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ARCHIV FÜR PÄDAGOGIK
ETEIL
DIE PÄDAGOGISCHE
FORSCHUNG
2. JAHRQ.
HERAUSGEBER: DR. MAX BRAHN, PRIVAT-
OKTOBER
NR. L
DOZENT AN DER UNIVERSITÄT LEIPZIG, UND
1913
MAX DÖRING, LEHRER IN LEIPZIG
Die ästhetischen Gefühlsbetonungen taktil-kinästhetischer
Empfindungen bei blinden Kindern.
^ Von Prof. Th. Ziehen, Wiesbaden.
Bei Gelegenheit ausgedehnter Untersuchungen über die kinästhetischen
Empfindungen blindgeborener oder sehr früh erblindeter Kinder, deren
1 Ergebnisse ich zum Teil schon an anderer Stelle mitgeteilt habe^), habe
ich mich auch mit der Frage beschäftigt, ob ästhetische Gefühlsbetonungen
I einfacher taktil-kinästhetischer Empfindungen, d. h. Tastempfindungen bei
I blinden Kindern überhaupt Vorkommen und ob sie — bejahendenfalls
— irgendwelche Gesetzmäßigkeiten erkennen lassen. In der Literatur der
Blindenpsychologie und der experimentellen Ästhetik habe ich keine
\ Untersuchung gefunden, welche zur Beantwortung dieser beiden Fragen
I irgendwie ausreichen könnte. Insbesondere schien es mir interessant,
' blindgeborene oder in den ersten Lebensjahren erblindete Kinder zu
i untersuchen, da man hoffen durfte, bei solchem infolge der Ausschaltung
optischer Vorstellungen die Entstehung ästhetischer Gefühlsbetonungen
von Formen unter besonders einfachen Bedingungen zu beobachten und
damit eine Grundlage für die noch immer unaufgeklärten Gesetze der
ästhetischen Formauffassung unter komplizierten Verhältnissen zu ge-
winnen.
Ich beabsichtigte ursprünglich, die bekannten Methoden der experimen-
tellen Ästhetik auch für diese Untersuchung zu verw^ehdem Es ergab
sich jedoch sofort, daß dieselben hier nicht in Betracht kommen
konnten. Die sogenannte R ei henmethode, bei welcher die Versuchsperson
die regelmäßig in einem bestimmten Sinn abgestuften Formen nach ihrer
Wohlgefälligkeit in eine Reihe zu ordnen hat, schied schon deshalb aus,
weil das Betasten keine simultane Wahrnehmung mehrerer Formen ge-
stattet und das Tastgedächtnis bei weitem nicht ausreicht, um die si-
Fortschr. d. Psychol. u. ihrer Anwendungen. 1913. Bd. 1, Heft 4 u. 5, S. 227,
Pädagog. Forschung II, 1. 1
2 Th. Ziehen, Die ästhetischen Gefühlsbetonungen taktil-kinästhetischer Empfindungen usw.
multane Wahrnehmung auch nur einigermaßen zu ersetzen i). Man denke
sich z. B., daß man den blinden Kindern im Sinn der Reihenmethode
20 Rechtecke vorlegen würde, deren Seiten sich verhalten wie 1 : 1,1,
1:1,2, 1:1,3 usf.^), und von ihnen verlangen wollte, daß sie aus diesen
Rechtecken eine Reihe auf Grund ihrer Wohlgefälligkeit bilden. Offenbar
würden die Kinder dabei vollständig versagen müssen.
Etwas aussichtsvoller könnte die sogenannte Methode der paarweisen
Vergleichungen scheinen. In der Tat hatte ich diese zunächst ins Auge
gefaßt, und zwar in der Modifikation, die ich als die systematische be-
zeichne. Diese besteht darin, daß sukzessiv jede Form einzeln mit jeder
anderen verglichen wird. Um bei dem Beispiel der Rechtecke zu bleiben,
hätte ich also so zu verfahren, daß ich das Rechteck 1 : 1,1 zuerst mit allen
anderen Rechtecken, also mit dem Rechteck 1 : 1,2, 1 : 1,3 usf. vergleiche,
dann das Rechteck 1:1,2 mit den Rechtecken 1:1,3, 1:1,4 usf., dann
das Rechteck 1 : 1,3 mit den Rechtecken 1 : 1,4, 1 : 1,5 usf.^). Die Reihen-
folge aller dieser paarweisen Vergleichungen müßte in irgendeiner
zweckmäßigen Weise geregelt werden^). Auch dies Verfahren erwies
sich als kaum ausführbar. Die Zahl der paarweisen Vergleichungen bei
einer solchen systematischen Versuchsreihe würde, selbst wenn man
sich auf 10 Formen beschränken wollte, 45 betragen, oder vielmehr da jede
wenigstens dreimal stattzufinden hätte, 135. Schon bei sehenden Erwach-
senen läßt sich eine solche Reihe kaum an einem Tag ohne schwere
Fehlergefahren durchführen. Das lebhafte, ursprüngliche Gefühlsinteresse
stumpft sich im Laufe der Reihe zusehends ab und muß durch ein theo-
retisches, ich möchte fast sagen pflichtmäßig konstruiertes Gefühlsinter-
esse ersetzt werden. Nun mag bei Erwachsenen dieser Ersatz in vielen
Fällen ausreichend sein; bei Kindern, zumal blinden, ist er ganz un-
genügend, so daß solche längere Reihen ganz ausgeschlossen sind. Ich
habe daher zu meinem Bedauern auch auf diese Methode wenigstens
vorläufig verzichten müssen. Es wäre nur der Schein der Exaktheit
vorgetäuscht worden. Allerdings hoffe ich im Laufe der Jahre doch noch
im Sinne dieser Methode ausreichendes Material zu sammeln, indem ich
die erforderlichen paarweisen Vergleichungen, also z. B. die oben er-
wähnten 135 Einzelversuche, über einen sehr großen Zeitraum — aus
Gründen, ^dfe sich unten noch ergeben werden, auf mehrere Jahre —
verteile.
Auch andere hier^ nicht näher zu erörternde Nachteile der Reihenmethode hätten sich
bei der speZielleii Untersuchung, die ich bezweckte, äußerst fühlbar gemacht.
In der praktischen Ausführung würde man selbstverständlich als Grenzfeld das Quadrat
— gewissermaßen als Rechteck mit dem Seitenverhältnis 1:1 — hinzuzufügen haben.
Auch hier würde man mit dem Quadrat zu beginnen haben.
Etwa nach den Vorschlägen Kowalewskis, Studien z. Psychologie des Pessimismus. Wies-
baden 1904, S. 70.
Th. Ziehen, Die ästhetischen Gefühlsbetonungen taktil- kinästhetischer Empfindungen usw. 3
Bei dieser Sachlage, zumal die übrigen Methoden noch weniger zweck-
mäßig erschienen^), war es geboten, durch orientierende Vorversuche
nach einer sehr einfachen Methode vorerst festzustellen, ob die Tast-
empfindungen blinder Kinder überhaupt nennenswerte Gefühlsbetonungen
aufweisen und ob die systematische Untersuchung der letzteren irgend-
welche bemerkenswerten Gesetzmäßigkeiten mit einiger Wahrscheinlichkeit
erwarten darf. Ich habe mich daher zunächst auf ganz bestimmte ausge-
wählte paarweise Vergleichungen beschränkt. Nur über die Ergebnisse
dieser Vorversuche will ich heute berichten. Es geschieht dies schon jetzt,
weil wenigstens einzelne dieser Ergebnisse trotz der kleinen Zahl der
Versuche schon jetzt gesichert zu sein und einiges Interesse zu bieten
scheinen und weil die geplante und auf Grund dieser Vorergebnisse
begonnene systematische Versuchsreihe einen Abschluß in absehbarer
Zeit kaum erwarten läßt. Vor allem liegt mir auch daran, andere zu
ähnlichen Versuchen an blinden, namentlich an blindgeborenen Kindern
anzuregen, da letztere dem Einzelnen nicht in genügender Zahl zur Ver-
fügung stehen.
