Voss, Aurel Edmund
Die Beziehimgen der
Mathematik zur Kultur der
Gegenwart
DIE KULTUR DER GEGENWART
HERAUSGEGEBEN VON PAUL HINNEBERG
DIE MATHEMATISCHEN
WISSENSCHAFTEN
UNTER LEITUNG VON F. KLEIN
DES GESAMTWERKES
TEIL III ABTEILUNG 1
ZWEITE LIEFERUNG
AVOSS: DIE BEZIEHUNGEN DER MATHEMATIK
ZUR KULTUR DER GEGENWART
^TT TIMERDING: DIE VERBREITUNG MATHEMATISCHEN
DISSENS UND MATHEMATISCHER AUFFASSUNG
1914
BERLIN UND LEIPZIG
DRUCK UND VERLAG VON B. G. TEUBNER
von
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.ennen, Vvde , .! !-;•. 'ifli^^^^^P haben, dieser Schwierig-
'■■;■;;'. I^^^^H^'''^^ iiby:" (^J; "■^\': scn und
(iathematisclien. Wissenschaften, die als solche jedem
• i:h s;^iTi ^vrvl'Ts, Mit den Hefter! B, C und D bringen
:; j.iiOi.i ij,!!- ic:;:, j '. ^torischeii \,o^..](' ,r.ngs unserer Diszi-
., :in, daß diese Form der Darlc-u-jg; ;'- ,, ' '!ie
aUgemsinen '/ erknüpf ungen als den besonderen Inhalt der auiemaTiüer-
folgenden Entwickehing-en hervortreten läßt, zu ihrem Verständnis zwar
scdb.stversländlic}) , : ■ , ' , ■ -^e voraussetzen muß,
aber doch ■ ^ ^ei Zugang..« ; , ai , eitM ' . oionatische Darstellung,
die ihre V\ ir.-.LiJ.i^ erst bei strei.j,- jxi j'cich^ludivju ^ ntfalten kann. In E wird
sodann der schv.derigo Versuch gemacht, das Wesen der mathemati-
sche}-; ' ,1 : ^;i .j',s in einer dcni ljeiilie(;n Stauopurikte entsprechenden
Form. ;-v.'-i .: '■ '■■■■':'''''.■ :-\i u,):\-v;](": ■ l.
Vvx ciie iJurchführung oes hiermit charai-uensierien ilaues ist in
!^ i ierem Grade — mehr, als bei anderen Bänden der „Kultur der
C; ;• , :\v ;rv' ciiKi gfi/' -:^; ;>'j;ciiUchkeit der Darlegungen wünschen.:--
wert. Es mußte also nach der Möglichkeit gesucht werden, daß der eine
Autor auf dem anderen aufbauen kann. Wir sind dsrVerlagsbuchhandlung
außerordentlich dankbar, daß sie zu diesem Zw<:;ck''. einer Ausgabe des
V;. ■ , lii .-■'tzelnen Liefer: ' ■. ' ■ :■;^_ iLrinit iiar.
INHALT::^AKL/.]'i^ DES BANDES,
A: A.Voß, die Beziehungen der Mathematik zur Kultur der Gegenwart;
H. E. Timerding, die Verbreitung raatheroÄtischen Wissens vp,d »i^f'
thematischer Auffassung. [A -- Lieferung II.]
B: H. G. Zeuthen, die Mathematik im Altertum mid im Mittelalter
schien als Lieferung I bereits 1912.]
C: P. Stäckel, die Mathematik im 16,, 17. und 18. Jahrhundert. [InVorb]
D: N, N., die Mathematik der Neuzeit. [In Vorbereitung.]
E: A.Voß, mathematische Erkenntnis. [Erscheint als Lieferung lil im
Fi-uhjahr 19 14,]
Gdiiiiigfcu, im tJezeuiber 191J.
F. KLEIN
/
DIE KULrUR DER GEGENWART
IHRE ENTWICKLUNG UND IHRE ZIELE
HERAUSGEGEBEN VON PROF. PAUL HINNEBERG
In 4 Teilen. Lex.-8. Jeder Teil in inhaltlich vollständig in sich abgeschlossenen
und einzeln käuflichen Bänden (Abteilungen). Geheftet und in Leinwand ge-
bunden. In Halbfranz gebunden jeder Band M. 2. — mehr.
Die „Kultur der Gegenwart" soll eine systematisch aufgebaute, geschichtlich be-
gründete Gesamtdarstellung unserer heutigen Kultur darbieten, indem sie die Fundamen-
taler^ebnisse der einzelnen Kulturgebiete nach ihrer Bedeutung für die gesamte Kultur der
Gegenwart und für deren Weiterentwicklung in großen Zügen zur Darstellung bringt. Das Werk
vereinigt eine Zahl erster Namen aus allen Gebieten derWissenschaft und Praxis
und bietet Darstellungen der einzelnen Gebiete jeweils aus der Feder des dazu Berufensten in
gemeinverständlicher, künstlerisch gewählter Sprache auf knappstem Räume.
Seine Majestät der Kaiser hat die Widmung des Werkes AUergnädigst anzunehmen geruht.
Prospekthefte werden den Interessenten unentgeltlich vom Verlag B.G. Teubner in Leipzig, Poststr. ■j, tugesandt.
I. Teil. Die geisteswissenschaftlichen Kulturgebiete, i. Hälfte. Religion
und Philosophie, Literatur, Musik und Kunst (mit vorangehender Einleitung
zu dem Gesamtwerk). [14 Bände.]
(* erschienen.)
*Die aUgemeinen Grundlagen der Kultur der
Gegenwart. (I, i.) 2. Aufl. [XIV u. 716 S.] 1912.
M. 18.—, M. 20.—
Die Aufgaben und Methoden der Geistes-
wissenschaften. (I, 2.)
*Die Religionen des Orients und die altgerman.
Religion, il, 3, i.) 2. Aufi. [X u. 287 S.] 1913.
M. 8.—, M. 10.—
Die Religionen des klassisch. Altertums. (1,3,2.)
'Geschichte der christlichen Religion. MitEin-
leitg.: Die israelitisch-jüdische Religion. (1, 4, i.)
2. Aufl. [X u. 792 S.] 190g. M. 18. — , M. 20. —
'Systematische christliche Religion. (I, 4, 2.)
2. Aufl. [VIII u. 279 S.] 1909. M. 6.60, M. 8.—
'Allgemeine Geschichte der Philosophie. (I, 5.)
2. Auflaj^e. [X u. 620 S.] 1913. äL X4.— , M. 16. —
•Systematische Philosophie. (I, 6.) 2. Auflage.
(X u. 455 S.] 1908. M. 10. — , M. 12. —
*Die orientalischen Literaturen. (I, 7.) [IX 11.4x9 S.]
1906. M. 10.—, M. 12. —
*Die griechische und lateinische Literatur und
Sprache. (I, 8.) 3. Auflage. [Vm n. 582 S.] 1912.
^L 12.—, M. 14. —
*Die osteuropäischen Literaturen und die
slawischen Sprachen. (1,9.) [VIII u. 396 S.]
1908. M. 10. — , M. 12. —
Die deutsche Literatur und Sprache. (I, 10.)
*Die romanischen Literaturen und Sprachen.
Mit Einschluß des Keltischen. (I, xi, i.) [VIII u.
499 S.] 1908. M. 12.—, M. 14. —
Englische Literatur und Sprache, skandina-
vische Literatur und allgemeine Literatur-
wissenschaft. (I, XI, 2.)
Die Musik. (I, 12.)
Die orientalische Kunst. Die europäische
Kunst des Altertums. (I, 13.)
Die europäische Kunst des Mittelalters und der
Neuzeit. Allgemeine Kunstwissenschaft. (1,14.)
IL Teil. Die geisteswissenschaftlichen Kultur gebiete. 2. Hälfte. Staat und
Gesellschaft, Recht und Wirtschaft. [10 Bände.]
(• erschienen.)
Völker-, Länder- und Staatenkunde. (II, i.)
*Allg. Verfassungs- u. Verwaltungsgescbichte.
(TI, 2, I.) [Vin u. 373 S.] 19x1. M. 10.—, M. 12.—
Staat und Gesellschaft des Orients von den An-
fängen bis zur Gegenwart. (II, 3.) Erscheint 1914.
'^Staatund Gesellschaft der Griechen u. Römer.
(U, 4, I.) [VI u. 280 S.] X910. M. 8.—, M. 10.—
Staat und Gesellschaft Europas im Altertum
und Mittelalter. (II, 4, 2.)
»Staat u. Gesellschaft d. neueren Zeit (b. z. Franz.
Revolution). (II, 5,1.) [VIU.349S.] 1908. M.9.— ,M.ii.-
Staat und Gesellschaft der neuesten Zeit (vom
Be^nn der Französischen Revolution). (II, 5, 2.)
System der Staats- und Gesellschaftswissen-
schaften. (II, 6.)
Allgemeine Rechtsgeschichte mit Geschichte
der Rechtswissenschaft. (II, 7, x.) Erscheint 1914.
'Systematische Rechtswissenschaft. (II, 8.)
2. Aufl. (XIII u. 583 S.) 1913. M. 14.—, M. 16.—
Allgemeine Wirtschaftsgeschichte mit Ge-
schichte der Volkswirtschaftslehre. (II, 9.)
•Allgemeine Volkswirtschaftslehre. (II, 10, x.)
2. Aufl. (VI u. 256 S.) 1913. M. 7. — , M. 9. —
Spezielle Volkswirtschaftslehre. (II, xo, 2.)
System der Staats- und Gemeindewirtschafts-
lehre (Finaiizwissenschaft). (II, 10, 3.)
in. Teil. Die mathematischen, naturwissenschaftlichen und medizinischen
Kulturgebiete. [19 Bände.]
(* erschienen : I, i. I, 2. III, 2. IV, 2. IV, 4; -j- unter der Presse : I, 3. III, i. III, 3. IV, x. VII, 1.)
*I. Abt. Die math. Wissenschaften. (iBand.)
Abteilungsleiter und Uandredakteur: F. Klein. Be-
arbeitet von P. Stäckel, H. E. Timerding, A. Voß,
H.G.Zeuthen. 5 Lieferungen. Lex.-8. *I.Lfg(Zeuthen).
[IVU.95S.] 1912. Geh. M.3.— * II. Lfg (Voß und
Timerding.) [lVu.i6iS.] 1914. f IH. Lfg(Voß)u.d.Pr.
n. Abt. Die Vorgeschichte der modernen
Naturwissenschaften u.d. Medizin, (i Band.)
Bandredaktcure : J. Ilberg und K. Sudhoff. Bearb. von
F.Boll, S.Günther, I.L. Heiberg, M.Hoefler, J. Ilberg,
£. Seidel, K. Sudhoff, E.Wiedemann u.a.
III. Abt. Anorgan. Naturwissenschaften.
Abteilungsleiter: E. Lecher.
tBand i. Physik. Bandredakteur: E.Warburg. Bearb.
von F. Auerbach, F. Braun, E. Dorn, A. Einstein, J.
Elster, F.Exner, R. Gans, E.Gehrcke, H.Geitel, E.Gum-
lich, F. Hasenöhrl, F. Henning, L. Holborn, W. Jäger,
W. Kaufmann, E. Lecher, H. A.Lorentz, O. Lumraer,
St. Meyer, M. Planck, O. Reichenheim, F. Richarz,
H. Rubens, E. v.Schweidler, H.Starke, W.Voigt, E.
Warburg, E.Wiechert, M. Wien, W.Wien, O.Wiener,
P. Zeeman.
• Band 2. Chemie. Bandredakteur: E. v. Meyer.
Allgemeine Kristallographie und Mineralogie.
Bandred.: Fr. Rinne. Bearb. von K. Engler, H. Immen-
dorf, +0. Kellner, A. Kossei, M.LeBlanc, R.Luther,
E.V.Meyer, W. Kernst, Fr. Rinne, O. Wallach, O.
N.Witt, L. Wöhler. MitAbbildg. riVu.665S.l lon.
j(iS.-,j(2o.- 0 j y j
•fBand 3. Astronomie. Bandredakteur : J. Hartmann.
Bearbeitet von L. Ambronn, F. Boll, A. v. Flotow,
F. K. Ginzel, K. Graff, J. Hartmann, J. v. Hepperger,
H. Kobold, E. Pringsheim, F. W. Ristenpart.
Band 4. Geonomie. Bandredakteure: -J-I.B. Messer-
schmitt und H. Benndorf. Mit einer Einleitung von
F. R. Helmert. Bearbeitet von H. Benndorf, f G. H.
Darwin, O. Eggert, S. Finsterwalder, E. Kohlschütter,
H. Mache, A. Nippoldt.
Band 5. Geologie (einschließlich Pefrographie).
Bandredakteur : A. Rothpletz. Bearbeitet von A. Ber-
geat, J. Königsberger, A. Rothpletz.
Band 6. Physiogeographie. Bandredakteur: E.
Brückner, i. Hälfte: Allgemeine Physiogeographie.
Bearbeitet von E. Brückner, S. Finsterwalder, J. von
Hann, fO.Krümmel, A. Merz, E. Oberhummer u. a.
2. Hälfte: Spezielle Physiogeographie. Bearbeitet von
E. Brückner, W. M. Davis u. a.
IV. Abt. Organische Naturwissenschaften.
Abteilungsleiter: R. von Wettstein.
tBand i. Allgemeine Biologie. Bandredakteure:
C. Chun und AV. L. Johannsen. Bearbeitet von
E. Baur, P. Claußen, A. Fischel, E. Godlewski, W.
L. Johannsen, E. Laqueur, B. Lidforss, W. Ostwald,
O.Porsch, H.Przibram, E.Radi, W. Rom, AV.Schleip,
H. Spemann, O. zur Straßen, R. von Wettstein.
•Band 2. Zellen- und Gewebelehre, Morphologie
u. Entwicklungsgeschichte, i. Botanischer TeiL
Bandred.: f E. Strasburger. Bearb. von W. Benecke
und f E. Strasburger. Mit Abb. [VII, 310 S.] 7913.
Jt io.—,J{ 12. — . 2. Zoologischer Teil. Bandrcd.:
0. Hertwig. Bearb. von E. Gaupp, K. Heider, O.Hert-
wig, R. Hertwig, F. Keibel, H. Poll. Mit Abb. [VIU,
395 S.] 1913. .Ui6.~,JljH.—
Band 3. Physiologie u. Ökologie. I. Botan. TeiL
Bandredakteur: G. Haberlandt. Bearbeitetv. E. Baur,
Fr. Czapek, H. von Guttenberg. II. Zoolog. Teil.
Bandredakteur: M.Rubner. Mitarb. noch unbestimmt.
♦Band 4. Abstammungslehre, Systematik, Paläon-
tologie, Biogeographie. Bandredakteure: R.
Hertwig und R.v. Wettstein. Bearbeitet von O.Abel,
1. E. V. Boas, A. Brauer, A. Engler, K. Heider, R. Hert-
wig, W. J. Jongmans, L. Plate, R. v. Wettstein. Mit Abb.
[IX, 620 S.] 1914. Jl 20. — , jft 22. —
V.Abt. Anthropologie einschl. naturwissen-
schaftl. Ethnographie, (i Bd.) Bandredakteur:
G. Schwalbe. Bearb. von E. Fischer, R. F. Graebner,
M. Hoernes, Th. Mollison, A. Ploetz, G. Schwalbe.
VI. Abt. Die medizin. Wissenschaften.
Abteilungsleiter : Fr. von Müller.
Band i. Die Geschichte der modernen Medizin.
Bandredakteur: K. Sudhoff. Bearb. von M. Neuburger,
K. Sudhoff u. a. Die Lehre von den Krankheiten.
Bandredakteur; W. His. Mitarbeiter noch unbestimmt.
Band 2. Die medizin. Spezialfächer. Bandredakt.:
Fr. V.Müller. Zunächst bearbeitet von K. Bonhoeffer,
A. Czerny, R. E. Gaupp, K. v. Hess, W. v. Leube, L.
Lichtheim, H. H. Meyer, O. Minkowski, L.A.Neisser,
W. Osler.
Band 3. Beziehungen d. Medizin zum Volkswohl.
Bandredakteur: M. v.Gruber. Mitarb. noch unbestimmt.
VII. Abt. Naturphilosophie u. Psychologie.
fBand I.Naturphilosophie. Bandredakteur: C.Stumpf.
Bearbeitet von E. Becher.
Band 2. Psychologie. Bandredakteur: C Stumpf.
Bearbeitet von C. L. Morgan und C. Stumpf.
Vni. Abt. OrganisationderForschungu. des
Unterrichts. (l Band.) Bandredakteur: A.Gutzmer.
IV. Teil. Die technischen Kulturgebiete. [15 Bände.]
AbteUungsleiter: W. von Dyck und O. Kammerer. (• erschienen: Band 12; + unter der Presse: Band 2.)
Band I. Vorgeschichte der Technik. Band
redakteur und Bearbeiter: C. Matschoß.
+Band
Gewinnung und Verteilung mecha-
scher Energie. Bandredakteur: M.Schröter. Be-
arbeitet von H. Bunte, R. Escher, K. v. Linde, W.
Lynen, Fr. Schäfer, R. Schöttler, M. Schröter, A.
Schwaiger.
Band 3. Bergbau. Bandredakteur : W. Bomhardt.
Bearbeitet von H. E. Böker, G. Franke, Fr. Herbst,
M. Krabmann, M. Rcuß, O. Stegemann.
Band 4. Hüttenwesen. Bandredakteur und Mit-
arbeiter noch unbestimmt.
Bands. Landwirtschaft. In 3 Teilbänden. L Wirt-
schaftslehre. Bandredakteur: E. Laur. 11. Pflanzen-
produktionslehre. Bandredakteur: K. v. Rümker. III.
Ticrproduktionslehre. Bandredakteur: F. Hoesch.
Mitarbeiter noch unbestimmt.
Band 6. Forstwirtschaft. Bandredakteure und
Bearbeiter: R.Beck und H.Martin.
Band 7. Mechanische Technologie. Bandredak-
teure: E. Pfuhl und A. Wallichs. Bearbeitet von
P. v. Denffer, Fr. Hülle, O. Johannsen, E. Pfuhl, M.
Rudeloff, A.Wallichs.
Band 8. Chemische Technologie. Bandredaktear
und Mitarbeiter noch unbestimmt.
Band 9. Siedelungen. Bandredakteure: W.Franz
und C. Hocheder. Bearbeitet von H. E. von Berlepsch-
Valendas, W. Bertsch, K. Diestel, M. Dülfer, Th.
Fischer, H. Grässel, C. Hocheder, R. Rehlen. R.
Schachner, H. v. Schmidt, R. L. A. Weyrauch u. a.
Band 10 und ix. Verkehrswesen. Bandredakteur:
O. Kammerer. Mitarbeiter noch unbestimmt.
•Band 12. Technik des Kriegswesens. Band-
redaktcur: M. Schwarte. Bearbeitet von K. Becker,
O. v. Eberhard, L. Glatzel, A. Kersting, O. Kretschmer,
O. Poppenberg, J. Schroeter, M. Schwarte, W. Schwin-
ning. Mit Abb. [X, 886 S.] 1913. M 24.—, M 26.—
Band 13. Die technischen Mittel des geistigen
Verkehrs. Bandredakteur: A. Miethe. Bearbeitet
von E. Goldberg, A. Miethe u. a.
Band 14. Entwicklungslinien der Technik im
ig. Jahrh. Organisation der Forschung. Unter-
richt. Bandrcd.: W.v. Dyck. Mitarb. noch unbestimmt.
Band 15. Die Stellung d. Technik zu den anderen
Kulturgebieten. lu.II. Bandredakteur: W.v. Dyck.
Bearbeitet von Fr. Gottl. von Ottlilienfeld, H. Herkner,
C. Hocheder u. a.
Interims -Titel
DIE KULTUR DER GEGENWART
IHRE ENTWICKLUNG UND IHRE ZIELE
HERAUSGEGEBEN VON
PAUL HINNEBERG
DIE
KULTUR DER GEGENWART
IHRE ENTWICKLUNG UND IHRE ZIELE
DRITTER TEIL
MATHEMATIK • NATURWISSENSCHAFTEN
MEDIZIN
BEARBEITET UNTER LEITUNG VON
F. KLEIN • E. LECHER • R. v. WETTSTEIN
FR. V. MÜLLER
ERSTE ABTEILUNG
DIE MATHEMATISCHEN WISSENSCHAFTEN
UNTER LEITUNG VON F. KLEIN
DRUCK UND VERX AG VON B. G. TEUBNER . LEIPZIG • BERLIN .1914
DIE MATHEMATISCHEN
WISSENSCHAFTEN
UNTER LEITUNG VON F. KLEIN
ZWEITE LIEFERUNG
A.VOSS:
DIE BEZIEHUNGEN DER MATHEMATIK
ZUR KULTUR DER GEGENWART
H.E. TIMERDING:
DIE VERBREITUNG MATHEMATISCHEN WISSENS
UND MATHEMATISCHER AUFFASSUNG
DRUCK UND VERLAG VON B. G. TEUBNER . LEIPZIG • BERLIN .1914
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COPYRIGHT 1914 BY B. G. TEUBNER IN LEIPZIG
ALLE RECHTE, EINSCHLIESSLICH DES ÜBERSETZUNGSRECHTS, VORBEHALTEN
INHALT DER ZWEITEN LIEFERUNG.
A.VOSS: DIE BEZIEHUNGEN DER MATHEMATIK
ZUR ALLGEMEINEN KULTUR .... Seite i
H. E. TIMERDING : DIE VERBREITUNG MATHEMATISCHEN WISSENS
UND MATHEMATISCHER AUFFASSUNG.
Einleitung Seite 50
I. Die mathematische Bildung der Ägypter m 56
II. Die mathematische Bildung der Griechen ,,62
lU. Die mathematische Bildung des früheren Mittelalters 78
IV. Die mathematische Bildung in der Zeit des Scholastizismus ... „83
V. Die mathematische Bildung der Renaissance if 87
VI. Die mathematische Bildung des 17. und 18. Jahrhunderts ... ,,98
VII. Der mathematische Unterricht in Deutschland während des 19. Jahr-
hunderts „112
VIII. Die Ausgestaltung des modernen mathematischen Bildungswesens „ 136
Literatur „160
DIE BEZIEHUNGEN DER MATHEMATIK
ZUR ALLGEMEINEN KULTUR.
Von
A. Voss.
Unter Kultur verstehen wir die Gesamtheit aller Bestrebungen, durch
welche der Mensch sich aus dem nur auf die Befriedigung der nötigsten Bedürf-
nisse des Lebens gerichteten Zustande zu einer höheren Stufe des Daseins er-
hebt, in der zugleich mit der Ausbildung aller feineren Äußerungen seines
sinnlichen und geistigen Wesens auch die Mittel geschaffen werden, den Forde-
rungen desselben gerecht zu werden. Dieser allgemeine Begriff der Kultur um-
faßt nicht nur den jeweiligen Zustand der wissenschaftlichen und technischen Technische und
Wissenschaft-
Entwicklung, sondern auch das ganze Gebiet der künstlerischen, sozialen, sitt- uche Kultur.
liehen und religiösen Formen, in denen das Leben der Menschheit sich aus-
prägt. Hier, wo es sich darum handelt, die Beziehungen einer Wissenschaft,
wie der Mathematik, zu der gegenwärtigen Kultur darzulegen, wird selbst-
verständlich ganz vorwiegend von der Kultur im ersten Sinne zu handeln sein.
Mit Stolz darf sich unsere Zeit der Pflege und Anerkennung rühmen,
welche sie den Wissenschaften, der Technik, der Kunst widmet. In unseren
Bibliotheken sammeln wir die Literatur aller Nationen; für die Geschichts-
forschung, insbesondere für die Aufhellung nicht nur der glänzenden Epochen
des Altertums, sondern auch der dunkelsten Anfänge des menschlichen Da-
seins, scheint uns kein Opfer zu groß. In unseren Kunstsammlungen häufen
wir die kostbarsten Schätze auf und finden es kaum ungerechtfertigt, wenn für
Gegenstände von nicht einmal unbestrittener Echtheit große Mittel aufge-
wandt werden. Täglich steigern sich die Ausgaben, welche für die Vervollstän-
digung unserer zoologischen, botanischen, geophysikalischen und technischen
Museen erforderlich scheinen.
Und diese öffentliche und private Pflege der Wissenschaften wird nicht nur
durch das Interesse unserer Volksvertretungen unterstützt und gefördert, son-
dern auch von selten der großen Zahl der allgemeiner Gebildeten, welche in diesen
Gütern nicht nur die Mittel zu einer höheren Ausgestaltung des Lebensgenusses,
sondern weit mehr noch die Befriedigung ihres tiefsten Bedürfnisses nach Ge-
winnung einer Weltanschauung erblicken. Ist auch der einzelne kaum mehr
imstande, diesen Fortschritten der Kultur in ihrer gewaltigen Ausdehnung
zu folgen, so ist doch für jeden, der unsere Bildungsstätten mit Erfolg durch-
laufen hat, die Möglichkeit vorhanden, dieselben in ihren Hauptzügen zu er-
kennen und in seiner weiteren Lebensführung mit dem beschränkteren Kreise
seiner eigenen Aufgaben in wirksame Verbindung zu setzen.
K. d. G. IIL 1 Mathematik, A. I
Mathematik.
2 A A. Voss: Die Beziehungen der Mathematik zur allgemeinen Kultur.
Nur eine Wissenschaft, die Wissenschaft Kar' ii.o\r\v, scheint sich dabei
dem allgemeinen Verständnis zu entziehen. Ja man kann geradezu die Frage
aufwerfen, ob die Mathematik überhaupt mit den Interessen unserer gegenwär-
tigen Kulturepoche zusammenhängt. Schon bei oberflächlicher Betrachtung wird
man sich kaum der Ansicht verschließen können, daß wenigstens in weit ver-
breiteten Kreisen, namentlich auch in Deutschland, nur ein geringes Verständ-
nis für die Stellung vorhanden ist, welche sie tatsächlich zu den Grundlagen
unserer Kultur einnimmt.
AUgemeine Zwar fehlt es nicht an äußerer Wertschätzung für die Leistungen der
schatzung^_der gj-Qßgj^ Mathematiker. Die staunenswerten Erfolge der Astronomie erregen immer
aufs neue die Bewunderung der Menge, wenn es sich um irgendein auffallendes
Ereignis, wie eine voraus berechnete totale Sonnenfinsternis oder die zu erwar-
tende Wiederkehr eines Kometen handelt; die Namen eines Newton, Leibniz,
Lagrange, Laplace, Gauß, denen wir solche Erfolge verdanken, sind in aller Munde.
Wer könnte sich auch dem Eindrucke der Bewunderung entziehen, wenn er
die Grabschrift Newtons in der Westminsterabtei sich vergegenwärtigt: ,,Hic
est sepultus IsaacusNeutonius, eques auratus, qui animi vi prope divina plane-
tarum motus, figuras, cometarum semitas, oceanique aestus, sua mathesi facem
praeferente, primus demonstravit, radiorum lucis dissimilitudines colorumque
inde nascentium proprietates, quas nemo ante vel suspicatus erat, pervesti-
gavit. Sibi gratulantur mortales tale tantumque exstitisse hu-
mani generis decus.
Das Andenken an Gauß, den ,,princeps mathematicorum", wird allgemein
verehrt. Zeuge davon ist sein Denkmal in Braunschweig, dessen Aufbau an
seine endgültige Lösung der schon von den Alten gestellten Aufgabe der Tei-
lung des Kreises in gleiche Teile, speziell der 17 -Teilung, ebenso erinnern soll,
wie das noch von Cicero gesehene und in pietätvoller Bewunderung wieder
der Vergessenheit entrissene Grabmal des Archimedes, welches dem Be-
schauer die von diesem gefundenen Beziehungen zwischen den Inhalten von
Kegel, Kugel und Zylinder vergegenwärtigte.
Dem ersten systematischen Begründer eines der abstraktesten Gebiete der
mathematischen Forschung, einer nicht -euklidischen Geometrie, N. I. Lo-
batschefskij, hat man fast an den Grenzen der europäischen Zivilisation
ein Denkmal errichtet. Der hundertjährige Geburtstag des norwegischen Ma-
thematikers N. H. Abel, dessen Verdienste nur ein hochausgebildeter Ver-
stand würdigen kann, gestaltete sich zu einer großen denkwürdigen Feier in
Kristiania, an der die Vertreter aller zivilisierten Nationen teilnahmen. Und
in der neuesten Zeit rüstet sich die Schweiz in Verbindung mit einem Stabe
von Gelehrten befreundeter Nationen mit der größten Opferwilligkeit, die
längst ersehnte, bisher wegen der großen Kosten als unausführbar angesehene
Herausgabe der Werke Leonhard Eulers zu verwirklichen.
Aber es ist nicht allein die Bewunderung rein wissenschaftlicher Leistungen,
welche das Bewußtsein der Gebildeten durchdringt. Überall treten uns die
Beziehungen der Mathematik zum praktischen Leben entgegen. Keine geord-
Verehrung und Geringschätzung der Mathematik. A 3
nete Regierung hat ihren Einfluß je verkennen können. Unter diesem Eindrucke
stand auch Napoleon, wenn er den Ausspruch tat: ,,Die Wohlfahrt der Na-
tionen ist an die Fortschritte der Mathematik gebunden", und dieser damit ihre
hohe Stellung an der Ecole Polytechnique bestätigte. Auch Scharnhorst
legte hohen Wert auf gründliche Ausbildung in der Mathematik. ,,Ich be-
trachte dieselbe als die Grundlage aller feineren Geistesbildung und aller
anderen Kenntnisse."
Nur wenige haben freilich eine deutlichere Einsicht in das, was die Heroen Geringes vor-
der Mathematik an Unvergänglichem geleistet haben. Das ist aber wohl eine Mathematik,
ganz allgemeine Erscheinung in unserer höheren Kultur, deren Wert nur ein
verhältnismäßig kleiner Teil der Menschheit zu erfassen weiß; dies wiederholt
sich auch auf anderen Gebieten. Die Bedeutung unserer großen Dichter und
Denker wird dem allgemeinen Bewußtsein ja auch nur in derselben unvoll-
kommenen Weise nähergebracht durch solche sichtbaren Zeichen der Ver-
ehrung, welche in dem heranwachsenden Geschlecht den Trieb, ihnen nachzu-
eifern, zu erwecken bestimmt sind.
Aber während es allgemein als Zeichen mangelnder Bildung angesehen
wird, sich dem Verständnis der Bedeutung eines Kant oder Goethe ent-
ziehen zu wollen, hören wir auch ganz andere Stimmen, welche mit der eben
geschilderten Verehrung der Mathematik in scharfem Kontrast stehen. Schon
oft ist auf die Abneigung hingewiesen, welche das mathematisch formulierte
Denken bei der großen Zahl unserer gebildeten Klassen findet. Ein Mann
wie W. Wundt, der von den exakten Wissenschaften ausgehend sich zu
einer Universalität des Gedankens emporgeschwungen hat, die kaum ihres-
gleichen zu finden scheint, glaubt sich noch in der Vorrede zur ersten Auflage
seines großen Werkes über Logik entschuldigen zu müssen, daß er trotz des
schier unüberwindlichen Widerwillens selbst hochgebildeter Männer gegen ma-
thematische Bezeichungen nicht davon Abstand genommen habe, dieselben in
die Darstellung der formalen Logik aufzunehmen. H. Hankel in seiner Rede
über die Entwicklung der Mathematik in den letzten Jahrhunderten (1869)
weist darauf hin, wie die ganze Mathematik vielen als eine nichtssagende
Trivialität erscheint, die nur durch ihre abstruse Form den Schein von etwas
erweckt: ,, Männer von wissenschaftlicher Bildung rühmen sich, daß sie nie
ein Jota von Mathematik verstanden und es dennoch zu etwas gebracht haben."
Mit solchen Argumenten, wie sie die Philosophen W. Hamilton oder A.
Schopenhauer gegen die Mathematik ins Feld geführt haben, die noch neuer-
dings A. Pringsheim scharf und treffend zurückgewiesen hat, brauchen wir
uns freilich gegenwärtig nicht mehr zu beschäftigen. Auch die Zeiten sind wohl
längst vorbei, wo Johannes Schnitze im preußischen Unterrichtsmini-
sterium die Ansicht vertreten konnte, ,,in einer einzigen Zeile des Cornelius
Nepos stecke mehr Bildungswert als in der ganzen Mathematik".
Es sind aber nicht allein Gelehrte oder Staatsmänner, die zufolge ihres
ganz anderen Zielen zugewandten Bildungsganges sich zu derartigen Aus-
sprüchen bekannt haben, sondern auch von Naturforschern anerkannten
4 A A. Voss: Die Beziehungen der Mathematik zur allgemeinen Kultur.
Ranges vernehmen wir gelegentlich solche abfällige Urteile, Gerade in Eng-
land, wo die Pflege der elementaren Mathematik in weiten Berufsklassen in
viel größerem Maße wie z. B. in Deutschland als eine leidenschaftliche Übung
des Scharfsinnes betrieben wird, sind auch noch in der neueren Zeit solche An-
sichten hervorgetreten. Huxley sagt in einer an der Britisch Association 1868
gehaltenen Rede ,,Mathematics may be compared to a mill of exquisite work-
manship, which grinds you stuff of any degree of fineness, but nevertheless
what you set out depends on what you put in, and as the grandest mill in the
World will not extract wheat-flove from pea's-scods, so pages of formulae will
not get a definite result out of loose data", und an einer andern Stelle ,,Mathe-
matics is that study, which knows nothing of Observation, nothing of induc-
tion, nothing of experiment, of causation". Wie unverständig diese Ansichten
sind, zeigte J. J. Sylvester in seiner scharfen Entgegnung auf diesen An-
griff: ,,No Statement could have been more opposite to the undoubted fact
of the case, that mathematical analysis is constantly involving the aid of new
principles, new ideas, new methods, not capable of beeing defined by any form
of words, but springing direct of the inherit powers and activity of human
mind and from continually renewed inspection of that inner world of thought,
of which the phenomena are as varied and require as close attention to dis-
cern as those of the other physical world . . . That it is unceasingly calling
forth the faculties of Observation and comparison, that one of its principal
weapons is induction, that it has frequent recourse to experimental trial and
verification and that it äffords a boundless scope for the exercise of the
highest efforts of Imagination and invention."
Vierzig Jahre sind seitdem verflossen, manches mag sich seitdem durch
den Einfluß unserer Schulen und durch die weit allgemeinere Verbreitung der
Mathematik geändert haben. Aber trotzdem sind Gleichgültigkeit, Gering-
schätzung und Verständnislosigkeit des Wesens der Mathematik und seiner Be-
deutung im großen und ganzen beinahe dieselben geblieben; ja, sie mögen auch
bei jetzigen Vertretern der exakten Wissenschaften hie und da noch bestehen.
Verbreitete An- Welchcs sind nun die Hauptformen, in denen diese Stimmungen sich aus-
Matheraatik. prägen.? Viele stellen sich unter der Mathematik eine Wissenschaft vor, deren
Hauptaufgabe numerisches Rechnen ist. Sie denken dabei an die Er-
müdung und Langeweile, welche jede längere Rechnung mit sich führt,
weil sie stets der Nachprüfung bedarf, und schließlich doch, wie das wieder-
holte Lesen einer Korrektur, nicht vor zufäHigen Fehlern schützt. Der Mathe-
Mathematik ais matiker erscheint ihnen als ein Rechenkünstler, der es in einer so einför-
migen Arbeit, wie die der Berechnung von Lösungen von Gleichungen, Ketten-
brüchen oder Logarithmen zu einer gewissen Virtuosität gebracht hat. Aller-
dings hat sich ja erst mit der Erfindung der Dezimalbrüche, der Logarithmen,
der Tafeln der trigonometrischen Funktionen der Zahlbegriff allmählich ge-
Bedeutung des klärt. Insbesondere hat der Begriff der stetig veränderlichen Zahl erst die
Rechnens. b ö
Ideen vorbereitet, welche der Differential- und Integralrechnung zugrunde
liegen. Aber es handelt sich hier doch nur um eine zu überwindende Vor-
Unrichtige Ansichten über Mathematik. A 5
Stufe, etwa so wie jeder, der in den Geist einer Sprache eindringen will, sich
zuerst mit dem ihr eigentümlichen Alphabet und den einfachsten grammati-
kalischen Regeln zu beschäftigen haben wird.
Wir bewundern mit Recht so außerordentliche Rechentalente, wie das
eines Dahse und anderer, von denen uns die neuere Zeit wieder so merk-
würdige Beispiele gegeben hat. Auch lassen sich solche Fähigkeiten sehr wohl
mit wahrhaft mathematischen Interessen in Verbindung setzen. Die empi-
rische Tätigkeit des Rechnens kann Wahrheiten induktiv wahrscheinlich
machen und der Forschung als aussichtsvolle Probleme aufzeigen. So hat man
das bisher unbewiesene Goldbachsche Gesetz, jede gerade Zahl lasse sich
mindestens auf eine Art als Summe zweier Primzahlen darstellen, einer empi-
rischen Bestätigung unterzogen, die allerdings für den Beweis noch keine Finger-
zeige geliefert hat. Auch hat schon C, G, J. J a c o b i sich D a h s e s bedient, um den
von Waring vermuteten Satz, daß jede gerade Zahl durch eine Summe von
höchstens 9 Kuben darstellbar sei, als ein Objekt für tiefere Forschung zu be-
zeichnen, ein Satz, der erst neuerdings durch eine geniale Betrachtung von
D. H i 1 b e r t in viel allgemeinerer Form der theoretischen Untersuchung zugäng-
lich geworden ist. Gau ß waren die ersten Dezimalziffern vieler Logarithmen ge-
läufig, und wir wissen aus seinem Tagebuch, daß er durch ein besonderes Zu-
sammentreffen numerischer Zahlwerte zu einer seiner schönsten Entdeckungen
im Gebiet der lemniskatischen Funktionen angeregt wurde. Aber die nur
phänomenalen Rechentalente, die sogar mit auffallenden anderen Mängeln ver-
bunden vorkommen, haben an sich nichts mit mathematischen Ideen zu tun,
obgleich gerade in der Öffentlichkeit ihre Bedeutung für den Mathematiker
betont zu werden pflegt. Der gelegentliche Nutzen eines so gesteigerten Zahlen-
sinnes ist ja nicht zu bestreiten, das wirkliche Interesse daran fällt aber mehr
in den Bereich des Psychologen. Er mag darin mehrfache Formen dieses
Sinnes zu erkennen glauben, ohne freilich mit den Schlagworten einer opti-
schen, akustischen oder mnemotechnischen Begabung mehr als ein unerledig-
tes Problem zu bezeichnen, das überall da wiederkehrt, wo wir einer eigentüm-
lich gesteigerten Fähigkeit gegenüberstehen. Beigetragen mag es zu dem Miß-
verständnis haben, als ob numerisches Rechnen für die Mathematik wesentlich
sei, wenn wir hören, daß Ludolf van Ceulen in 20 jähriger Arbeit die Zahl tt
bis auf 20, später sogar auf 35 Stellen berechnete, daß dann diese Bestimmung
mit den Mitteln der Analysis auf über 700 Stellen ausgedehnt wurde. Solche
Kraftleistungen haben in Wirklichkeit doch kaum ein größeres Interesse, wie die
zahlentheoretischen Kuriosa , mit denen die Feuilletons der Zeitungen uns zu
unterhalten suchen.
Zudem ist ja allgemein bekannt, daß bloßes Rechnen durch automatisch
arbeitende Maschinen ersetzt werden kann; niemandem wird es heutzutage
mehr einfallen, deshalb in der Mathematik eine Wissenschaft zu sehen, die auch
durch eine Maschine hervorgebracht werden könne.
Weit eher ließe sich sagen, Mathematik sei die Kunst, Rechnungen zu
vermeiden oder abzukürzen, sobald — und das ist allerdings von wesent-
6 A A. Voss: Die Beziehungen der Mathematik zur allgemeinen Kultur.
lieber Bedeutung — • mittels des Formalismus der Rechnung ein Problem
seinen Ansatz erfahren hat. Das sehen wir schon an den Beispielen der
Zinzeszinsrechnung, noch weit mehr an der Entwicklung der analytischen
Geometrie, die, zuerst in einen endlosen Rechenprozeß ausartend, seit der Mitte
des vorigen Jahrhunderts durch Einführung der Invarianten- und Gruppen-
theorie sich ganz auf den Boden einer gedankenvollen Zahlensymbolik gestellt
hat. Dahin zielen auch die Methoden, langsam konvergente Reihen, die zur Er-
mittelung eines numerischen Wertes dienen sollen, durch besser dazu geeignete
zu ersetzen. Bei der Anwendung von Leibniz' Reihe für die Zahl u
4 3 ~ 5 7
müßte man, wie schon Newton tadelte, zur Erzielung einer auch nur mäßigen
Genauigkeit sehr viele Glieder berechnen, während J. Machins Formel (1706)
n bereits durch Bestimmung von 9 einfachen Gliedern bis auf 8 Dezimalstellen
richtig liefert. Auch Gauß konnte sich, wie Sartorius von Waltershausen
aus persönlicher Erinnerung mitteilt, rühmen, mit Hilfe seiner Formeln die
Berechnung einer Kometenbahn in einer Stunde vollendet zu haben, wozu
vor ihm eine höchst mühevolle und zeitraubende Arbeit erforderlich war.
Indem so die Mathematik danach strebt, durch tiefere Gedanken die Ver-
knüpfungen zwischen den Zahlen zu untersuchen, erwächst ihr erst die höhere
Aufgabe, allgemeine Gesetze, d. h. Formeln zu gewinnen, welche mit
einem Schlage alle, neue Fehlerquellen hervorrufenden, Zwischenrechnungen
entbehrlich machen. Und so zeigt auch schon der bloße Einblick in ein mathe-
matisches Werk, daß mit der zunehmenden Vertiefung der Gedanken das
äußerliche Element der Rechnung keineswegs in gleichem Maße wächst, viel-
mehr die Darstellung sich immer mehr von derselben befreit, um nur zur Ge-
winnung eines einzelnen Resultates zu ihr zurückzukehren. Daher sei noch
einmal betont: Ohne Rechnen gibt es keine Mathematik, aber das Rechnen
selbst ist nicht Mathematik, sondern findet da seinen gebührenden Platz,
wo es wie beim Astronomen und Geodäten, beim Physiker und Statistiker zur
Gewinnung letzter mit der Erfahrung zu vergleichender Resultate zur An-
wendung kommen muß. Es sei denn, daß man sich die rein mathematische
Aufgabe stellt, die zweckmäßigsten Methoden des numerischen Rechnens
selbst zu erforschen, eine Aufgabe, der sich denn auch hervorragende Astro-
nomen wie Bessel, Encke und Bruns in einer Weise unterzogen haben, die
ein ebenso hohes praktisches wie wissenschaftliches Interesse besitzt.
Andere wieder stellen sich die Mathematik als eine Erweiterung, zum Teil
Mathematik als auch wohl uutzlose Erschwcrung der auf der Schule behandelten Aufgaben
Sammlung von ° '^
Aufgabe... vor. Die hergebrachte Form des Unterrichts betont z. B. gern die Ausführung
geometrischer Konstruktionen. Gewiß liefern diese für den Schüler eine sehr nütz-
liche Anregung, seine Kombinationsgabe zu entwickeln. Anderseits aber bringt
die Fertigkeit, nach bestimmten Mustern Aufgaben zu lösen, die ihnen eigent-
lich nur künstlich angepaßt sind, laicht die Meinung hervor, daß es sich wirk-
Entstehung und Widerlegung solcher unrichtigen Ansichten. A 7
lieh um nichts anderes handelt, als diese endlose Möglichkeit, an und für sich
gleichgültige, nur für eine abzulegende Prüfung erforderliche Aufgaben zu
variieren , als sei die Mathematik noch in der Stagnation früherer Zeiten ver-
sunken. So entsteht denn die Meinung, als sei sie dem wirklichen Leben völlig
abgewandt und bewege sich nur in einem Kreise eng begrenzter, nicht entwick-
lungsfähiger Gedanken. Diese geringschätzende Auffassung mag auch zum
Teil auf der traditionellen Form des Schulunterrichtes des vorigen Jahrhunderts
beruhen. Die Bücher des Euklid bilden in Deutschland zwar nicht, wie in Eng-
land, das Vorbild, von welchen abzuweichen fast als Verbrechen gilt*). Aber in
ihrer logischen Systematik befördern sie doch den Eindruck einer abgeschlosse-
nen Wissenschaft. Es ist indes nicht allein die willkürliche Beschränkung auf
die gerade Linie und den Kreis, welche den geometrischen Formenreichtum
nicht ahnen läßt, sondern mehr noch die besondere Schwierigkeit, welche den
Elementen der Mathematik anhaftet. Der noch von H. Hankel vertretenen
Ansicht, daß Euklids Systematik das unübertreffliche Muster einer völlig
exakten Behandlung sei, gegenüber hat sich bei der Vertiefung in die Grundlagen
längst gezeigt, daß auch in dieser erhebliche Lücken vorhanden sind; gerade
diese Grundlagen enthalten Schwierigkeiten, welche den ganzen Scharfsinn
eines an abstraktes Denken gewöhnten Gelehrten erfordern. Man braucht sich
nur an die Begründung der einfachsten arithmetischen Regeln oder an die so
tiefe Lehre von den Proportionen in Verbindung mit den Flächeninhalten zu
erinnern, in denen das Talent des Eudoxus oder Euklid zur höchsten Voll-
endung gelangte. Solche Fragen liegen jenseits des Verständnisses der meisten,
vielleicht aller Schüler; sie pflegen umgangen oder durch Berufung auf unmittel-
bare Evidenz verdeckt zu werden. Dadurch entsteht aber gerade in den fähi-
geren Köpfen leicht das Vorurteil, als beruhe doch nicht alles Bewiesene auf
wirklichen Beweisen, sondern es handle sich eher um eine sophistische Beweis-
kunst. Der Charakter der Exaktheit der Mathematik, wie ihn das
Altertum anstrebte, und der auch das Ideal der neueren Darstellung der Ele-
mente ist, dem sich z. B. mit ausgezeichnetem Erfolge die gegenwärtigen italie-
nischen Lehrbücher nähern, kommt nicht zum Verständnis und kann
wohl überhaupt erst auf einer Stufe höherer geistiger Reife begriffen werden.
,,Dem Knaben", sagt C. G. J. Jacobi, ,,dem die Welt der geometrischen Formen
noch eine gänzlich fremde ist, mit den ersten Elementen zugleich zuzumuten,
sich darin in der Weise folgerechten Denkens zu bewegen, scheint keine gute
Pädagogik. Ich schreibe diesem Mißverhältnis hauptsächlich zu, daß zwar
von den anderen Unterrichtsgegenständen ein Interesse im späteren Leben
zurückzubleiben pflegt, von den mathematischen dagegen bei der großen Mehr-
zahl der Lernenden jede Spur bis auf die Erinnerung schwindet."
Und auf diesen mißverstandenen Eindrücken aus der Jugendzeit beruht
es auch, wenn andere in der Erinnerung an die Paradigmen der Arithmetik,
die Cardanische Formel, den binomischen Satz oder den Apparat der Trigono- Mathematik ais
Fonnelapparat
*) Übrigens hat auch in England neuerdings eine Reformbewegfung im mathematischen
Elementarunterricht begonnen.
8 A A. Voss: Die Beziehungen der Mathematik zur allgemeinen Kultur.
metrie sich vorstellen, die Gewinnung solcher Formeln sei der eigentliche
Zweck der Mathematik. Allerdings kann diese, wie oben bemerkt, der Formeln
nicht entbehren; sie bilden das einzige Mittel, eine lange Gedankenreihe in einer
kurzen und völlig adäquaten Darstellung zusammenzufassen. Aber die Ge-
winnung von Formeln an und für sich ist gar kein Zweck, der das Wesen der
mathematischen Gedankenbildung beeinflußt. Wo sie als solcher aufgetreten
ist, war es ein Zeichen der Stagnation, in der die Methoden gleichsam automa-
tisch noch fortarbeiteten. Zudem strebt gerade die Wissenschaft selbst da-
nach, den Formelapparat immer mehr zu vereinfachen, das Spezielle durch all-
gemeine Begriff sbildung zu ersetzen; ihr Ziel ist eine möglichst zentralisierte
Darstellung, die unzählige Einzelheiten beiseite lassen darf, weil sie jeder Sach-
verständige mühelos hinzufügen kann.
Es ließe sich noch eine ganze Reihe anderer Auffassungen namhaft machen,
die ausführlicher auf ihre Ursachen zurückzuführen, hier wohl überflüssig
erscheint. Für Goethe ist,, die Mathematik wie die Dialektik ein Organ des inne-
ren höheren Sinnes ; in der Ausübung ist sie eine Kunst wie die Beredsamkeit. Für
beide hat nichts Wert als die Form, der Inhalt ist ihnen gleichgültig". Und an
einer andern Stelle sagt er: ,,Was ist an der Mathematik exakt als ihre Exakt-
heit.? Und diese, ist sie nicht eine Folge des inneren Wahrheitsgefühls.'*" Und
in einem Brief an Zelter (28. Febr. 181 1): ,, Übrigens wird mir immer deut-
licher, was ich schon lange im stillen weiß, daß diejenige Kultur, welche die
Mathematik dem Geiste gibt, äußerst einseitig und beschränkt ist. Ja, Vol-
taire erkühnt sich irgendwo zu sagen: J'ai toujours remarque que la geo-
metrie laisse l'esprit, oü eile le trouve." Die Geringschätzung, welche Fried-
rich der Große trotz seines Verkehrs mit d'Alembert, Lagrange, Mau-
pertuis der Mathematik bewies, ist ebenfalls bekannt. Mit Spott äußert er
sich gegen Voltaire 1778 über Euler, dessen rein theoretische Berechnung des
Effekts der für Sanssouci projektierten Wasserkünste sich allerdings unzu-
reichend, weil den Einfluß der Reibung nicht berücksichtigend, erwiesen hatte,
,,Vanit6 des vanites, vanite de la geometrie". Und über den ausgezeichneten
Mathematiker J. H. Lambert schreibt er 1764 an d'Alembert: ,,0n m'a
presque force de prendre la plus maussade creature qui soit dans l'univers
pour la mettre dans notre academie. Et quoique je puisse attester qu'il n'a
pas le sens commun, on pr6tend que c'est un des plus grands geometres de
l'Europe." Fast khngt es wie das auch von Sylvester zitierte Wort ,,Purus
mathematicus purus asinus." Und der weltentrückte, in sich versunkene
Mathematiker ist ja auch heute noch ein Gegenstand billigen Witzes.
Vielleicht haben wir der Anführung dieser unrichtigen Auffassungen
hier einen zu großen Raum verstattet. Aber sie sind so allgemein verbrei-
tet, daß sie, wenn auch aus Höflichkeit oft unterdrückt, doch immer aufs
neue die Quelle bilden, aus der Gleichgültigkeit und Geringschätzung fließen.
Esoterischer So ist es in der Tat! Die Mathematik ist allerdings die älteste, aber zu-
Ma'theraltik!'^ gleich die unpopulärste Wissenschaft. Sie ist aber zugleich für die meisten
unbequem. Unpopulär ist freilich jede Wissenschaft. Denn während diese
Unpopularität des mathematischen Denkens. A 9
damit beginnt, ein Gebäude von Begriffen, die erst mühsam durch Erfahrung
und Abstraktion gewonnen werden können, zu errichten, aus dem die Erkennt-
nis weiteren Erfahrungsmaterials fließen soll, ist es umgekehrt der Dilettantis-
mus, welcher auf diesen langwierigen Weg verzichten zu können glaubt und
sich mit herausgegriffenen Schlagworten begnügt. Nun kann es zwar unter
anderen Verhältnissen noch möglich sein, unter Verwendung eines intuitiven
und auf richtigen Erfahrungen ruhenden Materials erfolgreich zu wirken, ja
wir verdanken geradezu oft die größten Fortschritte solchen unmittelbaren
Äußerungen des Geistes, aber in einer Wissenschaft, die einzig und allein in
einer abstrakten Sprache redet, ist eine solche Stellungnahme völlig sinnlos.
Die Resultate einer historischen Arbeit, die auf mühsamen Quellenstudien be-
ruht, kann man mit dem eigenen W^issen in Verbindung bringen, auch wenn
man nie imstande ist, sie selbständig nachzuprüfen; das Ergebnis einer experi-
mentellen Untersuchung wie die Konstatierung eines radioaktiven Elements ist
an sich deutlich, obwohl ein einzelner vielleicht nie eine solche Untersuchung
wiederholen kann. Aber das Verständnis einer mathematischen Arbeit führt stets
eigentümliche Schwierigkeiten mit sich, die vielleicht nur bei außerordent-
lichen Talenten zurücktreten: Es ist, als ob das Denken sich erst gewöhnen
müsse, unentwegt in einem Sinne sich zu bewegen, um so dem Gedankengange
eines anderen folgen zu können. Schritt vor Schritt muß in nachschaffender
Arbeit überwunden werden; erst dann gewinnt man das eigentliche Verständ-
nis für das Resultat und kann es mit dem eigenen Wissen in Beziehung setzen.
Dilettantismus, auch in höherem Sinne, kann in manchen anderen Wissen-
schaften sehr anregend wirken, wenn er mit divinatorischer Kraft verbunden
auftritt -^ eines der charakteristischsten Beispiele ist Goethe dafür — , in der
Mathematik aber ist er völlig unmöglich. So ist es nur zu begreifhch,
daß große Schichten von Gebildeten wenig Verständnis dafür besitzen, daß Mathe-
matik etwas anderes ist als Rechnen, Lösen von Aufgaben und Formelkram,
daß sie vielmehr dem höchsten Triebe des Geistes nach Erkenntnis entspringt,
einer sich stets weiter entwickelnden Erkenntnis, die von den einfachsten
Tätigkeiten des Zählens und Messens ausgehend nicht allein die Formen dieser
Operationen zu allgemeinen Methoden erhebt, sondern sie stets weiter zu
bereichern sucht durch Schöpfung neuer Begriffe, die sich ebensosehr die Auf-
gabe stellt, den Kosmos als ein gesetzmäßig geordnetes Geschehen zu verstehen,
als die Gebilde des logischen Verstandes bis in ihre entlegensten Einzelheiten
zu prüfen, einer Wissenschaft, die wie ein gewaltiger Arterienstrom unsere
ganze Kultur bis in ihre feinsten Kapillaren durchdringt.
Wir wenden uns nun zunächst zu den Beziehungen der Mathematik Mathematik und
zur technisch-wissenschaftlichen Kultur. Zweierlei Richtungen wer- y;i^^^^^Jt-
den wir in der letzteren gewahr, die sich gegenseitig befruchten, jedoch in
ihrem Wesen prinzipiell voneinander verschieden sind. Die erste beruht auf
der technischen Erfindungsgabe des Menschen, die Naturkräfte seinen
Zwecken dienstbar zu machen.
liehe Kultur.
lO A A. Voss: Die Beziehungen der Mathematik zur allgemeinen Kultur.
Technische Er- An sich sctzt cÜesc Erfindungsgabe keine schulmäßige Wissenschaft voraus.
findungsgabe. -^-^ Staunen bewundern wir die gewaltigen Bauwerke untergegangener Völker,
die vielleicht länger bestehen werden als unsere stolzesten Brückenkonstruk-
tionen. Und doch sind sie nicht aus einer theoretischen Einsicht in die Vertei-
lung der Kräfte oder einer Festigkeitslehre hervorgegangen. Erfindungen,
wie die der Spinn- oder Nähmaschine, der automatischen Konstruktionen,
sind nicht aus einer theoretischen Kinematik, sondern aus vielen mühsamen
Versuchen oder glücklichen Zufällen entsprungen. Ein armer unwissender
Knabe erfindet, wie erzählt wird, das Prinzip der Selbststeuerung an New-
comens Dampfmaschine und gibt damit Veranlassung zu der Ausbildung aller
automatischen Vorgänge, die bei Maschinen und bei physikalischen Apparaten
verwendet werden. Die beiden wichtigsten Instrumente der Beobachtung,
Fernrohr und Mikroskop, haben sich von fast zufälligen Anfängen durch die
unermüdliche Arbeit der Mechaniker und Optiker, durch die Methoden der
Glasbereitung, zu einer Vollkommenheit erhoben, für die kaum noch eine
andere Grenze bleibt als die im Wesen unserer Sinne und der Natur des Lichtes
selbst begründete. Die Photographie, die sich nach den tastenden Anfängen
Niepces und Daguerres unabhängig von allem abstrakten Wissen zu-
nächst als Kunst ausbildete, hat gegenwärtig gelernt, durch Heranziehung
immer weiterer chemischer und physikalischer Erfahrungen sich zu einem
Forschungsmittel auszubilden, das der Astronomie das Vorhandensein bisher
nicht beobachteter Himmelskörper zu ermitteln gestattet und für die die
Probleme des Fernsehens sowie der Wiedergabe der Gegenstände in ihren natür-
lichen Farben nahezu erledigt scheinen.
Auch dem wissenschaftlichen Charakter der Chemie treten wir* nicht zu
nahe, wenn wir an dieser Stelle auf die glückliche Vereinigung von divinato-
rischer Kombinationsgabe mit zielbewußter Synthese hinweisen, wie sie Ke-
kule bei seiner Entdeckung des Benzolrings so lebendig beschreibt. In elek-
trischen Öfen oder der Hitze des Knallgasgebläses erzeugen wir Diamanten,
Rubine und Saphire, in kalorischen Maschinen gelingt es uns alle Gase in be-
liebig großen Mengen flüssig zu machen, mittels der drahtlosen Telegraphie
umspannen wir bald die Dimensionen des ganzen Erdballs. Das Telephon
dehnt die Wirkung des gesprochenen Wortes auf ungeheure Entfernungen aus,
das Grammophon gestattet, dasselbe zu fixieren und die wunderbare Voll-
kommenheit einzelner Menschenstimmen gleichsam unsterblich zu machen,
der Kinematograph führt uns sogar mikroskopische Vorgänge vor Augen und
wird so zum wichtigsten Werkzeug der Physiologie und Pathologie, und die
Anwendung der Röntgenstrahlen lehrt uns die verborgene Struktur der Körper
erkennen.
Es ist wohl überflüssig, diese kurze Skizze, in der nicht einmal die durch
Eisenbahnen und Dampfschiffahrt, Telegraphie, Luftschiffe und Maschinen aller
Art völlig veränderten wirtschaftlichen Verhältnisse berücksichtigt sind, durch
weitere Beispiele zu vermehren. Wer heute eine Ausstellung, wie das Deut-
sche Museum von Meisterwerken der Naturwissenschaften und
Technische Erfindungsgabe und quantitative Forschung. All
der Technik in München, besucht, wird staunen müssen über das, was bis-
her erreicht wurde, und was noch weiterer Vollendung fähig erscheint.
Aber damit ist das Wesen dieser Kultur in tieferem Sinne nicht er-
schöpft. Wer ohne ein schon ausgebildetes W'issen eine solche Ausstellung be-
sucht, wird sich mit Beschämung gestehen müssen, daß er wie ein Blinder allen
diesen W^undern der Technik gegenübersteht. Die wahre technisch-wissen-
schaftliche Kultur beginnt erst da, wo der Geist in diesen Dingen nicht mehr
bloß merkwürdige Tatsachen, sondern die zielbewußten Mächte erkennt,
welche die Fortschritte in die richtige Bahn zu leiten vermochten. Auch ist es
völlig unzutreffend, wenn man in den vorigen Beispielen nicht etwas Höheres
als die intuitive Kraft der Erfindung sehen wollte: Überall stehen Theorie
und Praxis in engster Verbindung, die Konstruktion der Uhren, Fernrohre und
Mikroskope, der Kältemaschinen beruht keineswegs nur auf Versuchen, son-
dern wurde zum Teil erst aus rein theoretischen Erwägungen hergeleitet.
Eine tiefere Einsicht in alle diese Verhältnisse aber wird erst möglich, Verbindung von
wenn die Forschung über die qualitativen Unterschiede hinaus, die ihrem Pr^^*drr°ch
inneren Wiesen nach uns völlig unverständlich zu bleiben scheinen, weil^**^ Mathematik,
unsere unmittelbare Erfahrung keine Verbindung zwischen ihnen herzu-
stellen vermag, vermöge allgemeiner Ideen sich zum Verständnis einer kau-
salen Gesetzmäßigkeit, zu der quantitativen Vergleichung und Vor-
aussagung erhebt. So beruht denn alles auf jenen primitiven Tätigkeiten,
die zugleich den Anfang des mathematischen Denkens bilden, dem Zählen
und Messen. Verstehen im exakten, nicht auf unbestimmte Vorstellungen
und Analogien gegründeten Sinne, ist eben nichts anderes als berechnen, vor-
aussagen können. Das Sinnlich-wahrnehmbare gibt keine Erkenntnis, diese
finden wir einzig und allein in den quantitativen Beziehungen der Elementar-
begriffe. Das gilt nicht nur da, wo, wie bei der Erkenntnis technischer, physikali-
scher und astronomischer Vorgänge die Mathematik sich auf ihrem nächsten
Gebiete zu bewegen scheint, sondern in weiterem Sinne auch dort, wo sie mit
den Forderungen unseres sozialen und wirtschaftlichen Lebens in Beziehung tritt.
Indessen werden wir hier davon absehen dürfen, das innere Wesen der Historische Ent-
Mathematik in seiner abstrakten Form den oben geschilderten unzutreffenden ''^äiamme^*'"
Ansichten gegenüber zu schildern, sondern unsere Aufgabe darin sehen, ihre langes.
allgemeine Bedeutung für die technische, wirtschaftliche und soziale
Kultur zu schildern. Diese werden wir aber am deutlichsten erkennen, wenn
wir den Zusammenhang des mathematischen Wissens mit der Entwicklung der
Kultur von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, soweit das in einer kurzen Skizze
möglich ist, verfolgen.
Die Anfänge des mathematischen Wissens sind ebenso wie die Entstehung
der Sprachen in tiefes Dunkel gehüllt. Bei den Babyloniern treten sie uns Babyionier.
bereits auf einer Stufe der Ausbildung entgegen, zu der nur eine lange Zeit
der Beobachtung und Erfahrung hinleiten konnte. Nur unter einem reinen
Himmel war es möglich, den gesetzmäßigen Wechsel der Tages- und Jahres-
zeiten in Verbindung mit dem Lauf der Gestirne mittels der Ordnungsprinzipe
I 2 A A. Voss : Die Beziehungen der Mathematik zur allgemeinen Kultur.
des Zählens und Messens zu erfassen. Damit erscheint zugleich die Ziffern-
rechnung und ein eigentümliches Zahlensystem, in dem eine dezimale und
sexagesimale Anordnung sich verbindet, die für die Einrichtung unserer Meß-
instrumente maßgebend geblieben ist, die Stürme der französischen Revo-
lution ebenso überdauernd wie alle neueren Versuche, dieselbe durch eine ein-
heitliche Grundlage zu ersetzen. Zugleich besaßen die Babylonier schon ein
Maß- und Gewichtssystem, das gleich unserem metrischen alle Maße auf eine
Normaleinheit der Länge reduzierte, eine Schöpfung, die nur als Ausfluß weit
vorgeschrittener Einsicht begreiflich wird, durch die ein großes Kulturland ge-
ordnet werden sollte.
Ägypter. Aus Ägypten stammen, allerdings aus weit späterer Zeit, die ersten hand-
schriftlichen Urkunden mathematischen Inhalts. Der Papyrus Rhind ent-
hält bereits die Grundrechnungsarten unter Benutzung von Zahlzeichen und
Operationssymbolen und verwendet sie zur Lösung von dem praktischen Leben
entnommenen Aufgaben in ähnlicher Weise wie unsere Elementarbücher; er
gibt uns Aufschluß über eine rationelle Feldmeßkunst, die für dieses ackerbau-
treibende Volk so wichtig war.
So steht die Mathematik zunächst mit den praktischen Bedürfnissen, den
religiösen Vorschriften, den Grundlagen einer technisch-wissenschaftlichen Kul-
Griechen. tur in Verbindung. Aber bei den Griechen scheint sich zuerst die Tendenz
ausgebildet zu haben, das mehr zufällig gefundene System empirischer oder
intuitiver Regeln auf wenige unzweifelhafte Grundwahrheiten zurückzuführen.
Wir müssen davon absehen, diese Entwicklung der Mathematik zur
Wissenschaft hier zu schildern, als deren Vollendung die Bücher des Eu-
klid erscheinen, nächst der Bibel wohl das verbreiteste Buch auf der Erde.
Und bald darauf erhebt sich Archimedeszu denselben Methoden der Inhalts-
berechnung, die fast 2000 Jahre später die Anfänge der Infinitesimalrechnung
unter Kepler, Pascal und Fermat einleiten. Von da ab findet ein Nach-
lassen der produktiven Kraft statt, obwohl fast gleichzeitig unter Apollo nius
in der Geometrie der Kegelschnitte neue Ideen auftreten, die dem Koordinaten-
begriff des Descartes nahe kommen. Und die Bedürfnisse der Astronomie
drängen zu weiterer Ausbildung der Trigonometrie, die unter Claudius Pto-
lemäus ihre für lange Zeit maßgebende Darstellung erreicht.
Wir wissen nicht mit Sicherheit, inwieweit die Mathematik der älteren
Inder. Inder durch Babylon beeinflußt ist, und in welchem Maße diese selbst später
auf die Wissenschaft der Griechen eingewirkt haben. Aber der besonderen Be-
gabung der Inder haben wir tatsächlich das schon bei den Babyloniern im
Keime vorhandene Positionssystem der Ziffern zu verdanken, dem selbst
ein Archimedes nur nahe gekommen war, sowie die Einführung der trigono-
metrischen Funktionen, d. h. des Sinus und Kosinus an Stelle der Kreissehnen
des Ptolemäus.
So entsteht allmählich eine astronomisch-mathematische Kultur,
Araber, deren Träger in der Zeit des Niederganges der Wissenschaften nun die Araber
werden.
Mathematik und Kultur bis zur Zeit der Renaissance,
13
Harun al Raschid (786 — 809) läßt Ptolemäus' ^exa^l (TuvraHic ins
Arabische übertragen, die indischen Sinustafeln werden durch Albategnius (929)
eingeführt. Griechische Manuskripte werden erworben, die Bücher des Euklid
übersetzt, die indischen Zahlzeichen verbreiten sich als arabische Ziffern,
die Algebra wird eine selbständige Wissenschaft. In Spanien entsteht im
12. Jahrhundert durch die Berührung hebräischer, arabischer und romanischer
Kultur das Bedürfnis, vermöge der Weltsprache des Lateinischen die Wissen-
schaft des Altertums allgemein zugänglich zu machen, und so gelangt der Ok-
zident in den Besitz von Übersetzungen der großen Alexandriner und der ara-
bischen Mathematiker.
Doch nicht in Spanien, sondern in Italien beginnt im Anfang des 13. Jahr-
hunderts eine neue Entwicklung der Rechenkunst, gefordert durch die Be-
dürfnisse des Handels und der fortschreitenden technischen Kultur, für die nun
die Lehren der Statik, der Kräfteverteilung wichtig werden. Leonardo
Pisano faßt um I2CX) in seinem Liber abaci alles zusammen, was sich auf das
elementare Rechnen mit Einschluß der Null, der negativen Zahlen, der Brüche,
der Kettenregel, der arithmetischen und geometrischen Reihen bezieht.
Und ganz allmählich eröffnet sich damit eine neue Gedankenwelt. Die
mathematische Untersuchung erscheint nicht mehr allein als Interesse der rein
logischen Spekulation und als Fundament der Astronomie, sondern als die
Kraft, welche das Verständnis des Naturgeschehens ermöglicht. Einzelne
Persönlichkeiten beginnen sich von dem Zwange zu befreien, mit dem die durch
die Kirche gestützte Autorität des Aristoteles die Menschheit gefesselt hatte.
Einen prägnanten Ausdruck findet diese Renaissance inLionardo da Vinci
(1452 — 15 19), der gleich ausgezeichnet als Maler, Architekt, Ingenieur, Philo-
soph und Mathematiker vielleicht das universellste Genie war, das je gelebt
hat. Wie Galilei und Kant*) spricht er seine" Überzeugung aus in den denk-
würdigen Worten: ,,Nessuna humana investigazione si puö dimandare vera
scientia, s'essa non passa per le matematiche dimostrazione" oder ,,Nessuna
certezza delle scientie e dove non si puö applicare una delle scientie matema-
tiche e che non sono unite con esse matematiche." Vielleicht sind diese Äuße-
rungen Lionardos und Galileis etwas zu prononciert gefasst. Aber, völlig
unabhängig voneinander entstanden, sind sie ein lebhafter Ausdruck für die
enthusiastische Gewißheit, mit der diese Männer von der Allgewalt der mathe-
matischen Begriffsbildung erfüllt waren, die in der ganzen Richtung der
wissenschaftlichen Forschungen alsbald so charakteristisch hervortreten sollte.
So beginnt denn nun mit Galilei eine neue Epoche der mathematischen
Naturerkenntnis. Nach Aristoteles besteht der Grund für das Fallen der
*; Galileis Ausspruch im Saggiatore lautet: „La filosofia e scritta in questo grandissimo
hbro, che continuamente ci sta aperto innanzi a gli occhi (jo dico l'imiverso), mai non si puo
intendere, se primo non s'impara a intender la lingua ä conoscer i caratteri, nei quaii h
scritto. Egli h scritto in Ungua matematica e i caratteri sono trianguli, cerchi ed altre figure
matematiche." — Kant's Worte: „Ich behaupte, daß in jeder besonderen Naturlehre nur
so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen
ist," sind allgemein bekannt.
Renaissance der
Mathematik in
Italien.
Liouardo da
Vinci.
Galileo Galilei.
14 A A. Voss: Die Beziehungen der Mathematik zur allgemeinen Kultur.
Körper in der vagen Idee, daß sie ihren ,, natürlichen Ort" suchen. Galilei
aber fragt nicht, warum, sondern wie die Körper fallen. Und als Bedingung
für die Möglichkeit eines solchen Wissens erkennt er das Prinzip der Träg-
heit, das ihm — entgegengesetzt der damaligen Ansicht — als eine durch
Experimente weder zu bestätigende noch zu widerlegende Wahrheit erscheint:
Mobile super planum horizontale projectum mente concipio omni secluso
impedimento; jam constat, illius motum aequabilem et perpetuum super ipso
piano futurum esse si planum in infinitum extendatur. Und unter Voraus-
setzung der Unabhängigkeit der Wirkung einer Kraft von dem augenblick-
lichen Bewegungszustande, dem Prinzip der Non-her6dit6, wie es E. Picard
nennt, liefert ihm die Mathematik die Fallgesetze, deren Übereinstimmung
mit der Wirklichkeit er ausführlich beweist.
Damit gelangt Galilei zur Analyse der Fragen, die sich auf den Wurf kleiner
kugelförmiger Körper beziehen. Aber zur Behandlung der Fälle, wo veränder-
liche Kräfte wirken, reichten die damaligen Mittel der Mathematik nicht aus.
Descartes. Hier sctzt nun Descartes' große Erfindung der Analytischen Geo-
metrie ein. Zwar sind Koordinaten schon in den ältesten Zeiten in mehr-
facher Form in Gebrauch gewesen, von prinzipieller Bedeutung aber blieb
immer der Unterschied zwischen dem geometrischen Größenbegriff und der
Arithmetik. Erst Descartes löste den Koordinatenbegriff von der Größen- und
Dimensionsvorstellung, indem er die Koordinaten als reine Zahlen in bezug
auf eine willkürliche Längeneinheit erfaßte. Durch diese Befreiung der Geo-
metrie von der direkten Anschauung wird die Geometrie des Descartes, ein
Jahr vor dem Druck von Galileis Dimostrazioni matematiche intorno a due
nuove scienze (1638), zu einem neuen Hilfsmittel der Mathematik.
Und so wird es nun möglich, die im Altertum unerledigten Probleme der
Tangentenkonstruktion, der Inhaltsberechnung auf anderen Wegen, als den
kunstvollen synthetischen des Archimedes anzugreifen.
Newton. Andererseits gab Newton in seinen Principia philosophiae naturalis
mathematica (1687) den Lehren Galileis durch den Begriff der Masse und ihren
Zusammenhang mit der Beschleunigung und der Kraft den Abschluß. Damit
waren die Gesetze der Bewegung endgültig festgestellt; sie haben trotz einzelner
Schwächen, welche die Axiomata sive leges motus enthalten, durch zwei Jahr-
hunderte unbestritten als Grundlage der exakten Wissenschaft sich erhalten.
Die naturwissen- Füf dic Entwickelung des Zeitalters der naturwissenschaftlichen
^'^ *kiärung. "Aufklärung ist Newtons Lehre von der Gravitation von der größten Be-
deutung; auf ihr beruht die Mechanik des Himmels. Durch Koper-
n i ku s' Buch De revolutionibus orbium coelestium war das geozentrische System
des Ptolemäus verdrängt, durch Keplers divinatorische Gedanken waren
die Gesetze der Planetenbewegung erkannt und durch Beobachtungen und
Rechnungen in langjähriger Arbeit bestätigt. Newton gehngt es auf wenigen
Seiten, diese Gesetze als notwendige Folgen allgemeiner Voraussetzungen zu
erweisen: so wird die allgemeine Gravitation der Massen zum Prinzip
der Erklärung aller kosmischen Erscheinungen. Indes beruht Newtons wahre
Newtons Principia und die Infinitesimalrechnung. A. 15
Größe nicht auf dieser allgemeinen, auch schon vor ihm von anderen aus-
gesprochenen Idee, sondern auf der genialen Weise, mit der er dieselbe im
einzelnen mathematisch zu verfolgen wußte. Es ist das Problem der drei
Körper, das er mit solchem Erfolge für Erde, Mond und Sonne erforscht, daß
er am Schluß seines Werkes sagen kann: motus omnes lunares, omnesque
motuum inaequalitates ex allatis principiis consequi; sunt etiam aliaquae-
dam nondum observatae inaequalitates, quibus motus lunae adeo
per turbantur, ut nulla hactenus lege ad regulam aliquam certam reduci
potuerint.
Aber nicht allein der Beobachtung stellten sich neue Aufgaben, sondern
auch der Mathematik selbst. Wenn wirklich die Gravitation alle kosmischen
Phänomene beherrschte, mußten auch Mittel gefunden werden, die Anziehung
von Körpern beliebiger Gestalt und Massenverteilung zu bestim-
men, während man damals nur die konzentrisch geschichteter Kugeln nach
Newtons prop. VII im Buch III der Principia auf die Attraktion punktueller
Massen zurückzuführen wußte.
Durch Newtons undLeibniz' Erfindung der Infinitesimalrechnung wur- Die infinitesimal
den die nötigen Mittel dazu geschaffen. Damit beginnt nun eine der merk- '^^'^ °"°^'
würdigsten Epochen in der Geschichte der mathematisch-naturwissenschaft-
lichen Erkenntnis. Probleme, die bisher völlig unlösbar waren, erscheinen
jetzt in einem ganz neuen Lichte, und unter den vereinten Bemühungen der
großen Paladine der Infinitesimalrechnung, der Bernoullis, Euler, La-
grange, d'Alembert, Laplace, vollendet sich die Durcharbeitung des
Gravitationsgedankens. Jede scheinbare Ausnahme von seiner universellen
Gültigkeit wird zu einem neuen Triumph für denselben — , wenn wir auch nicht
verschweigen dürfen, daß auch noch gegenwärtig in der Bew^egung des Mondes
und noch mehr in der des Merkur nicht völlig durch diese Theorie erklärte Ab-
weichungen auftreten. Aus ihm folgte die Abplattung der Erde an den Polen
im Widerspruch mit den Gradmessungen des jüngeren Cassini. Die Ent-
scheidung hierüber erregte das Interesse der damahgen Welt in einem Grade,
wie es gegenwärtig in demselben Maße kaum bei der Nachricht von so außer-
ordentlichen und lang ersehnten Erfolgen, wie der Erreichung des Nord- und
Südpols der Erde durch Peary und Amundsen der Fall ist. Aber erneute
Messungen bestätigten in den beiden großen Expeditionen unter Maupertuis
in Lappland*) und Bouguer in der Nähe des Äquators Newtons Voraussagung.
D'Alembert begründete dann theoretisch die Präzession der Tag- und Nacht-
gleichen aus der Abplattung der Erde, und in Verbmdung damit ergab sich
auch die zweite der Erdachse eigentümliche Bewegung, die Nutation. Die
Attraktion beliebiger Massen wird durch Lagranges Potentialfunktion auf
ihren einfachsten Ausdruck zurückgeführt, in dem Laplace und Poisson das
bestimmende Element für alle Bewegungsvorgänge erkennen.
*) Die Genauigkeit der Beobachtungen von Maupertuis wurde allerdings bald bestritten.
Erst weitere Messungen in den nördlichen Breiten haben zu völlig unzweifelhaften Resul-
taten geführt.
l6 A A. Voss: Die Beziehungen der Mathematik zur allgemeinen Kultur.
Astronomisch- So bildet sich die mathematisch-astronomische Weltanschau-
weitanschauung. u n g , die uncrschütterliche Überzeugung von der absoluten Gesetzmäßigkeit
des Naturgeschehens, für das man die Grundlage in Newtons Fernwirkung
gefunden zu haben glaubte. Ihren Höhepunkt erreicht sie wohl bei Laplace,
dem der ganze Lauf der Welt als ein großes System von Differentialgleichungen
erscheinen mochte, dessen Lösung die fernste Vergangenheit und Zukunft
gleichmäßig in sich begreifen müßte. In der großartigsten Weise werden von
ihm alle Mittel der Analyse zur Mecanique Celeste (1799 — 1825) verwandt,
deren Ziel der Nachweis der bis auf ferne Zeiten verbürgten Stabi-
lität unseres Sonnensystems bildet.
Die neuen Anforderungen, welche die Bahnbestimmung der kleinen
Planeten machte, veranlaßten die Theoria motus(l 809) von G a u ß. Es war ein
weiterer Triumph für Newtons Gesetz, als 1835 die Wiederkehr des Halley-
schen Kometen im Einklang mit seiner berechneten Bahn wirklich eintraf,
ein noch größerer die auf der Theorie allein beruhende Auffindung
des Planeten Neptun. Der 1781 von J. Her seh el entdeckte Uranus zeigte
Abweichungen von der theoretisch bestimmten Bewegung, die zur Annahme
bisher unbekannter Störungen zwangen. So entstand die Überzeugung, der
Bessel 1845 ^^ einem Briefe an A. v. Humboldt Ausdruck gab, daß ein
früher nicht beobachteter Planet die Ursache der Uranusstörungen sei. Fast
zu gleicher Zeit stellten sich J. Adams und L. Le Verrier die kühne Auf-
gabe, die Elemente eines diesen Störungen entsprechenden Himmelskörpers
zu bestimmen. Sie fanden unabhängig von einander, allerdings auf Grund
ähnlicher Voraussetzungen, nahezu dieselben Werte, Adams sogar noch etwas
früher als Le Verrier; aber an den Namen des letzteren knüpft sich der Ruhm
der Auffindung des Neptun, die noch an demselben Tage durch Encke's
Assistenten Galle erfolgte (18. September 1846), als Le Verrier jenen zur
Beobachtung einer bestimmten Himmelsregion aufgefordert hatte. Wer wird
nicht dabei der Worte Schillers gedenken:
,,Mit dem Genius steht die Natur in ewigem Bunde,
Was der eine verspricht, leistet die andre gewiß,"
zumal, wenn wir bedenken, daß die berechnete Position des Neptun eigentlich
nur gerade zu jener Epoche mit seiner wirklichen in naher Übereinstimmung
sich befand, denn seine hypothetisch bestimmten Elemente weichen doch
erheblich von den später festgestellten ab.
Geographie. Hier wäre endlich auch noch der Fortschritte der Kartographie
zu gedenken, welche seit Hipparchs stereographischer Projektion der Kugel,
durch Lagranges konforme Abbildung aller Rotationsflächen {1779), wie
durch Gauß' Disquisitiones generales circa superficies curvas (1827) zu den
wichtigsten Sätzen der Geometrie Veranlassung gab, bis in die neueste Zeit ein
unerschöpfliches Gebiet geometrischer und geographischer Forschungen.
