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Full text of "Die chinesische Dichtung"

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AKTES SCIENTIA VER1TAS 



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DIE LITE RATUR 

SAMMLUNG ILLUSTRIERTER 

EINZELDARSTELLUNGEN 

HERAUSGEGEBEN VON 

GEORG BRANDES 



V1ERUNDDRE1SS1GST1ER BAND 




Published September 2p, ipo8. 
Pnvilege of Copyright in fhe 
United States reserved under tbe 
act approved Marcb j, tpo^ by 
Marquardt er Co. Berlin 



CHINESISCHE I.,i\ü!<CH.lFT 



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ZUR EINFÜHRUNG 




iE MEHÄ UNS GELEHRTEN- 
fleiß und Liebhabereifer die Literaturen 
des alten Orients erschließen wird, um 
so deutlicher wird es werden, daß wir 
auch die Völker jener Zeiten nicht als 
unter sich abgeschlossen betrachten 
dttrfen; ein großer Kulturstrom flutet 
zwischen dem Westen und Osten und 
macht wechselnd dieses oder jenes Land besonders frucht- 
bar. Die Schranke, die das biblische Volk von den anderen 
Völkern trennte, ist nun auch fttr die Laien gefallen und 
ebenso wird die chinesische Mauer fallen mttssen und der 
zukünftige Forscher, der das ganze Gebiet umfaßt, wird 
in der asiatischen Kultur eine Gesamtheit, eine große Ein- 
heit sehen, deren Entwicklung so organisch ist, wie das 
Wachsen alles Lebendigen. In unseren Tagen freilich gilt 
es noch, die einzelnen Bausteine zusammenzutragen und aus 
ihnen vor dem geistigen Auge, das ein Idealbild vor sich 
hat, ein Bauwerk erstehn zu lassen, wie es der Wirklich- 
keit nicht allzu unShnlich sein mag. Noch ist die Kenntnis 
des Chinesischen auf eine verschwindend kleine Zahl von 
Forschem beschrSnkt» und so gewaltig und bewundernswert 
auch ihre Leistungen sein mögen, so widmen sich doch 
die meisten nur einigen gewissen Perioden und besonderen 
Gebieten. Die sog. „Klassischen Bacher" haben in Europa 
eingehendste Interpreten und vortreffliche Dolmetscher ge- 
funden, ebenso eine Reihe konfuzianischer und buddhisti- 
BJ{jnSfDZS: 'DTE LJTEJiJfTVJi, BATiD XX2CIY A 



OTTO JtJlVSWi 



scher Schriften, aber die chinesische Literatur wurde nur 
in Rudimenten bekannt. Und doch ist kaum Irgend ein 
Volk so literarisch im buchstäblichen Sinne wie das chine- 
sische. Seit den ältesten Zeiten besitzt es eine Schrift, 
die, aus Hieroglyphen erweitert. Im wesentlichen noch heute 
die gleiche ist und es durch ihren noch immer hieroglyphi- 
schen Charakter möglich macht, daß der Gebildete — und 
das Ist der Schriftkundige — alle Denkmäler seiner Sprache 
ohne nennenswerte Schwierigkeit lesen und verstehn kann, 
während dem Deutschen schon das Mittelhochdeutsche 
Mtthe macht und das Althochdeutsche und Gotische bereits 
unverständliche fremde Sprachen sind. Eben jener hiero- 
glyphische Charakter der Schrift bringt es mit sich, daß 
der Unterschied der Dialekte, der sonst ein Vierhundert- 
millionenvolk in zahlreiche Völkerschaften zerspalten hätte, 
sich weiter nicht geltend macht, ja, daß auch fremde Na- 
tionen, die sich ihrer bedienen lernten, wie die Koreaner 
und Japaner, alle chinesischen Werke verstehn können, 
wenn sie sie auch in ihrer Sprache zu lesen gewohnt sind. 
Und auch für sie hat die chinesische Literatur ihre nor- 
mative Bedeutung. Mit Bezug hierauf konnte das Chi- 
nesische das Lateinische des Ostens genannt werden. Die 
Parallele Ist nicht unbedingt abzuweisen, wenn man bedenkt, 
eine wie große Rolle das Lateinische noch vor hundert 
Jahren Im internationalen Gelehrtenverkehr spielte und daß 
es noch heute die hochoffizielle Sprache der Universitäten, 
ja teilweise noch ihre Unterrichtssprache Ist. Trotzdem aber 
wurde oft genug das Chinesische als eine rückständige 
Sprache bezeichnet, ja ihrer Einsilbigkeit wegen ihr Unkultur 
vorgeworfen. Inwiefern das Chinesische wirklich eine ein- 
silbige Sprache Ist und war, wird von den Forschern noch 
zu entscheiden sein. Jedenfalls ist der Engländer, wenn er 
in Sätzen wie „1 will go" Begriff nach Begriff setzt, ohne 



CTiJMESISCTiE DJCTiTUMG ^ 



irgendwelche Verbindung dazwischen, bereits ebensoweit 
wie der Chinese, andrerseits aber benötigt das Chine- 
sische sehr oft zweier und mehrerer Silben, um einen 
Begriff zu bezeichnen, was zu zwei- und mehrsilbigen Worten 
im Sinne unserer Worte „Muh-sal", „Lehr- er" usw. führt. 
In der Tat lebt das Chinesische nicht anders als jede andere 
Sprache, einzig ihre Schrift bleibt unveränderlich dieselbe. 
Dies aber war, wie erwähnt, für das Schrifttum als stets 
lebendige Kraft nur zum Vorteil. 

Wer eine Reihe von Literaturen kennen gelernt hat, wird 
alsbald in den verwendeten Metren mehr sehen als nur ein 
mathematisches Spiel mit den Möglichkeiten der Silben- 
verteilung. Die Prosodie ist mit ein Charakteristikon für 
die Höhe der künstlerischen Verfeinerung. Und da zeigt 
sich denn das Chinesische allen übrigen großen alten Litera- 
turen völlig ebenbürtig, vielleicht der Zeit nacl^ voraus. Bis in 
die älteste Zeit läßt sich Reim und Silbenmaß verfolgen 
und wenn man auch nicht die uns aus grauester Vorzeit 
überlieferten Verse als echt anerkennt, so reichen doch 
selbst aus dem Schi-king einige Lieder noch in das zwölfte 
vorchristliche Jahrhundert und höher hinauf. Aber auch 
hier zeigt sich die Metrik schon so bemerkenswert aus- 
gebildet, daß die spätere Entwicklung in formeller Hin- 
sicht nur mehr wenige Fortschritte bringen konnte. Ver- 
wunderlich muß es sein, schon in so früher Zeit das Gha sei 
als Hauptform der chinesischen Gedichte zu finden. Unter 
jenen ältesten Versen, die uns das Schu-king überliefert, 
den „Liedern der fünf Prinzen", Rügelieder auf den Kaiser 
Tai Kang (2188 — 2160 v.Chr.), lautet das des zweiten in 
vereinfachter Transkription: 



Nei tse sse huang 
wai tse kin huang. 



OTTO TtJJUSWj 



kan tsien schi yin, 
tsin yü tiao tsiang, 

ycn yih yü tsc, 
wei huo pu wang. 



Zu deutsch: 



Wer daheim nur sucht Behagen, 
Draußen sich ergötzt am Jagen, 

Schlösser baut und Wände schmückt. 
Trinken h'ebt und Saitenschlagen, 

Wer nur dieser Lüste pflegt. 
Muß die üblen Folgen tragen. 

Also ein Ghasel, wie man es aus Platen und Rückert 
kennt. Auf die gleiche Grundform lassen sich die meisten 
Strophen der Schi -king- Lieder zurückführen und wo das 
Reimschema auffallend gestört erscheint, mag der Text 
verunstaltet oder die Aussprache verändert sein. Später 
kommt das Ghasel fast zur Alleinherrschaft, und so mag 
es wohl nicht undenkbar sein, daß die arabischen SchifP- 
fahrer aus vormohammedanischer Zeit bei ihren Aufent- 
halten in China, von denen berichtet wird, sie ebenso 
poesiebeflissen, wie China gerade damals aufs höchste lite- 
rarisch, die Ghasel form kennen lernten und mit in ihre 

Heimat brachten und auch der aus dem Arabischen nicht 
abzuleitende Name könnte eine Umbildung aus dem Chine- 
sischen sein, wo ko und sse Bezeichnungen für „Gedicht" 
sind, mit angehängter Bildungsilbe rl. Es wäre dies 
eines jener Momente, das eine Wechselwirkung der Kul- 
turen schon in so alter Zeit bezeugte, da Arabien der Welt 
noch nicht den Islam gegeben hatte. Das Reimschema 
bleibt durch die ganze chinesische Literatur dasselbe, nur 
die Zahl der Silben ist der poetischen Mode unterworfen 
und ist bald drei, bald fünf, bald sieben, nur ausnahms- 



CHmESJSCJtE DlCnTUJ^G 



weise sechs oder neun; reimlose Gedichte in freien Rhythmen 
sind sehen, wenig häufig auch solche, in denen die Zeilen 
verschiedene jener stereotypen Silbenmaße haben; eine 
Strophenbildung in unserem Sinne kommt bald nur mehr 
in der Volksdichtung vor, aber der Vierzeiler gewinnt große 
Beliebtheit, wie ebenso auch in der persischen Lyrik, die 
von Arabien die Ghaselform ttbernahm. Obwohl nun das 
Chinesische eine einsilbige Sprache ist, verwenden die 
künstlicheren Dichter einer verfeinerten Zeit doch eine 
große Sorgfalt auf den Rhythmus, der sich hier naturgemäß 
mehr auf die Worte als Satzteile, denn als Silben bezieht, 
vermeiden zwei gleichtonige Worte zusammenstoßen zu 
lassen und suchen melodische Wirkung. In der Tat wird 
der chinesische Vers ja auch nicht gesprochen, sondern mit 
halber Sangstimme deklamiert. In meinen Übertragungen, 
die, soweit nicht anders bemerkt, durchwegs auf den chine- 
sischen Text zurfickgehn, habe ich das Versmaß insoweit 
bewahrt, daß ich für jeden Versfuß im Chinesischen (hier 
Monopodien) einen deutschen (Trochäus oder Jambus) 
setzte, wie es das kleine Rfigelied des Prinzen dem Original 
gegenüber veranschaulicht und wie dies auch Viktor von 
Strauß in seiner Schi -king- Übertragung tat, nur habe ich 
nicht, wie er, durchwegs das Reimschema bewahrt, sondern 
die Distichen der Ghasele einfach paarig gereimt, wie 
gleicherweise Rückert die arabischen Ghaselen der Ha- 
mas« zumeist in solchen Reimpaaren übertrug, um sich näher 
an den Text anschließen zu können. Dies war auch mir 
das wichtigste; denn gerade hierin liegt die hauptsächlichste 
Versündigung der meisten bisherigen Dolmetscher, der 
französischen zumal. Fast alle paraphrasieren die chine- 
sischen Gedichte und rauben ihnen dadurch ihren besten 
Reiz: die bewundernswerte Prägnanz des Ausdruckes, worin 
ihre eigenartige klare, scharf umrissene Schönheit liegt und 



OTTO TtJlUSEJi 



die mit den nur melodischen 'Wortklingeleien einer eben 
modernen hierländischen Lyrik auf das angenehmste kon- 
trastiert. Durch diesen genauen Anschluß an die Originale 
tritt auch noch ein anderes Kunstmittel der chinesischen 
Poesie aller Zeiten deutlich hervor: jener parallelismus 
membrorum, den man aus den biblischen Psalmen und ihren 
babylonischen Urbildern kennt. Er mag^ die Grundform 
der Poesie des alten Asien gewesen sein; die chinesische 
Dichtung, die Veden, Babylon und Juda weisen auf ihn 
zurück, und auch uns ward er durch die hohe Bedeutung, 
die das Alte Testament für uns gewann, vertraut und ge- 
läufig, er gleichfalls ein Zeugnis für die große Einheitlich- 
keit der Kulturbewegung, für die Wechselbeziehungen der 
Völker untereinander. 



KV FV TSE (KOSFIV.IVS) 




DAS SCHI-KING 

KONFUZIUS UND LAO TSE 

ONFUZIUS (S5 1 —479 v- Chr.), DIESE 
echteste Inkarnation des Chinesentums 
seiner Zeit, da sich noch keine indi- 
schen oder mongolischen EinflQsse in 
dem „Blumengarten der Mitte" rich- 
tungändernd bemerkbar gemacht hatten, 
gilt auch als Sammler des kanonischen 
Liederbuchs, das die Basis der chine- 
sischen Dichtung bildet. Aber er war wohl nur 
sein Redaktor wie ähnlich des Schu-king, des 
kanonischen Historienbuchs, zu denen als weitere 
kanonische Bücher noch das dunkel-spielerische 
Yih-king, das Li-ki, den Sitten und Gebräuchen 
gewidmet, und das Tschun-tsiu, „Frühling und 
Herbst^% eine Chronik des Staates Lu, kommen, 
letztere nach Wilhelm Grubes wertvollen Unter- 
suchungen*) zusamt mit ihrem Kommentar das einzige uns 
überkommene eigene Werk des Konfuzius. Es 
mag hier doch erwähnt sein, wie allgemeines 
Aufsehen es machte, als eben in der günstigen 
Zeit des Rationalismus Europa mit dem chine- 
sischen Philosophen, der seine Weisheit vom Tage 
um mehr als zwei Jahrtausende vorausgenommen, 
bekannt wurde. Um seinetwillen hieß König Fried- 
rich Wilhelm 1. von Preußen auf theologische An- 
schwärzung hin den hall i sehen Vernunftphilosophen 
Christian WblfP binnen achtundvierzig Stunden 

*) „Geschichte der chinesischen Literatur", Leipzig, C. 
F. Amelang. 1902. 



Schi- 





Kung 
Fu 



Tsc 



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OTTO JiJllfSEJ{ 



Lao 
Tse 




Tao- 



,,bei Strafe des Stranges" seine Lande verlassen. Ein anderer 
Theolog, Viktor von Strauß, machte hundertfünfzig Jahre 
spSter jene Verleumdung wieder gut, indem er das Schi-king 
nach dem Originale sorgfältig ins Deutsche fibertrug (Heidel- 
berg, Carl Winter, 1 880). Ein Menschenalter vor Konfuzius 
lebte und lehrte Lao Tse (geb. 604), sein Gegenpol und 
Ausgangspunkt einer anderen, ffir die Poesie 
ungleich fruchtbareren Bewegung. Konfuzius 
ist der Rationalist, der Philosoph des gesunden 
Menschenverstandes, der ja sehr wohl mit Liebe 
zur Dichtkunst vereint sein kann, Lao Tse der 
Mystiker, der in seiner Lehre vom Weg (Tao 
und daher Taoismus) , den allein der Mensch zu 
wandeln habe, in eigentfimlicher Weise an Christi 
Wort: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben" 
gemahnt; und auch der Buddhismus kennt diesen „einzigen 
Weg". Ffir Lao Tse und seine Anhänger ist alles lebendig* 
Himmel und Erde von Geister scharen erffillt, 
alles voll mystischen Beziehungen, geheimnisvollen 
Rätseln. In China ist das Tao-teh-king, das 
wohl auf seine eigenen Aussprüche zurückgeht 
wie die Jesuworte der Evangelien auf Jesu Reden, 
ohne von ihm selbst geschrieben zu sein, dieses 
„Buch vom wahren Weg", Prototyp unendlicher 
Deutbarkeit, seit Jahrhunderten in Vergessenheit 
geraten; aber den Dichtern der Tang -Periode 
war, wie schon hier betont sein mag, der Taoismus 
vielfach Quelle dichterischer Symbole und Vor- 
stellungen, auch wohl Zuflucht ffir ein von derWirklichkeit ver- 
letztes Gemfit. Alexander Ular hat das Tao-teh-king „der chi- 
nesischen Urschrift des Lao-tse in deutscher Sprache nachge- 
dacht", wie er sich ausdrückt (Leipzig, Insel -Verlag, 1903), 
nachdem Viktor von Strauß bereits eine dagegen noch ziem- 




MEXÜ TSE 



CmTiESlSCHE DJCfiTUTiG 



I 



lieh nüchterne Wiedergabe veröffentlicht und Stanishs Julien 
und James Legge das Buch den Franzosen und Engländern 
vermittelt hatten. Die Nachrichten über Lao Tse sind sehr 
spärlich. „Niemand weiß, wo er geendet"« sagt der älteste 
biographische Abriß von ihm« die Folgezeit ließ ihn kurz 
nach Vollendung seines Buches auf einem schwarzen Bullen 
I gen Himmel reiten und für immer verschwinden. Einen 

Drachen« von dem er nicht weiß« wie er auf Wind und 
Wolken dahinfahren und zum Himmel auffliegen kann« soll 
ihn Konfuzius nach ihrer legendarischen Begegnung ge- 
nannt haben. Konfuzianismus und Taoismus sind bis in das 
erste Jahrhundert der nachchristlichen Ära für das chi- 
nesische Geistesleben bestimmend« jener für die Masse« 
dieser für die Einzelnen. Wie dann der Taoismus in seiner 
Veräußerlichung zu bloßem phantastischen Geisterdienst 
Volksreligion wird« ist eine Geschichte für sich. 