Mein Verfahren gestaltete sich folgendermaßen. Dem blinden Kind
wurden zum vergleichenden Tasten dargeboten:
a) ein Quadrat und ein Rhombus,
b) ein Quadrat und ein Rechteck von dem Seitenverhältnis 2 : 3,
c) ein Quadrat und ein Rechteck von dem Seitenverhältnis des gol-
denen Schnitts, also annähernd 3:5,
d) ein Rechteck von dem Seitenverhältnis 2:3 und ein Rechteck
von dem Seitenverhältnis 3:5,
e) ein Rhombus und ein Rhomboid,
f) ein Rhomboid und ein Deltoid,
g) ein Deltoid und ein Trapezoid-),
h) ein Deltoid und ein Antiparallelogramm,
i) ein Antiparallelogramm und ein Rhomboid,
k) ein Kreis und eine eiförmige Umrißlinie.
Einige weitere Vergleichungen lasse ich weg, da sie nur ganz ver-
einzelt oder zu anderen Zwecken angestellt wurden.
Alle Figuren waren aus Karton von U/2 mm Dicke ausgeschnitten.
Die Ränder müssen sorgfältig geglättet werden. Angaben über dieLängen-
Man vergleiche z. B. die Külpesche Aufzählung der Methoden auf dem 2. Kongreß f.
exper. Psychologie in Würzburg 1906, Bericht Leipzig 1907, S. 23.
Später habe ich auch zweckmäßig gewählte Trapeze zum Vergleich herangezogen. Da-
bei zeigte sich, daß von blinden Induviduen ausnahmslos das Trapez dem Trapezoid vor-
gezogen wurde, obwohl keines den Parallelismus des einen Seitenpaares bei
dem Trapez merkte, welch letztere Tatsache wohl mit der in der oben angeführten Abhand-
lung (S. 260) nachgewiesenen Dürftigkeit der Formvorstellungen dieser Individuen zusammen-
hängt.
1*
4 Th. Ziehen, Die ästhetischen Gefühlsbetonungen taktil* kinästhetischer Empfindungen usw.
dimensionen werden unten bei der Besprechung der einzelnen Ergeb-
nisse gemacht werden. Daselbst werden sich auch die Gründe für die
Auswahl der angeführten Figuren ergeben.
Um den Zeit- und Raumfehler möglichst auszuschalten, wurde den
Kindern erlaubt, die beiden in jedem Versuch zum Vergleich vorgelegten
Figuren nach Belieben mit beiden Händen in mehrmaligem Wechsel zu
betasten. Von dieser Erlaubnis machten die Kinder den ausgiebigsten
Gebrauch. Auch ein gleichzeitiges Betasten beider Figuren und selbst
ein Aufeinanderlegen war gestattet, doch kam beides nur extrem selten
vor.
Von erheblicher Bedeutung ist selbstverständlich die Reihenfolge der
paarweisen Vergleichungen. Namentlich ist für die ästhetische Beurteilung
eines Paares nicht gleichgültig, welches Paar unmittelbar vorher verglichen
worden ist. Ich habe diesem Einfluß des Reihenfolgenfehlers bei
den jetzt zu besprechenden Vorversuchen wenigstens insofern Rechnung
getragen, als im allgemeinem ein einzelnes Paar bald nach diesem bald
nach jenem anderen Paar zum Vergleich kam.
Die an das Kind gerichtete Frage lautete einfach: „was gefällt dir
besser, was ist schöner?“ Durch die doppelte Formulierung sollte das
Kind auf die ästhetische Bedeutung der Frage möglichst eindringlich
hingewiesen werden. Ausdrücklich wurde bemerkt, daß vielleicht auch
beide Figuren gleich gut gefallen oder auch keine von beiden gut ge-
fallen könnte.
Die Antwort wurde wörtlich protokolliert, beschränkte sich aber fast
stets auf das Vorzeigen der besser gefallenden Figur. Die Zeit wurde
in diesen Vorversuchen nicht genauer gemessen, nur jede auffällige
Verzögerung der Antwort notiert. Meist erfolgte das Urteil schon nach
3 — 4—5 Sekunden.
In der Regel wurde, wenn das Kind spontan nichts hinzubemerkte,
gefragt, weshalb die eine Figur besser gefalle als die andere. Auf die
Feststellung dieser Motive wurde aus begreiflichen Gründen das Haupt-
gewicht gelegt. Auch andere Fragen wurden gelegentlich angeknüpft.
An einem Tag fanden meistens ca. 10 Vergleichungen statt. Die Ver-
gleichung eines einzelnen Paares wurde in der Regel noch mehrmals
an späteren Tagen wiederholt, so daß für die meisten Vergleichungen
wenigstens 4 Ergebnisse zur Verfügung standen. Nur bei Chr. und Fra.
mußte ich mich vorläufig mit weniger Versuchen begnügen. Einzelne Ver-
gleichungen fanden fünfmal statt. Nur ganz ausnahmsweise wurde an d e m -
selben Tag ein Paar zweimal zum Vergleich dargeboten. In der Regel
lag zwischen zwei Vergleichungen desselben Paares etwa eine Woche.
Im Ganzen wurden die Versuche an 5 blinden Kindern vorgenommen,
den Knaben Li, Fre und Chr. und den Mädchen Fra und A. Am wich-
Th. Ziehen, Die ästhetischen Gefühlsbetonungen taktil-kinästhetischer Empfindungen usw. 5
tigsten sind wohl die Versuche bei Li, weil es sich bei diesem jetzt
15 jährigen intelligenten Knaben um eine von Geburt an bestehende
totale beiderseitige Blindheit durch angeborene Katarakt handelt. Der
etwas ältere Knabe Fre ist völlig blind, aber erst seit dem 2. Lebens-
jahre, Chr. hat noch einen Lichtschimmer (ohne Projektion). Das 14 jäh-
rige Mädchen Fra ist im 2. Jahre erblindet, rechts ist die Blindheit total
(Phthisis bulbi), links sieht es noch einen Lichtschimmer, erkennt jedoch
keinerlei Richtungen, fixiert auch z. B. den betasteten Gegenstand niemals.
Das 13 jährige Mädchen A. ist gleichfalls seit dem 2. Lebensjahre fast
absolut blind (schweres Leukom der Cornea). Chr. ist intellektuell viel-
leicht nicht ganz normal, die übrigen sind geistig völlig normal. Auf-
merksamkeit und Interesse ließen nichts zu wünschen übrig.
Eine gegenseitige Beeinflussung der Kinder kann natürlich für die
späteren Versuche nicht ganz ausgeschlossen werden. Der erste Ver-
gleichungsversuch ist daher immer besonders wertvoll. Für die Verglei-
chungen der Rechtecke dürfte übrigens eine Verständigung durch die
relativ geringen Differenzen erheblich erschwert worden sein.
Die Ergebnisse beschränken sich auf 4 Tatsachen, nämlich:
1. Einfache taktil-kinästhetische Empfindungen (Tastempfin-
dungen) sind bei blindgeborenen bzw. sehr früh erblindeten
Kindern zuweilen von lebhaften Gefühlstönen des Gefallens
begleitet;
2. Der Rhombus wird von denselben Kindern oft dem Qua-
drat vorgezogen;
3. Bei dem Vergleiche eines Rechteckes von dem Seitenver-
hältnis 2:3 und eines Rechteckes von dem Seitenverhältnis 3:5
wird von diesen Kindern das letztere bei mittlerer absoluter
Größe meistens entschieden vorgezogen;
4. Bewußte assoziierte Vorstellungen („relative“ Faktoren
im Sinn Külpes) sind für diese und ähnliche andere Bevor-
zugungen nicht maßgebend.
