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OLNOHO A
2
VELUT,
Presented to the
LIBRARY of the
UNIVERSITY OF TORONTO
by
Peter Kaye
Die Ethik.
Von
B. Spinoza.
Neu überſetzt und mit einem einleitenden Vorwort verſehen
„ede
von
J. Stern,
Feipsig.
Druck und Verlag von Philipp Reclam jun.
Vorwort des Überfekers.
Nichts iſt beſtändiger, als der Wechſel. Der Zahn der Zeit benagt
auch den härteſten Kieſel, die Senſe Saturns mäht die mächtigſten
Eichen ab, und was ehedem für alle Ewigkeiten gegründet ſchien und
die Wogen des Zeitenſtromes ſich ſorglos um den trotzigen Buſen
ſpielen ließ, nach Jahrhunderten war es morſch und brüchig geworden.
Große Weltreiche ſind vom Erdboden hinweggefegt worden und nur
noch in den Chroniken finden ſich ihre Spuren. Rieſen unter den
Tiergeſchlechtern ſind ausgeſtorben, Seen und Meere ſind eingetrocknet,
Gebirge ſind geſunken und Thäler breiten ſich an deren Stelle aus.
Die ewigen Sterne ſelbſt erbleichen nach Jahrmillionen und ſogar für
die Götter kommt der Tag der Götterdämmerung und läßt ſie, denen
das Attribut der Ewigkeit vorzugsweiſe gezollt wird, hinabſteigen in
die Schattenwelt und die Throne des Himmels Nachfolgern einräumen,
welche im Lauf der Jahrhunderte ein gleiches Schickſal ereilt, und es
kommt die Zeit, wo das ganze Geſchlecht der Götter geweſen iſt, in
den Katakomben der Geſchichte ruht und nur noch ein heiteres Spiel⸗
zeug der Muſen iſt.
Nicht anders iſt es mit andern Großmächten des Geiſtes. Ideen,
welche viele Jahrhunderte hindurch der idealen und materiellen Geſtaltung
der Civiliſation, den Gedanken und Anſchauungen wie den Handlungen
und Einrichtungen ihr Gepräge verleihen, werden von neuen geiſtigen
Mächten in den Hintergrund gedrängt und verdrängt. Mit abſoluter
Souveränität ſchwang einſt die Kirche ihr Scepter über die Völker.
Kaiſer und Könige neigten ihr Haupt vor ihren Vertretern und zitterten
vor ihrem Bannſtrahl. Leben und Tod hing an ihrem Munde, die
Geſchicke der Menſchen und Völker lagen in ihren Händen. Und heute?
In denjenigen Kreiſen, in welche das Licht des Wiſſens zu dringen
vermochte, genießt ſie nur noch die Achtung, die man Greiſen weiht,
welche eine bedeutende Vergangenheit hinter ſich haben. Die Geſetz⸗
gebung hat ſich von ihr emancipiert und geſtattet ihr kaum einen
merklichen Einfluß. Nur loſe und locker hängt ſie noch mit dem Staat
1*
4 Ethik. Einleitung.
zuſammen. Sie führt nur noch ein ſchattenhaftes Daſein. — Und wie
im Leben, ſo herrſchte einſt die Kirche in der Wiſſenſchaft unter dem
Namen Theologie oder Gottesgelahrtheit, und wie im Leben ſo
wurde ſie auch in der Wiſſenſchaft mediatiſiert. Ihr Erbe trat die
Philoſophie an, welche ihrerſeits bald wieder vor den Natur⸗
wiſſenſchaften zurückweichen mußte.
Sehr verfehlt wäre es indeſſen, aus dieſer ſtetigen Metamorphoſe
des Kulturorganismus die Nichtigkeit alles Wiſſens zu ſchließen und
der Skepſis zu huldigen. Vielmehr vollzieht ſich in ſolchen Wandlungen
der Klärungs⸗ und Läuterungsprozeß des menſchlichen Wiſſens, das
große Geſetz der Entwicklung, welches im Reich des Gedankens ebenſo
wie in dem der Organismen waltet. Alle jene verfloſſenen geiſtigen
Mächte enthielten kulturelle Momente genug, mögen dieſe nun poſitiver
oder anregender, den Fortſchritt fördernder Natur geweſen ſein. Und
wenn ſie auch vom Schauplatz des Kulturlebens abtreten mußten, ſo
hinterließen ſie demſelben doch ihre guten Beſtandteile, ihre edlen Säfte
und Kräfte. Ihr Leib verweſte, ihre Seele hatte einen neuen Leib
erhalten, oder war in die Weltſeele der Kultur aufgegangen.
Nur verblendete Einſeitigkeit kann z. B. beſtreiten, daß auch die
Kirche ihre großen Verdienſte um die Kulturentwicklung hat. Es iſt
ſogar gewiß, daß die neuzeitlichen Freiheits- und Gleichheitsbeſtre⸗
bungen, die darauf gerichtet ſind, die Gegenſätze zwiſchen Ständen und
Klaſſen auszugleichen und alle Menſchen an den Errungenſchaften der
Kultur participie ren zu laſſen, aus der durch das Chriſtentum zwar
nicht erſtmals aufgeſtellten, aber doch populariſierten und unter den
Völkern verbreiteten Lehre, daß alle Menſchen Brüder ſeien, heraus⸗
gewachſen ſind. Dem Staatsweſen des Altertums, auch den griechiſchen
Demokratien, lag die Gleichheitsidee gänzlich fern; wie denn die Arbeit
und die Arbeiter bei den antiken Kulturvölkern als „banauſiſch“ ge⸗
ring geſchätzt wurden, ſo daß ſogar Künſtler wie Phidias verachtet waren,
wiewohl ihre Werke der Stolz Griechenlands waren und man ſich glück⸗
lich pries, ſie einmal im Leben geſehen zu haben. Selbſt die Philo⸗
ſophen teilten dieſe Anſchauung; nannte doch ſelbſt ein Sokrates die
Gee (die Geſchäftsloſigkeit) die Schweſter der Freiheit. — Macht man
aber hiergegen den grellen Widerſpruch zwiſchen der beſagten Lehre und
der Praxis während der Glanzperiode der Kirche geltend, ſo iſt das, als
wollte man über die Medizin den Stab brechen, weil ſie bislang über
zahlreiche Krankheiten noch keine Macht beſitzt. Ideen wie die in Rede
Ethik. Einleitung. 5
ſtehende Lehre bedürfen Jahrhunderte, bis es ihnen gelingt, den Egoismus
(bezuglich des Ziels) und die Unwiſſenheit (bezüglich der Mittel) —
beide Eigenſchaften, die der Menſch von Natur mit ſeinen tieriſchen
Verwandten gemein hat — zu überwinden, wie auch die ſuperſtiöſe
Hülle, in der ſie zuerſt auftraten, zu ſprengen, um ſich nach und nach
im praktiſchen Leben zu verwirklichen.
Zum Teil werden dieſe geiſtigen Mächte — um wieder zu unſerm
Gegenſtand zurückzukehren — keineswegs gänzlich depoſſediert, ſondern
nur eingeſchränkt, ſoweit ſie ſich in Dinge gemiſcht hatten, die eigent⸗
lich außerhalb ihrer Sphäre lagen, ſofern ſie über die eigentlichen
Grenzen ihres Gebiets hinaus und in Nachbargebiete hinübergegriffen
hatten. Dies iſt beſonders bei der Philoſophie der Fall, deren hoher
Wert für das geſamte Wiſſensgebiet unbeſtreitbar iſt, wenn ſie auch
manche Provinzen aufgeben und an die Naturwiſſenſchaften abtreten
mußte.
Kein philoſophiſches Syſtem ſteht mit dieſen, den Naturwiſſen⸗
ſchaften, ſo ſehr im Einklang, wie das Syſtem Spin ozas — weil kein
anderes ſich ſo ganz auf die eigene Domäne der Philoſophie beſchränkt
hat, und mit ſolchem Tief⸗ und Scharfblick und ſolch logiſcher Strenge
verfahren iſt — wie denn überhaupt die geiſtige Strömung der Gegen⸗
wart allenthalben auf die Quellen zurückleitet, die in der Ethik ihren
Urſprung haben. Sogar ſind die epochemachendſten Theorien der
modernen Naturforſchung, die Theorie von der Erhaltung der Kraft
und die Darwinſche Evolutionstheorie, notwendige Ergänzungen und
Konſequenzen des Spinozismus, ſo daß man wohl annehmen darf,
daß den exakten Forſchern von dem philoſophiſchen Denker (wenn auch
indirekt) der Weg gezeigt wurde, auf welchem ſie zu ihrer Entdeckung
gelangten.
Wenn die Subſtanz und ihre Kräfte, wie Spinoza lehrte, ewig ſind,
weder Anfang noch Ende haben, jo kann ſelbſtredend keine Kraft ver⸗
loren gehen, und ihr Verſchwinden kann nichts anderes bedeuten, als
Umwandlung in eine andere Form (der Bewegung). — Und wenn die
Natur, wie Spinoza lehrt, niemals nach Zwecken, ſondern immer nur
nach Urſachen handelt, wenn alle teleologiſchen Geſichtspunkte in der
Erklärung der Natur als intellektuelle Hallucinationen aufgegeben
werden müſſen und die Kauſalität allein alles Werden regiert, ſo
bedarf die Zweckmäßigkeit in der Bildung der Organismen einer kau⸗
ſalen Erklärung und dieſe iſt es eben, welche die Evolutionstheorie
6 Ethik. Giuleitung.
giebt.) — Die Ausdehnung des Kauſalitätsgeſetzes auf den menſch⸗
lichen Willen und die menſchlichen Handlungen wird zwar theoretiſch
noch jetzt vielfach beſtritten; in den verſchiedenen Zweigen des prak⸗
tiſchen Lebens aber iſt ſie mehr oder weniger zur Geltung gelangt,
und ſelbſt die Rechtspraxis hat ſich ihr teilweiſe anbequemen müſſen. —
Selbſt die auf Centraliſation der Produktion gerichteten ſocialen Be⸗
ſtrebungen unſerer Zeit können ſich auf Stellen in der Ethik zu ihren
Gunſten berufen. Man ſehe im vierten Teil die Anmerkungen zu den
Lehrſätzen 18 und 35, und im Anhang desſelben Teils $ 12. Hierzu
vergleiche man das fünfte Kapitel des Theologiſch⸗politiſchen Traktats,
worin es heißt: „Die menſchliche Gemeinſchaft iſt nicht bloß zum Schutz
vor Feinden, ſondern auch zur Herſtellung vieler nützlichen Dinge gut
und ſogar höchſt notwendig“; ein Satz, der wie ein Proteſt gegen die
mancheſterliche Richtung klingt. — Man wird überhaupt gut thun,
in allen Vitalfragen ſich in Spinozas Ethik umzuſehen, da ſie, beſon⸗
ders in der Analyſe der menſchlichen Affekte, die feinſten Beobachtungen
über das Seelenleben enthält, aus welchen höchſt wertvolle Fingerzeige
für das praktiſche Leben abgeleitet werden können. Noch jetzt ſind die
großen und tiefen Gedanken in dieſem reichhaltigen und ergiebigen
Ideenſchacht nur zum Teil verſtanden und gewürdigt und für das Ge⸗
ſamtwiſſen fruchtbar gemacht worden.
Spinozas Ethik iſt ein Monumentalbau des Gedankens, mit dem
ſich kein anderes Werk im weiten Reich der Wiſſenſchaft vergleichen
läßt, und nur der Schwierigkeit ihres vollen Verſtändniſſes iſt es zu⸗
zuſchreiben, daß ſie nicht längſt populär geworden und als „achtes
Weltwunder“ anerkannt iſt. Das Syſtem Spinozas, ſagt Kuno Fiſcher,
iſt ein Kryſtall der Philoſophie, ſowohl in der Strenge der Form, als
in der Durchſichtigkeit des Inhalts, und wie die reguläre Körperbildung
der Natur an den Kryſtallen am beſten erkannt werden kann, fo iſt die
rationelle Begriffsbildung und das Vermögen des demonſtrierenden
Geiſtes am reinſten dargeſtellt im Spinozismus. Der Gedanke gährt
hier nicht in einer trüben Tiefe, ſondern klärt ſich auf in ſicheren und
durchſichtigen Bildungen; er breitet ſich aus wie das Licht im Univer⸗
*) Daher hat auch der Spinoziſt Goethe ſich ſo lebhaft mit dem
Problem befaßt, welches Darwin gelöſt hat, und den Darwinismus
ſozuſagen vorgeahnt. S. Strauß, Der alte und der neue Glaube,
Abſchnitt 55.
Ethik. Einleitung. 7
ſum, und indem er überall hinſcheint, ſo behält die Welt nirgends ein
dunkles und unbegriffenes Gebiet, das an der Stelle des Verſtandes
die menſchliche Einbildungskraft einnehmen könnte. Es giebt in dem
Lichte der einen Subſtanz keinen Schatten, wie es an den Orten keinen
Schatten giebt, welche die Sonne in ihrem Zenith haben.
Bei alledem iſt das Verſtändnis der Ethik, wie bereits bemerkt,
teilweiſe ungemein ſchwierig, und keineswegs bloß für den im abſtrakten
Denken ungeübten philoſophiſchen Laien. Dies hat ſeinen Grund nicht
bloß in der zum Teil eigenartigen Terminologie,“) ſondern auch in
*) Die Ausdrucksweiſe Spinozas wurde von den beiden zu ſeiner
Zeit die Geiſter beherrſchenden Richtungen erheblich beeinflußt, der
theologiſchen Weltanſchauung, zu welcher ſich die Nichtphiloſophen be⸗
kannten, (vulgus Volk nennt er ihre Bekenner, und superstitiosi Ver⸗
treter des Aberglaubens die Theologen), und der carteſianiſchen Philo⸗
ſophie, welcher die wiſſenſchaftlich Gebildeten der damaligen Zeit
huldigten. In der Darſtellung ſeines eigenen, dieſen beiden Richtungen
diametral entgegengeſetzten Syſtems bequemt er ſich daher zum Teil ihrer
Sprechweiſe an; keineswegs aus Scheu, die Dinge beim rechten Namen
zu nennen — enthält doch die Ethik Stellen genug, welche für die
Theologie vernichtend ſind — ſondern weil er in gewiſſen Begriffen
und Lehren derſelben brauchbare Bauſteine für ſein Syſtem erblickte,
ſofern ſie nur in ſeinem Sinne verſtanden werden. So z. B. wenn er
die Subſtanz (welche ſtellenweiſe auch Natur heißt) Gott nennt, oder
wenn er im Fünften Teil eine Art Unſterblichkeit der Seele lehrt
(welche ſubjektiv zu nehmen iſt, indem der Geiſt, ſobald er die Dinge
unter dem Geſichtspunkt der Ewigkeit auffaßt, von keiner Vorſtellung
der Vergänglichkeit beunruhigt wird. Die Worte Fauſts gegen Me⸗
phiſto über das Epitheton „ewig“ ſind offenbar eine Spinoziſtiſche Re⸗
miniscenz). Man ſehe auch im Zweiten Teil Lehrſatz 7, Anmerkung;
im Vierten Teil Lehrſatz 68, Anmerkung; im Fünften Teil Lehrſatz 36,
Anmerkung. — Was die Carteſianiſche Philoſophie anbelangt, ſo be⸗
merkt Dühring: „Um die beiden uneigentlichen Subſtanzen zu beſei⸗
tigen, die Carteſius für Ausdehnung und Denken angenommen hatte,
macht Spinoza ſie zu bloßen Attributen einer und derſelben Wirk⸗
lichkeit. Hätte in dieſer Beziehung der Druck der carteſiſchen Atmo⸗
ſphäre den eigenen Geiſt Spinozas an ſeiner natürlichen Haltung nicht
behindert, ſo würde er in dem Denken kein Attribut anerkannt haben.
Ja es iſt wahrſcheinlich, daß er den ganzen Begriff des Attributs gar
nicht concipiert, ſondern ſofort sie Arten und Weiſen (modi) des Seins
würde eingeführt haben.“
8 Ethik. Einleitung.
ſcheinbaren Widerſprüchen des Werkes. Kein Wunder daher, daß die
Ethik, reſp. der Spinozismus, ſehr verſchiedenartige Auffaſſungen ge⸗
funden hat, und daß noch jetzt die Akten darüber nicht geſchloſſen ſind.
— Leſern, welche in das volle Verſtändnis des Werks eindringen
wollen, empfehlen wir als Hilfsmittel die Werke: „Spinozas Leben
und Lehre“ von C. v. Orelli (Aarau 1850), „Geſchichte der neueren
Philoſophie“ von Kuno Fiſcher, Erſter Band, II. Abteilung (Mann⸗
heim 1854) und „Die Lehre Spinozas“ von Theodor Camerer (Stutt⸗
gart 1877), ohne daß wir uns in allem und jedem zur Auffaſſung dieſer
Autoren bekennen. — Aber auch ſolche Leſer, welche ſich dem Verſtänd⸗
nis des Syſtems in ſeinem organiſchen Zuſammenhang nicht gewachſen
fühlen, werden in allen fünf Teilen desſelben zahlreiche ſehr gemein⸗
verſtändliche und jedermann einleuchtende Stellen finden, wo ihnen das
ſonnenhafte Auge des größten Denkergenies unverſchleiert entgegen⸗
blickt; populäre Oaſen, in welchen klar und kryſtallhell die Silberquellen
des Geiſtes ſprudeln, und köſtliche Gedankenfrüchte den Leſer erquicken.
In dieſer Hinſicht machen wir beſonders auf die Anmerkungen, wie
auch auf die Vorworte und Anhänge zu den einzelnen Teilen auf⸗
merkſam, wo die Darſtellung die Form ſtreng mathematiſcher Demon⸗
ſtration abſtreift und ſich in freier Behandlungsweiſe ergeht.
Verſuchen wir es, die Hauptgedanken des Syſtems, der philoſophi⸗
ſchen Kunſtſprache entkleidet, nach unſerer Auffaſſung in aller Kürze
populär darzuſtellen.
Die (räumlich) ausgedehnte Subſtanz (die Materie oder der
Stoff) iſt das einzig Exiſtierende. Die Exiſtenz einer nicht ausgedehn⸗
ten Subſtanz iſt Illuſion. Außer der Einen ausgedehnten Subſtanz
exiſtiert nichts.
Die Subſtanz iſt ewig und unzerſtörbar, ohne Anfang und ohne
Ende.
Wie die Ausdehnung, ſo gehört auch das Denken zum Weſen
der Subſtanz. Beide ſind Attribute derſelben, ohne welche ſie nicht
gedacht werden kann.
Durch den Wechſel von Bewegung und Ruhe entſtehen die ver⸗
gänglichen Formen oder Daſeinsweiſen, Modifikationen oder Modi
(Einzahl Modus) der Subſtanz, die vergänglichen Dinge, der Wechſel
der Erſcheinungen, die Einzelweſen. Alle Einzelweſen oder Einzeldinge
find Daſeinsformen der Subſtanz, kräuſelnde Wellen im ewigwogenden
Meere der ewigen Subſtanz.
Ethik. Einleitung. 9
Die Subſtanz mit ihren Attributen iſt das ewigwirkende Weſen,
welches ſich in den mannigfaltigen Erſcheinungsformen offenbart. Die
Erſcheinungsformen ſind vorübergehend, die Subſtanz und die Attri⸗
bute in ihnen find ewig.“)
Alle Einzeldinge haben eine doppelte Seite, eine ewige und eine
zeitliche. Die Subſtanz und die Attribute in ihnen ſind das Ewige,
N die Form iſt das Zeitliche, Vergängliche.
Kein Weſen kann in nichts zerfallen,
Das Ewige regt ſich fort in allen,
Am Sein erhalte dich beglückt!
Das Sein iſt ewig; denn Geſetze
Bewahren die lebend'gen Schätze,
Aus welchen ſich das All geſchmückt.
In dieſem Vers ſpricht Goethe die Weltanſchauung Spinozas aus,
wie auch in den Worten, die der Erdgeiſt zu Fauſt ſpricht:
In Lebensfluten, im Thatenſturm
Wall ich auf und ab,
Webe hin und her!
Geburt und Grab,
Ein ewig Meer,
Ein wechſelnd Weben,
Ein glühend Leben.
So ſchaff' ich am ſauſenden Webſtuhl der Zeit
Und wirke der Gottheit lebendiges Kleid.
Das lebendige Kleid der Gottheit, das ſind die flüchtigen Formen
der Erſcheinungswelt.
Die Subſtanz mit ihren Attributen, oder die Natur, wirkt oder
*) Das Fahnden nach dem metaphyſiſchen Subſtrat der Erſchei⸗
nungswelt, womit ſich ſpätere Philoſophen abquälten und das bei
Schopenhauer zu der wunderlichen Theorie führte, daß der Wille das
Abſolute ſei, muß in der Beleuchtung der ſpinoziſtiſchen Philoſophie als
ein ebenſo unnötiges wie zweckloſes Beginnen erſcheinen. Der Begriff
Sein iſt die gegebene Vorausſetzung alles Denkens, der Fundamental⸗
begriff aller Begriffe, der den Begriff Exiſtenz in ſich ſchließt und alſo
weder bewieſen zu werden braucht noch kann. Die Aufgabe des Denkens
kann alſo nur ſein, den Mae des Seins oder der Subſtanz zu ent⸗
wickeln.
10 Ethik. Einleitung.
handelt nicht nach Zwecken, ſondern nur nach Urſachen. Der Natur
Zwecke andichten iſt kindiſcher Anthropomorphismus. Das Geſetz der
Kauſalität herrſcht allgemein. Keine Wirkung ohne Urſache. Alles
was geſchieht, geſchieht daher mit eherner Notwendigkeit.
Nichtsdeſtoweniger handelt oder wirkt die Subſtanz frei. Denn
unter freiem Wirken verſteht Spinoza ein Wirken, zu welchem das
wirkende Subjekt nur von den Geſetzen Seiner“) Natur urſächlich be⸗
ſtimmt oder veranlaßt wurde. Nur dasjenige Wirken iſt ein un⸗
freies, bei welchem das wirkende Subjekt von einem andern beein⸗
flußt wird. Die Subſtanz handelt oder wirkt darum immer frei, da
es nur Eine Subſtanz giebt, welche von keinem andern zum Wirken
beſtimmt werden kann. Die Einzelweſen aber handeln frei, wo ſie nach
den Geſetzen der eigenen Natur handeln, unfrei, wo ſie von andern
Einzelweſen beeinflußt werden.
Vollkommen und unvollkommen, gut und ſchlecht, ſind
Gegenſätze, welche von der objektiven Betrachtung der Natur fern ge⸗
halten werden müſſen. Die Natur iſt nirgends unvollkommen, und
gut und ſchlecht können die Dinge von dem Menſchen nur genannt
werden, ſofern ſie für ihn, den Menſchen, nützlich oder ſchädlich ſind.
Der Menſch ſelbſt iſt nur ein Modus, eine Daſeinsform der
Subſtanz, wie alle andern Einzelweſen. Aber er iſt ein Modus von
mehr Realität als andere Modi; denn er iſt ein mit Verſtand be⸗
gabtes Einzelweſen, er beſteht aus Geiſt und Körper.
Der Geiſt iſt kein vom Körper verſchiedenes Weſen, ſondern eine
an den Leib gebundene Eigenſchaft, ein Attribut des Körpers, ver⸗
gänglich wie dieſer. Er iſt die Denkfähigkeit des Menſchenkörpers.
Im Denken ſpiegelt ſich die Welt des Seins. Die reale Welt
wird daher in der Welt des Geiſtes reflektiert, und zwar vermittelſt
des eigenen Körpers. Denn den Inhalt des Geiſtes bildet der Kör⸗
per; die mannigfaltigen Vorgänge in ihm, ſeine verſchiedenen Zu⸗
ſtände und Erregungen reflektieren ſich im Geiſte. Vermittelſt der
Eindrücke, welche andere Dinge auf den Körper machen, ſpiegeln auch
fie ſich im menſchlichen Geiſte.
*) Wir haben in dieſem Werk die Wörter, welche beſonders betont
werden ſollen, wie „ein“ im Sinne von einzig, „ſeine“ im Sinne von
ſeine eigene, nicht durch Sperrdruck, ſondern durch große Anfangs⸗
buchſtaben ausgezeichnet.
Ethik. Einleitung. 11
Ideen find Bejahungen und Verneinungen der Körpererregungen
und des Reflektiertwerdens dieſer Erregungen im Denken (Ideen der
Ideen). Falſche Ideen ſind nur unvollſtändige (inadäquate) Ideen,
verſtümmelte und verworrene, oder unklare Spiegelung der Vorgänge
des Körpers, wahre (adäquate) Ideen ſpiegeln die körperlichen Vor⸗
gänge vollſtändig und geordnet, klar. Das Falſche iſt daher nichts
Poſitives in den Ideen, ſondern nur ein Stück Wahrheit.“)
Der menſchliche Wille ſteht, wie jeder andere Modus, wie jede
andere Naturerſcheinung, unter dem Geſetz der Kauſalität. Es iſt eine
reine Einbildung (eine inadäquate Idee), wenn die Menſchen glauben,
es ſtehe ganz in ihrem Belieben, ſich ſo oder anders zu entſchließen.
Denn der Wille iſt nur das bewußte Begehren. Dieſes ſelbſt aber
*) Treffend behauptet Spinoza, daß ſehr viele Irrtümer eigentlich
gar keine Ideen, ſondern nur gedachte Worte ſeien. (S. die Anmer⸗
kung zu Lehrſatz 49 im Zweiten Teil.) — Die Sprache iſt aller⸗
dings ein vorzügliches Inſtrument des Denkens und für dieſes ſelbſt
noch weit wichtiger, als für die Mitteilung. Denn wie ungeſchmeidig
und ſchwerfällig würde der Geiſt Begriffe bilden, urteilen und ſchließen,
wenn er mit der ſpartaniſchen Münze reiner Begriffe operieren müßte.
Statt deſſen bedient er ſich des gedachten Worts wie eines leichten
Papiergelds, wodurch der höhere Denkprozeß erſt möglich wird. (Nicht
übel heißt daher in älteren Schriften der Menſch das redende Tier.)
Das iſt aber auch wiederum die Urſache ſehr vieler Irrtümer. Denn
da auf die Kongruenz des Worts mit dem Begriff, den es vertritt,
häufig nicht geachtet wird, ſo wird manches in Worten kombiniert, was
in den eigentlichen Begriff aufgelöft gar nicht zuſammen denkbar iſt.
Goethe, der Spinoziſt, hat dies ohne Zweifel im Sinn, wenn es im
Fauſt heißt:
Schüler: Doch ein Begriff muß bei dem Worte ſein.
Mephiſto: Schon gut! Nur muß man ſich nicht allzu ängſtlich quälen!
Denn eben, wo Begriffe fehlen,
Da ſtellt ein Wort zur rechten Zeit ſich ein.
Mit Worten läßt ſich trefflich ſtreiten,
Mit Worten ein Syſtem bereiten,
An Worte läßt ſich trefflich glauben,
Von einem Wort läßt ſich kein Jota rauben.
Und an einer andern Stelle:
Gewöhnlich glaubt der Menſch, wenn er nur Worte hört,
Daß ſich dabei auch etwas denken laſſe.
12 Ethik. Einleitung.
iſt nichts anderes als der Selbſterhaltungstrieb (beim Menſchen das
Streben nach Wohlbefinden). Der Selbſterhaltungstrieb, welcher jedem
Einzelweſen innewohnt, iſt eben die Urſache, welche jedes Begehren
determiniert, unſer ganzes Thun und Laſſen reguliert.
Der Menſch begehrt nach Naturnotwendigkeit, was ſein Daſein
fördert (oder was ihn mit Luſt erregt), und verſchmäht, was es
hemmt (oder was ihn mit Unluſt erregt). Beim Widerſtreit der Be⸗
gierden ſiegt immer die ſtärkere Begierde. Das beſſere Wiſſen alte⸗
riert das Begehren nur inſofern, als bei beſſerem Wiſſen die latente
Begierde nach dem erwacht, was dem Wohlbefinden mehr entſpricht,
weshalb es der Körper ſtärker begehrt; während es bei mangelhaftem
Wiſſen dem Begehren entrückt iſt, weshalb die Begierde das erſtrebt,
was dem Wohlbefinden minder entſpricht. Das beſſere Wiſſen iſt bloß
das geſchärfte Auge des Begehrens. Die Entſchließung iſt immer in
der jeweiligen Dispoſition des Menſchen im Moment des Entſchließens
bedingt. Unter allen Illuſionen erſcheint Spinoza als eine der gröbſten
die, daß die Menſchen ihren Willen für frei im gewöhnlichen Sinne
halten, daß ſie glauben, der Menſch mache eine Ausnahme von allen
andern Naturdingen und ſtehe außerhalb des Geſetzes der Kauſalität.
Er kommt in mehreren Stellen der Ethik auf dieſe ſeine epochemachende
Lehre zurück und am Schluß des Zweiten Teils beleuchtet er ihre mannig⸗
fache Nützlichkeit, wohl wiſſend, daß fie von verſchiedenen Seiten als eine
vermeintlich verderbliche Lehre angefochten werden würde. Auf den
hausbackenen Einwand, daß hienach die Geſellſchaft kein Recht hätte,
den Verbrecher zu beſtrafen, antwortet er in ſeinen Briefen.) Eine
*) Dieſelben werden von mir überſetzt in gleichem Verlag erſchei⸗
nen. — Die vernünftige Auffaſſung der Strafe, welche die Geſellſchaft
über den Verbrecher verhängt, iſt in dem Schillerſchen Vers ausgedrückt:
„Nicht Geſchehenes rächen, gedrohtem Übel wollen wir begegnen“. Der
Begriff der „Sühne“ muß hiernach allerdings aufgegeben werden.
Sühne iſt in der That bezüglich der Geſellſchaft nichts anderes als
Rachſucht beim Individuum. Die Geſellſchaft aber darf ſich nicht auf
den Standpunkt des Affekts ſtellen, ſondern muß den des Intellekts
einnehmen. — Pſychologiſch verfehlt iſt es auch — nebenbei bemerkt —
wenn man durch recht harte und rohe Strafen (Todes⸗ und Prügel⸗
ſtrafe) von Verbrechen abſchrecken will. Rohe Strafen verrohen die
Geſellſchaft und ſtumpfen die Senſibilität für die Strafe eher ab.
Beweis: das Mittelalter.
Ethik. Einleitung. 13
geradezu idiotenhafte Auffaſſung verrät es, wenn man dieſelbe, wie
ſchon oft geſchehen iſt, mit dem Fatalismus identifiziert, oder als eine
dem Fatalismus verwandte Lehre bezeichnet; da ja gerade Spinoza es
iſt, der die wahre Erkenntnis zum Hauptmotiv des menſchlichen Wollens
und Strebens erheben will.
Schiller hat dieſer Spinoziſtiſchen Lehre vom Willen in dem Vers
Ausdruck gegeben:
Des Menſchen Thaten und Gedanken, wißt!
Sind nicht wie Meeres blind bewegte Wellen,
Die innere Welt, ſein Mikrokosmus iſt
Der tiefe Schacht, aus dem ſie ewig quellen.
Sie ſind notwendig, wie des Baumes Frucht,
Sie kann der Zufall gaukelnd nicht verwandeln.
Hab ich des Menſchen Kern erſt unterſucht,
So weiß ich auch ſein Wollen und ſein Handeln.
Das praktiſche Ziel der Ethik iſt, wie ſchon der Titel zeigt, die
Tugend⸗ oder Glückſeligkeitslehre, denn Tugend und Glück⸗
ſeligkeit ſind für Spinoza eins und dasſelbe, was er am Schluß des
Werks in einem eigenen Lehrſatz hervorhebt. Die menſchliche Glück⸗
ſeligkeit iſt in den phyſiſchen und pſychiſchen Zuſtänden des Menſchen
bedingt. In letzterer Hinſicht iſt ſie Gegenſtand der Philoſophie (ſpeciell
der Pſychologie).
In pſychiſcher Hinſicht kommen für die Glückſeligkeit die Affekte
in Betracht, welche, ſo zahlreich ſie ſind, von Spinoza auf drei Haupt⸗
affekte zurückgeführt werden. Alle Affekte find teils Luft oder Unluſt“)
*) Für das Verſtändnis pſychologiſcher Vorgänge und ſpeciell der
ſpinoziſtiſchen Affektlehre iſt es ungemein wichtig, daß man die un⸗
mittelbare Luſt und Unluſt von der mittelbaren oder idealen
ſcharf unterſcheide. Unter der letzteren verſtehe ich diejenige, welche
durch die Idee der unmittelbaren Luſt und Unluſt in der Stimmung
erzeugt wird. Z. B. der Genuß einer Frucht erregt in meinem Ge⸗
ſchmacksſinn Luſt (unmittelbare Luſt). Infolgedeſſen erregt die Idee
dieſer Frucht in meiner Stimmung Luſt (mittelbare oder ideale Luſt,
Liebe). Nur dieſe letztere gehört zu den Affekten im Sinne Spinozas.
Darum definiert Spinoza den Affekt als eine (verworrene) Idee. Die
unmittelbare Luſt oder Unluſt dagegen wird von Spinoza durch „größere
oder geringere Realität“ oder „Daſeinskraft des Körpers“ bezeichnet.
14 Ethik. Einleitung.
(oder auf ihren Gegenſtand bezogen Liebe und Haß), teils Begierde.
Die letztere verhält ſich zu den beiden erſteren ſo, daß die Begierde das,
was im Menſchen die Stimmung der Luſt erregt, erſtrebt, bezw. zu
erhalten ſucht, und das, was im Menſchen die Stimmung der Unluſt
erregt, verſchmäht, bezw. zu entfernen ſucht. — Soweit nun die Affekte
Unluſtſtimmungen ſind, hemmen ſie die menſchliche Glückſeligkeit. Aber
auch die Luſtaffekte beeinträchtigen die Glückſeligkeit nicht wenig, ſofern
aus ihnen Begierden entſpringen, die den Menſchen zu Handlungen
veranlaſſen, welche ſeine Glückſeligkeit hemmen; und ferner, ſofern ſie
den Geiſt für eine beſtimmte Sache occupieren und feine freie Bethä⸗
tigung, die Erkenntnis, hemmen. Unſer Philoſoph ſchreitet daher zur
eingehenden Behandlung der Affekte. Entſprechend ſeiner Lehre, daß
der Menſch als ein Produkt der Natur betrachtet und verſtanden werden
müſſe, analyſiert er dieſelben wie der Naturforſcher phyſikaliſche oder
phyſiologiſche Phänomene und der Mathematiker Linien, Flächen und
Körper, und giebt uns hochintereſſante Aufſchlüſſe über die Natur der
einzelnen Affekte, ihren Urſprung, ihre Stärke, ihre Wandlungen, ihre
gegenſeitigen Beziehungen u. ſ. f.
Hierbei ergiebt ſich die höchſt wichtige Scheidung der Affekte
in ſolche, welche aus unklaren, und ſolche, welche aus
klaren Ideen entſpringen. Nur aus unklaren Ideen können
Unluſtaffekte entſpringen; aus klaren Ideen entſpringen nur Luſtaffekte.
Nur Affekte, welche aus unklaren Ideen entſpringen, können dem
Wohlbefinden nachteilig werden, Affekte, die aus klaren Ideen ent⸗
ſpringen, ſind ihm ſtets förderlich. Denn hat der Menſch unklare
Ideen, ſo freut er ſich kindiſch an dem glänzenden Schimmer von
Scheingütern, die ihm häufig genug zum Verderben gereichen, und er⸗
ſtrebt ſie. Hat er aber wahre Ideen, ſo erfreut er ſich nur an den
echten Gütern und wendet ihnen ſein Streben zu. Unluſt aber kann
ſchon darum aus klaren Ideen nicht entſpringen, weil die klare Idee
alles unter dem Geſichtspunkt der Notwendigkeit auffaßt (ſ. ſpäter). —
Die aus unklaren Ideen entſpringenden Stimmungen nennt Spinoza
paſſive Affekte oder Leiden, die aus klaren aktive Affekte,
Handlungen oder Thätigkeit. Denn bei jenen erleidet der menſchliche
Durch dieſe Diſtinktion werden alle Nebel, die bisher die ſpinoziſtiſche
Affektlehre trübten und die Erklärer verwirrten, vollſtändig zerſtreut
und ſie enthüllt ſich uns in ſonniger Klarheit.
Ethik. Einleitung. 15
Glückſeligkeitstrieb die Einwirkung von Außendingen, wodurch er von
ſeinem wahren Ziel abgelenkt wird, er leidet von den Außendingen;
nicht aber bei dieſen. Und da nach Spinoza nur derjenige Modus
frei handelt, der nach den Geſetzen Seiner Natur handelt oder thätig
iſt (ſ. oben), ſo handelt der Menſch frei, wenn ſein Begehren aus
klaren Ideen, unfrei, wenn es aus unklaren Ideen hervorgeht.
Unter allen Gütern muß hienach die Erkenntnis das höchſte
Gut ſein, weil ſie der ſicherſte Kompaß iſt für den Glückſeligkeitstrieb,
und zugleich ſelbſt die Stimmung in den ihr am meiſten zuſagenden
Zuſtand verſetzt. Diejenige Erkenntnis, welche ſich auf die Regelung
des menſchlichen Thun und Laſſens bezieht, nennt Spinoza Vernunft,
und ein hienach geregeltes Leben ein vernunftgemäßes Leben. — Eben
das und nichts anderes iſt die Tugend. Der tugendhafte Menſch
regelt ſein Leben nach den Vorſchriften der Vernunft, weil das ſeinem
Trieb nach Wohlbefinden entſpricht, während der Laſterhafte den
Affekten folgt, den Weg nach Wohlbefinden einzuſchlagen glaubt, aber
irregeleitet wird, ſtrauchelt und nie zu ſeinem Ziele gelangt. Die
Grundlage der Tugend kann daher keine andere ſein, als der Selbſt⸗
erhaltungstrieb oder der Trieb nach Wohlbefinden, und alle Verſuche
der Moraliſten, die Tugend auf eine andere Baſis zu ſtellen, mußten
und müſſen daher ebenſo ſcheitern, wie die Verſuche des Phyſikers, die
Schwerkraft aufzuheben.
Welche Hauptregeln ergeben ſich nun aus der Vernunft für die
menſchliche Lebensweiſe? Vor allem veranlaßt ſie den Menſchen, immer
mehr ſeine Erkenntnis zu läutern und zu vermehren. Denn je mehr
und je klarer wir die Dinge erkennen, deſtoweniger leiden wir von
ihnen, deſtomehr verwandeln wir ſie mit dem Zauberſtab der Erkennt⸗
nis zu unverſiegbaren Quellen ungetrübter Freude. — Weiter ergiebt
ſich aus der Vernunft die Selbſtbeherrſchung, die Mäßigkeit und andere
ähnliche Maximen im Verhalten des Menſchen gegen ſich ſelbſt. Daß
Spinoza kein einſeitiger Philoſoph des Geiſtes iſt, der die Bedeutung
des Körpers unterſchätzt oder vernachläſſigt, zeigen uns mehrere Stellen
der Ethik, welche betonen, daß der Geiſt deſtomehr zur Erkenntnis
fähig iſt, je kräftiger der Körper iſt. Und daß er kein finſterer Asket
oder Prediger der Abſtinenz iſt, zeigt die ſchöne Stelle in der An⸗
merkung zum 45. Lehrſatz im Vierten Teil. — Im Verhalten des
Menſchen gegen andere Menſchen ergiebt ſich aus der Vernunft das
Streben, die übrigen Menſchen zu unterſtützen und ſie durch Freund⸗
16 Ethik. Einleitung.
ſchaft zu verbinden, mit andern Worten: die Nächſtenliebe oder Huma⸗
nität. In ſchöner Übereinſtimmung mit dem Chriſtentum lehrt auch
der Spinozismus, daß Haß und Kränkung mit Liebe und Wohlthun
erwidert werden ſollen.“) Auch jede leidenſchaftliche oder gewaltſame
Bekehrung Andersdenkender (in religiöſen oder andern Anſichten), jeder
Fanatismus ſteht mit der Vernunft im Widerſpruch. Überhaupt iſt
der Vierte Teil der Ethik reich an überaus weiſen Anweiſungen für
die Lebenspraxis. — Bezeichnend für den verſtändigen, jeder peſſimiſti⸗
ſchen und miſanthropiſchen Moroſität abholden, realiſtiſchen Idealismus
Spinozas iſt auch ſeine hohe Wertſchätzung der ſtaatlichen Gemeinſchaft.
Klar und unanfechtbar find Spinozas Erläuterungen des Natur⸗ und
bürgerlichen Rechts. Man kann hienach in Kürze den Rechtsbegriff ſo
definieren: Von Natur kann jeder thun, was er will und vermag.
Die Geſellſchaft aber ſetzt dem individuellen Willen Schranken zu
Gunſten des Geſamtwohls. Handlungen, welchen ſolche Schranken nicht
geſetzt ſind, ſind das Recht des Geſellſchaftsglieds. |
Die Vernunft muß aber endlich auch zu dem Streben führen, die
Affekte ſelbſt (nicht bloß die Handlungen) zu bemeiſtern, diejenigen,
welche ein Übermaß haben können, zu zügeln und die ſchlechten zu
bekämpfen. Wie dies geſchehen kann, giebt der Fünfte Teil an. Unter
den Waffen des Geiſtes wider die Affekte iſt eine der wirkſamſten die
Betrachtung alles Geſchehenen unter dem Geſichtspunkt der Notwendig⸗
keit. Dieſe herrliche Idee, die ich in meiner „Religion der Zukunft“
(Stuttgart 1883, J. H. W. Dietz) ein „geiſtiges Bromkali aus der
Apotheke der Philoſophie“ genannt habe, erlöſt das Menſchengemüt von
den qualvollen Affekten der Aufregung und Betrübnis über Schickſals⸗
ſchläge, wie des Zorns, des Haſſes und der Rachſucht gegen die Menſchen.
