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Full text of "Die asthetischen Gefuhlsbetonungen taktil-kinasthetischer Empfindungen bie blinden Kindern"

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ARCHIV  FÜR  PÄDAGOGIK 


ETEIL 

DIE  PÄDAGOGISCHE 
FORSCHUNG 


2.  JAHRQ. 

HERAUSGEBER:  DR.  MAX  BRAHN,  PRIVAT- 

OKTOBER 

NR.  L 

DOZENT  AN  DER  UNIVERSITÄT  LEIPZIG,  UND 

1913 

MAX  DÖRING,  LEHRER  IN  LEIPZIG 

Die  ästhetischen  Gefühlsbetonungen  taktil-kinästhetischer 
Empfindungen  bei  blinden  Kindern. 

^ Von  Prof.  Th.  Ziehen,  Wiesbaden. 

Bei  Gelegenheit  ausgedehnter  Untersuchungen  über  die  kinästhetischen 
Empfindungen  blindgeborener  oder  sehr  früh  erblindeter  Kinder,  deren 
1 Ergebnisse  ich  zum  Teil  schon  an  anderer  Stelle  mitgeteilt  habe^),  habe 
ich  mich  auch  mit  der  Frage  beschäftigt,  ob  ästhetische  Gefühlsbetonungen 
I einfacher  taktil-kinästhetischer  Empfindungen,  d.  h.  Tastempfindungen  bei 
I blinden  Kindern  überhaupt  Vorkommen  und  ob  sie  — bejahendenfalls 
— irgendwelche  Gesetzmäßigkeiten  erkennen  lassen.  In  der  Literatur  der 
Blindenpsychologie  und  der  experimentellen  Ästhetik  habe  ich  keine 
\ Untersuchung  gefunden,  welche  zur  Beantwortung  dieser  beiden  Fragen 
I irgendwie  ausreichen  könnte.  Insbesondere  schien  es  mir  interessant, 

' blindgeborene  oder  in  den  ersten  Lebensjahren  erblindete  Kinder  zu 
i untersuchen,  da  man  hoffen  durfte,  bei  solchem  infolge  der  Ausschaltung 
optischer  Vorstellungen  die  Entstehung  ästhetischer  Gefühlsbetonungen 
von  Formen  unter  besonders  einfachen  Bedingungen  zu  beobachten  und 
damit  eine  Grundlage  für  die  noch  immer  unaufgeklärten  Gesetze  der 
ästhetischen  Formauffassung  unter  komplizierten  Verhältnissen  zu  ge- 
winnen. 

Ich  beabsichtigte  ursprünglich,  die  bekannten  Methoden  der  experimen- 
tellen Ästhetik  auch  für  diese  Untersuchung  zu  verw^ehdem  Es  ergab 
sich  jedoch  sofort,  daß  dieselben  hier  nicht  in  Betracht  kommen 
konnten.  Die  sogenannte  R ei  henmethode,  bei  welcher  die  Versuchsperson 
die  regelmäßig  in  einem  bestimmten  Sinn  abgestuften  Formen  nach  ihrer 
Wohlgefälligkeit  in  eine  Reihe  zu  ordnen  hat,  schied  schon  deshalb  aus, 
weil  das  Betasten  keine  simultane  Wahrnehmung  mehrerer  Formen  ge- 
stattet und  das  Tastgedächtnis  bei  weitem  nicht  ausreicht,  um  die  si- 


Fortschr.  d.  Psychol.  u.  ihrer  Anwendungen.  1913.  Bd.  1,  Heft  4 u.  5,  S.  227, 
Pädagog.  Forschung  II,  1.  1 


2 Th.  Ziehen,  Die  ästhetischen  Gefühlsbetonungen  taktil-kinästhetischer  Empfindungen  usw. 


multane  Wahrnehmung  auch  nur  einigermaßen  zu  ersetzen  i).  Man  denke 
sich  z.  B.,  daß  man  den  blinden  Kindern  im  Sinn  der  Reihenmethode 
20  Rechtecke  vorlegen  würde,  deren  Seiten  sich  verhalten  wie  1 : 1,1, 
1:1,2,  1:1,3  usf.^),  und  von  ihnen  verlangen  wollte,  daß  sie  aus  diesen 
Rechtecken  eine  Reihe  auf  Grund  ihrer  Wohlgefälligkeit  bilden.  Offenbar 
würden  die  Kinder  dabei  vollständig  versagen  müssen. 

Etwas  aussichtsvoller  könnte  die  sogenannte  Methode  der  paarweisen 
Vergleichungen  scheinen.  In  der  Tat  hatte  ich  diese  zunächst  ins  Auge 
gefaßt,  und  zwar  in  der  Modifikation,  die  ich  als  die  systematische  be- 
zeichne. Diese  besteht  darin,  daß  sukzessiv  jede  Form  einzeln  mit  jeder 
anderen  verglichen  wird.  Um  bei  dem  Beispiel  der  Rechtecke  zu  bleiben, 
hätte  ich  also  so  zu  verfahren,  daß  ich  das  Rechteck  1 : 1,1  zuerst  mit  allen 
anderen  Rechtecken,  also  mit  dem  Rechteck  1 : 1,2,  1 : 1,3  usf.  vergleiche, 
dann  das  Rechteck  1:1,2  mit  den  Rechtecken  1:1,3,  1:1,4  usf.,  dann 
das  Rechteck  1 : 1,3  mit  den  Rechtecken  1 : 1,4,  1 : 1,5  usf.^).  Die  Reihen- 
folge aller  dieser  paarweisen  Vergleichungen  müßte  in  irgendeiner 
zweckmäßigen  Weise  geregelt  werden^).  Auch  dies  Verfahren  erwies 
sich  als  kaum  ausführbar.  Die  Zahl  der  paarweisen  Vergleichungen  bei 
einer  solchen  systematischen  Versuchsreihe  würde,  selbst  wenn  man 
sich  auf  10  Formen  beschränken  wollte,  45  betragen,  oder  vielmehr  da  jede 
wenigstens  dreimal  stattzufinden  hätte,  135.  Schon  bei  sehenden  Erwach- 
senen läßt  sich  eine  solche  Reihe  kaum  an  einem  Tag  ohne  schwere 
Fehlergefahren  durchführen.  Das  lebhafte,  ursprüngliche  Gefühlsinteresse 
stumpft  sich  im  Laufe  der  Reihe  zusehends  ab  und  muß  durch  ein  theo- 
retisches, ich  möchte  fast  sagen  pflichtmäßig  konstruiertes  Gefühlsinter- 
esse ersetzt  werden.  Nun  mag  bei  Erwachsenen  dieser  Ersatz  in  vielen 
Fällen  ausreichend  sein;  bei  Kindern,  zumal  blinden,  ist  er  ganz  un- 
genügend, so  daß  solche  längere  Reihen  ganz  ausgeschlossen  sind.  Ich 
habe  daher  zu  meinem  Bedauern  auch  auf  diese  Methode  wenigstens 
vorläufig  verzichten  müssen.  Es  wäre  nur  der  Schein  der  Exaktheit 
vorgetäuscht  worden.  Allerdings  hoffe  ich  im  Laufe  der  Jahre  doch  noch 
im  Sinne  dieser  Methode  ausreichendes  Material  zu  sammeln,  indem  ich 
die  erforderlichen  paarweisen  Vergleichungen,  also  z.  B.  die  oben  er- 
wähnten 135  Einzelversuche,  über  einen  sehr  großen  Zeitraum  — aus 
Gründen,  ^dfe  sich  unten  noch  ergeben  werden,  auf  mehrere  Jahre  — 
verteile. 

Auch  andere  hier^  nicht  näher  zu  erörternde  Nachteile  der  Reihenmethode  hätten  sich 
bei  der  speZielleii  Untersuchung,  die  ich  bezweckte,  äußerst  fühlbar  gemacht. 

In  der  praktischen  Ausführung  würde  man  selbstverständlich  als  Grenzfeld  das  Quadrat 
— gewissermaßen  als  Rechteck  mit  dem  Seitenverhältnis  1:1  — hinzuzufügen  haben. 

Auch  hier  würde  man  mit  dem  Quadrat  zu  beginnen  haben. 

Etwa  nach  den  Vorschlägen  Kowalewskis,  Studien  z.  Psychologie  des  Pessimismus.  Wies- 
baden 1904,  S.  70. 


Th.  Ziehen,  Die  ästhetischen  Gefühlsbetonungen  taktil- kinästhetischer  Empfindungen  usw.  3 


Bei  dieser  Sachlage,  zumal  die  übrigen  Methoden  noch  weniger  zweck- 
mäßig erschienen^),  war  es  geboten,  durch  orientierende  Vorversuche 
nach  einer  sehr  einfachen  Methode  vorerst  festzustellen,  ob  die  Tast- 
empfindungen blinder  Kinder  überhaupt  nennenswerte  Gefühlsbetonungen 
aufweisen  und  ob  die  systematische  Untersuchung  der  letzteren  irgend- 
welche bemerkenswerten  Gesetzmäßigkeiten  mit  einiger  Wahrscheinlichkeit 
erwarten  darf.  Ich  habe  mich  daher  zunächst  auf  ganz  bestimmte  ausge- 
wählte paarweise  Vergleichungen  beschränkt.  Nur  über  die  Ergebnisse 
dieser  Vorversuche  will  ich  heute  berichten.  Es  geschieht  dies  schon  jetzt, 
weil  wenigstens  einzelne  dieser  Ergebnisse  trotz  der  kleinen  Zahl  der 
Versuche  schon  jetzt  gesichert  zu  sein  und  einiges  Interesse  zu  bieten 
scheinen  und  weil  die  geplante  und  auf  Grund  dieser  Vorergebnisse 
begonnene  systematische  Versuchsreihe  einen  Abschluß  in  absehbarer 
Zeit  kaum  erwarten  läßt.  Vor  allem  liegt  mir  auch  daran,  andere  zu 
ähnlichen  Versuchen  an  blinden,  namentlich  an  blindgeborenen  Kindern 
anzuregen,  da  letztere  dem  Einzelnen  nicht  in  genügender  Zahl  zur  Ver- 
fügung stehen. 