Es ist schon gesagt worden« daß Konfuzius nur der 
Redaktor des Schi-king ist« nicht sein Sammler« noch 
weniger Dichter einzelner Lieder. Wunderbar genug ist 
die Geschichte des Schi-king an und für sich. AJs der 
berüchtigte Schi Hoang Ti« um die Einheit des von ihm 
begründeten Großreiches mit Gewalt zu befestigen« alle 
Chroniken« Geschichts- und Liederbücher der einzelnen 
Staaten verbrennen ließ (213 v.Chr.)« stand auch das Schi- 
king auf dem Index. Und wirklich sollen alle Exemplare 
der Sammlung verbrannt worden sein. Aber nach dem 
Sturze seiner Herrschaft« als die Han-Dynastie wieder die 
Restauration durchführte« fanden sich genug Leute« die das 
Schi-king noch auswendig konnten« und so wurde aus ihrem 
Munde die Sammlung im genauen ursprünglichen Wort- 
laute neu aufgezeichnet. Ganz unmöglich ist dies nicht« da 
man doch in Indien noch heute Leute findet« die den 
ganzen Veda auswendig können« und auch Vuk Stefanovitsch 



10 OTTO TiJJUSEJi 



Karadschitsch noch vor weniger als hundert Jahren von scr- 
bischen Quslaren Tausende von Versen rezitieren hörte und 
so der Welt die Lieder von Marko dem Königssohn und dem 
Zaren Lazar retten konnte, aber wahrscheinlicher mag es 
doch sein, daß auch noch etliche Handschriften erhalten ge- 
blieben und von dem Forschereifer der Altertumsfreunde jenes 
Rinascimento aufgefunden worden waren. 

In Rfickerts Werken findet man auch eine Nachdichtung 
des Schi-king, der die lateinische Obersetzung des Pater 
Lacharme, um 1 733 verfertigt, 1 830 von Julius Mohl heraus- 
gegeben, zugrunde liegt; RQckert selbst verstand nicht 
Chinesisch. So mangelhaft nun notgedrungen diese Ober- 
tragungen trotz ihrer oft recht gelungenen Form sein 
müssen, so ist doch durch sie das Schi-king dem Bestände 
unserer Weltliteratur dauernd eingereiht. Viktor von Strauß 
konnte sie durch seine Nachdichtungen, um wie vieles text- 
gerechter sie auch sind, nicht verdrängen. 

Das Schi-king umfaßt alle möglichen Lebensverhältnisse 
der alten Zeit. Wir hören die Wegerichpflückerinnen bei 
ihrer Arbeit singen, lesen von kühnen Jägern, die unglaub- 
liche Beute erlegten, von mühseliger Feldwirtschaft und 
heiteren ländlichen Festen, da Männer und Frauen am Ufer 
des Wei lustwandeln und sich unter Scherzen mit Chrysan- 
themen und Pauschelrosen beschenken. Auswandererklagen 
aus Zeiten der schweren Not, Beamtenklagen über Zurück- 
setzung und Verleumdung, Klagen liebender Ehefrauen, 
die ihres ferne weilenden Gemahles Rückkunft ersehnen, 
geben ganzen Abschnitten einen elegischen Ton. Dann 
wieder blühen liebliche Scherzlieder unvermutet zwischen 
politisch kommentierten Versen auf und erfreuen durch 
ihre Ungezwungenheit und Keuschheit. Ich zitiere eines, 
das Viktor von Strauß „Mädchenbitte" überschreibt, in 
seiner Verdeutschung: 



CTtmESISCJiE DICJiTUJ^G II 



Ich bitte, Tschung Tse, höre michl 
Steig' nicht in unser Dörfchen her. 
Zerbrich nicht unsre Weidenpflanzen mehrl 
Wie wagt' ich es und liebte Dich? 
Vor meinen Eltern furcht' ich mich. 
Du, Tschung, magst mir im Sinne sein; 
Doch vor der beiden Eltern Reden 
Darf ich der Furcht wohl inne sein. 

Ich bitte, IschungTse, höre michl 
Steig' über unsern Wall nicht wieder. 
Brich nicht die Maulbeerpflanzen nieder I 
Wie wagt' ich es und liebte Dich? 
Ich fürchte meine älter n Brüder. 
Du, Tschung, magst mir im Sinne sein; 
Doch vor der Sltem Brüder Reden 
Darf ich der Furcht wohl inne sein. 

Ich bitte, Tschung Tse, höre michl 

Steig' nicht durch unsern Gartenzaun, < 

Brich nicht die Sandelpflanzen, die wir baunl 

Wie wagt' ich es und liebte Dich? 

Der Leute Reden furcht' ich, die es schaun. 

Du, Tschung, magst mir im Sinne sein; 

Doch vor der Leute vielen Reden 

Darf ich der Furcht wohl inne sein. 

Dieses Gedicht ist zugleich ein Beispiel für die im Schi- 
king beliebte Form der Variation, die es nicht bezweifeln 
laßt, daß diese Lieder für den Gesang bestimmt waren 
und wohl mit der Melodie zugleich entstanden sind. 

Ein „Wink zur Werbung" geht von einer Witwe aus, 
die in ungewissen Zeitläuften, da oftmals die Eheleute von- 
einander gerissen wurden, einen Witwer sieht, den sie mit 
Rock, Gurt und Gewand ausstaffieren möchte: 



J2 OTTO TtJlUSEJi 

Es geht ein Fuchs so ganz allein 
Und ist am Ki-Fluß auf dem Block. 
Und meines Herzens Kummer ist: 
Der gute Herr hat keinen Rock. 

Es geht ein Fuchs so ganz allein. 
Und ist am Ki-FIuß auf der Furt. 
Und meines Herzens Kummer ist: 
Der gute Herr hat keinen Gurt. 

Es geht ein Fuchs so ganz allein. 
Und ist am Ki-Fluß auf dem Strand. 
Und meines Herzens Kummer ist: 
Der gute Herr hat kein Gewand. 

(Viktor von Strauß.) 

Eine Ungeduldige mahnt ihre Freier: 

Geschüttelt sind die Pflaumen, 
Und übrig sind nur sieben, ol 
Die ihr mich wollt, ihr jungen Herrn, 
Jetzt ist die Zeit zum Lieben, ol 

Geschüttelt sind die Pflaumen, 
Und übrig sind noch dreie, ol 
Die ihr mich wollt, ihr jungen Herrn, 
Jetzt ist es an der Reihe, ol 

Geschüttelt sind die Pflaumen, 
Und all in vollen Körben da. 
Die ihr mich wollt, ihr jungen Herrn, 
Jetzt ist die Zeit zum "Werben da. 

(Viktor von Strauß.) 

Der Liebste bietet seiner Herztrauten Rubinen für 
Melonenbaumfrüchte, Diamanten für Pfirsiche, Saphire für 
Pflaumen; das Tagelied eines fürstlichen Paares erinnert an 



CftmESISCHE BlCTtTVT^G 



das berühmte «»Es ist die Nachtigall und nicht die Lerche" ; 
ein schüchternes MSdchen bittet den schönen jSger, es ja 
nicht anzurühren und achtzugeben, daß ihr Hündlein — 
nicht belle (Goethes ,, Verschiedene Drohung"). Oberall 
trifft man auf schelmische Züge, wie sie sich in der spä- 
teren chinesischen Dichtkunst nur mehr selten finden. Von 
den Kriegsbeschwerden, den Beamtensorgen erzählen andere 
Lieder, den größten Raum nehmen die zu Festen gedichte- 
ten ein, die uns das Vermählungs-, das Beamteneinffihrungs-, 
das Opferzeremoniale jener Tage zeigen und wenn auch kein 
poetisches, so doch ein kulturhistorisches Interesse haben. 
Konfuzius legte seinen Schülern nach dem Lun-yü, das 
von seinem Wirken berichtet, des öfteren das Studium 
des Schi-king ans Herz; er meinte damit wohl gewiß 
nicht, daß man die Lieder bis ins Unendliche kommen- 
tieren und in den einfachsten Worten politische Be- 
ziehungen oder nützliche Lehren aufdecken möchte, wie 
es dem beschränkten Gelehrtenverstande zufolge auch in 
China geschah, und so mag nun der Europäer bei der 
Lektüre dieser östlichsten Liederblüten mehr Genuß haben 
als der Chinese selbst, dem ihre Schönheit sich unter 
einem ebenso dichten Wust gelehrter Floskeln birgt, wie 
das Hohelied dem rabbinischen Juden. Und hier mag noch 
darauf hingewiesen sein, daß die Kanonisierung der Haupt- 
schriften des Alten Testaments, sowie die Sammlung der 
homerischen Gesänge in dieselbe Zeit fällt, wie die end- 
gültige Redaktion des Schi-king und des Schu-king und 
jener drei anderen Schriften, die für den Chinesen die Be- 
deutung einer Bibel haben, eines Fundaments der weiteren 
Literattnrentwicklung und die von Vorbildern, deren Größe 
für alle Zeiten unerreichbar bleibt. Und die Zeit Kung 
Fu Tses und Lao Tses und ihrer Schüler war zugleich die 
des Beginnes der griechischen Philosophie. 



KlÜ YÜAN UND DAS Ll-SAO 

DIE ELEGIEN VON T^U 

:HEN dem SCHl-KlNG UND 
ersten groSen Literaturbewegung 
ihm liegt eine Spanne von meh- 
Jahrhunderten, die durch viclfSI- 
politische Wirren und durch die 
E philosophttche Bellt igung ge- 
rn »utgefalh ertchefnen. Gerade- 
chts Poetische* ist uns au« dieser 
Periode Qberliefert, ohne daß wir darum ein vfillig amusi- 
sches Geschlecht anzunehmen brauchten, das Phantasie und 
SchBnheit nicht kannte oder leugnete. Kiü Yüan (333 bis 
395 V. Chr.), der erste Dichter der neuen Epoche, schreibt 
bereits in einem so hohen Stil, daß wir ihn ntnr als Voll- 
ender, nicht als Initiator ansehen kSnnen. Aber wie er 
nun ga« ohne Vorginger dasteht, wird er uns tum uner- 
l^_^^ warteten Phinomen, von dem ein Li Tai Po sehr 
wohl sagen konnte, daS es bis an den lichten Mond 
—-ä aufrage. In mehr als einer Beziehung erinnert 
^ ^ er uns an Dante, der ebenso plötzlich mit seiner 
IS gewaltigen Dichtung aus seinem Volke ersteht, der 
W* ebenso in ihr sein Verbanntenleid, seine Trauer 
um die Gegenwart und seine Hoffnung singt, aber 
die zeitgenSisische Parallele fQr ihn sind wohl die 
griechischen Tragiker und diehebrSischenPropheten,auchsie 
beide politische Dichter. KiOYllan war mit dem Herrscher- 
hauEc von Tsu verwandt und Ratgeber seines K&nigs Hoai 



CTtlMESISCHE BlCftTUT^G 




'VC^ang. Verleumdung aber brachte ihn in Ungnade und in 
der Verbannung schrieb er nun sein berühmtes 
Gedicht, das Lisao, ,Jn Ungemach verfallen" 
oder schlechthin „Der Verbannte" za über- 
setzen. Es schildert eine allegorische Wande- 
rung durch Erde und Himmel. Zu Beginne 
rühmt der Dichter sich seiner Tugenden, die ihn 
wie Blumen schmücken: 

Ich war an allem angebornen Adel reich. 
Verdoppelt* ihn durch Pflege jeder Kraft, 
Lilien pflückt' ich am Strand, Narzissen mir im Tal, 
Herbstorchideen reiht' ich zu Gürtelsteinen mir. 

Dem Strome gleich bangt' ich, mein Ziel nicht zu erreichen. 
Und fürchtete, die Jahre eilten mir voraus, 
Magnolien pflückt' ich morgens mir am Berge Pi, 
Und abends bracht' ic|||^von den Inseln Immergrün. 

Tagr und Monde fliehn und können nicht verweilfit 

Lenze und Herbste folgen sich in stetem Wechsel, 

Blüten flattern im Wind, der Bäume Blätter fallen — 
Schon wird es Abend; teures Wesen, kommst du nimmer? 

Noch auf der Jahre Höhe nicht, verlaß den Irrpfad doch 1 
Magst du dich nicht bekehren zu dem guten Brauch? 
Besteig das Roß, das wie der Wind dich trägt. 
Und komm auf meinen Pfad, den Pfad der alten Weisen! 

« 

Aber alle Mahnungen, die Kiü Yüan unter solchen Bil- 
dern an seinen König richtet, fruchten nichts, und verleum- 
det und nahe daran, seinem Leben selbst ein Ziel zu setzen, 
pilgert der Dichter zu dem Grabe des mythischen Kai^OEfi, 
Schun, um vielleicht dor( Erleuchtung zu finden. XXry^CunXzXj 
Tränen an dem Grabe knieend, wird ihm die Zuversicht, 
daß er recht gehandelt hat. Da jedoch fühlt er sich gen 



t 



l6 OTTO TiJJUSEJi 

Himmd erhoben, auf einem Drachenwagen fllhrt er durch 
die Lüfte, und nun enthüllen sich ihm Gesichte der Ver- 
gangenheit und Gegenwart: 

Den Sonnenlenker hieß ich mäßigen die Eile, 
Denn schon die Westhöhn sah ich, wo die Fahrt hingeht. 
Wie unermeßlich ist der Raum, wie weit die Bahnl 
Ich wollte ziehn und einen Weisen suchen. 

Im Teich des Untergangs ließ ich die Rosse trinken. 
Die Zügel band ich an den Baum des Aufgangs fest. 
Vom Leuchtbaum brach ich einen Zweig, der Sonne noch 
Und schweifte unstet hin und her. [zu wehren. 

Schon aber zog des Mondes Wagen mahnend auf. 
Im Rücken schwang der Gott des Windes seine Flügel: 
Ein Phönixpaar sprach vor für meine Bitte, 
Den Eingang aber wehrte mir der Donnergott. 

So herrscht auch im Himmel Neid und Mißgunst und 
der Redliche muß weiterziehn, um das „teure Wesen", wie 
er den gesuchten weisen König in seiner Sehnsucht nennt, 
anderswo zu suchen. Am anderen Morgen fliegt er zu 
den Unsterblichen auf dem Gebirge Ku-lun auf, ebenso 
vergeblich. Auch in das Schloß des östlichen Himmels- 
gottes zieht er, um da sich mit der Königin Fu, einer Tochter 
des mythischen Kaisers Fu Hi, die, im Flusse Lo ertrunken, 
zu einer Flußgöttin geworden war, als mit der Personifika- 
tion der nirgends auffindbaren Weisheit zu vermählen. Mit 
einem Korallengürtel kommt er, den er ihr als Werbe- 
geschenk bringen will — aber er findet sie nicht daheim 
und der Donnergott muß sie erst suchen gehn, und als 
»er sie gefunden, sieht der Dichter sie als ein stolzes hof- 
färtiges Weib und wendet sich abermals fort. Wieder in 
Unrast durch die Lande wandernd, befragt er die beiden 



CTtmESJSCHE mCHTUJMG ly 

Magier Ling Fen und Mu Hien und beide raten ihm, sei- 
ner Heimat den Rficken zu kehren und noch einmal die 
Fahrt zu wagen, in der Fremde werde er sein Glück finden. 
Trotz des Mißerfolges seiner ersten Fahrt schwingt er sich 
noch einmal zum Himmel auf, über das Kun-lun-Qebirge 
hinweg; doch die Götter erreicht er auch jetzt nicht und 
nur immer die Klänge der Vergangenheit hört er vor seinem 
Ohre rauschen. 

Bis an die Burg des Himmelskönigs hatt' ich mich erhoben. 
Da fielen meine Blicke wieder auf mein Vaterland. 
Der Lenker klagte: heimwärts sehnten sich die Rosse — , 
Heftig da schlug mein Herz und nimmer weiter mocht 

ich ziehn. 
Es folgt nun noch ein Epilog von fünf Zeilen: 

Zu Ende ging die Fahrt. 

Ach, keiner ist in diesem Land, der mich verstünde! 

Was trag' ich Sehnsucht dann nach diesem Lande noch? 

Ach keiner ist, der treulich es beriete. 

So wähle ich den Weg dahin, wo Peng Hien weilt. 

