) versuchte ich Tonpsycho-
logie II, 215 f. aufzustellen. Auf das gleichzeitige Ausrufen
von Signalen durch Manner und Weiber ist auch schon in
diesem Zusammenhange hingewiesen; ebenso in „Konsonanz
und Dissonanz", Beitr. z. Akustik und Musikwiss. I, 62. Aber
in der Tonpsychologie legte ich die Meinung zugrunde, da6 in
den Uranfangen des Menschengeschlechts dieVerschmelzungs-
unterschiede doch noch nicht vollstandig ausgebildet gewesen
seien, was ich jetzt nicht mehr fUr wahrscheinlich halte. Die
Untersuchung der Sinnesempfindungen bei den heutigen
— 85 —
Naturvolkern hat immer mehr gezeigt, daB wesentliche Unter-
schiede gegeniiber den unsrigen nicht vorhanden sind. Fast
alles reduziert sich auf Unterschiede der Auffassungsfahigkeit
und Auffassungsrichtung. Vgl. v. Hornbostel, Ph.-A. Nr. 23.
15 (S. 28) Tonpsychologie II, 145, 148. Beitr. z. Akustik u.
Musikwiss. II, 20.
16 (S. 31) Es ist noch strittig, ob der Begriff der Ton-
verwandtschaft auch auf einfache Tone ausgedehnt werden
darf. Trotz gewisser Schwierigkeiten, die ich (Tonps. II, 198 ff.,
Beitr. I, 45 ff.) hervorgehoben, glaubt Ch. Lalo (Esquisse d'une
esthetique musicale, 1908, p. 146 ff.) diese Lehre vertreten zu
miissen. Auch v. Hornbostel neigt dazu (Ph.-A. Nr. 23). Die
Annahme wurde unstreitig das Verstandnis fur die Entwick-
lung einer rein melodischen Musik erleichtern. Aber da die
Stimme und die Instrumente (auch die Floten) tatsachlich
Obertone besitzen, konnten wir fiir diesen Zweck auch mit
der Verwandtschaft der Klange im Helmholtzischen Sinn aus-
kommen.
Vielleicht ware auch zu erwagen, ob nicht statt der Ver-
wandtschaft eine Art „Koharenz" (nach dem Ausdruck G. E.
Miillers) Oder „Attraktion" (Oilman, Hopi Songs p. 15) zwischen
aufeinanderfolgenden einfachen Tonen mitspielen konnte. Das
bestandige Zusammenvorkommen der konsonanten TeiUone
in den Klangen der Stimme sowie der Instrumente konnte.
sogar rein physiologisch, den Fortgang von dem einen zum
anderen begunstigen. Wir miissen die Frage hier dahingestellt
sein lassen.
17 (S. 31) Die Herren Abraham und v. Hornbostel haben
in den letzten Jahren langere Versuchsreihen iiber sog. Distanz-
urteile bei Tonen gemacht, d.h. iiber das Problem, welche Ton-
abstande als gleich beurteilt werden, wenn man die Gewohnung
an unsere Intervaiie moglichst beiseite setzt oder durch die
Versuchsumstande unschadlich macht. Sie fanden dabei, daB
es tatsachlich moglich ist, kleine Tonabstande mit einer ge-
wissen Sicherheit bei verschiedenen absoluten Tonhohen ein-
ander gleichzuschatzen; und zwar weisen die so als gleich
beurteilten Abstande die gleichen Verhaltnisse der Schwin-
gungszahlen auf, nicht etwa die gleichen Differenzen. Die-
selbe Annahme hatten friiher E. H. Weber und Fechner
— 86 —
gemacht, nicht minder Wundt („da6 wir in der Empfindung
ein MaB fiir qualitative Abstufungen der Tone besitzen und
daB dieses Ma6 dem Weberschen Gesetze folge", Physiol.
Psychologie- I. 394). Wundt hat sie spater auf Grund falsch
gedeuteter Versuchsergebnisse eines seiner Schiiler durch die
Annahme ersetzt, da6 wir gleiche Abstande da finden, wo
gleiche Differenzen der Schwingungszahlen gegeben sind;
was zu ganz unmoglichen Konsequenzen fuhrt. Die urspriing-
liche Annahme stimmt auch iiberein mit der weiter unten
noch zu besprechenden Tatsache des Vorkommens ganzer
Tonleitern, bei denen alle benachbarten Stufen voneinander um
ein und dasselbe gleichbleibende Schwingungsverhaltnis ab-
stehen.
Aus diesen Griinden halte ich es fiir durchaus moglich
und wahrscheinlich, daB man durch bloBe „Distanzschatzungen"
auf gewisse transponierbare kleine Tonschritte gekommen sei.
Nur die Entstehung fester, durch ein besonderes Merkmal
ausgezeichneter Schritte, die Absonderung der konsonanten
Intervalle Oktave, Quinte, Quarte wiirden auf diesem Wege
nicht begreiflich sein.
18 (S. 35) Ph.-A. Nr. 16, S. 248 ff. Der SchluB auf kausalen
Zusammenhang wird fast unabweisbar in Fallen, wo an In-
strumenten mit zahlreichen Tonen sich genaue Ubereinstim-
mungen der absoluten Tonhohen (Schwingungszahlen) zeigen.
So stimmen nach v. Hornbostels Messungen melanesiche Pan-
pfeifen (aus Neu-Mecklenburg) mit javanischen Instrumenten
ganz auffallend in der absoluten Tonhohe der einzelnen Tone
iiberein (Ph.-A. Nr. 12, S. 132 ff.), ferner Blasinstrumente der
Indianer in Nordwestbrasilien mit ausgegrabenen altperuani-
schen Pfeifen (Ph.-A. Nr. 22, S. 388 ff.).
19 (S. 37) Panpfeifen, die nach diesem Prinzip zusammen-
gestellt werden, fand A. Fric bei brasilianischen Indianern
(nach V. Hornbostel, Ztschr. d. Internat. Musikges. X, S. 4).
20 (S. 38) Solche Doppelpanpfeifen von Indianern in Peru
hat V. Hornbostel untersucht und dabei eine interessante (noch
unveroffentlichte) Tatsache beobachtet. Die offenen Pfeifen
sind namlich alle am Ende etwas ausgekerbt, offenbar zu Ab-
stimmungszwecken. Offene Pfeifen geben nicht genau die
reine Oktave der gleichlangen gedackten, sondern eine etwas
— 87 —
vertiefte. Dies hat man bemerkt und darum die Schnitte an-
gebracht, um die reine Oktave zu erhalten, Ein schoner Be-
weis fiir die Kraft des fortschreitenden Gehors. Auch wenn
man etwa annehmen wollte, da6 das Oktavintervall iiberhaupt
erst durch den Tonunterschied einer offenen und einer gleich-
langen gedackteii Pfeife gefunden sei, muBte man doch zu-
geben, da6 das Gehor dann sich zum Richter aufgeschwungen
und das von der Natur gegebene Intervall nach seinen For-
derungen umgestaltet habe.
Dies ist um so bemerkenswerter, als dieselbe Erscheinung
sich nicht blo6 an modern-indianischen sondern auch an aus-
gegrabenen Pfeifen aus der altperuanischen Zeit findet.
21 (S. 39) Die Herleitung der konsonanten Intervalle aus
den ersten Obertonen findet man oft ausgesprochen, z. B. bei
Tylor (Anthropology), bei Wallaschek (AnfangederTonkunst);
wie ja seit Helmholtz die Obertone Heifer in alien Noten sein
miissen. (Mir selbst allerdings hat W. Pastor, Geburt der Musik,
S. 52, diese Ansicht ganz mit Unrecht zugeschrieben.) Aber
abgesehen von der im Text erwahnten Schwierigkeit spricht
auch sonst vieles gegen die Annahme, daB Uberblasungstone
die einzige oder die Hauptquelle gewesen waren. Oft sind
z. B. die hoheren, zum Teil disharmonischen Teiltone leichter
herauszubringen wie der Grundton.
Damit will ich aber nicht sagen, daB die Oberblasungs-
tone einfluBlos gewesen waren. DaB das Gehor der Natur-
volker sich gelegentlich sogar den Verstimmungen dieser Tone
anbequemt, geht wieder aus der Untersuchung einer brasi-
lianischen Panpfeife durch v. Hornbostel hervor (Ph.-A. Nr.
22.) Ein aus 11 Pfeifen bestehendes Instrument, dessen Zu-
sammensetzung zuerst ganz unverstandlich schien, ist allem
Anscheine nach dadurch entstanden, daB man von einer
Pfeife ausgehend eine andere so schnitzte, daB ihr 3. Teil-
ton mit dem Grundton der ersten eine Doppeloktave bildete.
Man erhielt so eine (etwas zu groBe) Quarte. Nach dem
gleichen Prinzip ging man von der zweiten zu einer dritten
Pfeife usf. Dabei findet sich aber zugleich der 5. Teilton der
ersten Pfeife gleich dem Grundton der siebenten, was akustisch
nur darum moglich ist, weil die Obertone alle ein wenig zu tief
sind. Dann wurde in das so entstandene Pfeifensystem ein
— 88 -
zweites, in derselben Weise gebildetes eingeschaltet, dessen
Tone aber immer zwischen je zweien des ersten in der Mitte
liegen; jedenfalls darum, weil der Tonschritt einer Quarte fiir
den melodischen Gebrauch zu groB erschien. In einer ahn-
lichen Weise ist das Obertonprinzip auch bei einem andern
Exemplar verwendet.
An diesem Falle sieht man, daB allerdings eine Benutzung
der Oberblasungstone vorkommt, daB man aber durch das
bloBe mechanische Obertragungsverfahren, die Verfertigung
neuer Pfeifen in Ubereinstimmung mit den Oberblasungstonen
der ersten, nicht zu den reinen Intervallen, nicht einmal zu
reinen Oktaven, Quinten, Quarten gefuhrt wurde.
DaB wir den 7., 11., 13. Teilton nicht benutzen (Debussys
Sechsstufenleiter darauf zuruckzufuhren, ware ganz verkehrt),
ist ja auch schon ein Beweis, daB die Obertone als solche
fiir unser Gehor nicht das Ausschlaggebende sind. Jene Teii-
tone horen wir gelegentlich bei Oberblasungen, aber sie im-
ponieren uns nicht, auBer den Schwarmern, die Naturprodukte
als solche anbeten: wir konnen sie im Zusammenhang un-
seres auf gutem Grund aufgebauten Tonsystems nicht brauchen.
In urwiichsigeren Musikzustanden dagegen findet man tat-
sachlich auch jetzt noch den 7. und 11. Teilton im Gebrauch.
So bei den „Kiihreien" in der Schweiz, wo sie zweifellos
auf den EinfluB des Alphorns zuriickzufUhren sind. Sie wan-
derten von diesem Instrument auf den Gesang hiniiber, ohne
durch das Ohr korrigiert zu werden. Der Senn, der solche
Jodler mit der iibermaBigen Quarte (11. Teilton) bei der Stall-
arbeit singt, nennt sie „Chiiadreckeler" und findet den leiter-
fremdenTon angenehm, — vielleicht auch mehr charakteristisch
fiir das Geschaft.
Auf dem Alphorn selber wurde z. B. Anfang des vorigen
Jahrhunderts folgende Weise geblasen (nach WyB, Sammlung
von Schweizer Kiihreien, 3, Ausgabe, 1818, bei Alfred Tobler,
Kuhreien, 1890, S. 46):
fP#£^=gg^^g^fe^fe^
Die alteste Notierung eines Kiihreiens findet sich in
Rhaws Bicinia 1545 (die untere Stimme hat die Melodic). Man
89
erkennt in der Weise deutlich das Alphorn-Vorbild, vgl. die
Stelle:
Aber die erhohte Quarte ist hier in die reine umkorrigiert.
Ein 1710 notierter Kuhreien dagegen weist an verschiedenen
Stellen ausdrucklich die erhohte Quarte auf. (S. daruber A. Gluck,
Vierteljahrschr. f. Musikwiss. VIII, 77 ff.) Wie ich bei Berlepsch
(Die Alpen 1861, S. 360) lese, wurden die gesungenen Kuhreien
fruher mit dem Alphorn begleitet. Dadurch ist die erhohte
Quarte auch in den unbegleiteten Gesang ubergegangen. In
den ersten Dezennien des 19. Jahrhunderts soil sie noch viel
haufiger gebraucht worden sein (Szadrowsky im Jahrbuch des
Schweizer Alpenklubs 1868, S. 283).
AIs eine aus derselben Wurzel entstandene Gesangs-
melodie (unter vielen anderen) setzen wir die alteste Auf-
zeichnung eines Appenzeller Alpengesanges hierher (nach
Ebel, Schilderung der Gebirgsvolker der Schweiz 1798, bei
Tobler a. a. 0. S. 57):
m^^
'I^i
a^j ^Tx3=N^a^^Ey^-^
^fJPJ] J ^^'^ |^3^^=?^^tT^^^^^
Auch in einem der alten „Alpensegen", wie sie heute noch
in der Urschweiz gesungen werden, ist die ubermaBige Quart
erhaiten. S. die Notierung des Alpensegens aus der Melch-
thaler Frutt (wo ich ihn auch selbst horte) bei A. Schering,
Sammelbande d. Intern. Musikges. II, 669. Er beginnt:
wobei nicht b sondern ganz bestimmt h intoniert wird.
90 —
Aus der heutigen Steiermark hat Dr. Pommer in seiner
Sammlung ,,444 Jodler und Juchezer aus Steiermark" u. a.
folgendes Beispiel gegeben, das jedesmal in genau gleicher
Intonation gesungen wurde (vgl. Bericht iiber den III. KongreB
der Internat. Musikges. 1909, S. 251):
p^^^#^^^^g
Ju - hu hu-hu-hu-hu!
In einem Falle hat dieses Alphorn-fis seinen Weg auch zu
den tiefsten Wirkungen der Kunstmusik gefunden: wenigstens
halte ich es fur sehr wahrscheinlich, da6 die wie eine Sieges-
und Heilsverkiindigung aus Bergeshohe tonende Hornweise im
letzten Satze von Brahms C-Moll-Symphonie, die dann von der
Flote antwortend aufgenommen wird,
Horn.
i
^-f^rl _ LB
s
£
Flote.
i^.
m
^
^
usw.
r
unter der Nachwirkung solcher Schweizer Tone entstanden
ist. In humoristischer Absicht hat aber bereits der 12jahrige
Mozart in „Bastien und Bastienne" (in dem kleinen Dudel-
sacksatz, mit dem Colas auftritt) und hat auch Mendelssohn
in der klaglichen Trauermusik auf Pyramus' Tod diesen Ober-
blasungston, der bei ungeschickten Blasern ungewollt da-
zwischenkommt, verwendet. Also gelegentliche Einfliisse auch
von unharmonischen Oberblasungstonen auf unsere Kunst-
musik sind moglich, aber eine systematische Verwendung nicht.
Die erhohte Quarte der sog. Zigeunerleiter, orientalischer
Melodien oder gar des 5. Kirchentons darf man aber nicht
hierher ziehen, sie haben nichts mit dem 11. Oberton zu tun.
In ahnlicher Weise wie das Alphorn mogen auch die nor-
dischen „Luren", uralte groBe Bronzehorner, auf denen zwolf
- 91 -
und mehrObertone durch Oberblasung hervorgebracht werden
konnen, auf die Entwicklung der dortigen Musik eingewirkt
haben. Da fast immer zwei Luren von gleicher Abstimmung
zusammen gefunden wurden, hat man vermutet, da6 auf ihnen
zweistimmig geblasen wurde (Hammerich, Vierteljahrsschr. f.
Musikwiss. X, 29 ff. W. Pastor in der vorher genannten Schrift
S. 68ff.). Doch lassen sich auch andere Grtinde fur das Vor-
kommen in Paaren denken. Hammerich, der genaueste Kenner
dieser Instrumente, driickt sich dariiber sehr zuriickhaltend
aus. Bei uns selbst pfiegt man ftir mehrstimmiges Blasen
doch gerade Instrumente verschiedener Hohe zu nehmen.
Auch die Genauigkeit, mit der die paarweise gefundenen Exem-
plare gleich gestimmt sind, deutet eher darauf, da6 sie unison
geblasen wurden.
22 (S. 41) Die Unterscheidung von Bias-, Saiten- und
Schlaginstrumenten, wie sie im Texte steht, moge in dieser
kurzen Darstellung passieren. Aber sie will nicht als er-
schopfend gelten (z. B. kommen auch Rilleninstrumente vor,
bei denen der Ton durch Dariiberstreichen erzeugt wird). Sie
ist, wenn man's genau nimmt, auch logisch nicht einwandfrei.
Man kann entweder klassifizieren nach den Einrichtungen,
deren unmittelbare Folge die Luftschwingungen sind (z. B.
scharfen Randern, an denen ein Luftstrom vorbeistreicht,
Schwingungen von Saiten oder Membranen usf.), oder nach
den Tatigkeiten, durch die wir diese Einrichtungen in Gang
setzen (z. B. Schlagen oder Driicken, dann Streichen, Blasen
usf.). Je nach dem Einteilungsprinzip gehoren die Orgel
und das Klavier das erstemal zu verschiedenen, das zweite-
mal zu derselben Klasse, die Saiteninstrumente umgekehrt
das erstemal alle zu derselben, das zweitemal zu verschie-
denen Klassen. Indessen auf diese logischen Verfeinerungen
kommt es hier nicht an.
23 (S. 46) V. Hornbostel hat kiirzlich bei Untersuchung
der von dem Forschungsreisenden Dr. Thurnwald aus den
Admiralitatsinseln (Baluan) mitgebrachten Phonogramme von
Tanzgesangen gefunden, da6 sie samtlich zweistimmig sind,
und zwar sich wesentlich in Sekundenparallelen bewegen, ja
sogar ofters am Schlusse aus dem Einklang in die Sekunde
iibergehen, um mit dieser abzuschliefien (Ph.-A. Nr. 24). GewiB
- 92 -
fiir unseren Geschmack das Wunderlichste von allem, was
bisher gefunden wurde. Und doch auch nicht ohne Seiten-
stucke in anderen Weltgegenden, selbst in Europa, auf die
V. Hornbostel hinweist. Ich mochte vorlaufig die im Text
angegebene Erklarung fiir die wahrscheinlichste halten. Man
hort aus den Walzen die Rauhigkeit des Zusammenklanges,
das Schwirren der Schwebungen deutlich heraus.
34 (S. 46) Sehr zutreffend scheint mir namentlich, was
Billroth in dem lehrreichen Schriftclien „Wer ist musikalisch?"
iiber die Bedeutung des Rhythmischen beigebracht hat.
25 (S. 48) Ch. S. Myers: The Rhythm-Sense of Primitive
Peoples. Bericht uber den 5. Internat. PsychoIogen-KongreB
in Rom 1904. A Study of Rhythm in Primitive Music. British
Journal of Psychology I, 1905, p. 397. (Die Ergebnisse sind
durch graphische Registrierung und durch Messungen der
Zeitabstande zwischen den Akzenten beim Gongschlagen der
Sarawak -Malaien auf Borneo gewonnen.) Sonstiges iiber
exotische Rhythmik und rhythmische Polyphonie namentlich
in Boas' Werk iiber die Kwakiutl-Indianer und bei v. Horn-
bostel, Ph.-A. Nr. 14, S. 159ff., Nr. 16, S. 252 ff., Nr. 23, S. 266 ff.
26 (S. 48) AuBer den in der Musikbeilage mitgeteilten
Proben rhythmischer Komplikationen moge hier noch ein Bei-
spiel fiir die gleichzeitige Verbindung ungleicher Rhythmen
stehen. Viele Gesange mit Paukenbegleitung bei den Kwakiutl-
Indianern haben nach Fr. Boas' Beobachtung folgenden Typus:
Pauke. I^rjrjlpr^rjlprprn
Gesang. | f CJ f | f LJ f i f f f |
Jeder Part halt dabei, wie Boas versichert, seinen Rhythmus
aufs genaueste inne. Bei einem von ihm notierten Liede
geht die Stimme in * 4, die Pauke in ^/g, und zwar so, daB
auf 3 Takte der Stimme 4 der Pauke kommen, also wieder
auf je ^/s der Stimme ^/g der Pauke; wobei der Paukenrhyth-
mus wieder der obige ist, der iiberhaupt besonders beliebt
scheint.
27 (S. 52) Hierher wiirde das erste der von Wundt (Volker-
psychologie II, 1) angegebenen Musterbeispiele gehoren. Es ist
— 93 —
F. Boas' Werk iiber die Zentral-Eskimos entnommen. Aber Boas
unterscheidet scharf die Eskimogesange, die sich in groBen
Intervallen, zum Teil in aufgelosten Dreiklangen, ]a selbst in
Oktavenschritten bewegen (s. unsere Melodiebeispiele Nr. 49
und50), und die Erzahlungen. Was er Iiierin Noten wieder-
gibt, ist, wie er ausdrucklich bemerkt, der Erzahlerton, der
sich auf einer konstanten Hohe halt und nur bei den akzen-
tuierten Silben um einen Halbton nach oben abweicht. DaB
diese Vortragsmethode und Stimmbewegung bei den Eskimos
die friihere gewesen ware und also hier ein Rest ihres wirk-
lich primitiven Singens vorlage, dafur existiert nicht der Schatten
eines Beweises. Vgl. die folgende Anmerkung.
28 (S. 55) In dem groBen Werke von Rowbotham,
History of Music, wird (I. Bd., 1885) die Urgeschichte der
Musik in der Weise dargestellt, daB in einem ersten Stadium
nur ein Ton, in einem zweiten zwei, in einem dritten drei
Tone (immer nur um je eine Ganztonstufe verschieden) beniitzt
worden waren. In einem vierten Stadium sei man dann so-
gleich zu einer 5stufigen Leiter ubergegangen, wobei aber der
Schritt von der Terz zur Quinte und der von der Sexte zur
Oktave des Grundtons dem Urmenschen als gleichgroB mit
den vorhergehenden Ganztonstufen erschienen seien.
Nun ist es natiirlich leicht, die uns vorliegenden Musik-
beispiele von Naturvolkern so zu ordnen, daB man unter
anderem auch diese vier Klassen erhalt. Aber es ist nicht
moglich, zu beweisen, daB sie streng in dieser zeitlichen
Ordnung aufeinanderfolgten. Das pathetische Deklamieren
auf einem einzigen Ton oder auf nur wenigen finden wir bis in
die neueste Zeit bei alien Volkern neb en reichentwickelten
Melodien (ganz abgesehen von Fallen eines besonderen
Raffinements, wie bei dem bekannten Eintonliede von Cornelius).