Mein  Verfahren  gestaltete  sich  folgendermaßen.  Dem  blinden  Kind 
wurden  zum  vergleichenden  Tasten  dargeboten: 

a)  ein  Quadrat  und  ein  Rhombus, 

b)  ein  Quadrat  und  ein  Rechteck  von  dem  Seitenverhältnis  2 : 3, 

c)  ein  Quadrat  und  ein  Rechteck  von  dem  Seitenverhältnis  des  gol- 
denen Schnitts,  also  annähernd  3:5, 

d)  ein  Rechteck  von  dem  Seitenverhältnis  2:3  und  ein  Rechteck 
von  dem  Seitenverhältnis  3:5, 

e)  ein  Rhombus  und  ein  Rhomboid, 

f)  ein  Rhomboid  und  ein  Deltoid, 

g)  ein  Deltoid  und  ein  Trapezoid-), 

h)  ein  Deltoid  und  ein  Antiparallelogramm, 

i)  ein  Antiparallelogramm  und  ein  Rhomboid, 

k)  ein  Kreis  und  eine  eiförmige  Umrißlinie. 

Einige  weitere  Vergleichungen  lasse  ich  weg,  da  sie  nur  ganz  ver- 
einzelt oder  zu  anderen  Zwecken  angestellt  wurden. 

Alle  Figuren  waren  aus  Karton  von  U/2  mm  Dicke  ausgeschnitten. 
Die  Ränder  müssen  sorgfältig  geglättet  werden.  Angaben  über  dieLängen- 

Man  vergleiche  z.  B.  die  Külpesche  Aufzählung  der  Methoden  auf  dem  2.  Kongreß  f. 
exper.  Psychologie  in  Würzburg  1906,  Bericht  Leipzig  1907,  S.  23. 

Später  habe  ich  auch  zweckmäßig  gewählte  Trapeze  zum  Vergleich  herangezogen.  Da- 
bei zeigte  sich,  daß  von  blinden  Induviduen  ausnahmslos  das  Trapez  dem  Trapezoid  vor- 
gezogen wurde,  obwohl  keines  den  Parallelismus  des  einen  Seitenpaares  bei 
dem  Trapez  merkte,  welch  letztere  Tatsache  wohl  mit  der  in  der  oben  angeführten  Abhand- 
lung (S.  260)  nachgewiesenen  Dürftigkeit  der  Formvorstellungen  dieser  Individuen  zusammen- 
hängt. 


1* 


4 Th.  Ziehen,  Die  ästhetischen  Gefühlsbetonungen  taktil* kinästhetischer  Empfindungen  usw. 


dimensionen  werden  unten  bei  der  Besprechung  der  einzelnen  Ergeb- 
nisse gemacht  werden.  Daselbst  werden  sich  auch  die  Gründe  für  die 
Auswahl  der  angeführten  Figuren  ergeben. 

Um  den  Zeit-  und  Raumfehler  möglichst  auszuschalten,  wurde  den 
Kindern  erlaubt,  die  beiden  in  jedem  Versuch  zum  Vergleich  vorgelegten 
Figuren  nach  Belieben  mit  beiden  Händen  in  mehrmaligem  Wechsel  zu 
betasten.  Von  dieser  Erlaubnis  machten  die  Kinder  den  ausgiebigsten 
Gebrauch.  Auch  ein  gleichzeitiges  Betasten  beider  Figuren  und  selbst 
ein  Aufeinanderlegen  war  gestattet,  doch  kam  beides  nur  extrem  selten 
vor. 

Von  erheblicher  Bedeutung  ist  selbstverständlich  die  Reihenfolge  der 
paarweisen  Vergleichungen.  Namentlich  ist  für  die  ästhetische  Beurteilung 
eines  Paares  nicht  gleichgültig,  welches  Paar  unmittelbar  vorher  verglichen 
worden  ist.  Ich  habe  diesem  Einfluß  des  Reihenfolgenfehlers  bei 
den  jetzt  zu  besprechenden  Vorversuchen  wenigstens  insofern  Rechnung 
getragen,  als  im  allgemeinem  ein  einzelnes  Paar  bald  nach  diesem  bald 
nach  jenem  anderen  Paar  zum  Vergleich  kam. 

Die  an  das  Kind  gerichtete  Frage  lautete  einfach:  „was  gefällt  dir 
besser,  was  ist  schöner?“  Durch  die  doppelte  Formulierung  sollte  das 
Kind  auf  die  ästhetische  Bedeutung  der  Frage  möglichst  eindringlich 
hingewiesen  werden.  Ausdrücklich  wurde  bemerkt,  daß  vielleicht  auch 
beide  Figuren  gleich  gut  gefallen  oder  auch  keine  von  beiden  gut  ge- 
fallen könnte. 

Die  Antwort  wurde  wörtlich  protokolliert,  beschränkte  sich  aber  fast 
stets  auf  das  Vorzeigen  der  besser  gefallenden  Figur.  Die  Zeit  wurde 
in  diesen  Vorversuchen  nicht  genauer  gemessen,  nur  jede  auffällige 
Verzögerung  der  Antwort  notiert.  Meist  erfolgte  das  Urteil  schon  nach 
3 — 4—5  Sekunden. 

In  der  Regel  wurde,  wenn  das  Kind  spontan  nichts  hinzubemerkte, 
gefragt,  weshalb  die  eine  Figur  besser  gefalle  als  die  andere.  Auf  die 
Feststellung  dieser  Motive  wurde  aus  begreiflichen  Gründen  das  Haupt- 
gewicht gelegt.  Auch  andere  Fragen  wurden  gelegentlich  angeknüpft. 

An  einem  Tag  fanden  meistens  ca.  10  Vergleichungen  statt.  Die  Ver- 
gleichung eines  einzelnen  Paares  wurde  in  der  Regel  noch  mehrmals 
an  späteren  Tagen  wiederholt,  so  daß  für  die  meisten  Vergleichungen 
wenigstens  4 Ergebnisse  zur  Verfügung  standen.  Nur  bei  Chr.  und  Fra. 
mußte  ich  mich  vorläufig  mit  weniger  Versuchen  begnügen.  Einzelne  Ver- 
gleichungen fanden  fünfmal  statt.  Nur  ganz  ausnahmsweise  wurde  an  d e m - 
selben  Tag  ein  Paar  zweimal  zum  Vergleich  dargeboten.  In  der  Regel 
lag  zwischen  zwei  Vergleichungen  desselben  Paares  etwa  eine  Woche. 

Im  Ganzen  wurden  die  Versuche  an  5 blinden  Kindern  vorgenommen, 
den  Knaben  Li,  Fre  und  Chr.  und  den  Mädchen  Fra  und  A.  Am  wich- 


Th.  Ziehen,  Die  ästhetischen  Gefühlsbetonungen  taktil-kinästhetischer  Empfindungen  usw.  5 


tigsten  sind  wohl  die  Versuche  bei  Li,  weil  es  sich  bei  diesem  jetzt 
15  jährigen  intelligenten  Knaben  um  eine  von  Geburt  an  bestehende 
totale  beiderseitige  Blindheit  durch  angeborene  Katarakt  handelt.  Der 
etwas  ältere  Knabe  Fre  ist  völlig  blind,  aber  erst  seit  dem  2.  Lebens- 
jahre, Chr.  hat  noch  einen  Lichtschimmer  (ohne  Projektion).  Das  14  jäh- 
rige Mädchen  Fra  ist  im  2.  Jahre  erblindet,  rechts  ist  die  Blindheit  total 
(Phthisis  bulbi),  links  sieht  es  noch  einen  Lichtschimmer,  erkennt  jedoch 
keinerlei  Richtungen,  fixiert  auch  z.  B.  den  betasteten  Gegenstand  niemals. 
Das  13  jährige  Mädchen  A.  ist  gleichfalls  seit  dem  2.  Lebensjahre  fast 
absolut  blind  (schweres  Leukom  der  Cornea).  Chr.  ist  intellektuell  viel- 
leicht nicht  ganz  normal,  die  übrigen  sind  geistig  völlig  normal.  Auf- 
merksamkeit und  Interesse  ließen  nichts  zu  wünschen  übrig. 

Eine  gegenseitige  Beeinflussung  der  Kinder  kann  natürlich  für  die 
späteren  Versuche  nicht  ganz  ausgeschlossen  werden.  Der  erste  Ver- 
gleichungsversuch ist  daher  immer  besonders  wertvoll.  Für  die  Verglei- 
chungen der  Rechtecke  dürfte  übrigens  eine  Verständigung  durch  die 
relativ  geringen  Differenzen  erheblich  erschwert  worden  sein. 

Die  Ergebnisse  beschränken  sich  auf  4 Tatsachen,  nämlich: 

1.  Einfache  taktil-kinästhetische  Empfindungen  (Tastempfin- 
dungen) sind  bei  blindgeborenen  bzw.  sehr  früh  erblindeten 
Kindern  zuweilen  von  lebhaften  Gefühlstönen  des  Gefallens 
begleitet; 

2.  Der  Rhombus  wird  von  denselben  Kindern  oft  dem  Qua- 
drat vorgezogen; 

3.  Bei  dem  Vergleiche  eines  Rechteckes  von  dem  Seitenver- 
hältnis 2:3  und  eines  Rechteckes  von  dem  Seitenverhältnis  3:5 
wird  von  diesen  Kindern  das  letztere  bei  mittlerer  absoluter 
Größe  meistens  entschieden  vorgezogen; 

4.  Bewußte  assoziierte  Vorstellungen  („relative“  Faktoren 
im  Sinn  Külpes)  sind  für  diese  und  ähnliche  andere  Bevor- 
zugungen nicht  maßgebend. 