Aus dieser Aufzählung geht schon hervor, daß viele der oben auf-
gezählten, experimentell untersuchten Vergleichungen überhaupt kein
Ergebnis geliefert haben. So schwankte z. B. bei der Vergleichung von
Deltoid und Rhomboid, die ich wegen des Gegensatzes von Symmetrie und
Richtungsgleichheit der Seiten experimentell hatte prüfen wollen, das
Vorzugsurteil nicht nur von einem Kind zum anderen, sondern war
auch bei demselben Kind nicht konstant^). Ausnahmsweise wechselte
sogar innerhalb einer und derselben Sitzung das Urteil (z. B. bei Li
zwischen Rhombus und Rhomboid). Oft erfolgte die Beurteilung auch
Im Ganzen wurde das Rhomboid öfters vorgezogen.
6 Th. Ziehen, Die ästhetischen Gefühlsbetonungen taktil-kinästhetischer Empfindungen usw.
sehr langsam, oder wurde das Urteil „gleich“ gefällt. Da zudem die
Zahl der Versuche viel zu gering ist — ich brach sie wenigstens vor-
läufig eben wegen der schwankenden Ergebnisse ab — , gehe ich auf
dieselben nicht weiter ein. Ich will nur bemerken, daß das Trapezoid
(Seiten sämtlich ungleich lang) doch gelegentlich auch dem Deltoid und
namentlich dem Antiparallelogramm vorgezogen werde.
Die oben angeführten 4 Tatsachen sollen nunmehr gesondert erörtert
werden.
Zu 1. Ich war von Anfang an darauf gefaßt, daß überhaupt jede
nennenswerte Gefühlsbetonung ausbleiben könnte, zumal Versuche an
sehenden Individuen, Kindern wie Erwachsenen, mir schon gezeigt hatten,
daß bei solchen das Betasten einfacher Figuren von verschiedener Form
(bei geschlossenen Augen) nur sehr schwache und vor allem nur sehr
wenig verschiedene Gefühlstöne auslöst. Als ich den blinden Kindern die
oben angeführte Instruktion mitteilte, hatte ich den Eindruck, daß auch
sie kaum eine Differenz der Gefühlstöne erwarteten. Um so mehr war
ich erstaunt, daß das Urteil in vielen Fällen sehr rasch und entschieden
abgegeben wurde. Wie oben schon erwähnt, gilt dies durchaus nicht
für alle Fälle. Langsame Urteile und Gleich-Urteile finden sich ebenfalls
in ansehnlicher Zahl. Zuweilen erklärten auch die Kinder ausdrücklich,
daß der Unterschied im Gefallen nicht groß sei. Aber andererseits bleibt
eine relativ große Zahl von Fällen, in denen die Schnelligkeit und Ent-
schiedenheit des Urteils geradezu auffiel. Bemerkenswerter Weise sind
dies größtenteils dieselben Fälle, in denen die Urteile von einer Sitzung
zur anderen und von einem Kind zum anderen am meisten übereinstimmten.
Im wesentlichen gehören hierher die oben unter 3. aufgeführten Ver-
gleichungen.
Interessant erscheint mir dies Ergebnis insofern, als es zeigt, daß der
ästhetische Formensinn nicht ausschließlich an die optischen Empfin-
dungen gebunden ist — wenigstens nicht bei blindgeborenen oder sehr
früh erblindeten Kindern. Allerdings ist dabei doch bemerkenswert, daß
das einzige Kind, welches auch bei den unter 3. angeführten, unter näher
zu erörternden Vergleichungen etwas öfter zu Gleich-Urteilen kam, der
blindgeborene Knabe Li war. Bei der kleinen Zahl der Versuchspersonen
lasse ich einstweilen dahingestellt, ob es sich um einen Zufall handelt.
Zu 2. Bei dem Vergleich zwischen Rhombus und Quadrat (Seiten-
länge meist 4,4 cm) schwankten die Urteile ziemlich erheblich. Interessant
erscheint mir nur, daß nicht wenige Urteile zugunsten des Rhombus
ausfielen. So zogen z. B. Fra und Chr den Rhombus stets vor. Li
fällte bei der ersten Vergleichung ein unentschiedenes Urteil, bei den
Für sicher halte ich dies Ergebnis nicht, da das verwendete Antiparallelogramm
leider einen merklich größeren Flächeninhalt hatte als das Trapezoid.
Th. Ziehen, Die ästhetischen Gefühlsbetonungen taktil-kinästhetischer Empfindungen usw. 7
späteren zog er den Rhombus vor. Bei A fielen 4 Urteile zugunsten
des Rhombus, eines zugunsten des Quadrates aus. Bei Fra überwogen
die Urteile zugunsten des Quadrats (3:1). Zwei nur gelegentlich unter-
suchte 16-, bzw. 17jährige Blinde H. und St. fanden keinen Unter-
schied in der Wohlgefälligkeit. Für die Begründung gilt das unter 4.
näher zu Besprechende. Nur in 2 Fällen gab das Kind einen bestimmten
Grund an; der Knabe Li meinte bei einer späteren Vergleichung, der
Rhombus gefalle ihm besser, „weil’s die seltener gibt“, und das Mädchen
A führte zugunsten des Quadrates einmal an, dies sei „gleichmäßiger“
als der Rhombus. Sonst wurde stets angegeben, einen Grund für die
Bevorzugung wüßten sie nicht.
Ganz ohne Interesse ist wohl auch dies Ergebnis nicht. Bei sehenden
Individuen nimmt bekanntlich das Quadrat insofern eine besondere
Stellung ein, als es trotz einer maximalen Regelmäßigkeit, wenn es als
optische Empfindung gegeben wird, keineswegs stets anderen Vierecken
vorgezogen wird. Offenbar gilt dies nach den mitgeteilten Ergebnissen
in bestimmten Fällen auch für die ästhetischen Tastvergleiche blindge-
borener bzw. früh erblindeter Kinder.
Zu 3. Die Versuchsreihe, die zu der Feststellung unter 3. geführt hat,
hat mich, nachdem unter 1. sich überhaupt eine lebhafte Gefühlsbetonung
getasteter Formen ergeben hatte, besonders beschäftigt, da nach den
Versuchsergebnissen bei sehenden Personen das Seitenverhältnis für
die ästhetische Bewertung gesehener Rechtecke von einer gesetzmäßigen
Bedeutung zu sein scheint. Bekanntlich haben Fechner und Witmer nach-
gewiesen, daß bei der optischen Vergleichung von Rechtecken mit ver-
schiedenen Seitenverhältnissen ein Maximum der Wohlgefälligkeit auf
diejenigen Rechtecke fällt, deren Seiten annähernd das Verhältnis des
goldenen Schnitts haben, also im Verhältnis von etwa 21 : 34 oder, noch
mehr abgerundet, von 3:5 stehen 2). Spätere Untersucher haben aller-
dings die Gültigkeit der Fechner-Witmerschen Resultate bestritten und
namentlich Bedenken gegen das fast rein statistische Verfahren und die
Durchschnittsberechnungen Fechners und Witmers erhoben. So sehr
diese Bedenken gerechtfertigt sind, so sehr namentlich die Fechner-
Witmerschen Untersuchungen einer sorgfältigen Ergänzung durch Selbst-
beobachtungen der Versuchspersonen über ihre Motive usw. bedürfen,
so wenig kann ich die Bestreitung der Hauptresultate jener beiden
Forscher als berechtigt anerkennen. Die Tatsache, daß Rechtecke, deren
Fechner, Vorschule d. Ästhetik, Teil 1, S. 191 ff. und Abhandl. d. math. phys. Kl. d. Kgl.
Sachs. Ges. d. Wiss. 1871, S. 555; Witmer, Wundts Philos. Stud. 1894, Bd. 9, S. 96. Bezüglich
weiterer Literatur verweise ich auf meinem demnächst erscheinenden Vortrag über experi-
mentelle Ästhetik auf dem Kongr. f. Ästh. u. allg. Kunstwissenschaft in Berlin.
Dabei müssen die optischen Täuschungen berücksichtigt werden.
8 Th. Ziehen, Die ästhetischen Gefühlsbetonungen taktil-kinästhetischer Empfindungen usw.
Seiten annähernd das Verhältnis des goldenen Schnitts darbieten, von
den meisten Personen gegenüber anderen Rechtecken bevorzugt wurden,
bleibt bestehen. Ich stimme in dieser Beziehung ganz mit Külpe überein,
der gleichfalls konstatiert, daß die ästhetische Bedeutung des goldenen
Schnitts durch die neueren Arbeiten in keiner Weise widerlegt worden ist.
