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Full text of "Die Bundesrevision und der Volkstag in Solothurn"

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A. Bürider, τὸς 
. Präfident des ſchweizeriſchen Volksvereins. ” FE 


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* Buchdruckerei Sent & Reinert. —* RL, δ x 
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T. 
Allgemeine Weltlage. 


Nah dem Sturze Napoleons I. erfand die Heilige Allianz das 
Syitem des Europäifchen Gleichgewichtes. Diefes, nur zur Lebensfriftung 
veralteter Stantengebilde und zur Wahrung Hochfonfervativer Intereſſen 
erfundene Syitem, das Jahre lang gleich einem Alp auf Europa laftete, 
wurde durch die Kevolutionen der Dreißiger- und Vierziger-Jahre zwar 
erihüttert, aber erft durch die Kriege von 1859 und 1860 und die 
Schöpfung des Königreichs Italien gründlich befeitigt. Napoleon II., 
den Zug der Zeit nicht verkennend, feste an die Stelle des Europätfchen 
Gleichgewichts das Nationalitätenprinzip und wußte durch diefes Prinzip, 
das er freilich je nach Bedürfniß bald mit Sprachgenoſſenſchaft, bald mit 
natürlichen Grenzen identifizirte, Frankreich für einige Fahre einen über⸗ 
wiegenden Einfluß zu erringen. 

Mit dem Krieg vom Jahr 1866 und der Schöpfung des Nord— 
deutſchen Bundes hatte die Vorherrſchaft Frankreichs ein Ende, mit dem 
Krieg von 1870 ſollte dieſe Vorherrſchaft wieder erlangt und Deutſchland 
dafür gezüchtigt werden, weil es das von Frankreich proklamirte Nationali- 
tätenprinzip auch für fih in Anfprucd genommen. Allein der muthwillig 
heraufbeſchworene Krieg führte nicht nur zur tiefen Demüthigung Frank— 
reis und zum Sturz feines Kaiferthrones, jondern gab Deutſchland auch 
feine langerjehnte Einheit und damit eine Machtjtelung, welche gegenwärtig 
unbedingt die erjte auf dem europätfchen Kontinent. 

Zroß feiner unerhörten Niederlage, feiner materiellen Einbußen und 
des Derluftes zweier Provinzen ift aber Frankreich phyſiſch und moralisch 
nicht gebrochen. Dank jener wunderbaren Claftizität des Geiftes, die ihm 
eigen, und Dank der reichen Hülfsquellen feines Landes hat das fran- 


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zöfifche Volk in kurzer Zeit feine innern zerrütteten Zuftände auf eine, 
unfere republifaniichen und proteftantifchen Augen allerdings wenig ἀπε 
iprechende Weife geordnet, fein Finanzſyſtem geregelt, fein Heerweſen 
nach den Erfahrungen des Τερίε Krieges von Grund aus umgeftaltet. 
Das einzige Gefühl, das ganz Frankreich beherricht, iſt das der Revanche 
und daß ſich diefes Gefühl wenigftens in der Armee mehr und mehr zum 
feiten Willen geftaltet, beweist ihre unausgeſetzte Thätigkeit. Der Offizier, 
der unter dem Kaiſer flanirte, arbeitet jegt, und es mag eine noch wenig 
befannte Thatſache fein, daR die franzöſiſche Deilttärliteratur feit dem 
festen Kriege eben fo Vieles und vielleicht eben jo Gutes, als je die 
deutjche, zu Tage gefürdert. 

Es unterliegt feinem Zweifel: das letzte Wort, wo Europa feinen 
Schwerpunkt oder wie e8 ein natürliches, auf gejunde nationale Staaten- 
bildungen und freiheitliche Entwicklung der Völker gegründetes Gleichgewicht 
finden foll, dieſes letzte Wort iſt noch nicht gefprocdhen. Ein neuer ſchwerer 
Kampf bereitet ὦ vor; ob im zwei, in fünf, in zehn Jahren, wer Tann 
das willen? 

Neben der Eiferfucht und dem Ningen der verfchiedenen Nationali- 
täten gegen einander fehen wir noch zwei große, über die Grenzen der 
Staaten und Völker weit hinausreichende Gegenſätze: die internationalen 
Gegenſätze auf fozialem und die internationalen Gegenſätze auf kirchlich— 
veligtöfem Gebiet. Zwar: die erftern find vorläufig in den Hintergrund 
getreten; die rothe Internationale, über welche feit dem Fall der Parijer 
Kommune in den meiften einander fonft feindlichen Staaten das überein 
ftimmende vaeh victis ergangen, iſt in fich gefpalten und desorganifirt. 
Aber die fozialen Gegenſätze ſelbſt bejtehen fort; in den großen Städten 
Europas gähnt noch immer die furchtbare Kluft zwifchen Reich und Arm. 
Ueberfluß, Herzlofigkeit und lukulliſches Wohlleben, Aktien» und Börjen- 
ſchwindel auf der einen, jaurer Kampf ums tägliche Brod, Neid, ver- 
mehrte Bedürfniffe und Begierden auf der anderen Seite: das find Feine 
Grundlagen für fefte, dauernde Friedenszuftände, das find Zündftoffe, die 
nur günftiger Gelegenheit, ſchwerer politifcher Krifen bedürfen, um die ver— 
zehrende Flamme zu erzeugen. 

In viel direfterer Beziehung, als die fozialen, ftehen die kirchlich— 
veligiöfen Gegenfäge zur gegenwärtigen Politik. Obgleich auch dieſe 
Gegenfäße über die Gränzen der Staaten und Völker weit hinausreichen, 


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ſo haben ſie doch in jüngſter Zeit eine nationale Färbung dadurch an— 
genommen, daß die beiden feindlichen Großmächte, Deutſchland und 
Frankreich, recht eigentlich zu Vertretern der beiden kirchlichen Haupt— 
ſtrömungen geworden ſind. Schon unter der Herrſchaft Napoleons III. 
ſpielten geheime Fäden zwiſchen Rom und Paris, und ſehr wahrſcheinlich 
war der Umſtand, daß die Proklamirung der päpſtlichen Unfehlbarkeit fait 
gleichzeitig mit der Kriegserklärung an die proteſtantiſche Großmacht Preußen 
erfolgte, kein ungefähres Zuſammentreffen. 

Der Ausgang des Krieges machte auf das Gemüth des tapfern 
und hochherzigen, aber durch Selbjtüberfchägung geblendeten franzöfifchen 
Bolfes einen erjchütternden Eindrud. Leichtlebig und gutmüthig in gemöhn- 
lichen Zeiten, fällt der Sranzofe doch in Zeiten politifcher Krifen Hin 
und wieder in einen Parorismus, der einen gewifjen dämonifchen Zug 
in feinem Weſen unverkennbar hervortreten läßt. Praktiker, Realiſt nad) 
Anlage und Geſchmack und nicht gewohnt, viel über religiöfe Gegenftände 
nachzudenken, findet er, wenn plöglich ein Weltereigniß, das den gewöhn— 
lichen Gang der Dinge durhbricht, ein großes Nationalunglüf an ihn 
herantritt, feinen feiten Halt in feiner Bernunft; er wird entweder Fana— 
tifer des Unglaubens, Jakobiner und Kommunard, oder er wird Fanatifer 
des Aberglaubens und jucht die Kroft zu feiner Erhebung in myſtiſcher 
Eftafe. Groß in feinen Tugenden, in feiner Aufopferungsfähigfeit, feinem 
Patriotismus, feinem Heldenmuth, ift der Franzoſe — wenigſtens der 
ungebildete — in folchen Zeiten ebenfo groß in feinen Fehlern und Ver— 
irrungen. An die Stelle feiner fonjtigen liebenswürdigen Eigenschaften 
tritt als ein eigentliches nationales Merkmal ein finfterer, Shmwärmerifcher, 
blutdürftiger Geift, der den Franzoſen als Menſchen zwar erniedrigt, als 
Staatsbürger und Krieger aber befähigt, nah Außen eine große Kraft 
zu entwideln. Die Albigenferfriege und Kreuzzüge, die in Frankreich 
ihren Anfang genommen, die Jungfrau von Orleans, die Bartholomäus: 
naht, die Hugenottenfriege, die Dragonaden Ludwigs XIV., der rothe 
Shreden der Jakobiner und Kommunards, der weiße Schreden ber 
Reſtauration und der Verſailler, dieß find Erſcheinungen in der fran- 
zöſiſchen Gejchichte, die man bei der Beurtheilung der gegenwärtigen 
Weltlage wohl im Auge behalten muß; denn fie zeigen einerfeits, weſſen 
das franzöfifhe Volk in gemifjen Zeiten fähig iſt und anderfeits, de} 
nicht nur dem geläuterten religiöjen Bewußtſein, nicht nur dem fittlichen 


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Willen, fondern auch dem Fanatismus eine gewiffe, nicht zu unterfchäßende 
Kraft inne wohnt. 

Nicht das ganze, aber doch ein großer Theil des franzöfifchen 
Bolfes befindet fich gegenwärtig im diejem religiöfen Paroxismus, der von 
der Geiftlichfeit mit allen Mitteln genährt und gefördert wird. Vom 
tiefiten Nationalhaß gegen Deutfchland, vom brennendſten Durjt nad 
Rache erfült, Haben die Sranzofen, foweit fie nicht Proteftanten oder 
Republikaner find, fich ganz in die Arme des Ultramontanismug geworfen 
und mit diefem unverjühnlichen Feinde des Proteftantismug ein Schuß 
und Trußbündniß gefchloffen. ‘So, wie der ultramontaue Tranzofe vom 
unfehlbaren Papite, von der Mutter Gottes und den Heiligen die Wieder- 
vergeltung an Deutjchland, jo erhofft umgekehrt Rom von dem Nationals 
haß und den Chaſſepots Frankreichs die Zertrümmerung der proteftantijchen 
und liberal=fatholifchen Neiche, die Aufrichtung einer jefuitifch - Elerifalen 
Weltherrſchaft. Und wahrlih! Die Hoffnungen Roms find nicht ohne jede 
Ausfiht auf Erfüllung. Oeſterreich ebenfalls unter jeſuitiſchem Einfluß, 
in Deutihland und Italien eine weitverzweigte ultramontane Agitation, 


im Hintergrumde das lauernde Rußland — find das nicht für das deutjche 


Reich und Italien gefahrdrohende Wolken? 

Mehr noh, als die unausgefegte Thätigkeit in der franzöſiſchen 
Armee, find die Walfahrten nad) Yourdes, das Anwachſen der Gejell- 
ſchaft des „Heiligen Herzens“ Vorboten des kommenden Sturmes. Die 
einzige Möglichkeit, Europa vor den Gräueln eined neuen Krieges zu 
bewahren, bejtünde darin, daß in Frankreich noch in zmwölfter Stunde ein 
Umſchwung zu Gunſten der Republif eintreten würde. Aber dazu ift 
wenig Ausfiht vorhanden; Fanatismus und Geld werden Chambord 
ihon zum Throne verhelfen. Dann können wir ficher fein, daß der θὲς 
vorjtehende Nationalfrieg mit Deutfchland trog und zur Schande des 
19. Zahrhunderts eine religtöfe Färbung erhalten, mehr oder minder den 
Charakter eines Religionsfrieges annehmen wird. 


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11. 
Die Stellung der Schweiz und die gegenwärtigen 
Revifionsbeftrebungen. 


Angefichts diefer allgemeinen Weltlage jollten wir Schweizer Eines 
nicht vergeffen: daß unfer freies Alpenland unter den Mächtigen Europas 
gar viele Feinde hat. Wir follten nicht vergejfen, daß Hüben und drüben, 
in Deutſchland und Stalien fo gut, wie in Frankreich, die Hoffnung 
genährt wird, das Nationalitätenprinzip werde fi) auch an uns feindlich 
bewähren, die Anziehungsfraft der nationalen Centren werde unfer kleines, 
aus drei verfchiedenen Nationalitäten zufammengefettes Volt früher oder 
ſpäter auseinanderreißen! 

Diefe Hoffnung fol, foweit e8 in der Macht unſeres Volkes 
liegt, zu Schanden werden! Wohl ift das Nationalitätenprinzip, jofern 
es dad Zufammengehörende vereinigen, das nicht Zujammengehörende 
trennen will, gefchichtlih durdaus berehtigt. Aber mit dem Wort 
„Nationalität“ darf Fein Mißbrauch getrieben werden. Es gibt eine 
Nationalität, die Höher und Ehrfurcht gebietender dafteht, als diejenige, 
die fih nur auf die Race, nur auf die Sprachgenofjenfchaft gründet, 
Es iſt dieß die Nationalität, welche auf der Liebe zur gleichen Heimat, 
auf der gemeinfamen Gejchichte eines Volfes, auf dem gemeinfamen Volks⸗ 
harafter, auf dem Bewußtſein der geiftigen und politifchen Zuſammen— 
gehörigfeit beruht. Eine folhe Nationalität find wir Schweizer, was 
bedarf es des Beweiſes? Iſt doch der Stempel der gemeinſamen Beſtim— 
mung dem Schweizervolk unverkennbar auf die Stirne gedrückt, iſt doch 
das Bild des gemeinſamen Vaterlandes dem Schweizervolk unauslöſchlich 
in's Herz gegraben! 

Das Nationalitätenprinzip haben wir nicht zu fürchten, wohl aber 
die Mißdeutung dieſes Prinzips. Wollen wir Schweizer dieſer Miß— 


deutung vorbeugen, wollen wir im kommenden Sturm die Freiheit und 
Selbſtſtändigkeit unſerer Nationalität erhalten, ſo muß das nationale 
Gefühl, das uns erfüllt, vorher noch äußere Form und Geſtaltung ge— 
winnen, zur natioffalen That werden. Vorher muß [{ die fenmweizerifche 
Nation aus ihrer äußern Zerfplitterung, aus dem ganzen Nachlaß des 
alten , ohnmächtigen Staatenbundes herausringen, vorher [1 enger und 
fejter im ſich zufammenfhliegen. Vorher noch muß fie in ihrer eigen- 
artigen jtaatlihen und fozialen, in ihrer militärifchen und rechtlichen 
Entwidlung den Anforderungen der Gegenwart gerecht werden. Nur dann 
kann die jchweizerifche Nation auf die Achtung Europas zählen, wenn fie 
gerüftet dafteht, wenn fie den andern Völkern — Dank dem Vorzug re— 
publifanischer Inſtitutionen — in allen Rulturbeftrebungen ein leuchtendes 
Vorbild bleibt und wenn fie durd die That Zeugniß ablegt von ihrer 
Lebensfähigkeit, ihrer Gejundheit, ihrer eigenartigen Beftimmung. 

Das nationale Gefühl und der überwältigende Eindrud der großen 
Ereigniffe von 1870 und 1871 waren e8, welche den Reviſionsentwurf 
vom 5. März 1872 ins Leben riefen. Diefer Entwurf mußte der un— 
natürlichen Allianz der Ultramontanen und Kantonejen erliegen. Allein 
die Ideen marfchiren von felbjt. Eine wahre Idee kann zwar momentan 
durch die Gewalt äußerer Umftände an ihrer Verwirklichung verhindert 
werden, früher oder fpäter wird fie fich gleichwohl Bahn bredden. Daß 
mit der Verwerfung des lebten Entwurfes die Reviſionsidee felbjt nicht 
zu Grabe getragen war, daß fie fi) umgekehrt im Geift uud im Herzen 
des Dolfes immer mehr Eingang verfhafft, das zeigte ſchon der Ausfall 
der Nationalvathswahlen, der Umfhwung in Graubünden und Neuen- 
burg, die Wiederaufnahme der Reviſion durch die eidgenöffiichen Käthe. 
Mehr πο zeigte [Ὁ dieß in der Gründung und dem raſchen Anwachfen 
des ſchweizeriſchen Wolfsvereins und in dem, von ihm veranitalteten 
ſchweizeriſchen Volkstag in Solothurn. | 

Schon ftehen wir wieder an der Schwelle der Reviſion; ſchon Liegen 
vor ung die Entwürfe des Bundesrates, der nationalräthlichen und jtände- 
räthlichen Kommiffion. Vom Centralfomite des ſchweizeriſchen Volksvereins 
ſind ſämmtliche Sektionen aufgefordert worden, dieſe Entwürfe zu prüfen 
und ſich ernſtlich zu fragen, ob und inwieweit fie dem in Solothurn aus— 
geiprochenen Volkswillen entiprechen; ob und inwieweit der ſchweizeriſche 
Volksverein, während es noch Zeit ift und bevor noch die Bundes— 


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verſammlung ihr letztes Wort geſprochen, auf eine gründlichere und all— 
ſeitigere Reform unſerer Bundeszuſtände hinwirken müſſe. 

Die am Solothurner Volkstag einſtimmig angenommenen Reſolu— 
tionen find der gemeinſame Ausdruck deſſen, was die Herzen der Reviſions— 
freunde bewegt. Es ijt wahr, aud das Bolf fann fi) irren, und id 
möchte mich am allerwenigjten zu denjenigen zählen, die das Volk für 
unfehldar erfären. Aber wenn je, jo gilt in Zeiten innerer oder äußerer 
Krijen, in Zeiten, wo eine große Idee, ein patriotifches Gefühl die Maffe 
bewegt, in Zeiten, wo nicht Klügeln und Abwägen, wo nur eine fühne, 
nationale That Helfen kann, — wenn je, gilt in ſolchen Zeiten das 
Sprihwort: „Vollesſtimme ift Gottesftimme” ! | 

Die Zeiten find ſehr ernft. Wohl Hat die Schweiz, mitten in den 
Stürmen, die feit Jahrzehnten unfer Land umtoden, mitten im Ringen 
der Völfer nad nationaler Einheit und Selbititändigfeit, mitten in den 
Kämpfen der verfchiedenen Nationalitäten gegen einander, bis ἰδὲ ihre 
Selbitjtändigfeit, die Unantaftbarfeit ihres Gebietes bewahrt. Während 
um uns ber Staaten entjtunden und Staaten vergingen, während alte, 
hochberühmte Reiche von ihrer Höhe herabjanfen und neue jugendfriiche 
Schöpfungen kraftvoll emporjtiegen, blieb die Schweiz bis jest unberührt 
von diefen Stürmen, ein neutraler Boden, eine Aſylſtätte für alle politiſch 
- Berfolgten. 

Ader dürfen wir hoffen, daß dies immer fo bleiben wird? Sprechen 
im Gegentheil nicht viele politiſche und militäriihe Gründe dafür, daß 
gerade unjer Yand oder Belgien für den nächſten großen Nationalfrieg 
als Kriegsjchauplag auserfehen ift? Als vor zwei Jahren die rothen 
Hofen in unzählbarer Menge über den Jura hereindrangen und al’ 
unſere Thäler jih mit Flüchtlingen anfüllten, — durchzudte da nicht die 
Gemüther unſeres Volkes eine Ahnung, daß aud für uns die Idylle 
aufgehört und dad Drama begonnen? Fiel e8 uns da nicht wie Schuppen 
von den Augen, wie ficher wir uns bisher geträumt, wie nahe wir oft 
dem Derderben gewejen, wie wunderbar wir bewahrt worden? Fühlten 
wir da nicht auf einmal, wie enge verwoben unjer Geſchick mit dem 
ganzen Ummwandelungs- und Entwidelungsprozeß Europa's, wie leicht 
bon einem Tag auf den andern das gewohnte Bild des Friedens fich in 
ein Bild des Krieges und der Zerftörung verwandeln kann? Klangen 
uns die fremdländiichen Yaute, die wir hörten, Hang uns das dumpfe 


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Rollen der Kanonen und Mitrailleufen auf dem Pflafter unjerer Straßen 
nicht wie eine Mahnung, eine ernjte und vielleicht letzte Mahnung, unfer 
Haus zu beftellen, während es nod Zeit ijt? 

Darum, Revifionsfreunde, laßt uns Hoch emporhalten das Panner 
mit dem weißen Kreuze im rothen Felde und uns enger und feiter um 
dafjelbe- fchaaren. Wohl wird diejes Zeichen feinen Eindrud machen auf 
diejenigen, die ihr Vaterland nicht in der Schweiz, fondern in Rom haben. 
Aber es gibt Andere, die εἰπῇ, als ihr Did ποῦ nicht umflort war, 
mit der gleichen Liebe, mit der gleichen Begeifterung zu diefem Zeichen 
emporjchauten. Bieten wir diefen, mit und entzweiten Brüdern die 
Hand, ſuchen wir uns, ohne auf unfere großen Zielpunfte zu verzichten, 
mit diejen Rantonefen zu verftändigen. Manches läßt ſich vielleicht auf 
eine, für das Kantonalgefühl weniger verlegende Weife erreichen; Manches, 
das im lestjährigen Programme apodiktifch aufgeſtellt war, kann falultativ 
gelaffen werden. Sagen wir diefen Kantonefen, daß auch wir feine An— 
hänger einer bureaufratifch zugefpisten Centrafifation find, daß auch wir 
fein individuelles Leben unnöthig zerftören wollen. Prüfen wir noch εἰπε 
mal unbefangen all’ ihre Bedenken, und ſuchen wir da, wo ein foldhes 
Bedenken irgendwie begründet erjcheint, demjelben gerecht zur werden. 

Allein die Nachgiebigkeit hat ihre feiten Grenzen. Da, wo das 
Leben ſelbſt und feine Bedürfniffe aus den Fantonalen Schranken hinaus— 
drängen, da, wo dur diefe Schranken die nationale Kraft und Würde 
der Schweiz beeinträchtigt wird, da wollen wir feine Konzefjionen machen, 
da wollen wir die fantonalen Schranken getrojten Muthes niederreißen. 

An unferen großen, in Solothurn aufgeftellten Zielpunkten wollen 
wir unentwegt fejthalten, und da, wo der Ernſt der Zeit eine gründliche, 
alffeitige Reform für unfer Vaterland nothwendig macht, jede Nachgiebig- 
feit als Schwäche fennzeichnen. | 


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III. 
Militär. 


(Solothurner Bolfstag.) Mljeitige Hebung und nationale Gejtaltung unferer 
Wehrfraft. 


Dieß ift eine Forderung, von der die Revifionspartei nicht abgehen ὦ 
fann und nicht abgehen wird. Niemand weiß, wie bald unferem Vater— 
land die Prüfungsitunde fchlagen wird; aber das wiljen wir: die Zeiten 
jind fo ernſt, der Uebelftände find fo viele, daß mit Kleinen Verbefferungen 
und halben Maßregeln nichts gethan iſt. Wir verlangen deßhalb eine 
jofortige, ganze und gründliche Umgeftaltung unſeres Wehrmejens. 

Wenn wir von den Vorzügen abjehen, welche das Milizſyſtem über- 
haupt vor den ftehenden Heeren voraus hat, jo müjjen wir uns befennen: 
unfere Armeeorgantjation ijt die fchlechtefte in ganz Europa. Wir find 
ein kleines Volk und trotzdem haben wir es noch zu feiner nationalen 
Armee bringen fünnen. 

Wohl ift in Verfaſſung und Gefegen viel von der fehmeizerifchen 
Armee die Rede; in Wirklichkeit aber haben wir nur taftijche Einheiten, 
daneben die 25 größern oder Heinern Armeeen der Kantone, und aus 
diefen 25 Armesen oder Armeechen wird jemweilen im Fall der Roth das 
jonft nur auf dem Papier ftehende Bundesheer zuſammengeſchweißt! 

Wohl haben wir im Prinzip die allgemeine Wehrpflicht und wir 
bringen dieſfes Prinzip auch regelmäßig zur Anwendung, wenn mir 
irgend einen armen Teufel von Seftirer, der aus religiöfen Sfrupeln den 
Milttärdienft verweigert, mit barbarifchen Strafen belegen müſſen; δας 
neben Hat diefes Prinzip, Danf dem Sfalafyitem, Dank der gewifjenhaften 
Kontrole der Kantone, nicht verhindern fünnen, daß in unferm Vaterland 
Zaufende und abermald Taufende von mwehrfähigen Schweizerbürgern vom 
aktiven Militärdienst befreit find, [εἰ es nun, weil über fie gar feine 

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Kontrolle geführt worden, oder weil fie aus unftatthaften, nichtigen Grün- 
den, dur die Gunſt irgend eines kantonalen Machthabers difpenfirt 
worden find. 