Und diesen Weg ging er in der Tat. Noch suchte er 
nach dem tragischen Ende Hoai Wangs auf den neuen 
König in seinem Sinne zu wirken, aber seine Feinde setzten 
es durch, daß er neuerdings verbannt ward. Mit wirrem 
Haar, so erzählt man, verhärmt und abgezehrt, sah ihn eines 
Tages ein Fischer an dem sumpfigen Ufer des Flusses Mi-lo 
umherirren, erkannte ihn und fragte ihn: „Herr, seid Ihr 
nicht ein Großwürdenträger aus einem der drei königlichen 
Geschlechter? Wie kommt Jhr hierher?" Kiü Yüan ant- 
wortete: „Die Welt ist in Schmutz versunken, ich allein 
bin rein; die Menschen alle sind trunken, ich allein bin 
klaren Sinnes. Dies ist der Grund, daß ich verbannt wurde." 
Der Fischer sagte hingegen: „Der Weise lehnt sich nicht 

BHATWES: DTE LJTEJi^TVJi, B^JVD XXXIV B 



l8 OTTO TiJJUSEJj 



gegen die Zeitverhältnisse auf, sondern paßt sich ihnen an. 
Wenn Ihr sagt, alle Welt sei in Schmutz versunken, warum 
wollt Ihr gegen den Strom schwimmen und ihn hell machen? 
Wenn alle Menschen trunken sind, warum trinket Ihr nicht 
mit ihnen, sondern begehret leichteren Trank? Warumhabt 
Ihr den Sinn auf allzu kostbare Kleinodien gerichtet, was 
Euch in Verbannung bringen mußte?" Darauf erwiderte 
Kiü YÜan: „Es ist, daß wer seine Kleider rein hält, auch 
seine Mütze abstäuben wird, und wer ein Bad genommen, 
wird nichts an sich unsauber lassen. Wie möchte es sein, 
daß meine Lauterkeit von all dem Unrat der Welt unbe- 
sudelt bliebe? Lieber will ich mich in die ewigen Fluten 
stürzen und in eines Fisches Bauch mein Grab finden. Wie 
brächte ich es auch je über mich, mein blendendes Weiß 
den Wirrnissen der Welt auszusetzen?" Und nachdem der 
Fischer gegangen war und er noch in einem Gedicht seiner 
Liebe zur Heimat Ausdruck gegeben hatte, nahm er einen 
Stein in die Arme und stürzte sich mit ihm in die Fluten 
des Mi-lo, wie einst auch Peng Hien aus Schmerz darüber, 
das Vertrauen seines Fürsten verloren zu haben, im Wasser 
den Tod suchte. Es war am fünften des fünften Monats, 
und alljährlich noch wird an diesem Tag auf den Flüssen 
das Drachenboot fest veranstaltet, dessen Grundgedanke ist, 
nach dem Leichnam des ertrunkenen Dichters zu suchen. 
Die Legende war bei der Überlieferung von Kiü Yüans 
Leben gewiß mit im Spiel ; Geburts- und Todesdatum passen 
nur schlecht mit den Ereignissen zusammen, denen das Li- 
sao seine Entstehung verdanken soll. Die Dichtung soll 
vor dem Jahre 3 1 1 geschrieben worden sein. Damals aber 
war Kiü Yüan erst kaum über zwanzig Jahre alt, während 
seine Stellung am Hofe gewiß ein weit höheres Alter an- 
nehmen läßt. Zudem steht die Dichtung ganz auf der 
Höhe einer gereiften Kunst. Sonst sind uns von Kiü Yüan 



CmMESISCTtE mchTyjMG tc^ 

noch neun OpfergesSnge erhalten, die er im Süden von Tsu« 
wohin er verbannt war, auf dort herrschende alte Beschwö- 
rungsgebrSuche schrieb; zwei andere Gedichte, eines auf 
den Tod von Kriegern in der Schlacht, das andere auf 
das Opfer, das man ihren Manen bringt, sind angefugt. 
Nach Giles und Pfizmaier*) übersetze ich das neunte Lied, 

DER BERGGEIST 

Mich dünkt, den Geist der Berge seh ich mir erscheinen^ 
Wistaria ist sein Kleid, Epheu sein Gurt, 
Lächelnd die Lippen, List in seinem Blick; 
Den roten Panther lenkt er, wilde Luchse hinter sich. 
Zurückgeneigt in seinem Wagen, Kassia seine Fahne, 
Sein Kleid von Orchideen, von Azaleen sein Gurt; 
Und seiner Blumen süßer Duft will nicht aus meinem Sinn 

entschwinden. 

Ich aber leb' in dunklem Bambushain, 

Kein Himmelslicht erblick' ich je. 

Der Weg hierher ist rauh und voller Fahr zu klimmen. 

Allein hier steh ich auf der Gipfelhöhe, 

Wolken zu meinen Füßen, Finsternis ringsum. 

Da weht ein linder Ostwind her und sanfter Regen sprüht 
Und meine Freude macht der Heimat mich vergessen: 
Nun meine Jahre Nacht bedeckt, wer dächte dort auch mein? 

Ich pflücke Lerchensporn am Hügelhang, 
Wo um die Felsen wilde Reben ranken. 

*} Giles, A History of Chinese Literature, London 1901« 
August Pfizmaier, „Das Li-sao und die neun Gesänge", in 
den Denkschriften der kaiserlichen Akademie der Wissen- 
schaften, Phil.-hist. Klasse, Wien 1852. 



20 



OTTO TfJlUSEJi 



Tu- 



Sung 



In meinem Schmerze denk' ich nicht der Heimfahrt mehr: 
Nun ich verbannt bin, wer mag mein gedenken? 

Ich trinke aus dem Felsenquell, wo breite Fichten schatten. 
Und ob er meiner auch gedenkt, bleibt nicht der Argwohn 

doch? 

Nun brüllt der Donner durch das Regenrauschen, 
Der Affen Klageschrei durchhaut die lange Nacht. 
Der Sturm braust durch die Bäume, die erstöhnen. 
Ich aber denk' an meinen Herrn und kann nicht wehren 

meinen Gram. 

Die Form all dieser Gedichte, wie das Li-sao selbst, 
erscheint nach der strengeren strophischen Gliederung der 
Schi-king- Lieder sehr frei und regellos, die 
Silbenzahl wird nicht beachtet, der Reim will- 
kürlich angewendet oder fallen gelassen; die 
Übertragung verzichtete ganz auf ihn. Es mag 
sein, daß im Laufe der Zeit die ursprüngliche 
Fassung dieser Dichtungen in Einzelheiten litt, 
ebensogut aber kann die freiere Diktion eine 
Emanzipation vom hergebrachten Schema bedeuten und 
nun selbst Kunstform geworden sein. Tatsächlich schließen 
sich noch mehrere Dichtungen an das Li-sao 
an, die, auf einen Zeitraum von fast zweihundert 
Jahren verteilt, nach Stil und Inhalt dem großen 
Vorbilde folgen, ohne ihm freilich an phanta- 
stischer Kraft und gedanklicher Großheit nahe 
zu kommen. Unter dem Titel Tsu-tse, „Elegien 
von Tsu", bilden sie mit dem Li-sao eine hoch- 
berühmte Sammlung. Fünf Dichter sind ihre 
Verfasser: Sung Yü, King Tsc, Kia J, Tschuang Ki und 
Hoai Nan Tse. Der bedeutendste von ihnen ist Sung Yü, 





CTtmESISCTIE mCTITUJSlG 



21 




ein Neffe Kiü Yfians und ebenso Staatsmann; er folgte sei- 
nem Oheim ins Exil. Seine Elegie betitelt sich ,,Der Winter" 
und schildert unter dem Bilde trostloser winterlicher Er- 
starrung die Zustände seines Vaterlandes. Verbannt irrt er 
durch Frost und Schnee, aber anders als Kiü 
Yfian beschließt er doch zu seinem Fürsten 
zurückzukehren, und ihm aufs neue zu dienen. 
Kia J, der im zweiten Jahrhundert v.Chr.lebte und 
mit vierunddreißig Jahren starb, schrieb ein 
Klagelied auf Kiü Yüan, außerdem abereineSamm- 
lung konfuzianischer Essays und eine Abhandlung 
über die Fehler des Hauses Tsin, dem Schi Hoang Ti an- 
gehört hatte und das nach kurzer Glanzzeit zugrunde 
gegangen war. Vom Kaiserhofe auf verleumderische An- 
schuldigungen hin verbannt, begab er sich zu 
dem Fürsten von Liang, den er so schätzen und 
lieben lernte, daß er aus Gram staib, als der 
Fürst von einem Rosse zu Tode gestürzt war. Hoai 
Nan Tse (gest. 122 v. Chr.) war der Enkel des 
Begründers der Dynastie Han, die auf die Tsin 
folgte, König von Hoai-nan, mit seinem eigent- 
lichen Namen Liu Ngan, ein taoisti scher Philosoph 
und Alchimist, der sogar das Lebenselixier ge- 
funden haben, und nachdem er davon getrunken, 
samt seinen Hunden, die von dem verschütteten Tranke 
geleckt hatten, gen Himmel aufgefahren sein soll. In 
Wirklichkeit starb er durch eigene Hand, als sein Versuch» 
als Enkel Kaiser Kao Tis selbst auf den Thron zu kommen, 
fehlgeschlagen war. Mit ihm erreichte diese erste Epoche 
der chinesischen Kunstdichtuhg ihr Ende. 




Hoa 

Nan 



Tse 



DIE ZEIT DER DYNASTIE HAN. 

R SCHI HOANGI Tl (159 BIS 
V. Chr.), der da« große BQcher- 
idafi von 1 1 3 anordnete, stehl billig 
:mA bschnitte Ober die großem eder- 
lung des klassischen Altertum »unter 
Han-Dyrastie voran. Er ist die 
:e Parallele Alexanders des Großen 
emen Osten, auch der Zeit nach, 
wenn man in der Geschichte eines ganzen Festlandes nicht 
nach Jahren, sondern nach Zenturicn rechnet. Mit dreizehn 
Jahren kam er auf den Thron de« kleinen Staates Tsin, 
in raschen KriegszQgen unterwarf er sich dann das ganze 
China und beherrschte an schon ein Gebiet, das sich 
ungefShr mit den heutigen Reichsgrenzen deckt, 
n der Mandschurei abgesehen- Er nannte sich 
erster „Kaiser" (Hoang Tl) und von seiner 
Regierung an sollte eine ganz neue Ära beginnen. 
Damm wollte er die Chroniken und poetischen 
Verke aller anderen Staaten, mit Ausnahme jener 
mTsin, vernichtet haben. Widersetzliche Sehr! ft- 
mcIstCT ließ er, wie es heißt, zu so vielen Hun- 
derten vom Leben zum Tode beffirdem, daß 
selbst im Winter an den Orten, wo sie begraben 
lagen, Melonen wuchsen. Gegen die Hiung-nu, in denen 
wir die Hunnen wiedererkennen, und andere barbarische 
Horden, die das Reich bedrängten, ließ er die Große Mauer 
bauen. Er führte neue Münien ein, dann statt des Griffels 
den Pinsel und statt der Bambustlfelchcn Seide, und lieft 




CTtmESISCTiE DICHTUJyG 2^ 

sein Reich, das er in sechsunddreißig Gebiete geteilt hatte, 
kartographisch aufnehmen. Von seinem Palaste in der NShe 
seiner Hauptstadt Hien-yang werden Wunderdinge erzählt 
und ebenso über die Art, wie er begraben wurde. Bin in den 
Felsen gehauener Saal nahm ihn auf und zugleich unermeßliche 
Schätze. Den Boden bildete eine Karte seines Reiches aus Erz 
mit quecksilbernen Flußläufen,an derDecke waren derTierkreis 
und die Konstellationen abgebildet. Kriegsgerätschaften droh- 
ten ringsumher. Riesige Kerzen aus Walrat, die Jahrhunderte 
lang brennen konnten, standen an den Wänden. Die Arbeiter, 
die den Ort kannten, wurden mit dem Leichnam des Kaisers 
zugleich lebendig vermauert und der Eingang mit Erde be- 
deckt und Gras darauf gesät, damit niemand je die Stätte 
wieder auffinden möge*). Sein jüngster Sohn Hu Hai war 
der Erbe des Kaiserthrons, nachdem Li Sse, der erste Rat- 
geber Schi Hoang-tis, und der Eunuch Tschao Kao, der 
den größten Einfluß gewonnen hatte, Fu Su, den älteren 
Sohn, hatten ermorden lassen. Aber 207 ließ Tschao Kao 
auch Hu Hai ermorden und brachte den Sohn Fu Susals 
König (nicht mehr Kaiser) von Tsin auf den Thron, mit 
dem dann 206 die Tsin-Dynastie ebenso unrühmlich erlosch 
wie Alexanders des Großen Herrscherhaus. 

Ganz ähnlich nun wie nach Alexander dem Großen, wohl 
eben durch die Zusammenfassung eines so ungeheuren 
Ländergebietes zu einem Reiche, eine poetisch zwar weniger 
bedeutsame, aber wissenschaftlich äußerst fruchtbare Zeit 
anbrach, wie auf die getrennte griechische und westasiatische 
Kultur nun der beide vereinigende Hellenismus folgte, so 
brachten auch jene an unendlichen Wirren so reichen vier 
Jahrhunderte der Dynastie Han (206 v. Chr. bis 220 n. Chr.) 

*) Nach Sse Ma Tiens (145 bis um 80 v.Chr.) Bericht 
in seinen „Historischen Denkwürdigkeiten". 



24 



OTTO hAVSET{ 



Scheng 



zunächst eine Renaissance des Altertums, um das sich jetzt 
der Eifer zahlloser Forscher bemühte. Die klassischen 
Schriften wurden für alle Zukunft vom Untergange gerettet, 
rezensiert und kommentiert. Fälschungen waren nicht selten. 
Die Geschichtsschreibung nahm einen großen Aufschwung 
und neben ihr blühte eine reiche philosophische Literatur, 
und begann — auch hierfür bietet das Abendland die gleich- 
zeitige Parallele — eine eigene Briefliteratur. Die Poesie 
wurde ebenso emsig betrieben, aber wie die westliche Lite- 
ratur in dieser Zeit keinen Homer, keinen Aschylus und 
Sophokles, keine Propheten mehr aufweist, so fehlen auch 
in China Werke von der Bedeutung des Schi-king und der 
politischen Dichtung Kiü Yüans. Im Beginne der Han-Ara 
folgte man noch dem Vorbilde des Li-sao, und die späte- 
sten der „Elegien von Tsu" entstanden, dann trat dasSchi- 
king in den Vordergrund und ließ die Dichter zur Natur 
zurückkehren. Aber es war die idyllische Epigonenpoesie 
eines Theokrit und Pseudo-Anakreon, der Nachklang früherer 
Gesänge wie bei den römischen Lyrikern. Gleichwohl ist 
diese Epoche, was die Form betrifft, für die 
Folgezeit von größter Wichtigkeit. Im Gegen- 
satze zu den gewöhnlich vierfüßigen Versen 
des Schi-king und den Langzeilen Kiü Yüans 
und seiner Nachahmer bildet sich nun der regel- 
mäßige Fünfsilber heraus und neben ihm der 
Siebensilber, der mit seiner starken, fast immer 
beachteten Zäsur nach der vierten Silbe der leoni- 
nische Hexameter und spätere Alexandriner der chinesischen 
Metrik genannt werden kann, während der Fünfsilber unserem 
Quinar oder Hendekasyllabus entspricht, zwei Versmaße, 
die alsbald die ganze chinesische Dichtung beherrschen. Als 
derjenige, der den Fünfsilber in Aufnahme brachte, gilt 
Mei Scheng (gest. 1 40 v. Chr.), ein Dichter, der mit vieler 




ailSKSISCHH I.A.\l)SCHAtT 



Cmj^ESISCJiE DICHTUNG 



25 



Zartheit das schon im Schi-king zu findende Thema von der 
verlassenen Ehefrau zu behandeln wußte. Hier eine Probe 
dieser «»modernen Dichtung" jener Zeit: 

Warum doch scheint der lichte Mond so helle? 
Es glänzt der Vorhang meiner Lagerstelle. 

Vor Leid und Gram kann ich nicht schlafen mehr. 
Die Kleider rafFend, wandle ich umher. 

Beim Scheiden sprach er, ich mög' heiter sein — 
Erst wenn er heimkehrt, endet meine Pein. 

Einsam tret ich vors Tor in meinem Schmerz; 
Wem kann ich sagen, wie mir schwer ums Herz? 

Voll Kummer schleich ich in die Kammer wieder. 
Die Tränen tropfen auf das Kleid mir nieder. 