Deshalb wählte ichdiesesVerhältnis auch für meine orientierenden Versuche.
Es handelte sich darum festzustellen, ob die ästhetische Bedeutung des
goldenen Schnitts nur für optische Empfindungen oder auch für taktil-
kinästhetische Empfindungen (Tastempfindungen) gilt. Bei sehenden In-
dividuen, Kindern und Erwachsenen, hatte ich mich durch Versuche über-
zeugt, daß der goldene Schnitt für ihre Tastempfindungen keine nennens-
werte Rolle spielt. Hieraus aber einen Rückschluß auf das Verhalten blinder
Individuen zu ziehen, war offenbar unzulässig. Bei sehenden Individuen
sind die Gefühlsbetonungen der Tastempfindungen einfacher Formen
überhaupt so schwach, daß ein Einfluß des goldenen Schnitts sehr
wohl schon deshalb sich der Feststellung entziehen konnte. Bei den
blinden Kindern hatten sich lebhafte Oefühlsbetonungen der Tastemp-
findungen einfacher Formen ergeben. Es war also festzustellen, ob das
Verhältnis des goldenen Schnitts hier doch vielleicht eine Rolle spielt.
Die Untersuchung erfolgte ganz, wie oben angegeben. Zunächst ver-
wandte ich ein Rechteck von dem dem goldenen Schnitt entsprechenden
Seitenverhältnis 3:5cm und ließ es mit einem Rechteck vergleichen,
dessen Seitenverhältnis 3,2 : 4,7 cm, also etwa 2 : 3 betrug. Das Ergebnis
war, daß in der weit überwiegenden Mehrzahl der Fälle das ästhetische
Vorzugsurteil rasch und entschieden zugunsten des Rechtecks 3:5 ab-
gegeben wurde. Fre entschied sich viermal für das Rechteck 3 : 5 und nur
einmal für das Rechteck 3,2: 4,7. Chr wurde nur dreimal befragt, zwei-
mal entschied er sich für das Rechteck 3:5, das letzte Mal schwankte
sein Urteil. Li fand zweimal keinen Unterschied, zweimal entschied er
sich für das Rechteck 3:5. A bevorzugte dreimal das Rechteck 3:5,
bei einem 4. Vergleich war sie sehr zweifelhaft, bei einem fünften ent-
schied sie sich für das Rechteck 3,2: 4,7. Fra war bei dem ersten Ver-
gleich unentschieden, bei den beiden folgenden entschied er sich für
das Rechteck 3 : 5, bei dem vierten für das Rechteck 3,2 : 4,7. Dem Qua-
drat 4,4: 4,4 wurde das Rechteck 3:5 stets vorgezogen, während bei
den Vergleichungen des Rechtecks 3,2: 4,7 mit demselben Quadrat die
Urteile schwankten. H und St (siehe oben), die allerdings nur je einmal
geprüft wurden, zogen beide das Rechteck 3:5 dem Rechteck 3,2: 4,7
und beide Rechtecke dem Quadrat 4,4: 4,4 vor.
Nach diesen Versuchen, die offenbar zugunsten einer ästhetischen
Bedeutung des goldenen Schnitts sprechen, schien es zunächst ge-
boten festzustellen, ob nicht etwa die absolute Größe eine Rolle
Th. Ziehen, Die ästhetischen Qefühlsbetonungen taktil- kinästhetischer Empfindungen usw, 9
spielen und das Ergebnis durch einen solchen Einfluß vorgetäuscht sein
könnte. Es war mir nämlich bei anderweitigen Versuchen, über die ich
hier nicht berichte, aufgefallen, daß blinde Kinder von 2 Kreisen von
verschiedenen Durchmessern gelegentlich den kleineren vorzogen und
ausdrücklich als Grund angaben, daß er „kleiner sei“. Ich ließ also nun-
mehr die Kinder ein dem goldenen Schnitt entsprechendes Rechteck
4 : cm mit einem Rechteck 4 : 6 cm vergleichen. Daran schlossen sich
Vergleiche zweier Rechtecke, die in den größeren Seiten übereinstimmten,
also eines Rechteckes 3,6: 6,0 und eines Rechteckes 4:6. In diesen
beiden Reihen war also ein Seitenpaar der zu vergleichenden Rechtecke, in
der 1. Reihe das kleinere, in der 2. das größere, gleich. Außerdem erwog
ich, daß wir bei dem Betasten von Flächen nicht nur die Seitenlinien,
sondern die ganzen Flächen abtasten. Ich stellte also eine dritte Ver-
suchsreihe mit 2 Rechtecken von gleichem Flächeninhalt an. Wenn das
eine Rechteck das Seitenverhältnis a:b, z. B. 4:6 hat, so kann dem
anderen, welches das Seitenverhältnis a : b' des goldenen Schnitts haben
soll, noch irgend eine weitere Bedingung vorgeschrieben werden, so
z. B. a' = a oder b' = b oder — und darum handelt es sich jetzt — a'b'
= ab. Ich ließ daher 2 Rechtecke von den blinden Kindern vergleichen,
deren eines das Seitenverhältnis 4 : 6 hatte, während sich die Seiten des
anderen wie 3,8 : 6,3 verhielten. Das zweite Rechteck hatte also nicht nur
ungefähr das Seitenverhältnis des goldenen Schnitts, sondern stimmte
auch im Flächeninhalt mit dem Rechteck 4:6 fast genau überein i).
Die Resultate, die sich bei diesen 3 neuen Versuchsanordnungen er-
gaben, waren folgende:
Bei der Vergleichung der Rechtecke 4:6 und 3,6:6 wurde stets von
allen Kindern (einschließlich St und H) das zweite, also dasjenige von
dem Seitenverhältnis des goldenen Schnitts rasch und entschieden be-
vorzugt. Nur A zog einmal (unter 3 Malen) das Rechteck 4:6 vor. Bei
der Vergleichung der Rechtecke 4:6 und 4:6% waren die Ergebnisse
ungleichmäßiger. Li und Fra fanden bald keinen Unterschied in der
Wohlgefälligkeit, bald bevorzugten sie das Rechteck 4 : 6%. Chr meinte
Ich glaube, daß der Einfluß des Flächeneindrucks auch bei den ästhetischen Versuchen
mit optischen Empfindungen keine unerhebliche Rolle spielt, zumal wenn ein absolut un-
wissentliches Verfahren angewendet wird. Man hat geradezu zu erwarten, daß durch die
Flächenvergleichung der Eindruck des Seitenverhältnisses etwas beeinträchtigt, bzw. modifi-
ziert wird. Sehr ausgedehnte Versuche über das Gedächtnis für Flächeneindrücke, optischer
und taktil-kinästhetischer, die ich mit Sakaki angestellt habe, deren Ergebnisse aber aus äußeren
Gründen leider nur zum kleinsten Teil veröffentlicht worden sind, haben mit Sicherheit ge-
zeigt, daß der Flächeneindruck nicht einfach auf den Eindruck der Begrenzungslinien redu-
ziert werden kann. Siehe auch Thompson und Sakijewa, Zeitschr. f. Psych. u, Phys. d. Sinn. 1902,
Bd. 27, S. 187. — Übrigens sind auch Versuche unter der Bedingung a' -j- b' = a -f b Tät-
lich; die oben angeführten genügen dieser Bedingung nur annähernd.
1 0 Th. Ziehen, Die ästhetischen Gefühlsbetonungen taktil-kinästhetischer Empfindungen usw.
bei dem ersten Vergleiche, beide gefielen ihm nicht, bei dem zweiten
zog er das Rechteck 4:62/3 vor. Fre war zuerst unentschieden und bevor-
zugte später das Rechteck 4 : 6, A bevorzugte zuerst das Rechteck 4 : 6,
später das Rechteck 4:62/3. St und H (nur je ein Versuch) bevorzugten
das Rechteck 4 : 62/3. Bei der Vergleichung der Rechtecke 4 : 6 und 3,8 : 6,3
wurde das Urteil nur einmal zugunsten des ersteren abgegeben (von
Fra), sonst lautete das Urteil entweder auf gleich oder fiel — und zwar
öfter — zugunsten des Rechteckes 3,8: 6,3 aus.