Wohl haben wir eidgenöffische Vorfchriften über die Inſtruktion der 
Infanterie, aber fie verhindern nicht, daß nad) 25 verfchiedenen Inſtruktions— 
plänen gearbeitet wird und daß die von den Kantonen ertheilte Inſtruk— 
tion eine jehr ungleichartige ift. Während fie in einigen Kantonen — 
und als Berner darf ἰῷ Bern mit Stolz zu diefen Kantonen rechnen — 
wenig zu wünſchen übrig läßt, fteht dagegen in andern Kantonen die 
Ausbildung der Offiziere fowohl, als der Mannfchaft, unter aller Kritik. 

Wohl haben wir eidgenöffiiche Vorſchriften über die feldmäßige Aus- 
rüftung der Zruppenförper und die Verwaltung des Srieg&materials ; 
allein es ijt nicht lange her, daß in der Bundesverfammlung konſtatirt 
wurde, daß von allen 25 Kantonen nur 2 diefen VBorfchriften nachgefommen ; 
und die Öarantie der Fantonalen Verwaltung ift fo groß, daß es bei dem 
plöglichen Aufgebot im Jahr 1870 Kantone gegeben Hat, welche während 
der erjten Wochen des Krieges, aljo gerade während der Eritifchen Zeit, 
ihren Bataillonen wegen Munitionsmangel nur 10, fage zehn Patronen 
verabfolgen fonnten ! 

Welcher Schweizer, der vom Militär Etwas verjteht, und es 
mit dem Baterland ehrlich meint, will diefen Augiasſtall nicht ausräumen 
helfen ? | 4 

Allerdings werden von den Föderaliften gegen die projeftirte Milttär- 
reform ſehr gewichtige Bedenken erhoben, Bedenken, die nicht fo kurzhin 
abgefertigt werden können, fondern gründlich geprüft werden müffen. Die 
Föderaliften jagen: Durch eine alffeitige Centralifation unferes Milttär- 
wejens, durch die Abtreiung des Kriegsmaterials, der Milttärgebäude, der 
Aushebung, der Inſtruktion, der Verwaltung an den Bund, verlieren die 
Kantone jede militärifihe Bedeutung und damit auch einen wefentlichen 
Theil ihrer Souveränetät. Wohl ift ihnen ſcheinbar noch das Recht gelaffen, 
über die Wehrfraft ihres Gebiets zu verfügen, aber um dieß zu können, 
müſſen fie vorher vom Bund das nöthige Kriegsmaterial, Waffen und 
Munitien, entlefnen; ja fie müffen, da fie feine militärifchen Organe 
mehr haben werden, jchlieflich die Bundesorgane um Vermittlung angehen. 
Umgelehrt wird die ſchon jest bemerfbare Militärbureaukratie verzehnfacht; 
ein Heer von fäbelrafjelnden Bundesbeamten verbreitet ſich über die ganze 


— 8 — 


Schweiz, unſere Republik wird durch die militäriſche Allmacht unſerer 
Centralgewalt gefährdet. 

Ich ſage: Dieſe Bedenken ſind nicht ganz aus der Luft gegriffen. 
Wohl mag es einzelne Bureaukraten und Säbelraßler geben, denen eine 
ſolche bureaukratiſch zugeſpitzte, in's Extrem geführte Militärzentraliſation 
ſehr erwünſcht wäre. Unſer Ideal aber iſt ſie gewiß nicht. 

Was verlangte der Volkstag in Solothurn? Eine nationale Or— 
ganijation unferer Wehrkraft. Iſt dieß etwa gleich bedeutend mit Centralt- 
jation ? Durchaus nicht, denn wie in gewiſſen Beziehungen allerdings 
eine größere Eentralifation zur Nothwendigfeit wird, fo erfordert gerade 
ein. gejundes, natienales Heerweien in anderer Beziehung eine größere 
Decentralifation. Allerdings Feine Decentralifation nah Kantonen. 

Wir wollen eine nationale Organifation, im Gegenſatze zur fantonalen. 
Borerfi muß das Prinzip der allgemeinen Wehrpflicht, das gegemmärtig 
nur auf dem Papier fteht, einmal zur Wahrheit werden. Sowie von 
Bundeswegen jedem Schweizer die gleichen Rechte eingeräumt, ſowie alle 
Vorrechte de8 Ortes und der Geburt abgefchaftt worden find, fo follen 
iedem Schweizer auch die gleichen Pflichten gegenüber dem Vaterland auf- 
erlegt werden. Dekhalb muß nicht aur das Skalaſyſtem befeitigt, fondern 
es muß durch den Bund aud die Aushebung der Rekruten geregelt und 
beforgt, die Dienftpflicht der verſchiedenen Altersflaffen feſtgeſetzt, über 
alle wehrfähigen Schweizer, alfo auch über Diejenigen, welche nicht mehr 
im Bundesheer dienen, eine Kontrole geführt werden. Beſondere Fantonale 
Truppenkörper follen nicht mehr zugelajjen fein. 

Zu einer nationalen Organifation gehört ferner, daß der Bund, 
jowie er von Jedem das Gleiche fordert, Jedem auch das Gleiche gibt: 
Waffen, Kleider und Ausrüftung. Die Unterftügungspflicht des Bundes 
gegenüber der Wehrmännern, die im eidg. Dienft verunglücen, darf nicht 
nur auf dem Bapier ftehen, fordern es muß im Anſchluß an die Winfel- 
riedjtiftung Ion im Frieden für Aeuffnung eines Hinreichenden Fonds 669 
jorgt und der Bund dadurch) in die Möglichkeit gefeßt werden, feine 
Unterftügungspfliht auch zu erfüllen. Am Beſten würde dazu verwendet 
ein Theil des jährlichen Ertrages der Milttärpflichterjagiteuern. 

Zu einem nationalen Heer gehört ferner mit abjoluter Nothwendig- 
teit Einheit und Gleichartigfeit der Eintheilung, der Verwaltung und der 
Hnfteuftion. Bei der Eintheilung der Armee [01{ die Größe und Anzahl 


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ihrer Glieder ausſchließlich nach militärifchen Gründen beftimmt werden. 
Militäriſch find aber die natürlichen Glieder der Armee die Armeedivifionen 
und die Divifionsbezirke, nicht die in ihrer Größe und Konfiguration 
jo verjchiedenartigen Kantone. Nun wird Jedermann zugeben müfjen, daf 
unfere Armeedivifionen fo lange nur auf dem Papier beftehen, als die 
ganze Friedensthätigkeit der Armee durch) da8 Medium der Fantonalen 
Militärdireftionen, der kantonalen Ynftruftoren, der Tantonalen Kom— 
mifjariate, der fantonalen Zeughausverwaltungen ftattfinden muß. Soll 
unjer Heermwejen gefunden, joll unfere Armee in Wahrheit eine nationale, 
Telstüchtige Armee werden, fo muß jenes Medium ſämmtlicher kantonaler 
Inſtanzen aus dem Organismus der Armee gründlih und vollftändig 
hinausgedrängt werden. Dagegen fällt es uns allerdings nit ein, an 
die Stelle der kantonalen Beamtungen ein Heer von ftändigen Bundes- 
beamten zu jeßen. 

Was wir nicht wollen, im Eimverjtärdniß mit den Föderaliften nicht 
wollen, iſt eine Militärbureaufratie. Um diejelbe zu vermeiden, um in 
Wahrheit zu einer gefunden, nationalen Heeresorganifation zu gelangen, 
muß an die Spige der Organifation Ein großes Prinzip geftellt werden, 
das wegen jeiner politifchen, wie militäriihen Tragweite ſchlechterdings 
die Aufnahme in die Bundesverfaffung verlangt. Es iſt dieß das Prinzip 
der Selbftverwaltung der einzelnen Truppenförper. 

Wir wünſchen eine ganz Heine Anzahl von ftändigen VBerwaltungs- 
beamten und Angeftellten, in der Hauptjache aber ald Berwaltungsorgane 
die Organe de8 Bundesheeres jelbit, die Kommandanten, Offiziere, Kom- 
mifjäre 2c. der verſchiedenen Einheiten! 

Jede Armeedivifion forgt auch im Frieden für alle ihre Bedürfniſſe 
jelbft, ihr Kommandant überwacht nicht nur die jährliche Aushebung der 
Rekruten, die Ynftruftion und Ausrüftung, jondern απ) die ganze Ber: 
waltung des Kriegsmateriale. 

Ebenſo wird das Kriegsmaterial der Brigade im Bezirk derjelben 
unter Auffiht des Brigadefommandanten verwaltet. Bei der DS 
(Regiment) deßgleichen. 

In der taktifhen Einheit der Infanterie, im Bataillon, — für 
die Verwaltung folgende Grundſätze: 

Das Kriegsmaterial, ſo weit möglich, wird ἊΣ einzelnen Manne 
verabfolgt. So vor Allem aus die Waffe. Das übrige Kriegsmaterial, 


das zur feldinäßigen Ausrüftung des Bataillons gehört (Munition, Kapüte, 
Deden , Borrathskleider, Kocgeräthichaften, Fourgons, Caiſſons 2c.), 
wird im Stammbezirt des Bataillon felbft magazinirt und unter der 
Rontrole und DBerantwortlichkeit des Bataillonsfommandanten und der δας. 
mit beauftragten Offiziere durch eine geeignete Perfönlichkeit im betreffen- 
den Bezirk verwaltet. 

Wenn man in der fünftigen Armeeorganiſation die Dreitheilung (Aus- 
zug, Neferve und Landwehr) adoptirt, fo wird jeder Bataillonsbezirk 3, 
wenn man die Zweitheilung adoptirt, 2 Bataillone umfaſſen. Gewiß be- 
findet fi nun [αὐ in jedem Bataillonsbezirf, namentlid) in den Amts— 
fiten, ein geeignetes, feſtes und trodenes Gebäude, in welchem das Kriegs- 
material für die 2, refp. 3 Bataillone ſicher untergebracht werden kann. 
Falle da und dort ein Anbau für Unterbringung der Fuhrwerke nöthig 
fein follte, jo wäre dies feine große Sache. 

Ebenſo wird ὦ in jedem Bataillonsbezirk irgend eine geeignete 
Perjönlichkeit, etwa ein alter Militär, finden laſſen, um gegen ein mäßiges 
Honorar das Kriegsmaterial der 2 oder 3 Bataillone zu verwalten. Von 
Zeit zu Zeit müßten jelbjtverftändlich einzelne Offiziere mit der Inſpeltion 
beauftragt, von Zeit zu Zeit einzelne Soldaten des Bezirkes aufgeboten 
werden, um beim Reinigen der Gegenftände, Ausklopfen der Deden ꝛc. 
mitzuhelfen; furz, das Ganze wäre eine höchſt einfache, wenig Eoftjpielige 
Sache und die praftiiche Ausführung des Grundjages der Selbitverwal- 
tung bei gutem Willen mit jehr geringen Schwierigfeiten verbunden. 

Bei diefer großen Decentralifation, bei dieſer bis auf die einzelne 
taktiſche Einheit, da8 Bataillon (oder wenigftens bis auf da8 Regiment), 
berabgehenden Selbjtverwaltung der Armee würden die berechtigten Befürd- 
tungen der Föderaliften von jelbjt dahinfallen. Diefe [ὦ felbft verwalten- 
den Truppenkörper wären gegen die Militärhureaufratie eine viel größere 
Garantie, ald es je die Kantone gewefen jind und jein werden. Ein 
ſäbelraſſelndes Bundesbeamtenthum würde zur Unmöglichkeit, centraliftifche 
Algewalt wäre da nicht mehr zu befürchten, wo die Waffe in den Händen 
des Mannes, die Munition im Stammbezirk der taktiſchen Einheit ſich 
befände. Aber auch die Kantone hätten bei diefem Prinzip der Selbit- 
verwaltung ihren VBortheil. Während fie allerdings als ungehörige Glieder 
mit Recht vollitändig aus dem Organismus der Armee hinausgedrängt 
werden, ijt es ganz gut zuläjfig, daß fie, als politifche Gewalten, zu der 


—— 


Armee und auch zu ihren einzelnen Gliedern, ja bis zur taktiſchen Ein— 
heit herab in einem gewiſſen Verhältniß ſtehen, das ihnen zur Aufrecht— 
haltung der Ruhe und Ordnung im Innern gemeinfam mit dem Bunde 
die Kontrole und die Verfügung über die Wehrfraft ihres Gebietes er- 
mögliht. Wenn das Prinzip der Selbitverwaltung der einzelnen Truppen- 
förper fonfequent durchgeführt wird, fo braucht ein Kanton zu einem 
Truppenaufgebote feiner Vermittlung des Bundesrathhaufes, er braucht 
aber auch feine befondere fantonalen Milttärorgane. Er wendet fi einfach 
an den Kommandanten des betreffenden Truppenförpers (Bataillons, Regi- 
ments 20.) und ertheilt ihm den Befehl, durch fein Bureau die Truppe 
aufbieten zu laffen. Ein fantonales Milttärbureau, Kommiffariat, Zeug- 
haus tft da ganz überflüffig, die Truppe ift ja bereit® im Befik von 
Allem, was fie nöthig Hat, um in's Feld zu rüden. 

Dieſe Decentralifation, diefe Selbftverwaltung der einzelnen Truppen⸗ 
förper hat aber nicht nur große politiiche, fondern noch größere militäriſche 
Borzüge. Site ift nicht nur eine Garantie gegen die — vor den Föde— 
raliften mit Recht befämpfte — bureaufratiiche Allmacht der Centralgewalt, 
gegen ein Ueberwuchern des Beamtenthums, jondern fie ift auch ein Mit- 
tel, die Kontrole über die Verwaltung des Kriegsmaterials unendlich zu 
vereinfachen und die rajchere Miobilifirung des Bundesheeres zu ermög- 
lichen. Beim gegenwärtigen Syitem Heat gerade die übergroße Eentrali- 
fatton der Verwaltung in verfchiedenen Kantonen, wie 2. B. Bern, und 
die dadurch erfchwerte Kontrole und Mobilifirung wiederholt zu großen 
Uebelftänden geführt. 

Da ich gerade vom Kriegsmaterial und von der Nothwendigkeit 
einer Decentralifotion der Verwaltung rede, fo muß ich hier nothwendig 
auf eine Spezialität eintreten, die wegen ihrer ungeheuren Wichtigkeit 
nicht nur in den Gefegen, fondern fon in der Verfaſſung berührt jein 
jollte. Es betrifft dies die Errichtung mehrerer Patronenfadrtfen in 
den verſchiedenen Landesgegenden der Schweiz. 

Bekanntlich befigt die Eidgenoffenfhaft nur eine einzige Patronen» 
fabrif, diejenige in Thun; die Fabrik bei König fabrizirt nur Hülfen, 
it mithin nur ein Appendix von jener. 

Nun hat ein angejehener Staatsmann, der Leider gegenwärtig in. 
den Reigen unferer Gegner fteht, bereits vor drei Fahren dieſen Uebel⸗ 
ſtand hervorgehoben. Hr. Nationalrath Ruchonnet hat in der Sitzung 


de8 Nationalrathes im Dezember 1870 in einer ausgezeichneten Rede 
darauf Hingewiefen, daß die Errihtung mehrerer Patronenfabrifen in 
verjchiedenen Landesgegenden für die Schweiz nicht nur fehr wünſchens⸗ 
werth, fondern unter Umftänden geradezu eine Lebensfrage ſei. Aud) 
die HH. Roguin und Aepli haben im Ständerath die gleiche Anſicht jehr 
warm verfochten. 

Warum der Chef des ſchweizeriſchen Militärdepartements, dem unfer 
Heerweſen jonft jo viel zu verdanken hat, gerade in dieſer hochwichtigen 
Trage den berechtigten Wünſchen der Waadtländer Deputirten entgegen» 
getreten, ift uns noch Heute umerflärlih. Jedenfalls Hat der Umjtand, 
daß die Bundesverfammlung damals die Motion der HH. Ruchonnet und 
Sonforten der Hauptſache nad) verworfen, nicht dazu gedient, das Miß- 
trauen unferer Föderaliften in das eidgenöffiiche Wehrwejen und in die 
eidgenöffische Kriegsverwaltung zu bejeitigen. 

Warum ift die Erftellung mehrerer Patronenfabrifen für die Schweiz 
eine abjolute Nothwendigfeit ? 

Erſtens, weil eine einzige Fabrik im Kriegsfalle nicht im Stande 
ijt, rajch genug die nöthige Anzahl Munition zu erjtellen. Unſere Babrif 
in Thun kann täglid nur 100,000, vielleiht im Nothfalle 150,000 Pa— 
tronen fabriziren. Für den Laien eine ungeheure Zahl, für den denfenden 
Militär ſehr wenig! 

Sollte und das Verhängniß treffen, in einen Krieg zwiſchen Frank— 
reih und Deutjchland, vieleicht auch Oeſterreich und Italien hineingezogen 
zu werden, jo wird es dann jelbftverjtändfich nicht mehr von uns abhängen, 
einſeitig mit diejer oder jener Macht Frieden zu ſchließen, auch im Falle 
einer Niederlage nicht. Sol unfer Land nicht den Kriegsſchauplatz für 
beide ftreitenden Parteien abgeben, jo müjjen wir, einmal angegriffen, 
gegenüber unferem Angreifer auch ausharren bis zu Ende, fonjt δὲ ung 
die andere Partei auf dem Naden. Davon ift aber dann feine Rede, 
daß die Sache mit einem oder mit zwei Treffen abgethan ift, fondern der 
Krieg kann aud für uns ein oder zwei oder noch mehr Jahre andauern. 

Wie verhält fih nun zu einer ſolchen Eventualität die Leijtungs- 
fähigkeit unferer einzigen Patronenfabrife? Haben mir einen Gegner, der 
energifch vorgeht, jo müfjen wir doc) gewiß die Möglichkeit annehmen, 
daß wir nicht nur einen gemüthlichen Poftenfrieg zu führen, Heine Vor— 
poftengefechte zu Liefern haben. Nein, mir müfjen uns auf Schlachten, 

2 


— 


wirkliche Schlachten gefaßt machen. In dieſem Falle iſt es aber ſehr leicht 
möglich, daß unſer —- überdieß viel zu kleiner — Patronenvorrath ſchon 
in 10 Tagen auf der Neige iſt. Man ſoll, um das Gegentheil zu be— 
weiſen, nicht mit dem Kriege von 1866 und dem verhältnißmäßig ſehr 
geringen Munitionsverbrauch der Preußen exemplifiziren. Damals, als 
Hinterlader gegen Vorderlader ſtund, machte ſich die Entſcheidung ſehr 
raſch; überdieß werden unſere Miliztruppen ſich nie eine preußiſche Feuer— 
disziplin aneignen. Im letzten Kriege, ſo namentlich in der zweiten Hälfte 
deſſelben, und bei der Belagerung von Paris war der Munitionsverbrauch 
zeitweiſe ein ganz enormer. 

Unſer Repetirgewehr iſt eine ausgezeichnete Waffe, aber nur, wenn 
man fie gehörig fpeist; denn im Kriegsfalle wird fie unſere Munition 
mit raſender Schnelligkeit aufzehren. Alfo muß für Erfag, reichlichen 
Erjag der Patronen gejorgt fein. Wie fteht e8 mit diefem Erjaß, wenn 
nah 10 Zagen, nach einer oder zwei Schlachten unfere Armee oder größere 
Theile der Armee ihre Munition verfchoffen haben? Das Quantum Pa— 
tronen, das unfere Fabrik täglich fabrizirt, genügt nur zur Speifung eines 
einzigen Bataillons; mithin das Quantum, das in 10 Tagen erjtelit 
werden kann, höchftens zur Speifung einer Divifion. Deßhalb müſſen 
wir in den Stand gefeßt werden, im Kriegsfalle nit nur 100,000 
bi8 150,000, jondern mindeftene 700,000 bi8 1,000,000 Patronen 


täglich zu fabriziren. 


Ein zweiter, ebenjo gewichtiger Grund für die Nothwendigkeit 
mehrerer Patronenfabrifen befteht in der Möglichkeit, daß unferer einzigen 
Patronenfabrik ja irgend ein Unfall zuftoßen könnte. Iſt es nidt ein 
unfeimlicher Gedanke, daß im Kriegsfalle das Wohl und Wehe der 
gefammten Wehrfraft unferes Landes von einem einzigen Gebäude und 
zwei Mafchinen abhängt? Wie leicht kann ein Gebäude durch eine 
Feuersbrunſt oder Erplofion zerftört, wie leicht durch Nachläffigleit oder 
Böswilligfeit oder durch ein Naturereigniß irgend etwas an einer Mafchine 
verdorben werden, daß diefelbe für längere Zeit nicht mehr in Betrieb 
gefegt werden Tann? ft nicht vor ſechs Jahren die Patronenhülfen- 
fabrif in König ein Raub der Flammen geworden ? 

Es ift noch ein anderer Fall denkbar. Eine franzöfifhe Armer 
bricht in unfer Land ein, wir haben das Unglück, eine Schlacht zu 
verlieren. Wir werden zurücgedrängt, zur Aarelinie, über die Aarelinie 


rg 


hinaus bis zur Emmenlinie. Dort fegen wir uns feft, unfere zerftreuten 
Streiikräfte fammeln fich wieder, die gefammte Armee ift bereit zu einem 
kräftigen Vorſtoß. Allein es beginnt an Munition zu fehlen, viele Caiffons 
find leer, auch die Patrontaſchen find Leichter geworden. Lägen nun eine 
oder zwei Patronenfabrifen Hinter unferem Rüden, in Luzern oder Zürich, 
jo wäre dem Mebeljtande von einem Tag auf den anderen abgeholfen. 
Allein unfere einzige PBatronenfabrif in Thun ift natürlich durch ein 
Detafchement des bis zur Warelinie vorgedrungenen feindlichen Heeres 
beſetzt, unſere einzige Lebensader vollftändig unterbunden. Was wollt 
Ihr nun thun, Ihr Herren Oberften, die Zhr im Frieden die Nothmendig- 
feit mehrerer PBatronenfabrifen nicht einjehen wollte? Unfere Armee mit 
ungenügender Munition gegen den Feind führen? Werden die Soldaten 
Euch folgen, oder werden fie nicht vielmehr nach Verrath fchreien Ὁ 

Alles kann fih in der Weltgeſchichte wiederholen. Aus dem 
Yahre 1798 Haben wir ein Volfslied, das die Thaten der Berner 
gegenüber den Franzoſen befingt und bei dem jede Strophe mit dem 
Refrain ſchließt: | 

Aber fie gaben uns feine Munition, 
Darum liefen wir davon ! 

Gegen die Erftellung mehrerer Patronenfabrifen wird vielleicht der 
Kojtenpunft geltend gemacht werden. Aber es Handelt fi) ja nur um 
Erjtellung der nöthigen Gebäulichkeiten und um Anfchaffung der Mafchinen, 
damit die Fabriken im Kriegsfalle fofort in Thätigkeit gefeßt werden 
können. Es fällt mir nidt ein, vorzujhlagen, daß in Friedenszeiten 
mehr als eine Fabrik in Thätigkeit geſetzt werden ſolle. 

Ferner wird hervorgehoben werden: Wenn ſchon die Fabriken erftellt 
find, fo fehlt ja, um fie in Betrieb fegen zu können, das nöthige 
Perfonal. Schafft doch das nöthige Perfonal Her! Es gibt in unjerem 
Vaterlande Taufende, die wegen irgend eines Kleinen förperlichen Gebrechens 
zum gewöhnlichen Meilitärdienfte untauglich find, aber ganz gut zur 
Patronenfabrifation verwendet werden fünnten. Laßt diefe Leute durch 
die jtändigen Arbeiter einige Wochen in der Patronenfabrifation: inftruiren, 
organifirt jie, bildet aus ihnen eigene Kompagnieen, die ihre Dienit- 
pflicht als Arbeiter in den Munitionsfabrifen erfüllen und die. ihr dann 
im Kriegsfalle ſämmtlich aufbietet, um unter Aufficht des ftändigen Per— 
jonal® in ſämmtlichen Fabriken verwendet zu werden! 


