Skip to main content

Full text of "Die Bedeutung des Polnaer Verbrechens für den Ritualaberglauben"

See other formats


MM 

hIj^^H 

m 

■ 

Masaryk,  T.  G.  (Tomas  Garrigue) 

Die  Bedeutung  des  Polnaer 
Verbrechens  für  der  Rituala- 
berglauben 


CO 


PURCHASED  FOR  THE 

University  of  Toronto  Library 

FROM  THE 

Jose'ph  and  Gertie  Schwartz 
Memorial  Library  Fund 

FOR  THE  SUPPORT  OF 

Jewish  Stiidies 


Die  Bedeutung  des 


Polnaer  Verbrechens 


für  den 


Ritualaberglauben. 


Von 


Professor  T.  Q.  Masaryk. 


^« 


BERLIN. 

Druck   und  Verlag  von  H.  S.  Hermann. 
1900. 


Die  Bedeutung  des 

Polnacr  Verbrechens 


für  den 


l^itualaberglauben. 


Von 


Professor  T.  G.  Masaryk. 


^ 


BERLIN. 

Druck    iiiul  Verlag'   von   H.  S.  Heriuanu. 


Vorrede. 


Die  Antisemiten  sehen  im  Polnaer  Verbreelien  die 
stärkste  Bestätigung  des  Kitualaberglaubens.  Das  hat  mich 
bewogen,  den  Polnaer  Prozess  nach  allen  Seiten  genau  zu 
überprüfen  und  das  Resultat  dieser  Prüfung  lautet :  das 
Polnaer  Verbrechen  ist  kein  Ritualverbrechen,  im  Gegenteil 
ist  es  ein  schlagender  Beweis  dafür,  das  der  Ritual- 
aberglaube in  der  That  im  vollsten  Sinne  des  "Wortes  ein 
Aberglaube  ist.  Dieser  Aberglaube  ist  eine  Schmach 
der  Zeiten,  eine  brennende  Anklage  des  oftiziellen  Christen- 
tums, die  offene  Thüre  alles  übrigen  Aberglaubens,  die 
hohe  Schule  nationaler  und  sozialer  Verblendung  und  Ge- 
waltthätigkeit. 

Die  hier  öfters  erwähnte  Broschüre  ist  meine  Studie: 
Die  Notwendigkeit  der  Revision  des  Polnaer  Prozesses,  1899. 

Die  zahlreichen  Seitenangaben  beziehen  sich  auf  das 
dort  zitierte  stenographische  Protokoll  der  Hauptver- 
handlung. 

Zu  pag.  21  füge  ich  hier  einen  Nachtrag  über  das 
Quantimi  der  Ausblutung  bei.  Bei  vollkommenerer  De- 
kapitation  beträgt  der  Blutaustluss  74  "/o;  ist  der  Hals  auf 
beiden  Seiten,  d.  h.  alle  grossen  Halsgefässe  durchschnitten, 
so  cntHiessen  50°/,.  Darnach  könnte  der  Blutausfluss  bei 
einseitiger  und  noch  dazu  unvollkommener  Durchtrennung 
der  Blutgefässe  viel  weniger  als  50  7,,  l>etragen. 

Prag,    den  1.  Februar  1900. 

T.  G.  3[. 


Digitized  by  the  Internet  Archive 

in  2008  witii  funding  from 

IVlicrosoft  Corporation 


littp://www.arcliive.org/details/diebedeutungdespOOmasauoft 


I.  Ein  neues  Gutachten  der  Polnaer  Gerichtsärzte. 

Der  Polnaer  Prozess  droht  seine  bisherige  Sensation 
zu  überbieten;  wenigstens  ist  die  in  den  „Rad.  Listy"  vom  5. 
und  im  „Deutsclien  Volksblatt"  vom  14.  Dez.  1899  erschienene 
.„Antwort"  der  Pohiaer  Gerichtsärzte  auf  meine  Broschüre 
gewiss  sensationell.  Darin  haben  die  antisemitischen 
Blätter  ganz  recht.  In  der  That  muss  man  von  Sensation 
sprechen,  wenn  die  Gerichtsärzte  jetzt  nach  durchgeführtem 
Prozess  mit  ganz  neuen  Thatsachen  auftreten,  und  noch 
sensationeller  ist  es,  wenn  dieselben  jetzt  etwas  ganz 
anderes  behaupten,  als  sie  in  ihrem  Obduktionsprotokoll 
ausgesagt  haben  ...  In  diesem  Obduktionsprotokoll  heisst 
CS  zum  Beispiel,  dass  der  Oberkörper  der  ermordeten 
Agnes  Hruza  bis  zum  Gürtel  ganz  nackt  gefunden 
wurde  —  jetzt  lesen  wir,  dass  die  Leiche  angekleidet 
war,  dass  der  Polnaer  Todtengräber  vor  der  Obduktion 
„genötigt  war,  die  Jacken  zu  durchschneiden,  damit  er 
dieselben  vom  Körper  der  Agnes  Hruza  herabbe- 
kommen könnte".  Auch  die  Anklage  führt  an,  der  Ober- 
körper sei  ganz  entblösst  gewesen. 

Die  „Antwort"  der  beiden  Herren  Gerichtsärzte  be- 
stätigt mir  das  Bild,  das  ich  mir  als  Laie  von  ihrer 
medizinischen  Sachkerintniss  gemacht  habe.  Wie  gesagt, 
bin  ich  Laie..  Als  Student  habe  ich  zwar  einige  Semester 
der  Anatomie  und  Physiologie  gewidmet,  aber  davon  ist 
mir  nichts  mehr  geblieben,    als   dass   ich   mir   in  den  ver- 


—    2    — 

schiedenen  Fachbüchern  die  nötige  Belehrung  zusammen- 
suchen kann.  Ich  sage  das  desshalh,  damit  in  meinen 
medizinischen  Erörterungen  keine  fremden  Faclimänner 
gesucht  werden.  Allerdings  habe  ich  nach  der  Veröffent- 
lichung meiner  Broschüre  einigen  berühmten  Fachmännern 
mehrere  Fragen  gestellt,  wie  sich  dieselben  mir  aus  dem 
Parere  der  Polnaer  Aerzte  ergeben  haben;  auf  diese  Fragen 
habe  ich  allerseits  das  grösste  Entgegenkommen  gefunden. 
Ich  sage  allen  den  Herren  hier  meinen  Dank,  werde  sie 
aber  nicht  nennen,  weil  ich  sie  den  rohen  Angriffen  und 
Insinuationen  der  klerikal  -  antisemitischen  Presse  nicht 
aussetzen  will. 

Ueber  Kleinigkeiten  will  ich  mit  den  Herren  Aerzten 
nicht  ins  Gericht  gehen.  Ich  weiss,  dass  sie  ihre  Antwort 
nicht  selbst  stilisiert,  nur  durchgesehen  haben,  und  darum 
vermeide  ich  es,  die  mehr  stilistischen  Versehen  zii  be- 
sprechen. Nur  die  Insinuation,  ich  hätte  einige  Worte  ab- 
sichtlich gefälscht,  muss  ich  mit  aller  Entschiedenheit 
zurückweisen.*) 

Freilich  werde  nicht  ich  allein  der  Fälschung  ge- 
ziehen. Die  Herren  Gerichtsärzte  schreiben  nämlich,  dass 
im  Protokoll  über  den  Lokalaugenschein  und  überhaupt 
mehrere  „unpassende  und  mit  dem  Begriffe  sich  nicht 
präzis  deckende  Bezeichnungen"  zu  finden  seien;  das 
rühre  entweder  daher,  dass  der  Rat  Reichenbach  als  ge- 
borener Deutscher  der  böhmischen  Sprache  ungenügend 
mächtig  sei,  oder  daher,  dass  diese  unpräzisen  Ausdrücke 
„  a  b  s  i  c  h  1 1  i  e  Ii  von  jemand  anderem  gebildet 
wurden  ".  ]\lich  interessiert  nicht  zu  wissen,  wer  dieser 
„jemand"  ist  —  aber  das  muss  ich  sagen:  in  dem  Prozesse, 
in  welchem  es  sich  nicht  nur  um  Leben  und  Tod  von  In- 
dividuen, sondern  um  eine  schwere  Anklage  gegen  ein 
ganzes  Volk  handelt,    wimmelt  es  von  so  unpräzisen  Aus- 

*)  Da  es  sich  speziell  um  bestimmte  Worte  handelt,  so 
verweise  ich  auf  die  böhmischen  Ausführungen  im  „Cas"  vom 
16.  Dezember  1899. 


—    3    — 

drücken  und  diese  Ausdrücke  sind  noch  dazu  „absichtlich 
gebildet",  das  heisst  einfach  j^efälscht  worden!  Das 
sind  ja  ganz  artige  Anklagen  —  ich  wiederhole,  das 
„Deutsche  Volksblatt"  hat  ganz  recht,  wenn  es  die  Ant- 
wort der  unter  Eid  aussagenden  Polnaer  Aerzte  als  sen- 
sationell   angekündigt  hat.    Ich    selbst   bin  nur  froh,    dass 

ich  meine  Broschüre    geschrieben   habe die  Herren 

Sachverständigen  und  Richter  haben  nun  Gelegenheit,  den 
Prozess  vorläufig  publizistisch  zu  korrigieren. 

Die  Herren  Polnaer  Gerichtsärzte  korrigieren  sich 
übrigens  auch  selbst.  Obwohl  sie  die  Unpräzision  des 
Ausdruckes  dem  deutschen  Richter  vorwerfen,  sind  sie 
selbst  in  ihrer  „Antwort"  gezwungen,  viermal  die  eigene 
Unpräzision  einzugestehen  und  zu  entschuldigen.  Diese 
Selbstanklage  ist  zu  wichtig,  als  dass  ich  dieselbe  nicht 
genauer  fixieren  sollte.  Da  wo  es  sich  um  die  Erklärung 
der  Umbiegung  der  Füsse  handelt,  schreiben  die  Herren: 
„  D  i  e  E  r  k  1  ä  r  u  n  g  .  .  .  i  s  t  zwar  von  einem  ^'  o  n 
u  n  s  b  c  i  d  e  n  d  e  m  P  r  ä  s  i  d  e  n  t  e  n  ein  wenig  u  n  - 
bestimmt  gegeben  worden,  aber  der  andere  hat 
die  Stellung  (der  Füsse)  auf  natürliche  Weise  erklärt,  wie 
sich  der  Herr  Professor  aus  dem  Protokoll  (der  Haupt- 
verhandlung) überzeugen  konnte."  Dieses  erste  Einge- 
ständnis der  Unpräzision  enthält  eine  neue  Unpräzision:  es 
ist  nämlich  gar  nicht  wahr,  dass  der  zweite  Sachver- 
ständige das  Umbiegen  der  Füsse  natürlich  erklärt  habe. 
Ich  kenne  diese  Erklärung  sehr  gut  (Protokoll  der  Haupt- 
verhandlung pag.  315);  aber  der  Leser  wird  sich  sogleich 
überzeugen,  dass  die  Erklärung  gar  nicht  ,, natürlich"  und 
dass  sie  überdies  mit  der  in  der  „Antwort"  gegebenen 
nicht  identisch  ist.  An  zweiter  Stelle  gestehen  die  Herren 
Gerichtsärzte,  dass  einer  derselben  bei  der  Beschreibung 
der  Wunde  sich  „unpassend  ausgedrückt  habe"; 
drittens  gestehen  die  Herren  ein  „Versprechen"  zu: 
,,  i  n  der  ungewöhnlichen  Aufregung  wird 
1)  ei    d  e  r  V  e  r  li  a  n  d  1  u  n  g   i  r  r  t  h  ü  m  1  i  c  h    ein  W  o  r  t 

1* 


—    4    - 

g-obraucht,  das  sich  mit  dem  Begriffe  nicht 
vollständig  deckt,  anders  als  bei  der  ruhigen  Be- 
obachtung und  dem  Diktieren  des  ProtokoUes".  B  e  - 
e  i  d  e  t  e  Sachverständige,  Mediziner  —  sind  aufge- 
regt bei  einer  anatomischen  Erklärung?  Endlich  an  vierter 
Stelle  geben  die  Herren  Sachverständigen  zu,  dass  „d  i  e 
Stelle  (über  die  Steine)  in  der  T  h  a  t  ein  av  e  n  i  g 
unklar  stilisiert  ist":  eben  hörten  wir  die  Ausrede 
auf  die  mündliche  Verhandlung  —  hier  haben  wir  eine 
Stelle  aus  dem  „ruhigen"  Diktate  des  eigenen  Proto- 
koUes! 

In  der  That  müssten  die  Herren  Sachverständigen 
ihr  ganzes  Protokoll  und  Gutachten  auf  dieselbe  Weise 
korrigieren  und  zurücknehmen;  es  thut  mir  leid,  sagen  zu 
müssen,  dass  alle  ihre  mündlichen  und  schriftlichen  Aus- 
sagen sachlich  fast  wertlos  sind,  wie  mir  das  mehr  als  eine 
medizinische  Autorität  bestätigt  hat.  Zu  ihrer  I^ntschuldi- 
gung  will  ich  trotzdem  anführen,  was  mir  ein  berühmter 
Anatom  schreibt:  „.  .  .  Die  Polnaer  Aerzte  haben  die  Ob- 
duktion nicht  schlechter  ausgeführt  als  dies  andere  Aerzte 
gethan  hätten.  Man  kann  von  den  praktischen  Aerzten 
nicht  auch  noch  verlangen,  dass  sie  fehlerlose  Sektionen 
machen.  Eine  Sektion  ist  Sache  des  Anatomen  und  nicht 
eines  gewöhnlichen  Arztes.  Eine  Reform  dieser  in  foren- 
sischer Beziehung  so  wichtigen  Angelegenheit  wäre  an 
der  Zeit." 

Bevor  ich  mich  nun  zu  der  Besprechung  einiger  wich- 
tigerer Punkte  wende,  muss  ich  vorerst  konstatieren,  dass 
die  gerichtlichen  Sachverständigen  ganz  und  gar  meine 
anatomischen  und  physiologischen  Erklärungen  annehmen; 
ich  würde  mich  darüber  freuen,  wenn  ihnen  die  Herren 
nicht  einen  ganz  anderen  Sinn  unterschieben  und  ihre 
früheren  Ausführungen  desavouieren  würden. 

Ganz  besonders  begreifen  sie  nun,  dass  die 
Umbiegung  der  Füsse  in  einem  scharfen 
Winkel  und  die  Krümmung   des  Körpers  eine 


—    5    — 

äusserst  wichtige  Thatsaclie  sind  und  sie  versuchen  es 
nun,  diese  Thatsachen  eingehender  zu  erklären.  I  m 
Obduktionsprotolvöll  steht  darüber  kein 
Wort!  Die  Mörder  —  so  lautet  in  Kürze  ihre  Er- 
klärung —  wollten  die  Körperlänge  möglichst  ver- 
kürzen, um  die  Leiche  zu  verstecken;  darum  haben  sie 
die  Füsse  in  den  Knien  nach  rückwärts  umgebogen  und 
unter  die  Aestc  eines  Fichtenbäumchens  gelegt;  die  Aeste 
dieses  Bäumchens  haben  die  umgelegten  Unterschenkel 
niedergehalten  und  an  dem  Rückfällen  verhindert. 

Diese  Erklärung  ist  unmöglich:  die  Aeste  eines 
Fichtenbäumchens  sind  doch  an  dem  Stamme  in  verschie- 
dener Höhe  im  Kreise  angebracht,  und  darum  können  sie 
umgebogene  Beine  nicht  in  einer  und  derselben  Höhen- 
lage niederhalten:  überdies  waren  die  Aeste  des  besagten 
Bäumchens  dazu  zu  schwach  —  die  Herren  selbst  geben 
seine  Höhe  auf  höchstens  1.25  Meter  an  —  und  darum 
kann  man  nur  von  A  e  s  t  c  h  e  n  sprechen,  wie  es  bei  der 
mündlichen  Verhandlung  thatsächlich  geschehen  ist.  Diese 
Aestchen,  wird  uns  weiter  gesagt,  reichten  bis  zur  Erde: 
das  waren  gewiss  die  stärksten,  aber  wie  konnten  sie  die 
Beine  in  einer  bedeutenderen  Höhe  niederhalten?  Das 
könnte  nur  ein  ziemlich  starker  und  langer  Ast  leisten,  der 
in  der  entsprechenden  Höhe  (etwa  18  bis  20  Centimeter) 
und  Lage  die  gebeugten  Füsse  niederhalten  würde.  Wenn 
die  Füsse  in  ihrer  gewaltsamen  Umbiegung  in  einem 
scharfen  Winkel  niedergehalten  werden  sollten,  so  müsste 
der  Ast  mit  seinem  Drucke  nahe  an  den  Füssen  einsetzen, 
läge  er  nahe  an  den  Knien,  so  könnte  er  gerade  infolge 
seines  Druckes  die  Beine  zurückschnellen  oder  selbst  ab- 
gleiten, und  die  Beine  wären  dann  nicht  im  scharfen 
Winkel  gekrümmt  geblieben.  In  jedem  Falle  hätte  ein  so 
stark  drückender  Ast  auf  den  Füssen  eine  starke  Furche 
verm-sacht  —  im  Obduktionsprotokoll  hören  wir  von  einer 
solchen  Furche  gar  nichts;  es  werden  an  den  Füssen  „ver- 
schiedene   Eindrücke"    konstatiert,    aber   als    die    äugen- 


6     - 

fälligsten    werden    auf^drlleklich    die    Eindrücke    von    den 
Strumpfbändern  (unter  den  Knien)  Iiervorgehoben. 

Ebenso  unmög-lich  ist  die  Erklärung  der  Gerichts- 
ärzte bezüglich  der  Krümmung  des  Körpers.  Im  Ob- 
duktionsprotokoll und  bei  der  Verhand- 
lunghabensie auch  diesen  Gegenstand  gar 
nicht  berührt.  Die  Mfirder,  so  sagen  sie  jetzt,  haben 
die  Knie  und  Oberschenkel  des  Körpers  noch  näher  an 
den  Stamm  des  Bäumchens  „weggeschoben",  und  dadurch 
sei  der  Körper  auf  der  rechten  Seite  gekrümmt  worden. 
Eine  unglaubliche  Anatomie!  Ein  Wegschieben  der  Ober- 
schenkel ist  eben  nur  ein  Wegschieben,  weiter  nichts;  die 
Oberschenkel  wären  dadurch  höchstens  aus  der  Richtung 
des  Oberkörpers  verschoben.  Nach  der  Anklage  war  der 
Körper  „in  massigem  Bogen  in  der  Richtung  nach  rechts  ge- 
krümmt" —  das  Beiseiteschieben  der  Oberschenkel  nach 
rechts  kann  den  Oberkörper,  das  Rückgrat,  nicht  in  der  Rich- 
tung nach  rechts  krümmen.  Entweder  folgt  der  Oberkörj^er 
(wenigstens  zum  Theil)  dem  Drucke  nach  rechts  und  be- 
wegt sich  etwas  nach  links,  oder  es  entsteht  auf  der 
rechten  Weich  Seite  eine  kleine  Eindrückung,  der  links  eine 
entsprechende  Ausweitung  entspräche!  Allein  die  Herren 
vergessen  bei  ihrer  Erklärung  auf  ein  wichtiges  Faktum, 
dass  die  Unterschenkel  nicht  nur  nach  rückwärts,  sondern 
dass  dieselben  zugleich  auch  etwas  nach  rechts  umge- 
bogen waren:  durch  die  Manipulation  unter  den  Baumästen 
und  besonders  durch  das  Wegschieben  nach  rechts  wären 
die  Füsse  nach  links  gedrückt  worden!  Der  ständige 
Druck  der  von  der  rechten  Seite  anliegenden  Aeste  hätte 
sie  nach  links  gebeugt.  Uebrigens  lässt  sich  di(^ 
Unrichtigkeit  der  gegebenen  Erklärung  durch  den  Lokal- 
befund erweisen.  Die  Leiche  wurde  zwischen  zwei  Bäuni- 
chen  so  gelegt,  dass  beide  Bäumchen  von  der  Leich»' 
etwas  rechts  zu  stehen  kamen;  von  dem  einen  Bäumcheii 
;um  anderen  habe  ich  die  Entfernung  von  zirka  138Centi 
meter  gemessen.    Die   Entfernung   des   Kopfes   von   dem 


vorderen  liäumclicii  betrug"  nach  verlässlicher  Angabe 
etwa  10  Centimeter;  bleiben  also  für  den  Körper  etwa 
128  Centimeter,  wenn  er  bis  an  das  zweite  Bäumehen  ge- 
reicht hätte.  Der  Körper  der  Agnes  Hruza  war  155  Centi- 
meter lang;  ich  berechne  die  Länge  der  Unterschenkel 
39  Centimeter,  bleibt  also  für  die  Länge  des  liegenden 
Körpers  116  Centimeter,  die  Knie  haben  also  an  den  Stamm, 
respektive  unter  die  Aestchen,  wo  sie  am  stärksten  sind, 
gar  nicht  herangereicht;  überdies  muss  man  noch  den  An- 
griffspunkt der  Aestchen  auf  die  umgebogenen  Unter- 
schenkel, im  günstigsten  Falle  16  Centimeter,  abrechnen. 
Das  heisst  aber:  bei  der  für  die  Herren  Sachverständigen 
günstigsten  Berechnung  müssten  die  umgebogenen  Unter- 
schenkel von  den  Baumästen  in  der  Entfernung  von  circa 
100  Centimeter  vom  Kopfe  niedergehalten  werden.  Das 
heisst  weiter,  die  Stelle  der  umgebogenen  Unterschenkel,  an 
der  die  Aeste  mit  ihrem  niederhaltenden  Druck  einsetzen 
müssten,  Avären  vom  Baumstämme  zirka  28  Centimeter 
entfernt,  und  das  bedeutet  wiederum,  dass  die  „Aeste"' 
die  umgebogenen  Füsse  nm'  mit  ihren  schwachen  Enden 
bedeckt,  nicht  aber  niedergedrückt  hätten,  weil  die  Füsse 
eben  nicht  an  dem  Stamme  und  unter  den  Aesten,  wo  sie 
am  stärksten  sind,  sein  konnten. 

Da  ich  schon  von  der  Lokalität  spreche,  so  mache 
ich  für  alle  Fälle  aufmerksam,  dass  die  Leiche  auf 
ganz  ebenem  Terrain  gelegen  war,  dass 
also  die  Beine  nicht  höher  lagen  als  der 
Kopf  —  eher  war  dieser  etwas  höher  gelegen  als  die- 
Füsse.  Noch  mehr.  Das  Fichtenbäumchen  stand,  wie  ge- 
sagt, von  der  Leiche  rechts.  Gesetzt,  es  hätte  den  ge- 
Avünschten  starken  Ast  gehabt,  so  ist  klar,  dass  er  nur  den 
einen,  den  rechten  Unterschenkel  festgehalten  hätte,  der 
linke  wäre  zurückgefallen  oder  wäre  viel  weniger  stark 
gebogen  gewesen,  während  nach  der  mündlichen  Erklärung 
eines  der  Herren  Gerichtsärzte  beide  Füsse  gleich  stark 
umffcboffen  waren. 


Bei  der  inündlicheh  Verhandlung  Avurden  über  di<' 
fatale  Umbiegung  der  Füsse  folgende  Erklärungen  abge- 
geben. Der  erste  Sachverständige  sagte,  die  Umbiegung 
lasse  sich  durch  das  Unterbringen  zwischen  den  Bäumchen 
nicht  erklären;  die  Füsse  seien  umgebogen  worden, 
damit  der  Rest  des  Blutes  ausfliesse.*)  Der  zweite  Sach- 
verständige sagte,  dass  die  Füsse  an  den  „  A  e  s  t  c  h  e  n  " 
angestossen  haben  und  sich  dadurch  umbiegen  k  o  n  n  t  e  n. 
Es  ist  also  nicht  wahr,  dass  die  Erklärung  der  „Antwort" 
schon  bei  der  Verhandlung  gegeben  wurde.  Im  Gegen- 
theil,  er  lässt  noch  nicht  die  Voraussetzung  zu,  dass  dies 
absichtlich  geschehen  sei.  Erst  jetzt,  nach  meiner 
Belehrung,  sieht  er  in  dem  Umbiegen  eine  Absicht  und 
gibt  eine  ganz  andere,  allerdings  falsche  Erklärung,  als  er 
früher  gegeben. 

Die  Sache  ist  klar:  die  Leiche  wurde  an  die  Fund- 
stelle mit  umgebogenen  Füssen  und  gekrümmtem  Ober- 
körper gebracht  —  sie  w^urde  dann  in  der  Nähe  der  Bäum- 
chen so  niedergelegt,  dass  die  Aeste  derselben  die  Füsse 
theilweise  bedeckten.  Das  für  die  Mörder  so  fatale  Um- 
biegen der  Füsse  beweist,  dass  die  Füsse  vor  der  Leichen- 
starre in  die  Position,  in  der  sie  gefunden,  absichtlich  ge- 
bracht wurden.  In  dieser  Position  wurden  sie  durch  einen 
kräftigen  Widerstand  erhalten,  und  zwar  stelle  ich  mir  die 
Sache  so  vor,  dass  die  Leiche  in  irgend  einem  Sacke, 
Korbe,  einer  Truhe  u.dgl.  geborgen  war;  dadurch  wurden 
die  Beine  umgebogen  und  nach  rechts  gedrängt,  der  Ober- 


*)  Ich  habe  schon  in  meiner  Broschüre  gesagt,  dass  das 
Umbiegen  den  Blutabfiuss  eher  verhindern  würde.  In  dem  Lehr- 
buch der  Chirurgie  von  Hvieter-Lossen,  L,  6.  und  6.  Aufl.,  1889, 
pug".  375,  findet  der  Herr  Sachverständige  eine  Zeichnung,  wie 
durch  das  Umbiegen  des.  Fusses  im  Knie  die  arterielle  Blutung 
erschwert  wird.  Gewöhnliche  Mörder  müssten  das  natürlich 
nicht  wissen,  aber  Ausgesandte  einer  geheimen  Ritualsekte  haben 
gewiss  nicht  nur  ihre  Ritualtraditiou,  sondern  auch  die  Tra- 
dition, wie  dem  Körper  das  meiste  Blut  entzogen  werden  könne. 


—    9    - 

kürper  wurde  zugleich  in  der  Richtung  nacli  reclits  ge- 
krümmt. Der  Vorgang  lässt  sich  natürlich  auf  sehr  ver- 
schiedene Weise  erklären.  Sicher  aber  scheint  mir  zu 
sein,  dass  für  das  Umbiegen  der  Füsse  im'  Walde  kein 
hinlänglicher  Grund  auffindbar  ist.  Jeder  kann  an  sich 
selbst  versuchen,  dass  das  Umbiegen  und  Erhalten  der 
umgebogenen  Unterschenkel  in  scharfem  Winkel  eine 
grosse  Energie  erfordert;  weil  im  Kniegelenke  die  Strecker 
(Musculus  quadriceps  cruris)  weitaus  stärker  sind,  als  die 
Heuger.  Demgemäss  mu'sste  auch  kurz  vor  dem  Tode 
(in  der  Agonie)  oder  gleich,  jedenfalls  bald  nach  dem 
Tode  eine  bedeutende  Kraft  längere  Zeit  wirken,  welche 
die  Beine  umbog  und  beim  Eintritt  und  Fortgang  der 
Leichenstarre  in  der  gewaltsamen  Position  erhielt.*)  Irgend 
eine,  wenigstens  halbwegs  plausible  Erklärung  der  auf- 
fallenden Thatsache  muss  doch  gegeben  werden.  Nun 
sagen  die  Herren  Sachverständigen,  die  Mörder  hätten  die 
Leiche  verkürzt,  um  sie  zu  verbergen.  Allein  diese  Er- 
klärung genügt  nicht.    Das  Umbiegen  der  Füsse  macht  im 

*)  Ich  habe  einig'e  Aerzte  ersucht,  an  frischen  Leichen 
(jugendlicher,  gesunder  Personen)  mit  dem  scharfen  Umbiegen 
der  Füsse  in  der  Bauchlage  Versuche  zu  machen.  Aus  den 
bisher  eingegangenen  Daten  ersehe  ich,  dass  meine  Voraus- 
setzung ganz  richtig  war,  dass  nämlich  die  etwa  zufällig  um- 
gebogenen Füsse  sogleich  zurückfallen,  wenn  sie  nicht  durch 
eine  ziemlich  stark  wirkende  Kraft  festgehalten  werden. 
Wird  der  Fuss  5  Minviten  nach  erfolgtem  Tode  in  scharfem 
Winkel  umgebogen,  so  schnellt  er,  losgelassen,  sogleich  in 
die  horizontale  Lage  zurück.  Der  Fuss  wurde  so  stark  um- 
gebogen, dass  die  Ferse  den  Oberschenkel  berührte  und  in  dieser 
Lage  15  Minuten  festgebunden:  nach  Beseitigmig  des  Bandes 
fiel  der  Fuss  zurück.  Dasselbe  geschah  auch  nach  weiteren 
5  Minuten.  Erst  nachdem  der  Fuss  von  neuem  1  Stunde  35  Mi- 
nuten festgebunden  blieb,  verblieb  er  in  der  Position,  aber  nicht 
ganz,  der  Unterschenkel  entfernte  sich  um  ca.  10  Centimeter 
vom  Oberschenkel.  In  die  horizontale  Lage  zurück  gebracht, 
schnellte  der  Fuss,  in  den  scharfen  Winkel  umgebogen,  wiederum 
zurück,  wenn  er  nicht  wenigstens  5  —  20  Sekunden  fixirt  wurde. 


-     10 

Gegentheil  die  Leiche  auftallig'er.  Die  lleiren  bageii,  die 
Mörder  wollten  nicht,  dass  die  Beine  liinter  das  eine 
Bäumchen  reichten.  Thatsäclilich  hätten  die  Beine  um 
etwa  27  Centimeter  über  den  Ast  hinaus  gereicht  und 
waren  darum  von  den  „Aestchen"  auch  bedeckt.  Wenn 
die  Mörder  die  Beine  im  Walde  yerkürzt  hätten,  so  hätten 
sie  die  Knie  bis  an  den  Stamm  gerückt,  und  ganz  beson- 
ders hätten  sie  die  ganze  Leiche  in  die  Mittellinie  zwischen 
die  zwei  Bäumchen  gelegt,  während  sie  dieselbe  neben  die 
Bäumchen  gelegt  haben.  Die  Leiche  war  mit  vier  Fichten- 
bäumchen  bedeckt,  ehi  fünfter  hätte,  wenn  nötig,  die  Unter- 
schenkel und  P^üsse  versteckt. 

Ueberdies  wiederhole  ich  nochmals:  Es  handelt  sich 
nicht  nur  um  das  Umbiegen  der  Füsse  nach  rückwärts, 
sondern  auch  darum,  dass  diese  Füsse  zugleich  nacli 
rechts  umgebogen  waren,  und  dass  der  Oberkörper  nach 
rechts  gekrümmt  war! 

Um  nichts  besser  ist  in  der  „Autwort"  die  Erklärung 
der  Halswunde.  Wie  überhaupt,  so  fechten  die  Herren 
auch  in  diesem  Falle  mit  Worten.  In  ihrem  Obduktious- 
protokolle,  so  schreiben  sie,  hätten  sie  von  keinem 
„Schächtermesser"  gesprochen  und  überhaupt  seien  sie 
nicht  unter  dem  Drucke  der  Ritualsuggestion  gestanden. 
Nun  habe  ich  nicht  vom  Obduktionsprotokoll  gesprochen; 
in  meiner  Broschüre  sage  ich  doch  ausdrücklich,  dass  ich 
mich  an  die  Protokolle  der  Hauptverhandlung  halte,  und 
in  dieser  sprechen  die  Herren  ganz  bestimmt  im  Sinne 
des  Ritualaberglaubens.*)  Was  das  „Schächtermesser"  an- 
betriff't,  so  führe  ich  für  dasselbe  ausdrücklich  den  An- 
kläger, den  Präsidenten  und  einen  Zeugen  an.  Doch  das 
nur  so  nebenbei;  wenden  wir  uns  zur  Beschreibung  der 
Halswunde, 

Auch  in  diesem  so  wichtigen  Punkte  sind  die  Herren 
Sachverständigen     durch     meine    Ausführungen     belehrt 

*)  Uebrigeuö  ver^'l.  darüber  noch  den  VI.  Abschnitt. 


