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Full text of "Die Beziehungen der Mathematik zur Kultur der Gegenwart [von] A. Voss. Die Verbreitung mathematischen Wissens und mathematischer Auffassung [von] H.E. Timerding"

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Voss,  Aurel  Edmund 

Die  Beziehimgen  der 
Mathematik  zur  Kultur  der 
Gegenwart 


DIE  KULTUR  DER  GEGENWART 

HERAUSGEGEBEN  VON  PAUL  HINNEBERG 


DIE  MATHEMATISCHEN 
WISSENSCHAFTEN 

UNTER   LEITUNG  VON    F.  KLEIN 


DES    GESAMTWERKES 
TEIL  III   ABTEILUNG  1 


ZWEITE  LIEFERUNG 

AVOSS:   DIE   BEZIEHUNGEN   DER  MATHEMATIK 
ZUR  KULTUR  DER  GEGENWART 

^TT  TIMERDING:  DIE  VERBREITUNG  MATHEMATISCHEN 
DISSENS  UND  MATHEMATISCHER  AUFFASSUNG 


1914 

BERLIN  UND  LEIPZIG 

DRUCK  UND  VERLAG  VON  B.  G.  TEUBNER 


von 


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zu  bringe         - 

die  Bedeutung 
Gebildeten  \m 
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[itet  von  vo  r  ■(-irölj^^^^^^^pi^geiide  kurze  Inhalts- 
.ennen,  Vvde  ,  .!  !-;•.  'ifli^^^^^P  haben,  dieser  Schwierig- 
'■■;■;;'.  I^^^^H^'''^^  iiby:"  (^J;  "■^\':  scn  und 
(iathematisclien.  Wissenschaften,  die  als  solche  jedem 
•  i:h  s;^iTi  ^vrvl'Ts,  Mit  den  Hefter!  B,  C  und  D  bringen 
:;  j.iiOi.i  ij,!!-  ic:;:,  j '.  ^torischeii  \,o^..]('  ,r.ngs  unserer  Diszi- 
.,  :in,  daß  diese  Form  der  Darlc-u-jg;  ;'-  ,,  '  '!ie 
aUgemsinen  '/ erknüpf ungen  als  den  besonderen  Inhalt  der  auiemaTiüer- 
folgenden  Entwickehing-en  hervortreten  läßt,  zu  ihrem  Verständnis  zwar 
scdb.stversländlic})  ,  :  ■      ,    '        ,      ■  -^e  voraussetzen  muß, 

aber  doch     ■        ^  ^ei  Zugang..«  ; ,  ai ,  eitM    '  .  oionatische  Darstellung, 

die  ihre  V\  ir.-.LiJ.i^  erst  bei  strei.j,-  jxi  j'cich^ludivju  ^  ntfalten  kann.  In  E  wird 
sodann  der  schv.derigo  Versuch  gemacht,  das  Wesen  der  mathemati- 
sche}-; '  ,1  :  ^;i  .j',s  in  einer  dcni  ljeiilie(;n  Stauopurikte  entsprechenden 
Form.  ;-v.'-i     .:    '■   '■■■■':'''''.■  :-\i   u,):\-v;](":  ■  l. 

Vvx    ciie    iJurchführung    oes    hiermit    charai-uensierien    ilaues    ist    in 
!^        i  ierem   Grade   —   mehr,   als   bei    anderen   Bänden   der   „Kultur   der 

C;  ;•  , :\v  ;rv'  ciiKi  gfi/'  -:^;  ;>'j;ciiUchkeit  der  Darlegungen  wünschen.:-- 

wert.  Es  mußte  also  nach  der  Möglichkeit  gesucht  werden,  daß  der  eine 
Autor  auf  dem  anderen  aufbauen  kann.  Wir  sind  dsrVerlagsbuchhandlung 
außerordentlich  dankbar,  daß  sie  zu  diesem  Zw<:;ck''.  einer  Ausgabe  des 
V;.  ■    ,   lii  .-■'tzelnen  Liefer:     '  ■.  '    ■  :■;^_   iLrinit  iiar. 

INHALT::^AKL/.]'i^  DES  BANDES, 

A:  A.Voß,  die  Beziehungen  der  Mathematik  zur  Kultur  der  Gegenwart; 
H.  E.  Timerding,  die  Verbreitung  raatheroÄtischen  Wissens  vp,d  »i^f' 
thematischer  Auffassung.    [A  --  Lieferung  II.] 

B:  H.  G.  Zeuthen,  die  Mathematik  im  Altertum  mid  im  Mittelalter 
schien  als  Lieferung  I  bereits  1912.] 

C:  P.  Stäckel,  die  Mathematik  im  16,,  17.  und  18.  Jahrhundert.  [InVorb] 

D:  N,  N.,  die  Mathematik  der  Neuzeit.    [In  Vorbereitung.] 

E:  A.Voß,  mathematische  Erkenntnis.    [Erscheint  als  Lieferung  lil   im 

Fi-uhjahr  19 14,] 

Gdiiiiigfcu,  im  tJezeuiber  191J. 


F.  KLEIN 


/ 


DIE  KULrUR  DER  GEGENWART 

IHRE  ENTWICKLUNG  UND  IHRE  ZIELE 

HERAUSGEGEBEN  VON  PROF.  PAUL  HINNEBERG 

In  4  Teilen.    Lex.-8.   Jeder  Teil  in  inhaltlich  vollständig  in  sich  abgeschlossenen 
und  einzeln  käuflichen  Bänden  (Abteilungen).    Geheftet  und  in  Leinwand  ge- 
bunden.   In  Halbfranz  gebunden  jeder  Band  M.  2. —  mehr. 

Die  „Kultur  der  Gegenwart"  soll  eine  systematisch  aufgebaute,  geschichtlich  be- 
gründete Gesamtdarstellung  unserer  heutigen  Kultur  darbieten,  indem  sie  die  Fundamen- 
taler^ebnisse  der  einzelnen  Kulturgebiete  nach  ihrer  Bedeutung  für  die  gesamte  Kultur  der 
Gegenwart  und  für  deren  Weiterentwicklung  in  großen  Zügen  zur  Darstellung  bringt.  Das  Werk 
vereinigt  eine  Zahl  erster  Namen  aus  allen  Gebieten  derWissenschaft  und  Praxis 
und  bietet  Darstellungen  der  einzelnen  Gebiete  jeweils  aus  der  Feder  des  dazu  Berufensten  in 
gemeinverständlicher,  künstlerisch  gewählter  Sprache  auf  knappstem  Räume. 

Seine  Majestät  der  Kaiser  hat  die  Widmung  des  Werkes  AUergnädigst  anzunehmen  geruht. 

Prospekthefte  werden  den  Interessenten  unentgeltlich  vom  Verlag  B.G.  Teubner  in  Leipzig,  Poststr.  ■j,  tugesandt. 


I.  Teil.  Die  geisteswissenschaftlichen  Kulturgebiete,  i.  Hälfte.  Religion 
und  Philosophie,  Literatur,  Musik  und  Kunst  (mit  vorangehender  Einleitung 
zu  dem  Gesamtwerk).    [14  Bände.] 

(*  erschienen.) 


*Die  aUgemeinen  Grundlagen  der  Kultur  der 

Gegenwart.    (I,  i.)    2.  Aufl.    [XIV  u.  716  S.]    1912. 

M.  18.—,  M.  20.— 

Die    Aufgaben    und    Methoden   der    Geistes- 
wissenschaften.   (I,  2.) 
*Die  Religionen  des  Orients  und  die  altgerman. 

Religion,     il,  3,  i.)     2.  Aufi.     [X  u.  287  S.]     1913. 

M.  8.—,  M.  10.— 

Die  Religionen  des  klassisch.  Altertums.  (1,3,2.) 
'Geschichte  der  christlichen  Religion.    MitEin- 

leitg.:  Die  israelitisch-jüdische  Religion.   (1, 4,  i.) 

2.  Aufl.    [X  u.  792  S.]     190g.     M.  18. — ,  M.  20. — 
'Systematische  christliche  Religion.     (I,  4,  2.) 

2.  Aufl.    [VIII  u.  279  S.]    1909.  M.  6.60,  M.  8.— 
'Allgemeine  Geschichte  der  Philosophie.   (I,  5.) 

2.  Auflaj^e.    [X  u.  620  S.]    1913.    äL  X4.— ,  M.  16. — 
•Systematische  Philosophie.    (I,  6.)    2.  Auflage. 

(X  u.  455  S.]    1908.    M.  10. — ,  M.  12. — 
*Die  orientalischen  Literaturen.  (I,  7.)  [IX  11.4x9  S.] 

1906.    M.  10.—,  M.  12. — 


*Die  griechische  und  lateinische  Literatur  und 
Sprache.  (I,  8.)  3.  Auflage.  [Vm  n.  582  S.]  1912. 
^L   12.—,  M.  14. — 

*Die  osteuropäischen  Literaturen  und  die 
slawischen  Sprachen.  (1,9.)  [VIII  u.  396  S.] 
1908.     M.  10. — ,  M.  12. — 

Die  deutsche  Literatur   und  Sprache.    (I,  10.) 

*Die  romanischen  Literaturen  und  Sprachen. 
Mit  Einschluß  des  Keltischen.  (I,  xi,  i.)  [VIII  u. 
499  S.]     1908.     M.  12.—,  M.  14. — 

Englische  Literatur  und  Sprache,  skandina- 
vische Literatur  und  allgemeine  Literatur- 
wissenschaft.    (I,  XI,  2.) 

Die  Musik.    (I,  12.) 

Die  orientalische  Kunst.  Die  europäische 
Kunst  des  Altertums.    (I,  13.) 

Die  europäische  Kunst  des  Mittelalters  und  der 
Neuzeit.  Allgemeine  Kunstwissenschaft.  (1,14.) 


IL  Teil.    Die  geisteswissenschaftlichen  Kultur  gebiete.   2.  Hälfte.   Staat  und 
Gesellschaft,  Recht  und  Wirtschaft.    [10  Bände.] 

(•  erschienen.) 
Völker-,  Länder-  und  Staatenkunde.    (II,  i.) 


*Allg.  Verfassungs-  u.  Verwaltungsgescbichte. 
(TI,  2,  I.)     [Vin  u.  373  S.]     19x1.    M.  10.—,  M.  12.— 

Staat  und  Gesellschaft  des  Orients  von  den  An- 
fängen bis  zur  Gegenwart.  (II,  3.)  Erscheint  1914. 

'^Staatund  Gesellschaft  der  Griechen  u.  Römer. 
(U,  4,  I.)     [VI  u.  280  S.]    X910.     M.  8.—,  M.  10.— 
Staat  und  Gesellschaft  Europas  im  Altertum 
und  Mittelalter.    (II,  4,  2.) 

»Staat  u.  Gesellschaft  d.  neueren  Zeit  (b.  z.  Franz. 
Revolution).  (II,  5,1.)  [VIU.349S.]  1908.  M.9.— ,M.ii.- 
Staat  und  Gesellschaft  der  neuesten  Zeit  (vom 
Be^nn  der  Französischen  Revolution).     (II,  5,  2.) 


System  der  Staats-  und  Gesellschaftswissen- 
schaften.   (II,  6.) 
Allgemeine  Rechtsgeschichte  mit  Geschichte 
der  Rechtswissenschaft.  (II,  7,  x.)  Erscheint  1914. 

'Systematische    Rechtswissenschaft.      (II,     8.) 
2.  Aufl.    (XIII  u.  583  S.)    1913.    M.  14.—,  M.  16.— 

Allgemeine    Wirtschaftsgeschichte     mit    Ge- 
schichte der  Volkswirtschaftslehre.    (II,  9.) 
•Allgemeine  Volkswirtschaftslehre.    (II,   10,  x.) 
2.  Aufl.    (VI  u.  256  S.)     1913.    M.  7. — ,  M.  9. — 
Spezielle  Volkswirtschaftslehre.    (II,  xo,  2.) 
System  der  Staats-  und  Gemeindewirtschafts- 
lehre (Finaiizwissenschaft).    (II,  10,  3.) 


in.  Teil.  Die  mathematischen,  naturwissenschaftlichen  und  medizinischen 
Kulturgebiete.     [19  Bände.] 

(*  erschienen :  I,  i.  I,  2.  III,  2.  IV,  2.  IV,  4;  -j-  unter  der  Presse :  I,  3.  III,  i.  III,  3.  IV,  x.  VII,  1.) 
*I.  Abt.  Die  math. Wissenschaften.  (iBand.) 
Abteilungsleiter  und  Uandredakteur:  F.  Klein.  Be- 
arbeitet von  P.  Stäckel,  H.  E.  Timerding,  A.  Voß, 
H.G.Zeuthen.  5  Lieferungen.  Lex.-8.  *I.Lfg(Zeuthen). 
[IVU.95S.]  1912.  Geh.  M.3.—  *  II.  Lfg  (Voß  und 
Timerding.)  [lVu.i6iS.]  1914.  f  IH.  Lfg(Voß)u.d.Pr. 
n.  Abt.  Die  Vorgeschichte  der  modernen 
Naturwissenschaften  u.d.  Medizin,  (i  Band.) 
Bandredaktcure :  J.  Ilberg  und  K.  Sudhoff.  Bearb.  von 
F.Boll,  S.Günther,  I.L.  Heiberg,  M.Hoefler,  J.  Ilberg, 
£.  Seidel,  K.  Sudhoff,  E.Wiedemann  u.a. 

III.  Abt.    Anorgan.   Naturwissenschaften. 

Abteilungsleiter:  E.  Lecher. 
tBand  i.  Physik.  Bandredakteur:  E.Warburg.  Bearb. 

von  F.  Auerbach,  F.  Braun,  E.  Dorn,  A.  Einstein,  J. 

Elster,  F.Exner,  R.  Gans,  E.Gehrcke,  H.Geitel,  E.Gum- 

lich,  F.  Hasenöhrl,  F.  Henning,  L.  Holborn,  W.  Jäger, 

W.  Kaufmann,  E.  Lecher,  H.  A.Lorentz,  O.  Lumraer, 

St.  Meyer,   M.  Planck,   O.  Reichenheim,  F.  Richarz, 

H.  Rubens,  E.  v.Schweidler,  H.Starke,  W.Voigt,  E. 

Warburg,  E.Wiechert,  M.  Wien,  W.Wien,  O.Wiener, 

P.  Zeeman. 
•  Band  2.     Chemie.      Bandredakteur:    E.  v.  Meyer. 

Allgemeine  Kristallographie  und  Mineralogie. 

Bandred.:  Fr.  Rinne.  Bearb.  von  K.  Engler,  H.  Immen- 
dorf, +0.  Kellner,  A. Kossei,  M.LeBlanc,  R.Luther, 

E.V.Meyer,  W.  Kernst,    Fr.  Rinne,   O.  Wallach,  O. 

N.Witt,  L.  Wöhler.  MitAbbildg.  riVu.665S.l    lon. 

j(iS.-,j(2o.-  0    j    y  j 

•fBand  3.  Astronomie.  Bandredakteur :  J.  Hartmann. 
Bearbeitet  von  L.  Ambronn,  F.  Boll,  A.  v.  Flotow, 
F.  K.  Ginzel,  K.  Graff,  J.  Hartmann,  J.  v.  Hepperger, 
H.  Kobold,  E.  Pringsheim,  F.  W.  Ristenpart. 
Band  4.  Geonomie.  Bandredakteure: -J-I.B. Messer- 
schmitt und  H.  Benndorf.  Mit  einer  Einleitung  von 
F.  R.  Helmert.  Bearbeitet  von  H.  Benndorf,  f  G.  H. 
Darwin,  O.  Eggert,  S.  Finsterwalder,  E.  Kohlschütter, 
H.  Mache,  A.  Nippoldt. 

Band  5.  Geologie  (einschließlich  Pefrographie). 
Bandredakteur :  A.  Rothpletz.  Bearbeitet  von  A.  Ber- 
geat,  J.  Königsberger,  A.  Rothpletz. 
Band  6.  Physiogeographie.  Bandredakteur:  E. 
Brückner,  i.  Hälfte:  Allgemeine  Physiogeographie. 
Bearbeitet  von  E.  Brückner,  S.  Finsterwalder,  J.  von 
Hann,  fO.Krümmel,  A.  Merz,  E.  Oberhummer  u.  a. 
2.  Hälfte:  Spezielle  Physiogeographie.  Bearbeitet  von 
E.  Brückner,  W.  M.  Davis  u.  a. 

IV.  Abt.  Organische  Naturwissenschaften. 
Abteilungsleiter:  R.  von  Wettstein. 


tBand  i.  Allgemeine  Biologie.  Bandredakteure: 
C.  Chun  und  AV.  L.  Johannsen.  Bearbeitet  von 
E.  Baur,  P.  Claußen,  A.  Fischel,  E.  Godlewski,  W. 
L.  Johannsen,  E.  Laqueur,  B.  Lidforss,  W.  Ostwald, 
O.Porsch,  H.Przibram,  E.Radi,  W.  Rom,  AV.Schleip, 
H.  Spemann,  O.  zur  Straßen,  R.  von  Wettstein. 

•Band  2.  Zellen-  und  Gewebelehre,  Morphologie 
u.  Entwicklungsgeschichte,  i.  Botanischer  TeiL 
Bandred.:  f  E.  Strasburger.  Bearb.  von  W.  Benecke 
und  f  E.  Strasburger.  Mit  Abb.  [VII,  310  S.]  7913. 
Jt  io.—,J{  12. — .   2.  Zoologischer  Teil.  Bandrcd.: 

0.  Hertwig.  Bearb.  von  E.  Gaupp,  K.  Heider,  O.Hert- 
wig,  R.  Hertwig,  F.  Keibel,  H.  Poll.  Mit  Abb.  [VIU, 
395  S.]   1913.  .Ui6.~,JljH.— 

Band  3.  Physiologie  u.  Ökologie.  I.  Botan.  TeiL 
Bandredakteur:  G.  Haberlandt.  Bearbeitetv. E. Baur, 
Fr.  Czapek,  H.  von  Guttenberg.  II.  Zoolog.  Teil. 
Bandredakteur:  M.Rubner.  Mitarb.  noch  unbestimmt. 

♦Band  4.  Abstammungslehre,  Systematik,  Paläon- 
tologie, Biogeographie.  Bandredakteure:  R. 
Hertwig  und  R.v. Wettstein.   Bearbeitet  von  O.Abel, 

1.  E.  V.  Boas,  A.  Brauer,  A.  Engler,  K.  Heider,  R.  Hert- 
wig, W.  J.  Jongmans,  L.  Plate,  R.  v.  Wettstein.  Mit  Abb. 
[IX,  620  S.]  1914.  Jl  20. — ,  jft  22. — 

V.Abt.  Anthropologie  einschl. naturwissen- 
schaftl.  Ethnographie,  (i  Bd.)  Bandredakteur: 
G.  Schwalbe.  Bearb.  von  E.  Fischer,  R.  F.  Graebner, 
M.  Hoernes,    Th.  Mollison,    A.  Ploetz,    G.  Schwalbe. 

VI.  Abt.  Die  medizin.  Wissenschaften. 
Abteilungsleiter :  Fr.  von  Müller. 
Band  i.  Die  Geschichte  der  modernen  Medizin. 
Bandredakteur:  K. Sudhoff.  Bearb.  von  M.  Neuburger, 
K.  Sudhoff  u.  a.  Die  Lehre  von  den  Krankheiten. 
Bandredakteur;  W.  His.  Mitarbeiter  noch  unbestimmt. 
Band  2.  Die  medizin.  Spezialfächer.  Bandredakt.: 
Fr.  V.Müller.  Zunächst  bearbeitet  von  K.  Bonhoeffer, 
A.  Czerny,  R.  E.  Gaupp,  K.  v.  Hess,  W.  v.  Leube,  L. 
Lichtheim,  H.  H.  Meyer,  O.  Minkowski,  L.A.Neisser, 
W.  Osler. 

Band  3.  Beziehungen  d.  Medizin  zum  Volkswohl. 
Bandredakteur:  M.  v.Gruber.  Mitarb.  noch  unbestimmt. 

VII.  Abt.   Naturphilosophie  u.  Psychologie. 
fBand  I.Naturphilosophie.  Bandredakteur:  C.Stumpf. 

Bearbeitet  von  E.  Becher. 

Band  2.    Psychologie.    Bandredakteur:  C  Stumpf. 

Bearbeitet  von  C.  L.  Morgan  und  C.  Stumpf. 

Vni.  Abt.  OrganisationderForschungu.  des 
Unterrichts.  (l  Band.)  Bandredakteur:  A.Gutzmer. 


IV.  Teil.    Die  technischen  Kulturgebiete.    [15  Bände.] 

AbteUungsleiter:  W.  von  Dyck  und  O.  Kammerer.     (•  erschienen:  Band  12;  +  unter  der  Presse:  Band  2.) 

Band   I.    Vorgeschichte    der    Technik.     Band 
redakteur  und  Bearbeiter:  C.  Matschoß. 
+Band 


Gewinnung  und  Verteilung  mecha- 
scher  Energie.  Bandredakteur:  M.Schröter.  Be- 
arbeitet von  H.  Bunte,  R.  Escher,  K.  v.  Linde,  W. 
Lynen,  Fr.  Schäfer,  R.  Schöttler,  M.  Schröter,  A. 
Schwaiger. 

Band  3.  Bergbau.  Bandredakteur :  W.  Bomhardt. 
Bearbeitet  von  H.  E.  Böker,  G.  Franke,  Fr.  Herbst, 
M.  Krabmann,  M.  Rcuß,  O.  Stegemann. 

Band  4.  Hüttenwesen.  Bandredakteur  und  Mit- 
arbeiter  noch  unbestimmt. 

Bands.  Landwirtschaft.  In  3 Teilbänden.  L Wirt- 
schaftslehre. Bandredakteur:  E.  Laur.  11.  Pflanzen- 
produktionslehre. Bandredakteur:  K.  v.  Rümker.  III. 
Ticrproduktionslehre.  Bandredakteur:  F.  Hoesch. 
Mitarbeiter  noch  unbestimmt. 

Band  6.  Forstwirtschaft.  Bandredakteure  und 
Bearbeiter:  R.Beck  und  H.Martin. 

Band  7.  Mechanische  Technologie.  Bandredak- 
teure: E.  Pfuhl  und  A.  Wallichs.  Bearbeitet  von 
P.  v.  Denffer,  Fr.  Hülle,  O.  Johannsen,  E.  Pfuhl,  M. 
Rudeloff,  A.Wallichs. 


Band  8.  Chemische  Technologie.  Bandredaktear 
und  Mitarbeiter  noch  unbestimmt. 


Band  9.  Siedelungen.  Bandredakteure:  W.Franz 
und  C.  Hocheder.  Bearbeitet  von  H.  E.  von  Berlepsch- 
Valendas,  W.  Bertsch,  K.  Diestel,  M.  Dülfer,  Th. 
Fischer,  H.  Grässel,  C.  Hocheder,  R.  Rehlen.  R. 
Schachner,  H.  v.  Schmidt,  R.  L.  A.  Weyrauch  u.  a. 
Band  10  und  ix.  Verkehrswesen.  Bandredakteur: 
O.  Kammerer.  Mitarbeiter  noch  unbestimmt. 
•Band  12.  Technik  des  Kriegswesens.  Band- 
redaktcur:  M.  Schwarte.  Bearbeitet  von  K.  Becker, 
O.  v.  Eberhard,  L.  Glatzel,  A.  Kersting,  O.  Kretschmer, 
O.  Poppenberg,  J.  Schroeter,  M.  Schwarte,  W.  Schwin- 
ning.  Mit  Abb.  [X,  886  S.]  1913.  M  24.—,  M  26.— 
Band  13.  Die  technischen  Mittel  des  geistigen 
Verkehrs.  Bandredakteur:  A.  Miethe.  Bearbeitet 
von  E.  Goldberg,  A.  Miethe  u.  a. 
Band  14.  Entwicklungslinien  der  Technik  im 
ig.  Jahrh.  Organisation  der  Forschung.  Unter- 
richt. Bandrcd.:  W.v.  Dyck.  Mitarb. noch  unbestimmt. 
Band  15.  Die  Stellung  d.  Technik  zu  den  anderen 
Kulturgebieten.  lu.II.  Bandredakteur:  W.v.  Dyck. 
Bearbeitet  von  Fr.  Gottl.  von  Ottlilienfeld,  H.  Herkner, 
C.  Hocheder  u.  a. 


Interims -Titel 


DIE  KULTUR  DER  GEGENWART 

IHRE  ENTWICKLUNG  UND  IHRE  ZIELE 

HERAUSGEGEBEN  VON 

PAUL  HINNEBERG 


DIE 

KULTUR  DER  GEGENWART 

IHRE  ENTWICKLUNG  UND  IHRE  ZIELE 


DRITTER  TEIL 

MATHEMATIK  •  NATURWISSENSCHAFTEN 

MEDIZIN 

BEARBEITET  UNTER  LEITUNG  VON 

F.  KLEIN  •  E.  LECHER  •  R.  v.  WETTSTEIN 
FR.  V.  MÜLLER 

ERSTE  ABTEILUNG 

DIE  MATHEMATISCHEN  WISSENSCHAFTEN 

UNTER  LEITUNG  VON  F.  KLEIN 


DRUCK  UND  VERX  AG  VON  B.  G.  TEUBNER .  LEIPZIG  •  BERLIN  .1914 


DIE   MATHEMATISCHEN 
WISSENSCHAFTEN 

UNTER   LEITUNG  VON    F.  KLEIN 

ZWEITE  LIEFERUNG 

A.VOSS: 

DIE  BEZIEHUNGEN  DER  MATHEMATIK 

ZUR  KULTUR  DER  GEGENWART 

H.E.  TIMERDING: 

DIE  VERBREITUNG  MATHEMATISCHEN  WISSENS 

UND  MATHEMATISCHER  AUFFASSUNG 


DRUCK  UND  VERLAG  VON  B.  G.  TEUBNER .  LEIPZIG  •  BERLIN  .1914 


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COPYRIGHT  1914  BY  B.  G.  TEUBNER  IN  LEIPZIG 


ALLE  RECHTE,  EINSCHLIESSLICH  DES  ÜBERSETZUNGSRECHTS,  VORBEHALTEN 


INHALT  DER  ZWEITEN  LIEFERUNG. 

A.VOSS:  DIE  BEZIEHUNGEN  DER  MATHEMATIK 

ZUR  ALLGEMEINEN  KULTUR     ....  Seite     i 

H.  E.  TIMERDING :  DIE  VERBREITUNG  MATHEMATISCHEN  WISSENS 
UND  MATHEMATISCHER  AUFFASSUNG. 

Einleitung Seite  50 

I.  Die  mathematische  Bildung  der  Ägypter m      56 

II.  Die  mathematische  Bildung  der  Griechen ,,62 

lU.  Die  mathematische  Bildung  des  früheren  Mittelalters 78 

IV.  Die  mathematische  Bildung  in  der  Zeit  des  Scholastizismus  ...  „83 

V.  Die  mathematische  Bildung  der  Renaissance if      87 

VI.  Die  mathematische  Bildung  des   17.  und   18.  Jahrhunderts     ...  ,,98 
VII.  Der  mathematische  Unterricht  in  Deutschland  während  des  19.  Jahr- 
hunderts      „112 

VIII.  Die  Ausgestaltung   des   modernen   mathematischen   Bildungswesens  „    136 

Literatur „160 


DIE  BEZIEHUNGEN  DER  MATHEMATIK 
ZUR  ALLGEMEINEN  KULTUR. 

Von 
A.  Voss. 

Unter  Kultur  verstehen  wir  die  Gesamtheit  aller  Bestrebungen,  durch 
welche  der  Mensch  sich  aus  dem  nur  auf  die  Befriedigung  der  nötigsten  Bedürf- 
nisse des  Lebens  gerichteten  Zustande  zu  einer  höheren  Stufe  des  Daseins  er- 
hebt, in  der  zugleich  mit  der  Ausbildung  aller  feineren  Äußerungen  seines 
sinnlichen  und  geistigen  Wesens  auch  die  Mittel  geschaffen  werden,  den  Forde- 
rungen desselben  gerecht  zu  werden.  Dieser  allgemeine  Begriff  der  Kultur  um- 
faßt nicht  nur  den  jeweiligen  Zustand  der  wissenschaftlichen  und  technischen  Technische  und 

Wissenschaft- 
Entwicklung,  sondern  auch  das  ganze  Gebiet  der  künstlerischen,  sozialen,  sitt-    uche  Kultur. 

liehen  und  religiösen  Formen,  in  denen  das  Leben  der  Menschheit  sich  aus- 
prägt. Hier,  wo  es  sich  darum  handelt,  die  Beziehungen  einer  Wissenschaft, 
wie  der  Mathematik,  zu  der  gegenwärtigen  Kultur  darzulegen,  wird  selbst- 
verständlich ganz  vorwiegend  von  der  Kultur  im  ersten  Sinne  zu  handeln  sein. 

Mit  Stolz  darf  sich  unsere  Zeit  der  Pflege  und  Anerkennung  rühmen, 
welche  sie  den  Wissenschaften,  der  Technik,  der  Kunst  widmet.  In  unseren 
Bibliotheken  sammeln  wir  die  Literatur  aller  Nationen;  für  die  Geschichts- 
forschung, insbesondere  für  die  Aufhellung  nicht  nur  der  glänzenden  Epochen 
des  Altertums,  sondern  auch  der  dunkelsten  Anfänge  des  menschlichen  Da- 
seins, scheint  uns  kein  Opfer  zu  groß.  In  unseren  Kunstsammlungen  häufen 
wir  die  kostbarsten  Schätze  auf  und  finden  es  kaum  ungerechtfertigt,  wenn  für 
Gegenstände  von  nicht  einmal  unbestrittener  Echtheit  große  Mittel  aufge- 
wandt werden.  Täglich  steigern  sich  die  Ausgaben,  welche  für  die  Vervollstän- 
digung unserer  zoologischen,  botanischen,  geophysikalischen  und  technischen 
Museen  erforderlich  scheinen. 

Und  diese  öffentliche  und  private  Pflege  der  Wissenschaften  wird  nicht  nur 
durch  das  Interesse  unserer  Volksvertretungen  unterstützt  und  gefördert,  son- 
dern auch  von  selten  der  großen  Zahl  der  allgemeiner  Gebildeten,  welche  in  diesen 
Gütern  nicht  nur  die  Mittel  zu  einer  höheren  Ausgestaltung  des  Lebensgenusses, 
sondern  weit  mehr  noch  die  Befriedigung  ihres  tiefsten  Bedürfnisses  nach  Ge- 
winnung einer  Weltanschauung  erblicken.  Ist  auch  der  einzelne  kaum  mehr 
imstande,  diesen  Fortschritten  der  Kultur  in  ihrer  gewaltigen  Ausdehnung 
zu  folgen,  so  ist  doch  für  jeden,  der  unsere  Bildungsstätten  mit  Erfolg  durch- 
laufen hat,  die  Möglichkeit  vorhanden,  dieselben  in  ihren  Hauptzügen  zu  er- 
kennen und  in  seiner  weiteren  Lebensführung  mit  dem  beschränkteren  Kreise 
seiner  eigenen  Aufgaben  in  wirksame  Verbindung  zu  setzen. 

K.  d.  G.  IIL  1  Mathematik,  A.  I 


Mathematik. 


2   A  A.  Voss:  Die  Beziehungen  der  Mathematik  zur  allgemeinen  Kultur. 

Nur  eine  Wissenschaft,  die  Wissenschaft  Kar'  ii.o\r\v,  scheint  sich  dabei 
dem  allgemeinen  Verständnis  zu  entziehen.  Ja  man  kann  geradezu  die  Frage 
aufwerfen,  ob  die  Mathematik  überhaupt  mit  den  Interessen  unserer  gegenwär- 
tigen Kulturepoche  zusammenhängt.  Schon  bei  oberflächlicher  Betrachtung  wird 
man  sich  kaum  der  Ansicht  verschließen  können,  daß  wenigstens  in  weit  ver- 
breiteten Kreisen,  namentlich  auch  in  Deutschland,  nur  ein  geringes  Verständ- 
nis für  die  Stellung  vorhanden  ist,  welche  sie  tatsächlich  zu  den  Grundlagen 
unserer  Kultur  einnimmt. 
AUgemeine  Zwar  fehlt  es  nicht  an  äußerer  Wertschätzung  für  die  Leistungen  der 

schatzung^_der  gj-Qßgj^  Mathematiker.  Die  staunenswerten  Erfolge  der  Astronomie  erregen  immer 
aufs  neue  die  Bewunderung  der  Menge,  wenn  es  sich  um  irgendein  auffallendes 
Ereignis,  wie  eine  voraus  berechnete  totale  Sonnenfinsternis  oder  die  zu  erwar- 
tende Wiederkehr  eines  Kometen  handelt;  die  Namen  eines  Newton,  Leibniz, 
Lagrange,  Laplace,  Gauß,  denen  wir  solche  Erfolge  verdanken,  sind  in  aller  Munde. 
Wer  könnte  sich  auch  dem  Eindrucke  der  Bewunderung  entziehen,  wenn  er 
die  Grabschrift  Newtons  in  der  Westminsterabtei  sich  vergegenwärtigt:  ,,Hic 
est  sepultus  IsaacusNeutonius,  eques  auratus,  qui  animi  vi  prope  divina  plane- 
tarum  motus,  figuras,  cometarum  semitas,  oceanique  aestus,  sua  mathesi  facem 
praeferente,  primus  demonstravit,  radiorum  lucis  dissimilitudines  colorumque 
inde  nascentium  proprietates,  quas  nemo  ante  vel  suspicatus  erat,  pervesti- 
gavit.  Sibi  gratulantur  mortales  tale  tantumque  exstitisse  hu- 
mani    generis   decus. 

Das  Andenken  an  Gauß,  den  ,,princeps  mathematicorum",  wird  allgemein 
verehrt.  Zeuge  davon  ist  sein  Denkmal  in  Braunschweig,  dessen  Aufbau  an 
seine  endgültige  Lösung  der  schon  von  den  Alten  gestellten  Aufgabe  der  Tei- 
lung des  Kreises  in  gleiche  Teile,  speziell  der  17 -Teilung,  ebenso  erinnern  soll, 
wie  das  noch  von  Cicero  gesehene  und  in  pietätvoller  Bewunderung  wieder 
der  Vergessenheit  entrissene  Grabmal  des  Archimedes,  welches  dem  Be- 
schauer die  von  diesem  gefundenen  Beziehungen  zwischen  den  Inhalten  von 
Kegel,  Kugel  und  Zylinder  vergegenwärtigte. 

Dem  ersten  systematischen  Begründer  eines  der  abstraktesten  Gebiete  der 
mathematischen  Forschung,  einer  nicht -euklidischen  Geometrie,  N.  I.  Lo- 
batschefskij,  hat  man  fast  an  den  Grenzen  der  europäischen  Zivilisation 
ein  Denkmal  errichtet.  Der  hundertjährige  Geburtstag  des  norwegischen  Ma- 
thematikers N.  H.  Abel,  dessen  Verdienste  nur  ein  hochausgebildeter  Ver- 
stand würdigen  kann,  gestaltete  sich  zu  einer  großen  denkwürdigen  Feier  in 
Kristiania,  an  der  die  Vertreter  aller  zivilisierten  Nationen  teilnahmen.  Und 
in  der  neuesten  Zeit  rüstet  sich  die  Schweiz  in  Verbindung  mit  einem  Stabe 
von  Gelehrten  befreundeter  Nationen  mit  der  größten  Opferwilligkeit,  die 
längst  ersehnte,  bisher  wegen  der  großen  Kosten  als  unausführbar  angesehene 
Herausgabe  der  Werke  Leonhard    Eulers  zu  verwirklichen. 

Aber  es  ist  nicht  allein  die  Bewunderung  rein  wissenschaftlicher  Leistungen, 
welche  das  Bewußtsein  der  Gebildeten  durchdringt.  Überall  treten  uns  die 
Beziehungen  der  Mathematik  zum  praktischen  Leben  entgegen.    Keine  geord- 


Verehrung  und  Geringschätzung  der  Mathematik.  A   3 

nete  Regierung  hat  ihren  Einfluß  je  verkennen  können.  Unter  diesem  Eindrucke 
stand  auch  Napoleon,  wenn  er  den  Ausspruch  tat:  ,,Die  Wohlfahrt  der  Na- 
tionen ist  an  die  Fortschritte  der  Mathematik  gebunden",  und  dieser  damit  ihre 
hohe  Stellung  an  der  Ecole  Polytechnique  bestätigte.  Auch  Scharnhorst 
legte  hohen  Wert  auf  gründliche  Ausbildung  in  der  Mathematik.  ,,Ich  be- 
trachte dieselbe  als  die  Grundlage  aller  feineren  Geistesbildung  und  aller 
anderen  Kenntnisse." 

Nur  wenige  haben  freilich  eine  deutlichere  Einsicht  in  das,  was  die  Heroen  Geringes  vor- 
der Mathematik  an  Unvergänglichem  geleistet  haben.  Das  ist  aber  wohl  eine  Mathematik, 
ganz  allgemeine  Erscheinung  in  unserer  höheren  Kultur,  deren  Wert  nur  ein 
verhältnismäßig  kleiner  Teil  der  Menschheit  zu  erfassen  weiß;  dies  wiederholt 
sich  auch  auf  anderen  Gebieten.  Die  Bedeutung  unserer  großen  Dichter  und 
Denker  wird  dem  allgemeinen  Bewußtsein  ja  auch  nur  in  derselben  unvoll- 
kommenen Weise  nähergebracht  durch  solche  sichtbaren  Zeichen  der  Ver- 
ehrung, welche  in  dem  heranwachsenden  Geschlecht  den  Trieb,  ihnen  nachzu- 
eifern, zu  erwecken  bestimmt  sind. 

Aber  während  es  allgemein  als  Zeichen  mangelnder  Bildung  angesehen 
wird,  sich  dem  Verständnis  der  Bedeutung  eines  Kant  oder  Goethe  ent- 
ziehen zu  wollen,  hören  wir  auch  ganz  andere  Stimmen,  welche  mit  der  eben 
geschilderten  Verehrung  der  Mathematik  in  scharfem  Kontrast  stehen.  Schon 
oft  ist  auf  die  Abneigung  hingewiesen,  welche  das  mathematisch  formulierte 
Denken  bei  der  großen  Zahl  unserer  gebildeten  Klassen  findet.  Ein  Mann 
wie  W.  Wundt,  der  von  den  exakten  Wissenschaften  ausgehend  sich  zu 
einer  Universalität  des  Gedankens  emporgeschwungen  hat,  die  kaum  ihres- 
gleichen zu  finden  scheint,  glaubt  sich  noch  in  der  Vorrede  zur  ersten  Auflage 
seines  großen  Werkes  über  Logik  entschuldigen  zu  müssen,  daß  er  trotz  des 
schier  unüberwindlichen  Widerwillens  selbst  hochgebildeter  Männer  gegen  ma- 
thematische Bezeichungen  nicht  davon  Abstand  genommen  habe,  dieselben  in 
die  Darstellung  der  formalen  Logik  aufzunehmen.  H.  Hankel  in  seiner  Rede 
über  die  Entwicklung  der  Mathematik  in  den  letzten  Jahrhunderten  (1869) 
weist  darauf  hin,  wie  die  ganze  Mathematik  vielen  als  eine  nichtssagende 
Trivialität  erscheint,  die  nur  durch  ihre  abstruse  Form  den  Schein  von  etwas 
erweckt:  ,, Männer  von  wissenschaftlicher  Bildung  rühmen  sich,  daß  sie  nie 
ein  Jota  von  Mathematik  verstanden  und  es  dennoch  zu  etwas  gebracht  haben." 

Mit  solchen  Argumenten,  wie  sie  die  Philosophen  W.  Hamilton  oder  A. 
Schopenhauer  gegen  die  Mathematik  ins  Feld  geführt  haben,  die  noch  neuer- 
dings A.  Pringsheim  scharf  und  treffend  zurückgewiesen  hat,  brauchen  wir 
uns  freilich  gegenwärtig  nicht  mehr  zu  beschäftigen.  Auch  die  Zeiten  sind  wohl 
längst  vorbei,  wo  Johannes  Schnitze  im  preußischen  Unterrichtsmini- 
sterium die  Ansicht  vertreten  konnte,  ,,in  einer  einzigen  Zeile  des  Cornelius 
Nepos  stecke  mehr  Bildungswert  als  in  der  ganzen  Mathematik". 

Es  sind  aber  nicht  allein  Gelehrte  oder  Staatsmänner,  die  zufolge  ihres 
ganz  anderen  Zielen  zugewandten  Bildungsganges  sich  zu  derartigen  Aus- 
sprüchen  bekannt   haben,    sondern    auch    von    Naturforschern    anerkannten 


4   A  A.  Voss:  Die  Beziehungen  der  Mathematik  zur  allgemeinen  Kultur. 

Ranges  vernehmen  wir  gelegentlich  solche  abfällige  Urteile,  Gerade  in  Eng- 
land, wo  die  Pflege  der  elementaren  Mathematik  in  weiten  Berufsklassen  in 
viel  größerem  Maße  wie  z.  B.  in  Deutschland  als  eine  leidenschaftliche  Übung 
des  Scharfsinnes  betrieben  wird,  sind  auch  noch  in  der  neueren  Zeit  solche  An- 
sichten hervorgetreten.  Huxley  sagt  in  einer  an  der  Britisch  Association  1868 
gehaltenen  Rede  ,,Mathematics  may  be  compared  to  a  mill  of  exquisite  work- 
manship,  which  grinds  you  stuff  of  any  degree  of  fineness,  but  nevertheless 
what  you  set  out  depends  on  what  you  put  in,  and  as  the  grandest  mill  in  the 
World  will  not  extract  wheat-flove  from  pea's-scods,  so  pages  of  formulae  will 
not  get  a  definite  result  out  of  loose  data",  und  an  einer  andern  Stelle  ,,Mathe- 
matics  is  that  study,  which  knows  nothing  of  Observation,  nothing  of  induc- 
tion,  nothing  of  experiment,  of  causation".  Wie  unverständig  diese  Ansichten 
sind,  zeigte  J.  J.  Sylvester  in  seiner  scharfen  Entgegnung  auf  diesen  An- 
griff: ,,No  Statement  could  have  been  more  opposite  to  the  undoubted  fact 
of  the  case,  that  mathematical  analysis  is  constantly  involving  the  aid  of  new 
principles,  new  ideas,  new  methods,  not  capable  of  beeing  defined  by  any  form 
of  words,  but  springing  direct  of  the  inherit  powers  and  activity  of  human 
mind  and  from  continually  renewed  inspection  of  that  inner  world  of  thought, 
of  which  the  phenomena  are  as  varied  and  require  as  close  attention  to  dis- 
cern  as  those  of  the  other  physical  world  .  .  .  That  it  is  unceasingly  calling 
forth  the  faculties  of  Observation  and  comparison,  that  one  of  its  principal 
weapons  is  induction,  that  it  has  frequent  recourse  to  experimental  trial  and 
verification  and  that  it  äffords  a  boundless  scope  for  the  exercise  of  the 
highest  efforts  of  Imagination  and  invention." 

Vierzig  Jahre  sind  seitdem  verflossen,  manches  mag  sich  seitdem  durch 
den  Einfluß  unserer  Schulen  und  durch  die  weit  allgemeinere  Verbreitung  der 
Mathematik  geändert  haben.  Aber  trotzdem  sind  Gleichgültigkeit,  Gering- 
schätzung und  Verständnislosigkeit  des  Wesens  der  Mathematik  und  seiner  Be- 
deutung im  großen  und  ganzen  beinahe  dieselben  geblieben;  ja,  sie  mögen  auch 
bei  jetzigen  Vertretern  der  exakten  Wissenschaften  hie  und  da  noch  bestehen. 
Verbreitete  An-  Welchcs  sind  nun  die  Hauptformen,  in  denen  diese  Stimmungen  sich  aus- 

Matheraatik.  prägen.?  Viele  stellen  sich  unter  der  Mathematik  eine  Wissenschaft  vor,  deren 
Hauptaufgabe  numerisches  Rechnen  ist.  Sie  denken  dabei  an  die  Er- 
müdung und  Langeweile,  welche  jede  längere  Rechnung  mit  sich  führt, 
weil  sie  stets  der  Nachprüfung  bedarf,  und  schließlich  doch,  wie  das  wieder- 
holte Lesen  einer  Korrektur,  nicht  vor  zufäHigen  Fehlern  schützt.  Der  Mathe- 
Mathematik  ais  matiker  erscheint  ihnen  als  ein  Rechenkünstler,  der  es  in  einer  so  einför- 
migen Arbeit,  wie  die  der  Berechnung  von  Lösungen  von  Gleichungen,  Ketten- 
brüchen oder  Logarithmen  zu  einer  gewissen  Virtuosität  gebracht  hat.  Aller- 
dings hat  sich  ja  erst  mit  der  Erfindung  der  Dezimalbrüche,  der  Logarithmen, 
der  Tafeln  der  trigonometrischen  Funktionen  der  Zahlbegriff  allmählich  ge- 
Bedeutung  des  klärt.    Insbesondere  hat  der  Begriff  der  stetig  veränderlichen  Zahl  erst  die 

Rechnens.  b  ö 

Ideen  vorbereitet,   welche  der  Differential-  und   Integralrechnung  zugrunde 
liegen.    Aber  es  handelt  sich  hier  doch  nur  um  eine  zu  überwindende  Vor- 


Unrichtige  Ansichten  über  Mathematik.  A   5 

Stufe,  etwa  so  wie  jeder,  der  in  den  Geist  einer  Sprache  eindringen  will,  sich 
zuerst  mit  dem  ihr  eigentümlichen  Alphabet  und  den  einfachsten  grammati- 
kalischen Regeln  zu  beschäftigen  haben  wird. 

Wir  bewundern  mit  Recht  so  außerordentliche  Rechentalente,  wie  das 
eines  Dahse  und  anderer,  von  denen  uns  die  neuere  Zeit  wieder  so  merk- 
würdige Beispiele  gegeben  hat.  Auch  lassen  sich  solche  Fähigkeiten  sehr  wohl 
mit  wahrhaft  mathematischen  Interessen  in  Verbindung  setzen.  Die  empi- 
rische Tätigkeit  des  Rechnens  kann  Wahrheiten  induktiv  wahrscheinlich 
machen  und  der  Forschung  als  aussichtsvolle  Probleme  aufzeigen.  So  hat  man 
das  bisher  unbewiesene  Goldbachsche  Gesetz,  jede  gerade  Zahl  lasse  sich 
mindestens  auf  eine  Art  als  Summe  zweier  Primzahlen  darstellen,  einer  empi- 
rischen Bestätigung  unterzogen,  die  allerdings  für  den  Beweis  noch  keine  Finger- 
zeige geliefert  hat.  Auch  hat  schon  C,  G,  J.  J  a  c  o  b  i  sich  D  a  h  s  e  s  bedient,  um  den 
von  Waring  vermuteten  Satz,  daß  jede  gerade  Zahl  durch  eine  Summe  von 
höchstens  9  Kuben  darstellbar  sei,  als  ein  Objekt  für  tiefere  Forschung  zu  be- 
zeichnen, ein  Satz,  der  erst  neuerdings  durch  eine  geniale  Betrachtung  von 
D.  H  i  1  b  e  r  t  in  viel  allgemeinerer  Form  der  theoretischen  Untersuchung  zugäng- 
lich geworden  ist.  Gau ß  waren  die  ersten  Dezimalziffern  vieler  Logarithmen  ge- 
läufig, und  wir  wissen  aus  seinem  Tagebuch,  daß  er  durch  ein  besonderes  Zu- 
sammentreffen numerischer  Zahlwerte  zu  einer  seiner  schönsten  Entdeckungen 
im  Gebiet  der  lemniskatischen  Funktionen  angeregt  wurde.  Aber  die  nur 
phänomenalen  Rechentalente,  die  sogar  mit  auffallenden  anderen  Mängeln  ver- 
bunden vorkommen,  haben  an  sich  nichts  mit  mathematischen  Ideen  zu  tun, 
obgleich  gerade  in  der  Öffentlichkeit  ihre  Bedeutung  für  den  Mathematiker 
betont  zu  werden  pflegt.  Der  gelegentliche  Nutzen  eines  so  gesteigerten  Zahlen- 
sinnes ist  ja  nicht  zu  bestreiten,  das  wirkliche  Interesse  daran  fällt  aber  mehr 
in  den  Bereich  des  Psychologen.  Er  mag  darin  mehrfache  Formen  dieses 
Sinnes  zu  erkennen  glauben,  ohne  freilich  mit  den  Schlagworten  einer  opti- 
schen, akustischen  oder  mnemotechnischen  Begabung  mehr  als  ein  unerledig- 
tes Problem  zu  bezeichnen,  das  überall  da  wiederkehrt,  wo  wir  einer  eigentüm- 
lich gesteigerten  Fähigkeit  gegenüberstehen.  Beigetragen  mag  es  zu  dem  Miß- 
verständnis haben,  als  ob  numerisches  Rechnen  für  die  Mathematik  wesentlich 
sei,  wenn  wir  hören,  daß  Ludolf  van  Ceulen  in  20 jähriger  Arbeit  die  Zahl  tt 
bis  auf  20,  später  sogar  auf  35  Stellen  berechnete,  daß  dann  diese  Bestimmung 
mit  den  Mitteln  der  Analysis  auf  über  700  Stellen  ausgedehnt  wurde.  Solche 
Kraftleistungen  haben  in  Wirklichkeit  doch  kaum  ein  größeres  Interesse,  wie  die 
zahlentheoretischen  Kuriosa ,  mit  denen  die  Feuilletons  der  Zeitungen  uns  zu 
unterhalten  suchen. 

Zudem  ist  ja  allgemein  bekannt,  daß  bloßes  Rechnen  durch  automatisch 
arbeitende  Maschinen  ersetzt  werden  kann;  niemandem  wird  es  heutzutage 
mehr  einfallen,  deshalb  in  der  Mathematik  eine  Wissenschaft  zu  sehen,  die  auch 
durch  eine  Maschine  hervorgebracht  werden  könne. 

Weit  eher  ließe  sich  sagen,  Mathematik  sei  die  Kunst,  Rechnungen  zu 
vermeiden  oder  abzukürzen,  sobald  —  und  das  ist  allerdings  von  wesent- 


6  A  A.  Voss:  Die  Beziehungen  der  Mathematik  zur  allgemeinen  Kultur. 

lieber  Bedeutung  — •  mittels  des  Formalismus  der  Rechnung  ein  Problem 
seinen  Ansatz  erfahren  hat.  Das  sehen  wir  schon  an  den  Beispielen  der 
Zinzeszinsrechnung,  noch  weit  mehr  an  der  Entwicklung  der  analytischen 
Geometrie,  die,  zuerst  in  einen  endlosen  Rechenprozeß  ausartend,  seit  der  Mitte 
des  vorigen  Jahrhunderts  durch  Einführung  der  Invarianten-  und  Gruppen- 
theorie sich  ganz  auf  den  Boden  einer  gedankenvollen  Zahlensymbolik  gestellt 
hat.  Dahin  zielen  auch  die  Methoden,  langsam  konvergente  Reihen,  die  zur  Er- 
mittelung eines  numerischen  Wertes  dienen  sollen,  durch  besser  dazu  geeignete 
zu  ersetzen.    Bei  der  Anwendung  von  Leibniz'  Reihe  für  die  Zahl  u 

4  3  ~  5         7 

müßte  man,  wie  schon  Newton  tadelte,  zur  Erzielung  einer  auch  nur  mäßigen 
Genauigkeit  sehr  viele  Glieder  berechnen,  während  J.  Machins  Formel  (1706) 
n  bereits  durch  Bestimmung  von  9  einfachen  Gliedern  bis  auf  8  Dezimalstellen 
richtig  liefert.  Auch  Gauß  konnte  sich,  wie  Sartorius  von  Waltershausen 
aus  persönlicher  Erinnerung  mitteilt,  rühmen,  mit  Hilfe  seiner  Formeln  die 
Berechnung  einer  Kometenbahn  in  einer  Stunde  vollendet  zu  haben,  wozu 
vor  ihm  eine  höchst  mühevolle  und  zeitraubende  Arbeit  erforderlich  war. 

Indem  so  die  Mathematik  danach  strebt,  durch  tiefere  Gedanken  die  Ver- 
knüpfungen zwischen  den  Zahlen  zu  untersuchen,  erwächst  ihr  erst  die  höhere 
Aufgabe,  allgemeine  Gesetze,  d.  h.  Formeln  zu  gewinnen,  welche  mit 
einem  Schlage  alle,  neue  Fehlerquellen  hervorrufenden,  Zwischenrechnungen 
entbehrlich  machen.  Und  so  zeigt  auch  schon  der  bloße  Einblick  in  ein  mathe- 
matisches Werk,  daß  mit  der  zunehmenden  Vertiefung  der  Gedanken  das 
äußerliche  Element  der  Rechnung  keineswegs  in  gleichem  Maße  wächst,  viel- 
mehr die  Darstellung  sich  immer  mehr  von  derselben  befreit,  um  nur  zur  Ge- 
winnung eines  einzelnen  Resultates  zu  ihr  zurückzukehren.  Daher  sei  noch 
einmal  betont:  Ohne  Rechnen  gibt  es  keine  Mathematik,  aber  das  Rechnen 
selbst  ist  nicht  Mathematik,  sondern  findet  da  seinen  gebührenden  Platz, 
wo  es  wie  beim  Astronomen  und  Geodäten,  beim  Physiker  und  Statistiker  zur 
Gewinnung  letzter  mit  der  Erfahrung  zu  vergleichender  Resultate  zur  An- 
wendung kommen  muß.  Es  sei  denn,  daß  man  sich  die  rein  mathematische 
Aufgabe  stellt,  die  zweckmäßigsten  Methoden  des  numerischen  Rechnens 
selbst  zu  erforschen,  eine  Aufgabe,  der  sich  denn  auch  hervorragende  Astro- 
nomen wie  Bessel,  Encke  und  Bruns  in  einer  Weise  unterzogen  haben,  die 
ein  ebenso  hohes  praktisches  wie  wissenschaftliches  Interesse  besitzt. 

Andere  wieder  stellen  sich  die  Mathematik  als  eine  Erweiterung,  zum  Teil 
Mathematik  als  auch  wohl  uutzlose  Erschwcrung  der  auf  der  Schule  behandelten  Aufgaben 

Sammlung  von  °  '^ 

Aufgabe...  vor.  Die  hergebrachte  Form  des  Unterrichts  betont  z.  B.  gern  die  Ausführung 
geometrischer  Konstruktionen.  Gewiß  liefern  diese  für  den  Schüler  eine  sehr  nütz- 
liche Anregung,  seine  Kombinationsgabe  zu  entwickeln.  Anderseits  aber  bringt 
die  Fertigkeit,  nach  bestimmten  Mustern  Aufgaben  zu  lösen,  die  ihnen  eigent- 
lich nur  künstlich  angepaßt  sind,  laicht  die  Meinung  hervor,  daß  es  sich  wirk- 


Entstehung  und  Widerlegung  solcher  unrichtigen  Ansichten.  A  7 

lieh  um  nichts  anderes  handelt,  als  diese  endlose  Möglichkeit,  an  und  für  sich 
gleichgültige,  nur  für  eine  abzulegende  Prüfung  erforderliche  Aufgaben  zu 
variieren ,  als  sei  die  Mathematik  noch  in  der  Stagnation  früherer  Zeiten  ver- 
sunken. So  entsteht  denn  die  Meinung,  als  sei  sie  dem  wirklichen  Leben  völlig 
abgewandt  und  bewege  sich  nur  in  einem  Kreise  eng  begrenzter,  nicht  entwick- 
lungsfähiger Gedanken.  Diese  geringschätzende  Auffassung  mag  auch  zum 
Teil  auf  der  traditionellen  Form  des  Schulunterrichtes  des  vorigen  Jahrhunderts 
beruhen.  Die  Bücher  des  Euklid  bilden  in  Deutschland  zwar  nicht,  wie  in  Eng- 
land, das  Vorbild,  von  welchen  abzuweichen  fast  als  Verbrechen  gilt*).  Aber  in 
ihrer  logischen  Systematik  befördern  sie  doch  den  Eindruck  einer  abgeschlosse- 
nen Wissenschaft.  Es  ist  indes  nicht  allein  die  willkürliche  Beschränkung  auf 
die  gerade  Linie  und  den  Kreis,  welche  den  geometrischen  Formenreichtum 
nicht  ahnen  läßt,  sondern  mehr  noch  die  besondere  Schwierigkeit,  welche  den 
Elementen  der  Mathematik  anhaftet.  Der  noch  von  H.  Hankel  vertretenen 
Ansicht,  daß  Euklids  Systematik  das  unübertreffliche  Muster  einer  völlig 
exakten  Behandlung  sei,  gegenüber  hat  sich  bei  der  Vertiefung  in  die  Grundlagen 
längst  gezeigt,  daß  auch  in  dieser  erhebliche  Lücken  vorhanden  sind;  gerade 
diese  Grundlagen  enthalten  Schwierigkeiten,  welche  den  ganzen  Scharfsinn 
eines  an  abstraktes  Denken  gewöhnten  Gelehrten  erfordern.  Man  braucht  sich 
nur  an  die  Begründung  der  einfachsten  arithmetischen  Regeln  oder  an  die  so 
tiefe  Lehre  von  den  Proportionen  in  Verbindung  mit  den  Flächeninhalten  zu 
erinnern,  in  denen  das  Talent  des  Eudoxus  oder  Euklid  zur  höchsten  Voll- 
endung gelangte.  Solche  Fragen  liegen  jenseits  des  Verständnisses  der  meisten, 
vielleicht  aller  Schüler;  sie  pflegen  umgangen  oder  durch  Berufung  auf  unmittel- 
bare Evidenz  verdeckt  zu  werden.  Dadurch  entsteht  aber  gerade  in  den  fähi- 
geren Köpfen  leicht  das  Vorurteil,  als  beruhe  doch  nicht  alles  Bewiesene  auf 
wirklichen  Beweisen,  sondern  es  handle  sich  eher  um  eine  sophistische  Beweis- 
kunst. Der  Charakter  der  Exaktheit  der  Mathematik,  wie  ihn  das 
Altertum  anstrebte,  und  der  auch  das  Ideal  der  neueren  Darstellung  der  Ele- 
mente ist,  dem  sich  z.  B.  mit  ausgezeichnetem  Erfolge  die  gegenwärtigen  italie- 
nischen Lehrbücher  nähern,  kommt  nicht  zum  Verständnis  und  kann 
wohl  überhaupt  erst  auf  einer  Stufe  höherer  geistiger  Reife  begriffen  werden. 
,,Dem  Knaben",  sagt  C.  G.  J.  Jacobi,  ,,dem  die  Welt  der  geometrischen  Formen 
noch  eine  gänzlich  fremde  ist,  mit  den  ersten  Elementen  zugleich  zuzumuten, 
sich  darin  in  der  Weise  folgerechten  Denkens  zu  bewegen,  scheint  keine  gute 
Pädagogik.  Ich  schreibe  diesem  Mißverhältnis  hauptsächlich  zu,  daß  zwar 
von  den  anderen  Unterrichtsgegenständen  ein  Interesse  im  späteren  Leben 
zurückzubleiben  pflegt,  von  den  mathematischen  dagegen  bei  der  großen  Mehr- 
zahl der  Lernenden  jede  Spur  bis  auf  die  Erinnerung  schwindet." 

Und  auf  diesen  mißverstandenen  Eindrücken  aus  der  Jugendzeit  beruht 
es  auch,  wenn  andere  in  der  Erinnerung  an  die  Paradigmen  der  Arithmetik, 
die  Cardanische  Formel,  den  binomischen  Satz  oder  den  Apparat  der  Trigono-  Mathematik  ais 

Fonnelapparat 

*)  Übrigens  hat  auch  in  England  neuerdings  eine  Reformbewegfung  im  mathematischen 
Elementarunterricht  begonnen. 


8   A  A.  Voss:  Die  Beziehungen  der  Mathematik  zur  allgemeinen  Kultur. 

metrie  sich  vorstellen,  die  Gewinnung  solcher  Formeln  sei  der  eigentliche 
Zweck  der  Mathematik.  Allerdings  kann  diese,  wie  oben  bemerkt,  der  Formeln 
nicht  entbehren;  sie  bilden  das  einzige  Mittel,  eine  lange  Gedankenreihe  in  einer 
kurzen  und  völlig  adäquaten  Darstellung  zusammenzufassen.  Aber  die  Ge- 
winnung von  Formeln  an  und  für  sich  ist  gar  kein  Zweck,  der  das  Wesen  der 
mathematischen  Gedankenbildung  beeinflußt.  Wo  sie  als  solcher  aufgetreten 
ist,  war  es  ein  Zeichen  der  Stagnation,  in  der  die  Methoden  gleichsam  automa- 
tisch noch  fortarbeiteten.  Zudem  strebt  gerade  die  Wissenschaft  selbst  da- 
nach, den  Formelapparat  immer  mehr  zu  vereinfachen,  das  Spezielle  durch  all- 
gemeine Begriff sbildung  zu  ersetzen;  ihr  Ziel  ist  eine  möglichst  zentralisierte 
Darstellung,  die  unzählige  Einzelheiten  beiseite  lassen  darf,  weil  sie  jeder  Sach- 
verständige mühelos  hinzufügen  kann. 

Es  ließe  sich  noch  eine  ganze  Reihe  anderer  Auffassungen  namhaft  machen, 
die  ausführlicher  auf  ihre  Ursachen  zurückzuführen,  hier  wohl  überflüssig 
erscheint.  Für  Goethe  ist,, die  Mathematik  wie  die  Dialektik  ein  Organ  des  inne- 
ren höheren  Sinnes ;  in  der  Ausübung  ist  sie  eine  Kunst  wie  die  Beredsamkeit.  Für 
beide  hat  nichts  Wert  als  die  Form,  der  Inhalt  ist  ihnen  gleichgültig".  Und  an 
einer  andern  Stelle  sagt  er:  ,,Was  ist  an  der  Mathematik  exakt  als  ihre  Exakt- 
heit.? Und  diese,  ist  sie  nicht  eine  Folge  des  inneren  Wahrheitsgefühls.'*"  Und 
in  einem  Brief  an  Zelter  (28.  Febr.  181 1):  ,, Übrigens  wird  mir  immer  deut- 
licher, was  ich  schon  lange  im  stillen  weiß,  daß  diejenige  Kultur,  welche  die 
Mathematik  dem  Geiste  gibt,  äußerst  einseitig  und  beschränkt  ist.  Ja,  Vol- 
taire erkühnt  sich  irgendwo  zu  sagen:  J'ai  toujours  remarque  que  la  geo- 
metrie  laisse  l'esprit,  oü  eile  le  trouve."  Die  Geringschätzung,  welche  Fried- 
rich der  Große  trotz  seines  Verkehrs  mit  d'Alembert,  Lagrange,  Mau- 
pertuis  der  Mathematik  bewies,  ist  ebenfalls  bekannt.  Mit  Spott  äußert  er 
sich  gegen  Voltaire  1778  über  Euler,  dessen  rein  theoretische  Berechnung  des 
Effekts  der  für  Sanssouci  projektierten  Wasserkünste  sich  allerdings  unzu- 
reichend, weil  den  Einfluß  der  Reibung  nicht  berücksichtigend,  erwiesen  hatte, 
,,Vanit6  des  vanites,  vanite  de  la  geometrie".  Und  über  den  ausgezeichneten 
Mathematiker  J.  H.  Lambert  schreibt  er  1764  an  d'Alembert:  ,,0n  m'a 
presque  force  de  prendre  la  plus  maussade  creature  qui  soit  dans  l'univers 
pour  la  mettre  dans  notre  academie.  Et  quoique  je  puisse  attester  qu'il  n'a 
pas  le  sens  commun,  on  pr6tend  que  c'est  un  des  plus  grands  geometres  de 
l'Europe."  Fast  khngt  es  wie  das  auch  von  Sylvester  zitierte  Wort  ,,Purus 
mathematicus  purus  asinus."  Und  der  weltentrückte,  in  sich  versunkene 
Mathematiker  ist  ja  auch  heute  noch  ein  Gegenstand  billigen  Witzes. 

Vielleicht    haben    wir    der   Anführung  dieser  unrichtigen    Auffassungen 
hier  einen  zu  großen  Raum  verstattet.    Aber  sie  sind  so  allgemein  verbrei- 
tet, daß  sie,  wenn  auch  aus  Höflichkeit  oft  unterdrückt,   doch  immer  aufs 
neue  die  Quelle  bilden,  aus  der  Gleichgültigkeit  und  Geringschätzung  fließen. 
Esoterischer  So  ist  es  in  der  Tat!    Die  Mathematik  ist  allerdings  die  älteste,  aber  zu- 

Ma'theraltik!'^  gleich  die  unpopulärste  Wissenschaft.    Sie  ist  aber  zugleich  für  die  meisten 
unbequem.    Unpopulär  ist  freilich  jede  Wissenschaft.    Denn  während  diese 


Unpopularität  des  mathematischen  Denkens.  A   9 

damit  beginnt,  ein  Gebäude  von  Begriffen,  die  erst  mühsam  durch  Erfahrung 
und  Abstraktion  gewonnen  werden  können,  zu  errichten,  aus  dem  die  Erkennt- 
nis weiteren  Erfahrungsmaterials  fließen  soll,  ist  es  umgekehrt  der  Dilettantis- 
mus, welcher  auf  diesen  langwierigen  Weg  verzichten  zu  können  glaubt  und 
sich  mit  herausgegriffenen  Schlagworten  begnügt.  Nun  kann  es  zwar  unter 
anderen  Verhältnissen  noch  möglich  sein,  unter  Verwendung  eines  intuitiven 
und  auf  richtigen  Erfahrungen  ruhenden  Materials  erfolgreich  zu  wirken,  ja 
wir  verdanken  geradezu  oft  die  größten  Fortschritte  solchen  unmittelbaren 
Äußerungen  des  Geistes,  aber  in  einer  Wissenschaft,  die  einzig  und  allein  in 
einer  abstrakten  Sprache  redet,  ist  eine  solche  Stellungnahme  völlig  sinnlos. 
Die  Resultate  einer  historischen  Arbeit,  die  auf  mühsamen  Quellenstudien  be- 
ruht, kann  man  mit  dem  eigenen  W^issen  in  Verbindung  bringen,  auch  wenn 
man  nie  imstande  ist,  sie  selbständig  nachzuprüfen;  das  Ergebnis  einer  experi- 
mentellen Untersuchung  wie  die  Konstatierung  eines  radioaktiven  Elements  ist 
an  sich  deutlich,  obwohl  ein  einzelner  vielleicht  nie  eine  solche  Untersuchung 
wiederholen  kann.  Aber  das  Verständnis  einer  mathematischen  Arbeit  führt  stets 
eigentümliche  Schwierigkeiten  mit  sich,  die  vielleicht  nur  bei  außerordent- 
lichen Talenten  zurücktreten:  Es  ist,  als  ob  das  Denken  sich  erst  gewöhnen 
müsse,  unentwegt  in  einem  Sinne  sich  zu  bewegen,  um  so  dem  Gedankengange 
eines  anderen  folgen  zu  können.  Schritt  vor  Schritt  muß  in  nachschaffender 
Arbeit  überwunden  werden;  erst  dann  gewinnt  man  das  eigentliche  Verständ- 
nis für  das  Resultat  und  kann  es  mit  dem  eigenen  Wissen  in  Beziehung  setzen. 
Dilettantismus,  auch  in  höherem  Sinne,  kann  in  manchen  anderen  Wissen- 
schaften sehr  anregend  wirken,  wenn  er  mit  divinatorischer  Kraft  verbunden 
auftritt  -^  eines  der  charakteristischsten  Beispiele  ist  Goethe  dafür — ,  in  der 
Mathematik  aber  ist  er  völlig  unmöglich.  So  ist  es  nur  zu  begreifhch, 
daß  große  Schichten  von  Gebildeten  wenig  Verständnis  dafür  besitzen,  daß  Mathe- 
matik etwas  anderes  ist  als  Rechnen,  Lösen  von  Aufgaben  und  Formelkram, 
daß  sie  vielmehr  dem  höchsten  Triebe  des  Geistes  nach  Erkenntnis  entspringt, 
einer  sich  stets  weiter  entwickelnden  Erkenntnis,  die  von  den  einfachsten 
Tätigkeiten  des  Zählens  und  Messens  ausgehend  nicht  allein  die  Formen  dieser 
Operationen  zu  allgemeinen  Methoden  erhebt,  sondern  sie  stets  weiter  zu 
bereichern  sucht  durch  Schöpfung  neuer  Begriffe,  die  sich  ebensosehr  die  Auf- 
gabe stellt,  den  Kosmos  als  ein  gesetzmäßig  geordnetes  Geschehen  zu  verstehen, 
als  die  Gebilde  des  logischen  Verstandes  bis  in  ihre  entlegensten  Einzelheiten 
zu  prüfen,  einer  Wissenschaft,  die  wie  ein  gewaltiger  Arterienstrom  unsere 
ganze  Kultur  bis  in  ihre  feinsten  Kapillaren  durchdringt. 

Wir  wenden  uns  nun  zunächst  zu  den  Beziehungen  der  Mathematik  Mathematik  und 
zur  technisch-wissenschaftlichen   Kultur.    Zweierlei  Richtungen  wer-    y;i^^^^^Jt- 
den  wir  in  der  letzteren  gewahr,  die  sich  gegenseitig  befruchten,  jedoch  in 
ihrem  Wesen  prinzipiell  voneinander  verschieden  sind.    Die  erste  beruht  auf 
der  technischen    Erfindungsgabe  des  Menschen,  die  Naturkräfte  seinen 
Zwecken  dienstbar  zu  machen. 


liehe  Kultur. 


lO  A  A.  Voss:  Die  Beziehungen  der  Mathematik  zur  allgemeinen  Kultur. 

Technische  Er-  An  sich  sctzt  cÜesc  Erfindungsgabe  keine  schulmäßige  Wissenschaft  voraus. 

findungsgabe.  -^-^  Staunen  bewundern  wir  die  gewaltigen  Bauwerke  untergegangener  Völker, 
die  vielleicht  länger  bestehen  werden  als  unsere  stolzesten  Brückenkonstruk- 
tionen. Und  doch  sind  sie  nicht  aus  einer  theoretischen  Einsicht  in  die  Vertei- 
lung der  Kräfte  oder  einer  Festigkeitslehre  hervorgegangen.  Erfindungen, 
wie  die  der  Spinn-  oder  Nähmaschine,  der  automatischen  Konstruktionen, 
sind  nicht  aus  einer  theoretischen  Kinematik,  sondern  aus  vielen  mühsamen 
Versuchen  oder  glücklichen  Zufällen  entsprungen.  Ein  armer  unwissender 
Knabe  erfindet,  wie  erzählt  wird,  das  Prinzip  der  Selbststeuerung  an  New- 
comens  Dampfmaschine  und  gibt  damit  Veranlassung  zu  der  Ausbildung  aller 
automatischen  Vorgänge,  die  bei  Maschinen  und  bei  physikalischen  Apparaten 
verwendet  werden.  Die  beiden  wichtigsten  Instrumente  der  Beobachtung, 
Fernrohr  und  Mikroskop,  haben  sich  von  fast  zufälligen  Anfängen  durch  die 
unermüdliche  Arbeit  der  Mechaniker  und  Optiker,  durch  die  Methoden  der 
Glasbereitung,  zu  einer  Vollkommenheit  erhoben,  für  die  kaum  noch  eine 
andere  Grenze  bleibt  als  die  im  Wesen  unserer  Sinne  und  der  Natur  des  Lichtes 
selbst  begründete.  Die  Photographie,  die  sich  nach  den  tastenden  Anfängen 
Niepces  und  Daguerres  unabhängig  von  allem  abstrakten  Wissen  zu- 
nächst als  Kunst  ausbildete,  hat  gegenwärtig  gelernt,  durch  Heranziehung 
immer  weiterer  chemischer  und  physikalischer  Erfahrungen  sich  zu  einem 
Forschungsmittel  auszubilden,  das  der  Astronomie  das  Vorhandensein  bisher 
nicht  beobachteter  Himmelskörper  zu  ermitteln  gestattet  und  für  die  die 
Probleme  des  Fernsehens  sowie  der  Wiedergabe  der  Gegenstände  in  ihren  natür- 
lichen Farben  nahezu  erledigt  scheinen. 

Auch  dem  wissenschaftlichen  Charakter  der  Chemie  treten  wir* nicht  zu 
nahe,  wenn  wir  an  dieser  Stelle  auf  die  glückliche  Vereinigung  von  divinato- 
rischer  Kombinationsgabe  mit  zielbewußter  Synthese  hinweisen,  wie  sie  Ke- 
kule  bei  seiner  Entdeckung  des  Benzolrings  so  lebendig  beschreibt.  In  elek- 
trischen Öfen  oder  der  Hitze  des  Knallgasgebläses  erzeugen  wir  Diamanten, 
Rubine  und  Saphire,  in  kalorischen  Maschinen  gelingt  es  uns  alle  Gase  in  be- 
liebig großen  Mengen  flüssig  zu  machen,  mittels  der  drahtlosen  Telegraphie 
umspannen  wir  bald  die  Dimensionen  des  ganzen  Erdballs.  Das  Telephon 
dehnt  die  Wirkung  des  gesprochenen  Wortes  auf  ungeheure  Entfernungen  aus, 
das  Grammophon  gestattet,  dasselbe  zu  fixieren  und  die  wunderbare  Voll- 
kommenheit einzelner  Menschenstimmen  gleichsam  unsterblich  zu  machen, 
der  Kinematograph  führt  uns  sogar  mikroskopische  Vorgänge  vor  Augen  und 
wird  so  zum  wichtigsten  Werkzeug  der  Physiologie  und  Pathologie,  und  die 
Anwendung  der  Röntgenstrahlen  lehrt  uns  die  verborgene  Struktur  der  Körper 
erkennen. 

Es  ist  wohl  überflüssig,  diese  kurze  Skizze,  in  der  nicht  einmal  die  durch 
Eisenbahnen  und  Dampfschiffahrt,  Telegraphie,  Luftschiffe  und  Maschinen  aller 
Art  völlig  veränderten  wirtschaftlichen  Verhältnisse  berücksichtigt  sind,  durch 
weitere  Beispiele  zu  vermehren.  Wer  heute  eine  Ausstellung,  wie  das  Deut- 
sche   Museum   von    Meisterwerken    der    Naturwissenschaften  und 


Technische  Erfindungsgabe  und  quantitative  Forschung.  All 

der  Technik  in  München,  besucht,  wird  staunen  müssen  über  das,  was  bis- 
her erreicht  wurde,  und  was  noch  weiterer  Vollendung  fähig  erscheint. 

Aber  damit  ist  das  Wesen  dieser  Kultur  in  tieferem  Sinne  nicht  er- 
schöpft. Wer  ohne  ein  schon  ausgebildetes  W'issen  eine  solche  Ausstellung  be- 
sucht, wird  sich  mit  Beschämung  gestehen  müssen,  daß  er  wie  ein  Blinder  allen 
diesen  W^undern  der  Technik  gegenübersteht.  Die  wahre  technisch-wissen- 
schaftliche Kultur  beginnt  erst  da,  wo  der  Geist  in  diesen  Dingen  nicht  mehr 
bloß  merkwürdige  Tatsachen,  sondern  die  zielbewußten  Mächte  erkennt, 
welche  die  Fortschritte  in  die  richtige  Bahn  zu  leiten  vermochten.  Auch  ist  es 
völlig  unzutreffend,  wenn  man  in  den  vorigen  Beispielen  nicht  etwas  Höheres 
als  die  intuitive  Kraft  der  Erfindung  sehen  wollte:  Überall  stehen  Theorie 
und  Praxis  in  engster  Verbindung,  die  Konstruktion  der  Uhren,  Fernrohre  und 
Mikroskope,  der  Kältemaschinen  beruht  keineswegs  nur  auf  Versuchen,  son- 
dern wurde  zum  Teil  erst  aus  rein  theoretischen  Erwägungen  hergeleitet. 

Eine  tiefere  Einsicht  in  alle  diese  Verhältnisse  aber  wird  erst  möglich,  Verbindung  von 
wenn  die  Forschung  über  die  qualitativen  Unterschiede  hinaus,  die  ihrem  Pr^^*drr°ch 
inneren  Wiesen  nach  uns  völlig  unverständlich  zu  bleiben  scheinen,  weil^**^  Mathematik, 
unsere  unmittelbare  Erfahrung  keine  Verbindung  zwischen  ihnen  herzu- 
stellen vermag,  vermöge  allgemeiner  Ideen  sich  zum  Verständnis  einer  kau- 
salen Gesetzmäßigkeit,  zu  der  quantitativen  Vergleichung  und  Vor- 
aussagung erhebt.  So  beruht  denn  alles  auf  jenen  primitiven  Tätigkeiten, 
die  zugleich  den  Anfang  des  mathematischen  Denkens  bilden,  dem  Zählen 
und  Messen.  Verstehen  im  exakten,  nicht  auf  unbestimmte  Vorstellungen 
und  Analogien  gegründeten  Sinne,  ist  eben  nichts  anderes  als  berechnen,  vor- 
aussagen können.  Das  Sinnlich-wahrnehmbare  gibt  keine  Erkenntnis,  diese 
finden  wir  einzig  und  allein  in  den  quantitativen  Beziehungen  der  Elementar- 
begriffe. Das  gilt  nicht  nur  da,  wo,  wie  bei  der  Erkenntnis  technischer,  physikali- 
scher und  astronomischer  Vorgänge  die  Mathematik  sich  auf  ihrem  nächsten 
Gebiete  zu  bewegen  scheint,  sondern  in  weiterem  Sinne  auch  dort,  wo  sie  mit 
den  Forderungen  unseres  sozialen  und  wirtschaftlichen  Lebens  in  Beziehung  tritt. 

Indessen  werden  wir  hier  davon  absehen  dürfen,  das  innere  Wesen  der  Historische  Ent- 
Mathematik in  seiner  abstrakten  Form  den  oben  geschilderten  unzutreffenden  ''^äiamme^*'" 
Ansichten  gegenüber  zu  schildern,  sondern  unsere  Aufgabe  darin  sehen,  ihre       langes. 
allgemeine  Bedeutung  für  die  technische,  wirtschaftliche  und  soziale 
Kultur  zu  schildern.    Diese  werden  wir  aber  am  deutlichsten  erkennen,  wenn 
wir  den  Zusammenhang  des  mathematischen  Wissens  mit  der  Entwicklung  der 
Kultur  von  ihren  Anfängen  bis  zur  Gegenwart,  soweit  das  in  einer  kurzen  Skizze 
möglich  ist,  verfolgen. 

Die  Anfänge  des  mathematischen  Wissens  sind  ebenso  wie  die  Entstehung 
der  Sprachen  in  tiefes  Dunkel  gehüllt.  Bei  den  Babyloniern  treten  sie  uns Babyionier. 
bereits  auf  einer  Stufe  der  Ausbildung  entgegen,  zu  der  nur  eine  lange  Zeit 
der  Beobachtung  und  Erfahrung  hinleiten  konnte.  Nur  unter  einem  reinen 
Himmel  war  es  möglich,  den  gesetzmäßigen  Wechsel  der  Tages-  und  Jahres- 
zeiten in  Verbindung  mit  dem  Lauf  der  Gestirne  mittels  der  Ordnungsprinzipe 


I  2   A  A.  Voss :  Die  Beziehungen  der  Mathematik  zur  allgemeinen  Kultur. 

des  Zählens  und  Messens  zu  erfassen.  Damit  erscheint  zugleich  die  Ziffern- 
rechnung und  ein  eigentümliches  Zahlensystem,  in  dem  eine  dezimale  und 
sexagesimale  Anordnung  sich  verbindet,  die  für  die  Einrichtung  unserer  Meß- 
instrumente maßgebend  geblieben  ist,  die  Stürme  der  französischen  Revo- 
lution ebenso  überdauernd  wie  alle  neueren  Versuche,  dieselbe  durch  eine  ein- 
heitliche Grundlage  zu  ersetzen.  Zugleich  besaßen  die  Babylonier  schon  ein 
Maß-  und  Gewichtssystem,  das  gleich  unserem  metrischen  alle  Maße  auf  eine 
Normaleinheit  der  Länge  reduzierte,  eine  Schöpfung,  die  nur  als  Ausfluß  weit 
vorgeschrittener  Einsicht  begreiflich  wird,  durch  die  ein  großes  Kulturland  ge- 
ordnet werden  sollte. 
Ägypter.  Aus  Ägypten  stammen,  allerdings  aus  weit  späterer  Zeit,  die  ersten  hand- 
schriftlichen Urkunden  mathematischen  Inhalts.  Der  Papyrus  Rhind  ent- 
hält bereits  die  Grundrechnungsarten  unter  Benutzung  von  Zahlzeichen  und 
Operationssymbolen  und  verwendet  sie  zur  Lösung  von  dem  praktischen  Leben 
entnommenen  Aufgaben  in  ähnlicher  Weise  wie  unsere  Elementarbücher;  er 
gibt  uns  Aufschluß  über  eine  rationelle  Feldmeßkunst,  die  für  dieses  ackerbau- 
treibende Volk  so  wichtig  war. 

So  steht  die  Mathematik  zunächst  mit  den  praktischen  Bedürfnissen,  den 
religiösen  Vorschriften,  den  Grundlagen  einer  technisch-wissenschaftlichen  Kul- 
Griechen. tur  in  Verbindung.  Aber  bei  den  Griechen  scheint  sich  zuerst  die  Tendenz 
ausgebildet  zu  haben,  das  mehr  zufällig  gefundene  System  empirischer  oder 
intuitiver  Regeln  auf  wenige  unzweifelhafte  Grundwahrheiten  zurückzuführen. 
Wir  müssen  davon  absehen,  diese  Entwicklung  der  Mathematik  zur 
Wissenschaft  hier  zu  schildern,  als  deren  Vollendung  die  Bücher  des  Eu- 
klid erscheinen,  nächst  der  Bibel  wohl  das  verbreiteste  Buch  auf  der  Erde. 
Und  bald  darauf  erhebt  sich  Archimedeszu  denselben  Methoden  der  Inhalts- 
berechnung, die  fast  2000  Jahre  später  die  Anfänge  der  Infinitesimalrechnung 
unter  Kepler,  Pascal  und  Fermat  einleiten.  Von  da  ab  findet  ein  Nach- 
lassen der  produktiven  Kraft  statt,  obwohl  fast  gleichzeitig  unter  Apollo nius 
in  der  Geometrie  der  Kegelschnitte  neue  Ideen  auftreten,  die  dem  Koordinaten- 
begriff des  Descartes  nahe  kommen.  Und  die  Bedürfnisse  der  Astronomie 
drängen  zu  weiterer  Ausbildung  der  Trigonometrie,  die  unter  Claudius  Pto- 
lemäus  ihre  für  lange  Zeit  maßgebende  Darstellung  erreicht. 

Wir  wissen  nicht  mit  Sicherheit,  inwieweit  die  Mathematik  der  älteren 
Inder.  Inder  durch  Babylon  beeinflußt  ist,  und  in  welchem  Maße  diese  selbst  später 
auf  die  Wissenschaft  der  Griechen  eingewirkt  haben.  Aber  der  besonderen  Be- 
gabung der  Inder  haben  wir  tatsächlich  das  schon  bei  den  Babyloniern  im 
Keime  vorhandene  Positionssystem  der  Ziffern  zu  verdanken,  dem  selbst 
ein  Archimedes  nur  nahe  gekommen  war,  sowie  die  Einführung  der  trigono- 
metrischen Funktionen,  d.  h.  des  Sinus  und  Kosinus  an  Stelle  der  Kreissehnen 
des  Ptolemäus. 

So  entsteht  allmählich  eine  astronomisch-mathematische  Kultur, 
Araber,  deren  Träger  in  der  Zeit  des  Niederganges  der  Wissenschaften  nun  die  Araber 
werden. 


Mathematik  und  Kultur  bis  zur  Zeit  der  Renaissance, 


13 


Harun  al  Raschid  (786 — 809)  läßt  Ptolemäus'  ^exa^l  (TuvraHic  ins 
Arabische  übertragen,  die  indischen  Sinustafeln  werden  durch  Albategnius  (929) 
eingeführt.  Griechische  Manuskripte  werden  erworben,  die  Bücher  des  Euklid 
übersetzt,  die  indischen  Zahlzeichen  verbreiten  sich  als  arabische  Ziffern, 
die  Algebra  wird  eine  selbständige  Wissenschaft.  In  Spanien  entsteht  im 
12.  Jahrhundert  durch  die  Berührung  hebräischer,  arabischer  und  romanischer 
Kultur  das  Bedürfnis,  vermöge  der  Weltsprache  des  Lateinischen  die  Wissen- 
schaft des  Altertums  allgemein  zugänglich  zu  machen,  und  so  gelangt  der  Ok- 
zident in  den  Besitz  von  Übersetzungen  der  großen  Alexandriner  und  der  ara- 
bischen Mathematiker. 

Doch  nicht  in  Spanien,  sondern  in  Italien  beginnt  im  Anfang  des  13.  Jahr- 
hunderts eine  neue  Entwicklung  der  Rechenkunst,  gefordert  durch  die  Be- 
dürfnisse des  Handels  und  der  fortschreitenden  technischen  Kultur,  für  die  nun 
die  Lehren  der  Statik,  der  Kräfteverteilung  wichtig  werden.  Leonardo 
Pisano  faßt  um  I2CX)  in  seinem  Liber  abaci  alles  zusammen,  was  sich  auf  das 
elementare  Rechnen  mit  Einschluß  der  Null,  der  negativen  Zahlen,  der  Brüche, 
der  Kettenregel,  der  arithmetischen  und  geometrischen  Reihen  bezieht. 

Und  ganz  allmählich  eröffnet  sich  damit  eine  neue  Gedankenwelt.  Die 
mathematische  Untersuchung  erscheint  nicht  mehr  allein  als  Interesse  der  rein 
logischen  Spekulation  und  als  Fundament  der  Astronomie,  sondern  als  die 
Kraft,  welche  das  Verständnis  des  Naturgeschehens  ermöglicht.  Einzelne 
Persönlichkeiten  beginnen  sich  von  dem  Zwange  zu  befreien,  mit  dem  die  durch 
die  Kirche  gestützte  Autorität  des  Aristoteles  die  Menschheit  gefesselt  hatte. 
Einen  prägnanten  Ausdruck  findet  diese  Renaissance  inLionardo  da  Vinci 
(1452 — 15 19),  der  gleich  ausgezeichnet  als  Maler,  Architekt,  Ingenieur,  Philo- 
soph und  Mathematiker  vielleicht  das  universellste  Genie  war,  das  je  gelebt 
hat.  Wie  Galilei  und  Kant*)  spricht  er  seine" Überzeugung  aus  in  den  denk- 
würdigen Worten:  ,,Nessuna  humana  investigazione  si  puö  dimandare  vera 
scientia,  s'essa  non  passa  per  le  matematiche  dimostrazione"  oder  ,,Nessuna 
certezza  delle  scientie  e  dove  non  si  puö  applicare  una  delle  scientie  matema- 
tiche e  che  non  sono  unite  con  esse  matematiche."  Vielleicht  sind  diese  Äuße- 
rungen Lionardos  und  Galileis  etwas  zu  prononciert  gefasst.  Aber,  völlig 
unabhängig  voneinander  entstanden,  sind  sie  ein  lebhafter  Ausdruck  für  die 
enthusiastische  Gewißheit,  mit  der  diese  Männer  von  der  Allgewalt  der  mathe- 
matischen Begriffsbildung  erfüllt  waren,  die  in  der  ganzen  Richtung  der 
wissenschaftlichen  Forschungen  alsbald  so  charakteristisch  hervortreten  sollte. 

So  beginnt  denn  nun  mit  Galilei  eine  neue  Epoche  der  mathematischen 
Naturerkenntnis.    Nach   Aristoteles   besteht   der  Grund   für    das  Fallen  der 

*;  Galileis  Ausspruch  im  Saggiatore  lautet:  „La  filosofia  e  scritta  in  questo  grandissimo 
hbro,  che  continuamente  ci  sta  aperto  innanzi  a  gli  occhi  (jo  dico  l'imiverso),  mai  non  si  puo 
intendere,  se  primo  non  s'impara  a  intender  la  lingua  ä  conoscer  i  caratteri,  nei  quaii  h 
scritto.  Egli  h  scritto  in  Ungua  matematica  e  i  caratteri  sono  trianguli,  cerchi  ed  altre  figure 
matematiche."  —  Kant's  Worte:  „Ich  behaupte,  daß  in  jeder  besonderen  Naturlehre  nur 
so  viel  eigentliche  Wissenschaft  angetroffen  werden  könne,  als  darin  Mathematik  anzutreffen 
ist,"  sind  allgemein  bekannt. 


Renaissance   der 

Mathematik  in 

Italien. 


Liouardo  da 
Vinci. 


Galileo  Galilei. 


14   A  A.  Voss:  Die  Beziehungen  der  Mathematik  zur  allgemeinen  Kultur. 

Körper  in  der  vagen  Idee,  daß  sie  ihren  ,, natürlichen  Ort"  suchen.  Galilei 
aber  fragt  nicht,  warum,  sondern  wie  die  Körper  fallen.  Und  als  Bedingung 
für  die  Möglichkeit  eines  solchen  Wissens  erkennt  er  das  Prinzip  der  Träg- 
heit, das  ihm  —  entgegengesetzt  der  damaligen  Ansicht  —  als  eine  durch 
Experimente  weder  zu  bestätigende  noch  zu  widerlegende  Wahrheit  erscheint: 
Mobile  super  planum  horizontale  projectum  mente  concipio  omni  secluso 
impedimento;  jam  constat,  illius  motum  aequabilem  et  perpetuum  super  ipso 
piano  futurum  esse  si  planum  in  infinitum  extendatur.  Und  unter  Voraus- 
setzung der  Unabhängigkeit  der  Wirkung  einer  Kraft  von  dem  augenblick- 
lichen Bewegungszustande,  dem  Prinzip  der  Non-her6dit6,  wie  es  E.  Picard 
nennt,  liefert  ihm  die  Mathematik  die  Fallgesetze,  deren  Übereinstimmung 
mit  der  Wirklichkeit  er  ausführlich  beweist. 

Damit  gelangt  Galilei  zur  Analyse  der  Fragen,  die  sich  auf  den  Wurf  kleiner 
kugelförmiger  Körper  beziehen.   Aber  zur  Behandlung  der  Fälle,  wo  veränder- 
liche Kräfte  wirken,  reichten  die  damaligen  Mittel  der  Mathematik  nicht  aus. 
Descartes.  Hier  sctzt  nun  Descartes'  große  Erfindung  der  Analytischen   Geo- 

metrie ein.  Zwar  sind  Koordinaten  schon  in  den  ältesten  Zeiten  in  mehr- 
facher Form  in  Gebrauch  gewesen,  von  prinzipieller  Bedeutung  aber  blieb 
immer  der  Unterschied  zwischen  dem  geometrischen  Größenbegriff  und  der 
Arithmetik.  Erst  Descartes  löste  den  Koordinatenbegriff  von  der  Größen-  und 
Dimensionsvorstellung,  indem  er  die  Koordinaten  als  reine  Zahlen  in  bezug 
auf  eine  willkürliche  Längeneinheit  erfaßte.  Durch  diese  Befreiung  der  Geo- 
metrie von  der  direkten  Anschauung  wird  die  Geometrie  des  Descartes,  ein 
Jahr  vor  dem  Druck  von  Galileis  Dimostrazioni  matematiche  intorno  a  due 
nuove  scienze  (1638),  zu  einem  neuen  Hilfsmittel  der  Mathematik. 

Und  so  wird  es  nun  möglich,  die  im  Altertum  unerledigten  Probleme  der 
Tangentenkonstruktion,  der  Inhaltsberechnung  auf  anderen  Wegen,  als  den 
kunstvollen  synthetischen  des  Archimedes  anzugreifen. 
Newton.  Andererseits  gab  Newton  in  seinen  Principia  philosophiae  naturalis 

mathematica  (1687)  den  Lehren  Galileis  durch  den  Begriff  der  Masse  und  ihren 
Zusammenhang  mit  der  Beschleunigung  und  der  Kraft  den  Abschluß.  Damit 
waren  die  Gesetze  der  Bewegung  endgültig  festgestellt;  sie  haben  trotz  einzelner 
Schwächen,  welche  die  Axiomata  sive  leges  motus  enthalten,  durch  zwei  Jahr- 
hunderte unbestritten  als  Grundlage  der  exakten  Wissenschaft  sich  erhalten. 
Die  naturwissen-  Füf  dic  Entwickelung  des  Zeitalters  der  naturwissenschaftlichen 

^'^  *kiärung.  "Aufklärung  ist  Newtons  Lehre  von  der  Gravitation  von  der  größten  Be- 
deutung; auf  ihr  beruht  die  Mechanik  des  Himmels.  Durch  Koper- 
n  i  ku  s'  Buch  De  revolutionibus  orbium  coelestium  war  das  geozentrische  System 
des  Ptolemäus  verdrängt,  durch  Keplers  divinatorische  Gedanken  waren 
die  Gesetze  der  Planetenbewegung  erkannt  und  durch  Beobachtungen  und 
Rechnungen  in  langjähriger  Arbeit  bestätigt.  Newton  gehngt  es  auf  wenigen 
Seiten,  diese  Gesetze  als  notwendige  Folgen  allgemeiner  Voraussetzungen  zu 
erweisen:  so  wird  die  allgemeine  Gravitation  der  Massen  zum  Prinzip 
der  Erklärung  aller  kosmischen  Erscheinungen.    Indes  beruht  Newtons  wahre 


Newtons  Principia  und  die  Infinitesimalrechnung.  A.    15 

Größe  nicht  auf  dieser  allgemeinen,  auch  schon  vor  ihm  von  anderen  aus- 
gesprochenen Idee,  sondern  auf  der  genialen  Weise,  mit  der  er  dieselbe  im 
einzelnen  mathematisch  zu  verfolgen  wußte.  Es  ist  das  Problem  der  drei 
Körper,  das  er  mit  solchem  Erfolge  für  Erde,  Mond  und  Sonne  erforscht,  daß 
er  am  Schluß  seines  Werkes  sagen  kann:  motus  omnes  lunares,  omnesque 
motuum inaequalitates  ex  allatis  principiis  consequi;  sunt  etiam  aliaquae- 
dam  nondum  observatae  inaequalitates,  quibus  motus  lunae  adeo 
per  turbantur,  ut  nulla  hactenus  lege  ad  regulam  aliquam  certam  reduci 
potuerint. 

Aber  nicht  allein  der  Beobachtung  stellten  sich  neue  Aufgaben,  sondern 
auch  der  Mathematik  selbst.  Wenn  wirklich  die  Gravitation  alle  kosmischen 
Phänomene  beherrschte,  mußten  auch  Mittel  gefunden  werden,  die  Anziehung 
von  Körpern  beliebiger  Gestalt  und  Massenverteilung  zu  bestim- 
men, während  man  damals  nur  die  konzentrisch  geschichteter  Kugeln  nach 
Newtons  prop.  VII  im  Buch  III  der  Principia  auf  die  Attraktion  punktueller 
Massen  zurückzuführen  wußte. 

Durch  Newtons  undLeibniz'  Erfindung  der  Infinitesimalrechnung  wur- Die  infinitesimal 
den  die  nötigen  Mittel  dazu  geschaffen.  Damit  beginnt  nun  eine  der  merk-  '^^'^  °"°^' 
würdigsten  Epochen  in  der  Geschichte  der  mathematisch-naturwissenschaft- 
lichen Erkenntnis.  Probleme,  die  bisher  völlig  unlösbar  waren,  erscheinen 
jetzt  in  einem  ganz  neuen  Lichte,  und  unter  den  vereinten  Bemühungen  der 
großen  Paladine  der  Infinitesimalrechnung,  der  Bernoullis,  Euler,  La- 
grange, d'Alembert,  Laplace,  vollendet  sich  die  Durcharbeitung  des 
Gravitationsgedankens.  Jede  scheinbare  Ausnahme  von  seiner  universellen 
Gültigkeit  wird  zu  einem  neuen  Triumph  für  denselben  — ,  wenn  wir  auch  nicht 
verschweigen  dürfen,  daß  auch  noch  gegenwärtig  in  der  Bew^egung  des  Mondes 
und  noch  mehr  in  der  des  Merkur  nicht  völlig  durch  diese  Theorie  erklärte  Ab- 
weichungen auftreten.  Aus  ihm  folgte  die  Abplattung  der  Erde  an  den  Polen 
im  Widerspruch  mit  den  Gradmessungen  des  jüngeren  Cassini.  Die  Ent- 
scheidung hierüber  erregte  das  Interesse  der  damahgen  Welt  in  einem  Grade, 
wie  es  gegenwärtig  in  demselben  Maße  kaum  bei  der  Nachricht  von  so  außer- 
ordentlichen und  lang  ersehnten  Erfolgen,  wie  der  Erreichung  des  Nord-  und 
Südpols  der  Erde  durch  Peary  und  Amundsen  der  Fall  ist.  Aber  erneute 
Messungen  bestätigten  in  den  beiden  großen  Expeditionen  unter  Maupertuis 
in  Lappland*)  und  Bouguer  in  der  Nähe  des  Äquators  Newtons  Voraussagung. 
D'Alembert  begründete  dann  theoretisch  die  Präzession  der  Tag-  und  Nacht- 
gleichen aus  der  Abplattung  der  Erde,  und  in  Verbmdung  damit  ergab  sich 
auch  die  zweite  der  Erdachse  eigentümliche  Bewegung,  die  Nutation.  Die 
Attraktion  beliebiger  Massen  wird  durch  Lagranges  Potentialfunktion  auf 
ihren  einfachsten  Ausdruck  zurückgeführt,  in  dem  Laplace  und  Poisson  das 
bestimmende  Element  für  alle  Bewegungsvorgänge  erkennen. 

*)  Die  Genauigkeit  der  Beobachtungen  von  Maupertuis  wurde  allerdings  bald  bestritten. 
Erst  weitere  Messungen  in  den  nördlichen  Breiten  haben  zu  völlig  unzweifelhaften  Resul- 
taten geführt. 


l6   A  A.  Voss:  Die  Beziehungen  der  Mathematik  zur  allgemeinen  Kultur. 

Astronomisch-  So  bildet  sich  die  mathematisch-astronomische    Weltanschau- 

weitanschauung.  u  n g ,  die  uncrschütterliche  Überzeugung  von  der  absoluten  Gesetzmäßigkeit 
des  Naturgeschehens,  für  das  man  die  Grundlage  in  Newtons  Fernwirkung 
gefunden  zu  haben  glaubte.  Ihren  Höhepunkt  erreicht  sie  wohl  bei  Laplace, 
dem  der  ganze  Lauf  der  Welt  als  ein  großes  System  von  Differentialgleichungen 
erscheinen  mochte,  dessen  Lösung  die  fernste  Vergangenheit  und  Zukunft 
gleichmäßig  in  sich  begreifen  müßte.  In  der  großartigsten  Weise  werden  von 
ihm  alle  Mittel  der  Analyse  zur  Mecanique  Celeste  (1799 — 1825)  verwandt, 
deren  Ziel  der  Nachweis  der  bis  auf  ferne  Zeiten  verbürgten  Stabi- 
lität   unseres    Sonnensystems  bildet. 

Die  neuen  Anforderungen,  welche  die  Bahnbestimmung  der  kleinen 
Planeten  machte,  veranlaßten  die  Theoria  motus(l  809)  von  G  a  u  ß.  Es  war  ein 
weiterer  Triumph  für  Newtons  Gesetz,  als  1835  die  Wiederkehr  des  Halley- 
schen  Kometen  im  Einklang  mit  seiner  berechneten  Bahn  wirklich  eintraf, 
ein  noch  größerer  die  auf  der  Theorie  allein  beruhende  Auffindung 
des  Planeten  Neptun.  Der  1781  von  J.  Her  seh  el  entdeckte  Uranus  zeigte 
Abweichungen  von  der  theoretisch  bestimmten  Bewegung,  die  zur  Annahme 
bisher  unbekannter  Störungen  zwangen.  So  entstand  die  Überzeugung,  der 
Bessel  1845  ^^  einem  Briefe  an  A.  v.  Humboldt  Ausdruck  gab,  daß  ein 
früher  nicht  beobachteter  Planet  die  Ursache  der  Uranusstörungen  sei.  Fast 
zu  gleicher  Zeit  stellten  sich  J.  Adams  und  L.  Le  Verrier  die  kühne  Auf- 
gabe, die  Elemente  eines  diesen  Störungen  entsprechenden  Himmelskörpers 
zu  bestimmen.  Sie  fanden  unabhängig  von  einander,  allerdings  auf  Grund 
ähnlicher  Voraussetzungen,  nahezu  dieselben  Werte,  Adams  sogar  noch  etwas 
früher  als  Le  Verrier;  aber  an  den  Namen  des  letzteren  knüpft  sich  der  Ruhm 
der  Auffindung  des  Neptun,  die  noch  an  demselben  Tage  durch  Encke's 
Assistenten  Galle  erfolgte  (18.  September  1846),  als  Le  Verrier  jenen  zur 
Beobachtung  einer  bestimmten  Himmelsregion  aufgefordert  hatte.  Wer  wird 
nicht  dabei  der  Worte  Schillers  gedenken: 

,,Mit  dem  Genius  steht  die  Natur  in  ewigem  Bunde, 
Was  der  eine  verspricht,  leistet  die  andre  gewiß," 

zumal,  wenn  wir  bedenken,  daß  die  berechnete  Position  des  Neptun  eigentlich 
nur  gerade  zu  jener  Epoche  mit  seiner  wirklichen  in  naher  Übereinstimmung 
sich   befand,    denn  seine   hypothetisch   bestimmten  Elemente  weichen   doch 
erheblich  von  den  später  festgestellten  ab. 
Geographie.  Hier  wäre  endlich  auch  noch  der  Fortschritte    der    Kartographie 

zu  gedenken,  welche  seit  Hipparchs  stereographischer  Projektion  der  Kugel, 
durch  Lagranges  konforme  Abbildung  aller  Rotationsflächen  {1779),  wie 
durch  Gauß'  Disquisitiones  generales  circa  superficies  curvas  (1827)  zu  den 
wichtigsten  Sätzen  der  Geometrie  Veranlassung  gab,  bis  in  die  neueste  Zeit  ein 
unerschöpfliches  Gebiet  geometrischer  und  geographischer  Forschungen. 

Aber  Aufgaben  ganz  anderer  Art  entstanden,  als  man  von  den  kosmischen 

Mathematik  und  Forschungen  sich  den  physikalischen   Erscheinungen  zuwandte.    Schon 

Laplace  mußte  in  seiner  TheoriederKapillarität(i  806)  neue,  erst  innerhalb 


Mathematisch -physikalische  Forschung.  A    17 

eines  gewissen  Wirkungskreises  zwischen  den  Massen  auftretende  Kräfte  an- 
nehmen. UnddasCoulombsche  Gesetz(i785)  der  statischen  Elektrizität  und 
des  Magnetismus  zeigte  die  MögHchkeit  einer  mathematischen  Theorie  der 
Elektrizität  und  des  Magnetismus,  für  welche  wieder  das  Potential  Lagranges 
in  Verbindung  mit  Laplaces  und  P Dissens  Sätzen  das  bahnbrechende  Hilfs- 
mittel wurde.  Auch  die  Elastizitätstheorie  wird  nun  auf  solche  Molekular-  EiasHiitäts- 
kräfte  gegründet,  erfordert  aber  bald  weitere  Hypothesen,  die  trotzdem  mit  '*'*°"*- 
den  Erscheinungen  selbst  sich  nicht  in  Einklang  bringen  lassen.  Damit  tritt 
ein  neuer  Gedanke  in  den  Vordergrund,  der  der  Feldwirkung,  welche,  von 
allen  solchen  Hypothesen  absehend,  die  allgemeinen  Zug-  und  Druckver- 
hältnisse eines  elastischen  Mediums  nach  den  Gesetzen  der  Mechanik  der 
Continua  behandelt,  und  so  die  bereits  von  Galilei  begonnene  mathema- 
tisch-physikalische Anschauung  ins  theoretische  Gebiet  aufs  erfolg- 
reichste hinüberleitet.  Auf  dieser  Erkenntnis  beruht  eines  der  wesentlichsten 
Verdienste  des  grossen  Mathematikers  A.  L.  Cauchy.  Seine  Arbeiten  in  den 
Exercices  d'  Analyse  et  de  Physique  mathematique  (seit  1822)  über  die  Mechanik 
deformierbarer  kontinuierlicher  Systeme  haben  über  die  gleichzeitigen  mole- 
kulartheoretischen Ansätze  L.  Naviers  und  S.  D.  Poissons  den  Sieg  davon- 
getragen. Erst  die  durch  G.  Greens  Arbeiten  (1842)  vorbereitete  Einführung 
des  thermodynamischen  Potentials  in  die  Elastizitätslehre  durch  W.  Thomson 
(1857)   geht  über  Cauchys   Konzeptionen  hinaus. 