In der reinen Atmoſphäre des Spinozismus kann die Giftpflanze des
Übelwollens nicht gedeihen. Denn jo wenig wir den Elementen zürnen
können, die unſere Glücksgüter zertrümmern, ſo wenig kann ſich in der
Bruſt deſſen der Haß oder die Rachſucht einniſten, der auch die menſch⸗
lichen Handlungen als notwendige Konſequenzen des Kauſalitätsgeſetzes
*) Es iſt in der aufkläreriſchen Litteratur Mode geworden, ſich
über dieſe edle Maxime zu moquieren, und ſie als unpraktiſch zu ſtig⸗
matiſieren, während ſie doch offenbar weder die private, noch die
ſtaatliche Notwehr gegen die Schlechtigkeit und die Schlechten aus⸗
ſchließen will.
Ethik. Einleitung. 17
erkennt,“) und der Zorn wird niemals den Siedepunkt erreichen können,
wenn dieſer Geſichtspunkt feſtgehalten wird.
Vollſtändig aufgehoben kann ein Affekt nur werden durch einen
entgegengeſetzten ſtärkeren Affekt. Unter den aus der klaren Erkennt⸗
nis entſpringenden Affekten iſt der ſtärkſte die Luſt, welche aus der
klaren Erkenntnis des Univerſums, des Seins und Werdens, in ſeiner
ewigen geſetzmäßigen Ordnung und abſoluten Harmonie entſpringt. Und
da Luſt, verbunden mit einer äußeren Urſache, Liebe heißt, ſo heißt
dieſer höchſte Affekt, in dem der Menſch die höchſte Seligkeit findet, in⸗
tellektuelle Liebe Gottes. Ein von ihr erfülltes Gemüt kann von
ſchlechten Affekten nicht heimgeſucht werden. Schön ſagt K. Fiſcher: „Denken
iſt Liebe. Denn das klare Denken iſt die Anſchauung vom Weſen der
Dinge, alſo die Betrachtung des Ewigen, die mit einer göttlichen Ruhe
das ganze menſchliche Daſein erfüllt. Das Herz wird ſtill nach dem
Sturme der Leidenſchaften; der Wille wird rein von Begierden; das
Gemüt, nachdem es von jeder Selbſtſucht frei geworden iſt, findet ſich
unwillkürlich im Zuſtande reiner und unendlicher Hingebung. Dieſe
Liebe iſt die Sabbathſtille des Geiſtes. Hier weht die Friedensluft
des Spinozismus und das Heiligtum iſt vor uns aufgethan, in dem
ſich die vorzüglichſten Geiſter eines tiefbewegten Zeitalters, die Dichter
und Propheten unſerer Welt erquickt haben, wo Goethe ausruhte von
den Stürmen des Lebens, wo Schleiermacher, als die Vorſtellungen der
kindlichen Zeit dem zweifelnden Auge verſchwanden, das Weſen der
Religion und der Frömmigkeit wieder entdeckte. Der amor dei intel-
lectualis Spinozas enthält die Verſöhnung der Menſchennatur, denn
er bringt das Gemüt in Übereinftimmung mit der Vernunft und be⸗
grüßt die Menſchheit mit der göttlichen Botſchaft: Friede iſt mit dem
denkenden Geiſte! Wir wiſſen dieſer friedlichen Gemütsſtimmung, die
Spinoza intellektuelle Liebe genannt hat, keinen beſſern Ausdruck zu
geben, als Goethe in den Worten ſeines Fauſt gefunden hat, der vom
Spaziergang heimgekehrt iſt in die kontenplative Ruhe des Studier⸗
zimmers:
) Ohne daß darum feine Aktionskraft gelähmt würde. Im Gegen⸗
teil, je weniger der Geiſt von den Affekten turbuliert wird, deſto
klarer erkennt er, wie er im Intereſſe des eigenen Wohlbefindens zu
handeln hat; wogegen der Affekt den Geiſt verdunkelt und ihn zu Thaten
treibt, die nach dem bekannten Dichterwort ein anderes Antlitz zeigen,
nachdem ſie vollbracht ſind, als zuvor.
2
18 Ethik. Einleitung.
Entſchlafen find nun wilde Triebe
Mit ihrem ungeſtümen Thun:
Es reget ſich die Menſchenliebe,
Die Liebe Gottes regt ſich nun!
In dieſer ungetrübten Glückſeligkeit gipfelt die Tugend. Daher
ſchließt die Ethik mit dem Lehrſatz: „Die Glückſeligkeit iſt nicht der
Lohn der Tugend, ſondern die Tugend ſelbſt.“
Wie in der Überſetzung des Theologiſch-politiſchen Traktats war
ich auch in der Überſetzung der Ethik hauptſächlich darauf bedacht, durch
Klarheit und Beſtimmtheit des Ausdrucks und ungekünſtelten Satzbau
den Sinn des Originals in voller Deutlichkeit hervortreten zu laſſen.
Hie und da erachtete ich es für nötig, ein deutſches Wort, das ſich mit
dem des Originals nicht vollſtändig deckt, oder das einen ſchielenden
Sinn hat, durch ein oder einige in Klammer beigefügte Worte näher
zu verdeutlichen“) i
Der am Schluß beigefügte Führer wird zum Verſtändnis des
Werks erheblich beitragen.
Stuttgart, im Februar 1887.
3. Stern.
*) Die Überſetzungen Auerbachs und Kirchmanns leiden an denſelben
Gebrechen, die in der Überſetzung des Theologiſch-politiſchen Traktats
namhaft gemacht ſind. Die kritiſchen „Erläuterungen“ vollends, welche
Herr von Kirchmann feiner Überſetzung beizufügen ſich geſtattete, be⸗
kunden die gänzliche Unfähigkeit des Autors, in das Verſtändnis der
Ethik einzudringen.
Ethik.
In geometriſcher Weiſe behandelt.
In fünf Teilen.
Seite
Dita Sort Seat
II. Über die Natur und ben Urſprung des Geiſtes *
III. über den Urſprung und die Natur der Affekte 149
IV. über die menſchliche Unfreiheit, oder die Macht
fee 248
V. über die Macht der Erkenntnis, ober. die menſch⸗
, 8
2*
Fıfer Teil.
über Gott
Definitionen.
1. Unter Urſache ſeiner ſelbſt verſtehe ich etwas,
deſſen Weſen die Exiſtenz einſchließt, oder etwas, deſſen
Natur nur als exiſtierend begriffen werden kann.
2. Endlich in ſeiner Art heißt ein Ding, das durch
ein anderes von gleicher Natur begrenzt werden kann. Ein
Körper z. B. heißt endlich, weil wir ſtets einen andern
größeren begreifen. Ebenſo wird ein Gedanke durch einen
andern Gedanken begrenzt. Dagegen wird ein Körper nicht
durch einen Gedanken, noch ein Gedanke durch einen
Körper begrenzt.
3. Unter Subſtanz verſtehe ich das, was in ſich iſt und
durch ſich begriffen wird; d. h. etwas, deſſen Begriff nicht
den Begriff eines andern Dinges nötig hat, um daraus
gebildet zu werden.
4. Unter Attribut verſtehe ich dasjenige an der Sub-
ſtanz, was der Verſtand als zu ihrem Weſen gehörig
erkennt.
5. Unter Modus!) verſtehe ich eine Erregung (Affektion)
der Subſtanz; oder etwas, das in einem andern iſt, N 5
welches es auch begriffen werden kann.
6. Unter Gott verſtehe ich das abſolut unendliche Weſen,
d. h. die Subſtanz, welche aus unendlichen Attributen be⸗
*) Art, Weiſe, Daſeinsweiſe, Form, Daſeinsform.
22 Ethik. Erſter Teil.
ſteht, von denen ein jedes ewiges und unendliches Sein
ausdrückt.
Erläuterung.
Ich ſage abſolut unendlich, im Gegenſatz zu: in ſeiner
Art. Denn was nur in ſeiner Art unendlich iſt, dem
können wir unendliche Attribute abſprechen. Was dagegen
abſolut unendlich ift, zu deſſen Weſen gehört alles, was
Sein ausdrückt und keine Verneinung in ſich ſchließt.
7. Dasjenige Ding wird frei heißen, das bloß vermöge
der Notwendigkeit ſeiner eigenen Natur exiſtiert und bloß
durch ſich ſelbſt zum Handeln beſtimmt wird; notwendig
oder vielmehr gezwungen wird ein Ding heißen, das
von einem andern beſtimmt wird, auf gewiſſe und be⸗
ſtimmte Weiſe zu exiſtieren und zu wirken. a
8. Unter Ewigkeit verſtehe ich die Exiſtenz ſelbſt, ſofern
ſie aus der bloßen Definition des ewigen Dinges als not⸗
wendig folgend begriffen wird.
Erläuterung.
Denn ein ſolches Daſein wird als ewige Wahrheit, wie
das Weſen des Dinges, aufgefaßt, und kann daher durch
die Dauer oder die Zeit nicht erklärt werden, wenn man
auch unter Dauer „ohne Anfang und ohne Ende“ verſteht.
Axiome.
I. Alles, was iſt, iſt entweder in ſich oder in einem
andern.
II. Was durch ein anderes nicht begriffen werden kann,
muß durch ſich ſelbſt begriffen werden.
III. Aus einer gegebenen beſtimmten Urſache folgt not⸗
wendig eine Wirkung, und umgekehrt: wenn keine be⸗
ſtimmte Urſache gegeben iſt, kann unmöglich eine Wirkung
folgen.
Ethit. Über Gott. 23
IV. Die Erkenntnis der Wirkung hängt von der Er⸗
kenntnis der Urſache ab und ſchließt dieſelbe ein.
V. Dinge, welche nichts miteinander gemein haben,
können auch nicht wechſelſeitig aus einander erkannt werden,
oder der Begriff des einen ſchließt den Begriff des andern
nicht ein.
VI. Eine wahre Idee muß mit ihrem Gegenſtand über-
einſtimmen.
VII. Was als nicht exiſtierend begriffen werden kann,
deſſen Weſen ſchließt die Exiſtenz nicht ein.
Erſter Lehrſatz.
Die Subſtanz iſt von Natur früher als ihre Er⸗
regungen.
Beweis.
Derſelbe erhellt aus den Definitionen 3 und 5.
Zweiter Lehrſatz.
Zwei Subſtanzen, welche verſchiedene Attribute haben, |
haben nichts mit einander gemein.
Beweis. f
Derfelbe erhellt gleichfalls aus Definition 3. Denn
jede Subſtanz muß in ſich fein und muß durch ſich be⸗
griffen werden, oder der Begriff der einen ſchließt den Be⸗
griff der andern nicht ein.
Dritter Lehrſatz.
Von Dingen, welche nichts mit einander gemein haben,
kann nicht das eine Urſache des andern ſein.
Beweis.
Wenn ſie nichts miteinander gemein haben, ſo können
fie (nach Axiom W) nicht wechſelſeitig aus einander erkannt
werden. Daher kann (nach Axiom IV) das eine nicht die
Urſache des andern ſein. — Was zu beweiſen war.
Vierter Lehrſatz.
Zwei oder mehrere verſchiedene Dinge unterſcheiden
ſich von einander entweder durch die verſchiedenen Attri⸗
bute der Subſtanzen, oder durch die verſchiedenen Er⸗
regungen derſelben.
Ethit. Über Gott. 25
Beweis.
Alles, was iſt, iſt entweder in ſich, oder in einem
andern (nach Axiom 1), d. h. (nach den Definitionen 3
und 5) außer der Erkenntnis giebt es nichts als Subſtanzen
und deren Erregungen. Es giebt folglich außer der Er—
kenntnis nichts, wodurch mehrere Dinge von einander unter-
ſchieden werden können, als die Subſtanzen, oder, was das⸗
ſelbe iſt (nach Definition IV), ihre Attribute, und ihre Er⸗
regungen. — W. z. b. w.
Fünfter Lehrſatz.
In der Natur kann es nicht zwei oder mehrere Sub-
ſtanzen von gleicher Beſchaffenheit, oder von gleichem
Attribut geben.
Beweis.
Gäbe es mehrere verſchiedene Subſtanzen, ſo müßten
ſie ſich entweder durch die Verſchiedenheit der Attribute,
oder durch die Verſchiedenheit der Erregungen von einander
unterſcheiden (nach dem vorigen Lehrſatz). Wenn bloß durch
die Verſchiedenheit der Attribute, ſo wird damit zugeſtanden,
daß es nur Eine Subſtanz von gleichem Attribut giebt.
Wenn aber durch die Verſchiedenheit der Erregungen: da
die Subſtanz von Natur früher iſt, als ihre Erregungen
(nach Lehrſatz 1), jo wird fie, von ihren Erregungen ab—
geſehen und für ſich betrachtet, d. h. (nach Definition 3
und Axiom 6) richtig betrachtet, als unterſchieden von einer
andern nicht begriffen werden können, d. h. (nach dem
vorigen Lehrſatz) es kann nicht mehrere Subſtanzen geben,
ſondern nur Eine. — W. z. b. w.
Sechſter Lehrſatz.
Eine Subſtanz kann von einer andern Subſtanz nicht
hervorgebracht werden.
26 Ethik. Erſter Teil.
Beweis.
In der Natur kann es nicht zwei Subſtanzen von
gleichem Attribut geben (nach dem vorigen Lehrſatz), d. h.
(nach Lehrſatz 2), die etwas miteinander gemein haben.
Darum kann (nach Lehrſatz 3) die eine nicht die Urſache der
andern ſein, oder eine kann nicht von der andern hervor⸗
gebracht werden. — W. z. b. w.
Zuſah.
Hieraus folgt, daß eine Subſtanz nicht von etwas an⸗
derem hervorgebracht werden kann. Denn in der Natur
giebt es nichts als Subſtanzen und deren Erregungen, wie
aus Axiom J und den Definitionen 3 und 5 erhellt. Von
einer Subſtanz aber kann ſie nicht hervorgebracht werden
(nach dem vorigen Lehrſatz). Folglich kann eine Subſtanz
von einer andern Subſtanz überhaupt nicht hervorgebracht
werden. — W. z. b. w.
Anderer Beweis.
Noch leichter kann dies aus der Widerſinnigkeit des
Gegenteils bewieſen werden. Wenn nämlich eine Subſtanz
von einer andern hervorgebracht werden könnte, ſo müßte
die Erkenntnis derſelben von der Erkenntnis ihrer Urſache
abhängen (nach Axiom IV); dann aber wäre ſie (nach De⸗
finition 3) keine Subſtanz.
Siebenter Lehrſatz.
Zur Natur der Subſtanz gehört es, daß ſie exiſtiert.
Beweis. N
Die Subſtanz kann von etwas anderem nicht hervor⸗
gebracht werden (nach dem Zuſatz zum vorigen Lehrſatz);
ſie iſt daher Urſache ihrer ſelbſt, d. h. ihr Weſen ſchließt
notwendig die Exiſtenz ein, oder zu ihrer Natur gehört das
Daſein. — W. z. b. w.
Ethik. Über Gott. 27
Achter Lehrſatz.
Alle Subſtanz iſt notwendig unendlich.
Beweis.
Es kann nicht mehr als eine einzige Subſtanz von
gleichem Attribut vorhanden ſein (nach Lehrſatz 5), und zu
ihrer Natur gehört die Exiſtenz (nach Lehrſatz 7); folglich
muß ſie ihrer Natur nach entweder als endlich, oder als
unendlich exiſtieren. Als endlich aber nicht; denn ſie
müßte dann (nach Definition 2) von einer andern Subſtanz
gleicher Natur, welche ebenfalls notwendig exiſtieren müßte,
begrenzt werden (zufolge Lehrſatz 7); es gäbe alſo zwei
Subſtanzen von gleichem Attribut, was widerſinnig iſt (nach
Lehrſatz 5). Somit exiſtiert fie als unendlich. — W. z. b. w.
1. Anmerkung.
Da endlich ſein im Grunde genommen eine teilweiſe
Verneinung, unendlich ſein aber die abſolute Bejahung des
Daſeins irgend einer Natur iſt, ſo folgt alſo ſchon aus
dem Lehrſatz 7, daß jede Subſtanz unendlich ſein muß.
2. Anmerkung.
Ich zweifle nicht, daß es allen, welche über die Dinge
unklar urteilen, und nicht gewohnt ſind, die Dinge nach
ihren erſten Gründen zu erkennen, ſchwer fallen wird, den
Beweis des 7. Lehrſatzes zu begreifen; weil ſie nämlich keinen
Unterſchied machen zwiſchen den Modifikationen der
Subſtanzen, und den Subſtanzen ſelbſt, und nicht wiſſen,
auf welche Weiſe die Dinge hervorgebracht werden. Daher
kommt es, daß ſie den Subſtanzen einen Anfang andichten,
weil ſie ſehen, daß die Naturdinge einen Anfang haben.
Denn diejenigen, welche die wahren Gründe der Dinge
nicht kennen, werfen alles durcheinander, und laſſen ohne
Widerſtreben ihres Geiſtes Bäume wie Menſchen reden,
28 Ethik. Erſter Teil.
und Menſchen aus Steinen wie aus Samen entſtehen, oder
bilden ſich ein, es könne ſich jede Form in jede beliebige
andere verwandeln.
So ſchreiben auch die, welche die göttliche Natur mit
der menſchlichen verwechſeln, ohne Bedenken Gott menſch⸗
liche Affekte zu, namentlich ſo lange ſie auch nicht wiſſen,
auf welche Weiſe die Affekte in der Seele entſtehen.
Würden dagegen die Menſchen auf die Natur der Sub⸗
ſtanz genau achten, ſo würden ſie die Wahrheit des 7. Lehr⸗
ſatzes keinen Augenblick bezweifeln; ja dieſer Satz würde
jedermann als Axiom gelten, und zu den Gemeinbegriffen
gezählt werden. Denn unter Subſtanz würden ſie als⸗
dann das verſtehen, was in ſich iſt und durch fi) be=
griffen wird, d. h. etwas, deſſen Erkenntnis nicht die Er⸗
kenntnis eines andern Dinges nötig hat; unter Modifika⸗
tionen aber das, was in einem andern iſt und deren
Begriff nach dem Begriff des Dinges, in welchem ſie ſind,
gebildet wird. Daher auch können wir richtige Ideen
von Modifikationen haben, welche nicht exiſtieren, weil
nämlich, obſchon ſie außerhalb des Geiſtes nicht wirklich
exiſtieren, ihr Weſen doch in einem andern ſo enthalten
iſt, daß ſie durch dieſes begriffen werden können. Die
Wahrheit der Subſtanzen aber iſt außerhalb des Geiſtes
nirgends, als in ihnen ſelbſt, weil ſie durch ſich begriffen
werden.
Wenn alſo jemand ſagen würde, er habe eine klare und
deutliche, d. h. wahre Idee von einer Subſtanz, und zweifle
trotzdem, ob eine ſolche Subſtanz exiſtiere, fo wäre das
wahrlich ebenſo, als würde er ſagen, er habe eine wahre
Idee, und zweifle trotzdem, ob ſie nicht falſch ſei (wie jedem
klar ſein wird, der die Sache beim rechten Licht betrachtet).
So wenn jemand behaupten würde, eine Subſtanz werde
geſchaffen, ſo behauptet er zugleich, daß eine falſche Idee
wahr geworden ſei. Widerſinnigeres als dieſes kann wahr⸗
lich nicht gedacht werden. Daher muß man notwendig zu⸗
Ethik. über Gott, 29
geben, daß die Exiſtenz der Subſtanz, ebenſo wie ihr Weſen,
ewige Wahrheit ſei.
Wir können hier auch noch auf eine andere Weiſe den
Schluß ziehen, daß es nur eine einzige Subſtanz von
gleicher Natur geben könne, und ich halte es der Mühe
wert, dies hier zu zeigen. Um ordnungsgemäß zu vers
fahren, bemerke ich folgendes:
1. daß eine richtige Definition eines jeden Dinges nichts
in ſich ſchließt noch ausdrückt, als die Natur des definierten
Dinges. Daraus folgt
2. daß keine Definition eine beſtimmte Zahl von Indi⸗
viduen in ſich ſchließt oder ausdrückt, da ſie eben nichts
anderes ausdrückt, als die Natur des definierten Dinges.
Z. B. die Definition eines Dreiecks drückt nichts anderes
aus, als die einfache Natur des Dreiecks, nicht aber eine
beſtimmte Zahl von Dreiecken;
3. iſt zu beachten, daß es von jedwedem exiſtierenden
Ding irgend eine beſtimmte Urſache geben muß, weswegen
es exiſtiert; -
4. endlich iſt zu beachten, daß dieſe Urſache, weswegen
ein Ding exiſtiert, entweder in der Natur ſelbſt und der
Definition des exiſtierenden Dinges enthalten ſein muß
(weil nämlich das Daſein zur Natur desſelben gehört), oder
daß dieſe Urſache außerhalb derſelben liegen muß.
Aus dieſen Sätzen folgt, daß, wenn in der Natur irgend
eine beſtimmte Anzahl von Individuen exiſtiert, es not⸗
wendig eine Urſache geben muß, weshalb jene Individuen,
und weshalb nicht mehr oder weniger, exiſtieren. Wenn
z. B. in der Natur zwanzig Menſchen vorhanden wären,
(von denen ich, der größeren Deutlichkeit wegen, annehme,
daß ſie gleichzeitig exiſtieren, und daß keine andern vor
ihnen exiſtierten,) ſo wird es nicht genügen, (um nämlich
den Grund anzugeben, weshalb zwanzig Menſchen exiſtieren,)
die Urſache der menſchlichen Natur im allgemeinen darzu⸗
thun, ſondern es wird außerdem nötig ſein, die Urſache
30 Ethik. Erſter Teil.
darzuthun, weshalb nicht mehr, noch weniger, als zwanzig
exiſtieren; da es (nach Punkt 3) von jedem notwendig eine
Urſache geben muß, weswegen es exiſtiert. Dieſe Urſache
kann nun aber (nach Punkt 2 und 3) nicht in der menſch⸗
lichen Natur ſelbſt enthalten ſein, da die wahre Definition
des Menſchen die Zahl Zwanzig nicht in ſich ſchließt; es
muß alſo (nach Punkt 4) die Urſache, weshalb dieſe zwanzig
Menſchen exiſtieren, und folglich auch, warum jeder einzelne
exiſtiert, notwendig außerhalb eines jeden liegen. Daher
muß man unbedingt den Schluß ziehen, daß alles, von
deſſen Natur mehrere Individuen exiſtieren können, not⸗
wendig eine äußere Urſache für ſein Daſein haben muß.
Da es nun zur Natur der Subſtanz gehört, zu exiſtieren
(wie in dieſer Anmerkung bereits gezeigt worden), ſo muß
ihre Definition notwendige Exiſtenz in ſich ſchließen, und
folglich muß aus ihrer bloßen Definition ihre Exiſtenz ge⸗
ſchloſſen werden. Dagegen kann aus ihrer Definition (wie
bereits aus Punkt 2 und 3 dargethan) nicht die Exiſtenz
mehrerer Subſtanzen folgen. Es folgt ſomit aus ihr mit
Notwendigkeit, daß nur eine einzige Subſtanz von gleicher
Natur exiſtiert, wie im Lehrſatz behauptet wurde.
Neunter Lehrſatz.
Je mehr Realität oder Sein jedes Ding hat, deſto⸗
mehr Attribute kommen ihm zu.
Beweis.
Es erhellt dies aus Definition 4.
Zehnter Lehrſatz.
Jedes Attribut einer Subſtanz muß durch ſich be⸗
griffen werden.
Beweis.
Denn ein Attribut iſt das, was der Verſtand an der
Subſtanz als zu ihrem Weſen gehörig erkennt, (nach Defini⸗
Ethik. über Gott. 31
tion 4 folglich muß es (nach Definition 3) durch ſich be—
griffen werden. — W. z. b. w.
Anmerkung.
Hieraus erhellt, daß, wenn auch zwei Attribute als
thatſächlich verſchieden begriffen werden, d. h. eines ohne
Zuhilfenahme des andern, wir daraus doch nicht ſchließen
können, daß fie zwei Weſen oder zwei verſchiedene Sub⸗
ſtanzen bilden. Denn das gehört zur Natur der Subſtanz,
daß jedes ihrer Attribute durch ſich begriffen wird, da ja
alle Attribute, die ſie hat, immer zugleich in ihr geweſen
ſind, und eines vom andern nicht hervorgebracht werden
konnte; jedes einzelne drückt vielmehr die Realität, oder
das Sein der Subſtanz aus. Weit entfernt daher, daß es
widerſinnig wäre, einer Subſtanz mehrere Attribute zuzu⸗
ſchreiben, iſt im Gegenteil nichts in der Natur klarer, als
daß jedes Weſen unter irgend einem Attribut begriffen
werden muß, und daß, je mehr Realität oder Sein das—
ſelbe hat, es auch deſtomehr Attribute hat, welche ſowohl
die Notwendigkeit oder Ewigkeit, als auch die Unendlichkeit
ausdrücken. Demzufolge iſt auch nichts klarer, als daß das
abſolut unendliche Weſen notwendig definiert werden muß
(wie ſchon in Definition 6 geſchehen) als ein Weſen, das
aus unendlichen Attributen beſteht, von welchen jedes eine
gewiſſe ewige und unendliche Weſenheit ausdrückt.
Fragt nun aber jemand, an welchem Zeichen wir hiernach
die Verſchiedenheit der Subſtanzen unterſcheiden können, ſo
möge er die nachſtehenden Lehrſätze leſen, welche zeigen, daß
in der Natur nur eine einzige Subſtanz exiſtiert und daß
dieſelbe abſolut unendlich iſt; daß alſo ein ſolches Zeichen
vergebens geſucht würde.
32 Ethik. Erſter Teil.
Elfter Lehrſatz.
Gott, oder die Subſtanz, welche aus unendlichen Attri⸗
buten beſteht, von denen jedes ewige und unendliche
Weſenheit ausdrückt, exiſtiert notwendig.
Beweis.
Beſtreitet man das, ſo nehme man an, wenn man kann,
Gott exiſtiere nicht. Es ſchließt alſo (nach Axiom VII) fein
Weſen ſeine Exiſtenz nicht ein. Nun iſt aber das (nach
Lehrſatz 7) widerſinnig. Alſo exiſtiert Gott notwendig. —
W. z. b. w.
Anderer Beweis.
Von jedem Ding muß eine Urſache oder ein Grund
angegeben werden, ſowohl warum es exiſtiert, als auch
warum es nicht exiſtiert. Z. B., wenn ein Dreieck exiſtiert,
ſo muß es auch einen Grund, oder eine Urſache geben,
warum es exiſtiert. Exiſtiert es aber nicht, ſo muß es
ebenfalls einen Grund oder eine Urſache geben, welche hin⸗
dert, daß es exiſtiert, oder welche ſeine Exiſtenz aufhebt.
Dieſer Grund aber, oder dieſe Urſache, muß entweder in
der Natur des Dinges enthalten ſein, oder außerhalb der⸗
ſelben. Z. B. den Grund, warum ein viereckiger Kreis
nicht exiſtiert, giebt die Natur des Kreiſes ſelbſt an, weil
das nämlich einen Widerſpruch in ſich ſchließen würde.
Weshalb aber hingegen die Subſtanz exiſtiert folgt eben⸗
falls aus der bloßen Natur derſelben, welche nämlich die
Exiſtenz in ſich ſchließt (ſ. Lehrſatz 77. Der Grund aber,
weshalb ein Kreis oder ein Dreieck exiſtiert, oder nicht
exiſtiert, folgt nicht aus ihrer Natur, ſondern aus der Ord⸗
nung der Natur aller Körper; denn aus dieſer muß folgen,
daß entweder das Dreieck mit Notwendigkeit bereits exiſtiert,
oder daß es unmöglich iſt, daß es bereits exiſtiert. Dies
iſt doch wohl ſelbſtverſtändlich. Hieraus folgt, daß das⸗
jenige mit Notwendigkeit exiſtiert, wovon kein Grund und
keine Urſache vorhanden iſt, welche es verhinderte, zu exi⸗
Ethik. über Gott. 33
ſtieren. Wenn es daher keinen Grund und keine Urſache
geben kann, welche verhinderte, daß Gott exiſtiert, oder
welche ſeine Exiſtenz aufheben würde, ſo muß unbedingt
gefolgert werden, daß er mit Notwendigkeit exiſtiert. Gäbe
es nun einen ſolchen Grund, oder eine ſolche Urſache, ſo
müßte ſie entweder in der eigenen Natur Gottes liegen,
oder außerhalb derſelben, d. h. in einer anderen Subſtanz
von anderer Natur. Denn wäre ſie von gleicher Natur,
fo wäre damit ſchon zugeſtanden, daß Gott iſt. Eine Sub-
ſtanz aber, welche von anderer Natur wäre, hat nichts mit
Gott gemein (nach Lehrſatz 2), und kann daher ſeine Exiſtenz
weder ſetzen noch aufheben.
Da es alſo einen Grund, oder eine Urſache, welche die
göttliche Exiſtenz aufhebt, außerhalb der göttlichen Natur
nicht geben kann, ſo müßte ſie, wenn er nicht exiſtieren
würde, notwendig in der eigenen Natur Gottes liegen,
welche mithin einen Widerſpruch enthielte. Dies aber von
dem abſolut unendlichen und höchſt vollkommenen Weſen
zu behaupten, wäre widerſinnig. Es giebt alſo weder in
Gott, noch außer Gott, irgend eine Urſache, oder einen
Grund, welcher ſeine Exiſtenz aufhebt. Folglich exiſtiert
Gott notwendig. — W. z. b. w.
Anderer Beweis.
Nicht exiſtieren können iſt ein Unvermögen, exiſtieren
können dagegen ein Vermögen (was an ſich klar it). Wenn
darum das, was ſchon notwendig exiſtiert, nur endliche
Weſen ſind, ſo wären alſo endliche Weſen mächtiger, als
das abſolut unendliche Weſen. Das iſt (ſelbſtverſtändlich)
widerſinnig. Somit exiſtiert entweder nichts, oder das abſo—
lut unendliche Weſen exiſtiert notwendig. Nun exiſtieren
wir ſelbſt, entweder in uns, oder in einem andern, welches
notwendig exiſtiert (ſ. Axiom I und Lehrſatz 7). Folglich
muß das abſolut unendliche Weſen, d. h. (nach Definition 6)
Gott, notwendig exiſtieren. — W. z. b. w.
3
34 Ethik. Erſter Teil.
Anmerkung.
In dieſem letzten Beweis wollte ich das Daſein Gottes
a posteriori“) nachweiſen, damit der Beweis leichter be⸗
griffen werde, nicht aber darum, weil das Daſein Gottes
auf derſelben Grundlage nicht auch a priori“) zu folgern
wäre. Denn da exiſtieren können ein Vermögen iſt, ſo
folgt, daß, je mehr Realität der Natur eines Dinges zu⸗
kommt, es umſomehr Kraft aus ſich hat, zu exiſtieren.
Daher muß das abſolut unendliche Weſen, oder Gott, ein
abſolut unendliches Vermögen zu exiſtieren aus ſich haben,
und er muß darum abſolut exiſtieren.
Vielleicht werden viele die Beweiskraft dieſes Beweiſes
nicht leicht einſehen, weil ſie gewohnt ſind, nur ſolche Dinge
zu betrachten, welche aus äußern Urſachen entſpringen; dabei
machten fie die Wahrnehmung, daß Dinge, welche ſchnell.
entſtehen, d. h. leicht exiſtieren, auch wieder leicht unter⸗
gehen, und umgekehrt meinen ſie, daß diejenigen Dinge
ſchwieriger zu machen ſind, d. h. nicht ſo leicht exiſtieren,
zu welchen nach ihren Begriffen mehr erforderlich iſt. N
Indeſſen, um dieſen Vorurteilen entgegenzutreten, habe
ich nicht nötig, hier zu zeigen, in welchem Sinne der Satz:
„Was ſchnell entſteht, vergeht ſchnell“ wahr ſei; noch auch,
ob rückſichtlich der ganzen Natur alles gleich leicht ſei oder
nicht. Es genügt vielmehr die eine Bemerkung, daß ich
hier nicht von Dingen rede, die durch äußere Urſachen ent⸗
ſtehen, ſondern nur von Subſtanzen, welche (nach Lehr⸗
ſatz 6) von keiner äußern Urſache hervorgebracht werden
können. — Denn Dinge, die durch äußere Urſachen ent⸗
ſtehen, mögen ſie aus vielen Teilen beſtehen, oder aus
wenigen, verdanken alles, was ſie an Vollkommenheit oder
Realität haben, der Kraft der äußern Urſache, ihre Exiſtenz
entſpringt daher lediglich aus der Vollkommenheit der
*) u posteriori (wörtlich: von hinten) aus der Erfahrung; a priori
wörtlich: von vorn) aus dem bloßen Denken. Anm. des Über].
Ethik. über Gott. 35
äußern Urſache, nicht der eigenen. Was hingegen die Sub—
ſtanz an Vollkommenheit hat, verdankt ſie keiner äußern
Urſache; daher muß auch ihre Eriftenz aus ihrer eigenen
Natur allein folgen, welche demnach nichts anderes iſt, als
ihr Weſen. Die Vollkommenheit hebt ſomit die Exiſtenz
eines Dinges nicht auf, ſondern fett fie vielmehr; die Un-
vollkommenheit hingegen hebt dieſelbe auf. Daher können
wir über die Exiſtenz keines Dinges mehr Gewißheit haben,
als über die Exiſtenz des abſolut unendlichen, oder voll-
kommenen Weſens, d. h. Gottes. Denn da ſein Weſen
alle Unvollkommenheit ausſchließt und abſolute Vollkommen⸗
heit in ſich ſchließt, ſo hebt es eben dadurch jeden Grund,
an ſeiner Exiſtenz zu zweifeln, auf, und giebt darüber die
höchſte Gewißheit. Wer nur einigermaßen aufmerkt, wird
dies, denke ich, einleuchtend finden.
Zwölfter Lehrſatz.
Kein Attribut einer Subſtanz kann richtig begriffen
ſein, wenn aus deſſen Begriff folgen würde, daß die
Subſtanz geteilt werden könne.
Beweis.
Denn die Teile, in welche die Subſtanz, ſo begriffen,
geteilt würde, würden entweder die Natur der Subſtanz
behalten, oder nicht. Iſt das erſtere der Fall, ſo müßte
(nach Lehrſatz 8) jeder Teil unendlich ſein, er müßte auch
(nach Lehrſatz 6) Urſache ſeiner ſelbſt fein, und (nach Lehr-
ſatz 5) aus verſchiedenen Attributen beſtehen. So könnten
aus Einer Subſtanz mehrere Subſtanzen ſich bilden, was
(nach Lehrſatz 6) widerſinnig iſt. Hierzu kommt noch, daß
die Teile (nach Lehrſatz 2) nichts mit ihrem Ganzen gemein
hätten, und das Ganze (nach Definition 4 und Lehrſatz 10)
ohne ſeine Teile ſowohl ſein, als auch begriffen werden
könnte; eine Widerſinnigkeit, die niemand verkennen wird.
Würde aber der zweite Fall angenommen, daß nämlich die
3 *
36 Ethik. Erſter Teil.
Teile die Natur der Subſtanz nicht behalten, ſo würde
folglich die Subſtanz, wenn ſie in gleiche Teile geteilt
würde, die Natur der Subſtanz verlieren, und zu ſein auf⸗
hören; was (nach Lehrſatz 7) widerſinnig wäre.
Dreizehnter Lehrſatz.
Die abſolut unendliche Subſtanz iſt unteilbar.
Beweis. |
Wäre fie teilbar, fo würden die Teile, in welche fie
geteilt würde, die Natur der abſolut unendlichen Subſtanz
entweder behalten, oder nicht behalten. Im erſten Fall
würden ſich mehrere Subſtanzen von gleicher Natur ergeben,
was (nach Lehrſatz 5) widerſinnig wäre. Im zweiten Fall
würde ſich ergeben (wie oben gezeigt), daß die abſolut
unendliche Subſtanz aufhören könnte, zu ſein, was (nach
Lehrſatz 11) gleichfalls widerſinnig wäre.
Zuſatz.
Hieraus folgt, daß keine Subſtanz, und folglich keine
körperliche Subſtanz, ſofern ſie Subſtanz, teilbar iſt.
Anmerkung. 5
Daß die Subſtanz unteilbar iſt, wird noch einfacher
daraus allein erkannt, daß man die Natur der Subſtanz
nicht anders, denn als unendlich begreifen kann, während
unter einem Teil der Subſtanz nichts anderes verſtanden
werden kann, als eine endliche Subſtanz; was (nach Lehr⸗
ſatz 8) einen offenbaren Widerſpruch enthielte.
Vierzehnter Lehrſatz.
Außer Gott kann es eine Subſtanz weder geben, noch
kann eine ſolche begriffen werden.
Beweis.
Da Gott das abſolut unendliche Weſen iſt, an dem kein
Attribut, welches das Weſen der Subſtanz ausdriidt, ver⸗
Ethik. Über Gott. 37
neint werden kann (nach Definition 6), und derſelbe not⸗
wendig exiſtiert (nach Lehrſatz 11), ſo müßte, wenn es eine
Subſtanz außer Gott gäbe, dieſelbe durch irgend ein Attri-
but Gottes ausgedrückt werden, und jo wären zwei Sub-
ſtanzen von gleichem Attribut vorhanden, was (nach Lehr⸗
ſatz 3) widerſinnig wäre. Somit kann es keine Subſtanz
außer Gott geben, und folglich kann eine ſolche auch nicht
begriffen werden. Denn könnte eine ſolche begriffen werden,
ſo müßte ſie notwendig als exiſtierend begriffen werden,
was aber (nach dem erſten Teil dieſes Beweiſes) widerſinnig
iſt. Folglich kann außer Gott keine Subſtanz vorhanden
ſein noch begriffen werden. — W. z. b. w.
Juſatz 1.
Hieraus folgt aufs deutlichſte erſtens: daß Gott einzig
iſt, d. h. (nach Definition 6), daß es in der Natur nur
Eine Subſtanz giebt, und daß dieſelbe abſolut unendlich iſt,
wie in der Anmerkung zu Lehrſatz 10 bereits angedeutet
wurde.
Bufaß II.
Es folgt hieraus zweitens: daß das ausgedehnte Ding
und das denkende Ding entweder Attribute Gottes ſind,
oder (nach Axiom J) Erregungen der Attribute Gottes.
Fünfzehnter Lehrſatz.
Alles was iſt, iſt in Gott, und nichts kann ohne
Gott ſein, noch begriffen werden.
Beweis.
Außer Gott giebt es keine Subſtanz und kann auch keine
begriffen werden (nach Lehrſatz 14), d. h. (nach Definition 3)
kein Ding, das in ſich iſt und durch ſich begriffen wird.
Die Daſeinsformen (Modi) aber können (nach Definition 5)
ohne die Subſtanz weder ſein, noch begriffen werden. So⸗
mit können ſie nur in der göttlichen Natur ſein, und nur
38 Ethik. Erſter Teil.
durch ſie begriffen werden. Außer den Subſtanzen und
ihren Daſeinsformen giebt es aber nichts (nach Axiom J).
Folglich kann ohne Gott nichts ſein noch begriffen werden.
W. z. b. w.
Anmerkung.
Es giebt Menſchen, welche ſich Gott wie einen Menſchen
vorſtellen, aus Körper und Geiſt beſtehend und den Leiden⸗
ſchaften unterworfen. Wie weit aber dieſe von dem rich⸗
tigen Begriff Gottes entfernt ſind, ergiebt ſich aus dem,
was bereits bewieſen worden, zur Genüge. Doch laſſe ich
dieſe bei Seite; denn alle, welche über die göttliche Natur
nur einigermaßen nachgedacht haben, verneinen die Körper⸗
lichkeit Gottes. Unter anderem beweiſen ſie das am beſten
damit, daß man unter Körper eine lange, breite und hohe
Maſſe von beſtimmter Form verſteht, während es nichts
Widerſinnigeres geben könne, als dies von Gott, dem ab-
ſolut unendlichen Weſen, zu ſagen. — Indeſſen zeigen ſie
doch durch andere Gründe, womit ſie dies zu beweiſen
ſuchen, deutlich, daß ſie die körperliche oder ausgedehnte
Subſtanz ſelbſt von der göttlichen Natur ganz und gar
fern halten, und zwar behaupten ſie, dieſelbe ſei von Gott
geſchaffen. Aus welcher göttlichen Macht aber dieſelbe ge⸗
ſchaffen werden konnte, darüber wiſſen ſie nicht das Ge⸗
ringſte; was deutlich zeigt, daß ſie das, was ſie ſagen, ſelbſt
nicht verſtehen. Meiner Meinung nach wenigſtens habe ich
klar genug bewieſen (ſ. Zuſatz zu Lehrſatz 6 und Anmer⸗
kung 2 zu Lehrſatz 8), daß keine Subftanz von einer andern
hervorgebracht oder geſchaffen werden kann. Weiter habe
ich (Lehrſatz 14) gezeigt, daß es außer Gott keine Subſtanz
geben, und keine begriffen werden kann, und daraus habe
ich den Schluß gezogen, daß die ausgedehnte Subſtanz eines
von den unendlichen Attributen Gottes ſei.
Um jedoch die Sache vollſtändig klar zu machen, will
ich die Beweisgründe der Gegner widerlegen, welche ſämt⸗
lich auf folgendes hinauslaufen.