Wenn auch anzunehmen ist, daB die ersten Gesange relativ
eintonig waren, scheint es mir doch willkiirlich und gezwungen,
absolute Eintonigkeit (und zwar seltsamerweise nach Row-
botham immer auf dem Tone G) als Ausgangspunkt anzu-
nehmen. AuBerdem bleibt es in Rowbothams Darstellung
ganz dunkel, wie man gerade auf solche Stufen verfiel, die
zueinander gefugt die Oktave ergaben, auch warum die beiden
oberen Stufen den vorhergehenden gleichgeschatzt worden
— 94 —
sein sollen. Es ist immer der alte Fehler: die Entstehung
der konsonanten Intervalle bleibt unerklart.
Fetis, der das seinerzeit vorliegende ethnologische Ma-
terial ebenso kenntnisreich wie unkritisch verwendete, hatte
bereits in ahnlicher Weise, nur statt aus Ganztonstufen aus
Halbton- und noch kleineren Stufen, die Leitern entstehen
lassen, wobei ihm die stereotype Berufung auf „fortschrei-
tende Gehirnorganisation" den Mangel psychologischer Er-
klarungsmittel ersetzte. Solche Darstellungen erscheinen mir
viel zu deduktiv. Die Wirklichkeit fiigt sich nicht so ein-
fachen Schematismen.
29 (S. 57) Diese Leitern sind von Land, Ellis und mir
(nach gemeinschaftlichen Beobachtungen mit Dr. Abraham)
mit Sicherheit festgestellt worden (Ph.-A. Nr. 1). Nach einer
brieflichen Mitteilung hat Myers bei den Insulanern der
Torres-StraBe auch Gesange aufgenommen, die einer gleich-
stufigen Leiter von 6 Stufen anzugehoren scheinen (s. unsere Me-
lodiebeispiele Nr. 9 und 10). Doch stimmen die beobachteten
Schwingungszahlen nicht so durchgangig und genau mit den
berechneten, daB man einen sicheren SchluB darauf griinden
konnte. Bei Gesangen wird man iiberhaupt niemals eine
so genaue Ubereinstimmung mit irgendeinem Prinzip erhalten
wie bei abgestimmten Instrumenten von der Art der siamesi-
schen und javanischen Xylophone und Metallophone.
Wundt halt (Volkerpsychol. IIP, 477) die Annahme der
Bildung einer solchen gleichstufigen Leiter nach dem bloBen
Gehor fur „selbstverstandlich unzulassig", da sie den in
seinem Institut gefiihrten Experimentaluntersuchungen wider-
spreche. Die positive Erklarung scheint er in gewissen
regelmaBigen Abstufungen der GroBe der Holzstabe und
der Glocken zu suchen, aus denen die siamesischen Instru-
mente bestehen. Wenigstens schlieBe ich dies aus dem
Umstande, daB er in meinen Beschreibungen die Angabe
der Dimensionen jener Instrumente vermiBt. Aber er iiber-
sieht meine Bemerkung (Ph.-A. Nr. 1, S. 71, 72, 80), daB die
Stabe an der unteren Seite ausgekehlt und daB iiberdies zur
feineren Abstimmung Wachsklumpen angeklebt sind; ebenso
im Inneren der Glocken. Infolgedessen hatte sich aus der gewis-
senhaftesten Beschreibung der Dimensionen nichts entnehmen
— 95 —
lassen. Ein Gang ins Leipziger Museum wUrde iibrigens
geniigen, solche Ideen auszuschlieBen. Dort ist z. B. ein
22stufiges Xylophon aus Birma, dessen Stabe unten in ver-
schiedenem MaBe ausgekerbt sind und auch Stellen erkennen
lassen, an denen Wachsklumpchen gesessen haben mogen.
(Naturlich darf man daher an soichen Instrumenten, die die
Stimmung verloren haben, auch nicht, wie Wallaschek getan,
Tonhohenmessungen machen.)
Nehmen wir aber einmal an, urspriinglich sei die Siamesen-
leiter doch auf mechanischem Wege entstanden, indem man
Stabe von ganz homogenem Material und iiberall gleicher
Dicke, nur von verschiedenerLangegenommen: nachwelchem
Gesetz muBlen dann die Langen abgestuft sein, um diese
Leiter zu geben? Da die Schwingungszahlen je zweier be-
nachbarter Tone sich hier wie 1 : \2 verhalten, und da die
Langen der Stabe unter den genannten einfachsten Voraus-
setzungen im umgekehrt-quadratischem Verhaltnis zu den
Schwingungszahlen stehen miissen, so mu6 man, um bei ge-
gebener Lange l^ eines Stabes die Lange L des nachsten
Stabes zu erhalten, l^ durch \2 dividieren. Wie sollten die
Siamesen das wohl ohne Logarithmentafel anfangen? Ich
habe selbst (a. a. O. S. 101 f.) eine Hypothese ins Auge gefaBt,
nach welcher die Siamesenleiter mechanisch durch eine
eigentUmliche Saitenteilung entstanden sein konnte, habe
aber auch dieses Prinzip als sehr unwahrscheinlich er-
wiesen. Es wird also wohl dabei bleiben miissen, daB die
siamesische und die javanische Gleichstufenleiter demGehor
entsprungen sind. Wenn dies mit den Leipziger Experimental-
untersuchungen nicht stimmt, so kann ich daraus nur eine
neue Bestatigung der darin nachgewiesenen prinzipiellen
Versuchsfehler entnehmen. (Vgl. Ztschr. f. Psychologie I,
419 ff. und oben Anm. 17.)
30 (S. 58) Ph.-A. Nr. 1, S. 96ff.
31 (S. 58) Ph.-A. Nr. 21 (Fischer).
32 (S. 59) Eine besondere Abhandlung iiber Heterophonie
hat Guido Adler veroffentlicht (Jahrbuch der Musikbibliothek
Peters, 1908). Da er an Helmholtz vermiBt, daB dieser nicht
einmal den Namen der Heterophonie anfiihre, so scheint
ihm entgangen zu sein, daB vor meiner Abhandlung iiber
— 96 —
Siamesenmusik iiberhaupt niemand von Heterophonie als be-
sonderer Stilform gesprochen hat. Den Ausdruck selbst ent-
nahm ich einer platonischen Stelle, die bei den Philologen
viele Diskussionen hervorgerufen hat und die ich bereits friiher
(Geschichte des Konsonanzbegriffes 1897) durch Auslegung
des Wortes „antiphon" im Sinne von „diaphon" verstand-
licher gemacht zu haben glaube. Es schien mir, da6 Plato
mit „Heterophonie" das gleichzeitige Umspielen einer Melo-
die durch Varianten gemeint habe, wie es bei orientalischen
Voikern heute vorkommt, und darum schlug ich fiir diese Art
der Musikiibung den Namen Heterophonie vor. Aber natur-
lich war es mir nicht urn den Namen zu tun, sondern um die
Sache, d. h. um die Zusammenfassung weitverbreiteter und
eigenartiger Erscheinungen unter einem besonderen, von dem
der Polyphonie und Harmonie ebenso wie dem der reinen Ein-
stimmigkeit unterschiedenen Begriff. Das ist, was in dieser
Sache von mir herriihrt, ohne da6 ich es aber fiir eine groBe
Leistung ansehen mochte. Lange vorher hatten Dr. Miiller
und V. Zedtwitz chinesische und japanische, Land und Grone-
man javanische Partituren veroffentlicht, aus denen der Sach-
verhalt zu entnehmen war, die ich ubrigens auch bereits Ton-
psychol. II (1890) S. 402 erwahnte. Daniel de Lang, der von
Land-Groneman und von mir (Siamesen S. 131) zitiert wird,
hatte diese Art des Musizierens auch schon ganz richtig be-
schrieben. So vie! iiber das Historische.
Viel mehr aber kommt es darauf an, da6 der neue Be-
griff nicht sogleich wieder seiner Eigenart entkleidet und mit
anderen vermengt werde. In dieser Hinsicht mochte ich be-
merken, da6 das Parallel-Organum und der Dudelsackstil, ob-
gleich beide in Verbindung mitHeterophonie vorkommen
konnen, doch keinesfalls selbst als Heterophonie zu fassen
sind, wie es nach der Adlerschen Darstellung, wenn ich sie
recht verstehe, den Anschein hat. Ferner daB die vom Ver-
fasser beigebrachten Musikbeispiele nur zum kleinsten Telle
wirklich heterophon sind, im iibrigen aber entweder nur Falle
verschiedener Formen des beginnenden Kontrapunkts, „nota
contra notam", oder, wie die Lineffschen russischen Gesange,
wesentlich Beispiele einer volkstumlich-ungeschickten Har-
monisierung. (Frau Lineff beschreibt sie allerdings in der
— 97 -
Einleitung p. XV selbst ganz im Sinne der Heterophonie.
Aber ihre Partituren lassen nur erkennen, da6 man nach har-
monischer Fiihrung der Unterstimmen, besonders nachTerzen-
gangen, strebt und dazwischen immer wieder in Oktaven-
parallelen oder Unisono zuriickfallt. Gelegentlich treten zwar
bei diesen Parallelen audi melodische Abweichungen eiri,
wie in unserer Dorfmusik etwa der Klarinettist seine Seiten-
spriinge macht. Aber eine als Stilprinzip durchgefiihrte
Heterophonie kann ich im allgemeinen hier nicht finden; am
ehesten noch etwa in den zweistimmigen Liedern des II. Ban-
des.)
Auf dem Wiener KongreB der Internationalen Musikgesell-
schaft, Pfingsten 1908, hat v. Hornbostel eine Ubersicht der
mannigfaltigen Zwischenstufen zwischen rein unisoner und har-
monisch-polyphoner Musik gegeben. Die ausfuhrliche Klassi-
fikation der Formen, die gedruckt unter die Horer verteilt
wurde, ist nicht in den KongreBbericht ubergegangen; aber
es findet sich in diesem eine lehrreiche Darlegung der An-
schauungen, die sich der kundigste Forscher iiber exotische
Musik bisher iiber die Entwicklung in dieser Hinsicht gebildet
hat (S. 298f. Vgl. auch Ph.-A. Nr. 19 S. lOSSff. uber die Ver-
gleichung des exotischen mit dem mittelalterlichen Organum).
In diesen Dingen ist die Untersuchung noch zu sehr im Flu6,
um Definitives sagen zu konnen. Meiner eigenen Auffassung
stellen sich die verschiedenen Gattungen des Musizierens in
Hinsicht auf Ein- und Mehrstimmigkeit in folgendem Schema
dar, bei welchem aber von vornherein zu beachten ist, daB die
Gattungen sich in Wirklichkeit mehrfach miteinander verbinden,
und da6 auch stetige Ubergange von einer zur anderen fiihren.
Eben darum lassen sich die Grenzlinien in verschiedener
Weise Ziehen.
1. Homophonie = Einstimmigkeit. Man gebraucht heute
den Ausdruck homophon vielfach fur die einstimmige Melo-
die mit akkordlicher Begleitung. Dieser Sprachgebrauch
wurzelt in dem Vorurteil, daB es Melodien ohne Akkordunter-
lage uberhaupt nie und nirgends geben konne. Es wiirde
mir zweckmaBig scheinen, mit diesem Vorurteil auch den
wunderlichen Sprachgebrauch aufzugeben, und mit Helmholtz
als homophon nur die rein melodische Musik zu bezeichnen, die
Stumpf, AnfSnge der Musik 7
— 98 —
weder objektiv noch auch in der bloBen Vorstellung des
Horers Akkordunterlagen voraussetzt. Kann einer sich primi-
tive Melodien nicht anders als mit Akkordbegleitung vor-
stellen, so mu6 er wenigstens in ihrer Beurteilung von sol-
chen subjektiven Zutaten abstrahieren.
Homophonie, wie wir sie hier verstehen, kann aber noch
in engerem und weiterem Sinne gefaBt werden. Im weiteren
Sinne umfaBt sie nocli die Oktavenverdoppelung der Melodic,
insofern man namlicli Oktaven als gleiche oder wenigstens
aquivalente Tone ansieht.
2. Organum = Singen oder Spielen in Parallelen. Gibt
man die Identitat der Oktaven nicht zu, so gehoren schon
alle Oktavenverdoppelungen, wie beim Singen einer Me-
lodie durch Manner und Frauen, hierher. Jedenfalls aber
und vor allem handelt sich's um durchgefuhrte Quinten- und
Quartenparallelen. Terzen-, Sexten- und Sekundenparallelen
fallen streng genommen nur dann unter diesen Begriff, wenn
dabei wirklich das Intervall unverandert bieibt, also nicht
groBe mit kleinen Terzen wechseln, wie dies in unserer Musik
durch die diatonische Leiter bedingt ist. Da6 in Afrika solche
Quasi-Parallelen vorkommen, scheint eben auf einen euro-
paischen EinfluB hinzudeuten. Nur in gleichstufigen Leitern,
also auch z. B. in unseren chromatischen, gibt es Terzen-
parallelen mit vollig unverandertem Intervall.
Natiirlich konnen auf solche Art auch drei und mehr Stim-
men sich verbinden, indem z. B. zwei in Oktaven gehen, die
dritte zwischen ihnen in der Quinte oder Quarte des tieferen
Tones mitgeht.
Zum Organum im weiteren Sinne rechnen wir auch die
Falle, in denen die Parallelitat nicht ausnahmslos, Note fiir
Note, durchgefuhrt, sondern streckenweise andere Intervalle
eingefugt sind; wie wenn die Stimmen vom Einklang aus suk-
zessive zur Quarte iibergehen, in diesem Intervall dann parallel
weiterschreiten, um am SchluB wieder in den Einklang iiber-
zugehen. (Schweifendes Organum Hucbalds, occursusbeiGuido
von Arezzo, wozu sich gleichfalls Analogien in der exotischen
Musik finden.)
3. Bordun- oder Dudelsack-(Orgelpunkt-)weise = das
Festhalten eines Tons, wahrend eine andere Stimme eine
— 99 ^
Melodic angibt. Der feste Ton kann dabei uber oder unter
der Melodic, bci mehr als zwei Stimmen auch zwischen den
iibrigen liegen, er kann ununterbrochen oder mitPauscn, etwa
zu Anfang jcdcs Taktcs, angegeben werden, es konnen auch
zwei Oder mehr Tone miteinander regelmaBig in unmittel-
barer Folge oder kurzen Zeitstanden wechseln (Ostinato) und
andere Modifikationen eintreten, die das Wesen der Sache
doch nicht andern.
Mit einem primitiven Orgelpunkt fallt eine bestimmte
Form des Guidonischen Organums zusammen („saepe autem . . .
organum suspensum tenemus", Noten s. Oxford History of
Music 1, 69): ein Beispiel des Oberganges der Formen in-
einander durch Grenzfalle.
4 Heterophonie = gleichzeitiger Vortrag mehrerer Va-
rianten eines Themas. In der einfachsten Form ist dies nichts
als eine leichte Modifikation der Homophonie; wenn z. B. ein
beweglicheres Instrument oder ein eigenbrodlerischer Sanger
da und dort eine kleine Verzierung anbringt. Man mochte
sagen, die Heterophonie sei die unausbleibliche Folge des
Zusammenwirkens mehrerer, die die namliche Melodic vor-
tragen woUen; ebenso wie Oktaven- oder Quintenparallelen die
unausbleibliche Folge sind, wenn Sanger oder Instrumente mit
verschicdener Tonlage dieselbe Weise zugleich vortragen
wollcn, und der Orgelpunkt, wenn zwei Klangquellen zusammen-
wirken, deren eine iiberhaupt nur einen Ton besitzt. Die Hetero-
phonie trat jedenfalls, wie die iibrigen Formen, zuerst zufallig
ein, entwickelte sich dann aber zur absichtlich gebrauchten
Kunstform, die auch angewandt wurde, ohne da6 die urspriing-
lichen Anlasse dazu notigten.
5. Polyphonie = gleichzeitiger Vortrag mehrerer ver-
schicdener Melodien, die nur etwa gelegentlich in konsonanten
Intervallen oder im Einklang zusammentreffen. Auch hiervon
scheinen sich Beispiele oder Vorstufen in der exotischen
Musik zu finden, Besonders aber bietet die Friihzeit unserer
Musikepoche Belege. Das Gehor findet einen Reiz darin,
mehreren ganz verschiedenen Melodien zugleich (bzw. in
raschem Wechsel der Aufmerksamkeit) zu folgen; und je
verschicdener die Melodien in der Richtung, Geschwindigkeit,
dem ganzen Charakter derTonbewegung, urn so besser. Auf
7*
- 100 —
die Wirkung der einzelnen so entstehenden Zusammenklange
kommt es dabei nicht prinzipiell an. Sobald dieser Gesichts-
punkt wesentlich in Frage kommt, das haufige Zusammentreffen
in Konsonanzen und vor allem in konsonanten Dreiklangen
angestrebt wird, geht diese Form in die nachste iiber.
Im weitesten Sinne des Wortes umfaBt Polyphonie natiir-
lich alle Formen au6er der ersten. Wir gebrauchen es aber
hier im engeren Sinne, den es in der Musikgeschichte er-
halten hat: fUr die Gleichzeitigkeit mehrerer Melodien, die
als wesentlich verschiedene aufgefaBt werden. In diesem
Sinne steht sie neb en den ubrigen Formen, wenn auch
Obergange iiberall denkbar sind.
6. Harmonische Mu3ik = die schon im gleichzeitigen
Erklingen mehrerer unterschiedener Tone und in der Auf-
einanderfolge solcher Tonkomplexe Quellen asthetischer Lust
und Unlust findet.
Ich mochte nicht behaupten, da6 den Naturvolkern die
Freude am Mehrklang als solchem, also cine Vorstufe unseres
Harmoniegefuhls, ganzlich und allenthalben fehle (vgl. Abbil-
dung 2 und 3). Aber unser Akkordsystem, wie es sich allmahlich
entwickelt hat, mit seinen Hauptdreiklangen in Dur und Moll auf
dem Grundton, der Dominant und Subdominant, mit den aus
den Dreiklangen resultierenden Tonleitern, in denen jeder Ton
erst von den Dreiklangen aus Sinn und Wirkung, ja auch erst
seine genaue Abstimmung erhalt, mit den dissonanten Ak-
korden (Diskorden), die nach bestimmten rationellen Regeln
in die Hauptdreiklange und zuletzt in den Grunddreiklang iiber-
gehen — das ist etwas durchaus Neues, wozu wir vor dem
letzten Jahrtausend ebenso wie in der gegenwartigen exoti-
schen Musik keine Seitenstiicke finden.
Die harmonische Musik hat aber alle friiheren Formen
nach Moglichkeit in sich aufgenommen. Wie sie sich mit
Polyphonie verkniipft, lehren die groBen Meister kontra-
punktischer Kunst. Heterophone Bildungen finden sich tausend-
fach innerhalb des harmonischen Rahmens, schon bei jeder
die Melodic mit Figuren verzierendcn Nebenstimme. Im ob-
stinaten Ba6, im Orgelpunkt ragt die Bordunweise herein, das
Organum im Quintieren des Volkes, in den „Mixturen" der
Orgel, wie in so manchen modernen KUhnheiten, bei denen
— 101 -
allerdings vielfach darauf gerechnet ist, daB man die Par-
allelen nicht deutlich wahrnimmt. Nur die strenge Hoino-
phonie existiert fur unser BewuBtsein insofern nicht, als
auch eine vollkommen einstimmig ausgefiihrte Melodic, wenn
sie innerhalb unserer Dur- und Molleitern liegt und den
sonstigen Charakter unserer Melodien tragt (deutliche Tonika,
gewohnte Rhythmik und Struktur), von uns unwillkiirlich
nach dem harmonischen Schema aufgefaBt wird. Immer
schwingen Dreiklange sozusagen mit. Anders freilich, wenn
man sich durch Gewohnung an exotische Weisen umtrainiert.
Ein solche Einf iigung anderer Formen in eine vorherrschende
Hauptform finden wir aber auch in exotischer Musik. So
sind in der heterophonen Musik der Siamesen, Javaner,
Chinesen haufig langere Quartenparallelen eingefugt. In China
kommt nach neueren uns zugekommenen Aufnahmen sogar
eine interessante Spielart der Heterophonie vor, bei der zwei
Stimmen ein Thema gleichzeitig in Varianten, aber im Ab-
stand einer Quarte vortragen, also eine durchgefuhrte Ver-
kniipfung von Prinzip 2 mit 4. (Ph.-A. Nr. 29.)
Alle bisher vorfindlichen Arten der Musikiibung in Hin-
sicht der Ein- und Mehrstimmigkeit diirften sich in die ange-
gebenen Formen auflosen lassen.
— 102 —
Zweiter Teil.
Ges^nge der Naturv51ker.
Die folgenden Beispiele sollen die Ausftihrungen
des Textes und der Anmerkungen wenigstens teil-
weise erlautern und belegen. Die meisten davon
sind den in Anm. 1 naher bezeichneten Quellen ent-
nommen. Ph.-A. Nr. . . bedeutet die Nummer der
dort erwahnten Publikationen aus dem Berliner
Phonogramm-Archiv.
Die Naturvolker haben meistens eine ungeheure
Passion fiir das Singen. Sie singen bei jeder Ge-
legenheit und stundenlang, wobei die namliche
Weise unbegrenzt, wenn auch nicht immer unver-
andert, wiederholt werden kann. Wo in unseren
Notationen Wiederholungszeichen fiir ein ganzes Lied
angegeben sind, bedeuten sie in der Regel eine
solche vielfache Wiederholung. Aber auch wo wir,
derOriginalschreibung eines Verfassers folgend, keine
solchen Zeichen hingesetzt haben, ist anzunehmen,
daB in Wirklichkeit solche Wiederholungen statt-
fanden.
Nennen wir die folgenden Melodieproben „pri-
mitiv", so muB man diese Bezeichnung, wie gegen-
tiber den meisten Produkten sogenannter primitiver
Kunst, die der Gegenwart angehoren, nicht zu
- 103 —
wortlich nehmen. Es sind eben GesSnge von schrift-
und literaturlosen Volkern. Wenn man sich aber
in die Struktur der Melodien vertieft und zugleich
uberlegt, was alles vorausgegangen sein muB, urn
die Entstehung solcher Gebilde moglich zu machen,
so wird man sie in den meisten Fallen als Produkte
eines schon ziemlich entwickelten Kunstsinnes an-
sehen mtissen. Die Grenzlinie zwischen einer von
theoretischem Nachdenken befruchteten und einer
urwuchsig reflexionslosen Kunst bleibt dabei immer-
hin bestehen. Die Begriffe „exotisch" und „primi-
tiv" diirfen heute nicht mehr zusammengeworfen
werden, wie es z. B. noch Ambros tat, als er die
chinesische, indische, arabische Musik unter dem
Kapitel „Anfange der Tonkunst" brachte; wie es
aber sogar in einem neueren groBen Werke uber
diesen Gegenstand geschieht, wo in den Melodie-
beispielen die alte chinesische Tempelhymne mitten
zwischen einem Gesange der Papua und einem der
Fidschi-Insulaner angefuhrt wird.