11   — 

wurden.  Die  früheren  ungenauen  Ausdrüeke  führen  sie 
auf  die  —  Aufregunj^  zurück.  Im  Obduktionsprotokoll 
steht,  dass  der  Kehlkopf  „ein  wenig  durchschnitten"  Avar; 
jetzt  sagen  sie  uns,  dass  der  ganze  Kehlkopf  durch- 
schnitten war,  und  die  Wunde  wird  derart  charakterisiert: 
,,Tief  war  sie  auf  beiden.  Enden  gleichniässig,  in  der  Mitte 
am  tiefsten,  auf  den  Enden  am  seichtesten." 

So  müsste  die  Wunde  sein,  wenn  sie  ,, rituell",  wage- 
recht, geführt  wurden  wäre;  allein  aus  dem  Obduktions- 
prutokoll  geht  hervor,  dass  es  eine  Stichschnittwunde  war. 
Ich  habe  natürlich  nicht  gesagt,  wie  die  Herren  jetzt 
meine  Worte  verdrehen,  dass  die  Wunde  in  zwei  Tempi 
verursacht  worden  sei,  als  ob  der  Thätor  zuerst  zugc- 
stossen  und  dann  nach  einer  Pause  geschnitten  hätte  — 
das  Messer  ist  in  den  Hals  gestossen  und  mit  derselben 
Bewegung  schneidend  herausgezogen  wurden.  Wäre  der 
Schnitt  wagerecht  geführt  worden,  so  v\äre  die  Wunde 
auf  der  linken  Ilalsseitc  viel  länger,  wenn  es  wahr  ist, 
dass  sie  bis  zum  Wirbelknochen  gedrungen,  rechts  aber 
nur  kurz  (wie  lange?!)  war.  Auch  wiederhole  ich,  das 
Messer  wäre  bei  dem  Schneiden  in  der  Richtung  zum  Ohre 
auf  den  Hinterhauptknochen  gestossen  und  wäre  auch  aus 
diesem  Grunde  nicht  bis  zum  Wirbelknochen  gedrungen, 
weil  es  eben  rechts  nicht  weit  vorgedrungen  ist.  Rechts 
vom  Kehlkopf  sind  gar  keine  Blutgefässe 
verletzt  worden!  Allerdings  ist  die  Beschreibung 
der  Wunde  im  Obduktionsprotokoll  ein  anatomisches 
Unikum!  Es  Avird  dort  gesagt,  dass  die  vena  jugularis 
externa  (notabene  eine  sehr  kleine  Vene!)  durchtrennt  und 
die  carotis  communis  angeschnitten  wurde  —  und 
das  ist  eine  riesige  und  erschreckliche  Wunde?  Freilich 
heisst  es  in  demselben  Protokoll  an  anderer  Stelle,  dass 
alle  Weichtheile  bis  zum  Wirbelknochen  durchschnitten 
waren;  allein  das  passt  nicht  zu  der  Aufzählung  der  zwei 
durchtrennten  Adern;  wir  lesen  nichts  über  die  Durch- 
schneidung der  starken  Halsmuskeln,  nichts  über  die  starke 


-    12    — 

Vena  jugiüaris  interna  u.  s.  w.  Darnach,  wiederhole  ich, 
Avar  die  Wunde  nicht  riesig.  Wenn  die  Herren  Gerichts- 
ärzte sich  jetzt  in  ihrer  „Antwort"  auf  das  durch  die 
Wunde  entsetzte  Volk  berufen,  so  folgt  daraus  gar  nichts; 
ebensowenig  erklärt  uns  die  Ausrede  der  Herren  Gerichts- 
ärzte selbst,  dass  auch  sie  —  aufgeregt  waren. 

Nach  der  Beschreibung  der  Halswunde  ist  es  ganz 
gut  möglich,  dass  dieselbe  mit  einem  gewöhnlichen 
Taschenmesser  (etwa  mit  der  Brotklinge)  versetzt  wurde; 
nichts  beweist,  dass  das  Messer  gross  und  stark  sein 
niusste.  Aber  darin  eben  besteht  das  Uebel,  dass  die 
Sachverständigen  die  Wunde  nicht  genau  besichtigt  und 
beschrieben  haben.  Man  sieht  aus  allem,  dass  sie  von 
ihrer  Art  keine  klare  Vorstellung  haben:  Im  Obduktions- 
protokoll sagen  sie  von  ihr,  sie  „habe  sich  etwas  (wie 
Aveit?)  von  rechts  nach  links  zum  Ohre  hingezogen";  dar- 
nach Avird  sich  jeder  vorstellen,  der  Schnitt  sei  von  rechts 
nach  links  geführt  Avorden;  aber  bei  der  mündlichen  Ver- 
handlung sagte  der  erste  Sachverständige,  die  Wunde  sei 
\'on  links  geführt  Avorden,  der  zweite  meint,  das  Messer 
sei  an  der  linken  Seite  angesetzt  worden  —  in  der  „Ant- 
Avort"  Avird  die  Wunde  als  wagerecht  geführte  Schnitt- 
wunde beschrieben.  Ich  zweifle,  dass  bei  einer  AA^age- 
rechten  Wunde  das  Messer  bis  zum  Knochen  eingedrungen 
Aväre,  falls  der  Kehlkopf  nur  „ein  Avenig  dm'chschnitten" 
wurde,  die  Wunde  links  in  der  Richtung  zum  Ohr  ver- 
lief und  die  Gefässe  rechts  vom  Kehlkopf  gar  nicht  tan- 
girt  Avurden;  in  Reinsbergs  gerichtlicher  Medizin  Avird  als 
Erkennungszeichen  der  StichAA^unde  unter  anderem  ange- 
führt, dass  dieselbe  häutig  bis  zum  Knochen  dringe  —  die 
Herren  Sachverständigen  haben  den  Knochen  offenbar 
gar  nicht  angesehen. 


Ueber    untergeordnete    Fragen    Avill    ich    nicht    viel 
Worte  machen.    Die  Herren  Sachverständigen  polemisieren 


—    13    — 

zum  Beispiel  gegen  die  Hypothese  Dr.  Bulovas,  dass  die 
Leiche  an  den  Fundort  getragen  wurde;  allein  ich 
habe  doch  gleich  gesagt,  dass  die  Leiche  wahrscheinlich 
überführt  wurde.  Falls  die  Strangulationsfurche  that- 
sächlich  an  dem  lebenden  Körper  verursacht  wurde,  so 
habe  ich  gar  nichts  dagegen;  das  ist  eine  Frage  für 
sich,  und  beweist  gar  nicht,  dass  die  That  im  Walde 
verübt  wurde,  denn  stranguliert  wird  in  einem  Gebäude 
nicht  anders  als  im  Walde.  Allerdings  muss  ich  den 
schwerwiegenden  Vorwurf  wiederholen,  dass  die  Strangu- 
lationsfurche nicht  untersucht  wurde;  es  hätten  doch  die 
unterliegenden  Muskeln  untersucht  werden  sollen,  um  die 
Stärke  der  Zerrung  zu  bestimmen,  auch  hätte,  wie  mir  gesagt 
wird,  eine  decisive  mikroskopische  Untersuchung  ange- 
stellt werden  sollen,  um  zu  entscheiden,  ob  die  Strangu- 
lation in  vivo  oder  post  mortem  verursacht  worden  ist. 

Die  Herren  Sachverständigen  imputieren  mir  den 
Ausspruch,  die  Leiche  sei  bald  nach  dem  Tode 
an  die  Fundstelle  gebracht  worden,  ja 
sie  zitieren  sogar  meine  angebliche  Berechnung  des  Ter- 
mines  auf  10  bis  14  Stunden.  Allein  das  ist  nur  in  der 
Pliantasie  der  Herren;  ich  habe  im  Gegenteil  ausdrücklicli 
betont,  dass  ich  über  diese  Zeitbestimmung  absichtlich 
noch  nichts  sage. 

Unter  anderem  führen  die  Herren  Sachverständigen 
Zeugenaussagen  für  die  Thatsäche  an,  dass  vor  dem 
Morde  an  der  Fundstelle  der  Leiche  nicht  soviel  Steine 
aufgehäuft  waren,  wie  nach  dem  Morde.  Die  Herren 
Sachverständigen  sehen  darin  einen  Beweis  dafür,  dass 
die  Mörder  ihren  Plan  wohl  durchdacht  und  vorbereitet 
haben.  Man  traut  seinen  Augen  kaum,  wenn  man  so 
etwas  liest:  die  Mörder  haben  sich  massenhaft  Steine  vor- 
her zusammengetragen,  um  sich  dann  einen  auszuwählen, 
mit  dem  dem  armen  Opfer  die  Wunden  am  Kopfe  beige- 
bracht werden  sollten!  Oder  wurde  jede  von  den  acht 
Wunden  mit  einem  anderen  Steine  zugefügt?  ... 


-     14    - 

Ich  habe  es  gerügt,  dass  die  Aerzte  den  Inhalt  des 
Magens  nicht  genauer  bestimmt  haben.  In  der  „Ant- 
wort" werde  ich  nun  belehrt,  dass  Agnes  Hruza  nach  der 
Aussage  des  Fräulein  Prchal  etwa  um  4  Uhr  Milch  und 
Brot  gejaust  habe,  bei  den  Hruzas  habe  man  diesen  Tag 
eine  Kartoffelsuppe  und  Kartoffeln  zum  Nachtmahl  gehabt 
und  davon  sei  im  Magen  keine  Spur  zu  finden  gewesen. 
Und  das  soll  nun  eine  genaue  Bestimmung  sein?  In  dem 
Obduktionsprotokolle  steht,  dass  imMagen  eine  grosse  Menge 
von  einem  dünnflüssigen  weisslichen  Brei,  nach  allem  haupt- 
sächlich aus  Milch  bestehend,  gefunden  wurde,  nur  hie  und 
da  seien  auch  festere  Speisenreste  vorhauden  gewesen. 
Woraus  bestand  also  der  Brei,  wenn  die  Milch  nur  den 
liauptsächlichsten  Bestandteil  bildete?  Nicht  etwa 
auch  aus  —  Kartoffeln?  Wurde  gekochte  oder  rohe 
Milch  genossen?  Ich  zweifle,  dass  nach  zwei  Stunden  nur  von 
der  Jause  im  Magen  eine  grosse  Menge  zurückgeblieben 
wäre.  Natürlich  wird  uns  auch  nichts  über  den  Inhalt  der 
Gedärme  gesagt.  Was  aber  die  Physiologie  des  Verdauens 
anbetrifft,  so  überlasse  ich  es  den  Sachkundigen  zu  be- 
stimmen, ob  Milch  (gekochte?  rohe?)  schon  nach  2,  oder 
nach  3,  4  oder  5  Stunden  aus  dem  Magen  schwindet. 
Und  selbstverständlich  würde  ich  mir  die  Aussage  der 
Hruzas  sehr  genau  besehen;  übrigens  steht  nirgends  ge- 
schrieben, dass  die  unglückliche  Agnes  Hruza  nacli  dem 
Nachtmahl  entleibt  wurde. 


Nur  noch  einen  Punkt  will  ich  genauer  beleuchten. 
Die  Sache  ist  um  so  wichtiger,  als  dieselbe  Gegenstand 
einer  denunziatorischen,  und  agitatorischen  Inter- 
pellation des  Abgeordneten  Breznovsky 
bildet.  Ich  werde  diesem  famosen  Herrn  und  seinen 
Helfershelfern  die  nötige  Belehrung  geben,  umsomehr, 
als  auch  die  Herren  Sachverständigen  die  Insinuation,  die 
zuerst  Herr  Dr.  Baxa  ausgesprochen  hat,  wiederholen.    Es 


—    15    — 

handelt  sich  nämlich  um  die  Thatsache,  dass  das  Hemd 
der  Ermordeten  mit  einer  Scheere,  nicht  mit  einem  Messer 
abgeschnitten  ist,  wie  die  Anklage  behauptet.  Die  That- 
sache ist,  wie  bekannt,  schon  von  einer  gerichtlichen 
Kommission  bestätigt  gefunden.  Um  dies  abzuschwächen, 
insinuieren  die  Antisemiten  dem  Untersuchungsrichter,  er 
habe  den  Scheerenschnitt  an  dem  corpus  delicti  nach- 
träglich ausführen,  Dr.  Bulova  und  seine  Frau  unerlaubter 
Weise  mit  dem  Hemde  manipulieren  lassen.  Gegen  diese 
geradezu  rohe  Denunziation  kann  ich  nach  eingehendster 
Untersuchung  Folgendes  sagen.  Es  war  Pflicht  des  Unter- 
suchungsrichters, Dr.  Bulova  und  dessen  Frau  zu 
empfangen,  sobald  sie  zur  Klärung  der  Untersuchung  bei- 
tragen zu  können  glaubten.  Der  Untersuchungsrichter  hat 
die  Beiden  nicht  extra  im  Geheimen,  sondern  vor  zwei 
Zeugen  empfangen.  Wie  ich  erfahre,  hat  er  über  den 
Vorgang  ganz  korrekt  die  amtliche  Anzeige  erstattet,  auf 
Grund  welcher  die  weitere  gerichtliche  Untersuchung  des 
Hemdes  beschlossen  Avurde,  welche  das  den  Antisemiten 
äusserst  unerwünschte  Resultat  ergeben  hat,  dass  das 
Hemd  thatsächlich  mit  einer  Scheere  und  nicht  mit  dem 
Messer  abgeschnitten  wurde.  Die  Herren  fühlen,  dass  das 
gegen  den  Mord  im  Walde  spricht. 

Weitere  Einwendungen  gegen  die  Herren  Polnaer 
Aerzte  überlasse  ich  anderen.  Selbst  ein  Laie  wird  zum 
Beispiel  wissen,  dass  nicht  nur  die  lebendige,  sondern 
auch  die  tote  Haut  Eindrücke  empfängt:  nun  Avohen  die 
Herren  in  den  Abdrücken  des  Bodens  auf  der  Haut  einen 
Beweis  dafür  sehen,  dass  die  Leiche  frisch  auf  den 
Boden  gelegt  Avurde,  uud  erst  dort  auskühlte  und 
erstarrte!  Die  Leichenstarre  erfasst  doch  die  Muskeln, 
nicht  die  Haut! 

Und  Avelche  Ausreden  die  Herren  auch  sonst  vor- 
bringen. Ich  habe  aufmerksam  gemacht,  dass  sich  die 
Herren  die  Frisur  nicht  genau  angesehen  haben.  In 
ihrer   ,, Antwort"   werde   ich    nun    belehrt,    dass    an    ZAvei 


—    16    — 

Haarbüscheln  die  Anzeichen  des  Flechtens  vorgefunden 
wurden:  was  sind  das  für  „Anzeichen"?  „Infolge  des  Zer- 
wirrens  aber  und  der  Durch tränkung  und  Zusammenbackung 
durch  Blut  war  es  nicht  möglich,  die  Art  der  Frisur  zu 
unterscheiden  .  .  ." 

In  einer  Sache  muss  ich  den  Herren  Aerzten  zugeben, 
dass  ich  Unrecht  hatte  —  in  der  Geographie.  Als  ich 
meine  Broschüre  schrieb,  war  ich  noch  nicht  in  Polna  und 
der  Umgebung  gewesen  und  verliess  mich  auf  Pläne, 
Photographien  und  die  Verhandlungsprotokolle.  Darnach 
habe  ich  niedergeschrieben,  dass  man  vom  Fundorte 
nach  Polna  sehen  und  hören  könne.  Dass  das  nicht 
richtig  ist,  habe  ich  an  der  Stelle  schon  vor  der 
„Antwort"  gesehen  und  eben  wiederum  bestätigt  ge- 
funden, nachdem  ich  mich  eigens  nochmals  an  Ort  und 
Stelle  begeben  habe,  um  die  angeführten  Ausmessungen 
vorzunehmen. 


II.  Ein  Beispiel  von  imatomisclier  Philologie. 

Die  Leser,  müssen  mir  verzeihen,  wenn  ich  sie  mit 
solchen  Details  unterhalte;  allein  der  Ritualaberglaube 
lässt  sich  nicht  mit  allgemeinen  kulturgeschichtlichen 
Erörterungen  aus  der  Welt  schaffen,  er  muss  derart  in 
einem  konkreten  Falle  in  seiner  Nichtigkeit  erwiesen 
werden.  Das  sieht  doch  schon  jeder:  eine  richtige 
Obduktion  und  sachgemässe  Beschreibung  der  Leiche 
hätte  den  Aberglauben  im  Falle  Polna  gar  nicht  aufkommen 
lassen! 

Die  Leser  möchten  mir  aber  auch  verzeihen,  wenn 
ich  jetzt  auf  das  Gebiet  der  Philologie  abschweife  —  die 
Herren  Gerichtsärzte  haben  nämlich  auf  die  vorhergehende 


—    17    — 

Antwort  nochmals  geantwortet*)  und  in  dieser  Antwort 
sich  auf  die  Philologie  zurückgezogen.  Die  Herren 
schämen  sich  nicht,  so  alberne  Dinge  vorzubringen,  wie  die, 
dass  ich  die  Handschriften,  die  ich  vor  Jahren  als  falsch 
erklärt  habe,  auch  nicht  vor  der  Falscherklärung  ange- 
sehen habe,  ebenso  wie  ich  vor  dem  Niederschreiben 
meiner  ersten  Broschüre  nicht  in  Polna  gewesen!  Natür- 
lich! So  wie  ich  mich  bei  den  falschen  Handschriften  an 
den  gedruckten  Text  hielt,  so  halte  ich  mich  bei  dem 
falschen  Prozesse  an  den  Text  der  Verhandlung.  Wenn 
ich  in  Polna  deniLeichnam  der  armen  Agnes  Hruza  hätte  sehen 
können,  so  wäre  ich  gewiss  sogleich  hingefahren,  aber  so 
habe  ich  in  Polna  nichts  zu  thun.  Das  Obduktions- 
protokoll und  das  Gutachten  der  eidlichen  Sachverstän- 
digen müsste  vollkommen  genügen  —  wenn  es  eben  gut 
und  sachlich  wäre.  Wenn  ich  darum  in  Polna  trotzdem 
und  schon  zweimal  war,  so  kommt  das  vornemlich  daher, 
dass  die  Herren  Gerichtsärzte  ihre  Pflicht  nicht  gethan 
haben.  Übrigens  waren  in  Polna  die  Herren  Ge- 
schworenen, waren  dort  alle  die  Richter  und  ganz  beson- 
ders auch  die  rituell  festen  antisemitischen  Journalisten? 

Die  Herren  Gerichtsärzte  bemängeln  auch  den 
gedruckten  Text  der  Hauptverhandlung.  Ich  weiss  ganz 
gut,  dass  in  diesem  Text  verschiedentliche  Druckfehler 
und  sonstige  Fehler  sind;  aber  in  den  strittigen  Haupt- 
sachen ist  der  Text  ganz  gut.  Die  Herren  Gerichtsärzte 
haben  ihn  in  ihrer  ersten  AntAvort  selbst  berufen.  Uebrigens 
ist  das  nicht  meine  Sorge,  die  Herren  mögen  sich  das 
mit  dem  löblichen  Senat  in  Kutenberg  ausmachen,  der 
die  beiden  Stenographen  beeidet  und  derart  die  Heraus- 
gabe des  Protokolles  oftiziell  gemacht  hat.  Ueberdies 
kommt  es  in  ihrem  Falle  gar  nicht  auf  diesen  Text  an: 
ich     zitiere     doch     ihr     eigenes    Oduktions- 


*)  In  der  N.  Politika  vom  10.  Järmer  1900:    „Einige  Worte 
II.  s.  w." 


18       - 

Protokoll  u  11  d  G  u  t  a  c  h  t  c  li ,  da«  icli  in  Avörlliclier 
Abschrift  liabe.  —  Wozu  also  solelie   unscliöne  Ausreden? 

Speziell  ist  eine  solche  unschöne  Ausrede  die  Be- 
hauptung, im  Verhandlungsprotokoll  sei  gerade  an  der 
Stelle  ein  Fehler,  an  dem  von  der  Durchschneidung  des 
Kehlkopfes  gesprochen  werde.  Es  stehe  nämlich  gedruckt, 
der  Kehlkopf  sei  „ein  wenig  durchschnitten  worden",  dagegen 
solle  es  heissen,  der  „durchschnittene  Kehlkopf  habe  ein 
wenig  hervorgeragt".  Ich  gestehe,  ich  bin  kein  Freund 
von  medizinischer  Philologie:  die  Herren  haben  doch  das 
„ein  wenig  durchgeschnitten"  in  ihrem  eigenen  Obduktions- 
protokolle! „Ein  wenig  durchschnitten"  ist 
allerdings  eine  komische  Wendung  —  aber  solcher 
Wendungen  giebt  es  in  d(ui  verschiedentlichen  Aussagen 
der  Herren  mehr  als  genug!  Ich  habe  mich  darum  gar 
nicht  nur  an  diese  Worte  gehalten,  sondern  ausdrücklich  die 
anatomische  Beschreibung  der  Wunde  betont.  Es  ist  aber 
klar :  Wenn  der  ganz  e  K  e  h  1  k  o  p  f  rund  h  c  r  u  m 
durchschnitten  wän^  und  wenn,  wie  wir  in  der 
„Antwort"  belehrt  worden,  dieser  Schnitt  wagerecht 
war,  so  m  ü  s  s  t  e  an  der  rechten  Kehlkopf- 
Seite  die  Carotis  a  u  c  ii  d  u  r  c  h  t  r  e  n  n  t  sein,  — 
die  ist  aber  intakt  geblieb(;n,  folglich  M'ar  der  Kchlko|)r 
nicht  ganz  durchtrennt,  oder  seine  Durchschneidung  wurden 
nicht  Avagerecht,  sondern  beim  Ein-  oder  Ausstich  — 
Transüxion  —  verübt. 

Die  Herren  sehen,  ihre  philologische,  national-radikal- 
rituell-christlich-katholische Anatomie  zahlt  sich  ihnen 
nicht  aus,  wie  ihnen  das  infolge  ihres  letzten  Auftretens 
auch  ihr  medizinischer  Kollege  Dr.  J.  Hälek  ausführlicher 
gezeigt  hat.*)  Von  der  geradezu  unglaublichen  Unwissen- 
heit und  anatomischen  Schlamperei  ((unen  anderen  Aus- 
druck giebt  es  dafür  nicht)  der  beeideten  (!)  Herrn 
Sachverständigen   kann  sich  auch  jeder  Laie   überzeugen. 


*)  Vergl.  „Gas",  16.  Jänner. 


—    19    — 

üeber  die  Wunde  z.  13.  haben  wir  circa  viererlei  Aus- 
sagen! Im  Sektiunsprutokoll  lesen  wir:  Der  Schnitt  in  der 
Wunde  hat  das  Zungenbein  vom  S  c  h  i  1  d  k  n  o  r  p  e  I 
getrennt;*)  dagegen  hören  wir  in  der  Hauptverhandlung  (294), 
die  Wunde  sei  bis  zur  Mitte  des  R  i  n  g  k  n  o  r  p  e  1  s  gegangen 
(also  hübsch  tiefer  als  im  Protokoll!);  daselbst  hören  wir  auch, 
dass  der  Ringknorpel  nicht  ganz  durchtrennt  Avar,  in  der 
,, Antwort"  lesen  wir,  der  K  e  h  1  k  o  p  f  (wo?)  sei  ganz  durch- 
schnitten geAvesen  und  sei  darum  ganz  aus  der  Wunde  heraus- 
getreten, —  in  der  letzten  schriftlichen  Polemik  sagen  die 
Herren,  der  Kehlkopf  hab(^  nur  ein  wenig  hervorgeragt . . . 
Oder  ein  anderes  Beispiel:  Im  Sektionsprotokoll  lesen 
wir,  die  linke  vena  jugularis  externa  sei  durch-,  die 
carotis  communis  a  n  geschnitten,  bei  der  mündlichen  Ver- 
handlung (294)  ist  die  vena  jugularis  (welche??)  und  die 
carotis  d  u  r  c  h  geschnitten.  .  .  . 

Geradezu  eine  unerlaubte  Unwahrheit  ist  die  Be- 
hauptung der  Herren,  ich  hätte  am  Thatorte  den  Abstand 
der  Leiche  von  dem  Bäumchen  am  Kopfe  von  30—40  auf 
10  cm.  reduziert;    ich  habe  den  Abstand  absichtlich  zwei- 

*)  In  diesem  Falle  könnte  die  andere  Angabe  des 
Obduktionsprotokolles  kaum  richtig'  sein,  dass  nämlich  die 
carotis  communis  angeschnitten  wurde:  bei  dem  angeblich 
schräg  zum  Ohre  geführten  Schnitte  giebt  es  in  dieser  Höhen- 
lage keine  carotis  communis,  sondern  die  getheilte  carotis 
externa  und  interna!  Ich  konstatiere  das  z.B.  nach  der  8.  Aufl. 
des  Heitzmann'schen  Atlasses  pag.  497,  498,  564  und  bei  Gegen- 
bauer, Anatomie  des  Menschen,  7.  Aufl.  1899  II,  pag.  285,  313.) 
Es  müssen  darum  überhaupt  ganz  andere  Gefässe  und 
ganz  anders  durchschnitten  sein,  als  im  Sektionsprotokoll  an- 
gegeben wird.  (Ich  mache  auf  den  Ausdruck:  „Der  Schnitt  in 
der  Wunde"  aufmerksam:  nach  dem  ganzen  Context  (der  Leser 
sehe  in  der  Beilage  nach)  muss  man  die  Worte  so  deuten,  wie 
es  oben  im  Texte  geschieht;  allerdings  bhi  ich  nicht  ganz  sicher, 
ob  die  Herren  nachträglich  nicht  sagen  werden,  sie  haben 
„einen  Schnitt  in  der  Wunde"  selbst  gemacht  und  diesen 
gemeint  -~  freilich  wäre  auch  diese  Ausdrucksweise  ungenau, 
aber  man  muss  bei  den  Herren  auf  alles  gefasst  sein.) 


-     20    — 

r 

mal  vor  dem  Herrn  Polizeiauf'seher  von  Polna  gemessen, 
ihn  um  diesen  Abstand  genau  befragt  und  von  ihm  die 
angeführten  10  cm.  als  Mass  erhalten.  Die  Herren  fangen 
offenbar  an  sich  mit  bewussten  Unwahrheiten  auszuhelfen. 
Vielleicht  sind  diese  Unwahrheiten  unbewusst  —  man  ver- 
steht die  Herren  einfach  gar  nicht.  Wie  ist  es  möglich, 
dass  sie  in  ihrer  jüngsten  Antwort  in  einigen  Stücken 
gegen  die  frühere  Antwort  schreiben  —  wie  ist  es  möglich, 
d.ass  sie  gegen  das  schreiben,  was  sie  schriftlich  und 
mündlich  unter  Eid  aufgeschrieben  und  ausgesagt 
haben?  .... 


III.   Die  angebliche  Ausblutung  <ler  Leiche. 

Die  Sachverständigen  und  die  Anklage  behaupten, 
die  Leiche  der  Agnes  H.  sei  ausgeblutet  vorgefunden 
worden;  und  da  es  beiden  als  selbstverständlich  gilt,  dass 
der  Mord  an  der  Fundstelle  der  Leiche  verübt  wurde,  so 
schliessen  sie  weiter:  das  der  Halswuude  rasch  ent- 
strr>mende  Blut  sei  ganz  kunstgerecht  aufgeffingen  und 
fortgeschafft  worden.  Dafür  spricht  ihnen  die  Thatsache, 
dass  die  an  Ort  und  Stelle  aufgefundene  Blutmenge  nicht 
der  Menge  entspreche,  die  dem  Leichnam  entronnen 
sein  müsse. 

Die  Anklage  nimmt  an,  die  Agnes  PL  sei  zuerst 
stranguliert,  dann  in  das  Gebüsch  geschleppt,  dort  mit 
den  Steinen  durch  Schläge  in  den  Kopf  betäubt  und 
schliesslich  unterschnitten  worden  (Verhandlungsprot.  300): 
die  Aerzte  glauben,  sie  sei  gleich  am  Wege  ermordet  und 
erst  dann  fortgeschleppt  worden  und  zwar  sei  sie  erst 
durch  Schläge  mit  Steinen  oder  mit  dem  Stocke  ange- 
griffen, dann  strangulirt  und  schliesslich  unterschnitten 
worden. 


-    21     - 

Die  Wunde  am  Halse  wird  allgemein  als  eig-entlichc 
Todesursache  angesehen  und  zwar  wird  behauptet,  die 
Leiche  sei  ausgeblutet  gefunden  worden.  Ich  habe 
schon  auf  den  Widerspruch  aufmerksam  gemacht,  der 
zwischen  dem  Obduktionsgutachten  und  den  mündlichen 
Aussagen  der  Sachverständigen  besteht:  Dort  heisst  es, 
die  Ausblutung  sei  fast  eine  vollständige,  mündlich  wird 
häufig  gesagt,  die  Ausblutung  sei  eine  vollständige. 
Dabei  muss  man  noch  im  Auge  behalten,  dass  die  Herren 
unter  vollständiger  Ausblutung  wörtlich  eine  solche 
Ausblutung  verstehen,  bei  welcher  alles  Blut  aus  dem 
Körper  entrinnt! 

Die  Aerzte  schätzen  die  Schwere  der  Agnes  H. 
(warum  hat  man  sie  einfach  nicht  abgewogen?!)  auf  70kg 
ab;  darnach  schätzt  der  eine  Sachverständige  den  Blut- 
gehalt auf  5,  der  andere  auf  5 — 6  kg  oder  5  1.  Nach  einer 
sorgfältigeren  Berechnung  mit  genauer  Berücksichtigung 
alles  dessen,  was  im  Obduktionsprotokoll  Anhaltspunkte 
bietet,  bestimmt  mein  Gewährsmann  das  Gewicht  des 
Körpers  auf  55  kg,  der  Blutgehalt  betrage  darnach 
maximum  4,2  kg. 

Nun  geben  die  Aerzte  in  der  Hauptverhandlung  (315) 
zu,  das  an  und  bei  der  Leiche  vorgefundene  Blut  be- 
trage 1,50  kg;  ich  frage:  ist  das  gar  so  wenig?  Wie  viel 
Blut  kann  überhaupt  dem  Körper  entweichen  —  doch 
nicht  alles,  wie  die  Herren  Aerzte  offenbar  annehmen?  Ich 
habe  diese  Fragen  mehreren  Fachmännern  vorgelegt: 
übereinstimmend  wird  mir  erklärt,  der  Austritt  von  1,50  kg 
Blut  sei  thatsächlich  kein  geringer.  Eine  Autorität  in  ge- 
richtlicher Medizin  schreibt  mir  direkt,  der  gewöhn- 
liche Ausfluss  desBlutes  betrage  1500—1800 kg 
• —  die  Polnaer  Ritualmörder  haben  demnach  das  Gefäss, 
in  welches  sie  nach  der  Belehrung  des  findigen  Herrn 
Dr.  Baxa  (Verhandlungsprotokoll,  318)  das  Blut  kunst- 
gerecht aufgefangen  haben,  leer  nach  Hause  getragen. 
Oder  gibt  es  am  Ende    auch  bei  den  Ritualmördern  Lehr- 


22     — 

liiigc  und  Avir  haben  es  also  in  Polna  mit  solchen  Ritual- 
mordslehrlingen  zu  thun? 

In  der  „Antwort"  wird  zu  dem  1,50  kg  auch  das  Blut 
im  Körper  gerechnet:  Lässt  sich  die  Menge  des  Blutes 
im  Köi'per  überhaupt  so  leicht  bestimmen,  zumal  nicht  be- 
kannt ist  und  auch  gar  nicht  untersucht  wurde,  wieviel  aus 
dem  Körper  ausgeronnen  ist?  Die  Herren  Gerichtsärzte 
haben  nicht  genau  nachgesehen,  wie  viel  Blut  in  die  Erde 
gesickert  ist,  denn  sie  haben  den  Boden  niclit  genauer 
untersucht,  Avas  umso  nötiger  war,  als  die  Leiche  angeb- 
lich einem  starken  Regen  ausgesetzt  war.  In  ihrer  „AntAVort" 
geben  die  Herren  jetzt  selbst  zu,  dass  die  Blutspuren  in- 
folge des  starken  Regens  vcrAAischt  sein  könnten!  Allein 
das  und  vieles  andere  haben  die  Herren  bei  ihren  Schät- 
zungen nicht  berücksichtigt.  Die  Herren  Sachverständigen 
sagen  uns  nichts  über  den  Blutgehalt  der  Lunge,  der 
Milz,  der  grossen  Blutgefässe  in  der  Bauchhöhle  und  den 
Extremitäten  und  da  darf  man  A^on  vollständiger 
Blutentleerung  sprechen"?*)  ....... 