S
Ethik. über Gott. 39
Erſtens meinen ſie, daß die körperliche Subſtanz, als
Subſtanz, aus Teilen beſtehe; daher verneinen fie, daß Die=
ſelbe unendlich ſein, und folglich auch, daß ſie zu Gott ge—
hören könne. Sie entwickeln das auch an vielen Beiſpielen,
von welchen ich das eine oder andere anführen will. Ges
ſetzt, ſagen ſie, die körperliche Subſtanz ſei unendlich, ſo
nehme man an, daß ſie in zwei Teile geteilt würde; jeder
Teil wird entweder endlich, oder unendlich ſein. Iſt erſteres
der Fall, ſo wäre das Unendliche aus zwei endlichen Teilen
zuſammengeſetzt, was widerſinnig wäre. Im letzteren Fall
gäbe es ein Unendliches, das doppelt ſo groß wäre, als
ein anderes Unendliche, was gleichfalls widerſinnig wäre.
Ferner: Wenn eine unendliche Größe mit einem Maß
von der Größe eines Fußes gemeſſen wird, ſo muß ſie aus
unendlich vielen ſolchen Teilen beſtehen, und ebenſo, wenn
fie mit einem Maß von der Größe einer Fingerbreite (eines
Zolls) gemeſſen würde. Demnach wäre eine unendliche
Zahl zwölfmal“) größer als eine andere unendliche Zahl.
Endlich: Wenn man ſich aus einem Punkte einer
unendlichen Größe zwei Linien, wie AB und AC (f. Figur 1)
Fig. 1. B
A
ee
ke ARE
gezogen denkt, die ſich anfangs in einem gewiſſen und be⸗
ſtimmten Abſtand von einander entfernen, und ins Unend—
liche verlängert werden, ſo wird ſicherlich der Abſtand
*) Vor Einführung des Metermaßes wendete man in der Wiſſen⸗
ſchaft als Längenmaß den alten franzöſiſchen oder Pariſer Fuß an, der
in zwölf Zoll geteilt war. (1 Fuß = 324 Millimeter.)
Anm. des Überſetzers.
40 Ethik. Erſter Teil.
zwiſchen B und C fortwährend zunehmen, und ſchließlich
aus einem endlichen ein unendlicher werden.
Da alſo, wie ſie meinen, dergleichen Widerſinnigkeiten
ſich daraus ergeben würden, daß eine unendliche Quan⸗
tität angenommen wird, ſo folgern ſie, daß die körperliche
Subſtanz endlich ſein müſſe und daß ſie folglich nicht zum
Weſen Gottes gehöre.
Ein weiterer Beweisgrund wird gleichfalls der höchſten
Vollkommenheit Gottes entnommen. Gott, ſagen ſie, könne
als höchſt vollkommenes Weſen nicht leidend ſein; die kör⸗
perliche Subſtanz aber könne leidend ſein, da ſie ja teilbar
iſt, woraus folgt, daß ſie zum Weſen Gottes nicht gehört.
Das ſind die bei den Schriftſtellern ſich findenden Be⸗
weiſe, womit ſie zu zeigen verſuchen, daß die körperliche
Subſtanz der göttlichen Natur unwürdig ſei und nicht zu
ihr gehören könne.
Wer indeſſen genau aufmerkt, wird finden, daß ich be⸗
reits darauf geantwortet habe; da ja alle dieſe Beweiſe ſich
nur auf die Annahme gründen, daß die körperliche Sub⸗
ſtanz aus Teilen zuſammengeſetzt iſt, was aber von mir
bereits (in Lehrſatz 12, verglichen mit Zuſatz zu Lehrſatz 13,)
als widerſinnig erwieſen wurde.
Wer ferner die Sache richtig erwägt, wird merken, daß
alle jene Widerſinnigkeiten, (wenn es in der That ſolche
ſind, worüber ich jetzt nicht ſtreite,) aus welchen geſchloſſen
werden will, daß die ausgedehnte Subſtanz endlich ſei,
keineswegs aus der Annahme einer unendlichen Quantität
folgen, ſondern aus der Annahme, daß die unendliche
Quantität meßbar, und aus endlichen Teilen zuſammen⸗
geſetzt ſei. Aus den gefolgerten Widerſinnigkeiten kann
daher nur geſchloſſen werden, daß die unendliche Quantität
nicht meßbar iſt, und nicht aus endlichen Teilen zuſammen⸗
geſetzt ſein kann. Eben dies iſt es nun aber, was ich oben
(Lehrſatz 12 u. ſ. w.) bereits bewieſen habe. Der Pfeil,
Ethik. über Gott. 41
welchen jene gegen mich abſchnellen, trifft daher in Wahr-
heit ſie ſelbſt.
Wenn ſie nun aber ſelbſt aus dieſer ihrer Widerſinnig⸗
keit ſchließen wollen, daß die ausgedehnte Subſtanz end-
lich ſein müſſe, ſo iſt dies wahrlich ganz ebenſo, als
wenn jemand ſich einbildet, der Kreis habe die Eigen—
ſchaften des Vierecks, und nun den Schluß daraus zieht,
daß der Kreis keinen Mittelpunkt habe, deſſen ſämtliche
nach der Peripherie gezogenen Linien einander gleich ſind.
Denn die körperliche Subſtanz, welche doch nur als unend—
lich, nur als einzig, und nur als unteilbar begriffen werden
kann, (ſ. die Lehrſätze 8, 5 und 12,) denken fie ſich aus end⸗
lichen Teilen beſtehend, vielfach und teilbar, um ſchließen
zu können, daß ſie endlich ſei. So wiſſen auch andere,
welche ſich einbilden, eine Linie ſei aus Punkten zuſammen⸗
geſetzt, viele Beweiſe dafür beizubringen, daß eine Linie nicht
ins Unendliche teilbar ſei. Und in der That iſt es nicht
minder widerſinnig, zu behaupten, daß die körperliche Sub—
ſtanz aus Körpern, oder Teilen, zuſammengeſetzt ſei, als
zu behaupten, ein Körper ſei aus Flächen, die Flächen
ſeien aus Linien, die Linien endlich aus Punkten zuſammen⸗
geſetzt.
Alle, welche wiſſen, daß die klare Vernunft untrüglich
iſt müſſen das zugeben, beſonders aber diejenigen, welche
behaupten, es gebe keinen leeren Raum. Denn wenn die
körperliche Subſtanz ſo geteilt werden könnte, daß ihre Teile
in der Wirklichkeit verſchieden wären, warum ſollte nicht
ein Teil vernichtet werden können, während die andern
Teile, wie zuvor, untereinander verbunden blieben? Warum
müſſen alle ſo zuſammenpaſſen, daß es keinen leeren Raum
giebt? Kann doch unter Dingen, welche thatſächlich von
einander unterſchieden ſind, eins ſehr wohl ohne das andere
ſein, und in ſeinem Zuſtand verbleiben. Da es alſo in der
Natur keinen leeren Raum giebt (worüber anderwärts),
ſondern alle Teile ſich derart miteinander vereinigen müſſen,
42 Ethik. Erſter Teil.
daß es keinen leeren Raum giebt, ſo folgt auch daraus, daß
ſie in Wirklichkeit nicht unterſchieden ſein können, d. h.,
daß die körperliche Subſtanz, als Subſtanz, nicht geteilt
werden kann.
Fragt aber nun jemand, weshalb der Menſch von Natur
aus ſo ſehr geneigt ſei, die Quantität zu teilen, ſo ant⸗
worte ich, daß die Quantität auf zweifache Weiſe von uns
begriffen wird, einmal abſtrakt oder äußerlich, ſo nämlich,
wie man ſich dieſelbe ſinnlich vorſtellt, und dann als Sub⸗
ſtanz, was vom Verſtand allein geſchieht. Richtet ſich unſere
Betrachtung auf die Quantität, wie ſie die ſinnliche Vor⸗
ſtellung auffaßt, was häufig und leichter von uns geſchieht,
ſo erſcheint ſie endlich, teilbar und aus Teilen zuſammen⸗
geſetzt; richtet ſich aber unſere Betrachtung auf dieſelbe, wie
ſie der Verſtand allein auffaßt, und begreifen wir ſie als
Subſtanz, was ſehr ſchwierig iſt, dann erſcheint ſie, wie ich
bereits zur Genüge bewieſen habe, unendlich, einzig und
unteilbar. Dies wird allen, welche zwiſchen ſinnlicher Vor⸗
ſtellung und Verſtand zu unterſcheiden wiſſen, hinlänglich
klar ſein; beſonders wenn man noch bedenkt, daß die Materie
überall dieſelbe iſt, und daß Teile an derſelben bloß unter⸗
ſchieden werden können, ſofern wir ſie auf verſchiedene Weiſe
erregt vorſtellen; weshalb ſich ihre Teile nur in Bezug auf
die Daſeinsform, nicht aber gegenſtändlich unterſcheiden
laſſen. Wir begreifen z. B., daß das Waſſer, ſofern es
Waſſer iſt, geteilt werden kann, und daß ſich ſeine Beſtand⸗
teile von einander trennen laſſen; nicht aber, ſofern es
körperliche Subſtanz iſt, denn als ſolche kann es weder ge⸗
trennt, noch geteilt werden. Ferner: Waſſer als Waſſer
entſteht und vergeht, als Subſtanz dagegen entſteht es
und vergeht es nicht. — Damit glaube ich auch auf
den zweiten Einwand geantwortet zu haben, da ſich der⸗
ſelbe gleichfalls darauf gründet, daß die Materie als
Subſtanz teilbar und aus Teilen zuſammengeſetzt fein ſoll.
Indeſſen, auch davon abgeſehen, ſehe ich gar nicht ein,
Ethik. über Gott. 43
weshalb die Materie der göttlichen Natur unwürdig ſein
ſoll, da es doch (nach Lehrſatz 14) außer Gott keine Sub—
ſtanz geben kann, von welcher ſie leiden könnte. Alles,
ſage ich, iſt in Gott, und alles, was geſchieht, geſchieht
einzig und allein durch die Geſetze der unendlichen Natur
Gottes, und folgt aus der Notwendigkeit ſeines Weſens
(wie ich bald zeigen werde). Daher kann in keiner Weiſe
geſagt werden, daß Gott von etwas anderem leide, oder
daß die ausgedehnte Subſtanz der göttlichen Natur un—
würdig ſei, ſelbſt wenn ihr Teilbarkeit zugeſchrieben würde,
ſobald ihr nur Ewigkeit und Unendlichkeit zugeſtanden
wird.
Doch für jetzt genug hiervon.
Sechzehnter Lehrſatz.
Aus der Notwendigkeit der göttlichen Natur muß
Unendliches auf unendliche Weiſen (d. h. alles, was von
dem unendlichen Denken erfaßt werden kann,) folgen.
Beweis.
Dieſer Lehrſatz muß jedem einleuchten, der erwägt, daß
der Verſtand aus der gegebenen Definition eines jeden
Dinges viele Eigenſchaften folgert, welche auch thatſächlich
aus derſelben (d. h. aus dem Weſen des Dinges ſelbſt)
notwendig folgen, und zwar umſomehr, je mehr Realität
die Definition des Dinges ausdrückt, d. h. je mehr Realität
das Weſen des definierten Dinges einſchließt. Da aber die
göttliche Natur abſolut unendliche Attribute hat (nach De—
finition 6), von denen jedes gleichfalls ein unendliches
Weſen in ſeiner Art ausdrückt, ſo muß folglich aus ihrer
Notwendigkeit Unendliches auf unendliche Weiſen (d. h.
alles, was von dem unendlichen Denken erfaßt werden
kann,) notwendig folgen. — W. z. b. w.
44 Ethik. Erſter Teil.
Bufaß 1.
Hieraus folgt erſtens, daß Gott die wirkende Urſache
aller Dinge iſt, welche von dem unendlichen Verſtand erfaßt
werden können.
ZJuſatz II.
Hieraus folgt zweitens, daß Gott dieſe Urſache durch
ſich ift, nicht aber durch ein Nebenſächliches (Hinzukommendes).
Inſat III.
Hieraus folgt drittens, daß Gott abſolut die erſte
Urſache iſt.
Siebzehnter Lehrſatz.
Gott handelt nur nach den Geſetzen Seiner Natur,
und von niemand gezwungen.
Beweis.
Daß aus der Notwendigkeit der göttlichen Natur, oder
(was dasſelbe iſt) aus den bloßen Geſetzen ſeiner Natur,
Unendliches abſolut folgt, habe ich ſoeben, im 16. Lehrſatz,
gezeigt, und im 15. Lehrſatz habe ich bewieſen, daß ohne
Gott nichts iſt, und nichts begriffen werden kann, daß viel⸗
mehr alles in Gott iſt. Es kann daher nichts außer ihm
ſein, von dem er zum Handeln beſtimmt oder gezwungen
würde. Und daher handelt Gott nur nach den Geſetzen
Seiner Natur, und von niemand gezwungen. — W. z. b. w.
Bufaß J.
Hieraus folgt erſtens, daß es keine Urſache giebt,
welche Gott von außen oder von innen zum Handeln er⸗
regt, außer der Vollkommenheit ſeiner eigenen Natur.
Bufaß II.
Hieraus folgt zweitens, daß Gott allein eine freie
Urſache iſt. Denn Gott allein exiſtiert nach der bloßen
Notwendigkeit ſeiner Natur, (nach Lehrſatz 11 und Zuſatz
Ethik. Über Gott. 45
zu Lehrſatz 14,) und handelt nach der bloßen Notwendig⸗
keit feiner Natur (nach dem vorigen Lehrſatz). Daher kann
(nach Definition 7) er allein freie Urſache ſein. — W. z. b. w.
Anmerkung.
Andere meinen, Gott ſei deshalb freie Urſache, weil er,
wie ſie glauben, bewirken kann, daß das, wovon ich ſagte,
daß es aus ſeiner Natur folgt, d. h. was in ſeiner Macht
ſteht, nicht geſchehe, oder von ihm nicht hervorgebracht
werde. Das aber wäre gerade ſo, als ob ſie ſagten, Gott
könne machen, daß aus der Natur des Dreiecks nicht folge,
daß deſſen drei Winkel zwei rechten Winkeln gleich wären,
oder daß aus einer gegebenen Urſache keine Wirkung folge,
was widerſinnig iſt. Ferner werde ich unten ohne Zuhilfe—
nahme dieſes Lehrſatzes zeigen, daß zur Natur Gottes weder
Verſtand noch Wille gehört.
Ich weiß allerdings, daß viele meinen, ſie könnten be—
weiſen, daß zur Natur Gottes der höchſte Verſtand und der
freie Wille gehöre; denn fie ſagen, daß fie nichts vollkom-
meneres kennen, das ſie Gott zuſchreiben können, als das,
was bei uns die höchſte Vollkommenheit iſt. Ferner, ob—
gleich ſie Gott als den thatſächlich Höchſtdenkenden begreifen,
glauben ſie doch nicht, daß er alles, was er thatſächlich
denkt, auch ausführen könne, ſo daß es exiſtiert, denn damit
glauben ſie die Macht Gottes umzuſtoßen. Wenn, ſagen
ſie, Gott alles, was in ſeinem Denken iſt, erſchaffen hätte,
fo könnte er ja nichts weiter erſchaffen, und dies wider—
ſtreitet nach ihrer Meinung der Allmacht Gottes. Daher
behaupten ſie lieber, Gott ſei gegen alles indifferent und er
erſchaffe nichts anderes, als das, was er nach irgend einem
abſoluten Willen zu ſchaffen beſchloſſen habe.
Ich glaube jedoch deutlich genug gezeigt zu haben (ſ. Lehr⸗
ſatz 16), daß aus der höchſten Macht Gottes, oder ſeiner
unendlichen Natur, Unendliches auf unendliche Weiſen,
d. h. alles, mit Notwendigkeit hervorgegangen iſt, oder ſtets
46 Ethik. Erſter Teil.
mit gleicher Notwendigkeit folgte, wie aus der Natur des
Dreiecks von Ewigkeit her und in alle Ewigkeit folgt, daß
deſſen drei Winkel zwei rechten Winkeln gleich ſind. Daher
iſt die Allmacht Gottes von Ewigkeit her wirkſam geweſen,
und wird in alle Ewigkeit in derſelben Wirkſamkeit verharren.
Auf dieſe Weiſe wird die Allmacht Gottes, nach
meiner Anſicht wenigſtens, als eine weit vollkommenere hin⸗
geſtellt. Ja, die Gegner ſcheinen die Allmacht Gottes (es
ſei mir verſtattet, offen zu reden,) eigentlich zu leugnen.
Sie find nämlich gezwungen, einzuräumen, daß Gott Unend⸗
liches als erſchaffbar denkt, was er doch niemals wird er⸗
ſchaffen können. Denn andernfalls, wenn er nämlich alles,
was er denkt, erſchaffen würde, würde er, nach ihrer An⸗
nahme, ſeine Allmacht erſchöpfen, und damit unvollkommen
werden. Um alſo Gott als vollkommen hinzuſtellen, kommen
ſie dahin, daß ſie zugleich behaupten müſſen, Gott könne
nicht alles bewirken, worauf ſeine Macht ſich erſtreckt. Ich
kann mir nicht denken, daß eine widerſinnigere, und mit
Gottes Allmacht in ſtärkerem Widerſpruch ſtehende Anſicht
erſonnen werden könnte.
Nun möchte ich auch noch über Verſtand und Wille
(Denken und Wollen), die wir gewöhnlich Gott zuſchreiben,
etwas ſagen. — Wenn dieſelben, nämlich Verſtand und
Wille, zum ewigen Weſen Gottes gehören, ſo muß unter
jedem dieſer beiden Attribute ſicherlich etwas anderes ver⸗
ſtanden werden, als was man gewöhnlich darunter ver⸗
ſteht. Der Verſtand und der Wille, welche Gottes Weſen
ausmachen würden, müßten von unſerm Verſtand und
Willen himmelweit verſchieden ſein, und könnten bloß dem
Namen nach ſich gleichen; nämlich nicht anders, als das
Sternbild Hund, und das bellende Tier Hund, einander
gleichen. Ich beweiſe das alſo:
Wenn der Verſtand zur göttlichen Natur gehört, ſo
wird er nicht, wie unſer Verſtand, ſpäter als die gedachten
Dinge (wie die meiſten annehmen), oder gleichzeitig mit
Ethik. über Gott. 47
ihnen, von Natur aus ſein können, da ja Gott urſächlich
früher ift, als alle Dinge (nach Zuſatz I zu Lehrſatz 16);
vielmehr iſt die Wahrheit, und das formale Weſen der
Dinge, darum ſo wie ſie ſind, weil ſie im Verſtand Gottes
alſo objektiv exiſtieren. Daher iſt der Verſtand Gottes,
ſofern er als das Weſen Gottes ausmachend begriffen wird,
in Wahrheit die Urſache der Dinge, ſowohl ihres Weſens
als auch ihrer Exiſtenz; was auch von denen bemerkt worden
zu ſein ſcheint, welche erklären, daß Gottes Verſtand, Wille
und Macht eins und dasſelbe ſind. Da alſo der Verſtand
Gottes die einzige Urſache der Dinge iſt, nämlich (wie ich
gezeigt habe) ſowohl ihres Weſens, als auch ihrer Exiſtenz,
ſo muß er ſelbſt notwendig von den Dingen verſchieden
fein, ſowohl in Hinſicht ihres Weſens, als auch in Hinſicht
ihrer Exiſtenz. Denn das Verurſachte unterſcheidet ſich von
ſeiner Urſache genau in dem, was es von der Urſache hat.
So z. B. iſt ein Menſch die Urſache der Exiſtenz, nicht
aber des Weſens eines andern Menſchen; denn dieſes iſt
eine ewige Wahrheit. Darum können ſie dem Weſen nach
vollſtändig einander gleich ſein, in der Exiſtenz aber müſſen
ſie ſich von einander unterſcheiden. Und darum, wenn die
Exiſtenz des einen aufhört, hört darum nicht die Exiſtenz
des andern auf; wenn aber das Weſen des einen zerſtört
werden, und ſich als falſch erweiſen könnte, ſo würde auch
das Weſen des andern zerſtört werden. Deshalb muß das
Ding, welches die Urſache ſowohl des Weſens, als auch der
Exiſtenz einer Wirkung iſt, ſich von dieſer Wirkung unter⸗
ſcheiden, ſowohl in Hinſicht des Weſens als auch in Hin⸗
ſicht der Exiſtenz. Nun iſt aber der Verſtand Gottes die
Urſache ſowohl des Weſens, als auch der Exiſtenz unſeres
Denkens: folglich iſt der Verſtand Gottes, ſofern er als
das göttliche Weſen ausmachend begriffen wird, von unſerem
Verſtand, ſowohl in Hinſicht des Weſens, als auch in Hin⸗
ſicht der Exiſtenz, verſchieden, und er kann in nichts, als
nur im Namen, ihm gleich ſein, wie ich behauptete.
48 Ethik. Erſter Teil.
Bezüglich des Willens wird der Beweis ebenſo geführt,
was jeder leicht einſehen kann.
Achtzehnter Lehrſatz.
Gott iſt die innewohnende, nicht aber die übergehende
Urſache aller Dinge.
Beweis.
Alles, was iſt, iſt in Gott und muß durch Gott be=
griffen werden (nach Lehrſatz 15), und darum iſt Gott (nach
Zuſatz J zu Lehrſatz 16) die Urſache aller Dinge, die in ihm
ſind. Damit iſt das erſte bewieſen. — Sodann kann es
außer Gott keine Subſtanz geben (nach Lehrſatz 14), d. h.
(nach Definition 3) kein Ding, das außer Gott in ſich iſt.
Damit iſt das zweite bewieſen. — Somit iſt Gott die inne⸗
wohnende, nicht aber die übergehende Urſache aller Dinge.
— W. z. b. w.
Neunzehnter Lehrſatz.
Gott, oder alle Attribute Gottes, ſind ewig.
Beweis. 5
Denn Gott iſt (nach Definition 6) die Subſtanz, welch
(nach Lehrſatz 11) notwendig exiſtiert, d. h. (nach Lehrſatz 7),
zu deſſen Natur die Exiſtenz gehört, oder (was dasſelbe iſt)
aus deſſen Definition folgt, daß er exiſtiert, und alſo (nach
Definition 3) iſt er ewig. — Sodann iſt unter Attribute
Gottes das zu verſtehen, was (nach Definition 4) das
Weſen der göttlichen Subſtanz ausdrückt, d. h. das, was
zur Subſtanz gehört. Eben dies, ſage ich, müſſen vi.
Attribute ſelbſt enthalten. Nun gehört zur Natur den
Subſtanz (wie ich ſchon aus Lehrſatz 7 bewieſen habe) di
Ewigkeit. Folglich muß jedes Attribut die Ewigkeit in fid
ſchließen, und alſo ſind ſie alle ewig. — W. z. b. w.
Ethik. Über Gott. 49
Anmerkung.
Dieſer Satz erhellt auch ſehr deutlich aus der Art, wie
ich (in Lehrſatz 11) die Exiſtenz Gottes bewieſen habe. Aus
dieſem Beweiſe, ſage ich, ergiebt ſich, daß das Daſein Gottes,
wie auch ſein Weſen, eine ewige Wahrheit iſt. — Ich habe
übrigens (im 19. Lehrſatz der Prinzipien des Carteſius “))
die Ewigkeit Gottes noch auf andere Weiſe bewieſen und
brauche dies hier nicht zu wiederholen.
Zwanzigſter Lehrſatz.
Die Exiſtenz Gottes und ſein Weſen ſind eins und
dasſelbe.
Veweis.
Gott und ſeine ſämtlichen Attribute ſind (nach dem
vorigen Lehrſatz) ewig, d. h., (nach Definition 8, jedes
ſeiner Attribute drückt die Exiſtenz aus. Dieſelben Attri⸗
bute Gottes alſo, welche (nach Definition 4) das ewige
Weſen Gottes darſtellen, ſtellen zugleich ſeine ewige Exiſtenz
dar; d. h. eben das, was das Weſen Gottes ausmacht,
macht zugleich ſeine Exiſtenz aus. Daher iſt dieſe und ſein
Weſen eins und dasſelbe. — W. z. b. w.
Bufaß I.
Hieraus folgt erſtens, daß das Daſein Gottes, ebenſo
wie ſein Weſen, eine ewige Wahrheit iſt.
ZJuſatz II.
Hieraus folgt zweitens, daß Gott, oder alle Attribute
Gottes, unveränderlich ſind. Denn wenn ſie ſich hinſicht—
lich ihrer Exiſtenz veränderten, müßten ſie ſich auch (nach
dem vorigen Lehrſatz) hinſichtlich ihres Weſens verändern,
*) Über dieſe Schrift ſiehe mein Vorwort zum „Theologiſch-poli⸗
ziſchen Traktat“ S. 12.
1
50 Ethik. Erſter Teil.
d. h., (wie ſich von ſelbſt verſteht,) aus wahren zu falſchen
werden, und das wäre widerſinnig.
Einundzwanzigſter Lehrſatz.
Alles, was aus der abſoluten Natur eines Attributs
Gottes folgt, mußte immer und unendlich exiſtieren, oder
iſt eben durch dieſes Attribut ewig und unendlich.
Beweis.
Man nehme (falls man dies beſtreitet) womöglich an,
daß aus der abſoluten Natur Gottes etwas in einem
Attribut Gottes erfolgt, was endlich iſt, und eine beſchränkte
Exiſtenz oder Dauer hat, z. B. die Idee Gottes im Denken.
dun iſt aber das Denken, da es ja als Attribut Gottes
angenommen wird, (nach Lehrſatz 11,) ſeiner Natur nach
notwendig unendlich. Sofern es dagegen eine Idee Gottes
hat, wird es als endlich angenommen. Es kann aber
(nach Definition 2) nur als endlich begriffen werden, wenn
es durch das Denken ſelbſt beſchränkt wird. Dies kann
nun aber nicht durch das Denken geſchehen, ſofern es die
Idee Gottes ausmacht, denn inſofern wird es als endlich
angenommen. Alſo durch das Denken, ſofern es die Idee
Gottes nicht ausmacht, das aber (nach Lehrſatz 11) not⸗
wendig exiſtieren muß. Es giebt alſo ein Denken, welches
die Idee Gottes nicht ausmacht, weshalb aus ſeiner Natur,
ſofern es abſolutes Denken iſt, nicht notwendig die Idee
Gottes folgt. (Denn es wird ein Denken begriffen, welches
die Idee Gottes ausmacht, und ein Denken, welches ſie
nicht ausmacht.) Dies iſt aber gegen die Vorausſetzung.
— Folglich wenn die Idee Gottes im Denken, oder irgend
etwas, (es iſt einerlei, was genommen wird, da ja der
Beweis allgemein giltig ift,) in irgend einem Attribut
Gottes, aus der Notwendigkeit der abſoluten Natur dieſes
Attributs folgt, ſo muß es notwendig unendlich ſein. Dies
das erſte, was zu beweiſen war. a
Ethik. Über Gott. "Sl
Ferner kann das, was aus der Notwendigkeit der Natur
eines Attributs auf dieſe Weiſe folgt, keine beſchränkte
Dauer haben. Denn wenn man dies beſtreitet, ſo nehme
man an, in irgend einem Attribut Gottes gebe es ein Ding,
das aus der Notwendigkeit der Natur irgend eines Attri⸗
buts folgt, z. B. die Idee Gottes im Denken, und von
dieſer nehme man an, daß ſie zu irgend einer Zeit nicht
exiſtiert habe, oder nicht exiſtieren werde. Da aber das
Denken als Attribut Gottes angenommen wird, ſo muß es
ſowohl notwendig, als auch unveränderlich exiſtieren (nach
Lehrſatz 11 und Zuſatz II zu Lehrſatz 20). über die
Grenzen der Dauer der Idee Gottes hinaus (da angenommen
wird, daß ſie zu irgend einer Zeit nicht dageweſen ſei, oder
nicht daſein werde,) müßte daher das Denken ohne die Idee
Gottes exiſtieren. Dies iſt aber gegen die Vorausſetzung;
da angenommen wird, daß aus dem gegebenen Denken
notwendig die Idee Gottes folgt. Folglich kann die Idee
Gottes im Denken, oder ſonſt etwas, was notwendig aus
der abſoluten Natur irgend eines Attributs Gottes folgt,
keine beſchränkte Dauer haben, ſondern iſt durch eben dieſes
Attribut ewig. Dies das zweite, w. z. b. w.
Man beachte, daß dasſelbe von jedem Ding behauptet
werden muß, welches in irgend einem Attribut Gottes aus
der abſoluten Natur Gottes notwendig folgt.
Zweiundzwanzigſter Lehrſatz.
Alles, was aus einem andern Attribut Gottes folgt,
ſofern dasſelbe durch eine ſolche Modifikation modifiziert
iſt, welche ſowohl notwendig, als unendlich durch das⸗
ſelbe exiſtiert, muß ebenfalls ſowohl notwendig, als un⸗
endlich exiſtieren.
Beweis.
Der Beweis dieſes Lehrſatzes wird ebenſo geführt, wie
der Beweis des vorigen.
4 *
52 Ethik. Erſter Teil.
Dreiundzwanzigſter Lehrſatz.
Jeder Modus, welcher ſowohl notwendig, als auch
unendlich exiſtiert, hat notwendig erfolgen müſſen, ent⸗
weder aus der abſoluten Natur irgend eines Attributs
Gottes, oder aus irgend einem Attribut, das durch eine
ſolche Modifikation modifiziert iſt, welche ſowohl not⸗
wendig als auch unendlich exiſtiert.
Beweis.
Deun der Modus iſt in einem andern, durch welches
er begriffen werden muß, (nach Definition 5,) d. h., (nach
Lehrſatz 15,) er iſt bloß in Gott, und kann bloß durch Gott
begriffen werden. Wenn alſo ein Modus als notwendig
exiſtierend, und unendlich ſeiend, begriffen wird, ſo muß beides
notwendig geſchloſſen oder erkannt werden durch irgend ein
Attribut Gottes, ſofern dasſelbe ſo begriffen wird, daß es
Unendlichkeit und Notwendigkeit der Exiſtenz, oder (was
nach Definition 8 dasſelbe iſt) Ewigkeit ausdrückt, d. h.,
(nach Definition 6 und Lehrſatz 19,) ſofern es abſolut be⸗
trachtet wird. Alſo hat der Modus, welcher ſowohl not⸗
wendig, als auch unendlich exiſtiert, aus der abſoluten
Natur eines göttlichen Attributs folgen müſſen, und zwar
entweder unmittelbar, (worüber Lehrſatz 21,) oder mittelbar,
durch eine Modifikation, welche aus deſſen abſoluter Natur
folgt, d. h., (nach dem vorigen Lehrſatz,) welche ſowohl not⸗
wendig, als auch unendlich exiſtiert. — W. z. b. w.
Vierundzwanzigſter Lehrſatz.
Das Weſen der von Gott hervorgebrachten Dinge
ſchließt die Exiſtenz nicht ein.
Beweis.
Der Satz erhellt aus Definition 1. Denn das, deſſen
Natur (nämlich an ſich betrachtet) die Exiſtenz einſchließt,
Ethik. Über Gott. 53
iſt Urſache feiner ſelbſt, und exiſtiert nach der bloßen Not-
wendigkeit ſeiner Natur.
Bufaß.
Hieraus folgt, daß Gott nicht bloß die Urſache ift, daß
die Dinge zu exiſtieren anfangen, ſondern auch, daß ſie im
Exiſtieren verharren, oder, (um mich eines ſcholaſtiſchen
Ausdrucks zu bedienen,) daß Gott die „Seinsurſache“ der
Dinge iſt. Denn, mögen die Dinge exiſtieren oder nicht
exiſtieren, ſobald wir auf ihr Weſen achten, finden wir, daß
dasſelbe weder Exiſtenz noch Dauer in ſich ſchließt. Ihr
Weſen kann daher die Urſache weder ihrer Exiſtenz, noch
ihrer Dauer ſein, ſondern nur Gott, zu deſſen Natur allein
ſchon die Exiſtenz gehört (nach Zuſatz J zu Lehrſatz 14).
Fünfundzwanzigſter Lehrſatz.
Gott iſt nicht nur die wirkende Urſache der Exiſtenz,
ſondern auch des Weſens der Dinge.
Beweis.
Verneint man dieſes, jo wäre alſo Gott nicht die Ur-
ſache des Weſens der Dinge. Es kann alſo (nach Axiom IV)
das Weſen der Dinge ohne Gott begriffen werden. Das
aber iſt (nach Lehrſatz 15) widerſinnig. Alſo iſt Gott auch
die Urſache des Weſens der Dinge. — W. z. b. w.
Anmerkung.
Dieſer Lehrſatz folgt deutlicher noch aus Lehrſatz 16.
Denn aus dieſem folgt, daß aus der gegebenen göttlichen
Natur ſowohl das Weſen der Dinge, als auch ihre Exiſtenz,
lotwendig geſchloſſen werden muß; und, um es kurz zu
agen, in dem Sinne, in welchem Gott die Urſache ſeiner
elbſt heißt, muß er auch die Urſache aller Dinge heißen,
vas ſich noch deutlicher aus dem folgenden Zuſatz ergiebt.
54 Ethik. Erſter Teil.
ZJuſatz.
Die einzelnen Dinge ſind nichts als Erregungen, oder
Daſeinsformen (Modi), durch welche die Attribute Gottes
auf gewiſſe und beſtimmte Weiſe ausgedrückt werden. Der
Beweis erhellt aus Lehrſatz 15 und Definition 5.
Sechsundzwanzigſter Lehrſatz.
Ein Ding, welches beſtimmt iſt, irgend etwas zu
wirken, iſt notwendig von Gott alſo beſtimmt worden;
und ein Ding, welches von Gott nicht beſtimmt worden
iſt, kann nicht ſich ſelbſt zum Wirken beſtimmen.
Beweis.
Dasjenige, wegen deſſen man von den Dingen ſagt,
daß ſie beſtimmt ſind, irgend etwas zu wirken, muß not⸗
wendig etwas Poſitives ſein (was an ſich klar iſt); daher
iſt Gott aus der Notwendigkeit ſeiner Natur (nach den
Lehrſätzen 25 und 16) die wirkende Urſache ſowohl von
deſſen Weſen, als auch von deſſen Exiſtenz. Damit iſt das
erſte bewieſen. — Daraus folgt aber auch die zweite Auf⸗
ſtellung des Lehrſatzes aufs deutlichſte. Denn wenn ein
Ding, das von Gott nicht beſtimmt iſt, ſich ſelbſt beſtimmen
könnte, jo würde der erſte Teil dieſes Satzes falſch fein:
was widerſinnig iſt, wie gezeigt worden.
Siebenundzwanzigſter Lehrſatz.
Ein Ding, das von Gott beſtimmt iſt, etwas zu
wirken, kann nicht ſich ſelbſt zu einem nichtbeſtimmten
machen. f
Beweis.
Dieſer Lehrſatz erhellt aus Axiom III.
Achtundzwanzigſter Lehrſatz.
Alles Einzelne, oder jedes Ding, welches endlich iſt
und eine beſtimmte Exiſtenz hat, kann nicht exiſtieren,
Ethik. Über Gott. 55
und nicht zum Wirken beſtimmt werden, wenn es nicht
zum Exiſtieren und zum Wirken von einer andern Ur⸗
ſache beſtimmt wird, welche ebenfalls endlich iſt, und
eine beſtimmte Exiſtenz hat. Und wiederum kann dieſe
Urſache auch nicht exiſtieren, und nicht zum Wirken be⸗
ſtimmt werden, wenn ſie nicht von einer andern, welche
ebenfalls endlich iſt, und eine beſtimmte Exiſtenz hat,
zum Exiſtieren und Wirken beſtimmt wird. Und ſo ins
Unendliche.
Beweis.
Alles, was zum Exiſtieren und Wirken beſtimmt iſt, iſt
von Gott alſo beſtimmt (nach Lehrſatz 26 und Zuſatz zu
Lehrſatz 24). Was aber endlich iſt und eine beſtimmte
Exiſtenz hat, kann von der abſoluten Natur eines gött-
lichen Attributs nicht abgeleitet werden. Denn was aus
der abſoluten Natur eines göttlichen Attributs folgt, iſt
unendlich und ewig (nach Lehrſatz 21). Somit mußte es
aus Gott, oder einem göttlichen Attribut folgen, ſofern
dieſes als in irgend einer Weiſe erregt betrachtet wird.
Denn außer der Subſtanz und den Daſeinsformen (modi)
giebt es nichts, (nach Axiom J und den Definitionen 3
und 5,) und die Daſeinsformen find (nach Zuſatz zu Lehr-
ſatz 25) nichts, als Erregungen der göttlichen Attribute.
Aber aus Gott, oder einem göttlichen Attribut, ſofern es
durch irgend eine Modifikation erregt iſt, welche ewig und
unendlich iſt, konnte es ebenfalls nicht folgen (nach Lehr—
ſatz 22). Es mußte alſo folgen, oder zum Exiſtieren und
Wirken beſtimmt werden, aus bezw. von Gott, oder einem
göttlichen Attribut, ſofern dieſes modifiziert iſt durch eine
Modifikation, welche endlich iſt, und eine beſtimmte Exiſtenz
hat. Damit wäre das erſte bewieſen.
Ferner mußte wiederum dieſe Urſache, oder dieſer Mo—
dus, (aus demſelben Grunde, aus welchem ſchon der erſte
Teil dieſes Satzes bewieſen worden ift,) ebenfalls von einer
andern beſtimmt werden, die auch endlich iſt und eine be—
56 Ethik. Erſter Teil.
ſtimmte Exiſtenz hat, und dieſe letzte wieder (aus dem
gleichen Grund) von einer andern, und ſo immer fort (aus
dem gleichen Grund) ins Unendliche. — W. z. b. w.
Aumerkung.
Da manche Dinge von Gott unmittelbar hervorgebracht
werden mußten, nämlich diejenigen, welche aus ſeiner abſo⸗
luten Natur notwendig folgen, indem dieſe erſten Dinge
alle diejenigen vermittelten, welche doch ohne Gott weder
ſein noch begriffen werden können, ſo folgt hieraus erſtens,
daß Gott die abſolut nächſte Urſache der von ihm unmittel⸗
bar hervorgebrachten Dinge iſt; nicht aber in ihrer Gattung,
wie man ſagt. Denn die Wirkungen Gottes können ohne
ihre Urſache weder ſein noch begriffen werden (nach Lehr⸗
fat 15 und Zuſatz zu Lehrſatz 24). — Es folgt zweitens,
daß Gott nicht eigentlich die entfernte Urſache der einzelnen
Dinge genannt werden kann, außer etwa aus dem Grunde,
damit wir ſie von denen unterſcheiden, die er unmittelbar
hervorgebracht hat, oder vielmehr, die aus ſeiner abſoluten
Natur folgen. Denn unter einer entfernten Urſache ver⸗
ſtehen wir eine ſolche, welche mit der Wirkung auf keine
Weiſe verbunden iſt. Alles aber, was iſt, iſt in Gott, und
hängt von Gott dermaßen ab, daß ſie ohne ihn weder ſein,
noch begriffen werden können.
Neunundzwanzigſter Lehrſatz.
In der Natur giebt es kein Zufälliges, ſondern alles
iſt vermöge der Notwendigkeit der göttlichen Natur be⸗
ſtimmt, auf gewiſſe Weiſe zu exiſtieren und zu wirken.
2 Beweis.
Alles, was iſt, iſt in Gott (nach Lehrſatz 15). Gott
aber kann nicht ein zufälliges Ding heißen, denn er exiſtiert
notwendig, nicht aber zufällig (nach Lehrſatz 11). Ferner
ſind die Daſeinsformen der göttlichen Natur aus dieſer
Ethik. über Gott. 57
ebenfalls notwendig, nicht aber zufällig erfolgt (nach Lehr
ſatz 16); und zwar entweder ſofern die göttliche Natur
abſolut (nach Lehrſatz 21), oder ſofern ſie als auf gewiſſe
Weiſe zu wirken beſtimmt betrachtet wird (nach Lehrſatz 27).
Ferner iſt Gott die Urſache dieſer Daſeinsformen, nicht nur,
ſofern fie einfach exiſtieren (nach Zuſatz zu Lehrſatz 24),
ſondern auch (nach Lehrſatz 26), ſofern fie als etwas zu
wirken beſtimmt betrachtet werden. Wenn fie (nach dem-
ſelben Lehrſatz) von Gott nicht beſtimmt ſind, ſo iſt es un⸗
möglich, nicht bloß zufällig, daß ſie ſich ſelbſt beſtimmen;
und umgekehrt, (nach Lehrſatz 27,) wenn fie von Gott be—
ſtimmt ſind, ſo iſt es unmöglich, nicht bloß zufällig, daß
ſie ſich zu nicht beſtimmten machen. Alſo iſt alles vermöge
der Notwendigkeit der göttlichen Natur beſtimmt, nicht bloß
um zu exiſtieren, ſondern auch, um auf gewiſſe Weiſe zu
exiſtieren und zu wirken, und ein Zufälliges giebt es nicht.
— W. z. b. w.
Anmerkung.