Noch größere Berühmtheit erlangte Sae-ma Siang Yu 
(gest. 117 v.Chr.), nicht zum mindesten durch eine kleine 
Skandalgeschichte. Durch Krankheit gezwungen, 
sein Amt aufzugeben, kam er auf seinen Wander- 
zügen, jeglicher Barschaft ermangelnd, gelegent- 
lich nach Lin-kiung, woselbst ihn ein Freund 
in das Haus des reichen Tscho Wang Sun ein- 
führte. Dort nun gewann er durch ein paar Lieder, 
die er zum besten gab, im Sturme das Herz Wen 
Kiüns, der Tochter Tscho Wang Suns, einer 
iungen Witwe, die der Vater zu sich genommen 
hatte, und noch in derselben Nacht entfloh das 
Paar nach Tscheng-tu, Siang Yus Geburtsort. 
Aber nach kurzer Zeit kehrten sie nach Lin- 
kiung zurück und eröffneten da einen kleinen 
Weinschank: Wen Kiün bediente die Gäste und 
Siang Yu wusch, wie ein Kuli gekleidet, die 
Gläser. Diese Schmach vermochte Tscho nicht zu ertragen 




26 OTTO »JIUSEJ{ 



und stattete nun die Tochter mit einer reichen Mitgift aus. 
Sic zogen dann wieder nach Tscheng-tu. Eines der Lieder« 
mit denen Siang Yu das Herz Wen KiÜns gewann, soll das 
folgende gewesen sein: 

Der Phönix, ach, der Phönix, ach, fliegt heimatwärts allein. 
Fliegt über die vier Meere hin, späht nach der Trauten sein; 
Umsonst, er soll sie nicht erspähn, nicht ihr Genosse sein. 

O was ergrifF mich, da ich heut in diese Halle kam! 
Hier wohnt die herrlichste der Fraun, wie keine wonnesam. 

Ach, mir so nah und doch so fem, das brennt im Eingeweide! 
Könnten wie ein Zierentenpaar beisammen sein wir beide! 

Bald erfuhr Wu Tl von Siang Yus Talent und entbot 
ihn in die kaiserliche Hauptstadt. In seinem 
Glücke nun vergaß er Wen Kiün und gedachte 

«j^ -^ sich aus Mo-ling, wo in China die schönsten 

Mädchen wuchsen, eine andere Frau zu holen. 

Kiün S* ^^ ihrem Grame dichtete damals Wen Kiün das 

„Lied vom weißen Haupte", das noch über sieben 
Jahrhunderte später einen Li Tai Pe zu einer 
seiner schönsten Dichtungen anregte*). Dieses 
Gedicht lautet: 

Weiß wie der Schnee auf hohem Bergesgrat, 
Weiß wie der Mond, der aus den Wolken trat • • • 

Ich hör', mein Herr hat seinen Sinn geteilt. 
Was soll's, daß seine Frau hier länger weilt? 

Noch einmal füll' ich unser Glas zum Rand, 
Im hellen Mond dann stoßen wir vom Strand. 

*) Man findet Li Tai Pes „Lied vom weißen Haupte'', 
wie er seine Dichtung betitelt, in meiner Auswahl. 




CmT^ESlSCKE DJCHTUJ^G 



31 



Und auf des YQ-kou Fluten treibe ich: 

Sie scheiden auch nach Ost und Westen sich. 

So schwer das Herz, warum das Herz so schwer? 
Ach, junge BrSute, weinet nicht so sehr. 

Ein Gatte mag euch werden treu und fest. 
Der noch im weißen Haupt euch nicht verläßt. 

Daß auch die Kaiser selbst die Dichtkunst 
pflegten, bezeugen eine Reihe von Stücken, die 
unter kaiserlichen Namen erhalten sind. Vor 
allen berühmt ist Wii Ti's (156—87 v. Chr.) so- 
genanntes „Ruderlied": 

Herbstwind hat sich erhoben, ach. 

Die weißen Wolken ziehen, 
Und Gras und Laub vergilbt und fSllt, 

Die wilden GSnse fliehen. 
Schon blüht die Herbstzeitlose, ach. 

Duftet die Chrysantheme, 
Ich denk' an die Geliebte, ach. 

Um die ich stets mich gräme. 

Mein hohes Schiff, es gleitet, ach. 
Den Huen durchteilt sein Spriet, 

Die Wellen schäumen und rauschen, ach« 
Wie es durchs Wasser zieht. 

Zu Flötenschall und Pauken, ach. 
Sing ich ein Ruderlied. 

So stolz mein Glück gewesen, ach. 

So wild ist nun mein Weh. 
Jugend und Kraft, wie bald dahin. 

Was wehrt dem Alter je?*) 

*) Das oft wiederholte hil („Ach", ahi, wJc die Minne- 




28 



OTTO H^USEJj 



Pan 


m 


Tsjc 


m 


Yü 






In der Han-Zeit treten auch zum ersten Male 
Dichterinnen auf. Hier sei nur Pan Tsie Yü, 
Palastdame Tscheng Tl's (31—6 v. Chr.) ge- 
nannt, deren Gedicht „Der Fächer" zu den all- 
bekanntesten Versen der chinesischen Literatur 
zählt und auch sehr oft in alle möglichen euro- 
päischen Sprachen übersetzt wurde: 

O Seidenfächer du, so zart und licht! 
Rauhreif und Winterschnee sind weißer nicht. 

Zur holden Gabe für den Freund bestellt, 
Rund wie der helle Mond am Himmelszeltl 

Daheim und draußen sollst du mit ihm sein. 
Ihm sanfte Kühlung wehn, bedarf er dein. 

Doch wenn der kalte Herbst dann kommt ins Land 
Und rauher Wind verlischt des Sommers Brand, 

Dann achtlos wirft er in den Schrein dich wohl, 
Erloschner Liebe trauriges Symbol. 

Auch aus der zweiten Hälfte der Han-Ara, der Regie- 
rungszeit der „jüngeren Linie" (von 25 n. Chr. an) wären 
manche Namen zu nennen. Aber weit bedeutungsvoller 
als die Dichtung dieser Zeit ist, daß in ihr der Buddhis- 
mus nach China übergriff (seit 65 n. Chr.) und allmählich 
zu einer Kulturmacht anwuchs. Wieder muß hier auf eine 
westliche Parallele verwiesen werden: auf das Christentum, 
das um dieselbe Zeit in die hellenisch-römische Welt hin- 
austrat. Buddhismus und Christentum sind ganz merkwür- 
dige Parallelerscheinungen, nicht darin zwar, wie man bis- 



sänger tagen) weist auf das Schi-king zurück, wo es gang 
und gäbe ist. 



CTiJJMESlSCTtE DJCTtTUJMG 



£2 



her zu erklären pflegte, daß Christus und Buddha als Stifter 
der nach ihnen genannten Religionen ähnliche Persönlich- 
keiten sind, nein, so wenig wie der Buddhismus mit dem 
Königssohne Gautama zu tun hat, so wenig das Christen- 
tum mit Rabbi Jeschua aus Nazara. Es handelt sich in 
beiden Fällen nur um religiöse Bewegungen, die von dem- 
selben Punkte nach zwei Richtungen ausstrahlen. Durch 
den Parsismus, der das spätere Judentum so mächtig be- 
einflußte, ihm erst den indoarischen Dualismus gab und 
darin die Basis für die christliche Lehre von Erbschuld und 
Erlösung, ffihrt die Linie bis Zoroaster zurück und dahin 
auch, zu dieser ältesten indoarischen Kultur, der Buddhis- 
mus, der von dem Atheisten Gautama, einer späten Folge- 
zeit dann zum Buddha, zum inkarnierten Logos geworden, 
nur den nom de guerre hat, doch kaum etwas von 
seinem Geiste. Dieselbe Bedeutung nun wie das Christen- 
tum für den Westen, hat der Buddhismus für den Osten; 
auch dort verschmilzt die neue Lehre mit der alten My- 
thologie und Kultur und wird, obwohl nicht so radikal 
durchgesetzt, die Religion der Masse, während die feineren 
Geister noch lange Zeit dem phantastischeren Taoismus an- 
hängen und die konfuzianische Philosophie nichts an ihrer 
Wertschätzung einbüßt. Diese drei Elemente bilden die 
neue chinesische Kultur, die im ersten nachchristlichen Jahr- 
hundert ihre ersten geringen Anfänge zeigt, wie nationale 
Mythe, Christentum und hellenische Philosophie die Basis 
der unseren. Inwieweit auch hier ethnische Momente mit 
in Betracht kommen, ist eine schwer zu erledigende Frage. 
Jedenfalls war auch China vor dieser großen Zeit jahrhun- 
dertelang von Barbaren, als blond und blauäugig und mit 
rotwangigen Frauen, die wie Männer zu Pferde sitzen, 
geschildert, überflutet, und so denkt man fast an die Ger- 
manenstämme , die dem sinkenden ost- und weströmischen 



^O OTTO HJIUSE7{ 

Reich ihre Jungkraft gaben und später auf Italiens, Frank- 
reichs und Spaniens Boden das klassische Altertum aus 
ihrem Geiste in neuer, leuchtender Gestalt wiedergebaren. 
Griechenland freilich fiel in TQrkenhSnde und verfiel. So 
ging im Osten allmählich die kulturelle Hegemonie durch 
das vermittelnde Korea, das Roms Rolle spielt, auf Japan 
über; in meiner „Japanischen Dichtung" mag man die Paral- 
lelen für dieses Land und Mitteleuropa nachlesen. China 
selbst trifft das Los Griechenlands: es kommt unter die 
Herrschaft fremder mongolischer Stämme, stagniert und 
hat nichts als den Ruhm seiner großen Vergangenheit. Aber 
noch liegt die schönste Entfaltung der chinesischen Lyrik 
vor uns. 




DIE ZEIT DER DYNASTIE TANG 
LI TAI PO, TU FU UND PE KlÜ J 

UF DIB HANS FOLGTIEN MEH- 

rere kurzlebigere Dynastien. Auch unter 
ihnen fand die Dichtkunst eifrige Pflege. 
Der Bruder des ersten Wei-Kaisers, 
Sohn des berühmten Heerführers Tsao 
Tsao, Tsao Tschih (192 — 232) war einer 
der vielen poetischen Wunderknaben 
!1 Chinas, die mit zehn Jahren schon die 
vollendetsten Verse schreiben. Tao Tschien (365 — 427) 
war ein Meister dichterischer Prosa. Seine Allegorie 
oDer Pfirsichblütenquell" erzShlt von der wunderbaren 
Fahrt eines Fischers nach dem paradiesischen Lande der 
Vergangenheit, der sprichwörtlichen Pfirsichblüteninsel. In 
seinem bemerkenswertesten Gedichte läßt er einen Toten 
aus dem Schattenreiche sprechen und beklagen, daß er sein 
Leben zu wenig genoß. Seine Worte sind voll Zweifeln 
und Trauer. Einen guten Namen hat auch Pao Tschao, 
der 466 einem Soldatenaufruhr zum Opfer fiel. Tu Fu be- 
wunderte seine Verse. Siao Yen (464 — 549), der 502 als 
erster Liang-Kaiser den Thron bestieg, Buddhist, schrieb 
neben religiösen Werken auch Gedichte. Dem Gebot „Du 
sollst nicht töten" zufolge ließ er die Opfertiere aus Teig 
bereiten. Sein dritter Sohn, Kaiser Kien Wen, der ihm 
in der Regierung folgte (549 — 551)» gehört ebenfalls zu den 
besten Dichtern jener Zeit. Es war der Ehrgeiz der Kaiser, 
literarische Bestrebungen zu fördern. Selbst Yang Ti (589 



^2 OTTO NJlUSEIj 

bis 6] 8), der seinen Vater und seinen älteren Bruder er- 
morden hatte lassen, um auf den Thron zu kommen, ein unnüt- 
zer Verschwender, der im Winter die B&ume seines Parkes 
mit Blättern aus Seide belauben ließ und auf Dunen von Sing- 
vögeln schlief, in Feldzügen unglücklich, beschäftigte hun- 
dert Gelehrte mit der Ausgabe der Klassiker und medi- 
zinischer und anderer Schriften. Auf ihn folgt die Dy- 
nastie Tang (608—907), deren Zeit in China als der Höhepunkt 
der Literatur gilt, obwohl nicht minder voller Wirren im 
Innern tmd fortgesetzten Kriegen mit den Barbaren, doch von 
der Gloriole ihrer großen Namen mit unvergänglichem Glänze 
bestrahlt. Ein moderner chinesischer Kritiker sagt (nach 
Giles): „Die Poesie trat ins Dasein mit dem Schi-king, 
entwickelte sich im Li-sao, entfaltete sich und erreichte die 
Vollendung unter den Tangs. Auch unter den Dynastien 
Han und Wei wurde einiges Gute geschaffen; die Schriften 
zeugen von einer Überfülle an StofP, aber die Sprache hat 
noch nicht die volle Ausdrucksfähigkeit". In der ersten 
2^it der Tang-Dynastie dichtete Wang Po (648 — 676), dem 
man nachrühmte, er schreibe seine Verse so sicher, daß er 
auch nicht ein Wort zu ändern brauchte. Tschen 
Tse Ngan (656 — 698) wendete sich gegen den 
Bilderkultus des Buddhismus. Er wußte auf 
eine ganz moderne Art das Publikum auf sich 
aufmerksam zu machen. Er kaufte nämlich eine 
sehr teure Laute, die lange ausgestellt gewesen 
war, und setzte einen Tag fest, an dem er sich auf 
ihr produzieren werde; dies lockte ein großes 
Auditorium an. Statt aber zu spielen, nahm er 
das Instrument, schlug es in Splitter und zog 
dafür Verse aus der Tasche, die er dann verteilte und 
die nun die gewünschte Sensation hatten. Es seien 
noch Sung Tschih Wen (gest. 710), Meng Hao Yan (689 



Meng 


l&L 


Hao 


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Yan 


B 







zu K/.\K.M CF.MCUTF. U TAI P 



Cmj^ESJSCJiE DICH TUM G 



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bis 740) und Wkng Wci (699 — 759) als Vorläufer und Zeit- 
genossen Li Tai Po's und Tu Fu's genannt« alle drei über- 
aus angesehen zu ihrer Zeit* Sung Tschih Wen soll von 
dem begeisterten Kaiser Tschung Tsung gelegentlich, wie 
es später von Li Tai Po zu berichten ist, ein 
kaiserliches Gewand erhalten haben. Von Meng 
Hao Yan wird erzählt, auf wie seltsame Weise 
er dem Kaiser vorgestellt wurde: er war bei 
Wang Wei zu Besuch, als plötzlich der Kaiser 
angemeldet ward, da kroch er rasch unter ein Bett, 
wurde aber von Wang Wei verraten und mußte 
hervorkommen, um Übrigens die Majestät äußerst huldvoll 
zu finden. Wang Wei selbst war zugleich Arzt und Dichter, 
hing gläubig dem Buddhismus an und hatte nur eine Frau. Es 
wären von all diesen Dichtem manche Proben ihrer Kunst 
zugeben, aber die drei größeren Ingenien dieser Epoche 
müßten um diesen Raum verkürzt werden. Und zudem 
bieten sie wenig persönliche Unterschiede. Die Stoffe sind 
die gleichen und ebenso ihre Behandlung. Nur 
in wenigen schärfer ausgeprägten Individualitäten 
erhält die konventionelle Poesie einen größeren 
Reichtum. 

Allen Dichtern Chinas voran steht Li Tai Po, 
der einzige, den auch das Abendland, wenigstens 
dem Namen nach, kennt. Ich darf hier wohl 
auf meine Auswahl aus seinen Gedichten ver- 
weisen (Li Tai Po, Gedichte. Aus dem Chinesi- 
schen übersetzt von Otto Hauser. Verlag von 
Baumert & Ronge, Großenhain und Leipzig, 1 906), 
aus der man zum erstenmal den Dichter in wort- und sinnge- 
treuer Übertragung näher kennen lernen kann. Dort auch findet 
man eine eingehendere Biographie und Bibliographie, wäh- 
rend ich hier mich mit den Umrissen begnügen muß. 