Allgemein gilt, da6 der Eindruck eines primi-
tiven Gesanges durch die Noten mehr oder weniger
ungeniigend wiedergegeben wird. Schon die Into-
nation unterliegt an vielen Stellen eigentumlichen
Abweichungen. Durch besondere Zeichen (s. u.)
suchen wir an bemerkenswerteren Stellen diese
Abweichungen und sonstige Eigentumlichkeiten der
Intonation anzudeuten. Aber auch die Art der
— 104 —
Stimmgebung und zahlreiche Vortragsgewohnheiten,
von denen unsere Verzierungen (Vorschlage u. dgl.) nur
ein abgeschwachtes Bild geben, sind fiir den Ge-
samteindruck oft ebenso wesentlich, als der Noten-
bestand. Unsere eigenen Gesange konnten in sp^-
teren Zeiten, wenn nicht phonographische Aufnahmen
da waren, nach den bloBen Noten nur in sehr un-
adaquater Weise wiedergegeben werden. Auch die
Vortragszeichen wUrden nicht hinreichen, namentlich
da man uber ihre Ausftihrung ebenso streiten wUrde,
wie man heute iiber die Ausftihrung der um zwei
Jahrhunderte zuriickliegenden Zeichen schon streitet.
Wenn wir gar den wirklichen Klang einer Plica
Oder eines Ochetus (Schluchzer) aus dem 13. Jahr-
hundert horten, wtirden wir uns wahrscheinlich
verwundern. Gerade der Gesang ist zu alien Zeiten
ganz durchsetzt von Vortragsmanieren, und gerade
die des Gesanges lassen sich am wenigsten genau
in Zeichen fixieren. Mit solchen jetzt veralteten
gesanglichen Vortragsformen scheinen nun die der
Naturvolker eine gewisse Ahnlichkeit zu haben.
Einiges daruber ist bei unseren Notenbeispielen in
den Erlauterungen sowie oben in Anm. 12 bemerkt.
Naheres in Bakers Indianergesangen, in meiner Arbeit
iiber die Bellakula-Indianer, in den Abhandlungen aus
dem Phonogramm-Archiv und in neueren Beschrei-
bungen von Forschungsreisenden (die alteren Berichte
kiimmerten sich wenig um solches Detail).
- 105 -
Schwierigkeiten macht aber auch vielfach der
Rhythmus und die Takteinteilung. In manchen Fallen
ist alles sofort klar, in anderen kommt man entweder
uberhaupt nicht zu einem Rhythmus, der sich in
unsere Taktformen fugt, oder man muB bestandig
mit dem Takte wechseln. Und doch ist es besser,
wo es geht, dieses Hilfsmittel anzuwenden: die Ak-
zentverteilung, die durch die Taktgliederung gegeben
ist, erleichtert die Ubersicht der ganzen Struktur
auBerordentlich.
Die Texte der Gesange sind fast tiberall weg-
gelassen, da sie doch nur wenigen Eingeweihten
verstandlich waren. Nur die Bestimmung eines
Liedes wird, wo Angaben daruber vorliegen, in den
Erlauterungen vermerkt.
Vielfach hat man die notierten Gesange um eine
Oktave tiefer zu denken, da von den Autoren der
Violinschllissel auch fur Mannergesange gewahlt
wurde, wie er ja auch bei uns fur den Tenor benutzt
wird.
+ tiber der Note bedeutet Erhohung, - Vertiefung
eines Tones, ^f f^ ein schleifendes Herabsteigen
aus nicht genau bestimmbarer Hohe zu dem betref-
fenden Ton, bzw. ein Herabsteigen von ihm aus,
f ^ I eine gleitende Verbindung zweier Tone, cz:^
ein legatissimo, J J J eine mehrmalige merkliche
Akzentuierung eines Tones, ohne da6 er doch neu
einsetzte (Pulsando, namentlich bei Indianern stehende
— 106 -
Vortragsgewohnheit, ubrigens auch im Mittelalter
als „reverberatio" und bis ins 18. Jahrhundert als
„vocalisazione aspirata" oder „balancement" ge-
brSuchlich), J das namliche, wenn die Dauer des
Tones den Wert einer Viertelnote nicht iiberschreitet,
V eine Atempause ohne Zahlwert. DieEinklammerung
eines Tons (J) bedeutet, da6 seine Hohe nicht genau
erkennbar ist. Die Vorzeichnung zweier Taktarten,
wie f f, soil heiBen, daB die beiden einander regel-
maBig, Takt urn Takt in dem ganzen Gesang ablosen.
Die meisten der folgenden Gesange sind nach
phonographischen Aufnahmen wiedergegeben, wobei
die groBte Zuverlassigkeit erzielt werden kann. In
einigen Fallen habe ich aber auch nach direktem
Horen niedergeschriebene eingefugt, die besonders
gut beglaubigt sind oder, wenn auch in Einzelheiten
Zweifel bleiben, durch gewisse Eigentiimlichkeiten,
die man fur richtig wiedergegeben halten darf, be-
sonderes Interesse bieten. Die aus dem Berliner Phono-
gramm-Archiv stammenden Notierungen wurden, so-
weit sie schon veroffentlicht sind, von den Herren
V. Hornbostel und Fischer unter meiner Mitbeteiligung
wiederholt genau nachgepriift, woraus sich kleine
Abweichungen von der fruheren Form erklaren. Man
kann ja vielfach den Takt, die Vorzeichnung, auch
einzelne Tone, die zwischen den unsrigen liegen,
verschieden schreiben; iiberdies ist durch die fort-
gesetzte Ubung den beiden Herren eine immer groBere
— 107 —
Sicherheit in der raschen Erfassung der Details zu-
gewachsen. Mehrere Gesange sind hier ausfuhr-
licher wiedergegeben als bei der ersten Veroffent-
lichung, andere zum ersten Male publiziert.
Wir beginnen die Reihe mit den primitivsten
Gesangen, die uns zuverlassig und genau bekannt
sind, denen der Wedda in Ceylon, ordnen aber die
folgenden nicht nach dem Prinzip fortschreitender
melodischer Entwicklung, sondern gehen, im allge-
meinen wenigstens, in geographischer Richtung von
da ostlich weiter nach der Siidsee zu, dann nach
Amerika, das wir von Suden nach Norden durch-
wandern, weiter zu den Eskimo, endlich nach West-
und Ostafrika. Innerhalb kleinerer geographischer
Gruppen wird man dabei immerhin ofters zugleich
einen Fortschritt in der Melodiebildung bemerken.
Aber es ist vorlaufig nicht mSglich und wird vielleicht
auch spater nicht moglich sein, aus den samtlichen
musikalischen Produkten der Menschheit eine ein-
deutig fortschreitende Reihe aufzustellen, weil der
Fortschritt von Anfang an in sehr verschiedenen
Richtungen erfolgt. Dagegen werden wir allmahlich
bei den geographisch benachbarten oder ethnologisch
zusammenhangenden Volkergruppen auch immer
mehr zusammenhangende oder verwandte musika-
lische Zustande finden und so ein groBes einheit-
liches Bild der musikalischen Leistungen gewinnen.
Die folgende Zusammenstellung erhebt nicht den
— 108 —
entferntesten Anspruch hierauf, sie will nur ganz
fragmentarische Proben liefern, an denen bestimmte
EigentUmlichkeiten besonders deutlich hervortreten.
Man kann aber nicht daran zweifeln, daB binnen
kurzer Zeit die musikalischen Merkmale ebenblirtig
neben die iibrigen treten werden, die uns den Zu-
sammenhang der Volker auf der Erde erkennen
lehren. Konnen doch in einzelnen Fallen schon
jetzt die darauf gegrUndeten Schlufifolgerungen das
Gewicht groBter Wahrscheinlichkeit beanspruchen,
namentlich wenn man mit dem Bau der Melodie zu-
gleich den der Instrumente und deren genaue Ab-
stimmung beriicksichtigt, wobei sich in Hinsicht der
absoluten Tonhohe, der Leitern u. s. f. Koinzidenzen
gezeigt haben, deren zufalliges Vorhandensein alien
Wahrscheinlichkeitsregeln widersprechen wlirde.
Die Voraussetzung fur solche Durchschlagskraft
ist aber sorgfaltiges Studium aller Einzelheiten, bei
den Melodien ebenso wie bei den Instrumenten.
Die unseren Beispielen beigefugten Bemerkungen
mogen weiteren Kreisen eine Vorstellung davon ge-
wahren, auf welche Punkte es dabei ankommt. Ohne-
hin verdienen ja alle Dokumente, die Licht auf die
Urgeschichte und die noch bestehenden tieferen
Kulturstufen unseres Geschlechtes werfen konnen,
genaueste Analyse. Untersuchen wir gewissenhaft
prahistorische T5pfe und Scherben und jede Kante
eines Eolithen, vergleichen und zergliedern wir
— 109 —
— und zwar mit Recht — die scheuBlichsten Fratzen,
die rohesten Zeiciinungsversuche, so mUssen wir
auch den musikalischen Produkten primitiver Volker
ein objektives und eindringendes Studium widmen,
statt sie, bis zur Unkenntlichkeit modernisiert und
mit Klavierbegleitung versehen, ais „U.S. A. National
Music" sUB singenden Saiondamen oder erfindungs-
armen Komponisten zu Uberliefern. Die scharfen
Worte, mit denen v. Hornbostel diese Unsitte ge-
geiBelt hat, sind leider nur zu zeitgemSB.
Metr. J
la.
208.
-t^^-^^:^! -'-J ^ -' ^-^
i
4_j_;j_j_^
m
^^^^
^=^s
-^^m
lb.
Metr. J = 208.
i
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r t ^ tr
ft=t
* * i
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ar^a^trQE
%
fcg=j_j:xr^
^^^^^
Metr. J = 210.
110
2 a.
Metr. J = 208.
2b.
iM^^^^^^
usw.
la und lb sind zwei Lieder der Wedda auf Cey-
lon nach phonographischen Aufnahmen der Frau Pro-
fessor Selenka (Ph.-A. Nr. 20). Drei bzw. zwei Tone
bilden das mit geringen Varianten immer wiederholte
Motiv. Das Intervall der beiden tieferenTone bei 1 ist
nach Dr. Wertheimers Messungen ein Ganzton, das
des mittleren zum hochsten ein Halbton, so da6 hier
der Melodieumfang eine kleine Terz betragt. Der
hochste Ton kommt hauptsachlich im Anfange vor,
in den SchluBformeln niemals. In dem zweiten
Liede sind aber die Abstande verkleinert. Die beiden
tieferen Tone stehen nur urn einen ^/^-Ton vonein-
ander ab, und ein dritter hoherer, der auch hier ge-
legentlich vorkommt, liegt nur V4"Ton Uber dem
zweiten, so da6 der ganze Umfang hier nur einen
Ganzton ausmacht. Vielleicht ist der dritte Ton
hier iiberhaupt nicht beabsichtigt, sondern nur durch
eine starkere Akzentuierung des zweiten entstanden.
Da die beiden Lieder von verschiedenen Sangern,
einem alten und einem jungen, gesungen wurden,
— Ill —
kann man die verschiedene StufengroBe vielleicht
als individuelle Eigentumlichkeit der Sanger betrach-
ten.
Die Metronomisierung ist hier nach den Angaben
von Frau Selenka, die sich der Gesange noch sehr
genau erinnert, beigefugt (sonst pflegt das S. 1 1 er-
wahnte Mittel dazu zu dienen). Das ZeitmaB wird
streng innegehalten. Die Taktstriche habe ich gegen-
iiber dem Original vermehrt. Man konnte den hau-
figen Taktwechsel reduzieren, wenn man -^ ^^s
Haupttaktart wahlte, aber die Periodisierung tritt in
unserer Schreibart deutlicher hervor. Die Einschie-
bung Oder Auslassung einzelner Taktteile, wodurch
aus geradzahligen ungeradzahlige Taktarten werden,
widerstrebt unserem Gefiihl, findet sich aber bei
Naturvolkern haufig. Sie mag mit dem Text oder
der Vortragsnuancierung zusammenhangen.
Wir wtirden vom musikalischen Standpunkte die
beiden Lieder als ziemlich identisch, als wenig
verschiedene Formen derselben Melodie betrach-
ten. Wahrscheinlich gelten sie den Wedda auch nur
als Abarten innerhalb eines Typus. Die Texte sind
verschieden (das erste ist nach einer Notiz bei Selig-
mann „The Vedda" ein Unterhaltungslied).
Dieser Art sind fast alle von Frau Selenka mit-
gebrachten Gesange. Auf einer (von Dr. Wertheimer
nicht wiedergegebenen) Walze findet sich allerdings
ein Duett, bei dem unverkennbar zwei nach einer
— 112 -
gewissen Regel, doch in schwer auflosbarer Weise,
gleichzeitig singen. Sie bewegen sich dabei aber
auch nur im Umfange einer kleinen Terz.
Diese Wedda-Gesange mogen ein Beispiel jener
Ur- Oder Vorstufe der Musik geben, die nur kleine
Tonschritte verwendet. Weder Konsonanz noch Ton-
verwandtschaft scheinen dabei eine Rolle zu spielen.
Dennoch haben sie schon eine gewisse Struktur,
bestimmte, regelmaBig wiederkehrende Wendungen
mit Varianten, endlich besondere, bestimmt gebaute
SchluBformeln. Der SchluBformel selbst geht immer
ein „Vorbau" voraus, dessen letzter Ton regelmaBig
der tiefste ist, wahrend der SchluB selbst oft in dem
mittleren Ton erfolgt; z. B.
Vorbau SchluB
IKJ ^ ^-^ s
2a und b sind gleichfalls Wedda-Gesange aus
dem Werke „The Vedda^' von C G. und B. Z. Selig-
mann (1911), worin der Psychologe Ch. S. Myers
(Cambridge) zalilreiche phonographisch aufgenom-
mene Lieder wiedergibt und analysiert. Er teilt sie
in drei Gruppen, je nachdem sie nur 2 verschiedene
Tone Oder 3 oder 4 — 5 verwenden. Aber bei den
letzteren vermutet er schon fremde Einflusse. Die
der beiden ersten Gruppen sind den Wertheimer-
schen recht ahnlicii, wie dies ja bei dem geringen
Tonvorrat, den kleinen Stufen und der einfachen
— 113 —
Rhythmik kaum anders sein kann. Die beiden hier
ausgewahlten (aus Gruppe B und C), die dem pri-
mitivsten Wedda-Stamme, den Sitala Wanniya,
angehoren, sind interessant durch die regelmaBig
wiederkehrende Taktfolge '^U, ^U, die sich ebenso
auch bei einem anderen Liede desselben Stammes
(einem Schlafliede) findet. Die Akzentverteilung bei
2a hinder! uns, etwa einfach ^4 vorzuschreiben.
Die beiden Lieder sind wieder, wie bereits Myers
bemerkt hat, offenbar nur Varietaten eines Melodie-
typus (oder melodisch uberhaupt identisch)'. Bei
dem zweiten Liede wurden die beiden oberen Tone
regelmaBig etwas vertieft intoniert, so da6 alles naher
aneinanderruckt, ahnlich wie im zweiten der Wert-
heimerschen Gesange.
Obrigens sind nicht alle Myersschen Gesange in
Taktform geschrieben, viele fUgten sich einer solchen
nicht. Das gleiche ZeitmaB der Wertheimerschen
und der Myersschen Lieder scheint Zufall, es finden
sich auch viele andere Metronomzahlen.
Die Wedda, wenigstens die ursprtinglichen und
von Nachbarstammen unbeeinfluBten, denen diese
Gesange angehoren, haben keine Instrumente, nicht
einmal Schlaginstrumente.
* Beim ersten ist in Myers Notierung nur aus Versehen
ein drittes Kreuz, fiir ais, vorgezeichnet; nach den tonometri-
schen Angaben S. 353 ist das Intervall der beiden hoheren
Tone sogar noch etwas kleiner als ein Halbton.
S turn p f, Anfange der Musik o
— 114
3.
Metr. J = 132.
Solo.
^^^^iSS^^
^
rit.
Weiber.
i
i
Chor.
Manner.
rit.
m
i^i
Fauken.
r r
IT ,1)
I r r
jEJ=g^^-fJ^^j?rr3i-^J7hR^f^^
r l; r rlr 1/ r rlr lt r rlr c/
Wir lassen zwei Beispiele von den Ureinwohnern
der Andamanen-Inseln folgen. Sie sind zwar nicht
phonographisch aufgenommen, dtirften aberausauBe-
ren und inneren Grunden im wesentlichen richtig
no.tiert sein. Besonders gilt dies vom ersten, das
nebst acht weiteren ganz ahnlichen Proben von
M. V. Portman bei sudlichen Stammen der Insel-
gruppe aufgeschrieben wurde. (Andamanese Music,
Journ. of the R. Asiatic Society, Vol. XX, Part 11,
p. 181 ff.) Die genauen Detailbeschreibungen anda-
manesischer Musik, die Portman gibt, erwecken Ver-
trauen. Die Intervalle betreffend bemerkt Portman
- 115 —
(der statt f immer eis schreibt), daB die als Halb-
tonschritte notierten Stufen eigentlich als Vierteltone
gesungen wurden, daB sie aber wahrscheinlich doch
als Halbtonstufen gemeint seien. Sie werden wohl,
wie bei den Wedda, unseren Stufen nicht genau ent-
sprechen, da unsere chromatische Leiter ein spates
Entwickelungsprodukt ist, hier aber nur eben kleine,
durch die Stimme noch unterscheidbare Stufen ge-
sungen werden, die naturlicherweise nicht immer
ganz gleich ausfallen. Es wMre inkorrekt, aus
solchen Notierungen und Berichten den Gebrauch
von Vierteltonen im theoretischen Sinne des Wortes
zu erschlieBen. Uberdies gibt Portman dem GehOr
der Andamanesen ein schlechtes Zeugnis. Einen
angegebenen Ton konnten die besten Sanger nur
nahezu treffen, die meisten blieben urn einen Halb-
ton darunter oder darUber. Urn so weniger darf man
ihnen eine Leistung zuschreiben, die hohe Aus-
bildung der Stimme und des Gehors verlangen
wurde. Der systematische Gebrauch von Viertel-
tonen und noch kleineren Unterschieden, v^ie er
z. B. von den Griechen berichtet wird, ist ein Pro-
dukt raffinierter Kultur.
[Einige vielfach zitierte Beispiele angeblicher
Viertelton-Musik seien hier nebenbei beleuchtet. Es
sind aus Neuseeland in dem Werke des Gouver-
neurs Grey (vgl. unsere Anm. 12) vier Melodien
iiberliefert, die Davies, der eine gelehrte Einleitung
8*
- 116 —
liber das enharmonische System der Griechen vor-
ausschickt, unter Zuhilfenahme eines Monochords
aufgeschrieben hat, und die sich nicht bloB in Viertel-
tOnen, sondern sogar in enharmonischen Intervallen
bewegen. Ein Lied z. B., das sich in den bisherigen
Beispielsammlungen ohne eine kritische Bemerkung
aufgenommen findet, besteht fast nur aus den Noten d,
eses, e, eis, f. Die Eingeborenen sollen also d und
eses, eis und f unterscheiden. Das mag ein anderer
glauben!
Auch die in dem alten Reisewerke von Langs-
do rff notierte und sehr haufig angeftihrte, ohneFrage-
zeichen Ubernommene Melodie der Nukahiwa (auf
den Washington-Inseln im Stillen Ozean) soil in
Vierteltonschritten gesungen worden sein. Sie geht
fortwahrend von e nach g und wieder zuruck. In
der Notierung sind als Zwischenstufen nur f und fis
angegeben, in den Bemerkungen dazu (von Tilesius)
ist aber erwahnt, daB es sich um Vierteltonschritte
handele. Es war wohl auch nur ein Hinauf- und
Herunterziehen des Tones, ein „brummendes Ziehen"
der Stimme, wie es auch in dem Berichte genannt
wird. Obrigens ist die Notierung mangelhaft. Aus
den Erlauterungen geht z. B. hervor, daB irrtumlicher-
weise der Violin- statt des BaBschlussels vorgezeich-
net ist, was bereits Fetis richtiggestellt hat.]
Samtliche Gesange Portmans bestehen aus Solo
und nachfolgendem Chor, und alle bewegen sich in
— 117 —
diesen kleinen Stufen aus drei Tonen; nur die ab-
solute Tonhohe ist verschieden angegeben. Der
SchluBton ist aber nicht uberall der mittlere, sondern
audi manchmal der hochste oder tiefste von den
dreien. Das Solo wurde in freierem Tempo ge-
sungen, die Chore streng im ZeitmaB.
Sehr bemerkenswert sind die Oktaven- und
Quintenparallelen des Chors, die sich ebenso bei
jedem Liede wiederholen. Bezuglich der Quinten
bemerkt Portman auch wieder, daB er sie zwar fUr
durchweg intendiert halte, daB sie aber gelegentlich
als kleine Sexten intoniert wurden; wie aberhaupt
noch andere Intervalle als die notierten zum Vor-
schein gekommen seien, die er jedoch nur als Her-
ausfallen aus dem angestrebten Unisono der einzel-
nen Stimmen auffasse. Alles dieses zeigt den guten
Beobachter.
An Instrumenten besitzen die Andamanesen nur
Pauken, die bei den Chorgesangen in Tatigkeit treten,
wie das Beispiel zeigt.
Nr. 4 findet sich in dem Werke von E. H. Man,
On the Aboriginal Inhabitants of the Andaman Is-
lands, 1883, S. 172. Es ist von Dr. Brandes notiert.
Die Erlauterungen sind durftig. Die untere Stimme,
die dort als die Note d erscheint, ist sicherlich nicht
als Gesangsstimme, sondern als Paukenrhythmus zu
verstehen. Der geringe Tonumfang des Gesanges
und die monotone Wiederholung (das StUck geht
— 118 —
jedenfalls noch beliebig lange so weiter, der Verfasser
erzahlt von stundenlangen nachtlichen GesSngen)
entspricht so sehr den vorher angefuhrten zuver-
lassigen Beispielen, da6 wir auch dieses im wesent-
lichen als authentisch betrachten durfen. Es scheinen
bei den Ureinwohnern der Andamanen, wie bei den
ursprunglichsten Stammen der Wedda, Melodien
mit groBerem Tonumfange nicht vorzukommen. Urn
so wichtiger ist der Gebrauch der Oktave und
Quinte bei den Chorgesangen.
j;=#^:ty-:|:::jLj» ji nrrtx^m
JRezit. auf tr tlT
Rezit.