Ich habe übrigens nicht unterlassen, auch diese Rechtecke mit den
entsprechenden Quadraten zu vergleichen. Es mußte also verglichen
werden:
4 :6 mit 4 :4, 6:6 und 4,9:4,Q (annähernd gleicher Inhalt)
4 :62/3mit4 :4, 62/3:62/3 und 5,2: 5,2 ( „ „ „ )
3,6 : 6 mit 3,6 : 3,6, 6 : 6 ‘ und 4,7 : 4,7 ( „ „ „ )
3,8: 6,3 mit 3,8: 3,8, 6,3: 6,3 und 4,9: 4,9 ( „ „ „ )
Aus den oben angegebenen Gründen habe ich — wenigstens vorläufig
— mich im wesentlichen auf den Vergleich von 4:6 mit 4,9: 4,9 und
3,8 : 6,3 mit 4,9 : 4,9 beschränkt. Das Ergebnis dieser Vergleichungen war,
daß Chr, Fre, H und Li das Rechteck 4:6 dem Quadrat 4,9: 4,9 vor-
gezogen, A und Fra beide für gleich schön erklärten und nur St
das Quadrat bevorzugte. Das Rechteck 3,8 : 6,3 wurde von allen 7 Ver-
suchspersonen (also auch St) stets rasch und entschieden dem Quadrat
4,9 : 4,9 vorgezogen.
Schließlich wollte ich ermitteln, ob das Überwiegen der Wohlgefällig-
keit des Seitenverhältnisses des goldenen Schnitts auch dann bestehen
bleibe, wenn viel kleinere oder viel größere Rechtecke verglichen werden.
Ich ließ daher z. B. ein Rechteck von dem Seitenverhältnis 2 : 3 mit einem
solchen von dem ' Seitenverhältnis 1,9:3,16^) vergleichen (letzteres hat
fast genau das Seitenverhältnis des goldenen Schnitts). Dabei ergab
sich keinerlei sichere Gesetzmäßigkeit. Die Urteile waren bald unentschieden,
bald fielen sie zugunsten des ersten, bald zugunsten des zweiten Recht-
eckes aus. Der Vergleich des Rechteckes 1,9:3,16 mit einem Quadrat
von gleichem Flächeninhalt (Seite 2,45cm) ergab mit einer Ausnahme
(H) eine Bevorzugung des Rechteckes; ebenso wurde aber auch das
Rechteck 2 : 3 stets vor dem Quadrat 2,45 : 2,45 bevorzugt (auch H machte
hier keine Ausnahme).
Stichproben mit anderen Rechteckpaaren von kleineren oder größeren
absoluten Dimensionen haben die vorstehenden Ergebnisse im Wesent-
lichen bestätigt: bei sehr kleinen Dimensionen keine sicher nachweis-
bare Gesetzmäßigkeit, bei mittleren Dimensionen im Ganzen eine Ten-
Auf die absolute Genauigkeit der Figur mit Bezug auf die 2. Dezimale wurde kein
Gewicht gelegt.
Th. Ziehen, Die ästhetischen Gefühlsbetonungen taktil-kinästhetischer Empfindungen usw, 1 1
denz zu auffälliger Bevorzugung der Rechtecke vom Seitenverhältnis des
goldenen Schnittes. Bei sehr großen Dimensionen geht infolge der
Schwierigkeiten des Betastens der ästhetische Eindruck verloren, doch
scheint sich wenigstens die Bevorzugung des Rechtecks vom Seiten-
verhältnis des goldenen Schnitts vor dem inhaltgleichen Quadrat auch
bei größeren Figuren zu erhalten (allerdings ging ich über ein Quadrat
7:7 bis jetzt nicht hinaus). Alle Kinder sagten auch am Schluß der
Versuche direkt, die kleinen Figuren seien schöner; nur Chr. erklärte,
erfinde zwischen den großen und den kleinen Figuren keinen Unterschied.
Die Deutung dieser unter 3 mitgeteilten Ergebnisse schiebe ich auf,
bis die unter 4 oben erwähnte Tatsache erörtert worden ist.
Zu 4. Die Aussagen der Kinder ergaben, daß bewußte assoziierte
Vorstellungen für die Bevorzugungsurteile keinerlei nennenswerte Rolle
spielten. Spontane Motivierungen kamen kaum vor. Die Fragen wurden
in der vorsichtigsten Weise getan, um jede Suggestion zu vermeiden.
In der Regel frug ich zunächst nur: warum gefällt dir das besser? Später
frug ich auch oft noch: Flast du an irgendeinen besonderen Gegenstand
gedacht? Leider konnte ich aus äußeren Gründen nicht immer vermeiden,
daß die Antwort auch von den nicht am Versuch beteiligten Kindern
gehört wurde. Doch dürfte dieser Nachteil nicht zu groß gewesen sein,
da den zuhörenden Kindern nicht bekannt war, auf welche Figuren sich
die Antwort bezog, und vor allem, da die Antworten keine gegenseitige
Beeinflussung — wenigstens im positiven Sinn — erkennen ließen.
Weitaus die meisten Kinder motivierten auf Befragen ihre meisten
Urteile einfach mit den Worten: „Die Form ist schöner“ oder „das fühlt
sich schöner an“ oder „die Fagon ist schöner“ oder „das isLeben (halt)
schöner“. Vielfach sagten sie auch: „Ich weiß nicht“ und blieben bei
ihrem Urteil. Von diesem Verhalten kamen nur folgende Ausnahmen
vor. Erstens wurde hin und wieder gesagt: „Weil es kleiner ist“. Das
kam nur dann vor, wenn der Flächeninhalt oder auch die Seitengröße
auffällig verschieden war. Bei den hier berichteten Versuchen war dies
nur bei dem Vergleich von Trapezoid und Antiparallelogramm der Fall
(siehe oben S. 10 und S. 6, Anm. 2). Zweitens wurde in einem Fall
(siehe oben S. 7) die Seltenheit als Grund der Bevorzugung des Rhom-
bus vor dem Quadrat angeführt. Drittens wurde ab und zu die Gleich-
mäßigkeit als Motiv angegeben. Meist handelte es sjch dabei um die
Bevorzugung des Quadrats vor anderen Figuren, z. B. dem Rhombus,
doch gab z. B. der blindgeborene Li. auch als Grund für die Be-
vorzugung des Rhomboids vor dem Deltoid^) an: „Das andere (nämlich
' das Deltoid) ist ungleichmäßig.“ Wie wenig entscheidende Bedeutung
im übrigen die Gleichmäßigkeit für die Wohlgefälligkeit hatte, geht daraus
*) Die Gleichheit je zweier benachbarter Seiten wurde oft nicht bemerkt, vgl. S. 4, Anm. 1.
12 Th. Ziehen, Die ästhetischen Gefühlsbetonungen taktil-kinästhetischer Empfindungen usw.
hervor, daß das Quadrat trotz seiner maximalen Gleichmäßigkeit oft gegen-
über dem Rhombus (vgl. S. 7) und meistens gegenüber den zur Ver-
wendung gelangten Rechtecken (vg. S. 8 — 10) zurückstand. Selbstver-
ständlich ist hieraus nicht auf eine Bedeutungslosigkeit der Gleichmäßig-
keit zu schließen. Gleichmäßigkeit, insbesondere auch Symmetrie, — wie
mich andere hier nicht berücksichtigte Versuche gelehrt haben — ist
für die Tastempfindungen des blinden Kindes nicht ästhetisch gleich-
gültig, aber sie gibt nicht allein den Ausschlag und ist wahrscheinlich
für die Tastempfindungen der Blinden nicht so bedeutsam wie für die
optischen Empfindungen der Sehenden. Es ist schon bemerkenswert
genug, daß sie überhaupt auch auf dem Tastgebiet einen merklichen
Einfluß ausübt.