BTi/fTWES: "DTE LJTEJiATini. "BJfTiV XXXIV Q 




£^ OTTO NJlUSEJj 

Li Tai Po ist 698 zu ]-tschou in der Provinz Sse-tschuui 
geboren; Li war sein Familienname, Tai Po, „Großer 
Glanz", soll ihn seine Mutter nach einem Traume genannt 
haben, den sie kurz vor seiner Geburt gehabt. Von früh 
auf dichtend, wurde er bereits mit zwanzig Jahren graduiert, 
statt aber sich um ein Amt zu bewerben, zog er es vor, 
ein unstetes Wanderleben zu führen, zu trinken und zu 
singen. Seine Gedichte machten ihn alsbald sehr berühmt, 
und im Jahre 744 konnte er, als er eben in Tschang-ngan, 
der Reichshauptstadt, weilte, der Gunst Ming Hoang-ti's 
empfohlen werden. Hier nun erreichte Li Tai Po's Ruhm 
und Süßere Stellung ihren Höhepunkt. Er wurde zum 
Mitgliede der Han-lin-Akademie ernannt, und der Kaiser 
schloß mit ihm eine ganz ungewöhnliche Freundschaft, 
die den Dichter freilich den Hofchargen gegenüber etwas 
freimütig machte. Ming Hoang-ti stieß sich nicht daran, 
wenn Li Tai Po im Rausche, gestützt auf zwei Hofbeamte 
vor ihn kam, und wie Karl V. Tizians Pinsel aufhob, so 
diente er dem bewunderten Dichter bisweilen als Sekretär, 
der seine improvisierten Verse zu Papier brachte. Intriguen 
aber wußten das schöne Verhältnis zu zerstören. Ein hoch- 
gestellter Eunuche fühlte sich beleidigt und denunzierte Li 
Tai Po der Lieblingsfrau des Kaisers, als habe er sie in 
einem Gedichte verspottet, und Ming Hoang-ti mußte seinen 
Freund verabschieden; auch dies noch tat er unter den höchsten 
Gunstbezeugungen, indem er dem Dichter ein vollständiges 
Assortiment seiner kaiserlichen Gewänder zum Geschenk 
machte. Li Tai Po soll in der Folge in eben diesen Ehrenge- 
wandern seinen Zechtafelrunden präsidiert und sich kaiserliche 
Ehren haben erweisen lassen, nach durchjubelter Nacht aber 
gelegentlich in der Straßengosse aufgefunden worden sein. 
In dieser Zeit entstanden seine schönen Verbanntenklagen, 
aber auch seine mystisch gefärbten Gedichte. Denn nach 



CNmESlSCHE DICTfTUJVG 



II 



seiner Verbannung vom Hofe war Li Tai Po Taoist ge- 
worden und floh oft in die einsamen Berge zu befreundeten 
Einsiedlern, um mit ihnen beim ^ein philosophische Ge- 
spräche zu führen. Der Sturz Ming Hoang-ti's (756) ver- 
wickelte auch ihn in eine Verschwörung und er wurde 758 
zum Tode verurteilt, dann nach Ye-liang verbannt, 759 jedoch 
völlig begnadigt. Es besteht die Version, daß der neue 
Kaiser ihn wieder an den Hof berufen hatte und Li Tai 
Po auf der Reise in die Residenz gestorben sei, aber die 
wahrscheinlichere Nachricht ist die, daß er bei einem Ver- 
wandten, den er besucht hatte, starb (762 inTang-tu). Die 
taoistische Legende läßt ihn bei einer Kahnfahrt ertrinken, 
als er, berauscht, nach dem Spiegelbilde des Mondes in 
den Wellen greift und sich zu tief Qber Bord beugt; 
Delphine und Genien aber kamen und nahmen ihn mit fort 
nach den Bergen der Glückseligkeit, nach Pung-lai. 

Li Tai Po's Gedichte bestehn aus Naturschilderungen, 
Kriegsgedichten, Trinkliedern von eigentümlich pessimisti- 
scher Färbung, zarten Frauenliedem, Abschiedsversen an 
Freunde, Elegien aus der Verbanntmg, Vierzeilern, alle in 
einer edeln, feinziselierten Sprache geschrieben und von 
hoher Originalität. Europäische Gelehrte und Liebhaber 
nannten ihn gerne den chinesischen Anakreon oder Lord 
Byron, je nachdem sie auf seine Trinklieder besonderes 
Gewicht legten oder andeuten wollten, daß auch er etwas 
von der Zerrissenheit und Landfahrigkeit des englischen 
Dichterlords in sich gehabt habe. Mit mehr Recht könnte 
man ihn den chinesischen Hafis nennen, wobei dann aller- 
dings der wirkliche Hafis und nicht jener verwässerte der 
deutschen Nachdichter — Platen ausgenommen — gemeint 
wäre. Wie Hafis lebt auch Li Tai Po noch heute in seinem 
ganzen Volke, nicht nur in der Gelehrtenwelt etwa, die 
freilich auch nicht mflde wird, seine Lieder immer wieder 



^6 



OTTO nJtHSBJi 



zu kommentieren, yffiz Hafis ist er nicht ein Wieinschwelg 
gewöhnlicher Sorte, sondern ein philosophischer Trinker, 
ebenso aber auch ein Mystiker, der mit dem Rausche oft 
genug die mystische Verzückung 'bezeichnet oder beide 
Begriffe ineinanderspielen läßt. Wie Hafis ist er ausschließ- 
lich Lyriker, auch dort, wo er schildert oder erzählt, und 
als Lyriker der einzige wirklich volkstümliche Dichter, 
während man den ebenso berühmten Tu Fu mehr mit einem 
Saadi vergleichen könnte, beide vor allem betrachtende 
Dichter. Etliche seiner berühmtesten kürzeren Stücke seien 
hier als Proben seiner Art aneinandergereiht: 

IN STILLER NACHT 

Vor meinem Bett ein lichter Mondenstreif, 
Als war' der Boden ganz bedeckt von Reif. 

Ich heb' mein Haupt, zum hellen Mond gewandt. 
Senk' es und denke an mein Heimatland. 

AN EINEM FRÜHLINGSTAG BEIM ERWACHEN 

AUS DEM RAUSCHE 

Das Leben ist nur wie ein großer Traum. 
Wozu dann geben wir der Sorge Raum? 

Ich selbst, ich bin den ganzen Tag betrunken. 
Taumle, bis ich vorm Hause hingesunken. 

Wach' ich dann auf und blicke in das Schweigen, 
So singt ein Vöglein zwischen Blütenzweigen. 

Und will ich fragen: Dämmert's oder tagt's? 
Die Nachtigall, gewiegt vom Lenzwind, sagt's. 

Da faßt mich Wehmut, seufzen möcht' ich schier 
Und wieder schenk' ich voll den Becher mir. 



Und singe, bis der Mond, der helle, kam. 

Und schweigt mein Sang, so endet auch mein Gram. 

JAGDRITT 

Der Grenzer, seht ihn anl 

Sein ganzes Leben Jahr für Jahr nimmt er kein Buch zur Hand, 

Er weiß nur, wie man jagen geht; da reitet er gewandt. 

Sein Roß, im Herbste wird es fett, ihm frommt das weiße Gras, 
Der Schatten fliegt vor seinem Huf; wer ist, der stolzersaß? 

Die goldne Peitsche schlägt den Schnee, die Scheide klirrt 

am Knauf, 
Halbtrunken ruft dem Falken er; so geht es fort im Lauf. 

Sein Bogen wird vergebens nie gespannt zum Mondenrund, 
Zwei Kraniche fallen oft zugleich mit seinem Pfeil zum Grund. 

Am Strand des Meeres, wer ihn sieht, weicht allsogleich zurück. 
Selbst in der Wüste Gobi gilt sein Mut, sein Kriegerglück. 

Wie anders als die Weisen hier lebt dieser freie MannI 
Weißhaarig hinterm Vorhang nochl Und das wozu, sagt an?l 

FRÜHLINGSGEDANKEN DER ZURÜCK- 
GEBLIEBENEN FRAU 

Im fernen Yen ergrünt die Erde kaum. 

In Tsin belaubt sich schon der Maulbeerbaum. 

Mein Herr, zieht er bald wieder heimatwSrts? 
Ach, seiner Magd indessen bricht das Herz. 

Der Frühlingswind tritt durch den Florhang ein. 
Und doch, was soll er mir in meiner Pein? 

DIE ACHT REITER 

Ostwärts nach Kin-schih, wie geht es über die fünf Hügel, 
SilbersSttel auf den Schimmeln, Lenzwind um die Bügel. 



j8 OTTO TiAliSBIj 

Blüten schneien und sie reiten, weißt du wohl, wohin? 
Die acht Schelme, in die Schenke zu der Weinschenkin. 

VERGEBLICHER BESUCH BEI DEM EINSIEDLER 

IM GEBIRGE 

Ein Steinweg führt das rote Tal empor, 
In grünem Moose steht das Fichtentor. 

Die Treppe zeigt der Vögel Spur allein. 

Doch niemand kommt und läßt mich zu sich ein. 

Durchs Fenster seh ich von des Aufgangs Rand 
Den weißen Wedel, die bestaubte Wand. 

So wend' ich mich und seufze vor mich hin. 
Und gehe heim, wo ich gekommen bin. 

Duft wölkt hinan rings zu des Berges Gipfeln, 
Und Blüten wieder regnen aus den Wipfeln. 

O Grund genug zu Lust und Fröhlichkeit, 
Doch horch, wie bang der blaue AfFe schreit 1 

Was gilt der Welt Getriebe allzumal? 
Fürwahr, sehr traurig ist dies Erdentall 

Kaum eines unter Li Tai Po's Gedichten ist trivial 
oder nur unbedeutend, immer bezeugt sich sein feiner und 
dabei doch natürlicher Geist. Nur ganz ausnahmsweise 
bediente er sich einer allzu gekünstelten Sprache und das 
nur zu seinen höfischen Improvisationen. Tu Fu steht ihm 
in China an Rang völlig gleich, uns aber erscheint er haus- 
backener, deskriptiver, weniger phantasiereich. Der Marquis 
d'Hcrvey-Saint-Denys hat bisher noch die reichste Auswahl 
aus Tu Fu geboten und nur auf sein Buch „Podsies de 
Tdpoque des Thang" (Paris, 1862) kann bezüglich seiner 
verwiesen werden. Man wird dort das Urteil best&tigt 
finden. 



CmJMESISCKE mCTtTVTiG ^9 




Tu Fu wurde 71 2 zu Tu-ling in Schcn-si geboren, zeigte 
ebenfalls frahzeitig glänzende Begabung und bestand auch 
das Baccalaureat und das Lizentiat mit Erfolg, fiel jedoch 
im Doktorat durch — wie abrigens die meisten gelehrten 
Chinesen beim ersten Versuch, was aber die 
weitere Laufbahn nicht beeinträchtigt. Kaum 
achtundzwanzig Jahre alt, finden wir ihn denn j^ y^ 
auch in Tschang-ngan und bald darauf \n einer 
höchst ehrenvollen Position am Hofe Ming Hoang- "^ Fu 
ti's, wo ihn mit Li Tai Po eine herzliche Freund- 
schaft verbindet. Seine Stellung als Zeremoniar 
brachte ihn in tägliche Berührung mit dem Kaiser, war aber so 
schlecht besoldet, daß er sich endlich ein Herz faßte und der 
Majestät in einer längeren Epistel die Misere seines Daseins 
schilderte. Sogleich wurde ihm ein höheres Gehalt bewilligt 
und Im Vorhinein ausbezahlt, aber schon nach kurzer Zelt 
brach jener Aufstand aus, der Ming Hoang- ti zur Flucht 
und zur Abdankung zwang. Unter Su Tsung, dem Sohne 
Ming Hoang-ti's, zu dessen Gunsten dieser verzichtet hatte, 
wurde Tu Fu mit dem verantwortungsvollsten Amte des 
Reiches, dem eines Zensors, betraut. Hier aber wagte er 
es, für einen in Ungnade gefallenen hohen Würdenträger 
einzutreten und wurde daraufhin als simpler Präfekt in eine 
Stadt seines heimatlichen Schen-si versetzt. Tu Fu zog den 
Abschied der Degradierung vor und begab sich, völlig 
mittellos, nach Sse-tschuan, wo er unter vielen Entbehrungen 
lebte, bis ein Militärgouverneur ihn entdeckte, ihm wieder 
eine Anstellung im Staatsdienste verschaffte und mit einem 
Erbe bedachte. Nach dem Tode seines Gönners ging er 
zunächst auf Reisen und ließ sich dann in Ltmg-yang in 
der benachbarten Provinz Hu-kuang nieder. Dort aber 
wurde er bei einem Besuch der alten Tempelruinen In 
der Nähe der Stadt vom Hochwasser überrascht und 



40 OTTO HJlUSEJj 

mußte sich, von ihr völlig abgeschnitten, an zehn Tage 
nur von Wurzeln nähren. Als er dann halb verhungert 
aufgefunden wurde, veranstaltete der Präfekt von Hu-kuang 
ein Festmahl zu seinen Ehren; hierbei holte er sich seinen 
Tod: sein geschwächter Magen vertrug die schweren Speisen 
und den Wein nicht und so starb der Dichter am darauf- 
folgenden Tag (770). Ich übersetze von Tu Fu sein be- 
rühmtestes Gedicht 

DAS DORF KlANG 

1. 
Im Westen türmt Gewölk sich glutbesonnt. 
Die Sonne senkt sich tief zum Horizont. 

Vorm roten Tore lärmt der Spatzen Streit, 
Fremd kehr ich heim, wohl tausend Meilen weit. 

Wie staunen, als sie mich ersehn, die Meinen 
Und dann, gefaßt, beginnen sie zu weinen. 

In dieser Zeit der Wirren sturmdurchbraust. 
Ein Wunder, daß du heil die Heimat schaust! 

Die Nachbarn auch stehn an der Wand ringsum 
Und seufzen nur, vor freud'ger Rührung stumm. 

Nacht sinkt aufs Haus und Licht erhellt den Raum, 
Sie sehn mich an, als war' es nur ein Traum, 

11. 
Im Spätjahr einzig gibt das Amt mich frei, 
Daß ich im Kreis der Meinen glücklich sei. 

Die Kinder wollen nicht von meinem Knie, 
Sie fürchten, allzubald verlass' ich sie. 

Einst liebt' ichs, mich im Kühlen zu ergehn 
Unter den Bäumen, die den Teich umstehn. 



y.V KISEM CEUtCIITF. U TAI PES 



■,^* 



cnmESiscTiE dichtujmg 41 

Nun braust der rauhe Nordwind auf mich ein 
Und hundertfach bedrückt mich: "Was wird sein? 

Der Trank ist reif/ die Maische kam zur Klärung, 
Die Kufen duften schon von neuer Gärung, 

So fQllt denn heute gleich die Becher an. 
Es hilft, daß man den Herbst ertragen kann. 

Das Hühnervolk lärmt vor dem Tor umher. 
Da Gäste kommen, lärmen sie noch mehr. 

Auf stiebend iliehn sie unters Buschwerk dann 
Und an die rote Pforte pocht es an. 

Vier würd'ge Greise treten zu mir ein 
Und fragen um mein langes Fernesein. 

Ein jeder trägt in Händen zum Geschenk 
Der trüben Most, der lauteres Getränk. 

„Der Wein ist schwach", entschuld'gen sie die Gaben, 
„Das Land war gut, nur müßt' man Leute haben". 

„Kein Ende nehmen noch die Unheilsposten, 
All unsre Söhne fielen schon im Osten." 

Dann bitten mich die Greise um ein Lied, 
Das ihren Kummer lindre, eh' ich schied. 

— Ich endete. Sie blicken himmelauf. 
Seufzen und achten nicht der Tränen Lauf. 

Als dritter schließt sich an Li Tai Po und Tu Fu Po 
Kiü 1 (772—846) an, der aber in Eutbpa fast unbekannt 



42 



OTTO JiJmSWi 



blieb. Nur im sechsunddreißigsten Bande der „Denkschriften 
der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften" (Wien 1 888) 
findet man, dem Laienkreise fast unzugänglich, eine sehr 
reiche Auswahl aus seinen Dichtungen im Original und von 
August Pfizmaier in ein ganz unmögliches Deutsch über- 
setzt, das auch nur fttr den Fachgelehrten bestimmt und von 
Wert ist. Po Kitt Is Leben verlief weniger stttrmisch als 
das jener beiden anderen Großen. Er war einer jener Dichter, 
deren Lebensstationen ihre Beförderungen und Versetzungen 
sind. Er schloß sein Leben und seine amtliche Laufbahn 
als Präsident des Kriegsdepartements. Wie Li Tai Po immer 
einen Kreis von Freunden zum Trinken und Singen um sich 
zu sammeln wußte — einmal waren es „die sechs Einsiedler 
des Bambustals'% ein andermal „die acht Weintaoisteit" — 
so hielt Pe Kitt 1 mit seiner Tafelrunde am Hiang-schan 
seine poetischen Zechgelage; „die acht ehrwür- 
digen Herren vom Weihrauchberge" (dies be- 
deutet „Hiang-schan") nannte man sie. Nach 
seinem Tode wurden seine Gedichte auf kaiser- 
lichen Befehl in Stein gemeißelt und in dem 
Parke, den er sich nach dem Vorbilde jenes 
Gartens am Hiang-schan hatte anlegen lassen, zu 
bleibendem Gedenken aufgestellt. Po Kitt I war 
Buddhist, wenigstens gegen sein Ende. Zahlreiche 
seiner Gedichte schildern seine Besuche in alt- 
bertthmten Klöstern. Noch mehr als Tu Fu ist 
er kontemplativ. Er spinnt gerne Gleichnisse und 
Allegorien aus, dabei frappiert uns ein starkes soziales Ge- 
ftthl, das freilich nur ziemlich milde Worte zu seinem Aus- 
drucke wählt. Zu ihrer Zeit sollen Po Kitt I's „Satiren und 
Allegorien" gleichwohl großes Aufsehen gemacht haben. In 
drei Stttcken suche ich auch von ihm ein poetisches Cha- 
rakterbild zu geben. 