Die  Herren  behaupten,  es  habe  sich  ein  grosser  Blut- 
kuchen unter  der  Leiche  bilden  müssen. 

In  der  einschlägigen  Literatur  tinde  ich  über  die 
Bildung  dei-  Blutkuchen  keine  genauere  Belehrung,  aber 
es  scheint,  dass  auch  diese  Voraussetzung  der  Herren 
Gerichtsärzte  unrichtig  ist.  Die  Bildung  eines  Blutkuchens 
scheint  nur  unter  gcAvissen  Umständen  zu  erfolgen,  unter 
anderem  nur  dort,  aa'O  das  Blut  in  den  Boden  nicht  ein- 
sickern kann.  An  der  Fundstelle  hat  aber  das  Blut  in  den 
Boden  einsickern  können:  der  eine  Sachverständige  be- 
schreibt den  Boden  (pag.  310)  als  Humus  (ca.  1  cm),  unter 

*)  Wie  bequem  die  Herren  ihre  Schätzimgen  A-omehmen, 
ersieht  man  aus  diesem  Zwiegespräch  im  Verhöre: 

Prä.sident:  Wie  A-iel  Blut  haben  Sie  im  Körper  ge- 
funden ? 

S  a  c  h  A'  e  r  s  t  ä  n  d  i  g  c  :  Im  rechten  Herzen  einige  Tropfen, 
im  Gehirn  allein  eine  A-enöse  Hyperaemie. 


-    23    — 

ihm  Sand  und  Felsen,  oben  auf  abgefallene  Fichtennadeln, 
Moos  sei  dort  nicht  gewesen.  Aber  von  alle  dem  abge- 
sehen —  wie  hat  sich  ein  grösserer  Blutkuchen  bilden 
können,  wenn  eben  das  zu  seiner  Bildung  nötige  Blut  gar 
nicht  vorhanden  sein  konnte?*) 

Schliesslich:  Die  Beschreibung  einzelner Körpertheih- 
im  Obduktionsprotokoll  spricht  für  Totenflecke: 
kommen  diese  an  ganz  ausgebluteten  Leichen  vor? 

* 

Aber  die  Herren  Gerichtsärzte  haben  nicht  nur  über 
das  Quantum  der  Ausblutung,  sie  haben  auch  ganz  falsche 
Vorstelkingen  über  die  Art  und  Weise  derselben.  Ganz 
geAviss  konnte  die  Ausblutung  nicht  so  rasch  vor  sich 
gehen,  Avie  die  Herren  und  mit  ihnen  die  Anklage  an- 
nehmen. Freilich  bestimmen  die  Herren  Aerzte  die  Zeit- 
dauer nicht;  aber  man  ersieht  aus  ihren  Ausführungen  bei 
der  Hauptverhandlung,  dass  sie  sich  die  Ausblutung  und 
infolge  dessen  auch  den  Eintritt  des  Todes  in  einigen 
wenigen  Minuten  vorstellen. 

Dagegen  führen  mir  meine  Gewährsmänner  aus  der 
Literatur  zahlreiche  Fälle  vor,  aus  denen  erschlossen 
werden  kann,  dass  die  Verblutung  bei  der  in  unserem 
Falle  beschriebenen  Verwundung  zit^mlich  lange  dauern 
konnte.  **) 

*)  Nachträglich  wird  mir  über  entsprechende  Versuclie  (an 
Kaninchen)  gemeldet,  bei  welchen  es  zu  keiner  Bildung  von 
Bluikuehen  kam  —  das  Blut  sickerte  in  den  Boden. 

**)  „Die  sicheren  Vorboten  eines  rasch  eintretenden  Ver- 
blutungstodes sind  starke  Athemnot,  Stocken  der  Drüsen- 
sekretiouen ,  Bewusstlosigkeit ,  Erweiterung  der  Pu- 
!>  i  11  0  n  ,  unwillkürlicher  Abgang  von  Harn  und 
Koth  u.  s.  w."  Tillmann  s^  Lehrbuch  der  allgeraeinen 
Chirurgie,  3.  Aufl.  1893,  pag.  383.  Im  Obduktionsprotokoll  wird 
nur  von  „etwas  erweiterten"  Pupillen  gesprochen;  die  ande- 
ren an  der  Leiche  vorfindbaren  Symptome  werden  nicht  erwähnt. 
Allein  dieseErweiterung  der  Pupillen  könnte  auch  von  der  S  t  r  a  n  - 
gulirung  herrühren.     (Reinsberg's   Ger.  Medizin  III,  3.38,  34'.) 


-     2-1    — 

Natürlich  ^ebt  eine  längere  Dauer  der  Ausblutung 
die  von  den  Aerzten  als  eigentliche  Todesursache  ange- 
geben wird,  ein  ganz  anderes  Bild  von  der  That.  Vorerst 
müsste  man  die  Annahme  der  Aussage.  bezAA^eifeln,  nach 
welcher  das  Verbrechen  mit  unglaublicher  Schnelligkeit 
und  in  kürzester  Zeit  verübt  wurde;  die  Thäter,  so  wird 
gesagt,  seien  nach  dem  Thatort  geradezu  gelaufen  und  der 
an  der  That  angeblich  beteiligte  Hilsner  war  im  Handum- 
drehen schon  wieder  in  der  Stadt  zurück,  —  diese  Annahme 
muss  nach  der  obigen  Erklärung  bezweifelt  werden. 

Die  Frage  nach  der  Schnelligkeit,  mit  welcher  der 
Tod  eingetreten  sein  könne,  hat  aber  auch  in  anderer  Be- 
ziehung ihre  Wichtigkeit.  Es  wäre  nämlich  möglich,  dass 
bei  langsamer  Verblutung  die  Strangulation  nach 
der  H  a  1  s  w  n  n  d  e  vorgenommen  Avorden  wäre.  Meine 
Gewährsmänner  machen  mich  auf  einige  ähnliche  und 
darunter  sehr  bekannte  Fälle  aufmerksam. 

Ich  sage,  diese  Annahme  wäre  möglich.  Jedoch 
halte  ich  mich  an  die  Annahme  der  Gerichtsärzte,  die 
Strangulation  sei  vor  der  IT  aiswunde  ge- 
schehen und  frage  darum  nach  der  Wirkung 
der  vorgängigen  Strangulation  auf  die 
Blutung. 

Ueber  die  Wirkung  der  Strangulierung  meint  der 
eine  Sachverständige,  .sie  allein  habe  den  Tod  verursachen 
können  (301);  der  andere  hält  die  AVunde  für  verhältnis- 
mässig leicht  (312,  319).  Nach  den  Angaben  des  Obduktions- 
protokolles  kann  man  den  Grad  der  Strangulierung  kaum 
genau  bestimmen.  Jedenfalls  müsste  die  Strangulation 
eine  Blutüberfüllung  des  Kopfes  und  der  Partien  oberhalb 
der  Strangulierungsfurche  überhaupt  bewirken;  aus  dem  Ob- 
duktionsprotokoll kann  man  den  Grad  der  Blutüberfüllung 
nicht  klar  ersehen.  Zwar  sagen  die  Sachverständigen, 
das  Gesicht ,  insbesondere  die  Nase ,  die  Wangen  und 
die  Lippen  seien  geschwollen  und  roth-violett  gefärbt  und 
die  Bindehäute  des  Auges  etwas  blutreicher;  aber  d  a  d  i  e 


-    25    — 

Leiclie  längere  Zeit  mit  der  Vorderseite 
auflag,  die  Gewebsflüssigkeiten  infolge  dessen  sicli  in 
dieser  Eichtung  senken  mussten,  so  können  die  gescliil- 
derten  Veränderungen  auch  auf  postmortaleTodten- 
flecke  oder  a  u  f  B  e  i  d  e  s  zu  beziehen  sein.  Da  die 
Sachverständigen  es  unterlassen  haben,  auch  die  sicheren 
Zeichen  eines  Erstickungstodes,  Ecchimosen  (kleine  punkt- 
förmige, oder  auch  grössere  Blutaustritte,  insbesondere  in 
der  Bindehaut,  der  Haut  des  Augenlides,  am  Brustfell  etc.) 
zu  forschen,  so  ist  es  kaum  mehr  möglich  zu  ent- 
scheiden, was  von  der  Hyperämie  des  Kopfes  auf  Rech- 
nung der  Strangulation  gestellt  werden  soll.  .  .  . 

Wenn  ich  mich  also  bei  der  Ungenauigkeit  des  Obduk- 
tionsprotokolles  und  dem  Widerspruche  der  Sachver- 
ständigen in  der  Hauptverhandlung  nicht  getraue,  den  Grad 
der  Strangulation  genauer  anzugeben,  so  kann  ich  trotzdem 
den  Schluss  ziehen,  dass  die  der  H  a  1  s  w  u  n  d  e  voran- 
gehende Strangulation  auf  die  Rasch  heit 
des  B  1  u  t  a  u  s  f  1  u  s  s  e  s  hemmend  wirken  m  u  s  s  t  e. 
Wenn  ich  nicht  irre,  so  ist  die  Folge  der  Strangulation  eine 
n  e  r  z  1  ä  h  m  u  n  g  oder  wenigstens  eine  starke  Herab- 
minderung des  Blutdruckes.  In  jedem  Falle 
könnte  der  Blutausfluss  nicht  so  rasch  geschehen,  wie 
die  Herren  Gerichtsärzte  annehmen,  auch  würde  das  Blut 
aus  der  angeschnittenen  Arterie  nicht  in  mächtigem 
Strahle  nach  allen  Richtungen  hervorspritzen,  sondern  mehr 
kontinuirlich  auslaufen.  Auf  diese  höchst  wich- 
tige Wirkung  der  Strangulation  muss  man 
ganz  besonders  bedacht  sein,  weil  da- 
durch der  Mangel  von  Blutspuren,  sei  es 
im  Gebäude,  sei  es  im  Walde,  gegen  die 
Voraussetzung  der  Gerichtsärzte  und  der 
Anklage  erklärt  würde.  Üeber  die  Wirkung  der 
Erstickungsgefahr  auf  die  Blutung  sagt  T  i  1 1  m  a  n  n  s  : 
„Unter  (solchen)  Umständen  ist  infolge  der  drohenden  (also 
noch  nicht  eingetretenen!)  Herzlähmung  der  Blutdruck  im 


-     26    - 

arteriellen  System  so  erniedrigt,  dass  das  Blul  nicht  im 
Strahl  hervorspritzt,  sondern  mehr  kontiiiuirlich  ausläuft 
oder    plötzlich  vollständig  aufhört."  *) 

Wenn  infolge  der  Strangulation  direkt  eine  Herz- 
lähmung eintritt,  so  wird  der  Blutumhiuf  gestört  und  in- 
folge dessen  findet  sich  in  der  linken  Herzkammer  kein 
Blut,  in  der  rechten  findet  sich  meistens  mehr  oder  weniger 
Blut  vor.  Nun  stimmt  diese  Wirkung  der  Herzlähmung 
(die  Wirkung  derselben  genauer  beschrieben  bei  Schmaus, 
Grundriss  der  Patholog.  Anatomie,  2-  Aufl.  1895,  pag.  15, 
16)  zu  der  von  den  Aerzten  beschriebenen  Blutleere  des 
Herzens! 

Ich  bin  natürlich  nicht  in  der  Lage,  über  diese  Gegen- 
stände ein  endgiltiges  Urteil  zu  fällen;  ich  will  nur  zeigen, 
wie  die  ungenauen  Erklärungen  der  Gerichtsärzte  selbst 
bei  einem  Laien  Zweifel  erregen  müssen.  Aber  soviel 
glaube  ich  mit  Sicherheit  behaupten  zu  können,  dass  die 
Ausblutung  nicht  so  rasch  und  nicht  so 
energisch  sein  konnte,  wie  die  Herren  Sachverstän- 
digen behaupten.  Sie  haben  eben  auf  die  Wir- 
kung der  Strangulation  vergessen,  trotzdem 
sie  dieselbe  vor  die  Hals  wunde  setzen!  In  der  „Antwort" 
sagen  die  Herren  (in  einem  anderen  Zusammenhange),  dass 
Agnes  H.  „halb  erwürgt,  also  bewusstlos  und  dem 
Tode  schon  nahe"  unterschnitten  wurde aber  sie  be- 
greifen die  Tragweite  der  eigenen  Aussage  nicht. 

Die  Herren  haben  aber  ebenso  auf  die  W  i  r  k  u  n  g 
der  Kopfwunden  vergessen. 

Diese  (8)  Kopfwunden,  erklären  die  Gerichtsärzte  und 
die  Anklage,  haben  das  Opfer  betäubt.  Das  bedeutet  wohl, 
dass  die  Kopfwunden  einen  gewissen  Grad  von  Hirn- 
erschütterung  verursacht  haben.  Wie  Avirkte 
diese     Hirnerschütterung     auf     den     Blut- 

*)  L.  c.  pag.  381. 


—    27    — 

a  u  s  f  1  u  s  s  ?  Offenbar  av  i  e  d  e  r  u  m  verlangsa- 
mend und  störend,  so  wie  die  Strangu- 
lation und  so  kommen  wir  abermals  zu  dem  Ergebnis, 
dass  die  Ausblutung  nicht  so  rascli,  so 
energisch  und  so  vollständig  sein  konnte, 
wie  die  Anklage  und  die  Herren  Gerichts- 
*  ä  r  z  t  e    annehmen. 

Nach  dem  schon  angeführten  Werke  von  Tillmanns 
(pag.  382)  müsste  schon  der  durch  den  supponierten  jähen 
Überfall  bewirkte  S  c  Ii  r  e  c  k  die  Energie  der  Ausblutung 
hemmen;  doch  will  ich  auf  dieses  Moment  kein  Gewicht 
legen,  vielmehr  besonders  einen  Punkt  in  helleres  Licht 
setzen,  der  für  die  forensische  Beurteilung  des  Verbrechens 
von  grosser  Wichtigkeit  ist. 

Die  Herren  Gerichtsärzte  sind  nämlich  durch  die 
Thatsache  beunruhigt,  dass  an  der  Fundstelle  die  Bäume 
nicht  mit  arteriellem  Blut  stark  bespritzt  waren,  wie  es  die 
Durchtrennung  der  Carotis  angeblich  verlangen  würde, 
wenn  das  Opfer  auf  dem  Rücken  gelegen  hätte;  darum 
schliessen  sie,  die  Halswunde  sei  in  der  Lage  mit  dem 
Gesichte  zur  Erde  beigebracht  und  das  Blut  aufgefangen 
worden. 

Gegen  diese  Annahme  ist  eben  auf  die 
der  Hals  wunde  vorangehende  Gehirner- 
schütterung und  H  e  r  z  1  ä  h  m  u  n  g  hinzuweisen : 
das  Blut  konnte  infolge  derselben  auch  aus  der  Carotis 
nicht  so  energisch  und  weithin  „nach  allen  Richtungen" 
hervorspritzen,  Avie  die  Herren  Gerichtsärzte  annehmen. 
Und  selbstverständlich  gilt  das  für  jeden  Thatort:  man 
kann  darum  im  Walde  keine  blutbespritzten  Bäume,  m  a  n 
darf  aber  auch  in  einem  Gebäude  keine 
blutbespritzten  Wände  und  Zimmerdecken 
suchen.  Letzteres  betone  ich  sehr  eindringlich  im  Hin- 
blick auf  eine  nachträgliche  Untersuchung,  über  die  sich 
mir  gegenüber  einer  der  Beteiligten  äusserst  despektier- 
lich ausgesprochen  hat. 


—    28    — 

In  dieser  Beziehung  ist  die  Thatsache  von  Interesse, 
dass  mir  von  Seiten  mehrerer  Fleischhauer  eine  ähnliche 
Belehrung  zu  Teil  wird.  Es  sei  eine  allgemeine  Er- 
fahrung, dass  das  Blut  aus  der  Hals  wunde  nur  dann  mäch- 
tiger hervorquelle  und  hervorspritze,  wenn  das  unter- 
schnittene  Thier  frisch  und  „lebendig"  sei,  bei  betäubten 
Thieren  fliesse  das  Blut  nur  langsam  und  träge.  Diese 
Erfahrung  kann  und  muss  in  unserem  Falle  um  so  eher 
herangezogen  werden,  als  wir  uns  über  die  Ausblutung  nur 
an  Thieren  direkt  belehren  können,  wie  in  der  einschlä- 
gigen medizinischen  Literatur  in  methodologischer  Be- 
ziehung allgemein  hervorgehoben  wird. 

* 

Wenn  nach  alle  dem  Gesagten  von  der  angenommenen 
Ausblutung  keine  Rede  sein  kann,  wenn  ferner  die  Aus- 
blutung auch  nicht  so  rasch  und  so  energisch  sein  konnte, 
wie  die  Anklage  und  die  Sachverständigen  annehmen,  so 
ergiebt  sich  wohl  der  Aveitere  Schluss,  dass  der  Mord 
in  Polna  nicht  von  Ritualmördern  verübt 
sein  kann.  Die  Anklage  und  die  Sachverständigen 
sehen  jedoch  Ritualmörder  auch  in  dem  Umstände, 
dass  die  Leiche  entkleidet  gefunden  Avurde.  Die  Herren 
Aerzte  und  die  Anklage  begehen  einen  Irrthum,  wenn  sie 
annehmen,  dass  durch  die  Entkleidung  (pag.  303,  323) 
oder  Hebung  der  Beine  und  dergl.  Manipulationen  die 
Ausblutung  merklich  befördert  würde.  Eng  anliegende 
Kleider  könnten  wohl  auf  die  Zirkulation  des  Blutes  einen 
Einfluss  ausüben,  doch  dürfte  derselbe  kaum  in  Betracht 
kommen.  Wenn  darum  die  Leiche  entkleidet  war,  so  weist 
das  die  Untersuchung  auf  ganz  andere  Spuren  als  auf 
rituale  Blutentleerung.  Einer  der  Herren  Gerichtsärzte 
scheint  richtiger  anzunehmen  (325),  dass  dem  Zwecke  der 
Blutentleerung  das  Auflassen  der  Kleider  genügen  würde, 
obwohl  er  darin  irrt,,  dass  alle  Kleider  aufgelassen  werden 
müssten.  Thatsächlich  sind  die  Schuhe,  wie  die  Gerichts- 
ärzte in  ihrer  „Antwort"  behaupten,  stark  zugeschnürt  ge- 


-    29    — 

blieben,  ebenso  die  Strumpfbänder,  von  denen  sogar 
Strangulationsfurchen  bei  der  Obduktion  konstatiert  wer- 
den —  wie  passt  das  zu  dem  bewussten  Auflassen  der 
Kleider  und  wie  passt  das  zu  der  angeführten  Annahme 
eines  der  Herren  Sa'chverständigen,  dass  die  Beine  behufs 
Blutentleerung  zurückgebogen  wurden?  In  ihrer  „Ant- 
wort" sprechen  die  Herren  Gerichtsärzte  auch  von  starken 
Strangulationsfurchen  an  den  Oberarmen  —  wie  passen 
diese  *)  zu  der  angeblichen  Unterstützung  des  Blut- 
ausflusses? Mörder,  speziell  Ritualmörder,  die  darauf  aus- 
gehen, möglichst  viel  Blut  aufzufangen  und  die,  wie  die 
Anklage  und  '  die  Sachverständigen  beständig  behaupten, 
ihre  That  äusserst  schlau  vorbereitet  haben,  hätten  doch 
konsequent  gehandelt;  aber  eben  darum  hätten  sie 
auch  das  1,50  kg  Blut  nicht  an  Ort  und  Stelle 
und  in  den  Kleidern  gelassen  (d  a  s  ist  ja  fast 
das  ganze  überhaupt  gewinnbare  Blut)  —  wie  kann 
man  also  von  einer  durchdachten  Blutent- 
leerung  sprechen?! 

Wenn  demnach  das  Gutachten  der  Gerichtsärzte 
selbst  auf  die  Kopfwunden  und  die  Strangulation  ein  ver- 
hältnissmässig  grosses  Gewicht  legt  und  wir  aus  diesem 
ihren  Befunde  die  logischen  Konsequenzen  ziehen,  so 
können,  ja  müssen  wir  noch  einen  Schritt  weiter  gehen 
und  fragen :  Kann  die  HalsAvunde  nicht  erst 
nach    dem   Tode   beigebracht   worden   sein? 

Ich  gebe  zu,  diese  Frage  frappiert.  Allein  sie  ist  er- 
laubt, ja  notwendig.  Die  Herren  Gerichtsärzte  selbst 
hätten  sich  dieselbe  stellen  müssen  und  gerade  deshalb, 
Aveil  sie  an  der  Fundstelle  der  Leiche  nicht  genug  arte- 
rielles Blut  vorgefunden   haben   wollen.    Dass  aber  die 


*)  Nur  kurz  mache  ich  auf  den  Widerspruch  des  Obduk- 
tionsprotokolles  und  der  „Antwort"  aufmerksam:  hier  wird  auf 
die  Strangulationsfurehen  der  beiden  Joppen  das  Gewicht  gelegt, 
dort  werden  die  Furchen  der  Heradärmel  ganz  besonders  betont. 


-     30    ^ 

Leichen  aus  den  V  e  n  c  ii  längere  Zeit  nach  dem  Tudti 
bluten  liünnen,  ist  allgemein  bekannt  und  wird  mir  von 
mehr  als  einer  Seite  fachmännisch  erklärt  und  bestätigt. 
Und  wenn  das  Unterschneiden  geschehen  ist,  nach  dem 
das  Opfer  „halb  erwürgt,  dem  Tode  schon  nahe" 
war  —  konnte  es  nicht  nach  dem  Tode,  etwa  als  die 
Leiche  noch  warm  war,  geschehen'?*) 

Und  so  ergibt  sich  schliesslich  auch  die  Frage:  haben 
wir  es  am  Ende  nicht  mit  e  i  n  <;  r  S  i  m  i  1  i  r  u  n  g  des 
R  i  t  II  a  1  m  o  r  d  e  s  zu  t  h  u  n  V 

Ich  begnüge  mich,  die  Frage  zu  stellen,  ohne  sie  ein- 
gehender zu  erörtern.**)  Für  die  Annahme  Hesse  sich  aus 
den  Aussagen   der  Aerzte   meheres  heranziehen.    So  z.  B. 

*)  Die  Möglichkeit  des  Erstickungstodes  weist  der  eine 
Herr  Gerichtsarzt  mit  der  Behauptung  zurück,  in  der  Lunge  seien 
nicht  die  Zeichen  des  Erstickens,  nämlich  venöse  Hyperaemie 
gefunden  worden  (307).  Allein  Relnsberg  (III,  345)  zeigt 
nach  Hoffmann,  dass  diese  Hyperaemie  häiifig  nicht  vor- 
lianden  ist. 

Der  zweite  Sachverständige  führt  gegen  den  Erstickungstod 
an,  es  habe  sich  mehr  Blut  finden  müssen,  wahrscheinlich  war 
jedoch  Blut  genug. 

**)  Herr  Dr.  Ofner  aus  Wien  machte  mich  auf  den  Aus- 
spruch der  Anklage  uod  der  Sachverständigen  aufmerksam,  dass 
noch  Samstag  Spuren  ganz  frischen  Blutes  gefunden  wurden. 
Wie  hätte  sich,  so  fragt  er,  das  Blut  seit  Mittwoch  frisch  er- 
halten können?  Mir  ist  das  Wort:  frisch  auch  gleich  auf- 
gefallen; aber  ich  habe  darin  einen  der  zahlreichen  ungenauen 
Ausdrücke  der  Aerzte  und  Anklage  gesehen.  Diese  Vermutung 
bestätigte  mir  pag.  301  des  VerhandlungsprotokoUes,  wo  das 
Wort  ausdrücklich  im  Gegensatz  zum  „gestockten  Blut"  ge- 
braucht wird.  Im  Obduktionsprotokoll  findet  der  Leser  an  zwei 
Stellen:  „trockenes,  frisches"  Blut  —  die  Herren  haben  offenbar 
nicht  nur  ihre  eigene  Anatomie ,  sondern  auch  ihre  eigene 
Terminologie.  Wahrscheinlich  handelt  sich's  um  blutiges 
Regenwasser;  übrigens  ist  es  möglich,  dass  das  Blut  in 
der  Kälte  auch  so  lange  flüssig  und  hell  bleiben  würde.  Immerhin 
kann  die  Untersuchung  noch  an  den  Blutflecken  der  Kleider 
konstatiren,  ob  etwa  nicht  anderes  als  Menschenblut  zur  stippo- 
nirten  Fietion  des  Ritualmordes  gebraucht  wurde. 


f^esteliu  ich,  dass  ich  sogar  an  der  behtiupteteii  Aiischiiei- 
dung  der  grossen  Arterie  (carotis  communis)  gewisse 
Zweifel  liege;  das  Unsystematische  der  Obduktion  hat  mir 
diese  Zweifel  eingegeben  und  ich  habe  daruni  anatomische 
Fachmänner  befragt.  Ich  erhalte  darüber  von  mehreren 
Seiten  etwa  folgende  Aufklärung:  Es  ist  nicht  ersichtlich 
bei  welchem  Akte  der  Sektion  die  Verletzung  der  Carotis 
festgestellt  wurde.  Ob  gleich  bei  der  Untersuchung  der 
Wunde  oder  erst  nach  der  Herausnahme  der  Zunge.  Im 
Protokoll  findet  sich  diese  Angabe  bei  der  inneren  Unter- 
suchung. Eine  solche  Verletzung  muss  jedoch  durch  die 
Untersuchung  der  Wunde  konstatirt  werden,  um  sich  vor 
einer  Verwechslung  mit  einem  bei  der  Sektion  zufällig  an- 
gebrachten Schnitt  zu  bewahren. 

Dadurch  dass  die  Herren  jedesmal  anders  sprechen, 
kann  man  ihren  Aussagen  überhaupt  nicht  mehr  trauen  und 
so  ergeben  sich  eben  allerhand  Bedenken  und  Zweifel. 

Die  Möglichkeit  einer  Fiction  des  Kitualmoi'des  er- 
gibt sich  mir  durch  folgende,  wie  ich  glaube,  ganz  not- 
wendige Ueberlegung.  Echte  Ritualmörder,  wenn  es  solche 
gäbe,  würden  ihre  That  gewiss  verbergen  und  unkenntlich 
machen;  jede  Ritualverwundung  ist,  ich  bin  überzeugt,  an 
und  für  sich  und  immer  verdächtig.  Man  kann  das  den 
Hitualgläubigen  gegenüber  nicht  genug  eindringlich  be- 
tonen. Glaubt  man,  die  geheime  Ritualsekte  werde  ihre 
Leichen  mit  dem  verräterischen  Schnitt  im  Polnaer  Walde 
geradezu  ausstellen?  Solche  Verbrecher,  und  seien  sie 
noch  so  beschränkt,  werden  bemüht  sein,  die  Spuren,  die 
zu  ihrer  Entdeckung  führen  könnten,  nach  Möglichkeit  zu 
verwischen.  Nun  behaupten  gerade  die  Antisemiten,  die 
Juden  seien  die  Ausgeburt  der  Klugheit:  Avarum  imputirt 
man  ihnen  gerade  bei  einem  solchen  Verbrechen  die 
■  bodenloseste  Dummheit?  Beim  Wechselfälschen  Ist  der 
Jude  superklug,  aber  beim  Ritualmord  ist  er  mit  einem 
male  absolut  dumm.  Wenn  es  einen  Ritualmord  gäbe,  so 
würden    die  Mörder   in   erster  Reihe   und  um  jeden  Preis 


-    32    — 

darauf  bedacht  sein,  den  verräterischen  Schnitt  am  Halse 
unschädlicli  zu  machen,  in  dem  sie  die  Leiche  sicher 
bergen,  begraben  oder  wenigstens  verstümmeln  würden, 
um  sich  nicht  zu  verraten.  Niemals  würden  sie  eine  solche, 
für  das  gesamte  Judentum  so  gefährliche  That  vollführen, 
wenn  sie  sich  nicht  vorher  die  vollste  Sicherheit  geschafft 
hätten,  so  viel  Zeit  zu  gewinnen,  dieses  Kennzeichen,  in 
irgend  einer  Weise  unsichtbar  zu  machen.  Ich  sage 
darum:  Leichen,  mit  dem  vollen  oder  nur  teilweisen 
Ritualzeichen  ausgestattet,  sind  immer  verdächtig  und 
sprechen  immer  für  die  Niedertracht  eines  christlichen  In- 
dividuums. 

Die  Polnaer  Unthat  widerspricht  allen  Subpositionen 
des  Ritualaberglaubens.  Sie  ist  angeblich  am  hellen  Tage 
mit  offener  Dreistigkeit  verübt  worden  und  überdies  wurde 
dann  die  Leiche,  wie  gesagt,  geradezu  zur  Schau  aus- 
gestellt an  einer  Stelle,  wo  sie  sehr  bald  hat  gefunden 
werden  müssen. 

Und  freilich,  entbehrt  der  Polnaer  „Ritualmord"  auch 
des  komischen  Elementes  nicht.  Für  die  Geschichte  des 
Ritualmordes  und  speziell  für  den  geheimen  Ritus  sind  die 
Gegenstände  belehrend,  die  die  Mörder  angeblich,  zugleich 
mit  dem  aufgefangenen  Blute  mitgenommen  haben:  um 
zwei  Kreuzer  Schweinefett  (das  Papier,  in  welches  es  ge- 
wickelt war,  haben  die  Schelme  an  Ort  und  Stelle  ge- 
lassen), einen  Rosenkranz,  den  grössten  Theil  des  Hemdes, 
gewirkte  Handschuhe,  ein  Taschentuch  .... 


Ueber  die  Art  und  Weise  der  einzelnen 
Verwundungen  will  ich  mich  kurz  fassen  und  nur 
wenige  auch  forensich  nicht  unwichtige  Bedenken  vor- 
bringen. 

In  Bezug  auf  die  Technik  der  Strangulation 
geben  die  Herren  Gerichtsärzte  jetzt  in  ihrer  „Antwort" 
eine  genauere  Beschreibung  des  vermeintlichen  Vorganges: 


-    33    — 

„Der  würgende  Mörder  befand  sich  zur  linken  Seite  des 
Opfers,  der  den  Schnitt  führende  zur  rechten."  Die  Herren 
nehmen  also  jetzt  an,  Agnes  H.  sei  zugleich  einseitig 
strangulirt  und  unterschnitten  worden:  allein  wobleiben 
dann  die  der  Strangulation  vorangehenden 
betäubenden  Kopfwunden?  Wozu  strangu- 
liren,  wenn  das  Opfer  schon  betäubt  war? 
In  der  Verhandlung  denkt  einer  der  Herren  direkt  an  eine 
der  Halswunde  vorhergehende  Gehirnerschütterung 
—  wo  bleibt  jetzt  diese? 

Die  Herren  glauben  in  ihrer  „Antwort"  die  Situation 
besonders  klar  zu  beschreiben;  in  derThat  haben  sie  aber 
nur  meine  Belehrung  angenommen,  dass  die  Schlinge 
bei  der  gegebenen  Configuration  des  supponirten  Thatortes 
nicht,  wie  die  Anklage  annimmt,  von  links  und  von  hinten  auf 
das  Opfer  geworfen  sein  konnte.  Die  Herren  polemisieren 
darum  nach  meiner  Anleitung  über  diesen  Punkt  gegen 
die  Anklage  und  geben  die  angeführte  Erklärung.  Allein 
diese  ist  auch  sehr  unbestimmt.  Es  wird  ja  auch  darauf  an- 
kommen, wo  und  wie  der  schneidende  Mörder  postirt  war 
ob  vor,  hinter  oder  neben  dem  (nach  der  Annahme)  mit 
dem  Gesicht  zur  Erde  liegenden  Opfer,  ob  er  selbst  rechts- 
oder  linkshändig  war  u.  dgl. 

Die  Herren  glauben,  durch  ihre  neuere  Erklärung 
zugleich  den  rätselhaften  Strangulationsspagat  wegzuer- 
klären:  dieser  Spagat  ist  nämlich  blutbefleckt,  mit  Haaren 
beklebt  und  eigenthümlich  beschädigt  bei  der  Leiche  ge- 
funden Avorden.  Nun  erklären  die  Herren  Gerichtsärzte, 
die  freien  Enden  der  Schnur  seien  von  einem  der  Mörder 
ohne  Schlinge  angezogen  worden,  dadurch  sei  die  Stran- 
gulationsfurche nur  an  der  rechten  Halsseite  entstanden, 
zugleich  sei  durch  den  gleichzeitig  geführten  Schnitt  die 
Schnur  „in  der  Mitte  blutig  und  bis  auf  einige 
Fäden  fast  ganz  durchschnitten"  worden. 