Aus  dieser  Aufzählung  geht  schon  hervor,  daß  viele  der  oben  auf- 
gezählten, experimentell  untersuchten  Vergleichungen  überhaupt  kein 
Ergebnis  geliefert  haben.  So  schwankte  z.  B.  bei  der  Vergleichung  von 
Deltoid  und  Rhomboid,  die  ich  wegen  des  Gegensatzes  von  Symmetrie  und 
Richtungsgleichheit  der  Seiten  experimentell  hatte  prüfen  wollen,  das 
Vorzugsurteil  nicht  nur  von  einem  Kind  zum  anderen,  sondern  war 
auch  bei  demselben  Kind  nicht  konstant^).  Ausnahmsweise  wechselte 
sogar  innerhalb  einer  und  derselben  Sitzung  das  Urteil  (z.  B.  bei  Li 
zwischen  Rhombus  und  Rhomboid).  Oft  erfolgte  die  Beurteilung  auch 


Im  Ganzen  wurde  das  Rhomboid  öfters  vorgezogen. 


6 Th.  Ziehen,  Die  ästhetischen  Gefühlsbetonungen  taktil-kinästhetischer  Empfindungen  usw. 


sehr  langsam,  oder  wurde  das  Urteil  „gleich“  gefällt.  Da  zudem  die 
Zahl  der  Versuche  viel  zu  gering  ist  — ich  brach  sie  wenigstens  vor- 
läufig eben  wegen  der  schwankenden  Ergebnisse  ab  — , gehe  ich  auf 
dieselben  nicht  weiter  ein.  Ich  will  nur  bemerken,  daß  das  Trapezoid 
(Seiten  sämtlich  ungleich  lang)  doch  gelegentlich  auch  dem  Deltoid  und 
namentlich  dem  Antiparallelogramm  vorgezogen  werde. 

Die  oben  angeführten  4 Tatsachen  sollen  nunmehr  gesondert  erörtert 
werden. 

Zu  1.  Ich  war  von  Anfang  an  darauf  gefaßt,  daß  überhaupt  jede 
nennenswerte  Gefühlsbetonung  ausbleiben  könnte,  zumal  Versuche  an 
sehenden  Individuen,  Kindern  wie  Erwachsenen,  mir  schon  gezeigt  hatten, 
daß  bei  solchen  das  Betasten  einfacher  Figuren  von  verschiedener  Form 
(bei  geschlossenen  Augen)  nur  sehr  schwache  und  vor  allem  nur  sehr 
wenig  verschiedene  Gefühlstöne  auslöst.  Als  ich  den  blinden  Kindern  die 
oben  angeführte  Instruktion  mitteilte,  hatte  ich  den  Eindruck,  daß  auch 
sie  kaum  eine  Differenz  der  Gefühlstöne  erwarteten.  Um  so  mehr  war 
ich  erstaunt,  daß  das  Urteil  in  vielen  Fällen  sehr  rasch  und  entschieden 
abgegeben  wurde.  Wie  oben  schon  erwähnt,  gilt  dies  durchaus  nicht 
für  alle  Fälle.  Langsame  Urteile  und  Gleich-Urteile  finden  sich  ebenfalls 
in  ansehnlicher  Zahl.  Zuweilen  erklärten  auch  die  Kinder  ausdrücklich, 
daß  der  Unterschied  im  Gefallen  nicht  groß  sei.  Aber  andererseits  bleibt 
eine  relativ  große  Zahl  von  Fällen,  in  denen  die  Schnelligkeit  und  Ent- 
schiedenheit des  Urteils  geradezu  auffiel.  Bemerkenswerter  Weise  sind 
dies  größtenteils  dieselben  Fälle,  in  denen  die  Urteile  von  einer  Sitzung 
zur  anderen  und  von  einem  Kind  zum  anderen  am  meisten  übereinstimmten. 
Im  wesentlichen  gehören  hierher  die  oben  unter  3.  aufgeführten  Ver- 
gleichungen. 

Interessant  erscheint  mir  dies  Ergebnis  insofern,  als  es  zeigt,  daß  der 
ästhetische  Formensinn  nicht  ausschließlich  an  die  optischen  Empfin- 
dungen gebunden  ist  — wenigstens  nicht  bei  blindgeborenen  oder  sehr 
früh  erblindeten  Kindern.  Allerdings  ist  dabei  doch  bemerkenswert,  daß 
das  einzige  Kind,  welches  auch  bei  den  unter  3.  angeführten,  unter  näher 
zu  erörternden  Vergleichungen  etwas  öfter  zu  Gleich-Urteilen  kam,  der 
blindgeborene  Knabe  Li  war.  Bei  der  kleinen  Zahl  der  Versuchspersonen 
lasse  ich  einstweilen  dahingestellt,  ob  es  sich  um  einen  Zufall  handelt. 

Zu  2.  Bei  dem  Vergleich  zwischen  Rhombus  und  Quadrat  (Seiten- 
länge meist  4,4  cm)  schwankten  die  Urteile  ziemlich  erheblich.  Interessant 
erscheint  mir  nur,  daß  nicht  wenige  Urteile  zugunsten  des  Rhombus 
ausfielen.  So  zogen  z.  B.  Fra  und  Chr  den  Rhombus  stets  vor.  Li 
fällte  bei  der  ersten  Vergleichung  ein  unentschiedenes  Urteil,  bei  den 

Für  sicher  halte  ich  dies  Ergebnis  nicht,  da  das  verwendete  Antiparallelogramm 
leider  einen  merklich  größeren  Flächeninhalt  hatte  als  das  Trapezoid. 


Th.  Ziehen,  Die  ästhetischen  Gefühlsbetonungen  taktil-kinästhetischer  Empfindungen  usw.  7 


späteren  zog  er  den  Rhombus  vor.  Bei  A fielen  4 Urteile  zugunsten 
des  Rhombus,  eines  zugunsten  des  Quadrates  aus.  Bei  Fra  überwogen 
die  Urteile  zugunsten  des  Quadrats  (3:1).  Zwei  nur  gelegentlich  unter- 
suchte 16-,  bzw.  17jährige  Blinde  H.  und  St.  fanden  keinen  Unter- 
schied in  der  Wohlgefälligkeit.  Für  die  Begründung  gilt  das  unter  4. 
näher  zu  Besprechende.  Nur  in  2 Fällen  gab  das  Kind  einen  bestimmten 
Grund  an;  der  Knabe  Li  meinte  bei  einer  späteren  Vergleichung,  der 
Rhombus  gefalle  ihm  besser,  „weil’s  die  seltener  gibt“,  und  das  Mädchen 
A führte  zugunsten  des  Quadrates  einmal  an,  dies  sei  „gleichmäßiger“ 
als  der  Rhombus.  Sonst  wurde  stets  angegeben,  einen  Grund  für  die 
Bevorzugung  wüßten  sie  nicht. 

Ganz  ohne  Interesse  ist  wohl  auch  dies  Ergebnis  nicht.  Bei  sehenden 
Individuen  nimmt  bekanntlich  das  Quadrat  insofern  eine  besondere 
Stellung  ein,  als  es  trotz  einer  maximalen  Regelmäßigkeit,  wenn  es  als 
optische  Empfindung  gegeben  wird,  keineswegs  stets  anderen  Vierecken 
vorgezogen  wird.  Offenbar  gilt  dies  nach  den  mitgeteilten  Ergebnissen 
in  bestimmten  Fällen  auch  für  die  ästhetischen  Tastvergleiche  blindge- 
borener bzw.  früh  erblindeter  Kinder. 

Zu  3.  Die  Versuchsreihe,  die  zu  der  Feststellung  unter  3.  geführt  hat, 
hat  mich,  nachdem  unter  1.  sich  überhaupt  eine  lebhafte  Gefühlsbetonung 
getasteter  Formen  ergeben  hatte,  besonders  beschäftigt,  da  nach  den 
Versuchsergebnissen  bei  sehenden  Personen  das  Seitenverhältnis  für 
die  ästhetische  Bewertung  gesehener  Rechtecke  von  einer  gesetzmäßigen 
Bedeutung  zu  sein  scheint.  Bekanntlich  haben  Fechner  und  Witmer  nach- 
gewiesen, daß  bei  der  optischen  Vergleichung  von  Rechtecken  mit  ver- 
schiedenen Seitenverhältnissen  ein  Maximum  der  Wohlgefälligkeit  auf 
diejenigen  Rechtecke  fällt,  deren  Seiten  annähernd  das  Verhältnis  des 
goldenen  Schnitts  haben,  also  im  Verhältnis  von  etwa  21 : 34  oder,  noch 
mehr  abgerundet,  von  3:5  stehen 2).  Spätere  Untersucher  haben  aller- 
dings die  Gültigkeit  der  Fechner-Witmerschen  Resultate  bestritten  und 
namentlich  Bedenken  gegen  das  fast  rein  statistische  Verfahren  und  die 
Durchschnittsberechnungen  Fechners  und  Witmers  erhoben.  So  sehr 
diese  Bedenken  gerechtfertigt  sind,  so  sehr  namentlich  die  Fechner- 
Witmerschen  Untersuchungen  einer  sorgfältigen  Ergänzung  durch  Selbst- 
beobachtungen der  Versuchspersonen  über  ihre  Motive  usw.  bedürfen, 
so  wenig  kann  ich  die  Bestreitung  der  Hauptresultate  jener  beiden 
Forscher  als  berechtigt  anerkennen.  Die  Tatsache,  daß  Rechtecke,  deren 


Fechner,  Vorschule  d.  Ästhetik,  Teil  1,  S.  191  ff.  und  Abhandl.  d.  math.  phys.  Kl.  d.  Kgl. 
Sachs.  Ges.  d.  Wiss.  1871,  S.  555;  Witmer,  Wundts  Philos.  Stud.  1894,  Bd.  9,  S.  96.  Bezüglich 
weiterer  Literatur  verweise  ich  auf  meinem  demnächst  erscheinenden  Vortrag  über  experi- 
mentelle Ästhetik  auf  dem  Kongr.  f.  Ästh.  u.  allg.  Kunstwissenschaft  in  Berlin. 

Dabei  müssen  die  optischen  Täuschungen  berücksichtigt  werden. 


