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Masaryk, T. G. (Tomas Garrigue)
Die Bedeutung des Polnaer
Verbrechens für der Rituala-
berglauben
CO
PURCHASED FOR THE
University of Toronto Library
FROM THE
Jose'ph and Gertie Schwartz
Memorial Library Fund
FOR THE SUPPORT OF
Jewish Stiidies
Die Bedeutung des
Polnaer Verbrechens
für den
Ritualaberglauben.
Von
Professor T. Q. Masaryk.
^«
BERLIN.
Druck und Verlag von H. S. Hermann.
1900.
Die Bedeutung des
Polnacr Verbrechens
für den
l^itualaberglauben.
Von
Professor T. G. Masaryk.
^
BERLIN.
Druck iiiul Verlag' von H. S. Heriuanu.
Vorrede.
Die Antisemiten sehen im Polnaer Verbreelien die
stärkste Bestätigung des Kitualaberglaubens. Das hat mich
bewogen, den Polnaer Prozess nach allen Seiten genau zu
überprüfen und das Resultat dieser Prüfung lautet : das
Polnaer Verbrechen ist kein Ritualverbrechen, im Gegenteil
ist es ein schlagender Beweis dafür, das der Ritual-
aberglaube in der That im vollsten Sinne des "Wortes ein
Aberglaube ist. Dieser Aberglaube ist eine Schmach
der Zeiten, eine brennende Anklage des oftiziellen Christen-
tums, die offene Thüre alles übrigen Aberglaubens, die
hohe Schule nationaler und sozialer Verblendung und Ge-
waltthätigkeit.
Die hier öfters erwähnte Broschüre ist meine Studie:
Die Notwendigkeit der Revision des Polnaer Prozesses, 1899.
Die zahlreichen Seitenangaben beziehen sich auf das
dort zitierte stenographische Protokoll der Hauptver-
handlung.
Zu pag. 21 füge ich hier einen Nachtrag über das
Quantimi der Ausblutung bei. Bei vollkommenerer De-
kapitation beträgt der Blutaustluss 74 "/o; ist der Hals auf
beiden Seiten, d. h. alle grossen Halsgefässe durchschnitten,
so cntHiessen 50°/,. Darnach könnte der Blutausfluss bei
einseitiger und noch dazu unvollkommener Durchtrennung
der Blutgefässe viel weniger als 50 7,, l>etragen.
Prag, den 1. Februar 1900.
T. G. 3[.
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littp://www.arcliive.org/details/diebedeutungdespOOmasauoft
I. Ein neues Gutachten der Polnaer Gerichtsärzte.
Der Polnaer Prozess droht seine bisherige Sensation
zu überbieten; wenigstens ist die in den „Rad. Listy" vom 5.
und im „Deutsclien Volksblatt" vom 14. Dez. 1899 erschienene
.„Antwort" der Pohiaer Gerichtsärzte auf meine Broschüre
gewiss sensationell. Darin haben die antisemitischen
Blätter ganz recht. In der That muss man von Sensation
sprechen, wenn die Gerichtsärzte jetzt nach durchgeführtem
Prozess mit ganz neuen Thatsachen auftreten, und noch
sensationeller ist es, wenn dieselben jetzt etwas ganz
anderes behaupten, als sie in ihrem Obduktionsprotokoll
ausgesagt haben ... In diesem Obduktionsprotokoll heisst
CS zum Beispiel, dass der Oberkörper der ermordeten
Agnes Hruza bis zum Gürtel ganz nackt gefunden
wurde — jetzt lesen wir, dass die Leiche angekleidet
war, dass der Polnaer Todtengräber vor der Obduktion
„genötigt war, die Jacken zu durchschneiden, damit er
dieselben vom Körper der Agnes Hruza herabbe-
kommen könnte". Auch die Anklage führt an, der Ober-
körper sei ganz entblösst gewesen.
Die „Antwort" der beiden Herren Gerichtsärzte be-
stätigt mir das Bild, das ich mir als Laie von ihrer
medizinischen Sachkerintniss gemacht habe. Wie gesagt,
bin ich Laie.. Als Student habe ich zwar einige Semester
der Anatomie und Physiologie gewidmet, aber davon ist
mir nichts mehr geblieben, als dass ich mir in den ver-
— 2 —
schiedenen Fachbüchern die nötige Belehrung zusammen-
suchen kann. Ich sage das desshalh, damit in meinen
medizinischen Erörterungen keine fremden Faclimänner
gesucht werden. Allerdings habe ich nach der Veröffent-
lichung meiner Broschüre einigen berühmten Fachmännern
mehrere Fragen gestellt, wie sich dieselben mir aus dem
Parere der Polnaer Aerzte ergeben haben; auf diese Fragen
habe ich allerseits das grösste Entgegenkommen gefunden.
Ich sage allen den Herren hier meinen Dank, werde sie
aber nicht nennen, weil ich sie den rohen Angriffen und
Insinuationen der klerikal - antisemitischen Presse nicht
aussetzen will.
Ueber Kleinigkeiten will ich mit den Herren Aerzten
nicht ins Gericht gehen. Ich weiss, dass sie ihre Antwort
nicht selbst stilisiert, nur durchgesehen haben, und darum
vermeide ich es, die mehr stilistischen Versehen zii be-
sprechen. Nur die Insinuation, ich hätte einige Worte ab-
sichtlich gefälscht, muss ich mit aller Entschiedenheit
zurückweisen.*)
Freilich werde nicht ich allein der Fälschung ge-
ziehen. Die Herren Gerichtsärzte schreiben nämlich, dass
im Protokoll über den Lokalaugenschein und überhaupt
mehrere „unpassende und mit dem Begriffe sich nicht
präzis deckende Bezeichnungen" zu finden seien; das
rühre entweder daher, dass der Rat Reichenbach als ge-
borener Deutscher der böhmischen Sprache ungenügend
mächtig sei, oder daher, dass diese unpräzisen Ausdrücke
„ a b s i c h 1 1 i e Ii von jemand anderem gebildet
wurden ". ]\lich interessiert nicht zu wissen, wer dieser
„jemand" ist — aber das muss ich sagen: in dem Prozesse,
in welchem es sich nicht nur um Leben und Tod von In-
dividuen, sondern um eine schwere Anklage gegen ein
ganzes Volk handelt, wimmelt es von so unpräzisen Aus-
*) Da es sich speziell um bestimmte Worte handelt, so
verweise ich auf die böhmischen Ausführungen im „Cas" vom
16. Dezember 1899.
— 3 —
drücken und diese Ausdrücke sind noch dazu „absichtlich
gebildet", das heisst einfach j^efälscht worden! Das
sind ja ganz artige Anklagen — ich wiederhole, das
„Deutsche Volksblatt" hat ganz recht, wenn es die Ant-
wort der unter Eid aussagenden Polnaer Aerzte als sen-
sationell angekündigt hat. Ich selbst bin nur froh, dass
ich meine Broschüre geschrieben habe die Herren
Sachverständigen und Richter haben nun Gelegenheit, den
Prozess vorläufig publizistisch zu korrigieren.
Die Herren Polnaer Gerichtsärzte korrigieren sich
übrigens auch selbst. Obwohl sie die Unpräzision des
Ausdruckes dem deutschen Richter vorwerfen, sind sie
selbst in ihrer „Antwort" gezwungen, viermal die eigene
Unpräzision einzugestehen und zu entschuldigen. Diese
Selbstanklage ist zu wichtig, als dass ich dieselbe nicht
genauer fixieren sollte. Da wo es sich um die Erklärung
der Umbiegung der Füsse handelt, schreiben die Herren:
„ D i e E r k 1 ä r u n g . . . i s t zwar von einem ^' o n
u n s b c i d e n d e m P r ä s i d e n t e n ein wenig u n -
bestimmt gegeben worden, aber der andere hat
die Stellung (der Füsse) auf natürliche Weise erklärt, wie
sich der Herr Professor aus dem Protokoll (der Haupt-
verhandlung) überzeugen konnte." Dieses erste Einge-
ständnis der Unpräzision enthält eine neue Unpräzision: es
ist nämlich gar nicht wahr, dass der zweite Sachver-
ständige das Umbiegen der Füsse natürlich erklärt habe.
Ich kenne diese Erklärung sehr gut (Protokoll der Haupt-
verhandlung pag. 315); aber der Leser wird sich sogleich
überzeugen, dass die Erklärung gar nicht ,, natürlich" und
dass sie überdies mit der in der „Antwort" gegebenen
nicht identisch ist. An zweiter Stelle gestehen die Herren
Gerichtsärzte, dass einer derselben bei der Beschreibung
der Wunde sich „unpassend ausgedrückt habe";
drittens gestehen die Herren ein „Versprechen" zu:
,, i n der ungewöhnlichen Aufregung wird
1) ei d e r V e r li a n d 1 u n g i r r t h ü m 1 i c h ein W o r t
1*
— 4 -
g-obraucht, das sich mit dem Begriffe nicht
vollständig deckt, anders als bei der ruhigen Be-
obachtung und dem Diktieren des ProtokoUes". B e -
e i d e t e Sachverständige, Mediziner — sind aufge-
regt bei einer anatomischen Erklärung? Endlich an vierter
Stelle geben die Herren Sachverständigen zu, dass „d i e
Stelle (über die Steine) in der T h a t ein av e n i g
unklar stilisiert ist": eben hörten wir die Ausrede
auf die mündliche Verhandlung — hier haben wir eine
Stelle aus dem „ruhigen" Diktate des eigenen Proto-
koUes!
In der That müssten die Herren Sachverständigen
ihr ganzes Protokoll und Gutachten auf dieselbe Weise
korrigieren und zurücknehmen; es thut mir leid, sagen zu
müssen, dass alle ihre mündlichen und schriftlichen Aus-
sagen sachlich fast wertlos sind, wie mir das mehr als eine
medizinische Autorität bestätigt hat. Zu ihrer I^ntschuldi-
gung will ich trotzdem anführen, was mir ein berühmter
Anatom schreibt: „. . . Die Polnaer Aerzte haben die Ob-
duktion nicht schlechter ausgeführt als dies andere Aerzte
gethan hätten. Man kann von den praktischen Aerzten
nicht auch noch verlangen, dass sie fehlerlose Sektionen
machen. Eine Sektion ist Sache des Anatomen und nicht
eines gewöhnlichen Arztes. Eine Reform dieser in foren-
sischer Beziehung so wichtigen Angelegenheit wäre an
der Zeit."
Bevor ich mich nun zu der Besprechung einiger wich-
tigerer Punkte wende, muss ich vorerst konstatieren, dass
die gerichtlichen Sachverständigen ganz und gar meine
anatomischen und physiologischen Erklärungen annehmen;
ich würde mich darüber freuen, wenn ihnen die Herren
nicht einen ganz anderen Sinn unterschieben und ihre
früheren Ausführungen desavouieren würden.
Ganz besonders begreifen sie nun, dass die
Umbiegung der Füsse in einem scharfen
Winkel und die Krümmung des Körpers eine
— 5 —
äusserst wichtige Thatsaclie sind und sie versuchen es
nun, diese Thatsachen eingehender zu erklären. I m
Obduktionsprotolvöll steht darüber kein
Wort! Die Mörder — so lautet in Kürze ihre Er-
klärung — wollten die Körperlänge möglichst ver-
kürzen, um die Leiche zu verstecken; darum haben sie
die Füsse in den Knien nach rückwärts umgebogen und
unter die Aestc eines Fichtenbäumchens gelegt; die Aeste
dieses Bäumchens haben die umgelegten Unterschenkel
niedergehalten und an dem Rückfällen verhindert.
Diese Erklärung ist unmöglich: die Aeste eines
Fichtenbäumchens sind doch an dem Stamme in verschie-
dener Höhe im Kreise angebracht, und darum können sie
umgebogene Beine nicht in einer und derselben Höhen-
lage niederhalten: überdies waren die Aeste des besagten
Bäumchens dazu zu schwach — die Herren selbst geben
seine Höhe auf höchstens 1.25 Meter an — und darum
kann man nur von A e s t c h e n sprechen, wie es bei der
mündlichen Verhandlung thatsächlich geschehen ist. Diese
Aestchen, wird uns weiter gesagt, reichten bis zur Erde:
das waren gewiss die stärksten, aber wie konnten sie die
Beine in einer bedeutenderen Höhe niederhalten? Das
könnte nur ein ziemlich starker und langer Ast leisten, der
in der entsprechenden Höhe (etwa 18 bis 20 Centimeter)
und Lage die gebeugten Füsse niederhalten würde. Wenn
die Füsse in ihrer gewaltsamen Umbiegung in einem
scharfen Winkel niedergehalten werden sollten, so müsste
der Ast mit seinem Drucke nahe an den Füssen einsetzen,
läge er nahe an den Knien, so könnte er gerade infolge
seines Druckes die Beine zurückschnellen oder selbst ab-
gleiten, und die Beine wären dann nicht im scharfen
Winkel gekrümmt geblieben. In jedem Falle hätte ein so
stark drückender Ast auf den Füssen eine starke Furche
verm-sacht — im Obduktionsprotokoll hören wir von einer
solchen Furche gar nichts; es werden an den Füssen „ver-
schiedene Eindrücke" konstatiert, aber als die äugen-
6 -
fälligsten werden auf^drlleklich die Eindrücke von den
Strumpfbändern (unter den Knien) Iiervorgehoben.
Ebenso unmög-lich ist die Erklärung der Gerichts-
ärzte bezüglich der Krümmung des Körpers. Im Ob-
duktionsprotokoll und bei der Verhand-
lunghabensie auch diesen Gegenstand gar
nicht berührt. Die Mfirder, so sagen sie jetzt, haben
die Knie und Oberschenkel des Körpers noch näher an
den Stamm des Bäumchens „weggeschoben", und dadurch
sei der Körper auf der rechten Seite gekrümmt worden.
Eine unglaubliche Anatomie! Ein Wegschieben der Ober-
schenkel ist eben nur ein Wegschieben, weiter nichts; die
Oberschenkel wären dadurch höchstens aus der Richtung
des Oberkörpers verschoben. Nach der Anklage war der
Körper „in massigem Bogen in der Richtung nach rechts ge-
krümmt" — das Beiseiteschieben der Oberschenkel nach
rechts kann den Oberkörper, das Rückgrat, nicht in der Rich-
tung nach rechts krümmen. Entweder folgt der Oberkörj^er
(wenigstens zum Theil) dem Drucke nach rechts und be-
wegt sich etwas nach links, oder es entsteht auf der
rechten Weich Seite eine kleine Eindrückung, der links eine
entsprechende Ausweitung entspräche! Allein die Herren
vergessen bei ihrer Erklärung auf ein wichtiges Faktum,
dass die Unterschenkel nicht nur nach rückwärts, sondern
dass dieselben zugleich auch etwas nach rechts umge-
bogen waren: durch die Manipulation unter den Baumästen
und besonders durch das Wegschieben nach rechts wären
die Füsse nach links gedrückt worden! Der ständige
Druck der von der rechten Seite anliegenden Aeste hätte
sie nach links gebeugt. Uebrigens lässt sich di(^
Unrichtigkeit der gegebenen Erklärung durch den Lokal-
befund erweisen. Die Leiche wurde zwischen zwei Bäuni-
chen so gelegt, dass beide Bäumchen von der Leich»'
etwas rechts zu stehen kamen; von dem einen Bäumcheii
;um anderen habe ich die Entfernung von zirka 138Centi
meter gemessen. Die Entfernung des Kopfes von dem
vorderen liäumclicii betrug" nach verlässlicher Angabe
etwa 10 Centimeter; bleiben also für den Körper etwa
128 Centimeter, wenn er bis an das zweite Bäumehen ge-
reicht hätte. Der Körper der Agnes Hruza war 155 Centi-
meter lang; ich berechne die Länge der Unterschenkel
39 Centimeter, bleibt also für die Länge des liegenden
Körpers 116 Centimeter, die Knie haben also an den Stamm,
respektive unter die Aestchen, wo sie am stärksten sind,
gar nicht herangereicht; überdies muss man noch den An-
griffspunkt der Aestchen auf die umgebogenen Unter-
schenkel, im günstigsten Falle 16 Centimeter, abrechnen.
Das heisst aber: bei der für die Herren Sachverständigen
günstigsten Berechnung müssten die umgebogenen Unter-
schenkel von den Baumästen in der Entfernung von circa
100 Centimeter vom Kopfe niedergehalten werden. Das
heisst weiter, die Stelle der umgebogenen Unterschenkel, an
der die Aeste mit ihrem niederhaltenden Druck einsetzen
müssten, Avären vom Baumstämme zirka 28 Centimeter
entfernt, und das bedeutet wiederum, dass die „Aeste"'
die umgebogenen Füsse nm' mit ihren schwachen Enden
bedeckt, nicht aber niedergedrückt hätten, weil die Füsse
eben nicht an dem Stamme und unter den Aesten, wo sie
am stärksten sind, sein konnten.
Da ich schon von der Lokalität spreche, so mache
ich für alle Fälle aufmerksam, dass die Leiche auf
ganz ebenem Terrain gelegen war, dass
also die Beine nicht höher lagen als der
Kopf — eher war dieser etwas höher gelegen als die-
Füsse. Noch mehr. Das Fichtenbäumchen stand, wie ge-
sagt, von der Leiche rechts. Gesetzt, es hätte den ge-
Avünschten starken Ast gehabt, so ist klar, dass er nur den
einen, den rechten Unterschenkel festgehalten hätte, der
linke wäre zurückgefallen oder wäre viel weniger stark
gebogen gewesen, während nach der mündlichen Erklärung
eines der Herren Gerichtsärzte beide Füsse gleich stark
umffcboffen waren.
Bei der inündlicheh Verhandlung Avurden über di<'
fatale Umbiegung der Füsse folgende Erklärungen abge-
geben. Der erste Sachverständige sagte, die Umbiegung
lasse sich durch das Unterbringen zwischen den Bäumchen
nicht erklären; die Füsse seien umgebogen worden,
damit der Rest des Blutes ausfliesse.*) Der zweite Sach-
verständige sagte, dass die Füsse an den „ A e s t c h e n "
angestossen haben und sich dadurch umbiegen k o n n t e n.
Es ist also nicht wahr, dass die Erklärung der „Antwort"
schon bei der Verhandlung gegeben wurde. Im Gegen-
theil, er lässt noch nicht die Voraussetzung zu, dass dies
absichtlich geschehen sei. Erst jetzt, nach meiner
Belehrung, sieht er in dem Umbiegen eine Absicht und
gibt eine ganz andere, allerdings falsche Erklärung, als er
früher gegeben.
Die Sache ist klar: die Leiche wurde an die Fund-
stelle mit umgebogenen Füssen und gekrümmtem Ober-
körper gebracht — sie w^urde dann in der Nähe der Bäum-
chen so niedergelegt, dass die Aeste derselben die Füsse
theilweise bedeckten. Das für die Mörder so fatale Um-
biegen der Füsse beweist, dass die Füsse vor der Leichen-
starre in die Position, in der sie gefunden, absichtlich ge-
bracht wurden. In dieser Position wurden sie durch einen
kräftigen Widerstand erhalten, und zwar stelle ich mir die
Sache so vor, dass die Leiche in irgend einem Sacke,
Korbe, einer Truhe u.dgl. geborgen war; dadurch wurden
die Beine umgebogen und nach rechts gedrängt, der Ober-
*) Ich habe schon in meiner Broschüre gesagt, dass das
Umbiegen den Blutabfiuss eher verhindern würde. In dem Lehr-
buch der Chirurgie von Hvieter-Lossen, L, 6. und 6. Aufl., 1889,
pug". 375, findet der Herr Sachverständige eine Zeichnung, wie
durch das Umbiegen des. Fusses im Knie die arterielle Blutung
erschwert wird. Gewöhnliche Mörder müssten das natürlich
nicht wissen, aber Ausgesandte einer geheimen Ritualsekte haben
gewiss nicht nur ihre Ritualtraditiou, sondern auch die Tra-
dition, wie dem Körper das meiste Blut entzogen werden könne.
— 9 -
kürper wurde zugleich in der Richtung nacli reclits ge-
krümmt. Der Vorgang lässt sich natürlich auf sehr ver-
schiedene Weise erklären. Sicher aber scheint mir zu
sein, dass für das Umbiegen der Füsse im' Walde kein
hinlänglicher Grund auffindbar ist. Jeder kann an sich
selbst versuchen, dass das Umbiegen und Erhalten der
umgebogenen Unterschenkel in scharfem Winkel eine
grosse Energie erfordert; weil im Kniegelenke die Strecker
(Musculus quadriceps cruris) weitaus stärker sind, als die
Heuger. Demgemäss mu'sste auch kurz vor dem Tode
(in der Agonie) oder gleich, jedenfalls bald nach dem
Tode eine bedeutende Kraft längere Zeit wirken, welche
die Beine umbog und beim Eintritt und Fortgang der
Leichenstarre in der gewaltsamen Position erhielt.*) Irgend
eine, wenigstens halbwegs plausible Erklärung der auf-
fallenden Thatsache muss doch gegeben werden. Nun
sagen die Herren Sachverständigen, die Mörder hätten die
Leiche verkürzt, um sie zu verbergen. Allein diese Er-
klärung genügt nicht. Das Umbiegen der Füsse macht im
*) Ich habe einig'e Aerzte ersucht, an frischen Leichen
(jugendlicher, gesunder Personen) mit dem scharfen Umbiegen
der Füsse in der Bauchlage Versuche zu machen. Aus den
bisher eingegangenen Daten ersehe ich, dass meine Voraus-
setzung ganz richtig war, dass nämlich die etwa zufällig um-
gebogenen Füsse sogleich zurückfallen, wenn sie nicht durch
eine ziemlich stark wirkende Kraft festgehalten werden.
Wird der Fuss 5 Minviten nach erfolgtem Tode in scharfem
Winkel umgebogen, so schnellt er, losgelassen, sogleich in
die horizontale Lage zurück. Der Fuss wurde so stark um-
gebogen, dass die Ferse den Oberschenkel berührte und in dieser
Lage 15 Minuten festgebunden: nach Beseitigmig des Bandes
fiel der Fuss zurück. Dasselbe geschah auch nach weiteren
5 Minuten. Erst nachdem der Fuss von neuem 1 Stunde 35 Mi-
nuten festgebunden blieb, verblieb er in der Position, aber nicht
ganz, der Unterschenkel entfernte sich um ca. 10 Centimeter
vom Oberschenkel. In die horizontale Lage zurück gebracht,
schnellte der Fuss, in den scharfen Winkel umgebogen, wiederum
zurück, wenn er nicht wenigstens 5 — 20 Sekunden fixirt wurde.
- 10
Gegentheil die Leiche auftallig'er. Die lleiren bageii, die
Mörder wollten nicht, dass die Beine liinter das eine
Bäumchen reichten. Thatsäclilich hätten die Beine um
etwa 27 Centimeter über den Ast hinaus gereicht und
waren darum von den „Aestchen" auch bedeckt. Wenn
die Mörder die Beine im Walde yerkürzt hätten, so hätten
sie die Knie bis an den Stamm gerückt, und ganz beson-
ders hätten sie die ganze Leiche in die Mittellinie zwischen
die zwei Bäumchen gelegt, während sie dieselbe neben die
Bäumchen gelegt haben. Die Leiche war mit vier Fichten-
bäumchen bedeckt, ehi fünfter hätte, wenn nötig, die Unter-
schenkel und P^üsse versteckt.
Ueberdies wiederhole ich nochmals: Es handelt sich
nicht nur um das Umbiegen der Füsse nach rückwärts,
sondern auch darum, dass diese Füsse zugleich nacli
rechts umgebogen waren, und dass der Oberkörper nach
rechts gekrümmt war!
Um nichts besser ist in der „Autwort" die Erklärung
der Halswunde. Wie überhaupt, so fechten die Herren
auch in diesem Falle mit Worten. In ihrem Obduktious-
protokolle, so schreiben sie, hätten sie von keinem
„Schächtermesser" gesprochen und überhaupt seien sie
nicht unter dem Drucke der Ritualsuggestion gestanden.
Nun habe ich nicht vom Obduktionsprotokoll gesprochen;
in meiner Broschüre sage ich doch ausdrücklich, dass ich
mich an die Protokolle der Hauptverhandlung halte, und
in dieser sprechen die Herren ganz bestimmt im Sinne
des Ritualaberglaubens.*) Was das „Schächtermesser" an-
betriff't, so führe ich für dasselbe ausdrücklich den An-
kläger, den Präsidenten und einen Zeugen an. Doch das
nur so nebenbei; wenden wir uns zur Beschreibung der
Halswunde,
Auch in diesem so wichtigen Punkte sind die Herren
Sachverständigen durch meine Ausführungen belehrt
*) Uebrigeuö ver^'l. darüber noch den VI. Abschnitt.