^z^ii=f.ziczm=r P cr J^^
usw.
Metr. j = 100, allmahlich schneller
[§ J J j:
usw.
— 119
7.
"""--s
p^=g^r^g=f^m^^"gT-1^i^^
Mann
f^ r'rlr^n 'J r^=r^^
-usw.
GesSnge des Waldvolkes der Kubu auf Sumatra,
nach phonographischen Aufnahmen des Museums-
direktors Hagen in Frankfurt a. M. (Ph.- A. Nr. 16).
Hier begegnen wir einem ganzlich anderen Typus.
Es dominieren die groBen konsonanten Intervalle
Oktave, Quinte, Quarte, die auch ziemlich rein ge-
troffen werden, obgleich die Kubu auf einer sehr
tiefen Kulturstufe stehen und ihre Gesange sich
sonst nicht in unsere Formen, namentlich nicht in
eine Takteinteilung fUgen. Wo eine Trommelbeglei-
tung vorhanden ist, scheint sie im wesentlichen sieben-
teilig, aber auBer Zusammenhang mit den rhythmisch
betonten Stellen des Gesanges. Nur an zwei Ge-
sangen glaubt v. Hornbostel, der aile untersucht und
in Noten gebracht hat, auch eine etwas festere und
zwar siebenteilige Rhythmik zu erkennen, die aller-
dings an verschiedenen Stellen durch Einschaltung
von Pausen, durch Verkurzungen oder Verlangerun-
gen des Tonbestandes unterbrochen wird.
Nr. 5, als „Minnelied eines Junglings" bezeichnet,
aber von einem aiteren Mann gesungen, beginnt mit
— 120 —
einem Triller oder Tremolo auf der Oktave des
Grundtons (wenn wir a^ als Grundton betrachten),
senkt sich dann durch eine erhohte groBe Terz (cis^),
die moglicherweise als Quarte des Grundtones zu
verstehen ist, auf diesen herab und verweilt lange
darauf, mit Ausweichungen um einen Ganzton nach
unten. Dann folgt ein Rezitieren auf den beiden
letzten Tonen, das aber v. Hornbostel keineswegs
als einen Sprachgesang im eigentlichen Sinne be-
zeichnet wissen will, da das tonale Element stets
scharf ausgepragt bleibt. Darauf setzt die Stimme
wieder starker auf der frei angeschlagenen Quinte
ein, steigt unvermittelt zur langgehaltenen Oktave
und sinkt wieder in ahnlicher Weise herab. So
folgen noch verschiedene Wiederholungen mit genau
gleicher Intonation.
Nr. 6, eine Zauberformel zur Krankheitsheilung,
vom Zauberdoktor gesungen, zeigt dieselbe Ton-
bewegung, durchlauft aber alle Tone einer fiinf-
stufigen Leiter (bei der Wiederholung ist noch ein f als
Durchgangston eingeschaltet). Zwischen den hier
mitgeteilten Stellen bewegt sich die Stimme langere
Zeit nur auf d, e, g, ahnlich wie im ersten Stack (g,
a), aber mit ausgesprochenem ZeitmaB.
Von ahnlicher Art sind die meisten ubrigen Kubu-
gesange. Fast alle setzen auf einer hohen, sehr
lange gehaltenen Note, meistens der Oktave des
Haupttones mit groBerTonstarke ein. Der Klangfarbe
— 121 —
nach ist es oft mehr ein Schreien als Singen, aber
den Intervallen nach Musik im eigentlichsten Sinne
des Wortes. Oberall treten die konsonanten Intervalle
als Ruhepunkte stark hervor, gelegentlich auch die
kieine Septime des Grundtons. Die Sekunden-
schritte, meist groBe, zuweilen auch kieine, mogen
dabei immerhin nur durch bloBe Distanzabmessungen
getroffen werden. Aber bei den unvermittelt ein-
setzenden und gut getroffenen Quarten, Quinten,
Oktaven ist dies unmoglich anzunehmen. Ofters wird
ein Ton auch durch ein rasches, stetiges Glissando
von oben oder unten erreicht, ohne da6 die Sicher-
heit der Intonation darunter litte.
Die ganze Tonbewegung erinnert offenbar stark
an die der tirolischen Juchzer und erscheint als ein
guter Beleg fUr die vorgetragene Hypothese vom
Ursprung der Musik aus Signalrufen. Einer der
Gesange wird auch direkt als „Zuruf der Kubu im
Walde" bezeichnet. Er geht vom Anfangston direkt
um eine voile Duodezime herab und besteht wesent-
lich nur aus diesen beiden Tonen.
Nr. 7 ist ein Duett, vom Zauberdoktor und einer
Frau gesungen. Diese halt die hohere Oktave des
Grundtons, zu der sie von einer unbestimmt intonier-
ten Quinte stetig herabsteigt, lang aus, wahrend der
Mann auf dem Grundton und dessen Unterquarte
rezitiert. So geht es auch weiter. Interessant als
primitivste Art einer Orgelpunktmehrstimmigkeit.
— 122 —
Die Kubu besitzen Blasinstrumente, mehrere Arten
von Floten, die allerdings von den benachbarten Ja-
vanern iibernommen scheinen. Diese Instrumente
haben zur Einburgerung und Festigung der Intervalle
im BewuBtsein der Sanger gewiB beigetragen, werden
aber bei obigen Gesangen nicht gebraucht.
Metr. J = 120
dim.
^w^^^^^^mM^^^^m
m^^^aE^^^jryj .^-i^
(alias)
r
An der Westkiiste von Australien (Beagle-Bay)
von Missionaren phonographisch aufgenommen; bis-
her unveroffentlicht. Das Lied v^ird immerfort v^ieder-
holt, dabei aber statt des letzten c haufig das An-
fangs-e vorweggenommen, so da6 dieses funfmal
auftritt. Es wird in genauem ZeitmaB gesungen und
schreibt sich am einfachsten v^ie hier, in zwei Ab-
teilungen zu je 12 Vierteln gegliedert, die erste in
vier 3/4-Takten, die zweite in drei V4-Takten; doch
wtirden nach der Akzentuierung die ersten 12 Viertel
sich noch besser in die Taktfolge ^4* ^4* '^U fugen.
Der Gesang M^ird durch Trommelschlage auf jedem
Viertel und durch Ratteln begleitet.
Das Beginnen auf hohen starken Tonen und die
Senkung auf tiefe schwache scheint fiir australische
123 —
Gesange ganz typisch zu sein. Zahlreiche Bericht-
erstatter aus alter und neuer Zeit von Collins bis
Beckler tun dieses Zuges Erwahnung. Auch von
den Karesau-Papua in Deutsch-Neuguinea berichtet
Prof. P. Schmidt, da6 der Melodiengang zumeist
absteigend sei; der SchluB erfolge dort stets auf
der unteren Tonika oder mit einem Sprung von da
zu ihrer hoheren Oktave. (3. KongreBbericht der
Internationalen Musikgesellschaft 1909, S. 297.)
9.
Metr. J = 80.
JTU-J-J-Je;^^^
Metr. . = 120.
10.
^.J^rm^^^d^^^zn^j.
i
^
7?^=1^
r^
Diese Gesange hat Ch. S. Myers auf den Murray-
Inseln in der Torres-StraBe phonographisch auf-
genommen und seine darnach gemachten Abschriften
und Messungen mir freundlichst uberlassen. Auf
den Triolen des ersten Liedes v/ird immerfort das
Wort „semarer" wiederholt.
- 124 —
Das merkwurdigste an beiden Liedern ist, da6
sie auf das Bestreben hinzuweisen scheinen, die
Oktave in sechs gleiche Teile zu zerlegen, ahn-
lich wie dies durch unseren temperierten Ganzton
geschehen kann. Nach den von Myers beigegebenen
tonometrischen Bestimmungen entsprechen die Inter-
valle, wenigstens bei dem ersten Gesang, ziemlich
gut einer solchen Voraussetzung. Bei dem zweiten
wird der Ganzton mit dem Absteigen immer kleiner,
so daB der letzte der drei Schritte nur einen guten
3/4-Ton betragt. In einem dritten, hier nicht mit-
geteilten Liede, dessen Struktur dem des ersten
gleicht (stufenweise absteigend mit einem aufstei-
genden Oktavenschritt in der Mitte) werden ein-
zelne Stufen doch erheblich groBer als unser Ganz-
ton genommen. Es ist daher zunachst, bis wir
weitere Anhaltspunkte haben, noch nicht als sicher
zu betrachten, daB wirklich eine gleichstufige Sechs-
tonleiter intendiert ist.
Bemerkenswert ist jedenfalls wieder die iiberall
festgehaltene Tonbewegung nach unten, ebenso aber
das Vorkommen des Oktavenschrittes, der auch, wie
es scheint, gut getroffen wird.
11.
Metr. J- = 100.
m^^=i4=^^±^^^^^^=^
125 —
jlj" J J^^E^^^^^^^^^E^
^' zi. zn
i
JJ ^ I J Jt^^Egg^^pEg
t==*
^
y^ J-i^^i^^fnrTT^lT=j=j
iFn^3r--°^-^:^rj=rQ=^p^3
ritard.
|_ju_^iTjS^4^EgfrrT^^pfegg
12.
Metr. J = 192.
F
f--^-^ r r r c/^^^^'r r r r ^
i^ i i i i j^" i i-^-^-^^^r^
i
HI J-f|i-i!=tf; ^ Q
-J— i — I
* 5t ^•
B
^ J'f r r Lfc^-j. J ^ r^^^f^r^
i
j^^r r ^- ^ n^&^r-if-^.i=^£E^
— 126
i
P^
W^^^i i ^ ^
usw.
Zwei Proben aus dem sudlichen Telle von Neu-
Mecklenburg (Ph.-A. Nr. 12). Nr. 11 ist ein „Regen-
zauber" aus Lamassa, von elnem Hauptling gesungen.
Die Rhythmisierung bot, so elnfach sle jetzt aussleht,
V. Hornbostel enorme Schwlerlgkelten und machte
die Notierung zu einer wahren Geduldsprobe. Das
gewahlte Taktschema schelnt, obgleich es den melo-
dischen und dynamlschen Akzenten zuwellen nlcht
entspricht, dem Eindruck noch am ehesten gerecht
zu werden. Der erste Ton v^ird, wle bel anderen
Liedern aus der glelchen Gegend, mlt elnem Ab-
wrarts-Gllssando elngeleltet, das so geschlckt In den
ersten Ton iibergefuhrt wlrd, da6 es schwer fallt,
dlesen als den Anfangston zu erkennen. Den SchluB
bildet elne Art Llppentrlller, aus elner auf- und ab-
wartsgleltenden Tonbewegung mit gleichzeitlgem br
bestehend; v. Hornbostel vermutet darin elne sym-
bolislerende Nachahmung des Donners.
Nr. 12 wird zum Sonnentanzfest in King von
vielen Sangern gleichzeitlg gesungen und von Tanz-
Evolutlonen begleitet; In den Phonographen sang
— 127 —
aber nur einer. Die Periodisierung ist klar: jede
Strophe hat einen hohen und einen tiefen Teil, der
immer mit einem langeren Verweilen auf dem tief-
sten Ton endet. Die Melodiebewegung bleibt sich
im allgemeinen bei den Wiederholungen gleich, aber
jede Strophe (es sind noch mehrere in v. Horn-
bostels Abhandlung veroffentlicht) bringt Varianten.
Das ZeitmaB wird trefflich innegehalten; aber Takt
in unserem Sinne ist nicht hineinzubringen, wenn
auch zeitweise ein ^/^-Takt hervorzutreten scheint.
Sehr merkwurdig ist hier, wie auch bei anderen
Neu-Mecklenburgischen Gesangen, der bestandige
Wechsel zwischen Falsett- und Bruststimme (durch
F und B bezeichnet) beim hohen und tiefen Teil,
wobei das Falsett sehr weich und angenehm klingt
und der Ubergang der Register ineinander geschickt
ausgefuhrt wird. Auch das freie Einsetzen der Duo-
dezime bei den Wiederholungen ist sehr bemerkens-
wert.
Die Intonation der Intervalle, die v. Hornbostel
hier genau gemessen hat, wird durch die Noten teil-
weise nur annahernd wiedergegeben. Bei Nr. 11,
welches nur aus den Tonen a — d^ — e^ — g^ be-
steht, ist die Quarte a — d^ stark vergroBert. Die
Quarte d^ — g^ rein, e^ liegt fast genau in der
Mitte zwischen d^ und gK Man hat also a immer
erheblich tiefer, e^ erheblich hoher zu nehmen, als
es nach unserer Intonation der Fall ware. Bei 12
— 128 —
ist die Terz e^ von c^ aus gerechnet auch etwas er-
hoht. Sehr rein sind die Oktaven c^ — c^, d^ — d^,
e^ — e^. a ist gegen a^ ein wenig, aber auch nur
unbedeutend, zu tief. Die Intonation der Oktaven
ist uberhaupt bei Naturvolkern durchschnittlich von
auffallender Reinheit.
In Neu-Mecklenburg finden sich wohlausgebildete
Panpfeifen, auf denen Melodien geblasen v^erden,
also eine selbstandige Instrumentalmusik. Diese
Pfeifen weisen nach v. Hornbostels Untersuchungen
deutlich auf eine friihere Verbindung mit Java hin.
Aber die Gesange scheinen mit den auf den Pfeifen
vorgetragenen Tonweisen nicht enger zusammen-
zuhangen.
13.
. Metr. J = 144.
-^4 J- -^ =4
^=^^
t
^^i-
n
r^Tf ' ' ^T
i
F^^
r=f-j
r
Diese fur unsere Ohren recht anmutende Weise,
als „Totenklage einer Mutter" bezeichnet, hat nebst
vielen anderen Dr. Thurnwald aus Melanesien fUr
— 129 -
unsere Sammlung mitgebracht. Sie stammt aus der
kleinen Insel Nissan zwischen Neu-Mecklenburg und
den Salomon-Inseln. v. Hornbostel hat sie nach
dem Phonogramm genau notiert und mir als Probe
der ganz eigentumlichen dort geubten Jodel-Gesange
aberlassen. Diese Kunst, die uns schon in Neu-
Mecklenburg begegnete und nicht minder afrikani-
schen Stammen wohlbekannt ist, findet sich hier in
hohem Grade ausgebildet. Die Falsett-Tone sind
in den Noten mit dem Hals nach oben geschrieben,
die Brusttone nach unten. Die Melodie wird immer-
fort wiederholt, aber immer mit Varianten, wobei
man sich auch an die Takteinteilung nicht ganz
strenge bindet. Unter welchen Bedingungen eine
solche melodisch und technisch vorgeschrittene
Sangeskunst in Melanesien entstanden ist, dariiber
werden nahere Untersuchungen hoffentlich bald Licht
verbreiten. Sie scheint in Verbindung zu stehen mit
einer vielfach durchgefuhrten Mehrstimmigkeit, die
uns in Erstannen setzt, wovon aber hier noch keine
Proben mitgeteilt werden konnen.
Bemerkenswert ist die ungenierte Erweiterung
des V^-Taktes durch Einschiebung eines Viertels.
Aber auch an einem Melodieton der sonst so ein-
ganglichen Weise macht sich das Exotische geltend:
an dem e^ des vierten Taktes. Die fortgesetzten
Quartenschritte d^ — a^ — e^ — a^ — d^ bertihren
uns unmelodisch und hart. Solche Melodiefuhrung
Stumpf, Anfiinge der Musik 9
— 130 —
wird aber notwendig, wenn die Terz des Grund-
tones aus irgendeinem Grunde vermieden wird: sei
es, da6 die in dieser Gegend gebrauchliche Leiter,
d. h. das Tonmaterial, aus dem alle Melodien ge-
bildet werden, diesen Ton iiberhaupt nicht enthait,
Oder daB er bei einzelnen Melodien eines bestimm-
ten Ausdrucks halber ausgeschaltet wird. Die Leiter,
soweit sie dieser Melodie entnommen werden kann,
ware: d— e — g — a — h — d^ eine funfstufige
ohne Terz, wie sie auch vielfach bei den Indianern
vorkommt. Darum wurden der Dreiklang und der
Dominant-Septimenakkord, die wir unwillkurlich zu
dieser Melodie hinzudenken, unzulassige Zutaten
sein, und damit ruckt uns die Melodie selbst wieder
erheblich ferner.
14.
Metr. J= 116.
M ^^ jr^=^^^^^=r^=^^
i^^^y^^=h^^S^^^^^j^i±rM]
Metr. J = 152.
I.
15.
l^=^^^y^l^^^3=JLiJXJ;
fe#=J=J^^?F^^^=3?ih^^=B^
#^iN^^=^=^;^gEE^
— 131
rW^nJ'nii^n^Lujjy^^
^^
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^
3/8
i
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^f^-Tj j;.R^^3
i^at
^
III u. IV. V.
M=^-=^
^^^E5
^7 1^
^i-^.4r^j>^^^=^^i.:J^
^
^^=j— ^h-j^£g
usw.
16.
Metr. J. = 100
(a)
-i-:^h^i-J-±3^
(c)
i
(ao)
(b)
:r^:^aa^=[>^^^^j J, ^JT^
(c)
(b)
i^z^j=Ea^j1 J, J j^^
i
(ao)
¥^
5=1i^=^
-^^—i—it
#=i=J=*
usw.
9*
Metr. J- = 100.
I.
132
17.
S
r=g-rTmrf^^tFf^r=tr^
tS
F^RT*'' ^ l1l-^^gl?E;[^^^
^^JF^i^^r^J' oHi'WlJ
II.
^glr g r J'T^=J^-^r^=^
^|-^z£J77r;n^?^=^i:3=te^^
S
III.
i
«=^
--MF=f'
^^^^^1
:^:
^ ^
9^^^!=^^^^
p^^^spiE^^^
^' li J J) 1 1 AJ=a=?^:?=^l^^
IV.
^S-l=g=^gii;M ''^ g-^^^
USff.
Mit diesen Beispielen wenden wir uns nach
Amerika zu den Indianern, und zunachst zu den siid-
amerikanischen. Die primitivsten Weisen, die hier
vorkommen, dtirften die der Feuerlander sein, von
— 133 —
denen uns Hr. W. Furlong kurzlich Proben sandte.
Sie haben eine gewisse Ahnlichkeit mit den Wedda-
Gesangen. Aber ich kann davon nichts mitteilen,
da sie noch nicht naher untersucht sind.
Die obigen Melodien sind Gesange derTehueltsche
in Patagonien, von Prof. Lehmann-Nitsche phono-
graphiert. Dr. Fischer hat 51 davon in Noten tiber-
setzt (Ph.- A. Nr. 15). Sie stehen im allgemeinen
auf einer niedrigen Stufe, setzen sich aus kleinen
Motivchen zusammen, innerhaib deren sich die
Stimme fast nur in Ganz- oder Halbtonstufen be-
wegt und die endlos wiederholt werden. Im ganzen
kommt dabei meistens ein Tonumfang von einer
Quarte oder Quinte, selten ein groBerer heraus.
Dennoch bieten auch diese Lieder dem, der sich
darein vertieft, bemerkenswerte, ja anziehende Seiten,
namentlich in Hinsicht ihrer Struktur*.
* In Fischers Abhandlung sind unsere vier Lieder Nr. 31,
21, 8 (S. 946) und 46. Die Notenbilder, die auf Grund der
oben erwahnten Revision von uns als zutreffendste befunden
wurden, weichen etwas von den dort gegebenen ab. Aber
die Abweichungen betreffen entweder AuBerlichkeiten der
Schreibung (z, B. urn die Halfte verkiirzte Notenwerte bei
Nr. 16) Oder andere Setzung der Taktstriche oder langere
Fortfuhrung der Melodien. Nur bei Nr. 14 weicht auch die
Rhythmisierung etwas von der Fischerschen ab, wahrschein-
lich weil wir nicht den Anfang, sondern spatere Wieder-
holungen der immer wiederkehrenden Weise, die besonders
klar hervortraten, als typische zugrunde legten. Gerade fiir
diese auBerst simple Weise war das treffendste Notenbild
schwer zu finden wegen der kleinen Intervalle und des viel-
fachen Uberschleifens der Tone.
■r- 134 —
Nr. 14 gleicht ziemlich den Wedda-Gesangen:
Umfang nur eine kleine Terz, Melodiefuhrung ganz
einformig.
Nr. 15 ist schon ein wenig reicher, als ware die
Weise aus der ersten durch Erweiterung des Motivs
herausgebildet. Teil II ist eine abgekiirzte Wieder-
holung von I, wobei aber zweimal in den sonst
regelmaBigen 3/2-Takt eine durch punktierte Klammern
abgegrenzte Enklave von 3 Achteln eingeschoben
wird, die wie ein Echo gemeint scheint, ahnlich den
beliebten Echos in der Musik des 18. Jahrhunderts.
Dann folgen einige weitere Wiederholungen, von
denen die funfte noch angefugt ist, weil hier sogar
eine Enklave von 9 Achteln in die sonst unverandert
wiederholte Melodic eingeschoben ist. Diese Ein-
schiebungen, die bei II noch dazu zwischen den
zwei Achteln eines Viertels stehen, dunken uns ganz
irrationell, sind aber sicher nicht willkiirlich, sondern
folgen gewissen Regeln. Man konnte auch sagen,
der gewohnliche ^^l^-Takt sei in II beide Male zum
i^/g-, in V zum 21/g-Takt erweitert, welche alle sich
durch 3 teilen lassen. Und man konnte, wenn
es nicht zu gewagt ware, auch hier auf Parallelen
aus der FrUhzeit unserer Musik verweisen: auf die
mannigfaltigen Unterarten der divisio novenaria
und duodenaria bei den Mensuralisten des 14. Jahr-
hunderts (Joh. Wolf, Geschichte der Mensural-
Notation von 1250—1460, I, 28 ff., 274 ff.). Auch
— 135 —
Alterationen der Pausen kamen damals vor, wie sie
heute nicht mehr gebrauchlich sind, wie sie uns
aber bei Indianern noch begegnen werden.
Nr. 16 ist das uns verstandlichste der Lieder.
Es setzt sich aus 3 Motiven zusammen, die immer-
fort in verschiedener Ordnung einander ablosen.