Aber Aufgaben ganz anderer Art entstanden, als man von den kosmischen
Mathematik und Forschungen sich den physikalischen Erscheinungen zuwandte. Schon
Laplace mußte in seiner TheoriederKapillarität(i 806) neue, erst innerhalb
Mathematisch -physikalische Forschung. A 17
eines gewissen Wirkungskreises zwischen den Massen auftretende Kräfte an-
nehmen. UnddasCoulombsche Gesetz(i785) der statischen Elektrizität und
des Magnetismus zeigte die MögHchkeit einer mathematischen Theorie der
Elektrizität und des Magnetismus, für welche wieder das Potential Lagranges
in Verbindung mit Laplaces und P Dissens Sätzen das bahnbrechende Hilfs-
mittel wurde. Auch die Elastizitätstheorie wird nun auf solche Molekular- EiasHiitäts-
kräfte gegründet, erfordert aber bald weitere Hypothesen, die trotzdem mit '*'*°"*-
den Erscheinungen selbst sich nicht in Einklang bringen lassen. Damit tritt
ein neuer Gedanke in den Vordergrund, der der Feldwirkung, welche, von
allen solchen Hypothesen absehend, die allgemeinen Zug- und Druckver-
hältnisse eines elastischen Mediums nach den Gesetzen der Mechanik der
Continua behandelt, und so die bereits von Galilei begonnene mathema-
tisch-physikalische Anschauung ins theoretische Gebiet aufs erfolg-
reichste hinüberleitet. Auf dieser Erkenntnis beruht eines der wesentlichsten
Verdienste des grossen Mathematikers A. L. Cauchy. Seine Arbeiten in den
Exercices d' Analyse et de Physique mathematique (seit 1822) über die Mechanik
deformierbarer kontinuierlicher Systeme haben über die gleichzeitigen mole-
kulartheoretischen Ansätze L. Naviers und S. D. Poissons den Sieg davon-
getragen. Erst die durch G. Greens Arbeiten (1842) vorbereitete Einführung
des thermodynamischen Potentials in die Elastizitätslehre durch W. Thomson
(1857) geht über Cauchys Konzeptionen hinaus.
Die Elastizitätstheorie steht mit der Lehre vom Licht in engster Die Lehre vom
Beziehung. Newtons Emissionstheorie war während des 18. Jahrhunderts
trotz der sich immer häufenden theoretischen und experimentellen Wider-
sprüche fast durchgängig maßgebend geblieben. Nach der Undulations-
theorie von Huygens (1691) beruht das Licht, dem Schall analog, auf der
Fortpflanzung von Schwingungen eines imponderabelen elastischen Mediums,
des Äthers. Huygens gelingt es so, die Reflexions- und Brechungsgesetze
abzuleiten; L. Foucaults berühmte Versuche (1855 — 1862) entscheiden end-
gültig gegen die Emissions- und für die Undulationstheorie. In seiner mathe-
matischen Beschreibung der Doppelbrechung in Kristallen erscheint
Huygens als ein divinatorisches Genie. Seine Konstruktion der Wellenfläche
wird durch Wollaston und Malus (1803 und 1810) experimentell be-
stätigt; noch weit merkwürdiger ist die von W. R. Hamilton 1833 aus der
Gestalt dieser Fläche unter einer ganz besonderen Versuchsanordnung bei
zweiachsigen Kristallen vorausgesagte äußere konische Brechung, die von
H. Lloyd sofort am Arragonit unzweifelhaft nachgewiesen wurde.*) Aber die
verschiedenen Farben, in die das Licht sich bei der Brechung spaltet, ver-
mochte Huygens nicht zu erklären. Den ersten Schritt dazu tat Euler um
die Mitte des 18. Jahrhunderts, indem er die Schwingungszahl der Ätherteil-
chen in Beziehung zur Farbe brachte, wie man das bei der Fortpflanzung
verschiedener Töne längst gewohnt war. Und Th. Young gelang es zu An-
*) Ob Lloyds Versuchsanordnung auch die innere konische Brechung zur Erscheinung
bringt, ist neuerdings von W. Voigt in Zweifel gezogen.
K. d. G. in. I Mathematik, A. 2
l8 A A. Voss: Die Beziehungen der Mathematik zur allgemeinen Kultur.
fang des 19. Jahrhunderts, auch die Interferenzerscheinungen, allerdings mehr
qualitativ als quantitativ, zu erklären. Neue Schwierigkeiten bereitete freilich
die durch Malus entdeckte Polarisation des Lichtes: sie wurden von Fres-
nel (1817) durch die Annahme beseitigt, die nun maßgebend wird, daß die Vibra-
tionen des Äthers nicht in der Richtung des Lichtstrahls, sondern senkrecht
dazu erfolgen. Damit war dem Äther allerdings die Eigenschaft einer elasti-
schen Flüssigkeit abgesprochen, denn in dieser können sich solche Schwin-
gungen nicht fortpflanzen, wenn man an den Gesetzen der Hydrodynamik
festhält. Man mußte also zunächst den Äther als ,, festes" elastisches Medium
ansehen. Hier griff nun Cauchys Elastizitätslehre ein, nach der drei Wellen
von der Art, wie man sie zur Erklärung zunächst braucht, sogenannte ebene
Wellen, bestehen können, von denen die eine, longitudinale, keine Licht-
empfindung einleitet, während die beiden anderen transversalen die Doppel-
brechung hervorrufen. Aber auch trotz Cauchys Ableitung der Dispersion (1836)
aus seiner allgemeinen Theorie blieben weitere Fragen. Wir erinnern nur an
die Streitfrage, ob die Schwingung im polarisierten Lichte in der Polarisations-
ebene oder senkrecht dazu erfolge, die sich weder durch mathematische, noch
durch experimentelle Untersuchung entscheiden ließ, — anderer Erscheinungen,
wie z. B. der Absorption und Fluoreszenz gar nicht zu erwähnen.
Hier ist auch an die große Förderung zu erinnern, welche die Kultur durch
Optische die Verfeinerung der optischen Instrumente mit Hilfe der Mathe-
ns rumen e. ^ ^ ^ . j^ erfuhr. Von dcu zwei erheblichen Mängeln derselben, der sphärischen
und chromatischen Abweichung, konnte zwar der erstere sowohl empirisch
als auch durch Berechnung genügend reduziert werden, desto mehr aber schien
der letztere wesentlich mit der Brechung des inhomogenen Lichtes verbunden.
Aber Euler zeigte, ausgehend von der damals als vollkommen angesehenen
Achromasie des Auges, wie man durch Anwendung von Gläsern verschiedenen
Brechungsvermögens auch die farbigen Ränder des Bildes hinreichend be-
seitigen könne: so führte die Theorie den Optiker J. DoUond alsbald (1757)
zur Herstellung achromatischer Objektive. Ist nun auch letztere vorzugsweise
eine Kunst geblieben, so haben andererseits die mathematischen Unter-
suchungen E. Abbe's (1873, 1879) sowohl die Grenzen ihrer durch die Natur
des Lichtes selbst bedingten Leistungsfähigkeit, als auch die Möglichkeit
gezeigt, durch besondere Hilfsmittel dieselbe noch weiter zu steigern.
Hatte sich so die Elastizitätstheorie immer weiter von der astronomischen
Mechanik entfernt, so begegnen wir nun demselben Prozeß auf dem großen
Elektrizität und Forschungsgcbict des 1 9. Jahrhunderts, dem der ElektrizitätunddesMagnet-
agne »mus. jgj^^g Zunächst versprach das Coulombsche Gesetz unter den Händen von
Laplace, Poisson und G. Green im Bereich der statischen Elektrizität die
schönsten Erfolge. Aber Gauß zeigte in den ,, Allgemeinen Lehrsätzen in
Beziehung auf die im umgekehrten Verhältnis des Quadrats der Entfernung
wirkenden Anziehungs- und Abstoßungskräfte" (1839), daß die Wirkung von im
Innern einer geschlossenen Fläche verteilten Magneten durch eine ideale An-
ordnung magnetischer Massen auf der Oberfläche derselben so ersetzt werden
Theorie.
Femewirkung und Feldwirkung. A lo
kann, daß für alle äußeren Punkte die Kraftwirkung dieselbe bleibt: damit wird
die mechanistischeKonstruktion des Innern gleichgültig, es entsteht die Theorie
des Erdmagnetismus. Ampere gelingt es, die inzwischen entdeckte Elek-
trodynamik durch sein Gesetz für die Wechselwirkung von Stromelementen
zu begründen, während F. Neumann, im Anschluß an M. Faradays Induk-
tionserscheinungen, auf die Gewinnung differentieller Gesetze verzichtend, sich
zu den Integralgesetzen (1845) erhebt. Diese zum Teil noch astronomisch den-
kende Physik erreicht ihren Höhepunkt unter W. Weber (1846), der in einem
allgemeinen dem Gravitationsgesetze vergleichbaren Elementargesetze die
Grundlage aller dieser komplizierten Vorgänge zu umfassen sucht, dessen
mathematische Form von C. Neumann 1868 auf die Annahme einer zeit-
lichen Fortpflanzung der elektrischen Kraft begründet wird.
An das Göttinger Dioskurenpaar knüpft sich die erste praktische Aus-
führung der elektrischen Telegraphie (1833), aber erst W. Thomsons
mathematische Untersuchungen der Induktionserscheinungen
in einem submarinen Kabel (1857) ermöglichen es 1866, deutlich er-
kennbare Zeichen von Europa nach Amerika zu senden.
Doch die Fernwirkungstheorien, in denen man vor 60 Jahren die höchste Max^eiis
Stufe der Naturerkenntnis sah, konnten gegen die Beobachtungen Faradays
über den Einfluß des Zwischenmediums sich nicht behaupten. Hier setzte
nun Maxwells großes mathematisches Genie ein. Die Elektrodynamik der
Gegenwart — wir folgen hier W. Voigt — umfaßt in den Maxwellschen Glei-
chungen alle Äußerungen der ruhenden und bewegten Elektrizität, von dem
einfachen Influenzproblem und den Gesetzen konstanter Ströme mit ihren
magnetischen Wirkungen bis zu den Schwingungserscheinungen, mit solcher
Genauigkeit, daß sie den Effekt jedes Experimentes zahlenmäßig voraussagen
kann. Und zugleich spricht sie die Gesetze aller optischen Erscheinungen so
umfassend aus, daß die bloße Betrachtung ihrer Formeln wiederholt zur er-
füllten Voraussage noch nicht gesehener Erscheinungen geführt hat.
Das Webersche Gesetz ergab das merkwürdige Resultat, daß zwei elek-
trische Teilchen bei einer gewissen Relativgeschwindigkeit keine Wirkung auf-
einander ausüben; W. Weberund R. Kohlrausch zeigen 1856, daß diese Ge-
schwindigkeit der des Lichtes nahezu gleich sei. Es ist das Verdienst von J. C.
Maxwell, diese scheinbar zufällige Übereinstimmung durch seine elektro-
magnetische Lichttheorie verstehen gelehrt zu haben. Dabei tritt ein
merkwürdiger Umstand ein, der sich auch auf anderen Gebieten der mathe-
matischen Physik wiederholt. So verschieden auch der Treatise of electri-
city and magnetism (1873) von der älteren Auffassung mit ihren Leitern
und ungeschlossenen Strömen ist, die mathematischen Hilfsmittel brauchten
nur unwesentlich verändert zu werden. An die Stelle der Integrale Amperes
und Webers tritt allerdings ein System von Differentialgleichungen, welches
ebensosehr die geometrischen Verhältnisse als die grundlegenden Daten der
Beobachtung und die vermöge der Vektoranalysis zu fordernde innere Sym-
metrie der Formeln divinatorisch zum Ausdruck bringt.
20 A A. Voss: Die Beziehungen der Mathematik zur allgemeinen Kultur.
Ihre Entwick- Und Huii gelingt es 1 888 H. H e r t z , zur Bestätigung dieser Theorie das Vor-
lung durch Hertz, j^^^jg^g^-^ einer solchen der Fortpflanzung des Lichtes analogen Ausbreitung
der elektrischen Wellen, die Bedingungen ihres Entstehens, ihre Wellenlänge
experimentell aufzuzeigen. Welche Kulturfortschritte sich hieran geknüpft
haben, ist jedem bekannt. Denn wir leben ja mitten in der Zeit, wo durch
das mit Branlys Kohärer geschärfte elektrische Auge von Hertz und durch
Marconis eminentes Talent die drahtlose Telegraphie entstand, wo wir die
elektrischen Wellen, die sich wegen ihrer größeren Länge nach ganz anderen
Gesetzen über die Erde verbreiten, wie die geradlinigen Lichtstrahlen, an jeder
Stelle, in der Luft oder auf dem Meere, zu erkennen vermögen*). Und die
neuen Erfahrungen beim Durchgange der Elektrizität durch stark evakuierte
Röhren führen zu einer Umwälzung der bisherigen Ansichten über die Grund-
lagen der Chemie und Physik, welche die mathematische Begründung der
materiellen Erscheinungen mittels der elektromagnetischen Vorstellungen in
nahe Aussicht zu stellen scheint.
Die Wärmelehre, Noch auf einem dritten Gebiete, der Wärmelehre, hat die Mathematik
armeeituiig. ^^^ ^^ Jahrhuuderts entscheidend eingegriffen. J. B. Fourier erkannte 1822,
daß die Probleme der Wärmeleitung durch die Annahme, der ,, Wärmefluß" sei
der Temperaturdifferenz der benachbarten Teilchen proportional, mathematisch
behandelt werden können. Seine Analyse stellte aber der Mathematik selbst
ganz neue Aufgaben, die der Darstellung willkürlicher Funktionen durch be-
sonders einfache Arten derselben, wie z. B. die trigonometrischen oder Verall-
gemeinerungen derselben; sie haben zu einer großen Zahl von Arbeiten ge-
führt, die mit den höchsten Fortschritten der Analyse bis in die neueste Zeit
verknüpft geblieben sind.
Bisher ist vorwiegend die Entwickelung der exakten Naturwissenschaften
Mathematik und besprochen, in der die Kraft der Mathematik sich am reinsten offenbart, und
wis*en°cha/ten. bei denen zugleich die gewonnenen Resultate einer genaueren experimentellen
Bestätigung zugänglich sind. Die physikalische Forschung richtet sich auf
Erkenntnis der Gesetze, sie sucht zunächst immer die Naturerscheinungen zu
isolieren, in ihre Elementar Vorgänge aufzulösen und alle störenden Neben-
umstände zu eliminieren. Aber die technischen Wissenschaften können
dabei nicht stehen bleiben. Bei ihnen handelt es sich meist um Beziehungen,
die, aus dem Zusammenwirken zahlreicher physikalischer Kräfte entspringend,
nur durch Mittelwerte von Beobachtungsreihen bekannt sind und daher —
selbst wenn eine allgemeine rein mathematische Behandlung durchführbar
wäre — doch ihrem Wesen nach nur in geeigneten Annäherungsmethoden
an die Wirklichkeit ihren Ausdruck finden können. Eben durch die Not-
wendigkeit, den Bedürfnissen des wirklichen Lebens zu genügen, wird das
eigentümliche Verhältnis bestimmt, in dem die technischen Wissenschaften
zur abstrakten Mathematik stehen.
*) Die weit empfindlicheren Resonatoren, an deren Vervollkommnung die Gegenwart
unausgesetzt arbeitet, können wir hier nicht erwähnen.
Mathematik und technische Wissenschaften. A 2 I
Die Beziehungen zwischen den technischen Wissenschaften und der
Mathematik zu verstehen, ist aber auch für jeden erforderHch, der im Dienste
der Entwickelung der ersteren zu wirken berufen ist. Nicht jeder kann zu-
gleich auch Forscher auf dem abstrakten Gebiete sein. J. M. Rankine be-
merkt in der Vorrede zu seiner angewandten Mechanik: ,,The question for the
engineer is — what am I to do.? And he must decide immediately. For the
mathematician the question is — what am I to think? And he can take an
unlimited time."
Aber eine bloß handwerksmäßige Benutzung des in Formeln und Tabellen
niedergelegten Apparates ist unmöglich, wenn man nicht zugleich Einsicht in
den Zusammenhang desselben besitzt. Dies ist auch das leitende Prinzip des
Studiums der exakten Wissenschaften an unseren technischen Hochschulen,
mag es auch im einzelnen hinsichtlich seiner Ausdehnung gewissen Schwankun-
gen unterworfen sein.
Es sind die graphischen und numerischen Methoden, welche in
der Technik immer mehr in den Vordergrund getreten sind. Die analytische
Geometrie setzt uns zwar in den Stand, die Durchschnitte beliebiger Flächen, DarsteUende
z. B. bei der gegenseitigen Durchdringung der Körper, den Schattenkonstruk- *^'°'°**"*-
tionen, dem exakten Entwurf räumlicher Darstellungen überhaupt, zu unter-
suchen. Doch wüe viel anschaulicher und für derartige Zwecke brauchbarer er-
scheinen die Methoden der von G. Monge (1795) systematisch begründeten
Darstellenden Geometrie, welche, alsbald in den Unterricht an der Ecole
polytechnique zu Paris aufgenommen, seitdem an den technischen Lehran-
stalten zu einer der wichtigsten Grundlagen für die mathematische Behand-
lung geworden sind. Hier liefert die zeichnende Konstruktion, wenn sie mit
ausreichender Genauigkeit ausgeführt wird, eine unmittelbar auf die prak-
tische Ausführung im großen übertragbare Anweisung.
Aber die Methoden Monges werden wiederum vertieft durch die all-
mähliche Ausbildung der projektiven Geometrie. Die Geometrie der Lage, Projektive
die, schon von den Alten in Angriff genommen, sich durch Desargues (1639) ^™*'*"''-
in Verbindung mit den Lehren der Perspektive zu w-ahrhaft großen Fort-
schritten erhoben hatte, tritt mit dem traite des proprietes projectives des
figures, dessen Grundzüge J. V. Poncelet in der Einsamkeit seiner Ge-
fangenschaft in Saratow entwirft (1812) und der systematischen Entwicke-
lung der Abhängigkeit geometrischer Gestalten von J. Steiner (1832) als ein
selbständiger Forschungszweig auf, dessen Bedeutung weit über die für die
darstellende Geometrie grundlegenden Begriffe der Affinität und Collineation
hinausgreift. Dies zeigt sich namentlich in den Untersuchungen K. von
Staudts (1847) und den fundamentalen Gesichtspunkten der projektiven
Metrik F. Klein s (1872), welche die projektive Geometrie unabhängig von
der Geometrie des Euklides aufbauen und in die wichtigsten geometrischen
Forschungen der neueren Zeit so neugestaltend eingegriffen haben.
Auch die Untersuchungen der Statik, rein analytisch verfolgt, werden Graphosutik.
weitläufig, wenn man sie auch nur auf die einfachen Verhältnisse der Fach-
22 A A, Voss: Die Beziehungen der Mathematik zur allgemeinen Kultur.
Werkskonstruktionen anwenden will. Demgegenüber erweist sich die graphi-
sche Konstruktion, wie sie bereits bei Varignon(i725) den an das Seil-
polygon anschließenden Untersuchungen zugrunde liegt, weit übersicht-
licher. Unter Poncelet werden sie bereits vielfach verwandt, aber erst G.
Culmann (1864) entwickelt mit Hilfe der projektiven Auffassung die graphi-
sche Statik zu einem vollständigen System, das in dem Kräfteplan des In-
genieurs seinen Ausdruck findet. Mit ihm verbindet sich bald darauf durch
J.C.Maxwell (1864) und L. Cremona (1872) die schöne Theorie der Rezi-
prozität in der graphischen Statik, und zugleich eröffnet sich auch die Aus-
sicht, die graphischen Methoden bei dynamischen Verhältnissen zur An-
wendung zu bringen.
Maschinen- Dic Festigkeitsbcrcchnung der Maschinenkonstruktionen gründet sich
zwar gleichfalls auf die mathematische Elastizitätslehre und die physika-
lische Festigkeitslehre. Aber die in der Praxis erforderlichen Konstruktio-
nen sind meist zu kompliziert, als daß sich eine strenge Lösung der mathema-
tischen Probleme unmittelbar erwarten ließe. Auch hier werden einer be-
ständigen Prüfung und Erfahrung, insbesondere in bezug auf den Einfluß der
Wärme, des Winddruckes, der Bruch- und Druckfestigkeit, zu unterziehende
spezifische Näherungsmethoden geschaffen, welche, geleitet durch die sicheren
Fundamente der Theorie, so verwickelte Verhältnisse zu beurteilen gestatten,
wie sie z. B. bei einer Brückenkonstruktion stattfinden.
Hydrodynamik. Ein ganz bcsondcrcs Interesse haben in neuerer Zeit die hydrodyna-
mischen Untersuchungen gewonnen, veranlaßt durch die großen Pro-
bleme der Bewegung der Schiffe, der Ballistik, der Aerodynamik. Hier muß
der Ingenieur mit dem scharfen Blick ausgerüstet sein, der ihn befähigt, bei
der Behandlung der allgemeinen Differentialgleichungen einer nicht mehr
reibungslosen Flüssigkeit diejenigen Elemente auszusondern, welche von
wesentlichem Einflüsse sind, wenn es sich z. B. darum handelt, einen genaueren
Einblick in die Verhältnisse der Wirbelbewegung zu gewinnen, für die Helm-
holtz bahnbrechende mathematische Theorie die Grundlagen geschaffen hat
(1858). Nun zeigen die Beobachtungen, daß bei der Bewegung im Wasser und
in der Luft mit genügender Annäherung von der Reibung abgesehen werden
kann, außer in der unmittelbaren Umgebung der von der Flüssigkeit
durchströmten Körper. Daraus ergibt sich der besondere Charakter der
technischen Probleme, welche sich die Gegenwart stellt! Auf diesem sich gegen-
seitig befruchtenden Zusammenwirken der Mathematik mit den Forderungen
der Technik beruht die Kraft, mit der unsere Zeit das Naturgeschehen ihren
Zwecken unterwirft.
Aber weit mehr noch wird unsere Naturerkenntnis durch das Energie -
Thermodynamik, p r i n z i p Und die Thc rm 0 d yu a m i k beeinflußt. Und während die Theorie der
Wärmeleitung zunächst Einfluß auf die Fortbildung des Funktionsbegriffes ge-
wann, wird umgekehrt in der Thermodynamik die rein mathematische
Behandlung von der größten Bedeutung für die allgemeine phy-
sikalische Erkenntnis.
Energieprinzip und Thermodynamik. A. 2^
Versuchen wir, diesem Ideengange etwas näher zu folgen. Bekanntlich ist
zur Überwindung der konstanten Schwerkraft, zum Heben eines Gewichtes
aus einem tieferen Niveau in ein höheres, bei gleicher Anfangs- und Endge-
schwindigkeit desselben eine Arbeit, ,, Kraft mal Weg" erforderlich. Aber die
allgemeine Definition der mechanischen Arbeit beruht auf dem
Integralbegriff; unter G. Coriolis (1829) und J.V. Poncelet (1826) wird
sie zur Grundlage der theoretischen Maschinenlehre, der Lehre, Ar-
beit durch bestimmte Vorrichtungen in nutzbarer Form zu gewinnen. Arbeit
aus Nichts zu gewinnen, war das Bestreben derer, die ein Perpetuum
mobile herstellen wollten. Ist aber dies unmöglich, dann müssen die Kräfte
der Natur — wenigstens wenn sie nur von den Angriffspunkten abhängen —
konservativ sein, d. h. sie müssen ein eindeutiges Potential — C7 be-
sitzen, und der Satz D. Bernoullis T -\- U = const -{- A [A die Arbeit ander-
weitiger äußerer Kräfte) regelt die Beziehung zwischen den potentiellen und
kinetischen Bestandteilen U und T der Energie E.
Aber dieser Satz der reinen Mechanik trifft in der Wirklichkeit nicht zu. Dt« beiden
Überall, wo es sich um Einflüsse der Reibung, der Zähigkeit, des Stoßes han- xherm'XMmrk.
delt, geht scheinbar ein Teil der Energie verloren; an seine Stelle tritt unter
bestimmten Voraussetzungen eine gewisse Wärmemenge, die also einer Energie
entsprechen muß. Und der genialen Rechnung R. Mayers (1842), den Ver-
suchen J. P. Joules (1843), gelingt es, das mechanische Arbeitsäqui-
valent der Wärme zu ermitteln. Der Satz von Bernoulli erhält jetzt eine
viel allgemeinere Form : E — Eq= A -{- Q, wo E die totale, auch die Wärme-
bewegung einschließende Energie, Q die zugeführte Wärme bedeutet. In
dieser Gestalt ordnet sich der erste Hauptsatz der Thermodynamik wieder
der rationellen Mechanik ein.
Dieser jedoch reicht nicht aus, um die thermischen Zustände der Arbeits-
maschinen zu begründen. Die Ansicht, die Wärme sei ein unzerstörbares Flui-
dum, ist freilich damit gefallen, aber es bedurfte erst S. Carnots Untersuchung
des Kreisprozesses einer idealen Wärmemaschine (1824), um end-
lich R. Clausius (seit 1850) auf das zweite Axiom der Thermodynamik zu
führen: ,, Wärme geht niemals ohne Arbeitsaufwand von einem kälteren zu
einem wärmeren Körper über."*) Diese Sätze bilden für den Konstrukteur
die Grundlage, um die verwickelten Vorgänge in unseren Wärmemaschinen
zu verfolgen und so die Vorschriften für den Bau derselben zu gewinnen.
Und die abstrakte Theorie, welche den Begriff eines vollkommen umkehr-
baren Prozesses bildet, liefert den fundamentalen Satz: Unter allen Wärme-
*) Nach M. Planck, Vorlesungen über Thermodynamik (1909), muß man als eigent-
liche Quelle des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik das Prinzip von der Unmöglich-
keit eines ..Perpetuum mobile zweiter Art" ansehen. Während das „Prinzip des Perpetuum
mobile erster Art" die Aussage enthält, daß auf keine Weise Arbeit aus Nichts geschaffen
werden kann, besagt jenes zweite Prinzip, daß es unmöglich ist, eine periodische Bewegung
hervorzubringen, bei der einzig und allein eine positive Arbeit geleistet und zugleich Ab-
kühlung eines Wärmereservoirs stattfindet.
24 A A. Voss: Die Beziehungen der Mathematik zur allgemeinen Kultur.
maschinen, die zwischen gegebenen Temperaturen arbeiten, hat die vollkommen
umkehrbare den größten Wirkungsgrad. Dabei wird nun ein rein mathe-
matischer Begriff, der des Integralwertes eines exakten Differentials (der schon
oben bei der Erwähnung der Kräftefunktion oder des Potentials hervortrat)
wichtig, dessen charakteristische Eigenschaft darin besteht, nur von den An-
fangs- und Endwerten der in das Differential eingehenden Variabelen abhängig
zu sein. So gelangt man zur Definition der Entropie, d. h. des Integrals
aus den einem Systeme zugeführten Wärmemengenelementen dividiert durch
die bei der Aufnahme derselben stattfindende absolute Temperatur, und
zu der Folgerung, daß die Entropieänderung bei einem umkehrbaren Prozesse
nur von dem Anfangs- und Endzustand abhängt, also beim umkehrbaren
Kreisprozeß gleich Null ist.
Nun sind freilich die Naturprozesse in Wirklichkeit irreversibel. Denkt
man sich aber zwei verschiedene Zustände eines thermischen Systems durch
einen eingeschalteten umkehrbaren Prozeß zu einem Kreisprozesse ergänzt,
so hat die Entropie jenes Prozesses, die man jetzt als ,, Entropie des Systems"
beim Übergang von dem ersten in den zweiten Zustand bezeichnet, immer
einen positiven Wert. So führt die mathematische Analyse zur Erkenntnis
der großen Wahrheit, die man auch als den zweiten Hauptsatz der Ther-
modynamik bezeichnet, daß bei allen Vorgängen im Innern eines begrenzten,
keinen äußeren Wirkungen unterliegenden Systems die Veränderungen nur
im Sinne beständig wachsender Entropie erfolgen; ein Satz, den manche
geneigt sind, auch noch für die Gesamtheit alles Geschehens im Weltall in
Anspruch zu nehmen.
Unter der Energie eines materiellen Systems in einem durch seine
Lage und Geschwindigkeit, seine Temperatur wie seine magnetischen, elek-
trischen und chemischen Eigenschaften quantitativ bestimmten Zustande ver-
steht man die Arbeit, welche dasselbe nach außen zu leisten vermag, wenn es
von diesem in einen gewissen Normalzustand übergeht. Das Vorhanden-
sein eines solchen von der Art und Weise des Überganges völlig
unabhängigen Energiewertes kann man entweder als eine durch zahl-
lose Prüfungen bestätigte Tatsache ansehen oder als einen Satz, der auf der
Unmöglichkeit des Perpetuum mobile beruht. Dies große Prinzip, das von
R.Mayer 1842 in mehr intuitiver Form, von H. Helmholtz unabhängig von
diesem 1847 — allerdings unter Berufung auf engere Begriffe der Mechanik ■ —
in quantitativer Weise ausgesprochen wurde, wird nun zum Leitfaden für die
Beurteilung aller Naturerscheinungen,
Chemie und Damit eröffnet sich auch die Möglichkeit einer mathematischen Che-
Mathematik.^.^ Ein crster Schritt dazu war es, als Lavoisier 1789 und Proust er-
kannten, daß bei allen Veränderungen der Stoffe das ,, Gewicht" derselben un-
verändert bleibt, daß chemische Verbindungen nach ganz bestimmten Gewichts-
verhältnissen ihrer Bestandteile erfolgen. So entsteht Daltons Gesetz der
multiplen Proportionen (1803) und die quantitative Bestimmung der
Zusammensetzung der Stoffe durch die Mischungsregel, deren Anfänge
Energieprinzip und mathematische Chemie. A 25
bereits in Richters Dissertation De usu matheseos in chymia 1789 auf-
treten. Eine geometrische Gesetzmäßigkeit ergibt sich aus dem Gay-
Lussa eschen Gesetze (1802) von den einfachen Volumverhältnissen, nach denen
die Elemente im gasförmigen Zustande zusammentreten. Daran schließt sich
wieder die Thermodynamik der Gase im Zusammenhang mit der kinetischen Gas-
theorie, die Zustandsgieichung von van der Waals. Und endlich erinnern wir
an die Reaktionsgeschwindigkeiten, an die allgemeinen Formeln vonW. Gibbs,
welche sich auf das Gleichgewicht und die Dynamik der Phasen eines
Systems beziehen, d. h. der verschiedenen Aggregatzustände und Verbin-
dungen, in denen die Elemente nebeneinander auftreten können. Aus allen
diesen, doch fast ausschließlich auf rein mathematischem Boden entstandenen
Theorien erwächst die tiefere, physikalisch-chemische Erkenntnis, deren sich
die Gegenwart rühmen darf. Die große Bedeutung der Untersuchungen von Gibbs
mag man namentlich an der von ihm gefundenen Phasenregel erkennen, nach
der n ,,von einander unabhängige" chemische Bestandteile, deren Massen beliebig
gegeben sind, höchstens m -t- 2 coexistierende Phasen bilden können, ein Satz,
der, aus rein theoretischen Betrachtungen entspringend, übrigens durch Bak-
huis-Roozeboom eine weitgehende experimentelle Bestätigung erfahren hat.
Der verfeinerten Beobachtung genügen nun auch nicht mehr die primi- Stereochemip
tiven Strukturformeln in der Ebene. Le Bei, dann Van 't Hoff in seiner
Chimie dans l'espace (1875) und andere werden die Schöpfer einer Stereo-
chemie, in der durch die erst im Raum möghchen symmetrischen und
asymmetrischen Bindungskräfte der Atome die besonderen Eigenschaften sonst
völlig gleicher organischer Verbindungen ihre Erklärung finden. Welche Umwäl-
zung damit verbunden ist, zeigt die großartige Ausbildung der Zucker- und
Farbenindustrie, sowie die neueren Arbeiten, welche durch zielbewußte Syn-
these die organischen Verbindungen aufzubauen streben, mit deren Gewinnung
die Lebensbedingungen der Menschheit verknüpft sind.
Damit aber betreten wir den Zusammenhang der Mathematik mit Mathematik und
unserem wirtschaftlichen und sozialen Leben. Da gedenken wir vor ^jssensaiaften.
allem der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Es war vielleicht zuerst nur
ein Spiel der Gedanken, als Galilei mit einem Freunde oder Pascal mit dem
Chevalier de Mere sich über die Chancen des Würfeins unterhielten und
nun die vage Idee des ,, Wahrscheinlichen" mathematisch definiert wurde.
Aber von dem Begriff der apriorischen Wahrscheinlichkeit, Anzahl Die Wahr-
der günstigen Fälle eines Ereignisses dividiert durch die aller gleichmöglichen, rechnung.
erhebt sich BernouUis Gesetz der großen Zahlen (1713) zu einer ganz
neuen Auffassung, die aus dem Ergebnis häufig wiederholter Versuche auf die
Wahrscheinlichkeit ihrer „Ursachen" Schlüsse ziehen läßt. Zwei Hauptfragen
treten hier hervor: Welches ist die Erwartung in bezug auf künftig auszufüh-
rende Versuche, und welches sind die Schlüsse, die man aus vorliegenden Ver-
suchsreihen auf die zugrunde liegenden Ursachen derselben ziehen kann?
Schließen sich zwei Ereignisse A und B, deren apriorische Wahrscheinlich- Gesetz der
keiten p und q sind, gegenseitig aus, so wird bei einer Anzahl von 5 Wieder- ^'° *°
26 A A-. Voss: Die Beziehungen der Mathematik zur allgemeinen Kultur.
holungsfällen des Ergebnisses A oder B, bei denen etwa A m-mal, B w-mal auf-
tritt, diejenige Kombination die größte Wahrscheinlichkeit besitzen, bei der
das Verhältnis der Zahlen m : n, wobei m ■\- n = s ist, dem von p : q am
nächsten kommt. Die Wahrscheinlichkeit dieser ausgezeichneten Kombination
wird zwar mit wachsendem s kleiner als jede noch so kleine Zahl. Aber lang
fortgesetzte mathematische Betrachtungen, namentlich von Stirling, de
Moivre und Laplace, haben gezeigt, daß mit einer ganz bestimmten Wahr-
scheinlichkeit W zu erwarten ist, daß — und — d. h. die relativen Häufigkeiten
von m und n, innerhalb der Grenzen — (pi^z) und — (q'^z) liegen, wo z sehr
i
nahe dem Werte f =1/-A? ist, und daß nun zugleich W = — i e^dt ist.
0
Man kann also bei gegebenem nicht zu großem z durch Wahl eines großen 5
es erreichen, daß t groß wird, daß also, da für / = cxd, W den Wert Eins hat,
mit einer an die Gewißheit herankommenden Wahrscheinlichkeit zu erwarten
ist, daß die relativen Häufigkeiten von m und n im Verhältnisse der nun als
Unbekannte zu betrachtenden WahrscheinHchkeiten p und q stehen.
Nun besteht allerdings zwischen der Gewißheit PF= l, d. h. der absolu-
ten Notwendigkeit und einer Wahrscheinlichkeit, die der Eins beliebig nahe
liegt, ein wesentlicher Unterschied. Denn die erste entspricht demwirklichen
Geschehen, die zweite der logisch-mathematischen Berechtigung,
dieses Geschehen zu erwarten. Wir haben uns hier nicht mit den Betrachtungen
zu beschäftigen, durch die man versuchte, den metaphysischen Zusammenhang
zwischen diesen beiden Gesichtspunkten entweder zu begründen oder als pro-
blematisch zu verwerfen. Eine Tatsache aber ist es, daß, wie vielfach seit
Buff on bis in die neueste Zeit fortgesetzte Versuche gezeigt haben, das wirk-
liche Geschehen sich im Einklang mit dem Gesetze der großen Zahlen befindet.
Statistik Und hieraus ergeben sich für die Beurteilung der Gesetzmäßigkeit einer
""ökoiTo^^re^ großen Anzahl sich wiederholender, als gleichartig angesehener Fälle diejenigen
mathematischen Urteile, welche der Statistik, der Nationalökonomie,
der Lebensversicherung zugrunde liegen, bei denen man Prinzipien for-
dern muß, die nicht auf den wechselnden Motiven einer unbestimmten Er-
wartung, sondern auf mathematischer Erfassung der erfahrungsmäßigen
Grundlagen (Bevölkerungs- und Sterblichkeitszahlen) beruhen. Ihrer unpartei-
ischen Entscheidung verdanken wir das Vertrauen, mit dem wir bei ihrer be-
ständigen Benutzung für die Beurteilung der Ereignisse des sozialen Lebens
erfüllt sind.
Methode Fast ebcnso groß ist aber die Bedeutung der Wahrscheinlichkeitsrechnung
Quadrat^e^" f ür dic Beurteilung wiederholter Messungen physikalischer Größen.
Denn auf diesem engeren Gebiete sind die Voraussetzungen der Wahrschein-
lichkeitsrechnung weit sicherer erfüllbar. Bei wiederholter Messung der Winkel
eines Dreiecks wird man ihre Summe im allgemeinen nicht gleich zwei Rechten
finden. Es handelt sich also darum, an den Beobachtungsresultaten Korrek-
tionen anzubringen, derart, daß der zu befürchtende Fehler für jeden einzelnen
Wahrscheinlichkeitsrechnung und ihre Anwendungen. A 27
Winkel ,, möglichst klein" wird. So entsteht die Lehre von den Beobach-
tungsfehlern, d. h. von der Wahrscheinlichkeit, daß ein gewisser Fehler
zwischen bestimmten Grenzen enthalten sei. Zugleich ergibt sich aber die
Möglichkeit einer Kritik an den Beobachtungen selbst, deren Ergeb-
nisse vermöge jener Fehlertheorie — falls sie zutrifft — Beziehungen zeigen
müssen und daher als unbrauchbar zu verwerfen sind, wenn die letzteren nicht
erfüllt sind. Und endlich handelt es sich um die Ermittelung der wahr-
scheinlichsten Werte der Korrektionen selbst. Wir müssen, um den
Rahmen dieser Darstellung nicht zu überschreiten, davon absehen, die groß-
artige Theorie von Gauß(i82l) zu schildern, die mit einem Minimum hypo-
thetischer Voraussetzungen die Ausgleichungsrechnung begründet. Diese aber
muß bei jedem System von Beobachtungen zur Anwendung kommen, mag es
sich nun um die wissenschaftlichen Ziele der Astronomie und Physik, oder die
praktischen Zwecke der Geodäsie, z. B. die Führung eines Tunnels durch ganze
Gebirge hindurch, handeln.
Verständlicher mögen andere der Wahrscheinlichkeitsrechnung nahe-
stehende Gedanken erscheinen. Nach D. Bernoullis Annahme (1730) ist der BemoaUis
,, moralische Wert des Gewinnes", welcher aus einem beliebig kleinen ^°^^p^^^^''
Zuwachse eines bereits vorhandenen Besitzes, eines ,, Gutes", entsteht, diesem
Zuwachs direkt, der Größe des Gutes umgekehrt proportional. Daraus ergibt
sich für den moralischen Wert y des Umstandes, daß das Gut von dem Anfangs-
werte a in den Endwert x übergegangen ist, d. h. als Bewertung des Gewinnes
X — a die Formel y = k log (— ).
Diese Erwägungen haben zu einer rationellen Güterlehre geführt, die
dem Gut nicht nur einen objektiven, sondern auch einen subjektiven Wert bei-
legt. Der Tauschverkehr erscheint hier nicht mehr als Äußerung eines den
Menschen innewohnenden ,, Tauschtriebes", der nur eine andere Verteilung der
Güter bewirkt, wie Adam Smith glaubte, sondern erhält seine wahre Bedeu-
tung ebensosehr durch das Hinzutreten dieser psychologischen Momente.
Allerdings haben die Versuche, die erwähnten mathematischen Begriffe un-
mittelbar auf wirtschaftliche Gesichtspunkte zu übertragen, auch manchen
Widerspruch erfahren
In eine merkwürdige Parallele dazu tritt die von G. Th. Fechner begrün-
dete Psychophysik.
Der von Fechner (1860) im Anschluß an E. H. Webers Untersuchungen Psychophysik.
gezogene Schluß, daß der Zuwachs der Empfindung nicht dem Unterschied der
sie hervorrufenden Reize, sondern deren Verhältnis proportional, daß also
auch hier Bernoullis Formel maßgebend ist, in der nun a den Schwellenwert des
Reizes, y die Intensität der dem Reize x entsprechenden Empfindung ist,
mag vielleicht — auch wenn man dieselbe mit Helmholtz abändert — nur
für den Gesichts-, Tast- und Gehörsinn mit genügender Annäherung zutreffen.
Man wird wohl G. E. M ü 1 1 e r beistimmen müssen, daß E. H. Webers Gesetz eigent-
lich nur aussagt, daß der Unterschied der Empfindungen eine zunächst ganz
unbekannte Funktion des Reizverhältnisses ist. Aber die von Fechner einge-
28 A A. Voss: Die Beziehungen der Mathematik zur allgemeinen Kultur.
leitete Bewegung ist doch von großer Wichtigkeit geworden; an sie knüpfen sich
die Untersuchungen der experimentellen Psychologie, deren Ausbau für
die exakte Deutung psychischer Vorgänge in den letzten Dezennien so leb-
hafte Förderung erfahren hat.
Mathematik und Indcssen scheint es doch auch Gebiete unserer naturwissenschaftlichen
''^^Nltur-''"^^ Kultur zu geben, in die das Element der Mathematik nicht eindringt. Bisher
Wissenschaften, ^j-af das ZU für alle Teile derselben, die z. B. der Systematik, der morpholo-
gischen Beschreibung, der Biologie angehören, obwohl man auch hier an die
Beziehungen der Phyllotaxis zu den Kettenbrüchen, an die statistisch m'athe-
matischen Untersuchungen Nägel is über die Bastardierung der Hieracium-
formen, an das Mendelsche Gesetz der Vererbung usw. erinnern könnte.
Aber schon die physique sociale L. Quetelets (1846, 1869), dann die
Kollektivmaßlehre von Fechner, überhaupt die Lehre von den Massen-
erscheinungen eröffnen eine viel weiter gehende Anwendung der klassischen
Wahrscheinlichkeitsrechnung. Neuerdings ist in England durch K. Pearson
(seit 1895) und F. Galton (an die sich eine sehr ausgedehnte Literatur ins-
besondere auch in Zeitschriften angeschlossen hat) damit begonnen, die bio-
logischen Fragen, welche seit Darwins Unters-uchungen über die Variabilität
und den Charakter der Arten, für die Vererbung bestimmter Eigenschaften
im Zusammenhang mit der Rassenhygiene so wichtig geworden sind, mathe-
matisch exakter Auffassung zugänglich zu machen. Grundlegend ist dabei
der Begriff der Korrelation, d.h. der funktionalen Abhängigkeit von Er-
scheinungen. Sind z. B. A und B zwei Organe derselben oder auch vonein-
ander verschiedenen Individuen, bei denen eine numerisch ausdrückbare
Eigenschaft um bestimmte Mittelwerte schwankt, so ermittelt man die Größe y
der mittleren Abweichung vom ,, Mittelwert des Organs £", welche zu einer
gegebenen Größe x der Abweichung von dem Mittelwert des Organs A
gehört. Die Zuordnung von y zw x liefert dann eine empirische Kurve , welche
wie umfassende Beobachtungen zeigen — in vielen Fällen einer Geraden
sehr nahe kommt. Da die beiden Zahlen x und y an sich nicht in reziproker
Beziehung stehen, so ergibt sich als Ausdruck für die funktionale Abhängigkeit
von A und B ein System von zwei, im allgemeinen verschiedenen Geraden,
deren Neigung gegen die Achse des Koordinatensystems das Maß der Korre-
lation oder Regression bezeichnet. Hieraus lassen sich Schlüsse ziehen, welche
ein Licht auf die oben bezeichneten, bisher noch so dunklen Verhältnisse zu
werfen versprechen. Doch müssen wir uns damit begnügen, diese Unter-
suchungen erwähnt zu haben, die mit so wichtigen Fragen des organischen
Lebens in Verbindung stehen.
Der Mikroskopiker bedarf genauer Kenntnis der Leistungsfähigkeit
seines Instruments. Für ihn reicht die bloße Anschauung räumlicher Verhält-
nisse, die jeder zu besitzen glaubt, nicht aus, um aus dem mikroskopischen
Bilde das Verhalten des Objekts zu erkennen. Denn jenes Bild zeigt zunächst
nur ein System paralleler Querschnitte. Und da lehrt gerade die darstellende
Geometrie aus solchen Querschnitten oder Projektionen die adäquate Vor-
Morphologie, Biologie, Physiologie, Medizin und Mathematik. A 20
Stellung des Gegenstandes selbst zu gewinnen. So befähigt sie nicht allein den
zeichnenden Künstler — oder sollte es wenigstens tun — seine Komposition
den räumlichen Verhältnissen entsprechend zu gestalten, sie ist auch für den
Botaniker und Zoologen ein wichtiges Mittel, das ihn vor fehlerhaften Deu-
tungen schützt; auf die verwickeiteren Phänomene, welche Brechung und Beu-
gung des Lichts im mikroskopischen Bilde hervorrufen, kann hier nur hinge-
deutet werden. Sollen wir noch darauf hinweisen, daß unsere heutige auf der
Kristallphysik beruhende Mineralogie schon ausgedehnte Kenntnisse in der
mathematischen Optik und Elastizitätstheorie verlangt, und daß dem Geo-
logen durch die Methoden der Photogrammetrie sich täglich ein wich-
tigeres Hilfsmittel erschließt?
Am meisten scheint noch die Wissenschaft der Medizin des mathema- Mathematik und
tischen Elements zu entbehren. Und doch finden sich hier ebenfalls die viel- Medixw.
seitigsten Berührungspunkte. Schon seit langer Zeit geben die Physiologen ihrer
Überzeugung Ausdruck, daß ein dem jetzigen Standpunkt angemessenes Ver-
ständnis ihrer Wissenschaft nur auf gründlichen mathematischen Kenntnissen
beruhen könne. Der optische Apparat des Auges, der akustische des Ohrs, dessen
Darlegung Helmholtz in seiner physiologischen Optik (1856) und der
Lehre von den Tonempfindungen (1862) einen großen Teil seiner Lebens-
arbeit gewidmet hat, verlangt nicht nur elementare Kenntnisse, sondern vor
allem ein richtiges Verständnis der Wellenbewegung, für das die Wasser-
wellen ein zwar sehr beliebtes, aber ebenso leicht mißzuverstehendes Bild lie-
fern. Auch die Bewegung des Blutes in den Gefäßen ist ein Problem der Fort-
pflanzung von Wellen in einem System elastischer Röhren. Und selbst wenn
man hier, wie in der Hydrodynamik bis vor den letzten Jahren mehr auf die
experimentelle Kenntnis allgemeiner Regeln angewiesen ist, so ist es doch er-
forderlich, die Begriffe des Elastizitätsmoduls, des Druckes, der Geschwindig-
keit, des stationären Zustandes zu kennen, die in ihnen auftreten.
Für jeden, der, wie z. B. auch der Arzt, allgemeine Beziehungen in ein
geometrisches Schema einzuordnen hat, sind Kenntnisse in der analytischen Geo-
metrie und Analysis unerläßlich. Daß das Gefälle der Kurve oder ihr Diffe-
rentialquotient die Intensität ihres Wachstums mißt und für ein Extremum
in Null übergeht, daß auf ein Maximum ein Minimum folgt, wenn nicht ein
singuläres Verhalten der Kurve vorliegt, der Begriff der asymptotischen Nähe-
rung, die einfachsten Regeln der Interpolation und die Umstände, unter denen
sie anwendbar sind, das alles sind Dinge, die ohne scharfe mathematische
Begriffe sich nicht über eine vage Anschauung erheben.
Wir haben bisher die Mathematik nur in ihren Beziehungen zur wissen-
schaftlichen und praktischen Naturerkenntnis behandelt. Aber von jeher hat
die Menschheit danach gerungen, alles, was überhaupt in den Bereich ihres Mathematik und
Geistes fällt, durch den Prozeß des begrifflichen Denkens zu durchdringen. Da- ' °*°^ '"'
mit wenden wir uns der Betrachtung der großen Aufgabe zu, welche die
Philosophie sich gestellt hat.
30 A A.. Voss: Die Beziehungen der Mathematik zur allgemeinen Kultur.
Mag man nun in den Versuchen dieselbe zu lösen, das höchste Ziel und die
vollkommenste Entwicklungsstufe der menschlichen Geistestätigkeit erblicken,
oder mag man die Geschichte der Philosophie nur als eine Kette von hoffnungs-
losen Abwegen unserer Vernunft ansehen, eine Erkenntnis zu erlangen, die
überhaupt jenseits alles allgemeingültigen Wissens hegt und nur als Form
poetischer Intuition Bedeutung beanspruchen kann, niemand wird bestreiten
wollen, daß in den, einem unauslöschlichen Triebe unseres Geistes entsprin-
genden, philosophischen Bestrebungen von jeher sich der Zustand der geistigen
Entwicklung am lebhaftesten ausprägte, und daß auch heute noch unsere
intellektuelle Kultur in hohem Maße von den philosophischen Gedanken der
Alten und von der Geistesarbeit der großen Denker der neueren Zeit abhängt.
Allerdings liegen die philosophischen Betrachtungen der Gegenwart viel-
fach nach einer andern Richtung als in der des mathematischen Denkens,
und bei der ungeheuren Ausdehnung, welche die von einem ihr eigentümlichen
Geiste ausgehende mathematische Anschauungsweise sich im 19. Jahrhundert
geschaffen hat, wird auf beiden Seiten in einer ganz verschiedenen Sprache ge-
redet, welche nicht selten zu gegenseitigen Mißverständnissen führt. ,,Die
philosophischen Ergebnisse", sagt Kant 1764, ,,sind wie die Meteore, deren
Glanz nichts für ihre Dauer verspricht; sie verschwinden, aber die Mathematik
bleibt." Aber das ist die große und vielleicht immer noch nicht in ihrem
ganzen Umfange gewürdigte Bedeutung, welche die Mathematik in
den reinen Geisteswissenschaften einnimmt, daß sie in so inniger
Berührung mit dem steht, was durch Jahrhunderte hindurch das Denken der
größten Geister erfüllt hat.
Historische Dar- Hicr wollcn wir nun in großen Zügen rein historisch, ohne auf irgendeine
^liebTnget^zwi^ KHtik einzugehen, darlegen, wie bei all diesen Bestrebungen die eigentümliche
sehen Mathema- Forschungsweise der Mathematik und ihre beständig doch vor allem Zweifel
tik und Philo- *= • • r , a
sopbie. gesicherten Sätze es waren, in der die Philosophie immer aufs neue den Aus-
gangspunkt erblickte, um selbst sichere Erkenntnis zu gewinnen.
Im hellenischen Geiste, so scheint es, ist zuerst die Ahnung entstanden,
daß eine über die empirischen Tatsachen hinausgehende Erkenntnis möglich
sei. Und soweit diese lehrbar ist, sind ihre Gegenstände die laaGrunaxa, also vor-
zugsweise die Objekte des mathematischen, speziell geometrischen Denkens;
erst unter den Peripatetikern löst sich der Begriff der Mathematik von den
übrigen Inhalten des Wissens ab und erhält damit die besondere Stellung, die
Die Pythagoreer. ihm Seitdem geblieben ist. Am deutlichsten tritt das wohl bei der pythago-
reischen Schule hervor, deren Meister Pythagoras durch den geheimnis-
vollen Zauber, der seine Reisen nach Ägypten, vielleicht auch nach Babylon,
und die von dort mitgebrachten Lehren umgab, seinen Schülern wie ein höheres,
nur schweigend zu verehrendes Wesen erschien. Die ionischen Naturphilo-
sophen suchten nach einem Element, einer Substanz, die als unvergängliches
Sein in dem Wechsel der Erscheinungen geeignet sei, ein Ordnungsprinzip des
Wissens zu bilden. Die Pythagoreer glaubten zu bemerken, daß alles in der
Kategorie der Zahlordnung aufgefaßt werden könne. Und so kamen sie
Mathematik vind Philosophie bei den Pythagoreern, Plato und Aristoteles. A 31
ZU der Ansicht, daß diese das Unwandelbare im Flusse der Erscheinungen seien.
Gewiß fand diese Idee in der Beobachtung der Tonverhältnisse, der periodisch
wiederkehrenden Himmelserscheinungen, ihre Grundlage. Um so mehr mußte
es daher befremden, als man in der pythagoreischen Schule die große Ent-
deckung machte, daß nicht alle Beziehungen durch die Verhältnisse ganzer
Zahlen erschöpfbar seien. Und es erscheint die Legende wohl glaublich, daß
diese Wahrheit, welche den Bestand der pythagoreischen Erkenntnis aufzu-
heben drohte, eine esoterische Geheimlehre war, von deren Enträtselung wir
keine sichere Kunde haben, und deren unüberlegte Verbreitung strafwürdig
erschien.
So entstehen nun hier die Probleme der Kontinuität, der Veränderung, der
Bewegung, des Irrationalen, die Kategorien der Grenze und des Unendlichen,
neben den ersten zahlentheoretischen, zum Teil auch recht schwierigen Fragen,
die, wie z, B. das Problem der vollkommenen Zahlen, auch heute noch nicht
völlig gelöst sind. Aber die philosophische Spekulation war noch nicht so weit
erstarkt, daß man die scheinbaren Widersprüche, in die man den Zahlbegriff
dem Kontinuum gegenüber verwickelt sah, hätte auflösen können. So ergeben
sich die bekannten Antinomien der Eleaten, in denen auch die neueste Antinomien der
Zeit noch immer einen des Nachdenkens würdigen Gegenstand findet. Einer
der Zenonischen Einwürfe gegen die Möglichkeit einer Erkenntnis überhaupt
betrifft die in der Bewegung liegenden Widersprüche: Achilles muß in einer
endlichen Zeit die unendlich vielen Punkte durchlaufen, welche die vor ihm
kriechende Schildkröte passiert; erst Aristoteles sucht dieses Sophisma
durch die Bemerkung zu beseitigen, daß die Linie als Kontinuum etwas anderes
sei als die Gesamtheit ihrer Punkte, da sonst z. B. alle Strecken, weil gleichviel
Punkte enthaltend, auch gleiche Ausdehnung haben müßten. In der Tat
kann man ja die Punkte von zwei beliebigen Strecken AB und ab, deren
Lage so angenommen wird, daß die Geraden Aa und Bb sich in einem
Punkte 0 schneiden, durch ,, Projektion des AB auf ab von 0 aus", in
eine eindeutig umkehrbare Beziehung versetzen.
Durch die pythagoreische Mathematik ist nun auch Plato, der Schüler piaw.
des Begriffsphilosophen Sokrates, der in der Abstraktion des mathematischen
Denkens die notwendige Vorstufe zu den eigentlichen Problemen der Weltweis-
heit erblickte, zu seinen tiefsten Gedanken angeregt. Nach ihm liegt dem
mathematischen Wissen die Berufung auf ursprüngliche, außerhalb aller Er-
fahrung liegende, wenngleich durch sie — gleichsam durch einen Prozeß der
Wiedererinnerung — geweckte Ideen, wie z. B. die der Gleichheit, des Größer-
und Kieinerseins zugrunde. ,,Hat jemand den Begriff der Gleichheit je gesehen,
da er die gleichen Steine sah.? Ehe wir also anhüben, zu sehen und zu hören
und die Außenwelt wahrzunehmen", heißt es im Theätet, „mußten wir in uns,
irgend woher genommen, die Erkenntnis des Gleichen angetroffen haben, das,
worauf wir die aus den Wahrnehmungen stammenden Gleichheiten beziehen."
Was nun Plato seine unvergängliche Bedeutung in der Geschichte der
Philosophie beilegt, das ist die Art und Weise, wie er das sokratische Verfahren
32 A A. Voss: Die Beziehungen der Mathematik zur allgemeinen Kultur.
des begrifflichen Wissens auf eine ganz neue Basis stellte, die des apriori-
schen Elements in der Vernunfttätigkeit. Er war es, der durch die
Kardinalfrage, ti ecTi emcTriiLiTi, worin besteht Wissen, die Philosophie
schuf, indem er zeigte, wie man von der )dd0iici(; ausgehend, die Frage nach der
Natur der Erkenntnis in ihrem eigentlichen Wesen erfassen könne, und mit
ihm beginnt die zentrale Stellung der Mathematik in der Er-
kenntnistheorie,
Alles Wissen verdankt seinen Bestand nur der Verknüpfung solcher
Ideen, die in uns selbst entstehen und nicht etwa wie das Rohmaterial der
sinnlichen Empfindungen einzelne vorübergehende Momente in unserem
Geiste, sondern das Bleibende im Charakter unserer Erkenntnis ausmachen.
Durch diese Wendung hat Plato den sophistischen Satz des Protagoras,
der Mensch sei das Maß aller Dinge, der alles in eine subjektive Wertschätzung
aufzulösen drohte, mit dem tiefen Gehalt erfüllt, der fortan immer das Problem
des Nachdenkens geblieben ist, dem eine Auflösung dessen, was wir Wissen
nennen, in bloße Empfindungsinhalte völlig unmöglich scheint, weil jedes all-
gemeine Urteil schon Elemente enthält, die über die bloß phänomenologischen
Tatsachen hinausgehen. Doch wir haben uns mit diesen Streitfragen', die in
der gegenwärtigen Erkenntnistheorie heftiger als je entbrannt sind, hier nicht
zu beschäftigen.
Aristoteles. Auch bcl Aristotclcsist die Mathematik eine Quelle allgemeiner und not-
wendiger Wahrheiten: Ihre Konstruktionen sind nicht durch die Sinne gegeben;
,,der Geometer beweist wohl am einzelnen Dreieck, aber nicht durch dasselbe,
denn sein Dreieck ist das durch die Vernunft erfaßte". Aber im Gegensatze zu
Plato sieht Aristoteles, dem dessen Ideenlehre als ein Gegenstand des Spottes
erschien, den Zusammenhang, der zwischen dem Begriff und seiner zufälligen
Erscheinung in der sinnlichen Anschauung bestehen muß, in dem logischen
Verhältnis eines metaphysischen Seins, tö ti iiv eivai ,,des Seins, das war",
und seiner Verwirklichung im ,, Stoff": die Musterbegriffe der Ideen sind nicht
außerhalb der Dinge vorhanden, sondern die immanenten, diese hervorbringen-
den Formen derselben.
Die Systematik des Aristoteles, welcher den ganzen Inhalt der Erkenntnis
auf gewisse oberste Aussagen des Verstandes, die Kategorien, mittels der for-
malen Logik zurückführte, trug sowohl vermöge ihrer für alle Zeiten fest-
stehenden Darlegung der Formen, in denen sich das menschliche Denken be-
wegt, als auch vermöge ihrer unmittelbaren Beziehung auf die Wirklichkeit,
den Sieg über die platonische Denkweise davon. Und während sich die letzteren
schließlich in die mystische Kontemplation eines Okkultismus verlor, beherrsch-
te der unbedingte Autoritätsglaube an die Aussprüche des ,, Philosophen" vom
Mittelalter an und noch weit darüber hinaus das ganze Denken, das sich allerdings
immer mehr von dem lebendigen Erfassen des wirklichen Geschehens loslöste.
Noch im Jahre 1624 wird von der Sorbonne in Paris jeder Angriff auf die Au-
torität des Aristoteles, weil die Autorität der Kirche sowohl als auch alle
sittliche Ordnung bestreitend, als ein todeswürdiges Verbrechen bezeichnet.
Mathematik und Philosophie bis zur Zeit Galileis. A 33
Den Alten war freilich die Beobachtung der Natur nicht fremd. Was wir Naturbeobach-
gewohnt sind, auf bloße Autorität hin in der Schule als Tatsachen der Astro-'""^'"'^'*''''"'"-
nomie und Geographie uns anzueignen, das haben sie mit wunderbarem Scharf-
sinn und einer gewaltigen Beobachtungsgabe aus den kosmischen Erscheinungen
abzuleiten verstanden. Dies zeigen nicht nur die Leistungen der Ägypter
und Babylonier, sondern auch die der hellenistischen Zeit. Der große Astronom
Hipparch entdeckt die Präzession der Tag- und Nachtgleichen, Eratosthe-
nes führt die erste Gradmessung aus, und Claudius Ptolemäus entwirft
den ersten Fixsternkatalog. Aber allmählich verkümmerte dieser lebensvolle
Trieb immer mehr, und an seine Stelle traten die Irrgänge der von jeder
Prüfung durch die Wirklichkeit sich entfernenden Scholastik.
Doch in zwei großen Gebieten der Erkenntnis, der Logik und der Mathe-
matik, konnte die Überzeugung, daß es sichere Wahrheiten gebe, sich niemals
völlig verlieren. Schon Augustinus sehen wir in etwas anderer Wendung
den platonischen Ausspruch ,,|UTibeic dTe(JU)LieTpr|Toc eiciTUj" wiederholen: ,,Nemo
ad divinarum humanarumque rerum cognitionem accedat, nisi prius artem
numerandi bene addiscat", und diese Bedeutung der Mathematik konnte auch
die Scholastik nicht ganz verkennen. Besonders tritt das bei Nicolaus Die Naturphiio-
Cusanus (1401 — 1464) hervor, dessen Spekulation eine mathematische Färbung ^°e„Sch^oiastik!
annimmt. ,, Nihil certi habemus nisi nostram mathematicam." Soll das
Wissen sich über eine bloße Vermutung erheben, so muß der Verstand in
sich selbst die Gewißheit finden, gleich wie aus der begrifflichen Vorstellung
des Kreises, aus seiner Definition alle seine Eigenschaften folgen. ,,Et secun-
dum hanc vim assimilationis formis abstractis exerit scientias certas mathe-
maticas et comperit virtutem suam esse rebus, prout in necessitate com-
plexionis sunt, assimilandi et notiones faciendi." Damit aber wird ihm die
Mathematik zum Muster der Erkenntnis überhaupt, die aus den im Intellekt
selbst geschaffenen Ideen fließt, nicht aus einer jenseits seiner Sphäre vor-
handen gedachten Wahrheit.
Ähnliche Gedanken treffen wir auch bei anderen Philosophen, z. B. bei
Th. Campanella (1568— 1639). Sind auch die Begriffe der Geometrie empi-
risch nie absolut verwirklicht, so scheinen sie ihm doch auf eine Realität sich
stützen zu müssen. Diese erblickt er nun im absoluten Räume, dessen meta-
physische Eigenschaften (Unendlichkeit, Teilbarkeit, Homogenität) so in Zu-
sammenhang mit der Frage nach der objektiven Gültigkeit der mathematischen
Ideen treten. Damit ist die Entwickelung des Raumbegriffes in der Natur-
wissenschaft bezeichnet, welche alsbald unter Descartes, dann unter Newton
und Euler die bis in die neuere Zeit festgehaltene Form annimmt.
So sehen wir langsam eine neue Zeit hereinbrechen. Die Vertiefung in die
wieder zugänglicher gewordenen Schriften des Altertums, vor allem aber das
wiedererwachende Interesse für die Naturbeobachtung führen zur Überzeugung
von der Wahrheit des kausalen Naturgeschehens, d. h. zum Funktions-Die Renaissance
begriff der Mathematik, der allerdings zunächst nur fast instinktiv auf- s^phie unter Gau-
tritt und sich erst später zu völlig bestimmter Auffassung ausbildet. ^^Wer^"""'^'^«^'^^'''"-
K. d. G. in. I Mathematik, A, 3
34 A A. Voss: Die Beziehungen der Mathematik zur allgemeinen Kultur.
die Gewißheit der Mathematik schmäht", ruft Leonardo da Vinci aus, ,,wird
den sophistischen Lehren, die nur auf Wortstreit hmauslaufen, nie Schweigen ge-
bieten können." Und noch schärfer kämpft Galilei gegen den scholastischen
Aristotelismus, der durch bloße Syllogismen über die Wahrheit des Naturge-
schehens urteilen will. ,, Wie würdest du, schreibt er an Kepler, lachen, wenn du
hörtest, wie der angesehenste Philosoph unserer Hochschule sich abmühte, die
neuen Planeten durch logische Argumente vom Himmel weg zu disputieren."
Und in dieser Renaissance des Denkens nimmt Descartes trotz seiner
aus, wie es scheint, völligen Verkennung der Galileischen Prinzipien der Natur-
philosophie entspringenden mannigfachen Irrtümer die zentrale Stellung ein,
die ihm als Begründer der neuen philosophischen Grundanschauung gebührt,
die auf der Basis der mechanischen Naturerklärung ruht.
Wissenschaft ist nur da vorhanden, wo der Gegenstand derselben vermöge
einer einheitlichen Methode erfaßt wird, die als ein oberstes Prinzip allen ein-
zelnen Erfahrungen vorangeht. ,,Wenn den antiken Denkern die Geometrie die
Eingangspforte in die Philosophie zu eröffnen schien", sagt er, ,,so müssen sie in
ihr eine Einheit und Gesetzlichkeit geahnt haben, die als Vorbild jedes wissen-
schaftlichen Verfahrens dienen kann." Und diese Überzeugung führt ihn zu
dem Gedanken einer Universalmathematik, die es möglich macht, die-
selben Forschungsprinzipien, wie in der Geometrie, auf den allgemeinen Inhalt
aller Erfahrung anzuwenden. ,,Die Mathematik gefiel mir am besten durch die
Sicherheit und Evidenz ihrer Gründe, aber ich wunderte mich, auf so feste
Grundsätze kein größeres Gebäude aufgeführt zu sehen. Im Gegensatz dazu
verglich ich die moralischen Schriften der Alten mit stolzen, aber auf den Sand
gebauten Schlössern. In der Philosophie glaubte ich es nicht besser treffen zu
können als alle die ausgezeichneten Geister, die seit vielen Jahrhunderten doch
nichts in ihr ermittelt haben, worüber nicht gestritten wurde." Und aus dieser
Überlegung ergeben sich ihm die Regulae philosophandi, die wir hier nicht auf-
zählen. Danach hat nur dasjenige Anspruch auf Wahrheit, was so klar und
deutlich erkannt wird wie das Erlebnis des ,,cogito, ergo sum" und die auf un-
mittelbarer Gewißheit beruhenden mathematischen Axiome.
,,Arithmetica et geometria caeteris disciplinis longe certiores existunt,
quia scilicet hae solae circa objectum ita darum et simplex versantur, ut nihil
plane supponant, quod experienti areddiderit incertum." Und nun verbinden
sich bei ihm Arithmetik und Geometrie vermöge des allgemeinen Größen-
begriffes zu der Kategorie der veränderlichen Zahl. Substanz und Veränderung
oder Ausdehnung und Bewegung sind die beiden fundamentalen Begriffe, auf
denen die Philosophie des Cartesius die mechanische Weltanschauung begrün-
det: ,,Omnia apud me mathematice fiunt." Und dem scharfsinnigen Philo-
sophen Gassen di, der ihm entgegenhält, daß die mathematischen Begriffe, als
bloße Gebilde des Geistes, keine Realität besäßen, erwidert er mit überlegener
Wendung: ,,Si illa quae concipi possunt, ea solum de causa, quia possunt con-
cipi, pro falsis sunt habenda, quid aliud restat, nisi id solum, quod non intelli-
gimus, pro vero amplectamur?"
Galilei, Descartes, Newton, Spinoza, Hobbes. A 35
Wie nun bei Newton diese Auffassung zu einem felsenfesten Gebäude
wird, das bisher allen Stürmen siegreich widerstanden hat, ist bereits oben ge-
zeigt w^orden; bei ihm reifen die mathematischen Gedanken des Descartes, so-
weit sie sich auf mechanische Naturerklärung beziehen, zur großartigsten Voll-
endung. Aber von dieser Epoche an und darüber hinaus beschäftigt die führen-
den Denker immer die Frage nach der Erkenntnis als solcher und dem Ver-
hältnis der mathematischen Gewißheit zu derselben. Dabei handelt es sich —
zunächst wenigstens — nicht um das, was wir etwa gegenwärtig unter der Be-
gründung der mathematischen Erkenntnis in den Gebieten der Arithmetik
und Geometrie verstehen, deren Darlegung einer folgenden Betrachtung vor-
behalten bleibt, sondern um die Frage, wie die als unzweifelhaft angesehene
Sicherheit der Mathematik auch auf anderen Gebieten des Denkens erreicht
werden könne.
Spinoza, dessen Geburtsjahr fünf Jahre vor das Erscheinen der analy- spinoza und die
tischen Geometrie des Cartesius fällt, geht ganz von den Gesichtspunkten ^Si°r^eiiunK"
der mathematischen Demonstration aus. Ihm ist die Methode der '°'^''«^«°"'«'^''-
Geometrie, weil sie sich auf Begriffe gründet, die durch die Kraft des Denkens
selbst erst ihre Wirklichkeit gewonnen haben, das Vorbild der Erkenntnis über-
haupt. In seiner Schrift de intellectus emendatione sagt er: ,,Id quod formam
verae cogitationis constituit, in ipsa cogitatione est quaerendum. Ad forman-
dum conceptum globi fingo ad libitum causam, nempe semicirculum circa
centrum rotari. Haec sane idea vera est, et quamvis sciamus, nullum
in natura globum sie unquam ortum fuisse, est tamen haec vera
perceptio et facilHmus modus formandi globi conceptum." Und so verstehen
wir es, wie in Überschätzung der formalen Methode des Euklides — die noch
in der Mitte des 1 8. Jahrhunderts in der Preisfrage der Berliner Akademie der
Wissenschaften ihren Ausdruck in der Frage findet: Ob es möglich sei, den
Sätzen der natürlichen Theologie und Moral die Evidenz der Mathematik zu
verleihen — mit ihrer stereotypen Wendung q. e. d., in ihm der ungeheuer-
liche Plan entstehen konnte, alles aus einem obersten Prinzip, nämlich dem
einer unendlichen Substanz, in seiner so oft als ein Beispiel unwiderleglicher
logischer Schärfe angesehenen Ethik ,,more geometrico" herzuleiten.
In weit weniger willkürlicher Form treten diese Gedanken bei seinem
Zeitgenossen Hobbes (1588 — ■1679) auf. Auch er geht davon aus, daß es kein Th. Hobtes.
anderes Mittel gibt, einen Inhalt zu verstehen, als ihn aus seinen erzeugenden
Bedingun genin uns entstehen zu lassen. Die bloßen Definitionen sind dazu
freilich nicht hinreichend. Erst indem wir die Begriffe konstruieren, werden
wir uns ihrer Verträglichkeit mit den Gesetzen unserer räumlichen Anschauung
bewußt, und allein deshalb gibt es eine beweisbare Wissenschaft der Geometrie.
Aber diese Auffassung wird nun bei Hobbes zum strengen Nominalismus.
Die Wahrheit besteht nach ihm in der richtigen Zusammensetzung der
,, Zeichen", d. h. dieser Elemente der genetischen Konstrukion. Allerdings
entspricht nicht jeder möglichen Wortverbindung auch eine mit der räumlichen
Anschauung vereinbare Idee, sondern nur durch die Schöpfung der Zahl-
st
36 A A. Voss: Die Beziehungen der Mathematik zur allgemeinen Kultur.
zeichen wird es möglich, die Erscheinungswelt einer begrifflichen Auffassung
entsprechen zu lassen; ,,Haec omnia a numeratione proficiscuntur, a ser-
mone autem numeratio", und es klingt ganz im Sinne der heutigen logistischen
Axiomatik, welche sich schließlich von jeder Beziehung auf eine Wirklich-
keit im Sinne B. Russells loslöst, wenn er sagt: ,,Earum tantum rerum
scientia per demonstrationem illam a priori hominibus concessa est, quarum
generatio dependet ab ipsorum arbitrio."
J.Locke. Bei J. Locke (1632 — 1704) tritt das mathematische Element, welches
bei Descartes, Spinoza und Hobbes eine so grundlegende Rolle spielt, zurück
hinter der allgemeinen Frage, worauf denn der Erwerb der ,, evidenten Be-
griffe", welche Descartes als ,, angeborene Ideen" ansah, begründet sei. Diese
Ansicht des Sensualismus, welche Sensation und Refiektion als Quelle
der Erkenntnis betrachtet, ist ja auch heute noch in den erkenntnistheore-
tischen Schriften von Helmholtz, in der psychologischen Kon-
struktion der Raumanschauung, wie sie z. B. Poincar^ vertritt, ent-
halten; wir können darauf ebensowenig eingehen, wie auf die Lehren
Berkeleys, dessen Bestreitung der infinitesimalen Methoden auch jetzt noch
für den Mathematiker Interesse hat.
G.w.Leibniz. In Lcibniz' (1646 — 1716) universellem Geiste konzentriert sich nun
noch einmal die Gedankenarbeit eines ganzen Jahrhunderts, allerdings um
schließlich mit der seltsamen Idee einer prästabilierten Harmonie zu enden.
Auch für Descartes beruhte der letzte Grund für die Wahrheit der Erkenntnis
in der Vollkommenheit Gottes, der uns nicht kann täuschen wollen. Wenn
■ wir aber von diesen Philosophemen absehen, ist Leibniz eigentlich immer
Mathematiker, der in den Begriffen der Mathematik die großen
Analogien entdeckt, welche ihm das Mittel zu einer Uni-
versalmathematik liefern. Die Idee der Variationsrechnung, welche
in ihren ersten Anfängen durch das Problem der Brachistochrone Ber-
noullis entstanden war, wird bei ihm in der Theodicee zu dem Minimum-
problem, aus allen möglichen Welten die mit der kleinsten Summe des Übels
behaftete zu schaffen ; aus seiner Methode, von den Eigenschaften -der Ellipse
oder Hyperbel die der Parabel abzuleiten, abstrahiert er das Kontinuitäts-
prinzip, welches vermöge der Kategorie der Grenzbegriffe als leitender Grund-
gedanke bei ihm auftritt. Es mag als eine triviale Weisheit erscheinen, wenn
Leibniz betont, daß Ruhe nichts anderes als ein stetig aus der Bewegung her-
vorgehender Zustand sei. Aber gerade der Mathematiker weiß, wie bedeutungs-
voll diese Ansicht z. B. für die Statik ist, wenn sie begrifflich aus der Dynamik
abgeleitet werden soll,
i.eibniz Und damit wird Leibniz zum Begründer einer mathematischen Erkennt-
"^ Mathematiker, nisthcorie. Dcscartcs hatte die Geometrie auf die Arithmetik zurückgeführt,
aber diese erschien doch erst wieder gerechtfertigt durch die logische Strenge
des Euklidischen Systems, welches umgekehrt die arithmetischen Prozesse
aus den geometrischen Wahrheiten herleitet. Für Leibniz ist das Fundament
der Mathematik der logische Satz des Widerspruches; dieser muß zur Begrün-
Locke, Leibniz, Wolf, Kant. A 37
düng derselben hinreichen. Auf ihm müssen daher die Axiome selbst beruhen.
So finden wir denn auch bei Leibniz den ersten Versuch, die Regeln des Rech-
nens zu beweisen, an den später H. Graßmann und Helmholtz sich an-
geschlossen haben, und in seiner Auffassung der Geraden als einer nach dem
allgemeinen Prinzip der Ordnung wiederholten Sukzession ließen sich leicht die
engsten Beziehungen zu G. Veroneses Grundlagen der Geometrie erkennen.
Aber dies gehört in eine eigentliche Erkenntnistheorie der Mathematik
selbst, auf die hier nur hingedeutet werden sollte, um den Zusammenhang
der geschichtlichen Entwicklung zu wahren, die nunmehr über die Leibniz -
Wolf sehe Philosophie, welche die tiefen Gedanken von Leibniz zu einer
willkürlichen, nur scheinbar noch mathematischen Axiomatik verflachte, zu
der einzigartigen Persönlichkeit Immanuel Kants (1724 — 1804) führt.
Kant hat durch seinen Königsberger Lehrer M. Knutzen die Elemente der i. Kant
Mathematik, wohl vorzugsweise die der Geometrie, kennen gelernt. Von der
Infinitesimalrechnung, um deren populäre Verbreitung sich der so viel ge-
schmähte Wolf, der selbst Professor der Mathematik und Philosophie war,
große Verdienste erworben hat, hat er wohl nur geringe Kenntnis erhalten*),
und aus seinen arithmetischen Äußerungen erkennt man, daß ihm auch die
Leibnizsche Axiomatik der Mathematik unbekannt geblieben ist. Dagegen
hat er mit echt philosophischem Geiste Newtons Principia philosophiae natu-
ralis erfaßt und zu einem förmlichen System in seinen ,, metaphysischen An-
fangsgründen der Naturwissenschaft" ausgebildet. Noch heute sprechen wir
von der Kant-Laplaceschen Hypothese der Planeten-Entstehung, ein Zeichen,
wie tief Kant auch in seiner ,, allgemeinen Naturgeschichte des Himmels"
in diese Ideen eingedrungen war.
Aber das erste, was, wie er selbst sagt, seinen dogmatischen Schlummer
unterbrach, waren D. Humes Untersuchungen über das Kausalitäts-
prinzip (1748). Der Gewißheit, daß jedem Geschehen als Ursache ein Voraus-
gegangenes zugrunde liegen muß, kommt nach Kant absolute Notwendig-
keit und Allgemeinheit zu, die niemals aus der Erfahrung geschöpft werden
kann. Denn diese lehrt nur, daß etwas so oder so beschaffen sei, nicht aber,
daß es ohne Ausnahme schlechterdings so sein müsse. Und nun legt er sich
die Frage Piatons vor, worauf denn eigentlich Wissen gegründet sei. Mit Ari-
stoteles erkennt er in der Verknüpfung der Urteile das Fundament desselben.
Aber die Urteile scheidet er in zwei Klassen, analytische und synthetische.
Ein analytisches Urteil fügt dem Subjekt nur gleichsam erinnernd ein Prä-
dikat hinzu, das schon in ihm liegt; es erweitert das Wissen nicht. Das
*) Dies ist nicht so zu verstehen, als ob Kant die geometrischen Methoden des
UnendHchkleinen, welche von Kepler, Pascal, Fermat, Huygens, Newton und vielen anderen
mit so außerordentlichem Erfolge verwandt waren, unbekannt geblieben seien. Im Gegenteil
zeigt sein handschriftlicher Nachlaß, so weit er bis jetzt veröffentUcht ist, daß er diese
Methoden ganz selbständig anzuwenden und zur Bestätigung seiner naturwissenschaftlichen
Spekulationen zu benutzen wußte. Aber von dieser intuitiven Auffassung bis zur An-
Wendung der eigentlichen Begriffe der Infinitesimalrechnung, z. B. des Differentialquotienten
oder des Integrals, ist es doch noch ein weiter Schritt, von dem ich keine Spur bei Kant auffinde.
38 A A. Voss: Die Beziehungen der Mafr.ematik zur allgemeinen Kultur.
synthetische dagegen verbindet den Subjektbegriff mit einem neuen Begriffs-
inhalt zu einer Einheit; auf ihm beruht der Fortschritt des Wissens. Soll es
nun ein Wissen geben, das — wie die Metaphysik z. B. behauptet — den Cha-
rakter der Allgemeinheit und Notwendigkeit hat, so muß es synthetische,
nicht aus der Erfahrung geschöpfte Urteile geben. Und so beruht die Er-
•klärung der tatsächlichen Existenz des Wissens auf der Grundfrage: Gibt es
überhaupt ,, synthetische Urteile a priori", und wie sind sie möglich? Daß alle
unsere Erkenntnis auf Erfahrung beruht, daran, sagt Kant, ist gar kein Zweifel.
,,Aber gleichwohl entspringt sie doch nicht allein aus derselben. Denn es
könnte wohl sein, daß unsere Erfahrungserkenntnis ein Zusammengesetztes
aus dem sei, was wir durch Eindrücke empfangen, und dem, was unser eigenes
Erkenntnisvermögen (durch sinnliche Eindrücke dazu veranlaßt) aus sich
selbst hergibt". Erkenntnisse solcher Art heißen ,, Erkenntnisse a priori".
Zum Beweis der Existenz solcher Urteile zieht nun Kant die Mathe-
matik heran. Sind auch seine speziellen, der Mathematik entlehnten
Beispiele nicht gerade glücklich gewählt - - und dies gilt sowohl von den arith-
metischen als den geometrischen — so muß doch immer wieder hervorgehoben
werden, daß der eigentliche Kern seiner Gedanken dadurch nicht getroffen wird.
Sowohl in der Arithmetik als in der Geometrie findet er Sätze, die, Notwendig-
keit und Allgemeinheit in sich tragend, nicht aus der äußeren sinnlichen Er-
fahrung stammen können. Und so folgert er, daß der unterscheidende Cha-
rakter der Mathematik darin besteht, daß sie auf einer,, Anschauung" beruht,
die wegen ihres besonderen Wesens reine oder Anschauung a priori ist. Aber
diese Anschauung ist nicht an sich der Ursprung der mathematischen Prin-
zipien, sondern bringt diese nur zur konkreten Darstellung durch das Mittel
der begrifflichen Konstruktion. Und noch tiefer sucht Kant nun dies Ver-
hältnis zu erfassen, indem er auf die beiden Probleme von Raum und
Zeit, die Hobbes so vielfach beschäftigt hatten, eingeht. Der Raum ist für
ihn kein empirischer Begriff, wie der des Gelben, der von äußeren Erfahrungen
abgeleitet ist, denn er liegt jeder Aussage unserer Anschauung bereits zu-
grunde. Er ist auch kein diskursiver Begriff, der erst durch Abstraktion von
einzelnen Räumen verschiedener Art gewonnen wird, denn für Kant existiert
nur ein Raum, von dem alle besonderen Räume nur Teile sind. Das hatte auch
schon Euler in seinen R6flexions sur l'espace et le temps mit den Worten aus-
gesprochen: Der Raum ist kein genericum.*) Er ist auch kein Begriff von Ver-
hältnissen der Dinge, sondern Anschauung derselben, und zwar, da es sich
nicht um die spezielle sinnliche handelt, reine Anschauung. Dieser etwas
scholastisch gefärbten Deduktion würden allerdings die neueren Lehren von der
psychologischen Entstehung der Raumanschauung widersprechen, falls es ihnen
•) Eulers Ansichten haben wahrscheinlich auf die von Kant später in der tran-
szendentalen Ästhetik entwickelten Gesichtspunkte einen nicht unbeträchtlichen Einfluß gehabt.