Die  Herren  haben  bei  dieser  Erklärung  in  der  „Ant- 
wort" auf  ihre  früheren  Aussagen  in  der  Verhandlung  ver- 


-     34     - 

gessen:  dort  hören  wir,  dass  die  Schnur  beim  Schnitt  in 
die  Wunde  eingedrungen  ist*)  —  offenbar  dachten  die 
Herren  damals  die  Strangulationsfurche  sei  um  den  ganzen 
Hals  gegangen;  darum  wurde  auch  gesagt  (ich  habe 
das  schon  angeführt)  diese  Furche  sei  links  in  die 
Wunde  hineingezogen  worden.  Aber  weil  die  Herren 
doch  gelehrig  sind  und  durch  meine  Broschüre  einiges 
profitirt  haben,  geben  sie  ihre  frühere  Erklärung  still- 
schweigend auf  und  suchen  sich  nun  meiner  Kritik  anzu- 
passen. Darum  entfällt  jetzt  in  der  „Antwort"  die  Stran- 
gulationsfurche auf  der  linken  Halsseite.  Allein  die  Herreu 
haben  nicht  weiter  nachgedacht:  wie  konnte  die  Schnur 
von  dem  Messer  angeschnitten  werden,  wenn  der  „wür- 
gende Mörder"  die  freien  Enden  stramm  angezogen  hielt? 
Und  wie  konnte  er  die  Schnur  in  ihrer  Mitte  durch- 
schneiden da  diese  Mitte  nach  der  eigenen  Erklärung  der 
Herren  doch  an  der  rechten  Halsseite  anliegen  musste? 
Darüber  wäll  ich  mit  den  Herren  nicht  rechten,  ob  die 
Schnur  thatsächlich  angeschnitten  oder  wie  die  An- 
klage behauptet (15)  „wie  durchgebissen  o  d  e r  zer- 
risse n  "  war  —  einen  angenehmen  Eindruck  machen 
solche  Discrepanzen,  das  muss  ich  allerdings  sagen,  nicht. 
Und  natürlich  gehört  es  zur  geradezu  bodenlosen  Ober- 
flächlichkeit der  Herren  Gerichtsärzte  und  der  Anklage, 
dass  die  Länge  der  Schnur  und  ihre  Dicke  nicht  gemessen 
Avurde. 

Der  Leser  sieht,  wie  die  Sachverständigen  bei  jeder 
Kleinigkeit  sich  in  einem  Netze  von  Widersprüchen  und 
Unmöglichkeit  verstricken.  Und  trotzdem  habe  ich  die 
Einwände  noch  nicht  erschöpft.  Gewiss  wird  sich  jeder 
halbwegs  Denkende  fragen:  Kann  eine  einseitige  Stran- 
gulation so  starkbetäubend  wirken   und   wie    ist  sie  unter 

*)  Dieses  Eindringen  des  Spagates  in  die  Wunde  ist  aller- 
dings sehr  rätselhaft:  wie  konnte  das  angeblieh  sehr  scharfe 
Messer  die  Wimde  bilden,  ohne  den  Spagat  ganz  zu  durch- 
schneiden? 


—    35    — 

den  angenommenen  Verhältnissen  überhaupt  möglich, 
wozu  sollte  sie  dienen?  Würde  eine  so  unvollständige 
Strangulationsfurche  nicht  eher  auf  einen  Selbstmord- 
versuch als  einen  Mord  passen?  Nach  den  in  den 
Lehrbüchern  über  gerichtliche  Medizin  gegebenen  Er- 
klärungen, gewiss! 

Auch  die  Kopfwunden  zwingen  zu  einigen  kri- 
tischen Bemerkungen. 

Wie  wir  schon  wissen,  wird  die  beabsichtigte 
Wirkung  dieser  Kopfwunden  in  der  Betäubung  des  Opfers 
gesehen.  Allein:  wenn  die  Kopfwunden  zur  Betäubung 
genügten,  so  frage  ich  nochmals:  wozu  die  Stran- 
gulation? 

Und  wenn  die  oder  der  Mörder  sein  Opfer  zuerst 
betäuben  wollte,  wie  die  Anklage  annimmt  und  die 
Sachverständigen  erklären,  wozu  hätten  sie  acht  Kopf- 
wunden beigebracht  und  nicht  sogleich  mit  einem 
Schlage  das  vorgefasste  und  durchdachte  Ziel  erreicht? 

Einer  der  Herren  Sachverständigen  nimmt  in  der 
Hauptverhandlung  thatsächlich  an,  Agnes  Hruza  sei  durch 
einen  Schlag  auf  den  Kopf  mit  dem  am  Fundorte  auf- 
gefundenen Knittel  betäubt  worden  und  ZAvar  denkt  er 
geradezu  an  eine  Gehirnerschütterung  (315—317).  Diese 
Gehirnerschütterung  ist  an  der  Leiche  nicht  konstatiert 
worden,  aber  der  Herr  Sachverständige  trennt  sich  von 
dieser  Idee  sehr  ungern;  offenbar  hat  er,  wenn  er  sich 
darüber  auch  nicht  klar  geworden  ist,  Zweifel  an  der  An- 
nahme der  Anklage,  die  That  sei  ganz  planvoll 
ausgeführt  worden:  wenn  die  „Ritualmörder"  einen 
ganz  durchdachten  Plan  gehabt  hätten ,  hätten  sie  ihr 
Opfer  zuerst  mit  mehreren  schwächeren  Schlägen  auf  den 
Kopf  angegriffen?  Dann  erst  stranguliert  u.  s.  w.?  Das 
Unmögliche  an  dem  Vorgang  fühlt  eben  der  Herr  Sach- 
verständige und  nimmt  darum  an,  die  Mörder  hätten  ihr 
Opfer  mit  einem  starken  Schlag  auf  den  Kopf  auf  einmal 
betäubt.    Unstreitig  hätten  „planmässig"   und   in  „grösster 

3* 


—    36    — 

Eile"  vorgehende  Mörder  so  oder  ähnlich  die  Betäubung 
rasch  verursacht,  um  dann  die  Betäubte  rituell  „bearbeiten" 
(Ausdruck  des  einen  Sachverständigen)  zu  können.  D  i  e 
zahlreichen  Kopfwunden  weisen  in  der 
That  auf  einen  planlosen  Angriff  hin,  wie 
er  etwa  in  einem  Streite  sich  ergeben 
kann.  Dazu  führt  auch  die  Angabe  der  Aerzte,  dass  die 
Wunden  in  verschiedenen  Richtungen  verlaufen  —  die 
Geschlagene  hat  sich  also  bewegt;  dass  diese  Wunden 
nicht  mit  den  bei  der  Leiche  gefundenen  aber  doch 
aufbewahrten  (!)  Steinen  beigebracht  worden  seien,  sagen 
die  Herren  selbst;  sie  können  gewiss  mit  einem  anderen 
Gegenstande,  etwa  mit  einem  geschlossenen  Taschen- 
messer oder  auch  mit  einem  schwächeren  Stocke  und 
dergl.  verursacht  worden  sein.*) 

Meine  Annahme,  die  Art  der  Verwundung  und  speziell 
die  Häufung  der  Wunden  deute  auf  einen  planlosen  Mord 
resp.  Tod  seh  lag,  wird  wohl  auch  durch  den  Schlag 
auf  den  linken  Oberarm  verstärkt.  Auch  lassen 
sich  die  scharfen  Abschürfungen  auf  den 
Händen,  die  der  Lebenden  zugefügt  wurden  (pag. 
313),  am  besten  durch  ein  Handgemenge  er- 
klären. 

Unter  den  coporibus  delicti  spielt  der  am  Fundorte 
der  Leiche  gefundene  weisse  Stock  in  der  Anklage 
eine  bedeutendere  Rolle.  Es  wird  supponiert,  Hilsner 
liabe  ihn  gehabt.  Mit  diesem  Stocke,  sagt  die  Anklage, 
sei  Agnes  H.  auf  die  linke  Hand  so  geschlagen  worden, 
dass  derselbe  von  dem  Schlage  zersprungen  ist.  Diese 
Voraussetzung  ist  sicherlich  unrichtig.  Erstens  würde  von 
einem  solclien  Schlage  nicht  der  Stock  sondern  die  Hand 
resp.  der  Knochen  brechen;  nota  bene  ist  der  Stock  nicht 


*)  Die  Besehreibung  der  Wunden  (vide  Obduktionsprotokoll) 
schliesst  grosse,  stumpfe  Steine,  ebenso  grosse,  dicke  Stöcke 
u.  dergl.  aus. 


—    37    — 

an  seinem  Ende  „zersprungen"  sondern  etwa  in  seinem 
Drittel,  —  ein  solcher  Schlag  mit  der  Mitte  des  Stockes 
wäre  nach  den  Gesetzen  der  Mechanik  wirkungslos. 

Nach  der  mir  zukommenden  Beschreibung  war  der 
Stock  gar  nicht  verkothet  —  am  kritischen  Tage  war  es 
kothig!  —  und  ist  darum  nicht  beim  Gehen  benutzt  worden. 
Der  1,20  cm  lange  Stock  ist  sorgsam  mit  dem  Messer 
ausgearbeitet  worden;  er  ist  darum  auch  nicht,  wie  die  Anklage 
supponiert,  in  aller  Eile  vor  der  That  im  Walde  abge- 
schnitten und  nur  eilig  abgeschält  worden.  Ein  frisch  ab- 
geschälter Stock  (Fichte?)  ist  erfahrungsgemäss  zu  klebrig. 
Hilsner  ist  in  der  Stadt  ohne  Stock  gesehen  worden,  nur 
die  Zeugen  Pesäk  und  die  Womela  sprechen  von  einem 
weissen  Stocke.  *) 

Dagegen  liegt  die  Vermutung  nahe,  der  Stock 
sei  bei  dem  Transport  der  Leiche  irgend  wie  be- 
nutzt worden,  falls  er  überhaupt  zu  der  That  in  Be- 
ziehung steht. 

Ueber  das  Werkzeug,  mit  dem  die  Hals- 
wunde verursacht  wurde,  lässt  sich  aus  der  mangel- 
haften Beschreibung  und  Lokalisierung  der  Wunde  nichts 
bestimmtes  erschliessen. 

Die  Anklage  supponiert,  die  Hals  wunde  sei  mit  einem 
grossen  und  geradezu  mit  einem  Schächtermesser  ver- 
ursacht worden.  Der  Postenführer  Klenovec  denkt  auch, 
die  Wunde  könne  mit  einem  Taschenmesser  nicht  bei- 
gebracht worden  sein  (103).  Allein  es  ist  gar  kein  Grund 
vorhanden,  warum  man  nicht  an  ein  gewöhnliches 
Taschenmesser  denken  könnte  und  jedenfalls  ist 
auch  die  Frage   gestattet,    ob   das  Messer  in   der  That  so 


*)  Weisse  Stöcke  sind  gang  und  gäbe.  —  Ich  erwähne  nur 
noch,  dass  ich  am  4.  Dezember  (1899)  in  der  Umgebung  des 
Bavimstumpfes,  von  dem  der  Stock  herrühren  soll  (Verhandlungs- 
protokoll pag.  125),  mehrere  (nicht  frische)  ähnliche,  stärkere 
und  schwächere  Baumstumpfe  gefunden  habe. 


—    38       - 

scharf  war,  wie  die  Sachverständigen  annehmen.  Ich 
glaube  die  Art  der  Halswunde,  soweit  wir  sie  uns  jetzt  nach 
den  beiden  Antworten  der  Herren  vorstellen  können, 
spricht  für  kein  allzu  scharfes  Messer.*) 


I 


IV.   Zeit  und  Ort  des  Polnaer  Verbrechens. 

Die  Leser  erinnern  sich,  dass  und  warum  die 
Anklage  ganz  besonders  auf  den  Ort  und 
die  Zeit  Gewicht  legt,  wo  und  wann  das  Ver- 
brechen begangen  wurde.  Nach  der  Anklage  wurde  das- 
selbe in  der  Zwischenzeit  von  'Viß — ^U  Mittwoch,  den 
29.  März,  im  Walde  Bfezina  begangen;  gefunden  wurde 
die  Leiche  Samstag. 

Ich  habe  bisher  über  die  Zeit,  wann  die  Unthat  ge- 
schehen, direkt  noch  nichts  gesagt;  indirekt  allerdings 
spricht  aus  allen  meinen  Ausführungen  ein  starker  Zweifel 
an  dem  von  der  Anklage  supponierten  Zeitpunkte.  Jetzt 
will  ich  aber  direkt  einen  Beweis  führen,  aus  dem  mit 
grosser  Wahrscheinlichkeit  hervorgeht,  dass  das  Verbrechen 
nicht  in  der  angegebenen  Zeit  und  nicht  auf  dem  Fund- 
orte der  Leiche  verübt  wurde.  Oder  ganz  genau  ge- 
sprochen: die  Leiche  der  Agnes  H.  hat  Don- 
nerstag, den  30.  März,  nicht  an  ihrem  sam- 
stägigen  Fundorte  sein  können. 

Ich  habe  aus  dem  Verhandlungsprotokoll  (147)  schon 
erwähnt,  dass  es  Donnerstag,    den  30.  März  sehr  stark  ge- 

*)  Die  Herren  Gerichtsärzte  glauben,  das  Durchschneiden 
des  Kehlkopfknorpel  verlange  ein  sehr  scharfes  Messer:  meine 
anatomischen  Autoritäten  sagen  mir,  der  Kehlkopf  knorpel  eines 
19jährigen  Mädchens  sei  weich  und  leicht  zu  schneiden. 


—    39    — 

regnet  hat:  Vormittag  wird  ein  Gewitter  mit  starkem, 
heftigen  Regen  konstatiert,  auch  Nachmittag  regnete  es 
sehr  stark.  Die  Herren  Gerichtsärzte  bestätigen  das  in 
ihrer  „Antwort";  allerdings  haben  sie  das  traurige  Privi- 
legium in  allem  unpräcis  zu  sprechen  und  so  sagen  sie  auch 
hier,  dass  es  ,,  diese  Tage  sehr  stark  geregnet  habe  und 
dass  also  die  Blut-  und  andere  Spuren  verdeckt  (auch  unklar!) 
sein  konnten."  Auch  die  Mutter  Hruza  (pag.  82)  gibt  an,  sie 
habe  ihre  Tochter  Donnerstag  wegen  des  schlechten 
Wetters  nicht  nach  Hause  erwartet. 

Aus  dem  Verhandlungsprotokolle  vermag  ich  nicht 
mit  Sicherheit  zu  konstatieren,  wie  stark  es  auch 
.Mittwoch  abends  geregnet  hat.  Die  kothigen 
Schuhe  der  Agnes  H.  beweisen  wohl,  dass  es  auch  Mittwoch 
geregnet  hat.  Ein  Zeuge  (146)  sagt  aus,  dass  es  nach 
5  Uhr  nachmittags  in  Polna  zu  regnen  angefangen  habe; 
der  Postenführer  sagt,  der  Weg  sei  kothig  gewesen.  An- 
dere Zeugen  sprechen  von  schönem  Wetter;  der  Präsident 
erklärt  das  dadurch,  dass  einem  Orte  die  Sonne  scheinen, 
an  einem  anderen  es  regnen  konnte. 

Ich  habe  mich  über  die  Witterung  von  Mittwoch 
(29.  März)  bis  Samstag  bei  verlässlichen  Beobachtern  er- 
kundigt und  erfahre  demgemäss,  dass  Mittwoch  Abend  ein 
Sprühregen  begann,  in  der  Nacht  (auf  Donnerstag)  hat  es 
gefroren,  Donnerstag  Vor-  und  Nachmittag  gab  es  einige 
mal  Regen;  ein  Gewitter  (so  sagt  mir  mein  Zeuge  aus) 
habe  es  nicht  gegeben.  Der  Regen  Donnerstag  sei  am 
stärksten  abends  bis  etwa  10  Uhr  gewesen.  In  der  Nacht 
auf  den  Freitag  habe  es  vor  und  nach  Mitternacht  ge- 
regnet, aber  wenig.  Freitag  war  der  ganze  Tag  regenlos, 
sehr  kalt,  in  der  Nacht  habe  es  gefroren.  Samstag  (an 
dem  die  Leiche  gefunden  wm'de)  schien  die  Sonne,  das 
Wetter  war  hell  und  klar. 

Die  Tage  war  Vollmond  —  offenbar  hat  es  sich 
Donnerstag  ausgeregnet,  Freitag,  schon  in  der  Nacht,  hat 
sich  das  Wetter  (Aprilwetter)  gewendet. 


-      40     — 

Der  starke  und  anhaltende  Kegen,  Donnerstag,  ist 
also  allseitig  konstatiert :  wie  hätte  dieser  Kegen  auf  die 
Leiche  wirken  müssen,  wenn  dieselbe  seit  Mittwoch  Abend 
während  des  ganzen  Regens  an  der  Fundstelle  gelegen 
wäre,  da  sie  nur  mit  den  Spitzen  von  4  kleinen,  jungen 
Fichtenbäumchen  bedeckt  war?  Und  wenn  diese  Be- 
deckung überdies  ganz  eigentliümlich  war:  Ich  habe 
nämlich  konstatiert,  dass  die  Spitzen  der  Bäumchen  auf 
die  Leiche  gestellt  waren ;  sie  erhielten  sich  da- 
durch aufrecht,  dass  dieselben  zwischen  den  umstehenden 
Bäumchen  gegen  einander  gedrückt  waren.  Jedenfalls 
lassen  so  schief  gestellte  Bäumchen  den  Regen  leichter 
durch,  als  aufrecht  stehende  Bäumchen. 

1.  Die  Kleider  (der  Spagat  n.  s  f) hätten  Samstag  noch 
n  a  s  s  und  auch  gefroren,  mindestens  halb  gefroren,  ge- 
funden werden  müssen;  es  wird  im  Obduktionsgutachten  und 
in  der  Anklage  (pag.  21)  konstatiert,  dass  die  Leiche  nicht 
nur  erstarrt,  sondern  „fast  steif  gefroren"  war,  es  wird  der 
Frost  (pag.  310)  und  kaltes  Wetter  (pag.  326)  konstatiert. 

Nach  meinen  Informationen  wurden 
die  Kleider  nur  feucht  vorgefunden,  es  fehlten 
aber  alle  die  Anzeichen,  die  auf  eine  vorangehende  Durch- 
nässung und  die  Wirkung  des  Frostes  schliessen  Hessen; 
an  einem  kalten  Tag  —  der  Freitag  —  und  eine  Nacht 
hätten  die  durchnässten  Kleider  nicht  austrocknen  können. 
Die  Feuchte  passt  aber  zu  dem  kalten  Wetter  am  Freitag. 

2.  Die  Blutflecken  an  den  Kleidern 
müssten  verwaschen  sein;  nicht  nur  müssten  die 
Ränder  der  einzelnen  Flecken  den  charakteristischen 
helleren  Hof  haben,  überhaupt  müssten  alle  Blutflecken 
geradezu  ausgewaschen  sein:   das  ist  aber  nicht  der  Fall. 

Auch  müsste  sich  unter  der  Leiche  das  verwässerte 
Blut  finden.  Aber  die  Anklage  konstatiert,  dass  der  Fund- 
ort „vollkommen  trocken"  war  (pag.  12)  und  dass  unter 
der  Leiche  nur  ein  kleiner  Blutkuchen  vorgefunden  wurde. 


—    41    — 

In  ihrer  „Antwort"  geben  die  Herren  Gerichtsärzte 
zu,  „der  sehr  starke"  Regen*)  habe  auch  die  Blut- 
spuren „verdeckt",  verwischt:  wie  müsste  ein  so  starker 
Regen  nicht  nur  auf  den  Blutkuchen,  sondern  eben 
auf  alles  Blut  auf  der  Leiche  wirken?  Konnten  z.  B.  die 
Haare  mit  Blut  so  zusammengebacken  und  zusammen- 
geklebt bleiben,  wie  behauptet  wird? 

3.  Der  starke  und  andauernde  Regen  hätte  wohl  auch 
an  den  Hosen  die  vorgefundenen  schmutzig  gelben 
(Sperma?)  Flecken  verwaschen.  Nun  wird 
aber  im  Obduktionsprotokoll  indirekt  konstatiert,  dass  die- 
selben einenhinlänglich  scharfenRand  hatten,  sofern  derselbe 
nämlich  auf  der  Rückseite  des  Hosenstoffes  mit  blauem  Stift 
umzeichnet  wurde.  Es  sei  noch  erwähnt,  dass  diese  Flecken 
gross  sind  (bis  zur  Grösse  eines  Guldenstückes)  und  darum 
durch  den  starken  und  dauernden  Regen  umso  sicherer 
verwaschen  worden  wären;  gewiss  hätten  sie  sich  nach 
einem  solchen  Regen  nicht  wie  gestärkte  Flecken  anfühlen 
lassen.**) 

4.  Ganz  besonders  wären  auch  die  nach  oben  ge- 
kehrten Schnürschuhe  durch  das  Regen- 
wasser ausgewaschen  worden.  Das  Regen- 
wasser hätte  nicht  nur  allen  Koth  von  den  Schuhen 
abgewaschen,  dieser  Koth  und  die  abgewaschene  Schuh- 
salbe wäre  an  den  Strümpfen  und  an  der  Haut  sichtbar. 
Das  Auswaschen  der  Schuhe  müsste  auf  den  ersten  Blick 
sichtbar  sein;  an  den  ausgewaschenen  Schuhen  wäre  auch 


*)  In  ihrem  Nachtragsgutachten  vom  19.  April  haben  die 
Herren  natürlich  das  gerade  Gegentheil  gesagt:  „Ebenso  können 
wir  nicht  zugeben,  dass  die  Dauer  von  2  Tagen  bis  zur  Auf- 
findung der  Leiche  und  die  „massigen"  Regenmengen 
den  Donnerstag  darauf  einen  solchen  Einfluss  haben  konnten 
dass  der  Blutkuchen  verloren  ging." 

**)  Die  Flecken  waren  auf  dem  rückwärtigen  Teil  der 
Hosen,  sind  also  bei  der  auf  dem  Bauche  liegenden  Leiche  oben 
auf  und  dem  Regen  direkt  ausgesetzt  gewesen. 


—    42    - 

die  Wirkung  des  Frostes  erkenntlich.  Nun  sind  aber  die 
Schuhe  nicht  verwaschen  gewesen,  im  Gegentheil  ist  das 
Oberleder  am  Eande  verkothet,  die  Sohlen  machten  den 
Eindruck,  als  wären  sie  an  einem  rauhen  Gegenstande  ab- 
gewischt worden. 

Aus  diesem  Befunde  an  der  Leiche  und 
ihren  Kleidungsstücken  geht  mit  grosser 
Wahrscheinlichkeit  hervor,  dass  dieselbe 
an  dem  regnerischen  Donnerstag  noch 
nicht  an  ihrem  Fundorte  im  Walde  Avar, 
dass  die  Leiche  erst  in  der  Nacht  von 
Donnerstag  auf  Freitag  in  den  Wald  an 
ihrem   Fundorte   gebracht   av  u  r  d  e. 

Für  den  Transport,  die  Manipulation  mit  der  Leiche 
und  den  Kleidern  im  Walde  war  zur  Nachtzeit  hinlänglich 
Licht  (Vollmond). 

Für  die  Beurtheilung  der  Zeit,  wann  die  Leiche  an 
die  Fundstelle  gebracht  wurde,  kommt  noch  die  Thatsache 
in  Betracht,  dass  Freitag  am  Wege  (also  nicht  im 
Walde !)  Blutspuren  von  Leuten  gesehen  Avurden. 


Sowie  die  von  der  Anklage  bestimmte  Zeit  des 
Verbrechens  nicht  die  richtige  sein  kann,  ebenso  spricht 
der  0  r  t  in  dem  Walde  Bf  ezina  gegen  sich  selbst. 

Planbedachte,  zumal  Ritualmörder  hätten  sich  gewiss 
einen  sicheren  Ort  ausgewählt,  wohl  weiter  von  Polna  ab 
in  stärkerem  Walde,  Aveiter  A^om  Weg  ab;  der  Fundort  der 
Leiche  ist  ganz  offen,  die  Thäter  konnten  jeden  Augen- 
blick durch  Menschen,  die  A^on  mehreren  Seiten  kommen 
konnten,  überrascht  Averden.  Um  6  Uhr  mussten  damals 
noch  Leute  auf  den  nahen  Feldern  gearbeitet  haben,  deren 
Anblick  die  Mörder  abgeschreckt  hätte. 

Wenn  die  Agnes  H.  an  dieser  Stelle  überfallen  worden 
Aväre,  so  wäre  es  nicht  an  dem  von  der  Anklage  suppo- 
nierten   Fusswege   geschehen,    der   sich,    wenn   man  von 


—    43-   — 

Polna  nach  Veznitz  geht,  rechts  am  Rande  der  Bfezina 
kurz  vor  der  Stelle  über  einem  ganz  abschüssigen,  an  der 
Stelle  selbst  aber  über  einem  halbabschüssigen  Weg  hin- 
zieht. In  der  Verhandlung  wird  zwar  von  dem  Gen- 
darmeriepostenführer (pag.  110)  gesagt,  es  sei  damals 
kothjg  gewesen  und  der  Präsident  ergänzt  den  Gedanken, 
dass  die  Leute  dann  über  dem  Abhang  zu  gehen  pflegen. 
Allein  gerade  im  Gegenteil,  wenn  es  kothig  und  nass  ist, 
werden  die  Leute  nicht  über  dem  Abhang  gehen,  um  nicht 
herabzurutschen;  und  gerade  der  Zugang  zu  der  von  der 
Anklage  supponierten  Ueberf allstelle  ist  bei  kothigem  Wege 
beschwerlich,  wie  man  sich  durch  den  Augenschein  leicht 
überzeugen  kann. 

Die  Agnes  H.  Aväre  darum  wohl  auch  auf  dem  Wege 
resp.  dem  linken  Fusssteg  gegangen  und  auch  auf  diesem 
Wege  überfallen  worden.  Ein  solcher  Ueberfall  hätte  sie 
nicht  so  sehr  überrascht,  sie  hätte  geschrien  und  wäre  ge- 
laufen und  in  jedem  Falle  hätte  sie  sich  zur  Wehr  gesetzt. 
Ueberhaupt  müssten  an  der  Leiche  Spuren  des  Ueberfalles 
und  des  Todeskampfes  zu  finden  sein;  es  ist  z.  B.  sehr 
befremdend,  dass  an  den  Knien  keine  Spuren  zu  sehen 
sind,  wie  die  Ueberfallene  auf  den  Boden  gesunken  ist. 
Die  Schläge  in  den  Kopf  und  die  Strangulation,  die  an- 
geblich vor  der  Halswunde  beigebracht  wurden,  haben  das 
Bewusstsein  nicht  sogleich  und  plötzlich  verdunkelt;  auch 
die  Halswunde  hat  die  Ueberfallene  nicht  sogleich  ge- 
tödtet.  Darum  müssten  auf  nassem,  kothigen,  unebenen 
Boden  Spuren  des  Kampfes  und  Todeskampfes  an  der 
Leiche  zu  sehen  sein.  Die  Sachverständigen  geben  selbst 
zu,  dass  die  Wunden  auf  den  Händen  auf  Gegenwehr 
deuten  —  eine  so  gesunde  und  energische  Person,  wie  die 
Getödtete  allgemein  geschildert  wird,  hätte  sich  gewiss 
zur  Wehr  gesetzt.  Auch  hätten  vielleicht  die  Mörder 
irgend  ein  Zeichen  dieses  Kampfes  davongetragen. 

Der  supponirte  Ueberfall  und  die  Gegenwehr  hätte 
auch  auf  dem  Boden  und  den  Bäumchen  im  Walde  Spuren 


—    44       - 

zurückgelassen,  —  aber  auch  von  diesen  Spuren  geschieht 
keine  Erwähnung. 

Es  ist  auch  kaum  möglich,  dass  die  Leute  an  der 
Fundstelle  der  Leiche  verschiedene  Spuren  nicht  früher 
entdeckt  hätten,  wenn  sie  dort  seit  Mittwoch  gelegen  wäre. 
Die  Mutter  der  Hruza  selbst  sagt  aus  (90),  an  einem  Baume 
habe  ein  blutbefleckter  Fetzen  gehangen  —  die  Anklage 
(pag.  14)  spricht  von  ganzen  Fäden  vom  Hemde  an  den 
Bäumchen*)  —  diese  und  andere  Spuren  hätten  Leute  nicht 
gesehen,  da  doch  angenommen  werden  kann,  dass  wegen 
der  Osterfeiertage  verhältnismässig  mehr  Menschen  des 
Weges  gingen  ?  Und  wenn  es  av  a  h  r  av  ä  r  e  ,  dass 
sie  bei  schlechtem  Wetter  gerade  denFuss- 
weg  am  Walde  gingen,  so  müsste  die  Leiche  schon 
Donnerstag  entdeckt  worden  sein.  A m  F r e i t a g  wur- 
den schon  von  den  Vö2nicern  Blutspuren 
am  Wege  gefunden  (trotz  des  starken  und  an- 
haltenden Regens  am  Donnerstag),  —  das  spricht  eben 
dafür,  dass  die  Leiche  erst  von  Donnerstag  auf  Freitag 
gebracht  wurde.  In  der  Hauptverhandlung  sagt  der  eine 
Sachverständige  direkt  und  ganz  richtig  (310),  dass  in  dem 
Falle,  als  die  Leiche  auf  dem  Wege  transportiert  worden 
wäre,  auf  dem  Wege  Blut  gefunden  wäre.  Nun  ist  dieses 
Blut  von  V62nicem  am  Freitag  auf  dem  Wege  thatsäch- 
lich  gesehen  w^orden  —  w^arum  hat  man  die  Leute  nicht 
eruiert  und  ausgefragt?!  Die  Mutter  der  Agnes  H.  selbst 
gibt  an,  von  diesen  Blutspuren  am  Charfreitag  von  den 
Leuten  gehört  zu  haben. 

Und  schliesslich  muss  noch  einmal  und  eindringlich 
betont  werden:  der  Leichnam  der  Agnes  H.  Avar 
ganz  und  gar  nicht  verborgen,  im  Gegenteil, 
geradezu  aufdringlich,   so   zu   sagen,    zur   Schau  gestellt. 


*)  Diese  Fäden,  angeblich  vom  Hemde  herrührend,  sind 
sehr  verdächtig  —  offenbar  ein  ziemlich  ungeschicktes  Artefact, 
das  jedoch  A'on  der  Untersuchimgskommission  nicht  durchschaut 
Avnrde. 


—    45    — 

Geheime  Ritualmörder  könnten  derart  nie  und  nimmer 
mit  ihrem  Opfer  verfahren;  ich  wiederhole,  die  Fundstelle 
wurde  offenbar  mit  Absicht  so  gewählt,  dass  der  Mord 
Thätem  aus  Polna  zugeschrieben  werden  könnte.  Das 
Zudecken  der  Leiche  mit  vier  zarten  Fichtenbäumchen 
entsprang  ganz  offenbar  mehr  dem  Bedürfnis  einer  ge- 
wissen Pietät  als  der  Absicht,  die  Leiche  zu  verbergen. 
Dass  die  Leiche  nicht  verborgen  werden  sollte,  beweist 
das  Beispiel  mit  der  Leiche  der  K  1  i  m  o  v  ä  (die  war  auf 
einem  unzugänglichen  Orte  sehr  versteckt)  und  die  That- 
sache,  dass  Samstag  vorerst  nicht  die  Leiche,  sondern  die 
um  die  Leiche  zerstreuten  Gegenstände  (der  Korb,  die 
Tücher    u.  dgl.)    gefunden    wurde,    die    dann    zur    Leiche 

führen  mussten. 

* 

Für  die  forensische  Beurteilung  des  Polnaer  Ver- 
brechens ist  also  die  Frage,  ob  dasselbe  an  dem 
von  der  Anklage  supponierten  Orte,  im 
Walde  Bfezina,  oder  anderswo  verübt 
wurde,  von  der  grössten  Wichtigkeit;  ich  Avill  hier 
darum  alle  die  Momente  zusammenfassen,  durch  welche 
diese  Kardinalfrage  beantwortet  werden  kann. 