Das Motiv a erscheint bald mit dem ersten Viertel,
bald ohne dieses (ao). Gelegentlich wird eine Pause
von drei Achteln eingeschaltet, wodurch der ^/g- in
12/g-Takt ubergeht, wie im letzten Takt unserer No-
tierung. An spateren analogen Stellen wird diese
Pause ausgefullt, indem statt ao die Form a einsetzt,
wodurch dann ebenfalls 12 Achtel herauskommen
Nr. 17 haben wir hier in groBerer Ausdehnung
wiedergegeben, weil es eine besonders lehrreiche
Struktur aufweist. Man bemerkt sofort die haufig
eingeschalteten Vs-^akte. Der Abschnitt II ist in
dieser Hinsicht wie in der ganzen Rhythmisierung
die genaue Wiederholung von I. Der Abschnitt III
ist wieder durch dieEinfugungzweier, mitpunktierten
Klammern zusammengefaBten Takte, die als Wieder-
holung der beiden vorausgehenden erscheinen, so-
wie durch die drei letzten Takte, die sich ebenfalls
als eine wiederholende Bekraftigung des Schlusses
darstellen, erweitert; sonst ganz identisch gebaut.
Bei IV sind gleich anfangs, an der durch den Stern
bezeichneten Stelle, die zwei ersten Takte von I aus-
gelassen, dann geht es analog wie dort weiter. So
— 136 —
folgen noch viele Varianten der gleichen Grund-
form.
Nicht minder merkwurdig ist bei diesem Stucke
die Tonbewegnng, die erst nach vielfaltigem Studium
festgestellt werden konnte. Physikalisch gemessen
sind die Tonschritte noch nicht, aber es ist kein
Zweifel, da6 die obige Notierung im ganzen die
wirkHchen Verschiebungen der Tonhohe trifft, und
da6 der Sanger am Schlusse des Abschnittes III
wieder richtig auf dem Tone d, der tieferen Oktave
des Ausgangstones, ankommt. Er bewirkt dies ein-
fach durch Ganzton-, Quinten- und Quartenschritte
von einer Phrase zur anderen; ges — h ist ja fur den
Natursanger sein gewohnter Quartenschritt.
Wer sich die Muhe nimmt, auch nur einen ein-
zigen derartigen Gesang eines sehr niedrigstehenden
Indianerstammes naher zu analysieren, der wird die
verbreitete Meinung, als handle es sich bei den
Naturvolkern mehr um ein formloses Heulen als um
kunstlerisch geformte Produkte, oder auch nur die
Ansicht K. Buchers, als schatzten sie an der Musik
nur den Rhythmus, hatten aber „keine Empfindung
fur die verschiedenen Tonhohen", als seien ihre
Gesange „monoton, fast melodienlos", sicher nicht
mehr teilen konnen.
Hervorragend genau darf man sich naturlich die
Intonation der Patagonier nicht gerade denken. Die
Terzen werden z. B. nach Fischers Beobachtungen
137
in ein und demselben StUcke bald groB, bald klein,
bald neutral genommen. Dagegen werden allerdings
das Tempo und der Rhythmus recht gleichmaBig
innegehalten, was damit zusamnienhangen wird, daB
die meisten Lieder Tanzlieder sind.
Die Patagonier haben als Instrumente auBer der
Trommel einen Musikbogen, auf dem auch Stucke
von ahnlicher Einformigkeit wie Nr. 14 mit auBerst
schwacher Tongebung vorgetragen werden.
18.
Metr. J = 152.
^
Se
^
V '«/■
dim.
3
^-^^.^^^
fct
3F^3^*^^^
=(*)"
^^^^^^^^^^^^=^^
mf
S^^^^^^^p
w-r^r-w
^
9i
:^=#^N^^^
■7-f-*-
^^
— 138 —
^^^^m^^^^^m-
(= ^V4)
^ T~^^^ry^~^-'^~] "sw. (Repetition.)
Gesang eines Toba-Indianers aus Bolivien, von
Prof. Lehmann-Nitzsche in St. Pedro phonographisch
aufgenommen, durch v. Hornbostel und Fischer auf-
gezeichnet, bisher unveroffentlicht. Uber den Inhalt
des pathetisch vorgetragenen Liedes ist nichts mit-
geteilt. Es ist wieder ein Beispiel der typischen
Abwartsbewegung mit decrescendo. Nach langem
Verweilen in der Tiefe setzt die Wiederholung in
voller Starke unvermittelt auf den hohen, sehr gut
getroffenen Anfangstonen ein. Die Einzelheiten nach
Tonbewegung und Takt sind hier mit besonderer
Sorgfalt wiedergegeben. Sie erscheinen kompliziert
genug, kehren aber bei den Wiederholungen des Ge-
sanges, sowie in den drei Aufnahmen des Ganzen,
die von demselben Individuum vorliegen, mit groBer
Ubereinstimmung v^ieder. Wir haben z. B. abgezahlt,
wieviele Viertel auf die Note c^ im 8. bis 10. Takte
fallen: es sind immer genau 15. Ftir die Verzierungen
des c- im 2. bis 4. Takte soil die nach verschiedenen
Versuchen gewahlte Schreibweise nur als eine an-
nahernde gelten. Es schien auch ein e^ darin vorzu-
— 139 —
kommen, aber das sind eben Manieren, die wir weder
genau schreiben noch nachmachen konnen. Selbst
die Tongebung ist dabei anders als gewohnlich.
Auch die Tonbewegung in den beiden 74-'rakten
ist nicht gut aufzuschreiben; jedenfalls kommen
aber beim Abzahlen 7 Viertel heraus.
Der Gesang hat den auBerordentlichen Umfang
von 2V2 Oktaven. Im wesentlichen halt er sich in
einer funfstufigen Leiter mit Terz (bald groBer bald
kleiner); andere Tone werden nur im Durchgange
gebraucht.
Manner.
19.
^g^El^iSi^p3
^ 4
^^^r U r\^^-^^^-^-^^m
Frauen.
i^
f=
is
Manner.
S^^^;7=F1^BJL4-CpL
i
#=[::
i^^
e
^^^
— 140 —
„Sehr altes religioses Lied der Yaqui-Indianer"
im Staate Sonora an der Nordgrenze von Mexiko.
Unter dieser Bezeichnung ist es mir nebst anderen
Indianergesangen von J. C. Fillmore mitgeteilt (s. m.
„Beitrage zur Akustik und Musikwissenschaft" III).
Es ist nicht von Fillmore selbst aufgeschrieben, son-
dern ihm von dem Bruder eines Mannes, der gegen
30 Jahre als Gefangener unter den Yaqui lebte, iiber-
liefert. Ich ubernehme naturlich hier keine Garantie
fur die Genauigkeit der Aufschreibung und habe es
nur darum aufgenommen, well es, wie auch Fillmore
bemerkt, bisher ein Unikum unter den Indianer-
gesangen bildet, in Hinsicht des uber der Manner-
stimme durch die Frauen ausgehaltenen Begleittones.
In dieser Beziehung ist die Aufschreibung auch ge-
wiB vertrauenswurdig. Wenn man nicht einen euro-
paischen EinfluB vermuten will, v^urden wir darin
einen schonen Fall der Orgelpunktweise bei Natur-
volkern haben, analog Nr. 7. Beide Male liegt der
festgehaltene Ton oben. Wir v^erden aber auch ein
Beispiel der umgekehrten, heute gebrauchlicheren
Lage finden (Nr. 27).
20.
Metr. J = 80.
- 141 —
^a^gE^^^^^faE^
\^^^^^^^^^^^^^^^3^i^
Stammt von den Zuni-Indianern (Pueblos). Es
ist von Oilman nach phonographischen Aufnahmen
von Walter Fewkes (dem ersten, der diese Methode
benutzte) in Noten gesetzt und von mir in ubersicht-
licherer Weise, aber materiell ganz unverandert, um-
geschrieben (s. o. S. 65)*. Hier ist es urn einen hal-
ben Ton tiefer gesetzt. Die eingefugten Striche sollen
die Hauptabsatze bezeichnen. Eine Taktgliederung
ist nicht eingezeichnet, doch v^urden sich die beiden
mit mf beginnenden Hauptabsatze in je einen ^4"
und einen ^/4-Takt zerlegen lassen (die letzte Note
nur urn Vs verlangert), wahrend der SchluBpassus
wesentlich im ^ g-Takt steht.
Das Lied, das nur ein Abschnitt eines langeren
Gesangsstuckes ist, zeigtv^ieder die absteigendeTon-
bewegung und zugleich die abnehmende Tonstarke
so vieler primitiver Gesange. Mit seiner fanfaren-
artigen Einleitung und seiner leise verhauchenden
Coda ist es ein schones Beispiel der pathetischen,
* Nur bei + in der vorletzten Zeile notiert Oilman einen
halben Ton hoher. Hier handelt es sich aber sicher urn eine
zufallige Entgleisung des Sangers. Die Tone liegen ja ohne-
dies den Notenwerten meistens nur nahe, ohne sich ganz da-
mit zu decken, uberdies sind solche leise, kurze und tiefe
Tone oft schwer zu identifizieren.
— 142 —
impetuosen Art, die besonders dem Singen der Pue-
blo-Indianer eigen scheint. Wir wtirden sagen, daB
es in der absteigend melodischen Mollleiter steht,
mit SchluB in Dur. Doch darf man es wohl auch
hier mit der groBen und kleinen Terz nicht zu streng
nehmen, die Intonation nShert sich nur mehr der
einen oder anderen, die nachstliegende Note hat
Oilman jedesmal gewahlt. Eigentiimlich bertihrt der
Anfang sowohl des einleitenden Teiles als auch des
Hauptteiles in der Sekunde des Tones, der uns als
Tonika erscheint und es in diesem Falle wohl auch
fur die Indianer ist. Auch wir fangen zwar durch-
aus nicht immer mit der Tonika an, mit der Sekunde
aber doch selten. In das Ethos dieser Melodic kann
man sich bei ofterem H5ren immerhin gut hinein-
leben und einen Eindruck davon gewinnen, womit
ich nicht sagen will, daB er ganz derselbe ware wie
bei den Indianern.
Die nordamerikanischen Indianer haben nur
auBerst wenige und durftige Instrumente, auBer
Pauke und Rattel nur gelegentlich Fl5ten, in ein-
zelnen Gegenden auch ein Xylophon, das aber aus
Afrika importiert scheint. Um so erstaunlicher ist
ihr unbegrenzter Reichtum an mannigfaltigen und
wohlgebauten Liedern.
21.
^EF^^irnST^:^^^^
— 143
PP m/"
P^^l^
b^j=^^i^
Aus den von Oilman neuerdings nach den Auf-
nahmen von W. Fewkes veroffentlichten religiosen
Gesangen der Hopi-(Moki-)Indianer, die gleichfalls
zu den Pueblo gehoren.
Oilman ist durch seine tonometrischen Analysen
zu der Meinung gekommen, daB die Puebloindianer
zwar eine Tendenz zu konsonanten Intervallen haben,
zur Oktave und besonders zur Quinte und Quarte,
daB sie aber sonst die groBten Freiheiten in der In-
tonation aufweisen. Auch vvriirden die Intervalle von
jedem Sanger anders wiedergegeben. Es sei nur
der allgemeine Weg, den die Melodie nimmt, vor-
gezeichnet. Er nennt diese Lieder deshalb Rote-
Songs, Routengesange, und erfindet ein graphisches
Schema, das sie besser als unsere Noten zum Aus-
druck bringe.
Obiges ist der dritte deracht„Schlangengesange",
die Starke Ahnlichkeit miteinander haben, alle ein-
fach gebaut, auch von einfachem Rhythmus und mit
immer wiederkehrenden absteigenden Schritten urn
(ungefahr) eine Quarte, Terz oder Quinte. Die No-
tierung ist hier nicht die von Oilman selbst gegebene,
— 144 —
die nur seinen allgemeinen subjektiven Eindruck
darstellen soil, sondern nach seinen genauen Dia-
grammen durch v. Hornbostel so aufgezeichnet, und
zwar gewissermaBen als Durchschnitt (nicht im mathe-
matischen, sondern psychologischen Sinne) aus den
zahlreichen Varianten bei den Wiederholungen, die
Oilman alle in seine Diagramme eingetragen hat.
Die Tonhohe der einzelnen Noten schwankt dabei
in der Tat nicht unbetrachtlich, doch meistens inner-
halb eines Halbtons. So wird der Hauptton e, auf
den die Weise immer zuriickkehrt, vielfach als dis
intoniert, das tiefe gis umgekehrt als a. Das Vor-
herrschen der Quartenschritte ist jedenfalls der
charakteristische Grundzug dieses Gesanges. Aber
etwas Subjektives bleibt allerdings auch an v. Horn-
bostels „durchschnittlicher" Notation haften; man
mtifite sonst eben samtliche Wiederholungen mit um-
standlichen diakritischen Zeichen in Noten setzen,
und schliefilich waren bei jeder neuen Wiederholung
sicher neue kleine Veranderungen aufgetreten.
Die Takteinteilung ist gleichfalls nach den Dia-
grammen als wahrscheinlich intendierte durch v. Horn-
bostel vorgeschlagen; Oilman verzichtet auf Takt-
gliederung.
Die ubrigen Lieder auBer den Schlangengesangen
sind bedeutend komplizierter. Sie zeigen eine ahn-
liche Strukturwie unser nachstfolgendes Beispiel, auch
einen groBen Tonumfang, z. B. den einer Duodezime,
— 145 —
ebenso die absteigende und leise verklingende
Tonbewegung, dann wieder den plotzlichen Uber-
gang zu hoher und starkster Stimmgebung, wobei
der Ton auch gelegentlich noch urn eine halbe Stufe
in die Hohe getrieben wird (Oilman p. 171, 181) usw.
V. Hornbostel hat versuchsweise samtliche Ge-
sange mit alien Wiederholungen in gleicher Weise
wie den obigen aus den Diagrammen in Noten uber-
setzt, und wir haben den Eindruck gewonnen, daB
trotz der unbestreitbaren UnregelmaBigkeiten der In-
tonation doch ein festeres Ton- und Taktgerust zu-
grunde liegt, als Oilman selbst anzunehmen geneigt
ist. Es gibt auch bei uns Sanger, die es mit der
Reinheit genauer, andere, die es weniger genau
nehmen. Aber es scheint bei den Indianern auch
gewisse Tone der Leiter zu geben, die sicherer, an-
dere, die unsicherer getroffen werden oder vielmehr
einen breiteren Spielraum fur die Intonation zulassen.
Dazu kommen noch die durch den Ausdruck beding-
ten, also keineswegs zufalligen, sondern ganz regel-
maBigen Alterationen an bestimmten wiederkehrenden
Stellen einer Melodic. Wir werden dies alles so-
gleich beim nachsten Liede bestatigt finden.
22.
Metr. J= 112.
^#^riiLgIJg
Stump f, Anfange der Musik lU
146 —
LkrTX^^^^-jg^s^
a ?
m^''^^ f^^-^^m
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147
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B3
148 —
C2
^
a^ZfZTC.,^
^
^t
r=^
^^^^^^^m
m
B4
^^^S^^^^^
i^^^^^^g
^^-d:r ^fr
Alter „Totengesang" einer Truppe von Pueblo-
Indianern, die vor einigen Jahren nach Berlin kamen.
Sie wurden als Hopi-Indianer bezeichnet, doch ist
es nicht sicher, ob sie gerade diesem Stamme an-
gehorten. Der Gesang wurde nach einer von der
Favorit-Gesellschaft aufgenommenen Grammophon-
platte durch Dr. Fischer in Noten gebracht, die
Notierung dann noch durch v. Hornbostel und mich
oftmals nachgepriift, da sie groBe Schwierigkeiten
bereitete. Das Lied klingt so temperament- und
stimmungsvoll aus der Aufnahme heraus, daB wir
— 149 —
versuchen wollten, es der Vorstellung und dem Ver-
standnis moglichst nahe zu bringen. Das Bild ist
so treu, als es nur immer mit unseren Zeichen her-
zustellen ist. Das gehaltene fis in der 7. Zeile wurde
auBerst unrein, von verschiedenen zugleich ver-
schieden intoniert, im ganzen stark zu hoch; auch
sonst wird in dem Sttick gerade das betonte fis
leicht etwas hoher genommen, manchmal (bei ^v)
klingt es aber auch wie ein Triller mit eis, einer
scheint es da zu tief gesungen zu haben.
Der Tonbestand ist im wesentlichen der einer
Funfstufenleiter, ein Hauptton laBt sich aber schwer
feststellen. Am ehesten noch cis; fUr uns ware es
naturlich a. Nur ganz wenige Tone fallen aus der
funfstufigen Leiter heraus: abgesehen von der un-
deutlich intonierten Einleitungsformel, kommt einmal
gis, einige Male f und einmal i\ sowie an bestimm-
ten Stellen (unter C) his vor. Dies sind ganz sicher
keine zufalligen Entgleisungen, sondern Abweichun-
gen zu bestimmten Ausdruckszwecken. Hier ist
nichts von Unreinheit in den Stimmen zu merken,
und bei den Wiederholungen wird f wie his genau
ebenso genommen.
Wir bemerken noch, daB die Tonhohe sich
wahrend des Gesanges langsam in die Hohe zog,
im ganzen etwa um einen Viertelton. In der Notierung
ist dies nicht beriicksichtigt. Bei Gilmans Zuni-Ge-
sangen wird derselbe Zug ofters hervorgehoben. Auch
— 150 —
bei den Bellakula-Liedern bemerkte ich das NMm-
liche. Ebenso Hj. Thuren bei den Eskimo (s. u.).
Deutlich und sehr interessant ist die Struktur.
Vorausgeschickt wird, wie so oft bei Indianerliedern,
eine kurze Einleitungsformel, deren Tonhohen recht
unbestimmt herauskommen, weshalb sie hier mit
kleinen Noten geschrieben sind. Sie wird fast mehr
gebellt als gesungen. Dann folgen die durch Doppel-
striche getrennten und mit Buchstaben bezeichneten
Abteilungen, unter denen die mit gleichen Buch-
staben offenbar melodisch als Wiederholungen gel-
ten. B kommt viermal vor, immer allerdings mit
gewissen Freiheiten, C erscheint zweimal, A und D
nur je einmal. A beginnt mit den uns nun schon
bekannten, fur unser Ohr harten Quartengangen, ver-
lauft dann in ein lang ausladendes melodisches Mur-
meln auf den Tonen fis, e und cis, das aber rhythmisch
streng geregelt bleibt. B ist ein Zwischensatz, der
dreimal einen neuen Aufschwung, in Cj, D und Cg
vorbereitet. Diej^-Stellen werden mit groBem Affekt
vorgetragen. B verlauft das zweitemal in ein Par-
lando, das von einzelnen Sangern schon begonnen
wird, wahrend andere noch den SchluBton cis aus-
halten. Es wird rhythmisch genau in der angegebenen
Weise vorgetragen. Den SchluB des Ganzen bildet
eine Art Schrei, ganz gleichzeitig, aber auf ver-
schiedenen Tonhohen, ungefahr den angegebenen.
Wahrscheinlich geht das Lied an sich noch viel langer
— 151 —
so fort, und haben die Sanger nur einen kUnstlichen
SchluB fur ihren damaligen Vortrag herbeigefUhrt.
Ganz kompliziert und doch nicht regellos ist fUr
unsere Auffassung die Takteinteilung. Das ZeitmaB
wird auBerordentlich genau festgehalten, obgleich
der Gesang nicht durch Pauken oder HSndeklatschen
unterstutzt wurde. Im ganzen scheint ein vierteiliger
Takt zugrundezuliegen, der aber vielfach urn einen
Oder zwei Teile verlangert, auch gelegentlich ver-
kiirzt wird. Diese Anderungen treten aber wieder
mit einer gewissen RegelmaBigkeit ein. Man ver-
gleiche die drei ersten Versionen von B. Ihre Takt-
gruppen sind:
4+6+5 4+6+4+6 4+6+5
Die erste und dritte Version sind also genau
gleich eingeteilt, die zweite anders, aber in sich
selbst wieder regelmafiig. Die Einteilung von C
ist beide Male fast genau dieselbe (an einzelnen
Stellen sind von uns die regelmafiig fehlenden
Sechzehntelpausen in Klammern erganzt, urn die
Schreibung in Vs zu ermoglichen, eigentlich mUBte
man ^^li^-Takt schreiben; es handelt sich eben hier
urn eine sehr prSzis innegehaltene Pause, die mit
unseren gewohnten Takten nicht wiederzugeben ist).
D zerfallt wieder in zwei Abteilungen von genau
^ ' u Ti.*i 4 + 5 + 6 4 + 5 + 6
gleicher Taktfolge: — ^— j-^ — ; — —j~^ — .
152 —
23.
i
Metr. J = 52.
^^^^^I^SI
K=^F=^^rJ^^1tJ^4;jj=1
^^Q=^H^-^^=ffi:ffl#^
p^qi^-itjz^gai^^ umm
fea-^HT^$n-j' ^ji J I ; J^
24.
Metr. J = 116.
^^a^^i^f^^s^^
^^^i^^^^^p^^
.g =T=— .1
1^^ JU'^- J)liU^i 1 i^ 1 i ^ '-^
Aus der groBen Sammlung von Miss Curtis (s. o.
S. 65). Fur vollige Genauigkeit kann ich nicht
einstehen, aber die technisch gewandte Schreibung
— 153 —
und die Strukturanalyse verraten so viel musikali-
sches VerstSndnis, daB man die Tongestalten im
allgemeinen wohl als richtig, nur vielleicht ein wenig
impressionistisch wiedergegeben, ansehen darf. Nr.23,
S. 489 des Werkes, ist ein Schlaflied (Lullaby) der
Hopi. Die Sechzehnteltriolen dtirften wesentlich einen
gleitenden Ubergang bedeuten. Das Lied klingt
auch uns stimmungsvoll, wozu die absteigende ver-
minderte Quarte nicht wenig beitragt, wenn auch
fis wahrscheinlich nur als ein vertieft intoniertes g
zu verstehen ist. Beachtung verdient die Gliederung
des Liedes. Der L Teil hat sieben Takte, die un-
verandert wiederholt werden, der 2. bringt ein neues
Thema von flinf Takten, das mit geringen Verande-
rungen zweimal wiederholt wird, die letzte Wieder-
holung ist urn einen Takt verkurzt. Darauf beginnt
(von mir durch Doppelstriche abgetrennt) die Re-
prise des ersten Teiles, zunachst in sieben Takten
mit einer Veranderung seines Anfanges, die ihn dem
Thema des zweiten Teiles ahnlich macht. Dann in
weiteren sieben Takten genau nach dem ersten Teil.
Das Schema ist also: 2X7, 3X5, 2X7 (nur ab-
gesehen von dem ausgelassenen Takt im zweiten Teil).
Nr. 24 (S. 120 des Werkes) ist ein Gesang der
Iruska, eines Pawneestammes in Oklahoma, wieder
von der Hohe zur Tiefe gehend und lang auf dem
SchluBton ruhend. Die Leiter ist die fUnfstufige
ohne Terz.