Die  Elastizitätstheorie  steht  mit  der  Lehre  vom  Licht  in  engster  Die  Lehre  vom 
Beziehung.  Newtons  Emissionstheorie  war  während  des  18.  Jahrhunderts 
trotz  der  sich  immer  häufenden  theoretischen  und  experimentellen  Wider- 
sprüche fast  durchgängig  maßgebend  geblieben.  Nach  der  Undulations- 
theorie  von  Huygens  (1691)  beruht  das  Licht,  dem  Schall  analog,  auf  der 
Fortpflanzung  von  Schwingungen  eines  imponderabelen  elastischen  Mediums, 
des  Äthers.  Huygens  gelingt  es  so,  die  Reflexions-  und  Brechungsgesetze 
abzuleiten;  L.  Foucaults  berühmte  Versuche  (1855 — 1862)  entscheiden  end- 
gültig gegen  die  Emissions-  und  für  die  Undulationstheorie.  In  seiner  mathe- 
matischen Beschreibung  der  Doppelbrechung  in  Kristallen  erscheint 
Huygens  als  ein  divinatorisches  Genie.  Seine  Konstruktion  der  Wellenfläche 
wird  durch  Wollaston  und  Malus  (1803  und  1810)  experimentell  be- 
stätigt; noch  weit  merkwürdiger  ist  die  von  W.  R.  Hamilton  1833  aus  der 
Gestalt  dieser  Fläche  unter  einer  ganz  besonderen  Versuchsanordnung  bei 
zweiachsigen  Kristallen  vorausgesagte  äußere  konische  Brechung,  die  von 
H.  Lloyd  sofort  am  Arragonit  unzweifelhaft  nachgewiesen  wurde.*)  Aber  die 
verschiedenen  Farben,  in  die  das  Licht  sich  bei  der  Brechung  spaltet,  ver- 
mochte Huygens  nicht  zu  erklären.  Den  ersten  Schritt  dazu  tat  Euler  um 
die  Mitte  des  18.  Jahrhunderts,  indem  er  die  Schwingungszahl  der  Ätherteil- 
chen in  Beziehung  zur  Farbe  brachte,  wie  man  das  bei  der  Fortpflanzung 
verschiedener  Töne  längst  gewohnt  war.    Und  Th.  Young  gelang  es  zu  An- 

*)  Ob  Lloyds  Versuchsanordnung  auch  die  innere  konische  Brechung  zur  Erscheinung 
bringt,  ist  neuerdings  von  W.  Voigt  in  Zweifel  gezogen. 

K.  d.  G.  in.  I  Mathematik,  A.  2 


l8   A  A.  Voss:  Die  Beziehungen  der  Mathematik  zur  allgemeinen  Kultur. 

fang  des  19.  Jahrhunderts,  auch  die  Interferenzerscheinungen,  allerdings  mehr 
qualitativ  als  quantitativ,  zu  erklären.  Neue  Schwierigkeiten  bereitete  freilich 
die  durch  Malus  entdeckte  Polarisation  des  Lichtes:  sie  wurden  von  Fres- 
nel  (1817)  durch  die  Annahme  beseitigt,  die  nun  maßgebend  wird,  daß  die  Vibra- 
tionen des  Äthers  nicht  in  der  Richtung  des  Lichtstrahls,  sondern  senkrecht 
dazu  erfolgen.  Damit  war  dem  Äther  allerdings  die  Eigenschaft  einer  elasti- 
schen Flüssigkeit  abgesprochen,  denn  in  dieser  können  sich  solche  Schwin- 
gungen nicht  fortpflanzen,  wenn  man  an  den  Gesetzen  der  Hydrodynamik 
festhält.  Man  mußte  also  zunächst  den  Äther  als  ,, festes"  elastisches  Medium 
ansehen.  Hier  griff  nun  Cauchys  Elastizitätslehre  ein,  nach  der  drei  Wellen 
von  der  Art,  wie  man  sie  zur  Erklärung  zunächst  braucht,  sogenannte  ebene 
Wellen,  bestehen  können,  von  denen  die  eine,  longitudinale,  keine  Licht- 
empfindung einleitet,  während  die  beiden  anderen  transversalen  die  Doppel- 
brechung hervorrufen.  Aber  auch  trotz  Cauchys  Ableitung  der  Dispersion  (1836) 
aus  seiner  allgemeinen  Theorie  blieben  weitere  Fragen.  Wir  erinnern  nur  an 
die  Streitfrage,  ob  die  Schwingung  im  polarisierten  Lichte  in  der  Polarisations- 
ebene oder  senkrecht  dazu  erfolge,  die  sich  weder  durch  mathematische,  noch 
durch  experimentelle  Untersuchung  entscheiden  ließ,  —  anderer  Erscheinungen, 
wie  z.  B.  der  Absorption  und  Fluoreszenz  gar  nicht  zu  erwähnen. 

Hier  ist  auch  an  die  große  Förderung  zu  erinnern,  welche  die  Kultur  durch 
Optische  die  Verfeinerung  der  optischen  Instrumente  mit  Hilfe  der  Mathe- 
ns  rumen  e.  ^  ^  ^ .  j^  erfuhr.  Von  dcu  zwei  erheblichen  Mängeln  derselben,  der  sphärischen 
und  chromatischen  Abweichung,  konnte  zwar  der  erstere  sowohl  empirisch 
als  auch  durch  Berechnung  genügend  reduziert  werden,  desto  mehr  aber  schien 
der  letztere  wesentlich  mit  der  Brechung  des  inhomogenen  Lichtes  verbunden. 
Aber  Euler  zeigte,  ausgehend  von  der  damals  als  vollkommen  angesehenen 
Achromasie  des  Auges,  wie  man  durch  Anwendung  von  Gläsern  verschiedenen 
Brechungsvermögens  auch  die  farbigen  Ränder  des  Bildes  hinreichend  be- 
seitigen könne:  so  führte  die  Theorie  den  Optiker  J.  DoUond  alsbald  (1757) 
zur  Herstellung  achromatischer  Objektive.  Ist  nun  auch  letztere  vorzugsweise 
eine  Kunst  geblieben,  so  haben  andererseits  die  mathematischen  Unter- 
suchungen E.  Abbe's  (1873,  1879)  sowohl  die  Grenzen  ihrer  durch  die  Natur 
des  Lichtes  selbst  bedingten  Leistungsfähigkeit,  als  auch  die  Möglichkeit 
gezeigt,  durch  besondere  Hilfsmittel  dieselbe  noch  weiter  zu  steigern. 

Hatte  sich  so  die  Elastizitätstheorie  immer  weiter  von  der  astronomischen 
Mechanik  entfernt,  so  begegnen  wir  nun  demselben  Prozeß  auf  dem  großen 
Elektrizität  und  Forschungsgcbict  des  1 9.  Jahrhunderts,  dem  der  ElektrizitätunddesMagnet- 
agne  »mus.  jgj^^g  Zunächst  versprach  das  Coulombsche  Gesetz  unter  den  Händen  von 
Laplace,  Poisson  und  G.  Green  im  Bereich  der  statischen  Elektrizität  die 
schönsten  Erfolge.  Aber  Gauß  zeigte  in  den  ,, Allgemeinen  Lehrsätzen  in 
Beziehung  auf  die  im  umgekehrten  Verhältnis  des  Quadrats  der  Entfernung 
wirkenden  Anziehungs-  und  Abstoßungskräfte"  (1839),  daß  die  Wirkung  von  im 
Innern  einer  geschlossenen  Fläche  verteilten  Magneten  durch  eine  ideale  An- 
ordnung magnetischer  Massen  auf  der  Oberfläche  derselben  so  ersetzt  werden 


Theorie. 


Femewirkung  und  Feldwirkung.  A    lo 

kann,  daß  für  alle  äußeren  Punkte  die  Kraftwirkung  dieselbe  bleibt:  damit  wird 
die  mechanistischeKonstruktion  des  Innern  gleichgültig,  es  entsteht  die  Theorie 
des  Erdmagnetismus.  Ampere  gelingt  es,  die  inzwischen  entdeckte  Elek- 
trodynamik durch  sein  Gesetz  für  die  Wechselwirkung  von  Stromelementen 
zu  begründen,  während  F.  Neumann,  im  Anschluß  an  M.  Faradays  Induk- 
tionserscheinungen, auf  die  Gewinnung  differentieller  Gesetze  verzichtend,  sich 
zu  den  Integralgesetzen  (1845)  erhebt.  Diese  zum  Teil  noch  astronomisch  den- 
kende Physik  erreicht  ihren  Höhepunkt  unter  W.  Weber  (1846),  der  in  einem 
allgemeinen  dem  Gravitationsgesetze  vergleichbaren  Elementargesetze  die 
Grundlage  aller  dieser  komplizierten  Vorgänge  zu  umfassen  sucht,  dessen 
mathematische  Form  von  C.  Neumann  1868  auf  die  Annahme  einer  zeit- 
lichen Fortpflanzung  der  elektrischen  Kraft  begründet  wird. 

An  das  Göttinger  Dioskurenpaar  knüpft  sich  die  erste  praktische  Aus- 
führung der  elektrischen  Telegraphie  (1833),  aber  erst  W.  Thomsons 
mathematische  Untersuchungen  der  Induktionserscheinungen 
in  einem  submarinen  Kabel  (1857)  ermöglichen  es  1866,  deutlich  er- 
kennbare Zeichen  von  Europa  nach  Amerika  zu  senden. 

Doch  die  Fernwirkungstheorien,  in  denen  man  vor  60  Jahren  die  höchste  Max^eiis 
Stufe  der  Naturerkenntnis  sah,  konnten  gegen  die  Beobachtungen  Faradays 
über  den  Einfluß  des  Zwischenmediums  sich  nicht  behaupten.  Hier  setzte 
nun  Maxwells  großes  mathematisches  Genie  ein.  Die  Elektrodynamik  der 
Gegenwart  —  wir  folgen  hier  W.  Voigt  —  umfaßt  in  den  Maxwellschen  Glei- 
chungen alle  Äußerungen  der  ruhenden  und  bewegten  Elektrizität,  von  dem 
einfachen  Influenzproblem  und  den  Gesetzen  konstanter  Ströme  mit  ihren 
magnetischen  Wirkungen  bis  zu  den  Schwingungserscheinungen,  mit  solcher 
Genauigkeit,  daß  sie  den  Effekt  jedes  Experimentes  zahlenmäßig  voraussagen 
kann.  Und  zugleich  spricht  sie  die  Gesetze  aller  optischen  Erscheinungen  so 
umfassend  aus,  daß  die  bloße  Betrachtung  ihrer  Formeln  wiederholt  zur  er- 
füllten Voraussage  noch  nicht  gesehener  Erscheinungen  geführt  hat. 

Das  Webersche  Gesetz  ergab  das  merkwürdige  Resultat,  daß  zwei  elek- 
trische Teilchen  bei  einer  gewissen  Relativgeschwindigkeit  keine  Wirkung  auf- 
einander ausüben;  W. Weberund  R. Kohlrausch  zeigen  1856,  daß  diese  Ge- 
schwindigkeit der  des  Lichtes  nahezu  gleich  sei.  Es  ist  das  Verdienst  von  J.  C. 
Maxwell,  diese  scheinbar  zufällige  Übereinstimmung  durch  seine  elektro- 
magnetische Lichttheorie  verstehen  gelehrt  zu  haben.  Dabei  tritt  ein 
merkwürdiger  Umstand  ein,  der  sich  auch  auf  anderen  Gebieten  der  mathe- 
matischen Physik  wiederholt.  So  verschieden  auch  der  Treatise  of  electri- 
city  and  magnetism  (1873)  von  der  älteren  Auffassung  mit  ihren  Leitern 
und  ungeschlossenen  Strömen  ist,  die  mathematischen  Hilfsmittel  brauchten 
nur  unwesentlich  verändert  zu  werden.  An  die  Stelle  der  Integrale  Amperes 
und  Webers  tritt  allerdings  ein  System  von  Differentialgleichungen,  welches 
ebensosehr  die  geometrischen  Verhältnisse  als  die  grundlegenden  Daten  der 
Beobachtung  und  die  vermöge  der  Vektoranalysis  zu  fordernde  innere  Sym- 
metrie der  Formeln  divinatorisch  zum  Ausdruck  bringt. 


20  A  A.  Voss:  Die  Beziehungen  der  Mathematik  zur  allgemeinen  Kultur. 

Ihre  Entwick-  Und  Huii  gelingt  es  1 888  H.  H  e  r  t  z ,  zur  Bestätigung  dieser  Theorie  das  Vor- 

lung  durch  Hertz,  j^^^jg^g^-^  einer  solchen  der  Fortpflanzung  des  Lichtes  analogen  Ausbreitung 
der  elektrischen  Wellen,  die  Bedingungen  ihres  Entstehens,  ihre  Wellenlänge 
experimentell  aufzuzeigen.  Welche  Kulturfortschritte  sich  hieran  geknüpft 
haben,  ist  jedem  bekannt.  Denn  wir  leben  ja  mitten  in  der  Zeit,  wo  durch 
das  mit  Branlys  Kohärer  geschärfte  elektrische  Auge  von  Hertz  und  durch 
Marconis  eminentes  Talent  die  drahtlose  Telegraphie  entstand,  wo  wir  die 
elektrischen  Wellen,  die  sich  wegen  ihrer  größeren  Länge  nach  ganz  anderen 
Gesetzen  über  die  Erde  verbreiten,  wie  die  geradlinigen  Lichtstrahlen,  an  jeder 
Stelle,  in  der  Luft  oder  auf  dem  Meere,  zu  erkennen  vermögen*).  Und  die 
neuen  Erfahrungen  beim  Durchgange  der  Elektrizität  durch  stark  evakuierte 
Röhren  führen  zu  einer  Umwälzung  der  bisherigen  Ansichten  über  die  Grund- 
lagen der  Chemie  und  Physik,  welche  die  mathematische  Begründung  der 
materiellen  Erscheinungen  mittels  der  elektromagnetischen  Vorstellungen  in 
nahe  Aussicht  zu  stellen  scheint. 
Die  Wärmelehre,  Noch  auf  einem  dritten  Gebiete,  der  Wärmelehre,  hat  die  Mathematik 

armeeituiig.  ^^^  ^^  Jahrhuuderts  entscheidend  eingegriffen.  J.  B.  Fourier  erkannte  1822, 
daß  die  Probleme  der  Wärmeleitung  durch  die  Annahme,  der  ,,  Wärmefluß"  sei 
der  Temperaturdifferenz  der  benachbarten  Teilchen  proportional,  mathematisch 
behandelt  werden  können.  Seine  Analyse  stellte  aber  der  Mathematik  selbst 
ganz  neue  Aufgaben,  die  der  Darstellung  willkürlicher  Funktionen  durch  be- 
sonders einfache  Arten  derselben,  wie  z.  B.  die  trigonometrischen  oder  Verall- 
gemeinerungen derselben;  sie  haben  zu  einer  großen  Zahl  von  Arbeiten  ge- 
führt, die  mit  den  höchsten  Fortschritten  der  Analyse  bis  in  die  neueste  Zeit 
verknüpft  geblieben  sind. 

Bisher  ist  vorwiegend  die  Entwickelung  der  exakten  Naturwissenschaften 
Mathematik  und  besprochen,  in  der  die  Kraft  der  Mathematik  sich  am  reinsten  offenbart,  und 
wis*en°cha/ten.  bei  denen  zugleich  die  gewonnenen  Resultate  einer  genaueren  experimentellen 
Bestätigung  zugänglich  sind.  Die  physikalische  Forschung  richtet  sich  auf 
Erkenntnis  der  Gesetze,  sie  sucht  zunächst  immer  die  Naturerscheinungen  zu 
isolieren,  in  ihre  Elementar  Vorgänge  aufzulösen  und  alle  störenden  Neben- 
umstände zu  eliminieren.  Aber  die  technischen  Wissenschaften  können 
dabei  nicht  stehen  bleiben.  Bei  ihnen  handelt  es  sich  meist  um  Beziehungen, 
die,  aus  dem  Zusammenwirken  zahlreicher  physikalischer  Kräfte  entspringend, 
nur  durch  Mittelwerte  von  Beobachtungsreihen  bekannt  sind  und  daher  — 
selbst  wenn  eine  allgemeine  rein  mathematische  Behandlung  durchführbar 
wäre  —  doch  ihrem  Wesen  nach  nur  in  geeigneten  Annäherungsmethoden 
an  die  Wirklichkeit  ihren  Ausdruck  finden  können.  Eben  durch  die  Not- 
wendigkeit, den  Bedürfnissen  des  wirklichen  Lebens  zu  genügen,  wird  das 
eigentümliche  Verhältnis  bestimmt,  in  dem  die  technischen  Wissenschaften 
zur  abstrakten   Mathematik  stehen. 


*)  Die  weit  empfindlicheren  Resonatoren,   an   deren  Vervollkommnung   die  Gegenwart 
unausgesetzt  arbeitet,  können  wir  hier  nicht  erwähnen. 


Mathematik  und  technische  Wissenschaften.  A   2  I 

Die  Beziehungen  zwischen  den  technischen  Wissenschaften  und  der 
Mathematik  zu  verstehen,  ist  aber  auch  für  jeden  erforderHch,  der  im  Dienste 
der  Entwickelung  der  ersteren  zu  wirken  berufen  ist.  Nicht  jeder  kann  zu- 
gleich auch  Forscher  auf  dem  abstrakten  Gebiete  sein.  J.  M.  Rankine  be- 
merkt in  der  Vorrede  zu  seiner  angewandten  Mechanik:  ,,The  question  for  the 
engineer  is  —  what  am  I  to  do.?  And  he  must  decide  immediately.  For  the 
mathematician  the  question  is  —  what  am  I  to  think?  And  he  can  take  an 
unlimited  time." 

Aber  eine  bloß  handwerksmäßige  Benutzung  des  in  Formeln  und  Tabellen 
niedergelegten  Apparates  ist  unmöglich,  wenn  man  nicht  zugleich  Einsicht  in 
den  Zusammenhang  desselben  besitzt.  Dies  ist  auch  das  leitende  Prinzip  des 
Studiums  der  exakten  Wissenschaften  an  unseren  technischen  Hochschulen, 
mag  es  auch  im  einzelnen  hinsichtlich  seiner  Ausdehnung  gewissen  Schwankun- 
gen unterworfen  sein. 

Es  sind  die  graphischen  und  numerischen  Methoden,  welche  in 
der  Technik  immer  mehr  in  den  Vordergrund  getreten  sind.  Die  analytische 
Geometrie  setzt  uns  zwar  in  den  Stand,  die  Durchschnitte  beliebiger  Flächen,  DarsteUende 
z.  B.  bei  der  gegenseitigen  Durchdringung  der  Körper,  den  Schattenkonstruk-  *^'°'°**"*- 
tionen,  dem  exakten  Entwurf  räumlicher  Darstellungen  überhaupt,  zu  unter- 
suchen. Doch  wüe  viel  anschaulicher  und  für  derartige  Zwecke  brauchbarer  er- 
scheinen die  Methoden  der  von  G.  Monge  (1795)  systematisch  begründeten 
Darstellenden  Geometrie,  welche,  alsbald  in  den  Unterricht  an  der  Ecole 
polytechnique  zu  Paris  aufgenommen,  seitdem  an  den  technischen  Lehran- 
stalten zu  einer  der  wichtigsten  Grundlagen  für  die  mathematische  Behand- 
lung geworden  sind.  Hier  liefert  die  zeichnende  Konstruktion,  wenn  sie  mit 
ausreichender  Genauigkeit  ausgeführt  wird,  eine  unmittelbar  auf  die  prak- 
tische Ausführung  im  großen  übertragbare  Anweisung. 

Aber  die  Methoden  Monges  werden  wiederum  vertieft  durch  die  all- 
mähliche Ausbildung  der  projektiven  Geometrie.  Die  Geometrie  der  Lage,  Projektive 
die,  schon  von  den  Alten  in  Angriff  genommen,  sich  durch  Desargues  (1639)  ^™*'*"''- 
in  Verbindung  mit  den  Lehren  der  Perspektive  zu  w-ahrhaft  großen  Fort- 
schritten erhoben  hatte,  tritt  mit  dem  traite  des  proprietes  projectives  des 
figures,  dessen  Grundzüge  J.  V.  Poncelet  in  der  Einsamkeit  seiner  Ge- 
fangenschaft in  Saratow  entwirft  (1812)  und  der  systematischen  Entwicke- 
lung der  Abhängigkeit  geometrischer  Gestalten  von  J.  Steiner  (1832)  als  ein 
selbständiger  Forschungszweig  auf,  dessen  Bedeutung  weit  über  die  für  die 
darstellende  Geometrie  grundlegenden  Begriffe  der  Affinität  und  Collineation 
hinausgreift.  Dies  zeigt  sich  namentlich  in  den  Untersuchungen  K.  von 
Staudts  (1847)  und  den  fundamentalen  Gesichtspunkten  der  projektiven 
Metrik  F.  Klein  s  (1872),  welche  die  projektive  Geometrie  unabhängig  von 
der  Geometrie  des  Euklides  aufbauen  und  in  die  wichtigsten  geometrischen 
Forschungen  der  neueren  Zeit  so  neugestaltend  eingegriffen  haben. 

Auch  die  Untersuchungen  der  Statik,  rein  analytisch  verfolgt,  werden  Graphosutik. 
weitläufig,  wenn  man  sie  auch  nur  auf  die  einfachen  Verhältnisse  der  Fach- 


22   A  A,  Voss:  Die  Beziehungen  der  Mathematik  zur  allgemeinen  Kultur. 

Werkskonstruktionen  anwenden  will.  Demgegenüber  erweist  sich  die  graphi- 
sche Konstruktion,  wie  sie  bereits  bei  Varignon(i725)  den  an  das  Seil- 
polygon anschließenden  Untersuchungen  zugrunde  liegt,  weit  übersicht- 
licher. Unter  Poncelet  werden  sie  bereits  vielfach  verwandt,  aber  erst  G. 
Culmann  (1864)  entwickelt  mit  Hilfe  der  projektiven  Auffassung  die  graphi- 
sche Statik  zu  einem  vollständigen  System,  das  in  dem  Kräfteplan  des  In- 
genieurs seinen  Ausdruck  findet.  Mit  ihm  verbindet  sich  bald  darauf  durch 
J.C.Maxwell  (1864)  und  L.  Cremona  (1872)  die  schöne  Theorie  der  Rezi- 
prozität in  der  graphischen  Statik,  und  zugleich  eröffnet  sich  auch  die  Aus- 
sicht, die  graphischen  Methoden  bei  dynamischen  Verhältnissen  zur  An- 
wendung zu  bringen. 
Maschinen-  Dic    Festigkeitsbcrcchnung   der   Maschinenkonstruktionen    gründet    sich 

zwar  gleichfalls  auf  die  mathematische  Elastizitätslehre  und  die  physika- 
lische Festigkeitslehre.  Aber  die  in  der  Praxis  erforderlichen  Konstruktio- 
nen sind  meist  zu  kompliziert,  als  daß  sich  eine  strenge  Lösung  der  mathema- 
tischen Probleme  unmittelbar  erwarten  ließe.  Auch  hier  werden  einer  be- 
ständigen Prüfung  und  Erfahrung,  insbesondere  in  bezug  auf  den  Einfluß  der 
Wärme,  des  Winddruckes,  der  Bruch-  und  Druckfestigkeit,  zu  unterziehende 
spezifische  Näherungsmethoden  geschaffen,  welche,  geleitet  durch  die  sicheren 
Fundamente  der  Theorie,  so  verwickelte  Verhältnisse  zu  beurteilen  gestatten, 
wie  sie  z.  B.  bei  einer  Brückenkonstruktion  stattfinden. 

Hydrodynamik.  Ein   ganz  bcsondcrcs  Interesse  haben  in  neuerer  Zeit  die  hydrodyna- 

mischen Untersuchungen  gewonnen,  veranlaßt  durch  die  großen  Pro- 
bleme der  Bewegung  der  Schiffe,  der  Ballistik,  der  Aerodynamik.  Hier  muß 
der  Ingenieur  mit  dem  scharfen  Blick  ausgerüstet  sein,  der  ihn  befähigt,  bei 
der  Behandlung  der  allgemeinen  Differentialgleichungen  einer  nicht  mehr 
reibungslosen  Flüssigkeit  diejenigen  Elemente  auszusondern,  welche  von 
wesentlichem  Einflüsse  sind,  wenn  es  sich  z.  B.  darum  handelt,  einen  genaueren 
Einblick  in  die  Verhältnisse  der  Wirbelbewegung  zu  gewinnen,  für  die  Helm- 
holtz  bahnbrechende  mathematische  Theorie  die  Grundlagen  geschaffen  hat 
(1858).  Nun  zeigen  die  Beobachtungen,  daß  bei  der  Bewegung  im  Wasser  und 
in  der  Luft  mit  genügender  Annäherung  von  der  Reibung  abgesehen  werden 
kann,  außer  in  der  unmittelbaren  Umgebung  der  von  der  Flüssigkeit 
durchströmten  Körper.  Daraus  ergibt  sich  der  besondere  Charakter  der 
technischen  Probleme,  welche  sich  die  Gegenwart  stellt!  Auf  diesem  sich  gegen- 
seitig befruchtenden  Zusammenwirken  der  Mathematik  mit  den  Forderungen 
der  Technik  beruht  die  Kraft,  mit  der  unsere  Zeit  das  Naturgeschehen  ihren 
Zwecken  unterwirft. 

Aber  weit  mehr  noch  wird  unsere  Naturerkenntnis  durch  das  Energie - 

Thermodynamik,  p r i n z i p  Und  die  Thc rm 0 d yu a m i k  beeinflußt.  Und  während  die  Theorie  der 
Wärmeleitung  zunächst  Einfluß  auf  die  Fortbildung  des  Funktionsbegriffes  ge- 
wann, wird  umgekehrt  in  der  Thermodynamik  die  rein  mathematische 
Behandlung  von  der  größten  Bedeutung  für  die  allgemeine  phy- 
sikalische  Erkenntnis. 


Energieprinzip  und  Thermodynamik.  A.   2^ 

Versuchen  wir,  diesem  Ideengange  etwas  näher  zu  folgen.  Bekanntlich  ist 
zur  Überwindung  der  konstanten  Schwerkraft,  zum  Heben  eines  Gewichtes 
aus  einem  tieferen  Niveau  in  ein  höheres,  bei  gleicher  Anfangs-  und  Endge- 
schwindigkeit desselben  eine  Arbeit,  ,, Kraft  mal  Weg"  erforderlich.  Aber  die 
allgemeine  Definition  der  mechanischen  Arbeit  beruht  auf  dem 
Integralbegriff;  unter  G.  Coriolis  (1829)  und  J.V.  Poncelet  (1826)  wird 
sie  zur  Grundlage  der  theoretischen  Maschinenlehre,  der  Lehre,  Ar- 
beit durch  bestimmte  Vorrichtungen  in  nutzbarer  Form  zu  gewinnen.  Arbeit 
aus  Nichts  zu  gewinnen,  war  das  Bestreben  derer,  die  ein  Perpetuum 
mobile  herstellen  wollten.  Ist  aber  dies  unmöglich,  dann  müssen  die  Kräfte 
der  Natur  —  wenigstens  wenn  sie  nur  von  den  Angriffspunkten  abhängen  — 
konservativ  sein,  d.  h.  sie  müssen  ein  eindeutiges  Potential — C7  be- 
sitzen, und  der  Satz  D.  Bernoullis  T -\-  U  =  const -{- A  [A  die  Arbeit  ander- 
weitiger äußerer  Kräfte)  regelt  die  Beziehung  zwischen  den  potentiellen  und 
kinetischen  Bestandteilen  U  und  T  der  Energie  E. 

Aber  dieser  Satz  der  reinen  Mechanik  trifft  in  der  Wirklichkeit  nicht  zu.  Dt«  beiden 
Überall,  wo  es  sich  um  Einflüsse  der  Reibung,  der  Zähigkeit,  des  Stoßes  han-  xherm'XMmrk. 
delt,  geht  scheinbar  ein  Teil  der  Energie  verloren;  an  seine  Stelle  tritt  unter 
bestimmten  Voraussetzungen  eine  gewisse  Wärmemenge,  die  also  einer  Energie 
entsprechen  muß.  Und  der  genialen  Rechnung  R.  Mayers  (1842),  den  Ver- 
suchen J.  P.  Joules  (1843),  gelingt  es,  das  mechanische  Arbeitsäqui- 
valent der  Wärme  zu  ermitteln.  Der  Satz  von  Bernoulli  erhält  jetzt  eine 
viel  allgemeinere  Form :  E  —  Eq=  A  -{-  Q,  wo  E  die  totale,  auch  die  Wärme- 
bewegung einschließende  Energie,  Q  die  zugeführte  Wärme  bedeutet.  In 
dieser  Gestalt  ordnet  sich  der  erste  Hauptsatz  der  Thermodynamik  wieder 
der  rationellen  Mechanik  ein. 

Dieser  jedoch  reicht  nicht  aus,  um  die  thermischen  Zustände  der  Arbeits- 
maschinen zu  begründen.  Die  Ansicht,  die  Wärme  sei  ein  unzerstörbares  Flui- 
dum,  ist  freilich  damit  gefallen,  aber  es  bedurfte  erst  S.  Carnots  Untersuchung 
des  Kreisprozesses  einer  idealen  Wärmemaschine  (1824),  um  end- 
lich R.  Clausius  (seit  1850)  auf  das  zweite  Axiom  der  Thermodynamik  zu 
führen:  ,, Wärme  geht  niemals  ohne  Arbeitsaufwand  von  einem  kälteren  zu 
einem  wärmeren  Körper  über."*)  Diese  Sätze  bilden  für  den  Konstrukteur 
die  Grundlage,  um  die  verwickelten  Vorgänge  in  unseren  Wärmemaschinen 
zu  verfolgen  und  so  die  Vorschriften  für  den  Bau  derselben  zu  gewinnen. 
Und  die  abstrakte  Theorie,  welche  den  Begriff  eines  vollkommen  umkehr- 
baren Prozesses  bildet,  liefert  den  fundamentalen  Satz:  Unter  allen  Wärme- 


*)  Nach  M.  Planck,  Vorlesungen  über  Thermodynamik  (1909),  muß  man  als  eigent- 
liche Quelle  des  zweiten  Hauptsatzes  der  Thermodynamik  das  Prinzip  von  der  Unmöglich- 
keit eines  ..Perpetuum  mobile  zweiter  Art"  ansehen.  Während  das  „Prinzip  des  Perpetuum 
mobile  erster  Art"  die  Aussage  enthält,  daß  auf  keine  Weise  Arbeit  aus  Nichts  geschaffen 
werden  kann,  besagt  jenes  zweite  Prinzip,  daß  es  unmöglich  ist,  eine  periodische  Bewegung 
hervorzubringen,  bei  der  einzig  und  allein  eine  positive  Arbeit  geleistet  und  zugleich  Ab- 
kühlung eines  Wärmereservoirs  stattfindet. 


24  A  A.  Voss:  Die  Beziehungen  der  Mathematik  zur  allgemeinen  Kultur. 

maschinen,  die  zwischen  gegebenen  Temperaturen  arbeiten,  hat  die  vollkommen 
umkehrbare  den  größten  Wirkungsgrad.  Dabei  wird  nun  ein  rein  mathe- 
matischer Begriff,  der  des  Integralwertes  eines  exakten  Differentials  (der  schon 
oben  bei  der  Erwähnung  der  Kräftefunktion  oder  des  Potentials  hervortrat) 
wichtig,  dessen  charakteristische  Eigenschaft  darin  besteht,  nur  von  den  An- 
fangs- und  Endwerten  der  in  das  Differential  eingehenden  Variabelen  abhängig 
zu  sein.  So  gelangt  man  zur  Definition  der  Entropie,  d.  h.  des  Integrals 
aus  den  einem  Systeme  zugeführten  Wärmemengenelementen  dividiert  durch 
die  bei  der  Aufnahme  derselben  stattfindende  absolute  Temperatur,  und 
zu  der  Folgerung,  daß  die  Entropieänderung  bei  einem  umkehrbaren  Prozesse 
nur  von  dem  Anfangs-  und  Endzustand  abhängt,  also  beim  umkehrbaren 
Kreisprozeß  gleich  Null  ist. 

Nun  sind  freilich  die  Naturprozesse  in  Wirklichkeit  irreversibel.  Denkt 
man  sich  aber  zwei  verschiedene  Zustände  eines  thermischen  Systems  durch 
einen  eingeschalteten  umkehrbaren  Prozeß  zu  einem  Kreisprozesse  ergänzt, 
so  hat  die  Entropie  jenes  Prozesses,  die  man  jetzt  als  ,, Entropie  des  Systems" 
beim  Übergang  von  dem  ersten  in  den  zweiten  Zustand  bezeichnet,  immer 
einen  positiven  Wert.  So  führt  die  mathematische  Analyse  zur  Erkenntnis 
der  großen  Wahrheit,  die  man  auch  als  den  zweiten  Hauptsatz  der  Ther- 
modynamik bezeichnet,  daß  bei  allen  Vorgängen  im  Innern  eines  begrenzten, 
keinen  äußeren  Wirkungen  unterliegenden  Systems  die  Veränderungen  nur 
im  Sinne  beständig  wachsender  Entropie  erfolgen;  ein  Satz,  den  manche 
geneigt  sind,  auch  noch  für  die  Gesamtheit  alles  Geschehens  im  Weltall  in 
Anspruch  zu  nehmen. 

Unter  der  Energie  eines  materiellen  Systems  in  einem  durch  seine 
Lage  und  Geschwindigkeit,  seine  Temperatur  wie  seine  magnetischen,  elek- 
trischen und  chemischen  Eigenschaften  quantitativ  bestimmten  Zustande  ver- 
steht man  die  Arbeit,  welche  dasselbe  nach  außen  zu  leisten  vermag,  wenn  es 
von  diesem  in  einen  gewissen  Normalzustand  übergeht.  Das  Vorhanden- 
sein eines  solchen  von  der  Art  und  Weise  des  Überganges  völlig 
unabhängigen  Energiewertes  kann  man  entweder  als  eine  durch  zahl- 
lose Prüfungen  bestätigte  Tatsache  ansehen  oder  als  einen  Satz,  der  auf  der 
Unmöglichkeit  des  Perpetuum  mobile  beruht.  Dies  große  Prinzip,  das  von 
R.Mayer  1842  in  mehr  intuitiver  Form,  von  H.  Helmholtz  unabhängig  von 
diesem  1847  —  allerdings  unter  Berufung  auf  engere  Begriffe  der  Mechanik  ■ — 
in  quantitativer  Weise  ausgesprochen  wurde,  wird  nun  zum  Leitfaden  für  die 
Beurteilung  aller  Naturerscheinungen, 
Chemie  und  Damit  eröffnet  sich  auch  die  Möglichkeit  einer  mathematischen  Che- 
Mathematik.^.^  Ein  crster  Schritt  dazu  war  es,  als  Lavoisier  1789  und  Proust  er- 
kannten, daß  bei  allen  Veränderungen  der  Stoffe  das  ,, Gewicht"  derselben  un- 
verändert bleibt,  daß  chemische  Verbindungen  nach  ganz  bestimmten  Gewichts- 
verhältnissen ihrer  Bestandteile  erfolgen.  So  entsteht  Daltons  Gesetz  der 
multiplen  Proportionen  (1803)  und  die  quantitative  Bestimmung  der 
Zusammensetzung  der  Stoffe   durch   die  Mischungsregel,   deren  Anfänge 


Energieprinzip  und  mathematische  Chemie.  A   25 

bereits  in  Richters  Dissertation  De  usu  matheseos  in  chymia  1789  auf- 
treten. Eine  geometrische  Gesetzmäßigkeit  ergibt  sich  aus  dem  Gay- 
Lussa  eschen  Gesetze  (1802)  von  den  einfachen  Volumverhältnissen,  nach  denen 
die  Elemente  im  gasförmigen  Zustande  zusammentreten.  Daran  schließt  sich 
wieder  die  Thermodynamik  der  Gase  im  Zusammenhang  mit  der  kinetischen  Gas- 
theorie, die  Zustandsgieichung  von  van  der  Waals.  Und  endlich  erinnern  wir 
an  die  Reaktionsgeschwindigkeiten,  an  die  allgemeinen  Formeln  vonW.  Gibbs, 
welche  sich  auf  das  Gleichgewicht  und  die  Dynamik  der  Phasen  eines 
Systems  beziehen,  d.  h.  der  verschiedenen  Aggregatzustände  und  Verbin- 
dungen, in  denen  die  Elemente  nebeneinander  auftreten  können.  Aus  allen 
diesen,  doch  fast  ausschließlich  auf  rein  mathematischem  Boden  entstandenen 
Theorien  erwächst  die  tiefere,  physikalisch-chemische  Erkenntnis,  deren  sich 
die  Gegenwart  rühmen  darf.  Die  große  Bedeutung  der  Untersuchungen  von  Gibbs 
mag  man  namentlich  an  der  von  ihm  gefundenen  Phasenregel  erkennen,  nach 
der  n  ,,von  einander  unabhängige"  chemische  Bestandteile,  deren  Massen  beliebig 
gegeben  sind,  höchstens  m  -t-  2  coexistierende  Phasen  bilden  können,  ein  Satz, 
der,  aus  rein  theoretischen  Betrachtungen  entspringend,  übrigens  durch  Bak- 
huis-Roozeboom  eine  weitgehende  experimentelle  Bestätigung  erfahren  hat. 

Der  verfeinerten  Beobachtung  genügen  nun  auch  nicht  mehr  die  primi-  Stereochemip 
tiven  Strukturformeln  in  der  Ebene.  Le  Bei,  dann  Van 't  Hoff  in  seiner 
Chimie  dans  l'espace  (1875)  und  andere  werden  die  Schöpfer  einer  Stereo- 
chemie, in  der  durch  die  erst  im  Raum  möghchen  symmetrischen  und 
asymmetrischen  Bindungskräfte  der  Atome  die  besonderen  Eigenschaften  sonst 
völlig  gleicher  organischer  Verbindungen  ihre  Erklärung  finden.  Welche  Umwäl- 
zung damit  verbunden  ist,  zeigt  die  großartige  Ausbildung  der  Zucker-  und 
Farbenindustrie,  sowie  die  neueren  Arbeiten,  welche  durch  zielbewußte  Syn- 
these die  organischen  Verbindungen  aufzubauen  streben,  mit  deren  Gewinnung 
die  Lebensbedingungen  der  Menschheit  verknüpft  sind. 

Damit  aber  betreten  wir  den  Zusammenhang  der  Mathematik    mit  Mathematik  und 
unserem  wirtschaftlichen  und  sozialen  Leben.    Da  gedenken  wir  vor  ^jssensaiaften. 
allem  der  Wahrscheinlichkeitsrechnung.    Es  war  vielleicht  zuerst  nur 
ein  Spiel  der  Gedanken,  als  Galilei  mit  einem  Freunde  oder  Pascal  mit  dem 
Chevalier    de    Mere  sich    über    die  Chancen  des  Würfeins    unterhielten    und 
nun  die  vage  Idee  des  ,, Wahrscheinlichen"  mathematisch  definiert  wurde. 

Aber  von  dem  Begriff  der  apriorischen  Wahrscheinlichkeit,  Anzahl  Die  Wahr- 
der  günstigen  Fälle  eines  Ereignisses  dividiert  durch  die  aller  gleichmöglichen,  rechnung. 
erhebt  sich  BernouUis  Gesetz  der  großen  Zahlen  (1713)  zu  einer  ganz 
neuen  Auffassung,  die  aus  dem  Ergebnis  häufig  wiederholter  Versuche  auf  die 
Wahrscheinlichkeit  ihrer  „Ursachen"  Schlüsse  ziehen  läßt.  Zwei  Hauptfragen 
treten  hier  hervor:  Welches  ist  die  Erwartung  in  bezug  auf  künftig  auszufüh- 
rende Versuche,  und  welches  sind  die  Schlüsse,  die  man  aus  vorliegenden  Ver- 
suchsreihen auf  die  zugrunde  liegenden  Ursachen  derselben  ziehen  kann? 

Schließen  sich  zwei  Ereignisse  A  und  B,  deren  apriorische  Wahrscheinlich-     Gesetz  der 
keiten  p  und  q  sind,  gegenseitig  aus,  so  wird  bei  einer  Anzahl  von  5  Wieder-  ^'°  *° 


26   A  A-.  Voss:  Die  Beziehungen  der  Mathematik  zur  allgemeinen  Kultur. 

holungsfällen  des  Ergebnisses  A  oder  B,  bei  denen  etwa  A  m-mal,  B  w-mal  auf- 
tritt, diejenige  Kombination  die  größte  Wahrscheinlichkeit  besitzen,  bei  der 
das  Verhältnis  der  Zahlen  m  :  n,  wobei  m  ■\-  n  =  s  ist,  dem  von  p  :  q  am 
nächsten  kommt.  Die  Wahrscheinlichkeit  dieser  ausgezeichneten  Kombination 
wird  zwar  mit  wachsendem  s  kleiner  als  jede  noch  so  kleine  Zahl.  Aber  lang 
fortgesetzte  mathematische  Betrachtungen,  namentlich  von  Stirling,  de 
Moivre  und  Laplace,  haben  gezeigt,  daß  mit  einer  ganz  bestimmten  Wahr- 
scheinlichkeit W  zu  erwarten  ist,  daß  —  und  —  d.  h.  die  relativen  Häufigkeiten 
von  m  und  n,  innerhalb  der  Grenzen  —  (pi^z)  und  —  (q'^z)  liegen,  wo  z  sehr 

i 

nahe   dem  Werte  f  =1/-A?    ist,    und   daß  nun   zugleich    W  =  —  i  e^dt    ist. 

0 

Man  kann  also  bei  gegebenem  nicht  zu  großem  z  durch  Wahl  eines  großen  5 
es  erreichen,  daß  t  groß  wird,  daß  also,  da  für  /  =  cxd,  W  den  Wert  Eins  hat, 
mit  einer  an  die  Gewißheit  herankommenden  Wahrscheinlichkeit  zu  erwarten 
ist,  daß  die  relativen  Häufigkeiten  von  m  und  n  im  Verhältnisse  der  nun  als 
Unbekannte  zu  betrachtenden  WahrscheinHchkeiten  p  und  q  stehen. 

Nun  besteht  allerdings  zwischen  der  Gewißheit  PF=  l,  d.  h.  der  absolu- 
ten Notwendigkeit  und  einer  Wahrscheinlichkeit,  die  der  Eins  beliebig  nahe 
liegt,  ein  wesentlicher  Unterschied.  Denn  die  erste  entspricht  demwirklichen 
Geschehen,  die  zweite  der  logisch-mathematischen  Berechtigung, 
dieses  Geschehen  zu  erwarten.  Wir  haben  uns  hier  nicht  mit  den  Betrachtungen 
zu  beschäftigen,  durch  die  man  versuchte,  den  metaphysischen  Zusammenhang 
zwischen  diesen  beiden  Gesichtspunkten  entweder  zu  begründen  oder  als  pro- 
blematisch zu  verwerfen.  Eine  Tatsache  aber  ist  es,  daß,  wie  vielfach  seit 
Buff  on  bis  in  die  neueste  Zeit  fortgesetzte  Versuche  gezeigt  haben,  das  wirk- 
liche Geschehen  sich  im  Einklang  mit  dem  Gesetze  der  großen  Zahlen  befindet. 
Statistik  Und  hieraus  ergeben  sich  für  die  Beurteilung  der  Gesetzmäßigkeit  einer 

""ökoiTo^^re^  großen  Anzahl  sich  wiederholender,  als  gleichartig  angesehener  Fälle  diejenigen 
mathematischen  Urteile,  welche  der  Statistik,  der  Nationalökonomie, 
der  Lebensversicherung  zugrunde  liegen,  bei  denen  man  Prinzipien  for- 
dern muß,  die  nicht  auf  den  wechselnden  Motiven  einer  unbestimmten  Er- 
wartung, sondern  auf  mathematischer  Erfassung  der  erfahrungsmäßigen 
Grundlagen  (Bevölkerungs-  und  Sterblichkeitszahlen)  beruhen.  Ihrer  unpartei- 
ischen Entscheidung  verdanken  wir  das  Vertrauen,  mit  dem  wir  bei  ihrer  be- 
ständigen Benutzung  für  die  Beurteilung  der  Ereignisse  des  sozialen  Lebens 
erfüllt  sind. 
Methode  Fast  ebcnso  groß  ist  aber  die  Bedeutung  der  Wahrscheinlichkeitsrechnung 

Quadrat^e^"  f ür  dic  Beurteilung  wiederholter  Messungen  physikalischer  Größen. 
Denn  auf  diesem  engeren  Gebiete  sind  die  Voraussetzungen  der  Wahrschein- 
lichkeitsrechnung weit  sicherer  erfüllbar.  Bei  wiederholter  Messung  der  Winkel 
eines  Dreiecks  wird  man  ihre  Summe  im  allgemeinen  nicht  gleich  zwei  Rechten 
finden.  Es  handelt  sich  also  darum,  an  den  Beobachtungsresultaten  Korrek- 
tionen anzubringen,  derart,  daß  der  zu  befürchtende  Fehler  für  jeden  einzelnen 


Wahrscheinlichkeitsrechnung  und  ihre  Anwendungen.  A    27 

Winkel  ,, möglichst  klein"  wird.  So  entsteht  die  Lehre  von  den  Beobach- 
tungsfehlern, d.  h.  von  der  Wahrscheinlichkeit,  daß  ein  gewisser  Fehler 
zwischen  bestimmten  Grenzen  enthalten  sei.  Zugleich  ergibt  sich  aber  die 
Möglichkeit  einer  Kritik  an  den  Beobachtungen  selbst,  deren  Ergeb- 
nisse vermöge  jener  Fehlertheorie  —  falls  sie  zutrifft  —  Beziehungen  zeigen 
müssen  und  daher  als  unbrauchbar  zu  verwerfen  sind,  wenn  die  letzteren  nicht 
erfüllt  sind.  Und  endlich  handelt  es  sich  um  die  Ermittelung  der  wahr- 
scheinlichsten Werte  der  Korrektionen  selbst.  Wir  müssen,  um  den 
Rahmen  dieser  Darstellung  nicht  zu  überschreiten,  davon  absehen,  die  groß- 
artige Theorie  von  Gauß(i82l)  zu  schildern,  die  mit  einem  Minimum  hypo- 
thetischer Voraussetzungen  die  Ausgleichungsrechnung  begründet.  Diese  aber 
muß  bei  jedem  System  von  Beobachtungen  zur  Anwendung  kommen,  mag  es 
sich  nun  um  die  wissenschaftlichen  Ziele  der  Astronomie  und  Physik,  oder  die 
praktischen  Zwecke  der  Geodäsie,  z.  B.  die  Führung  eines  Tunnels  durch  ganze 
Gebirge  hindurch,  handeln. 

Verständlicher  mögen  andere  der  Wahrscheinlichkeitsrechnung  nahe- 
stehende Gedanken  erscheinen.  Nach  D.  Bernoullis  Annahme  (1730)  ist  der  BemoaUis 
,, moralische  Wert  des  Gewinnes",  welcher  aus  einem  beliebig  kleinen  ^°^^p^^^^'' 
Zuwachse  eines  bereits  vorhandenen  Besitzes,  eines  ,, Gutes",  entsteht,  diesem 
Zuwachs  direkt,  der  Größe  des  Gutes  umgekehrt  proportional.  Daraus  ergibt 
sich  für  den  moralischen  Wert  y  des  Umstandes,  daß  das  Gut  von  dem  Anfangs- 
werte a  in  den  Endwert  x  übergegangen  ist,  d.  h.  als  Bewertung  des  Gewinnes 

X  —  a  die  Formel  y  =  k  log  (— ). 

Diese  Erwägungen  haben  zu  einer  rationellen  Güterlehre  geführt,  die 
dem  Gut  nicht  nur  einen  objektiven,  sondern  auch  einen  subjektiven  Wert  bei- 
legt. Der  Tauschverkehr  erscheint  hier  nicht  mehr  als  Äußerung  eines  den 
Menschen  innewohnenden  ,, Tauschtriebes",  der  nur  eine  andere  Verteilung  der 
Güter  bewirkt,  wie  Adam  Smith  glaubte,  sondern  erhält  seine  wahre  Bedeu- 
tung ebensosehr  durch  das  Hinzutreten  dieser  psychologischen  Momente. 
Allerdings  haben  die  Versuche,  die  erwähnten  mathematischen  Begriffe  un- 
mittelbar auf  wirtschaftliche  Gesichtspunkte  zu  übertragen,  auch  manchen 
Widerspruch  erfahren 

In  eine  merkwürdige  Parallele  dazu  tritt  die  von  G.  Th.  Fechner  begrün- 
dete Psychophysik. 

Der  von  Fechner  (1860)  im  Anschluß  an  E.  H.  Webers  Untersuchungen  Psychophysik. 
gezogene  Schluß,  daß  der  Zuwachs  der  Empfindung  nicht  dem  Unterschied  der 
sie  hervorrufenden  Reize,  sondern  deren  Verhältnis  proportional,  daß  also 
auch  hier  Bernoullis  Formel  maßgebend  ist,  in  der  nun  a  den  Schwellenwert  des 
Reizes,  y  die  Intensität  der  dem  Reize  x  entsprechenden  Empfindung  ist, 
mag  vielleicht  —  auch  wenn  man  dieselbe  mit  Helmholtz  abändert  —  nur 
für  den  Gesichts-,  Tast-  und  Gehörsinn  mit  genügender  Annäherung  zutreffen. 
Man  wird  wohl  G.  E.  M  ü  1 1  e  r  beistimmen  müssen,  daß  E.  H.  Webers  Gesetz  eigent- 
lich nur  aussagt,  daß  der  Unterschied  der  Empfindungen  eine  zunächst  ganz 
unbekannte  Funktion  des  Reizverhältnisses  ist.    Aber  die  von  Fechner  einge- 


28   A  A.  Voss:  Die  Beziehungen  der  Mathematik  zur  allgemeinen  Kultur. 

leitete  Bewegung  ist  doch  von  großer  Wichtigkeit  geworden;  an  sie  knüpfen  sich 
die  Untersuchungen  der  experimentellen  Psychologie,  deren  Ausbau  für 
die  exakte  Deutung  psychischer  Vorgänge  in  den  letzten  Dezennien  so  leb- 
hafte Förderung  erfahren  hat. 

Mathematik  und  Indcssen  scheint  es  doch  auch  Gebiete  unserer  naturwissenschaftlichen 

''^^Nltur-''"^^  Kultur  zu  geben,  in  die  das  Element  der  Mathematik  nicht  eindringt.    Bisher 

Wissenschaften,  ^j-af  das  ZU  für  alle  Teile  derselben,  die  z.  B.  der  Systematik,  der  morpholo- 
gischen Beschreibung,  der  Biologie  angehören,  obwohl  man  auch  hier  an  die 
Beziehungen  der  Phyllotaxis  zu  den  Kettenbrüchen,  an  die  statistisch  m'athe- 
matischen  Untersuchungen  Nägel is  über  die  Bastardierung  der  Hieracium- 
formen,  an  das  Mendelsche  Gesetz  der  Vererbung  usw.  erinnern  könnte. 
Aber  schon  die  physique  sociale  L.  Quetelets  (1846,  1869),  dann  die 
Kollektivmaßlehre  von  Fechner,  überhaupt  die  Lehre  von  den  Massen- 
erscheinungen eröffnen  eine  viel  weiter  gehende  Anwendung  der  klassischen 
Wahrscheinlichkeitsrechnung.  Neuerdings  ist  in  England  durch  K.  Pearson 
(seit  1895)  und  F.  Galton  (an  die  sich  eine  sehr  ausgedehnte  Literatur  ins- 
besondere auch  in  Zeitschriften  angeschlossen  hat)  damit  begonnen,  die  bio- 
logischen Fragen,  welche  seit  Darwins  Unters-uchungen  über  die  Variabilität 
und  den  Charakter  der  Arten,  für  die  Vererbung  bestimmter  Eigenschaften 
im  Zusammenhang  mit  der  Rassenhygiene  so  wichtig  geworden  sind,  mathe- 
matisch exakter  Auffassung  zugänglich  zu  machen.  Grundlegend  ist  dabei 
der  Begriff  der  Korrelation,  d.h.  der  funktionalen  Abhängigkeit  von  Er- 
scheinungen. Sind  z.  B.  A  und  B  zwei  Organe  derselben  oder  auch  vonein- 
ander verschiedenen  Individuen,  bei  denen  eine  numerisch  ausdrückbare 
Eigenschaft  um  bestimmte  Mittelwerte  schwankt,  so  ermittelt  man  die  Größe  y 
der  mittleren  Abweichung  vom  ,, Mittelwert  des  Organs  £",  welche  zu  einer 
gegebenen  Größe  x  der  Abweichung  von  dem  Mittelwert  des  Organs  A 
gehört.  Die  Zuordnung  von  y  zw  x  liefert  dann  eine  empirische  Kurve ,  welche 
wie  umfassende  Beobachtungen  zeigen  —  in  vielen  Fällen  einer  Geraden 
sehr  nahe  kommt.  Da  die  beiden  Zahlen  x  und  y  an  sich  nicht  in  reziproker 
Beziehung  stehen,  so  ergibt  sich  als  Ausdruck  für  die  funktionale  Abhängigkeit 
von  A  und  B  ein  System  von  zwei,  im  allgemeinen  verschiedenen  Geraden, 
deren  Neigung  gegen  die  Achse  des  Koordinatensystems  das  Maß  der  Korre- 
lation oder  Regression  bezeichnet.  Hieraus  lassen  sich  Schlüsse  ziehen,  welche 
ein  Licht  auf  die  oben  bezeichneten,  bisher  noch  so  dunklen  Verhältnisse  zu 
werfen  versprechen.  Doch  müssen  wir  uns  damit  begnügen,  diese  Unter- 
suchungen erwähnt  zu  haben,  die  mit  so  wichtigen  Fragen  des  organischen 
Lebens  in  Verbindung  stehen. 

Der  Mikroskopiker  bedarf  genauer  Kenntnis  der  Leistungsfähigkeit 
seines  Instruments.  Für  ihn  reicht  die  bloße  Anschauung  räumlicher  Verhält- 
nisse, die  jeder  zu  besitzen  glaubt,  nicht  aus,  um  aus  dem  mikroskopischen 
Bilde  das  Verhalten  des  Objekts  zu  erkennen.  Denn  jenes  Bild  zeigt  zunächst 
nur  ein  System  paralleler  Querschnitte.  Und  da  lehrt  gerade  die  darstellende 
Geometrie  aus  solchen  Querschnitten  oder  Projektionen  die  adäquate  Vor- 


Morphologie,  Biologie,  Physiologie,  Medizin  und  Mathematik.  A   20 

Stellung  des  Gegenstandes  selbst  zu  gewinnen.  So  befähigt  sie  nicht  allein  den 
zeichnenden  Künstler  —  oder  sollte  es  wenigstens  tun  —  seine  Komposition 
den  räumlichen  Verhältnissen  entsprechend  zu  gestalten,  sie  ist  auch  für  den 
Botaniker  und  Zoologen  ein  wichtiges  Mittel,  das  ihn  vor  fehlerhaften  Deu- 
tungen schützt;  auf  die  verwickeiteren  Phänomene,  welche  Brechung  und  Beu- 
gung des  Lichts  im  mikroskopischen  Bilde  hervorrufen,  kann  hier  nur  hinge- 
deutet werden.  Sollen  wir  noch  darauf  hinweisen,  daß  unsere  heutige  auf  der 
Kristallphysik  beruhende  Mineralogie  schon  ausgedehnte  Kenntnisse  in  der 
mathematischen  Optik  und  Elastizitätstheorie  verlangt,  und  daß  dem  Geo- 
logen durch  die  Methoden  der  Photogrammetrie  sich  täglich  ein  wich- 
tigeres Hilfsmittel  erschließt? 

Am  meisten  scheint  noch  die  Wissenschaft  der  Medizin  des  mathema- Mathematik  und 
tischen  Elements  zu  entbehren.  Und  doch  finden  sich  hier  ebenfalls  die  viel-  Medixw. 
seitigsten  Berührungspunkte.  Schon  seit  langer  Zeit  geben  die  Physiologen  ihrer 
Überzeugung  Ausdruck,  daß  ein  dem  jetzigen  Standpunkt  angemessenes  Ver- 
ständnis ihrer  Wissenschaft  nur  auf  gründlichen  mathematischen  Kenntnissen 
beruhen  könne.  Der  optische  Apparat  des  Auges,  der  akustische  des  Ohrs,  dessen 
Darlegung  Helmholtz  in  seiner  physiologischen  Optik  (1856)  und  der 
Lehre  von  den  Tonempfindungen  (1862)  einen  großen  Teil  seiner  Lebens- 
arbeit gewidmet  hat,  verlangt  nicht  nur  elementare  Kenntnisse,  sondern  vor 
allem  ein  richtiges  Verständnis  der  Wellenbewegung,  für  das  die  Wasser- 
wellen ein  zwar  sehr  beliebtes,  aber  ebenso  leicht  mißzuverstehendes  Bild  lie- 
fern. Auch  die  Bewegung  des  Blutes  in  den  Gefäßen  ist  ein  Problem  der  Fort- 
pflanzung von  Wellen  in  einem  System  elastischer  Röhren.  Und  selbst  wenn 
man  hier,  wie  in  der  Hydrodynamik  bis  vor  den  letzten  Jahren  mehr  auf  die 
experimentelle  Kenntnis  allgemeiner  Regeln  angewiesen  ist,  so  ist  es  doch  er- 
forderlich, die  Begriffe  des  Elastizitätsmoduls,  des  Druckes,  der  Geschwindig- 
keit, des  stationären  Zustandes  zu  kennen,  die  in  ihnen  auftreten. 

Für  jeden,  der,  wie  z.  B.  auch  der  Arzt,  allgemeine  Beziehungen  in  ein 
geometrisches  Schema  einzuordnen  hat,  sind  Kenntnisse  in  der  analytischen  Geo- 
metrie und  Analysis  unerläßlich.  Daß  das  Gefälle  der  Kurve  oder  ihr  Diffe- 
rentialquotient die  Intensität  ihres  Wachstums  mißt  und  für  ein  Extremum 
in  Null  übergeht,  daß  auf  ein  Maximum  ein  Minimum  folgt,  wenn  nicht  ein 
singuläres  Verhalten  der  Kurve  vorliegt,  der  Begriff  der  asymptotischen  Nähe- 
rung, die  einfachsten  Regeln  der  Interpolation  und  die  Umstände,  unter  denen 
sie  anwendbar  sind,  das  alles  sind  Dinge,  die  ohne  scharfe  mathematische 
Begriffe  sich  nicht  über  eine  vage  Anschauung  erheben. 

Wir  haben  bisher  die  Mathematik  nur  in  ihren  Beziehungen  zur  wissen- 
schaftlichen und  praktischen  Naturerkenntnis  behandelt.    Aber  von  jeher  hat 
die  Menschheit   danach   gerungen,  alles,  was  überhaupt  in  den  Bereich  ihres  Mathematik  und 
Geistes  fällt,  durch  den  Prozeß  des  begrifflichen  Denkens  zu  durchdringen.  Da-       '  °*°^  '"' 
mit  wenden  wir  uns  der  Betrachtung  der  großen   Aufgabe  zu,   welche  die 
Philosophie  sich  gestellt  hat. 


30   A  A..  Voss:  Die  Beziehungen  der  Mathematik  zur  allgemeinen  Kultur. 

Mag  man  nun  in  den  Versuchen  dieselbe  zu  lösen,  das  höchste  Ziel  und  die 
vollkommenste  Entwicklungsstufe  der  menschlichen  Geistestätigkeit  erblicken, 
oder  mag  man  die  Geschichte  der  Philosophie  nur  als  eine  Kette  von  hoffnungs- 
losen Abwegen  unserer  Vernunft  ansehen,  eine  Erkenntnis  zu  erlangen,  die 
überhaupt  jenseits  alles  allgemeingültigen  Wissens  hegt  und  nur  als  Form 
poetischer  Intuition  Bedeutung  beanspruchen  kann,  niemand  wird  bestreiten 
wollen,  daß  in  den,  einem  unauslöschlichen  Triebe  unseres  Geistes  entsprin- 
genden, philosophischen  Bestrebungen  von  jeher  sich  der  Zustand  der  geistigen 
Entwicklung  am  lebhaftesten  ausprägte,  und  daß  auch  heute  noch  unsere 
intellektuelle  Kultur  in  hohem  Maße  von  den  philosophischen  Gedanken  der 
Alten  und  von  der  Geistesarbeit  der  großen  Denker  der  neueren  Zeit  abhängt. 
Allerdings  liegen  die  philosophischen  Betrachtungen  der  Gegenwart  viel- 
fach nach  einer  andern  Richtung  als  in  der  des  mathematischen  Denkens, 
und  bei  der  ungeheuren  Ausdehnung,  welche  die  von  einem  ihr  eigentümlichen 
Geiste  ausgehende  mathematische  Anschauungsweise  sich  im  19.  Jahrhundert 
geschaffen  hat,  wird  auf  beiden  Seiten  in  einer  ganz  verschiedenen  Sprache  ge- 
redet, welche  nicht  selten  zu  gegenseitigen  Mißverständnissen  führt.  ,,Die 
philosophischen  Ergebnisse",  sagt  Kant  1764,  ,,sind  wie  die  Meteore,  deren 
Glanz  nichts  für  ihre  Dauer  verspricht;  sie  verschwinden,  aber  die  Mathematik 
bleibt."  Aber  das  ist  die  große  und  vielleicht  immer  noch  nicht  in  ihrem 
ganzen  Umfange  gewürdigte  Bedeutung,  welche  die  Mathematik  in 
den  reinen  Geisteswissenschaften  einnimmt,  daß  sie  in  so  inniger 
Berührung  mit  dem  steht,  was  durch  Jahrhunderte  hindurch  das  Denken  der 
größten  Geister  erfüllt  hat. 
Historische  Dar-  Hicr  wollcn  wir  nun  in  großen  Zügen  rein  historisch,  ohne  auf  irgendeine 

^liebTnget^zwi^  KHtik  einzugehen,  darlegen,  wie  bei  all  diesen  Bestrebungen  die  eigentümliche 
sehen  Mathema-  Forschungsweise  der  Mathematik  und  ihre  beständig  doch  vor  allem  Zweifel 

tik  und  Philo-  *=  •       •  r  ,  a 

sopbie.       gesicherten  Sätze  es  waren,  in  der  die  Philosophie  immer  aufs  neue  den  Aus- 
gangspunkt erblickte,  um  selbst  sichere  Erkenntnis  zu  gewinnen. 

Im  hellenischen  Geiste,  so  scheint  es,  ist  zuerst  die  Ahnung  entstanden, 
daß  eine  über  die  empirischen  Tatsachen  hinausgehende  Erkenntnis  möglich 
sei.  Und  soweit  diese  lehrbar  ist,  sind  ihre  Gegenstände  die  laaGrunaxa,  also  vor- 
zugsweise die  Objekte  des  mathematischen,  speziell  geometrischen  Denkens; 
erst  unter  den  Peripatetikern  löst  sich  der  Begriff  der  Mathematik  von  den 
übrigen  Inhalten  des  Wissens  ab  und  erhält  damit  die  besondere  Stellung,  die 
Die Pythagoreer. ihm  Seitdem  geblieben  ist.  Am  deutlichsten  tritt  das  wohl  bei  der  pythago- 
reischen Schule  hervor,  deren  Meister  Pythagoras  durch  den  geheimnis- 
vollen Zauber,  der  seine  Reisen  nach  Ägypten,  vielleicht  auch  nach  Babylon, 
und  die  von  dort  mitgebrachten  Lehren  umgab,  seinen  Schülern  wie  ein  höheres, 
nur  schweigend  zu  verehrendes  Wesen  erschien.  Die  ionischen  Naturphilo- 
sophen suchten  nach  einem  Element,  einer  Substanz,  die  als  unvergängliches 
Sein  in  dem  Wechsel  der  Erscheinungen  geeignet  sei,  ein  Ordnungsprinzip  des 
Wissens  zu  bilden.  Die  Pythagoreer  glaubten  zu  bemerken,  daß  alles  in  der 
Kategorie  der  Zahlordnung  aufgefaßt  werden  könne.    Und  so  kamen  sie 


Mathematik  vind  Philosophie  bei  den  Pythagoreern,  Plato  und  Aristoteles.         A   31 

ZU  der  Ansicht,  daß  diese  das  Unwandelbare  im  Flusse  der  Erscheinungen  seien. 
Gewiß  fand  diese  Idee  in  der  Beobachtung  der  Tonverhältnisse,  der  periodisch 
wiederkehrenden  Himmelserscheinungen,  ihre  Grundlage.  Um  so  mehr  mußte 
es  daher  befremden,  als  man  in  der  pythagoreischen  Schule  die  große  Ent- 
deckung machte,  daß  nicht  alle  Beziehungen  durch  die  Verhältnisse  ganzer 
Zahlen  erschöpfbar  seien.  Und  es  erscheint  die  Legende  wohl  glaublich,  daß 
diese  Wahrheit,  welche  den  Bestand  der  pythagoreischen  Erkenntnis  aufzu- 
heben drohte,  eine  esoterische  Geheimlehre  war,  von  deren  Enträtselung  wir 
keine  sichere  Kunde  haben,  und  deren  unüberlegte  Verbreitung  strafwürdig 
erschien. 

So  entstehen  nun  hier  die  Probleme  der  Kontinuität,  der  Veränderung,  der 
Bewegung,  des  Irrationalen,  die  Kategorien  der  Grenze  und  des  Unendlichen, 
neben  den  ersten  zahlentheoretischen,  zum  Teil  auch  recht  schwierigen  Fragen, 
die,  wie  z,  B.  das  Problem  der  vollkommenen  Zahlen,  auch  heute  noch  nicht 
völlig  gelöst  sind.  Aber  die  philosophische  Spekulation  war  noch  nicht  so  weit 
erstarkt,  daß  man  die  scheinbaren  Widersprüche,  in  die  man  den  Zahlbegriff 
dem  Kontinuum  gegenüber  verwickelt  sah,  hätte  auflösen  können.  So  ergeben 
sich  die  bekannten  Antinomien  der  Eleaten,  in  denen  auch  die  neueste  Antinomien  der 
Zeit  noch  immer  einen  des  Nachdenkens  würdigen  Gegenstand  findet.  Einer 
der  Zenonischen  Einwürfe  gegen  die  Möglichkeit  einer  Erkenntnis  überhaupt 
betrifft  die  in  der  Bewegung  liegenden  Widersprüche:  Achilles  muß  in  einer 
endlichen  Zeit  die  unendlich  vielen  Punkte  durchlaufen,  welche  die  vor  ihm 
kriechende  Schildkröte  passiert;  erst  Aristoteles  sucht  dieses  Sophisma 
durch  die  Bemerkung  zu  beseitigen,  daß  die  Linie  als  Kontinuum  etwas  anderes 
sei  als  die  Gesamtheit  ihrer  Punkte,  da  sonst  z.  B.  alle  Strecken,  weil  gleichviel 
Punkte  enthaltend,  auch  gleiche  Ausdehnung  haben  müßten.  In  der  Tat 
kann  man  ja  die  Punkte  von  zwei  beliebigen  Strecken  AB  und  ab,  deren 
Lage  so  angenommen  wird,  daß  die  Geraden  Aa  und  Bb  sich  in  einem 
Punkte  0  schneiden,  durch  ,, Projektion  des  AB  auf  ab  von  0  aus",  in 
eine  eindeutig  umkehrbare  Beziehung  versetzen. 

Durch  die  pythagoreische  Mathematik  ist  nun  auch  Plato,  der  Schüler  piaw. 
des  Begriffsphilosophen  Sokrates,  der  in  der  Abstraktion  des  mathematischen 
Denkens  die  notwendige  Vorstufe  zu  den  eigentlichen  Problemen  der  Weltweis- 
heit erblickte,  zu  seinen  tiefsten  Gedanken  angeregt.  Nach  ihm  liegt  dem 
mathematischen  Wissen  die  Berufung  auf  ursprüngliche,  außerhalb  aller  Er- 
fahrung liegende,  wenngleich  durch  sie  —  gleichsam  durch  einen  Prozeß  der 
Wiedererinnerung  —  geweckte  Ideen,  wie  z.  B.  die  der  Gleichheit,  des  Größer- 
und Kieinerseins  zugrunde.  ,,Hat  jemand  den  Begriff  der  Gleichheit  je  gesehen, 
da  er  die  gleichen  Steine  sah.?  Ehe  wir  also  anhüben,  zu  sehen  und  zu  hören 
und  die  Außenwelt  wahrzunehmen",  heißt  es  im  Theätet,  „mußten  wir  in  uns, 
irgend  woher  genommen,  die  Erkenntnis  des  Gleichen  angetroffen  haben,  das, 
worauf  wir  die  aus  den  Wahrnehmungen  stammenden  Gleichheiten  beziehen." 

Was  nun  Plato  seine  unvergängliche  Bedeutung  in  der  Geschichte  der 
Philosophie  beilegt,  das  ist  die  Art  und  Weise,  wie  er  das  sokratische  Verfahren 


32    A  A.  Voss:  Die  Beziehungen  der  Mathematik  zur  allgemeinen  Kultur. 

des  begrifflichen  Wissens  auf  eine  ganz  neue  Basis  stellte,  die  des  apriori- 
schen Elements  in  der  Vernunfttätigkeit.  Er  war  es,  der  durch  die 
Kardinalfrage,  ti  ecTi  emcTriiLiTi,  worin  besteht  Wissen,  die  Philosophie 
schuf,  indem  er  zeigte,  wie  man  von  der  )dd0iici(;  ausgehend,  die  Frage  nach  der 
Natur  der  Erkenntnis  in  ihrem  eigentlichen  Wesen  erfassen  könne,  und  mit 
ihm  beginnt  die  zentrale  Stellung  der  Mathematik  in  der  Er- 
kenntnistheorie, 

Alles  Wissen  verdankt  seinen  Bestand  nur  der  Verknüpfung  solcher 
Ideen,  die  in  uns  selbst  entstehen  und  nicht  etwa  wie  das  Rohmaterial  der 
sinnlichen  Empfindungen  einzelne  vorübergehende  Momente  in  unserem 
Geiste,  sondern  das  Bleibende  im  Charakter  unserer  Erkenntnis  ausmachen. 

Durch  diese  Wendung  hat  Plato  den  sophistischen  Satz  des  Protagoras, 
der  Mensch  sei  das  Maß  aller  Dinge,  der  alles  in  eine  subjektive  Wertschätzung 
aufzulösen  drohte,  mit  dem  tiefen  Gehalt  erfüllt,  der  fortan  immer  das  Problem 
des  Nachdenkens  geblieben  ist,  dem  eine  Auflösung  dessen,  was  wir  Wissen 
nennen,  in  bloße  Empfindungsinhalte  völlig  unmöglich  scheint,  weil  jedes  all- 
gemeine Urteil  schon  Elemente  enthält,  die  über  die  bloß  phänomenologischen 
Tatsachen  hinausgehen.  Doch  wir  haben  uns  mit  diesen  Streitfragen',  die  in 
der  gegenwärtigen  Erkenntnistheorie  heftiger  als  je  entbrannt  sind,  hier  nicht 
zu  beschäftigen. 
Aristoteles.  Auch  bcl  Aristotclcsist  die  Mathematik  eine  Quelle  allgemeiner  und  not- 

wendiger Wahrheiten:  Ihre  Konstruktionen  sind  nicht  durch  die  Sinne  gegeben; 
,,der  Geometer  beweist  wohl  am  einzelnen  Dreieck,  aber  nicht  durch  dasselbe, 
denn  sein  Dreieck  ist  das  durch  die  Vernunft  erfaßte".  Aber  im  Gegensatze  zu 
Plato  sieht  Aristoteles,  dem  dessen  Ideenlehre  als  ein  Gegenstand  des  Spottes 
erschien,  den  Zusammenhang,  der  zwischen  dem  Begriff  und  seiner  zufälligen 
Erscheinung  in  der  sinnlichen  Anschauung  bestehen  muß,  in  dem  logischen 
Verhältnis  eines  metaphysischen  Seins,  tö  ti  iiv  eivai  ,,des  Seins,  das  war", 
und  seiner  Verwirklichung  im  ,, Stoff":  die  Musterbegriffe  der  Ideen  sind  nicht 
außerhalb  der  Dinge  vorhanden,  sondern  die  immanenten,  diese  hervorbringen- 
den Formen  derselben. 

Die  Systematik  des  Aristoteles,  welcher  den  ganzen  Inhalt  der  Erkenntnis 
auf  gewisse  oberste  Aussagen  des  Verstandes,  die  Kategorien,  mittels  der  for- 
malen Logik  zurückführte,  trug  sowohl  vermöge  ihrer  für  alle  Zeiten  fest- 
stehenden Darlegung  der  Formen,  in  denen  sich  das  menschliche  Denken  be- 
wegt, als  auch  vermöge  ihrer  unmittelbaren  Beziehung  auf  die  Wirklichkeit, 
den  Sieg  über  die  platonische  Denkweise  davon.  Und  während  sich  die  letzteren 
schließlich  in  die  mystische  Kontemplation  eines  Okkultismus  verlor,  beherrsch- 
te der  unbedingte  Autoritätsglaube  an  die  Aussprüche  des  ,, Philosophen"  vom 
Mittelalter  an  und  noch  weit  darüber  hinaus  das  ganze  Denken,  das  sich  allerdings 
immer  mehr  von  dem  lebendigen  Erfassen  des  wirklichen  Geschehens  loslöste. 
Noch  im  Jahre  1624  wird  von  der  Sorbonne  in  Paris  jeder  Angriff  auf  die  Au- 
torität des  Aristoteles,  weil  die  Autorität  der  Kirche  sowohl  als  auch  alle 
sittliche  Ordnung  bestreitend,   als  ein  todeswürdiges  Verbrechen  bezeichnet. 


Mathematik  und  Philosophie  bis  zur  Zeit  Galileis.  A   33 

Den  Alten  war  freilich  die  Beobachtung  der  Natur  nicht  fremd.  Was  wir  Naturbeobach- 
gewohnt  sind,  auf  bloße  Autorität  hin  in  der  Schule  als  Tatsachen  der  Astro-'""^'"'^'*''''"'"- 
nomie  und  Geographie  uns  anzueignen,  das  haben  sie  mit  wunderbarem  Scharf- 
sinn und  einer  gewaltigen  Beobachtungsgabe  aus  den  kosmischen  Erscheinungen 
abzuleiten  verstanden.  Dies  zeigen  nicht  nur  die  Leistungen  der  Ägypter 
und  Babylonier,  sondern  auch  die  der  hellenistischen  Zeit.  Der  große  Astronom 
Hipparch  entdeckt  die  Präzession  der  Tag-  und  Nachtgleichen,  Eratosthe- 
nes  führt  die  erste  Gradmessung  aus,  und  Claudius  Ptolemäus  entwirft 
den  ersten  Fixsternkatalog.  Aber  allmählich  verkümmerte  dieser  lebensvolle 
Trieb  immer  mehr,  und  an  seine  Stelle  traten  die  Irrgänge  der  von  jeder 
Prüfung  durch  die  Wirklichkeit  sich  entfernenden  Scholastik. 

Doch  in  zwei  großen  Gebieten  der  Erkenntnis,  der  Logik  und  der  Mathe- 
matik, konnte  die  Überzeugung,  daß  es  sichere  Wahrheiten  gebe,  sich  niemals 
völlig  verlieren.  Schon  Augustinus  sehen  wir  in  etwas  anderer  Wendung 
den  platonischen  Ausspruch  ,,|UTibeic  dTe(JU)LieTpr|Toc  eiciTUj"  wiederholen:  ,,Nemo 
ad  divinarum  humanarumque  rerum  cognitionem  accedat,  nisi  prius  artem 
numerandi  bene  addiscat",  und  diese  Bedeutung  der  Mathematik  konnte  auch 
die  Scholastik  nicht  ganz  verkennen.  Besonders  tritt  das  bei  Nicolaus  Die  Naturphiio- 
Cusanus  (1401 — 1464)  hervor,  dessen  Spekulation  eine  mathematische  Färbung ^°e„Sch^oiastik! 
annimmt.  ,, Nihil  certi  habemus  nisi  nostram  mathematicam."  Soll  das 
Wissen  sich  über  eine  bloße  Vermutung  erheben,  so  muß  der  Verstand  in 
sich  selbst  die  Gewißheit  finden,  gleich  wie  aus  der  begrifflichen  Vorstellung 
des  Kreises,  aus  seiner  Definition  alle  seine  Eigenschaften  folgen.  ,,Et  secun- 
dum  hanc  vim  assimilationis  formis  abstractis  exerit  scientias  certas  mathe- 
maticas  et  comperit  virtutem  suam  esse  rebus,  prout  in  necessitate  com- 
plexionis  sunt,  assimilandi  et  notiones  faciendi."  Damit  aber  wird  ihm  die 
Mathematik  zum  Muster  der  Erkenntnis  überhaupt,  die  aus  den  im  Intellekt 
selbst  geschaffenen  Ideen  fließt,  nicht  aus  einer  jenseits  seiner  Sphäre  vor- 
handen gedachten  Wahrheit. 

Ähnliche  Gedanken  treffen  wir  auch  bei  anderen  Philosophen,  z.  B.  bei 
Th.  Campanella  (1568— 1639).  Sind  auch  die  Begriffe  der  Geometrie  empi- 
risch nie  absolut  verwirklicht,  so  scheinen  sie  ihm  doch  auf  eine  Realität  sich 
stützen  zu  müssen.  Diese  erblickt  er  nun  im  absoluten  Räume,  dessen  meta- 
physische Eigenschaften  (Unendlichkeit,  Teilbarkeit,  Homogenität)  so  in  Zu- 
sammenhang mit  der  Frage  nach  der  objektiven  Gültigkeit  der  mathematischen 
Ideen  treten.  Damit  ist  die  Entwickelung  des  Raumbegriffes  in  der  Natur- 
wissenschaft bezeichnet,  welche  alsbald  unter  Descartes,  dann  unter  Newton 
und  Euler  die  bis  in  die  neuere  Zeit  festgehaltene  Form  annimmt. 

So  sehen  wir  langsam  eine  neue  Zeit  hereinbrechen.    Die  Vertiefung  in  die 
wieder  zugänglicher  gewordenen  Schriften  des  Altertums,  vor  allem  aber  das 
wiedererwachende  Interesse  für  die  Naturbeobachtung  führen  zur  Überzeugung 
von  der  Wahrheit  des  kausalen  Naturgeschehens,  d.  h.  zum  Funktions-Die  Renaissance 
begriff  der  Mathematik,  der  allerdings  zunächst  nur  fast  instinktiv  auf- s^phie unter Gau- 
tritt  und  sich  erst  später  zu  völlig  bestimmter  Auffassung  ausbildet.    ^^Wer^"""'^'^«^'^^'''"- 

K.  d.  G.  in.  I  Mathematik,  A,  3 


34   A  A.  Voss:  Die  Beziehungen  der  Mathematik  zur  allgemeinen  Kultur. 

die  Gewißheit  der  Mathematik  schmäht",  ruft  Leonardo  da  Vinci  aus,  ,,wird 
den  sophistischen  Lehren,  die  nur  auf  Wortstreit  hmauslaufen,  nie  Schweigen  ge- 
bieten können."  Und  noch  schärfer  kämpft  Galilei  gegen  den  scholastischen 
Aristotelismus,  der  durch  bloße  Syllogismen  über  die  Wahrheit  des  Naturge- 
schehens urteilen  will. ,, Wie  würdest  du,  schreibt  er  an  Kepler,  lachen,  wenn  du 
hörtest,  wie  der  angesehenste  Philosoph  unserer  Hochschule  sich  abmühte,  die 
neuen  Planeten  durch  logische  Argumente  vom  Himmel  weg  zu  disputieren." 

Und  in  dieser  Renaissance  des  Denkens  nimmt  Descartes  trotz  seiner 
aus,  wie  es  scheint,  völligen  Verkennung  der  Galileischen  Prinzipien  der  Natur- 
philosophie entspringenden  mannigfachen  Irrtümer  die  zentrale  Stellung  ein, 
die  ihm  als  Begründer  der  neuen  philosophischen  Grundanschauung  gebührt, 
die  auf  der  Basis  der  mechanischen  Naturerklärung  ruht. 

Wissenschaft  ist  nur  da  vorhanden,  wo  der  Gegenstand  derselben  vermöge 
einer  einheitlichen  Methode  erfaßt  wird,  die  als  ein  oberstes  Prinzip  allen  ein- 
zelnen Erfahrungen  vorangeht.  ,,Wenn  den  antiken  Denkern  die  Geometrie  die 
Eingangspforte  in  die  Philosophie  zu  eröffnen  schien",  sagt  er,  ,,so  müssen  sie  in 
ihr  eine  Einheit  und  Gesetzlichkeit  geahnt  haben,  die  als  Vorbild  jedes  wissen- 
schaftlichen Verfahrens  dienen  kann."  Und  diese  Überzeugung  führt  ihn  zu 
dem  Gedanken  einer  Universalmathematik,  die  es  möglich  macht,  die- 
selben Forschungsprinzipien,  wie  in  der  Geometrie,  auf  den  allgemeinen  Inhalt 
aller  Erfahrung  anzuwenden.  ,,Die  Mathematik  gefiel  mir  am  besten  durch  die 
Sicherheit  und  Evidenz  ihrer  Gründe,  aber  ich  wunderte  mich,  auf  so  feste 
Grundsätze  kein  größeres  Gebäude  aufgeführt  zu  sehen.  Im  Gegensatz  dazu 
verglich  ich  die  moralischen  Schriften  der  Alten  mit  stolzen,  aber  auf  den  Sand 
gebauten  Schlössern.  In  der  Philosophie  glaubte  ich  es  nicht  besser  treffen  zu 
können  als  alle  die  ausgezeichneten  Geister,  die  seit  vielen  Jahrhunderten  doch 
nichts  in  ihr  ermittelt  haben,  worüber  nicht  gestritten  wurde."  Und  aus  dieser 
Überlegung  ergeben  sich  ihm  die  Regulae  philosophandi,  die  wir  hier  nicht  auf- 
zählen. Danach  hat  nur  dasjenige  Anspruch  auf  Wahrheit,  was  so  klar  und 
deutlich  erkannt  wird  wie  das  Erlebnis  des  ,,cogito,  ergo  sum"  und  die  auf  un- 
mittelbarer Gewißheit  beruhenden  mathematischen  Axiome. 

,,Arithmetica  et  geometria  caeteris  disciplinis  longe  certiores  existunt, 
quia  scilicet  hae  solae  circa  objectum  ita  darum  et  simplex  versantur,  ut  nihil 
plane  supponant,  quod  experienti  areddiderit  incertum."  Und  nun  verbinden 
sich  bei  ihm  Arithmetik  und  Geometrie  vermöge  des  allgemeinen  Größen- 
begriffes zu  der  Kategorie  der  veränderlichen  Zahl.  Substanz  und  Veränderung 
oder  Ausdehnung  und  Bewegung  sind  die  beiden  fundamentalen  Begriffe,  auf 
denen  die  Philosophie  des  Cartesius  die  mechanische  Weltanschauung  begrün- 
det: ,,Omnia  apud  me  mathematice  fiunt."  Und  dem  scharfsinnigen  Philo- 
sophen Gassen di,  der  ihm  entgegenhält,  daß  die  mathematischen  Begriffe,  als 
bloße  Gebilde  des  Geistes,  keine  Realität  besäßen,  erwidert  er  mit  überlegener 
Wendung:  ,,Si  illa  quae  concipi  possunt,  ea  solum  de  causa,  quia  possunt  con- 
cipi,  pro  falsis  sunt  habenda,  quid  aliud  restat,  nisi  id  solum,  quod  non  intelli- 
gimus,  pro  vero  amplectamur?" 


Galilei,  Descartes,  Newton,  Spinoza,  Hobbes.  A  35 

Wie  nun  bei  Newton  diese  Auffassung  zu  einem  felsenfesten  Gebäude 
wird,  das  bisher  allen  Stürmen  siegreich  widerstanden  hat,  ist  bereits  oben  ge- 
zeigt w^orden;  bei  ihm  reifen  die  mathematischen  Gedanken  des  Descartes,  so- 
weit sie  sich  auf  mechanische  Naturerklärung  beziehen,  zur  großartigsten  Voll- 
endung. Aber  von  dieser  Epoche  an  und  darüber  hinaus  beschäftigt  die  führen- 
den Denker  immer  die  Frage  nach  der  Erkenntnis  als  solcher  und  dem  Ver- 
hältnis der  mathematischen  Gewißheit  zu  derselben.  Dabei  handelt  es  sich  — 
zunächst  wenigstens  —  nicht  um  das,  was  wir  etwa  gegenwärtig  unter  der  Be- 
gründung der  mathematischen  Erkenntnis  in  den  Gebieten  der  Arithmetik 
und  Geometrie  verstehen,  deren  Darlegung  einer  folgenden  Betrachtung  vor- 
behalten bleibt,  sondern  um  die  Frage,  wie  die  als  unzweifelhaft  angesehene 
Sicherheit  der  Mathematik  auch  auf  anderen  Gebieten  des  Denkens  erreicht 
werden  könne. 

Spinoza,  dessen  Geburtsjahr  fünf  Jahre  vor  das  Erscheinen  der  analy- spinoza  und  die 
tischen  Geometrie  des  Cartesius  fällt,  geht  ganz  von  den  Gesichtspunkten  ^Si°r^eiiunK" 
der  mathematischen  Demonstration  aus.  Ihm  ist  die  Methode  der '°'^''«^«°"'«'^''- 
Geometrie,  weil  sie  sich  auf  Begriffe  gründet,  die  durch  die  Kraft  des  Denkens 
selbst  erst  ihre  Wirklichkeit  gewonnen  haben,  das  Vorbild  der  Erkenntnis  über- 
haupt. In  seiner  Schrift  de  intellectus  emendatione  sagt  er:  ,,Id  quod  formam 
verae  cogitationis  constituit,  in  ipsa  cogitatione  est  quaerendum.  Ad  forman- 
dum  conceptum  globi  fingo  ad  libitum  causam,  nempe  semicirculum  circa 
centrum  rotari.  Haec  sane  idea  vera  est,  et  quamvis  sciamus,  nullum 
in  natura  globum  sie  unquam  ortum  fuisse,  est  tamen  haec  vera 
perceptio  et  facilHmus  modus  formandi  globi  conceptum."  Und  so  verstehen 
wir  es,  wie  in  Überschätzung  der  formalen  Methode  des  Euklides  —  die  noch 
in  der  Mitte  des  1 8.  Jahrhunderts  in  der  Preisfrage  der  Berliner  Akademie  der 
Wissenschaften  ihren  Ausdruck  in  der  Frage  findet:  Ob  es  möglich  sei,  den 
Sätzen  der  natürlichen  Theologie  und  Moral  die  Evidenz  der  Mathematik  zu 
verleihen  —  mit  ihrer  stereotypen  Wendung  q.  e.  d.,  in  ihm  der  ungeheuer- 
liche Plan  entstehen  konnte,  alles  aus  einem  obersten  Prinzip,  nämlich  dem 
einer  unendlichen  Substanz,  in  seiner  so  oft  als  ein  Beispiel  unwiderleglicher 
logischer  Schärfe  angesehenen  Ethik  ,,more  geometrico"  herzuleiten. 

In  weit  weniger  willkürlicher  Form  treten  diese  Gedanken  bei  seinem 
Zeitgenossen  Hobbes  (1588 — ■1679)  auf.  Auch  er  geht  davon  aus,  daß  es  kein  Th.  Hobtes. 
anderes  Mittel  gibt,  einen  Inhalt  zu  verstehen,  als  ihn  aus  seinen  erzeugenden 
Bedingun  genin  uns  entstehen  zu  lassen.  Die  bloßen  Definitionen  sind  dazu 
freilich  nicht  hinreichend.  Erst  indem  wir  die  Begriffe  konstruieren,  werden 
wir  uns  ihrer  Verträglichkeit  mit  den  Gesetzen  unserer  räumlichen  Anschauung 
bewußt,  und  allein  deshalb  gibt  es  eine  beweisbare  Wissenschaft  der  Geometrie. 
Aber  diese  Auffassung  wird  nun  bei  Hobbes  zum  strengen  Nominalismus. 
Die  Wahrheit  besteht  nach  ihm  in  der  richtigen  Zusammensetzung  der 
,, Zeichen",  d.  h.  dieser  Elemente  der  genetischen  Konstrukion.  Allerdings 
entspricht  nicht  jeder  möglichen  Wortverbindung  auch  eine  mit  der  räumlichen 
Anschauung  vereinbare  Idee,  sondern  nur  durch  die  Schöpfung  der  Zahl- 
st 


36   A  A.  Voss:  Die  Beziehungen  der  Mathematik  zur  allgemeinen  Kultur. 

zeichen  wird  es  möglich,  die  Erscheinungswelt  einer  begrifflichen  Auffassung 
entsprechen  zu  lassen;  ,,Haec  omnia  a  numeratione  proficiscuntur,  a  ser- 
mone  autem  numeratio",  und  es  klingt  ganz  im  Sinne  der  heutigen  logistischen 
Axiomatik,  welche  sich  schließlich  von  jeder  Beziehung  auf  eine  Wirklich- 
keit im  Sinne  B.  Russells  loslöst,  wenn  er  sagt:  ,,Earum  tantum  rerum 
scientia  per  demonstrationem  illam  a  priori  hominibus  concessa  est,  quarum 
generatio  dependet  ab  ipsorum  arbitrio." 
J.Locke.  Bei  J.  Locke  (1632 — 1704)   tritt  das   mathematische   Element,    welches 

bei  Descartes,  Spinoza  und  Hobbes  eine  so  grundlegende  Rolle  spielt,  zurück 
hinter  der  allgemeinen  Frage,  worauf  denn  der  Erwerb  der  ,, evidenten  Be- 
griffe", welche  Descartes  als  ,, angeborene  Ideen"  ansah,  begründet  sei.  Diese 
Ansicht  des  Sensualismus,  welche  Sensation  und  Refiektion  als  Quelle 
der  Erkenntnis  betrachtet,  ist  ja  auch  heute  noch  in  den  erkenntnistheore- 
tischen Schriften  von  Helmholtz,  in  der  psychologischen  Kon- 
struktion der  Raumanschauung,  wie  sie  z.  B.  Poincar^  vertritt,  ent- 
halten; wir  können  darauf  ebensowenig  eingehen,  wie  auf  die  Lehren 
Berkeleys,  dessen  Bestreitung  der  infinitesimalen  Methoden  auch  jetzt  noch 
für  den  Mathematiker  Interesse  hat. 
G.w.Leibniz.  In   Lcibniz'    (1646 — 1716)   universellem    Geiste    konzentriert    sich    nun 

noch  einmal  die  Gedankenarbeit  eines  ganzen  Jahrhunderts,  allerdings  um 
schließlich  mit  der  seltsamen  Idee  einer  prästabilierten  Harmonie  zu  enden. 
Auch  für  Descartes  beruhte  der  letzte  Grund  für  die  Wahrheit  der  Erkenntnis 
in  der  Vollkommenheit  Gottes,  der  uns  nicht  kann  täuschen  wollen.  Wenn 
■  wir  aber  von  diesen  Philosophemen  absehen,  ist  Leibniz  eigentlich  immer 
Mathematiker,  der  in  den  Begriffen  der  Mathematik  die  großen 
Analogien  entdeckt,  welche  ihm  das  Mittel  zu  einer  Uni- 
versalmathematik liefern.  Die  Idee  der  Variationsrechnung,  welche 
in  ihren  ersten  Anfängen  durch  das  Problem  der  Brachistochrone  Ber- 
noullis  entstanden  war,  wird  bei  ihm  in  der  Theodicee  zu  dem  Minimum- 
problem, aus  allen  möglichen  Welten  die  mit  der  kleinsten  Summe  des  Übels 
behaftete  zu  schaffen ;  aus  seiner  Methode,  von  den  Eigenschaften  -der  Ellipse 
oder  Hyperbel  die  der  Parabel  abzuleiten,  abstrahiert  er  das  Kontinuitäts- 
prinzip, welches  vermöge  der  Kategorie  der  Grenzbegriffe  als  leitender  Grund- 
gedanke bei  ihm  auftritt.  Es  mag  als  eine  triviale  Weisheit  erscheinen,  wenn 
Leibniz  betont,  daß  Ruhe  nichts  anderes  als  ein  stetig  aus  der  Bewegung  her- 
vorgehender Zustand  sei.  Aber  gerade  der  Mathematiker  weiß,  wie  bedeutungs- 
voll diese  Ansicht  z.  B.  für  die  Statik  ist,  wenn  sie  begrifflich  aus  der  Dynamik 
abgeleitet  werden  soll, 
i.eibniz  Und  damit  wird  Leibniz  zum  Begründer  einer  mathematischen  Erkennt- 

"^ Mathematiker,  nisthcorie.  Dcscartcs  hatte  die  Geometrie  auf  die  Arithmetik  zurückgeführt, 
aber  diese  erschien  doch  erst  wieder  gerechtfertigt  durch  die  logische  Strenge 
des  Euklidischen  Systems,  welches  umgekehrt  die  arithmetischen  Prozesse 
aus  den  geometrischen  Wahrheiten  herleitet.  Für  Leibniz  ist  das  Fundament 
der  Mathematik  der  logische  Satz  des  Widerspruches;  dieser  muß  zur  Begrün- 


Locke,  Leibniz,  Wolf,  Kant.  A  37 

düng  derselben  hinreichen.  Auf  ihm  müssen  daher  die  Axiome  selbst  beruhen. 
So  finden  wir  denn  auch  bei  Leibniz  den  ersten  Versuch,  die  Regeln  des  Rech- 
nens zu  beweisen,  an  den  später  H.  Graßmann  und  Helmholtz  sich  an- 
geschlossen haben,  und  in  seiner  Auffassung  der  Geraden  als  einer  nach  dem 
allgemeinen  Prinzip  der  Ordnung  wiederholten  Sukzession  ließen  sich  leicht  die 
engsten  Beziehungen  zu  G.  Veroneses  Grundlagen  der  Geometrie  erkennen. 

Aber  dies  gehört  in  eine  eigentliche  Erkenntnistheorie  der  Mathematik 
selbst,  auf  die  hier  nur  hingedeutet  werden  sollte,  um  den  Zusammenhang 
der  geschichtlichen  Entwicklung  zu  wahren,  die  nunmehr  über  die  Leibniz - 
Wolf  sehe  Philosophie,  welche  die  tiefen  Gedanken  von  Leibniz  zu  einer 
willkürlichen,  nur  scheinbar  noch  mathematischen  Axiomatik  verflachte,  zu 
der  einzigartigen  Persönlichkeit  Immanuel    Kants  (1724 — 1804)  führt. 

Kant  hat  durch  seinen  Königsberger  Lehrer  M.  Knutzen  die  Elemente  der  i.  Kant 
Mathematik,  wohl  vorzugsweise  die  der  Geometrie,  kennen  gelernt.  Von  der 
Infinitesimalrechnung,  um  deren  populäre  Verbreitung  sich  der  so  viel  ge- 
schmähte Wolf,  der  selbst  Professor  der  Mathematik  und  Philosophie  war, 
große  Verdienste  erworben  hat,  hat  er  wohl  nur  geringe  Kenntnis  erhalten*), 
und  aus  seinen  arithmetischen  Äußerungen  erkennt  man,  daß  ihm  auch  die 
Leibnizsche  Axiomatik  der  Mathematik  unbekannt  geblieben  ist.  Dagegen 
hat  er  mit  echt  philosophischem  Geiste  Newtons  Principia  philosophiae  natu- 
ralis erfaßt  und  zu  einem  förmlichen  System  in  seinen  ,, metaphysischen  An- 
fangsgründen der  Naturwissenschaft"  ausgebildet.  Noch  heute  sprechen  wir 
von  der  Kant-Laplaceschen  Hypothese  der  Planeten-Entstehung,  ein  Zeichen, 
wie  tief  Kant  auch  in  seiner  ,, allgemeinen  Naturgeschichte  des  Himmels" 
in  diese  Ideen  eingedrungen  war. 

Aber  das  erste,  was,  wie  er  selbst  sagt,  seinen  dogmatischen  Schlummer 
unterbrach,  waren  D.  Humes  Untersuchungen  über  das  Kausalitäts- 
prinzip (1748).  Der  Gewißheit,  daß  jedem  Geschehen  als  Ursache  ein  Voraus- 
gegangenes zugrunde  liegen  muß,  kommt  nach  Kant  absolute  Notwendig- 
keit und  Allgemeinheit  zu,  die  niemals  aus  der  Erfahrung  geschöpft  werden 
kann.  Denn  diese  lehrt  nur,  daß  etwas  so  oder  so  beschaffen  sei,  nicht  aber, 
daß  es  ohne  Ausnahme  schlechterdings  so  sein  müsse.  Und  nun  legt  er  sich 
die  Frage  Piatons  vor,  worauf  denn  eigentlich  Wissen  gegründet  sei.  Mit  Ari- 
stoteles erkennt  er  in  der  Verknüpfung  der  Urteile  das  Fundament  desselben. 
Aber  die  Urteile  scheidet  er  in  zwei  Klassen,  analytische  und  synthetische. 
Ein  analytisches  Urteil  fügt  dem  Subjekt  nur  gleichsam  erinnernd  ein  Prä- 
dikat  hinzu,   das  schon  in  ihm  liegt;   es  erweitert  das  Wissen  nicht.     Das 

*)  Dies  ist  nicht  so  zu  verstehen,  als  ob  Kant  die  geometrischen  Methoden  des 
UnendHchkleinen,  welche  von  Kepler,  Pascal,  Fermat,  Huygens,  Newton  und  vielen  anderen 
mit  so  außerordentlichem  Erfolge  verwandt  waren,  unbekannt  geblieben  seien.  Im  Gegenteil 
zeigt  sein  handschriftlicher  Nachlaß,  so  weit  er  bis  jetzt  veröffentUcht  ist,  daß  er  diese 
Methoden  ganz  selbständig  anzuwenden  und  zur  Bestätigung  seiner  naturwissenschaftlichen 
Spekulationen  zu  benutzen  wußte.  Aber  von  dieser  intuitiven  Auffassung  bis  zur  An- 
Wendung  der  eigentlichen  Begriffe  der  Infinitesimalrechnung,  z.  B.  des  Differentialquotienten 
oder  des  Integrals,  ist  es  doch  noch  ein  weiter  Schritt,  von  dem  ich  keine  Spur  bei  Kant  auffinde. 


38   A  A.  Voss:  Die  Beziehungen  der  Mafr.ematik  zur  allgemeinen  Kultur. 

synthetische  dagegen  verbindet  den  Subjektbegriff  mit  einem  neuen  Begriffs- 
inhalt zu  einer  Einheit;  auf  ihm  beruht  der  Fortschritt  des  Wissens.  Soll  es 
nun  ein  Wissen  geben,  das  —  wie  die  Metaphysik  z.  B.  behauptet  —  den  Cha- 
rakter der  Allgemeinheit  und  Notwendigkeit  hat,  so  muß  es  synthetische, 
nicht  aus  der  Erfahrung  geschöpfte  Urteile  geben.  Und  so  beruht  die  Er- 
•klärung  der  tatsächlichen  Existenz  des  Wissens  auf  der  Grundfrage:  Gibt  es 
überhaupt  ,, synthetische  Urteile  a  priori",  und  wie  sind  sie  möglich?  Daß  alle 
unsere  Erkenntnis  auf  Erfahrung  beruht,  daran,  sagt  Kant,  ist  gar  kein  Zweifel. 
,,Aber  gleichwohl  entspringt  sie  doch  nicht  allein  aus  derselben.  Denn  es 
könnte  wohl  sein,  daß  unsere  Erfahrungserkenntnis  ein  Zusammengesetztes 
aus  dem  sei,  was  wir  durch  Eindrücke  empfangen,  und  dem,  was  unser  eigenes 
Erkenntnisvermögen  (durch  sinnliche  Eindrücke  dazu  veranlaßt)  aus  sich 
selbst  hergibt".    Erkenntnisse  solcher  Art  heißen  ,, Erkenntnisse  a  priori". 

Zum  Beweis  der  Existenz  solcher  Urteile  zieht  nun  Kant  die  Mathe- 
matik heran.  Sind  auch  seine  speziellen,  der  Mathematik  entlehnten 
Beispiele  nicht  gerade  glücklich  gewählt  -  -  und  dies  gilt  sowohl  von  den  arith- 
metischen als  den  geometrischen  —  so  muß  doch  immer  wieder  hervorgehoben 
werden,  daß  der  eigentliche  Kern  seiner  Gedanken  dadurch  nicht  getroffen  wird. 
Sowohl  in  der  Arithmetik  als  in  der  Geometrie  findet  er  Sätze,  die,  Notwendig- 
keit und  Allgemeinheit  in  sich  tragend,  nicht  aus  der  äußeren  sinnlichen  Er- 
fahrung stammen  können.  Und  so  folgert  er,  daß  der  unterscheidende  Cha- 
rakter der  Mathematik  darin  besteht,  daß  sie  auf  einer,, Anschauung"  beruht, 
die  wegen  ihres  besonderen  Wesens  reine  oder  Anschauung  a  priori  ist.  Aber 
diese  Anschauung  ist  nicht  an  sich  der  Ursprung  der  mathematischen  Prin- 
zipien, sondern  bringt  diese  nur  zur  konkreten  Darstellung  durch  das  Mittel 
der  begrifflichen  Konstruktion.  Und  noch  tiefer  sucht  Kant  nun  dies  Ver- 
hältnis zu  erfassen,  indem  er  auf  die  beiden  Probleme  von  Raum  und 
Zeit,  die  Hobbes  so  vielfach  beschäftigt  hatten,  eingeht.  Der  Raum  ist  für 
ihn  kein  empirischer  Begriff,  wie  der  des  Gelben,  der  von  äußeren  Erfahrungen 
abgeleitet  ist,  denn  er  liegt  jeder  Aussage  unserer  Anschauung  bereits  zu- 
grunde. Er  ist  auch  kein  diskursiver  Begriff,  der  erst  durch  Abstraktion  von 
einzelnen  Räumen  verschiedener  Art  gewonnen  wird,  denn  für  Kant  existiert 
nur  ein  Raum,  von  dem  alle  besonderen  Räume  nur  Teile  sind.  Das  hatte  auch 
schon  Euler  in  seinen  R6flexions  sur  l'espace  et  le  temps  mit  den  Worten  aus- 
gesprochen: Der  Raum  ist  kein  genericum.*)  Er  ist  auch  kein  Begriff  von  Ver- 
hältnissen der  Dinge,  sondern  Anschauung  derselben,  und  zwar,  da  es  sich 
nicht  um  die  spezielle  sinnliche  handelt,  reine  Anschauung.  Dieser  etwas 
scholastisch  gefärbten  Deduktion  würden  allerdings  die  neueren  Lehren  von  der 
psychologischen  Entstehung  der  Raumanschauung  widersprechen,  falls  es  ihnen 

•)  Eulers  Ansichten  haben  wahrscheinlich  auf  die  von  Kant  später  in  der  tran- 
szendentalen Ästhetik  entwickelten  Gesichtspunkte  einen  nicht  unbeträchtlichen  Einfluß  gehabt. 
Daß  Kant  mit  den  Schriften  Eulers  wohl  bekannt  war,  geht  insbesondere  aus  seiner  Ab- 
handlung ,,Von  dem  ersten  Unterschiede  der  Gegenden  im  Räume"  (1768)  hervor,  in  der 
er  sich  direkt  auf  eine  Arbeit  Eulers  aus  dem  Jahre  1748  bezieht  (vergleiche  F.  Überwegs 
Geschichte  der  Philosophie,   10.  Auflage  1907,  Bd.  3,  S.  298). 