—— 


Endlich, und dies iſt der wichtigſte Einwand, wird geltend gemacht 
werden, daß Patronenfabriken doch gewiß nicht in die Bundesverfaſſung 
hineingehören; das ſei Sache der Geſetzgebung und Adminiſtration. So! 
Als ob nicht hundert unwichtigere Dinge in der Bundesverfaſſung ſtünden, 
als ob nicht die Erſtellung von mehreren Patronenfabriken in verſchiedenen 
Landesgegenden für die Schweiz geradezu einſt zur Exiſtenzfrage werden 
könnte! 

Seht, dort bauen einige Kinder ein Kartenhaus! Seht, wie ſie 
eine Karte auf die andere aufthürmen, wie das Gebäude immer größer, 
immer ftattlicher wird! Aber ah! Jetzt fümmt ein böfer Bube, bläst 
ein wenig, und der ganze ftattliche Bau fällt zufammen. 

‚Ein foldes Kartenhaus ift das fchweizerifche Wehrmwefen, fo lange 
wir nicht in verfchtedenen Gegenden Batronenfabrifen befigen. 

Hiemit verlaffe ich die Verwaltung, um mir πο einige Bemerkungen 
hinfichtlic der Inſtruktion zu erlauben. Auch Hier, auch von der Ueber— 
nahme der Fnfanterteinftruftion dur) den Bund fürchten unfere Födera- 
Iiften ein Ueberwuchern des Bundesbeamtenthums. Mit gleihem Unrecht! 
Auch an die Spite der Inſtruktion muß Ein großes Prinzip geftellt 
werden: dasjenige der Selbjtinftruftton der Armee. 

Gegenwärtig haben wir in der Schweiz 25 Fantonale Oberinftruf- 
toren der Infanterie; am die Stelle derfelben würde für jede Armee- 
dioifion je ein Oberinftruftor, alfo, je nad) der Zahl der Divifionen, 8 
bis 10 Dberinftruftoren treten. Diefe Oberinftruftoren müßten aller- 
dings ſtändige Milttärbeamte fein, das Gefeg würde beitimmen, ob ihre 
Mahl durd) den Bundesrath oder durch die Bundesverfammlung ftattfinden 
jolle. Jedem Oberinftruftor foliten nur etwa 3 bis 4 Ständige Unterinftruf- 
toren beigegeben werden. Das ftändige Inſtruktionsperſonal wäre in die 
Divifion, deren Unterricht ihm obläge, ebenfalls einzutheilen. 

Durch die Heine Zahl des ftändigen Inſtruktionsperſonals würde 
ermöglicht: 1) eine fehr gute Auswahl; 2) eine anftändige Beſoldung. 
Unter Anleitung diefer wenigen ftändigen Inſtruktoren würde der ganze 
militärifche Unterricht der einzelnen Truppenkörper, wie der Refruten, 
dureh die nicht. ftändigen Offiziere und Unteroffiziere der Divifion 
ertheilt, Schon jegt werden vielerort8 — fo namentlich im Kanton Bern — 
die Offiziere und Unteroffiziere zur Ertheilung des Militärunterrichts ver- 
wendet. Bei der geringen Zahl des ftändigen Perfonal® müßte dies 


ῶ 


— 21 — 


natürlich noch in viel ausgedehnterem Maße geſchehen. Mehr Dienſtzeit, 
als jetzt, hätte dies für den einzelnen Offizier und Unteroffizier nicht zur 
Folge, wohl aber er. größere Anforderungen an jeine militäriſchen Kennt- 
niffe, au feinen militärischen Takt. Die Oberaufficht über den militärifchen. 
Unterricht ftünde in jedem Divifionsbezirk dem Kommandanten der Dipi- 
fion zu. 

Durch diefe Selbitinftruftion der Armee würde das von den Föbera- 
liſten jo jtarf betonte Ueberwuchern des Beamtenthums zur Unmöglichkeit; 
im Gegentheil würde die Zahl des ftändigen Perſonals bedeutend reduzirt. 
Der militärifche Vortheil wäre aber nod) größer. Erft dadurch, daß der 
Offizier und Unteroffizier richt nur befehlen, fondern auch inftruiren und 
feine Befehle erläutern und begründen lernt, wird er feiner Sache gewiß 
und gewinnt dadurch gegenüber feiner Mannſchaft diejenige Autorität, 
welche die Grundlage des militärifchen Gehorſams bildet. 

Allgemein ift man darüber einig, daß die durchſchnittliche Aus- 
bildung unferer Armee, insbeſondere unferer Cadres, im Vergleich zu der- 
jenigen anderer Armeen ungenügend ift. Um diefem Uebelftande fo weit 
möglich abzuhelfen, wird gewöhnlich vorgefchlagen:- die KRefruteninftruftion 
bedeutend zu verlängern, auf zwei, ja auf drei Monate; häufiger Wieder- 
holungsfurjfe zu veranftalten, Cadres- (Offiziers- und Unteroffiziers:) 
Schulen einzuführen. Ih bin grundſätzlich Gegner diefer Art von 
Neuerungen. Vielleicht läßt ſich der Rekrutendienſt etwas verlängern, die 
Wiederholungskurfe auch, aber jedenfalls nur im einem fehr befcheidenen 
Maße; fonft verlaffen wir allmälig den Boden des Milizfyftens, wir 
bürden unjerem Lande zu große und überdieß unnöthige finanzielle Laften 
auf, oder find genöthigt, durch Verminderung der Dienftjahre unfere 
Armee zu verkleinern. Wohl weiß ih), daß das deal eines Kleinen, 
wohlausgerüfteten und wohlgeſchulten Bundesheere8 in gar vielen Köpfen 
ſpukt; für mid tft diefes Kleine Bundesheer fein deal, fondern einfach 
ein Mißfennen unferer republifanifchen Zuftände, eine Schwächung unferer 
Wehrfraft, ein zwar langſamer und allmäliger, aber ficherer Uebergang 
zum ftehenden SHeere. 

Ein viel wirffameres und republifanifchen Zuftänden entfprechenderes 
Mittel, unjerem Milizheer eine tüchtige militärifche Ausbildung zu geben, 
befteht darin, daß die Bundesverfaffung das Prinzip aufftelt: Unfer 
Milizheer fei auf die Volksſchule zu bafiren und der Militär- 


| ren 
unterricht der Refruten habe an einen vorbereitenden Unterricht in der 
Volksſchule ſich anzufchliegen. Ein Milizheer, das diefen Namen verdienen 
ſoll, muß den militärifchen Unterricht nicht erft mit den jungen Männern, 
fondern jhon mit den Knaben beginnen. Nur dann iſt das Milizheer 
dem ftehenden Heer ebenbürtig, nur dann findet e8 einen Erjag für defjen 
jahrelange Dienjtdauer, wenn die militäriſche Ausbildung einen weſent— 
lichen Beftandtheil der ganzen Knabenerziehung ausmacht. 

Das Kadettenweſen ift bet und zwar erſt in den Anfängen, 
allein der Chef de8 fchweizerifchen Militärdepartements® hat das große 
Berdienft, durch Einführung einer einheitlichen, für das eidgenöſſiſche 
Raliber berechneten Waffe und durch mannigfache Anregungen dem Kadetten= 
wejen eine neue, vielverjprechende Bahn eröffnet zu haben. 

Die Zeit muß und wird fommen, wo nicht nur in einzelnen Stadt= 
und Sefundarfchulen, fondern in jeder Volksſchule der militärijche Unter- 
richt als obligatorisches Fach betrieben wird. Allein, um nicht mißverjtanden 
zu werden, will ich für das SKadettenwejen der Schweiz in kurzen Zügen 
das Bild einer Organijation entwerfen, wie mir dafjelbe als Ideal 
vorſchwebt. 

Die Kommandanten eines jeden Bataillonsbezirks überwachen den 
Radettenunterriht. Für denfelben find drei Altersftufen vorgefehen: In 
der erjten Altersjtufe bis zum 13. Jahre nur Turn- und Schwimm- 
unterricht, jowie Drdnungsübungen ohne Gewehr. Den Bolksjchullehrern, 
welche ebenfalls dienjtpflichtig und in die Armee eingetheilt find, Liegt hier 
die Inſtruktion ob. Zweite Altersjtufe vom 13. Jahr bis zum Austritt 
aus der Schule. In jedem Bataillonsbezirke werden die 2— 3 ältejten 
Fahrgänge der in diefem Bezirke enthaltenen Volksſchulen, zu Kadetten- 
Kompagnieen vereinigt, durch Offiziere injtruirt. Gewehrkenntniß, Zirail- 
leurſchule, Sicherheitsdienft. Am Sammelplag der Kompagnie (etwa im 
Schulhaus) ein Depot von Waffen und Munition. Die dritte Alters- 
jtufe (vom Austritt aus der Schule bis zum Eintritt in das Bundesheer) 
wird ebenfalls in Kompagnieen vereinigt. Der militärifche Unterricht knüpft 
hier an denjenigen der zweiten Altersjtufe an und wird ebenfalls durd) die 
Dffiziere des betreffenden Bataillonsbezirks und unter Aufficht der Bataillons- 
Kommandanten ertheilt. | 

Dieß wäre das Gerippe der Orgänifation. Gegen diefelbe wird 
man zwei Einwände haben; Erſtens, man bürde den Offizieren des 


— 


Bundesheeres dadurch, daß man ſie zur Ertheilung des militäriſchen 
Jugendunterrichts anhalte, eine zu große Laſt auf. In Wirklichkeit iſt 
dieſelbe viel geringer, als die, welche ihnen durch Einführung von be— 
ſondern Offiziersſchulen auferlegt wird. Jährlich höchſtens 10 bis 
12 Uebungstage. Ueberdieß iſt der Kadettenunterricht für den Offizier 
zehnmal inſtruktiver, als ſo eine Offiziersſchule, wo dem theoretiſchen 
Unterricht die praktiſche Anwendung mit den Truppen nicht jeden Tag 
auf dem Fuße nachfolgt. Würden Hin und wieder ebenfall® die Unter— 
offiziere und SKorporale des betreffenden Bezirks zum Kadettenunterricht 
herangezogen, fo wäre dieß auch für fie ein größerer Nuten, als eine 
Unteroffiziers- und Korporalsſchule, in welcher fie einfach den Dienſt der 
Soldaten thun müſſen. 

Zweitens wird der Einwand erhoben werden: Das Kadettenwefen 
jet ganz ſchön und gut für die größern Ortjchaften, allein in der Volks— 
ihule, auf dem Lande, wo die Knaben ftundenmweit auseinanderwohnen, 
jet das Kadettenweſen praftiich nicht durdführbar. Ich kann da aus 
eigener Erfahrung reden, daß es proftifch durchführbar iſt, indem id 
während drei Jahren die Schuljugend aus 7 Landſchulgemeinden zu einer 
Kompagnie von 50—70 Kadetten vereinigte und mit Hülfe einer Anzahl 
Dffiziere inſtruirte. Trotzdem Alles auf Freiwilligkeit beruhte und Die 
entferntern Kadetten an den Webungstagen eine Stunde weit herkommen 
mußten, hatte die Sache dody einen guten Fortgang, ja es nahmen im 
zweiten nnd dritten Fahre auch Solche daran Theil, die im Yahre vor— 
her die Uebungen bejucht Hatten und feither aus der Schule ausgetreten 
waren. Am Sammelplag der Kompagnie wurde ein Appartement des 
Schulhauſes zur Aufbewahrung der Waffen und Weunition eingerichtet 
und mußte dieſes fo die Stelle eines kleinen Zeughaufes verfehen. 

Auf die Art und Weife, wie der Kadettenunterricht zu ertheilen 
wäre, will ich hier nicht eintreten. Genug Einzelheiten! Will man unfer 
Milizheer wirklich auf eine höhere Stufe der Ausbildung Heben und ihm 
gleichwohl den Charakter eines Milizheeres belafjen, jo muß man Unten, 
in der Volksſchule anfangen und dort den Grundſtein legen. Xiegt der 
einmal feft, jo wird die Aufrichtung des ganzen Gebäudes feine große 
Mühe erfordern. 

Nicht bei den Herren Oberjten — bei den Schulbuben liegt die 
Zufunft unferer Armee! s 


——— 


Der Solothurner Volkstag hat nicht nur eine nationale Geſtaltung, 
jondern überhaupt alljeitige Hebung unferer Wehrfraft verlangt. 

Selbjtverjtändlich hat diejes Verlangen nit den Sinn, daß Alles, 
was unferer Armee von Nuten fein fünnte, in die Bundesverfaffung 
Aufnahme finden müſſe. Die Bundesverfaffung darf nicht eine voll 
ftändige Militärorganifation enthalten, fie darf nur allgemeine Grundfäge, 
Zielpunfte und Direktiven aufftellen. 

Bon der größten Wichtigkeit für die Hebung unferer Wehrkraft ift 
eine ungejäumte und gründliche Landesbefeſtigung. Wohl hat fhon nad) 
den Beſtimmungen de8 Art. 21 der gegenwärtigen Bundesverfaffang der 
Bund das Recht, im Intereſſe der Eidgenoffenfchaft oder eines größeren 
Theiles derfelben öffentliche Werfe zu errichten. Allein bei der Dring- 
lichfeit der Frage dürfte e8 nichts fchaden, wenn eine beftimmte, auf die 

Landeöbefeftigung Hinweifende Direktive in diefen Artifel Eingang fände. 
iR Eine rationelle Landesbefeftigung kann uns zwei Vortheile ge- 
währen : 

Eritens , daß fie von Vornenherein den Feind abhält, und anzu⸗ 
greifen, oder | 

zweitens, daß wir im Falle eines feindlichen Angriffs mit verdoppelter 
Wehrkraft diefem Feind entgegentreten können. 

Beim Wiederausbrud) eines Krieges zwifchen Frankreich und Deutſch— 
land wird das Erftere jehr wahrſcheinlich verfuchen, den Krieg in das 
Land feines Feindes zu tragen. Nun ftehen ihm aber in der Front Metz 
und Straßburg drohend gegenüber, fo daß [ὦ die franzöfifche Armee 
wohl hüten wird, den Stier bei diefen beiden Hörnern zu paden. Liegt 
für die Sranzofen, fo lange unfer Land mit feinen fchönen breiten Heer- 
ftraßen offen , unbefeftigt da fteht, die Verfuhung nicht fehr nahe, hier 
einen raschen Durchbruch zu wagen? Umgekehrt, werden fie ſich nicht 
zweimal bedenken, mit uns anzubinden, wenn die hauptſächlichſten Straßen, 
Brücenübergänge und Engpäffe durch ftehende Werke gefperrt find ? 

Aber ſollten fie es gleichwohl wagen , welchen immenſen Bortheil 
würde uns dann eine rationelle Zandesbefejtigung gewähren ? Ohne dier 
felbe ift es gar nicht denkbar, daß unfere Armee gegenüber einem raſch 
und ficher operirenden Gegener vor dem Zufammenftoß ſich vollftändig 
befammeln , den Aufmarſch vollenden könnte. Und gefegt auch), es ge- 
länge ihr dieß, wie fehr würde der Mangel an allen Feſtungswerken die 


ον ΚΝ, ὁ δ ε 


nachherige Zerjplitierung unferer und δίς Konzentration der feindlichen. 
Kräfte befördern ! 

Ueber die fchweizerifche Zandesbefeitigung, die von denfenden Mili— 
tärs jo dringend verlangt wird, herrichen noch vielerorts die irrigiten 
Borftellungen. Sei man ſich doch klar, daß man ja feine große Central- 
feitung nad) dem Mufter von Met und Mantua will! Nicht nur würde 
eine jolche die finanziellen Kräfte unſeres Landes überjteigen, fie entſpräche 
auch gar nicht einer geſunden, auf thätige Dffenfive gerichteten Krieg- 
führung. 

Was unfern Verhältniffen am Beften entfpricht, ift nach meinem 
Dafürhalten gar feine eigentliche Feſtung, wohl aber ein Syitem von 
Heinen Feſtungswerken und Forts (Sperrforts). 

Solde Sperrforts find mit 2—3 Gefhügen fehr ſchweren Kalibers 
versehen und für eine Landwehrbefagung von 2 — 400 Manıt ein- 
gerichtet. 

Supponiren wir einen Angriff von Seiten Franfreihe. Kann da 
nicht durd) wohlangebrachte Sperrfort8 im Jura einerfeits, in den Walliferz, 
Simmenthaler- und Freiburger Bergen anderſeits, jowohl die rechte, αἱ 
die Linke Flanke unferer Aufitelung vollftändig gefichert werden ? Sit 
dort die Konfiguration des Landes nicht derart, daß man mit Heinen 
Werfen und geringem Koftenaufwand große Thäler, ja ganze Xandes- 
gegenden fürmlich ſperren kann? wohlverjtanden nicht fo hermetiſch, daß 
nicht einzelne Streifforpe und Armeepartifelhen gleichwohl Hindurd) 
fönnen ; aber fperren für jeden größern Truppenkörper, für die Artillerie, 
den Train, 20. 

Und fommen dazu in. der Ebene noch kleine Werke, welche die 
hauptſächlichſten Flußübergänge, die wichtigften Straßen und Eijenbahn- 
Inotenpunfte decken, wird durch ein folches Beſeſtigungsſyſtem, das ὦ 
vielleicht mit einem Aufwand von nur 10 Millionen erftellen ließe, ohne eine 
einzige eigentliche Feftung die Stellung der Schweiz gegen Weften nicht 
gerade um das Doppelte verjtärft ? 

Diie Kriegsgeſchichte Iehrt, daß ein Gebirgsland feiner Bevöfferring 
nur dann Schuß gewährt, wenn nicht nur der Menſch, ſondern aud) das 
Terrain für die Kriegsführung gehörig vorbereitet worden ift. Iſt dies 
nicht gejchehen, fo wird ſich der fremde Eindringling die Konfiguration 
des Bodens ganz in gleicher Weif:, wie der Einheimifche dienjtbar machen 


il. sa ὩΣ 


fünnen. Ich erinnere nur an die Kämpfe der franzöfifchen Armee unter 
Zecourbe, an die Erftürmung der Grimſel ꝛc. 

Die alten: Eidgenoffen, welche dem Feind doc ſtets in offenem 
Feld entgenzutreten wagten, waren gleichwohl weit davon entfernt die 
Bedeutung der Landesbefeftigung zu unterfchägen. War doc faft jede 
Stadt eine Kleine Feſtung, waren doch faſt in jedem Thale Thalfperren, 
jog. Leben, angebracht, wurden ja doch alle größern Schlachten der Eid- 
genoffen um damalige Feſtungen herum gefchlagen (Sempach, Raupen, 
Grandfon, Murten, Dornach) oder auc bei Thallegen (Morgarten, Nä- 
feld, Stooß). In allen diefen Schlachten diente die Feſtung oder die Thalletze 
dazu, den Feind in feinem Vordringen aufzuhalten, und umgefehrt den 
Aufmarſch der fehweizerifchen Armee und die Konzentration ihrer Kräfte 
zu ermöglichen. 

Wie viel nothwendiger erfcheint Heutzutage noch ein rationelles 
Syſtem der Landesbefejtigung ? 

Hiermit Ichließe ich meine Srörterungen und stelle nur πο die 
Trage: Entſpricht einer der beit Anlaß der Bundesrevifion aufgeftellten 
Entwürfe allen Anforderungen unferes Wehrmejeng Ὁ 

Den Entwurf der nationalräthlihen Kommiffion übergehe ich, weil 
derjelbe in einigen Punkten {θαι [ἃ ὦ Hinter die gegenwärtige Bundes- 
verfaſſung und die Schon bejtehenden Kompetenzen des Bundes zurücgeht. 

Der bundesräthliche Entwurf ift eine Abſchwächung des letztjährigen. 

Der legtjährige Entwurf, welcher allen Anforderungen weitaus am 
meiften entfpricht,. hat immerhin zwei bedeutende Mängel: Einerſeits, 
weil er ſich für die Vollziehung der Militärgejege noch immer an die 
Kantone bindet und überdies neben dem Bundesheere noch immer bejondere 
fantonale Truppenförper vorſieht; amdererfeits, weil er zu viel der Geſetz— 
gebung überläßt und uns feine ficheren Garantien gibt gegen eine über- 
triebene, militärifch wie politifch verwerfliche Centralifation. 

. ‚Würde nicht dem Verlangen des Solothurner Volfstage® nach all- 
feitiger Hebung und nationaler Geftaltung unferer Wehrfraft und gleich 
zeitig auch den berechtigten Wünfchen und Befürchtungen der Föderaliſten 
Rechnung getragen, wenn man den Milttärartifeln etwa folgende Faſ— : 
jung gäbe? | —59 — 
Art. 18. Jeder Schweizer iſt wehrpflichtig. Wehrmänner, welche 
infolge des eidgenöffifchen Militärdienſtes ihr Leben verlieren oder dauernden 


u en 


Schaden an ihrer Gefundheit erleiden, haben für fi) oder ihre Familien, 
im Talle des Bedürfniffes, Anfprud) auf Unterftügung de8 Bundes. 
Derjelbe jorgt durch Beſtimmung eines Theiles der Milttärpflichterfag- 
jteuern für Aeuffnung eines Hinreichenden Fonds. 

Art. 19. Das Bundesheer bejteht aus der gefammten, nad) der 
eidgenöffiichen Geſetzgebung dienftpflihtigen Mannfchaft. In Zeiten der 
Gefahr verfügt der Bund auch über die nicht in das. Bundesheer ein- 
getheilte Mannſchaft und alle übrigen Streitmittel, über deren Beſtand 
Kontrole geführt wird. Die Kantone verfügen, infoweit fie nicht durch 
verfaffungsmäßige oder gejegliche Anordnungen befchränft find, -direft und 
ohne Vermittlung der Bundesbehörden über die Wehrfraft ihres Gebietes, 
insbejondere auch über die aus ihrem Gebiete refrutirten taktiſchen Ein— 
heiten de8 Bundesheeres ſammt deren Rriegsmaterial. 

Art. 205. Der Bund erläßt die Geſetze über das Heerwefen. Der 
Bund ertheilt den gefammten Militärunterriht. Die Koften des Unter— 
richtes, der Bewaffnung, Bekleidung und Ausrüftung trägt der Bund. 
Das Kriegsmaterial der Kantone in demjenigen Beitande, welder nad) 
den bisherigen Geſetzen vorgefchrieben ift, geht auf den Bund über. 
Immerhin bleibt das Berfügungsreht der Kantone, nah Maßgabe von 
Art. 19, Lemma 3, vorbehalten. Der Bund ift berechtigt, die Waffen- 
pläße und die zu militärischen Zwecken dienenden Gebäude, melde in den 
Kantonen vorhanden find, nebſt der zugehörigen Einrihtung, zur Be— 
nußung oder als Eigenthum zu übernehmen. Die näheren Bedingungen 
der Uebernahme werden durch die Bundesgefeßgebung geregelt. 

Art. 20° Die Ausführung der Militärgefege gejchteht, unter Auf- 
jicht de8 Bundes und der Kantone, durch die Organe des Bundesheeres. 
Hinfihtlid) der Organifation und Verwaltung follen folgende Grundſätze 
zur Anwendung fommen: 1) Das Bundesher jol nah dem Terri— 
torialitätsprinzip eingetheilt fein. 2) Soweit nicht militärifhe Gründe 
‚entgegenjtehen, jollen die taftiihen Einheiten aus der Mannjchaft dejjelben 
Kantons gebildet werden. 3) Jeder Truppenförper von der Größe einer 
taftiichen Einheit der Anfanterie verwaltet auch in Friedenszeiten fein 
‚ganzes, zur feldmäßigen Ausrüftung gehörendes Kriegsmaterial, insbejondere 
die Munition, jelbjt. Das Kriegsmaterial, ſoweit es nit an die Mannjchaft 
abgegeben werden fann, ift im Stammbezirfe des betreffenden Truppenförpers 
zu magaziniren. 4) Die Infanteriewaffe bleibt in den Händen des Mannes. 


BR 


5) Es follen in verfchiedenen Landesgegenden der Schweiz eine Anzahl für 
den Rriegsfall leiftungsfähiger Munitionsfabrifen erjtellt werden. 