154
25.
Metr. Gesang J, = 54. Trommel ^ = 108.
^^=M^^^^^^^^
Trommel
iLJ LJ LJ
usw.
§^ ; P cri^Eg^g^^j:ra-fp^
^ig-g~p1g g_E!rMl^^^
j^jwiucxiajxTn^^^^
i
; p pig p ^'m_-g_g-ij.:=g^
^M=H=^^^-rrrrm=^^
^ ^
26.
Metr. J- = 56.
I
\} r> f f
f-p JlJTgziJl^^
^
?E^
n Ll
Trommel, /rem.
Ratteln, Pfeife.
fe^^^^^^^^^^
^^71 i ii^-n* J J ^ i' J ^^
155 —
^^
j-j-r^^^g^EFj
Schneller.
^^
i^^^^^^
LJ U LJ U
Aus dem Werke von Miss A. Fletcher uber die
Hako-Zeremonie, ein religioses Fest der Pawnee-
Indianer (s. o. S. 65). Die Gesange sind von
Mr. E. S. Tracy nach phonographischen Aufnahmen
wiedergegeben, er hat seine Wiedergabe dann auch
noch einmal mit dem Gesange der Festleiter (Kura-
hus) verglichen.
Nr. 25 (S. 171 des Werkes, dort eine Oktave
tiefer notiert, also im Tenor-Sinne zu lesen) wurde
als ein sehr alter Gesang bezeichnet. Er bezieht
sich auf den Laubvogel (v^ren), der den Pawnee als
ein immer lachender, glucklicher Vogel gilt. Man er-
kennt leicht, daB das Lied aus sechs Perioden von
je funf Takten besteht. Wir haben sie durch
Doppelstriche gesondert. In den drei letzten Tak-
ten jeder solchen Periode kehren immer dieselben
Silben wieder: whe ke re v^e chi, die angeblich
den Vogelruf nachahmen. Interessant ist auch die
— 156 -
Melodiebewegung: die ftinf Takte nehmen zuerst
ihren Ausgang von i\ dann von d^, dann von
b, welches wohl als Hauptton zu gelten hat;
dann gehen sie noch eine Terz unter diesen her-
unter und bleiben ganz auf g liegen. Der nach-
ste, vierte Abschnitt beginnt wieder mit dem Haupt-
ton, der letzte endlich wiederholt den ersten. Fiir
uns auffallig, aber keineswegs selten, ist der un-
gleiche Rhythmus der Pauken und des Gesanges.
Nr. 26 (S. 251), von bestandigen raschen Trommel-
schlagen (Tremolo) sowie von dem Larm der Rat-
teln und Pfeifen begleitet, wird bei einer anderen
Episode des Festes gesungen. Es enthalt eine
Aufforderung an die Kinder, heranzukommen und
ihre Gaben zu bringen. Alle Viertelnoten werden
etwas tremolierend mit „PuIsation" gesungen. Nach
dem absteigenden Hauptthema, in dem ein drei-
taktiges Motiv einmal wiederholt und ein zweitaktiger
Anhang beigefugt wird, folgt ein Zwischensatz von
fUnf Takten in tieferer Lage, dann das Hauptthema
und eine zweitaktige, obigem Anhang nachgebildete
SchluBformel. Die Leiter wieder funfstufig ohne Terz.
27.
Andante c. moto. y-
m
-^=^
'v=^
d
f^^^
1
S
^
m^h^^Rr-^
^^=^'4
p^
157
Pf^j-rl^^^^^^^
o\ ^ t\ ij-iXt-^U H=Mj=g 1 1 g-g
usw.
usw.
28.
gi=LL-^E^^^=^g
5mal wiederholt.
Allegro.
29.
-4
g^g^S^^:^;^^^F=F^I^E^O
gJn- J' J J' -^ \^^i^.h^xTf^
i
feF^^=?t±^3F^^^
aizzt
* ■'V V'
[il
i^^^^^^^^ii^^
S^^^^-^^^^^^^^^^^^^^JTTX^
^^
£5
j^^^-^^-^^-l-^^ i i i
Andante.
30.
%^l=i-^=^^:1=v=P^^-f;=C:p^f-f^^
158
i
iy#^
31.
Andante.
^^^^i^M=MMM
$^ms^
^ ^ ^ ^ ^
y / / / /
-^ — r-Fi^
2^S
t^=p4=t^=tn— t^-t
i^^^p^Egj^^^^^^d^j
Diese Lieder sind nebst vielen anderen von
Th. Baker vor der Zeit des Phonographen, aber mit
sehr gewissenhafter Beachtung und Erlauterung des
Details aufgeschrieben (s. o. S. 64).
Nr. 27 ist ein Kriegslied der Irokesen (Text: Ich
gehe). Es scheint in Perioden zu sechs bzw. drei
Takten gegliedert zu sein. Als Fortsetzung ist zu-
nachst eine Taktpause zu denken. Bemerkenswert
ist der Gesang durch die zweite Stimme, die jeden
Takt im Grundtone markiert; vielleicht ein Ersatz
der Pauke. Hier liegt der Orgelpunkt unten, gegen-
uber den beiden schon besprochenen Beispielen.
Nr. 28 ein uralter religioser Dankgesang der
Irokesen; von Mannern gesungen, die urn zwei
mitten im Tanzsaal aufgestellte Hoizbanke herum-
— 159 —
traben (Baker S. 37). AuBer den Hauptakzenten
wurde bei jedem Schritt der ungraziosen Bewegungen
auf den entsprechenden Ton ein schwacherer Ak-
zent gelegt. Man kann statt unserer Einteilung
(Baker verzichtet auf Taktgliederung), wenn die
Hauptakzente durchweg mit den Taktakzenten zu-
sammenfallen sollen, den Gesang auch aus einem
V4- und einem ^U- (2/4 + ^U) Takt zusammen-
setzen. Nach funfmaliger Wiederholung wird mit
einem Schleifer geschlossen, der „wie ein Juchzer
ausgefuhrt wird" und jedenfalls in einem stetigen
Herabgleiten der Stimme besteht (Baker S. 17 und
unsere Anm. 12). Das merkwurdigste an dem Liede
ist aber sein Tonumfang, da es, abgesehen von dem
SchluB, aus einem einzigen Ton besteht. Solche
Gesange, die manche als die uranfanglichsten be-
trachten, kommen also in der Tat vor, und dieser
soli ja auch wirklich sehr alt sein. Aber wer weiB,
ob er nicht schon bei seinem ersten Auftauchen eine
Ausnahme war und die Monotonie absichtlich, der
erhabenen Wirkung wegen, gewahlt wurde.
Nr. 29, der „Omahatanz", ist ein Lieblingstanz
verschiedener Indianerstamme unter den Dakota
(Sioux). Baker schreibt ihn in 2/4- Durch die Vor-
zeichnung ^^ scheint mir aber die Gliederung des
Stuckes sehr klar hervorzutreten. Der Teil nach
dem (von mir eingefugten) Doppelstrich ist offen-
bar eine Wiederholung des ersten. Man hat nur
— 160 —
anzunehmen, daB im 1. Takte dieses 2. Teiles die
Pause vom Sanger urn ein (hier uber dem System
eingeschaltetes) Viertel verkurzt wurde, ein Lapsus,
der auch bei uns vorkommt, und daB umgekehrt
im drittletzten Takt eine bei Baker stehende iiber-
zahlige Viertelpause, vielleicht als Atempause, ein-
geschaltet ist.
Man sieht aucli leicht, daB der zweite Teil jedes
Taktes mit seinen sechs Vierteln hinsichtlich der
Rhythmik nur eine verlangerte Wiederholung der
vier Viertel des ersten Teiles ist. Das Ganze scheint
mir rhythmisch sehr reizvoll.
Eigentumlich ist auch der Beginn des Liedes
auf der Sekunde des Haupttones.
Nr. 30 ist das erste Lied im Erntefest der Iro-
kesen, ein Tanzlied, dessen dramatische Ausfuhrung
Baker (S. 39) beschreibt. Es wird durch Schlagen
der Rattel auf eine Holzbank begleitet. Text: „Er
kam vom Himmel zu uns nieder und gab uns diese
Worte." Das Lied ist von Baker ohne Takteinteilung
geschrieben, scheint mir aberin einem 74-Takt wieder
ganz abersichtlich zu werden. Man muB nur vor
der Wiederholung eine Viertelpause eingeschaltet
denken. Die Tone gehoren ausschlieBlich dem Drei-
klang an. Den SchluB bilden Interjektionen.
Nr. 31, ein LiebesHed der Kiowa in Arkansas, ist
wieder nur aus Tonen des Durdreiklanges gebaut. Die
Gliederung ist von mir durch Doppelstriche angedeutet.
— 161 —
Solche Dreiklangsmelodien stUtzen anschei-
nend eine von J. C. Fillmore und Miss A. Fletcher
vertretene Anschauung, wonach den Indianern ein
latentes Harmoniegefuhl zukomme (vgl. m. Beitr. z.
Akustik I, 63ff, II, Iff.). Aber die Experimente mit
Indianern, die Fillmore als beweisend ansieht, indem
die Indianer bestimmte Akkordbegleitungen als ihren
Intonationen entsprechend anerkannt haben sollen,
unterliegen starken Bedenken. Es scheint doch —
wie ein genauer Kenner, F. Boas, mir sagte — Sug-
gestion mitgewirkt zu haben. Immerhin bedarf das
hMufige Vorkommen von Indianermelodien, die nur
Oder fast nur aus T5nen des angenaherten Drei-
klanges gebildet sind, einer Erklarung, liege sie
vielleicht auch nur darin, dafi man bei einem be-
stimmten Melodietypus sich auf drei Tone der ge-
w5hnlichen Funfstufenleiter zu beschranken iiebt,
die urn mehr als die kleinste Stufe dieser Leiter
auseinanderliegen. v. Hornbostel, der Intonations-
studien unter den Pawnee in Oklahoma zu machen
Gelegenheit hatte, vermutet, daB der Gebrauch des
zerlegten Dreiklangs so zustande gekommen sei, da6
man in den Zv^ischenraum der Quinte eben einen
annahernd mittleren Ton einschaltete, also durch
Distanzschatzungen. Dafur spricht, daB gerade die
Terzen oft in schwankender Weise intoniert v^erden.
Sie bleiben noch lange ein sozusagen weicher
Bestandteil des musikalischen Knochengerlistes,
Stumpf , Anfange der Musik H
— 162 —
nachdem die Grundkonsonanzen langst fest ge-
worden.
Vielfach wurde frtiher auch behauptet, da6 die
Naturvolker in Moll sangen. Dies ist in solcher
Allgemeinheit ganzlich unbegriindet. Eher lieBe sich
wohl Dur vertreten, in Wahrheit ist aber zumeist
keines von unseren beiden Tongeschlechtern ganz
scharf ausgesprochen. (Bezeichnend ist ein Fall, wo das
namliche Lied von Boas in Moll, von Fillmore in Dur
geschrieben wurde, s. Boas, Songs of the Kwakiutl-
Indians p. 2). Die scharfe Ausbildung dieses Gegen-
satzes konnte erst erfolgen, als man zu dem syste-
matischengleichzeitigenOebrauchevonmindestens
drei Tonen uberging, was bekanntlich sehr spat in
der Musikgeschichte eintrat.
32.
Metr. Gesang J = 168, Pauke J = 104.
I.
H=t
g"^-^=£
s
9t
-#^^^
^
3?^^
Pauke: p p p usw.
P^i^^^^g^^R^F^M^
^^m.
III.
IV = II
^^^^^^^^^m^E^^
163 —
[^^-I^Hrt^^^^^^'N^-^^^
V.
a^.=;Mfa
^^E^
^^
§Et
(Pauke:) f
33.
Metr. J = 80.
i^^
II.
f^^ 1 r r ^^^^
^^
^^1^^^^^^^
#=^=p:
III.
2.volta:f J J
g^FS^£F3^^=^=^^"^^J=S=^=^
2.volta: t J J J
^Er=n^^^n=rr-r i ["^n
gf
34.
Metr. J = 100.
I.
i-^gH^j-LjIl=jz=jb^3^4^=g^
164 —
m
IV.
^S^^^^B^^
^=r-n^
^
Proben aus den 200 von Miss Densmore kurz-
lich nach phonographischen Aufnahmen veroffent-
lichten und mit Erklarungen und Analysen begleiteten
Gesangen der Chippewa- (Odschibwa-) Indianer in
Nord-Minnesota. Die Verfasserin hat zwar tono-
metrische Bestimmungen nicht versucht, hebt aber
die eigentUmlichen Abweichungen der Intonation an
bestimmten Stellen hervor und bemerkt, daB sie mit
groBer Konstanz wiederkehren. Zwei Sanger, die
nach 7 Monaten etwa 20 Gesange zu wiederholen
hatten, zeigten die namlichen Abweichungen an den
nSmlichen Stellen. Das Tempo der Paukenbegleitung
weist bei diesen Gesangen haufig die seltsamsten In-
kongruenzen gegentiber dem des Gesanges auf, so da6
es unmoglich war, das rhythmische Verhaltnis beider
nach dem Gehor zu erkennen, und da6 selbst die
jur Stimme und Pauke gesondert angegebenen Metro-
nomzahlen kein einfaches Verhaltnis als intendiert
erscheinen lassen. Die Vermutung liegt nahe, daB
in solchen Fallen beide Teile ein bestimmtes ab-
solutes Tempo ohne Riicksicht aufeinander durch-
ftihren.
— 165 —
Nr. 32, ein Aufnahmegesang bei der religiosen
Hauptzeremonie, bietet hierfur sogleich ein Beispiel.
Die Pauke vollfiihrt gleichmaBige Schlage ohne Ak-
zente, von denen ungefahr, aber nicht genau, je zvvei
auf drei Achtel des Gesanges kommen. Nur im
SchluBteil fallen die Schlage genau mit den Vierteln
des Gesanges zusammen. Der Gesang selbst ge-
wahrt ein sehr ubersichtliches Bild: das Thema
von I wird in 11 urn eine Quarte tiefer aufgenommen,
erweitert und in die Tiefe gefuhrt. Nach einem
kurzen, mit kuhnem Nonensprung beginnendem
Zwischensatz (III) folgt eine genaue Wiederholung
von II (IV), endlich eine kurze SchluBformel (V).
Der ganze Habitus dieses Liedes, die absteigende
Bewegung, die nachahmenden Wiederholungen auf
tieferen Intervallen, der groBe Tonumfang, sind
typisch fur die Mehrzahl dieser Chippewa-Gesange.
In Nr. 33, gleichfalls einem Aufnahmegesange,
(ohne Paukenbegleitung phonographiert) ist II die ge-
naue Nachahmung von I auf der Unterterz. Ill fuhrt
mit einer Art Gegenbewegung zum Haupttone zu-
ruck. Dann wird das Ganze genau wiederholt,
nur an zwei Stellen wird ^Z^- mit ^/^-Takt und um-
gekehrt vertauscht. Die Verlangerung oder Ver-
kurzung um eine Einheit gilt in solchen Fallen offenbar
als unwesentlich, wie wir schon so oft gefunden haben.
Nr. 34, ein Heilungsgesang, ebenfalls ohne
Pauke aufgenommen, von einer alten Frau mit rauher
— 166 —
Stimme, aber sehr sicherer Intonation vorgetragen,
zeigt wieder einen vollkommen klaren Bau. Das
rhythmisch fesselnde Motiv von I wird in II nach
alien Regeln der Kunst auf der Unterterz wieder-
liolt; III ist tonal etwas freier, fuhrt aber die Melo-
die in genau gleicher Riiythmik und in gleicher
Bewegungsrichtung weiter, IV geht mit einer den
Anfang kopierenden Wendung vollends auf den
tiefen Grundton hinab. Die Leiter ist, wie bei Nr. 32,
ftinfstufig.
Den Umfang einer Duodezime hat ein groBer
Teil dieser Lieder, und zwar beginnen sie besonders
gern mit der oberen Duodezime des Haupttons und
senken sich allmahlich herab, um mit diesem zu
schlieBen. Manche erstrecken sich sogar iiber zwei
Oktaven. Es finden sich auch in dieser Sammlung
ausgesprochene Dreiklangsmelodien, bei denen an-
dere Tone (der funfstufigen Leiter) hochstens als
gelegentliche Durchgangstone vorkommen (z. B. Nr.
115, 128); doch tritt die Sexte des Grundtons ofters
als melodisch nicht unwesentlicher Bestandteil zu
den Dreiklangstonen hinzu (z. B. Nr. 129).
35.
Metr. J = 66 (80).
Solo.
Pv^^^^f^^i^^^^'=f=g^^gi
^ y. 0 1 0
rascher
^^^^m
^^m
167
Tempo imo. Chor.
Doiif^a. f ^ f. ^ P. ^ f. %. f. ^ f. ». f. ^ f. ^ f
Pauke: rprp /p^p ^P^P ^P^P "'"•
dimin.
^^-^"m^^^^w^^^^
^g^rjT^St^^^-;^ I J n j^gj
Metr. ^== 108
36.
g^|i^£^g^f:^::^t^^
a
^^^^Q^T^^ ^ I Ql^^lE^
dimin.
9^ ^jjj jTr;H^^^3-^^3-j-j^^^3=^
^r^^J J J_£
37.
Metr. J = 52. +
^
^
^m
e^
^^
viel langsamer noch langsamer
^^^^^^^^m\
— 168 —
Aus den Gesangen der Bellakula-(Bilchula-)Indi-
aner in Britisch-Columbien, die ich selbst vor der
phonographischen Ara, aber mit aller mir erreich-
baren Genauigkeit aufgezeichnet habe (s. S. 64).
Nur die Taktformen blieben mir an einigen Punkten
zweifelhaft, da ich damals noch niclit wuBte, daB
man mit ^/4 u. dgl. bei den Indianern als ganz ge-
wohnlichen Takten zu rechnen hat. Das zweite der
von mir aufgezeichneten Lieder, das ich in ^^/g schrieb,
steht nach einer Mitteilung von Fr. Boas, der es
spater in der Heimat der Truppe selbst horte, in ^/g;
wie es in diesen einzufiigen ware, ist mir alierdings
nicht ganz klar. Zwei andere Lieder habe ich da-
mals schon auf Boas' Anregung hin in ^4 geschrie-
ben (Doktorgesang und Menschenfressergesang).
Nr. 35 ist ein Liebeslied („Dies ist mein Bruder,
er hat mein Herz krank gemacht, er hat meine Liebste
genommen: so weine ich diesen Tag.")- Der Chor-
refrain, der aus Interjektionen besteht, wurde auch
als selbstandiges Stuck beim „Gesellschaftstanz" ge-
sungen und dann etwas rascher, J = 80, genommen.
Die Vor- und Nachschlage bedeuten mehr ein Hin-
auf- und Hinunterziehen des Tones; sie kehrten an
den betreffenden Stellen mit voller RegeimSBigkeit
wieder. Die Leiter ist funfstufig, die allgemeine
Melodiebewegung wieder von oben nach unten, beim
Chor zugleich decrescendo, am Schlusse fast mehr
ein Brummen als ein Singen. Auffallend die SchluB-
— 169 -
wendung zur Terz. Die Paukenschl^ge immer auf
den schlechten Achteln.
In erstaunlicher Weise ist hier die Melodie des
SolosSngers vom Chor umgebildet (oder umgekehrt).
Die ersten sechs Takte des Solisten entsprechen den
ersten drei des Chors, die letzten fOnf des Solisten
den letzten fUnf des Chors. Die Umbildung ist
frei und doch die Korrespondenz unverkennbar, wie
man es von einer guten, ich mochte sagen stil-
vollen, Variation eines Themas in unserer Musik
verlangt.
Nr. 36, ein Tanzgesang auf Interjektionen, wieder
durchgSngig mit Pauken auf den schlechten Takt-
teilen, wieder von oben nach unten und decrescendo,
wieder mit SchluBwendung zur Terz. An zwei
Stellen wurde e regelmaBig in einer seltsam un-
sicheren Weise intoniert, das erstemal anscheinend
etwas erhoht, das zweitemal etwas vertieft, zugleich
leiser als die angrenzenden Tone. Auch diese z6-
gernd tastendeTongebung an ganz bestimmten Stellen,
als ob man nicht fest auftreten wollte, scheint ge-
radezu zu den Ausdrucksmitteln primitiver Musik
zu gehoren. Obrigens spielt dieser Ton fUr den
Indianer hier sicher nicht die RoUe des Haupttones
wie fUr uns, die wir das StUck in Emoll harmoni-
sieren wOrden. Vielmehr ist ihm sicher h Hauptton.
Nr. 37 ist ein Trauergesang, der bei einer Leichen-
verbrennung vorgetragen wird, Fremden eigentlich
— 170 —
nicht vorgesungen werden darf. Der Text scheint
aus Interjektionen (Uai usw.) zu bestehen. Die
Notierung war hier besonders schwer. Eine Anzahl
von Tonen wurde in der durch die Zeichen ange-
gebenen Weise alteriert. Die Struktur denkt man
sich vielleicht am besten so, da6 man die zwei ersten
Takte als Vorbau betrachtet, wie ihn die Indianer
lieben; dann folgt das Hauptthema in 3 Takten,
welches in den folgenden Takten mit einer an den
Vorbau erinnernden Anfangswendung und verlanger-
tem Schlusse wiederholt wird. Zuletzt herrschte bei
dem Vortrage eigentlich kein Takt mehr, die drei
letzten Noten wurden fast wie halbe Noten ausge-
halten.
Solo.
38.
Chor.
■^ -w- -w- -w- -w- -w- -«
Pauke. ''J?p?p ''5?p?p| usw.
T^nrrr^'i n i-^^n
^M
f—^tr^i^
^^-'^^^^^
39.
(Original eine groBe Sexte tiefer.)
^S
=P=i§
^
P
^k=tj-tm-j^n^a
171
Aus den von Boas direkt notierten Gesangen der
Nutka-Indianer, die ebenfalls an der Kuste von Bri-
tisch-Columbien wohnen (Brit. Assoc. Rep. 1890).
Der erste ist ein Hauptlingsgesang beim Potlachfeste.
Jeder Hauptling hat sein Lied, das auch nach seinem
Tode zur Leichenfeier gesungen wird. Es steht hier
als v^^eiteres Beispiel eines Eintonliedes (vgl. Nr. 28).
Auch hier sol! wohl die Monotonie hochste Wurde
und Feierlichkeit ausdrucken. DaB sie nicht Aus-
fluB primitivster Musikzustande ist, lehrt das zv^eite
Lied desselben Stammes, ein Schlaflied (Lullaby),
das sehr an das der Hopi, oben Nr. 23, erinnert.