Kants  transzendentale  Ästhetik  und  die  spätere  Philosophie  in  Deutschland.       A   39 

gelingt,  allgemein  anerkannte  Resultate  zu  gewinnen.  —  Und  hierauf  beruht 
nun  nach  Kant  die  apodiktische  Gewißheit  der  Geometrie  und  ihre  Überein- 
stimmung mit  den  Ergebnissen  der  äußeren  Erfahrung.  Denn  nur,  wenn  der 
Raum  die  Form  ist,  durch  welche  letztere  uns  überhaupt  erst  möglich  wird, 
können  niemals  die  Aussagen  der  Geometrie  mit  denen  einer  empirischen  Prü- 
fung, d.  h.  einer  konkreten  sinnlichen  Erfahrung,  in  Widerspruch  geraten. 

Das  ist  die  Lehre  von  der  transzendentalen  Idealität  des  Raumes,  welche 
Kant  fast  mit  denselben  Worten  auf  den  Begrifif  der  Zeit  ausdehnt.  Zeit  und 
Raum  sind  für  ihn  zwei  Erkenntnisquellen,  aus  denen  synthetische  Urteile 
a  priori  fließen,  und  diese  Aussagen  haben  nicht  nur  transzendentale  Idealität, 
sondern  auch  empirische  Realität.  ,,Wer  aber  absolute  Realität  derselben  be- 
hauptet, der  muß  zwei  ewige  und  unendliche  Undinge  annehmen,  welche  da 
sind,  um  alles  Wirkliche  zu  umfassen;  und  wer  Raum  und  Zeit  als  aus  der  Er- 
fahrung abstrahierte  Verhältnisse  betrachtet,  muß  den  mathematischen  Leh- 
ren ihre  apodiktische  Gewißheit  bestreiten." 

Diese  auf  dem  Faktum  der  Mathematik  beruhenden  Gedanken  bilden  das 
erste  Kapitel  der  Kritik  der  reinen  Vernunft;  sie  werden  für  Kant  zur 
Direktive  in  der  transzendentalen  Logik,  in  der  er  die  Wirksamkeit  und 
die  Grenzen  des  Gebrauchs  der  apriorischen  Formen  des  reinen  Denkens, 
der  Kategorien,  behandelt,  —  doch  haben  wir  nicht  weiter  darauf  einzugehen. 

Man  hätte  nun  erwarten  sollen,  daß  der  gewaltige  Einfluß  der  Kantischen 
Lehren  die  Philosophie  in  die  engste  Verbindung  mit  der  Mathematik  ge- 
bracht haben  würde.  Aber  durch  Fichte,  Hegel  und  S c hei ling  entstehen  Romana^che 
ganz  neue  Gedankengänge,  und  die  romantische,  auf  bloßer  Spekulation  be-  ;„  Deutschland, 
ruhende  Naturphilosophie  der  letzteren  beiden  ließ  namentlich  in  Deutsch- 
land eine  immer  größere  Kluft  zwischen  dem  mathematischen  und  philosophi- 
schen Denken  entstehen,  die  zum  Teil  auch  gegenwärtig  noch  nicht  geschlossen  ist. 

Indes  hat  es  auch  in  der  ersten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts  nicht  an 
solchen  gefehlt,  welche  der  Mathematik  eine  führende  Rolle  zuerteilen.  So 
versucht  Herbart  1824  rein  mathematisch  eine  Statik  und  Dynamik  der  Vor-  J-  f.  Herbart. 
Stellungen  nach  axiomatischen  Prinzipien  zu  entwickeln,  welche  den  in  der 
Mechanik  üblichen  analog  laufen.  Die  mathematische  Naturphilosophie  von 
J.  F.  Fries  (1822)  — um  diesen  neben  F.  Apelt  zu  nennen,  —  trägt  das  Motto 
Tot  )Lia9r|,uaTa  KaGdp^axa  vpuxTic.  In  aller  Schärfe  hebt  Fries  hervor,  daß  wissen- 
schaftliche Naturerkenntnis,  die  nach  ihm  allein  sich  auf  die  räumlichen  Ge- 
stalten und  deren  Bewegungen  beziehen  kann,  auf  gewissen  Vorstellungen 
a  priori  beruht,  deren  Darlegung  die  Aufgabe  derselben  ist.  Die  Möglichkeit 
dieser  wahren  Philosophie  der  Natur  beruht  immer  auf  gewissen,  über  alle 
Erfahrung  hinausgehenden  ,, Hypothesen"  und  es  sind  schließlich  rein  mathe- 
matische Gründe  der  Einfachheit  und  Übersichtlichkeit  einer 
Theorie,  welche  z.  B.  die  Entscheidung  zugunsten  des  Kopernikanischen 
Weltsystems  im  Gegensatz  zu  dem  epizyklischen  System  des  Ptolemäus  treffen 
lassen.  Wer  wird  hier  nicht  an  E.  Machs  Prinzip  der  Ökonomie  des 
Denkens  erinnert?    Und  so  ist  auch  das  Prinzip  der  Trägheit  eines  Beweises 


40   A  A.  Voss:  Die  Beziehungen  der  Mathematik  zur  allgemeinen  Kultur. 

weder  fähig  noch  bedürftig ;  mit  fast  denselben  Worten  wie  neuerdings  P  o  i  n  c  a  r  6 
in  der  Schrift,  Wissenschaft  und  Hypothese,  spricht  Fries  es  aus,  daß  dasselbe  eine 
Annahme  a  priori  sei,  die  niemals  durch  Erfahrung  bewiesen  noch  widerlegt 
werden  könne.  Die  Bestrebungen  von  Fries  und  Apelt  sind  nicht  untergegangen, 
sie  leben  fort  in  den  Abhandlungen  der  Friesschen  Schule,  welche  mathema- 
tisches und  philosophisches  Denken  den  modernen  Anschauungen  gemäß  in 
Verbindung  setzen  wollen.  Aber  auch  auf  anderen  Seiten  regt  sich  das  Bedürfnis, 
die  Wechselbeziehungen  zwischen  diesen  beiden  Gebieten  enger  zu  gestalten. 
,,Das  Schicksal  und  die  Zukunft  der  kritischen  Philosophie",  sagt  E.Kassirer  in 
seinen  Kantstudien,  ,,wird  durch  das  Verhältnis  zu  den  exakten  Wissenschaften 
bedingt.  Wenn  es  gelänge,  das  Band  zwischen  ihr  und  der  Mathematik  und  der 
mathematischen  Physik  zu  durchschneiden,  so  wäre  sie  damit  ihres  In- 
haltes und  ihres  Wertes  beraubt.  Von  diesem  Gesichtspunkt  aus  darf 
jeder  Versuch  einer  logischen  Klärung  und  Vertiefung  der  Grundlagen  der  Ma- 
thematik von  vornherein  des  größten  philosophischen  Interesses  gewiß  sein." 
Mathematik  und  Und  dieses  lutercssc  bekundet  sich  nicht  nur  in  der  neuen  Ausbildung, 

der' Gegenwärt,  welche  die  aristotelische  Logik  zu  einer  modernen  Logistik  erfahren  hat, 
sondern  auch  in  dem  wachsenden  Verständnis,  welches  die  Philosophie  gegen- 
wärtig dem  in  der  zweiten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts  gewonnenen  erkenntnis- 
theoretischen Gehalt  der  Mathematik  zuwendet.  Wir  erinnern  an  die  zahl- 
reichen Arbeiten  Poincares  und  anderer  französischer  Philosophen  und  Mathe- 
matiker, an  die  Veröffentlichungen  der  Marburger  durch  Natorp  inspirierten 
Schule,  an  die  namentlich  von  Peano  entwickelte  italienische  Axiomatik,  an 
die  eigenartigen  Arbeiten  B.  Russe Us,  mit  denen  die  auf  deutschem  Boden 
erwachsene  Mengenlehre  G.  Cantors  in  enger  Beziehung  steht. 

Wie  lückenhaft  auch  dieser  Versuch  ausgefallen  sein  mag,  auf  wenigen 
Seiten  die  seit  mehr  als  zwei  Jahrtausenden  bestehende  Wechselwirkung  zwi- 
schen Mathematik  und  Philosophie  zu  skizzieren,  das  wenigstens  dürfte  daraus 
hervorgehen,  wie  eng  tatsächlich  das  Band  zwischen  beiden  ist. 

Und  wer  die  Kultur  der  Gegenwart  verstehen  will,  wird  auch  an  diesen 
Beziehungen  nicht  achtlos  vorbeigehen  können.    Diese   Erkenntnis  hat  seit 
.Mathematik  und  Piatons  Zelt  dazu  geführt,  der  Mathematik  einen  hohen  Wert  als  Erzie- 
Rrziehung.     hungsmlttcl  belzulcgen.  Denn  einer  der  vornehmsten  Zwecke  aller  Erziehung 
ist  es,  Bildung,  d.  h.  Verständnis  für  die  Kultur  der  jeweiligen  Zeitepoche  zu 
wecken,  und  dadurch  die  heranwachsende  Generation  zu  befähigen,  diese  Kul- 
tur den  kommenden  Geschlechtern  erweitert  zu  überliefern. 
Schulwesen.  Von  dicscr  Überzeugung  waren  auch  die  Begründer  der  Humanisten - 

schulen  geleitet.  Zwar  wird  in  den  Lehrplänen  vieler  Gymnasien  des  16.  und 
17.  Jahrhunderts  die  Mathematik  noch  nicht  ausdrücklich  als  Lehrmittel  er- 
wähnt; sie  war  nach  alter  Sitte  mit  dem  Quadrivium:  Musik,  Arithmetik,  Geo- 
metrie, Astronomie,  verbunden.  Aber  Melanchthon,  der  praeceptor  Germa- 
niae,  setzte  schon  1529  die  Gründung  einer  zweiten  mathematischen  Professur 
in    Wittenberg    durch.      An    den    größeren    Handelsstädten    Deutschlands, 


Mathematik  und  Schulunterricht.  A  41 

Frankfurt,  Hamburg,  Lübeck,  Straßburg  und  Nürnberg  wirkten  bald  hernach 
treffhche  Mathematiker,  wie  Dasypodius  und  Sturm  an  den  beiden  letzt- 
genannten. Gegen  das  Ende  des  17.  Jahrhunderts  tritt  allerdings  eine  Reaktion 
ein;  an  die  Stelle  akademisch  gebildeter  Lehrer  treten  öfter  bloße  Rechen- 
meister, und  mit  ihnen  wird  auch  ihr  Lehrfach  nun  als  nicht  ebenbürtig  mit 
den  klassischen  Studien  angesehen:  ,,Mathematicus  non  est  coUega."  Die  Be- 
gründung der  Realschulen  unter  Franke  und  Ernesti  zu  Anfang  des  18.  Jahr- 
hunderts führt  zu  einer  verstärkten  Betonung  des  mathematischen  Elements; 
fast  in  vollem  Umfange  wird  an  ihnen  das,  was  wir  gegenwärtig  zur  Elementar- 
mathematik rechnen,  in  die  Lehrpläne  aufgenommen,  eingedenk  des  Gesner- 
schen  Dictums  ,, privat  se  altro  oculo,  qui  negligit  mathesin". 

Mit  dem  Anfang  des  18.  Jahrhunderts  tritt  aber  zugleich  die  ungeheure  Höhere  und 
Fortbildung  der  Mathematik  durch  die  Erfindung  der  Infinitesimalrechnung  Mathematik, 
ein.  Diesem  großen  Fortschritt,  der,  mit  der  Fortbildung  der  Leibnizschen 
Gedanken,  insbesondere  der  Integralrechnung  durch  Leibniz  selbst  und  die 
Bernoullis  in  den  Leipziger  Actis  eruditorum  beginnend,  fast  ausschließlich 
dem  bewunderungswürdigen  Verkehr  zwischen  den  führenden  Mathematikern 
an  den  Akademien  in  Berlin,  Paris,  Petersburg  zu  verdanken  ist,  vermochte 
das  allgemeine  Verständnis  der  damaligen  Lehrerwelt  nur  in  beschränktem 
Umfange  zu  folgen.  So  entstand  neben  der  Mathematik  der  Alten  eine  esoterische 
,, höhere",  die  nur  hervorragenden  Geistern  zugänglich  schien,  um  so  mehr, 
als  auch  der  dürftige  Unterricht  an  den  Hochschulen  meist  nur  in  einer  Reka- 
pitulation der  Schulpensa  bestand,  wie  sie  denen  erwünscht  sein  mußte,  die  auf 
der  Schule  kaum  über  die  vier  Spezies  und  die  ersten  Bücher  des  Euklid 
hinausgekommen  waren. 

Erst  das  19.  Jahrhundert  hat  der  Mathematik  ihre  Stellung  als  ein  den 
sprachlichen  Studien  gleichstehendes  Bildungsmittel  zurückge- 
geben. An  die  Erhebung  Deutschlands  unter  Preußens  Führung  in  den  Be- 
freiungskriegen knüpfen  sich  die  Vorschläge  von  W.  von  Humboldt  und  der 
Sü verasche  Lehrplan,  der  181 6  die  Mathematik  an  allen  Klassen  der  Gym- 
nasien endlich  in  ihr  Recht  einsetzte  und  —  wenn  auch  nicht  zur  Einführung 
gelangend  ■ —  doch  zu  einer  idealen  Richtschnur  wurde,  welche  im  wesent- 
lichen den  Vertretern  einer  einsichtsvolleren  Pädagogik  vorschwebte.  Die 
bereits  in  Süverns  Entwurf  betonte  Notwendigkeit,  auch  die  Grundgedanken 
der  höheren  Mathematik  in  den  Lehrplan  der  Schulen  aufzunehmen,  durch 
welche,  wie  schon  der  General  Clausewitz  es  aussprach,  erst  das  wahre 
Verständnis  für  die  elementare  gewonnen  werden  kann,  ist  freilich  erst  in 
der  neuesten  Zeit  in  ihrer  ganzen  Bedeutung  erkannt  worden. 

Aber  ganz  abgesehen  von  der  Geschichte  der  mathematischen  Pädagogik 
haben  wir  uns  zu  fragen:  Worin  beruht  der  Wert  der  Mathematik  als  Bil- 
dungsmittel für  die  Jugend? 

Es  ist  ein  unbegründetes  Vorurteil,  wenn  man  —  insbesondere  in  popu-  Mathemauu 
lären  Schriften  —  die  Mathematik  als  Hauptmittel  zur  Erzielung  logischen  "°  ^  " 
Denkens  bezeichnet.    Verstöße  gegen  dasselbe  sind  von  Mathematikern  eben- 


A2   A.  A.  Voss:  Die  Beziehungen  der  Mathematik  zur  allgemeinen  Kultur. 

SO  häufig  gemacht  worden,  wie  von  anderen,  selbst  die  Bücher  des  Euklid  sind 
nicht  frei  von  ihnen,  und  auch  in  den  modernen  Lehrbüchern  dürfte  nicht 
selten  die  kritische  Prüfung  Mängel  sowohl  im  sprachhchen  Ausdruck  als  in 
der  sachhchen  Behandlung  entdecken.  Zudem  wirkt  der  Denkprozeß  bei  den 
meisten  Menschen  auf  einer  gewissen  Entwicklungsstufe  so  automatisch,  daß 
man  ebensowenig  wie  zum  richtigen  Gebrauch  der  Muttersprache  eines  be- 
sonderen Unterrichts  in  der  Logik  bedarf.  Die  Logik  lehrt  nicht  richtig 
denken,  sondern  zeigt  nur,  wann  richtig  gedacht  ist.  Entscheidender  aber 
ist,  daß  das  rein  logische  Element,  wie  es  Euklid  als  Ideal  vorschwebte,  in  der 
Mathematik  viel  zu  schwer  durchführbar  und  für  den  jugendlichen  Geist  ge- 
radezu unverständlich  ist.  Wer  die  Mathematik  nur  als  logisches  Exerzitium 
behandelt,  wird  schwerlich  große  Erfolge  bei  seinen  Schülern  finden:  das  gilt 
nicht  nur  vom  Unterricht  auf  der  Schule,  sondern  —  cum  grano  salis  —  auch 
von  dem  auf  der  Hochschule. 
Erzieherische  Dic  Stärke  dcr  Mathematik  als  Bildungsmittel  liegt  vielmehr  vorwiegend 

^MaXmftik!'^  nach  der  ethischen  Richtung  und  nach  der  einer  freien,  schöpfe- 
rischen Verstandesbildung.  Gewiß  werden  in  den  historischen  Fächern, 
insbesondere  durch  das  Studium  der  fremden  Sprachen  Kenntnisse  erworben, 
die  für  unsere  Bildung  unerläßlich  sind.  Aber  solche  Kenntnisse  sind  eben 
keine  Erkenntnis.  Diese  aber  vermittelt  die  Mathematik.  Wer  den  Beweis 
eines  Satzes  verstanden  hat,  hat  damit  die  Überzeugung  gewonnen,  eine  Wahr- 
heit auf  Grund  eigener  Arbeit  erfaßt  zu  haben.  Die  Übersetzung  eines 
griechischen  oder  lateinischen  Autors  ist  ja  freilich  nicht  selten  auch  eine  Rät- 
selaufgabe der  Kombinatorik;  sie  wird  aber  kaum  dieselbe  absolute  Überzeu- 
gung von  ihrer  Richtigkeit  gewähren.  Durch  einen  mathematischen  Beweis 
wird  aber  nicht  nur  das  sichere  Bewußtsein,  daß  man  durch  Denken  Wahrheit 
finden  könne,  geweckt,  sondern  auch  das  Selbstvertrauen  zum  eigenen  Verstand, 
die  kritische  Urteilskraft,  welche  den  wahrhaft  Gebildeten  von  dem  im 
bloßen  Autoritätsglauben  Befangenen  unterscheidet.  Diese  Fähigkeit  heraus- 
zubilden, ist  wohl  das  höchste  Ziel,  welches  sich  die  Erziehung  des  jugendlichen 
Geistes  stellen  kann. 

Und  das  nicht  allein.  Mit  der  gelungenen  Übersetzung  eines  Schriftstellers 
ist  die  Arbeit  abgeschlossen.  In  der  Mathematik  aber  weckt  jede  erkannte 
Wahrheit,  jede  gelöste  Aufgabe,,  sofort  die  schöpferische  Phantasie,  die 
sie  entweder  zu  erweitern  oder  ihren  noch  verborgenen  Zusammenhang  mit 
anderen  Wahrheiten  aufzufinden  strebt.  Das  ist  jenes  unbeschreiblich  hohe 
Gefühl,  das  jeder  empfindet,  der  zum  erstenmal  die  Selbständigkeit  seines 
eigenen  Geistes  in  der  freien  wissenschaftlichen  Arbeit  erkennt, 
der  seine  schöpferische  Kombinationsgabe  mit  jedem  erfolgreichen  Schritte 
wachsen  sieht. 

Kritischer  Blick,  Energie  in  der  Überwindung  anscheinend  hoffnungsloser 
Schwierigkeiten,  beharrlich  auf  das  Ziel  gerichteter  Wille,  Selbstvertrauen  auf 
die  eigene  Kraft,  sind  ethische  Kräfte,  deren  jeder  bedarf,  um  im  Kampfe  des 
Lebens  nicht  zu  unterliegen.    Es  dürfte  schwer  sein,  ein  Bildungsmittel  zu  be- 


Bildungswert  der  Mathematik.  A   43 

zeichnen,  das  geeigneter  wäre,  diese  Qualitäten  zu  wecken  und  zu  den  höchsten 
Leistungen  zu  befähigen,  als  die  Mathematik. 

Aber  auch  ihr  Inhalt  ist  nicht  ein  bloßes  Paradigma  des  Erkennens.  Wie 
oft  hört  man,  daß  über  dem  grammatikalischen  Studium  eines  Schriftstellers 
der  Inhalt  als  nebensächlich  dem  Bewußtsein  der  Schüler  entschwindet!  Das 
fällt  allerdings  dem  betreffenden  Unterrichte  selbst  zur  Last,  und  ist  gewiß  auch 
nicht  das  allgemeine  Ergebnis  unserer  heutigen  Gymnasialbildung,  welche  der 
bloße  Nützlichkeitsstandpunkt  häufig  verurteilt,  ohne  sie  eigentlich  zu  kennen 
oder  ihren  Segen  erfahren  zu  haben.  Wer  die  poetischen,  historischen  und 
philosophischen  Werke  der  Alten  in  ihrem  inneren  Gehalte  in  sich  aufgenom- 
men hat,  hat  damit  sicher  etwas  gewonnen,  dessen  Besitz  ihn  in  den  engsten 
Zusammenhang  mit  der  Blüte  unserer  gegenwärtigen  Kultur  bringt.  Aber 
ebenso  wahr  ist  es,  wenn  H.  Schellbach,  selbst  ein  trefflicher  Mathematiker, 
der  in  diesem  idealen  Sinne  gewirkt  hat,  sagt:  ,,Wer  die  Mathematik  und 
die  Resultate  der  neueren  Naturforschung  nicht  kennen  gelernt 
hat,   der  stirbt,   ohne  die  Wahrheit  zu  kennen." 

Noch  mag  unser  höheres  Schulwesen  von  diesem  hohen  Ziele  Schellbachs  Mathematische 
mehr  oder  weniger  weit  entfernt  sein.  Aber  in  immer  steigendem  Maße  hat  die  ^neuer^'^zeit.^'^ 
seit  1890  gegründete  Deutsche  Mathematikervereinigung  im  Anschluß 
an  die  Initiative  F.  Kleins  darauf  hingewirkt,  einen  neuen  Geist  in  den  mathe- 
matischen Unterricht  auf  unseren  Schulen  einzupflanzen,  den  des  funktio- 
nalen Denkens,  auf  dem  in  letzter  Instanz  unsere  moderne  Kultur  beruht, 
und  damit  die  Möglichkeit,  Verständnis  für  ihre  großartige  Entwicklung  in  den 
beiden  letzten  Jahrhunderten  durch  eine  angemessene  Vorbereitung  dem 
jugendlichen  Bewußtsein  näher  zu  rücken.  Diese  Bestrebungen  sind  auf  einen 
fruchtbaren  und  auch  im  Gebiete  der  Schule  selbst  schon  vorbereiteten  Boden 
gefallen.  Davon  zeugen  die  vielfachen  Versuche  der  Pädagogen,  das  Programm 
der  Unterrichtskommission  der  Gesellschaft  Deutscher  Natur- 
forscher und  Ärzte  (Meran  1905),  zu  unterstützen,  und  an  der  Hand  ihrer 
eigenen  Erfahrungen  zu  verwirklichen.  Und  so  darf  wohl  erwartet  werden,  daß 
im  20.  Jahrhundert  auch  in  Deutschland  die  mathematische  Vorbildung  in  dem 
geistigen  Besitz  unserer  wirklich  Gebildeten  eine  umfassendere  und  verständnis- 
vollere Stellung  einnimmt,  als  dies  zurzeit  der  Fall  ist.  *) 


*)  Man  wird  dies  um  so  mehr  wünschen  müssen,  als  in  anderen  Staaten  Europas  die 
Mathematik  schon  längst  einen  weit  höheren  Grad  öffentlicher  Geltung  erlangt  hat.  Wir 
erinnern  nur  daran,  wie  wichtig  es  bereits  Napoleon  erschien,  auf  seinem  ägyptischen 
Feldzuge  von  einem  Mathematiker,  wie  G.  Monge,  begleitet  zu  sein;  wir  weisen  ferner  hin 
auf  die  beiden  großen  französischen  Institute  der  ficole  polytechnique  und  der  Ecole 
normale  sup^rieure,  aus  denen  so  manche  Persönlichkeiten  hervorgegangen  sind,  die  sich 
gleichzeitig  als  Mathematiker,  Ingenieure,  Offiziere  und  Staatsmänner  ausgezeichnet  haben 
und  zu  den  höchsten  staatlichen  Würden  gelangt  sind,  sowie  an  die  in  alle  Zweige  des 
Unterrichtes  eingreifende  Tätigkeit,  welche  in  Italien  F.  Brioschi  und  L,  Cremona  ver- 
möge ihrer  hohen  amtlichen  Stellung  ausüben  konnten. 

In  den  letzten  Jahren  haben  übrigens  die  deutschen  Bestrebungen  eine  erhöhte  Be- 
deutung   gewonnen     durch    die  Entstehung    einer    Internationalen    mathematischen 


44   A.  A.  Voss:  Die  Beziehungen  der  Mathematik  zur  allgemeinen  Kultur. 

Wir  haben  bisher  nur  die  Beziehungen  der  Mathematik  zu  dem  Umfange 
unserer  gegenwärtigen  Kultur  betrachtet.  So  erscheint  sie  uns  als  eine  Wissen- 
schaft, ehrwürdig  durch  ihren  bis  auf  die  früheste  historische  Überlieferung 
hinaufreichenden  Ursprung,  als  unentbehrliches  Mittel,  die  großen  Erschei- 
nungen des  Naturgeschehens  zu  verstehen,  als  die  Quelle,  aus  der  das  nach  Er- 
kenntnis ringende  Denken  seine  tiefsten  Anregungen  geschöpft  hat,  als  ein 
seit  der  Zeit  der  Hellenen  gepflegtes  Bildungsmittel  der  Jugend.  Keine  andere 
Wissenschaft  stellt  uns  so  deutlich  die  Tatsache  vor  Augen,  daß  es  eine  erkenn- 
bare Wahrheit  gibt,  deren  Inhalt,  unabhängig  vom  Wechsel  der  Zeiten,  unerschüt- 
tert durch  die  gewaltsamen  Katastrophen  im  Leben  der  Völker,  für  jeden  ver- 
bindlich ist.  Dieselben  Probleme,  welche  unter  den  Pythagoreern  zum  ersten 
Male  aufgeworfen  wurden,  können,  unendlich  vertieft  und  durch  die  fort- 
schreitende Erkenntnis  gereinigt,  uns  auch  heute  noch  beschäftigen. 
Objektiver  Wert  Und  darin  besteht  nun  auch  der  objektive   Wert  der   Mathematik, 

der  Mathematik.  i,..         •  11  ii.'i  a  j  r     •  js    •  -u 

ganz  unabhängig  von  aller  praktischen  Anwendung  auf  irgendein  mensch- 
liches Tun.  Den  Nutzen  derselben  für  die  Zwecke  des  Handelns  hat  man  zwar 
nie  bestritten.  Aber  aus  dieser  unverkennbaren  Nützlichkeit  derselben  hat  sich 
die  Ansicht  gebildet,  als  sei  sie  nur  eine  formale  Methode,  eine  Hilfswissenschaft, 
deren  Resultate  man  zu  schätzen  wohl  nicht  umhin  kann,  während  das,  was 
den  eigentlichen  Gegenstand  des  forschenden  Mathematikers  bildet,  ein  über- 
p.  Du  Bois-Rey- flüssiges  Spiel  der  Gedanken  sei,  das  keinen  Zusammenhang  mit  der  lebendigen 
monds^h^augurai-  \Yirklichkeit  hat.  Solche  Meinungen  sind  nicht  nur  unter  den  der  Mathematik 
fernerstehenden  Kreisen  verbreitet,  sie  sind  gelegentlich  auch  von  Gelehrten 
unzweifelhaft  hoher  Bedeutung  ausgesprochen.  In  seiner  Inauguralrede  1874 
sagt  P.  Du  Bois-Reymond,  es  sei  Täuschung,  zu  glauben,  daß  die  Arbeit 
des  Mathematikers  von  dem  Wunsche  beseelt  sei,  unsere  Kenntnisse  zu  er- 
weitern, für  die  Praxis  nützliche  Methoden  zu  schaffen.  Auf  die  Frage,  was  sie 
wolle,  erhalte  man  niemals  eine  Antwort,  Kein  Mathematiker  habe  ein  Grund- 
problem, keiner  sehe  ein  Ende  seiner  Forschungen,  die  nur  willkürlich  formu- 
lierte Probleme  seiner  Einbildungskraft  seien.  Seine  Arbeit  sei  schließlich 
nichts  anderes  als  ein  Sport,  dem  des  Alpinisten  oder  des  Schachspielers 
vergleichbar,  allerdings  ein  durch  die  Stille  der  geistigen  Beschaulichkeit  ver- 
edelter. Wie  unrichtig  diese  Auffassung  ist,  der  wir  um  so  mehr  entgegentreten 
möchten,  als  sie  von  einem  Manne  herrührt,  der  sich  selbst  so  ernstlich  um  die 
philosophische  Klärung  der  Grundfragen  der  Mathematik  bemüht  hat,  zeigt 
schon  seine  eigene  Persönlichkeit.  Du  Bois  hatte  gewiß  ein  Grundproblem,  dem 
er  sein  ganzes  Leben  gewidmet  hat,  die  Darstellung  allgemeiner  Funktionen 
durch  Reihen,  und  dieses  hat  er,  beginnend  mit  dem  einfachsten  Falle  der  un- 
bedingt konvergenten  Reihen,  bis  zu  den  weitesten  für  ihn  erreichbaren  Grenzen 
durchgeführt.   Und  sind  nicht  die  Arbeiten  von  Euler,  Lagrange,  Gauß,  Cauchy, 

Unterrichtskommission,  deren  Aufgabe  es  ist,  die  hinsichtlich  der  pädagogischen 
Behandlung  des  mathematischen  Unterrichtes  in  seinem  gesamten  Umfange  in  den  ver- 
schiedenen Staaten  gemachten  Erfahrungen  zu  vergleichen  und  durch  gemeinsame  Be- 
ratungen zu  verwerten. 


Wert  der  mathematischen  Forschung  an  sich.  A  45 

Riemann,  Weierstraß,  Lie,  um  nur  einige  Namen  nicht  mehr  der  Gegenwart 
angehöriger  Mathematiker  zu  nennen,  jedesmal  von  einem  in  voller  Klarheit  sich 
ausprägenden  Grundgedanken  durchzogen?  Jede  Zeile  E u  1  e r  s  ist  beseelt  durch 
die  wunderbare  Klarheit,  mit  der  er  alles,  was  sich  seinem  Geiste  darbot,  dem  ma- 
thematischen Kalkül  zu  unterwerfen  wußte,  gleich  einem  Pionier,  der  in  ein  unbe- 
kanntes Land  vordringt.  Bei  Lagrange  erkennen  wir  die  systematische  Ele- 
ganz, mit  der  er  die  Grundlagen  der  Mechanik,  von  dem  einfachen  Problem  der 
Fallbewegung  bis  zu  den  abstraktesten  Aufgaben  der  Hydrodynamik  mittelst 
der  Variationsrechnung  zu  formulieren  weiß,  während  die  unübertroffene  Uni- 
versalität von  Gauß  mit  gleichförmiger  Kraft  alle  Gebiete  des  Wissens  be- 
reichert. Cauchys  großes  Ziel  war  es,  die  Prinzipien  der  Infinitesimalrechnung 
zu  erforschen  und  zu  neuen  Aufgaben  durch  die  Einführung  des  Imaginären  zu 
befähigen.  In  jeder  Arbeit  Riemanns  erkennen  wir  den  ihm  eigentümlichen 
Gedanken,  das  Wesen  der  Funktion  einer  komplexen  Variabein  durch  ihre 
Grenzbedingungen  zu  definieren,  mag  es  sich  nun  um  die  Theorie  der  algebra- 
ischen Funktionen  oder  um  die  der  Differentialgleichungen  handeln,  während 
Weierstraß  auf  dem  Boden  des  arithmetischen  Funktionsbegriffes  mit  glei- 
cher Schärfe  die  Grundlagen  der  Arithmetik  wie  die  höchsten  Probleme  der 
Analysis  behandelt.  Endlich  ist  es  bei  Lie  der  Begriff  der  Transformations- 
gruppen, d.  h.  der  einer  Gesamtheit  von  analytischen  Operationen,  der  bei 
allen  Zusammensetzungen  dieser  Operationen  untereinander  einen  in  sich 
abgeschlossenen  Inhalt,  einen  ,, Körper"  im  Sinne  der  Algebra  darstellt,  von 
dem  aus  der  ganze  Inhalt  der  Analysis  und  Geometrie  seine  eigentümliche  Be- 
leuchtung erhält:  so  erkennen  wir  überall  das  Vorhandensein  großer  Gedanken, 
in  denen  sich  zugleich  die  Wesenseigentümlichkeit  ihrer  Schöpfer  offenbart.*) 
Freilich  wird  es  auch  viele  Mathematiker  geben,  die,  ohne  von  einer  für  ihre 
Produktionsweise  charakteristischen  Idee  beherrscht  zu  sein,  ihre  Probleme 
den  wechselnden  Anregungen  entnehmen,  welche  ihnen  die  Vertiefung  ihres 
eigenen  Studiums  darbietet.  Aber  auch  sie  leitet  der  Wunsch,  ihr  eigenes 
Wissen  mit  den  großen  Schöpfungen  bevorzugter  Geister  in  Verbindung  zu 
s  etzen. 

Aber  wir  berühren  damit  den  anderen  Einwurf  von  D  u  B  0  i  s.  In  der  Frei- 
heit der  mathematischen  Gedankenbildung,  die  alles,  was  Gegenstand  von  Zahl- 
operationen werden  kann,  ergreift,  scheint  etwas  zu  liegen,  das  an  ein  mehr 
oder  weniger  willkürliches  Spiel  erinnert.  Was  unterscheidet  die  Arbeit  des 
Mathematikers  vom  Spiel.? 

Das  Schachspiel  hat  man  oft  mit  der  Tätigkeit  desselben  verglichen.  Auch  Mathematik 
hier  haben  wir  Symbole,  die  nach  bestimmten  Regeln  miteinander  zu  neuen 
Kombinationen  sich  verbinden;  man  könnte  geradezu  eine  Schachpartie  als 
eine  Reihe  diskreter  Transformationen  ansehen,  bestimmt,  eine  Transformation 
von  vorgeschriebenem  Charakter  hervorzubringen.    Zudem  hat  das  Schach- 

*)  Wir  haben  uns  hier  absichtlich  auf  die  Erwähnung  bereits  verstorbener  Mathematiker 
beschränkt,  ebenso  treffende  Beispiele  ergeben  sich  aber  auch  aus  der  charakteristischen 
Forschungsweise  der  ausgezeichneten  Mathematiker  der  Gegenwart, 


46   A  A.  Voss:  Die  Beziehungen  der  Mathematik  zur  allgemeinen  Kultur. 

spiel  selbst  zu  mathematischen  Problemen  angeregt.  Wir  erinnern  nur  an  die 
magischen  Quadrate  und  Eulerszahlentheoretische  Lösungen  des  Rösselsprunges. 
Eine  mathematische  Theorie  des  Schachspiels  aber  gibt  es  bislang  nicht.  Sie 
würde  voraussetzen,  daß  jeder  Zug  nach  irgendeiner  Regel,  ob  ein-  oder  mehr- 
deutig, bestimmbar  sei.  Damit  würde  aber  der  Charakter  des  Spiels  sich  auf- 
heben. Denn  dieser  beruht  auf  der  Freiheit  des  Handelns,  die  bei  jedem 
Zuge,  wenn  auch  durch  den  kombinierenden  Verstand  geleitet,  möglich  bleibt, 
und  auf  dieser  Freiheit  der  Willensentscheidung  beruht  —  abgesehen  von  der 
Hoffnung  des  Sieges  —  der  wesentliche  Reiz  dieses  Spiels. 

ÄhnHch  dürfte  es  sich  aber  bei  jedem  Spiel,  das  nicht,  wie  die  bloßen 
Glücksspiele,  nur  den  die  Leidenschaften  erregenden  Momenten  der  Zufällig- 
keit seine  Anziehungskraft  verdankt,  verhalten:  Das  Spiel  gewährt  eine 
subjektive,  auf  der  Freiheit  des  Handelns  beruhende  Befrie- 
digung. Ist  auch  hier  mit  diesem  kurzen  Ausdruck  sein  Wesen  nicht  völlig  er- 
schöpft, so  folgt  doch  daraus,  daß  das  Spiel  seinen  Charakter  verliert,  sobald  es 
in  derselben  Weise  wiederholt,  d.  h.  die  Freiheit  des  Willens  dabei  aufgehoben 
wird.  Sein  Verlauf  hat  daher  ledigHch  eine  individuelle  Bedeutung,  die,  nur 
einmal  vorhanden,  mit  seiner  Beendigung  aufhört. 

Ganz  anders  aber  ist  es  bei  der  freien  Schöpfung  mathematischer  Ge- 
danken. Sie  entspringen  wie  ein  Quell  aus  verborgenen  Tiefen,  sie  schreiten 
vielleicht  anfangs  nicht  auf  der  geradesten  Bahn  fort,  aber  allmählich  dringen 
sie  vor  zu  jener  Bestimmtheit,  welche  den  Stempel  einer  allgemeingültigen 
Wahrheit  trägt.  Damit  wird  das,  was  der  oberflächlichen  Betrachtung  zuerst 
als  ein  Spiel  der  Gedanken  erschien,  zu  einer  Erkenntnis,  welche  wiederum 
jeder  durch  erneute  geistige  Arbeit  zu  seinem  Eigentum  machen  kann.  Und  so 
Mathematik  als  e n t s t e h t  ein  unverlierbares  geistiges  Besitztum  der  Menschheit, 
"  geutigen"*"^  welchcs  ZU  pflegen  und  zu  fördern  uns  eine  höhere  sittliche  Verpflichtung  ge- 
schttpfung.  bietet.  Wer  könnte  verkennen,  daß  in  diesem  Reich  der  Gedanken,  das,  für 
jeden  zugänglich,  jeder  auf  seine  Weise  entwickeln  kann,  sich  in  der  reinsten 
Form  der  Trieb  des  Geistes  offenbart,  sich  seiner  eigenen  Kraft  bewußt  zu 
werden? 

Daß  diese  Arbeit  aber  auch  den  allgemeinsten  Interessen  der  Kultur  dient, 
lehrt  die  Geschichte.  Hätten  die  Griechen,  unbekümmert  um  eine  praktische 
Anwendung,  nicht  die  Theorie  der  Kegelschnitte  entwickelt,  so  würde  Kepler 
wohl  kaum  das  Geheimnis  der  Planetenbewegung  enträtselt  haben.  Ohne  das 
ganz  abstrakte  Prinzip  der  virtuellen  Geschwindigkeiten,  ohne  die  Theorie  der 
Funktionen  komplexer  Zahlen  läßt  sich  kaum  eine  Untersuchung,  sei  es  in  der 
Mechanik,  der  Hydrodynamik,  der  Elektrizitätslehre  durchführen.  Die  Theorie 
der  linearen  Differentialgleichungen,  rein  mathematisch  zunächst  ohne  Be- 
ziehung auf  direkte  physikalische  Anwendung,  ist  heute  zum  unentbehrlichen 
Rüstzeug  für  den  theoretischen  Physiker  geworden  und  die  Untersuchungen 
Poincar^s  über  Integralinvarianten  und  asymptotische  Lösungen  haben  der 
Mechanik  des  Himmels  ganz  neue  Gesichtspunkte  eröffnet.  Auch  von  der 
Mathematik  gilt  das  Wort  W.  von  Humboldts:  ,, Die  Wissenschaft  gießt  oft 


Internationale  Verbreitung  der  Mathematik.  A   47 

dann  ihren  reichsten  Segen  über  das  Leben  aus,  wenn  sie  sich  von  demselben 
gleichsam  zu  entfernen  scheint." 

Eher  mag  man  den  objektiven  Wert  der  Mathematik  mit  dem  der  künst- 
lerischen Tätigkeit  vergleichen.  Ursprünglich  dient  auch  die  Kunst  der  sub- 
jektiven Befriedigung,  aber  darüber  hinaus  erhebt  sie  sich  zu  Schöpfungen,  in 
denen  wir  eine  Offenbarung  der  höchsten  produktiven  Kraft  erkennen.  Auch 
diese  liegen  nicht  auf  der  Oberfläche,  aber  sie  werden  für  jeden,  der  ihrem  Ge-  Mathematische 
halt  mit  Sorgfalt  zu  folgen  vermag,  zu  einer  Quelle  der  Erhebung  über  das  Ir- ""  Prödukriom'"' 
dische,  der  niemand  einen  objektiven  Wert  absprechen  wird.  Ein  klassisches 
Kunstwerk  ist  der  adäquate  Ausdruck  eines  Ideals,  dem  kein  Strich  hinzu- 
gefügt noch  genommen  werden  kann,  ohne  den  Charakter  des  Ganzen  in  Frage 
zu  stellen.  Dasselbe  Merkmal  einer  in  sich  ruhenden  Vollkommen- 
heit aber  tragen  auch  die  mathematischen  Theorien.  Und  mit  der  schaffenden 
Kunst  teilt  die  Mathematik  auch  den  divinatorischen  Charakter.  Neue 
mathematische  Gedanken  und  Erkenntnisse  fundamentaler  Art  entspringen  in 
den  meisten  Fällen  einer  unmittelbaren  Intuition,  deren  exakte  Begründung 
die  weitere  Arbeit  des  Forschers  ist.  So  ist  die  Mathematik  nicht  nur  eine  bloß 
formale  Wissenschaft,  eine  Eidologie,  welche  alles  sub  specie  matheseos  be- 
trachten lehrt,  sondern  sie  hat  auch  einen  objektiv  wertvollen  Inhalt,  als  ein 
Reich  der  Gedanken,  das  in  vollendeter  Harmonie  die  einfachsten  und  abstrak- 
testen Gebilde  des  Verstandes  lückenlos  verbindet,  als  eine  Offenbarung  des 
Geistes,  die  immer  reicher  zu  entfalten  eine  der  würdigsten  Aufgaben  unseres 
Geschlechtes  bildet. 

Dieser  universellen  Bedeutung  der  Mathematik  entspricht  nun  auch  ihre  internationale 
internationale  Verbreitung.  Während  diese  im  1 8.  Jahrhundert  sich  noch  ^"ilthcraatik!" 
fast  ganz  auf  die  Akademien  Europas  beschränkte,  regt  sich  um  die  Wende  des- 
selben die  Kraft  zu  einer  weit  allgemeineren  Produktion  in  besonderen  mathe- 
matischen Zeitschriften.  Die  Geschichte  dieser  schon  ein  Jahrhundert 
umfassenden  Literatur  verdiente  wohl  eine  ausführlichere  Behandlung;  hier 
können  nur  einzelne  Züge  derselben  angedeutet  werden.  Den  Anfang  machen 
in  Frankreich  nach  der  Gründung  des  Journals  de  l'Ecole  Polytechnique 
1796  die  Gergonneschen  Annalen  1804,  dann  das  Liouvillesche  Journal  1836, 
die  Nouvelles  Annales  1842,  die  Annales  de  l'Ecole  Normale  1865,  die  Bulletins 
des  Sciences  math.  von  Darboux  und  der  Soci^t^  math.  de  France,  mit  denen 
sich  die  1835  begründeten  Comptes  Rendus  de  l'Acad^mie  des  sciences  verbinden. 
In  Deutschland  entstehen  nach  dem  unter  Hindenburg  in  Leipzig  gemachten 
Anfange(l78i)dasCrellescheJournali826,das  Archivfür  Mathematik  und  Physik 
1843,  die  Zeitschrift  für  Mathematik  und  Physik  1856,  die  Mathematischen 
Annalen  1869,  die  Zeitschrift  für  mathematischen  und  naturwissenschaftlichen 
Unterricht  1870.  Besonders  bedeutungsvoll  erscheint  auch  der  mathe- 
matische Inhalt  der  in  den  Schriften  der  Akademien  und  gelehrten  Gesell- 
schaften von  Berlin,  Göttingen,  Heidelberg,  Leipzig  und  München  veröffent- 
lichten Arbeiten.  In  Österreich  finden  wir  neben  den  Berichten  der 
Wiener  Akademie  die  Monatshefte  für  Mathematik  und  Physik  (1890),  denen 


48   A  A.  Voss:  Die  Beziehungen  der  Mathematik  zur  allgemeinen  Kultur. 

sich  wieder  die  zahlreichen  Veröffentlichungen  in  Ungarn  anreihen.  In 
England  erscheinen  neben  dem  Philosophical  Magazine,  den  mathematischen 
Journalen  von  Cambridge  1839,  sowie  Cambridge  und  Dublin  1856,  dem  Quarterly 
Journal,  den  Proceedings  der  London  Math.  Society  noch  eine  ganze  Reihe  von 
Transactions  der  Akademien  von  London,  Edinburgh,  Cambridge,  Dublin.  In 
Italien  werden  1850  die  Annali  di  Scienze,  1858  die  Annali  di  matematica, 
1863  das  Giornale  di  matematiche,  1888  die  Rendicontidi  Palermo,  1891  die  Ri- 
vista  di  matematica  begründet,  daneben  enthalten  die  zahlreichen  Akademien 
eine  große  Literatur.  In  Rußland  entsteht  1866  die  Moskauer  mathematische 
Gesellschaft,  zu  der  die  Arbeiten  der  mathematischen  Gesellschaften  in  Char- 
kow, Kiew,  Kasan,  Warschau  hinzukommen. 

Auch  die  übrigen  Staaten,  Dänemark  mit  dem  Nyt  Tidsskrift  for 
Matematik,  Schweden  mit  seinen  Acta  mathematica  1882,  den  stamm- 
verwandten Acta  societatis  Fennicae,  der  Bibliotheca  mathematica  und  den 
Schriften  von  Upsala  und  Lund;  Norwegen,  Holland  mit  seinen  ver- 
schiedenen Archiven  und  die  Schweiz  bleiben  nicht  zurück;  selbst  Indien  und 
weit  bedeutungsvoller  Japan  tritt  in  Wettbewerb  mit  den  Arbeiten  der  alten 
Welt.  Und  Nordamerika  hat  sich  eine  ausgebreitete  Literatur  in  dem  Ameri- 
can Journal,  den  Annais  of  Mathematics,  dem  Bulletin  und  den  Proceedings  der 
mathematischen  Gesellschaft,  den  Transactions  seiner  großen  Universitäten 
geschaffen. 

Gegenwärtig  erscheinen  gegen  140  vorwiegend  rein  mathematischen 
Zwecken  gewidmete  Zeitschriften,  der  kleineren  periodischen,  mehr  einem  lokalen 
Bedürfnisse  entsprechenden  Publikationen  nicht  zu  gedenken.  Es  wäre  eine 
interessante  Aufgabe,  in  dieser  gewaltigen  Produktion,  für  die  das  Jahrbuch 
der  Fortschritte  der  Mathematik  seit  1868,  die  große  deutsche  und 
französische  mathematische  Enzyklopädie  der  mathematischen 
Wissenschaften,  die  allgemeinen  Enzyklopädien  Englands  und 
Amerikas  eine  überaus  wertvolle  Übersicht  bieten,  die  besonderen  mathe- 
matischen Interessen  aufzusuchen,  in  denen  die  wissenschaftlichen  Richtungen 
der  verschiedenen  Nationen  zum  Ausdruck  kommen. 

In  dieser  allgemeinen  Verbreitung  der  Mathematik,  welche  in  Deutsch- 
land durch  die  seit  1822  bestehende  Naturforscherversammlung,  durch 
die  1890  gegründete  Deutsche  Mathematiker- Vereinigung,  dann  durch 
internationale  Kongresse  (seit  1897)  ein  erhöhtes  Leben  im  persönlichen 
Gedankenaustausch  erhalten  hat,  erkennen  wir  ebenfalls  die  hohe  Bedeutung, 
welche  der  Mathematik  in  der  Kultur  der  Gegenwart  zukommt.  So  nimmt 
die  mathematische  Gedankenwelt,  überall  dieselbe  dem  Fachmanne  ver- 
ständliche Sprache  redend,  über  allen  Streit  ihrem  inneren  Wesen  nach  er- 
haben, unberührt  von  den  Sonderinteressen,  welche  den  Frieden  der  Nationen 
zu  stören  drohen,  in  dem  gesamten  Reich  der  kulturellen  Bestrebungen  und 
damit  in  der  fortschreitenden  Entwickelung  des  Menschengeschlechtes  eine 
ganz  hervorragende  Stelle  ein. 


Literatur. 

M.  Pasch,  Über  den  Bildungswert  der  Mathematik,  Festrede,  Gießen  1874;  H.  Thieme, 
Der  Bildungswert  der  Mathematik,  Pädagogisches  Archiv  1897,  Bd.  39;  F.  Linde>lann, 
Lehren  und  Lernen  in  der  Mathematik,  Festrede,  München  1904;  F.  Klein,  Vorträge  über 
mathematischen  Unterricht  an  den  höheren  Schulen,  bearbeitet  von  R.  Schimmack,  Leipzig  1907 ; 
A.  GxJTZ.\rER,  Die  Tätigkeit  der  Unterrichtskommission  der  Gesellschaft  Deutscher  Natur- 
forscher und  Ärzte,  Leipzig  1908;  M.  SiMON,  Didaktik  und  Methodik  des  Rechnens  und  der 
Mathematik,  2  Auflage,  München  1908;  M.  Simon,  Geschichte  der  Mathematik  im  Altertum 
in  Verbindung  mit  antiker  Kulturgeschichte,  Berlin  1909;  M.  Cantor,  Vorlesungen  über 
Geschichte  der  Mathematik,  4  Bde.  1901 — 1907;  A.  Höfler,  Didaktik  des  mathematischen 
Unterrichts,  Leipzig  und  Berlin  1910. 

H.  Hankel,  Die  Entwicklung  der  Mathematik  in  den  letzten  Jahrhunderten,  (1869), 
2.  Auflage,  Tübingen  1884;  J.  J.  Sylvester,  Report  of  the  British  Association  1869;  A.  R. 
FORSVTH,  ebenda  1898;  P,  DU  Bois-Reymond,  Was  will  die  Mathematik  und  was  will  der 
Mathematiker,  Rede,  Tübingen  1874,  Berichte  der  Deutschen  Mathematiker -Vereinigung 
Bd.  19,  1910;  W.  VON  Dyck,  Über  die  wechselseitigen  Beziehungen  zwischen  der  reinen 
und  angewandten  Mathematik,  Festrede,  München  1891;  E.Jahnke,  mathematische  Forschung 
und  Technik,  Festrede,  Berlin  1910;  A.  Pringsheim,  Über  den  Wert  und  angeblichen  Un- 
wert der  Mathematik,  Festrede,  München  1904;  P.  Stäckel,  Geltung  und  Wirksamkeit 
der  Mathematik,  Festrede,  Karlsruhe  19 10,  Berichte  der  Deutschen  Mathematiker- Vereinigung 
Bd.  20,  19 10. 

W.  Whewell,  History  of  the  inductive  sciences,  London  1857;  J.  Th.  Merz,  A 
History  of  European  Thought  in  the  XIX  Century,  2.  vols,,  Edinburgh  1903;  E  PiCARD, 
La  science  moderne  et  son  etat,  Paris  1905;  H.  Poincare,  Wissenschaft  und  Hypothese, 
Deutsche  Ausgabe  von  F.  und  L.  Lindemann,  2.  Auflage,  Leipzig  1906;  H.  Poincare,  der 
Wert  der  Wissenschaft,  deutsch  von  E.  und  H.Weber,  Leipzig  1906;  M.Planck,  Das  Prinzip 
der  Erhaltung  der  Energie,  2.  Auflage,  Leipzig  1908;  W.  VoiGT,  Über  Arbeitshypothesen, 
Göttinger  Nachrichten,  Geschäftliche  Mitteilungen,  1905,  Heft  2;  P.  Volk>l\nn,  Erkenntnis- 
theoretische Grundzüge  der  Naturwissenschaften,  Leipzig,  1906;  E.  Mach,  Die  Mechanik  in 
ihrer  Entwicklung  historischkntisch  dargestellt,  6.  Auflage,  Leipzig  1908;  L.  QUETELET, 
Physique  Sociale,  1869;  G.Th.Fechner,  Kollektivmaßlehre,  herausgegeben  von  G.F.Lipps,  1907, 
H.  Bruns,  Wahrscheinlichkeitsrechnung  und  Kollektivmaßlehre,  Leipzig  und  Berhn,  1906; 
G.  F.  LiPPS,  Die  psychischen  Maßmethoden,  Leipzig,  1906;  E.  Czuber,  Wahrscheinhchkeits- 
rechnung  und  ihre  Anwendung  auf  Fehlerausgleichung,  Statistik  und  Lebensversicherung, 
2  Bde,  Leipzig  1908,  1910;  K.  E.  Ranke,  Theorie  der  Korrelation,  Archiv  für  Anthropologie, 
Bd.  32,  1906;  W.  Betz,  Über  Korrelation,  Zeitschrift  für  angewandte  Psychologie,  Beihefte,  3, 
Leipzig  191 1;  O.  Klemm,  Geschichte  der  Psychologie,  Leipzig,  1911. 

H.  St.  Chamberlain,  Die  Grundlagen  der  Kultur  des  XIX.  Jahrhunderts,  München  1906; 
S.  Günther,  Geschichte  der  Naturwissenschaften,  Leipzig  1909;  C.  G.  J.  Jacobi,  Über  Des- 
cartes'  Leben,  Gesammelte  Abhandlungen,  Bd.  VII;  H.  Cohen,  Piatons  Ideenlehre  und  die 
Mathematik,  Marburg,  1878;  J.  F.  Fries,  Die  mathematische  Naturphilosophie,  Heidelberg,  1822; 
W.  Lexis,  Das  Wesen  der  Kultur,  Kultur  der  Gegenwart,  Bd.  I;  C.  Stumpf,  Zur  Einteilung 
der  Wissenschaften,  Abhandlungen  der  Berliner  Akademie,  1906;  E.  Kassirer,  Kant  und  die 
moderne  Mathematik,  Kantstudien  XII,  Berlin  1901;  Derselbe,  Das  Erkenntnisproblem  in 
der  Philosophie  und  Wissenschaft  der  neueren  Zeit,  Berlin  1907;  Derselbe,  SubstanzbegrifT 
imd  Funktionsbegriff,  Berlin  19 10. 

K.  4  G.  ItL  I  Mathematik,  A.  a 


DIE  VERBREITUNG  MATHEMATISCHEN  WISSENS 
UND  MATHEMATISCHER  AUFFASSUNG. 

Von  H.  E.  Timerding  in  Braunschweig. 

Einleitung. 

Aufgabe  Die  Aufgabe  der  folgenden  Auseinandersetzungen  ist  von  einer  Dar- 

stellung der  mathematischen  Wissenschaften  in  ihren  Grundzügen  oder  ihren 
Einzelheiten  wesentlich  verschieden.  Wir  bringen  keine  mathematischen  Lehr- 
sätze und  Formeln,  wir  wenden  uns  auch  an  den,  dem  die  Mathematik  seit  seiner 
Schulzeit  fremd  geworden  ist.  Wir  haben  hier  nicht  die  Ergebnisse  der  mathe- 
matischen Forschung  an  sich  zu  betrachten,  sondern  nur  die  Früchte  zu  suchen, 
welche  aus  dieser  Forschung  der  Allgemeinheit  ersprießen.  Wir  haben  dem- 
nach zu  verfolgen,  in  wieweit  mathematische  Kenntnisse  und  mathematische 
Denkweise  Bedeutung  gewinnen  für  das,  was  nach  der  gerade  herrschenden 
Auffassung  als  Bildung  gilt. 
Zwei«5riei  Wir  habcu  aber  zu  unterscheiden  zwischen  der  Bildung,  die  zur  Ausübung 

"°^  eines  bestimmten  Berufes  nötig  ist,  und  der  Bildung,  die  wir  unabhängig  von 
der  Besonderheit  des  Berufes  rein  um  ihrer  selbst  willen  erstreben,  durch  die 
wir  alle  unsere  Lebensbetätigungen  verklären  und  vertiefen  wollen.  Die  Rö- 
merhaben für  diese  Läuterung  und  Veredlung  des  geistigen  Lebens  das  Wort 
humanitas  geprägt  und  als  Humanismus  hat  sich  auch  die  neuzeitliche  Be- 
wegung bezeichnet,  die  auf  der  Grundlage  des  klassischen  Altertums  die 
Schaffung  eines  höheren  Menschentums  erstrebte. 

Der  Scheidung  der  Bildung  in  Fachbildung  und  Allgemeinbildung  ent- 
spricht auch  die  Trennung  der  Fachschulen  und  der  Allgemeinschulen ,  beide 
Arten  in  den  verschiedenen  Stufen,  die  wir  als  niedere,  höhere  und  Hoch- 
schulen kennzeichnen.  Die  Fachschulen  dienen  der  Ausbildung  zu  einem  be- 
stimmten Berufe,  ihnen  geht  die  Erziehung  einer  Allgemeinschule  vorauf; 
nach  der  Stufe  der  Fachschule  richtet  sich  auch  die  Stufe  der  Vorbildung. 
steUung  Die  Mathematik  spielt  nun  eine  Rolle  sowohl  an  den  Fachschulen  wie 

innerh^*'    ^.n  den  Allgemeinschulen.  Das  eine  ist  sehr  leicht  erklärlich,  das  andere  er- 
der Gesamtheit  scheint  nicht  so  unmittelbar  verständlich.  Denn  mathematische  Hilfskenntnisse 

de^  Untemcnts. 

sind  für  bestimmte  Berufszweige  unentbehrlich,  und  wenn  vielfach  auch  die 
mathematischen  Bestandteile  der  Ausbildung  das  Bestreben  haben,  in  der 
eigentlichen  fachlichen  Belehrung  aufzugehen,  und  wenn  diese  Tendenz  auch 
wenigstens  bei  uns  in  Deutschland  durch  das  von  vielen  Seiten  mit  großer 
Heftigkeit  betriebene  Zurückdrängen  einer  geordneten  mathematischen  Un- 
terweisung stark  gefördert  wird,  so  bleiben  die  mathematischen  Bestandteile 


Einleitung.  A  51 

der  Ausbildung  doch  auch  in  der  engen  Verschmelzung  mit  dem  Fachstudium 
deutlich  erkennbar  bestehen. 

Dagegen  ist  die  Rolle,  welche  die  Mathematik  in  der  Allgemeinbildung 
spielt,  nicht  so  leicht  zu  begreifen ,  wenn  man  die  Schwierigkeit  bedenkt, 
welche  die  Mitteilung  mathematischer  Kenntnisse  bietet,  und  die  Abneigung 
berücksichtigt,  welche  in  den  Kreisen  der  Gebildeten  gegen  die  Abstraktheit 
und  Schwerverständlichkeit  des  mathematischen  Wissens  besteht.  Es  könnte 
scheinen,  daß  die  Mathematik  nur  in  passender  Beschränkung  und  Aus- 
wahl für  die  Berufe,  die  ihrer  nicht  entraten  können,  und  im  vollen  Umfang 
für  solche  Menschen,  die  durch  Begabung  und  Neigung  auf  sie  hingewie- 
sen werden,  bestimmt  sei.  Dem  widersprechen  die  Tatsachen  aber  durchaus. 
Die  Mathematik  nimmt  in  der  Allgemeinbildung  unserer  Zeit  eine  hervor- 
ragende und  unbestrittene  Stellung  ein.  Diese  Stellung  zu  erklären,  wird  un- 
sere erste  Aufgabe  sein.  Über  die  fachliche  Verwendung  der  Mathematik  läßt 
sich  nicht  viel  sagen,  ohne  in  mathematische  Einzelheiten  einzugehen  und 
damit  ein  Verständnis  für  das  ganze  Lehrgebäude  der  Mathematik  vorauszu- 
setzen. Diese  Verwendung  hat  wohl  ein  großes  Interesse  für  die  an  dem  fach- 
lichen Unterrichtswesen  beteiligten  Personen,  aber  den  weiteren  Kreisen  der 
Gebildeten,  an  die  sich  unsere  Darstellung  wendet,  liegt  sie  viel  ferner  als  die 
Rolle,  welche  die  Mathematik  in  der  Allgemeinbildung  spielt. 

Die  Hauptfrage,  die  uns  zunächst  beschäftigen  muß,  ist  die:  Wie  ist  es 
möglich,  von  der  Mathematik  als  einem  besonderen  und  durchaus  wesent- 
lichen Element  der  allgemeinen  Bildung  unserer  und  vergangener  Zeiten  zu 
sprechen?  Ist  diese  mathematische  Bildung  etwas  von  der  mathematischen 
Forschung  Getrenntes  und  neben  dieser  Hergehendes,  oder  ist  sie  nichts  wie 
ein  unmittelbarer  Ausfluß  der  mathematischen  Forschungsarbeit?  Ist  das  erste 
der  Fall,  so  ist  es  in  der  Tat  gerechtfertigt,  die  mathematische  Bildung  neben 
der  mathematischen  Forschung  besonders  zu  behandeln.  Fällt  aber  mathema- 
tische Bildung  und  mathematische  Forschung  im  Wesen  zusammen,  so  würde 
es  überflüssig,  ja  verkehrt  sein,  beides  voneinander  in  der  Darstellung  zu 
trennen. 

Es  ist  nicht  ganz  leicht,  hier  die  richtige  Antwort  zu  finden.   Der  Begriff 
der  mathematischen  Bildung  als  eines  Teils  der  Allgemeinbildung  ist,  nach- 
dem er  in  den  Zeiten  der  Pythagoreer  so  einfach  und  natürlich  schien,  heute 
viel  umstritten  und  keineswegs  fest  umrissen.  Ihm  wird  auch  von  Seiten  der 
Mathematiker,  weil  ihnen  nur  die  eigentliche  Forschungsarbeit  am  Herzen 
liegt,  meistens  wenig  Aufmerksamkeit  geschenkt.  Dennoch  ist  es  klar,  daß, 
wenn  die  Mathematik  einen  Hauptlehrgegenstand  unserer  allgemeinen  Schu- 
len bildet,  sie  auch  eine  allgemeine  Bedeutung  und  ein  allgemeines  Interesse     Bedeutung 
besitzen  muß.  Besteht  dieses  Interesse  nun  einfach  in  einer  größeren  oder  tiscLn^BUd^ng 
geringeren  Anteilnahme  an  der  mathematischen  Forschungsarbeit?  Man  wird       ^""^  '^■«  . 
zunächst  versucht  sein,  darauf  unbedingt  mit  Ja  zu  antworten.  Es  erscheinen 
nämlich  nur  zwei  Möglichkeiten.  Entweder  bleibt  der  Unterricht  auf  einem 
früheren  Stadium  der  mathematischen  Erkenntnis  stehen,  das  der  Fassungs- 

4^ 


52  A    H.  E.  Timerding:  Die  Verbreitung  mathemat.  Wissens  u.  mathemat.  Auffassung. 

kraft  des  Schülers  gerade  angepaßt  ist,  oder  aber  man  sucht  auch  aus  den 
neueren  Untersuchungen  immer  noch  Früchte  für  den  Unterricht  zu  ernten, 
indem  man  zwar  nicht  alle  die  Gebiete  behandelt,  die  der  Forschung  erschlossen 
worden  sind,  aber  doch  die  Klärung  der  Auffassung  und  die  wesentlichen  Be- 
griffe, zu  denen  die  Forschung  geführt  hat,  im  Unterricht  mitzuteilen  sucht. 
Diese  zweite  Auffassung  ist  unbedingt  herrschend  in  unserem  Universitäts- 
unterricht, wo  die  weitgehende  Spezialisierung  des  Studiums  eine  wirkliche 
mathematische  Fachbildung  möglich  macht.  Aber  im  Schulunterricht  und 
selbst  in  einzelnen  Universitätsvorlesungen  findet  man  doch  meist  die  be- 
quemere Auffassung  vertreten,  daß  man  bei  einer  bestimmten  Epoche  der 
Entwicklung  stehen  bleiben  und  alles  ignorieren  darf,  was  später  geleistet  ist, 
auch  die  daraus  folgende  Umwandlung  der  Grundanschauungen.  Ein  deutliches 
Beispiel  hierfür  ist  die  Schulgeometrie,  die  zum  Teil  immer  noch  auf  dem  Lehr- 
werke des  Euklid  fußt.  In  England  bilden  heute  noch  Euklidübersetzungen 
gebräuchliche  Lehrbücher.  Aber  auch  unsere  deutschen  Lehrbücher  haben 
erst  in  der  jüngsten  Zeit  angefangen,  sich  von  dem  Euklidischen  Vorbilde 
freizumachen.  Nicht  viel  anders  ist  es  mit  dem  arithmetischen  Unterricht, 
wenn  auch  hier  die  Vorbilder  nicht  so  alten  Datums  sind.  Es  ist  hauptsächlich 
die  aus  dem  1 8.  Jahrhundert  stammende  Anleitung  zur  Algebra  von  Leonhard 
Euler,  die  ihren  Einfluß  ausübt.  Dieser  Einfluß  ist  indessen  darum  bedenk- 
lich, weil  Euler  zwar  ein  großer  Mathematiker  gewesen  ist,  aber  über  die 
Grundbegriffe  der  Mathematik  Anschauungen  gehabt  hat,  die  wohl  seiner  Zeit 
gemäß,  jedoch  gegenwärtig  längst  überwunden  sind.  Dazu  gehört  z.  B.,  daß 
die  Teilung  der  Zahlen  mit  der  Teilung  eines  materiellen  Quantums  ver- 
wechselt wird,  kurz  gesagt,  die  metrische  Auffassung  der  Zahlen.  Auch 
die  ganze  Hierarchie  der  arithmetischen  Operationen,  wie  sie  von  der  Addition 
anfangend  der  Reihe  nach  aufeinander  aufgebaut  und  auseinander  hergeleitet 
werden,  geht  wesentlich  auf  Euler  zurück.  So  scheint  tatsächlich  der  mathe- 
matische Schulunterricht  ein  früheres  Stadium  der  mathematischen  Forschung 
widerzuspiegeln. 
Verhältnis  des  Es  Ist  abcr  ein  Irrtum  zu  glauben,  daß  die  letzten  und  wichtigsten  Er- 

unterrichts  zur  gebuissc  der  mathcmatischcn  Forschung  nicht  doch  jedem  Unterrichte  zugute 
mathematischen  kommcu  könncn.  Denn  sie  lieg-en  nicht  in  den  lanefwierigren  und  nur  nach 

Forschung.  o  ö  ö 

gründlicher  Schulung  verständlichen  Entwicklungen,  zu  denen  die  immer 
weitergehende  Anhäufung  des  Forschungsmaterials  führt,  sondern  in  der  Aus- 
bildung der  Grundanschauungen,  die  schließlich  aus  der  ganzen  Forschungs- 
arbeit als  etwas  an  sich  höchst  Einfaches  hervorgehen.  Wenn  man  die  Brüche 
nicht  als  Stücke  eines  Ganzen,  wie  sie  durch  mechanische  Teilung  hervor- 
gehen, auffaßt,  sondern  als  Zahlenpaare,  die  analogen  Rechenregeln  unter- 
worfen werden  wie  die  einfachen  Zahlen,  so  klingt  das  gewiß  sehr  schlicht 
und  klar,  und  doch  war  eine  weitgehende  Entwicklung  der  arithmetischen 
Wissenschaft  notwendig,  um  eine  solche  Auffassung  zu  begründen. 

Freilich  wird  man  unter  Umständen  sehr  schwere  Bedenken  dagegen 
haben,  die  definitive  wissenschaftliche  Auffassung  auch  in  den  Elementar- 


Einleitung.  J^  e7 

Unterricht  zu  übertragen.  Man  wird  eine  andere,  an  sich  unvollkommenere 
Auffassung  häufig  als  die  pädagogisch  wertvollere  bevorzugen,  man  wird  dem 
Schüler  nicht  gleich  die  volle  Abklärung  der  Begriffe  mitteilen,  sondern  wird  sie 
sich  erst  allmählich  in  dem  Geiste  des  Schülers  selbst  ausbilden  lassen.  Manches, 
woran  die  mathematische  Forschung  gleichgültig  vorübergeht,  ist  von  großer 
Bedeutung  für  den  Unterricht;  wir  brauchen  nur  an  die  psychologische  Seite 
zu  denken.  Damit  aber  kommen  wir  zu  einer  Ansicht,  die  den  mathematischen 
Unterricht  nicht  einfach  als  Ausfluß  des  gegenwärtigen  Zustandes  der 
mathematischen  Forschung  erscheinen  läßt,  sondern  ihm  seine  besonderen 
Regeln  und  Gesetze  zuschreibt.  Er  wird  dadurch  etwas,  was  neben  der  mathe- 
matischen Forschimg  hergeht  und  neben  ihr  ein  gesondertes  Dasein  fährt,  und 
deshalb  ist  auch  die  Darstellung  des  mathematischen  Unterrichtes  etwas, 
was  zu  der  Darstellung  der  mathematischen  Forschung  ergänzend  hinzu- 
treten muß. 

Es  ist  nun  offenbar,  daß  der  Gebrauch,  den  man  von  der  Mathematik  zweck- 
machen  will,  die  Art  ihrer  Behandlung  von  Grund  aus  bestimmen  muß  und  darum  ^^^"^^^^chZ 
die  Mathematik,  wo  sie,  wie  in  der  fachlichen  Ausbildung,  ihrer  praktischen  Unterricht. 
Verwendung  halber  getrieben  wird,  ganz  anders  zu  unterrichten  ist,  als  wo 
sie  als  Bestandteil  der  allgemeinen  Bildung  auftritt.  Bei  der  praktischen  Auf- 
gabe handelt  es  sich  allein  darum,  aus  dem,  was  als  gegeben  vorliegt,  das, 
was  gesucht  ist,  mit  hinreichender  Genauigkeit  und  in  gebrauchsfertiger  Form 
abzuleiten.  Auf  je  einfachere  und  bequemere  Weise  dies  gelingt,  um  so  besser 
ist  die  Lösung  der  Aufgabe.  Die  Freude  an  der  mathematischen  Entwick- 
lung selbst  muß  ganz  zurücktreten  gegenüber  dem  Bestreben,  die  aufzuwen- 
dende rechnerische  oder  zeichnerische  Arbeit  auf  ein  Mindestmaß  zu  beschrän- 
ken. Dementsprechend  braucht  auch  der  künftige  Praktiker  nicht  zu  lernen, 
was  nie  für  ihn  von  Bedeutung  sein  kann.  Wollte  man  ihn  auf  die  verschlun- 
genen Pfade  der  Spekulation  führen,  so  würde  er  sich  auf  ihnen  nur  verirren 
und  von  seinem  Ziele  abkommen.  Anders  liegt  der  Fall,  wo  nicht  der  Ge- 
danke einer  beruflichen  Verwertung  des  Gelernten  die  Führung  hat  Hier 
wird  die  praktische  Ausführung  verhältnismäßig  gleichgültig,  wenn  auch  ein 
gewisses  Eingehen  auf  sie  durch  die  Förderung  des  praktischen  Sinnes,  die 
überall  zu  erstreben  ist,  geboten  wird.  Dagegen  gewinnt  die  prinzipielle  Er- 
kenntnis eine  entscheidende  Bedeutung.  Die  Schüler  unserer  allgemeinen 
Schulen  sollen  nicht  lernen.  Brücken  zu  berechnen,  Maschinen  zu  konstru- 
ieren und  Straßenzüge  abzustecken,  sie  sollen  höchstens  einen  Begriff  davon 
bekommen,  aufweichen  wissenschaftlichen  Grundlagen  dies  geschieht,  dafür 
aber  soll  ihnen  die  allgemeine  Bedeutung  der  mathematischen  Begriffe  und 
Gesetze  in  einer  ihrem  Fassungsvermögen  und  ihrer  Gesamtbildung  ange- 
paßten Weise  klargemacht  werden. 

So  einfach  und  einleuchtend  das  alles  klingt,  so  ungeheuer  schwer  ist  es 
doch  im  einzelnen  durchzuführen.  Viel  leichter  und  einfacher  ist  es,  den  mathe- 
matischen Schulunterricht  so  zu  handhaben,  daß  er  eine  zweckmäßige  Vor- 
bereitung für  diejenigen  Schüler  bildet,  die  später  die  Mathematik  für  ihren 


54  A.    H.  E.  Timerding :  Die  Verbreitung  mathemat.  Wissens  u.  mathemat.  Auffassung. 

Lebensberuf  gebrauchen.  So  wird  er  auch  noch  vielfach  betrieben.  Wir  stehen 
eben,  was  das  mathematische  Bildungswesen  betrifft,  erst  am  Anfang  einer 
neuen  Entwicklung.  Die  Grundlage  dieser  Entwicklung  muß  aber  die  Er- 
kenntnis sein,  daß  dem  mathematischen  Unterricht  nicht  eine  bestimmte  Bahn 
vorgezeichnet  ist,  die  er  notwendigerweise  gehen  muß  und  die  für  alle  Schul- 
gattungen dieselbe  ist.  Was  der  Schüler  einer  höheren  Lehranstalt  aus  dem 
mathematischen  Unterricht  mit  ins  Leben  hinausnimmt,  sollen  nicht  wie  beim 
Schüler  einer  Fachschule  bestimmte  Kenntnisse  sein,  die  ihn  befähigen,  die 
Aufgaben  seines  Berufes  gehörig  zu  beherrschen,  indem  er,  wo  sie  einer 
mathematischen  Lösung  bedürfen,  diese  Lösung  zu  finden  lernt,  es  ist  vielmehr 
eine  bestimmte  Art,  die  Wirklichkeit  aufzufassen.  Mathematische 
Rechnungen  wird  das  Leben  selten  verlangen,  wohl  aber  eine  Fähigkeit  des 
Ausbreitung  des  mathematischen  Denkens,  Die  Ausbreitung  der  mathematischen  Auffassungs- 

"^DeriTeM!^  ''"  weise  ist  für  uns  daher  fast  wichtiger  als  die  Ausbreitung  der  einzelnen  mathe- 
matischen Kenntnisse.  Die  mathematische  Auffassungsweise  bedeutet  die  Aus- 
übung einer  analysierenden  Tätigkeit  des  Verstandes,  an  der  die  vollständige 
Aufnahme  eines  gegebenen  empirischen  Materials,  seine  lückenlose  logische 
Verbindung  und  die  absolute  Sachlichkeit,  die  Unabhängigkeit  von  allen 
persönlichen  Meinungen  und  Empfindungen  die  entscheidenden  Merkmale 
sind.  Es  ist  die  Quintessenz  des  „bien  raisonner",  das  Friedrich  der  Große 
im  Sinne  der  Aufklärung  als  Grundlage  der  ganzen  Erziehung  hingestellt 
wissen  wollte. 

Die  Ausbreitung  des  mathematischen  Denkens  ist  aber  keineswegs  auf 
den  Unterricht  in  der  Schule  beschränkt,  sie  wird  ebensogut  auch  auf  dem 
Wege  der  literarischen  Veröffentlichung  erreicht.  Ja  lange  Zeit  ist  diese  Art 
der  Mitteilung  der  Hauptweg  gewesen,  auf  den  die  Verbreitung  der  mathe- 
matischen Wissenschaft  angewiesen  war,  und  wenn  heute  auch  niemand  mehr, 
der  nicht  eine  besondere  Vorliebe  für  Mathematik  hat,  ohne  eine  bestimmte  Ver- 
anlassung nach  einem  Buche  greift,  das  irgendwie  nach  Mathematik  schmeckt, 
so  dringen  immer  noch  durch  gemeinverständliche  astronomische  und  phy- 
sikalische Schriften  die  Früchte  des  mathematischen  Denkens  in  weite  Kreise, 
und  für  die  Philosophie  spielt  das  Wesen  der  mathematischen  Erkenntnis 
fortgesetzt  eine  große  Rolle.  Daß  nicht  auch  der  Mathematik  an  sich  ein  ge- 
wisses Interesse  entgegengebracht  wird,  hat  zum  Teil  vielleicht  gerade  den 
Grund,  daß  sie  in  den  Schulen  allzu  gründlich  und  ausführlich  behandelt  wird. 
In  englischen  Zeitschriften  finden  sich  fortwährend  Rätselaufgaben  mathe- 
matischen Charakters  und  erfreuen  sich  einer  großen  Beliebtheit.  Es  ist  merk- 
würdig, daß  wir  Deutschen  später  im  Leben  gerade  die  Dinge  meiden,  die 
auf  der  Schule  am  meisten  getrieben  worden  sind.  Wenn  aber  das  das  Resultat 
des  mathematischen  Unterrichts  ist,  so  ist  es  kein  gutes  Zeichen  für  ihn. 

Die  didakHsche  Die  eigentümlichen  Schwierigkeiten,  denen  die  Schaffung  eines  vernünf- 

tigen und  zeitgemäßen  mathematischen  Unterrichts  begegnet,  liegen  wesent- 
lich darin  begründet,  daß  uns  eine  eigentliche  didaktische  Mathematik  heute 
noch  fehlt.  Darunter  dürfen  wir  nicht  die  aufgehäuften  Materialien  früherer 


Einleitung.  A  55 

Forschungsepochen  verstehen,  sondern  eine  die  modernen  Errungenschaften 
voll  verwertende,  frei  und  unabhängig  schaffende  Wissenschaft,  deren  Auf- 
gabe die  Nutzbarmachung  der  Mathematik  für  die  Allgemeinbildung  ist 
Diese  Aufgabe  ist  ebenso  schwierig  und  wichtig  wie  die  Fortleitung  der 
mathematischen  Erkenntnis  auf  immer  neue  Bahnen  und  Gebiete.  Es  haben 
aber  bis  jetzt  im  allgemeinen  alle  die,  die  an  der  mathematischen  Forschung 
tätigen  Anteil  nahmen,  wenig  Neigung  gezeigt,  ihre  Arbeiten  durch  die  Zwecke 
des  Unterrichtes  bestimmen  zu  lassen,  trotzdem  ihre  berufliche  Stellung  meist 
auf  diesen  Zwecken  aufgebaut  ist.  Anderseits  erstarren  die,  welche  an  dem 
Unterricht  unmittelbar  beteiligt  sind,  leicht  in  bestimmten  Schulmeinimgen, 
sie  finden  nicht  die  Zeit  und  Gelegenheit,  mit  der  rasch  fortschreitenden 
Wissenschaft  in  Fühlung  zu  bleiben  und  sich  so  die  gehörige  Tiefe  der  Auf- 
fassung und  Weite  des  Überblicks  zu  erhalten.  Wohl  sehen  wir  die  Pädagogik 
als  eine  allgemeine  Wissenschaft  an,  aber  die  Mathematik  hat  in  ihr  nur  eine 
kümmerliche  Stellung  gefunden.  Die  Einsicht,  daß  der  Bereich  aller  Lehr- 
gegenstände nicht  von  einem  Menschen  umspannt  werden  kann  und  daß  des- 
halb auch  innerhalb  der  Pädagogik  eine  DifFerenzierung  der  Betätigung  ein- 
treten muß,  beginnt  sich  erst  langsam  durchzusetzen. 

So  stehen  wir  vor  einer  großen  Aufgabe,  die  aber  einstweilen  der  Zukunft 
angehört:  der  wirklichen  Durcharbeitung  der  Mathematik  in  ihrer  erziehe- 
rischen Bedeutung,  welche  die  Klärung  der  Methoden  und  die  Beschaffung 
des  Unterrichtsmaterials  in  der  richtigen  Anpassung  an  den  besonderen  Zweck 
zu  leisten  haben  wird.  Aber  es  kann  nicht  unsere  Aufgabe  sein,  die  Zukunft 
vorahnend  zu  bestimmen.  Wenn  wir  jedoch  bloß  auf  die  Gegenwart  sehen,  so 
entgeht  uns,  unter  welchen  verschiedenen  Gesichtspunkten  die  mathematische 
Bildung  überhaupt  auftreten  kann,  welche  wechselnde  Bedeutung  sie  je  nach     Historischer 
der  Kultur  hat,  in  die  sie  sich  einfügt,  wir  erfassen  nicht  alle  Licht-  und   der'fowenden 
Schattenseiten,  die  ihr  anhaften.  Daher  ist  es  besser,  die  ganze  Entwicklung    Betrachtung 
des  mathematischen  Bildungswesens,    soweit    es  nach  den  uns  erhaltenen 
Quellen  und  in  einer  kurzen  Darstellung  möglich  ist,  an  unserem  Geist  vor- 
überziehen zu  lassen. 

Es  ist  ja  klar,  daß,  wenn  die  Mathematik  eine  erzieherische  und  bildende 
Bedeutung,  wie  wir  sie  ihr  zuschreiben,  wirklich  besitzt,  diese  Bedeutung 
sich  im  Laufe  der  Zeiten  offenbart  haben  muß.  Die  Vergangenheit  liefert  so 
nicht  bloß  den  Schlüssel  zum  Verständnis  der  gegenwärtigen  Zustände,  sondern 
sie  klärt  auch  den  Blick  für  die  Erkenntnis  der  wahren  Aufgaben  des  mathe- 
matischen Unterrichtswesens  und  seiner  Stellung  in  der  Gesamtheit  der  Bildung. 

Wir  müssen  bedenken,  daß  unser  Bildungswesen  nicht  willkürlich  ge- 
schaffen ist,  sondern  sich  ebenso  wie  die  politischen  und  sozialen  Verhält- 
nisse der  einzelnen  Völker  im  Laufe  der  Zeiten  mit  innerer  Notwendigkeit 
entwickelt  hat.  Wandlungen  in  dem  Bildungswesen  und  in  dem  Bildung.s- 
ideal  sind  immer  Hand  in  Hand  gegangen  mit  tiefgreifenden  Veränderungen 
in  den  äußeren  Verhältnissen  der  Staaten.  In  dem  Bildungswesen  spiegelt 
sich  der  Gang  der  Weltgeschichte  deutlich  wider.    Die  einmal  erworbene 


56  A    H.  E.  Timerding :  Die  Verbreitung  mathemat.  Wissens  u.  mathemat.  Auffassung. 

Auffassung  des  Bildungsideals  hält  sich  mit  großer  Zähigkeit,  aber  um  so 
charakteristischer  sind  die  Umwandlungen,  denen  es  nach  Ort  und  Zeit  unter- 
worfen ist.  So  steht  das  christliche  Mittelalter  auf  dem  Boden  des  Altertums, 
aber  der  Schwerpunkt  des  Interesses  ist  verschoben.  Das  christliche  Glaubens- 
bekenntnis bildet  den  Brennpunkt  alles  geistigen  Lebens,  während  die  grie- 
chische Bildung,  die  das  Altertum  beherrscht,  von  einer  freien  Ausgestaltung 
des  alten  Götterglaubens  ausgehend  sich  erst  allmählich  von  der  Natur- 
betrachtung den  sittlichen  Problemen  und  von  diesen  wieder  einer  übernatür- 
lichen Ordnung  der  Dinge  zuwandte. 

Die  geistige  Bildung  ist  dauernder  wie  die  Staaten,  die  aufleben  und  ab- 
sterben. Sie  wird  von  der  untergehenden  der  aufblühenden  Nation  über- 
geben, wie  ein  Besitztum  sich  vom  Vater  auf  den  Sohn  vererbt.  Von  einem 
Volke,  das  längst  vergangen  ist,  hält  sich  sein  geistiges  Wesen  frisch  und 
lebendig,  nicht  bloß  in  seinen  Schriften  und  Denkmälern,  sondern  auch  in 
einer  fortlaufenden  Überlieferung,  die  beständiger  ist,  als  wir  gewöhnlich 
denken.  Diese  Überlieferung  wird  nur  gelegentlich  durchbrochen  von  einem 
unmittelbaren  Zurückgreifen  auf  die  erhaltenen  Monumente.  Eine  solche  Re- 
naissance hat  zweimal  das  Bildungswesen  ergriffen,  einmal  am  Ausgang  des 
Mittelalters,  und  das  zweitemal  gegen  Ende  des  1 8.  Jahrhunderts.  Beidemal 
war  es  das  klassische  Altertum,  im  besonderen  das  bewunderte  Vorbild  der 
Griechen,  das  der  Umwandlung  die  Richtung  gab.  Aber  die  Griechen  selbst 
waren  ihrerseits  wieder  von  außen  her  beeinflußt,  namentlich  von  den  Ägyptern 
und  den  asiatischen  Völkerschaften. 

So  werden  wir  weit  zurück  ins  Altertum  verwiesen,  wenn  wir  die  Quellen 
unserer  Bildung  und  aus  ihnen  das  rechte  Verständnis  für  sie  suchen.  Aber 
der  Bereich,  den  wir  zu  fassen  haben,  braucht  nicht  fortwährend  die  ganze 
Erde  zu  umspannen.  Es  hebt  sich  vielmehr  ziemlich  klar  und  deutlich  ein 
Weg  heraus,  der  von  einem  Volk  zum  andern  führt  und  den  wir  da,  wo  er 
sich  verbreitert  und  teilt,  immer  so  verfolgen,  daß  er  in  den  gegenwärtigen 
Zustand  des  Bildungswesens  unseres  Vaterlandes  ausmündet. 

I.  Die  mathematische  Bildung  der  Ägypter. 
Die  Anfang«  Es  Unterliegt  keinem  Zweifel,  daß  mathematische  Kenntnisse  sich  zuerst  in 

^'^''berSer^"''  Ägypten  finden,  und  ebensowenig,  daß  sie  praktischen  Bedürfnissen  ihren  Ur- 
ÄKyptorn.  spruug  Verdanken.  Nach  Eudemus  sind  es  die  durch  die  Nilüberschwemmun- 
gen immer  wieder  aufs  neue  notwendig  werdenden  Abgrenzungen  der  Felder 
gewesen,  welche  die  Kunst  der  Geometrie  entwickelt  haben.  Dem  entspricht 
auch  das  griechische  Wort  „Geometrie",  das  ja  nichts  anderes  wie  Feldmes- 
sung bedeutet.  Es  ist  aber  sicher  nicht  allein  die  Feldmessung  gewesen,  die 
auf  die  Geometrie  führte,  auch  die  großen  Steinbauten  der  Ägypter,  die  schon 
zu  Beginn  des  vierten  Jahrtausends  v.  Chr.  einsetzen,  bedingen  notwendig 
ein  gewisses  Maß  von  geometrischen  Kenntnissen.  Es  hat  sich  schon  sehr 
früh  ein  besonderer  Beruf  der  Baumeister  und  Steinmetzen  entwickelt,  für  den 
die  geometrische  Abstraktion  der  regelmäßig  gestalteten  Raumformen  die 


I.  Die  mathematische  Bildung  der  Ägypter.  A  57 

Grundlage  bildet.  Damit  steht  in  Zusammenhang  eine  gewisse  Vorliebe  für 
eine  möglichst  große  geometrische  Regelmäßigkeit,  die  sich  in  der  Ausbil- 
dung der  alten  Mastaba  zur  Pyramide  deutlich  offenbart.  In  der  Herstellung 
der  regelmäßigen  geometrischen  Gestalt  im  gigantischsten  Maßstabe  drückt 
sich  das  aus,  was  man  unter  den  erworbenen  Kenntnissen  vielleicht  für  das 
Wichtigste  hielt,  die  Fähigkeit,  einem  Bauwerk  eine  ganz  bestimmte  Neigung 
seiner  Seitenflächen  und  Orientierung  gegen  den  Horizont  zu  geben.  Eine  ebene 
Wandfläche  so  herzustellen,  daß  sie  nicht  vertikal,  sondern  in  bestimmter  Weise 
geneigt  ist,  bedeutet  technisch  nicht  eine  so  ganz  einfache  Leistung,  wie  man 
wohl  annehmen  möchte.  Die  durch  das  Senklot  bestimmte  vertikale  Wand 
ist  viel  leichter  herzustellen.  Die  ägyptischen  Baumeister  haben  die  erworbene 
Kunst  mit  Stolz  gezeigt,  indem  sie  auch  Tempeln  und  Königshäusern  solche 
geneigte  Wandflächen  gaben.  Das  dazu  benutzte  Instrument  besteht  im  wesent- 
lichen aus  einem  rechtwinkligen  Dreieck,  von  dem  eine  Kathete  vertikal,  die 
andere  horizontal  und  senkrecht  zu  dem  unteren  Rand  der  Mauer  gestellt  wird. 
Diese  horizontale  Kathete  nannten  die  Ägypter  Piremus,  „das  Hinausgehen- 
in  die  Breite",  woher  anscheinend  das  Wort  Pyramide  stammt  Die  stehende 
Kathete  hieß  Uchatebet,  „  das  Suchen  der  Fußsohle  ".  Das  Verhältnis  der  hori- 
zontalen zur  vertikalen  Kathete  hieß  Seg^^.  Das  rechtwinklige  Dreieck,  das  so 
neben  der  rechteckigen  Form  der  Felder,  des  Grundrisses  der  Gebäude  nun 
als  Grundfigur  auftritt  und  sich  ja  auch  unmittelbar  als  Hälfte  des  Recht- 
ecks ergibt,  wurde  aber  erst  dadurch  einer  weitgehenden  praktischen  Verwen- 
dung fähig,  daß  es  mit  dem  Begriff  der  ähnlichen  Veränderung  einer  Figur  ver- 
quickt wurde,  den  die  Ägypter  voll  ausgebildet  hatten.  So  benutzen  sie  schon 
zur  Übertragimg  einer  Zeichnung  in  verändertem  Maßstab  ein  quadratisches 
Netz,  ein  Verfahren,  das  viele  Jahrtausende  später  ein  Gelehrter  und  Künstler 
der  italienischen  Frührenaissance,  Leo  Battista  Alberti,  wie  etwas  Neues 
mitteilte. 

Die  Festlegung  des  rechten  Winkels  ist  auch  bei  dem  einfachsten  Bau 
eine  der  ersten  und  wichtigsten  Aufgaben.  Sie  geschieht  gewöhnlich  mit  dem 
Winkelhaken,  den  auch  die  Ägypter  schon  gekannt  haben.  Es  gibt  aber  noch 
ein  sehr  bequemes  Verfahren,  durch  welches  die  Festlegung  des  rechten 
Winkels  auf  eine  Längenmessung  zurückgeführt  wird  und  welches  darin  be- 
steht, daß  man  eine  Schnur,  in  die  in  gleichen  Abständen  Knoten  geknüpft 
sind,  in  passender  Weise  um  drei  Pflöcke  legt.  Es  beruht  auf  der  einfachen 
Tatsache,  daß  ein  Dreieck,  dessen  Seitenlängen  sich  wie  die  Zahlen  3,  4,  5 
verhalten,  ein  rechtwinkliges  ist.  Dieses  Verfahren  ist  von  den  Ägyptern  ge- 
funden worden  und  sie  gaben  ihm  nicht  n\it  Unrecht  eine  große  Bedeutung. 
Vielleicht  davon  ausgehend  suchten  die  ägyptischen  Feldmesser  überhaupt 
alle  Messungen  im  Felde  auf  Längenmessung  zurückzuführen,  Sie  wurden 
deshalb  von  den  Griechen  auch  Seilspanner,  Harpedonapten,  genannt.  Das  Die  Harpedo- 
gespannte  Seil  wurde  aber  nicht  bloß  zur  Bestimmung  der  Entfernungen,  °*p*^°- 
sondern  auch  zur  Festlegung  der  Richtungen  benutzt.  Es  wurde  so  gespannt, 
daß  es  nach  dem  Punkte,  der  die  Richtung  bestimmte,  hinwies,  und  dann 


58  A    H.  E.  Timerding:  Die  Verbreitung  mathemat.  Wissens  u.  mathemat.  Auffassung. 

wurden  unter  ihm  zwei  Pflöcke  in  die  Erde  eingeschlagen.  Die  Vorgänge 
bei  der  Anlegung  des  Grundrisses  eines  Gebäudes  waren  in  Ägypten  nicht 
viel  anders,  wie  wir  sie  heute  bei  jedem  Bau  beobachten  können.  Das  ist  kein 
bloßer  Zufall,  sondern  liegt  an  der  Zähigkeit  der  handwerksmäßigen  Über- 
lieferung, die  von  den  Ägyptern  bis  zu  uns  herüberreicht.  Ägyptische  Bau- 
meister, Steinmetzen  und  Feldmesser  spielten  im  ganzen  Altertum  eine  große 
Rolle.  Als  Augustus  eine  Vermessung  des  Landes  ausführen  ließ,  zog  er 
ägyptische  Feldmesser  heran. 
PrakHsche  Vou  dcr  logischcn  Schlußfolgerung,  die  das  Wesen  der  wissenschaftlichen 

"Geometrie  ausmacht,  kann  bei  ihren  ersten  Anfängen  keine  Rede  sein.  Die 
praktische  Be  deutung  war  das  Entscheidende.  Zwischen  Näherungswertund 
exakterBerechnungwurde  kein  Unterschied  gemacht.  DieÄgypterbesaßen  zum 
Teil  sehr  brauchbare  Näherungsformeln,  z.  B.  für  die  Ausmessung  des  Kreises, 
es  finden  sich  aber  auch  direkt  falsche  Formeln,  deren  sie  sich  bedient  haben. 
So  benutzten  sie  zur  Bestimmung  des  Flächeninhalts  eines  Vierecks  das  Pro- 
dukt aus  den  arithmetischen  Mittelwerten  der  Paare  gegenüberliegender 
Seiten.  Dies  Verfahren  ist  nur  zu  verstehen  als  eine  Näherungsrechnung  für 
Vierecke,  die  zwar  nicht  genau,  aber  doch  ungefähr  rechteckig  sind.  Es  ist 
aber  noch  im  Jahre  237  V.  Chr.  in  der  Schenkungsurkunde  des  Tempels  von 
Edfu  angewendet  worden,  ebenso  wie  die  Formel,  die  den  Inhalt  eines  gleich- 
schenkligen Dreiecks  als  Produkt  der  Schenkellänge  mit  der  halben  Länge 
der  Basis  liefert.  Das  geschah  in  demselben  Lande,  in  dem  schon  über  ein 
halbes  Jahrhundert  vorher  Euklid  seine  Elemente  geschrieben  hatte.  So 
wenig  Einfluß  hatte  die  griechische  Geometrie  auf  die  praktische  Mathematik 
der  Ägypter  erlangen  können.  Das  Festhalten  am  Althergebrachten,  das  als 
heilig  und  unverletzlich  galt^  übertrug  sich  sogar  durch  das  Ansehen  der  ägyp- 
tischen Geometer  auf  die  römische  Kulturwelt  und  von  da  auf  das  christliche 
Mittelalter,  in  dem  sich  immer  noch  dieselben  falschen  Inhaltsformeln  und 
dieselbe  Verständnislosigkeit  für  den  Unterschied  zwischen  praktischer 
Brauchbarkeit  und  theoretischer  Richtigkeit  finden.  Dabei  war  in  Ägypten 
selbst  die  Entwicklung,  ausgehend  von  dem  Gedanken  der  Harpedonapten, 
den  Inhalt  einer  Figur  allein  durch  Längenmessungen  zu  bestimmen,  längst 
zur  richtigen  Formel  fortgeschritten.  Die  Lösung  liegt  bekanntlich  in  der 
sogenannten  Heronischen  Dreiecksformel,  welche  den  Inhalt  des  Dreiecks  aus 
den  Seitenlängen  zu  finden  lehrt.  Sie  bedingt  die  Erkenntnis,  daß  der  Flächen- 
inhalt des  Vierecks  überhaupt  nicht  aus  den  Seiten  allein  zu  finden  ist,  daß 
man  es  vielmehr  zuerst  durch  eine  Diagonale  in  zwei  Dreiecke  zerlegen 
und  für  diese  dann  die  Aufgabe  lösen  muß,  wobei  man  allerdings  zu  einer 
ziemlich  verwickelten  Berechnungsart  gelangt.  Daß  die  Kunst  des  Messens 
auf  der  Erde  und  am  Himmel  im  späteren  Altertum  gerade  in  Ägypten  sich 
zu  einer  hohen  Blüte  entwickelt,  liegt  sicher  zum  Teil  an  alteingewurzelten 
Fähigkeiten  und  Neigungen. 

Leider  rinnen  die  Quellen  für  die  Kenntnis  der  alten  ägyptischen  Mathe- 
matik nicht  sehr  reichlich.    Die  Hauptquelle  bildet  der  von  Eisenlohr  ent- 


I.  Die  mathematische  Bildung  der  Ägypter.  -A-  59 

iifferte  Papyrus  Rhind.  Nach  R^villouts  Ansicht  ist  er  das  Heft  eines 
äg^'-ptischen  Schülers,  das  nach  einem  wohl  als  Lehrbuch  benutzten  Muster 
aus  dem  Jahre  2200  v.Chr.  angefertigt  und  dann  von  einem  Schreiber  Ahmes 
abgeschrieben  ist.  Das  Muster  selbst  ist  vielleicht  in  Papyris  zu  sehen,  die  in 
Kahün  im  Jahre  1889  gefunden  wurden.  Im  allgemeinen  scheint  sich  die  Lö- 
sung der  Aufgaben  mehr  durch  die  persönliche  Unterweisung  als  durch  schrift- 
liche Überlieferung  fortgepflanzt  zu  haben.  Wenn  deshalb  die  schriftlichen 
Zeugnisse  mangeln,  so  sprechen  doch  die  Bauten  selbst  imd  die  uns  er- 
haltenen Architekturzeichnungen  eine  deutliche,  nicht  mißzuverstehende 
Sprache.  Das  meiste,  was  für  die  Architektur,  auch  der  heutigen  Zeit,  an 
geometrischen  Kenntnissen  und  Vorstellungen  notwendig  ist,  muß  sich  der 
Hauptsache  nach  schon  sehr  früh  bei  den  Ägyptern  entwickelt  haben.  Es 
ist  dies  eine  praktische  Mathematik,  die  ihre  Eigenart,  die  Übermittelung  durch 
die  persönliche  Unterweisung,  die  ausschließliche  Betonung  des  praktischen 
Zweckes  und  die  Begründung  auf  der  anschaulichen  Erfassung  der  Wirklich- 
keit bis  in  die  Gegenwart  bewahrt  hat,  die  aber  heute  allerdings  kaum  mehr 
als  Mathematik  empfunden  wird. 

Es  wirkten  jedoch  eine  Reihe  eigentümlicher  Umstände  dahin,  neben  dem  Aufkeimen 
praktischeninteresse  auch  die  theoretische  Forschung  schonbei  den  Ag^'p-  ^^inttresseT. 
tern  aufkommen  zu  lassen.  Diese  Umstände  liegen  zunächst  darin  begründet, 
daß  die  praktischen  Aufgaben,  welche  die  Geometrie  zu  erfüllen  hatte,  mit 
dem  geistigen  und  sittlichen  Leben  des  Menschen  in  enger  Beziehung  standen. 
Die  Abteilung  der  Felder  war  nicht  bloß  eine  technische  Aufgabe,  sie  stand 
in  Verbindung  mit  Sitte  und  Recht;  jedem  so  viel  zu  geben,  wie  ihm  zukam, 
das  war  ja  wesentlich  der  Zweck.  Ebenso  waren  die  Steinbauten,  welche  die 
Ägypter  aufrichteten,  nicht  Wohnungen  für  lebende  Menschen;  seine  Woh- 
nung baute  sich  in  dem  glücklichen  Lande,  wo  keine  Unbilden  der  Witterung 
zu  befürchten  waren,  jeder  nur  für  seine  Lebenszeit,  wie  es  ihm  gefiel,  aus  Holz, 
Nilschlamm  und  Schilf  leicht  auf.  Die  Steinbauten  dagegen  waren  Woh- 
nungen für  die  Götter  und  für  die  Toten,  sie  wurden  nicht  für  eine  kurze  Zeit- 
spanne, sondern  für  die  Ewigkeit  errichtet.  Damit  entstand  aber  nicht  bloß  eine 
enge  Verbindung  aller  der  Kenntnisse,  die  für  diese  technische  Aufgabe  nötig 
waren,  mit  dem  Gottesdienst  und  mit  der  Priesterkaste,  sondern  es  mußte  sich 
auch  offenbaren,  daß  ebenso  unvergänglich  wie  die  aufgerichteten  Bauten 
die  Gesetze  waren,  auf  denen  ihre  Gestaltung  beruhte.  Der  Papyrus  Rhind 
beginnt  mit  den  Worten:  „Vorschrift  zu  gelangen  zur  Kenntnis  aller  dunklen 
Dinge,  aller  Geheimnisse,  welche  sind  in  den  Dingen." 

So  mußte  von  Anfang  an  die  mathematische  Betrachtung  in  Beziehung 
treten  mit  dem  Gedanken  des  Ewigen,  Unvergänglichen;  das  Bewußtsein  dieser 
Beziehung  prägt  sich  später  in  der  ganzen  griechischen  Bildung  aufs  deut- 
lichste aus  und  überträgt  sich  auch  in  die  christliche  Gedankenwelt  hinein. 

Vielleicht  steht  es  in  Zusammenhang  mit  dieser  symbolischen  Bedeutung 
der  Mathematik,  wenn  sie  in  den  ägy^ptischen  Priester-  und  Beamtenschulen 
als  Bestandteil  der  Bildung  aufgenommen  wird,  vielleicht  geben  dazu  aber  auch 


meinen  Bildung. 


60  A     H.  E.  Timerding:  Die  Verbreitung  mathemat.  Wissens  u.  mathemat.  Auffassung. 

praktische  Gesichtspunkte  Veranlassung:  die  Anteilnahme  an  den  Bauten,  der 
Feldermessung,  der  Abgaben  Verteilung,  der  Regelung  von  Vermögensan- 
sprüchen usw.  Die  Grenze  zwischen  praktisch  und  theoretisch  ist  dabei  schwer 
zu  ziehen.  Wohin  sollen  wir  es  rechnen,  wenn  für  die  Abmessungen  eines 
Tempels  die  Zahlenverhältnisse  nach  bestimmten  für  heilig  und  wunderwirkend 
gehaltenen  Regeln  bestimmt  werden,  wie  es  nicht  bloß  bei  den  Ägyptern, 
sondern  auch  bei  den  in  der  Kultur  von  ihnen  nicht  unabhängigen  Babyloniern 
und  Indern  der  Fall  gewesen  ist?  Der  Gedanke,  bestimmten  Zahlen  eine  be- 
sondere Bedeutung  zuzuschreiben,  rührt  vielleicht  her  von  der  Beobachtung 
der  Regelmäßigkeit  in  dem  Lauf  der  Gestirne.  Die  wichtigsten  astronomischen 
Perioden  sind  den  Ägyptern  schon  sehr  früh  bekannt  gewesen.  Damit  mußte  aber 
die  Vorstellung  einer  zahlmäßigen  Ordnung  des  Weltalls  und  die  Idee,  daß  die 
Zahlengeheimnisvolle,  wunderbare  Eigenschaften  und  Kräfte  haben,  auftauchen. 
Idee  der  aiige-  Es  liegt  iu  der  Mathematik  von  Anfang  an  ein  theologisches  oder  meta- 

physisches Element,  das  sie  nie  verleugnet  hat.  In  ihr  offenbart  sich  die 
ideale  Geistesrichtung,  die  den  höchsten  Problemen  zustrebt.  Diese  Geistes- 
richtung hat  aber  auch  das  Eigentümliche,  daß  sie  in  der  Erziehung  nicht 
mehr  den  praktischen  Zweck  der  Vorbildung  für  bestimmte  berufliche  Auf- 
gaben, sondern  eine  allgemeine  Bildung  des  Geistes  voranstellt.  Schon  bei 
den  Ägyptern  ist  die  Mathematik  dazu  verwendet  worden,  den  Geist  zu 
stärken.  Schon  bei  ihnen  finden  sich  viele  von  den  Aufgaben,  durch  deren 
Lösung  nur  die  Denkfähigkeit  entwickelt  werden  soll,  ohne  daß  sie  für  irgend 
einen  praktischen  Zweck  Bedeutung  haben.  Diese  Aufgaben  entnehmen  der 
Wirklichkeit  nur  ihre  Bilder,  bringen  diese  aber  in  eine  Verbindung,  die  der 
Wirklichkeit  oft  geradezu  Hohn  spricht.  Hierzu  gehören  die  bekannten  Auf- 
gaben, an  denen  die  Ägypter  die  Begriffe  der  arithmetischen  und  geometri- 
schen Reihe  entwickelt  haben,  wie  wenn  100  Brote  an  5  Personen  nach  einer 
arithmetischen  Progression  verteilt  werden  sollen,  oder  wenn  die  bekannte 
Zählung  gegeben  wird:  7  Personen  haben  je  7  Katzen,  jede  Katze  frißt  7  Mäuse, 
jede  Maus  hätte  7  Ähren  Gerste  gefressen,  jede  Ähre  bringt  7  Maß  Getreide, 
und  die  Frage  lautet,  wieviel  Getreide  durch  die  Katzen  der  7  Personen  ge- 
rettet wird.  Die  Nachwirkung  hiervon  können  wir  noch  in  unserem  arithme- 
tischen Unterricht  spüren.  Ebenso  erinnert  auffallend  an  unseren  Schul- 
unterricht die  ägyptische  Hau -Rechnung,  die  nichts  anderes  bedeutet  wie 
die  Auflösung  linearer  Gleichungen  mit  einer  Unbekannten.  Vielleicht  führt 
auch  hier  ein  Weg  direkt  von  den  Ägyptern  über  die  Araber  zu  unseren 
Schulen.  Andere  Aufgaben  erinnern  lebhaft  an  die  Diophantische  Arithmetik, 
so  daß  auch  dieser  Zweig  der  Mathematik,  der  ja  die  Quelle  der  modernen 
Zahlentheorie  geworden  ist,  auf  die  Ägypter  zurückgeht.  Die  Ägypter 
haben  eine  verwickelte  Rechenpraxis  ausgebildet,  die  uns  in  dem  Buche 
des  Ahmes  deutlich  überliefert  ist  und  die  zu  beherrschen  Mühe  und  Fleiß 
genug  gekostet  haben  muß;  die  Auflösung  der  Brüche  in  Stammbrüche,  die 
den  Kern  der  ägyptischen  Bruchrechnung  bildet,  wäre  auch  für  die  Schüler 
unserer  Schulen  keine  leichte  Aufgabe. 