11 —
wurden. Die früheren ungenauen Ausdrüeke führen sie
auf die — Aufregunj^ zurück. Im Obduktionsprotokoll
steht, dass der Kehlkopf „ein wenig durchschnitten" Avar;
jetzt sagen sie uns, dass der ganze Kehlkopf durch-
schnitten war, und die Wunde wird derart charakterisiert:
,,Tief war sie auf beiden. Enden gleichniässig, in der Mitte
am tiefsten, auf den Enden am seichtesten."
So müsste die Wunde sein, wenn sie ,, rituell", wage-
recht, geführt wurden wäre; allein aus dem Obduktions-
prutokoll geht hervor, dass es eine Stichschnittwunde war.
Ich habe natürlich nicht gesagt, wie die Herren jetzt
meine Worte verdrehen, dass die Wunde in zwei Tempi
verursacht worden sei, als ob der Thätor zuerst zugc-
stossen und dann nach einer Pause geschnitten hätte —
das Messer ist in den Hals gestossen und mit derselben
Bewegung schneidend herausgezogen wurden. Wäre der
Schnitt wagerecht geführt worden, so v\äre die Wunde
auf der linken Ilalsseitc viel länger, wenn es wahr ist,
dass sie bis zum Wirbelknochen gedrungen, rechts aber
nur kurz (wie lange?!) war. Auch wiederhole ich, das
Messer wäre bei dem Schneiden in der Richtung zum Ohre
auf den Hinterhauptknochen gestossen und wäre auch aus
diesem Grunde nicht bis zum Wirbelknochen gedrungen,
weil es eben rechts nicht weit vorgedrungen ist. Rechts
vom Kehlkopf sind gar keine Blutgefässe
verletzt worden! Allerdings ist die Beschreibung
der Wunde im Obduktionsprotokoll ein anatomisches
Unikum! Es Avird dort gesagt, dass die vena jugularis
externa (notabene eine sehr kleine Vene!) durchtrennt und
die carotis communis angeschnitten wurde — und
das ist eine riesige und erschreckliche Wunde? Freilich
heisst es in demselben Protokoll an anderer Stelle, dass
alle Weichtheile bis zum Wirbelknochen durchschnitten
waren; allein das passt nicht zu der Aufzählung der zwei
durchtrennten Adern; wir lesen nichts über die Durch-
schneidung der starken Halsmuskeln, nichts über die starke
- 12 —
Vena jugiüaris interna u. s. w. Darnach, wiederhole ich,
Avar die Wunde nicht riesig. Wenn die Herren Gerichts-
ärzte sich jetzt in ihrer „Antwort" auf das durch die
Wunde entsetzte Volk berufen, so folgt daraus gar nichts;
ebensowenig erklärt uns die Ausrede der Herren Gerichts-
ärzte selbst, dass auch sie — aufgeregt waren.
Nach der Beschreibung der Halswunde ist es ganz
gut möglich, dass dieselbe mit einem gewöhnlichen
Taschenmesser (etwa mit der Brotklinge) versetzt wurde;
nichts beweist, dass das Messer gross und stark sein
niusste. Aber darin eben besteht das Uebel, dass die
Sachverständigen die Wunde nicht genau besichtigt und
beschrieben haben. Man sieht aus allem, dass sie von
ihrer Art keine klare Vorstellung haben: Im Obduktions-
protokoll sagen sie von ihr, sie „habe sich etwas (wie
Aveit?) von rechts nach links zum Ohre hingezogen"; dar-
nach Avird sich jeder vorstellen, der Schnitt sei von rechts
nach links geführt Avorden; aber bei der mündlichen Ver-
handlung sagte der erste Sachverständige, die Wunde sei
\'on links geführt Avorden, der zweite meint, das Messer
sei an der linken Seite angesetzt worden — in der „Ant-
Avort" Avird die Wunde als wagerecht geführte Schnitt-
wunde beschrieben. Ich zweifle, dass bei einer AA^age-
rechten Wunde das Messer bis zum Knochen eingedrungen
Aväre, falls der Kehlkopf nur „ein Avenig dm'chschnitten"
wurde, die Wunde links in der Richtung zum Ohr ver-
lief und die Gefässe rechts vom Kehlkopf gar nicht tan-
girt Avurden; in Reinsbergs gerichtlicher Medizin Avird als
Erkennungszeichen der StichAA^unde unter anderem ange-
führt, dass dieselbe häutig bis zum Knochen dringe — die
Herren Sachverständigen haben den Knochen offenbar
gar nicht angesehen.
Ueber untergeordnete Fragen Avill ich nicht viel
Worte machen. Die Herren Sachverständigen polemisieren
— 13 —
zum Beispiel gegen die Hypothese Dr. Bulovas, dass die
Leiche an den Fundort getragen wurde; allein ich
habe doch gleich gesagt, dass die Leiche wahrscheinlich
überführt wurde. Falls die Strangulationsfurche that-
sächlich an dem lebenden Körper verursacht wurde, so
habe ich gar nichts dagegen; das ist eine Frage für
sich, und beweist gar nicht, dass die That im Walde
verübt wurde, denn stranguliert wird in einem Gebäude
nicht anders als im Walde. Allerdings muss ich den
schwerwiegenden Vorwurf wiederholen, dass die Strangu-
lationsfurche nicht untersucht wurde; es hätten doch die
unterliegenden Muskeln untersucht werden sollen, um die
Stärke der Zerrung zu bestimmen, auch hätte, wie mir gesagt
wird, eine decisive mikroskopische Untersuchung ange-
stellt werden sollen, um zu entscheiden, ob die Strangu-
lation in vivo oder post mortem verursacht worden ist.
Die Herren Sachverständigen imputieren mir den
Ausspruch, die Leiche sei bald nach dem Tode
an die Fundstelle gebracht worden, ja
sie zitieren sogar meine angebliche Berechnung des Ter-
mines auf 10 bis 14 Stunden. Allein das ist nur in der
Pliantasie der Herren; ich habe im Gegenteil ausdrücklicli
betont, dass ich über diese Zeitbestimmung absichtlich
noch nichts sage.
Unter anderem führen die Herren Sachverständigen
Zeugenaussagen für die Thatsäche an, dass vor dem
Morde an der Fundstelle der Leiche nicht soviel Steine
aufgehäuft waren, wie nach dem Morde. Die Herren
Sachverständigen sehen darin einen Beweis dafür, dass
die Mörder ihren Plan wohl durchdacht und vorbereitet
haben. Man traut seinen Augen kaum, wenn man so
etwas liest: die Mörder haben sich massenhaft Steine vor-
her zusammengetragen, um sich dann einen auszuwählen,
mit dem dem armen Opfer die Wunden am Kopfe beige-
bracht werden sollten! Oder wurde jede von den acht
Wunden mit einem anderen Steine zugefügt? ...
- 14 -
Ich habe es gerügt, dass die Aerzte den Inhalt des
Magens nicht genauer bestimmt haben. In der „Ant-
wort" werde ich nun belehrt, dass Agnes Hruza nach der
Aussage des Fräulein Prchal etwa um 4 Uhr Milch und
Brot gejaust habe, bei den Hruzas habe man diesen Tag
eine Kartoffelsuppe und Kartoffeln zum Nachtmahl gehabt
und davon sei im Magen keine Spur zu finden gewesen.
Und das soll nun eine genaue Bestimmung sein? In dem
Obduktionsprotokolle steht, dass imMagen eine grosse Menge
von einem dünnflüssigen weisslichen Brei, nach allem haupt-
sächlich aus Milch bestehend, gefunden wurde, nur hie und
da seien auch festere Speisenreste vorhauden gewesen.
Woraus bestand also der Brei, wenn die Milch nur den
liauptsächlichsten Bestandteil bildete? Nicht etwa
auch aus — Kartoffeln? Wurde gekochte oder rohe
Milch genossen? Ich zweifle, dass nach zwei Stunden nur von
der Jause im Magen eine grosse Menge zurückgeblieben
wäre. Natürlich wird uns auch nichts über den Inhalt der
Gedärme gesagt. Was aber die Physiologie des Verdauens
anbetrifft, so überlasse ich es den Sachkundigen zu be-
stimmen, ob Milch (gekochte? rohe?) schon nach 2, oder
nach 3, 4 oder 5 Stunden aus dem Magen schwindet.
Und selbstverständlich würde ich mir die Aussage der
Hruzas sehr genau besehen; übrigens steht nirgends ge-
schrieben, dass die unglückliche Agnes Hruza nacli dem
Nachtmahl entleibt wurde.
Nur noch einen Punkt will ich genauer beleuchten.
Die Sache ist um so wichtiger, als dieselbe Gegenstand
einer denunziatorischen, und agitatorischen Inter-
pellation des Abgeordneten Breznovsky
bildet. Ich werde diesem famosen Herrn und seinen
Helfershelfern die nötige Belehrung geben, umsomehr,
als auch die Herren Sachverständigen die Insinuation, die
zuerst Herr Dr. Baxa ausgesprochen hat, wiederholen. Es
— 15 —
handelt sich nämlich um die Thatsache, dass das Hemd
der Ermordeten mit einer Scheere, nicht mit einem Messer
abgeschnitten ist, wie die Anklage behauptet. Die That-
sache ist, wie bekannt, schon von einer gerichtlichen
Kommission bestätigt gefunden. Um dies abzuschwächen,
insinuieren die Antisemiten dem Untersuchungsrichter, er
habe den Scheerenschnitt an dem corpus delicti nach-
träglich ausführen, Dr. Bulova und seine Frau unerlaubter
Weise mit dem Hemde manipulieren lassen. Gegen diese
geradezu rohe Denunziation kann ich nach eingehendster
Untersuchung Folgendes sagen. Es war Pflicht des Unter-
suchungsrichters, Dr. Bulova und dessen Frau zu
empfangen, sobald sie zur Klärung der Untersuchung bei-
tragen zu können glaubten. Der Untersuchungsrichter hat
die Beiden nicht extra im Geheimen, sondern vor zwei
Zeugen empfangen. Wie ich erfahre, hat er über den
Vorgang ganz korrekt die amtliche Anzeige erstattet, auf
Grund welcher die weitere gerichtliche Untersuchung des
Hemdes beschlossen Avurde, welche das den Antisemiten
äusserst unerwünschte Resultat ergeben hat, dass das
Hemd thatsächlich mit einer Scheere und nicht mit dem
Messer abgeschnitten wurde. Die Herren fühlen, dass das
gegen den Mord im Walde spricht.
Weitere Einwendungen gegen die Herren Polnaer
Aerzte überlasse ich anderen. Selbst ein Laie wird zum
Beispiel wissen, dass nicht nur die lebendige, sondern
auch die tote Haut Eindrücke empfängt: nun Avohen die
Herren in den Abdrücken des Bodens auf der Haut einen
Beweis dafür sehen, dass die Leiche frisch auf den
Boden gelegt Avurde, uud erst dort auskühlte und
erstarrte! Die Leichenstarre erfasst doch die Muskeln,
nicht die Haut!
Und Avelche Ausreden die Herren auch sonst vor-
bringen. Ich habe aufmerksam gemacht, dass sich die
Herren die Frisur nicht genau angesehen haben. In
ihrer ,, Antwort" werde ich nun belehrt, dass an ZAvei
— 16 —
Haarbüscheln die Anzeichen des Flechtens vorgefunden
wurden: was sind das für „Anzeichen"? „Infolge des Zer-
wirrens aber und der Durch tränkung und Zusammenbackung
durch Blut war es nicht möglich, die Art der Frisur zu
unterscheiden . . ."
In einer Sache muss ich den Herren Aerzten zugeben,
dass ich Unrecht hatte — in der Geographie. Als ich
meine Broschüre schrieb, war ich noch nicht in Polna und
der Umgebung gewesen und verliess mich auf Pläne,
Photographien und die Verhandlungsprotokolle. Darnach
habe ich niedergeschrieben, dass man vom Fundorte
nach Polna sehen und hören könne. Dass das nicht
richtig ist, habe ich an der Stelle schon vor der
„Antwort" gesehen und eben wiederum bestätigt ge-
funden, nachdem ich mich eigens nochmals an Ort und
Stelle begeben habe, um die angeführten Ausmessungen
vorzunehmen.
II. Ein Beispiel von imatomisclier Philologie.
Die Leser, müssen mir verzeihen, wenn ich sie mit
solchen Details unterhalte; allein der Ritualaberglaube
lässt sich nicht mit allgemeinen kulturgeschichtlichen
Erörterungen aus der Welt schaffen, er muss derart in
einem konkreten Falle in seiner Nichtigkeit erwiesen
werden. Das sieht doch schon jeder: eine richtige
Obduktion und sachgemässe Beschreibung der Leiche
hätte den Aberglauben im Falle Polna gar nicht aufkommen
lassen!
Die Leser möchten mir aber auch verzeihen, wenn
ich jetzt auf das Gebiet der Philologie abschweife — die
Herren Gerichtsärzte haben nämlich auf die vorhergehende
— 17 —
Antwort nochmals geantwortet*) und in dieser Antwort
sich auf die Philologie zurückgezogen. Die Herren
schämen sich nicht, so alberne Dinge vorzubringen, wie die,
dass ich die Handschriften, die ich vor Jahren als falsch
erklärt habe, auch nicht vor der Falscherklärung ange-
sehen habe, ebenso wie ich vor dem Niederschreiben
meiner ersten Broschüre nicht in Polna gewesen! Natür-
lich! So wie ich mich bei den falschen Handschriften an
den gedruckten Text hielt, so halte ich mich bei dem
falschen Prozesse an den Text der Verhandlung. Wenn
ich in Polna deniLeichnam der armen Agnes Hruza hätte sehen
können, so wäre ich gewiss sogleich hingefahren, aber so
habe ich in Polna nichts zu thun. Das Obduktions-
protokoll und das Gutachten der eidlichen Sachverstän-
digen müsste vollkommen genügen — wenn es eben gut
und sachlich wäre. Wenn ich darum in Polna trotzdem
und schon zweimal war, so kommt das vornemlich daher,
dass die Herren Gerichtsärzte ihre Pflicht nicht gethan
haben. Übrigens waren in Polna die Herren Ge-
schworenen, waren dort alle die Richter und ganz beson-
ders auch die rituell festen antisemitischen Journalisten?
Die Herren Gerichtsärzte bemängeln auch den
gedruckten Text der Hauptverhandlung. Ich weiss ganz
gut, dass in diesem Text verschiedentliche Druckfehler
und sonstige Fehler sind; aber in den strittigen Haupt-
sachen ist der Text ganz gut. Die Herren Gerichtsärzte
haben ihn in ihrer ersten AntAvort selbst berufen. Uebrigens
ist das nicht meine Sorge, die Herren mögen sich das
mit dem löblichen Senat in Kutenberg ausmachen, der
die beiden Stenographen beeidet und derart die Heraus-
gabe des Protokolles oftiziell gemacht hat. Ueberdies
kommt es in ihrem Falle gar nicht auf diesen Text an:
ich zitiere doch ihr eigenes Oduktions-
*) In der N. Politika vom 10. Järmer 1900: „Einige Worte
II. s. w."
18 -
Protokoll u 11 d G u t a c h t c li , da« icli in Avörlliclier
Abschrift liabe. — Wozu also solelie unscliöne Ausreden?
Speziell ist eine solche unschöne Ausrede die Be-
hauptung, im Verhandlungsprotokoll sei gerade an der
Stelle ein Fehler, an dem von der Durchschneidung des
Kehlkopfes gesprochen werde. Es stehe nämlich gedruckt,
der Kehlkopf sei „ein wenig durchschnitten worden", dagegen
solle es heissen, der „durchschnittene Kehlkopf habe ein
wenig hervorgeragt". Ich gestehe, ich bin kein Freund
von medizinischer Philologie: die Herren haben doch das
„ein wenig durchgeschnitten" in ihrem eigenen Obduktions-
protokolle! „Ein wenig durchschnitten" ist
allerdings eine komische Wendung — aber solcher
Wendungen giebt es in d(ui verschiedentlichen Aussagen
der Herren mehr als genug! Ich habe mich darum gar
nicht nur an diese Worte gehalten, sondern ausdrücklich die
anatomische Beschreibung der Wunde betont. Es ist aber
klar : Wenn der ganz e K e h 1 k o p f rund h c r u m
durchschnitten wän^ und wenn, wie wir in der
„Antwort" belehrt worden, dieser Schnitt wagerecht
war, so m ü s s t e an der rechten Kehlkopf-
Seite die Carotis a u c ii d u r c h t r e n n t sein, —
die ist aber intakt geblieb(;n, folglich M'ar der Kchlko|)r
nicht ganz durchtrennt, oder seine Durchschneidung wurden
nicht Avagerecht, sondern beim Ein- oder Ausstich —
Transüxion — verübt.
Die Herren sehen, ihre philologische, national-radikal-
rituell-christlich-katholische Anatomie zahlt sich ihnen
nicht aus, wie ihnen das infolge ihres letzten Auftretens
auch ihr medizinischer Kollege Dr. J. Hälek ausführlicher
gezeigt hat.*) Von der geradezu unglaublichen Unwissen-
heit und anatomischen Schlamperei ((unen anderen Aus-
druck giebt es dafür nicht) der beeideten (!) Herrn
Sachverständigen kann sich auch jeder Laie überzeugen.
*) Vergl. „Gas", 16. Jänner.
— 19 —
üeber die Wunde z. 13. haben wir circa viererlei Aus-
sagen! Im Sektiunsprutokoll lesen wir: Der Schnitt in der
Wunde hat das Zungenbein vom S c h i 1 d k n o r p e I
getrennt;*) dagegen hören wir in der Hauptverhandlung (294),
die Wunde sei bis zur Mitte des R i n g k n o r p e 1 s gegangen
(also hübsch tiefer als im Protokoll!); daselbst hören wir auch,
dass der Ringknorpel nicht ganz durchtrennt Avar, in der
,, Antwort" lesen wir, der K e h 1 k o p f (wo?) sei ganz durch-
schnitten geAvesen und sei darum ganz aus der Wunde heraus-
getreten, — in der letzten schriftlichen Polemik sagen die
Herren, der Kehlkopf hab(^ nur ein wenig hervorgeragt . . .
Oder ein anderes Beispiel: Im Sektionsprotokoll lesen
wir, die linke vena jugularis externa sei durch-, die
carotis communis a n geschnitten, bei der mündlichen Ver-
handlung (294) ist die vena jugularis (welche??) und die
carotis d u r c h geschnitten. . . .
Geradezu eine unerlaubte Unwahrheit ist die Be-
hauptung der Herren, ich hätte am Thatorte den Abstand
der Leiche von dem Bäumchen am Kopfe von 30—40 auf
10 cm. reduziert; ich habe den Abstand absichtlich zwei-
*) In diesem Falle könnte die andere Angabe des
Obduktionsprotokolles kaum richtig' sein, dass nämlich die
carotis communis angeschnitten wurde: bei dem angeblich
schräg zum Ohre geführten Schnitte giebt es in dieser Höhen-
lage keine carotis communis, sondern die getheilte carotis
externa und interna! Ich konstatiere das z.B. nach der 8. Aufl.
des Heitzmann'schen Atlasses pag. 497, 498, 564 und bei Gegen-
bauer, Anatomie des Menschen, 7. Aufl. 1899 II, pag. 285, 313.)
Es müssen darum überhaupt ganz andere Gefässe und
ganz anders durchschnitten sein, als im Sektionsprotokoll an-
gegeben wird. (Ich mache auf den Ausdruck: „Der Schnitt in
der Wunde" aufmerksam: nach dem ganzen Context (der Leser
sehe in der Beilage nach) muss man die Worte so deuten, wie
es oben im Texte geschieht; allerdings bhi ich nicht ganz sicher,
ob die Herren nachträglich nicht sagen werden, sie haben
„einen Schnitt in der Wunde" selbst gemacht und diesen
gemeint -~ freilich wäre auch diese Ausdrucksweise ungenau,
aber man muss bei den Herren auf alles gefasst sein.)
- 20 —
r
mal vor dem Herrn Polizeiauf'seher von Polna gemessen,
ihn um diesen Abstand genau befragt und von ihm die
angeführten 10 cm. als Mass erhalten. Die Herren fangen
offenbar an sich mit bewussten Unwahrheiten auszuhelfen.
Vielleicht sind diese Unwahrheiten unbewusst — man ver-
steht die Herren einfach gar nicht. Wie ist es möglich,
dass sie in ihrer jüngsten Antwort in einigen Stücken
gegen die frühere Antwort schreiben — wie ist es möglich,
d.ass sie gegen das schreiben, was sie schriftlich und
mündlich unter Eid aufgeschrieben und ausgesagt
haben? ....
III. Die angebliche Ausblutung <ler Leiche.
Die Sachverständigen und die Anklage behaupten,
die Leiche der Agnes H. sei ausgeblutet vorgefunden
worden; und da es beiden als selbstverständlich gilt, dass
der Mord an der Fundstelle der Leiche verübt wurde, so
schliessen sie weiter: das der Halswuude rasch ent-
strr>mende Blut sei ganz kunstgerecht aufgeffingen und
fortgeschafft worden. Dafür spricht ihnen die Thatsache,
dass die an Ort und Stelle aufgefundene Blutmenge nicht
der Menge entspreche, die dem Leichnam entronnen
sein müsse.
Die Anklage nimmt an, die Agnes PL sei zuerst
stranguliert, dann in das Gebüsch geschleppt, dort mit
den Steinen durch Schläge in den Kopf betäubt und
schliesslich unterschnitten worden (Verhandlungsprot. 300):
die Aerzte glauben, sie sei gleich am Wege ermordet und
erst dann fortgeschleppt worden und zwar sei sie erst
durch Schläge mit Steinen oder mit dem Stocke ange-
griffen, dann strangulirt und schliesslich unterschnitten
worden.
- 21 -
Die Wunde am Halse wird allgemein als eig-entlichc
Todesursache angesehen und zwar wird behauptet, die
Leiche sei ausgeblutet gefunden worden. Ich habe
schon auf den Widerspruch aufmerksam gemacht, der
zwischen dem Obduktionsgutachten und den mündlichen
Aussagen der Sachverständigen besteht: Dort heisst es,
die Ausblutung sei fast eine vollständige, mündlich wird
häufig gesagt, die Ausblutung sei eine vollständige.
Dabei muss man noch im Auge behalten, dass die Herren
unter vollständiger Ausblutung wörtlich eine solche
Ausblutung verstehen, bei welcher alles Blut aus dem
Körper entrinnt!
Die Aerzte schätzen die Schwere der Agnes H.
(warum hat man sie einfach nicht abgewogen?!) auf 70kg
ab; darnach schätzt der eine Sachverständige den Blut-
gehalt auf 5, der andere auf 5 — 6 kg oder 5 1. Nach einer
sorgfältigeren Berechnung mit genauer Berücksichtigung
alles dessen, was im Obduktionsprotokoll Anhaltspunkte
bietet, bestimmt mein Gewährsmann das Gewicht des
Körpers auf 55 kg, der Blutgehalt betrage darnach
maximum 4,2 kg.
Nun geben die Aerzte in der Hauptverhandlung (315)
zu, das an und bei der Leiche vorgefundene Blut be-
trage 1,50 kg; ich frage: ist das gar so wenig? Wie viel
Blut kann überhaupt dem Körper entweichen — doch
nicht alles, wie die Herren Aerzte offenbar annehmen? Ich
habe diese Fragen mehreren Fachmännern vorgelegt:
übereinstimmend wird mir erklärt, der Austritt von 1,50 kg
Blut sei thatsächlich kein geringer. Eine Autorität in ge-
richtlicher Medizin schreibt mir direkt, der gewöhn-
liche Ausfluss desBlutes betrage 1500—1800 kg
• — die Polnaer Ritualmörder haben demnach das Gefäss,
in welches sie nach der Belehrung des findigen Herrn
Dr. Baxa (Verhandlungsprotokoll, 318) das Blut kunst-
gerecht aufgefangen haben, leer nach Hause getragen.
Oder gibt es am Ende auch bei den Ritualmördern Lehr-
22 —
liiigc und Avir haben es also in Polna mit solchen Ritual-
mordslehrlingen zu thun?
In der „Antwort" wird zu dem 1,50 kg auch das Blut
im Körper gerechnet: Lässt sich die Menge des Blutes
im Köi'per überhaupt so leicht bestimmen, zumal nicht be-
kannt ist und auch gar nicht untersucht wurde, wieviel aus
dem Körper ausgeronnen ist? Die Herren Gerichtsärzte
haben nicht genau nachgesehen, wie viel Blut in die Erde
gesickert ist, denn sie haben den Boden niclit genauer
untersucht, Avas umso nötiger war, als die Leiche angeb-
lich einem starken Regen ausgesetzt war. In ihrer „AntAVort"
geben die Herren jetzt selbst zu, dass die Blutspuren in-
folge des starken Regens vcrAAischt sein könnten! Allein
das und vieles andere haben die Herren bei ihren Schät-
zungen nicht berücksichtigt. Die Herren Sachverständigen
sagen uns nichts über den Blutgehalt der Lunge, der
Milz, der grossen Blutgefässe in der Bauchhöhle und den
Extremitäten und da darf man A^on vollständiger
Blutentleerung sprechen"?*) .......