Pe 


A 


Kitt 


Jg 


1 


S 



CUmESISCHE DICHTUTJG 4^ 

DER WEISSE LOTUS DES KLOSTERS TUNG-LIN 
Das Wksser an dem Norddamm von Tung-lin« 
Es ist so klar, man sieht den Grund darin. 

Der weiße Lotus wächst aus ihm empor« 
Dreihundert Knospen brachen h'cht hervor. 

Und herrlich schimmern sie bei heitrer Luft, 
Der reine Wind trägt weithin ihren Duft. 

Die Pollen sprengen ihren Silberschrein, 
Voll Tau neigt sich der Stift von Edelstein. 

Ich bin beschämt, solche Rubinenpracht 

Zu schaun mit Augen, nur aus Staub gemacht. 

Die roten Lotusblumen sind fürwahr 
Umsonst so heilig rein, umsonst so klar. 

Den ganzen Sommer blühn sie ohne Ende 
Und geben noch dem Herbste WQrzespende. 

In tiefer Nacht, da alle Bonzen ruhten. 
Trat ich allein zu jenes Teiches Fluten. 

Auflesen wollt ich eine Beere nur, 

Sie mitzunehmen fem nach Tschang-ngans Flur, 

Doch bangte ich, trüg ich von hier sie fort, 
Sie keimte nimmer unter Menschen dort. 

DAS NÄCHTLICHE LIED 

Nachts legt ich Anker an der Sittichbank, 

Hell überm Herbststrom zog der Mond entlang. 

Und eine Stimme sang im Nachbarschi fp. 
Deren Gewalt im Tiefsten mich ergriff. 

Dann schwieg das Lied und weinen hört' ich wild. 
In Schluchzen brechend, heiß und ungestillt. 



44 OTTO »JIUSEJ{ 



Da späht' ich, ob ich die Betrübte seh'. 

Und sah ein Weib, das Angesicht wie Schnee. 

Dort an den Mast gelehnt, stand sie allein. 
Kaum achtzehn Jahre schien sie mir zu sein. 

'Wie Perlen waren ihre TrSnen ganz. 
Zu zweien flössen sie im Mondenglanz. 

Ich fragte sie, von wannen her sie kam^ 
Warum ihr Sang und Weinen so voll Gram. 

So fragte ich, sie aber weinte fort. 

Senkte die Augen nur und sprach kein Wort. 

GEGENSÄTZE 
Die Straße zieht ein stolz Gepräng herauf. 
Den Staub durchblitzt der Rosse Sattelknauf. 

Und fragst du, was denn all der Drang bedeute» 
„Der Staatsminister 1" raunen dir die Leute. 

Mit Scharlachbinden hohe Amt- und Geldherrn, 
Mit PurpurschSrpen sicher große Feldherrn. 

Zum Lagerfeste hasten so die Trosse, 

Wie Wolken fliegt vorbei der Trab der Rosse. 

Neunmal gekochter Wein schäumt in den Krfigen, 
Das Seltenste kann eben nur genügen. 

Tung-ting-Granaten sind das Obst bei Tische, 
Zu den Pasteten nahm man Tien-Teich-Fische. 

Zufrieden sitzt man, als man abgespeist. 

Vom Wein ermuntert, sprüht nur so der Geist. 

Dürre jedoch herrscht in Kiang-nan indessen. 
In Kiü-tschou hat. man Menschenfleisch gegessen. 



CWMESISCTiE DICHTUTMG 4^ 




Von den zahlreichen anderen Dichtem der Tang-Ara, 
deren hervorragendste Verse man 1707 in neunhundert 
Heften gesammelt hat, können nur noch wenige genannt 
werden. Han Yü (768—824) galt Su Tung Po, einem der 
hervorragendsten Dichter einer späteren Zeit, 
als Li Tai Pe und Tu Fu ebenbürtig. Er war 
Dichter, Staatsmann und Philosoph. Ein Freund 
sagte, er habe nie die Werke HanYü's zu öffnen *^ "«n 
gewagt, ohne seine Hände in Rosenwasser ge- jf^ yü 
waschen zu haben. Es wird ihm nachgerfihmt, 
daß er das Banalste geistvoll erscheinen lassen 
konnte, und so schrieb er ein Gedicht auf seine 
Zähne, die in regelmäßiger Folge ausfielen, so daß er daran 
seine Lebensdauer vorauszusehen vermochte. Als Philosoph 
war er ein heftiger Gegner sowohl des Taoismus als auch des 
Buddhismus; 1084 erhielt er im Tempel des Konfuzius eine 
Ehrentafel. Ein halbes Dutzend Gedichte von ihm übersetzte 
Giles in seiner „Chinese poetry in English verse" (London, 
Schanghai 1898). Ein Konfuzianist war auch Han Ya's 
Freund und Zeitgenosse Tschang Tschih, ein Taoist hin- 
wider Sse Kung Tu (834 — 908), gewöhnlich der letzte Tang- 
Dichter genannt. Er war im Kultusdepartement angestellt, 
gab aber seinen Posten auf und zog sich als Einsiedler in 
die Berge zurück. Er hungerte sich aus Kummer über die 
Ermordung seines jungen Kaisers zu Tode. Ein großes 
philosophisches Gedicht in vierundzwanzig Abschnitten findet 
man in Giles' „History of Chinese literature"; es gibt einen 
Begriff von den Schwierigkeiten, die es bereitet, die höchst- 
gespannten Äußerungen des Taoismus zu verstehn. 

Mit Sse Kung Tu schließt wohl die Poesie der Tang- 
Ära äußerlich ab, jedoch auch noch weiterhin war ihr Vor- 
bild maßgebend, und wie im Eingange dieses Abschnittes 
einiger Vorläufer der großen Tang-Lyrik gedacht werden 



46 



OTTO »JIUSEI{ 



mußte, so müssen hier noch einige Vertreter der späteren 
Poesie Erwähnung finden. Die Zeit der Dynastie Sung, 
die das Erbe der Tangs antrat, nicht sogleich zwar, son- 
dern erst nach fflnfzigjährigen Wirren, ist ffir die chinesische 
Literatur in anderer Richtung bedeutender als in der Lyrik, 
Sie gab der Geschichtsschreibung einen neuen Aufschwung, 
so daß Wilhelm Grube sie als eine Wiederholung der Re- 
naissance unter den Han- Kaisem ^bezeichnen 
konnte. Wenn er jedoch die Sung-Periode direkt 
mit unserer Renaissance vergleicht, so ist außer 
Acht gelassen, daß diese in Mitteleuropa und nicht 
in Sfideuropa vor sich ging, und im wesentlichen 
durch die nördlichen germanischen Elemente her- 
vorgerufen wurde, nicht aber aus der griechisch- 
klein-asiatischen Kultur stammt. Das rechte Ana- 
logon für die germanische Renaissance Nord- 
italiens und Deutschlands finden wir in Japan, 
das unserem Mitteleuropa entspricht, während 
der Aufschwung Chinas im Zeitalter der Sung Dynastie 
nur jenem der Byzantiner vor ihrer endlichen Unter- 
werfung durch die Türken entspricht. Unter den 
Sungs sind vor allem zwei Dichter von Bedeutunor: 
Wang Ngan Schi (1021 bis 1 086) und SuTung Po 
(1036 — ^^1 101). Sie waren heftige Gegner in ihrem 
Leben. Wang Ngan Schi bekleidete nacheinander 
sehr hohe Stellen, 1069 wurde er Staatskanzler 
und unmittelbarer Ratgeber des Kaisers. Von 
der absoluten Richtigkeit seiner politischen An- 
sichten überzeugt, führte er nun eine Reihe von 
durchgreifenden Reformen ein, die ihm Feinde 
genug schufen. So fiel er denn auch in Ungnade, ob- 
wohl nur für kurze Zeit, und starb bald nach seiner 
Rückberufung aus der Verbannung, nachdem er noch 



Wang 


3E 


Ngan 


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Schi 


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Tung 


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Po 


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CmMESlSCHE D1CHTUJVG 47 

alle seine Reformen wieder annulliert sah. Er war be- 
rühmt wegen seiner Anspruchslosigkeit, trug gewöhnlich 
schmutzige Kleider und soll sich nicht einmal das Gesicht 
gewaschen haben. Su Tung Po sah sich« solange "Wang 
Ngan Schi lebte, bald hierhin, bald dorthin „versetzt", ] 086 
aber wurde er an den Hof zurückberufen und 1091 zum 
Präsidenten des Kultusdepartements ernannt, 1094 freilich 
wieder versetzt, und hatte nun Gelegenheit, die überaus 
verrufene, damals noch ganz unwirtliche Insel Hainan kennen 
zu lernen, über die er dann mehrere Gedichte schrieb. Im 
Jahre 1 1 o 1 wurde er noch einmal in seine früheren Würden 
eingesetzt, starb aber ebenso wie Wang Ngan Schi bald 
nach seiner Rückkehr. Beide erhielten Ehrentafeln im 
Tempel des Konfuzius, Wang Ngan Schi 1 1 04, Su Tung t 

Po 1235, um welche Zeit Wang Ngan Schi's Tafel wieder 
entfernt wurde; Su Tung Po's Tafel wurde 1845 entfernt. 
Als Dichter stehn sie beide in gleich hohem Ansehen. 
Formschönheit, poetische Diktion ist ihren Versen nach- 
zurühmen. Hier von jedem ein Beispiel: 

VANG NGAN SCHI: FRÜHLINGSNACHT 

Zu Asche ward die Räucherkerze, still ist die Wasseruhr, 
Ein kühler \^nd erhebt sich leise, erschauernd liegt die Flur. 

Ich kann nicht schlafen, Frühlingszauber füllt mir zu sehr 

den Sinn, 
Im Mondschein gleiten Blumenschatten über die Blenden hin. 

SU TUNG PO: ZU ANFANG DES JAHRES 

Der achte Tag ist grau von Regenschauer, 
Zwei Wochen währt nun diese Frühlingstrauer. 

Das Wasser strömt, das Feld ergrünt ringsher. 
Die Pflaumenblüten fallen tropfenschwer. 



48 



OTTO »JIUSEJ{ 



Vom kleinen Markt verschwand der Menschenhauf, 
Ein einzier Kahn scheucht Kraniche flatternd auf. 

Doch eines macht auch diese Öde teuer: 
Im gelben Abendschein die Fischer Feuer. 

Nach Wang Ngan Schi und Su Tung Po verh'ert die 
Lyrik ihre ursprüngh'che Bedeutung fast völlig und es voll- 
zieht sich der große Umschwung im chinesischen Geistes- 
leben, der sich schon allmählich vorbereitet hatte, um end- 
lich in der Usurpation des Thrones durch die mandschu- 
ische Dynastie Tsing (1644) ihren offiziellen Ausdruck zu 
erhalten. Aber nicht diese Herrschaft war es, die die Stagna- 
tion bedingte — die Tsing-Kaiser waren vielmehr persönlich 
Beschfitzer von Kunst und Wissenschaft — sondern in der 
Erschöpfung der Volkskraft durch allmählichen Aufbrauch 
des genialen Rassenelements muß man den Grund zu ihr 
sehen, wieGobineau diesen Gedanken zuerst ffir dieGeschich- 
te der westlichen Länder fruchtbar zu machen suchte. Groß- 
griechenland hatte ganz dasselbe Schicksal. Auch hier waren 
die türkischem Sultane eifrige Förderer aller geistigen und 
künstlerischen Betätigung, aber so reich an Menge die ge- 
schichtlichen, enzyklopädischen, philologischen und philoso- 
phischen Werke ihrer Zeit sein mögen, die Basis eines 
starken Volkstums fehlte. 



DIE VOLKSDICHTUNG 




ROMAN UND DRAMA 

LSDICHTUNGIMEIGENTLICHEN 
Sinne gilt in China, wie ähnlich auch in 
der moslimischen Welt, nur jenes poe- 
tische "Werk, das in Vers und Reim ab- 
gefaßt und so schon äußerlich und un- 
mißverständlich als Poesie gekennzeich- 
net Ist. Wenn nun auch eine Anzahl 
anonymer Gedichte und volkstümlicher 
Romanzen älterer Zeit als Poesie mitlaufen, so wird man 
sie doch kaum den Schöpfungen der bekannteren Dichter 
gleichsetzen. Die Romane und Dramen sind in den meisten 
Fällen ebenfalls anonym und dies allein schon bezeugt ihre 
geringere Einschätzung. Dies ist denn auch der große 
Unterschied zwischen China und dem moderneren Japan, 
wo Roman und Drama eine ganz ähnliche Stellung ein- 
nehmen und eine auffallend gleiche Entwicklung haben wie 
in Mitteleuropa. In meiner «Japanischen Dichtung" konnte 
ich dies des Näheren ausführen. So mag es auch berech- 
tigt sein, daß ich hier die drei großen Gebiete des Volks- 
liedes, des Romans und des Dramas nur in ihren gröbsten 
Umrissen behandle. 

Ein paar reizende Balladen stammen aus der Mitte und 
der zweiten Hälfte des ersten nachchristlichen Jahrtausends. 
Da wird von der schönen Lo Fu erzählt, die so lieblich ist, 
daß der Wanderer anhält, der Jüngling sich auffälliger her- 
ausputzt, der Sämann sein Säen, der Pflüger seinen Pflug 
läßt, wenn sie vor das Südtor der Stadt kommt, umMaul- 
BJ(Jfm>ES: DTE L7TEJ{ATWi. BJiND XXXIV D 



52 OTTO TiAUSrnj 

beerlaub für ihre Seidenraupen zu pflücken. Und auch ein 
Statthalter laßt sein Fünfgespann anhalten« als er sie sieht, 
und bietet ihr den Platz an seiner Seite. Sie aber will doch 
bei ihrem Manne bleiben: tausend Reiter und mehr sind 
ihm Untertan, auf einer Schimmelstute reitet er, gefolgt von 
dem weißen Füllen, und wenn er als Stadtgouvemeur im 
Rate sitzt, ist er doch der herrlichste von allen. Eine andere 
Romanze berichtet die rührende Geschichte der unglück- 
lichen Lan Tschih, die im Hause ihres Gatten von der 
Schwiegermutter trotz allen Fleißes beim'Weben träge ge- 
scholten und übel behandelt wird; endlich muß der Gatte 
sie sogar verstoßen. Aber sie schwören sich doch Treue 
und so schlägt Lan Tschih auch, wieder ins Haus ihrer Eltern 
zurückgekehrt, die Werbung eines höheren Beamten aus; 
dennoch als ihr älterer Bruder in sie dringt, willigt sie ein. 
Ihr Gatte erfährt von der vermeintlichen Sinnes Wandlung 
und sucht sie auf, um ihr Vorwürfe zu machen. Lan Tschih 
kann nur traurig sagen, daß sie von Eltern und Brüdern 
gezwungen worden sei, aber unten bei den gelben Quellen 
würden sie wieder miteinander vereinigt sein. Und Lan 
Tschih stürzt sich am Vorabend der Hochzeit in den Weiher 
und ihr Gatte erhängt sich, als er ihren Tod vernimmt; zu- 
sammen aber werden sie begraben und die Bäume, die man 
über ihr Grab pflanzte, schlangen wie jene zwei Rosen- 
stöcke über Tristans und Isoldes Grab die Zweige inein- 
ander; Mandarinen-Enten, die als Symbol der Gattentreue 
gelten, bauten ihre Nester über ihnen. Ebenso zart ist die 
Ballade von Mu Lan, die statt ihres Vaters in den Krieg 
zieht, und als sie sich nach mancher tapferen Schlacht eine 
Gnade ausbitten darf, nur ein Kamel begehrt, das sie in 
ihre Heimat bringe. Und als sie dann die Kriegsgewandung 
abgelegt hat und mit gelben Blumen im Haar vor die Haus- 
tür tritt, wie ftauncn 4? ihre Kameraden, die niemals ge- 



crnTJESiscTiE mcnTUJMG 5; 

ahnt hatten, daß es ein Mädchen war, das zwölf Jahre lang 
mit ihnen Seite an Seite kSmpftel Bis in die neueste Zeit 
zeichnet das chinesische Volkslied diese schlichte Innigkeit 
des Gefflhls aus. Es handelt nicht nur meistens von Frauen, 
sondern wird auch zumeist von ihnen gesungen oder selbst 
gedichtet. Eines dieser Lieder betitelt sich: 

DER JASMINSTRAUSS 
Sieh, wie hold ist dieser Blumenstrauß! 
Früh von taubenetztem Strauch gepflückt. 