I.  Die  mathematische  Bildung  der  Ägypter.  A  6r 

Typisch  an  der  ägyptischen  Mathematik  ist,  daß  sie,  soweit  sie  nicht  un-  Erzieherische 
mittelbar  praktische  Ziele  h at,  zu  Erz  iehungs  zwecken  gebildet  ist,  Aufgaben  d^'^M^the^aük 
der  Praxis  werden  so  vereinfacht  und  umgestaltet,  daß  sie  als  Übungsaufgaben^«' "^""Ägypten) 
im  Unterricht  verwendet  werden  können.  Dies  ist  z.  B.  auch  bei  der  Flächen- 
messung der  Fall.  Aus  ihr  werden  Fälle  gebildet,  wo  der  Zusammenhang 
der  Flächengrößen  möglichst  auffallend  und  einfach  ist,  ohne  weiter  Rück- 
sicht darauf  zu  nehmen,  ob  diese  Fälle  in  der  Praxis  wirklich  vorkommen 
werden.  Dahin  gehört  der  berühmte  Fall  des  pythagoreischen  Lehrsatzes, 
durch  den  die  Fläche  eines  Quadrats  auf  zwei  Quadrate  verteilt  wird.  Dieser 
Satz  scheint  in  der  Tat  den  Ägyptern  schon  früh  bekannt  gewesen  zu  sein. 
Die  ims  erhaltenen  Aufgaben  betreffen  allerdings  alle  den  besonderen  Fall, 
wo  die  Längen  der  Seiten  in  dem  rechtwinkligen  Dreieck  das  Verhältnis  3:4:5 
haben,  aber  es  ist  schwer  einzusehen,  wie  man  bei  diesen  Dreiecken  allein 
gerade  auf  die  Beziehung  des  pythagoreischen  Lehrsatzes  3^  +  4^  =  5^ 
gekommen  sein  sollte.  Der  besondere  Fall  scheint  vielmehr  nur  darum  ge- 
wählt zu  sein,  weil  sich  hier  die  Beziehung  in  ganzen  Zahlen  geben  läßt. 

Andere  Aufgaben  haben  auch  im  Unterricht  ihren  praktischen  Charakter 
bewahrt  Dahin  gehört  die  angenäherte  Ausziehung  der  Quadrat-  und  Kubik- 
wurzeln, sowie  die  Ausmessung  des  Kreises,  welche  die  Ägypter  auf  rein  em- 
pirischem Wege  gefunden  zu  haben  scheinen.  Der  praktische  Zweck  leuchtete 
bei  den  ägy^ptischen  Priester-  und  Beamtenschulen  (Asbo),  deren  Charakter 
dem  imserer  Universitäten  auffallend  ähnlich  gewesen  zu  sein  scheint,  immer 
noch  durch.  Die  Erziehung  hatte  auch  wohl  unmittelbar  praktische  Ziele. 
Bei  den  Beamten  ist  das  unmittelbar  einleuchtend,  sie  wurden  eben  zur  Leitung 
praktischer  Arbeiten  herangebildet.  Aber  auch  die  Priester  scheinen  mit  der 
praktischen  Tätigkeit  in  enger  Fühlung  gestanden  zu  haben;  wir  finden  das 
ja  auch  im  Mittelalter  wieder,  wo  die  Geistlichen  als  Baumeister,  Feldmesser 
usw.  tätig  sind.  Jedenfalls  hat  den  Priestern  die  Zeitrechnung  und  die  An- 
fertigung des  Kalenders  obgelegen.  Aber  auch  bei  den  Bauten  der  Tempel 
imd  der  Abteilung  der  Felder  werden  sie  eine  Rolle  gespielt  haben. 

Auffallend  ist  bei  den  Ägyptern  die  hohe  Wertung  der  praktischen  Tätig- 
keit, die  ganz  im  Gegensatz  zu  dem  griechischen  Bildungswesen  steht.  Hier 
geht  keine  Tradition  von  dem  äg^^ptischen  Schulwesen  zu  uns  herüber.  Unter 
dem  Einfluß  der  griechischen  Bildung  haben  wir  vielmehr  gelernt,  als  höher- 
stehend eine  Erziehung  anzusehen,  die  keinen  praktischen  Zweck  verfolgt,  und 
haben  dagegen  der  fachlichen  Ausbildung  den  Stempel  der  Minderwertigkeit 
aufgedrückt.  Bei  den  Äg\^ptern  aber  ist  die  praktische  Tätigkeit  etwas  Großes, 
ja  HeiHges.  Beim  Tempel  von  Denderah  ist  dargestellt,  wie  der  König  selbst 
mit  Hilfe  der  Göttin  der  Wissenschaft  Safchet  den  Tempel  nach  dem  Eintritt 
der  Plejaden  in  den  Meridian  orientiert.  In  der  Lischrift  sagt  der  König:  „Ich 
fasse  die  Holzpflöcke  und  den  Stiel  des  Schlegels,  die  Göttin  Safchet  hält  mit 
mir  das  Seil."  Der  Winkelhaken  kommt  häufig  auf  Bildern  in  der  Hand  des 
Königs  vor,  um  die  Wichtigkeit  der  technischen  Tätigkeit  für  das  ganze  Leben 
zu  zeigen. 


62  A      H.  E.  Timerding:  Die  Verbreitung  mathemat.  Wissens  u.  mathemat.  Auffassung. 

II.  Die  mathematische  Bildung  der  Griechen. 

Anfänge  Dlo  geomotrischen  Kenntnisse  der  Ägypter  nahmen  die  Griechen  auf^ 

"^^Mftheroatik!^"  3-ls  ihre  Entwicklung  so  weit  fortgeschritten  war,  daß  sie  diese  Kenntnisse  ver- 
stehen und  verwerten  konnten.  Auf  welche  Weise  sie  zu  ihnen  gelangt  sind^ 
ist  quellenmäßig  nicht  festzustellen.  Wenn  wir  aber  bedenken,  wie  eng  sie 
mit  den  praktischen  Aufgaben  zusammenhängen,  so  müssen  wir  annehmen^ 
daß  wenigstens  ein  Teil  davon  schon  in  vorhellenischer  Zeit  mit  der  ägyp- 
tischen Kultur  auf  das  griechische  Gebiet  herübergewandert  ist.  Viel  haben 
sicher  die  ägyptischen  Baumeister  und  Feldmesser  mitgebracht.  Wahrschein- 
lich sind  nicht  bloß  ägyptische  Einflüsse,  sondern  es  ist  auch  eine  Einwirkung 
von  Babylon  her  festzustellen.  Ob  diese  Einwirkung  eine  direkte  war,  oder 
etwa  durch  die  Phöniker  und  die  kleinasiatischen  Völker  vermittelt  wurde, 
ist  nicht  zu  sagen.  Wir  müssen  bedenken,  daß  in  der  Zeit,  aus  der  uns  über 
griechische  Geometrie  etwas  berichtet  wird,  der  Handel  längst  seine  Fäden 
zwischen  allen  Völkern  gesponnen  hatte  und  die  Kenntnisse  und  Anschau- 
ungen eines  Volkes  leicht  zu  einem  andern  gelangen  konnten.  Reisen  in 
fremde  Länder  aus  geschäftlichen  Gründen  und  zu  Bildungszwecken  waren 
sehr  häufig.  Griechische  Handelsniederlassungen  bestanden  im  ganzen  Be- 
reich des  Mittelmeers,  auch  in  Ägypten. 

Der  erste  unter  den  Griechen,  von  dem  bestimmt  berichtet  wird,  daß  er 
Thaies,  sich  mit  Geometrie  beschäftigt  habe,  ist  Thaies  (um  620  v.  Chr.)  aus  Milet. 
Mag  die  Überlieferung  im  einzelnen  auch  unzuverlässig  sein,  denn  Thaies 
galt  bei  den  Griechen  als  der  Repräsentant  des  Gelehrten  überhaupt,  dem 
schon  in  früherer  Zeit  eine  Menge  von  Weisheitssprüchen  und  anekdotischen 
Zügen  zugesprochen  wurde,  immerhin  ist  es  äußerst  charakteristisch,  welche 
Art  von  geometrischen  Sätzen  auf  ihn  zurückgeführt  werden.  Es  sind  wiederum 
durchaus  praktische  Aufgaben,  von  denen  er  ausgegangen  sein  soll,  die  Be- 
stimmung von  Höhen  und  Entfernungen.  Er  soll  das  begründet  haben,  was 
wir  heute  als  terrestrische  Nautik  bezeichnen,  indem  er  lehrte,  wie  die  Schiffer 
ihren  Ort  und  ihren  Weg  durch  Messung  von  Winkeln  bestimmen  können. 
Das,  was  an  theoretischer  Spekulation  auf  Thaies  zurückgeführt  wird,  ist 
äußerst  einfacher  Natur,  es  geht  wesentlich  von  der  Fignr  des  Rechtecks  mit 
seinen  Diagonalen  und  dem  umschriebenen  Kreis  aus.  Ein  zwingender  Grund 
dafür,  daß  er  unmittelbare  Kenntnis  von  der  ägyptischen  Geometrie  gehabt 
habe  und  selbst  in  Ägypten  gewesen  sei,  scheint  nicht  vorzuliegen.  Das,  was 
er  wußte,  konnte  schon  längst  Gemeingut  geworden  sein.  Vielleicht  ist  daher 
schon  an  diesem  Anfangsstadium  der  griechischen  Mathematik  trotz  aller  prak- 
tischen Färbung  die  Wendung  zum  Theoretisieren  doch  das  Entscheidende. 
Ein  Mann  übernimmt  die  Geometrie,  der  keinen  praktischen  Lebensberuf 
verfolgt,  dessen  Geschäft  vielmehr  das  Nachdenken  über  das  Wesen  der  Dinge 
\  ist.  Es  ist  sicher  kein  Zufall,  daß  der  Begründer  der  griechischen  Mathematik 
i  gleichzeitig  die  griechische  Philosophie  einleitet,  es  liegt  ja  nahe,  daß 
aus  dem  philosophischen  Forschungsdrang  heraus  sein  Blick  sich  über  die 


II.  Die  mathematische  Bildung  der  Griechen.  A  63 

praktischen  Aufgaben  hinaus  auf  die  theoretische  Seite  der  Geometrie  hin- 
lenkte, indem  er  erkannte,  daß  sich  hier  Sätze  finden,  denen  die  Besonderheit 
der  Erkennbarkeit  aus  dem  bloßen  Denken  heraus  und  der  unbedingten 
Gewißheit  eignet. 

Dieser  Gesichtspunkt  tritt  ganz  entschieden  und  deutlich  bei  dem  Manne 
zutage,  der  der  eigentliche  Begründer  der  Mathematik  als  einer  systema- 
tischen Wissenschaft  gewesen  sein  soll,  nämlich  bei  Pythagoras.  Man  hat  Pythagoras 
früher  von  Pythagoras  auf  Grund  der  neupythagoreischen  Berichte  mit  Be-  ''''^'^.  chT^^*^ 
stimmtheit  angenommen,  daß  er  weite  Reisen  nach  Ägypten  und  Babylon  ge- 
macht habe.  Wenn  nun  diese  Annahme  auch  nicht  gerade  dadurch  wider- 
legt wird,  daß  Herodot,  der  zusammenstellt,  was  er  über  die  Beziehung  der 
Griechen  zu  den  orientalischen  Völkern  weiß,  von  einer  Reise  des  Pythagoras 
nichts  erzählt,  so  liegt  doch  auch  keine  zwingende  Notwendigkeit  vor,  eine 
solche  Studienfahrt  anzunehmen.  Was  Pythagoras  an  Wissen  besaß,  konnte  er 
in  seiner  samischen  Heimat  erworben  haben,  so  auch  die  geometrischen  und 
arithmetischen  Kenntnisse ,  die  wir  ihm  zuschreiben.  An  diesen  Kenntnissen 
hatte  bereits,  wie  wir  ja  an  Thaies  sehen,  nicht  bloß  der  Fachmann,  sondern 
auch  der  der  Handwerkstätigkeit  entrückte  Gebildete  ein  Interesse  zu  nehmen 
begonnen.  So  wird  die  auch  in  Ägypten  gepflegte  Zahlensymbolik  der  Baby- 
lonier  damals  unter  den  kleinasiatischen  Griechen  längst  bekannt  geworden 
sein.  Sie  bildete  aber  gerade  den  Hauptpunkt,  wo  das  fachliche  Interesse 
zum  erstenmal  gänzlich  verschwindet  und  das  rein  theoretische  Moment  ein- 
setzt. Denn  die  merkwürdigen  und  rätselhaften  Beziehungen  zwischen  den 
Zahlen  sind  das,  was  die  Wißbegierde  dieses  Handelsvolkes,  für  welches  die 
Zahl  im  praktischen  Leben  sehr  viel  bedeutete,   am  meisten  reizen  mußte. 

Die  Zahl  wurde  die  Grundlage  der  ganzen  pythagoreischen  Philosophie.  Di«  Zahi. 
Sie  sollte  das  Wesen  der  Welt  bilden  und  die  Natur  der  Dinge  begreifen 
lehren.  Die  Pythagoreer,  sagt  Aristoteles  (Metaphys.  I,  5),  begannen  das  Stu- 
dium der  mathematischen  Wissenschaften  und  gingen  so  völlig  in  ihren  Grund- 
sätzen auf,  daß  sie  diese  auch  für  die  Prinzipien  des  Seins  hielten.  Es  ist  die 
Ansicht,  die  sich  in  der  orphischen  Anrufung  ausprägt: 

Hilf  uns ,  mächtige  Zahl ,  die  Götter  und  Menschen  erzeugt  hat, 
Heilige  Vierheit  du,  die  der  ewig  strömenden  Schöpfung 
Wurzel  enthält  und  Quell!    Denn  es  geht  die  göttliche  Urzahl 
Aus  von  der  Einheit  Tiefen,  der  unvermischten ,  bis  daß  sie 
Kommt  zu  der  heiligen  Vier,  die  gebiert  dann  die  Mutter  des  Alls,  die 
Erstentstand'ne ,  die  alles  vmifasset  und  alles  umgrenzet, 
Nie  abirret  und  nie  ermattet,  die  heilige  Zehn,  die 
Schlüsselhalt'rin  der  Welt,  die  der  Urzahl  gleichet  in  allem. 

Die  Erzeugung  der  Zehn  aus  der  Vier  ist  so  gemeint,  daß  Zehn  die  Summe 
der  vier  ersten  Zahlen  ist.  Die  Vier  und  die  Zehn  bilden  die  Zahlen,  auf 
welche  die  Pjthagoreer  alles  zurückzuführen  suchten.  Daher  rührt  z.  B.  auch 
die  Vierzahl  der  Elemente,  die  zehn  Himmelskörper,  die  sie  annehmen  usw. 

Die  Lehre  des  Pj'thagoras  ist  aber  durchaus  nicht  eine  rein  spekulative,     Das  pytha- 
sondem  hat  auch  einen  praktischen  Hintergrund.  Er  ist  der  Gründer  einer  Büda"gsi^deai. 


64  A     H.  E.  Timerding:  Die  Verbreitung  mathemat.  Wissens  u.  mathemat.  Auffassung. 

politischen  Gemeinschaft,  und  die  Beschäftigung  mit  der  Wissenschaft  hat 
den  Zweck  der  Erhebung  über  die  Denkweise  der  blöden  Masse  zu  einem 
höheren  Dasein.  Die  pythagoreische  Wissenschaft  tritt  von  Anfang  an  als  ein 
Erziehungsmittel  auf,  sie  schafft  das,  was  von  nun  an  nie  mehr  verloren  geht 
und  auch  in  der  Gegenwart  noch  fortblüht,  den  Begriff  einer  Bildung, 
d'ie  ohne  Beziehung  auf  die  praktischen  Aufgaben  allein  in  der 
geistigen  Vollendung  an  sich  ihr  Ziel  sieht  und  die  Vermengung 
mit  einer  gewerblichen  Zweckbestimmung  verabscheut. 
Umgrenzung  Das  Wort  Mathematik  bedeutet  von  Haus  aus  nichts  anderes  als  eine 

emai  •  ^igggjjschaftliche  Bildung  überhaupt.  Für  diese  Entstehung  der  Mathematik 
als  einer  bestimmt  umrissenen  Wissenschaft  ist  der  äußere  Anstoß  die  Über- 
siedelung des  Pythagoras  aus  seiner  kleinasiatischen  Heimat  in  die  aristokra- 
tische Stadt  Kroton,  wo  er  einen  Bund  von  Männern  gründet,  die  sich  über 
die  Plattheit  des  materiellen  Lebens  erhaben  fühlen  und  allein  auf  der  Weis- 
heit ihr  Leben  aufbauen.  Mathematiker  hießen  die  Mitglieder  dieses  Bundes, 
die  sich  die  selbständige  Erforschung  der  Wahrheit  zum  Ziele  setzten,  und 
Mathematik  ihre  Wissenschaft.  Dieser  Begriff  ist  aber  doch  nicht  so  umfassend, 
wie  es  hiernach  scheinen  könnte,  weil  die  Wissenschaft  an  einer  bestimmten 
Stelle  einsetzt  und  deshalb  nur  das  Wissenschaft  genannt  wird,  was  man  eben 
als  solche  kennt.  So  ist  der  griechische  Begriff  der  Mathematik  anscheinend 
weiter  und  doch  nicht  umfassender  als  der  moderne  Begriff.  Es  entspricht 
genau  der  modernen  Anschauungsweise,  wenn  in  der  pythagoreischen  Schule 
von  mathematischen  Körpern  im  Gegensatz  zu  den  wahrnehmbaren,  von  ma- 
thematischen Figuren  und  mathematischen  Größen  gesprochen  wird.  Archytas 
von  Tarent  soll  ein  Buch  „Über  Mathematik"  betitelt  haben,  und  gerade  von 
ihm  wird  auch  berichtet,  daß  er  zuerst  die  Mechanik  auf  Grund  mathematischer 
Prinzipien  methodisch  begründet  habe.  In  der  Tat  zeigt  die  Mechanik  bei 
den  Griechen  fortan  durchaus  auch  in  unserem  Sinne  mathematischen  Charakter 
und  hat  diesen  in  der  theoretischen  Mechanik  auch  bis  auf  die  Gegenwart 
bewahrt. 
Die  verschie-  Was  ist  es  uuu  im  bcsondcren,  was  Pythagoras  und  seine  Schule  unter 

TeTniathl^-^  Mathematik  verstanden  haben?  Die  Antwort  daraufläßt  sich  sehr  genau  geben. 
mahschen    Es  ist  zuuächst  das  Rechnen  und  die  von  den  Fesseln  der  Praxis  befreite  Geo- 

W  issenschaft. 

i  metrie.  Sodann  ist  es  die  Arithmetik,  die  aber  nicht  ohne  weiteres  mit  dem 

zusammenfällt,  was  wir  darunter  verstehen.  Arithmetik  ist  für  die  Pythagoreer 
die  Lehre  von  den  Zahlen;  sie  legt  auf  die  symbolische  Bedeutung  der  Zahlen, 
die  wir  als  unwissenschaftlich  zurückweisen  würden,  den  größten  Nachdruck. 
Die  rechnerischen  Beziehungen  zwischen  den  Zahlen  sind  nur  der  Weg,  um 
ihre  tiefere  Bedeutung  zu  erkennen  und  ihre  gesetzmäßigen  Zusammenhänge 
bloßzulegen.  Die  Lehre  von  den  Brüchen  erscheint  in  einer  eigentümlichen 
Form,  deren  Nachwirkungen  aber  imUnterricht  bis  in  die  Gegenwart  fortdauern, 
nämlich  in  der  Form  der  Proportionenlehre.  Diese  Proportionenlehre  aber 
wird  sofort  auf  ein  scheinbar  fernliegendes  Gebiet,  nämlich  auf  die  Musik  an- 
gewendet. Es  ist  ja  die  große  Entdeckung  der  Pythagoreer,  vielleicht  schon 


II.  Die  mathematische  Bildung  der  Griechen.  A  65 

des  Pythagoras  selbst,  daß  die  musikalischen  Harmonien  auf  einfachen  Zahlen- 
verhältnissen beruhen,  und  diese  Zahlenverhältnisse  werden  nun  so  eng  mit 
den  musikalischen  Harmonien  verquickt,  daß  man  vielfach  nicht  weiß,  ob  von 
musikalischen  Harmonien  oder  bloß  von  arithmetischen  Proportionen  die  Rede 
ist.  Als  viertes  Element  tritt  die  Betrachtung  des  Himmels  hinzu.  Auch 
diese  Betrachtung  erstreckt  ihre  Nachwirkung  bis  in  die  Gegenwart  hinein, 
sie  prägt  sich  in  dem  heute  noch  gebräuchlichen  Ausdruck  sphärische  Astro- 
nomie aus.  Weil  nämlich  die  Gestirne  auf  bestimmten  Kugeln  liegen  sollten, 
kam  die  ganze  Astronomie  der  Pythagoreer  wesentlich  auf  die  Betrachtung 
der  Größenverhältnisse  und  Bewegungen  dieser  Kugeln  hinaus  und  wird 
deshalb  auch  als  Sphärik  bezeichnet.  So  heißt  es  in  einem  Fragment  des 
Archytas:  „Diese  Wissenschaften  (mathemata):  Geometrie,  Zahlen,  Sphärik, 
Musik,  sind  verschwistert."  Die  Vierteilung  ist  hier  deutlich  ausgesprochen, 
sie  findet  sich  ebenso  deutlich  auch  bei  Piaton  ausgeprägt  und  hat  sich  von 
da  an  lange  Zeit  erhalten.  Durch  das  Lehrwerk  des  Martianus  Capella 
ging  sie  als  Quadrivium  auf  das  christliche  Mittelalter  über,  und  erst  sehr  spät 
hat  sich  die  Zweiteilung  der  Mathematik  in  Arithmetik  und  Geometrie  durch- 
gesetzt. Iti  der  Renaissance  wurde  zu  der  Mathematik  alles  hinzugerechnet,  was 
ihrem  Geiste  irgendwie  entsprach  und  sich  mit  ihr  in  Zusammenhang  bringen 
ließ,  sogar  die  Architektur  und  das  Kriegswesen.  Erst  durch  die  allmähliche 
Loslösung  der  Anwendungsgebiete  ist  das  übriggeblieben,  was  wir  heute 
Mathematik  nennen. 

Merkwürdigerweise  entspricht  dies  aber  ziemlich  genau  wieder  dem  alt-  Entstehung 
pythagoreischen  Begriff.  Denn  was  hier  beabsichtigt  ist,  ist  doch  schließlich  derMalhrmatik 
die  Loslösung  der  reinmathematischen  Formen.  Zahlenlehre  und  Proportionen-  >■»  i'eurigen 
lehre,  d.  h.  die  Wissenschaft  der  ganzen  und  der  gebrochenen  Zahlen,  bilden 
zusammen  das,  was  wir  heute  Arithmetik  nennen.  Die  Geometrie  der  Pytha- 
goreer ist  wesentlich  Geometrie  der  Ebene,  Eine  systematische  Raumgeometrie 
fehlt  noch.  Die  Astronomie  ist  nicht  viel  anderes  wie  die  heutige  Kinematik 
oder  reine  Bewegungslehre.  Von  einer  Trennung  des  mathematischen  Raumes 
von  dem  Weltraum  ist  in  jener  Zeit  keine  Rede,  Beides  fällt  vielmehr  un- 
mittelbar zusammen  ebenso  wie  die  Lehre  von  den  gebrochenen  Zahlen  mit  • 
der  Lehre  von  den  musikalischen  Harmonien.  Der  Begriff  der  Bewegung  ist 
mit  der  Bewegung  der  himmlischen  und  irdischen  Körper  untrennbar  ver- 
bunden. Der  geometrische  Punkt  ist  unmittelbar  das  Element  des  Welten- 
raumes wie  die  Einheit  das  Element  der  Zahl,  die  Pythagoreer  schaffen  eine 
Art  mathematischer  Atomistik.  An  dem  Quadrat  und  seiner  Diagonale  scheint 
schon  Pythagoras  gefunden  zu  haben  —  und  das  ist  vielleicht  seine  größte  mathe- 
matische Leistung  gewesen  — ,  daß  das  Verhältnis  zweier  Längen  nicht  immer 
durch  das  Verhältnis  zweier  Zahlen  angegeben  werden  kann.  Daher  bedeuten 
die  Längen,  die  sich  die  Pythagoreer  als  eine  Anhäufung  von  Punkten  und  in 
ihrem  Verhältnis  zu  den  Punkten  wie  die  Zahlen  zur  Einheit  dachten,  eine 
neue  Größenart,  und  die  geometrische  Proportionenlehre  muß  gesondert  ent- 
wickelt werden. 

K.d.G.  III.  I   -Mathematik,  A.  C 


66  A       H.  E.  Timerding :  Die  Verbreitung  mathemat.  Wissens  u.  mathemat.  Auffassung. 

So  haben  wir  in  der  pythagoreischen  Schule  den  Ursprung  des  Begriffes 
der  Mathematik  zu  suchen,  und  es  ist  auffallend,  welch  sichere  Erkenntnis 
des  methodischen  Charakters  und  des  systematischen  Zusammenhangs  uns 
gleich  auf  den  ersten  Entwicklungsstufen  begegnet.  Von  Anfang  an  aber 
tritt  die  Mathematik  als  ein  wesentlicher  Bestandteil  der  allgemeinen  Bil- 
dung auf.  Die  Mathematik  ist  entstanden  als  ein  Erziehungsmittel,  denn 
Pythagoras  und  seine  ersten  Anhänger  haben  sicher  nicht  geglaubt,  daß  sie 
die  ersten  Bausteine  zu  einer  großen  künftigen  Wissenschaft  zusammentrugen, 
sie  haben  vielmehr  gemeint,  einen  Abschluß  erreicht  zu  haben,  ihnen  war  die  Er- 
kenntnis der  Welt  in  ihrem  Wesen  und  Zusammenhang,  nicht  die  Auffindung 
mathematischer  Lehrsätze  der  Hauptzielpunkt.  Diese  Ideen  zeigen  vielfach  eine 
auffallende  Verwandtschaft  mit  den  Gedanken,  die  bei  der  Wiedergeburt  der 
Naturwissenschaften  in  der  Zeit  Galileis  die  leitenden  waren.  Man  lese  nur  das 
folgende  uns  erhaltene  Fragment  des  Archytas:  „Aufruhr  dämpft's,  Eintracht 
erhöht's,  wenn  die  Rechnung  stimmt.  Denn  dann  gibt's  keine  Übervorteilung 
und  es  herrscht  Gleichheit.  Denn  auf  Grund  der  Rechnung  setzen  wir  uns  über 
die  gegenseitigen  Handelsverpfiichtungen  auseinander.  Deswegen  nehmen 
die  Armen  von  den  Vermögenden  und  die  Reichen  geben  den  Bedürftigen, 
weil  sie  beide  sich  auf  Grund  der  Rechnung  darauf  verlassen,  daß  sie  so 
das  Gleiche  besitzen  werden.  So  ist  sie  Richtschnur  der  Redlichen  und 
Hemmschuh  der  Unredlichen  und  veranlaßt  die,  die  rechnen  können,  noch 
vor  der  Unredlichkeit  innezuhalten,  da  sie  ihnen  klarmacht,  daß  sie  bei  der 
Abrechnung  doch  nicht  unentdeckt  bleiben  werden;  diejenigen  aber,  die  nicht 
rechnen  können,  zwingt  sie,  von  der  Unredlichkeit  abzulassen,  nachdem  sie 
ihnen  auf  Grund  der  Rechnung  nachgewiesen,  daß  sie  unredlich  gewesen  sind." 
Die  ersten  Im  5.  Jahrhundert  v.  Chr.  entstand  das  erste  mathematische  Lehrbuch,  die 

"Lcirrbucber.*" Elemente  des  Hippokrates  von  Chios.  Kurz  nach  ihm  lieferte  Leon,  ein  Zeit- 
genosse Piatons,  ein  neues,  bedeutend  verbessertes  Elementarbuch.  Piaton 
konnte  sich  daher  bereits  auf  einen  ausgebildeten  mathematischen  Lehrbetrieb 
stützen,  wenn  er  die  Forderung  aufstellte,  daß  niemand  das  Studium  der  Philo- 
sophie beginnen  sollte,  ohne  vorher  gründlich  Mathematik  gelernt  zu  haben. 
Aus  den  Kreisen  der  Akademie  heraus  schrieb  Theudios  kurz  nach  Leon  ein 
drittes  Werk  über  die  Elemente  der  Geometrie.  Was  den  Inhalt  dieser  Lehr- 
bücher betrifft,  so  scheint  es  nicht  unwahrscheinlich,  daß  er  mit  der  Um- 
grenzung der  Euklidischen  Elemente  zusammenfällt,  nur  ist  die  Darstellung 
sicher  viel  weniger  entwickelt,  die  Begründung  lückenhafter.  Es  entspricht 
aber  so  ganz  dem  pythagoreischen  Geiste,  daß  zuerst  die  regulären  Polygone 
und  dann  die  regulären  Polyeder  den  letzten  Zielpunkt  bilden,  ohne  daß  eine 
allgemeine  Entwicklung  der  Raumgeometrie  voraufgeht.  Man  bedenke  die 
Rolle,  welche  die  letzteren  in  der  pythagoreischen  Philosophie  und  auch  in 
Piatons  Timäus  spielen. 
Ägyptische  Daneben  sind  die  Nachwirkungen  der  ägyptischen  Einflüsse  deutlich  zu 

in  ussc.  gj.]^gjjj^gjj    j)ahin  gehört  wesentlich  die  Lehre  vom  Flächeninhalt  und  von  der 
Ähnlichkeit  der  Figuren,  die  bei  Euklid  den  Inhalt  des  ersten  und  des  sechsten 


II.  Die  mathematische  Bildung  der  Griechen.  A  67 

Buches  bildet  Unmittelbare  Beziehungen  mit  Ägypten  sind  für  spätere  grie- 
chische Gelehrte  auch  sicher  festgestellt.  So  war  Oenopides  von  Chios  in 
Ägypten  und  soll  von  dort  die  Kenntnis  von  der  Schiefe  der  Ekliptik  und 
die  Konstruktion  des  Lotes  auf  einer  geraden  Linie  mitgebracht  haben.  Auch 
Demokrit  von  Abdera  ist  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  längere  Zeit  in  Ägyp- 
ten gewesen.  Wir  kennen  ihn  hauptsächlich  als  materialistischen  Philosophen» 
aber  er  ist  nicht  bloß  der  Schöpfer  einer  besonderen  Raumphysik,  er  hat 
auch,  wde  wir  jetzt  wissen,  die  pythagoreische  Lehre  von  der  Zusammensetzung 
der  Linien,  Flächen  und  Körper  aus  den  Punkten  zur  Gewinnung  geometri- 
scher Wahrheiten  ausgebeutet  und  damit  dieselbe  Lehre  entwickelt,  die  später 
im  17,  Jahrhundert  unserer  Zeitrechnung  als  Indivisibelnlehre  den  Ausgangs- 
punkt der  modernen  Infinitesimalrechnung  gebildet  hat.  Er  hat  demnach  wohl 
nicht  so  unrecht,  wenn  er  von  sich  selbst  sagt:  „In  den  geometrischen  Kon- 
struktionen auf  Grund  eines  bestimmten  Beweisverfahrens  hat  mich  keiner 
übertroffen,  selbst  nicht  die  ägyptischen  Harpedonapten". 

Wie  sich  auf  der  Grundlage  der  ägyptischen  Mathematik  die  griechische  Die  Quadratur 
Geometrie  entwickelt  hat,  dafür  gibt  es  kaum  ein  charakteristischeres  Beispiel  ^'^  Preises. 
als  das  berühmte  Problem  der  Quadratur  des  Kreises.  Die  Ägypter  hatten 
rein  praktisch  das  Verhältnis  des  Kreisumfanges  zum  Kreisdurchmesser  oder 
auch  die  Seite  eines  Quadrates,  das  dem  Kreise  inhaltsgleich  ist,  mit  genügender 
Annäherung  bestimmt.  Das  Bewußtsein,  daß  es  sich  dabei  um  eine  Annäherung 
handle  und  überhaupt  eine  klare  Erkenntnis,  was  eine  Annäherung  im  Gegen- 
satz zu  der  beweisbaren  Konstruktion  bedeutet,  war  bei  ihnen  noch  nicht 
vorhanden.  Die  Griechen  selbst  hatten  inzwischen  die  Geometrie  des  Kreises, 
von  Thaies  ausgehend,  in  einer  Weise,  die  den  Ägyptern  anscheinend  fremd 
war,  entwickelt.  In  diese  Kreisgeometrie  und  die  übrigen  Flächenbestim- 
mungen suchten  sie  nun  auch  die  Bestimmung  des  dem  Kreise  inhaltsgleichen 
Quadrates  einzureihen.  Sie  versuchten  das  Unmögliche,  dieses  Quadrat  auf 
Grund  einer  beweisbaren,  also  theoretisch  unbegrenzt  genauen  Konstruk- 
tion mit  Zirkel  und  Lineal  zu  finden.  Sie  strebten  zu  einer  logischen  Entwick- 
lung abzuklären,  was  ihnen  vielleicht  die  Baumeister  nach  der  aus  Ägypten 
stammenden  Regel  als  tatsächlich  richtig  angaben.  Der  erste,  der  über  die  \ 
Kreisquadratur  schrieb,  soll  nach  Plutarch  Anaxagoras  gewesen  sein.  Kurz 
darauf  gab  Antiphon,  ein  Zeitgenosse  des  Sokrates,  das  bekannte  Verfahren 
der  dem  Kreise  einbeschriebenen  regelmäßigen  Vielecke  von  beständig  stei- 
gender Seitenzahl  an,  das  ungefähr  zweihundert  Jahre  später  bei  Archimedes 
zu  einem  gewissen  Abschluß  und  zu  einem  sehr  brauchbaren  Resultate  fort- 
geführt ist.  Noch  in  das  fünfte  Jahrhundert  fallt  die  Arbeit  des  Hippokrates 
von  Chios,  die  uns  durch  den  Bericht  des  Eudemus  zum  Teil  erhalten  ist  und 
zeigt,  auf  welchen  Irrwegen  man  das  Ziel  zu  erreichen  suchte.  Freilich  sind 
diese  Irrwege  keine  Irrwege  des  Denkens,  sondern  nur  der  Aufgabestellung. 

Zu  dem  Problem  der  Kreisquadratur  kommen  die  anderen  Probleme  der  Andere 
Würfelverdoppelung  und  der  Dreiteilung  des  Winkels,  die  sich  in  Griechen- ^"''''^™^' 
land  selbst,  ohne  Rücksicht  auf  die  w^  enigstens  für  das  erste  von  den  Ägyptern 

5* 


68  A       H.  E.  Timerding :  Die  Verbreitung  mathemat.  Wissens  u.  mathemat.  Auffassung. 

gegebene  praktische  Lösung  entwickelten.  Sie  sind  als  Probleme  der  theo- 
retischen Geometrie  ebenfalls  unlösbar,  wenn  man  die  an  sich  allerdings  völlig 
willkürliche  Forderung  aufstellt,  sie  durch  eine  theoretisch  absolut  genaue  Kon- 
struktion mit  Hilfe  von  Zirkel  und  Lineal  zu  lösen.  Dabei  haben  aber  gerade 
sie  zu  den  feinsten  Untersuchungen  geführt.  Die  wirklichen  Resultate,  welche 
die  Griechen  von  diesen  Problemen  ausgehend  erhielten,  zeigen  gerade,  wie 
belanglos  die  theoretische  Lösbarkeit  mit  Zirkel  und  Lineal  ist.  Es  ist  nur  ein 
Die  griechische  geistiger  Sport,  eine  solche  Lösung  zu  suchen.  Aber  die  Geometrie  wurde 
geir%e'r'sport.  Überhaupt  von  den  Griechen  als  ein  geistiger  Sport  angesehen,  der  die  genaue 
Parallele  zu  den  leidenschaftlich  gepflegten  Leibesübungen  bildet.  Eine  solche 
Pflege  wurde  nur  möglich  durch  einen  großen  wirtschaftlichen  Wohlstand; 
bei  einem  Volke,  das  in  hartem  Daseinskampfe  steht,  ist  sie  undenkbar.  Sie 
verlangt  aber  auch  einen  Widerstand  gegen  die  erschlaffende  Wirkung  des 
Wohllebens,  ein  Beharren  in  einfachen  Lebensbedingungen.  Deshalb  eben 
haben  die  Griechen  die  formale  Geistesbildung  so  hoch  geschätzt,  weil  ihnen 
der  äußere  Luxus  wenig  bedeutete.  Mit  dem  Steigen  der  äußeren  Kultur 
wächst  das  Interesse  für  die  praktischen  Aufgaben  und  sinkt  die  rein  theo- 
retische Wissenschaft.  Aber  doch  ist  eine  solche  rein  geistige  Tätigkeit,  wie 
sie  die  griechische  Geometrie  bedeutet,  nur  deshalb  möglich  gewesen,  weil 
Handel  und  Industrie,  die  Arbeit  vieler  fleißigen  Hände  einer  vom  Schicksal 
.  begünstigten  Klasse  von  Menschen  die  Möglichkeit  gab,  frei  ihren  Neigungen 
zu  folgen  und  auch  die  Künstler  und  Gelehrten  erhielt,  deren  Arbeit  nicht 
unmittelbar  zum  Nahrungserwerb  dienen  konnte.  Auch  die  Mathematiker 
von  Beruf,  wenn  sie  nicht  von  Hause  aus  wohlhabend  waren,  müssen  durch 
den  Unterricht,  den  sie  vermögenden  jungen  Leuten  gaben,  ihren  Lebens- 
unterhalt gewonnen  haben.  Es  wird  erzählt,  die  von  den  Pythagoreern  zuerst 
geheimgehaltene  mathematische  Wissenschaft  sei  dadurch  in  weiteren  Kreisen 
bekannt  geworden,  daß  einem  armen  Mitgliede  des  Bundes  gestattet  wurde, 
sich  mit  ihrer  Hilfe  sein  Brot  zu  verdienen.  Auf  diese  Weise  ist  es  auch  für 
die  Ausbildung  der  mathematischen  Forschung  wesentlich  gewesen,  daß  sie 
als  ein  Bestandteil  der  höheren  Allgemeinbildung  angesehen  wurde  und  sich 
dementsprechend  didaktisch  verwerten  ließ.  Man  muß  sich  einmal  klarmachen, 
wie  ungeheuer  schwer  der  Gedanke  einer  Spezialwissenschaft  zu  fassen  war, 
die  den  ausschließlichen  Lebensberuf  einer  Reihe  von  Männern  bilden  sollte, 
ohne  daß  daraus  ein  sichtbarer  praktischer  Nutzen  entsprang.  Selbst  heute 
wird  ja  niemand  für  die  mathematische  Forschungsarbeit  bezahlt  (nachdem  es 
zwischendurch  allerdings  einmal  anders  gewesen  ist,  solange  die  Akademien 
für  sich  und  nicht  im  Zusammenhang  mit  den  Universitäten  bestanden).  Die 
materielle  Existenz  des  mathematischen  Forschers  gründet  sich  heute  auf 
eine  Lehrtätigkeit,  die  unmittelbar,  durch  die  Ausbildung  geeigneter  Lehr- 
kräfte, doch  der  Allgemeinbildung  oder  aber  einer  praktischen  Fachbildung 
zugute  kommen  soll. 
".. ringe Verbrei-  Indesscn  dürfeu  wir  wohl  nicht  denken,  daß  die  Gesamtheit  der  Gebilde- 

"'sd.awid.'e!r "  ^^^  i"^  griechischen  Altertum  eine  so  weitgehende  mathematische  Bildung 

Mathematik 
boi  don  Griechen. 


II.  Die  mathematische  Bildung  der  Griechen.  A  60 

empfangen  habe,  wie  sie  die  Euklidischen  Elemente  in  ihrer  Gesamtheit  dar- 
stellen. Im  Gegenteil  bedeutete  sicher  die  Beschäftigung  mit  der  Mathematik 
in  solcher  Ausdehnung  ein  besonderes  Fachwissen  und  ist  einer  kleineren 
Gruppe  von  Männern  vorbehalten  geblieben.  Sie  war  gewiß  auch  lokal  eng 
begrenzt  und  empfing  durch  die  antiken  Hochschulen  von  Athen,  Alexandria 
usw.  ihre  Hauptstütze.  Die  technischen  Berufe  standen  mit  diesen  Hochschulen 
nicht  in  Berührung,  sie  hielten  an  den  überkommenen  Kenntnissen  fest  und 
hatten  von  der  theoretischen  Mathematik  nur  geringen  Nutzen.  Das  er- 
klärt es  wohl,  wenn  veraltete  Regeln  und  Formeln,  die  den  inzwischen  ge- 
wonnenen Resultaten  direkt  widersprechen,  sich  immer  wieder  finden.  Erst 
unter  der  Herrschaft  der  Römer  haben  aber  gerade  die  praktischen  Zweige 
einen  Einfluß  auf  die  allgemeine  Bildung  ausgeübt,  indem  die  hochentwickelte 
äußere  Kultur  allen  Gebildeten  eine  gewisse  Rücksichtnahme  auf  das  tech- 
nische Wissen  nahelegte.  So  erklärt  sich  z.  B.  auch  das  Werk  des  Vitruv,  das 
die  Baukunst  keineswegs  für  die  Architekten,  sondern  für  die  literarisch  Inter- 
essierten behandelt  und  wohl  auch  nicht  von  einem  Berufsarchitekten  herrührt. 

Wenn  wir  im  allgemeinen  Unterricht  der  Römer  und  des  christlichen 
Mittelalters  von  der  Entwicklung  der  griechischen  Geometrie  wenig  Spuren 
finden  können,  so  ist  das  wohl  kein  Verfall  eines  früheren  Zustandes,  sondern 
auch  vorher  außerhalb  bestimmter  Schulen  nie  anders  gewesen.  Würden  wir 
also  die  Frage  stellen,  wann  der  Inhalt  der  Euklidischen  Elemente  zuerst 
wirklich  zum  Bestandteil  der  höheren  Allgemeinbildung  wurde,  so  würden 
wir  über  das  neunzehnte  Jahrhundert  kaum  zurückgehen  können.  Auffallend 
aber  ist  es,  daß  sich  auch  bis  in  die  neueste  Zeit  hinein  noch  Traditionen  aus  Zähigkeit 
der  voreuklidischen,  ja  aus  der  vorgriechischen  Zeit  im  Unterricht  erhalten  Maüi"m'Itik." 
haben,  die  wir  durch  alle  Jahrhunderte  vorher  zurückverfolgen  können.  Das 
allein  läßt  schon  daraufschließen,  daß  die  wissenschaftliche  Mathematik  der 
Griechen  in  weitere  Kreise  keinen  Eingang  gefunden  hatte,  daß  sich  vielmehr 
die  Mathematik  der  Praktiker  völlig  unabhängig  von  jener  theoretischen  Mathe- 
matik gehalten  und  als  eine  Unterströmung  während  der  ganzen  Entwicklungs- 
zeit der  griechischen  Geometrie  fortbestanden  hat,  nur  daß  wir  keine  literari- 
schen Denkmäler  von  ihr  aus  dieser  Zeit  besitzen.  Diesist  ja  auch  verständlich, 
weil  sie  sich  im  allgemeinen  durch  die  persönliche  Überlieferung  vom  Meister 
auf  den  Lehrling  und  nicht  in  der  Form  der  schriftlichen  Mitteilung  fort- 
pflanzte. Erst  bei  Heron  und  den  römischen  Agrimensoren  sehen  wir  sie 
wieder  an  die  Oberfläche  treten,  bei  Heron  vertieft  durch  die  dazwischen- 
getretene wissenschaftliche  Geometrie  der  Griechen,  bei  den  Agrimensoren 
roh  und  ungelenk,  als  hätte  es  nie  einen  Euklid  gegeben. 

Der  Gegensatz  der  praktischen  und  theoretischen  Mathematik,  wie  ihn 
die  griechische  Bildung  ausgeprägt  hat  und  wie  er  sich  fortan  erhält,  ist  im 
Grunde  ein  Gegensatz  der  Berufe.  Die  theoretische  Mathematik  ist  eine  Lieb- 
haberei der  vornehmen  Stände,  welche  über  der  wirtschaftlichen  Erwerbs- 
arbeit stehen  und  auf  sie  verachtend  herabblicken.  Die  einzig  würdigen  Be- 
rufe  sind   ihnen   Staatsverwaltung  und  Kriegsdienst.    Davon  ist  auch  bei 


70  A        H.  E.  Timerding:  Die  Verbreitung  mathemat.  Wissens  u.  mathemat.  Auffassung. 

piaton  Platon  immer  allein  die  Rede.  Wo  er  von  den  Anwendungen  der  Mathe- 
(427-347  V.  ir.)  jjjg^^jjj.  spricht,  durch  die  sie  sich  nützlich  erweisen  soll,  nennt  er  bloß  die 
militärischen.  Von  den  viel  näherliegenden  Anwendungen  auf  Künste  und 
Gewerbe  sagt  er  nichts.  Alle  diese  Tätigkeiten  existieren  für  sein  aristokra- 
tisches Bewußtsein  überhaupt  nicht.  Bei  der  Arithmetik  spricht  er  mit  dem 
Ausdruck  tiefster  Verachtung  von  dem  praktischen  Gebrauch,  den  die  Kauf- 
leute davon  machen.  Die  wahre  Bedeutung  der  Mathematik  ist  für  ihn  eine 
ganz  andere,  sie  besteht  in  dem  klärenden  und  befreienden  Einfluß,  den  sie 
auf  den  Geist  ausübt.  Sie  zieht  ihn  von  den  gemeinen  irdischen  Dingen  ab 
und  lenkt  ihn  auf  das  Ewige  und  Unvergängliche  hin.  Ihre  Rolle  ist  die  des 
Vermitteins  zwischen  dem  sinnlich  Wahrnehmbaren  und  dem  nur  durch  die 
Vernunft  zu  Erkennenden.  Ihre  Aussagen  knüpfen  nämlich  zwar  an  die  Gegen- 
stände der  Wahrnehmung  an,  sind  aber  nur  als  ein  Prozeß  des  reinen  Denkens 
zu  verstehen.  Sie  nötigen  die  Seele,  sich  der  Vernunft  zu  bedienen,  um  die  Wahr- 
heit zu  erkennen.  Diese  platonische  Auffassung  ist  später  nie  verschwunden. 
Wenn  wir  z.B.  lesen,  was  Herbart  über  den  pädagogischenWert  der  Mathematik 
gesagt  hat,  so  klingt  es  genau  an  Piatons  Worte  an.  Es  ist  für  die  Mathe- 
matiker sehr  schmeichelhaft,  wenn  Platon  weiter  meint,  daß  alle,  die  von  Natur 
Arithmetiker  sind,  auch  für  alle  anderen  Kenntnisse  ein  rasches  Fassungs- 
vermögen zeigen.  Wenn  er  dann  weiter  hinzufügt,  daß  die,  welche  von  der 
Natur  eine  langsame  Auffassung  bekommen  haben,  durch  die  Unterweisung 
in  der  Mathematik ,  wenn  sie  auch  keinen  anderen  Nutzen  daraus  ziehen  soll- 
ten, doch  wenigstens  ein  besseres  Auffassungsvermögen  erwarben,  so  erinnert 
das  ebenfalls  sehr  an  die  Gründe,  die  später  im  19.  Jahrhundert  immer 
wieder  zugunsten  des  Mathematikunterrichtes  an  den  höheren  Schulen  an- 
geführt worden  sind. 
Die  Mathematik  Bei  Platon  findet  sich  auch  der  deutliche  Hinweis  darauf,  daß  die  geo- 

üb^gang  von  metrischc  Betrachtung  sich  nicht  auf  die  wirklichen  Figuren,   sondern  auf 
den  vergäng-    Idealbilder  beziehe,  die  aus  diesen  Fiefuren  abstrahiert  werden.    Auf  diese 

liehen  Erschei-  '  ö 

nungcii  zu  der  idealen  Figuren  soll  sich  auch  der  Begriff  der  Bewegung  beziehen.  Der  Be- 
griff einer  mathematischen  Physik  im  heutigen  Sinne  ist  schon  zu  Piatons  Zeit 
merkwürdig  deutlich  ausgeprägt.  Die  Bewegungslehre  fällt  mit  der  iVstrono- 
mie  durchaus  zusammen,  die  Bewegung  der  Gestirne  liefert  überhaupt  erst 
den  Begriff  der  Bewegung,  so  wie  er  hier  gefaßt  wird.  Die  Gestirne  bilden 
das  Beste  und  Vollkommenste,  was  es  im  Bereich  des  Wahrnehmbaren  gibt, 
aber  bleiben  doch  hinter  dem  wahrhaftigen  Sein  weit  zurück.  Diesem  wahren 
Sein  kommt  man  näher,  wenn  man  die  Bewegung  rein  an  sich,  nach  dem 
wahrhaften  Maße  ihrer  Geschwindigkeit  und  Langsamkeit  betrachtet,  genau 
wie  es  die  moderne  Kinematik  tut.  Es  wird  so  der  eigentümliche  Gesichts- 
punkt der  Vollkommenheit  der  herrschende,  das  gedankliche  Sein  ist  voll- 
kommener als  alles  der  Wahrnehmung  Zugängliche.  Von  diesen  ewigen 
Seinsformen  gibt  die  Mathematik  Kenntnis,  ihre  Prozesse  sind  daher  nicht 
eines  praktischen  Zweckes  wegen  da,  sondern  bloß  um  der  Erkenntnis  willen 
zu  betreiben.    Sie  bereiten  die  Idee  des  Guten  vor,  indem  sie  die  Seele  ver- 


II.  Die  mathematische  Bildung  der  Griechen.  A  7  i 

anlassen,  sich  dahin  zu  wenden,  wo  das  Seligste  wohnt  von  alledem,  was  es 
gibt,  das,  wohin  wir  auf  jede  Weise  unseren  Geist  hinlenken  sollen.  Auch  bei 
der  musikalischen  Harmonielehre  bilden  die  wirklich  gehörten  Akkorde  nicht 
den  eigentlichen  Gegenstand,  die  wahre  Aufgabe  ist,  die  absolute  Harmonie 
zu  suchen. 

Die  vier  mathematischen  Wissenschaften,  die  Piaton  im  Sinne  des  py- Die  Diaiek 
thagoreischen  Systems  unterscheidet,  bilden  aber  sozusagen  nur  die  wissen- 
schaftliche Propädeutik.  Sie  haften  immer  noch  an  der  äußeren  Erfahrung, 
weil  sie  vom  sinnlich  Wahrnehmbaren  ausgehen.  Die  Dialektik  erst  erhebt 
sich  zum  reinen  Denken.  In  dieser  Hinzufügung  der  Dialektik  liegt  der  Schritt, 
den  Piaton  über  die  Pythagoreer  hinaus  tut.  Hier  wirkt  der  Einfluß  des  Sokrates, 
der  ja  der  Schöpfer  dieser  Dialektik  ist.  In  der  eigenartigen  Verschmelzung 
der  pythagoreischen  und  der  sokratischen  Weisheit  liegt  eben  das  Wesen  der 
platonischen  Philosophie. 

Wenn  aber  die  platonische  Auffassung  der  Mathematik,  die  wohl  ziem-  Sokrates 
lieh  genau  die  pythagoreische  ist,  dem  Sokrates  in  den  Mund  gelegt  wird,  so  *^**  ^^ 
ist  das  eine  poetische  Freiheit;  sie  würde  dem  Bericht,  den  Xenophon  über 
Sokrates'  Auffassung,  vielleicht  in  bewußtem  Gegensatz  zu  Piatons  Ausdeu- 
tung, gegeben  hat,  direkt  zuwiderlaufen.  Danach  hat  Sokrates  wohl  das  Studium 
der  Geometrie,  Astronomie  und  des  Rechnens  empfohlen,  aber  nur  so  weit, 
wie  der  praktische  Nutzen  reicht.  Die  Geometrie  führte  er  auf  die  Feldmessung 
zurück.  Jeder  soll  imstande  sein,  bei  der  Übernahme,  Übergabe  oder  Einteilung 
seines  Grundbesitzes,  auch  bei  der  Ausgabe  der  Landarbeit,  die  Flächen 
richtig  zu  bestimmen.  Aber  das  Studium  bis  zu  einer  schwer  verständlichen 
Wissenschaft  fortzuführen,  hielt  er  nicht  für  gut.  Denn  er  konnte  nicht  ein- 
sehen, wozu  das  nützen  sollte.  Es  halte  den  Menschen  nur  von  der  Erwerbung 
nützlicher  Kenntnisse  ab.  Auch  die  Astronomie  solle  sich  auf  die  Bestimmung 
der  Tages-  und  Jahreszeiten  beschränken,  was  bei  Reisen  und  Arbeiten,  die 
sich  nach  der  Zeit  richten,  wie  beim  Landbau,  nützlich  ist.  Das  seien  Kenntnisse, 
wie  sie  die  Wächter  und  Seesteuerleute  haben  müßten.  Aber  bis  zur  Bewegung 
der  Gestirne,  der  Erforschung  ihrer  Entfernungen  von  der  Erde  und  vonein- 
ander und  der  Bestimmung  ihrer  Umlaufszeiten  vordringen  zu  wollen  oder 
gar  nach  den  Ursachen  zu  forschen,  davon  riet  er  dringend  ab.  Man  sollte 
nicht  über  den  Geheimnissen  der  göttlichen  Schöpfung  brüten.  Menschenwitz 
könne  das  nicht  fassen  und  es  sei  vermessen,  aufdecken  zu  wollen,  was  Gott 
uns  absichtlich  verhüllt  hat.  So  solle  man  sich  auch  in  der  Arithmetik  von 
fruchtlosen  Spekulationen  fernhalten  und  immer  das  Nützliche  im  Auge  be- 
halten. Der  Bericht  des  Xenophon  macht  keinen  unwahrscheinlichen  Ein- 
druck, er  steht  ziemlich  in  Einklang  mit  der  Art,  wie  in  den  historisch  treueren 
Dialogen  Piatons  das  geistige  Wesen  des  Sokrates  geschildert  ist.  Sokrates 
würde  sich  demnach  in  diesen  Punkten  eng  mit  den  Sophisten  berühren,  denen 
er  überhaupt  nicht  gar  so  fernsteht. 

Von  dem  Sophisten  Protagoras  hat  nun  Piaton  selbst  eine  Ansicht  mit-  Protagoras 
geteilt,  wonach  dieser  sich  dem  rein  theoretischen  Wissen  entschieden  feindlich  <**5-4i5>- 


72  A       H.E.  Timerding:  Die  Verbreitung  mathemat.  Wissens  u.  mathemat.  Auffassung. 

gegenüberstellt.  „Die  anderen",  sagt  er  dort,  „mißhandeln  die  Jugend,  denn 
wenn  die  jungen  Menschen  vor  den  Wissenschaften  fortlaufen,  so  schleppen 
sie  sie  wieder  gegen  ihren  Willen  herbei  und  quälen  sie  mit  den  Wissenschaften 
und  lassen  sie  Rechnen  und  Astronomie  und  Geometrie  und  Musik  treiben. 
Wenn  aber  einer  zu  mir  kommt,  dann  lernt  er  nur  das,  weswegen  er  kommt. 
Bildung  bedeutet  im  Hause:  sein  Haus  gut  und  vernünftig  verwalten,  und  im 
Staat:  an  den  öffentlichen  Angelegenheiten  redend  und  handelnd  mit  Geschick 
teilnehmen  Wenn  du  zu  mir  kommst,  junger  Mann,  dann  gehst  du  an  dem 
ersten  Tage,  an  dem  du  bei  mir  warst,  tüchtiger  wieder  nach  Hause,  und 
ebenso,  wenn  du  wieder  kommst;  jeder  Tag  wird  dazu  dienen,  dich  tüchtiger 
zu  machen." 
Der  Gegensatz  Es  Stehen  SO  schon  in  dieser  frühen  Zeit  bei  den  Griechen  zwei  Ansichten 

''theoretischer'  sich  schroff  gegenüber,  der  Gedanke  der  praktischen  Schulung  und  der 
Bildung.       Gedanke  der  theoretischen  Geistesbildung,  und  dieser  Gegensatz  ver- 
schwindet fortan  nie  wieder.  Durch  die  Gründung  der  Platonischen  Akademie 
wird  der  theoretischen  Auffassung  eine  mächtige  Stütze  geliehen.  Piaton  selbst 
ist  nicht  eigentlich  Mathematiker  gewesen,  damit  würden  wir  ihm  unrecht  tun. 
t      Er  übernahm  nur  die  mathematische  Bildung  aus  der  pythagoreischen  Schule 
ihres  formalen  Bildungswertes  weg'en  und  hatte  zu  ihr  etwa  dieselbe  Stellung 
wie  einer  der  modernen  Philosophen.  Er  nahm  wohl  ihre  Erkenntnisse  willig 
auf,  hatte  aber  selbst  weder  den  Beruf  noch  die  Neigung,  forschend  an  ihr 
mitzuarbeiten.  Anders  ist  es  mit  den  Männern,  die  wirklich  Mathematiker  von 
Beruf  gewesen  sind,  Archytas  von  Tarent,  Theätet  von  Athen  und  Eudoxos 
von  Knidos,  ferner  Menächmus,  der  die  Lehre  von  den  Kegelschnitten  be- 
gründete, 
zenon  Vielleicht  der  entscheidendste  Fortschritt  des  mathematischen  Denkens  bei 

(490— 430V.  )•  ^g^  Griechen  hat  sich  an  die  Paralogismen  angeknüpft,  die  unter  Zenons  Namen 
überliefert  sind  und  vielfach  als  Beispiele  für  die  Irrwege  des  griechischen 
Denkens  angeführt  werden.  In  Wahrheit  sind  sie  glänzende  Beispiele  für  den 
Mut  eines  ungewöhnlich  scharfsinnigen  Menschen,  der  sich  durch  den  schein- 
baren Widerspruch  seiner  Gedanken  gegen  den  gemeinen  gesunden  Menschen- 
verstand nicht  abschrecken  läßt.  Sie  haben  zuerst  den  Einblick  in  das  eigen- 
artige Wesen  der  unendlichen  Prozesse  eröffnet,  ohne  die  die  Mathematik 
nicht  auskommen  kann,  die  aber  in  ihr  auch  die  größte  Schwierigkeit  und 
den  ersten  Stein  des  Anstoßes  bilden.  Diese  Paralogismen  sind  erst  hundert 
Eudoxos.  Jahre  später  durch  Eudoxos  von  Knidos  wirklich  gelöst  worden.  Dieser 
zeigte,  daß  der  Begriff  der  Gleichheit,  wenn  man  ihn  auf  unendliche  Prozesse 
ausdehnen  will,  einer  bestimmten  Erweiterung  bedarf.  Diese  besteht  nach 
Eudoxos  darin,  daß  zwei  Größen  (Zahlen,  Flächen  oder  Rauminhalte)  gleich 
heißen,  wenn  sie  sich  um  weniger  unterscheiden  als  jede  noch  so  kleine  an- 
gebbare Größe.  Die  große  Geistestat,  die  in  einem  so  unscheinbaren  Satze 
liegt,  ist  eben  die,  daß  Eudoxos  die  rein  gedankliche  Schwierigkeit  bei  einer 
Sache  erkannte,  welche  die  unmittelbare  Anschauung  mit  Leichtigkeit  be- 
wältigen zu  können  glaubt. 


II.  Die  mathematische  Bildung  der  Griechen.  A  73 

Mit  diesen  Sätzen  ist  aber  auch  das  Band,  das  die  Mathematik  an  die 
anschauHche  Erfassung  der  Wirklichkeit  fesselte,  endgültig  zerschnitten,  und 
der  Gegensatz  zwischen  praktischer  und  theoretischer  Auffassung  nicht  bloß 
ein  solcher  des  Interesses,  sondern  auch  ein  Gegensatz  der  Auffassungs- 
weise geworden. 

Eine  gewisse  Etappe  in  der  Entwicklung  bezeichnet  der  bekannteste  aller  Eukud. 
antiken  Geometer,  Euklid  von  Alexandria  (um  300  v.  Chr.).  Die  Bücher  des 
Euklid  geben  in  ihrer  Gesamtheit  ein  ziemlich  deutliches  Bild  von  der  Ent- 
wicklung der  griechischen  Mathematik  bis  zum  Ende  des  vierten  Jahrhunderts 
vor  Christus,  nicht  bloß  bezüglich  des  Inhaltes,  sondern  auch  hinsichtlich  der 
völligen  Theoretisierung  der  Mathematik,  denn  sie  sind  durchaus  auf  den  \ 
früheren  Arbeiten  aufgebaut.  Sie  zeigen  gleichzeitig,  welcher  Geist  an  der 
Hochschule  des  neuen  Agypterreiches  herrschte ,  auf  deren  Entstehung  die 
alten  Hochschulen  der  Ägypter  vielleicht  nicht  ohne  Einfluß  gewesen 
sind,  so  sehr  sie  auch  der  griechischen  Sinnesart  entsprach.  Denn  sie 
bedeutete  im  Sinne  eines  Piaton  und  Aristoteles  eine  Pflanzstätte  rein 
wissenschaftlichen  Strebens,  das  die  Unterweisung  des  reiferen  Jünglings- 
alters mit  dem  Durcharbeiten  und  Ausreifen  der  früheren  Schriftwerke  ver- 
quickte. Die  große  Bibliothek,  die  sich  in  Alexandria  ansammelte,  war 
ein  notwendiges  Zubehör  dieses  Lehrbetriebes.  Auch  Euklid  hat  nicht  in 
selbständigen  Schöpfungen,  sondern  in  der  systematischen  Zusammenfassung 
und  methodischen  Abklärung  des  vor  ihm  Geleisteten  seine  Hauptaufgabe  ; 
gesehen.  Sein  bekanntestes  Werk  sind  die  Stoicheia  (Elemente),  welche  ' 
die  Grundlagen  des  mathematischen  Wissens,  so  wie  sie  Euklid  an  der 
Alexandrinischen  Hochschule  selbst  vortrug,  umfassen.  Sie  vereinigen  in  sich 
Geometrie  und  Arithmetik.  Die  Astronomie  imd  die  Musik  hat  Euklid  in  be- 
sonderen Lehrwerken  behandelt,  ebenso  wie  die  inzwischen  aus  den  Auf- 
gaben des  griechischen  Theaters  erwachsene  Perspektive  (Optik).  Die  ersten 
sechs  Bücher  der  Euklidischen  Elemente  behandeln  die  Planimetrie,  d.  h.  die 
alte  pythagoreische  Geometrie.  Dazwischen  ist  aber  im  fünften  Buch  die  durch  j 
Eudoxos  geschaffene  exakte  Proportionenlehre  eingeschaltet,  durch  deren  Re- 
sultate die  neue  Darstellung  der  Ähnlichkeitslehre  im  sechsten  Buch  wesent-  / 
lieh  bedingt  wird.  Die  Lehre  von  den  irrationalen  Zahlen,  die  das  siebente  bis 
neunte  Buch  füllt,  ist  wohl  wesentlich  nach  Theätet  gegeben.  Im  zehnten, 
die  Theorie  der  Irrationalzahlen  vertiefenden  Buch  scheint  eine  von  Theätet 
stammende  Grundlage  frei  ausgestaltet  zu  sein.  Das  elfte  und  zwölfte  Buch 
enthalten  die  elementare  Stereometrie,  deren  Fehlen  Piaton  noch  beklagte, 
hauptsächlich  auf  der  durch  Eudoxos  geschaffenen  exakten  Behandlung 
fußend,  welche  insbesondere  die  Formel  für  den  Inhalt  der  Pyramide  von  der 
durch  Demokrit  hineingebrachten  metaphysischen  Beimengung  befreit.  Das 
dreizehnte  Buch  endlich  bringt  die  regulären  Körper  und  damit  findet  das 
Werk  ganz  im  pythagoreischen  Sinne  seinen  Abschluß. 

Die  Euklidische  Behandlung  hat  auf  den  mathematischen  Unterricht  aller  Euklids  tinfluß. 
späteren  Zeiten  bis  in  die  Gegenwart  hinein  den  größten  Einfluß  ausgeübt 


74  A       H.  E.  Timerding:  Die  Verbreitung  mathemat.  Wissens  u.  mathemat.  Auffassung. 

Auch  ihre  Mängel  hat  man  ohne  Widerspruch  hingenommen.  Im  Gegenteil 
galt  Euklid  immer  für  das  Muster  einer  streng  logischen  Darstellung.  Den- 
noch ist  er  keineswegs  von  logischen  Schwächen  frei.  Die  größten  zeigen 
sich  vielleicht  in  den  stereometrischen  Büchern,  eben  weil  sie  der  Entstehungs- 
zeit ihres  Inhaltes  nach  die  jüngsten  sind.  So  ist  z.  B.  der  Kongruenzbegriff 
für  den  Raum  nur  mangelhaft  entwickelt.  Die  Schwierigkeit  lag  bei  der  Raum- 
geometrie eben  darin,  die  für  die  Ebene  voll  ausgebildete  Geometrie  auch 
auf  den  Raum  zu  übertragen.  Für  die  ebene  Geometrie  gibt  die  Zeichnung 
den  natürlichen  Anhalt.  Es  brauchen  ja  nur  die  wirklichen  Konstruktionen 
zu  ihrem  Idealbild  abgeklärt  zu  werden,  um  die  grundlegenden  geometrischen 
Prozesse  zu  liefern.  Bei  der  Raumgeometrie  ist  das  anders,  die  begrenzten 
Körper,  die  sich  wirklich  herstellen  lassen,  geben  nicht  unmittelbar  die  ge- 
nügende Grundlage  für  die  logische  Entwicklung.  Daher  treten  bei  Euklid 
rein  gedankliche  Operationen  mit  geraden  Linien  und  Ebenen  im  Raum 
(Gedankenexperimente,  wie  Mach  sagt)  an  die  Stelle,  die  einfach  nach  Ana- 
logie der  in  der  Ebene  wirklich  ausführbaren  Konstruktionen  gebildet  sind. 
Darin  liegt  zwar  keine  begriffliche,  aber  eine  erhebliche  pädagogische  Schwie- 
rigkeit, denn  diese  Raumgeometrie  erfordert  zu  ihrem  Verständnis  ein  hoch- 
entwickeltes Anschauungsvermögen,  und  wenn  sie  den  einfachsten  Sätzen 
über  begrenzte  Körper  im  Unterricht  vorangestellt  wird,  so  heißt  das,  das 
Schwierigere  dem  Leichteren  voraufgehen  lassen,  was  aller  pädagogischen 
Klugheit  zuwiderläuft.  Erst  in  der  neuesten  Zeit  hat  man  aber  angefangen, 
in  einem  propädeutischen  Kurs  von  den  begrenzten  Körpern  methodisch  aus- 
zugehen. Wie  früher  die  Euklidischen  Elemente  als  das  Muster  einer  strengen 
mathematischen  Darstellung  galten,  sind  sie  auch  in  pädagogischer  Beziehung 
immer  für  das  unübertreff  bare  Muster  gehalten  worden.  Zwei  Jahrtausende  lang 
ist  Unterricht  in  der  Mathematik  und  Unterricht  in  den  Elementen  des  Euklid 
gleichbedeutend  gewesen.  Dies  wurde  erst  anders,  als  sich  der  Unterricht 
fortschrittlicher  zu  gestalten  begann  und  durch  die  wirkliche  kritische  Durch- 
arbeitung der  Euklidischen  Methode,  die  unserer  Zeit  vorbehalten  geblieben  ist, 
diese  Methode  eine  wesentliche  Korrektur  und  Ergänzung  erfuhr.  Das  Wesen 
dergeometrischen  Wissenschaft  sieht  man  heute  darin,  daß  alle  geometrischen 
Sätze  in  zwei  Gruppen  geschieden  werden,  eine  kleine  Gruppe,  welche  die  so- 
genannten Axiome  bilden,  und  eine  große  Gruppe,  der  alle  anderen  Sätze 
angehören.  Die  Sätze  der  ersten  Gruppe  bleiben  unbewiesen,  aus  ihnen  sind 
aber  alle  Sätze  der  zweiten  Gruppe  bloße  logische  Folgerungen.  In  dieser 
Weise  treten  jedoch  die  Axiome  bei  Euklid  nicht  auf,  seine  Postulate  bilden 
nur  einen  Teil  eines  vollständigen  Systems  von  Axiomen,  sie  sind  auch  in 
ihrer  Formulierung  zum  Teil  unvollkommen,  sie  sind  als  unbewiesene,  der 
Anschauung  entlehnte  Sätze  nicht  klar  erkannt. 
Weitere  Archimcdcs  von  Syrakus  und  Apollonius  von  Perga,  die  in  dem  Jahr- 

[■r  griechischen  hundert  nach  Euklid  lebten,  bedeuten  in  gewissem  Sinne  den  Höhepunkt  der 
Mathematik,    griechischen  Mathematik.  Ihre  Schriften  sind  uns  durch  ein  gütiges  Geschick 
auch  zum  Teil  erhalten  geblieben.  Dies  gilt  aber  keineswegs  von  allen  mathe- 


II.  Die  mathematische  Bildung  der  Griechen.  A  75 

matischen  Untersuchungen,  von  vielen  haben  wir  nur  durch  Sammelwerke 
aus  der  Verfallzeit  Kenntnis.  Das  Werk  des  Diophant,  das  entschieden  aus 
der  Verfallzeit  der  mathematischen  Forschung  (etwa  aus  dem  3.  Jahrhundert 
n.  Chr.)  herrührt,  überrascht  trotzdem  durch  die  Fülle  der  interessantesten 
arithmetischen  Aufgaben  und  Sätze,  die  es  enthält  Es  ist  geradezu  die  Grund- 
lage der  modernen  Zahlentheorie  geworden.  Dieser  Inhalt  beruht  aber  haupt- 
sächlich auf  früheren  arithmetischen  Arbeiten,  von  denen  sich  sonst  keine 
Spur  erhalten  hat.  Selbst  in  dieser  späteren  Kaiserzeit  steht  noch  das 
Studium  der  Mathematik  an  der  Hochschule  von  Alexandria  in  Blüte,  es 
fehlt  nur  die  Fähigkeit  zum  selbständigen  wissenschaftlichen  Weiterarbeiten. 
Einen  deutlichen  Einblick  in  den  Lehrbetrieb  gibt  in  mathematischer  Hin- 
sicht das  Sammelwerk  des  Pappus  (Ende  des  3.  Jahrhunderts  n.  Chr),  dasPappus. 
seiner  Lehrtätigkeit  an  der  Hochschule  von  Alexandria  entstammt.  Pappus 
gibt  gedrängte  Überblicke  über  die  Werke  der  großen  griechischen  Geo- 
meter,  die  in  systematischen  Lehrgängen  durchgenommen  werden,  und  knüpft 
daran  Ausführungen,  die  den  Studierenden  das  Verständnis  der  Originalwerke 
erleichtern  sollen.  Gerade  das  Auftreten  der  ausführlichen  Kommentare  in  der 
späteren  Zeit  zeigt  die  abnehmende  Fähigkeit  des  mathematischen  Denkens. 
Man  empfand  Lücken,  wo  die  Darstellung  in  der  klassischen  Zeit  für  das 
Verständnis  ausführlich  genug  gewesen  war. 

Dazu  kommt,  daß  allgemein  das  Interesse  für  die  vergangene  Blütezeit 
der  griechischen  Literatur  die  Herrschaft  führt.  Die  Werke  der  alten  Gelehr- 
ten und  Dichter  werden  kommentiert,  gesammelt  und  ausgezogen.  Diese  rück- 
blickende Tendenz,  mit  der  die  Entwicklung  der  philologischen  Wissen- 
schaft zusammenhängt  und  die  auch  die  Philosophie  der  späteren  Zeit  be- 
herrscht, zeigt  sich  der  unmittelbaren  mathematischen  Forschung  ungünstig; 
sie  beschränkt  die  Beschäftigung  mit  der  Mathematik  mehr  und  mehr  auf 
das  Sammeln  und  Kommentieren  der  Werke  aus  der  Blütezeit 

In  der  nacharchimedischen  Zeit  wandte  sich  das  mathematische  Interesse 
zunächst  vor  allem  der  Kurvenlehre  zu.  Nikomedes  fand  die  Konchoide,  Per- 
seus  die  spirischen  Linien,  Diokles  die  Kissoide  usw.  Daneben  stehen  viele 
andere  Untersuchungen,  aber  es  erschöpft  sich  doch  mehr  und  mehr  der  Be- 
reich dessen,  was  die  Griechen  mit  ihren  Methoden  und  Anschauungen  in  der 
Mathematik  bewältigen  konnten.  Statt  der  rein  mathematischen  Probleme 
treten  jetzt  wieder  die  Anwendungsgebiete  des  mathematischen  Denkens  mäch- 
tig hervor.  Die  griechische  Astronomie  erreicht  in  Hipparch  (tätig  zwischen  Die  Astronomie. 
161  und  126  V.  Chr.)  ihre  höchste  Blüte.  Er  versucht  eine  geometrische  Dar- 
stellung der  Bewegung  von  Sonne  und  Mond,  er  vervollständigt  das  schon 
von  Aristarch  aus  Samos  angewendete  Verfahren  zur  Bestimmung  der  Ent- 
fernungen der  Sonne  und  des  Mondes  von  der  Erde,  er  entdeckt  die  Präzession 
der  Tag-  und  Xachtgleichen  und  berechnet  die  erste  Sehnentafel.  In  dieser 
Ausbildung  der  Astronomie  steckt  auch  ein  großes  Stück  Mathematik.  Es 
entwickelt  sich  eben  die  antike  Trigonometrie,  die  in  der  Sphärik  des  Menelaos 
von  Alexandria  (um   1 00  n.  Chr.)  ein  erstes  Kompendium  findet  Sie  erhält 


76  A        H.  E.  Timerding:  Die  Verbreitung  mathemat.  Wissens  u.  mathemat.  Auffassung. 

dann  ihren  Abschluß  in  der  „großen  Zusammenstellung"  (dem  Almagest)  des 
Claudius  Ptolemaeus  (2.  Jahrhundert  n.  Chr.).  Die  allgemeine  Signatur  dieser 
Zeit  ist  entschieden  das  mit  der  äußeren  Kultur  sich  entwickelnde  Interesse 
für  die  praktischen  Aufgaben.  Die  praktische  Mathematik,  die  neben  der 
theoretischen  Geometrie  auch  in  der  Blütezeit  immer  fortbestanden  hat,  tritt 
nun  auch  literarisch  in  die  Öffentlichkeit.  Das  ist  das  Bezeichnende  an  den 
Heron.  Schriften  des  Heron  von  Alexandria,  deren  Entstehung  und  Zusammenhang 
allerdings  noch  immer  nicht  vollständig  geklärt  ist.  Zum  Teil  handelt  es 
sich  vielleicht  auch  um  ein  erneutes  Hervortreten  der  alten  einheimi- 
schen ägyptischen  Mathematik  gegenüber  der  importierten  griechischen 
Wissenschaft.  Die  praktische  Geometrie  der  Griechen  ist  aber  wahrschein- 
lich hiervon  auch  nicht  sehr  verschieden  gewesen.  Was  die  römischen 
Agrimensoren  bringen,  ist  die  übernommene  griechisch- ägyptische  Feld- 
meßkunst. 

Reaktion  Dicscr  Waudcl  des  Interesses  bedingt  im  späteren  Altertum  allerdings 

maAenrattche  ^^"^  ^^^^  auch  ein  Widerstreben  gegen  die  mathematische  Erkenntnis.   Der 

Erkenntnis,  menschliche  Geist  wendet  sich  mehr  und  mehr  der  mystischen  oder  schlicht- 
gläubigen Versenkung  in  die  übernatürlichen  Dinge  zu,  und  die  Indifferenz 
des  mathematischen  Wissens  den  Begriffen  des  Guten  oder  Bösen  gegenüber 
läßt  es  als  eine  niedrigere  Stufe  der  geistigen  Tätigkeit  zurücktreten.  Die 
Bedeutung,  die  es  behält,  ist  nur  die  symbolische,  die  schon  in  der  pythago- 
reischen Schule  eine  große  Rolle  spielte.  Die  Arithmetik  wird  ein  Teil  der 
Theologie:  man  sucht  in  den  Zahlen  Aufschluß  über  das  göttliche  Wesen.  Da- 
her das  Interesse,  das  die  Arithmetik  genießt;  das  Grundwerk,  die  Einführung 

Fortdauern  iii  die  Arithmetik  des  Nikomachus  von  Gerasa,  wurde  alsbald  von  Apuleius 
der  Arithmetik.  ^^^  Latcinlsche  übersetzt,  was  immerhin  soviel  bedeutete,  als  wenn  ein  wissen- 
schaftliches Werk  im  17.  Jahrhundert  ins  Deutsche  übersetzt  wurde.  Nach 
Nikomachus  kommt  noch  Diophantus  von  Alexandria.  So  läuft  eine  streng 
wissenschaftliche  Arithmetik  neben  der  mystischen  Ausdeutung  der  Zahl- 
beziehungen her,  und  von  einem  Niedergang  der  mathematischen  Studien 
können  wir  auch  in  dieser  Zeit  nicht  eigentlich  sprechen. 

Auch  Augustin  schätzt  die  Wissenschaft  der  Zahlen  sehr  hoch  ein,  er 
sagt  (De  doctrina  christiana,  lib.  II,  cap.  XXXVIII),  die  Zahlenwissenschaft 
sei  nicht  von  den  Menschen  geschaffen,  sondern  in  der  Natur  der  Dinge  ge- 
legen und  von  den  Menschen  nur  gefunden.  „Ob  die  Zahlen  für  sich  selbst 
betrachtet  oder  ihre  Gesetze  auf  Figuren  oder  Töne  oder  andere  Bewegungen 
angewendet  werden,  immer  haben  sie  ihre  unwandelbaren  Regeln,  die  auf 
keine  Weise  von  den  Menschen  geschaffen  worden  sind,  sondern  nur  durch 
den  Scharfsinn  kluger  Leute  erkannt  werden." 

Die  römische  Dcn  Übergang  der  griechischen  Mathematik  an  die  Römer  kann  man 

*v°"o.'*  ^"^  deutlichsten  an  dem  Lehrwerke  des  Varro  erkennen,  der  im  letzten  Jahr- 
hundert vor  Christus  gelebt  hat.  Eine  Schrift  über  das  Vermessungswesen 
von  ihm  scheint  verloren  gegangen.^  Erhalten  dagegen  ist  die  von  ihm  ver- 
faßte Enzyklopädie,  die  den  Titel  De  disciplinis  führt  und  der  Reihe  nach 


II.  Die  mathematische  Bildung  der  Griechen  A  77 

Grammatik,  Dialektik,  Rhetorik,  Geometrie,  Arithmetik,  Astronomie,  Medi- 
zin und  Architektur  behandelt.  Auf  ihn  folgen  dann  die  Agrimensoren:  Fron-  Die 
tinus,  Hyginus,  Baibus,  und  wie  sie  alle  heißen,  welche  die  vorwiegend  '  ^™*"**"**' 
praktische  Auffassung  der  Römer  zeigen  und  in  dem,  was  sie  als  richtig  hin- 
nehmen, ohne  sich  um  einen  Beweis  zu  bemühen,  zum  Teil  weit  hinter  der 
griechischen  Mathematik  zurückbleiben.  Schon  bei  Vitruv  findet  sich  in  dem 
Werke  über  die  Baukunst  für  das  Verhältnis  des  Kreisumfanges  zum  Durch- 
messer der  Wert  3-|^,  der  ungenauer  ist  als  der  von  Archimedes  angegebene, 
aber  keineswegs  erst  von  diesem  gefundene  Wert  3  J.  Im  Mittelalter  zeigt 
sich  dann  selbst  wieder  der  ganz  ungenaue  Wert  3.  Für  den  Unterricht  ist  von 
der  größten  Bedeutung  ein  dem  Werk  des  Varro  nachgebildetes  Kompendium 
aus  dem  Anfang  des  5.  Jahrhunderts  geworden,  das  des  Martianus  Capella.  Übergang 
Nur  sind  hier  Medizin  und  Architektur  als  besondere  Fachwissenschaften ""  Mittelalter, 
ausgefallen.  Durch  Martianus  wird  die  Unterscheidung  von  sieben  „freien 
Künsten"  —  der  alten  pythagoreischen  Vierzahl  der  mathematischen  Diszi- 
plinen und  den  sprachlichen  Fächern  Grammatik,  Rhetorik  und  Dialektik 
statt  der  Dialektik  allein,  die  Piaton  angibt  —  für  das  ganze  Mittelalter  fest- 
gelegt. Die  sieben  Künste  treten  in  der  abgeschmackten  Einleitung  des  Buches, 
die  die  Hochzeit  des  Merkur  mit  der  Philologie  behandelt,  als  Personen  ver- 
körpert auf.  Das  Werk  des  Martianus  wird  vom  christlichen  Mittelalter  als 
ein  fester  Bestandteil  der  theologischen  Bildung  aufgenommen  und  anerkannt. 
Das  bezeugt  schon  Gregor  von  Tours:  „Wenn  du  ein  Priester  Gottes  werden 
willst,  so  unterrichte  dich  zuerst  unser  Martianus  in  den  sieben  Wissenschaf- 
ten." Neben  Martianus  ist  es  besonders  Boetius  (470  —  525),  der  zwischen  der 
antiken  Geistesbildung  und  dem  christlichen  Mittelalter  vermittelt.  Er  hat  auch 
später  das  allgemein  übliche  Wort  Quadrivium  geprägt,  um  den  Zusammen- 
hang in  der  Vierteilung  der  mathematischen  Wissenschaften  zu  bezeichnen. 
Cassiodor  nennt  sie  mit  einem  anderen  Bilde  die  vier  Pforten  der  Wissen- 
schaft. Erhalten  sind  uns  von  Boetius  die  Schriften  über  Arithmetik  und  über 
Musik.  Beide  sind  als  Lehrwerk  viel  benutzt  worden.  Die  Arithmetik  ist  eine 
Nachbildung  der  Schrift  des  Xikomachus.  Ein  Stück  des  alten  pythagoreischen 
Geistes  ist  auch  in  Boetius  noch  lebendig.  Er  beginnt  die  Arithmetik  mit  den 
bezeichnenden  Worten:  „Bei  allen  Männern  von  altem  Ansehen,  die  dem  Bei- 
spiel des  Pythagoras  folgend  durch  reine  Geistesbildung  hervorgeragt  haben, 
ist  es  immer  als  feststehend  angesehen  worden,  daß  niemand  auf  den  Gipfel 
der  Vollendung  der  philosophischen  Lehren  gelangen  könne,  der  nicht  diese 
Vornehmheit  des  Wissens  auf  einem  gewissen  Kreuzweg  (quadrivium)  sucht." 
Die  Vierteilung  begründet  er  folgendermaßen:  Die  Dinge  der  Welt  sind  ent- 
weder diskret  oder  kontinuierlich.  Jene  nennt  er  Mengen  (multitudines), 
diese  Größen  (magnitudines).  Die  Mengen  werden  entweder  für  sich  betrachtet, 
dann  handelt  es  sich  um  die  Zahlen,  oder  in  Beziehung  auf  etwas  anderes, 
dann  handelt  es  sich  um  die  Proportionen,  mit  denen  sich  die  Musik  befaßt. 
Die  Größen  sind  entweder  unbewegt,  mit  diesen  hat  es  die  Geometrie  zu  tun, 
oder  sie  sind  bewegt,  dann  bilden  sie  den  Gegenstand  der  Astronomie. 


78  A        H.  E.  Timerding :  Die  Verbreitung  mathemat.  Wissens  u.  mathemat.  Auffassung. 

Boetius  bildet  die  Brücke  vom  Altertum  zur  Neuzeit.  Sein  Glaube  ist 
christlich,  seine  Bildung  heidnisch.  Er  strebt  noch  nach  einer  freien  Pflege 
der  freien  Wissenschaften.  Das  geistige  Leben  des  untergehenden  Griechen- 
tums kann  nicht  als  ein  Verfall  bezeichnet  werden,  im  Gegenteil  kann  man, 
wie  es  Hegel  tut,  in  der  Zeit  des  Neuplatonismus  die  höchste  Blüte  des  grie- 
chischen Geisteslebens  erblicken,  denn  niemals  hat  der  Forschersinn  sich  tiefer 
in  die  tiefsten  Rätsel  des  Daseins  versenkt.  Die  mathematisch -naturwissen- 
schaftliche Forschungsarbeit  tritt  aber  immer  mehr  zurück. 

III.  Die  mathematische  Bildung  des  früheren  Mittelalters. 

Der  Einfluß  Wenn  die  neuplatonische  Schule  noch  immer  auf  dem  Boden  des  alten 

des  Christentums.  ^^.^^j^.g^j^^^  Geisteslcbens  stand  und  mit  diesem  Geistesleben  die  freie  un- 
gehinderte Entfaltung  der  Individualität  teilte,  so  kommt  durch  das  Christen- 
tum ein  neues  Moment  auf,  das  Moment  der  geistigen  Abhängigkeit,  der  Unter- 
ordnung des  eigenen  Fühlens  und  Wollens,  aber  auch  der  wissenschaftlichen 
Arbeit  unter  die  Zwecke  einer  großen  religiösen  Gemeinschaft.  Dadurch  kommt 
auch  die  Mathematik  in  eine  völlig  veränderte  Lage.  Das  ganze  Interesse 
konvergiert  nach  den  Fragen  des  Glaubens  hin,  alles  andere  wird  daneben 
gleichgültig.  Der  bedeutendste  Vertreter  der  so  verwandelten  Anschauungen, 
der  an  sich  den  Wechsel  von  dem  geistig  und  materiell  freien  Leben  der  heid- 
nischen Antike  zu  der  demütigen  Gläubigkeit  des  Christentums  durchgemacht 
Auuustin.  hat,  ist  Augustin  (354 — 430  n.  Chr.).  Wie  Augustin  die  Geometrie  verwertet, 
zeigt  die  Schrift  Über  die  Quantität  der  Seele.  Es  handelt  sich  um  den  Nach- 
weis, daß  die  Seele  Dinge  wahrnimmt,  die  sich  mit  den  leiblichen  Augen  nie 
sehen  lassen.  Dafür  werden  als  Beweise  die  Gebilde  der  Geometrie,  Punkte, 
Linien,  Flächen  genommen.  Der  Einwand,  daß  sich  so  etwas  wie  eine  Linie 
nicht  vorstellen  lasse,  weil  auch  der  dünnste  Faden  immer  noch  ein  Körper 
und  keine  Linie  sei,  wird  damit  zurückgewiesen,  daß  man  von  den  anderen 
Dimensionen  absehen  und  nur  an  die  Länge  denken  könne.  „Denn  es  ist  un- 
körperlich, was  du  jetzt  erkennen  sollst,  die  Länge  allein  kann  nur  vom  Geiste 
erkannt  werden  und  an  einem  wirklichen  Körper  nicht  gefunden  werden." 
Aus  den  Linien  sollen  nun  Figuren  gebildet  werden.  Dazu  reichen  drei  Linien 
hin,  aber  vier  Linien  liefern  eine  Figur,  bei  der  sich  die  Seiten  und  Winkel 
zu  Paaren  gegenüberliegender  zusammenordnen.  Das  Quadrat  ist  deshalb  voll- 
kommener als  das  gleichseitige  Dreieck.  Aber  der  Kreis  ist  noch  vollkom- 
mener, denn  bei  ihm  hört  jede  Ungleichheit  auf.  Der  Kreis  aber  liefert  den 
Punkt  durch  seinen  Mittelpunkt,  von  dem  er  überall  gleich  weit  entfernt  ist. 
Der  Punkt  ist  so  die  höchste  Vollendung  der  geometrischen  Abstraktion,  er 
beherrscht  alle  geometrischen  Figuren.  Je  weiter  wir  in  der  Abstraktion  fort- 
schreiten, um  so  höher  ist  die  geistige  Vollendung,  die  Stufe  der  Erkenntnis, 
die  wir  erreichen.  Die  Geometrie  hat  die  Bedeutung  an  sich  verloren,  sie  ist 
nur  ein  Hilfsmittel  der  geistigen  Vollendung,  aber  in  einem  anderen  Sinne 
wie  bei  Pythagoras  und  Piaton,  nämlich  nicht  durch  die  wissenschaftliche  Be- 


III.  Die  mathematische  Bildung  des  früheren  Mittelahers.  A  7Q 

schäftigung  mit  ihr,  sondern  durch  die  symbolische  Ausdeutung  ihrer  Formen. 
So  benutzt  Augustin  die  mathematische  Erkenntnis  als  die  Vorschule  des 
Geistes  für  die  göttlichen  Wahrheiten.  Das  Gold  und  Silber,  aus  dem  die 
heidnischen  Götterbilder  gefertigt  sind,  soll  der  Christ  an  sich  reißen,  um  es 
zur  Verkündigung  des  Evangeliums  in  der  rechten  Weise  zu  benutzen. 

Aber  so  duldsam  wie  Augustin  dachten  keineswegs  alle  christlichen  Kir-  MathemaHk- 
chenlehrer.  Justinus  der  Märtyrer  (2.  Jahrh.  n.  Chr.)  sagt,  daß,  was  Wahres  an  der  srimmen^ 
griechischen  Philosophie  sei,  aus  den  Schriften  der  Propheten  viel  besser  erkannt 
werden  könne.  Clemens  von  Alexandrien  (f  227)  nennt  sogar  die  griechischen 
Philosophen  Räuber  und  Diebe,  die,  was  sie  von  den  hebräischen  Propheten 
entnommen  haben,  als  ihr  geistiges  Eigentum  ausgeben.  Tertullian  (160 — 220) 
sieht  in  den  heidnischen  Schriften  die  Quelle  aller  Irrlehren,  Was  hat,  ruft  er 
aus,  Athen  mit  Jerusalem  zu  schaffen,  was  die  Akademie  mit  der  Kirche? 
Unsere  Lehre  stammt  aus  dem  Tempel  Salomonis,  der  gelehrt  hat,  man  müsse 
den  Herrn  in  der  Einfalt  seines  Herzens  suchen.  Nach  Jesus  Christus  bedürfen 
wir  des  Forschens  nicht  mehr;  wo  das  Evangelium  verkündet  ist,  brauchen 
wir  keine  wissenschaftlichen  Untersuchungen.  Aber  während  Tertullian  wenig- 
stens außerhalb  der  Glaubenslehre  die  wissenschaftliche  Forschung  nicht  ver- 
dammt, erklärt  Isidor  von  Sevilla  (f  636)  es  geradezu  für  unstatthaft,  daß  ein 
Christ  sich  mit  heidnischen  Büchern  abgebe,  weil  die  weltlichen  Wissen- 
schaften, je  eifriger  sie  betrieben  werden,  einen  um  so  größeren  Hochmut 
in  der  Seele  erwecken. 

Dagegen  hat  Cassiodorus  (480 — 570)  in  der  Schrift  De  Artibus  et  Dis- cassiodorus. 
ciplinis  liberalium  Literarum,  in  der  er  die  weltlichenWissenschaften  behandelt, 
ganz  im  platonischen  Sinne  das  Studium  der  Mathematik  empfohlen,  weil  sie 
unsere  Begierde  von  den  fleischlichen  Dingen  ablenkt  und  uns  treibt  das  zu 
ersehnen,  was  wir  nicht  vor  Augen  schauen,  sondern  nur  mit  Gottes  Beistand 
im  Herzen  zu  erkennen  vermögen.  Zur  RechtfertigTing  der  Beschäftigung  mit 
der  Mathematik  führt  er  die  bekannte  Stelle  Weisheit  XI,  21  an:  „Du  hast 
alles  geordnet  nach  Maß,  Zahl  und  Gewicht",  von  der  wir  heute  wissen,  daß 
sie  auf  pythagoreischen  Einfluß  zurückgeht.  Es  soll  auch  zur  Empfehlung  der 
Mathematik  dienen,  daß  nach  Josephus  Abraham  die  Arithmetik  und  Astro- 
nomie nach  Ägn,'pten  gebracht  hat.  Mit  mehr  Berechtigung  wird  der  sach- 
liche Gmnd  angeführt,  daß  die  Arithmetik  allein  keiner  anderen  Wissenschaft 
zu  ihrer  Begründung  bedürfe,  aber  umgekehrt  keine  Wissenschaft  sie  ent- 
behren könne.  Was  Cassiodorus  im  übrigen  bringt,  sind  nur  Definitionen,  und 
überhaupt  glaubte  man  im  ganzen  früheren  Mittelalter  genug  getan  zu  haben, 
wenn  man  die  mathematischen  Begaffe  einführte,  ohne  weiter  anzugeben,  was 
man  mit  ihnen  denn  anfangen  könne.  Cassiodorus  hat  sich  aber  durch  seine 
organisatorische  Tätigkeit  ein  großes  Verdienst  um  die  Pflege  und  Ausbreitung 
auch  der  weltHchen  Wissenschaft  erworben.  Er  hob  die  geistige  Bildung  der 
Mönchsorden,  imd  so  konnten  diese,  als  sie  mit  der  Mission  nach  Irland  zogen, 
mit  dem  Christentum  auch  die  römische  Geistesbildung  und  das  römische 
Schulwesen  mitnehmen.  Von  dort  aus  hat  es  sich  zugleich  mit  dem  Christen- 


8o  A       H.  E.  Timerding:  Die  Verbreitung  mathemat.  Wissens  u.  mathemat.  Auffassung. 

tum  ausgebreitet.  Die  Qrundlage  der  geistlichen  Erziehung  war  ein  der 
römischen  Schule  nachgebildeter  Unterricht,  und  in  diesem  Unterricht 
fanden  auch  die  sieben  freien  Künste  ihre  allerdings  keineswegs  unbe- 
strittene Stätte. 

Die  Lage  der  Wissenschaften  das  Mittelalter  hindurch  ist  immer  stark 
durch  die  politischen  und  wirtschaftlichen  Verhältnisse  beeinflußt.  In  den 
Zeiten  großer  Machtentfaltung  findet  sich  auch  ein  Aufschwung  zu  höherer 
Bildung,  so  unter  Karl  dem  Großen  und  später  unter  den  Ottonen.  Karl  der 
Große  gründete  eine  Art  Akademie,  zu  der  er  auch  Rechenmeister  heranzog. 
Über  die  Bedeutung  der  Mathematik  für  die  geistliche  Erziehung  hat  sich  klar 

Rabanus Maurus.  und  dcutlich  ZU  Karls  des  Großen  Zeit  Rabanus  Maurus  (776  —  856)  in 
seiner  Schrift  über  die  Ausbildung  der  Kleriker  ausgesprochen.  Ihn  leitet 
der  alte  Platonische  Gedanke,  daß  die  Kenntnis  dieser  Wissenschaften  für  die 
Ausbildung  des  Geistes  einen  besonderen  Wert  besitze.  Allerdings  mutet  die 
Art,  wie  die  Mathematik  behandelt  werden  soll,  uns  merkwürdig  an.  Die 
Definition  der  Mathematik  ist  ganz  die  allgemeine,  bis  heute  noch  üblich  ge- 
bliebene: sie  soll  die  Lehre  von  der  abstrakten  Größe  sein,  und  abstrakte 
Größe  ist  die  von  aller  materiellen  Beimengung  losgelöste.  Die  Mathematik 
wird  genau  in  der  üblichen  Weise  in  Arithmetik,  Musik,  Geometrie  und 
Astronomie  eingeteilt.  Diese  Einteilung  entspricht  ebenso  dem  Platonischen 
Geiste,  wie  die  Bedeutung,  die  Rabanus  der  Geometrie  in  der  Ordnung  des 
Weltalls  zuschreibt.  Danach  soll  auch  alles,  was  nach  festen  Regeln  wohl 
angeordnet  und  aufgebaut  ist,  die  Anwendung  geometrischer  Regeln  ge- 
statten. Aber  seltsam  berührt  es  uns  zunächst,  wenn  die  Kenntnis  der 
Arithmetik  dazu  dienen  soll,  die  in  der  Heiligen  Schrift  enthaltenen  Zahlen 
richtig  zu  deuten  und  zu  verstehen.  Freilich  ist  dies  von  der  Auffassung 
der  Neuplatoniker  wenig  verschieden. 
Zustand  des  Im  allgemeinen  blieb  die  Aufnahme  der  Mathematik  in  die  geistliche 

"  un^rrichtr"  Blldung  währcnd  des  frühen  Mittelalters  nur  eine  ideale  Forderung.  Der  Un- 
im  frühen     tcrricht  in  ihr  war  mehr  als  kümmerlich.   Den  ganzen  Schulunterricht  dieser 

Mittelalter.  ® 

Zeit  müssen  wir  so  auffassen,  daß  die  dem  Zustand  der  Unkultur  kaum  ent- 
wachsenen Germanen  allmählich  der  Gesittung  gewonnen  werden  mußten. 
Die  antike  Kultur  war  unter  dem  Ansturm  der  barbarischen  Völker  müde  in 
sich  zusammengebrochen.  Die  Völker,  welche  im  Altertum  die  Führung  hat- 
ten, waren  in  ihrer  Lebenskraft  erschöpft  und  entartet.  So  mußte  erst  nach 
und  nach  die  Bildung  verbreitet  werden,  und  das  zeigt  sich  auch  im  mathe- 
matischen Unterricht.  Die  Hauptsache  blieb  das  gewöhnliche  Rechnen  an 
den  Fingern.  Erst  gegen  Ende  des  ersten  Jahrtausends  nach  Christus  kommt 
das  Rechenbrett,  der  Abakus,  auf  Ohne  diesen  bedeutete  in  dem  römischen 
ZifFernsystem  auch  die  einfachste  Division  eine  große  Arbeit  und  eine  schwie- 
rige Aufgabe.  Als  Beispiel  möge  man  eine  Stelle  unter  Bedas  Werken  (Migne, 
Patrologie  XC,  p,  719)  vergleichen,  wo  die  Zahl  6152  mit  fürchterlicher  Um- 
vStändlichkeit  durch  15  dividiert  wird.  Was  an  Geometrie  gelehrt  wurde,  be- 
stand vielfach  darin,  daß  das  sechste  Buch  von  Martianus  Capellas  Enzyklo- 


III.  Die  mathematische  Bildung  des  früheren  Mittelalters.  A  8l 

pädie  gelesen  wurde,  wo  nach  der  Erdbeschreibung  auch  die  geometrische 
Terminologie  erklärt  wird.  Die  Geometrie  wurde  überhaupt,  in  einer  unklaren 
Ausdeutung  ihres  Zusammenhanges  mit  der  Feldmessung,  mit  der  Geographie 
zusammengeworfen.  Mit  ihrer  Hilfe  sollte  man  die  klimatischen  Verhältnisse 
der  Orte  auf  der  Erde  kennen  lernen  und  danach  die  Vorschriften  für  die  Be- 
handlung von  Krankheiten  richten  können!  Nach  Notker  dem  Stammler  (840 
bis  912)  besteht  das  Quadrivium  darin,  über  die  Lage  der  Gegenden,  den 
wechselnden  Lauf  der  Planeten,  den  wunderbaren  Einfluß  der  Gestirne  und 
die  für  uns  unsichtbaren  Dinge  oberhalb  des  Himmels  Aufschluß  zu  geben.  Ho- 
norius  von  Augustodunum  sagt  von  dem  Geometrieunterricht,  es  werde  darin 
die  Weltkarte  ausgebreitet  und  die  Lage  der  Länder  mit  Bergen,  Flüssen  und 
Städten  gezeigt.  Die  Rechenkunst  wurde  in  Zusammenfassung  mit  der  Astro- 
nomie hauptsächlich  für  die  kirchliche  Zeitrechnung  gebraucht.  Diese  sollte, 
wie  schon  das  Capitulare  von  789  fordert,  jeder  Geistliche  beherrschen.  Lehr- 
bücher dieses  Computus  gab  es  sehr  zahlreiche,  so  von  Beda,  Alcuin,  Ra- 
banus, Hermann  dem  Lahmen  und  anderen  mehr.  Helperich  sagt  im  i  t  .  Jahr- 
hundert, nicht  einmal  der  Laie,  geschweige  denn  der  Geistliche  könne  diese 
Kunst  entbehren. 

Nach  einem  lateinischen  Gedicht  des  Walter  von  Speier  aus  dem  Jahre 
983,  in  dem  er  seine  eigene  Ausbildung  in  Sankt  Gallen  schildert,  wäre  da- 
mals schon  das  Rechnen  auf  dem  Abakus  durchgenommen  worden,  in  der 
Geometrie  werden  die  Dreiecke  samt  den  Vierecken  und  Fünfecken  behandelt 
und  mit  diesen  zu  Pyramiden  verbunden.  Das  ist  genau  die  Art,  wie  die  Geo- 
metrie in  Boetius'  Arithmetik  erscheint  als  Vorbereitung  zu  der  Lehre  von 
den  figurierten  Zahlen.  Es  hat  wohl  diese  Schrift  in  gewissem  Sinne  die  Grund- 
lage des  mathematischen  Unterrichts  gebildet.  Weiter  aber  wird  auch  die 
Feldmessung  in  der  Art  der  römischen  Agrimensoren  erwähnt,  es  scheint 
daher  wirklich  ein  Unterricht  in  der  praktischen  Geometrie,  wohl  wesentlich 
in  Rücksicht  auf  die  faktischen  Bedürfnisse,  an  Hand  der  alten  Schriften  oder 
von  Neubearbeitungen  erteilt  worden  zu  sein. 

Im  übrigen  wurden  auf  gut  eingerichteten  Schulen  im  mathematischen  übungs 
Unterricht  eine  Menge  von  Aufgaben  behandelt,  deren  Ursprung  wir  schon  *"^*  "" 
in  ganz  früher  Zeit  bei  den  alten  Ägyptern  finden  und  die  von  den  römischen 
Schulen  auf  das  mittelalterliche  Bildungswesen  übergehen.  Sammlungen  von 
solchen  Aufgaben  sind  z.  B.  unter  dem  Namen  des  Beda  und  des  Alcuin  er- 
halten. Schon  in  der  Überschrift  dieser  Sammlungen  wird  angedeutet,  daß 
sie  keinen  praktischen  Wert  besitzen  sollen,  sondern  nur  bestimmt  sind,  „den 
Geist  der  jungen  Leute  zu  schärfen".  Darunter  sind  die  alten  Aufgaben  von 
den  geometrischen  Progressionen  zu  finden,  wie  die  mit  den  Tauben,  von 
denen  auf  der  ersten  Stufe  einer  Leiter  eine,  auf  der  zweiten  Stufe  zwei,  auf 
der  dritten  Stufe  vier,  auf  der  vierten  acht  usw.  sitzen.  Es  finden  sich  auch 
Aufgaben  für  die  Geometrie,  wie  die  Frage  nach  der  Anzahl  rechteckiger 
Häuser  von  bestimmter  Form  und  Größe,  die  in  einer  kreisrunden  Stadt  von 
gegebener  Ausdehnung  Platz  haben. 