Hinfihtlih der Inſtruktion follen folgende Grundfäge zur Ans 
wendung fommen. 1) Der Bund verwendet zur Ertheilung des mili- 
tärifchen Unterrichtes das Cadre des Bundesheeres. 2) Der militärische 
Unterricht des Bundesheeres fol an einen vorbereitenden, in der Volks— 
ſchule zu ertheilenden Unterricht anjchließen. 

Die Mitwirkung der Kantone an der Ausführung der Militär- 
gefege wird durch die Bundesgefeßgebung geregelt. 

Art. 21. Dem Bunde fteht da8 Recht zu, im Intereſſe der Eid- 
genofjenfchaft oder eines großen Theils derjelben, insbefandere zur 
Bornahme einer allfeitigen Randesbefeftigung, auf Koften 
der Eidgenoſſenſchaft öffentliche Werke zu errichten u. ſ. w. 


| IV. 
Recht. 


(Solotdhurner Bolfstag.) Anbahnung eines einheitlichen Rechtes, 


In diefer Forderung liegt eine Konzeſſion an die Föberaliften 
injoweit, als zwar an der Idee der Recht3einheit feitgehalten, dagegen 
dieje Rechtseinheit nicht ſofort in's Werk gejebt, jondern eben nur an— 
gebahnt werden joll. Die Möglichkeit, zu einem einheitlichen Rechte zu 
gelangen, joll durch die neue Bundesverfaffung dem Schweizervolke ge= 
geben tWerden; dagegen joll die Gentralifation manches Rechtögebieteg, 
die im lettjährigen Programme appodiktiih verlangt war, fafultativ 
gelafjen werden. 

Die Anträge des Bundesrathes jcheinen mir in diejer Beziehung 
dem Berlangen des Solothurner Volkstages nah „Anbahnung eines 
einheitlichen Rechtes" vollftändig zu entſprechen. 

Wie zu Gunften der Schwurgerichte denjenigen Kantonen, welche 
diejes Inſtitut bereits befigen, in jämmtlichen Revifionsentwürfen eine 
Konzeffion gemacht worden ift, jo ſcheint es mir, könnte aud zu Gunften 
eines andern Inſtitutes eine Konzejfion an gewiſſe Kantone in Die 
Bundesperfaffung aufgenommen werden. Dieſes Inſtitut find die bereits 
erworbenen unablösbaren Grundpfandredhte, die Gültbriefe, für deren 
Fortdauer ein großer Theil der landwirthſchaftlichen Bevölferung bejorgt 
ift. Könnte man nicht dem, vom Bundesrathe borgejchlagenen Art. 55 
etwa noch folgenden Zuſatz geben: „Bereit3 erworbene unablösbare 
Grundpfandrechte dürfen durch die Bundesgejegebung nicht ablösbar 
erklärt werden.” 


RE VER 


Im Uebrigen gibt der Rechtsartifel inſoweit zu feinen Bemerkungen 
Anlaß, als die Wünjchbarkeit eines einheitlichen Rechtes im Grunde ge- 
nommen bon allen Richtungen, auch von den Föderalijten, zugegeben 
wird. Die Differenzen drehen fi nicht um da3 einheitliche Recht jelbit, 
ſondern lediglihd um die Frage, mie und durch melde Organe diejes 
einheitliche Recht geſchaffen werden joll, ob auf dem Wege von jogenannten 
Berfaffungsgefegen, unter oder ohne Mitwirkung der Kantone, mit oder 
ohne Referendum? Auf diefe Fragen merde ich bei der jogenannten 
„Erweiterung der Volksrechte“ zurüdfommen. 


— —— ———— — — 


Υ. 
Soziales. 


(Solothurner Volkstag.) Bolfswirthichaftliche Neformen. — Ermeiterung der 
individuellen Rechte. — Ein Schweizerbürgerrect. 


Soviel πο zu wünſchen wäre, hier wollen wir den Reviſions— 
wagen nicht überladen! Was uns von den Räthen geboten wird, ift 
entichieden gut; das Auffichtsrecht des Bundes über die Waflerbau- und 
Forſtpolizei im Hochgebirge; die einheitlichen Beitimmungen zum Schuße 
der Arbeiter gegen Gejundheit und Sicherheit gefährdenden Gewerbebetrieb 
und über die Kinderarbeit in den Yabriken; die Regelung des Banfnoten- 
wejens; die unbejchränfte Befugniß zur Feſtſetzung von Maß und Ge- 
wicht; das Verbot der Spielbanten — dies Alles find volkswirthſchaft— 
lie Reformen von großer Tragweite. Und mas die Erweiterung der 
individuellen Rechte anbelangt, jo find die Freizügigkeit der wiſſenſchaft— 
lihen Berufsarten und der Eheartifel wahre Perlen der Revifion. Aber 
Eins fehlt uns, daS und weder im Niederlafjungsartifel des letztjährigen 
Entmwurfes, ποῦ im MNiederlaffungsartifel der diesjährigen Entwürfe 
geboten wird: das Schweizerbürgerredt. 

Mas faht diefer Begriff in ſich? 

1) daß das ganze Schweizerland einfach wie eine große Ge— 
meinde angejehen wird, im welcher ſich jeder Schweizer 
abjolut frei bewegen und fich überall niederlafjen fann, wo 
68 ihm beliebt; 

2) daß jeder Schweizer an dem Orte, wo er ich niedergelafjen 
hat, aljo an dem Orte, der den Mittelpunkt jeiner Lebens- 
thätigfeit bildet, auch im Vollgenuſſe aller. feiner bürgerliche ἢ 
und politiichen Rechte fteht. 


DB 


cn 


Der letztern Anforderung ift dur Art. 42 jo ziemlich Rechnung 
getragen ; nicht fo der freien Niederlaffung durch Art. 44. Wohl find 


in diefem Artikel im Bergleich zu den bisherigen Züftänden große Fort= 


Ichritte enthalten ; aber jo lange die Kantone noch berechtigt find, Kris 
minalijirte oder Verarmte auszumeifen oder ihnen die Niederlaffung zu 
verweigern, kann von einem Schweizerbürgerreht im Sinne des Solo— 
thurner Bolkstages nicht die Rede jein. 

Warum einem Kriminalifirten, dem e3 mit feiner Befferuug Exnft 
it, nicht die Möglichkeit verſchaffen, fi) durch eine Veränderung feines 
Wohnſitzes feiner bisherigen Umgebung, der Verführung und der Ber- 
ahtung, zu entziehen und an einem neuen Ort ein neuer Menſch 
zu werden ? 

MWarım dem DBerarmten zur ganzen Laſt τὰς Daſeins auch 
noch die Laſt aufbürden, wie ein Peſtkranker von einem Ort zum andern 
geichoben zu werden? ἢ 

Ich verkenne die Schwierigkeit durchaus nit, von Bundeswegen 
in die Armenverhältnifje der Kantone einzugreifen. Streiten fi) doch 
gegenwärtig in den Kantonen drei verichiedene Syſteme um den Vor— 
rang: das der ödrtliden, daS der heimathlichen und das der abjolut 
freiwilligen Armenpflege. 

Der Bund mag es da anfangen, wie er mill: Sobald er an die 
armenrechtlichen Verhältniffe der Kantone Hand anlegt, wird er bejtehende 
Anschauungen und Borurtheile verlegen, der Oppofition gegen den Nie⸗ 
derlaſſungsartikel rufen. 

Wäre ἐδ da nicht am einfachſten, man würde Die ἘΝ der 
Armengenöffigfeit von derjenigen der Niederlaffung vollſtändig trennen, 
gerade jo wie man die Frage der Burger- und Korperationsgüter eben- 
fall3 davon getrennt Hat? Nur dann gelangen wir zu einem mahren 
Schweizerbürgerrecht, wenn mir ‚einerjeit3 daS Necht der Niederlaffung 
unter den Schub des Bundes ftellen, und wenn wir amderjeitS die 


Regelung der Armenverhältniffe ebenjo ausjchlieglih den Kantonen 


überlafjen. 

Bon Bundeswegen ſei das Niederlaffungsrecht jedes Schweizers ein 
unbejchränftes. Nehme man doc Amerika zum Borbid! Wenn ich 
mic) auf dem weiten Gebiet der Union niederlaffen kann, mo ich will, 


ohne daß ich jemanden wegen meiner Vergangenheit oder meiner Ver⸗ 


EN 


mögensumſtände Rechenſchaft ablegen muß, jo jollte dieß doch in der 


Heinen Schweiz auch möglich fein. 

Allein umgekehrt laſſe man den Kantonen die Freiheit, die Ange— 
hörigen aus andern Kantonen in Bezug auf die Armenunterftügung 
gutfindenden Falls unter ein Ausnahmsgeſetz zu ſtellen, fie nach Belieben 
gar nicht oder in einem geringern Maße zu unterftügen, als die eigenen 
Kantonsangehörigen. Kommt jo ein Schweizerbürger aus einem andern 
Kanton in eine Gemeinde und verarmt da, jo fünnen folgende Even— 
tualitäten eintreten: Entweder er läßt ſich durch jeine Armuth verleiten, 
zu betteln, zu vagiren, die Leute zu beläftigen ; dann fällt er unter das 
Armenpolizeigejeg des betreffenden Kantons und wird beftraft; oder er 
bettelt nicht, er vagirt nicht, er beläftiget nicht, aber er und feine Fa— 
milie Hungert ; dann kann ihn der betreffende Kanton, die betreffende 
Gemeinde, wenn fie das Herz dazu hat, einfach feinem Schickſal über- 
lafjen. Jeder Kanton joll beredtigt fein, einen Shweizerbürger 
aus einem andern Kanton verhungern zu lajjen; aber er 
joll nit bere&tigt jein ihn fortzumeijen. 
| Glaubt man nicht jo weit gehen zu fünnen, jo adoptire man doch 


den bezüglichen Antrag der nationalräthlien Kommiſſion, welcher wenigitens 


einen Uebergang zum Schweizerbürgerrecht enthält. 

Dem Berlangen nad einem Schweizerbürrecht fchiene mir etwa 

folgende Faſſung der Art. 42 und 44 zu entipreden : 
Art. 42 fiatt Yemma 4: 

Der Niedergelafjene genießt an ſeinem Wohnſitz alle Rechte der 
Kantonsbürger und mit Ddiefen auch alle Rechte der Gemeindsbürger, 
mit Ausnahme : 

1) des Mitantheil3 an Burger- und Korporationsgütern, 
2) der Berehtigung zu öffentlicher Unterftügung im Falle der 
Berarmung. | 

Urt. 44. Feder Schweizer hat das Recht, ſich innerhalb des 
jchmweizeriihen Gebietes an jedem Drte niederzulaffen, wenn er einen 
Heimathichein oder eine andere gleichbedeutende Ausweisſchrift beſitzt. 

Die Regelung der armenretlihen Berhältniffe der Niedergelaffenen 
it ausihlieglih Sache der Kantone. 

(Lemma 2, 3, 4 fällt weg, 5 und 6 bleibt). 


vi. 
Schule und Kirche. 


(Spolothurner Volkstag.) Eine obligatorijche, unentgeldliche und konfeſſioneller 

Führung entzogene Volksſchule (nad) franzöfiicher Ueberſetzung é6cole laique ). — 

Eivilehe und von bürgerlichen Beamten geführte Civilſtandsregiſter. — Freiheit für 

jedes Glaubensbefenntnig. — Wahrung der Rechte des Bundes gegen jede Kirchen- 

organijation und jede Firchliche Anftalt, die nicht auf nationaler und republifaniicher 

Grundlage beruht. — Aufhebung der Nuntiatur und der nicht national und republi- 
kaniſch organijirten Bisſsthümer. 


Wie das politiſche, ſo iſt auch das kirchlich-religiöſe Leben durch— 
weht von einem demokratiſchen Zuge. Allein, während wir Schweizer 
auf politiſchem Gebiete die unbedingte Gleichheit vor dem Gejebe, das 
allgemeine Stimmrecht, daS freie Vereins- und Verſammlungsrecht ſchon 
befigen, {πὸ wir auf firhlichem Gebiete erſt an der Schwelle der Neu— 
zeit angelangt und haben erſt angefangen, uns don den Banden fonfelfio= 
neller Bevormundung loszuringen. 

Diefer demofratifche Zug Hat jeine tiefe Berechtigung. Während 
viele ἅπας Gemüther davon die Zerfegung, den Zerfall des Firchlichen 
Lebens befürchten, hege ich umgekehrt die fejte Ueberzeugung, daß [ὦ 
heutzutage nur in vollftändig demofratifirten Einrichtungen ein gejundes, 
firchliches Leben entwideln Tann. In der Freiheit wird Π ein großer 
Theil unſeres Volkes, den das unrepublifaniiche Bevormundungsſyſtem 
Bisher der Kirche entfremdete, mit Liebe wieder den firhlichen Beftrebungen 
zumenden. 

Der demofratiiche Zug auf kirchlichem Gebiete, die Oppofition gegen 
jede konfeſſionelle Bevormundung, macht fi in verſchiedenen Richtungen 
geltend. | 


- 


—— u Wer τᾷ IE Δ Ὰ v 


Vorerſt will ſich der Einzelne für feine Berfon durch Leine konfeſſio— 
nellen Hafen oder Häklein den Vollgenuß feiner bürgerlichen Rechte irgend— 
wie berfümmern laſſen. Er will feine Ehe abjchliegen, feine Kinder in 
die. Standesregifter eintragen lafjen können, ohne irgendwelche konfeſſio— 
nelle Gebräuche mitmachen, ohne irgend jemanden darüber Rechenschaft 
ablegen zu müfjen, ob. er Ddiejer oder jener oder auch gar feiner Kon— 
fejfion angehöre. Solange wir noch kirchliche, ſtatt bürgerliche Trauung, 
jolange wir ποῷ Taufregifter, ftatt Geburtsregifter Haben, ift der Bürger 
bon den Fonfejlionellen Hafen und ὁ εἴπ nicht befreit. 

Ferner will fih der Bürger durch feine Konfeffion in der Aus— 
übung feiner elterlichen Rechte beſchränken laſſen. Er will nicht gezwungen 
jein, jeine Kinder einen beftimmten Religionsunterricht befuchen und ihnen 
eine Erziehung angedeihen zu lafjen, die vielleicht mit feiner eigenen, fitt= 
(ich religiöfen Ueberzeugung im Widerſpruch jteht. Jeder Zwang in Diefer 
Beziehung ift gewiß nur vom Uebel. Mag die Oppofition des Bürgers 


‚gegen einen bejtimmten KReligionsunterricht nun von einem geläuterten 


religiöſen Bemwuptjein oder aber nur von Gleichgültigfeit oder Feindſchaft 
gegen Alles Religiöje herrühren: Im einen, wie im andern Falle kann 
Zwang nur dazu dienen, die Kluft zwiſchen ihm oder feinen Kindern 
und der Kirche zu erweitern. 

Wie im Bezug auf das religiöfe oder * nicht religiöſe Einzel— 


leben, jo macht ſich der demokratiſche Zug der Zeit geltend auch in 


Bezug auf das kirchliche Genoſſenſchaftsleben. Gleichheit der Rechte 
für alle Konfeſſionen, ſofern ſie gewiſſe, aus dem Weſen des republi— 
kaniſchen Staates nothwendig ſich ergebende Bedingungen erfüllen. So 
wenig als in das religiöje Einzelleben, ebenſowenig foll der Staat in 
das Kirchliche Genoſſenſchaftsleben — mo dafjelbe wirklich nur religiöfe 
Zwecke verfolgt — mit roher Hand eingreifen. 

Wie das Borrecht bejtimmter Konfejfionen und Dogmen, fo ver- 
urtheilt der demofratiiche Zug unferer Zeit au) das Vorrecht eines be- 
fimmten Standes — des geiftlihen. Die Kirche ift die Gemeinfchaft 
der Gläubigen. Wo der Geiftlihe mehr fein will, als ein Diener diefer 
Kirhe, mehr als ein beitellter Lehrer und Ausleger, mehr als ein be— 
geijterter Verkünder göttlicher Wahrheiten; wo der Geiftliche, Kraft der 
Würde jeines Amtes, fi) vor Gott und dem Menfchen über die anderen 
Kicchenglieder erhaben und bevorrechtet fühlt, wo er, kraft der Würde 


Be I Re 


jeines Amtes, eine ftändige Vermittlerrolfe zwiſchen Gott und den 
MWeltlihen beanjprudt, wo er endlich, Fraft der Würde feines Amtes, 
die Gemifjen beherriht und knechtet, — da. foll dem Geiftlichen 
heutzutage ‚fein Waizen mehr blühen! Unfere demofratifhe Zeit mag - 
Propheten gar wohl vertragen; ja, in Wahrheit jollte jeder Geiftliche 
ein Prophet jein; aber was fie nicht mehr verträgt, find geiftlihe — 
proteftantijche oder katholiſche — Hochwürden. 

Wie jehr mißkennt ein großer Theil unjerer Geijtlichfeit noch immer 
die Zeichen der Zeit, und mie jehr ΠῚ dadurch — gerade unter den 
Liberalen — die Abneigung und das Miptrauen gegen den ganzen 
Stand vermehrt und verſchärft worden! Wie's in den Wald Ichallt, 
jo jchallt’3 wieder Heraus. Weil die Geiftlichfeit in kirchlich-religiöſen 
Dingen noch immer ein Vorrecht vor den Weltlihen beanſprucht, jo find 
vielerort3 die Weltlihen dazu gefommen, nicht nur, wie recht und billig, 
dieſe Anſprüche zurüdzumeiien, jondern auch umgekehrt, den Weltlichen ein 
Vorrecht vor den Geiftlichen zu verſchaffen; jo beim Ausſchluſſe der Geift- 
lichen aus vielen gejeßgebenden Behörden, aus der Volksſchule ꝛc. Da= 
mit hat man nun offenbar über das Ziel Hinausgejhoffen. Sp wenig 
man dem geiftlihen Stand bejondere Rechte einräumen, jo wenig man 
Π don ihm bevormunden lafjen jol, ebenjowenig joll man aus ihm 
einen Pariasſtand machen, ebenjomwenig joll man ihm die, jedem Schmeizer- 
bürger zuftehenden bürgerlichen und politifchen Rechte vorenthalten. 

Mo die Gegenjäbe noch immer am ſchroffſten auf einanderftogen, 
it die Volksſchule. Während diejelbe noch vielerorts einen ftreng kon— 
fejfionellen Charakter Hat und ganz unter dem Einfluffe der Geiftlichkeit 
fteht, geht umgekehrt eine ſcharf ausgejprochene Richtung dahin, den 
Religionsunterricht aus der Volksſchule zu verbannen und die Geiftlichen 
aus derſelben auszufchliegen — offenbar nur eine Rückwirkung gegen 
jenes Bevormundungsiyiten. 

Der Solothurner Volkstag verlangte weder das eine, ποῷ das 
andere. Dei der vorausgegangenen Berathung der Rejolutionen wurde 
von dem Ausdrude „konfeſſionsloſe“ Volksſchule, weil unklar. und zwei— 
deutig, Umgang genommen, dagegen der Ausdrud adoptirt: fonfefjioneller 
Führung enthobene Volksſchule“. Wenn man bei der Ueberſetzung in’s 
Sranzöfiiche den — allerdings auch zmweideutigen — Ausdrud „Ecole 
laique* zuließ, jo geſchah dies nur mit dem ausdrüdlichen Vorbehalte, 


aa N τ ἢ ΜΡ... » Ὺ 


BESERT, ', pen 


daß der Ausprud | „Ecole laique* in diefem, und nur in diefem Sinne 


verſtanden jein jolle. 


Eine gejeglihe Beſtimmung, daß nur ein „fkonfeſſionsloſer“ Reli— 
gionsunterricht ertheilt werden dürfe, ift praftifch nicht durchführbar, meil 
jih die Grenzlinie gejeglich nicht beftimmen läßt, wo beim Religions— 
unterrichte das Konfeffionelle anfängt und wo es aufhört. Etwas konſe— 
quenter wäre allerdings die Verbannung des Religionsunterrichts überhaupt. 
Allein auch hier muß man fragen, wo fängt der Religionsunterricht an, 
wo hört er auf? Iſt nicht auch in der Naturlehre, im Geſchichtsunter— 


richte, in der Geographie eine fittlich=religiöfe Einwirkung möglich? 


Und wenn ἐδ auch gelingen jollte, die Religion vollftändig aus 
der Volksſchule zu verbannen, was gewänne man dabei? Iſt denn die 


Religion in Wahrheit eine jo gefährlihe Sache? 


Verſteht man unter Religion nicht blos ein künſtlich aufgerichtetes 
Dogmengebäude, nicht blos ein Fürwahrhalten diejer oder jener gejchichtlichen 
Thatſachen, nicht blos ein Syſtem äußerer Objervanz, jondern eine höhere 
Triebfeder zur Bekämpfung der Selbjtjucht, zur Unterordnung unter eine 
jittliche Weltordnung, die Richtung aller Geiftesfräfte des Menſchen auf 
ein großes, ideales Lebensziel Hin — ijt dann ein Religionsunterridt, 
der in den Herzen der Jugend ſolche Gefinnung pflanzen, der: jolche 
Bereinigung aller Geiftesfräfte bewirken fann, in Wahrheit nicht die 
Blüthe, das deal einer gefunden Bolfserziehung? Und wenn vieler- 
orts der Religionsunterricht nicht ift, wie er jein jollte, wenn taujend 
Schlingpflanzen und Unfräuter das Ewige, Unvergängliche überwuchern, 
it nicht trogdem jede Religion, jo ungeläutert fie jein mag, thatjächlich 
für das Volk no immer der Brennpunkt feines geiftlich-fittlichen Lebens, 
wird nicht das Volk immer fein Schönftes und Beites, Alles, wodurch 
es über die Regungen der Selbitjucht, über den Staub des Erdenlebens 
erhoben wird, zu jeiner Religion, zu feinem Gottesdienjte in die engſte 
Beziehung bringen? 

Iſt es da nicht eine Heilige Pflicht, auch in der Volksſchule an 
dieje oberſte ideale Triebfeder des Volkes anzufnüpfen und dafür zu 
jorgen, daß nah und nad die erjtidenden Schlingpflanzen und Un— 
fräuter entfernt , die religiöfen DBorftellungen und Begriffe geläutert 
und dadur die Kraft des fittlihen Willens gehoben werden kann? 


3 


Viktor Hugo’3 Ausſpruch, „den Unterricht für die Schule, die Er— 
ziehung für die Yamilie”, iſt eben nichts als ein Bonmot und entſpricht 
ganz der Franzöfiihen Oberflächlichkeit. So menig man die einzelnen 
Seelenfräfte des Menjchen, Vernunft, Berftand, Gemüth, Willen, mwill- 
fürlich auseinanderreigen kann, ebenjowenig {Π es möglich, Unterricht und 
Erziehung, Verſtandes⸗, Gemüths- und Willensbildung durch eine hinefische 
Mauer zu trennen. 

Ich mißkenne die materialiftiiche, dem Idealeu feindliche Strömung 
unferer Zeit durchaus nicht; allein ich Hoffe, eS ſei dieſe Strömung nur 
ein Auswuchs der Zeit, eine, im Leben der Völker, wenigſtens im Leben 
unſeres Volkes vorübergehende Erſcheinung. So menig modern Dies 
Eingen mag, wahr it es doch: wichtiger als alle Reformen auf. poli= 
tiſchem und fozialem, auf militäriſchem und rechtlichem Gebiete, wichtiger 
als alles Das, iſt für unfer Volk die Hebung der fittlihen Kraft, die 
Zäuterung der religiöfen Begriffe und Borftellungen, die Feſtigung des 
religiöfen Bewußtſeins. Lehrt uns nicht Die Gejchihte, dag nur δα 8 
Volk Frei bleibt, welches ſich vor den zerjegenden Einflüffen des Mtateria- 
lismus bewahrt, welches feinen fittlih=religiöjen Kompaß nicht verliert? 
Sp mwiderwärtig jeder Glaubensfanatismus, ebenjo widerwärtig ijt ver 
Fanatismus des Unglaubens. Der eine, wie der andere, entjpringt aus 
einem jchmalen Gehirn oder aus einem engen Herzen, der eine, wie der 
andere joll der Volksſchule fern bleiben. 