Die Herren behaupten, es habe sich ein grosser Blut-
kuchen unter der Leiche bilden müssen.
In der einschlägigen Literatur tinde ich über die
Bildung dei- Blutkuchen keine genauere Belehrung, aber
es scheint, dass auch diese Voraussetzung der Herren
Gerichtsärzte unrichtig ist. Die Bildung eines Blutkuchens
scheint nur unter gcAvissen Umständen zu erfolgen, unter
anderem nur dort, aa'O das Blut in den Boden nicht ein-
sickern kann. An der Fundstelle hat aber das Blut in den
Boden einsickern können: der eine Sachverständige be-
schreibt den Boden (pag. 310) als Humus (ca. 1 cm), unter
*) Wie bequem die Herren ihre Schätzimgen A-omehmen,
ersieht man aus diesem Zwiegespräch im Verhöre:
Prä.sident: Wie A-iel Blut haben Sie im Körper ge-
funden ?
S a c h A' e r s t ä n d i g c : Im rechten Herzen einige Tropfen,
im Gehirn allein eine A-enöse Hyperaemie.
- 23 —
ihm Sand und Felsen, oben auf abgefallene Fichtennadeln,
Moos sei dort nicht gewesen. Aber von alle dem abge-
sehen — wie hat sich ein grösserer Blutkuchen bilden
können, wenn eben das zu seiner Bildung nötige Blut gar
nicht vorhanden sein konnte?*)
Schliesslich: Die Beschreibung einzelner Körpertheih-
im Obduktionsprotokoll spricht für Totenflecke:
kommen diese an ganz ausgebluteten Leichen vor?
*
Aber die Herren Gerichtsärzte haben nicht nur über
das Quantum der Ausblutung, sie haben auch ganz falsche
Vorstelkingen über die Art und Weise derselben. Ganz
geAviss konnte die Ausblutung nicht so rasch vor sich
gehen, Avie die Herren und mit ihnen die Anklage an-
nehmen. Freilich bestimmen die Herren Aerzte die Zeit-
dauer nicht; aber man ersieht aus ihren Ausführungen bei
der Hauptverhandlung, dass sie sich die Ausblutung und
infolge dessen auch den Eintritt des Todes in einigen
wenigen Minuten vorstellen.
Dagegen führen mir meine Gewährsmänner aus der
Literatur zahlreiche Fälle vor, aus denen erschlossen
werden kann, dass die Verblutung bei der in unserem
Falle beschriebenen Verwundung zit^mlich lange dauern
konnte. **)
*) Nachträglich wird mir über entsprechende Versuclie (an
Kaninchen) gemeldet, bei welchen es zu keiner Bildung von
Bluikuehen kam — das Blut sickerte in den Boden.
**) „Die sicheren Vorboten eines rasch eintretenden Ver-
blutungstodes sind starke Athemnot, Stocken der Drüsen-
sekretiouen , Bewusstlosigkeit , Erweiterung der Pu-
!> i 11 0 n , unwillkürlicher Abgang von Harn und
Koth u. s. w." Tillmann s^ Lehrbuch der allgeraeinen
Chirurgie, 3. Aufl. 1893, pag. 383. Im Obduktionsprotokoll wird
nur von „etwas erweiterten" Pupillen gesprochen; die ande-
ren an der Leiche vorfindbaren Symptome werden nicht erwähnt.
Allein dieseErweiterung der Pupillen könnte auch von der S t r a n -
gulirung herrühren. (Reinsberg's Ger. Medizin III, 3.38, 34'.)
- 2-1 —
Natürlich ^ebt eine längere Dauer der Ausblutung
die von den Aerzten als eigentliche Todesursache ange-
geben wird, ein ganz anderes Bild von der That. Vorerst
müsste man die Annahme der Aussage. bezAA^eifeln, nach
welcher das Verbrechen mit unglaublicher Schnelligkeit
und in kürzester Zeit verübt wurde; die Thäter, so wird
gesagt, seien nach dem Thatort geradezu gelaufen und der
an der That angeblich beteiligte Hilsner war im Handum-
drehen schon wieder in der Stadt zurück, — diese Annahme
muss nach der obigen Erklärung bezweifelt werden.
Die Frage nach der Schnelligkeit, mit welcher der
Tod eingetreten sein könne, hat aber auch in anderer Be-
ziehung ihre Wichtigkeit. Es wäre nämlich möglich, dass
bei langsamer Verblutung die Strangulation nach
der H a 1 s w n n d e vorgenommen Avorden wäre. Meine
Gewährsmänner machen mich auf einige ähnliche und
darunter sehr bekannte Fälle aufmerksam.
Ich sage, diese Annahme wäre möglich. Jedoch
halte ich mich an die Annahme der Gerichtsärzte, die
Strangulation sei vor der IT aiswunde ge-
schehen und frage darum nach der Wirkung
der vorgängigen Strangulation auf die
Blutung.
Ueber die Wirkung der Strangulierung meint der
eine Sachverständige, .sie allein habe den Tod verursachen
können (301); der andere hält die AVunde für verhältnis-
mässig leicht (312, 319). Nach den Angaben des Obduktions-
protokolles kann man den Grad der Strangulierung kaum
genau bestimmen. Jedenfalls müsste die Strangulation
eine Blutüberfüllung des Kopfes und der Partien oberhalb
der Strangulierungsfurche überhaupt bewirken; aus dem Ob-
duktionsprotokoll kann man den Grad der Blutüberfüllung
nicht klar ersehen. Zwar sagen die Sachverständigen,
das Gesicht , insbesondere die Nase , die Wangen und
die Lippen seien geschwollen und roth-violett gefärbt und
die Bindehäute des Auges etwas blutreicher; aber d a d i e
- 25 —
Leiclie längere Zeit mit der Vorderseite
auflag, die Gewebsflüssigkeiten infolge dessen sicli in
dieser Eichtung senken mussten, so können die gescliil-
derten Veränderungen auch auf postmortaleTodten-
flecke oder a u f B e i d e s zu beziehen sein. Da die
Sachverständigen es unterlassen haben, auch die sicheren
Zeichen eines Erstickungstodes, Ecchimosen (kleine punkt-
förmige, oder auch grössere Blutaustritte, insbesondere in
der Bindehaut, der Haut des Augenlides, am Brustfell etc.)
zu forschen, so ist es kaum mehr möglich zu ent-
scheiden, was von der Hyperämie des Kopfes auf Rech-
nung der Strangulation gestellt werden soll. . . .
Wenn ich mich also bei der Ungenauigkeit des Obduk-
tionsprotokolles und dem Widerspruche der Sachver-
ständigen in der Hauptverhandlung nicht getraue, den Grad
der Strangulation genauer anzugeben, so kann ich trotzdem
den Schluss ziehen, dass die der H a 1 s w u n d e voran-
gehende Strangulation auf die Rasch heit
des B 1 u t a u s f 1 u s s e s hemmend wirken m u s s t e.
Wenn ich nicht irre, so ist die Folge der Strangulation eine
n e r z 1 ä h m u n g oder wenigstens eine starke Herab-
minderung des Blutdruckes. In jedem Falle
könnte der Blutausfluss nicht so rasch geschehen, wie
die Herren Gerichtsärzte annehmen, auch würde das Blut
aus der angeschnittenen Arterie nicht in mächtigem
Strahle nach allen Richtungen hervorspritzen, sondern mehr
kontinuirlich auslaufen. Auf diese höchst wich-
tige Wirkung der Strangulation muss man
ganz besonders bedacht sein, weil da-
durch der Mangel von Blutspuren, sei es
im Gebäude, sei es im Walde, gegen die
Voraussetzung der Gerichtsärzte und der
Anklage erklärt würde. Üeber die Wirkung der
Erstickungsgefahr auf die Blutung sagt T i 1 1 m a n n s :
„Unter (solchen) Umständen ist infolge der drohenden (also
noch nicht eingetretenen!) Herzlähmung der Blutdruck im
- 26 -
arteriellen System so erniedrigt, dass das Blul nicht im
Strahl hervorspritzt, sondern mehr kontiiiuirlich ausläuft
oder plötzlich vollständig aufhört." *)
Wenn infolge der Strangulation direkt eine Herz-
lähmung eintritt, so wird der Blutumhiuf gestört und in-
folge dessen findet sich in der linken Herzkammer kein
Blut, in der rechten findet sich meistens mehr oder weniger
Blut vor. Nun stimmt diese Wirkung der Herzlähmung
(die Wirkung derselben genauer beschrieben bei Schmaus,
Grundriss der Patholog. Anatomie, 2- Aufl. 1895, pag. 15,
16) zu der von den Aerzten beschriebenen Blutleere des
Herzens!
Ich bin natürlich nicht in der Lage, über diese Gegen-
stände ein endgiltiges Urteil zu fällen; ich will nur zeigen,
wie die ungenauen Erklärungen der Gerichtsärzte selbst
bei einem Laien Zweifel erregen müssen. Aber soviel
glaube ich mit Sicherheit behaupten zu können, dass die
Ausblutung nicht so rasch und nicht so
energisch sein konnte, wie die Herren Sachverstän-
digen behaupten. Sie haben eben auf die Wir-
kung der Strangulation vergessen, trotzdem
sie dieselbe vor die Hals wunde setzen! In der „Antwort"
sagen die Herren (in einem anderen Zusammenhange), dass
Agnes H. „halb erwürgt, also bewusstlos und dem
Tode schon nahe" unterschnitten wurde aber sie be-
greifen die Tragweite der eigenen Aussage nicht.
Die Herren haben aber ebenso auf die W i r k u n g
der Kopfwunden vergessen.
Diese (8) Kopfwunden, erklären die Gerichtsärzte und
die Anklage, haben das Opfer betäubt. Das bedeutet wohl,
dass die Kopfwunden einen gewissen Grad von Hirn-
erschütterung verursacht haben. Wie Avirkte
diese Hirnerschütterung auf den Blut-
*) L. c. pag. 381.
— 27 —
a u s f 1 u s s ? Offenbar av i e d e r u m verlangsa-
mend und störend, so wie die Strangu-
lation und so kommen wir abermals zu dem Ergebnis,
dass die Ausblutung nicht so rascli, so
energisch und so vollständig sein konnte,
wie die Anklage und die Herren Gerichts-
* ä r z t e annehmen.
Nach dem schon angeführten Werke von Tillmanns
(pag. 382) müsste schon der durch den supponierten jähen
Überfall bewirkte S c Ii r e c k die Energie der Ausblutung
hemmen; doch will ich auf dieses Moment kein Gewicht
legen, vielmehr besonders einen Punkt in helleres Licht
setzen, der für die forensische Beurteilung des Verbrechens
von grosser Wichtigkeit ist.
Die Herren Gerichtsärzte sind nämlich durch die
Thatsache beunruhigt, dass an der Fundstelle die Bäume
nicht mit arteriellem Blut stark bespritzt waren, wie es die
Durchtrennung der Carotis angeblich verlangen würde,
wenn das Opfer auf dem Rücken gelegen hätte; darum
schliessen sie, die Halswunde sei in der Lage mit dem
Gesichte zur Erde beigebracht und das Blut aufgefangen
worden.
Gegen diese Annahme ist eben auf die
der Hals wunde vorangehende Gehirner-
schütterung und H e r z 1 ä h m u n g hinzuweisen :
das Blut konnte infolge derselben auch aus der Carotis
nicht so energisch und weithin „nach allen Richtungen"
hervorspritzen, Avie die Herren Gerichtsärzte annehmen.
Und selbstverständlich gilt das für jeden Thatort: man
kann darum im Walde keine blutbespritzten Bäume, m a n
darf aber auch in einem Gebäude keine
blutbespritzten Wände und Zimmerdecken
suchen. Letzteres betone ich sehr eindringlich im Hin-
blick auf eine nachträgliche Untersuchung, über die sich
mir gegenüber einer der Beteiligten äusserst despektier-
lich ausgesprochen hat.
— 28 —
In dieser Beziehung ist die Thatsache von Interesse,
dass mir von Seiten mehrerer Fleischhauer eine ähnliche
Belehrung zu Teil wird. Es sei eine allgemeine Er-
fahrung, dass das Blut aus der Hals wunde nur dann mäch-
tiger hervorquelle und hervorspritze, wenn das unter-
schnittene Thier frisch und „lebendig" sei, bei betäubten
Thieren fliesse das Blut nur langsam und träge. Diese
Erfahrung kann und muss in unserem Falle um so eher
herangezogen werden, als wir uns über die Ausblutung nur
an Thieren direkt belehren können, wie in der einschlä-
gigen medizinischen Literatur in methodologischer Be-
ziehung allgemein hervorgehoben wird.
*
Wenn nach alle dem Gesagten von der angenommenen
Ausblutung keine Rede sein kann, wenn ferner die Aus-
blutung auch nicht so rasch und so energisch sein konnte,
wie die Anklage und die Sachverständigen annehmen, so
ergiebt sich wohl der Aveitere Schluss, dass der Mord
in Polna nicht von Ritualmördern verübt
sein kann. Die Anklage und die Sachverständigen
sehen jedoch Ritualmörder auch in dem Umstände,
dass die Leiche entkleidet gefunden Avurde. Die Herren
Aerzte und die Anklage begehen einen Irrthum, wenn sie
annehmen, dass durch die Entkleidung (pag. 303, 323)
oder Hebung der Beine und dergl. Manipulationen die
Ausblutung merklich befördert würde. Eng anliegende
Kleider könnten wohl auf die Zirkulation des Blutes einen
Einfluss ausüben, doch dürfte derselbe kaum in Betracht
kommen. Wenn darum die Leiche entkleidet war, so weist
das die Untersuchung auf ganz andere Spuren als auf
rituale Blutentleerung. Einer der Herren Gerichtsärzte
scheint richtiger anzunehmen (325), dass dem Zwecke der
Blutentleerung das Auflassen der Kleider genügen würde,
obwohl er darin irrt,, dass alle Kleider aufgelassen werden
müssten. Thatsächlich sind die Schuhe, wie die Gerichts-
ärzte in ihrer „Antwort" behaupten, stark zugeschnürt ge-
- 29 —
blieben, ebenso die Strumpfbänder, von denen sogar
Strangulationsfurchen bei der Obduktion konstatiert wer-
den — wie passt das zu dem bewussten Auflassen der
Kleider und wie passt das zu der angeführten Annahme
eines der Herren Sa'chverständigen, dass die Beine behufs
Blutentleerung zurückgebogen wurden? In ihrer „Ant-
wort" sprechen die Herren Gerichtsärzte auch von starken
Strangulationsfurchen an den Oberarmen — wie passen
diese *) zu der angeblichen Unterstützung des Blut-
ausflusses? Mörder, speziell Ritualmörder, die darauf aus-
gehen, möglichst viel Blut aufzufangen und die, wie die
Anklage und ' die Sachverständigen beständig behaupten,
ihre That äusserst schlau vorbereitet haben, hätten doch
konsequent gehandelt; aber eben darum hätten sie
auch das 1,50 kg Blut nicht an Ort und Stelle
und in den Kleidern gelassen (d a s ist ja fast
das ganze überhaupt gewinnbare Blut) — wie kann
man also von einer durchdachten Blutent-
leerung sprechen?!
Wenn demnach das Gutachten der Gerichtsärzte
selbst auf die Kopfwunden und die Strangulation ein ver-
hältnissmässig grosses Gewicht legt und wir aus diesem
ihren Befunde die logischen Konsequenzen ziehen, so
können, ja müssen wir noch einen Schritt weiter gehen
und fragen : Kann die HalsAvunde nicht erst
nach dem Tode beigebracht worden sein?
Ich gebe zu, diese Frage frappiert. Allein sie ist er-
laubt, ja notwendig. Die Herren Gerichtsärzte selbst
hätten sich dieselbe stellen müssen und gerade deshalb,
Aveil sie an der Fundstelle der Leiche nicht genug arte-
rielles Blut vorgefunden haben wollen. Dass aber die
*) Nur kurz mache ich auf den Widerspruch des Obduk-
tionsprotokolles und der „Antwort" aufmerksam: hier wird auf
die Strangulationsfurehen der beiden Joppen das Gewicht gelegt,
dort werden die Furchen der Heradärmel ganz besonders betont.
- 30 ^
Leichen aus den V e n c ii längere Zeit nach dem Tudti
bluten liünnen, ist allgemein bekannt und wird mir von
mehr als einer Seite fachmännisch erklärt und bestätigt.
Und wenn das Unterschneiden geschehen ist, nach dem
das Opfer „halb erwürgt, dem Tode schon nahe"
war — konnte es nicht nach dem Tode, etwa als die
Leiche noch warm war, geschehen'?*)
Und so ergibt sich schliesslich auch die Frage: haben
wir es am Ende nicht mit e i n <; r S i m i 1 i r u n g des
R i t II a 1 m o r d e s zu t h u n V
Ich begnüge mich, die Frage zu stellen, ohne sie ein-
gehender zu erörtern.**) Für die Annahme Hesse sich aus
den Aussagen der Aerzte meheres heranziehen. So z. B.
*) Die Möglichkeit des Erstickungstodes weist der eine
Herr Gerichtsarzt mit der Behauptung zurück, in der Lunge seien
nicht die Zeichen des Erstickens, nämlich venöse Hyperaemie
gefunden worden (307). Allein Relnsberg (III, 345) zeigt
nach Hoffmann, dass diese Hyperaemie häiifig nicht vor-
lianden ist.
Der zweite Sachverständige führt gegen den Erstickungstod
an, es habe sich mehr Blut finden müssen, wahrscheinlich war
jedoch Blut genug.
**) Herr Dr. Ofner aus Wien machte mich auf den Aus-
spruch der Anklage uod der Sachverständigen aufmerksam, dass
noch Samstag Spuren ganz frischen Blutes gefunden wurden.
Wie hätte sich, so fragt er, das Blut seit Mittwoch frisch er-
halten können? Mir ist das Wort: frisch auch gleich auf-
gefallen; aber ich habe darin einen der zahlreichen ungenauen
Ausdrücke der Aerzte und Anklage gesehen. Diese Vermutung
bestätigte mir pag. 301 des VerhandlungsprotokoUes, wo das
Wort ausdrücklich im Gegensatz zum „gestockten Blut" ge-
braucht wird. Im Obduktionsprotokoll findet der Leser an zwei
Stellen: „trockenes, frisches" Blut — die Herren haben offenbar
nicht nur ihre eigene Anatomie , sondern auch ihre eigene
Terminologie. Wahrscheinlich handelt sich's um blutiges
Regenwasser; übrigens ist es möglich, dass das Blut in
der Kälte auch so lange flüssig und hell bleiben würde. Immerhin
kann die Untersuchung noch an den Blutflecken der Kleider
konstatiren, ob etwa nicht anderes als Menschenblut zur stippo-
nirten Fietion des Ritualmordes gebraucht wurde.
f^esteliu ich, dass ich sogar an der behtiupteteii Aiischiiei-
dung der grossen Arterie (carotis communis) gewisse
Zweifel liege; das Unsystematische der Obduktion hat mir
diese Zweifel eingegeben und ich habe daruni anatomische
Fachmänner befragt. Ich erhalte darüber von mehreren
Seiten etwa folgende Aufklärung: Es ist nicht ersichtlich
bei welchem Akte der Sektion die Verletzung der Carotis
festgestellt wurde. Ob gleich bei der Untersuchung der
Wunde oder erst nach der Herausnahme der Zunge. Im
Protokoll findet sich diese Angabe bei der inneren Unter-
suchung. Eine solche Verletzung muss jedoch durch die
Untersuchung der Wunde konstatirt werden, um sich vor
einer Verwechslung mit einem bei der Sektion zufällig an-
gebrachten Schnitt zu bewahren.
Dadurch dass die Herren jedesmal anders sprechen,
kann man ihren Aussagen überhaupt nicht mehr trauen und
so ergeben sich eben allerhand Bedenken und Zweifel.
Die Möglichkeit einer Fiction des Kitualmoi'des er-
gibt sich mir durch folgende, wie ich glaube, ganz not-
wendige Ueberlegung. Echte Ritualmörder, wenn es solche
gäbe, würden ihre That gewiss verbergen und unkenntlich
machen; jede Ritualverwundung ist, ich bin überzeugt, an
und für sich und immer verdächtig. Man kann das den
Hitualgläubigen gegenüber nicht genug eindringlich be-
tonen. Glaubt man, die geheime Ritualsekte werde ihre
Leichen mit dem verräterischen Schnitt im Polnaer Walde
geradezu ausstellen? Solche Verbrecher, und seien sie
noch so beschränkt, werden bemüht sein, die Spuren, die
zu ihrer Entdeckung führen könnten, nach Möglichkeit zu
verwischen. Nun behaupten gerade die Antisemiten, die
Juden seien die Ausgeburt der Klugheit: Avarum imputirt
man ihnen gerade bei einem solchen Verbrechen die
■ bodenloseste Dummheit? Beim Wechselfälschen Ist der
Jude superklug, aber beim Ritualmord ist er mit einem
male absolut dumm. Wenn es einen Ritualmord gäbe, so
würden die Mörder in erster Reihe und um jeden Preis
- 32 —
darauf bedacht sein, den verräterischen Schnitt am Halse
unschädlicli zu machen, in dem sie die Leiche sicher
bergen, begraben oder wenigstens verstümmeln würden,
um sich nicht zu verraten. Niemals würden sie eine solche,
für das gesamte Judentum so gefährliche That vollführen,
wenn sie sich nicht vorher die vollste Sicherheit geschafft
hätten, so viel Zeit zu gewinnen, dieses Kennzeichen, in
irgend einer Weise unsichtbar zu machen. Ich sage
darum: Leichen, mit dem vollen oder nur teilweisen
Ritualzeichen ausgestattet, sind immer verdächtig und
sprechen immer für die Niedertracht eines christlichen In-
dividuums.
Die Polnaer Unthat widerspricht allen Subpositionen
des Ritualaberglaubens. Sie ist angeblich am hellen Tage
mit offener Dreistigkeit verübt worden und überdies wurde
dann die Leiche, wie gesagt, geradezu zur Schau aus-
gestellt an einer Stelle, wo sie sehr bald hat gefunden
werden müssen.
Und freilich, entbehrt der Polnaer „Ritualmord" auch
des komischen Elementes nicht. Für die Geschichte des
Ritualmordes und speziell für den geheimen Ritus sind die
Gegenstände belehrend, die die Mörder angeblich, zugleich
mit dem aufgefangenen Blute mitgenommen haben: um
zwei Kreuzer Schweinefett (das Papier, in welches es ge-
wickelt war, haben die Schelme an Ort und Stelle ge-
lassen), einen Rosenkranz, den grössten Theil des Hemdes,
gewirkte Handschuhe, ein Taschentuch ....
Ueber die Art und Weise der einzelnen
Verwundungen will ich mich kurz fassen und nur
wenige auch forensich nicht unwichtige Bedenken vor-
bringen.
In Bezug auf die Technik der Strangulation
geben die Herren Gerichtsärzte jetzt in ihrer „Antwort"
eine genauere Beschreibung des vermeintlichen Vorganges:
- 33 —
„Der würgende Mörder befand sich zur linken Seite des
Opfers, der den Schnitt führende zur rechten." Die Herren
nehmen also jetzt an, Agnes H. sei zugleich einseitig
strangulirt und unterschnitten worden: allein wobleiben
dann die der Strangulation vorangehenden
betäubenden Kopfwunden? Wozu strangu-
liren, wenn das Opfer schon betäubt war?
In der Verhandlung denkt einer der Herren direkt an eine
der Halswunde vorhergehende Gehirnerschütterung
— wo bleibt jetzt diese?
Die Herren glauben in ihrer „Antwort" die Situation
besonders klar zu beschreiben; in derThat haben sie aber
nur meine Belehrung angenommen, dass die Schlinge
bei der gegebenen Configuration des supponirten Thatortes
nicht, wie die Anklage annimmt, von links und von hinten auf
das Opfer geworfen sein konnte. Die Herren polemisieren
darum nach meiner Anleitung über diesen Punkt gegen
die Anklage und geben die angeführte Erklärung. Allein
diese ist auch sehr unbestimmt. Es wird ja auch darauf an-
kommen, wo und wie der schneidende Mörder postirt war
ob vor, hinter oder neben dem (nach der Annahme) mit
dem Gesicht zur Erde liegenden Opfer, ob er selbst rechts-
oder linkshändig war u. dgl.
Die Herren glauben, durch ihre neuere Erklärung
zugleich den rätselhaften Strangulationsspagat wegzuer-
klären: dieser Spagat ist nämlich blutbefleckt, mit Haaren
beklebt und eigenthümlich beschädigt bei der Leiche ge-
funden Avorden. Nun erklären die Herren Gerichtsärzte,
die freien Enden der Schnur seien von einem der Mörder
ohne Schlinge angezogen worden, dadurch sei die Stran-
gulationsfurche nur an der rechten Halsseite entstanden,
zugleich sei durch den gleichzeitig geführten Schnitt die
Schnur „in der Mitte blutig und bis auf einige
Fäden fast ganz durchschnitten" worden.