K.  d.  G.  III.  I  Mathematik,  A.  6 


82  A      H.  E.  Timerding:   Die  Verbreitung  mathemat.  Wissens  u.  mathemat.  Auffassung. 

Widerstand  Daß  die  Mathematik  trotz  aller  solchen  Mittel,  sie  schmackhaft  und  ver- 

die  MaAematik.  ^aulich  ZU  machen,  im  frühen  Mittelalter  viel  Verständnis  und  Entgegen- 
kommen gefunden  hätte,  können  wir  nicht  behaupten.  Sie  wurde  immer  als 
etwas  Schwieriges  und  Unangenehmes  angesehen.  Ein  Lehrer  aus  dem  8.  Jahr- 
hundert schreibt,  daß  sich  ihm  schon  beim  Gedanken  an  die  Mathematik  der 
Hals  zuschnüre;  die  sprachlichen  Fächer  seien  Kinderspiel  dagegen.  Allmäh- 
lich scheint  sich  eine  gewisse  Differenzierung  eingebürgert  zu  haben,  indem 
sich  mit  der  Mathematik  diejenigen  beschäftigten,  die  eine  besondere  Neigung 
dafür  hatten.  Damit  steht  denn  auch  ein  erneutes  Aufblühen  der  Mathematik 
gegen  die  Wende  des  Jahrtausends  im  Zusammenhang.  Die  erste  geometrische 
Lehrschrift  des  Mittelalters  ist  unter  dem  Namen  des  Boetius  überliefert. 
Der  Verfasser  erklärt  im  Vorwort,  daß  sein  Zweck  gewesen  sei,  das  Verständ- 
nis der  Geometrie  zu  erleichtern.  Sein  Verfahren  besteht  darin,  daß  er  die 
Euklidischen  Lehrsätze  zusammenstellt,  ohne  die  Beweise  hinzuzufügen,  die 
offenbar  weder  er  verstanden  hat  noch  seine  Leser  verstanden  haben  würden. 
Dann  werden  wahllose  Auszüge  aus  den  römischen  Feldmessern  angereiht. 
Das  Ganze  ist  eine  wüste  Kompilation.  Etwas  besser  steht  es  schon  mit  der 
Geometrie  des  Gerbert  (f  1003).  Von  ihm  wird  auch  ausdrücklich  erzählt, 
daß  er  in  der  Mathematik  nur  die  dazu  Befähigten  unterwiesen  habe  (Richeri 
Histor.  III,  49). 
Die  Wissenschaft         Der  Beschäftigung  mit  der  Mathematik  stand  dabei  nicht  bloß  mangeln- 

als  heidnisch  ö        ö  ö 

verrufen.  des  Vcrstäudnis  entgegen,  sondern  auch  die  Abneigung  gegen  die  heidnische 
Wissenschaft.  Der  Geistliche  sollte  sich  nicht  mit  diesen  Dingen  beschäftigen, 
die  seine  Seele  auf  Irrwege  lockten.  Der  Abt  Wilhelm  von  Hirsau  erzählt 
im  II.  Jahrhundert  in  der  Vorrede  seines  astronomischen  Lehrwerkes,  wie 
ihn  sein  Gewissen  beunruhigt  habe,  daß  er  sich  mit  solchen  Dingen  abgäbe, 
da  habe  ihn  ein  Freund  getröstet  und  ihm  gesagt,  es  sei  Pflicht  jedes  Men- 
schen, die  Fähigkeiten,  die  Gott  ihm  eingepflanzt,  nach  Kräften  zu  pflegen 
und  zum  gemeinen  Besten  zu  verwerten. 
Die  Musik.  Die  wirklich  selbständige  und  nutzbringende  Ausgestaltung  des  Quadri- 

viums  liegt  nicht  auf  mathematischem  Gebiet.  Sie  betrifft  neben  der  Zeit- 
rechnung die  Musik,  die  ursprünglich  nur  als  die  Lehre  von  den  Zahlenver- 
hältnissen der  musikalischen  Harmonien  gedacht  war,  die  nun  aber  den  litur- 
gischen Zwecken  zuliebe  gepflegt  und  so  ins  Praktische  übertragen  wurde. 
Musik  und  Chronologie  hatten  eben  ein  unmittelbares  kirchliches  Interesse 
und  gehörten  damit  zur  eigentlichen  geistlichen  Ausbildung.  Man  muß  immer 
im  Auge  behalten,  daß  die  wissenschaftliche  Bildung  in  jenen  Zeiten  auf  die 
Geistlichkeit  beschränkt  und  damit  ihrem  Wesen  nach  Theologie  war. 
Da»  Buchwissen  Das  Buchwlssen  War  im  Mittelalter  der  Geistlichkeit  durchaus  eigentümlich, 

'vorbehalten*"  f)^^^  Pfaffe  Sehe  die  Schrift  an;  so  soll  der  ungelehrte  Mann  die  Bilder  sehen, 
da  ihm  nicht  die  Schrift  zu  erkennen  geschieht"  sagt  Thomasin  von  Zirkläre 
im  Welschen  Gast.  Die  Beschäftigung  des  Laien  hielt  man  für  unvereinbar 
mit  gelehrten  Studien.  „Wer  danach  strebt,  Haus,  Vieh  und  Grundbesitz  zu 
erwerben  oder  ein  Weib  zu  nehmen,  der  hat  nicht  den  rechten  Sinn  für  das 


III.  Die  mathematische  Bildung  des  früheren  Mittelalters.  A  8 


o 


Studium",  sagt  der  Diakon  Amalarius.  Daß  ein  Ritter  Lesen  und  Schreiben 
kann,  ist  eine  Ausnahme.  Hartmann  von  Aue  rühmt  sich  in  den  ersten  Versen 
des  Armen  Heinrich  ausdrückUch,  daß  er  es  gelernt  hat.  Reiten,  Springen, 
Speerwerfen,  Jagen,  das  sind  die  Bestandteile  der  ritterlichen  Bildung,  dazu 
vielleicht  noch  Schach  spielen,  die  Laute  schlagen  und  Verse  machen.  Nur  Entwicklung 
in  den  Zeiten  großen  Aufblühens  ist  auch  eine  Schulbildung  der  vornehmen 
Laien  erstrebt  worden.  Wirkliche  Laienschulen  kommen  aber  erst  mit  den 
Städten  auf.  Zuerst  sind  sie  an  die  Kirchen  gebunden,  dann  werden  sie  auch 
von  den  städtischen  Gemeinden  errichtet.  Das  geschah  bereits  im  13,  Jahr- 
hundert. In  der  Kölner  Diözese  findet  sich  damals  sogar  schon  ein  Beispiel 
von  Schulzwang.  Der  Gegenstand  des  Unterrichtes  ist  Lesen,  Schreiben, 
Religion  und  Gesang.  Von  Rechenunterricht  ist  noch  keine  Rede.  Das  Rechnen 
ist,  wo  es  in  Betracht  kommt,  ein  Teil  der  kaufmännischen  Fachbildung. 

IV.  Die  mathematische  Bildung  in  der  Zeit  des  Scholastizismus. 
Der  Tiefstand  des  mathematischen  Wissens  im  frühen  Mittelalter  hebt  Wendung 
sich  rasch  mit  dem  Emporkommen  der  geistigen  Kultur,  das  sich  an  den  im 
13.  Jahrhundert  aufblühenden  Scholastizismus  knüpft.  Der  Scholastizismus 
entstand  durch  das  Bekanntwerden  des  Aristoteles  aus  den  arabischen  Quellen. 
Die  Araber  übernehmen  die  Mission,  das  Erbe  des  Altertums  nach  einem 
Jahrtausend  dem  germanisch-romanischen  Völkerkreis  weiterzugeben,  nicht 
unvermehrt  durch  eigene  Untersuchungen  und  mit  einem  Einschlag,  der  von 
den  auf  der  alten  Kultur  weiterbauenden  Indern  herrührt  und  der  an  die 
Araber  durch  ihre  weitausgedehnten  Handelsbeziehungen  nach  dem  Morgen- 
lande hin  kam.  Es  sind  keineswegs  bloß  die  Schriften  des  Aristoteles,  die  vom 
Abendland  aufgenommen  wurden,  mit  ihm  wurden  auch  andere  Schriften,beson- 
ders  mathematische  Werke  der  Griechen  und  der  Araber  selbst,  erschlossen.  So 
wurden  die  Elemente  des  Euklid  schon  zu  Anfang  des  1 2.  Jahrhunderts  von  einem  Eukiid- 
englischen  Mönche,  Adelhart  von  Bath,  aus  dem  Arabischen  ins  Lateinische"  ^"*'^°°8*"- 
übersetzt.  Fast  gleichzeitig  wurde  auch  das  wichtigste  mathematische  Werk 
der  Araber,  das  den  Titel  führt  Algebr  w'Almukabala,  Wiederherstellung 
und  Gegenüberstellung,  und  dessen  Verfasser  Muhammed  ihn  Musa  Alchwa- 
rismi  (etwa  800  n.  Chr )  ist,  vielleicht  von  demselben  Adelhart,  übersetzt.  Von 
diesem  Werk  stammt  die  Bezeichnung  Algebra;  aus  dem  verstümmelten 
Namen  des  Verfassers  Alchwarismi  ist  die  Bezeichnung  Algorithmus  für  die 
arabische"  Rechenmethode,  die  später  auf  jedes  bestimmte  Rechenverfahren 
übertragen  wurde,  entstanden.  Die  Euklidübersetzung  des  Adelhart  ist  aber 
weder  ohne  Vorgänger,  denn  wenigstens  teilweise  ist  Euklid  schon  vorher 
lateinisch  herausgegeben  worden,  noch  hat  sie  für  den  Unterricht  besondere 
Bedeutung  erlangt.  Dies  gilt  viel  mehr  für  die  anderthalb  Jahrhunderte  später 
erschienene  Übersetzung  des  Johannes  Campanus,  die  eben  in  eine  Zeit  fiel, 
wo  das  Verständnis  für  die  Mathematik  schon  weiter  fortgeschritten  war. 
Für  die  Mathematik  ist  neben  der  allgemeinen  geistigen  Entwicklung  auch 
das  Fortschreiten  der  materiellen  Kultur,  das  sich  an  das  Emporblühen  des 


84  A     H.  E.  Timerding:  Die  Verbreitung  mathemat.  Wissens  u.  mathemat.  Auffassung. 

überseeischen  Handels  und  die  wirtschaftliche  Verbindung  des  Abendlandes 
mit  dem  Orient  knüpft,  von  entscheidender  Bedeutung  gewesen.  Daß  durch 
das  Bekanntwerden  der  arabischen  Sprache  und  Literatur  alles  erschlossen 
wurde,  was  die  Araber  auf  wissenschaftlichem  Gebiete  geleistet  hatten,  und 
dabei  die  Mathematik  eine  bedeutende  Rolle  spielte,  war  nicht  alles;  es 
stellte  auch  die  Ausbildung  der  Handelsbeziehungen  ihre  Anforderungen  an 
das  kaufmännische  Verrechnungswesen,  ohne  das  eine  geordnete  Führung 
ausgebreiteter  kaufmännischer  Geschäfte  unmöglich  ist.  Durch  eine  eigen- 
tümlich glückliche  Fügung  trifft  das  Bekanntwerden  der  arabischen  Ziffern 
mit  dem  Aufblühen  des  Handels  zusammen  und  daraus  erwuchs  die  Möglich- 
keit eines  ungeheuer  vereinfachten  Verrechnungswesens. 
Lionardo  Pisano.  Dic  EntwickluHg  dcs  mathematischen  Wissens,  das  so  entstanden  ist, 

liegt  uns  deutlich  vor  Augen  in  den  Werken  eines  Mannes,  der  in  der  glänzen- 
den Zeit  des  Kaisers  Friedrichs  II.  und  nicht  außer  Verbindung  mit  den  ge- 
lehrten Kreisen  des  kaiserlichen  Hofes  gelebt  hat.  Es  ist  dies  Lionardo 
Fibonacci,  auch  nach  seiner  Vaterstadt  Pisa  Lionardo  Pisano  genannt  Lio- 
nardo war  ein  so  großer  Geist,  daß  er  die  ganze  Tradition  in  sich  aufzunehmen 
und  selbständig  zu  verarbeiten  vermochte.  Was  in  seinen  Schriften  enthalten 
ist,  teils  aus  fremden,  meist  arabischen  Quellen,  teils  an  eigenen  Forschungen, 
geht  so  weit,  daß  die  ganze  mathematische  Entwicklung  der  nächsten  vier 
Jahrhunderte  darin  vorgebildet  liegt.  Es  ist  also  wenigstens  für  die  Mathe- 
matik durchaus  nicht  richtig,  daß  erst  die  Renaissance  einen  Aufstieg  hervor- 
gerufen hat;  die  Renaissance  beruht  vielmehr,  was  bildende  Künste  und 
Naturwissenschaften  anbetrifft,  zu  einem  großenTeilauf  der  voraufgegangenen 
Entwicklung  des  mathematischen  Wissens. 

Wir  finden  bei  Lionardo  fast  alles  das ,  was  bis  auf  den  heutigen  Tag 
den  Gegenstand  des  arithmetischen  Schulunterrichtes  ausmacht,  und  das  wird 
wohl  kein  zufälliges  Zusammentreffen  sein,  vielmehr  zieht  sich  eine  fort- 
laufende Entwicklung  von  ihm  zu  unseren  Schulen  hin.  Lionardo  beginnt 
seinen  Liber  Abaci,  der  zuerst  im  Jahre  1202  und  in  neuer  Bearbeitung  1228 
entstanden  ist,  mit  den  arabischen  Zahlen  und  einer  Erinnerung  an  das  bis 
dahin  übliche  Finger-  und  Abakusrechnen,  dann  kommen  die  vier  Grund- 
rechnungsarten ganz  wie  bei  uns  und  eine  voll  ausgebildete  Bruchrechnung. 
Daran  schließt  sich  das  kaufmännische  Rechnen  in  der  Form,  wie  es  sich  seit- 
her erhalten  hat,  auch  die  Ausdrücke  Kettensatz,  Mischungsrechnung,  Ge- 
sellschaftsrechnung, Warenrechnung,  die  sich  immer  noch  in  unseren  Lehr- 
büchernfinden,  gehen  auf  Lionardo  zurück.  Daneben  steht  die  arabische  Algebra, 
voll  ausgebildet  sind  die  quadratischen  Gleichungen,  ein  erster  Versuch  findet 
sich  auch  für  die  kubischen  Gleichungen. 

Wie  sehr  Lionardo  auf  arabischen  Quellen  fußt,  geht  aus  seinen  eigenen 
Worten  und  den  Benennungen,  die  er  gebraucht,  hervor.  Aber  durch  die 
arabische  Überlieferung  hindurch  haben  sich  viel  ältere  Traditionen  erhalten, 
nämlich  besonders  ägyptische  Kenntnisse.  Dies  zeigt  sich  an  der  Verwandlung 
eines  gewöhnlichen  Bruches  in  eine  Summe  von  Stammbrüchen,  die  Lionardo 


IV.  Die  mathematische  Bildung  in  der  Zeit  des  Scholastizismus.  A  85 

besonders  behandelt,  an  der  Methode  des  falschen  Ansatzes,  die  sich  schon  in 
den  äg3'ptischen  Papyri  zwei  Jahrtausende  v.  Chr.  findet  und  von  den  Arabern 
zu  dem  doppelten  falschen  Ansatz,  der  Regula  alchatayn  nach  Lionardos  Be- 
nennung, erweitert  worden  ist;  auch  die  Behandlung  der  arithmetischen  und 
geometrischen  Reihen  weist  sogar  im  Wortlaut  der  behandelten  Aufgaben 
auf  die  Ägypter  zurück.  Aus  dem  alten  Ägypten  stammen  auch  in  letzter  Linie 
die  rechtwinkligen  Dreiecke  mit  ganzzahligen  Verhältnissen  der  Seitenlängen 
und  die  sogenannte  Heronische  Dreiecksformel,  für  die  Lionardo  einen  etwas 
anderen  Beweis  wie  Heron  gibt.  Auch  das  angenäherte  Ausziehen  von  Qua- 
drat- und  Kubikwurzeln,  das  sich  bei  Lionardo  findet,  rührt  von  den  alten  Ägyp- 
tern her.  Diese  Tatsache,  daß  die  Ägypter,  die  schon  die  griechische  Mathe- 
matik bestimmend  beeinflußt  hatten,  noch  einmal  durch  die  Araber  hindurch 
auf  die  neuzeitliche  Mathematik  einwirken,  ist  äußerst  merkwürdig.  Die  einzig 
mögliche  Erklärung  scheint  mir  die,  daß  bei  der  Eroberung  Alexandrias  durch 
die  Araber  die  alte  ägyptische  Geistesbildung,  die  selbst  die  griechischen 
Kultureinflüsse  überdauert  hatte,  doch  nicht  spurlos  unterging,  sondern  bei 
den  Eroberem  eine  neue  Heimstätte  fand. 

Neben  Lionardo  ist  sein  Zeitgenosse  Jordanus  Nemorarius  als  ein  Neu-  Andere  mathe- 
begründer  der  mathematischen  Wissenschaft  anzusehen.  Von  ihm  stammt  die  "^'^^'itufr*^'' 
Bezeichnung  allgemeiner  Zahlen  durch  Buchstaben,  welche  die  Grundlage  der 
modernen  mathematischen  Formelsprache  gebildet  hat.  Er  schrieb  auf  Grund 
einer  arabischen  Quelle  ein  Buch  Über  die  Dreiecke,  das  zum  erstenmal  dem 
Abendland  eine  bedeutsame  Fortführung  der  Geometrie  bot.  Die  Behandlung 
mehrerer  quadratischer  Gleichungen  mit  mehreren  Unbekannten  in  den  leicht 
auflösbaren  Fällen,  die  im  neueren  Mathematikunterricht  eine  große  Rolle 
spielt,  hat  Jordanus  in  einer  Schrift  über  die  gegebenen  Zahlen  (De  numeris 
datis)  entwickelt  Er  hat  aber  auch  durch  sein  Buch  Über  die  Gewichte  die 
erste,  allerdings  noch  unvollkommene  Grundlage  der  modernen  Mechanik  ge- 
liefert. Hier  war  bekanntlich  der  Punkt,  wo  die  Griechen  scheiterten;  die  Be- 
gründung einer  wissenschaftlichen  Mechanik  ist  ihnen  nicht  geglückt,  sie  sind 
über  das  Archimedische  Hebelgesetz  nicht  hinausgelangt.  Erst  dem  späteren 
Mittelalter  war  es  vergönnt,  aus  dem  Hebelgesetz  die  allgemeine  Regel  der 
Statik,  die  wir  als  Parallelogramm  der  Kräfte  bezeichnen,  abzuleiten.  Ln  13. 
Jahrhundert  entstanden  auch  die  Lehrbücher,  welche  die  antike  angewandte 
Mathematik  den  Bedürfnissen  der  Zeit  anpaßten,  so  vor  allem  die  Sphaera 
des  John  of  Holywood  (Johannes  de  Sacrobosco),  die  ungeheuer  verbreitet  war 
und  sogar  im  14.  Jahrhundert  von  Konrad  von  Megenberg  deutsch  bearbeitet 
wurde,  ferner  gegen  Ende  des  13.  Jahrhunderts  die  Optik  des  Witelo,  die 
die  griechische  Perspektive  nach  arabischer  Überlieferung  wieder  erneuert. 
Zeichen  des  erwachenden  mathematischen  Literesses  sind  auch  die  Über- 
setzungen griechischer  Texte.  Neben  der  bereits  genannten  Euklidüber- 
setzung des  Campanus  sind  die  Übersetzvmgen  anzuführen,  die,  wie  es  heißt» 
auf  Wunsch  des  Thomas  von  Aquino  (f  1 274)  Wilhelm  von  Mörbecke  von  der 
Heronischen  Katoptrik  und  den  Archimedischen  Schriften  anfertigte.   Durch 


86  A     H,E.  Timerding:  Die  Verbreitung  mathemat.  Wissens  u.  mathemat.  Auffassung. 

diese  Übersetzung  ist  uns  die  Schrift  des  Archimedes  über  die  Hydrostatik 

erhalten  geblieben. 

Aufkommen  Eine  besondcre  Art  scholastischerMathematik  hat  sich  aus  der  Philo- 

der 
schoiasHschen   sophie  des  Duns  Scotus,  vielleicht  des  kühnsten  und  schärfsten  Denkers  des 

Mittelalters,  entwickelt.  Dieser  hatte  für  das,  was  Gegenstand  der  Sinnes- 
wahrnehmung wird,  den  Ausdruck  Forma  geprägt.  Hart  und  weich,  schnell 
und  langsam,  hell  und  dunkel,  warm  und  kalt  sind  solche  Formae.  Diese 
Formen  sind  nun  einer  Zu-  und  Abnahme  fähig,  und  die  methodische  Unter- 
suchung dieser  Veränderungen,  der  „intensiones  et  remissiones  formarum", 
bilden  einen  wichtigen  Gegenstand  der  scholastischen  Mathematik.  Ihre  Aus- 
bildung erhielt  sie  in  der  Lehre  von  den  „latitudines  formarum",  die  wir  bei 
Nicole  Oresme  (f  1382)  finden  und  die  durch  die  geometrische  Gewandung, 
in  der  sie  auftritt,  den  modernen  KoordinatenbegriiF  als  die  Grundlage  der 
allgemeinen  graphischen  Darstellung  irgendwelcher  Funktion  geschaffen  hat. 
Fermat  und  Descartes  haben  später  dieses  Verfahren  zu  einer  syste- 
matischen Behandlung  der  ganzen  Geometrie  ausgebaut,  wodurch  vielfach 
die  Meinung  entstanden  ist,  daß  er  auch  den  Koordinatenbegriff  erst  ge- 
funden habe. 

In  der  Lehre  von  den  Latitudines  formarum  steckt  aber  gleichzeitig  auch 
der  erste  Anfang  der  späteren  Differentialrechnung,  ebenso  wie  wir  die  erste 
Quelle  der  Integralrechnung  oder  vielmehr  der  Form  der  Infinitesimalrech- 
nung, die  wir  als  Indivisibelnlehre  bezeichnen,  schon  im  1 3.  Jahrhundert  in 
den  Untersuchungen  des  Thomas  Bradwardinus  über  den  Unendlichkeits- 
begriff  finden.  Es  ist  die  alte  griechische  Unendlichkeitslehre,  aber  in  einer 
abgeklärten  Form,  die  uns  hier  begegnet. 
Mathematischer  Der  rasche  Aufschwung  des  mathematischen  Wissens  im  13.  Jahrhundert, 

Universitäten,  bei  dem  nur  der  Geist  des  Scholastizismus  es  bedingte,  daß  der  Hauptwert 
auf  die  Bildung  der  Begriffe ,  nicht  die  wirkliche  Ausführung  der  Operationen 
gelegt  wurde,  bringt  den  Gedanken  nahe,  daß  die  Mathematik  auch  im  Unter- 
richt zu  dieser  Zeit  eine  bedeutende  Rolle  zu  spielen  begonnen  habe.  Inwie- 
weit dies  der  Fall  gewesen  ist,  können  wir  nicht  mit  Sicherheit  feststellen. 
Um  die  Mitte  des  13.  Jahrhunderts  klagt  Roger  Bacon,  die  Pariser  Universität 
kümmere  sich  wenig  um  fremde  Sprachen  und  ebensowenig  um  Mathematik, 
Perspektive,  Moralwissenschaft  und  Alchymie.  Indessen  scheint  das  Quadri- 
vium  auch  an  den  mittelalterlichen  Universitäten  eine  Behandlung  erfahren 
zu  haben.  In  der  Grabschrift  des  11 99  in  Paris  verstorbenen  Hugo  Physicus 
wird  ausdrücklich  des  von  ihm  im  Quadrivium  erteilten  Unterrichts  gedacht. 
Dagegen  scheint  der  allgemeine  arithmetische  Unterricht  erst  etwas  später 
aufgekommen  zu  sein,  nachdem  er  bereits  in  dem  Unterricht  der  Kaufleute 
eine  dominierende  Stellung  eingenommen  hatte.  In  seiner  fachlichen  Bedeu- 
tung ist  das  Rechnen  sehr  bald  anerkannt  worden,  die  ganze  fachliche  Aus- 
bildung des  Kaufmanns  wurde  sogar  in  den  Begriff  der  Arithmetik  zusammen- 
gefaßt, und  in  gewissem  Sinne  ist  das  sehr  lange  so  geblieben,  das  Rechnen 
galt  als  eine  kaufmännische  Spezialwissenschaft.  Aber  die  große  Bedeutung, 


IV.  Die  mathematische  Bildung  in  der  Zeit  des  Scholastizismus.  A  87 

welche  der  Handel  überhaupt  erlangte,  brachte  die  Arithmetik  auch  an  die 
Universitäten.  Es  wurden  regelmäßige  Vorlesungen  über  die  einzelnen  Teile 
der  Arithmetik  eingeführt.  Die  scholastische  Arithmetik  unterschied  neun  Pro- 
zesse: Zählen,  Addieren,  Subtrahieren,  Verdoppeln,  Halbieren,  Multiplizieren, 
Dividieren,  Progression  und  Radizieren.  Im  14.  Jahrhundert  erlebte  die  Mathe- 
matik an  der  Pariser  Universität  eine  kurze  Glanzzeit,  es  war  die  Zeit,  wo 
Oresme  dort  wirkte.  Der  Wiener  Vorlesungsplan  vom  Ende  des  14.  Jahr- 
himderts  zählt  an  mathematischen  Vorlesungen  auf:  Sphaera  materialis,  Arith- 
metica,  Proportiones  breves,  Latitudines  formarum,  Euclides,  Arithmetica  et 
proportiones,  Perspectiva,  Musica,  Algorithmus  de  integris,  Theorica  plane- 
tarum,  Computus  physicus  (Rechnen  mit  Brüchen,  deren  Nenner  Potenzen 
von  60  sind),  Algorithmus  de  minutiis  (gewöhnliche  Bruchrechnung).  Johann 
von  Gmunden  war  1420  der  erste  mathematische  Fachprofessor  in  Wien,  er 
schrieb  einen  Tractatus  de  minutiis  physicis,  anscheinend  als  Grundlage  für 
Universitäts Vorlesungen ,  im  übrigen  wurden  Euklid,  Oresme,  Witelo,  Sacro" 
bosco  und  für  die  Arithmetik  ein  Lehrbuch  des  Johannes  de  Muris  benutzt.  In 
Padua  wurde  während  des  15.  Jahrhunderts  die  Mathematik  mit  der  Astro- 
nomie zusammen  gut  gepflegt.  Es  wirkten  dort  Prosdocimo  dei  Beldomandi, 
Pietro  d'Abana,  Guglielmo  di  Montorso,  Giovanni  Dondi  und  Biagio  da  Parma. 
In  Bologna  erscheint  im  Jahre  1383  ein  eigener  Lehrer  der  Arithmetik;  gegen 
Ende  des  1 5.  Jahrhunderts  bestanden  zwei  Professuren  der  Mathematik,  die  eine 
für  Astronomie,  die  andere  für  Arithmetik  und  Geometrie.  Es  wirkten  dort 
Domenico  Maria  von  Ferrara,  Scipio  von  Mantua,  Scipione  dal  Ferro  (in  den 
Jahren  1496  — 1520),  der  als  Entdecker  der  Lösung  der  Gleichungen  dritten 
Grades  berühmt  geworden  ist,  endlich,  aber  nur  vorübergehend,  der  vielge- 
wanderte LucaPaciuolo  (1448  — 1514).  Luca  Paciuolo  hat  ein  Buch  De  divina 
proportione  geschrieben,  das  im  Zusammenarbeiten  mit  Lionardo  da  Vinci 
entstanden  ist  und  die  Mathematik  in  eine  enge  Beziehung  zur  bildenden 
Kunst  bringt.  Das  alte  Verhältnis  des  goldenen  Schnittes  wird  zur  Erklärung 
und  Begründung  der  Schönheit  verwendet.  Daraufhin  werden  auch  die  Ver- 
hältnisse des  menschlichen  Körpers  imtersucht,  ebenso  wird  die  Herstellung 
schöner  Buchstaben  auf  Grund  geometrischer  Konstruktion  erstrebt 

V.  Die  mathematische  Bildimg  der  Renaissance. 
Luca  Paciuolo  gehört  schon  einer  neuen  Zeit  an,  die  eben  durch  das  Vor- Die  künstlerisch© 
dringen  des  künstlerischen  Interesses  gekennzeichnet  ist.  Es  ist  die  Zeit  der      *  '""^ 
Renaissance.    Luca  Paciuolo  ist  im  eigentlichen  Sinne  der  Mathematiker 
der  Renaissance.  Durch  ihn  tritt  die  offizielle  Mathematik  der  Universitäten 
zum  erstenmal  in  enge  Beziehung  zu  einer  andersgearteten  Mathematik,  die 
sich  unabhängig  von  dem  Lehrbetrieb  ausgebildet  und  fortgepflanzt  hat  und 
bedeutender  ist  als  die  Mathematik,  die  in  der  Artistenfakultät  der  Universi- 
täten sich  oft  mühsam  behauptete  imd  bei  der  die  wirkliche  sachliche  Be- 
lehrung vielfach  in  einem  Schwall  von  Reden  über  die  einfachsten  Dinge  er- 
stickte.  Es  ist  dies  die  praktische  Mathematik  der  Baumeister  imd  Maler. 


88  A     H.E.  Timerding :  Die  Verbreitung  mathemat.  Wissens  u.  mathemat.  Auffassung. 

Unter  den  mittelalterlichen  Baumeistern  bildete  sich  die  aus  dem  Altertum 
überkommene  technische  Geometrie  immer  mehr  in  selbständiger  Weise  zu 
einer  Rißkunst  aus,  die  eine  Fülle  geometrischer  Konstruktionen  umfaßte. 
Ihren  Ausgangspunkt  bildet  die  altbabylonische,  auch  in  Ägypten  gekannte 
Konstruktion  des  regulären  Sechsecks;  diese  fällt  mit  der  Konstruktion  des 
gleichseitigen  Dreiecks,  mit  der  Euklid  seine  Elemente  beginnt,  wesentlich 
zusammen.  Die  mannigfaltige  Ausgestaltung  dieser  Konstruktion  können  wir 
an  den  gotischen  Bauwerken  überall  erkennen;  auf  sie  suchte  man  nach  Mög- 
lichkeit alle  anderen  Konstruktionen  zurückzuführen.  Das  Verfahren  war  ein 
bloßes  Probieren.  Zwischen  genauer  und  angenäherter  Richtigkeit  einer  Kon- 
struktion wurde  nicht  unterschieden.  Was  in  praktischer  Hinsicht  genügte,  be- 
friedigte vollkommen.  Der  Beweis  spielt  gar  keine  Rolle.  Es  handelt  sich  nur 
darum,  wie  es  gemacht  wird,  nicht,  wie  es  zu  begründen  ist,  aber  der  Schatz 
an  praktischen  Kenntnissen  ist  außerordentlich  reich.  Diese  Kenntnisse  wur- 
den jedoch  keineswegs  bereitwillig  mitgeteilt,  sondern  in  den  Bauhütten  als 
Zunftgeheimnis  streng  gehütet  und  nur  in  fest  geordnetem  Lehrgang  nach 
langer  Probezeit  dem  Lehrling  eröffnet;  sie  treten  literarisch  erst  nach  der 
Erfindung  der  Buchdruckerkunst  in  die  Erscheinung,  zuerst  in  ein  paar  ganz 
kurzen  Abrissen  dieser  Steinmetzgeometrie  und  dann  ausführlicher  in  dem 
viel  bekannter  gewordenen  Buche  unseres  Albrecht  Dürer,  Unterweisung  der 
Messung  mit  Zirkel  und  Richtscheit  (1525).  Auch  vieles,  was  sich  in  den  Manu- 
skripten Lionardos  da  Vinci  an  geometrischen  Konstruktionen  findet,  geht 
auf  die  Zeit  der  Gotik  zurück. 
Die  pprspektive.  Inzwischcn  hatte  sich  aber  noch  ein  anderer  Zweig  des  mathematischen 

Wissens  entwickelt,  der  insbesondere  die  Maler  berührte:  die  Perspektive. 
Nach  dem  Zeugnis  der  Zeitgenossen  ist  es  Brunellesco  (1379  — 1446)  gewesen, 
der  am  Anfang  des  1 5.  Jahrhunderts  ihre  Regeln  fand.  Im  Jahre  141 4  war 
von  Poggio  Bracciolini  in  der  Klosterbibliothek  von  St.  Gallen  eine  Hand- 
schrift des  Vitruv  gefunden  worden.  Diese  authentische  Nachricht  von  der 
Bauweise  der  Alten  übte  auf  die  Renaissancezeit  den  größten  Einfluß  aus.  So 
soll  auch  eine  kurze  Bemerkung,  die  sich  bei  Vitruv  über  die  antike  Perspek- 
tive findet,  Brunellesco  den  Anlaß  zu  seiner  Entdeckung  gegeben  haben,  jedoch 
ist  das  zweifelhaft.  Jedenfalls  ist  er  nicht  bei  dem  Zusammenlaufen  der  Linien 
nach  dem  Horizonte  hin,  das  Vitruv  allein  anführt,  stehengeblieben,  sondern 
hat  selbständig  die  richtige  Bemessung  der  Tiefe  in  dem  Bilde  gefunden. 
Er  zeigte  die  Bedeutung  seiner  Entdeckung,  indem  er  seinen  Freunden  eine 
genau  perspektivisch  konstruierte  Ansicht  des  Platzes  der  Signoria  in  Florenz 
in  einer  Art  Guckkasten  vorwies,  wobei  er  zur  Erhöhung  der  Illusion  die  vor- 
überziehenden Wolken  sich  in  einer  silbernen  Fläche  über  den  Häusern  des 
Bildes  spiegeln  ließ.  Die  täuschende  Wiedergabe  der  Wirklichkeit,  die  er  so 
erreichte,  erregte  nicht  ohne  Grund  allgemeines  Erstaunen,  und  die  neue 
Kunst  fand  sehr  rasch  Verbreitung.  Man  sieht  es  an  den  Bronzetüren  des 
Baptisteriums  in  Florenz,  die  von  Ghiberti,  einem  Zeitgenossen  Brunellescos, 
herrühren.  Das  erste  Bild  verrät  noch  keine  perspektivischen  Kenntnisse,  das 


V.  Die  mathematische  Bildung  der  Renaissance.  A  8q 

zweite  zeigt  sie  bereits  in  hoher  Vollendung.  Von  den  Malern  wandte  die  neu- 
entdeckte Perspektive  zuerst  Masaccio  an,  den  Brunellesco  selbst  sie  lehrte, 
und  Paolo  Uccello,  der  unter  anderem  einen  Kreisring  mit  unsäglicher  Mühe 
richtig  perspektivisch  konstruierte  und  in  seinem  Gemälde  der  Sintflut  an- 
brachte. Darauf  verbreitete  sich  die  neue  Malweise  so  sehr  unter  allen  Künst- 
lern, daß  die  Maler  geradezu  Perspektiviker,  Prospettivi,  genannt  wurden. 

Für  die  enge  Beziehung,  in  der  sich  die  Künstler  der  Renaissance  zur 
Mathematik  fühlten,  gibt  es  ein  eigentümliches,  aber  beredtes  Zeugnis.  In 
seiner  Schule  von  Athen  hat  Raffael  auch  die  Mathematik  berücksichtigt.  In 
dem  Tempel  der  Wissenschaft  haben,  ganz  im  Sinne  der  Renaissance,  Piaton 
und  Aristoteles  den  ersten  Platz:  die  Philosophie  ist  die  Herrscherin  und  Füh- 
rerin. Die  Gruppe  der  Mathematiker  nimmt  eine  bescheidene  Stelle  vor  dem 
Tempel  ein.  Aber  in  dieser  schönen  Gruppe,  welche  die  Versenkung  in  die 
Freude  desForschens  undFindens  mit  hoher  Vollendung  darstellt,  hatRafFael 
nicht  bloß  den  Baumeister  Bramante,  sondern  auch  sich  selbst  angebracht. 
Durch  ihre  Begründung  auf  den  Regeln  der  Perspektive  erschien  die  Malerei 
selbst  als  eine  mathematische  Kunst.  Albrecht  Dürer  sagt  in  der  Vorrede  zu 
seiner  Unterweisung  der  Messung  mit  Zirkel  imd  Richtscheit  (r525)  im  Hin- 
blick auf  die  hinter  der  italienischen  Kunst  zurückgebliebene  deutsche  Malerei: 
„Wiewohl  etliche  Fertigkeit  nur  eine  freie  Hand  verlangt,  so  daß  sie  ihr  Werk 
gewaltig,  aber  unbedacht  und  allein  nach  ihrem  Gutdünken  gemacht  haben, 
so  mußten  doch  die  verständigen  Maler  und  rechten  Künstler  beim  Anblick 
solcher  Werke  dieser  Leute  ihre  Blindheit  belachen,  weil  einem  rechten  Ver- 
stand nichts  unangenehmer  auffällt  denn  Falschheit  im  Gemälde,  unangesehen 
ob  das  auch  mit  allem  Fleiß  gemalt  wird.  Daß  aber  solche  Maler  an  ihren  Irr- 
tümern Wohlgefallen  gehabt,  rührt  davon  her,  daß  sie  die  Kunst  der  Messung 
nicht  gelernt,  ohne  die  kein  rechter  Werkmann  werden  oder  sein  kann." 

Die  Perspektive  nimmt  in  der  mathematischen  Literatur  des  i6.  Jahr- 
hunderts einen  hervorragenden  Platz  ein,  ja  sie  bedeutet  vielleicht  das  Gebiet, 
auf  dem  diese  Zeit  sich  in  mathematischer  Hinsicht  am  fruchtbarsten  erwiesen 
hat.  Der  erste,  der  über  sie  geschrieben  hat,  ist  Leo  Battista  Alberti  ( 1 404  — 1472), 
der  sie  schon  vor  1444  in  seiner  Schrift  De  Statua,  wohl  wesentlich  in  derselben 
Weise  wie  Brunellesco  sie  gefunden  hatte,  behandelte.  Das  erste  wirkliche 
Lehrbuch  der  Perspektive  schrieb  gegen  Ende  des  15.  Jahrhunderts  der  Maler 
Piero  della  Francesca  (1420  — 1492).  Das  erste  gedruckte  Werk  über  Per- 
spektive erschien  1505  in  Toul,  sein  Verfasser  ist  der  Franzose  Viator  oder 
Pelerin.  Es  besteht  in  der  Hauptsache  aus  vortrefflichen  und  sehr  anschau- 
lichen Figurentafeln.  Von  da  an  sind  die  Lehrbücher  der  Perspektive  sehr 
zahlreich.  Eines  der  ausgezeichnetsten  aus  der  Zeit  der  Hochrenaissance  ist 
Daniele  Barbaros  Prattica  della  Perspettiva  (1569).  Hier  spielt  auch  schon 
die  Theaterperspektive  eine  Rolle.  Guido  Ubaldo  del  Monte,  der  Gönner  und 
Freund  Galileis,  brachte  1600  einen  gewissen  Abschluß  in  die  Begründung 
der  Perspektive,  indem  er  die  Bedeutung  der  Fluchtpunkte  allgemein  erkannte. 

Die  Perspektive  hat  das  große  Verdienst,  daß  sie  nicht  bloß  der  modernen 


QO  A     H.  E.  Timerding  :  Die  Verbreitung  mathemat.  Wissens  u.  mathemat.  Auffassung. 

^  Kunst,  sondern  auch  der  modernen  Geometrie  die  Bahnen  eröffnet  hat.  Sie 
lehrte  in  einer  Zeit,  in  der  das  Verständnis  für  die  Feinheiten  der  griechischen 
Geometrie  noch  kaum  wieder  erwacht  war,  die  räumlichen  Gebilde  von  einer 
neuen  Seite  ansehen;  diese  Betrachtungsweise  hat  in  dem,  was  wir  heute  als 
projektive  Geometrie  bezeichnen,  ihre  unmittelbare  Fortsetzung  gefunden.  Aber 
noch  in  einer  anderen  Hinsicht  ist  das  1 6.  Jahrhundert  für  die  moderne  Mathe- 
Entwickiung  matik  grundlegend  gewesen, nämlich  in  der  Entwicklung  der  Algebra  und  der 
ge  ra.  j^^^jg^-j^gj^  mathematischen  Formelsprache.  Die  Gleichungen  zweiten  Grades, 
die  schon  die  Griechen  in  geometrischer  Einkleidung  behandelt  hatten,  sind  be- 
reits von  Lionardo  Pisano  auf  Grund  der  arabischen  Vorbilder  erledigt  worden. 
Am  Anfang  des  1 6.  Jahrhunderts  fand  nun  Scipione  del  Ferro  auch  die  all- 
gemeine Lösung  der  Gleichungen  dritten  Grades,  etwa  im  Jahre  1543  gelang 
endlich  dem  kaum  zwanzigjährigen  Luigi  Ferrari,  einem  Schüler  Cardanos, 
die  Auflösung  der  Gleichungen  vierten  Grades,  indem  er  zeigte,  wie  diese 
sich  auf  eine  Gleichung  dritten  Grades,  die  sogenannte  kubische  Resolvente, 
zurückführen  läßt.  Damit  war  ein  gewaltiger  Fortschritt  erreicht  und  die  Al- 
gebra bis  zu  den  Grenzen  entwickelt,  die  ihr  im  Schulunterricht  heute  noch 
gezogen  sind.  Was  aber  noch  fehlte  und  erst  bei  Fermat  und  Descartes  in  der 
ersten  Hälfte  des  17.  Jahrhunderts  voll  entwickelt  auftritt,  ist  die  algebraische 
Formelsprache,  die  den  umständlichen  und  unübersichtlichen  Wortausdruck 
Entstehung  in  ciue  Art  Kurzschrift  zu  übersetzen  gestattet.  Wie  diese  Formelsprache  ent- 
Formeisprache.  Standen  ist,  da  von  können  folgende  kurze  Datcu  einen  Begriff  geben:  1489  ver- 
wendete Widmann  die  Zeichen  -f  und  —  für  die  Addition  und  Subtraktion.  Das 
Gleichheitszeichen = hat  ein  Engländer,  Recorde, erfunden,  der  es  1 556  in  einem 
algebraischen  Lehrbuch  Der  Wetzstein  des  Witzes  einführte,  weil  nichts  glei- 
cher sei  als  diese  zwei  Strichelchen.  Die  Angabe  der  Multiplikation  durch  ein- 
faches Nebeneinanderstellen  der  zu  multiplizierenden  Größen,  ebenso  wie  die 
Angabe  der  Division  durch  den  Bruchstrich  finden  sich  schon  1202  bei  Lionardo 
Pisano.  Dagegen  ist  das  Zeichen  x  erst  1631  durch  den  Engländer  Oughtred 
eingeführt  worden  und  das  Zeichen  :  1684  durch  Leibniz.  Der  Haken  V  für 
die  Quadratwurzel  findet  sich  zuerst  1524  bei  Adam  Riese.  In  der  Rudolff- 
schen  Coß  vom  Jahre  r52  5  begegnet  uns  zuerst  das  Zeichen  für  die  Unbekannte 
in  einer  Gleichung,  das  später  einfach  als  ein  x  geschrieben  worden  ist.  Der 
Franzose  Vieta  hat  endlich  1591  die  konsequente  Verwendung  von  Buchstaben 
zur  Bezeichnung  von  Zahlengrößen  in  Verbindung  mit  Operationszeichen,  so- 
wie den  Zusammenschluß  durch  verschieden  gestaltete  Klammem  und  damit 
die  moderne  Formelschreibweise  eingeführt. 
D'»  Vieta  ist  es  gleichzeitig,  der  sich  das  größte  Verdienst  für  die  Entwick- 

Trigonometrie.  ,  .  ..,,.-  « 

lung  der  modernen  Trigonometrie  erworben  hat  Diese  wird  gewohnlich  aut 
Regiomontanus  (1436  — 1476)  zurückgeführt,  der  sie  in  der  Schrift  De  trian- 
gulis  omnimodis  libri  V  niedergelegt  hatte.  Diese  Schrift  erschien  im  Druck 
erst  1533,  57  Jahre  nach  dem  Tode  des  Verfassers.  Die  späteren  Trigonometer 
sahen  sie  für  eine  selbständige  Schöpfung  Regiomontans  an  und  ergingen 
sich  deshalb  in  Lobeserhebungen  über  ihn.  Untersucht  man  aber,  was  wirklich 


V.  Die  mathematische  Bildung  der  Renaissance.  A  oi 

an  dem  Werke  eigene  Leistung  ist,  so  fallt  manches  weg.  Der  Ruhm,  den 
Regiomontan  geerntet  hat,  beruht  zum  Teil  darauf,  daß  seine  handschrift- 
lichen Quellen,  die  Schrift  des  Menelaus  und  die  Werke  der  Araber  Levi 
ben  Gerson,  AI  Battani  und  Dschabir  vergessen  waren  und  er  sie  nicht  nennt. 
Dagegen  hat  Vieta  (1450  — 1603)  eine  unleugbar  selbständige  Leistung  voll- 
bracht, ihm  verdanken  wir  die  systematische  Ausbildung  der  Methoden  zur  Be- 
rechnung ebener  und  sphärischer  Dreiecke  unter  Zugrundelegung  sämtlicher 
sechs  trigonometrischen  Funktionen. 

Die  Entwicklung  der  Trigonometrie  steht  in  Zusammenhang  mit  dem  ge- Praktische 
steigerten  Interesse  an  den  Aufgaben  der  praktischen  Geometrie.  Der  ^^ 
ungeheuer  angewachsene  Verkehr  und  das  Bedürfnis  nach  neuen,  besseren 
Verkehrswegen  gab  der  Feldmessung  in  der  Vorarbeit  für  die  Anlage  einer 
zweckmäßig  geführten  Straße  eine  neue  Bedeutung.  Außerdem  hatten  der  in 
rascher  Entwicklung  begriffene  Seeverkehr  und  die  großen  Entdeckungs- 
fahrten das  Bedürfnis  nach  einer  genauen  astronomischen  Ortsbestimmung  er- 
weckt. Dies  Bedürfnis  vermochte  man  allerdings  nur  hinsichtlich  der  Breiten- 
bestimmung zu  befriedigen;  bei  der  Längenbestimmung  bildete  das  Fehlen  ge- 
nauer Uhren  ein  unübersteigliches  Hindernis.  Mit  den  Entdeckungsfahrten 
steht  auch  in  Zusammenhang  die  Neuentwicklung  der  Erdbeschreibung  und 
die  Herstellung  von  Erdkarten  und  Atlanten.  Auch  hieran  hat  die  Mathematik  Kartographie 
einen  Anteil,  insofern  sie  lehrt,  das  Gradnetz  der  Erde  nach  einer  festen  Regel 
in  zweckmäßiger  Weise  auf  das  ebene  Kartenblatt  zu  übertragen.  Eine  ein- 
fache Form  der  Darstellung,  welche  die  Eigentümlichkeit  hat,  daß  bei  ihr  kleine 
Teile  der  Erdoberfläche  wirklichkeitsgetreu  abgebildet  werden,  war  durch  die 
stereographische  Projektion  des  Ptolemäus  gegeben.  Die  für  die  Zwecke  der 
Seefahrt  nützlichste  Form  wurde  dagegen  gerade  im  16,  Jahrhundert,  etwa 
gegen  die  Mitte,  von  Gerhard  Mercator  gefunden.  Bei  dieser  Darstellungs- 
form wird  der  Weg  eines  unverändert  denselben  Kurs  steuernden  Schiffes 
als  gerade  Linie  abgebildet. 

Alle  diese  Entdeckungen  werden  aber  überstrahlt  von  den  Arbeiten  auf  Astronomie, 
astronomischem  Gebiet.  Das  Weltsystem  des  Domherrn  Nikolaus  Kopemi- 
kus(  1473— 1543)  erscheint  uns  als  eine  gewaltige  Tat  des  menschlichen  Geistes, 
die  alles  andere  in  den  Schatten  stellt.  Die  Quelle  der  Kopernikanischen  Lehre 
ist  bezeichnend  für  das  Zeitalter  der  Renaissance;  sie  lag  in  dem  Studium 
der  Alten,  verbunden  mit  dem  Streben,  der  unbedingten  Autorität  des  Ari- 
stoteles entgegenzuarbeiten  und  auch  die  gegnerischen  Meinungen  zu  ihrem 
Recht  kommen  zu  lassen.  Kopemikus  berichtet  selbst:  „Ich  gab  mir  alle  Mühe, 
die  Bücher  der  Philosophen,  deren  ich  habhaft  werden  konnte,  von  neuem  zu 
lesen,  um  nachzusuchen,  ob  nicht  irgendeinmal  einer  der  Ansicht  gewesen 
wäre,  daß  andere  Bewegungen  der  Himmelskörper  existierten  als  diejenigen 
annehmen,  welche  in  den  Schulen  die  mathematischen  Wissenschaften  lehren. 
Da  fand  ich  denn  zuerst  bei  Cicero,  daß  Hiketas  von  Syrakus  geglaubt  habe, 
die  Erde  bewege  sich.  Nachher  fand  ich  auch  beiPlutarch,  daß  andere  gleich- 
falls dieser  Meinung  gewesen  sind.   Von  da  ausgehend,  fing  ich  an  über  die 


02  A     H.  E.  Timerding:  Die  Verbreitung  mathemat.  Wissens  u.  mathemat.  Auffassung. 

Beweglichkeit  der  Erde  nachzudenken."  Merkwürdigerweise  sind  ihm  aber 
die  Ansichten  des  Kardinals  Nikolaus  Cusanus  unbekannt  geblieben.  Die  Re- 
sultate seiner  Versuche,  die  unbestimmten  Äußerungen  in  den  älteren  Schrift- 
stellern zu  einer  bestimmten  mathematischen  Beschreibung  der  Planetenbewe- 
gung zu  verdichten,  hielt  Kopernikus  lange  verborgen.  Das  schließliche  Er- 
scheinen seines  großen  Werkes  De  Revolutionibus  orbium  coelestium  (1543) 
hat  er  nicht  mehr  erlebt.  Was  in  diesem  Werke  siegreich  hervortritt,  ist  die 
Macht  des  mathematischen  Geistes,  der  mit  dem  einfachsten  geometrischen 
Bilde  der  Naturvorgänge  auch  die  quantitative  Erklärung  der  beobachteten 
Erscheinungen  verbindet  und  so  dem  leeren  Wortgepränge  der  Scholastiker 
den  klärenden  Einfluß  von  Maß  und  Zahl  gegenüberstellt. 
Die  Mathematik  Solchen  großcu  wissenschaftlichcn  Aufgaben  und  Leistungen  gegenüber 

,,  f "^ '^.!"*      steht  das  Unterrichtswesen  der  Hochschulen  keineswegs  auf  der  Höhe,  die 

Universitäten.  '-'  ' 

wir  vermuten  sollten.  Es  erhielt  sich  vielmehr  fast  genau  in  derselben  Form, 
wie  wir  es  im  15.  Jahrhundert,  im  „finsteren  Mittelalter",  gefunden  haben.  So 
war  es  noch,  als  Galilei  mit  großem  Zulauf  in  Padua  lehrte,  und  die  Titel 
(wenn  auch  nicht  der  Geist)  seiner  Vorlesungen  sind  zum  größten  Teil  genau 
dieselben  wie  sie  schon  zweihundert  Jahre  vorher  waren.  Die  jungen  Leute, 
die  bei  ihm  Astronomie  hörten,  waren  zum  größten  Teil  Mediziner,  welche 
die  Vorlesung  brauchten,  um  bei  der  Behandlung  der  Krankheiten  den  Aspekt 
der  Gestirne  richtig  beobachten  zu  können.  So  hängen  hier  Aberglaube  und 
Wissenschaft  eng  zusammen.  Die  Reformation  hat  den  Zustand  der  mathe- 
matischen Studien  an  den  Universitäten  kaum  verbessert.  An  der  großen  Hoch- 
schule der  Reformation  in  Wittenberg  war  statutengemäß  ein  Professor  für 
Arithmetik  und  die  Sphaera  des  Johannes  de  Sacrobosco  und  ein  Professor  für 
Euklid,  die  Theoria  Planetarum  Peurbachs  und  den  Almagest  des  Ptolemäus 
vorgesehen.  Der  Mathematiker  hatte  aber  wegen  der  geringen  Vorliebe  für 
das  mathematische  Studium  immer  nur  wenig  Zuhörer.  Melanchthon,  der 
entschieden  für  die  Mathematik  eingetreten  ist,  „weil  sie  das  methodische  Denken 
übt,  das  Urteil  bildet  und  den  Geist  gewöhnt  nach  Beweisen  zu  suchen  und 
die  Wahrheit  zu  lieben",  schreibt  einmal  an  den  Herzog  Albrecht  von  Preußen: 
„Höchst  wenige  legen  sich  auf  Mathematik  und  noch  weniger  sind  unter  den 
Machthabern,  welche  dieses  Studium  begünstigen.  Unser  Hof  bekümmert  sich 
wenig  darum."  Bezeichnend  ist  die  Einladungsrede  desRhaeticus  bei  der  Über- 
nahme der  Mathematikprofessur  in  Wittenberg  1536,  die  Studenten  möchten 
sich  durch  die  Schwierigkeit  der  Arithmetik  nicht  abschrecken  lassen,  die  ersten 
Elemente  seien  leicht,  die  Lehre  von  der  Multiplikation  und  Division  verlange 
allerdings  schon  etwas  mehr  Fleiß,  könne  aber  bei  einiger  Aufmerksamkeit 
ohne  Mühe  bewältigt  werden,  allerdings  gebe  es  noch  schwierigere  Teile  der 
Arithmetik,  aber  er  rede  nur  von  den  Anfängen,  die  den  Studierenden  gelehrt 
würden  und  nützlich  seien.  Wir  können  uns  schwer  hineinversetzen,  daß  etwas 
so  Elementares  wie  das  gewöhnliche  Rechnen  auf  der  Universität  gelehrt 
werden  mußte  und  noch  hier  Widerstand  fand.  Die  Gymnasien  verhielten  sich 
aber  ganz  ablehnend  dagegen.  Auf  dem  Sturmschen  Gymnasium  in  Straßburg 


V.  Die  mathematische  Bildung  der  Renaissance.  A  03 

wurde  erst  40  Jahre  nach  der  Gründung,  im  Jahre  1578,  in  der  Sekunda  etwas 
Arithmetik  und  in  Prima  einige  Sätze  aus  dem  ersten  Buche  des  Euklid  einge- 
führt, dazu  sollten  die  Elemente  der  Astronomie  gelehrt  werden.  So  stehen 
wir  vor  der  befremdenden  Tatsache,  daß  die  gelehrten  Berufe  vielfach  über- 
haupt nicht  rechnen  lernten.  Man  denke  sich  den  Zustand:  die  Gebildetsten 
der  Nation  waren  den  Aufgaben  des  täglichen  Lebens  gegenüber  hilfloser 
wie  heutzutage  ein  Hökerweib! 

Wie  tief  das  mathematische  Studium  auf  den  Universitäten  stand,  kann 
man  daraus  entnehmen,  daß  die  Universitätslehrer  vielfach  die  Verfasser  von 
Rechenbüchern  sind,  die  zuerst  als  Kompendien  für  ihre  Vorlesung  gedacht 
waren.  So  ist  das  Rechenbuch  von  Heinrich  Schreiber,  genannt  Grammateus» 
entstanden,  das  er  nach  den  Aufzeichnungen  für  seine  Vorlesungen  heraus- 
gab, als  152  I  die  Wiener  Universität  wegen  einer  Seuche  geschlossen  wurde. 
So  leitet  auch  ein  Leipziger  Universitätsprofessor,  Heinrich  Stromer,  1520 
seinen  Algorithmus  linealis  mit  der  an  einen  seiner  Schüler  gerichteten  Be- 
merkung- ein,  der  Zweck  seines  Buches  sei,  daß  nicht  ihm  und  seinen  übrigen 
Schülern  die  Grundlagen  der  Mathematik  gänzlich  verborgen  bleiben  sollten. 
Die  mathematischen  Universitätsvorlesungen  begnügten  sich  sonach  vielfach 
damit,  den  Studierenden  für  ihr  späteres  Leben  die  elementarsten  Kenntnisse 
im  Rechnen  mitzuteilen.  Sie  suchten  so  den  gelehrten  Ständen  das  wenigstens 
einigermaßen  zu  sichern,  was  dem  Kaufmannsstande  in  gründlicherer  Form 
durch  die  Rechenschulen  gewährleistet  wird. 

Die  Ausbreitung  des  modernen  kaufmännischen  Rechnens,  die  mit  der  Das  kaufmän 
Ersetzung  der  römischen  Ziffern  durch  die  arabischen  Hand  in  Hand  geht,  ist"""^*  Rechnen. 
einer  der  wichtigsten  Prozesse  des  ganzen  Kulturlebens.  Er  ist  mit  der  Aus- 
breitung des  Handels  unmittelbar  verknüpft  und  schreitet  vom  1 5.  Jahrhundert 
ab  rasch  fort.  Eine  besondere  Unterstützung  bot  ihm  die  neuentdeckte  Buch- 
druckerkunst, denn  sie  erlaubte  die  Herstellung  billiger  Rechenbücher.  Das 
älteste  uns  erhaltene  Rechenbuch  in  deutscher  Sprache  ist  das  von  Ulrich 
Wagner  (1482).  Ihm  folgte  1489  das  von  Widmann.  Es  behandelt  im  ersten 
Teil  die  unbenannten  Zahlen,  im  zweiten  die  kaufmännischen  Rechnungsarten 
und  im  dritten  Geometrie.  Die  Stoffanordnung  im  zweiten  Teil  ist  im  wesent- 
lichen genau  dieselbe,  wie  sie  sich  heute  noch  in  unseren  Schulbüchern  findet. 
Das  Rechnen  wurde  in  jener  Zeit  an  bestimmten  Rechenschulen  von  Rechen- 
meistern gelehrt.  Zu  Beginn  des  1 6.  Jahrhunderts  wirkte  als  der  berühmteste 
Rechenmeister  Johann  Neudörffer  der  Altere  in  Nürnberg.  Seine  Schüler 
zogen  als  Rechenlehrer  nach  allen  Gegenden  Deutschlands.  In  Mitteldeutsch- 
land gelangte  zu  sprichwörtlicher  Berühmtheit  Adam  Riese  (1492 — 1559), 
dessen  erstes  Rechenbuch  15 18  erschien.  Die  Quartausgabe  von  1550  kann 
als  das  beste  Rechenbuch  dieser  Zeit  bezeichnet  werden.  Das  Unterrichts- 
verfahren der  Zeit  war  rein  mechanisch.  Man  suchte  eine  bequeme  Lösungs- 
methode aus,  auf  die  dann  immer  und  immer  verwiesen  wurde  mit  der  einfachen 
Vorschrift  „Mach's  nach  der  Regel!".  Der  Unterricht  war  Einzelunterricht. 
Jeder  Schüler  beschäftigte  sich  selbst,  indem  er  das  Rechenheft  seines  Meisters 


04  A     H.E.  Timerding:  Die  Verbreitung  mathemat.  Wissens  u.  mathemat.  Auffassung. 

durchzurechnen  suchte;  kam  er  nicht  weiter,  so  fragte  er.  Nur  zwischendurch 
erhoben  sich  Stimmen,  die  einen  Klassenunterricht  forderten.  Dennoch  waren 
die  Rechenschulen  besser  als  die  Volks-  und  Winkelschulen.  Die  Rechen- 
meister suchten  ihren  Stand  zu  heben,  indem  sie  sich  zu  Zünften  vereinigten, 
die  Zahl  beschränkten  und  eine  bestimmte  Vorbildung  vorschrieben.  Zur  Vor- 
bereitung auf  die  Lehrerprüfung  schrieb  1616  der  Nürnberger  Rechenmeister 
Johann  Heer  Arithmeticae  et  geometricae  Questiones,  Die  Rechenlehrer 
studierten  nicht  bloß  das  gewöhnliche  Rechnen,  sondern  auch  die  theoretische 
Arithmetik,  und  so  wurde  die  Ausbildung  der  Rechenpraxis  gleichzeitig  auch 
der  Anlaß  für  eine  weitere  Ausbreitung  der  wissenschaftlichen  Mathematik. 
Mathematisches  Allgemein  ist  über  die  Beschäftigung  mit  der  wissenschaftlichen  Mathe- 

matik in  dieser  und  auch  noch  in  der  späteren  Zeit  zu  sagen,  daß  sie  nicht 
an  einen  bestimmten  Lehrbetrieb  geknüpft  war,  daß  sie  vielmehr  fast  immer 
wesentlich  auf  Sonderstudium  beruhte.  Entweder  fand  der  Lernbegierige  einen 
Lehrer,  der  ihm  durch  Privatissima  weiterhalf,  oder  er  erwarb  sich  seine 
Kenntnisse  rein  autodidaktisch  aus  Büchern.  In  dem  Zeitalter  der  Renaissance 
waren  es  hauptsächlich  die  Schriften  der  alten  griechischen  Mathematiker,  an 
denen  sich  das  Studium  der  Wissenschaft  aufrankte.  Euklid  wurde  auch  der 
Lehrmeister  der  neuen  Zeit.  Neben  ihm  wurden  die  Werke  des  Archimedes, 
Heron  und  Ptolemäus  eifrig  studiert.  Die  Hinneigung  nach  dem  Vorbild  der 
Alten  ist  ja  überhaupt  ein  Kennzeichen  der  Renaissance;  z.  B.  hat  das  Werk 
des  Vitruv  über  die  Baukunst  eine  ungeheure  Bedeutung  erlangt,  man  suchte 
aus  ihm  die  ganzen  Kunstgeheimnisse  des  Altertums  zu  enträtseln.  Die  huma- 
nistische Bewegung  bedingte,  daß  man  bald  auch  dazu  überging,  die  griechi- 
schen Mathematiker  nicht  bloß  in  der  lateinischen  Übersetzung,  sondern  auch 
im  Original  zu  studieren.  So  begegnen  uns  in  der  ersten  Hälfte  des  16.  Jahr- 
hunderts auch  die  ersten  griechischen  Druckausgaben  des  Euklid  (1533),  des 
Ptolemäus  (1538)  und  des  Archimedes  (1544). 
Praktische  Zu   solchcn  Studien  war  eine  ausgebreitete  Buchgelehrsamkeit  nötig. 

■  Aber  die  Beschäftigung  mit  der  Mathematik  ist  in  dieser  Zeit  keineswegs  auf 
die  Gelehrten  beschränkt  gewesen,  vielmehr  wurde  sie  von  Künstlern  und 
Technikern  mit  Eifer  und  Hingebung  getrieben.  Diese  aus  der  Praxis  er- 
wachsene Bildung,  in  der  sich  das  Wissen  der  mittelalterlichen  Bauhütten 
fortsetzt,  ist  sich  mit  Stolz  bewußt,  keinen  anderen  Lehrmeister  als  die  Er- 
fahrung und  das  Nachdenken  über  die  Ergebnisse  der  Erfahrung  gehabt  zu 
haben.  Zum  erstenmal  stellt  sich  eine  von  aller  Überlieferung  unabhängige, 
nur  auf  dem  Zeugnis  der  eigenen  Sinne  und  den  Früchten  des  eigenen  Nach- 
denkens beruhende  Wissenschaft  entschieden  der  Schulweisheit  gegenüber. 
Es  tritt  ein  Wissen  auf,  das  sich  rühmt,  unmittelbar  der  Natur  entsprossen 
und  nicht  durch  die  Meinungen  anderer  Menschen  beeinflußt  zusein.  Bezeich- 
nend ist  die  Erzählung  in  Vasaris  Lebensbeschreibung,  wie  Brunellesco  mit  dem 
nach  Florenz  zurückgekehrten  Paolo  Toscanelli  Freundschaft  schließt  und  von 
ihm  Geometrie  lernt.  Es  heißt  darin  weiter:  „Obwohl  Brunellesco  keine  lite- 
rarische Bildung  besaß,  konnte  er  ihm  doch  von  allen  Dingen  Rechenschaft 


V.  Die  mathematische  Bildung  der  Renaissance.  -A.  95 

geben  vermöge  des  natürlichen  Wissens  seiner  praktischen  Erfahrung,  so 
daß  er  ihn  häufig  überraschte."  Lionardo  da  Vinci  nennt  sich  mit  Stolz  einen 
Schüler  der  Erfahrung,  und  auch  bei  Galilei  finden  wir  dieselbe  Stimmung. 
Er  spricht  von  dem  Buche  der  Natur,  in  dem  wir  unmittelbar  ohne  eine  da- 
zwischengeschobene  Lehrmeinung  lesen  sollen  und  dessen  Schriftzeichen 
mathematische  Formeln  und  Figuren  sind.  Es  ist  die  Bedeutung  dieser  Mathe- 
matik der  Renaissance,  daß  sie  mit  der  Rückkehr  zu  der  unmittelbaren,  un- Rückkehr  zur 
befangenen  Betrachtung  der  Natur,  mit  der  Begründung  der  modernen  Natur-  "°°"und  "^" 
Wissenschaft  in  engstem  Zusammenhange  steht.  Vielfach  hat  man  in  dieser  "g^^^^^^"^^^" 
Entwicklung  einen  bewußten  Gegensatz  gegen  das  christliche  Mittelalter  ver-  der  Natur. 
mutet.  Ein  solcher  Gegensatz  des  emanzipierten  Laientums  gegen  die  geist- 
liche Gebundenheit  des  Denkens  besteht  aber  eigentlich  nicht.  Wir  können 
dies  deutlich  an  der  Persönlichkeit  eines  Nikolaus  von  Cusa  (1401  — 1464)  er- 
kennen, der,  selbst  ein  hoher  Würdenträger  der  Kirche,  doch  die  ganzen 
Ideengänge  vorgebildet  hat,  die  später  das  1 6.  Jahrhundert  bewegen.  Seine 
Ansichten  stehen  denen  eines  Giordano  Bruno  sehr  nahe,  nur  die  dazwischen 
eingetretene  Reformation  und  Gegenreformation  bewirkte,  daß  als  anstößig 
und  religionsfeindlich  galt,  was  vorher  unbedenklich  hingenommen  worden 
war.  In  der  Zeit,  da  sich  um  Lionardo  da  Vinci  in  Mailand  ein  Kreis  bildete, 
der  sich  die  Erforschung  der  Wirklichkeit  und  ihre  technische  Beherrschung 
zum  Ziele  setzte,  war  ein  solcher  Gegensatz  noch  nicht  vorhanden.  Hätte  Galilei 
hundert  Jahre  früher  gelebt,  so  hätte  er  kaum  irgendwelche  Anfeindung  er- 
fahren. Typisch  ist  für  die  Frührenaissance  der  Bildungsgang,  den  einer  ihrer  Drang  zur 
Hauptvertreter,  Leo  Battista  Alberti,  durchgemacht  hat.  Ausgezeichnet  durch  BetäH^ng" 
ungewöhnliche  körperliche  Kraft  und  Gewandtheit,  in  allen  ritterlichen  Übun- 
gen erfahren,  wird  er  Geistlicher  und  gibt  sich  dem  Studium  der  Rechtswissen- 
schaft mit  solchem  Eifer  hin,  daß  sein  starker  Körper  der  Anstrengung  unter- 
liegt. Von  dem  Nervenleiden,  das  ihn  befällt,  sucht  er  Heilung  durch  einen 
Wechsel  der  Beschäftigung;  so  wendet  er  sich  mathematischen  Studien  zu 
und  gelangt  von  diesen  aus  zur  Kunst,  in  der  er  als  Baumeister  großen  Ruhm 
erlangt  hat.  Die  staunenswerte  Vielseitigkeit,  der  unvermittelte  Übergang 
von  einem  Beruf  zum  anderen  ist  bezeichnend  für  diese  Zeit  einer  mächtigen 
Entwicklung.  Ebenso  wendet  ja  auch  Lionardo  da  Vinci,  nachdem  er  bisher 
nur  als  Künstler  tätig  gewesen,  sich  plötzlich  der  Technik  zu,  indem  er  sich 
dem  Herzog  von  Mailand  als  Ingenieur  anbietet,  und  seine  Manuskripte,  die 
uns  ein  gütiges  Geschick  erhalten  hat,  zeigen  deutlich  die  Universalität  seines 
Genies. 

Diese  Universalität  zeigt  sich  auch  in  der  ganzen  mathematischen  Lite-  Enzykiopäducher 
ratur  der  Zeit.  Mathematik  bedeutete  überhaupt  nicht  mehr  eine  bestimmte  mathematischen 
Wissenschaft,  sondern  nur  das  geistige  Band,  das  die  neue,  auf  der  Erfahrung     Lehn^erke. 
und  ihrer  methodischen  Durcharbeitung  aufgebaute  Wissenschaft  zusammen- 
hielt.   Diese  Wissenschaft  war  so  weit  wie  das  reale  Interessengebiet  des 
Zeitalters.  So  wurde  die  Baukunst   zur  Mathematik   gerechnet,   ebenso   die 
Malerei  in  der  Form  der  Perspektive,   Das  neuentwickelte  Heerwesen  be- 


o6  A     H.  E.  Timerding:  Die  Verbreitung  mathemat.  Wissens  u,  mathemat.  Auffassung. 

dingte  eine  Menge  von  technischen  Kenntnissen,  die  man  ebenfalls  einfach 
der  Mathematik  zuerteilte.  Es  war  zunächst  das  Befestigungswesen,  dann 
die  Taktik  und  endlich  die  Ballistik,  die  nicht  nur  von  militärischen  Fach- 
leuten, sondern  von  jedem,  der  sich  dazu  berufen  fühlte,  behandelt  wurden. 
Die  uns  heute  geläufige  Anschauung,  daß  jeder  nur  über  sein  bestimmtes 
Fachgebiet  schreiben  könne,  ist  in  jener  Zeit  überhaupt  nicht  vorhanden. 
Wozu  man  Lust  in  sich  spürt  oder  wovon  man  sich  Gewinn  erhofft,  das  treibt 
man.  So  ergibt  sich  eine  allerdings  häufig  dilettantische  Vielwisserei,  die  fast 
immer  unter  dem  Namen  der  Mathematik  zusammengefaßt  wird  und  deren 
Träger  sich  als  Mathematiker  fühlen  und  bezeichnen. 

Typisch  für  dieses  mathematische  Bildungs  wesen  des  1 6.  Jahrhunderts  ist 
das  Buch  von  Tartaglia,  La  nuova  Scientia  (Die  neue  Wissenschaft)  1 537,  schon 
in  seiner  äußeren  Gestalt.  Auf  dem  Titelblatt  ist  im  Vorhof  des  Tempels  der 
Philosophie,  zu  der  Aristoteles  die  Tür  öffnet  und  an  deren  Eingang  Piaton 
die  bekannten  Worte  spricht,  daß  kein  der  Geometrie  Unkundiger  eintreten 
dürfe,  der  Verfasser  dargestellt,  wie  er,  geleitet  von  Arithmetik  und  Geo- 
metrie, mit  einem  großen  Gefolge  anderer  Wissenschaften  auf  den  Beschauer 
zuschreitet.  Davor  sind  die  Flugbahnen  der  Geschosse  angedeutet,  die  er 
zuerst  bestimmt  zu  haben  sich  rühmt.  Zu  dem  Vorhof  macht  Euklid  die  Tür 
auf.  Darunter  stehen  die  Worte:  Disciplinae  mathematicae  loquuntur:  Qui 
cupitis  rerum  varias  cognoscere  causas,  Discite  nos,  cunctis  haec  patet  una 
via.  In  dem  Buche  selbst  findet  sich  allerlei  untermischt:  die  Bestimmung 
der  Höhen  und  Entfernungen  mit  Hilfe  des  Quadranten,  ein  Verfahren,  ge- 
sunkene Schiffe  zu  heben,  das  dem  Prinzip  unserer  Schwimmdocks  entspricht, 
die  Archimedische  Hydrostatik,  Meteorologisches,  sowie  die  Bestimmung  des 
spezifischen  Gewichtes.  Die  1546  erschienenen  vermischten  Untersuchungen 
und  Erfindungen  (Quesiti  et  invenzioni  diverse)  desselben  Verfassers  sind 
von  ähnlicher  Art,  sie  betreffen  die  Wurfbahn  der  Geschosse,  die  Aufstellung 
der  Heere,  die  Landmessung  mit  der  Bussole,  die  Befestigungskunst,  die 
Statik,  endlich  die  Gleichung  dritten  Grades,  deren  Lösung  Tartaglia  selb- 
ständig gefunden  zu  haben  behauptet.  Noch  deutlicher  drückt  sich  die  Neigung 
der  Zeit  zur  Vielwisserei  in  dem  Werke  des  Cardano  De  Subtilitate  (1550) 
aus,  dessen  21  Bücher  alles  Mögliche,  was  merkwürdig  und  seltsam  scheint, 
behandeln,  z.  B.  die  Frage,  wie  man  Briefe  schreiben  kann,  die  erst  lesbar 
werden,  wenn  man  sie  ins  Wasser  legt,  wie  man  eine  Lampe  so  aufhängen 
kann,  daß  das  Öl  nicht  herausfließt,  auch  wenn  sie  sich  auf  schwankendem 
Schiffe  befindet.  Aber  derlei  Dinge  rechnete  man  wirklich  zum  mathematischen 
Wissen.  In  demselben  Werke  des  Cardano  finden  sich  auch  nicht  unwichtige 
mechanische  Probleme  behandelt,  in  engem  Anschluß  an  Lionardo  da  Vinci, 
und  im  15.  Buch  bespricht  er  einen  Reformversuch  der  Euklidischen  Be- 
weisgänge. Auch  in  deutscher  Sprache  finden  sich  derartige  Werke.  Die 
Bücher  Albrecht  Dürers,  der  nicht  bloß  über  die  Geometrie  vom  künstle- 
rischen Standpunkt  aus,  sondern  auch  über  die  Proportionen  des  mensch- 
lichen Körpers  und  die  Befestigungskunst  geschrieben  hat,  bilden  ein  Bei- 


V.  Die  mathematische  Bildung  der  Renaissance.  A  o? 

spiel  dafür.  Zum  Teil  auf  den  Tartagliaschen  Schriften  beruht  das  Werk 
von  Rivius  (1558),  das  den  Titel  trägt:  „Baukunst  oder  Architectur  aller- 
fümemsten,  nothwendig-sten,  angehörigen  mathematischen  und  mechanischen 
Künsten  eygentlicher  Bericht  und  verständtliche  Underrichtung,  zu  rechtem 
Verstandt  der  Lehre  Vitruvii".  Hier  ist  direkt  das  Wort  Baukunst  für  das- 
selbe gebraucht,  was  sonst  Mathematik  genannt  wird.  Das  Buch  beginnt 
mit  einem  geometrischen  Kapitel  „Allerlei  Vorteil  und  Behendigkeit  des 
Zirkels  und  Richtscheits".  Dann  kommt  die  Kunst  des  „perspektivischen 
Reissens",  die  „new  Büchsenmacherey  aus  geometrischem  Grundt",  weiter 
die  Befestigimgslehre,  Taktik,  Feldmeßkunst  und  die  Mechanik.  Die  weiteste 
Ausbreitung  vielleicht  zeigen  die  mathematischen  Werke  des  Simon  Stevin, 
die  gegen  Ende  des  1 6.  Jahrhunderts  geschrieben,  aber  erst  1634  in  einer 
Gesamtausgabe  erschienen  sind.  Sie  sollen  für  den  Unterricht  des  Prinzen 
Moritz  von  Nassau  entstanden  sein  und  enthalten  der  Reihe  nach  Arithmetik, 
Trigonometrie,  Astronomie,  Geographie,  die  Bestimmung  der  Wolkenhöhe, 
die  Kompaßlehre,  Nautik,  eine  Theorie  von  Ebbe  und  Flut,  einen  Abriß  der 
praktischen  Geometrie,  daneben  rein  theoretische  Betrachtungen  überFlächen- 
und  Körperverwandlung  u.  dgl.,  darauf  die  Statik,  wobei  auch  die  später  durch 
ihre  Bedeutimg  für  die  gesamte  graphische  Statik  so  berühmt  gewordene 
Figur  des  Seilecks  gegeben  wird,  die  Theorie  der  Flaschenzüge  (die  sich 
ebenfalls  bei  Cardano  findet),  femer  die  Hydrostatik  mit  Betrachtungen  über 
die  Stabilität  schwimmender  Körper.  Dem  höfischen  Zweck  ist  eine  Unter- 
suchung über  die  Wirkung  des  Zaums  auf  das  Pferd  angepaßt.  Dann  wird 
die  Einrichtung  der  Feldlager  und  die  Anlegung  der  Befestignngen  besprochen. 
Auch  die  Perspektive  findet  eine  Stelle.  Alles  ist  mit  schönen  griechischen 
Namen  bezeichnet. 

Der  allgemeine  Eindruck,  den  die  mathematische  Literatur  des  16.  Jahr-    AUgcmeiner 
hunderts  macht,  ist  nicht  immer  allzu  gfünstig.  Es  herrscht  die  Neisfung-  zu  ^^'^*«''  '^'^■ 

'  00  O        «3  mathematischen 

einer  großen  Weitschweifigkeit,  die  mit  dem  Inhalt  manchmal  nicht  im  Ver-    LJteratnr  des 

.  ,  t6.  Jahrhunderts 

haltnis  steht,  em  ruhmrediges  Hervorheben  der  eigenen  Verdienste  und  Ver- 
schweigen der  fremden  Leistungen.  So  hat  man  manches  für  eine  selbständige 
Leistung  dieser  Zeit  gehalten,  was  in  Wirklichkeit  aus  einer  früheren  Zeit 
übernommen  ist  Um  nur  ein  Beispiel  zu  nennen,  hat  Tartaglia  die  Euklid- 
übersetzung des  Wilhelm  von  Mörbecke  einfach  abgeschrieben  und  mit  einer 
prahlerischen  Vorrede  als  sein  eigenes  Werk  herausgegeben.  Die  ganze  Zeit 
erfüllt  eine  allgemeine  Gier  nach  Ruhm  imd  Besitz.  So  mangelt  die  Ruhe 
und  Sammlung  zu  gründlicher  wissenschaftlicher  Arbeit.  Die  sich  mit  der 
Mathematik  beschäftigen,  sind  jetzt  meistens  Laien.  Ihnen  fehlt  die  wirtschaft- 
liche Sicherung,  die  der  geistliche  Stand  gewährt,  sie  müssen  um  ihr  Dasein 
kämpfen,  denn  was  sie  können,  dient  an  sich  wenig  zur  Erlangung  materieller 
Güter.  Da  suchen  sie  sich  denn  als  Wundermänner  zu  gebärden  und  rühmen  sich 
geheimnisvoller  Kenntnisse.  Sie  kommen  so  der  Neigung  der  Zeit  entgegen, 
die  überhaupt  nach  dem  Seltsamen  imd  Wunderbaren  trachtet  Es  ist  die  Zeit, 
wo  die  geheimen  Wissenschaften  einen  imgeheuren  Aufschwung  nehmen. 

K.  d.  G.  III.  I  Mathematik,  A.  7 


q8  A      H.  E.  Timerding :  Die  Verbreitung  mathemat.  Wissens  u.  mathemat.  Auffassung 

Auch  von  Kepler  noch  ist  bekannt,  daß  er  sich  sein  Brot  als  Astrolog  ver- 
dienen mußte,  und  er  sagt  selbst:  Die  ernste  Wissenschaft,  die  Astronomie, 
könnte  betteln  gehen,  wenn  ihre  närrische  Tochter,  die  Astrologie,  ihr  nicht  hülfe. 
Beginn  Das  Forschctt  nach  den  geheimnisvollen  Kräften  der  Natur  hat  aber  doch 

N^tlrforedi^ng.  ©inc  gute  Wirkung  gehabt:  es  führte  dazu,  überhaupt  durch  Beobachtung  und 
Versuche  die  Naturvorgänge  zu  erschließen,  und  es  hat  so  die  empirische 
Naturforschung  hervorgerufen.  Die  Entstehung  der  modernen  Naturwissen- 
schaft steht  aber  in  enger  Verbindung  mit  der  mathematischen  Betrachtungs- 
weise. Wir  können  dies  deutlich  an  den  drei  Männern  erkennen,  die  wir  an 
den  Anfang  der  modernen  Naturforschung  stellen  dürfen:  dem  Engländer 
Gilbert  (1540  — 1603),  dem  Deutschen  Kepler  (1571 — 1630)  und  dem  Italiener 
Galilei  (1564—1642).  Erst  bei  ihnen  fühlen  wir  wirklich  den  Odem  einerneuen 
Zeit.  Am  wenigsten  bekannt  von  ihnen  ist  Gilbert,  aber  seine  Schrift  über 
den  Magnetismus,  die  1600  erschien,  ist  eigentlich  das  erste  moderne  natur- 
wissenschaftliche Werk,  das  die  ganze  Naturbetrachtung  auf  eine  systematisch 
geleitete  Beobachtung  und  mathematische  Darstellung  gründet.  Es  hat  auch 
auf  Galilei  einen  großen  Einfluß  ausgeübt.  Kepler  hat  durch  seine  Gesetze  der 
Planetenbewegung,  die  allgemeine  empirische  Tatsachen  bedeuten,  die  moderne 
Astronomie  begründet,  und  Galilei  hat  nicht  minder  durch  seine  astronomi- 
schen Entdeckungen  wie  durch  die  Auffindung  der  Fallgesetze  auf  die  Natur- 
wissenschaft bestimmend  eingewirkt.  Bei  Kepler  sowohl  wie  bei  Galilei 
können  wir  aber  beobachten,  wie  sie  sich  erst  zu  der  neuen  Auffassung  durch- 
ringen mußten.  Kepler  hat  damit  begonnen,  daß  er  in  seinem  Mysterium  cos- 
mographicum  (1596)  ein  Weltsystem  auf  Grund  apriorischer  geometrischer 
Überlegungen,  nämlich  von  den  regulären  Körpern  ausgehend,  aufzustellen 
suchte  und  Galilei  setzte  mit  dem  Studium  der  Aristotelischen  Physik  ein,  die 
denselben  Irrweg  geht,  allein  aus  dem  Denken  heraus  die  Wirklichkeit  kon- 
struieren zu  wollen.  Aber  in  Keplers  und  Galileis  Anschauung  bleibt  doch 
ein  tiefgreifender  Unterschied.  Galilei  dringt  zu  einer  völligen  Beseitigung 
jeder  mystischen  Beimengung  durch,  er  sieht  als  den  einzigen  Weg  der  Natur- 
erkenntnis die  mechanische  Erklärung  der  alten  Materialisten  an,  bei  Kepler 
dagegen  bleibt  ein  religiöser  Zug  bestehen,  ihm  ist  die  Welt  das  geheimnis- 
volle Werk  eines  weisen  Schöpfers. 

VI.  Die  mathematische  Bildung  des  17.  und  18.  Jahrhunderts. 
Das  17.  Jahr-  Gilbert,  Kepler  und  Galilei  ragen  schon  in  das  17.  Jahrhundert  hinüber 

mathemarisrfie  und  bereiten  die  große  geistige  Bewegung  vor,  die  dieses  Jahrhundert  aus- 
jahrhundert  zeichnet.  Es  wird  mit  Recht  als  das  mathematische  Jahrhundert  bezeichnet. 
Wenn  die  Mathematik  in  dem  vorhergehenden  Jahrhundert  bei  allem  ener- 
gischen Aufschwung  immer  noch  etwas  Spielerisches  und  Dilettantisches  ge- 
zeigt hatte,  so  wird  jetzt  wirklich  Ernst  damit  gemacht,  die  Mathematik  nicht 
bloß  um  ihrer  selbst  willen  auszubauen,  sondern  sie  als  das  mächtigste  Werk- 
zeug zur  Erkenntnis  der  Natur  auszubilden,  ja  zur  Grundlage  der  ganzen  Welt- 
auffassung zu  machen. 


VI.  Die  mathematische  Bildung  des  17.  und  18.  Jahrhunderts.  A.  QQ 

Das  17.  Jahrhundert  beginnt  mit  den  größten  und  wichtigsten  mathema-  Mathematische 
tischen  Entdeckungen.  Um  das  Jahr  1610  finden  fast  genau  gleichzeitig  Jost  "'  **^  °"^*" 
Bürgi  und  John  Napier  die  Logarithmen.  Dadurch  ist  nicht  bloß  das  wichtigste 
Hilfsmittel  für  die  wissenschaftliche  Rechnung  geschaffen,  es  ist  auch  für  die 
prinzipielle  Auffassung  der  Mathematik  ein  großer  Fortschritt  gemacht.  Im 
Jahre  1037  erscheint  Descartes'  Geometrie,  welche  die  Grundlage  der  mo- 
dernen anah-tischen  Mathematik  gebildet  hat,  und  fast  genau  gleichzeitig  wird 
(1635)  durch  Cavalieri  und  auf  andere  Art  durch  Fermat  zunächst  in  einer 
geometrischen  Form  die  moderne  Infinitesimalrechnung  inaugxiriert.  Durch 
Desargues  und  Pascal  wird  die  moderne  projektive  Geometrie  begründet 
Galilei  schafft  durch  seine  großen  Werke  den  festen  Unterbau  für  die  mo- 
derne Physik  und  Astronomie.  Galilei  und  Pascal  entdecken  ferner  ein 
neues  merkwürdiges  Anwendimgsgebiet  der  Mathematik,  die  Wahrschein- 
lichkeitsrechnung. Die  größte  Aufgabe  der  praktischen  Geometrie,  die  Aus- 
messung der  Erde  selbst,  wird  von  Snellius  auf  Grund  des  schon  von  Gemma 
Frisius  angegebenen  Triangulationsverfahrens  in  der  ersten  wissenschaftlichen 
Gradmessung  (Eratosthenes  batavus,  161 7)  durchgeführt  Snellius  schreibt 
auch  1624  das  erste  mathematische  Lehrbuch  der  Schiffahrtskunde,  und  gibt 
in  dem  von  ihm  entdeckten  Brechuugsgesetz  der  Lichtstrahlen  eine  der 
wichtigsten  Grundlagen  für  die  mathematische  Naturbeschreibung. 

Aber  die  Wirksamkeit  der  Mathematik  geht  in  dieser  Zeit  weit  über  die  Mathematische 
engeren  Grenzen  des  Faches  hinaus.  Bedenken  wir  bloß,  daß  Descartes  und  Pas-  °^^  '*" 
cal  es  gleichzeitig  waren,  welche  die  moderne  französische  Sprache  geschaffen 
haben,  und  diese  hat  die  Eigentümlichkeit  des  mathematischen  Stils,  die  Ver- 
wendung eines  beschränkten  Wortschatzes  in  vollendeter  Klarheit  der  Ge- 
dankenverbindung, dauernd  bewahrt  Das  mathematische  Denken  greift  eben- 
so auch  entscheidend  in  die  ganze  Weltbetrachtung  ein,  ja  es  überti-ägt  sich 
selbst  auf  die  Erforschung  der  Vorgänge  des  seelischen  Lebens.  Als  den  Ur- 
heber dieser  mathematischen  Philosophie  können  wir  Giordano  Bruno  an- 
sehen, der  gerade  um  die  Wende  des  Jahrhunderts  den  Feuertod  für  seine 
Überzeugung  stirbt.  Für  diesen  leidenschaftlichsten  Gegner  der  kirchlichen 
Gebundenheit  des  Lebens  und  des  Denkens  wird  die  Mathematik  ein  Mittel, 
um  die  Dialektik  der  Schulen  zu  bekämpfen,  indem  er  die  Klarheit  der  geo- 
metrischen Vorstellung  an  die  Stelle  der  verschwommenen  Wortspielerei  setzt 
Aristoteles  ist  der  Gegner,  gegen  den  er  überall  loszieht,  und  wie  Aristoteles 
das  mathematische  Denken  aus  der  Philosophie  der  Griechen  beseitigte  und 
durch  die  sprachliche  Analyse  der  Redeformen  und  Begriffe  ersetzte,  so  hebt 
Giordano  Bruno  umgekehrt  die  durch  Aristoteles  abgesetzte  pythagoreische 
Philosophie  wieder  auf  den  Schild.  Auch  zu  der  mathematischen  Atomistik 
der  P}thagoreer  kehrt  er  zurück.  Nur  die  starre  Geschlossenheit,  die  auch 
die  Pythagoreer  dem  Kosmos  gaben,  ersetzt  er  durch  die  unbegrenzte  Weite 
einer  unendlichen  Welt  In  dieser  Unendlichkeitslehre  spiegelt  sich  der  ins 
Unermeßliche  gehende  Drang  des  Zeitalters  wider.  Wie  Giordano  Bruno 
den  deutlichen  Ausdruck  dafür  findet,  was  seine  Zeit  bewegt,  so  hat  er  zweifel- 

7* 


loo  A    H.  E.  Timerding  :  Die  Verbreitung  mathemat.  Wissens  u.  mathemat.  Auffassung. 

los  auch  auf  seine  Zeit,  besonders  auf  Galilei  einen  großen  Einfluß  ausgeübt. 
Freilich  bleibt  dieser  Einfluß  uneingestanden,  da  die  Schriften  des  Gerich- 
teten verboten  sind  und  nicht  genannt  werden  dürfen. 

Die  Erhebung  der  mathematischen  Anschauung  und  des  mathematischen 
Denkens  zur  führenden  Stellung  in  der  Betrachtung  der  ganzen  Weltordnung, 
die  Giordano  Bruno  gewollt  hatte,  setzt  sich  in  dem  folgenden  Jahrhundert 
siegreich  durch.  Diese  mathematische  Philosophie  erlangt  in  Descartes, 
Spinoza,  Hobbes  und  Leibniz  die  entschiedene  Herrschaft.  Descartes  hebt 
zunächst  die  Bedeutung  der  Mathematik  für  die  Methodik  des  Denkens  über- 
haupt hervor  und  sucht  das  Wesen  der  mathematischen  Erkenntnis  auf  alle 
wirkliche  Wissenschaft  methodisch  auszudehnen.  Sein  bekanntes  Wort  „Wahr 
ist,  was  ich  klar  und  deutlich  einsehe"  bedeutet  nichts  anderes,  als  daß 
mathematische  Gewißheit  jeder  wahren  Erkenntnis  innewohnen  müsse.  Aus 
mathematischen  Gedankenkonstruktionen  hat  er  denn  auch  sein  System  aufge- 
baut und  er  widersetzt  sich  heftig  der  empirischen  Betrachtungsweise  Galileis, 
die  in  der  Natur  nur  die  einzelnen  Tatsachen  zu  beobachten,  aber  nicht  aus  allge- 
meinen Gesichtspunkten  die  Naturvorgänge  mit  mathematischer  Gewißheit  zu 
deduzieren  vermag.  In  demselben  Sinne  hat  Spinoza  seine  Ethik  (1677)  „in 
geometrischer  Weise"  behandelt  und  genau  nach  dem  Muster  der  Euklidischen 
Elemente  in  Definitionen,  Axiome,  Lehrsätze  und  Beweise  eingeteilt  Hobbes 
(On  body  1655)  ^^.t  in  ähnlicher  Weise,  aber  mit  mehr  praktischem  Sinn  auf 
der  Grundlage  des  mathematischen  Denkens  eine  materialistische  Philosophie 
aufgebaut.  Am  tiefsten  aber  von  allen  ist  vielleicht  Leibniz  ( 1 646  —  1 7 1 6)  in  den 
Geistder  mathematischen  Betrachtung  einerseits  und  in  die  Erklärung  der  Wirk- 
lichkeit aus  einheitlichen  Prinzipien  andererseits  eingedrungen.  Sein  System  ist 
von  allen  sozusagen  das  metaphysischste,  bei  ihm  sind  die  Erklärungsgründe 
am  weitesten  von  dem  Bereich  des  Beobachtbaren  entfernt.  So  mündet  dieser 
Weg,  der  von  der  Mathematik  seinen  Ausgang  nimmt,  weitab  von  der  Er- 
fahrung aus,  er  hat  ein  neues  metaphysisches  System  geliefert,  das  wenigstens 
in  Deutschland  in  seiner  Ausgestaltung  durch  Christian  Wolff  während  des 
ganzem  8.  Jahrhunderts  die  Herrschaft  führt,  bis  dann  Kant,  wieder  wesentlich 
beeinflußt  durch  Newtons  mathematisches  Weltbild,  eine  neue  Ära  der  Philo- 
sophie herbeiführt. 
Verbindung  Daneben  geht  aber  eine  andere  Entwicklungsreihe,  die  sich  viel  enger 

und  Experiment  an  die  Erfahrung  hält.  In  dieser  Entwicklungsreihe  stehen  die  englischen  Phy- 
in  England,  ^-j^^^  ^^^  Mathematiker  wie  Boyle  (1626  — 1691),  Hooke  (1645—  17 03), Wallis 
(1616 — 1703)  und  Newton  (1642 — 1727).  Diese  Männer  stecken  sich  nicht  von 
vornherein  so  hohe  Ziele  wie  die  Philosophen.  Sie  begnügen  sich  mit  der 
Beobachtung  der  einfachsten  Naturvorgänge  und  der  Erforschung  ihrer  mathe- 
matischen Abhängigkeiten.  Die  Entstehung  dieser  induktiven  Forschung  in 
England  wird  gewöhnlich,  vielleicht  mit  Unrecht,  an  den  Namen  Bacons  von 
Verulam  (1561 — 1626)  geknüpft.  Sie  findet  sich  in  Gilberts  Werk  über  den 
Magneten  (1600)  schon  voll  ausgebildet.  Im  Jahre  1645  gründeten  nun  Boyle, 
Wallis  u.a. das  Invisible  College,  eine  naturwissenschaftliche  Gesellschaft.  Im 


VI,  Die  mathematische  Bildung  des  17.  und  18.  Jahrhunderts.  A  lOl 

Jahre  1662  wurde  dann  die  Londoner  Königliche  Gesellschaft  für  die  Förde 
rung  der  Naturwissenschaft  eröffnet.  Das  Interesse  für  die  empirische  Natur- 
forschung war  in  dieser  Zeit  in  England  allgemein,  selbst  der  König  hatte  in 
Whitehall  ein  chemisches  Laboratorium.  Gleich  zu  Anfang  wurden  auf  eine 
Preisfrage  der  neugegründeten  Königlichen  Gesellschaft  hin  die  langgesuchten 
mathematischen  Gesetze  des  Stoßes  1669  gleichzeitig  von  drei  Bearbeitern, 
Wren,  Wallis  und  Huygens,  gefunden.  In  dieselbe  Zeit  fällt  die  berühmte 
Arbeit  Newtons  über  die  Zerlegung  des  weißen  Sonnenlichtes  durch  das  Prisma 
in  die  Farben  des  Spektrums,  die  das  erste,  nie  übertrofifene  Beispiel  einer  rein 
experimentellen  und  dabei  streng  logischen  Untersuchung  bildet.  Newton  war 
es,  der  im  Jahre  1687  durch  sein  großes  Werk  Philosophiae  naturalis  principia 
mathematica  diese  ganze  Entwicklung  zu  ihrem  Höhepunkt  hinaufführte.  Das 
Werk  erinnert  schon  in  seinem  Titel  an  Descartes'  Prinzipien  der  Philosophie, 
es  ist  im  Hinblick  auf  dieses  Buch,  aber  auch  im  bewußten  Gegensatz  dazu 
geschrieben.  Die  Deduktion,  die  bei  Descartes  die  Form  der  dialektischen 
Argumentation  und  der  bloßen  Hypothesendichtung  hat,  wird  wieder  auf  die 
Form  der  exakten  mathematischen  Überlegung  gebracht.  Der  Umfang  der 
Untersuchungen  wird  auf  die  Grunderscheinungen  des  physikalischen  Gesche- 
hens eingeschränkt.  Wenn  die  mathematische  Deduktion  die  Hauptrolle  spielt, 
so  ist  das  nicht  wie  in  der  Ethik  Spinozas  eine  bloße  Form,  sondern  es  ge- 
schieht auf  Grund  bestimmter  Erfahrungen  und  innerhalb  der  Grenzen  wirk- 
licher Beobachtung. 

Newtons  Werk  ist  am  meisten  bekannt  geworden  durch  das  Gesetz  der  Grundlegung 
allgemeinen  Gravitation,  durch  das  sich  die  Bewegungen  aller  Himmels-  schTtTph^fk. 
körper  lückenlos  erklären  lassen.  Damit  fand  der  Gedanke,  der  schon  bei 
den  Pythagoreern  auftaucht,  daß  in  dem  Lauf  der  Gestirne  eine  einfache 
Regelmäßigkeit  liegen  müsse,  deren  Harmonie  sich  unserem  Geiste  unmittel- 
bar darbietet,  seine  endgültige  Erledigung,  freilich  in  einer  ganz  anderen 
Weise,  als  man  je  vorher  gedacht  hatte.  Die  mathematische  Beschreibung 
der  Bewegung  ist  doch  verwickelter,  wie  man  ursprünglich  angenommen 
hatte,  und  sie  wäre  Newton  nicht  möglich  gewesen,  wenn  nicht  vorher  Galilei 
für  die  geradlinige  Bewegung  und  Huygens  für  die  Kreisbewegung  die  Frage 
beantwortet  hätte.  Ist  aber  der  entscheidende  Begriff,  der  Begriff  der  Be- 
schleunigung, einmal  gewonnen,  so  ist  die  Formulierung  des  Grundgesetzes 
sehr  einfach:  die  Beschleunigung,  welche  die  Himmelskörper  und  alle  Teile  der 
Materie  einander  erteilen,  ist  auf  sie  zu  gerichtet,  ihrer  Masse  direkt  und  dem 
Quadrat  der  Entfernung  umgekehrt  proportional.  Wie  einfach  dieses  Gesetz 
ist,  kann  man  erst  daran  ermessen,  wie  ungeheuer  verwickelt  z.  B.  die  Be- 
wegung des  Mondes  ist,  wenn  man  sie  in  alle  Einzelheiten  verfolgt,  und  doch 
wird  sie  mit  aller  Genauigkeit  allein  durch  das  Newtonsche  Gravitationsgesetz 
erklärt.  Dadurch  zeigt  sich  zum  erstenmal  die  Mathematik  als  das  gewaltigste 
Werkzeug  des  menschlichen  Geistes.  Was  das  Altertum  nur  ahnend  empfinden 
konnte,  ist  jetzt  zur  Wirklichkeit  geworden.  Es  ist  gelungen,  die  Ordnung 
des  Kosmos  in  einer  einfachen  Formel  zusammenzufassen. 


I02  A     H.  E.  Timerding :  Die  Verbreitung  mathemat.  Wissens  u.  mathemat.  Auffassung. 

Entwicklung  der  Daß  dlescs  Wcrk,  sowie  es  weiter  bekannt  wurde,  den  größten  Einfluß 

neuen  Anaiysis.  g^^g^j^gj^  Hiußtc ,  ersctieint  fast  selbstverständlich.  Es  ist  als  das  Anfangsglied 
einer  immer  weitergehenden  geistigen  Entwicklung  anzusehen,  die  das  ganze 
1 8.  Jahrhundert  durchzieht  und  in  den  Werken  von  Laplace  ihre  Krönung 
findet.  Während  Newton  wenigstens  in  der  Form  der  Darstellung  der  alten 
griechischen  Methode  treu  geblieben  war,  setzt  sich  unmittelbar  nach  ihm  die 
durch  die  Entwicklung  der  Algebra  vorbereitete  und  durch  Descartes  und 
Fermat  inaugurierte  neue  Formelkunst,  die  das  Wesen  der  modernen  Anaiysis 
ausmacht,  erfolgreich  durch.  In  der  Schaffung  des  neuen  mathematischen 
Stils,  der  die  Einteilung  in  einzelne  Propositionen  durch  eine  fortlaufende 
Darstellung,  die  schwerfällige  g-eometrische  Entwicklung  durch  die  übersicht- 
liche algebraische  Formel  ersetzt,  liegt  ein  großer  Vorteil,  aber  auch  die  Ver- 
führung zu  einer  Oberflächlichkeit,  zu  einer  Minderung  der  mathematischen 
Strenge,  welche  die  Griechen  selbst  auf  Kosten  der  äußeren  Abrundung  und 
Eleganz  vermieden  hatten.  Das  war  auch  mit  der  Grund,  weshalb  Newton  der 
alten  Darstellungsweise  treu  blieb.  Der  Sieg  der  neuen  Darstellungsweise 
wurde  wesentlich  durch  Newtons  großen  Nebenbuhler  Leibniz  entschieden 
(1684),  der  durch  seine  neue  analytische  Bezeichnungsweise  der  Infinitesimal- 
rechnung eine  von  der  geometrischen  Symbolik  der  Griechen  weit  abwei- 
chende Darstellungsform  zur  Notwendigkeit  machte.  Dann  zeigten  zunächst 
insbesondere  die  Brüder  Bernoulli,  welcher  gewaltige  Fortschritt  in  dieser 
auf  den  ersten  Blick  rein  äußerlich  scheinenden  Wandlung  lag.  Die  großen 
Mathematiker  des  18.  Jahrhunderts,  vor  allen  Euler  und  Lagrange,  schufen 
darauf  aus  diesen  Anfängen  ein  gewaltiges  System.  Mit  dem  so  gewonnenen 
neuen  Apparat  erst  konnte  es  Laplace  gelingen,  eine  die  Bewegung  der  Ge- 
stirne vollständig  bewältigende  Himmelsmechanik  zu  schaffen.  Dazu  half 
ihm  auch  die  inzwischen  (eben  hauptsächlich  durch  Euler  und  Lagrange) 
begründete  analytische  Mechanik.  So  steht  am  Ausgang  des  18.  Jahrhunderts 
ein  gewaltiger  Bau  des  mathematischen  Wissens  da,  und  die  Mathematik  hat 
bewiesen,  daß  sie  die  exakte  Beschreibung  der  Naturvorgänge  wirklich  zu 
leisten  vermag. 
Erste  Versuche  Dicsc  Entwicklung  des  mathematischen  Könnens  im  18.  Jahrhundert  hat 

'"ilrunr^r    ^bcr.  Wenn  sie  naturgemäß  auch  auf  eine  kleine  Gruppe  von  Fachleuten  be- 
...athcraatiscbcn  schränkt  War,  doch  ihre  weiten  Kreise  gezogen.  Die  Mathematik  ist  vielleicht 

Betrachtung.  '  o  o 

nie  populärer  gewesen  als  im  18.  Jahrhundert,  und  nie  ist  ernstlicher  der  Ver- 
such gemacht  worden,  die  Wege  und  Ziele  der  mathematischen  Forschung 
der  Gesamtheit  der  Gebildeten  zugänglich  zu  machen.  Diese  Bestrebungen 
setzen  schon  im  17.  Jahrhundert  ein  mit  Fontenelles  „Unterhaltungen  über 
die  Mehrheit  der  Welten"  (1686),  welche  die  Descartessche  Naturphilosophie 
im  leichten  Plauderton  behandelten  und  selbst  in  den  Boudoirs  geistreicher 
Damen  Eingang  fanden.  Gegen  den  Cartesianismus  mußte  sich  die  Newton- 
sche  Weltbetrachtung  erst  durchsetzen.  Es  war  kein  geringerer  als  Voltaire, 
der  Newton  auch  auf  dem  Kontinent  allgemeine  Anerkennung  zu  verschaffen 
suchte,  indem  eriyaS  eine  populäre  Darstellung  „Elemente  der  Newtonschen 


VI.  Die  mathematische  Bildung  des  17.  und  18.  Jahrhunderts.  A   103 

Philosophie"  veröffentlichte.  Von  da  an  wurde  Newton  neben  Locke  der 
Leitstern  der  französischen  Aufklärung,  freilich  in  einem  anderen  Sinne,  als 
er  es  sich  selbst  gewünscht  hätte.  Er  selbst  glaubte  durch  seine  Entdeckung 
für  die  Weisheit  des  göttlichen  Schöpfers  einen  neuen  Beweis  geliefert  zu 
haben,  die  Aufklärer  aber  sahen  in  der  Gravitation  einen  Beleg  dafür,  daß  die 
Annahme  eines  persönlichen  Gottes  entbehrlich  sei.  So  sag^  z  B.  Lamennais: 
„Warum  gravitieren  die  Körper  gegeneinander?  Weil  Gott  es  gewollt  hat, 
sagten  die  Alten.  Weil  die  Körper  sich  anziehen,  sag^  die  Wissenschaft".  Wenn 
die  Wissenschaft  freilich  nichts  anderes  zu  sagen  hätte,  so  wäre  sie  sehr  arm, 
denn  was  hier  Anziehung  genannt  ist,  ist  entweder  eine  übernatürliche  Kraft, 
oder  es  ist  nur  der  Ausdruck  für  eine  bestimmte  mathematische  Beschrei- 
bung und  erklärt  im  eigentlichen  Sinne  gar  nichts. 