Auf  die  Frage  des  Vertheidigers  Dr.  Aurednicek,  ob 
die  That  an  dem  Fundorte  der  Leiche  verübt  wurde,  ant- 
Avortet  der  Sachverständige  (pag.  319)  mit  Ja:  Er  habe 
an  dem  Orte  die  Leiche  mit  einer  tödtlichen  Wunde  ge- 
funden; entscheidend  für  die  Bestimmung  des  Thatortes 
ist  aber  für  den  Sachverständigen  die  angenommene  Aus- 
blutung: Wenn  die  Leiche  an  den  Fundort  gebracht 
worden  wäre,  so  hätte  sie  nicht  geblutet,  denn  man  könne 
doch  nicht  annehmen,  die  Leiche  wäre  einmal  anderswo 
ausgeblutet  und  hätte  dann  von  neuem,  zum  zweitenmal, 
auf  dem  Fundorte,  zu  bluten  angefangen.  Es  seien 
auch  keine  Blutspuren  (namentlich  an  den  Bäumchen)  vor- 
handen gewesen,  die  an  eine  Uebertragung  denken 
Hessen. 


—    46    — 

Diese  Erklärung  des  Herrn  Gerichtsarztes  ist  mehr 
als  schwach. 

Erstens,  wurden  Freitag  Blutspuren  am  Wege  ge- 
funden. In  ihrer  „Antwort"  suchen  die  Herren  diese 
freitägigen  Blutspuren  zwar  abzuschwächen,  aber  das 
ändert  an  der  Thatsache  gar  nichts.  Und  die  Thatsache 
lautet,  dass  am  Freitag  Leute  aus  Vö2nic  in. der  Nähe  des 
Fundortes  am  Wege  Blutspuren  und  einen  blutigen 
Fetzen  gesehen  haben;  weil  sie  jedoch  noch  nicht  wussten, 
dass  Agnes  H.  vermisst  wurde,  schenkten  sie  der  Sache 
keine  besonderen  Aufmerksamkeit.  Unstreitig  sprechen 
diese  Blutspuren  mitten  am  Wege  vielmehr  für  den  nächt- 
lichen Transport  der  Leiche,  als  für  die  That  Mittwoch 
und  im  Walde,  abseits  vom  Wege.  Damit  stimmt  auch 
die  Angabe  des  Postenführers,  er  habe  an  dem  zum  Fund- 
ort führenden  Abhang  deutliche  Spuren  gesehen  —  die 
Herren  Gerichtsärzte  bemühen  sich  in  der  „Antwort"  ver- 
geblich, auch  diese  Angabe  mit  der  geradezu  läppischen 
Bemerkung  abzuschwächen,  an  dem  Anhang  seien  von 
den  vielen  Leuten  am  Samstag  mehrere  Spuren  hinter- 
lassen Avorden  —  so  klug  wie  die  Herren  ist  der  Posten- 
führer gewiss  und  es  ist  selbstverständlich,  dass  er  Spuren 
vor  der  Zertretung  des  Platzes  gemeint  hat.  Uebrigens 
kann  er  ja  befragt  werden. 

Es  ist  selbstverständlich,  dass  der  Mörder  und  sein 
Helfeshelfer,  falls  er  einen  hatte,  darauf  bedacht  waren, 
die  Leiche  während  des  Transportes  nicht  bluten  zu 
machen.  Das  konnte  mit  einer  schon  erstarrten  Leiche 
verhältnismässig  leicht  erreicht  werden.  In  den  Wald  ge- 
bracht und  auf  den  Boden  gelegt,  hat  die  Leiche  bluten 
können  und  müssen,  weil  sie  doch  nicht  „vollständig"  aus- 
geblutet war;  das  Blut  an  den  Kleidern  u.  s.  w.  wurde  mit 
der  Leiche  mitgebracht;  die  vom  Eegen  noch  nassen 
Bäumchen  wurden  vom  Blut  schwach  „benetzt"  und  selbst- 
verständlich gab  es  keine  arterielle  Blutung  und  Blut- 
bespritzung  —    die    Herren    Sachverständigen    haben   es 


—    47    — 

auch  sehr  vermisst.  Die  Leiche  wurde  zuerst  in  die  Mulde 
knapp  über  dem  Wege  gelegt,  dann  aber  einige  Schritte 
weiter  gelegt;  daher  die  Blutspuren  am  Boden.  Da  wo 
die  Leiche  Freitag  und  die  Nacht  auf  den  Samstag  lag, 
bildete  sich  ein  kleiner  Kuchen  venösen  gestockten  Blutes 
oder  er  hat  sich  schon  früher  in  der  Wunde  oder  in  den 
Kleidern  gebildet. 

In  ihrer  „Antwort"  geben  die  Herren  Gerichtsärzte 
noch  einen  anderen  Beweis  dafür,  dass  die  Leiche  seit 
Mittwoch  an  Ort  und  Stelle  war,  resp.  w  rm  und  frisch  am 
Fundorte  hingelegt  wurde  —  die  Eindrucke  des  Boden 
in  die  Haut.  Ich  habe  schon  gesagt,  dass  auch  die  todte 
Haut  solche  Eindmcke  aufnimmt. 

Andere  Beweise  ftir  ihre  Annahme  haben  die  Herren 
Gerichtsärzte  gar  keine.  Die  Anklage  sucht  noch  aus  den 
Zeugenaussagen  zu  beweisen,  dass  die  That  am  Fundorte 
und  zwar  in  der  Zwischenzeit  von  ^Iß—^lJ  verübt  worden 
ist.  Dass  diese  Zeugenaussagen  gar  nichts  strikte  be- 
Aveisen,  habe  ich  schon  in  meiner  Broschüre  gezeigt  und 
wird  hier  noch  weiter  ausgeführt  werden;  ganz  besonders 
ist  die  Aussage  des  Kronzeugen  Pesäk  eine  ganz  evidente 
Unwahrheit. 

Dagegen  hat  meine  Annahme,  dass  die  That  nicht 
am  Fundorte  geschehen  ist,  mehrere  und  ganz  gewichtige 
Gründe  für  sich. 

\.  Unvoreingenommene  Menschen  werden,  wenn  eine 
(mehr  oder  weniger)  ausgeblutete  Leiche  gefunden 
wird,  ganz  natürlich  schliessen,  dass  die  Leiche  an 
die  Fundstelle  geschafft  wurde,  falls  es  nämlich 
richtig  ist,  dass  das  vorgefimdene  Blut  dem  Grade 
der  Ausblutung  nicht  entspricht.  Auch  in  unserem 
Falle  hätten  alle  Menschen  nur  so  geschlossen, 
wenn  ihnen  der  Ritualaberglaube  das  logische 
Schliessen  nicht  verlegt  hätte.  Uebrigens  —  an- 
fänglich  haben    die    Leute    thatsächlich    auch    in 


—    48    — 

unserem  Falle  geschlossen,  dass  die  Leiche  an  die 
Fundstelle  gebracht  wurde. 

2.  Die  postmortalen  Flecken,  Todtenflecken,  auf  dem 
Gesichte,  dem  linken  Unterarm  und  den  Händen 
sprechen  auch  für  meine  Hypothese.  Die  Todten- 
flecke  entstehen  an  der  Leiche  an  den  Stellen, 
nach  denen  das  Blut  aus  den  Gefässen  in  das  Ge- 
webe austreten  kann;  es  sind  das  die  tief  ge- 
legenen Stellen  des  Körpers.  Also  am  Eücken 
bei  Leichen  die  am  Rücken  liegen,  bei  Erhängten 
an  den  Füssen  u.  s.  f.  Darum  muss  die  Leiche 
der  Agnes  H.  nach  ihrem  Tode  in  einer  Position 
gewesen  sein,  in  welcher  der  Kopf  und  die  Hände 
tiefer  gelegen  waren,  als  der  übrige  Körper.  Nun 
habe  ich  schon  konstatiert,  dass  der  Boden,  an 
dem  die  Leiche  aufgefunden  war,  eben  war,  eher 
hat  dort  der  Kopf  etwas  höher  gelegen  als  die 
Füsse.  Daraus  folgt,  dass  die  Leiche  nach  der 
Stelle  erst  später  nach  dem  Tode  gebracht  wui'de. 

3.  Die  auffällige  Eückbeugung  der  Unterschenkel  in 
einem  scharfen  Winkel  und  die  Biegung  derselben 
nach  rechts; 

4.  auch  die  Krümmung  des  Oberkörpers  lassen  sich 
nur  durch  meine  Annahme  hinlänglich  erklären. 

5.  Ganz  besonders  spricht  gegen  die  Suppositionen 
der  Anklage  der  Mangel  an  Regenspuren  an  der 
Leiche  und  ihren  Kleidungsstücken. 

6.  Auch  die  Thatsache,  dass  das  Hemd  und  vielleicht 
auch  andere  Kleidungsstücke  mit  einer  Scheere 
zerschnitten  werden,  spricht  gegen  die  Anklage. 

7.  Dass  die  Leiche  halb  ausgekleidet  war,  widerspricht 
ebenfalls  "den  Suppositionen  der  Anklage.  Die 
Art  und  Weise,  wie  die  Reste  der  Kleider  angezogen 
waren,  spricht  besonders  auch  gegen  die  Annahme, 
die  Entkleidung  sei  geschehen,  um  den  Blutausfluss 
zu  begünstigen.    Dazu  genügte  ein  Nachlassen  der 


—    49    — 

Kleider  und  das  wäre  von  eilenden  Mördern  ganz 
anders,  rascher  und  schneller  (durch  ein  Durch- 
trennen der  Kleider  mit  dem  Messer  oder  der 
Scheere,  die  doch  vorhanden  war)  ausgeführt 
worden,  als  durch  die,  wenn  auch  partielle,  Ent- 
kleidung. 

Offenbar  sollte  das  Zerreissen  einiger  Klei- 
dungsstücke und  dergl.  den  Ueberfall  und  die 
Gewaltthätigkeit  darstellen  —  aber  diese  Nach- 
ahmung ist  unvollständig  und  inkonsequent  aus- 
gefallen. 

8.  Ich  habe  durch  verlässliche  Zeugen  constatirt, 
dass  Agnes  H.  Zöpfe  getragen  hat,  die  rück- 
wärts am  Kopf  zusammengedreht  und  in  üb- 
licher Weise  befestigt  waren.  Bei  dem  suppo- 
nierten,  rasch  ausgeführten  Ueberfall  im  Walde 
wären  die  Haare  nicht  so  zerzaust  worden,  wie 
die  Anklage  beschreibt:  ein  Schlag  auf  den  Kopf 
mit  dem  Knittel  und  die  Schläge  mit  den  Steinen  (?) 
hätten  das  Haar  nicht  aufgelöst,  zerzaust.  Die  auf- 
gelösten, über  das  Gesicht  fallenden  Haare,  sowie 
die  theilweise  Entkleidung  sprechen  dafür,  dass  die 
That  in  einem  Gebäude  geschehen  ist.*) 

9.  Endlich  weisen  noch  mehrere  Umstände  darauf  hin, 
dass  der  Tod  der  Agnes  H.  nicht  an  der  Fundstelle  der 
Leiche  erfolgte.  So  z.  B.  die  Thatsache,  dass  die 
Hände  und  Nägel  nur  mit  Blut,  nicht  auch  mit  Koth 
beschmutzt  waren. 

Ganz  besonders  ist  auch  der  Ort  selbst  wegen 
seiner  Offenheit  und  Zugänglichkeit  für  den  von 
der  Anklage  supponierten  wohldurchdachten  Ueber- 
fall und  Mord  unbedacht  ausgewählt. 


*)  Ich  habe  auf  die  Wichtigkeit  der  Frisur  schon  hinge- 
wiesen. Es  gäbe  da  noch  mehreres  zu  sagen,  so  z.  B.  wird 
nirgends  berichtet,  dass  Haarnadeln  gefunden  worden  wären. 


—    50    — 

Das  Fazit  aus  allen  angeführten  Gründen  kann  dHriun 
nui"  lauten:  das  Verbrechen  an  Agnes  H.  ist  mit  aller- 
grösster  Wahrscheinlichkeit  nicht  an  dem  Fundorte  der 
Leiche  verübt  worden.  — 

Nun  gebe  ich  selbstverständlich  zu,  dass  vieles  Detail 
unaufgeklärt  bleibt,  aber  da  muss  die  neue  Untersuchung 
eingreifen.  Diese  Unsersuchung  wird  ganz  besonders  auch 
noch  neue  Zeugen  beschaffen  und  diese  Zeugen  zum 
Reden  bewegen  müssen  —  —  bei  dem  obwaltenden  anti- 
semitischen Terrorismus  in  Polna  und  Veänic  wird  das 
allerdings  keine  leichte  Aufgabe  sein. 


V.   Zur  psychologischen  Motivation  des  Pobiaer 
Verbrechens. 

Der  öffentliche  Ankläger  sagte  in  seiner  Schlussrede, 
das  Motiv  der  Handlung  sei  Nebensache,  es  komme  nur 
darauf  an,  was  im  Laufe  der  Verhandlung  in  Betreff  des 
Angeklagten  an  Thatsachen  gesammelt  wurde.  Gegen 
Thatsachen  würde  ich  gewiss  nichts  einwenden;  allein  ich 
habe  genügend  gezeigt,  dass  in  dem  ganzen  Prozesse 
gerade  das  Thatsächliche  sehr  ungenau  festgesetzt  wurde. 
Hingegen  wurde  das  Motiv  —  der  Ritualmord  —  von  der 
antisemitischen  Agitation  so  ostentativ  in  den  Vordergrund 
gerückt,  dass  eben  die  Thatsachen  geradezu  vergewaltigt 
wurden.  In  der  Theorie,  hören  wir,  sei  das  Motiv  Neben- 
sache —  in  der  Praxis  war  es  die  Hauptsache. 

Meine  Kritik  des  Polnaer  Prozesses  ist  dai*um  auch 
auf  die  Frage  zugespitzt,  ob  das  Polnaer  Verbrechen,  wie 
die  klerikalen  Antisemiten  behaupten,    ein   typischer  Fall 


—    51    — 

riiies  Ritiia  1  lu  o  rdcs  sei.  Ich  glaube  hinläng'lich  imd 
ganz  stringent  erwiesen  zu  haben,  dass  die  a  n  t  i  s  e  m  i  - 
tisclie  Behauptung  ganz  unbegründet  ist. 
Damit  hätte  ich  meine  Aufgabe  vollbracht;  trotzdem  will 
ich  noch  diejenigen  Momente  hervorheben,  durch  welche 
das  Polnaer  Verbrechen  psychologisch  erklärt  werden 
könnte. 

Vor  allem  bietet  sich  nach  der  letzten  Aussage  der 
Polnaer  Gerichtsärzte  (in  ihrer  „Antwort")  die  Erklärung 
des  Verbrechens  durch  den  Lustmord  dar.  Dieser 
Gedanke,  hören  wir,  wurde  beim  Anblick  der  Leiche  zuerst 
laut.  Die  Herren  Sachverständigen  haben  jedoch  im  Laufe 
der  Untersuchung  diese  Erklärung  aufgegeben,  Aveil  ein 
Prager  Gutachten  in  den  Flecken,  die  auf  der  Hose  der 
Ermordeten  gefunden  wurden,  keine  deutlichen  Sperma- 
tozoen  agnosziert  hat.  Ich  vermag  nicht  anzugeben,  ob 
die  gutachtliche  Beschreibung  der  in  den  Flecken  gefun- 
denen Elemente  nicht  dennoch  ein  Sperma  linden  Hesse; 
jedenfalls  scheint  mir,  dass  die  richterliche  Untersuchung 
auf  Sperma  hätte  weitergeführt  werden  sollen.  Der  Unter- 
suchungsrichter, glaube  ich,  kann  sich  mit  einem  negativen 
Befunde  der  Sachverständigen  nicht  zufrieden  geben;  das 
Prager  Gutachten  ist  aber  negativ,  denn  die  Sachverstän- 
digen sagen  nicht,  was  sie  in  den  eigenartigen  Elementen 
eigentlich  sehen. 

Die  Möglichkeit  des  Lustmordes  wird  von  vielen 
Seiten  zugelassen  und  geradezu  gefordert,  und  dainim  will 
ich  auf  einige  Punkte  aufmerksam  machen. 

Vor  allem  müsste  man  die  Art  und  den  Grad 
der  supponierten  Perversität  beachten  und 
das  ganze  Gesammtbild  des  Mordes  in  Erwägung  ziehen. 
Soviel  ich  ersehe,  könnte  es  sich  im  gegebenen 
"Falle  auch  um  ein  gewöhnliches  Sittlich- 
keitsattentat  handeln.  Ueber  die  Art  und  Weise  des- 
selben lässt  sich  ohne  weitere  Untersuchung  wohl  kaum 
etwas   Bestimmtes   sagen.    Im  Gutachten   der  Herren  Ge- 


—    52    — 

richtsärzte  lesen  wir:  „.  ,  .  keine  Zeichen  eines  geschlecht- 
lichen Missbrauches  an  der  Leiche  vorhanden,  dass  wir 
jedoch  aus  dem  Grunde,  dass  noch  die  chemische  und 
mikroskopische  Untersuchung  der  vermeintlichen  Spuren 
von  Samen  an  dem  Schamberge  und  den  Hosen  abge- 
wartet werden  muss,  mit  Sicherheit  uns  noch  nicht  aus- 
sprechen können".  Zu  diesem  Ausspruche  stimmt,  was  im 
Obduktionsprotokoll  über  das  unverletzte  Hymen  u.  dergl. 
gesagt  wird.  Allerdings  haben  sich  die  Herren  Sachver- 
ständigen durch  ihre  anderen  Erklärungen  auch  in  diesem 
Punkte  das  Vertrauen  verscherzt. 

Für  die  forensische  Beurteilung  des  supponierten 
Sittlichkeitsverbrechens  würde  ich  auch  folgende  Bemer- 
kung machen: 

Der  Befund  der  Sachverständigen  kann  nichts 
Entscheidendes  über  das  Datum  des  Sitt- 
lichkeitsverbrechens aussagen,  das  heisst, 
das  Sexualattentat  und  der  Todschlag,  re- 
spektive Mord,  müssen  nicht  an  einem  und 
demselben  Tage  und  müssen  nicht  in  un- 
mittelbarer Zeitabfolge  begangen  worden 
sein. 

Ich  betone  dies  sehr  eindringlich,  weil  in  den  mir 
zukommenden  medizinischen  und  juristischen  Zuschriften 
ohne  weiteres  beides  als  selbstverständlich  verknüpft  und 
in  Kausalzusammenhang  gebracht  wird.  Allein  dieser  Zu- 
sammenhang müsste  aus  den  übrigen  Begleiterscheinungen 
und  -Umständen  erst  erwiesen  werden,  ganz  selbstver- 
ständlich ist  er  nicht. 

Bezüglich  des  Ortes,  an  welchem  der  Lustmord 
verübt  sein  könnte,  wäre  es  im  ganzen  gleich  möglich, 
dass  er  in  einem  Gebäude  oder  ausserhalb  desselben  ver- 
übt wurde.  Nach  meiner  Meinung  widerspricht  aber  dem 
typischen  Lustmord  die  Supposition  der  Anklage,  dass  es 
mehrere  Thäter  gegeben  hat.    Perverse  Lustmorde  werden 


—    53    — 

immer  von  einem  Einzelnen  begangen.  Das  habe 
ich  aus  der  Literatur  bei  KraflFt-Ebing  ersehen,  und  gedie- 
gene und  erfahrene  Autoritäten  der  gerichtlichen  Medizin 
bestätigen  mir  meine  Anfrage  aufs  bestimmteste. 

Ein  Lustmord  würde  weiter  ein  bedeutend  länge- 
re s  (ö  f  t  e  r  e  s?)  V  e  r  w  e  i  1  e  n  desThäters  amThatorte  und 
bei  der  Leiche  voraussetzen  und  schliesslich  und  vornehmlich 
müsste  selbstverständlich  der  geistige  Zustand  des 
vermeintlichen  Thäters  'psychiatrisch  ge- 
prüft werden,  denn  man  müsste  unbedingt  auf  irgend  einen 
Grad  von  Psychopatie  schliessen. 

Die  ganze  Untersuchung  wäre,  nur  das  will  ich  noch 
sagen,  auch  theoretisch  für  die  Wissenschaft 
von  grossem  Belange  —  wir  hätten  im  Polnaer  Verbrechen 
einen  besonderen  und  von  den  forensisch  und  wissen- 
schaftlich konstatierten  Fällen  ganz  verschiedenen,  eigen- 
tümlichen Fall,  zumal  es  sich  um  die  sogenannte  Nekro- 
philie handeln  sollte. 

Dass  der  Polnaer  Mord  mit  dem  Verbrechen 
an  Marie  Klimovä  in  Ober -Ve2nic  zusammenhänge, 
wird  von  antisemitischer  Seite  schon  lange  behauptet; 
die  Antisemiten  sehen  auch  in  diesem  Verbrechen  einen 
Ritualmord,  Auch  die  Hypothese  des  Lustmordes  bringt 
beide  Verbrechen  in  Zusammenhang.  Man  weist  auf  ge- 
wisse Aehnlichkeiten  hin:  auch  die  Klimovä  war  mit 
Fichtenzweigen  bedeckt,  der  Saum  der  Kleider  soll  in 
beiden  Fällen  ähnlich  zerrissen  sein.  Zu  dieser  Frage 
will  ich  besonders  eine  Bemerkung  machen.  Das  Ver- 
brechen in  Polna  ist  später  geschehen  und  in  der  Umge- 
bung bekannt  geworden,  und  darum  konnte  der  Thäter 
unter  der  Wirkung  seines  Beispiels  handeln,  sofern  sichs 
nämlich  um  die  Bedeckung  der  Leiche  mit  Fichten- 
bäumchen  handelt.  Der  grosse  Unterschied  besteht  darin, 
dass  die  Leiche  der  Klimovä  thatsächlich  unter  einem 
Berge  von  Fichtenzweigen,    die  von  Zeit  zu  Zeit  erneuert 


—    54    — 

wurden,  verborgen  war,  während  die  Agnes  Hruza  von 
den  vier  Fichtenbäumchen  nicht  verborgen,  sondern,  wie 
gesagt,  aus  einer  Art  Pietät  bedeckt  war.  Auch  ist 
die  Art  der  Bedeckung  der  Leiche  der  Agnes  Hruza 
ganz  verschieden  von  der  Bedeckung  der  Leiche  der 
Klimovä  und  ganz  eigentümlich:  di(^  Bäumchen  wurden 
auf  die  Leiche  aufgestellt!  Jedoch  gibt  es  noch  andere 
und  beachtenswerte  Verschiedenheiten.  Der  Fundort  dei- 
Leiche  der  Klimovä  ist  im  Walde  versteckt  und  unzu- 
gänglich —  die  Stelle  in  der  Bi-ezina  ganz  offen.  Die 
Klimovä  ist  im  Sommer  verschwunden,  an  der  Leiche 
wurde  ein  intakter  Zopf  gefunden  und  dergl.  —  Auf 
weitere  Verschiedenheiten  und  Aehnlichkeiten  kaim  nicht 
eingegangen  werden,  weil  der  Fall  der  Klimovä  nicht  ge- 
nauer bekannt  ist. 

Jedenfalls,  wiederhole  ich,  erhält  man  dadurch,  dass 
in  der  Gegend  von  Polna,  in  kurzer  Zeit  nacheinander, 
zwei  Morde  und  auch  mehrere  Sittliclikeitsattentate  verübt 
worden  (ein  Mann  soll  in  der  Gegend  mehrere  Kinder  an- 
gefallen haben),  von  der  Gegend  ein  ganz  an- 
deres Bild,  als  dieses  zum  supponierteii 
R  i  t  u  a  1  m  0  r  d  e   p  a  s  s  (^i   av  ü  r  d  e. 

Der  Mord  aus  Habsucht,  speziell  der  Raubmord, 
sagen  die  Herren  Gerichtsärzte  (in  ihrer  „Antwort"),  sei 
von  vornherein  ausgeschlossen.  Das  gilt  doch  wohl  nur 
von  der  Annahme  aus,  dass  die  That  am  Fundorte  verübt 
wurde.  Ich  gebe  aber  zu,  dass  auch  hier  Grade  und  kom- 
plizierte Umstände  unterschieden  werden  müssten. 

Unter  allen  Umständen  muss  darauf  Bedacht  ge- 
nommen werden,  ob  Avir  es  mit  einem  Tod- 
schlag  oder  mit  einem  ^I  o  r  d  zu  t h  u n  haben. 

Schliesslich  könnte  auf  Grund  der  unpräzisen,  unbe- 
stimmten und  mangelhaften  Obduktion  auch  an  einen 
Selbstmord,  resp.  Selbstmordversuch  gedacht 
werden,    sofern    nämlich   die    Strangulations- 


—     55    — 

furche  in  Betracht  kommt.*)  Jedenfalls  muss 
man  logischerweise  auf  diese  Möglichkeit  im  Auge  be- 
halten, falls  die  Strangulationsfurche  in  vivo  geschehen 
ist,  was  eben  auch  bezweifelt  werden  kann.  Zu  einem 
Selbstmorde  würde  die  postmortale  Imitation  des  Ritual  - 
m  o  r  d  e  s  ,  durch  die  zugleich  die  Strangulationsfurche 
zum  Teil  beseitigt  Avürde  (so  erklärten  die  Sache  die  Ge- 
richtsärzte bei  der  Verhandlung  selbst),  sehr  gut  passen. 
Auf  weitere  Vermuthungen  will  ich  mich  nicht  einlassen, 
ich  habe  nur  diejenigen  Annahmen  geprüft,  die  über  das 
Motiv  der  That  vornehmlich  in  Betracht  kommen  und  die 
auch  schon  mehr  oder  weniger  verhandelt  wurden.  Natür- 
lich lässt  sich  nach  den  ärztlichen  Befunden  allein  kein 
einheitliches  psychologisches  Bild  der  Motivation  liefern, 
weil  ihre  Angaben  so  ungenau,  zerfahren  und  wider- 
spruchsvoll sind.  Eine  präcise  Beschreibung  der  Leiche 
und  ihrer  Kleidungsstücke  Avürde  dem  Psychologen  festere 
Anhaltspunkte  liefern.  Darum  kann  nur  eine  neue  und 
energische  Untersuchung  in  die  Sache  Licht  bringen.  In 
diesem  Sinne  ist  eine  sachliche,  nicht  blos  formalistische 
Revision  des  ganzen  Prozesses  absolut  notwendig. 

* 
Wollten  wir  vom  Gesichtspunkte  der  Motivation  die 
verschiedenen  Personen  durchmustern,  die  während  des 
Prozesses,  wenn  auch  nur  von  einzelnen  Zeitungen,  als 
Thäter  oder  Helfershelfer  bezeichnet  wurden,  so  hätten 
wir  eine  artige  Gallerie  zu  durchmustern.    Ich  beschränke 


*)  Die  bei  Reinsberg,  Gerichtl.  Medizin  HI,  351—353 
angeführten  Veränderungen  an  Leichen  der  Erhängten  (Hände 
und  Unterarme  violett  gefärbt,  Gesicht  geschwollen  u.  s.  w.)  er- 
innern an  die  im  Protokoll  gefundenen,  hier  allerdings  auch 
schon  anders  gedeuteten  Symptome.  Auch  muss  ich  aufmerk- 
sam machen,  dass  im  Obduktionsprotokoll  an  den  Füssen  keine 
todtenfleckartigen  Verfärbungen  angegeben  werden  —  freilich 
kommt  es  wiederum  auf  die  Glaubwürdigkeit  der  Herren  Ge- 
richtsärzte an. 


—    56    — 

mich  auf  die  zwei  Personen,  die  gegenwärtig  von  der 
öffentlichen  Meinung  und  besonders  von  der  klerikalen 
antisemitischen  Partei  im  Gegensatz  gebracht  werden 
—  H i  1  s n e r  und  die  Familie  Hrfiza  (Mutter  und  der 
jüngere  Sohn). 

Leopold  Hilsner  ist  ein  ausgesprochener  Tauge- 
nichts, der  längst  in  eine  Korrektionsanstalt  gehört  hätte. 
Die  Existenz  und  unbehinderte  Tagdieberei  solcher  Indi- 
viduen weist  mit  deutlicher  Sprache  auf  unsere  ungesunden 
sozialen  und  sittlichen  Verliältnisse  hin.  Auch  das  Ver- 
halten Hilsners  während  des  Prozesses  und  nach  ihm  sind 
nicht  imstande,  für  den  Angeklagten  Sympatien  zu  er- 
wecken. Es  ist  eine  gemeine  Finte  der  antisemitischen 
Presse,  wenn  mir  dieselbe  Intei'csse  oder  gar  Sympatien 
für  Hilsner  zuschreibt;  sie  verwertet  derart  in  ihrer  Un- 
redlichkeit die  allgemeine  und  berechtigte  Antipatie  gegen 
den  Angeklagten.  Es  passt  übrigens  auch  ihrer  Unbildung, 
in  Hilsner  und  in  der  Familie  Hruza  zwei  Gegensätze  und 
speziell  den  Juden  und  den  Christen  quasi  als  Typen  hin- 
zustellen.*) 

Im  Gegensatz  zu  Hilsner  wird  für  die  Familie 
Hruza  unbewusst  und  bewusst  die  wärmste  Sympatie 
wachgerufen.  Wer  würde  auch  von  dem  Unglück  des 
jungen  Opfers  und  der  alten  Mutter  nicht  gerührt 
werden?  Es  ist  nur  ein  Zeichen  gesunden  sittlichen 
Sinnes  der  Bevölkerung,  wenn  sie  .davor  zurüchscheut, 
die  eigenen  Angehörigen  mit  der  That  in  Beziehung  zu 
bringen. 

Bei  der  Beurteilung  der  Volksstimmung  kommen  ver- 
schiedene Momente  in  Betracht.  Nicht  zum  geringsten 
Grade  das  Romantische  und  Ungewöhnliche  an  dem  Ver- 
breclien:  der  Ueberfall    in    einem  Walde,    sozusagen    auf 


*)  Von  klerikaler  und  antisemitischer  Seite  wird  öfters  be- 
hauptet, Hilsner  habe  sein  Verbrechen  eingestanden.  Demgegen- 
über bemerke  ich  kurz,  dass  das  nach  den  mir  zugekommenen 
öffentlichen  und  privaten  Informationen  nicht  wahr  ist. 


—     57       - 

offener  Strasse,  Abend,  knapp  vor  den  Osterfeiertag-en, 
der  Ucberfall  einer  Wehrlosen  durch  eine  angebliche 
Schächterbande  —  das  alles  wirkt  auf  die  Phantasie 
und  das  Gefühl.  Die  Menschen,  das  sehe  ich  aus 
den  Zeugenaussagen,  erleben  eine  Art  Trauerspiel. 
Es  ist  das  ein  ganz  eigentümliches  Gefühl :  man  sieht 
es  vielen  Zeugen  an,  wie  sie  an  dem  fürchter- 
lichen Drama  irgendwie  beteiligt  sein  wollen,  jeder  will 
nachträglich  etwas  gesehen,  gewusst  oder  wenigstens 
geahnt  haben.  Die  Agitation  bemächtigt  sich  dieses  ganz 
natürlichen  Gefühles,  auf  den  Polnaer  Ansichtskarten  kann 
man  die  verschiedensten  „Faktoren"  im  Prozesse  oft  unter 
ganz  nichtigen  Prätexten  abgebildet  sehen.  Selbstverständ- 
lich kommt  besonders  das  religiöse  Moment  in  Betracht, 
die  klerikale  Agitation  gegen  die  Juden  gibt  den  Aus- 
schlag: Die  Ermordete  wird  mit  steigender  Agitation  zu 
einer  „Märtyrerin",  die  überlebenden  Familienglieder  werden 
in  Gegensatz  zu  dem  Angeklagten  beinahe  als  Ideal- 
menschen hingestellt. 

Das  geschieht  schliesslich  gegen  das  Interesse  der 
Gefeierten.  Kritischere  Menschen,  die  die  Familie  und 
ihre  Verhältnisse  schon  lange  beobachten  und  kennen, 
werden  derart  zum  Widerspruche  gereizt,  und  so  entsteht 
gleichzeitig  mit  der  Idealisierung  eine  kritische  Unter- 
strömung, die  sich  vorläufig  vor  der  von  Polna  aus  syste- 
matisch geleiteten  klerikal -antisemitischen  Agitation  nicht 
vortraut,  die  sich  aber  dennoch  schon  äussert  und  sich 
später  noch  mehr  äussern  wird.  Selbstverständlich  wird 
auch  auf  dieser  Seite  in  vielen  Fällen  unkritisch  und  unge- 
bührlich verdächtigt. 