Es hat vielleicht in Wirklichkeit nicht ganz so euro-
paisch geklungen, wie es jetzt nach den Noten scheint,
ist aber jedenfalls von Monotonie trotz seiner ein-
schlafernden Absicht v^eit entfernt.
40.
Allegro
fe^lE^
g^
1^
Stabe: I- p I p p p p J I p p ^ J ^ I usw.
j^^^^^^S^^^^=^
I P P P P P P
i
1
I
p p p p p
p p p p p p
m
-J. ; -
p p p p p I USW.
^^
1^1
— 172 —
Ein gleichfalls von Boas notierter Gesang der
Kwakiutl beim Lehalspiel (Journ. of American Fol-
klore 1888 p. 51). Er steht im Vs-Takt, aber mit Ein-
schaltung zweier ^/^-Takte. Auffallend ist die fiinf-
stufige Leiter mit der groBen Septime (die ganze
Tonbewegung Takt 3—5 deckt sich mit der des
Melchtaler Alpensegens, s. oben S. 89, aber das h
kann hier doch kaum den gleichen Ursprung haben,
moglicherweise , ist es nur als ein vertieftes c ge-
meint, analog dem fis in Nr. 23). Charakteristisch
der SchluB auf der Sekunde.
Die Kwakiutl sind nach Boas sehr erpicht auf
genaue Ausflihrung der Gesange und Tanze, jeder
MiBgriff gilt als Schimpf; ja bei gewissen Gelegen-
heiten wird der Tanzer in solchem Falle getotet.
Ihre Floten sind ungewohnlich gut und kiinstlich
gearbeitet (s. die Abbildungen in Boas' groBerem
Werke „The Social Organisation etc." p. 445).
41.
Metr. J = 126.
Trommel: | ^ r ^ 7 p r | p p 7 J 7 J | 7 J 7 pi
P p 7 p 7 P I 7 p 7 p 1 1 p p 7 p 7 p 1 7 p 7 pi nsw.
Ein von Boas phonographierter und notierter
Tanzgesang des namlichen Stammes (aus dem zu-
letzt erwahnten Werke), den ich wegen seiner
— 173 —
rhythmischen EigentUmlichkeit hersetze. Man kann
natUrlich in der Gesangsstimme auch durchweg
V4-Takt annehmen, indem man im 2., 4., 6. Takte
Synkopierung eintreten laBt. Aber der unseren rhyth-
mischen Gewohnheiten widerstreitende Eindruck des
Ganzen wird dadurch doch nicht aufgehoben, nament-
lich wenn noch die Akzentuierung der schlechten
Achtel durch die nachschlagende Trommel dazu-
kommt. Auch wiirde durch die Verwandlung der
^/g- in ^U-Takie das jeweilige 3. Achtel in diesen
Takten einen Akzent erhalten, den es im Munde der
Sanger offenbar nicht hatte. Im weiteren Verlaufe
findet 5ich der sonst regelmaBige Trommelrhythmus
auch an einigen Stellen durch ^/g-Takte unterbrochen,
weshalb Boas fur die Trommel ^^/^ Vs vorzeichnet.
Der melodische Gang der Stimme erinnert stark an
einen meiner Bellakula-Gesange (Nr. 2, nicht unter
den hier reproduzierten). In diesem Kiistenstriche
findet nach den Angaben der Indianer selbst ein
starker musikalischer Wechselverkehr statt.
42.
Metr. J^ = 170.
f^E&s^^^m^^i^^m
m
fri^-= N;=t=A=N==^+-l fe=^^=R
m^^:^^^^^
^^^^^^^^Ep£j^.zf^|
— 174
43.
Metr. J = 160.
+ 1
2 I
i=\-
,^|E|El^^l^j^
¥ — -g^
i^
Trommel: l^^i^l^l^l^ usw.
I 5
+ 3
^^^^^■^J .J^=^^
+ 6 1 I 7 8J_
+ 9
feir^^
usw.
Metr. J^ = 200.
9
44.
:«=1==^
Trommel: ^^^ UJ LH IH LL! LLI IL! UJ UJ
^v ^. 0=
^^¥^^^^~
--i=^
as as L
Metr. J = 158.
U LU
f ^ f f p
as
45.
to-riQ:^;
'^
Trommel: J^ T | ^^ 7 ^ T ^^ ^ I J^ ^ ^'^ ^ ^^^ ^ I "^w.
^^^^^^^m
^
m
^=^^-i^iT
175
46.
Metr. J = 198.
Trommel: f f | usw.
^*^=5
-»-1— •-
47.
Metr. J = 164.
I- (Falsett.)
^^^^=m^m.
ay
Trommel: rprprjrp ?pyprp7j usn.
i^^^^^^^i^l^^j^^r^P^I^I^^^^E^^I^
^=l^^^^lEg^;gE^BHr-c^d^^
fe^^H=f^gF^i=ij^
s
f¥^=f=TE^^^^^^:
i
:^~T~"y
F^g^fM=^3^
t==^
fcEf=^^^^
*==
usw.
— 176 —
Aus den 43 nach Boas' Phonogrammen von Abra-
ham und V. Hornbostel aufgeschriebenen und durch-
gangig tonometrisch bestimmten Gesangen der Thomp-
son River-Indianer im Inneren von Britisch-Columbien
(Ph.- A. Nr. 10). Die meisten davon haben nur einen
geringen Tonbestand und Tonumfang; manche glei-
chen sogar den WeddagesMngen. Doch sind auch
Dreiklangmelodien darunter (besonders fallt eine aus
den Tonen des reinen absteigenden Molldreiklanges
auf, Nr. 16), und einzelne erreichen den Umfang einer
Oktave oder None. Die auBerordentlich schwierige
Rhythmisierung der meisten wurde zum Teil nur
durch die begleitenden Trommelschlage uberhaupt
ermoglicht. Die Metronomisierung ist hier nur scha-
tzungsweise (auf Grund der Tonlage der Manner-
oder Frauenstimmen) beigefugt, da kein Stimmpfeif-
chen bei der Aufnahme angegeben worden war.
Nr. 42, ein Spielgesang (hier gegenliber der Vor-
lage mit verkurzten Notenwerten geschrieben), macht
einen sehr temperamentvollen Eindruck, wird mit
rhythmischer Verve und Exaktheit gesungen; das
Ganze mit abnehmender Starke, die dann bei der
Wiederholung(beliebigoft)wiedervolleinsetzt.Dieab-
steigenden Quartengange erinnern an frtiher erwahnte.
Nr. 43, ein nur aus drei Tonen bestehendes, me-
lodisch einformiges Tanzlied, ist doch durch die
Rhythmisierung, ja auch durch die Struktur inter-
essant. Die gleichformig taktierende Trommel, die
— 177 —
auf dem zweiten Achtel jedes Viertels nachschlagt,
gestattet die VierteltOne als Tone gleicher Zeitdauer
auseinanderzuhalten und zu zahlen. Die gewahlte
Taktgliederung, Abwechslung von ^4" und V4-Takt,
ist durch die RegelmaBigkeit, die so in das Ganze
kommt, gerechtfertigt. Die Takte 1, 3, 5, 7 usf. haben
untereinander einen gleichen oder verwandten Ton-
fall, ebenso die Takte 2, 4, 6, 8 usf. untereinander.
AuBerdem sind die ganzen durch Doppelstriche
begrenzten Teile melodisch offenbar identisch und
die Abweichungen nur Varianten. Die Fortsetzung
bringt denn auch nur weitere Wiederholungen
dieser 4 Takte mit weiteren Varianten. Der erste
Takt des Ganzen ist ein Vorbau, wie er uns oft
begegnet.
Gleichwohl konnte man nach Anleitung der Uber
dem Notensystem stehenden Striche das Ganze auch
in regelmaBig abwechselnden ^4- u"d V2-Takten
schreiben. Wir mtissen dahingestellt lassen, welche
Taktierung dem Sinne der Indianer mehr entspricht;
ftir uns sind beide Formen sehr ungewohnt, und
doch zeigen beide strenge Konsequenz in der Durch-
fuhrung.
Die beiden folgenden Nummern sind religiosen
Inhalts, Nr. 44 ein religioser Tanzgesang; beide von
dreiteiliger Rhythmik, wie wiederum die Trommelbe-
gleitung erkennen laBt. DieMelodiefuhrung derersten
bringt aber doch wieder durch die Synkopierungen,
Stumpf, AnfSnge der Musik 12
— 178 —
die funftaktige Periode und die uns fremde kleine
Septime Exotisches hinein. Die zweite, Nr. 45, steht
in funfstufiger Leiter, deren Hauptton b auch fur
unser Gefuhl Hauptton sein wiirde.
Als Gegensatz dazu ist Nr. 46, ein Tanz-
gesang mit etwas widerspenstiger Melodiefuhrung
in der ersten Halfte, aufgenommen, weil er besonders
deutlich zeigt, wie verschieden unser Tonikagefuhl
von dem des Indianers sein kann. Wir wiirden doch
wohl das Stuck in Fdur harmonisieren. Fiir den
Indianer scheint aber c Hauptton zu sein, wie auch
Abraham und v. Hornbostel annehmen. Da6 am
Schlusse, nachdem der Hauptton lange ausgehalten
ist, noch ein benachbarter auftaucht, haben wir schon
ofters bemerkt.
Nr. 47, als „Lyrischer Gesang" bezeichnet, be-
ginnt mit einem kleinen Vorbau auf dem Anfangston,
der bei der Wiederholung wegfallt (vgl. 42). Es ist
in seinen zwei Abschnitten schon gebaut (man be-
achte die Nachahmung des 2. und 3. Taktes auf
der hoheren Quarte zu Beginn des 2. Teiles), wird
mit klarer Falsettstimme gesungen, und konnte auch
uns gefallen. Bei den spateren Wiederholungen
treten nur geringe Varianten auf. Die Intonation
weicht alierdings besonders beim fis von der uns-
rigen ab, indem es um einen Viertelton zu hoch
genommen wird. Auch das hohe e ist um eben-
soviel erhoht.
— 179 —
48.
Weiber.
Chor.
Hauptling.
f
^=i=J=FJ=J^J=^
iEt
:£
Manner. T T T T T T
fc=6=6
"*^^ ii i: ■«-■*• -^ — ^ ^ ^4^r -m- -^ — -^
r r r r-T f r r r^N-f f f
^^^
^^ffefeEE
^:
i
-^
m
S:
f • r-r f itpf r
r
9fc=g=£=£
-r-r-nt-rr
^^^m
3
^^
f-^f
f^rrr
9t
Ef^E
r T
Ausnahmsweise greifen wir hier auf eine ganz
alte Notierung aus derselben Ktistengegend zuriick.
Sie ist 1787 aufgenommen, 100 Jahre spater in den
Berichten der Smithsonian Institution fur 1888 ab-
gedruckt, sonst meines Wissens in der neueren
Literatur nirgends angefUhrt, ist aber aus inneren
Grunden sehr beachtenswert. Sie steht in Dixons
Voyage Round the World 1789, p. 243, auch in der
12*
- 180 —
deutschen Obersetzung von J. R. Forster 1790, S. 219,
als Gesang der Sitka-Indianer nordlich von Van-
couver, vor dem Eintreten in einen Handel (Di-
xon wollte Felle erhandeln). Der Berichterstatter,
ein Begleiter Dixons, denkt selbst gering liber seine
musikalischen Kenntnisse und will fUr die Genauig-
keit nicht einstehen, aber er hat den Gesang oft
gehort und beschreibt seine Eigentumlichkeiten in
genauer Obereinstimmung mit der Notierung, hebt
namentlich auch das Auseinandergehen der Chor-
und der Hauptlingsstimme hervor. Der Gesang
wurde fast eine halbe Stunde ohne Unterbrechung
immer wiederholt und war begleitet von taktmaBigem
Handeklatschen und Paukenschlagen, vom Schwingen
der Rattel und mannigfachen Gestikulationen des
Hauptlings. Eine ubereinstimmende Beschreibung
im Buche des Reisegefahrten Dixons, Portlock, aus
demselben Jahre. Er betont „the most exact man-
ner" des Singens.
Da die Technik der Notation tadellos ist (im Ori-
ginal ist auch der Tenorschlussel verwendet), mochte
ich die Selbstkritik des Verfassers eher als ein Zei-
chen dafiir ansehen, daB er gut gehort hat; denn
gerade die Schwierigkeiten der Ubertragung exoti-
scher Intonation in unser Notensystem pflegen we-
niger musikalische Ohren nicht zu bemerken. Ob
die einzelnen Tonschritte genau den hierstehenden
entsprachen, ist naturlich unsicher. Aber die all-
181 —
gemeine Form der Melodiebewegung wird wohl
richtig erfaBt sein. Sie verdient in doppelter Hin-
sicht Beachtung: einmal wegen der alten Zeit, aus
der sie stammt und aus der uns sonst Uber primitive
Musik kaum etwas GlaubwUrdiges in Noten uber-
liefert ist, dann aber besonders wegen der eigen-
tumlichen Art von Mehrstimmigkeit. Die HSuptlings-
melodie setzt, mehrmals durch Pausen unterbrochen,
auf c^ ein und senkt sich dann nach a herab. Die
Chormelodie, spater einsetzend, dann aber nicht
weiter unterbrochen, geht teilweise mit ihr im Ein-
klang, teilweise umspielt sie einen vom Hauptling
festgehaltenen Ton, senkt sich dabei gleichfalls herab,
geht zum Schlusse sogar auf die untere Dominante
und von dieser wieder zur Tonika hinauf. Jede der
beiden Weisen, die einfachere des Hauptlings, die
reichere des Chors, tragt aber den namlichen all-
gemeinen Charakter. Am fuglichsten ordnet sich
daher diese Sangesweise unter den Begriff der
Heterophonie, wovon wir gegenwartig unter den
Indianern kein Beispiel mehr finden. Man konnte
aber sogar einen schwachen Anfang von kontra-
punktischer Stimmfuhrung darin finden.
Adagio non troppo.
49.
ig=ugs^=*if^^,^_^si^
g f f I J u^^^^^^
i
IS:
182
50.
Allegro.
/7\ /TN
i^^^^^^^
i
g r J'-J^'Ti^i^
^ #
^
I J^-J L j^^^^fc^
/Tv /CN /r\ /Tv
Gesange der Zentral-Eskimo in den auBersten
nordostlichen Teilen des amerikanischen Kontinents
und den benachbarten Inseln (nordlich der Hudson-
Bay), von Boas 1883 oder 1884 nach direktem Horen
aufgeschrieben (s. Anm. 1). Auch da scheinen im
ganzen einfachere Weisen als bei den Indianern der
mittleren Regionen gesungen zu werden. Die beiden
hier mitgeteilten Lieder beginnen und schlieBen mit
der Interjektion „Aia" auf den Fermaten. Sie scheinen
vorzuglich in unser Tonsystem zu passen, der zweite
klingt fast wie ein aufgeloster Dur-Vierklang. Da-
neben stehen aber wieder andere, fiir uns weniger
genieBbare. Genaueres uber die Intervalle hat Boas
nicht mitgeteilt.
51.
Metr. J = 72.
jE^iiz^n^^B^
^
^^^^^^^^^^^
— 183 —
=>- -< :=>- _ >~ >- >
S^^^^fei"^"'-
Kajaklied aus Ostgronland, aus den von Thal-
bitzer und Thuren klirzlich veroffentlichten Proben,
von Thuren selbst nach den phonographischen
Aufnahmen gemaB den von Abraham und v. Horn-
bostel aufgestellten Prinzipien in Noten gesetzt,
zum groBen Teil auch tonometrisch untersucht. In
unserem Lied ist die groBe Terz rein, die Quinte
erheblich vertieft. Die Verfasser sind der Meinung,
daB ein festes Tonsystem in Ostgronland nicht ent-
wickelt sei. Sie haben den Eindruck, als besaBe
jeder Sanger seine individuelle Tonleiter (vgl. Gil-
man bezUglich der Hopi). Sie riihmen jedoch die
bewunderungswurdige Technik in Hinsicht des kom-
plizierten und mit groBter Konsequenz durchgefuhr-
ten Rhythmus. Der Rhythmus der Trommel (des ein-
zigen Instruments der Ostgronlander) scheine auBer
Zusammenhang mit dem des Gesanges; nur zuv^eilen
mache ein Ritardando des Sangers den Eindruck, daB
er sich mit den Schlagen in Ubereinstimmung setzen
wolle, worauf dann aber v^ieder beide Rhythmen
auseinandergehen. Die ganze Vortragsweise zeuge
— 184 —
von einer uralten Tradition. Die Tonbewegung sei
immer (nach dem ersten Aufsteigen) eine absteigende,
der gewohnliche Tonumfang eine Quinte oder Sexte.
Soeben beim Abschlusse des Druckes erscheint
die vollstandige Sammlung der beiden Forscher:
The Eskimo Music, 1911. Sie umfaBt 129 zum
groBeren Teile phonographierte Lieder aus Ostgron-
land nebst einigen aus Nordwestgronland. Eine
ganze Anzahl zeigt eine dem obigen Lied (dort
Nr. 121) sehr ahnliche Tonbewegung: Aufsteigen
zur Quinte und Senkung von da durch die Terz
(und Sekunde) oder durch die Quarte. Halbton-
stufen kommen nur gelegentlich im Durchgange vor.
In einem Liede begleitet ein Chor den Sanger in
der Weise, da6 er den Ton a M^iederholt angibt,
wahrend der Solist von f tiber a (stark erhoht) oder
direkt nach c hinaufgeht. Dann tritt Unisono ein. Den
SchluB der Gesange bilden haufig einige musikalisch
unbestimmbare stark aspirierte Laute, wie sie auch bei
Indianern vorkommen, zu deren Gesangen sich hier
iiberhaupt manche Analogien finden (auch z. B. die
kleine allmahliche Erhohung der absoluten Tonhohe,
von der oben zu Nr. 22 die Rede war, die freilich auch
bei uns vorkommt). Die Musik spielt bei den Ost-
gronlandern eine solche Rolle, daB sogar bei Gerichts-
verhandlungen Anklager und Verteidiger singen (Juri-
dical Drum Songs), woraus begreiflicherweise eine
besonders lebhafte Art von Musik entspringt.
— 185 —
In Nordwest- und Stidwestgronland ist nach
Thalbitzer die Musik schon stark europaisiert. Bei
den Polareskimo, von denen R. Stein 1902 nach
direktem H5ren 39 Gesange aufgeschrieben, hat in
den letzten Jahren der Norweger Leden phono-
graphische Aufnahmen gemacht, die er selbst ver-
5ffentHchen wird. Sie versprechen weitere Aus-
beute fUr die Erkenntnis der Beziehungen zwischen
den Eskimo und den Indianern.
52.
Metr. J = 176.
^5 iin f -^==s=m^^^=s^^
53.
Metr. J = 152.
^l_J_r^^,^^E=^j;^^E;g^g
rvirri
§4 i73 ^^t^^^^^^^^^a
^^^^l^^^m-'Tj JUl
Wir fUgen noch einige Melodien aus Afrika bei.
Aus diesem Erdteil liegt zwar auch schon viel
phonographisches Material vor, es ist aber noch
— 186 —
weniger bearbeitet. In den Ktistenlandern von Af-
rika und selbst in manchen inneren Gegenden durften
europaische Einflusse vielfach mitwirken, auch sol-
che aus alterer Zeit. DaB die heutigen Eingeborenen
eine Melodie als ihr ausschlieBliches Eigentum und
Erzeugnis betrachten, ist noch kein gentigender Be-
weis, daB sie es wirklich ist.
Die obigen beiden Lieder, die man wohl fur echt
halten darf, sind von Pater Witte in Atakpame, Togo,
phonographisch aufgenommen und von Prof. Pater
W. Schmidt nach diesen Aufnahmen aufgezeichnet
(Ztschr. Anthropos I, S. 76 und 71). Sie gehoren
den Ewe-Negern an, und zwar den Ge- oder Anecho-
leuten. Sie werden von Trommeln begleitet. P. Witte
halt es bei der besonderen Bedeutung des Tonfalles
in den Ewesprachen fur mogUch, daB die Ton-
bewegung der Melodie teilweise mit der des Textes
zusammenhange, aber eine strenge Abhangigkeit
bestehe keinesfalls. Die Melodien tragen ja auch
einen rein musikalisch durchaus verstandlichen Cha-
rakter.
Das erste Lied bezieht sich auf ein altes Priester-
verbot, zweimal im Jahre Yams zu pflanzen. Die
Gliederung ist ubersichtlich: nach dem zweitaktigen
Thema ein Zwischentakt, dann die Wiederholung
des Themas auf der Unterquarte. Die Funfteiligkeit
des Taktes steht nach P. Schmidt auBer Zweifel.
Ein diesem angeftigtes, ganz analog verlaufendes
— 187 —
Liedchen (Kinderspottlied auf die WeiBen), worin die
Gdur-Tonart noch deutlicher hervortritt, das aber
ebenso mit d^ beginnt und mit d^ schlieBt, dUrfte
schon stark europaisch beeinfluBt sein.
Nr. 53 ist ein Madchenlied, worin die Sympathie
fur einen jungen Mann ausgedriickt wird. Wenn es
auch fUr uns in Dmoll zu stehen scheint, ist doch
schwerlich fUr die Eingeborenen d Hauptton. Das cis
wird an mehreren betonten Stellen vertieft (die
Bindung nach der Fermate und den Glissandostrich
habe ich nach P. Schmidts Angaben eingefugt). Das
Lied wird in ziemHch straff em, fast steifem Rhyth-
mus gesungen. Der Takt auch hier zweifellos fUnf-
teilig; nur einmal kommt ein 6. Viertel am Takt-
schluB hinzu, wo ein (uniibersetzter) Ausruf im Text
eingeschaltet scheint.
Schnell.
54.
1^
£^
SS
ii=±
Lj^ L(^^^^-^=ff^^-EE^
:£=£
ra^^^a^
— 188
55.
Gesang:
§E^=^-^=^=^4^F^^^^^^^^
Kleine Trommel in G, groBe in E:
A A A A A A
i rm n rnTi n rm
r. 1. r. 1. r. 1. r. 1. usw.
Brettchen :
r. r. r.
ip^ i^pS m itj
1. 1
usw.
r. I. r. r. 1. r.
lr=tr-P-P^
USW.
(Brettchen wie vorher.)
56.
Gesang:
i
^-^ J f f 1^
-ff »
=^t==pt
Gr. Trommel:
Handeklatschen:
A
^ J
i
— 189 —
6
^^^^^m
usw.
usw.
3
r. I. r. 1. r. r. 1. r. r. 1. r.