Die  Grundanschauungen  des  1 8.  Jahrhunderts  sind  zu  verstehen  als  eine  Das  wissen- 
Fortführung  der  Ideen,  die  sich  im  Laufe  des  1 7.  Jahrhunderts  ausgebildet  und  i^g'^'uhrWderts 
festgesetzt  haben.  Die  Signatur  für  diese  Ideen  ist  aber  durch  die  Mathematik 
gegeben.  So  ist  auch  die  Aufklärung  des  1 8.  Jahrhunderts  wesentlich  durch 
die  Mathematik  beeinflußt.  „Ihr  schwebte  die  Mathematik  als  das  Ideal  ab- 
strakter, aber  dabei  exakter  Erkenntnis  vor  Sie  glaubte,  mit  derselben  Klar- 
heit und  Deutlichkeit  die  gesamte  Wirklichkeit  durchdringen  und  überall  die 
einfachen  Elemente  herausstellen  zu  können;  frei  von  aller  Voreingenommen- 
heit, unabhängig  von  Autorität  und  Tradition  wollte  das  vernünftige  Denken 
jeden  Rest  von  Unklarheit  und  Verworrenheit  aus  dem  Leben  wie  aus  dem 
Wissen  austilgen.  Sie  richtete  sich  auf  das  Verständnis  der  ewigen  Gesetz- 
mäßigkeit aller  Dinge,  auf  die  strenge  Notwendigkeit  alles  Geschehens,  auf 
das  Gleiche,  auf  das  immer  sich  Wiederholende  im  Zusammenhange  der  Natur. 
Diesem  großen  Zusammenhange  sollte  auch  das  Menschenleben  eingeordnet 
werden,  es  sollte  als  ein  Glied  des  Universums  aus  dieser  Gesetzmäßigkeit 
heraus  begriffen  und  geordnet  werden.  Das  aufgeklärte  Bew^ußtsein  sollte  das 
Leben  bis  auf  den  letzten  Rest  aus  seiner  Vernunft  heraus  gestalten"  (Windel- 
band, Die  Philosophie  im  deutschen  Geistesleben  des  1 9.  Jahrhunderts,  igog). 

Daß  die  Mathematik  ein  Werkzeug  der  Autklärung  bildet,  ist  ein  Ge-  Ausbreitung  der 
danke,  der  gerade  dem  18.  Jahrhundert  eigentümlich  ist  und  besonders  dazu  "'^g^'^^l^g''''*" 
führt,  das  Verständnis  für  das  Wesen  der  mathematischen  Betrachtung  mög- 
lichst weit  zu  verbreiten.  Dieser  Gedanke  trieb  auch  Laplace,  neben  seinem 
großen  Werke  in  einer  populären  Schrift  das  Weltsystem  zu  behandeln  (1796). 
Durch  Schulen  und  Universitäten  ließ  sich  diese  neue  Bildung  nicht  allein  mit- 
teilen, sie  war  auch  auf  den  Weg  der  literarischen  Veröffentlichtmg  angewiesen. 
Durch  Lektüre  mußte  sich  der  einzelne  diese  Kenntnisse  erwerben  und  seine 
Naturanschauung  bilden.  Das  Streben  nach  Anmut  und  Leichtigkeit,  das  diese 
ganze  Zeit  durchzieht,  brachte  es  dabei  mit  sich,  daß  diese  Schriften  in  mög- 
lichst unterhaltender,  zum  Teil  in  vollendeter  Form  gefaßt  sind.  Einige  von 
ihnen  verdienen,  zu  den  größten  Meisterwerken  der  Literatur  gerechnet  zu 
werden.  In  keiner  Zeit  haben  die  Mathematiker  zu  einem  so  großen  Publi- 
kum und  in  einer  so  klaren  und  verständlichen  Form  gesprochen.  Um  nur 


Gebiet. 


104  A     H.  E.  Timerding  :  Die  Verbreitung  mathemat.  Wissens  u.  mathemat.  Auffassung. 

ein  paar  Beispiele  zu  nennen,  will  ich  an  d'Alemberts  berühmte  Vorrede  zu 
der  großen  französischen  Enzyklopädie  (1752)  erinnern ,  ferner  an  Eulers  Briefe 
an  eine  deutsche  Prinzessin  (1768),  endlich  an  Condorcets  Skizze  eines  histo- 
rischen Gemäldes  der  Fortschritte  des  menschlichen  Geistes  (1794),  welch 
letztere  dem  Gegenstande  nach  freilich  gar  nicht  mathematisch,  aber  ganz 
aus  dem  mathematischen  Geiste  der  Zeit  heraus  entstanden  ist.  Es  zeigt,  wie 
die  Vorliebe  für  die  Klarheit  der  mathematischen  Deduktion  zu  einer  Ver- 
kennung aller  geschichtlichen  Wahrheit  und  zu  einem  willkürlichen  Aufbau 
der  Geschichte  führen  kann.  Die  methodische  Bedeutung,  die  man  der  Mathe- 
matik zuschrieb,  geht  auch  aus  dem  hinterlassenen  Werke  des  Hauptphilo- 
sophen, Condillac,  über  die  Sprache  der  Kalküle  (1798)  hervor.  Alle  Tätig- 
keit des  Geistes  ist  nach  Condillac  nichts  wie  ein  Operieren  mit  bestimmten 
Zeichen  für  bestimmte  Empfindungen,  seine  Philosophie  ist  ein  Versuch,  das 
Wesen  der  mathematischen  Symbolik  auf  das  ganze  Denken  auszudehnen. 
Anwenduntjeii  In  engcr  Verbindung  damit  stehen  die  Versuche  einer  mathematischen 

moralische  Begründung  der  Logik,  die  im  18.  Jahrhundert  zuerst  gemacht  wurden, 
ferner  die  Bestrebungen,  die  Mathematik  auch  auf  das  moralische  Gebiet  an- 
zuwenden. Diese  Bestrebungen  geben  sich  einerseits  kund  in  einer  eigentüm- 
lichen Ethik,  welche  die  Erscheinungen  des  sittlichen  Lebens  auf  der  Grund- 
lage des  mathematischen  Größenbegriffes  zu  behandeln  sucht.  So  hat  es  z.  B. 
Maupertuis  gemacht.  Das  Gute  ist  danach  eine  positive  Größe,  das  Böse  eine 
negative,  für  die  menschliche  Gesellschaft  fügen  sich  die  Freuden  und  Leiden 
der  einzelnen  Individuen  nach  den  Regeln  der  algebraischen  Additon  wie 
Ausgaben  und  Einnahmen  in  der  Buchführung  zusammen,  und  die  Aufgabe 
der  Staatsraison  ist  es,  die  Gesamtsumme  nach  der  positiven  Seite  hin  mög- 
lichst groß  zu  machen.  Würde  z.  B.  ein  Zehntel  der  ganzen  Bevölkerung  ge- 
tötet, damit  dadurch  die  übrigen  neun  Zehntel  eine  doppelt  so  große  Glück- 
seligkeit gewinnen,  so  wäre  damit  ein  Gewinn  von  80  Prozent  erzielt.  Diese 
Doktrin  hat  in  der  französischen  Revolution  einen  nur  zu  tatkräftigen  Aus- 
druck gefunden.  Sie  offenbart  sich  während  des  18.  Jahrhunderts  aber  bereits 
z.  B.  in  den  zahlreichen  Untersuchungen  über  den  Vorteil  der  Pockenimpfung. 
Solange  man  nämlich  zur  Impfung  Menschenlymphe  nahm ,  starb  ein  gewisser 
Bruchteil  der  geimpften  Kinder.  Es  galt  nun  abzuwägen,  ob  dieser  Nachteil 
durch  die  Sicherung  gegen  die  Pocken  im  späteren  Alter  aufgewogen  würde, 
und  dies  wurde  auf  Grund  einer  mathematischen  Überlegung  getan.  Von 
mathematischer  Seite,  nämlich  durch  Daniel  Bernoulli,  wurde  auch  eine  eigen- 
tümliche Wertelehre  begründet,  wonach  der  Wert  jedes  Gutes  nach  dem  be- 
reits vorhandenen  Gütervorra]t  des  Besitzenden  zu  bemessen  ist.  In  dasselbe 
Gebiet  gehört  der  Versuch  einer  moralischen  Arithmetik  von  Buffon,  den 
dieser  1777  als  Supplement  zu  seiner  großen  Naturgeschichte  veröffentlichte, 
femer  die  Betrachtungen  Condorcets  über  die  mathematische  Untersuchung 
der  Glaubwürdigkeit  außergewöhnlicher  Tatsachen  und  der  Berechtigung  der 
Entscheidungen  durch  Stimmenmehrheit.  Die  Anwendung  auf  das  religiöse 
und  das  politische  Gebiet  liegen  hier  auf  der  Hand.  Einen  gewissen  Abschluß 


VI.  Die  mathematische  Bildung  des  17.  und  18.  Jahrhunderts.  A   105 

fand  die  Entwicklung  in  Laplaces  großem  Werke  Theorie  analytique  des 
probabilites  {181 2),  das  er  wieder  durch  eine  populäre  Darstellung,  den 
Essai  philosophique  sur  les  probabilites  (18 14),  ergänzte. 

Die  Mathematik  tritt  so  im  18.  Jahrhundert  entschieden  mit  dem  An- 
sprüche auf,  für  die  Betrachtung  der  Natur  und  des  menschlichen  Lebens  die 
Führung  zu  übernehmen.  Diese  führende  Rolle  findet  auch  bei  der  Gründung 
und  Zusammensetzung  der  Friderizianischen  Akademie  ihren  deutlichen  Aus-  0»^  Mathematik 

.  .  v'-nTi  '1  -iiT  1    an  der  Akademie 

druck.  Ihr  Leiter  Maupertuis  (1698  —  1759)  ist  Mathematiker,  ihre  bedeutend-  Friedrichs 
sten  Mitglieder  sind  Mathematiker  gewesen,  wir  brauchen  nur  Euler,  Lambert  ^"  Großen. 
und  Lagrange  zu  nennen.  Sieht  man  die  Bände  ihrer  Veröffentlichungen  durch, 
so  überwiegen  die  mathematischen  Abhandlungen  weitaus,  die  übrigen  Wissen- 
schaften, insbesondere  die  philologisch -historischen,  spielen  daneben  eine 
dürftige  Rolle.  Das  hatte  seinen  Grund  nicht  in  einer  parteiischen  Begün- 
stigung, sondern  eben  darin,  daß  die  selbständige  wissenschaftliche  Arbeit  der 
Zeit  wesentlich  auf  mathematischem  Gebiete  lag.  Dabei  ist  der  dringende 
Wunsch  bemerkbar,  auch  die  Gebiete  des  geistigen  Lebens  zu  umfassen,  man 
will  dies  aber  mit  einem  gänzlichen  Mangel  an  historischem  Sinn  durch  rein  ver- 
standesmäßige Überlegung  erreichen.  Ein  typischer  Vertreter  dieser  Geistes- 
richtung ist  Maupertuis  selbst.  Voltaire  hatte  ihn  dem  König  empfohlen,  er 
hatte  sich  ausgezeichnet  durch  eine  Gradmessung  in  Lappland,  deren  Ver- 
gleich mit  einer  gleichzeitigen  Messung  in  Peru,  allerdings  auf  Grund  eines 
ziemlich  fehlerhaften  Resultates,  die  Abplattung  der  Erde  und  damit  einen 
Beleg  für  das  Newtonsche  System  ergab.  In  Berlin  kam  er  nun,  durch  die 
Organisationsgeschäfte  stark  in  Anspruch  genommen  und  sowieso  ohne  eigent- 
lichen Forschungstrieb,  um  trotzdem  seinen  wissenschaftlichen  Ruhm  aufrecht- 
zuerhalten, auf  die  unglückliche  Idee,  ein  schon  früher  von  ihm  auf  Grund 
eines  Leibnizschen  Begriffes  formuliertes  allgemeines  „Prinzip  der  kleinsten 
Aktion"  (1746)  mit  großem  Nachdruck  als  epochemachende  Entdeckung  zu 
verkünden,  weil  dieses  Prinzip  dem  Bedürfnis  nach  der  Erklärung  aller  Natur- 
vorgänge durch  einen  Grundsatz  der  Weisheit  und  Sparsamkeit  entgegen- 
zukommen schien.  Als  aber  daraufhin  Samuel  König  behauptete,  in  der  Ab- 
schrift eines  Briefes  von  Leibniz  nicht  bloß  den  Begriff,  sondern  auch  das 
Prinzip  der  Aktion  gefunden  zu  haben,  ließ  Maupertuis  den  vermeintlichen 
Lügner  und  Verleumder  durch  die  Berliner  Akademie  brandmarken  und  Euler 
von  dem  in  Wirklichkeit  alles  herrührt,  was  an  Maupertuis'  Prinzip  richtig  ist, 
mußte  der  Sache  seines  Präsidenten  die  wissenschaftlichen  Waffen  leihen,  die 
diesem  selbst  fehlten.  Maupertuis  gab  statt  dessen  eine  Menge  unausgegore- 
ner  Projekte  und  Gedanken  in  wirrem  Durcheinander  von  sich,  um  seinem 
Herrn  und  der  Welt  gegenüber  die  Fruchtbarkeit  seines  Geistes  zu  doku- 
mentieren. Er  erreichte  damit  aber  nur,  daß  er  dem  Spotte  des  für 
Samuel  König  eintretenden  Voltaire  rettungslos  zum  Opfer  fiel,  was  aller- 
dings dessen  Bruch  mit  Friedrich  d.  Gr.  zur  Folge  hatte,  aber  Maupertuis 
für  alle  Zeit  der  Lächerlichkeit  preisgab,  so  daß  er  sich  von  dem  Schlage 
nie  wieder  erholte. 


lo6  A     H.  E.  Timerding  :  Die  Verbreitung  mathemat.  Wissens  u.  mathemat.  Auffassung. 

Verhältnis  Dcr  König,  der  der  Mathematik  nie  besonders  wohlgesinnt  gewesen  war, 

de"Großen     wurdo  gegen  sie  durch  die  Aufgeblasenheit  und  Einfältigkeit,  die  ein  ge- 

zur  Mathematik,  fühmter  Vertreter  dieser  Wissenschaft  gezeigt  hatte,  nicht  gerade  günstiger 
gestimmt.  Als  gar  noch  der  erste  aller  lebenden  Mathematiker,  Leonhard 
Euler,  ihm  die  Wasser  in  Sanssouci  berechnet  hatte  und  diese  trotz  der  ge- 
lehrten und  umständlichen  Berechnung  nicht  springen  wollten,  verfolgte  er 
die  unpraktische  Mathematik,  die  nur  durch  ihre  abstruse  Un Verständlichkeit 
zu  imponieren  sucht,  aber  nichts  Nützliches  zu  leisten  vermag,  beständig  mit 
seinem  Spott.  Dabei  wollte  es  eine  eigentümliche  Fügung,  daß  der  führende 
Mathematiker  in  Frankreich,  d'Alembert,  ihm  einer  seiner  liebsten  Freunde 
und  Berater  blieb,  wenn  es  ihm  auch  immer  merkwürdig  schien,  daß  ein  Mathe- 
matiker ein  so  vernünftiger  und  klardenkender  Mensch  sein  konnte. 

Das  deutsche  Gelehrtenwesen,  auf  das  die  moderne  französische  Bildung 
nur  einen  sehr  beschränkten  Einfluß  erlangt  hatte,  schien  Friedrich  dem  Großen 
rückständig  und  veraltet,  weswegen  er  auf  die  Universitäten  seines  Landes 
auch  schlecht  zu  sprechen  war.  Er  hielt  die  preußischen  Universitätslehrer 
für  einfältige  Stubenhocker,  die  mit  ihren  Anschauungen  noch  tief  im  Mittel- 
alter steckten.  Als  die  neue  Universität  Göttingen  in  dem  Nachbarland  Han- 
nover emporblühte  und  das  wissenschaftliche  Leben  in  Deutschland  mit  einem 
neuen  Geist  erfüllte,  mußte  er  den  Abstand  von  der  zopfigen  Katheder- 
weisheit anderer  Universitäten  nur  um  so  tiefer  empfinden. 

Die  Mathematik  Die  Stellung  der  Mathematik  an   den  Universitäten  ist  bis  gegen  Ende 

ünitertitäten.  ^^s  1 8.  Jahrhundcrts  hin,  ja  darüber  hinaus,  wenigstens  was  den  allgemeinen 
Lehrbetrieb  angeht,  eine  recht  kümmerliche  gewesen.  Was  an  Mathematik  auf 
den  Universitäten  gelehrt  wurde,  bedeutete  der  Hauptsache  nach  kein  Fach- 
studium, sondern  gehörte  zur  allgemeinen  Vorbereitung  auf  das  eigentliche  Be- 
rufsstudium. Auch  die  Tätigkeit,  die  Erhard  Weigel  (1625  —  1699)  in  Jena  ent- 
faltet hat  und  bei  der  er  die  Mathematik  entschieden  in  den  Vordergrund 
stellte,  ist  nicht  so  aufzufassen,  daß  es  sich  dabei  um  weitgehende  mathe- 
matische Kenntnisse  gehandelt  habe.  Vielmehr  war  sein  Bestreben  nur,  das 
gewöhnliche  Rechnen  den  verschiedenen  Gelehrtenberufen  anzupassen  und 
eine  tiefere  Bedeutung  für  die  ganze  Weltauffassung  daran  zu  knüpfen.  Das 
alles  schloß  natürlich  nicht  aus,  daß  Männer,  die  der  Mathematik  den  Haupt- 
teil ihrer  Lebensarbeit  widmeten,  einer  beschränkten  Anzahl  von  begabten 
Schülern  ihr  volles  Wissen  teils  im  persönlichen  Verkehr  teils  auch  in 
Privatvorlesungen  weitergaben.  Aber  in  der  allgemeinen  philosophischen 
Vorbildung  fand  die  Mathematik  nur  einen  sehr  bescheidenen  Platz.  Das 
Hallesche  Statut  vom  Jahre  1694  erklärt,  die  zu  lehrende  Philosophie  umfasse 
alle  Disziplinen,  welche  die  Jugend  zur  Humanität  bilden  und  zu  den  höheren 
Studien  vorbereiten,  als  da  sind:  Geschichte,  Geographie,  Beredsamkeit, 
Poesie,  Sprachen,  Archäologie  und  die  eigentliche  Philosophie.  Schmeizel 
verlangt  in  seiner  Hodegetik  für  die  Hallenser  Studenten,  daß  der  Student 
mitbringe:  Deutsch  und  Lateinisch,  Religionslehre,  Geographie,  Geschichte, 
Philosophie.  Dazu  solle  er  in  den  ersten  Jahren  auf  der  Universität  lernen: 


VI.  Die  mathematische  Bildung  des  17.  und  18.  Jahrhunderts.  A   107 

Geschichte  der  Gelahrtheit,  der  Kirche  und  der  neusten  politischen  Welt, 
Geographie,  Mathematik  und  Physik,  „jedoch  nicht  mehr  und  auch  nicht 
weniger  als  seiner  Partikularabsicht  gemäß",  endlich  noch  Politik  und  Natur- 
recht.  Man  kann  es  dieser  Zusammenstellung  anmerken,  daß  von  einer  gründ- 
lichen Ausbildung  in  einem  der  Fächer  keine  Rede  sein  konnte,  dazu  sind  die 
Gegenstände  viel  zu  zahlreich  und  verschiedenartig.  Um  seine  Zuhörer  fest- 
zuhalten, mußte  der  Professor  den  Gegenstand  so  leicht  und  fesselnd  wie 
möglich  machen.  Das  führte  in  der  Mathematik  aber  dazu,  mit  glatten  Wor- 
ten über  die  Schwierigkeiten  fortzugleiten,  und  durch  einen  großen  Rede- 
schwall über  den  Mangel  an  sachlicher  Belehrung  hinwegzutäuschen.  Die 
mathematischen  Vorlesungen  können  nur  ein  äußerst  beschränktes  Maß 
von  Vorkenntnissen  voraussetzen.  Wir  können  das  auch  an  den  im  Druck 
erschienenen  Vorlesungen,  die  Isaak  Barrow,  der  Lehrer  Newtons,  an  der 
Oxforder  Universität  gehalten  hat,  deutlich  erkennen.  Nur  eine  einzige  Vor- 
lesung hebt  sich  von  den  übrigen  durch  viel  weitergehenden  mathematischen 
Gehalt  ab,  und  diese  ist  wohl  kaum  eine  allgemeine  Universitätsvorlesung 
gewesen. 

Doch  beginnt  sich  im  1 8.  Jahrhundert  langsam  eine  Wandlung  vorzu-  Ansäu« 
bereiten.  Die  Mathematik  beginnt  sich  in  weitere  Kreise  auszubreiten.  So '"''  ^^"*™°«- 
kündigt  schon  1735  Segner  in  dem  Programm  seiner  Vorlesungen  unmittelbar 
nach  seiner  Berufung  an  die  Göttinger  Universität  an:  „Was  ich  neues  gehört, 
gelesen  oder  durch  eigenes  Nachdenken  gefunden  habe  oder  noch  finden 
werde,  das  werde  ich  alles  nach  meiner  Gewohnheit  Euch  in  einer  zur  Ein- 
führung geeigneten  Weise  mitteilen".  Das  klingt  ganz  wie  eine  Charakteristik 
des  modernen  Lehrbetriebes  der  Universitäten.  Doch  blieb  natürlich  das 
Erreichte  hinter  dem  Erstrebten  weit  zurück,  eben  weil  beim  Magisterexamen 
die  Mathematik  nur  eines  von  vielen  Fächern  bildete.  Es  wurde  von  den 
Mitgliedern  des  Göttinger  philologischen  Seminars,  das  Gesner  schon  1739 
gegründet  hatte,  das  Hören  eines  mathematischen  Kursus,  der  wenigstens 
Rechnen,  Geometrie,  allgemeine  Astronomie  und  Mechanik  umfassen  sollte, 
verlangt.  Aber  einzelne  besonders  veranlagte  Studierende  gingen  auch  weiter. 
Schon  in  den  sechziger  Jahren  fand  Kästner  Gelegenheit,  in  besonderen 
Stunden  Mathematik,  vor  allem  Algebra  (welchen  Namen  er  auf  die  eigent- 
liche Algebra,  die  Lehre  von  den  Gleichungen,  imd  nicht  auf  das  einfache 
Buchstabenrechnen  angewendet  wissen  wollte)  zu  lesen.  1770  wird  von 
Vorlesungen  Kästners  über  die  Analysis  des  Endlichen  und  Unendlichen, 
praktische  Astronomie  und  höhere  Mechanik  gesprochen.  1770  las  u.  a.  Lichten- 
berg ein  Privatkolleg  über  die  Theorie  der  Kegelschnitte. 

Wie  im  Gegensatz  hierzu  der  Zustand  im  Jahre  1781  an  der  Wiener 
Universität  war,  darüber  geben  folgende  Daten  Auskunft:  v.  Metzberg  las 
Mathematik  nach  Nagels  Auszug  aus  WolfFs  Handbuch  vor  130  Zuhörern, 
Bauer  Mathematik  nach  Wolff  vor  2 1  Zuhörern,  Scherfer  höhere  Mathematik 
mit  2  Zuhörern;  höhere  Astronomie  wurde  zweimal  angeboten,  fand  aber 
keinen  Zuhörer.  Herbert  las  Physik  vor  103  Zuhörern,  ferner  Mechanik  für 


io8  A     H.  E.  Timerding:  Die  Verbreitung  mathemat.  Wissens  u.  matheniat.  Auffassung. 

Handwerker  vor  70  Zuhörern.  Man  sieht,  daß  eine  eigentliche  Nachfrage  nur 
für  die  elementaren  Vorlesungen  vorhanden  war. 

Im  übrigen  ist  auch  am  Anfang  des  i  g.  Jahrhunderts  der  Lektionsplan  in 
der  Mathematik  meist  noch  sehr  dürftig.  In  Jena  z.  B.  wird  für  den  Winter  1 802/3 
angekündigt:  Einführung  in  das  Studium  der  Mathematik,  theoretische  und 
praktische  Arithmetik,  angewandte  Mathematik,  Algebra,  populäre  Astrono- 
mie, Anwendungen  der  Mathematik  auf  Jurisprudenz,  Ackerbau  und  Militär- 
wissenschaften. Dies  Hineinziehen  scheinbar  so  femliegender  Gebiete  in  die 
Mathematik  ist  noch  allg^emein.  In  Göttingen  hat  diese  angewandte  Mathe- 
matik im  weitesten  Sinne  des  Wortes  im  1 8.  Jahrhundert  und  bis  in  das  1 9.  Jahr- 
hundert eine  ausgedehnte  Pflege  erfahren.  Tobias  Mayer  las  z.B.  1752  über 
Verfertigung,  Einrichtung  und  Nutzen  der  Maschinen,  über  Zivilbaukunst, 
1760  über  praktische  Feldmeßkunst,  über  mathematische  Geographie  und  Hy- 
drographie, über  Kriegsbaukunst  und  Pyrotechnie.  Als  eigentlicher  Professor 
der  angewandten  Mathematik  wirkte  L.  Fr.  Meister  in  Göttingen  1764 — 1788. 
Er  veranstaltete  praktische  Übungen  in  der  Feldmeßkunst  und  pflegte  das 
technische  Zeichnen.  Sein  Lehrauftrag  umfaßte  weiter  Architektur  und  Befe- 
stigungswesen, auch  Kriegswissenschaft.  Das  hat  sich  nach  Meisters  Tode  noch 
lange  gehalten.  Noch  1820  liest  ein  Premierleutqant  Stünkel  über  Kriegs- 
wissenschaft. Die  Zurechnung  der  Kriegsbaukunst  und  Kriegswissenschaft 
zu  den  Lehrgegenständen  der  Hochschulen  ist  im  1 8.  Jahrhundert  ziemlich 
allgemein. 
Christian  Woiffs  Bezeichnend  für  den  Mathematikunterricht  in  Deutschland  am  Anfang 

des  1 8.  Jahrhunderts  sind  Christian  Woiffs  Anfangsgründe  aller  mathemati- 
schen Wissenschaften.  Der  Verfasser  sagt  in  der  Vorrede  u,  a.:  „Die  mathe- 
matische Lehrart  gibt  den  rechten  Gebrauch  der  Vernunft  zu  erkennen,  wie 
man  nämlich  zu  klaren,  deutlichen  und  vollständigen  Begriffen  gelange  und 
daraus  ohne  Anstoß  die  übrigen  Sachen  herleite.  Wer  die  Geheimnisse  der 
Natur  zu  erforschen  Lust  hat  und  sich  darüber  vergnüget,  wenn  er  die  un- 
ermeßliche Weisheit  und  Macht  des  allein  weisen  und  allmächtigen  Schöpfers 
und  Erhalters  der  Welt  nicht  aus  Unwissenheit,  sondern  mit  Verstände  in 
seinen  herrlichen  Werken  bewundern  und  die  Kreatur  sowohl  sich  als  anderen 
untertänig  machen  kann ,  der  wird  durch  Hilfe  der  Mathematik  in  kurzem  in 
dieser  Arbeit  weiter  kommen  als  er  jemals  möglich  zu  sein  erachtet  hätte, 
hingegen  ohne  ihren  Beistand  nur  immer  anfangen  und  nichts  vollenden." 
Mathematik  ist  nach  dieser  Auffassung  mehr  eine  allgemeine  Art  des  Er- 
fassens und  Erkennens  als  eine  besondere  Fachwissenschaft.  In  der  Tat  be- 
deutet das  Wolffsche  Werk,  das  17 13  zuerst  und  schon  1717  in  zweiter  Auf- 
lage erschien,  mehr  eine  Realenzyklopädie  als  eine  Mathematik  in  unserem 
Sinne.  Es  behandelt  der  Reihe  nach  Rechnen,  Geometrie,  Trigonometrie, 
Baukunst,  Artillerie,  Fortifikation,  Mechanik,  Hydrostatik,  Hydraulik,  Optik, 
Perspektive,  Astronomie,  Geographie,  Chronologie,  Gnomonik  (Sonnenuhren) 
und  zum  Schluß  die  Algebra,  die  mit  den  einfachsten  Gleichungen  beginnend, 
durch  die  Proportionenlehre  hindurch,  mit  Einschluß  der  geometrischen  An- 


Anfangsgründe. 


VI.  Die  mathematische  Bildung  des  17.  und  18.  Jahrhunderts.  A  109 

Wendungen  bis  zu  den  Anfangen  der  Infinitesimalrechnung  durchgeführt  wird. 
Die  verschiedenen  Gegenstände  werden  aber  alle  äußerlich  nach  streng  mathe- 
matischer Methode  behandelt.  So  finden  wir  in  der  Baukunst,  die  natürlich 
wesentlich  auf  einen  Auszug  aus  Spezialwerken  oder  einzelne  von  Fachleuten 
gehörte  Bemerkungen  hinausläuft,  Lehrsätze,  die  genau  nach  Euklidischem 
Muster  bewiesen  werden;  z.  B.  wird  die  Aufgabe,  das  Bauholz  zu  fällen,  wie 
eine  geometrische  Konstruktionsaufgabe  mit  Auflösung  und  Beweis  gegeben. 
Sehr  viele  Studierende  werden  aber  wohl  den  ganzen  Lehrgang  nicht  durch- 
gemacht haben,  Wolff  gibt  auch  an,  was  man  ohne  Gefahr  für  den  Zusammenhang 
bei  einem  ersten  Studium  herausgreifen  könne  und  er  hat  selbst  bald  einen 
Auszug  „zu  bequemerem  Gebrauch  der  Anfänger  auf  Begehren  verfertigt". 

Es  muß  eine  große  Schwierigkeit  bei  den  Mathematikvorlesungen  ge-  PoUacks 
wesen  sein,  die  Theologen,  Juristen  und  Mediziner,  die  daran  teilnahmen,  davon 
zuüberzeugen,  daß  sie  wirklich  einen  Gewinn  aus  diesemWissen  erzielenkonnten 
und  es  nicht  als  etwas  Überflüssiges  zu  empfinden  brauchten.  So  erklärt  sich  die 
Mathesis  forensis,  die  Pollack,  Professor  der  Rechte  und  der  Mathematik 
an  der  Universität  Frankfurt,  im  Jahre  1734  veröffentlichte.  Der  Verfasser 
sagt  in  der  Vorrede:  „Es  sind  unter  den  Wissenschaften  einige,  welche  gleich- 
sam zur  vernünftigen  Erkenntnis  überhaupt  gehören  und  die  man  ihres  gene- 
rellen Begrifi^es  wegen  überall  anbringen  kann,  und  dahin  gehören  billig  die 
philosophischen  und  (welche  unmittelbar  mit  diesen  verknüpft)  die  mathe- 
matischen Wissenschaften.  Einige  dagegen  haben  nur  eine  ganz  besondere 
Absicht  auf  dieses  oder  jenes  Objectum,  als  die  Jurisprudenz,  Theologie  und 
Medizin;  wer  nun  diese  ganz  allein  ohne  jene  lernen  will,  gehöret  zu  der  Art 
Leuten,  welchen  man  so  leicht  als  auch  den  ungelehrtesten  Handwerksmann 
w^eissmachen  kann,  die  Lrlichter  wären  die  Seelen  der  verstorbenen  ungetauften 
Kinder,  und  der  neuliche  grosse  Sturm  wäre  von  dem  Rübezahl  auf  dem  Riesen- 
gebirge erregt  worden."  Es  handelt  sich  in  dem  Buche  aber  nicht  bloß  um 
diese  allgemeine  aufklärerische  Absicht,  sondern  auch  darum,  den  Juristen 
zu  einem  fachkundigen  Urteil  auf  den  verschiedenen  für  ihn  in  Betracht  kom- 
menden Gebieten  zu  befähigen.  Wenn  wir  im  einzelnen  nachsehen,  was  das  Buch 
enthält,  so  finden  wir  darin  behandelt:  das  praktische  Rechnen,  die  Flächen- 
messung, die  Grenzbestimmung  für  den  Landbesitz,  die  Anlage  der  Wege, 
den  Wasserbau,  die  Architektur  und  die  Chronologie,  also  die  Gebiete  der 
praktisch  angewandten  Mathematik,  die  schon  in  fast  genau  derselben  Zu- 
sammensetzung und  mit  denselben  Absichten  die  alten  Ägypter  beschäftigt 
hatten.  So  steht  das  18.  Jahrhundert  in  seiner  praktischen  Veranlagung  wieder 
da,  wo  die  alten  Ägypter  gestanden  hatten.  Die  praktischen  Aufgaben  er- 
halten die  Fühnmg.  Das  Buch  von  Pollack  hat  sehr  zahlreiche  Auflagen 
erlebt,  es  muß  also  wirklich  den  Bedürfnissen  seiner  Zeit  entsprochen  haben. 

Einen  großen  Einfluß  auf  den  mathematischen  Schulunterricht  der  späteren  Euiers  Algebra. 
Zeit  hat  Eulers  Vollständige  Anleitung  zur  Algebra  ausgeübt,  die    1770  in 
deutscher  Sprache  und  schon  vorher  1 708  in  russischer  Übersetzung  erschienen 
war.  Die  Bedeutung  dieses  Buches  kann  man  daran  erkennen,  daß  von  der 


I  lO  A     H.  E.  Timerding:  Die  Verbreitung  mathemat.  Wissens  u.  mathemat.  Auffassung. 

französischen  Übersetzung  fünf  Auflagen,  von  der  englischen  und  ameri- 
kanischen Ausgabe  je  vier  Auflagen  bis  weit  in  das  19.  Jahrhundert  hinein 
verbreitet  gewesen  sind.  Die  deutsche  Ausgabe  selbst  ist  nicht  so  oft  neu- 
gedruckt worden,  auch  ein  Auszug  von  Ebert  erlebte  nur  drei  Auflagen  in 
längeren  Zwischenräumen.  Dafür  hat  das  Werk  aber  mittelbar  auf  die  Aus- 
gestaltung des  mathematischen  Schulunterrichtes  in  Deutschland  stark  ein- 
gewirkt. Schon  die  Bezeichnung  Algebra,  die  Euler  für  die  Gesamtheit  der 
analytischen  Elementarmathematik  anwendet,  hat  sich  in  diesem  Sinne  für 
den  Schulunterricht  erhalten.  Dasselbe  gilt  von  allen  methodischen  Gesichts- 
punkten. So  findet  sich  die  Definition  der  Mathematik  als  Wissenschaft  von  den 
Größen  und  die  Definition  der  Größe  als  das,  was  einer  Vermehrung  oder 
einer  Verminderung  fähig  ist,  immer  wieder,  trotzdem  in  diese  Definition 
z.  B.  die  Lehre  von  den  Permutationen  und  die  Topologie  schwer  einzureihen 
sein  dürften.  Es  ist  dies  die  metrische  Auffassung  der  Mathematik,  die  päda- 
gogisch sicher  ihre  Vorteile  hat,  aber  wissenschaftlich  nicht  zu  halten  ist.  Sie 
gestattet  Euler,  positive  und  negative  Zahlen  an  dem  Beispiel  von  Vermögen 
und  Schulden  zu  erklären,  die  Brüche  durch  die  Teilung  einer  Strecke  in  gleiche 
Teile  einzuführen  und  so  fort.  Die  schwierige  Frage  nach  der  Bildung  der 
kontinuierlichen  Zahlreihe  ist  von  vornherein  erledigt,  da  die  Zahlen  geometrisch 
als  Strecken  gedeutet  werden.  Auch  die  Reihenfolge  der  arithmetischen  Pro- 
zesse und  die  Anknüpfung  der  Logarithmen  an  den  Potenzbegriff  hat  sich 
genau  so,  wie  sie  Euler  gibt,  trotz  aller  Mängel  einer  solchen  Darstellung 
im  Schulunterricht  bis  heute  erhalten. 

Ebenfalls  von  Euler  übernommen  ist  die  Anknüpfung  der  eingekleide- 
ten Rechenaufgaben  an  die  in  der  alten  Form  festgehaltene  Proportionenlehre 
und  die  algebraischen  Gleichungen,  insbesondere  die  linearen.  Mit  dem  Auf- 
steigen bis  zu  den  Gleichungen  vierten  Grades  sind  auch  die  Grenzen,  die 
der  spätere  Schulunterricht  innehält,  bezeichnet.  Nur  das  Eingehen  auf  Glei- 
chungen höheren  Grades  mit  mehreren  Unbekannten,  die  so  zurechtgemacht 
sind,  daß  sie  sich  auf  einfache  Weise  lösen  lassen,  findet  sich  bei  Euler  nicht 
so  wie  in  unserer  Schulmathematik.  Die  eigentliche  wissenschaftliche  Bedeu- 
tung von  Eulers  Algebra  liegt  in  der  „unbestimmten  Analytik",  an  diese 
schließt  die  moderne  Zahlentheorie,  die  durch  die  1801  erschienenen  Disqui- 
sitiones  arithmeticae  von  Gauß  glorreich  eröffnet  wird,  unmittelbar  an. 
Kein  aUgemein  Ini  1 8.  Jahrhundert  ist  von  einem  eigentlichen  mathematischen  Schul- 

unY'besHramt  untcrricht  noch  kaum  die  Rede,  er  entwickelt  sich  erst  gegen  das  Ende  des 
umrisscner  Jahrhuuderts.  In  einer  preußischen  Verordnung  vom  Jahre  1735  werden  von 
Schulunterricht,  dcu  Abiturienten  noch  gar  keine  mathematischen  Kenntnisse  gefordert.  Vom 
Ausgang  des  18.  Jahrhunderts  berichtet  Karl  von  Raumer:  „Damals  herrschte 
die  Meinung,  nur  wenige  Schüler  hätten  Talent  zur  Mathematik,  eine  Meinung, 
welche  freilich  durch  den  meist  geringen  Erfolg  des  mathematischen  Unter- 
richts bestätigt  zu  werden  schien.  Neuere  Apologeten  dieses  Unterrichts  be- 
stritten aber  jene  Ansicht.  Den  Schülern,  sagten  diese,  mangle  es  gar  nicht  an 
Talent,  Mathematisches  zu  erlernen,  vielmehr  den  Lehrern  an  Talent,  Mathe- 


VI.  Die  mathematische  Bildung  des  17.  und  18.  Jahrhunderts.  A  1 1  r 

matisches  zu  lehren.  Befolgten  die  Lehrer  nur  die  richtige  Methode,  so  würde 
sich's  erweisen,  daß  alle  Knaben  mehr  oder  minder  Fähigkeit  zur  Mathematik 
hätten".  Das  außerordentlich  geringe  Maß  von  mathematischen  Kenntnissen, 
das  den  Schülern  im  18.  Jahrhundert  übermittelt  wurde,  wurde  nur  in  einzelnen 
besonderen  Lehranstalten  überschritten.  So  lag  es  in  der  Basedowschen  Er- 
ziehungslehre begründet,  daß  sie  der  mathematischen  Anschauung  einen  brei- 
teren Raum  gewährte.  Im  Philanthropin  wurden  daher  auch  wöchentlich  drei 
Stunden  Mathematik  nach  Eberts  Näherer  Anweisung  zu  den  philosophischen 
und  mathematischen  Wissenschaften  erteilt.  Eine  besondere  Bedeutung  hatte 
die  Mathematik  auch  für  die  Ritterakademien  wegen  der  Feldmessung,  Be- 
festigrmgslehre,  Ballistik  und  Taktik,  die  man  mit  ihr  vereinigte.  So  hatte 
die  Ritterakademie  in  Wolfenbüttel  wöchentlich  vier  Stunden  Mathematik. 

Von  der  größten  Bedeutung  für  das  Unterrichtswesen  ist  die  französische  Die  Reform  des 
Revolution  gewesen.  Sie  beseitigte  den  Gedanken  einer  besonderen  Aus-  derfra^ösischen 
bildung  des  Adels  und  hob  gerade  die  bürgerliche  Erziehung  hervor.  Vor-  RevoiuHon. 
her  waren  alle  bürgerlichen  Lehranstalten,  auch  die  Universitäten,  bestimmt, 
Diener  des  Adels  und  der  Fürsten  zu  erziehen.  Die  Geistlichen  stehen  in  Ab- 
hängigkeit von  dem  Grundherrn,  die  Lehrer,  auch  die  Lehrer  der  Gymnasien, 
gar  noch  in  demütigender  Abhängigkeit  von  der  Gemeinde,  sie  müssen  durch 
eine  Art  Bettel  ihr  Dasein  fristen.  Michaelis  wundert  sich  deshalb  1768  über 
den  „rauhen  Vorsatz"  einiger  Studierenden,  aus  der  Lehrtätigkeit  ihren 
Lebensberuf  zu  machen.  Die  gelehrten  Berufe  sind  wenig  angesehen,  nur 
die  zu  höheren  Stellung^en  aufgestiegenen  Juristen  und  Kameralisten  bilden 
vielleicht  eine  Ausnahme,  sie  sind  aber  immer,  da  der  Herrscher  absolut  ist, 
Diener  der  Fürsten.  Darin  schaffte  das  aus  der  französischen  Revolution  er- 
wachsene Weltreich  Napoleons  fast  in  ganz  Europa  einen  Wandel.  Die  bürger- 
liche höhere  Schule  und  die  an  sie  anschließende  Universitätsbildung  wird  der 
Weg  zu  den  höchsten  Ämtern  im  Staate  und  zum  gesellschaftlichen  Ansehen. 
Neben  der  auf  körperliche  Tüchtigkeit  und  höfische  Manieren  den  größten 
Wert  legenden  ritterlichen  Erziehung  und  der  aus  der  Scholastik  herausge- 
w^achsenen  Gelehrtenbildung,  neben  dem  rein  geistigen,  abstrakt  theoretischen 
Bildungswesen  der  Universitäten  erhebt  sich  die  technische  Schulung  als 
eine  gleichwertige  Form  der  Bildung. 

An  die  Stelle  des  ritterlich  erzogenen  tritt  in  Frankreich  der  technisch  Gründung  der 
gebildete  Offizier.  Darin  liegt  die  große  Bedeutung  der  polytechnischen  Schule  „i^^  „^ 
in  Paris,  die  ein  rechtes  Kind  der  Revolution  ist,  wenn  sie  auch  in  der  1746 
zu  Paris  entstandenen  Ecole  des  Ponts  et  Chauss^es  und  der  1  747  gegründeten 
Kriegsschule  in  Mezieres  in  gewissem  Sinne  ihre  Vorläufer  hat.  Sie  entstand 
als  eine  Zentralschule  der  öffentlichen  Arbeiten.  Es  ist  bezeichnend,  daß  zu 
ihren  Gunsten  das  kurz  vorher  erlassene  Gesetz,  das  jedem  Adligen  das  Be- 
treten von  Paris  verbot,  zurückgenommen  wurde.  Der  Adel  gewinnt  seine 
Existenzberechtigung  wieder,  wenn  er  sich  den  Forderungen  der  bürgerlichen 
Erziehung  fügt.  Die  Schule  sah  ursprünglich  eine  dreijährige  Ausbildungs- 
zeit vor.  Die  technische  Wissenschaft  erschien  dabei  unter  merkwürdigen  ma- 


1 1  2  A     H.  E.  Timerding  :  Die  Verbreitung  mathemat.  Wissens  u,  mathemat,  Auffassung. 

thematischen  Namen  und  in  mathematischer  Form.  So  sehr  herrschte  der  Ge- 
danke, daß  das,  was  die  Technik  zur  Wissenschaft  erhebe,  die  Mathematik 
sei.  Dies  liegt  zum  großen  Teil  auch  daran,  daß  der  für  die  Neugründung  am 
meisten  tätige  Mann,  Gaspard  Monge,  ein  Mathematiker  war.  Ihm  erschien 
gerade  die  selbständige  Verwendung  der  Mathematik  in  Verbindung  mit 
den  Naturwissenschaften  das  beste  Mittel  zu  liefern,  um  einen  entscheiden- 
den Fortschritt  in  der  Technik  zu  erzielen.  Er  erkannte  klar,  daß  durch  das 
Aufkommen  der  Maschinen  die  Bedingungen  der  technischen  Produktion 
vollständig  verändert  waren.  „Man  muß",  sagt  er  selbst,  „unseren  Technikern 
die  Kenntnis  der  technischen  Verfahren  und  der  Maschinen  übermitteln,  deren 
Zweck  darin  besteht,  die  Handarbeit  zu  verringern  oder  dem  Arbeitsprodukt 
eine  größere  Gleichmäßigkeit  und  Präzision  zu  geben."  Wie  aber  auf  streng 
wissenschaftlichen  Grundsätzen  sich  die  Konstruktion  der  Maschinen  aufbauen 
ließ,  war  in  jener  Zeit  noch  nicht  im  einzelnen  erkannt.  Es  war  daher  nur 
natürlich,  daß  den  Leuten,  die  sich  den  technischen  Aufgaben  zuwandten, 
zunächst  in  möglichster  Vollständigkeit  die  Kenntnisse  mitgeteilt  wurden, 
die  ihnen  dienlich  sein  konnten,  und  ihnen  dann  überlassen  blieb,  wie  sie  sie 
verwenden  wollten.  So  kam  es,  daß  die  mathematischen  und  naturwissen- 
schaftlichen Elemente  mit  dem  technischen  Wissen  eng  verschmolzen  wurden. 
Als  mathematische  Analysis  wurde  im  ersten  Jahr  die  analytische  Geo- 
metrie des  Raumes,  im  zweiten  Jahr  die  Mechanik  fester  und  flüssiger  Körper, 
im  dritten  Jahr  die  Maschinenlehre  gebracht,  als  darstellende  Geometrie  im 
ersten  Jahr  nach  den  rein  mathematischen  Partien  die  Lehre  vom  Steinschnitt 
und  den  Holzkonstruktionen,  im  zweiten  die  Aufgaben  der  Architektur,  im 
dritten  Anwendungen  auf  das  Befestigungswesen.  Schon  im  zweiten  Jahre 
ihres  Bestehens  aber  wurde  die  polytechnische  Schule  auf  zwei  Jahre  be- 
schränkt und  sollte  nur  der  allgemeinen  wissenschaftlichen  Vorbereitung  auf 
die  technischen  Berufe  dienen,  während  die  technische  Ausbildung  selbst 
den  verschiedenen  Ecoles  d' Application,  der  Bauschule,  der  Bergbauschule, 
der  Ingenieurschule  und  der  Artillerieschule  vorbehalten  blieb.  Diese  Organi- 
sation hat  sich  bis  heute  gehalten. 

Aus  diesen  Anfängen  heraus  ist  heute  eine  mächtige  technische  Wissen- 
schaft erwachsen.  Dabei  sind  die  praktischen  Aufgaben  der  Technik  so  stark 
hervorgetreten,  daß  die  Techniker  die  Mathematik,  die  in  ihrem  Fache  steckt, 
vielfach  gar  nicht  mehr  als  solche  empfinden.  Trotzdem  ist  sie  im  Verein  mit 
den  Naturwissenschaften  die  Quelle,  aus  der  die  wissenschaftliche  Begrün- 
dung und  damit  die  hohe  Ausbildung  der  Technik  geflossen  ist  und  deren 
Versiegen  auch  diese  zum  Austrocknen  bringen  würde. 

VII.  Der  mathematische  Unterricht  in  Deutschland  während  des  1 9.  Jahrhunderts. 
Vom  19.  Jahrhundert  ab  ist  es  nicht  mehr  möglich,  in  einem  Strom  die 
europäische  Bildung  zu  verfolgen,  einerseits  weil  uns  die  Zeit  so  nahe  ist,  daß 
wir  die  einzelnen  Züge  nationaler  Besonderheit  deutlicher  bemerken,  ander- 
seits aber  auch,  weil,  je  reicher  sich  die  Bildung  entfaltet,  um  so  mehr  die 


VII.  Der  mathemat.  Unterricht  in  Deutschland  während  des  19.  Jahrhunderts.        A  113 

nationalen  Eigentümlichkeiten  hervortreten.  Wir  wollen  daher  von  nun  an  die 
Darstellung  fest  an  die  deutschen  Verhältnisse  knüpfen  und  insbesondere  die 
Entwicklung  in  Preußen  verfolgen,  die  für  die  Gestaltung  der  Verhältnisse  in 
den  übrigen  deutschen  Staaten  fortwährend  von  entscheidender  Bedeutung 
gewesen  ist. 

Am  Ende  des  1 8.  Jahrhunderts  zündete  die  französische  Revolution  der 
Welt  eine  Fackel  an,  die  weithin  leuchtete.  Wenn  vorher  schon  die  französische   Hervorkehren 

einer  deutschen 

Bildung  die  Kultur  aller  Länder  beherrschte  und  nur  in  England  emen  ruhigen,  Nationaibüdung. 
aber  gefährlichen  Konkurrenten  fand,  so  zwang  die  Napoleonische  Herr- 
schaft fast  ganz  Europa  in  ihre  Gewalt  und  fand  wiederum  nur  an  dem  briti- 
schen Inselreich  einen  hartnäckigen  Widerstand.  So  scheint  der  Einfluß  Frank- 
reichs auf  das  Bildungswesen  des  ganzen  europäischen  Festlandes  zu  Beginn 
des  19.  Jahrhunderts  stärker  als  je.  Aber  gerade  in  dieser  Zeit  ist  bei  uns  in 
Deutschland  das  Bewußtsein  für  eine  spezifisch  deutsche  Bildung  erwachsen, 
eine  Bildung,  die  sich  freihält  von  den  Einwirkungen  fremder  Nationen  ihrer  eige- 
nen Zeit,  aber  dafür  zurücktaucht  in  die  Vergangenheit,  die  bei  den  Griechen 
und  Römern  die  Quellen  des  geistigen  Lebens  sucht  und  aus  der  Vertiefung  in 
die  Entwicklung  des  eigenen  Volkes  das  Verständnis  für  die  Eigenart  des  deut- 
schen Wesens  gewinnen  will.  Die  humanistische  und  die  romantische  Richtung 
laufen  in  diesen  Erziehungsbestrebungen  parallel,  gemeinsam  ist  ihnen  der 
Gegensatz  gegen  die  realistische  Tendenz  des  französischen  Bildungswesens. 
Nicht  die  gemeine  Erfahrung  kann  die  Grundlage  einer  höheren  Geistesbildung 
sein,  sondern  nur  die  literarischen  Denkmäler  und  das  spekulative  Denken. 
Dieser  Anschauungsweise  liegt  das  Festhalten  an  der  überlieferten  Religion 
näher  als  der  die  Bande  der  Tradition  zerreißenden  französischen  Aufklärung, 
und  da  diese  die  Erforschung  der  Natur  auf  ihre  Fahnen  geschrieben  hatte, 
kamen  die  Naturwissenschaften  in  Deutschland  in  den  Geruch  der  Gottlosig- 
keit, den  sie  in  gewissen  Kreisen  heute  noch  nicht  verloren  haben.  Ebenso  wie 
sie  aber  von  den  konservativen  Parteien  ferngehalten  wurden,  sahen  sich  alle 
radikalen  Bestrebungen  zu  ihnen  hingedrängt.  Auch  Männer,  die  von  ganz 
anderen  Ideen  ausgegangen  waren,  ich  brauche  nur  an  Ludwig  Feuerbach 
und  David  Friedrich  Strauß  zu  erinnern,  wurden  zu  einer  Anlehnung  an  die. 
Naturwissenschaften  getrieben.  Dieser  Gegensatz,  bei  dem  auf  der  einen  Seite 
die  philologisch-historischen,  auf  der  anderen  die  mathematisch-naturwissen- 
schaftlichen Fächer  stehen  und  die  eine  Seite  viel  mehr  die  offizielle  Würdigung 
findet  als  die  andere,  ist  fortan  typisch  für  unser  deutsches  Vaterland. 

Gegen  das  Ende  des  1 8.  Jahrhunderts  erfolgt  femer  eine  Entwicklung  Entwicklung  der 
der  Universitäten,  die  für  die  Geschichte  der  Wissenschaften  von  der  groß-  ^'"'pl^^ä?"" 
ten  Bedeutung  geworden  ist  und  die  sich  als  die  Emanzipation  der  vier- 
ten Fakultät  charakterisieren  läßt.  Während  diese  vorher  in  Abhängig- 
keit von  den  übrigen  Fakultäten,  insbesondere  der  theologischen  stand,  tritt 
sie  nun  als  gleichberechtigt  den  anderen  an  die  Seite,  erwirbt  das  Recht  der 
Doktorpromotion  und  erhält  in  der  Ausbildung  der  Lehrer  für  die  höheren 
Schulen  eine  bestimmte  Aufgabe.  Dafür  nimmt  ihre  Bedeutung  als  eine  all- 

K.  d.  G.  in.  I  Mathemarik,  A.  g 


1 14  A     H.  E.  Timerding:  Die  Verbreitung  mathemat.  Wissens  u.  mathemat.  Auffassung. 

gemeine  wissenschaftliche  Propädeutik  ab.  Mehr  und  mehr  dringt  die  Ansicht 
durch,  daß  die  allgemeine  Bildung  mit  dem  Gymnasium  abgeschlossen  sein 
müßte,  wenn  auch  die  Forderung  des  Besuches  bestimmter  Vorlesungen  der 
philosophischen  Fakultät  zu  allgemein  bildenden  Zwecken  noch  eine  Zeitlang 
aufrechterhalten  wurde;  so  wurde  noch  längere  Zeit  von  den  Juristen  der 
Besuch  einer  mathematischen  Vorlesung  verlangt. 
Einfluß  Diese  Entwicklung  der  philosophischen  Fakultät  geht  von  den  philolo- 

der  Philologie,  gjgchen  Fächern  aus,  die  ein  selbständiges,  reiches  Leben  entfalten,  und  steht 
in  engem  Zusammenhang  mit  der  Bewegung,  die  wir  als  Neuhumanismus 
bezeichnen  und  die  sich  in  der  mit  der  geistigen  Entwicklung  unseres  Vol- 
kes erwachenden  Begeisterung  für  das  Hellenentum  kundgibt.  In  sozialer 
Hinsicht  ist  die  Bewegung  bedingt  durch  die  Erstarkung  des  Bürgertums, 
dessen  steigender  Wohlstand  die  Möglichkeit  einer  weiteren  und  tieferen 
Bildung-  des  einzelnen  gewährte  und  ein  neues  Bildungsideal  an  die  Stelle 
der  höfischen  Gesittung  setzte.  Dieses  Bildungsideal  glaubte  man  in  den 
Schriften  der  Griechen  zu  finden.  Die  romantische  Bewegung  brachte  außer- 
dem, gerade  nachdem  in  der  deutschen  Literatur  das  Höchste  geleistet  worden 
war,  ein  eifriges  Studium  der  fremden  Literaturen  mit  sich.  Dieses  mächtig 
anschwellende  Interesse  für  die  Sprachen  und  Schriftwerke  aller  Zeiten  und 
Völker,  auch  der  deutschen  Vergangenheit,  fuhr  nun  wie  ein  belebender  Früh- 
lingswind durch  die  in  dem  Bann  der  Überlieferung  festgefrorenen  Universi- 
täten. Die  jungen  Leute,  die  die  Hörsäle  füllten,  suchten  nicht  bloß  mehr  ein 
paar  mehr  oder  oberflächliche  Kenntnisse  zu  erhaschen  oder  den  Vortrag 
eines  guten  Redners  an  ihrem  Ohr  vorüberrauschen  zu  lassen,  sie  suchten 
voll  Begeisterung  einzudringen  in  den  Geist  vergangener  Zeiten,  sie  wollten 
selbständig  mitwirken  an  ihrer  Erschließung  und  Durchforschung. 
Loslösung  des  Mit  diescm  veränderten  Lehrbetrieb  in  den  philosophischen  Fakultäten 

Lehrerberufes  unserer  Universitäten,  der  den  Studierenden  nicht  bloß  in  die  Resultate,  sondern 

von  der  '  ' 

Theologie,  auch  in  die  Methoden  der  wissenschaftlichen  Arbeit  einführte,  steht  in  Ver- 
bindung die  Loslösung  des  Lehrerberufes  vom  theologischen  Studium,  die  ihren 
Ausdruck  in  der  Schaffung  einer  bestimmten  Prüfung  für  das  Lehramt  an 
höheren  Schulen  fand.  Diese  Prüfung  wurde  in  Preußen  durch  das  Edikt  vom 
12.  Juli  1810  angeordnet.  Durch  sie  wurde  das  Lehrfach  der  Mathematik  den 
übrigen  Lehrfächern  als  gleichwertig  an  die  Seite  gestellt,  und  der  Mathe- 
matiklehrer, gegen  dessen  Anerkennung  als  gleichberechtigten  Kollegen  sich 
die  philologischen  Lehrer,  weil  sie  ihn  als  einen  Fachlehrer  ansahen,  heftig 
sträubten,  empfing  dadurch  die  Stütze  der  öffentlichen  Anerkennung.  Es  wurde 
aber  durch  diese  Verfügung  natürlich  keineswegs  erst  der  Stand  des  Mathe- 
matiklehrers geschaffen.  So  war  Ernst  Gottfried  Fischer,  der  viel  für  die  Aus- 
bildung eines  mit  modernem  Geiste  angefüllten  Mathematik-  und  Physikunter- 
richtes getan  hat,  bereits  seit  1787  als  Lehrer  der  Physik  und  Mathematik  am 
Gymnasium  des  grauen  Klosters  in  Berlin  angestellt. 
Einfluß  der  Auf  den  mathematischen  Unterricht  in  Deutschland  hat  auch  nicht  wenig 

"z'etrau/die"  ^^^  frauzösische  Beispiel  gewirkt.  Die  Mathematik  hatte  in  der  Revolutionszeit 

Ausgestaltung 
unserer  Schulen. 


VII.  Der  mathemat.  Unterricht  in  Deutschland  während  des  19.  Jahrhunderts.      A  115 

auch  äußerlich  eine  Machtstellung  erlangt,  wie  sie  nie  zuvor  besaß  und  wie 
sie  vielleicht  auch  nie  wieder  haben  wird.  Berufsmathematiker  wie  Monge, 
Camot,  Fourier  und  Laplace  nahmen  führende  Stellungen  im  Staatsleben  ein, 
und  in  Napoleon  selbst  steckte  ein  großes  Stück  mathematischer  Schulung 
Die  ungewöhnlich  hohe  Einschätzung  der  Mathematik  in  dem  Napoleonischen 
Staatswesen  mußte  daher  stark  auf  die  Stellung  einwirken,  die  ihr  von  da  an 
überhaupt  in  der  Kulturwelt,  und  so  auch  an  den  deutschen  Schulen,  einge- 
räumt wurde.  Wir  müssen  bedenken,  daß  damals  ein  großer  Teil  von  Deutsch- 
land unter  französischer  Herrschaft  stand  und  auch  der  Rest  sehr  stark  dem 
politischen  Einfluß  Frankreichs  unterlag.  In  den  von  Frankreich  unmittelbar 
oder  mittelbar  beherrschten  Ländern  suchte  man  das  Bildungswesen  möglichst 
nach  französischem  Muster  zu  organisieren.  Aber  auch  die  übrigen  Landes- 
teile trachteten  danach,  es  den  Franzosen  in  der  Ausgestaltung  des  Unter- 
richtswesens gleichzutun.  Die  praktischen  Vorzüge  des  von  ihnen  organisier- 
ten naturwissenschaftlich -technischen  Bildungswesens  lagen  auf  der  Hand. 
Nicht  mit  Unrecht  schrieb  man  die  französischen  Wafifenerfolge  zum  Teil  der 
überlegenen  militär-technischen  Schulung  zu,  die  ganz  von  diesem  praktischen 
Geiste  getragen  war.  So  erklärt  es  sich,  daß  ein  Mann  wie  Scharnhorst  auch 
einer  gründlichen  mathematischen  Ausbildung  das  Wort  redete.  Ahnlich  waren 
Alexander  von  Humboldt  und  der  Freiherr  von  Stein  gestimmt.  Überhaupt  be- 
deutet hinsichtlich  des  Bildungswesens  die  Zeit  des  äußeren  Niederganges  für 
uns  keinen  Stillstand,  sondern  im  Gegenteil  einen  kräftigen  Fortschritt.  Sehr 
stark  sprach  hierbei  mit,  daß  man  „an  geistigen  Gütern  wieder  zu  gewinnen 
suchte,  was  an  äußerer  Macht  verloren  gegangen  war".  Daher  die  energischen 
Ansätze  zur  Hebung  und  Neugestaltung  des  Unterrichts  wesens  in  Preußen.  Es 
wurden  die  Universitäten  Berlin  und  Breslau  gegründet,  der  Organisation  der 
höheren  Schulen  und  der  Ausbildung  der  Gymnasiallehrer  wurde  eine  feste 
Grundlage  gegeben,  die  die  Gewähr  einer  kräftigen  Neuentwicklung  bot. 

Für  diese  Neugestaltung  kam  aber  noch  ein  anderes  Moment  in  Betracht,  National  deut- 
das  wir  nicht  unterschätzen  dürfen.  Das  rege  geistige  Leben,  das  die  friderizia-  der^Ent^iddun" 
nische  Zeit  in  Berlin  entfacht  hatte,  hatte  auch  im  Schulwesen  seinen  Ausdruck   ^^^  BiWungs- 

wesens. 

gefunden.  In  Berlin  hatte  Hecker  schon  1747  seine  ökonomisch-mathema- 
tische Realschule  errichtet.  In  Berlin  hatten  Männer  wie  Gedike  und 
Meierotto  an  der  Ausbildung  eines  modernen  Gymnasiums  gearbeitet,  und 
die  von  ihnen  geschaffenen  Musterschulen,  das  Friedrichwerdersche  Gym- 
nasium, das  Graue  Kloster  und  das  Joachimsthalsche  Gymnasium  wurden 
maßgebend  für  die  allgemeine  Umgestaltung  der  höheren  Schulen.  So  be- 
ruht trotz  des  Antriebes,  der  durch  die  Fremdherrschaft  kam,  die  Entwicklung 
unseres  höheren  Schulwesens  doch  zum  größten  Teil  auf  dem  geistigen  Auf- 
schwung, den  die  deutsche  Kultur  aus  sich  heraus  genommen  hatte,  ein 
Aufschwung,  der  in  der  Hochblüte  unserer  Literatur  ja  seinen  deutlichen 
Ausdruck  findet.  Diese  national  deutsche  Entwicklung  zeigt  sogar  eine  tief- 
greifende Verschiedenheit  von  der  französischen  Auffassung-.  W^ährend  näm- 
lich die  französische  Bildung  wesentlich  nach  der  realistischen  Seite  hinneigt, 


malen  Bildung. 


1 1 6  A     HE.  Timerding  :  Die  Verbreitung  mathemat.  Wissens  u.  mathemat.  Auffassung.   • 

ist  die  neuhumanistische  Bewegung  in  Deutschland  den  realistischen  Inter- 
essen fremd,  ja  feindlich.  Der  Gegensatz  zwischen  Realismus  und  Humanis- 
mus, der  von  nun  an  unser  Bildungswesen  durchzieht,  wurde  häufig  geradezu 
so  empfunden,  daß  er  ein  nationaler  Gegensatz  von  französischer  und  deut- 
scher Denkweise  sein  sollte. 
Das  Ideal  derfor-  Es  bildet  sich  mit  aller  Schärfe  der  Gedanke  der  formalen  Bildung  aus, 

der  von  da  ab  unser  ganzes  höheres  Schulwesen  im  schroffen  Gegensatz  gegen 
die  realistische  Auffassung,  die  während  des  r8.  Jahrhunderts  aufkam  und 
sich  z.B.  in  der  Basedowschen  Richtung  ausspricht,  dauernd  beherrscht.  Man 
kann  den  Wandel  der  Anschauungen  deutlich  an  Gedike  beobachten  Früher 
hatte  er  den  Gedanken  einer  realistischen  Auffassung  des  klassischen  Alter- 
tums entschieden  verfochten,  er  hatte  an  seiner  Schule  die  realistischen 
Fächer  aus  dem  Gedanken  heraus,  daß  etwas  für  das  Leben  Nützliches  zu 
lernen  die  Hauptsache  sei,  kräftig  betont  und  in  einer  organischen  Verbin- 
dung des  Sach-  und  Sprachunterrichtes  die  Aufgabe  der  höheren  Schulen 
gesehen.  Er  hatte  sogar  noch  1 796  am  Grauen  Kloster  eine  Art  Realabteilung 
eingeführt,  indem  er  einen  Teil  der  Schüler  in  Mathematik,  Naturwissenschaft, 
Technologie  und  Handelswissenschaft  besonders  unterrichten  ließ  und  dafür 
vom  Griechischen  dispensierte.  Im  Jahre  1802  aber  vertritt  er  entschieden 
den  Standpunkt  der  rein  formalen  Bildung.  Er  vergleicht  die  geistige  Bildung 
mit  der  körperlichen  Gewandtheit  und  Geschmeidigkeit,  welche  der  Unter- 
richt in  der  Tanzkunst  gibt.  Ebensowenig  man  das  Tanzen  lehrt,  damit 
einer  sein  Leben  hindurch  sich  auf  dem  Tanzboden  bewegt,  ebensowenig 
erwartet  man,  daß  die  Lehrgegenstände  der  höheren  Schulen  im  späteren  Le- 
ben praktische  Verwendung  finden  sollten;  nur  der  durch  sie  erreichte  geistige 
Drill  soll  sich  dem  Menschen  nützlich  erweisen. 

Es  ist  indessen  der  Gedanke  der  formalen  Bildung  keineswegs  gegen 
Ende  des  18.  Jahrhunderts  erst  entstanden  und  aufgekommen.  Im  Gegenteil 
liegt  er  dem  Humanismus  von  Anfang  an  zugrunde  und  es  heißt  z.  B.  in  der 
braunschweigisch-lüneburgischen  Schulordnung  von  1737:  „Wer  die  Alten 
lieset  und  dabei  die  Gründe  von  der  Mathematik  studiert,  bekommt  geübte 
Sinne,  das  Wahre  von  dem  Falschen,  das  Schöne  von  dem  Unförmlichen  zu 
unterscheiden,  allerhand  schöne  Gedanken  in  das  Gedächtnis  und  Fertigkeit, 
anderer  Gedanken  zu  fassen  und  die  seinigen  geschickt  zu  sagen,  eine  Menge 
von  guten  Maximen,  die  den  Verstand  und  Willen  bessern,  und  hat  den  größten 
Teil  dessen  schon  in  der  Ausführung  gelernt,  was  ihm  in  einem  guten  Kom- 
pendium der  Philosophie  nach  Ordnung  und  Form  einer  Disziplin  gesagt 
werden  kann".  Das  sind  so  klar,  wie  man  nur  verlangen  kann,  die  Gedanken 
einer  formalen  Schulung  des  Geistes.  Gegen  Ende  des  18.  Jahrhunderts  ge- 
winnen diese  Gedanken  nur  an  Kraft,  eben  weil  sie  sich  gegen  eine  nüch- 
terne Nützlichkeitsphilosophie  durchsetzen  müssen,  weil  der  Idealismus,  die 
reine  Begeisterung  für  das  Schöne  und  Gute,  gegenüber  dem  an  der  sinn- 
fälligen Erscheinung  und  dem  sinnlichen  Genießen  haftenden  theoretischen 
und  ethischen  Materialismus  gewaltig  emporlodert. 


VII.  Der  mathemat.  Unterricht  in  Deutschland  während  des  19.  Jahrhunderts.      All? 

Wie  eng  diese  Anschauung  mit  der  ganzen  Entwicklung  unserer  geistigen  Herder. 
Kultur  zusammenhängt,  können  wir  an  Herder  erkennen,  den  wir  hierin  wohl 
als  den  Wortführer  des  Weimarer  Kreises  ansehen  dürfen.  Er  hat  den  Gedanken 
der  formalen  Schulung  in  seinen  Schulreden  klar  und  scharf  zum  Ausdruck  ge- 
bracht. „Ein  Gleiches",  sagt  er  im  Jahre  1 786,  „ist's  mit  der  Auswahl  der  Wissen- 
schaften für  die  Jugend,  obgleich  eben  dieser  Punkt  für  den  schwersten  an- 
gegeben zu  werden  pflegt.  Man  sagt:  Was  für  diesen  taugt,  taugt  nicht  für 
jenen,  und  es  ist  wahr,  sobald  man  sich  auf  die  künftige  Bestimmung  jedes  ein- 
zelnen Jünglings  einläßt  Allein  wenn  man  darauf  sehen  wollte,  sollten  statt 
einer  sieben  Schulen  und  statt  sechs  oder  sieben  armer  Lehrer  dreißig  da  sein, 
wenn  man  so  vornehm  und  edel  Schulen  für  Juristen  und  Kuchenbäcker,  für 
Kameralisten  und  Leinweber  haben  wollte.  Die  öffentliche  Schule  ist  ein  Institut 
des  Staates,  also  eine  Pflanzschule  für  junge  Leute  nicht  nur  als  künftige  Bürger 
des  Staates,  sondern  auch  und  vorzüglich  als  Menschen.  Menschen  sind  wir 
eher,  als  wir  Professionisten  werden,  und  wehe  uns,  wenn  wir  nicht  auch  in 
imserem  künftigen  Beruf  Menschen  blieben!  Von  dem,  was  wir  als  Menschen 
wissen  und  als  Jünglinge  gelernt  haben,  kommt  unsere  schönste  Bildung  und 
Brauchbarkeit  für  uns  selbst  her,  noch  ohne  zu  ängstliche  Rücksicht,  was  der 
Staat  aus  uns  machen  wolle.  Ich  halte  es  also  für  sehr  töricht,  wenn  man  bei 
jedem  Schulbuch,  bei  einem  Asopus  und  Phädrus,  beim  Cornelius  und  Ana- 
kreon  oder  gar  bei  einzelnen  Teilen  einer  Arbeit,  bei  einem  Quadrat  und 
Zirkel,  bei  einer  Periode  der  Geschichte  oder  einer  Aufgabe  des  Stils  die 
Frage  aufstellte:  cuibono?  Zu  keinem  anderen  bono,  als  daß  der  Knabe  reden 
und  schreiben,  seinen  Verstand,  seine  Zunge,  seine  Feder  brauchen  lerne  oder 
daß  sein  Geschmack  gereinigt,  sein  Urteil  geschärft  und  er  gewahr  werde,  daß 
in  seiner  Brust  ein  Herz  schlage.  Nachher  mag  er  Lehrsatz  und  Fabel,  Ge- 
schichte und  Gedicht  vergessen,  wenn  und  wie  er  will,  genug,  er  hat  an  und 
mit  ihnen,  was  er  sollte,  gelernt". 

Diese  Äußerungen,  die  sich  dem  einseitigen  Nützlichkeitsgedanken  wider- 
setzen, können  wir  gewiß  gutheißen.  Schiller  hat  ihnen  vielleicht  den  besten  scWUer. 
Ausdruck  gegeben  mit  den  Worten:  „Stoff  ohne  Form  ist  nur  ein  halber  Be- 
sitz, denn  die  herrlichsten  Kenntnisse  liegen  in  einem  Kopf,  der  ihnen  keine 
Gestalt  zu  geben  weiß,  w^ie  tote  Schätze  vergraben.  Form  ohne  Stoff  hingegen 
ist  gar  nur  der  Schatten  eines  Besitzes,  und  alle  Kunstfertigkeit  im  Ausdruck 
kann  demjenigen  nichts  helfen,  der  nichts  auszudrücken  hat"  (Über  die  not- 
wendigen Grenzen  beim  Gebrauch  schöner  Formen,  1795). 

Am  Anfang  des  19.  Jahrhunderts  tritt  aber  gegen  den  Nützlichkeitsgeist 
der  Aufklärung  eine  noch  viel  radikalere  Reaktion  ein,  die  sich,  noch  durch 
den  nationalen  Gegensatz  gegen  die  französischen  Eroberer  verstärkt,  in  einem 
Manne  wie  Fichte  greifbar  verkörpert  Formale  Bildung  des  Geistes  ist  nicht 
das  einzige,  was  erstrebt  wird,  es  soll  sich  die  formale  Geistesübung  auch 
allein  auf  das  Gebiet  des  Geistes  beschränken.  Es  entsteht  ein  Abscheu  vor 
allem,  was  irgendwie  den  Verdacht  erweckt,  eine  reale  Nützlichkeit  in  sich  zu 
schließen.  Darum  tritt  das  Wort  in  einer  Weise  der  Sache  gegenüber  wieder  wortkuitur. 


1 1 8  A    H.  E.  Timerding  :  Die  Verbreitung  mathemat.  Wissens  u.  mathemat.  Auffassung. 

hervor,  die  uns  zurückversetzt  in  die  Blütezeit  des  Scholastizismus.  Die 
Sprache  der  Griechen  und  Römer  wird  nicht  sowohl  der  Gedanken  wegen 
geschätzt,  die  in  ihr  ausgedrückt  sind,  sondern  rein  als  Sprache.  Die  lateinische 
und  griechische  Grammatik,  nicht  die  lateinischen  und  griechischen  Schrift- 
steller sollen  den  Unterricht  beherrschen.  Wenn  früher  in  der  philanthropini- 
schen  Schule  der  Unterricht  mit  Anschauungsübungen  begonnen  wurde,  so 
soll  er  jetzt  mit  Auswendiglernen  begonnen  werden.  Ob  das  Kind  das  ver- 
steht, was  es  lernt,  ist  gleichgültig,  sein  Gedächtnis  soll  geübt  werden,  die  ge- 
lernten Sätze  sollen  sich  in  der  Tiefe  seines  Geistes  festsetzen,  aus  der  sie 
später  schon  von  selbst  zur  rechten  Zeit  hervortauchen  werden,  wie  ein 
vom  Kinde  ohne  Verständnis  auswendig  gelernter  Bibelvers  später  dem 
gereiften  Manne  im  Augenblick  der  Not  wieder  ins  Gedächtnis  tritt  und 
ihm  Trost  und  Stärkung  gibt. 
Die  Schulen  Für  das   rechte  Verständnis   des  modernen  deutschen  Schulwesens  ist 

d^"steltes^°"  noch  andererseits  von  der  größten  Bedeutung  der  Umstand,  daß  der  Staat 
die  Leitung  des  Schulwesens  in  die  Hand  nimmt,  daß  die  Schule  nicht,  wie 
das  früher  war  und  heute  noch  so  in  England  ist,  frei  im  Lehren  und  Lernen 
bleibt,  sondern  bestimmten  staatlichen  Vorschriften  über  die  Ausgestaltung 
des  Lehrplans,  die  Handhabung  des  Unterrichtes  und  die  Vorbildung  der 
Lehrer  unterliegt  und  unter  der  ständigen  Beaufsichtigung  der  Regierung 
steht.  Diese  Verhältnisse  gehen  aus  den  allgemeinen  Bedingungen,  unter 
denen  sich  die  deutschen  Staaten,  insbesondere  Preußen,  entwickelt  haben, 
mit  Notwendigkeit  hervor.  „Der  preußische  Staat,  nicht  wie  England  von  Hause 
aus  in  gegebene  Naturgrenzen  gefaßt,  ist  von  kleinen  Anfängen  her  das  Pro- 
dukt jahrhundertelanger,  harter  gemeinsamer  Arbeit  von  Fürst  und  Volk,  zu 
der  dieses  mit  erzogen  werden  mußte.  Um  das  unter  ungünstigen  Naturbedin- 
gungen Gegebene  zusammenzuhalten,  zu  erweitern,  zu  kräftigen,  bedurfte  es 
einer  schlagfertigen  Militärmacht  nach  außen  und  fester  Ordnungen  im  In- 
nern, und  zu  deren  Aufrechterhaltung  zuverlässiger  Beamten.  So  ist  die  Ent- 
stehung des  in  sich  geschlossenen,  straffen  preußischen  Verwaltungssystems 
und  der  damit  zusammenhängenden  drei  allgemeinen  Pflichten,  der  Schul-, 
Militär-  und  Steuerpflicht,  leicht  erkennbar.  Der  Staat  bediente  sich  früh  der 
Schulen,  um  das  heranwachsende  Geschlecht  für  seine  Zwecke  zu  erziehen 
und  für  sein  Beamtentum  vorzubilden,  und  zu  Ende  des  1 8.  Jahrhunderts  faßte 
er  in  der  Gesetzgebung  des  allgemeinen  Landrechts,  unbekümmert  um  den 
Ursprung  und  die  erste  Bestimmung  der  verschiedenen  Anstalten,  alle  als 
ihm  zugehörig  zusammen  und  machte  sich  selbst  zum  alleinigen  Schulherrn: 
> Schulen  sind  Veranstaltungen  des  Staates«.  Die  Einheit  des  preußischen 
Schulwesens  ist  die  Folge  der  absoluten  monarchischen  Regierung"  (Wiese 
Deutsche  Briefe  über  englische  Erziehung,  1851). 
Das  Den  höheren  Schulen  wurde  eine  neue  feste  Grundlage  gegeben  durch 

ex"mc"n.^°  die  Ncuorduung  des  Abiturientenexamens  am  12.  Oktober  181 2,  die  dem 
Einführungsedikt  vom  23.  Dezember  1788  erst  eine  weitergehende  Bedeutung 
gab.  Das  Examen  hatte  aber  keineswegs  von  vornherein  den  Sinn,  den  es 


VII.  Der  mathemat.  Unterricht  in  Deutschland  während  des  19.  Jahrhunderts.      A  119 

heute  hat.  Im  Gegenteil  herrschte  der  Gedanke,  daß  die  Entscheidung,  ob  ein 
junger  Mensch  für  die  Universität  reif  sei  oder  nicht,  nicht  dem  Staat,  son- 
dern den  Eltern  oder  dem  Vormund  zustehe  und  die  freie  Wahl  hierin  nicht 
beschränkt  werden  dürfe.  Den  im  Abiturientenexamen  untüchtig  Befundenen 
wird  nur  der  Rat  erteilt,  die  Universität  nicht  zu  beziehen.  Die  Nichtabiturien- 
ten  werden  einem  Examen  pro  immatriculatione  unterworfen,  das  sehr  milde 
gehandhabt  worden  zu  sein  scheint.  Es  wird  z.  B.  nur  verlangt,  der  Prüfling 
müsse  wenigstens  in  einem  Fache  Primareife  besitzen,  um  zur  Prüfung  zu- 
gelassen zu  werden.  Erst  im  Jahre  1834  wird  den  Nichtabiturienten  der  Zu- 
gang zur  Universität  verschlossen.  Aus  diesem  Jahre  stammt  ein  neues  Re- 
glement für  die  Abiturientenprüfung,  das  sie  wesentlich  erschwert  und  sechs 
Prüfungsarbeiten,  einen  lateinischen  und  einen  deutschen  Aufsatz,  eine  la- 
teinische und  eine  griechische  Übersetzung,  endlich  eine  französische  und  eine 
mathematische  Arbeit  fordert.  1 8 1  2  wird  beim  Abiturientenexamen  in  der 
Mathematik  gefordert:  „die  Kenntnis  der  Rechnungen  des  gemeinen  Lebens  steUung 
nach  ihren  auf  die  Proportionslehre  gegründeten  Prinzipien,  des  Algorithmus  j^  Examen, 
der  Buchstaben,  der  ersten  Lehre  von  den  Potenzen  und  Wurzeln,  der  Glei- 
chungen des  ersten  und  zweiten  Grades,  der  Logarithmen,  der  Elementar- 
geometrie (soweit  sie  in  den  sechs  ersten  und  dem  elften  und  zwölften  Buche 
des  Euklid  vorgetragen  wird),  der  ebenen  Trigonometrie  und  des  Gebrauchs 
der  mathematischen  Tafeln".  Im  großen  und  ganzen  sind  das  die  bis  zum 
heutigen  Tage  stehen  gebliebenen  Forderungen,  im  Gegensatz  zur  Physik, 
wo  nur  die  Erkenntnis  der  Gesetze  derjenigen  Hauptphänomene  der  Körper- 
welt verlangt  wurde,  ohne  welche  die  Lehren  der  Mathematik  und  der  physi- 
kalischen Geographie  nicht  begriffen  werden  können.  Die  übrigen  Natur- 
wissenschaften kommen  überhaupt  nicht  in  Frage.  Die  Mathematik  nimmt 
also  den  Naturwissenschaften  gegenüber  entschieden  eine  begünstigte  Stel- 
lung ein.  Den  Grund  dafür  kann  man  zunächst  in  dem  der  Mathematik  zu- 
geschriebenen besonderen  formalen  Bildungswert  sehen,  vielleicht  ist  auch 
die  Wertschätzung  maßgebend  gewesen,  die  das  als  Muster  aller  feinen  Bil- 
dung angesehene  Hellenentum  der  Mathematik  zuschrieb. 

Wie  wenig  Wert  jedoch  tatsächlich  beim  Maturitätsexamen  auf  die  Mathe- 
matik gelegt  wurde,  zeigen  deutlich  die  einzelnen  uns  erhaltenen  Abgangs- 
zeugnisse. Ein  solches  lautet  in  einem  Falle  so:  „N.  N.  hat  im  Griechischen  Probe  eines 
und  Lateinischen  einen  beträchtlichen  Grad  von  Fertigkeit  erlangt,  nicht  Zeugnisses, 
allein  in  der  Lesung  der  Schrift  selber,  sondern  auch  im  Schreiben  vorzüglich 
des  Lateinischen,  worin  er  es  bis  zu  einer  leichten  und  fehlerlosen  Versifikation 
gebracht  hat.  Seine  Geschichtskenntnisse  dagegen  sind  unzusammenhängend 
und  un chronologisch,  in  der  Mathematik  ist  er  sehr  zurückgeblieben.  Sein 
deutscher  Ausdruck  ist  zu  wenig  in  der  Prose  gebildet,  daher  er  leicht  in 
Bombast  ausartet.  Von  groben  Fehlern  des  Stils  ist  er  indessen  frei.  Im  Fran- 
zösischen ist  er  nicht  bis  zur  grammatischen  Richtigkeit  gekommen  imd  hat 
eine  fehlerhafte  Aussprache."  Worauf  es  ankam,  waren  doch  schließlich  allein 
die  alten  Sprachen.   Die  Übung  im  Schmieden  lateinischer  Verse  galt  mehr 


1 20  A     H.  E.  Timerding:  Die  Verbreitung  mathemat.  Wissens  u.  mathemat.  Auffassung. 

als  der  richtige  und  vernünftige  Gebrauch  der  eigenen  Muttersprache.  Gerade 
darin  sah  man  den  Gewinn,  daß  man  zu  dem  Entlegenen  griff  und  nicht  bei 
dem  Naheliegenden  und  praktisch  Verwertbaren  stehen  blieb,  obwohl  der 
Schluß  doch  wohl  etwas  bedenklich  scheint,  daß  etwas  pädagogisch  um  so 
wertvoller  ist,  je  weniger  es  praktisch  nutzbar  gemacht  werden  kann. 

Der  Wortlaut  der  Bestimmungen  für  das  Abiturientenexamen  läßt  deutlich 
erkennen,  daß  es  wesentlich  die  Euklidischen  Elemente  und  die  Eulersche 
Algebra  gewesen  sind,  die  für  die  Festlegung  des  Unterrichts  maßgebend 
waren.  Von  Euklid  wurden  nur  die  geometrischen  Bücher  berücksichtigt,  die 
arithmetischen  wurden  als  veraltet  beiseite  gelassen,  obwohl  sie,  wenn  man 
von  der  geometrischen  Form  der  Darstellung  und  der  Enge  des  Interessen- 
bereiches der  griechischen  Arithmetik  absieht,  exakter  und  gründlicher  als 
das  Eulersche  Verfahren  sind. 

Euklid  wurde  in  deutschen  Übersetzungen  auch  unmittelbar  als  Lehrbuch 
benutzt.  Es  ist  dies  der  Zustand  des  mathematischen  Unterrichts,  der  sich  in 
England  bis  auf  den  heutigen  Tag  erhalten  hat,  wie  überhaupt  das  englische 
Schulwesen  eine  auffallende  Ähnlichkeit  mit  dem  deutschen  Schulwesen  am 
Beginn  des  19.  Jahrhunderts,  vor  dem  Eintreten  der  festen  staatlichen  Organi- 
sation, zeigt.  Es  rühmt  sich  dieser  Freiheit,  zu  lehren  und  zu  lernen,  was  man 
will,  und  hält  sie  aufrecht  trotz  aller  Mängel  (insbesondere  des  Eindrillens 
der  Prüfungsaufgaben  für  die  nicht  zu  vermeidenden  staatlichen  Examina), 
welche  sie  im  Gefolge  hat.  Das  im  ganzen  auf  einem  sehr  niedrigen  Niveau 
stehende  Zulassungsexamen  zur  Universität,  das  uns  an  den  früheren  deutschen 
Zuständen  so  befremdlich  erscheint,  findet  sich  ebenfalls  heute  noch  in  England. 
Aufgaben-  Für  dlc  Entwicklimg  der  arithmetischen  Seite  des  mathematischen  Schul- 

samnilunfjen :  -i-ta  ii-ii  •  n-r-k 

>(eier  Hirsch,  untcmchts  m  Dcutschland  hat  eme  große  Bedeutung  die  Aufgabensamm- 
lung von  Meier  Hirsch  erlangt,  die  zuerst  1804  erschienen  ist.  Sie  ist  das 
Vorbild  für  alle  späteren  Aufgabensammlungen  bis  in  unser  Jahrhundert 
hinein  gewesen  und  gibt  den  klarsten  und  deutlichsten  Begriff  von  dem 
Zustand  des  mathematischen  Unterrichts  am  Anfang  des  i  g.  Jahrhunderts.  Der 
Verfasser  ist  selbst  kein  staatlich  angestellter  Lehrer,  sondern  Privatlehrer 
der  Mathematik  in  Berlin  gewesen  und  hat  die  Aufgabensammlung  nach  den 
Erfahrungen  bei  seiner  Lehrtätigkeit  gestaltet.  Zu  ihm  kamen  aber  jedenfalls 
Leute,  die  entweder  ein  besonderes  Interesse  für  die  Mathematik  hatten  oder 
sie  als  Hilfswissenschaft  zu  ihrem  Beruf  brauchten.  Das  hat  den  Zustand  der 
Sammlung  wesentlich  bestimmt.  Sie  ist  so  gehalten,  daß  sie  für  einen  Berufs- 
mathematiker eine  zweckmäßige  Einführung  in  sein  Fach  bedeutet.  Die  Stoff- 
anordnung ist  wesentlich  dieselbe  wie  in  Eulers  Algebra,  nur  ist  (wohl  durch 
Hindenburgs  Einfluß)  die  Kombinatorik  hinzugetreten.  So  wird  der  Schüler 
in  den  grundlegenden  Operationen  geübt;  nur  um  das  Interesse  zu  beleben 
und  nützliche  Übungen  zu  gewinnen,  wird  auch  auf  Anwendungen  einge- 
gangen, die  aber  in  diesem  Falle  nichts  bedeuten  wie  mit  Begriffen  aus  dem 
praktischen  Leben  gebildete  theoretische  Beispiele.  So  ist  auch  die  Wahr- 
scheinlichkeitsrechnung weniger  aus  praktischem  Interesse  als  zur  Einübung 


VII.  Der  mathemat.  Unterricht  in  Deutschland  während  des  19.  Jahrhunderts.     A  i  2  l 

der  Kombinatorik  aufgenommen.  Alles  dies  ist  für  den  Zweck  einer  Vorbe- 
reitung auf  die  theoretische  Mathematik  zweckmäßig  und  gerechtfertigt.  Aber 
sollte  man  es  glauben,  daß  man  dieselben  Gesichtspunkte  ohne  weiteres  auch 
auf  die  allgemeinen  Schulen  übertragen  hat,  wo  es  sich  doch  gewiß  nicht 
darum  handelt,  künftige  Mathematiker  auszubilden?  So  unwahrscheinlich  und 
ungereimt  es  klingt,  der  mathematische  Schulunterricht  ist  fast  hundert  Jahre 
lang  so  gehandhabt  worden,  als  ob  alle  Schüler  später  Mathematik  studieren 
wollten.  Die  später  gebräuchlichen  Aufgabensammlungen  —  ich  will  nur  die 
von  Heis  und  von  Bardey  nennen  —  richten  sich  nicht  bloß  in  dem  Inhalte, 
sondern  auch  in  der  Methodik  ganz  nach  Meier  Hirsch.  Nur  die  Belebung 
durch  die  Einflechtung  geschichtlicher  Gesichtspunkte  ist  bei  Heis  hinzu- 
gekommen. 

Die  Meier-Hirsch'sche  Aufgabensammlung  gibt  wohl  einen  guten  Maß- 
stab für  die  Art,  aber  nicht  auch  für  den  Umfang  des  mathematischen  Unter- 
richts zur  Zeit  ihres  Erscheinens.  Dieser  mußte  sich  vielmehr  erst  allmählich 
entwickeln  und  ausgestalten,  schon  weil  es  vorerst  an  geeigneten  Lehrkräften 
gebrach.  Die  gesetzlichen  Bestimmungen  allein  können  keinen  zuverlässigen 
Maßstab  für  den  wirklichen  Unterricht  abgeben.  Auch  der  berühmte  Süvern-  Der  savemsche 
sehe  Lehrplan  (1812)  sollte  keineswegs  verbindlich,  sondern  nur  ein  Muster  ^  '^'^" 
für  die  Grundlinien  der  Lehrverfassung  sein.  In  der  Einführung  der  vier  Haupt- 
facher Lateinisch,  Griechisch,  Deutsch  und  Mathematik  hat  er  allerdings 
dauernd  Geltung  behalten.  Eine  moderne  Fremdsprache  sieht  er  nicht  vor. 
In  den  zehn  Schuljahren,  die  er  fordert,  sollen  auf  die  vier  Hauptfächer  ins- 
gesamt folgende  Anzahl  von  Wochenstunden  entfallen:  Lateinisch  76,  Grie- 
chisch 56,  Deutsch  44,  Mathematik  60,  und  zwar  in  jedem  Schuljahr  sechs 
Wochenstunden.  Treibend  ist  bei  dieser  gleichmäßigen  Betonung  verschieden- 
artiger Lehrgegenstände  der  Gedanke  einer  inneren  Verwandtschaft  des  Or- 
ganismus aller  Wissenschaft;  durch  die  gleichmäßige  Teilnahme  an  allen  soll 
die  harmonische  Ausbildung  des  Geistes  gesichert  werden.  Wie  weit  der  Mathe- 
matikunterricht gehen  sollte,  zeigen  die  folgenden  Angaben:  in  Quinta  sollte 
Algebra  und  Geometrie  begonnen  werden,  in  Quarta  sollten  dann  die  ein- 
fachen algebraischen  Gleichimgen  und  die  Geometrie  nach  dem  sechsten, 
elften  und  zwölften  Buche  des  Euklid,  also  die  Ähnlichkeitslehre  und  Stereo- 
metrie behandelt  werden.  In  Tertia  sollten  darauf  die  Logarithmen  und  die 
analytische  Geometrie  kommen.  Die  geometrischen  Konstruktionen  sollten 
als  zu  zeitraubend  wegfallen.  Der  Sekunda  waren  die  Reihen,  die  ebene 
und  sphärische  Trigonometrie,  sowie  die  Lehre  von  den  Kegelschnitten  vor- 
behalten. In  der  Prima  sollte  endlich  die  Ausbildung  mit  den  Gleichungen 
dritten  und  vierten  Grades,  der  unbestimmten  Anal}^ik,  der  Fortführung  der 
Reihenlehre  bis  zum  Taylorschen  Lehrsatz  und  der  Wahrscheinlichkeitsrech- 
nung ihren  Abschluß  finden. 

Die  wirkliche  Ausgestaltung  des  Stundenplans  ist  wenigstens  an  den  preu- 
ßischen Gymnasien  von  Anfang  an  dieselbe  gewesen,  die  sie  das  ganze  19.  Jahr- 
hundert hindurch  geblieben  ist.  Die  Mathematik  ist  mit  vier,  die  Physik  mit 


I  2  2  A     H.  E.  Timerding  :  Die  Verbreitung  mathemat.  Wissens  u.  mathemat.  Auflassung. 

zwei  Wochenstunden  bedacht.   Zum  Teil  wurde  auch  von  den  Lehrern,  die 
mit  Eifer  und  Begeisterung  an  das  neue  Fach  herangingen,  recht  viel  durch- 

Gegen        geuommcn  und  verlangt.  Es  treten  deswegen  schon  bald  Mahnungen  auf, 
A^ord^rungen  dcH  Mathematikunterricht  so    zu    gestalten,    daß    auch  die    mittelbegabten 

in  der  Schülcr  folgen  können.  So  wird  z.B.  für  die  Provinz  Brandenburg  182g  an- 
geordnet: „Wir  machen  es  (gegenüber  Versuchen,  über  das  Geforderte  hinaus- 
zugehen) zur  unerläßlichen  Pflicht,  daß  nicht  etwa  nur  der  eine  oder  andere 
Schüler,  sondern  mindestens  die  Mehrzahl  der  Scholaren  dem  Lehrer  weiter 
hinaus  zu  folgen  imstande  sei  und  daß  der  Lehrer  sich  in  der  Überzeugung 
erhalte,  daß  seine  Schüler  ihm  im  klarsten  Bewußtsein  des  Vorgetragenen 
gefolgt  sind."  Die  Forderung,  den  Unterricht  in  den  Grenzen  der  allgemeinen 
Verständlichkeit  zu  halten,  ist  gerade  bei  der  Mathematik  besonders  schwer- 
wiegend. Für  jeden  Lehrer  liegt  die  Versuchung  nur  zu  nahe,  sich  durch  den 
Lerneifer  einiger  begabter  Schüler  und  den  Wunsch,  möglichst  viel  von  seiner 
Wissenschaft  mitzuteilen,  fortreißen  zu  lassen.  Wenn  aber  so  die  Mehrzahl 
der  Schüler,  wie  es  häufig  geschehen  ist,  hilflos  zurückbleibt,  so  ist  der  Zweck 
des  Unterrichts  verfehlt.  Die  Anpassung  der  Mathematik  an  das  Fassungs- 
vermögen der  mathematisch  nicht  begabten  Schüler  bedeutet  ein  besonderes 
Problem.  Die  Äußerung  mancher  Lehrer,  daß  es  eine  eigentliche  mathema- 
tische Begabung  nicht  gebe,  sondern  jeder  Mensch  die  ganze  Mathematik  zu 
verstehen  imstande  sei,  ist  einigermaßen  skeptisch  aufzufassen.  Die  Schluß- 
weise und  Problemstellung  der  wissenschaftlichen  Mathematik  erfordert  ein 
Verständnis,  wie  es  der  Mehrzahl  der  Schüler  einer  allgemeinen  Schule  ge- 
wöhnlich nicht  gegeben  ist.  Der  Lehrer  verwechselt  nur  zu  leicht  die  durch 
die  Lösung  einer  Menge  von  Aufgaben  erreichte  mechanische  Übung  mit 
dem  wirklichen  Verständnis  der  mathematischen  Prozesse. 
Universalistische  Dlc  Stimmung  der  maßgebenden  Kreise  ist  in   der  ersten  Hälfte  des 

nlTßgebenden    ^  9-  Jahrhunderts  der  Mathematik  trotz  des  starken  Interesses  für  das  klassische 

Kreise.  Altertum  im  allgemeinen  günstig.  Die  als  Äußerung  Johannes  Schulzes  viel 
angeführten  Worte  „In  einer  Zeile  des  Cornelius  Nepos  steckt  mehr  Bildungs- 
wert als  in  der  gesamten  Mathematik"  stehen  nicht  in  Einklang  mit  der  Stellung, 
die  dieser  Mann  sonst  dem  Unterricht  der  höheren  Schulen  gegenüber  einge- 
nommenhat. Er  hat  mit  Entschiedenheit  immer  betont,  daß  gerade  die  vielseitige 
Ausbildung  des  Geistes,  die  durch  die  Aufnahme  der  verschiedenen  Lehrfächer 
erreicht  wird,  die  Gewähr  für  seine  Erhebung  über  die  platte  Alltäglichkeit 
liefert.  Es  ist  der  Gedanke,  den  schon  in  einem  Programm  von  1 8 1 5  A.  F.  Bern- 
hardi  unter  der  Überschrift  „Mathematik  und  Sprachen,  Gegensatz  und  Er- 
gänzung" ausgesprochen  hatte.  Gewiß,  sagt  er,  besteht  ein  Gegensatz  zwischen 
der  mathematisch -naturwissenschaftlichen  und  der  philologisch-historischen 
Auffassung.  Aber  gerade  dadurch,  daß  diese  beiden  Seiten  der  Geistestätigkeit 
im  Schulunterricht  gleichmäßig  berücksichtigt  werden,  werden  alle  Fähigkeiten 
des  Schülers  harmonisch  ausgebildet.  In  demselben  Sinne  heißt  es  in  dem  von 
Joh.  Schulze  herrührenden  Zirkularreskript  vom  24.  Oktober  1837:  „Die  Lehr- 
gegenstände in  den  Gymnasien,  namentlich  die  deutsche,  lateinische  und  grie- 


VII.  Der  mathemat.  Unterricht  in  Deutschland  während  des  19.  Jahrhunderts.     A  123 

chische  Sprache,  die  Religionslehre,  die  philosophische  Propädeutik,  die  Mathe- 
matik nebst  Physik  und  Naturbeschreibung,  die  Geschichte  und  Geographie, 
sowie  die  technischen  Fertigkeiten  des  Schreibens,  Zeichnens  und  Singens,  und 
zwar  in  der  ordnungsmäßigen,  dem  jugendlichen  Alter  angemessenen  Stufen- 
folge und  in  dem  Verhältnisse,  worin  sie  in  den  verschiedenen  Klassen  gelehrt 
werden,  machen  die  Grundlage  jeder  höheren  Bildung  aus  und  stehen  zu  dem 
Zweck  des  Gymnasiums  in  einem  ebenso  natürlichen  als  notwendigen  Zusammen- 
hange. Sie  sind  nicht  willkürlich  zusammengehäuft,  vielmehr  haben  sie  sich  im 
Laufe  von  Jahrhunderten  als  Glieder  eines  lebendigen  Organismus  entfaltet," 
Von  einer  engherzigen  Auffassung  der  vorgesetzten  Behörde  in  den  An- 
gelegenheiten der  höheren  Schulen  kann  also  keine  Rede  sein.  Der  Unterricht 
war  denn  auch  seit  der  Neugründung  der  Gymnasien  in  einer  rasch  aufstei- 
genden Entwicklung  begriffen,  was  um  so  leichter  möglich  war,  als  die  Scheu, 
den  Schülern  zuviel  Arbeit  zuzumuten,  damals  noch  nicht  so  ausgebildet  war 
wie  heute,  wenn  auch  die  Klagen  über  Überbürdung  schon  Ende  der  zwan- 
ziger Jahre  auftauchen.  Die  Entwicklung  bewegte  sich  aber  in  einer  bestimm- 
ten Richtung,  die  durch  den  Zeitgeist  mit  Notwendigkeit  gegeben  war.  Die  Abwendung  von 
Grimdstimmung  jener  Zeit  zeigt  sich  in  der  Abkehr  von  der  Wirklichkeit  und 
ihrer  unmittelbaren  Erfassung  in  Leben  und  Schaffen,  in  einer  mit  Absicht  ge- 
suchten Weltfremdheit,  die  sich  in  der  damaligen  Kunst  und  Literatur  deutlich 
ausprägt,  und  in  einer  Hinneigung  zur  abstrakten  Ideengestaltung,  für  welche 
die  Hegeische  Philosophie  den  zusammenfassenden  Ausdruck  findet.  Nicht 
die  Beherrschung  des  materiellen  Lebens,  sondern  seine  Unterdrückung  galt 
als  das  Zeichen  höherer  Geistesbildung.  Die  politischen  und  wirtschaftlichen 
Ideale  waren  zurückgetreten,  und  für  das,  was  man  in  der  Wirklichkeit  nicht 
fand,  suchte  man  Ersatz  im  Reiche  der  Gedanken.  Diese  Stimmung  fand  durch 
unsere  klassische  Dichtung  kräftige  Unterstützung;  besonders  Schiller  hat  ihr 
ja  fortwährend  Ausdruck  verliehen.  Überhaupt  ist  das  blutleere  Ideenleben 
wohl  durch  die  Zurückdrängung  der  politischen  Betätigung  und  die  schweren 
Hungerjahre  nach  den  Befreiungskriegen  genährt  worden,  aber  keineswegs 
durch  sie  entstanden.  Es  findet  sich  schon  am  Ausgang  des  18.  Jahrhunderts. 
An  die  Stelle  des  sorglosen  Genußlebens  und  der  frischen,  unbefangenen  Er- 
fassung der  Umwelt  tritt  ein  Versenken  in  mystische  Grübeleien,  ein  Zurück- 
weichen zu  dem  örtlich  und  zeitlich  Fernen,  das  begeisterte  Preisen  des  Grie- 
chentums, das  man  doch  nur  durch  die  Brille  einer  spekulativen  Vergeistigung 
ansah  und  für  dessen  sinnenfrohe  Unmittelbarkeit  das  innere  Verständnis  fehlte. 
Was  würden  die  alten  Griechen  selbst  wohl  zu  den  bleichwangigen  Schul- 
männern gesagt  haben,  die  ihr  Lob  begeistert  von  den  Kathedern  herab  ver- 
kündigten? Die  Gründung  aller  Bildung  auf  das  klassische  Altertum  wurde 
auch  von  den  Univensitäten,  welche  doch  die  Allgemeinheit  der  Wissenschaften 
vertreten  sollten,  offiziell  gutgeheißen.  So  verkünden  in  Berlin  Rektor  und 
Senat  18 18:  „Die  ganze  wissenschaftliche  Bildung  der  neueren  Zeit  ist  auf 
das  Studium  des  Altertums  gegründet,  von  welchem  sie  sich  nur  zu  ihrem 
Verderb  trennen  kann". 


1 24  A     H.  E.  Timerding:  Die  Verbreitung  mathemat.  Wissens  u.  mathemat.  Auffassung. 