Ich frage noch einmal, wenn e3 auch gelingen jollte, die Religion 
vollftändig aus der Volksichule zu verbannen, was gewönne man dabei ? 
Glaubt man etwa, man würde damit den Religionsunterricht überhaupt 
unterdrüden fünnen? Nein, aber jtatt den Religionsunterricht zu heben, 
ftatt ihn unter öffentlicher Kontrolle in der Volksschule ertheilen zu laſſen, 
würde man ihn umgekehrt den ertremen religiöfen Richtungen außer der 
Bolsihule in die Hände jpielen, der öffentlichen Kontrolle entziehen, 
mehr und mehr zu einer Pflanzſchule konfeſſioneller Selbitgerechtigfeit 
und gegenfeitiger DVerfegerung herabmwürdigen. Nehmt der Volksſchule 
alien Religionsunterriht und ihr verwandelt eine fruchtbare Wieje in 
ein dürres Haideland, ihr entzieht der Volksſchule ihren Schwerp unft, 
ihr entzieht ihr das lebendige Interefje des Volkes; gegen euren Willen 
wird ſich die Schule früher oder ſpäter vom Staate trennen und sh, 
vom Staate emanzipirten Kiche nachfolgen. 


J 


Alſo den Religionsunterricht nicht aus der Volksſchule hinaus! 
Dafür aber Freiheit im Religionsunterricht, vollſtändige, allſeitige Freiheit! 


In erſter Linie, wie es die nationalräthliche Kommiſſion in Art. 48 


verlangt, Freiheit für den Einzelnen. Während ſonſt grundſätzlich der 


Unterricht in der Volksſchule ein obligatoriſcher iſt, ſoll es umgekehrt 


beim eigentlichen Religionsunterricht, der ſo tief in das innerſte Heilig— 
thum der Familie eingreift, von Bundeswegen jedem Bürger unbedingt 
freiſtehen, ſeine Kinder dieſen Religionsunterricht beſuchen oder auch 
nicht beſuchen zu laſſen. „Wo der Geiſt des Herrn iſt, da iſt die Freiheit“, 
alſo kein Zwang, ſondern vollſtändige, allſeitige Freiheit. Iſt der Re— 
ligionsunterricht in der Volksſchule ſo, wie er ſein ſollte, ſo wird er 
ſeine Anziehungskraft ſchon geltend machen. 


Aber Freiheit nicht nur für den Einzelnen, Freiheit auch für die 
Schule gegenüber der Konfeſſion. Um dieſe Freiheit zu ermöglichen, muß 
nothwendig ein Prinzip, das ſich gegenwärtig im kirchlichen Leben der 
Kantone Bahn brechen will, in der, von der Eidgenoſſenſchaft überwachten 
Volksſchule zur Anwendung kommen. Dieſes Prinzip iſt das Gemeinde— 
prinzip. Jede Volksſchule beruht auf einer Volksſchulgemeinde. Dieſe 
Schulgemeinde ſoll von Bundeswegen berechtigt ſein, in der Volksſchule 
den, ihrer Ueberzeugung zuſagenden Religionsunterricht ertheilen zu laſſen. 
Keine Konfeſſion ſoll da durch Vermittlung der Kantonalbehörden hinein— 
regieren, bindende Vorſchriften aufſtellen, Dogmen- und Glaubenszwang 
ausüben können. Die Volksſchule ſei, wie es der Volkstag in Solothurn 
verlangte, konfeſſioneller Führung, konfeſſioneller Bebormundung enthoben, 
eine Ecole laique in dieſem und nur in dieſem Sinne. 


Der Bund und die Kantone dagegen übernehmen die Pflicht, 


. darüber zu machen: 


1) daß die den Eltern Hinfichtlich des Religionsunterrichtes ge- 
währte Freiheit in feiner Weile beeinträchtigt werde; 

2) daß der Religionsunterricht in der Volksſchule die Sittlich— 
feit, die öffentlide Ordnung und den fonfeffionellen Frieden 
nicht. verlebe. 


Alto eine öffentliche Kontrolle hierüber joll fattfinden im Uebrigen 
aber ſoll weder der Staat, noch eine Konfeſſion in den Religionsunter— 


richt eingreifen dürfen. 


Wie im Bezug auf den Religionsunterricht, jo ſtoßen in der Volks— 
ſchule αὐ in Bezug auf die Stellung der Geiftlihen die Gegenjäge ſchroff 
auf einander. In einigen Kantonen ift den Geiftlichen πο von Amtes- 
wegen eine bevorzugte Stellung in der Schule eingeräumt; das demo- 
kratiſche Prinzip verlangt, daß dieje VBorrechte aufgehoben, daß jede geilt- 
πῶς Herrjhaft oder Benormundung gründlich bejeitigt werde. Allein 
auch hier wollen wir nit in das andere Ertrem verfallen; die Geijt- 
lichen ſollen als ſolche im Volksſchulweſen gerade die gleichen Rechte haben, 
tie jeder andere Schweizerbürger, nicht mehr, nicht minder. Ihr Aus— 
Ihluß aus der Volksſchule wäre eine um jo größere Ungerechtigkeit, als 
die Volksſchule namentlich der proteſtantiſchen Geiftlichfeit viel, ſehr viel 
zu verdanken hat. Sind doch in vielen Gemeinden die Geiftlichen, jeien 
fie num dieſer, jeien jie jener dogmatischen Richtung, recht eigentlich die 
Stütze der Volksſchule, die Förderer ailer freilinnigen und humanen 
Beftrebungen. Daneben will ih nicht leugnen, daß es nicht auch Geift- 
lie entgegengejegter Art gibt. Allein bevor wir Jurijten die Entfernung 
der Geiftlihen aus der Volksſchule verlangen, follten wir uns doch vor— 
her ehrlich Fragen und uns dieſe Frage ebenjo ehrlich beantworten, was 
denn wir Juriften bis jegt in der Volksſchule geleiftet haben? 

Wenn gegen die ultramontanen Geiftlihen und insbejondere gegen 
die Ordensgeiftlichen geltend gemacht wird, daß ohne die Beſchränkung 
ihres Einflufjes die Volksſchule jchlechterdings nicht gedeihen könne, 70 
gebe ich dies unbedenklich zu. Wenn ihnen aber diejer ſchädliche Einfluß 
Toll entzogen und unter Umftänden jede Bethätigung in der Volksſchule 
Toll unterjagt werden fünnen, jo muß der Grund zu einer ſolchen — 
nur jheinbar ausnahmsweilen — Behandlung in etwas ganz Anderen 
liegen, als in ihrer Eigenjchaft als Geiftlihe. Maßgebend find Hier höhere 
nationale Gefihtspunfte, auf die ich Tpäter zu reden komme. 

Im Mebrigen ift da, wo es fih um Gewährung bürgerlicher Rechte, 
oder um die Auferlegung bürgerlicher Pflichten Handelt, der einzig 
rihtige Standpunkt der, daß man weder Klerifer noch Laien, jondern 
nur gleichberechtigte und gleich verpflichtete Schweizerbürger Fennt. 

Ich refümire dahin: der demofratifche Zug der Zeit verlangt nicht 
Ausſchluß des Religionsunterrihtes, nicht Ausſchluß der Geiftlihen aus 
der Volksſchule. Das Einzige, was er verlangt {Π Bejeitigung 
des Staatskirchenthums, foweit dasjelbe Die Bevorrechtung 


A 


Diefer oder jener Glaubensrichtung, diefes oder jenes Standes, joweit e3 
die fonfejfionnelle Bevormundung der Schule, joweit e3 daS Hineingreifen 
des Staates in. das Glaubensleben des Einzelnen und der kirchlichen 
Genoſſenſchaften in ſich faßt. 

| . Die Trennung de3 Staates don der Kirche, gleichbedeutend mit 
der bollftändigen Indifferenz des Staates gegenüber den fittlich-religiöjen 
Beftrebungen, iſt durchaus nicht eine nothwendige Konjequenz dieſer 
Befeitigung des Staatskirchenthums. Gerade im demokratischen Staat, 
wo da3 gleiche Volk den Staat, das gleiche Volk bis auf verſchwindend 
Heine Minderheiten die Kirche oder die Gejammtheit der Kirchen bildet, 
wo Staat und Kirche eigentlich nichts Anderes find, als verjchiedene 
Zebensäußerungen eines und desjelben Volkes, gerade im demofratiichen 
Staat halte ich diefe vollftändige Ixennung von Staat und Kirche für 
ein unnatürliches Verhältnig. Wie im einzelnen gejunden Menſchen Die 
verichiedenen Geiftesträfte ſich Harmonijc ergänzen und vertragen, jo 
Indien auch im demokratiſchen Bolfsleben die verſchiedenen Lebens- 
äußerungen diejes Volkes in Harmonie und lebendiger Wechjelbeziehung 
zu einander ftehen. Wie die Kirche zum Staat, jo joll der Staat zur 
Kirche, oder zur Gefammtheit feiner Kirchen in ein freundliches, wohl— 
wollendes Verhältniß treten, und Soll fi) diefe Kirchen- und Religions— 
freundlichfeit des Staates vor Allem aus darin bewähren, daß er die 
fittlichereligiöfen Beftrebungen der Kirche mit feinen materiellen Hülfs- 
mitteln unterftügt, und daß er e3 dadurch nicht nur den reichen, ſondern 
auch den armen LZandesgegenden und Gemeinden ermöglicht, Religions— 
lehrer zu Halten, öffentliche Gebäude für den Gottesdienſt zu benußen. - 

Allerdings’ wäre nun eine Konjequenz des demokratischen Prinzips, 
eine Konfequenz der Beſeitigung des StaatzkirchenthHums die, daß von 
Bundeswegen fejtgefeßt würde: die Kantone haben, jofern fie die kirch— 
lihereligiöfen Beftrebungen aus Staatsmitteln unterftügen mollen, dieſe 
Unterftügungen gleihmäßig allen Religionsgenoſſenſchaften, allen kon— 
feffionellen Richtungen zu verabfolgen. 

Eine fernere Konfequenz wäre ferner die, von Bundesmwegen das 
Gemeindeprinzip, wie wir e3 für den Neligionsunterriht in den Schul- 
gemeinden borjchlagen, auch für die territorialen Kirchgemeinden zur 
Anwendung zu bringen, und von Bundeswegen feitzujegen, daß nicht 
nur die privaten kirchlichen Genoſſenſchaften, jondern auch jede ſtaatlich 


N μι: 


anerkannte, territoriale Kirchgemeinde als ſolche, ihre Kirchlich - religiöfen 
Berhältnifie innerhalb der Schranken der Sittlichfeit und öffentlichen 
Drdnung frei und unabhängig von jeder Konfelfion ordnen dürfe. 

Sollen wir anläßlich der Bundestevifion diefe Konjequenzen ziehen ? 
Ich glaube nein. Die gleidmäßige ftaatlide Unterftügung aller. reli— 
giöſen Richtungen, inbegriffen die Sekten und die Juden, märe eine 
Forderung an die Kantone, für welche einjtweilen dem Volke das Ver— 
ſtändniß vollftändig abgeht. Und was die zweite Forderung, die Durch— 
führung des OGemeindeprinzipes in den fantonalen Volkskirchen, die 
Selbititändigfeit der territorialen Kirchgemeinden anbelangt, fo thut man 
beſſer, dieſes Gebiet vorläufig ‚den Kantonen zu belafjen. Einzelne Kan- 
tone find bereit3 vorgegangen ; im Kanton Bern legt der, von Regierungs- 
rath Teujcher ausgearbeitete und vom Großen Rath in zweiter Berathung 
angenommene Rirchengejegentwurf den Schwerpunkt des Firchlich-religiöfen 
Lebens ganz in die territoriale Kirchgemeinde, indem derjelben nicht nur 
ettva das Wahlrecht der Geiftlihen , ſondern aud) das Betorecht gegen 
Beichlüffe der Kantonsſynode ertheilt wird. 

Bon Bundeswegen fann zur Bekämpfung des Staatsfirchenthums 
nur verlangt werden: Vollſtändige Glaubeng- und Gemifjensfreiheit für 
den Einzelnen — und Wahrung der bürgerlichen und befonders der 
Elterlihen Nechte desjelben. — Freie Ausübung gottesdienftliher Hand— 
fungen nicht nur für die anerfannten riftlicden Konfeſſionen, ſondern über- 
haupt für jede kirchliche Genoſſenſchaft. — Freiheit für die Volksſchule, 
reſp. die Schulgemeinde in der Ertheilung des Religionsunterrichtes. 

MWenn nun der Bund, ſoweit e8 in jeinen Mitteln fteht, das 
veraltete Staatskirchenthum befämpfen hilft, wenn er dem demokratischen 
Zuge der Zeit nachgebend, das kirchliche Leben fi möglichſt frei ge= 
falten und entfalten läßt, jo ift er umgekehrt berechtigt, an die einzelnen 
kirchlichen Genofjenihaften gewiſſe kategoriſche Forderungen zu ftellen. 
Er darf von ihnen‘ verlangen : 

1) daß fie wirfli nur fittlich- religiöie —* verfolgen; 

2) daß ſie ſich und ihre ganze äußere Organiſation zu den 
idealen Grundlagen, auf denen das NR, St: αἰδε 
‚gebäude beruht, in Einklang jeßen. } 

Wenn eine kirchliche Genofjenfhaft unter dem Dedmantel der Reli- 

gion nach Augen gerichtete, ehrgeizige und jelbftfüchtige Pläne verfolgt, wenn 


ἀράν I “ὦ Ὁ. 


—— 


der Beſtand eines über alle Länder verzweigten, mit großen materiellen 


Hülfsmitteln verſehenen Kirchenverbandes dazu benutzt wird, den Staat, 


die Schule, die Familie, die ganze bürgerliche Geſellſchaft zu unterjochen, 
dann iſt das freie Gewährenlaſſen einer ſolchen Kirche für den Staat 
geradezu ein Selbſtmord. Namentlich gilt dies für den republikaniſchen 
Staat, weil eine ſolche Kirche, ihrem Zweck entſprechend, ſtets unrepu— 
blikaniſch, abſolutiſtiſch organiſirt iſt, und dadurch zu den Grundlagen 
des Staates in ſchroffen Gegenſatz tritt. Eine ſolche Kirche mit aller 
Macht zu bekämpfen, das ift wahrhaftig feine Beſchränkung der Religions— 
freiheit, das ift für den Staat einfach ein Aft der Nothwehr, der Noth- 
mehr nicht nur für ſich, jondern auch für die Schule, die Yamilie, Die 
ganze bürgerliche Geſellſchaft. 

| Damit verlaffen wir das Staatsfir ch ent h um um uns dem 
Kirchenſtaat zuzuwenden. 

In der katholiſchen Kirche ſuchten ſich ſeit der Reformation un— 
verkennbar zwei ganz entgegengeſetzte Richtungen Geltung zu verſchaffen: 
Eine ächt chriſtliche Richtung, welche ſich die Ausſöhnung mit dem Pro— 
teſtantismus, ein friedliches Zuſammenleben beider Konfeſſionen, und die 
ultramontane Richtung, welche ſich den Vernichtungskampf gegen die 
Häretiker zum Ziele ſetzte. Beide Richtungen nannten ſich katholiſch, 
beide hatten das gemein, daß fie, im Gegenſatz zu den Nationalkirchen 
der Broteftanten, ftreng am fosmopolitiihen Bau, an der internationalen 
Einheit der Kirche fefthielten. Aber während die chriſtliche Richtung 
diefe Einheit in einem ganz idealen Lichte betrachtete und durch dieſelbe 
das Reich Gottes auf Erden zu begründen hoffte, betrachtete umgekehrt 
die ultramontane Richtung die Einheit der Kirche als ein jehr reales 
Mittel zur Begründung der päpftlichen Weltherrſchaft. Jener Richtung 
mar die Religion Selbſtzweck, dieſer Richtung mar nicht nur die Einheit 
der Kirche, jondern die Religion jelbft ein Mittel zur Erreichung eines 
äußern Zwedes, der mit der Religion gar nichts mehr gemein hatte. 

Nach der Verſchiedenheit des Zweckes, der durch die internationale 
Einheit der Kirche erreicht werden follte, wurde dieje*Einheit von den 
beiden Richtungen in der Eatholifchen Kirche auch ganz verſchieden aufge 
faßt. Während die chriftliche Richtung die Einheit der Kirche ſuchte im 


Feſthalten an den hergebrachten und angemwohnten, allen Katholiken ge= 


meinfamen Formen und Gebräucen, in der Gemeinjamfeit des Gottes= 


— 


dienſtes und frommer Liebeswerke, während die chriſtliche Richtung den 
römiſchen Biſchof nicht als einen unbeſchränkten Herrn über die Gewiſſen, 
ſondern nur als den äußern Vertreter der Kircheneinheit betrachtete, 
ſuchte die ultramontane Richtung, entſprechend dem Zwecke, den ſie ver— 
folgte, die Einheit der Kirche vor Allem aus in der Uniformität, in der 
ſtrammen Disziplinirung, in der Knechtung derſelben durch Rom, in der 
ſchroffen Ausmerzung freierer Einflüſſe, in unaufhörlichen Intriguen und 
Hetzereien gegenüber jeder kirchlichen und politiſchen Richtung, die 
der angeſtrebten päpſtlichen Weltherrſchaft hindernd in den Weg trat. 


Die ultramontane Richtung, thatkräftiger , agreſſiver und in ihrer 


Urt auch konſequent, hatte für fi) die traditionnellen Herrjchergelüfte 
und Anſprüche der Päbſte und die daraus hervorgegangene, auf die Ver— 
wirklichung der päbſtlichen Weltherrjchaft berechnete, ftreng hierarchiſche 
Drganijation der katholiſchen Kirche. 5 Mehr und mehr ſuchte deßhalb 
die ultramontane Richtung gerade Dieje äußere Organijation mit der 
katholiſchen Religion zu identifiziren oder doch zu einem mwejentlichen Be- 
Itandtheile diejer Religion zu erheben. Damit war das geeignetjte 
Mittel gefunden, jede volksthümliche, den päbſtlichen Herrſchergelüſten 
wideriprechende Reform der fatholiiden Kirche und jede Annäherung an 
die proteftantiichen Kirchen unmöglich zu machen. Die hriftliche, weniger 
thatkräftige Richtuug in der Fatholifchen Kirche fügte fi, nach ſchwachen, 
erfolglofen Reformverſuchen, in das jcheinbar Unabänderliche; fie be- 
quemte fich, die hierarchiſche Kirhenorganifation tale quale anzunehmen, 
ohne ihr jedoch grundjäglich den Charakter der Heiligkeit beizulegen. Dieſe 
Halbheit hat jeither böje Früchte. getragen. 

Die eigentlihen Vertreter der ultranıontanen Rihtung waren — 
liche Orden, vor Allen aus der Jeſuitenorden. Nach dem Tridentiner 
Konzil, wo unter der Leitung dieſes Ordens ein großer Feldzugsplan 
gegen den Proteſtantismus geſchmiedet und dadurch der Anſtoß zu end— 
loſen Kriegen und Verfolgungen gegeben wurde, befam die ultramontane 
Richtung in der Tatholifchen Kirche und in den Fatholifchen Staaten 
immer mehr die Dberhand und bald ausschlieglihen Einfluß a den 
Gang der äußern Ereigniſſe. 

Hinrichtungen Philipp's und Alba's, die Bartholomäusnacht, * Beltliner- 
mord, die Dragonaden Ludwigs XIV., und endlich die Bürgerfriege in 


BE Zu ν un ΨΥ ΠΡ > 2 ΨΨΡΝΣ  Ὑ Zu 


unjerm Baterland find ewige Denkfteine und Blutzeugen der ultramon- 
tanen Gefinnung. Wohl mögen auch die Proteftanten nicht immer frei 
geweſen fein von aller Schuld; wohl mag aud hier Unduldjamfeit und 
blinde Befehrungswuth das euer gejchürt Haben; aber jo viel ift ficher, 
ohne das Streben der Ultramontanen, das Rad der Gejchichte gemwaltfam 
wieder zurüdzurollen, ohne ihr Streben nad päbftliher Weltherrichaft 
hätte die Gejchichte alle jene Gräuel nicht aufzumeijen. ᾿ 

Die päpftlihe Weltherrihaft zu begründen, die proteftantifchen 
Staaten zu zerftören, den proteftantifihen Geift zu erftiden, das ift da- 
mals der ultramontanen Richtung allerdings nicht gelungen. Aber 
gelungen iſt es ihr, manchem DBolfe unheilbare Wunden zu jchlagen. 
Während im Anfange des 16. Jahrhunderts in ganz Europa ein reges, 
allfeitiges Streben fih Fund gab, während auf jedem Gebiet des geiftigen 
Lebens taujend jchwellende Knospen und Keime einen herrlichen Geiſtes— 
frühling ahnen ließen: Schien es nad jenen Religionskriegen, als ſei 
ein tödtlicher Froſt über alle Länder gegangen; die Blüthen, die [ἢ 
eben entfalten wollten, waren gefnidt, der fruchtbare Garten in eine 
Wüſte verwandelt, Europa in feiner Kulturentwicklung auf Zahrhunderte 
surüdgemorfen. Ὁ | 

Dies Alles hatte Europa den Ultramontanen und nur den Ultra— 
montanen zu verdanfen ! 

In der allgemeinen Abjpannung, welche auf die furchtbaren Re— 
ligionsfriege des 16. und 17. Jahrhunderts folgte, verloren die religiöfen 
und kirchlichen Gegenfäge nad) und nad) ihre Kraft und Schärfe. Man 
begann, da3 ungeheure Elend zu überjhauen, das Priefterehrgeiz und Ὁ 
fünjtlih genährter Yanatismus über die Völker gebracht: die bürgerliche 
Geſellſchaft, das Familienleben zerrüttet, die Sitten vermwildert, Der 
Wohlitand ganzer Länder dahin! Mehr und mehr brach ſich die Ueber— 
zeugung Bahn, daß Priefterehrgeiz und Yanatismus mit Kriftlicher Ge— 
finnung nichts gemein habe, mehr und mehr regte fich das Gemiffen der 
Bölfer zur leiſen Selbſtanklage: daß Diejenigen, welche mit der Ber- 
folgung und Befämpfung Andersdenkender Gott zu dienen gehofft, da= 
mit nur eine ſchwere Blutfhuld auf fi) geladen. Auch in den fatho- 
liſchen Ländern erwachte das chriſtliche Bewußtſein, das mährend der 
Kriegögräuel durch den Ultramontanismus niedergehalten worden, wieder 
mit erneuerter Stärke, in allen Wohlmeinenden regte ſich die Sehnjudt 


BERN an 


nad Vertragung, nah aufrihtiger DVerjöbnung mit den Broteftanten. 


Dies war aber auch die Zeit, mo fich gegen die mwejentlichite Urſache 


der erlebten Gräuel, gegen den hauptſächlichſten Träger der ultramontanen 


Idee, gegen den Jeſuitenorden jener unvertilgbare Abſcheu in den Herzen 


der Völker feſtſetzte. 


Mit der Aufklärung des vorigen Jahrhunderts begann ein neuer 


Sturm gegen den Ultramontanismus. Wie Voltaire, Rouſſeau und 
unzählige Andere in der Wiſſenſchaft, jo kämpften Friedrich IL, Kaiſer 
Joſeph und Bombal in der Politik für religiöje Toleranz, für Glaubens— 
und Gemifjenzfreiheit. Die Ideen der Zeit wirkten jo gewaltig, daß 
nicht nur die katholiſchen Höfe und Regierungen, ſondern ſelbſt die ka— 
tholiſche Kirche, ja die Spiben derjelben, davon beeinflußt wurden. Es 
it ein ewig denfwürdiges Ereigniß, daß Papſt Clemens XIV. der tra— 
ditionellen PBolitif der Nachfolger Petri entſagte und das thätigjte Werk- 
zeug zur Erlangung der päpjtlihen Weltherrſchaft — den Jeſuiten— 
orden — aufhob, durch welchen Aufhebungsbeichluß fi) Clemens XIV. 
bekanntlich jein Todesurtheil jelbft ausſprach. 