Daß Kant mit den Schriften Eulers wohl bekannt war, geht insbesondere aus seiner Ab-
handlung ,,Von dem ersten Unterschiede der Gegenden im Räume" (1768) hervor, in der
er sich direkt auf eine Arbeit Eulers aus dem Jahre 1748 bezieht (vergleiche F. Überwegs
Geschichte der Philosophie, 10. Auflage 1907, Bd. 3, S. 298).
Kants transzendentale Ästhetik und die spätere Philosophie in Deutschland. A 39
gelingt, allgemein anerkannte Resultate zu gewinnen. — Und hierauf beruht
nun nach Kant die apodiktische Gewißheit der Geometrie und ihre Überein-
stimmung mit den Ergebnissen der äußeren Erfahrung. Denn nur, wenn der
Raum die Form ist, durch welche letztere uns überhaupt erst möglich wird,
können niemals die Aussagen der Geometrie mit denen einer empirischen Prü-
fung, d. h. einer konkreten sinnlichen Erfahrung, in Widerspruch geraten.
Das ist die Lehre von der transzendentalen Idealität des Raumes, welche
Kant fast mit denselben Worten auf den Begrifif der Zeit ausdehnt. Zeit und
Raum sind für ihn zwei Erkenntnisquellen, aus denen synthetische Urteile
a priori fließen, und diese Aussagen haben nicht nur transzendentale Idealität,
sondern auch empirische Realität. ,,Wer aber absolute Realität derselben be-
hauptet, der muß zwei ewige und unendliche Undinge annehmen, welche da
sind, um alles Wirkliche zu umfassen; und wer Raum und Zeit als aus der Er-
fahrung abstrahierte Verhältnisse betrachtet, muß den mathematischen Leh-
ren ihre apodiktische Gewißheit bestreiten."
Diese auf dem Faktum der Mathematik beruhenden Gedanken bilden das
erste Kapitel der Kritik der reinen Vernunft; sie werden für Kant zur
Direktive in der transzendentalen Logik, in der er die Wirksamkeit und
die Grenzen des Gebrauchs der apriorischen Formen des reinen Denkens,
der Kategorien, behandelt, — doch haben wir nicht weiter darauf einzugehen.
Man hätte nun erwarten sollen, daß der gewaltige Einfluß der Kantischen
Lehren die Philosophie in die engste Verbindung mit der Mathematik ge-
bracht haben würde. Aber durch Fichte, Hegel und S c hei ling entstehen Romana^che
ganz neue Gedankengänge, und die romantische, auf bloßer Spekulation be- ;„ Deutschland,
ruhende Naturphilosophie der letzteren beiden ließ namentlich in Deutsch-
land eine immer größere Kluft zwischen dem mathematischen und philosophi-
schen Denken entstehen, die zum Teil auch gegenwärtig noch nicht geschlossen ist.
Indes hat es auch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht an
solchen gefehlt, welche der Mathematik eine führende Rolle zuerteilen. So
versucht Herbart 1824 rein mathematisch eine Statik und Dynamik der Vor- J- f. Herbart.
Stellungen nach axiomatischen Prinzipien zu entwickeln, welche den in der
Mechanik üblichen analog laufen. Die mathematische Naturphilosophie von
J. F. Fries (1822) — um diesen neben F. Apelt zu nennen, — trägt das Motto
Tot )Lia9r|,uaTa KaGdp^axa vpuxTic. In aller Schärfe hebt Fries hervor, daß wissen-
schaftliche Naturerkenntnis, die nach ihm allein sich auf die räumlichen Ge-
stalten und deren Bewegungen beziehen kann, auf gewissen Vorstellungen
a priori beruht, deren Darlegung die Aufgabe derselben ist. Die Möglichkeit
dieser wahren Philosophie der Natur beruht immer auf gewissen, über alle
Erfahrung hinausgehenden ,, Hypothesen" und es sind schließlich rein mathe-
matische Gründe der Einfachheit und Übersichtlichkeit einer
Theorie, welche z. B. die Entscheidung zugunsten des Kopernikanischen
Weltsystems im Gegensatz zu dem epizyklischen System des Ptolemäus treffen
lassen. Wer wird hier nicht an E. Machs Prinzip der Ökonomie des
Denkens erinnert? Und so ist auch das Prinzip der Trägheit eines Beweises
40 A A. Voss: Die Beziehungen der Mathematik zur allgemeinen Kultur.
weder fähig noch bedürftig ; mit fast denselben Worten wie neuerdings P o i n c a r 6
in der Schrift, Wissenschaft und Hypothese, spricht Fries es aus, daß dasselbe eine
Annahme a priori sei, die niemals durch Erfahrung bewiesen noch widerlegt
werden könne. Die Bestrebungen von Fries und Apelt sind nicht untergegangen,
sie leben fort in den Abhandlungen der Friesschen Schule, welche mathema-
tisches und philosophisches Denken den modernen Anschauungen gemäß in
Verbindung setzen wollen. Aber auch auf anderen Seiten regt sich das Bedürfnis,
die Wechselbeziehungen zwischen diesen beiden Gebieten enger zu gestalten.
,,Das Schicksal und die Zukunft der kritischen Philosophie", sagt E.Kassirer in
seinen Kantstudien, ,,wird durch das Verhältnis zu den exakten Wissenschaften
bedingt. Wenn es gelänge, das Band zwischen ihr und der Mathematik und der
mathematischen Physik zu durchschneiden, so wäre sie damit ihres In-
haltes und ihres Wertes beraubt. Von diesem Gesichtspunkt aus darf
jeder Versuch einer logischen Klärung und Vertiefung der Grundlagen der Ma-
thematik von vornherein des größten philosophischen Interesses gewiß sein."
Mathematik und Und dieses lutercssc bekundet sich nicht nur in der neuen Ausbildung,
der' Gegenwärt, welche die aristotelische Logik zu einer modernen Logistik erfahren hat,
sondern auch in dem wachsenden Verständnis, welches die Philosophie gegen-
wärtig dem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewonnenen erkenntnis-
theoretischen Gehalt der Mathematik zuwendet. Wir erinnern an die zahl-
reichen Arbeiten Poincares und anderer französischer Philosophen und Mathe-
matiker, an die Veröffentlichungen der Marburger durch Natorp inspirierten
Schule, an die namentlich von Peano entwickelte italienische Axiomatik, an
die eigenartigen Arbeiten B. Russe Us, mit denen die auf deutschem Boden
erwachsene Mengenlehre G. Cantors in enger Beziehung steht.
Wie lückenhaft auch dieser Versuch ausgefallen sein mag, auf wenigen
Seiten die seit mehr als zwei Jahrtausenden bestehende Wechselwirkung zwi-
schen Mathematik und Philosophie zu skizzieren, das wenigstens dürfte daraus
hervorgehen, wie eng tatsächlich das Band zwischen beiden ist.
Und wer die Kultur der Gegenwart verstehen will, wird auch an diesen
Beziehungen nicht achtlos vorbeigehen können. Diese Erkenntnis hat seit
.Mathematik und Piatons Zelt dazu geführt, der Mathematik einen hohen Wert als Erzie-
Rrziehung. hungsmlttcl belzulcgen. Denn einer der vornehmsten Zwecke aller Erziehung
ist es, Bildung, d. h. Verständnis für die Kultur der jeweiligen Zeitepoche zu
wecken, und dadurch die heranwachsende Generation zu befähigen, diese Kul-
tur den kommenden Geschlechtern erweitert zu überliefern.
Schulwesen. Von dicscr Überzeugung waren auch die Begründer der Humanisten -
schulen geleitet. Zwar wird in den Lehrplänen vieler Gymnasien des 16. und
17. Jahrhunderts die Mathematik noch nicht ausdrücklich als Lehrmittel er-
wähnt; sie war nach alter Sitte mit dem Quadrivium: Musik, Arithmetik, Geo-
metrie, Astronomie, verbunden. Aber Melanchthon, der praeceptor Germa-
niae, setzte schon 1529 die Gründung einer zweiten mathematischen Professur
in Wittenberg durch. An den größeren Handelsstädten Deutschlands,
Mathematik und Schulunterricht. A 41
Frankfurt, Hamburg, Lübeck, Straßburg und Nürnberg wirkten bald hernach
treffhche Mathematiker, wie Dasypodius und Sturm an den beiden letzt-
genannten. Gegen das Ende des 17. Jahrhunderts tritt allerdings eine Reaktion
ein; an die Stelle akademisch gebildeter Lehrer treten öfter bloße Rechen-
meister, und mit ihnen wird auch ihr Lehrfach nun als nicht ebenbürtig mit
den klassischen Studien angesehen: ,,Mathematicus non est coUega." Die Be-
gründung der Realschulen unter Franke und Ernesti zu Anfang des 18. Jahr-
hunderts führt zu einer verstärkten Betonung des mathematischen Elements;
fast in vollem Umfange wird an ihnen das, was wir gegenwärtig zur Elementar-
mathematik rechnen, in die Lehrpläne aufgenommen, eingedenk des Gesner-
schen Dictums ,, privat se altro oculo, qui negligit mathesin".
Mit dem Anfang des 18. Jahrhunderts tritt aber zugleich die ungeheure Höhere und
Fortbildung der Mathematik durch die Erfindung der Infinitesimalrechnung Mathematik,
ein. Diesem großen Fortschritt, der, mit der Fortbildung der Leibnizschen
Gedanken, insbesondere der Integralrechnung durch Leibniz selbst und die
Bernoullis in den Leipziger Actis eruditorum beginnend, fast ausschließlich
dem bewunderungswürdigen Verkehr zwischen den führenden Mathematikern
an den Akademien in Berlin, Paris, Petersburg zu verdanken ist, vermochte
das allgemeine Verständnis der damaligen Lehrerwelt nur in beschränktem
Umfange zu folgen. So entstand neben der Mathematik der Alten eine esoterische
,, höhere", die nur hervorragenden Geistern zugänglich schien, um so mehr,
als auch der dürftige Unterricht an den Hochschulen meist nur in einer Reka-
pitulation der Schulpensa bestand, wie sie denen erwünscht sein mußte, die auf
der Schule kaum über die vier Spezies und die ersten Bücher des Euklid
hinausgekommen waren.
Erst das 19. Jahrhundert hat der Mathematik ihre Stellung als ein den
sprachlichen Studien gleichstehendes Bildungsmittel zurückge-
geben. An die Erhebung Deutschlands unter Preußens Führung in den Be-
freiungskriegen knüpfen sich die Vorschläge von W. von Humboldt und der
Sü verasche Lehrplan, der 181 6 die Mathematik an allen Klassen der Gym-
nasien endlich in ihr Recht einsetzte und — wenn auch nicht zur Einführung
gelangend ■ — doch zu einer idealen Richtschnur wurde, welche im wesent-
lichen den Vertretern einer einsichtsvolleren Pädagogik vorschwebte. Die
bereits in Süverns Entwurf betonte Notwendigkeit, auch die Grundgedanken
der höheren Mathematik in den Lehrplan der Schulen aufzunehmen, durch
welche, wie schon der General Clausewitz es aussprach, erst das wahre
Verständnis für die elementare gewonnen werden kann, ist freilich erst in
der neuesten Zeit in ihrer ganzen Bedeutung erkannt worden.
Aber ganz abgesehen von der Geschichte der mathematischen Pädagogik
haben wir uns zu fragen: Worin beruht der Wert der Mathematik als Bil-
dungsmittel für die Jugend?
Es ist ein unbegründetes Vorurteil, wenn man — insbesondere in popu- Mathemauu
lären Schriften — die Mathematik als Hauptmittel zur Erzielung logischen "° ^ "
Denkens bezeichnet. Verstöße gegen dasselbe sind von Mathematikern eben-
A2 A. A. Voss: Die Beziehungen der Mathematik zur allgemeinen Kultur.
SO häufig gemacht worden, wie von anderen, selbst die Bücher des Euklid sind
nicht frei von ihnen, und auch in den modernen Lehrbüchern dürfte nicht
selten die kritische Prüfung Mängel sowohl im sprachhchen Ausdruck als in
der sachhchen Behandlung entdecken. Zudem wirkt der Denkprozeß bei den
meisten Menschen auf einer gewissen Entwicklungsstufe so automatisch, daß
man ebensowenig wie zum richtigen Gebrauch der Muttersprache eines be-
sonderen Unterrichts in der Logik bedarf. Die Logik lehrt nicht richtig
denken, sondern zeigt nur, wann richtig gedacht ist. Entscheidender aber
ist, daß das rein logische Element, wie es Euklid als Ideal vorschwebte, in der
Mathematik viel zu schwer durchführbar und für den jugendlichen Geist ge-
radezu unverständlich ist. Wer die Mathematik nur als logisches Exerzitium
behandelt, wird schwerlich große Erfolge bei seinen Schülern finden: das gilt
nicht nur vom Unterricht auf der Schule, sondern — cum grano salis — auch
von dem auf der Hochschule.
Erzieherische Dic Stärke dcr Mathematik als Bildungsmittel liegt vielmehr vorwiegend
^MaXmftik!'^ nach der ethischen Richtung und nach der einer freien, schöpfe-
rischen Verstandesbildung. Gewiß werden in den historischen Fächern,
insbesondere durch das Studium der fremden Sprachen Kenntnisse erworben,
die für unsere Bildung unerläßlich sind. Aber solche Kenntnisse sind eben
keine Erkenntnis. Diese aber vermittelt die Mathematik. Wer den Beweis
eines Satzes verstanden hat, hat damit die Überzeugung gewonnen, eine Wahr-
heit auf Grund eigener Arbeit erfaßt zu haben. Die Übersetzung eines
griechischen oder lateinischen Autors ist ja freilich nicht selten auch eine Rät-
selaufgabe der Kombinatorik; sie wird aber kaum dieselbe absolute Überzeu-
gung von ihrer Richtigkeit gewähren. Durch einen mathematischen Beweis
wird aber nicht nur das sichere Bewußtsein, daß man durch Denken Wahrheit
finden könne, geweckt, sondern auch das Selbstvertrauen zum eigenen Verstand,
die kritische Urteilskraft, welche den wahrhaft Gebildeten von dem im
bloßen Autoritätsglauben Befangenen unterscheidet. Diese Fähigkeit heraus-
zubilden, ist wohl das höchste Ziel, welches sich die Erziehung des jugendlichen
Geistes stellen kann.
Und das nicht allein. Mit der gelungenen Übersetzung eines Schriftstellers
ist die Arbeit abgeschlossen. In der Mathematik aber weckt jede erkannte
Wahrheit, jede gelöste Aufgabe,, sofort die schöpferische Phantasie, die
sie entweder zu erweitern oder ihren noch verborgenen Zusammenhang mit
anderen Wahrheiten aufzufinden strebt. Das ist jenes unbeschreiblich hohe
Gefühl, das jeder empfindet, der zum erstenmal die Selbständigkeit seines
eigenen Geistes in der freien wissenschaftlichen Arbeit erkennt,
der seine schöpferische Kombinationsgabe mit jedem erfolgreichen Schritte
wachsen sieht.
Kritischer Blick, Energie in der Überwindung anscheinend hoffnungsloser
Schwierigkeiten, beharrlich auf das Ziel gerichteter Wille, Selbstvertrauen auf
die eigene Kraft, sind ethische Kräfte, deren jeder bedarf, um im Kampfe des
Lebens nicht zu unterliegen. Es dürfte schwer sein, ein Bildungsmittel zu be-
Bildungswert der Mathematik. A 43
zeichnen, das geeigneter wäre, diese Qualitäten zu wecken und zu den höchsten
Leistungen zu befähigen, als die Mathematik.
Aber auch ihr Inhalt ist nicht ein bloßes Paradigma des Erkennens. Wie
oft hört man, daß über dem grammatikalischen Studium eines Schriftstellers
der Inhalt als nebensächlich dem Bewußtsein der Schüler entschwindet! Das
fällt allerdings dem betreffenden Unterrichte selbst zur Last, und ist gewiß auch
nicht das allgemeine Ergebnis unserer heutigen Gymnasialbildung, welche der
bloße Nützlichkeitsstandpunkt häufig verurteilt, ohne sie eigentlich zu kennen
oder ihren Segen erfahren zu haben. Wer die poetischen, historischen und
philosophischen Werke der Alten in ihrem inneren Gehalte in sich aufgenom-
men hat, hat damit sicher etwas gewonnen, dessen Besitz ihn in den engsten
Zusammenhang mit der Blüte unserer gegenwärtigen Kultur bringt. Aber
ebenso wahr ist es, wenn H. Schellbach, selbst ein trefflicher Mathematiker,
der in diesem idealen Sinne gewirkt hat, sagt: ,,Wer die Mathematik und
die Resultate der neueren Naturforschung nicht kennen gelernt
hat, der stirbt, ohne die Wahrheit zu kennen."
Noch mag unser höheres Schulwesen von diesem hohen Ziele Schellbachs Mathematische
mehr oder weniger weit entfernt sein. Aber in immer steigendem Maße hat die ^neuer^'^zeit.^'^
seit 1890 gegründete Deutsche Mathematikervereinigung im Anschluß
an die Initiative F. Kleins darauf hingewirkt, einen neuen Geist in den mathe-
matischen Unterricht auf unseren Schulen einzupflanzen, den des funktio-
nalen Denkens, auf dem in letzter Instanz unsere moderne Kultur beruht,
und damit die Möglichkeit, Verständnis für ihre großartige Entwicklung in den
beiden letzten Jahrhunderten durch eine angemessene Vorbereitung dem
jugendlichen Bewußtsein näher zu rücken. Diese Bestrebungen sind auf einen
fruchtbaren und auch im Gebiete der Schule selbst schon vorbereiteten Boden
gefallen. Davon zeugen die vielfachen Versuche der Pädagogen, das Programm
der Unterrichtskommission der Gesellschaft Deutscher Natur-
forscher und Ärzte (Meran 1905), zu unterstützen, und an der Hand ihrer
eigenen Erfahrungen zu verwirklichen. Und so darf wohl erwartet werden, daß
im 20. Jahrhundert auch in Deutschland die mathematische Vorbildung in dem
geistigen Besitz unserer wirklich Gebildeten eine umfassendere und verständnis-
vollere Stellung einnimmt, als dies zurzeit der Fall ist. *)
*) Man wird dies um so mehr wünschen müssen, als in anderen Staaten Europas die
Mathematik schon längst einen weit höheren Grad öffentlicher Geltung erlangt hat. Wir
erinnern nur daran, wie wichtig es bereits Napoleon erschien, auf seinem ägyptischen
Feldzuge von einem Mathematiker, wie G. Monge, begleitet zu sein; wir weisen ferner hin
auf die beiden großen französischen Institute der ficole polytechnique und der Ecole
normale sup^rieure, aus denen so manche Persönlichkeiten hervorgegangen sind, die sich
gleichzeitig als Mathematiker, Ingenieure, Offiziere und Staatsmänner ausgezeichnet haben
und zu den höchsten staatlichen Würden gelangt sind, sowie an die in alle Zweige des
Unterrichtes eingreifende Tätigkeit, welche in Italien F. Brioschi und L, Cremona ver-
möge ihrer hohen amtlichen Stellung ausüben konnten.
In den letzten Jahren haben übrigens die deutschen Bestrebungen eine erhöhte Be-
deutung gewonnen durch die Entstehung einer Internationalen mathematischen
44 A. A. Voss: Die Beziehungen der Mathematik zur allgemeinen Kultur.
Wir haben bisher nur die Beziehungen der Mathematik zu dem Umfange
unserer gegenwärtigen Kultur betrachtet. So erscheint sie uns als eine Wissen-
schaft, ehrwürdig durch ihren bis auf die früheste historische Überlieferung
hinaufreichenden Ursprung, als unentbehrliches Mittel, die großen Erschei-
nungen des Naturgeschehens zu verstehen, als die Quelle, aus der das nach Er-
kenntnis ringende Denken seine tiefsten Anregungen geschöpft hat, als ein
seit der Zeit der Hellenen gepflegtes Bildungsmittel der Jugend. Keine andere
Wissenschaft stellt uns so deutlich die Tatsache vor Augen, daß es eine erkenn-
bare Wahrheit gibt, deren Inhalt, unabhängig vom Wechsel der Zeiten, unerschüt-
tert durch die gewaltsamen Katastrophen im Leben der Völker, für jeden ver-
bindlich ist. Dieselben Probleme, welche unter den Pythagoreern zum ersten
Male aufgeworfen wurden, können, unendlich vertieft und durch die fort-
schreitende Erkenntnis gereinigt, uns auch heute noch beschäftigen.
Objektiver Wert Und darin besteht nun auch der objektive Wert der Mathematik,
der Mathematik. i,.. • 11 ii.'i a j r • js • -u
ganz unabhängig von aller praktischen Anwendung auf irgendein mensch-
liches Tun. Den Nutzen derselben für die Zwecke des Handelns hat man zwar
nie bestritten. Aber aus dieser unverkennbaren Nützlichkeit derselben hat sich
die Ansicht gebildet, als sei sie nur eine formale Methode, eine Hilfswissenschaft,
deren Resultate man zu schätzen wohl nicht umhin kann, während das, was
den eigentlichen Gegenstand des forschenden Mathematikers bildet, ein über-
p. Du Bois-Rey- flüssiges Spiel der Gedanken sei, das keinen Zusammenhang mit der lebendigen
monds^h^augurai- \Yirklichkeit hat. Solche Meinungen sind nicht nur unter den der Mathematik
fernerstehenden Kreisen verbreitet, sie sind gelegentlich auch von Gelehrten
unzweifelhaft hoher Bedeutung ausgesprochen. In seiner Inauguralrede 1874
sagt P. Du Bois-Reymond, es sei Täuschung, zu glauben, daß die Arbeit
des Mathematikers von dem Wunsche beseelt sei, unsere Kenntnisse zu er-
weitern, für die Praxis nützliche Methoden zu schaffen. Auf die Frage, was sie
wolle, erhalte man niemals eine Antwort, Kein Mathematiker habe ein Grund-
problem, keiner sehe ein Ende seiner Forschungen, die nur willkürlich formu-
lierte Probleme seiner Einbildungskraft seien. Seine Arbeit sei schließlich
nichts anderes als ein Sport, dem des Alpinisten oder des Schachspielers
vergleichbar, allerdings ein durch die Stille der geistigen Beschaulichkeit ver-
edelter. Wie unrichtig diese Auffassung ist, der wir um so mehr entgegentreten
möchten, als sie von einem Manne herrührt, der sich selbst so ernstlich um die
philosophische Klärung der Grundfragen der Mathematik bemüht hat, zeigt
schon seine eigene Persönlichkeit. Du Bois hatte gewiß ein Grundproblem, dem
er sein ganzes Leben gewidmet hat, die Darstellung allgemeiner Funktionen
durch Reihen, und dieses hat er, beginnend mit dem einfachsten Falle der un-
bedingt konvergenten Reihen, bis zu den weitesten für ihn erreichbaren Grenzen
durchgeführt. Und sind nicht die Arbeiten von Euler, Lagrange, Gauß, Cauchy,
Unterrichtskommission, deren Aufgabe es ist, die hinsichtlich der pädagogischen
Behandlung des mathematischen Unterrichtes in seinem gesamten Umfange in den ver-
schiedenen Staaten gemachten Erfahrungen zu vergleichen und durch gemeinsame Be-
ratungen zu verwerten.
Wert der mathematischen Forschung an sich. A 45
Riemann, Weierstraß, Lie, um nur einige Namen nicht mehr der Gegenwart
angehöriger Mathematiker zu nennen, jedesmal von einem in voller Klarheit sich
ausprägenden Grundgedanken durchzogen? Jede Zeile E u 1 e r s ist beseelt durch
die wunderbare Klarheit, mit der er alles, was sich seinem Geiste darbot, dem ma-
thematischen Kalkül zu unterwerfen wußte, gleich einem Pionier, der in ein unbe-
kanntes Land vordringt. Bei Lagrange erkennen wir die systematische Ele-
ganz, mit der er die Grundlagen der Mechanik, von dem einfachen Problem der
Fallbewegung bis zu den abstraktesten Aufgaben der Hydrodynamik mittelst
der Variationsrechnung zu formulieren weiß, während die unübertroffene Uni-
versalität von Gauß mit gleichförmiger Kraft alle Gebiete des Wissens be-
reichert. Cauchys großes Ziel war es, die Prinzipien der Infinitesimalrechnung
zu erforschen und zu neuen Aufgaben durch die Einführung des Imaginären zu
befähigen. In jeder Arbeit Riemanns erkennen wir den ihm eigentümlichen
Gedanken, das Wesen der Funktion einer komplexen Variabein durch ihre
Grenzbedingungen zu definieren, mag es sich nun um die Theorie der algebra-
ischen Funktionen oder um die der Differentialgleichungen handeln, während
Weierstraß auf dem Boden des arithmetischen Funktionsbegriffes mit glei-
cher Schärfe die Grundlagen der Arithmetik wie die höchsten Probleme der
Analysis behandelt. Endlich ist es bei Lie der Begriff der Transformations-
gruppen, d. h. der einer Gesamtheit von analytischen Operationen, der bei
allen Zusammensetzungen dieser Operationen untereinander einen in sich
abgeschlossenen Inhalt, einen ,, Körper" im Sinne der Algebra darstellt, von
dem aus der ganze Inhalt der Analysis und Geometrie seine eigentümliche Be-
leuchtung erhält: so erkennen wir überall das Vorhandensein großer Gedanken,
in denen sich zugleich die Wesenseigentümlichkeit ihrer Schöpfer offenbart.*)
Freilich wird es auch viele Mathematiker geben, die, ohne von einer für ihre
Produktionsweise charakteristischen Idee beherrscht zu sein, ihre Probleme
den wechselnden Anregungen entnehmen, welche ihnen die Vertiefung ihres
eigenen Studiums darbietet. Aber auch sie leitet der Wunsch, ihr eigenes
Wissen mit den großen Schöpfungen bevorzugter Geister in Verbindung zu
s etzen.
Aber wir berühren damit den anderen Einwurf von D u B 0 i s. In der Frei-
heit der mathematischen Gedankenbildung, die alles, was Gegenstand von Zahl-
operationen werden kann, ergreift, scheint etwas zu liegen, das an ein mehr
oder weniger willkürliches Spiel erinnert. Was unterscheidet die Arbeit des
Mathematikers vom Spiel.?
Das Schachspiel hat man oft mit der Tätigkeit desselben verglichen. Auch Mathematik
hier haben wir Symbole, die nach bestimmten Regeln miteinander zu neuen
Kombinationen sich verbinden; man könnte geradezu eine Schachpartie als
eine Reihe diskreter Transformationen ansehen, bestimmt, eine Transformation
von vorgeschriebenem Charakter hervorzubringen. Zudem hat das Schach-
*) Wir haben uns hier absichtlich auf die Erwähnung bereits verstorbener Mathematiker
beschränkt, ebenso treffende Beispiele ergeben sich aber auch aus der charakteristischen
Forschungsweise der ausgezeichneten Mathematiker der Gegenwart,
46 A A. Voss: Die Beziehungen der Mathematik zur allgemeinen Kultur.
spiel selbst zu mathematischen Problemen angeregt. Wir erinnern nur an die
magischen Quadrate und Eulerszahlentheoretische Lösungen des Rösselsprunges.
Eine mathematische Theorie des Schachspiels aber gibt es bislang nicht. Sie
würde voraussetzen, daß jeder Zug nach irgendeiner Regel, ob ein- oder mehr-
deutig, bestimmbar sei. Damit würde aber der Charakter des Spiels sich auf-
heben. Denn dieser beruht auf der Freiheit des Handelns, die bei jedem
Zuge, wenn auch durch den kombinierenden Verstand geleitet, möglich bleibt,
und auf dieser Freiheit der Willensentscheidung beruht — abgesehen von der
Hoffnung des Sieges — der wesentliche Reiz dieses Spiels.
ÄhnHch dürfte es sich aber bei jedem Spiel, das nicht, wie die bloßen
Glücksspiele, nur den die Leidenschaften erregenden Momenten der Zufällig-
keit seine Anziehungskraft verdankt, verhalten: Das Spiel gewährt eine
subjektive, auf der Freiheit des Handelns beruhende Befrie-
digung. Ist auch hier mit diesem kurzen Ausdruck sein Wesen nicht völlig er-
schöpft, so folgt doch daraus, daß das Spiel seinen Charakter verliert, sobald es
in derselben Weise wiederholt, d. h. die Freiheit des Willens dabei aufgehoben
wird. Sein Verlauf hat daher ledigHch eine individuelle Bedeutung, die, nur
einmal vorhanden, mit seiner Beendigung aufhört.
Ganz anders aber ist es bei der freien Schöpfung mathematischer Ge-
danken. Sie entspringen wie ein Quell aus verborgenen Tiefen, sie schreiten
vielleicht anfangs nicht auf der geradesten Bahn fort, aber allmählich dringen
sie vor zu jener Bestimmtheit, welche den Stempel einer allgemeingültigen
Wahrheit trägt. Damit wird das, was der oberflächlichen Betrachtung zuerst
als ein Spiel der Gedanken erschien, zu einer Erkenntnis, welche wiederum
jeder durch erneute geistige Arbeit zu seinem Eigentum machen kann. Und so
Mathematik als e n t s t e h t ein unverlierbares geistiges Besitztum der Menschheit,
" geutigen"*"^ welchcs ZU pflegen und zu fördern uns eine höhere sittliche Verpflichtung ge-
schttpfung. bietet. Wer könnte verkennen, daß in diesem Reich der Gedanken, das, für
jeden zugänglich, jeder auf seine Weise entwickeln kann, sich in der reinsten
Form der Trieb des Geistes offenbart, sich seiner eigenen Kraft bewußt zu
werden?
Daß diese Arbeit aber auch den allgemeinsten Interessen der Kultur dient,
lehrt die Geschichte. Hätten die Griechen, unbekümmert um eine praktische
Anwendung, nicht die Theorie der Kegelschnitte entwickelt, so würde Kepler
wohl kaum das Geheimnis der Planetenbewegung enträtselt haben. Ohne das
ganz abstrakte Prinzip der virtuellen Geschwindigkeiten, ohne die Theorie der
Funktionen komplexer Zahlen läßt sich kaum eine Untersuchung, sei es in der
Mechanik, der Hydrodynamik, der Elektrizitätslehre durchführen. Die Theorie
der linearen Differentialgleichungen, rein mathematisch zunächst ohne Be-
ziehung auf direkte physikalische Anwendung, ist heute zum unentbehrlichen
Rüstzeug für den theoretischen Physiker geworden und die Untersuchungen
Poincar^s über Integralinvarianten und asymptotische Lösungen haben der
Mechanik des Himmels ganz neue Gesichtspunkte eröffnet. Auch von der
Mathematik gilt das Wort W. von Humboldts: ,, Die Wissenschaft gießt oft
Internationale Verbreitung der Mathematik. A 47
dann ihren reichsten Segen über das Leben aus, wenn sie sich von demselben
gleichsam zu entfernen scheint."
Eher mag man den objektiven Wert der Mathematik mit dem der künst-
lerischen Tätigkeit vergleichen. Ursprünglich dient auch die Kunst der sub-
jektiven Befriedigung, aber darüber hinaus erhebt sie sich zu Schöpfungen, in
denen wir eine Offenbarung der höchsten produktiven Kraft erkennen. Auch
diese liegen nicht auf der Oberfläche, aber sie werden für jeden, der ihrem Ge- Mathematische
halt mit Sorgfalt zu folgen vermag, zu einer Quelle der Erhebung über das Ir- "" Prödukriom'"'
dische, der niemand einen objektiven Wert absprechen wird. Ein klassisches
Kunstwerk ist der adäquate Ausdruck eines Ideals, dem kein Strich hinzu-
gefügt noch genommen werden kann, ohne den Charakter des Ganzen in Frage
zu stellen. Dasselbe Merkmal einer in sich ruhenden Vollkommen-
heit aber tragen auch die mathematischen Theorien. Und mit der schaffenden
Kunst teilt die Mathematik auch den divinatorischen Charakter. Neue
mathematische Gedanken und Erkenntnisse fundamentaler Art entspringen in
den meisten Fällen einer unmittelbaren Intuition, deren exakte Begründung
die weitere Arbeit des Forschers ist. So ist die Mathematik nicht nur eine bloß
formale Wissenschaft, eine Eidologie, welche alles sub specie matheseos be-
trachten lehrt, sondern sie hat auch einen objektiv wertvollen Inhalt, als ein
Reich der Gedanken, das in vollendeter Harmonie die einfachsten und abstrak-
testen Gebilde des Verstandes lückenlos verbindet, als eine Offenbarung des
Geistes, die immer reicher zu entfalten eine der würdigsten Aufgaben unseres
Geschlechtes bildet.
Dieser universellen Bedeutung der Mathematik entspricht nun auch ihre internationale
internationale Verbreitung. Während diese im 1 8. Jahrhundert sich noch ^"ilthcraatik!"
fast ganz auf die Akademien Europas beschränkte, regt sich um die Wende des-
selben die Kraft zu einer weit allgemeineren Produktion in besonderen mathe-
matischen Zeitschriften. Die Geschichte dieser schon ein Jahrhundert
umfassenden Literatur verdiente wohl eine ausführlichere Behandlung; hier
können nur einzelne Züge derselben angedeutet werden. Den Anfang machen
in Frankreich nach der Gründung des Journals de l'Ecole Polytechnique
1796 die Gergonneschen Annalen 1804, dann das Liouvillesche Journal 1836,
die Nouvelles Annales 1842, die Annales de l'Ecole Normale 1865, die Bulletins
des Sciences math. von Darboux und der Soci^t^ math. de France, mit denen
sich die 1835 begründeten Comptes Rendus de l'Acad^mie des sciences verbinden.
In Deutschland entstehen nach dem unter Hindenburg in Leipzig gemachten
Anfange(l78i)dasCrellescheJournali826,das Archivfür Mathematik und Physik
1843, die Zeitschrift für Mathematik und Physik 1856, die Mathematischen
Annalen 1869, die Zeitschrift für mathematischen und naturwissenschaftlichen
Unterricht 1870. Besonders bedeutungsvoll erscheint auch der mathe-
matische Inhalt der in den Schriften der Akademien und gelehrten Gesell-
schaften von Berlin, Göttingen, Heidelberg, Leipzig und München veröffent-
lichten Arbeiten. In Österreich finden wir neben den Berichten der
Wiener Akademie die Monatshefte für Mathematik und Physik (1890), denen
48 A A. Voss: Die Beziehungen der Mathematik zur allgemeinen Kultur.
sich wieder die zahlreichen Veröffentlichungen in Ungarn anreihen. In
England erscheinen neben dem Philosophical Magazine, den mathematischen
Journalen von Cambridge 1839, sowie Cambridge und Dublin 1856, dem Quarterly
Journal, den Proceedings der London Math. Society noch eine ganze Reihe von
Transactions der Akademien von London, Edinburgh, Cambridge, Dublin. In
Italien werden 1850 die Annali di Scienze, 1858 die Annali di matematica,
1863 das Giornale di matematiche, 1888 die Rendicontidi Palermo, 1891 die Ri-
vista di matematica begründet, daneben enthalten die zahlreichen Akademien
eine große Literatur. In Rußland entsteht 1866 die Moskauer mathematische
Gesellschaft, zu der die Arbeiten der mathematischen Gesellschaften in Char-
kow, Kiew, Kasan, Warschau hinzukommen.
Auch die übrigen Staaten, Dänemark mit dem Nyt Tidsskrift for
Matematik, Schweden mit seinen Acta mathematica 1882, den stamm-
verwandten Acta societatis Fennicae, der Bibliotheca mathematica und den
Schriften von Upsala und Lund; Norwegen, Holland mit seinen ver-
schiedenen Archiven und die Schweiz bleiben nicht zurück; selbst Indien und
weit bedeutungsvoller Japan tritt in Wettbewerb mit den Arbeiten der alten
Welt. Und Nordamerika hat sich eine ausgebreitete Literatur in dem Ameri-
can Journal, den Annais of Mathematics, dem Bulletin und den Proceedings der
mathematischen Gesellschaft, den Transactions seiner großen Universitäten
geschaffen.
Gegenwärtig erscheinen gegen 140 vorwiegend rein mathematischen
Zwecken gewidmete Zeitschriften, der kleineren periodischen, mehr einem lokalen
Bedürfnisse entsprechenden Publikationen nicht zu gedenken. Es wäre eine
interessante Aufgabe, in dieser gewaltigen Produktion, für die das Jahrbuch
der Fortschritte der Mathematik seit 1868, die große deutsche und
französische mathematische Enzyklopädie der mathematischen
Wissenschaften, die allgemeinen Enzyklopädien Englands und
Amerikas eine überaus wertvolle Übersicht bieten, die besonderen mathe-
matischen Interessen aufzusuchen, in denen die wissenschaftlichen Richtungen
der verschiedenen Nationen zum Ausdruck kommen.
In dieser allgemeinen Verbreitung der Mathematik, welche in Deutsch-
land durch die seit 1822 bestehende Naturforscherversammlung, durch
die 1890 gegründete Deutsche Mathematiker- Vereinigung, dann durch
internationale Kongresse (seit 1897) ein erhöhtes Leben im persönlichen
Gedankenaustausch erhalten hat, erkennen wir ebenfalls die hohe Bedeutung,
welche der Mathematik in der Kultur der Gegenwart zukommt. So nimmt
die mathematische Gedankenwelt, überall dieselbe dem Fachmanne ver-
ständliche Sprache redend, über allen Streit ihrem inneren Wesen nach er-
haben, unberührt von den Sonderinteressen, welche den Frieden der Nationen
zu stören drohen, in dem gesamten Reich der kulturellen Bestrebungen und
damit in der fortschreitenden Entwickelung des Menschengeschlechtes eine
ganz hervorragende Stelle ein.
Literatur.
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Der Bildungswert der Mathematik, Pädagogisches Archiv 1897, Bd. 39; F. Linde>lann,
Lehren und Lernen in der Mathematik, Festrede, München 1904; F. Klein, Vorträge über
mathematischen Unterricht an den höheren Schulen, bearbeitet von R. Schimmack, Leipzig 1907 ;
A. GxJTZ.\rER, Die Tätigkeit der Unterrichtskommission der Gesellschaft Deutscher Natur-
forscher und Ärzte, Leipzig 1908; M. SiMON, Didaktik und Methodik des Rechnens und der
Mathematik, 2 Auflage, München 1908; M. Simon, Geschichte der Mathematik im Altertum
in Verbindung mit antiker Kulturgeschichte, Berlin 1909; M. Cantor, Vorlesungen über
Geschichte der Mathematik, 4 Bde. 1901 — 1907; A. Höfler, Didaktik des mathematischen
Unterrichts, Leipzig und Berlin 1910.
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2. Auflage, Tübingen 1884; J. J. Sylvester, Report of the British Association 1869; A. R.
FORSVTH, ebenda 1898; P, DU Bois-Reymond, Was will die Mathematik und was will der
Mathematiker, Rede, Tübingen 1874, Berichte der Deutschen Mathematiker -Vereinigung
Bd. 19, 1910; W. VON Dyck, Über die wechselseitigen Beziehungen zwischen der reinen
und angewandten Mathematik, Festrede, München 1891; E.Jahnke, mathematische Forschung
und Technik, Festrede, Berlin 1910; A. Pringsheim, Über den Wert und angeblichen Un-
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der Mathematik, Festrede, Karlsruhe 19 10, Berichte der Deutschen Mathematiker- Vereinigung
Bd. 20, 19 10.
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La science moderne et son etat, Paris 1905; H. Poincare, Wissenschaft und Hypothese,
Deutsche Ausgabe von F. und L. Lindemann, 2. Auflage, Leipzig 1906; H. Poincare, der
Wert der Wissenschaft, deutsch von E. und H.Weber, Leipzig 1906; M.Planck, Das Prinzip
der Erhaltung der Energie, 2. Auflage, Leipzig 1908; W. VoiGT, Über Arbeitshypothesen,
Göttinger Nachrichten, Geschäftliche Mitteilungen, 1905, Heft 2; P. Volk>l\nn, Erkenntnis-
theoretische Grundzüge der Naturwissenschaften, Leipzig, 1906; E. Mach, Die Mechanik in
ihrer Entwicklung historischkntisch dargestellt, 6. Auflage, Leipzig 1908; L. QUETELET,
Physique Sociale, 1869; G.Th.Fechner, Kollektivmaßlehre, herausgegeben von G.F.Lipps, 1907,
H. Bruns, Wahrscheinlichkeitsrechnung und Kollektivmaßlehre, Leipzig und Berhn, 1906;
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rechnung und ihre Anwendung auf Fehlerausgleichung, Statistik und Lebensversicherung,
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Bd. 32, 1906; W. Betz, Über Korrelation, Zeitschrift für angewandte Psychologie, Beihefte, 3,
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Mathematik, Marburg, 1878; J. F. Fries, Die mathematische Naturphilosophie, Heidelberg, 1822;
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der Wissenschaften, Abhandlungen der Berliner Akademie, 1906; E. Kassirer, Kant und die
moderne Mathematik, Kantstudien XII, Berlin 1901; Derselbe, Das Erkenntnisproblem in
der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Berlin 1907; Derselbe, SubstanzbegrifT
imd Funktionsbegriff, Berlin 19 10.
K. 4 G. ItL I Mathematik, A. a
DIE VERBREITUNG MATHEMATISCHEN WISSENS
UND MATHEMATISCHER AUFFASSUNG.
Von H. E. Timerding in Braunschweig.
Einleitung.
Aufgabe Die Aufgabe der folgenden Auseinandersetzungen ist von einer Dar-
stellung der mathematischen Wissenschaften in ihren Grundzügen oder ihren
Einzelheiten wesentlich verschieden. Wir bringen keine mathematischen Lehr-
sätze und Formeln, wir wenden uns auch an den, dem die Mathematik seit seiner
Schulzeit fremd geworden ist. Wir haben hier nicht die Ergebnisse der mathe-
matischen Forschung an sich zu betrachten, sondern nur die Früchte zu suchen,
welche aus dieser Forschung der Allgemeinheit ersprießen. Wir haben dem-
nach zu verfolgen, in wieweit mathematische Kenntnisse und mathematische
Denkweise Bedeutung gewinnen für das, was nach der gerade herrschenden
Auffassung als Bildung gilt.
Zwei«5riei Wir habcu aber zu unterscheiden zwischen der Bildung, die zur Ausübung
"°^ eines bestimmten Berufes nötig ist, und der Bildung, die wir unabhängig von
der Besonderheit des Berufes rein um ihrer selbst willen erstreben, durch die
wir alle unsere Lebensbetätigungen verklären und vertiefen wollen. Die Rö-
merhaben für diese Läuterung und Veredlung des geistigen Lebens das Wort
humanitas geprägt und als Humanismus hat sich auch die neuzeitliche Be-
wegung bezeichnet, die auf der Grundlage des klassischen Altertums die
Schaffung eines höheren Menschentums erstrebte.
Der Scheidung der Bildung in Fachbildung und Allgemeinbildung ent-
spricht auch die Trennung der Fachschulen und der Allgemeinschulen , beide
Arten in den verschiedenen Stufen, die wir als niedere, höhere und Hoch-
schulen kennzeichnen. Die Fachschulen dienen der Ausbildung zu einem be-
stimmten Berufe, ihnen geht die Erziehung einer Allgemeinschule vorauf;
nach der Stufe der Fachschule richtet sich auch die Stufe der Vorbildung.
steUung Die Mathematik spielt nun eine Rolle sowohl an den Fachschulen wie
innerh^*' ^.n den Allgemeinschulen. Das eine ist sehr leicht erklärlich, das andere er-
der Gesamtheit scheint nicht so unmittelbar verständlich. Denn mathematische Hilfskenntnisse
de^ Untemcnts.
sind für bestimmte Berufszweige unentbehrlich, und wenn vielfach auch die
mathematischen Bestandteile der Ausbildung das Bestreben haben, in der
eigentlichen fachlichen Belehrung aufzugehen, und wenn diese Tendenz auch
wenigstens bei uns in Deutschland durch das von vielen Seiten mit großer
Heftigkeit betriebene Zurückdrängen einer geordneten mathematischen Un-
terweisung stark gefördert wird, so bleiben die mathematischen Bestandteile
Einleitung. A 51
der Ausbildung doch auch in der engen Verschmelzung mit dem Fachstudium
deutlich erkennbar bestehen.
Dagegen ist die Rolle, welche die Mathematik in der Allgemeinbildung
spielt, nicht so leicht zu begreifen , wenn man die Schwierigkeit bedenkt,
welche die Mitteilung mathematischer Kenntnisse bietet, und die Abneigung
berücksichtigt, welche in den Kreisen der Gebildeten gegen die Abstraktheit
und Schwerverständlichkeit des mathematischen Wissens besteht. Es könnte
scheinen, daß die Mathematik nur in passender Beschränkung und Aus-
wahl für die Berufe, die ihrer nicht entraten können, und im vollen Umfang
für solche Menschen, die durch Begabung und Neigung auf sie hingewie-
sen werden, bestimmt sei. Dem widersprechen die Tatsachen aber durchaus.
Die Mathematik nimmt in der Allgemeinbildung unserer Zeit eine hervor-
ragende und unbestrittene Stellung ein. Diese Stellung zu erklären, wird un-
sere erste Aufgabe sein. Über die fachliche Verwendung der Mathematik läßt
sich nicht viel sagen, ohne in mathematische Einzelheiten einzugehen und
damit ein Verständnis für das ganze Lehrgebäude der Mathematik vorauszu-
setzen. Diese Verwendung hat wohl ein großes Interesse für die an dem fach-
lichen Unterrichtswesen beteiligten Personen, aber den weiteren Kreisen der
Gebildeten, an die sich unsere Darstellung wendet, liegt sie viel ferner als die
Rolle, welche die Mathematik in der Allgemeinbildung spielt.
Die Hauptfrage, die uns zunächst beschäftigen muß, ist die: Wie ist es
möglich, von der Mathematik als einem besonderen und durchaus wesent-
lichen Element der allgemeinen Bildung unserer und vergangener Zeiten zu
sprechen? Ist diese mathematische Bildung etwas von der mathematischen
Forschung Getrenntes und neben dieser Hergehendes, oder ist sie nichts wie
ein unmittelbarer Ausfluß der mathematischen Forschungsarbeit? Ist das erste
der Fall, so ist es in der Tat gerechtfertigt, die mathematische Bildung neben
der mathematischen Forschung besonders zu behandeln. Fällt aber mathema-
tische Bildung und mathematische Forschung im Wesen zusammen, so würde
es überflüssig, ja verkehrt sein, beides voneinander in der Darstellung zu
trennen.
Es ist nicht ganz leicht, hier die richtige Antwort zu finden. Der Begriff
der mathematischen Bildung als eines Teils der Allgemeinbildung ist, nach-
dem er in den Zeiten der Pythagoreer so einfach und natürlich schien, heute
viel umstritten und keineswegs fest umrissen. Ihm wird auch von Seiten der
Mathematiker, weil ihnen nur die eigentliche Forschungsarbeit am Herzen
liegt, meistens wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Dennoch ist es klar, daß,
wenn die Mathematik einen Hauptlehrgegenstand unserer allgemeinen Schu-
len bildet, sie auch eine allgemeine Bedeutung und ein allgemeines Interesse Bedeutung
besitzen muß. Besteht dieses Interesse nun einfach in einer größeren oder tiscLn^BUd^ng
geringeren Anteilnahme an der mathematischen Forschungsarbeit? Man wird ^""^ '^■« .
zunächst versucht sein, darauf unbedingt mit Ja zu antworten. Es erscheinen
nämlich nur zwei Möglichkeiten. Entweder bleibt der Unterricht auf einem
früheren Stadium der mathematischen Erkenntnis stehen, das der Fassungs-
4^
52 A H. E. Timerding: Die Verbreitung mathemat. Wissens u. mathemat. Auffassung.
kraft des Schülers gerade angepaßt ist, oder aber man sucht auch aus den
neueren Untersuchungen immer noch Früchte für den Unterricht zu ernten,
indem man zwar nicht alle die Gebiete behandelt, die der Forschung erschlossen
worden sind, aber doch die Klärung der Auffassung und die wesentlichen Be-
griffe, zu denen die Forschung geführt hat, im Unterricht mitzuteilen sucht.
Diese zweite Auffassung ist unbedingt herrschend in unserem Universitäts-
unterricht, wo die weitgehende Spezialisierung des Studiums eine wirkliche
mathematische Fachbildung möglich macht. Aber im Schulunterricht und
selbst in einzelnen Universitätsvorlesungen findet man doch meist die be-
quemere Auffassung vertreten, daß man bei einer bestimmten Epoche der
Entwicklung stehen bleiben und alles ignorieren darf, was später geleistet ist,
auch die daraus folgende Umwandlung der Grundanschauungen. Ein deutliches
Beispiel hierfür ist die Schulgeometrie, die zum Teil immer noch auf dem Lehr-
werke des Euklid fußt. In England bilden heute noch Euklidübersetzungen
gebräuchliche Lehrbücher. Aber auch unsere deutschen Lehrbücher haben
erst in der jüngsten Zeit angefangen, sich von dem Euklidischen Vorbilde
freizumachen. Nicht viel anders ist es mit dem arithmetischen Unterricht,
wenn auch hier die Vorbilder nicht so alten Datums sind. Es ist hauptsächlich
die aus dem 1 8. Jahrhundert stammende Anleitung zur Algebra von Leonhard
Euler, die ihren Einfluß ausübt. Dieser Einfluß ist indessen darum bedenk-
lich, weil Euler zwar ein großer Mathematiker gewesen ist, aber über die
Grundbegriffe der Mathematik Anschauungen gehabt hat, die wohl seiner Zeit
gemäß, jedoch gegenwärtig längst überwunden sind. Dazu gehört z. B., daß
die Teilung der Zahlen mit der Teilung eines materiellen Quantums ver-
wechselt wird, kurz gesagt, die metrische Auffassung der Zahlen. Auch
die ganze Hierarchie der arithmetischen Operationen, wie sie von der Addition
anfangend der Reihe nach aufeinander aufgebaut und auseinander hergeleitet
werden, geht wesentlich auf Euler zurück. So scheint tatsächlich der mathe-
matische Schulunterricht ein früheres Stadium der mathematischen Forschung
widerzuspiegeln.
Verhältnis des Es Ist abcr ein Irrtum zu glauben, daß die letzten und wichtigsten Er-
unterrichts zur gebuissc der mathcmatischcn Forschung nicht doch jedem Unterrichte zugute
mathematischen kommcu könncn. Denn sie lieg-en nicht in den lanefwierigren und nur nach
Forschung. o ö ö
gründlicher Schulung verständlichen Entwicklungen, zu denen die immer
weitergehende Anhäufung des Forschungsmaterials führt, sondern in der Aus-
bildung der Grundanschauungen, die schließlich aus der ganzen Forschungs-
arbeit als etwas an sich höchst Einfaches hervorgehen. Wenn man die Brüche
nicht als Stücke eines Ganzen, wie sie durch mechanische Teilung hervor-
gehen, auffaßt, sondern als Zahlenpaare, die analogen Rechenregeln unter-
worfen werden wie die einfachen Zahlen, so klingt das gewiß sehr schlicht
und klar, und doch war eine weitgehende Entwicklung der arithmetischen
Wissenschaft notwendig, um eine solche Auffassung zu begründen.
Freilich wird man unter Umständen sehr schwere Bedenken dagegen
haben, die definitive wissenschaftliche Auffassung auch in den Elementar-
Einleitung. J^ e7
Unterricht zu übertragen. Man wird eine andere, an sich unvollkommenere
Auffassung häufig als die pädagogisch wertvollere bevorzugen, man wird dem
Schüler nicht gleich die volle Abklärung der Begriffe mitteilen, sondern wird sie
sich erst allmählich in dem Geiste des Schülers selbst ausbilden lassen. Manches,
woran die mathematische Forschung gleichgültig vorübergeht, ist von großer
Bedeutung für den Unterricht; wir brauchen nur an die psychologische Seite
zu denken. Damit aber kommen wir zu einer Ansicht, die den mathematischen
Unterricht nicht einfach als Ausfluß des gegenwärtigen Zustandes der
mathematischen Forschung erscheinen läßt, sondern ihm seine besonderen
Regeln und Gesetze zuschreibt. Er wird dadurch etwas, was neben der mathe-
matischen Forschimg hergeht und neben ihr ein gesondertes Dasein fährt, und
deshalb ist auch die Darstellung des mathematischen Unterrichtes etwas,
was zu der Darstellung der mathematischen Forschung ergänzend hinzu-
treten muß.
Es ist nun offenbar, daß der Gebrauch, den man von der Mathematik zweck-
machen will, die Art ihrer Behandlung von Grund aus bestimmen muß und darum ^^^"^^^^chZ
die Mathematik, wo sie, wie in der fachlichen Ausbildung, ihrer praktischen Unterricht.
Verwendung halber getrieben wird, ganz anders zu unterrichten ist, als wo
sie als Bestandteil der allgemeinen Bildung auftritt. Bei der praktischen Auf-
gabe handelt es sich allein darum, aus dem, was als gegeben vorliegt, das,
was gesucht ist, mit hinreichender Genauigkeit und in gebrauchsfertiger Form
abzuleiten. Auf je einfachere und bequemere Weise dies gelingt, um so besser
ist die Lösung der Aufgabe. Die Freude an der mathematischen Entwick-
lung selbst muß ganz zurücktreten gegenüber dem Bestreben, die aufzuwen-
dende rechnerische oder zeichnerische Arbeit auf ein Mindestmaß zu beschrän-
ken. Dementsprechend braucht auch der künftige Praktiker nicht zu lernen,
was nie für ihn von Bedeutung sein kann. Wollte man ihn auf die verschlun-
genen Pfade der Spekulation führen, so würde er sich auf ihnen nur verirren
und von seinem Ziele abkommen. Anders liegt der Fall, wo nicht der Ge-
danke einer beruflichen Verwertung des Gelernten die Führung hat Hier
wird die praktische Ausführung verhältnismäßig gleichgültig, wenn auch ein
gewisses Eingehen auf sie durch die Förderung des praktischen Sinnes, die
überall zu erstreben ist, geboten wird. Dagegen gewinnt die prinzipielle Er-
kenntnis eine entscheidende Bedeutung. Die Schüler unserer allgemeinen
Schulen sollen nicht lernen. Brücken zu berechnen, Maschinen zu konstru-
ieren und Straßenzüge abzustecken, sie sollen höchstens einen Begriff davon
bekommen, aufweichen wissenschaftlichen Grundlagen dies geschieht, dafür
aber soll ihnen die allgemeine Bedeutung der mathematischen Begriffe und
Gesetze in einer ihrem Fassungsvermögen und ihrer Gesamtbildung ange-
paßten Weise klargemacht werden.
So einfach und einleuchtend das alles klingt, so ungeheuer schwer ist es
doch im einzelnen durchzuführen. Viel leichter und einfacher ist es, den mathe-
matischen Schulunterricht so zu handhaben, daß er eine zweckmäßige Vor-
bereitung für diejenigen Schüler bildet, die später die Mathematik für ihren
54 A. H. E. Timerding : Die Verbreitung mathemat. Wissens u. mathemat. Auffassung.
Lebensberuf gebrauchen. So wird er auch noch vielfach betrieben. Wir stehen
eben, was das mathematische Bildungswesen betrifft, erst am Anfang einer
neuen Entwicklung. Die Grundlage dieser Entwicklung muß aber die Er-
kenntnis sein, daß dem mathematischen Unterricht nicht eine bestimmte Bahn
vorgezeichnet ist, die er notwendigerweise gehen muß und die für alle Schul-
gattungen dieselbe ist. Was der Schüler einer höheren Lehranstalt aus dem
mathematischen Unterricht mit ins Leben hinausnimmt, sollen nicht wie beim
Schüler einer Fachschule bestimmte Kenntnisse sein, die ihn befähigen, die
Aufgaben seines Berufes gehörig zu beherrschen, indem er, wo sie einer
mathematischen Lösung bedürfen, diese Lösung zu finden lernt, es ist vielmehr
eine bestimmte Art, die Wirklichkeit aufzufassen. Mathematische
Rechnungen wird das Leben selten verlangen, wohl aber eine Fähigkeit des
Ausbreitung des mathematischen Denkens, Die Ausbreitung der mathematischen Auffassungs-
"^DeriTeM!^ ''" weise ist für uns daher fast wichtiger als die Ausbreitung der einzelnen mathe-
matischen Kenntnisse. Die mathematische Auffassungsweise bedeutet die Aus-
übung einer analysierenden Tätigkeit des Verstandes, an der die vollständige
Aufnahme eines gegebenen empirischen Materials, seine lückenlose logische
Verbindung und die absolute Sachlichkeit, die Unabhängigkeit von allen
persönlichen Meinungen und Empfindungen die entscheidenden Merkmale
sind. Es ist die Quintessenz des „bien raisonner", das Friedrich der Große
im Sinne der Aufklärung als Grundlage der ganzen Erziehung hingestellt
wissen wollte.
Die Ausbreitung des mathematischen Denkens ist aber keineswegs auf
den Unterricht in der Schule beschränkt, sie wird ebensogut auch auf dem
Wege der literarischen Veröffentlichung erreicht. Ja lange Zeit ist diese Art
der Mitteilung der Hauptweg gewesen, auf den die Verbreitung der mathe-
matischen Wissenschaft angewiesen war, und wenn heute auch niemand mehr,
der nicht eine besondere Vorliebe für Mathematik hat, ohne eine bestimmte Ver-
anlassung nach einem Buche greift, das irgendwie nach Mathematik schmeckt,
so dringen immer noch durch gemeinverständliche astronomische und phy-
sikalische Schriften die Früchte des mathematischen Denkens in weite Kreise,
und für die Philosophie spielt das Wesen der mathematischen Erkenntnis
fortgesetzt eine große Rolle. Daß nicht auch der Mathematik an sich ein ge-
wisses Interesse entgegengebracht wird, hat zum Teil vielleicht gerade den
Grund, daß sie in den Schulen allzu gründlich und ausführlich behandelt wird.
In englischen Zeitschriften finden sich fortwährend Rätselaufgaben mathe-
matischen Charakters und erfreuen sich einer großen Beliebtheit. Es ist merk-
würdig, daß wir Deutschen später im Leben gerade die Dinge meiden, die
auf der Schule am meisten getrieben worden sind. Wenn aber das das Resultat
des mathematischen Unterrichts ist, so ist es kein gutes Zeichen für ihn.
Die didakHsche Die eigentümlichen Schwierigkeiten, denen die Schaffung eines vernünf-
tigen und zeitgemäßen mathematischen Unterrichts begegnet, liegen wesent-
lich darin begründet, daß uns eine eigentliche didaktische Mathematik heute
noch fehlt. Darunter dürfen wir nicht die aufgehäuften Materialien früherer
Einleitung. A 55
Forschungsepochen verstehen, sondern eine die modernen Errungenschaften
voll verwertende, frei und unabhängig schaffende Wissenschaft, deren Auf-
gabe die Nutzbarmachung der Mathematik für die Allgemeinbildung ist
Diese Aufgabe ist ebenso schwierig und wichtig wie die Fortleitung der
mathematischen Erkenntnis auf immer neue Bahnen und Gebiete. Es haben
aber bis jetzt im allgemeinen alle die, die an der mathematischen Forschung
tätigen Anteil nahmen, wenig Neigung gezeigt, ihre Arbeiten durch die Zwecke
des Unterrichtes bestimmen zu lassen, trotzdem ihre berufliche Stellung meist
auf diesen Zwecken aufgebaut ist. Anderseits erstarren die, welche an dem
Unterricht unmittelbar beteiligt sind, leicht in bestimmten Schulmeinimgen,
sie finden nicht die Zeit und Gelegenheit, mit der rasch fortschreitenden
Wissenschaft in Fühlung zu bleiben und sich so die gehörige Tiefe der Auf-
fassung und Weite des Überblicks zu erhalten. Wohl sehen wir die Pädagogik
als eine allgemeine Wissenschaft an, aber die Mathematik hat in ihr nur eine
kümmerliche Stellung gefunden. Die Einsicht, daß der Bereich aller Lehr-
gegenstände nicht von einem Menschen umspannt werden kann und daß des-
halb auch innerhalb der Pädagogik eine DifFerenzierung der Betätigung ein-
treten muß, beginnt sich erst langsam durchzusetzen.
So stehen wir vor einer großen Aufgabe, die aber einstweilen der Zukunft
angehört: der wirklichen Durcharbeitung der Mathematik in ihrer erziehe-
rischen Bedeutung, welche die Klärung der Methoden und die Beschaffung
des Unterrichtsmaterials in der richtigen Anpassung an den besonderen Zweck
zu leisten haben wird. Aber es kann nicht unsere Aufgabe sein, die Zukunft
vorahnend zu bestimmen. Wenn wir jedoch bloß auf die Gegenwart sehen, so
entgeht uns, unter welchen verschiedenen Gesichtspunkten die mathematische
Bildung überhaupt auftreten kann, welche wechselnde Bedeutung sie je nach Historischer
der Kultur hat, in die sie sich einfügt, wir erfassen nicht alle Licht- und der'fowenden
Schattenseiten, die ihr anhaften. Daher ist es besser, die ganze Entwicklung Betrachtung
des mathematischen Bildungswesens, soweit es nach den uns erhaltenen
Quellen und in einer kurzen Darstellung möglich ist, an unserem Geist vor-
überziehen zu lassen.
Es ist ja klar, daß, wenn die Mathematik eine erzieherische und bildende
Bedeutung, wie wir sie ihr zuschreiben, wirklich besitzt, diese Bedeutung
sich im Laufe der Zeiten offenbart haben muß. Die Vergangenheit liefert so
nicht bloß den Schlüssel zum Verständnis der gegenwärtigen Zustände, sondern
sie klärt auch den Blick für die Erkenntnis der wahren Aufgaben des mathe-
matischen Unterrichtswesens und seiner Stellung in der Gesamtheit der Bildung.
Wir müssen bedenken, daß unser Bildungswesen nicht willkürlich ge-
schaffen ist, sondern sich ebenso wie die politischen und sozialen Verhält-
nisse der einzelnen Völker im Laufe der Zeiten mit innerer Notwendigkeit
entwickelt hat. Wandlungen in dem Bildungswesen und in dem Bildung.s-
ideal sind immer Hand in Hand gegangen mit tiefgreifenden Veränderungen
in den äußeren Verhältnissen der Staaten. In dem Bildungswesen spiegelt
sich der Gang der Weltgeschichte deutlich wider. Die einmal erworbene
56 A H. E. Timerding : Die Verbreitung mathemat. Wissens u. mathemat. Auffassung.
Auffassung des Bildungsideals hält sich mit großer Zähigkeit, aber um so
charakteristischer sind die Umwandlungen, denen es nach Ort und Zeit unter-
worfen ist. So steht das christliche Mittelalter auf dem Boden des Altertums,
aber der Schwerpunkt des Interesses ist verschoben. Das christliche Glaubens-
bekenntnis bildet den Brennpunkt alles geistigen Lebens, während die grie-
chische Bildung, die das Altertum beherrscht, von einer freien Ausgestaltung
des alten Götterglaubens ausgehend sich erst allmählich von der Natur-
betrachtung den sittlichen Problemen und von diesen wieder einer übernatür-
lichen Ordnung der Dinge zuwandte.
Die geistige Bildung ist dauernder wie die Staaten, die aufleben und ab-
sterben. Sie wird von der untergehenden der aufblühenden Nation über-
geben, wie ein Besitztum sich vom Vater auf den Sohn vererbt. Von einem
Volke, das längst vergangen ist, hält sich sein geistiges Wesen frisch und
lebendig, nicht bloß in seinen Schriften und Denkmälern, sondern auch in
einer fortlaufenden Überlieferung, die beständiger ist, als wir gewöhnlich
denken. Diese Überlieferung wird nur gelegentlich durchbrochen von einem
unmittelbaren Zurückgreifen auf die erhaltenen Monumente. Eine solche Re-
naissance hat zweimal das Bildungswesen ergriffen, einmal am Ausgang des
Mittelalters, und das zweitemal gegen Ende des 1 8. Jahrhunderts. Beidemal
war es das klassische Altertum, im besonderen das bewunderte Vorbild der
Griechen, das der Umwandlung die Richtung gab. Aber die Griechen selbst
waren ihrerseits wieder von außen her beeinflußt, namentlich von den Ägyptern
und den asiatischen Völkerschaften.
So werden wir weit zurück ins Altertum verwiesen, wenn wir die Quellen
unserer Bildung und aus ihnen das rechte Verständnis für sie suchen. Aber
der Bereich, den wir zu fassen haben, braucht nicht fortwährend die ganze
Erde zu umspannen. Es hebt sich vielmehr ziemlich klar und deutlich ein
Weg heraus, der von einem Volk zum andern führt und den wir da, wo er
sich verbreitert und teilt, immer so verfolgen, daß er in den gegenwärtigen
Zustand des Bildungswesens unseres Vaterlandes ausmündet.
I. Die mathematische Bildung der Ägypter.
Die Anfang« Es Unterliegt keinem Zweifel, daß mathematische Kenntnisse sich zuerst in
^'^''berSer^"'' Ägypten finden, und ebensowenig, daß sie praktischen Bedürfnissen ihren Ur-
ÄKyptorn. spruug Verdanken. Nach Eudemus sind es die durch die Nilüberschwemmun-
gen immer wieder aufs neue notwendig werdenden Abgrenzungen der Felder
gewesen, welche die Kunst der Geometrie entwickelt haben. Dem entspricht
auch das griechische Wort „Geometrie", das ja nichts anderes wie Feldmes-
sung bedeutet. Es ist aber sicher nicht allein die Feldmessung gewesen, die
auf die Geometrie führte, auch die großen Steinbauten der Ägypter, die schon
zu Beginn des vierten Jahrtausends v. Chr. einsetzen, bedingen notwendig
ein gewisses Maß von geometrischen Kenntnissen. Es hat sich schon sehr
früh ein besonderer Beruf der Baumeister und Steinmetzen entwickelt, für den
die geometrische Abstraktion der regelmäßig gestalteten Raumformen die
I. Die mathematische Bildung der Ägypter. A 57
Grundlage bildet. Damit steht in Zusammenhang eine gewisse Vorliebe für
eine möglichst große geometrische Regelmäßigkeit, die sich in der Ausbil-
dung der alten Mastaba zur Pyramide deutlich offenbart. In der Herstellung
der regelmäßigen geometrischen Gestalt im gigantischsten Maßstabe drückt
sich das aus, was man unter den erworbenen Kenntnissen vielleicht für das
Wichtigste hielt, die Fähigkeit, einem Bauwerk eine ganz bestimmte Neigung
seiner Seitenflächen und Orientierung gegen den Horizont zu geben. Eine ebene
Wandfläche so herzustellen, daß sie nicht vertikal, sondern in bestimmter Weise
geneigt ist, bedeutet technisch nicht eine so ganz einfache Leistung, wie man
wohl annehmen möchte. Die durch das Senklot bestimmte vertikale Wand
ist viel leichter herzustellen. Die ägyptischen Baumeister haben die erworbene
Kunst mit Stolz gezeigt, indem sie auch Tempeln und Königshäusern solche
geneigte Wandflächen gaben. Das dazu benutzte Instrument besteht im wesent-
lichen aus einem rechtwinkligen Dreieck, von dem eine Kathete vertikal, die
andere horizontal und senkrecht zu dem unteren Rand der Mauer gestellt wird.
Diese horizontale Kathete nannten die Ägypter Piremus, „das Hinausgehen-
in die Breite", woher anscheinend das Wort Pyramide stammt Die stehende
Kathete hieß Uchatebet, „ das Suchen der Fußsohle ". Das Verhältnis der hori-
zontalen zur vertikalen Kathete hieß Seg^^. Das rechtwinklige Dreieck, das so
neben der rechteckigen Form der Felder, des Grundrisses der Gebäude nun
als Grundfigur auftritt und sich ja auch unmittelbar als Hälfte des Recht-
ecks ergibt, wurde aber erst dadurch einer weitgehenden praktischen Verwen-
dung fähig, daß es mit dem Begriff der ähnlichen Veränderung einer Figur ver-
quickt wurde, den die Ägypter voll ausgebildet hatten. So benutzen sie schon
zur Übertragimg einer Zeichnung in verändertem Maßstab ein quadratisches
Netz, ein Verfahren, das viele Jahrtausende später ein Gelehrter und Künstler
der italienischen Frührenaissance, Leo Battista Alberti, wie etwas Neues
mitteilte.
Die Festlegung des rechten Winkels ist auch bei dem einfachsten Bau
eine der ersten und wichtigsten Aufgaben. Sie geschieht gewöhnlich mit dem
Winkelhaken, den auch die Ägypter schon gekannt haben. Es gibt aber noch
ein sehr bequemes Verfahren, durch welches die Festlegung des rechten
Winkels auf eine Längenmessung zurückgeführt wird und welches darin be-
steht, daß man eine Schnur, in die in gleichen Abständen Knoten geknüpft
sind, in passender Weise um drei Pflöcke legt. Es beruht auf der einfachen
Tatsache, daß ein Dreieck, dessen Seitenlängen sich wie die Zahlen 3, 4, 5
verhalten, ein rechtwinkliges ist. Dieses Verfahren ist von den Ägyptern ge-
funden worden und sie gaben ihm nicht n\it Unrecht eine große Bedeutung.
Vielleicht davon ausgehend suchten die ägyptischen Feldmesser überhaupt
alle Messungen im Felde auf Längenmessung zurückzuführen, Sie wurden
deshalb von den Griechen auch Seilspanner, Harpedonapten, genannt. Das Die Harpedo-
gespannte Seil wurde aber nicht bloß zur Bestimmung der Entfernungen, °*p*^°-
sondern auch zur Festlegung der Richtungen benutzt. Es wurde so gespannt,
daß es nach dem Punkte, der die Richtung bestimmte, hinwies, und dann
58 A H. E. Timerding: Die Verbreitung mathemat. Wissens u. mathemat. Auffassung.
wurden unter ihm zwei Pflöcke in die Erde eingeschlagen. Die Vorgänge
bei der Anlegung des Grundrisses eines Gebäudes waren in Ägypten nicht
viel anders, wie wir sie heute bei jedem Bau beobachten können. Das ist kein
bloßer Zufall, sondern liegt an der Zähigkeit der handwerksmäßigen Über-
lieferung, die von den Ägyptern bis zu uns herüberreicht. Ägyptische Bau-
meister, Steinmetzen und Feldmesser spielten im ganzen Altertum eine große
Rolle. Als Augustus eine Vermessung des Landes ausführen ließ, zog er
ägyptische Feldmesser heran.
PrakHsche Vou dcr logischcn Schlußfolgerung, die das Wesen der wissenschaftlichen
"Geometrie ausmacht, kann bei ihren ersten Anfängen keine Rede sein. Die
praktische Be deutung war das Entscheidende. Zwischen Näherungswertund
exakterBerechnungwurde kein Unterschied gemacht. DieÄgypterbesaßen zum
Teil sehr brauchbare Näherungsformeln, z. B. für die Ausmessung des Kreises,
es finden sich aber auch direkt falsche Formeln, deren sie sich bedient haben.
So benutzten sie zur Bestimmung des Flächeninhalts eines Vierecks das Pro-
dukt aus den arithmetischen Mittelwerten der Paare gegenüberliegender
Seiten. Dies Verfahren ist nur zu verstehen als eine Näherungsrechnung für
Vierecke, die zwar nicht genau, aber doch ungefähr rechteckig sind. Es ist
aber noch im Jahre 237 V. Chr. in der Schenkungsurkunde des Tempels von
Edfu angewendet worden, ebenso wie die Formel, die den Inhalt eines gleich-
schenkligen Dreiecks als Produkt der Schenkellänge mit der halben Länge
der Basis liefert. Das geschah in demselben Lande, in dem schon über ein
halbes Jahrhundert vorher Euklid seine Elemente geschrieben hatte. So
wenig Einfluß hatte die griechische Geometrie auf die praktische Mathematik
der Ägypter erlangen können. Das Festhalten am Althergebrachten, das als
heilig und unverletzlich galt^ übertrug sich sogar durch das Ansehen der ägyp-
tischen Geometer auf die römische Kulturwelt und von da auf das christliche
Mittelalter, in dem sich immer noch dieselben falschen Inhaltsformeln und
dieselbe Verständnislosigkeit für den Unterschied zwischen praktischer
Brauchbarkeit und theoretischer Richtigkeit finden. Dabei war in Ägypten
selbst die Entwicklung, ausgehend von dem Gedanken der Harpedonapten,
den Inhalt einer Figur allein durch Längenmessungen zu bestimmen, längst
zur richtigen Formel fortgeschritten. Die Lösung liegt bekanntlich in der
sogenannten Heronischen Dreiecksformel, welche den Inhalt des Dreiecks aus
den Seitenlängen zu finden lehrt. Sie bedingt die Erkenntnis, daß der Flächen-
inhalt des Vierecks überhaupt nicht aus den Seiten allein zu finden ist, daß
man es vielmehr zuerst durch eine Diagonale in zwei Dreiecke zerlegen
und für diese dann die Aufgabe lösen muß, wobei man allerdings zu einer
ziemlich verwickelten Berechnungsart gelangt. Daß die Kunst des Messens
auf der Erde und am Himmel im späteren Altertum gerade in Ägypten sich
zu einer hohen Blüte entwickelt, liegt sicher zum Teil an alteingewurzelten
Fähigkeiten und Neigungen.
Leider rinnen die Quellen für die Kenntnis der alten ägyptischen Mathe-
matik nicht sehr reichlich. Die Hauptquelle bildet der von Eisenlohr ent-
I. Die mathematische Bildung der Ägypter. -A- 59
iifferte Papyrus Rhind. Nach R^villouts Ansicht ist er das Heft eines
äg^'-ptischen Schülers, das nach einem wohl als Lehrbuch benutzten Muster
aus dem Jahre 2200 v.Chr. angefertigt und dann von einem Schreiber Ahmes
abgeschrieben ist. Das Muster selbst ist vielleicht in Papyris zu sehen, die in
Kahün im Jahre 1889 gefunden wurden. Im allgemeinen scheint sich die Lö-
sung der Aufgaben mehr durch die persönliche Unterweisung als durch schrift-
liche Überlieferung fortgepflanzt zu haben. Wenn deshalb die schriftlichen
Zeugnisse mangeln, so sprechen doch die Bauten selbst imd die uns er-
haltenen Architekturzeichnungen eine deutliche, nicht mißzuverstehende
Sprache. Das meiste, was für die Architektur, auch der heutigen Zeit, an
geometrischen Kenntnissen und Vorstellungen notwendig ist, muß sich der
Hauptsache nach schon sehr früh bei den Ägyptern entwickelt haben. Es
ist dies eine praktische Mathematik, die ihre Eigenart, die Übermittelung durch
die persönliche Unterweisung, die ausschließliche Betonung des praktischen
Zweckes und die Begründung auf der anschaulichen Erfassung der Wirklich-
keit bis in die Gegenwart bewahrt hat, die aber heute allerdings kaum mehr
als Mathematik empfunden wird.
Es wirkten jedoch eine Reihe eigentümlicher Umstände dahin, neben dem Aufkeimen
praktischeninteresse auch die theoretische Forschung schonbei den Ag^'p- ^^inttresseT.
tern aufkommen zu lassen. Diese Umstände liegen zunächst darin begründet,
daß die praktischen Aufgaben, welche die Geometrie zu erfüllen hatte, mit
dem geistigen und sittlichen Leben des Menschen in enger Beziehung standen.
Die Abteilung der Felder war nicht bloß eine technische Aufgabe, sie stand
in Verbindung mit Sitte und Recht; jedem so viel zu geben, wie ihm zukam,
das war ja wesentlich der Zweck. Ebenso waren die Steinbauten, welche die
Ägypter aufrichteten, nicht Wohnungen für lebende Menschen; seine Woh-
nung baute sich in dem glücklichen Lande, wo keine Unbilden der Witterung
zu befürchten waren, jeder nur für seine Lebenszeit, wie es ihm gefiel, aus Holz,
Nilschlamm und Schilf leicht auf. Die Steinbauten dagegen waren Woh-
nungen für die Götter und für die Toten, sie wurden nicht für eine kurze Zeit-
spanne, sondern für die Ewigkeit errichtet. Damit entstand aber nicht bloß eine
enge Verbindung aller der Kenntnisse, die für diese technische Aufgabe nötig
waren, mit dem Gottesdienst und mit der Priesterkaste, sondern es mußte sich
auch offenbaren, daß ebenso unvergänglich wie die aufgerichteten Bauten
die Gesetze waren, auf denen ihre Gestaltung beruhte. Der Papyrus Rhind
beginnt mit den Worten: „Vorschrift zu gelangen zur Kenntnis aller dunklen
Dinge, aller Geheimnisse, welche sind in den Dingen."
So mußte von Anfang an die mathematische Betrachtung in Beziehung
treten mit dem Gedanken des Ewigen, Unvergänglichen; das Bewußtsein dieser
Beziehung prägt sich später in der ganzen griechischen Bildung aufs deut-
lichste aus und überträgt sich auch in die christliche Gedankenwelt hinein.
Vielleicht steht es in Zusammenhang mit dieser symbolischen Bedeutung
der Mathematik, wenn sie in den ägy^ptischen Priester- und Beamtenschulen
als Bestandteil der Bildung aufgenommen wird, vielleicht geben dazu aber auch
meinen Bildung.
60 A H. E. Timerding: Die Verbreitung mathemat. Wissens u. mathemat. Auffassung.
praktische Gesichtspunkte Veranlassung: die Anteilnahme an den Bauten, der
Feldermessung, der Abgaben Verteilung, der Regelung von Vermögensan-
sprüchen usw. Die Grenze zwischen praktisch und theoretisch ist dabei schwer
zu ziehen. Wohin sollen wir es rechnen, wenn für die Abmessungen eines
Tempels die Zahlenverhältnisse nach bestimmten für heilig und wunderwirkend
gehaltenen Regeln bestimmt werden, wie es nicht bloß bei den Ägyptern,
sondern auch bei den in der Kultur von ihnen nicht unabhängigen Babyloniern
und Indern der Fall gewesen ist? Der Gedanke, bestimmten Zahlen eine be-
sondere Bedeutung zuzuschreiben, rührt vielleicht her von der Beobachtung
der Regelmäßigkeit in dem Lauf der Gestirne. Die wichtigsten astronomischen
Perioden sind den Ägyptern schon sehr früh bekannt gewesen. Damit mußte aber
die Vorstellung einer zahlmäßigen Ordnung des Weltalls und die Idee, daß die
Zahlengeheimnisvolle, wunderbare Eigenschaften und Kräfte haben, auftauchen.
Idee der aiige- Es liegt iu der Mathematik von Anfang an ein theologisches oder meta-
physisches Element, das sie nie verleugnet hat. In ihr offenbart sich die
ideale Geistesrichtung, die den höchsten Problemen zustrebt. Diese Geistes-
richtung hat aber auch das Eigentümliche, daß sie in der Erziehung nicht
mehr den praktischen Zweck der Vorbildung für bestimmte berufliche Auf-
gaben, sondern eine allgemeine Bildung des Geistes voranstellt. Schon bei
den Ägyptern ist die Mathematik dazu verwendet worden, den Geist zu
stärken. Schon bei ihnen finden sich viele von den Aufgaben, durch deren
Lösung nur die Denkfähigkeit entwickelt werden soll, ohne daß sie für irgend
einen praktischen Zweck Bedeutung haben. Diese Aufgaben entnehmen der
Wirklichkeit nur ihre Bilder, bringen diese aber in eine Verbindung, die der
Wirklichkeit oft geradezu Hohn spricht. Hierzu gehören die bekannten Auf-
gaben, an denen die Ägypter die Begriffe der arithmetischen und geometri-
schen Reihe entwickelt haben, wie wenn 100 Brote an 5 Personen nach einer
arithmetischen Progression verteilt werden sollen, oder wenn die bekannte
Zählung gegeben wird: 7 Personen haben je 7 Katzen, jede Katze frißt 7 Mäuse,
jede Maus hätte 7 Ähren Gerste gefressen, jede Ähre bringt 7 Maß Getreide,
und die Frage lautet, wieviel Getreide durch die Katzen der 7 Personen ge-
rettet wird. Die Nachwirkung hiervon können wir noch in unserem arithme-
tischen Unterricht spüren. Ebenso erinnert auffallend an unseren Schul-
unterricht die ägyptische Hau -Rechnung, die nichts anderes bedeutet wie
die Auflösung linearer Gleichungen mit einer Unbekannten. Vielleicht führt
auch hier ein Weg direkt von den Ägyptern über die Araber zu unseren
Schulen. Andere Aufgaben erinnern lebhaft an die Diophantische Arithmetik,
so daß auch dieser Zweig der Mathematik, der ja die Quelle der modernen
Zahlentheorie geworden ist, auf die Ägypter zurückgeht. Die Ägypter
haben eine verwickelte Rechenpraxis ausgebildet, die uns in dem Buche
des Ahmes deutlich überliefert ist und die zu beherrschen Mühe und Fleiß
genug gekostet haben muß; die Auflösung der Brüche in Stammbrüche, die
den Kern der ägyptischen Bruchrechnung bildet, wäre auch für die Schüler
unserer Schulen keine leichte Aufgabe.