8 Th.  Ziehen,  Die  ästhetischen  Gefühlsbetonungen  taktil-kinästhetischer  Empfindungen  usw. 


Seiten  annähernd  das  Verhältnis  des  goldenen  Schnitts  darbieten,  von 
den  meisten  Personen  gegenüber  anderen  Rechtecken  bevorzugt  wurden, 
bleibt  bestehen.  Ich  stimme  in  dieser  Beziehung  ganz  mit  Külpe  überein, 
der  gleichfalls  konstatiert,  daß  die  ästhetische  Bedeutung  des  goldenen 
Schnitts  durch  die  neueren  Arbeiten  in  keiner  Weise  widerlegt  worden  ist. 
Deshalb  wählte  ichdiesesVerhältnis  auch  für  meine  orientierenden  Versuche. 
Es  handelte  sich  darum  festzustellen,  ob  die  ästhetische  Bedeutung  des 
goldenen  Schnitts  nur  für  optische  Empfindungen  oder  auch  für  taktil- 
kinästhetische  Empfindungen  (Tastempfindungen)  gilt.  Bei  sehenden  In- 
dividuen, Kindern  und  Erwachsenen,  hatte  ich  mich  durch  Versuche  über- 
zeugt, daß  der  goldene  Schnitt  für  ihre  Tastempfindungen  keine  nennens- 
werte Rolle  spielt.  Hieraus  aber  einen  Rückschluß  auf  das  Verhalten  blinder 
Individuen  zu  ziehen,  war  offenbar  unzulässig.  Bei  sehenden  Individuen 
sind  die  Gefühlsbetonungen  der  Tastempfindungen  einfacher  Formen 
überhaupt  so  schwach,  daß  ein  Einfluß  des  goldenen  Schnitts  sehr 
wohl  schon  deshalb  sich  der  Feststellung  entziehen  konnte.  Bei  den 
blinden  Kindern  hatten  sich  lebhafte  Oefühlsbetonungen  der  Tastemp- 
findungen einfacher  Formen  ergeben.  Es  war  also  festzustellen,  ob  das 
Verhältnis  des  goldenen  Schnitts  hier  doch  vielleicht  eine  Rolle  spielt. 

Die  Untersuchung  erfolgte  ganz,  wie  oben  angegeben.  Zunächst  ver- 
wandte ich  ein  Rechteck  von  dem  dem  goldenen  Schnitt  entsprechenden 
Seitenverhältnis  3:5cm  und  ließ  es  mit  einem  Rechteck  vergleichen, 
dessen  Seitenverhältnis  3,2 : 4,7  cm,  also  etwa  2 : 3 betrug.  Das  Ergebnis 
war,  daß  in  der  weit  überwiegenden  Mehrzahl  der  Fälle  das  ästhetische 
Vorzugsurteil  rasch  und  entschieden  zugunsten  des  Rechtecks  3:5  ab- 
gegeben wurde.  Fre  entschied  sich  viermal  für  das  Rechteck  3 : 5 und  nur 
einmal  für  das  Rechteck  3,2: 4,7.  Chr  wurde  nur  dreimal  befragt,  zwei- 
mal entschied  er  sich  für  das  Rechteck  3:5,  das  letzte  Mal  schwankte 
sein  Urteil.  Li  fand  zweimal  keinen  Unterschied,  zweimal  entschied  er 
sich  für  das  Rechteck  3:5.  A bevorzugte  dreimal  das  Rechteck  3:5, 
bei  einem  4.  Vergleich  war  sie  sehr  zweifelhaft,  bei  einem  fünften  ent- 
schied sie  sich  für  das  Rechteck  3,2: 4,7.  Fra  war  bei  dem  ersten  Ver- 
gleich unentschieden,  bei  den  beiden  folgenden  entschied  er  sich  für 
das  Rechteck  3 : 5,  bei  dem  vierten  für  das  Rechteck  3,2 : 4,7.  Dem  Qua- 
drat 4,4: 4,4  wurde  das  Rechteck  3:5  stets  vorgezogen,  während  bei 
den  Vergleichungen  des  Rechtecks  3,2: 4,7  mit  demselben  Quadrat  die 
Urteile  schwankten.  H und  St  (siehe  oben),  die  allerdings  nur  je  einmal 
geprüft  wurden,  zogen  beide  das  Rechteck  3:5  dem  Rechteck  3,2: 4,7 
und  beide  Rechtecke  dem  Quadrat  4,4: 4,4  vor. 

Nach  diesen  Versuchen,  die  offenbar  zugunsten  einer  ästhetischen 
Bedeutung  des  goldenen  Schnitts  sprechen,  schien  es  zunächst  ge- 
boten festzustellen,  ob  nicht  etwa  die  absolute  Größe  eine  Rolle 


Th.  Ziehen,  Die  ästhetischen  Qefühlsbetonungen  taktil- kinästhetischer  Empfindungen  usw,  9 


spielen  und  das  Ergebnis  durch  einen  solchen  Einfluß  vorgetäuscht  sein 
könnte.  Es  war  mir  nämlich  bei  anderweitigen  Versuchen,  über  die  ich 
hier  nicht  berichte,  aufgefallen,  daß  blinde  Kinder  von  2 Kreisen  von 
verschiedenen  Durchmessern  gelegentlich  den  kleineren  vorzogen  und 
ausdrücklich  als  Grund  angaben,  daß  er  „kleiner  sei“.  Ich  ließ  also  nun- 
mehr die  Kinder  ein  dem  goldenen  Schnitt  entsprechendes  Rechteck 
4 : cm  mit  einem  Rechteck  4 : 6 cm  vergleichen.  Daran  schlossen  sich 

Vergleiche  zweier  Rechtecke,  die  in  den  größeren  Seiten  übereinstimmten, 
also  eines  Rechteckes  3,6: 6,0  und  eines  Rechteckes  4:6.  In  diesen 
beiden  Reihen  war  also  ein  Seitenpaar  der  zu  vergleichenden  Rechtecke,  in 
der  1.  Reihe  das  kleinere,  in  der  2.  das  größere,  gleich.  Außerdem  erwog 
ich,  daß  wir  bei  dem  Betasten  von  Flächen  nicht  nur  die  Seitenlinien, 
sondern  die  ganzen  Flächen  abtasten.  Ich  stellte  also  eine  dritte  Ver- 
suchsreihe mit  2 Rechtecken  von  gleichem  Flächeninhalt  an.  Wenn  das 
eine  Rechteck  das  Seitenverhältnis  a:b,  z.  B.  4:6  hat,  so  kann  dem 
anderen,  welches  das  Seitenverhältnis  a : b'  des  goldenen  Schnitts  haben 
soll,  noch  irgend  eine  weitere  Bedingung  vorgeschrieben  werden,  so 
z.  B.  a'  = a oder  b'  = b oder  — und  darum  handelt  es  sich  jetzt  — a'b' 
= ab.  Ich  ließ  daher  2 Rechtecke  von  den  blinden  Kindern  vergleichen, 
deren  eines  das  Seitenverhältnis  4 : 6 hatte,  während  sich  die  Seiten  des 
anderen  wie  3,8 : 6,3  verhielten.  Das  zweite  Rechteck  hatte  also  nicht  nur 
ungefähr  das  Seitenverhältnis  des  goldenen  Schnitts,  sondern  stimmte 
auch  im  Flächeninhalt  mit  dem  Rechteck  4:6  fast  genau  überein i). 

Die  Resultate,  die  sich  bei  diesen  3 neuen  Versuchsanordnungen  er- 
gaben, waren  folgende: 

Bei  der  Vergleichung  der  Rechtecke  4:6  und  3,6:6  wurde  stets  von 
allen  Kindern  (einschließlich  St  und  H)  das  zweite,  also  dasjenige  von 
dem  Seitenverhältnis  des  goldenen  Schnitts  rasch  und  entschieden  be- 
vorzugt. Nur  A zog  einmal  (unter  3 Malen)  das  Rechteck  4:6  vor.  Bei 
der  Vergleichung  der  Rechtecke  4:6  und  4:6%  waren  die  Ergebnisse 
ungleichmäßiger.  Li  und  Fra  fanden  bald  keinen  Unterschied  in  der 
Wohlgefälligkeit,  bald  bevorzugten  sie  das  Rechteck  4 : 6%.  Chr  meinte 

Ich  glaube,  daß  der  Einfluß  des  Flächeneindrucks  auch  bei  den  ästhetischen  Versuchen 
mit  optischen  Empfindungen  keine  unerhebliche  Rolle  spielt,  zumal  wenn  ein  absolut  un- 
wissentliches Verfahren  angewendet  wird.  Man  hat  geradezu  zu  erwarten,  daß  durch  die 
Flächenvergleichung  der  Eindruck  des  Seitenverhältnisses  etwas  beeinträchtigt,  bzw.  modifi- 
ziert wird.  Sehr  ausgedehnte  Versuche  über  das  Gedächtnis  für  Flächeneindrücke,  optischer 
und  taktil-kinästhetischer,  die  ich  mit  Sakaki  angestellt  habe,  deren  Ergebnisse  aber  aus  äußeren 
Gründen  leider  nur  zum  kleinsten  Teil  veröffentlicht  worden  sind,  haben  mit  Sicherheit  ge- 
zeigt, daß  der  Flächeneindruck  nicht  einfach  auf  den  Eindruck  der  Begrenzungslinien  redu- 
ziert werden  kann.  Siehe  auch  Thompson  und  Sakijewa,  Zeitschr.  f.  Psych.  u,  Phys.  d.  Sinn.  1902, 
Bd.  27,  S.  187.  — Übrigens  sind  auch  Versuche  unter  der  Bedingung  a'  -j-  b'  = a -f  b Tät- 
lich; die  oben  angeführten  genügen  dieser  Bedingung  nur  annähernd. 


1 0 Th.  Ziehen,  Die  ästhetischen  Gefühlsbetonungen  taktil-kinästhetischer  Empfindungen  usw. 


bei  dem  ersten  Vergleiche,  beide  gefielen  ihm  nicht,  bei  dem  zweiten 
zog  er  das  Rechteck  4:62/3  vor.  Fre  war  zuerst  unentschieden  und  bevor- 
zugte später  das  Rechteck  4 : 6,  A bevorzugte  zuerst  das  Rechteck  4 : 6, 
später  das  Rechteck  4:62/3.  St  und  H (nur  je  ein  Versuch)  bevorzugten 
das  Rechteck  4 : 62/3.  Bei  der  Vergleichung  der  Rechtecke  4 : 6 und  3,8 : 6,3 
wurde  das  Urteil  nur  einmal  zugunsten  des  ersteren  abgegeben  (von 
Fra),  sonst  lautete  das  Urteil  entweder  auf  gleich  oder  fiel  — und  zwar 
öfter  — zugunsten  des  Rechteckes  3,8: 6,3  aus. 