Die vierte Motivierung der Wohlgefälligkeit, die nicht selten vorkam,
lautete: „Das ist länger“, „das ist nicht so breit“, „das andere ist so
breit“ usf. Diese Motivierung kam fast ausschließlich bei der Vergleichung
der Rechtecke vom Seitenverhältnis des goldenen Schnitts mit den Recht-
ecken vom Seitenverhältnis 2 : 3 (bzw. 4,7 : 3,2 oder 4 : 6) vor. Sie deckt
sich fast wörtlich mit der Motivierung, die gelegentlich sehende Per-
sonen für die optische Bevorzugung des Rechtecks vom Seitenverhältnis
des goldenen Schnitts geben. Dasselbe wird vorgezogen, weil es „nicht
so breit“, „relativ länger“ ist.
Auf die Frage, ob der Gedanke an irgend einen bestimmten Gegen-
stand aufgetreten sei, wurde stets negativ geantwortet. Keine einzige
Äußerung berechtigte zu der Annahme, daß etwa der Gedanke an be-
stimmte Verwendungen oder ein Vergleich mit bestimmten Objekten
im Sinn einer bewußten Vorstellung bei dem ästhetischen Urteil mit-
gewirkt habe.
Man könnte nun aber fragen, ob nicht die oben angeführten Angaben
über die Motive des Bevorzugungsurteils doch darauf deuten, daß be-
wußte assoziierte Vorstellungen, wenn auch nicht gerade assoziierte
Vorstellungen bestimmter Objekte beteiligt waren. Für die in einem
einzigen Fall aufgetretene Vorstellung der Seltenheit ist dies ohne wei-
teres zuzugeben. Für die übrigen Motive, — Kleinheit, Gleichmäßigkeit und
stärkeres Überwiegen der Länge über die Breite — ist hingegen die
Mitwirkung der entsprechenden Vorstellungen bei dem Zustande-
kommen des ästhetischen Urteils ganz unwahrscheinlich. Man könnte
ja allerdings auf die Vermutung kommen, daß kleinere Figuren die
Vorstellung der größeren Handlichkeit auslösten und ausschließlich dank
dieser assoziierten Vorstellung oder zum größten Teil dank dieser Vor-
stellung wohlgefällig erschienen^). Indes widerspricht der Tatbestand
An der Mißfälligkeit sehr großer Figuren mag vielleicht die bewußte Vorstellung der
Unhandlichkeit in höherem Grade beteiligt sein.
Th. Ziehen, Die ästhetischen Gefühlsbetonungen taktil-kinästhetischer Empfindungen usw. 1 3
der Aussagen des Kindes dieser Vermutung durchaus. Nirgends schim-
merte etwas von einer Vorstellung der Handlichkeit oder einer ähnlichen
Vorstellung in den Aussagen durch. Selbst durch Verlockungsfragen,
die ich, selbstverständlich erst nach Abschluß der Versuche, bei zwei
Kindern tat, konnte ich keine Aussage in dem Sinne der in Rede stehen-
den Vermutung provozieren. Ebensowenig darf man die übrigens im
Ganzen keineswegs häufigen Angaben der Kinder über Gleichmäßig-
keit als Bevorzugungsmotiv so deuten, als ob durch die bewußte Vor-
stellung der Gleichmäßigkeit die Bevorzugung herbeigeführt worden sei,
vielmehr hat die Gleichmäßigkeit bzw. Regelmäßigkeit als Eigenschaft
der Empfindung direkt, d. h. ohne Vermittelung einer Vorstellung, die
stärkere positive Gefühlsbetonung und daher die Bevorzugung der be-
züglichen Empfindung bedingt, und die Kinder werden sich erst nach-
träglich auf Befragen über diesen Zusammenhang klar und geben daher
nachträglich als Motiv ihrer Bevorzugung die Gleichmäßigkeit an. Für
diese letztere Deutung und gegen die Annahme einer durch bewußte
Vorstellungen vermittelten Bevorzugung spricht vor allem entschieden
die Tatsache, daß außerordentlich oft die gleichmäßigere Figur vorge-
zogen wurde, ohne daß auf Befragen die Gleichmäßigkeit als Motiv des
Urteils angegeben wurde. In nicht wenigen Fällen wurde sogar die Gleich-
mäßigkeit überhaupt nicht gemerkt und doch die gleichmäßigere bzw.
regelmäßigere Figur vorgezogen. So war dies z. B., wie oben S. 3, Anm. 2
kurz erwähnt, ganz regelmäßig bei der Vergleichung von Trapez und
Trapezoid der Fall. Endlich sind die Angaben der Kinder, das Rechteck
vom Seitenverhältnis des goldenen Schnitts habe ihnen besser gefallen,
weil es „länger“, „nicht so breit“ sei usw., gewiß nicht so zu ver-
stehen, als ob erst die bewußte Vorstellung des erheblichen Über-
wiegens der Länge zu dem Bevorzugungsurteil geführt hätte, sondern
diese Vorstellung stellt sich erst nachträglich im Sinn einer Erklä-
rung ein. Dies geht wiederum daraus hervor, daß das bezügliche Motiv
nur ausnahmsweise angegeben wurde und die Kinder auf Befragen nach
dem Motiv meistens nur antworteten: „Ich weiß nicht“ oder ihr Bevor-
zugungsurteil nochmals tautologisch umschrieben: „Weil die Form
schöner ist, weil die Fagon schöner ist“ u. dgl. mehr. Nicht einmal die
gewiß naheliegende und bei entsprechenden optischen Versuchen nicht
seltene Berufung auf die größere „Schlankheit“ des Rechtecks vom Seiten-
verhältnis des goldenen Schnitts, welche vielleicht eher auf einen Kausal-
zusammenhang von Vorstellung und Bevorzugungsurteil bezogen werden
könnte, kam bei meinen Versuchen vor. Ich komme daher zu dem Ge-
samtergebnis, daß auch die Angaben der Kinder über die Motive ihres
Urteils nicht darauf hinweisen, daß bewußte Vorstellungsassoziationen für
die festgestellten Bevorzugungen in irgend erheblichem Grade maß-
14 Th. Ziehen, Die ästhetischen Gefühlsbetonungen taktil- kinästhetischer Empfindungen usw.
gebend gewesen sind. Die einseitige und übertriebene Betonung des
assoziativen Faktors (einschließlich der sog. Einfühlung) bei dem Zu-
standekommen des ästhetischen Urteils, wie sie in vielen neueren
Arbeiten 1) hervortritt, erweist sich also auch für die Erklärung der hier
mitgeteilten Versuche als unzulässig.
Damit ist denn nun auch die Deutung der unter 3 erörterten Bevor-
zugung der Rechtecke vom Seitenverhältnis des goldenen Schnitts wenig-
stens per exclusionem etwas gefördert, und ich kehre nunmehr zu dieser
Deutungsfrage zurück.
Wenn die Mitwirkung bewußter assoziierter Vorstellungen in diesem
oder jenem Sinn zur Erklärung der Bevorzugung des Rechtecks 3:5
vor dem Rechteck 2:3 in keiner Weise ausreicht, so bleiben offenbar
nur noch zwei Erklärungswege übrige): Entweder ist die räumliche
Eigenschaft der Empfindungen als solcher die Ursache der Bevor-
zugung oder unbewußte Vorstellungsassoziationen bedingen die
Bevorzugung. Die erstere Annahme wird z. B. von Külpe vertreten.
Külpe meint, daß in der Tat das eigenartige mathematische Verhältnis
des goldenen Schnitts a : b = b : a + b für die Bevorzugung maßgebend
sei, und zwar glaubt er, daß diese Beziehung auf dem Weberschen Ge-
setz beruhe, insofern die Wohlgefälligkeit des goldenen Schnitts nichts
anderes als die Wohlgefälligkeit scheinbar gleicher Unterschiede sei^).