Diese Beispiele sind dem Buche des Regierungs-
lehrers J. Schonharl in Lome „Volkskundliches aus
Togo" 1909 entnommen. Sie stammen gleichfalls
von den Anecho-Leuten. Schonharl hat sie direkt
nach dem Gehor aufgezeichnet. Seine Erlauterungen
und die sorgfSltige Beachtung rhythmischer Kom-
plikationen zeigen ihn als einen guten Beobachter.
Auf die Ausfuhrung der Rhythmen mit den ein-
heimischen Instrumenten hat er sich selbst eingelibt.
Man darf also die Notierungen im allgemeinen fur
authentisch halten. Die Melodien sollen zum Teil
alt sein, aber immer neue Texte erhalten. Die dritte
Melodie allerdings wird als nur 15 Jahre alt be-
zeichnet und scheint entschieden europaischen Ur-
sprungs. Sie ist hier nur wegen der rhythmischen
Begleitung aufgenommen, die die Eingeborenen hinzu-
gefUgt haben. Schonharl versichert, daB die meisten
Ewelieder sich in zweiteiligen Rhythmus gliedern
lassen; wie denn auch die 20 von ihm mitgeteilten
zumeist im ^/^Takte geschrieben sind. Doch wurden
— 190 —
auch Lieder, besonders wahrend der Tanzpausen,
ohne Trommelbegleitung gesungen, die sehr wechsel-
vollen Rhythmus haben und sich in keinen Takt
teilen lassen. Metronomzahlen sind nicht beigegeben
worden, aber es ist erwahnt, daB die Tanzlieder
durchweg in sehr heiterem schnellen, immer feuriger
werdenden Tempo gesungen werden.
Im groBen und ganzen lassen sich unsere Ton-
arten auch auf diese Lieder iibertragen, ja einige
(wozu auch ein auf S. 124 in eine Parabelerzahlung
eingefugtes) bestehen fast ausschlieBHch aus Dur-
Dreiklangstonen, ahnlich vielen IndianerHedern. Aber
es wurde sich noch um die genauere Intonation
handeln, und auBerdem kommen doch fast tiberall
Harten vor, die lehren, daB das TonalitatsbewuBtsein
nicht ohne weiteres dem unsrigen gleichzusetzen ist.
Als Beispiel fur diese Seite mag hier Nr. 54
dienen. Wir konnten es allenfalls in E-moll denken,
ohne die (auch bei uns spater eingefuhrte) Erhohung
der Septime. Aber schon dadurch und besonders
durch den SchluB auf der Sekunde wirkt es fiir uns
hart und befremdlich. Nach dem Verfasser schlieBen
die Ewelieder vielfach in der Sekunde, Quarte oder
Septime, wie uns AhnUches auch bei den Indianern
begegnet ist (bei diesen Intervallnamen ist freilich
bereits irgendein Ton als Hauptton angenommen).
Die hier nicht beigeftigte Begleitung durch Schlag-
instrumente ist noch einfach.
— 191 —
Dagegen zeigen Nr. 55 und 56 eine ausge-
sprochene Polyrhythmie derBegleitung. r. 1. bedeuten
die Anwendung der rechten und linken Hand. Die
afrikanische Musik ist hervorragend durch rhythmische
Polyphonic und darin zweifellos original gegenuber
der europaischen, ja sie vielfach Ubertreffend. Die
Ewe haben ein ganzes System von Trommeln ver-
schiedenster Art, die sich auch in verschiedener
Weise an der Gesangsbegleitung beteiligen. In bezug
auf die Abstimmung der einzelnen Trommelklassen
und den Rhythmus, in dem jede geschlagen wird,
herrschen bestimmte Gesetze. Die Lieder werden
immer von einem kleinen Trommelorchester, auch
durch Schlage auf Holz- oder Metallbrettchen und durch
Handeklatschen in mannigfaltigen Rhythmen begleitet.
57.
Metr. J = 152.
Solo.
Cher.
^^t^^^^^m
^i^^a^^^^
i
4^
^^
-^ '
— 192 —
Solo.
^=^JU^=j:njr:^p=^
58.
Metr. J = 168.
Solo.
59.
Metr. J- =
Solo.
Chor.
^^^3)^
193
r-cr-r-^^^p^lf=7~f"pT^^^
Drei phonographisch beglaubigte Beispiele primi-
tiver Mehrstimmigkeit aus Deutsch-Ostafrika. Das
erste, nach Aufnahmen von Prof. Weule, gehort dem
Stamme der Wanyamwezi aus der Bantu-Familie
(Ph.- A. Nr. 19). Es ist ein Teil eines langeren Tanz-
liedes, in welchem Chor und Solo in ahnlicher
Weise abwechseln. Die untere Stimme des Chors
klingt aus der Walze erheblich starker heraus, so
daB die obere wie eine diskrete Begleitstimme er-
scheint und das Ganze fur unsere Ohren genieBbarer
wird, als es aussieht. In Wirklichkeit kSnnten je-
doch beide Stimmen gleich stark gewesen sein und
nur die verschiedenen Entfernungen vom Aufnahme-
trichter an der Starkeverschiedenheit schuld sein.
Weule erzahlt in seinem Reisewerke, daB der Ein-
druck, wenn er die Leute aus einiger Feme solche
Weisen in der Dammerung singen horte, ein ganz
angenehmer gewesen sei; er bezeichnet sich aller-
dings als einen Unmusikalischen. Aber auch an-
dere Reisende riihmen den Wanyamwezi-Gesang als
besonders eindrucksvoll. Der ganzen Struktur nach
gehoren StUcke wie dieses langst nicht mehr zu den
eigentlich primitiven.
Auch in den ubrigen von v. Hornbostel notierten
Wanyamwezi-Gesangen geht mehrmals gegen den
Stumpf, AnfSnge der Musik *3
— 194 —
SchluB die Einstimmigkeit in Quinten-, Quarten-
und Oktavenparallelen Uber.
BezUglich des Taktes ordnen sich die mit ^4
bezeichneten Takte nach der Anzahl der Viertel zwar
ganz genau in diese Taktform (auch in anderen
Aufnahmen, die von diesem Gesange vorliegen), aber
die Akzentuierung macht den Eindruck, als begannen
an den durch die kleinen Striche uber dem Noten-
system angegebenen Stellen neue Takte. Man wtirde
in diesem Falle vor dem ersten ^j^- zunachst einen
74-Takt bekommen und umgekehrt vor dem Wieder-
beginn des 3/2-Taktes einen V4-Takt. Stellt man sich
die Einteilung so vor, so gewinnt man in der Tat,
wie V. Hornbostel bemerkt, noch ein besseres Bild
des wirklichen Vortrags; und wir wissen ja, da6
VerlMngerungen und Verkiirzungen eines sonst fest-
gehaltenen Taktschemas (also 74 ^^^ ^U bei sonst
festgehaltenem V4) keine ungewohnlichen Vorkomm-
nisse sind.
Nr. 58, als Hochzeitstanzlied bezeichnet, zeigt
dieselben Eigentumlichkeiten. Es besteht aus einem
immer wiederkehrenden Motiv von stets gleicher
Lange. Im 2. Abschnitt des Soloteiles ist es zuerst
melodisch modifiziert, lenktaber in die namliche SchluB-
formelein. ImChor setztdieuntere Stimme dieWeise
fort, die obere begleitet sie im Quartenorganum.
Die Wanyamwezi haben einen Musikbogen, eine
Harfe, H5rner, Glocken und wieder viele Trommel-
195
arten. Floten scheinen selten. Zur Unterstlitzung des
Rhythmus der Gesange dienen nur Trommeln und
gelegentlich derMusikbogen. Auch bei diesem Stamme
werden den alten Melodien immer neue Texte an-
gepaBt.
Ein Seitenstuck bietet Nr. 59, phonographisch
aufgenommen von Dr. Czekanowski (Ph.-A. Nr. 25).
Es gehort dem benachbarten Stamme der Wasukuma
an, der mit den Wanyamwezi auch sprachlich nahe
Verwandtschaft zeigt. Aus dem langeren von v. Horn-
bostel notierten Stiick ist hier der Anfang und SchluB
(der aber nicht SchluB des ganzen Gesanges zu
sein braucht, da die Walze zu Ende war) wieder-
gegeben. Hier handelt es sich wieder vorzugsweise
um Quartenparallelen. Interessant ist es aber, wie
doch immer mit der konsonanteren Quinte geschlossen
wird.
Metr. J = 126
Solo.
60.
^^1
^^^
JTTU-J-^
W
^.
Pauke: uKT^ tXtT "^
Chor.
i
m
i-t^
usw.
I , Solo.
usw.
Ich flige schlieBlich zur Vergleichung ein mun-
teres StUcklein mit QuartengSngen bei, das ich nebst
anderen Stticken 1887 von einer Singhalesentruppe
13^
— 196 —
horte, iiber deren Vorfiihrungen ich eingehende Auf-
zeichnungen gemacht habe. Auch die Tone der
Pauke waren die hier notierten, nur vielleicht eine
Oktave tiefer. Bei den Quartengangen des Chors
ist es auch hier die untere Stimme, die in der Ton-
hohe des Vorsangers fortfahrt. Das ist nun nicht
mehr Musik reiner Naturvolker, aber immerhin eine
niedrigstehende gegenuber der der benachbarten
asiatischen Kulturnationen, wo sich dieseiben Paral-
lelgange finden. Vielleicht sind auch die Quarten-
und Quintenparallelen in Ostafrika nicht ohne histori-
schen Zusammenhang mit diesen asiatischen.
So sind wir zum Anfangspunkte, Ceylon, zuriick-
gekehrt und beschlieBen damit unsere musikalische
Reise urn die Erde.
197
Abbildungen primitiver Instrumente.
(Zu S. 35 ff. des Textes).
Wenige Proben sollen die Hauptgattungen und
die Spielweise primitiver Instrumente illustrieren.
Aus jeder Gattung sind rohere und entwickeltere
Formen gewahlt.
Abbildung 1. Knochenpfeifen aus Grabern auf den
Kalifornischen Inseln. Nach Th. Wilson, Prehistoric
Art, Smithsonian Institution Report for 1896. Die
Pfeifen sind nach dem Flageoletprinzip gebaut; gegen-
uber dem seitlichen Loch fanden sich im Inneren
Oberreste einer aus Gummi oder Asphalt bestehenden,
bis zum offenen Ende reichenden Leiste, die den
schmalen Spalt des Flageolets herstellte. Die An-
blasebffnung ist gut ausgearbeitet. Das zweite
Exemplar ist eine Doppelpfeife. Am unteren Ende
waren die beiden Teilpfeifen durch eine jetzt ge-
sprungene Asphaltmasse zusammengehalten; auBer-
dem waren sie mit Bast umwickelt. In anderen
Grabern derselben Inseln fanden sich auch Knochen-
floten mit vier Lochern.
Abbildung 2. Ein Orchester von Panpfeifen-
blasern auf den deutschen Salomon-Inseln. Nach
A. B. Meyer und Parkinson, Album von Papua-
Typen I. Das Bild gibt eine Vorstellung der ver-
schiedenen Gr56en von Panpfeifen; und zwar sind
— 198 —
es hier durchweg zweireihige. Unser Phonogramm-
archiv besitzt auch Aufnahmen der mehrstimmigen
Musikstiicke, die von solchen Orchestern geblasen
werden; sie klingen unserem Ohre hochst drollig.
(Ph.- A. Nr. 30.)
Abbildung 3. Als Seitenstiick dazu ein Kameruner
Orchester mit Kurbistrompeten, dessen Produktionen
uns von Herrn Dr. Ankermann, Direktor am Berliner
Museum fur Volkerkunde, dem ich auch das Bild
verdanke, auf Walzen mitgebracht sind. Es ist die
Musik des „Voma-Bundes", einer religiOsen Briider-
schaft der Bali in Nordwestkamerun.
Abbildung 4. Musikbogenspieler aus dem Wald-
gebiete des oberen Kongo, westlich vom Albert-See.
Nach H.Johnston, The Uganda Protectorate, 1902. Die
Saite wird an die Zahne (aber nicht mit den Zahnen)
gehalten; mit der linken Hand wird sie verktirzt.
Abbildung 5. Basuto-MSdchen (SUdafrika), auf
einem Musikbogen spielend. Aus Henry Balfours
Monographic „The Natural History of the Musical
Bow" 1899, nach dem Original von F. Christol. An
dem Holz ist hier ein Ktirbisresonator befestigt
(haufig ist das Band auch noch um die Saite ge-
schlungen). Die eine Hand h^lt den Bogen und ver-
ktirzt zugleich die Saite, die andere schl^gt die
Saite mit einem StSbchen.
Abbildung 6. Lyra in Kavirondo, nordwestlich vom
Viktoria-See. Aus dem zu Abb. 4 erwahnten Werke
— 199 —
von Johnston. Ein Schildkrotenpanzer, auf der Innen-
seite mit einem Fell Uberspannt, dutch das die
Saiten gehen, dient als Resonator.
Abbildung 7. Harfe der Pangwe (Fan) in Westafrika.
Der Resonanzkasten ist ein ausgehohltes StUck Holz
mit einer kleinen seitlichen Offnung. Das Bild ist
mir von Herrn Dr. Tessmann, Direktor des LUbecker
Museums, dessen Pangwe -Werk im Erscheinen be-
griffen ist, freundlichst uberlassen.
Abbildung 8. Klangholzer auf der Gazellen-Halb-
insel in Neupommern. Nach Dr. H. Schnee, Bilder
aus der Sudsee, 1904.
Abbildung9.SignaltrommelnebstPauke,zumTanze
gespielt, Westafrika. Aus dem Katalog der Crossby-
Brown Collection (Metropolitan Museum) in New-
York.
Abbildung 10. Xylophon (Amadinda genannt) bei
dem Bagunda-Stamme in Ostafrika, nach Johnston
a. a. O. Zwei Personen spielen hier gleichzeitig auf
demselben Instrument, die KlOppel ruhen auf den
gleichen Tasten. An den Holzstaben sieht man die
zur genaueren Abstimmung ausgekerbten Stellen.
In anderen und wohl den meisten Fallen liegen die
Auskerbungen auf der unteren Seite.
Abbildung 11. Xylophon (Marimba) der Yaunde
in Kamerun. Aus B. Ankermann, Die afrikanischen
Musikinstrumente (Ethnolog. Notizblatt, Bd. 3, Heft 1).
Die zahlreichen Abbildungen und Beschreibungen in
- 200 -
diesem Buche geben dem Leser, der sich naher zu
unterrichten wUnscht, am besten einen Begriff von
der Mannigfaltigkeit der in Afrika vorkommenden
Instrumente, namentlich wenn er die Anschauung
der Exemplare, die jedes groBere Museum ftir Volker-
kunde in Fulle besitzt, damit verbindet.
Abb. 1.
— 201
Abb. 2.
— 202 —
203
\
w
Jjj00i
*-' -'^
.->^
Abb. 4.
— 204 —
Abb. 6.
— 205 —
Abb. 7.
206
Abb. 8.
— 207
208
^^
\€
— 209 —
Abb. 11.
Stumpf, Anfange der Musik
14
Verlag von Johann Ambrosius Barth in Leipzig
Philosophische
Reden und Vortrage
von Carl Stumpf
Professor der Philosophic an der Universitat Berlin
II und 262 Seiten. 1910. Broschiert M. 5.—, gebunden M. 5.80
I nh alt: Die Lust amTrauerspiel. — Leib und Seele. — DerEnt-
wicklungsgedanke in der gegenwartigen Philosophie. — ZurMe-
thodik der Kinderpsychologie. — Die Wiedergeburt der Philoso-
phie. — Vom ethischen Skeptizismus. — Die Anfange der Musik.
Der Tag: Es ist sehr erfreulich, daB Stumpf sich entschlossen hat,
seine bei verschiedenen, zumeist akademischen Gelegenheiten gehaltenen
Vortrage philosophischen Inhalts nunmehr auch in einem Bande gesammelt
herauszugeben. Denn wenn auch solche Vortrage naturgemaB nur in all-
gemeinen Zugen uber den jeweils in Frage stehenden Gegenstand Auf-
klarung geben konnen, so hat es doch Stumpf stets in ungewohnlicher
Weise verstanden, im knappen Rahmen solcher Vortrage das Recht seines
eigenen Standpunktes zu erweisen und diesen zum Mittelpunkt der ganzen
Darlegung zu machen. . . . Stumpfs gesammelte philosophische Vortrage
sind in ihrer gedanken- und ausblicksreichen Knappheit keine sehr leichte,
aber fur den, dem es um ein wirklichesVerstandnis der behandelten Fragen
zu tun ist, sehr fruchtbare und geradezu unentbehrliche LektUre..
Zeitschrift fur Philosophie: Darin besteht in erster Linie der groBe
Reiz der Sammlung, daB sie es ermoglicht, einen geschlossenen Eindruck
von der philosophischen Personlichkeit Stumpfs zu gewinnen. Die Aus-
fuhrungen erortern moglichst allgemein gehaltene Themen von der Warte
zusammenfassender Uberschau aus. Letzte und hochste, in der philoso-
phischen Besinnung immer wieder auftauchende Fragen werden in groBen
Strichen entwickelt und ihre Losungsversuche al fresko angedeutet. Die
Vortrage bieten eine Reihe meisterhatt gezeichneter Skizzen, die dem Fach-
mann eine gedrangte Ubersicht und dem Studierenden eine groBzUgige
und darum vortrefflich orientierende Einfuhrung in den Geist der philo-
sophischen Forschung, in die verschiedenen Probleme und in die Bemiihungen
um deren begriffliche Bewaltigung gewahren.
Dresdner Anzeiger vom 4. 6. 1911: Er ist der geborene, wissenschaft-
liche Stilkiinstler; eine Freude und ein GenuB, ihm in das Labyrinth
schwieriger Gedanken zu folgen, wie er das Wichtige hervorhebt, anderes
anklingen laot, wieder anderes unterdriickt; ein besonderer Reiz, u'ie er,
ohne im Inhaltlichen irgend etwas preiszugeben, seine Redeweise der je-
weils gegebenen Situation anpaBt, zu den Kommilitonen anders spricht
als zu koordinierten Arbeitsgenossen. Endlich ist er ein Meister objektiver
Wiedergabe sowohl fremder Gedanken wie historischer Entwicklungen.
Klassisch ist in der Philosophie nicht nur das — stets fragliche — Bleibende,
sondern was einer letzterreichbaren Gesinnung unter bestimmten Denk-
voraussetzungen einen bedeutenden und treffenden Ausdruck verleiht.
Das tut dieses Buch, zu welchem man wie dem Verfasser so seinen Zeit-
genossen aufrichtig GlUck wiinschen darf.
Verlag von Johann Ambrosius Barth in Leipzig
Beitrage, zur Akustik und Musikwissenschaft.
Herausg. von Prof. Dr. Carl Stum pf. In zwanglosen Heften.
1. Heft: V, 108 S. 1898. M. 3.60.
Stumpf, Konsonanz und Dissonanz.
2. Heft: III, 170 S. 1898. M. 5.—.
C. stumpf, Neueres iiber Tonverschmelzung. M.Meyer, ZurTheorie der
Differenztone und der Gehorsempfindungen iiberhaupt. M.Meyer, Ober
die Unterschiedsempfindlichkeit fiirTonhohen. C. Stumpf und M. Meyer ,
MaBbestimmungen iiber die Reinheit konsonanter Intervalle. C. Stumpf,
Zum EinfluB der Klangfarbe auf die Analyse von Zusammenklangen.
3. Heft: IV, 147 und 11 S. mit 9 Tafeln. 1901. M. 6.50.
J. C. F i 1 m 0 r e , Indianergesange. P. von J a n k o , Uber mehr als zwolfstufige
gleichscliwebende Temperaturen. O. Abraham und K. L. Schafer,
Cber die maximaleGeschwindigkeit vonTonfolgen. O. Abraham und K. L.
Schafer, Uber das Abklingen vonTonempfindungen. Carl Stumpf, Be-
obachtungen iiber subjektive Tone und iiber Doppelthoren. K.L. Schafer.
Die Bestimmungen der unteren Horgrenze. O. Raif, Uber die Fingerfertig-
keit beim Klavierspiel. C. Stumpf, Tonsystem und Musik der Siamesen.
C. Stumpf und K. L Schafer, Tontabellen.
4. Heft: IV, 182 Seiten mit 3 Tafeln. 1909. M. 6.50.
C. S t u m p f , Uber das Erkennen von Intervallen und Akkorden bei sehr kurzer
Dauer. L. Wi 1,1 iam Stern, DerTonvariator. K. L. Schafe r und Alfred
Guttmann, .Uber die Unterschiedsempfindlichkeit fiir gleichzeitigeTone.
C. Stumpf , CberzusammengesetzteWellenformen. C. Stumpf , Differenz-
tone und Konsonanz. C. S t u m p f , Akustische Versuche mit Pepito Arriola.
Paul von Liebermann und Geza Rev6sz, Uber Orthosymphonie.
W. Kohler, Akustische Untersuchungen. I.
5. Heft: VI, 167 Seiten. 1910. M. 5.—.
C. stumpf, Beobachtungen iiber Kombinationstone. Erich M. v. Horn -
bostel, Ober vergleichende akustische und musikpsychologische Unter-
suchungen.
Handbuch der Akustik. Von Prof. Dr. F. Auerbach.
Gr.-8«. X und 714 Seiten. Mit 367 Abbiidungen. 1909.
Brosch. M. 25.—, geb. M. 27.—.
Naturwissenschaftliche Rundschau: Eine besondere Empfehlung dieses
fiir jeden in der Physik oder auf benachbarten Gebieten Tatigen schlechthin
unentbehrlichen Werkes ist angesichts der Namen der Mitarbeiter wohl nicht
notig. Die ungemein groBe Fiille der Tatsachen, die hier geordnet in knapper
tfbersicht, mit reichemLiteraturverzeichniszusammengestellt,sichvorfindet,
wird das Werk mit seinen verlaBlichen Angaben zu einem steten Heifer bei
den Spezialarbeiten machen. Uberaus lobend ist die schone Ausstattung
zu erwahnen.
Die Qrundlagen der Musik. Von Prof. Dr. F. Auer-
bach. VI, 209Seiten mit 71 Abbiidungen. 1911. Geb.M.5.— .
Dieses Buch wendet sich an alle, die fiir Musik, sei es ein kiinstlerisches,
sei es ein wissenschaftliches, sei es ein rein menschliches Interesse haben
und es macht in keiner Weise besondere Ansprliche an die Vorbildung des
Lesers. Es bildet zugieich Band 18 von Wissen und Konnen, Sammlung von
Einzelschriften aus reiner und angewandterWissenschaft.herausgegebenvon
Geheimrat Professor Dr. B. Weinstein, Charlottenburg.
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