Stimmen  für  die  Wie  frei  Und  Unvoreingenommen  klingen  dagegen  die  Worte,  die  der 

^Kes'sir''  Astronom  Bessel  1828  an  von  Schön  richtet:  >,Bildung  des  Geistes  kann 
(1784-1846).  durch  jedes  ernste  wissenschaftliche  Studium  erlangt  werden.  Die  Philo- 
logen, sofern  sie  es  wirklich  sind,  besitzen  sie,  allein  der  Grund  der  Be- 
hauptung, daß  sie  nur  durch  das  Studium  der  griechischen  und  lateinischen 
Sprache  gefunden  werden  könne,  ist  nicht  erwiesen;  die  Griechen  könnten 
in  den  Dingen,  welche  einer  Fortbildung  fähig  sind,  hundertmal  mehr  von 
uns  lernen,  als  wir  von  ihnen,  ich  meine  im  großen  Reich  der  Wahrheit,  der 
Mathematik,  und  dem  ebenso  großen  Reich  der  Beobachtung,  der  Natur. 
Die  Zeit  will  mehr  als  griechisch  und  lateinisch;  die  Schulmänner  sind  ihr 
nachzugeben  gezwungen  worden,  sie  haben  den  Sprachen  etwas  Mathematik 
zugesellt.  Ob  es  ihnen  damit  ernst  war,  oder  ob  es  nur  geschah,  daß  ein 
Schein  erzeugt,  die  lateinische  und  griechische  Sprache  aber  gerettet  würde, 
kann  man  beurteilen,  wenn  man  die  bessere  Rolle  der  Sprachen  mit  der 
wirklich  traurigen  der  Wissenschaft  (der  realistischen  Fächer)  vergleicht." 
Wenn  dies  Urteil  vielleicht  schon  etwas  hart  ist,  so  sind  die  folgenden  Worte 
nur  ein  subjektives  Bekenntnis  Bessels:  „Es  läßt  sich  in  der  Tat  beides  nicht 
vereinigen;  unsere  lateinischen  Schulen  können  nicht  wissenschaftliche  werden. 
Wird  dem  Lernenden  die  Natur  eröffnet  und  ihm  die  Mathematik  als  Führerin 
gegeben,  so  ist  nicht  abzusehen,  wo  er  unfreundlich  zurückgestoßen  werden 
könnte."  Ein  Studium  des  Lateinischen  will  aber  Bessel  noch  gelten  lassen, 
„weil  viel  Gutes  in  dieser  Sprache  geschrieben  ist  und  ferner  geschrieben 
werden  muß,  damit  es  überall  gelesen  werden  könne".  Man  kann  diese  Ansicht 
verstehen  aus  Bessels  eigenem  Entwicklungsgang,  der  selbst  auf  dem  Gymna- 
sium nur  bis  zu  den  mittleren  Klassen  vorgedrungen  ist  und  sich  die  ihm 
fehlenden  Kenntnisse  im  Lateinischen  später  bloß  des  praktischen  Zweckes 
wegen  angeeignet  hat. 
Herbart  Mit  Bessels  Ansichten  in  gewisser  Weise  verwandt  ist  die  Anschauung, 

177  -I  41  ■  ^^g  Herbart  vom  mathematischen  Unterricht  gehabt  hat.  Er  hat  in  drei  Punkten 
die  künftige  Entwicklung  vorausgeahnt,  einmal  in  der  Verbindung  des  mathe- 
matischen Unterrichts  mit  der  Physik,  sodann  in  der  Hervorkehrung  des 
Funktionsbegrififes  und  schließlich  in  der  Anknüpfung  der  mathematischen 
Belehrung  an  die  tägliche  Erfahrung  und  die  Werkarbeit  des  Schülers. 
„Figuren  aus  Holz  und  Pappe",  meint  er,  ,, Zeichnungen,  Stifte,  Stangen, 
biegsame  Drähte,  Fäden,  der  Gebrauch  des  Lineals,  des  Zirkels,  des  Winkel- 
messers, gezähltes  Geld,  alles  das  soll  die  Grundlage  der  beginnenden  mathe- 
matischen Unterweisung  bilden.  Daraus  sollen  geordnete  Beschäftigungen 
und  Übungen  entnommen  werden."  Herbart  betont,  daß  sinnliche  Vorstellun- 
gen in  gehöriger  Stärke  die  sicherste  Grundlage  für  einen  Unterricht  aus- 
machen müssen,  dessen  guter  Erfolg  abhängig  ist  von  der  Art,  wie  der  Zög- 
ling die  Vorstellungen  des  Räumlichen  innerlich  bildet.  Er  berührt  sich  damit 
nicht  nur  mit  der  Pestalozzischen  Schule,  sondern  auch  mit  Männern  wie 
Traugott  Müller.  Soviel  wie  möglich,  meint  er,  soll  sich  der  Schüler  jede 
mathematische  Kenntnis  erst  erarbeiten,  er  soll  erkennen,  was  und  wieviel 


Vll.  Der  mathemat.  Unterricht  in  Deutschland  während  des  19.  Jahrhunderts.    A  125 

man  durch  Mathematik  vermag.  In  der  Tat  ist  die  größte  Schwierigkeit  beim 
mathematischen  Unterricht  nicht  die,  die  Beweise  verständUch  zu  machen, 
sondern  den  Schülern  den  Sinn  und  die  Bedeutung  der  einzelnen  Sätze  klar- 
zulegen. Deswegen  befürwortet  Herbart  überall  den  Anschluß  an  die  Er- 
fahrung, damit  die  mathematischen  Studien  Eingang  in  den  Gedankenkreis 
der  Zöglinge  gewinnen.  „Auch  der  gründlichste  mathematische  Unterricht", 
sagt  er,  „zeigt  sich  unpädagogisch,  sobald  er  eine  abgesonderte  Vorstellungs- 
masse für  sich  allein  bildet,  indem  er  dann  entweder  auf  den  persönlichen 
Wert  des  Menschen  wenig  Einfluß  erlangt  oder  noch  öfter  dem  baldigen 
Vergessen  anheimfällt."  Schon  1802  hatte  Herbart  geäußert,  die  Mathematik 
müsse  soviel  wie  möglich  sprechen  und  tun  wie  die  übrigen  Fächer  und  von 
der  Künstlichkeit  des  Schulwissens  zur  Natur  zurückführen,  nicht  aber  neue 
Gezwungenheiten  und  steife  Manieren  mit  sich  bringen. 

Herbart  sagt,  es  sei  das  erste  Gesetz  des  Vortrages,  die  mathematische  Ein- 
bildungskraft nicht  zu  vernachlässigen,  sie  früh  an  vollständiges  und  rasches 
Durchlaufen  des  ganzen  Continuums,  das  unter  einem  allgemeinen  Begriff  ent- 
halten ist,  zu  gewöhnen.  Hieraus  folgt,  daß  man  schon  beim  ersten  Anfange 
die  Größen  so  viel  wie  möglich  als  fließend  betrachten  lehren  soll.  Dadurch 
wird  man  das  Bedürfnis  nach  der  gesamten  Mathematik  aufregen.  Mit  dieser 
Hineinziehung  der  veränderlichen  Größen  und  ihrer  gegenseitigen  Abhängig- 
keit, d.  h.  des  Funktionsbegriffes,  setzte  sich  Herbart  in  Widerspruch  mit  dem, 
was  lange  Zeit  als  eine  Grundbedingung  des  elementaren  Mathematikunter- 
richtes galt.  Er  hebt  aber  nicht  ohne  Grund  hervor,  daß  eine  rechte  Auffas- 
sung der  Logarithmen  und  der  trigonometrischen  Funktionen  ohne  ein  solches 
Eingehen  auf  die  Abhängigkeit  veränderlicher  Größen  voneinander  unmög- 
lich sei.  Diese  Abhängigkeit  zeigt  sich  auch  überall  in  der  Physik,  ja  viel- 
fach ist  die  Aufsuchung  des  funktionalen  Zusammenhanges  physikalischer 
Größen  als  die  eigentliche  Aufgabe  aller  physikalischen  Wissenschaft  hin- 
gestellt worden.  Herbart  befürwortet  deshalb  dringend  ein  Zusammengehen 
der  Physik  mit  der  Mathematik,  aber  nicht  so,  daß  die  Physik  in  die  Form 
der  mathematischen  Abstraktion  hineingepreßt  wird,  sondern  daß  umgekehrt 
die  mathematischen  Begriffe  sich  an  der  Betrachtung  der  Natur  bilden  und 
beleben.  Die  Bedeutung  der  Mathematik  werde  am  besten  klargelegt,  wenn 
man  zeigt,  wie  überall  in  der  Natur  die  Regellosigkeit  und  Unklarheit  ent- 
wich, wo  man  die  Erscheinungen  auf  Maß  und  Zahl  zurückführte. 

Gerade  diese  Ansicht  steht  aber  in  schroffem  Gegensatz  zu  der  herrschen-  Das  klassische 
den  Meinung  jener  Zeit.  Es  ist  eine  Zeit,  in  der  gegenüber  dem  aufgeklärten   ais^Gru^^ge 
I  S.Jahrhundert  die  energischsten  Versuche  gemacht  wurden,  im  Verein  mit  den  christlicher 
Staats  erhalten  den  Tendenzen  auch  die  positive  Religion  neu  zu  stärken.  Die 
geistigen  Anschauungen  der  Reaktionszeit  fanden  deshalb  in  der  klassischen 
Bildung,  so  eifrig  sie  sie  aufnahmen,  doch  einen  Anstoß,  der  erst  überwunden 
werden  mußte.  Die  Griechen  und  Römer  waren  Heiden ;  wie  können  sie  die 
Grundlage  für  eine  christliche  Erziehung  bilden?  Aus  dieser  Schwierigkeit  half 
man  sich  durch  einen  eigentümlichen  Gedankengang  heraus.  Das  klassische 


I  26  A     H.  E.  Timerding:  Die  Verbreitung  mathemat.  Wissens  u.  mathemat.  Auffassung. 

Altertum  sollte  aufgefaßt  werden  als  ein  unbewußtes  Drängen  und  Sehnen  nach 
dem  Christentum.  Der  ganze  Unterricht  sollte  sich  so  auf  den  christlichen  Glau- 
ben hinwenden,  in  ihm  seine  feste  Stütze  und  in  der  Erziehung-  einer  durch  edle 
Geistesbildung  geklärten  Frömmigkeit  wie  die  Gymnasien  der  alten  Huma- 
nisten sein  Endziel  finden.  Die  erste  Forderung,  die  man  an  die  anzustellenden 
Lehrer  richtete,  war  Festigkeit  im  Glauben.  Um  einen  Unterrichtsgegenstand 
zu  diskreditieren,  genügte  es,  ihn  als  einen  Feind  des  Christentums  hinzustellen. 
Widerstreit  Daher  der  Widerstreit  gegen  allen  Utilitarismus.  „Welchen  ärgeren  Feind  hat 
utiiltTrismus.  die  christüche  Bildung  als  die  ausschließliche  Richtung  der  Geister  auf  das 
Handgreifliche,  auf  den  Bedarf  des  sinnlichen  Lebens,  der  vom  Materialismus 
ausgeht  und  im  Materialismus  endet?"  ruft  z.  B.  Landfermann  wehklagend  aus. 
Ähnlich  sagtThiersch  in  dem  Bericht  Über  den  gegenwärtigen  Stand  des  öffent- 
lichen Unterrichts  in  den  westlichen  Staaten  (183 8):  „Nicht  zu  verkennen  ist, 
daß  infolge  der  Stärke  und  Unwiderstehlichkeit,  mit  welcher  das  Gegenwär- 
tige, Greifbare,  Meß-  und  Zählbare  und  die  daran  geknüpften  Herrlichkeiten 
die  Gemüter  einnehmen,  diese  sich  von  den  idealen  Gütern  abgewendet  haben. 
Daher  die  steigende  Gleichgültigkeit  gegen  die  Lehren  und  Ansichten  der 
positiven  Religion,  welche  schon  die  Wurzel  derselben  bedroht  und  in  nicht 
wenigen  Gemütern  in  Widerwillen  und  Haß  übergegangen  ist." 
Die  Mathematik  So  begegnete  der  mathematische  Unterricht  einem  eigentümlichen  Wider- 

vatefwTfetrd-  Stand.  Er  galt  als  gottlos  und  revolutionär,  und  wegen  der  Wertschätzung, 
lieh  verschrien,  ^j^g  gj-  [^  Frankreich  genoß,  auch  als  vaterlandsfeindlich.  Den  Mathematikern 
wurde  ein  der  christlichen  Demut  widerstreitender  Wissenshochmut  vorge- 
worfen. So  berichtet  z.  B.  Günther  (Die  Realschulen  und  der  Materialismus, 
Halle  1839):  „Den  Mathematikern  ist  in  neuerer  Zeit,  jedoch  nicht  härter  als 
in  älterer,  Stolz  undHochmut  vorgeworfen  worden.  Der  Stolz  der  Mathematik 
ist  aber  teils  ein  theoretischer^  teils  ein  praktischer.  Der  praktische  Stolz 
gründet  sich  auf  die  Brauchbarkeit  zunächst  der  Mathematik  und  dann  der 
Mathematiker.  Wie  brauchbar  aber  die  Mathematiker  gewesen  sein  sollen, 
mag  man  aus  dem  Anteil  sehen,  den  ihnen  Herr  von  Halle  an  der  Revolution 
zuschreibt:  «Über  den  Mißbrauch  und  die  absurde  Anwendung  der  Mathe- 
matik auf  Gegenstände,  worüber  sie  nichts  zu  entscheiden  hat,  ließe  sich  ein 
unterhaltendes  und  lehrreiches  Büchlein  schreiben.  Die  ganze  Revolution 
würde  die  Materialien  dazu  liefern;  man  sieht  überall,  daß  sie  von  Mathe- 
matikern ausgebrütet  worden  ist,  die  nur  Zahlen  und  Größen  im  Kopfe  haben, 
aber  sich  wenig  um  die  Gerechtigkeit  kümmern»  (Restauration  der  Staats- 
wissenschaften, Bd.  V,  S.  263)." 

Gegenüber  der  allgemeinen  Geistesrichtung  der  Zeit,  die  in  der  Beschäf- 
tigung mit  der  lateinischen  und  griechischen  Sprache  das  Wesen  der  höheren 
Bildung  sieht,  erheben  sich  nur  vereinzelt  Stimmen,  die  eine  abweichende 
Ansicht  äußern.  Wir  müssen  noch  betonen,  daß  keineswegs  fortgesetzt  in 
dem  Sinne  eines  Goethe  oder  Herder  die  alten  Sprachen  gelehrt  wurden. 
Das  Interesse  an  dem  Inhalte  der  Dichtungen  trat  bei  der  sich  immer  mehr 
steigernden  Sucht  nach  formalem  Drill  zurück  gegen  die  Pflege  der  Sprache, 


VII.  Der  mathemat.  Unterricht  in  Deutschland  während  des  19.  Jahrhunderts.    A  127 

insbesondere  der  Grammatik,  Die  Verfechter  des  Formalismus  bezeichnen 
die  Vernachlässigung  der  Grammatik  als  unmoralisch  und  ruchlos.  Der  alte 
Schulspruch  gelangt  wieder  zu  Ehren:  Catechismus  facit  miracula  in  ecclesia, 
grammatica  in  schola,  und  die  Vergleichung  von  Katechismus  und  Grammatik 
ist  nicht  eine  zufällige. 

Die  formalistische  Richtung  des  Schulwesens  ist  an  sich  der  Mathema-    Abnehmende 
tik  keineswegs  ungünstig,  im  Gegenteil  steckt  in  dem  Schematismus  der  der  Mathematik 
mathematischen  Entwicklung  eine  gewisse  Verwandtschaft  mit  dem  Geist  ""'biid^e^ten^" 
der  Grammatik.    Aber  im  Publikum  erwächst  mit  dem  Beginn  des  iq.  Jahr- 
hunderts aus  der  vorwiegenden  Beschäftigung  mit  der  Literatur  ein  Wider- 
stand  gegen  die  Nüchternheit  und  Mühseligkeit   der  mathematischen  Ab- 
leitung. Die  Gefühlsbildung,  die  in  der  vorwiegenden  Pflege  der  Kunst  liegt, 
ist  der  reinen  Verstandeskultur  der  exakten  Wissenschaften  feindlich  und  fühlt 
sich  in  schroffem  Gegensatz  zu  ihr. 

Es  ist  bekannt,  wie  bei  Goethe  dieses  Widerstreben  durchbricht,  wie 
er  in  seiner  Farbenlehre  mit  großer  Heftigkeit  gegen  diese  die  Unmittelbar- 
keit der  sinnlichen  Wahrnehmung  zersetzende  Forschung  zu  Felde  zieht. 
Hatte  das  18.  Jahrhundert  die  Unvoreingenommenheit  und  Klarheit  des 
mathematischen  Denkens  allgemein  anerkannt  und  bewundert,  so  wird 
unter  der  Herrschaft  der  literarisch  ästhetischen  Neigungen  im  1  g.  Jahrhun- 
dert die  Mathematik  von  dem  großen  Publikum  als  eine  kahle  und  unfrucht- 
bare Region  des  menschlichen  Wissens  angesehen. 

Die  formalistische  Richtung  des  Schulunterrichtes  ist  zu  begreifen  aus 
dem  Geist  der  Zeit  heraus.  Es  ist  nicht  bloß  die  Zeit  des  Rückwärtsschauens 
in  vergangene  Epochen,  es  ist  auch  die  Zeit  der  höchsten  Verehrung  für  das 
theoretische  Wissen,  das  frei  ist  von  aller  praktischen  Beziehung.  Und  doch  Aufschwung 
bringt  das  19.  Jahrhundert  eben  der  Mathematik  eine  so  gewaltige  Ent wick- lichen'liathema- 
lung,  wie  sie  vorher  nur  geahnt  werden  konnte.  Es  ist  zunächst  Frankreich, *^^*''^'"*"^'^*''=''- 
das  die  Führung  übernimmt  und  auf  dem  in  der  Revolutionszeit  gelegten 
Grunde  weiterbaut.  Neben  den  großen  Mathematikern  der  früheren  Epoche 
Lagrange,  Laplace,  Legendre  u.  a.  erhebt  sich  besonders  die  mathematische 
Physik;  Fresnel  bewältigt  die  Erscheinungen  des  Lichts  zum  erstenmal  voll- 
ständig durch  die  Kraft  der  mathematischen  Analyse,  Ampere  in  ähnlicher 
Weise  die  elektrischen  und  magnetischen  Vorgänge,  die  molekulare  Struk- 
tur der  Materie  und  die  darauf  gegründeten  Eigenschaften  der  Festigkeit, 
Elastizität,  Kohäsion  und  Adhäsion  werden  durch  Männer  wie  Cauchy,  Poisson, 
Navier,  de  St  Venant  analysiert,  Poncelet  und  Coriolis  begründen  die  tech- 
nische Mechanik,  die  Geometrie  schreitet  unter  den  Händen  eines  Carnot, 
Monge,  Poncelet,  Gergonne,  Brianchon,  Dandelin,  Bobillier,  Dupin,  Hachette, 
Chasles  rasch  und  gewaltig  fort  und  Cauchy  stellt  die  Analysis  auf  eine  neue 
Grundlage.  In  dem  Mittelpunkt  der  Forschungsarbeit  aber  steht  der  Lehr- 
betrieb der  polytechnischen  Schule.  Eine  Reihe  der  wichtigsten  Werke  sind 
aus  Vorlesungen,  die  an  ihr  gehalten  sind,  hervorgegangen,  das  Journal  de  l'ecole 
polytechnique  enthält  die  schönsten  und  wichtigsten  mathematischen  Arbeiten. 


1  28  A    H.  E.  Timerding:  Die  Verbreitung  mathemat.  Wissens  u.  mathemat.  Auffassung. 

Aufkommende  Es  ist  das  großc  Verdienst  des  preußischen  Oberbaurats  A.  L.  Grelle,  diese 

sens^c^h/ftuchln  niachtvolle  Entwicklung  richtig  erkannt  und  für  die  deutschen  Verhältnisse 

Mathematik     nutzbar  gemacht  zu  haben.    Grelle  gründete  1827  nach  französischem  Muster 

in  Deutschland : 

A.L.  Grelle,  „uutcr  tätiger  Förderung  königlich  preußischer  Behörden"  sein  Journal  für  die 
reine  und  angewandte  Mathematik  und  gab  damit  der  mathematischen  For- 
schung in  Deutschland  eine  feste  Grundlage,  er  redete  auch  einer  Ausbreitung 
der  wissenschaftlichen  Mathematik  im  Unterricht  unermüdlich  das  Wort.  Für 
diese  Bestrebungen  war  es  ein  großes  Glück,  daß  um  dieselbe  Zeit  Alexander 
von  Humboldt  von  Paris  nach  Berlin  übersiedelte  und,  selbst  ganz  und  gar 
mit  den  französischen  Ideen  erfüllt,  mit  seinem  großen  Einfluß  die  Bemühungen 
Grelles  unterstützte.  Die  Lehrstühle  der  Universitäten  wurden  um  diese  Zeit 
mit  wirklich  wissenschaftlichen,  oft  blutjungen  Persönlichkeiten  besetzt.  So 
kam  Jacobi  nach  Königsberg,  Dirichlet  von  Breslau  zurück  nach  Berlin, 
Plücker  nach  Bonn,  Steiner  erhielt  in  Berlin  wenigstens  ein  Extraordinariat,  die 
Berufung  des  großen  Norwegers  Abel  scheiterte  an  seinem  vorzeitigen  Hin- 
scheiden. Derart  begann  ein  anderer  Geist  im  mathematischen  Lehrbetrieb  der 
Universitäten  einzuziehen,  und  es  fingen  in  dieser  Zeit  denn  auch  die  mathe- 
matischen Vorlesungen  an,  auf  die  mathematische  Forschungsarbeit  überzu- 
greifen, es  begannen  die  Dozenten  ihre  eigenen  Untersuchungen  vorzutragen. 

G.  G.  j,  Jacobi.  Vor  allen  anderen  war  es  Jacobi,  der  diesen  veränderten  Lehrbetrieb  einführte. 
Während  er  nach  seiner  Berufung  an  die  Königsberger  Universität  1826  zuerst 
mit  recht  elementaren  Vorlesungen  begann,  wagte  er  es  183 1,  seine  Unter- 
suchungen über  die  elliptischen  Transzendenten  in  einer  achtstündigen  Sommer- 
vorlesung vorzutragen.  Wie  er  von  da  ab  seine  mathematischen  Vorlesungen  ge- 
handhabt hat,  geht  am  besten  aus  den  Worten  seines  Kollegen  Dirichlet  hervor, 
der  selbst  in  Jacobis  Sinne  gewirkt  hat:  „Es  war  nicht  seine  Sache,  Fertiges  und 
Überliefertes  von  neuem  zu  überliefern;  seine  Vorlesungen  bewegten  sich  sämt- 
lich außerhalb  des  Gebietes  der  Lehrbücher  und  umfaßten  nur  diejenigen  Teile 
der  Wissenschaft,  in  denen  er  selbst  schaffend  aufgetreten  war,  und  das  hieß  bei 
ihm,  sie  boten  die  reichste  Fülle  der  Abwechslung.  Seine  Vorträge  zeichne- 
ten sich  nicht  durch  diejenige  Deutlichkeit  aus,  welche  auch  der  geistigen 
Armut  oft  zuteil  wird,  sondern  durch  eine  Klarheit  höherer  Art.  Er  suchte 
vor  allem  die  leitenden  Gedanken,  welche  jeder  Theorie  zugrunde  liegen,  dar- 
zustellen, und  indem  er  alles,  was  den  Schein  der  Künstlichkeit  an  sich  trug, 
entfernte,  entwickelte  sich. die  Lösung  der  Probleme  so  naturgemäß  vor  seinen 
Zuhörern,  daß  diese  ähnliches  zu  schaffen  können  die  Hoffnung  haben  durften. 
Wie  er  die  schwierigsten  Gegenstände  zu  behandeln  wußte,  konnte  er  seine 
Zuhörer  mit  Recht  durch  die  Versicherung  ermutigen,  daß  sie  in  seinen  Vor- 
lesungen sich  nur  ganz  einfache  Gedanken  anzueignen  haben  würden".  Jacobi 
hat  den  wissenschaftlichen  Idealismus,  der  sein  Wirken  als  Universitätslehrer 
erfüllt,  selbst  dahin  ausgesprochen,  daß  die  Entdeckung  einer  mathematischen 
Wahrheit  denselben  Wert  besitze  wie  eine  große  technische  Erfindung,  daß 
der  Grad  der  Nützlichkeit  keinen  Maßstab  liefere  für  den  Wert  einer  geistigen 
Leistung.   Er  tadelt    es   an   den  französischen  Mathematikern,   daß  sie  ihre 


VII.  Der  mathemat.  Unterricht  in  Deutschland  während  des   19.  Jahrhunderts.     A  l  2Q 

Forschungen  an  den  physikalischen  Problemen  orientierten.  Seine  Anschau- 
ungen erfuhren  eine  gewisse  Wandlung  durch  eine  Reise  nach  Paris,  die 
mit  dem  Projekt  der  Einrichtung  einer  polytechnischen  Schule  in  Preußen 
zusammenhängt.  Von  da  ab  redet  er  auch  der  Bedeutung  der  Mathematik  für 
die  praktische  Ausbildung  eifrig  das  Wort:  „Außerdem  daß  das  vertraute  Um- 
gehen mit  Zirkel  und  Lineal  und  die  sorgfältige  Ausführung  der  geo- 
metrischen Konstruktionen  den  Sinn  und  das  Interesse  für  strenge  Richtigkeit 
weckt  und  schärft  und  dadurch  zu  jeder  besonderen  Kunst  tüchtiger  macht, 
kann  eine  so  vielen  Künsten  und  Gewerken  gemeinschaftliche  Grundlage  da- 
zu beitragen,  die  gegenseitige  Entfremdung  der  verschiedenen  Handwerke, 
die  doch  zu  demselben  Ganzen  zusammenzuwirken  haben,  in  etwas  zu  ver- 
ringern" (Vorrede  zu  Busch,  Vorschule  der  darstellenden  Geometrie,  1846). 
Seine  Stellung  dem  mathematischen  Schulunterricht  gegenüber  geht  klar  aus 
den  Worten  hervor:  „Die  Strenge  der  geometrischen  Beweise  ist  eine  Erfindung 
der  Griechen,  welche  dem  menschlichen  Verstände  nur  zur  höchsten  Ehre  ge- 
reicht. Aber  sie  ist  nur  dem  reiferen  Knaben-  und  angehenden  Jünglingsalter 
eine  passende  Nahrung,  und  dann  nebst  der  Grammatik  eine  wahre  Zucht  des 
Verstandes.  Dem  Knaben,  dem  diese  Welt  der  geometrischen  Formen  noch 
eine  gänzlich  fremde  ist,  mit  den  ersten  Vorstellungen,  die  man  ihm  davon 
überliefert,  zugleich  schon  zuzumuten,  sich  darin  in  der  Weise  folgerichtigen 
Denkens  nach  systematischem  Fortschritt  zu  bewegen,  scheint  keine  gute 
Pädagogik."  Für  die  geometrische  Propädeutik  empfiehlt  Jacobi  dann  die 
Entwicklung  der  Anschauung,  das  Gewöhnen  an  das  Erfassen  der  geo- 
metrischen Formen  und  Proportionen,  wie  es  Pestalozzi  erstrebte,  aber  „aus 
Mangel  an  geometrischen  Kenntnissen  nicht  durchführen  konnte,  so  daß  seine 
Methode  in  mechanischen  Übungen  nach  einem  leeren  Schematismus  ver- 
flatterte ".  Hier  hat  auf  Jacobi  offenbar  der  Umgang  mit  Jacob  Steiner  einge- 
wirkt, der,  ein  Schweizer  Bauernsohn  und  bei  Pestalozzi  gebildet,  gerade  in 
der  Entwicklung  der  geometrischen  Phantasie  seine  Stärke  hatte  und  in  ihr 
die  Hauptaufgabe  des  geometrischen  Unterrichts  erblickte. 

Wie  sehr  Steiners  Anschauungen  auf  Jacobi  eingewirkt  haben,  dessen 
Begabung  ursprünglich  ganz  in  dem  arithmetischen  Sinn  seines  Stammes  be- 
gründet lag,  geht  aus  den  Worten  hervor,  die  er  1833  zur  Empfehlung  Stei- 
ners dem  preußischen  Ministerium  gegenüber  äußerte:  „Ich  bin  immer  der 
Meinung  gewesen,  daß,  wenn  diesem  seltenen  Talente  seine  rechte  Stelle  als 
ordentlicher  Professor  an  der  Berliner  Universität  angewiesen  würde,  von  ihm 
aus  eine  Umgestaltung  des  mathematischen  Wesens  auf  unseren  Gymnasien 
ausgehen  müßte,  das  jetzt  geeigneter  ist,  den  Geist  zu  töten  als  den  Verstand 
zu  bilden  und  den  Schülern  mehr  Abneigung  als  Liebe  zu  der  Sache  erweckt." 

Wenn  Jacobi  hier  auf  die  Ausbildung  der  Lehrer  noch  besonders  Rücksicht 

,  .  .  HervorkehrunR 

nimmt,  so  ist  später  diese  Rücksichtnahme  aus  dem  mathematischen  Universi-  de«  rein  wissen- 
tätsstudium  immer  mehr  verschwunden,  und  es  ist  nicht  zu  leugnen,  daß  Jacobi,  prinrips^ln^der 
indem  er  die  Einführung  des  Studierenden  in  die  wissenschaftliche  Forschung-s-       ^f^.?"^' 

'-'  '-'  ausbildung. 

arbeit  zum  Ziel  seiner  Lehrtätigkeit  machte  und  so  auch  in  Königsberg  1834 

K .  d.  G.  III,  I .  Mathematik,  A.  n 


I30  A     H.  E.  Timerding:  Die  Verbreitung  malhemat.  Wissens  u.  mathemat.  Auffassung. 

mit  Franz  Neumann  zusammen  das  erste  mathematische  Seminar  gründete, 
selbst  viel  dazu  beigetragen  hat,  den  unmittelbaren  praktischen  Zweck  des 
Studiums  zurückzuschieben.  Diese  Verleugnung  der  praktischen  Absicht  ist 
bei  der  Gründung  des  Berliner  mathematischen  Seminars  durch  Kummer  und 
Weierstraß  unumwunden  ausgesprochen  worden.  Das  Institut  sollte  ausschließ- 
lich die  Förderung  der  mathematischen  Bildung  unter  den  Studierenden  zum 
Zweck  haben,  damit  künftig  durch  sie  die  mathematischen  Studien  erhalten, 
fortgepflanzt  und  gefördert  werden  möchten.  Auf  die  praktische  Ausbildung 
der  zukünftigen  Lehrer  der  Mathematik  könnte  es  nur  insofern  von  günstigem 
Einfluß  sein,  als  es  dazu  beitragen  würde,  die  Gründlichkeit  und  Klarheit  der 
mathematischen  Kenntnisse  künftiger  Lehrer  zu  fördern.  Diese  rein  wissen- 
schaftliche Auffassung  der  Lehrerausbildung  findet  ihre  amtliche  Anerken- 
nung in  der  preußischen  Prüfungsordnung  von  1866  mit  ihren  berühmten,  von 
Richelot,  einem  Schüler  Jacobis,  herrührenden  Worten:  „Für  den  mathe- 
matischen Unterricht  in  den  oberen  Klassen  sind  nur  die  Kandidaten  für 
befähigt  zu  erachten,  die  sich  in  der  Prüfung  als  ausgebildete  Mathematiker 
zeigen  und  in  die  höhere  Geometrie,  die  höhere  Analysis  und  die  analytische 
Mechanik  so  weit  eingedrungen  sind,  daß  sie  auf  diesen  Gebieten  eigene 
Untersuchungen  mit  Erfolg  anstellen  können." 

Gegen  eine  solche  wissenschaftliche  Ausbildung  ist  gewiß  an  sich  nichts 
einzuwenden  und  das  Niveau  unserer  höheren  Schulen  würde  herabgedrückt 
werden,  wenn  nicht  versucht  würde,  die  Lehrer  zu  wissenschaftlichen  Persön- 
lichkeiten zu  erziehen,  aber  dadurch  wird  die  völlige  Vernachlässigung  des 
späteren  Berufes  bei  der  Ausbildung  auf  der  Universität  nicht  gerechtfertigt. 
Die  Rück  Wirkung  der  wissenschaftlichen  Forschung  auf  die  elementaren  Gegen- 
stände des  Schulunterrichts  ist  doch  nicht  so  unmittelbar,  daß  sie  sich  in  dem 
Kopfe  jedes  Lehrers  sicher  und  klar  vollziehen  könnte.  In  diesem  Sinne  sagt 
schon  L.Wiese  in  seinen  Lebenserinnerungen  und  Amtserfahrungen:  „Es  ist 
sehr  zu  bedauern,  daß  die  Richtung  der  Mathematik  auf  den  Universitäten 
den  Anschluß  an  dasjenige,  was  Aufgabe  der  Schule  ist,  immer  mehr  aufgibt. 
Zwischen  der  Universitätswissenschaft  und  der  Schule  liegt  jetzt  überhaupt  eine 
Kluft,  die  zuerst  dem  seine  Studien  beginnenden  Jüngling  viel  Not  macht  und 
die  zu  überbrücken  nachher  mancher  von  der  Universität  kommende  Schul- 
amtskandidat  in  seinen  ersten  Lehrjahren  nicht  lernt."  Diese  Gesichtspunkte 
machten  sich  denn  auch  der  Schulverwaltung  selbst  sehr  bald  bemerkbar,  und 
wenngleich  die  früheren  Verordnungen  nicht  widerrufen  wurden,  so  wurde 
doch  der  Versuch  gemacht,  ihnen  die  Spitze,  die  sie  gegen  den  praktischen 
Schulbetrieb  richteten,  abzubrechen.  So  heißt  es  in  den  Bemerkungen  zu  der 
Prüfungsordnung  von  1886:  „Die  Ausbreitung  mathematischer  Kenntnisse  und 
mathematischen  Denkens  hat  an  unseren  höheren  Schulen  durch  Besserung  des 
Unterrichtsverfahrens  unverkennbar  gewonnen;  aber  noch  wird  eine  völlige 
Fremdheit  auf  dem  mathematischen  Gebiete  nicht  mit  ähnlichem  Selbstvor- 
wurfe betrachtet  wie  auf  dem  sprachlichen  oder  historischen  Gebiete.  Alles, 
was  zur  Besserung  des  Unterrichtes  in  der  Elementarmathematik  geschieht, 


VII.  Der  mathemat.  Unterricht  in  Deutschland  während  des  19.  Jahrhunderts.     A  131 

dient  unmittelbar  der  Anerkennung  der  Mathematik  als  eines  unerläßlichen 
Gliedes  der  allgemeinen  Bildung;  es  wird  daher  nicht  überflüssig  scheinen,  zu 
erwägen,  ob  und  wie  weit  die  Universität  als  die  Bildnerin  der  zukünftigen 
Lehrer  zur  Erreichung  dieses  Zweckes  beizutragen  vermag."  Deshalb  wird  ein 
Eingehen  auf  die  Elementarmathematik  an  der  Universität  dringend  empfohlen. 
Es  hängt  auch  in  der  Tat  an  den  elementaren  Gegenständen  eine  Fülle  von 
theoretischem  Wissen,  zu  dessen  Mitteilung  die  Universität  der  geeignete  Ort 
wäre,  statt  daß  der  Studierende  oder  der  an  der  Schule  eintretende  Kandidat 
es  sich  selbst  aus  Büchern,  unvollständig  und  vielfach  kritiklos,  zusammen- 
holen muß.  Die  Fähigkeit  und  die  Zeit  zu  wissenschaftlichen  Arbeiten  bleibt 
den  wenigsten  Lehrern  erhalten,  dagegen  müßte  die  Veredlung  und  Ausge- 
staltung ihres  Unterrichtsstoffes  ihre  eigentliche  Aufgabe  sein.  Meistens  aber 
gehen  sie  in  den  äußeren  Aufgaben  des  Unterrichtens  unter  und  blicken  nach 
der  wissenschaftlichen  Forschungsarbeit  dann  vielfach  zurück  wie  nach  einem 
verlorenen  Paradies,  dessen  Erinnerung  sie  nur  unlustig  zu  ihrer  Lehrarbeit, 
imzufrieden  und  verbittert  macht. 

In  schroffem  Gegensatz  zu  der  Geistesrichtung,  deren  Streben  es  ist,  Entwicklung 
möglichst  weit  von  der  Wirklichkeit  weg  in  die  lichten  Höhen  der  reinen  ^'  *  ^'^  *°" 
Wissenschaft  aufzusteigen,  stehen  alle  die  Bestrebungen,  die  eine  Erziehung 
für  die  Wirklichkeit  und  durch  die  Wirklichkeit  bezwecken,  die  ganze  rea- 
listische Seite  des  Unterrichtswesens.  Die  Realschulen,  deren  Entstehung  auf 
die  Mitte  des  1 8.  Jahrhunderts  zurückgeht,  haben  unter  der  einseitigen  Hoch- 
schätzung der  klassischen  Bildung  schwer  zu  leiden  gehabt.  So  sehr  praktische 
Bedürfnisse  auf  ihre  Entwicklung  hindrängten,  so  wenig  konnten  sie  sich  eine 
offizielle  Geltung  verschaffen,  sie  wurden  in  ihrer  Rücksichtnahme  auf  die 
Forderungen  der  Wirklichkeit  nicht  bloß  für  untergeordnet,  sondern  auch  für 
gottlos  und  verderbt  erachtet.  Der  erste  vielleicht,  der  den  Gedanken  einer 
dem  humanistischen  Gymnasium  gleichwertigen  realistischen  Bildungsstätte 
verfocht,  war  C.  G.  Fischer  mit  seiner  Schrift  über  die  zweckmäßige  Ein- 
richtung der  Lehranstalten  für  die  gebildeten  Stände  (1806).  Dagegen  stand 
das  preußische  Ministerium  auf  dem  Standpunkt,  daß  die  Gymnasialbildung 
nicht  bloß  für  die  gelehrten,  sondern  auch  für  die  besseren  praktischen  Berufe 
die  geeignetste  Vorbereitung  sei.  Erst  185g  wurden  die  Realanstalten  mit 
Latein  als  Realschulen  erster  Ordnung  den  Gymnasien  koordiniert  und  erst 
1870  erhielten  die  Abiturienten  der  Realgymnasien  das  Recht  zum  Studium 
von  Mathematik,  Naturwissenschaften  und  neuen  Sprachen.  Dabei  blieb  es 
lange  Zeit,  auch  als  1882  die  drei  Schulgattungen  Gymnasium,  Realgym- 
nasium (ohne  Griechisch)  und  Oberrealschule  (ohne  Griechisch  und  Latein) 
in  ihren  Abgangsprüfungen  als  gleichwertig  anerkannt  wurden.  Erst  die  Schul- 
konferenz von  1900  und  der  auf  sie  folgende  Allerhöchste  Erlaß  vom  26.  No- 
vember I  Qoo  brachte  ihre  wirkliche  Gleichstellung  und  gab  ihnen  die  Möglich- 
keit, sich  jede  ihrer  Besonderheit  gemäß|zu  entwickeln.^ 

Der  Bildung  der  höheren  Stände  steht  die  Erziehung  des  Volkes,  der        Die 
höheren  Schule  die  Volksschule  gegenüber.  Die  gelehrten  Schulen  sollen  den    °  ""'*  "°^ 

9' 


1 3  2  A     H.  E.  TiAlERDiNG :  Die  Verbreitung  mathemat.  Wissens  u.  mathemat.  Auffassung. 

Jüngling  auf  eine  wesentlich  geistige  Tätigkeit  vorbereiten,  die  Elementar- 
schulen sollen  dem  künftigen  Arbeiter  und  Handwerksmann  die  für  sein  Leben 
und  seinen  Beruf  nötigen  allgemeinen  Kenntnisse  mitteilen.  An  den  höheren 
Schulen  kann  der  Idealismus  einer  reinen  Begeisterung  für  das  Schöne  und 
Wahre  herrschen,  an  den  niederen  Schulen  waltet  die  Aufgabe  vor,  dem 
Schüler  das  mitzuteilen,  was  er  braucht,  um  sich  später  durchhelfen  zu  können. 
In  den  höheren  Schulen  wollte  man  wenigstens  in  früherer  Zeit  eine  Auslese 
der  Intelligenz  heranziehen,  in  der  Volksschule  soll  jedes  Kind  einen  Platz 
finden.  In  den  höheren  Schulen  sitzt  die  Jugendderbesser  situiertenKreise,  in  den 
Volksschulen  sollen  die  verwahrlosten,  schlecht  genährten,  von  Bildern  des 
Elends  und  der  Roheit  umgebenen  Kinder  des  Proletariers  einen  Hauch  von 
höherer  Menschlichkeit  verspüren. 

Den  höheren  Schulen  hat  immer  das  Interesse  der  Gebildeten  gehört, 
die  Volksschulen  haben  sich  erst  im  1 8.  Jahrhundert  mühsam  emporgerungen. 
In  den  Städten  bestanden  sie  schon  länger,  aber  sie  auf  dem  Lande  durch- 
zuführen, gelang  erst  mit  vieler  Mühe  den  vereinten  Bemühungen  des  Staates 
und  edler  Menschenfreunde,  wie  des  Freiherrn  von  Rochow.  Doch  blieb  der 
Unterricht  in  den  meisten  Fällen  mehr  als  dürftig,  bestimmte  Ansprüche  an 
die  Vorbildung  der  Lehrer  konnten  nicht  gestellt  werden  und  ihre  Existenz 
war  eine  kümmerliche.  So  nützte  es  wenig,  was  über  die  Erziehung  des 
Volkes  gesagt  und  geschrieben  wurde,  und  der  Gedanke  der  Elementar- 
bildung, den  Basedow  1774  entwickelt  hatte,  kam  mehr  den  besseren  Stän- 
den als  den  unteren  Schichten  des  Volkes  zugute.  Wer  heute  von  Volks- 
erziehung spricht,  dem  drängt  sich  zunächst  der  Name  Pestalozzi  auf  die  Zunge. 
Seine  Persönlichkeit,  das  Feuer  seiner  hinreißenden  Beredsamkeit  hat  auf  die 
U746-1827).  Elementarbildung  unserer  Zeit  den  größten  Einfluß  ausgeübt.  Die  Grundidee 
in  Pestalozzis  Erziehungslehre  ist  aber  mathematisch,  mathematisch  freilich 
nicht  in  dem  Sinne  einer  gelehrten  Disziplin,  sondern  im  Sinne  einer  be- 
stimmten Auffassung  der  Wirklichkeit.  Das  Wesen  dieser  Auffassung  ist 
durch  das  von  Pestalozzi  in  seiner  pädagogischen  Bedeutung  geprägte  Wort 
„Anschauung"  gekennzeichnet.  Das  Wort  Anschauung  bedeutet  eine  Lieblings- 
idee des  Aufklärungszeitalters,  welches  die  unmittelbare  Erfassung  der  Um- 
welt durch  die  Sinne  zur  Grundlage  seiner  ganzen  Auffassungsweise  machte. 
In  diesem  Sinne  spielt  die  Anschauung  in  der  Basedowschen  Schule  eine 
Hauptrolle.  Auch  Goethe  hat  einmal  gesagt: 

„Anschaun,  wenn  es  dir  gelingt, 
Daß  es  erst  ins  Inn're  dringt, 
Dann  nach  außen  wiederkehrt. 
Bist  am  herrhchsten  belehrt." 

In  ähnlichem  Sinne  äußert  Schiller:  „Wenn  man  überlegt,  wie  viele  Wahr- 
heiten als  innere  Anschauungen  längst  schon  lebendig  wirkten,  ehe  die  Philo- 
sophie sie  demonstrierte,  und  wie  kraftlos  öfter  die  demonstriertesten  Wahr- 
heiten für  das  Gefühl  und  den  Willen  bleiben,  so  erkennt  man,  wie  wichtig 
es  für  das  praktische  Leben  ist,  diesen  Wink  der  Natur  zu  befolgen  imd  die 


VII.  Der  mathemat.  Unterricht  in  Deutschland  während  des  19.  Jahrhunderts.     A  133 

Erkenntnisse  der  Wissenschaft  wieder  in  lebendige  Anschauung  umzuwan- 
deln. Nur  auf  diese  Art  ist  man  imstande,  an  den  Schätzen  der  Weisheit  auch 
diejenigen  Anteil  nehmen  zu  lassen,  denen  schon  ihre  Natur  untersagte,  den 
unnatürlichen  Weg  der  Wissenschaft  zu  wandeln." 

Was  aber  Pestalozzi  als  Anschauung  bezeichnet,  ist  wirklich  mathe- 
matische Anschauung,  es  bedeutet  die  Abstraktion  der  mathematischen  For- 
men aus  der  uns  umgebenden  Welt  und  rückwärts  die  gestaltende  Tätigkeit, 
welche  die  regelmäßig  gebildeten  Raumformen  zu  bestimmten  Zwecken  er- 
zeugt, und  nähert  sich  darin  dem  Kantischen  Begriff  der  „reinen  Anschauung". 
Es  handelt  sich  um  die  Zurückführung  des  Erkennens,  Ordnens  und  Schaffens 
auf  die  Zahl-  und  Maßverhältnisse.  Der  Sinn  für  die  Maß-  und  Zahl  Verhältnisse 
sollte  in  dem  Kinde  sogar  schon  vor  der  Schulzeit  durch  die  Erziehung  der 
Mutter  entwickelt  werden.  Für  diese  Erziehung  wollte  er  die  Grundlage  durch 
bestimmte  Lehrbücher  geben.  „Diese  sind  es",  schreibt  er  in  seiner  Schrift 
Wie  Gertrud  ihre  Kinder  lehrt,  „die  den  eigentlichen  Ausschlag  gegen  den 
Unterrichtsunsinn  unseres  Zeitalters  geben  werden  und  geben  müssen.  Ihr 
Geist  wird  mir  immer  klarer.  Sie  müssen  von  den  einfachsten  Bestandteilen 
der  menschlichen  Erkenntnis  ausgehen;  sie  müssen  die  wesentlichsten  Formen 
aller  Dinge  den  Kindern  tief  einprägen;  sie  müssen  früh  und  deutlich  das  erste 
Bewußtsein  der  Zahl-  und  Maßverhältnisse  in  ihnen  entwickeln ;  sie  müssen  ihnen 
über  den  ganzen  Umfang  ihres  Bewußtseins  und  ihrer  Erfahrungen  Wort  und 
Sprache  geben  und  überall  die  ersten  Stufen  der  Erkenntnisleiter,  an  die  uns 
die  Natur  selber  zu  aller  Kunst  und  zu  aller  Kraft  führt,  umfassend  ausfüllen." 

Leider  sind  aber  Pestalozzis  Ideen  von  ihm  selbst  nicht  so  durchgeführt 
worden,  wie  wir  es  wünschen  müßten.  Was  bei  dem  Anschauungsunterricht 
herauskam,  war  zum  größten  Teil  ein  öder  Formel-  und  Gedächtniskram.  Der 
Unterricht  hielt  sich  an  Tabellen,  in  denen  die  Grundlagen  der  Maß-  und  Zahl- 
verhältnisse in  einer  Reihe  schematischer  Figuren  zusammengestellt  waren 
und  an  denen  die  Kinder  die  Anschauung  von  Maß  und  Zahl  gewinnen  sollten. 
Alle  diese  Übungen  sollten  im  übrigen  nur  den  Unterricht  im  Rechnen  und 
in  der  Raumlehre  beginnen,  ihn  aber  nicht  ersetzen.  Doch  haben  sie  die 
Wirkung  gehabt,  daß  von  nun  an  die  Geometrie  auch  in  die  niederen  Schulen 
einzuziehen  anfing,  allerdings  vorerst  in  einer  Form,  die  wir  wenig  gutheißen 
können.  Gerade  den  schwächsten  Punkt  von  Pestalozzis  Didaktik,  die  Figuren- 
tabellen, welche  die  Anknüpfung  an  die  Wirklichkeit  mehr  hemmen  als  för- 
dern, übernahmen  Pestalozzis  Nachfolger  als  den  Kernpunkt  des  Unterrichtes. 
So  wird  eine  viel  ödere  und  schematischere  Mathematik  an  die  Volksschulen 
gebracht  als  sie  an  den  höheren  Schulen  herrscht.  Alle  Lehrer  haben  dabei 
die  deutlich  ausgeprägte  Ansicht,  daß  jede  anschauliche  Geometrie  nur  ein 
kläglicher  Ersatz  für  die  logische  Geometrie  des  Euklid  oder  eine  Vor- 
bereitung auf  diese  sein  könne.  Was  sie  aber  an  geometrischen  Kenntnissen 
bringen,  gehört  merkwürdigerweise  der  alten  praktischen  Geometrie  an,  die 
wir  neben  der  Euklidischen  Geometrie  herlaufend  fanden,  es  sind  die  Kennt- 
nisse, die  sich  in  der  Überlieferung  der  Gewerbe  von  den  alten  Ägyptern 


1 34  A.    H.  E.  Timerding :  Die  Verbreitung  mathemat.  Wissens  u.  mathemat.  Auffassung. 

her  durch  alle  Zeit  erhalten  hatten  und  sich  nun  wieder  in  der  Volkserziehung 
niederschlugen.  Von  wirklicher  lebendiger  Anschauung  erblicken  wir  aber 
leider  in  der  Pestalozzischen  Schule  herzlich  wenig.  Karl  von  Raumer  hat 
diesen  Zustand  mit  folgenden  Worten  trefifend  gekennzeichnet:  „Daß  dem 
euklidischen  demonstrativen  Gang  im  Unterricht  etwas  vorausgeschickt  wer- 
den müsse,  Anschauliches,  Einleitendes,  darüber  sind  in  unserer  Zeit  viele 
Mathematiker  einig.  Besonders  sah  man  die  durch  Pestalozzi  und  seine  Schule 
aufgekommene  Formenlehre  für  eine  Propädeutik  der  Geometrie  an;  in  ihr 
sollte  die  Anschauung,  in  der  Geometrie  der  Verstand  vorwalten.  Allein  mit 
Körpern  begann  man  nicht,  sondern  dem  bis  zur  Karikatur  getriebenen  Ele- 
mentarisieren  gemäß  mit  dem  Punkt.  Darauf  ging  man  zu  Linien  über  und 
verlor  sich  in  zahl-  und  ziellose  Kombinationen.  Endlich  kam  man  zu  Flächen; 
von  Körpern  war  aber  in  der  bekannten  Schmidschen  Formenlehre,  der  Vor- 
läuferin so  vieler  anderen,  so  gut  wie  nicht  die  Rede." 
K.v. Raumer  Karl  von  Raumer  hat  selbst  dem  Gedanken,  die  geometrische  Anschau- 

(1783-1865).  ^^^  ^^  Körper  anzuknüpfen,  durch  sein  ABC-Buch  der  Kristallkunde, 
das  er  im  Jahre  1820  Pestalozzis  ABC  der  Anschauung  zur  Seite  stellte,  Ein- 
gang verschafft.  Es  ist  merkwürdig,  aber  sehr  bezeichnend,  daß  dieser  so 
selbstverständlich  erscheinende  Gedanke  erst  durch  die  Mineralogie  ins  Leben 
gerufen  wurde,  und  noch  merkwürdiger  ist,  daß  fast  ein  Jahrhundert  vergehen 
mußte,  ehe  er  wirklich  allgemeine  Anerkennung  fand.  Denn  auch  heute  noch 
gibt  es  Lehrer,  die  meinen,  der  Geometrieunterricht  müsse  mit  dem  Punkt 
anfangen,  weil  der  Punkt  bei  der  logischen  Entwicklung  der  Geometrie  das 
erste  geometrische  Element  ist.  Der  weite  Weg,  den  die  Menschheit  zurück- 
legen mußte,  um  zu  der  geometrischen  Abstraktion  zu  gelangen  und  den  jedes 
Kind  in  sich  wiederholen  muß,  wenn  es  von  der  natürlichen  Auffassung  der 
Umgebung  zu  den  mathematischen  Formen  fortschreiten  soll,  dieser  ganze 
Weg  ist  beharrlich  ignoriert  worden.  Erst  die  neueste  Zeit  hat  für  die  Volks- 
schulen einen  von  verständigem  Wirklichkeitssinn  erfüllten  Rechen-  und 
Raumlehreunterricht  zu  entwickeln  begonnen.  Die  Volksschulpädagogik  ist, 
gerade  was  Rechnen  und  Raumlehre  betrifft,  durch  wogt  von  heftigen  Kämpfen. 
Im  Rechnen  scheiden  sich  zwei  Heerlager,  je  nachdem  der  gedankliche  Pro- 
zeß des  Zählens  oder  die  Anschauung  einer  Menge  von  Dingen  die  Grundlage 
bilden  soll.  In  der  Raumlehre  ist  die  Stellungnahme  der  Wirklichkeit  gegen- 
über immer  noch  strittig.  In  der  Tat  ist  es  nicht  leicht,  aus  der  realen  Um- 
gebung des  Kindes  die  geometrischen  Formen  nach  festen  methodischen 
Gesichtspunkten  und  in  systematischer  Geschlossenheit  abzuleiten.  Man  ist 
sich  wohl  klar,  daß  eine  Werkarbeit  des  Schülers  helfend  eingreifen  kann,  aber 
wie  diese  Werkarbeit  zu  erreichen  und  durchzuführen  ist,  steht  noch  dahin. 
Fröbei  Wir  müssen  hier  noch  einer  Bewegung  gedenken,  welche  aus  Pestalozzis 

(1782  - 1852).  j^^^^  vielleicht  das  Beste  und  Fruchtbarste  aufgegriffen  hat.  Es  war  Fröbei, 
der  die  schon  von  Pestalozzi  gewollte  Erziehung  des  frühen  Kindesalters  zu 
einer  bestimmten  Methode  ausgestaltet  und  durch  die  Kindergärten  in  die 
Wirklichkeit  umgesetzt  hat.    Auch  Fröbei  ist  von  der  Mathematik  herge- 


VII.  Der  mathemat.  Unterricht  in  Deutschland  während  des  19.  Jahrhunderts.    A  135 

kommen,  er  war  dem  Beruf  nach  Feldmesser,  und  sein  Zweck  ist  derselbe  wie 
der  Pestalozzis :  eine  mathematische  Vorbildung  des  Kindes.  Diese  Vorbildung 
wird  durch  Beschäftigungen  erreicht,  welche  nichts  anderes  bedeuten  als 
die  spielerische  Betätigung  der  mathematischen  Abstraktion  durch  Bildung 
regelmäßiger  Figuren  und  Gestalten.  Es  ist  im  Grunde  dieselbe  Tätigkeit, 
die  in  der  Technik  ihren  ernsthaften  Ausdruck  findet,  und  der  Gedanke  einer 
pädagogischen  Verwendung  des  Spiels,  das  man  die  spätere  Erwerbstätigkeit 
ebenso  vorbilden  läßt,  wie  die  Tiere  im  Spiel  ihre  Kämpfe  um  die  Nahrung 
und  gegen  ihre  Feinde  vortäuschen,  hat  so  einen  fruchtbaren,  für  die  ganze 
Erziehung  wertvollen  Ausdruck  gefunden.  Diese  Spiele  finden  später  im  Ar- 
beitsunterricht ihre  natürliche  Fortsetzung.  Wer  freilich  von  der  vorgefaßten 
Meinung  über  die  Mathematik  ausgeht,  daß  sie  in  algebraischen  Formeln 
und  geometrischen  Beweisen  bestehen  müsse,  wird  es  befremdlich  finden, 
daß  sie  schon  in  Spielen  des  kleinen  Kindes  wie  Stäbchenlegen,  Papierfalten 
und  Ausschneiden,  Modellieren  aus  Pappe,  Ton  usw.  ihren  Ausdruck  finden 
soll.  Diese  Spiele  sind  aber  oft  mit  mehr  mathematischem  Geiste  angefüllt 
als  die  spätere  Schulmathematik.  Die  Mathematik,  die  wir  auf  der  Schule, 
besonders  auf  der  Volksschule  treiben,  sollte  nie  als  etwas  von  der  Welt  der 
Erfahrung  Losgelöstes  empfunden  werden,  sie  sollte  immer  so  behandelt 
werden,  daß  ihre  Herkunft  aus  den  Vorgängen  und  Gegenständen  der  wirk- 
lichen Welt,  ebenso  wie  ihre  Zurückführung  in  die  WirkUchkeit  durch  die  ge- 
staltende Tätigkeit  des  gewerblichen  Schaffens  deutlich  im  Bewußtsein  bleibt. 

Das  I Q.  Jahrhundert  brachte  einen  gewaltigen  Aufschwung  der  Technik  Das  technische 
und  dementsprechend  hat  sich  auch  in  Deutschland  das  technische  Bildungs-  B'^^'^sswesen 
wesen  wesentlich  im  1 9.  Jahrhundert  entwickelt.  Es  liegt  in  der  Xatur  der 
Sache,  daß  diese  Entwicklung  mit  den  höchsten  Schulgattimgen  begann.  Die 
polytechnische  Schule  in  Paris  bildete  den  Anfang  und  lange  Zeit  auch  das  viel- 
bewunderte Muster  einer  methodisch  geleiteten  technischen  Ausbildung.  Es 
folgten  bald  die  Gründungen  anderer  polytechnischer  Schulen,  so  in  Prag 
1 801,  in  Wien  181 5,  in  Karlsruhe  1825,  in  München  1827,  Dresden  1828,  Stutt-  Die 
gart  1829,  Hannover  183 1.  Bei  allen  stand  der  Lehrbetrieb  in  Paris  als  Muster  "°<*»<='«^"- 
vor  Augen.  Dieser  Einfluß  zeigte  sich  deutlich  in  der  Einrichtung  eines  ge- 
ordneten Lehrganges  von  Vorlesungen  und  Übungen  und  in  der  Art,  wie 
die  einzelnen  Fächer  dabei  zur  Geltung  kamen.  Besonders  in  dem  breiten 
Raum,  den  die  darstellende  Geometrie  einnahm,  und  in  der  Anordnung 
ihres  Lehrstoffes  wirkten  deutlich  die  französischen  Vorbilder.  Die  Gründung 
höherer  Fachschulen  in  Deutschland  reicht  aber  schon  ins  1 8.  Jahrhundert 
zurück.  Im  Jahre  1765  entstand  die  Bergakademie  in  Freiberg.  Friedrich  der 
Große  stiftete  1770  die  Königliche  Bergakademie  in  Berlin.  Ln  Jahre  1775 
wurde  auch  von  dem  Lyzeum  in  Clausthal,  das  seit  dem  16.  Jahrhundert  dem 
Bedürfnis  einer  wissenschaftlichen  Vorschulung  der  Berg-  und  Hüttenbeamten 
durch  besondere  Betonung  des  mathematischen  und  mechanischen  Unter- 
richts Rechnimg  getragen  hatte,  ein  besonderer  Kursus  für  Bergbeflissene 
abgezweigt. 


\)ie  raittlrren 


136  A     H.  E.  Timerding :  Die  Verbreitung  mathemat.  Wissens  u.  mathemat.  Auffassung. 

Im  Jahre  1799  wurde  die  Königliche  Bauakademie  in  Berlin  gegründet, 
im  Jahre  182 1  ebendaselbst  die  Technische  Schule,  die  1827  zum  Gewerbe- 
institut umgewandelt  wurde  und  ursprünglich  der  Vorbildung  von  Knaben  zur 
Ausübung  eines  Handwerks  diente.  Nach  und  nach  steigerte  man  immer  weiter 
die  Anforderungen  an  die  Leistungen,  das  Alter  und  die  Vorkenntnisse  der 
Zöglinge.  Im  Jahre  1866  wurde  die  Anstalt  zur  Gewerbeakademie  erhoben 
und  im  Jahre  1879  mit  der  Bauakademie  zur  technischen  Hochschule  vereinigt. 

So  ist  hier  ein  allmähliches  Ansteigen  in  der  Stellung  der  Schule  deutlich 
nnd  niederen  zu  bcobachteu.  Durch  die  hohen  Ansprüche  an  die  Vorbildung  der  Anwärter 
der  höheren  technischen  Berufe  wurde  aber  eine  Scheidewand  zwischen  den 
höheren  und  mittleren  Technikern  aufgerichtet,  und  die  mit  dem  Aufschwung 
unserer  Industrie  von  den  sechziger  Jahren  ab  aufkommenden  mittleren 
technischen  Fachschulen,  die  Baugewerkschulen  und  Maschinenbauschulen, 
sollten  dazu  dienen,  auch  in  den  mittleren  technischen  Berufen  tüchtige  Kräfte 
heranzuziehen.  Die  Ausbildung  der  den  technischen  Berufen  wohl  anzureihen- 
den Feldmesser  und  Markscheider  ist  heute  ganz  den  Hochschulen  zugewiesen. 
Dagegen  sind  die  Navigationsschulen,  in  denen  die  Seeleute  ihre  theoretische 
Vorbildung  zum  SchifFsoffizier  und  Kapitän  erhalten,  im  eigentlichen  Sinne 
Mittelschulen.  Diese  Schulen  bestanden  früher  größtenteils  als  private  Unter- 
nehmungen; die  erste  öffentliche  Navigationsschule  wurde  1749  in  Hamburg 
gegründet;  1798  bildete  sich  in  Bremen  eine  Gesellschaft  zur  Gründung  einer 
„Navigationsschule  großen  Stils".  Eine  sehr  viel  ältere  Geschichte  haben  die 
niederen  kaufmännischen  Lehranstalten,  die  Handelshochschulen  aber  sind 
als  besondere  Gründungen  sehr  jungen  Datums.  Als  ihren  ersten  Vorläufer 
müssen  wir  die  Merkantilabteilung  des  Collegium  Carolinum  in  Braunschweig 
ansehen.  Die  erste  selbständige  Handelshochschule  wurde  dagegen  erst  am 
I.  April  1898  in  Leipzig  gegründet. 

Erst  der  neueren  Zeit  gehört  auch  der  Gedanke  der  Lehrlingsschulen ,  der 
sogenannten  Fortbildungsschulen,  an,  die  neben  der  praktischen  Lehrzeit  drei 
bis  vier  Jahre  hindurch  besucht  werden,  und  durch  welche  die  Bildung  und 
berufliche  Tüchtigkeit  aller  unserer  arbeitenden  Klassen  gehoben  und  gefestigt 
werden  soll,  Sie  finden  eine  Art  Fortführung  in  den  Gesellenschulen,  die  teils 
eine  gewisse  Zeit  hindurch  den  Besucher  ganz  in  Anspruch  nehmen,  teils  aber 
auch  in  Abend-  und  Sonntagsklassen  neben  der  Berufsarbeit  einhergehen.  Sie 
haben  die  Aufgabe,  auch  dem  einfachen  Arbeiter  das  Aufsteigen  in  höhere 
Stellungen  zu  ermöglichen,  und  dadurch  eine  große  soziale  Bedeutung. 


I);vs  Prinzij) 


VIII.  Die  Ausgestaltung  des  modernen  mathematischen  Bildungswesens. 
Die  Signatur  der  höheren  Allgemeinbildung  ist  im  1 9.  Jahrhundert,  wie 
der  formalen  wir  seheu,  durch  den  Grundsatz  der  formalen  Schulung  gegeben.  Da  die 
""*■     modernen  Bestrebungen  meist  dahin  zielen,  sich  diesem  Grundsatz  zu  wider- 
setzen, haben  wir  uns  gewöhnt,  mit  ihm  einen  tadelnden  Beigeschmack  zu  ver- 
binden. Darin  liegt  eine  gewisse  Ungerechtigkeit,  denn  es  ist  nicht  zu  leugnen, 
daß  die  auf  dieser  Grundlage  erzielten  Resultate  zum  Teil  außerordentlich 


VIII.  Die  Ausgestaltung  des  modernen  mathematischen  Bildungswesens.      A  137 

günstige  gewesen  sind.  Es  herrschte  im  Unterricht  ein  großer  Ernst  und  eine 
strenge  Zucht,  und  gerade  die  Gewöhnung  zur  Selbstbeherrschung,  zur  Sorg- 
falt und  Gewissenhaftigkeit  ist  ein  Moment,  das  nicht  bloß  zu  guten  äußeren 
Resultaten  führt,  sondern  auch  einen  großen  sittlichen  Wert  in  sich  schließt. 
Indem  das  Denken  geschult  wurde,  lenkte  man  auch  das  Wollen  und  Handeln 
des  Zöglings.  Nur  lief  die  Leitung  nach  festen  Regeln  und  Formeln  Gefahr, 
in  Pedanterie  auszuarten,  außerdem  lenkte  das  Streben  nach  Abstraktheit 
und  formaler  Korrektheit  leicht  von  den  Aufgaben  des  wirklichen  Lebens 
ab  und  trug  dem  praktischen  Sinn  nicht  genügend  Rechnung.  Die  steigen- 
den Anforderungen  des  praktischen  Lebens  sind  es  auch  gewesen,  die  in  un- 
serer Zeit  dem  im  Zeitalter  der  Romantik  geradezu  verschrieenen  Utilitarismus 
eine  steigende  Bedeutung  verliehen  haben.  Das  Ideal  der  reinen  Wissenschaft- 
lichkeit ist  heute  in  der  Schulerziehung  erschüttert  und  die  Forderung  einer 
Schulung  für  das  Leben  immer  kräftiger  hervorgetreten. 

Die  Mathematik  hat  an  den  höheren  Schulen  einen  leichteren  Stand,  wenn 
sie  sich  auf  ihren  formalen  Bildungswert  berufen  kann,  als  wenn  sie  mit  dem  An- 
spruch auftreten  muß,  einen  realen  Nutzen  mit  sich  zu  führen.  Wenn  sie  früher 
auch  wohl  gegen  die  Behauptung  einseitiger  Philologen  ankämpfen  mußte,  daß 
die  Ausbildung  im  sprachlichen  Ausdruck  die  unmittelbarste  und  wirksamste 
Schulung  des  Denkens  sei,  so  ist  es  doch  schwerer  nachzuweisen,  wie  die 
Mathematik,  die  der  Schüler  auf  dem  Gymnasium  lernt,  später  im  Leben  Ver- 
wendung finden  kann.  So  ist  die  Stellung  der  Mathematik  unter  der  Herr- 
schaft eines  formalen  Bildungsideals  eine  nicht  ungünstige  gewesen;  dagegen 
war  diese  für  die  Naturlehre  wohl  die  unglücklichste  Epoche.  Es  entwickelte 
sich  die  berüchtigte  Kreidephysik,  bei  der  schematische  Figuren  an  der  Tafel  ^^^ 
das  wirkliche  Experiment  ersetzten.  Das  mathematische  Bild  der  Vorgänge  ist  Kreidephysik, 
aber  bei  der  Physik  nicht  der  Ausgangspunkt,  sondern  der  Zielpunkt.  Es  hat 
nur  die  Bedeutung,  daß  sich  in  ihm  eine  große  Menge  wirklicher  Erfahrungen 
niederschlägt  und  abklärt. 

Bei  der  Bewertung  des  mathematischen  und  naturwissenschaftlichen  ,  , 
Unterrichts  dürfen  wir  jedoch  nie  vergessen,  wie  weit  er  mit  Notwendigkeit  "nd  Lehrfreiheit, 
durch  die  Lehrpläne  bestimmt  war.  Diese  Lehrpläne  sind  erst  nur  als  allge- 
meine Richtlinien  gedacht  gewesen,  allmählich  ist  aber  immer  größerer 
Nachdruck  auf  ihre  strenge  Innehaltung  gelegt  worden.  Dieser  steigende 
Zwang  ist  zum  großen  Teil  der  Befürchtung  entsprungen,  der  Unterricht 
könne  zu  weit  getrieben  oder  auf  falsche  Bahnen  gelenkt  werden.  Durch  diese 
Einschnürung  ist  aber  das  geraubt  worden,  was  eine  unerläßliche  Bedingrmg 
für  jeden  gedeihlichen  mathematischen  Unterricht  ist,  eine  gewisse  Be- 
wegungsfreiheit, die  dem  Lehrer  gestattet,  einem  auftauchenden  Interesse 
der  Schüler  nachzugehen,  ohne  in  jedem  Augenblicke  befürchten  zu  müssen, 
sich  mit  bestehenden  Bestimmungen  in  Widerspruch  zu  setzen.  Gerade  wenn 
man  den  formalen  Bildungswert  der  Mathematik  in  den  Vordergrund  stellt, 
ist  das  Anregen  der  Schüler  die  Hauptsache  und  was  sie  im  besonderen 
lernen  dagegen  Nebensache. 


1 38  A    H.  E.  Timerding :  Die  Verbreitung  mathemat.  Wissens  u.  mathemat.  Auffassung. 

Durch  den  starren  Zwang  der  Lehrpläne  kam  aber  in  den  mathemati- 
schen Schulunterricht  eine  gewisse  Unaufrichtigkeit  hinein.  Man  trieb  die  ver- 
botenen Lehrgegenstände  doch,  nur  unter  anderem  Namen  und  mit  verkappten 
Methoden.  Dies  ist  auch  die  Signatur  der  reichen  Lehrtätigkeit,  die  Schell- 
bach seit  1834  in  Berlin  entfaltet  hat.  Er  vermeidet  die  Methoden  der  ana- 
lytischen Geometrie  ebenso  wie  die  der  Infinitesimalrechnung,  weil  sie  ver- 
boten sind,  behandelt  dem  Gegenstande  nach  aber  doch  dasselbe  und  bildet 
zu  dem  Zwecke  ein  sinnreiches,  verwickeltes  System  aus.  Die  mathematische 
Behandlung  der  Physik,  insbesondere  der  Mechanik,  wurde  mit  Liebe  und 
Sorgfalt  gepflegt,  aber  statt  der  einheitlichen,  organischen  Methoden,  die  sich 
in  der  wissenschaftlichen  P'orschung  seit  der  Zeit  Leibniz'  und  der  Bemoulli 
eingebürgert  hatten,  werden  wieder  die  besonderen,  von  Fall  zu  Fall  wech- 
selnden Verfahren,  auf  die  man  vor  der  Entdeckung  der  Differential-  und 
Integralrechnung  angewiesen  war,  den  behördlichen  Vorschriften  zuliebe  zu 
einem  kunstvollen  Gewebe  ausgesponnen. 
Baitzers  Vielleicht  in  der  größten  methodischen  Vollendung  prägt  sich  der  prin- 

MlThemaar  zipiellc  Standpunkt,  auf  dem  der  mathematische  Unterricht  an  den  höheren 
Schulen  um  die  Mitte  des  1 9.  Jahrhunderts  stand,  in  den  „Elementen  der  Mathe- 
matik" von  Baltzer  aus,  die  von  1 860  an  erschienen  sind  und  einen  großen  Einfluß 
auf  den  Unterricht  gewonnen  haben.  Für  Baltzer  ist  wohl  weniger  der  Zwang 
bestimmter  Lehrpläne,  als  der  Gedanke  einer  reinlichen  Scheidung  von  niederer 
und  höherer  Mathematik  maßgebend  gewesen,  und  das  ganze  Buch  trägt  den 
Stempel  einer  großen  methodischen  Klarheit.  Zum  Prinzip  der  Abgrenzung 
ist  derselbe  Gedanke  verwertet,  den  1864  Wittstein  auf  der  Philologen  Versamm- 
lung in  Hannover  ausgesprochen  hat,  indem  er  der  Schule  die  Teile  der  Mathe- 
matik zuwies,  die  sich  mit  beständigen  Größen  beschäftigen,  während  alles, 
was  auf  dem  Begriffe  des  Veränderlichen  beruhe,  fortzulassen  und  der  höheren 
Mathematik  der  Universitäten  vorzubehalten  sei.  Danach  geht  auch  Baltzer 
zu  Werke.  Er  berücksichtigt  die  neueren  mathematischen  Forschungen  in  einer 
solchen  Abgrenzung  und  Form,  wie  sie  sich  in  diesen  Plan  einzufügen  scheinen. 
Die  durch  Poncelet  und  Steiner  begründete  neuere  Geometrie  wird  in  der  Art 
behandelt,  daß  nicht  die  gegenseitigen  Beziehungen  der  Gesamtheiten  aller 
Punkte,  die  auf  einer  geraden  Linie  oder  in  einer  Ebene  liegen,  oder  der 
Strahlen,  die  in  einer  Ebene  oder  im  Raum  durch  einen  Punkt  gehen,  in 
Betracht  gezogen  werden,  sondern  daß  nur  von  den  Beziehungen  zwischen 
einer  endlichen  Anzahl  von  Punkten  oder  geraden  Linien  oder  von  zwei  geo- 
metrischen Figuren  die  Rede  ist.  Der  Koordinatenbegriflf,  auf  den  sich  die 
analytische  Geometrie  gründet,  wird  wohl  berücksichtigt,  aber  die  syste- 
matische Betrachtung  der  Kurven  als  Ausdruck  einer  funktionalen  Beziehung 
zwischen  den  Koordinaten  wird  vermieden.  Mit  dem  Begriffe  der  Veränder- 
lichen und  der  Funktion  sind  auch  die  Methoden  der  Infinitesimalrechnung 
ausgeschlossen.  Charakteristisch  ist  die  Behandlung  der  Algebra.  Der  so- 
genannte Fundamentalsatz  der  Algebra,  der  die  Existenz  der  Wurzeln 
einer  gegebenen  Gleichung  behauptet,  muß  vermieden  werden,  weil  er  nur 


VIII.  Die  Ausgestaltung  des  modernen  mathematischen  Bildungswesens.      A  139 

auf  Grund  des  Kontinuitätsbegriffes  zu  beweisen  ist.  Daher  muß  die  Behand- 
lung der  Algebra  so  vor  sich  gehen,  daß  unmittelbar  die  Werte  der  Un- 
bekannten abgeleitet  werden,  die  der  Gleichung  tatsächlich  genügen.  Dies 
gelingt  auf  theoretischem  Wege  unmittelbar  bei  den  Gleichungen  dritten  und 
vierten  Grades  und  bei  einigen  Gleichungen  höheren  Grades.  Bei  den 
anderen  Gleichungen  muß  man  durch  praktische  Annäherungsmethoden  zum 
Ziel  zu  gelangen  suchen. 

Für  eine  solche  Abtrennung  der  Elementarmathematik,  wie  sie  Baltzer  ver-  Abgrenmng 
sucht,  scheint  von  vornherein  manches  zu  sprechen.  Sie  beruht  auf  der  mathematik. 
Scheidung  der  diskreten  und  kontinuierlichen  Größen.  Diese  sind  in 
der  Tat  so  wesensverschieden,  daß  nur  ein  Saltomortale  der  Vernunft  von 
den  einen  zu  den  anderen  hinüberzuführen  scheint.  Wie  groß  die  Schwierig- 
keit des  Überganges  ist,  haben  wir  erst  in  der  neuesten  Zeit  voll  zu  begreifen 
gelernt.  Diese  Scheidung  muß  in  der  Tat  vom  rein  theoretischen  Standpunkte 
aus  die  Mathematik  in  zwei  getrennte  Teile  auseinanderreißen.  Aber  wenn  man 
damit  eine  Scheidung  nach  dem  Grade  der  Schwierigkeit  begründen  will, 
so  ergibt  sich  etwas  Unmögliches.  Die  moderne  Zahlentheorie  müßte  ganz 
dem  elementaren  Teil  zugewiesen  werden.  Dabei  erweist  es  sich  bei  vielen 
Fragen,  die  hierhin  gehören,  z.  B.  der  großen  Aufgabe  der  Bestimmung  der  An- 
zahl von  Primzahlen  unter  einer  gegebenen  Grenze,  doch  wieder  als  unmöglich, 
die  Hilfsmittel  der  Infinitesimalrechnung  zu  vermeiden.  Vollends  für  den 
Schulunterricht  ist  eine  solche  Scheidung  ganz  undenkbar.  Es  ist  vielleicht 
unmöglich,  die  exakte  Begründung  der  Kontinuität  auf  der  Schule  zu  geben, 
aber  ebenso  unmöglich  ist  es,  den  Begriff  der  stetigen  Veränderung  zu  ver- 
meiden. Wie  sollte  man  ohne  ihn  überhaupt  die  Bewegung  behandeln?  Auch 
die  Fläche  des  Kreises,  ja  der  Inhalt  der  Pyramide  und  alle  ähnlichen  Fragen 
lassen  sich  nicht,  ohne  die  Infinitesimalmethoden  in  irgendeiner  Form  hinein- 
zuziehen, erledigen.  Die  alte  griechische  Exhaustionsmethode  desEudoxos  ist 
nichts  anderes  als  eine  besondere  Infinitesimalmethode.  Auch  in  ihr  steckt  der 
Grenzübergang,  der  das  Wesen  der  infinitesimalen  Prozesse  ausmacht.  So  wird 
tatsächlich  auch  bei  Baltzer  der  Prozeß  des  Grenzüberganges  nicht  vermieden, 
wenn  er  auch  unter  der  Maske  einer  endlichen  Größenfolge  auftritt.  Es  ist  schon 
durch  die  Flächenmessung  und  die  Stereometrie,  aber  viel  mehr  noch  die  Be- 
dürfnisse der  Physik  dem  mathematischen  Schulunterricht  die  unabweisbare 
Pflicht  auferlegt,  auch  diese  Gegenstände  zu  berühren,  und  wenn  die  Mathe- 
matik ihre  allgemeinbildende  Bedeutung  wirksam  zeigen  soll,  so  kann  sie  es 
nur  mit  Hilfe  der  Begriffe  der  stetigen  Veränderungen  und  ihrer  gegen- 
seitigen Abhängigkeiten  tun,  die  das  Wesentlichste  bilden,  was  sie  für  die 
allgemeine  Auffassung  der  Vorgänge  in  der  Umwelt  zu  leisten  vermag. 

Die  Bestimmung  des  Schulstandpunktes  kann  demnach  nicht  so  getrof-  Abgrenzung 
fen  werden,  daß  alles  beiseite  gelassen  wird,  was  sich  von  der  Mathematik  mathematik. 
nicht  von  vornherein  mit  voller  Strenge  behandeln  läßt,  sondern  man  muß 
die  Forderungen  an  die  Strenge  der  Betrachtung  anders  bemessen.  Strenge 
im  mathematischen  Unterricht  heißt  nicht,  daß  man  alles  beweist,  soweit  es  sich 


I AO  A    H.  E.  Timerding:  Die  Verbreitung  mathemat.  Wissens  u.  mathemat.  Auffassung. 

überhaupt  beweisen  läßt,  sondern  daß  man  klar  zum  Ausdruck  bringt,  was  man 
bewiesen  hat  und  was  nicht.  Eine  Unwahrheit  und  Unehrlichkeit  lag  aber  darin, 
daß  im  mathematischen  Schulunterricht  alle  die  verbotenen  Begriffe  behan- 
delt wurden,  ohne  sie  beim  rechten  Namen  zu  nennen;  durch  die  verhüllten 
Definitionen  und  Beweise  kam  auch  eine  wirkliche  Unklarheit  hinein,  in  fast 
allen  sogenannten  elementaren  Beweisen  sind  Ungenauigkeiten  enthalten,  die 
dem  Schüler  verborgen  gehalten  werden,  indem  man  ihm  eine  völlige  Exakt- 
heit der  Entwicklung  vortäuscht.  Darum  ist  es  viel  besser,  von  vornherein 
klar  zu  sagen,  daß  man  auf  der  Schule  nicht  die  Mindestzahl  voneinander  un- 
abhängiger Behauptungen,  aus  denen  alle  anderen  Behauptungen  durch  bloße 
logische  Schlüsse  folgen,  erreichen  kann,  daß  man  vielmehr  auch  solche  Sätze 
empirisch  einführt,  die  in  Wirklichkeit  bloße  Folgerungen  aus  anderen  be- 
reits bekannten  Sätzen  sind.  Der  ganze  Standpunkt  der  Schulmathematik  ist 
ein  anderer  wie  der  der  wissenschaftlichen  Mathematik.  Wir  begnügen  uns 
mit  der  Stufe  des  Erkennens,  die  wir  auch  in  der  Physik  haben,  wo  wir  un- 
bedenklich als  wahr  hinnehmen,  was  uns  die  Erfahrung  als  tatsächlich  richtig 
zeigt.  Die  Mathematik,  die  wir  auf  der  Schule  treiben  können,  ist  sozusagen 
eine  physikalische  Mathematik,  weil  sie  nur  die  sichere  Feststellung  der  Sätze, 
nicht  aber  die  möglichst  vollständige  Bloßlegung  ihres  logischen  Gefüges  er- 
strebt. Dies  läßt  sich  am  einfachsten  an  dem  Begriffe  des  Flächeninhalts  er- 
läutern. Daß  eine  ebene  geschlossene  Linie  eine  Fläche  von  bestimmtem  Inhalt 
umgrenzt,  wird  auf  der  Schule  stets  als  selbstverständlich  hingenommen.  Vom 
abstrakt  mathematischen  Standpunkt  aus  ist  es  aber  keineswegs  selbstver- 
ständlich. Beispielsweise  wird  der  naiven  Auffassung  der  Flächeninhalt  des 
Kreises  als  unmittelbar  gegeben  erscheinen,  weil  dieser  Flächeninhalt  von 
dem  unbefangenen  Verstände  nicht  rein  mathematisch,  sondern  physikalisch, 
etwa  als  die  Masse  oder  das  Gewicht  einer  kreisförmigen  Scheibe,  auf- 
gefaßt wird. 

Der  FoTjktions-  Man  kann  es  nun  wirklich  nicht  für  angebracht  halten,  über  diese  physi- 

GrapH^^he   kalischc  Auffassung  auf  der  Schule  hinauszugehen,  weil  sonst  z.  B.  die  Be- 

DarsteUungen.  haudluug  dcs  Kreisinhaltcs  unter  normalen  Verhältnissen  geradezu  unmöglich 
werden  würde.  So  ist  man  von  vornherein  auf  einen  Kompromiß  angewiesen. 
Wenn  man  diesen  Kompromiß  aber  schließt,  so  ist  die  Auffassung  der  mathe- 
matischen Größen  als  fließend  und  veränderlich,  wie  schon  Herbart  hervor- 
gehoben hat,  eine  der  lebendigsten  und  fruchtbarsten.  Sie  ist  auch  das,  was 
sich  auf  das  spätere  Leben  des  Schülers  als  eine  allgemeine  Betrachtungs- 
weise der  Umwelt  am  leichtesten  übertragen  läßt.  Die  graphische  Darstellung 
funktionaler  Abhängigkeiten  von  empirischen  Größen  ist,  wie  wir  sahen,  schon 
im  14.  Jahrhundert  systematisch  entwickelt  worden,  und  man  hatte  schon  da- 
mals ihre  weittragende  allgemeine  Bedeutung  richtig  erkannt,  wenn  auch  im 
scholastischen  Geiste  nur  begrifiFlich  verfolgt.  Es  erscheint  befremdlich,  daß 
sie  erst  fünf  Jahrhunderte  später  in  die  höhere  Schulbildung  einzuziehen  be- 
ginnt. Heute  freilich  ist  sie  zu  allgemeiner  Anerkennung  durchgedrungen  und 
die  graphischen  Darstellungen  funktionaler  Abhängigkeiten,  ob  sie  nun  aus  der 


VIII.  Die  Ausgestaltung  des  modernen  mathematischen  Bildungswesens.      A  141 

Erfahrung  stammen  oder  aus  einer  mathematischen  Formel  abgeleitet  werden, 
nehmen  in  allen  modernen  Lehrbüchern  einen  breiten  Raum  ein. 

Mit  der  Behandlung  des  FunktionsbegrifFes  stehen  in  Zusammenhang  die 

Infinitesimal- 

immer  weiter  um  sich  greifenden  Bestrebungen,  der  eigentlichen  Infinitesimal-  rechnung  aaf 
rechnung,  der  Differential-  und  Integralrechnung  (dem  „Calculus",  wie  die 
Engländer  kurz  sagen)  an  unseren  Schulen,  insbesondere  an  den  Oberreal- 
schulen, an  denen  der  Mathematikunterricht  naturgemäß  viel  weiter  gehen 
kann,  Eingang  zu  verschaffen.  Die  Behandlung  der  Infinitesimalrechnung 
auf  der  Schule  wird  geradezu  als  das  Kennzeichen  der  Reformbewegung 
angesehen.  Was  aber  einzelne  übereifrige  Stürmer  hierin  erstreben,  darf  nicht 
auf  Rechnung  der  eigentlichen  Urheber  der  Bewegung  gesetzt  werden. 
Nur  die  Infinitesimalb  e  griff e  gehören  unbedingt  an  die  Schule,  weil  sie  sowohl 
für  die  Ausgestaltung  des  Mathematikunterrichtes  fruchtbringend,  wie  auch 
für  das  Verständnis  der  physikalischen  Vorgänge  unentbehrlich  sind.  Eine 
Übung  in  der  eigentlichen  Infinitesimalrechnung  dagegen,  die  über  die  ersten 
Elemente  hinausgeht,  kann  nur  für  die  künftigen  Naturwissenschaftler  und 
Ingenieure  von  Wert  sein,  die  aber  später  Gelegenheit  haben,  sie  besser 
und  gründlicher  zu  lernen  als  das  auf  der  Schule  möglich  ist.  Sie  würde  den 
Mathematikunterricht  in  einer  ungebührlichen  und  unmöglichen  Weise 
belasten.  Nur  soviel  ist  nötig,  daß  an  den  einfachsten  Funktionsbeispielen 
die  Bedeutung  der  Begriffe  und  ihre  Verwendung  in  einzelnen  wichtigen  Auf- 
gaben hinreichend  klar  hervortritt. 

Nicht  um  eine  Ausdehnung  der  früheren  Lehrgegenstände ,  sondern  um 
ihre  Umwandlung  im  Sinne  einer  engeren  Beziehung  zu  der  Wirklichkeit 
und  den  praktischen  Aufgaben  der  Mathematik,  nicht  um  Ergänzungskurse, 
die  auf  den  früheren  Unterricht  aufgesetzt  werden,  sondern  um  eine  durch- 
laufende Durchdringung  des  ganzen  Unterrichts  mit  den  modernen  Begriffen 
der  Mathematik,  die  aus  ihr  das  wichtigste  Werkzeug  zur  Erkenntnis  und  Be- 
herrschung der  Natur  gemacht  haben,  darum  handelt  es  sich.  Diese  Forde- 
rungen sind  nicht  willkürlich  ersonnen,  sie  ergeben  sich  mit  Notwendigkeit 
aus  der  Entwicklung  unserer  Zivilisation. 

Die  Triebfeder  zur  erneuten  stärkeren  Betonunsr  der  Wirklichkeit  der 

°  EinfloB 

reinen  Idealbildung  gegenüber  lag  ja  in  der  seit  der  Neugründung  des  deutschen  der  steigenden 
Reiches  mächtig  angestiegenen  äußeren  Kultur.  Dies  zeigt  sich  schon  in  der  "'"^a'if/den  ^^ 
Art,  wie  die  ersten  Ansätze  zu  einer  Reform  des  mathematischen  Unterrichtes     Unterricht 
aufgetreten  sind.  W.  Gallenkamp,  Direktor  einer  Gewerbeschule  in  Berlin, 
verlangte  auf  der  Schulkonferenz  von  1873  die  Aufnahme  der  Elemente  der 
analytischen  Geometrie  und  der  Differentialrechnung  mit  der  Begründung, 
daß  nur  so  eine  Vorstellung  von  der  großen  Kulturarbeit  auf  dem  Gebiete  der 
Naturwissenschaft  erweckt  werden  könne.  Es  ist  der  Kulturgedanke,  der  ent- 
scheidend in  den  Vordergrund  tritt.  Die  hohe  Einschätzung  der  Naturwissen- 
schaften war  eben  das  erste  Merkmal,  durch  das  sich  die  verwandelten  Anschau- 
ungen über  Wesen  und  Wert  der  Kultur  offenbarten.    Der  gleiche  Gedanke 
wie  bei  Gallenkamp  liegt  auch  der  1877  gehaltenen  Rede  von  E.  Du  Bois- 


Entwicklung. 


142  A     HE.  Timerding:  Die  Verbreitung  mathemat.  Wissens  u.  mathemat.  Auffassung. 

Re)niiond  zugrunde,  der  ebenfalls  die  Aufnahme  der  analytischen  Geometrie 
in  den  Lehrplan  der  höheren  Schulen  empfahl.  „Das  Studium  der  Mathematik", 
sagte  er,  „entfaltet  seine  bildende  Kraft  vollauf  erst  mit  dem  Übergang  von 
den  elementaren  Lehren  zur  analytischen  Geometrie.  Unstreitig  gewöhnt  schon 
die  einfachste  Geometrie  und  Algebra  den  Geist  an  scharfes  quantitatives 
Denken;  die  Darstellung  von  Funktionen  in  Kurven  oder  Flächen  aber  er- 
öffnet eine  neue  Welt  von  Vorstellungen  und  lehrt  den  Gebrauch  einer  der 
fruchtbringendsten  Methoden,  durch  welche  der  menschliche  Geist  seine  eigene 
Leistungsfähigkeit  erhöhte.  Diese  Art,  den  Zusammenhang  der  Dinge  sich  vor- 
zustellen, ist  dem  Verwaltungsbeamten,  dem  Nationalökonomen  so  nützlich 
wie  dem  Physiker  und  Meteorologen.  Vollends  die  Medizin  kann  diese  Methode 
nicht  entbehren."  Man  sieht,  wie  energisch  der  in  der  romantischen  Epoche 
streng  verpönte  Nützlichkeitsgedanke  jetzt  wieder  bei  einem  der  führenden 
Geister,  der  dabei  durchaus  für  das  alte  griechische  Gymnasium  eingenommen 
ist,  hervortritt. 
Langsame  Aber  alle  diese  Ideen  blieben  zunächst  ohne  weitergehende  Wirkung.  Der 

neue  preußische  Lehrplan  von  1882  z.B.  nahm  auf  sie  keine  Rücksicht,  außer 
daß  er  zugab,  von  der  sphärischen  Trigonometrie  könne  soviel  aufgenommen 
werden,  als  zum  Verständnis  der  mathematischen  Geographie  diene,  auch  könn- 
ten Elemente  der  Lehre  von  den  Kegelschnitten  analytisch  behandelt  werden, 
wobei  es  selbst  möglich  sei,  eine  Vorstellung  von  den  Differentialquotienten  zu 
geben,  nur  dürfe  der  Schüler  sich  nicht  einbilden,  analytische  Geometrie  oder 
Differentialrechnung  bereits  kennen  gelernt  zu  haben.  Erst  der  Lehrplan  von 
1 892  verlangte,  die  Schüler  in  den  obersten  Klassen  in  den  besonders  wichtigen 
Koordinatenbegriff  einzuführen  und  ihnen  in  möglichst  einfach  gehaltener  Dar- 
stellung einige  Grundeigenschaften  der  Kegelschnitte  klarzumachen.  Die  eigen- 
tümliche Ansicht,  daß  die  wesentlichste  und  nächstliegende  Anwendung  der 
Koordinaten  die  Kegelschnitte  seien,  ist  in  den  Kreisen  der  Schulmänner  immer 
noch  verbreitet.  Der  Grund  ist  allein  der,  daß  mit  dem  üblichen  Festhalten 
an  einer  einmal  entstandenen  Gewohnheit  die  elementaren  Lehrbücher  der 
analytischen  Geometrie  sie  allein  behandeln.  Die  wirkliche  Bedeutung  der 
analytischen  Geometrie  für  die  Schule  liegt  aber  vielmehr  in  der  Erschließung 
des  Funktionsbegriffes.  Dieser  Gesichtspunkt  ist  erst  in  den  preußischen 
Lehrplänen  von  igoi  hervorgetreten,  die  mit  der  nunmehr  unumwunden  an- 
erkannten Gleichberechtigung  der  drei  Arten  höherer  Schulen  (humanistisches 
Gymnasium,  Realgymnasium,  Oberrealschule)  zugleich  herausgekommen  sind, 
indem  es  heißt,  daß  den  Schülern  ein  eingehendes  Verständnis  des  Funktions- 
begriffes, mit  dem  sie  schon  auf  früheren  Stufen  bekanntgeworden  sind,  zu 
erschließen  ist.  Hinter  den  Lehrplänen,  die  jeweils  der  am  höchsten  stehenden 
Auffassung  entsprechen,  blieb  aber  der  Durchschnittszustand  des  Unterrichtes 
zurück.  Wenn  einzelne  Lehrer  an  ihren  Anstalten  auch  den  Unterricht 
in  fortschrittlichem  Sinne  gestalteten,  die  Wirkung  davon  drang  nicht  in 
weitere  Kreise.  Ebenso  erweckten  auch  die  zahlreichen  auf  die  Verbesserung 
des  mathematischen  Unterrichts  hinzielenden  Aufsätze  in  den  in  Betracht 


VIII.  Die  Ausgestaltung  des  modernen  mathematischen  Bildungswesens.      A  143 

kommenden  Zeitschriften,  insbesondere  der  Hoffmannschen  Zeitschrift  für 
mathematischen  und  naturwissenschaftlichen  Unterricht,  wohl  einen  gewissen 
Nachhall  in  den  beteiligten  Kreisen,  aber  sehr  weit  reichte  ihre  Wirkung 
auch  nicht.  Wichtiger  war  schon  die  Gründung  eines  „Vereins  zur  Förderung 
des  Unterrichts  in  der  Mathematik  und  den  Naturwissenschaften",  in  dem  von 
vornherein  die  Beziehung  der  Mathematik  zur  Physik  bedeutungsvoll  hervortrat 
wobei  die  auf  der  Vorversammlung  in  Jena  1890  hervorgetretene  Forderung, 
der  Mathematikunterricht  müsse  sich  ganz  an  der  Physik  orientieren,  bei  der 
Tagung  in  Braunschweig  1891  einer  maßvolleren  Auffassung  Platz  machte.  Die 
Die  dort  formulierten  Leitsätze  drücken  treffend  die  Mehrzahl  der  Gesichts- ^''b"^°'^ü33J" 
punkte  aus,  die  von  nun  an  für  die  Bewegung  im  mathematischen  Unterricht 
kennzeichnend  sind.  Sie  lauten:  „Die  Schüler  höherer  Lehranstalten 
sind  im  allgemeinen  noch  zu  wenig  imstande,  das  Mathematische  in  den 
sich  ihnen  im  Leben  darbietenden  Erscheinungen  zu  erkennen.  Die  Ursache 
davon  ist  vorzugsweise  in  dem  Umstände  zu  suchen,  daß  die  Anwendungen 
der  mathematischen  Theorien  vielfach  in  künstlich  gemachten  Beispielen 
bestehen,  anstatt  sich  auf  Verhältnisse  zu  beziehen,  welche  sich  in  der  Wirk- 
lichkeit darbieten.  Daher  muß  das  System  der  Schulmathematik  von  vorn- 
herein,  unbeschadet  seiner  vollen  Selbständigkeit  als  Unterrichtsgegenstand, 
im  einzelnen  mit  Rücksicht  auf  die  sich  naturgemäß  darbietende  Verwendung 
(Physik,  Chemie,  Astronomie  und  kaufmännisches  Rechnen)  aufgebaut  werden. 
Die  demgemäß  heranzuziehenden  Beispiele  sollen  die  Schüler  in  solchem 
Grade  daran  gewöhnen,  in  dem  sinnlich  Wahrnehmbaren  nicht  nur  Quali- 
tatives, sondern  auch  Quantitatives  zu  beobachten,  daß  ihnen  eine  solche  Be- 
obachtungsweise dauernd  zum  unwillkürlichen  Bedürfnis  wird." 

In  eine  neue  Phase  trat  die  Bewegung,  als  F.  Klein  die  ganze  Macht  seiner    Fortschreiten 
Persönlichkeit  für  eine  zeitgemäße  und  segenbringende  Ausgestaltung  des  reform  (F.  Klein). 
mathematischen  Unterrichtes  einsetzte.  Er  begann  mit  der  Arbeit  für  den  Lehr- 
betrieb der  Hochschulen  im  Sinne  einer  engen  Fühlungnahme  der  rein  wissen- 
schaftlichen Ausbildung  mit  den  Aufgaben  der  Praxis.  Durch  die  Göttinger 
Ferienkurse    1900  und  1904  wurde  die  gehörige  Einschätzung  der  „mathe- 
matischen Exekutive",  die  Anerkennung  der  Bedeutung,  welche  die  Mathe- 
matik für  die  Bewältigung  praktischer  Aufgaben  besitzt,  gegenüber  den  über- 
wiegenden theoretischen  Interessen  der  Berufsmathematiker  energisch  betont. 
Die  Anwendungen  der  Mathematik  sollten  nicht  als  etwas  Zufälliges  und  Neben- 
sächliches, sondern  als  eine  zielbewußte  und  methodische  Ausführung  be- 
stimmter Teile  der  mathematischen  Forschung  erscheinen.  Ihren  Ausdruck 
fanden   diese  Bestrebungen   in  der  Schaffung    eines  besonderen  Lehrfaches 
für  angewandte  Mathematik   durch  die  Prüfungsordnung  von    1898.    Unter 
angewandter  Mathematik  wird  dabei  nicht  eine  einheitliche  Wissenschaft  ver-  wiederhervor- 
standen, auch  nicht,  was  früher  darunter  begriffen  wurde,  sondern  eine  Zu-  „angewandten 
sammenfassung  von  darstellender  Geometrie,  technischer  Mechanik  und  Geo-  Ma*'>«°>='ti''"- 
däsie.  Besonders  die  Universität  Göttingen  hat  diese  angewandte  Mathematik 
zusammen  mit  der  angewandten  Physik  in  hoher  Vollendung  ausgebildet. 


144  -^    H.E.  Timerding  :  Die  Verbreitung  mathemat.  Wissens  u.  mathemat.  Auffassung. 

Jena,  Straßburg  u.  a.  m.  sind  ihr  nachgefolgt.  Anderseits  sind  noch  manche 
Widerstände  zu  überwinden.  Auf  vielen  Universitäten  wurde  die  Lehrtätig- 
keit in  der  angewandten  Mathematik  jüngeren  Dozenten  übertragen,  deren 
wissenschaftliche  Interessen  bisweilen  weit  von  diesem  Gebiete  ablagen. 
Die  Schuldirektoren  selbst  legen  Gewicht  darauf,  daß  der  Lehramtskandidat 
sich  in  möglichst  verschiedenen  Lehrgebieten  ein  Zeugnis  erwirbt,  damit  er 
im  Unterricht  vielseitige  Verwendung  finden  kann.  Von  diesem  Gesichts- 
punkte aus  erwachsen  der  angewandten  Mathematik  als  besonderem 
Lehrfach  Schwierigkeiten,  da  sie  dazu  beiträgt,  den  Lehrer  nicht  über  sein 
engeres  Gebiet  hinauskommen  zu  lassen,  und  doch  ist  sie  notwendig, 
wenn  der  Mathematiklehrer  wirklich  wissen  soll,  was  er  für  den  Unterricht 
braucht. 

Von  Rechts  wegen  müßte  jeder  Mathematiklehrer  die  zeichnerischen 
und  rechnerischen  Methoden  beherrschen.  Aber  bei  dem  Lehrbetrieb  unserer 
Universitäten  ist  dies  nur  möglich,  wenn  für  ihre  Beherrschung  eine  besondere 
Lehrbefahigung  erteilt  wird.  So  ist  die  Prüfung  in  der  angewandten  Mathe- 
matik doch  unerläßlich  für  eine  gedeihliche  Entwicklung  des  mathematischen 
Unterrichts.  Es  ist  zu  hoffen,  daß  die  ihr  entgegenstehenden  Hemmungen  mit 
der  Zeit  überwunden  werden  und  sie  sich  nach  jeder  Seite  befriedigend  aus- 
gestalten läßt.  Gerade  der  Lehrer  soll  das  Band  gehörig  kennen  und  schätzen, 
das  die  Mathematik  mit  der  Wirklichkeit  verknüpft,  sowohl  der  Wirklichkeit,  die 
wir  als  von  unserem  Willen  unabhängig  in  der  Natur  erkennen,  als  der  Wirklich- 
keit, die  der  Mensch  in  seinem  wirtschaftlichen  Leben  und  seiner  gewerb- 
lichen Tätigkeit  selbst  schafft. 
Die  französische  Die  Einsicht  in  die  Bedeutung  der  Mathematik  für  die  exakte  Natur- 

^"reform.*^      erkenntnis  und  die  moderne  Kultur,  wie  sie  F.  Klein  zusammenfassend  formu- 
liert, hatte  die  französische  Unterrichtsreform  von  1902  geleitet. 

Die  zeitgemäße  Ausgestaltung  des  mathematischen  Unterrichts,  die  bei 
uns  in  Deutschland  mühsam  und  allmählich  sich  durchkämpfen  mußte,  ist  in 
Frankreich  viel  leichter  und  glatter  vonstatten  gegangen.  Die  französische  Aus- 
bildung ist  darin  von  der  unseren  wesentlich  verschieden,  daß  sie  zwischen 
Schule  und  Universität  eine  Zwischenstufe  einschiebt,  die  eine  besondere  Vor- 
bildung für  den  Beruf  bedeutet  und  zu  dem  Bakkalaureat  führt.  Diese  Zwischen- 
stufe wurde  i8go  auf  ein  Jahr  „Philosophie"  oder  „Elementarmathematik"  be- 
schränkt. Im  übrigen  war  die  Schulbildung  noch  allen  Berufen  gemeinsam.  Die 
Unterrichtsreform  von  1Q02  brachte  darauf  eine  weitergehende  Teilung,  nach 
einer  vierjährigen  Vorschule  zwei  vierjährige  Kurse,  einen  humanistischer  und 
einen  realistischer  Richtung,  und  sodann  in  einem  darauf  gesetzten  zwei- 
jährigen Kursus  sogar  eine  Vierteilung  (Latein-Griechisch,  Latein-Neu- 
sprachen, Latein -Naturwissenschaften,  Naturwissenschaften  -Neusprachen). 
Darauf  folgt  gegebenenfalls  die  Mathematikklasse  mit  acht  Stunden  Mathe- 
matik. 

Die  Unterrichtsreform  wurde  1902  auf  einen  Schlag  ausgeführt.  Da  sie 
aber  von  Vertretern  der  Wissenschaft,  die  dem  Schulbetrieb  fernstanden,  aus- 


VIII.  Die  Ausgestaltung  des  modernen  mathematischen  Bildungswesens.      A  145 

geführt  war,  setzten  sich  ihr  doch  praktische  Schwierigkeiten  entgegen, 
welche  die  Schulmänner  zu  einem  Einschreiten  veranlaßten  und  1905  zu  neuen 
praktischeren  Lehrplänen  führten.  Die  leitende  Idee  der  Reform  war,  den  Na- 
turwissenschaften und  den  lebenden  Sprachen  einen  möglichst  breiten  Raum 
zu  gewähren,  damit  der  dem  technischen  oder  naturwissenschaftlichen  Stu- 
dium sich  widmende  Schüler  beim  Verlassen  der  Schule  in  den  Stand  gesetzt 
sei,  die  vielfachen  technischen  Anwendungen,  die  ihm  vom  Anfang  seiner  Lauf- 
bahn an  begegnen,  zu  verstehen  und  der  von  Tag  zu  Tag  zunehmenden  wirt- 
schaftlichen Bewegung  nicht  fremd  zu  bleiben.  Der  Teilung  der  zwei  aufein- 
anderfolgenden Kurse  soll  auch  eine  Verschiedenheit  der  Methode  ent- 
sprechen, der  Unterricht  im  ersten  Kursus  soll  so  anschaulich  wie  möglich 
sein,  die  wissenschaftliche  Abklärung  soll  dann  im  zweiten  Kursus  erfolgen. 
So  soll  die  Geometrie  im  ersten  Kursus  die  Begriffe  der  geraden  Linie,  der 
Ebene,  der  parallelen  Linien  usw.  auf  experimentellem  Wege  einführen,  jedes 
neue  Element  soll  von  einer  genauen  Konstruktion  mit  Zirkel  und  Lineal 
begleitet  sein,  das  geometrische  Zeichnen  tritt  von  Anfang  an  dem  geome- 
trischen Unterricht  helfend  zur  Seite.  Es  wird  in  den  realistischen  Abteilungen 
bis  zum  technischen  Maschinenzeichnen  und  den  Methoden  der  darstellenden 
Geometrie  durchgeführt.  Die  graphischen  Darstellungen  spielen  eine  wichtige 
Rolle.  Das  Eingehen  auf  die  Infinitesimalrechnung  beschränkt  sich  auf  den 
Begriff  des  Differentialquotienten  im  zweiten  Kursus  und  die  Einführung 
des  Integrals  als  Flächeninhalt,  dessen  Differentialquotient  die  Ordinate  der 
ursprünglichen  Kurve  wird,  in  der  Mathematikklasse. 

Auf  die  praktische  Anwendung  wird,  der  vorwiegend  theoretischen  Nei- 
gung der  Franzosen  entsprechend,  weniger  Rücksicht  genommen.  An  die 
Ausbildung  der  Sekundärschule  schließt  sich  noch  die  Klasse  der  Math6- 
matiques  speciales,  die  z.  B.  den  Übergang  zur  Pariser  polytechnischen  Schule 
vermittelt;  der  Lehrstoff  dieser  Klasse  wird  aber  auch  in  besonderen  Vor- 
lesungen „über  allgemeine  Mathematik"  in  den  Universitäten  behandelt.  Er 
entspricht  im  großen  und  ganzen  dem,  was  bei  uns  an  den  technischen  Hoch- 
schulen in  der  Mathematik  vorgetragen  wird. 