Ich  habe  übrigens  nicht  unterlassen,  auch  diese  Rechtecke  mit  den 
entsprechenden  Quadraten  zu  vergleichen.  Es  mußte  also  verglichen 
werden: 

4 :6  mit  4 :4,  6:6  und  4,9:4,Q  (annähernd  gleicher  Inhalt) 

4 :62/3mit4  :4,  62/3:62/3  und  5,2: 5,2  ( „ „ „ ) 

3,6 : 6 mit  3,6 : 3,6,  6 : 6 ‘ und  4,7 : 4,7  ( „ „ „ ) 

3,8: 6,3  mit  3,8: 3,8,  6,3: 6,3  und  4,9: 4,9  ( „ „ „ ) 

Aus  den  oben  angegebenen  Gründen  habe  ich  — wenigstens  vorläufig 
— mich  im  wesentlichen  auf  den  Vergleich  von  4:6  mit  4,9: 4,9  und 
3,8 : 6,3  mit  4,9 : 4,9  beschränkt.  Das  Ergebnis  dieser  Vergleichungen  war, 
daß  Chr,  Fre,  H und  Li  das  Rechteck  4:6  dem  Quadrat  4,9: 4,9  vor- 
gezogen, A und  Fra  beide  für  gleich  schön  erklärten  und  nur  St 
das  Quadrat  bevorzugte.  Das  Rechteck  3,8 : 6,3  wurde  von  allen  7 Ver- 
suchspersonen (also  auch  St)  stets  rasch  und  entschieden  dem  Quadrat 
4,9 : 4,9  vorgezogen. 

Schließlich  wollte  ich  ermitteln,  ob  das  Überwiegen  der  Wohlgefällig- 
keit des  Seitenverhältnisses  des  goldenen  Schnitts  auch  dann  bestehen 
bleibe,  wenn  viel  kleinere  oder  viel  größere  Rechtecke  verglichen  werden. 
Ich  ließ  daher  z.  B.  ein  Rechteck  von  dem  Seitenverhältnis  2 : 3 mit  einem 
solchen  von  dem ' Seitenverhältnis  1,9:3,16^)  vergleichen  (letzteres  hat 
fast  genau  das  Seitenverhältnis  des  goldenen  Schnitts).  Dabei  ergab 
sich  keinerlei  sichere  Gesetzmäßigkeit.  Die  Urteile  waren  bald  unentschieden, 
bald  fielen  sie  zugunsten  des  ersten,  bald  zugunsten  des  zweiten  Recht- 
eckes aus.  Der  Vergleich  des  Rechteckes  1,9:3,16  mit  einem  Quadrat 
von  gleichem  Flächeninhalt  (Seite  2,45cm)  ergab  mit  einer  Ausnahme 
(H)  eine  Bevorzugung  des  Rechteckes;  ebenso  wurde  aber  auch  das 
Rechteck  2 : 3 stets  vor  dem  Quadrat  2,45 : 2,45  bevorzugt  (auch  H machte 
hier  keine  Ausnahme). 

Stichproben  mit  anderen  Rechteckpaaren  von  kleineren  oder  größeren 
absoluten  Dimensionen  haben  die  vorstehenden  Ergebnisse  im  Wesent- 
lichen bestätigt:  bei  sehr  kleinen  Dimensionen  keine  sicher  nachweis- 
bare Gesetzmäßigkeit,  bei  mittleren  Dimensionen  im  Ganzen  eine  Ten- 

Auf  die  absolute  Genauigkeit  der  Figur  mit  Bezug  auf  die  2.  Dezimale  wurde  kein 
Gewicht  gelegt. 


Th.  Ziehen,  Die  ästhetischen  Gefühlsbetonungen  taktil-kinästhetischer  Empfindungen  usw,  1 1 


denz  zu  auffälliger  Bevorzugung  der  Rechtecke  vom  Seitenverhältnis  des 
goldenen  Schnittes.  Bei  sehr  großen  Dimensionen  geht  infolge  der 
Schwierigkeiten  des  Betastens  der  ästhetische  Eindruck  verloren,  doch 
scheint  sich  wenigstens  die  Bevorzugung  des  Rechtecks  vom  Seiten- 
verhältnis des  goldenen  Schnitts  vor  dem  inhaltgleichen  Quadrat  auch 
bei  größeren  Figuren  zu  erhalten  (allerdings  ging  ich  über  ein  Quadrat 
7:7  bis  jetzt  nicht  hinaus).  Alle  Kinder  sagten  auch  am  Schluß  der 
Versuche  direkt,  die  kleinen  Figuren  seien  schöner;  nur  Chr.  erklärte, 
erfinde  zwischen  den  großen  und  den  kleinen  Figuren  keinen  Unterschied. 

Die  Deutung  dieser  unter  3 mitgeteilten  Ergebnisse  schiebe  ich  auf, 
bis  die  unter  4 oben  erwähnte  Tatsache  erörtert  worden  ist. 

Zu  4.  Die  Aussagen  der  Kinder  ergaben,  daß  bewußte  assoziierte 
Vorstellungen  für  die  Bevorzugungsurteile  keinerlei  nennenswerte  Rolle 
spielten.  Spontane  Motivierungen  kamen  kaum  vor.  Die  Fragen  wurden 
in  der  vorsichtigsten  Weise  getan,  um  jede  Suggestion  zu  vermeiden. 
In  der  Regel  frug  ich  zunächst  nur:  warum  gefällt  dir  das  besser?  Später 
frug  ich  auch  oft  noch:  Flast  du  an  irgendeinen  besonderen  Gegenstand 
gedacht?  Leider  konnte  ich  aus  äußeren  Gründen  nicht  immer  vermeiden, 
daß  die  Antwort  auch  von  den  nicht  am  Versuch  beteiligten  Kindern 
gehört  wurde.  Doch  dürfte  dieser  Nachteil  nicht  zu  groß  gewesen  sein, 
da  den  zuhörenden  Kindern  nicht  bekannt  war,  auf  welche  Figuren  sich 
die  Antwort  bezog,  und  vor  allem,  da  die  Antworten  keine  gegenseitige 
Beeinflussung  — wenigstens  im  positiven  Sinn  — erkennen  ließen. 

Weitaus  die  meisten  Kinder  motivierten  auf  Befragen  ihre  meisten 
Urteile  einfach  mit  den  Worten:  „Die  Form  ist  schöner“  oder  „das  fühlt 
sich  schöner  an“  oder  „die  Fagon  ist  schöner“  oder  „das  isLeben  (halt) 
schöner“.  Vielfach  sagten  sie  auch:  „Ich  weiß  nicht“  und  blieben  bei 
ihrem  Urteil.  Von  diesem  Verhalten  kamen  nur  folgende  Ausnahmen 
vor.  Erstens  wurde  hin  und  wieder  gesagt:  „Weil  es  kleiner  ist“.  Das 
kam  nur  dann  vor,  wenn  der  Flächeninhalt  oder  auch  die  Seitengröße 
auffällig  verschieden  war.  Bei  den  hier  berichteten  Versuchen  war  dies 
nur  bei  dem  Vergleich  von  Trapezoid  und  Antiparallelogramm  der  Fall 
(siehe  oben  S.  10  und  S.  6,  Anm.  2).  Zweitens  wurde  in  einem  Fall 
(siehe  oben  S.  7)  die  Seltenheit  als  Grund  der  Bevorzugung  des  Rhom- 
bus vor  dem  Quadrat  angeführt.  Drittens  wurde  ab  und  zu  die  Gleich- 
mäßigkeit als  Motiv  angegeben.  Meist  handelte  es  sjch  dabei  um  die 
Bevorzugung  des  Quadrats  vor  anderen  Figuren,  z.  B.  dem  Rhombus, 
doch  gab  z.  B.  der  blindgeborene  Li.  auch  als  Grund  für  die  Be- 
vorzugung des  Rhomboids  vor  dem  Deltoid^)  an:  „Das  andere  (nämlich 
' das  Deltoid)  ist  ungleichmäßig.“  Wie  wenig  entscheidende  Bedeutung 
im  übrigen  die  Gleichmäßigkeit  für  die  Wohlgefälligkeit  hatte,  geht  daraus 


*)  Die  Gleichheit  je  zweier  benachbarter  Seiten  wurde  oft  nicht  bemerkt,  vgl.  S.  4,  Anm.  1. 


12  Th.  Ziehen,  Die  ästhetischen  Gefühlsbetonungen  taktil-kinästhetischer  Empfindungen  usw. 


hervor,  daß  das  Quadrat  trotz  seiner  maximalen  Gleichmäßigkeit  oft  gegen- 
über dem  Rhombus  (vgl.  S.  7)  und  meistens  gegenüber  den  zur  Ver- 
wendung gelangten  Rechtecken  (vg.  S.  8 — 10)  zurückstand.  Selbstver- 
ständlich ist  hieraus  nicht  auf  eine  Bedeutungslosigkeit  der  Gleichmäßig- 
keit zu  schließen.  Gleichmäßigkeit,  insbesondere  auch  Symmetrie,  — wie 
mich  andere  hier  nicht  berücksichtigte  Versuche  gelehrt  haben  — ist 
für  die  Tastempfindungen  des  blinden  Kindes  nicht  ästhetisch  gleich- 
gültig, aber  sie  gibt  nicht  allein  den  Ausschlag  und  ist  wahrscheinlich 
für  die  Tastempfindungen  der  Blinden  nicht  so  bedeutsam  wie  für  die 
optischen  Empfindungen  der  Sehenden.  Es  ist  schon  bemerkenswert 
genug,  daß  sie  überhaupt  auch  auf  dem  Tastgebiet  einen  merklichen 
Einfluß  ausübt. 