Bevor ich weiter gehe, will ich hier auseinanderſetzen,
was wir unter „ſchaffende Natur“ (natura naturans) und
was wir unter „geſchaffene Natur“ (natura naturata) zu
verſtehen haben, oder eigentlich bloß daran erinnern. Denn
wie ich glaube, ergiebt ſich bereits aus dem Bisherigen, daß
wir unter „ſchaffende Natur“ das zu verſtehen haben, was
in ſich iſt und durch ſich begriffen wird, oder ſolche Attri—
bute der Subſtanz, welche ewiges und unendliches Weſen
ausdrücken, d. h. (nach Zuſatz J zu Lehrſatz 14 und Zuſatz II
zu Lehrſatz 17) Gott, ſofern er als freie Urſache betrachtet
wird. Unter „geſchaffene Natur“ aber verſtehe ich alles
dasjenige, was aus der Notwendigkeit der Natur Gottes
folgt, d. h., alle Daſeinsformen der Attribute Gottes, ſo—
fern ſie als Dinge betrachtet werden, welche in Gott ſind,
und welche ohne Gott weder ſein noch begriffen werden können.
58 Ethik. Erſter Teil.
Dreißigſter Lehrſatz.
Der Verſtand (die Erkenntnis), ob in Wirklichkeit
endlich, oder in Wirklichkeit unendlich, muß die Attribute
Gottes und die Erregungen Gottes umfaſſen, und nichts
anderes.
Beweis.
Eine wahre Idee muß mit ihrem Gegenſtand überein⸗
ſtimmen, (nach Axiom VI.) d. h., (wie an ſich klar,) das,
was in Verſtand objektiv enthalten iſt, muß notwendig in
der Natur vorhanden ſein. Nun giebt es aber in der
Natur (nach Zuſatz J zu Lehrſatz 14) nur Eine Subſtanz,
nämlich Gott, und keine andere Erregungen (nach Lehr⸗
ſatz 15) als die, welche in Gott ſind, und welche (nach
demſelben Lehrfat) ohne Gott nicht fein, noch begriffen
werden können. Somit muß der Verſtand, ob er in Wirk⸗
lichkeit endlich, oder in Wirklichkeit unendlich iſt, die Attri⸗
bute Gottes und die Affektionen Gottes umfaſſen, und nichts
anderes. — W. z. b. w.
Einunddreißigſter Lehrſatz.
Der wirkliche Verſtand (die wirkliche Erkenntnis), mag
er endlich oder unendlich ſein, wie auch der Wille, die
Begierde, die Liebe u. ſ. f., müſſen zur geſchaffenen
Natur, nicht aber zur ſchaffenden Natur gerechnet werden.
Beweis.
Denn unter Verſtand verſtehe ich (wie ſelbſtverſtändlich)
nicht das abſolute Denken, ſondern nur eine gewiſſe Da⸗
feinsform (modus) des Denkens, welche Daſeinsform ſich
von andern Daſeinsformen, wie Begierde, Liebe u. ſ. f.,
unterſcheidet, und daher (nach Definition 5) durch das ab⸗
ſolute Denken begriffen werden muß; nämlich (nach Lehr⸗
ſatz 15 und Definition 6) durch irgend ein Attribut Gottes,
welches das ewige und unendliche Weſen des Denkens aus⸗
Ethik. Über Gott. 59
drückt, jo begriffen werden muß, daß es ohne dasſelbe weder
ſein, noch begriffen werden kann. Daher muß er (nach
Anmerkung zu Lehrſatz 29) zur geſchaffenen Natur, nicht
aber zur ſchaffenden, gerechnet werden, wie auch die übrigen
Daſeinsformen des Denkens. — W. z. b. w.
Anmerkung.
Der Grund, warum ich hier von wirklichem Verſtand
rede, iſt nicht, weil ich etwa zugebe, daß es irgend einen
potentiellen Verſtand giebt, ſondern weil ich jede Verwirrung
zu vermeiden trachte, wollte ich nur von etwas ſprechen,
das uns vollſtändig klar iſt, nämlich von der Erkenntnis
ſelbſt, die von uns deutlicher als alles andere begriffen
wird. Denn wir können nichts erkennen, was nicht zum
vollkommeren Verſtändnis der Erkenntnis beitragen würde.
Zweiunddreißigſter Lehrſatz.
Der Wille kann nicht freie Urſache, ſondern nur
notwendige heißen.
Beweis.
Der Wille iſt nur eine gewiſſe Form des Denkeus,
ebenſo wie der Verſtand. Daher kann jedes einzelne Wollen
(nach Lehrſatz 28) nur dann exiſtieren, und nur dann zum
Wirken beſtimmt werden, wenn es von einer Urſache be—
ſtimmt wird, und dieſe wiederum von einer andern, und
fo fort ins Unendliche. Wird der Wille als unendlich ans
genommen, ſo muß er ebenfalls zum Exiſtieren und Wirken
von Gott beſtimmt werden; nicht ſofern Gott die abſolut
unendliche Subſtanz iſt, ſondern ſofern er ein Attribut hat,
welches das unendliche und ewige Weſen des Denkens aus⸗
drückt (nach Lehrſatz 23). Auf welche Weiſe alſo der Wille
begriffen wird, ob als endlich oder als unendlich, erfordert
er eine Urſache, von welcher er zum Exiſtieren und Wirken
beſtimmt wird. Daher kann er (nach Definition 7) nicht
60 Ethik. Erſter Teil.
freie Urſache heißen, ſondern nur notwendige oder ge=
zwungene. — W. z. b. w.
Inſat 1.
Hieraus folgt erſtens, daß Gott nicht aus freiem
Willen wirkt.
Zuſat II.
Hieraus folgt zweitens, daß Wille und Verſtand zur
Natur Gottes ſich verhalten wie Bewegung und Ruhe, und
überhaupt wie alles Natürliche, welches zum Exiſtieren und
Wirken auf gewiſſe Weiſe von Gott beſtimmt werden muß.
Denn der Wille bedarf, wie alles Übrige, einer Urſache,
von welcher er zum Exiſtieren und Wirken auf gewiſſe
Weiſe beſtimmt wird. Und obgleich aus einem gegebenen
Willen oder Verſtand Unendliches folgt, kann man darum
doch ebenſowenig von Gott ſagen, er handle aus freiem
Willen, als man wegen deſſen, was aus Bewegung und
Ruhe folgt, (denn auch aus dieſen folgt Unendliches,) von
ihm ſagen kann, er handle aus freier Bewegung und Ruhe.
Der Wille gehört darum zur Natur Gottes nicht mehr, als
alles übrige Natürliche, vielmehr verhält er ſich zu ihr
gerade ſo wie Bewegung und Ruhe und alles Übrige,
welches, wie ich gezeigt habe, aus der Notwendigkeit der
göttlichen Natur folgt und von ihr zum Exiſtieren und
Wirken auf gewiſſe Weiſe beſtimmt wird.
Dreiunddreißigſter Lehrſatz.
Die Dinge konnten auf keine andere Weiſe und in
keiner andern Ordnung von Gott hervorgebracht werden,
als ſie hervorgebracht worden ſind.
Beweis.
Denn alle Dinge ſind aus der gegebenen Natur Gottes
mit Notwendigkeit erfolgt, (nach Lehrſatz 16,) und vermöge
der Notwendigkeit der göttlichen Natur beſtimmt, auf gewiſſe
Ethik. über Gott. 61
Weiſe zu exiſtieren und zu wirken (nach Lehrſatz 29). Hätten
alſo die Dinge von anderer Beſchaffenheit ſein, oder auf
andere Weiſe zum Wirken beſtimmt werden können, ſo daß
die Ordnung der Natur eine andere wäre, ſo hätte auch
die Natur Gottes eine andere ſein können, als ſie wirklich
iſt. Dann aber müßte (nach Lehrſatz 11) jene andere Natur
auch exiſtieren, und es müßten ſonach zwei oder mehrere
Götter geben, was (nach Zuſatz J zu Lehrſatz 14) wider⸗
ſinnig iſt. Daher konnten die Dinge auf keine andere
Weiſe, und nach keiner andern Ordnung u. ſ. f. — W.
z. b. w.
1. Anmerkung.
Nachdem ich hiermit ſonnenklar gezeigt habe, daß es
durchaus nichts in den Dingen giebt, wegen deſſen ſie als
zufällige bezeichnet werden könnten, will ich noch mit wenigen
Worten auseinanderſetzen, was wir unter zufällig zu ver:
ſtehen haben; vorher aber, was unter notwendig und
unmöglich. Ein Ding heißt notwendig, entweder in
Bezug auf ſein Weſen, oder in Bezug auf ſeine Urſache.
Denn die Exiſtenz eines Dinges folgt mit Notwendigkeit
entweder aus dem Weſen und der Definition desſelben,
oder aus einer gegebenen wirkenden Urſache. Dieſe Gründe
ſind es auch, weshalb eine Sache unmöglich heißt, weil
nämlich entweder das Weſen, oder die Definition desſelben
das Gegenteil in ſich ſchließt, oder weil keine äußere Ur⸗
ſache gegeben iſt, die beſtimmt wäre, ein ſolches Ding her⸗
vorzubringen. Zufällig aber wird ein Ding aus keinem
andern Grund genannt, als wegen unſerer mangelhaften
Erkenntnis. Denn ein Ding, von dem wir nicht wiſſen,
ob ſein Weſen einen Widerſpruch in ſich ſchließt, oder von
dem wir gewiß wiſſen, daß es keinen Widerſpruch in ſich
ſchließt, während wir dennoch über deſſen Exiſtenz nichts
Sicheres behaupten können, weil die Ordnung der Urſachen
uns verborgen iſt, ein ſolches Ding kann uns weder als
62 Ethik. Erſter Teil.
notwendig, noch als unmöglich erſcheinen, und darum nennen
wir es entweder zufällig oder möglich.
2. Anmerkung.
Aus Vorſtehendem folgt klar, daß die Dinge in höchſter
Vollkommenheit von Gott hervorgebracht worden ſind, da
ſie ja aus der gegebenen vollkommenſten Natur mit Not⸗
wendigkeit erfolgt ſind. Und zwar wird damit Gott nicht
irgend einer Unvollkommenheit geziehen, denn eben deſſen
Vollkommenheit nötigt uns, dies zu behaupten. Es würde
ſogar aus dem Gegenteil klar folgen, (wie ich bereits ge⸗
zeigt,) daß Gott nicht höchſt vollkommen wäre; weil man
nämlich, wenn die Dinge auf andere Weiſe hervorgebracht
wären, Gott eine andere Natur zuſchreiben müßte, verſchieden
von derjenigen, welche wir aus der Betrachtung des höchſten
Weſens demſelben zuzuſchreiben genötigt ſind.
Indeſſen zweifle ich nicht, daß viele dieſe Anſicht als
eine widerſinnige verſpotten, und gar keine Luſt haben, ſie
näher zu erwägen, und zwar aus keinem andern Grunde,
als weil ſie Gott eine andere Freiheit zuzuſchreiben gewöhnt
ſind, ganz verſchieden von derjenigen, welche von mir
(Definition 7) dargelegt wurde; nämlich einen abſoluten
Willen. Allein ich zweifle auch wieder nicht, daß wenn ſie
über die Sache nachdenken, und die Reihe meiner Beweiſe
genau erwägen würden, ſie ſelbſt ſchließlich eine ſolche Frei⸗
heit, wie ſie Gott eine zuſchreiben, nicht bloß als Verkehrt⸗
heit, ſondern auch als großes Hindernis des Wiſſens voll-
ſtändig verwerfen würden. Es iſt unnötig, hier zu wieder⸗
holen, was in der Anmerkung zu Lehrſatz 17 geſagt wurde.
Doch will ich ihnen zu liebe noch zeigen, daß, wenn auch
eingeräumt würde, daß der Wille zum Weſen Gottes ge⸗
höre, nichtsdeſtoweniger aus deſſen Vollkommenheit folgte,
daß die Dinge auf keine andre Weiſe und nach keiner
andern Ordnung von Gott geſchaffen werden konnten.
Es wird dies leicht gezeigt werden können, wenn wir
Ethik. über Gott. | 63
zunächſt das betrachten, was die Gegner ſelbſt einräumen,
nämlich daß es allein von Gottes Beſchluß und Willen
abhängt, daß jedes Ding iſt, was es iſt; denn ſonſt wäre
Gott nicht die Urſache aller Dinge. Ferner, daß alle Be⸗
ſchlüſſe Gottes von Ewigkeit her von Gott ſelbſt gefaßt
waren; denn ſonſt würde Gott der Unvollkommenheit und
Unbeſtändigkeit geziehen werden. Da es nun in der Ewig⸗
keit kein Wann giebt, kein Vorher und kein Nachher, ſo
folgt hieraus, nämlich aus der bloßen Vollkommenheit
Gottes, daß Gott nie etwas anderes beſchließen konnte,
oder daß Gott vor ſeinen Beſchlüſſen nicht geweſen iſt, noch
ohne ſie ſein kann.
Aber, ſagen die Gegner, wenn auch angenommen würde,
daß Gott eine andere Natur gemacht hätte, oder daß er
von Ewigkeit her etwas anderes über die Natur und ihre
Ordnung beſchloſſen hätte, ſo würde daraus doch keine
Unvollkommenheit in Gott folgen. — Allein, wenn ſie das
ſagen, ſo geben ſie zugleich zu, daß Gott ſeine Beſchlüſſe
ändern könne. Denn wenn Gott über die Natur und ihre
Ordnung anderes beſchloſſen hätte, als er beſchloſſen hat,
d. h., wenn er über die Natur etwas anderes gewollt und
gedacht hätte, ſo hätte er notwendig einen andern Verſtand,
als er wirklich hat, und einen andern Willen, als er wirk—
lich hat. Und wenn man Gott einen andern Verſtand und
einen andern Willen zuſchreiben darf, ohne irgendeine
Veränderung ſeines Weſens und ſeiner Vollkommenheit,
welcher Grund wäre vorhanden, daß Gott nicht jetzt ſeine
Beſchlüſſe über die geſchaffenen Dinge ändern, und dabei
doch gleich vollkommen bleiben könnte? Denn in Bezug
auf ſein Weſen und ſeine Vollkommenheit iſt es ja einerlei,
auf welche Weiſe ſein Verſtand und ſein Wille begriffen
wird. Ferner geben alle mir bekannten Philoſophen zu,
daß es in Gott keinen potentiellen Verſtand, ſondern nur
einen wirklichen giebt. Da aber ſowohl ſein Verſtand als
auch ſein Wille ſich von ſeinem Weſen nicht unterſcheidet,
64 Ethik. Erſter Teil.
was ebenfalls alle zugeben, ſo folgt daraus auch, daß, wenn
Gott einen andern Verſtand in der Wirklichkeit gehabt
hätte, und einen andern Willen, auch ſein Weſen notwen⸗
dig ein anderes wäre, und ferner daß, (wie ich anfangs
geſchloſſenä) wenn die Dinge anders, als fie wirklich ſind,
von Gott hervorgebracht worden wären, der Verſtand
Gottes und ſein Wille, d. h., (wie zugegeben wird,) ſein
Weſen, ein anderes ſein müßte, was widerſinnig wäre.
Da alſo die Dinge auf keine andere Weiſe, und in
Br Tr
feiner andern Ordnung von Gott hervorgebracht werden
konnten, und die Wahrheit dieſer Behauptung aus der
höchſten Vollkommenheit Gottes folgt, ſo kann gewiß keine
geſunde Vernunft uns überreden, zu glauben, Gott habe
nicht alles, was in feinem Verſtand iſt, mit derſelben Voll⸗
kommenheit, womit er es gedacht, erſchaffen wollen.
Indeſſen wird man ſagen: In den Dingen iſt weder
Vollkommenheit noch Unvollkommenheit; ſondern dasjenige
in ihnen, weshalb ſie vollkommen oder unvollkommen ſind,
gut oder ſchlecht heißen, hängt vom Willen Gottes allein
ab. Hätte daher Gott gewollt, ſo hätte er machen können,
daß das, was jetzt Vollkommenheit iſt, die höchſte Unvoll⸗
kommenheit wäre, und umgekehrt. — Allein, was hieße
dies anders, als offen behaupten, Gott, der doch das, was
er will, notwendig denkt, könne durch ſeinen Willen machen,
daß er die Dinge auf andere Weiſe denkt, als er ſie denkt;
was (wie ich bereits gezeigt) ein großer Unſinn iſt.
Ich kann daher den Beweis gegen die Gegner ſelbſt
folgendermaßen umkehren: Alles hängt ab von der Macht
Gottes. Sollten daher die Dinge anders beſchaffen ſein
können, ſo müßte notwendig auch der Wille Gottes anders
beſchaffen ſein. Nun kann aber der Wille Gottes nicht
anders beſchaffen ſein (wie ich bereits aus der Vollkommen⸗
heit Gottes ſehr klar gezeigt habe). Folglich können die
Dinge nicht anders beſchaffen ſein.
Ich geſtehe, daß dieſe Meinung, welche alles einem ge⸗
Ethik. über Gott. 65
wiſſen indifferenten Willen Gottes unterwirft, und von
ſeinem Gutdünken alles abhängig ſein läßt, weniger von
der Wahrheit abirrt, als die Meinung jener, welche be=
haupten, Gott mache alles unter dem Geſichtspunkt des
Guten. Denn dieſe ſcheinen etwas außer Gott anzunehmen,
das von Gott nicht abhängt, und das Gott bei ſeinem
Wirken ſich zum Muſter nimmt, oder auf das er, wie auf
ein beſtimmtes Ziel, hinarbeitet. Dies heißt wahrlich nichts
anderes, als Gott dem Fatum unterwerfen; das Wider—⸗
finnigfte, was man von Gott behaupten kann, der, wie ge=
zeigt wurde, die erſte und einzige freie Urſache iſt, ſowohl
des Weſens aller Dinge, wie auch ihrer Exiſtenz. Ich habe
daher nicht nötig, mit der Widerlegung dieſes Unſiuns
die Zeit zu vergeuden.
Vierunddreißigſter Lehrſatz.
Die Macht Gottes iſt ſein Weſen ſelbſt.
Beweis.
Denn aus der bloßen Notwendigkeit ſeines Weſens folgt,
daß Gott die Urſache ſeiner ſelbſt, (nach Lehrſatz 11,) und
(nach Lehrſatz 16 und deſſen Zuſatz) aller Dinge iſt. Folg⸗
lich iſt die Macht Gottes, durch welche er und alles iſt und
handelt, ſein Weſen ſelbſt. — W. z. b w.
Fünfunddreißigſter Lehrſatz.
Alles, was wir begreifen als in Gottes Macht ſeiend,
iſt notwendig.
Beweis.
Denn alles, was in Gottes Macht iſt, muß (nach dem
vorigen Lehrſatz) in feinem Weſen jo enthalten fein, daß
es aus demſelben notwendig folgt; alſo iſt es notwendig.
— W. z. b. w.
5
66 Ethik. Erſter Teil,
Sechsunddreißigſter Lehrſatz.
Es exiſtiert nichts, aus deſſen Natur nicht eine Wir⸗
kung folgte.
Beweis.
Alles, was exiſtiert, drückt die Natur, oder das Weſen
Gottes auf gewiſſe und beſtimmte Weiſe aus, (nach Zuſatz
zu Lehrſatz 25,) d. h., (nach Lehrſatz 34,) alles, was exiſtiert,
drückt die Macht Gottes, welche die Urſache aller Dinge iſt,
auf gewiſſe und beſtimmte Weiſe aus; alſo muß (nach
Lehrſatz 16) irgend eine Wirkung aus demſelben folgen. —
WW.
Anhang.
Damit habe ich die Natur Gottes und ſeine Eigen⸗
ſchaften auseinandergeſetzt, nämlich: daß er notwendig exi⸗
ſtiert; daß er einzig iſt; daß er vermöge der bloßen Not⸗
wendigkeit ſeiner Natur iſt und handelt; daß und in welcher
Weiſe er die freie Urſache aller Dinge iſt; daß alles in
Gott iſt und von ihm ſo abhängt, daß nichts ohne ihn
ſein oder begriffen werden kann; endlich, daß alles von
Gott vorausbeſtimmt geweſen iſt, nicht zwar vermöge der
Freiheit des Willens, oder eines abſoluten Gutdünkens,
ſondern vermöge der abſoluten Natur Gottes, oder ſeiner
unendlichen Macht.
Auch habe ich bei jeder Gelegenheit die Vorurteile, welche
dem Verſtändnis meiner Beweiſe im Wege waren, zu be⸗
ſeitigen geſucht.
Indeſſen giebt es noch weitere Vorurteile, und ihre
Zahl iſt nicht gering, welche nicht minder, ja ganz beſon⸗
ders hinderlich waren und ſind, daß man die Verkettung
der Dinge in der Weiſe, wie ich fie beleuchtet habe, zu ver⸗
Ethik. über Gott. 67
ſtehen vermag. Ich hielt es darum der Mühe wert, dieſe
Vorurteile einer Prüfung durch die Vernunft zu unter⸗
ziehen. Und weil alle Vorurteile, welche ich hier behandeln
will, von Einem abhängen, nämlich davon, daß die Menſchen
gewöhnlich annehmen, alle Dinge in der Natur handelten,
wie ſie ſelbſt, um eines Zwecks willen, ja daß ſie von Gott
ſelbſt mit aller Beſtimmtheit behaupten, er leite alles zu
irgend einem beſtimmten Zweck — ſagen ſie doch, Gott
habe alles um des Menſchen willen gemacht, den Menſchen
ſelbſt aber, damit er ihn verehre — ſo will ich mich hier
vor allem mit dieſem Einem Vorurteil beſchäftigen, indem
ich erſtens die Urſache aufſuche, weshalb die meiſten in
dieſem Vorurteil befangen ſind, und alle von Natur ſo ſehr
geneigt ſind es zu hegen; ſodann werde ich deſſen Un—
wahrheit nachweiſen, und ſchließlich auch, wie daraus über
Gut und Schlecht, Verdienſt und Sünde, Lob und Tadel,
Ordnung und Verwirrung, Schönheit und Häßlichkeit, und
über anderes dieſer Art, Vorurteile entſtanden ſind.
Es iſt hier jedoch nicht der Ort, dies aus der Natur
des menſchlichen Geiſtes abzuleiten; es wird vielmehr ge—
nügen, etwas, das jedermann anerkennen muß, zur Grund⸗
lage zu nehmen, die Thatſache nämlich, daß alle Menſchen
ohne die Urſachen der Dinge zu kennen auf die Welt
kommen, und daß alle die Begierde haben ihren Nutzen zu
ſuchen und ſie dieſes wohl wiſſen. Denn daraus
folgt erſtens, daß die Menſchen ſich für frei halten, da
ſie ſich ihres Wollens und ihres Begehrens bewußt ſind,
während ſie nicht im Traum an die Urſachen denken, von denen
ſie zum Begehren und Wollen beſtimmt werden, weil ſie
dieſelben eben nicht kennen. Es folgt zweitens, daß die
Menſchen alles um eines Zwecks willen thun, nämlich um
des Nutzens willen, den ſie begehren. Daher kommt es,
daß ſie ſtets nur die Endzwecke der vollbrachten Dinge zu
wiſſen trachten, und befriedigt ſind, wenn ſie dieſe erfahren
haben, weil ſie dann keinen Anlaß haben, ſich weiter damit
5 *
68 Ethik. Erſter Teil.
zu befaſſen. Können ſie dieſe Zwecke aber von keinem
andern erfahren, ſo bleibt ihnen nichts anderes übrig, als
ſich an ſich ſelbſt zu wenden, und auf Zwecke zu ſinnen, von
welchen ſie ſelbſt zu dergleichen beſtimmt zu werden pflegen,
und ſo beurteilen ſie die Sinnesweiſe eines andern not⸗
wendig nach ihrer eigenen Sinnesweiſe.
Da ſie ferner in ſich und außer ſich zahlreiche Mittel
bemerken, die zur Erreichung ihres Nutzens nicht wenig
beitragen, wie z. B. die Augen zum Sehen, die Zähne
zum Kauen, Pflanzen und Tiere zur Nahrung, die Sonne
zum Leuchten, das Meer, Fiſche zu nähren u. ſ. f., ſo
kommt es, daß ſie alles in der Natur als Mittel zu ihrem
Nutzen betrachten. Und weil ſie wiſſen, daß jene Mittel
von ihnen aufgefunden, aber nicht hergeſtellt ſind, ſo hat
dies den Glauben verurſacht, irgend ein anderer ſei es, der
dieſe Mittel zu ihrem Nutzen bereitet habe. Denn nachdem
ſie einmal die Dinge als Mittel anſahen, ſo konnten ſie
nicht glauben, daß dieſe ſich ſelbſt gemacht hätten, ſondern
aus den Mitteln, die ſie ſich ſelbſt zu bereiten pflegen,
mußten ſie ſchließen, es gäbe irgend einen, oder mehrere
mit menſchlicher Freiheit begabte Lenker der Natur, welche
alles für ſie beſorgt, und alles zu ihrem Nutzen gemacht
hätten. Auch die Sinnesweiſe dieſer Lenker der Natur
mußten ſie, da ſie über dieſelbe nie etwas erfahren hatten,
nach ihrer eigenen Sinnesweiſe beurteilen. Daher ihre
Behauptung, die Götter lenkten alles zum Nutzen der
Menſchen, um ſich die Menſchen zu verpflichten und von
ihnen hoch verehrt zu werden. i
Daher iſt es gekommen, daß der eine dieſe, der andere
jene Art der Gottesverehrung in ſeinem Kopfe erdacht hat,
damit Gott ihn mehr als die übrigen Menſchen lieben, und
die ganze Natur zum Beſten ſeiner blinden Begierde und
unerſättlichen Habſucht lenken möge. So iſt jenes Vor⸗
urteil zum Aberglauben ausgewachſen, und hat in den
Geiſtern tiefe Wurzeln geſchlagen. Und dies war der
Ethik. über Gott. 69
Grund, weshalb die Menſchen ſich alle Mühe gaben, die
Endzwecke aller Dinge zu erkennen und zu erklären.
Aber während ſie zu zeigen ſuchten, daß die Natur nichts
vergebens (d. h. was für den Menſchen keinen Nutzen hat)
thue, haben ſie, wie mir ſcheint, nichts anderes gezeigt, als
daß die Natur ſamt den Göttern ebenſo wahnwitzig ſei,
wie die Menſchen. Man ſehe doch nur, wohin die Sache
endlich führte. Unter ſo vielem Nützlichen in der Natur
mußten ſie nicht wenig Schädliches bemerken, Stürme, Erd—
beben, Krankheiten u. ſ. f.; und dieſe, behaupteten ſie, ſeien
deswegen da, weil die Götter erzürnt wären über die ihnen
von den Menſchen angethanen Kränkungen, oder über die
in ihrem Dienſte begangenen Sünden. Und obgleich die
Erfahrung widerſprach und durch unzählige Beiſpiele zeigte,
daß den Frommen ebenſo wie den Nichtfrommen bald
Nützliches, bald Schädliches zu teil wird, gaben ſie darum
doch das eingewurzelte Vorurteil nicht auf. Denn es war
ihnen leichter, dies unter anderes Unbekannte, deſſen Nutzen
ſie nicht wußten, zu rechnen, und ſo in ihrem wirklichen
und angebornen Zuſtand der Unwiſſenheit zu verharren,
als jenes ganze Gebäude einzureißen und ein neues aus—
zudenken. Deshalb nahmen fie als gewiß an, daß die Ab—
ſichten der Götter die menſchliche Faſſungskraft weit übers
ſteigen; was ſicherlich allein ſchon hätte verurſachen können,
daß die Wahrheit dem Menſchengeſchlecht in Ewigkeit ver-
borgen geblieben wäre, wenn nicht die Mathematik, welche
ſich nicht mit Zwecken, ſondern nur mit dem Weſen und
den Eigenſchaften der Figuren beſchäftigt, den Menſchen eine
andere Norm der Wahrheit gezeigt hätte. Neben der Mathes
matik können noch andere Urſachen gezeigt werden, (deren Auf-
zählung hier überflüſſig,) welche bewirkten, daß die Menſchen
auf dieſe gemeinen Vorurteile aufmerkſam geworden ſind
und zur rechten Erkenntnis der Dinge geführt wurden.
Damit habe ich den erſten Punkt deſſen, was ich zu
zeigen verſprochen, hinlänglich auseinandergeſetzt.
70 Ethik. Erſter Teil.
Um nun aber zu zeigen, daß die Natur ſich keinen Zweck
vorgeſetzt hat, und daß alle Endzwecke nichts als menſch⸗
liche Einbildungen ſind, bedarf es nicht viel. Denn ich
glaube, daß ſich dies ſchon genügend ergiebt, ſowohl aus
den Grundlagen und Urſachen, aus welchen ich den Ur⸗
ſprung dieſes Vorurteils abgeleitet habe, als auch aus dem
16. Lehrſatz und den Zuſätzen zum 32. Lehrſatz, und außer⸗
dem noch aus allen Sätzen, in denen ich gezeigt habe, daß
alles in der Natur nach einer gewiſſen ewigen Notwendig⸗
keit und höchſten Vollkommenheit hervorgeht.
Das aber will ich noch hinzufügen, daß dieſe Lehre vom |
Zweck die Natur vollſtändig auf den Kopf ſtellt. Denn
ſie betrachtet als Wirkung, was in Wahrheit Urſache iſt,
und umgekehrt. Ferner macht ſie das, was von Natur
das erſte iſt, zum letzten. Endlich verkehrt ſie das Höchſte
und Vollkommenſte zum Unvollkommenſten. Denn (auf die
beiden erſten gehe ich nicht weiter ein, weil ſie an ſich klar
find,) wie aus den Lehrſätzen 21, 22 und 23 hervorgeht,
iſt die Wirkung die vollkommenſte, die von Gott unmittel⸗
bar hervorgebracht wird; je mehr vermittelnder Urſachen
aber eine Wirkung bedarf, um hervorgebracht zu werden,
deſto unvollkommener iſt ſie. Wenn nun die Dinge, welche
unmittelbar von Gott hervorgebracht ſind, deshalb gemacht
wären, damit Gott ſeinen Zweck erreichte, ſo wären not⸗
wendig die letzten, um derentwillen die erſten gemacht ſein
ſollen, die vorzüglichſten von allen.
Weiter hebt dieſe Lehre die Vollkommenheit Gottes auf.
Denn wenn Gott um eines Zwecks willen handelt, ſo be⸗
gehrt er notwendig etwas, das er entbehrt. Wenn nun
auch Theologen und Metaphyſiker zwiſchen Bedürfniszweck
und Aſſimilationszweck unterſcheiden, ſo geſtehen ſie doch,
daß Gott alles um ſeinetwillen, nicht aber der zu ſchaffen⸗
den Dinge wegen, gethan habe; weil ſie nichts vor der
Schöpfung außer Gott angeben können, wegen deſſen Gott
handeln ſollte. Sie müſſen alſo notwendig zugeben, daß
|
Ethik. Über Gott. 71
Gott die Dinge, für welche er die Mittel habe bereiten
wollen, entbehrt hätte. Das iſt an ſich klar.
Es darf hier nicht unerwähnt bleiben, daß Anhänger
dieſer Lehre, welche im Angeben der Zwecke der Dinge
ihren Scharfſinn zeigen wollen, eine neue Art der Beweis—
führung aufgebracht haben, um dieſe ihre Lehre glaublich
zu machen. Sie führen dieſelbe nämlich nicht auf die
Unmöglichkeit, ſondern auf die Unwiſſenheit zurück;
was zeigt, daß ihnen kein anderes Beweismittel für dieſe
Lehre zu Gebote ſtand. Wenn z. B. ein Stein von einem
Dach auf den Kopf eines Menſchen fällt und ihn tötet, ſo
beweiſen ſie, der erwähnten Methode gemäß, daß der Stein
gefallen ſei, um den Menſchen zu töten, folgendermaßen:
Wäre der Stein nicht zu eben dieſem Zwecke, nach dem
Willen Gottes heruntergefallen, wie mochten da ſo viele
Umſtände (denn oft treffen viele zuſammen) durch Zufall
zuſammentreffen? Antwortet man, es ſei ſo gekommen,
weil der Wind wehte, und weil der Menſch gerade dort
vorbeiging, ſo wenden ſie dagegen ein: Weshalb hat der
Wind gerade damals geweht? Warum iſt der Menſch
gerade damals dort vorbeigegangen? Erwidert man darauf:
Der Wind fing damals zu wehen an, weil das Meer Tags
zuvor, bei noch ruhigem Wetter, in Bewegung kam, und der
Menſch ging damals dort vorbei, weil er von einem Freunde
eingeladen war, ſo wenden ſie — da das Fragen keine Grenzen
hat — abermals ein: Warum aber kam das Meer in Be⸗
wegung? Warum war der Menſch damals eingeladen? —
Und ſo werden ſie nicht aufhören, fort und fort nach den
Urſachen der Urſachen zu fragen, bis man zum Willen
Gottes ſeine Zuflucht nimmt, d. h. zum Aſyl der Un-
wiſſenheit. — Ebenſo, wenn fie den Bau des menſch—
lichen Körpers ins Auge faſſen, ſtehen ſie erſtaunt, und
ſchließen, weil ſie die Urſachen dieſes großen Kunſtwerks
nicht kennen, daß derſelbe nicht durch mechaniſche, ſondern
durch eine göttliche und übernatürliche Kunſt gebildet und
72 Ethik. Erſter Teil.
ſo eingerichtet worden ſei, daß kein Teil den andern
verletzt.
Daher kommt es, daß, wer die wahren Urſachen des
Wunderbaren aufſucht, und wer beſtrebt iſt, die natürlichen
Dinge als Wiſſender zu verſtehen, ſtatt als Einfältiger ſie
anzuſtaunen, oft für einen Ketzer und ſchlechten Menſchen
gehalten und verſchrieen wird von denen, welche das Volk
als die Dolmetſcher der Natur und der Götter verehrt.
Denn ſie wiſſen, daß mit der Unwiſſenheit auch das An⸗
ſtaunen, das einzige Mittel, womit fie ihre Lehren beweifen .
und ihr Anſehen behaupten, dahinſchwindet.
Ich verlaſſe jedoch nunmehr dieſes und wende mich jetzt
zum dritten Punkt, den ich hier zu behandeln mir vor⸗
genommen.
Nachdem die Menſchen ſich einmal eingeredet hatten,
alles, was geſchieht, geſchehe ihretwillen, mußten ſie an
jedem Ding das für die Hauptſache halten, was ihnen am
nützlichſten war, und alles das als das Vorzüglichſte ſchätzen,
was am angenehmſten auf ſie wirkte. Daher mußten ſie
folgende Begriffe bilden, mit welchen ſie die Natur der
Dinge erklärten, nämlich: Gut und Schlecht, Ordnung
und Verwirrung, Warm und Kalt, Schönheit
und Häßlichkeit u. ſ. f. Und daraus, daß ſie ſich für
frei halten, ſind die weiteren Begriffe entſtanden: Lob und
Tadel, Sünde und Verdienſt. Dieſe letzteren werde
ich indeſſen erſt ſpäter behandeln, nachdem ich die menſch⸗
liche Natur behandelt haben werde; die erſteren aber ſeien
hier kurz erläutert.
Alles, was zum Wohlbefinden oder zur Verehrung
Gottes beiträgt, nannte man gut, das Gegenteil aber
ſchlecht. Und weil diejenigen, welche die Natur der Dinge
nicht erkennen, nichts von den Dingen ſelbſt behaupten,
ſondern die Dinge ſich nur ſinnlich vorſtellen und die ſinn⸗
liche Vorſtellung für Erkenntnis nehmen, darum glauben
ſie in ihrer Unkenntnis der Dinge und ihrer Natur feſt an
Ethik. über Gott. 73
eine Ordnung der Dinge. Denn wenn dieſelben jo bes
ſchaffen find, daß wir, wenn fie uns durch die Sinne dar—
geſtellt werden, ſie leicht vorſtellen, und demgemäß uns
ihrer leicht erinnern können, nennen wir ſie wohl geord—
net; im gegenteiligen Fall nennen wir ſie ſchlecht geord—
net oder verworren. Und weil uns das, was wir leicht
vorſtellen können, angenehmer iſt als anderes, darum ziehen
die Menſchen die Ordnung der Verwirrung vor, als ob die
Ordnung, auch abgeſehen von unſerer Vorſtellung, etwas
in der Natur wäre. Sie ſagen auch, Gott habe alles in
Ordnung geſchaffen, und auf dieſe Weiſe ſchreiben ſie Gott,
ohne es zu wiſſen, ſinnliche Vorſtellung zu; wenn ſie nicht
vielleicht meinen, Gott habe, die menſchliche Vorſtellung
vorherſehend, alle Dinge ſo eingerichtet, wie ſie von den
Menſchen am leichteſten vorgeſtellt werden können. Wahr⸗
ſcheinlich ſtoßen ſie ſich gar nicht daran, daß es auch Un⸗
endliches giebt, was unſere Vorſtellung weit überſteigt, und
ſehr vieles, was ihre Vorſtellung, wegen deren Schwäche,
verwirrt. — Doch genug hiervon.
Auch die übrigen Begriffe find weiter nichts als Vor⸗
ſtellungsarten, durch welche die Einbildungskraft auf dieſe
und jene Weiſe erregt wird, die aber von Unwiſſenden für
die hauptſächlichſten Attribute der Dinge gehalten werden,
weil ſie, wie wir bereits geſagt, der Meinung ſind, alle
Dinge wären um ihretwillen gemacht, und ſie nennen die
Natur eines Dinges gut oder ſchlecht, geſund oder
faul und verdorben, je nachdem fie von demſelben er-
regt werden. Z. B. wenn die Bewegung, welche die Nerven
von den Gegenſtänden empfangen, die mit den Augen
wahrgenommen werden, dem Wohlbefinden zuſagt, ſo
werden die betreffenden Gegenſtände ſchön genannt; die
aber, welche den entgegengeſetzten Eindruck machen, heißen
häßlich. Was durch die Naſe den Sinn erregt, nennt
man wohlriechend oder ſtinkend; was durch die Zunge,
ſüß oder bitter, ſchmackhaft oder unſchmackhaft u. ſ. f.;
74 Ethik. Erſter Teil.
was durch das Taſten, hart oder weich, rauh oder
glatt u. ſ. f. Von Dingen endlich, welche das Gehör er⸗
regen, ſagt man, fie ſeien geräuſchvoll oder wohl-
klingend. Das letztere hat die Menſchen ſo bethört, daß
ſie glaubten, Gott ſelbſt ergötze ſich an der Harmonie, und
es giebt ſogar Philoſophen, welche überzeugt ſind, daß die
Bewegungen der Himmelskörper eine Harmonie bilden.“
Das alles zeigt deutlich, daß jeder nach dem Zuſtand ſeines
Gehirns über die Dinge geurteilt, oder vielmehr die Er⸗
—
regungen ſeiner Einbildungskraft für die Dinge ſelbſt ge⸗
nommen hat.
Kein Wunder daher, (um auch das beiläufig zu bemerken,)
daß unter den Menſchen ſo viel Meinungsſtreit, als wir er⸗
fahren, entſtanden iſt, und endlich daraus der Skeptizismus.
Denn obgleich die menſchlichen Körper in vielem übereinſtim⸗
men, ſo weichen ſie doch in ſehr vielem von einander ab. Darum
erſcheint oft etwas dem einen gut, dem andern ſchlecht,
dieſem geordnet, jenem verworren, dem angenehm, jenem
unangenehm, und dasſelbe gilt von dem übrigen; doch gehe
ich hier darüber hinweg, weil einerſeits hier der Ort nicht
iſt, den Gegenſtand eingehend zu behandeln, anderſeits jeder
darüber Erfahrung genug beſitzt. Sind doch in aller Mund
die Sprüchwörter: „So viel Köpfe, ſo viel Meinungen“,
„Jeder hat genug an ſeinem eigenen Kopf“, „die Geſchmäcke
ſind ſo verſchieden als die Köpfe“. Dieſe Redensarten
zeigen zur Genüge, daß die Menſchen je nach dem Zuſtand
ihres Gehirns über die Dinge urteilen, und daß ſie die
Dinge weniger erkennen, als ſinnlich vorſtellen.
Denn wenn ſie die Dinge erkannt hätten, ſo würden dieſe,
wie die Mathematik beweiſt, alle, wenn auch nicht anlocken,
fo doch überzeugen. **)
*) Die ſogenannte Sphärenharmonie, oder Sphärenmuſik.
**) Der Sinn dieſes etwas dunkel ausgedrückten Satzes ſcheint zu
ſein: Wenn die Menſchen die Dinge erkennen würden, (ſtatt daß ſie
dieſelben nur ſinnlich vorftellen,) jo könnten fie zwar in Bezug auf
Ethik. über Gott. 75
Wir ſehen alſo, daß alle Begriffe,“) mit denen das
Volk“) die Natur zu erklären pflegt, nur verſchiedene Vor⸗
ſtellungsarten ſind, und nicht die Natur der Dinge ſelbſt,
ſondern nur die Beſchaffenheit der Vorſtellung anzeigen.
Und weil ſie Namen haben, welche ſo lauten, wie Namen
von wirklich vorhandenen, außerhalb der Vorſtellung exi⸗
ſtierenden Weſen, ſo nenne ich dieſe Weſen nicht Vernunft⸗
weſen, ſondern Weſen der Einbildung. Daher können alle
Beweisgründe, welche gegen mich aus derlei Begriffen
geltend gemacht werden, leicht aus dem Felde geſchlagen
werden.
Viele pflegen nämlich folgendermaßen zu argumentieren:
Wenn alles aus der Notwendigkeit der vollkommenſten
Natur Gottes erfolgt ift, woher kommen dann fo viele Un-
vollkommenheiten in der Natur, wie das Faulen der Dinge,
ſogar bis zum Übelriechen, die ekelerregende Häßlichkeit
gewiſſer Dinge, die Unordnung, das Schlechte, die Sünde
u. ſ. f.? — Sie ſind aber, wie geſagt, leicht zu wider⸗
legen. Denn die Vollkommenheit der Dinge iſt nur nach
ihrer Natur und ihrem Vermögen zu ſchätzen; folglich iſt
ein Ding deshalb nicht mehr und nicht weniger voll-
kommen, weil es einen der menſchlichen Sinne ergötzt oder
beleidigt, weil es der menſchlichen Natur zuſagt oder nicht
zuſagt.