Ich habe gegen diese Deutung erhebliche Bedenken. Erstens involviert
sie eine Übertragung des Weberschen Gesetzes auf übermerkliche Unter-
schiede, die schwerlich zulässig ist. Zweitens vermisse ich einen Nach-
weis dafür, daß überhaupt die Seitensumme a b irgendwie zur Wir-
kung kommt; man sollte doch erwarten, daß eine solche Wirkung, wenn
sie besteht, irgendwie auch in den Aussagen der Versuchspersonen
wenigstens gelegentlich sich wiederspiegelte. Drittens scheinen mir nicht
nur die Streuungen um den Wert des goldenen Schnitts, sondern auch
die Abweichungen des Durchschnitts (bei einer Versuchsperson) von
diesem Wert zu erheblich zu sein. Endlich ist es viertens speziell bei
den hier mitgeteilten Blindenversuchen nicht wahrscheinlich, daß ihre
kinästhetische Unterschiedsempfindlichkeit ausreichte, um das Seiten-
verhältnis des goldenen Schnitts zur Wirkung kommen zu lassen. Wenn
man bedenkt, daß z. B. bei dem besonders intelligenten Knaben Fre.
nach früher mitgeteilten Versuchen^) zwei aktiv betastete gerade Strecken
von 5V2 und 6 cm je nach der Zeitlage (erst Betasten der längeren oder
Vgl. z. B. Segal, Arch. f. d. ges, Psychol. 1906, Bd. 7, S. 53.
Grundriß der Psychologie. Leipzig 1893, S. 261.
Pseudoerklärungen, die von merkwürdigen Einheiten des Mannigfaltigen u. dgl. reden,
lasse ich absichtlich unbeachtet. Sie gehören größtenteils der metaphysischen Wortästhetik an.
*) 1. c. S. 316.
Th. Ziehen, Die ästhetischen Gefühlsbetonungen taktil-kinästhetischer Empfindungen usw. 15
erst Betasten der kürzeren Strecke) in 51% bzw. 13% der Fälle falsch
bezüglich der Richtung des Unterschieds iDeurteilt wurden, so wird es
doch sehr zweifelhaft, ob die Differenzen der in den jetzt mitgeteilten
Versuchen zur Anwendung gelangten Liniendimensionen überhaupt aus-
reichten, um das Verhältnis des goldenen Schnitts gegenüber dem Ver-
hältnis 2 : 3 zum Ausdruck zu bringen. Man darf auch, meine ich, nicht
etwa glauben, daß gewissermaßen das dritte und das vierte Bedenken
sich gegeneinander aufheben, d. h. die Erheblichkeit der Streuungen und
Abweichungen sich aus der unzureichenden kinästhetischen Unterschieds-
empfindlichkeit erkläre; denn das dritte Bedenken bezieht sich auf op-
tische Versuche, für welche die Unterschiedsempfindlichkeit mir wohl
auszureichen scheint, während das vierte sich auf die kinästhetischen
Blindenversuche bezieht. Immerhin gebe ich gern zu, daß alle diese Be-
denken nicht absolut entscheidend sind, vermisse aber erst recht absolut
entscheidende positive Argumente zu Gunsten der Külpeschen Deutung
und vermisse namentlich bei der letzteren eine Berücksichtigung des
Flächeneindrucks (vgl. oben S. 9).
Bei dieser Sachlage lohnt es sich doch wohl, die zweite Annahme,
welche die Bevorzugung des goldenen Schnitts in unbewußten Asso-
ziationen sucht, gleichfalls in Erwägung zu ziehen. Man könnte sich
z. B. sehr wohl denken, daß das optische oder — bei blindgeborenen
und früherblindeten Individuen — das taktil -kinästhetische Bild^) der
menschlichen Gestalt eine Tendenz zur Bevorzugung länger gestreckter
Rechtecke, also z. B. des Rechtecks 3 : 5 vor dem Rechteck 2 : 3 hervor-
ruft. Manche Beobachtungstatsachen würden damit einigermaßen ver-
ständlich. So vor allem die starken Streuungen der Werte um den Durch-
schnittswert, ferner die oft sehr erheblichen Abweichungen des Durch-
schnittswertes von dem exakten Wert des goldenen Schnitts bei den
optischen Versuchen. Letzterer würde bei der in Rede stehenden An-
nahme seine spezielle mathematische Bedeutung ganz verlieren und nur
ein ziemlich willkürlicher Ausdruck für die in Rede stehende Tendenz sein.
Das Seitenverhältnis 3:5 würde nur deshalb dem Seitenverhältnis 2:3
meistens vorgezogen werden, weil jenes dem Seitenverhältnis der mensch-
lichen Gestalt näher kommt als dieses. Auch eine weitere nicht uninter-
essante Beobachtung wird so verständlich. Es fiel mir auf, daß die Kinder
bei ihren Tastbewegungen eine ausgesprochene Neigung bekundeten,
die beiden zum Vergleich dargebotenen Rechtecke so zwischen den
Fingern einzustellen, daß die kürzere Seite ungefähr horizontal, die
längere ungefähr vertikal stand, also — wie ich es kurz ausdrücken
will — die Rechtecke in „stehende“ Position zu bringen, d. h. in eine
Die vestibuläre Komponente lasse ich im Interesse der Kürze weg.
16 Th. Ziehen, Die ästhetischen Gefühlsbetonungen taktil-kinästhetischer Empfindungen usw.
Position, wie wir sie der menschlichen Gestalt in unserer Vorstellung
vorzugsweise geben. Auch glaube ich bei optischen Versuchen mich
überzeugt zu haben, daß die Bevorzugung des goldenen Schnittes bei
stehenden Rechtecken etwas ausgesprochener ist als bei liegenden. An-
dererseits übersehe ich auch die Einwände gegen die Annahme einer
solchen Beziehung zur menschlichen Gestalt nicht. Vor allem könnte
man erwarten, daß, wenn eine solche Beziehung bestünde, noch länger
gestreckte Rechtecke als dasjenige des goldenen Schnitts das Maximum
der Wohlgefälligkeit besitzen müßten, da das Längen- und Breitenver-
hältnis des menschlichen Körpers — auch wenn man, wie dies vielleicht
zulässig wäre, von dem Kopf absehen wollte — etwa 3 : 7 beträgt. Ich
bin zurzeit mit weiteren Versuchen beschäftigt, wie sich das Wohl-
gefälligkeitsurteil bei der tastenden Vergleichung solcher länglicheren
Rechtecke mit dem Rechteck 3:5 gestaltet^). Einerlei aber, wie die Er-
gebnisse ausfallen werden, erinnere ich daran, daß ich vorsichtig nur
davon gesprochen habe, daß die unbewußte Assoziation der mensch-
lichen Gestalt eine Tendenz zur Bevorzugung der länglicheren Recht-
ecke bedingen könne. Das Quadrat, das durch seine Gleichmäßigkeit
Bevorzugungsansprüche hat, wird gewissermaßen durch diese Tendenz
in die Länge gezogen. Das Maximum der Bevorzugung würde aus dem
Kampf der beiden Tendenzen (Quadrat und menschliche Gestalt) und
vielleicht noch anderer, noch nicht genügend aufgedeckter Tendenzen
entspringen.
Ganz abgesehen aber von der Frage, ob das Durchschnittsbild der
menschlichen Gestalt eine solche Rolle spielt 2), ist mit diesem die Zahl
der etwa in Betracht kommenden unbewußten Assoziationen nicht er-
schöpft. Die Dimensionsverhältnisse unserer einzelnen Körperteile und
vieler uns fortwährend umgebenden Objekte (im weitesten Sinn) können
sehr wohl gleichfalls beteiligt sein und im Sinn solcher typischen
Tendenzen das ästhetische Bevorzugungsurteil beeinflussen.
Ich möchte also heute mich noch nicht zu Gunsten der ersten von
Külpe vertretenen Alternative entscheiden und die reinen Empfindungs-
Dabei ist der Vergleich mit Kinderzeichnungen der menschlichen Gestalt sehr interes-
sant wegen der in solchen hervortretenden, keineswegs ganz regellosen Verzerrungen der
Dimensionsverhältnisse.