Die Herren haben bei dieser Erklärung in der „Ant-
wort" auf ihre früheren Aussagen in der Verhandlung ver-
- 34 -
gessen: dort hören wir, dass die Schnur beim Schnitt in
die Wunde eingedrungen ist*) — offenbar dachten die
Herren damals die Strangulationsfurche sei um den ganzen
Hals gegangen; darum wurde auch gesagt (ich habe
das schon angeführt) diese Furche sei links in die
Wunde hineingezogen worden. Aber weil die Herren
doch gelehrig sind und durch meine Broschüre einiges
profitirt haben, geben sie ihre frühere Erklärung still-
schweigend auf und suchen sich nun meiner Kritik anzu-
passen. Darum entfällt jetzt in der „Antwort" die Stran-
gulationsfurche auf der linken Halsseite. Allein die Herreu
haben nicht weiter nachgedacht: wie konnte die Schnur
von dem Messer angeschnitten werden, wenn der „wür-
gende Mörder" die freien Enden stramm angezogen hielt?
Und wie konnte er die Schnur in ihrer Mitte durch-
schneiden da diese Mitte nach der eigenen Erklärung der
Herren doch an der rechten Halsseite anliegen musste?
Darüber wäll ich mit den Herren nicht rechten, ob die
Schnur thatsächlich angeschnitten oder wie die An-
klage behauptet (15) „wie durchgebissen o d e r zer-
risse n " war — einen angenehmen Eindruck machen
solche Discrepanzen, das muss ich allerdings sagen, nicht.
Und natürlich gehört es zur geradezu bodenlosen Ober-
flächlichkeit der Herren Gerichtsärzte und der Anklage,
dass die Länge der Schnur und ihre Dicke nicht gemessen
Avurde.
Der Leser sieht, wie die Sachverständigen bei jeder
Kleinigkeit sich in einem Netze von Widersprüchen und
Unmöglichkeit verstricken. Und trotzdem habe ich die
Einwände noch nicht erschöpft. Gewiss wird sich jeder
halbwegs Denkende fragen: Kann eine einseitige Stran-
gulation so starkbetäubend wirken und wie ist sie unter
*) Dieses Eindringen des Spagates in die Wunde ist aller-
dings sehr rätselhaft: wie konnte das angeblieh sehr scharfe
Messer die Wimde bilden, ohne den Spagat ganz zu durch-
schneiden?
— 35 —
den angenommenen Verhältnissen überhaupt möglich,
wozu sollte sie dienen? Würde eine so unvollständige
Strangulationsfurche nicht eher auf einen Selbstmord-
versuch als einen Mord passen? Nach den in den
Lehrbüchern über gerichtliche Medizin gegebenen Er-
klärungen, gewiss!
Auch die Kopfwunden zwingen zu einigen kri-
tischen Bemerkungen.
Wie wir schon wissen, wird die beabsichtigte
Wirkung dieser Kopfwunden in der Betäubung des Opfers
gesehen. Allein: wenn die Kopfwunden zur Betäubung
genügten, so frage ich nochmals: wozu die Stran-
gulation?
Und wenn die oder der Mörder sein Opfer zuerst
betäuben wollte, wie die Anklage annimmt und die
Sachverständigen erklären, wozu hätten sie acht Kopf-
wunden beigebracht und nicht sogleich mit einem
Schlage das vorgefasste und durchdachte Ziel erreicht?
Einer der Herren Sachverständigen nimmt in der
Hauptverhandlung thatsächlich an, Agnes Hruza sei durch
einen Schlag auf den Kopf mit dem am Fundorte auf-
gefundenen Knittel betäubt worden und ZAvar denkt er
geradezu an eine Gehirnerschütterung (315—317). Diese
Gehirnerschütterung ist an der Leiche nicht konstatiert
worden, aber der Herr Sachverständige trennt sich von
dieser Idee sehr ungern; offenbar hat er, wenn er sich
darüber auch nicht klar geworden ist, Zweifel an der An-
nahme der Anklage, die That sei ganz planvoll
ausgeführt worden: wenn die „Ritualmörder" einen
ganz durchdachten Plan gehabt hätten , hätten sie ihr
Opfer zuerst mit mehreren schwächeren Schlägen auf den
Kopf angegriffen? Dann erst stranguliert u. s. w.? Das
Unmögliche an dem Vorgang fühlt eben der Herr Sach-
verständige und nimmt darum an, die Mörder hätten ihr
Opfer mit einem starken Schlag auf den Kopf auf einmal
betäubt. Unstreitig hätten „planmässig" und in „grösster
3*
— 36 —
Eile" vorgehende Mörder so oder ähnlich die Betäubung
rasch verursacht, um dann die Betäubte rituell „bearbeiten"
(Ausdruck des einen Sachverständigen) zu können. D i e
zahlreichen Kopfwunden weisen in der
That auf einen planlosen Angriff hin, wie
er etwa in einem Streite sich ergeben
kann. Dazu führt auch die Angabe der Aerzte, dass die
Wunden in verschiedenen Richtungen verlaufen — die
Geschlagene hat sich also bewegt; dass diese Wunden
nicht mit den bei der Leiche gefundenen aber doch
aufbewahrten (!) Steinen beigebracht worden seien, sagen
die Herren selbst; sie können gewiss mit einem anderen
Gegenstande, etwa mit einem geschlossenen Taschen-
messer oder auch mit einem schwächeren Stocke und
dergl. verursacht worden sein.*)
Meine Annahme, die Art der Verwundung und speziell
die Häufung der Wunden deute auf einen planlosen Mord
resp. Tod seh lag, wird wohl auch durch den Schlag
auf den linken Oberarm verstärkt. Auch lassen
sich die scharfen Abschürfungen auf den
Händen, die der Lebenden zugefügt wurden (pag.
313), am besten durch ein Handgemenge er-
klären.
Unter den coporibus delicti spielt der am Fundorte
der Leiche gefundene weisse Stock in der Anklage
eine bedeutendere Rolle. Es wird supponiert, Hilsner
liabe ihn gehabt. Mit diesem Stocke, sagt die Anklage,
sei Agnes H. auf die linke Hand so geschlagen worden,
dass derselbe von dem Schlage zersprungen ist. Diese
Voraussetzung ist sicherlich unrichtig. Erstens würde von
einem solclien Schlage nicht der Stock sondern die Hand
resp. der Knochen brechen; nota bene ist der Stock nicht
*) Die Besehreibung der Wunden (vide Obduktionsprotokoll)
schliesst grosse, stumpfe Steine, ebenso grosse, dicke Stöcke
u. dergl. aus.
— 37 —
an seinem Ende „zersprungen" sondern etwa in seinem
Drittel, — ein solcher Schlag mit der Mitte des Stockes
wäre nach den Gesetzen der Mechanik wirkungslos.
Nach der mir zukommenden Beschreibung war der
Stock gar nicht verkothet — am kritischen Tage war es
kothig! — und ist darum nicht beim Gehen benutzt worden.
Der 1,20 cm lange Stock ist sorgsam mit dem Messer
ausgearbeitet worden; er ist darum auch nicht, wie die Anklage
supponiert, in aller Eile vor der That im Walde abge-
schnitten und nur eilig abgeschält worden. Ein frisch ab-
geschälter Stock (Fichte?) ist erfahrungsgemäss zu klebrig.
Hilsner ist in der Stadt ohne Stock gesehen worden, nur
die Zeugen Pesäk und die Womela sprechen von einem
weissen Stocke. *)
Dagegen liegt die Vermutung nahe, der Stock
sei bei dem Transport der Leiche irgend wie be-
nutzt worden, falls er überhaupt zu der That in Be-
ziehung steht.
Ueber das Werkzeug, mit dem die Hals-
wunde verursacht wurde, lässt sich aus der mangel-
haften Beschreibung und Lokalisierung der Wunde nichts
bestimmtes erschliessen.
Die Anklage supponiert, die Hals wunde sei mit einem
grossen und geradezu mit einem Schächtermesser ver-
ursacht worden. Der Postenführer Klenovec denkt auch,
die Wunde könne mit einem Taschenmesser nicht bei-
gebracht worden sein (103). Allein es ist gar kein Grund
vorhanden, warum man nicht an ein gewöhnliches
Taschenmesser denken könnte und jedenfalls ist
auch die Frage gestattet, ob das Messer in der That so
*) Weisse Stöcke sind gang und gäbe. — Ich erwähne nur
noch, dass ich am 4. Dezember (1899) in der Umgebung des
Bavimstumpfes, von dem der Stock herrühren soll (Verhandlungs-
protokoll pag. 125), mehrere (nicht frische) ähnliche, stärkere
und schwächere Baumstumpfe gefunden habe.
— 38 -
scharf war, wie die Sachverständigen annehmen. Ich
glaube die Art der Halswunde, soweit wir sie uns jetzt nach
den beiden Antworten der Herren vorstellen können,
spricht für kein allzu scharfes Messer.*)
I
IV. Zeit und Ort des Polnaer Verbrechens.
Die Leser erinnern sich, dass und warum die
Anklage ganz besonders auf den Ort und
die Zeit Gewicht legt, wo und wann das Ver-
brechen begangen wurde. Nach der Anklage wurde das-
selbe in der Zwischenzeit von 'Viß — ^U Mittwoch, den
29. März, im Walde Bfezina begangen; gefunden wurde
die Leiche Samstag.
Ich habe bisher über die Zeit, wann die Unthat ge-
schehen, direkt noch nichts gesagt; indirekt allerdings
spricht aus allen meinen Ausführungen ein starker Zweifel
an dem von der Anklage supponierten Zeitpunkte. Jetzt
will ich aber direkt einen Beweis führen, aus dem mit
grosser Wahrscheinlichkeit hervorgeht, dass das Verbrechen
nicht in der angegebenen Zeit und nicht auf dem Fund-
orte der Leiche verübt wurde. Oder ganz genau ge-
sprochen: die Leiche der Agnes H. hat Don-
nerstag, den 30. März, nicht an ihrem sam-
stägigen Fundorte sein können.
Ich habe aus dem Verhandlungsprotokoll (147) schon
erwähnt, dass es Donnerstag, den 30. März sehr stark ge-
*) Die Herren Gerichtsärzte glauben, das Durchschneiden
des Kehlkopfknorpel verlange ein sehr scharfes Messer: meine
anatomischen Autoritäten sagen mir, der Kehlkopf knorpel eines
19jährigen Mädchens sei weich und leicht zu schneiden.
— 39 —
regnet hat: Vormittag wird ein Gewitter mit starkem,
heftigen Regen konstatiert, auch Nachmittag regnete es
sehr stark. Die Herren Gerichtsärzte bestätigen das in
ihrer „Antwort"; allerdings haben sie das traurige Privi-
legium in allem unpräcis zu sprechen und so sagen sie auch
hier, dass es ,, diese Tage sehr stark geregnet habe und
dass also die Blut- und andere Spuren verdeckt (auch unklar!)
sein konnten." Auch die Mutter Hruza (pag. 82) gibt an, sie
habe ihre Tochter Donnerstag wegen des schlechten
Wetters nicht nach Hause erwartet.
Aus dem Verhandlungsprotokolle vermag ich nicht
mit Sicherheit zu konstatieren, wie stark es auch
.Mittwoch abends geregnet hat. Die kothigen
Schuhe der Agnes H. beweisen wohl, dass es auch Mittwoch
geregnet hat. Ein Zeuge (146) sagt aus, dass es nach
5 Uhr nachmittags in Polna zu regnen angefangen habe;
der Postenführer sagt, der Weg sei kothig gewesen. An-
dere Zeugen sprechen von schönem Wetter; der Präsident
erklärt das dadurch, dass einem Orte die Sonne scheinen,
an einem anderen es regnen konnte.
Ich habe mich über die Witterung von Mittwoch
(29. März) bis Samstag bei verlässlichen Beobachtern er-
kundigt und erfahre demgemäss, dass Mittwoch Abend ein
Sprühregen begann, in der Nacht (auf Donnerstag) hat es
gefroren, Donnerstag Vor- und Nachmittag gab es einige
mal Regen; ein Gewitter (so sagt mir mein Zeuge aus)
habe es nicht gegeben. Der Regen Donnerstag sei am
stärksten abends bis etwa 10 Uhr gewesen. In der Nacht
auf den Freitag habe es vor und nach Mitternacht ge-
regnet, aber wenig. Freitag war der ganze Tag regenlos,
sehr kalt, in der Nacht habe es gefroren. Samstag (an
dem die Leiche gefunden wm'de) schien die Sonne, das
Wetter war hell und klar.
Die Tage war Vollmond — offenbar hat es sich
Donnerstag ausgeregnet, Freitag, schon in der Nacht, hat
sich das Wetter (Aprilwetter) gewendet.
- 40 —
Der starke und anhaltende Kegen, Donnerstag, ist
also allseitig konstatiert : wie hätte dieser Kegen auf die
Leiche wirken müssen, wenn dieselbe seit Mittwoch Abend
während des ganzen Regens an der Fundstelle gelegen
wäre, da sie nur mit den Spitzen von 4 kleinen, jungen
Fichtenbäumchen bedeckt war? Und wenn diese Be-
deckung überdies ganz eigentliümlich war: Ich habe
nämlich konstatiert, dass die Spitzen der Bäumchen auf
die Leiche gestellt waren ; sie erhielten sich da-
durch aufrecht, dass dieselben zwischen den umstehenden
Bäumchen gegen einander gedrückt waren. Jedenfalls
lassen so schief gestellte Bäumchen den Regen leichter
durch, als aufrecht stehende Bäumchen.
1. Die Kleider (der Spagat n. s f) hätten Samstag noch
n a s s und auch gefroren, mindestens halb gefroren, ge-
funden werden müssen; es wird im Obduktionsgutachten und
in der Anklage (pag. 21) konstatiert, dass die Leiche nicht
nur erstarrt, sondern „fast steif gefroren" war, es wird der
Frost (pag. 310) und kaltes Wetter (pag. 326) konstatiert.
Nach meinen Informationen wurden
die Kleider nur feucht vorgefunden, es fehlten
aber alle die Anzeichen, die auf eine vorangehende Durch-
nässung und die Wirkung des Frostes schliessen Hessen;
an einem kalten Tag — der Freitag — und eine Nacht
hätten die durchnässten Kleider nicht austrocknen können.
Die Feuchte passt aber zu dem kalten Wetter am Freitag.
2. Die Blutflecken an den Kleidern
müssten verwaschen sein; nicht nur müssten die
Ränder der einzelnen Flecken den charakteristischen
helleren Hof haben, überhaupt müssten alle Blutflecken
geradezu ausgewaschen sein: das ist aber nicht der Fall.
Auch müsste sich unter der Leiche das verwässerte
Blut finden. Aber die Anklage konstatiert, dass der Fund-
ort „vollkommen trocken" war (pag. 12) und dass unter
der Leiche nur ein kleiner Blutkuchen vorgefunden wurde.
— 41 —
In ihrer „Antwort" geben die Herren Gerichtsärzte
zu, „der sehr starke" Regen*) habe auch die Blut-
spuren „verdeckt", verwischt: wie müsste ein so starker
Regen nicht nur auf den Blutkuchen, sondern eben
auf alles Blut auf der Leiche wirken? Konnten z. B. die
Haare mit Blut so zusammengebacken und zusammen-
geklebt bleiben, wie behauptet wird?
3. Der starke und andauernde Regen hätte wohl auch
an den Hosen die vorgefundenen schmutzig gelben
(Sperma?) Flecken verwaschen. Nun wird
aber im Obduktionsprotokoll indirekt konstatiert, dass die-
selben einenhinlänglich scharfenRand hatten, sofern derselbe
nämlich auf der Rückseite des Hosenstoffes mit blauem Stift
umzeichnet wurde. Es sei noch erwähnt, dass diese Flecken
gross sind (bis zur Grösse eines Guldenstückes) und darum
durch den starken und dauernden Regen umso sicherer
verwaschen worden wären; gewiss hätten sie sich nach
einem solchen Regen nicht wie gestärkte Flecken anfühlen
lassen.**)
4. Ganz besonders wären auch die nach oben ge-
kehrten Schnürschuhe durch das Regen-
wasser ausgewaschen worden. Das Regen-
wasser hätte nicht nur allen Koth von den Schuhen
abgewaschen, dieser Koth und die abgewaschene Schuh-
salbe wäre an den Strümpfen und an der Haut sichtbar.
Das Auswaschen der Schuhe müsste auf den ersten Blick
sichtbar sein; an den ausgewaschenen Schuhen wäre auch
*) In ihrem Nachtragsgutachten vom 19. April haben die
Herren natürlich das gerade Gegentheil gesagt: „Ebenso können
wir nicht zugeben, dass die Dauer von 2 Tagen bis zur Auf-
findung der Leiche und die „massigen" Regenmengen
den Donnerstag darauf einen solchen Einfluss haben konnten
dass der Blutkuchen verloren ging."
**) Die Flecken waren auf dem rückwärtigen Teil der
Hosen, sind also bei der auf dem Bauche liegenden Leiche oben
auf und dem Regen direkt ausgesetzt gewesen.
— 42 -
die Wirkung des Frostes erkenntlich. Nun sind aber die
Schuhe nicht verwaschen gewesen, im Gegentheil ist das
Oberleder am Eande verkothet, die Sohlen machten den
Eindruck, als wären sie an einem rauhen Gegenstande ab-
gewischt worden.
Aus diesem Befunde an der Leiche und
ihren Kleidungsstücken geht mit grosser
Wahrscheinlichkeit hervor, dass dieselbe
an dem regnerischen Donnerstag noch
nicht an ihrem Fundorte im Walde Avar,
dass die Leiche erst in der Nacht von
Donnerstag auf Freitag in den Wald an
ihrem Fundorte gebracht av u r d e.
Für den Transport, die Manipulation mit der Leiche
und den Kleidern im Walde war zur Nachtzeit hinlänglich
Licht (Vollmond).
Für die Beurtheilung der Zeit, wann die Leiche an
die Fundstelle gebracht wurde, kommt noch die Thatsache
in Betracht, dass Freitag am Wege (also nicht im
Walde !) Blutspuren von Leuten gesehen Avurden.
Sowie die von der Anklage bestimmte Zeit des
Verbrechens nicht die richtige sein kann, ebenso spricht
der 0 r t in dem Walde Bf ezina gegen sich selbst.
Planbedachte, zumal Ritualmörder hätten sich gewiss
einen sicheren Ort ausgewählt, wohl weiter von Polna ab
in stärkerem Walde, Aveiter A^om Weg ab; der Fundort der
Leiche ist ganz offen, die Thäter konnten jeden Augen-
blick durch Menschen, die A^on mehreren Seiten kommen
konnten, überrascht Averden. Um 6 Uhr mussten damals
noch Leute auf den nahen Feldern gearbeitet haben, deren
Anblick die Mörder abgeschreckt hätte.
Wenn die Agnes H. an dieser Stelle überfallen worden
Aväre, so wäre es nicht an dem von der Anklage suppo-
nierten Fusswege geschehen, der sich, wenn man von
— 43- —
Polna nach Veznitz geht, rechts am Rande der Bfezina
kurz vor der Stelle über einem ganz abschüssigen, an der
Stelle selbst aber über einem halbabschüssigen Weg hin-
zieht. In der Verhandlung wird zwar von dem Gen-
darmeriepostenführer (pag. 110) gesagt, es sei damals
kothjg gewesen und der Präsident ergänzt den Gedanken,
dass die Leute dann über dem Abhang zu gehen pflegen.
Allein gerade im Gegenteil, wenn es kothig und nass ist,
werden die Leute nicht über dem Abhang gehen, um nicht
herabzurutschen; und gerade der Zugang zu der von der
Anklage supponierten Ueberf allstelle ist bei kothigem Wege
beschwerlich, wie man sich durch den Augenschein leicht
überzeugen kann.
Die Agnes H. Aväre darum wohl auch auf dem Wege
resp. dem linken Fusssteg gegangen und auch auf diesem
Wege überfallen worden. Ein solcher Ueberfall hätte sie
nicht so sehr überrascht, sie hätte geschrien und wäre ge-
laufen und in jedem Falle hätte sie sich zur Wehr gesetzt.
Ueberhaupt müssten an der Leiche Spuren des Ueberfalles
und des Todeskampfes zu finden sein; es ist z. B. sehr
befremdend, dass an den Knien keine Spuren zu sehen
sind, wie die Ueberfallene auf den Boden gesunken ist.
Die Schläge in den Kopf und die Strangulation, die an-
geblich vor der Halswunde beigebracht wurden, haben das
Bewusstsein nicht sogleich und plötzlich verdunkelt; auch
die Halswunde hat die Ueberfallene nicht sogleich ge-
tödtet. Darum müssten auf nassem, kothigen, unebenen
Boden Spuren des Kampfes und Todeskampfes an der
Leiche zu sehen sein. Die Sachverständigen geben selbst
zu, dass die Wunden auf den Händen auf Gegenwehr
deuten — eine so gesunde und energische Person, wie die
Getödtete allgemein geschildert wird, hätte sich gewiss
zur Wehr gesetzt. Auch hätten vielleicht die Mörder
irgend ein Zeichen dieses Kampfes davongetragen.
Der supponirte Ueberfall und die Gegenwehr hätte
auch auf dem Boden und den Bäumchen im Walde Spuren
— 44 -
zurückgelassen, — aber auch von diesen Spuren geschieht
keine Erwähnung.
Es ist auch kaum möglich, dass die Leute an der
Fundstelle der Leiche verschiedene Spuren nicht früher
entdeckt hätten, wenn sie dort seit Mittwoch gelegen wäre.
Die Mutter der Hruza selbst sagt aus (90), an einem Baume
habe ein blutbefleckter Fetzen gehangen — die Anklage
(pag. 14) spricht von ganzen Fäden vom Hemde an den
Bäumchen*) — diese und andere Spuren hätten Leute nicht
gesehen, da doch angenommen werden kann, dass wegen
der Osterfeiertage verhältnismässig mehr Menschen des
Weges gingen ? Und wenn es av a h r av ä r e , dass
sie bei schlechtem Wetter gerade denFuss-
weg am Walde gingen, so müsste die Leiche schon
Donnerstag entdeckt worden sein. A m F r e i t a g wur-
den schon von den Vö2nicern Blutspuren
am Wege gefunden (trotz des starken und an-
haltenden Regens am Donnerstag), — das spricht eben
dafür, dass die Leiche erst von Donnerstag auf Freitag
gebracht wurde. In der Hauptverhandlung sagt der eine
Sachverständige direkt und ganz richtig (310), dass in dem
Falle, als die Leiche auf dem Wege transportiert worden
wäre, auf dem Wege Blut gefunden wäre. Nun ist dieses
Blut von V62nicem am Freitag auf dem Wege thatsäch-
lich gesehen w^orden — w^arum hat man die Leute nicht
eruiert und ausgefragt?! Die Mutter der Agnes H. selbst
gibt an, von diesen Blutspuren am Charfreitag von den
Leuten gehört zu haben.
Und schliesslich muss noch einmal und eindringlich
betont werden: der Leichnam der Agnes H. Avar
ganz und gar nicht verborgen, im Gegenteil,
geradezu aufdringlich, so zu sagen, zur Schau gestellt.
*) Diese Fäden, angeblich vom Hemde herrührend, sind
sehr verdächtig — offenbar ein ziemlich ungeschicktes Artefact,
das jedoch A'on der Untersuchimgskommission nicht durchschaut
Avnrde.
— 45 —
Geheime Ritualmörder könnten derart nie und nimmer
mit ihrem Opfer verfahren; ich wiederhole, die Fundstelle
wurde offenbar mit Absicht so gewählt, dass der Mord
Thätem aus Polna zugeschrieben werden könnte. Das
Zudecken der Leiche mit vier zarten Fichtenbäumchen
entsprang ganz offenbar mehr dem Bedürfnis einer ge-
wissen Pietät als der Absicht, die Leiche zu verbergen.
Dass die Leiche nicht verborgen werden sollte, beweist
das Beispiel mit der Leiche der K 1 i m o v ä (die war auf
einem unzugänglichen Orte sehr versteckt) und die That-
sache, dass Samstag vorerst nicht die Leiche, sondern die
um die Leiche zerstreuten Gegenstände (der Korb, die
Tücher u. dgl.) gefunden wurde, die dann zur Leiche
führen mussten.
*
Für die forensische Beurteilung des Polnaer Ver-
brechens ist also die Frage, ob dasselbe an dem
von der Anklage supponierten Orte, im
Walde Bfezina, oder anderswo verübt
wurde, von der grössten Wichtigkeit; ich Avill hier
darum alle die Momente zusammenfassen, durch welche
diese Kardinalfrage beantwortet werden kann.