I. Die mathematische Bildung der Ägypter. A 6r
Typisch an der ägyptischen Mathematik ist, daß sie, soweit sie nicht un- Erzieherische
mittelbar praktische Ziele h at, zu Erz iehungs zwecken gebildet ist, Aufgaben d^'^M^the^aük
der Praxis werden so vereinfacht und umgestaltet, daß sie als Übungsaufgaben^«' "^""Ägypten)
im Unterricht verwendet werden können. Dies ist z. B. auch bei der Flächen-
messung der Fall. Aus ihr werden Fälle gebildet, wo der Zusammenhang
der Flächengrößen möglichst auffallend und einfach ist, ohne weiter Rück-
sicht darauf zu nehmen, ob diese Fälle in der Praxis wirklich vorkommen
werden. Dahin gehört der berühmte Fall des pythagoreischen Lehrsatzes,
durch den die Fläche eines Quadrats auf zwei Quadrate verteilt wird. Dieser
Satz scheint in der Tat den Ägyptern schon früh bekannt gewesen zu sein.
Die ims erhaltenen Aufgaben betreffen allerdings alle den besonderen Fall,
wo die Längen der Seiten in dem rechtwinkligen Dreieck das Verhältnis 3:4:5
haben, aber es ist schwer einzusehen, wie man bei diesen Dreiecken allein
gerade auf die Beziehung des pythagoreischen Lehrsatzes 3^ + 4^ = 5^
gekommen sein sollte. Der besondere Fall scheint vielmehr nur darum ge-
wählt zu sein, weil sich hier die Beziehung in ganzen Zahlen geben läßt.
Andere Aufgaben haben auch im Unterricht ihren praktischen Charakter
bewahrt Dahin gehört die angenäherte Ausziehung der Quadrat- und Kubik-
wurzeln, sowie die Ausmessung des Kreises, welche die Ägypter auf rein em-
pirischem Wege gefunden zu haben scheinen. Der praktische Zweck leuchtete
bei den ägy^ptischen Priester- und Beamtenschulen (Asbo), deren Charakter
dem imserer Universitäten auffallend ähnlich gewesen zu sein scheint, immer
noch durch. Die Erziehung hatte auch wohl unmittelbar praktische Ziele.
Bei den Beamten ist das unmittelbar einleuchtend, sie wurden eben zur Leitung
praktischer Arbeiten herangebildet. Aber auch die Priester scheinen mit der
praktischen Tätigkeit in enger Fühlung gestanden zu haben; wir finden das
ja auch im Mittelalter wieder, wo die Geistlichen als Baumeister, Feldmesser
usw. tätig sind. Jedenfalls hat den Priestern die Zeitrechnung und die An-
fertigung des Kalenders obgelegen. Aber auch bei den Bauten der Tempel
imd der Abteilung der Felder werden sie eine Rolle gespielt haben.
Auffallend ist bei den Ägyptern die hohe Wertung der praktischen Tätig-
keit, die ganz im Gegensatz zu dem griechischen Bildungswesen steht. Hier
geht keine Tradition von dem äg^^ptischen Schulwesen zu uns herüber. Unter
dem Einfluß der griechischen Bildung haben wir vielmehr gelernt, als höher-
stehend eine Erziehung anzusehen, die keinen praktischen Zweck verfolgt, und
haben dagegen der fachlichen Ausbildung den Stempel der Minderwertigkeit
aufgedrückt. Bei den Äg\^ptern aber ist die praktische Tätigkeit etwas Großes,
ja HeiHges. Beim Tempel von Denderah ist dargestellt, wie der König selbst
mit Hilfe der Göttin der Wissenschaft Safchet den Tempel nach dem Eintritt
der Plejaden in den Meridian orientiert. In der Lischrift sagt der König: „Ich
fasse die Holzpflöcke und den Stiel des Schlegels, die Göttin Safchet hält mit
mir das Seil." Der Winkelhaken kommt häufig auf Bildern in der Hand des
Königs vor, um die Wichtigkeit der technischen Tätigkeit für das ganze Leben
zu zeigen.
62 A H. E. Timerding: Die Verbreitung mathemat. Wissens u. mathemat. Auffassung.
II. Die mathematische Bildung der Griechen.
Anfänge Dlo geomotrischen Kenntnisse der Ägypter nahmen die Griechen auf^
"^^Mftheroatik!^" 3-ls ihre Entwicklung so weit fortgeschritten war, daß sie diese Kenntnisse ver-
stehen und verwerten konnten. Auf welche Weise sie zu ihnen gelangt sind^
ist quellenmäßig nicht festzustellen. Wenn wir aber bedenken, wie eng sie
mit den praktischen Aufgaben zusammenhängen, so müssen wir annehmen^
daß wenigstens ein Teil davon schon in vorhellenischer Zeit mit der ägyp-
tischen Kultur auf das griechische Gebiet herübergewandert ist. Viel haben
sicher die ägyptischen Baumeister und Feldmesser mitgebracht. Wahrschein-
lich sind nicht bloß ägyptische Einflüsse, sondern es ist auch eine Einwirkung
von Babylon her festzustellen. Ob diese Einwirkung eine direkte war, oder
etwa durch die Phöniker und die kleinasiatischen Völker vermittelt wurde,
ist nicht zu sagen. Wir müssen bedenken, daß in der Zeit, aus der uns über
griechische Geometrie etwas berichtet wird, der Handel längst seine Fäden
zwischen allen Völkern gesponnen hatte und die Kenntnisse und Anschau-
ungen eines Volkes leicht zu einem andern gelangen konnten. Reisen in
fremde Länder aus geschäftlichen Gründen und zu Bildungszwecken waren
sehr häufig. Griechische Handelsniederlassungen bestanden im ganzen Be-
reich des Mittelmeers, auch in Ägypten.
Der erste unter den Griechen, von dem bestimmt berichtet wird, daß er
Thaies, sich mit Geometrie beschäftigt habe, ist Thaies (um 620 v. Chr.) aus Milet.
Mag die Überlieferung im einzelnen auch unzuverlässig sein, denn Thaies
galt bei den Griechen als der Repräsentant des Gelehrten überhaupt, dem
schon in früherer Zeit eine Menge von Weisheitssprüchen und anekdotischen
Zügen zugesprochen wurde, immerhin ist es äußerst charakteristisch, welche
Art von geometrischen Sätzen auf ihn zurückgeführt werden. Es sind wiederum
durchaus praktische Aufgaben, von denen er ausgegangen sein soll, die Be-
stimmung von Höhen und Entfernungen. Er soll das begründet haben, was
wir heute als terrestrische Nautik bezeichnen, indem er lehrte, wie die Schiffer
ihren Ort und ihren Weg durch Messung von Winkeln bestimmen können.
Das, was an theoretischer Spekulation auf Thaies zurückgeführt wird, ist
äußerst einfacher Natur, es geht wesentlich von der Fignr des Rechtecks mit
seinen Diagonalen und dem umschriebenen Kreis aus. Ein zwingender Grund
dafür, daß er unmittelbare Kenntnis von der ägyptischen Geometrie gehabt
habe und selbst in Ägypten gewesen sei, scheint nicht vorzuliegen. Das, was
er wußte, konnte schon längst Gemeingut geworden sein. Vielleicht ist daher
schon an diesem Anfangsstadium der griechischen Mathematik trotz aller prak-
tischen Färbung die Wendung zum Theoretisieren doch das Entscheidende.
Ein Mann übernimmt die Geometrie, der keinen praktischen Lebensberuf
verfolgt, dessen Geschäft vielmehr das Nachdenken über das Wesen der Dinge
\ ist. Es ist sicher kein Zufall, daß der Begründer der griechischen Mathematik
i gleichzeitig die griechische Philosophie einleitet, es liegt ja nahe, daß
aus dem philosophischen Forschungsdrang heraus sein Blick sich über die
II. Die mathematische Bildung der Griechen. A 63
praktischen Aufgaben hinaus auf die theoretische Seite der Geometrie hin-
lenkte, indem er erkannte, daß sich hier Sätze finden, denen die Besonderheit
der Erkennbarkeit aus dem bloßen Denken heraus und der unbedingten
Gewißheit eignet.
Dieser Gesichtspunkt tritt ganz entschieden und deutlich bei dem Manne
zutage, der der eigentliche Begründer der Mathematik als einer systema-
tischen Wissenschaft gewesen sein soll, nämlich bei Pythagoras. Man hat Pythagoras
früher von Pythagoras auf Grund der neupythagoreischen Berichte mit Be- ''''^'^. chT^^*^
stimmtheit angenommen, daß er weite Reisen nach Ägypten und Babylon ge-
macht habe. Wenn nun diese Annahme auch nicht gerade dadurch wider-
legt wird, daß Herodot, der zusammenstellt, was er über die Beziehung der
Griechen zu den orientalischen Völkern weiß, von einer Reise des Pythagoras
nichts erzählt, so liegt doch auch keine zwingende Notwendigkeit vor, eine
solche Studienfahrt anzunehmen. Was Pythagoras an Wissen besaß, konnte er
in seiner samischen Heimat erworben haben, so auch die geometrischen und
arithmetischen Kenntnisse , die wir ihm zuschreiben. An diesen Kenntnissen
hatte bereits, wie wir ja an Thaies sehen, nicht bloß der Fachmann, sondern
auch der der Handwerkstätigkeit entrückte Gebildete ein Interesse zu nehmen
begonnen. So wird die auch in Ägypten gepflegte Zahlensymbolik der Baby-
lonier damals unter den kleinasiatischen Griechen längst bekannt geworden
sein. Sie bildete aber gerade den Hauptpunkt, wo das fachliche Interesse
zum erstenmal gänzlich verschwindet und das rein theoretische Moment ein-
setzt. Denn die merkwürdigen und rätselhaften Beziehungen zwischen den
Zahlen sind das, was die Wißbegierde dieses Handelsvolkes, für welches die
Zahl im praktischen Leben sehr viel bedeutete, am meisten reizen mußte.
Die Zahl wurde die Grundlage der ganzen pythagoreischen Philosophie. Di« Zahi.
Sie sollte das Wesen der Welt bilden und die Natur der Dinge begreifen
lehren. Die Pythagoreer, sagt Aristoteles (Metaphys. I, 5), begannen das Stu-
dium der mathematischen Wissenschaften und gingen so völlig in ihren Grund-
sätzen auf, daß sie diese auch für die Prinzipien des Seins hielten. Es ist die
Ansicht, die sich in der orphischen Anrufung ausprägt:
Hilf uns , mächtige Zahl , die Götter und Menschen erzeugt hat,
Heilige Vierheit du, die der ewig strömenden Schöpfung
Wurzel enthält und Quell! Denn es geht die göttliche Urzahl
Aus von der Einheit Tiefen, der unvermischten , bis daß sie
Kommt zu der heiligen Vier, die gebiert dann die Mutter des Alls, die
Erstentstand'ne , die alles vmifasset und alles umgrenzet,
Nie abirret und nie ermattet, die heilige Zehn, die
Schlüsselhalt'rin der Welt, die der Urzahl gleichet in allem.
Die Erzeugung der Zehn aus der Vier ist so gemeint, daß Zehn die Summe
der vier ersten Zahlen ist. Die Vier und die Zehn bilden die Zahlen, auf
welche die Pjthagoreer alles zurückzuführen suchten. Daher rührt z. B. auch
die Vierzahl der Elemente, die zehn Himmelskörper, die sie annehmen usw.
Die Lehre des Pj'thagoras ist aber durchaus nicht eine rein spekulative, Das pytha-
sondem hat auch einen praktischen Hintergrund. Er ist der Gründer einer Büda"gsi^deai.
64 A H. E. Timerding: Die Verbreitung mathemat. Wissens u. mathemat. Auffassung.
politischen Gemeinschaft, und die Beschäftigung mit der Wissenschaft hat
den Zweck der Erhebung über die Denkweise der blöden Masse zu einem
höheren Dasein. Die pythagoreische Wissenschaft tritt von Anfang an als ein
Erziehungsmittel auf, sie schafft das, was von nun an nie mehr verloren geht
und auch in der Gegenwart noch fortblüht, den Begriff einer Bildung,
d'ie ohne Beziehung auf die praktischen Aufgaben allein in der
geistigen Vollendung an sich ihr Ziel sieht und die Vermengung
mit einer gewerblichen Zweckbestimmung verabscheut.
Umgrenzung Das Wort Mathematik bedeutet von Haus aus nichts anderes als eine
emai • ^igggjjschaftliche Bildung überhaupt. Für diese Entstehung der Mathematik
als einer bestimmt umrissenen Wissenschaft ist der äußere Anstoß die Über-
siedelung des Pythagoras aus seiner kleinasiatischen Heimat in die aristokra-
tische Stadt Kroton, wo er einen Bund von Männern gründet, die sich über
die Plattheit des materiellen Lebens erhaben fühlen und allein auf der Weis-
heit ihr Leben aufbauen. Mathematiker hießen die Mitglieder dieses Bundes,
die sich die selbständige Erforschung der Wahrheit zum Ziele setzten, und
Mathematik ihre Wissenschaft. Dieser Begriff ist aber doch nicht so umfassend,
wie es hiernach scheinen könnte, weil die Wissenschaft an einer bestimmten
Stelle einsetzt und deshalb nur das Wissenschaft genannt wird, was man eben
als solche kennt. So ist der griechische Begriff der Mathematik anscheinend
weiter und doch nicht umfassender als der moderne Begriff. Es entspricht
genau der modernen Anschauungsweise, wenn in der pythagoreischen Schule
von mathematischen Körpern im Gegensatz zu den wahrnehmbaren, von ma-
thematischen Figuren und mathematischen Größen gesprochen wird. Archytas
von Tarent soll ein Buch „Über Mathematik" betitelt haben, und gerade von
ihm wird auch berichtet, daß er zuerst die Mechanik auf Grund mathematischer
Prinzipien methodisch begründet habe. In der Tat zeigt die Mechanik bei
den Griechen fortan durchaus auch in unserem Sinne mathematischen Charakter
und hat diesen in der theoretischen Mechanik auch bis auf die Gegenwart
bewahrt.
Die verschie- Was ist es uuu im bcsondcren, was Pythagoras und seine Schule unter
TeTniathl^-^ Mathematik verstanden haben? Die Antwort daraufläßt sich sehr genau geben.
mahschen Es ist zuuächst das Rechnen und die von den Fesseln der Praxis befreite Geo-
W issenschaft.
i metrie. Sodann ist es die Arithmetik, die aber nicht ohne weiteres mit dem
zusammenfällt, was wir darunter verstehen. Arithmetik ist für die Pythagoreer
die Lehre von den Zahlen; sie legt auf die symbolische Bedeutung der Zahlen,
die wir als unwissenschaftlich zurückweisen würden, den größten Nachdruck.
Die rechnerischen Beziehungen zwischen den Zahlen sind nur der Weg, um
ihre tiefere Bedeutung zu erkennen und ihre gesetzmäßigen Zusammenhänge
bloßzulegen. Die Lehre von den Brüchen erscheint in einer eigentümlichen
Form, deren Nachwirkungen aber imUnterricht bis in die Gegenwart fortdauern,
nämlich in der Form der Proportionenlehre. Diese Proportionenlehre aber
wird sofort auf ein scheinbar fernliegendes Gebiet, nämlich auf die Musik an-
gewendet. Es ist ja die große Entdeckung der Pythagoreer, vielleicht schon
II. Die mathematische Bildung der Griechen. A 65
des Pythagoras selbst, daß die musikalischen Harmonien auf einfachen Zahlen-
verhältnissen beruhen, und diese Zahlenverhältnisse werden nun so eng mit
den musikalischen Harmonien verquickt, daß man vielfach nicht weiß, ob von
musikalischen Harmonien oder bloß von arithmetischen Proportionen die Rede
ist. Als viertes Element tritt die Betrachtung des Himmels hinzu. Auch
diese Betrachtung erstreckt ihre Nachwirkung bis in die Gegenwart hinein,
sie prägt sich in dem heute noch gebräuchlichen Ausdruck sphärische Astro-
nomie aus. Weil nämlich die Gestirne auf bestimmten Kugeln liegen sollten,
kam die ganze Astronomie der Pythagoreer wesentlich auf die Betrachtung
der Größenverhältnisse und Bewegungen dieser Kugeln hinaus und wird
deshalb auch als Sphärik bezeichnet. So heißt es in einem Fragment des
Archytas: „Diese Wissenschaften (mathemata): Geometrie, Zahlen, Sphärik,
Musik, sind verschwistert." Die Vierteilung ist hier deutlich ausgesprochen,
sie findet sich ebenso deutlich auch bei Piaton ausgeprägt und hat sich von
da an lange Zeit erhalten. Durch das Lehrwerk des Martianus Capella
ging sie als Quadrivium auf das christliche Mittelalter über, und erst sehr spät
hat sich die Zweiteilung der Mathematik in Arithmetik und Geometrie durch-
gesetzt. Iti der Renaissance wurde zu der Mathematik alles hinzugerechnet, was
ihrem Geiste irgendwie entsprach und sich mit ihr in Zusammenhang bringen
ließ, sogar die Architektur und das Kriegswesen. Erst durch die allmähliche
Loslösung der Anwendungsgebiete ist das übriggeblieben, was wir heute
Mathematik nennen.
Merkwürdigerweise entspricht dies aber ziemlich genau wieder dem alt- Entstehung
pythagoreischen Begriff. Denn was hier beabsichtigt ist, ist doch schließlich derMalhrmatik
die Loslösung der reinmathematischen Formen. Zahlenlehre und Proportionen- >■» i'eurigen
lehre, d. h. die Wissenschaft der ganzen und der gebrochenen Zahlen, bilden
zusammen das, was wir heute Arithmetik nennen. Die Geometrie der Pytha-
goreer ist wesentlich Geometrie der Ebene, Eine systematische Raumgeometrie
fehlt noch. Die Astronomie ist nicht viel anderes wie die heutige Kinematik
oder reine Bewegungslehre. Von einer Trennung des mathematischen Raumes
von dem Weltraum ist in jener Zeit keine Rede, Beides fällt vielmehr un-
mittelbar zusammen ebenso wie die Lehre von den gebrochenen Zahlen mit •
der Lehre von den musikalischen Harmonien. Der Begriff der Bewegung ist
mit der Bewegung der himmlischen und irdischen Körper untrennbar ver-
bunden. Der geometrische Punkt ist unmittelbar das Element des Welten-
raumes wie die Einheit das Element der Zahl, die Pythagoreer schaffen eine
Art mathematischer Atomistik. An dem Quadrat und seiner Diagonale scheint
schon Pythagoras gefunden zu haben — und das ist vielleicht seine größte mathe-
matische Leistung gewesen — , daß das Verhältnis zweier Längen nicht immer
durch das Verhältnis zweier Zahlen angegeben werden kann. Daher bedeuten
die Längen, die sich die Pythagoreer als eine Anhäufung von Punkten und in
ihrem Verhältnis zu den Punkten wie die Zahlen zur Einheit dachten, eine
neue Größenart, und die geometrische Proportionenlehre muß gesondert ent-
wickelt werden.
K.d.G. III. I -Mathematik, A. C
66 A H. E. Timerding : Die Verbreitung mathemat. Wissens u. mathemat. Auffassung.
So haben wir in der pythagoreischen Schule den Ursprung des Begriffes
der Mathematik zu suchen, und es ist auffallend, welch sichere Erkenntnis
des methodischen Charakters und des systematischen Zusammenhangs uns
gleich auf den ersten Entwicklungsstufen begegnet. Von Anfang an aber
tritt die Mathematik als ein wesentlicher Bestandteil der allgemeinen Bil-
dung auf. Die Mathematik ist entstanden als ein Erziehungsmittel, denn
Pythagoras und seine ersten Anhänger haben sicher nicht geglaubt, daß sie
die ersten Bausteine zu einer großen künftigen Wissenschaft zusammentrugen,
sie haben vielmehr gemeint, einen Abschluß erreicht zu haben, ihnen war die Er-
kenntnis der Welt in ihrem Wesen und Zusammenhang, nicht die Auffindung
mathematischer Lehrsätze der Hauptzielpunkt. Diese Ideen zeigen vielfach eine
auffallende Verwandtschaft mit den Gedanken, die bei der Wiedergeburt der
Naturwissenschaften in der Zeit Galileis die leitenden waren. Man lese nur das
folgende uns erhaltene Fragment des Archytas: „Aufruhr dämpft's, Eintracht
erhöht's, wenn die Rechnung stimmt. Denn dann gibt's keine Übervorteilung
und es herrscht Gleichheit. Denn auf Grund der Rechnung setzen wir uns über
die gegenseitigen Handelsverpfiichtungen auseinander. Deswegen nehmen
die Armen von den Vermögenden und die Reichen geben den Bedürftigen,
weil sie beide sich auf Grund der Rechnung darauf verlassen, daß sie so
das Gleiche besitzen werden. So ist sie Richtschnur der Redlichen und
Hemmschuh der Unredlichen und veranlaßt die, die rechnen können, noch
vor der Unredlichkeit innezuhalten, da sie ihnen klarmacht, daß sie bei der
Abrechnung doch nicht unentdeckt bleiben werden; diejenigen aber, die nicht
rechnen können, zwingt sie, von der Unredlichkeit abzulassen, nachdem sie
ihnen auf Grund der Rechnung nachgewiesen, daß sie unredlich gewesen sind."
Die ersten Im 5. Jahrhundert v. Chr. entstand das erste mathematische Lehrbuch, die
"Lcirrbucber.*" Elemente des Hippokrates von Chios. Kurz nach ihm lieferte Leon, ein Zeit-
genosse Piatons, ein neues, bedeutend verbessertes Elementarbuch. Piaton
konnte sich daher bereits auf einen ausgebildeten mathematischen Lehrbetrieb
stützen, wenn er die Forderung aufstellte, daß niemand das Studium der Philo-
sophie beginnen sollte, ohne vorher gründlich Mathematik gelernt zu haben.
Aus den Kreisen der Akademie heraus schrieb Theudios kurz nach Leon ein
drittes Werk über die Elemente der Geometrie. Was den Inhalt dieser Lehr-
bücher betrifft, so scheint es nicht unwahrscheinlich, daß er mit der Um-
grenzung der Euklidischen Elemente zusammenfällt, nur ist die Darstellung
sicher viel weniger entwickelt, die Begründung lückenhafter. Es entspricht
aber so ganz dem pythagoreischen Geiste, daß zuerst die regulären Polygone
und dann die regulären Polyeder den letzten Zielpunkt bilden, ohne daß eine
allgemeine Entwicklung der Raumgeometrie voraufgeht. Man bedenke die
Rolle, welche die letzteren in der pythagoreischen Philosophie und auch in
Piatons Timäus spielen.
Ägyptische Daneben sind die Nachwirkungen der ägyptischen Einflüsse deutlich zu
in ussc. gj.]^gjjj^gjj j)ahin gehört wesentlich die Lehre vom Flächeninhalt und von der
Ähnlichkeit der Figuren, die bei Euklid den Inhalt des ersten und des sechsten
II. Die mathematische Bildung der Griechen. A 67
Buches bildet Unmittelbare Beziehungen mit Ägypten sind für spätere grie-
chische Gelehrte auch sicher festgestellt. So war Oenopides von Chios in
Ägypten und soll von dort die Kenntnis von der Schiefe der Ekliptik und
die Konstruktion des Lotes auf einer geraden Linie mitgebracht haben. Auch
Demokrit von Abdera ist aller Wahrscheinlichkeit nach längere Zeit in Ägyp-
ten gewesen. Wir kennen ihn hauptsächlich als materialistischen Philosophen»
aber er ist nicht bloß der Schöpfer einer besonderen Raumphysik, er hat
auch, wde wir jetzt wissen, die pythagoreische Lehre von der Zusammensetzung
der Linien, Flächen und Körper aus den Punkten zur Gewinnung geometri-
scher Wahrheiten ausgebeutet und damit dieselbe Lehre entwickelt, die später
im 17, Jahrhundert unserer Zeitrechnung als Indivisibelnlehre den Ausgangs-
punkt der modernen Infinitesimalrechnung gebildet hat. Er hat demnach wohl
nicht so unrecht, wenn er von sich selbst sagt: „In den geometrischen Kon-
struktionen auf Grund eines bestimmten Beweisverfahrens hat mich keiner
übertroffen, selbst nicht die ägyptischen Harpedonapten".
Wie sich auf der Grundlage der ägyptischen Mathematik die griechische Die Quadratur
Geometrie entwickelt hat, dafür gibt es kaum ein charakteristischeres Beispiel ^'^ Preises.
als das berühmte Problem der Quadratur des Kreises. Die Ägypter hatten
rein praktisch das Verhältnis des Kreisumfanges zum Kreisdurchmesser oder
auch die Seite eines Quadrates, das dem Kreise inhaltsgleich ist, mit genügender
Annäherung bestimmt. Das Bewußtsein, daß es sich dabei um eine Annäherung
handle und überhaupt eine klare Erkenntnis, was eine Annäherung im Gegen-
satz zu der beweisbaren Konstruktion bedeutet, war bei ihnen noch nicht
vorhanden. Die Griechen selbst hatten inzwischen die Geometrie des Kreises,
von Thaies ausgehend, in einer Weise, die den Ägyptern anscheinend fremd
war, entwickelt. In diese Kreisgeometrie und die übrigen Flächenbestim-
mungen suchten sie nun auch die Bestimmung des dem Kreise inhaltsgleichen
Quadrates einzureihen. Sie versuchten das Unmögliche, dieses Quadrat auf
Grund einer beweisbaren, also theoretisch unbegrenzt genauen Konstruk-
tion mit Zirkel und Lineal zu finden. Sie strebten zu einer logischen Entwick-
lung abzuklären, was ihnen vielleicht die Baumeister nach der aus Ägypten
stammenden Regel als tatsächlich richtig angaben. Der erste, der über die \
Kreisquadratur schrieb, soll nach Plutarch Anaxagoras gewesen sein. Kurz
darauf gab Antiphon, ein Zeitgenosse des Sokrates, das bekannte Verfahren
der dem Kreise einbeschriebenen regelmäßigen Vielecke von beständig stei-
gender Seitenzahl an, das ungefähr zweihundert Jahre später bei Archimedes
zu einem gewissen Abschluß und zu einem sehr brauchbaren Resultate fort-
geführt ist. Noch in das fünfte Jahrhundert fallt die Arbeit des Hippokrates
von Chios, die uns durch den Bericht des Eudemus zum Teil erhalten ist und
zeigt, auf welchen Irrwegen man das Ziel zu erreichen suchte. Freilich sind
diese Irrwege keine Irrwege des Denkens, sondern nur der Aufgabestellung.
Zu dem Problem der Kreisquadratur kommen die anderen Probleme der Andere
Würfelverdoppelung und der Dreiteilung des Winkels, die sich in Griechen- ^"''''^™^'
land selbst, ohne Rücksicht auf die w^ enigstens für das erste von den Ägyptern
5*
68 A H. E. Timerding : Die Verbreitung mathemat. Wissens u. mathemat. Auffassung.
gegebene praktische Lösung entwickelten. Sie sind als Probleme der theo-
retischen Geometrie ebenfalls unlösbar, wenn man die an sich allerdings völlig
willkürliche Forderung aufstellt, sie durch eine theoretisch absolut genaue Kon-
struktion mit Hilfe von Zirkel und Lineal zu lösen. Dabei haben aber gerade
sie zu den feinsten Untersuchungen geführt. Die wirklichen Resultate, welche
die Griechen von diesen Problemen ausgehend erhielten, zeigen gerade, wie
belanglos die theoretische Lösbarkeit mit Zirkel und Lineal ist. Es ist nur ein
Die griechische geistiger Sport, eine solche Lösung zu suchen. Aber die Geometrie wurde
geir%e'r'sport. Überhaupt von den Griechen als ein geistiger Sport angesehen, der die genaue
Parallele zu den leidenschaftlich gepflegten Leibesübungen bildet. Eine solche
Pflege wurde nur möglich durch einen großen wirtschaftlichen Wohlstand;
bei einem Volke, das in hartem Daseinskampfe steht, ist sie undenkbar. Sie
verlangt aber auch einen Widerstand gegen die erschlaffende Wirkung des
Wohllebens, ein Beharren in einfachen Lebensbedingungen. Deshalb eben
haben die Griechen die formale Geistesbildung so hoch geschätzt, weil ihnen
der äußere Luxus wenig bedeutete. Mit dem Steigen der äußeren Kultur
wächst das Interesse für die praktischen Aufgaben und sinkt die rein theo-
retische Wissenschaft. Aber doch ist eine solche rein geistige Tätigkeit, wie
sie die griechische Geometrie bedeutet, nur deshalb möglich gewesen, weil
Handel und Industrie, die Arbeit vieler fleißigen Hände einer vom Schicksal
. begünstigten Klasse von Menschen die Möglichkeit gab, frei ihren Neigungen
zu folgen und auch die Künstler und Gelehrten erhielt, deren Arbeit nicht
unmittelbar zum Nahrungserwerb dienen konnte. Auch die Mathematiker
von Beruf, wenn sie nicht von Hause aus wohlhabend waren, müssen durch
den Unterricht, den sie vermögenden jungen Leuten gaben, ihren Lebens-
unterhalt gewonnen haben. Es wird erzählt, die von den Pythagoreern zuerst
geheimgehaltene mathematische Wissenschaft sei dadurch in weiteren Kreisen
bekannt geworden, daß einem armen Mitgliede des Bundes gestattet wurde,
sich mit ihrer Hilfe sein Brot zu verdienen. Auf diese Weise ist es auch für
die Ausbildung der mathematischen Forschung wesentlich gewesen, daß sie
als ein Bestandteil der höheren Allgemeinbildung angesehen wurde und sich
dementsprechend didaktisch verwerten ließ. Man muß sich einmal klarmachen,
wie ungeheuer schwer der Gedanke einer Spezialwissenschaft zu fassen war,
die den ausschließlichen Lebensberuf einer Reihe von Männern bilden sollte,
ohne daß daraus ein sichtbarer praktischer Nutzen entsprang. Selbst heute
wird ja niemand für die mathematische Forschungsarbeit bezahlt (nachdem es
zwischendurch allerdings einmal anders gewesen ist, solange die Akademien
für sich und nicht im Zusammenhang mit den Universitäten bestanden). Die
materielle Existenz des mathematischen Forschers gründet sich heute auf
eine Lehrtätigkeit, die unmittelbar, durch die Ausbildung geeigneter Lehr-
kräfte, doch der Allgemeinbildung oder aber einer praktischen Fachbildung
zugute kommen soll.
".. ringe Verbrei- Indesscn dürfeu wir wohl nicht denken, daß die Gesamtheit der Gebilde-
"'sd.awid.'e!r " ^^^ i"^ griechischen Altertum eine so weitgehende mathematische Bildung
Mathematik
boi don Griechen.
II. Die mathematische Bildung der Griechen. A 60
empfangen habe, wie sie die Euklidischen Elemente in ihrer Gesamtheit dar-
stellen. Im Gegenteil bedeutete sicher die Beschäftigung mit der Mathematik
in solcher Ausdehnung ein besonderes Fachwissen und ist einer kleineren
Gruppe von Männern vorbehalten geblieben. Sie war gewiß auch lokal eng
begrenzt und empfing durch die antiken Hochschulen von Athen, Alexandria
usw. ihre Hauptstütze. Die technischen Berufe standen mit diesen Hochschulen
nicht in Berührung, sie hielten an den überkommenen Kenntnissen fest und
hatten von der theoretischen Mathematik nur geringen Nutzen. Das er-
klärt es wohl, wenn veraltete Regeln und Formeln, die den inzwischen ge-
wonnenen Resultaten direkt widersprechen, sich immer wieder finden. Erst
unter der Herrschaft der Römer haben aber gerade die praktischen Zweige
einen Einfluß auf die allgemeine Bildung ausgeübt, indem die hochentwickelte
äußere Kultur allen Gebildeten eine gewisse Rücksichtnahme auf das tech-
nische Wissen nahelegte. So erklärt sich z. B. auch das Werk des Vitruv, das
die Baukunst keineswegs für die Architekten, sondern für die literarisch Inter-
essierten behandelt und wohl auch nicht von einem Berufsarchitekten herrührt.
Wenn wir im allgemeinen Unterricht der Römer und des christlichen
Mittelalters von der Entwicklung der griechischen Geometrie wenig Spuren
finden können, so ist das wohl kein Verfall eines früheren Zustandes, sondern
auch vorher außerhalb bestimmter Schulen nie anders gewesen. Würden wir
also die Frage stellen, wann der Inhalt der Euklidischen Elemente zuerst
wirklich zum Bestandteil der höheren Allgemeinbildung wurde, so würden
wir über das neunzehnte Jahrhundert kaum zurückgehen können. Auffallend
aber ist es, daß sich auch bis in die neueste Zeit hinein noch Traditionen aus Zähigkeit
der voreuklidischen, ja aus der vorgriechischen Zeit im Unterricht erhalten Maüi"m'Itik."
haben, die wir durch alle Jahrhunderte vorher zurückverfolgen können. Das
allein läßt schon daraufschließen, daß die wissenschaftliche Mathematik der
Griechen in weitere Kreise keinen Eingang gefunden hatte, daß sich vielmehr
die Mathematik der Praktiker völlig unabhängig von jener theoretischen Mathe-
matik gehalten und als eine Unterströmung während der ganzen Entwicklungs-
zeit der griechischen Geometrie fortbestanden hat, nur daß wir keine literari-
schen Denkmäler von ihr aus dieser Zeit besitzen. Diesist ja auch verständlich,
weil sie sich im allgemeinen durch die persönliche Überlieferung vom Meister
auf den Lehrling und nicht in der Form der schriftlichen Mitteilung fort-
pflanzte. Erst bei Heron und den römischen Agrimensoren sehen wir sie
wieder an die Oberfläche treten, bei Heron vertieft durch die dazwischen-
getretene wissenschaftliche Geometrie der Griechen, bei den Agrimensoren
roh und ungelenk, als hätte es nie einen Euklid gegeben.
Der Gegensatz der praktischen und theoretischen Mathematik, wie ihn
die griechische Bildung ausgeprägt hat und wie er sich fortan erhält, ist im
Grunde ein Gegensatz der Berufe. Die theoretische Mathematik ist eine Lieb-
haberei der vornehmen Stände, welche über der wirtschaftlichen Erwerbs-
arbeit stehen und auf sie verachtend herabblicken. Die einzig würdigen Be-
rufe sind ihnen Staatsverwaltung und Kriegsdienst. Davon ist auch bei
70 A H. E. Timerding: Die Verbreitung mathemat. Wissens u. mathemat. Auffassung.
piaton Platon immer allein die Rede. Wo er von den Anwendungen der Mathe-
(427-347 V. ir.) jjjg^^jjj. spricht, durch die sie sich nützlich erweisen soll, nennt er bloß die
militärischen. Von den viel näherliegenden Anwendungen auf Künste und
Gewerbe sagt er nichts. Alle diese Tätigkeiten existieren für sein aristokra-
tisches Bewußtsein überhaupt nicht. Bei der Arithmetik spricht er mit dem
Ausdruck tiefster Verachtung von dem praktischen Gebrauch, den die Kauf-
leute davon machen. Die wahre Bedeutung der Mathematik ist für ihn eine
ganz andere, sie besteht in dem klärenden und befreienden Einfluß, den sie
auf den Geist ausübt. Sie zieht ihn von den gemeinen irdischen Dingen ab
und lenkt ihn auf das Ewige und Unvergängliche hin. Ihre Rolle ist die des
Vermitteins zwischen dem sinnlich Wahrnehmbaren und dem nur durch die
Vernunft zu Erkennenden. Ihre Aussagen knüpfen nämlich zwar an die Gegen-
stände der Wahrnehmung an, sind aber nur als ein Prozeß des reinen Denkens
zu verstehen. Sie nötigen die Seele, sich der Vernunft zu bedienen, um die Wahr-
heit zu erkennen. Diese platonische Auffassung ist später nie verschwunden.
Wenn wir z.B. lesen, was Herbart über den pädagogischenWert der Mathematik
gesagt hat, so klingt es genau an Piatons Worte an. Es ist für die Mathe-
matiker sehr schmeichelhaft, wenn Platon weiter meint, daß alle, die von Natur
Arithmetiker sind, auch für alle anderen Kenntnisse ein rasches Fassungs-
vermögen zeigen. Wenn er dann weiter hinzufügt, daß die, welche von der
Natur eine langsame Auffassung bekommen haben, durch die Unterweisung
in der Mathematik , wenn sie auch keinen anderen Nutzen daraus ziehen soll-
ten, doch wenigstens ein besseres Auffassungsvermögen erwarben, so erinnert
das ebenfalls sehr an die Gründe, die später im 19. Jahrhundert immer
wieder zugunsten des Mathematikunterrichtes an den höheren Schulen an-
geführt worden sind.
Die Mathematik Bei Platon findet sich auch der deutliche Hinweis darauf, daß die geo-
üb^gang von metrischc Betrachtung sich nicht auf die wirklichen Figuren, sondern auf
den vergäng- Idealbilder beziehe, die aus diesen Fiefuren abstrahiert werden. Auf diese
liehen Erschei- ' ö
nungcii zu der idealen Figuren soll sich auch der Begriff der Bewegung beziehen. Der Be-
griff einer mathematischen Physik im heutigen Sinne ist schon zu Piatons Zeit
merkwürdig deutlich ausgeprägt. Die Bewegungslehre fällt mit der iVstrono-
mie durchaus zusammen, die Bewegung der Gestirne liefert überhaupt erst
den Begriff der Bewegung, so wie er hier gefaßt wird. Die Gestirne bilden
das Beste und Vollkommenste, was es im Bereich des Wahrnehmbaren gibt,
aber bleiben doch hinter dem wahrhaftigen Sein weit zurück. Diesem wahren
Sein kommt man näher, wenn man die Bewegung rein an sich, nach dem
wahrhaften Maße ihrer Geschwindigkeit und Langsamkeit betrachtet, genau
wie es die moderne Kinematik tut. Es wird so der eigentümliche Gesichts-
punkt der Vollkommenheit der herrschende, das gedankliche Sein ist voll-
kommener als alles der Wahrnehmung Zugängliche. Von diesen ewigen
Seinsformen gibt die Mathematik Kenntnis, ihre Prozesse sind daher nicht
eines praktischen Zweckes wegen da, sondern bloß um der Erkenntnis willen
zu betreiben. Sie bereiten die Idee des Guten vor, indem sie die Seele ver-
II. Die mathematische Bildung der Griechen. A 7 i
anlassen, sich dahin zu wenden, wo das Seligste wohnt von alledem, was es
gibt, das, wohin wir auf jede Weise unseren Geist hinlenken sollen. Auch bei
der musikalischen Harmonielehre bilden die wirklich gehörten Akkorde nicht
den eigentlichen Gegenstand, die wahre Aufgabe ist, die absolute Harmonie
zu suchen.
Die vier mathematischen Wissenschaften, die Piaton im Sinne des py- Die Diaiek
thagoreischen Systems unterscheidet, bilden aber sozusagen nur die wissen-
schaftliche Propädeutik. Sie haften immer noch an der äußeren Erfahrung,
weil sie vom sinnlich Wahrnehmbaren ausgehen. Die Dialektik erst erhebt
sich zum reinen Denken. In dieser Hinzufügung der Dialektik liegt der Schritt,
den Piaton über die Pythagoreer hinaus tut. Hier wirkt der Einfluß des Sokrates,
der ja der Schöpfer dieser Dialektik ist. In der eigenartigen Verschmelzung
der pythagoreischen und der sokratischen Weisheit liegt eben das Wesen der
platonischen Philosophie.
Wenn aber die platonische Auffassung der Mathematik, die wohl ziem- Sokrates
lieh genau die pythagoreische ist, dem Sokrates in den Mund gelegt wird, so *^** ^^
ist das eine poetische Freiheit; sie würde dem Bericht, den Xenophon über
Sokrates' Auffassung, vielleicht in bewußtem Gegensatz zu Piatons Ausdeu-
tung, gegeben hat, direkt zuwiderlaufen. Danach hat Sokrates wohl das Studium
der Geometrie, Astronomie und des Rechnens empfohlen, aber nur so weit,
wie der praktische Nutzen reicht. Die Geometrie führte er auf die Feldmessung
zurück. Jeder soll imstande sein, bei der Übernahme, Übergabe oder Einteilung
seines Grundbesitzes, auch bei der Ausgabe der Landarbeit, die Flächen
richtig zu bestimmen. Aber das Studium bis zu einer schwer verständlichen
Wissenschaft fortzuführen, hielt er nicht für gut. Denn er konnte nicht ein-
sehen, wozu das nützen sollte. Es halte den Menschen nur von der Erwerbung
nützlicher Kenntnisse ab. Auch die Astronomie solle sich auf die Bestimmung
der Tages- und Jahreszeiten beschränken, was bei Reisen und Arbeiten, die
sich nach der Zeit richten, wie beim Landbau, nützlich ist. Das seien Kenntnisse,
wie sie die Wächter und Seesteuerleute haben müßten. Aber bis zur Bewegung
der Gestirne, der Erforschung ihrer Entfernungen von der Erde und vonein-
ander und der Bestimmung ihrer Umlaufszeiten vordringen zu wollen oder
gar nach den Ursachen zu forschen, davon riet er dringend ab. Man sollte
nicht über den Geheimnissen der göttlichen Schöpfung brüten. Menschenwitz
könne das nicht fassen und es sei vermessen, aufdecken zu wollen, was Gott
uns absichtlich verhüllt hat. So solle man sich auch in der Arithmetik von
fruchtlosen Spekulationen fernhalten und immer das Nützliche im Auge be-
halten. Der Bericht des Xenophon macht keinen unwahrscheinlichen Ein-
druck, er steht ziemlich in Einklang mit der Art, wie in den historisch treueren
Dialogen Piatons das geistige Wesen des Sokrates geschildert ist. Sokrates
würde sich demnach in diesen Punkten eng mit den Sophisten berühren, denen
er überhaupt nicht gar so fernsteht.
Von dem Sophisten Protagoras hat nun Piaton selbst eine Ansicht mit- Protagoras
geteilt, wonach dieser sich dem rein theoretischen Wissen entschieden feindlich <**5-4i5>-
72 A H.E. Timerding: Die Verbreitung mathemat. Wissens u. mathemat. Auffassung.
gegenüberstellt. „Die anderen", sagt er dort, „mißhandeln die Jugend, denn
wenn die jungen Menschen vor den Wissenschaften fortlaufen, so schleppen
sie sie wieder gegen ihren Willen herbei und quälen sie mit den Wissenschaften
und lassen sie Rechnen und Astronomie und Geometrie und Musik treiben.
Wenn aber einer zu mir kommt, dann lernt er nur das, weswegen er kommt.
Bildung bedeutet im Hause: sein Haus gut und vernünftig verwalten, und im
Staat: an den öffentlichen Angelegenheiten redend und handelnd mit Geschick
teilnehmen Wenn du zu mir kommst, junger Mann, dann gehst du an dem
ersten Tage, an dem du bei mir warst, tüchtiger wieder nach Hause, und
ebenso, wenn du wieder kommst; jeder Tag wird dazu dienen, dich tüchtiger
zu machen."
Der Gegensatz Es Stehen SO schon in dieser frühen Zeit bei den Griechen zwei Ansichten
''theoretischer' sich schroff gegenüber, der Gedanke der praktischen Schulung und der
Bildung. Gedanke der theoretischen Geistesbildung, und dieser Gegensatz ver-
schwindet fortan nie wieder. Durch die Gründung der Platonischen Akademie
wird der theoretischen Auffassung eine mächtige Stütze geliehen. Piaton selbst
ist nicht eigentlich Mathematiker gewesen, damit würden wir ihm unrecht tun.
t Er übernahm nur die mathematische Bildung aus der pythagoreischen Schule
ihres formalen Bildungswertes weg'en und hatte zu ihr etwa dieselbe Stellung
wie einer der modernen Philosophen. Er nahm wohl ihre Erkenntnisse willig
auf, hatte aber selbst weder den Beruf noch die Neigung, forschend an ihr
mitzuarbeiten. Anders ist es mit den Männern, die wirklich Mathematiker von
Beruf gewesen sind, Archytas von Tarent, Theätet von Athen und Eudoxos
von Knidos, ferner Menächmus, der die Lehre von den Kegelschnitten be-
gründete,
zenon Vielleicht der entscheidendste Fortschritt des mathematischen Denkens bei
(490— 430V. )• ^g^ Griechen hat sich an die Paralogismen angeknüpft, die unter Zenons Namen
überliefert sind und vielfach als Beispiele für die Irrwege des griechischen
Denkens angeführt werden. In Wahrheit sind sie glänzende Beispiele für den
Mut eines ungewöhnlich scharfsinnigen Menschen, der sich durch den schein-
baren Widerspruch seiner Gedanken gegen den gemeinen gesunden Menschen-
verstand nicht abschrecken läßt. Sie haben zuerst den Einblick in das eigen-
artige Wesen der unendlichen Prozesse eröffnet, ohne die die Mathematik
nicht auskommen kann, die aber in ihr auch die größte Schwierigkeit und
den ersten Stein des Anstoßes bilden. Diese Paralogismen sind erst hundert
Eudoxos. Jahre später durch Eudoxos von Knidos wirklich gelöst worden. Dieser
zeigte, daß der Begriff der Gleichheit, wenn man ihn auf unendliche Prozesse
ausdehnen will, einer bestimmten Erweiterung bedarf. Diese besteht nach
Eudoxos darin, daß zwei Größen (Zahlen, Flächen oder Rauminhalte) gleich
heißen, wenn sie sich um weniger unterscheiden als jede noch so kleine an-
gebbare Größe. Die große Geistestat, die in einem so unscheinbaren Satze
liegt, ist eben die, daß Eudoxos die rein gedankliche Schwierigkeit bei einer
Sache erkannte, welche die unmittelbare Anschauung mit Leichtigkeit be-
wältigen zu können glaubt.
II. Die mathematische Bildung der Griechen. A 73
Mit diesen Sätzen ist aber auch das Band, das die Mathematik an die
anschauHche Erfassung der Wirklichkeit fesselte, endgültig zerschnitten, und
der Gegensatz zwischen praktischer und theoretischer Auffassung nicht bloß
ein solcher des Interesses, sondern auch ein Gegensatz der Auffassungs-
weise geworden.
Eine gewisse Etappe in der Entwicklung bezeichnet der bekannteste aller Eukud.
antiken Geometer, Euklid von Alexandria (um 300 v. Chr.). Die Bücher des
Euklid geben in ihrer Gesamtheit ein ziemlich deutliches Bild von der Ent-
wicklung der griechischen Mathematik bis zum Ende des vierten Jahrhunderts
vor Christus, nicht bloß bezüglich des Inhaltes, sondern auch hinsichtlich der
völligen Theoretisierung der Mathematik, denn sie sind durchaus auf den \
früheren Arbeiten aufgebaut. Sie zeigen gleichzeitig, welcher Geist an der
Hochschule des neuen Agypterreiches herrschte , auf deren Entstehung die
alten Hochschulen der Ägypter vielleicht nicht ohne Einfluß gewesen
sind, so sehr sie auch der griechischen Sinnesart entsprach. Denn sie
bedeutete im Sinne eines Piaton und Aristoteles eine Pflanzstätte rein
wissenschaftlichen Strebens, das die Unterweisung des reiferen Jünglings-
alters mit dem Durcharbeiten und Ausreifen der früheren Schriftwerke ver-
quickte. Die große Bibliothek, die sich in Alexandria ansammelte, war
ein notwendiges Zubehör dieses Lehrbetriebes. Auch Euklid hat nicht in
selbständigen Schöpfungen, sondern in der systematischen Zusammenfassung
und methodischen Abklärung des vor ihm Geleisteten seine Hauptaufgabe ;
gesehen. Sein bekanntestes Werk sind die Stoicheia (Elemente), welche '
die Grundlagen des mathematischen Wissens, so wie sie Euklid an der
Alexandrinischen Hochschule selbst vortrug, umfassen. Sie vereinigen in sich
Geometrie und Arithmetik. Die Astronomie imd die Musik hat Euklid in be-
sonderen Lehrwerken behandelt, ebenso wie die inzwischen aus den Auf-
gaben des griechischen Theaters erwachsene Perspektive (Optik). Die ersten
sechs Bücher der Euklidischen Elemente behandeln die Planimetrie, d. h. die
alte pythagoreische Geometrie. Dazwischen ist aber im fünften Buch die durch j
Eudoxos geschaffene exakte Proportionenlehre eingeschaltet, durch deren Re-
sultate die neue Darstellung der Ähnlichkeitslehre im sechsten Buch wesent- /
lieh bedingt wird. Die Lehre von den irrationalen Zahlen, die das siebente bis
neunte Buch füllt, ist wohl wesentlich nach Theätet gegeben. Im zehnten,
die Theorie der Irrationalzahlen vertiefenden Buch scheint eine von Theätet
stammende Grundlage frei ausgestaltet zu sein. Das elfte und zwölfte Buch
enthalten die elementare Stereometrie, deren Fehlen Piaton noch beklagte,
hauptsächlich auf der durch Eudoxos geschaffenen exakten Behandlung
fußend, welche insbesondere die Formel für den Inhalt der Pyramide von der
durch Demokrit hineingebrachten metaphysischen Beimengung befreit. Das
dreizehnte Buch endlich bringt die regulären Körper und damit findet das
Werk ganz im pythagoreischen Sinne seinen Abschluß.
Die Euklidische Behandlung hat auf den mathematischen Unterricht aller Euklids tinfluß.
späteren Zeiten bis in die Gegenwart hinein den größten Einfluß ausgeübt
74 A H. E. Timerding: Die Verbreitung mathemat. Wissens u. mathemat. Auffassung.
Auch ihre Mängel hat man ohne Widerspruch hingenommen. Im Gegenteil
galt Euklid immer für das Muster einer streng logischen Darstellung. Den-
noch ist er keineswegs von logischen Schwächen frei. Die größten zeigen
sich vielleicht in den stereometrischen Büchern, eben weil sie der Entstehungs-
zeit ihres Inhaltes nach die jüngsten sind. So ist z. B. der Kongruenzbegriff
für den Raum nur mangelhaft entwickelt. Die Schwierigkeit lag bei der Raum-
geometrie eben darin, die für die Ebene voll ausgebildete Geometrie auch
auf den Raum zu übertragen. Für die ebene Geometrie gibt die Zeichnung
den natürlichen Anhalt. Es brauchen ja nur die wirklichen Konstruktionen
zu ihrem Idealbild abgeklärt zu werden, um die grundlegenden geometrischen
Prozesse zu liefern. Bei der Raumgeometrie ist das anders, die begrenzten
Körper, die sich wirklich herstellen lassen, geben nicht unmittelbar die ge-
nügende Grundlage für die logische Entwicklung. Daher treten bei Euklid
rein gedankliche Operationen mit geraden Linien und Ebenen im Raum
(Gedankenexperimente, wie Mach sagt) an die Stelle, die einfach nach Ana-
logie der in der Ebene wirklich ausführbaren Konstruktionen gebildet sind.
Darin liegt zwar keine begriffliche, aber eine erhebliche pädagogische Schwie-
rigkeit, denn diese Raumgeometrie erfordert zu ihrem Verständnis ein hoch-
entwickeltes Anschauungsvermögen, und wenn sie den einfachsten Sätzen
über begrenzte Körper im Unterricht vorangestellt wird, so heißt das, das
Schwierigere dem Leichteren voraufgehen lassen, was aller pädagogischen
Klugheit zuwiderläuft. Erst in der neuesten Zeit hat man aber angefangen,
in einem propädeutischen Kurs von den begrenzten Körpern methodisch aus-
zugehen. Wie früher die Euklidischen Elemente als das Muster einer strengen
mathematischen Darstellung galten, sind sie auch in pädagogischer Beziehung
immer für das unübertreff bare Muster gehalten worden. Zwei Jahrtausende lang
ist Unterricht in der Mathematik und Unterricht in den Elementen des Euklid
gleichbedeutend gewesen. Dies wurde erst anders, als sich der Unterricht
fortschrittlicher zu gestalten begann und durch die wirkliche kritische Durch-
arbeitung der Euklidischen Methode, die unserer Zeit vorbehalten geblieben ist,
diese Methode eine wesentliche Korrektur und Ergänzung erfuhr. Das Wesen
dergeometrischen Wissenschaft sieht man heute darin, daß alle geometrischen
Sätze in zwei Gruppen geschieden werden, eine kleine Gruppe, welche die so-
genannten Axiome bilden, und eine große Gruppe, der alle anderen Sätze
angehören. Die Sätze der ersten Gruppe bleiben unbewiesen, aus ihnen sind
aber alle Sätze der zweiten Gruppe bloße logische Folgerungen. In dieser
Weise treten jedoch die Axiome bei Euklid nicht auf, seine Postulate bilden
nur einen Teil eines vollständigen Systems von Axiomen, sie sind auch in
ihrer Formulierung zum Teil unvollkommen, sie sind als unbewiesene, der
Anschauung entlehnte Sätze nicht klar erkannt.
Weitere Archimcdcs von Syrakus und Apollonius von Perga, die in dem Jahr-
[■r griechischen hundert nach Euklid lebten, bedeuten in gewissem Sinne den Höhepunkt der
Mathematik, griechischen Mathematik. Ihre Schriften sind uns durch ein gütiges Geschick
auch zum Teil erhalten geblieben. Dies gilt aber keineswegs von allen mathe-
II. Die mathematische Bildung der Griechen. A 75
matischen Untersuchungen, von vielen haben wir nur durch Sammelwerke
aus der Verfallzeit Kenntnis. Das Werk des Diophant, das entschieden aus
der Verfallzeit der mathematischen Forschung (etwa aus dem 3. Jahrhundert
n. Chr.) herrührt, überrascht trotzdem durch die Fülle der interessantesten
arithmetischen Aufgaben und Sätze, die es enthält Es ist geradezu die Grund-
lage der modernen Zahlentheorie geworden. Dieser Inhalt beruht aber haupt-
sächlich auf früheren arithmetischen Arbeiten, von denen sich sonst keine
Spur erhalten hat. Selbst in dieser späteren Kaiserzeit steht noch das
Studium der Mathematik an der Hochschule von Alexandria in Blüte, es
fehlt nur die Fähigkeit zum selbständigen wissenschaftlichen Weiterarbeiten.
Einen deutlichen Einblick in den Lehrbetrieb gibt in mathematischer Hin-
sicht das Sammelwerk des Pappus (Ende des 3. Jahrhunderts n. Chr), dasPappus.
seiner Lehrtätigkeit an der Hochschule von Alexandria entstammt. Pappus
gibt gedrängte Überblicke über die Werke der großen griechischen Geo-
meter, die in systematischen Lehrgängen durchgenommen werden, und knüpft
daran Ausführungen, die den Studierenden das Verständnis der Originalwerke
erleichtern sollen. Gerade das Auftreten der ausführlichen Kommentare in der
späteren Zeit zeigt die abnehmende Fähigkeit des mathematischen Denkens.
Man empfand Lücken, wo die Darstellung in der klassischen Zeit für das
Verständnis ausführlich genug gewesen war.
Dazu kommt, daß allgemein das Interesse für die vergangene Blütezeit
der griechischen Literatur die Herrschaft führt. Die Werke der alten Gelehr-
ten und Dichter werden kommentiert, gesammelt und ausgezogen. Diese rück-
blickende Tendenz, mit der die Entwicklung der philologischen Wissen-
schaft zusammenhängt und die auch die Philosophie der späteren Zeit be-
herrscht, zeigt sich der unmittelbaren mathematischen Forschung ungünstig;
sie beschränkt die Beschäftigung mit der Mathematik mehr und mehr auf
das Sammeln und Kommentieren der Werke aus der Blütezeit
In der nacharchimedischen Zeit wandte sich das mathematische Interesse
zunächst vor allem der Kurvenlehre zu. Nikomedes fand die Konchoide, Per-
seus die spirischen Linien, Diokles die Kissoide usw. Daneben stehen viele
andere Untersuchungen, aber es erschöpft sich doch mehr und mehr der Be-
reich dessen, was die Griechen mit ihren Methoden und Anschauungen in der
Mathematik bewältigen konnten. Statt der rein mathematischen Probleme
treten jetzt wieder die Anwendungsgebiete des mathematischen Denkens mäch-
tig hervor. Die griechische Astronomie erreicht in Hipparch (tätig zwischen Die Astronomie.
161 und 126 V. Chr.) ihre höchste Blüte. Er versucht eine geometrische Dar-
stellung der Bewegung von Sonne und Mond, er vervollständigt das schon
von Aristarch aus Samos angewendete Verfahren zur Bestimmung der Ent-
fernungen der Sonne und des Mondes von der Erde, er entdeckt die Präzession
der Tag- und Xachtgleichen und berechnet die erste Sehnentafel. In dieser
Ausbildung der Astronomie steckt auch ein großes Stück Mathematik. Es
entwickelt sich eben die antike Trigonometrie, die in der Sphärik des Menelaos
von Alexandria (um 1 00 n. Chr.) ein erstes Kompendium findet Sie erhält
76 A H. E. Timerding: Die Verbreitung mathemat. Wissens u. mathemat. Auffassung.
dann ihren Abschluß in der „großen Zusammenstellung" (dem Almagest) des
Claudius Ptolemaeus (2. Jahrhundert n. Chr.). Die allgemeine Signatur dieser
Zeit ist entschieden das mit der äußeren Kultur sich entwickelnde Interesse
für die praktischen Aufgaben. Die praktische Mathematik, die neben der
theoretischen Geometrie auch in der Blütezeit immer fortbestanden hat, tritt
nun auch literarisch in die Öffentlichkeit. Das ist das Bezeichnende an den
Heron. Schriften des Heron von Alexandria, deren Entstehung und Zusammenhang
allerdings noch immer nicht vollständig geklärt ist. Zum Teil handelt es
sich vielleicht auch um ein erneutes Hervortreten der alten einheimi-
schen ägyptischen Mathematik gegenüber der importierten griechischen
Wissenschaft. Die praktische Geometrie der Griechen ist aber wahrschein-
lich hiervon auch nicht sehr verschieden gewesen. Was die römischen
Agrimensoren bringen, ist die übernommene griechisch- ägyptische Feld-
meßkunst.
Reaktion Dicscr Waudcl des Interesses bedingt im späteren Altertum allerdings
maAenrattche ^^"^ ^^^^ auch ein Widerstreben gegen die mathematische Erkenntnis. Der
Erkenntnis, menschliche Geist wendet sich mehr und mehr der mystischen oder schlicht-
gläubigen Versenkung in die übernatürlichen Dinge zu, und die Indifferenz
des mathematischen Wissens den Begriffen des Guten oder Bösen gegenüber
läßt es als eine niedrigere Stufe der geistigen Tätigkeit zurücktreten. Die
Bedeutung, die es behält, ist nur die symbolische, die schon in der pythago-
reischen Schule eine große Rolle spielte. Die Arithmetik wird ein Teil der
Theologie: man sucht in den Zahlen Aufschluß über das göttliche Wesen. Da-
her das Interesse, das die Arithmetik genießt; das Grundwerk, die Einführung
Fortdauern iii die Arithmetik des Nikomachus von Gerasa, wurde alsbald von Apuleius
der Arithmetik. ^^^ Latcinlsche übersetzt, was immerhin soviel bedeutete, als wenn ein wissen-
schaftliches Werk im 17. Jahrhundert ins Deutsche übersetzt wurde. Nach
Nikomachus kommt noch Diophantus von Alexandria. So läuft eine streng
wissenschaftliche Arithmetik neben der mystischen Ausdeutung der Zahl-
beziehungen her, und von einem Niedergang der mathematischen Studien
können wir auch in dieser Zeit nicht eigentlich sprechen.
Auch Augustin schätzt die Wissenschaft der Zahlen sehr hoch ein, er
sagt (De doctrina christiana, lib. II, cap. XXXVIII), die Zahlenwissenschaft
sei nicht von den Menschen geschaffen, sondern in der Natur der Dinge ge-
legen und von den Menschen nur gefunden. „Ob die Zahlen für sich selbst
betrachtet oder ihre Gesetze auf Figuren oder Töne oder andere Bewegungen
angewendet werden, immer haben sie ihre unwandelbaren Regeln, die auf
keine Weise von den Menschen geschaffen worden sind, sondern nur durch
den Scharfsinn kluger Leute erkannt werden."
Die römische Dcn Übergang der griechischen Mathematik an die Römer kann man
*v°"o.'* ^"^ deutlichsten an dem Lehrwerke des Varro erkennen, der im letzten Jahr-
hundert vor Christus gelebt hat. Eine Schrift über das Vermessungswesen
von ihm scheint verloren gegangen.^ Erhalten dagegen ist die von ihm ver-
faßte Enzyklopädie, die den Titel De disciplinis führt und der Reihe nach
II. Die mathematische Bildung der Griechen A 77
Grammatik, Dialektik, Rhetorik, Geometrie, Arithmetik, Astronomie, Medi-
zin und Architektur behandelt. Auf ihn folgen dann die Agrimensoren: Fron- Die
tinus, Hyginus, Baibus, und wie sie alle heißen, welche die vorwiegend ' ^™*"**"**'
praktische Auffassung der Römer zeigen und in dem, was sie als richtig hin-
nehmen, ohne sich um einen Beweis zu bemühen, zum Teil weit hinter der
griechischen Mathematik zurückbleiben. Schon bei Vitruv findet sich in dem
Werke über die Baukunst für das Verhältnis des Kreisumfanges zum Durch-
messer der Wert 3-|^, der ungenauer ist als der von Archimedes angegebene,
aber keineswegs erst von diesem gefundene Wert 3 J. Im Mittelalter zeigt
sich dann selbst wieder der ganz ungenaue Wert 3. Für den Unterricht ist von
der größten Bedeutung ein dem Werk des Varro nachgebildetes Kompendium
aus dem Anfang des 5. Jahrhunderts geworden, das des Martianus Capella. Übergang
Nur sind hier Medizin und Architektur als besondere Fachwissenschaften "" Mittelalter,
ausgefallen. Durch Martianus wird die Unterscheidung von sieben „freien
Künsten" — der alten pythagoreischen Vierzahl der mathematischen Diszi-
plinen und den sprachlichen Fächern Grammatik, Rhetorik und Dialektik
statt der Dialektik allein, die Piaton angibt — für das ganze Mittelalter fest-
gelegt. Die sieben Künste treten in der abgeschmackten Einleitung des Buches,
die die Hochzeit des Merkur mit der Philologie behandelt, als Personen ver-
körpert auf. Das Werk des Martianus wird vom christlichen Mittelalter als
ein fester Bestandteil der theologischen Bildung aufgenommen und anerkannt.
Das bezeugt schon Gregor von Tours: „Wenn du ein Priester Gottes werden
willst, so unterrichte dich zuerst unser Martianus in den sieben Wissenschaf-
ten." Neben Martianus ist es besonders Boetius (470 — 525), der zwischen der
antiken Geistesbildung und dem christlichen Mittelalter vermittelt. Er hat auch
später das allgemein übliche Wort Quadrivium geprägt, um den Zusammen-
hang in der Vierteilung der mathematischen Wissenschaften zu bezeichnen.
Cassiodor nennt sie mit einem anderen Bilde die vier Pforten der Wissen-
schaft. Erhalten sind uns von Boetius die Schriften über Arithmetik und über
Musik. Beide sind als Lehrwerk viel benutzt worden. Die Arithmetik ist eine
Nachbildung der Schrift des Xikomachus. Ein Stück des alten pythagoreischen
Geistes ist auch in Boetius noch lebendig. Er beginnt die Arithmetik mit den
bezeichnenden Worten: „Bei allen Männern von altem Ansehen, die dem Bei-
spiel des Pythagoras folgend durch reine Geistesbildung hervorgeragt haben,
ist es immer als feststehend angesehen worden, daß niemand auf den Gipfel
der Vollendung der philosophischen Lehren gelangen könne, der nicht diese
Vornehmheit des Wissens auf einem gewissen Kreuzweg (quadrivium) sucht."
Die Vierteilung begründet er folgendermaßen: Die Dinge der Welt sind ent-
weder diskret oder kontinuierlich. Jene nennt er Mengen (multitudines),
diese Größen (magnitudines). Die Mengen werden entweder für sich betrachtet,
dann handelt es sich um die Zahlen, oder in Beziehung auf etwas anderes,
dann handelt es sich um die Proportionen, mit denen sich die Musik befaßt.
Die Größen sind entweder unbewegt, mit diesen hat es die Geometrie zu tun,
oder sie sind bewegt, dann bilden sie den Gegenstand der Astronomie.
78 A H. E. Timerding : Die Verbreitung mathemat. Wissens u. mathemat. Auffassung.
Boetius bildet die Brücke vom Altertum zur Neuzeit. Sein Glaube ist
christlich, seine Bildung heidnisch. Er strebt noch nach einer freien Pflege
der freien Wissenschaften. Das geistige Leben des untergehenden Griechen-
tums kann nicht als ein Verfall bezeichnet werden, im Gegenteil kann man,
wie es Hegel tut, in der Zeit des Neuplatonismus die höchste Blüte des grie-
chischen Geisteslebens erblicken, denn niemals hat der Forschersinn sich tiefer
in die tiefsten Rätsel des Daseins versenkt. Die mathematisch -naturwissen-
schaftliche Forschungsarbeit tritt aber immer mehr zurück.
III. Die mathematische Bildung des früheren Mittelalters.
Der Einfluß Wenn die neuplatonische Schule noch immer auf dem Boden des alten
des Christentums. ^^.^^j^.g^j^^^ Geisteslcbens stand und mit diesem Geistesleben die freie un-
gehinderte Entfaltung der Individualität teilte, so kommt durch das Christen-
tum ein neues Moment auf, das Moment der geistigen Abhängigkeit, der Unter-
ordnung des eigenen Fühlens und Wollens, aber auch der wissenschaftlichen
Arbeit unter die Zwecke einer großen religiösen Gemeinschaft. Dadurch kommt
auch die Mathematik in eine völlig veränderte Lage. Das ganze Interesse
konvergiert nach den Fragen des Glaubens hin, alles andere wird daneben
gleichgültig. Der bedeutendste Vertreter der so verwandelten Anschauungen,
der an sich den Wechsel von dem geistig und materiell freien Leben der heid-
nischen Antike zu der demütigen Gläubigkeit des Christentums durchgemacht
Auuustin. hat, ist Augustin (354 — 430 n. Chr.). Wie Augustin die Geometrie verwertet,
zeigt die Schrift Über die Quantität der Seele. Es handelt sich um den Nach-
weis, daß die Seele Dinge wahrnimmt, die sich mit den leiblichen Augen nie
sehen lassen. Dafür werden als Beweise die Gebilde der Geometrie, Punkte,
Linien, Flächen genommen. Der Einwand, daß sich so etwas wie eine Linie
nicht vorstellen lasse, weil auch der dünnste Faden immer noch ein Körper
und keine Linie sei, wird damit zurückgewiesen, daß man von den anderen
Dimensionen absehen und nur an die Länge denken könne. „Denn es ist un-
körperlich, was du jetzt erkennen sollst, die Länge allein kann nur vom Geiste
erkannt werden und an einem wirklichen Körper nicht gefunden werden."
Aus den Linien sollen nun Figuren gebildet werden. Dazu reichen drei Linien
hin, aber vier Linien liefern eine Figur, bei der sich die Seiten und Winkel
zu Paaren gegenüberliegender zusammenordnen. Das Quadrat ist deshalb voll-
kommener als das gleichseitige Dreieck. Aber der Kreis ist noch vollkom-
mener, denn bei ihm hört jede Ungleichheit auf. Der Kreis aber liefert den
Punkt durch seinen Mittelpunkt, von dem er überall gleich weit entfernt ist.
Der Punkt ist so die höchste Vollendung der geometrischen Abstraktion, er
beherrscht alle geometrischen Figuren. Je weiter wir in der Abstraktion fort-
schreiten, um so höher ist die geistige Vollendung, die Stufe der Erkenntnis,
die wir erreichen. Die Geometrie hat die Bedeutung an sich verloren, sie ist
nur ein Hilfsmittel der geistigen Vollendung, aber in einem anderen Sinne
wie bei Pythagoras und Piaton, nämlich nicht durch die wissenschaftliche Be-
III. Die mathematische Bildung des früheren Mittelahers. A 7Q
schäftigung mit ihr, sondern durch die symbolische Ausdeutung ihrer Formen.
So benutzt Augustin die mathematische Erkenntnis als die Vorschule des
Geistes für die göttlichen Wahrheiten. Das Gold und Silber, aus dem die
heidnischen Götterbilder gefertigt sind, soll der Christ an sich reißen, um es
zur Verkündigung des Evangeliums in der rechten Weise zu benutzen.
Aber so duldsam wie Augustin dachten keineswegs alle christlichen Kir- MathemaHk-
chenlehrer. Justinus der Märtyrer (2. Jahrh. n. Chr.) sagt, daß, was Wahres an der srimmen^
griechischen Philosophie sei, aus den Schriften der Propheten viel besser erkannt
werden könne. Clemens von Alexandrien (f 227) nennt sogar die griechischen
Philosophen Räuber und Diebe, die, was sie von den hebräischen Propheten
entnommen haben, als ihr geistiges Eigentum ausgeben. Tertullian (160 — 220)
sieht in den heidnischen Schriften die Quelle aller Irrlehren, Was hat, ruft er
aus, Athen mit Jerusalem zu schaffen, was die Akademie mit der Kirche?
Unsere Lehre stammt aus dem Tempel Salomonis, der gelehrt hat, man müsse
den Herrn in der Einfalt seines Herzens suchen. Nach Jesus Christus bedürfen
wir des Forschens nicht mehr; wo das Evangelium verkündet ist, brauchen
wir keine wissenschaftlichen Untersuchungen. Aber während Tertullian wenig-
stens außerhalb der Glaubenslehre die wissenschaftliche Forschung nicht ver-
dammt, erklärt Isidor von Sevilla (f 636) es geradezu für unstatthaft, daß ein
Christ sich mit heidnischen Büchern abgebe, weil die weltlichen Wissen-
schaften, je eifriger sie betrieben werden, einen um so größeren Hochmut
in der Seele erwecken.
Dagegen hat Cassiodorus (480 — 570) in der Schrift De Artibus et Dis- cassiodorus.
ciplinis liberalium Literarum, in der er die weltlichenWissenschaften behandelt,
ganz im platonischen Sinne das Studium der Mathematik empfohlen, weil sie
unsere Begierde von den fleischlichen Dingen ablenkt und uns treibt das zu
ersehnen, was wir nicht vor Augen schauen, sondern nur mit Gottes Beistand
im Herzen zu erkennen vermögen. Zur RechtfertigTing der Beschäftigung mit
der Mathematik führt er die bekannte Stelle Weisheit XI, 21 an: „Du hast
alles geordnet nach Maß, Zahl und Gewicht", von der wir heute wissen, daß
sie auf pythagoreischen Einfluß zurückgeht. Es soll auch zur Empfehlung der
Mathematik dienen, daß nach Josephus Abraham die Arithmetik und Astro-
nomie nach Ägn,'pten gebracht hat. Mit mehr Berechtigung wird der sach-
liche Gmnd angeführt, daß die Arithmetik allein keiner anderen Wissenschaft
zu ihrer Begründung bedürfe, aber umgekehrt keine Wissenschaft sie ent-
behren könne. Was Cassiodorus im übrigen bringt, sind nur Definitionen, und
überhaupt glaubte man im ganzen früheren Mittelalter genug getan zu haben,
wenn man die mathematischen Begaffe einführte, ohne weiter anzugeben, was
man mit ihnen denn anfangen könne. Cassiodorus hat sich aber durch seine
organisatorische Tätigkeit ein großes Verdienst um die Pflege und Ausbreitung
auch der weltHchen Wissenschaft erworben. Er hob die geistige Bildung der
Mönchsorden, imd so konnten diese, als sie mit der Mission nach Irland zogen,
mit dem Christentum auch die römische Geistesbildung und das römische
Schulwesen mitnehmen. Von dort aus hat es sich zugleich mit dem Christen-
8o A H. E. Timerding: Die Verbreitung mathemat. Wissens u. mathemat. Auffassung.
tum ausgebreitet. Die Qrundlage der geistlichen Erziehung war ein der
römischen Schule nachgebildeter Unterricht, und in diesem Unterricht
fanden auch die sieben freien Künste ihre allerdings keineswegs unbe-
strittene Stätte.
Die Lage der Wissenschaften das Mittelalter hindurch ist immer stark
durch die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse beeinflußt. In den
Zeiten großer Machtentfaltung findet sich auch ein Aufschwung zu höherer
Bildung, so unter Karl dem Großen und später unter den Ottonen. Karl der
Große gründete eine Art Akademie, zu der er auch Rechenmeister heranzog.
Über die Bedeutung der Mathematik für die geistliche Erziehung hat sich klar
Rabanus Maurus. und dcutlich ZU Karls des Großen Zeit Rabanus Maurus (776 — 856) in
seiner Schrift über die Ausbildung der Kleriker ausgesprochen. Ihn leitet
der alte Platonische Gedanke, daß die Kenntnis dieser Wissenschaften für die
Ausbildung des Geistes einen besonderen Wert besitze. Allerdings mutet die
Art, wie die Mathematik behandelt werden soll, uns merkwürdig an. Die
Definition der Mathematik ist ganz die allgemeine, bis heute noch üblich ge-
bliebene: sie soll die Lehre von der abstrakten Größe sein, und abstrakte
Größe ist die von aller materiellen Beimengung losgelöste. Die Mathematik
wird genau in der üblichen Weise in Arithmetik, Musik, Geometrie und
Astronomie eingeteilt. Diese Einteilung entspricht ebenso dem Platonischen
Geiste, wie die Bedeutung, die Rabanus der Geometrie in der Ordnung des
Weltalls zuschreibt. Danach soll auch alles, was nach festen Regeln wohl
angeordnet und aufgebaut ist, die Anwendung geometrischer Regeln ge-
statten. Aber seltsam berührt es uns zunächst, wenn die Kenntnis der
Arithmetik dazu dienen soll, die in der Heiligen Schrift enthaltenen Zahlen
richtig zu deuten und zu verstehen. Freilich ist dies von der Auffassung
der Neuplatoniker wenig verschieden.
Zustand des Im allgemeinen blieb die Aufnahme der Mathematik in die geistliche
" un^rrichtr" Blldung währcnd des frühen Mittelalters nur eine ideale Forderung. Der Un-
im frühen tcrricht in ihr war mehr als kümmerlich. Den ganzen Schulunterricht dieser
Mittelalter. ®
Zeit müssen wir so auffassen, daß die dem Zustand der Unkultur kaum ent-
wachsenen Germanen allmählich der Gesittung gewonnen werden mußten.
Die antike Kultur war unter dem Ansturm der barbarischen Völker müde in
sich zusammengebrochen. Die Völker, welche im Altertum die Führung hat-
ten, waren in ihrer Lebenskraft erschöpft und entartet. So mußte erst nach
und nach die Bildung verbreitet werden, und das zeigt sich auch im mathe-
matischen Unterricht. Die Hauptsache blieb das gewöhnliche Rechnen an
den Fingern. Erst gegen Ende des ersten Jahrtausends nach Christus kommt
das Rechenbrett, der Abakus, auf Ohne diesen bedeutete in dem römischen
ZifFernsystem auch die einfachste Division eine große Arbeit und eine schwie-
rige Aufgabe. Als Beispiel möge man eine Stelle unter Bedas Werken (Migne,
Patrologie XC, p, 719) vergleichen, wo die Zahl 6152 mit fürchterlicher Um-
vStändlichkeit durch 15 dividiert wird. Was an Geometrie gelehrt wurde, be-
stand vielfach darin, daß das sechste Buch von Martianus Capellas Enzyklo-
III. Die mathematische Bildung des früheren Mittelalters. A 8l
pädie gelesen wurde, wo nach der Erdbeschreibung auch die geometrische
Terminologie erklärt wird. Die Geometrie wurde überhaupt, in einer unklaren
Ausdeutung ihres Zusammenhanges mit der Feldmessung, mit der Geographie
zusammengeworfen. Mit ihrer Hilfe sollte man die klimatischen Verhältnisse
der Orte auf der Erde kennen lernen und danach die Vorschriften für die Be-
handlung von Krankheiten richten können! Nach Notker dem Stammler (840
bis 912) besteht das Quadrivium darin, über die Lage der Gegenden, den
wechselnden Lauf der Planeten, den wunderbaren Einfluß der Gestirne und
die für uns unsichtbaren Dinge oberhalb des Himmels Aufschluß zu geben. Ho-
norius von Augustodunum sagt von dem Geometrieunterricht, es werde darin
die Weltkarte ausgebreitet und die Lage der Länder mit Bergen, Flüssen und
Städten gezeigt. Die Rechenkunst wurde in Zusammenfassung mit der Astro-
nomie hauptsächlich für die kirchliche Zeitrechnung gebraucht. Diese sollte,
wie schon das Capitulare von 789 fordert, jeder Geistliche beherrschen. Lehr-
bücher dieses Computus gab es sehr zahlreiche, so von Beda, Alcuin, Ra-
banus, Hermann dem Lahmen und anderen mehr. Helperich sagt im i t . Jahr-
hundert, nicht einmal der Laie, geschweige denn der Geistliche könne diese
Kunst entbehren.
Nach einem lateinischen Gedicht des Walter von Speier aus dem Jahre
983, in dem er seine eigene Ausbildung in Sankt Gallen schildert, wäre da-
mals schon das Rechnen auf dem Abakus durchgenommen worden, in der
Geometrie werden die Dreiecke samt den Vierecken und Fünfecken behandelt
und mit diesen zu Pyramiden verbunden. Das ist genau die Art, wie die Geo-
metrie in Boetius' Arithmetik erscheint als Vorbereitung zu der Lehre von
den figurierten Zahlen. Es hat wohl diese Schrift in gewissem Sinne die Grund-
lage des mathematischen Unterrichts gebildet. Weiter aber wird auch die
Feldmessung in der Art der römischen Agrimensoren erwähnt, es scheint
daher wirklich ein Unterricht in der praktischen Geometrie, wohl wesentlich
in Rücksicht auf die faktischen Bedürfnisse, an Hand der alten Schriften oder
von Neubearbeitungen erteilt worden zu sein.
Im übrigen wurden auf gut eingerichteten Schulen im mathematischen übungs
Unterricht eine Menge von Aufgaben behandelt, deren Ursprung wir schon *"^* ""
in ganz früher Zeit bei den alten Ägyptern finden und die von den römischen
Schulen auf das mittelalterliche Bildungswesen übergehen. Sammlungen von
solchen Aufgaben sind z. B. unter dem Namen des Beda und des Alcuin er-
halten. Schon in der Überschrift dieser Sammlungen wird angedeutet, daß
sie keinen praktischen Wert besitzen sollen, sondern nur bestimmt sind, „den
Geist der jungen Leute zu schärfen". Darunter sind die alten Aufgaben von
den geometrischen Progressionen zu finden, wie die mit den Tauben, von
denen auf der ersten Stufe einer Leiter eine, auf der zweiten Stufe zwei, auf
der dritten Stufe vier, auf der vierten acht usw. sitzen. Es finden sich auch
Aufgaben für die Geometrie, wie die Frage nach der Anzahl rechteckiger
Häuser von bestimmter Form und Größe, die in einer kreisrunden Stadt von
gegebener Ausdehnung Platz haben.
K. d. G. III. I Mathematik, A. 6
82 A H. E. Timerding: Die Verbreitung mathemat. Wissens u. mathemat. Auffassung.
Widerstand Daß die Mathematik trotz aller solchen Mittel, sie schmackhaft und ver-
die MaAematik. ^aulich ZU machen, im frühen Mittelalter viel Verständnis und Entgegen-
kommen gefunden hätte, können wir nicht behaupten. Sie wurde immer als
etwas Schwieriges und Unangenehmes angesehen. Ein Lehrer aus dem 8. Jahr-
hundert schreibt, daß sich ihm schon beim Gedanken an die Mathematik der
Hals zuschnüre; die sprachlichen Fächer seien Kinderspiel dagegen. Allmäh-
lich scheint sich eine gewisse Differenzierung eingebürgert zu haben, indem
sich mit der Mathematik diejenigen beschäftigten, die eine besondere Neigung
dafür hatten. Damit steht denn auch ein erneutes Aufblühen der Mathematik
gegen die Wende des Jahrtausends im Zusammenhang. Die erste geometrische
Lehrschrift des Mittelalters ist unter dem Namen des Boetius überliefert.