Ich  gehe  bei  der  Beurteilung  der  Hruzas  (Mutter  und 
Sohn  Jan),  wie  in  der  ganzen  Studie,  von  den  Thatsachen 
des  Verhandlungsprotokolles  aus.  Hier  findet  sich  mehre- 
res,  was  auf  die  Famüie  aufmerksam  machen  muss.  Hier 
erfährt  man  vor  allem,  dass  der  Volksmund  sich  zuerst 
gegen  den  Bruder  ausgesprochen  hat,   Hilsner  wurde  erst 


—     58     — 

später,  angeblich  von  Sonntag  ab  (pag.  23),  als  Thäter  be- 
zeichnet.   Und  zwar  in  Polna. 

Es  ist  zu  beachten,  dass  die  Familienangehörigen 
selbst  auf  Hilsner  hinweisen.  Die  Mutter  und  der  Vor- 
mund Noväk  behaupten,  Agnes  Hruza  habe  sich  über  die 
Zudringhchkeit  Hilsners  beschwert.  Die  Anklage  schildert 
die  Sache  so,  als  ob  die  Ermordete  gesagt  hätte,  Hilsner 
mustere  sie  gar  sehr  und  „wer  weiss,  was  er  an  mir 
findet"  (25).  Also  etwa  gar  die  Ahnung  des  —  Ritual- 
mordes? Ich  habe  schon  aufmerksam  gemacht,  dass  nach 
Noväks  Aussage  (116)  nicht  nur  von  der  Agnes  Hruza 
allein,  sondern  von  allen  oder  mehreren  Mädchen  (bei 
Prchals?)  die  Rede  ist.  Nun  ist  jedenfalls  auch  der  Um- 
stand von  Belang,  dass  in  der  Nähschule  bei  Prchal  von 
Hilsner  nicht  gesprochen  wurde,  wie  Fräulein  Prchal  selbst 
aussagt  (121);  gewiss  ist  es  eigentümlich,  dass  die  ver- 
schiedenen Näherinnen,  die  angeblich  von  Hilsner  belästigt 
wurden,  über  den  Verfolger  nicht  gesprochen  hätten.  Nur 
kurz  sei  erwähnt,  dass  die  Mutter  in  der  Voruntersuchung 
ausgesagt  hat,  die  Tochter  habe  ihr  den  Namen  Hilsners 
nicht  genannt,  in  der  Verhandlung  sagt  sie  aus,  sie  habe 
den  Namen  erfahren  (99). 

Auffällig  ist,  dass  die  Familie  Hruza  erst  Freitag  früh 
nach  der  Stadt  ging,  um  sich  nach  Agnes  umzusehen.  Es 
ist  dies  umso  auffälliger,  als  nach  dem  Geständniss  der 
Mutter  die  Tochter  noch  nie  die  Nacht  ausser  Hause  zu- 
gebracht hat.  Nun  gibt  die  Mutter  an  (98),  die  Tochter 
habe  ihr  gesagt,  sie  hätte  bei  Prchals  viel  zu  thun,  und 
darum  halbe  sie,  als  sie  Mittwoch  nicht  nach  Hause  ge- 
kommen, an  nichts  gedacht;  dagegen  ist  anzuführen,  dass 
Agnes  Hruza  den  verhängnisvollen  Mittwoch  früher  als  zu- 
vor aus  der  Näherei  fortgehen  konnte,  weil  sie,  wie  ihre 
Arbeitgeberin  aussagt  (121)  und  wie  die  Anklage  besagt  (27), 
keine  Arbeit  mehr  hatte.  Wie  konnte  also  Agnes  Hruza 
zu  Hause  sagen,  dass  sie  viel  Arbeit  haben  werde?  Das 
Quantum  der  Arbeit   würde   ihr  doch  bekannt  sein;   wäre 


—    59    — 

Mittwoch  eine  unvorhergeseliene  Arbeit  hinzugekommen, 
so  konnte  sie  das  nicht  vorher  wissen.  Auf  den  Umstand 
will  ich  nicht  grosses  Gewicht  legen,  dass  die  Mutter  zu- 
gleich zweimal  (82,  99)  aussagt,  sie  habe  nur  gedacht, 
die  Tochter  habe  viel  Arbeit.  Donnerstag,  wie  schon  er- 
wähnt, will  die  Mutter  in  dem  schlechten  Wetter  einen  hin- 
länglichen Erklärungsgrund  für  das  weitere  Ausbleiben  der 
Tochter  gesehen  haben  (82).  Damit  stehen  jedoch  andere 
Aussprüche  über  den  möglichen  Tod  der  Tochter  im 
Widerspruche. 

Psychologisch  sehr  beachtenswert  ist  folgendes  (99): 
Die  Mutter  kommt  erst  Freitag  zu  Prchals  und  fragt  nicht 
nach  der  Tochter,  sondern  nach  ihrem  —  Körbchen.  Von 
Dr.  Aufedniöek  darauf  befragt,  sagt  sie  aus,  sie  habe  ge- 
dacht, die  Tochter  sei  im  zweiten  Zimmer.  Und  doch 
sagt  sie  in  demselben  Verhöre  (39),  sie  sei  ins  Geschäft 
fragen  gegangen,  weil  sie  sich  dachte,  das  Mädel  sei  er- 
schlagen! 

Auch  linde  ich  es  auffallend,  dass  Mutter  und  Sohn 
gleich  vom  Mord  sprechen  —  der  Postenführer  Klenovec 
zum  Beispiel  dachte  daran,  Agnes  Hruza  sei  nach  Wien  in 
den  Dienst  gefahren. 

Sehr  auffallend  ist  die  ganze  Szene  des  Verhörs,  wie 
sich  die  Mutter  an  die  früheren  Aussagen  nicht  gut  er- 
innert, die  für  die  Liebe  des  Bruders  zur  Schwester 
sprechen  sollen  (92  ff.);  es  berührt  geradezu  unangenehm, 
wie  der  Präsident  der  Zeugin  die  Worte  der  Vorunter- 
suchung geradezu  in  den  Mund  legt.  Ueber  ein  solches 
intimes  Familienverhältnis  sich  nicht  zu  erinnern?  .... 

Der  Bruder  der  Ermordeten  wird  im  Verhör  vom 
Postenführer  als  geizig  bezeichnet  (106),  der  Vormund 
drückt  sich  freundlicher  aus  und  nennt  ihn  sparsam  (118); 
und  dieser  Mann  soll  seiner  Schwester  nach  einer  Krank- 
heit 90  fl.  zum  Geschenk  gegeben  haben?  Beinahe  das 
Sechstel  der  durch  Arbeit  ersparten  Summe  (600  fl.)?   Man 


—    60    — 

muss,  wie  gesagt,  die  Szene  ganz  lesen,  wie  die  Mutter 
sich  aucli  auf  diese  in  der  Voruntersuchung  erzählte  Ge- 
schichte nicht  erinnern  kann.  Jedenfalls  muss  der  Bruder 
für  sein  splendides  Geschenk  einen  sehr  starken  Grund 
gehabt  haben  —  kein  Denkender,  der  in  Geldsachen  die 
Filzigkeit  unserer  Landbevölkerung  kennt,  kann  sich  der 
Vermutungen  darüber  erwehren. 

Sehr  beachtenswert  ist  die  gelegentliche  Bemerkung 
des  Präsidenten,  unter  den  am  vermeintlichen  Thatorte 
aufgefundenen  Gegenständen  sei  auch  eine  (recte  ein  Teil 
einer)  Maurerschürze  gefunden  worden,  auf  der  etwas  Kalk 
vorhanden  war  (97).  Die  Mutter  bejaht  die  Frage,  dass 
der  Sohn  Maurer  sei,  fügt  aber  hinzu,  er  habe  keine  weisse 
Schürze  gehabt,  nur  blaue,  und  die  wären  überdies  zer- 
rissen gewesen.  Eine  weitere  Beachtung  scheint  die  Sache 
in  dem  ganzen  Prozesse  nicht  gefunden  zu  haben.  Nach 
meinem  Dafürhalten  ist  diese  Maurerschürze  eines  der 
wichtigsten  corpora  delicti;  wenn  die  Anklage  dem  Stocke 
eine  so  grosse  Bedeutung  zuschreibt,  so  hätte  sie  aus  dem- 
selben Grunde  auch  die  Maurerschürze  sehr  beachten 
müssen,  weil  dieselbe  direkt,  und  direkter  als  der  Stock, 
zum  Thäter  in  Beziehung  stehen  dürfte.  Erfahrene  Ge- 
richtsmediziner bestätigen  mir  diese  Ansicht  durchaus;  so 
steht  in  einem  solchen  Gutachten  ausdrücklich  betont,  dass 
die  Maurerschürze  „zur  Eruierung  der  Person  des  Mörders 
von  der  grössten  Wichtigkeit"  ist. 

Aus  der  Verhandlung  geht  weiters  hervor,  dass  die 
Familie  Hmza  nichts  weniger  als  friedlich  zusammenlebte. 
Der  Postenführer  sagt  aus,  dass  zwischen  Bruder  und 
Schwester  und  zwischen  den  Geschwistern  und  der  Mutter 
beständige  Zänkereien  waren;  ebendarum  hat  er,  nachdem 
er  von  dem  Mord  erfahren,  sogleich  und  zuerst  den  Ver- 
dacht gegen  den  Bruder  und  die  Mutter  geschöpft  (102, 
107).  Auch  ein  anderer  Zeuge  gibt  Misshelligkeiten  in  der 
Familie  zu  (der  Heger  Miäinger  125).  Ganz  besonders 
scheint  mir  die  Aussage  des  Postenführers  (107)  beachtens- 


—    61    — 

wert,  der  das  grobe  Verfahren  gegen  die  Tochter  als 
„dauernd,  in  gewisser  Weise  beständig"  erklärt.  Für  die 
Beurteilung  der  Familienverhältnisse  kommt  eine  solche 
beständige  Stimmung  umsomehr  in  Betracht,  als  dieselbe 
unter  Umständen  die  Leute  nicht  so  sehr  graviert,  als 
auch  entlastet. 

Ueberhaupt  wäre  es  im  Interesse  der  Familie  ge- 
wesen, die  Verhältnisse  blosszulegen,  die  zur  Erklärung 
einer  solchen  habituellen  Stimmung  in  Betracht  kämen. 
Ganz  besonders  denke  ich  da  an  die  früheren  Familien- 
verhältnisse zu  den  Lebzeiten  des  Familienhauptes,  lieber 
die  eigentümlichen  Verhältnisse  von  Mann  und  Frau,  resp. 
Vater  und  Mutter  wird  in  Ve2nic  und  der  Umgebung 
genug  gesprochen;  es  wäre  zu  untersuchen,  inwiefern  der 
Umstand  massgebend  ist,  dass  der  1892  verstorbene  alte 
Hruza,  wie  behauptet  wird,  aus  dem  Walde  tot  nach  Hause 
gebracht  wurde.  Um  verschiedenes  Gerede,  das  auch  in 
verschiedenen  Zuschriften  aus  der  Gegend  sich  kundgibt, 
zu  entkräften,  wäre  angezeigt,  das  Obduktionsergebnis 
der  Leiche  bekannt  zu  geben,  im  Notfalle  die  Exhumierung 
vorzunehmen.  Ganz  besonders  käme  für  die  forensische 
Beurteilung  auch  der  Umstand  in  Betracht,  dass  der  ver- 
storbene Hniza  als  psychopathisch  geschildert  wird;  die 
Art  und  Weise  des  Leidens  wäre  eventuell  in  Bezug  auf 
die  Möglichkeit  der  direkten  oder  indirekten  Vererbung 
zu  prüfen,  und  natürlich  wären  die  physischen  und  ganz 
besonders  auch  die  psychischen  Ursachen  des  Leidens 
festzustellen. 

Inwiefern  der  in  der  Verhandlung  erwähnte  spezielle 
Streitfall  zwischen  Bruder  und  Schwester  wegen  der  neuen 
Kleider  in  Betracht  käme,  die,  glaube  ich,  den  Tag  vor 
dem  Tode  fertiggestellt  wurden,  darüber  und  über  anderes 
ist  der  Verhandlung  wenig  zu  entnehmen.  Gleich  nach 
der  That  wurde  in  Polna  viel  darüber  gesprochen,  dass 
Jan  Hruza  zerkratzte  Hände   hatte;   es   sind  Zeugen,   die 


-     62    — 

das  Öffentlich,  zumal  beim  Leiclienbegäugni«,  ausgesagt 
haben;  andere  haben  auf  einen  blauen  Fleck  im  Gesichte 
der  Mutter  Hruza  hingewiesen.  Das  alles  ist  in  Polna  und 
Vö^nic  bekannt  gewesen,  doch  ich  halte  mich  hier  nur 
an  die  schon  im  Verhandlungsprotokoll  sichtbaren  That- 
sachen. 


VI.   Die  logische  Konstruktion  der  Sclmld 
Hilsners. 

Wenn  ich  über  die  Bedeutung  des  Polnaer  Prozesses 
im  Zweifel  gewesen  wäre,  so  würde  mich  der  starke  Wider- 
hall, den  meine  Kritik  desselben  überall  so  rasch  gefunden 
hat,  eines  Besseren  belehren.*)  Die  Statistiker  haben  die 
Angaben  über  die  Zahl  der  Zeitungen,  Briefe  und  Post- 
sendungen überhaupt  schon  öfters  als  kulturellen  Massstab 
benützt  —  die  Statistik  der  über  den  Polnaer  Prozess  jetzt 
von  neuem  verhandelnden  öffentlichen  und  privaten 
Stimmen  würde  jedem  anschaulich  zeigen,  um  was  es  sich 
bei  Polna  handelt;  ich  wenigstens  werde  schon  heute  mit 
den  verschiedensten  Meinungsäusserungen,  am  eifrigsten 
aus  dem  antisemitischen  Lager  und  speziell  aus  Wien, 
geradezu  überschüttet.  Wenn  z,  B.  in  München  eine  Volks- 
versammlung gegen  meine  Broschüre  sogleich  zusammen- 
gerufen wurde,  so  ist  das  nur  ein  Beispiel  unter  vielen, 
wie  der  Polnaer  Prozess  nicht  nur  in  Böhmen  und  Oester- 
reich,   sondern   überall  vom  klerikalen  Antisemitismus  go- 


*)  Dieser  Abschnitt  ist  schon  am  18.  Nov.  1899  in  der  „Zeit" 
erschienen;  hier  ist  er  entsprechend  ergänzt  worden. 


-     03     — 

sehätzt  und  ausgebeutet  wird.*)  Die  stark  verbreiteten 
Broschüren,  in  denen  das  Polnaer  Verbrechen  mit  Zuhilfe- 
nahme der  Schriften  Rohlings  als  Ritualmord  geschildert 
wird,  haben  sämmtlich  Priester  zu  Autoren.  Der  Mord 
in  Polna  gilt  diesem  Antisemitismus  als  typischer  Ritual- 
mord, wie  mir  auch  in  den  meisten  Zuschriften  gesagt 
wird.  „Man  kann,"  heisst  es  z.  B.,  „über  die  früheren  Be- 
weise des  Ritualmordes  diesen  oder  jenen  Zweifel  hegen 
—  der  Fall  von  Polna  ist  einwandfrei,  und  sein  grosser 
Wert  für  die  wahrhaft  katholischen  Freunde  der  Wahrheit 
besteht  darin,  dass  er  durch  seine  Augenscheinlichkeit  und 
durch  seine  Bestimmtheit  selbst  die  grossen  Massen  zu 
überzeugen  vermag.  Wir  brauchen  keine  philologischen 
Haarsplittereien  über  einige  Stellen  des  alten  Testamentes 
oder  den  Talmud  und  seine  Ausleger,  in  Polna  ist  die 
ganze  Geschichte  des  Ritualmordes  in  der  einen  christ- 
lichen Märtyrerin  verkörpert  u.  s.  w."  Gewiss,  die  Massen 
(und  dazu  rechne  ich  auch  die  Mehrzahl  der  soge- 
nannten Intelligenz)  denken  nicht  in  abstracto  und 
allgemein,  ihnen  genügt  ein  Fall,   um   ihn   in  der  Gegen- 

*)  Wir  setzen  für  die  Leser  als  Beispiel  der  Agitation  die 
in  den  schreiendsten  Plakatlettern  gedruckte  Ankündigung'  der 
„Bayerischen  Reformpartei"  hierher:  „Ein  Gaunerstreich.  Re- 
vision, Revision,  so  schreit,  wie  im  Dreyfus-Prozesse,  jetzt  auch 
im  Mordprozesse  von  Polna  die  ganze  Judenbande  und  ihre 
Helfer.  Ein  Jiidenknecht,  Prof.  M  a  s  a  r  y  k  in  Prag,  Heraus- 
g'eber  einer  im  Dienste  des  Judentums  stehenden  Zeitschrift,  hat 
eine  Broschüre  voll  der  verlogensten  Darstellungen 
über  deuRitualmord  von  Polna  verfasst,  aus  wel- 
cher das  Münchener  Organ  der  AUiance  Israeli te,  die  „Neuesten 
Nachrichten",  einen  Auszug  veröffentlichen.  Während  dies  Blatt 
alle  seitherigen  Nachrichten  über  den  Prozess  ganz  versteckt 
unter  dem  Striche  brachte,  widmet  sie  dem  Masaryk'schen 
Schadwerke  den  breitesten  Raum,  die  Judenlügen  sollen  unter 
das  Volk  gebracht  werden!  Die  Antwort  auf  diese  Mache  wird 
in  öffentlicher  Volksversammlung  am  Dienstag  abends 
8  Uhr  in  der  Blüthe,  Blüthenstrasse,  gegeben 
werden." 


—    64    — 

wart  und  für  alle  Vergangenheit  und  Zukunft  zu  ver- 
allgemeinern. 

Diese  Bedeutung  des  Polnaer  Prozesses  habe  ich  er- 
kannt und  eben  daraufhin  habe  ich  denselben  einer  Kritik 
unterzogen,  ich  habe  mich  gefragt:  Ist  es  wahr,  dass 
die  Polnaer  Unthat  ein  durchschlagender 
BeAveis  für  den  Ritual mord  ist? 

Um  auf  diese  Frage  eine  bestimmte  Antwort  zu  er- 
halten, musste  ich  den  ganzen  Prozess  genau  studieren; 
speziell  musste  die  ganze  Art  des  Verbrechens 
und  derUmstände  untersuch twer den,  unter 
denen  dasselbe  begangen  wurde.  Die  richter- 
liche Behörde  hat  natürlich  noch  andere  Mittel;  der  Pri- 
vate kann  in  erster  Eeihe  nur  die  dokumentarische  Be- 
schreibung des  Falles,  die  Hauptverhandlung  und  die 
Erklärungen  der  Sachverständigen  nachprüfen,  und  das 
habe  ich  in  meiner  Kritik  gethan. 

Durch  die  Natur  der  Sache  ist  für  mich  wie  für  jeden, 
der  sich  über  den  Fall  ein  Urteil  bilden  will,  die  Methode 
der  Untersuchung  gegeben:  Es  sind  mit  d  e  r  p  e  i  n  - 
liebsten  Sorgfalt  die  von  der  Anklage  mit 
Hilfe  der  Sachverständigen  konstatierten 
Thatsachen  zu  überprüfen,  Vermutungen,  die  dieses 
Thatsächliche  merklich  überschreiten,  sind  möglichst  fern- 
zuhalten. Die  bestimmte  Frage  lautet  eben:  gibt  die  Haupt- 
verhandlung mit  dem  Angeklagten  Hilsner  in  der  That  ein 
solches  Bild  des  Verbrechens,  dass  die  Annahme  des 
Ritualmordes  gerechtfertigt  ist? 

Wohlgemerkt :  Ritualmordes.  Wenn  nämlich  der 
Polnaer  Mord  eben  nur  ein  gewöhnlicher,  ge- 
meiner oder  einLustmord  ist  und  wenn  die  Schuld 
des  Angeklagten  strikte  erwiesen  wäre,  so  hätten  wir  eben 
einen  von  einem  (oder  mehreren)  Juden  vollführten  Mord  vor 
uns,  keinen  Ritualmord.  Das  versteht  sich  zwar  von  selbst, 
aber  zur  Zeit  einer  so  grossen  antisemitischen  und  kleri- 
kalen Agitation  versteht   sich  das   leider  nicht  von  selbst 


—    65    — 

Prüft  man  die  ganze  Art  und  Weise  des  Polnaer 
Verbrechens,  so  ersieht  man  aus  den  Thatsachen,  dass 
kein  Ritualmord  vorliegt. 

Gegen  die  Annahme  des  Ritualmordes  spricht  die  Art 
und  Weise  der  Verwundung  am  Halse:  die  Wunde  ist  mit 
keinem  Schächtermesser  und  keinem  wagerechten  Schnitte 
verursacht,  sondern  eine  gewöhnliche  Stich-  und  Schnitt- 
wunde. 

Ferner  widerspricht  der  Annalime  das  Datum  der 
That  (am  29.  März  waren  die  jüdischen  Hauptf eiertage 
schon  verflossen),  auch  bekundet  die  That  keine  Geheim- 
heit („geheime  Ritualsekte"). 

Bleibt  demnach  nur  die  Behauptung,  dass  die  Leiche 
vollständig  ausgeblutet  war,  das  ausgeflossene  Blu.t  aber 
am  Thatorte  nicht  in  entsprechender  Menge  vorgefunden 
wurde;  allerdings  beruht  diese  Behauptung  auf  einigen, 
sogleich  zu  erwähnenden  Annahmen,  ganz  besonders  auf 
der  Annahme,  dass  das  Verbrechen  an  dem  Fundorte  der 
Leiche  begangen  wui'de.  Der  kritischen  Prüfung 
ergibt  sich  demnach  vor  allem  die  Pflicht, 
die  behauptete  Thatsache  der  Ausblutung 
zu  untersuchen.  Für  die  Beurteilung  dieser  Frage 
liegt  vor  allem  das  ärztUche  Protokoll  und  Gutachten  vor. 
In  dem  Protokoll  (1.  April)  und  Gutachten  (6.  April)  wird 
die  Ausblutung  direkt  nicht  konstatiert  und  nur  die  rasche 
Verblutung  und  Unterbrechung  der  Athmung  als  Haupt- 
ursache des  Todes  hingestellt;  erst  in  einer  nachträglichen 
Ergänzung  dos  Gutachtens  (19.  April)  wird  ausgesprochen, 
dass  die  Leiche  der  Agnes  Hruza  „  fast  vollständig  aus- 
geblutet war."  *) 

*)Wenn  die  Herren  in  ihrer  „Antwort"  im  Sektionsprotokoll 
und  Gutachten  keinen  Ritualaberglauben  znlassen,  so  waren  sie 
eben  unaufrichtig";  in  dem  zweiten  Nachtrag  zum  Gutachten  ist 
dieser  Aberglaube  offenbar  schon  vorhanden,  wie  aus  dem  Um- 
stände zu  schliessen  ist,   dass  vorher   schon  die  antisemitischen 


—    66    — 

Icli  habe  clit-  mediziiiisolieii  (Ti'ünde,  die  für  die  Tühi- 
sache  des  vollständigen  Ausblutens  von  den  Sachver- 
ständigen angeführt  werden,  so  weit  ich  es  mit  Hilfe  vun 
bewährten  Fachmännern  im  Stande  war,  überprüft  imd 
das  Ergebnis  lautet,  dass  der  Leichnam  der  Agnes  Hruzu 
nicht  vollständig  ausgeblutet  war,  Avenn  auch  immerhin 
eine  stärkere  Blutung  angenommen  werden  kann. 

Für  das  vom  Präsidenten  (!)  und  dem  Privatanwalt 
suggestiv  hingestellte  „  A  uff  a  n  g  e  n  '•  d  e  s  Blutes  „  i  n 
ein  G  e  f  ä  s  s  "  (Anwalt)  wird  selbstverständlich  überhaupt 
gar  kein  Grund  angeführt. 

Das  h  e  i  s  s  t :  die  II  a  1  s  w  u  n  d  e  ist  nicht 
r  i  t  II  e  1 1.  Die  ganze  Art  der  V  e  r  w  u  n  d  u  n  g  u  n  d 
die  M  a  n  i  p  u  1  a  t  i  o  )i  mit  der  Leiche  s  c  h  11  e  s  s  t 
alle    R  i  t  u  a  1  i  t  ä  t   aus. 

Die  Anhänger  des  Kitualaberglaubens  sehen  in  der 
Person  des  Angeklagten,  dass  er  nämlich  ein 
.1  u  d  e  ist,  den  Hauptgrund  für  ihre  Annahme,  das  Ver- 
l)rechen  in  Polna  sei  ein  Ritualmord.  Aus  diesem  Grunde 
müssen  wir  uns  klar  werden,  welche  Beweise  füi-  die 
Schuld  oder  wenigstens  M  i  t  s  c  h  u  I  d  H  i  1  s  n  e  r  s 
an  dem  Morde  vorliegen.  Selbstverständlich  handelt  es 
sieh  in  der  offiziellen  Anklage  nur  um  einen  Mord 
und  keinen  RitualniDrd,  was  jedoch  weder  für  die  meisten 
Richter  noch  füi*  die  Masse  der  Antisemiten  ein  Grund  ist. 
an  einen  andern  als  einen  Ritualmord  zu  denken. 

Ich  habe  gleich  anfangs  in  meiner  Kritik  hervor- 
gehoben, dass  die  Anklage  im  Falle  Polna  mehr  als  in 
anderen  Fällen  ganz  besonders  auf  die  K  o  n  s  t  a  t  i  e  r  u  n  g 
des  Thatortes  und  der  Zeit  Gewicht  legt;  der  An- 


Blätter und  speziell  auch  das  Leiborgan  der  Herren  Aerzte,  das 
D.  Volksblatt  (z.  B.  13.  April),  in  Polna  deu  Ritualm'ord  kon- 
statiert kaben.  Auch  habe  ich  direkte  Zeugen  dafür,  dass  die 
Herren  öffentlich  ihren  Ritualabe.r2'lavd)eu  verkündig'en. 


—    67    — 

Wäger  wiederholt  und  betont  dies^Mi  Umstand  mit  grossem 
Nachdruck  (pag.  377  der  zitierten  stenographischen  Pro- 
tokolle). Die  Anklage  behauptet,  der  Mord  sei  (am  29.  März) 
zwischen  ö^/^  und  6V4  Uhr  in  der  Nähe  des  Fundortes  der 
Leiche  geschehen,  und  zwar  aus  folgenden  Gründen: 
Agnes  Hruza  ist  um  57a  am  Ende  der  Stadt  Polna  auf 
ihrem  gewöhnlichen  Gange  nach  dem  drei  Viertelstunden 
entfernten  Weznic  gesehen  worden;  an  dem  vermeint- 
lichen Thatorte  sei  sie  deshalb  um  5%  angelangt,  und  dort 
sei  sie  nach  allen  erwiesenen  Timständen  überfallen  und 
ermordet  worden.  „Weil  dann  Agnes  Hruzova  diesen 
Abend  nicht  nach  Hause  nach  Klein- Wöznic  zurückkehrte, 
wie  sie  gewöhnlich  um  6V4  zu  thun  pflegte,  muss  man  an- 
nehmen, dass  der  Mord  an  ihr  in  der  Zwischenzeit  von 
Ö'Vi  bis  6V4  Uhr  begangen  wurde,  und  zwar  an  dem  Orte, 
wo  bei  dem  gerichtlichen  Lokalaugenscheine  Zeichen  von 
lilutbelieckuug  gefunden  wurden"'  (pag.  27). 

Die  Gründ(,'  für  diese  Zeitbestimmung,  zumal  des 
terminus  ad  quem,  sind  gewiss  höchst  befremdlich: 

Warum  gerade  in  dieser  Zwischenzeit  und  warum 
nicht  später?  Die  Antwort  auf  diese  Frage  gibt  die  von 
der  Anklage  geführte  Zeugenaussage.  Die  Familie  der  Er- 
mordeten behauptet,  dass  diesel1)e  an  dem  kritischen  Tage 
nicht  nach  Hause  gekommen  sei.  Die  Anklage  nimmt  diese 
Aussage  scheinbar  als  selbstverständlich  hin.  Für  die  Haupt- 
oder Mitschuld  Hilsners  sprechen  dagegen  nach  Annahme  der 
Anklage  die  Zeugen,  welche  Hilsner  in  Polna  nach  5  Uhr  in 
der  Richtung  nach  dem  Thatorte  gehen  (resp.  „im  Galopp 
laufen")  gesehen  haben  wollen,  und  ganz  besonders  ist  für 
die  Anklage  die  Aussage  des  Zeugen  Pesäk  massgebend, 
der  Hilsner  um  5^^  am  Thatorte  mit  den  beiden  vermeint- 
lichen Mitthätern  gesehen  haben  will.  Für  die  Anklage 
ist  gerade  dieser  Zeuge  und  seine  Aussage  „die  Haupt- 
quelle" für  die  Beschuldigung  Hilsners.  Die  Anklage 
kombiniert  mit  dieser  Aussage  Pesäks  (und  der  übrigen 
Zeugen,    die  Hilsner  um  5  Uhr  herum  gesehen  haben)   die 


—    68    — 

weitere  Zeugenaussage,  dass  Hilsncr  „kurz  nach  der  Ver- 
übung der  That"  (45)  in  der  Richtung  nach  Polna  gehend 
gesehen  wurde. 

Die  kritische  Beurteilung  der  Zeugenaussagen  über 
diese  Zeitbestimmung  kann  die  positive  Annahme  der  An- 
klage nicht  erhärten. 

Hilsner  wurde  an  dem  kritischen  Tage  in  Polna 
um  5.10  Uhr  nachmittags  gesehen  (Zeuge  Cink);  nach  einer 
anderen  Aussago  (Strnad)  wurde  Hilsner  nach  5  in  der 
Stadt  auf  einem  anderen  Orte  gesehen  und  nach  der  Aus- 
sage des  Zeugen  Pe§äk  ist  derselbe  Hilsner  um  6V4  schon 
an  dem  Fundorte  der  Leiche  gewesen. 

Von  dem  Orte,  wo  Hilsner  von  Cink  gesehen  wurde, 
bis  zum  Fundorte  d(^r  Leiche  ist  nach  der  Anklage  20  Mi- 
nuten zu  gehen:  Hilsner  und  seine  Helfershelfer  hatten 
also  in  der  That  im  Galopp  laufen  müssen,  um  die  Ent- 
fernung in  5  Minuten  zu  bewältigen.  Das  ist  auf  kothigeni 
Wege  gewiss  eine  anständige  Leistung.  Dass  ein  solcher 
Galopp  in  der  Stadt  und  am  helllichten  Tage,  N.  B.  ein 
Galopp  dreier  Menschen,  der  Annahme  des  wohldurch- 
dachten Planes  absolut  widerspricht,  muss  ich  nicht  be- 
sonders betonen;  hier   interessiert  ims   nur  der  Zeitpunkt. 

Die  Galoppleistung  Hillner's  und  seiner  Genossen  ist 
jedoch  noch  viel  anständiger,  als  ich  bisher  angeführt 
habe:  Hilsner  muss  nämlich  in  den  5  Minuten  auch  auf 
den  vom  Fundort  nach  der  Anklage  605  Schritte  gegen 
Vßänic  gelegenen  Ort  galoppiert  sein,  um  sich  dort  den 
weissen  Stock  abzuschneiden;*)  wie  schon  erwähnt,  ist  der 
Stock  sorgfältig  zugeschnitten  —  aber  Hilsner  musste  alles 
dies  in  5  Minuten  ausführen:  Er  ist  mit  seinen  Helfers- 
helfern zum  Fundort  gerannt  und  hat  sich  überzeugt,  dass 
das  Opfer  noch  nickt  anwesend  war;  daher  galoppierte  er 


*)  Man  könnte  allerdings  annehmen,  der  Stock  sowie  an- 
dere Mord-  und  Ritual  Werkzeuge  seien  schon  vorbereitet  ge- 
wesen —  allein  die  Anklage  behauptet,  der  Stock  sei  erst  vor 
der  That  hergestellt  worden  (124). 