Auf die Frage des Vertheidigers Dr. Aurednicek, ob
die That an dem Fundorte der Leiche verübt wurde, ant-
Avortet der Sachverständige (pag. 319) mit Ja: Er habe
an dem Orte die Leiche mit einer tödtlichen Wunde ge-
funden; entscheidend für die Bestimmung des Thatortes
ist aber für den Sachverständigen die angenommene Aus-
blutung: Wenn die Leiche an den Fundort gebracht
worden wäre, so hätte sie nicht geblutet, denn man könne
doch nicht annehmen, die Leiche wäre einmal anderswo
ausgeblutet und hätte dann von neuem, zum zweitenmal,
auf dem Fundorte, zu bluten angefangen. Es seien
auch keine Blutspuren (namentlich an den Bäumchen) vor-
handen gewesen, die an eine Uebertragung denken
Hessen.
— 46 —
Diese Erklärung des Herrn Gerichtsarztes ist mehr
als schwach.
Erstens, wurden Freitag Blutspuren am Wege ge-
funden. In ihrer „Antwort" suchen die Herren diese
freitägigen Blutspuren zwar abzuschwächen, aber das
ändert an der Thatsache gar nichts. Und die Thatsache
lautet, dass am Freitag Leute aus Vö2nic in. der Nähe des
Fundortes am Wege Blutspuren und einen blutigen
Fetzen gesehen haben; weil sie jedoch noch nicht wussten,
dass Agnes H. vermisst wurde, schenkten sie der Sache
keine besonderen Aufmerksamkeit. Unstreitig sprechen
diese Blutspuren mitten am Wege vielmehr für den nächt-
lichen Transport der Leiche, als für die That Mittwoch
und im Walde, abseits vom Wege. Damit stimmt auch
die Angabe des Postenführers, er habe an dem zum Fund-
ort führenden Abhang deutliche Spuren gesehen — die
Herren Gerichtsärzte bemühen sich in der „Antwort" ver-
geblich, auch diese Angabe mit der geradezu läppischen
Bemerkung abzuschwächen, an dem Anhang seien von
den vielen Leuten am Samstag mehrere Spuren hinter-
lassen Avorden — so klug wie die Herren ist der Posten-
führer gewiss und es ist selbstverständlich, dass er Spuren
vor der Zertretung des Platzes gemeint hat. Uebrigens
kann er ja befragt werden.
Es ist selbstverständlich, dass der Mörder und sein
Helfeshelfer, falls er einen hatte, darauf bedacht waren,
die Leiche während des Transportes nicht bluten zu
machen. Das konnte mit einer schon erstarrten Leiche
verhältnismässig leicht erreicht werden. In den Wald ge-
bracht und auf den Boden gelegt, hat die Leiche bluten
können und müssen, weil sie doch nicht „vollständig" aus-
geblutet war; das Blut an den Kleidern u. s. w. wurde mit
der Leiche mitgebracht; die vom Eegen noch nassen
Bäumchen wurden vom Blut schwach „benetzt" und selbst-
verständlich gab es keine arterielle Blutung und Blut-
bespritzung — die Herren Sachverständigen haben es
— 47 —
auch sehr vermisst. Die Leiche wurde zuerst in die Mulde
knapp über dem Wege gelegt, dann aber einige Schritte
weiter gelegt; daher die Blutspuren am Boden. Da wo
die Leiche Freitag und die Nacht auf den Samstag lag,
bildete sich ein kleiner Kuchen venösen gestockten Blutes
oder er hat sich schon früher in der Wunde oder in den
Kleidern gebildet.
In ihrer „Antwort" geben die Herren Gerichtsärzte
noch einen anderen Beweis dafür, dass die Leiche seit
Mittwoch an Ort und Stelle war, resp. w rm und frisch am
Fundorte hingelegt wurde — die Eindrucke des Boden
in die Haut. Ich habe schon gesagt, dass auch die todte
Haut solche Eindmcke aufnimmt.
Andere Beweise ftir ihre Annahme haben die Herren
Gerichtsärzte gar keine. Die Anklage sucht noch aus den
Zeugenaussagen zu beweisen, dass die That am Fundorte
und zwar in der Zwischenzeit von ^Iß—^lJ verübt worden
ist. Dass diese Zeugenaussagen gar nichts strikte be-
Aveisen, habe ich schon in meiner Broschüre gezeigt und
wird hier noch weiter ausgeführt werden; ganz besonders
ist die Aussage des Kronzeugen Pesäk eine ganz evidente
Unwahrheit.
Dagegen hat meine Annahme, dass die That nicht
am Fundorte geschehen ist, mehrere und ganz gewichtige
Gründe für sich.
\. Unvoreingenommene Menschen werden, wenn eine
(mehr oder weniger) ausgeblutete Leiche gefunden
wird, ganz natürlich schliessen, dass die Leiche an
die Fundstelle geschafft wurde, falls es nämlich
richtig ist, dass das vorgefimdene Blut dem Grade
der Ausblutung nicht entspricht. Auch in unserem
Falle hätten alle Menschen nur so geschlossen,
wenn ihnen der Ritualaberglaube das logische
Schliessen nicht verlegt hätte. Uebrigens — an-
fänglich haben die Leute thatsächlich auch in
— 48 —
unserem Falle geschlossen, dass die Leiche an die
Fundstelle gebracht wurde.
2. Die postmortalen Flecken, Todtenflecken, auf dem
Gesichte, dem linken Unterarm und den Händen
sprechen auch für meine Hypothese. Die Todten-
flecke entstehen an der Leiche an den Stellen,
nach denen das Blut aus den Gefässen in das Ge-
webe austreten kann; es sind das die tief ge-
legenen Stellen des Körpers. Also am Eücken
bei Leichen die am Rücken liegen, bei Erhängten
an den Füssen u. s. f. Darum muss die Leiche
der Agnes H. nach ihrem Tode in einer Position
gewesen sein, in welcher der Kopf und die Hände
tiefer gelegen waren, als der übrige Körper. Nun
habe ich schon konstatiert, dass der Boden, an
dem die Leiche aufgefunden war, eben war, eher
hat dort der Kopf etwas höher gelegen als die
Füsse. Daraus folgt, dass die Leiche nach der
Stelle erst später nach dem Tode gebracht wui'de.
3. Die auffällige Eückbeugung der Unterschenkel in
einem scharfen Winkel und die Biegung derselben
nach rechts;
4. auch die Krümmung des Oberkörpers lassen sich
nur durch meine Annahme hinlänglich erklären.
5. Ganz besonders spricht gegen die Suppositionen
der Anklage der Mangel an Regenspuren an der
Leiche und ihren Kleidungsstücken.
6. Auch die Thatsache, dass das Hemd und vielleicht
auch andere Kleidungsstücke mit einer Scheere
zerschnitten werden, spricht gegen die Anklage.
7. Dass die Leiche halb ausgekleidet war, widerspricht
ebenfalls "den Suppositionen der Anklage. Die
Art und Weise, wie die Reste der Kleider angezogen
waren, spricht besonders auch gegen die Annahme,
die Entkleidung sei geschehen, um den Blutausfluss
zu begünstigen. Dazu genügte ein Nachlassen der
— 49 —
Kleider und das wäre von eilenden Mördern ganz
anders, rascher und schneller (durch ein Durch-
trennen der Kleider mit dem Messer oder der
Scheere, die doch vorhanden war) ausgeführt
worden, als durch die, wenn auch partielle, Ent-
kleidung.
Offenbar sollte das Zerreissen einiger Klei-
dungsstücke und dergl. den Ueberfall und die
Gewaltthätigkeit darstellen — aber diese Nach-
ahmung ist unvollständig und inkonsequent aus-
gefallen.
8. Ich habe durch verlässliche Zeugen constatirt,
dass Agnes H. Zöpfe getragen hat, die rück-
wärts am Kopf zusammengedreht und in üb-
licher Weise befestigt waren. Bei dem suppo-
nierten, rasch ausgeführten Ueberfall im Walde
wären die Haare nicht so zerzaust worden, wie
die Anklage beschreibt: ein Schlag auf den Kopf
mit dem Knittel und die Schläge mit den Steinen (?)
hätten das Haar nicht aufgelöst, zerzaust. Die auf-
gelösten, über das Gesicht fallenden Haare, sowie
die theilweise Entkleidung sprechen dafür, dass die
That in einem Gebäude geschehen ist.*)
9. Endlich weisen noch mehrere Umstände darauf hin,
dass der Tod der Agnes H. nicht an der Fundstelle der
Leiche erfolgte. So z. B. die Thatsache, dass die
Hände und Nägel nur mit Blut, nicht auch mit Koth
beschmutzt waren.
Ganz besonders ist auch der Ort selbst wegen
seiner Offenheit und Zugänglichkeit für den von
der Anklage supponierten wohldurchdachten Ueber-
fall und Mord unbedacht ausgewählt.
*) Ich habe auf die Wichtigkeit der Frisur schon hinge-
wiesen. Es gäbe da noch mehreres zu sagen, so z. B. wird
nirgends berichtet, dass Haarnadeln gefunden worden wären.
— 50 —
Das Fazit aus allen angeführten Gründen kann dHriun
nui" lauten: das Verbrechen an Agnes H. ist mit aller-
grösster Wahrscheinlichkeit nicht an dem Fundorte der
Leiche verübt worden. —
Nun gebe ich selbstverständlich zu, dass vieles Detail
unaufgeklärt bleibt, aber da muss die neue Untersuchung
eingreifen. Diese Unsersuchung wird ganz besonders auch
noch neue Zeugen beschaffen und diese Zeugen zum
Reden bewegen müssen — — bei dem obwaltenden anti-
semitischen Terrorismus in Polna und Veänic wird das
allerdings keine leichte Aufgabe sein.
V. Zur psychologischen Motivation des Pobiaer
Verbrechens.
Der öffentliche Ankläger sagte in seiner Schlussrede,
das Motiv der Handlung sei Nebensache, es komme nur
darauf an, was im Laufe der Verhandlung in Betreff des
Angeklagten an Thatsachen gesammelt wurde. Gegen
Thatsachen würde ich gewiss nichts einwenden; allein ich
habe genügend gezeigt, dass in dem ganzen Prozesse
gerade das Thatsächliche sehr ungenau festgesetzt wurde.
Hingegen wurde das Motiv — der Ritualmord — von der
antisemitischen Agitation so ostentativ in den Vordergrund
gerückt, dass eben die Thatsachen geradezu vergewaltigt
wurden. In der Theorie, hören wir, sei das Motiv Neben-
sache — in der Praxis war es die Hauptsache.
Meine Kritik des Polnaer Prozesses ist dai*um auch
auf die Frage zugespitzt, ob das Polnaer Verbrechen, wie
die klerikalen Antisemiten behaupten, ein typischer Fall
— 51 —
riiies Ritiia 1 lu o rdcs sei. Ich glaube hinläng'lich imd
ganz stringent erwiesen zu haben, dass die a n t i s e m i -
tisclie Behauptung ganz unbegründet ist.
Damit hätte ich meine Aufgabe vollbracht; trotzdem will
ich noch diejenigen Momente hervorheben, durch welche
das Polnaer Verbrechen psychologisch erklärt werden
könnte.
Vor allem bietet sich nach der letzten Aussage der
Polnaer Gerichtsärzte (in ihrer „Antwort") die Erklärung
des Verbrechens durch den Lustmord dar. Dieser
Gedanke, hören wir, wurde beim Anblick der Leiche zuerst
laut. Die Herren Sachverständigen haben jedoch im Laufe
der Untersuchung diese Erklärung aufgegeben, Aveil ein
Prager Gutachten in den Flecken, die auf der Hose der
Ermordeten gefunden wurden, keine deutlichen Sperma-
tozoen agnosziert hat. Ich vermag nicht anzugeben, ob
die gutachtliche Beschreibung der in den Flecken gefun-
denen Elemente nicht dennoch ein Sperma linden Hesse;
jedenfalls scheint mir, dass die richterliche Untersuchung
auf Sperma hätte weitergeführt werden sollen. Der Unter-
suchungsrichter, glaube ich, kann sich mit einem negativen
Befunde der Sachverständigen nicht zufrieden geben; das
Prager Gutachten ist aber negativ, denn die Sachverstän-
digen sagen nicht, was sie in den eigenartigen Elementen
eigentlich sehen.
Die Möglichkeit des Lustmordes wird von vielen
Seiten zugelassen und geradezu gefordert, und dainim will
ich auf einige Punkte aufmerksam machen.
Vor allem müsste man die Art und den Grad
der supponierten Perversität beachten und
das ganze Gesammtbild des Mordes in Erwägung ziehen.
Soviel ich ersehe, könnte es sich im gegebenen
"Falle auch um ein gewöhnliches Sittlich-
keitsattentat handeln. Ueber die Art und Weise des-
selben lässt sich ohne weitere Untersuchung wohl kaum
etwas Bestimmtes sagen. Im Gutachten der Herren Ge-
— 52 —
richtsärzte lesen wir: „. , . keine Zeichen eines geschlecht-
lichen Missbrauches an der Leiche vorhanden, dass wir
jedoch aus dem Grunde, dass noch die chemische und
mikroskopische Untersuchung der vermeintlichen Spuren
von Samen an dem Schamberge und den Hosen abge-
wartet werden muss, mit Sicherheit uns noch nicht aus-
sprechen können". Zu diesem Ausspruche stimmt, was im
Obduktionsprotokoll über das unverletzte Hymen u. dergl.
gesagt wird. Allerdings haben sich die Herren Sachver-
ständigen durch ihre anderen Erklärungen auch in diesem
Punkte das Vertrauen verscherzt.
Für die forensische Beurteilung des supponierten
Sittlichkeitsverbrechens würde ich auch folgende Bemer-
kung machen:
Der Befund der Sachverständigen kann nichts
Entscheidendes über das Datum des Sitt-
lichkeitsverbrechens aussagen, das heisst,
das Sexualattentat und der Todschlag, re-
spektive Mord, müssen nicht an einem und
demselben Tage und müssen nicht in un-
mittelbarer Zeitabfolge begangen worden
sein.
Ich betone dies sehr eindringlich, weil in den mir
zukommenden medizinischen und juristischen Zuschriften
ohne weiteres beides als selbstverständlich verknüpft und
in Kausalzusammenhang gebracht wird. Allein dieser Zu-
sammenhang müsste aus den übrigen Begleiterscheinungen
und -Umständen erst erwiesen werden, ganz selbstver-
ständlich ist er nicht.
Bezüglich des Ortes, an welchem der Lustmord
verübt sein könnte, wäre es im ganzen gleich möglich,
dass er in einem Gebäude oder ausserhalb desselben ver-
übt wurde. Nach meiner Meinung widerspricht aber dem
typischen Lustmord die Supposition der Anklage, dass es
mehrere Thäter gegeben hat. Perverse Lustmorde werden
— 53 —
immer von einem Einzelnen begangen. Das habe
ich aus der Literatur bei KraflFt-Ebing ersehen, und gedie-
gene und erfahrene Autoritäten der gerichtlichen Medizin
bestätigen mir meine Anfrage aufs bestimmteste.
Ein Lustmord würde weiter ein bedeutend länge-
re s (ö f t e r e s?) V e r w e i 1 e n desThäters amThatorte und
bei der Leiche voraussetzen und schliesslich und vornehmlich
müsste selbstverständlich der geistige Zustand des
vermeintlichen Thäters 'psychiatrisch ge-
prüft werden, denn man müsste unbedingt auf irgend einen
Grad von Psychopatie schliessen.
Die ganze Untersuchung wäre, nur das will ich noch
sagen, auch theoretisch für die Wissenschaft
von grossem Belange — wir hätten im Polnaer Verbrechen
einen besonderen und von den forensisch und wissen-
schaftlich konstatierten Fällen ganz verschiedenen, eigen-
tümlichen Fall, zumal es sich um die sogenannte Nekro-
philie handeln sollte.
Dass der Polnaer Mord mit dem Verbrechen
an Marie Klimovä in Ober -Ve2nic zusammenhänge,
wird von antisemitischer Seite schon lange behauptet;
die Antisemiten sehen auch in diesem Verbrechen einen
Ritualmord, Auch die Hypothese des Lustmordes bringt
beide Verbrechen in Zusammenhang. Man weist auf ge-
wisse Aehnlichkeiten hin: auch die Klimovä war mit
Fichtenzweigen bedeckt, der Saum der Kleider soll in
beiden Fällen ähnlich zerrissen sein. Zu dieser Frage
will ich besonders eine Bemerkung machen. Das Ver-
brechen in Polna ist später geschehen und in der Umge-
bung bekannt geworden, und darum konnte der Thäter
unter der Wirkung seines Beispiels handeln, sofern sichs
nämlich um die Bedeckung der Leiche mit Fichten-
bäumchen handelt. Der grosse Unterschied besteht darin,
dass die Leiche der Klimovä thatsächlich unter einem
Berge von Fichtenzweigen, die von Zeit zu Zeit erneuert
— 54 —
wurden, verborgen war, während die Agnes Hruza von
den vier Fichtenbäumchen nicht verborgen, sondern, wie
gesagt, aus einer Art Pietät bedeckt war. Auch ist
die Art der Bedeckung der Leiche der Agnes Hruza
ganz verschieden von der Bedeckung der Leiche der
Klimovä und ganz eigentümlich: di(^ Bäumchen wurden
auf die Leiche aufgestellt! Jedoch gibt es noch andere
und beachtenswerte Verschiedenheiten. Der Fundort dei-
Leiche der Klimovä ist im Walde versteckt und unzu-
gänglich — die Stelle in der Bi-ezina ganz offen. Die
Klimovä ist im Sommer verschwunden, an der Leiche
wurde ein intakter Zopf gefunden und dergl. — Auf
weitere Verschiedenheiten und Aehnlichkeiten kaim nicht
eingegangen werden, weil der Fall der Klimovä nicht ge-
nauer bekannt ist.
Jedenfalls, wiederhole ich, erhält man dadurch, dass
in der Gegend von Polna, in kurzer Zeit nacheinander,
zwei Morde und auch mehrere Sittliclikeitsattentate verübt
worden (ein Mann soll in der Gegend mehrere Kinder an-
gefallen haben), von der Gegend ein ganz an-
deres Bild, als dieses zum supponierteii
R i t u a 1 m 0 r d e p a s s (^i av ü r d e.
Der Mord aus Habsucht, speziell der Raubmord,
sagen die Herren Gerichtsärzte (in ihrer „Antwort"), sei
von vornherein ausgeschlossen. Das gilt doch wohl nur
von der Annahme aus, dass die That am Fundorte verübt
wurde. Ich gebe aber zu, dass auch hier Grade und kom-
plizierte Umstände unterschieden werden müssten.
Unter allen Umständen muss darauf Bedacht ge-
nommen werden, ob Avir es mit einem Tod-
schlag oder mit einem ^I o r d zu t h u n haben.
Schliesslich könnte auf Grund der unpräzisen, unbe-
stimmten und mangelhaften Obduktion auch an einen
Selbstmord, resp. Selbstmordversuch gedacht
werden, sofern nämlich die Strangulations-
— 55 —
furche in Betracht kommt.*) Jedenfalls muss
man logischerweise auf diese Möglichkeit im Auge be-
halten, falls die Strangulationsfurche in vivo geschehen
ist, was eben auch bezweifelt werden kann. Zu einem
Selbstmorde würde die postmortale Imitation des Ritual -
m o r d e s , durch die zugleich die Strangulationsfurche
zum Teil beseitigt Avürde (so erklärten die Sache die Ge-
richtsärzte bei der Verhandlung selbst), sehr gut passen.
Auf weitere Vermuthungen will ich mich nicht einlassen,
ich habe nur diejenigen Annahmen geprüft, die über das
Motiv der That vornehmlich in Betracht kommen und die
auch schon mehr oder weniger verhandelt wurden. Natür-
lich lässt sich nach den ärztlichen Befunden allein kein
einheitliches psychologisches Bild der Motivation liefern,
weil ihre Angaben so ungenau, zerfahren und wider-
spruchsvoll sind. Eine präcise Beschreibung der Leiche
und ihrer Kleidungsstücke Avürde dem Psychologen festere
Anhaltspunkte liefern. Darum kann nur eine neue und
energische Untersuchung in die Sache Licht bringen. In
diesem Sinne ist eine sachliche, nicht blos formalistische
Revision des ganzen Prozesses absolut notwendig.
*
Wollten wir vom Gesichtspunkte der Motivation die
verschiedenen Personen durchmustern, die während des
Prozesses, wenn auch nur von einzelnen Zeitungen, als
Thäter oder Helfershelfer bezeichnet wurden, so hätten
wir eine artige Gallerie zu durchmustern. Ich beschränke
*) Die bei Reinsberg, Gerichtl. Medizin HI, 351—353
angeführten Veränderungen an Leichen der Erhängten (Hände
und Unterarme violett gefärbt, Gesicht geschwollen u. s. w.) er-
innern an die im Protokoll gefundenen, hier allerdings auch
schon anders gedeuteten Symptome. Auch muss ich aufmerk-
sam machen, dass im Obduktionsprotokoll an den Füssen keine
todtenfleckartigen Verfärbungen angegeben werden — freilich
kommt es wiederum auf die Glaubwürdigkeit der Herren Ge-
richtsärzte an.
— 56 —
mich auf die zwei Personen, die gegenwärtig von der
öffentlichen Meinung und besonders von der klerikalen
antisemitischen Partei im Gegensatz gebracht werden
— H i 1 s n e r und die Familie Hrfiza (Mutter und der
jüngere Sohn).
Leopold Hilsner ist ein ausgesprochener Tauge-
nichts, der längst in eine Korrektionsanstalt gehört hätte.
Die Existenz und unbehinderte Tagdieberei solcher Indi-
viduen weist mit deutlicher Sprache auf unsere ungesunden
sozialen und sittlichen Verliältnisse hin. Auch das Ver-
halten Hilsners während des Prozesses und nach ihm sind
nicht imstande, für den Angeklagten Sympatien zu er-
wecken. Es ist eine gemeine Finte der antisemitischen
Presse, wenn mir dieselbe Intei'csse oder gar Sympatien
für Hilsner zuschreibt; sie verwertet derart in ihrer Un-
redlichkeit die allgemeine und berechtigte Antipatie gegen
den Angeklagten. Es passt übrigens auch ihrer Unbildung,
in Hilsner und in der Familie Hruza zwei Gegensätze und
speziell den Juden und den Christen quasi als Typen hin-
zustellen.*)
Im Gegensatz zu Hilsner wird für die Familie
Hruza unbewusst und bewusst die wärmste Sympatie
wachgerufen. Wer würde auch von dem Unglück des
jungen Opfers und der alten Mutter nicht gerührt
werden? Es ist nur ein Zeichen gesunden sittlichen
Sinnes der Bevölkerung, wenn sie .davor zurüchscheut,
die eigenen Angehörigen mit der That in Beziehung zu
bringen.
Bei der Beurteilung der Volksstimmung kommen ver-
schiedene Momente in Betracht. Nicht zum geringsten
Grade das Romantische und Ungewöhnliche an dem Ver-
breclien: der Ueberfall in einem Walde, sozusagen auf
*) Von klerikaler und antisemitischer Seite wird öfters be-
hauptet, Hilsner habe sein Verbrechen eingestanden. Demgegen-
über bemerke ich kurz, dass das nach den mir zugekommenen
öffentlichen und privaten Informationen nicht wahr ist.
— 57 -
offener Strasse, Abend, knapp vor den Osterfeiertag-en,
der Ucberfall einer Wehrlosen durch eine angebliche
Schächterbande — das alles wirkt auf die Phantasie
und das Gefühl. Die Menschen, das sehe ich aus
den Zeugenaussagen, erleben eine Art Trauerspiel.
Es ist das ein ganz eigentümliches Gefühl : man sieht
es vielen Zeugen an, wie sie an dem fürchter-
lichen Drama irgendwie beteiligt sein wollen, jeder will
nachträglich etwas gesehen, gewusst oder wenigstens
geahnt haben. Die Agitation bemächtigt sich dieses ganz
natürlichen Gefühles, auf den Polnaer Ansichtskarten kann
man die verschiedensten „Faktoren" im Prozesse oft unter
ganz nichtigen Prätexten abgebildet sehen. Selbstverständ-
lich kommt besonders das religiöse Moment in Betracht,
die klerikale Agitation gegen die Juden gibt den Aus-
schlag: Die Ermordete wird mit steigender Agitation zu
einer „Märtyrerin", die überlebenden Familienglieder werden
in Gegensatz zu dem Angeklagten beinahe als Ideal-
menschen hingestellt.
Das geschieht schliesslich gegen das Interesse der
Gefeierten. Kritischere Menschen, die die Familie und
ihre Verhältnisse schon lange beobachten und kennen,
werden derart zum Widerspruche gereizt, und so entsteht
gleichzeitig mit der Idealisierung eine kritische Unter-
strömung, die sich vorläufig vor der von Polna aus syste-
matisch geleiteten klerikal -antisemitischen Agitation nicht
vortraut, die sich aber dennoch schon äussert und sich
später noch mehr äussern wird. Selbstverständlich wird
auch auf dieser Seite in vielen Fällen unkritisch und unge-
bührlich verdächtigt.