Denen aber, welche fragen, warum Gott nicht alle
Menſchen ſo geſchaffen hat, daß ſie ſich von der Vernunft
den (ſubjektiven) Geſchmack von einander abweichen, indem der eine
von dem, der andere von jenem angezogen oder abgeſtoßen wird, nicht
aber in Bezug auf das (objektive) Urteil, wie ja auch die Lehren der
Mathematik allgemein anerkannt werden. Anm. des Überſetzers.
*) Im Originaltext rationes, demgemäß überſetzen Auerbach und
Kirchmann „Gründe“, was aber keinen Sinn giebt. Offenbar hat ein
Schreib⸗ oder Druckfehler aus dem ähnlich lautenden notiones, wie
Spinoza die Begriffe, von denen hier die Rede iſt, im bisherigen
immer nennt, rationes gemacht. Anm. des überſetzers.
**) Das Volk, im Gegenſatz zu den Be Philoſophen.
Anm. des überſetzers.
76 Ethik. Erſter Teil.
allein leiten laſſen, antworte ich nur: weil er Stoff hatte,
alles zu ſchaffen, vom höchſten Grad der Vollkommenheit
bis zum niedrigſten. Oder um mich eigentlicher auszu⸗
drücken: weil die Geſetze ſeiner Natur ſo umfangreich ge⸗
weſen ſind, daß ſie ausreichten, alles hervorzubringen, was
von einem unendlichen Verſtand begriffen werden kann;
wie ich im 16. Lehrſatz bewieſen.
Das ſind die Vorurteile, die ich hier anführen wollte.
Wenn noch einige ſolchen Schlags übrig ſind, werden ſie
von jedermann bei einigem Nachdenken beſeitigt werden
können.
Ende des Erſten Teils.
| Zweiter Teil.
Über die Natur und den Urſprung des Geiſtes.
Vorwort.
Ich wende mich nun zur Auseinanderſetzung deſſen, was
aus dem Weſen Gottes, oder des ewigen und unendlichen
Weſens, notwendig folgen muß. Zwar nicht alles, denn in
Lehrſatz 16 des erſten Teils habe ich bewieſen, daß Unend—
liches auf unendliche Arten aus ihm folgen muß; ſondern
nur das, was uns zur Erkenntnis des menſchlichen Geiſtes
und ſeiner höchſten Glückſeligkeit ter handgreiflich
führen kann.
Definitionen.
1. Unter Körper verſtehe ich eine Daſeinsform (modus),
welche das Weſen Gottes, ſofern dasſelbe als ausgedehntes
Ding betrachtet wird, auf gewiſſe und beſtimmte Weiſe aus—
drückt. S. Zuſatz zu Lehrſatz 25 im Erſten Teil.
2. Zum Weſen eines Dinges gehört, ſage ich, das,
durch welches, wenn es gegeben iſt, das Ding notwendig
geſetzt wird, und durch welches, wenn es aufgehoben wird,
das Ding notwendig aufgehoben wird; oder das, ohne
welches das Ding, und umgekehrt, welches ohne das Ding
weder ſein noch begriffen werden kann.
3. Unter Idee verſtehe ich einen Begriff des Geiſtes,
welchen der Geiſt bildet, weil er ein denkendes Ding iſt.
78 Ethik. Zweiter Teil.
Erläuterung.
Ich ſage lieber Begriff als Wahrnehmung, weil
das Wort Wahrnehmung anzudeuten ſcheint, daß der Geiſt
von dem Objekt leidet, während Begriff eine Thätigkeit des
Geiſtes auszudrücken ſcheint.
4. Unter adäquater Idee verſtehe ich eine Idee, welche,
ſofern ſie an ſich und ohne Beziehung zum Objekt betrachtet
wird, alle Eigenſchaften oder innerlichen Merkmale einer
wahren Idee hat. f
Erläuterung.
Ich ſage innerlichen, um das auszuſchließen, was
äußerlich iſt, nämlich die Übereinſtimmung der Idee mit
ihrem Gegenſtand.
5. Dauer iſt eine unbeſtimmte Fortſetzung der Exiſtenz.
Erläuterung.
Ich ſage unbeſtimmt, weil ſie durch die eigene Natur
des exiſtierenden Dinges nicht beſtimmt werden kann, und
ebenſowenig von der wirkenden Urſache, weil nämlich dieſe
die Exiſtenz des Dinges notwendig ſetzt, nicht aber aufhebt.
6. Unter Realität und Vollkommenheit verſtehe
ich ein und dasſelbe.
7. Unter Einzeldinge verſtehe ich Dinge, welche end⸗
lich ſind und eine beſchränkte Exiſtenz haben. Wenn mehrere
Individuen in einer Thätigkeit ſo zuſammenwirken, daß ſie
alle zugleich die Urſache Einer Wirkung ſind, ſo betrachte
ich ſie alle inſofern als Ein Einzelding.
Ethik. über die Natur und den Urſprung des Geiſtes. 79
Axiome.
I. Das Weſen des Menſchen ſchließt nicht notwendige
Exiſtenz in ſich; d. h., nach der Ordnung der Natur kann
es ebenſo geſchehen, daß dieſer oder jener Menſch exiſtiert,
als daß er nicht exiſtiert.
II. Der Menſch denkt.
III. Formen (Arten) des Denkens, wie Liebe, Begierde,
und was ſonſt noch mit dem Namen Affekt (Seelen⸗
bewegung) bezeichnet wird, giebt es nur, wenn es in dem-
ſelben Individuum eine Idee des geliebten, begehrten u. ſ. f.
Dinges giebt. Eine Idee aber kann es geben, auch ohne
daß es eine andere Form des Denkens giebt.
IV. Wir empfinden, daß ein Körper auf verſchiedene
Arten erregt werden kann.
V. Andere Einzeldinge als Körper und Formen (Arten)
des Denkens fühlen und wahrnehmen wir nicht.
Die Heiſcheſätze (Poſtulate) ſ. nach Lehrſatz 13.
Erſter Lehrſatz.
Das Denken iſt ein Attribut Gottes, oder Gott iſt
ein denkendes Ding.
Beweis.
Die einzelnen Gedanken, oder dieſes und jenes Denken,
ſind Daſeinsformen, welche die Natur Gottes auf gewiſſe
und beſtimmte Weiſe ausdrücken (nach Zuſatz zu Lehrſatz 25,
Teil 1). Es kommt alſo (nach Definition 5, Teil 1,) Gott
ein Attribut zu, deſſen Begriff in allen einzelnen Gedanken
eingeſchloſſen iſt, und durch welches ſie auch begriffen
werden. Das Denken iſt alſo eins von den unendlichen
Attributen Gottes, welches das ewige und unendliche Weſen
Gottes ausdrückt, (ſ. Definition 6, Teil 1) oder Gott iſt
ein denkendes Ding. — W. z. b. w.
Anmerkung.
Dieſer Lehrſatz erhellt auch daraus, daß wir ein unend⸗
lich denkendes Weſen begreifen können. Denn je mehr ein
denkendes Weſen denken kann, deſtomehr Realität oder
Vollkommenheit enthält dasſelbe in unſerm Begriff. Ein
Weſen alſo, welches Unendliches auf unendliche Weiſen
denken kann, iſt notwendig an Kraft des Denkens unend⸗
lich. Da wir alſo, auf das bloße Denken achtend, ein
unendliches Weſen begreifen, ſo iſt (nach den Definitionen 4
und 6, Teil 1,) das Denken notwendig eins von den unend⸗
lichen Attributen Gottes, wie ich behauptet habe.
Zweiter Lehrſatz.
Die Ausdehnung iſt ein Attribut Gottes, oder Gott
iſt ein ausgedehntes Ding.
Ethik. über die Natur und den Urſprung des Geiſtes. 81
Beweis.
Der Beweis dieſes Satzes wird auf dieſelbe Weiſe ge⸗
führt, wie der Beweis des vorigen.
Dritter Lehrſatz.
In Gott giebt es notwendig eine Idee, ſowohl ſeines
Weſens, als alles deſſen, was aus ſeinem Weſen not⸗
wendig folgt.
Beweis.
Denn Gott kann (nach Lehrſatz 1 dieſes Teils) Unend⸗
liches auf unendliche Weiſen denken, oder, (was dasſelbe
it, nach Lehrſatz 16, Teil 1,) er kann die Idee ſeines
Weſens und alles deſſen, was notwendig aus demſelben
folgt, bilden. Nun iſt alles, was in Gottes Macht ſteht,
notwendig (nad) Lehrſatz 35, Teil 1). Alſo giebt es not»
wendig eine ſolche Idee, und 1 Lehrſatz 15, Teil 1,)
nur in Gott. — W. z. b. w
Anmerkung.
Das Volk verſteht unter Gottes Macht Gottes freien
Willen, und ſein Recht auf alle Dinge, welche ſind, und
welche deshalb gewöhnlich als zufällige betrachtet werden.
Denn, ſagt man, Gott hat die Macht, alles zu zerſtören
und in nichts zu verwandeln. Auch vergleicht man häufig
Gottes Macht mit der Macht der Könige. Doch habe ich
dies in den Zuſätzen I und II zu Lehrſatz 32, Teil 1, wider⸗
legt, und im Lehrſatz 16, Teil 1, bewieſen, daß Gott mit
derſelben Notwendigkeit handelt, mit welcher er ſich ſelbſt
erkennt, d. h., ſowie aus der Notwendigkeit der göttlichen
Natur folgt, (was alle einſtimmig behaupten,) daß Gott
ſich ſelbſt erkennt, ebenſo folgt mit derſelben Notwendig⸗
keit, daß Gott Unendliches auf unendliche Weiſen thut.
Ferner habe ich in Lehrſatz 34, Teil 1, bewieſen, daß Gottes
Macht nichts iſt, als Gottes thätiges Weſen. Daher iſt
6
82 Ethik. Zweiter Teil.
es uns ebenſo unmöglich, zu begreifen, daß Gott nicht
handle, als daß Gott nicht ſei.
Wenn ich dies weiter verfolgen dürfte, könnte ich hier
noch zeigen, daß jene Macht, welche das Volk Gott an⸗
dichtet, nicht bloß eine menſchliche iſt, (was zeigt, daß Gott
als Menſch, oder nach dem Bilde eines Menſchen, vom
Volk begriffen wird,) ſondern auch Ohnmacht einſchließt.
Doch will ich über dieſelbe Sache nicht fo oft ausführ-
lich reden. Ich will nur den Leſer dringend bitten, daß
er alles, was im Erſten Teil von Lehrſatz 16 an bis zum
Schluß über dieſen Gegenſtand geſagt iſt, aber- und aber⸗
mals erwäge. Denn niemand wird das, was ich meine,
recht verſtehen können, wenn er ſich nicht außerordentlich
hütet, die Macht Gottes mit der menſchlichen Macht, oder
dem menſchlichen Recht der Könige zu vermengen.
Vierter Lehrſatz.
Die Idee Gottes, aus welcher Unendliches auf unend⸗
liche Weiſen folgt, kaun nur eine einzige ſein.
Beweis.
Der unendliche Verſtand umfaßt nichts, als die Attri⸗
bute Gottes und ſeine Erregungen (nach Lehrſatz 30, Teil J).
Nun iſt Gott einzig (nach Zuſatz I zu Lehrſatz 14, Teil 1).
Somit kann die Idee Gottes, aus welcher Unendliches auf
unendliche Weiſen folgt, nur eine einzige ſein. — W. z. b. w.
Fünfter Lehrſatz.
Das formale Sein der Ideen erkennt Gott als Ur⸗
ſache an ſofern er nur als denkendes Ding betrachtet
wird, nicht aber ſofern er durch ein anderes Attribut
erklärt wird. Das heißt, die Ideen, ſowohl der Attri⸗
bute Gottes, als auch der Einzeldinge, erkennen nicht
das Gedachte ſelbſt, oder die wahrgenommenen Dinge,
Ethik. Über die Natur und den Urſprung des Geiſtes. 83
als wirkende Urſache an, ſondern Gott ſelbſt, ſofern er
ein denkendes Weſen iſt.
Beweis.
Der Satz erhellt zwar ſchon aus Lehrſatz 3 dieſes
Teils. Denn dort folgerten wir, daß Gott die Idee ſeines
Weſens und alles deſſen, was aus demſelben notwendig
folgt, bilden kann, daraus allein, daß Gott ein denkendes
Ding iſt, nicht aber daraus, daß er das Objekt ſeiner Idee
iſt. Daher erkennt das formale Sein der Ideen Gott als
Urſache an, ſofern er ein denkendes Ding iſt.
Indeſſen kann der Satz auch noch auf folgende Weiſe
bewieſen werden. Das formale Sein der Ideen iſt eine
Form des Denkens, (wie an ſich klar,) d. h., (nach Zuſatz
zu Lehrſatz 25, Teil 1,) ein Modus, welcher die Natur
Gottes, ſofern er ein denkendes Ding iſt, auf gewiſſe Weiſe
ausdrückt. Es ſchließt alſo (nach Lehrſatz 10, Teil 1, den
Begriff keines andern göttlichen Attributs in ſich, und iſt
demzufolge (nach Axiom IV, Teil 1,) die Wirkung keines
andern göttlichen Attributs, als des Denkens.
Somit erkennt das formale Sein der Ideen Gott als
Urſache an, ſofern er nur als denlendes Ding betrachtet
wird u. ſ. f. — W. z. b. w.
Sechſter Lehrſatz.
Die Daſeinsformen (modi) jedes Attributs haben Gott
zur Urſache nur ſofern er unter jenem Attribut, deſſen
Daſeinsformen ſie ſind, betrachtet wird, nicht aber ſofern
er unter irgend einem andern Attribut betrachtet wird.
Beweis.
Denn jedes Attribut wird durch ſich, und ohne ein
anderes begriffen (nach Lehrſatz 10, Teil 1). Darum
ſchließen die Daſeinsformen jedes Attributs den Begriff
ihres Attributs, nicht aber den eines andern ein. Alſo
6”
84 Ethik. Zweiter Teil.
haben fie (nach Axiom IV, Teil 1, Gott zur Urſache nur
ſofern er unter jenem Attribut, deren Daſeinsformen ſie
ſind, nicht aber ſofern er unter einem andern betrachtet
wird. — W. z. b. w.
Juſatz.
Hieraus folgt, daß das formale Sein der Dinge, welche
keine Daſeinsformen des Denkens ſind, nicht darum aus
der göttlichen Natur folgt, weil ſie die Dinge früher er⸗
kannt hat; ſondern die gedachten Dinge folgen aus ihren
Attributen und werden daraus geſchloſſen, auf dieſelbe
Weiſe und mit derſelben Notwendigkeit, wie nach unſerer
Ausführung die Ideen aus dem Attribut des Denkens folgen.
Siebenter Lehrſatz.
Die Ordnung und Verknüpfung der Ideen iſt die⸗
ſelbe, wie die Ordnung und Verknüpfung der Dinge.
Beweis. d
Der Satz erhellt aus Axiom IV, Teil J. Denn die
Idee eines jeden Verurſachten hängt von der Erkenntnis
der Urſache ab, deren Wirkung ſie iſt.
ZJuſatz.
Hieraus folgt, daß die Macht Gottes zu denken ſeiner
wirklichen Macht zu handeln gleich iſt, d. h. alles, was aus
der unendlichen Natur Gottes formell folgt, das alles folgt
in Gott objektiv aus der Idee Gottes, in derſelben Ord⸗
nung und in derſelben Verknüpfung.
Anmerkung.
Hier müſſen wir, ehe wir weitergehen, uns ins Gedächt⸗
nis rufen, was oben gezeigt worden, nämlich daß alles,
was von dem unendlichen Verſtand als das Weſen der
Subſtanz ausmachend erfaßt werden kann, daß dies alles
Ethik. Über die Natur und den Urſprung des Geiftes. 85
nur zu Einer Subſtanz gehört, und daß folglich die den⸗
kende Subſtanz und die ausgedehnte Subſtanz eine und
dieſelbe Subſtanz iſt, welche bald unter dieſem, bald unter
jenem Attribut aufgefaßt wird. So iſt auch die Daſeins⸗
form der Ausdehnung und die Idee dieſer Daſeinsform ein
und dasſelbe Ding, aber auf zwei Arten ausgedrückt. Dies
ſcheinen einige Hebräer dunkel eingeſehen zu haben, welche
behaupten, Gott, der Verſtand Gottes, und die von ihm
erkannten Dinge, ſeien eins und dasſelbe. Z. B. ein in
der Natur exiſtierender Kreis, und die Idee eines exiſtieren⸗
den Kreiſes, iſt ein und dasſelbe Ding, welches durch ver-
ſchiedene Attribute ausgedrückt wird. Mögen wir daher
die Natur unter dem Attribut der Ausdehnung, oder unter
dem Attribut des Denkens, oder unter irgend einem andern
begreifen, immer werden wir eine und dieſelbe Ordnung,
oder eine und dieſelbe Verknüpfung der Urſachen, d. h. die⸗
ſelbe Folge der Dinge eins aus dem andern finden.
Aus keinem andern Grunde habe ich geſagt, daß Gott
die Urſache der Idee z. B. des Kreiſes iſt, nur ſofern er
ein denkendes Ding iſt, und des Kreiſes ſelbſt, nur ſofern
er ein ausgedehntes Ding iſt, als deswegen, weil das for⸗
male Sein der Idee des Kreiſes nur durch eine andere
Daſeinsform des Denkens als deſſen nächſte Urſache, und
dieſe wieder durch eine andere, und fo ins Unendliche be=
griffen werden kann; fo daß, fo lange die Dinge als Da⸗
ſeinsformen des Denkens betrachtet werden, wir die Ord—
nung der ganzen Natur, oder die Verknüpfung der Urs
ſachen, durch das Attribut des Denkens allein erklären
müſſen, und ſofern ſie als Daſeinsformen der Ausdehnung
betrachtet werden, auch die Ordnung der ganzen Natur
durch das bloße Attribut der Ausdehnung erklärt werden
muß; und ſo verſtehe ich es auch bei andern Attributen.
Daher iſt die wahre Urſache der Dinge, wie ſie an ſich ſind,
Gott, ſofern er aus unendlichen Attributen beſteht. Deut⸗
licher kann ich das für jetzt nicht erläutern.
86 Ethik. Zweiter Teil.
Achter Lehrſatz.
Die Ideen der Einzeldinge oder Daſeinsformen,
welche nicht exiſtieren, müſſen in der unendlichen Idee
Gottes ſo enthalten ſein, wie die formalen Weſen der
Einzeldinge oder Daſeinsformen in den Attributen
Gottes enthalten ſind.
Beweis.
Dieſer Satz erhellt aus der vorigen Anmerkung.
ZJuſaß.
Hieraus folgt, daß, ſolange die Einzeldinge nur exiſtieren
ſofern ſie in den Attributen Gottes enthalten ſind, auch
ihr objektives Sein, oder ihre Ideen, nur exiſtieren ſofern
die unendliche Idee Gottes exiſtiert. Sobald aber von den
Einzeldingen geſagt wird, daß fie exiſtieren nicht nur ſo⸗
fern ſie in den Attributen Gottes enthalten ſind, ſondern
auch ſofern geſagt wird, daß ſie eine Dauer haben, auch
ihre Ideen eine Exiſtenz, vermöge welcher geſagt wird, daß
ſie eine Dauer haben, einſchließen.
Anmerkung.
Wenn jemand zum beſſeren Verſtändnis dieſer Sache
ein Beiſpiel wünſchen ſollte, ſo kann ich allerdings keines
geben, das die Sache, von welcher hier die Rede iſt, und
welche einzig in ihrer Art iſt, vollſtändig erläutert. Doch
will ich verſuchen, die Sache, ſo gut es geht, zu verdeut⸗
lichen.
Der Kreis iſt von ſolcher Natur, daß die Rechtecke aus
allen geraden, ſich durchſchneidenden Linien in demſelben
einander gleich find. Daher find im Kreis unendliche, ein-
ander gleiche Rechtecke enthalten. Gleichwohl kann man
von einem ſolchen Rechteck nur ſagen, daß es exiſtiert, ſofern
der Kreis exiſtiert; auch von der Idee dieſer Rechtecke kann nur
Ethik. über die Natur und den Urſprung des Geiſtes. 87
geſagt werden, daß ſie exiſtiert, ſofern ſie in der Idee
des Kreiſes enthalten iſt. Nun nehme man an, daß von
jenen unendlichen Dreiecken nur zwei exi⸗ Fig. 2.
ſtieren, nämlich E und D. (S. Figur 2.)
Jetzt exiſtieren ihre Ideen nicht bloß ſo⸗
fern fie nur in der Idee des Kreiſes ent⸗
halten find, ſondern auch ſofern fie die \
Exiſtenz jener Dreiecke in ſich ſchließen. |
Daher kommt es, daß fie fih von den
übrigen Ideen der andern Dreiecke unterſcheiden.
Neunter Lehrſatz.
Die Idee eines wirklich exiſtierenden Einzeldinges
hat Gott zur Urſache nicht ſofern er unendlich iſt, ſon⸗
dern ſofern er als durch eine andere Idee eines wirklich
exiſtierenden Einzeldinges erregt betrachtet wird, deſſen
Urſache auch Gott iſt ſofern er durch eine andere dritte
erregt iſt, und ſo ins Unendliche.
Beweis.
Die Idee eines wirklich exiſtierenden Einzeldinges iſt
eine einzelne Daſeinsform des Denkens, und von den
übrigen unterſchieden, (nach Zuſatz und Anmerkung zu
Lehrſatz 8 dieſes Teils,) und alſo hat fie (nach Lehrſatz 6
dieſes Teils) Gott zur Urſache nur ſofern er ein denkendes
Ding iſt. Aber nicht, (nach Lehrſatz 28, Teil 1,) ſofern er
ein abſolut denkendes Ding iſt, ſondern ſofern er als von
einer andern Daſeinsform des Denkens erregt betrachtet
wird. Und die Urſache dieſer Daſeinsform iſt Gott wiederum
nur, ſofern er von einer andern erregt iſt, und ſo ins
Unendliche. Nun iſt aber die Ordnung und Verknüpfung
der Ideen (nach Lehrſatz 28, Teil 1,) dieſelbe, wie die Ord⸗
nung und Verknüpfung der Urſachen. Folglich iſt die Ur⸗
ſache der Idee eines Einzeldinges eine andere Idee, oder
88 Ethik. Zweiter Teil.
Gott, ſofern er als durch eine andere Idee erregt betrachtet
wird, und die Urſache dieſer Idee iſt er wiederum ſofern
er durch eine andere erregt wird, und ſo ins Unendliche.
— W. z. b. w.
Zuſatz.
Von allem, was im einzelnen Objekt irgend einer Idee
geſchieht, giebt es in Gott eine Erkenntnis nur ſofern er
eine Idee dieſes Objekts hat.
Beweis.
Von allem, was im Objekt irgend einer Idee vorgeht,
davon giebt es in Gott eine Idee, (nach Lehrſatz 3 dieſes
Teils,) nicht ſofern er unendlich iſt, ſondern ſofern er als
durch eine andere Idee eines Einzeldinges erregt betrachtet
wird (nach dem vorigen Lehrſatz). Aber die Ordnung und
Verknüpfung der Ideen iſt dieſelbe, wie die Ordnung und
Verknüpfung der Dinge (nach Lehrſatz 7 dieſes Teils).
Folglich wird eine Erkenntnis deſſen, was in irgend einem
Einzelding vorgeht, in Gott ſein nur ſofern er eine Idee
dieſes Objekts hat. — W. z. b. w.
Zehnter Lehrſatz.
Zum Weſen des Menſchen gehört nicht das Sein der
Subſtanz, oder die Subſtanz macht nicht die Form des
Menſchen aus.
Beweis.
Denn das Sein der Subſtanz ſchließt die notwendige
Exiſtenz in ſich (nach Lehrſatz 7, Teil 1). Wenn alſo zum
Weſen des Menſchen das Sein gehört, ſo würde, wenn die
Subſtanz gegeben, notwendig (nach Definition 2 dieſes
Teils) auch der Menſch gegeben ſein, was (nach Axiom I
dieſes Teils) widerſinnig iſt. Folglich u. ſ. w. — W. z. b. w.
Ethik. über die Natur und den Urſprung des Geiſtes. 89
Anmerkung.
Dieſer Lehrſatz kann auch aus Lehrſatz 5, Teil 1, be=
wieſen werden, wonach es nämlich keine zwei Subſtanzen
von gleicher Natur giebt. Da aber mehrere Menſchen exi⸗
ſtieren können, ſo iſt das, was die Form des Menſchen
ausmacht, nicht das Sein der Subſtanz. — Außerdem er⸗
hellt dieſer Satz aus den übrigen Eigenſchaften der Sub⸗
ſtanz, indem nämlich die Subſtanz ihrer Natur nach unend⸗
lich, unveränderlich, unteilbar u. ſ. w. iſt; was jeder leicht
einſehen kann.
Zuſat.
Hieraus folgt, daß das Weſen des Menſchen aus gewiſſen
Modifikationen der Attribute Gottes beſteht. Denn das
Sein der Subſtanz gehört (nach dem vorigen Lehrſatz) nicht
zum Weſen des Menſchen. Es iſt alſo (nach Lehrſatz 15,
Teil 1,) etwas, das in Gott iſt, und das ohne Gott nicht
ſein noch begriffen werden kann; oder (nach Zuſatz zu
Lehrſatz 25, Teil 1,) eine Affektion, oder Daſeinsform, welche
die Natur Gottes auf gewiſſe und beſtimmte Weiſe aus⸗
drückt.
Anmerkung.
Sicherlich muß jedermann einräumen, daß ohne Gott
nichts ſein noch begriffen werden kann. Denn allgemein
wird zugeſtanden, daß Gott die einzige Urſache aller Dinge
iſt, ſowohl ihres Weſens, als auch ihrer Exiſtenz; d. h.,
Gott iſt, wie man zu ſagen pflegt, die Urſache der Dinge,
nicht bloß in Bezug auf das Werden, ſondern auch in
Bezug auf das Sein. Dabei aber ſagen die meiſten, zum
Weſen eines Dinges gehöre das, ohne welches ein Ding
nicht ſein noch begriffen werden kann. Daher glauben ſie
entweder, die Natur Gottes gehöre zum Weſen der ge=
ſchaffenen Dinge, oder die geſchaffenen Dinge können ohne
Gott entweder ſein oder begriffen werden; oder vielmehr
ſie ſind ſelbſt nicht recht klar darüber.
90 Ethik. Zweiter Teil.
Der Grund davon liegt nach meiner Meinung darin, |
daß fie den ordnungsmäßigen Gang des Philoſophierens
nicht eingehalten haben. Denn die göttliche Natur, welche
ſie vor allem hätten in Betracht ziehen müſſen, weil ſie
ſowohl der Erkenntnis, als der Natur nach, die erſte iſt
in der Reihe der Erkenntnis, hielten ſie für die letzte, und
die Dinge, welche Sinnesobjekte genannt werden, hielten
ſie für die erſten unter allen. So kam es, daß ſie bei der
Betrachtung der natürlichen Dinge an nichts weniger dachten,
als an die göttliche Natur, und daß ſie nachher, als ſie ſich
zur Betrachtung der göttlichen Natur wendeten, an nichts
weniger denken konnten, als an ihre erſten Phantaſiegebilde,
worauf ſie die Erkenntnis der natürlichen Dinge gebaut
hatten, weil ſie ihnen nämlich zur Erkenntnis der göttlichen
Natur nichts helfen konnten. Kein Wunder daher, daß ſie
ſich mitunter widerſprechen.
Doch laſſen wir das. Meine Abſicht war hier ja nur,
den Grund anzugeben, weshalb ich nicht ſagte, zum Weſen
eines Dinges gehöre das, ohne welches das Ding weder
ſein, noch begriffen werden kann; nämlich weil die Einzel⸗
dinge ohne Gott weder ſein noch begriffen werden können,
und dennoch Gott zu ihrem Weſen nicht gehört. Das⸗
jenige, ſagte ich vielmehr, macht notwendig das Weſen eines
Dinges aus, mit welchem, wenn es gegeben iſt, auch das
Ding geſetzt wird, und wenn es aufgehoben iſt, auch das
Ding aufgehoben wird; oder das, ohne welches das Ding,
und umgekehrt, welches ohne das Ding weder ſein noch
begriffen werden kann.
Elfter Lehrſatz.
Das erſte, was das wirkliche Sein des menſchlichen
Geiſtes ausmacht, iſt nichts anderes, als die Idee eines
in der Wirklichkeit exiſtierenden Einzeldinges.
Ethik. Über die Natur und den Urſprung des Geiſtes. 91
Beweis.
Das Weſen des Menſchen beſteht (nach Zuſatz zum
vorigen Lehrſatz) aus gewiſſen Daſeinsformen der Attribute
Gottes; nämlich (nach Axiom II dieſes Teils) aus Daſeins⸗
formen des Denkens, deren Idee (nach Axiom III dieſes
Teils) von Natur früher iſt. Iſt dieſe Idee gegeben, ſo
müſſen die übrigen Daſeinsformen (nämlich denen gegen-
über die Idee von Natur früher iſt) in demſelben Indivi⸗
duum ſein (nach demſelben Axiom). Es iſt alſo die Idee
das erſte, was das Sein des menſchlichen Geiſtes aus⸗
macht. Aber nicht die Idee eines nicht exiſtierenden Dinges;
denn dann könnte (nach Zuſatz zu Lehrſatz 8 dieſes Teils)
die Idee ſelbſt nicht exiſtierend genannt werden. Es wird
alſo die Idee eines in der Wirklichkeit exiſtierenden Dinges
ſein. Aber nicht eines unendlichen Dinges. Denn ein
unendliches Ding muß (nach den Lehrſätzen 21 und 22,
Teil 1,) immer notwendig exiſtieren. Folglich iſt das erſte,
was das wirkliche Sein des menſchlichen Geiſtes ausmacht,
die Idee eines in der Wirklichkeit exiſtierenden Einzeldinges.
— W. z. b. w.
Bufaß.
Hieraus folgt, daß der menſchliche Geiſt ein Teil des
unendlichen Verſtandes Gottes iſt. Wenn wir demnach
ſagen, der menſchliche Geiſt nimmt dieſes oder jenes wahr,
ſo ſagen wir nichts anderes, als daß Gott, nicht ſofern er
unendlich iſt, ſondern ſofern er durch die Natur des menſch⸗
lichen Geiſtes erklärt wird, oder ſofern er das Weſen des
menſchlichen Geiſtes ausmacht, dieſe oder jene Idee hat.
Und wenn wir ſagen, Gott hat dieſe oder jene Idee, nicht
nur, ſofern er die Natur des menſchlichen Geiſtes aus—
macht, ſondern ſofern er zugleich mit dem menſchlichen
Geiſt auch die Idee eines andern Dinges hat, dann ſagen
wir, daß der menſchliche Geiſt ein Ding teilweiſe, oder RT
adäquat (inadäquat) auffaßt.
92 Ethik. Zweiter Teil.
Anmerkung.
Hier werden ohne Zweifel die Leſer ſtutzen, und es wird
ihnen mancherlei in den Sinn kommen, was ſie dagegen
einwenden möchten. Daher bitte ich ſie, langſamen Schritts
mit mir weiter zu gehn, und nicht eher ein Urteil darüber
zu fällen, als bis ſie alles durchgeleſen haben.
Zwölfter Lehrſatz.
Alles, was im Objekt der Idee, die den menſchlichen
Geiſt ausmacht, geſchieht, muß vom menſchlichen Geiſt
erfaßt werden, oder es giebt im menſchlichen Geiſt not⸗
wendig eine Idee dieſes Dinges. Das heißt, wenn das
Objekt der Idee, welche den menſchlichen Geiſt ausmacht,
ein Körper iſt, ſo wird in dieſem Körper nichts geſchehen
können, was vom Geiſt nicht erfaßt wird.
Beweis.
Denn alles, was im Objekt irgend einer Idee geſchieht,
davon giebt es notwendig eine Erkenntnis in Gott, (nach
Zuſatz zu Lehrſatz 9 dieſes Teils,) ſofern er als von der
Idee dieſes Objekts erregt betrachtet wird, d. h., (nach Lehr⸗
ſatz 11 dieſes Teils,) ſofern er den Geiſt eines Dinges
ausmacht. Was alſo in dem Objekt einer Idee, die den
menſchlichen Geiſt ausmacht, geſchieht, davon giebt es not⸗
wendig in Gott eine Erkenntnis, ſofern er die Natur des
menſchlichen Geiſtes bildet, d. h., (nach Zuſatz zu Lehrſatz 11
dieſes Teils,) davon wird notwendig im Geiſt eine Er⸗
kenntnis ſein, oder der Geiſt erfaßt dasſelbe. — W. z. b. w.
Anmerkung.
Dieſer Lehrſatz erhellt auch und wird noch deutlicher
erkannt aus der Anmerkung zu Lehrſatz 7 dieſes Teils;
ſiehe dieſen.
Ethik. Über die Natur und den Urſprung des Geiſtes. 93
Dreizehnter Lehrſatz.
Das Objekt der Idee, die den menſchlichen Geiſt aus⸗
macht, iſt der Körper, oder eine gewiſſe Daſeinsform
der Ausdehnung, die in Wirklichkeit exiſtiert, und nichts
andres.
Beweis.
Denn wäre der Körper nicht das Objekt des menſch⸗
lichen Geiſtes, ſo wären die Ideen der Körpererregungen
in Gott nicht, (nach Zuſatz zu Lehrſatz 9 dieſes Teils,)
ſofern er unſern Geiſt, ſondern ſofern er den Geiſt eines
andern Dinges ausmacht; d. h., (nach Zuſatz zu Lehrſatz 11
dieſes Teils,) die Ideen der Körpererregungen wären nicht
in unſerm Geiſte. Nun haben wir (nach Axiom IV dieſes
Teils) die Ideen der Körpererregungen. Folglich iſt das
Objekt der Idee, welche den menſchlichen Geiſt ausmacht,
der Körper, und zwar (nach Lehrſatz 11 dieſes Teils) der
in Wirklichkeit exiſtierende. — Ferner: Gäbe es außer dem
Körper noch ein anderes Objekt des Geiſtes, ſo müßte, da
(nach Lehrſatz 36, Teil 1,) nichts exiſtiert, woraus nicht
irgend eine Wirkung folgt, es notwendig (nach Lehrſatz 11
dieſes Teils) die Idee einer Wirkung desſelben in unſerm
Geiſte geben. Nun giebt es aber (nach Axiom V dieſes
Teils) keine ſolche Idee. Folglich iſt das Objekt unſeres
Geiſtes der exiſtierende Körper, und nichts anderes. —
W. z. b. w.
ZJuſaß.
Hieraus folgt, daß der Menſch aus Geiſt und Körper
beſteht, und daß der menſchliche Körper ſo, wie wir ihn
empfinden, exiſtiert.
Anmerkung.
Daraus verſtehen wir auch, nicht bloß, daß der menſch⸗
liche Geiſt mit dem Körper vereinigt iſt, ſondern auch, was
unter Einheit von Geiſt und Körper zu verſtehen iſt.
94 Ethik. Zweiter Teil.
Niemand aber wird dieſelbe adäquat oder gründlich
verſtehen können, der nicht vorher die Natur unſeres
Körpers adäquat erkennt. Denn das, was wir bis jetzt
gezeigt haben, iſt ſehr allgemein, und gilt von den Menſchen
nicht mehr, als von andern Individuen, welche alle, wenn
auch in verſchiedenen Graden, beſeelt ſind. Denn von jedem
Ding giebt es notwendig in Gott eine Idee, deren Urſache
Gott iſt, ebenſo wie die Idee des menſchlichen Körpers.
Darum muß alles, was wir von der Idee des menſchlichen
Körpers geſagt haben, notwendig von der Idee eines jeden
Dinges geſagt werden. Dennoch können wir auch nicht in
Abrede ſtellen, daß die Ideen untereinander, wie die Ob⸗
jekte ſelbſt, verſchieden ſind, und daß die eine vorzüglicher
iſt, als die andere, und mehr Realität enthält, je nachdem
das Objekt der einen vorzüglicher iſt und mehr Realität
enthält, als das Objekt der andern.
Um daher zu beſtimmen, wodurch der menſchliche Geiſt
ſich von den übrigen unterſcheidet, und worin er die übrigen
übertrifft, iſt es notwendig, daß wir die Natur ſeines
Objekts, wie ich geſagt, d. h. des menſchlichen Körpers,
erkennen. Doch kann ich dieſelbe hier nicht näher erklären,
und es iſt auch für das, was ich beweiſen will, gar nicht
nötig. Nur das bemerke ich im allgemeinen: Je befähigter
ein Körper iſt, vieles zugleich zu thun oder zu leiden, deſto
befähigter iſt auch ſein Geiſt, vieles zugleich zu erfaſſen.
Ferner, je mehr die Handlungen eines Körpers von ihm
allein abhängen, und je weniger andere Körper dabei mit⸗
wirken, deſto befähigter iſt ſein Geiſt zu gründlicher Er⸗
kenntnis. Darum können wir alſo den Vorzug des einen
Geiſtes vor dem andern erkennen, ſodann auch den Grund
einſehen, weshalb wir nur eine ſehr unklare Kenntnis von
unſerem Körper haben, und noch manches andere, was ich
im folgenden davon ableiten werde. ö
Ich erachte es daher der Mühe wert, dieſe Behauptung
ſelbſt genauer zu entwickeln und zu beweiſen. Zu dieſem
Ethik. Über die Natur und den Urſprung des Geiſtes. 95
Behufe muß einiges über die Natur der Körper voraus⸗
geſchickt werden:
Axiom I.
Alle Körper ſind entweder in Bewegung, oder in Ruhe.
Axiom II.
Jeder Körper bewegt ſich bald langſamer, bald ſchneller.
1. Hilfsſah.
Die Körper ſind in Bezug auf Bewegung und Ruhe,
Schnelligkeit und Langſamkeit, nicht aber in Bezug auf die
Subſtanz, von einander unterſchieden.
Beweis.
Den erſten Teil dieſes Satzes betrachte ich als ſelbſtver—
ſtändlich. Das andere, daß die Körper in Bezug auf Sub-
ſtanz nicht von einander unterſchieden ſind, erhellt ſowohl
aus Lehrſatz 5, wie aus Lehrſatz 8 des Erſten Teils; noch
deutlicher aber aus dem, was in der Anmerkung zu Lehr⸗
ſatz 15 im Erſten Teil geſagt iſt.
2. Hilfsſatz.
Alle Körper ſtimmen in manchem miteinander überein.
Beweis.
Denn darin ſtimmen alle Körper überein, daß ſie den
Begriff eines und desſelben Attributs in ſich ſchließen (nach
Definition 1 dieſes Teils). Ferner darin, daß ſie ſich bald
ſchneller, bald langſamer bewegen, und daß ſie überhaupt
bald ſich bewegen, bald ruhen können.
3. Hilfsſah.
Ein bewegter oder ruhender Körper mußte zur Bewegung
oder Ruhe von einem andern Körper beſtimmt werden, der
ebenfalls zur Bewegung oder Ruhe von einem andern bes
96 Ethik. Zweiter Teil.
ſtimmt war, und dieſer wiederum von einem andern, und
ſo ins Unendliche.
Beweis.
Die Körper ſind (nach Definition 1 dieſes Teils) Einzel⸗
dinge, welche (nach Hilfsſatz 1) in Bezug auf Bewegung
und Ruhe von einander unterſchieden ſind. Jeder Körper
mußte daher (nach Lehrſatz 28, Teil 1,) zur Bewegung oder
Ruhe notwendig von einem andern Einzelding beſtimmt
werden, nämlich, (nach Lehrſatz 6 dieſes Teils,) von einem
andern Körper, welcher (nach Axiom J) ebenfalls ſich bewegt
oder ruht. Aber auch dieſer hätte aus demſelben Grund
ſich nicht bewegen oder ruhen können, wenn er nicht von
einem andern zur Bewegung oder Ruhe beſtimmt geweſen
wäre, und dieſer wiederum (aus demſelben Grund) von
einem andern, und ſo ins Unendliche.
ZJuſatz.
Hieraus folgt, daß ein bewegter Körper ſo lange in
Bewegung bleibt, bis er von einem andern Körper zum
Ruhen beſtimmt wird, und daß ein ruhender Körper auch
ſo lange in Ruhe bleibt, bis er von einem andern zur
Bewegung beſtimmt wird. Es iſt dies auch an ſich klar.
Denn wenn ich annehme, daß ein Körper, z. B. A, ruht,
und keine andern bewegten Körper in Betracht ziehe, ſo
werde ich von dem Körper A nichts ſagen können, als daß
er ruht. Geſchieht es nun ſpäter, daß der Körper A ſich
bewegt, ſo hat das ſicherlich nicht daraus erfolgen können,
daß er ruhte; denn daraus konnte nichts anderes folgen,
als daß der Körper A ruhe. Oder wenn umgekehrt an⸗
genommen wird, A bewegt ſich, jo werden wir, jo lange
A allein in Betracht gezogen wird, nichts anderes von dem⸗
ſelben behaupten können, als daß er ſich bewegt. Geſchieht
es hernach, daß A ruht, ſo hat das auch ſicherlich nicht aus
der Bewegung erfolgen können, die er hatte; denn aus
dieſer Bewegung konnte nichts anderes folgen, als daß ſich
Ethik. Über die Natur und den Urſprung des Geiſtes. 97
A bewegt. Es geſchah ſomit durch etwas, das nicht in A
war, nämlich durch eine äußere Urſache, von welcher A
zur Ruhe beſtimmt ward.