Der Verfasser erklärt im Vorwort, daß sein Zweck gewesen sei, das Verständ-
nis der Geometrie zu erleichtern. Sein Verfahren besteht darin, daß er die
Euklidischen Lehrsätze zusammenstellt, ohne die Beweise hinzuzufügen, die
offenbar weder er verstanden hat noch seine Leser verstanden haben würden.
Dann werden wahllose Auszüge aus den römischen Feldmessern angereiht.
Das Ganze ist eine wüste Kompilation. Etwas besser steht es schon mit der
Geometrie des Gerbert (f 1003). Von ihm wird auch ausdrücklich erzählt,
daß er in der Mathematik nur die dazu Befähigten unterwiesen habe (Richeri
Histor. III, 49).
Die Wissenschaft Der Beschäftigung mit der Mathematik stand dabei nicht bloß mangeln-
als heidnisch ö ö ö
verrufen. des Vcrstäudnis entgegen, sondern auch die Abneigung gegen die heidnische
Wissenschaft. Der Geistliche sollte sich nicht mit diesen Dingen beschäftigen,
die seine Seele auf Irrwege lockten. Der Abt Wilhelm von Hirsau erzählt
im II. Jahrhundert in der Vorrede seines astronomischen Lehrwerkes, wie
ihn sein Gewissen beunruhigt habe, daß er sich mit solchen Dingen abgäbe,
da habe ihn ein Freund getröstet und ihm gesagt, es sei Pflicht jedes Men-
schen, die Fähigkeiten, die Gott ihm eingepflanzt, nach Kräften zu pflegen
und zum gemeinen Besten zu verwerten.
Die Musik. Die wirklich selbständige und nutzbringende Ausgestaltung des Quadri-
viums liegt nicht auf mathematischem Gebiet. Sie betrifft neben der Zeit-
rechnung die Musik, die ursprünglich nur als die Lehre von den Zahlenver-
hältnissen der musikalischen Harmonien gedacht war, die nun aber den litur-
gischen Zwecken zuliebe gepflegt und so ins Praktische übertragen wurde.
Musik und Chronologie hatten eben ein unmittelbares kirchliches Interesse
und gehörten damit zur eigentlichen geistlichen Ausbildung. Man muß immer
im Auge behalten, daß die wissenschaftliche Bildung in jenen Zeiten auf die
Geistlichkeit beschränkt und damit ihrem Wesen nach Theologie war.
Da» Buchwissen Das Buchwlssen War im Mittelalter der Geistlichkeit durchaus eigentümlich,
'vorbehalten*" f)^^^ Pfaffe Sehe die Schrift an; so soll der ungelehrte Mann die Bilder sehen,
da ihm nicht die Schrift zu erkennen geschieht" sagt Thomasin von Zirkläre
im Welschen Gast. Die Beschäftigung des Laien hielt man für unvereinbar
mit gelehrten Studien. „Wer danach strebt, Haus, Vieh und Grundbesitz zu
erwerben oder ein Weib zu nehmen, der hat nicht den rechten Sinn für das
III. Die mathematische Bildung des früheren Mittelalters. A 8
o
Studium", sagt der Diakon Amalarius. Daß ein Ritter Lesen und Schreiben
kann, ist eine Ausnahme. Hartmann von Aue rühmt sich in den ersten Versen
des Armen Heinrich ausdrückUch, daß er es gelernt hat. Reiten, Springen,
Speerwerfen, Jagen, das sind die Bestandteile der ritterlichen Bildung, dazu
vielleicht noch Schach spielen, die Laute schlagen und Verse machen. Nur Entwicklung
in den Zeiten großen Aufblühens ist auch eine Schulbildung der vornehmen
Laien erstrebt worden. Wirkliche Laienschulen kommen aber erst mit den
Städten auf. Zuerst sind sie an die Kirchen gebunden, dann werden sie auch
von den städtischen Gemeinden errichtet. Das geschah bereits im 13, Jahr-
hundert. In der Kölner Diözese findet sich damals sogar schon ein Beispiel
von Schulzwang. Der Gegenstand des Unterrichtes ist Lesen, Schreiben,
Religion und Gesang. Von Rechenunterricht ist noch keine Rede. Das Rechnen
ist, wo es in Betracht kommt, ein Teil der kaufmännischen Fachbildung.
IV. Die mathematische Bildung in der Zeit des Scholastizismus.
Der Tiefstand des mathematischen Wissens im frühen Mittelalter hebt Wendung
sich rasch mit dem Emporkommen der geistigen Kultur, das sich an den im
13. Jahrhundert aufblühenden Scholastizismus knüpft. Der Scholastizismus
entstand durch das Bekanntwerden des Aristoteles aus den arabischen Quellen.
Die Araber übernehmen die Mission, das Erbe des Altertums nach einem
Jahrtausend dem germanisch-romanischen Völkerkreis weiterzugeben, nicht
unvermehrt durch eigene Untersuchungen und mit einem Einschlag, der von
den auf der alten Kultur weiterbauenden Indern herrührt und der an die
Araber durch ihre weitausgedehnten Handelsbeziehungen nach dem Morgen-
lande hin kam. Es sind keineswegs bloß die Schriften des Aristoteles, die vom
Abendland aufgenommen wurden, mit ihm wurden auch andere Schriften,beson-
ders mathematische Werke der Griechen und der Araber selbst, erschlossen. So
wurden die Elemente des Euklid schon zu Anfang des 1 2. Jahrhunderts von einem Eukiid-
englischen Mönche, Adelhart von Bath, aus dem Arabischen ins Lateinische" ^"*'^°°8*"-
übersetzt. Fast gleichzeitig wurde auch das wichtigste mathematische Werk
der Araber, das den Titel führt Algebr w'Almukabala, Wiederherstellung
und Gegenüberstellung, und dessen Verfasser Muhammed ihn Musa Alchwa-
rismi (etwa 800 n. Chr ) ist, vielleicht von demselben Adelhart, übersetzt. Von
diesem Werk stammt die Bezeichnung Algebra; aus dem verstümmelten
Namen des Verfassers Alchwarismi ist die Bezeichnung Algorithmus für die
arabische" Rechenmethode, die später auf jedes bestimmte Rechenverfahren
übertragen wurde, entstanden. Die Euklidübersetzung des Adelhart ist aber
weder ohne Vorgänger, denn wenigstens teilweise ist Euklid schon vorher
lateinisch herausgegeben worden, noch hat sie für den Unterricht besondere
Bedeutung erlangt. Dies gilt viel mehr für die anderthalb Jahrhunderte später
erschienene Übersetzung des Johannes Campanus, die eben in eine Zeit fiel,
wo das Verständnis für die Mathematik schon weiter fortgeschritten war.
Für die Mathematik ist neben der allgemeinen geistigen Entwicklung auch
das Fortschreiten der materiellen Kultur, das sich an das Emporblühen des
84 A H. E. Timerding: Die Verbreitung mathemat. Wissens u. mathemat. Auffassung.
überseeischen Handels und die wirtschaftliche Verbindung des Abendlandes
mit dem Orient knüpft, von entscheidender Bedeutung gewesen. Daß durch
das Bekanntwerden der arabischen Sprache und Literatur alles erschlossen
wurde, was die Araber auf wissenschaftlichem Gebiete geleistet hatten, und
dabei die Mathematik eine bedeutende Rolle spielte, war nicht alles; es
stellte auch die Ausbildung der Handelsbeziehungen ihre Anforderungen an
das kaufmännische Verrechnungswesen, ohne das eine geordnete Führung
ausgebreiteter kaufmännischer Geschäfte unmöglich ist. Durch eine eigen-
tümlich glückliche Fügung trifft das Bekanntwerden der arabischen Ziffern
mit dem Aufblühen des Handels zusammen und daraus erwuchs die Möglich-
keit eines ungeheuer vereinfachten Verrechnungswesens.
Lionardo Pisano. Dic EntwickluHg dcs mathematischen Wissens, das so entstanden ist,
liegt uns deutlich vor Augen in den Werken eines Mannes, der in der glänzen-
den Zeit des Kaisers Friedrichs II. und nicht außer Verbindung mit den ge-
lehrten Kreisen des kaiserlichen Hofes gelebt hat. Es ist dies Lionardo
Fibonacci, auch nach seiner Vaterstadt Pisa Lionardo Pisano genannt Lio-
nardo war ein so großer Geist, daß er die ganze Tradition in sich aufzunehmen
und selbständig zu verarbeiten vermochte. Was in seinen Schriften enthalten
ist, teils aus fremden, meist arabischen Quellen, teils an eigenen Forschungen,
geht so weit, daß die ganze mathematische Entwicklung der nächsten vier
Jahrhunderte darin vorgebildet liegt. Es ist also wenigstens für die Mathe-
matik durchaus nicht richtig, daß erst die Renaissance einen Aufstieg hervor-
gerufen hat; die Renaissance beruht vielmehr, was bildende Künste und
Naturwissenschaften anbetrifft, zu einem großenTeilauf der voraufgegangenen
Entwicklung des mathematischen Wissens.
Wir finden bei Lionardo fast alles das , was bis auf den heutigen Tag
den Gegenstand des arithmetischen Schulunterrichtes ausmacht, und das wird
wohl kein zufälliges Zusammentreffen sein, vielmehr zieht sich eine fort-
laufende Entwicklung von ihm zu unseren Schulen hin. Lionardo beginnt
seinen Liber Abaci, der zuerst im Jahre 1202 und in neuer Bearbeitung 1228
entstanden ist, mit den arabischen Zahlen und einer Erinnerung an das bis
dahin übliche Finger- und Abakusrechnen, dann kommen die vier Grund-
rechnungsarten ganz wie bei uns und eine voll ausgebildete Bruchrechnung.
Daran schließt sich das kaufmännische Rechnen in der Form, wie es sich seit-
her erhalten hat, auch die Ausdrücke Kettensatz, Mischungsrechnung, Ge-
sellschaftsrechnung, Warenrechnung, die sich immer noch in unseren Lehr-
büchernfinden, gehen auf Lionardo zurück. Daneben steht die arabische Algebra,
voll ausgebildet sind die quadratischen Gleichungen, ein erster Versuch findet
sich auch für die kubischen Gleichungen.
Wie sehr Lionardo auf arabischen Quellen fußt, geht aus seinen eigenen
Worten und den Benennungen, die er gebraucht, hervor. Aber durch die
arabische Überlieferung hindurch haben sich viel ältere Traditionen erhalten,
nämlich besonders ägyptische Kenntnisse. Dies zeigt sich an der Verwandlung
eines gewöhnlichen Bruches in eine Summe von Stammbrüchen, die Lionardo
IV. Die mathematische Bildung in der Zeit des Scholastizismus. A 85
besonders behandelt, an der Methode des falschen Ansatzes, die sich schon in
den äg3'ptischen Papyri zwei Jahrtausende v. Chr. findet und von den Arabern
zu dem doppelten falschen Ansatz, der Regula alchatayn nach Lionardos Be-
nennung, erweitert worden ist; auch die Behandlung der arithmetischen und
geometrischen Reihen weist sogar im Wortlaut der behandelten Aufgaben
auf die Ägypter zurück. Aus dem alten Ägypten stammen auch in letzter Linie
die rechtwinkligen Dreiecke mit ganzzahligen Verhältnissen der Seitenlängen
und die sogenannte Heronische Dreiecksformel, für die Lionardo einen etwas
anderen Beweis wie Heron gibt. Auch das angenäherte Ausziehen von Qua-
drat- und Kubikwurzeln, das sich bei Lionardo findet, rührt von den alten Ägyp-
tern her. Diese Tatsache, daß die Ägypter, die schon die griechische Mathe-
matik bestimmend beeinflußt hatten, noch einmal durch die Araber hindurch
auf die neuzeitliche Mathematik einwirken, ist äußerst merkwürdig. Die einzig
mögliche Erklärung scheint mir die, daß bei der Eroberung Alexandrias durch
die Araber die alte ägyptische Geistesbildung, die selbst die griechischen
Kultureinflüsse überdauert hatte, doch nicht spurlos unterging, sondern bei
den Eroberem eine neue Heimstätte fand.
Neben Lionardo ist sein Zeitgenosse Jordanus Nemorarius als ein Neu- Andere mathe-
begründer der mathematischen Wissenschaft anzusehen. Von ihm stammt die "^'^^'itufr*^''
Bezeichnung allgemeiner Zahlen durch Buchstaben, welche die Grundlage der
modernen mathematischen Formelsprache gebildet hat. Er schrieb auf Grund
einer arabischen Quelle ein Buch Über die Dreiecke, das zum erstenmal dem
Abendland eine bedeutsame Fortführung der Geometrie bot. Die Behandlung
mehrerer quadratischer Gleichungen mit mehreren Unbekannten in den leicht
auflösbaren Fällen, die im neueren Mathematikunterricht eine große Rolle
spielt, hat Jordanus in einer Schrift über die gegebenen Zahlen (De numeris
datis) entwickelt Er hat aber auch durch sein Buch Über die Gewichte die
erste, allerdings noch unvollkommene Grundlage der modernen Mechanik ge-
liefert. Hier war bekanntlich der Punkt, wo die Griechen scheiterten; die Be-
gründung einer wissenschaftlichen Mechanik ist ihnen nicht geglückt, sie sind
über das Archimedische Hebelgesetz nicht hinausgelangt. Erst dem späteren
Mittelalter war es vergönnt, aus dem Hebelgesetz die allgemeine Regel der
Statik, die wir als Parallelogramm der Kräfte bezeichnen, abzuleiten. Ln 13.
Jahrhundert entstanden auch die Lehrbücher, welche die antike angewandte
Mathematik den Bedürfnissen der Zeit anpaßten, so vor allem die Sphaera
des John of Holywood (Johannes de Sacrobosco), die ungeheuer verbreitet war
und sogar im 14. Jahrhundert von Konrad von Megenberg deutsch bearbeitet
wurde, ferner gegen Ende des 13. Jahrhunderts die Optik des Witelo, die
die griechische Perspektive nach arabischer Überlieferung wieder erneuert.
Zeichen des erwachenden mathematischen Literesses sind auch die Über-
setzungen griechischer Texte. Neben der bereits genannten Euklidüber-
setzung des Campanus sind die Übersetzvmgen anzuführen, die, wie es heißt»
auf Wunsch des Thomas von Aquino (f 1 274) Wilhelm von Mörbecke von der
Heronischen Katoptrik und den Archimedischen Schriften anfertigte. Durch
86 A H,E. Timerding: Die Verbreitung mathemat. Wissens u. mathemat. Auffassung.
diese Übersetzung ist uns die Schrift des Archimedes über die Hydrostatik
erhalten geblieben.
Aufkommen Eine besondcre Art scholastischerMathematik hat sich aus der Philo-
der
schoiasHschen sophie des Duns Scotus, vielleicht des kühnsten und schärfsten Denkers des
Mittelalters, entwickelt. Dieser hatte für das, was Gegenstand der Sinnes-
wahrnehmung wird, den Ausdruck Forma geprägt. Hart und weich, schnell
und langsam, hell und dunkel, warm und kalt sind solche Formae. Diese
Formen sind nun einer Zu- und Abnahme fähig, und die methodische Unter-
suchung dieser Veränderungen, der „intensiones et remissiones formarum",
bilden einen wichtigen Gegenstand der scholastischen Mathematik. Ihre Aus-
bildung erhielt sie in der Lehre von den „latitudines formarum", die wir bei
Nicole Oresme (f 1382) finden und die durch die geometrische Gewandung,
in der sie auftritt, den modernen KoordinatenbegriiF als die Grundlage der
allgemeinen graphischen Darstellung irgendwelcher Funktion geschaffen hat.
Fermat und Descartes haben später dieses Verfahren zu einer syste-
matischen Behandlung der ganzen Geometrie ausgebaut, wodurch vielfach
die Meinung entstanden ist, daß er auch den Koordinatenbegriff erst ge-
funden habe.
In der Lehre von den Latitudines formarum steckt aber gleichzeitig auch
der erste Anfang der späteren Differentialrechnung, ebenso wie wir die erste
Quelle der Integralrechnung oder vielmehr der Form der Infinitesimalrech-
nung, die wir als Indivisibelnlehre bezeichnen, schon im 1 3. Jahrhundert in
den Untersuchungen des Thomas Bradwardinus über den Unendlichkeits-
begriff finden. Es ist die alte griechische Unendlichkeitslehre, aber in einer
abgeklärten Form, die uns hier begegnet.
Mathematischer Der rasche Aufschwung des mathematischen Wissens im 13. Jahrhundert,
Universitäten, bei dem nur der Geist des Scholastizismus es bedingte, daß der Hauptwert
auf die Bildung der Begriffe , nicht die wirkliche Ausführung der Operationen
gelegt wurde, bringt den Gedanken nahe, daß die Mathematik auch im Unter-
richt zu dieser Zeit eine bedeutende Rolle zu spielen begonnen habe. Inwie-
weit dies der Fall gewesen ist, können wir nicht mit Sicherheit feststellen.
Um die Mitte des 13. Jahrhunderts klagt Roger Bacon, die Pariser Universität
kümmere sich wenig um fremde Sprachen und ebensowenig um Mathematik,
Perspektive, Moralwissenschaft und Alchymie. Indessen scheint das Quadri-
vium auch an den mittelalterlichen Universitäten eine Behandlung erfahren
zu haben. In der Grabschrift des 11 99 in Paris verstorbenen Hugo Physicus
wird ausdrücklich des von ihm im Quadrivium erteilten Unterrichts gedacht.
Dagegen scheint der allgemeine arithmetische Unterricht erst etwas später
aufgekommen zu sein, nachdem er bereits in dem Unterricht der Kaufleute
eine dominierende Stellung eingenommen hatte. In seiner fachlichen Bedeu-
tung ist das Rechnen sehr bald anerkannt worden, die ganze fachliche Aus-
bildung des Kaufmanns wurde sogar in den Begriff der Arithmetik zusammen-
gefaßt, und in gewissem Sinne ist das sehr lange so geblieben, das Rechnen
galt als eine kaufmännische Spezialwissenschaft. Aber die große Bedeutung,
IV. Die mathematische Bildung in der Zeit des Scholastizismus. A 87
welche der Handel überhaupt erlangte, brachte die Arithmetik auch an die
Universitäten. Es wurden regelmäßige Vorlesungen über die einzelnen Teile
der Arithmetik eingeführt. Die scholastische Arithmetik unterschied neun Pro-
zesse: Zählen, Addieren, Subtrahieren, Verdoppeln, Halbieren, Multiplizieren,
Dividieren, Progression und Radizieren. Im 14. Jahrhundert erlebte die Mathe-
matik an der Pariser Universität eine kurze Glanzzeit, es war die Zeit, wo
Oresme dort wirkte. Der Wiener Vorlesungsplan vom Ende des 14. Jahr-
himderts zählt an mathematischen Vorlesungen auf: Sphaera materialis, Arith-
metica, Proportiones breves, Latitudines formarum, Euclides, Arithmetica et
proportiones, Perspectiva, Musica, Algorithmus de integris, Theorica plane-
tarum, Computus physicus (Rechnen mit Brüchen, deren Nenner Potenzen
von 60 sind), Algorithmus de minutiis (gewöhnliche Bruchrechnung). Johann
von Gmunden war 1420 der erste mathematische Fachprofessor in Wien, er
schrieb einen Tractatus de minutiis physicis, anscheinend als Grundlage für
Universitäts Vorlesungen , im übrigen wurden Euklid, Oresme, Witelo, Sacro"
bosco und für die Arithmetik ein Lehrbuch des Johannes de Muris benutzt. In
Padua wurde während des 15. Jahrhunderts die Mathematik mit der Astro-
nomie zusammen gut gepflegt. Es wirkten dort Prosdocimo dei Beldomandi,
Pietro d'Abana, Guglielmo di Montorso, Giovanni Dondi und Biagio da Parma.
In Bologna erscheint im Jahre 1383 ein eigener Lehrer der Arithmetik; gegen
Ende des 1 5. Jahrhunderts bestanden zwei Professuren der Mathematik, die eine
für Astronomie, die andere für Arithmetik und Geometrie. Es wirkten dort
Domenico Maria von Ferrara, Scipio von Mantua, Scipione dal Ferro (in den
Jahren 1496 — 1520), der als Entdecker der Lösung der Gleichungen dritten
Grades berühmt geworden ist, endlich, aber nur vorübergehend, der vielge-
wanderte LucaPaciuolo (1448 — 1514). Luca Paciuolo hat ein Buch De divina
proportione geschrieben, das im Zusammenarbeiten mit Lionardo da Vinci
entstanden ist und die Mathematik in eine enge Beziehung zur bildenden
Kunst bringt. Das alte Verhältnis des goldenen Schnittes wird zur Erklärung
und Begründung der Schönheit verwendet. Daraufhin werden auch die Ver-
hältnisse des menschlichen Körpers imtersucht, ebenso wird die Herstellung
schöner Buchstaben auf Grund geometrischer Konstruktion erstrebt
V. Die mathematische Bildimg der Renaissance.
Luca Paciuolo gehört schon einer neuen Zeit an, die eben durch das Vor- Die künstlerisch©
dringen des künstlerischen Interesses gekennzeichnet ist. Es ist die Zeit der * '""^
Renaissance. Luca Paciuolo ist im eigentlichen Sinne der Mathematiker
der Renaissance. Durch ihn tritt die offizielle Mathematik der Universitäten
zum erstenmal in enge Beziehung zu einer andersgearteten Mathematik, die
sich unabhängig von dem Lehrbetrieb ausgebildet und fortgepflanzt hat und
bedeutender ist als die Mathematik, die in der Artistenfakultät der Universi-
täten sich oft mühsam behauptete imd bei der die wirkliche sachliche Be-
lehrung vielfach in einem Schwall von Reden über die einfachsten Dinge er-
stickte. Es ist dies die praktische Mathematik der Baumeister imd Maler.
88 A H.E. Timerding : Die Verbreitung mathemat. Wissens u. mathemat. Auffassung.
Unter den mittelalterlichen Baumeistern bildete sich die aus dem Altertum
überkommene technische Geometrie immer mehr in selbständiger Weise zu
einer Rißkunst aus, die eine Fülle geometrischer Konstruktionen umfaßte.
Ihren Ausgangspunkt bildet die altbabylonische, auch in Ägypten gekannte
Konstruktion des regulären Sechsecks; diese fällt mit der Konstruktion des
gleichseitigen Dreiecks, mit der Euklid seine Elemente beginnt, wesentlich
zusammen. Die mannigfaltige Ausgestaltung dieser Konstruktion können wir
an den gotischen Bauwerken überall erkennen; auf sie suchte man nach Mög-
lichkeit alle anderen Konstruktionen zurückzuführen. Das Verfahren war ein
bloßes Probieren. Zwischen genauer und angenäherter Richtigkeit einer Kon-
struktion wurde nicht unterschieden. Was in praktischer Hinsicht genügte, be-
friedigte vollkommen. Der Beweis spielt gar keine Rolle. Es handelt sich nur
darum, wie es gemacht wird, nicht, wie es zu begründen ist, aber der Schatz
an praktischen Kenntnissen ist außerordentlich reich. Diese Kenntnisse wur-
den jedoch keineswegs bereitwillig mitgeteilt, sondern in den Bauhütten als
Zunftgeheimnis streng gehütet und nur in fest geordnetem Lehrgang nach
langer Probezeit dem Lehrling eröffnet; sie treten literarisch erst nach der
Erfindung der Buchdruckerkunst in die Erscheinung, zuerst in ein paar ganz
kurzen Abrissen dieser Steinmetzgeometrie und dann ausführlicher in dem
viel bekannter gewordenen Buche unseres Albrecht Dürer, Unterweisung der
Messung mit Zirkel und Richtscheit (1525). Auch vieles, was sich in den Manu-
skripten Lionardos da Vinci an geometrischen Konstruktionen findet, geht
auf die Zeit der Gotik zurück.
Die pprspektive. Inzwischcn hatte sich aber noch ein anderer Zweig des mathematischen
Wissens entwickelt, der insbesondere die Maler berührte: die Perspektive.
Nach dem Zeugnis der Zeitgenossen ist es Brunellesco (1379 — 1446) gewesen,
der am Anfang des 1 5. Jahrhunderts ihre Regeln fand. Im Jahre 141 4 war
von Poggio Bracciolini in der Klosterbibliothek von St. Gallen eine Hand-
schrift des Vitruv gefunden worden. Diese authentische Nachricht von der
Bauweise der Alten übte auf die Renaissancezeit den größten Einfluß aus. So
soll auch eine kurze Bemerkung, die sich bei Vitruv über die antike Perspek-
tive findet, Brunellesco den Anlaß zu seiner Entdeckung gegeben haben, jedoch
ist das zweifelhaft. Jedenfalls ist er nicht bei dem Zusammenlaufen der Linien
nach dem Horizonte hin, das Vitruv allein anführt, stehengeblieben, sondern
hat selbständig die richtige Bemessung der Tiefe in dem Bilde gefunden.
Er zeigte die Bedeutung seiner Entdeckung, indem er seinen Freunden eine
genau perspektivisch konstruierte Ansicht des Platzes der Signoria in Florenz
in einer Art Guckkasten vorwies, wobei er zur Erhöhung der Illusion die vor-
überziehenden Wolken sich in einer silbernen Fläche über den Häusern des
Bildes spiegeln ließ. Die täuschende Wiedergabe der Wirklichkeit, die er so
erreichte, erregte nicht ohne Grund allgemeines Erstaunen, und die neue
Kunst fand sehr rasch Verbreitung. Man sieht es an den Bronzetüren des
Baptisteriums in Florenz, die von Ghiberti, einem Zeitgenossen Brunellescos,
herrühren. Das erste Bild verrät noch keine perspektivischen Kenntnisse, das
V. Die mathematische Bildung der Renaissance. A 8q
zweite zeigt sie bereits in hoher Vollendung. Von den Malern wandte die neu-
entdeckte Perspektive zuerst Masaccio an, den Brunellesco selbst sie lehrte,
und Paolo Uccello, der unter anderem einen Kreisring mit unsäglicher Mühe
richtig perspektivisch konstruierte und in seinem Gemälde der Sintflut an-
brachte. Darauf verbreitete sich die neue Malweise so sehr unter allen Künst-
lern, daß die Maler geradezu Perspektiviker, Prospettivi, genannt wurden.
Für die enge Beziehung, in der sich die Künstler der Renaissance zur
Mathematik fühlten, gibt es ein eigentümliches, aber beredtes Zeugnis. In
seiner Schule von Athen hat Raffael auch die Mathematik berücksichtigt. In
dem Tempel der Wissenschaft haben, ganz im Sinne der Renaissance, Piaton
und Aristoteles den ersten Platz: die Philosophie ist die Herrscherin und Füh-
rerin. Die Gruppe der Mathematiker nimmt eine bescheidene Stelle vor dem
Tempel ein. Aber in dieser schönen Gruppe, welche die Versenkung in die
Freude desForschens undFindens mit hoher Vollendung darstellt, hatRafFael
nicht bloß den Baumeister Bramante, sondern auch sich selbst angebracht.
Durch ihre Begründung auf den Regeln der Perspektive erschien die Malerei
selbst als eine mathematische Kunst. Albrecht Dürer sagt in der Vorrede zu
seiner Unterweisung der Messung mit Zirkel imd Richtscheit (r525) im Hin-
blick auf die hinter der italienischen Kunst zurückgebliebene deutsche Malerei:
„Wiewohl etliche Fertigkeit nur eine freie Hand verlangt, so daß sie ihr Werk
gewaltig, aber unbedacht und allein nach ihrem Gutdünken gemacht haben,
so mußten doch die verständigen Maler und rechten Künstler beim Anblick
solcher Werke dieser Leute ihre Blindheit belachen, weil einem rechten Ver-
stand nichts unangenehmer auffällt denn Falschheit im Gemälde, unangesehen
ob das auch mit allem Fleiß gemalt wird. Daß aber solche Maler an ihren Irr-
tümern Wohlgefallen gehabt, rührt davon her, daß sie die Kunst der Messung
nicht gelernt, ohne die kein rechter Werkmann werden oder sein kann."
Die Perspektive nimmt in der mathematischen Literatur des i6. Jahr-
hunderts einen hervorragenden Platz ein, ja sie bedeutet vielleicht das Gebiet,
auf dem diese Zeit sich in mathematischer Hinsicht am fruchtbarsten erwiesen
hat. Der erste, der über sie geschrieben hat, ist Leo Battista Alberti ( 1 404 — 1472),
der sie schon vor 1444 in seiner Schrift De Statua, wohl wesentlich in derselben
Weise wie Brunellesco sie gefunden hatte, behandelte. Das erste wirkliche
Lehrbuch der Perspektive schrieb gegen Ende des 15. Jahrhunderts der Maler
Piero della Francesca (1420 — 1492). Das erste gedruckte Werk über Per-
spektive erschien 1505 in Toul, sein Verfasser ist der Franzose Viator oder
Pelerin. Es besteht in der Hauptsache aus vortrefflichen und sehr anschau-
lichen Figurentafeln. Von da an sind die Lehrbücher der Perspektive sehr
zahlreich. Eines der ausgezeichnetsten aus der Zeit der Hochrenaissance ist
Daniele Barbaros Prattica della Perspettiva (1569). Hier spielt auch schon
die Theaterperspektive eine Rolle. Guido Ubaldo del Monte, der Gönner und
Freund Galileis, brachte 1600 einen gewissen Abschluß in die Begründung
der Perspektive, indem er die Bedeutung der Fluchtpunkte allgemein erkannte.
Die Perspektive hat das große Verdienst, daß sie nicht bloß der modernen
QO A H. E. Timerding : Die Verbreitung mathemat. Wissens u. mathemat. Auffassung.
^ Kunst, sondern auch der modernen Geometrie die Bahnen eröffnet hat. Sie
lehrte in einer Zeit, in der das Verständnis für die Feinheiten der griechischen
Geometrie noch kaum wieder erwacht war, die räumlichen Gebilde von einer
neuen Seite ansehen; diese Betrachtungsweise hat in dem, was wir heute als
projektive Geometrie bezeichnen, ihre unmittelbare Fortsetzung gefunden. Aber
noch in einer anderen Hinsicht ist das 1 6. Jahrhundert für die moderne Mathe-
Entwickiung matik grundlegend gewesen, nämlich in der Entwicklung der Algebra und der
ge ra. j^^^jg^-j^gj^ mathematischen Formelsprache. Die Gleichungen zweiten Grades,
die schon die Griechen in geometrischer Einkleidung behandelt hatten, sind be-
reits von Lionardo Pisano auf Grund der arabischen Vorbilder erledigt worden.
Am Anfang des 1 6. Jahrhunderts fand nun Scipione del Ferro auch die all-
gemeine Lösung der Gleichungen dritten Grades, etwa im Jahre 1543 gelang
endlich dem kaum zwanzigjährigen Luigi Ferrari, einem Schüler Cardanos,
die Auflösung der Gleichungen vierten Grades, indem er zeigte, wie diese
sich auf eine Gleichung dritten Grades, die sogenannte kubische Resolvente,
zurückführen läßt. Damit war ein gewaltiger Fortschritt erreicht und die Al-
gebra bis zu den Grenzen entwickelt, die ihr im Schulunterricht heute noch
gezogen sind. Was aber noch fehlte und erst bei Fermat und Descartes in der
ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts voll entwickelt auftritt, ist die algebraische
Formelsprache, die den umständlichen und unübersichtlichen Wortausdruck
Entstehung in ciue Art Kurzschrift zu übersetzen gestattet. Wie diese Formelsprache ent-
Formeisprache. Standen ist, da von können folgende kurze Datcu einen Begriff geben: 1489 ver-
wendete Widmann die Zeichen -f und — für die Addition und Subtraktion. Das
Gleichheitszeichen = hat ein Engländer, Recorde, erfunden, der es 1 556 in einem
algebraischen Lehrbuch Der Wetzstein des Witzes einführte, weil nichts glei-
cher sei als diese zwei Strichelchen. Die Angabe der Multiplikation durch ein-
faches Nebeneinanderstellen der zu multiplizierenden Größen, ebenso wie die
Angabe der Division durch den Bruchstrich finden sich schon 1202 bei Lionardo
Pisano. Dagegen ist das Zeichen x erst 1631 durch den Engländer Oughtred
eingeführt worden und das Zeichen : 1684 durch Leibniz. Der Haken V für
die Quadratwurzel findet sich zuerst 1524 bei Adam Riese. In der Rudolff-
schen Coß vom Jahre r52 5 begegnet uns zuerst das Zeichen für die Unbekannte
in einer Gleichung, das später einfach als ein x geschrieben worden ist. Der
Franzose Vieta hat endlich 1591 die konsequente Verwendung von Buchstaben
zur Bezeichnung von Zahlengrößen in Verbindung mit Operationszeichen, so-
wie den Zusammenschluß durch verschieden gestaltete Klammem und damit
die moderne Formelschreibweise eingeführt.
D'» Vieta ist es gleichzeitig, der sich das größte Verdienst für die Entwick-
Trigonometrie. , . ..,,.- «
lung der modernen Trigonometrie erworben hat Diese wird gewohnlich aut
Regiomontanus (1436 — 1476) zurückgeführt, der sie in der Schrift De trian-
gulis omnimodis libri V niedergelegt hatte. Diese Schrift erschien im Druck
erst 1533, 57 Jahre nach dem Tode des Verfassers. Die späteren Trigonometer
sahen sie für eine selbständige Schöpfung Regiomontans an und ergingen
sich deshalb in Lobeserhebungen über ihn. Untersucht man aber, was wirklich
V. Die mathematische Bildung der Renaissance. A oi
an dem Werke eigene Leistung ist, so fallt manches weg. Der Ruhm, den
Regiomontan geerntet hat, beruht zum Teil darauf, daß seine handschrift-
lichen Quellen, die Schrift des Menelaus und die Werke der Araber Levi
ben Gerson, AI Battani und Dschabir vergessen waren und er sie nicht nennt.
Dagegen hat Vieta (1450 — 1603) eine unleugbar selbständige Leistung voll-
bracht, ihm verdanken wir die systematische Ausbildung der Methoden zur Be-
rechnung ebener und sphärischer Dreiecke unter Zugrundelegung sämtlicher
sechs trigonometrischen Funktionen.
Die Entwicklung der Trigonometrie steht in Zusammenhang mit dem ge- Praktische
steigerten Interesse an den Aufgaben der praktischen Geometrie. Der ^^
ungeheuer angewachsene Verkehr und das Bedürfnis nach neuen, besseren
Verkehrswegen gab der Feldmessung in der Vorarbeit für die Anlage einer
zweckmäßig geführten Straße eine neue Bedeutung. Außerdem hatten der in
rascher Entwicklung begriffene Seeverkehr und die großen Entdeckungs-
fahrten das Bedürfnis nach einer genauen astronomischen Ortsbestimmung er-
weckt. Dies Bedürfnis vermochte man allerdings nur hinsichtlich der Breiten-
bestimmung zu befriedigen; bei der Längenbestimmung bildete das Fehlen ge-
nauer Uhren ein unübersteigliches Hindernis. Mit den Entdeckungsfahrten
steht auch in Zusammenhang die Neuentwicklung der Erdbeschreibung und
die Herstellung von Erdkarten und Atlanten. Auch hieran hat die Mathematik Kartographie
einen Anteil, insofern sie lehrt, das Gradnetz der Erde nach einer festen Regel
in zweckmäßiger Weise auf das ebene Kartenblatt zu übertragen. Eine ein-
fache Form der Darstellung, welche die Eigentümlichkeit hat, daß bei ihr kleine
Teile der Erdoberfläche wirklichkeitsgetreu abgebildet werden, war durch die
stereographische Projektion des Ptolemäus gegeben. Die für die Zwecke der
Seefahrt nützlichste Form wurde dagegen gerade im 16, Jahrhundert, etwa
gegen die Mitte, von Gerhard Mercator gefunden. Bei dieser Darstellungs-
form wird der Weg eines unverändert denselben Kurs steuernden Schiffes
als gerade Linie abgebildet.
Alle diese Entdeckungen werden aber überstrahlt von den Arbeiten auf Astronomie,
astronomischem Gebiet. Das Weltsystem des Domherrn Nikolaus Kopemi-
kus( 1473— 1543) erscheint uns als eine gewaltige Tat des menschlichen Geistes,
die alles andere in den Schatten stellt. Die Quelle der Kopernikanischen Lehre
ist bezeichnend für das Zeitalter der Renaissance; sie lag in dem Studium
der Alten, verbunden mit dem Streben, der unbedingten Autorität des Ari-
stoteles entgegenzuarbeiten und auch die gegnerischen Meinungen zu ihrem
Recht kommen zu lassen. Kopemikus berichtet selbst: „Ich gab mir alle Mühe,
die Bücher der Philosophen, deren ich habhaft werden konnte, von neuem zu
lesen, um nachzusuchen, ob nicht irgendeinmal einer der Ansicht gewesen
wäre, daß andere Bewegungen der Himmelskörper existierten als diejenigen
annehmen, welche in den Schulen die mathematischen Wissenschaften lehren.
Da fand ich denn zuerst bei Cicero, daß Hiketas von Syrakus geglaubt habe,
die Erde bewege sich. Nachher fand ich auch beiPlutarch, daß andere gleich-
falls dieser Meinung gewesen sind. Von da ausgehend, fing ich an über die
02 A H. E. Timerding: Die Verbreitung mathemat. Wissens u. mathemat. Auffassung.
Beweglichkeit der Erde nachzudenken." Merkwürdigerweise sind ihm aber
die Ansichten des Kardinals Nikolaus Cusanus unbekannt geblieben. Die Re-
sultate seiner Versuche, die unbestimmten Äußerungen in den älteren Schrift-
stellern zu einer bestimmten mathematischen Beschreibung der Planetenbewe-
gung zu verdichten, hielt Kopernikus lange verborgen. Das schließliche Er-
scheinen seines großen Werkes De Revolutionibus orbium coelestium (1543)
hat er nicht mehr erlebt. Was in diesem Werke siegreich hervortritt, ist die
Macht des mathematischen Geistes, der mit dem einfachsten geometrischen
Bilde der Naturvorgänge auch die quantitative Erklärung der beobachteten
Erscheinungen verbindet und so dem leeren Wortgepränge der Scholastiker
den klärenden Einfluß von Maß und Zahl gegenüberstellt.
Die Mathematik Solchen großcu wissenschaftlichcn Aufgaben und Leistungen gegenüber
,, f "^ '^.!"* steht das Unterrichtswesen der Hochschulen keineswegs auf der Höhe, die
Universitäten. '-' '
wir vermuten sollten. Es erhielt sich vielmehr fast genau in derselben Form,
wie wir es im 15. Jahrhundert, im „finsteren Mittelalter", gefunden haben. So
war es noch, als Galilei mit großem Zulauf in Padua lehrte, und die Titel
(wenn auch nicht der Geist) seiner Vorlesungen sind zum größten Teil genau
dieselben wie sie schon zweihundert Jahre vorher waren. Die jungen Leute,
die bei ihm Astronomie hörten, waren zum größten Teil Mediziner, welche
die Vorlesung brauchten, um bei der Behandlung der Krankheiten den Aspekt
der Gestirne richtig beobachten zu können. So hängen hier Aberglaube und
Wissenschaft eng zusammen. Die Reformation hat den Zustand der mathe-
matischen Studien an den Universitäten kaum verbessert. An der großen Hoch-
schule der Reformation in Wittenberg war statutengemäß ein Professor für
Arithmetik und die Sphaera des Johannes de Sacrobosco und ein Professor für
Euklid, die Theoria Planetarum Peurbachs und den Almagest des Ptolemäus
vorgesehen. Der Mathematiker hatte aber wegen der geringen Vorliebe für
das mathematische Studium immer nur wenig Zuhörer. Melanchthon, der
entschieden für die Mathematik eingetreten ist, „weil sie das methodische Denken
übt, das Urteil bildet und den Geist gewöhnt nach Beweisen zu suchen und
die Wahrheit zu lieben", schreibt einmal an den Herzog Albrecht von Preußen:
„Höchst wenige legen sich auf Mathematik und noch weniger sind unter den
Machthabern, welche dieses Studium begünstigen. Unser Hof bekümmert sich
wenig darum." Bezeichnend ist die Einladungsrede desRhaeticus bei der Über-
nahme der Mathematikprofessur in Wittenberg 1536, die Studenten möchten
sich durch die Schwierigkeit der Arithmetik nicht abschrecken lassen, die ersten
Elemente seien leicht, die Lehre von der Multiplikation und Division verlange
allerdings schon etwas mehr Fleiß, könne aber bei einiger Aufmerksamkeit
ohne Mühe bewältigt werden, allerdings gebe es noch schwierigere Teile der
Arithmetik, aber er rede nur von den Anfängen, die den Studierenden gelehrt
würden und nützlich seien. Wir können uns schwer hineinversetzen, daß etwas
so Elementares wie das gewöhnliche Rechnen auf der Universität gelehrt
werden mußte und noch hier Widerstand fand. Die Gymnasien verhielten sich
aber ganz ablehnend dagegen. Auf dem Sturmschen Gymnasium in Straßburg
V. Die mathematische Bildung der Renaissance. A 03
wurde erst 40 Jahre nach der Gründung, im Jahre 1578, in der Sekunda etwas
Arithmetik und in Prima einige Sätze aus dem ersten Buche des Euklid einge-
führt, dazu sollten die Elemente der Astronomie gelehrt werden. So stehen
wir vor der befremdenden Tatsache, daß die gelehrten Berufe vielfach über-
haupt nicht rechnen lernten. Man denke sich den Zustand: die Gebildetsten
der Nation waren den Aufgaben des täglichen Lebens gegenüber hilfloser
wie heutzutage ein Hökerweib!
Wie tief das mathematische Studium auf den Universitäten stand, kann
man daraus entnehmen, daß die Universitätslehrer vielfach die Verfasser von
Rechenbüchern sind, die zuerst als Kompendien für ihre Vorlesung gedacht
waren. So ist das Rechenbuch von Heinrich Schreiber, genannt Grammateus»
entstanden, das er nach den Aufzeichnungen für seine Vorlesungen heraus-
gab, als 152 I die Wiener Universität wegen einer Seuche geschlossen wurde.
So leitet auch ein Leipziger Universitätsprofessor, Heinrich Stromer, 1520
seinen Algorithmus linealis mit der an einen seiner Schüler gerichteten Be-
merkung- ein, der Zweck seines Buches sei, daß nicht ihm und seinen übrigen
Schülern die Grundlagen der Mathematik gänzlich verborgen bleiben sollten.
Die mathematischen Universitätsvorlesungen begnügten sich sonach vielfach
damit, den Studierenden für ihr späteres Leben die elementarsten Kenntnisse
im Rechnen mitzuteilen. Sie suchten so den gelehrten Ständen das wenigstens
einigermaßen zu sichern, was dem Kaufmannsstande in gründlicherer Form
durch die Rechenschulen gewährleistet wird.
Die Ausbreitung des modernen kaufmännischen Rechnens, die mit der Das kaufmän
Ersetzung der römischen Ziffern durch die arabischen Hand in Hand geht, ist"""^* Rechnen.
einer der wichtigsten Prozesse des ganzen Kulturlebens. Er ist mit der Aus-
breitung des Handels unmittelbar verknüpft und schreitet vom 1 5. Jahrhundert
ab rasch fort. Eine besondere Unterstützung bot ihm die neuentdeckte Buch-
druckerkunst, denn sie erlaubte die Herstellung billiger Rechenbücher. Das
älteste uns erhaltene Rechenbuch in deutscher Sprache ist das von Ulrich
Wagner (1482). Ihm folgte 1489 das von Widmann. Es behandelt im ersten
Teil die unbenannten Zahlen, im zweiten die kaufmännischen Rechnungsarten
und im dritten Geometrie. Die Stoffanordnung im zweiten Teil ist im wesent-
lichen genau dieselbe, wie sie sich heute noch in unseren Schulbüchern findet.
Das Rechnen wurde in jener Zeit an bestimmten Rechenschulen von Rechen-
meistern gelehrt. Zu Beginn des 1 6. Jahrhunderts wirkte als der berühmteste
Rechenmeister Johann Neudörffer der Altere in Nürnberg. Seine Schüler
zogen als Rechenlehrer nach allen Gegenden Deutschlands. In Mitteldeutsch-
land gelangte zu sprichwörtlicher Berühmtheit Adam Riese (1492 — 1559),
dessen erstes Rechenbuch 15 18 erschien. Die Quartausgabe von 1550 kann
als das beste Rechenbuch dieser Zeit bezeichnet werden. Das Unterrichts-
verfahren der Zeit war rein mechanisch. Man suchte eine bequeme Lösungs-
methode aus, auf die dann immer und immer verwiesen wurde mit der einfachen
Vorschrift „Mach's nach der Regel!". Der Unterricht war Einzelunterricht.
Jeder Schüler beschäftigte sich selbst, indem er das Rechenheft seines Meisters
04 A H.E. Timerding: Die Verbreitung mathemat. Wissens u. mathemat. Auffassung.
durchzurechnen suchte; kam er nicht weiter, so fragte er. Nur zwischendurch
erhoben sich Stimmen, die einen Klassenunterricht forderten. Dennoch waren
die Rechenschulen besser als die Volks- und Winkelschulen. Die Rechen-
meister suchten ihren Stand zu heben, indem sie sich zu Zünften vereinigten,
die Zahl beschränkten und eine bestimmte Vorbildung vorschrieben. Zur Vor-
bereitung auf die Lehrerprüfung schrieb 1616 der Nürnberger Rechenmeister
Johann Heer Arithmeticae et geometricae Questiones, Die Rechenlehrer
studierten nicht bloß das gewöhnliche Rechnen, sondern auch die theoretische
Arithmetik, und so wurde die Ausbildung der Rechenpraxis gleichzeitig auch
der Anlaß für eine weitere Ausbreitung der wissenschaftlichen Mathematik.
Mathematisches Allgemein ist über die Beschäftigung mit der wissenschaftlichen Mathe-
matik in dieser und auch noch in der späteren Zeit zu sagen, daß sie nicht
an einen bestimmten Lehrbetrieb geknüpft war, daß sie vielmehr fast immer
wesentlich auf Sonderstudium beruhte. Entweder fand der Lernbegierige einen
Lehrer, der ihm durch Privatissima weiterhalf, oder er erwarb sich seine
Kenntnisse rein autodidaktisch aus Büchern. In dem Zeitalter der Renaissance
waren es hauptsächlich die Schriften der alten griechischen Mathematiker, an
denen sich das Studium der Wissenschaft aufrankte. Euklid wurde auch der
Lehrmeister der neuen Zeit. Neben ihm wurden die Werke des Archimedes,
Heron und Ptolemäus eifrig studiert. Die Hinneigung nach dem Vorbild der
Alten ist ja überhaupt ein Kennzeichen der Renaissance; z. B. hat das Werk
des Vitruv über die Baukunst eine ungeheure Bedeutung erlangt, man suchte
aus ihm die ganzen Kunstgeheimnisse des Altertums zu enträtseln. Die huma-
nistische Bewegung bedingte, daß man bald auch dazu überging, die griechi-
schen Mathematiker nicht bloß in der lateinischen Übersetzung, sondern auch
im Original zu studieren. So begegnen uns in der ersten Hälfte des 16. Jahr-
hunderts auch die ersten griechischen Druckausgaben des Euklid (1533), des
Ptolemäus (1538) und des Archimedes (1544).
Praktische Zu solchcn Studien war eine ausgebreitete Buchgelehrsamkeit nötig.
■ Aber die Beschäftigung mit der Mathematik ist in dieser Zeit keineswegs auf
die Gelehrten beschränkt gewesen, vielmehr wurde sie von Künstlern und
Technikern mit Eifer und Hingebung getrieben. Diese aus der Praxis er-
wachsene Bildung, in der sich das Wissen der mittelalterlichen Bauhütten
fortsetzt, ist sich mit Stolz bewußt, keinen anderen Lehrmeister als die Er-
fahrung und das Nachdenken über die Ergebnisse der Erfahrung gehabt zu
haben. Zum erstenmal stellt sich eine von aller Überlieferung unabhängige,
nur auf dem Zeugnis der eigenen Sinne und den Früchten des eigenen Nach-
denkens beruhende Wissenschaft entschieden der Schulweisheit gegenüber.
Es tritt ein Wissen auf, das sich rühmt, unmittelbar der Natur entsprossen
und nicht durch die Meinungen anderer Menschen beeinflußt zusein. Bezeich-
nend ist die Erzählung in Vasaris Lebensbeschreibung, wie Brunellesco mit dem
nach Florenz zurückgekehrten Paolo Toscanelli Freundschaft schließt und von
ihm Geometrie lernt. Es heißt darin weiter: „Obwohl Brunellesco keine lite-
rarische Bildung besaß, konnte er ihm doch von allen Dingen Rechenschaft
V. Die mathematische Bildung der Renaissance. -A. 95
geben vermöge des natürlichen Wissens seiner praktischen Erfahrung, so
daß er ihn häufig überraschte." Lionardo da Vinci nennt sich mit Stolz einen
Schüler der Erfahrung, und auch bei Galilei finden wir dieselbe Stimmung.
Er spricht von dem Buche der Natur, in dem wir unmittelbar ohne eine da-
zwischengeschobene Lehrmeinung lesen sollen und dessen Schriftzeichen
mathematische Formeln und Figuren sind. Es ist die Bedeutung dieser Mathe-
matik der Renaissance, daß sie mit der Rückkehr zu der unmittelbaren, un- Rückkehr zur
befangenen Betrachtung der Natur, mit der Begründung der modernen Natur- "°°"und "^"
Wissenschaft in engstem Zusammenhange steht. Vielfach hat man in dieser "g^^^^^^"^^^"
Entwicklung einen bewußten Gegensatz gegen das christliche Mittelalter ver- der Natur.
mutet. Ein solcher Gegensatz des emanzipierten Laientums gegen die geist-
liche Gebundenheit des Denkens besteht aber eigentlich nicht. Wir können
dies deutlich an der Persönlichkeit eines Nikolaus von Cusa (1401 — 1464) er-
kennen, der, selbst ein hoher Würdenträger der Kirche, doch die ganzen
Ideengänge vorgebildet hat, die später das 1 6. Jahrhundert bewegen. Seine
Ansichten stehen denen eines Giordano Bruno sehr nahe, nur die dazwischen
eingetretene Reformation und Gegenreformation bewirkte, daß als anstößig
und religionsfeindlich galt, was vorher unbedenklich hingenommen worden
war. In der Zeit, da sich um Lionardo da Vinci in Mailand ein Kreis bildete,
der sich die Erforschung der Wirklichkeit und ihre technische Beherrschung
zum Ziele setzte, war ein solcher Gegensatz noch nicht vorhanden. Hätte Galilei
hundert Jahre früher gelebt, so hätte er kaum irgendwelche Anfeindung er-
fahren. Typisch ist für die Frührenaissance der Bildungsgang, den einer ihrer Drang zur
Hauptvertreter, Leo Battista Alberti, durchgemacht hat. Ausgezeichnet durch BetäH^ng"
ungewöhnliche körperliche Kraft und Gewandtheit, in allen ritterlichen Übun-
gen erfahren, wird er Geistlicher und gibt sich dem Studium der Rechtswissen-
schaft mit solchem Eifer hin, daß sein starker Körper der Anstrengung unter-
liegt. Von dem Nervenleiden, das ihn befällt, sucht er Heilung durch einen
Wechsel der Beschäftigung; so wendet er sich mathematischen Studien zu
und gelangt von diesen aus zur Kunst, in der er als Baumeister großen Ruhm
erlangt hat. Die staunenswerte Vielseitigkeit, der unvermittelte Übergang
von einem Beruf zum anderen ist bezeichnend für diese Zeit einer mächtigen
Entwicklung. Ebenso wendet ja auch Lionardo da Vinci, nachdem er bisher
nur als Künstler tätig gewesen, sich plötzlich der Technik zu, indem er sich
dem Herzog von Mailand als Ingenieur anbietet, und seine Manuskripte, die
uns ein gütiges Geschick erhalten hat, zeigen deutlich die Universalität seines
Genies.
Diese Universalität zeigt sich auch in der ganzen mathematischen Lite- Enzykiopäducher
ratur der Zeit. Mathematik bedeutete überhaupt nicht mehr eine bestimmte mathematischen
Wissenschaft, sondern nur das geistige Band, das die neue, auf der Erfahrung Lehn^erke.
und ihrer methodischen Durcharbeitung aufgebaute Wissenschaft zusammen-
hielt. Diese Wissenschaft war so weit wie das reale Interessengebiet des
Zeitalters. So wurde die Baukunst zur Mathematik gerechnet, ebenso die
Malerei in der Form der Perspektive, Das neuentwickelte Heerwesen be-
o6 A H. E. Timerding: Die Verbreitung mathemat. Wissens u, mathemat. Auffassung.
dingte eine Menge von technischen Kenntnissen, die man ebenfalls einfach
der Mathematik zuerteilte. Es war zunächst das Befestigungswesen, dann
die Taktik und endlich die Ballistik, die nicht nur von militärischen Fach-
leuten, sondern von jedem, der sich dazu berufen fühlte, behandelt wurden.
Die uns heute geläufige Anschauung, daß jeder nur über sein bestimmtes
Fachgebiet schreiben könne, ist in jener Zeit überhaupt nicht vorhanden.
Wozu man Lust in sich spürt oder wovon man sich Gewinn erhofft, das treibt
man. So ergibt sich eine allerdings häufig dilettantische Vielwisserei, die fast
immer unter dem Namen der Mathematik zusammengefaßt wird und deren
Träger sich als Mathematiker fühlen und bezeichnen.
Typisch für dieses mathematische Bildungs wesen des 1 6. Jahrhunderts ist
das Buch von Tartaglia, La nuova Scientia (Die neue Wissenschaft) 1 537, schon
in seiner äußeren Gestalt. Auf dem Titelblatt ist im Vorhof des Tempels der
Philosophie, zu der Aristoteles die Tür öffnet und an deren Eingang Piaton
die bekannten Worte spricht, daß kein der Geometrie Unkundiger eintreten
dürfe, der Verfasser dargestellt, wie er, geleitet von Arithmetik und Geo-
metrie, mit einem großen Gefolge anderer Wissenschaften auf den Beschauer
zuschreitet. Davor sind die Flugbahnen der Geschosse angedeutet, die er
zuerst bestimmt zu haben sich rühmt. Zu dem Vorhof macht Euklid die Tür
auf. Darunter stehen die Worte: Disciplinae mathematicae loquuntur: Qui
cupitis rerum varias cognoscere causas, Discite nos, cunctis haec patet una
via. In dem Buche selbst findet sich allerlei untermischt: die Bestimmung
der Höhen und Entfernungen mit Hilfe des Quadranten, ein Verfahren, ge-
sunkene Schiffe zu heben, das dem Prinzip unserer Schwimmdocks entspricht,
die Archimedische Hydrostatik, Meteorologisches, sowie die Bestimmung des
spezifischen Gewichtes. Die 1546 erschienenen vermischten Untersuchungen
und Erfindungen (Quesiti et invenzioni diverse) desselben Verfassers sind
von ähnlicher Art, sie betreffen die Wurfbahn der Geschosse, die Aufstellung
der Heere, die Landmessung mit der Bussole, die Befestigungskunst, die
Statik, endlich die Gleichung dritten Grades, deren Lösung Tartaglia selb-
ständig gefunden zu haben behauptet. Noch deutlicher drückt sich die Neigung
der Zeit zur Vielwisserei in dem Werke des Cardano De Subtilitate (1550)
aus, dessen 21 Bücher alles Mögliche, was merkwürdig und seltsam scheint,
behandeln, z. B. die Frage, wie man Briefe schreiben kann, die erst lesbar
werden, wenn man sie ins Wasser legt, wie man eine Lampe so aufhängen
kann, daß das Öl nicht herausfließt, auch wenn sie sich auf schwankendem
Schiffe befindet. Aber derlei Dinge rechnete man wirklich zum mathematischen
Wissen. In demselben Werke des Cardano finden sich auch nicht unwichtige
mechanische Probleme behandelt, in engem Anschluß an Lionardo da Vinci,
und im 15. Buch bespricht er einen Reformversuch der Euklidischen Be-
weisgänge. Auch in deutscher Sprache finden sich derartige Werke. Die
Bücher Albrecht Dürers, der nicht bloß über die Geometrie vom künstle-
rischen Standpunkt aus, sondern auch über die Proportionen des mensch-
lichen Körpers und die Befestigungskunst geschrieben hat, bilden ein Bei-
V. Die mathematische Bildung der Renaissance. A o?
spiel dafür. Zum Teil auf den Tartagliaschen Schriften beruht das Werk
von Rivius (1558), das den Titel trägt: „Baukunst oder Architectur aller-
fümemsten, nothwendig-sten, angehörigen mathematischen und mechanischen
Künsten eygentlicher Bericht und verständtliche Underrichtung, zu rechtem
Verstandt der Lehre Vitruvii". Hier ist direkt das Wort Baukunst für das-
selbe gebraucht, was sonst Mathematik genannt wird. Das Buch beginnt
mit einem geometrischen Kapitel „Allerlei Vorteil und Behendigkeit des
Zirkels und Richtscheits". Dann kommt die Kunst des „perspektivischen
Reissens", die „new Büchsenmacherey aus geometrischem Grundt", weiter
die Befestigimgslehre, Taktik, Feldmeßkunst und die Mechanik. Die weiteste
Ausbreitung vielleicht zeigen die mathematischen Werke des Simon Stevin,
die gegen Ende des 1 6. Jahrhunderts geschrieben, aber erst 1634 in einer
Gesamtausgabe erschienen sind. Sie sollen für den Unterricht des Prinzen
Moritz von Nassau entstanden sein und enthalten der Reihe nach Arithmetik,
Trigonometrie, Astronomie, Geographie, die Bestimmung der Wolkenhöhe,
die Kompaßlehre, Nautik, eine Theorie von Ebbe und Flut, einen Abriß der
praktischen Geometrie, daneben rein theoretische Betrachtungen überFlächen-
und Körperverwandlung u. dgl., darauf die Statik, wobei auch die später durch
ihre Bedeutimg für die gesamte graphische Statik so berühmt gewordene
Figur des Seilecks gegeben wird, die Theorie der Flaschenzüge (die sich
ebenfalls bei Cardano findet), femer die Hydrostatik mit Betrachtungen über
die Stabilität schwimmender Körper. Dem höfischen Zweck ist eine Unter-
suchung über die Wirkung des Zaums auf das Pferd angepaßt. Dann wird
die Einrichtung der Feldlager und die Anlegung der Befestignngen besprochen.
Auch die Perspektive findet eine Stelle. Alles ist mit schönen griechischen
Namen bezeichnet.
Der allgemeine Eindruck, den die mathematische Literatur des 16. Jahr- AUgcmeiner
hunderts macht, ist nicht immer allzu gfünstig. Es herrscht die Neisfung- zu ^^'^*«'' '^'^■
' 00 O «3 mathematischen
einer großen Weitschweifigkeit, die mit dem Inhalt manchmal nicht im Ver- LJteratnr des
. , t6. Jahrhunderts
haltnis steht, em ruhmrediges Hervorheben der eigenen Verdienste und Ver-
schweigen der fremden Leistungen. So hat man manches für eine selbständige
Leistung dieser Zeit gehalten, was in Wirklichkeit aus einer früheren Zeit
übernommen ist Um nur ein Beispiel zu nennen, hat Tartaglia die Euklid-
übersetzung des Wilhelm von Mörbecke einfach abgeschrieben und mit einer
prahlerischen Vorrede als sein eigenes Werk herausgegeben. Die ganze Zeit
erfüllt eine allgemeine Gier nach Ruhm imd Besitz. So mangelt die Ruhe
und Sammlung zu gründlicher wissenschaftlicher Arbeit. Die sich mit der
Mathematik beschäftigen, sind jetzt meistens Laien. Ihnen fehlt die wirtschaft-
liche Sicherung, die der geistliche Stand gewährt, sie müssen um ihr Dasein
kämpfen, denn was sie können, dient an sich wenig zur Erlangung materieller
Güter. Da suchen sie sich denn als Wundermänner zu gebärden und rühmen sich
geheimnisvoller Kenntnisse. Sie kommen so der Neigung der Zeit entgegen,
die überhaupt nach dem Seltsamen imd Wunderbaren trachtet Es ist die Zeit,
wo die geheimen Wissenschaften einen imgeheuren Aufschwung nehmen.
K. d. G. III. I Mathematik, A. 7
q8 A H. E. Timerding : Die Verbreitung mathemat. Wissens u. mathemat. Auffassung
Auch von Kepler noch ist bekannt, daß er sich sein Brot als Astrolog ver-
dienen mußte, und er sagt selbst: Die ernste Wissenschaft, die Astronomie,
könnte betteln gehen, wenn ihre närrische Tochter, die Astrologie, ihr nicht hülfe.
Beginn Das Forschctt nach den geheimnisvollen Kräften der Natur hat aber doch
N^tlrforedi^ng. ©inc gute Wirkung gehabt: es führte dazu, überhaupt durch Beobachtung und
Versuche die Naturvorgänge zu erschließen, und es hat so die empirische
Naturforschung hervorgerufen. Die Entstehung der modernen Naturwissen-
schaft steht aber in enger Verbindung mit der mathematischen Betrachtungs-
weise. Wir können dies deutlich an den drei Männern erkennen, die wir an
den Anfang der modernen Naturforschung stellen dürfen: dem Engländer
Gilbert (1540 — 1603), dem Deutschen Kepler (1571 — 1630) und dem Italiener
Galilei (1564—1642). Erst bei ihnen fühlen wir wirklich den Odem einerneuen
Zeit. Am wenigsten bekannt von ihnen ist Gilbert, aber seine Schrift über
den Magnetismus, die 1600 erschien, ist eigentlich das erste moderne natur-
wissenschaftliche Werk, das die ganze Naturbetrachtung auf eine systematisch
geleitete Beobachtung und mathematische Darstellung gründet. Es hat auch
auf Galilei einen großen Einfluß ausgeübt. Kepler hat durch seine Gesetze der
Planetenbewegung, die allgemeine empirische Tatsachen bedeuten, die moderne
Astronomie begründet, und Galilei hat nicht minder durch seine astronomi-
schen Entdeckungen wie durch die Auffindung der Fallgesetze auf die Natur-
wissenschaft bestimmend eingewirkt. Bei Kepler sowohl wie bei Galilei
können wir aber beobachten, wie sie sich erst zu der neuen Auffassung durch-
ringen mußten. Kepler hat damit begonnen, daß er in seinem Mysterium cos-
mographicum (1596) ein Weltsystem auf Grund apriorischer geometrischer
Überlegungen, nämlich von den regulären Körpern ausgehend, aufzustellen
suchte und Galilei setzte mit dem Studium der Aristotelischen Physik ein, die
denselben Irrweg geht, allein aus dem Denken heraus die Wirklichkeit kon-
struieren zu wollen. Aber in Keplers und Galileis Anschauung bleibt doch
ein tiefgreifender Unterschied. Galilei dringt zu einer völligen Beseitigung
jeder mystischen Beimengung durch, er sieht als den einzigen Weg der Natur-
erkenntnis die mechanische Erklärung der alten Materialisten an, bei Kepler
dagegen bleibt ein religiöser Zug bestehen, ihm ist die Welt das geheimnis-
volle Werk eines weisen Schöpfers.
VI. Die mathematische Bildung des 17. und 18. Jahrhunderts.
Das 17. Jahr- Gilbert, Kepler und Galilei ragen schon in das 17. Jahrhundert hinüber
mathemarisrfie und bereiten die große geistige Bewegung vor, die dieses Jahrhundert aus-
jahrhundert zeichnet. Es wird mit Recht als das mathematische Jahrhundert bezeichnet.
Wenn die Mathematik in dem vorhergehenden Jahrhundert bei allem ener-
gischen Aufschwung immer noch etwas Spielerisches und Dilettantisches ge-
zeigt hatte, so wird jetzt wirklich Ernst damit gemacht, die Mathematik nicht
bloß um ihrer selbst willen auszubauen, sondern sie als das mächtigste Werk-
zeug zur Erkenntnis der Natur auszubilden, ja zur Grundlage der ganzen Welt-
auffassung zu machen.
VI. Die mathematische Bildung des 17. und 18. Jahrhunderts. A. QQ
Das 17. Jahrhundert beginnt mit den größten und wichtigsten mathema- Mathematische
tischen Entdeckungen. Um das Jahr 1610 finden fast genau gleichzeitig Jost "' **^ °"^*"
Bürgi und John Napier die Logarithmen. Dadurch ist nicht bloß das wichtigste
Hilfsmittel für die wissenschaftliche Rechnung geschaffen, es ist auch für die
prinzipielle Auffassung der Mathematik ein großer Fortschritt gemacht. Im
Jahre 1037 erscheint Descartes' Geometrie, welche die Grundlage der mo-
dernen anah-tischen Mathematik gebildet hat, und fast genau gleichzeitig wird
(1635) durch Cavalieri und auf andere Art durch Fermat zunächst in einer
geometrischen Form die moderne Infinitesimalrechnung inaugxiriert. Durch
Desargues und Pascal wird die moderne projektive Geometrie begründet
Galilei schafft durch seine großen Werke den festen Unterbau für die mo-
derne Physik und Astronomie. Galilei und Pascal entdecken ferner ein
neues merkwürdiges Anwendimgsgebiet der Mathematik, die Wahrschein-
lichkeitsrechnung. Die größte Aufgabe der praktischen Geometrie, die Aus-
messung der Erde selbst, wird von Snellius auf Grund des schon von Gemma
Frisius angegebenen Triangulationsverfahrens in der ersten wissenschaftlichen
Gradmessung (Eratosthenes batavus, 161 7) durchgeführt Snellius schreibt
auch 1624 das erste mathematische Lehrbuch der Schiffahrtskunde, und gibt
in dem von ihm entdeckten Brechuugsgesetz der Lichtstrahlen eine der
wichtigsten Grundlagen für die mathematische Naturbeschreibung.
Aber die Wirksamkeit der Mathematik geht in dieser Zeit weit über die Mathematische
engeren Grenzen des Faches hinaus. Bedenken wir bloß, daß Descartes und Pas- °^^ '*"
cal es gleichzeitig waren, welche die moderne französische Sprache geschaffen
haben, und diese hat die Eigentümlichkeit des mathematischen Stils, die Ver-
wendung eines beschränkten Wortschatzes in vollendeter Klarheit der Ge-
dankenverbindung, dauernd bewahrt Das mathematische Denken greift eben-
so auch entscheidend in die ganze Weltbetrachtung ein, ja es überti-ägt sich
selbst auf die Erforschung der Vorgänge des seelischen Lebens. Als den Ur-
heber dieser mathematischen Philosophie können wir Giordano Bruno an-
sehen, der gerade um die Wende des Jahrhunderts den Feuertod für seine
Überzeugung stirbt. Für diesen leidenschaftlichsten Gegner der kirchlichen
Gebundenheit des Lebens und des Denkens wird die Mathematik ein Mittel,
um die Dialektik der Schulen zu bekämpfen, indem er die Klarheit der geo-
metrischen Vorstellung an die Stelle der verschwommenen Wortspielerei setzt
Aristoteles ist der Gegner, gegen den er überall loszieht, und wie Aristoteles
das mathematische Denken aus der Philosophie der Griechen beseitigte und
durch die sprachliche Analyse der Redeformen und Begriffe ersetzte, so hebt
Giordano Bruno umgekehrt die durch Aristoteles abgesetzte pythagoreische
Philosophie wieder auf den Schild. Auch zu der mathematischen Atomistik
der P}thagoreer kehrt er zurück. Nur die starre Geschlossenheit, die auch
die Pythagoreer dem Kosmos gaben, ersetzt er durch die unbegrenzte Weite
einer unendlichen Welt In dieser Unendlichkeitslehre spiegelt sich der ins
Unermeßliche gehende Drang des Zeitalters wider. Wie Giordano Bruno
den deutlichen Ausdruck dafür findet, was seine Zeit bewegt, so hat er zweifel-
7*
loo A H. E. Timerding : Die Verbreitung mathemat. Wissens u. mathemat. Auffassung.
los auch auf seine Zeit, besonders auf Galilei einen großen Einfluß ausgeübt.
Freilich bleibt dieser Einfluß uneingestanden, da die Schriften des Gerich-
teten verboten sind und nicht genannt werden dürfen.
Die Erhebung der mathematischen Anschauung und des mathematischen
Denkens zur führenden Stellung in der Betrachtung der ganzen Weltordnung,
die Giordano Bruno gewollt hatte, setzt sich in dem folgenden Jahrhundert
siegreich durch. Diese mathematische Philosophie erlangt in Descartes,
Spinoza, Hobbes und Leibniz die entschiedene Herrschaft. Descartes hebt
zunächst die Bedeutung der Mathematik für die Methodik des Denkens über-
haupt hervor und sucht das Wesen der mathematischen Erkenntnis auf alle
wirkliche Wissenschaft methodisch auszudehnen. Sein bekanntes Wort „Wahr
ist, was ich klar und deutlich einsehe" bedeutet nichts anderes, als daß
mathematische Gewißheit jeder wahren Erkenntnis innewohnen müsse. Aus
mathematischen Gedankenkonstruktionen hat er denn auch sein System aufge-
baut und er widersetzt sich heftig der empirischen Betrachtungsweise Galileis,
die in der Natur nur die einzelnen Tatsachen zu beobachten, aber nicht aus allge-
meinen Gesichtspunkten die Naturvorgänge mit mathematischer Gewißheit zu
deduzieren vermag. In demselben Sinne hat Spinoza seine Ethik (1677) „in
geometrischer Weise" behandelt und genau nach dem Muster der Euklidischen
Elemente in Definitionen, Axiome, Lehrsätze und Beweise eingeteilt Hobbes
(On body 1655) ^^.t in ähnlicher Weise, aber mit mehr praktischem Sinn auf
der Grundlage des mathematischen Denkens eine materialistische Philosophie
aufgebaut. Am tiefsten aber von allen ist vielleicht Leibniz ( 1 646 — 1 7 1 6) in den
Geistder mathematischen Betrachtung einerseits und in die Erklärung der Wirk-
lichkeit aus einheitlichen Prinzipien andererseits eingedrungen. Sein System ist
von allen sozusagen das metaphysischste, bei ihm sind die Erklärungsgründe
am weitesten von dem Bereich des Beobachtbaren entfernt. So mündet dieser
Weg, der von der Mathematik seinen Ausgang nimmt, weitab von der Er-
fahrung aus, er hat ein neues metaphysisches System geliefert, das wenigstens
in Deutschland in seiner Ausgestaltung durch Christian Wolff während des
ganzem 8. Jahrhunderts die Herrschaft führt, bis dann Kant, wieder wesentlich
beeinflußt durch Newtons mathematisches Weltbild, eine neue Ära der Philo-
sophie herbeiführt.
Verbindung Daneben geht aber eine andere Entwicklungsreihe, die sich viel enger
und Experiment an die Erfahrung hält. In dieser Entwicklungsreihe stehen die englischen Phy-
in England, ^-j^^^ ^^^ Mathematiker wie Boyle (1626 — 1691), Hooke (1645— 17 03), Wallis
(1616 — 1703) und Newton (1642 — 1727). Diese Männer stecken sich nicht von
vornherein so hohe Ziele wie die Philosophen. Sie begnügen sich mit der
Beobachtung der einfachsten Naturvorgänge und der Erforschung ihrer mathe-
matischen Abhängigkeiten. Die Entstehung dieser induktiven Forschung in
England wird gewöhnlich, vielleicht mit Unrecht, an den Namen Bacons von
Verulam (1561 — 1626) geknüpft. Sie findet sich in Gilberts Werk über den
Magneten (1600) schon voll ausgebildet. Im Jahre 1645 gründeten nun Boyle,
Wallis u.a. das Invisible College, eine naturwissenschaftliche Gesellschaft. Im
VI, Die mathematische Bildung des 17. und 18. Jahrhunderts. A lOl
Jahre 1662 wurde dann die Londoner Königliche Gesellschaft für die Förde
rung der Naturwissenschaft eröffnet. Das Interesse für die empirische Natur-
forschung war in dieser Zeit in England allgemein, selbst der König hatte in
Whitehall ein chemisches Laboratorium. Gleich zu Anfang wurden auf eine
Preisfrage der neugegründeten Königlichen Gesellschaft hin die langgesuchten
mathematischen Gesetze des Stoßes 1669 gleichzeitig von drei Bearbeitern,
Wren, Wallis und Huygens, gefunden. In dieselbe Zeit fällt die berühmte
Arbeit Newtons über die Zerlegung des weißen Sonnenlichtes durch das Prisma
in die Farben des Spektrums, die das erste, nie übertrofifene Beispiel einer rein
experimentellen und dabei streng logischen Untersuchung bildet. Newton war
es, der im Jahre 1687 durch sein großes Werk Philosophiae naturalis principia
mathematica diese ganze Entwicklung zu ihrem Höhepunkt hinaufführte. Das
Werk erinnert schon in seinem Titel an Descartes' Prinzipien der Philosophie,
es ist im Hinblick auf dieses Buch, aber auch im bewußten Gegensatz dazu
geschrieben. Die Deduktion, die bei Descartes die Form der dialektischen
Argumentation und der bloßen Hypothesendichtung hat, wird wieder auf die
Form der exakten mathematischen Überlegung gebracht. Der Umfang der
Untersuchungen wird auf die Grunderscheinungen des physikalischen Gesche-
hens eingeschränkt. Wenn die mathematische Deduktion die Hauptrolle spielt,
so ist das nicht wie in der Ethik Spinozas eine bloße Form, sondern es ge-
schieht auf Grund bestimmter Erfahrungen und innerhalb der Grenzen wirk-
licher Beobachtung.
Newtons Werk ist am meisten bekannt geworden durch das Gesetz der Grundlegung
allgemeinen Gravitation, durch das sich die Bewegungen aller Himmels- schTtTph^fk.
körper lückenlos erklären lassen. Damit fand der Gedanke, der schon bei
den Pythagoreern auftaucht, daß in dem Lauf der Gestirne eine einfache
Regelmäßigkeit liegen müsse, deren Harmonie sich unserem Geiste unmittel-
bar darbietet, seine endgültige Erledigung, freilich in einer ganz anderen
Weise, als man je vorher gedacht hatte. Die mathematische Beschreibung
der Bewegung ist doch verwickelter, wie man ursprünglich angenommen
hatte, und sie wäre Newton nicht möglich gewesen, wenn nicht vorher Galilei
für die geradlinige Bewegung und Huygens für die Kreisbewegung die Frage
beantwortet hätte. Ist aber der entscheidende Begriff, der Begriff der Be-
schleunigung, einmal gewonnen, so ist die Formulierung des Grundgesetzes
sehr einfach: die Beschleunigung, welche die Himmelskörper und alle Teile der
Materie einander erteilen, ist auf sie zu gerichtet, ihrer Masse direkt und dem
Quadrat der Entfernung umgekehrt proportional. Wie einfach dieses Gesetz
ist, kann man erst daran ermessen, wie ungeheuer verwickelt z. B. die Be-
wegung des Mondes ist, wenn man sie in alle Einzelheiten verfolgt, und doch
wird sie mit aller Genauigkeit allein durch das Newtonsche Gravitationsgesetz
erklärt. Dadurch zeigt sich zum erstenmal die Mathematik als das gewaltigste
Werkzeug des menschlichen Geistes. Was das Altertum nur ahnend empfinden
konnte, ist jetzt zur Wirklichkeit geworden. Es ist gelungen, die Ordnung
des Kosmos in einer einfachen Formel zusammenzufassen.
I02 A H. E. Timerding : Die Verbreitung mathemat. Wissens u. mathemat. Auffassung.
Entwicklung der Daß dlescs Wcrk, sowie es weiter bekannt wurde, den größten Einfluß
neuen Anaiysis. g^^g^j^gj^ Hiußtc , ersctieint fast selbstverständlich. Es ist als das Anfangsglied
einer immer weitergehenden geistigen Entwicklung anzusehen, die das ganze
1 8. Jahrhundert durchzieht und in den Werken von Laplace ihre Krönung
findet. Während Newton wenigstens in der Form der Darstellung der alten
griechischen Methode treu geblieben war, setzt sich unmittelbar nach ihm die
durch die Entwicklung der Algebra vorbereitete und durch Descartes und
Fermat inaugurierte neue Formelkunst, die das Wesen der modernen Anaiysis
ausmacht, erfolgreich durch. In der Schaffung des neuen mathematischen
Stils, der die Einteilung in einzelne Propositionen durch eine fortlaufende
Darstellung, die schwerfällige g-eometrische Entwicklung durch die übersicht-
liche algebraische Formel ersetzt, liegt ein großer Vorteil, aber auch die Ver-
führung zu einer Oberflächlichkeit, zu einer Minderung der mathematischen
Strenge, welche die Griechen selbst auf Kosten der äußeren Abrundung und
Eleganz vermieden hatten. Das war auch mit der Grund, weshalb Newton der
alten Darstellungsweise treu blieb. Der Sieg der neuen Darstellungsweise
wurde wesentlich durch Newtons großen Nebenbuhler Leibniz entschieden
(1684), der durch seine neue analytische Bezeichnungsweise der Infinitesimal-
rechnung eine von der geometrischen Symbolik der Griechen weit abwei-
chende Darstellungsform zur Notwendigkeit machte. Dann zeigten zunächst
insbesondere die Brüder Bernoulli, welcher gewaltige Fortschritt in dieser
auf den ersten Blick rein äußerlich scheinenden Wandlung lag. Die großen
Mathematiker des 18. Jahrhunderts, vor allen Euler und Lagrange, schufen
darauf aus diesen Anfängen ein gewaltiges System. Mit dem so gewonnenen
neuen Apparat erst konnte es Laplace gelingen, eine die Bewegung der Ge-
stirne vollständig bewältigende Himmelsmechanik zu schaffen. Dazu half
ihm auch die inzwischen (eben hauptsächlich durch Euler und Lagrange)
begründete analytische Mechanik. So steht am Ausgang des 18. Jahrhunderts
ein gewaltiger Bau des mathematischen Wissens da, und die Mathematik hat
bewiesen, daß sie die exakte Beschreibung der Naturvorgänge wirklich zu
leisten vermag.
Erste Versuche Dicsc Entwicklung des mathematischen Könnens im 18. Jahrhundert hat
'"ilrunr^r ^bcr. Wenn sie naturgemäß auch auf eine kleine Gruppe von Fachleuten be-
...athcraatiscbcn schränkt War, doch ihre weiten Kreise gezogen. Die Mathematik ist vielleicht
Betrachtung. ' o o
nie populärer gewesen als im 18. Jahrhundert, und nie ist ernstlicher der Ver-
such gemacht worden, die Wege und Ziele der mathematischen Forschung
der Gesamtheit der Gebildeten zugänglich zu machen. Diese Bestrebungen
setzen schon im 17. Jahrhundert ein mit Fontenelles „Unterhaltungen über
die Mehrheit der Welten" (1686), welche die Descartessche Naturphilosophie
im leichten Plauderton behandelten und selbst in den Boudoirs geistreicher
Damen Eingang fanden. Gegen den Cartesianismus mußte sich die Newton-
sche Weltbetrachtung erst durchsetzen. Es war kein geringerer als Voltaire,
der Newton auch auf dem Kontinent allgemeine Anerkennung zu verschaffen
suchte, indem eriyaS eine populäre Darstellung „Elemente der Newtonschen
VI. Die mathematische Bildung des 17. und 18. Jahrhunderts. A 103
Philosophie" veröffentlichte. Von da an wurde Newton neben Locke der
Leitstern der französischen Aufklärung, freilich in einem anderen Sinne, als
er es sich selbst gewünscht hätte. Er selbst glaubte durch seine Entdeckung
für die Weisheit des göttlichen Schöpfers einen neuen Beweis geliefert zu
haben, die Aufklärer aber sahen in der Gravitation einen Beleg dafür, daß die
Annahme eines persönlichen Gottes entbehrlich sei. So sag^ z B. Lamennais:
„Warum gravitieren die Körper gegeneinander? Weil Gott es gewollt hat,
sagten die Alten. Weil die Körper sich anziehen, sag^ die Wissenschaft". Wenn
die Wissenschaft freilich nichts anderes zu sagen hätte, so wäre sie sehr arm,
denn was hier Anziehung genannt ist, ist entweder eine übernatürliche Kraft,
oder es ist nur der Ausdruck für eine bestimmte mathematische Beschrei-
bung und erklärt im eigentlichen Sinne gar nichts.