Ich gehe bei der Beurteilung der Hruzas (Mutter und
Sohn Jan), wie in der ganzen Studie, von den Thatsachen
des Verhandlungsprotokolles aus. Hier findet sich mehre-
res, was auf die Famüie aufmerksam machen muss. Hier
erfährt man vor allem, dass der Volksmund sich zuerst
gegen den Bruder ausgesprochen hat, Hilsner wurde erst
— 58 —
später, angeblich von Sonntag ab (pag. 23), als Thäter be-
zeichnet. Und zwar in Polna.
Es ist zu beachten, dass die Familienangehörigen
selbst auf Hilsner hinweisen. Die Mutter und der Vor-
mund Noväk behaupten, Agnes Hruza habe sich über die
Zudringhchkeit Hilsners beschwert. Die Anklage schildert
die Sache so, als ob die Ermordete gesagt hätte, Hilsner
mustere sie gar sehr und „wer weiss, was er an mir
findet" (25). Also etwa gar die Ahnung des — Ritual-
mordes? Ich habe schon aufmerksam gemacht, dass nach
Noväks Aussage (116) nicht nur von der Agnes Hruza
allein, sondern von allen oder mehreren Mädchen (bei
Prchals?) die Rede ist. Nun ist jedenfalls auch der Um-
stand von Belang, dass in der Nähschule bei Prchal von
Hilsner nicht gesprochen wurde, wie Fräulein Prchal selbst
aussagt (121); gewiss ist es eigentümlich, dass die ver-
schiedenen Näherinnen, die angeblich von Hilsner belästigt
wurden, über den Verfolger nicht gesprochen hätten. Nur
kurz sei erwähnt, dass die Mutter in der Voruntersuchung
ausgesagt hat, die Tochter habe ihr den Namen Hilsners
nicht genannt, in der Verhandlung sagt sie aus, sie habe
den Namen erfahren (99).
Auffällig ist, dass die Familie Hruza erst Freitag früh
nach der Stadt ging, um sich nach Agnes umzusehen. Es
ist dies umso auffälliger, als nach dem Geständniss der
Mutter die Tochter noch nie die Nacht ausser Hause zu-
gebracht hat. Nun gibt die Mutter an (98), die Tochter
habe ihr gesagt, sie hätte bei Prchals viel zu thun, und
darum halbe sie, als sie Mittwoch nicht nach Hause ge-
kommen, an nichts gedacht; dagegen ist anzuführen, dass
Agnes Hruza den verhängnisvollen Mittwoch früher als zu-
vor aus der Näherei fortgehen konnte, weil sie, wie ihre
Arbeitgeberin aussagt (121) und wie die Anklage besagt (27),
keine Arbeit mehr hatte. Wie konnte also Agnes Hruza
zu Hause sagen, dass sie viel Arbeit haben werde? Das
Quantum der Arbeit würde ihr doch bekannt sein; wäre
— 59 —
Mittwoch eine unvorhergeseliene Arbeit hinzugekommen,
so konnte sie das nicht vorher wissen. Auf den Umstand
will ich nicht grosses Gewicht legen, dass die Mutter zu-
gleich zweimal (82, 99) aussagt, sie habe nur gedacht,
die Tochter habe viel Arbeit. Donnerstag, wie schon er-
wähnt, will die Mutter in dem schlechten Wetter einen hin-
länglichen Erklärungsgrund für das weitere Ausbleiben der
Tochter gesehen haben (82). Damit stehen jedoch andere
Aussprüche über den möglichen Tod der Tochter im
Widerspruche.
Psychologisch sehr beachtenswert ist folgendes (99):
Die Mutter kommt erst Freitag zu Prchals und fragt nicht
nach der Tochter, sondern nach ihrem — Körbchen. Von
Dr. Aufedniöek darauf befragt, sagt sie aus, sie habe ge-
dacht, die Tochter sei im zweiten Zimmer. Und doch
sagt sie in demselben Verhöre (39), sie sei ins Geschäft
fragen gegangen, weil sie sich dachte, das Mädel sei er-
schlagen!
Auch linde ich es auffallend, dass Mutter und Sohn
gleich vom Mord sprechen — der Postenführer Klenovec
zum Beispiel dachte daran, Agnes Hruza sei nach Wien in
den Dienst gefahren.
Sehr auffallend ist die ganze Szene des Verhörs, wie
sich die Mutter an die früheren Aussagen nicht gut er-
innert, die für die Liebe des Bruders zur Schwester
sprechen sollen (92 ff.); es berührt geradezu unangenehm,
wie der Präsident der Zeugin die Worte der Vorunter-
suchung geradezu in den Mund legt. Ueber ein solches
intimes Familienverhältnis sich nicht zu erinnern? ....
Der Bruder der Ermordeten wird im Verhör vom
Postenführer als geizig bezeichnet (106), der Vormund
drückt sich freundlicher aus und nennt ihn sparsam (118);
und dieser Mann soll seiner Schwester nach einer Krank-
heit 90 fl. zum Geschenk gegeben haben? Beinahe das
Sechstel der durch Arbeit ersparten Summe (600 fl.)? Man
— 60 —
muss, wie gesagt, die Szene ganz lesen, wie die Mutter
sich aucli auf diese in der Voruntersuchung erzählte Ge-
schichte nicht erinnern kann. Jedenfalls muss der Bruder
für sein splendides Geschenk einen sehr starken Grund
gehabt haben — kein Denkender, der in Geldsachen die
Filzigkeit unserer Landbevölkerung kennt, kann sich der
Vermutungen darüber erwehren.
Sehr beachtenswert ist die gelegentliche Bemerkung
des Präsidenten, unter den am vermeintlichen Thatorte
aufgefundenen Gegenständen sei auch eine (recte ein Teil
einer) Maurerschürze gefunden worden, auf der etwas Kalk
vorhanden war (97). Die Mutter bejaht die Frage, dass
der Sohn Maurer sei, fügt aber hinzu, er habe keine weisse
Schürze gehabt, nur blaue, und die wären überdies zer-
rissen gewesen. Eine weitere Beachtung scheint die Sache
in dem ganzen Prozesse nicht gefunden zu haben. Nach
meinem Dafürhalten ist diese Maurerschürze eines der
wichtigsten corpora delicti; wenn die Anklage dem Stocke
eine so grosse Bedeutung zuschreibt, so hätte sie aus dem-
selben Grunde auch die Maurerschürze sehr beachten
müssen, weil dieselbe direkt, und direkter als der Stock,
zum Thäter in Beziehung stehen dürfte. Erfahrene Ge-
richtsmediziner bestätigen mir diese Ansicht durchaus; so
steht in einem solchen Gutachten ausdrücklich betont, dass
die Maurerschürze „zur Eruierung der Person des Mörders
von der grössten Wichtigkeit" ist.
Aus der Verhandlung geht weiters hervor, dass die
Familie Hmza nichts weniger als friedlich zusammenlebte.
Der Postenführer sagt aus, dass zwischen Bruder und
Schwester und zwischen den Geschwistern und der Mutter
beständige Zänkereien waren; ebendarum hat er, nachdem
er von dem Mord erfahren, sogleich und zuerst den Ver-
dacht gegen den Bruder und die Mutter geschöpft (102,
107). Auch ein anderer Zeuge gibt Misshelligkeiten in der
Familie zu (der Heger Miäinger 125). Ganz besonders
scheint mir die Aussage des Postenführers (107) beachtens-
— 61 —
wert, der das grobe Verfahren gegen die Tochter als
„dauernd, in gewisser Weise beständig" erklärt. Für die
Beurteilung der Familienverhältnisse kommt eine solche
beständige Stimmung umsomehr in Betracht, als dieselbe
unter Umständen die Leute nicht so sehr graviert, als
auch entlastet.
Ueberhaupt wäre es im Interesse der Familie ge-
wesen, die Verhältnisse blosszulegen, die zur Erklärung
einer solchen habituellen Stimmung in Betracht kämen.
Ganz besonders denke ich da an die früheren Familien-
verhältnisse zu den Lebzeiten des Familienhauptes, lieber
die eigentümlichen Verhältnisse von Mann und Frau, resp.
Vater und Mutter wird in Ve2nic und der Umgebung
genug gesprochen; es wäre zu untersuchen, inwiefern der
Umstand massgebend ist, dass der 1892 verstorbene alte
Hruza, wie behauptet wird, aus dem Walde tot nach Hause
gebracht wurde. Um verschiedenes Gerede, das auch in
verschiedenen Zuschriften aus der Gegend sich kundgibt,
zu entkräften, wäre angezeigt, das Obduktionsergebnis
der Leiche bekannt zu geben, im Notfalle die Exhumierung
vorzunehmen. Ganz besonders käme für die forensische
Beurteilung auch der Umstand in Betracht, dass der ver-
storbene Hniza als psychopathisch geschildert wird; die
Art und Weise des Leidens wäre eventuell in Bezug auf
die Möglichkeit der direkten oder indirekten Vererbung
zu prüfen, und natürlich wären die physischen und ganz
besonders auch die psychischen Ursachen des Leidens
festzustellen.
Inwiefern der in der Verhandlung erwähnte spezielle
Streitfall zwischen Bruder und Schwester wegen der neuen
Kleider in Betracht käme, die, glaube ich, den Tag vor
dem Tode fertiggestellt wurden, darüber und über anderes
ist der Verhandlung wenig zu entnehmen. Gleich nach
der That wurde in Polna viel darüber gesprochen, dass
Jan Hruza zerkratzte Hände hatte; es sind Zeugen, die
- 62 —
das Öffentlich, zumal beim Leiclienbegäugni«, ausgesagt
haben; andere haben auf einen blauen Fleck im Gesichte
der Mutter Hruza hingewiesen. Das alles ist in Polna und
Vö^nic bekannt gewesen, doch ich halte mich hier nur
an die schon im Verhandlungsprotokoll sichtbaren That-
sachen.
VI. Die logische Konstruktion der Sclmld
Hilsners.
Wenn ich über die Bedeutung des Polnaer Prozesses
im Zweifel gewesen wäre, so würde mich der starke Wider-
hall, den meine Kritik desselben überall so rasch gefunden
hat, eines Besseren belehren.*) Die Statistiker haben die
Angaben über die Zahl der Zeitungen, Briefe und Post-
sendungen überhaupt schon öfters als kulturellen Massstab
benützt — die Statistik der über den Polnaer Prozess jetzt
von neuem verhandelnden öffentlichen und privaten
Stimmen würde jedem anschaulich zeigen, um was es sich
bei Polna handelt; ich wenigstens werde schon heute mit
den verschiedensten Meinungsäusserungen, am eifrigsten
aus dem antisemitischen Lager und speziell aus Wien,
geradezu überschüttet. Wenn z, B. in München eine Volks-
versammlung gegen meine Broschüre sogleich zusammen-
gerufen wurde, so ist das nur ein Beispiel unter vielen,
wie der Polnaer Prozess nicht nur in Böhmen und Oester-
reich, sondern überall vom klerikalen Antisemitismus go-
*) Dieser Abschnitt ist schon am 18. Nov. 1899 in der „Zeit"
erschienen; hier ist er entsprechend ergänzt worden.
- 03 —
sehätzt und ausgebeutet wird.*) Die stark verbreiteten
Broschüren, in denen das Polnaer Verbrechen mit Zuhilfe-
nahme der Schriften Rohlings als Ritualmord geschildert
wird, haben sämmtlich Priester zu Autoren. Der Mord
in Polna gilt diesem Antisemitismus als typischer Ritual-
mord, wie mir auch in den meisten Zuschriften gesagt
wird. „Man kann," heisst es z. B., „über die früheren Be-
weise des Ritualmordes diesen oder jenen Zweifel hegen
— der Fall von Polna ist einwandfrei, und sein grosser
Wert für die wahrhaft katholischen Freunde der Wahrheit
besteht darin, dass er durch seine Augenscheinlichkeit und
durch seine Bestimmtheit selbst die grossen Massen zu
überzeugen vermag. Wir brauchen keine philologischen
Haarsplittereien über einige Stellen des alten Testamentes
oder den Talmud und seine Ausleger, in Polna ist die
ganze Geschichte des Ritualmordes in der einen christ-
lichen Märtyrerin verkörpert u. s. w." Gewiss, die Massen
(und dazu rechne ich auch die Mehrzahl der soge-
nannten Intelligenz) denken nicht in abstracto und
allgemein, ihnen genügt ein Fall, um ihn in der Gegen-
*) Wir setzen für die Leser als Beispiel der Agitation die
in den schreiendsten Plakatlettern gedruckte Ankündigung' der
„Bayerischen Reformpartei" hierher: „Ein Gaunerstreich. Re-
vision, Revision, so schreit, wie im Dreyfus-Prozesse, jetzt auch
im Mordprozesse von Polna die ganze Judenbande und ihre
Helfer. Ein Jiidenknecht, Prof. M a s a r y k in Prag, Heraus-
g'eber einer im Dienste des Judentums stehenden Zeitschrift, hat
eine Broschüre voll der verlogensten Darstellungen
über deuRitualmord von Polna verfasst, aus wel-
cher das Münchener Organ der AUiance Israeli te, die „Neuesten
Nachrichten", einen Auszug veröffentlichen. Während dies Blatt
alle seitherigen Nachrichten über den Prozess ganz versteckt
unter dem Striche brachte, widmet sie dem Masaryk'schen
Schadwerke den breitesten Raum, die Judenlügen sollen unter
das Volk gebracht werden! Die Antwort auf diese Mache wird
in öffentlicher Volksversammlung am Dienstag abends
8 Uhr in der Blüthe, Blüthenstrasse, gegeben
werden."
— 64 —
wart und für alle Vergangenheit und Zukunft zu ver-
allgemeinern.
Diese Bedeutung des Polnaer Prozesses habe ich er-
kannt und eben daraufhin habe ich denselben einer Kritik
unterzogen, ich habe mich gefragt: Ist es wahr, dass
die Polnaer Unthat ein durchschlagender
BeAveis für den Ritual mord ist?
Um auf diese Frage eine bestimmte Antwort zu er-
halten, musste ich den ganzen Prozess genau studieren;
speziell musste die ganze Art des Verbrechens
und derUmstände untersuch twer den, unter
denen dasselbe begangen wurde. Die richter-
liche Behörde hat natürlich noch andere Mittel; der Pri-
vate kann in erster Eeihe nur die dokumentarische Be-
schreibung des Falles, die Hauptverhandlung und die
Erklärungen der Sachverständigen nachprüfen, und das
habe ich in meiner Kritik gethan.
Durch die Natur der Sache ist für mich wie für jeden,
der sich über den Fall ein Urteil bilden will, die Methode
der Untersuchung gegeben: Es sind mit d e r p e i n -
liebsten Sorgfalt die von der Anklage mit
Hilfe der Sachverständigen konstatierten
Thatsachen zu überprüfen, Vermutungen, die dieses
Thatsächliche merklich überschreiten, sind möglichst fern-
zuhalten. Die bestimmte Frage lautet eben: gibt die Haupt-
verhandlung mit dem Angeklagten Hilsner in der That ein
solches Bild des Verbrechens, dass die Annahme des
Ritualmordes gerechtfertigt ist?
Wohlgemerkt : Ritualmordes. Wenn nämlich der
Polnaer Mord eben nur ein gewöhnlicher, ge-
meiner oder einLustmord ist und wenn die Schuld
des Angeklagten strikte erwiesen wäre, so hätten wir eben
einen von einem (oder mehreren) Juden vollführten Mord vor
uns, keinen Ritualmord. Das versteht sich zwar von selbst,
aber zur Zeit einer so grossen antisemitischen und kleri-
kalen Agitation versteht sich das leider nicht von selbst
— 65 —
Prüft man die ganze Art und Weise des Polnaer
Verbrechens, so ersieht man aus den Thatsachen, dass
kein Ritualmord vorliegt.
Gegen die Annahme des Ritualmordes spricht die Art
und Weise der Verwundung am Halse: die Wunde ist mit
keinem Schächtermesser und keinem wagerechten Schnitte
verursacht, sondern eine gewöhnliche Stich- und Schnitt-
wunde.
Ferner widerspricht der Annalime das Datum der
That (am 29. März waren die jüdischen Hauptf eiertage
schon verflossen), auch bekundet die That keine Geheim-
heit („geheime Ritualsekte").
Bleibt demnach nur die Behauptung, dass die Leiche
vollständig ausgeblutet war, das ausgeflossene Blu.t aber
am Thatorte nicht in entsprechender Menge vorgefunden
wurde; allerdings beruht diese Behauptung auf einigen,
sogleich zu erwähnenden Annahmen, ganz besonders auf
der Annahme, dass das Verbrechen an dem Fundorte der
Leiche begangen wui'de. Der kritischen Prüfung
ergibt sich demnach vor allem die Pflicht,
die behauptete Thatsache der Ausblutung
zu untersuchen. Für die Beurteilung dieser Frage
liegt vor allem das ärztUche Protokoll und Gutachten vor.
In dem Protokoll (1. April) und Gutachten (6. April) wird
die Ausblutung direkt nicht konstatiert und nur die rasche
Verblutung und Unterbrechung der Athmung als Haupt-
ursache des Todes hingestellt; erst in einer nachträglichen
Ergänzung dos Gutachtens (19. April) wird ausgesprochen,
dass die Leiche der Agnes Hruza „ fast vollständig aus-
geblutet war." *)
*)Wenn die Herren in ihrer „Antwort" im Sektionsprotokoll
und Gutachten keinen Ritualaberglauben znlassen, so waren sie
eben unaufrichtig"; in dem zweiten Nachtrag zum Gutachten ist
dieser Aberglaube offenbar schon vorhanden, wie aus dem Um-
stände zu schliessen ist, dass vorher schon die antisemitischen
— 66 —
Icli habe clit- mediziiiisolieii (Ti'ünde, die für die Tühi-
sache des vollständigen Ausblutens von den Sachver-
ständigen angeführt werden, so weit ich es mit Hilfe vun
bewährten Fachmännern im Stande war, überprüft imd
das Ergebnis lautet, dass der Leichnam der Agnes Hruzu
nicht vollständig ausgeblutet war, Avenn auch immerhin
eine stärkere Blutung angenommen werden kann.
Für das vom Präsidenten (!) und dem Privatanwalt
suggestiv hingestellte „ A uff a n g e n '• d e s Blutes „ i n
ein G e f ä s s " (Anwalt) wird selbstverständlich überhaupt
gar kein Grund angeführt.
Das h e i s s t : die II a 1 s w u n d e ist nicht
r i t II e 1 1. Die ganze Art der V e r w u n d u n g u n d
die M a n i p u 1 a t i o )i mit der Leiche s c h 11 e s s t
alle R i t u a 1 i t ä t aus.
Die Anhänger des Kitualaberglaubens sehen in der
Person des Angeklagten, dass er nämlich ein
.1 u d e ist, den Hauptgrund für ihre Annahme, das Ver-
l)rechen in Polna sei ein Ritualmord. Aus diesem Grunde
müssen wir uns klar werden, welche Beweise füi- die
Schuld oder wenigstens M i t s c h u I d H i 1 s n e r s
an dem Morde vorliegen. Selbstverständlich handelt es
sieh in der offiziellen Anklage nur um einen Mord
und keinen RitualniDrd, was jedoch weder für die meisten
Richter noch füi* die Masse der Antisemiten ein Grund ist.
an einen andern als einen Ritualmord zu denken.
Ich habe gleich anfangs in meiner Kritik hervor-
gehoben, dass die Anklage im Falle Polna mehr als in
anderen Fällen ganz besonders auf die K o n s t a t i e r u n g
des Thatortes und der Zeit Gewicht legt; der An-
Blätter und speziell auch das Leiborgan der Herren Aerzte, das
D. Volksblatt (z. B. 13. April), in Polna deu Ritualm'ord kon-
statiert kaben. Auch habe ich direkte Zeugen dafür, dass die
Herren öffentlich ihren Ritualabe.r2'lavd)eu verkündig'en.
— 67 —
Wäger wiederholt und betont dies^Mi Umstand mit grossem
Nachdruck (pag. 377 der zitierten stenographischen Pro-
tokolle). Die Anklage behauptet, der Mord sei (am 29. März)
zwischen ö^/^ und 6V4 Uhr in der Nähe des Fundortes der
Leiche geschehen, und zwar aus folgenden Gründen:
Agnes Hruza ist um 57a am Ende der Stadt Polna auf
ihrem gewöhnlichen Gange nach dem drei Viertelstunden
entfernten Weznic gesehen worden; an dem vermeint-
lichen Thatorte sei sie deshalb um 5% angelangt, und dort
sei sie nach allen erwiesenen Timständen überfallen und
ermordet worden. „Weil dann Agnes Hruzova diesen
Abend nicht nach Hause nach Klein- Wöznic zurückkehrte,
wie sie gewöhnlich um 6V4 zu thun pflegte, muss man an-
nehmen, dass der Mord an ihr in der Zwischenzeit von
Ö'Vi bis 6V4 Uhr begangen wurde, und zwar an dem Orte,
wo bei dem gerichtlichen Lokalaugenscheine Zeichen von
lilutbelieckuug gefunden wurden"' (pag. 27).
Die Gründ(,' für diese Zeitbestimmung, zumal des
terminus ad quem, sind gewiss höchst befremdlich:
Warum gerade in dieser Zwischenzeit und warum
nicht später? Die Antwort auf diese Frage gibt die von
der Anklage geführte Zeugenaussage. Die Familie der Er-
mordeten behauptet, dass diesel1)e an dem kritischen Tage
nicht nach Hause gekommen sei. Die Anklage nimmt diese
Aussage scheinbar als selbstverständlich hin. Für die Haupt-
oder Mitschuld Hilsners sprechen dagegen nach Annahme der
Anklage die Zeugen, welche Hilsner in Polna nach 5 Uhr in
der Richtung nach dem Thatorte gehen (resp. „im Galopp
laufen") gesehen haben wollen, und ganz besonders ist für
die Anklage die Aussage des Zeugen Pesäk massgebend,
der Hilsner um 5^^ am Thatorte mit den beiden vermeint-
lichen Mitthätern gesehen haben will. Für die Anklage
ist gerade dieser Zeuge und seine Aussage „die Haupt-
quelle" für die Beschuldigung Hilsners. Die Anklage
kombiniert mit dieser Aussage Pesäks (und der übrigen
Zeugen, die Hilsner um 5 Uhr herum gesehen haben) die
— 68 —
weitere Zeugenaussage, dass Hilsncr „kurz nach der Ver-
übung der That" (45) in der Richtung nach Polna gehend
gesehen wurde.
Die kritische Beurteilung der Zeugenaussagen über
diese Zeitbestimmung kann die positive Annahme der An-
klage nicht erhärten.
Hilsner wurde an dem kritischen Tage in Polna
um 5.10 Uhr nachmittags gesehen (Zeuge Cink); nach einer
anderen Aussago (Strnad) wurde Hilsner nach 5 in der
Stadt auf einem anderen Orte gesehen und nach der Aus-
sage des Zeugen Pe§äk ist derselbe Hilsner um 6V4 schon
an dem Fundorte der Leiche gewesen.
Von dem Orte, wo Hilsner von Cink gesehen wurde,
bis zum Fundorte d(^r Leiche ist nach der Anklage 20 Mi-
nuten zu gehen: Hilsner und seine Helfershelfer hatten
also in der That im Galopp laufen müssen, um die Ent-
fernung in 5 Minuten zu bewältigen. Das ist auf kothigeni
Wege gewiss eine anständige Leistung. Dass ein solcher
Galopp in der Stadt und am helllichten Tage, N. B. ein
Galopp dreier Menschen, der Annahme des wohldurch-
dachten Planes absolut widerspricht, muss ich nicht be-
sonders betonen; hier interessiert ims nur der Zeitpunkt.
Die Galoppleistung Hillner's und seiner Genossen ist
jedoch noch viel anständiger, als ich bisher angeführt
habe: Hilsner muss nämlich in den 5 Minuten auch auf
den vom Fundort nach der Anklage 605 Schritte gegen
Vßänic gelegenen Ort galoppiert sein, um sich dort den
weissen Stock abzuschneiden;*) wie schon erwähnt, ist der
Stock sorgfältig zugeschnitten — aber Hilsner musste alles
dies in 5 Minuten ausführen: Er ist mit seinen Helfers-
helfern zum Fundort gerannt und hat sich überzeugt, dass
das Opfer noch nickt anwesend war; daher galoppierte er
*) Man könnte allerdings annehmen, der Stock sowie an-
dere Mord- und Ritual Werkzeuge seien schon vorbereitet ge-
wesen — allein die Anklage behauptet, der Stock sei erst vor
der That hergestellt worden (124).