—    69    - 

gegen  Veziiic,  schnitt  sich  den  Ficiitenstock  ab,  scliälte 
ihn  und  bearbeitete  ihn  zu  einem  richtigen  Knittel  und 
galoppierte  zurück  zum  Fundorte;  dort  postierte  er  sicli 
an  den  weissen  Stock  angelehnt,  so  dass  ihn  Pe§äk  sehen 
l<.onnte.  Er  lugte  nach  seinem  Opfer  zur  Stadt  aus.  Und 
das  alles  musste  Hilsner  in  5  Minuten  prestieren,  denn 
sowohl  der  Zeuge  Cink  als  auch  der  Zeuge  Pesäk  beinifen 
sich  für  ihre  Zeitbestimmung  auf  d  i  e  s  e  1  b  e  U  h  r  von 
P  o  1  n  a  ! 

Ueber  den  vermeintlichen  Ueberfall  der  Vomelova 
durch  Hilsner  auf  einem  angeblich  800  Schritte  vom  Fund- 
orte näher  gegen  Veznic  gelegenen  Orte  habe  ich  schon 
gesprochen.  Die  Vomelova  hat  Hilsner  nicht  gesehen  und 
hat  es  auch  nicht  behauptet.  Jedenfalls  ist  merk^Aoirdig, 
dass  er  sie  für  die  Agnes  H.  hielt,  da  er  sie  doch  um  ö^/^ 
am  Fundorte  schon  sehen  musste;  denn  auch  die  Vomelova 
hat  sich  nach  derselben  Polnaer  Uhr  gerichtet  und  war, 
da  sie  um  4^/4  die  Stadt  verliess,  um  5V4  ^am  Fundorte, 
wo  den  Hilsner  PeSäk  stehen  sah.  Offenbar  hat  sich  vor  ihr 
Hilsner  versteckt,  d.  h.  er  hat  gesehen,  dass  es  nicht  Agnes  H. 
ist,  aber  darum  hat  er  sie  kurze  Zeit  darauf  für  — 
Agnes  H.    gehalten   und   überfallen!    Difficile  est *) 

Unstreitig  ist  Hilsner  nach  dem  Eeccord  der  Anklage 
einer  der  tüchtigsten  Läufer;  sehen  wir,  was  für  ein 
ritueller  Schächtermörder  er  ist  —  auch  ein  sehr  tüchtiger 

*)  Der  Zeuge  Link  sagt  in  der  Voruntersuchung'  aus,  dass 
er  in  dem  Augenblicke,  in  dem  er  Hilsner  und  seine  Genossen 
vorbeigehen  gesehen,  auf  dem  Wege  zur  Martersäule,  also  auf 
demselben  Wege,  auf  dem  Hilsner  eilte,  eine  Frauenperson 
gehen  sah:  War  das  nicht  die  Vomelova?  Oder  eine  andere? 
Und  das  wurde  nicht  eruirt?  Und  musste  Hilsner,  wenn  es  die 
VomelovjV  war,  dieselbe  nicht  ein-  und  überholen?  Wie  passt 
auch  das  zu  dem  späteren  Ueberfall  ?  .  .  .  .  Und  bei  dem  vermeint- 
lichen Ueberfall  der  Vomelova  mussten  die  Ritaalmörder  selbst- 
verständlich ihr  grosses  Gefäss  zum  Auffangen  des  Blutes  mit- 
schleppen, dann  mit  demselben  wiederum  zurückeilen  u.  s.  w.  — 
—  im  wahren  Sinne  des  Wortes  eine  Ritualkomödie! 


—     70    — 

Fachmann!  Denn  or  ist  um  6  oder  sogar  vor  6  in  Polna 
gesehen  worden  (Zeugin  SobotkovA),  Agnes  H.  kam  aber 
am  Fundorte  um  5^/4. 

Die  Anklage  nimmt  eine  sehr  rasclie  Vollführung  der 
That  an;  allein  für  diese  Annahme  sind  gar  keine  Giiinde 
vorhanden.  Im  Gegenteil  würde  ein  Ueberfall  und  die 
Gegcnwehi-,  die  länger  dauernde  Agonie  bei  der  Art  und 
AVeise  der  Verwundungen,  die  Manipulation  mit  der  Leiche 
und  den  Kleidungsstücken,  das  Abschn»nden  der  Fichten- 
bäumchen  und  die  Zudeckung  der  Leiche  u.  s.  w.  längere 
Zeit  in  Anspruch  nehmen:  d  i  e  M  ö  r  d  e  r  müssen  ge- 
wiss eine  halbe  Stunde  zur  V  o  1 1  f  ti  h  r  u  n  g  der 
T  hat  g  e  b  r  a  u  c  h  t  habe  n. 

Besonders  vom  Standpunkte  der  Klage,  welche  ganz 
unverholen  das  Ritualmotiv  festhält,  ist  es  zweifelhaft,  (jb 
die  V2  Stunde  genügen  würde:  Das  Auffangen  des  Blutes 
in  ein  (natürlich)  grösseres  Gefäss,  die.  vorsichtige  Ueber- 
schüttung  in  ein  oder  mehrere  kleine,  beim  Tragen  unauf- 
fällige Gefässe,  die  Bergung  des  grossen  Gefässes  u.  s.  1".. 
das  erheischt  allein  mindestens  eine  viertel  Stunde! 

Selbstverständlich  wird  es  bei  dieser  Bemessung  der 
Zeit  darauf  ankommen,  Avie  viele  Thäter  es  gegeben  hat. 
Die  Anklage  nimmt  drei  Thäter  an:  Nach  Allem,  was  ich 
über  die  Art  und  Weise  der  Verwundungen  und  die  Um- 
stände vorgebracht  habe,  ergibt  sich  Avohl,  dass  nur  an 
einen  Thäter  zu  denken  ist.  Umsomehr  und  unter 
allen  Umständen  widerspricht  die  Analyse  der  That  und 
der  Vergleich  der  Ortsabstände  dem  von  der  Anklage  be- 
stimmten Zeitpunkte. 


Offenbar  kommt  es  für  die  Anklage  vorn<'hmlich  auf 
die  Sicherheit  des  „Kronzf^ugen"  PeSäk  an.  Allerdings, 
wenn  die  Aussage  C  i  n  k'  s  i-  i  c  h  t  i  g  ist,  so 
kann  die  Aussage  P  es  äks  nicht  richtig 
sein;    doch    sehen    wir    uns    diese  Aussago    an    und    für 


\ 


-      71     -- 

sich  s<'Il)st  au,  Tesäk  l>eliaupt<'t  HilsiHT  am  Fundort«' 
in  einer  Entfernung'  von  676  Metern  gesehen  zu  haben. 
Ich  habe  schon  gesagt,  dass  ich  die  Kichtigkeit  dieser 
Aussage  bestreite.  Icii  wiederlioie  das  nach  meinen  eigenen 
Versuchen  an  Ort  und  Stelle  und  nach  Mitteilungen  anderer 
identischer  Experimente  ganz  entschieden.  Pesak  giebt  an, 
er  habe  auf  diese  Entfernung  Hilsner  erkamit  und  zwar  habe 
er  seine  grauen  Kleider  gesehen,  ferner  will  er  gesehen 
haben,  wie  er  sich  mit  einem  weissen  Stocke  gegen  den 
Boden  stützte  und  zur  Stadt  auslugte.  Auch  will  Pesak 
zwf^i  and<^re  Genossen  Hilsner's  gesehen  haben,  er  hat 
ihre  dunkle  Kleidung  unterscliieden ,  dass  sie  auf  dem 
Kopf«'  Hüte  Iiatten  und  zu  Hilsner  gekehrt  waren.  Daran 
nicht  genug,  Pesäk  sagt  aus,  er  habe  geseh«in,  dass  der 
Anzug  des  einen  Genossen  Hilsner  s  abgenutzt  war! 

Dass  letzt«-re  Aussage  gewiss  umvahr  ist,  darüber 
kann  kein  Zweifel  bestehen;  aber  wie  kaim  dann  die 
weitere  Aussage  wahr  sein?  Si»  wie  die  Behauptung  von 
dem  Al)nütz«'n  der  Kleider  den  Zeitungsnachrichten  und 
dem  mündlichen  Gerede  abgelauscht  ist,  so  snid  auch  die 
anderen  Aussagen  nichts  als  Autosuggestion. 

Ich  hal)e  schon  erwähnt,  dass  Pesäk  überprüft  wurde. 
Allerdings  ist  diese  Ueberj)iüfung  ganz  verfehlt  gemacht 
worden,  aber  auch  aus  ihr  ersieht  man,  dass  Pesäk  auf 
die  angegebene  Distanz  alle  die  Details  nicht  gesehen 
haben  kann. 

Wie  g«!sagt,  ich  habe  an  Ort  und  Stelle  selbst  Ver- 
suche gemacht  und  machen  lassen;  solche  Versuche  sind 
auch  anderwärts  unternommen  worden  —  die  Aussage 
Pesäk  kann  nicht  richtig  sein. 

Es  ist  zuzugeben,  dass  ehi  sehr  gutes  Auge  auf  die  Ent- 
fernung von  676  Meter  hell<n-e  und  dunklere  Farben  unter- 
scheiden kann;  es  ist  zuzugeben,  dass  man  auf  diese 
Distanz  genau  bekannte  Personen,  w<'nn  sie  sich  charak- 
teristisch bewegen,  errathen  (nicht  sehen  II)  kann 
aber   alle    die   von   Pesäk   angeführten  Details  kann  man 


—    72    — 

gewiss  nicht  sehe  u.  Aber  erraten  konnte  sie  Pe§äk 
nicht,  weil  er  Hilsner  unvorbereitet  an  einer  ungewöhnlichen 
Stelle  bemerkt  haben  kann.  Allerdings  beruft  sich  PeSäk 
auf  Hilsner's  Bewegung;  aber  dieser  Ausspruch  erinnert  zu 
sehr  an  das  Zeugnis  der  Vomelovä. 

Auch  muss  erinnert  Averden,  dass  die  Beleuchtung  un- 
günstig war:  falls  die  Sonne  geschienen  hat,  so  blendete 
das  Licht  die  Augen,  war  nebelig ,  so  war  die  Luft  ent- 
schieden ungünstig,  umso  ungünstiger  falls,  wie  behaupt<'t 
Avird,  es   geregnet  hat  oder  wenn  ehi  Spiühregen  war. 

Dass  sich  Pesäk  nicht  sogleich,  sondern  erst  be- 
bedeutend später  zur  Aussage  gemeldet  hat,  habe  ich 
schon  erwähnt.  Hier  ergänze  ich  das  Gesagte,  dass  in  den 
„Red.  Listy"  (17.  Aug.)  seine  Aussage  vorher  ganz  zu 
lesen  war.*) 

* 

Es  erübrigen  also  für  die  Beschuldigung  Hilsner's  nur 
die  blutbefleckte  Hose,  der  weisse  Stock  in  der  Aussage 
der  Vomelovä  und  des  Pesäk,  das  Zeigen  eines  Messers 
den  Tag  vor  der  That  u.  dergl. 

Ich  halte  alle  diese  Indicien  mit  Ausnahme  der  Hosen 
für  ganz  wertlos;    aber   auch  die  Blutflecken  an  der  H(»se 

*)  Pesäk  gibt  an,  er  habe  sich  darum  später  gemeldet,  weil 
er  seine  Beschäftigung  bei  den  Juden  nicht  verlieren  wolle.  Ich 
habe  schon  erwähnt,  dass  der  Pi'äsident  selbst  dieser  Aussage 
nicht  recht  getraut  hat.  Ich  habe  nachträglich  einen  genauen 
Ausweis  der  Beschäftigung  Pesäks  bei  den  Polnaer  Juden  verlangt 
und  erhalte  folgende  Angaben:  Bei  Henriette  Hitschmann  zwei 
Schlösser  repariert,  16  oder  18  Kr.  (genau  weiss  sie  sich  nicht 
mehr  zu  erinnern);  Babette  Heller  hat  einen  Streit  mit  ihm  ge- 
habt und  hat  ihm  nichts  gezahlt,  weil  er  ihr  das  Schloss  ver- 
tauscht hat;  bei  Jacob  Schüller  ein  Laden-  und  Hängeschloss 
repariert,  35  Kr.;  bei  Adolf  L.  Basch  im  Ganzen  ca.  1  fl;  bei 
Emanuel  Basch  für  einen  Haken  zur  Ladenthür  und  einen  Reif 
zum  Stock  und  Regenschirm,  2  fl  20  Kr.  Das  ist  alle  in  zwei 
.lahreu  an  Juden  abgelieferte  Arbeit. 


—    73    — 

(vorausgesetzt  es  sind  thatsächlich  Blutflecken  und  zwar 
Menschenblut)  entscheiden  nicht,  weil  das  Alter  des 
Blutes   nicht  k  o  n  s  t  a  t  i  e  r  t  w  u  r  d  e. 

Ich  gehe  darum  auf  die  Blutflecken  auf  der  Hose 
liilsncr's  hier  nicht  mehr  näher  ein,  weil  sie  für  die  Frage , 
wo  und  wann  das  Verbrechen  begangen  wurde,  keine 
Bedeutung  haben.-  Der  öffentliche  Ankläger  selbst  sagt 
(pag.  392),  er  würde  auf  die  Blutflecken  kein  Gewicht  legen; 
der  Postenführer  (pag.  107)  sagt,  den  Hauptverdacht  auf 
Hilsner  hätten  die  gefundenen  Hosen  gewälzt. 

Ich  will  auch  nicht  untersuchen,  ob  der  Mörder  'nicht 
auch  nach  Mittwoch  bei  der  Leiche  weilen  konnte;  möglich 
Aväre  es,  denn  sie  wurde  erst  Samstag  gefunden;  da  je- 
doch die  Anklage  der  Sache  keine  Aufmerksamkeit  ge- 
schenkt, trotzdem  sie  unter  Umständen  nicht  unwichtig 
sein  könnte,  begnüge  ich  mich  mit  dieser  Erwähnung. 

Es  ist  schon  ganz  ersichtlich:  Die  Anklage  hat  gar 
keinen  zwingenden  Grund  für  die  Thäterschaft 
Hilsners;  alle  Zeugenaussagen,  bis  auf  eine,  ergeben  nur 
die  Möglichkeit,  dass  er  in  der  Richtung  zu 
dem  kritischen  Ort,  zur  kritischen  Zeit 
gehen  konnte  —  mehr  nicht,  weil  er  von  dem  Orte, 
wo  ihn  Cink  gesehen,  auch  anderwärtshin  gehen  konnte. 
Nur  ein  Zeuge  behauptet  ihn  an  dem  kritischen 
Orte  thatsächlich  gesehen  zu  haben.  Das  wäre 
an  und  für  sich  auch  kein  zwingender  Beweis  der  Thäter- 
schaft, ja  nicht  einmal  der  Mitschuld,  weil  die  That  nach 
der  Anklage  erst  nach  einer  V2— 1  Stunde  vollbracht  wurde. 

Wenn  aber  weiteres  durch  den  Befund  an  dem  Leich- 
nam und  an  den  Kleidern  und  durch  weitere  andere  Um- 
stände sich  der  zwingende  Schluss  ergibt,  dass  die 
Leiche  an  d  e  n  F u n  d  0  r  t  g  e  b  r  a  c h  t  w  u r  d  e  :  so 
fällt  die  bisherige  Anklage  des  Hilsner  ganz  in  sich 
zusammen.  Ich  glaube  aber  hinlänglich  genug  bewiesen 
zu  haben,  dass  der  ]^Iord  nicht  an  der  Fundstätte  der 
Leiche  verübt  worden  ist. 


—     74     — 

ITnd  so  crgelxMi  sicli  für  die  B<is('liul(lig'uug  Hilsiiers 
nur  die  auch  von  der  Anklage  angeführten  allge 
meinen  Gründe,  dass  er  arbeitsscheu  und  ein  Tage- 
dieb, dass  er  ein  Mädchenjäger  sei.  dass  er  öfters  in  d<i' 
Bfezina  herumvagiertp.  Ich  behaupte  nun  nicht,  dass  diese 
allg«-meinen  Gründe  ohne  Gewicht  sind:  a})ei'  entschie(ien 
verneine  ich  die  Beweiskraft  der  angeführten  speziellen 
Beweis»'.  Sie  alle  ruhen  auf  dem  stärksten 
aber  subjektiven  Grunde:  d  e  m  A  n  t  i  s  e  m  i  t  i  s  - 
m  u  s  und  R  i  t  u  a  1  a  b  e  r  glaube  n.  Der  K  i  t  u  a  1  a  b  e  r- 
glaube  war  die  vis  motrix  des  ganzen  Prozesses 
und    seines  agitatorischen  Missbrauches. 

Ganz  besonders  ist  die  ursprüngliche 
Anklage  ganz  bodenlos:  der  Kronzeuge,  dir 
„Hauptquelle"  des  ötfentlichen  Anklägers,  hat  sich  erst  nach 

Monaten    gemeldet bis    dahin    operirte    die    Anklage 

mit  den  übrigen  Zeugenschaftenl  Eine  kläglichere,  ja 
geradezu  klagbarere  Voruntersuchung  kann  man  sich  wohl 
kaum  denken.  Man  bedenke  doch,  dass  die  Hauptaus- 
sagen gegen  den  Angeklagten  in  Zeitangaben  be- 
stehen! Jeder  halbwegs  erfahrene  Mensch,  geschweige 
denn  ein  Richter,  nmss  doch  wissen,  dass  solche  Angaben 
mit  der  grössten  Vorsicht  hinzunehmen  sind.  Ich  selbst 
bekenne  mich  dazu,  dass  ich  schon  nach  einigen  Tagen 
nicht  in  der  Lage  wäre,  genau  anzugeben,  wo  ich  vor 
einigen  Tagen  um  die  und  die  Stunde  war.  Nun  habe  ich 
schon  (in  der  Broschüre)  aufmerksam  gemacht,  wie  der 
Herr  Ankläger  gegen  den  „Chronometer"  loszieht;  und 
doch  basiert  er  sein  ganzes  juristisches  Kartenhaus  auf 
dem  Chronometer  des  Zeugen  Cink,  der  den  Angeklagten 
um  B,10Uhr  Nachmittags  in  der  Stadt  gesehen  haben  will: 
nimmt  die  Anklage  diesen  Ausgangspunkt  an,  so  muss  sie 
ihren  Kronzeugen  aufgeben  —  —  aber  was  bleil)t  ihr 
dann?  

Ueberdies  beweisen  alle  diese  Aussagen  für  die 
T  h  ;i  t  e  r  s  c  h  ;i  f  t  a  u  f   d  <•  ni  F  u  n  d  o  r  t  c    de  v  L  e  i  c  h  <• 


^ar  nichts!  Das  Beweisvcrfalircn  der  Aussag-c  ist  in 
(liosei-  Bezietiung-  geradt-zn  monströs  unjuristisch. 

Nur  80  können  wir  uns  erklären,  warum  viele  und 
wichtige  Frag-en  durch  die  bisherige  gerichtliche  Unter- 
suchung nicht  untersucht,  nicht  beleuchtet  oder  gar  nicht 
einmal  beachtet  wurden. 

Ein  charakteristisches  Beispiel  bietet  das  Umbiegen 
der  Füsse  —  erst  durch  meine  Broschüre  ist  auf  die 
Sache  aufmerksam  gemacht  worden  und  auch  die  Herren 
Sachverständigen  selbst  haben  sie  erst  mehr  beachtet, 
während  sie  im  Obduktionsprotokolle  und  Gutachten  die- 
selbe nicht  einmal  erwähnen! 

Uebrigens  will  ich  an  diesem  Beispiel  meinen  Gegnern 
die  j  u  r  i  s  t  i  s  c  h  e  Bedeutung  dieser  meiner  Pohuikritiken 
klfu'  machen. 

Es  ist  .beachtenswert,  dass  in  der  Hauptverhandhmg 
i;in  Richter  aus  dem  Volki^  auf  die  eigentliche  Bedeutung 
(hn*  Thatsache  für  die  Venirteilung  Hilsners  hingewiesen 
hat.  Ich  führe  die  Stelle  aus  der  Verliandlung  in  meiner 
ersten  Broschüre  an.  Der  Votant  fragt  nämlicli  den  Sach- 
verständigen, ob  diese  Unibiegung  und  Erstarrung  gleich 
nach  dem  Tode  eingetreten  sein  könne.  Offenbar  ist  ihm 
di(^  Annahme  der  Anklage  lebheft  gegenwärtig,  dass  die 
Tliat  zwischen  5%  und  6V4  und  in  grösster  Eile  begangen 
worden  sei,  weil  der  Angeklagte  (Hilsner)  schon  nach 
6  Uhr  in  Pohia  gesehen  Avurde.  Auf  die  Frage  des  Vo- 
tanten  gibt  nun  der  Sachverständige  die  AntAvort,  dass 
eine  solche  Erstarrung  erst  nach  einigen  Stunden  ge- 
schehen konnte. 

Es  ist  offenbar,  dass  di<'se  Aussage  sogleich  juristisch 
für  Hilsner  hätte  Aveiter  ausgedacht  Averden  sollen,  aber 
es  ist  nicht  geschehen.  Ich  betone  das  Wort  j  u  r  i  s  t  i  s  c  h. 
Sobald  nämlich  in  der  Verhandlung  von  den  Sachver- 
ständigen eine  so  Avichtige  Erklärung  abgegeben  Avird,  so 
niuss  sie  eben  in  ihren  logischen  Kcmsequenzen  für  den 
Prozess,   respektive    für   die   Anklage    ausgeführt  Averden. 


—    76    — 

Die  Allklage  nimmt  an,  dass  die  Thäter  gleich  nach  der 
Ermordung  und  zwar  „in  grösster  Eile"  den  Thatort  ver- 
lassen haben  —  dieser  Annahme  widerspricht  die  Er- 
klärung des  beeideten  Sachverständigen  ganz  entschieden. 
Wenn  nämlich  das  auffallende  Umbiegen  der  Füsse  durch 
eine  IManipulation  mit  der  Leiche  geschehen  ist,  die  längere 
Zeit,  speciell  das  Eintreten  der  Totenstarre,  in  Anspruch 
nahm,  so  ergibt  sich  fttrHilsner  sogleich  der  Schluss,  dass 
er  als  vermeintlicher  Mörder  oder  Mitschuldiger  bei  dieser 
gewiss  äusserst  wiclitigen  Veränderung  der  Leiche  nicht 
beteiligt  gcAvesen  sein  kann,  weil  er  eben  zeuge'nmässig 
schon  um  6  Uhr  in  Polna  war. 

Allerdings  käme  es  auf  die  Erklärung  des  U  in  - 
biegen  s  an  >—  alllein  es  ist  Thatsache,  das  habe  ich  hin- 
länglich klar  gestellt,  dass  die  Herren  Gerichtsärzte  sich 
um  diese  Erklärung  nach  ihrer  Theorie  von  der  Leichen- 
erstarrung in  der  Hauptverhandlung  ernstlich  gar  nicht 
bemüht  haben.  Erst  nachträglich,  nach  meiner  Erklärung, 
versuchen  sie  die  eigentümliche  Erscheinung  halbwegs  zu 
erklären. 

Die  Wichtigkeit  dieses  Umbiegens  der  Füsse  liegt 
darin,  dass  dieselbe  eben  wegen  der  Ungewöhnlichkeit, 
auf  die  der  Vorsitzende  richtig  hingewiesen,  auf  eine  be- 
stimmte Ursache  hinweist.  Das  Umbiegen  der  Füsse  muss 
einem  bestimmten  Zwecke  gedient  haben.  Das  an- 
erkennen alle  Fachmänner,  denen  ich  die  Frage  vorgelegt 
habe.  So  schreibt  mir  ein  bekannter  Professor  der  ge- 
richtlichen Medizin:  „Die  Krümmung  der  Füsse  haben  Sie 
mit  Recht  als  sehr  auffallend  urgiert".  Der  angeführte 
Gewährsmann  selbst  nimmt  an,  diese  Krümmung  hänge 
mit  dem  perversen  Sexualverbrechen  zusammen  —  ich 
kann  das  nicht  annehmen,  aber  darin  hat  mein  Fachmann 
Recht,  dass  für  das  auffallende  Umbiegen  ein  Grund  ge- 
sucht werden  muss.  Ich  habe  mir  alle  möglichen  Gründe 
selbst  vorgebracht  und  von  anderen  vorbringen  lassen  — 
die  Erklärung,  die  ich  gegeben  habe,  ist,  wie  ich  mich  be- 


—     77     — 

ständig  überzeuge,  im  Hinblick  auf  die  übrigen  Umstände 
und  Tliatsachen,  die  natürlichste  und  richtigste. 

Ich  gebe  wohl  zu,  dass  über  den  Gegenstand  nocli 
weiter  verliandelt  werden  könnte,  sofern  nämUch  die 
rasche  Verblutung  eine  raschere  Todtenstarre  nach  sich 
ziehen  kann;  ich  gestehe  auch,  dass  ich  von  allem  An- 
fange an  von  den  Herren  Sachverständigen  diesen  Einwand 
in  irgend  welcher  Form  erwartet  habe;  hier  gehe  ich  auf 
den  Gegenstand  nicht  näher  ein,  jveil  er  zu  sehr  ver- 
wickelten theoretischen  Untersuchungen  Anlass  geben 
würde,  die  jedoch  für  den  vorliegenden  Fah  deshalb 
keine  ausschliesslich  entscheidende  Bedeutung  haben,  weil 
neben  d  e  r  U  m  l>  i  e  g  u  n  g  der  F  ü  s  s  e  noch  die 
zahlreichen  weiteren  Gründe  dafür,  dass 
die  That  nicht  am  Fundorte  der  Leiche  ver- 
übt A\'  u  r  d  e  ,  entscheidend  s  i  n  d. 


Es  ist  (ersichtlich,  dass  der  Prozess  sachlich  revi- 
diert und  dass  ganz  besonders  die  verschiede- 
nen und  sich  widersprechenden  Aussagen 
der  Gerichtsärzte,  so  weit  das  heute  möglich  ist, 
genau  von  tüchtigen  Fachmännern  überprüft  werden 
müssen.  Es  ist  möglich;  dass  diese  Ueberprüfung 
ebenso  wie  eine  unvoreingenommene  energische  Unter- 
suchung ganz  neue  Thatsachen  aufdecken  wird, 
durch  welche  meine  Ausführungen  modifiziert  werden 
müssten.  Ich  werde  keinen  Anstand  nehmen,  diese  Modi- 
fikation vorzunehmen ;  allein  auf  Grund  der  von  dem 
bisherigen  Prozessverfahren  und  beson- 
ders den  Herren  Gerichtsärzten  vorge- 
brachten Thatsachen  kann  eine  sachliche  Kritik 
•  nicht  anders  urteilen,  als  ich  es  gethan  habe. 

Das  Ergebnis  dieser  Kritik,  das  weiss 
ich  ganz  wohl,  ist  insofern  unbefriedigend, 
als   ich    mich    nicht    mit    absoluter   Sicherheit    für    eine 


—    78    — 

brstiiuiiite  Annahme  entscheiden  kann.  Allein  das 
kommt  daher,  dass  das  vorliegende  Thatsachenmaterial 
durch  ungenaue  Beobachtungen  and  voreilige  Schlüsse  ge- 
sammelt wurde.  Der  Ritualaberglaube  —  das  sieht  Jeder. 
liat  die  Beobachtenden,  Prüfenden  und  Suchenden  mit 
Blindheit  gesehlagen.  Das  ganze  luftige  Gebäude  des 
Polnaprozesses  ist  auf  dem  Sand-  vielmehr  Sumpfboden 
einer  vorgefassten  Meinung  aufgebaut  —  in  diesem  Sumpf- 
boden musste  es  darum  zusammenstürzen. 

Der  Prozess  von  Polna  ist  in  psychologischer  Hin- 
sieht ein  geradezu  typischer  Fall  für  die  Wirkung  der 
Suggestion,  respektive  des  Glaubens  (Aberglaubens).  Die 
Menschen,  die  den  Fall  untersucht  und  beurteilt  haben, 
sind  blind  und  taub  geworden;  alles  Denken  und  Fühlen, 
ja  die  Sinne  selbst  wurden  nach  einer  vorgezeichneten 
Richtung  gedrängt,  alles,  was  dieser  Richtung  zuwiderläuft 
oder  doch  abseits  liegt,  Avurde  gar  nicht  beachtet  und 
nicht  einmal  bemerkt.  Ein  solcher  Glaube  ist  eben  blind. 
Der  Dreyfus-Prozess  hat  im  Polnaer  Prozess  seine  psycho- 
logische Fortsetzung  gefunden. 

Soziologisch  beurteile  ich  den  ganzen  Prozess  von 
Polna  und  seine  Erörterung  in  der  Tagespresse  und  be- 
sonders die  umfangreiche  antisemitische  und  klerikale 
Polna-Literatur  und  -Agitation,  das  sage  ich  hier  ganz 
kurz,  in  erster  Reihe  als  trauriges  Zeichen  unserer  böhmi- 
schen und  österreichischen  Ivultmnerhältnisse. 

leb  wiederhole,  was  ich  den  demonstrierenden  Stu- 
denten auf  die  Tafel  geschrieben  habe:  Der  ganze  Polna- 
prozess  und  seine  Ausbeutung  von  clericalei'  mid  anti- 
semitischer Seite  ist  ein  Attentat  gegen  den  gesuntleii 
Menschenverstand  und  gi'g^in  die  ^Menschlichkeit. 


79 


Schi  uss  wort. 

le'h  bin.  wie  ich  hoffe,  mit  meiner  literarischen  Kritik 
des  Polnaer  Prozesses  fertig. 

Ich  gestehe,  nie  eine  Arbeit  miteniommen  zu  hal)eii, 
die  so  anstrengend  und  so  aufregend  gewesen  wäre.  Di<^ 
rohen  Angriffe  von  klerikaler  und  antisemitischer  Seite 
haben  micli  wenig  beunruhigt,  auch  der  demonstrative 
Teberfall  einer  Anzaul  Studenten  und  ihrer  Helfershelfer 
liat  mich  nicht  aufgeregt.  Aufregend  wirkt  die  unglaub- 
liche Lässigkeit  und  Oberflächlichkeit  des  ganzen  Prozess- 
verfahrens, aufregend  Avirkt  das  Inquisitorische  an  der 
Arbeit  und  der  ungewohnte  Umstand,  über  Ehre  und 
i.t^ben  von  Menschen  verhandeln  zu  müssen.  Ich  habe 
lebhaft  gefühlt,  wie  die  Todesstrafe,  um  die  es  sich  in 
dem  Prozesse  handelt,  eine  fürchterliche  Verantwortung 
erheischt  und  Avie  die  Menschen  über  Leben  und  Tod 
noch  fürchterlicii  obei*fiächlich  und  sorglos  ilire  Urteile 
fallen!    Die  Todesstrafe  ist  schon  darum  abzuschaffen. 

Auch  habe  ich  durch  mein  Eindringen  in  den  Prozess 
so  recht  lebendig  herausgefühlt,  Avas  das  Kollektivgewissen 
bedeutet,  und  wie  überhaupt  die  modernen  Bestrebungen 
um  Sozialisierung  des  Strafrechtes  (v,  Liszt)  berechtigt 
sind.  Ich  Avünschte,  meine  Arbeit  würde  die  Aufmerksam- 
keit auch  auf  diese  Fragen  hinlenken. 

Meine  Arbeit  Avar  als  Ai'beit  schAver.  Icli  sage  das 
denjenigen,  die  mehi  Auftreten  als  eine  Art  Gefühlsüber- 
rumpelung  u.  dgl,  erklären.  Nein  —  ich  wusste  von  allem 
Anfang,  was  ich  unternehme.  Ich  musste  mir  aus  den  un- 
genau konstatierten  Thatsachen  der  Verhandlung  und 
Protokollen  der  Sachverständigen  das  ganze  Bild  der 
Gegend,  der  That  und  einer  Masse  von  Menschen,  Rich- 
tern, Sachverständigen  und  Verhörten  bilden;  als  ich  nach 
den  Ferien  um  meine  Ansicht  über  den  Polnaer  Prozess 
gefragt   wurde,    musste    icli    das   unglück.selige  Polna   auf 


—    80    — 

den  Landkarten  mühsam  suchen:  heute  kenne  ich  die 
ganze  Stadt  und  Umgebung,  eine  Menge  von  Menschen, 
die  mir  persönlich  ganz  fremd  sind,  sind  mir  heute  be- 
kannt. Viele  in  mehreren  Generationen  und  in  der  ganzen 
FamilienverzAveigung.  Das  Studium  des  Prozesses  hat  mir 
einen  intimen  Einblick  in  das  Leben  und  Weben  eines 
Stückes  unserer  böhmischen  Erde  gegeben.  Kein  erfreu- 
licher Einblick! 