Nun von einer lieben Hand 

Liebe kündend mir gesandt 1 
O ihr duft'gen Blütenl Stunden so beglückt! 

Schönste Blüte, lieblichste des Jahrsl 
Jedes Auge folgte wohl mit Neid, 

Trüg ich durch die Straßen dich, — 
Nein, zu andern bind ich dich 
Und daheim nur hab ich meine Seligkeit. 

Der chinesische Roman hat seinen Ursprung gewiß in 
der Fremde, in Zentral-Asien, dem Paradiese der MSrchen-^ 
erzähler, wie Giles meint, wahrscheinlicher aber in Indien, 
das ja seit dem Eindringen des Buddhismus oft senug 
von frommen Pilgern aufgesucht wurde. Einer jener Aben- 
teuerromane knüpft direkt an die berühmte Reise Hüan 
Tsang's an, der von 629 — 645 Indien besuchte und mit vielen 
Schriften und Reliquien heimkam, wie schon vor ihm Fa 
Hien von 399 — 414 eine noch größere Fahrt bis nach Java 
unternommen hatte; beide beschrieben ihre Erlebnisse. Was 
für Südeuropa der Orient, das ist für China der Okzident: 
das große Wunderland, daher die Märchen kamen. Man 
unterscheidet in China vier Gattungen von Erzählungen: 
solche von Haupt- und Staatsaktionen, solche von Liebe 
und Kabale, phantastische und abenteuerliche schlechthin 



j2 OTTO njniswj 

mit Räubern» Vagabunden und sonstigem zweifelhaften Ge- 
lichter. Europäische Gelehrsamkeit hat diesen in ihrer Hei- 
mat nur als Unterhaltungslektüre betrachteten Werken vieles 
Interesse angedeihen lassen. Th. Pavie übersetzte das »,San- 
kuo-tschih" (Paris 1845 — 51, jedoch unvollendet), Sir J. F. 
Davis das ,,Hao-kiu-tschuan" (The fortunate union, Lon- 
don 1829), dasselbe auch G. d'Arcy (Paris 1842), Stan. 
Julien das ,,Yü-kiao-li" (Les deux cousines, Paris 1 864), das 
»,Ping-schan-ling-yen" (Les deux jeunes filles lettr^es, Paris 
1864) und das ,,Po»sche-ki-tschuan" (Blanche et Bleue, ou 
les deux couleuvres f^es", Paris 1834), H. Bencraft Joly 
das ,,Hung-lou-meng" (The dream of the red Chamber, 
Hongkong und Schanghai 1892), aus der Novellensamm- 
lung „Kin-ku-ki-kuan" — „Wundersame Geschichten aus 
alter und neuer Zeit", etwa vierzig an der Zahl — über- 
setzten d'Hervey-Saint-Denys (Trois nouvelles chinoises, 
Paris 1 885, La tunique de perles, Paris 1 889, Six nouvelles, 
Paris 1892), Th. Pavie (Choix de contes et nouvelles, Paris 
1839), G. Schlegel (Le vendeur d'huile, Leyden und Paris 
1 877), Eduard Grisebach (Neue und alte Novellen der chi- 
nesischen looi Nacht, Stuttgart 1 880, Chinesische Novellen, 
Leipzig 1884, doch nach englischen Versionen, nicht aus 
den Originalen), Rob. K. Douglas (Chinese Stories, Edin- 
bourgh und London 1893), aus der Sammlung Liao-tschai 
Tschi-i — „Seltsame Geschichten aus dem Buen Retiro" — 
übertrug H. A. Giles zwei Bände (Strange Stories from a 
Chinese Studio, London i88o). Wer also Lust hat, chine- 
sische Erzählkunst näher kennen zu lernen, hat eine ziem- 
lich reiche Auswahl, er wird aber kaum mehr als drei oder 
vier mit vollem Interesse lesen, schon nach diesen wird sich 
ihm zeigen, daß die Schilderung der Charaktere, die Her- 
beiführung der Komplikationen recht schablonenhaft sind, 
vor allem aber wird er die Individualität des Autors ver- 



CTimESISCTIE mcnTllJMG 5^ 

missen, die in den japanischen Romanen sich schon seit dem 
Beginne der Romandichtung geltend macht. Darum kann 
man auch nicht von einer Entwicklung des chinesischen 
Romans sprechen, ebensowenig wie von einer Entwicklung 
des türkischen, ja selbst des persischen. Er kommt aus der 
Fabulistik nicht hinaus *— ein Niveau, das dem unserer 
Kolportage- und Familienblattromane entspricht. Japan 
hatte seine großen Romandichter, jeder der Vertreter einer 
besonderen Richtung und Gattung, Ibara Saikaku, Kyoden, 
Bakin, als deren zeitgenossische Parallelen etwa John Lily 
mit seinem „Euphues'% Fielding und "VC^alter Scott, diese 
die drei Hauptetappen des englischen Romans, genannt 
werden können. Die Automamen der oben aufgeführten 
chinesischen Romane sind entweder zweifelhaft oder sonst 
unbedeutend, kein auch auf anderem Gebiete hervorragen- 
der oder nur eigentümlicher Mann befindet sich unter ihnen. 
Und alle erzählen von jungen Baccalaureussen, die nicht 
das nötige Geld haben, um ihre Prüfungen zu machen, und 
lieben jungen Madchen, mit denen sie entweder doch zu- 
sammenkommen oder auch nicht, von alten Geizhälsen, kun- 
digen Alchymisten, Bonzen und Taopriestern, denen es mehr 
um das Geld zu tun ist als um ihre Götter und Heiligen, 
von kindlicher Pietät und Gattentreue, oder sie verfallen 
ganz ins Märchenhafte. In meinen „Ethnographischen No- 
vellen" (Stuttgart, Bonz & Co. 1901) findet man zwei Ge- 
schichten, die den Sukkus aus der chinesischen Erzählungs- 
art darstellen und sich auch im Stil an die chinesische Diktion 
halten; wem es um Kürze zu tun ist, kann ich auf diese 
zwei Novellen verweisen: sie umfassen kaum fünfzig Seiten, 
während chinesische Romane auch an viertausend Seiten 
und mehr zählen können. 

Das chinesiscfie Drama hat kaum weniger Vermittler in 
Europa gefunden als der Roman. Es erfüllte mit Staunen, 



^ OTTO 7tjrUSET{ 

in China, weltweit von unseren Shakespeares« Racines und 
Moli^res, ein voll ausgebildetes Drama zu finden, indessen 
Persien z. B. über die ersten Anfänge noch nicht hinaus- 
gekommen war. Von Schauspielaufffihrungen wird schon aus 
der Tang-Ara berichtet, aber erst aus der Zeit der größeren 
Mongoleneinbrüche stammen die ersten aufgezeichneten 
Stücke. Wieder führte dieses Zusammentreffen zu der Mei- 
nung, die Mongolen, die sich spater tatsachlich als große Be- 
günstiger des Theaters erwiesen, hatten das Drama in China 
eingeführt, aber man muß wohl auch hier annehmen, daß 
Indien mit seiner großen Dramenliteratur das Ursprungs- 
land sei. Viele Einzelheiten im szenischen Apparat sowie 
in der Führung der Handlung bezeugen dies. Aber das 
chinesische Drama steht nicht im entferntesten auf der Höhe 
des indischen. Zwar auch dieses erscheint uns wenig per- 
sönlich gefärbt und über seine Verfasser konnten die Ansich- 
ten der Forscher oft um Jahrhunderte auseinandergehn, in 
Indien jedoch fehlt diese Individualisierung, dieser histo- 
rische Sinn, der auch dem Autor eines Werkes Beachtung 
schenkt, im allgemeinen, während in China von frühester 
Zeit an über alles Bemerkenswerte sorgfältige Notizen ge- 
macht wurden, wie wir denn auch über Lyriker, Geschichts- 
schreiber, Staatsmänner die denkbar besten Nachrichten 
haben. Das Drama dient ebenso wie der Roman nur zur 
Unterhaltung. Die niedrige Stellung der Schauspieler tut 
dabei nichts zur Sache; sie war in Japan, in England bis 
in eine noch sehr nahe Vergangenheit eine ebenso niedrige, 
und doch bildete sich hier ein nationales Drama heraus, 
das mehr ist als nur Spektakel. Dies setzt das chinesische 
Drama auf eine gleiche Stufe mit den türkischen Volks- 
schauspielen, denen es aber inhaltlich doch wieder überlegen 
ist. Seine Blütezeit war unter der vorübergehenden Mon- 
golenherrschaft — der berühmte Kublai Khan war es, der 



CmßlESlSCTlE DICNTUJ^G ^^ 

1264 Peking zur Hauptstadt des Reiches machte — , die 
folgende Dynastie Ming (1368 — 1644) sah seine Nachblüte. 
Man unterscheidet ein militärisches und ein bürgerliches 
Drama» je nachdem kriegerische Ereignisse oder Herzens- 
angelegenheiten seinen Inhalt bilden, Balletteinlagen, zahl- 
lose Couplets, die immer wieder den Prosatext unterbrechen, 
komische Zwischenspiele sorgen für die Abwechslung, mit 
Vorliebe wird auch an das Mutterherz appelliert, das sich 
ja immer leicht rühren läßt. In Rudolf von Gottschalls 
„Das Theater und Drama der Chinesen" (Breslau 1887) 
findet man die Handlung einer ganzen Reihe von Dramen 
angegeben. Als Übersetzer machten sich vor allem ver- 
dient Bazin afn^ (Thdätre chinois, Paris 1838; Le Pi-pa-ki, 
ou rhistoire du luth, Paris 1841 ; Le si^cle des Youftn, 
Paris 1850; Chine moderne, Paris 1853) und Stan. Julien 
(Si-siang-ki, ou Thistoire du pavillon d'occident, com^die 
en seize actes, Genf 1872 — 80; Tchao-chi-kou-eul, ou 
l'orphelin de la Chine, Paris 1 834, Hoe7-lan-ki, ou Thistoire 
du cerde de craie, London 1 852). "VC^ieder findet man dieselben 
Personen wie in den Romanen, ebenso als bloße Typen ge- 
zeichnet und oft auch nur danach genannt, wie es die italie- 
nische Volksbühne tat. Und auch die neuesten Erzeugnisse 
der chinesischen Dramatik stehn noch ganz auf demselben 
Niveau des amerikanischen Spektakelstücks, das im besten 
Falle eine kluge Ausnützung des theatralischen Effekts be- 
kundet. Folkloristisches Interesse hat das chinesische Theater 
gewiß, ein künstlerisches vermag es kaum zu erwecken, und 
der Enthusiasmus einiger europäischer Bewunderer hat 
auch nicht ein einziges Stück wahrhaftig der Weltliteratur 
einverleibt. Es bleibt bei dem Urteile der Chinesen selbst, 
daß sowohl ihr Roman wie ihr Drama nicht in die eigent- 
liche, die hohe Literatur zu rechnen sind. 



DIE ZEIT DER MANDSCHUS 

1A3 FÜR GROSSGRIECHENLAND 
die Besetzung durch die Türken wir, 
dds war für Chin» der Oberging der 
Hemchergewalt an eine mindichuUche 
Dynastie. Die Einwanderung tartirisch- 
mongoliicher Stimme, die schon Jahr- 
hunderte früher erfolgt war (Bulgaren), 
hatte den Charakter de« byzantinischen 
Reiche* ils eines hellenischen noch nicht im 'Wesentlichen 
vet^ndert, wenn auch die Umwandlung vorbereitet. Ahn- 
lich ging an Chini die Mongolenherrschift vorüber. Ali 
aber nich drei Jahrhunderten nitionalcr Regierung, die 
zuletzt zur bloßen Eunuchen- und Harems Wirtschaft ge- 
worden war, die Mandschus Peking eroberten — der letzte 
Ming-Kaiser endete durch Selbstmord — da war China 
reif für ein Regiment, das trotz aller Regsamkeit im ein- 
zelnen jene Erstarrung und Stagnation herbeiführte, für 
die China sprichwörtlich ist. Und die Mandschus brachten 
den Chinesen auch das bedeutsame Symbol dafür: den Zopf. 
Die ersten mandschui sehen Kaiser gaben dem großen 
altgewordenen Reiche einen neuen Glanz. SchunTschih, der 
von Pekings Fall im Jahre 1644 bis an seinen Tod (1661) über 
ganz China regierte, Sßiicte das Land der katholischen 
Mission, die eine Reihe von Errungenachaften des Westens 
nach Osten brachte und vermSge ihrer Anpassungsfähigkeit 
an die VerhSItnisse alsbald vielen Einfluß und auch zahl- 
reiche AnhSnger gewann. Russische und holländische Ge- 




cnmESiscHE dichtujs/g ^j 

sandtschaften trafen an seinem Hof auch Abgesandte des 
Großmoguls« des Dalai Lama und der westlichen Tartaren. 
Der mächtige Rebell Tscheng Tscheng Kung« genannt Kuo 
Hing Ye, was die Portugiesen Koxinga wiedergaben, ein 
Anhänger der Mings, der noch einmal der nationalen Sache 
zum Siege helfen wollte, wurde von Nanking 
zurückgeschlagen. Kang Hi (1655 — 1723), der 
als achtjähriges Kind auf Schun Tschih folgte, 
blieb ebenfalls gegen die verschiedenen Auf- 
ständischen siegreich, ja dehnte die Grenzen gjg^ ^j 
seines Reiches bis Tibet aus; 1679 schloß er den 
ersten Handelsvertrag mit den Russen, die Ost- 
indische Kompagnie durfte sich in Amoy nieder- 
lassen. Auch er war ein Beschützer der Jesuiten, die für ihn 
astronomische Instrumente und Kanonen anfertigten und eine 
Landvermessung vornahmen; das „Heilige Edikt", das er 1671 
erließ und das den Konfuzianismus zur Staatsreligion oder 
besser vielleicht zur Staatsmoral erhob, erhielt erst 1724 in 
seinem Kommentar scharfe Wendungen gegen die christliche 
Irrlehre, die nur geduldet würde, weil ihre Vertreter des 
Kalendermachens kundig seien. Kang Hi's Bedeutung für 
die chinesische Literatur liegt weniger in den Versen, die 
er mit großer Emsigkeit und Leichtigkeit schrieb, als darin, 
daß unter seiner Ägide eine Reihe von enzyklopädischen 
Riesenwerken entstand, die noch heute ihren wissenschaft- 
lichen Wert haben, so das „Kaiserliche Wörterbuch", das 
vierzigtausend Zeichen enthält, wohl mit dem der fran- 
zösischen Akademie zu vergleichen, zwei Enzyklopädien, 
deren eine 1628 Bände füllt, eine Sammlung von Auszügen 
aus historischen und philosophischen Schriften und einen 
Thesaurus geflügelter Worte und Sentenzen. 

Fast noch größeren Ruhm hat Kaiser Kien Lung (1710 bis 
>799)# der 1735 auf den Thron kam, Enkel Kang Hi's. Das 



Kang 



51 



OTTO »JIUSEJ{ 




Lung 



Reich wurde unter ihm noch um einige Teile erweitert, 
Tibet mußte Chinas Oberherrschaft anerkennen. Portugal, 
England, Spanien und Holland schickten Gesandtschaften, 
] 763 besuchten zwei Chinesen Europa. Trotz dieser freund- 
lichen Beziehungen zum Auslande kam es unter 
ihm zu zwei großen Christenverfolgungen 1746 
und 1785, nicht zum geringsten wohl dadurch 
hervorgerufen, daß nach 1 742 auf Betreiben der 
Dominikaner gegen die Jesuiten das Christentum 
scharf von den Landesbräuchen abgegrenzt und 
so in dem Reiche der Duldsamkeit — im Westen 
übt der Islam dieselbe Duldung — zum Fremd- 
bestandteil wurde. Die Wissenschaft unterstützte Kien Lung 
ebenso wie Kang Hi, wenn auch epigonenhafter; das Größte 
war schon getan. Noch eifriger als Kang Hi war auch Kien 
Lung literarisch tätig und Europa erfuhr zugleich mit seinem 
Kaiserruhm auch seinen Dichterruhm. Im Jahre 1770 erschien 
bei Lacombe in Paris das nun seltene Buch „Eloge de la Ville 
Mookden et de ses environs, traduit en Fran^ois par le 
P.Amiot, missionnaire k Peking" und„Kien-Long, Empereur 
de la Chine et de la Tartaric" war der Verfasser der 
übersetzten Verse. Voltaire richtete darum an den Kaiser 
eine Epistel, die mit den Zeilen beginnt: 

Re^ois mes compliments, charmant roi de la Chine: 
Ton tröne est donc plac^ sur la double collinel 

Nicht weniger als vierunddreißigtausend Gedichte hinter- 
ließ Kien Lung, von deren Bedeutung er sicher so über- 
zeugt war wie Carmen Sylva von der Unschätzbarkeit ihrer 
Musengaben. Mehrere längere Stücke wurden auch in die 
meisten Sprachen des Ostens übersetzt und trugen den 
Dichterruhm des Kaisers unter seine nichtchinesischen 
Untertanen. Der Preis der Stadt Mukden wurde auch in 



KMSHR KIES LOSd 



cjiWBSiscwß mcjtruTiG 



ü 



Europa in seiner mandschuischen Fassung bekannt; Mukden 
war die Heimat der Tsing- Dynastie. Pater Amiot fügte 
der hymnischen Dichtung noch ein kleines Gedicht auf den 
Tee an, das in seiner Liebenswürdigkeit uns mehr anmutet; 
Gabriele d'Annunzio spielt in seinem Sonett ,,Sogno eso- 
tico'' das man im »»Intermezzo" findet» darauf an: 

... La Sacra bevanda con un riso 

voi ne la fine tazza di yu^ 

mi versate fra i nembi de! vapore; 

mentre a voi su '1 tappeto io prostro il viso» 

io poeta fanatico del th^ 

come Khian-Loung Celeste Imperatore. 