— 69 -
gegen Veziiic, schnitt sich den Ficiitenstock ab, scliälte
ihn und bearbeitete ihn zu einem richtigen Knittel und
galoppierte zurück zum Fundorte; dort postierte er sicli
an den weissen Stock angelehnt, so dass ihn Pe§äk sehen
l<.onnte. Er lugte nach seinem Opfer zur Stadt aus. Und
das alles musste Hilsner in 5 Minuten prestieren, denn
sowohl der Zeuge Cink als auch der Zeuge Pesäk beinifen
sich für ihre Zeitbestimmung auf d i e s e 1 b e U h r von
P o 1 n a !
Ueber den vermeintlichen Ueberfall der Vomelova
durch Hilsner auf einem angeblich 800 Schritte vom Fund-
orte näher gegen Veznic gelegenen Orte habe ich schon
gesprochen. Die Vomelova hat Hilsner nicht gesehen und
hat es auch nicht behauptet. Jedenfalls ist merk^Aoirdig,
dass er sie für die Agnes H. hielt, da er sie doch um ö^/^
am Fundorte schon sehen musste; denn auch die Vomelova
hat sich nach derselben Polnaer Uhr gerichtet und war,
da sie um 4^/4 die Stadt verliess, um 5V4 ^am Fundorte,
wo den Hilsner PeSäk stehen sah. Offenbar hat sich vor ihr
Hilsner versteckt, d. h. er hat gesehen, dass es nicht Agnes H.
ist, aber darum hat er sie kurze Zeit darauf für —
Agnes H. gehalten und überfallen! Difficile est *)
Unstreitig ist Hilsner nach dem Eeccord der Anklage
einer der tüchtigsten Läufer; sehen wir, was für ein
ritueller Schächtermörder er ist — auch ein sehr tüchtiger
*) Der Zeuge Link sagt in der Voruntersuchung' aus, dass
er in dem Augenblicke, in dem er Hilsner und seine Genossen
vorbeigehen gesehen, auf dem Wege zur Martersäule, also auf
demselben Wege, auf dem Hilsner eilte, eine Frauenperson
gehen sah: War das nicht die Vomelova? Oder eine andere?
Und das wurde nicht eruirt? Und musste Hilsner, wenn es die
VomelovjV war, dieselbe nicht ein- und überholen? Wie passt
auch das zu dem späteren Ueberfall ? . . . . Und bei dem vermeint-
lichen Ueberfall der Vomelova mussten die Ritaalmörder selbst-
verständlich ihr grosses Gefäss zum Auffangen des Blutes mit-
schleppen, dann mit demselben wiederum zurückeilen u. s. w. —
— im wahren Sinne des Wortes eine Ritualkomödie!
— 70 —
Fachmann! Denn or ist um 6 oder sogar vor 6 in Polna
gesehen worden (Zeugin SobotkovA), Agnes H. kam aber
am Fundorte um 5^/4.
Die Anklage nimmt eine sehr rasclie Vollführung der
That an; allein für diese Annahme sind gar keine Giiinde
vorhanden. Im Gegenteil würde ein Ueberfall und die
Gegcnwehi-, die länger dauernde Agonie bei der Art und
AVeise der Verwundungen, die Manipulation mit der Leiche
und den Kleidungsstücken, das Abschn»nden der Fichten-
bäumchen und die Zudeckung der Leiche u. s. w. längere
Zeit in Anspruch nehmen: d i e M ö r d e r müssen ge-
wiss eine halbe Stunde zur V o 1 1 f ti h r u n g der
T hat g e b r a u c h t habe n.
Besonders vom Standpunkte der Klage, welche ganz
unverholen das Ritualmotiv festhält, ist es zweifelhaft, (jb
die V2 Stunde genügen würde: Das Auffangen des Blutes
in ein (natürlich) grösseres Gefäss, die. vorsichtige Ueber-
schüttung in ein oder mehrere kleine, beim Tragen unauf-
fällige Gefässe, die Bergung des grossen Gefässes u. s. 1"..
das erheischt allein mindestens eine viertel Stunde!
Selbstverständlich wird es bei dieser Bemessung der
Zeit darauf ankommen, Avie viele Thäter es gegeben hat.
Die Anklage nimmt drei Thäter an: Nach Allem, was ich
über die Art und Weise der Verwundungen und die Um-
stände vorgebracht habe, ergibt sich Avohl, dass nur an
einen Thäter zu denken ist. Umsomehr und unter
allen Umständen widerspricht die Analyse der That und
der Vergleich der Ortsabstände dem von der Anklage be-
stimmten Zeitpunkte.
Offenbar kommt es für die Anklage vorn<'hmlich auf
die Sicherheit des „Kronzf^ugen" PeSäk an. Allerdings,
wenn die Aussage C i n k' s i- i c h t i g ist, so
kann die Aussage P es äks nicht richtig
sein; doch sehen wir uns diese Aussago an und für
\
- 71 --
sich s<'Il)st au, Tesäk l>eliaupt<'t HilsiHT am Fundort«'
in einer Entfernung' von 676 Metern gesehen zu haben.
Ich habe schon gesagt, dass ich die Kichtigkeit dieser
Aussage bestreite. Icii wiederlioie das nach meinen eigenen
Versuchen an Ort und Stelle und nach Mitteilungen anderer
identischer Experimente ganz entschieden. Pesak giebt an,
er habe auf diese Entfernung Hilsner erkamit und zwar habe
er seine grauen Kleider gesehen, ferner will er gesehen
haben, wie er sich mit einem weissen Stocke gegen den
Boden stützte und zur Stadt auslugte. Auch will Pesak
zwf^i and<^re Genossen Hilsner's gesehen haben, er hat
ihre dunkle Kleidung unterscliieden , dass sie auf dem
Kopf«' Hüte Iiatten und zu Hilsner gekehrt waren. Daran
nicht genug, Pesäk sagt aus, er habe geseh«in, dass der
Anzug des einen Genossen Hilsner s abgenutzt war!
Dass letzt«-re Aussage gewiss umvahr ist, darüber
kann kein Zweifel bestehen; aber wie kaim dann die
weitere Aussage wahr sein? Si» wie die Behauptung von
dem Al)nütz«'n der Kleider den Zeitungsnachrichten und
dem mündlichen Gerede abgelauscht ist, so snid auch die
anderen Aussagen nichts als Autosuggestion.
Ich hal)e schon erwähnt, dass Pesäk überprüft wurde.
Allerdings ist diese Ueberj)iüfung ganz verfehlt gemacht
worden, aber auch aus ihr ersieht man, dass Pesäk auf
die angegebene Distanz alle die Details nicht gesehen
haben kann.
Wie g«!sagt, ich habe an Ort und Stelle selbst Ver-
suche gemacht und machen lassen; solche Versuche sind
auch anderwärts unternommen worden — die Aussage
Pesäk kann nicht richtig sein.
Es ist zuzugeben, dass ehi sehr gutes Auge auf die Ent-
fernung von 676 Meter hell<n-e und dunklere Farben unter-
scheiden kann; es ist zuzugeben, dass man auf diese
Distanz genau bekannte Personen, w<'nn sie sich charak-
teristisch bewegen, errathen (nicht sehen II) kann
aber alle die von Pesäk angeführten Details kann man
— 72 —
gewiss nicht sehe u. Aber erraten konnte sie Pe§äk
nicht, weil er Hilsner unvorbereitet an einer ungewöhnlichen
Stelle bemerkt haben kann. Allerdings beruft sich PeSäk
auf Hilsner's Bewegung; aber dieser Ausspruch erinnert zu
sehr an das Zeugnis der Vomelovä.
Auch muss erinnert Averden, dass die Beleuchtung un-
günstig war: falls die Sonne geschienen hat, so blendete
das Licht die Augen, war nebelig , so war die Luft ent-
schieden ungünstig, umso ungünstiger falls, wie behaupt<'t
Avird, es geregnet hat oder wenn ehi Spiühregen war.
Dass sich Pesäk nicht sogleich, sondern erst be-
bedeutend später zur Aussage gemeldet hat, habe ich
schon erwähnt. Hier ergänze ich das Gesagte, dass in den
„Red. Listy" (17. Aug.) seine Aussage vorher ganz zu
lesen war.*)
*
Es erübrigen also für die Beschuldigung Hilsner's nur
die blutbefleckte Hose, der weisse Stock in der Aussage
der Vomelovä und des Pesäk, das Zeigen eines Messers
den Tag vor der That u. dergl.
Ich halte alle diese Indicien mit Ausnahme der Hosen
für ganz wertlos; aber auch die Blutflecken an der H(»se
*) Pesäk gibt an, er habe sich darum später gemeldet, weil
er seine Beschäftigung bei den Juden nicht verlieren wolle. Ich
habe schon erwähnt, dass der Pi'äsident selbst dieser Aussage
nicht recht getraut hat. Ich habe nachträglich einen genauen
Ausweis der Beschäftigung Pesäks bei den Polnaer Juden verlangt
und erhalte folgende Angaben: Bei Henriette Hitschmann zwei
Schlösser repariert, 16 oder 18 Kr. (genau weiss sie sich nicht
mehr zu erinnern); Babette Heller hat einen Streit mit ihm ge-
habt und hat ihm nichts gezahlt, weil er ihr das Schloss ver-
tauscht hat; bei Jacob Schüller ein Laden- und Hängeschloss
repariert, 35 Kr.; bei Adolf L. Basch im Ganzen ca. 1 fl; bei
Emanuel Basch für einen Haken zur Ladenthür und einen Reif
zum Stock und Regenschirm, 2 fl 20 Kr. Das ist alle in zwei
.lahreu an Juden abgelieferte Arbeit.
— 73 —
(vorausgesetzt es sind thatsächlich Blutflecken und zwar
Menschenblut) entscheiden nicht, weil das Alter des
Blutes nicht k o n s t a t i e r t w u r d e.
Ich gehe darum auf die Blutflecken auf der Hose
liilsncr's hier nicht mehr näher ein, weil sie für die Frage ,
wo und wann das Verbrechen begangen wurde, keine
Bedeutung haben.- Der öffentliche Ankläger selbst sagt
(pag. 392), er würde auf die Blutflecken kein Gewicht legen;
der Postenführer (pag. 107) sagt, den Hauptverdacht auf
Hilsner hätten die gefundenen Hosen gewälzt.
Ich will auch nicht untersuchen, ob der Mörder 'nicht
auch nach Mittwoch bei der Leiche weilen konnte; möglich
Aväre es, denn sie wurde erst Samstag gefunden; da je-
doch die Anklage der Sache keine Aufmerksamkeit ge-
schenkt, trotzdem sie unter Umständen nicht unwichtig
sein könnte, begnüge ich mich mit dieser Erwähnung.
Es ist schon ganz ersichtlich: Die Anklage hat gar
keinen zwingenden Grund für die Thäterschaft
Hilsners; alle Zeugenaussagen, bis auf eine, ergeben nur
die Möglichkeit, dass er in der Richtung zu
dem kritischen Ort, zur kritischen Zeit
gehen konnte — mehr nicht, weil er von dem Orte,
wo ihn Cink gesehen, auch anderwärtshin gehen konnte.
Nur ein Zeuge behauptet ihn an dem kritischen
Orte thatsächlich gesehen zu haben. Das wäre
an und für sich auch kein zwingender Beweis der Thäter-
schaft, ja nicht einmal der Mitschuld, weil die That nach
der Anklage erst nach einer V2— 1 Stunde vollbracht wurde.
Wenn aber weiteres durch den Befund an dem Leich-
nam und an den Kleidern und durch weitere andere Um-
stände sich der zwingende Schluss ergibt, dass die
Leiche an d e n F u n d 0 r t g e b r a c h t w u r d e : so
fällt die bisherige Anklage des Hilsner ganz in sich
zusammen. Ich glaube aber hinlänglich genug bewiesen
zu haben, dass der ]^Iord nicht an der Fundstätte der
Leiche verübt worden ist.
— 74 —
ITnd so crgelxMi sicli für die B<is('liul(lig'uug Hilsiiers
nur die auch von der Anklage angeführten allge
meinen Gründe, dass er arbeitsscheu und ein Tage-
dieb, dass er ein Mädchenjäger sei. dass er öfters in d<i'
Bfezina herumvagiertp. Ich behaupte nun nicht, dass diese
allg«-meinen Gründe ohne Gewicht sind: a})ei' entschie(ien
verneine ich die Beweiskraft der angeführten speziellen
Beweis»'. Sie alle ruhen auf dem stärksten
aber subjektiven Grunde: d e m A n t i s e m i t i s -
m u s und R i t u a 1 a b e r glaube n. Der K i t u a 1 a b e r-
glaube war die vis motrix des ganzen Prozesses
und seines agitatorischen Missbrauches.
Ganz besonders ist die ursprüngliche
Anklage ganz bodenlos: der Kronzeuge, dir
„Hauptquelle" des ötfentlichen Anklägers, hat sich erst nach
Monaten gemeldet bis dahin operirte die Anklage
mit den übrigen Zeugenschaftenl Eine kläglichere, ja
geradezu klagbarere Voruntersuchung kann man sich wohl
kaum denken. Man bedenke doch, dass die Hauptaus-
sagen gegen den Angeklagten in Zeitangaben be-
stehen! Jeder halbwegs erfahrene Mensch, geschweige
denn ein Richter, nmss doch wissen, dass solche Angaben
mit der grössten Vorsicht hinzunehmen sind. Ich selbst
bekenne mich dazu, dass ich schon nach einigen Tagen
nicht in der Lage wäre, genau anzugeben, wo ich vor
einigen Tagen um die und die Stunde war. Nun habe ich
schon (in der Broschüre) aufmerksam gemacht, wie der
Herr Ankläger gegen den „Chronometer" loszieht; und
doch basiert er sein ganzes juristisches Kartenhaus auf
dem Chronometer des Zeugen Cink, der den Angeklagten
um B,10Uhr Nachmittags in der Stadt gesehen haben will:
nimmt die Anklage diesen Ausgangspunkt an, so muss sie
ihren Kronzeugen aufgeben — — aber was bleil)t ihr
dann?
Ueberdies beweisen alle diese Aussagen für die
T h ;i t e r s c h ;i f t a u f d <• ni F u n d o r t c de v L e i c h <•
^ar nichts! Das Beweisvcrfalircn der Aussag-c ist in
(liosei- Bezietiung- geradt-zn monströs unjuristisch.
Nur 80 können wir uns erklären, warum viele und
wichtige Frag-en durch die bisherige gerichtliche Unter-
suchung nicht untersucht, nicht beleuchtet oder gar nicht
einmal beachtet wurden.
Ein charakteristisches Beispiel bietet das Umbiegen
der Füsse — erst durch meine Broschüre ist auf die
Sache aufmerksam gemacht worden und auch die Herren
Sachverständigen selbst haben sie erst mehr beachtet,
während sie im Obduktionsprotokolle und Gutachten die-
selbe nicht einmal erwähnen!
Uebrigens will ich an diesem Beispiel meinen Gegnern
die j u r i s t i s c h e Bedeutung dieser meiner Pohuikritiken
klfu' machen.
Es ist .beachtenswert, dass in der Hauptverhandhmg
i;in Richter aus dem Volki^ auf die eigentliche Bedeutung
(hn* Thatsache für die Venirteilung Hilsners hingewiesen
hat. Ich führe die Stelle aus der Verliandlung in meiner
ersten Broschüre an. Der Votant fragt nämlicli den Sach-
verständigen, ob diese Unibiegung und Erstarrung gleich
nach dem Tode eingetreten sein könne. Offenbar ist ihm
di(^ Annahme der Anklage lebheft gegenwärtig, dass die
Tliat zwischen 5% und 6V4 und in grösster Eile begangen
worden sei, weil der Angeklagte (Hilsner) schon nach
6 Uhr in Pohia gesehen Avurde. Auf die Frage des Vo-
tanten gibt nun der Sachverständige die AntAvort, dass
eine solche Erstarrung erst nach einigen Stunden ge-
schehen konnte.
Es ist offenbar, dass di<'se Aussage sogleich juristisch
für Hilsner hätte Aveiter ausgedacht Averden sollen, aber
es ist nicht geschehen. Ich betone das Wort j u r i s t i s c h.
Sobald nämlich in der Verhandlung von den Sachver-
ständigen eine so Avichtige Erklärung abgegeben Avird, so
niuss sie eben in ihren logischen Kcmsequenzen für den
Prozess, respektive für die Anklage ausgeführt Averden.
— 76 —
Die Allklage nimmt an, dass die Thäter gleich nach der
Ermordung und zwar „in grösster Eile" den Thatort ver-
lassen haben — dieser Annahme widerspricht die Er-
klärung des beeideten Sachverständigen ganz entschieden.
Wenn nämlich das auffallende Umbiegen der Füsse durch
eine IManipulation mit der Leiche geschehen ist, die längere
Zeit, speciell das Eintreten der Totenstarre, in Anspruch
nahm, so ergibt sich fttrHilsner sogleich der Schluss, dass
er als vermeintlicher Mörder oder Mitschuldiger bei dieser
gewiss äusserst wiclitigen Veränderung der Leiche nicht
beteiligt gcAvesen sein kann, weil er eben zeuge'nmässig
schon um 6 Uhr in Polna war.
Allerdings käme es auf die Erklärung des U in -
biegen s an >— alllein es ist Thatsache, das habe ich hin-
länglich klar gestellt, dass die Herren Gerichtsärzte sich
um diese Erklärung nach ihrer Theorie von der Leichen-
erstarrung in der Hauptverhandlung ernstlich gar nicht
bemüht haben. Erst nachträglich, nach meiner Erklärung,
versuchen sie die eigentümliche Erscheinung halbwegs zu
erklären.
Die Wichtigkeit dieses Umbiegens der Füsse liegt
darin, dass dieselbe eben wegen der Ungewöhnlichkeit,
auf die der Vorsitzende richtig hingewiesen, auf eine be-
stimmte Ursache hinweist. Das Umbiegen der Füsse muss
einem bestimmten Zwecke gedient haben. Das an-
erkennen alle Fachmänner, denen ich die Frage vorgelegt
habe. So schreibt mir ein bekannter Professor der ge-
richtlichen Medizin: „Die Krümmung der Füsse haben Sie
mit Recht als sehr auffallend urgiert". Der angeführte
Gewährsmann selbst nimmt an, diese Krümmung hänge
mit dem perversen Sexualverbrechen zusammen — ich
kann das nicht annehmen, aber darin hat mein Fachmann
Recht, dass für das auffallende Umbiegen ein Grund ge-
sucht werden muss. Ich habe mir alle möglichen Gründe
selbst vorgebracht und von anderen vorbringen lassen —
die Erklärung, die ich gegeben habe, ist, wie ich mich be-
— 77 —
ständig überzeuge, im Hinblick auf die übrigen Umstände
und Tliatsachen, die natürlichste und richtigste.
Ich gebe wohl zu, dass über den Gegenstand nocli
weiter verliandelt werden könnte, sofern nämUch die
rasche Verblutung eine raschere Todtenstarre nach sich
ziehen kann; ich gestehe auch, dass ich von allem An-
fange an von den Herren Sachverständigen diesen Einwand
in irgend welcher Form erwartet habe; hier gehe ich auf
den Gegenstand nicht näher ein, jveil er zu sehr ver-
wickelten theoretischen Untersuchungen Anlass geben
würde, die jedoch für den vorliegenden Fah deshalb
keine ausschliesslich entscheidende Bedeutung haben, weil
neben d e r U m l> i e g u n g der F ü s s e noch die
zahlreichen weiteren Gründe dafür, dass
die That nicht am Fundorte der Leiche ver-
übt A\' u r d e , entscheidend s i n d.
Es ist (ersichtlich, dass der Prozess sachlich revi-
diert und dass ganz besonders die verschiede-
nen und sich widersprechenden Aussagen
der Gerichtsärzte, so weit das heute möglich ist,
genau von tüchtigen Fachmännern überprüft werden
müssen. Es ist möglich; dass diese Ueberprüfung
ebenso wie eine unvoreingenommene energische Unter-
suchung ganz neue Thatsachen aufdecken wird,
durch welche meine Ausführungen modifiziert werden
müssten. Ich werde keinen Anstand nehmen, diese Modi-
fikation vorzunehmen ; allein auf Grund der von dem
bisherigen Prozessverfahren und beson-
ders den Herren Gerichtsärzten vorge-
brachten Thatsachen kann eine sachliche Kritik
• nicht anders urteilen, als ich es gethan habe.
Das Ergebnis dieser Kritik, das weiss
ich ganz wohl, ist insofern unbefriedigend,
als ich mich nicht mit absoluter Sicherheit für eine
— 78 —
brstiiuiiite Annahme entscheiden kann. Allein das
kommt daher, dass das vorliegende Thatsachenmaterial
durch ungenaue Beobachtungen and voreilige Schlüsse ge-
sammelt wurde. Der Ritualaberglaube — das sieht Jeder.
liat die Beobachtenden, Prüfenden und Suchenden mit
Blindheit gesehlagen. Das ganze luftige Gebäude des
Polnaprozesses ist auf dem Sand- vielmehr Sumpfboden
einer vorgefassten Meinung aufgebaut — in diesem Sumpf-
boden musste es darum zusammenstürzen.
Der Prozess von Polna ist in psychologischer Hin-
sieht ein geradezu typischer Fall für die Wirkung der
Suggestion, respektive des Glaubens (Aberglaubens). Die
Menschen, die den Fall untersucht und beurteilt haben,
sind blind und taub geworden; alles Denken und Fühlen,
ja die Sinne selbst wurden nach einer vorgezeichneten
Richtung gedrängt, alles, was dieser Richtung zuwiderläuft
oder doch abseits liegt, Avurde gar nicht beachtet und
nicht einmal bemerkt. Ein solcher Glaube ist eben blind.
Der Dreyfus-Prozess hat im Polnaer Prozess seine psycho-
logische Fortsetzung gefunden.
Soziologisch beurteile ich den ganzen Prozess von
Polna und seine Erörterung in der Tagespresse und be-
sonders die umfangreiche antisemitische und klerikale
Polna-Literatur und -Agitation, das sage ich hier ganz
kurz, in erster Reihe als trauriges Zeichen unserer böhmi-
schen und österreichischen Ivultmnerhältnisse.
leb wiederhole, was ich den demonstrierenden Stu-
denten auf die Tafel geschrieben habe: Der ganze Polna-
prozess und seine Ausbeutung von clericalei' mid anti-
semitischer Seite ist ein Attentat gegen den gesuntleii
Menschenverstand und gi'g^in die ^Menschlichkeit.
79
Schi uss wort.
le'h bin. wie ich hoffe, mit meiner literarischen Kritik
des Polnaer Prozesses fertig.
Ich gestehe, nie eine Arbeit miteniommen zu hal)eii,
die so anstrengend und so aufregend gewesen wäre. Di<^
rohen Angriffe von klerikaler und antisemitischer Seite
haben micli wenig beunruhigt, auch der demonstrative
Teberfall einer Anzaul Studenten und ihrer Helfershelfer
liat mich nicht aufgeregt. Aufregend wirkt die unglaub-
liche Lässigkeit und Oberflächlichkeit des ganzen Prozess-
verfahrens, aufregend Avirkt das Inquisitorische an der
Arbeit und der ungewohnte Umstand, über Ehre und
i.t^ben von Menschen verhandeln zu müssen. Ich habe
lebhaft gefühlt, wie die Todesstrafe, um die es sich in
dem Prozesse handelt, eine fürchterliche Verantwortung
erheischt und Avie die Menschen über Leben und Tod
noch fürchterlicii obei*fiächlich und sorglos ilire Urteile
fallen! Die Todesstrafe ist schon darum abzuschaffen.
Auch habe ich durch mein Eindringen in den Prozess
so recht lebendig herausgefühlt, Avas das Kollektivgewissen
bedeutet, und wie überhaupt die modernen Bestrebungen
um Sozialisierung des Strafrechtes (v, Liszt) berechtigt
sind. Ich Avünschte, meine Arbeit würde die Aufmerksam-
keit auch auf diese Fragen hinlenken.
Meine Arbeit Avar als Ai'beit schAver. Icli sage das
denjenigen, die mehi Auftreten als eine Art Gefühlsüber-
rumpelung u. dgl, erklären. Nein — ich wusste von allem
Anfang, was ich unternehme. Ich musste mir aus den un-
genau konstatierten Thatsachen der Verhandlung und
Protokollen der Sachverständigen das ganze Bild der
Gegend, der That und einer Masse von Menschen, Rich-
tern, Sachverständigen und Verhörten bilden; als ich nach
den Ferien um meine Ansicht über den Polnaer Prozess
gefragt wurde, musste icli das unglück.selige Polna auf
— 80 —
den Landkarten mühsam suchen: heute kenne ich die
ganze Stadt und Umgebung, eine Menge von Menschen,
die mir persönlich ganz fremd sind, sind mir heute be-
kannt. Viele in mehreren Generationen und in der ganzen
FamilienverzAveigung. Das Studium des Prozesses hat mir
einen intimen Einblick in das Leben und Weben eines
Stückes unserer böhmischen Erde gegeben. Kein erfreu-
licher Einblick!