Die Grundanschauungen des 1 8. Jahrhunderts sind zu verstehen als eine Das wissen-
Fortführung der Ideen, die sich im Laufe des 1 7. Jahrhunderts ausgebildet und i^g'^'uhrWderts
festgesetzt haben. Die Signatur für diese Ideen ist aber durch die Mathematik
gegeben. So ist auch die Aufklärung des 1 8. Jahrhunderts wesentlich durch
die Mathematik beeinflußt. „Ihr schwebte die Mathematik als das Ideal ab-
strakter, aber dabei exakter Erkenntnis vor Sie glaubte, mit derselben Klar-
heit und Deutlichkeit die gesamte Wirklichkeit durchdringen und überall die
einfachen Elemente herausstellen zu können; frei von aller Voreingenommen-
heit, unabhängig von Autorität und Tradition wollte das vernünftige Denken
jeden Rest von Unklarheit und Verworrenheit aus dem Leben wie aus dem
Wissen austilgen. Sie richtete sich auf das Verständnis der ewigen Gesetz-
mäßigkeit aller Dinge, auf die strenge Notwendigkeit alles Geschehens, auf
das Gleiche, auf das immer sich Wiederholende im Zusammenhange der Natur.
Diesem großen Zusammenhange sollte auch das Menschenleben eingeordnet
werden, es sollte als ein Glied des Universums aus dieser Gesetzmäßigkeit
heraus begriffen und geordnet werden. Das aufgeklärte Bew^ußtsein sollte das
Leben bis auf den letzten Rest aus seiner Vernunft heraus gestalten" (Windel-
band, Die Philosophie im deutschen Geistesleben des 1 9. Jahrhunderts, igog).
Daß die Mathematik ein Werkzeug der Autklärung bildet, ist ein Ge- Ausbreitung der
danke, der gerade dem 18. Jahrhundert eigentümlich ist und besonders dazu "'^g^'^^l^g''''*"
führt, das Verständnis für das Wesen der mathematischen Betrachtung mög-
lichst weit zu verbreiten. Dieser Gedanke trieb auch Laplace, neben seinem
großen Werke in einer populären Schrift das Weltsystem zu behandeln (1796).
Durch Schulen und Universitäten ließ sich diese neue Bildung nicht allein mit-
teilen, sie war auch auf den Weg der literarischen Veröffentlichtmg angewiesen.
Durch Lektüre mußte sich der einzelne diese Kenntnisse erwerben und seine
Naturanschauung bilden. Das Streben nach Anmut und Leichtigkeit, das diese
ganze Zeit durchzieht, brachte es dabei mit sich, daß diese Schriften in mög-
lichst unterhaltender, zum Teil in vollendeter Form gefaßt sind. Einige von
ihnen verdienen, zu den größten Meisterwerken der Literatur gerechnet zu
werden. In keiner Zeit haben die Mathematiker zu einem so großen Publi-
kum und in einer so klaren und verständlichen Form gesprochen. Um nur
Gebiet.
104 A H. E. Timerding : Die Verbreitung mathemat. Wissens u. mathemat. Auffassung.
ein paar Beispiele zu nennen, will ich an d'Alemberts berühmte Vorrede zu
der großen französischen Enzyklopädie (1752) erinnern , ferner an Eulers Briefe
an eine deutsche Prinzessin (1768), endlich an Condorcets Skizze eines histo-
rischen Gemäldes der Fortschritte des menschlichen Geistes (1794), welch
letztere dem Gegenstande nach freilich gar nicht mathematisch, aber ganz
aus dem mathematischen Geiste der Zeit heraus entstanden ist. Es zeigt, wie
die Vorliebe für die Klarheit der mathematischen Deduktion zu einer Ver-
kennung aller geschichtlichen Wahrheit und zu einem willkürlichen Aufbau
der Geschichte führen kann. Die methodische Bedeutung, die man der Mathe-
matik zuschrieb, geht auch aus dem hinterlassenen Werke des Hauptphilo-
sophen, Condillac, über die Sprache der Kalküle (1798) hervor. Alle Tätig-
keit des Geistes ist nach Condillac nichts wie ein Operieren mit bestimmten
Zeichen für bestimmte Empfindungen, seine Philosophie ist ein Versuch, das
Wesen der mathematischen Symbolik auf das ganze Denken auszudehnen.
Anwenduntjeii In engcr Verbindung damit stehen die Versuche einer mathematischen
moralische Begründung der Logik, die im 18. Jahrhundert zuerst gemacht wurden,
ferner die Bestrebungen, die Mathematik auch auf das moralische Gebiet an-
zuwenden. Diese Bestrebungen geben sich einerseits kund in einer eigentüm-
lichen Ethik, welche die Erscheinungen des sittlichen Lebens auf der Grund-
lage des mathematischen Größenbegriffes zu behandeln sucht. So hat es z. B.
Maupertuis gemacht. Das Gute ist danach eine positive Größe, das Böse eine
negative, für die menschliche Gesellschaft fügen sich die Freuden und Leiden
der einzelnen Individuen nach den Regeln der algebraischen Additon wie
Ausgaben und Einnahmen in der Buchführung zusammen, und die Aufgabe
der Staatsraison ist es, die Gesamtsumme nach der positiven Seite hin mög-
lichst groß zu machen. Würde z. B. ein Zehntel der ganzen Bevölkerung ge-
tötet, damit dadurch die übrigen neun Zehntel eine doppelt so große Glück-
seligkeit gewinnen, so wäre damit ein Gewinn von 80 Prozent erzielt. Diese
Doktrin hat in der französischen Revolution einen nur zu tatkräftigen Aus-
druck gefunden. Sie offenbart sich während des 18. Jahrhunderts aber bereits
z. B. in den zahlreichen Untersuchungen über den Vorteil der Pockenimpfung.
Solange man nämlich zur Impfung Menschenlymphe nahm , starb ein gewisser
Bruchteil der geimpften Kinder. Es galt nun abzuwägen, ob dieser Nachteil
durch die Sicherung gegen die Pocken im späteren Alter aufgewogen würde,
und dies wurde auf Grund einer mathematischen Überlegung getan. Von
mathematischer Seite, nämlich durch Daniel Bernoulli, wurde auch eine eigen-
tümliche Wertelehre begründet, wonach der Wert jedes Gutes nach dem be-
reits vorhandenen Gütervorra]t des Besitzenden zu bemessen ist. In dasselbe
Gebiet gehört der Versuch einer moralischen Arithmetik von Buffon, den
dieser 1777 als Supplement zu seiner großen Naturgeschichte veröffentlichte,
femer die Betrachtungen Condorcets über die mathematische Untersuchung
der Glaubwürdigkeit außergewöhnlicher Tatsachen und der Berechtigung der
Entscheidungen durch Stimmenmehrheit. Die Anwendung auf das religiöse
und das politische Gebiet liegen hier auf der Hand. Einen gewissen Abschluß
VI. Die mathematische Bildung des 17. und 18. Jahrhunderts. A 105
fand die Entwicklung in Laplaces großem Werke Theorie analytique des
probabilites {181 2), das er wieder durch eine populäre Darstellung, den
Essai philosophique sur les probabilites (18 14), ergänzte.
Die Mathematik tritt so im 18. Jahrhundert entschieden mit dem An-
sprüche auf, für die Betrachtung der Natur und des menschlichen Lebens die
Führung zu übernehmen. Diese führende Rolle findet auch bei der Gründung
und Zusammensetzung der Friderizianischen Akademie ihren deutlichen Aus- 0»^ Mathematik
. . v'-nTi '1 -iiT 1 an der Akademie
druck. Ihr Leiter Maupertuis (1698 — 1759) ist Mathematiker, ihre bedeutend- Friedrichs
sten Mitglieder sind Mathematiker gewesen, wir brauchen nur Euler, Lambert ^" Großen.
und Lagrange zu nennen. Sieht man die Bände ihrer Veröffentlichungen durch,
so überwiegen die mathematischen Abhandlungen weitaus, die übrigen Wissen-
schaften, insbesondere die philologisch -historischen, spielen daneben eine
dürftige Rolle. Das hatte seinen Grund nicht in einer parteiischen Begün-
stigung, sondern eben darin, daß die selbständige wissenschaftliche Arbeit der
Zeit wesentlich auf mathematischem Gebiete lag. Dabei ist der dringende
Wunsch bemerkbar, auch die Gebiete des geistigen Lebens zu umfassen, man
will dies aber mit einem gänzlichen Mangel an historischem Sinn durch rein ver-
standesmäßige Überlegung erreichen. Ein typischer Vertreter dieser Geistes-
richtung ist Maupertuis selbst. Voltaire hatte ihn dem König empfohlen, er
hatte sich ausgezeichnet durch eine Gradmessung in Lappland, deren Ver-
gleich mit einer gleichzeitigen Messung in Peru, allerdings auf Grund eines
ziemlich fehlerhaften Resultates, die Abplattung der Erde und damit einen
Beleg für das Newtonsche System ergab. In Berlin kam er nun, durch die
Organisationsgeschäfte stark in Anspruch genommen und sowieso ohne eigent-
lichen Forschungstrieb, um trotzdem seinen wissenschaftlichen Ruhm aufrecht-
zuerhalten, auf die unglückliche Idee, ein schon früher von ihm auf Grund
eines Leibnizschen Begriffes formuliertes allgemeines „Prinzip der kleinsten
Aktion" (1746) mit großem Nachdruck als epochemachende Entdeckung zu
verkünden, weil dieses Prinzip dem Bedürfnis nach der Erklärung aller Natur-
vorgänge durch einen Grundsatz der Weisheit und Sparsamkeit entgegen-
zukommen schien. Als aber daraufhin Samuel König behauptete, in der Ab-
schrift eines Briefes von Leibniz nicht bloß den Begriff, sondern auch das
Prinzip der Aktion gefunden zu haben, ließ Maupertuis den vermeintlichen
Lügner und Verleumder durch die Berliner Akademie brandmarken und Euler
von dem in Wirklichkeit alles herrührt, was an Maupertuis' Prinzip richtig ist,
mußte der Sache seines Präsidenten die wissenschaftlichen Waffen leihen, die
diesem selbst fehlten. Maupertuis gab statt dessen eine Menge unausgegore-
ner Projekte und Gedanken in wirrem Durcheinander von sich, um seinem
Herrn und der Welt gegenüber die Fruchtbarkeit seines Geistes zu doku-
mentieren. Er erreichte damit aber nur, daß er dem Spotte des für
Samuel König eintretenden Voltaire rettungslos zum Opfer fiel, was aller-
dings dessen Bruch mit Friedrich d. Gr. zur Folge hatte, aber Maupertuis
für alle Zeit der Lächerlichkeit preisgab, so daß er sich von dem Schlage
nie wieder erholte.
lo6 A H. E. Timerding : Die Verbreitung mathemat. Wissens u. mathemat. Auffassung.
Verhältnis Dcr König, der der Mathematik nie besonders wohlgesinnt gewesen war,
de"Großen wurdo gegen sie durch die Aufgeblasenheit und Einfältigkeit, die ein ge-
zur Mathematik, fühmter Vertreter dieser Wissenschaft gezeigt hatte, nicht gerade günstiger
gestimmt. Als gar noch der erste aller lebenden Mathematiker, Leonhard
Euler, ihm die Wasser in Sanssouci berechnet hatte und diese trotz der ge-
lehrten und umständlichen Berechnung nicht springen wollten, verfolgte er
die unpraktische Mathematik, die nur durch ihre abstruse Un Verständlichkeit
zu imponieren sucht, aber nichts Nützliches zu leisten vermag, beständig mit
seinem Spott. Dabei wollte es eine eigentümliche Fügung, daß der führende
Mathematiker in Frankreich, d'Alembert, ihm einer seiner liebsten Freunde
und Berater blieb, wenn es ihm auch immer merkwürdig schien, daß ein Mathe-
matiker ein so vernünftiger und klardenkender Mensch sein konnte.
Das deutsche Gelehrtenwesen, auf das die moderne französische Bildung
nur einen sehr beschränkten Einfluß erlangt hatte, schien Friedrich dem Großen
rückständig und veraltet, weswegen er auf die Universitäten seines Landes
auch schlecht zu sprechen war. Er hielt die preußischen Universitätslehrer
für einfältige Stubenhocker, die mit ihren Anschauungen noch tief im Mittel-
alter steckten. Als die neue Universität Göttingen in dem Nachbarland Han-
nover emporblühte und das wissenschaftliche Leben in Deutschland mit einem
neuen Geist erfüllte, mußte er den Abstand von der zopfigen Katheder-
weisheit anderer Universitäten nur um so tiefer empfinden.
Die Mathematik Die Stellung der Mathematik an den Universitäten ist bis gegen Ende
ünitertitäten. ^^s 1 8. Jahrhundcrts hin, ja darüber hinaus, wenigstens was den allgemeinen
Lehrbetrieb angeht, eine recht kümmerliche gewesen. Was an Mathematik auf
den Universitäten gelehrt wurde, bedeutete der Hauptsache nach kein Fach-
studium, sondern gehörte zur allgemeinen Vorbereitung auf das eigentliche Be-
rufsstudium. Auch die Tätigkeit, die Erhard Weigel (1625 — 1699) in Jena ent-
faltet hat und bei der er die Mathematik entschieden in den Vordergrund
stellte, ist nicht so aufzufassen, daß es sich dabei um weitgehende mathe-
matische Kenntnisse gehandelt habe. Vielmehr war sein Bestreben nur, das
gewöhnliche Rechnen den verschiedenen Gelehrtenberufen anzupassen und
eine tiefere Bedeutung für die ganze Weltauffassung daran zu knüpfen. Das
alles schloß natürlich nicht aus, daß Männer, die der Mathematik den Haupt-
teil ihrer Lebensarbeit widmeten, einer beschränkten Anzahl von begabten
Schülern ihr volles Wissen teils im persönlichen Verkehr teils auch in
Privatvorlesungen weitergaben. Aber in der allgemeinen philosophischen
Vorbildung fand die Mathematik nur einen sehr bescheidenen Platz. Das
Hallesche Statut vom Jahre 1694 erklärt, die zu lehrende Philosophie umfasse
alle Disziplinen, welche die Jugend zur Humanität bilden und zu den höheren
Studien vorbereiten, als da sind: Geschichte, Geographie, Beredsamkeit,
Poesie, Sprachen, Archäologie und die eigentliche Philosophie. Schmeizel
verlangt in seiner Hodegetik für die Hallenser Studenten, daß der Student
mitbringe: Deutsch und Lateinisch, Religionslehre, Geographie, Geschichte,
Philosophie. Dazu solle er in den ersten Jahren auf der Universität lernen:
VI. Die mathematische Bildung des 17. und 18. Jahrhunderts. A 107
Geschichte der Gelahrtheit, der Kirche und der neusten politischen Welt,
Geographie, Mathematik und Physik, „jedoch nicht mehr und auch nicht
weniger als seiner Partikularabsicht gemäß", endlich noch Politik und Natur-
recht. Man kann es dieser Zusammenstellung anmerken, daß von einer gründ-
lichen Ausbildung in einem der Fächer keine Rede sein konnte, dazu sind die
Gegenstände viel zu zahlreich und verschiedenartig. Um seine Zuhörer fest-
zuhalten, mußte der Professor den Gegenstand so leicht und fesselnd wie
möglich machen. Das führte in der Mathematik aber dazu, mit glatten Wor-
ten über die Schwierigkeiten fortzugleiten, und durch einen großen Rede-
schwall über den Mangel an sachlicher Belehrung hinwegzutäuschen. Die
mathematischen Vorlesungen können nur ein äußerst beschränktes Maß
von Vorkenntnissen voraussetzen. Wir können das auch an den im Druck
erschienenen Vorlesungen, die Isaak Barrow, der Lehrer Newtons, an der
Oxforder Universität gehalten hat, deutlich erkennen. Nur eine einzige Vor-
lesung hebt sich von den übrigen durch viel weitergehenden mathematischen
Gehalt ab, und diese ist wohl kaum eine allgemeine Universitätsvorlesung
gewesen.
Doch beginnt sich im 1 8. Jahrhundert langsam eine Wandlung vorzu- Ansäu«
bereiten. Die Mathematik beginnt sich in weitere Kreise auszubreiten. So '"'' ^^"*™°«-
kündigt schon 1735 Segner in dem Programm seiner Vorlesungen unmittelbar
nach seiner Berufung an die Göttinger Universität an: „Was ich neues gehört,
gelesen oder durch eigenes Nachdenken gefunden habe oder noch finden
werde, das werde ich alles nach meiner Gewohnheit Euch in einer zur Ein-
führung geeigneten Weise mitteilen". Das klingt ganz wie eine Charakteristik
des modernen Lehrbetriebes der Universitäten. Doch blieb natürlich das
Erreichte hinter dem Erstrebten weit zurück, eben weil beim Magisterexamen
die Mathematik nur eines von vielen Fächern bildete. Es wurde von den
Mitgliedern des Göttinger philologischen Seminars, das Gesner schon 1739
gegründet hatte, das Hören eines mathematischen Kursus, der wenigstens
Rechnen, Geometrie, allgemeine Astronomie und Mechanik umfassen sollte,
verlangt. Aber einzelne besonders veranlagte Studierende gingen auch weiter.
Schon in den sechziger Jahren fand Kästner Gelegenheit, in besonderen
Stunden Mathematik, vor allem Algebra (welchen Namen er auf die eigent-
liche Algebra, die Lehre von den Gleichungen, imd nicht auf das einfache
Buchstabenrechnen angewendet wissen wollte) zu lesen. 1770 wird von
Vorlesungen Kästners über die Analysis des Endlichen und Unendlichen,
praktische Astronomie und höhere Mechanik gesprochen. 1770 las u. a. Lichten-
berg ein Privatkolleg über die Theorie der Kegelschnitte.
Wie im Gegensatz hierzu der Zustand im Jahre 1781 an der Wiener
Universität war, darüber geben folgende Daten Auskunft: v. Metzberg las
Mathematik nach Nagels Auszug aus WolfFs Handbuch vor 130 Zuhörern,
Bauer Mathematik nach Wolff vor 2 1 Zuhörern, Scherfer höhere Mathematik
mit 2 Zuhörern; höhere Astronomie wurde zweimal angeboten, fand aber
keinen Zuhörer. Herbert las Physik vor 103 Zuhörern, ferner Mechanik für
io8 A H. E. Timerding: Die Verbreitung mathemat. Wissens u. matheniat. Auffassung.
Handwerker vor 70 Zuhörern. Man sieht, daß eine eigentliche Nachfrage nur
für die elementaren Vorlesungen vorhanden war.
Im übrigen ist auch am Anfang des i g. Jahrhunderts der Lektionsplan in
der Mathematik meist noch sehr dürftig. In Jena z. B. wird für den Winter 1 802/3
angekündigt: Einführung in das Studium der Mathematik, theoretische und
praktische Arithmetik, angewandte Mathematik, Algebra, populäre Astrono-
mie, Anwendungen der Mathematik auf Jurisprudenz, Ackerbau und Militär-
wissenschaften. Dies Hineinziehen scheinbar so femliegender Gebiete in die
Mathematik ist noch allg^emein. In Göttingen hat diese angewandte Mathe-
matik im weitesten Sinne des Wortes im 1 8. Jahrhundert und bis in das 1 9. Jahr-
hundert eine ausgedehnte Pflege erfahren. Tobias Mayer las z.B. 1752 über
Verfertigung, Einrichtung und Nutzen der Maschinen, über Zivilbaukunst,
1760 über praktische Feldmeßkunst, über mathematische Geographie und Hy-
drographie, über Kriegsbaukunst und Pyrotechnie. Als eigentlicher Professor
der angewandten Mathematik wirkte L. Fr. Meister in Göttingen 1764 — 1788.
Er veranstaltete praktische Übungen in der Feldmeßkunst und pflegte das
technische Zeichnen. Sein Lehrauftrag umfaßte weiter Architektur und Befe-
stigungswesen, auch Kriegswissenschaft. Das hat sich nach Meisters Tode noch
lange gehalten. Noch 1820 liest ein Premierleutqant Stünkel über Kriegs-
wissenschaft. Die Zurechnung der Kriegsbaukunst und Kriegswissenschaft
zu den Lehrgegenständen der Hochschulen ist im 1 8. Jahrhundert ziemlich
allgemein.
Christian Woiffs Bezeichnend für den Mathematikunterricht in Deutschland am Anfang
des 1 8. Jahrhunderts sind Christian Woiffs Anfangsgründe aller mathemati-
schen Wissenschaften. Der Verfasser sagt in der Vorrede u, a.: „Die mathe-
matische Lehrart gibt den rechten Gebrauch der Vernunft zu erkennen, wie
man nämlich zu klaren, deutlichen und vollständigen Begriffen gelange und
daraus ohne Anstoß die übrigen Sachen herleite. Wer die Geheimnisse der
Natur zu erforschen Lust hat und sich darüber vergnüget, wenn er die un-
ermeßliche Weisheit und Macht des allein weisen und allmächtigen Schöpfers
und Erhalters der Welt nicht aus Unwissenheit, sondern mit Verstände in
seinen herrlichen Werken bewundern und die Kreatur sowohl sich als anderen
untertänig machen kann , der wird durch Hilfe der Mathematik in kurzem in
dieser Arbeit weiter kommen als er jemals möglich zu sein erachtet hätte,
hingegen ohne ihren Beistand nur immer anfangen und nichts vollenden."
Mathematik ist nach dieser Auffassung mehr eine allgemeine Art des Er-
fassens und Erkennens als eine besondere Fachwissenschaft. In der Tat be-
deutet das Wolffsche Werk, das 17 13 zuerst und schon 1717 in zweiter Auf-
lage erschien, mehr eine Realenzyklopädie als eine Mathematik in unserem
Sinne. Es behandelt der Reihe nach Rechnen, Geometrie, Trigonometrie,
Baukunst, Artillerie, Fortifikation, Mechanik, Hydrostatik, Hydraulik, Optik,
Perspektive, Astronomie, Geographie, Chronologie, Gnomonik (Sonnenuhren)
und zum Schluß die Algebra, die mit den einfachsten Gleichungen beginnend,
durch die Proportionenlehre hindurch, mit Einschluß der geometrischen An-
Anfangsgründe.
VI. Die mathematische Bildung des 17. und 18. Jahrhunderts. A 109
Wendungen bis zu den Anfangen der Infinitesimalrechnung durchgeführt wird.
Die verschiedenen Gegenstände werden aber alle äußerlich nach streng mathe-
matischer Methode behandelt. So finden wir in der Baukunst, die natürlich
wesentlich auf einen Auszug aus Spezialwerken oder einzelne von Fachleuten
gehörte Bemerkungen hinausläuft, Lehrsätze, die genau nach Euklidischem
Muster bewiesen werden; z. B. wird die Aufgabe, das Bauholz zu fällen, wie
eine geometrische Konstruktionsaufgabe mit Auflösung und Beweis gegeben.
Sehr viele Studierende werden aber wohl den ganzen Lehrgang nicht durch-
gemacht haben, Wolff gibt auch an, was man ohne Gefahr für den Zusammenhang
bei einem ersten Studium herausgreifen könne und er hat selbst bald einen
Auszug „zu bequemerem Gebrauch der Anfänger auf Begehren verfertigt".
Es muß eine große Schwierigkeit bei den Mathematikvorlesungen ge- PoUacks
wesen sein, die Theologen, Juristen und Mediziner, die daran teilnahmen, davon
zuüberzeugen, daß sie wirklich einen Gewinn aus diesemWissen erzielenkonnten
und es nicht als etwas Überflüssiges zu empfinden brauchten. So erklärt sich die
Mathesis forensis, die Pollack, Professor der Rechte und der Mathematik
an der Universität Frankfurt, im Jahre 1734 veröffentlichte. Der Verfasser
sagt in der Vorrede: „Es sind unter den Wissenschaften einige, welche gleich-
sam zur vernünftigen Erkenntnis überhaupt gehören und die man ihres gene-
rellen Begrifi^es wegen überall anbringen kann, und dahin gehören billig die
philosophischen und (welche unmittelbar mit diesen verknüpft) die mathe-
matischen Wissenschaften. Einige dagegen haben nur eine ganz besondere
Absicht auf dieses oder jenes Objectum, als die Jurisprudenz, Theologie und
Medizin; wer nun diese ganz allein ohne jene lernen will, gehöret zu der Art
Leuten, welchen man so leicht als auch den ungelehrtesten Handwerksmann
w^eissmachen kann, die Lrlichter wären die Seelen der verstorbenen ungetauften
Kinder, und der neuliche grosse Sturm wäre von dem Rübezahl auf dem Riesen-
gebirge erregt worden." Es handelt sich in dem Buche aber nicht bloß um
diese allgemeine aufklärerische Absicht, sondern auch darum, den Juristen
zu einem fachkundigen Urteil auf den verschiedenen für ihn in Betracht kom-
menden Gebieten zu befähigen. Wenn wir im einzelnen nachsehen, was das Buch
enthält, so finden wir darin behandelt: das praktische Rechnen, die Flächen-
messung, die Grenzbestimmung für den Landbesitz, die Anlage der Wege,
den Wasserbau, die Architektur und die Chronologie, also die Gebiete der
praktisch angewandten Mathematik, die schon in fast genau derselben Zu-
sammensetzung und mit denselben Absichten die alten Ägypter beschäftigt
hatten. So steht das 18. Jahrhundert in seiner praktischen Veranlagung wieder
da, wo die alten Ägypter gestanden hatten. Die praktischen Aufgaben er-
halten die Fühnmg. Das Buch von Pollack hat sehr zahlreiche Auflagen
erlebt, es muß also wirklich den Bedürfnissen seiner Zeit entsprochen haben.
Einen großen Einfluß auf den mathematischen Schulunterricht der späteren Euiers Algebra.
Zeit hat Eulers Vollständige Anleitung zur Algebra ausgeübt, die 1770 in
deutscher Sprache und schon vorher 1 708 in russischer Übersetzung erschienen
war. Die Bedeutung dieses Buches kann man daran erkennen, daß von der
I lO A H. E. Timerding: Die Verbreitung mathemat. Wissens u. mathemat. Auffassung.
französischen Übersetzung fünf Auflagen, von der englischen und ameri-
kanischen Ausgabe je vier Auflagen bis weit in das 19. Jahrhundert hinein
verbreitet gewesen sind. Die deutsche Ausgabe selbst ist nicht so oft neu-
gedruckt worden, auch ein Auszug von Ebert erlebte nur drei Auflagen in
längeren Zwischenräumen. Dafür hat das Werk aber mittelbar auf die Aus-
gestaltung des mathematischen Schulunterrichtes in Deutschland stark ein-
gewirkt. Schon die Bezeichnung Algebra, die Euler für die Gesamtheit der
analytischen Elementarmathematik anwendet, hat sich in diesem Sinne für
den Schulunterricht erhalten. Dasselbe gilt von allen methodischen Gesichts-
punkten. So findet sich die Definition der Mathematik als Wissenschaft von den
Größen und die Definition der Größe als das, was einer Vermehrung oder
einer Verminderung fähig ist, immer wieder, trotzdem in diese Definition
z. B. die Lehre von den Permutationen und die Topologie schwer einzureihen
sein dürften. Es ist dies die metrische Auffassung der Mathematik, die päda-
gogisch sicher ihre Vorteile hat, aber wissenschaftlich nicht zu halten ist. Sie
gestattet Euler, positive und negative Zahlen an dem Beispiel von Vermögen
und Schulden zu erklären, die Brüche durch die Teilung einer Strecke in gleiche
Teile einzuführen und so fort. Die schwierige Frage nach der Bildung der
kontinuierlichen Zahlreihe ist von vornherein erledigt, da die Zahlen geometrisch
als Strecken gedeutet werden. Auch die Reihenfolge der arithmetischen Pro-
zesse und die Anknüpfung der Logarithmen an den Potenzbegriff hat sich
genau so, wie sie Euler gibt, trotz aller Mängel einer solchen Darstellung
im Schulunterricht bis heute erhalten.
Ebenfalls von Euler übernommen ist die Anknüpfung der eingekleide-
ten Rechenaufgaben an die in der alten Form festgehaltene Proportionenlehre
und die algebraischen Gleichungen, insbesondere die linearen. Mit dem Auf-
steigen bis zu den Gleichungen vierten Grades sind auch die Grenzen, die
der spätere Schulunterricht innehält, bezeichnet. Nur das Eingehen auf Glei-
chungen höheren Grades mit mehreren Unbekannten, die so zurechtgemacht
sind, daß sie sich auf einfache Weise lösen lassen, findet sich bei Euler nicht
so wie in unserer Schulmathematik. Die eigentliche wissenschaftliche Bedeu-
tung von Eulers Algebra liegt in der „unbestimmten Analytik", an diese
schließt die moderne Zahlentheorie, die durch die 1801 erschienenen Disqui-
sitiones arithmeticae von Gauß glorreich eröffnet wird, unmittelbar an.
Kein aUgemein Ini 1 8. Jahrhundert ist von einem eigentlichen mathematischen Schul-
unY'besHramt untcrricht noch kaum die Rede, er entwickelt sich erst gegen das Ende des
umrisscner Jahrhuuderts. In einer preußischen Verordnung vom Jahre 1735 werden von
Schulunterricht, dcu Abiturienten noch gar keine mathematischen Kenntnisse gefordert. Vom
Ausgang des 18. Jahrhunderts berichtet Karl von Raumer: „Damals herrschte
die Meinung, nur wenige Schüler hätten Talent zur Mathematik, eine Meinung,
welche freilich durch den meist geringen Erfolg des mathematischen Unter-
richts bestätigt zu werden schien. Neuere Apologeten dieses Unterrichts be-
stritten aber jene Ansicht. Den Schülern, sagten diese, mangle es gar nicht an
Talent, Mathematisches zu erlernen, vielmehr den Lehrern an Talent, Mathe-
VI. Die mathematische Bildung des 17. und 18. Jahrhunderts. A 1 1 r
matisches zu lehren. Befolgten die Lehrer nur die richtige Methode, so würde
sich's erweisen, daß alle Knaben mehr oder minder Fähigkeit zur Mathematik
hätten". Das außerordentlich geringe Maß von mathematischen Kenntnissen,
das den Schülern im 18. Jahrhundert übermittelt wurde, wurde nur in einzelnen
besonderen Lehranstalten überschritten. So lag es in der Basedowschen Er-
ziehungslehre begründet, daß sie der mathematischen Anschauung einen brei-
teren Raum gewährte. Im Philanthropin wurden daher auch wöchentlich drei
Stunden Mathematik nach Eberts Näherer Anweisung zu den philosophischen
und mathematischen Wissenschaften erteilt. Eine besondere Bedeutung hatte
die Mathematik auch für die Ritterakademien wegen der Feldmessung, Be-
festigrmgslehre, Ballistik und Taktik, die man mit ihr vereinigte. So hatte
die Ritterakademie in Wolfenbüttel wöchentlich vier Stunden Mathematik.
Von der größten Bedeutung für das Unterrichtswesen ist die französische Die Reform des
Revolution gewesen. Sie beseitigte den Gedanken einer besonderen Aus- derfra^ösischen
bildung des Adels und hob gerade die bürgerliche Erziehung hervor. Vor- RevoiuHon.
her waren alle bürgerlichen Lehranstalten, auch die Universitäten, bestimmt,
Diener des Adels und der Fürsten zu erziehen. Die Geistlichen stehen in Ab-
hängigkeit von dem Grundherrn, die Lehrer, auch die Lehrer der Gymnasien,
gar noch in demütigender Abhängigkeit von der Gemeinde, sie müssen durch
eine Art Bettel ihr Dasein fristen. Michaelis wundert sich deshalb 1768 über
den „rauhen Vorsatz" einiger Studierenden, aus der Lehrtätigkeit ihren
Lebensberuf zu machen. Die gelehrten Berufe sind wenig angesehen, nur
die zu höheren Stellung^en aufgestiegenen Juristen und Kameralisten bilden
vielleicht eine Ausnahme, sie sind aber immer, da der Herrscher absolut ist,
Diener der Fürsten. Darin schaffte das aus der französischen Revolution er-
wachsene Weltreich Napoleons fast in ganz Europa einen Wandel. Die bürger-
liche höhere Schule und die an sie anschließende Universitätsbildung wird der
Weg zu den höchsten Ämtern im Staate und zum gesellschaftlichen Ansehen.
Neben der auf körperliche Tüchtigkeit und höfische Manieren den größten
Wert legenden ritterlichen Erziehung und der aus der Scholastik herausge-
w^achsenen Gelehrtenbildung, neben dem rein geistigen, abstrakt theoretischen
Bildungswesen der Universitäten erhebt sich die technische Schulung als
eine gleichwertige Form der Bildung.
An die Stelle des ritterlich erzogenen tritt in Frankreich der technisch Gründung der
gebildete Offizier. Darin liegt die große Bedeutung der polytechnischen Schule „i^^ „^
in Paris, die ein rechtes Kind der Revolution ist, wenn sie auch in der 1746
zu Paris entstandenen Ecole des Ponts et Chauss^es und der 1 747 gegründeten
Kriegsschule in Mezieres in gewissem Sinne ihre Vorläufer hat. Sie entstand
als eine Zentralschule der öffentlichen Arbeiten. Es ist bezeichnend, daß zu
ihren Gunsten das kurz vorher erlassene Gesetz, das jedem Adligen das Be-
treten von Paris verbot, zurückgenommen wurde. Der Adel gewinnt seine
Existenzberechtigung wieder, wenn er sich den Forderungen der bürgerlichen
Erziehung fügt. Die Schule sah ursprünglich eine dreijährige Ausbildungs-
zeit vor. Die technische Wissenschaft erschien dabei unter merkwürdigen ma-
1 1 2 A H. E. Timerding : Die Verbreitung mathemat. Wissens u, mathemat, Auffassung.
thematischen Namen und in mathematischer Form. So sehr herrschte der Ge-
danke, daß das, was die Technik zur Wissenschaft erhebe, die Mathematik
sei. Dies liegt zum großen Teil auch daran, daß der für die Neugründung am
meisten tätige Mann, Gaspard Monge, ein Mathematiker war. Ihm erschien
gerade die selbständige Verwendung der Mathematik in Verbindung mit
den Naturwissenschaften das beste Mittel zu liefern, um einen entscheiden-
den Fortschritt in der Technik zu erzielen. Er erkannte klar, daß durch das
Aufkommen der Maschinen die Bedingungen der technischen Produktion
vollständig verändert waren. „Man muß", sagt er selbst, „unseren Technikern
die Kenntnis der technischen Verfahren und der Maschinen übermitteln, deren
Zweck darin besteht, die Handarbeit zu verringern oder dem Arbeitsprodukt
eine größere Gleichmäßigkeit und Präzision zu geben." Wie aber auf streng
wissenschaftlichen Grundsätzen sich die Konstruktion der Maschinen aufbauen
ließ, war in jener Zeit noch nicht im einzelnen erkannt. Es war daher nur
natürlich, daß den Leuten, die sich den technischen Aufgaben zuwandten,
zunächst in möglichster Vollständigkeit die Kenntnisse mitgeteilt wurden,
die ihnen dienlich sein konnten, und ihnen dann überlassen blieb, wie sie sie
verwenden wollten. So kam es, daß die mathematischen und naturwissen-
schaftlichen Elemente mit dem technischen Wissen eng verschmolzen wurden.
Als mathematische Analysis wurde im ersten Jahr die analytische Geo-
metrie des Raumes, im zweiten Jahr die Mechanik fester und flüssiger Körper,
im dritten Jahr die Maschinenlehre gebracht, als darstellende Geometrie im
ersten Jahr nach den rein mathematischen Partien die Lehre vom Steinschnitt
und den Holzkonstruktionen, im zweiten die Aufgaben der Architektur, im
dritten Anwendungen auf das Befestigungswesen. Schon im zweiten Jahre
ihres Bestehens aber wurde die polytechnische Schule auf zwei Jahre be-
schränkt und sollte nur der allgemeinen wissenschaftlichen Vorbereitung auf
die technischen Berufe dienen, während die technische Ausbildung selbst
den verschiedenen Ecoles d' Application, der Bauschule, der Bergbauschule,
der Ingenieurschule und der Artillerieschule vorbehalten blieb. Diese Organi-
sation hat sich bis heute gehalten.
Aus diesen Anfängen heraus ist heute eine mächtige technische Wissen-
schaft erwachsen. Dabei sind die praktischen Aufgaben der Technik so stark
hervorgetreten, daß die Techniker die Mathematik, die in ihrem Fache steckt,
vielfach gar nicht mehr als solche empfinden. Trotzdem ist sie im Verein mit
den Naturwissenschaften die Quelle, aus der die wissenschaftliche Begrün-
dung und damit die hohe Ausbildung der Technik geflossen ist und deren
Versiegen auch diese zum Austrocknen bringen würde.
VII. Der mathematische Unterricht in Deutschland während des 1 9. Jahrhunderts.
Vom 19. Jahrhundert ab ist es nicht mehr möglich, in einem Strom die
europäische Bildung zu verfolgen, einerseits weil uns die Zeit so nahe ist, daß
wir die einzelnen Züge nationaler Besonderheit deutlicher bemerken, ander-
seits aber auch, weil, je reicher sich die Bildung entfaltet, um so mehr die
VII. Der mathemat. Unterricht in Deutschland während des 19. Jahrhunderts. A 113
nationalen Eigentümlichkeiten hervortreten. Wir wollen daher von nun an die
Darstellung fest an die deutschen Verhältnisse knüpfen und insbesondere die
Entwicklung in Preußen verfolgen, die für die Gestaltung der Verhältnisse in
den übrigen deutschen Staaten fortwährend von entscheidender Bedeutung
gewesen ist.
Am Ende des 1 8. Jahrhunderts zündete die französische Revolution der
Welt eine Fackel an, die weithin leuchtete. Wenn vorher schon die französische Hervorkehren
einer deutschen
Bildung die Kultur aller Länder beherrschte und nur in England emen ruhigen, Nationaibüdung.
aber gefährlichen Konkurrenten fand, so zwang die Napoleonische Herr-
schaft fast ganz Europa in ihre Gewalt und fand wiederum nur an dem briti-
schen Inselreich einen hartnäckigen Widerstand. So scheint der Einfluß Frank-
reichs auf das Bildungswesen des ganzen europäischen Festlandes zu Beginn
des 19. Jahrhunderts stärker als je. Aber gerade in dieser Zeit ist bei uns in
Deutschland das Bewußtsein für eine spezifisch deutsche Bildung erwachsen,
eine Bildung, die sich freihält von den Einwirkungen fremder Nationen ihrer eige-
nen Zeit, aber dafür zurücktaucht in die Vergangenheit, die bei den Griechen
und Römern die Quellen des geistigen Lebens sucht und aus der Vertiefung in
die Entwicklung des eigenen Volkes das Verständnis für die Eigenart des deut-
schen Wesens gewinnen will. Die humanistische und die romantische Richtung
laufen in diesen Erziehungsbestrebungen parallel, gemeinsam ist ihnen der
Gegensatz gegen die realistische Tendenz des französischen Bildungswesens.
Nicht die gemeine Erfahrung kann die Grundlage einer höheren Geistesbildung
sein, sondern nur die literarischen Denkmäler und das spekulative Denken.
Dieser Anschauungsweise liegt das Festhalten an der überlieferten Religion
näher als der die Bande der Tradition zerreißenden französischen Aufklärung,
und da diese die Erforschung der Natur auf ihre Fahnen geschrieben hatte,
kamen die Naturwissenschaften in Deutschland in den Geruch der Gottlosig-
keit, den sie in gewissen Kreisen heute noch nicht verloren haben. Ebenso wie
sie aber von den konservativen Parteien ferngehalten wurden, sahen sich alle
radikalen Bestrebungen zu ihnen hingedrängt. Auch Männer, die von ganz
anderen Ideen ausgegangen waren, ich brauche nur an Ludwig Feuerbach
und David Friedrich Strauß zu erinnern, wurden zu einer Anlehnung an die.
Naturwissenschaften getrieben. Dieser Gegensatz, bei dem auf der einen Seite
die philologisch-historischen, auf der anderen die mathematisch-naturwissen-
schaftlichen Fächer stehen und die eine Seite viel mehr die offizielle Würdigung
findet als die andere, ist fortan typisch für unser deutsches Vaterland.
Gegen das Ende des 1 8. Jahrhunderts erfolgt femer eine Entwicklung Entwicklung der
der Universitäten, die für die Geschichte der Wissenschaften von der groß- ^'"'pl^^ä?""
ten Bedeutung geworden ist und die sich als die Emanzipation der vier-
ten Fakultät charakterisieren läßt. Während diese vorher in Abhängig-
keit von den übrigen Fakultäten, insbesondere der theologischen stand, tritt
sie nun als gleichberechtigt den anderen an die Seite, erwirbt das Recht der
Doktorpromotion und erhält in der Ausbildung der Lehrer für die höheren
Schulen eine bestimmte Aufgabe. Dafür nimmt ihre Bedeutung als eine all-
K. d. G. in. I Mathemarik, A. g
1 14 A H. E. Timerding: Die Verbreitung mathemat. Wissens u. mathemat. Auffassung.
gemeine wissenschaftliche Propädeutik ab. Mehr und mehr dringt die Ansicht
durch, daß die allgemeine Bildung mit dem Gymnasium abgeschlossen sein
müßte, wenn auch die Forderung des Besuches bestimmter Vorlesungen der
philosophischen Fakultät zu allgemein bildenden Zwecken noch eine Zeitlang
aufrechterhalten wurde; so wurde noch längere Zeit von den Juristen der
Besuch einer mathematischen Vorlesung verlangt.
Einfluß Diese Entwicklung der philosophischen Fakultät geht von den philolo-
der Philologie, gjgchen Fächern aus, die ein selbständiges, reiches Leben entfalten, und steht
in engem Zusammenhang mit der Bewegung, die wir als Neuhumanismus
bezeichnen und die sich in der mit der geistigen Entwicklung unseres Vol-
kes erwachenden Begeisterung für das Hellenentum kundgibt. In sozialer
Hinsicht ist die Bewegung bedingt durch die Erstarkung des Bürgertums,
dessen steigender Wohlstand die Möglichkeit einer weiteren und tieferen
Bildung- des einzelnen gewährte und ein neues Bildungsideal an die Stelle
der höfischen Gesittung setzte. Dieses Bildungsideal glaubte man in den
Schriften der Griechen zu finden. Die romantische Bewegung brachte außer-
dem, gerade nachdem in der deutschen Literatur das Höchste geleistet worden
war, ein eifriges Studium der fremden Literaturen mit sich. Dieses mächtig
anschwellende Interesse für die Sprachen und Schriftwerke aller Zeiten und
Völker, auch der deutschen Vergangenheit, fuhr nun wie ein belebender Früh-
lingswind durch die in dem Bann der Überlieferung festgefrorenen Universi-
täten. Die jungen Leute, die die Hörsäle füllten, suchten nicht bloß mehr ein
paar mehr oder oberflächliche Kenntnisse zu erhaschen oder den Vortrag
eines guten Redners an ihrem Ohr vorüberrauschen zu lassen, sie suchten
voll Begeisterung einzudringen in den Geist vergangener Zeiten, sie wollten
selbständig mitwirken an ihrer Erschließung und Durchforschung.
Loslösung des Mit diescm veränderten Lehrbetrieb in den philosophischen Fakultäten
Lehrerberufes unserer Universitäten, der den Studierenden nicht bloß in die Resultate, sondern
von der ' '
Theologie, auch in die Methoden der wissenschaftlichen Arbeit einführte, steht in Ver-
bindung die Loslösung des Lehrerberufes vom theologischen Studium, die ihren
Ausdruck in der Schaffung einer bestimmten Prüfung für das Lehramt an
höheren Schulen fand. Diese Prüfung wurde in Preußen durch das Edikt vom
12. Juli 1810 angeordnet. Durch sie wurde das Lehrfach der Mathematik den
übrigen Lehrfächern als gleichwertig an die Seite gestellt, und der Mathe-
matiklehrer, gegen dessen Anerkennung als gleichberechtigten Kollegen sich
die philologischen Lehrer, weil sie ihn als einen Fachlehrer ansahen, heftig
sträubten, empfing dadurch die Stütze der öffentlichen Anerkennung. Es wurde
aber durch diese Verfügung natürlich keineswegs erst der Stand des Mathe-
matiklehrers geschaffen. So war Ernst Gottfried Fischer, der viel für die Aus-
bildung eines mit modernem Geiste angefüllten Mathematik- und Physikunter-
richtes getan hat, bereits seit 1787 als Lehrer der Physik und Mathematik am
Gymnasium des grauen Klosters in Berlin angestellt.
Einfluß der Auf den mathematischen Unterricht in Deutschland hat auch nicht wenig
"z'etrau/die" ^^^ frauzösische Beispiel gewirkt. Die Mathematik hatte in der Revolutionszeit
Ausgestaltung
unserer Schulen.
VII. Der mathemat. Unterricht in Deutschland während des 19. Jahrhunderts. A 115
auch äußerlich eine Machtstellung erlangt, wie sie nie zuvor besaß und wie
sie vielleicht auch nie wieder haben wird. Berufsmathematiker wie Monge,
Camot, Fourier und Laplace nahmen führende Stellungen im Staatsleben ein,
und in Napoleon selbst steckte ein großes Stück mathematischer Schulung
Die ungewöhnlich hohe Einschätzung der Mathematik in dem Napoleonischen
Staatswesen mußte daher stark auf die Stellung einwirken, die ihr von da an
überhaupt in der Kulturwelt, und so auch an den deutschen Schulen, einge-
räumt wurde. Wir müssen bedenken, daß damals ein großer Teil von Deutsch-
land unter französischer Herrschaft stand und auch der Rest sehr stark dem
politischen Einfluß Frankreichs unterlag. In den von Frankreich unmittelbar
oder mittelbar beherrschten Ländern suchte man das Bildungswesen möglichst
nach französischem Muster zu organisieren. Aber auch die übrigen Landes-
teile trachteten danach, es den Franzosen in der Ausgestaltung des Unter-
richtswesens gleichzutun. Die praktischen Vorzüge des von ihnen organisier-
ten naturwissenschaftlich -technischen Bildungswesens lagen auf der Hand.
Nicht mit Unrecht schrieb man die französischen Wafifenerfolge zum Teil der
überlegenen militär-technischen Schulung zu, die ganz von diesem praktischen
Geiste getragen war. So erklärt es sich, daß ein Mann wie Scharnhorst auch
einer gründlichen mathematischen Ausbildung das Wort redete. Ahnlich waren
Alexander von Humboldt und der Freiherr von Stein gestimmt. Überhaupt be-
deutet hinsichtlich des Bildungswesens die Zeit des äußeren Niederganges für
uns keinen Stillstand, sondern im Gegenteil einen kräftigen Fortschritt. Sehr
stark sprach hierbei mit, daß man „an geistigen Gütern wieder zu gewinnen
suchte, was an äußerer Macht verloren gegangen war". Daher die energischen
Ansätze zur Hebung und Neugestaltung des Unterrichts wesens in Preußen. Es
wurden die Universitäten Berlin und Breslau gegründet, der Organisation der
höheren Schulen und der Ausbildung der Gymnasiallehrer wurde eine feste
Grundlage gegeben, die die Gewähr einer kräftigen Neuentwicklung bot.
Für diese Neugestaltung kam aber noch ein anderes Moment in Betracht, National deut-
das wir nicht unterschätzen dürfen. Das rege geistige Leben, das die friderizia- der^Ent^iddun"
nische Zeit in Berlin entfacht hatte, hatte auch im Schulwesen seinen Ausdruck ^^^ BiWungs-
wesens.
gefunden. In Berlin hatte Hecker schon 1747 seine ökonomisch-mathema-
tische Realschule errichtet. In Berlin hatten Männer wie Gedike und
Meierotto an der Ausbildung eines modernen Gymnasiums gearbeitet, und
die von ihnen geschaffenen Musterschulen, das Friedrichwerdersche Gym-
nasium, das Graue Kloster und das Joachimsthalsche Gymnasium wurden
maßgebend für die allgemeine Umgestaltung der höheren Schulen. So be-
ruht trotz des Antriebes, der durch die Fremdherrschaft kam, die Entwicklung
unseres höheren Schulwesens doch zum größten Teil auf dem geistigen Auf-
schwung, den die deutsche Kultur aus sich heraus genommen hatte, ein
Aufschwung, der in der Hochblüte unserer Literatur ja seinen deutlichen
Ausdruck findet. Diese national deutsche Entwicklung zeigt sogar eine tief-
greifende Verschiedenheit von der französischen Auffassung-. W^ährend näm-
lich die französische Bildung wesentlich nach der realistischen Seite hinneigt,
malen Bildung.
1 1 6 A HE. Timerding : Die Verbreitung mathemat. Wissens u. mathemat. Auffassung. •
ist die neuhumanistische Bewegung in Deutschland den realistischen Inter-
essen fremd, ja feindlich. Der Gegensatz zwischen Realismus und Humanis-
mus, der von nun an unser Bildungswesen durchzieht, wurde häufig geradezu
so empfunden, daß er ein nationaler Gegensatz von französischer und deut-
scher Denkweise sein sollte.
Das Ideal derfor- Es bildet sich mit aller Schärfe der Gedanke der formalen Bildung aus,
der von da ab unser ganzes höheres Schulwesen im schroffen Gegensatz gegen
die realistische Auffassung, die während des r8. Jahrhunderts aufkam und
sich z.B. in der Basedowschen Richtung ausspricht, dauernd beherrscht. Man
kann den Wandel der Anschauungen deutlich an Gedike beobachten Früher
hatte er den Gedanken einer realistischen Auffassung des klassischen Alter-
tums entschieden verfochten, er hatte an seiner Schule die realistischen
Fächer aus dem Gedanken heraus, daß etwas für das Leben Nützliches zu
lernen die Hauptsache sei, kräftig betont und in einer organischen Verbin-
dung des Sach- und Sprachunterrichtes die Aufgabe der höheren Schulen
gesehen. Er hatte sogar noch 1 796 am Grauen Kloster eine Art Realabteilung
eingeführt, indem er einen Teil der Schüler in Mathematik, Naturwissenschaft,
Technologie und Handelswissenschaft besonders unterrichten ließ und dafür
vom Griechischen dispensierte. Im Jahre 1802 aber vertritt er entschieden
den Standpunkt der rein formalen Bildung. Er vergleicht die geistige Bildung
mit der körperlichen Gewandtheit und Geschmeidigkeit, welche der Unter-
richt in der Tanzkunst gibt. Ebensowenig man das Tanzen lehrt, damit
einer sein Leben hindurch sich auf dem Tanzboden bewegt, ebensowenig
erwartet man, daß die Lehrgegenstände der höheren Schulen im späteren Le-
ben praktische Verwendung finden sollten; nur der durch sie erreichte geistige
Drill soll sich dem Menschen nützlich erweisen.
Es ist indessen der Gedanke der formalen Bildung keineswegs gegen
Ende des 18. Jahrhunderts erst entstanden und aufgekommen. Im Gegenteil
liegt er dem Humanismus von Anfang an zugrunde und es heißt z. B. in der
braunschweigisch-lüneburgischen Schulordnung von 1737: „Wer die Alten
lieset und dabei die Gründe von der Mathematik studiert, bekommt geübte
Sinne, das Wahre von dem Falschen, das Schöne von dem Unförmlichen zu
unterscheiden, allerhand schöne Gedanken in das Gedächtnis und Fertigkeit,
anderer Gedanken zu fassen und die seinigen geschickt zu sagen, eine Menge
von guten Maximen, die den Verstand und Willen bessern, und hat den größten
Teil dessen schon in der Ausführung gelernt, was ihm in einem guten Kom-
pendium der Philosophie nach Ordnung und Form einer Disziplin gesagt
werden kann". Das sind so klar, wie man nur verlangen kann, die Gedanken
einer formalen Schulung des Geistes. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts ge-
winnen diese Gedanken nur an Kraft, eben weil sie sich gegen eine nüch-
terne Nützlichkeitsphilosophie durchsetzen müssen, weil der Idealismus, die
reine Begeisterung für das Schöne und Gute, gegenüber dem an der sinn-
fälligen Erscheinung und dem sinnlichen Genießen haftenden theoretischen
und ethischen Materialismus gewaltig emporlodert.
VII. Der mathemat. Unterricht in Deutschland während des 19. Jahrhunderts. All?
Wie eng diese Anschauung mit der ganzen Entwicklung unserer geistigen Herder.
Kultur zusammenhängt, können wir an Herder erkennen, den wir hierin wohl
als den Wortführer des Weimarer Kreises ansehen dürfen. Er hat den Gedanken
der formalen Schulung in seinen Schulreden klar und scharf zum Ausdruck ge-
bracht. „Ein Gleiches", sagt er im Jahre 1 786, „ist's mit der Auswahl der Wissen-
schaften für die Jugend, obgleich eben dieser Punkt für den schwersten an-
gegeben zu werden pflegt. Man sagt: Was für diesen taugt, taugt nicht für
jenen, und es ist wahr, sobald man sich auf die künftige Bestimmung jedes ein-
zelnen Jünglings einläßt Allein wenn man darauf sehen wollte, sollten statt
einer sieben Schulen und statt sechs oder sieben armer Lehrer dreißig da sein,
wenn man so vornehm und edel Schulen für Juristen und Kuchenbäcker, für
Kameralisten und Leinweber haben wollte. Die öffentliche Schule ist ein Institut
des Staates, also eine Pflanzschule für junge Leute nicht nur als künftige Bürger
des Staates, sondern auch und vorzüglich als Menschen. Menschen sind wir
eher, als wir Professionisten werden, und wehe uns, wenn wir nicht auch in
imserem künftigen Beruf Menschen blieben! Von dem, was wir als Menschen
wissen und als Jünglinge gelernt haben, kommt unsere schönste Bildung und
Brauchbarkeit für uns selbst her, noch ohne zu ängstliche Rücksicht, was der
Staat aus uns machen wolle. Ich halte es also für sehr töricht, wenn man bei
jedem Schulbuch, bei einem Asopus und Phädrus, beim Cornelius und Ana-
kreon oder gar bei einzelnen Teilen einer Arbeit, bei einem Quadrat und
Zirkel, bei einer Periode der Geschichte oder einer Aufgabe des Stils die
Frage aufstellte: cuibono? Zu keinem anderen bono, als daß der Knabe reden
und schreiben, seinen Verstand, seine Zunge, seine Feder brauchen lerne oder
daß sein Geschmack gereinigt, sein Urteil geschärft und er gewahr werde, daß
in seiner Brust ein Herz schlage. Nachher mag er Lehrsatz und Fabel, Ge-
schichte und Gedicht vergessen, wenn und wie er will, genug, er hat an und
mit ihnen, was er sollte, gelernt".
Diese Äußerungen, die sich dem einseitigen Nützlichkeitsgedanken wider-
setzen, können wir gewiß gutheißen. Schiller hat ihnen vielleicht den besten scWUer.
Ausdruck gegeben mit den Worten: „Stoff ohne Form ist nur ein halber Be-
sitz, denn die herrlichsten Kenntnisse liegen in einem Kopf, der ihnen keine
Gestalt zu geben weiß, w^ie tote Schätze vergraben. Form ohne Stoff hingegen
ist gar nur der Schatten eines Besitzes, und alle Kunstfertigkeit im Ausdruck
kann demjenigen nichts helfen, der nichts auszudrücken hat" (Über die not-
wendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen, 1795).
Am Anfang des 19. Jahrhunderts tritt aber gegen den Nützlichkeitsgeist
der Aufklärung eine noch viel radikalere Reaktion ein, die sich, noch durch
den nationalen Gegensatz gegen die französischen Eroberer verstärkt, in einem
Manne wie Fichte greifbar verkörpert Formale Bildung des Geistes ist nicht
das einzige, was erstrebt wird, es soll sich die formale Geistesübung auch
allein auf das Gebiet des Geistes beschränken. Es entsteht ein Abscheu vor
allem, was irgendwie den Verdacht erweckt, eine reale Nützlichkeit in sich zu
schließen. Darum tritt das Wort in einer Weise der Sache gegenüber wieder wortkuitur.
1 1 8 A H. E. Timerding : Die Verbreitung mathemat. Wissens u. mathemat. Auffassung.
hervor, die uns zurückversetzt in die Blütezeit des Scholastizismus. Die
Sprache der Griechen und Römer wird nicht sowohl der Gedanken wegen
geschätzt, die in ihr ausgedrückt sind, sondern rein als Sprache. Die lateinische
und griechische Grammatik, nicht die lateinischen und griechischen Schrift-
steller sollen den Unterricht beherrschen. Wenn früher in der philanthropini-
schen Schule der Unterricht mit Anschauungsübungen begonnen wurde, so
soll er jetzt mit Auswendiglernen begonnen werden. Ob das Kind das ver-
steht, was es lernt, ist gleichgültig, sein Gedächtnis soll geübt werden, die ge-
lernten Sätze sollen sich in der Tiefe seines Geistes festsetzen, aus der sie
später schon von selbst zur rechten Zeit hervortauchen werden, wie ein
vom Kinde ohne Verständnis auswendig gelernter Bibelvers später dem
gereiften Manne im Augenblick der Not wieder ins Gedächtnis tritt und
ihm Trost und Stärkung gibt.
Die Schulen Für das rechte Verständnis des modernen deutschen Schulwesens ist
d^"steltes^°" noch andererseits von der größten Bedeutung der Umstand, daß der Staat
die Leitung des Schulwesens in die Hand nimmt, daß die Schule nicht, wie
das früher war und heute noch so in England ist, frei im Lehren und Lernen
bleibt, sondern bestimmten staatlichen Vorschriften über die Ausgestaltung
des Lehrplans, die Handhabung des Unterrichtes und die Vorbildung der
Lehrer unterliegt und unter der ständigen Beaufsichtigung der Regierung
steht. Diese Verhältnisse gehen aus den allgemeinen Bedingungen, unter
denen sich die deutschen Staaten, insbesondere Preußen, entwickelt haben,
mit Notwendigkeit hervor. „Der preußische Staat, nicht wie England von Hause
aus in gegebene Naturgrenzen gefaßt, ist von kleinen Anfängen her das Pro-
dukt jahrhundertelanger, harter gemeinsamer Arbeit von Fürst und Volk, zu
der dieses mit erzogen werden mußte. Um das unter ungünstigen Naturbedin-
gungen Gegebene zusammenzuhalten, zu erweitern, zu kräftigen, bedurfte es
einer schlagfertigen Militärmacht nach außen und fester Ordnungen im In-
nern, und zu deren Aufrechterhaltung zuverlässiger Beamten. So ist die Ent-
stehung des in sich geschlossenen, straffen preußischen Verwaltungssystems
und der damit zusammenhängenden drei allgemeinen Pflichten, der Schul-,
Militär- und Steuerpflicht, leicht erkennbar. Der Staat bediente sich früh der
Schulen, um das heranwachsende Geschlecht für seine Zwecke zu erziehen
und für sein Beamtentum vorzubilden, und zu Ende des 1 8. Jahrhunderts faßte
er in der Gesetzgebung des allgemeinen Landrechts, unbekümmert um den
Ursprung und die erste Bestimmung der verschiedenen Anstalten, alle als
ihm zugehörig zusammen und machte sich selbst zum alleinigen Schulherrn:
> Schulen sind Veranstaltungen des Staates«. Die Einheit des preußischen
Schulwesens ist die Folge der absoluten monarchischen Regierung" (Wiese
Deutsche Briefe über englische Erziehung, 1851).
Das Den höheren Schulen wurde eine neue feste Grundlage gegeben durch
ex"mc"n.^° die Ncuorduung des Abiturientenexamens am 12. Oktober 181 2, die dem
Einführungsedikt vom 23. Dezember 1788 erst eine weitergehende Bedeutung
gab. Das Examen hatte aber keineswegs von vornherein den Sinn, den es
VII. Der mathemat. Unterricht in Deutschland während des 19. Jahrhunderts. A 119
heute hat. Im Gegenteil herrschte der Gedanke, daß die Entscheidung, ob ein
junger Mensch für die Universität reif sei oder nicht, nicht dem Staat, son-
dern den Eltern oder dem Vormund zustehe und die freie Wahl hierin nicht
beschränkt werden dürfe. Den im Abiturientenexamen untüchtig Befundenen
wird nur der Rat erteilt, die Universität nicht zu beziehen. Die Nichtabiturien-
ten werden einem Examen pro immatriculatione unterworfen, das sehr milde
gehandhabt worden zu sein scheint. Es wird z. B. nur verlangt, der Prüfling
müsse wenigstens in einem Fache Primareife besitzen, um zur Prüfung zu-
gelassen zu werden. Erst im Jahre 1834 wird den Nichtabiturienten der Zu-
gang zur Universität verschlossen. Aus diesem Jahre stammt ein neues Re-
glement für die Abiturientenprüfung, das sie wesentlich erschwert und sechs
Prüfungsarbeiten, einen lateinischen und einen deutschen Aufsatz, eine la-
teinische und eine griechische Übersetzung, endlich eine französische und eine
mathematische Arbeit fordert. 1 8 1 2 wird beim Abiturientenexamen in der
Mathematik gefordert: „die Kenntnis der Rechnungen des gemeinen Lebens steUung
nach ihren auf die Proportionslehre gegründeten Prinzipien, des Algorithmus j^ Examen,
der Buchstaben, der ersten Lehre von den Potenzen und Wurzeln, der Glei-
chungen des ersten und zweiten Grades, der Logarithmen, der Elementar-
geometrie (soweit sie in den sechs ersten und dem elften und zwölften Buche
des Euklid vorgetragen wird), der ebenen Trigonometrie und des Gebrauchs
der mathematischen Tafeln". Im großen und ganzen sind das die bis zum
heutigen Tage stehen gebliebenen Forderungen, im Gegensatz zur Physik,
wo nur die Erkenntnis der Gesetze derjenigen Hauptphänomene der Körper-
welt verlangt wurde, ohne welche die Lehren der Mathematik und der physi-
kalischen Geographie nicht begriffen werden können. Die übrigen Natur-
wissenschaften kommen überhaupt nicht in Frage. Die Mathematik nimmt
also den Naturwissenschaften gegenüber entschieden eine begünstigte Stel-
lung ein. Den Grund dafür kann man zunächst in dem der Mathematik zu-
geschriebenen besonderen formalen Bildungswert sehen, vielleicht ist auch
die Wertschätzung maßgebend gewesen, die das als Muster aller feinen Bil-
dung angesehene Hellenentum der Mathematik zuschrieb.
Wie wenig Wert jedoch tatsächlich beim Maturitätsexamen auf die Mathe-
matik gelegt wurde, zeigen deutlich die einzelnen uns erhaltenen Abgangs-
zeugnisse. Ein solches lautet in einem Falle so: „N. N. hat im Griechischen Probe eines
und Lateinischen einen beträchtlichen Grad von Fertigkeit erlangt, nicht Zeugnisses,
allein in der Lesung der Schrift selber, sondern auch im Schreiben vorzüglich
des Lateinischen, worin er es bis zu einer leichten und fehlerlosen Versifikation
gebracht hat. Seine Geschichtskenntnisse dagegen sind unzusammenhängend
und un chronologisch, in der Mathematik ist er sehr zurückgeblieben. Sein
deutscher Ausdruck ist zu wenig in der Prose gebildet, daher er leicht in
Bombast ausartet. Von groben Fehlern des Stils ist er indessen frei. Im Fran-
zösischen ist er nicht bis zur grammatischen Richtigkeit gekommen imd hat
eine fehlerhafte Aussprache." Worauf es ankam, waren doch schließlich allein
die alten Sprachen. Die Übung im Schmieden lateinischer Verse galt mehr
1 20 A H. E. Timerding: Die Verbreitung mathemat. Wissens u. mathemat. Auffassung.
als der richtige und vernünftige Gebrauch der eigenen Muttersprache. Gerade
darin sah man den Gewinn, daß man zu dem Entlegenen griff und nicht bei
dem Naheliegenden und praktisch Verwertbaren stehen blieb, obwohl der
Schluß doch wohl etwas bedenklich scheint, daß etwas pädagogisch um so
wertvoller ist, je weniger es praktisch nutzbar gemacht werden kann.
Der Wortlaut der Bestimmungen für das Abiturientenexamen läßt deutlich
erkennen, daß es wesentlich die Euklidischen Elemente und die Eulersche
Algebra gewesen sind, die für die Festlegung des Unterrichts maßgebend
waren. Von Euklid wurden nur die geometrischen Bücher berücksichtigt, die
arithmetischen wurden als veraltet beiseite gelassen, obwohl sie, wenn man
von der geometrischen Form der Darstellung und der Enge des Interessen-
bereiches der griechischen Arithmetik absieht, exakter und gründlicher als
das Eulersche Verfahren sind.
Euklid wurde in deutschen Übersetzungen auch unmittelbar als Lehrbuch
benutzt. Es ist dies der Zustand des mathematischen Unterrichts, der sich in
England bis auf den heutigen Tag erhalten hat, wie überhaupt das englische
Schulwesen eine auffallende Ähnlichkeit mit dem deutschen Schulwesen am
Beginn des 19. Jahrhunderts, vor dem Eintreten der festen staatlichen Organi-
sation, zeigt. Es rühmt sich dieser Freiheit, zu lehren und zu lernen, was man
will, und hält sie aufrecht trotz aller Mängel (insbesondere des Eindrillens
der Prüfungsaufgaben für die nicht zu vermeidenden staatlichen Examina),
welche sie im Gefolge hat. Das im ganzen auf einem sehr niedrigen Niveau
stehende Zulassungsexamen zur Universität, das uns an den früheren deutschen
Zuständen so befremdlich erscheint, findet sich ebenfalls heute noch in England.
Aufgaben- Für dlc Entwicklimg der arithmetischen Seite des mathematischen Schul-
samnilunfjen : -i-ta ii-ii • n-r-k
>(eier Hirsch, untcmchts m Dcutschland hat eme große Bedeutung die Aufgabensamm-
lung von Meier Hirsch erlangt, die zuerst 1804 erschienen ist. Sie ist das
Vorbild für alle späteren Aufgabensammlungen bis in unser Jahrhundert
hinein gewesen und gibt den klarsten und deutlichsten Begriff von dem
Zustand des mathematischen Unterrichts am Anfang des i g. Jahrhunderts. Der
Verfasser ist selbst kein staatlich angestellter Lehrer, sondern Privatlehrer
der Mathematik in Berlin gewesen und hat die Aufgabensammlung nach den
Erfahrungen bei seiner Lehrtätigkeit gestaltet. Zu ihm kamen aber jedenfalls
Leute, die entweder ein besonderes Interesse für die Mathematik hatten oder
sie als Hilfswissenschaft zu ihrem Beruf brauchten. Das hat den Zustand der
Sammlung wesentlich bestimmt. Sie ist so gehalten, daß sie für einen Berufs-
mathematiker eine zweckmäßige Einführung in sein Fach bedeutet. Die Stoff-
anordnung ist wesentlich dieselbe wie in Eulers Algebra, nur ist (wohl durch
Hindenburgs Einfluß) die Kombinatorik hinzugetreten. So wird der Schüler
in den grundlegenden Operationen geübt; nur um das Interesse zu beleben
und nützliche Übungen zu gewinnen, wird auch auf Anwendungen einge-
gangen, die aber in diesem Falle nichts bedeuten wie mit Begriffen aus dem
praktischen Leben gebildete theoretische Beispiele. So ist auch die Wahr-
scheinlichkeitsrechnung weniger aus praktischem Interesse als zur Einübung
VII. Der mathemat. Unterricht in Deutschland während des 19. Jahrhunderts. A i 2 l
der Kombinatorik aufgenommen. Alles dies ist für den Zweck einer Vorbe-
reitung auf die theoretische Mathematik zweckmäßig und gerechtfertigt. Aber
sollte man es glauben, daß man dieselben Gesichtspunkte ohne weiteres auch
auf die allgemeinen Schulen übertragen hat, wo es sich doch gewiß nicht
darum handelt, künftige Mathematiker auszubilden? So unwahrscheinlich und
ungereimt es klingt, der mathematische Schulunterricht ist fast hundert Jahre
lang so gehandhabt worden, als ob alle Schüler später Mathematik studieren
wollten. Die später gebräuchlichen Aufgabensammlungen — ich will nur die
von Heis und von Bardey nennen — richten sich nicht bloß in dem Inhalte,
sondern auch in der Methodik ganz nach Meier Hirsch. Nur die Belebung
durch die Einflechtung geschichtlicher Gesichtspunkte ist bei Heis hinzu-
gekommen.
Die Meier-Hirsch'sche Aufgabensammlung gibt wohl einen guten Maß-
stab für die Art, aber nicht auch für den Umfang des mathematischen Unter-
richts zur Zeit ihres Erscheinens. Dieser mußte sich vielmehr erst allmählich
entwickeln und ausgestalten, schon weil es vorerst an geeigneten Lehrkräften
gebrach. Die gesetzlichen Bestimmungen allein können keinen zuverlässigen
Maßstab für den wirklichen Unterricht abgeben. Auch der berühmte Süvern- Der savemsche
sehe Lehrplan (1812) sollte keineswegs verbindlich, sondern nur ein Muster ^ '^'^"
für die Grundlinien der Lehrverfassung sein. In der Einführung der vier Haupt-
facher Lateinisch, Griechisch, Deutsch und Mathematik hat er allerdings
dauernd Geltung behalten. Eine moderne Fremdsprache sieht er nicht vor.
In den zehn Schuljahren, die er fordert, sollen auf die vier Hauptfächer ins-
gesamt folgende Anzahl von Wochenstunden entfallen: Lateinisch 76, Grie-
chisch 56, Deutsch 44, Mathematik 60, und zwar in jedem Schuljahr sechs
Wochenstunden. Treibend ist bei dieser gleichmäßigen Betonung verschieden-
artiger Lehrgegenstände der Gedanke einer inneren Verwandtschaft des Or-
ganismus aller Wissenschaft; durch die gleichmäßige Teilnahme an allen soll
die harmonische Ausbildung des Geistes gesichert werden. Wie weit der Mathe-
matikunterricht gehen sollte, zeigen die folgenden Angaben: in Quinta sollte
Algebra und Geometrie begonnen werden, in Quarta sollten dann die ein-
fachen algebraischen Gleichimgen und die Geometrie nach dem sechsten,
elften und zwölften Buche des Euklid, also die Ähnlichkeitslehre und Stereo-
metrie behandelt werden. In Tertia sollten darauf die Logarithmen und die
analytische Geometrie kommen. Die geometrischen Konstruktionen sollten
als zu zeitraubend wegfallen. Der Sekunda waren die Reihen, die ebene
und sphärische Trigonometrie, sowie die Lehre von den Kegelschnitten vor-
behalten. In der Prima sollte endlich die Ausbildung mit den Gleichungen
dritten und vierten Grades, der unbestimmten Anal}^ik, der Fortführung der
Reihenlehre bis zum Taylorschen Lehrsatz und der Wahrscheinlichkeitsrech-
nung ihren Abschluß finden.
Die wirkliche Ausgestaltung des Stundenplans ist wenigstens an den preu-
ßischen Gymnasien von Anfang an dieselbe gewesen, die sie das ganze 19. Jahr-
hundert hindurch geblieben ist. Die Mathematik ist mit vier, die Physik mit
I 2 2 A H. E. Timerding : Die Verbreitung mathemat. Wissens u. mathemat. Auflassung.
zwei Wochenstunden bedacht. Zum Teil wurde auch von den Lehrern, die
mit Eifer und Begeisterung an das neue Fach herangingen, recht viel durch-
Gegen geuommcn und verlangt. Es treten deswegen schon bald Mahnungen auf,
A^ord^rungen dcH Mathematikunterricht so zu gestalten, daß auch die mittelbegabten
in der Schülcr folgen können. So wird z.B. für die Provinz Brandenburg 182g an-
geordnet: „Wir machen es (gegenüber Versuchen, über das Geforderte hinaus-
zugehen) zur unerläßlichen Pflicht, daß nicht etwa nur der eine oder andere
Schüler, sondern mindestens die Mehrzahl der Scholaren dem Lehrer weiter
hinaus zu folgen imstande sei und daß der Lehrer sich in der Überzeugung
erhalte, daß seine Schüler ihm im klarsten Bewußtsein des Vorgetragenen
gefolgt sind." Die Forderung, den Unterricht in den Grenzen der allgemeinen
Verständlichkeit zu halten, ist gerade bei der Mathematik besonders schwer-
wiegend. Für jeden Lehrer liegt die Versuchung nur zu nahe, sich durch den
Lerneifer einiger begabter Schüler und den Wunsch, möglichst viel von seiner
Wissenschaft mitzuteilen, fortreißen zu lassen. Wenn aber so die Mehrzahl
der Schüler, wie es häufig geschehen ist, hilflos zurückbleibt, so ist der Zweck
des Unterrichts verfehlt. Die Anpassung der Mathematik an das Fassungs-
vermögen der mathematisch nicht begabten Schüler bedeutet ein besonderes
Problem. Die Äußerung mancher Lehrer, daß es eine eigentliche mathema-
tische Begabung nicht gebe, sondern jeder Mensch die ganze Mathematik zu
verstehen imstande sei, ist einigermaßen skeptisch aufzufassen. Die Schluß-
weise und Problemstellung der wissenschaftlichen Mathematik erfordert ein
Verständnis, wie es der Mehrzahl der Schüler einer allgemeinen Schule ge-
wöhnlich nicht gegeben ist. Der Lehrer verwechselt nur zu leicht die durch
die Lösung einer Menge von Aufgaben erreichte mechanische Übung mit
dem wirklichen Verständnis der mathematischen Prozesse.
Universalistische Dlc Stimmung der maßgebenden Kreise ist in der ersten Hälfte des
nlTßgebenden ^ 9- Jahrhunderts der Mathematik trotz des starken Interesses für das klassische
Kreise. Altertum im allgemeinen günstig. Die als Äußerung Johannes Schulzes viel
angeführten Worte „In einer Zeile des Cornelius Nepos steckt mehr Bildungs-
wert als in der gesamten Mathematik" stehen nicht in Einklang mit der Stellung,
die dieser Mann sonst dem Unterricht der höheren Schulen gegenüber einge-
nommenhat. Er hat mit Entschiedenheit immer betont, daß gerade die vielseitige
Ausbildung des Geistes, die durch die Aufnahme der verschiedenen Lehrfächer
erreicht wird, die Gewähr für seine Erhebung über die platte Alltäglichkeit
liefert. Es ist der Gedanke, den schon in einem Programm von 1 8 1 5 A. F. Bern-
hardi unter der Überschrift „Mathematik und Sprachen, Gegensatz und Er-
gänzung" ausgesprochen hatte. Gewiß, sagt er, besteht ein Gegensatz zwischen
der mathematisch -naturwissenschaftlichen und der philologisch-historischen
Auffassung. Aber gerade dadurch, daß diese beiden Seiten der Geistestätigkeit
im Schulunterricht gleichmäßig berücksichtigt werden, werden alle Fähigkeiten
des Schülers harmonisch ausgebildet. In demselben Sinne heißt es in dem von
Joh. Schulze herrührenden Zirkularreskript vom 24. Oktober 1837: „Die Lehr-
gegenstände in den Gymnasien, namentlich die deutsche, lateinische und grie-
VII. Der mathemat. Unterricht in Deutschland während des 19. Jahrhunderts. A 123
chische Sprache, die Religionslehre, die philosophische Propädeutik, die Mathe-
matik nebst Physik und Naturbeschreibung, die Geschichte und Geographie,
sowie die technischen Fertigkeiten des Schreibens, Zeichnens und Singens, und
zwar in der ordnungsmäßigen, dem jugendlichen Alter angemessenen Stufen-
folge und in dem Verhältnisse, worin sie in den verschiedenen Klassen gelehrt
werden, machen die Grundlage jeder höheren Bildung aus und stehen zu dem
Zweck des Gymnasiums in einem ebenso natürlichen als notwendigen Zusammen-
hange. Sie sind nicht willkürlich zusammengehäuft, vielmehr haben sie sich im
Laufe von Jahrhunderten als Glieder eines lebendigen Organismus entfaltet,"
Von einer engherzigen Auffassung der vorgesetzten Behörde in den An-
gelegenheiten der höheren Schulen kann also keine Rede sein. Der Unterricht
war denn auch seit der Neugründung der Gymnasien in einer rasch aufstei-
genden Entwicklung begriffen, was um so leichter möglich war, als die Scheu,
den Schülern zuviel Arbeit zuzumuten, damals noch nicht so ausgebildet war
wie heute, wenn auch die Klagen über Überbürdung schon Ende der zwan-
ziger Jahre auftauchen. Die Entwicklung bewegte sich aber in einer bestimm-
ten Richtung, die durch den Zeitgeist mit Notwendigkeit gegeben war. Die Abwendung von
Grimdstimmung jener Zeit zeigt sich in der Abkehr von der Wirklichkeit und
ihrer unmittelbaren Erfassung in Leben und Schaffen, in einer mit Absicht ge-
suchten Weltfremdheit, die sich in der damaligen Kunst und Literatur deutlich
ausprägt, und in einer Hinneigung zur abstrakten Ideengestaltung, für welche
die Hegeische Philosophie den zusammenfassenden Ausdruck findet. Nicht
die Beherrschung des materiellen Lebens, sondern seine Unterdrückung galt
als das Zeichen höherer Geistesbildung. Die politischen und wirtschaftlichen
Ideale waren zurückgetreten, und für das, was man in der Wirklichkeit nicht
fand, suchte man Ersatz im Reiche der Gedanken. Diese Stimmung fand durch
unsere klassische Dichtung kräftige Unterstützung; besonders Schiller hat ihr
ja fortwährend Ausdruck verliehen. Überhaupt ist das blutleere Ideenleben
wohl durch die Zurückdrängung der politischen Betätigung und die schweren
Hungerjahre nach den Befreiungskriegen genährt worden, aber keineswegs
durch sie entstanden. Es findet sich schon am Ausgang des 18. Jahrhunderts.
An die Stelle des sorglosen Genußlebens und der frischen, unbefangenen Er-
fassung der Umwelt tritt ein Versenken in mystische Grübeleien, ein Zurück-
weichen zu dem örtlich und zeitlich Fernen, das begeisterte Preisen des Grie-
chentums, das man doch nur durch die Brille einer spekulativen Vergeistigung
ansah und für dessen sinnenfrohe Unmittelbarkeit das innere Verständnis fehlte.
Was würden die alten Griechen selbst wohl zu den bleichwangigen Schul-
männern gesagt haben, die ihr Lob begeistert von den Kathedern herab ver-
kündigten? Die Gründung aller Bildung auf das klassische Altertum wurde
auch von den Univensitäten, welche doch die Allgemeinheit der Wissenschaften
vertreten sollten, offiziell gutgeheißen. So verkünden in Berlin Rektor und
Senat 18 18: „Die ganze wissenschaftliche Bildung der neueren Zeit ist auf
das Studium des Altertums gegründet, von welchem sie sich nur zu ihrem
Verderb trennen kann".
1 24 A H. E. Timerding: Die Verbreitung mathemat. Wissens u. mathemat. Auffassung.
Stimmen für die Wie frei Und Unvoreingenommen klingen dagegen die Worte, die der
^Kes'sir'' Astronom Bessel 1828 an von Schön richtet: >,Bildung des Geistes kann
(1784-1846). durch jedes ernste wissenschaftliche Studium erlangt werden. Die Philo-
logen, sofern sie es wirklich sind, besitzen sie, allein der Grund der Be-
hauptung, daß sie nur durch das Studium der griechischen und lateinischen
Sprache gefunden werden könne, ist nicht erwiesen; die Griechen könnten
in den Dingen, welche einer Fortbildung fähig sind, hundertmal mehr von
uns lernen, als wir von ihnen, ich meine im großen Reich der Wahrheit, der
Mathematik, und dem ebenso großen Reich der Beobachtung, der Natur.
Die Zeit will mehr als griechisch und lateinisch; die Schulmänner sind ihr
nachzugeben gezwungen worden, sie haben den Sprachen etwas Mathematik
zugesellt. Ob es ihnen damit ernst war, oder ob es nur geschah, daß ein
Schein erzeugt, die lateinische und griechische Sprache aber gerettet würde,
kann man beurteilen, wenn man die bessere Rolle der Sprachen mit der
wirklich traurigen der Wissenschaft (der realistischen Fächer) vergleicht."
Wenn dies Urteil vielleicht schon etwas hart ist, so sind die folgenden Worte
nur ein subjektives Bekenntnis Bessels: „Es läßt sich in der Tat beides nicht
vereinigen; unsere lateinischen Schulen können nicht wissenschaftliche werden.
Wird dem Lernenden die Natur eröffnet und ihm die Mathematik als Führerin
gegeben, so ist nicht abzusehen, wo er unfreundlich zurückgestoßen werden
könnte." Ein Studium des Lateinischen will aber Bessel noch gelten lassen,
„weil viel Gutes in dieser Sprache geschrieben ist und ferner geschrieben
werden muß, damit es überall gelesen werden könne". Man kann diese Ansicht
verstehen aus Bessels eigenem Entwicklungsgang, der selbst auf dem Gymna-
sium nur bis zu den mittleren Klassen vorgedrungen ist und sich die ihm
fehlenden Kenntnisse im Lateinischen später bloß des praktischen Zweckes
wegen angeeignet hat.