Axiom I
Alle Arten, wie ein Körper von einem andern Körper
erregt wird, folgen aus der Natur des erregten Körpers,
und zugleich aus der Natur des erregenden Körpers; ſodaß
ein und derſelbe Körper auf verſchiedene Weiſe bewegt wird,
je nach der Verſchiedenheit der Natur der bewegenden Körper,
und umgekehrt, daß verſchiedene Körper von einem und
demſelben Körper auf verſchiedene Weiſe bewegt werden.
Axiom II.
Wenn ein bewegter Körper auf einen andern ruhenden,
den er nicht wegbewegen kann, ſtößt, ſo prallt er zurück,
um ſeine Bewegung fortzuſetzen; und der Winkel, welchen
die Linie der zurückprallenden Bewegung mit der Fläche
des ruhenden Körpers, auf welche er
geſtoßen iſt, bildet, wird gleich fein Fig. 8.
dem Winkel, welchen die Linie der en /
fallenden Bewegung mit dieſer Fläche
bildet. (S. Figur 3.)
Soviel von den einfachen Körpern,
die ſich bloß durch Bewegung und
Ruhe, Schnelligkeit und Langſamkeit, von einander unter-
ſcheiden. Nun zu den zuſammengeſetzten.
Definition.
Wenn einige Körper gleicher oder verſchiedener Größe
von andern jo zuſammengedrängt werden, daß fie anein⸗
anderliegen, oder daß, wenn ſie ſich mit gleicher oder ver—
ſchiedener Schnelligkeit bewegen, fie einander ihre Be-
wegungen in irgend einer beſtimmten Weiſe mitteilen, ſo
ſagen wir, daß alle dieſe Körper miteinander vereinigt ſind,
8
-
98 Ethik. Zweiter Teil.
oder daß alle miteinander Einen Körper, oder Ein Indi⸗
viduum bilden, welches ſich von den übrigen durch dieſe
Einheit der Körper unterſcheidet.
Axiom III.
Je größer oder kleiner die Oberflächen ſind, mit welchen
die Teile zuſammengeſetzter Individuen, oder Körper, an⸗
einanderliegen, deſto ſchwerer oder leichter können ſie ge⸗
zwungen werden, ihre Lage zu verändern, und folglich kann
es um ſo leichter oder ſchwerer bewirkt werden, daß das
betreffende Individuum ſeine Geſtalt ändere. Deshalb
werde ich Körper, deren Teile mit großen Oberflächen an⸗
einanderliegen, hart nennen; deren Teile aber mit kleinen
Oberflächen aneinanderliegen, weich; deren Teile endlich
ſich untereinander bewegen, flüſſig.
4. Hilfsſah.
Wenn von einem Körper oder Individuum, das aus
mehreren Körpern zuſammengeſetzt iſt, einige Körper ab⸗
getrennt werden, und zugleich ebenſoviele Körper von gleicher
Natur an deren Stelle treten, ſo wird das Individuum
ſeine vormalige Natur behalten, ohne irgend eine Anderung
ſeiner Form.
Beweis.
Denn die Körper unterſcheiden ſich (nach Hilfsſatz 1)
nicht in Bezug auf ihre Subſtanz. Das aber, was die
Form eines Individuums ausmacht, beſteht (nach der vorigen
Definition) in der Einheit der Körper. Dieſe aber wird
beibehalten, (nach der Vorausſetzung,) wenn auch eine fort⸗
währende Veränderung der Körper vor ſich geht. Folglich
wird das Individuum, ſowohl in Bezug auf ſeine Sub⸗
ſtanz, als auch ſeiner Daſeinsformen, ſeine vormalige Natur
beibehalten.
Ethik. Über die Natur und den Urſprung des Geiſtes. 99
5. Hilfsſatz.
Wenn die Teile, die ein Individuum bilden, größer
oder kleiner werden, aber in dem Verhältnis, daß alle das
vormalige gegenſeitige Verhältnis der Bewegung und Ruhe
bewahren, ſo wird das betreffende Individuum gleichfalls
ſeine vormalige Natur beibehalten, ohne irgend welche
Anderung ſeiner Form.
Beweis.
Derſelbe iſt der gleiche, wie beim vorigen Hilfsſatz.
6. Hilfsſat.
Wenn gewiſſe Körper, die ein Individuum bilden, ge—
nötigt werden, die Bewegung, welche ſie nach Einer Rich—
tung haben, nach einer andern Richtung zu lenken, aber ſo,
daß ſie ihre Bewegung fortſetzen, und ganz in dem vor—
maligen Verhältnis einander mitteilen können, ſo wird das
betreffende Individuum ſeine Natur beibehalten, ohne jede
Anderung ſeiner Form.
Beweis.
Der Satz erhellt von ſelbſt. Denn alles wird als bei—
behalten vorausgeſetzt, was wir in ſeiner Definition als
ſeine Form bildend bezeichnet haben.
7. Hilfsfaß.
Außerdem behält ein ſo zuſammengeſetztes Individuum
ſeine Natur, mag es im Ganzen ſich bewegen oder ruhen,
mag es ſich nach dieſer oder jener Richtung bewegen, wenn
nur jeder Teil ſeine Bewegung behält, und ſie wie vorher
dem andern mitteilt.
Beweis.
Derſelbe erhellt aus der Definition des Individuums.
(S. dieſelbe vor Hilfsſatz 4.)
7 *
100 Ethik. Zweiter Teil.
Anmerkung.
Hieraus erſehen wir alſo, in welcher Weiſe ein zuſam⸗
mengeſetztes Individuum auf viele Arten erregt werden,
und nichtsdeſtoweniger ſeine Natur bewahren kann. ö
Bis hierher haben wir ein Individuum im Auge ge⸗
habt, welches nur aus Körpern, die ſich bloß durch Be⸗
wegung und Ruhe, Schnelligkeit und Langſamkeit von ein⸗
ander unterſcheiden, d. h., aus den einfachſten Körpern,
zuſammengeſetzt iſt. Wenn wir uns nun ein anderes
denken, das aus vielen Individuen von verſchiedener Natur
zuſammengeſetzt iſt, ſo werden wir finden, daß dasſelbe noch
auf viele andere Weiſen erregt werden, und dennoch ſeine
Natur bewahren kann. Denn da jeder Teil desſelben aus
mehreren Körpern zuſammengeſetzt iſt, ſo wird (nach dem
vorigen Hilfsſatz) jeder Teil, ohne jede Veränderung ſeiner
Natur, ſich bald langſamer, bald ſchneller bewegen, und
folglich ſeine Bewegungen ſchneller oder langſamer den
übrigen mitteilen.
Wenn wir uns weiter noch eine dritte Gattung von
Individuen denken, die aus dieſen zweiter Gattung zuſam⸗
mengeſetzt ſind, ſo werden wir finden, daß ein ſolches In⸗
dividuum noch auf viel mehr Weiſen erregt werden kann,
ohne jede Anderung ſeiner Form. Und wenn wir ſo weiter
ins Unendliche fortfahren, werden wir leicht begreifen, daß
die ganze Natur Ein Individuum iſt, deſſen Teile, d. h.
alle Körper, auf unendliche Weiſe verſchieden ſind, ohne
irgend welche Anderung des ganzen Individuums.
Ich hätte dies, wenn ich die Abſicht gehabt hätte, die
Körper eingehend zu behandeln, ausführlicher erklären und
beweiſen müſſen. Ich habe jedoch, wie geſagt, etwas
anderes beabſichtigt, und das Vorſtehende nur angeführt,
um daraus das, was ich zu beweiſen mir vorgeſetzt, leicht
ableiten zu können.
Ethik. Über die Natur und den Urſprung des Geiftes. 101
Heifchefäße.
1. Der menſchliche Körper ift aus vielen Individuen
(verſchiedener Natur) zuſammengeſetzt, von denen jedes ſehr
zuſammengeſetzt iſt.
2. Von den Individuen, aus welchen der menſchliche
Körper zuſammengeſetzt iſt, ſind einige flüſſig, andere weich,
und wieder andere hart.
3. Die Individuen, welche den menſchlichen Körper
bilden, und folglich auch der menſchliche Körper ſelbſt,
werden von äußern Körpern auf verſchiedene Weiſen erregt.
4. Der menſchliche Körper braucht zu ſeiner Erhaltung
ſehr viele andere Körper, von welchen er fortwährend gleiche
ſam wiedererzeugt wird.
5. Wenn ein flüſſiger Teil des menſchlichen Körpers
von einem äußern Körper beſtimmt wird, auf einen andern,
weichen, öfters zu ſtoßen, ſo verändert er deſſen Fläche und
drückt ihm gleichſam gewiſſe Spuren des äußern Körpers
ein, der den Anſtoß giebt.
6. Der menſchliche Körper kann die äußeren Körper auf
ſehr viele Arten bewegen, und auf ſehr viele Arten disponieren.
Vierzehnter Lehrſatz.
Der meuſchliche Geiſt iſt befähigt, vieles zu erfaſſen,
und um ſo befähigter, auf je mehrere Weiſen ſein
Körper disponiert werden kann.
Beweis.
Denn der menſchliche Körper wird (nach den Heiſcheſätzen
3 und 6) auf vielerlei Weiſen von äußern Körpern erregt,
und disponiert, die äußern Körper auf vielerlei Weiſen zu
erregen. Alles aber, was im menſchlichen Körper geſchieht,
102 Ethik. Zweiter Teil.
muß (nach Lehrſatz 12 dieſes Teils) der menſchliche Geiſt
erfaſſen. Folglich iſt der menſchliche Geiſt befähigt, vieles
zu erfaffen, und um fo befähigter ꝛe. — W. z. b. w.
Fünfzehnter Lehrſatz.
Die Idee, welche das formale Sein des menſchlichen
Geiſtes ausmacht, iſt keine einfache, ſondern aus ſehr
vielen Ideen zuſammengeſetzt.
Beweis.
Die Idee, welche das formale Sein des menſchlichen
Geiſtes ausmacht, iſt die Idee des Körpers, (nach Lehr⸗
ſatz 13 dieſes Teils,) welcher (nach Heiſcheſatz 1) aus ſehr
vielen ſehr zuſammengeſetzten Individuen gebildet wird.
Nun giebt es aber von jedem Individuum, das einen
Körper bildet, notwendig (nach Zuſatz zu Lehrſatz 8 dieſes
Teils) in Gott eine Idee. Folglich iſt (nach Lehrſatz 7
dieſes Teils) die Idee des menſchlichen Körpers aus ſehr
viel ſolchen Ideen der ihn bildenden Teile zuſammen⸗
geſetzt. — W. z. b. w.
Sechzehnter Lehrſatz.
Die Idee jeder Erregungsweiſe, von welcher der
menſchliche Körper durch äußere Körper erregt wird, muß
die Natur des menſchlichen Körpers, und zugleich die
Natur des äußern Körpers, in ſich ſchließen.
Beweis.
Denn alle Erregungsweiſen, von welchen ein Körper
erregt wird, folgen aus der Natur des erregten Körpers,
und zugleich aus der Natur des erregenden Körpers (nach
Axiom J, das auf den Zuſatz zu Hilfsſatz 3 folgt); daher
wird ihre Idee (nach Axiom IV, Teil 1,) die Natur beider
Körper notwendig in ſich ſchließen. Mithin ſchließt die
Ethik. Über die Natur und den Urſprung des Geiſtes. 103
Idee einer jeden Erregungsweiſe, von welcher der menſch—
liche Körper durch einen äußern Körper erregt wird, die
Natur des menſchlichen Körpers, und des äußern Körpers,
in ſich. — W. z. b. w.
Bufaß I.
Hieraus folgt erſtens, daß der menſchliche Geiſt die
Natur vieler Körper zugleich mit der Natur ſeines Körpers
auffaßt.
Zuſatz II.
Es folgt zweitens, daß die Ideen, die wir von äußern
Körpern haben, mehr die Verfaſſung unſeres Körpers, als
die Natur der äußern Körper anzeigt; wie ich im Anhang zum
Erſten Teil an vielen Beiſpielen auseinandergeſetzt habe.
Siebzehnter Lehrſatz.
Wenn der menſchliche Körper von einer Erregungs⸗
weiſe erregt iſt, welche die Natur eines äußerlichen
Körpers in ſich ſchließt, ſo wird der menſchliche Geiſt
dieſen äußern Körper als wirklich exiſtierend, oder als
gegenwärtig betrachten, bis der Körper eine andere
Erregung empfängt, welche die Exiſtenz dieſes Körpers,
oder ſeine Gegenwart, ausſchließt.
Beweis.
Selbſtverſtändlich. Denn ſo lange der menſchliche Körper
ſo erregt iſt, in ſo lange wird der menſchliche Geiſt (nach
Lehrſatz 12 dieſes Teils) dieſe Erregung des Körpers be—
trachten, d. h., (nach dem vorigen Lehrſatz,) er wird von
der wirklich exiſtierenden Erregungsweiſe eine Idee haben,
welche die Natur des äußern Körpers in ſich ſchließt, d. h.
eine Idee, welche die Exiſtenz oder Gegenwart der Natur
des äußern Körpers nicht ausſchließt, ſondern ſetzt. Alſo
wird (nach Zuſatz I zum vorigen Lehrſatz) der Geiſt den
104 Ethik. Zweiter Teil.
äußern Körper, als wirklich exiſtierend, oder als gegen—
wärtig, betrachten, bis u. ſ. f. — W. z. b. w.
Zuſatz.
Der Geiſt kann die äußern Körper, von welchen der
menſchliche Körper einmal erregt geweſen iſt, auch wenn
fie nicht mehr exiſtieren oder gegenwärtig find, dennoch be=
trachten, als wären ſie gegenwärtig.
Beweis.
Wenn äußere Körper die flüſſigen Teile des menſch⸗
lichen Körpers beſtimmen, auf die weicheren häufig zu ſtoßen,
fo verändern fie deren Flächen (nach Heiſcheſatz 5). Daher
kommt es, (ſ. Axiom II nach dem Zuſatz zu Hilfsſatz 3,)
daß ſie von da auf andere Weiſe zurückprallen, als es
früher zu geſchehen pflegte, und daß ſie auch nachher, wenn
ſie auf die neuen Flächen in ihrer willkürlichen Bewegung
aufſtoßen, auf dieſelbe Weiſe zurückprallen, wie damals, als
ſie von den äußern Körpern gegen jene Flächen geſtoßen
wurden, und folglich auch, daß fie, wenn ſie dieſe zurück⸗
prallende Bewegung fortſetzen, den menſchlichen Körper auf
dieſelbe Weiſe erregen. Hierüber wird der Geiſt (nach
Lehrſatz 12 dieſes Teils) wiederum denken, d. h., (nach
Lehrſatz 17 dieſes Teils,) der Geiſt wird wiederum den
äußern Körper als gegenwärtig betrachten. Und dies wird
ſo oft geſchehen, ſo oft die flüſſigen Teile des menſchlichen
Körpers in ihrer willkürlichen Bewegung auf dieſe Flächen
ſtoßen. Darum wird der Geiſt, wenn auch die äußern
Körper, von welchen der menſchliche Körper einmal erregt
geweſen iſt, nicht mehr exiſtieren, dieſe Körper ſo oft als
gegenwärtig betrachten, ſo oft dieſe Thätigkeit des Körpers
ſich wiederholen wird. — W. z. b. w.
.
Ethik. Über die Natur und den Urſprung des Geiftes. 105
Aumerkung.
Wir ſehen alſo, wie es möglich iſt, daß wir etwas, was
nicht iſt, als gegenwärtig betrachten, wie oft geſchieht.
Es iſt zwar auch möglich, daß dies aus andern Ur⸗
ſachen vorkommt; aber es genügt mir hier, Eine Urſache
gezeigt zu haben, durch welche ich die Sache ſo erklären
konnte, als hätte ich ſie auf ihre wahre Urſache zurück—
geführt. Ich glaube jedoch nicht, daß ich mich von der
Wahrheit weit entferne, da alle jene Heiſcheſätze, welche ich
angewendet habe, kaum etwas enthalten, was nicht durch
die Erfahrung beſtätigt wird, und an dieſer dürfen wir
nicht zweifeln, nachdem wir gezeigt, daß der menſchliche
Körper ſo, wie wir ihn empfinden, exiſtiert. (S. Zuſatz
nach Lehrſatz 13 dieſes Teils.)
Außerdem verſtehen wir jetzt vollkommen (aus dem
vorigen Zuſatz und dem Zuſatz II zu Lehrſatz 16 dieſes
Teils) den Unterſchied zwiſchen der Idee z. B. des Peter,
welche das Weſen des Geiſtes des Peter ſelbſt ausmacht,
und zwiſchen der Idee von Peter, welche in einem andern
Menſchen, etwa in Paul, iſt. Denn jene drückt das Weſen
des Körpers des Peter ſelbſt direkt aus, und ſchließt die
Exiſtenz nur ein, ſo lange Peter exiſtiert. Dieſe dagegen
zeigt mehr den Zuſtand des Körpers des Paul als die
Natur des Peter. Daher wird der Geiſt des Paul, ſo
lange jener Körperzuſtand des Paul dauert, den Peter,
auch wenn er nicht exiſtiert, als ſich gegenwärtig betrachten.
Ferner werden wir, um die gebräuchlichen Ausdrücke
beizubehalten, die Erregungen des menſchlichen Körpers,
deren Ideen uns die äußern Körper darſtellen, als ob ſie
uns gegenwärtig wären, Bilder (Vorſtellungen) der
Dinge) nennen, wenn ſie auch die Geſtalten der Dinge
nicht wiedergeben. Und wenn der Geiſt auf dieſe Weiſe
die Körper betrachtet, ſo werden wir ſagen, daß er ſie
(ſinnlich) vorſtellt. Und hier möchte ich — um mit der
.
106 Ethik. Zweiter Teil.
Erklärung des Irrtums zu beginnen — darauf aufmerkſam
machen, daß die Vorſtellungen des Geiſtes, an und für ſich
betrachtet, keinen Irrtum enthalten, oder daß der Geiſt in
dem, was er vorſtellt, nicht irrt, ſondern nur, ſofern er
betrachtet wird als der Idee ermangelnd, welche die Exiſtenz
jener Dinge, die er ſich als gegenwärtig vorſtellt, aus⸗
ſchließt. Denn wenn der Geiſt, während er nicht exiſtierende
Dinge als ſich gegenwärtig vorſtellt, zugleich wüßte, daß
jene Dinge thatſächlich nicht exiſtieren, ſo würde er ſicherlich
dieſes Vorſtellungsvermögen einem Vorzug ſeiner Natur,
nicht einem Fehler derſelben zuſchreiben; zumal wenn dieſe
Fähigkeit des Vorſtellens von ſeiner Natur allein abhinge,
d. h., (nach Definition 7, Teil 1,) wenn dieſe Vorſtellungs⸗
fähigkeit des Geiſtes frei wäre. 8
Achtzehnter Lehrſatz.
Wenn der menſchliche Körper einmal von zweit oder
mehreren Körpern zugleich erregt worden iſt, ſo wird der
Geiſt, wenn er ſpäter einen derſelben ſich vorſtellt, ſich
ſogleich auch der andern erinnern.
Beweis.
Der Geiſt ſtellt ſich (nach dem vorigen Zuſatz) irgend
einen Körper deshalb vor, weil der menſchliche Körper von
den Eindrücken (Spuren) des äußern Körpers auf die
gleiche Weiſe erregt und disponiert wird, wie er erregt
worden iſt, als einige Teile desſelben von dem äußern
Körper ſelbſt einen Anſtoß erhalten haben. Nun war
(der Vorausſetzung zufolge) der Körper damals ſo dispo⸗
niert, daß der Geiſt zwei Körper zugleich vorſtellte. Folg⸗
lich wird er auch jetzt zwei zugleich vorſtellen, und der Geiſt
wird, wenn er den einen vorſtellt, ſich ſofort auch des
andern erinnern. — W. z. b. w.
Ethik. Über die Natur und den Urſprung des Geiſtes. 107
Anmerkung.
Damit verſtehen wir klar, was das Gedächtnis (die
Erinnerung) iſt. Es iſt nämlich nichts anderes, als eine
gewiſſe Verkettung von Ideen, welche die Natur der außer-
halb des menſchlichen Körpers befindlichen Dinge in ſich
ſchließen; welche Verkettung im Geiſte der Ordnung und
Verkettung der Erregungen des menſchlichen Körpers
entſpricht.
Ich ſage erſtens, es ſei eine Verkettung nur ſolcher
Ideen, welche die Natur der außerhalb des menſchlichen
Körpers befindlichen Dinge in ſich ſchließen, nicht aber von
Ideen, welche die Natur dieſer Dinge erklären. Denn es
find thatſächlich (nach Lehrſatz 16 dieſes Teils) die Ideen
der Erregungen des menſchlichen Körpers, welche die Natur
ſowohl dieſes, des menſchlichen Körpers, als auch der
äußern Körper in ſich ſchließen.
Ich ſage zweitens: dieſe Verkettung entſpreche der
Ordnung und Verkettung der Erregungen des menſchlichen
Körpers, um dieſe von der Verkettung der Ideen zu unter-
ſcheiden, welche der Ordnung des Verſtandes entſpricht, ver—
möge welcher der Geiſt die Dinge nach ihren erſten Ur—
ſachen erfaßt, und welche bei allen Menſchen dieſelbe iſt.
Hieraus erkennen wir ferner klar, warum der Geiſt von
dem Gedanken eines Dinges ſofort auf den Gedanken eines
andern Dinges überſpringt, das mit dem erſten gar keine
Ahnlichkeit hat. Z. B. wenn man das Wort „Apfel“
denkt, ſo denkt man auch ſogleich an die Frucht Apfel, die
doch mit jenem artikulierten Laut keinerlei Ahnlichkeit, noch
ſonſt etwas gemein hat, als daß der Körper des Menſchen
häufig von dieſen beiden erregt wurde, d. h., daß der
Menſch häufig das Wort Apfel gehört hat, während er
zugleich die Frucht ſah. So wird jeder von einem Ge—
danken auf einen andern verfallen, je nachdem feine Ge=
wohnheit die Bilder der Dinge im Körper geordnet hat.
108 Ethik. Zweiter Teil.
Der Soldat z. B. wird beim Anblick der Spuren eines
Pferdes ſogleich von dem Gedanken eines Pferdes auf den
Gedanken eines Reiters, und von dieſem auf den Gedanken
des Kriegs u. ſ. f. kommen. Der Bauer dagegen wird
von dem Gedanken des Pferdes auf den Gedanken eines
Pflugs, Ackers u. ſ. f. verfallen. So wird jeder, je nach⸗
dem er gewohnt iſt, die Bilder der Dinge auf die eine
oder andere Weiſe zu verknüpfen und zu verketten, von
einem Gedanken auf dieſen oder jenen Gedanken kommen.
Neunzehnter Lehrſatz.
Der menſchliche Geiſt erkennt den (eigenen) menſch⸗
lichen Körper und weiß, daß er exiſtiert, nur durch die
Ideen der Erregungen, womit der Körper erregt wird.
Beweis.
Denn der menſchliche Geiſt iſt eben die Idee, oder die
Erkenntuis des menſchlichen Körpers, (nach Lehrſatz 13
dieſes Teils,) welche (nach Lehrſatz 19 dieſes Teils) in Gott
zwar iſt, ſofern er als von einer andern Idee eines Einzel⸗
dinges erregt betrachtet wird. Oder weil (nach Heiſche⸗
ſatz 4) der menſchliche Körper vieler Körper bedarf, von
welchen er beſtändig gleichſam wiedererzeugt wird, und die
Ordnung und Verknüpfung der Ideen dieſelbe iſt, wie die
Ordnung und Verknüpfung der Urſachen, (nach Lehrſatz 7
dieſes Teils,) ſo wird dieſe Idee in Gott ſein, ſofern er
als von den Ideen vieler Einzeldinge erregt betrachtet
wird. Gott hat darum eine Idee des menſchlichen Körpers,
oder erkennt den menſchlichen Körper, ſofern er von vielen
andern Ideen erregt iſt, und nicht, ſofern er die Natur des
menſchlichen Geiſtes ausmacht; d. h., (nach Zuſatz zu Lehr⸗
ſatz 11 dieſes Teils,) der menſchliche Geiſt erkennt den
menſchlichen Körper nicht. Aber die Ideen der Körper⸗
erregungen ſind in Gott, ſofern er die Natur des menſch⸗
Ethik. über die Natur und den Urſprung des Geiſtes. 109
lichen Geiſtes ausmacht, oder der menſchliche Geiſt erfaßt
dieſe Erregungen, (nach Lehrſatz 12 dieſes Teils,) und
folglich (nach Lehrſatz 16 dieſes Teils) den menſchlichen
Körper ſelbſt, und zwar (nach Lehrſatz 17 dieſes Teils) als
wirklich exiſtierend. Folglich erfaßt der menſchliche Geiſt
nur inſofern den eigenen menſchlichen Körper. — W. z.
W..
Zwanzigſter Lehrſatz.
Es giebt in Gott auch eine Idee oder eine Erkennt⸗
nis des menſchlichen Geiſtes, welche auf dieſelbe Weiſe
in Gott folgt, und ſich auf dieſelbe Weiſe auf Gott be⸗
zieht, wie die Idee oder Erkenntnis des menſchlichen
Körpers.
Beweis.
Das Denken iſt ein Attribut Gottes, (nach Lehrſatz 1
dieſes Teils,) daher muß es (nach Lehrſatz 3 dieſes Teils)
notwendig ſowohl von ihm, als auch von allen ſeinen Er—
regungen, und demzufolge auch (nach Lehrſatz 11 dieſes
Teils) vom menſchlichen Geiſte, eine Idee in Gott geben.
Es folgt ferner nicht, daß es dieſe Idee oder Erkenntnis
des Geiſtes in Gott giebt, ſofern derſelbe unendlich iſt,
ſondern ſofern er von einer andern Idee eines Einzeldinges
erregt iſt (nach Lehrſatz 9 dieſes Teils). Aber die Ordnung
und Verknüpfung der Ideen iſt dieſelbe, wie die Ordnung
und Verknüpfung der Urſachen (nach Lehrſatz 7 dieſes
Teils). Es folgt ſomit dieſe Idee oder Erkenntnis des
Geiſtes in Gott, und bezieht ſich auf dieſelbe Weiſe auf
Gott, wie die Idee oder Erkenntnis des Körpers. —
W. z. b. w.
Einundzwanzigſter Lehrſatz.
Dieſe Idee des Geiſtes iſt auf dieſelbe Weiſe mit
dem Geiſte vereinigt, wie der Geiſt ſelbſt mit dem Körper
vereinigt iſt.
110 Ethik. Zweiter Teil,
Beweis.
Daß der Geiſt mit dem Körper vereinigt iſt, haben
wir daraus erwieſen, daß der Körper das Objekt des
Geiſtes iſt. (S. die Lehrſätze 12 und 13 dieſes Teils.)
Daher muß aus demſelben Grunde die Idee des Geiſtes
mit ihrem Objekt, d. h. mit dem Geiſt ſelbſt, auf dieſelbe
Weiſe vereinigt ſein, wie der Geiſt ſelbſt mit dem Körper
vereinigt iſt. — W. z. b. w.
Anmerkung.
Dieſer Satz wird weit deutlicher aus dem, was in der
Anmerkung zu Lehrſatz 7 dieſes Teils geſagt iſt, eingeſehen.
Denn dort haben wir gezeigt, daß die Idee des Körpers
und der Körper, d. h., (nach Lehrſatz 13 dieſes Teils,) der
Geiſt und der Körper, eins und dasſelbe Individuum iſt,
welches bald unter dem Attribut des Denkens, bald unter
dem der Ausdehnung, begriffen wird. Darum iſt die Idee
des Geiſtes und der Geiſt ſelbſt ein und dasſelbe Ding,
welches unter einem und demſelben Attribut, nämlich des
Denkens, begriffen wird. Daß die Idee des Geiſtes und
der Geiſt ſelbſt in Gott vorhanden, folgt, ſage ich, mit der⸗
ſelben Notwendigkeit aus derſelben Fähigkeit des Denkens.
Denn thatſächlich iſt die Idee des Geiſtes, d. h. die Idee
der Idee, nichts anderes, als die Form der Idee, ſofern
dieſe, als Daſeinsform des Denkens, ohne Beziehung zum
Objekt betrachtet wird. Denn ſobald jemand etwas weiß,
weiß er eben damit, daß er dieſes weiß; und zugleich weiß
er, daß er weiß, was er weiß; und ſo ins Unendliche.
Doch hierüber ſpäter.
Zweiundzwanzigſter Lehrſatz.
Der menſchliche Geiſt erfaßt nicht bloß die Erregungen
des Körpers, ſondern auch die Ideen dieſer Erregungen.
Ethik. Über die Natur und den Urſprung des Geiſtes. 111
Beweis.
Die Ideen von den Ideen der Erregungen folgen in
Gott auf dieſelbe Weiſe und beziehen ſich auf Gott auf die⸗
ſelbe Weiſe, wie die Ideen der Erregungen ſelbſt; was auf
die gleiche Weiſe bewieſen wird, wie Lehrſatz 20 dieſes
Teils. Aber die Ideen der Erregungen des Körpers ſind
im menſchlichen Geiſte, (nach Lehrſatz 12 dieſes Teils,) d. h.,
(nach Zuſatz zu Lehrſatz 11 dieſes Teils,) in Gott, ſofern
er das Weſen des menſchlichen Geiſtes ausmacht. Folglich
werden die Ideen dieſer Ideen in Gott ſein, ſofern er die
Erkenntnis oder Idee des menſchlichen Geiſtes hat, d. h.,
(nach Lehrſatz 21 dieſes Teils,) im menſchlichen Geiſte ſelbſt,
der darum nicht bloß die Erregungen des Körpers, ſondern
auch die Ideen derſelben erfaßt. — W. z. b. w.
Dreiundzwanzigſter Lehrſatz.
Der Geiſt erkennt ſich ſelbſt nur, ſofern er die Ideen
der Körpererregungen erfaßt.
Beweis.
Die Idee oder die Erkenntnis des Geiſtes folgt in Gott
auf dieſelbe Weiſe, und wird auf Gott auf dieſelbe Weiſe
bezogen, wie die Idee oder die Erkenntnis des Körpers
(nach Lehrſatz 20 dieſes Teils). Aber da (nach Lehrſatz 19
dieſes Teils) der menſchliche Geiſt den menſchlichen Körper
ſelbſt nicht erkennt, d. h., (nach Zuſatz zu Lehrſatz 11 dieſes
Teils,) da die Erkenntnis des menſchlichen Körpers ſich auf
Gott nicht bezieht, ſofern er das' Weſen des menſchlichen
Geiſtes ausmacht, ſo bezieht ſich alſo die Erkenntnis des
Geiſtes auf Gott nicht, ſofern er das Weſen des menſch—
lichen Geiſtes ausmacht; ſomit (nach demſelben Zuſatz zu
Lehrſatz 11 dieſes Teils) erkennt inſofern der menſchliche
Geiſt ſich ſelbſt nicht. Ferner ſchließen die Ideen der Er⸗
regungen, von denen der Körper erregt wird, die Natur
112 Ethik. Zweiter Teil.
des menſchlichen Körpers ſelbſt in ſich, (nach Lehrſatz 16
dieſes Teils,) d. h., (nach Lehrſatz 13 dieſes Teils,) fie
ſtimmen mit der Natur des Geiſtes überein. Daher ſchließt
die Erkenntnis dieſer Ideen die Erkenntnis des Geiſtes
notwendig in ſich. Aber die Erkenntnis dieſer Ideen iſt
(nach dem vorigen Lehrſatz) im menſchlichen Geiſte ſelbſt.
Folglich erkennt der menſchliche Geiſt nur inſofern ſich
ſelbſt. — W. z. b. w.
Vierundzwanzigſter Lehrſatz.
Der menſchliche Geiſt ſchließt keine adäquate Er⸗
kenntnis der Teile in ſich, welche den menſchlichen Körper
bilden.
Beweis.
Die Teile, welche den menſchlichen Körper bilden, ge=
hören zum Weſen des Körpers ſelbſt nur, ſofern ſie ihre
Bewegungen in irgend einem beſtimmten Verhältnis ein⸗
ander mitteilen, (ſ. die Definition nach dem Zuſatz zu
Hilfsſatz 3,) nicht aber, ſofern fie als Individuen, ohne
Beziehung zum menſchlichen Körper, betrachtet werden
können. Denn die Teile des menſchlichen Körpers ſind
(nach Heiſcheſatz 1) ſehr zuſammengeſetzte Individuen, deren
Teile (nach Hilfsſatz 4) vom menſchlichen Körper, ohne daß
ſeine Natur und Form eine Anderung erlitten, getrennt
werden können, und die ihre Bewegungen (ſ. Axiom J nach
Hilfsſatz 3) andern Körpern in einer andern Weiſe mit⸗
teilen können. Es wird daher (nach Lehrſatz 3 dieſes Teils)
die Idee oder die Erkenntnis jedes Teils in Gott ſein, und
zwar, (nach Lehrſatz 9 dieſes Teils,) ſofern er betrachtet
wird als erregt von einer andern Idee eines Einzeldinges,
welches Einzelding, der Ordnung der Natur gemäß, früher
iſt, als der Teil ſelbſt (nach Lehrſatz 9 dieſes Teils).
Dasſelbe gilt außerdem auch von jedem Teil des Indi⸗
viduums ſelbſt, das den menſchlichen Körper bildet. Daher
Ethik. Über die Natur und den Urfprung des Geiſtes. 113
iſt die Erkenntnis eines jeden Teils, der den menſchlichen
Körper bildet, in Gott, ſofern er von vielen Ideen der
Dinge erregt iſt, und nicht, ſofern er nur die Idee des
menſchlichen Körpers hat, d. h., (nach Lehrſatz 13 dieſes
Teils,) die Idee, welche die Natur des menſchlichen Körpers
ausmacht. Alſo (nach Zuſatz zu Lehrſatz 11 dieſes Teils)
ſchließt der menſchliche Geiſt keine adäquate Erkenntnis der
Teile in ſich, welche den menſchlichen Körper bilden. —
W. z. b. w.
Fünfundzwanzigſter Lehrſatz.
Die Idee einer jeden Erregung des menſchlichen
Körpers ſchließt eine adäquate Erkenntnis des äußern
Körpers nicht in ſich.
Beweis.
Wir haben gezeigt, daß die Idee einer Erregung des
menſchlichen Körpers inſofern die Natur des äußern Körpers
in ſich ſchließt, (ſ. Lehrſatz 16 dieſes Teils,) ſofern derſelbe
den äußern menſchlichen Körper ſelbſt in irgend einer ge—
wiſſen Weiſe beſtimmt. Aber ſofern der äußere Körper
ein Individuum iſt, das ſich auf den menſchlichen Körper
nicht bezieht, iſt ſeine Idee oder ſeine Erkenntnis in Gott,
(nach Lehrſatz 9 dieſes Teils,) ſofern Gott betrachtet wird
als erregt von der Idee eines andern Dinges, welche (nach
Lehrſatz 7 dieſes Teils) von Natur früher iſt, als der äußere
Körper ſelbſt. Daher iſt eine adäquate Idee des äußern
Körpers in Gott nicht, ſofern er eine Idee der Erregung
des menſchlichen Körpers hat; oder die Idee der Erregung
des menſchlichen Körpers ſchließt eine adäquate Erkenntnis
des äußern Körpers nicht in ſich. — W. z. b. w.
Sechsundzwanzigſter Lehrſatz.
Der menſchliche Geiſt erfaßt einen äußern Körper
als wirklich exiſtierend nur durch die Ideen der Er⸗
regungen ſeines Körpers.
8
114 Ethik. Zweiter Teil.
Beweis.
Wenn der menſchliche Körper von keinem äußern Körper
auf irgend eine Weiſe erregt iſt, ſo iſt auch (nach Lehr⸗
ſatz 7 dieſes Teils) die Idee des menſchlichen Körpers,
d. h. der menſchliche Geiſt, von keiner Idee der Exiſtenz
jenes Körpers auf irgend eine Weiſe erregt, oder er erfaßt
die Exiſtenz jenes äußern Körpers auf keine Weiſe. Aber
ſofern der menſchliche Körper von einem äußern Körper
auf irgend eine Weiſe erregt wird, inſofern erfaßt er den
äußern Körper (nach Lehrſatz 16 dieſes Teils, mit ſeinem
Zuſatz). — W. z. b. w.
ZJuſah.
Sofern der menſchliche Geiſt einen äußern Körper ſich
(ſinnlich) vorſtellt, inſofern hat er keine adäquate Erkennt⸗
nis desſelben.
Beweis.
Wenn der menſchliche Geiſt durch die Ideen der Er⸗
regungen ſeines Körpers die äußern Körper betrachtet, ſo
ſagen wir, er ſtellt ſie ſich (ſinnlich) vor (ſ. Zuſatz zu Lehr⸗
ſatz 7 dieſes Teils). Der Geiſt kann aber auf keine andere
Weiſe (nach dem vorigen Lehrſatz) die äußern Körper als
wirklich exiſtierend ſich vorſtellen. Daher hat der menſch⸗
liche Geiſt, (nach Lehrſatz 25 dieſes Teils,) ſofern er die
äußern Körper ſich (ſinnlich) vorſtellt, keine adäquate Er⸗
kenntnis derſelben. — W. z. b. w.
Siebenundzwanzigſter Lehrſatz.
Die Idee einer jeden Erregung des menſchlichen
Körpers ſchließt eine adäquate Erkenntnis des menſch⸗
lichen Körpers ſelbſt nicht in fich.
Ethik. über die Natur und den Urſprung des Geiftes. 115
Beweis.
Jede Idee einer jeden Erregung des menſchlichen Körpers
ſchließt inſofern die Natur des menſchlichen Körpers in ſich,
ſofern der menſchliche Körper ſelbſt als auf gewiſſe Weiſe
erregt betrachtet wird (ſ. Lehrſatz 16 dieſes Teils). Aber
ſofern der menſchliche Körper ein Individuum iſt, das auf
viele andere Weiſen erregt werden kann, ſchließt deſſen
Idee ze. S. den Beweis zu Lehrſatz 25 dieſes Teils.
Achtundzwanzigſter Lehrſatz.
Die Ideen der Erregungen des menſchlichen Körpers
ſind, ſofern ſie bloß auf den menſchlichen Geiſt bezogen
werden, nicht klar und deutlich, ſondern verworren.
Beweis.
Denn die Ideen der Erregungen des menſchlichen Körpers
ſchließen die Natur ſowohl der äußern Körper als auch des
menſchlichen Körpers ſelbſt, in ſich (nach Lehrſatz 16 dieſes
Teils). Sie müſſen aber die Natur nicht bloß des menſch⸗
lichen Körpers, ſondern auch ſeiner Teile, in ſich ſchließen.
Denn die Erregungen ſind Daſeinsformen, (nach Heiſche—
ſatz 3.) womit die Teile des menſchlichen Körpers, und
demzufolge der ganze Körper, erregt werden. Nun iſt aber
(nach den Lehrſätzen 24 und 25 dieſes Teils) eine adäquate
Erkenntnis der äußern Körper, und der den menſchlichen
Körper bildenden Teile, in Gott nicht, ſofern er als vom
menſchlichen Geiſte erregt, ſondern ſofern er als von andern
Ideen erregt betrachtet wird. Es ſind folglich dieſe Ideen
der Erregungen, ſofern ſie auf den menſchlichen Geiſt allein
bezogen werden, wie Schlußfolgerungen ohne die Vorder-
ſätze, d. h., (wie an ſich klar,) verworrene Ideen. — W.
z. b. w. 5
8*
116 Ethik. Zweiter Teil.
Anmerkung.
Von der Idee, welche die Natur des menſchlichen Geiſtes
ausmacht, wird auf dieſelbe Art bewieſen, daß ſie, für ſich
ſelbſt betrachtet, nicht klar und deutlich iſt; desgleichen von
der Idee des menſchlichen Geiſtes, und von den Ideen der
Ideen der menſchlichen Körpererregungen, ſofern ſie auf den
Geiſt allein bezogen werden; was jedermann leicht ein⸗
ſehen kann.
Neunundzwanzigſter Lehrſatz.
Die Idee der Idee einer jeden Erregung des menſch⸗
lichen Körpers ſchließt eine adäquate Erkenntnis des
menſchlichen Geiſtes nicht in ſich.
Beweis.
Denn die Idee einer Erregung des menſchlichen Körpers
ſchließt (nach Lehrſatz 27 dieſes Teils) die adäquate Er⸗
kenntnis des Körpers ſelbſt nicht ein, oder drückt deſſen
Natur nicht adäquat aus; d. h., (nach Lehrſatz 13 dieſes
Teils,) ſie ſtimmt mit der Natur des Geiſtes nicht adäquat
überein. Alſo (nach Axiom VI, Teil 1,) drückt die Idee
dieſer Idee die Natur des menſchlichen Geiſtes nicht aus,
oder ſie ſchließt eine adäquate Idee desſelben nicht in ſich.
— W. z. b. w.
Zuſatz.
Hieraus folgt, daß der menſchliche Geiſt, ſo oft er die
Dinge nach der gewöhnlichen Ordnung der Natur erfaßt,
weder von ſich ſelbſt, noch von ſeinem Körper, noch von
den äußern Körpern, eine adäquate Erkenntnis hat, ſondern
nur eine verworrene und verſtümmelte Erkenntnis. Denn
der Geiſt erkennt ſich ſelbſt nur, ſofern er die Ideen der
Körpererregungen erfaßt (nach Lehrſatz 23 dieſes Teils).