Die  vierte  Motivierung  der  Wohlgefälligkeit,  die  nicht  selten  vorkam, 
lautete:  „Das  ist  länger“,  „das  ist  nicht  so  breit“,  „das  andere  ist  so 
breit“  usf.  Diese  Motivierung  kam  fast  ausschließlich  bei  der  Vergleichung 
der  Rechtecke  vom  Seitenverhältnis  des  goldenen  Schnitts  mit  den  Recht- 
ecken vom  Seitenverhältnis  2 : 3 (bzw.  4,7 : 3,2  oder  4 : 6)  vor.  Sie  deckt 
sich  fast  wörtlich  mit  der  Motivierung,  die  gelegentlich  sehende  Per- 
sonen für  die  optische  Bevorzugung  des  Rechtecks  vom  Seitenverhältnis 
des  goldenen  Schnitts  geben.  Dasselbe  wird  vorgezogen,  weil  es  „nicht 
so  breit“,  „relativ  länger“  ist. 

Auf  die  Frage,  ob  der  Gedanke  an  irgend  einen  bestimmten  Gegen- 
stand aufgetreten  sei,  wurde  stets  negativ  geantwortet.  Keine  einzige 
Äußerung  berechtigte  zu  der  Annahme,  daß  etwa  der  Gedanke  an  be- 
stimmte Verwendungen  oder  ein  Vergleich  mit  bestimmten  Objekten 
im  Sinn  einer  bewußten  Vorstellung  bei  dem  ästhetischen  Urteil  mit- 
gewirkt habe. 

Man  könnte  nun  aber  fragen,  ob  nicht  die  oben  angeführten  Angaben 
über  die  Motive  des  Bevorzugungsurteils  doch  darauf  deuten,  daß  be- 
wußte assoziierte  Vorstellungen,  wenn  auch  nicht  gerade  assoziierte 
Vorstellungen  bestimmter  Objekte  beteiligt  waren.  Für  die  in  einem 
einzigen  Fall  aufgetretene  Vorstellung  der  Seltenheit  ist  dies  ohne  wei- 
teres zuzugeben.  Für  die  übrigen  Motive,  — Kleinheit,  Gleichmäßigkeit  und 
stärkeres  Überwiegen  der  Länge  über  die  Breite  — ist  hingegen  die 
Mitwirkung  der  entsprechenden  Vorstellungen  bei  dem  Zustande- 
kommen des  ästhetischen  Urteils  ganz  unwahrscheinlich.  Man  könnte 
ja  allerdings  auf  die  Vermutung  kommen,  daß  kleinere  Figuren  die 
Vorstellung  der  größeren  Handlichkeit  auslösten  und  ausschließlich  dank 
dieser  assoziierten  Vorstellung  oder  zum  größten  Teil  dank  dieser  Vor- 
stellung wohlgefällig  erschienen^).  Indes  widerspricht  der  Tatbestand 

An  der  Mißfälligkeit  sehr  großer  Figuren  mag  vielleicht  die  bewußte  Vorstellung  der 
Unhandlichkeit  in  höherem  Grade  beteiligt  sein. 


Th.  Ziehen,  Die  ästhetischen  Gefühlsbetonungen  taktil-kinästhetischer  Empfindungen  usw.  1 3 


der  Aussagen  des  Kindes  dieser  Vermutung  durchaus.  Nirgends  schim- 
merte etwas  von  einer  Vorstellung  der  Handlichkeit  oder  einer  ähnlichen 
Vorstellung  in  den  Aussagen  durch.  Selbst  durch  Verlockungsfragen, 
die  ich,  selbstverständlich  erst  nach  Abschluß  der  Versuche,  bei  zwei 
Kindern  tat,  konnte  ich  keine  Aussage  in  dem  Sinne  der  in  Rede  stehen- 
den Vermutung  provozieren.  Ebensowenig  darf  man  die  übrigens  im 
Ganzen  keineswegs  häufigen  Angaben  der  Kinder  über  Gleichmäßig- 
keit als  Bevorzugungsmotiv  so  deuten,  als  ob  durch  die  bewußte  Vor- 
stellung der  Gleichmäßigkeit  die  Bevorzugung  herbeigeführt  worden  sei, 
vielmehr  hat  die  Gleichmäßigkeit  bzw.  Regelmäßigkeit  als  Eigenschaft 
der  Empfindung  direkt,  d.  h.  ohne  Vermittelung  einer  Vorstellung,  die 
stärkere  positive  Gefühlsbetonung  und  daher  die  Bevorzugung  der  be- 
züglichen Empfindung  bedingt,  und  die  Kinder  werden  sich  erst  nach- 
träglich auf  Befragen  über  diesen  Zusammenhang  klar  und  geben  daher 
nachträglich  als  Motiv  ihrer  Bevorzugung  die  Gleichmäßigkeit  an.  Für 
diese  letztere  Deutung  und  gegen  die  Annahme  einer  durch  bewußte 
Vorstellungen  vermittelten  Bevorzugung  spricht  vor  allem  entschieden 
die  Tatsache,  daß  außerordentlich  oft  die  gleichmäßigere  Figur  vorge- 
zogen wurde,  ohne  daß  auf  Befragen  die  Gleichmäßigkeit  als  Motiv  des 
Urteils  angegeben  wurde.  In  nicht  wenigen  Fällen  wurde  sogar  die  Gleich- 
mäßigkeit überhaupt  nicht  gemerkt  und  doch  die  gleichmäßigere  bzw. 
regelmäßigere  Figur  vorgezogen.  So  war  dies  z.  B.,  wie  oben  S.  3,  Anm.  2 
kurz  erwähnt,  ganz  regelmäßig  bei  der  Vergleichung  von  Trapez  und 
Trapezoid  der  Fall.  Endlich  sind  die  Angaben  der  Kinder,  das  Rechteck 
vom  Seitenverhältnis  des  goldenen  Schnitts  habe  ihnen  besser  gefallen, 
weil  es  „länger“,  „nicht  so  breit“  sei  usw.,  gewiß  nicht  so  zu  ver- 
stehen, als  ob  erst  die  bewußte  Vorstellung  des  erheblichen  Über- 
wiegens  der  Länge  zu  dem  Bevorzugungsurteil  geführt  hätte,  sondern 
diese  Vorstellung  stellt  sich  erst  nachträglich  im  Sinn  einer  Erklä- 
rung ein.  Dies  geht  wiederum  daraus  hervor,  daß  das  bezügliche  Motiv 
nur  ausnahmsweise  angegeben  wurde  und  die  Kinder  auf  Befragen  nach 
dem  Motiv  meistens  nur  antworteten:  „Ich  weiß  nicht“  oder  ihr  Bevor- 
zugungsurteil nochmals  tautologisch  umschrieben:  „Weil  die  Form 
schöner  ist,  weil  die  Fagon  schöner  ist“  u.  dgl.  mehr.  Nicht  einmal  die 
gewiß  naheliegende  und  bei  entsprechenden  optischen  Versuchen  nicht 
seltene  Berufung  auf  die  größere  „Schlankheit“  des  Rechtecks  vom  Seiten- 
verhältnis des  goldenen  Schnitts,  welche  vielleicht  eher  auf  einen  Kausal- 
zusammenhang von  Vorstellung  und  Bevorzugungsurteil  bezogen  werden 
könnte,  kam  bei  meinen  Versuchen  vor.  Ich  komme  daher  zu  dem  Ge- 
samtergebnis, daß  auch  die  Angaben  der  Kinder  über  die  Motive  ihres 
Urteils  nicht  darauf  hinweisen,  daß  bewußte  Vorstellungsassoziationen  für 
die  festgestellten  Bevorzugungen  in  irgend  erheblichem  Grade  maß- 


14  Th.  Ziehen,  Die  ästhetischen  Gefühlsbetonungen  taktil- kinästhetischer  Empfindungen  usw. 


gebend  gewesen  sind.  Die  einseitige  und  übertriebene  Betonung  des 
assoziativen  Faktors  (einschließlich  der  sog.  Einfühlung)  bei  dem  Zu- 
standekommen des  ästhetischen  Urteils,  wie  sie  in  vielen  neueren 
Arbeiten  1)  hervortritt,  erweist  sich  also  auch  für  die  Erklärung  der  hier 
mitgeteilten  Versuche  als  unzulässig. 

Damit  ist  denn  nun  auch  die  Deutung  der  unter  3 erörterten  Bevor- 
zugung der  Rechtecke  vom  Seitenverhältnis  des  goldenen  Schnitts  wenig- 
stens per  exclusionem  etwas  gefördert,  und  ich  kehre  nunmehr  zu  dieser 
Deutungsfrage  zurück. 