Nachdem die franzöfiihe Revolution Europa durchbraust, nachdem 
die von ihr proflamirten Menjchenrechte nah und nad im. Bölferleben 
ih Eingang verſchafft und praftiiche Anwendung gefunden ſchien der 
Ultramontanismus das Wejentlichjte feiner Kraft eingebüßt zu haben. 
Umd als erit die großen Verkehrsmittel, Dampfidiffe, Eijenbahnen, 
Zelegraphen entjtunden, als jämmtliche Völker, proteſtantiſche und Tatho- 
liihe, zu einander in die mannigfaltigiten Handels und Berfehröbeziehungen 
traten, da jchien der, nur auf der jehroffiten kirchlichen Abgeſchloſſenheit 
beruhende Ultramontanismus al3 τῶ Πᾧ = politiiche Macht von Tag zu 
Tag mehr ein vollftändig überwundener Standpunkt zu merben. 

Wie jehr hat man fich getäujcht! Die ulttamontane Partei, eine 
Weile desorganijirt und ohne Fühlung mit den neuen Zeitjtrömungen, 
begann unter der Leitung des Sejuitenordens ſich nad und nad zu 
reorganifiren. Unverrüdt ihr Ziel — die Begründung der päpſtlichen 
Weltherrſchaft — im Auge behaltend, fieng fie damit an, ὦ da, wo 
48 ihr vortheilhaft jhien, der neuen Zeit, der neuen Ordnung der Dinge 
ſcheinbar zu affommodiren. Ebenſo 20, als bieg- und jchmiegjam, 
wurden die Ultramontanen in den Ländern, wo fie in Minderheit waren 
und wo es ihnen vor Allem aus darauf ankam, ein offenes Feld für 


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an 


Ep We 0 > 1 


Fe 2 4: 


— 


ihre Wühlereien zu erhalten, die eifrigſten Verfechter der religiöſen To— 


leranz, der kirchlichen Friheit ; während ſie umgekehrt da, wo ihre Macht 


noch nicht gebrochen war, mit der ganzen Intoleranz früherer Jahr— 
hunderte jede andere Richtung niederhielten. 

Nun kam es darauf an, vorerſt innerhalb der katholiſchen Kirche, 
ſpeziell innerhalb des Klerus ſelbſt, die Oberhand wieder zu gewinnen. 
Wie ſchon erwähnt, war auch die katholiſche Geiſtlichkeit von den Ideen 
der Zeit nicht ganz unberührt geblieben, vielerorts bemerkte man bei ihr 
einen freiſinnigen, toleranten, ächt chriſtlichen Geiſt; Zierden der Kirche, 
wie Weſſenberg und Lacordah, liegen eine dauernde Ausſöhnung zwiſchen 
Katholifen und Proteſtanten, ja eine einjtige Wiederbereinigung auf 
Grundlage eines geläuterten Chrijtentgums Hoffen. Dem Allem mußte 
nun eim Ende gemacht, der Einfluß jener Männer gebrochen, beim fa= 
tholiihen Prieſter die riftliche Gejinnung durch joldatiihe Disziplin und 
Subordination verdrängt werden. Dank der hierarchiſchen Kirchenorgani— 
jation, und Dank den vielen Jeſuitenſeminarien ift es denn auch den 
Ulttamontanen und zwar Hauptjählih im Laufe dieſes Jahrhunderts 
gelungen, den von jenen Männern im fatholiihen Klerus ausgejtreuten 
Samen des Chriſtenthms großentheils wieder zu zerjtören, und den 
fatholiihen Klerus nad) und nad) wieder an Disziplin und Subordination 
zu gewöhnen. Cine wie wohlthuende, aber wie jeltene Erſcheinung ift 
noch gegenwärtig ein alter katholiſcher Geiftlicher aus der Schule Weſſen— 
bergs! Unter den jüngern Slerifern wird man vergebens nad joldhen 
ausjchauen. 

Herher fam 68 nun darauf an, die Kluft zwiſchen Katholiken und 
Proteftanten,, die jih im Laufe der Zeit an vielen Orten beinahe aus— 
gefüllt, wieder zu erweitern. Hetzereien und Wühlereien begannen ‚ bis 
es gelungen war, das friedliche Einvernehmen, das zwiſchen den beiden 
Konfejlionen herrjchte, zu -zerftören, den alten fonfejjionellen Hader wieder 
wadhzurufen und dadurch ‚die fatholiiche Bevölkerung immer mehr der 
Führung ihrer geiftlihen Offiziere zu unterwerfen. 

Aber Ein großer Schritt mußte noch gethan werden, um die 


katholiſche Kirche vollends zu unterjochen. Die hierarchiſche Kirchen— 


organiſation, der die Ultramontanen aus leſcht begreiflichen Gründen von 
jeher den Charakter der Heiligkeit zu geben geſucht, mußte auf die Spitze 
getrieben, ein kirchliches Dogma aufgeſtellt werden, welches jede Annäherung 


sr De 
an den Proteftantismus radikal ausſchloß, welches die Halben und 
Zögernden nöthigte, Farbe zu befennen, eitweder aus der katho— 
liſchen Kirche auszutreten oder ſich blind und millenlos zu unterwerfen. 
Die Unfehlbarkeit des Römiſchen Bapftes mußte zum Glaubensſatz er— 
hoben werden. | 

Es war ein veriwegenes Beginnen, aber bis jeßt mit Erfolg ge= 
frönt. Wie wenig fannten die flugen Staatsmänner, welche mit mit- 
leidigem Lächeln auf das Konzil in Nom herabichauten, und die 
Aufftellung des neuen — ſcheinbar lächerlichen — Dogmas als die 
legten Zudungen einer längft überwundenen Partei erklärten, die Macht 
und wunderbare, über alle Länder verzweigte Organifation der Jeſuiten! 
Diefe mußten gar wohl, was fie thaten, als fie durch den Mund des 
Konzils jene ungeheuerliche. Zumutdung an die fatholiiche Chriftenheit 
ftellten! Hatten fie doch dur jahrelange Thätigkeit den Boden zur 
Aufnahme des neuen Dogmas vorbereitet, wußten fie ja do, daß bei 
der bon ihnen eingeführten Disziplin und Subordination nur ein ver— 
ſchwindend Heiner Bruchtheil des katholiſchen Klerus eine ernfthafte 
Oppofition wagen würde. Enchklika und Shllabus waren dem neuen 
Dogma als Fühler vorausgegangen, ohne die Gewiljen der Fatholiichen 
Geiſtlichen bedeutend aufzurühren; mit Recht durften alfo die Jeſuiten 
annehmen, daß auch hier das Gemiffen ſtumm bleiben merde. 

Und es iſt denn auch jo gefommen. Als im Jahr 1870 das 
Unfehlbarkeitsdogma aufgeftellt wurde , erhob fi zwar ein Schrei der 
Entrüftung durch die ganze Chriftenheit. Aber ‚heute, nad) drei Jahren, 
hat das neue Dogma bei faſt ſämmtlichen katholiſchen Geiftlihen und 
infolge defjen auch in der ungeheuren Mehrheit ihrer Gemeinden Ein- 
gang gefunden, und fängt das, von feinen geiftlihen Führern verblendete 
Volk ſchon jetzt an, jede Regung des chriſtlichen Gewiſſens, jeden Wider- 
fand gegen das neue Dogma als eine Keberei, als einen Abfall von 
der Kirche zu betrachten ! 

Wie wenig fennen die Aufgeklärten, welche über das Unfehlbarfeits- 
dogma, wie über andere abergläubifche Vorftellungen die Achjel zuden, 
die Bedeutung und Tragweite diefes Dogma’3! Hier handelt es fi 
nicht um eine abergläubifche Vorftellung, fondern um ein jejuitiiches 
Lojungswort, um das Lofungswort einer mwohlorganifirten kirchlich-poli— 
tiſchen Partei, um ein Loſungswort, das gleichbedeutend ift mit. blinder 


ES θεν τ 


Unterwerfung unter Rom, Kampf gegen Alles, was fi dem Streben 
nad päpftlicher Weltherrichaft mwiderjegt. Mit dem Unfehlbarfeitsdpogma 
ift alles Kulturfeindliche, alles Geſetzwidrige, alles Staatsgefährliche, das 
früher nur von einer Fraktion innerhalb der Kirche ift angeftrebt worden, 
offen und unverhüllt zum Zielpunfte für alle Katholifen erhoben; an die 
Stelle einer kirchlichen Genoſſenſchaft, in welcher fi) bis dahin das chrift- 
lich-⸗religiöſe und das ultramontan = hierarchifche Element die Waage ge- 
Halten, ift unter dem Dedmantel der Religion eine internationale 
Verſchwörung getreten. 

Wenn die Ultramontanen gegenüber den Ultfatholifen und Pro— 
teitanten behaupten, die Lehre von der päpftlichen Unfehlbarfeit ſei der 
fatholiihen Kirche auch früher nicht fremd gemejen, jo liegt in Diejer 
Behauptung eine Dojis, aber auch nur eine Dofis Wahrheit. Wahr iſt 
es, daß e3 in der fatholiichen Kirche von jeher zwei Strömungen ge= 
geben Hat, eine hriftliche und eine ultramontane, und daß das Unfehl- 
barfeitsdogma in feinem Keime allerdings ſchon in den früheren, auf 
Weltherrſchaft gerichteten Beitrebungen der Ultramontanen und in der 
von ihnen eingeführten hierarchiſchen Kirchenorganifation enthalten mar. 
Wahr ift es aber auch, daß das chriſtliche Element in der katholiſchen 
Kirche von jeher die ultramontanen Beftrebungen verwarf, wie es denn 
auch Heute die Krönung des ultramontanen Gebäudes vermirft. Alt 
ift wohl der Jeſuitismus, neu ift aber die Verwandlung 
der fatholijhen Kirche in eine Jejuitenfirde. 

Damit ift num aber die rechtliche Stellung des modernen Staates 
nit zu den Katholiken, nicht zur katholiſchen Religion, wohl aber zur 
fatholiichen Kirche in ihrer gegenwärtigen äußern Organijation, in ihren 
gegenwärtigen äußeren Zielpunkten von Grund aus verändert worden. 

Bor Allen aus gilt dies für den republifaniichen Staat. Wenn 
das deutjche Kaiferreih mit der römiſchen Hierarchie den Kampf auf- 
genommen, jo iſt dies — zum Theil wenigftens — doch nur deshalb 
geſchehen, weil fich Hier zwei Autoritäten, die faijerliche und die päpft- 
(ide, um den Vorrang ftritten. Es iſt noch nicht jo lange her, daß 
man in Preußen aud die Ultramontanen, als ihre Anmaßung noch nicht 
jo unverblümt hervortrat, zu den Stützen des Thrones zählte und ihre 
Hülfe zur Bekämpfung der Demokratie jehr gern entgegen nahm. Seht 
hat ſich dies freilich geändert. Während auf der einen Seite die mider- 

4 


—— 


ſpenſtigen Prieſter gemaßregelt werden, ſchwelgt man auf der andern 
Seite in der ſüßen Hoffnung, „der Stein ſei ſchon im Rollen, der die 
Füße des deutſchen Koloſſen zertrümmern werde.“ Aber wird Dies 
immer jo bleiben? Wenn das deutſche Reich den Sturm fiegreich be— 
fteht, werden die ebenſo gejchmeidigen, al3 in ihrem Ziele folgerichtigen 
Ultramontanen nit mit der deutſchen Regierung ein Abkommen zu 
treffen Juden, werben fie fih nicht, beiferer Zeiten harrend, der neuen 
Ordnung der Dinge jheinbar fügen? Und der deutjche Kaiſer, mird 
ihm eine ſolche Unterwerfung unter feine Autorität nicht genügen ὁ 
Menn ihn die Kirche gibt, was des Kaiſers ift, wird er ſich auch noch 
darum kümmern, ob fie dem Volke gibt, was des Volkes ijt? 

Ganz anders im republifaniihen Staate. Hier handelt es fich 
nicht um einen Kampf zwiſchen zwei Autoritäten, jondern um einen 
Kampf zwiſchen Autorität und Freiheit. Ein republifaniiher Staat 
und ein hierarchiſches Kirchenregiment find ſchlechterdings unverjöhnliche 
Gegenſätze. Das republifaniihe Prinzip des Staates muß auch die 
Kirche durchdringen oder es wird umgekehrt vom Abjolutismus, der in 
der Kirche herrſcht, Früher oder jpäter au) aus dem Staate verdrängt 
erden. 

Die Anerkennung der katholiſchen Konfeſſion und das Jeſuiten— 
verbot in der Bundesverfalfung von 1848 zeigen deutlich, daß man fi) 
ihon damals bewußt war, die Fatholiihe Kirche enthalte in fich ein be— 
techtigtes religiöjfes und zugleich ein unberechtigtes, mit unjeren republi= 
fanischen Zuftänden unverträglices Moment. Leider gab man ji ſchon 
damals dem Irrthume Hin, mit den Jeluiten auch den Jeſuitismus jelbit 
aus der Fatholifchen Kirche verbannt zu haben. 

St es nicht ein wahrer Hohn, daß die Jeſuiten, mährend das 
Jeſuitenverbot bei uns noch fortbefteht, faktiſch von Rom aus die Tatho- 
liſche Kirche in der Schweiz beherrjchen, daß fie diejer Kirche dur Krö— 
nung des hierarhifchen Gebäudes den Stempel des Jeſuitismus auf- 
gedrüct haben? Entweder man ſchaffe das Jeſuitenverbot ab, oder man 
gehe nicht nur den Jeſuiten, ſondern auch dem Jejuitismus in der katho— 
lichen Kirche zu Leibe. 

Aber wie, das ift die große Frage? 

Dergefjen wir nicht, daß wir, wenn wir den Jeſuitismus in Der 
katholiſchen Kirche befämpfen wollen, nicht in das andere Extrem, in 


ER Bee 


das Staatzfirhenthum früherer Jahrhunderte verfallen dürfen. Es Tann 
nicht in der Aufgabe des modernen Staates liegen, in daS innere 
Glaubensleben der katholiſchen Kirche einzugreifen. So ftaatsgefährlich 
das jejuitiiche Dogma der Unfehlbarfeit ift, als bloßem Dogma fann 
ihm der Staat als folder mwenig anhaben, er kann ihm höchſtens zur 
Aufrechtbaltung des fonfejfionellen Friedens den Eingang in die Volks— 
ſchule vermehren. Allein der Staat als jolder darf die Einzelnen, 
welche an die Unfehlbarfeit des Papſtes glauben, in ihren Rechten nicht 
beichränfen, noch weniger darf er Bekehrungsverſuche mit ihnen anjtellen. 
Mögen die Infallibiliften jchlieglih jogar dazu fommen, den Papſt an— 
zubeten, auch daS geht den Staat nichts an. Nicht nur der Glaube, 
auch der Aberglaube und der Unglaube hat jeine unantaftbaren Rechte. 

Vergeſſen wir niht: Das innere Glaubensleben in der fatholiichen 
Kirche kann nit vom Staate, nit von Dben herab, jondern nur 
von Unien herauf, vom fatholiihen Volke jelbit geläutert und ge= 
hoben merden. Und dieſer Läuterungsprozeß hat denn auch ſchon be= 
gonnen. Klein ift zwar der Anfang, aber groß ift die Zukunft der 
altfatholiichen Gemeinden, wenn fie ftetS den gleichen freifinnigen und 
Hriftlichen Geift, der fie bis jebt auszeichnet, Π zu bewahren willen, 
wenn fie fi) immer Elarer bewußt werden, daß fie nit nur das Un— 
tehlbarfeitspogma, nicht nur dieſes äußere Pannier des Jeſuitismus, 
jondern den Jeſuitismus ſelbſt in allen jeinen Konjequenzen befämpfen 
und dem Chriſtenthum in der katholiſchen Kirche wieder zum Siege ver— 
helfen müfjen. Ueberall in der katholiſchen Kirche beginnt das chriſtliche 
Element fih zu regen, aber nur noch ſchüchtern, denn zu gewaltig laftet 
der äußere Drud der Hierarchie, der Drud der internationalen jefuitifchen 
Verſchwörung auf allen Katholiken. 

Diefen Drud zu entfernen, wäre eine Hauptaufgabe des republi- 
kaniſchen Staates, hätte er nicht noch eine größere Aufgabe zu erfüllen. 
Dieje Aufgabe befteht darin: Nicht nur den Drud der Hierardie, 
jondern die Hierarchie jelbft aus dem Staatögebiete zu 
entfernen. 

Ich habe bereits darauf hingewieſen, daß ein republifaniiher Staat 
und ein abjolutiftiiches Kirchenregiment unverjöhnliche Gegenſätze find. 
Es iſt eine auffallende Erſcheinung, daß gerade jebt, mo auf allen Ge- 
bieten des kirchlich-religiöſen Lebens ein tiefer, demokratiſcher Zug ſich 


SE A CE 


geltend macht, auf der andern Seite die Hierarchie durch das Unfehl- 
barfeitzdogma auf die Spite getrieben wird. Das muß nicht biegen, 
das muß breden. Wenn der republifaniiche Staat mehr, als jeder 
andere Saat vom Jeſuitismus gefährdet wird, jo. hat er dafür auch 
wirkſamere Mittel, den Jeſuitismus zu befämpfen. Diejes Mittel befteht 
in der Republifanijirung der katholiſchen Kirche, oder viel- 
mehr in. der Republifanijirung aller Sirden. 

So Sehr fi der moderne Staat davor hüten muß, in das immere 
Glaubensleben einer Kirche fig einzumijchen, jo jehr iſt es feine Pflicht, 
auf die Äußere Organiſation und. die ganze, nad Außen gerichtete Thätig= 
feit der Kirchen ein jharfes, mwachjames Auge zu haben. Religion und 


äußere Kirchenorganijation gehen einander nichts an. Die Heiligfeit der 


römischen Hierarchie. ift nichts, als eine mohlberechnete jejuitiiche Er- 
findung, die am allerwenigjten im republikaniſchen Staate berüdfichtigt 
werden 7011. 


In Art. 6, litt. Ὁ der gegenwärtigen. Bundesperfafjung ift den 


Kantonen freigeftellt, ji ihre Berfafjung jelbft zu geben, jofern dieſe 
Berfaflung die Ausübung der politiichen Rechte nach republifaniichen — 
demofratiihen oder repräjentativen — Formen geftattet. Analog dieſem 
Artikel jollte Π der Bund auch gegenüber den einzefnen Kirchen ver- 
halten. Jedes Statut einer kirchlichen Genoſſenſchaft, jede Kirchen— 
verfafjung, follte dem Bunde zur Genehmigung unterbreitet werden 
müſſen. Zwar, jo wenig der Bund den Kantonen, jo wenig jollte der 
Bund den Kirchen ihre Berfaffungen pofitiv machen; aber jo, wie der 
Bund die KHantonsperfaffungen, ebenſo jolte der Bund die Kirchen— 
verfaflungen nur injomeit genehmigen, als fie mit dem Wejen des 
republifaniihen Staates im Einklange find. Alſo don Seiten des 
Bundes ein rein negatives Verhalten, indem: der Bund jede Kirchen— 
verfaflung nicht genehmigt, wenigſtens nicht unbedingt genehmigt, die 
nicht national, nit republifanisch ift. Jede Kirchenverfaſſung wäre 
aber ohne Weiteres zu genehnigen, jofern fie. ‚diefen Anforderungen 
Genüge [εἰ οἰ, 

Was iſt das Merkmal einer nationalen und republikaniſchen Kirchen— 
verfaffung? 1) wenn fie die Kirche und ihre Organe zu Feiner fremden 
Macht in ein direktes und äußeres Abhängigkeitsverhältniß jebt; 2) wenn 
fie innerhalb der Kirche die Ausübung der Eirchlichen Rechte. nach republi— 


—— 


kaniſchen — demokratiſchen oder repräſentativen — Formen ſichert; 
3) wenn ſie durch die Mehrheit der Kirchenglieder jeder Zeit abgeändert 
werden kann. | 
"Gegenüber jeder Kirchenverfaſſung, die dieſe Anforderungen nicht 
erfüllt, joll der Bund das Recht haben, entweder die Genehmigung direkt 
zu verweigern, oder aber durch ſchützende Gejegesbeitimmungen den Wir- 
fungsfreis der Kirchenorgane auf eine angemefjene Weiſe zu befchränfen. 

Den Anfang mache man damit, eine tabula rasa zu ſchaffen und 
das fernere Hineingreifen einer fremden, unrepublifaniihen Macht in 
unjer Volksleben zu verhindern. In erjter Linie verfüge man die Yuf- 
hebumg der beftehenden Bisthümer und die Aufhebung von Allem, 
was bisher Hierarhiihes darum und daran hing. Zwei Biſchöfe find fort, 
fafje man die anderen nadhfolgen. Der Bund joll, entiprechend dem 
negativen Verhalten des Staates, den Katholifen fein Nationalbisthum 
aufnöthigen. Aber er joll die Errihtung neuer Bisthümer oder ander- 
meitiger Kirchenvertretungen nur dann genehmigen, wenn diejelben auf 
nationaler und republifaniiher Grundlage beruhen. 

Dann muß das Verbot gegen die Leiter der internationalen Ver— 
ſchwörung, die Jeſuiten, dahin verjchärft werden, daß ihren Gliedern 
geradezu das Betreten des Schweizerbodens unterjagt wird. Das Jefuiten- 
verbot muß auch auf andere geiftliche Orden ausgedehnt und wenigſtens 
die Wirkſamkeit derſelben beſchränkt werden können. 

Auch die Klöſter find nicht zu jchonen. In früheren Zeiten un— 
Ihuldige Zufluctsftätten für weltmüde, zu beſchaulichem Leben geneigte 
Menſchen, find fie gegenwärtig großentheils nichtS Anderes mehr, αἵ 
Uhunefter der Reaktion, als finftere Kaſernen, in welchen das ftehende 
geiftlihe Heer des unfehlbaren Pabſtes im Hinterhalte Liegt, um fi von. 
Zeit zu Zeit auf ein gegebene Zeichen über das ganze Land zu er- 
gießen und für die ultramontanen Zwede Propaganda zu machen. Das 
Beſte wäre, fie aufzuheben oder doch ihre Aufhebung anzubahnen. Will 
man nicht joweit gehen, jo made man ihre Aufhebuug fakultativ und 
beſchränke ihren ſchädlichen Einfluß. 

Alſo zuerſt tabula rasa gemacht! Auf diefe und nur auf diefe 
Weile wird es möglih jein, die römiſche Hierarchie in unferer 
Republik vollftändig zu brechen, das Erdreich zu lockern und den Boden 
für neue Schöpfungen empfänglich zu machen. Jetzt ift die Pyramide 


ker Tanner 


unjerer katholiſchen Kirche auf ihre Spitze — den unfehl- 
baren Bapftin Rom — geftellt; ftelle man fie wieder aufihre 
Baſis — das brave katholiſche Bolfinder Schweiz und auf 
das religiöſe Gewiſſen dieſes Volkes — und es weit πα ὦ 
und nach von ſelbſt geſündere kirchliche Zuſtände eintreten. 

Bon Seiten der Ultramontanen werden gegen die Nationalifirung 
und Republifanifirung der katholiſchen Kirche verſchiedene Einwände er- 
hoben werden. Speziell gegen die Nationalifirung wird man geltend 
maden: Es liege ja im Weſen der katholiſchen Kirche, daß fie als 
allgemeine chriſtliche Kirche nicht national fein könne, jondern an ihrer, 
über die Grenzen der Nationen und Staaten hinausreihenden inter- 
nationalen Beftimmung feithalten müſſe. Die Ultramontanen vergefjen 
dabei Eines: daß zwijchen international und antinational ein großer 
Unterjhied it. An der internationalen, fosmopolitiiden Beitimmung 
der katholiſchen Kirche will ἰῷ nicht rütteln, aber dieſe internationale 
Beitimmung befteht nicht darin, daß fi) die Kiche zum Stante und 
zu den Staatögejegen in Widerſpruch jeßt, nit darin, daß fie eine 
äußere, dem einzelnen Staate überlegene Machtitellung erringt und in 
ihrem Streben nad) Weltherrichaft dieſen Staat knechtet. Die inter- 
nationale fosmopolitiihe Beitimmung ift auf ivealem Gebiete zu juchen, 
in der Begründung des Reiches Gottes auf Erden, in der allgemeinen 
Berbreitung Hriftliher Gefinnung. Eine internationale herrſchende Kirche 
ift der Gegenſatz, eine internationale dienende Kirche die Verwirklihung 
des Chriſtenthums. | 

In dieſem legtern Sinne ἔαππ die katholische Kirche zugleich natio— 
nal und zugleich. international, fosmopolitifch ſein. National, indem fie 
fi), wie jede andere Kirche, in ihrer äußern Organiſation dem betreffen- 
den Staate anjchmiegt, mit feinen Grundlagen in Einklang jet; inter- 
national, fosmopolitii, indem fie an der, den nationalen Aufgaben nicht 
wipderjprechenden, aber über. die nationalen Aufgaben hinausteichenden 
Idee des Chriſtenthums fefthält. Man kann ein guter Familienvater 
jein und gleichwohl ein guter Gemeindebürger ; ein guter Gemeindebürger 
und gleihwohl ein guter Staatsbürger; ein. guter Staatsbürger und 
gleichwohl ein guter. Weltbürger. Freilich nah ultramontanen Begriffen 
nicht, denn da. kann man nicht zugleich Gott dienen. und dem Vaterlande; 
ein ulttamontaner Chrift und ein. Patriot find. zwei unvereinbare Dinge. 