Nach  Veröffentlichung  meiner  Broschüre  wurde  mir 
von  zahlreichen  und  entgegengesetzten  Seiten  über  das 
Verbrechen  und  die  zu  demselben  in  Beziehung  stehenden 
Menschen  eine  Unmasse  von  Nachrichten  zugeschickt: 
während  ich  meine  Studie  ganz  allein  ohne  jemandes  Mit- 
wissen verfasst  habe,  werde  ich  nun  gezwungen,  mit  den 
verschiedensten  Menschen  schriftlich  und  mündlich  in  Ver- 
kehr zu  treten.  Die  Nachrichten  aus  der  Gegend  von 
Polna  häufen  sich  mir  von  Tag  zu  Tag,  meine  Studier- 
stube wird  zu  einer  Art  kriminalistischer  Registratur  über 
Polna  und  seine  Umgebung.  Dei-  Leser  mag  sich  davon 
eine  Vorstellung  machen,  wenn  ich  ihm  sage,  dass  mir 
sehr  häufig  nur  die  Correspondenz  über  Polna  an  einem 
Tage  zwei  Stunden  raubte. 

Das  Studium  des  Prozesses  hat  mir  mühsame  medi- 
zinische und  juristische  Aufgaben  gestellt,  die  ich,  dank 
freundlicher  Hilfe  von  Fachmännern,  wie  ich  glaube, 
kritisch  und  ohne  Voreingenommenheit  bewältigt  habe. 

Peinlich  und  niederdrückend  wirkt  die*  Einsicht,  die 
mir  die  Kritik  des  l^rozesses  in  unsere  böhmisch-öster- 
reichischen Verhältnisse  im  allgemeinen,  in  die  Sittlichkeit 
und  die  Bildung  der  Bevölkerung,  der  Juristen,  Richter 
und  Aerzte  und  besonders  auch  dei"  Journalistik  ver- 
schafft hat.  Letzteres  fühle  ich,  selbst  Schriftsteller  und 
Journalist,  sehr  schwer.  Die  allgemeine  Aufmerksamkeit 
ist  jetzt  der  politischen  Misere  meines  engeren  und  Avei- 
teren  Vaterlandes  zugewendet;  die  Kritik  des  Polnaer  Pro- 
zesses belehrt  mich  darüber,  dass  die  politischen  Zustände 


—    81    — 

in  inniger  Wechselbeziehung  stehen  zu  den  weiteren  so- 
zialen Verhältnissen.  Wie  unsere  Politik,  so  sind  alle 
unsere  Verhältnisse  beschaffen.  Als  Soziologe  muss  ich 
allerdings  diesen  innigen  Konsensus  von  vornherein  an- 
nehmen und  ihn  deduzieren;  aber  hier  habe  ich  ihn  in 
einem  konkreten  Falle  in  all  seiner  Fälle  und  ganz  lebendig 
erfassen  können  und  müssen. 

Ueber  einige  andere,  zum  Teil  sehr  interessante  Er- 
fahrungen, die  ich  bei  meinen  Studien,  speziell  auch  an 
Ort  und  Stelle  um  Polna  gemacht  habe,  werde  ich  den 
Lesern  vielleicht  später  einiges  sagen  können.  Jetzt  wollte 
ich  diese  Polnaer  Studien  mit  dem  Wunsche  beschliessen, 
sie  würden  zur  Ausrottung  des  Ritualaberglaubens  bei- 
tragen. Während  meiner  Arbeit  ist  es  mir  immer  klarer 
und  klarer  geworden:  der  Ritualaberglaube  ist  geradezu 
(•ine  Anklage  gegen  das  böhmische  Volk.  Die  Juden 
Böhmens  und  der  böhmischen  Länder  überhaupt  (das  be- 
stätigen mir  gebildete  und  sehr  kritische  Kenner  des  Juden- 
tums) gehören  zur  Elite  nicht  nur  des  österreichischen, 
solldorn  des  Judentums  überhaupt  —  wie  kann  man  ihnen 
den  barbarischen  Ritualmord  imputieren!  Und  wenn  diese 
so  gebildeten  und  moralisch  hoch  stehenden  Juden  Böh- 
mens wenn  auch  nur  eine  Ritualmordsekte  in  ihrer  Mitte 
hätten,  wie  barbarisch  müssten  da  nicht  die  allgemeinen 
KuUurzuständevon  uns  Christen  sein,  in  denen  eine  solche 
Sekte  sich  hätte  entwickeln  und  erhalten  können? !  Je 
mehr  man  über  den  Ritunlaberglauben  nachdenkt,  umso 
absurder  und  für  unser  Volk  gefährlicher  muss  er  er- 
scheinen. Siziliens  Maffia  Hesse  sich  kaum  mit  einer  solchen 
Hitualsekte  vergleichen.  Den  kulturellen,  religiösen,  medi- 
zinischen und  juristischen  Schandfleck  von  Kuttenberg  kann 
nur  eine  energisch  geführte  sachliche  Revision  des 
Prozesses  beseitigen. 


82    — 


Beilage. 


Sektions  -  Protokoll 

vom  1.  April  1899.  *) 


Vor  allem  wird  konstatiert,  dass  die  Leiche  in  dem- 
selben Zustande  vor  der  Sezierung  befunden  wurde,  in 
welchem  sie  von  der  Gerichtskommission  Vormittag  nach 
vorgenommenem  gerichtlichen  Lokalaugenscheine  in  die 
Obhut  des  Gemeindevorstehers  von  Polna  übergeben 
worden  ist. 

A.    Aeussere   Beschreibung   der   Kleidung. 

Die  Leiche  des  ca.  20  jährigen  Mädchens  ist  156  cm 
lang,  der  obere  Teil  des  Körpers  bis  zum  Gürtel  voll- 
ständig nackt. 

Vom  Gürtel  bis  zu  den  Knien  ist  sie  bekleidet  mit 
Hosen  aus  rotem  Stoffe  mit  einem  blauen  Saum  (Güi'tel) 
und  am  linken  Knie  mit  blauem  Stoff  geflickt. 

Die  Beine  von  den  Knien  herab  sind  mit  blau  und  rot 
quergestreiften  Strümpfen  bekleidet. 

An  den  Füssen  sind  Schnürschuhe. 

Die  Leiche  lag  in  einem  mit  Hobelspänen  ausge- 
füllten Sarge. 


*)  Aus  dem  oftiziellen  Texte  sind  nur  die  Formalia  weg- 
gelassen. 


—    83    - 

Nach  teilweiser  Entkleidung  und  teilweise!-  Zer- 
schneidung der  Kleider  wurde  die  Leiche  aus  dem  Sarge 
auf  den  Seziertisch  übertragen. 

Nach  sorgfältigem  Untersuchen  dtJi*  Hosen  kann  man 
am  hinteren  Teile  der  linken  Hälfte  und  zwar  korrespon- 
dierend annähernd  mit  dem  Orte,  wo  sie  rückwärts 
zwischen  den  Beinen  anliegen,  einige  eingetrocknete 
Flecke  bemerken,  von  ungewisser  Farbe,  schwach  ins 
schmutziggelbe  (die  Farbe  der  Hose  von  dieser  Seite  ist 
rosa)  in  der  Grösse  eines  Fünfliellerstückes  bis  zu  einem 
Einguldenstücke  und  mit  unbestimmten,  verschwommenen 
Konturen.  Beim  Betasten  macht  der  Stoff  an  dieser  Stelle 
den  Eindruck  als  ob  er  schwach  gestärkt  wäre.  Diese 
Flecken  gehen  dm*ch  den  Stoff  auf  die  andere  Seite,  welche 
hier  rot  ist  und  sind  mehr  ins  braune  gefärbt.  Diese 
Stelle  auf  der  Hose  wurde   mit  blauem   Stifte   bezeichnet. 

Ausserdem  befinden  sich  unten  in  der  Naht,  welche 
die  beiden  hintern  Hälften  verbindet,  einige  gelbbraune 
Flecken,  welche  mit  aller  Wahrscheinlichkeit  von  Menschen- 
koth  herrühren. 

Auf  der  rechten  Hälfte  der  Hose  im  hintern  und 
Innern  Teile,  entsprechend  ungefähr  dem  innem  Teile  des 
Schenkels  befinden  sich  wiederum  Flecken  auf  der  äussern 
roten  Seite  von  dunkelbrauner  Färbung,  ungefähr  2 — 8  cm 
im  Durchmesser  messend,  welche  auf  die  andere  Seite 
nicht  durchschlagen;  der  Stoff  ist  auch  an  den  Stellen,  wo 
diese  Flecken  sind,  etwas  fester,  wie  gestärkt. 

B.   Die    äussere   Beschreibung   der   Leiche. 

Die  Leiche  hat  ein  graziles  Skelett,  entsprechend 
entwickelte  Muskeln,  das  Unterhautgewebe  hat  genug  Fett. 

Die  Haut  auf  der  vorderen  Seite  des  Rumpfes  ist 
blass,  bis  auf  die  äussere  Rückseite  des  linken  Vorder- 
armes und  die  äussere  und  obere  Seite  der  linken  Hand. 

Der  Kopf  ist  bedeckt  mit  roten  Haaren  in  zerzaustem 
Zustande,  welche  auf  das  Gesicht  fallen. 

6* 


—    84    - 

Die  Haare  sind  g-aiiz  mit  frischem,  g-etrocknetem  Blute 
durchtränkt. 

Aus  den  Ohren,  dem  Munde,  den  Genitalien  und  dem 
After  kein  Ausfiuss. 

Die  Nasenlöcher  sind  teilweise  mit  getrocknetem  Blute 
ausgefüllt. 

Das  Gesicht  ist  ebenfalls  blutbefleckt,  auf  demselben, 
sowie  auf  der  vorderen  Fläche  des  Halses,  des  Bnistkorbes 
und  des  Bauches  kleben  zerstreut  einige  Fichtennadeln  und 
Grashalme. 

Das  Gesicht,  insbesondere  die  Nase,  die  Wangen  und 
die  Lippen  sind  etwas  geschwellt,  die  Oberhaut,  insbeson- 
dere der  Nase,  der  Wangen,  der  Lippen  und  des  Kinnes 
ist  roth  violett  gefärbt. 

Die  Augen,  etwas  wenig  geöffnet,  die  Hornhaut  ge- 
trübt, die  Pupillen  etwas  erweitert,  die  Bindehäute,  etwas 
blutreicher. 

Der  Mund  geschlossen,  die  Zähne  aufeinandergepresst, 
der  Hals  ziemlich  breit,  angemessen  lang. 

Z.  1.  Auf  der  vorderen  Seite  des  Halses  befindet 

sich  eine  riesige  Wunde,  welche  sich  etwas  vorn 
rechts  querhinüber  nach  links  in  der  Eichtung 
zum  Ohre  zieht.  Die  Wunde  durchdrang  alle 
weichen  Bestandteile  bis  zur  Wirbelsäule.  Bei 
nach  rückwärts  gelegenem  Kopfe  ist  die  Wunde 
8  cm  lang,  5  cm  breit,  die  Ränder  sind  scharf, 
gar  nicht  blutunterlaufen  oder  gequetscht.  Aus 
der  Wunde  am  Halse  ragt  über  dem  untern 
Eande  der  etwas  angeschnittene  Kehlkopf- 
knorpel. 

Z.  2.  Ungefähr  in  der  Mitte   des  Halses   auf  der 

rechten  Seite  von  der  Mitte  des  rechten  Endes 
der  Halswunde  zieht  sich  ganz  quer  eine  Strang- 
furche über  die  ganze  rechte  Seite  des  Halses 
bis  rückwärts  zur  Wirbelsäule  sich  hinziehend. 


—    85    — 

Die  Strangfurche  ist  ungefähr  V2  cm  breit, 
gradlienig,  eingetrocknet,  rotbraun,  insbesondere 
in  den  rückwärtigen  Partien. 

Der  Brustkorb  ist  ziemlicli  breit,  mehr  tiach, 
die  Brustdrüsen  ziemlich  entwickelt. 

Der  Bauch  ist  eingefallen,  am  Gesichte,  dem 
Halse,  dem  Brustkorbe  und  dem  Bauche  be- 
finden sich  diverse  Abdrücke,  welche  vom  Boden 
heiTühren,  auf  dem  die  Leiche  mit  diesen  Flächen 
gelegen  ist. 

Der  Schamberg  ist  bewachsen  mit  hellroten 
Haaren,  an  zwei  Stellen  sind  die  Haare  zu- 
sammengebacken, mit  einer  grauen  stärke- 
artigen Masse,  ungefähr  von  der  Grösse  eines 
Hirsekornes.  Die  zusammengebackenen  Haare 
wurden  abgeschnitten  und  aufbewahrt. 

Hymen  ringförmig,  zart,  zeigt  nirgends  eine 
Beschädigung,  ist  blos  stellenweise  kerbeartig 
gesäumt,  auch  nirgends  Zeichen  von  gewalt- 
samer Zerstörung,  Quetschung  oder  irgend  einer 
Verfärbung. 

Auf  den  Beinen  sind  verschiedene  Eindrücke, 
insbesondere  unter  den  Knieen  von  den  Strumpf- 
bändern. 

Die  Arme  sind  in  dem  Ellbogen,  im  rechten 
Winkel  beinahe  nach  vorn  gebogen  und  zeigen 
auf  den  Oberarmen,  sowie  auf  den  Gegenden 
über  dem  Ellbogengelenk  verschiedene  Strangu- 
lierungsfurcheu,  welche  von  den  Kleidern,  ins- 
besondere von  den  Hemdärmeln  verursacht  sind. 
Z.  3.  Auf  der  äusseren  Seite  des  linken  Oberarmes 
und  zwar  in  der  unteren  Hälfte  zieht  sich  ein 
schwach  violett  ins  grüne  gefärbter  Fleck  schief 
von  unten  hinauf  ungefähr  12  cm  lang  und  3  cm 
breit,  welcher  sich  als  eine  Blutunterlaufung 
erweist. 


—    86    — 

Auch  auf  dem  Ellbogen  derselben  Hand 
befindet  sich  ein  blassrot-violetter  Fleck. 

Der  Vorderarm  der  linken  Hand  ist  etwas 
angeschwollen,  insbesondere  an  der  Rückseite, 
teilweise  an  der  Innern  und  äussern  Fläche  be- 
ginnend, etwa  2  cm  vom  Ellbogengelenke  her- 
unter. 
Z.  4.  Die^Haut  ist   dunkelrot   gefärbt   (das   nach 

gemachtem  Einschnitte  an  diesen  Stellen  unter- 
suchte Gewebe  ist  bis  zum  Knochen  stark  mit 
dunkelrotem  Blute  durchtränkt). 

Die  Hand,  insbesondere  am  Rücken,  ist  an- 
geschwollen, die  dunkelrote  Färbung  der  Hand 
auf  dem  Unterarm  kommt  auch  auf  dem  Rücken 
der  Hand  vor,  wo  sie  mehr  in  eine  schmutzig- 
dunkelviolette  Farbe  übergeht. 

Der  Daumen  der  linken  Hand  ist  gestreckt, 
die  anderen  Finger  der  Hand  sind  massig  ge- 
bogen. 

Die  Finger  sowie  die  Handfläche   sind   mit 
frischem  eingetrockneten  Blute  befleckt. 
Z.  5.  An   der  äusseren  Rückseite  des  Ringflngers 

und  des  Mittelfingers  befinden  sich  kleine  Haut- 
excoriationen  ganz  oberflächlich,  zahlreich  ohne 
Reaktion. 

Auf  dem  rechten  Oberarm  über  dem  Elbogen 
befinden  sich  auch  verschiedene  Strangulations- 
furchen, welche  von  den  Kleidern  herrühren. 

Der  Unterarm  der  rechten  Hand  ist  eben- 
falls etwas  angeschwollen,  aber  viel  weniger  als 
der  der  linken  Hand.  Aber  die  Oberhaut  des 
ganzen  Unterarmes  ist  vollkommen  blass. 

Die  rechte  Hand  ist  ebenfalls  wie  die  linke, 
hauptsächlich  am  Rücken,  geschwollen,  die  Ober- 
haut ins  Dunkelrotviolette  gefärbt,  der  Daumen 
gestreckt,     die    Finger    massig    gekrümmt,     die 


1 

1 


—    87    — 

letztere  ebeusu  wie  die  Handfläche  mit  eiage- 
trocknetem  Blute  befleckt. 

Z.  6  a.  Am  mittleren,  zweiten  Gelenke  des  kleinen 
Fingers  ist  eine  dunkelbraune  eingetrocknete 
oberflächliche  Abschürfung  im  Durchmesser  von 
etwa  */2  cm. 

Z.  6b.  Ebenfalls  in  der  Mitte  des  ersten  Gliedes  des 

Mittelfingers  am  Rücken  ist  eine  ähnliche  einge- 
trocknete Excoriation  von  schwarzbrauner  Farbe, 
1  cm  lang,  V2  c^i  breit. 
Z.  7.  Die  ßückenfläche   aller  vier  Finger,   im  Be- 

sonderen auf  den  zweiten  Gliedern,  sind  mit 
einer  grossen  Anzahl  kleiner  Excoriation  ohne 
Reaction  bedeckt 

Unter  den  Nägeln  der  beiden  Hände  wurde 
nichts  ausser  eingetrocknetes  Blut  gefunden. 

Auf  der  Rückseite  des  Körpers  ist  die  Ober- 
haut (Epidermis)  blass,  nirgends,  noch  so  wenig 
verletzt. 

Z.  8.  Nach    Entfernung    der    zusammengeklebten 

Haare  am  Kopfe  wurde  gefunden,  dass  auf  der 
Rückseite  und  den  beiden  Seitenteilen  des  Kopfes 
sich  acht  lineal  verlaufende,  in  verschiedenen 
Richtungen  verlaufende  Wunden  befinden,  von 
denen  die  kleinste  ungefähr  2V2  t^m  und  die 
grösste  ungefähr  6  cm  lang  ist. 

Diese  Wunden  sind  beinahe  vollkommen 
eine  der  andern  ähnlich,  so  dass  man  mit  Be- 
stimmtheit annehmen  kann,  dass  sie  mit  einem 
und  demselben  Werkzeuge  verursacht  wurden. 
Alle  reichen  durch  die  WeichteUe  nur  bis  zum 
Schädelknochen. 

Die  Ränder  dieser  Wunden  sind  ziemlich 
scharf,  aber  doch  gequetscht  und  nicht  glatt, 
stellenweise  ist  das  Gewebe  nicht  ganz  bis  zum 


i 


—    88    — 

Knochen  zerstört,  sondern  hängt  noch  mit 
kleinen  Brücken  zusammen. 

An  der  Leiche  finden  sich  gar  keine  Zeichen 
der  Fäulnis  vor. 

C.   Innere   Untersuchung   der   Leiche. 

Nach  Entfernung  der  Weichtheile  des  Schädels  wurden 
auf  der  Innenfläche  desselben,  sowie  auf  dem  rückstän- 
digen Gewebe  des  Schädels  in  den  den  Wunden  ent- 
sprechenden Stellen  dunkelrote  Blutunterlaufungen  ge- 
funden. 

Z.  1.  Der  Schädel  mächtig,    stark;   die   kompakte 

Masse  desselben  überwiegt.  Die  Furchen  der 
Art.  mening.  med.  sowie  pacchionischen  Grranula- 
tionen  gut  kenntlich. 

Die  harte  Hirnhaut  zart,  glatt,  etwa  in  der 
Mitte  der  Gegend  der  Centralwindungen  leicht 
angeschmiegt. 

In  dem  grossen  Sichelblutleiter,  sowie  in 
den  übrigen  Blutläufen  sehr  wenig  flüssiges  Blut. 
Die  weiche  Hirnhaut  zart,  glatt  mit  Gefässen, 
die  rot  injiziert  sind.  Nur  in  der  Gegend  der 
Centralwindungen  etwas  rauh,  entsprechend  den 
Rauhigkeiten  auf  der  harten  Hirnhaut.  Die 
Windungen  des  Gehirns  sind  zahlreich,  das  Ge- 
webe des  Hirns  zäh,  nicht  übermässig  mit  Blut 
überfüllt,  die  Hirnrinde  ziemlich  breit. 

In  den  Hirnkammern,  welche  nicht  ausge- 
dehnt sind,  nur  einige  Tropfen  einer  klaren 
Flüssigkeit,  Ependym  zart,  glatt.  Das  Gewebe 
der  Centralganglien,  sowie  des  Kleinhirns  und 
des  Verl.  Markes  ziemlich  fest,  die  Struktur  gut 
kenntlich.  An  der  Hirnbasis  nur  einige  Tropfen 
einer  klaren  Flüssigkeit,  die  Knochen  der  Basis 
nicht  lädiert. 


—    89    — 

Z.  2.  Nach    der  Eröffnung'    der  Brusthöhle    wurde 

die  Zunge  herausgenommen  und  diese  zeigte 
auf  der  Oberfläche  eine  rotbraune  Färbung.  Die 
Zunge  hing  zusammen  mit  demOs  hyoideum 
und  mit  der  oberen  Rachenpartie.  Durch  den 
Schnitt  in  der  Wunde  war  das  Os  hyoideum 
von  dem  Kehlkopfknorpel,  cartilagöthyreoidea 
abgetrennt. 

Die  linke  Vena  jugularis  externa  durch- 
trennt, sowie  die  gemeinsame  linke  Carotis  an- 
geschnitten. 

Die  Schilddrüse  ziemlich  entAvickelt. 

In  dem  Herzbeutel  einige  Gramm  einer 
klaren  Flüssigkeit. 

Der  Rand  des  Zwerchfelles  rechts  und  links 
an  der  fünften  Rippe,  das  Herz  etwas  wenig 
von  Fett  durchwachsen,  der  Muskel  beim  Schnitte 
kräftig,  rotbraun,  die  linke  Herzkammer  voll- 
kommen leer,  in  der  rechten  Herzkammer  etwas 
weniges  rotbraunes  Blut,  theils  flüssig,  theils 
geronnen.    Die  Herzklappen  zart,  schliessend. 

Die  rechte  Lunge  in  der  unteren  Partie 
leicht  angewachsen,  sonst  an  der  Oberfläche 
glatt,  Luft  überall  enthaltend,  in  der  Luftröhre 
etwas  wenig  schäumige,  blutige  Flüssigkeit. 

Die  linke  Lunge  vollkommen  frei,  ebenfalls 
lufthaltig. 

Die  Lage  der  Eingeweide  normal.  Die  Leber 
an  der  Oberfläche  überall  glatt,  blassbraun,  am 
Schnitte  ist  die  zähe,  blutarme  Struktur  gut 
kenntlich. 

In  der  Gallenblase  etwas  flüssige  Galle. 

Im  Magen  eine  grosse  Menge  eines  dünn- 
flüssigen weisslichen  Breies,  nach  allem  haupt- 
sächlich aus  Milch  bestehend,  hie  und  da  eben- 
falls festere  Speisenteile  enthaltend. 


—    90    — 

Die  linke  und  rechte  Niere  ca.  8  cm  lang 
und  5  cm  breit,  die  Haut  leicht  ablösbar,  die 
Struktur  beim  Schnitt  gut  kenntlich,  das  Gewebe 
fest,  blass,  blutarm.  Die  Milz  klein,  an  der  Ober- 
fläche zart,  glatt  beim  Schnitte  ebenfalls  blutarm. 

Die  Gedärme  blass  in  der  Serosa  und 
Schleimhaut,  im  Dickdarm  etwas  Koth,  die  Harn- 
blase leer,    enthält  nui*  etwas  wenig  Harn. 

Die  Gebärmutter  klein,  jungfräulich,  ebenso 
die  Eierstöcke  am  Durchschnitte  zäh  und  blut- 
arm. Die  Scheide  blass,  columna  rugarum  scharf 
gezeichnet. 

(Nach  beendeter  Section  der  Leiche ,  welche  bis  7V2 
Abends  dauerte,  verlangten  die  Herren  ärztlichen  Sach- 
verständigen zum  Abgeben  des  Gutachtens  in  einer  solchen 
sehr  wichtigen  Strafsache  einen  Aufschub  von  längstens 
4  oder  5  Tagen,  Dieser  Termin  wurde  den  Herren  ärzt- 
lichen Sachverständigen  bewilligt.) 


—    91 


Gutachten 

vom  6.  April  1899. 

Nach   genauer  Untersuchung   der  Leiche,   der  gefun- 
denen Kleider  und  Gegenstände,  nach  reiflicher  Erwägung 
aller  Umstände  und  Zeichen,  können  wir  mit  Bestimmtheit 
gemäss   der  Regeln    der   ärztlichen  Kunst   folgendes   Gut 
achten  abgehen: 

ad  1.  Als    tödtliche    Wunde    betrachten    wir    die 

Schnittwunde   am   Halse ,   welche   unter  B  Z.  1 
angeführt  ist. 

Als  lebensgefährlich  betrachten  wir  die 
Strangfurche  am  Halse  (B  Z.  2)  und  die  Kopf- 
wunden, hauptsächlich  wegen  deren  Zahl  und 
Umfang  (B  Z.  8). 

Als  leichte  Verletzungen  erklären  wir  die 
Vei-wundung  am  linken  Oberarm  (B  Z.  3)  und 
die  der  rechten  Hand  (B  Z.  6a,  b). 

B  Z.  4  betrachten  wir  als  Symptom  einer 
Strangulirung  der  Gefässe  der  Hand  durch  den 
Aermel  und  Kleidung  und  auf  diese  Art  ent- 
standene Unterbrechung  der  Blutzirkulation  der 
Hände. 

B  Z.  5  u.  7  erklären  wir  als  postmortale 
Verletzung,  entstanden  durch  Schleppen  und 
Schleifen  der  Leiche,  und  Zerkratzen  der  Aussen- 
fläche  der  Finger  durch  rauhen  Erdboden,  even- 
tuell Reisig  und  trockene  Baumabfälle. 


—    92    — 

ad  2.  Als  Hauptursache  des  Todes  betrachten  wir 

die  Verletzung  (B  Z.  1),  deren  Folge  rasche 
Verblutung  und  Unterbrechung  der  Athmung  war. 

Diese  Verletzung  wurde  verursacht  durch 
ein  scharfes  und  hinlänglich  starkes  Instrument, 
wahrscheinlich  durch  ein  starkes  Messer. 

Der  Tod  erfolgte  infolge  dieser  Verletzung. 

ad  3.  Die  That  war  schon  infolge  ihrer  allgemeinen 

Natur  die  Ursache  des  Todes. 

ad  4.  Was    die   vorgefundenen  Instrumente  anbe- 

langt, so  können  wir  mit  Bestimmtheit  behaup- 
ten, dass  die  Kopfverletzung  sub  B  Z.  8  zuge- 
fügt sein  konnte  mit  der  scharfen  Kante  irgend 
eines  grossen  Steines,  welche  in  der  Nähe  der 
Leiche  gefunden  wurden,  obwohl  wir  nicht  da- 
mit sagen  wollen,  dass  sie  zugefügt  wurde  mit 
einem  von  den  beiden  Steinen,  welche  aufbe- 
wahrt wurden  als  Corpora  delicti  (Z.  10).  Im 
Gegenteil  nach  deren  Conüguration  imd  ihrer 
Blutbesudelung  können  wir  behaupten,  dass  es 
keiner  der  beiden  Steine  war. 

Di»'  Verletzung  sub  B  Z.  3  konnte  mit  dem 
Stocke  geschehen  sein,  welcher  in  der  Nähe  der 
Leiche  gefunden  wurde. 

nd  5.  Der  Mord  wurde   mit   besonderer  Grausam- 

keit, meuchlings,  verübt. 

Als  Zeichen  des  Widerstandes  könnten  wir 
als  solche  betrachten  blos  die  Verletzungen  an 
der  rechten  Hand  (B  Z.  6a,  b). 

Was  die  Zeitdauer  betrifft,  welche  die  Leiche 
dort  bis  zur  Auffindung  sein  konnte,  da  müssen 
Avir  in  Anbetracht  des  Umstandes,  dass  die  Leiche 
fast  steif  gefroren  und  vollkommen  frisch  ge- 
funden wurde,  die  Möglichkeit  zugeben,  dass 
die  Leiche  dort  2'/^  Tage  gelegen   sein    konnte, 


—    93    — 

also    von    der    Zeit,    von    welcher    an    die    Er- 
mordete vermisst  wurde. 

Mit  Bezug  auf  §  125  des  Straf- Gesetzb.  er- 
klären wir,  dass  wir  keine  Zeichen  eines  ge- 
schlechtlichen Missbrauches  an  der  Leiche  vor- 
fanden, dass  wir  jedoch  aus  dem  Grunde,  dass 
noch  die  chemische  und  mikroskopische  Unter- 
suchung der  vermeintlichen  Spuren  von  Samen 
an  dem  Schamberge  und  den  Hosen  abge- 
wartet werden  muss,  mit  Sicherheit  uns  noch 
nicht  aussprechen  können.) 


Fortsetzung  vom  19.  April. 

(Die  Aerzte  ergänzen  nach  Reciuisition  des  Kreis- 
gerichtes in  Kutenberg  vom  17.  April  ihr  Gutachten 
folgendermassen) : 

Sowohl  nach  der  äusseren  als  nach  der  inneren  Unter- 
suchung behaupten  wir,  dass  die  Leiche  der  Agnes  Hruza 
fast  vollständig  ausgeblutet  war.  Die  Verblutung  musstc 
geschehen  durch  die  Schnittwunde  am  Halse,  wodurch 
zahlreiche  und  mächtige  Gefässe  zerschnitten  wurden. 

Die  Verblutung  trat  in  kurzer  Zeit  ein  und  musste 
das  Blut  in  mächtigem  Strome  aus  der  Leiche  fliessen. 
Das  Blut  in  einer  solchen  Menge  aus  der  Wunde  Üiessend, 
musste  beim  Kontakt  mit  der  Luft  gerinnen,  wobei  in  der 
Zeit  von  wenigen  Minuten  sich  ein  mächtiger  Blutkuchen 
ausbilden  musste,  d.  h.  Fibrin  mit  den  festen  Bestand- 
teilen, blos  Blutserum  kann  verdunsten  oder  in  den  Erd- 
boden aufgesaugt  werden. 

Ebenso  können  wir  nicht  zug<^ben,  dass  die  Dauer 
von  2  Tagen  bis  zur  Auffindung  der  Leiche  und  die 
massigen  Eegenmengen  den  Donnerstag  darauf  einen 
solchen  Einfluss  haben  konnten,  dass  der  Blutkuchen 
gänzlich  verloren  ging. 


—    94    — 

In  Anbetracht  dessen,  dass  der  Mord  wahrscheinlich 
in  der  erwähnten  Grube  beim  Wege  stattgefunden  hat, 
wo  das  austretende  Blut  beisammen  bleiben  musste  und 
in  Anbetracht  dessen,  dass  die  Kleidungsstücke  und  die 
beiden  Orte,  wo  wahrscheinlich  der  Mord  verübt  und  die 
Leiche  aufgefunden  wurde,  nur  wenig  von  Blut  durch- 
tränkt, eher  blos  benetzt  waren,  so  können  wir  mit  Sicher- 
heit darauf  schliessen,  dass  die  Blutspuren,  die  gefunden 
wurden,  nicht  der  Menge  entsprechen,  welche  wir  bei  einei- 
solchen  Todesart  in  der  Umgebung  der  Leiche  erwarten 
dürften. 

Endlich  in  Bezug  auf  die  Umstände,  wie  der  Sclmitt 
am  Halse  geführt  wurde,  müssen  wir  mit  Sicherheit  be- 
haupten, dass  der  Schnitt  an  der  Ermordeten  ausgeführt 
wurde  mit  zur  Erde  gekehrtem  Gesichte;  denn  wenn  der 
Schnitt  in  der  Lage  am  Rücken  vollführt  worden  wäre,  so 
müsste  die  Umgebung  und  die  Bäume  durch  den  nach  allen 
Richtungen  spritzenden  Blutstrom  besprengt  sein,  was  wir 
bei  genauer  Besichtigung  nicht  fanden,  denn  die  blut- 
betriefte  Stelle  war  von  geringer  und  begrenzter  Aus- 
dehnung. 


PLEASE  DO  NOT  REMOVE 
CARDS  OR  SLIPS  FROM  THIS  POC 

UNIVERSITY  OF  TORONTO  LIBF 


^IBMSiifiHi^siU^ 


^3 

M 

^Ml 

i|L 

Ä 

l  r 

K 

Hj^ 

|fP3ff.§Jg}T?tt^