Wenn  die  Mitwirkung  bewußter  assoziierter  Vorstellungen  in  diesem 
oder  jenem  Sinn  zur  Erklärung  der  Bevorzugung  des  Rechtecks  3:5 
vor  dem  Rechteck  2:3  in  keiner  Weise  ausreicht,  so  bleiben  offenbar 
nur  noch  zwei  Erklärungswege  übrige):  Entweder  ist  die  räumliche 
Eigenschaft  der  Empfindungen  als  solcher  die  Ursache  der  Bevor- 
zugung oder  unbewußte  Vorstellungsassoziationen  bedingen  die 
Bevorzugung.  Die  erstere  Annahme  wird  z.  B.  von  Külpe  vertreten. 
Külpe  meint,  daß  in  der  Tat  das  eigenartige  mathematische  Verhältnis 
des  goldenen  Schnitts  a : b = b : a + b für  die  Bevorzugung  maßgebend 
sei,  und  zwar  glaubt  er,  daß  diese  Beziehung  auf  dem  Weberschen  Ge- 
setz beruhe,  insofern  die  Wohlgefälligkeit  des  goldenen  Schnitts  nichts 
anderes  als  die  Wohlgefälligkeit  scheinbar  gleicher  Unterschiede  sei^). 
Ich  habe  gegen  diese  Deutung  erhebliche  Bedenken.  Erstens  involviert 
sie  eine  Übertragung  des  Weberschen  Gesetzes  auf  übermerkliche  Unter- 
schiede, die  schwerlich  zulässig  ist.  Zweitens  vermisse  ich  einen  Nach- 
weis dafür,  daß  überhaupt  die  Seitensumme  a b irgendwie  zur  Wir- 
kung kommt;  man  sollte  doch  erwarten,  daß  eine  solche  Wirkung,  wenn 
sie  besteht,  irgendwie  auch  in  den  Aussagen  der  Versuchspersonen 
wenigstens  gelegentlich  sich  wiederspiegelte.  Drittens  scheinen  mir  nicht 
nur  die  Streuungen  um  den  Wert  des  goldenen  Schnitts,  sondern  auch 
die  Abweichungen  des  Durchschnitts  (bei  einer  Versuchsperson)  von 
diesem  Wert  zu  erheblich  zu  sein.  Endlich  ist  es  viertens  speziell  bei 
den  hier  mitgeteilten  Blindenversuchen  nicht  wahrscheinlich,  daß  ihre 
kinästhetische  Unterschiedsempfindlichkeit  ausreichte,  um  das  Seiten- 
verhältnis des  goldenen  Schnitts  zur  Wirkung  kommen  zu  lassen.  Wenn 
man  bedenkt,  daß  z.  B.  bei  dem  besonders  intelligenten  Knaben  Fre. 
nach  früher  mitgeteilten  Versuchen^)  zwei  aktiv  betastete  gerade  Strecken 
von  5V2  und  6 cm  je  nach  der  Zeitlage  (erst  Betasten  der  längeren  oder 

Vgl.  z.  B.  Segal,  Arch.  f.  d.  ges,  Psychol.  1906,  Bd.  7,  S.  53. 

Grundriß  der  Psychologie.  Leipzig  1893,  S.  261. 

Pseudoerklärungen,  die  von  merkwürdigen  Einheiten  des  Mannigfaltigen  u.  dgl.  reden, 
lasse  ich  absichtlich  unbeachtet.  Sie  gehören  größtenteils  der  metaphysischen  Wortästhetik  an. 

*)  1.  c.  S.  316. 


Th.  Ziehen,  Die  ästhetischen  Gefühlsbetonungen  taktil-kinästhetischer  Empfindungen  usw.  15 


erst  Betasten  der  kürzeren  Strecke)  in  51%  bzw.  13%  der  Fälle  falsch 
bezüglich  der  Richtung  des  Unterschieds  iDeurteilt  wurden,  so  wird  es 
doch  sehr  zweifelhaft,  ob  die  Differenzen  der  in  den  jetzt  mitgeteilten 
Versuchen  zur  Anwendung  gelangten  Liniendimensionen  überhaupt  aus- 
reichten, um  das  Verhältnis  des  goldenen  Schnitts  gegenüber  dem  Ver- 
hältnis 2 : 3 zum  Ausdruck  zu  bringen.  Man  darf  auch,  meine  ich,  nicht 
etwa  glauben,  daß  gewissermaßen  das  dritte  und  das  vierte  Bedenken 
sich  gegeneinander  aufheben,  d.  h.  die  Erheblichkeit  der  Streuungen  und 
Abweichungen  sich  aus  der  unzureichenden  kinästhetischen  Unterschieds- 
empfindlichkeit erkläre;  denn  das  dritte  Bedenken  bezieht  sich  auf  op- 
tische Versuche,  für  welche  die  Unterschiedsempfindlichkeit  mir  wohl 
auszureichen  scheint,  während  das  vierte  sich  auf  die  kinästhetischen 
Blindenversuche  bezieht.  Immerhin  gebe  ich  gern  zu,  daß  alle  diese  Be- 
denken nicht  absolut  entscheidend  sind,  vermisse  aber  erst  recht  absolut 
entscheidende  positive  Argumente  zu  Gunsten  der  Külpeschen  Deutung 
und  vermisse  namentlich  bei  der  letzteren  eine  Berücksichtigung  des 
Flächeneindrucks  (vgl.  oben  S.  9). 

Bei  dieser  Sachlage  lohnt  es  sich  doch  wohl,  die  zweite  Annahme, 
welche  die  Bevorzugung  des  goldenen  Schnitts  in  unbewußten  Asso- 
ziationen sucht,  gleichfalls  in  Erwägung  zu  ziehen.  Man  könnte  sich 
z.  B.  sehr  wohl  denken,  daß  das  optische  oder  — bei  blindgeborenen 
und  früherblindeten  Individuen  — das  taktil -kinästhetische  Bild^)  der 
menschlichen  Gestalt  eine  Tendenz  zur  Bevorzugung  länger  gestreckter 
Rechtecke,  also  z.  B.  des  Rechtecks  3 : 5 vor  dem  Rechteck  2 : 3 hervor- 
ruft. Manche  Beobachtungstatsachen  würden  damit  einigermaßen  ver- 
ständlich. So  vor  allem  die  starken  Streuungen  der  Werte  um  den  Durch- 
schnittswert, ferner  die  oft  sehr  erheblichen  Abweichungen  des  Durch- 
schnittswertes von  dem  exakten  Wert  des  goldenen  Schnitts  bei  den 
optischen  Versuchen.  Letzterer  würde  bei  der  in  Rede  stehenden  An- 
nahme seine  spezielle  mathematische  Bedeutung  ganz  verlieren  und  nur 
ein  ziemlich  willkürlicher  Ausdruck  für  die  in  Rede  stehende  Tendenz  sein. 
Das  Seitenverhältnis  3:5  würde  nur  deshalb  dem  Seitenverhältnis  2:3 
meistens  vorgezogen  werden,  weil  jenes  dem  Seitenverhältnis  der  mensch- 
lichen Gestalt  näher  kommt  als  dieses.  Auch  eine  weitere  nicht  uninter- 
essante Beobachtung  wird  so  verständlich.  Es  fiel  mir  auf,  daß  die  Kinder 
bei  ihren  Tastbewegungen  eine  ausgesprochene  Neigung  bekundeten, 
die  beiden  zum  Vergleich  dargebotenen  Rechtecke  so  zwischen  den 
Fingern  einzustellen,  daß  die  kürzere  Seite  ungefähr  horizontal,  die 
längere  ungefähr  vertikal  stand,  also  — wie  ich  es  kurz  ausdrücken 
will  — die  Rechtecke  in  „stehende“  Position  zu  bringen,  d.  h.  in  eine 


Die  vestibuläre  Komponente  lasse  ich  im  Interesse  der  Kürze  weg. 


16  Th.  Ziehen,  Die  ästhetischen  Gefühlsbetonungen  taktil-kinästhetischer  Empfindungen  usw. 


Position,  wie  wir  sie  der  menschlichen  Gestalt  in  unserer  Vorstellung 
vorzugsweise  geben.  Auch  glaube  ich  bei  optischen  Versuchen  mich 
überzeugt  zu  haben,  daß  die  Bevorzugung  des  goldenen  Schnittes  bei 
stehenden  Rechtecken  etwas  ausgesprochener  ist  als  bei  liegenden.  An- 
dererseits übersehe  ich  auch  die  Einwände  gegen  die  Annahme  einer 
solchen  Beziehung  zur  menschlichen  Gestalt  nicht.  Vor  allem  könnte 
man  erwarten,  daß,  wenn  eine  solche  Beziehung  bestünde,  noch  länger 
gestreckte  Rechtecke  als  dasjenige  des  goldenen  Schnitts  das  Maximum 
der  Wohlgefälligkeit  besitzen  müßten,  da  das  Längen-  und  Breitenver- 
hältnis  des  menschlichen  Körpers  — auch  wenn  man,  wie  dies  vielleicht 
zulässig  wäre,  von  dem  Kopf  absehen  wollte  — etwa  3 : 7 beträgt.  Ich 
bin  zurzeit  mit  weiteren  Versuchen  beschäftigt,  wie  sich  das  Wohl- 
gefälligkeitsurteil bei  der  tastenden  Vergleichung  solcher  länglicheren 
Rechtecke  mit  dem  Rechteck  3:5  gestaltet^).  Einerlei  aber,  wie  die  Er- 
gebnisse ausfallen  werden,  erinnere  ich  daran,  daß  ich  vorsichtig  nur 
davon  gesprochen  habe,  daß  die  unbewußte  Assoziation  der  mensch- 
lichen Gestalt  eine  Tendenz  zur  Bevorzugung  der  länglicheren  Recht- 
ecke bedingen  könne.  Das  Quadrat,  das  durch  seine  Gleichmäßigkeit 
Bevorzugungsansprüche  hat,  wird  gewissermaßen  durch  diese  Tendenz 
in  die  Länge  gezogen.  Das  Maximum  der  Bevorzugung  würde  aus  dem 
Kampf  der  beiden  Tendenzen  (Quadrat  und  menschliche  Gestalt)  und 
vielleicht  noch  anderer,  noch  nicht  genügend  aufgedeckter  Tendenzen 
entspringen. 

Ganz  abgesehen  aber  von  der  Frage,  ob  das  Durchschnittsbild  der 
menschlichen  Gestalt  eine  solche  Rolle  spielt 2),  ist  mit  diesem  die  Zahl 
der  etwa  in  Betracht  kommenden  unbewußten  Assoziationen  nicht  er- 
schöpft. Die  Dimensionsverhältnisse  unserer  einzelnen  Körperteile  und 
vieler  uns  fortwährend  umgebenden  Objekte  (im  weitesten  Sinn)  können 
sehr  wohl  gleichfalls  beteiligt  sein  und  im  Sinn  solcher  typischen 
Tendenzen  das  ästhetische  Bevorzugungsurteil  beeinflussen. 

Ich  möchte  also  heute  mich  noch  nicht  zu  Gunsten  der  ersten  von 
Külpe  vertretenen  Alternative  entscheiden  und  die  reinen  Empfindungs- 


Dabei  ist  der  Vergleich  mit  Kinderzeichnungen  der  menschlichen  Gestalt  sehr  interes- 
sant wegen  der  in  solchen  hervortretenden,  keineswegs  ganz  regellosen  Verzerrungen  der 
Dimensionsverhältnisse. 