Gegen die Republifanifirung der katholiſchen Kirche wird geltend 
gemacht werden: die fatholifche Kirche beruhe ja auf der Autorität, nicht 
auf der Freiheit. So? Nachdem es den Ultramontanen nad) Jahr— 
hunderte lang fortgefegtem Geiftesdrude gelungen, in der katholiſchen 
Kirche die Autonomie des Gewiſſens, die Autorität der fittlihen Mächte 
dureh die Autorität eines Dalai Yama zu. verdrängen, will man auch 
dem modernen republifaniihen Staate die Zumuthung maden, dieſe 
letztere Autorität zu reſpektiren? Allerdings ift die Dalai-tama-Autorität 
weder mit der kirchlichen, noch mit der politiihen Freiheit eines Volkes 
vereinbar; aber gerade deßhalb muß fie bejeitigt und an die Stelle dieſer 
Autorität das Prinzip der Freiheit gejeßt werden! Nur in der frei 
organifirten katholiſchen Kirche wird das religiöje Gemifjen des katho— 
liſchen Volkes wieder erwachen, werden die fittlihen Mächte wieder zur 
Geltung fommen, werden Staat und Kirche wieder in ein freundliches, 
wohlmwollendes Verhältnig zu einander treten. 

Wird unjere Heine Republif im Kampfe mit der römischen Hierarchie 
obfiegen? Furchtbar find die Waffen der legtern, furchtbar ift die über 
alle Yänder verzmweigte Organijation der Jeſuiten, unermeßlich ihre geiftigen 
und materiellen Hülfsquellen. Vergeſſen wir nicht, wie viele StaatSmänner 
ſchon ihre beiten Kräfte an diejen Feind gewagt und wie ſchließlich gegen— 
über deſſen Macht nnd eiferner Konjequenz ihre Kräfte erlahmt find. 

Mit bloßen Anläufen ift eben nichts getan. Wollen wir obfiegen, 
jo müfjen wir das Uebel bei der Wurzel anpaden. Auch die meit- 
gehenditen Beichlüffe und Berfügungen find fruchtlos, jofern mir die 
Macht der römiſchen Hierarchie nicht durch Aufftellung feſter, verfaſſungs— 
und gejeßmäßiger Normen zu brechen juchen. Die Berjonen, die Be- 
hörden mechjeln, aber die Verfaffungen, die Geſetze bleiben. 

Die Gejege dürfen aber, ſoweit fie fih auf das innere Glaubens— 
leben, auf den Gottesdienft, auf den Religionsunterricht beziehen, nicht im 
Geifte des veralteten Staatskirchenthums, jondern fie müſſen im Geifte 
der Freiheit gejchrieben fein. 

Umgekehrt, ſoweit fich dieſe Gejege auf die äußere Organijation 
und Machtftellung der kirchlichen Genofjenjchaften beziehen, müſſen fie 
mit radifaler Ausichließlichfeit Alles ausmerzen, mas nicht national, was 
nit republikaniſch, mas ftaatsgefährlih if. Es ift das Kennzeichen 
eines gefunden Staates, daß er ein jchädliches Geſchwür zu rechter 


ie 


Zeit und ohne Schonung ausſchneiden darf. Es ift das Kennzeichen 
eines ungejunden Staates, da er den Kaijerfchnitt vermeidet, die 
Entſcheidung vertagt, das Geſchwür forteitern läßt. 

Entjprechen die Entwürfe des Bundesrathes und der beiden Kom— 
miſſionen den geftellten Anforderungen? - Am meiften offenbar der Ent- 
wurf der nationalräthlihen Kommilfion. Allein auch diefer Entwurf 
leidet an Unvollftändigfeit und Inkonſequenz; man fieht es den einzelnen 
Artikeln an, daß fi) da verſchiedene Standpunkte gefreuzt haben, daß 
man über daS Berhältnig von Staat und Kirche, don Gemeinde und 
Individuum πο lange nicht einig ift. | 

Im Schlupartifel der nationalräthlichen Kommiſſion vermißt man 
Beſtimmungen über den Religionsunterricht; die ſtänderäthliche Kom— 
miſſion will mit dem Staate aushelfen und vergißt dabei, daß der 
Staat eben ſehr oft nichts iſt, als der Büttel einer Konfeſſion. Warum 
nicht das einzig Vernünftige und Freiheitliche, das Gemeindeprinzip, mit 
dem begrenzten Auffichtsrechte des Staates ὁ 

Im Kicchenartifel vermißt man das Hauptprinzip, durch das allein 
die römische Hierarchie gebrochen werden fann: Im republifaniichen Staate. 
nur republifanifche, von feiner fremden Macht abhängige Kirchen. Ferner 
ijt mit den bejtehenden Bisthümern nicht tabula rasa gemacht, und der 
Art. 496, jo wohlgemeint er fein mag, enthält fogar eine Rüdfehr zum 
alten Staatskirchen- und Baftorentdum. 

Im Anschluß an den Entwurf der nationalräthliden Kommilfion 
nehme ich mir die Freiheit, nachfolgende Modifikationen und Ergänzungen 
borzujchlagen : | 

Art. 25. Der Bund ift befugt, eine Univerfität, eine polytechniſche 
Schule, ein Technikum und andere höhere Unterritsanftalten zu errichten 
oder ſolche Anftalten zu unterftüßen. 

Die Kantone jorgen für: obligatorifhen und unentgeldlichen Primar- 
unterricht. 

Der Bund ift beugt, über das Minimum der Anforderung an 
die Primarſchule Vorſchriften zu erlaſſen. 

Den Geiſtlichen als ſolchen ſtehen — der Volksſchule keine 
beſondern Rechte zu. 

Geiſtlichen, welche zu einer fremden Macht in einem direkten und 
äußern Abhängigkeitsverhältniſſe ſtehen, insbeſondere den Ordensgeiſtlichen, 


—— air. 


fann ſowohl dur den Bund, als durch die Kantone ἰδ — 
in der Volksſchule unterſagt werden. 

Der Religionsunterricht in der Volksſchule darf nur in einer, dem 
Willen der Schulgemeinde entſprechenden Weiſe ertheilt werden. Der 
Bund und die Kantone haben darüber zu wachen: 1) daß die in Art. 
48, Lemma 3 vorgeſehenen Rechte der Eltern und Vormünder in feiner 
Weiſe beeinträchtigt werden; 2) daß der Religionsunterricht in der Volks— 
ſchule weder die. öffentlihe Ordnung und Sittlichfeit, noch den konfeſſio— 
nellen Frieden verlebe. 

Art. 48. (Wie die nationalräthlihe Kommiffion, mit Ausnahme 
des legten Lemmas:) Niemand ift gehalten, bejondere Kirchenfteuern zu 
bezahlen u. ſ. mw. 

Art. 49. Die freie Ausübung gottesdienftliher Handlungen ift 
innerhalb der Schranfen der Sittlichfeit und der öffentlichen Ordnung 
gewährleiſtet. 

Den Kantonen, ſowie dem Bund bleibt vorbehalten, ‚für Hand- 
habung der öffentlichen Ordnung und des Friedens unter den Konfeffionen, 
jowie gegen Eingriffe Firchlicher Behörden in die Rechte der Bürger und 
des Staates die geeigneten Maßnahmen zu. treffen. 

Jede kirchliche Genofjenihaft ift verpflichtet, für ihre Verfaſſung 
die Genehmigung des Bundes nachzujuchen. 

Diefe Genehmigung ift ohne Weiters zu ertheilen, injofern: 

a. die Kirchenverfaffung nichts den Vorſchriften der Bundes— 
berfafjung Zumiderlaufendes enthält; 

b. fie die Kirche und ihre Organe zu feiner fremden Macht 
in ein direktes und äußeres Abhängigfeitsverhältniß jebt; 

c. fie die Ausübung der kirchlichen Rechte nach republifaniichen — 
repräjentativen oder demofratiihen — Yormen fichert: | 

d. [16 von den Kirchgenoffen angenommen morden ift und τὸς 
pidirt werden kann, wenn die abjolute Mehrheit derjelben 
es verlangt. 

Gegenüber einer Kirchenverfafjung, welche diefe Anforderungeu nicht 
erfüllt, jteht es im Ermeſſen des Bundes, entweder die Gemährleiftung 
zu verweigern und die Kirchliche Genoſſenſchaft aufzulöjen, oder aber durch 
ſchützende Gejegesbeitimmungen den Wirfungsfreis der — auf 
eine angemeſſene Weiſe zu beſchränken. 


Das gleiche Recht fteht dem Bund απ) gegenüber bejondern kirch— 
lichen Anftalten, wie 2. B. den Möftern, zu. 

Unjtände aus dem Brivatrehte, welche über die Bildung oder 
Trennung von kirchlichen Genofjenjchaften entjtehen, fünmen auf dem 
Wege der Beichwerdeführung der Entiheidung der J— Bundes⸗ 
behörden unterſtellt werden. 

Die beſtehenden Bisthümer auf ſchweizeriſchem Gebiet. τον 
gehoben; die Errichtung neuer Bisthümer unterliegt der Genehmigung 
des Bundes. 

Die Eidgenoſſenſchaft anerfennt feinen ftändigen Vertreter einer 
auswärtigen geiftlichen Gemalt. 

Art. 490. Die geiftliche Gerichtsbarkeit iſt abgejchaft. 

Art. 49. (geftrihen). 

Art. 49d. Der Orden der Jeſuiten und die ihm affiliirten Ge- 
jelliehaften dürfen in feinem Theil der Schweiz Aufnahme finden und 
und es ift ihren Gliedern das Betreten des Schweizerbodens unterjagt. 

Diefes Berbot kann dur) Bundesbejhlug auch auf andere geift- 
hide Orden ausgedehnt werden. 

(Art. 49e, ἢ, g, wie die nationalräthlihe Kammiſſion.) 


” hi vi. 


Erweiterung der Volksrechte. 


Wenn wir uns diejes, an ſich ungenauen Ausdrudes hier bedienen, 
jo gejchieht e8 nur, weil derjelbe nun einmal gebräuchlich; in Wirklich- 
feit Tann es fi bei der Einführung des Referendums, Betos ꝛc. nur 
um eine direktere Betheiligung des Volkes an der Geſetzgebung oder Ver— 
maltung, nicht aber um eine Erweiterung feiner Rechte Handeln. Iſt 
ja das Volk ſchon im Repräſentativſtaat ausſchließlicher Souverain. 

(8 mag auffallen, daß die vom Volkstag in Solothurn beichloffenen 
Rejolutionen mit feinem Wort dieſer ſog. Ermeiterung der Volksrechte 
erwähnen. Der Grund davon lag einfah in dem Beftreben, am Bolfg- 
tag nur ſolche Rejolutionen aufzujtellen, welche als Ausdruck der, 
allen entſchieden Freiſinnigen gemeinjamen Ueberzeugung gelten konnten. 
Nun ſind aber im ſchweizeriſchen Volksverein ſehr viele Freunde, aber 
gewiß auch Gegner des Referendums, und herrſcht unter den wärmſten 
und aufrichtigſten Patrioten noch jetzt große Verſchiedenheit der Anſichten 
darüber, οὐ und in wieweit nnd in welcher Form eine direktere Be— 
theiligung des Volkes an der Gejeßgebung und Verwaltung ftattfinden ſolle. 

Immerhin fann man die Thatjache, daß fich das Referendum nun 
einmal ſchon in den meiften Kantonen eingebürgert hat, bei der Revifion 
der Bundesverfafjung jchlechterdings nicht unberüdfichtigt Tafjen. Gerade 
die Rafchheit und Vieljeitigkeit feines Erfolges ſcheint mir dafür zu Iprechen, 
daß das neue Inſtitut denn doch‘ ein berehtigtes Moment enthält und 
daß es nur darauf ankömmt, dieſes berechtigte Moment herauszufinden 
und von den anhängenden Schlafen zu reinigen. 

Unbeftreitbar {ΠῚ das Referendum εἶπε Konfequenz der demokratiſchen 
Entwidlung der 30er und 40er Jahre. Vom Grundgeſetz ift nur ein 
Schritt zu: den übrigen Gefegen, und wenn’ das Volk feine Souveraine— 


SGB 


tätsrechte auch in Bezug auf die letztern direft ausüben will, jo ijt dieß 
nur eine naturgemäße Yolge feines gejteigerten Selbſtbewußtſeins, jeiner 
vieljeitigeren Bildung, jeiner vermehrten Erfahrungen auf politiichem, 
rechtlichem und jocialem Gebiet. Die Hauptjache dabei bleibt aber, daß 
das Volk in weiſer Selbſtbeſchränkung jeine Bethätigung nur auf foldhe 
Gebiete ausdehnt, wo e3 dem einzelnen Bürger möglih und bon Nuben 
it, Π die nöthige Einficht zu verschaffen. Diek find vor Allem aus 
die allgemeinen Yandesgejege, welche die vielfachen Beziehungen der Bürger 
unter fi), und ihre Beziehungen zur Staatsgewalt, zur Gemeinde, zur 
Kirche 2c. normiren. Alfo das ganze Givil- und Strafrecht, der Civil— 
und Strafprozeß, das Bollziehungspverfahren und Wechjelrecht, die Geſetze 
über. die Steuern und Jonjtige öffentlihe Yajten, die. Jagd- und 
Fiſchereigeſetze, das Kirchengeſetz, das Gemeindegejes, Schulgejeß u. 7. w. 
Alle diefe Gejege beziehen jih auf Eegenftände, mit denen jeder Bürger 
Ihon von Haus aus mehr oder weniger vertraut ift, weil er mit ihnen 
in öftere Berührung kommt; und wenn ihm Anfangs auch die nöthige 
Einfiht in die ganze Oekonomie eines wohldurchdachten Gejeges abgeht, 
jo hat er doch in den meijten Fällen genügende Lebenserfahrung, daß 
er durch Belehrung aufgeklärt werden Tann, und auch ein genügendes, 
perjönlihes Intereſſe, daß er dieſe Belehrung ſucht. In der That fieht 
man. nicht ein, warum der gleiche Bürger, der über die oft fomplizirten 
Beſtimmungen einer Berfaflung urtheilen Tann, nit im Stande jein 
joll, fi über die ihm viel näher liegenden Beftimmungen eines Gemeinde- 
gejeßes, eines ehelichen Güterrechtes 2c. eine vernünftige Meinung zu bilden. 

Eine direkte Bethätigung des Volkes am Erlaß ſolcher allgemeinen 
Landesgejege kann nur mwohlthätig wirken. Einerſeits gejtaltet ſich dieſe 
Bethätigung zu einem wirklichen Bolfsbildungsmittel, der Bürger 
wird ſich viel mehr, al3 dieß beim ftrengen Repräſentativſyſtem der Fall 
wor, jeiner Stellung und Aufgaben in der bürgerlichen Gejellihaft bewußt, 
und das Prinzip „daß Gejeßesunfenntniß vor feinem Gericht als Ent- 
ſchuldigung geltend ‘gemacht werden kann“, erhält etwelche Berechtigung. 
Underjeits ift diefe Bethätigung ein wirkffamer Damm gegen über- 
flüffige Geſetzmacherei, gegen ſchlecht redigirte, unverftändliche, 
oder auch gegen allzu fomplizirte, unvolfsthümliche Geſetze. Jedes Geſetz, 
welches die Beziehungen der Bürger unter ſich, oder. ihre Beziehungen 
zur Staatsgewalt, zur Gemeinde, zur Kirche, zur Schuleizc. normirt, 


δον 


darf fih, wenn es wirkſam fein fol, nicht allzuweit von der normalen 
Bildungsftufe des Volfes entfernen oder muß menigftens, der Form und 
dem „Inhalte nah, dieſe Bildungsftufe in ernfte Berückſichtigung ziehen. 

Ich bin aljo prinzipiell für die direkte Bethätigung des Volkes 
an der Gejesgebung, aber nur unter einer Vorausfegung : daß fich diefe 
Bethätigung auf die oben angeführten Landesgeſetze beichränfe. 

In den meilten Kantonen hat man nun offenbar weit über das 
Ziel Hinausgejhoflen, indem man auch die Verwaltungs- und Spezial- 
gejege und die Beichlüjfe, ja jogar das Büdget dem Bolfe zur Abſtim— 
mung unterbreitet. 

Was kümmert fih die Maffe des Volkes 3. B. um den Inhalt 
einer Medizinalordnung, eines Emolumententarif3 oder eines Geſetzes, 
welches die Organiſation der Finanzverwaltung bejchlägt, und was für 
eine Möglichkeit oder was für ein Intereſſe Hat der Bauernknecht, der 
Taglöhner,, der Hauſirer, fih über die Zmedmäßigfeit oder Unzweck— 
mäßigfeit ſolcher Gejege aufklären zu laſſen? Werden ihm dieje Geſetze 
troßdem zur Annahme oder Verwerfung vorgelegt, jo nimmt er fie ent- 
weder gedanfenlos an, oder wenn er gerade mißtrauiſch oder übellaunig 
ift, jo verwirft er fie eben jo gedanfenlos. Die ganze Geſetzgebung ift 
der Willfür und dem Zufall anheimgegeben. 

Noch verwerflicher ift es, dem Volke die Beichlüffe der oberſten 
Landesbehörde vorzulegen. Wohl giebt es Beſchlüſſe, welche von immenjer 
Tragweite find; aber nit die Tragweite einer Sache joll maßgebend 
jein, ob dieſe Sache vor das Volk gehört, ſondern lediglich die Möglich- 
feit, daß das Volf etwa von der Sache veriteht. 

Man joll mir nicht dorhalten, ich predige den „bejchränften Unter- 
thanenverftand“. Mag das Volk politiſch noch jo reif fein, die Wichtig- 
feit und Tragweite vieler Beſchlüſſe, vieler Spezial- und Verwaltungsgeſetze 
wird es deßhalb nicht begreifen, weil es nicht ſelbſt am Staatsruder 
fist, meil ihm der nöthige Einblid in den ganzen Staatsorganismus, 
in die Bedürfniffe des Staatshaushaltes abgeht. Könnte man das ganze 
Volk in die Rathsſääle hineinnehmen, dann fünnte man es über die 
fompfizirteften Spezial- und Verwaltungsgefege, über die Wichtigkeit und 
Tragweite jämmtliher Beihlüffe aufklären. Bei allgemeinen Landes— 
gejegen können die Volfsvereine die Aufgabe das Volk nach und nad) 
aufzuklären übernehmen ; bei Spezial- und Verwaltungsgejegen, oder bei 


—— 


Beſchlüſſen, die doch ſtets innerhalb eines beſchränkten Zeitraumes gefaßt 
werden müſſen iſt dies auch den beſtorganiſirten Vereinen unmöglich. 

Wenn es ſchon in den Kantonen wünſchenswerth iſt, daß ſich die 
direkte Bethätigung des Volkes auf die allgemeinen Landesgeſetze be— 
ſchränke, ſo iſt dies bei den komplizirten Verhältniſſen des ſchweizeriſchen 
Bundesſtaates noch in viel höherem Maße der Fall. In dem Vorſchlag, 
alle Bundesgejege und die Bundesbejhlüffe nicht dringlicher Natur dem 
fafultativen Referendum zu unterwerfen, erblide ἰῷ eine Schwächung der 
Bundesautorität, ein bedenkliches Agitationsmittel, und deßhalb eine große 
Gefahr für unſer Yand. | 

Dieje Gefahr wird um jo größer dadurch, daß nicht nur 50,000 
Schmeizerbürger, jondern auch 5 oder 8 Kantone die Volksabſtimmung 
verlangen und damit den Bundesbehörden jeder Zeit den Fuß vor— 
halten können. 

sch miederhole es: Ich bin ein Freund des Referendums, aber 
nur, wenn man dafjelbe auffakt und behandelt als einen Damm gegen 
den Erlaß unvolfsthümlicher Landesgejege und als ein Volks- umd ein 
Rechtsbildungsmittel. Ich bin aber ein entſchiedener Gegner 
des Peferendums, wenn man dasſelbe zu emem Inſtitut des 
Miptrauens in die Landesbehörde herabwürdigt. Zu einem Inſtitut 
de3 Mißtrauens würdigt man es aber herab, wenn man jämmtliche 
Bundesgejege und auch die Bundesbeſchlüſſe der Bollsabftimmung 
unterbreitet. 

Unfere Republik verlangt eine feite, ftarfe Regierung, die im Voll— 
gefühl ihrer Verantwortlichkeit handelt, zumal in diejer ernſten, unheil- 
ſchwangern Zeit. Wohl heißt es in Art. 85 der verjchiedenen Entwürfe, 
daß Beſchlüſſe dringlicher Natur der Bollsabftimmung enthoben jeien. 
Uber ift nicht jeder zeitgemäße Beſchluß dringlich, oder wo läßt fich 
die Grenze zwischen dringlichen und nicht dringlichen Beichlüffen ziehen ? 

Ich Halte aljo dafür, es jollte im ſchweizeriſchen Bundesjtaat nur 
für eine ganz beftimmte Auswahl von Gejegen die Volksabſtimmung 
vorgejehen werden. Dieſe Gejege find diejenigen, welche ſich auf Gegen- 
fände des (formellen oder materiellen) Rechtes, und zwar des bürger- 
lichen und des Strafrechtes beziehen. 

Ulein wenn die direkte Bethätigung des Volkes in diefer Weije 
auf ein vernünftiges Maß zurüdgeführt worden ift, jo bin ἰῷ dann 


- 


‚umgekehrt dafür, diefe Bethätigung des Volkes jo jehr als möglich zu 


erleichtern. Im Bundesftaat iſt die rationellfte Zorm für Ausübung 
der Bolfsrechte offenbar das fafultative Referendum, in Berbindung mit 
der Initiative. Allein wenn man die Bethätigung des DBolfes an der 
Gejesgebung zu Wahrheit will werden lafjen, oder wenn man nicht bei 
jedem Anlaß einer gemaltigen Agitation rufen will, jo ſoll die Volks— 
abftimmung nit nur von 50,000, jondern von 20,000 Bürgern ver- 
langt werden können. 

Hinſichtlich der Initiative jchiene mir ein Verfahren jehr zweckmäßig, 


das ſ. 3. in der franzöfiichen Nationalverfammlung und im Konvent 


Eingang gefunden. Dieje Behörden luden jehr oft die Vertreter größerer 
Korporationen ein, ihren Berhandlungen mit berathender Stimme θεῖς 
zumohnen. Sollte es nun nicht zuläjlig jein, daß 20,000 Schweizer— 
bürger, welche an die Räthe ein Initiativbegehren zu jtellen haben, ſich 
für Diejen jpeziellen Zweck durch einen Ausgeſchoſſenen mit bloß be— 
rathender Stimme jollten vertreten lafjen fünnen ὁ 20,000 Schmweizer- 
bürger, die zufällig im gleichen Bezirk wohnen, wählen einen National- 
rath ; allein jollten 20,000 andere Schweizerbürger , die nicht durch Die 
Zufälligfeit des MWohnfiges, jondern dur ein gemeinjames Intereſſe 
verbunden find und dieſes Intereſſe durch ein Initiativbegehren mani- 
feftiren,, nicht ebenjo ſehr ins Gewicht fallen, nicht ebenjo jehr eine 


Vertretung fordern fünnen? Würde dadurdh nicht ein äußerſt Ieben- 


diger Wechjelverfehr zwiſchen dem Volk und den eidgenöffiihen Räthen 
ermöglicht ? | 

Die Volksinitiative der 20,000 Schweizerbürger jollte jchlechthin 
jeden Gegenjtand, jedes Bundesgejeg und jeden Bundesbeichluß betreffen 
fönnen. Allein nur wenn fi) das Jnitiativbegehren auf ein Bundes— 
gejeg über Gegenftände des bürgerlichen oder Strafrechtes bezieht, jollte 
eine Weitersziehung an das Volk ftattfinden. Bei andermweitigen Bundes— 
gejegen und bei Beſchlüſſen jeien die Räthe oberfte Inſtanz. 