Herbart Mit Bessels Ansichten in gewisser Weise verwandt ist die Anschauung,
177 -I 41 ■ ^^g Herbart vom mathematischen Unterricht gehabt hat. Er hat in drei Punkten
die künftige Entwicklung vorausgeahnt, einmal in der Verbindung des mathe-
matischen Unterrichts mit der Physik, sodann in der Hervorkehrung des
Funktionsbegrififes und schließlich in der Anknüpfung der mathematischen
Belehrung an die tägliche Erfahrung und die Werkarbeit des Schülers.
„Figuren aus Holz und Pappe", meint er, ,, Zeichnungen, Stifte, Stangen,
biegsame Drähte, Fäden, der Gebrauch des Lineals, des Zirkels, des Winkel-
messers, gezähltes Geld, alles das soll die Grundlage der beginnenden mathe-
matischen Unterweisung bilden. Daraus sollen geordnete Beschäftigungen
und Übungen entnommen werden." Herbart betont, daß sinnliche Vorstellun-
gen in gehöriger Stärke die sicherste Grundlage für einen Unterricht aus-
machen müssen, dessen guter Erfolg abhängig ist von der Art, wie der Zög-
ling die Vorstellungen des Räumlichen innerlich bildet. Er berührt sich damit
nicht nur mit der Pestalozzischen Schule, sondern auch mit Männern wie
Traugott Müller. Soviel wie möglich, meint er, soll sich der Schüler jede
mathematische Kenntnis erst erarbeiten, er soll erkennen, was und wieviel
Vll. Der mathemat. Unterricht in Deutschland während des 19. Jahrhunderts. A 125
man durch Mathematik vermag. In der Tat ist die größte Schwierigkeit beim
mathematischen Unterricht nicht die, die Beweise verständUch zu machen,
sondern den Schülern den Sinn und die Bedeutung der einzelnen Sätze klar-
zulegen. Deswegen befürwortet Herbart überall den Anschluß an die Er-
fahrung, damit die mathematischen Studien Eingang in den Gedankenkreis
der Zöglinge gewinnen. „Auch der gründlichste mathematische Unterricht",
sagt er, „zeigt sich unpädagogisch, sobald er eine abgesonderte Vorstellungs-
masse für sich allein bildet, indem er dann entweder auf den persönlichen
Wert des Menschen wenig Einfluß erlangt oder noch öfter dem baldigen
Vergessen anheimfällt." Schon 1802 hatte Herbart geäußert, die Mathematik
müsse soviel wie möglich sprechen und tun wie die übrigen Fächer und von
der Künstlichkeit des Schulwissens zur Natur zurückführen, nicht aber neue
Gezwungenheiten und steife Manieren mit sich bringen.
Herbart sagt, es sei das erste Gesetz des Vortrages, die mathematische Ein-
bildungskraft nicht zu vernachlässigen, sie früh an vollständiges und rasches
Durchlaufen des ganzen Continuums, das unter einem allgemeinen Begriff ent-
halten ist, zu gewöhnen. Hieraus folgt, daß man schon beim ersten Anfange
die Größen so viel wie möglich als fließend betrachten lehren soll. Dadurch
wird man das Bedürfnis nach der gesamten Mathematik aufregen. Mit dieser
Hineinziehung der veränderlichen Größen und ihrer gegenseitigen Abhängig-
keit, d. h. des Funktionsbegriffes, setzte sich Herbart in Widerspruch mit dem,
was lange Zeit als eine Grundbedingung des elementaren Mathematikunter-
richtes galt. Er hebt aber nicht ohne Grund hervor, daß eine rechte Auffas-
sung der Logarithmen und der trigonometrischen Funktionen ohne ein solches
Eingehen auf die Abhängigkeit veränderlicher Größen voneinander unmög-
lich sei. Diese Abhängigkeit zeigt sich auch überall in der Physik, ja viel-
fach ist die Aufsuchung des funktionalen Zusammenhanges physikalischer
Größen als die eigentliche Aufgabe aller physikalischen Wissenschaft hin-
gestellt worden. Herbart befürwortet deshalb dringend ein Zusammengehen
der Physik mit der Mathematik, aber nicht so, daß die Physik in die Form
der mathematischen Abstraktion hineingepreßt wird, sondern daß umgekehrt
die mathematischen Begriffe sich an der Betrachtung der Natur bilden und
beleben. Die Bedeutung der Mathematik werde am besten klargelegt, wenn
man zeigt, wie überall in der Natur die Regellosigkeit und Unklarheit ent-
wich, wo man die Erscheinungen auf Maß und Zahl zurückführte.
Gerade diese Ansicht steht aber in schroffem Gegensatz zu der herrschen- Das klassische
den Meinung jener Zeit. Es ist eine Zeit, in der gegenüber dem aufgeklärten ais^Gru^^ge
I S.Jahrhundert die energischsten Versuche gemacht wurden, im Verein mit den christlicher
Staats erhalten den Tendenzen auch die positive Religion neu zu stärken. Die
geistigen Anschauungen der Reaktionszeit fanden deshalb in der klassischen
Bildung, so eifrig sie sie aufnahmen, doch einen Anstoß, der erst überwunden
werden mußte. Die Griechen und Römer waren Heiden ; wie können sie die
Grundlage für eine christliche Erziehung bilden? Aus dieser Schwierigkeit half
man sich durch einen eigentümlichen Gedankengang heraus. Das klassische
I 26 A H. E. Timerding: Die Verbreitung mathemat. Wissens u. mathemat. Auffassung.
Altertum sollte aufgefaßt werden als ein unbewußtes Drängen und Sehnen nach
dem Christentum. Der ganze Unterricht sollte sich so auf den christlichen Glau-
ben hinwenden, in ihm seine feste Stütze und in der Erziehung- einer durch edle
Geistesbildung geklärten Frömmigkeit wie die Gymnasien der alten Huma-
nisten sein Endziel finden. Die erste Forderung, die man an die anzustellenden
Lehrer richtete, war Festigkeit im Glauben. Um einen Unterrichtsgegenstand
zu diskreditieren, genügte es, ihn als einen Feind des Christentums hinzustellen.
Widerstreit Daher der Widerstreit gegen allen Utilitarismus. „Welchen ärgeren Feind hat
utiiltTrismus. die christüche Bildung als die ausschließliche Richtung der Geister auf das
Handgreifliche, auf den Bedarf des sinnlichen Lebens, der vom Materialismus
ausgeht und im Materialismus endet?" ruft z. B. Landfermann wehklagend aus.
Ähnlich sagtThiersch in dem Bericht Über den gegenwärtigen Stand des öffent-
lichen Unterrichts in den westlichen Staaten (183 8): „Nicht zu verkennen ist,
daß infolge der Stärke und Unwiderstehlichkeit, mit welcher das Gegenwär-
tige, Greifbare, Meß- und Zählbare und die daran geknüpften Herrlichkeiten
die Gemüter einnehmen, diese sich von den idealen Gütern abgewendet haben.
Daher die steigende Gleichgültigkeit gegen die Lehren und Ansichten der
positiven Religion, welche schon die Wurzel derselben bedroht und in nicht
wenigen Gemütern in Widerwillen und Haß übergegangen ist."
Die Mathematik So begegnete der mathematische Unterricht einem eigentümlichen Wider-
vatefwTfetrd- Stand. Er galt als gottlos und revolutionär, und wegen der Wertschätzung,
lieh verschrien, ^j^g gj- [^ Frankreich genoß, auch als vaterlandsfeindlich. Den Mathematikern
wurde ein der christlichen Demut widerstreitender Wissenshochmut vorge-
worfen. So berichtet z. B. Günther (Die Realschulen und der Materialismus,
Halle 1839): „Den Mathematikern ist in neuerer Zeit, jedoch nicht härter als
in älterer, Stolz undHochmut vorgeworfen worden. Der Stolz der Mathematik
ist aber teils ein theoretischer^ teils ein praktischer. Der praktische Stolz
gründet sich auf die Brauchbarkeit zunächst der Mathematik und dann der
Mathematiker. Wie brauchbar aber die Mathematiker gewesen sein sollen,
mag man aus dem Anteil sehen, den ihnen Herr von Halle an der Revolution
zuschreibt: «Über den Mißbrauch und die absurde Anwendung der Mathe-
matik auf Gegenstände, worüber sie nichts zu entscheiden hat, ließe sich ein
unterhaltendes und lehrreiches Büchlein schreiben. Die ganze Revolution
würde die Materialien dazu liefern; man sieht überall, daß sie von Mathe-
matikern ausgebrütet worden ist, die nur Zahlen und Größen im Kopfe haben,
aber sich wenig um die Gerechtigkeit kümmern» (Restauration der Staats-
wissenschaften, Bd. V, S. 263)."
Gegenüber der allgemeinen Geistesrichtung der Zeit, die in der Beschäf-
tigung mit der lateinischen und griechischen Sprache das Wesen der höheren
Bildung sieht, erheben sich nur vereinzelt Stimmen, die eine abweichende
Ansicht äußern. Wir müssen noch betonen, daß keineswegs fortgesetzt in
dem Sinne eines Goethe oder Herder die alten Sprachen gelehrt wurden.
Das Interesse an dem Inhalte der Dichtungen trat bei der sich immer mehr
steigernden Sucht nach formalem Drill zurück gegen die Pflege der Sprache,
VII. Der mathemat. Unterricht in Deutschland während des 19. Jahrhunderts. A 127
insbesondere der Grammatik, Die Verfechter des Formalismus bezeichnen
die Vernachlässigung der Grammatik als unmoralisch und ruchlos. Der alte
Schulspruch gelangt wieder zu Ehren: Catechismus facit miracula in ecclesia,
grammatica in schola, und die Vergleichung von Katechismus und Grammatik
ist nicht eine zufällige.
Die formalistische Richtung des Schulwesens ist an sich der Mathema- Abnehmende
tik keineswegs ungünstig, im Gegenteil steckt in dem Schematismus der der Mathematik
mathematischen Entwicklung eine gewisse Verwandtschaft mit dem Geist ""'biid^e^ten^"
der Grammatik. Aber im Publikum erwächst mit dem Beginn des iq. Jahr-
hunderts aus der vorwiegenden Beschäftigung mit der Literatur ein Wider-
stand gegen die Nüchternheit und Mühseligkeit der mathematischen Ab-
leitung. Die Gefühlsbildung, die in der vorwiegenden Pflege der Kunst liegt,
ist der reinen Verstandeskultur der exakten Wissenschaften feindlich und fühlt
sich in schroffem Gegensatz zu ihr.
Es ist bekannt, wie bei Goethe dieses Widerstreben durchbricht, wie
er in seiner Farbenlehre mit großer Heftigkeit gegen diese die Unmittelbar-
keit der sinnlichen Wahrnehmung zersetzende Forschung zu Felde zieht.
Hatte das 18. Jahrhundert die Unvoreingenommenheit und Klarheit des
mathematischen Denkens allgemein anerkannt und bewundert, so wird
unter der Herrschaft der literarisch ästhetischen Neigungen im 1 g. Jahrhun-
dert die Mathematik von dem großen Publikum als eine kahle und unfrucht-
bare Region des menschlichen Wissens angesehen.
Die formalistische Richtung des Schulunterrichtes ist zu begreifen aus
dem Geist der Zeit heraus. Es ist nicht bloß die Zeit des Rückwärtsschauens
in vergangene Epochen, es ist auch die Zeit der höchsten Verehrung für das
theoretische Wissen, das frei ist von aller praktischen Beziehung. Und doch Aufschwung
bringt das 19. Jahrhundert eben der Mathematik eine so gewaltige Ent wick- lichen'liathema-
lung, wie sie vorher nur geahnt werden konnte. Es ist zunächst Frankreich, *^^*''^'"*"^'^*''=''-
das die Führung übernimmt und auf dem in der Revolutionszeit gelegten
Grunde weiterbaut. Neben den großen Mathematikern der früheren Epoche
Lagrange, Laplace, Legendre u. a. erhebt sich besonders die mathematische
Physik; Fresnel bewältigt die Erscheinungen des Lichts zum erstenmal voll-
ständig durch die Kraft der mathematischen Analyse, Ampere in ähnlicher
Weise die elektrischen und magnetischen Vorgänge, die molekulare Struk-
tur der Materie und die darauf gegründeten Eigenschaften der Festigkeit,
Elastizität, Kohäsion und Adhäsion werden durch Männer wie Cauchy, Poisson,
Navier, de St Venant analysiert, Poncelet und Coriolis begründen die tech-
nische Mechanik, die Geometrie schreitet unter den Händen eines Carnot,
Monge, Poncelet, Gergonne, Brianchon, Dandelin, Bobillier, Dupin, Hachette,
Chasles rasch und gewaltig fort und Cauchy stellt die Analysis auf eine neue
Grundlage. In dem Mittelpunkt der Forschungsarbeit aber steht der Lehr-
betrieb der polytechnischen Schule. Eine Reihe der wichtigsten Werke sind
aus Vorlesungen, die an ihr gehalten sind, hervorgegangen, das Journal de l'ecole
polytechnique enthält die schönsten und wichtigsten mathematischen Arbeiten.
1 28 A H. E. Timerding: Die Verbreitung mathemat. Wissens u. mathemat. Auffassung.
Aufkommende Es ist das großc Verdienst des preußischen Oberbaurats A. L. Grelle, diese
sens^c^h/ftuchln niachtvolle Entwicklung richtig erkannt und für die deutschen Verhältnisse
Mathematik nutzbar gemacht zu haben. Grelle gründete 1827 nach französischem Muster
in Deutschland :
A.L. Grelle, „uutcr tätiger Förderung königlich preußischer Behörden" sein Journal für die
reine und angewandte Mathematik und gab damit der mathematischen For-
schung in Deutschland eine feste Grundlage, er redete auch einer Ausbreitung
der wissenschaftlichen Mathematik im Unterricht unermüdlich das Wort. Für
diese Bestrebungen war es ein großes Glück, daß um dieselbe Zeit Alexander
von Humboldt von Paris nach Berlin übersiedelte und, selbst ganz und gar
mit den französischen Ideen erfüllt, mit seinem großen Einfluß die Bemühungen
Grelles unterstützte. Die Lehrstühle der Universitäten wurden um diese Zeit
mit wirklich wissenschaftlichen, oft blutjungen Persönlichkeiten besetzt. So
kam Jacobi nach Königsberg, Dirichlet von Breslau zurück nach Berlin,
Plücker nach Bonn, Steiner erhielt in Berlin wenigstens ein Extraordinariat, die
Berufung des großen Norwegers Abel scheiterte an seinem vorzeitigen Hin-
scheiden. Derart begann ein anderer Geist im mathematischen Lehrbetrieb der
Universitäten einzuziehen, und es fingen in dieser Zeit denn auch die mathe-
matischen Vorlesungen an, auf die mathematische Forschungsarbeit überzu-
greifen, es begannen die Dozenten ihre eigenen Untersuchungen vorzutragen.
G. G. j, Jacobi. Vor allen anderen war es Jacobi, der diesen veränderten Lehrbetrieb einführte.
Während er nach seiner Berufung an die Königsberger Universität 1826 zuerst
mit recht elementaren Vorlesungen begann, wagte er es 183 1, seine Unter-
suchungen über die elliptischen Transzendenten in einer achtstündigen Sommer-
vorlesung vorzutragen. Wie er von da ab seine mathematischen Vorlesungen ge-
handhabt hat, geht am besten aus den Worten seines Kollegen Dirichlet hervor,
der selbst in Jacobis Sinne gewirkt hat: „Es war nicht seine Sache, Fertiges und
Überliefertes von neuem zu überliefern; seine Vorlesungen bewegten sich sämt-
lich außerhalb des Gebietes der Lehrbücher und umfaßten nur diejenigen Teile
der Wissenschaft, in denen er selbst schaffend aufgetreten war, und das hieß bei
ihm, sie boten die reichste Fülle der Abwechslung. Seine Vorträge zeichne-
ten sich nicht durch diejenige Deutlichkeit aus, welche auch der geistigen
Armut oft zuteil wird, sondern durch eine Klarheit höherer Art. Er suchte
vor allem die leitenden Gedanken, welche jeder Theorie zugrunde liegen, dar-
zustellen, und indem er alles, was den Schein der Künstlichkeit an sich trug,
entfernte, entwickelte sich. die Lösung der Probleme so naturgemäß vor seinen
Zuhörern, daß diese ähnliches zu schaffen können die Hoffnung haben durften.
Wie er die schwierigsten Gegenstände zu behandeln wußte, konnte er seine
Zuhörer mit Recht durch die Versicherung ermutigen, daß sie in seinen Vor-
lesungen sich nur ganz einfache Gedanken anzueignen haben würden". Jacobi
hat den wissenschaftlichen Idealismus, der sein Wirken als Universitätslehrer
erfüllt, selbst dahin ausgesprochen, daß die Entdeckung einer mathematischen
Wahrheit denselben Wert besitze wie eine große technische Erfindung, daß
der Grad der Nützlichkeit keinen Maßstab liefere für den Wert einer geistigen
Leistung. Er tadelt es an den französischen Mathematikern, daß sie ihre
VII. Der mathemat. Unterricht in Deutschland während des 19. Jahrhunderts. A l 2Q
Forschungen an den physikalischen Problemen orientierten. Seine Anschau-
ungen erfuhren eine gewisse Wandlung durch eine Reise nach Paris, die
mit dem Projekt der Einrichtung einer polytechnischen Schule in Preußen
zusammenhängt. Von da ab redet er auch der Bedeutung der Mathematik für
die praktische Ausbildung eifrig das Wort: „Außerdem daß das vertraute Um-
gehen mit Zirkel und Lineal und die sorgfältige Ausführung der geo-
metrischen Konstruktionen den Sinn und das Interesse für strenge Richtigkeit
weckt und schärft und dadurch zu jeder besonderen Kunst tüchtiger macht,
kann eine so vielen Künsten und Gewerken gemeinschaftliche Grundlage da-
zu beitragen, die gegenseitige Entfremdung der verschiedenen Handwerke,
die doch zu demselben Ganzen zusammenzuwirken haben, in etwas zu ver-
ringern" (Vorrede zu Busch, Vorschule der darstellenden Geometrie, 1846).
Seine Stellung dem mathematischen Schulunterricht gegenüber geht klar aus
den Worten hervor: „Die Strenge der geometrischen Beweise ist eine Erfindung
der Griechen, welche dem menschlichen Verstände nur zur höchsten Ehre ge-
reicht. Aber sie ist nur dem reiferen Knaben- und angehenden Jünglingsalter
eine passende Nahrung, und dann nebst der Grammatik eine wahre Zucht des
Verstandes. Dem Knaben, dem diese Welt der geometrischen Formen noch
eine gänzlich fremde ist, mit den ersten Vorstellungen, die man ihm davon
überliefert, zugleich schon zuzumuten, sich darin in der Weise folgerichtigen
Denkens nach systematischem Fortschritt zu bewegen, scheint keine gute
Pädagogik." Für die geometrische Propädeutik empfiehlt Jacobi dann die
Entwicklung der Anschauung, das Gewöhnen an das Erfassen der geo-
metrischen Formen und Proportionen, wie es Pestalozzi erstrebte, aber „aus
Mangel an geometrischen Kenntnissen nicht durchführen konnte, so daß seine
Methode in mechanischen Übungen nach einem leeren Schematismus ver-
flatterte ". Hier hat auf Jacobi offenbar der Umgang mit Jacob Steiner einge-
wirkt, der, ein Schweizer Bauernsohn und bei Pestalozzi gebildet, gerade in
der Entwicklung der geometrischen Phantasie seine Stärke hatte und in ihr
die Hauptaufgabe des geometrischen Unterrichts erblickte.
Wie sehr Steiners Anschauungen auf Jacobi eingewirkt haben, dessen
Begabung ursprünglich ganz in dem arithmetischen Sinn seines Stammes be-
gründet lag, geht aus den Worten hervor, die er 1833 zur Empfehlung Stei-
ners dem preußischen Ministerium gegenüber äußerte: „Ich bin immer der
Meinung gewesen, daß, wenn diesem seltenen Talente seine rechte Stelle als
ordentlicher Professor an der Berliner Universität angewiesen würde, von ihm
aus eine Umgestaltung des mathematischen Wesens auf unseren Gymnasien
ausgehen müßte, das jetzt geeigneter ist, den Geist zu töten als den Verstand
zu bilden und den Schülern mehr Abneigung als Liebe zu der Sache erweckt."
Wenn Jacobi hier auf die Ausbildung der Lehrer noch besonders Rücksicht
, . . HervorkehrunR
nimmt, so ist später diese Rücksichtnahme aus dem mathematischen Universi- de« rein wissen-
tätsstudium immer mehr verschwunden, und es ist nicht zu leugnen, daß Jacobi, prinrips^ln^der
indem er die Einführung des Studierenden in die wissenschaftliche Forschung-s- ^f^.?"^'
'-' '-' ausbildung.
arbeit zum Ziel seiner Lehrtätigkeit machte und so auch in Königsberg 1834
K . d. G. III, I . Mathematik, A. n
I30 A H. E. Timerding: Die Verbreitung malhemat. Wissens u. mathemat. Auffassung.
mit Franz Neumann zusammen das erste mathematische Seminar gründete,
selbst viel dazu beigetragen hat, den unmittelbaren praktischen Zweck des
Studiums zurückzuschieben. Diese Verleugnung der praktischen Absicht ist
bei der Gründung des Berliner mathematischen Seminars durch Kummer und
Weierstraß unumwunden ausgesprochen worden. Das Institut sollte ausschließ-
lich die Förderung der mathematischen Bildung unter den Studierenden zum
Zweck haben, damit künftig durch sie die mathematischen Studien erhalten,
fortgepflanzt und gefördert werden möchten. Auf die praktische Ausbildung
der zukünftigen Lehrer der Mathematik könnte es nur insofern von günstigem
Einfluß sein, als es dazu beitragen würde, die Gründlichkeit und Klarheit der
mathematischen Kenntnisse künftiger Lehrer zu fördern. Diese rein wissen-
schaftliche Auffassung der Lehrerausbildung findet ihre amtliche Anerken-
nung in der preußischen Prüfungsordnung von 1866 mit ihren berühmten, von
Richelot, einem Schüler Jacobis, herrührenden Worten: „Für den mathe-
matischen Unterricht in den oberen Klassen sind nur die Kandidaten für
befähigt zu erachten, die sich in der Prüfung als ausgebildete Mathematiker
zeigen und in die höhere Geometrie, die höhere Analysis und die analytische
Mechanik so weit eingedrungen sind, daß sie auf diesen Gebieten eigene
Untersuchungen mit Erfolg anstellen können."
Gegen eine solche wissenschaftliche Ausbildung ist gewiß an sich nichts
einzuwenden und das Niveau unserer höheren Schulen würde herabgedrückt
werden, wenn nicht versucht würde, die Lehrer zu wissenschaftlichen Persön-
lichkeiten zu erziehen, aber dadurch wird die völlige Vernachlässigung des
späteren Berufes bei der Ausbildung auf der Universität nicht gerechtfertigt.
Die Rück Wirkung der wissenschaftlichen Forschung auf die elementaren Gegen-
stände des Schulunterrichts ist doch nicht so unmittelbar, daß sie sich in dem
Kopfe jedes Lehrers sicher und klar vollziehen könnte. In diesem Sinne sagt
schon L.Wiese in seinen Lebenserinnerungen und Amtserfahrungen: „Es ist
sehr zu bedauern, daß die Richtung der Mathematik auf den Universitäten
den Anschluß an dasjenige, was Aufgabe der Schule ist, immer mehr aufgibt.
Zwischen der Universitätswissenschaft und der Schule liegt jetzt überhaupt eine
Kluft, die zuerst dem seine Studien beginnenden Jüngling viel Not macht und
die zu überbrücken nachher mancher von der Universität kommende Schul-
amtskandidat in seinen ersten Lehrjahren nicht lernt." Diese Gesichtspunkte
machten sich denn auch der Schulverwaltung selbst sehr bald bemerkbar, und
wenngleich die früheren Verordnungen nicht widerrufen wurden, so wurde
doch der Versuch gemacht, ihnen die Spitze, die sie gegen den praktischen
Schulbetrieb richteten, abzubrechen. So heißt es in den Bemerkungen zu der
Prüfungsordnung von 1886: „Die Ausbreitung mathematischer Kenntnisse und
mathematischen Denkens hat an unseren höheren Schulen durch Besserung des
Unterrichtsverfahrens unverkennbar gewonnen; aber noch wird eine völlige
Fremdheit auf dem mathematischen Gebiete nicht mit ähnlichem Selbstvor-
wurfe betrachtet wie auf dem sprachlichen oder historischen Gebiete. Alles,
was zur Besserung des Unterrichtes in der Elementarmathematik geschieht,
VII. Der mathemat. Unterricht in Deutschland während des 19. Jahrhunderts. A 131
dient unmittelbar der Anerkennung der Mathematik als eines unerläßlichen
Gliedes der allgemeinen Bildung; es wird daher nicht überflüssig scheinen, zu
erwägen, ob und wie weit die Universität als die Bildnerin der zukünftigen
Lehrer zur Erreichung dieses Zweckes beizutragen vermag." Deshalb wird ein
Eingehen auf die Elementarmathematik an der Universität dringend empfohlen.
Es hängt auch in der Tat an den elementaren Gegenständen eine Fülle von
theoretischem Wissen, zu dessen Mitteilung die Universität der geeignete Ort
wäre, statt daß der Studierende oder der an der Schule eintretende Kandidat
es sich selbst aus Büchern, unvollständig und vielfach kritiklos, zusammen-
holen muß. Die Fähigkeit und die Zeit zu wissenschaftlichen Arbeiten bleibt
den wenigsten Lehrern erhalten, dagegen müßte die Veredlung und Ausge-
staltung ihres Unterrichtsstoffes ihre eigentliche Aufgabe sein. Meistens aber
gehen sie in den äußeren Aufgaben des Unterrichtens unter und blicken nach
der wissenschaftlichen Forschungsarbeit dann vielfach zurück wie nach einem
verlorenen Paradies, dessen Erinnerung sie nur unlustig zu ihrer Lehrarbeit,
imzufrieden und verbittert macht.
In schroffem Gegensatz zu der Geistesrichtung, deren Streben es ist, Entwicklung
möglichst weit von der Wirklichkeit weg in die lichten Höhen der reinen ^' * ^'^ *°"
Wissenschaft aufzusteigen, stehen alle die Bestrebungen, die eine Erziehung
für die Wirklichkeit und durch die Wirklichkeit bezwecken, die ganze rea-
listische Seite des Unterrichtswesens. Die Realschulen, deren Entstehung auf
die Mitte des 1 8. Jahrhunderts zurückgeht, haben unter der einseitigen Hoch-
schätzung der klassischen Bildung schwer zu leiden gehabt. So sehr praktische
Bedürfnisse auf ihre Entwicklung hindrängten, so wenig konnten sie sich eine
offizielle Geltung verschaffen, sie wurden in ihrer Rücksichtnahme auf die
Forderungen der Wirklichkeit nicht bloß für untergeordnet, sondern auch für
gottlos und verderbt erachtet. Der erste vielleicht, der den Gedanken einer
dem humanistischen Gymnasium gleichwertigen realistischen Bildungsstätte
verfocht, war C. G. Fischer mit seiner Schrift über die zweckmäßige Ein-
richtung der Lehranstalten für die gebildeten Stände (1806). Dagegen stand
das preußische Ministerium auf dem Standpunkt, daß die Gymnasialbildung
nicht bloß für die gelehrten, sondern auch für die besseren praktischen Berufe
die geeignetste Vorbereitung sei. Erst 185g wurden die Realanstalten mit
Latein als Realschulen erster Ordnung den Gymnasien koordiniert und erst
1870 erhielten die Abiturienten der Realgymnasien das Recht zum Studium
von Mathematik, Naturwissenschaften und neuen Sprachen. Dabei blieb es
lange Zeit, auch als 1882 die drei Schulgattungen Gymnasium, Realgym-
nasium (ohne Griechisch) und Oberrealschule (ohne Griechisch und Latein)
in ihren Abgangsprüfungen als gleichwertig anerkannt wurden. Erst die Schul-
konferenz von 1900 und der auf sie folgende Allerhöchste Erlaß vom 26. No-
vember I Qoo brachte ihre wirkliche Gleichstellung und gab ihnen die Möglich-
keit, sich jede ihrer Besonderheit gemäß|zu entwickeln.^
Der Bildung der höheren Stände steht die Erziehung des Volkes, der Die
höheren Schule die Volksschule gegenüber. Die gelehrten Schulen sollen den ° ""'* "°^
9'
1 3 2 A H. E. TiAlERDiNG : Die Verbreitung mathemat. Wissens u. mathemat. Auffassung.
Jüngling auf eine wesentlich geistige Tätigkeit vorbereiten, die Elementar-
schulen sollen dem künftigen Arbeiter und Handwerksmann die für sein Leben
und seinen Beruf nötigen allgemeinen Kenntnisse mitteilen. An den höheren
Schulen kann der Idealismus einer reinen Begeisterung für das Schöne und
Wahre herrschen, an den niederen Schulen waltet die Aufgabe vor, dem
Schüler das mitzuteilen, was er braucht, um sich später durchhelfen zu können.
In den höheren Schulen wollte man wenigstens in früherer Zeit eine Auslese
der Intelligenz heranziehen, in der Volksschule soll jedes Kind einen Platz
finden. In den höheren Schulen sitzt die Jugendderbesser situiertenKreise, in den
Volksschulen sollen die verwahrlosten, schlecht genährten, von Bildern des
Elends und der Roheit umgebenen Kinder des Proletariers einen Hauch von
höherer Menschlichkeit verspüren.
Den höheren Schulen hat immer das Interesse der Gebildeten gehört,
die Volksschulen haben sich erst im 1 8. Jahrhundert mühsam emporgerungen.
In den Städten bestanden sie schon länger, aber sie auf dem Lande durch-
zuführen, gelang erst mit vieler Mühe den vereinten Bemühungen des Staates
und edler Menschenfreunde, wie des Freiherrn von Rochow. Doch blieb der
Unterricht in den meisten Fällen mehr als dürftig, bestimmte Ansprüche an
die Vorbildung der Lehrer konnten nicht gestellt werden und ihre Existenz
war eine kümmerliche. So nützte es wenig, was über die Erziehung des
Volkes gesagt und geschrieben wurde, und der Gedanke der Elementar-
bildung, den Basedow 1774 entwickelt hatte, kam mehr den besseren Stän-
den als den unteren Schichten des Volkes zugute. Wer heute von Volks-
erziehung spricht, dem drängt sich zunächst der Name Pestalozzi auf die Zunge.
Seine Persönlichkeit, das Feuer seiner hinreißenden Beredsamkeit hat auf die
U746-1827). Elementarbildung unserer Zeit den größten Einfluß ausgeübt. Die Grundidee
in Pestalozzis Erziehungslehre ist aber mathematisch, mathematisch freilich
nicht in dem Sinne einer gelehrten Disziplin, sondern im Sinne einer be-
stimmten Auffassung der Wirklichkeit. Das Wesen dieser Auffassung ist
durch das von Pestalozzi in seiner pädagogischen Bedeutung geprägte Wort
„Anschauung" gekennzeichnet. Das Wort Anschauung bedeutet eine Lieblings-
idee des Aufklärungszeitalters, welches die unmittelbare Erfassung der Um-
welt durch die Sinne zur Grundlage seiner ganzen Auffassungsweise machte.
In diesem Sinne spielt die Anschauung in der Basedowschen Schule eine
Hauptrolle. Auch Goethe hat einmal gesagt:
„Anschaun, wenn es dir gelingt,
Daß es erst ins Inn're dringt,
Dann nach außen wiederkehrt.
Bist am herrhchsten belehrt."
In ähnlichem Sinne äußert Schiller: „Wenn man überlegt, wie viele Wahr-
heiten als innere Anschauungen längst schon lebendig wirkten, ehe die Philo-
sophie sie demonstrierte, und wie kraftlos öfter die demonstriertesten Wahr-
heiten für das Gefühl und den Willen bleiben, so erkennt man, wie wichtig
es für das praktische Leben ist, diesen Wink der Natur zu befolgen imd die
VII. Der mathemat. Unterricht in Deutschland während des 19. Jahrhunderts. A 133
Erkenntnisse der Wissenschaft wieder in lebendige Anschauung umzuwan-
deln. Nur auf diese Art ist man imstande, an den Schätzen der Weisheit auch
diejenigen Anteil nehmen zu lassen, denen schon ihre Natur untersagte, den
unnatürlichen Weg der Wissenschaft zu wandeln."
Was aber Pestalozzi als Anschauung bezeichnet, ist wirklich mathe-
matische Anschauung, es bedeutet die Abstraktion der mathematischen For-
men aus der uns umgebenden Welt und rückwärts die gestaltende Tätigkeit,
welche die regelmäßig gebildeten Raumformen zu bestimmten Zwecken er-
zeugt, und nähert sich darin dem Kantischen Begriff der „reinen Anschauung".
Es handelt sich um die Zurückführung des Erkennens, Ordnens und Schaffens
auf die Zahl- und Maßverhältnisse. Der Sinn für die Maß- und Zahl Verhältnisse
sollte in dem Kinde sogar schon vor der Schulzeit durch die Erziehung der
Mutter entwickelt werden. Für diese Erziehung wollte er die Grundlage durch
bestimmte Lehrbücher geben. „Diese sind es", schreibt er in seiner Schrift
Wie Gertrud ihre Kinder lehrt, „die den eigentlichen Ausschlag gegen den
Unterrichtsunsinn unseres Zeitalters geben werden und geben müssen. Ihr
Geist wird mir immer klarer. Sie müssen von den einfachsten Bestandteilen
der menschlichen Erkenntnis ausgehen; sie müssen die wesentlichsten Formen
aller Dinge den Kindern tief einprägen; sie müssen früh und deutlich das erste
Bewußtsein der Zahl- und Maßverhältnisse in ihnen entwickeln ; sie müssen ihnen
über den ganzen Umfang ihres Bewußtseins und ihrer Erfahrungen Wort und
Sprache geben und überall die ersten Stufen der Erkenntnisleiter, an die uns
die Natur selber zu aller Kunst und zu aller Kraft führt, umfassend ausfüllen."
Leider sind aber Pestalozzis Ideen von ihm selbst nicht so durchgeführt
worden, wie wir es wünschen müßten. Was bei dem Anschauungsunterricht
herauskam, war zum größten Teil ein öder Formel- und Gedächtniskram. Der
Unterricht hielt sich an Tabellen, in denen die Grundlagen der Maß- und Zahl-
verhältnisse in einer Reihe schematischer Figuren zusammengestellt waren
und an denen die Kinder die Anschauung von Maß und Zahl gewinnen sollten.
Alle diese Übungen sollten im übrigen nur den Unterricht im Rechnen und
in der Raumlehre beginnen, ihn aber nicht ersetzen. Doch haben sie die
Wirkung gehabt, daß von nun an die Geometrie auch in die niederen Schulen
einzuziehen anfing, allerdings vorerst in einer Form, die wir wenig gutheißen
können. Gerade den schwächsten Punkt von Pestalozzis Didaktik, die Figuren-
tabellen, welche die Anknüpfung an die Wirklichkeit mehr hemmen als för-
dern, übernahmen Pestalozzis Nachfolger als den Kernpunkt des Unterrichtes.
So wird eine viel ödere und schematischere Mathematik an die Volksschulen
gebracht als sie an den höheren Schulen herrscht. Alle Lehrer haben dabei
die deutlich ausgeprägte Ansicht, daß jede anschauliche Geometrie nur ein
kläglicher Ersatz für die logische Geometrie des Euklid oder eine Vor-
bereitung auf diese sein könne. Was sie aber an geometrischen Kenntnissen
bringen, gehört merkwürdigerweise der alten praktischen Geometrie an, die
wir neben der Euklidischen Geometrie herlaufend fanden, es sind die Kennt-
nisse, die sich in der Überlieferung der Gewerbe von den alten Ägyptern
1 34 A. H. E. Timerding : Die Verbreitung mathemat. Wissens u. mathemat. Auffassung.
her durch alle Zeit erhalten hatten und sich nun wieder in der Volkserziehung
niederschlugen. Von wirklicher lebendiger Anschauung erblicken wir aber
leider in der Pestalozzischen Schule herzlich wenig. Karl von Raumer hat
diesen Zustand mit folgenden Worten trefifend gekennzeichnet: „Daß dem
euklidischen demonstrativen Gang im Unterricht etwas vorausgeschickt wer-
den müsse, Anschauliches, Einleitendes, darüber sind in unserer Zeit viele
Mathematiker einig. Besonders sah man die durch Pestalozzi und seine Schule
aufgekommene Formenlehre für eine Propädeutik der Geometrie an; in ihr
sollte die Anschauung, in der Geometrie der Verstand vorwalten. Allein mit
Körpern begann man nicht, sondern dem bis zur Karikatur getriebenen Ele-
mentarisieren gemäß mit dem Punkt. Darauf ging man zu Linien über und
verlor sich in zahl- und ziellose Kombinationen. Endlich kam man zu Flächen;
von Körpern war aber in der bekannten Schmidschen Formenlehre, der Vor-
läuferin so vieler anderen, so gut wie nicht die Rede."
K.v. Raumer Karl von Raumer hat selbst dem Gedanken, die geometrische Anschau-
(1783-1865). ^^^ ^^ Körper anzuknüpfen, durch sein ABC-Buch der Kristallkunde,
das er im Jahre 1820 Pestalozzis ABC der Anschauung zur Seite stellte, Ein-
gang verschafft. Es ist merkwürdig, aber sehr bezeichnend, daß dieser so
selbstverständlich erscheinende Gedanke erst durch die Mineralogie ins Leben
gerufen wurde, und noch merkwürdiger ist, daß fast ein Jahrhundert vergehen
mußte, ehe er wirklich allgemeine Anerkennung fand. Denn auch heute noch
gibt es Lehrer, die meinen, der Geometrieunterricht müsse mit dem Punkt
anfangen, weil der Punkt bei der logischen Entwicklung der Geometrie das
erste geometrische Element ist. Der weite Weg, den die Menschheit zurück-
legen mußte, um zu der geometrischen Abstraktion zu gelangen und den jedes
Kind in sich wiederholen muß, wenn es von der natürlichen Auffassung der
Umgebung zu den mathematischen Formen fortschreiten soll, dieser ganze
Weg ist beharrlich ignoriert worden. Erst die neueste Zeit hat für die Volks-
schulen einen von verständigem Wirklichkeitssinn erfüllten Rechen- und
Raumlehreunterricht zu entwickeln begonnen. Die Volksschulpädagogik ist,
gerade was Rechnen und Raumlehre betrifft, durch wogt von heftigen Kämpfen.
Im Rechnen scheiden sich zwei Heerlager, je nachdem der gedankliche Pro-
zeß des Zählens oder die Anschauung einer Menge von Dingen die Grundlage
bilden soll. In der Raumlehre ist die Stellungnahme der Wirklichkeit gegen-
über immer noch strittig. In der Tat ist es nicht leicht, aus der realen Um-
gebung des Kindes die geometrischen Formen nach festen methodischen
Gesichtspunkten und in systematischer Geschlossenheit abzuleiten. Man ist
sich wohl klar, daß eine Werkarbeit des Schülers helfend eingreifen kann, aber
wie diese Werkarbeit zu erreichen und durchzuführen ist, steht noch dahin.
Fröbei Wir müssen hier noch einer Bewegung gedenken, welche aus Pestalozzis
(1782 - 1852). j^^^^ vielleicht das Beste und Fruchtbarste aufgegriffen hat. Es war Fröbei,
der die schon von Pestalozzi gewollte Erziehung des frühen Kindesalters zu
einer bestimmten Methode ausgestaltet und durch die Kindergärten in die
Wirklichkeit umgesetzt hat. Auch Fröbei ist von der Mathematik herge-
VII. Der mathemat. Unterricht in Deutschland während des 19. Jahrhunderts. A 135
kommen, er war dem Beruf nach Feldmesser, und sein Zweck ist derselbe wie
der Pestalozzis : eine mathematische Vorbildung des Kindes. Diese Vorbildung
wird durch Beschäftigungen erreicht, welche nichts anderes bedeuten als
die spielerische Betätigung der mathematischen Abstraktion durch Bildung
regelmäßiger Figuren und Gestalten. Es ist im Grunde dieselbe Tätigkeit,
die in der Technik ihren ernsthaften Ausdruck findet, und der Gedanke einer
pädagogischen Verwendung des Spiels, das man die spätere Erwerbstätigkeit
ebenso vorbilden läßt, wie die Tiere im Spiel ihre Kämpfe um die Nahrung
und gegen ihre Feinde vortäuschen, hat so einen fruchtbaren, für die ganze
Erziehung wertvollen Ausdruck gefunden. Diese Spiele finden später im Ar-
beitsunterricht ihre natürliche Fortsetzung. Wer freilich von der vorgefaßten
Meinung über die Mathematik ausgeht, daß sie in algebraischen Formeln
und geometrischen Beweisen bestehen müsse, wird es befremdlich finden,
daß sie schon in Spielen des kleinen Kindes wie Stäbchenlegen, Papierfalten
und Ausschneiden, Modellieren aus Pappe, Ton usw. ihren Ausdruck finden
soll. Diese Spiele sind aber oft mit mehr mathematischem Geiste angefüllt
als die spätere Schulmathematik. Die Mathematik, die wir auf der Schule,
besonders auf der Volksschule treiben, sollte nie als etwas von der Welt der
Erfahrung Losgelöstes empfunden werden, sie sollte immer so behandelt
werden, daß ihre Herkunft aus den Vorgängen und Gegenständen der wirk-
lichen Welt, ebenso wie ihre Zurückführung in die WirkUchkeit durch die ge-
staltende Tätigkeit des gewerblichen Schaffens deutlich im Bewußtsein bleibt.
Das I Q. Jahrhundert brachte einen gewaltigen Aufschwung der Technik Das technische
und dementsprechend hat sich auch in Deutschland das technische Bildungs- B'^^'^sswesen
wesen wesentlich im 1 9. Jahrhundert entwickelt. Es liegt in der Xatur der
Sache, daß diese Entwicklung mit den höchsten Schulgattimgen begann. Die
polytechnische Schule in Paris bildete den Anfang und lange Zeit auch das viel-
bewunderte Muster einer methodisch geleiteten technischen Ausbildung. Es
folgten bald die Gründungen anderer polytechnischer Schulen, so in Prag
1 801, in Wien 181 5, in Karlsruhe 1825, in München 1827, Dresden 1828, Stutt- Die
gart 1829, Hannover 183 1. Bei allen stand der Lehrbetrieb in Paris als Muster "°<*»<='«^"-
vor Augen. Dieser Einfluß zeigte sich deutlich in der Einrichtung eines ge-
ordneten Lehrganges von Vorlesungen und Übungen und in der Art, wie
die einzelnen Fächer dabei zur Geltung kamen. Besonders in dem breiten
Raum, den die darstellende Geometrie einnahm, und in der Anordnung
ihres Lehrstoffes wirkten deutlich die französischen Vorbilder. Die Gründung
höherer Fachschulen in Deutschland reicht aber schon ins 1 8. Jahrhundert
zurück. Im Jahre 1765 entstand die Bergakademie in Freiberg. Friedrich der
Große stiftete 1770 die Königliche Bergakademie in Berlin. Ln Jahre 1775
wurde auch von dem Lyzeum in Clausthal, das seit dem 16. Jahrhundert dem
Bedürfnis einer wissenschaftlichen Vorschulung der Berg- und Hüttenbeamten
durch besondere Betonung des mathematischen und mechanischen Unter-
richts Rechnimg getragen hatte, ein besonderer Kursus für Bergbeflissene
abgezweigt.
\)ie raittlrren
136 A H. E. Timerding : Die Verbreitung mathemat. Wissens u. mathemat. Auffassung.
Im Jahre 1799 wurde die Königliche Bauakademie in Berlin gegründet,
im Jahre 182 1 ebendaselbst die Technische Schule, die 1827 zum Gewerbe-
institut umgewandelt wurde und ursprünglich der Vorbildung von Knaben zur
Ausübung eines Handwerks diente. Nach und nach steigerte man immer weiter
die Anforderungen an die Leistungen, das Alter und die Vorkenntnisse der
Zöglinge. Im Jahre 1866 wurde die Anstalt zur Gewerbeakademie erhoben
und im Jahre 1879 mit der Bauakademie zur technischen Hochschule vereinigt.
So ist hier ein allmähliches Ansteigen in der Stellung der Schule deutlich
nnd niederen zu bcobachteu. Durch die hohen Ansprüche an die Vorbildung der Anwärter
der höheren technischen Berufe wurde aber eine Scheidewand zwischen den
höheren und mittleren Technikern aufgerichtet, und die mit dem Aufschwung
unserer Industrie von den sechziger Jahren ab aufkommenden mittleren
technischen Fachschulen, die Baugewerkschulen und Maschinenbauschulen,
sollten dazu dienen, auch in den mittleren technischen Berufen tüchtige Kräfte
heranzuziehen. Die Ausbildung der den technischen Berufen wohl anzureihen-
den Feldmesser und Markscheider ist heute ganz den Hochschulen zugewiesen.
Dagegen sind die Navigationsschulen, in denen die Seeleute ihre theoretische
Vorbildung zum SchifFsoffizier und Kapitän erhalten, im eigentlichen Sinne
Mittelschulen. Diese Schulen bestanden früher größtenteils als private Unter-
nehmungen; die erste öffentliche Navigationsschule wurde 1749 in Hamburg
gegründet; 1798 bildete sich in Bremen eine Gesellschaft zur Gründung einer
„Navigationsschule großen Stils". Eine sehr viel ältere Geschichte haben die
niederen kaufmännischen Lehranstalten, die Handelshochschulen aber sind
als besondere Gründungen sehr jungen Datums. Als ihren ersten Vorläufer
müssen wir die Merkantilabteilung des Collegium Carolinum in Braunschweig
ansehen. Die erste selbständige Handelshochschule wurde dagegen erst am
I. April 1898 in Leipzig gegründet.
Erst der neueren Zeit gehört auch der Gedanke der Lehrlingsschulen , der
sogenannten Fortbildungsschulen, an, die neben der praktischen Lehrzeit drei
bis vier Jahre hindurch besucht werden, und durch welche die Bildung und
berufliche Tüchtigkeit aller unserer arbeitenden Klassen gehoben und gefestigt
werden soll, Sie finden eine Art Fortführung in den Gesellenschulen, die teils
eine gewisse Zeit hindurch den Besucher ganz in Anspruch nehmen, teils aber
auch in Abend- und Sonntagsklassen neben der Berufsarbeit einhergehen. Sie
haben die Aufgabe, auch dem einfachen Arbeiter das Aufsteigen in höhere
Stellungen zu ermöglichen, und dadurch eine große soziale Bedeutung.
I);vs Prinzij)
VIII. Die Ausgestaltung des modernen mathematischen Bildungswesens.
Die Signatur der höheren Allgemeinbildung ist im 1 9. Jahrhundert, wie
der formalen wir seheu, durch den Grundsatz der formalen Schulung gegeben. Da die
""*■ modernen Bestrebungen meist dahin zielen, sich diesem Grundsatz zu wider-
setzen, haben wir uns gewöhnt, mit ihm einen tadelnden Beigeschmack zu ver-
binden. Darin liegt eine gewisse Ungerechtigkeit, denn es ist nicht zu leugnen,
daß die auf dieser Grundlage erzielten Resultate zum Teil außerordentlich
VIII. Die Ausgestaltung des modernen mathematischen Bildungswesens. A 137
günstige gewesen sind. Es herrschte im Unterricht ein großer Ernst und eine
strenge Zucht, und gerade die Gewöhnung zur Selbstbeherrschung, zur Sorg-
falt und Gewissenhaftigkeit ist ein Moment, das nicht bloß zu guten äußeren
Resultaten führt, sondern auch einen großen sittlichen Wert in sich schließt.
Indem das Denken geschult wurde, lenkte man auch das Wollen und Handeln
des Zöglings. Nur lief die Leitung nach festen Regeln und Formeln Gefahr,
in Pedanterie auszuarten, außerdem lenkte das Streben nach Abstraktheit
und formaler Korrektheit leicht von den Aufgaben des wirklichen Lebens
ab und trug dem praktischen Sinn nicht genügend Rechnung. Die steigen-
den Anforderungen des praktischen Lebens sind es auch gewesen, die in un-
serer Zeit dem im Zeitalter der Romantik geradezu verschrieenen Utilitarismus
eine steigende Bedeutung verliehen haben. Das Ideal der reinen Wissenschaft-
lichkeit ist heute in der Schulerziehung erschüttert und die Forderung einer
Schulung für das Leben immer kräftiger hervorgetreten.
Die Mathematik hat an den höheren Schulen einen leichteren Stand, wenn
sie sich auf ihren formalen Bildungswert berufen kann, als wenn sie mit dem An-
spruch auftreten muß, einen realen Nutzen mit sich zu führen. Wenn sie früher
auch wohl gegen die Behauptung einseitiger Philologen ankämpfen mußte, daß
die Ausbildung im sprachlichen Ausdruck die unmittelbarste und wirksamste
Schulung des Denkens sei, so ist es doch schwerer nachzuweisen, wie die
Mathematik, die der Schüler auf dem Gymnasium lernt, später im Leben Ver-
wendung finden kann. So ist die Stellung der Mathematik unter der Herr-
schaft eines formalen Bildungsideals eine nicht ungünstige gewesen; dagegen
war diese für die Naturlehre wohl die unglücklichste Epoche. Es entwickelte
sich die berüchtigte Kreidephysik, bei der schematische Figuren an der Tafel ^^^
das wirkliche Experiment ersetzten. Das mathematische Bild der Vorgänge ist Kreidephysik,
aber bei der Physik nicht der Ausgangspunkt, sondern der Zielpunkt. Es hat
nur die Bedeutung, daß sich in ihm eine große Menge wirklicher Erfahrungen
niederschlägt und abklärt.
Bei der Bewertung des mathematischen und naturwissenschaftlichen , ,
Unterrichts dürfen wir jedoch nie vergessen, wie weit er mit Notwendigkeit "nd Lehrfreiheit,
durch die Lehrpläne bestimmt war. Diese Lehrpläne sind erst nur als allge-
meine Richtlinien gedacht gewesen, allmählich ist aber immer größerer
Nachdruck auf ihre strenge Innehaltung gelegt worden. Dieser steigende
Zwang ist zum großen Teil der Befürchtung entsprungen, der Unterricht
könne zu weit getrieben oder auf falsche Bahnen gelenkt werden. Durch diese
Einschnürung ist aber das geraubt worden, was eine unerläßliche Bedingrmg
für jeden gedeihlichen mathematischen Unterricht ist, eine gewisse Be-
wegungsfreiheit, die dem Lehrer gestattet, einem auftauchenden Interesse
der Schüler nachzugehen, ohne in jedem Augenblicke befürchten zu müssen,
sich mit bestehenden Bestimmungen in Widerspruch zu setzen. Gerade wenn
man den formalen Bildungswert der Mathematik in den Vordergrund stellt,
ist das Anregen der Schüler die Hauptsache und was sie im besonderen
lernen dagegen Nebensache.
1 38 A H. E. Timerding : Die Verbreitung mathemat. Wissens u. mathemat. Auffassung.
Durch den starren Zwang der Lehrpläne kam aber in den mathemati-
schen Schulunterricht eine gewisse Unaufrichtigkeit hinein. Man trieb die ver-
botenen Lehrgegenstände doch, nur unter anderem Namen und mit verkappten
Methoden. Dies ist auch die Signatur der reichen Lehrtätigkeit, die Schell-
bach seit 1834 in Berlin entfaltet hat. Er vermeidet die Methoden der ana-
lytischen Geometrie ebenso wie die der Infinitesimalrechnung, weil sie ver-
boten sind, behandelt dem Gegenstande nach aber doch dasselbe und bildet
zu dem Zwecke ein sinnreiches, verwickeltes System aus. Die mathematische
Behandlung der Physik, insbesondere der Mechanik, wurde mit Liebe und
Sorgfalt gepflegt, aber statt der einheitlichen, organischen Methoden, die sich
in der wissenschaftlichen P'orschung seit der Zeit Leibniz' und der Bemoulli
eingebürgert hatten, werden wieder die besonderen, von Fall zu Fall wech-
selnden Verfahren, auf die man vor der Entdeckung der Differential- und
Integralrechnung angewiesen war, den behördlichen Vorschriften zuliebe zu
einem kunstvollen Gewebe ausgesponnen.
Baitzers Vielleicht in der größten methodischen Vollendung prägt sich der prin-
MlThemaar zipiellc Standpunkt, auf dem der mathematische Unterricht an den höheren
Schulen um die Mitte des 1 9. Jahrhunderts stand, in den „Elementen der Mathe-
matik" von Baltzer aus, die von 1 860 an erschienen sind und einen großen Einfluß
auf den Unterricht gewonnen haben. Für Baltzer ist wohl weniger der Zwang
bestimmter Lehrpläne, als der Gedanke einer reinlichen Scheidung von niederer
und höherer Mathematik maßgebend gewesen, und das ganze Buch trägt den
Stempel einer großen methodischen Klarheit. Zum Prinzip der Abgrenzung
ist derselbe Gedanke verwertet, den 1864 Wittstein auf der Philologen Versamm-
lung in Hannover ausgesprochen hat, indem er der Schule die Teile der Mathe-
matik zuwies, die sich mit beständigen Größen beschäftigen, während alles,
was auf dem Begriffe des Veränderlichen beruhe, fortzulassen und der höheren
Mathematik der Universitäten vorzubehalten sei. Danach geht auch Baltzer
zu Werke. Er berücksichtigt die neueren mathematischen Forschungen in einer
solchen Abgrenzung und Form, wie sie sich in diesen Plan einzufügen scheinen.
Die durch Poncelet und Steiner begründete neuere Geometrie wird in der Art
behandelt, daß nicht die gegenseitigen Beziehungen der Gesamtheiten aller
Punkte, die auf einer geraden Linie oder in einer Ebene liegen, oder der
Strahlen, die in einer Ebene oder im Raum durch einen Punkt gehen, in
Betracht gezogen werden, sondern daß nur von den Beziehungen zwischen
einer endlichen Anzahl von Punkten oder geraden Linien oder von zwei geo-
metrischen Figuren die Rede ist. Der Koordinatenbegriflf, auf den sich die
analytische Geometrie gründet, wird wohl berücksichtigt, aber die syste-
matische Betrachtung der Kurven als Ausdruck einer funktionalen Beziehung
zwischen den Koordinaten wird vermieden. Mit dem Begriffe der Veränder-
lichen und der Funktion sind auch die Methoden der Infinitesimalrechnung
ausgeschlossen. Charakteristisch ist die Behandlung der Algebra. Der so-
genannte Fundamentalsatz der Algebra, der die Existenz der Wurzeln
einer gegebenen Gleichung behauptet, muß vermieden werden, weil er nur
VIII. Die Ausgestaltung des modernen mathematischen Bildungswesens. A 139
auf Grund des Kontinuitätsbegriffes zu beweisen ist. Daher muß die Behand-
lung der Algebra so vor sich gehen, daß unmittelbar die Werte der Un-
bekannten abgeleitet werden, die der Gleichung tatsächlich genügen. Dies
gelingt auf theoretischem Wege unmittelbar bei den Gleichungen dritten und
vierten Grades und bei einigen Gleichungen höheren Grades. Bei den
anderen Gleichungen muß man durch praktische Annäherungsmethoden zum
Ziel zu gelangen suchen.
Für eine solche Abtrennung der Elementarmathematik, wie sie Baltzer ver- Abgrenmng
sucht, scheint von vornherein manches zu sprechen. Sie beruht auf der mathematik.
Scheidung der diskreten und kontinuierlichen Größen. Diese sind in
der Tat so wesensverschieden, daß nur ein Saltomortale der Vernunft von
den einen zu den anderen hinüberzuführen scheint. Wie groß die Schwierig-
keit des Überganges ist, haben wir erst in der neuesten Zeit voll zu begreifen
gelernt. Diese Scheidung muß in der Tat vom rein theoretischen Standpunkte
aus die Mathematik in zwei getrennte Teile auseinanderreißen. Aber wenn man
damit eine Scheidung nach dem Grade der Schwierigkeit begründen will,
so ergibt sich etwas Unmögliches. Die moderne Zahlentheorie müßte ganz
dem elementaren Teil zugewiesen werden. Dabei erweist es sich bei vielen
Fragen, die hierhin gehören, z. B. der großen Aufgabe der Bestimmung der An-
zahl von Primzahlen unter einer gegebenen Grenze, doch wieder als unmöglich,
die Hilfsmittel der Infinitesimalrechnung zu vermeiden. Vollends für den
Schulunterricht ist eine solche Scheidung ganz undenkbar. Es ist vielleicht
unmöglich, die exakte Begründung der Kontinuität auf der Schule zu geben,
aber ebenso unmöglich ist es, den Begriff der stetigen Veränderung zu ver-
meiden. Wie sollte man ohne ihn überhaupt die Bewegung behandeln? Auch
die Fläche des Kreises, ja der Inhalt der Pyramide und alle ähnlichen Fragen
lassen sich nicht, ohne die Infinitesimalmethoden in irgendeiner Form hinein-
zuziehen, erledigen. Die alte griechische Exhaustionsmethode desEudoxos ist
nichts anderes als eine besondere Infinitesimalmethode. Auch in ihr steckt der
Grenzübergang, der das Wesen der infinitesimalen Prozesse ausmacht. So wird
tatsächlich auch bei Baltzer der Prozeß des Grenzüberganges nicht vermieden,
wenn er auch unter der Maske einer endlichen Größenfolge auftritt. Es ist schon
durch die Flächenmessung und die Stereometrie, aber viel mehr noch die Be-
dürfnisse der Physik dem mathematischen Schulunterricht die unabweisbare
Pflicht auferlegt, auch diese Gegenstände zu berühren, und wenn die Mathe-
matik ihre allgemeinbildende Bedeutung wirksam zeigen soll, so kann sie es
nur mit Hilfe der Begriffe der stetigen Veränderungen und ihrer gegen-
seitigen Abhängigkeiten tun, die das Wesentlichste bilden, was sie für die
allgemeine Auffassung der Vorgänge in der Umwelt zu leisten vermag.
Die Bestimmung des Schulstandpunktes kann demnach nicht so getrof- Abgrenzung
fen werden, daß alles beiseite gelassen wird, was sich von der Mathematik mathematik.
nicht von vornherein mit voller Strenge behandeln läßt, sondern man muß
die Forderungen an die Strenge der Betrachtung anders bemessen. Strenge
im mathematischen Unterricht heißt nicht, daß man alles beweist, soweit es sich
I AO A H. E. Timerding: Die Verbreitung mathemat. Wissens u. mathemat. Auffassung.
überhaupt beweisen läßt, sondern daß man klar zum Ausdruck bringt, was man
bewiesen hat und was nicht. Eine Unwahrheit und Unehrlichkeit lag aber darin,
daß im mathematischen Schulunterricht alle die verbotenen Begriffe behan-
delt wurden, ohne sie beim rechten Namen zu nennen; durch die verhüllten
Definitionen und Beweise kam auch eine wirkliche Unklarheit hinein, in fast
allen sogenannten elementaren Beweisen sind Ungenauigkeiten enthalten, die
dem Schüler verborgen gehalten werden, indem man ihm eine völlige Exakt-
heit der Entwicklung vortäuscht. Darum ist es viel besser, von vornherein
klar zu sagen, daß man auf der Schule nicht die Mindestzahl voneinander un-
abhängiger Behauptungen, aus denen alle anderen Behauptungen durch bloße
logische Schlüsse folgen, erreichen kann, daß man vielmehr auch solche Sätze
empirisch einführt, die in Wirklichkeit bloße Folgerungen aus anderen be-
reits bekannten Sätzen sind. Der ganze Standpunkt der Schulmathematik ist
ein anderer wie der der wissenschaftlichen Mathematik. Wir begnügen uns
mit der Stufe des Erkennens, die wir auch in der Physik haben, wo wir un-
bedenklich als wahr hinnehmen, was uns die Erfahrung als tatsächlich richtig
zeigt. Die Mathematik, die wir auf der Schule treiben können, ist sozusagen
eine physikalische Mathematik, weil sie nur die sichere Feststellung der Sätze,
nicht aber die möglichst vollständige Bloßlegung ihres logischen Gefüges er-
strebt. Dies läßt sich am einfachsten an dem Begriffe des Flächeninhalts er-
läutern. Daß eine ebene geschlossene Linie eine Fläche von bestimmtem Inhalt
umgrenzt, wird auf der Schule stets als selbstverständlich hingenommen. Vom
abstrakt mathematischen Standpunkt aus ist es aber keineswegs selbstver-
ständlich. Beispielsweise wird der naiven Auffassung der Flächeninhalt des
Kreises als unmittelbar gegeben erscheinen, weil dieser Flächeninhalt von
dem unbefangenen Verstände nicht rein mathematisch, sondern physikalisch,
etwa als die Masse oder das Gewicht einer kreisförmigen Scheibe, auf-
gefaßt wird.
Der FoTjktions- Man kann es nun wirklich nicht für angebracht halten, über diese physi-
GrapH^^he kalischc Auffassung auf der Schule hinauszugehen, weil sonst z. B. die Be-
DarsteUungen. haudluug dcs Kreisinhaltcs unter normalen Verhältnissen geradezu unmöglich
werden würde. So ist man von vornherein auf einen Kompromiß angewiesen.
Wenn man diesen Kompromiß aber schließt, so ist die Auffassung der mathe-
matischen Größen als fließend und veränderlich, wie schon Herbart hervor-
gehoben hat, eine der lebendigsten und fruchtbarsten. Sie ist auch das, was
sich auf das spätere Leben des Schülers als eine allgemeine Betrachtungs-
weise der Umwelt am leichtesten übertragen läßt. Die graphische Darstellung
funktionaler Abhängigkeiten von empirischen Größen ist, wie wir sahen, schon
im 14. Jahrhundert systematisch entwickelt worden, und man hatte schon da-
mals ihre weittragende allgemeine Bedeutung richtig erkannt, wenn auch im
scholastischen Geiste nur begrifiFlich verfolgt. Es erscheint befremdlich, daß
sie erst fünf Jahrhunderte später in die höhere Schulbildung einzuziehen be-
ginnt. Heute freilich ist sie zu allgemeiner Anerkennung durchgedrungen und
die graphischen Darstellungen funktionaler Abhängigkeiten, ob sie nun aus der
VIII. Die Ausgestaltung des modernen mathematischen Bildungswesens. A 141
Erfahrung stammen oder aus einer mathematischen Formel abgeleitet werden,
nehmen in allen modernen Lehrbüchern einen breiten Raum ein.
Mit der Behandlung des FunktionsbegrifFes stehen in Zusammenhang die
Infinitesimal-
immer weiter um sich greifenden Bestrebungen, der eigentlichen Infinitesimal- rechnung aaf
rechnung, der Differential- und Integralrechnung (dem „Calculus", wie die
Engländer kurz sagen) an unseren Schulen, insbesondere an den Oberreal-
schulen, an denen der Mathematikunterricht naturgemäß viel weiter gehen
kann, Eingang zu verschaffen. Die Behandlung der Infinitesimalrechnung
auf der Schule wird geradezu als das Kennzeichen der Reformbewegung
angesehen. Was aber einzelne übereifrige Stürmer hierin erstreben, darf nicht
auf Rechnung der eigentlichen Urheber der Bewegung gesetzt werden.
Nur die Infinitesimalb e griff e gehören unbedingt an die Schule, weil sie sowohl
für die Ausgestaltung des Mathematikunterrichtes fruchtbringend, wie auch
für das Verständnis der physikalischen Vorgänge unentbehrlich sind. Eine
Übung in der eigentlichen Infinitesimalrechnung dagegen, die über die ersten
Elemente hinausgeht, kann nur für die künftigen Naturwissenschaftler und
Ingenieure von Wert sein, die aber später Gelegenheit haben, sie besser
und gründlicher zu lernen als das auf der Schule möglich ist. Sie würde den
Mathematikunterricht in einer ungebührlichen und unmöglichen Weise
belasten. Nur soviel ist nötig, daß an den einfachsten Funktionsbeispielen
die Bedeutung der Begriffe und ihre Verwendung in einzelnen wichtigen Auf-
gaben hinreichend klar hervortritt.
Nicht um eine Ausdehnung der früheren Lehrgegenstände , sondern um
ihre Umwandlung im Sinne einer engeren Beziehung zu der Wirklichkeit
und den praktischen Aufgaben der Mathematik, nicht um Ergänzungskurse,
die auf den früheren Unterricht aufgesetzt werden, sondern um eine durch-
laufende Durchdringung des ganzen Unterrichts mit den modernen Begriffen
der Mathematik, die aus ihr das wichtigste Werkzeug zur Erkenntnis und Be-
herrschung der Natur gemacht haben, darum handelt es sich. Diese Forde-
rungen sind nicht willkürlich ersonnen, sie ergeben sich mit Notwendigkeit
aus der Entwicklung unserer Zivilisation.
Die Triebfeder zur erneuten stärkeren Betonunsr der Wirklichkeit der
° EinfloB
reinen Idealbildung gegenüber lag ja in der seit der Neugründung des deutschen der steigenden
Reiches mächtig angestiegenen äußeren Kultur. Dies zeigt sich schon in der "'"^a'if/den ^^
Art, wie die ersten Ansätze zu einer Reform des mathematischen Unterrichtes Unterricht
aufgetreten sind. W. Gallenkamp, Direktor einer Gewerbeschule in Berlin,
verlangte auf der Schulkonferenz von 1873 die Aufnahme der Elemente der
analytischen Geometrie und der Differentialrechnung mit der Begründung,
daß nur so eine Vorstellung von der großen Kulturarbeit auf dem Gebiete der
Naturwissenschaft erweckt werden könne. Es ist der Kulturgedanke, der ent-
scheidend in den Vordergrund tritt. Die hohe Einschätzung der Naturwissen-
schaften war eben das erste Merkmal, durch das sich die verwandelten Anschau-
ungen über Wesen und Wert der Kultur offenbarten. Der gleiche Gedanke
wie bei Gallenkamp liegt auch der 1877 gehaltenen Rede von E. Du Bois-
Entwicklung.
142 A HE. Timerding: Die Verbreitung mathemat. Wissens u. mathemat. Auffassung.
Re)niiond zugrunde, der ebenfalls die Aufnahme der analytischen Geometrie
in den Lehrplan der höheren Schulen empfahl. „Das Studium der Mathematik",
sagte er, „entfaltet seine bildende Kraft vollauf erst mit dem Übergang von
den elementaren Lehren zur analytischen Geometrie. Unstreitig gewöhnt schon
die einfachste Geometrie und Algebra den Geist an scharfes quantitatives
Denken; die Darstellung von Funktionen in Kurven oder Flächen aber er-
öffnet eine neue Welt von Vorstellungen und lehrt den Gebrauch einer der
fruchtbringendsten Methoden, durch welche der menschliche Geist seine eigene
Leistungsfähigkeit erhöhte. Diese Art, den Zusammenhang der Dinge sich vor-
zustellen, ist dem Verwaltungsbeamten, dem Nationalökonomen so nützlich
wie dem Physiker und Meteorologen. Vollends die Medizin kann diese Methode
nicht entbehren." Man sieht, wie energisch der in der romantischen Epoche
streng verpönte Nützlichkeitsgedanke jetzt wieder bei einem der führenden
Geister, der dabei durchaus für das alte griechische Gymnasium eingenommen
ist, hervortritt.
Langsame Aber alle diese Ideen blieben zunächst ohne weitergehende Wirkung. Der
neue preußische Lehrplan von 1882 z.B. nahm auf sie keine Rücksicht, außer
daß er zugab, von der sphärischen Trigonometrie könne soviel aufgenommen
werden, als zum Verständnis der mathematischen Geographie diene, auch könn-
ten Elemente der Lehre von den Kegelschnitten analytisch behandelt werden,
wobei es selbst möglich sei, eine Vorstellung von den Differentialquotienten zu
geben, nur dürfe der Schüler sich nicht einbilden, analytische Geometrie oder
Differentialrechnung bereits kennen gelernt zu haben. Erst der Lehrplan von
1 892 verlangte, die Schüler in den obersten Klassen in den besonders wichtigen
Koordinatenbegriff einzuführen und ihnen in möglichst einfach gehaltener Dar-
stellung einige Grundeigenschaften der Kegelschnitte klarzumachen. Die eigen-
tümliche Ansicht, daß die wesentlichste und nächstliegende Anwendung der
Koordinaten die Kegelschnitte seien, ist in den Kreisen der Schulmänner immer
noch verbreitet. Der Grund ist allein der, daß mit dem üblichen Festhalten
an einer einmal entstandenen Gewohnheit die elementaren Lehrbücher der
analytischen Geometrie sie allein behandeln. Die wirkliche Bedeutung der
analytischen Geometrie für die Schule liegt aber vielmehr in der Erschließung
des Funktionsbegriffes. Dieser Gesichtspunkt ist erst in den preußischen
Lehrplänen von igoi hervorgetreten, die mit der nunmehr unumwunden an-
erkannten Gleichberechtigung der drei Arten höherer Schulen (humanistisches
Gymnasium, Realgymnasium, Oberrealschule) zugleich herausgekommen sind,
indem es heißt, daß den Schülern ein eingehendes Verständnis des Funktions-
begriffes, mit dem sie schon auf früheren Stufen bekanntgeworden sind, zu
erschließen ist. Hinter den Lehrplänen, die jeweils der am höchsten stehenden
Auffassung entsprechen, blieb aber der Durchschnittszustand des Unterrichtes
zurück. Wenn einzelne Lehrer an ihren Anstalten auch den Unterricht
in fortschrittlichem Sinne gestalteten, die Wirkung davon drang nicht in
weitere Kreise. Ebenso erweckten auch die zahlreichen auf die Verbesserung
des mathematischen Unterrichts hinzielenden Aufsätze in den in Betracht
VIII. Die Ausgestaltung des modernen mathematischen Bildungswesens. A 143
kommenden Zeitschriften, insbesondere der Hoffmannschen Zeitschrift für
mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterricht, wohl einen gewissen
Nachhall in den beteiligten Kreisen, aber sehr weit reichte ihre Wirkung
auch nicht. Wichtiger war schon die Gründung eines „Vereins zur Förderung
des Unterrichts in der Mathematik und den Naturwissenschaften", in dem von
vornherein die Beziehung der Mathematik zur Physik bedeutungsvoll hervortrat
wobei die auf der Vorversammlung in Jena 1890 hervorgetretene Forderung,
der Mathematikunterricht müsse sich ganz an der Physik orientieren, bei der
Tagung in Braunschweig 1891 einer maßvolleren Auffassung Platz machte. Die
Die dort formulierten Leitsätze drücken treffend die Mehrzahl der Gesichts- ^''b"^°'^ü33J"
punkte aus, die von nun an für die Bewegung im mathematischen Unterricht
kennzeichnend sind. Sie lauten: „Die Schüler höherer Lehranstalten
sind im allgemeinen noch zu wenig imstande, das Mathematische in den
sich ihnen im Leben darbietenden Erscheinungen zu erkennen. Die Ursache
davon ist vorzugsweise in dem Umstände zu suchen, daß die Anwendungen
der mathematischen Theorien vielfach in künstlich gemachten Beispielen
bestehen, anstatt sich auf Verhältnisse zu beziehen, welche sich in der Wirk-
lichkeit darbieten. Daher muß das System der Schulmathematik von vorn-
herein, unbeschadet seiner vollen Selbständigkeit als Unterrichtsgegenstand,
im einzelnen mit Rücksicht auf die sich naturgemäß darbietende Verwendung
(Physik, Chemie, Astronomie und kaufmännisches Rechnen) aufgebaut werden.
Die demgemäß heranzuziehenden Beispiele sollen die Schüler in solchem
Grade daran gewöhnen, in dem sinnlich Wahrnehmbaren nicht nur Quali-
tatives, sondern auch Quantitatives zu beobachten, daß ihnen eine solche Be-
obachtungsweise dauernd zum unwillkürlichen Bedürfnis wird."
In eine neue Phase trat die Bewegung, als F. Klein die ganze Macht seiner Fortschreiten
Persönlichkeit für eine zeitgemäße und segenbringende Ausgestaltung des reform (F. Klein).
mathematischen Unterrichtes einsetzte. Er begann mit der Arbeit für den Lehr-
betrieb der Hochschulen im Sinne einer engen Fühlungnahme der rein wissen-
schaftlichen Ausbildung mit den Aufgaben der Praxis. Durch die Göttinger
Ferienkurse 1900 und 1904 wurde die gehörige Einschätzung der „mathe-
matischen Exekutive", die Anerkennung der Bedeutung, welche die Mathe-
matik für die Bewältigung praktischer Aufgaben besitzt, gegenüber den über-
wiegenden theoretischen Interessen der Berufsmathematiker energisch betont.
Die Anwendungen der Mathematik sollten nicht als etwas Zufälliges und Neben-
sächliches, sondern als eine zielbewußte und methodische Ausführung be-
stimmter Teile der mathematischen Forschung erscheinen. Ihren Ausdruck
fanden diese Bestrebungen in der Schaffung eines besonderen Lehrfaches
für angewandte Mathematik durch die Prüfungsordnung von 1898. Unter
angewandter Mathematik wird dabei nicht eine einheitliche Wissenschaft ver- wiederhervor-
standen, auch nicht, was früher darunter begriffen wurde, sondern eine Zu- „angewandten
sammenfassung von darstellender Geometrie, technischer Mechanik und Geo- Ma*'>«°>='ti''"-
däsie. Besonders die Universität Göttingen hat diese angewandte Mathematik
zusammen mit der angewandten Physik in hoher Vollendung ausgebildet.
144 -^ H.E. Timerding : Die Verbreitung mathemat. Wissens u. mathemat. Auffassung.
Jena, Straßburg u. a. m. sind ihr nachgefolgt. Anderseits sind noch manche
Widerstände zu überwinden. Auf vielen Universitäten wurde die Lehrtätig-
keit in der angewandten Mathematik jüngeren Dozenten übertragen, deren
wissenschaftliche Interessen bisweilen weit von diesem Gebiete ablagen.
Die Schuldirektoren selbst legen Gewicht darauf, daß der Lehramtskandidat
sich in möglichst verschiedenen Lehrgebieten ein Zeugnis erwirbt, damit er
im Unterricht vielseitige Verwendung finden kann. Von diesem Gesichts-
punkte aus erwachsen der angewandten Mathematik als besonderem
Lehrfach Schwierigkeiten, da sie dazu beiträgt, den Lehrer nicht über sein
engeres Gebiet hinauskommen zu lassen, und doch ist sie notwendig,
wenn der Mathematiklehrer wirklich wissen soll, was er für den Unterricht
braucht.
Von Rechts wegen müßte jeder Mathematiklehrer die zeichnerischen
und rechnerischen Methoden beherrschen. Aber bei dem Lehrbetrieb unserer
Universitäten ist dies nur möglich, wenn für ihre Beherrschung eine besondere
Lehrbefahigung erteilt wird. So ist die Prüfung in der angewandten Mathe-
matik doch unerläßlich für eine gedeihliche Entwicklung des mathematischen
Unterrichts. Es ist zu hoffen, daß die ihr entgegenstehenden Hemmungen mit
der Zeit überwunden werden und sie sich nach jeder Seite befriedigend aus-
gestalten läßt. Gerade der Lehrer soll das Band gehörig kennen und schätzen,
das die Mathematik mit der Wirklichkeit verknüpft, sowohl der Wirklichkeit, die
wir als von unserem Willen unabhängig in der Natur erkennen, als der Wirklich-
keit, die der Mensch in seinem wirtschaftlichen Leben und seiner gewerb-
lichen Tätigkeit selbst schafft.
Die französische Die Einsicht in die Bedeutung der Mathematik für die exakte Natur-
^"reform.*^ erkenntnis und die moderne Kultur, wie sie F. Klein zusammenfassend formu-
liert, hatte die französische Unterrichtsreform von 1902 geleitet.
Die zeitgemäße Ausgestaltung des mathematischen Unterrichts, die bei
uns in Deutschland mühsam und allmählich sich durchkämpfen mußte, ist in
Frankreich viel leichter und glatter vonstatten gegangen. Die französische Aus-
bildung ist darin von der unseren wesentlich verschieden, daß sie zwischen
Schule und Universität eine Zwischenstufe einschiebt, die eine besondere Vor-
bildung für den Beruf bedeutet und zu dem Bakkalaureat führt. Diese Zwischen-
stufe wurde i8go auf ein Jahr „Philosophie" oder „Elementarmathematik" be-
schränkt. Im übrigen war die Schulbildung noch allen Berufen gemeinsam. Die
Unterrichtsreform von 1Q02 brachte darauf eine weitergehende Teilung, nach
einer vierjährigen Vorschule zwei vierjährige Kurse, einen humanistischer und
einen realistischer Richtung, und sodann in einem darauf gesetzten zwei-
jährigen Kursus sogar eine Vierteilung (Latein-Griechisch, Latein-Neu-
sprachen, Latein -Naturwissenschaften, Naturwissenschaften -Neusprachen).
Darauf folgt gegebenenfalls die Mathematikklasse mit acht Stunden Mathe-
matik.
Die Unterrichtsreform wurde 1902 auf einen Schlag ausgeführt. Da sie
aber von Vertretern der Wissenschaft, die dem Schulbetrieb fernstanden, aus-
VIII. Die Ausgestaltung des modernen mathematischen Bildungswesens. A 145
geführt war, setzten sich ihr doch praktische Schwierigkeiten entgegen,
welche die Schulmänner zu einem Einschreiten veranlaßten und 1905 zu neuen
praktischeren Lehrplänen führten. Die leitende Idee der Reform war, den Na-
turwissenschaften und den lebenden Sprachen einen möglichst breiten Raum
zu gewähren, damit der dem technischen oder naturwissenschaftlichen Stu-
dium sich widmende Schüler beim Verlassen der Schule in den Stand gesetzt
sei, die vielfachen technischen Anwendungen, die ihm vom Anfang seiner Lauf-
bahn an begegnen, zu verstehen und der von Tag zu Tag zunehmenden wirt-
schaftlichen Bewegung nicht fremd zu bleiben. Der Teilung der zwei aufein-
anderfolgenden Kurse soll auch eine Verschiedenheit der Methode ent-
sprechen, der Unterricht im ersten Kursus soll so anschaulich wie möglich
sein, die wissenschaftliche Abklärung soll dann im zweiten Kursus erfolgen.
So soll die Geometrie im ersten Kursus die Begriffe der geraden Linie, der
Ebene, der parallelen Linien usw. auf experimentellem Wege einführen, jedes
neue Element soll von einer genauen Konstruktion mit Zirkel und Lineal
begleitet sein, das geometrische Zeichnen tritt von Anfang an dem geome-
trischen Unterricht helfend zur Seite. Es wird in den realistischen Abteilungen
bis zum technischen Maschinenzeichnen und den Methoden der darstellenden
Geometrie durchgeführt. Die graphischen Darstellungen spielen eine wichtige
Rolle. Das Eingehen auf die Infinitesimalrechnung beschränkt sich auf den
Begriff des Differentialquotienten im zweiten Kursus und die Einführung
des Integrals als Flächeninhalt, dessen Differentialquotient die Ordinate der
ursprünglichen Kurve wird, in der Mathematikklasse.
Auf die praktische Anwendung wird, der vorwiegend theoretischen Nei-
gung der Franzosen entsprechend, weniger Rücksicht genommen. An die
Ausbildung der Sekundärschule schließt sich noch die Klasse der Math6-
matiques speciales, die z. B. den Übergang zur Pariser polytechnischen Schule
vermittelt; der Lehrstoff dieser Klasse wird aber auch in besonderen Vor-
lesungen „über allgemeine Mathematik" in den Universitäten behandelt. Er
entspricht im großen und ganzen dem, was bei uns an den technischen Hoch-
schulen in der Mathematik vorgetragen wird.
Die französische Unterrichtsreform fand in den deutschen Gebieten
ihren Widerhall. Die veränderte Auffassung des mathematischen Unter-
richts zeigte sich deutlich in den auf der Naturforscherversammlung in
Meran 1905 gefaßten Beschlüssen, die nicht mehr die Äußerung einer be- oje Meraoor
stimmten Partei oder engeren Interessengruppe sind, sondern die ausge- i'^^^rpi»»«
glichenen Vorschläge aller beteiligten Kreise bedeuten. Dieser Gedanke einer
gemeinsamen Arbeit der sämtlichen interessierten Fachkreise hat eine Fort-
führung gefunden in dem von den verschiedenen mathematischen, natur-
wissenschaftlichen und medizinischen Gesellschaften Deutschlands 1908 ein-
gesetzten Deutschen Ausschuß für mathematischen und naturwissenschaft- untemchts-
lichen Unterricht, dem der für die parallelen Aufgaben im technischen Lehr- »"^^hüsse
betrieb 190g gegründete Deutsche Ausschuß für technisches Schulwesen
gegenübersteht. Für den mathematischen Unterricht insbesondere ist von der
K.d.G. in, 1. Mathematik, A. lO
lAÖ A H. E. Timerding: Die Verbreitung mathemat. Wissens u. mathemat. Auffassung.
größten Bedeutung die auf dem internationalen Mathematikerkongreß in
Rom 1908 ins Leben gerufene Internationale Mathematische Unterrichts-
kommission geworden, deren internationale Berichterstattung über den Be-
trieb und die Aufgaben des mathematischen Unterrichts in dem vollen Um-
fang seiner Ausdehnung das Material für eine zweckmäßige Organisation des
ganzen mathematischen Unterrichtswesens schafft. Die Mathematik hat da-
durch mehr als eingeholt, was in ihr hinsichtlich ihrer didaktischen Ausarbei-
tung versäumt worden war. Bei der geringen Fühlung, die in Deutschland
vielfach zwischen der Verwaltung und den weiteren Fachkreisen besteht, sind
wir leider auf die literarische Agitation angewiesen. Diese Agitation hat
aber jetzt schon angefangen ihre Früchte zu tragen; die neuerschienenen
Lehrpläne beginnen der zeitgemäßen Ausgestaltung des mathematischen
Unterrichts gebührend Rechnung zu tragen.