Für  denjenigen,  der  an  dem  ästhetischen  Einfluß  eines  solchen  Durchschnittsbildes  An- 
stoß nimmt,  sei  ein  Hinweis  auf  Fechners  „Einfluß  der  Mitte“  und  „Prinzip  der  ästhetischen 
Mitte“  gestattet  (Abh.  d.  Sächs.  Ges.  d.  Wiss.  1871,  S.  629  u.  Vorschule  der  Ästhetik,  Bd.  2, 
S.  260).  An  der  erstgenannten  Stelle  führt  Fechner  in  der  Anmerkung  auch  eine  interessante 
ebendahin  zielende  Bemerkung  von  E.  H.  Weber  an.  Volkelt,  „Ausweitung  des  Gefühlslebens 
nach  dem  Typischen,  Allgemeinen“  (Ztschr.  f.  wiss.  Philos.  1901,  Bd.  117),  gehört  ebenfalls 
hierher.  Vielleicht  ist  sogar  schon  die  „aequalitas  numerosa“  Augustins  so  zu  deuten.  Vgl.  auch 
meine  Erkenntnistheorie,  Jena  1913,  S.  505  ff. 


Fritz  Giese,  Die  Psychologie  der  Geschlechtsunterschiede  und  die  Koedukation  17 


Verhältnisse  für  die  Bevorzugung  des  goldenen  Schnittes  verantwortlich 
machen,  sondern  unbewußten  Assoziationen  wenigstens  eine  erhebliche 
Mitwirkung  zuschreiben.  Daß  diese  unbewußten  Assoziationen  nicht 
als  „unbewußte  Vorstellungen“  aufzufassen  sind,  bedarf  wohl  kaum  der 
Hervorhebung.  Es  handelt  sich  vielmehr  lediglich  um  die  Mitwirkung 
latenter  Erinnerungsbilder,  also  materieller  Erregungsresiduen.  Für  den- 
jenigen freilich,  der  die  Gefühlstone  als  „Eigenschaften“  der  Empfin- 
dungen und  Vorstellungen  betrachtet  in  demselben  Sinne,  wie  die  gelbe 
Farbe  oder  das  spezifische  Gewicht  19,4  „Eigenschaft“  des  Goldes  sind, 
ist  ein  solcher  Zusammenhang  unannehmbar.  Wer  aber  wie  ich  die 
Gefühlstöne  und  ihre  materiellen  Äquivalente  als  „Eigenschaften“  be- 
trachtet, die  eine  erhebliche  Selbständigkeit  haben  und  durch  Irradiation 
und  Reflexion  sich  assoziativ  ausbreiten  i),  wird  an  der  entwickelten  An- 
schauung keinen  Anstoß  nehmen  und  auch  diese  unbewußten  Assozia- 
tionen nicht  mit  den  oben  abgelehnten  Assoziationen  bewußter  Vor- 
stellungen verwechseln. 


Die  Psychologie  der  Oeschlechtsunterschiede  und  die 
\ Koedukation. 

Von  Fritz  Giese.  y 

WENN ^dkt.^rage  der  Koedukation  mit  zu  den  wichtigsten  Problemen 
in  der  moderjien  Pädagogik  geworden  ist,  so  liegf  es  daran,  daß 
sie  sich  beruft  auf  äfe^^leichberechtigung  und  die.  gleiche  Veranlagung 
beider  Geschlechter  und  iniplgedessen  mehr  als  ^andere  Reformideen  ge- 
eignet ist,  begeisterte  Anhängerschaft  auf  der.  einen  und  finstere  Oppo- 
sition auf  der  anderen  Seite  ziJ^^^rwecken.  So  rückt  sie  allmählich  in 
den  Brennpunkt  des  Interesses  und^Wird<''um  im  Schlagwort  zu  bleiben, 
eine  Forderung  des  Tages.  Die  Grüffä^e^  die  man  für  die  Einführung 
der  Koedukation  anführt,  sind  in  .dk  R%el  soziale  und  ethische.  Die 
Gegengründe,  die  man  gegen  jdfe  KoedukatTbn  erhebt,  stammen  meist 
aus  derselben  Richtung.  Und  da  dort  die  Subjekti^tät  der  Anschauung 
in  treibhausähnlicher  Temperatur  gedeiht,  ist  es  nicht  verwunderlich, 
daß  eine  ungeheure  Literatur  für  und  wider  die  gemeinsame  Erziehung 
der  Geschlechter  vo|r^ jedermann  zusammengetragen  wurde,  und  daß 
eine  Entscheidung  bis  heute  noch  nicht  erfolgen  konnte.  Vermutlich 
wird  auch  dort  niemals  eine  Einigung  zustande  kommen.  Wenn  also 
auf  diesem  Gebiete  infolge  dieses  „Individualitäten-  und  Autoritäten^ 
kampfes  bis  jetzt  keine  Entscheidung  getroffen  wurde,  so  bleibt  die 
Frage  offen,  ob  man  vielleicht  auf  anderer  Seite  irgendwie  eine  Direk- 


•)  Vgl.  Leitf.  d.  phys.  Psychol.  2.  Aufl.  1893,  S.  125  (9.  Aufl.  1911,  S.  1-74). 
Pädagog.  Forschung  II,  1.  2 


18  Fritz  Giese,  Die  Psychologie  der  Geschlechtsunterschiede  und  die  Koedukation 


tive  erhalten  könnte,  ohne  in  Gefahr  zu  sein,  durch  Subjektivität  T 
bestände  zu  verdunkeln.  Eine  solche  objektive  Instanz  ist  etwa  die  Ps 
chologie.  Allerdings  nur  die  experimentelle  Psychologie,  nicht  die  ration 
verfahrende,  die  mit  Spekulation  arbeitet.  Aber  selbst  in  der  experime 
teilen  Psychologie  können  noch  Tendenzen  herrschen,  die  die  Resulta 
färben.  Untersuchungen  von  Pädagogen,  die  etwa  von  festen  Anscha 
ungen  ausgehen,  werden  nicht  ohne  weiteres  die  gleiche  Öbjektivit 
verheißen  können  als  Experimente  von  Psychologen,  die  beruflich  nie 
in  einem  Kreise  stehen,  in  dessen  Grenzen  darauf  fußende  Veränd 
rungen  vorgenommen  werden  sollen.  Es  scheint  demnach  so  am  gü 
stigsten,  Umschau  zu  halten,  ob  die  experimentelle  Psychologie  irgen 
welche  Forschungen  unternommen  hat,  die  man  auf  die  Frage  d 
Koedukation  anwenden  könnte?  / 

Es  muß  zugegeben  werden,  daß  relativ  wenig  diesiDezügliche  Arbeite 
vorliegen.  Der  Grund  liegt  in  der  großen  Jugend  .der  Psychologie,  un 
wer  den  Entwicklungsgang  dieser  Wissenschaf^/kennt,  weiß,  daß  di 
differentielle  Psychologie  noch  lange  nicht  eir^/Menschenalter  besteh 
Riesige  Mengen  von  tatsächlichen  sichersten /Befunden  sind  also  vo 
vornherein  ausgeschlossen.  Ablehnen  muß  rn^n  aber  den  Vorwurf,  da 
die  Ergebnisse  der  Psychologie  ganz  dürftig  oder  auch  einander  vol 
ständig  zuwiderlaufend  wären.  Das  kann  ndr  ein  Laie  denken,  der  selbs| 
niemals  experimentierte  oder  überhaupt  die  Literatur  der  Psychologi 
nicht  kennt.  Eine  ganz  andere  Frage  w^e  die,  welche  detaillierten  Vo 
Schriften  für  die  Koedukation  zu  forderet  sind.  Wollte  man  um  präzis 
und  ins  Einzelne  gehende  Anleitungei}^' bitten,  so  wäre  das  zu  früh.  Al 
die  Physik  dreißig  Jahre  alt  war,^kQhnte  sie  auch  noch  nicht  drahtlo 
telegraphieren.  Man  sollte  viel  allgemeiner  fragen:  sind  aus  den  Ergeb 
nissen  der  experimentellen  Psydijölogie  Anzeichen  für  eine  verschie 
dene  Beanlagung  beider  Geschlechter  zu  entnehmen,  und  in  welche 
Richtung  bewegen  sich  etwa  ^jiese  Verschiedenheiten? 

Das  Thema  vermeidet  dei^ach  ausdrücklich  die  bekannte  Fassun 
von  der  Inferiorität  des  weiblichen  Geschlechtes.  Abgesehen  davon,  da 
die  Experimentalpsycholo^ie  eine  Inferiorität  auf  den  Einzelgebieten  bi 
jetzt  noch  gar  nicht  näch weisen  könnte,  liegt  es  auch  gar  nicht  ii 
ihrer  Absicht,  dies  zu' tun,  denn  die  Fragestellung  ist  schon  tendenziö 
und  ganz  unpsychdlogisch.  Das,  was  die  Psychologie  nachzuweise 
sich  bemüht,  ist  ;i'ur  eine  Verschiedenheit  oder  eine  Gleichheit  der  Ge 
schlechter.  Sie  stellt  sich  bei  den  Experimenten  auf  neutralen  Boden 
und  erwartet  zünächst  nichts  weiter  als  Ergebnisse  überhaupt.  Sie  will 
auch  nicht  ein  durchgehendes  Gesamtergebnis  pro  Untersuchung  haben. 
Im  Urteil  „inferior“  würde  schon  wieder  ein  kritischer  Maßstab  liegen,] 
den  sie  ganz  vermeiden  möchte.  Sie  kann  höchstens  sagen  „diese  oderj 


Photomount 

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Gaylord  Bros. Inc. 

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Syracuse,  N.  Y. 

PäT.  JAN  21,  1908 


c.  2 

BF275  Ziehen,  Th. 

Z63  DIE  ÄSTHETISCHEN  GEFUHLSBETONUl 
-GEN  TAKTILKINASTHETISCHER. . . 


Datelhie 

BF275 

Z63 


c.  2 


Ziehen,  Th. 


AUTHOR 

Die  eRthetischen  gefuhls^tonunr. 


TiTLE  taktilkinasthetischer 

empfindungen  bie  kinderiL. 


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