Aber wenn die Bundesperfammlung unvolksthümliche Spezial- und 
Verwaltungsgeſetze erläßt, unvolksthümliche Beſchlüſſe faßt und den Un— 


willen des Volkes gegen ſich erregt, was dann? Gebe man doch 
50,000 Schmweizerbürgern daS Recht, die Abberufung der beiden Räthe 


zu verlangen! Aber es it ja ein revolutionäres Inſtitut, diejes Ab— 


berufungsrecht? Wenigſtens nad der Anficht gewiſſer Doftrinärs. Ich 


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jehe nicht ein, was Revolutionäres darin liegen joll, wenn das Volk ſein 
Souverainetätsrecht ausübt und einfach die Amtsdauer der Räthe um 
einige Monate oder Jahre abkürzt. Iſt das etwas Revolutionäres, ſo 
iſt es jede Geſammterneuerung des Nationalrathes ebenfalls. 

Die Abberufung, nicht das Referendum über Bundesbeſchlüſſe, iſt 
das wahre Korrektiv für eine Mißregierung. 

Seht, dort fährt ein Schiff durch ein Meer voll Klippen und 
Untiefen! Die Schiffsmannſchaft iſt in großer Beſorgniß, denn der 
Steuermann iſt des Meeres unkundig und verſteht das Steuer nicht zu 
handhaben. Was iſt da zu rathen? Soll die ganze Schiffsmannſchaft, 


wie toll, ſelbſt auf das Steuerruder losſtürzen, oder ſoll ſie einfach einem 


andern, beſſern Steuermann das Ruder übergeben? Wer für das Erſte 


iſt, wird zum Referendum über wer für das Zweite 


iſt, für das Abberufungsrecht ſtimmen. 


Wenn die Volksabſtimmung auf Civil- und Strafgeſetze beſchränkt ᾿ 
wird, tritt nun die fernere Frage an uns heran: Sollen wir neben dem 


Volksvotum auch ein Standespotum zulaffen ? 

Daß bei der maßloſen Ausdehnung, welche dem ste und 
der „Initiative in den bisherigen Entwürfen gegeben wird, bon einem 
Standespotum nicht die Rede jein kann, liegt auf der Hand. Denn 
daS märe ‚ein Zurüdgehen meit hinter 1848. Etwas anders geitaltet 
ih nun allerdings die Frage, wenn man Referendum und Initiative 
auf ein vernünftiges Maß zurüdführt. Allein auch da halte ich das 
Standespotum für überflüffig, weil ſchon bei der bloßen Bolfsabitimmung 
die einzelnen Lofalinterefjen nur zu oft in den Vordergrund treten umd 
das allgemeine Landesintereffe in den Hintergrund drängen merden. 


Meberdieß verftoßt e$ gegen das Prinzip der Demofration, das 


Schtweizerbol durch die Stände majorifiren zu laſſen. 

Sch halte deßhalb dafür, daß bei der Abftimmung über die Civil— 
und Strafgefete des Bundes ein Standespotum nur unter folgenden 
zwei Vorausfegungen zugelaffen werden darf: 

) wenn die Föderaliften in jämmtlihen andern Materien, fo 
namentlih im Militär, aufrihtig die Hand zur Verftändigung bieten, 


und das Standespotum mithin nur als eine 5 Konzeſſſon der 


Reviſionspartei anzuſehen iſt. * 


UN 


2) wenn dem Standespotum: nur. der Charakter eines: Sufpenfiv- 
vetos beigelegt und im: Folge: deſſen eine dauernde Majprifirung ‚des 
Volkes durch die Stände verhütet wird. Ein vom Schweizervolk ange— 
nommenes, bon den Ständen Herworfenes Geſetz ſollte πα einer be— 
ftimmten Frift dem Schweizervolf neuerdings: vorgelegt werden: können 
und bei diejer zweiten —— der ikea der. Stände — 
mehr bedürfen. 

Warum die beiden Kommiſſionen vom Imnuvrecht der —— 
nicht Umgang genommen, nachdem dieſes Initiativrecht bon föderaliſtiſcher 
Seite ſelbſt als etwas Unlogiſches — worden, iſt mir nicht 
erklärlich. 


Art. 856. Für Bundesgeſetze und Bundesbeſchlüſſe iſt die Zu— 
ſtimmung beider Räthe erforderlich. 

Jedes Bundesgeſetz über Gegenſtände des bürgerlichen oder, Straf- 
rechtes ſoll dem Volke zur Annahme oder Verwerfung vorgelegt werden, 
wenn es bon 20,000 ſtimmberechtigten Schweizerbürgern verlangt: wird. 

(Eventuell : Jedes Bundesgejet über Gegenſtände des bürgerlichen 
oder Strafrechtes joll dem Bolfe und den Ständen zur Annnahme, oder 
Verwerfung borgelegt werden, wenn e3 bon 20,000 jtimmberechtigten 
Schmweizerbürgern verlangt wird. 

Iſt ein ſolches Bundesgejeg von der Mehrheit des Schweizervolfes 
angenommen, von der Mehrheit der. Stände jedoch verworfen worden, 
jo hat das Ständenotum nur die Wirkung eines Sujpenfivvetos. Das 
betreffende Gejeg muß nah Ablauf von ὃ Monaten und vor Ablauf - 
eines „Jahres dem Schweizervolfe nochmals unverändert zur Annahme 
oder Verwerfung vorgelegt werden und bedarf bei diefer zweiten Ab- 
ſtimmung nicht mehr der Zuftimmung der Stände). 

Art. 89. Wenn 20,000 ftinnmberedhtigte, Bürger die Abänderung 
oder Aufhebung eines beftehenden Bundesgejeßes oder über eine beftimmte 
Materie die Erlafjung eines neuen Bundesgejeßes oder Bundesbejchluffes 
anbegehren , joll diefes Begehren in beiden Räthen zur Behandlung 
fommen und zwar unter Beobachtung folgender Grundfäße : 

1) die Antragfteller Haben das Recht, fi) durch einen bejondern 
Abgeordneten, der jedoch nur mitberathende Stimme hat, bei den ein- 
ſchlägigen Verhandlungen in beiden Räthen vertreten zu Iaffen. 

5 


— 


Bezieht ſich das Begehren auf ein Geſetz über Gegenſtände des 
bürgerlichen oder Strafrechtes, ſo haben die beiden Räthe, wenn ſie dem 
Begehren zuſtimmen, den einſchlägigen neuen Geſetzesvorſchlag zu verein— 
baren und dem Volke (eventuell: dem Volke und den Ständen) zur An— 
nahme oder Verwerfung vorzulegen. 

Stimmen nicht beide Räthe dem Begehren zu, ſo iſt daſſelbe der 
Abſtimmung des Volkes zu unterſtellen und wenn die Mehrheit der 
ſtimmenden Bürger dafür ſich ausſpricht, ſo haben die Räthe einen ent— 
ſprechenden Geſetzesvorſchlag aufzuſtellen und dem Volke (eventuell: dem 
Volke und den Ständen) zur Annahme oder Verwerfung vorzulegen. 

3) Bezieht ſich das Begehren auf ein anderweitiges Geſetz, oder 
auf einen Beſchluß, ſo findet keine Weitersziehung an das Volk ſtatt. 

Art. 89 b. Wenn 50,000 Schweizerbürger vor Ablauf der 
Amtsdauer des Nationalrathes eine außerordentliche Geſammterneuerung 
der eidgenöſſiſchen Räthe verlangen, ſo ſoll dieſes Begehren dem Volke 
zur Annahme oder Verwerfung vorgelegt werden und im Falle der An— 
nahme eine ſofortige Geſammterneuerung beider Räthe ſtattfinden. 

Art. 90. Die Bundesgeſetzgebung wird bezüglich der Formen und 
Friſten der Volksbegehren und der Volksabſtimmung das Erforderliche 


feſtſetzen. 


VII. ΄ 
Zweikammerſyſtem. 


Die Vorzüge des Zweikammerſyſtems beſtehen darin, daß durch 
daſſelbe eine allſeitigere Landesvertretung ermöglicht, überſtürzte Beſchlüſſe 
verhütet und alle Vorlagen einer gründlichern Prüfung unterzogen werden. 
Die Nachtheile beſtehen darin, daß in Zeiten innerer oder äußerer Kriſen 
durch daſſelbe jede radikale, durchgreifende That erſchwert und leicht eine 
unheilvolle Schaukelpolitik hervorgerufen wird. 

Wir Schweizer haben bis jetzt nur die Vorzüge des ΕΒ λυ 
ſyſtems fennen gelernt, aus dem einfachen Grunde, weil wir feit 1848 
feine großen Kriſen durchzumachen hatten. Vielleicht ift die Zeit nicht 
mehr fern, wo wir auch jeine Nachtheile werden fennen lernen. 

Das jchmweizeriihe Zweikammerſyſtem hat feine ganz bejonderen 
Skattenjeiten. Wenn der Ständerath und der Nationalrath fi) über 
eine Frage nicht einigen können oder nicht einigen wollen, jo kann abjolut 
nichts gejhehen, denn es gibt eben Feine höhere Inſtanz. Die Frage 
‚bleibt ungelöft, jo dringlih auch ihre Löſung märe. | 
| Um diefem, in die Augen jpringenden Uebelſtand abzuhelfen, ift 
borgeihlagen worden: das Volk jelbft, als höhere Inſtanz, über die 
Differenzpunfte der beiden Räthe entjheiden zu laſſen. Allein, ſoviel 
Beitechendes dieſer Borjchlag auf den erften Blick hat, bei reiflicherm 
Nachdenken muß er doc verworfen werden. Erſtens befindet fich das 
Volk da, wo blos Beichlüffe, nicht Landesgeſetze in Frage ftehen, an und 
für fih nicht in der Möglichkeit, das Richtige vom Unrichtigen zu unter- 
ſcheiden. Zweitens märe ein ſolches Verfahren ein arger Einbrud in 
das Zweikammerſyſtem, weil ja faktiſch mit diefer MWeiteröziehung an 
das Volk der zweite Rath ganz überflüffig würde. 


— 


Die höhere Inſtanz muß gefunden werden in den Räthen ſelbſt, 
in der vereinigten Bundesverſammlung. Allerdings nicht 
in dem Sinne, daß derſelben in gewöhnlichen Zeiten jede Frage, über 
welche ſich die getrennten Räthe nicht einigen können, vorzulegen wäre. 
Sonſt thäte man ja beſſer, gar nicht getrennt zu verhandeln, ſondern 
bon vornherein zuſammenzutreten. Allein, für die Zeiten der Gefahr, 
denen wir nach meiner feiten Ueberzeugung entgegengehen, jollte eine 
ſolche Weitersziehung dringlicher Fragen an die vereinigte Bundes- 
verſammlung ſchlechterdings zuläflig jein. 

Dadurch würde ein großer Uebelſtand umferes ſchweizeriſchen Zwei— 
kammerſyſtems bejeitigt und unjer Land möglicherweife vor dem Unheile 
bewahrt, das in Zeiten innerer oder aa er: aus jedem er 
ſyſteme entipringt. 


Mit dem Vorſchlage des legtjährigen und der diesjährigen Ent- 
würfe, auch die ſtimmberechtigten Schweizerbürger geiftlichen Standes als 
wahlfähig in den Nationalrat zu erklären, wird eine große Unbillig- 
feit wieder gut gemacht. So wenig als geiftliche, tollen wir weltliche Vor— 
rechte; jo gut als die Weltlichen, follen auch die Geiſtlichen aller Rechte 
der Schweizerbürger theilhaftig fein. 

Nichtsdeſtoweniger hat der Widermillen ‚vieler liberaler Katholiken, 
ihre ultramontanen Geiftlichen zu den eidgenöſſiſchen Räthen zuzulafjen, 
feine tiefe Berechtigung. Aber wenn man der Sache auf den Grund 
geht, jo ſieht man, daß diejer Widerwillen nicht gegen die Geiftlichen 
als ſolche, jondern gegen die Diener einer fremden, antiſchweizeriſchen 
Macht gerichtet ift. Es ift etwas Unnatürliches, daß derjenige, der fein 
Vaterland in Rom hat und der als Ultramontaner, als Vorkämpfer für 
die päpjtliche Meltherrichaft, von vornherein der Selbſtſtändigkeit unferer 
Nationalität und unferen republikaniſchen Einrichtungen feind ſein muß, 
über die Geſchicke unſeres Volkes mitberathen und mitbeſchließen ſoll. 

Alſo Ausſchluß der Organe der infallibiliſtiſchen Kirche!’ Aber 
geſtützt auf melden Rechtstitel? Etwa wegen ihrer Eigenſchaft als 
Geiſtliche? Sollen alſo die liberal-katholiſchen und proteftantifchen Geiſt⸗ 
lichen, die doch meiſtens gute Schweizer und gute‘ Republikaner ſind, 
auch darunter leiden, daß ſie zufälliger — mit —— die —— 
als Geiftlide gemein Haben? Ὁ 


EN a 


Der Ausſchluß des ultramontanen Klerus muß verlangt werden 
von einem höhern nationalen Geſichtspunkte aus.’ Kein 
Schweizerbürger ſoll wählbar jein in. den Nationaltath, der zu einer 
fremden — weltlichen oder geiftlihben — Macht in eimem 
direkten und äußern Abhängigkleitsperhältniffe fteht. 

WVon dieſem Geſichtspunkte aus ſind alſo ausgeſchloſſen nicht nur 
die Organe Roms, ſondern auch die weltlichen Vertreter fremder Mächte 
(wie z. B. die Vertreter fremder, mächtiger Aktiengeſellſchaften oder die 
Konſulen fremder Staaten). Es iſt gar wohl: denkbar, daß feiner Zeit 
auch ‚Die, rothe Internationale, wieder, zu, einer jtaatsgefährlichen ar 
wird, jo. daß auch der Aal ihrer Organe — — 


Der —— hat ſeine Bedeutung nicht nur als 
Kammer, ſondern ganz beſonders noch als Vertretung der Stände, wie 
ſie num einmal in der Schweiz, hiſtoriſch geworden find. led 

Diefe Ständenertretung iſt durchaus feine nothwendige Folge des 
Zweikammerſyſtems. Wohl iſt der Senat der amerikaniſchen Union zu— 
gleich zweite Kammer und: zugleich, Vertreter der einzelnen: Staaten. 
Aber man verxgeſſe nicht, daß in jedem, einzelnen, Staate der Union 
ebenfallS zwei Kammern beſtehen, die fich lediglich, dadurch von einander 
unterjcheiden, ‚daß. die Mitglieder des Senates aus größeren Wahlkreiſen 
und für, eine längere Amtsdauer gewählt find, und. ein: höheres Alter 
haben müſſen, als die Mitglieder. des NRepräfentantenhaufes. si 

Obgleich alſo die Schweiz, aller. Vorzüge des Zweikammerſyſtems 
auch ohne fürmliche Ständevertretung theilhaſtig ſein könnte, jo fällt‘ es 
mir gleihmwohl nicht ein, an der Bedeutung des Ständerathes als 
Ständevertretung irgendwie rütteln zu wollen. Die Aufhebung der 
Ständevertretung in den eidgenöſſiſchen Räthen wäre allerdings: ‚ein 
Uebergang zum; Einheitsftaate,: den feiner von sung will. / 

Das Einzige, was ich vorjchlagen möchte, beftünde darin, dag 
ſchreiende Mißverhältniß in der Vertretung: der einzelnen Kantone ein 
wenig auszugleichen. Unſer Volk begreift jehr viel; aber nie wird 68 
‚begreifen, warum ‚der ‚Kanton Uri im Ständerathe: foviel Vertreter haben 
joll, wie. die Kantone, Zirih, Bern, Waadt, und warum ein Urner ſo 
ſchwer iu's Gewicht: fallen. ſoll, wie 40. Berner; noch weniger wird es 
begreifen, warum die bevölkerten Halbkantone Baſelſtadt und Appen- 


— 70 — 


zell A.-Rh., mit ihrer Summe von Intelligenz, Bildung und Reichthum, 
im Ständerath nur einen, Uri dagegen zwei Vertreter haben fol. 

Ich glaube, im meitaus größten Theile der Schweiz märe eine 
etwelche Ausgleihung dieſes Mißverhältniffes jehr populär. Wenn man 
3. D. feitjegen würde, daß jeder Kanton mit einer Bevölkerung von 
weniger als 20,000 Seelen nur einen, jeder Kanton mit einer: Be- 
völferung von 20,000—50,000 Seelen zwei, jeder Kanton mit "einer 
Bevölkerung von 50,000—150,000 Seelen drei, und endlich jeder Kan— 
ton mit einer Bevölferung von 150,000 und mehr Seelen vier Ab- 
geordnete in den. Ständerath zu wählen habe, und daß die Halbfantone 
wie Kantone zu betrachten jeien, mit der Einjchränfung, daß fein Halb- 
fanton mehr als zwei Abgeordnete wählen könne, jo erhielte man, ftatt 
eines Ständerathes von 44, einen ſolchen von 65 Mitgliedern. 

ie Kantone wären folgendermaßen vertreten: Züri, Bern, 

St. Gallen, Yargau, Waadt mit vier, Graubünden, Teſſin, Wallis, Luzern, 
Freiburg, Solothurn, Thurgau, Neuenburg und Genf mit drei, Schwyz, 
Glarus, Bajelftadt, Bajelland, Zug, Schaffhaufen, Appenzell A.-Rh. 
mit zwei, Uri, Obmwalden, Nidwalden, Appenzell J.«Rh. mit einem 
Abgeordneten. Oder man könnte, ftatt vier, nur drei Kategorien machen 
und ſämmtlichen Kantonen und Halbfantonen mit einer Bevölkerung 
bis 21. 50,000 Seelen zwei Abgeordnete laſſen. In dieſem Falle er- 
hielte der Ständerath eine Stärke von 69 Mitgliedern. Würde durch 
eine ſolche Ausgleichung des beftehenden Mißverhältniffes die Kraft und 
das Anſehen unferer zweiten Kammer nicht verdoppelt und dadurch 
indireft auch * ἜΗΝ der Kantone wieder gehoben ? 


Art: 71. Wahlfähig als Mitglied des Nationalrathes i — 
ſtimmberechtigte Schweizerbürger, der zu feiner fremden — geiſtlichen 
oder weltlichen — Macht in einem direkten und re Abhängigfeit3- 
verhaltniſſe ſteht. 

Art. 76. Der Ständerat) beiteht aus den ——— der 
Kantone. 

Kantone mit einer Bebollerung⸗ don weniger als 20, 000 Seelen 
wählen einen Abgeordneten, Kantone mit einer Bevölkerung bon 
20,000 — 50,000 Seelen zivei Abgeordnete, Kantone mit einer Be- 
völferung von 50,000— 150,000 Seelen drei Abgeordnete und Kantone 


———— 

mit einer Bevölkerung von 150,000 und mehr Seelen vier Abgeordnete 
in den Ständerath. 

Die Halbkantone find mie Kantone zu halten, mit der Ein- 
Ihränfung , daß Fein Halbfanton mehr als 2 Abgeordnete wählen darf. 

Art. 87 (Zufag). In Zeiten der Gefahr ἐπι εἶδος die vereinigte 
Bundesperfammlung überdieß jede Frage, über welche fi) der National- 
rath und der Ständerath nicht einigen fünnen und welche von ihr auf 
den Antrag eines der beiden Käthe für dringlich erflärt worden ift. 


In Gruppen oder Globo? 


In den gefeßgebenden Behörden ift jede gruppen= oder artifelmeije 
Abftimmung nur eine eventuelle und wird ſchließlich immer πο über 
daS, aus der gruppen- oder artifelweifen Berathung und Abftimmung 
hervorgegangene Refultat in globo abgeftimmt. 

Wäre die nicht zu kompliziert, müßte demgemäß auch jede gruppen- 
weile Bolfsabftimmung den Charakter einer eventuellen Abſtimmung haben. 
Sonſt läuft man Gefahr, den Bolfswillen zu fälſchen. 

Alſo Schon aus diefem Grund ift die gruppentveije Abſtimmung 
verwerflich. Sie kann auch ſchlechterdings nur vom Opportunitätsſtand— 
punkt aus verfochten werden. Man hofft, durch dieſelbe wenigſtens Etwas, 
wengſtens den Kirchenartikel, unter Dach bringen zu können. 

Aber ihr Klugen, ihr täuſcht euch gewaltig! Ihr vergeßt, daß 
die gleichzeitige Vorlage mehrerer Materien die Maſſe des Volkes ſtets 
verwirrt, ſtets unjhlüffig und mißtrauiſch macht. Ihr vergekt, daß ihr 
dur die Zerlegung des Revifionsmwerfes in verjchiedene Gruppen der 
Revifionsbewegung ihren hauptſächlichſten Impuls entzieht! Ihr ver- 
gebt, daß ihr einen mächtigen Strom in kleine Bächlein zerlegt und 
diefen Strom jeiner unmiderftehlichen Kraft vollftändig beraubt. 

MWagt ihr es nicht, euch für die Globo-Abftimmung zu entjcheiden, 
jo gebt ung menigftens Eins: die ſucceſſive Abftimmung 
über die einzelnen Materien. Zuerft Militär und Finanzen, 
oder Schule und Kirche, und dann. fucceffive die anderen Gruppen. 
Aber dem Bolfe immer nur Eine Borlage, Ein Ja oder Ein Nein! 

Gebt ihr uns diefe fucceffive Abftimmung, jo ift e$ immer πο 
möglich, daß die Revifionspartei beifammen bleibt und am Kampftag als 
geſchloſſene Phalanx aufmarſchirt. Gebt ihr uns aber die gleichzeitige 


Abftimmung über die verjchiedenen Gruppen, jo übernehmet auch die 
ganze Berantiwortlichkeit, wenn durch dieſen Keil die Reviſionspartei ſollte 
auseinander geſprengt werden. 

Doch, wie ihr uns die Sache vorlegt, iſt am Ende nicht ſo 
wichtig, als was ihr uns vorlegt. Iſt der Inhalt des Reviſionswerkes 
gut, entſchieden gut, ſo hoffe ich, es werde auch bei der gruppenweiſen 
Abſtimmung jeder Reviſionsfreund dazu ſtimmen. 

Allein das Schiff der Reviſion, das noch dieſen Sommer mit ge— 
ſchwellten Segeln luſtig und geraden Wegs ſeinem Ziele zuſteuerte, iſt 
ſeither durch das Laviren der beiden Kommiſſionen in bedenkliches Fahr— 
waſſer gerathen. Nur wenn ſich die Räthe ſelbſt mit aller Macht aus 
dieſem Fahrwaſſer wieder herausarbeiten, kann der ſonſt unvermeidliche 

Schiffbruch vermieden werden. 

Zum Militärartikel der nationalräthlichen und zum Rechtsartikel 
der ſtänderäthlichen Kommiſſion wird die Linke der Reviſionspartei nie 
ihre Zuſtimmung geben. Unſer Minimum ſind hier die Anträge des 
Bundesrathes. Bevor wir in unſere neue Wohnung einziehen, wollen wir 
wiſſen, ob dieſelbe wohnlicher iſt, als die alte. Unſere liebe, aber ſehr 
ſchadhafte Bundesverfaſſung von 1848 wollen wir nur gegen etwas 
Beſſeres, nicht gegen Flickwerk vertauſchen. 

Darum — caveant Consules! Gebt uns Brod, nicht Steine! 


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