Der moderne Dcr Umschwung der Anschauungen, der so im mathematischen Unter-
standpunkt. j.-^^^^ gcgcn die um die Mitte des vorigen Jahrhunderts herrschende Auffas-
sung allmählich eingetreten ist, ist der denkbar größte. Damals galt es geradezu
als verpönt, auf die Wirklichkeit anders Bezug zu nehmen, als um eine nütz-
liche Denkübung daraus abzuleiten, jetzt sollen alle Probleme an der Wirklich-
keit orientiert sein. Das Denken soll sich wohl entwickeln, aber es soll den
Schüler nicht in leere Phantasiegebilde entführen, sondern ihn nur fester an
die Erfassung der praktischen Aufgaben ketten. Wir sind allerdings noch weit
davon entfernt, daß dieser ideale Zustand bereits allgemein zur Tatsache ge-
worden wäre.
Der Immerhin tragen die neuen Lehrpläne den modernen Bestrebungen bereits
"untrtSchran ^^ anerkennenswerter Weise Rechnung. Als ein Beispiel hierfür können wir
den preußischen (^[q ncucn prcußischcn Bestimmungen für die höheren Mädchenschulen an-
Mädchenschulen. ,,.. , 11«- -ji
führen. Die Maibestimmungen von 1 894 hatten noch aus der höheren Madchen-
schule die Mathematik ganz fortgelassen und den Rechenunterricht auf die
elementarsten Aufgaben beschränkt. Maßgebend war hierbei der Gedanke,
daß beim Knaben mehr der Verstand und Wirklichkeitssinn überwiege, beim
Mädchen mehr das Gemüt und die Phantasie. Die Erziehung des Mädchens,
die ja nicht als Vorbereitung für einen bestimmten Beruf, sondern für die
Stellung der gebildeten Hausfrau berechnet war, solle die ihr eigentümlichen
Eigenschaften pflegen, und dazu diene die literarisch -ästhetische Bildung
besser als die Kenntnis mathematischer Lehrsätze und physikalischer Vor-
gänge. Dagegen wurde von Seiten der Frauen sehr mit Recht geltend ge-
macht: Wenn die weibliche Natur wegen ihrer starken Anlage nach der Ge-
fühlsseite hin dem folgerichtigen Denken mehr Hindernisse bietet als die
männliche, sei dies um so mehr Grund, im Mädchenunterricht die Fächer zu
betonen, die eine straffe Verstandesschulung hervorzubringen geeignet sind.
Man könne überhaupt kein Urteil über die mangelnde Befähigung der Frau
für die Mathematik abgeben, wenn man sie von aller Beschäftigung mit der
mathematischen Wissenschaft methodisch fernhalte. Wo der Versuch gemacht
worden, sei der Erfolg günstig genug gewesen {Frauenbildung^ 3. Jahrg. 1 904,
VIII, Die Ausgestaltung des modernen mathematischen Bildungswesens. A 147
S. 49, Vortrag von Doblin in Danzig). Unter dem Ansturm der immer mäch-
tiger anschwellenden Bewegung für die geistige Emanzipation der Frau trat zu
Beginn unseres Jahrhunderts denn auch in der Auffassung der Behörden ein
Umschwung ein, der seinen Ausdruck in den Augustbestimmungen von 1908
fand. Die Mathematik zog an den preußischen Mädchenschulen ein, ein Vor-
gang, der sich mit geringen Phasenverschiebungen in fast allen Kulturstaaten
wiederholte. Diese Aufnahme der Mathematik in die Mädchenbildung ent-
schied eigentlich die geistige Stellung der Frau, und es bestätigte sich so
wieder, wie sehr doch die Mathematik im Mittelpunkt alles höheren Unter-
richtswesens steht.
Die Bestimmungen von 1Q08 zeichneten sich aber auch vorteilhaft aus,
trotz einiger Mängel in den Einzelheiten der Lehrpläne, durch die fortschritt-
liche Art, wie sie die Methodik des mathematischen Schulunterrichts auffaßten.
Den formalen Ballast, das mechanische Lösen gekünstelter Gleichungen, das
Vereinfachen besonders für diesen Zweck aufgebauter verwickelter Ausdrücke,
das Einlernen geometrischer Definitionen usw. suchten sie über Bord zu werfen,
dafür betonten sie die Anschaulichkeit und die feste Anknüpfung an die Wirklich-
keit. Sie empfahlen die Benutzung graphischer Darstellungen zur Einführung
in die arithmetischen Begriffe und Operationen, sie verlangten einen induktiven
Beginn des geometrischen Unterrichtes, mit reichlicher Übung im Zeichnen:
eine gute, saubere Ausführung der Zeichnungen sollte den ganzen Geometrie-
unterricht durchziehen. Die Sätze sollten auf induktivem Wege entwickelt
werden. Auf allen Stufen sollte den Anwendungen unter möglichster Selbst-
betätigung der Schülerinnen ein breiter Raum gewährt werden. Fortwährend
sollte jede Gelegenheit benutzt werden, den Schülerinnen die Bedeutung des
funktionalen Zusammenhanges klarzumachen. Die Gedanken der Reform-
bewegung sind so dem Wesen nach aufgenommen worden. Daß schließlich
in der Praxis nicht alles so ausfiel , wie es in dem Entwurf des Lehrplans ge-
dacht war, tut dessen Wert und Bedeutung keinen Abbruch.
Auch die neuen Lehrpläne der süddeutschen Staaten für die höheren Die neuen
Knabenschulen haben sich im Mathematikunterricht dem neuen Geiste gut an- blrgischln
gepaßt. Besonders beachtenswert sind diese Reformen bei Württemberg, weil Lehrpiäne.
Württemberg vorher das Schulwesen, das ihm die Reformation gebracht hatte,
mit großer Zähigkeit festhielt und nur ungern von der geheiligten Überlieferung
abwich. Daher war der mathematische Unterricht, der in diese Anschauungs-
weise schlecht hineinpaßte, dem Umfange und der Beschaffenheit nach zurück-
geblieben. Er spielte eine kümmerliche Rolle neben den sprachlich historischen
Fächern, die dem redefreudigen^ phantasiebegabten Schwaben an sich besser
liegen. Auch jetzt ist die Hinneigung zur philosophischen Durcharbeitung
ein charakteristischer Zug der aufgestellten Grundsätze für den mathema-
tischen Unterricht. In den oberen Klassen sollen philosophische Rückblicke
angestellt werden, welche womöglich im Anschluß an den Unterricht in der
Philosophie zu geben sind und besonders die in der Mathematik üblichen Be-
weismethoden und Schluß verfahren zum Gegenstand haben. Kräftig wird ferner
148 A H. E. Timerding: Die Verbreitung mathemat. Wissens u. mathemat. Auffassung.
betont die sprachliche Bedeutung der Mathematik, die Schüler an eine formal
und sachlich richtige, kurze und bestimmte Ausdrucksweise und Darstellung
zu gewöhnen. Ebenso soll auf die geschichtliche Entwicklung der mathema-
tischen Wissenschaft eingegangen werden. Aber auch Naturwissenschaften
und Technik sollen Berücksichtigung finden, Rechnung und Zeichnung sollen
gepflegt, das räumliche Anschauungsvermögen und die geometrische Vor-
stellungskraft ausgebildet werden. Dagegen ist ausdrücklich bemerkt, daß
bei den Gleichungen mit mehreren Unbekannten nur solche Beispiele be-
handelt werden sollen, die sich ohne besondere Kniffe lösen lassen, vermieden
sollen werden alle Konstruktions- und Berechnungsaufgaben, welche fern-
liegende Bestimmungsstücke enthalten, sowie solche, welche nur durch Kunst-
griffe gelöst werden können, unnatürliche Textgleichungen usw. Sehr weit,
weiter als es selbst den Führern der neuen Bewegung notwendig scheinen
dürfte, ist auf den württembergischen Realanstalten die Infinitesimalrechnung
und die darstellende Geometrie berücksichtigt. Die Realanstalten werden da-
durch etwas zu Vorbereitungsschulen für die technischen Berufe, was sie
eigentlich doch nicht sein sollen, sie sollen vielmehr eine allgemeine Bildung
auf Grund der realen Fächer und der neuen Sprachen geben.
Gegensatz der Ein Lehrplan ist aber verhältnismäßig leicht zu schaffen. Viel schwieriger
der^neuen ^^t CS, den Unterrichtsbctrieb umzugestalten. Ein guter Lehrer, dem die neuen
A.uffassung. Ideen vertraut geworden sind, wird auch im modernen Sinne unterrichten, aber
die älteren Schulmänner, die noch tief in den alten Anschauungen stecken, und
die vielen mittelmäßigen Pädagogen, die ihren Unterricht auf die bequemste
Art, ohne -allzuviel Bemühung um neue Wege und Ziele abzumachen suchen,
sind viel schwerer zu beeinflussen. Die Lehrer und Lehrbücher haben die
neuen Gedanken wohl aufgenommen, aber die alten darum nicht aufgegeben.
So herrscht zurzeit ein krasser Gegensatz in dem Unterrichte selbst. Rein formale
Übungen stehen zusammen mit Aufgaben des praktischen Lebens in so bunter
Mischung, daß schwer zu erkennen ist, wo die einen anfangen und die an-
deren aufhören. Der Gegensatz läßt sich vielleicht am besten an einem Bei-
spiel erläutern. Die linearen Gleichungen mit zwei Unbekannten bilden einen
Lieblingsgegenstand des formalen Mathematikunterrichtes und werden in un-
zähligen Aufgaben behandelt. Diese Aufgaben sind künstlich zurechtgemacht,
meist so, daß sie eine einfache Lösung ergeben, w^ie etwa die Gleichungen
^x -\- 2y= 12, 5x -{- 4y=' 22 die Lösung x= 2, y = 3. Die eigentlichen mathe-
matischen Probleme, nämlich einerseits die wirkliche Ausrechnung von linearen
Gleichungen mit mehreren Unbekannten auf die einfachste, sicherste und ge-
naueste Art, und ebenso auf der anderen Seite die theoretische Diskussion der
Fälle, wo die Lösung der Gleichungen unbestimmt ist oder die Gleichungen
sich widersprechen, bleiben dabei unberücksichtigt. Der Schüler muß diese
ihm vorgesetzten Gleichungen nur für eine pädagogische Erfindung halten,
ihren rechten Sinn kann er auch aus den Phantasieaufgaben, auf die sie an-
gewendet werden, nicht erkennen. Besser wird das schon, wenn die Glei-
chungen mit der analytischen Geometrie in Verbindung gebracht und im Falle
and Zeichnung.-
VIII. Die Ausgestaltung des modernen mathematischen Bildungswesens. A 149
zweier Unbekannten durch gerade Linien, die der Schüler auf Millimeter-
papier zeichnet, erläutert werden. So wird ihre Bedeutung anschaulicher und
der Schüler kann die Lösung sofort aus dem Schnittpunkt der beiden gezeich-
neten Linien entnehmen. Die wirkliche Vollständigkeit und Eindringlichkeit
wird aber erst erzielt, wenn man etwa den Schüler hinaus ins Feld führt und
ihm die Aufgabe stellt, aus zwei Kirchtürmen, die er erblickt und die auf
einer ihm vorliegenden Karte verzeichnet sind, den Ort zu bestimmen, an dem
er steht. Durch eine einfache Vorrichtung kann er die Himmelsrichtung be-
stimmen, in der die Kirchtürme liegen, und danach direkt in der Karte oder
auf Millimeterpapier durch die Punkte, an denen sich die Kirchtürme befinden,
zwei gerade Linien ziehen, deren Schnittpunkt seinen Standort liefert. Begleitet
er die Zeichnung dann noch durch eine Rechnung, so hat er so lebhaft und deut-
lich wie nur möglich erfahren, was zwei lineare Gleichungen mit zwei Un-
bekannten in Wirklichkeit bedeuten können.
Dieses Beispiel zeigt zugleich, wie Rechnung und Zeichnung das Rechnung
Rückgrat des ganzen mathematischen Unterrichtes bilden müssen.
Das Verständnis einer analytischen Formel wird nur dann richtig erschlossen,
wenn ihre praktische Verwendung an einem konkreten Beispiel gezeigt wird.
Deshalb hat der größte aller Mathematiker, Gauß, auf das Zahlenrechnen
einen sehr großen Wert gelegt und seine ungeheure Fertigkeit darin immer
weiter ausgebildet. Aber gerade unter den heutigen Mathematikern ist
vielfach die Auffassung vertreten, daß das Zahlenrechnen etwas Mechanisches
und Unwürdiges sei. Daß es ein im strengen Sinne wissenschaftliches Rechnen
gibt, wird dabei übersehen. Das einseitige logarithmische Rechnen, das wir
auf den oberen Klassen unserer Schulen ausschließlich treiben, gibt einen
falschen Begriff von dem Wesen des wissenschaftlichen Rechnens. Die
numerische Auflösung linearer Gleichungen, die Interpolation und die Auf-
stellung empirischer Formeln oder die Bestimmung der Konstanten in theo-
retischen Formeln in Zusammenhang mit der Praxis des Beobachtens und
Experimentierens bilden eine notwendige Ergänzung. Auch der Betrieb des
Zeichnens auf unseren Schulen ist einer Verbesserung noch vielfach bedürftig.
Daß von einem Zeichenlehrer geometrisches Zeichnen gegeben wird, nützt
nichts, wenn der Schüler gleichzeitig im mathematischen Unterricht die Figuren
zu seinen geometrischen Aufgaben nur mangelhaft ausführt und ihm nicht von
Anfang an ein Begriff von der wirklichen Praxis des geometrischen Zeich-
nens im engen Zusammenhang mit der mathematischen Entwicklung gegeben
wird. Die geometrischen Sätze bedeuten Tatsachen, die sich an der Erfahrung
durch die Herstellung einer genauen Zeichnung ebenso wie die physikalischen
Tatsachen durch Experiment und Beobachtung prüfen lassen. Wenn das aber
im Unterricht nie hervortritt, vielmehr die gleich unvollkommenen Zeichnun-
gen des Lehrers an der Wandtafel und des Schülers in seinem Heft nur als
Erklärung für die gebrauchten Bezeichnungen dienen, so ist der Schüler
trotz aller logischen Feinheit der Beweise nur zu geneigt, die ganzen Sätze
für eine Erfindung der Pädagogen zu halten, ihr Wert und ihre wirkliche Be-
1 50 A H. E. Timerding: Die Verbreitung mathemat. Wissens u. mathemat. Auffassung.
deutung dämmern ihm nicht auf. Wie rückständig hierin unser Schulunter-
richt ist, geht schon daraus hervor, daß die alten griechischen Konstruktions-
methoden vielfach noch unverändert beibehalten werden, trotzdem wir nicht
wie die Griechen auf einer mit Sand bestreuten Fläche oder einer Wachstafel,
sondern auf dem Papier mit Reißschiene und Dreiecken zeichnen. Kein ver-
nünftiger Mensch zeichnet eine parallele Linie, indem er mit Hilfe des Zirkels
ein Parallelogramm konstruiert, sondern einfach, indem er ein Zeichendreieck
an dem anderen entlanggleiten läßt. Der Schulunterricht darf nicht der Praxis
derart ins Gesicht schlagen.
Verbindung Gcwlß müsscu wir uns vor seichter Nützlichkeitskrämerei hüten und
rl^Jn MomrntM. ^^^f®^ uicht bci allem, was in der Schule getrieben wird, fragen, ob der
Schüler später Gelegenheit haben wird, das Gelernte praktisch zu verwerten.
Die Bedeutung des Mathematikunterrichtes als einer Schule des abstrakten
Denkens soll nicht unterschätzt und beseitigt werden. Aber das abstrakte
Denken braucht nicht an Aufgaben geübt zu werden, die jeder praktischen
Verwendbarkeit, allem realen Sinn Hohn sprechen. Abstraktes Denken be-
deutet nicht eine Abkehr von der Wirklichkeit, es bedeutet die Beherrschung
der Wirklichkeit durch die Kraft des Geistes. Gewiß behält der alte Gedanke
seine Bedeutung, daß, was auch der Schüler gelernt haben mag, wenn er seinen
Geist dadurch gebildet hat, er einen Gewinn mit ins Leben hinaus nimmt. Aber
gerade dadurch hat der Mathematikunterricht gefehlt, daß er sich so verhielt,
als ob der Schüler für den Beruf des Mathematikers ausgebildet werden sollte.
Die ganze Mathematik wurde einfach in zwei Teile geteilt, von denen der
leichtere der Schule, der schwerere der Universität zugeschoben wurde. Die
Scheidung wurde so methodisch wie möglich begründet, aber man vergaß
dabei, daß die Schulbildung in sich einen Abschluß bedeuten muß, weil ja
die Schüler nur in seltenen Fällen gerade die Mathematik als Lebensberuf
ergreifen werden. Die Frage durfte nicht so gestellt werden: was kann von
der mathematischen Fachausbildung der Schule zuerteilt werden? sondern:
was kann von der Mathematik innerhalb der für die Schule gesteckten Gren-
zen der allgemeinen Bildung dienen? Zur allgemeinen Bildung gehört nun
sicher nicht eine so ausgebildete Fertigkeit in der Ausführung algebraischer
Operationen und geometrischer Konstruktionen, wie man sie im Schulunter-
richt zu erreichen suchte. Welchen inneren oder äußeren Gewinn hat der
Schüler davon, wenn er einen komplizierten Wurzelausdruck reduzieren oder
ein Dreieck kunstfertig aus den Höhen oder den Mittellinien konstruieren
kann? Es läßt sich darauf nicht entgegnen, daß diese Fertigkeiten selbst gar
nicht ausgebildet werden sollen, sondern daß sie nur zur Einprägung all-
gemeiner mathematischer Wahrheiten dienen. Es wird in der Tat gar keine
Gewähr dafür geboten, daß der Schüler die Mathematik innerlich durch-
drungen hat, wenn ihm die Lösung bestimmter Aufgaben mechanisch ein-
gedrillt ist. Gewiß ist eine bestimmte Übung im Gebrauche der Formeln
und Sätze bei der Mathematik unerläßlich, aber diese Übung braucht nicht
in das Einüben von unzähligen Aufgaben und Beispielen für die gelernten
VIII. Die Ausgestaltung des modernen mathematischen Bildungswesens. A r 5 1
Sätze auszuarten, viel wichtiger ist, ihre wirklich praktische Verwendung
zu geben; denn erst durch die Übertragung in die Wirklichkeit lernt der
Schüler begreifen, um was es sich handelt. Weniger, aber gut durchge-
führte und wirklich praktische Beispiele, das wäre die Forderung, die für eine
gedeihliche Ausgestaltung des mathematischen Unterrichts zu erheben ist.
Wir müssen eben bedenken, daß nicht die Erlangung bestimmter Fertig- Bedeutung der
keiten, sondern außer der Klärung des Denkens das Verständnis für bestimmte die aUg^meinen
Erscheinungen der Natur und bestimmte Erzeugnisse der menschlichen Kultur ^^chuien.
das Ziel des mathematischen Unterrichtes ist. Wenn es im allgemeinen für die
höheren Schulen eine Herabsetzung bedeutet, sie auf praktische Zwecke zu-
schneiden zu wollen, so ist doch bei der Mathematik die Hervorhebung des
realen Moments wirklich berechtigt, denn gerade an den praktischen Problemen
zeigt die Mathematik ihre formalen Vorzüge am unwiderleglichsten. Es ist nicht
richtig, daß sich durch die Mathematik mehr wie durch jede andere Wissen-
schaft das logische Denken erziehen läßt, denn die Mathematik gründet sich
wie alle Wissenschaften auf der Bildung bestimmter Ideenverbindungen und
nicht einfach auf der logischen Zergliederung eines gegebenen Tatbestandes.
Kein mathematischer Beweis läßt sich selbst rein logisch deduzieren, er be-
ruht immer auf einem glücklichen Einfall, durch den der Entdecker des Be-
weises darauf kommt, welche Sätze und Schlüsse in dem besonderen Falle
den gesuchten logischen Zusammenhang liefern. Die formalenVorzüge, welche
die Mathematik besitzt und die sie für die Verwendung im Unterricht besonders
geeignet machen, bestehen in der Gewöhnung an eine bestimmte Art der Ab-
straktion, die Auffassung von Maß und Form in den Gegenständen der wirk-
lichen Welt und damit ihre exakte, wenn auch nüchterne Bestimmung, in der Er-
ziehung zu einer ruhigen Sachlichkeit, die von allem persönlichen Empfinden
unabhängig ist, der Erweckung des logischen Gewissens, das Bewiesenes von
Unbewiesenem gehörig trennt. Dazu kommt noch ein Vorzug, der gewöhnlich
unterschätzt wird: in der Mathematik ist es eine wesentliche Aufgabe, die Ge-
samtheit der möglichen Fälle vollständig zu überblicken und nicht einen ent-
legenen, unbequemen Sonderfall zu vernachlässigen, und dieses Überschauen
der Gesamtheit aller Möglichkeiten ist auch für die Analyse jedes vorliegenden
Tatbestandes, wo immer er sich darbietet, unerläßlich. Mit der formalen Be-
deutung der Mathematik steht in engem Zusammenhange ihr Wert für die Aus-
bildung des sprachlichen Ausdrucks. Die Darstellung mathematischer Dinge
läßt keinen rhetorischen Prunk zu, der Wortschatz, der gebraucht wird, ist
ein sehr beschränkter, aber was verlangt wird, ist vollkommene Klarheit in
den Aussagen und deutliche Hervorhebung der logischen Gedankenverbin-
dung. So wird der mathematische Stil wohl einfach und nüchtern, aber klar
und durchsichtig sein, und das sind in unserer der Phrase abholden Zeit große
Vorzüge. Leider wird die sprachliche Durcharbeitung des mathematischen
Lehrstoffes auf der Schule häufig wenig gepflegt, und dann wirkt der mathe-
matische Unterricht nur ungünstig auf den Stil des Schülers ein, er gewöhnt
ihn an eine unschöne, nachlässige Ausdrucksweise.
Anwenduags-
Physik.
1 52 A H. E. Timerding: Die Verbreitung mathemat. Wissens u. mathemat. Auffassung.
Neben diese formale Bedeutung, die früher als der Hauptvorzug des ma-
gebieteder thematischen Unterrichtes galt, tritt für uns aber auch ihre Bedeutung für
Mathematik. ••!-»•
bestimmte Anwendungsgebiete. Durch die Rücksichtnahme auf diese wird
allerdings die Notwendigkeit geschaffen, die mathematische Belehrung mit
verwandten Fächern zu verquicken. Unter diesen Fächern ist zunächst die
Physik anzuführen, die ja auch einen Lehrgegenstand der Schule bildet und
mit der der mathematische Unterricht sich in enger Fühlung halten muß , teils
indem er für den mathematischen Ausdruck der physikalischen Abhängig-
keiten dem Schüler das Verständnis eröffnet, teils auch, indem er umgekehrt
das in der Physik Gelernte zur Begründung der mathematischen Vorstellungen
verwertet. So spielt z. B, bei der Einführung des Differentialquotienten dessen
physikalische Verwendung, insbesondere sein Auftreten als Geschwindigkeit
und Beschleunigung, eine große Rolle, und der Ausdruck für die mechanische
und thermische Arbeit, wie er an der Wärmekraftmaschine wirkungsvoll er-
läutert werden kann, bildet ein wichtiges Beispiel für das Integral; er tritt
in dem von der Kraftmaschine selbsttätig aufgezeichneten Indikatordiagramm
unmittelbar als Fläche in die Erscheinung. Neben der Physik sind Geodäsie
Geodäsie
und Astronomie, und Astronomie zu nennen, die in unseren heutigen Lehrplänen nicht mehr
als besonderes Lehrfach auftreten, sondern nur als „mathematische Geographie"
einen Teil des mathematischen Unterrichtes bilden. Eine gewisse Belehrung
über astronomische Dinge ist ein unbedingtes Erfordernis der allgemeinen
Bildung. Über den jährlichen Lauf der Sonne am Himmel sollte ein jeder
Bescheid wissen. Aber gerade hierin herrscht oft die krasseste Unwissen-
heit. Dies liegt weniger daran, daß es in der Schule nicht gelehrt worden
ist, als daran, daß der Schulunterricht die rechte Verbindung mit der wirk-
lichen Beobachtung nicht zu finden gewußt hat. Astronomie läßt sich nicht
allein im Schulzimmer treiben. Die Praxis des Beobachtens, wenn auch in
der einfachsten Form, ohne besondere Instrumente, gehört unbedingt dazu.
Ebenso ist es auch mit der Trigonometrie als der Grundlage der Feld- und
Erdmessung. Auch die feinst ausgetiftelten Aufgaben können nicht das er-
setzen, was die einfachste praktische Messung leistet. Lasse man einmal den
Schüler eine Landkarte oder einen Lageplan auf Grund eigener Messungen
herstellen, er wird mehr Gewinn davon haben als von der geschicktesten
Belehrung im Klassenzimmer. Hierbei spricht neben dem allgemeinen Interesse
noch ein besonderes, sozusagen nationales Moment mit. Die Schüler unserer
höheren Lehranstalten sollen einmal in der Armee dienen und dabei ist für
sie die Fähigkeit des Orientierens im Felde von großer Bedeutung.
Eine cfanz andere Art mathematischer Anwenduncf wird durch das bürg- er-
»um bürgerlichen liehe Leben und die kaufmännische Praxis gegeben. Solange man nicht
■\Yirtschaftskunde als besonderes Fach in unseren höheren Schulen einführt,
wird dem mathematischen Unterricht die Aufgabe zufallen, den Schüler über
diese Dinge zu belehren. Dadurch wird dieser Unterricht allerdings mit vielem
sachlichen Material belastet, aber es wird auch die Möglichkeit gegeben, einige
der wichtigsten und nutzbringendsten Anwendungen der Mathematik zu be-
VIII. Die Ausgestaltung des modernen mathematischen Bildungswesens. A 153
rücksichtigen. Allerdings wird hierbei von dem Lehrer viel Takt und Fein-
gefühl gefordert, denn einerseits gilt es, die nur dem Namen nach praktischen,
in Wirklichkeit rein formalen Rechnungen zu vermeiden, die sich als Termin-
rechnung, Gesellschaftsrechnung, Mischungsrechnung usw. noch von Lionardo
Pisano her in unseren Aufgabensammlungen erhalten haben, anderseits darf
aber auch der Unterricht nicht in einen kaufmännischen Fachunterricht aus-
arten, denn abgesehen von allem anderen fehlen dem Schüler, der außerhalb
des praktischen Lebens steht, die realen Grundlagen für das rechte Verständnis
einer solchen Unterweisung.
Endlich muß der mathematische Unterricht der höheren allgemeinen
=> Fühlung
Schulen auch in einer bestimmten Beziehung zu den Aufgaben der Technik mit der Technik,
stehen. Unsere heutige Kultur läßt es geboten erscheinen, daß jeder Gebildete
für die Erscheinungen auf technischem Gebiet ein gewisses Verständnis zeigt.
Besonders ist dies für Kaufleute und Verwaltungsbeamte direkt ein Erforder-
nis ihres Berufes. Die hierzu nötigen Kenntnisse oder wenigstens die Grund-
lagen dafür müssen sie sich aber auf der Schule erwerben. Es kann der Schul-
unterricht gewiß nicht im einzelnen auf technische Probleme eingehen, er
kann nur die allgemeinen Gesichtspunkte hervorheben. Ein Teil dieser Auf-
gabe muß zweifellos dem physikalischen Unterricht zufallen, es wird ja auch
z. B. die Dampfmaschine, der Elektromotor usw. im physikalischen Unterricht
besprochen, wenn da auch manches noch der Verbesserung fähig wäre. Dem
mathematischen Unterricht fällt zunächst die Erweckung des Verständnisses
für die technische Zeichnung zu. Die Form einer Maschine oder eines
Gebäudes aus den technischen Zeichnungen zu erkennen, ist etwas, was erst
gelernt werden muß. Den Grundriß seiner eigenen Wohnimg richtig zu ver-
stehen sollte aber schließlich jeder gebildete Mensch imstande sein. Ebenso
sollte er auch das Verständnis für die Maßskizze eines Handwerkers besitzen
und nötigenfalls selbst, wenn er ein neues Gerät für seine Wohnung braucht,
seinem Tischler eine solche Skizze in die Hand geben können. Abgesehen
von dem persönlichen Vorteil wird so die Fühlung mit der gewerblichen Tätig-
keit und dadurch mit dem kulturellen Leben eine viel engere und innigere.
So sollte im Geometrietmterricht nicht bloß ein Erläutern der technischen
Zeichnungen, sondern auch ein Herausheben geeigneter Aufgaben geome-
trischen Charakters aus der Technik, deren es genug gibt, Platz greifen. Es
kann sich allerdings nur um gelegentliche Beispiele, nicht aber um ein Ein-
gehen auf größere technische Probleme handeln.
Von großem Wert erscheint auch das historische Moment im mathe-
matischen Unterricht Wenn dem Schüler nicht bloß die mathematischen Tat- Gtßichtsp^mkte.
Sachen vorgelegt werden, sondern ihm auch erzählt wird, wie sie sich in der ge-
schichtlichen Entwicklung ergeben haben, welch große persönliche Leistung
in ihnen steckt, wie sie in Zusammenhang stehen mit der ganzen menschüchen
Kulturent Wicklung, so wird dem Schüler am ehesten das Verständnis für den
lebendigen Geist aufgehen, der in den mathematischen Formeln und Figuren
atmet
154 ■'^ H. E. Timerding: Die Verbreitung mathemat. Wissens u. mathemat. Auffassung.
Volks- und Die gleiche Aufgabe, wie sie der mathematische Unterricht an den höheren
Bürgerschulen, g^^j-^^^gj^ 2u erfüllen hat, wiederholt sich in einer anderen Form wieder bei den
Volks- und Bürgerschulen. Nur tritt hier die theoretische Seite des Unter-
richts noch mehr zurück. Die logische Entwicklung muß noch weiter beschränkt,
die Resultate müssen viel mehr empirisch anschaulich entwickelt werden. Die
Fühlung mit der Wirklichkeit tritt derart noch unmittelbarer und kräftiger
hervor, um so mehr, als der Zögling der Volksschule ja später nicht durch
geistige Tätigkeit, sondern durch die Arbeit seiner Hände sein Brot verdienen
muß. Das ist aber lange, so entschieden es schon Pestalozzi betont hat, außer
acht gelassen worden. Erst heute beginnt der alte formale Betrieb des Rech-
nens durch die Berücksichtigung des praktischen Lebens gebessert zu werden,
der durch die Pestalozzische Richtung an die Volksschule gekommene Raum-
lehreunterricht, d. h. elementare Geometrieunterricht, in eine Erziehung der
Anschauung für die regelmäßig gestalteten Raumformen im Kinde mit Rück-
sicht auf seinen späteren praktischen Beruf auszumünden. Dieser Unterricht
bildet, richtig geleitet, eine zweckmäßige, ja notwendige Vorbereitung auf
das Fachzeichnen der gewerblichen Fortbildungsschule, wie überhaupt eine
engere Fühlungnahme der Volksschulen mit den niederen Fachschulen der
großen Aufgabe der Volkserziehung nur zum Segen gereichen kann. Die
Voraussetzung hierfür ist allerdings auch eine zeitgemäße Ausgestaltung der
Die Lehrerbildungsanstalten, die jetzt wohl im Werden ist, aber fast ebenso
Lehrerseminare, gj-g^j-j^^ ^jg (jjg höheren Schulctt gegen übcrkommenc Vorurteile anzukämpfen
hat. Der mathematische Unterricht ist an den Lehrerseminaren insofern etwas
anders gestellt wie an den allgemeinen höheren Schulen, als die spätere Ver-
wertung des Gelernten von vornherein feststeht. Es ist sozusagen ein Seiten-
stück zu der Ausbildung der höheren Lehrer auf den Universitäten, auch hier
soll ja das Gelernte über das später im eigenen Unterricht Gelehrte weit hinaus-
gehen, trotzdem soll der Zweck, für den es erworben wird, nicht aus dem Auge
verloren werden.
Die Fachschulen. Viel sichcrcr, als es an den durch allgemeine Ziele bestimmten allgemeinen
Schulen möglich, ist an den Fachschulen Umfang und Methode des mathe-
matischen Unterrichts umgrenzt. Auf seine Eigenart einzugehen ist aber nur
möglich, wenn die Einzelheiten des mathematischen Lehrstoffes als bekannt
vorausgesetzt werden können, und würde selbst dann viel zu viel Raum bean-
spruchen, als daß es sich an dieser Stelle durchführen ließe. Wir müssen uns des-
halb auf einige allgemeine Bemerkungen beschränken. Wir können in der Art,
wie die Mathematik zur Verwendung gelangt, drei Stufen unterscheiden: eine
niedere, mittlere und höhere. Die niedere Stufe ist die derLehrlingsschulen.
Sie läßt sich im allgemeinen kurz dadurch kennzeichnen, daß die mathema-
tische Belehrung vom Fachunterricht überhaupt nicht getrennt erscheint. Un-
mittelbare Anwendbarkeit des Gelernten muß hier die Richtschnur bilden. Da-
durch ergibt sich eine Eigenart des Unterrichts an diesen Anstalten, die sich
allerdings erst allmählich auszubilden beginnt, die aber dieser für unsere so-
zialen und wirtschaftlichen Verhältnisse außerordentlich wichtigen Schulgat-
VIII. Die Ausgestaltung des modernen mathematischen Bildungswesens. A 155
tung auch ein besonderes methodisches Interesse verleiht. Nirgends ist das
Band zwischen Wissen und Schaffen ein so enges wie hier, nirgends aber
zeigt sich gleichzeitig so deutlich und klar die Bedeutung der theoretischen
Einsicht auch für die einfachste Berufsarbeit. Die mittlere Stufe der Fach-
schulen ist die, wo wohl ein gesonderter mathematischer Unterricht erteilt
wird, aber in vorsichtig beschränkter Form. Im einzelnen lassen sich hier
noch sehr viel Grade unterscheiden; z.B. sind die niederen von den mittleren
technischen Fachschulen zu trennen. An den niederen Fachschulen, den Ge-
sellenschulen, wird gewöhnlich nur ein Unterricht in den Elementen der
Algebra und der Geometrie erteilt, an den mittleren technischen Fach-
schulen geht der mathematische Unterricht bis zur analytischen Geometrie und
der Infinitesimalrechnung hinauf. Die immer noch sehr beliebte Sonderung der
Mathematik in einzelne Fächer hat für diese Schulgattungen übrigens nur
einen sehr problematischen Wert, viel richtiger wäre es, wie es bei den tech-
nischen Hochschulen, allerdings unter Absonderung der sogenannten darstellen-
den Geometrie, jetzt meistens geschieht, die gesamte sich als zweckmäßig er-
weisende mathematische Belehrung als ein Unterrichtsgebiet zu behandeln. Die
mathematische Darstellung wird an technischen Fachschulen weniger nach
wissenschaftlicher Feinheit als nach praktischer Brauchbarkeit zu streben
haben, ohne daß sie darum weniger anmutig zu werden und in eine Ansammlung
zusammenhangloser Einzelheitenauszuartenbraucht. Wenn man auch unnötiges
Theoretisieren vermeiden soll, so braucht doch die Belehrung nicht verstümmelt
zu werden aus Angst davor, an einer Stelle mehr zu bringen als unbedingt
erforderlich ist. Merkwürdigerweise beobachtet man gerade bei Lehrern, die
aus einer praktischen Schule stammen, den Hang zum Formalismus; sie glauben
ihn anscheinend dem Gegenstande schuldig zu sein, während doch nur die zu
lösende praktische Aufgabe die mathematische Behandlung bestimmt.
Bei den höheren Fachschulen und auch bei den technischen Hoch- Antimathema-
schulen hat sich, was den mathematischen Unterricht betrifft, in Deutschland in o^eutschiand.
eine eigentümliche Erscheinung gezeigt. Die Furcht vor langatmigen mathema-
tischen Entwicklungen, welche die Ausbildung des Zöglings für seinen Beruf
hintanhalten, hat vielfach dazu getrieben, die mathematische Unterweisung
zurückzudrängen oder überhaupt zu beseitigen, sie hat eine entschiedene
antimathematische Strömung gezeitigt. Um diese Strömung zu verstehen, muß
man sich die eigentümliche Stellung der Mathematik inmitten der verschie-
denen wissenschaftlichen Disziplinen vergegenwärtigen. Im Wesen handelt
es sich um den Gegensatz der deduktiven und induktiven Methode und
ein Vordrängen der Induktion als der Wirklichkeit unmittelbarer und unbe-
fangener angepaßt. Daß sich der Gegensatz der Methoden zu einer Art Rang-
streitigkeit steigert, ist vielleicht nur in unserer deutschen Eigenart begründet.
Wir können uns die Sachlage so klarmachen: Die Anwendungen der Mathe-
matik erstrecken sich auf der einen Seite in das Gebiet des menschlichen
Lebens hinein, dahin gehören die kaufmännische Arithmetik, die Versicherungs-
rechnung, die mathematische Statistik und die Versuche, die Mathematik auf
156 A H. E. Timerding: Die Verbreitung mathemat. Wissens u. mathemat. Auffassung.
die wirtschaftlichen Erscheinungen anzuwenden. Auf dieser Seite tritt der
Mathematik die historische Forschung entgegen. Man macht geltend, daß die
Vorgänge im wirtschaftlichen Leben zu mannigfaltig und verwickelt sind, um
sie ebenso wie die physikalischen Vorgänge einer quantitativen Analyse durch
die mathematische Behandlung unterwerfen zu können. Dagegen erschließe
die Betrachtung der geschichtlichen Entwicklung wirklich die qualitative
Eigenart unserer gesellschaftlichen Zustände. Die andere Seite der mathe-
matischen Anwendungen liegt auf dem Gebiete der Naturwissenschaft, in die
sie durch die Mechanik und die theoretische Physik so ungezwungen hinüber-
gleitet, daß sich die Grenzen fast völlig verwischen. Hier erwächst ihr aber
eine Feindschaft in der experimentellen Untersuchung. Eine solche Feindschaft
besteht nicht von Haus aus. Im Gegenteil greifen mathematische und experi-
mentelle Forschung beständig ineinander über. Die experimentellen Unter-
suchungen Faradays mußten erst von Maxwell mathematisch durcharbeitet
werden, ehe auf den Folgerungen dieser Theorie Hertz seine grundlegenden
Versuche aufbaute, und wiederum mußte erst Lorentz vom theoretischen
Standpunkte aus die Elektronentheorie entwickeln, ehe man die elektrisch ge-
ladenen Teilchen in einzelnen experimentell gefundenen Strahlungsarten wirk-
lich erkannte. Aber in der Erziehung erhebt sich das Verlangen nach einer
überwiegend experimentellen Ausbildung schon in der Physik und in noch viel
stärkerem Maße in der Chemie und der auf den Resultaten der Naturforschung
aufbauenden Technik. Am stärksten ist die Zurückdrängung in der Architek-
tur, wo überhaupt das Technische gegen das Künstlerische zurücktritt. So
Verhalten der "^^^ 2- ^- ^^^ ^®^ Ausbildung der Architekten an den norddeutschen techni-
verscbiedenen sehen Hochschulcn dcr die Festigkeitslehre vortragende Dozent die erforder-
lichen mathematischen Kenntnisse in seinen Vortrag hineinverweben, weil der
mathematische Lehrgang, der für die Zwecke der Architekten eingerichtet ist,
von diesen selten besucht wird. Dieselbe Tendenz herrscht auch an den Forst-
akademien vor, an denen man ebenfalls die mathematischen Hilfskenntnisse
mit der fachlichen Unterweisung zu verschmelzen sucht. Ebenso wollen auch
die Handelshochschulen bei uns in Deutschland von einem besonderen
mathematischen Unterricht absehen, während in anderen Ländern die Mathe-
matik an diesen Anstalten schon ihres formalen Bildungswertes wegen eine
gründliche Berücksichtigung findet. Dabei wird von den deutschen Handels-
hochschulen übersehen, daß die für die kaufmännischen Aufgaben, die Ver-
sicherungsrechnung, die Statistik usw. erforderliche Mathematik einen ganz
bestimmten realen Charakter hat, der durch die von ihr behandelten Probleme
mit Notwendigkeit bestimmt und in seiner Eigenart auch durch einen zusammen-
hängenden Unterricht zur Geltung kommen muß. Es ist schwer abzusehen, wie
die Handelslehrer, die an den Handelshochschulen ausgebildet werden und
später zum großen Teil die kaufmännische Mathematik unterrichten sollen, eine
solche mathematische Ausbildung völlig entbehren können. Auch an unseren
Militärakademien herrscht zurzeit in schroffem Gegensatz zu den Wünschen
eines Scharnhorst im allgemeinen dieselbe Tendenz, die Mathematik nach Mög-
VIII. Die Ausgestaltung des modernen mathematischen Bildungswesens. A 157
lichkeit zurückzuschieben oder wenigstens sie dem Berufsmathematiker zu ent-
ziehen. An den Bergakademien ist Mathematik und Mechanik verschmolzen
worden, angebUch um die AnschauHchkeit des Unterrichts zu gewährleisten,
indem die Maschinen, die der Bergwerksbetrieb benutzt, die Demonstrations-
objekte bilden, so daß die schließliche Anwendung des vorgetragenen mathe-
matischen Lehrstoffes diesen von Anfang an bestimmt. Die so fast überall er-
strebte Verschmelzung der Mathematik mit dem Fachunterricht ist jedoch in
Wirklichkeit nur da möglich, wo der Lernende die erforderlichen methodischen
Hilfskenntnisse bereits besitzt. Diese Kenntnisse lassen sich ja nicht nebenbei
in einem Unterricht erwerben, der dieser Seite nur einen geringen Teil der
Zeit und Aufmerksamkeit zuwenden kann.
Selbst an den allgemeinen höheren Schulen hat sich eine antimathema- widersfinde
tische Strömung gezeigt, in der sich die Vertreter der literarischen und der rein Ma^the^attiTan
naturwissenschaftlichen Fächer zusammenfinden. Auch die aufgekommene rea- ^^^ allgemeinen
. . Schulen.
listische Tendenz, welche die Sprachen als Verkehrsmittel pflegt und die Natur-
wissenschaften auf die unmittelbare Beobachtung gründet, ist der Mathematik
wenig günstig, während die Altphilologen, welche die Wohltat einer straffen
grammatikalischen Schule betonen, zum Teil die geistesbildende Kraft der Ma-
thematik unumwunden anerkennen. So hat sich derbeim ersten Anblick befremd-
liche Zustand ergeben, daß gerade an den Oberrealschulen, die ursprünglich
wesentlich als mathematisch -naturwissenschaftliche Lehranstalten gedacht
waren, derMathematik ein stark erWiderstand erwächst. Diese Schulen erblicken
zum Teil ihre Stärke und ihre Zukunft durchaus in den sprachlichen Fächern,
sie suchen sich zu einem neusprachlichen Gymnasium zu entwickeln und statt in
dem Anschluß an die moderne Kultur, an die Naturerkenntnis und Naturbeherr-
schung, suchen sie die geistige Schulung, die in den alten Sprachen liegt, wieder-
zugewinnen in einer didaktischen Durchbildung der modernen Sprachen.
Die so in Deutschland augenblicklich vielfach herrschende Tendenz,
den mathematischen Unterricht nach Möglichkeit und sogar über Möglich-
keit zurückzudrängen, ist vielleicht zum großen Teil durch den früheren for-
malen Lehrbetrieb unserer Schulen und die Geringschätzung vieler Fach-
mathematiker für alle praktischen Probleme großgezogen worden. Wo der
Mathematik bestimmte Aufgaben gestellt sind, wie bei der Ausbildung der
Feldmesser und Markscheider, sowie an den Schulen der Kriegs- und Handels-
marine, nimmt sie eine bestimmte, nicht zu beschränkende Stellung ein. Die
Navigation beruht im wesentlichen auf einer mathematischen Ausbildung,
welche die Grundlage für die terrestrische und astronomische Ortsbestimmung
liefert Die Navigationsschulen sind daher von allen Fachschulen die, füroio Navigatioo«-
die die Mathematik die relativ größte Bedeutung hat; das Aufsteigen vom ge- »'='"^*°-
meinen Matrosen zum Schiffsoffizier und damit in eine höhere Gesellschafts-
klasse geschieht allein auf Grund bestimmter mathematischer Kenntnisse. Der
Gegensatz von Theoretikern und Praktikern, der sich leider bei jeder fach-
lichen x\usbildung auftut, hat sich aber auch an den Navigationsschulen be-
merkbar gemacht, und die Forderung der Ausbildung des Schiffsoffiziers durch
158 A H. E. Timerding: Die Verbreitung mathemat. Wissens u. mathemat. Auffassung.
praktische Seeleute selbst in den theoretischen Fächern ist oft mit großer
Leidenschaftlichkeit erhoben worden, trotzdem sie schon wegen der steigenden
Bedeutung der physikalischen Gebiete für die heutige Seefahrt mittlerweile ge-
radezu zur Unmöglichkeit geworden ist. Es wird hierbei immer außer acht
gelassen, daß der Lehrer keineswegs alles das wissen muß, was der Schüler
lernt, daß er vielmehr das Fach, das er unterrichtet, autoritativ beherrschen
und dabei nur das richtige Verständnis dafür mitbringen muß, in welcher
Weise der Schüler gerade dieses Fach braucht. Alle wirklichen großen Fort-
schritte in einer fachlichen Ausbildung sind dadurch gemacht worden, daß
man möglichst tüchtige Vertreter der einzelnen Wissenschaften zu finden ge-
sucht hat, die sich dann zu gemeinsamer Arbeit zusammentaten.
Die Mathematik Trotzdcm haben sich, auch was die höchste fachliche Ausbildung, die der
'" tu^sbudun''^""^ technischen Hochschulen, betrifft, in neuerer ZeitStimmen laut gemacht, welche
die Ausbildung nach Möglichkeit ausschließlich Vertretern des Faches, dem
der Studierende selbst angehört, anvertraut wissen wollen. Die von Berufs-
mathematikern geleitete mathematische Ausbildung ist statt als eine Vorbe-
dingung des technischen Schaffens vielfach als ein Hemmnis der technischen
Anschauung empfunden worden. Es ist eine allgemeine Tatsache, daß auf einem
Gebiete der Anwendung die Mathematik um so weniger als solche empfunden
wird, je enger sie mit dem Gegenstande verschmolzen ist; aber zur Bildung des
I höheren Technikers gehört, daß er die Hilfswissenschaften der Technik frei be-
herrscht und nicht bloß so weit, wie sie bereits für bestimmte technische Pro-
bleme zurechtgemacht worden sind. Erst in der letzten Zeit sind die Streitrufe
gegen die Mathematik einer gemäßigteren Auffassung gewichen. Die Erfahrung,
daß der Studierende beim Eintritt in die technischen Fächer aus dem theo-
retischen Unterricht doch nicht die Kenntnisse mitbringt, die er braucht und
die man verlangen sollte, ist jedenfalls, so richtig sie ist, nicht in der Nutz-
losigkeit der theoretischen Unterweisung, sondern in einer Eigenart der
menschlichen Natur begründet. Das Wissen einer Sache und ihre richtige
Verwendung sind zwei verschiedene Dinge. Der Lernende macht sich in seinem
Geiste sozusagen verschiedene Schubfächer, in denen er die einzelnen Diszi-
plinen unterbringt. Diese Schubfächer hält er sauber getrennt; was in dem
einen liegt, wird er nie in ein anderes bringen; daß alle die Einzelbelehrungen
Teile eines großen Ganzen sind, entgeht ihm, er erkennt es erst, wenn er das
Gelernte in einer längeren praktischen Erfahrung verwertet hat. Dazu kommt,
daß bei der akademischen Freiheit, die sehr im Gegensatz zu Frankreich
an unseren technischen Hochschulen herrscht, der Studierende nicht gezwungen
werden kann, die Vorlesungen und Übungen regelmäßig zu besuchen, und
gerade die ersten Semester, in denen die mathematische Ausbildung liegt,
sind aus bekannten Gründen in dieser Hinsicht die gefährlichsten. Und doch
erfordert gerade die Ausbildung des Ingenieurs eine unablässige fleißige
Arbeit und die Nachlässigkeit, mit welcher der höhere Techniker bisweilen
sein Studium betreibt, gibt dem in eiserner Zucht herangebildeten mittleren
Techniker ihm gegenüber einen Vorteil, der sich durch alle akademische
siKer.
VIII. Die Ausgestaltung des modernen mathematischen Bildungswesens. A 15Q
Würde nicht wettmachen läßt. Über alledem sollte aber nicht vergessen wer-
den, wie gerade die mathematische Schulung dem Ingenieur nicht bloß die
für sein Fach nötigen Hilfskenntnisse mitteilt, wie sie ihn auch reif macht
zur Auffassung der sich ihm darbietenden Aufgaben. Ahnliche Verhältnisse
wie bei den Ingenieuren zeigen sich auch bei den Physikern. Die mathe- Physik«
matischen Vorlesungen stehen dem physikalischen Lehrbetrieb meist fern.
Was der Physiker an Mathematik braucht, lernt er zum großen Teil in den
physikalischen Vorlesungen selbst, und es stört den Studierenden in den sel-
tensten Fällen, daß die prinzipielle Auffassung z. B. der InfinitesimalbegrifFe
in seinen physikalischen Vorlesungen eine ganz andere ist, wie er es in den
mathematischen Vorlesungen hört. Die Klage über die unpraktische Mathe-
matik ist nicht bloß von Ingenieuren, sondern auch von Physikern erhoben
worden. Gew^iß gibt es Zweige der Mathematik, die zu den Anwendungen
außer allen Beziehungen stehen, man denke z. B. an die Zahlentheorie, die uns
nur die Wunder der Zahlenwelt, aber keine Gegenstände der Sinnenw^elt er-
schließen soll. Daß aber die Mathematik an sich unfähig wäre, sich den An-
wendungen anzupassen, ist ein offenbarer Irrtum. Im Gegenteil hat die ganze
historische Entwicklung gezeigt, daß in ihr die mächtigste Triebfeder zur Ent-
wicklung der Naturforschung steckt. Ihre Bedeutung für die Erfassung der
Wirklichkeit rechtfertigt die Forderung, ihr gerade auch im Fachunterricht
die gebührende Stellung einzuräumen.
Die Aufgabe der Mathematik an den fachlichen und an den allgemeinen Zweck-
Schulen ist eine völlig verschiedene. Überträgt man den Gedanken der durch ^^^h^^^^che^
die Mathematik erreichten formalen Geistesbildung von den allgemeinen ^'"««"iciits-
Schulen ohne weiteres auf die Fachschulen, statt den realen Zweck des
Unterrichts in den Vordergrund zu stellen, so löst man einen heftigen Wider-
stand aus, denn immerhin hält eine solche Bildung die fachliche Erziehung
auf und entfremdet den Schüler seinen eigentlichen Aufgaben. Daher muß
im mathematischen Unterricht der fachlichen und der allgemeinen Schule
eine völlig verschiedene Unterrichtsweise herrschen, und auch die Lehrkräfte
müssen dem besonderen Zwecke gemäß ausgewählt sein. Auf eine geeignete,
zielbewußte Ausbildung der Lehrer für die verschiedenen Lehranstalten
kommt schließlich alles an, und je mehr Aufmerksamkeit die Regierungen
der Organisation dieser Ausbildung und die Schulleiter der Auswahl ihrer
Lehrkräfte angedeihen lassen, um so segensreicher wird sich der mathema-
tische Unterricht entfalten und um so weniger wird er Anlaß zur Befehdung
bieten. Möge man sich bewußt bleiben, daß in der Mathematik die Quelle
der exakten Wissenschaft überhaupt liegt, daß sie uns dazu geführt hat, die
Gesetze des menschlichen Denkens bloßzulegen und daß sie der lebendigste
Beweis für die schöpferische Kraft des menschlichen Geistes ist, möge man
auch bedenken, daß aus ihr die ganze wissenschaftliche Technik hervorge-
wachsen ist, daß sie das mächtigste Werkzeug zur Erforschung der Natur-
gesetze bildet, dann wird man auch klar erkennen, wieviel Gutes ein zweck-
mäßig geleiteter mathematischer Unterricht stiften kann!
Literatur.
Eine Rechenschaft über die für die vorstehende Darstellung benutzte Literatur läßt sich
nicht geben, weil diese allzuweit verstreut ist. Es läßt sich nur ungefähr der Weg bezeichnen,
auf dem der Leser diese Literatur finden kann. Die Mathematik ist bei der allgemeinen Dar-
stellung der pädagogischen Entwicklung im allgemeinen schmählich vernachlässigt worden.
Das große dreibändige Werk von L. Grasberger, Erziehung und Unterricht im klassischen
Altertum (Würzburg 1864 — 1881) z.B. geht auf die mathematische Bildung so gut wie gar nicht
ein, trotzdem wir ihr doch in der geistigen Entwicklung der Griechen die größte Bedeutung
zuschreiben müssen. Ebenso kann das Werk von F. A. Specht, Geschichte des Unterrichts-
wesens in Deutschland bis zur Mitte des XIII. Jahrhunderts (Stuttgart 1885) nur über die all-
gemeinen Unterrichtsverhältnisse, nicht aber über die Stellung der Mathematik orientieren. Das
gleiche gilt leider auch von K. A, Schmids umfangreicher Geschichte der Erziehung (Stuttgart
1884—1902) und Fr. Paulsens zweibändiger Geschichte des gelehrten Unterrichts (2. Aufl.,
Leipzig 1896/97), in der die Mathematik nur sehr vereinzelt Erwähnung findet. Von vornherein
nur mit der Organisation befassen sich die Werke von L. Wiese, Das höhere Schulwesen in
Preußen, historisch -statistische Darstellung (4 Bde., Berlin 1864 — 1902), das von W. Lexis
herausgegebene Werk, Die Reform des höheren Schulwesens in Preußen (Halle 1902) und
das im großen Stil angelegte, für die Weltausstellung in St. Louis abgefaßte Sammelwerk von
W. Lexis, Das Unterrichtswesen im Deutschen Reich (Beriin 1904). In Beziehung auf die
Mathematik werden diese Werke ergänzt durch eine Reihe von Spezialuntersuchungen, von
denen ich die folgenden nennen möchte: S.Günther, Geschichte des mathematischen Unter-
richts im deutschen Mittelalter (Berlin 1887); H. Suter, Die Mathematik auf den Universi-
täten des Mittelalters (Progr. Zürich 1887); H. Grosse, Historische Rechenbücher des 16. und
17. Jahrhunderts (Halle 1901); C.Müller, Studien zur Geschichte der Mathematik, insbesondere
des mathematischen Unterrichts der Universität Göttingen im 18. Jahrhundert (Abhandlungen
zur Gesch. d. math. Wiss. XVIII, Leipzig 1904); J. Norrenberg, Geschichte des naturwissen-
schaftlichen Unterrichts an den höheren Schulen Deutschlands (Leipzig 1904); R. Starke,
Geschichte des mathematischen Unterrichts an den Gymnasien in Sachsen seit 1700 (Progr.
Chemnitz 1898); F. A.UnGER, Die Methodik der praktischen Arithmetik in historischer Ent-
wicklung vom Ausgang des Mittelalters bis auf die Gegenwart (Leipzig 1888); R. Schimmack, Die
Entwicklung der mathematischen Unterrichtsreform in Deutschland (Leipzig 1911): W. LOREV,
Staatsprüfung und praktische Ausbildung der Mathematiker ^^Leipzig 191 1). Ganz neu erschienen
ist eine Geschichte des naturwissenschaftlichen und mathematischen Unterrichts von Franz
Pahl (Leipzig 1913), die aber beinahe mehr auf die Geschichte der Forschung als auf die
Geschichte des Unterrichtes eingeht. Am raschesten orientiert man sich über alle Fragen
des Erziehungswesens aus dem amerikanischen Werk A Cyclopedia of Education, edited by
P. Monroe (New York 191 1 flf., bis jetzt sind 4 Bände erschienen).
Die geschichtlichen Darstellungen des Unterrichtes werden in manchen Punkten durch
die Werke über die Geschichte der mathematischen Disziphnen ergänzt, so namentlich durch
die umfassenden Vorlesungen über die Geschichte der Mathematik von M. Cantor (Leipzig
1900 -—1908), denen als speziellere Werke etwaTROPFKE, Geschichte der Elementarmathematik
(Leipzig 1902 — 1903) und A. v. Braunmühl, Vorlesungen über die Geschichte der Trigonometrie
(Leipzig 1900 — 1903) angereiht werden können. Sehr anregend wirken die kürzeren Dar-
stellungen: M.Simon, Geschichte der Mathematik im Altertum (Berlin 1909), der besonders
auf Ägypten und Babylon eingeht; H. Hankel, Zur Geschichte der Mathematik im Altertum
Literatur. A l6l
und Mittelalter (Leipzig 1874) und H. G Zeuthen, Geschichte der Mathematik im Altertum
und Mittelalter (Kopenhagen 189O), Geschichte der Mathematik im XVI. und XVII, Jahrhundert
(Leipzig 1903).
Was die Didaktik und Methodik des mathematischen Unterrichtes betrifft, so ist zu-
nächst das etwas ältere Buch von M. Simon, Didaktik und Methodik des Rechnens und der
Mathematik (2. erweiterte Auflage, München 1908) anzuführen, femer die neueren Werke
A. HÖFLER, Didaktik des mathematischen Unterrichtes (Leipzig 19 10) und KiLLiNG und
HOVESTADT, Handbuch des mathematischen Unterrichtes (Leipzig 1910 — 1911), die zusammen-
genommen den gegenwärtigen Standpunkt deutlich hervortreten lassen. Die modernen Ideen
kommen besonders klar und prägnant zum Ausdruck bei F. Klein und R. Schimmack, Der
mathematische Unterricht an den höheren Schulen (Leipzig 1907). Dazu vergleiche man die
von F. Klein und E Riecke herausgegebene Vortragsammlung Neue Beiträge zur Frage des
mathematischen und physikalischen Unterrichts an den höheren Schulen (Leipzig 1904). Eine
Sperialfrage behandelt mit einer gründlichen historischen Darstellung P. Treutlein, Der geo-
metrische Anschauungsunterricht (Leipzig 1911). Dazu vergleiche man etwa H. E. Timerding,
Erziehung der Anschauung (Leipzig 191 2) und B. Branford, Betrachtungen über mathe-
matische Erziehung vom Kindergarten bis zur Universität, deutsch von Schimmack und
Weinreich (Leipzig 1913). Am sichersten und ausführlichsten belehren über den gegen-
wärtigen Stand des mathematischen Unterrichts in allen seinen verschiedenen Verzwei-
gungen, soweit Deutschland in Furage kommt, die Abhandlungen über den mathematischen
Unterricht in Deutschland, veranlaßt durch die Internationale mathematische Unterrichts-
kommission, herausgegeben von F. Klein (Leipzig 190g ff.), deren fünf Bände dem Abschluß
nahe sind und von denen in einzelnen Berichten der erste Band die höheren Schulen
in Norddeutschland, der zweite Band die höheren Schulen in Süd- und Mitteldeutschland,
der dritte Band Einzelfragen des höheren mathematischen Unterrichts, der vierte Band die
Mathematik an den technischen Schulen und endlich der fünfte Band die Mathematik an den
Volksschulen und Lehrerbildungsanstalten behandelt. Diesen Abhandlungen stehen ähnliche
Berichte in den übrigen Kulturländern zur Seite. Besonders reich an methodischen und didak-
tischen Erörterungen sind die in kurzen Einzelabhandlungen vom Board of Education heraus-
gegebenen und dann in zwei größeren Bänden unter den Special Reports on educational subjects
unter dem Titel The Teaching of Mathematics in the United Kingdom (London 191 2) heraus-
gegebenen enghschen Berichte. Viele Fragen des mathematischen Unterrichts sind auch in
den Schriften des Deutschen Ausschusses für mathematischen und naturwissenschaftlichen
Unterricht (Leipzig, 1909 ff.) und in den Abhandlungen und Berichten des Deutschen Aus-
sciiusses für technisches Schulwesen (Leipzig, 1910 ff.) behandelt.
K.d.G.in, 1. Mathematik. A.
Verlag von B. G. Teubner in Leipzig und Berlin
Die Erziehung der Anschauung
von
H. E. Timer ding
Professor an der Tcchniachen Hochschule Braonschwelg
Mit 164 Fig. [VU u. 241 S.] gr. 8. 1912. Geh. Jt 4.80, in Leinw. geb. JC 6.60.
Das durch seinen Inhalt wie durch die Art der Behandlung der Allgemein-
heit bestimmte Buch dient der erzieherischen Verwertung der Anschauung, die
zwar nur insoweit in Betracht gezogen wird, als sie mit dem mathematischen
Wissen und dem Wesen der geometrischen Formen und der geometrischen Be-
trachtung zusammenhängt, aber doch auch durch Einreihung des behandelten
Gegenstandes in die allgemeine Entwicklung der Pädagogik und durch Aut-
deckung der Zusammenhänge, die das scheinbar abgesondert für sich liegende
Gebiet der geometrischen Formen mit den verschiedenen Erscheinungsarten der
menschlichen Kultur verbinden, unter so weitem Gesichtsfeld betrachtet wird,
daß auch die Frage der Raumbilder in Zeichnung und Landschaft, die Gesetze
und das Wesen der Perspektive, die optische Täuschung, Zahlbilder und Streifen-
bilder, die astronomische und topographische Anschauung, die Kartenprojektion
u. a. behandelt werden und somit das gesamte Gebiet der Anschauung durch-
streift wird. Sie sucht möglichst vielseitig anzuregen und zu fördern, ohne den
Versuch methodischer Geschlossenheit, und ist so wenig wie möglich in trocknem
lehrhaften Ton geschrieben. Sie ist zunächst für alle die bestimmt, die am
Volksschulunterricht irgendwie beteiligt sind, ist aber durch einige Zusätze auch
für höhere Schulen erweitert. Das Buch will gerade dazu beitragen, den Gegen-
satz zwischen den niederen und höheren Schulen auszugleichen und zu mildern.
Betrachtungen
über mathematische Erziehung
vom Kindergarten bis zur Universität
von
B. Brauford
DiTlsionsingpektor am Londoner Connty Conncll
Deutsche Bearbeitung von Dr. Rudolf Schimmack, weil. Oberlehrer am Gym-
nasium und Privatdozent an der Universität Göttingen und Dr. Hermann
Weinreich, Oberlehrer an der Oberrealschule zu Göttingen.
Mit 114 Figuren im Text, 1 Titelfigur und 1 Tafel.
jTIII u. 403 S.] gr. 8. 1913. Geh. JC 6.—, geb. M 7.—
Die feinsinnige Psychologie, die echte aus langer Erfahrung gewonnene
pädagogische Einsicht, der philosophische Weitblick und das tiefe historische
Verständnis, womit das Buch geschrieben ist, rechtfertigen durchaus die deutsche
Bearbeitung des englischen Originaltextes, der mit des Verfassers Zustimmung
eine Reihe nützlicher Anmerkungen erhalten hat. Der leitende Gedanke des
ganzen Werkes ist eine Anwendung des sog. biogenetischen Grundgesetzes auf
den mathematischen Unterricht. Für die Fülle der hieraus entspringenden An-
regungen wird man auch bei abweichendem Grundstandpunkt dankbar sein,
zumal der einsichtsvolle Verfasser auf seine Überzeugung im einzelnen keines-
wegs eingeschworen ist, vielmehr stets die Erfahrung als letzte Instanz in Er-
ziehungsfragen anerkennt.
Kultur der Gegenwart. III, 2.
Verlag von B. G. Teubner in Leipzig und Berlin
Über das Wesen der Mathematik, von Dr. a. vob, Prof, der Mathe-
matik in München. 2., vermehrte und verbesserte Auflage. Erweitert und mit
Anmerkungen versehen. [II u. 123 S.] gr. 8. 1913. Steif geh. M. 4. —
„Nach einer Darlegung der historischen Entwicklung der Mathen)atik bis zu Leibniz nnd
Newton hin werden so ziemlich alle Streitfragen der modernen Mathematik erörtert, so die Arith-
metiaierung der Mathematik, die Dcdekindscbe Frage: was sind und was wollen die Zahlen?, die
formalen Gesetze des Rechnens (bei Besprechung der Vektorenrechiiung wird tibrigens das äuBere
Prolukt mit dem vektoriollen verwechselt), auch die Fragen nach dem Wert oder Unwert des
Logikk-ilküla und der Mengenlehre, weiter die Unvollkommenlieit der Anschauung und Schärfe
des Zahlbegriff« und der EinfluS dieser Betrachtungen auf die Grundlagen der Geometrie."
(Archiv für Mathematik und Physik.)
Didaktik des mathematischen Unterrichts, von Dr. a. Höfier,
Professor an der Universität Wien. Mit 2 Tafeln und 147 Figuren. fXVII o.
509 S.] gr. 8. 1910. In Leinw. geb. M. 12.—
,,...Ein vornehmes und tiefgründiges Werk eines Mannes, der wie wenige zugleich Gelehrter
und i'raktikor de.i physikalischen, mathematischen und philosophischen Unterrichtes ist.. . .So sind
seine Bemerkungen zu dem einführenden geometrischen Unterriclit eine Perle der didaktischen
Literatur. Aber nicht nur der Anfänger im Lohramte kommt beim Studium die.ses Buches auf
seine Rechnung, auch der erfahrene Lehrer wird dankbar manche Anregung daraus nehmen....
Das Hauptverdienst dieser Didaktik aber ist, daß sie in vorbildlicher Weise zeigt, wie die Reform
durchgeführt worden kann und muß. Die ausgezeichnet feine und abgeklärte Art der Davstellung
wird viel dazu beitragen, einer harmonischen Umgestaltung dos mathematischen Unterrichtes
weiter die Wege zu ebnen." (Neue Jahrbücher.)
Psychologie und mathematischer Unterricht, von Dr. d. Katz,
Privatdozent an der Universität Göttingen. Mit 12 Abb. [VI u. 120 S.] gr. 8.
1913. Geh. M. 3 20.
Die Arbeit versucht die BeziehunRen zwischen der Psychologie nnd dem mathematischen Unter-
richt enger zu gestalten. Sie stellt im I. Teil die Ergebnisse der psychologischen Fortchung zu-
sammou, die für eine Grundlegung des mathematischen Unterrichts und für ein Verständnis der
Arbeitsweisen der Mathematiker von Bedeutung sind oder werden können. Im II. Teil wird das
Verhiiltiiis des technischen Zeichnen» zum künstlerischen nach psychologischen Gesichtspunkten
untersucht Der IXE. Teil beschäftigt sich mit der Ausbildung der Mathematik-Lehrer in Psycho-
logie und Pädagogik.
Die Geschichte der Mathematik im mathomatischen unterrichte der
höheren Schulen Deutschlands. Dargestellt vor allem auf Grund alter und neuer
Lehrbücher und der Programm abhandlungen höherer Schulen. Von Dr. M. Geb-
hardt, Professor am Vitzthumschen Gymnasium in Dresden. [VIII u. 175 S.]
gr. 8. 1912. Steif geh. M. 4.80.
Der Verfasser forscht zuerst nach, inwieweit die Lehrbücher dem geschichtlichen Elemente
Beachtung sclienken. Dabei w. rden kennzeichnende Stellen aus Schulbüchern und Programm-
al>handlungen im Wortlaut wiedergegeben. Weiterhin erörtert der Verfasser allgemein den Wert
historischer Färbung des mathematisclien Unterrichts auf der Oberstufo der höheren Schalen und
gibt Vorscliläge, wie er sich eine maßvolle Reform in diesem Sinne denkt.
Mathematik und philosophische Propädeudik. von schuirat Dr.
Alexander Wernicke, Direktor der städt, Oberrealschule und Professor an
der Herzoglich-Technischen Hochschule in Braunschweig. Mit 5 Figuren. [VII u.
1.38 S.] gr. 8. 1912. Steif geh. M. 4.—
„Zu den Forderungen der Mcraner Reformpläno gehört auch die philosophische Vertiefung
des mathomatischen Unterrichts auf der obersten Stufe der Schule. (Jerade diese Forderung stellt
ihrer Lösung nicht unerhebliche Schwierigkeiten entgegen. Es ist das Verdienst der vorliegenden
Schrift, diese Schwierigkeiten klar aufzuileckon und gleichzeitig einen Weg anzugeben, um ihrer
Herr zu werden.. . .Mit weitem Blick und warmem Herzen für die Sache behandelt dor Verfasser
dieses Tliema, und es ist sehr zu wünschen, daß seine treffliche Schrift weite Verbreitung find ."
(Deutsche Literaturzeitung.)
Die Mathematik in den physikalischen Lehrbüchern, von Dr.
H. E. Timerding, o. Professor an der Technischen Hochschule in Braunschweig.
Mit 22 Figuren. [VI u. 112 S.] gr. 8. 1910. Steif geh. M. 2 . 80.
Die Hauptaufgabe war die Erledigung der Frage, welche Probleme nnd Ziele dem mathemati-
schen Schulunterrichte aus dor Rücksicht auf die Bedürfnisse der Physik erwachsen, daneben aber
auch die lieuntwortung der Frage, in welcher Weise ihrerseits die Physik durch einen vernünftig
und zweckdienlich ausgestalteten mathematischen Unterricht beeinflußt werden muß.
Das Studium der Mathematik an den deutschen Universitäten.
Von Prof. Dr. W. Lorey, Direktor der ötfentlichen Handelslchranstalt in Leipzig.
[Erscheint Ostern 1914. |
Verlag von B. G. Teubner in Leipzig und Berlin
Mathematische Bibliothek
Gemeinverständliche Darstellungen aus der Elementar-Mathematik
für Schule und Leben
Unter Mitwirkung von Fachgenossen herausgegeben von
Dr. W. Lietzmaun und Professor Dr. A. Witting
In Kleinoktavbändchen kartoniert je Jl — .80.
Bisher erscliiencn:
1. E. LÖffler, Ziffern und Ziffemsysteine bei den
Kulturvölkern in alter und neuer Zeit. 1912.
". H. Wieleitner, der Begriff der Zahl in seiner
logischen und historischen Entwicklung. Mit
10 Figuren. 1011.
3. W. Lietzmann, der pythagoreische Lehrsatz mit
einem Ausblick auf das Fermatsclie Problem.
Mit 44 Figuren. 1912.
4. 0. Meißner, Wahrscheinlichkeitsrechnung nebst
Anwendungen. Mit 6 Figuren. 1912.
X>. H.E. Timerding, die Fallgesetze. Mit 20 Fig. 1912.
0. M. Zacharias, Einführung In die projektive
Geometrie. 1912.
7. H. Wieleitner, die sieben Becbnangsarten mit
allgemeinen Zahlen. 1912.
8. P. Math, Theorie der Flanetenbewegnng. Mit
17 Figuren. 1912.
9. A. Witting, Einführung in die InflniteBimal-
rechnung. Mit 40 Figuren. 1912.
10. W. Lietzmann u.V. Trier, wo steckt der Fehler?
Mit -2.\ Figuren. 191.<!.
11. P. Zühlke, Konstruktionen in begrenzter
Ebene. Mit 6.ö Figuren. 1913.
12. E. Beutel, die Quadratur des Kreiset. Mit
15 Figuren 1913.
13. Ph. Maennchen, Geheimnisse der Bechen-
künstler. 1913.
14. R. Rothe, darstellende Geometrie des Ge-
ländes. Mit 82 Figuren. 1914.
15. A. Witting u. M. Qebhardt, Beispiele zur Ge-
schichte der Mathematik. Mit 28 Fig. 1913.
Weitere Bändchen in Vorbereitung.
Der kleine GeOmeter. von G. C. und W. H. Young. Deutsch von S. n.
P. Bernstein. Mit 127 Textfiguren und 3 bunten Tafeln. In Leinw. geb. M. 3. —
„...Wieviel Schuluot könnte den Kindern erspart bleiben, wenn ihnen so halb im Spiel das
geometrische Sehen und Denken beigebracht, der geometrische Instinkt geweckt würde I Wie ganz
anders treten sie an die so gefürchtete Schulmathematik heran. Übersetzer wie Verleger verdienen
den Dank der Eltern und der Jugend für diese deutsche Ausgabe, die sich nicht nur durch glatte,
flüssige Diktion — man merkt nicht, dafi man eine Übersetzung liest — sondern auch durch vor-
zügliche Ausstattung auszeichnet." (Münohener Neueste Nachrichten.)
Das chinesisch -japanische GO-Spiel. Eine systematische Darstellung
und Anleitung zum Spielen desselben von Professor L. Pfaundler. Mit zahl-
reichen erklärenden Abbildungen. In Leinw. geb. M. 3. —
Das Go-Spiel ist das älteste »llfr Brettspiele und erscheint, wenn man es mit dem Schach
vergleicht, diesem an Geist völlig ebenbürtig. Verfasser entwickelt die einfachen Spielregeln an
der Hand zahlreicher Figuren und l'.eispiele und bringt als Muster japanische Originalpnrtien
und Probleme mit ihren Lösungen bei. In der zweiton Abteilung sucht er auf Grund eigener
Studien durch präzisere Fassung der maSgebenden Begriffe tiefer in die Kombinationen des Spieles
einzudringen.
Scherz und Ernst in der Mathematik. Gesügeite und ungesügeite
Worte. Von Dr. W. Ähren s. In Leinw. geb. M. 8. —
„Ein ,Büchmann' für das Spezialgebiet der mathematischen Literatur. . . . Manch ein kurzes
treffendes Wort verbreitet Licht über das Streben der in der mathematiscUea AVissenschaft führenden
Geister. Hierdurch aber wird d'..s sorgfältig bearbeitete Ahrenssche Werk eine zuverlässige Quelle
nicht allein der Unterhaltung, sondern auch der Belehrung über Wesen, Zweck, Aufgabe und
Geschichte der Mathematik" (Monatschrift für höhere Schulen.)
Mathematische Unterhaltungen und Spiele, von Dr w Ahrens.
2., vermehrte und verbesserte Auflage. In 2 Bänden. In Leinw. geb. I. Band.
Mit 200 Figuren. M. 7.50. II. Band. [In Vorher.] Kleine Ausgabe: Mathe-
matische Spiele. 2. Auflage. Mit einem Titelbild und 77 Figuren. Geh.
M. 1.—, in Leinw. geb. M. 1.25. (Bd. 170: Aus Natur und Geisteswelt.)
,,l)er Verfasser wollte sowohl den Fachmann, den der theoretische Kern des Spieles interessiert,
als den mathematisch gebildeten Laien befriedigen, dm es »ich um ein a-nregondes Gedankeuspiel
handelt; und er hat den richtigen Weg gefunden, beides zu erreichen. Dem wissenschaftlichen
Interesse wird er gerecht, indem er durch die sorgfaltig zusammengetragene Literatur und durch
Ein$c)ialtnngen mathematischen Inhalts die Beziehungen zur Wissenschaft herstellt; dem Nicht-
muthematiker kommt er durch die trefflichen Erläuterungen entgegen, die er der Lösung der ver-
schiedenen Spiele zuteil werden läßt, und die er, wo nur irgend nö:ig, durch Schemata, Figuren
und dergleichen unterstützt." (Zeitschrift für das Realschulwesen.)
Verlag von B. G. Teubner in Leipzig und Berlin
WISSENSCHAFT UND HYPOTHESE.
Sammlung von Einzeldarstellungen aus dem Gesamtgebiet der
Wissenschaften mit besonderer Berücksichtigung ihrer Grundlagen
und Methoden, ihrer Endziele und An^vendungen.
8. In Leinwand geb.
Die Sammlung will die in den verschiedenen Wissensgebieten durch rastlose Arbeit ge-
wonnenen Erkenntnisse von umfassenden Gesichtspunkten aus im Zusammenhang mitein-
ander betrachten. Die Wissenschaften werden in dem Bewußtsein ihres festen Besitzes, in
ihren Voraussetzungen dargestellt, ihr pulsierendes Leben, ihr Haben, Könnenund Wollen
aufgedeckt. Andererseits aber wird in erster Linie auch auf die durch die Schranken der
Sinneswahmehmung und der Erfahrung überhaupt bedingten Hypothesen hingewiesen.
I: Wissenschaft und Hypothese. Von H. Poincard in Paris. Autorisierte
deutsche Ausgabe mit erläuternden Anmerkungen von F. und L. Lindemann in
München. 2., verbesserte Aufl. 1906. Geb. JC 4.80. (3. Auflage in Vorb.)
E: Der Wert der Wissenschaft. Von H. Poincari in Paris. Deutsch von
E.Weber. 2. Auflage. 1910. Geb. Jl 3.60.
UI: Mythen bildung und Erkenntnis. Eine Abhandlung über die Grundlagen
der Philosophie. Von G. F. Lipps in Leipzig IQO?. Geb. Jl 'i^. —
IV: Die nichteuklidische Geometrie. Historisch-kritische Darstellung ihrer Ent-
wicklung. Von R. Bonola in Pavia. Autorisierte deutsche Ausgabe von H. Lieb-
mann in Leipzig. Mit 76 Figuren. 1908. Geb. M 5. —
V: Ebbe und Flut sowie verwandte Erscheinungen im Sonnensystem. Von G. H.
Darwin in Cambridge. Autorisierte deutsche Ausgabe von A. Pockcls in Braun-
schweig. 2. Aufl. Mit einem Einfdhrungswort von G. v. Neumayer in Hamburg.
Mit 52 Illustrationen. 191 1. Geb. Ji ^. —
VI: Das Prinzip der Erhaltung der Energie. Von M. Planck in Berlin. 3. Aufl.
1913. Geb. JC (>. —
VII: Grundlagen der Geometrie. Von D. Hilbert in Göttingen. 4., durch Zu-
sätze und Literaturhinweise von neuem vermehrte und mit sieben Anhängen versehene
Auflage. 191 3. Geb. Jl (>. —
\T:II: Geschichte der Psychologie. Von O. Klemm in Leipzig. 1911. Geb../^8. —
IX: Erkenntnistheoretische Grundzüge der Naturwissenschaften und ihre Be-
ziehungen zum Geistesleben der Gegenwart Von P. Volkmann in Königsberg
i. P. 2. Auflage. 1910. Geb. JC t. —
X: Wissenschaft und Religion in der Philosophie unserer Zeit. Von E.
Boutroux in Paris. Deutsch von E. Weber in Straßburg i. E. Mit einem Ein-
führungswort von H. Holtzmann. 1910. Geb. Jl 6. —
XI: Probleme der Wissenschaft. Von F. Enriques in Bologna. Deutsch von
K. Grelling in München. 2 Teile. 19 10. Geb.
I. Teil: Wirklichkeit und Logik. M 4.— II. Teil; Die Grundbegriffe der Wissenschaft. M 5.—
XII: Die logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften. Von P. Natorp
in Marburg. 19 10. Geb. JC 6.60.
XIII: Die pflanzengcographischen Wandlungen der deutschen Landschaft.
Von Prof. Dr. H. Hausrath in Karlsruhe. 19 II. Geb. Jl S- —
XIV: Das Weltproblem vom Standpunkte des relativistischen Positivismus
aus. Von Dr. J. Pctzoldt in Charlottcuburg. 2. Auflage. 19 12. Geb. Ml. —
XV: Wissenschaft und Wirklichkeit. Von Dr. M. Frischeisen-Köhler in
Berlin. 19 12. Geb. JC %. —
XVI: Das Wissen der Gegenwart in Mathematik und Naturwissenschaft. Von 6.
Picard in Paris. Deutsch von F. u. L. Linde mann in München. 1913. Gcb.c^^ö. —
XVII: Wissenschaft und Methode. Von H. Poincari in Paris. Deutsch von
F. u. L. Lindemann in München. 1914. Geb. ca. JC 6. —
XVIII: Probleme der Sozialphilosophie. Von R. Michels in Basel. 1914.
Geb. .fl 4.80.
Weitere Bände in Vorbereitung.
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QA Voss, Aiirel Edmund
9 Die Beziehungen der
V6 Mathematik zur Kultur der
Gegenwart
P&ASci