Die    französische   Unterrichtsreform   fand   in    den    deutschen    Gebieten 
ihren  Widerhall.     Die   veränderte   Auffassung   des  mathematischen  Unter- 
richts zeigte  sich  deutlich  in  den  auf  der  Naturforscherversammlung  in 
Meran  1905  gefaßten  Beschlüssen,  die  nicht  mehr  die  Äußerung  einer  be-  oje  Meraoor 
stimmten   Partei   oder   engeren  Interessengruppe  sind,   sondern  die  ausge-    i'^^^rpi»»« 
glichenen  Vorschläge  aller  beteiligten  Kreise  bedeuten.  Dieser  Gedanke  einer 
gemeinsamen  Arbeit  der  sämtlichen  interessierten  Fachkreise  hat  eine  Fort- 
führung gefunden  in   dem  von  den  verschiedenen   mathematischen,   natur- 
wissenschaftlichen und  medizinischen  Gesellschaften  Deutschlands  1908  ein- 
gesetzten Deutschen  Ausschuß  für  mathematischen  und  naturwissenschaft-  untemchts- 
lichen  Unterricht,  dem  der  für  die  parallelen  Aufgaben  im  technischen  Lehr-  »"^^hüsse 
betrieb    190g   gegründete  Deutsche   Ausschuß   für  technisches   Schulwesen 
gegenübersteht.  Für  den  mathematischen  Unterricht  insbesondere  ist  von  der 

K.d.G.  in,  1.  Mathematik,  A.  lO 


lAÖ  A     H.  E.  Timerding:  Die  Verbreitung  mathemat.  Wissens  u.  mathemat.  Auffassung. 

größten  Bedeutung  die  auf  dem  internationalen  Mathematikerkongreß  in 
Rom  1908  ins  Leben  gerufene  Internationale  Mathematische  Unterrichts- 
kommission geworden,  deren  internationale  Berichterstattung  über  den  Be- 
trieb und  die  Aufgaben  des  mathematischen  Unterrichts  in  dem  vollen  Um- 
fang seiner  Ausdehnung  das  Material  für  eine  zweckmäßige  Organisation  des 
ganzen  mathematischen  Unterrichtswesens  schafft.  Die  Mathematik  hat  da- 
durch mehr  als  eingeholt,  was  in  ihr  hinsichtlich  ihrer  didaktischen  Ausarbei- 
tung versäumt  worden  war.  Bei  der  geringen  Fühlung,  die  in  Deutschland 
vielfach  zwischen  der  Verwaltung  und  den  weiteren  Fachkreisen  besteht,  sind 
wir  leider  auf  die  literarische  Agitation  angewiesen.  Diese  Agitation  hat 
aber  jetzt  schon  angefangen  ihre  Früchte  zu  tragen;  die  neuerschienenen 
Lehrpläne  beginnen  der  zeitgemäßen  Ausgestaltung  des  mathematischen 
Unterrichts  gebührend  Rechnung  zu  tragen. 
Der  moderne  Dcr  Umschwung  der  Anschauungen,  der  so  im  mathematischen  Unter- 

standpunkt.  j.-^^^^  gcgcn  die  um  die  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts  herrschende  Auffas- 
sung allmählich  eingetreten  ist,  ist  der  denkbar  größte.  Damals  galt  es  geradezu 
als  verpönt,  auf  die  Wirklichkeit  anders  Bezug  zu  nehmen,  als  um  eine  nütz- 
liche Denkübung  daraus  abzuleiten,  jetzt  sollen  alle  Probleme  an  der  Wirklich- 
keit orientiert  sein.  Das  Denken  soll  sich  wohl  entwickeln,  aber  es  soll  den 
Schüler  nicht  in  leere  Phantasiegebilde  entführen,  sondern  ihn  nur  fester  an 
die  Erfassung  der  praktischen  Aufgaben  ketten.  Wir  sind  allerdings  noch  weit 
davon  entfernt,  daß  dieser  ideale  Zustand  bereits  allgemein  zur  Tatsache  ge- 
worden wäre. 
Der  Immerhin  tragen  die  neuen  Lehrpläne  den  modernen  Bestrebungen  bereits 

"untrtSchran   ^^  anerkennenswerter  Weise  Rechnung.    Als  ein  Beispiel  hierfür  können  wir 
den  preußischen  (^[q  ncucn  prcußischcn  Bestimmungen  für  die  höheren  Mädchenschulen  an- 

Mädchenschulen.  ,,.. ,  11«- -ji 

führen.  Die  Maibestimmungen  von  1 894  hatten  noch  aus  der  höheren  Madchen- 
schule die  Mathematik  ganz  fortgelassen  und  den  Rechenunterricht  auf  die 
elementarsten  Aufgaben  beschränkt.  Maßgebend  war  hierbei  der  Gedanke, 
daß  beim  Knaben  mehr  der  Verstand  und  Wirklichkeitssinn  überwiege,  beim 
Mädchen  mehr  das  Gemüt  und  die  Phantasie.  Die  Erziehung  des  Mädchens, 
die  ja  nicht  als  Vorbereitung  für  einen  bestimmten  Beruf,  sondern  für  die 
Stellung  der  gebildeten  Hausfrau  berechnet  war,  solle  die  ihr  eigentümlichen 
Eigenschaften  pflegen,  und  dazu  diene  die  literarisch -ästhetische  Bildung 
besser  als  die  Kenntnis  mathematischer  Lehrsätze  und  physikalischer  Vor- 
gänge. Dagegen  wurde  von  Seiten  der  Frauen  sehr  mit  Recht  geltend  ge- 
macht: Wenn  die  weibliche  Natur  wegen  ihrer  starken  Anlage  nach  der  Ge- 
fühlsseite hin  dem  folgerichtigen  Denken  mehr  Hindernisse  bietet  als  die 
männliche,  sei  dies  um  so  mehr  Grund,  im  Mädchenunterricht  die  Fächer  zu 
betonen,  die  eine  straffe  Verstandesschulung  hervorzubringen  geeignet  sind. 
Man  könne  überhaupt  kein  Urteil  über  die  mangelnde  Befähigung  der  Frau 
für  die  Mathematik  abgeben,  wenn  man  sie  von  aller  Beschäftigung  mit  der 
mathematischen  Wissenschaft  methodisch  fernhalte.  Wo  der  Versuch  gemacht 
worden,  sei  der  Erfolg  günstig  genug  gewesen  {Frauenbildung^  3.  Jahrg.  1 904, 


VIII,  Die  Ausgestaltung  des  modernen  mathematischen  Bildungswesens.      A  147 

S.  49,  Vortrag  von  Doblin  in  Danzig).  Unter  dem  Ansturm  der  immer  mäch- 
tiger anschwellenden  Bewegung  für  die  geistige  Emanzipation  der  Frau  trat  zu 
Beginn  unseres  Jahrhunderts  denn  auch  in  der  Auffassung  der  Behörden  ein 
Umschwung  ein,  der  seinen  Ausdruck  in  den  Augustbestimmungen  von  1908 
fand.  Die  Mathematik  zog  an  den  preußischen  Mädchenschulen  ein,  ein  Vor- 
gang, der  sich  mit  geringen  Phasenverschiebungen  in  fast  allen  Kulturstaaten 
wiederholte.  Diese  Aufnahme  der  Mathematik  in  die  Mädchenbildung  ent- 
schied eigentlich  die  geistige  Stellung  der  Frau,  und  es  bestätigte  sich  so 
wieder,  wie  sehr  doch  die  Mathematik  im  Mittelpunkt  alles  höheren  Unter- 
richtswesens steht. 

Die  Bestimmungen  von  1Q08  zeichneten  sich  aber  auch  vorteilhaft  aus, 
trotz  einiger  Mängel  in  den  Einzelheiten  der  Lehrpläne,  durch  die  fortschritt- 
liche Art,  wie  sie  die  Methodik  des  mathematischen  Schulunterrichts  auffaßten. 
Den  formalen  Ballast,  das  mechanische  Lösen  gekünstelter  Gleichungen,  das 
Vereinfachen  besonders  für  diesen  Zweck  aufgebauter  verwickelter  Ausdrücke, 
das  Einlernen  geometrischer  Definitionen  usw.  suchten  sie  über  Bord  zu  werfen, 
dafür  betonten  sie  die  Anschaulichkeit  und  die  feste  Anknüpfung  an  die  Wirklich- 
keit. Sie  empfahlen  die  Benutzung  graphischer  Darstellungen  zur  Einführung 
in  die  arithmetischen  Begriffe  und  Operationen,  sie  verlangten  einen  induktiven 
Beginn  des  geometrischen  Unterrichtes,  mit  reichlicher  Übung  im  Zeichnen: 
eine  gute,  saubere  Ausführung  der  Zeichnungen  sollte  den  ganzen  Geometrie- 
unterricht durchziehen.  Die  Sätze  sollten  auf  induktivem  Wege  entwickelt 
werden.  Auf  allen  Stufen  sollte  den  Anwendungen  unter  möglichster  Selbst- 
betätigung der  Schülerinnen  ein  breiter  Raum  gewährt  werden.  Fortwährend 
sollte  jede  Gelegenheit  benutzt  werden,  den  Schülerinnen  die  Bedeutung  des 
funktionalen  Zusammenhanges  klarzumachen.  Die  Gedanken  der  Reform- 
bewegung sind  so  dem  Wesen  nach  aufgenommen  worden.  Daß  schließlich 
in  der  Praxis  nicht  alles  so  ausfiel ,  wie  es  in  dem  Entwurf  des  Lehrplans  ge- 
dacht war,  tut  dessen  Wert  und  Bedeutung  keinen  Abbruch. 

Auch  die  neuen  Lehrpläne  der  süddeutschen  Staaten  für  die  höheren  Die  neuen 
Knabenschulen  haben  sich  im  Mathematikunterricht  dem  neuen  Geiste  gut  an-  blrgischln 
gepaßt.  Besonders  beachtenswert  sind  diese  Reformen  bei  Württemberg,  weil  Lehrpiäne. 
Württemberg  vorher  das  Schulwesen,  das  ihm  die  Reformation  gebracht  hatte, 
mit  großer  Zähigkeit  festhielt  und  nur  ungern  von  der  geheiligten  Überlieferung 
abwich.  Daher  war  der  mathematische  Unterricht,  der  in  diese  Anschauungs- 
weise schlecht  hineinpaßte,  dem  Umfange  und  der  Beschaffenheit  nach  zurück- 
geblieben. Er  spielte  eine  kümmerliche  Rolle  neben  den  sprachlich  historischen 
Fächern,  die  dem  redefreudigen^  phantasiebegabten  Schwaben  an  sich  besser 
liegen.   Auch  jetzt  ist  die  Hinneigung  zur  philosophischen  Durcharbeitung 
ein   charakteristischer  Zug  der  aufgestellten  Grundsätze  für  den  mathema- 
tischen Unterricht.  In  den  oberen  Klassen  sollen  philosophische  Rückblicke 
angestellt  werden,  welche  womöglich  im  Anschluß  an  den  Unterricht  in  der 
Philosophie  zu  geben  sind  und  besonders  die  in  der  Mathematik  üblichen  Be- 
weismethoden und  Schluß  verfahren  zum  Gegenstand  haben.  Kräftig  wird  ferner 


148  A     H.  E.  Timerding:  Die  Verbreitung  mathemat.  Wissens  u.  mathemat.  Auffassung. 

betont  die  sprachliche  Bedeutung  der  Mathematik,  die  Schüler  an  eine  formal 
und  sachlich  richtige,  kurze  und  bestimmte  Ausdrucksweise  und  Darstellung 
zu  gewöhnen.  Ebenso  soll  auf  die  geschichtliche  Entwicklung  der  mathema- 
tischen Wissenschaft  eingegangen  werden.  Aber  auch  Naturwissenschaften 
und  Technik  sollen  Berücksichtigung  finden,  Rechnung  und  Zeichnung  sollen 
gepflegt,  das  räumliche  Anschauungsvermögen  und  die  geometrische  Vor- 
stellungskraft ausgebildet  werden.  Dagegen  ist  ausdrücklich  bemerkt,  daß 
bei  den  Gleichungen  mit  mehreren  Unbekannten  nur  solche  Beispiele  be- 
handelt werden  sollen,  die  sich  ohne  besondere  Kniffe  lösen  lassen,  vermieden 
sollen  werden  alle  Konstruktions-  und  Berechnungsaufgaben,  welche  fern- 
liegende Bestimmungsstücke  enthalten,  sowie  solche,  welche  nur  durch  Kunst- 
griffe gelöst  werden  können,  unnatürliche  Textgleichungen  usw.  Sehr  weit, 
weiter  als  es  selbst  den  Führern  der  neuen  Bewegung  notwendig  scheinen 
dürfte,  ist  auf  den  württembergischen  Realanstalten  die  Infinitesimalrechnung 
und  die  darstellende  Geometrie  berücksichtigt.  Die  Realanstalten  werden  da- 
durch etwas  zu  Vorbereitungsschulen  für  die  technischen  Berufe,  was  sie 
eigentlich  doch  nicht  sein  sollen,  sie  sollen  vielmehr  eine  allgemeine  Bildung 
auf  Grund  der  realen  Fächer  und  der  neuen  Sprachen  geben. 
Gegensatz  der  Ein  Lehrplan  ist  aber  verhältnismäßig  leicht  zu  schaffen.  Viel  schwieriger 

der^neuen  ^^t  CS,  den  Unterrichtsbctrieb  umzugestalten.  Ein  guter  Lehrer,  dem  die  neuen 
A.uffassung.  Ideen  vertraut  geworden  sind,  wird  auch  im  modernen  Sinne  unterrichten,  aber 
die  älteren  Schulmänner,  die  noch  tief  in  den  alten  Anschauungen  stecken,  und 
die  vielen  mittelmäßigen  Pädagogen,  die  ihren  Unterricht  auf  die  bequemste 
Art,  ohne -allzuviel  Bemühung  um  neue  Wege  und  Ziele  abzumachen  suchen, 
sind  viel  schwerer  zu  beeinflussen.  Die  Lehrer  und  Lehrbücher  haben  die 
neuen  Gedanken  wohl  aufgenommen,  aber  die  alten  darum  nicht  aufgegeben. 
So  herrscht  zurzeit  ein  krasser  Gegensatz  in  dem  Unterrichte  selbst.  Rein  formale 
Übungen  stehen  zusammen  mit  Aufgaben  des  praktischen  Lebens  in  so  bunter 
Mischung,  daß  schwer  zu  erkennen  ist,  wo  die  einen  anfangen  und  die  an- 
deren aufhören.  Der  Gegensatz  läßt  sich  vielleicht  am  besten  an  einem  Bei- 
spiel erläutern.  Die  linearen  Gleichungen  mit  zwei  Unbekannten  bilden  einen 
Lieblingsgegenstand  des  formalen  Mathematikunterrichtes  und  werden  in  un- 
zähligen Aufgaben  behandelt.  Diese  Aufgaben  sind  künstlich  zurechtgemacht, 
meist  so,  daß  sie  eine  einfache  Lösung  ergeben,  w^ie  etwa  die  Gleichungen 
^x  -\-  2y=  12,  5x  -{-  4y='  22  die  Lösung  x=  2,  y  =  3.  Die  eigentlichen  mathe- 
matischen Probleme,  nämlich  einerseits  die  wirkliche  Ausrechnung  von  linearen 
Gleichungen  mit  mehreren  Unbekannten  auf  die  einfachste,  sicherste  und  ge- 
naueste Art,  und  ebenso  auf  der  anderen  Seite  die  theoretische  Diskussion  der 
Fälle,  wo  die  Lösung  der  Gleichungen  unbestimmt  ist  oder  die  Gleichungen 
sich  widersprechen,  bleiben  dabei  unberücksichtigt.  Der  Schüler  muß  diese 
ihm  vorgesetzten  Gleichungen  nur  für  eine  pädagogische  Erfindung  halten, 
ihren  rechten  Sinn  kann  er  auch  aus  den  Phantasieaufgaben,  auf  die  sie  an- 
gewendet werden,  nicht  erkennen.  Besser  wird  das  schon,  wenn  die  Glei- 
chungen mit  der  analytischen  Geometrie  in  Verbindung  gebracht  und  im  Falle 


and  Zeichnung.- 


VIII.  Die  Ausgestaltung  des  modernen  mathematischen  Bildungswesens.      A  149 

zweier  Unbekannten  durch  gerade  Linien,  die  der  Schüler  auf  Millimeter- 
papier zeichnet,  erläutert  werden.  So  wird  ihre  Bedeutung  anschaulicher  und 
der  Schüler  kann  die  Lösung  sofort  aus  dem  Schnittpunkt  der  beiden  gezeich- 
neten Linien  entnehmen.  Die  wirkliche  Vollständigkeit  und  Eindringlichkeit 
wird  aber  erst  erzielt,  wenn  man  etwa  den  Schüler  hinaus  ins  Feld  führt  und 
ihm  die  Aufgabe  stellt,  aus  zwei  Kirchtürmen,  die  er  erblickt  und  die  auf 
einer  ihm  vorliegenden  Karte  verzeichnet  sind,  den  Ort  zu  bestimmen,  an  dem 
er  steht.  Durch  eine  einfache  Vorrichtung  kann  er  die  Himmelsrichtung  be- 
stimmen, in  der  die  Kirchtürme  liegen,  und  danach  direkt  in  der  Karte  oder 
auf  Millimeterpapier  durch  die  Punkte,  an  denen  sich  die  Kirchtürme  befinden, 
zwei  gerade  Linien  ziehen,  deren  Schnittpunkt  seinen  Standort  liefert.  Begleitet 
er  die  Zeichnung  dann  noch  durch  eine  Rechnung,  so  hat  er  so  lebhaft  und  deut- 
lich wie  nur  möglich  erfahren,  was  zwei  lineare  Gleichungen  mit  zwei  Un- 
bekannten in  Wirklichkeit  bedeuten  können. 

Dieses  Beispiel  zeigt  zugleich,  wie  Rechnung  und  Zeichnung  das  Rechnung 
Rückgrat  des  ganzen  mathematischen  Unterrichtes  bilden  müssen. 
Das  Verständnis  einer  analytischen  Formel  wird  nur  dann  richtig  erschlossen, 
wenn  ihre  praktische  Verwendung  an  einem  konkreten  Beispiel  gezeigt  wird. 
Deshalb  hat  der  größte  aller  Mathematiker,  Gauß,  auf  das  Zahlenrechnen 
einen  sehr  großen  Wert  gelegt  und  seine  ungeheure  Fertigkeit  darin  immer 
weiter  ausgebildet.  Aber  gerade  unter  den  heutigen  Mathematikern  ist 
vielfach  die  Auffassung  vertreten,  daß  das  Zahlenrechnen  etwas  Mechanisches 
und  Unwürdiges  sei.  Daß  es  ein  im  strengen  Sinne  wissenschaftliches  Rechnen 
gibt,  wird  dabei  übersehen.  Das  einseitige  logarithmische  Rechnen,  das  wir 
auf  den  oberen  Klassen  unserer  Schulen  ausschließlich  treiben,  gibt  einen 
falschen  Begriff  von  dem  Wesen  des  wissenschaftlichen  Rechnens.  Die 
numerische  Auflösung  linearer  Gleichungen,  die  Interpolation  und  die  Auf- 
stellung empirischer  Formeln  oder  die  Bestimmung  der  Konstanten  in  theo- 
retischen Formeln  in  Zusammenhang  mit  der  Praxis  des  Beobachtens  und 
Experimentierens  bilden  eine  notwendige  Ergänzung.  Auch  der  Betrieb  des 
Zeichnens  auf  unseren  Schulen  ist  einer  Verbesserung  noch  vielfach  bedürftig. 
Daß  von  einem  Zeichenlehrer  geometrisches  Zeichnen  gegeben  wird,  nützt 
nichts,  wenn  der  Schüler  gleichzeitig  im  mathematischen  Unterricht  die  Figuren 
zu  seinen  geometrischen  Aufgaben  nur  mangelhaft  ausführt  und  ihm  nicht  von 
Anfang  an  ein  Begriff  von  der  wirklichen  Praxis  des  geometrischen  Zeich- 
nens im  engen  Zusammenhang  mit  der  mathematischen  Entwicklung  gegeben 
wird.  Die  geometrischen  Sätze  bedeuten  Tatsachen,  die  sich  an  der  Erfahrung 
durch  die  Herstellung  einer  genauen  Zeichnung  ebenso  wie  die  physikalischen 
Tatsachen  durch  Experiment  und  Beobachtung  prüfen  lassen.  Wenn  das  aber 
im  Unterricht  nie  hervortritt,  vielmehr  die  gleich  unvollkommenen  Zeichnun- 
gen des  Lehrers  an  der  Wandtafel  und  des  Schülers  in  seinem  Heft  nur  als 
Erklärung  für  die  gebrauchten  Bezeichnungen  dienen,  so  ist  der  Schüler 
trotz  aller  logischen  Feinheit  der  Beweise  nur  zu  geneigt,  die  ganzen  Sätze 
für  eine  Erfindung  der  Pädagogen  zu  halten,  ihr  Wert  und  ihre  wirkliche  Be- 


1 50  A     H.  E.  Timerding:  Die  Verbreitung  mathemat.  Wissens  u.  mathemat.  Auffassung. 

deutung  dämmern  ihm  nicht  auf.  Wie  rückständig  hierin  unser  Schulunter- 
richt ist,  geht  schon  daraus  hervor,  daß  die  alten  griechischen  Konstruktions- 
methoden vielfach  noch  unverändert  beibehalten  werden,  trotzdem  wir  nicht 
wie  die  Griechen  auf  einer  mit  Sand  bestreuten  Fläche  oder  einer  Wachstafel, 
sondern  auf  dem  Papier  mit  Reißschiene  und  Dreiecken  zeichnen.  Kein  ver- 
nünftiger Mensch  zeichnet  eine  parallele  Linie,  indem  er  mit  Hilfe  des  Zirkels 
ein  Parallelogramm  konstruiert,  sondern  einfach,  indem  er  ein  Zeichendreieck 
an  dem  anderen  entlanggleiten  läßt.  Der  Schulunterricht  darf  nicht  der  Praxis 
derart  ins  Gesicht  schlagen. 
Verbindung  Gcwlß   müsscu  wir  uns  vor  seichter  Nützlichkeitskrämerei  hüten  und 

rl^Jn MomrntM. ^^^f®^  uicht  bci  allem,  was  in  der  Schule  getrieben  wird,  fragen,  ob  der 
Schüler  später  Gelegenheit  haben  wird,  das  Gelernte  praktisch  zu  verwerten. 
Die  Bedeutung  des  Mathematikunterrichtes  als  einer  Schule  des  abstrakten 
Denkens  soll  nicht  unterschätzt  und  beseitigt  werden.  Aber  das  abstrakte 
Denken  braucht  nicht  an  Aufgaben  geübt  zu  werden,  die  jeder  praktischen 
Verwendbarkeit,  allem  realen  Sinn  Hohn  sprechen.  Abstraktes  Denken  be- 
deutet nicht  eine  Abkehr  von  der  Wirklichkeit,  es  bedeutet  die  Beherrschung 
der  Wirklichkeit  durch  die  Kraft  des  Geistes.  Gewiß  behält  der  alte  Gedanke 
seine  Bedeutung,  daß,  was  auch  der  Schüler  gelernt  haben  mag,  wenn  er  seinen 
Geist  dadurch  gebildet  hat,  er  einen  Gewinn  mit  ins  Leben  hinaus  nimmt.  Aber 
gerade  dadurch  hat  der  Mathematikunterricht  gefehlt,  daß  er  sich  so  verhielt, 
als  ob  der  Schüler  für  den  Beruf  des  Mathematikers  ausgebildet  werden  sollte. 
Die  ganze  Mathematik  wurde  einfach  in  zwei  Teile  geteilt,  von  denen  der 
leichtere  der  Schule,  der  schwerere  der  Universität  zugeschoben  wurde.  Die 
Scheidung  wurde  so  methodisch  wie  möglich  begründet,  aber  man  vergaß 
dabei,  daß  die  Schulbildung  in  sich  einen  Abschluß  bedeuten  muß,  weil  ja 
die  Schüler  nur  in  seltenen  Fällen  gerade  die  Mathematik  als  Lebensberuf 
ergreifen  werden.  Die  Frage  durfte  nicht  so  gestellt  werden:  was  kann  von 
der  mathematischen  Fachausbildung  der  Schule  zuerteilt  werden?  sondern: 
was  kann  von  der  Mathematik  innerhalb  der  für  die  Schule  gesteckten  Gren- 
zen der  allgemeinen  Bildung  dienen?  Zur  allgemeinen  Bildung  gehört  nun 
sicher  nicht  eine  so  ausgebildete  Fertigkeit  in  der  Ausführung  algebraischer 
Operationen  und  geometrischer  Konstruktionen,  wie  man  sie  im  Schulunter- 
richt zu  erreichen  suchte.  Welchen  inneren  oder  äußeren  Gewinn  hat  der 
Schüler  davon,  wenn  er  einen  komplizierten  Wurzelausdruck  reduzieren  oder 
ein  Dreieck  kunstfertig  aus  den  Höhen  oder  den  Mittellinien  konstruieren 
kann?  Es  läßt  sich  darauf  nicht  entgegnen,  daß  diese  Fertigkeiten  selbst  gar 
nicht  ausgebildet  werden  sollen,  sondern  daß  sie  nur  zur  Einprägung  all- 
gemeiner mathematischer  Wahrheiten  dienen.  Es  wird  in  der  Tat  gar  keine 
Gewähr  dafür  geboten,  daß  der  Schüler  die  Mathematik  innerlich  durch- 
drungen hat,  wenn  ihm  die  Lösung  bestimmter  Aufgaben  mechanisch  ein- 
gedrillt ist.  Gewiß  ist  eine  bestimmte  Übung  im  Gebrauche  der  Formeln 
und  Sätze  bei  der  Mathematik  unerläßlich,  aber  diese  Übung  braucht  nicht 
in  das  Einüben  von  unzähligen  Aufgaben  und  Beispielen  für  die  gelernten 


VIII.  Die  Ausgestaltung  des  modernen  mathematischen  Bildungswesens.      A  r  5 1 

Sätze  auszuarten,  viel  wichtiger  ist,  ihre  wirklich  praktische  Verwendung 
zu  geben;  denn  erst  durch  die  Übertragung  in  die  Wirklichkeit  lernt  der 
Schüler  begreifen,  um  was  es  sich  handelt.  Weniger,  aber  gut  durchge- 
führte und  wirklich  praktische  Beispiele,  das  wäre  die  Forderung,  die  für  eine 
gedeihliche  Ausgestaltung  des  mathematischen  Unterrichts  zu  erheben  ist. 

Wir  müssen  eben  bedenken,  daß  nicht  die  Erlangung  bestimmter  Fertig-  Bedeutung  der 
keiten,  sondern  außer  der  Klärung  des  Denkens  das  Verständnis  für  bestimmte  die  aUg^meinen 
Erscheinungen  der  Natur  und  bestimmte  Erzeugnisse  der  menschlichen  Kultur  ^^chuien. 
das  Ziel  des  mathematischen  Unterrichtes  ist.  Wenn  es  im  allgemeinen  für  die 
höheren  Schulen  eine  Herabsetzung  bedeutet,  sie  auf  praktische  Zwecke  zu- 
schneiden zu  wollen,  so  ist  doch  bei  der  Mathematik  die  Hervorhebung  des 
realen  Moments  wirklich  berechtigt,  denn  gerade  an  den  praktischen  Problemen 
zeigt  die  Mathematik  ihre  formalen  Vorzüge  am  unwiderleglichsten.  Es  ist  nicht 
richtig,  daß  sich  durch  die  Mathematik  mehr  wie  durch  jede  andere  Wissen- 
schaft das  logische  Denken  erziehen  läßt,  denn  die  Mathematik  gründet  sich 
wie  alle  Wissenschaften  auf  der  Bildung  bestimmter  Ideenverbindungen  und 
nicht  einfach  auf  der  logischen  Zergliederung  eines  gegebenen  Tatbestandes. 
Kein  mathematischer  Beweis  läßt  sich  selbst  rein  logisch  deduzieren,  er  be- 
ruht immer  auf  einem  glücklichen  Einfall,  durch  den  der  Entdecker  des  Be- 
weises darauf  kommt,  welche  Sätze  und  Schlüsse  in  dem  besonderen  Falle 
den  gesuchten  logischen  Zusammenhang  liefern.  Die  formalenVorzüge,  welche 
die  Mathematik  besitzt  und  die  sie  für  die  Verwendung  im  Unterricht  besonders 
geeignet  machen,  bestehen  in  der  Gewöhnung  an  eine  bestimmte  Art  der  Ab- 
straktion, die  Auffassung  von  Maß  und  Form  in  den  Gegenständen  der  wirk- 
lichen Welt  und  damit  ihre  exakte,  wenn  auch  nüchterne  Bestimmung,  in  der  Er- 
ziehung zu  einer  ruhigen  Sachlichkeit,  die  von  allem  persönlichen  Empfinden 
unabhängig  ist,  der  Erweckung  des  logischen  Gewissens,  das  Bewiesenes  von 
Unbewiesenem  gehörig  trennt.  Dazu  kommt  noch  ein  Vorzug,  der  gewöhnlich 
unterschätzt  wird:  in  der  Mathematik  ist  es  eine  wesentliche  Aufgabe,  die  Ge- 
samtheit der  möglichen  Fälle  vollständig  zu  überblicken  und  nicht  einen  ent- 
legenen, unbequemen  Sonderfall  zu  vernachlässigen,  und  dieses  Überschauen 
der  Gesamtheit  aller  Möglichkeiten  ist  auch  für  die  Analyse  jedes  vorliegenden 
Tatbestandes,  wo  immer  er  sich  darbietet,  unerläßlich.  Mit  der  formalen  Be- 
deutung der  Mathematik  steht  in  engem  Zusammenhange  ihr  Wert  für  die  Aus- 
bildung des  sprachlichen  Ausdrucks.  Die  Darstellung  mathematischer  Dinge 
läßt  keinen  rhetorischen  Prunk  zu,  der  Wortschatz,  der  gebraucht  wird,  ist 
ein  sehr  beschränkter,  aber  was  verlangt  wird,  ist  vollkommene  Klarheit  in 
den  Aussagen  und  deutliche  Hervorhebung  der  logischen  Gedankenverbin- 
dung. So  wird  der  mathematische  Stil  wohl  einfach  und  nüchtern,  aber  klar 
und  durchsichtig  sein,  und  das  sind  in  unserer  der  Phrase  abholden  Zeit  große 
Vorzüge.  Leider  wird  die  sprachliche  Durcharbeitung  des  mathematischen 
Lehrstoffes  auf  der  Schule  häufig  wenig  gepflegt,  und  dann  wirkt  der  mathe- 
matische Unterricht  nur  ungünstig  auf  den  Stil  des  Schülers  ein,  er  gewöhnt 
ihn  an  eine  unschöne,  nachlässige  Ausdrucksweise. 


Anwenduags- 


Physik. 


1 52  A     H.  E.  Timerding:  Die  Verbreitung  mathemat.  Wissens  u.  mathemat.  Auffassung. 

Neben  diese  formale  Bedeutung,  die  früher  als  der  Hauptvorzug  des  ma- 
gebieteder    thematischen  Unterrichtes  galt,  tritt  für  uns  aber  auch  ihre  Bedeutung  für 

Mathematik.  ••!-»• 

bestimmte  Anwendungsgebiete.  Durch  die  Rücksichtnahme  auf  diese  wird 
allerdings  die  Notwendigkeit  geschaffen,  die  mathematische  Belehrung  mit 
verwandten  Fächern  zu  verquicken.  Unter  diesen  Fächern  ist  zunächst  die 
Physik  anzuführen,  die  ja  auch  einen  Lehrgegenstand  der  Schule  bildet  und 
mit  der  der  mathematische  Unterricht  sich  in  enger  Fühlung  halten  muß ,  teils 
indem  er  für  den  mathematischen  Ausdruck  der  physikalischen  Abhängig- 
keiten dem  Schüler  das  Verständnis  eröffnet,  teils  auch,  indem  er  umgekehrt 
das  in  der  Physik  Gelernte  zur  Begründung  der  mathematischen  Vorstellungen 
verwertet.  So  spielt  z.  B,  bei  der  Einführung  des  Differentialquotienten  dessen 
physikalische  Verwendung,  insbesondere  sein  Auftreten  als  Geschwindigkeit 
und  Beschleunigung,  eine  große  Rolle,  und  der  Ausdruck  für  die  mechanische 
und  thermische  Arbeit,  wie  er  an  der  Wärmekraftmaschine  wirkungsvoll  er- 
läutert werden  kann,  bildet  ein  wichtiges  Beispiel  für  das  Integral;  er  tritt 
in  dem  von  der  Kraftmaschine  selbsttätig  aufgezeichneten  Indikatordiagramm 
unmittelbar  als  Fläche  in  die  Erscheinung.  Neben  der  Physik  sind  Geodäsie 

Geodäsie 

und  Astronomie,  und  Astronomie  zu  nennen,  die  in  unseren  heutigen  Lehrplänen  nicht  mehr 
als  besonderes  Lehrfach  auftreten,  sondern  nur  als  „mathematische  Geographie" 
einen  Teil  des  mathematischen  Unterrichtes  bilden.  Eine  gewisse  Belehrung 
über  astronomische  Dinge  ist  ein  unbedingtes  Erfordernis  der  allgemeinen 
Bildung.  Über  den  jährlichen  Lauf  der  Sonne  am  Himmel  sollte  ein  jeder 
Bescheid  wissen.  Aber  gerade  hierin  herrscht  oft  die  krasseste  Unwissen- 
heit. Dies  liegt  weniger  daran,  daß  es  in  der  Schule  nicht  gelehrt  worden 
ist,  als  daran,  daß  der  Schulunterricht  die  rechte  Verbindung  mit  der  wirk- 
lichen Beobachtung  nicht  zu  finden  gewußt  hat.  Astronomie  läßt  sich  nicht 
allein  im  Schulzimmer  treiben.  Die  Praxis  des  Beobachtens,  wenn  auch  in 
der  einfachsten  Form,  ohne  besondere  Instrumente,  gehört  unbedingt  dazu. 
Ebenso  ist  es  auch  mit  der  Trigonometrie  als  der  Grundlage  der  Feld-  und 
Erdmessung.  Auch  die  feinst  ausgetiftelten  Aufgaben  können  nicht  das  er- 
setzen, was  die  einfachste  praktische  Messung  leistet.  Lasse  man  einmal  den 
Schüler  eine  Landkarte  oder  einen  Lageplan  auf  Grund  eigener  Messungen 
herstellen,  er  wird  mehr  Gewinn  davon  haben  als  von  der  geschicktesten 
Belehrung  im  Klassenzimmer.  Hierbei  spricht  neben  dem  allgemeinen  Interesse 
noch  ein  besonderes,  sozusagen  nationales  Moment  mit.  Die  Schüler  unserer 
höheren  Lehranstalten  sollen  einmal  in  der  Armee  dienen  und  dabei  ist  für 
sie  die  Fähigkeit  des  Orientierens  im  Felde  von  großer  Bedeutung. 

Eine  cfanz  andere  Art  mathematischer  Anwenduncf  wird  durch  das  bürg- er- 

»um  bürgerlichen  liehe  Leben  und  die  kaufmännische  Praxis  gegeben.  Solange  man  nicht 
■\Yirtschaftskunde  als  besonderes  Fach  in  unseren  höheren  Schulen  einführt, 
wird  dem  mathematischen  Unterricht  die  Aufgabe  zufallen,  den  Schüler  über 
diese  Dinge  zu  belehren.  Dadurch  wird  dieser  Unterricht  allerdings  mit  vielem 
sachlichen  Material  belastet,  aber  es  wird  auch  die  Möglichkeit  gegeben,  einige 
der  wichtigsten  und  nutzbringendsten  Anwendungen  der  Mathematik  zu  be- 


VIII.  Die  Ausgestaltung  des  modernen  mathematischen  Bildungswesens.      A  153 

rücksichtigen.  Allerdings  wird  hierbei  von  dem  Lehrer  viel  Takt  und  Fein- 
gefühl gefordert,  denn  einerseits  gilt  es,  die  nur  dem  Namen  nach  praktischen, 
in  Wirklichkeit  rein  formalen  Rechnungen  zu  vermeiden,  die  sich  als  Termin- 
rechnung, Gesellschaftsrechnung,  Mischungsrechnung  usw.  noch  von  Lionardo 
Pisano  her  in  unseren  Aufgabensammlungen  erhalten  haben,  anderseits  darf 
aber  auch  der  Unterricht  nicht  in  einen  kaufmännischen  Fachunterricht  aus- 
arten, denn  abgesehen  von  allem  anderen  fehlen  dem  Schüler,  der  außerhalb 
des  praktischen  Lebens  steht,  die  realen  Grundlagen  für  das  rechte  Verständnis 
einer  solchen  Unterweisung. 

Endlich  muß   der  mathematische  Unterricht  der  höheren  allgemeinen 

=>  Fühlung 

Schulen  auch  in  einer  bestimmten  Beziehung  zu  den  Aufgaben  der  Technik  mit  der  Technik, 
stehen.  Unsere  heutige  Kultur  läßt  es  geboten  erscheinen,  daß  jeder  Gebildete 
für  die  Erscheinungen  auf  technischem  Gebiet  ein  gewisses  Verständnis  zeigt. 
Besonders  ist  dies  für  Kaufleute  und  Verwaltungsbeamte  direkt  ein  Erforder- 
nis ihres  Berufes.  Die  hierzu  nötigen  Kenntnisse  oder  wenigstens  die  Grund- 
lagen dafür  müssen  sie  sich  aber  auf  der  Schule  erwerben.  Es  kann  der  Schul- 
unterricht gewiß  nicht  im  einzelnen  auf  technische  Probleme  eingehen,  er 
kann  nur  die  allgemeinen  Gesichtspunkte  hervorheben.  Ein  Teil  dieser  Auf- 
gabe muß  zweifellos  dem  physikalischen  Unterricht  zufallen,  es  wird  ja  auch 
z.  B.  die  Dampfmaschine,  der  Elektromotor  usw.  im  physikalischen  Unterricht 
besprochen,  wenn  da  auch  manches  noch  der  Verbesserung  fähig  wäre.  Dem 
mathematischen  Unterricht  fällt  zunächst  die  Erweckung  des  Verständnisses 
für  die  technische  Zeichnung  zu.  Die  Form  einer  Maschine  oder  eines 
Gebäudes  aus  den  technischen  Zeichnungen  zu  erkennen,  ist  etwas,  was  erst 
gelernt  werden  muß.  Den  Grundriß  seiner  eigenen  Wohnimg  richtig  zu  ver- 
stehen sollte  aber  schließlich  jeder  gebildete  Mensch  imstande  sein.  Ebenso 
sollte  er  auch  das  Verständnis  für  die  Maßskizze  eines  Handwerkers  besitzen 
und  nötigenfalls  selbst,  wenn  er  ein  neues  Gerät  für  seine  Wohnung  braucht, 
seinem  Tischler  eine  solche  Skizze  in  die  Hand  geben  können.  Abgesehen 
von  dem  persönlichen  Vorteil  wird  so  die  Fühlung  mit  der  gewerblichen  Tätig- 
keit und  dadurch  mit  dem  kulturellen  Leben  eine  viel  engere  und  innigere. 
So  sollte  im  Geometrietmterricht  nicht  bloß  ein  Erläutern  der  technischen 
Zeichnungen,  sondern  auch  ein  Herausheben  geeigneter  Aufgaben  geome- 
trischen Charakters  aus  der  Technik,  deren  es  genug  gibt,  Platz  greifen.  Es 
kann  sich  allerdings  nur  um  gelegentliche  Beispiele,  nicht  aber  um  ein  Ein- 
gehen auf  größere  technische  Probleme  handeln. 

Von  großem  Wert  erscheint  auch  das  historische  Moment  im  mathe- 
matischen Unterricht  Wenn  dem  Schüler  nicht  bloß  die  mathematischen  Tat-  Gtßichtsp^mkte. 
Sachen  vorgelegt  werden,  sondern  ihm  auch  erzählt  wird,  wie  sie  sich  in  der  ge- 
schichtlichen Entwicklung  ergeben  haben,  welch  große  persönliche  Leistung 
in  ihnen  steckt,  wie  sie  in  Zusammenhang  stehen  mit  der  ganzen  menschüchen 
Kulturent Wicklung,  so  wird  dem  Schüler  am  ehesten  das  Verständnis  für  den 
lebendigen  Geist  aufgehen,  der  in  den  mathematischen  Formeln  und  Figuren 
atmet 


154  ■'^     H.  E.  Timerding:  Die  Verbreitung  mathemat.  Wissens  u.  mathemat.  Auffassung. 

Volks-  und  Die  gleiche  Aufgabe,  wie  sie  der  mathematische  Unterricht  an  den  höheren 

Bürgerschulen,  g^^j-^^^gj^  2u  erfüllen  hat,  wiederholt  sich  in  einer  anderen  Form  wieder  bei  den 
Volks-  und  Bürgerschulen.  Nur  tritt  hier  die  theoretische  Seite  des  Unter- 
richts noch  mehr  zurück.  Die  logische  Entwicklung  muß  noch  weiter  beschränkt, 
die  Resultate  müssen  viel  mehr  empirisch  anschaulich  entwickelt  werden.  Die 
Fühlung  mit  der  Wirklichkeit  tritt  derart  noch  unmittelbarer  und  kräftiger 
hervor,  um  so  mehr,  als  der  Zögling  der  Volksschule  ja  später  nicht  durch 
geistige  Tätigkeit,  sondern  durch  die  Arbeit  seiner  Hände  sein  Brot  verdienen 
muß.  Das  ist  aber  lange,  so  entschieden  es  schon  Pestalozzi  betont  hat,  außer 
acht  gelassen  worden.  Erst  heute  beginnt  der  alte  formale  Betrieb  des  Rech- 
nens durch  die  Berücksichtigung  des  praktischen  Lebens  gebessert  zu  werden, 
der  durch  die  Pestalozzische  Richtung  an  die  Volksschule  gekommene  Raum- 
lehreunterricht, d.  h.  elementare  Geometrieunterricht,  in  eine  Erziehung  der 
Anschauung  für  die  regelmäßig  gestalteten  Raumformen  im  Kinde  mit  Rück- 
sicht auf  seinen  späteren  praktischen  Beruf  auszumünden.  Dieser  Unterricht 
bildet,  richtig  geleitet,  eine  zweckmäßige,  ja  notwendige  Vorbereitung  auf 
das  Fachzeichnen  der  gewerblichen  Fortbildungsschule,  wie  überhaupt  eine 
engere  Fühlungnahme  der  Volksschulen  mit  den  niederen  Fachschulen  der 
großen  Aufgabe  der  Volkserziehung  nur  zum  Segen  gereichen  kann.  Die 
Voraussetzung  hierfür  ist  allerdings  auch  eine  zeitgemäße  Ausgestaltung  der 
Die  Lehrerbildungsanstalten,  die  jetzt  wohl  im  Werden  ist,  aber  fast  ebenso 

Lehrerseminare,  gj-g^j-j^^  ^jg  (jjg  höheren  Schulctt  gegen  übcrkommenc  Vorurteile  anzukämpfen 
hat.  Der  mathematische  Unterricht  ist  an  den  Lehrerseminaren  insofern  etwas 
anders  gestellt  wie  an  den  allgemeinen  höheren  Schulen,  als  die  spätere  Ver- 
wertung des  Gelernten  von  vornherein  feststeht.  Es  ist  sozusagen  ein  Seiten- 
stück zu  der  Ausbildung  der  höheren  Lehrer  auf  den  Universitäten,  auch  hier 
soll  ja  das  Gelernte  über  das  später  im  eigenen  Unterricht  Gelehrte  weit  hinaus- 
gehen, trotzdem  soll  der  Zweck,  für  den  es  erworben  wird,  nicht  aus  dem  Auge 
verloren  werden. 

Die  Fachschulen.  Viel  sichcrcr,  als  es  an  den  durch  allgemeine  Ziele  bestimmten  allgemeinen 

Schulen  möglich,  ist  an  den  Fachschulen  Umfang  und  Methode  des  mathe- 
matischen Unterrichts  umgrenzt.  Auf  seine  Eigenart  einzugehen  ist  aber  nur 
möglich,  wenn  die  Einzelheiten  des  mathematischen  Lehrstoffes  als  bekannt 
vorausgesetzt  werden  können,  und  würde  selbst  dann  viel  zu  viel  Raum  bean- 
spruchen, als  daß  es  sich  an  dieser  Stelle  durchführen  ließe.  Wir  müssen  uns  des- 
halb auf  einige  allgemeine  Bemerkungen  beschränken.  Wir  können  in  der  Art, 
wie  die  Mathematik  zur  Verwendung  gelangt,  drei  Stufen  unterscheiden:  eine 
niedere,  mittlere  und  höhere.  Die  niedere  Stufe  ist  die  derLehrlingsschulen. 
Sie  läßt  sich  im  allgemeinen  kurz  dadurch  kennzeichnen,  daß  die  mathema- 
tische Belehrung  vom  Fachunterricht  überhaupt  nicht  getrennt  erscheint.  Un- 
mittelbare Anwendbarkeit  des  Gelernten  muß  hier  die  Richtschnur  bilden.  Da- 
durch ergibt  sich  eine  Eigenart  des  Unterrichts  an  diesen  Anstalten,  die  sich 
allerdings  erst  allmählich  auszubilden  beginnt,  die  aber  dieser  für  unsere  so- 
zialen und  wirtschaftlichen  Verhältnisse  außerordentlich  wichtigen  Schulgat- 


VIII.  Die  Ausgestaltung  des  modernen  mathematischen  Bildungswesens.      A  155 

tung  auch  ein  besonderes  methodisches  Interesse  verleiht.  Nirgends  ist  das 
Band  zwischen  Wissen  und  Schaffen  ein  so  enges  wie  hier,  nirgends  aber 
zeigt  sich  gleichzeitig  so  deutlich  und  klar  die  Bedeutung  der  theoretischen 
Einsicht  auch  für  die  einfachste  Berufsarbeit.  Die  mittlere  Stufe  der  Fach- 
schulen ist  die,  wo  wohl  ein  gesonderter  mathematischer  Unterricht  erteilt 
wird,  aber  in  vorsichtig  beschränkter  Form.  Im  einzelnen  lassen  sich  hier 
noch  sehr  viel  Grade  unterscheiden;  z.B. sind  die  niederen  von  den  mittleren 
technischen  Fachschulen  zu  trennen.  An  den  niederen  Fachschulen,  den  Ge- 
sellenschulen, wird  gewöhnlich  nur  ein  Unterricht  in  den  Elementen  der 
Algebra  und  der  Geometrie  erteilt,  an  den  mittleren  technischen  Fach- 
schulen geht  der  mathematische  Unterricht  bis  zur  analytischen  Geometrie  und 
der  Infinitesimalrechnung  hinauf.  Die  immer  noch  sehr  beliebte  Sonderung  der 
Mathematik  in  einzelne  Fächer  hat  für  diese  Schulgattungen  übrigens  nur 
einen  sehr  problematischen  Wert,  viel  richtiger  wäre  es,  wie  es  bei  den  tech- 
nischen Hochschulen,  allerdings  unter  Absonderung  der  sogenannten  darstellen- 
den Geometrie,  jetzt  meistens  geschieht,  die  gesamte  sich  als  zweckmäßig  er- 
weisende mathematische  Belehrung  als  ein  Unterrichtsgebiet  zu  behandeln.  Die 
mathematische  Darstellung  wird  an  technischen  Fachschulen  weniger  nach 
wissenschaftlicher  Feinheit  als  nach  praktischer  Brauchbarkeit  zu  streben 
haben,  ohne  daß  sie  darum  weniger  anmutig  zu  werden  und  in  eine  Ansammlung 
zusammenhangloser  Einzelheitenauszuartenbraucht.  Wenn  man  auch  unnötiges 
Theoretisieren  vermeiden  soll,  so  braucht  doch  die  Belehrung  nicht  verstümmelt 
zu  werden  aus  Angst  davor,  an  einer  Stelle  mehr  zu  bringen  als  unbedingt 
erforderlich  ist.  Merkwürdigerweise  beobachtet  man  gerade  bei  Lehrern,  die 
aus  einer  praktischen  Schule  stammen,  den  Hang  zum  Formalismus;  sie  glauben 
ihn  anscheinend  dem  Gegenstande  schuldig  zu  sein,  während  doch  nur  die  zu 
lösende  praktische  Aufgabe  die  mathematische  Behandlung  bestimmt. 

Bei  den  höheren  Fachschulen  und  auch  bei  den  technischen  Hoch-  Antimathema- 
schulen  hat  sich,  was  den  mathematischen  Unterricht  betrifft,  in  Deutschland  in  o^eutschiand. 
eine  eigentümliche  Erscheinung  gezeigt.  Die  Furcht  vor  langatmigen  mathema- 
tischen Entwicklungen,  welche  die  Ausbildung  des  Zöglings  für  seinen  Beruf 
hintanhalten,  hat  vielfach  dazu  getrieben,  die  mathematische  Unterweisung 
zurückzudrängen  oder  überhaupt  zu  beseitigen,  sie  hat  eine  entschiedene 
antimathematische  Strömung  gezeitigt.  Um  diese  Strömung  zu  verstehen,  muß 
man  sich  die  eigentümliche  Stellung  der  Mathematik  inmitten  der  verschie- 
denen wissenschaftlichen  Disziplinen  vergegenwärtigen.  Im  Wesen  handelt 
es  sich  um  den  Gegensatz  der  deduktiven  und  induktiven  Methode  und 
ein  Vordrängen  der  Induktion  als  der  Wirklichkeit  unmittelbarer  und  unbe- 
fangener angepaßt.  Daß  sich  der  Gegensatz  der  Methoden  zu  einer  Art  Rang- 
streitigkeit steigert,  ist  vielleicht  nur  in  unserer  deutschen  Eigenart  begründet. 
Wir  können  uns  die  Sachlage  so  klarmachen:  Die  Anwendungen  der  Mathe- 
matik erstrecken  sich  auf  der  einen  Seite  in  das  Gebiet  des  menschlichen 
Lebens  hinein,  dahin  gehören  die  kaufmännische  Arithmetik,  die  Versicherungs- 
rechnung, die  mathematische  Statistik  und  die  Versuche,  die  Mathematik  auf 


156  A     H.  E.  Timerding:  Die  Verbreitung  mathemat.  Wissens  u.  mathemat.  Auffassung. 

die  wirtschaftlichen  Erscheinungen  anzuwenden.  Auf  dieser  Seite  tritt  der 
Mathematik  die  historische  Forschung  entgegen.  Man  macht  geltend,  daß  die 
Vorgänge  im  wirtschaftlichen  Leben  zu  mannigfaltig  und  verwickelt  sind,  um 
sie  ebenso  wie  die  physikalischen  Vorgänge  einer  quantitativen  Analyse  durch 
die  mathematische  Behandlung  unterwerfen  zu  können.  Dagegen  erschließe 
die  Betrachtung  der  geschichtlichen  Entwicklung  wirklich  die  qualitative 
Eigenart  unserer  gesellschaftlichen  Zustände.  Die  andere  Seite  der  mathe- 
matischen Anwendungen  liegt  auf  dem  Gebiete  der  Naturwissenschaft,  in  die 
sie  durch  die  Mechanik  und  die  theoretische  Physik  so  ungezwungen  hinüber- 
gleitet, daß  sich  die  Grenzen  fast  völlig  verwischen.  Hier  erwächst  ihr  aber 
eine  Feindschaft  in  der  experimentellen  Untersuchung.  Eine  solche  Feindschaft 
besteht  nicht  von  Haus  aus.  Im  Gegenteil  greifen  mathematische  und  experi- 
mentelle Forschung  beständig  ineinander  über.  Die  experimentellen  Unter- 
suchungen Faradays  mußten  erst  von  Maxwell  mathematisch  durcharbeitet 
werden,  ehe  auf  den  Folgerungen  dieser  Theorie  Hertz  seine  grundlegenden 
Versuche  aufbaute,  und  wiederum  mußte  erst  Lorentz  vom  theoretischen 
Standpunkte  aus  die  Elektronentheorie  entwickeln,  ehe  man  die  elektrisch  ge- 
ladenen Teilchen  in  einzelnen  experimentell  gefundenen  Strahlungsarten  wirk- 
lich erkannte.  Aber  in  der  Erziehung  erhebt  sich  das  Verlangen  nach  einer 
überwiegend  experimentellen  Ausbildung  schon  in  der  Physik  und  in  noch  viel 
stärkerem  Maße  in  der  Chemie  und  der  auf  den  Resultaten  der  Naturforschung 
aufbauenden  Technik.  Am  stärksten  ist  die  Zurückdrängung  in  der  Architek- 
tur, wo  überhaupt  das  Technische  gegen  das  Künstlerische  zurücktritt.  So 
Verhalten  der  "^^^  2-  ^-  ^^^  ^®^  Ausbildung  der  Architekten  an  den  norddeutschen  techni- 
verscbiedenen  sehen  Hochschulcn  dcr  die  Festigkeitslehre  vortragende  Dozent  die  erforder- 
lichen mathematischen  Kenntnisse  in  seinen  Vortrag  hineinverweben,  weil  der 
mathematische  Lehrgang,  der  für  die  Zwecke  der  Architekten  eingerichtet  ist, 
von  diesen  selten  besucht  wird.  Dieselbe  Tendenz  herrscht  auch  an  den  Forst- 
akademien vor,  an  denen  man  ebenfalls  die  mathematischen  Hilfskenntnisse 
mit  der  fachlichen  Unterweisung  zu  verschmelzen  sucht.  Ebenso  wollen  auch 
die  Handelshochschulen  bei  uns  in  Deutschland  von  einem  besonderen 
mathematischen  Unterricht  absehen,  während  in  anderen  Ländern  die  Mathe- 
matik an  diesen  Anstalten  schon  ihres  formalen  Bildungswertes  wegen  eine 
gründliche  Berücksichtigung  findet.  Dabei  wird  von  den  deutschen  Handels- 
hochschulen übersehen,  daß  die  für  die  kaufmännischen  Aufgaben,  die  Ver- 
sicherungsrechnung, die  Statistik  usw.  erforderliche  Mathematik  einen  ganz 
bestimmten  realen  Charakter  hat,  der  durch  die  von  ihr  behandelten  Probleme 
mit  Notwendigkeit  bestimmt  und  in  seiner  Eigenart  auch  durch  einen  zusammen- 
hängenden Unterricht  zur  Geltung  kommen  muß.  Es  ist  schwer  abzusehen,  wie 
die  Handelslehrer,  die  an  den  Handelshochschulen  ausgebildet  werden  und 
später  zum  großen  Teil  die  kaufmännische  Mathematik  unterrichten  sollen,  eine 
solche  mathematische  Ausbildung  völlig  entbehren  können.  Auch  an  unseren 
Militärakademien  herrscht  zurzeit  in  schroffem  Gegensatz  zu  den  Wünschen 
eines  Scharnhorst  im  allgemeinen  dieselbe  Tendenz,  die  Mathematik  nach  Mög- 


VIII.  Die  Ausgestaltung  des  modernen  mathematischen  Bildungswesens.      A  157 

lichkeit  zurückzuschieben  oder  wenigstens  sie  dem  Berufsmathematiker  zu  ent- 
ziehen. An  den  Bergakademien  ist  Mathematik  und  Mechanik  verschmolzen 
worden,  angebUch  um  die  AnschauHchkeit  des  Unterrichts  zu  gewährleisten, 
indem  die  Maschinen,  die  der  Bergwerksbetrieb  benutzt,  die  Demonstrations- 
objekte bilden,  so  daß  die  schließliche  Anwendung  des  vorgetragenen  mathe- 
matischen Lehrstoffes  diesen  von  Anfang  an  bestimmt.  Die  so  fast  überall  er- 
strebte Verschmelzung  der  Mathematik  mit  dem  Fachunterricht  ist  jedoch  in 
Wirklichkeit  nur  da  möglich,  wo  der  Lernende  die  erforderlichen  methodischen 
Hilfskenntnisse  bereits  besitzt.  Diese  Kenntnisse  lassen  sich  ja  nicht  nebenbei 
in  einem  Unterricht  erwerben,  der  dieser  Seite  nur  einen  geringen  Teil  der 
Zeit  und  Aufmerksamkeit  zuwenden  kann. 

Selbst  an  den  allgemeinen  höheren  Schulen  hat  sich  eine  antimathema-    widersfinde 
tische  Strömung  gezeigt,  in  der  sich  die  Vertreter  der  literarischen  und  der  rein  Ma^the^attiTan 
naturwissenschaftlichen  Fächer  zusammenfinden.  Auch  die  aufgekommene  rea-  ^^^  allgemeinen 

.  .  Schulen. 

listische  Tendenz,  welche  die  Sprachen  als  Verkehrsmittel  pflegt  und  die  Natur- 
wissenschaften auf  die  unmittelbare  Beobachtung  gründet,  ist  der  Mathematik 
wenig  günstig,  während  die  Altphilologen,  welche  die  Wohltat  einer  straffen 
grammatikalischen  Schule  betonen,  zum  Teil  die  geistesbildende  Kraft  der  Ma- 
thematik unumwunden  anerkennen.  So  hat  sich  derbeim  ersten  Anblick  befremd- 
liche Zustand  ergeben,  daß  gerade  an  den  Oberrealschulen,  die  ursprünglich 
wesentlich  als  mathematisch -naturwissenschaftliche  Lehranstalten  gedacht 
waren,  derMathematik  ein  stark  erWiderstand  erwächst.  Diese  Schulen  erblicken 
zum  Teil  ihre  Stärke  und  ihre  Zukunft  durchaus  in  den  sprachlichen  Fächern, 
sie  suchen  sich  zu  einem  neusprachlichen  Gymnasium  zu  entwickeln  und  statt  in 
dem  Anschluß  an  die  moderne  Kultur,  an  die  Naturerkenntnis  und  Naturbeherr- 
schung, suchen  sie  die  geistige  Schulung,  die  in  den  alten  Sprachen  liegt,  wieder- 
zugewinnen in  einer  didaktischen  Durchbildung  der  modernen  Sprachen. 

Die  so  in  Deutschland  augenblicklich  vielfach  herrschende  Tendenz, 
den  mathematischen  Unterricht  nach  Möglichkeit  und  sogar  über  Möglich- 
keit zurückzudrängen,  ist  vielleicht  zum  großen  Teil  durch  den  früheren  for- 
malen Lehrbetrieb  unserer  Schulen  und  die  Geringschätzung  vieler  Fach- 
mathematiker für  alle  praktischen  Probleme  großgezogen  worden.  Wo  der 
Mathematik  bestimmte  Aufgaben  gestellt  sind,  wie  bei  der  Ausbildung  der 
Feldmesser  und  Markscheider,  sowie  an  den  Schulen  der  Kriegs-  und  Handels- 
marine, nimmt  sie  eine  bestimmte,  nicht  zu  beschränkende  Stellung  ein.  Die 
Navigation  beruht  im  wesentlichen  auf  einer  mathematischen  Ausbildung, 
welche  die  Grundlage  für  die  terrestrische  und  astronomische  Ortsbestimmung 
liefert  Die  Navigationsschulen  sind  daher  von  allen  Fachschulen  die,  füroio  Navigatioo«- 
die  die  Mathematik  die  relativ  größte  Bedeutung  hat;  das  Aufsteigen  vom  ge-  »'='"^*°- 
meinen  Matrosen  zum  Schiffsoffizier  und  damit  in  eine  höhere  Gesellschafts- 
klasse geschieht  allein  auf  Grund  bestimmter  mathematischer  Kenntnisse.  Der 
Gegensatz  von  Theoretikern  und  Praktikern,  der  sich  leider  bei  jeder  fach- 
lichen x\usbildung  auftut,  hat  sich  aber  auch  an  den  Navigationsschulen  be- 
merkbar gemacht,  und  die  Forderung  der  Ausbildung  des  Schiffsoffiziers  durch 


158  A      H.  E.  Timerding:  Die  Verbreitung  mathemat.  Wissens  u.  mathemat.  Auffassung. 

praktische  Seeleute  selbst  in  den  theoretischen  Fächern  ist  oft  mit  großer 
Leidenschaftlichkeit  erhoben  worden,  trotzdem  sie  schon  wegen  der  steigenden 
Bedeutung  der  physikalischen  Gebiete  für  die  heutige  Seefahrt  mittlerweile  ge- 
radezu zur  Unmöglichkeit  geworden  ist.  Es  wird  hierbei  immer  außer  acht 
gelassen,  daß  der  Lehrer  keineswegs  alles  das  wissen  muß,  was  der  Schüler 
lernt,  daß  er  vielmehr  das  Fach,  das  er  unterrichtet,  autoritativ  beherrschen 
und  dabei  nur  das  richtige  Verständnis  dafür  mitbringen  muß,  in  welcher 
Weise  der  Schüler  gerade  dieses  Fach  braucht.  Alle  wirklichen  großen  Fort- 
schritte in  einer  fachlichen  Ausbildung  sind  dadurch  gemacht  worden,  daß 
man  möglichst  tüchtige  Vertreter  der  einzelnen  Wissenschaften  zu  finden  ge- 
sucht hat,  die  sich  dann  zu  gemeinsamer  Arbeit  zusammentaten. 
Die  Mathematik  Trotzdcm  haben  sich,  auch  was  die  höchste  fachliche  Ausbildung,  die  der 

'"  tu^sbudun''^""^  technischen  Hochschulen,  betrifft,  in  neuerer  ZeitStimmen  laut  gemacht,  welche 
die  Ausbildung  nach  Möglichkeit  ausschließlich  Vertretern  des  Faches,  dem 
der  Studierende  selbst  angehört,  anvertraut  wissen  wollen.  Die  von  Berufs- 
mathematikern geleitete  mathematische  Ausbildung  ist  statt  als  eine  Vorbe- 
dingung des  technischen  Schaffens  vielfach  als  ein  Hemmnis  der  technischen 
Anschauung  empfunden  worden.  Es  ist  eine  allgemeine  Tatsache,  daß  auf  einem 
Gebiete  der  Anwendung  die  Mathematik  um  so  weniger  als  solche  empfunden 
wird,  je  enger  sie  mit  dem  Gegenstande  verschmolzen  ist;  aber  zur  Bildung  des 
I  höheren  Technikers  gehört,  daß  er  die  Hilfswissenschaften  der  Technik  frei  be- 
herrscht und  nicht  bloß  so  weit,  wie  sie  bereits  für  bestimmte  technische  Pro- 
bleme zurechtgemacht  worden  sind.  Erst  in  der  letzten  Zeit  sind  die  Streitrufe 
gegen  die  Mathematik  einer  gemäßigteren  Auffassung  gewichen.  Die  Erfahrung, 
daß  der  Studierende  beim  Eintritt  in  die  technischen  Fächer  aus  dem  theo- 
retischen Unterricht  doch  nicht  die  Kenntnisse  mitbringt,  die  er  braucht  und 
die  man  verlangen  sollte,  ist  jedenfalls,  so  richtig  sie  ist,  nicht  in  der  Nutz- 
losigkeit der  theoretischen  Unterweisung,  sondern  in  einer  Eigenart  der 
menschlichen  Natur  begründet.  Das  Wissen  einer  Sache  und  ihre  richtige 
Verwendung  sind  zwei  verschiedene  Dinge.  Der  Lernende  macht  sich  in  seinem 
Geiste  sozusagen  verschiedene  Schubfächer,  in  denen  er  die  einzelnen  Diszi- 
plinen unterbringt.  Diese  Schubfächer  hält  er  sauber  getrennt;  was  in  dem 
einen  liegt,  wird  er  nie  in  ein  anderes  bringen;  daß  alle  die  Einzelbelehrungen 
Teile  eines  großen  Ganzen  sind,  entgeht  ihm,  er  erkennt  es  erst,  wenn  er  das 
Gelernte  in  einer  längeren  praktischen  Erfahrung  verwertet  hat.  Dazu  kommt, 
daß  bei  der  akademischen  Freiheit,  die  sehr  im  Gegensatz  zu  Frankreich 
an  unseren  technischen  Hochschulen  herrscht,  der  Studierende  nicht  gezwungen 
werden  kann,  die  Vorlesungen  und  Übungen  regelmäßig  zu  besuchen,  und 
gerade  die  ersten  Semester,  in  denen  die  mathematische  Ausbildung  liegt, 
sind  aus  bekannten  Gründen  in  dieser  Hinsicht  die  gefährlichsten.  Und  doch 
erfordert  gerade  die  Ausbildung  des  Ingenieurs  eine  unablässige  fleißige 
Arbeit  und  die  Nachlässigkeit,  mit  welcher  der  höhere  Techniker  bisweilen 
sein  Studium  betreibt,  gibt  dem  in  eiserner  Zucht  herangebildeten  mittleren 
Techniker  ihm  gegenüber  einen  Vorteil,  der  sich  durch  alle  akademische 


siKer. 


VIII.  Die  Ausgestaltung  des  modernen  mathematischen  Bildungswesens.      A  15Q 

Würde  nicht  wettmachen  läßt.  Über  alledem  sollte  aber  nicht  vergessen  wer- 
den, wie  gerade  die  mathematische  Schulung  dem  Ingenieur  nicht  bloß  die 
für  sein  Fach  nötigen  Hilfskenntnisse  mitteilt,  wie  sie  ihn  auch  reif  macht 
zur  Auffassung  der  sich  ihm  darbietenden  Aufgaben.  Ahnliche  Verhältnisse 
wie  bei  den  Ingenieuren  zeigen  sich  auch  bei  den  Physikern.  Die  mathe-  Physik« 
matischen  Vorlesungen  stehen  dem  physikalischen  Lehrbetrieb  meist  fern. 
Was  der  Physiker  an  Mathematik  braucht,  lernt  er  zum  großen  Teil  in  den 
physikalischen  Vorlesungen  selbst,  und  es  stört  den  Studierenden  in  den  sel- 
tensten Fällen,  daß  die  prinzipielle  Auffassung  z.  B.  der  InfinitesimalbegrifFe 
in  seinen  physikalischen  Vorlesungen  eine  ganz  andere  ist,  wie  er  es  in  den 
mathematischen  Vorlesungen  hört.  Die  Klage  über  die  unpraktische  Mathe- 
matik ist  nicht  bloß  von  Ingenieuren,  sondern  auch  von  Physikern  erhoben 
worden.  Gew^iß  gibt  es  Zweige  der  Mathematik,  die  zu  den  Anwendungen 
außer  allen  Beziehungen  stehen,  man  denke  z.  B.  an  die  Zahlentheorie,  die  uns 
nur  die  Wunder  der  Zahlenwelt,  aber  keine  Gegenstände  der  Sinnenw^elt  er- 
schließen soll.  Daß  aber  die  Mathematik  an  sich  unfähig  wäre,  sich  den  An- 
wendungen anzupassen,  ist  ein  offenbarer  Irrtum.  Im  Gegenteil  hat  die  ganze 
historische  Entwicklung  gezeigt,  daß  in  ihr  die  mächtigste  Triebfeder  zur  Ent- 
wicklung der  Naturforschung  steckt.  Ihre  Bedeutung  für  die  Erfassung  der 
Wirklichkeit  rechtfertigt  die  Forderung,  ihr  gerade  auch  im  Fachunterricht 
die  gebührende  Stellung  einzuräumen. 

Die  Aufgabe  der  Mathematik  an  den  fachlichen  und  an  den  allgemeinen  Zweck- 
Schulen  ist  eine  völlig  verschiedene.  Überträgt  man  den  Gedanken  der  durch  ^^^h^^^^che^ 
die  Mathematik  erreichten  formalen  Geistesbildung  von  den  allgemeinen  ^'"««"iciits- 
Schulen  ohne  weiteres  auf  die  Fachschulen,  statt  den  realen  Zweck  des 
Unterrichts  in  den  Vordergrund  zu  stellen,  so  löst  man  einen  heftigen  Wider- 
stand aus,  denn  immerhin  hält  eine  solche  Bildung  die  fachliche  Erziehung 
auf  und  entfremdet  den  Schüler  seinen  eigentlichen  Aufgaben.  Daher  muß 
im  mathematischen  Unterricht  der  fachlichen  und  der  allgemeinen  Schule 
eine  völlig  verschiedene  Unterrichtsweise  herrschen,  und  auch  die  Lehrkräfte 
müssen  dem  besonderen  Zwecke  gemäß  ausgewählt  sein.  Auf  eine  geeignete, 
zielbewußte  Ausbildung  der  Lehrer  für  die  verschiedenen  Lehranstalten 
kommt  schließlich  alles  an,  und  je  mehr  Aufmerksamkeit  die  Regierungen 
der  Organisation  dieser  Ausbildung  und  die  Schulleiter  der  Auswahl  ihrer 
Lehrkräfte  angedeihen  lassen,  um  so  segensreicher  wird  sich  der  mathema- 
tische Unterricht  entfalten  und  um  so  weniger  wird  er  Anlaß  zur  Befehdung 
bieten.  Möge  man  sich  bewußt  bleiben,  daß  in  der  Mathematik  die  Quelle 
der  exakten  Wissenschaft  überhaupt  liegt,  daß  sie  uns  dazu  geführt  hat,  die 
Gesetze  des  menschlichen  Denkens  bloßzulegen  und  daß  sie  der  lebendigste 
Beweis  für  die  schöpferische  Kraft  des  menschlichen  Geistes  ist,  möge  man 
auch  bedenken,  daß  aus  ihr  die  ganze  wissenschaftliche  Technik  hervorge- 
wachsen ist,  daß  sie  das  mächtigste  Werkzeug  zur  Erforschung  der  Natur- 
gesetze bildet,  dann  wird  man  auch  klar  erkennen,  wieviel  Gutes  ein  zweck- 
mäßig geleiteter  mathematischer  Unterricht  stiften  kann! 


Literatur. 

Eine  Rechenschaft  über  die  für  die  vorstehende  Darstellung  benutzte  Literatur  läßt  sich 
nicht  geben,  weil  diese  allzuweit  verstreut  ist.  Es  läßt  sich  nur  ungefähr  der  Weg  bezeichnen, 
auf  dem  der  Leser  diese  Literatur  finden  kann.  Die  Mathematik  ist  bei  der  allgemeinen  Dar- 
stellung der  pädagogischen  Entwicklung  im  allgemeinen  schmählich  vernachlässigt  worden. 
Das  große  dreibändige  Werk  von  L.  Grasberger,  Erziehung  und  Unterricht  im  klassischen 
Altertum  (Würzburg  1864 — 1881)  z.B.  geht  auf  die  mathematische  Bildung  so  gut  wie  gar  nicht 
ein,  trotzdem  wir  ihr  doch  in  der  geistigen  Entwicklung  der  Griechen  die  größte  Bedeutung 
zuschreiben  müssen.  Ebenso  kann  das  Werk  von  F.  A.  Specht,  Geschichte  des  Unterrichts- 
wesens in  Deutschland  bis  zur  Mitte  des  XIII.  Jahrhunderts  (Stuttgart  1885)  nur  über  die  all- 
gemeinen Unterrichtsverhältnisse,  nicht  aber  über  die  Stellung  der  Mathematik  orientieren.  Das 
gleiche  gilt  leider  auch  von  K.  A,  Schmids  umfangreicher  Geschichte  der  Erziehung  (Stuttgart 
1884—1902)  und  Fr.  Paulsens  zweibändiger  Geschichte  des  gelehrten  Unterrichts  (2.  Aufl., 
Leipzig  1896/97),  in  der  die  Mathematik  nur  sehr  vereinzelt  Erwähnung  findet.  Von  vornherein 
nur  mit  der  Organisation  befassen  sich  die  Werke  von  L.  Wiese,  Das  höhere  Schulwesen  in 
Preußen,  historisch -statistische  Darstellung  (4  Bde.,  Berlin  1864 — 1902),  das  von  W.  Lexis 
herausgegebene  Werk,  Die  Reform  des  höheren  Schulwesens  in  Preußen  (Halle  1902)  und 
das  im  großen  Stil  angelegte,  für  die  Weltausstellung  in  St.  Louis  abgefaßte  Sammelwerk  von 
W.  Lexis,  Das  Unterrichtswesen  im  Deutschen  Reich  (Beriin  1904).  In  Beziehung  auf  die 
Mathematik  werden  diese  Werke  ergänzt  durch  eine  Reihe  von  Spezialuntersuchungen,  von 
denen  ich  die  folgenden  nennen  möchte:  S.Günther,  Geschichte  des  mathematischen  Unter- 
richts im  deutschen  Mittelalter  (Berlin  1887);  H.  Suter,  Die  Mathematik  auf  den  Universi- 
täten des  Mittelalters  (Progr.  Zürich  1887);  H.  Grosse,  Historische  Rechenbücher  des  16.  und 
17.  Jahrhunderts  (Halle  1901);  C.Müller,  Studien  zur  Geschichte  der  Mathematik,  insbesondere 
des  mathematischen  Unterrichts  der  Universität  Göttingen  im  18.  Jahrhundert  (Abhandlungen 
zur  Gesch.  d.  math.  Wiss.  XVIII,  Leipzig  1904);  J.  Norrenberg,  Geschichte  des  naturwissen- 
schaftlichen Unterrichts  an  den  höheren  Schulen  Deutschlands  (Leipzig  1904);  R.  Starke, 
Geschichte  des  mathematischen  Unterrichts  an  den  Gymnasien  in  Sachsen  seit  1700  (Progr. 
Chemnitz  1898);  F.  A.UnGER,  Die  Methodik  der  praktischen  Arithmetik  in  historischer  Ent- 
wicklung vom  Ausgang  des  Mittelalters  bis  auf  die  Gegenwart  (Leipzig  1888);  R.  Schimmack,  Die 
Entwicklung  der  mathematischen  Unterrichtsreform  in  Deutschland  (Leipzig  1911):  W.  LOREV, 
Staatsprüfung  und  praktische  Ausbildung  der  Mathematiker  ^^Leipzig  191 1).  Ganz  neu  erschienen 
ist  eine  Geschichte  des  naturwissenschaftlichen  und  mathematischen  Unterrichts  von  Franz 
Pahl  (Leipzig  1913),  die  aber  beinahe  mehr  auf  die  Geschichte  der  Forschung  als  auf  die 
Geschichte  des  Unterrichtes  eingeht.  Am  raschesten  orientiert  man  sich  über  alle  Fragen 
des  Erziehungswesens  aus  dem  amerikanischen  Werk  A  Cyclopedia  of  Education,  edited  by 
P.  Monroe  (New  York  191 1  flf.,  bis  jetzt  sind  4  Bände  erschienen). 

Die  geschichtlichen  Darstellungen  des  Unterrichtes  werden  in  manchen  Punkten  durch 
die  Werke  über  die  Geschichte  der  mathematischen  Disziphnen  ergänzt,  so  namentlich  durch 
die  umfassenden  Vorlesungen  über  die  Geschichte  der  Mathematik  von  M.  Cantor  (Leipzig 
1900 -—1908),  denen  als  speziellere  Werke  etwaTROPFKE,  Geschichte  der  Elementarmathematik 
(Leipzig  1902 — 1903)  und  A.  v.  Braunmühl,  Vorlesungen  über  die  Geschichte  der  Trigonometrie 
(Leipzig  1900 — 1903)  angereiht  werden  können.  Sehr  anregend  wirken  die  kürzeren  Dar- 
stellungen: M.Simon,  Geschichte  der  Mathematik  im  Altertum  (Berlin  1909),  der  besonders 
auf  Ägypten  und  Babylon  eingeht;  H.  Hankel,  Zur  Geschichte  der  Mathematik  im  Altertum 


Literatur.  A  l6l 

und  Mittelalter  (Leipzig  1874)  und  H.  G  Zeuthen,  Geschichte  der  Mathematik  im  Altertum 
und  Mittelalter  (Kopenhagen  189O),  Geschichte  der  Mathematik  im  XVI.  und  XVII,  Jahrhundert 
(Leipzig  1903). 

Was  die  Didaktik  und  Methodik  des  mathematischen  Unterrichtes  betrifft,  so  ist  zu- 
nächst das  etwas  ältere  Buch  von  M.  Simon,  Didaktik  und  Methodik  des  Rechnens  und  der 
Mathematik  (2.  erweiterte  Auflage,  München  1908)  anzuführen,  femer  die  neueren  Werke 
A.  HÖFLER,  Didaktik  des  mathematischen  Unterrichtes  (Leipzig  19 10)  und  KiLLiNG  und 
HOVESTADT,  Handbuch  des  mathematischen  Unterrichtes  (Leipzig  1910  — 1911),  die  zusammen- 
genommen den  gegenwärtigen  Standpunkt  deutlich  hervortreten  lassen.  Die  modernen  Ideen 
kommen  besonders  klar  und  prägnant  zum  Ausdruck  bei  F.  Klein  und  R.  Schimmack,  Der 
mathematische  Unterricht  an  den  höheren  Schulen  (Leipzig  1907).  Dazu  vergleiche  man  die 
von  F.  Klein  und  E  Riecke  herausgegebene  Vortragsammlung  Neue  Beiträge  zur  Frage  des 
mathematischen  und  physikalischen  Unterrichts  an  den  höheren  Schulen  (Leipzig  1904).  Eine 
Sperialfrage  behandelt  mit  einer  gründlichen  historischen  Darstellung  P.  Treutlein,  Der  geo- 
metrische Anschauungsunterricht  (Leipzig  1911).  Dazu  vergleiche  man  etwa  H.  E.  Timerding, 
Erziehung  der  Anschauung  (Leipzig  191 2)  und  B.  Branford,  Betrachtungen  über  mathe- 
matische Erziehung  vom  Kindergarten  bis  zur  Universität,  deutsch  von  Schimmack  und 
Weinreich  (Leipzig  1913).  Am  sichersten  und  ausführlichsten  belehren  über  den  gegen- 
wärtigen Stand  des  mathematischen  Unterrichts  in  allen  seinen  verschiedenen  Verzwei- 
gungen, soweit  Deutschland  in  Furage  kommt,  die  Abhandlungen  über  den  mathematischen 
Unterricht  in  Deutschland,  veranlaßt  durch  die  Internationale  mathematische  Unterrichts- 
kommission, herausgegeben  von  F.  Klein  (Leipzig  190g  ff.),  deren  fünf  Bände  dem  Abschluß 
nahe  sind  und  von  denen  in  einzelnen  Berichten  der  erste  Band  die  höheren  Schulen 
in  Norddeutschland,  der  zweite  Band  die  höheren  Schulen  in  Süd-  und  Mitteldeutschland, 
der  dritte  Band  Einzelfragen  des  höheren  mathematischen  Unterrichts,  der  vierte  Band  die 
Mathematik  an  den  technischen  Schulen  und  endlich  der  fünfte  Band  die  Mathematik  an  den 
Volksschulen  und  Lehrerbildungsanstalten  behandelt.  Diesen  Abhandlungen  stehen  ähnliche 
Berichte  in  den  übrigen  Kulturländern  zur  Seite.  Besonders  reich  an  methodischen  und  didak- 
tischen Erörterungen  sind  die  in  kurzen  Einzelabhandlungen  vom  Board  of  Education  heraus- 
gegebenen und  dann  in  zwei  größeren  Bänden  unter  den  Special  Reports  on  educational  subjects 
unter  dem  Titel  The  Teaching  of  Mathematics  in  the  United  Kingdom  (London  191 2)  heraus- 
gegebenen enghschen  Berichte.  Viele  Fragen  des  mathematischen  Unterrichts  sind  auch  in 
den  Schriften  des  Deutschen  Ausschusses  für  mathematischen  und  naturwissenschaftlichen 
Unterricht  (Leipzig,  1909  ff.)  und  in  den  Abhandlungen  und  Berichten  des  Deutschen  Aus- 
sciiusses  für  technisches  Schulwesen  (Leipzig,  1910  ff.)  behandelt. 


K.d.G.in,  1.  Mathematik.  A. 


Verlag  von  B.  G.  Teubner  in  Leipzig  und  Berlin 

Die  Erziehung  der  Anschauung 

von 

H.  E.  Timer  ding 

Professor  an  der  Tcchniachen  Hochschule  Braonschwelg 

Mit  164  Fig.    [VU  u.  241  S.]    gr.  8.    1912.    Geh.  Jt  4.80,  in  Leinw.  geb.  JC  6.60. 

Das  durch  seinen  Inhalt  wie  durch  die  Art  der  Behandlung  der  Allgemein- 
heit bestimmte  Buch  dient  der  erzieherischen  Verwertung  der  Anschauung,  die 
zwar  nur  insoweit  in  Betracht  gezogen  wird,  als  sie  mit  dem  mathematischen 
Wissen  und  dem  Wesen  der  geometrischen  Formen  und  der  geometrischen  Be- 
trachtung zusammenhängt,  aber  doch  auch  durch  Einreihung  des  behandelten 
Gegenstandes  in  die  allgemeine  Entwicklung  der  Pädagogik  und  durch  Aut- 
deckung der  Zusammenhänge,  die  das  scheinbar  abgesondert  für  sich  liegende 
Gebiet  der  geometrischen  Formen  mit  den  verschiedenen  Erscheinungsarten  der 
menschlichen  Kultur  verbinden,  unter  so  weitem  Gesichtsfeld  betrachtet  wird, 
daß  auch  die  Frage  der  Raumbilder  in  Zeichnung  und  Landschaft,  die  Gesetze 
und  das  Wesen  der  Perspektive,  die  optische  Täuschung,  Zahlbilder  und  Streifen- 
bilder, die  astronomische  und  topographische  Anschauung,  die  Kartenprojektion 
u.  a.  behandelt  werden  und  somit  das  gesamte  Gebiet  der  Anschauung  durch- 
streift wird.  Sie  sucht  möglichst  vielseitig  anzuregen  und  zu  fördern,  ohne  den 
Versuch  methodischer  Geschlossenheit,  und  ist  so  wenig  wie  möglich  in  trocknem 
lehrhaften  Ton  geschrieben.  Sie  ist  zunächst  für  alle  die  bestimmt,  die  am 
Volksschulunterricht  irgendwie  beteiligt  sind,  ist  aber  durch  einige  Zusätze  auch 
für  höhere  Schulen  erweitert.  Das  Buch  will  gerade  dazu  beitragen,  den  Gegen- 
satz zwischen  den  niederen  und  höheren  Schulen  auszugleichen  und  zu  mildern. 

Betrachtungen 
über  mathematische  Erziehung 

vom  Kindergarten  bis  zur  Universität 

von 

B.  Brauford 

DiTlsionsingpektor  am  Londoner  Connty  Conncll 

Deutsche  Bearbeitung  von  Dr.  Rudolf  Schimmack,  weil.  Oberlehrer  am  Gym- 
nasium  und  Privatdozent  an   der  Universität  Göttingen  und  Dr.   Hermann 
Weinreich,  Oberlehrer  an  der  Oberrealschule  zu  Göttingen. 

Mit  114  Figuren  im  Text,   1  Titelfigur  und   1  Tafel. 
jTIII  u.  403  S.]   gr.  8.    1913.    Geh.  JC  6.—,  geb.  M  7.— 

Die  feinsinnige  Psychologie,  die  echte  aus  langer  Erfahrung  gewonnene 
pädagogische  Einsicht,  der  philosophische  Weitblick  und  das  tiefe  historische 
Verständnis,  womit  das  Buch  geschrieben  ist,  rechtfertigen  durchaus  die  deutsche 
Bearbeitung  des  englischen  Originaltextes,  der  mit  des  Verfassers  Zustimmung 
eine  Reihe  nützlicher  Anmerkungen  erhalten  hat.  Der  leitende  Gedanke  des 
ganzen  Werkes  ist  eine  Anwendung  des  sog.  biogenetischen  Grundgesetzes  auf 
den  mathematischen  Unterricht.  Für  die  Fülle  der  hieraus  entspringenden  An- 
regungen wird  man  auch  bei  abweichendem  Grundstandpunkt  dankbar  sein, 
zumal  der  einsichtsvolle  Verfasser  auf  seine  Überzeugung  im  einzelnen  keines- 
wegs eingeschworen  ist,  vielmehr  stets  die  Erfahrung  als  letzte  Instanz  in  Er- 
ziehungsfragen anerkennt. 

Kultur  der  Gegenwart.   III,  2. 


Verlag  von  B.  G.  Teubner  in  Leipzig  und  Berlin 

Über  das  Wesen  der  Mathematik,  von  Dr.  a.  vob,  Prof,  der  Mathe- 
matik in  München.  2.,  vermehrte  und  verbesserte  Auflage.  Erweitert  und  mit 
Anmerkungen  versehen.     [II  u.  123  S.]     gr.  8.     1913.     Steif  geh.  M.  4. — 

„Nach  einer  Darlegung  der  historischen  Entwicklung  der  Mathen)atik  bis  zu  Leibniz  nnd 
Newton  hin  werden  so  ziemlich  alle  Streitfragen  der  modernen  Mathematik  erörtert,  so  die  Arith- 
metiaierung  der  Mathematik,  die  Dcdekindscbe  Frage:  was  sind  und  was  wollen  die  Zahlen?,  die 
formalen  Gesetze  des  Rechnens  (bei  Besprechung  der  Vektorenrechiiung  wird  tibrigens  das  äuBere 
Prolukt  mit  dem  vektoriollen  verwechselt),  auch  die  Fragen  nach  dem  Wert  oder  Unwert  des 
Logikk-ilküla  und  der  Mengenlehre,  weiter  die  Unvollkommenlieit  der  Anschauung  und  Schärfe 
des  Zahlbegriff«  und  der  EinfluS  dieser  Betrachtungen  auf  die  Grundlagen  der  Geometrie." 

(Archiv  für  Mathematik  und  Physik.) 

Didaktik  des  mathematischen  Unterrichts,  von  Dr.  a.  Höfier, 

Professor  an  der  Universität  Wien.  Mit  2  Tafeln  und  147  Figuren.  fXVII  o. 
509  S.]     gr.  8.     1910.     In  Leinw.  geb.  M.  12.— 

,,...Ein  vornehmes  und  tiefgründiges  Werk  eines  Mannes,  der  wie  wenige  zugleich  Gelehrter 
und  i'raktikor  de.i  physikalischen,  mathematischen  und  philosophischen  Unterrichtes  ist.. .  .So  sind 
seine  Bemerkungen  zu  dem  einführenden  geometrischen  Unterriclit  eine  Perle  der  didaktischen 
Literatur.  Aber  nicht  nur  der  Anfänger  im  Lohramte  kommt  beim  Studium  die.ses  Buches  auf 
seine  Rechnung,  auch  der  erfahrene  Lehrer  wird  dankbar  manche  Anregung  daraus  nehmen.... 
Das  Hauptverdienst  dieser  Didaktik  aber  ist,  daß  sie  in  vorbildlicher  Weise  zeigt,  wie  die  Reform 
durchgeführt  worden  kann  und  muß.  Die  ausgezeichnet  feine  und  abgeklärte  Art  der  Davstellung 
wird  viel  dazu  beitragen,  einer  harmonischen  Umgestaltung  dos  mathematischen  Unterrichtes 
weiter  die  Wege  zu  ebnen."  (Neue  Jahrbücher.) 

Psychologie  und  mathematischer  Unterricht,  von  Dr.  d.  Katz, 

Privatdozent  an  der  Universität  Göttingen.  Mit  12  Abb.  [VI  u.  120  S.]  gr.  8. 
1913.     Geh.  M.  3  20. 

Die  Arbeit  versucht  die  BeziehunRen  zwischen  der  Psychologie  nnd  dem  mathematischen  Unter- 
richt enger  zu  gestalten.  Sie  stellt  im  I.  Teil  die  Ergebnisse  der  psychologischen  Fortchung  zu- 
sammou,  die  für  eine  Grundlegung  des  mathematischen  Unterrichts  und  für  ein  Verständnis  der 
Arbeitsweisen  der  Mathematiker  von  Bedeutung  sind  oder  werden  können.  Im  II.  Teil  wird  das 
Verhiiltiiis  des  technischen  Zeichnen»  zum  künstlerischen  nach  psychologischen  Gesichtspunkten 
untersucht  Der  IXE.  Teil  beschäftigt  sich  mit  der  Ausbildung  der  Mathematik-Lehrer  in  Psycho- 
logie und  Pädagogik. 

Die  Geschichte  der  Mathematik  im  mathomatischen  unterrichte  der 
höheren  Schulen  Deutschlands.  Dargestellt  vor  allem  auf  Grund  alter  und  neuer 
Lehrbücher  und  der  Programm abhandlungen  höherer  Schulen.  Von  Dr.  M.  Geb- 
hardt,  Professor  am  Vitzthumschen  Gymnasium  in  Dresden.  [VIII  u.  175  S.] 
gr.  8.     1912.     Steif  geh.  M.  4.80. 

Der  Verfasser  forscht  zuerst  nach,  inwieweit  die  Lehrbücher  dem  geschichtlichen  Elemente 
Beachtung  sclienken.  Dabei  w.  rden  kennzeichnende  Stellen  aus  Schulbüchern  und  Programm- 
al>handlungen  im  Wortlaut  wiedergegeben.  Weiterhin  erörtert  der  Verfasser  allgemein  den  Wert 
historischer  Färbung  des  mathematisclien  Unterrichts  auf  der  Oberstufo  der  höheren  Schalen  und 
gibt  Vorscliläge,  wie  er  sich  eine  maßvolle  Reform  in  diesem  Sinne  denkt. 

Mathematik  und  philosophische  Propädeudik.  von  schuirat  Dr. 

Alexander  Wernicke,  Direktor  der  städt,  Oberrealschule  und  Professor  an 
der  Herzoglich-Technischen  Hochschule  in  Braunschweig.  Mit  5  Figuren.  [VII  u. 
1.38  S.]     gr.  8.     1912.     Steif  geh.  M.  4.— 

„Zu  den  Forderungen  der  Mcraner  Reformpläno  gehört  auch  die  philosophische  Vertiefung 
des  mathomatischen  Unterrichts  auf  der  obersten  Stufe  der  Schule.  (Jerade  diese  Forderung  stellt 
ihrer  Lösung  nicht  unerhebliche  Schwierigkeiten  entgegen.  Es  ist  das  Verdienst  der  vorliegenden 
Schrift,  diese  Schwierigkeiten  klar  aufzuileckon  und  gleichzeitig  einen  Weg  anzugeben,  um  ihrer 
Herr  zu  werden.. .  .Mit  weitem  Blick  und  warmem  Herzen  für  die  Sache  behandelt  dor  Verfasser 
dieses  Tliema,  und  es  ist  sehr  zu  wünschen,  daß  seine  treffliche  Schrift  weite  Verbreitung  find  ." 

(Deutsche  Literaturzeitung.) 

Die  Mathematik  in  den  physikalischen  Lehrbüchern,  von  Dr. 

H.  E.  Timerding,  o.  Professor  an  der  Technischen  Hochschule  in  Braunschweig. 
Mit  22  Figuren.     [VI  u.  112  S.]     gr.  8.     1910.     Steif  geh.  M.  2 .  80. 

Die  Hauptaufgabe  war  die  Erledigung  der  Frage,  welche  Probleme  nnd  Ziele  dem  mathemati- 
schen Schulunterrichte  aus  dor  Rücksicht  auf  die  Bedürfnisse  der  Physik  erwachsen,  daneben  aber 
auch  die  lieuntwortung  der  Frage,  in  welcher  Weise  ihrerseits  die  Physik  durch  einen  vernünftig 
und  zweckdienlich  ausgestalteten  mathematischen  Unterricht  beeinflußt  werden  muß. 

Das  Studium  der  Mathematik  an  den  deutschen  Universitäten. 

Von  Prof.  Dr.  W.  Lorey,  Direktor  der  ötfentlichen  Handelslchranstalt  in  Leipzig. 
[Erscheint  Ostern  1914.  | 


Verlag  von  B.  G.  Teubner  in  Leipzig   und  Berlin 

Mathematische  Bibliothek 

Gemeinverständliche  Darstellungen  aus  der  Elementar-Mathematik 

für  Schule  und  Leben 

Unter  Mitwirkung  von  Fachgenossen  herausgegeben  von 

Dr.  W.  Lietzmaun  und  Professor  Dr.  A.  Witting 

In  Kleinoktavbändchen  kartoniert  je  Jl  — .80. 

Bisher  erscliiencn: 


1.  E.  LÖffler,  Ziffern  und  Ziffemsysteine  bei  den 
Kulturvölkern  in  alter  und  neuer  Zeit.    1912. 

".  H.  Wieleitner,  der  Begriff  der  Zahl  in  seiner 
logischen  und  historischen  Entwicklung.  Mit 
10  Figuren.    1011. 

3.  W.  Lietzmann,  der  pythagoreische  Lehrsatz  mit 
einem  Ausblick  auf  das  Fermatsclie  Problem. 
Mit  44  Figuren.    1912. 

4.  0.  Meißner,  Wahrscheinlichkeitsrechnung  nebst 
Anwendungen.    Mit  6  Figuren.    1912. 

X>.  H.E.  Timerding,  die  Fallgesetze.  Mit  20  Fig.  1912. 
0.  M.  Zacharias,    Einführung   In    die    projektive 

Geometrie.     1912. 
7.  H.  Wieleitner,   die  sieben  Becbnangsarten  mit 

allgemeinen  Zahlen.    1912. 


8.  P.  Math,  Theorie  der  Flanetenbewegnng.    Mit 
17  Figuren.    1912. 

9.  A.  Witting,   Einführung  in  die  InflniteBimal- 
rechnung.    Mit  40  Figuren.    1912. 

10.  W.  Lietzmann  u.V.  Trier,  wo  steckt  der  Fehler? 
Mit  -2.\  Figuren.    191.<!. 

11.  P.  Zühlke,     Konstruktionen     in     begrenzter 
Ebene.    Mit  6.ö  Figuren.    1913. 

12.  E.  Beutel,   die  Quadratur  des  Kreiset.     Mit 
15  Figuren     1913. 

13.  Ph.  Maennchen,    Geheimnisse    der    Bechen- 
künstler.     1913. 

14.  R.  Rothe,    darstellende    Geometrie    des    Ge- 
ländes.    Mit  82  Figuren.     1914. 

15.  A.  Witting  u.  M.  Qebhardt,  Beispiele  zur  Ge- 
schichte der  Mathematik.    Mit  28  Fig.    1913. 


Weitere  Bändchen  in  Vorbereitung. 


Der  kleine  GeOmeter.  von  G.  C.  und  W.  H.  Young.  Deutsch  von  S.  n. 
P.  Bernstein.    Mit  127  Textfiguren  und  3  bunten  Tafeln.    In  Leinw.  geb.  M.  3. — 

„...Wieviel  Schuluot  könnte  den  Kindern  erspart  bleiben,  wenn  ihnen  so  halb  im  Spiel  das 
geometrische  Sehen  und  Denken  beigebracht,  der  geometrische  Instinkt  geweckt  würde  I  Wie  ganz 
anders  treten  sie  an  die  so  gefürchtete  Schulmathematik  heran.  Übersetzer  wie  Verleger  verdienen 
den  Dank  der  Eltern  und  der  Jugend  für  diese  deutsche  Ausgabe,  die  sich  nicht  nur  durch  glatte, 
flüssige  Diktion  —  man  merkt  nicht,  dafi  man  eine  Übersetzung  liest  —  sondern  auch  durch  vor- 
zügliche Ausstattung  auszeichnet."  (Münohener  Neueste  Nachrichten.) 

Das  chinesisch -japanische  GO-Spiel.  Eine  systematische  Darstellung 
und  Anleitung  zum  Spielen  desselben  von  Professor  L.  Pfaundler.  Mit  zahl- 
reichen erklärenden  Abbildungen.     In  Leinw.  geb.  M.  3. — 

Das  Go-Spiel  ist  das  älteste  »llfr  Brettspiele  und  erscheint,  wenn  man  es  mit  dem  Schach 
vergleicht,  diesem  an  Geist  völlig  ebenbürtig.  Verfasser  entwickelt  die  einfachen  Spielregeln  an 
der  Hand  zahlreicher  Figuren  und  l'.eispiele  und  bringt  als  Muster  japanische  Originalpnrtien 
und  Probleme  mit  ihren  Lösungen  bei.  In  der  zweiton  Abteilung  sucht  er  auf  Grund  eigener 
Studien  durch  präzisere  Fassung  der  maSgebenden  Begriffe  tiefer  in  die  Kombinationen  des  Spieles 
einzudringen. 

Scherz  und  Ernst  in  der  Mathematik.  Gesügeite  und  ungesügeite 

Worte.     Von  Dr.  W.  Ähren s.     In  Leinw.  geb.  M.  8. — 

„Ein  ,Büchmann'  für  das  Spezialgebiet  der  mathematischen  Literatur.  .  .  .  Manch  ein  kurzes 
treffendes  Wort  verbreitet  Licht  über  das  Streben  der  in  der  mathematiscUea  AVissenschaft  führenden 
Geister.  Hierdurch  aber  wird  d'..s  sorgfältig  bearbeitete  Ahrenssche  Werk  eine  zuverlässige  Quelle 
nicht  allein  der  Unterhaltung,  sondern  auch  der  Belehrung  über  Wesen,  Zweck,  Aufgabe  und 
Geschichte  der  Mathematik"  (Monatschrift  für  höhere  Schulen.) 

Mathematische  Unterhaltungen  und  Spiele,  von  Dr  w  Ahrens. 

2.,  vermehrte  und  verbesserte  Auflage.  In  2  Bänden.  In  Leinw.  geb.  I.  Band. 
Mit  200  Figuren.  M.  7.50.  II.  Band.  [In  Vorher.]  Kleine  Ausgabe:  Mathe- 
matische Spiele.  2.  Auflage.  Mit  einem  Titelbild  und  77  Figuren.  Geh. 
M.  1.—,  in  Leinw.  geb.  M.  1.25.     (Bd.  170:  Aus  Natur  und  Geisteswelt.) 

,,l)er  Verfasser  wollte  sowohl  den  Fachmann,  den  der  theoretische  Kern  des  Spieles  interessiert, 
als  den  mathematisch  gebildeten  Laien  befriedigen,  dm  es  »ich  um  ein  a-nregondes  Gedankeuspiel 
handelt;  und  er  hat  den  richtigen  Weg  gefunden,  beides  zu  erreichen.  Dem  wissenschaftlichen 
Interesse  wird  er  gerecht,  indem  er  durch  die  sorgfaltig  zusammengetragene  Literatur  und  durch 
Ein$c)ialtnngen  mathematischen  Inhalts  die  Beziehungen  zur  Wissenschaft  herstellt;  dem  Nicht- 
muthematiker  kommt  er  durch  die  trefflichen  Erläuterungen  entgegen,  die  er  der  Lösung  der  ver- 
schiedenen Spiele  zuteil  werden  läßt,  und  die  er,  wo  nur  irgend  nö:ig,  durch  Schemata,  Figuren 
und  dergleichen  unterstützt."  (Zeitschrift  für  das  Realschulwesen.) 


Verlag  von  B.  G.  Teubner  in  Leipzig  und  Berlin 


WISSENSCHAFT  UND  HYPOTHESE. 

Sammlung   von   Einzeldarstellungen    aus    dem    Gesamtgebiet    der 

Wissenschaften  mit  besonderer  Berücksichtigung  ihrer  Grundlagen 

und  Methoden,  ihrer  Endziele  und  An^vendungen. 

8.    In  Leinwand  geb. 

Die  Sammlung  will  die  in  den  verschiedenen  Wissensgebieten  durch  rastlose  Arbeit  ge- 
wonnenen Erkenntnisse  von  umfassenden  Gesichtspunkten  aus  im  Zusammenhang  mitein- 
ander betrachten.  Die  Wissenschaften  werden  in  dem  Bewußtsein  ihres  festen  Besitzes,  in 
ihren  Voraussetzungen  dargestellt,  ihr  pulsierendes  Leben,  ihr  Haben,  Könnenund  Wollen 
aufgedeckt.  Andererseits  aber  wird  in  erster  Linie  auch  auf  die  durch  die  Schranken  der 
Sinneswahmehmung  und  der  Erfahrung  überhaupt  bedingten  Hypothesen  hingewiesen. 

I:  Wissenschaft  und  Hypothese.  Von  H.  Poincard  in  Paris.  Autorisierte 
deutsche  Ausgabe  mit  erläuternden  Anmerkungen  von  F.  und  L.  Lindemann  in 
München.    2.,  verbesserte  Aufl.     1906.    Geb.  JC  4.80.    (3.  Auflage  in  Vorb.) 

E:  Der  Wert  der  Wissenschaft.  Von  H.  Poincari  in  Paris.  Deutsch  von 
E.Weber.     2.  Auflage.     1910.     Geb.  Jl  3.60. 

UI:  Mythen bildung  und  Erkenntnis.  Eine  Abhandlung  über  die  Grundlagen 
der  Philosophie.    Von  G.  F.  Lipps  in  Leipzig      IQO?.    Geb.  Jl   'i^. — 

IV:  Die  nichteuklidische  Geometrie.  Historisch-kritische  Darstellung  ihrer  Ent- 
wicklung. Von  R.  Bonola  in  Pavia.  Autorisierte  deutsche  Ausgabe  von  H.  Lieb- 
mann  in  Leipzig.     Mit  76  Figuren.     1908.     Geb.  M  5. — 

V:  Ebbe  und  Flut  sowie  verwandte  Erscheinungen  im  Sonnensystem.  Von  G.  H. 
Darwin  in  Cambridge.  Autorisierte  deutsche  Ausgabe  von  A.  Pockcls  in  Braun- 
schweig. 2.  Aufl.  Mit  einem  Einfdhrungswort  von  G.  v.  Neumayer  in  Hamburg. 
Mit  52  Illustrationen.      191 1.     Geb.  Ji  ^. — 

VI:  Das  Prinzip  der  Erhaltung  der  Energie.  Von  M.  Planck  in  Berlin.  3.  Aufl. 
1913.     Geb.  JC  (>. — 

VII:  Grundlagen  der  Geometrie.  Von  D.  Hilbert  in  Göttingen.  4.,  durch  Zu- 
sätze und  Literaturhinweise  von  neuem  vermehrte  und  mit  sieben  Anhängen  versehene 
Auflage.     191 3.     Geb.  Jl  (>. — 

\T:II:  Geschichte  der  Psychologie.  Von O. Klemm  in  Leipzig.   1911.  Geb../^8. — 

IX:  Erkenntnistheoretische  Grundzüge  der  Naturwissenschaften  und  ihre  Be- 
ziehungen zum  Geistesleben  der  Gegenwart  Von  P.  Volkmann  in  Königsberg 
i.  P.     2.  Auflage.     1910.     Geb.  JC  t. — 

X:  Wissenschaft  und  Religion  in  der  Philosophie  unserer  Zeit.  Von  E. 
Boutroux  in  Paris.  Deutsch  von  E.  Weber  in  Straßburg  i.  E.  Mit  einem  Ein- 
führungswort von  H.  Holtzmann.     1910.     Geb.  Jl  6. — 

XI:  Probleme  der  Wissenschaft.    Von  F.  Enriques  in  Bologna.     Deutsch  von 
K.  Grelling  in  München.     2  Teile.     19 10.     Geb. 
I.  Teil:  Wirklichkeit  und  Logik.  M  4.—    II.  Teil;  Die  Grundbegriffe  der  Wissenschaft.  M  5.— 

XII:  Die  logischen  Grundlagen  der  exakten  Wissenschaften.  Von  P.  Natorp 
in  Marburg.     19 10.     Geb.  JC  6.60. 

XIII:  Die  pflanzengcographischen  Wandlungen  der  deutschen  Landschaft. 
Von  Prof.  Dr.  H.  Hausrath  in  Karlsruhe.     19 II.     Geb.  Jl  S-  — 

XIV:  Das  Weltproblem  vom  Standpunkte  des  relativistischen  Positivismus 
aus.    Von  Dr.  J.  Pctzoldt  in  Charlottcuburg.    2.  Auflage.     19 12.    Geb.  Ml. — 

XV:  Wissenschaft  und  Wirklichkeit.  Von  Dr.  M.  Frischeisen-Köhler  in 
Berlin.     19 12.     Geb.  JC  %. — 

XVI:  Das  Wissen  der  Gegenwart  in  Mathematik  und  Naturwissenschaft.  Von  6. 
Picard  in  Paris.    Deutsch  von  F.  u.  L.  Linde  mann  in  München.    1913.    Gcb.c^^ö. — 

XVII:  Wissenschaft  und  Methode.  Von  H.  Poincari  in  Paris.  Deutsch  von 
F.  u.  L.  Lindemann  in  München.     1914.    Geb.  ca.  JC  6. — 

XVIII:  Probleme   der   Sozialphilosophie.     Von  R.  Michels  in  Basel.     1914. 

Geb.  .fl  4.80. 

Weitere  Bände  in  Vorbereitung. 


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QA  Voss,   Aiirel  Edmund 

9  Die  Beziehungen  der 

V6  Mathematik  zur  Kultur  der 

Gegenwart 


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