Nach Veröffentlichung meiner Broschüre wurde mir
von zahlreichen und entgegengesetzten Seiten über das
Verbrechen und die zu demselben in Beziehung stehenden
Menschen eine Unmasse von Nachrichten zugeschickt:
während ich meine Studie ganz allein ohne jemandes Mit-
wissen verfasst habe, werde ich nun gezwungen, mit den
verschiedensten Menschen schriftlich und mündlich in Ver-
kehr zu treten. Die Nachrichten aus der Gegend von
Polna häufen sich mir von Tag zu Tag, meine Studier-
stube wird zu einer Art kriminalistischer Registratur über
Polna und seine Umgebung. Dei- Leser mag sich davon
eine Vorstellung machen, wenn ich ihm sage, dass mir
sehr häufig nur die Correspondenz über Polna an einem
Tage zwei Stunden raubte.
Das Studium des Prozesses hat mir mühsame medi-
zinische und juristische Aufgaben gestellt, die ich, dank
freundlicher Hilfe von Fachmännern, wie ich glaube,
kritisch und ohne Voreingenommenheit bewältigt habe.
Peinlich und niederdrückend wirkt die* Einsicht, die
mir die Kritik des l^rozesses in unsere böhmisch-öster-
reichischen Verhältnisse im allgemeinen, in die Sittlichkeit
und die Bildung der Bevölkerung, der Juristen, Richter
und Aerzte und besonders auch dei" Journalistik ver-
schafft hat. Letzteres fühle ich, selbst Schriftsteller und
Journalist, sehr schwer. Die allgemeine Aufmerksamkeit
ist jetzt der politischen Misere meines engeren und Avei-
teren Vaterlandes zugewendet; die Kritik des Polnaer Pro-
zesses belehrt mich darüber, dass die politischen Zustände
— 81 —
in inniger Wechselbeziehung stehen zu den weiteren so-
zialen Verhältnissen. Wie unsere Politik, so sind alle
unsere Verhältnisse beschaffen. Als Soziologe muss ich
allerdings diesen innigen Konsensus von vornherein an-
nehmen und ihn deduzieren; aber hier habe ich ihn in
einem konkreten Falle in all seiner Fälle und ganz lebendig
erfassen können und müssen.
Ueber einige andere, zum Teil sehr interessante Er-
fahrungen, die ich bei meinen Studien, speziell auch an
Ort und Stelle um Polna gemacht habe, werde ich den
Lesern vielleicht später einiges sagen können. Jetzt wollte
ich diese Polnaer Studien mit dem Wunsche beschliessen,
sie würden zur Ausrottung des Ritualaberglaubens bei-
tragen. Während meiner Arbeit ist es mir immer klarer
und klarer geworden: der Ritualaberglaube ist geradezu
(•ine Anklage gegen das böhmische Volk. Die Juden
Böhmens und der böhmischen Länder überhaupt (das be-
stätigen mir gebildete und sehr kritische Kenner des Juden-
tums) gehören zur Elite nicht nur des österreichischen,
solldorn des Judentums überhaupt — wie kann man ihnen
den barbarischen Ritualmord imputieren! Und wenn diese
so gebildeten und moralisch hoch stehenden Juden Böh-
mens wenn auch nur eine Ritualmordsekte in ihrer Mitte
hätten, wie barbarisch müssten da nicht die allgemeinen
KuUurzuständevon uns Christen sein, in denen eine solche
Sekte sich hätte entwickeln und erhalten können? ! Je
mehr man über den Ritunlaberglauben nachdenkt, umso
absurder und für unser Volk gefährlicher muss er er-
scheinen. Siziliens Maffia Hesse sich kaum mit einer solchen
Hitualsekte vergleichen. Den kulturellen, religiösen, medi-
zinischen und juristischen Schandfleck von Kuttenberg kann
nur eine energisch geführte sachliche Revision des
Prozesses beseitigen.
82 —
Beilage.
Sektions - Protokoll
vom 1. April 1899. *)
Vor allem wird konstatiert, dass die Leiche in dem-
selben Zustande vor der Sezierung befunden wurde, in
welchem sie von der Gerichtskommission Vormittag nach
vorgenommenem gerichtlichen Lokalaugenscheine in die
Obhut des Gemeindevorstehers von Polna übergeben
worden ist.
A. Aeussere Beschreibung der Kleidung.
Die Leiche des ca. 20 jährigen Mädchens ist 156 cm
lang, der obere Teil des Körpers bis zum Gürtel voll-
ständig nackt.
Vom Gürtel bis zu den Knien ist sie bekleidet mit
Hosen aus rotem Stoffe mit einem blauen Saum (Güi'tel)
und am linken Knie mit blauem Stoff geflickt.
Die Beine von den Knien herab sind mit blau und rot
quergestreiften Strümpfen bekleidet.
An den Füssen sind Schnürschuhe.
Die Leiche lag in einem mit Hobelspänen ausge-
füllten Sarge.
*) Aus dem oftiziellen Texte sind nur die Formalia weg-
gelassen.
— 83 -
Nach teilweiser Entkleidung und teilweise!- Zer-
schneidung der Kleider wurde die Leiche aus dem Sarge
auf den Seziertisch übertragen.
Nach sorgfältigem Untersuchen dtJi* Hosen kann man
am hinteren Teile der linken Hälfte und zwar korrespon-
dierend annähernd mit dem Orte, wo sie rückwärts
zwischen den Beinen anliegen, einige eingetrocknete
Flecke bemerken, von ungewisser Farbe, schwach ins
schmutziggelbe (die Farbe der Hose von dieser Seite ist
rosa) in der Grösse eines Fünfliellerstückes bis zu einem
Einguldenstücke und mit unbestimmten, verschwommenen
Konturen. Beim Betasten macht der Stoff an dieser Stelle
den Eindruck als ob er schwach gestärkt wäre. Diese
Flecken gehen dm*ch den Stoff auf die andere Seite, welche
hier rot ist und sind mehr ins braune gefärbt. Diese
Stelle auf der Hose wurde mit blauem Stifte bezeichnet.
Ausserdem befinden sich unten in der Naht, welche
die beiden hintern Hälften verbindet, einige gelbbraune
Flecken, welche mit aller Wahrscheinlichkeit von Menschen-
koth herrühren.
Auf der rechten Hälfte der Hose im hintern und
Innern Teile, entsprechend ungefähr dem innem Teile des
Schenkels befinden sich wiederum Flecken auf der äussern
roten Seite von dunkelbrauner Färbung, ungefähr 2 — 8 cm
im Durchmesser messend, welche auf die andere Seite
nicht durchschlagen; der Stoff ist auch an den Stellen, wo
diese Flecken sind, etwas fester, wie gestärkt.
B. Die äussere Beschreibung der Leiche.
Die Leiche hat ein graziles Skelett, entsprechend
entwickelte Muskeln, das Unterhautgewebe hat genug Fett.
Die Haut auf der vorderen Seite des Rumpfes ist
blass, bis auf die äussere Rückseite des linken Vorder-
armes und die äussere und obere Seite der linken Hand.
Der Kopf ist bedeckt mit roten Haaren in zerzaustem
Zustande, welche auf das Gesicht fallen.
6*
— 84 -
Die Haare sind g-aiiz mit frischem, g-etrocknetem Blute
durchtränkt.
Aus den Ohren, dem Munde, den Genitalien und dem
After kein Ausfiuss.
Die Nasenlöcher sind teilweise mit getrocknetem Blute
ausgefüllt.
Das Gesicht ist ebenfalls blutbefleckt, auf demselben,
sowie auf der vorderen Fläche des Halses, des Bnistkorbes
und des Bauches kleben zerstreut einige Fichtennadeln und
Grashalme.
Das Gesicht, insbesondere die Nase, die Wangen und
die Lippen sind etwas geschwellt, die Oberhaut, insbeson-
dere der Nase, der Wangen, der Lippen und des Kinnes
ist roth violett gefärbt.
Die Augen, etwas wenig geöffnet, die Hornhaut ge-
trübt, die Pupillen etwas erweitert, die Bindehäute, etwas
blutreicher.
Der Mund geschlossen, die Zähne aufeinandergepresst,
der Hals ziemlich breit, angemessen lang.
Z. 1. Auf der vorderen Seite des Halses befindet
sich eine riesige Wunde, welche sich etwas vorn
rechts querhinüber nach links in der Eichtung
zum Ohre zieht. Die Wunde durchdrang alle
weichen Bestandteile bis zur Wirbelsäule. Bei
nach rückwärts gelegenem Kopfe ist die Wunde
8 cm lang, 5 cm breit, die Ränder sind scharf,
gar nicht blutunterlaufen oder gequetscht. Aus
der Wunde am Halse ragt über dem untern
Eande der etwas angeschnittene Kehlkopf-
knorpel.
Z. 2. Ungefähr in der Mitte des Halses auf der
rechten Seite von der Mitte des rechten Endes
der Halswunde zieht sich ganz quer eine Strang-
furche über die ganze rechte Seite des Halses
bis rückwärts zur Wirbelsäule sich hinziehend.
— 85 —
Die Strangfurche ist ungefähr V2 cm breit,
gradlienig, eingetrocknet, rotbraun, insbesondere
in den rückwärtigen Partien.
Der Brustkorb ist ziemlicli breit, mehr tiach,
die Brustdrüsen ziemlich entwickelt.
Der Bauch ist eingefallen, am Gesichte, dem
Halse, dem Brustkorbe und dem Bauche be-
finden sich diverse Abdrücke, welche vom Boden
heiTühren, auf dem die Leiche mit diesen Flächen
gelegen ist.
Der Schamberg ist bewachsen mit hellroten
Haaren, an zwei Stellen sind die Haare zu-
sammengebacken, mit einer grauen stärke-
artigen Masse, ungefähr von der Grösse eines
Hirsekornes. Die zusammengebackenen Haare
wurden abgeschnitten und aufbewahrt.
Hymen ringförmig, zart, zeigt nirgends eine
Beschädigung, ist blos stellenweise kerbeartig
gesäumt, auch nirgends Zeichen von gewalt-
samer Zerstörung, Quetschung oder irgend einer
Verfärbung.
Auf den Beinen sind verschiedene Eindrücke,
insbesondere unter den Knieen von den Strumpf-
bändern.
Die Arme sind in dem Ellbogen, im rechten
Winkel beinahe nach vorn gebogen und zeigen
auf den Oberarmen, sowie auf den Gegenden
über dem Ellbogengelenk verschiedene Strangu-
lierungsfurcheu, welche von den Kleidern, ins-
besondere von den Hemdärmeln verursacht sind.
Z. 3. Auf der äusseren Seite des linken Oberarmes
und zwar in der unteren Hälfte zieht sich ein
schwach violett ins grüne gefärbter Fleck schief
von unten hinauf ungefähr 12 cm lang und 3 cm
breit, welcher sich als eine Blutunterlaufung
erweist.
— 86 —
Auch auf dem Ellbogen derselben Hand
befindet sich ein blassrot-violetter Fleck.
Der Vorderarm der linken Hand ist etwas
angeschwollen, insbesondere an der Rückseite,
teilweise an der Innern und äussern Fläche be-
ginnend, etwa 2 cm vom Ellbogengelenke her-
unter.
Z. 4. Die^Haut ist dunkelrot gefärbt (das nach
gemachtem Einschnitte an diesen Stellen unter-
suchte Gewebe ist bis zum Knochen stark mit
dunkelrotem Blute durchtränkt).
Die Hand, insbesondere am Rücken, ist an-
geschwollen, die dunkelrote Färbung der Hand
auf dem Unterarm kommt auch auf dem Rücken
der Hand vor, wo sie mehr in eine schmutzig-
dunkelviolette Farbe übergeht.
Der Daumen der linken Hand ist gestreckt,
die anderen Finger der Hand sind massig ge-
bogen.
Die Finger sowie die Handfläche sind mit
frischem eingetrockneten Blute befleckt.
Z. 5. An der äusseren Rückseite des Ringflngers
und des Mittelfingers befinden sich kleine Haut-
excoriationen ganz oberflächlich, zahlreich ohne
Reaktion.
Auf dem rechten Oberarm über dem Elbogen
befinden sich auch verschiedene Strangulations-
furchen, welche von den Kleidern herrühren.
Der Unterarm der rechten Hand ist eben-
falls etwas angeschwollen, aber viel weniger als
der der linken Hand. Aber die Oberhaut des
ganzen Unterarmes ist vollkommen blass.
Die rechte Hand ist ebenfalls wie die linke,
hauptsächlich am Rücken, geschwollen, die Ober-
haut ins Dunkelrotviolette gefärbt, der Daumen
gestreckt, die Finger massig gekrümmt, die
1
1
— 87 —
letztere ebeusu wie die Handfläche mit eiage-
trocknetem Blute befleckt.
Z. 6 a. Am mittleren, zweiten Gelenke des kleinen
Fingers ist eine dunkelbraune eingetrocknete
oberflächliche Abschürfung im Durchmesser von
etwa */2 cm.
Z. 6b. Ebenfalls in der Mitte des ersten Gliedes des
Mittelfingers am Rücken ist eine ähnliche einge-
trocknete Excoriation von schwarzbrauner Farbe,
1 cm lang, V2 c^i breit.
Z. 7. Die ßückenfläche aller vier Finger, im Be-
sonderen auf den zweiten Gliedern, sind mit
einer grossen Anzahl kleiner Excoriation ohne
Reaction bedeckt
Unter den Nägeln der beiden Hände wurde
nichts ausser eingetrocknetes Blut gefunden.
Auf der Rückseite des Körpers ist die Ober-
haut (Epidermis) blass, nirgends, noch so wenig
verletzt.
Z. 8. Nach Entfernung der zusammengeklebten
Haare am Kopfe wurde gefunden, dass auf der
Rückseite und den beiden Seitenteilen des Kopfes
sich acht lineal verlaufende, in verschiedenen
Richtungen verlaufende Wunden befinden, von
denen die kleinste ungefähr 2V2 t^m und die
grösste ungefähr 6 cm lang ist.
Diese Wunden sind beinahe vollkommen
eine der andern ähnlich, so dass man mit Be-
stimmtheit annehmen kann, dass sie mit einem
und demselben Werkzeuge verursacht wurden.
Alle reichen durch die WeichteUe nur bis zum
Schädelknochen.
Die Ränder dieser Wunden sind ziemlich
scharf, aber doch gequetscht und nicht glatt,
stellenweise ist das Gewebe nicht ganz bis zum
i
— 88 —
Knochen zerstört, sondern hängt noch mit
kleinen Brücken zusammen.
An der Leiche finden sich gar keine Zeichen
der Fäulnis vor.
C. Innere Untersuchung der Leiche.
Nach Entfernung der Weichtheile des Schädels wurden
auf der Innenfläche desselben, sowie auf dem rückstän-
digen Gewebe des Schädels in den den Wunden ent-
sprechenden Stellen dunkelrote Blutunterlaufungen ge-
funden.
Z. 1. Der Schädel mächtig, stark; die kompakte
Masse desselben überwiegt. Die Furchen der
Art. mening. med. sowie pacchionischen Grranula-
tionen gut kenntlich.
Die harte Hirnhaut zart, glatt, etwa in der
Mitte der Gegend der Centralwindungen leicht
angeschmiegt.
In dem grossen Sichelblutleiter, sowie in
den übrigen Blutläufen sehr wenig flüssiges Blut.
Die weiche Hirnhaut zart, glatt mit Gefässen,
die rot injiziert sind. Nur in der Gegend der
Centralwindungen etwas rauh, entsprechend den
Rauhigkeiten auf der harten Hirnhaut. Die
Windungen des Gehirns sind zahlreich, das Ge-
webe des Hirns zäh, nicht übermässig mit Blut
überfüllt, die Hirnrinde ziemlich breit.
In den Hirnkammern, welche nicht ausge-
dehnt sind, nur einige Tropfen einer klaren
Flüssigkeit, Ependym zart, glatt. Das Gewebe
der Centralganglien, sowie des Kleinhirns und
des Verl. Markes ziemlich fest, die Struktur gut
kenntlich. An der Hirnbasis nur einige Tropfen
einer klaren Flüssigkeit, die Knochen der Basis
nicht lädiert.
— 89 —
Z. 2. Nach der Eröffnung' der Brusthöhle wurde
die Zunge herausgenommen und diese zeigte
auf der Oberfläche eine rotbraune Färbung. Die
Zunge hing zusammen mit demOs hyoideum
und mit der oberen Rachenpartie. Durch den
Schnitt in der Wunde war das Os hyoideum
von dem Kehlkopfknorpel, cartilagöthyreoidea
abgetrennt.
Die linke Vena jugularis externa durch-
trennt, sowie die gemeinsame linke Carotis an-
geschnitten.
Die Schilddrüse ziemlich entAvickelt.
In dem Herzbeutel einige Gramm einer
klaren Flüssigkeit.
Der Rand des Zwerchfelles rechts und links
an der fünften Rippe, das Herz etwas wenig
von Fett durchwachsen, der Muskel beim Schnitte
kräftig, rotbraun, die linke Herzkammer voll-
kommen leer, in der rechten Herzkammer etwas
weniges rotbraunes Blut, theils flüssig, theils
geronnen. Die Herzklappen zart, schliessend.
Die rechte Lunge in der unteren Partie
leicht angewachsen, sonst an der Oberfläche
glatt, Luft überall enthaltend, in der Luftröhre
etwas wenig schäumige, blutige Flüssigkeit.
Die linke Lunge vollkommen frei, ebenfalls
lufthaltig.
Die Lage der Eingeweide normal. Die Leber
an der Oberfläche überall glatt, blassbraun, am
Schnitte ist die zähe, blutarme Struktur gut
kenntlich.
In der Gallenblase etwas flüssige Galle.
Im Magen eine grosse Menge eines dünn-
flüssigen weisslichen Breies, nach allem haupt-
sächlich aus Milch bestehend, hie und da eben-
falls festere Speisenteile enthaltend.
— 90 —
Die linke und rechte Niere ca. 8 cm lang
und 5 cm breit, die Haut leicht ablösbar, die
Struktur beim Schnitt gut kenntlich, das Gewebe
fest, blass, blutarm. Die Milz klein, an der Ober-
fläche zart, glatt beim Schnitte ebenfalls blutarm.
Die Gedärme blass in der Serosa und
Schleimhaut, im Dickdarm etwas Koth, die Harn-
blase leer, enthält nui* etwas wenig Harn.
Die Gebärmutter klein, jungfräulich, ebenso
die Eierstöcke am Durchschnitte zäh und blut-
arm. Die Scheide blass, columna rugarum scharf
gezeichnet.
(Nach beendeter Section der Leiche , welche bis 7V2
Abends dauerte, verlangten die Herren ärztlichen Sach-
verständigen zum Abgeben des Gutachtens in einer solchen
sehr wichtigen Strafsache einen Aufschub von längstens
4 oder 5 Tagen, Dieser Termin wurde den Herren ärzt-
lichen Sachverständigen bewilligt.)
— 91
Gutachten
vom 6. April 1899.
Nach genauer Untersuchung der Leiche, der gefun-
denen Kleider und Gegenstände, nach reiflicher Erwägung
aller Umstände und Zeichen, können wir mit Bestimmtheit
gemäss der Regeln der ärztlichen Kunst folgendes Gut
achten abgehen:
ad 1. Als tödtliche Wunde betrachten wir die
Schnittwunde am Halse , welche unter B Z. 1
angeführt ist.
Als lebensgefährlich betrachten wir die
Strangfurche am Halse (B Z. 2) und die Kopf-
wunden, hauptsächlich wegen deren Zahl und
Umfang (B Z. 8).
Als leichte Verletzungen erklären wir die
Vei-wundung am linken Oberarm (B Z. 3) und
die der rechten Hand (B Z. 6a, b).
B Z. 4 betrachten wir als Symptom einer
Strangulirung der Gefässe der Hand durch den
Aermel und Kleidung und auf diese Art ent-
standene Unterbrechung der Blutzirkulation der
Hände.
B Z. 5 u. 7 erklären wir als postmortale
Verletzung, entstanden durch Schleppen und
Schleifen der Leiche, und Zerkratzen der Aussen-
fläche der Finger durch rauhen Erdboden, even-
tuell Reisig und trockene Baumabfälle.
— 92 —
ad 2. Als Hauptursache des Todes betrachten wir
die Verletzung (B Z. 1), deren Folge rasche
Verblutung und Unterbrechung der Athmung war.
Diese Verletzung wurde verursacht durch
ein scharfes und hinlänglich starkes Instrument,
wahrscheinlich durch ein starkes Messer.
Der Tod erfolgte infolge dieser Verletzung.
ad 3. Die That war schon infolge ihrer allgemeinen
Natur die Ursache des Todes.
ad 4. Was die vorgefundenen Instrumente anbe-
langt, so können wir mit Bestimmtheit behaup-
ten, dass die Kopfverletzung sub B Z. 8 zuge-
fügt sein konnte mit der scharfen Kante irgend
eines grossen Steines, welche in der Nähe der
Leiche gefunden wurden, obwohl wir nicht da-
mit sagen wollen, dass sie zugefügt wurde mit
einem von den beiden Steinen, welche aufbe-
wahrt wurden als Corpora delicti (Z. 10). Im
Gegenteil nach deren Conüguration imd ihrer
Blutbesudelung können wir behaupten, dass es
keiner der beiden Steine war.
Di»' Verletzung sub B Z. 3 konnte mit dem
Stocke geschehen sein, welcher in der Nähe der
Leiche gefunden wurde.
nd 5. Der Mord wurde mit besonderer Grausam-
keit, meuchlings, verübt.
Als Zeichen des Widerstandes könnten wir
als solche betrachten blos die Verletzungen an
der rechten Hand (B Z. 6a, b).
Was die Zeitdauer betrifft, welche die Leiche
dort bis zur Auffindung sein konnte, da müssen
Avir in Anbetracht des Umstandes, dass die Leiche
fast steif gefroren und vollkommen frisch ge-
funden wurde, die Möglichkeit zugeben, dass
die Leiche dort 2'/^ Tage gelegen sein konnte,
— 93 —
also von der Zeit, von welcher an die Er-
mordete vermisst wurde.
Mit Bezug auf § 125 des Straf- Gesetzb. er-
klären wir, dass wir keine Zeichen eines ge-
schlechtlichen Missbrauches an der Leiche vor-
fanden, dass wir jedoch aus dem Grunde, dass
noch die chemische und mikroskopische Unter-
suchung der vermeintlichen Spuren von Samen
an dem Schamberge und den Hosen abge-
wartet werden muss, mit Sicherheit uns noch
nicht aussprechen können.)
Fortsetzung vom 19. April.
(Die Aerzte ergänzen nach Reciuisition des Kreis-
gerichtes in Kutenberg vom 17. April ihr Gutachten
folgendermassen) :
Sowohl nach der äusseren als nach der inneren Unter-
suchung behaupten wir, dass die Leiche der Agnes Hruza
fast vollständig ausgeblutet war. Die Verblutung musstc
geschehen durch die Schnittwunde am Halse, wodurch
zahlreiche und mächtige Gefässe zerschnitten wurden.
Die Verblutung trat in kurzer Zeit ein und musste
das Blut in mächtigem Strome aus der Leiche fliessen.
Das Blut in einer solchen Menge aus der Wunde Üiessend,
musste beim Kontakt mit der Luft gerinnen, wobei in der
Zeit von wenigen Minuten sich ein mächtiger Blutkuchen
ausbilden musste, d. h. Fibrin mit den festen Bestand-
teilen, blos Blutserum kann verdunsten oder in den Erd-
boden aufgesaugt werden.
Ebenso können wir nicht zug<^ben, dass die Dauer
von 2 Tagen bis zur Auffindung der Leiche und die
massigen Eegenmengen den Donnerstag darauf einen
solchen Einfluss haben konnten, dass der Blutkuchen
gänzlich verloren ging.
— 94 —
In Anbetracht dessen, dass der Mord wahrscheinlich
in der erwähnten Grube beim Wege stattgefunden hat,
wo das austretende Blut beisammen bleiben musste und
in Anbetracht dessen, dass die Kleidungsstücke und die
beiden Orte, wo wahrscheinlich der Mord verübt und die
Leiche aufgefunden wurde, nur wenig von Blut durch-
tränkt, eher blos benetzt waren, so können wir mit Sicher-
heit darauf schliessen, dass die Blutspuren, die gefunden
wurden, nicht der Menge entsprechen, welche wir bei einei-
solchen Todesart in der Umgebung der Leiche erwarten
dürften.
Endlich in Bezug auf die Umstände, wie der Sclmitt
am Halse geführt wurde, müssen wir mit Sicherheit be-
haupten, dass der Schnitt an der Ermordeten ausgeführt
wurde mit zur Erde gekehrtem Gesichte; denn wenn der
Schnitt in der Lage am Rücken vollführt worden wäre, so
müsste die Umgebung und die Bäume durch den nach allen
Richtungen spritzenden Blutstrom besprengt sein, was wir
bei genauer Besichtigung nicht fanden, denn die blut-
betriefte Stelle war von geringer und begrenzter Aus-
dehnung.
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