Aber ſeinen Körper erfaßt er (nach Lehrſatz 19 dieſes Teils)
Ethik. über die Natur und den Urſprung des Geiſtes. 117
nur durch eben die Ideen der Erregungen, durch welche er
auch nur (nach Lehrſatz 26 dieſes Teils) die äußern Körper
erfaßt. Er hat alſo, ſofern er dieſe hat, weder von ſich
ſelbſt, (nach Lehrſatz 29 dieſes Teils,) noch von ſeinem
Körper, (nach Lehrſatz 27 dieſes Teils,) noch von den
äußern Körpern, (nach Lehrſatz 25 dieſes Teils,) eine adä⸗
quate Erkenntnis, ſondern nur eine verſtümmelte und ver-
worrene Erkenntnis. — W. z. b. w.
Anmerkung.
Ich ſage ausdrücklich, der Geiſt hat weder von ſich
ſelbſt, noch von ſeinem Körper, noch von den äußern
Körpern eine adäquate, ſondern nur eine verworrene Er-
kenntnis, ſo oft er die Dinge nach der gewöhnlichen Ord—
nung der Natur erfaßt, d. h., ſo oft er äußerlich, nämlich
wie ihm die Dinge zufällig aufſtoßen, beſtimmt wird, dies
oder jenes zu betrachten; nicht aber, ſo oft er innerlich,
nämlich dadurch, daß er mehrere Dinge zugleich betrachtet,
beſtimmt wird das Übereinſtimmende, das Verſchiedene und
das Gegenſätzliche an ihnen zu verſtehen. Denn ſo oft er
auf dieſe oder andere Weiſe innerlich dazu disponiert wird,
alsdann betrachtet er die Dinge klar und deutlich, wie ich
unten zeigen werde.
Dreißigſter Lehrſatz.
Wir können von der Dauer unſeres Körpers keine
andere als eine höchſt inadäquate Erkenntnis haben.
Beweis.
Die Dauer unſeres Körpers hängt von deſſen Weſen
nicht ab, (nach Axiom I dieſes Teils,) und auch nicht von
der abſoluten Natur Gottes (nach Lehrſatz 21, Teil 1).
Vielmehr wird er zum Exiſtieren und Wirken beſtimmt
von ſolchen Urſachen, welche auch wieder von andern be⸗
118 Ethik. Zweiter Teil.
ſtimmt ſind, zu exiſtieren, und auf gewiſſe und beſtimmte
Weiſe zu wirken, und dieſe wiederum von andern, und ſo
ins Unendliche. Es hängt alſo die Dauer unſeres Körpers
von der allgemeinen Ordnung der Natur, und der Be—
ſchaffenheit der Dinge ab. Auf welche Weiſe aber die
Dinge beſchaffen ſind, davon giebt es eine adäquate Er⸗
kenntnis in Gott, ſofern er die Ideen von ihnen allen, und
nicht, ſofern er nur die Idee des menſchlichen Körpers hat
(nach Zuſatz zu Lehrſatz 9 dieſes Teils). Daher iſt die
Erkenntnis der Dauer unſeres Körpers in Gott höchſt
inadäquat, ſofern er nur als die Natur des menſchlichen
Geiſtes ausmachend betrachtet wird; d. h., (nach Zuſatz zu
Lehrſatz 11 dieſes Teils,) dieſe Erkenntnis iſt in unſerm
Geiſte höchſt inadäquat. — W. z. b. w.
Einunddreißigſter Lehrſatz.
Wir können von der Dauer der Einzeldinge, welche
außer uns ſind, keine andere als eine höchſt inadäquate
Erkenntnis haben.
Beweis.
Denn jedwedes Einzelding, wie der menſchliche Körper,
muß von einem andern Einzelding beſtimmt werden, zu
exiſtieren, und auf gewiſſe und beſtimmte Weiſe zu wirken,
und dieſes wieder von einem andern, und ſo ins Unend⸗
liche (nach Lehrſatz 28, Teil 1). Da wir aber im vorigen
Lehrſatz aus dieſer gemeinſchaftlichen Eigenſchaft der Einzel-
dinge bewieſen haben, daß wir von der Dauer unſeres
Körpers nur eine höchſt inadäquate Erkenntnis haben, ſo
muß das Gleiche auch in Bezug auf die Dauer der Einzel⸗
dinge geſchloſſen werden, nämlich daß wir nur eine höchſt
inadäquate Erkenntnis von ihr haben können. — W.
z. b. w.
Ethik. Über die Natur und den Urſprung des Geiſtes. 119
IJuſatz.
Hieraus folgt, daß alle einzelnen Dinge zufällig und
zerſtörbar find. Denn wir können von ihrer Dauer keine
adäquate Erkenntnis haben, (nach dem vorigen Lehrſatz,)
und das iſt es, was wir unter Zufälligkeit und Zerſtörbar⸗
keit der Dinge zu verſtehen haben (ſ. Anmerkung 1 zu
Lehrſatz 33, Teil 1). Denn (nach Lehrſatz 29, Teil 1,) giebt
es keine andere Zufälligkeit als dieſe.
Zweiunddreißigſter Lehrſatz.
Alle Ideen ſind, ſofern ſie auf Gott bezogen werden,
wahr.
Beweis.
Denn alle Ideen, welche in Gott ſind, ſtimmen mit
ihrem Gegenſtand vollſtändig überein (nach Zuſatz zu Lehr-
ſatz 7 dieſes Teils); folglich (nach Axiom VI, Teil 1,) find
ſie alle wahr.
Dreiunddreißigſter Lehrſatz.
Es iſt in den Ideen nichts Poſitives, wegen deſſen
ſie falſch heißen.
Beweis.
Verneint man dieſes, ſo nehme man, wenn es möglich,
eine poſitive Art des Denkens an, welche die Form des
Irrtums, oder des Falſchen ausmacht. Dieſe Art des
Denkens kann nicht in Gott fein (nach dem vorigen Lehr—
ja). Außerhalb Gottes aber kann fie auch weder fein
noch begriffen werden (nach Lehrſatz 15, Teil 1). Daher
kann es nichts Poſitives geben in den Ideen, wegen deſſen
ſie falſch heißen. — W. z. b. w.
120 Ethik. Zweiter Teil.
Vierunddreißigſter Lehrſatz.
Jede Idee, welche in uns abſolut, oder adäquat und
vollkommen iſt, iſt wahr.
Beweis.
Wenn wir ſagen, es giebt in uns eine adäquate und
vollkommene Idee, ſo ſagen wir nichts anderes, (nach
Zuſatz zu Lehrſatz 11 dieſes Teils,) als daß es in Gott,
ſofern er das Weſen unſeres Geiſtes ausmacht, eine adä=
quate und vollkommene Idee giebt. Folglich (nach Lehr⸗
ſatz 32 dieſes Teils) ſagen wir damit nichts anderes, als
daß eine ſolche Idee wahr iſt. — W. z. b. w. a
Fünfunddreißigſter Lehrſatz.
Die Falſchheit beſteht in einem Mangel an Erkennt⸗
nis, welchen die inadäquaten, oder verſtümmelten und
verworrenen Ideen, in ſich ſchließen.
Beweis.
Es giebt in den Ideen nichts Poſitives, das die Form
der Falſchheit bildet (nach Lehrſatz 33 dieſes Teils). Im
abſoluten Mangel aber kann die Falſchheit nicht beſtehen
(denn vom Geiſte ſagt man, er irrt oder täuſcht ſich, nicht
vom Körper). Aber auch nicht in abſoluter Unwiſſenheit,
denn Nichtwiſſen und Irren iſt zweierlei. Sonach beſteht
ſie in einem Mangel an Erkenntnis, welchen die inadäquate
Erkenntnis der Dinge, oder die inadäquaten und ver⸗
worrenen Ideen, in ſich ſchließen. — W. z. b. w.
Anmerkung.
In der Anmerkung zu Lehrſatz 17 dieſes Teils habe ich
auseinandergeſetzt, auf welche Weiſe der Irrtum in einem
Mangel an Erkenntnis beſteht; doch will ich zu größerer
Ethik. Über die Natur und den Ursprung des Geiftes. 121
Verdeutlichung der Sache ein Beiſpiel auführen. Die Menſchen
täuſchen ſich darin, daß ſie glauben, ſie ſeien frei. Dieſe
Meinung beſteht bloß darin, daß ſie ihrer Handlungen ſich
bewußt ſind, die Urſachen aber, von welchen ſie beſtimmt
werden, nicht kennen. Das alſo iſt die Idee ihrer Freiheit,
daß ſie keine Urſache ihrer Handlungen kennen. Denn
wenn ſie ſagen, die menſchlichen Handlungen hängen vom
Willen ab, ſo ſind das Worte, von welchen ſie keine Idee
haben. Was der Wille iſt, und wie er den Körper bewegt,
wiſſen ſie ja alle nicht, und diejenigen, welche ſich brüſten,
es ja zu wiſſen, und einen Sitz und Aufenthalt der Seele
aushecken, erregen damit nur Lachen oder Verdruß.
So auch wenn wir die Sonne anblicken, ſtellen wir
uns vor, ſie ſei etwa zweihundert Fuß von uns entfernt.
In dieſer Vorſtellung allein beſteht dieſer Irrtum nicht,
ſondern darin, daß wir, während wir ſie ſo betrachten, ihre
wahre Entfernung und die Urſache dieſer Vorſtellung nicht
kennen. Denn wenn wir auch nachher erkennen, daß ſie
mehr als ſechshundert Erddurchmeſſer von uns entfernt iſt,
ſo werden wir deſſenungeachtet die Vorſtellung haben, daß
ſie nahe ſei. Denn nicht deswegen ſtellen wir uns die
Sonne ſo nahe vor, weil wir ihre wahre Entfernung nicht
kennen, ſondern deswegen, weil die Erregung unſeres
Körpers das Weſen der Sonne in ſich ſchließt, ſofern der
Körper ſelbſt von ihr erregt wird.
Sechsunddreißigſter Lehrſatz.
Die inadäquaten und verworrenen Ideen folgen mit
derſelben Notwendigkeit, wie die adäquaten, oder die
klaren und deutlichen Ideen.
Beweis.
Alle Ideen find in Gott, (nach Lehrſatz 15, Teil 1,
und ſind, ſofern ſie auf Gott bezogen werden, wahr (nach
122 Ethik. Zweiter Teil.
Lehrſatz 32 dieſes Teils) und adäquat (nach Zuſatz zu
Lehrſatz 7 dieſes Teils). Daher ſind ſie inadäquat oder
verworren nur inſofern, als ſie auf den einzelnen Geiſt
von jemand bezogen werden (f. hierüber die Lehrſätze 24
und 28 dieſes Teils). Somit folgen alle, die adäquaten
wie die inadäquaten, mit gleicher Notwendigkeit (nach Zu⸗
fat zu Lehrſatz 6 dieſes Teils.) — W. z. b. w.
Siebenunddreißigſter Lehrſatz.
Das, was allen Dingen gemeinſam iſt, (. hierüber
oben Hilfsſatz 2,) und was gleicherweiſe im Teil wie
im Ganzen iſt, macht das Weſen keines Einzeldinges aus.
Beweis.
Verneint man dieſes, fo nehme man, wenn möglich,
an, es mache das Weſen eines Einzeldinges ja aus, z. B.
das Weſen von B. Es wird alſo (nach Definition 2 dieſes
Teils) ohne B weder ſein, noch begriffen werden können.
Dies iſt aber gegen die Vorausſetzung. Folglich gehört es
nicht zum Weſen des B, noch macht es das Weſen eines
andern Einzeldinges aus. — W. z. b. w.
Achtunddreißigſter Lehrſatz.
Das, was allen Dingen gemeinſam iſt, und was
gleicherweiſe im Teil wie im Ganzen iſt, kann nicht
anders begriffen werden, als adäquat.
Beweis.
Geſetzt, A ſei etwas, das allen Körpern gemeinſam iſt,
und das gleicherweiſe im Teile jedes Körpers wie im
Ganzen iſt. Ich ſage nun, A kann nicht anders begriffen
werden, als adäquat. Denn die Idee desſelben wird (nach
Zuſatz zu Lehrſatz 7 dieſes Teils) notwendig in Gott ad⸗
Ethik. Über die Natur und den Urſprung des Geiſtes. 123
äquat ſein, ſowohl ſofern er die Idee des menſchlichen
Körpers, als auch ſofern er die Ideen der Erregungen
desſelben hat, welche (nach den Lehrſätzen 16, 25 und 27
dieſes Teils) die Natur ſowohl des menſchlichen Körpers,
als auch der äußern Körper, teilweiſe in ſich ſchließen.
Das heißt, (nach den Lehrſätzen 12 und 13 dieſes Teils,
dieſe Idee wird notwendig in Gott adäquat ſein, ſofern er
den menſchlichen Geiſt bildet, oder ſofern er Ideen hat,
welche im menſchlichen Geiſte ſind. Alſo erfaßt der Geiſt
(nach Zuſatz zu Lehrſatz 11 dieſes Teils) A notwendig ad»
äquat, und zwar ſowohl ſofern er ſich, als auch ſofern er
feinen, oder irgend einen äußern Körper erfaßt, und A
kann auf keine andere Weiſe begriffen werden. — W. z. b. w.
ZJuſah.
Hieraus folgt, daß es gewiſſe Ideen oder Begriffe
giebt, die allen Menſchen gemeinſam ſind. Denn alle
Körper ſtimmen (nach Hilfsſatz 2) in manchen Punkten
überein, welche (nach dem vorigen Lehrſatz) von jedermann
adäquat, oder klar und deutlich, begriffen werden müſſen.
teununddreißigſter Lehrſatz.
Von dem, was dem menſchlichen Körper und einigen
äußern Körpern, von welchen der menſchliche Körper er-
regt zu werden pflegt, und das dem Teil eines jeden
von dieſen Körpern, ebenſo wie dem Ganzen, gemeinſam
und eigen iſt, davon wird es auch im Geiſte eine ad⸗
äquate Idee geben.
Beweis.
Geſetzt, A ſei das, was dem menſchlichen Körper, und
einigen äußern Körpern, gemeinſam und eigen iſt, und das
ebenſo im menſchlichen Körper, wie in jenen äußern Körpern,
und auch im Teil jedes äußern Körpers wie im Ganzen
iſt. Von A ſelbſt wird es in Gott eine adäquate Idee
124 Ethik. Zweiter Teil.
geben, (nach Zuſatz zu Lehrſatz 7 dieſes Teils,) ſowohl
fofern er die Idee des menſchlichen Körpers, als auch ſo—
fern er die Ideen der betreffenden äußern Körper hat.
Man nehme nun an, der menſchliche Körper werde von
einem äußern Körper durch das erregt, was er mit dem⸗
ſelben gemein hat, d. h. von A. Dann wird die Idee
dieſer Erregung die Eigenſchaft A in ſich ſchließen (nach
Lehrſatz 16 dieſes Teils). Folglich (nach demſelben Zuſatz
zu Lehrſatz 7 dieſes Teils) wird die Idee dieſer Erregung,
ſofern fie die Eigenſchaft A in ſich ſchließt, in Gott adäquat
ſein, ſofern er von der Idee des menſchlichen Körpers er⸗
regt iſt; d. h., (nach Lehrſatz 13 dieſes Teils,) ſofern er
die Natur des menſchlichen Geiſtes bildet. Alſo (nach Zu-
ſatz zu Lehrſatz 11 dieſes Teils) iſt dieſe Idee auch im
menſchlichen Geiſte adäquat. — W. z. b. w.
ZJuſah.
Hieraus folgt, daß der Geiſt um ſo fähiger iſt, vieles
adäquat zu erfaſſen, je mehr ſein Körper mit andern Körpern
gemein hat.
Vierzigſter Lehrſatz.
Alle Ideen, welche im Geiſte aus Ideen folgen, die
in ihm adäquat find, find gleichfalls adägnat.
Beweis.
Natürlich. Denn wenn wir ſagen, im menſchlichen Geiſte
folge eine Idee aus Ideen, die adäquat in ihm find, ſo
ſagen wir nichts anderes, (nach Zuſatz zu Lehrſatz 11 dieſes
Teils,) als daß es im göttlichen Verſtande ſelbſt eine Idee
giebt, deren Urſache Gott iſt, nicht ſofern er unendlich iſt,
noch ſofern er von den Ideen vieler Einzeldinge erregt iſt,
ſondern ſofern er nur das Weſen des menſchlichen Geiſtes
ausmacht.
Ethik. Über die Natur und den Urſprung des Geiſtes. 125
1. Anmerkung.
Damit habe ich die Urſache der Begriffe dargelegt, welche
Gemeinbegriffe genannt werden, und welche die Grund—
lagen unſeres Schließens ſind.
Es giebt aber von einigen Axiomen oder Begriffen noch
andere Urſachen, welche nach dieſer unſerer Methode dar—
gelegt zu werden verdienten; denn es würde ſich aus ihnen
ergeben, welche Begriffe nützlicher ſind als alle übrigen,
und welche hinwiederum von kaum irgend einem Nutzen
ſind. Ferner würde ſich daraus ergeben, welche Begriffe
allen Menſchen gemeinſam ſind, welche Begriffe nur von
vorurteilsfreien Menſchen klar und gründlich erfaßt werden,
und endlich, welche Begriffe ſchlecht begründet find. Außer-
dem würde ſich ergeben, woher jene Begriffe, die man
Begriffe zweiter Ordnung nennt, und demzufolge die
Axiome, die ſich auf ſie gründen, ihren Urſprung genommen
haben; und noch anderes, was ich beim Nachdenken darüber
gefunden. Da ich dies aber für eine andere Abhandlung
beſtimmt habe, auch um nicht durch allzu große Weitläufig⸗
keit des Gegenſtandes unangenehm zu werden, habe ich
vorgezogen, darüber wegzugehen.
Um aber nichts von dem zu übergehen, was zu wiſſen
nötig iſt, will ich in Kürze die Urſachen angeben, aus
welchen die ſogenannten transcendentalen Ausdrücke
ihren Urſprung genommen haben, wie „das Seiende“, „das
Ding“, „Etwas“. Dieſe Ausdrücke entſtehen daraus, daß
der menſchliche Körper, weil er beſchränkt iſt, nicht fähig iſt,
mehr als eine beſtimmte Zahl von Vorſtellungen (was
Vorſtellung iſt, habe ich in der Anmerkung zu Lehrſatz 17
dieſes Teils erklärt,) zu gleicher Zeit deutlich in ſich zu
bilden. Wird dieſe Zahl überſchritten, ſo fangen dieſe Vor⸗
ſtellungen an, ſich zu verwirren. Wird aber dieſe Zahl von
Vorſtellungen, welche der Körper zu gleicher Zeit deutlich in
ſich zu bilden vermag, erheblich überſchritten, ſo werden
126 Ethik. Zweiter Teil.
alle ſich gänzlich untereinander verwirren. Bei dieſem
Sachverhalt ergiebt ſich aus Zuſatz zu Lehrſatz 17, und
aus Lehrſatz 18 dieſes Teils, daß der menſchliche Geiſt ſo
viel Körper zu gleicher Zeit deutlich wird vorſtellen können,
ſo viel Vorſtellungen zu gleicher Zeit in ſeinem Körper
gebildet werden können. Sobald ſich aber die Vorſtellungen
im Körper gänzlich verwirren, wird auch der Geiſt alle
Körper verworren, ohne irgend eine Unterſcheidung, vor⸗
ſtellen, und ſie gleichſam unter Einem Attribut zuſammen⸗
faſſen, nämlich unter dem Attribut des „Seienden“, des
„Dinges“ u. ſ. f. — Es läßt ſich dies auch daraus ab⸗
leiten, daß die Vorſtellungen nicht immer gleich kräftig ſind,
und noch aus andern verwandten Urſachen, die hier nicht
auseinandergeſetzt zu werden brauchen; denn für den Zweck,
den ich hier im Auge habe, genügt es, Eine zu wiſſen.
Denn alle laufen darauf hinaus, daß dieſe Ausdrücke Ideen
bezeichnen, die im höchſten Grade verworren ſind.
Aus ähnlichen Urſachen find jene Begriffe entſtandeun,
die man Gattungsbegriffe (Univerſalbegriffe) nennt,
wie „Menſch“, „Pferd“, „Hund“ u. ſ. f.; nämlich, weil im
menſchlichen Körper ſo viel Vorſtellungen, z. B. von
Menſchen, zu gleicher Zeit ſich bilden, daß ſie die Vor⸗
ſtellungskraft zwar nicht gänzlich, aber doch ſoweit über-
ſteigen, daß der Geiſt die geringen Unterſchiede der Einzel⸗
nen, (wie die Farbe, die Größe ꝛc. eines jeden,) und ihre
beſtimmte Zahl, nicht vorſtellen kann, und nur das, worin
alle — ſofern der Körper von ihnen erregt wird — über⸗
einſtimmen, deutlich vorſtellt, denn von dieſer gemeinſchaft⸗
lichen Eigenſchaft iſt der Körper am meiſten, nämlich von
jedem einzelnen, erregt geweſen. Dies drückt er mit dem
Namen „Menſch“ aus, und dieſe Eigenſchaft legt er den
unendlichen einzelnen Menſchen bei; denn die beſtimmte
Zahl der einzelnen kann er, wie geſagt, nicht vorſtellen.
Es iſt jedoch zu beachten, daß dieſe Begriffe nicht von
jedermann auf gleiche Weiſe gebildet werden, ſondern bei
Ethik. Über die Natur und den Urſprung des Geiſtes. 127
jedem wieder anders, je nachdem der Körper von dem Bes
treffenden Ding öfter oder weniger oft erregt geweſen iſt;
denn je öfter dies der Fall war, deſto leichter ſtellt der
Geiſt das Ding vor, und erinnert er ſich desſelben.
Menſchen z. B., welche öfter die aufrechte Geſtalt des
Meuſchen mit Bewunderung betrachtet haben, verſtehen
unter dem Namen „Menſch“ ein lebendes Weſen von auf-
rechter Geſtalt. Andere dagegen, welche gewohnt ſind, am
Menſchen etwas anderes ins Auge zu faſſen, werden eine
andere Gattungsvorſtellung vom Menſchen bilden, etwa:
der Menſch iſt ein lachendes Geſchöpf “); der Menſch iſt ein
federloſer Zweifüßler“ ); der Menſch iſt ein vernünftiges
Geſchöpf. Und ſo wird auch bei allem andern jedermann
der Dispoſition feines Körpers entſprechend die Gattungs-
vorſtellungen der Dinge bilden.
Es iſt daher kein Wunder, daß unter den Philoſophen,
welche die natürlichen Dinge durch die bloßen Vorſtellungen
der Dinge erklären wollten, ſoviel Meinungsſtreitigkeiten
entſtanden ſind.
2. Anmerkung.
Aus allem, was im Vorſtehenden geſagt iſt, erhellt
deutlich, daß wir vieles erfaſſen und allgemeine Begriffe
bilden
1) aus den Einzeldingen, die durch die Sinne ver-
ſtümmelt, verworren und ohne Ordnung ſich dem Verſtand
darſtellen (ſ. Zuſatz zu Lehrſatz 29 dieſes Teils). Daher
*) Das Lachen wird von alten Schriftſtellern als Vorzug des
Menſchen vor den Tieren hervorgehoben. Kirchmanns üÜberſetzung:
„Der Menſch iſt ein lächerliches Geſchöpf“ iſt ſelbſt lächerlich; risibilis
heißt allerdings „lächerlich“, wird aber ſchon von Martial im Sinne
von „lachen können“ gebraucht. Anm. des Überſetzers.
**) Bekannte platoniſche Definition des Menſchen, welche von Dio⸗
genes dadurch verſpottet wurde, daß er einen gerupſten Hahn in den
Lehrſaal brachte und ſagte: Seht hier den platoniſchen Menſchen.
Anm. des Überſetzers.
128 Ethik. Zweiter Teil.
pflege ich eine ſolche Auffaſſung „Erkenntnis aus vager Er⸗
fahrung“ zu nennen;
2) aus Zeichen, z. B. daraus, daß wir beim Hören oder
Leſen von Worten uns der betreffenden Dinge erinnern
und gewiſſe Ideen von ihnen bilden, denen ähnlich, durch
welche wir die Dinge vorſtellen (ſ. Zuſatz zu Lehrſatz 18
dieſes Teils).
Dieſe beiden Arten, die Dinge zu betrachten, werde ich
künftig Erkenntnis erſter Gattung, Meinung oder
Vorſtellung nennen. N
3) endlich daraus, daß wir Gemeinbegriffe und ad⸗
äquate Idee von den Eigenſchaften der Dinge haben (ſ. Zu⸗
ſatz zu Lehrſatz 38, Lehrſatz 39 und deſſen Zuſatz, und Lehr⸗
ſatz 40 dieſes Teils).
Dieſe Art werde ich Vernunft oder Erkenntnis
zweiter Gattung nennen.
Außer dieſen zwei Erkenntnis gattungen giebt es, wie
ich im folgenden zeigen werde, noch eine andere dritte,
welche ich das intuitive Wiſſen nennen werde. Dieje
Gattung des Erkennens ſchreitet von der adäquaten Idee
des formalen Weſens einiger Attribute Gottes zur adäquaten
Erkenntnis des Weſens der Dinge.
Das alles will ich an einem Beiſpiel erläutern.
Es ſind z. B. drei Zahlen gegeben, um eine vierte zu
erhalten, welche ſich zur dritten verhält, wie die zweite zur
erſten. Ein Kaufmann wird ohne Bedenken die zweite mit
der dritten multiplizieren, und das Produkt mit der erſten
dividieren. Er hat nämlich noch nicht vergeſſen, was er
vom Lehrer, ohne irgend einen Beweis, gehört hat; oder
er hat es an ſehr einfachen Zahlen erprobt; oder auf
Grund des Beweiſes im 7. Buch, Lehrſatz 19 des Euklid,
nämlich aus der allgemeinen Eigenſchaft der Proportionen.
Bei ſehr einfachen Zahlen dagegen bedarf es dergleichen
nicht. Wenn z. B. die Zahlen 1, 2, 3 gegeben ſind, ſo
ſieht jeder, daß die vierte Proportionszahl 6 iſt, und das
Ethik. Über die Natur und den Urſprung des Geiſtes. 129
viel deutlicher, weil wir aus dem Verhältnis ſelbſt zwiſchen
der erſten und der zweiten Zahl, das wir auf den erſten
Blick (intuitiv) wahrnehmen, die vierte folgern.
Einundvierzigſter Lehrſatz.
Die Erkenntnis erſter Gattung iſt die einzige Urſache
der Falſchheit, die zweiter und dritter Gattung aber iſt
notwendig wahr.
Beweis.
Zur Erkenntnis erſter Gattung, ſagten wir in der
vorigen Anmerkung, gehören alle jene Ideen, welche in
adäquat und verworren ſind. Daher iſt (nach Lehrſatz 35
dieſes Teils) dieſe Erkenntnis die einzige Urſache der Falſch⸗
heit. — Zur Erkenntnis zweiter und dritter Gattung, ſag⸗
ten wir weiter, gehören jene Ideen, welche adäquat ſind.
Folglich (nach Lehrſatz 34 dieſes Teils) iſt ſie notwendig
wahr. — W. z. b. w.
Zweiundvierzigſter Lehrſatz.
Die Erkenntnis zweiter und dritter Gattung, nicht
die Erkenntnis erſter Gattung, lehrt uns das Wahre
vom Falſchen unterſcheiden.
Beweis. 5
Dieſer Lehrſatz erhellt von ſelbſt. Denn wer zwiſchen
dem Wahren und Falſchen zu unterſcheiden weiß, muß eine
idäquate Idee des Wahren und Falſchen haben; d. h.,
nach der 2. Anmerkung zu Lehrſatz 40 dieſes Teils,) er
nuß das Wahre und Falſche nach der zweiten oder dritten
Erkenntnisgattung erkennen.
130 Ethik. Zweiter Teil.
Dreiundvierzigſter Lehrſatz.
Wer eine wahre Idee hat, der weiß zugleich, daß er
eine wahre Idee hat, und kann nicht an der Wahrheit
der Sache zweifeln.
Beweis.
Eine wahre Idee in uns iſt eine ſolche, welche in Gott,
ſofern er durch die Natur des menſchlichen Geiſtes erklärt
wird, adäquat iſt (nach Zuſatz zu Lehrſatz 11 dieſes Teils).
Geſetzt alſo, es giebt in Gott, ſofern er durch die Natur
des menſchlichen Geiſtes ausgedrückt wird, eine adäquate
Idee A. Von dieſer Idee muß es in Gott notwendig eben⸗
falls eine Idee geben, welche ſich auf Gott auf dieſelbe
Weiſe bezieht, wie die Idee A (nach Lehrſatz 20 dieſes
Teils, deſſen Beweis ein allgemeiner iſth. Aber von der
Idee A wird angenommen, daß ſie ſich auf Gott bezieht,
ſofern er durch die Natur des menſchlichen Geiſtes erklärt
wird. Folglich muß ſich auch die Idee der Idee A auf
dieſelbe Weiſe auf Gott beziehen; d. h., (nach demſelben
Zuſatz zu Lehrſatz 11 dieſes Teils,) dieſe adäquate Idee der
Idee A wird in eben dem Geiſte ſein, welcher die adäquate
Idee A hat. Daher muß, wer eine adäquate Idee hat,
oder (nach Lehrſatz 34 dieſes Teils) wer ein Ding wahr⸗
haft erkennt, zugleich eine adäquate Idee, oder eine wahre
Erkenntnis ſeiner Erkenntnis haben; d. h., (wie von ſelbſt
einleuchtend,) er muß zugleich deſſen gewiß fein. — W. z. b. w.
Anmerkung.
In der Anmerkung zu Lehrſatz 21 dieſes Teils habe ich
auseinandergeſetzt, was die Idee einer Idee iſt.
Es iſt aber darauf aufmerkſam zu machen, daß der
vorige Lehrſatz an ſich einleuchtend genug iſt. Denn jeder,
der eine wahre Idee hat, weiß, daß eine wahre Idee die
höchſte Gewißheit in ſich ſchließt. Eine wahre Idee haben
Ethik. über die Natur und den Urfprung des Geiſtes. 131
heißt auch nichts anderes, als: ein Ding vollſtändig und
beſtens erkennen. Dies kann ſicherlich niemand bezweifeln;
es müßte denn ſein, daß er glaubt, eine Idee ſei etwas
Stummes, wie ein Gemälde auf der Tafel, und nicht eine
Form des Denkens, alſo das Erkennen ſelbſt. Und, frage
ich, wer kann wiſſen, daß er ein Ding erkennt, wenn er
nicht vorher das Ding erkennt? Das heißt: Wer kann
wiſſen, daß er über ein Ding Gewißheit hat, wenn er nicht
vorher über dieſes Ding Gewißheit hat? Was kann es
ferner klareres und gewiſſeres geben, um als Norm der
Wahrheit zu dienen, als eine wahre Idee? — Wahrlich,
ſo wie das Licht ſich ſelbſt und die Finſternis offenbart, ſo
iſt die Wahrheit die Norm von ſich ſelbſt und von dem
Falſchen.
Damit glaube ich auch auf einige Fragen geantwortet
zu haben, nämlich: Wenn eine wahre Idee von einer
falſchen ſich nur inſofern unterſcheiden ſoll, daß jene mit
ihrem Gegenſtand übereinſtimmt, ſo hat die wahre Idee
an Realität oder Vollkommenheit nichts vor der falſchen
voraus, (da ſich beide ja bloß durch ein äußerliches Merk—
mal unterſcheiden,) folglich hätte auch der Menſch, welcher
wahre Ideen hat, an Realität oder Vollkommenheit nichts
vor dem voraus, der nur falſche Ideen hat? — Ferner:
Woher kommt es, daß die Menſchen falſche Ideen haben?
— Endlich: Woher kann jemand gewiß wiſſen, daß er
Ideen hat, welche mit ihren Gegenſtänden übereinſtimmen?
Auf dieſe Fragen glaube ich, wie geſagt, ſchon geante
wortet zu haben. Denn was den Unterſchied zwiſchen einer
wahren und einer falſchen Idee anbelangt, ſo geht aus dem
Lehrſatz 35 dieſes Teils hervor, daß ſich jene zu dieſer ver⸗
hält, wie das Seiende zum Nichtſeienden. Die Urſachen
der Falſchheit aber habe ich von Lehrſatz 19 an bis zu
Lehrſatz 35 mit deſſen Anmerkung ſehr klar gezeigt; woraus
auch klar wird, wie ſich ein Menſch, der wahre Ideen hat,
von einem Menſchen, der nur falſche hat, unterſcheidet.
9*
132 Ethik. Zweiter Teil.
Was endlich das letzte betrifft, nämlich woher denn der
Menſch wiſſen könne, daß er eine Idee hat, welche mit
ihrem Gegenſtand übereinſtimmt, ſo habe ich ſoeben aufs
allerdeutlichſte gezeigt, daß dies davon allein herrührt, weil
er eine Idee hat, welche mit ihrem Gegenſtand überein⸗
ſtimmt, oder weil die Wahrheit ihre eigene Norm iſt.
Hierzu kommt noch, daß unſer Geiſt, ſofern er ein Ding
wahr erfaßt, ein Teil iſt von dem unendlichen Verſtand
Gottes (nach Zuſatz zu Lehrſatz 11 dieſes Teils); daher
müſſen die klaren und deutlichen Ideen des Geiſtes ebenſo
wahr ſein, wie die Ideen Gottes.
Vierundvierzigſter Lehrſatz.
In der Natur der Vernunft liegt es nicht, die Dinge
als zufällige, ſondern als notwendige zu betrachten.
Beweis.
In der Natur der Vernunft liegt es, die Dinge als
wahr zu erfaſſen, (nach Lehrſatz 41 dieſes Teils,) nämlich
(nach Axiom VI, Teil 1,) wie fie an ſich find, d. h., (nach
Lehrſatz 29, Teil 1,) nicht als zufällig, ſondern als not⸗
wendig. — W. z. b. w.
Inſatz I.
Hieraus folgt, daß es von der Vorſtellung allein ab⸗
hängt, wenn wir die Dinge, ſowohl rückſichtlich des Ver⸗
gangenen wie des Zukünftigen, als zufällige betrachten.
Anmerkung.
Auf welche Weiſe aber dies geſchieht, will ich mit wenigen
Worten erklären. Ich habe oben gezeigt, (in Lehrſatz 17
dieſes Teils, mit ſeinem Zuſatz,) daß der Geiſt die Dinge,
auch wenn ſie nicht exiſtieren, immer als ſich gegenwärtig
vorſtellt, wenn nicht Urſachen eintreten, welche ihre gegen⸗
Ethik. über die Natur und den Urſprung des Geiſtes. 133
wärtige Exiſtenz ausſchließen. Weiter habe ich gezeigt, (in
Lehrſatz 18 dieſes Teils,) daß, wenn der menſchliche Körper
einmal von zwei äußern Körpern zugleich erregt geweſen
iſt, der Geiſt, wenn er ſpäter einen von beiden vorſtellt,
ſich ſofort auch des andern erinnern wird, d. h., beide als
ſich gegenwärtig betrachten wird, wenn nicht Urſachen ein⸗
treten, welche die gegenwärtige Exiſtenz derſelben aus⸗
ſchließen. Außerdem bezweifelt niemand, daß wir auch die
Zeit vorſtellen, was davon herrührt, daß wir uns gewiſſe
Körper langſamer, oder ſchneller, oder ebenſo ſchnell als
andere bewegt, vorſtellen. — Nehmen wir alſo einen Knaben,
welcher geſtern zum erſtenmal in der Morgenſtunde den
Peter geſehen hat, in der Mittagsſtunde den Paul, in der
Abendſtunde den Simon, und heute wiederum in der
Morgenſtunde den Peter. Aus Lehrſatz 18 dieſes Teils
erhellt, daß, ſobald er das Morgenlicht erblickt, er alsbald
auch die Sonne, dieſelbe Himmelsbahn wie geſtern durch-
laufend, oder den ganzen Tag, vorſtellen wird, und gleich⸗
zeitig mit der Morgenſtunde den Peter, mit der Mittags-
ſtunde den Paul und mit der Abendſtunde den Simon;
d. h. er wird die Exiſtenz des Paul und des Simon in
Beziehung auf die künftige Zeit vorſtellen. Umgekehrt,
wenn er in der Abendſtunde den Simon ſieht, wird er den
Paul und Peter auf die vergangene Zeit beziehen, indem
er ſie nämlich zugleich mit der vergangenen Zeit vorſtellt.
Und zwar wird dies um ſo regelmäßiger geſchehen, je öfter
er dieſe Perſonen in dieſer Reihenfolge geſehen hat. Träfe
es ſich nun einmal, daß er an einem andern Abend ſtatt
des Simon den Jakob ſieht, ſo würde er am folgenden
Morgen zugleich mit der Abendſtunde bald den Simon,
bald den Jakob, aber nicht beide zugleich vorſtellen. Denn
es wird vorausgeſetzt, daß er nur einen von beiden, nicht
aber beide zugleich, in der Abendſtunde geſehen hat. Seine
Vorſtellung wird alſo ſchwanken, und er wird mit der
künftigen Abendſtunde bald dieſen, bald jenen vorſtellen;
134 Ethik. Zweiter Teil.
d. h. er wird keinen mit Beſtimmtheit, ſondern jeden zu⸗
fällig als künftig betrachten. Und dieſes Schwanken der
Vorſtellung wird die gleiche ſein, wenn die Vorſtellung
Dinge betrifft, die wir auf dieſelbe Weiſe mit Beziehung
auf die vergangene oder die gegenwärtige Zeit betrachten.
Somit werden wir die ſowohl auf die Gegenwart, wie
auf die Vergangenheit, wie auf die Zukunft bezogenen Dinge
als zufällige vorſtellen.
Zuſat II.
Es liegt in der Natur der Vernunft, die Dinge unter
einem Geſichtspunkt der Ewigkeit zu erfaſſen.
Beweis.
Denu es liegt in der Natur der Vernunft, die Dinge
als notwendige, und nicht als zufällige zu betrachten (nach
dem vorigen Lehrſatz). Dieſe Notwendigkeit der Dinge
aber erfaßt ſie (nach Lehrſaß 41 dieſes Teils) wahr, d. h.,
(nach Axiom VI, Teil 1,) wie fie an ſich iſt. Nun iſt
dieſe Notwendigkeit der Dinge (nach Lehrſatz 16, Teil 1
die Notwendigkeit der ewigen Natur Gottes ſelbſt. Folg⸗
lich liegt es in der Natur der Vernunft, die Dinge unter
dieſem Geſichtspunkt der Ewigkeit zu betrachten. Hierzu
kommt noch, daß die Grundlagen der Vernunft Begriffe
ſind, (nach Lehrſatz 38 dieſes Teils,) welche das ausdrücken,
was allen Dingen gemeinſam iſt, und welche (nach Lehr⸗
ſatz 37 dieſes Teils) nicht das Weſen eines Einzeldinges
ausdrücken. Daher müſſen ſie, ohne irgend eine Beziehung
auf die Zeit, bloß unter einem Geſichtspunkt der Ewigkeit
begriffen werden. — W. z. b. w.
Fünfundvierzigſter Lehrſatz.
Jede Idee eines jeden wirklich exiſtierenden Körpers,
oder Einzeldinges, ſchließt das ewige und unendliche
Weſen Gottes notwendig in ſich.
Ethik. Über die Natur und den Urſprung des Geiſtes. 135
Beweis.
Die Idee eines wirklich exiſtierenden Einzeldinges ſchließt
notwendig ſowohl das Weſen, als auch die Exiſtenz des
Dinges ſelbſt in ſich (nach Zuſatz zu Lehrſatz 8 dieſes
Teils). Aber die Einzeldinge können (nach Lehrſatz 15,
Teil 1,) ohne Gott nicht begriffen werden; ſondern weil fie
(nach Lehrſatz 6 dieſes Teils) Gott zur Urſache haben,
ſofern er unter einem Attribut betrachtet wird, deſſen
Daſeinsformen die Dinge ſelbſt ſind, müſſen notwendig
ihre Ideen (nach Axiom IV, Teil 1,) den Begriff ihres
Attributs, d. h., (nach Definition 6, Teil 1,) das ewige und
unendliche Weſen Gottes, in ſich ſchließen. — W. z. b. w.
Anmerkung.
Unter Exiſtenz verſtehe ich hier nicht die Dauer, d. h.
die Exiſtenz, ſofern ſie abſtrakt begriffen wird, gleichſam
als eine Art Quantität. Ich ſpreche vielmehr von der
eigentlichen Natur der Exiſtenz, welche den Einzeldingen
deshalb beigelegt wird, weil aus der ewigen Notwendig-
keit der Natur Gottes Unendliches auf unendliche Weiſen
folgt (ſ. Lehrſatz 16, Teil 1). Ich ſpreche, ſage ich, von
der eigentlichen Exiſtenz der Einzeldinge, ſofern ſie in
Gott ſind. Denn wenn auch jedes Einzelding von einem
andern Einzelding beſtimmt wird, auf gewiſſe Weiſe zu
exiſtieren, ſo folgt doch die Kraft, durch welche jedes in der
Exiſtenz verharrt, aus der ewigen Notwendigkeit der Natur
Gottes. Siehe hierüber Zuſatz zu Lehrſatz 24 im Erſten Teil.
Sechsundvierzigſter Lehrſatz.
Die Erkenntnis des ewigen und unendlichen Weſeus
Gottes, welche jede Idee in ſich ſchließt, iſt adäquat
und vollkommen.
136 Ethik. Zweiter Teil,
Beweis.