Für denjenigen, der an dem ästhetischen Einfluß eines solchen Durchschnittsbildes An-
stoß nimmt, sei ein Hinweis auf Fechners „Einfluß der Mitte“ und „Prinzip der ästhetischen
Mitte“ gestattet (Abh. d. Sächs. Ges. d. Wiss. 1871, S. 629 u. Vorschule der Ästhetik, Bd. 2,
S. 260). An der erstgenannten Stelle führt Fechner in der Anmerkung auch eine interessante
ebendahin zielende Bemerkung von E. H. Weber an. Volkelt, „Ausweitung des Gefühlslebens
nach dem Typischen, Allgemeinen“ (Ztschr. f. wiss. Philos. 1901, Bd. 117), gehört ebenfalls
hierher. Vielleicht ist sogar schon die „aequalitas numerosa“ Augustins so zu deuten. Vgl. auch
meine Erkenntnistheorie, Jena 1913, S. 505 ff.
Fritz Giese, Die Psychologie der Geschlechtsunterschiede und die Koedukation 17
Verhältnisse für die Bevorzugung des goldenen Schnittes verantwortlich
machen, sondern unbewußten Assoziationen wenigstens eine erhebliche
Mitwirkung zuschreiben. Daß diese unbewußten Assoziationen nicht
als „unbewußte Vorstellungen“ aufzufassen sind, bedarf wohl kaum der
Hervorhebung. Es handelt sich vielmehr lediglich um die Mitwirkung
latenter Erinnerungsbilder, also materieller Erregungsresiduen. Für den-
jenigen freilich, der die Gefühlstone als „Eigenschaften“ der Empfin-
dungen und Vorstellungen betrachtet in demselben Sinne, wie die gelbe
Farbe oder das spezifische Gewicht 19,4 „Eigenschaft“ des Goldes sind,
ist ein solcher Zusammenhang unannehmbar. Wer aber wie ich die
Gefühlstöne und ihre materiellen Äquivalente als „Eigenschaften“ be-
trachtet, die eine erhebliche Selbständigkeit haben und durch Irradiation
und Reflexion sich assoziativ ausbreiten i), wird an der entwickelten An-
schauung keinen Anstoß nehmen und auch diese unbewußten Assozia-
tionen nicht mit den oben abgelehnten Assoziationen bewußter Vor-
stellungen verwechseln.
Die Psychologie der Oeschlechtsunterschiede und die
\ Koedukation.
Von Fritz Giese. y
WENN ^dkt.^rage der Koedukation mit zu den wichtigsten Problemen
in der moderjien Pädagogik geworden ist, so liegf es daran, daß
sie sich beruft auf äfe^^leichberechtigung und die. gleiche Veranlagung
beider Geschlechter und iniplgedessen mehr als ^andere Reformideen ge-
eignet ist, begeisterte Anhängerschaft auf der. einen und finstere Oppo-
sition auf der anderen Seite ziJ^^^rwecken. So rückt sie allmählich in
den Brennpunkt des Interesses und^Wird<''um im Schlagwort zu bleiben,
eine Forderung des Tages. Die Grüffä^e^ die man für die Einführung
der Koedukation anführt, sind in .dk R%el soziale und ethische. Die
Gegengründe, die man gegen jdfe KoedukatTbn erhebt, stammen meist
aus derselben Richtung. Und da dort die Subjekti^tät der Anschauung
in treibhausähnlicher Temperatur gedeiht, ist es nicht verwunderlich,
daß eine ungeheure Literatur für und wider die gemeinsame Erziehung
der Geschlechter vo|r^ jedermann zusammengetragen wurde, und daß
eine Entscheidung bis heute noch nicht erfolgen konnte. Vermutlich
wird auch dort niemals eine Einigung zustande kommen. Wenn also
auf diesem Gebiete infolge dieses „Individualitäten- und Autoritäten^
kampfes bis jetzt keine Entscheidung getroffen wurde, so bleibt die
Frage offen, ob man vielleicht auf anderer Seite irgendwie eine Direk-
•) Vgl. Leitf. d. phys. Psychol. 2. Aufl. 1893, S. 125 (9. Aufl. 1911, S. 1-74).
Pädagog. Forschung II, 1. 2
18 Fritz Giese, Die Psychologie der Geschlechtsunterschiede und die Koedukation
tive erhalten könnte, ohne in Gefahr zu sein, durch Subjektivität T
bestände zu verdunkeln. Eine solche objektive Instanz ist etwa die Ps
chologie. Allerdings nur die experimentelle Psychologie, nicht die ration
verfahrende, die mit Spekulation arbeitet. Aber selbst in der experime
teilen Psychologie können noch Tendenzen herrschen, die die Resulta
färben. Untersuchungen von Pädagogen, die etwa von festen Anscha
ungen ausgehen, werden nicht ohne weiteres die gleiche Öbjektivit
verheißen können als Experimente von Psychologen, die beruflich nie
in einem Kreise stehen, in dessen Grenzen darauf fußende Veränd
rungen vorgenommen werden sollen. Es scheint demnach so am gü
stigsten, Umschau zu halten, ob die experimentelle Psychologie irgen
welche Forschungen unternommen hat, die man auf die Frage d
Koedukation anwenden könnte? /
Es muß zugegeben werden, daß relativ wenig diesiDezügliche Arbeite
vorliegen. Der Grund liegt in der großen Jugend .der Psychologie, un
wer den Entwicklungsgang dieser Wissenschaf^/kennt, weiß, daß di
differentielle Psychologie noch lange nicht eir^/Menschenalter besteh
Riesige Mengen von tatsächlichen sichersten /Befunden sind also vo
vornherein ausgeschlossen. Ablehnen muß rn^n aber den Vorwurf, da
die Ergebnisse der Psychologie ganz dürftig oder auch einander vol
ständig zuwiderlaufend wären. Das kann ndr ein Laie denken, der selbs|
niemals experimentierte oder überhaupt die Literatur der Psychologi
nicht kennt. Eine ganz andere Frage w^e die, welche detaillierten Vo
Schriften für die Koedukation zu forderet sind. Wollte man um präzis
und ins Einzelne gehende Anleitungei}^' bitten, so wäre das zu früh. Al
die Physik dreißig Jahre alt war,^kQhnte sie auch noch nicht drahtlo
telegraphieren. Man sollte viel allgemeiner fragen: sind aus den Ergeb
nissen der experimentellen Psydijölogie Anzeichen für eine verschie
dene Beanlagung beider Geschlechter zu entnehmen, und in welche
Richtung bewegen sich etwa ^jiese Verschiedenheiten?
Das Thema vermeidet dei^ach ausdrücklich die bekannte Fassun
von der Inferiorität des weiblichen Geschlechtes. Abgesehen davon, da
die Experimentalpsycholo^ie eine Inferiorität auf den Einzelgebieten bi
jetzt noch gar nicht näch weisen könnte, liegt es auch gar nicht ii
ihrer Absicht, dies zu' tun, denn die Fragestellung ist schon tendenziö
und ganz unpsychdlogisch. Das, was die Psychologie nachzuweise
sich bemüht, ist ;i'ur eine Verschiedenheit oder eine Gleichheit der Ge
schlechter. Sie stellt sich bei den Experimenten auf neutralen Boden
und erwartet zünächst nichts weiter als Ergebnisse überhaupt. Sie will
auch nicht ein durchgehendes Gesamtergebnis pro Untersuchung haben.
Im Urteil „inferior“ würde schon wieder ein kritischer Maßstab liegen,]
den sie ganz vermeiden möchte. Sie kann höchstens sagen „diese oderj
Photomount
Pamphlet
Binder
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Syracuse, N. Y.
PäT. JAN 21, 1908
c. 2
BF275 Ziehen, Th.
Z63 DIE ÄSTHETISCHEN GEFUHLSBETONUl
-GEN TAKTILKINASTHETISCHER. . .
Datelhie
BF275
Z63
c. 2
Ziehen, Th.
AUTHOR
Die eRthetischen gefuhls^tonunr.
TiTLE taktilkinasthetischer
empfindungen bie kinderiL.
DATE DUE
BORROWER S NAME