Mit fünfundachtzig Jahren dankte Kien Lung zu Gunsten 
seines Sohnes ab. Die Versemacherei wurde fortan von allen 
höchsten und allerhöchsten Persönlichkeiten mit gleichem 
Eifer gepflegt. Auch von der bekannten Kaiserin-Regentin 
wird berichtet, daß sie gelegentlich der Han-1 in- Akademie 
gleich sechshundert eigene Gedichte vorlegte; sie malt 
übrigens auch. 

Zur Zeit Kien Lung's lebte Yüan Tse Tsai (1715— 1797), 
gerühmt als der größte Dichter Chinas in neuerer Zeit. 
Seit Wang Ngan Schi und Su Tung Po waren sechs Jahr- 
hunderte hingegangen» aus denen es genügt» einige wenige 
Namen zu nennen. Liu Ki (131 1 — 1375) dichtete so zarte 
Verse» daß man sagen konnte» er schwebe auf dem Ostwind. 
Er war mit unter denen» die der Dynastie Ming zum Throne 
verhalfen» nachdem die Mongolenherrschaft gestürzt war; 
aber er endete im Kerker. Yang Ki (um 1400) ließ die 
feingeistige Poesie der Tang-Ara wieder in seinen Gedichten 
aufleben» Sung Schi (um 1600)» aus geringem Stande» sah 
den Verfall der Mings und beklagte das Los seines Vater- 
landes» das bald in die Hände der Barbaren fallen mußte» 



60 OTTO nJlUSBJi 




Fang Schu Schao (gest. 164a), ein großer Trinker vordem 

.Herrn, war als Dichter ebenso berfihmt wie als 

Kalligraph. Man darf hier sehr wohl an die BlOte 

der tfirkischen Poesie um diese Zeit erinnern, 

Yüan ^^ die doch auch nur ein Abglanz einer anderen 

bedeutenderen ist, eine Nachblüte auf einem 

Tse -jp* Boden, der l&ngst seine besten Früchte getragen 

■ ^ hatte und auf lange hinaus nicht wieder die 

J sai /^ gleichen von gleicher Güte hervorbringen konnte. 

Auch Yüan Tse Tsai ist keine Dichtergestalt von 
der Bedeutung eines Kiü Yüan und der Ursprüng- 
lichkeit eines Li Tai Po> in seiner Universalität 
könnte man ihn aber einen Voltaire des Ostens nennen. 
Sein philosophisches Programm findet man in den Zeilen*]: 

Ich seh, wie jedermann in dieser Welt, 
An einen Buddha, einen Gott sich hält. 

Der Leib wird schwach von Fasten, Büßergram 
Und von Verbeugungen der Nacken lahm. 

Doch alles dies ist Wahn, wie ichs erfand; 
Wer fängt des Windes Schatten mit der Hand? 

Wenn wahrhaft Götter unserm Ruf erschienen. 
Der lautste aller, sang ich Lob mit ihnen. 

Yüan Tse Tsai wollte sich ursprünglich der höheren Be- 
amtenkarriere widmen, aber das Mandschuische bereitete 

*) Ich bin hier genötigt, nach C. Imbault-Huarts Über- 
setzung allein zu übersetzen, da mir nur die Abschrift dieser 
Übersetzungen, die ich seinem Essay über Yüan Tse Tsai 
(Journal of the China Branch of the Royal Society, XIX, 
1886) entnahm, zur Verfügung steht; von den Texten hatte 
ich leider keine Abschrift genommen. 



CmJMESlSCHE DJCHTUJMG 6l 

ihm unüberwindliche Schwierigkeiten, so ging er als Magi- 
stratsbeamter in die Provinz. Mit vierzig Jahren jedoch 
zog er sich vom Amte zurück und lebte nun ganz sei- 
nen literarischen Bestrebungen. In der Nähe von Nanking 
hatte er sich ein Tuskulum geschaffen, wo er nun nach 
der Art Pe Kiü l's einen schöngeistigen Kreis um sich sam- 
melte« Außer mit der Dichtkunst beschäftigte er sich mit 
Geschichte, Kritik, Philosophie und auch mit der Koch- 
kunst, was ihm den Namen eines chinesischen Brillat-Savarin 
eingetragen hat. Br genoß eines großen Ruhmes; selbst 
von den Liu-kiu-lnseln kamen Leute nach Nanking einzig 
und allein, um seine Gedichte zu kaufen, wie sein Biograph 
sagt. Lieblich sind seine Verse auf sein Töchterchen A Liang, 
das ihm mit fünf Jahren starb: zweitausend Zeichen kannte 
sie schon und der Vater las die Gedichte der Tang-Zeit 
mit ihr; und mit ihrer jüngeren Schwester teilte sie alles, 
was sie bekam, zwei Wildgänsen glichen sie, wie sie ein- 
ander jagten; am Morgen spielte sie mit Pinsel und Tuschen 
und am Abend schnitt sie Puppenkleider aus Papier; wenn 
der Vater unter seinen Büchern und Raritäten Ordnung 
machte, wollte sie gar nicht aus der Stube, und wenn er 
Zahnweh hatte, brachte sie ihm Zuckerwerk; ihre Pupillen 
glichen zwei schwarzen Lacktupfen und das Glück stand 
ihr auf der Stirne geschrieben, so war sie die Freude seines 
Alters, bis sie plötzlich dahinwelkte wie eine Blüte des 
Udumbarabaumsl Viele kleine Züge reiht er so aneinander 
zu einem überaus liebenswürdigen Bilde aus dem chinesi- 
schen Familienleben, das sonst in der Poesie kaum hier und 
da gestreift wird. Ich Übersetze noch zwei Vierzeiler nach 
Imbault-Huart: 

WEIDENKÄTZCHEN 
Die Weidenkätzchen sind wie lichte Flocken, 
Sie wirbeln, ohne je im Flug zu stocken. 



G2 



OTTO TlJmSEJi 



Tseng 
Kuo 



Fan 



Sie fragen nicht, wo ihnen Rast bestimmt, 
Sie folgen nur, wohin der Wind sie nimmt. 

DAS WELKE BLATT 

Was hier auf Erden Bifite trSgt und Laub, 
Wird, wie es lebte, auch des Todes Raub. 

Das welke Blatt blickt ins Gezweig empor. 

Es ffihlt voll Schmerz, daß es sein Grfin verlor. 

Ober die chinesische Dichtung des neunzehnten Jahr- 
hunderts urteilt ein so ausgezeichneter Kenner wie H. A. 
Giles: „Taken altogether, the poetry of the present dynasty, 
especially that of the nineteenth Century, must be written 
down as nothing more than artificial verse, with the art not 
even concealed, but grossly patent to the dullest observer" 
und „The present age has seen the birth of nogreat ori- 
ginal writer ih any department of literature, nor the pro- 
duction of any great original work worthy to 
be smeared with cedar-oil for the delectation of 
posterity.'' Er spricht weiter davon, daß es Ge- 
pflogenheit sei, nach dem Tode eines sonst be- 
deutenden Mannes auch seine Verse herauszu- 
geben, die eines succ^s d'estime sicher seien, 
und wie der Chinese von heute durch die Lite- 
ratur der Vergangenheit förmlich erdrückt werden 
müsse, da er nicht hofPen könne, etwas zu schafften, 
was ihren Meisterwerken ebenbürtig sei. Dies 
mag richtig sein. Die Namen, die sich nennen 
lassen, fallen zumeist in diese Kategorie. Tseng Kuo 
Fan (18] 1 — 1872), der große Staatsmann, der die schweren 
Folgen des Massakres von Tien-tsin (1870) verhütete, in 
hohen Ehren und in Armut starb, und Li Hung Tschang 
(1822 — 1901), der Bismarck des Ostens, einer der reichsten 




CmJ^ESlSCTtB TUCfiTUT^G 



6i 




Männer der Erde, sie beide gaben ihren Schriften den 
Ruhm ihres Namens, und dies mag sie — vielleicht — vor 
Vergessenheit bewahren. Dichter von Ruf waren Tschao 1 
(1727 — 1814) und Yao Nai (1730 — «815), ein 
liebenswürdigeres größeres Gedicht, „Das Lied 
vom Theepflficken'S das um 1840 Aufsehen ge- 
macht haben muß — man findet es im Chinese 
Repository, Canton 1 836, und metrisch übersetzt 
in der zweiten Auflage von Sir ]. Fr. Davis' 
Poeseos Sinensis commentarii, London 1870 — 
schrieb ein gewisser Li llh Tsing, aus Hai-ytng 
gebürtig, über den ich sonst nichts zu finden 
vermochte. Die Dichtung mutet uns durch das 
volkstümliche Motiv an und konnte wie ein Vor- 
zeichen der nationalen Wiedergeburt erscheinen, die dann 
Hung Siu Tschüan (181a — 1864) durch seinen gewaltigen, 
große Teile des Volkes tief ergreifenden Aufstand, der 
als Taiping- Aufstand bekannt ist, herbeiführen 
wollte. Hung Siu Tschüan war selbst Dichter 
und gewiß einer der eigenartigsten, wenn auch 
nicht größten — sein Leben allerdings war die 
größte Epopöe des neueren China — eigene Phan- 
tastik und christliche Einflüsse mischen sich in 
ihm und machen ihn zu jenem hinreißenden 
Prediger, zu dem siegreichen Führer und zu dem 
in seiner Herrlichkeit schwelgenden Kaiser der 
Rebellen. Als er Nanking, seine Residenz, ver- 
loren sah, nahm er Gift und ließ seinen Leichnam ver- 
brennen. Mit Hilfe europäischer WafFen war die Herr- 
schaft der Mandschus wiederhergestellt worden. Es waltete 
hier wohl dasselbe politische Jnteresse, das auch die Balkan- 
halbinsel im wesentlichen der türkischen Herrschaft erhält 
und die nationale griechische Bewegung nicht aufkommen 



^ 


Hung 


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Siu 


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Tschüan 



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OTTO njrusw{ 



läßt. Und es wird kauixi anders werden, nun Japan die 
Hegemonie im Osten errungen hat; Japan wird nur die 
Rolle der Europäer übernehmen und weiterführen. Es ist \ 

kein gutes Horoskop, das man hiernach dem Reich der j 

Mitte stellen kann : niedergedrückt von der Bedeutung seiner j 

klassischen Kultur, niedergehalten von den politischen \ 

Mächten der Gegenwart, unter fremder Herrschaft, können 
sich seine Kräfte nicht frei entfalten und die vierhundert 
Millionen seiner Ländermasse bedeuten für das kulturelle 
Leben unserer Zeit kaum mehr als die hundertfünfzig Mil- 
lionen des Islam auf den Trümmern der antiken Welt. 



Als hauptsächlichste Werke wurden zu der vorliegenden 
Darstellung benutzt: 

HERBERT A. GILES, A history of Chinese literature. 
London 1901, BandX der Short Histories of the Litera- 
tures of the World. 

Derselbe: A Chinese biographical dictionary. London und 
Schanghai 1898. 

Derselbe: Chinese poetry in English verse. London und 
Schanghai 1898. 

DR. WILHELM GRUBE, Geschichte der chinesischen 
Literatur. Leipzig 1902. Band VI 11 von »Die Litera- 
turen des Ostens in Einzeldarstellungen". 

C. IMBAULT-HUART, La podsic Chinoise du XI Vc au 
XlXe si^cle. Paris 1886. 

P. ANGELO ZOTTOLl S. J. Cursus Litteraturae Sinicae. 
Schanghai 1 882. 

Weitere Quellen für Einzelheiten findet man im Texte 
angegeben. Vgl. auch des Verfassers Studien über chine- 
sische Poesie in der »»Deutschen Dichtung" (1900), ,,Aus 
fremden Zungen" (1900)» der Beilage zur »»Allgemeinen 
Zeitung" ( 1 90 1 ) und der »»Täglichen Rundschau" ( 1 90 1 )» seine 
Verdeutschung einer Auswahl aus Li Tai Po's Gedichten 
(Großenhain und Leipzig» 1 906) und die Aufsätze über den 
Dichter in der »»Nationalzeitung" (1907) und den »»Münch- 
ner Neuesten Nachrichten" (1907). 

Es erübrigt mir hier noch» Herrn Professor Dr. Peter 
Rheden, der mir eine Reihe wertvoller Werke aus seiner 
chinesischen Bibliothek auf das Liebenswürdigste zur Ver- 
fügung stellte» meinen besten Dank zu sagen. 

BJiJfJWES: DTE VlTEJ{J(rUJ{. BJfND XXXJV E 



(>(> UTET{A TU]{- VEJ{ZE1C»M1S 



Von Otto Hauser erschienen an eigenen W^erken: 

Ethnographische Novellen. 

Lehrer Johannes Johansen. (Auch italienisch.) 

Ein abgesetzter Pfarrer. 

Angelika und Malwine. 

Lucidor der Unglackliche. (Auch dftnisch und serbisch) [Roman] 1848. 

Spinoza (Auch holländisch und hcbrftisch.) 

Die Familie Geßner. 

Mutter und Sohn (Drama). 

Der Reigen der schönen Frauen (Gedichte). Stttcke daraus auch französisch 

und dftnisch. 
Runen (Gedichte). 
Die deutschen Ausgaben sftmtlich im Verlage von Ad. Bonz & Co., Stuttgart. 



An Obersetzungen: 



Verlaine, Paul, Gedichte. Aus dem Französischen. Berlin, Concordia. 

Rossetti, Dante Gabriel, „Das Haus des Lebens.'* Ein Sonettenzyklus aus 
dem Englischen. Jena, Eugen Diederichs. 

Wilde, Oskar, „Gedichte" und „Die Ballade vom Zuchthaus zu Reading". 
Aus dem Englischen. Wiener Verlag (Bd. J der deutschen Gesamtausgabe 
der Werke Wilde's). 

Longfellow, H. W., „Evangeline". Aus dem Englischen. Nürnberg, E. Nister. 

Alis^ieri, Dante, „Das neue Leben". Aus dem Italienischen. Berlin, Julius 
Bard (Bd. 11 des Hortus Deliciarum). 

Maraja, Xeres de la, (Milan Begowitsch), „Venus "^ctrix'^ Ein Renaissance- 
Lustspiel, aus dem Kroatischen. Großenhain u. Leipzig, Baumeit&Ronge. 

Ferner die Sammlung metrischer Übertragungen „Aus fremden Gftrten", 
Großenhain u. Leipzig, Baumert & Rongc, darin : 

Suvinburne, A Ch., Gedichte. Aus dem englischen. 

von Enden, Fredederik, „Ellen". Ein Lied vom Schmerz. Aus dem Nieder- 
ländischen. 

Li Tai Po, Gedichte. Aus dem Chinesischen. 



An lyrischen Auswahlen In eigener Übertragung mit literar- 
historischen Einleitungen: 

Die niederlftndische Lyrik von 1875—1900. 

Die belgische Lyrik von 1880—1900. 

Die dftnische Lyrik von 1872—1902. 

Die japanische Lyrik von 1880— 1900. 

Sftmtliche im Verlag von Baumert & Ronge, Großenhain u. Leipzig. 



An literarhistorischen Arbeiten: 

Die japanische Dichtung. 

Die cninesiche Dichtung. 

In der Monographicnsammlung »»Die Literatur'', Berlin, Marquardt & Co. 

Weltgeschichte der Literaturen. Leipzig, Bibliograph. Institut. (Jn Yorb.) 

An philologischen Werken: 

Die Urform der Psalmen. 
Die althebrftjsche Poesie. 
Im Verlag von Baumert & Ronge, Großenhain u. Leipzig.