Der Beweis des vorigen Lehrſatzes gilt allgemein.
Mag ein Ding als Teil oder als Ganzes betrachtet werden,
ſo ſchließt die Idee desſelben, ob des Ganzen oder eines
Teils, (nach dem vorigen Lehrſatz) das ewige und unend⸗
liche Weſen Gottes in ſich. Daher iſt das, was die Er⸗
kenntnis des ewigen und unendlichen Weſens Gottes ge=
währt, allen gemeinſam, und gleicherweiſe im Teil wie im
Ganzen. Alſo wird dieſe Erkenntnis (nach Lehrſatz 38
dieſes Teils) adäquat ſein. — W. z. b. w.
Siebenundvierzigſter Lehrſatz.
Der menſchliche Geiſt hat eine adäquate Erkenntnis
des ewigen und unendlichen Weſens Gottes.
Beweis.
Der menſchliche Geiſt hat (nach Lehrſatz 22 dieſes Teils)
Ideen, vermöge deren er (nach Lehrſatz 23 dieſes Teils)
ſich und ſeinen Körper (nach Lehrſatz 19 dieſes Teils) und
(nach Zuſatz I zu Lehrſatz 16, und nach Lehrſatz 17 dieſes
Teils,) die äußern Körper als wirklich exiſtierend erfaßt.
Mithin hat er (nach den Lehrſätzen 45 und 46 dieſes Teils)
eine adäquate Erkenntnis des ewigen und unendlichen
Weſens Gottes. — W. z. b. w.
Anmerkung.
Hieraus fehen wir, daß das unendliche Weſen Gottes
und ſeine Ewigkeit allen bekannt ſind.
Da aber alles in Gott iſt und durch Gott begriffen
wird, ſo folgt, daß wir aus dieſer Erkenntnis ſehr viel
adäquate Erkenntnis ableiten, und jo jene dritte Erkennt⸗
nisgattung bilden können, von welcher in der 2. An⸗
merkung zu Lehrſatz 40 dieſes Teils die Rede war, und
Ethik. Über die Natur und den Urfprung des Geiſtes. 137
deren Vorzug und Nutzen darzulegen im Fünften Teil Ge⸗
legenheit ſein wird. Daß aber die Menſchen keine ebenſo
klare Erkenntnis von Gott wie von den Gemeinbegriffen
haben, kommt daher, weil ſie Gott nicht wie die Körper
vorſtellen können, und weil ſie den Namen „Gott“ mit
Vorſtellungen von Dingen verknüpfen, welche ſie zu ſehen
gewöhnt ſind; was die Menſchen kaum vermeiden können,
da ſie fortwährend von äußern Körpern erregt werden.
In der That beſtehen die meiſten Irrtümer darin
allein, daß wir den Dingen ihre Benennungen nicht genau
anpaſſen. Wenn z. B. jemand ſagt, daß die aus dem
Mittelpunkt des Kreiſes nach der Peripherie gezogenen
Linien ungleich ſeien, ſo verſteht er offenbar unter Kreis
— hier wenigſtens — etwas anderes, als die Mathematiker.
Ebenſo wenn die Menſchen im Rechnen irren, haben ſie
andere Zahlen im Kopfe, andere auf dem Papier. In
Betracht ihres Geiſtes alſo irren ſie keineswegs. Sie
ſcheinen aber zu irren, weil wir meinen, ſie hätten dieſelben
Zahlen im Kopfe, die auf dem Papier ſtehen. Wäre dies
nicht der Fall, ſo würden wir nicht glauben, daß ſie irren,
ſo wie ich nicht glaubte, daß ſich der Mann irrte, den ich
neulich ausrufen hörte, ſein Hof ſei auf das Huhn ſeines
Nachbars geflogen; weil ich nämlich wohl verſtand, was er
meinte.
Daher rühren auch die meiſten Meinungsſtreitigkeiten,
indem die Menſchen ihre Meinung nicht richtig ausdrücken,
oder die Meinung des andern falſch deuten. Denn that⸗
ſächlich iſt es jo, daß, während fie einander heftig wider—
ſprechen, entweder der eine gerade ſo denkt wie der andere,
oder der eine an etwas anderes denkt als der andere; ſodaß
die Irrtümer und Widerſinnigkeiten, welche bei den andern
angenommen werden, gar nicht beſtehen.
138 Ethik. Zweiter Teil.
Achtundvierzigſter Lehrſatz.
Es giebt im Geiſte keinen abſoluten oder freien
Willen; ſondern der Geiſt wird zu dieſem oder jenem
Wollen von einer Urſache beſtimmt, welche auch wieder
von einer andern beſtimmt worden iſt, und dieſe wieder
von einer andern, und ſo ins Unendliche.
Beweis.
Der Geiſt iſt eine gewiſſe und beſtimmte Daſeinsform
des Denkens (nach Lehrſatz 11 dieſes Teils). Daher kann
er (nach Zuſatz II zu Lehrſatz 17, Teil 1) die freie Urſache
ſeiner Handlungen nicht ſein, oder er kann keine abſolute
Fähigkeit des Wollens und Nichtwollens haben; ſondern
er muß zu dieſem oder jenem Wollen (nach Lehrſatz 28,
Teil 1,) von einer Urſache beſtimmt werden, welche auch
wieder von einer andern beſtimmt wird, und dieſe wieder
von einer andern u. ſ. f. — W. z. b. w.
Anmerkung.
Auf eben dieſe Weiſe wird bewieſen, daß es im Geiſte
keine abſolute Fähigkeit giebt, zu verſtehen, zu begehren, zu
lieben u. ſ. f. Woraus folgt, daß dieſe und ähnliche Fähig⸗
keiten entweder reine Einbildungen, oder nichts als meta⸗
phyſiſche oder allgemeine Weſen ſind, die wir von den be⸗
ſonderen zu bilden gewohnt ſind. Es verhalten ſich daher
Verſtand und Wille zu dieſer und jener Idee, beziehungs⸗
weiſe zu dieſem und jenem Wollen, geradeſo wie die Gattung
Stein zu dieſem oder jenem Stein, oder wie Menſch zu
Peter und Paul. Die Urſache aber, weshalb die Menſchen
frei zu ſein glauben, habe ich im Anfang zum Erſten Teil
auseinandergeſetzt. i
Bevor ich indes weitergehe, muß ich bemerken, daß ich
unter Willen die Fähigkeit zu bejahen und zu verneinen,
nicht aber die Begierde verſtehe. Ich verſtehe, ſage ich,
Ethik. Über die Natur und den Urſprung des Geiſtes. 139
hierunter die Fähigkeit, vermöge welcher der Geiſt, was
wahr und was falſch iſt, bejaht oder verneint, nicht aber
die Begierde, vermöge welcher der Geiſt die Dinge begehrt
oder abſtößt.
Nachdem ich aber bewieſen habe, daß jene Fähigkeiten
allgemeine Begriffe ſind, die ſich von den einzelnen, aus
denen wir ſie bilden, nicht unterſcheiden, iſt nun zu unter⸗
ſuchen, ob das Wollen ſelbſt noch etwas anderes ſei, als
die Ideen der Dinge ſelbſt. Ich ſage, wir müſſen unter⸗
ſuchen, ob es im Geiſte noch eine andere Bejahung und
Verneinung giebt, als jene, welche die Idee, ſofern ſie Idee
iſt, in ſich ſchließt; worüber man den folgenden Lehrſatz
nachſehen mag, wie auch die Deſinition 3 dieſes Teils,
damit das Denken nicht zum (bildlichen) Vorſtellen herab-
ſinke. Denn unter Ideen verſtehe ich nicht Bilder, wie ſie
auf dem Grunde des Auges, oder, wenn man will, im
Innern des Gehirns, ſich bilden, ſondern Begriffe des
Denkens.
Neunundvierzigſter Lehrſatz.
Im Geiſte giebt es kein anderes Wollen, oder keine
andere Bejahung und Verneinung, als jene, welche die
Idee, ſofern ſie Idee iſt, in ſich ſchließt.
Beweis.
Im Geiſte giebt es (nach dem vorigen Lehrſatz) keine
abſolute Fähigkeit, zu wollen und nicht zu wollen, ſondern
nur einzelne Willensakte, nämlich dieſe und jene Bejahung,
und dieſe und jene Verneinung. Nehmen wir daher ein
einzelnes Wollen, oder eine Daſeinsform des Denkens,
womit der Geiſt bejaht, daß die drei Winkel eines Dreiecks
zwei rechten Winkeln gleich ſeien. Dieſe Bejahung ſchließt
den Begriff oder die Idee des Dreiecks in ſich, d. h., ohne
die Idee des Dreiecks kann ſie nicht begriffen werden. Denn
140 Ethik. Zweiter Teil.
es iſt einerlei ob ich ſage, daß A den Begriff B in ſich
ſchließen muß, oder ob ich fage, daß A ohne B nicht be⸗
griffen werden kann. Ferner kann dieſe Bejahung (nach
Axiom III dieſes Teils) auch nicht ohne die Idee des
Dreiecks ſein. Es kann alſo dieſe Bejahung ohne die Idee
des Dreiecks weder ſein noch begriffen werden. Weiter muß
dieſe Idee des Dreiecks eben dieſe Bejahung in ſich ſchließen,
d. h., ſie muß in ſich ſchließen, daß ſeine drei Winkel zwei
rechten Winkeln gleich ſind. Daher kaun auch umgekehrt
dieſe Idee des Dreiecks ohne dieſe Bejahung weder ſein
noch begriffen werden. Es gehört alſo (nach Definition 2
dieſes Teils) dieſe Bejahung zum Weſen der Idee des
Dreiecks, und iſt nichts anderes als eben dieſe ſelbſt. —
Und was ich von dieſem Wollen (das ich ja nur willkürlich
gewählt) geſagt habe, gilt auch von jedem andern Wollen,
nämlich, daß es nichts anderes iſt als die Idee. — W. z. b. w.
ZJuſaßh.
Der Wille und der Verſtand find eins und dasſelbe.
Beweis.
Der Wille und der Verſtand ſind nichts anderes als
die einzelnen Willensakte und Vorſtellungen (nach Lehr⸗
ſatz 48 dieſes Teils, und deſſen Anmerkung). Aber das
einzelne Wollen und die einzelne Idee ſind (nach dem
vorigen Lehrſatz) eins und dasſelbe. Alſo ſind Wille und
Verſtand eins und dasſelbe. — W. z. b. w.
Anmerkung.
Damit habe ich die Urſache, aus der man gewöhnlich
den Irrtum entſpringen läßt, gehoben.
Ich habe aber oben gezeigt, daß die Falſchheit in einem
bloßen Mangel beſteht, welchen die verſtümmelten und ver⸗
worrenen Ideen in ſich ſchließen. Daher ſchließt die falſche
Idee, ſofern ſie falſch iſt, keine Gewißheit in ſich. Wenn
Ethik. Über die Natur und den Urſprung des Geiſtes. 141
ich alſo ſage, der Menſch beruhige ſich bei dem Falſchen,
und zweifle nicht daran, ſo ſage ich darum nicht, daß er
deſſen gewiß ſei, ſondern nur, daß er nicht daran zweifle,
oder daß er ſich bei dem Falſchen beruhigt, weil keine Ur⸗
ſache vorhanden iſt, welche bewirkt, daß ſeine Vorſtellung
ſchwankend wird. Siehe hierüber die Anmerkung zu Lehr⸗
ſatz 44 dieſes Teils. Wenn alſo der Menſch noch ſo zäh
an dem Falſchen hängt, ſo werden wir darum doch nicht
ſagen, er ſei deſſen gewiß. Denn unter Gewißheit vers
ſtehen wir etwas Poſitives, (ſ. Lehrſatz 43 dieſes Teils
mit der Anmerkung,) nicht aber den Mangel des Zweifels.
Unter Mangel an Gewißheit aber verſtehen wir Falſchheit.
Es iſt jedoch zur näheren Erklärung des vorigen Satzes
etliches zu erinnern. Ferner habe ich noch auf die Ein⸗
würfe zu antworten, welche gegen dieſe meine Lehre erhoben
werden können. Endlich halte ich es der Mühe wert, um
alle Bedenken zu beſeitigen, auf einige nützliche Seiten
dieſer Lehre hinzuweiſen. Auf einige, ſage ich; denn die
wichtigſten werden beſſer aus dem, was im Fünften Teil
ausgeführt wird, erkannt werden.
Ich fange alſo mit dem erſten an und erinnere die
Leſer, ſcharf zu unterſcheiden zwiſchen der Idee, oder dem
Begriff des Geiſtes, und zwiſchen den Bildern der Dinge,
die wir vorſtellen. Weiter iſt es notwendig, zu unter⸗
ſcheiden zwiſchen den Ideen und den Worten, mit welchen
wir die Dinge bezeichnen. Denn weil dieſe drei, nämlich
Bilder, Worte und Ideen, von vielen entweder ganz mit
einander vermengt werden, oder nicht ſcharf genug, oder
auch nicht vorſichtig genug unterſchieden werden, iſt ihnen
dieſe Lehre vom Willen, die doch zu wiſſen geradezu not⸗
wendig iſt, ſowohl zum reinen Denken, als auch zur weiſen
Einrichtung des Lebens, gänzlich unbekannt geblieben. Weil
diejenigen, welche glauben, die Ideen beſtünden in Bildern,
die in uns durch die Begegnung der Körper entſtehen, ſich
einreden, daß jene Ideen der Dinge, von denen wir uns
142 Ethik. Zweiter Teil.
kein ähnliches Bild machen können, keine Ideen wären,
ſondern nur Erdichtungen, die wir aus freier Willens⸗
entſcheidung erſinnen, darum betrachten ſie die Ideen wie
ſtumme Gemälde an einer Tafel, und ſehen, von dieſem
Vorurteil eingenommen, nicht, daß die Idee, ſofern ſie Idee
iſt, eine Bejahung oder Verneinung in ſich ſchließt. Die⸗
jenigen ferner, welche die Worte mit den Ideen, oder mit
der Bejahung ſelbſt, welche die Idee in ſich ſchließt, ver⸗
mengen, glauben, ſie könnten etwas wollen, was mit ihrer
Wahrnehmung im Widerſpruch ſteht, weil ſie etwas, das
mit ihrer Wahrnehmung im Widerſpruch ſteht, mit bloßen
Worten bejahen oder verneinen.
Dieſe Vorurteile wird aber der leicht ablegen können,
der auf die Natur des Denkens achtet, welche den Begriff
der Ausdehnung keineswegs in ſich ſchließt, und der dem⸗
nach klar einſieht, daß die Idee (die ja eine Daſeinsform
des Denkens iſt) weder in dem Bild eines Dinges, noch
in Worten beſteht. Denn das Weſen der Worte und der
Bilder wird von bloßen körperlichen Bewegungen gebildet,
welche das Begreifen des Geiſtes keineswegs in ſich ſchließen.
Dieſe wenigen Erinnerungen hierüber mögen genügen;
ich gehe darum zu den erwähnten Einwürfen über.
Der erſte Einwurf iſt, daß man als ausgemacht an⸗
nimmt, der Wille erſtrecke ſich weiter als der Verſtand, und
ſei daher von ihm verſchieden. — Der Grund aber, wegen
deſſen man glaubt, daß der Wille ſich weiter erſtrecke als
der Verſtand, iſt folgender: Wir machen, ſagt man, an uns
ſelbſt die Erfahrung, daß wir, um unendlich vielen Dingen,
welche wir nicht erfaſſen, beizuſtimmen, keiner größeren
Fähigkeit beizuſtimmen, oder zu bejahen und zu verneinen
bedürfen, als wir bereits haben, wohl aber einer größeren
Fähigkeit des Verſtehens. Es unterſcheidet ſich alſo der
Wille vom Verſtand, indem dieſer beſchränkt iſt, jener aber
unbeſchränkt.
Ethik. Über die Natur und den Urſprung des Geiſtes. 143
Zweitens kann uns eingewendet werden, daß die
Erfahrung nichts deutlicher zu lehren ſcheint, als daß wir
unſere Meinung zurückhalten, und den Dingen, die wir
begreifen, nicht beiſtimmen können. Dies wird auch
dadurch beſtätigt, daß man von niemand ſagt, er werde
getäuſcht, ſofern er etwas begreift, ſondern nur ſofern er
beiſtimmt oder nicht beiſtimmt. Wer z. B. ein ge-
flügeltes Pferd erdichtet, giebt darum noch nicht zu, daß
es ein geflügeltes Pferd giebt; d. h., er hat ſich nicht ge⸗
täuſcht, wenn er nicht zugleich annimmt, daß es ein ge=
flügeltes Pferd giebt. Daher ſcheint die Erfahrung nichts
deutlicher zu lehren, als daß der Wille, oder die Fähigkeit
beizuſtimmen, frei iſt, und von der Fähigkeit des Erkennens
verſchieden.
Drittens kann entgegengehalten werden, daß eine Be—
jahung nicht mehr Realität zu enthalten ſcheint, als eine
andere; d. h., daß wir keines größeren Vermögens zu be=
dürfen ſcheinen, um zu bejahen, daß etwas wahr ſei, was
wahr iſt, als zu bejahen, daß etwas wahr ſei, was falſch
iſt. Wir machen aber die Wahrnehmung, daß eine Idee
mehr Realität oder Vollkommenheit hat, als eine andere;
denn um ſo viel ein Objekt die andern an Vorzügen über⸗
trifft, um ſo viel übertrifft auch ſeine Idee die Ideen der
andern an Vollkommenheit. Auch hieraus ſcheint ſich ein
Unterſchied zwiſchen Wille und Verſtand zu ergeben.
Viertens kann eingewendet werden: Wenn der Menſch
nicht aus freiem Willen handelt, was wird dann geſchehen,
wenn er im Gleichgewicht iſt, wie Buridans Eſel? Wird
er verhungern und verdurſten? Gebe ich dieſes zu, ſo
ſcheine ich einen Eſel oder Menſchen von Stein, nicht aber
einen wirklichen Menſchen zu begreifen; leugne ich es aber,
ſo folgt, daß der Menſch ſich ſelbſt beſtimmt, und er hat
alſo die Fähigkeit, zu gehen und zu thun, wohin und was
er will. — Außerdem kann vielleicht noch manches andere
eingewendet werden. Da ich aber nicht verpflichtet bin,
144 Ethik. Zweiter Teil.
alle möglichen Träumereien zuſammenzutragen, ſo werde ich
nur die erwähnten Einwürfe zu beantworten ſuchen, und
zwar ſo kurz als möglich. |
In Bezug auf den erſten fage ich: Ich gebe zu, daß
der Wille ſich weiter erſtreckt, als der Verſtand, wenn man
unter Verſtand nur klare und deutliche Ideen verſteht. Ich
beſtreite aber, daß der Wille ſich weiter erſtreckt als die
Auffaſſung, oder die Fähigkeit des Begreifens; und ich ſehe
wahrlich nicht ein, warum die Fähigkeit des Wollens mehr
eine unendliche zu nennen iſt, als die Fähigkeit des Meinens.
Denn ſo wie wir unendlich vieles (jedoch eins nach dem
andern, denn auf einmal kann man Unendliches nicht be⸗
jahen,) mit derſelben Fähigkeit des Wollens bejahen können,
ſo auch können wir mit derſelben Fähigkeit des Wahr⸗
nehmens unendlich viele Körper (einen nach dem andern
nämlich) wahrnehmen oder erfaſſen. Sagt man aber, es
gebe unendlich vieles, das man nicht erfaſſen kann, ſo er⸗
widere ich, daß wir eben dieſes durch kein Denken, und
folglich auch durch keine Fähigkeit des Wollens, erreichen
können. Man ſagt jedoch, wenn Gott bewirken wollte, daß
wir auch das erfaſſen, ſo müßte er uns zwar eine größere
Fähigkeit der Auffaſſung, nicht aber eine größere Fähigkeit
des Wollens geben, als er uns bereits gegeben hat. Das
iſt dasſelbe, als wenn man ſagte: Wenn Gott bewirken
wollte, daß wir unendliche andere Weſen verſtünden, ſo
wäre es zwar nötig, daß er uns einen größeren Verſtand
gäbe, nicht aber eine allgemeinere Idee des Seins, als er
gegeben hat, um dieſelben unendlichen Weſen zu umfaſſen,
denn ich habe gezeigt, daß der Wille ein allgemeines Weſen
iſt, oder eine Idee, mit welcher wir alle einzelnen Willens⸗
akte, das iſt das, was allen gemeinſam iſt, ausdrücken.
Da man alſo dieſe allen Willensakten gemeinſchaftliche oder
allgemeine Idee für eine Fähigkeit hält, ſo iſt es durchaus
kein Wunder, wenn man ſagt, dieſe Fähigkeit erſtrecke ſich
über die Grenzen des Verſtandes hinaus ins Unendliche.
Ethik. über die Natur und den Urſprung des Geiſtes. 145
Denn das allgemeine gilt ebenſo von einem, wie von vielen,
und von unendlichen Individuen.
Auf den zweiten Einwand antworte ich damit, daß
ich beſtreite, daß wir die freie Macht haben, unſer Urteil
zurückzuhalten. Denn wenn wir jagen, ein Urteil zurück⸗
halten, ſo ſagen wir nichts anderes, als daß der Betreffende
ſieht, daß er die Sache nicht adäquat erfaßt. Das Zurück-
halten des Urteils iſt alſo in Wirklichkeit ein Auffaſſen,
und kein freies Wollen. Um dies deutlicher einzuſehen,
wollen wir einen Knaben annehmen, der ein Pferd vor⸗
ſtellt, aber ſonſt nichts anderes erfaßt. Da nun dieſe Vor⸗
ſtellung des Pferdes die Exiſtenz in ſich ſchließt, (nach Zus
ſatz zu Lehrſatz 17 dieſes Teils,) und der Knabe nichts
anderes erfaßt, was die Exiſtenz des Pferdes aufhebt, ſo
wird er notwendig das Pferd als gegenwärtig betrachten,
und er wird an deſſen Exiſtenz nicht zweifeln können, ob⸗
gleich er derſelben nicht gewiß iſt. Dies erfahren wir auch
tagtäglich im Traum, und ich glaube nicht, daß irgend
jemand glaubt, er habe, während er träumt, die freie Macht,
ſein Urteil über das, wovon er träumt, zurückzuhalten, und
zu bewirken, daß er das, was er zu ſehen träumt, nicht
träume. Dennoch kommt es vor, daß wir auch im Traum
das Urteil zurückhalten, nämlich wenn wir träumen, daß
wir träumen. — Ich gebe ferner zu, daß niemand getäuſcht
wird, ſofern er auffaßt, d. h. ich gebe zu, daß die Vor⸗
ſtellungen des Geiſtes, an ſich betrachtet, keinen Irrtum in
ſich ſchließen (f. Anmerkung zu Lehrſatz 17 dieſes Teils);
aber ich beſtreite, daß der Menſch nichts bejahe, ſofern er
auffaßt. Denn was iſt ein geflügeltes Pferd auffaſſen
anders, als bejahen, daß ein Pferd Flügel habe. Denn
wenn der Geiſt außer dem geflügelten Pferde nichts anderes
auffaſſen würde, ſo würde er dasſelbe als ſich gegenwärtig
betrachten und er hätte weder eine Urſache, an deſſen Exi⸗
ſtenz zu zweifeln, noch auch die Fähigkeit, anderer Meinung
zu ſein, es wäre denn, daß die Vorſtellung eines geflügelten
10
146 Ethik. Zweiter Teil.
Pferdes mit einer Idee verbunden iſt, welche die Exiſtenz
eines ſolchen Pferdes aufhebt, oder auch daß er merkt, daß
die Idee des geflügelten Pferdes, welche er hat, nicht ad⸗
äquat iſt. In dieſem Falle aber wird er entweder die
Exiſtenz eines ſolchen Pferdes notwendig leugnen, oder not⸗
wendig an derſelben zweifeln.
Damit glaube ich auch auf den dritten Einwand ge-
antwortet zu haben, nämlich daß der Wille etwas all⸗
gemeines iſt, welches allen Ideen beigelegt wird, und nur
das bezeichnet, was allen Ideen gemein iſt, nämlich die
Bejahung, deren adäquates Weſen, ſofern ſie ſo abſtrakt
begriffen wird, deshalb in jeder Idee ſein muß, und nur
in dieſer Hinſicht in allen dieſelbe; nicht aber ſofern ſie als
das Weſen der Idee ausmachend betrachter wird, denn in⸗
ſofern unterſcheiden ſich die einzelnen Bejahungen ebenſo
untereinander, wie die Ideen ſelbſt. Z. B. die Bejahung,
welche die Idee des Kreiſes in ſich ſchließt, unterſcheidet
ſich von jener, welche die Idee des Dreiecks in ſich ſchließt,
ebenſo wie die Idee des Kreiſes von der Idee des Drei⸗
ecks. Weiter beſtreite ich entſchieden, daß wir des gleichen
Denkvermögens bedürfen, um zu bejahen, daß wahr ſei,
was wahr iſt, als zu bejahen, daß wahr ſei, was falſch
iſt. Denn dieſe beiden Bejahungen verhalten ſich, wenn
man auf den Geiſt ſieht, zu einander, wie Sein zu Nicht⸗
ſein. Denn es iſt in den Ideen nichts Poſitives, was die
Form der Falſchheit ausmacht (ſ. Lehrſatz 35 dieſes Teils
mit ſeiner Anmerkung und die Anmerkung zu Lehrſatz 47
dieſes Teils). Es iſt hier deshalb beſonders darauf auf⸗
merkſam zu machen, wie leicht man ſich täuſcht, wenn man
das Allgemeine mit dem Einzelnen, und die Dinge, welche
nur in der Vernunft ſind, das Abſtrakte, mit den wirk⸗
lichen Dingen vermengt.
Was endlich den vierten Einwand anbelangt, ſo ſage
ich, daß ich vollſtändig zugebe, daß ein Menſch, der ſich in
einer ſolchen Gleichgewichtlage befindet, (nämlich der nichts
Ethik. über die Natur und den Urſprung des Geiſtes. 147
anderes als Hunger und Durſt, und ſolche Speiſe und
ſolchen Trank wahrnimmt, die gleichweit von ihm ent⸗
fernt find,) vor Hunger und Durſt umkommen wird.
Fragt man mich aber, ob ein ſolcher Menſch nicht eder für
einen Eſel, als für einen Menſchen zu halten iſt, ſo ſage
ich, daß ich es nicht wiſſe, wie ich auch nicht weiß, für was
ein Menſch zu halten iſt, der ſich erhängt, und für was
Kinder, Thoren und Wahnſinnige zu halten ſind.
Es erübrigt noch, anzugeben, wie nützlich die Erkennt⸗
nis dieſer Lehre für das praktiſche Leben iſt. Es iſt dies
leicht aus folgendem erſichtlich:
1) lehrt fie, daß wir nach der bloßen Willensmeinung
Gottes handeln und der göttlichen Natur teilhaftig ſind
und das um ſo mehr, je mehr Vollkommenheit unſere Hand⸗
lungen haben, und je mehr und mehr wir Gott erkennen.
Dieſe Lehre hat alſo, neben dem, daß fie dem Gemüt voll-
ſtändige Beruhigung verſchafft, auch noch das Gute, daß
ſie uns das lehrt, worin unſer höchſtes Glück oder unſere
Glückſeligkeit beſteht, nämlich in der bloßen Erkenntnis
Gottes, durch welche wir veranlaßt werden, nur das zu
thun, was Liebe und Frömmigkeit heiſchen. Daraus er-
ſehen wir klar, wie weit jene von der wahren Schätzung
der Tugend entfernt find, die für Tugend und gute Hand⸗
lungen, wie für ſehr ſchwere Dienſtleiſtungen, die höchſten
Belohnungen von Gott erwarten; als ob die Tugend und
der Dienſt Gottes nicht ſelbſt ſchon das Glück und die
höchſte Freiheit wären.
2) lehrt ſie, wie wir uns gegen die Fügungen des
Schickſals, oder das, was nicht in unſerer Macht ſteht,
das iſt, gegen die Dinge, die nicht aus unſerer Natur
folgen, verhalten müſſen, nämlich: das eine wie das andere
Antlitz des Schickſals mit Gleichmut erwarten und ertragen;
weil ja alles aus dem ewigen Ratſchluß Gottes mit der=
ſelben Notwendigkeit folgt, wie aus dem Weſen des Drei⸗
ecks folgt, daß ſeine Winkel zwei rechten Winkeln gleich ſind.
10*
148 Ethik. Zweiter Teil.
3) fördert dieſe Lehre das geſellſchaftliche Leben, ſofern
ſie lehrt, niemand zu haſſen, zu verachten, zu verſpotten,
auf niemand zu zürnen, niemand zu beneiden; und ſofern
ſie weiter lehrt, daß jeder ſich mit dem ſeinigen begnüge
und dem Nebenmenſchen hilfreich beiſtehe, nicht aus weibi⸗
ſchem Mitleid, aus Parteilichkeit, oder aus Aberglauben,
ſondern lediglich nach Anleitung der Vernunft, je nachdem
es Zeit und Umſtände erfordern, wie ich im Dritten Teil
zeigen werde.
14
4) endlich fördert dieſe Lehre auch nicht wenig das ſtaat⸗
liche Gemeinweſen, ſofern ſie lehrt, auf welche Weiſe die
Bürger zu regieren und zu leiten ſind, nämlich ſo, daß ſie
nicht knechtiſch gehorchen, ſondern aus freiem Antrieb das
Gute thun.
Damit habe ich erledigt, was ich in dieſer Anmerkung
zu behandeln mir vorgeſetzt hatte, und ſo ſchließe ich hier⸗
mit dieſen unſern Zweiten Teil. Ich glaube, darin die
Natur des menſchlichen Geiſtes und ſeine Eigenſchaften aus⸗
führlich genug, und, ſoweit es die Schwierigkeit des Gegen⸗
ſtandes geſtattet, klar auseinandergeſetzt, und damit ſolche
Sätze aufgeſtellt zu haben, aus welchen viel Treffliches,
höchſt Nützliches und zum Wiſſen Notwendiges geſchloſſen
werden kann; wie ſich teilweiſe aus dem Nachfolgenden er⸗
geben wird.
Ende des Zweiten Teils.
Dritter Teil.
über den Urſprung und die Natur der Affekte.
Vorwort.
Viele, die über die Affekte und über die Lebensweiſe der
Menſchen geſchrieben haben, ſcheinen nicht von natürlichen
Dingen zu reden, welche den allgemeinen Naturgeſetzen
folgen, ſondern von Dingen außerhalb der Natur. Ja, ſie
ſcheinen den Menſchen in der Natur wie einen Staat im
Staate anzuſehen. Denn ſie glauben, daß der Menſch die
Ordnung der Natur mehr ſtört als befolgt, und daß er
über ſeine Handlungen eine abſolute Macht hat und von
niemand beſtimmt wird, als von ſich ſelbſt. Ferner ſuchen
fie die Urſache der menſchlichen Schwäche und Unbeſtändig⸗
keit nicht in der gewöhnlichen Naturkraft, ſondern ich weiß
nicht in welchem Gebrechen der menſchlichen Natur, welche
fie daher beweinen, verlachen, verachten, oder, was am
häufigſten geſchieht, verwünſchen. Und wer die Schwäche
des menſchlichen Geiſtes recht beredt oder ſcharf durchzu-
hecheln verſteht, der wird wie ein göttliches Weſen angeſehen.
Indeſſen hat es doch auch an hervorragenden Männern
nicht gefehlt, (und ich geſtehe, daß ich deren Arbeit und Fleiß
viel zu verdanken habe,) die über die rechte Lebensweiſe viel
Treffliches geſchrieben und den Sterblichen Ratſchläge voll
Klugheit gegeben haben. Die Natur und die Kräfte der
Affekte aber, und was hinwiederum der Geiſt vermag, ſie
zu mäßigen, das hat, ſoviel ich weiß, noch niemand an—
150 Ethik. Dritter Teil.
gegeben. Ich weiß zwar, daß der hochberühmte Carteſtus,
obſchon auch er glaubte, der Geiſt habe über ſeine Hand⸗
lungen eine abſolute Macht, dennoch verſucht hat, die
menſchlichen Affekte nach ihren erſten Urſachen zu erklären,
und zugleich den Weg zu zeigen, wie der Geiſt über die
Affekte eine abſolute Herrſchaft erlangen könne. Er hat
aber damit, nach meiner Meinung wenigſtens, nichts als
den Scharfſinn ſeines großen Geiſtes gezeigt, was ich an
der geeigneten Stelle beweiſen werde.
Hier will ich mich wieder zu jenen wenden, welche die
menſchlichen Affekte und Handlungen lieber verwünſchen
oder verlachen, als verſtehen wollen. Dieſen wird es ohne
Zweifel ſonderbar vorkommen, daß ich die menſchlichen
Fehler und Thorheiten auf geometriſche Weiſe zu behan⸗
deln unternehme, und nach einer vernünftigen Methode
Dinge entwickeln will, welche ſie jahraus jahrein als ver⸗
nunftwidrig, und als eitel, albern und ſchrecklich verſchreien.
Mein Grund aber iſt folgender: Es geſchieht in der
Natur nichts, was ihr als Fehler angerechnet werden
könnte. Denn die Natur iſt immer dieſelbe, und ihre Kraft
und ihr Vermögen zu wirken iſt überall gleich. Das heißt:
Die Geſetze und Regeln der Natur, nach welchen alles ge⸗
ſchieht und Formen in Formen verwandelt werden, ſind
überall und immer die gleichen. Daher kann es auch nur
Eine Methode geben, nach welcher die Natur aller Dinge,
welche es immer ſeien, erkannt wird, nämlich durch die all⸗
gemeinen Geſetze und Regeln der Natur. Es erfolgen
darum die Affekte, wie Haß, Zorn, Neid, an ſich betrachtet,
aus derſelben Notwendigkeit und Kraft der Natur, wie
alles andere. Hiernach haben ſie ihre beſtimmten Urſachen,
durch welche ſie erkannt werden, und haben beſtimmte
Eigenſchaften, die unſeres Erkennens ebenſo würdig ſind,
wie die Eigenſchaften eines jeden andern Dinges, an deſſen
bloßer Betrachtung wir uns erfreuen.
Ich werde daher die Natur und die Kräfte der Affekte,
Ethik. Über den Urſprung und die Natur der Affekte. 151
und die Macht des Geiſtes über dieſelben, nach derſelben
Methode behandeln, nach welcher ich in den vorigen Teilen
Gott und den Geiſt behandelt habe, und die menſchlichen
Handlungen und Begierden geradeſo betrachten, als handelte
es ſich um Linien, Flächen oder Körper.
Definitionen.
1) Adäquate Urſache nenne ich eine Urſache, deren
Wirkung klar und beſtimmt durch dieſe Urſache erkannt
werden kann. In adäquate aber, oder partiale Urſache
nenne ich eine ſolche, deren Wirkung durch dieſe Urſache
allein nicht erkannt werden kann.
2) Ich ſage, daß wir thätig ſind (handeln), wenn
etwas in uns oder außer uns geſchieht, deſſen adäquate
Urſache wir ſind, d. h., (nach der vorigen Definition,) wenn
etwas in uns oder außer uns aus unſerer Natur erfolgt,
das durch ſie allein klar und deutlich erkannt werden kann.
Dagegen ſage ich, daß wir leiden, wenn in uns etwas
geſchieht, oder aus unſerer Natur etwas folgt, wovon wir
nur die partiale Urſache ſind.
3) Unter Affekte verſtehe ich die Erregungen des
Körpers, durch welche das Thätigkeitsvermögen des Körpers
vergrößert oder verringert, gefördert oder gehemmt wird;
zugleich auch die Ideen dieſer Erregungen.
Wenn wir alſo die adäquate Urſache dieſer Erregungen
ſein können, verſtehe ich unter Affekt eine Thätigkeit
(Handlung), im andern Fall ein Leiden.
152 Ethik. Dritter Teil.
Heifchefäße.
1) Der menſchliche Körper kann auf viele Weiſen erregt
werden, durch welche fein Thätigkeitsvermögen vermehrt
oder vermindert wird; aber auch auf viele andere Weiſen,
durch welche ſein Thätigkeitsvermögen weder vermehrt noch
vermindert wird.
Dieſer Heiſcheſatz, oder dieſes Axiom, ſtützt ſich auf
Heiſcheſatz 1 und die Hilfsſätze 5 und 7. Siehe dieſe nach
Lehrſatz 13 im Zweiten Teil.
2) Der menſchliche Körper kann viele Veränderungen
erleiden, und dabei doch die Eindrücke oder Spuren der
Objekte behalten, (ſ. hierüber Heiſcheſatz 5, Teil 2,) und
folglich auch dieſelben Bilder der Dinge. S. deren Definition
in der Anmerkung zu Lehrſatz 17 im Zweiten Teil.
Erſter Lehrſatz.
Unſer Geiſt thut manches, manches aber leidet er.
Sofern er nämlich adäquate Ideen hat, inſofern thut er
notwendig manches; und ſofern er inadäquate Ideen hat,
inſofern leidet er notwendig manches.
Beweis.
Die Ideen eines jeden menſchlichen Geiſtes ſind teils
adäquate, teils verſtümmelte und verworrene Ideen (nach
Anmerkung zu Lehrſatz 40, Teil 2). Die Ideen aber,
welche im Geiſte eines Menſchen adäquat ſind, ſind in Gott
adäquat, ſofern er das Weſen eben dieſes Geiſtes ausmacht
(nach Zuſatz zu Lehrſatz 11, Teil 2). Diejenigen ferner,
welche im Geiſte inadäquat ſind, ſind in Gott ebenfalls
adäquat (nach demſelben Zuſatz); nicht ſofern er das Weſen
bloß dieſes Geiſtes ausmacht, ſondern ſofern er auch die
Geiſter anderer Dinge zugleich in ſich enthält. Ferner muß
aus jeder gegebenen Idee notwendig irgend eine Wirkung
folgen, (nach Lehrſatz 36, Teil 1,) deren adäquate Urſache
Gott iſt, (ſ. Definition 1 dieſes Teils,) nicht ſofern er
unendlich iſt, ſondern ſofern er als von dieſer gegebenen
Idee erregt betrachtet wird (ſ. Lehrſatz 19, Teil 2). Von
dieſer Wirkung aber, deren Urſache Gott iſt, ſofern er von
einer Idee erregt iſt, welche im Geiſte eines Menſchen ad—
äquat ift, iſt eben dieſer Geiſt die adäquate Urſache (nach
Zuſatz zu Lehrſatz 11, Teil 2). Folglich thut unſer Geiſt,
(nach Definition 2 dieſes Teils,) ſofern er adäquate Ideen
hat, notwendig etwas. Damit iſt das erſte bewieſen. —
Was ferner notwendig aus einer Idee folgt, welche in Gott
154 Ethik. Dritter Teil.
adäquat iſt, nicht ſofern er nur den Geiſt eines Menſchen
ausmacht, ſondern ſofern er die Geiſter anderer Dinge zu⸗
gleich mit dem Geiſte dieſes Menſchen in ſich hat, davon
iſt (nach demſelben Zuſatz zu Lehrſatz 11, Teil 2,) der Geiſt
jenes Menſchen nicht die adäquate Urſache, ſondern die
partiale. Folglich leidet der Geiſt, (nach Definition 2 dieſes
Teils,) ſofern er inadäquate Ideen hat, notwendig etwas.
Damit iſt das zweite bewieſen. — Alſo thut unſer Geiſt
u. ſ. f. — W. z. b. w.
ZJuſagh.
Hieraus folgt, daß der Geiſt umſomehr den Leiden“)
unterworfen iſt, je mehr inadäquate Ideen er hat, und daß
er dagegen umſomehr thätig iſt, je mehr adäquate Ideen
er hat.
Zweiter Lehrſatz.
Der Körper kann weder den Geiſt zum Denken, noch
der Geiſt den Körper zur Bewegung, oder zur Ruhe,
oder zu etwas anderem (wenn es ein ſolches giebt) be⸗
ſtimmen.
Beweis.
Alle Daſeinsformen des Denkens haben Gott zur Ur⸗
ſache, ſofern er ein denkendes Ding iſt, nicht aber, ſofern
er durch ein anderes Attribut ausgedrückt wird (nach Lehr⸗
fat 6, Teil 2. Dasjenige alſo, was den Geiſt zum
Denken beſtimmt, iſt eine Daſeinsform des Denkens, nicht
aber der Ausdehnung; d. h., (nach Definition 1, Teil 2,
es iſt kein Körper. Damit iſt das erſte bewieſen. — Ferner,
*) Auerbach, hier und in folgenden Stellen: „Leidenſchaften“, Kirch⸗
mann: „Leidenden Zuſtänden“. Keins von beiden deckt ſich mit den
von Spinoza gebrauchten passiones, wie er fie nach Definition 2 ver⸗
ſteht. Wir müſſen daher das Wort „Leiden“ wählen, nicht im Sinne
von Schmerzen, ſondern von Eindrücken, bei welchen der Geiſt keine
aktive, ſondern eine paſſive Rolle ſpielt, wie in Definition 2 erklärt iſt.
Anm. des Überſetzers.
1
7 Ethik. über den Urſprung und die Natur der Affekte. 155
die Bewegung und die Ruhe des Körpers muß von einem
andern Körper herrühren, welcher auch wieder zur Bes
wegung oder Ruhe von einem andern beſtimmt worden iſt.
Überhaupt mußte alles, was in einem Körper vorgeht, von
Gott herrühren, ſofern er als durch eine Daſeinsform der
Ausdehnung, nicht aber, ſofern er als durch eine Daſeins⸗
form des Denkens erregt betrachtet wird (nach demſelben
Lehrſatz 6, Teil 2); d. h., es kann vom Geiſte, welcher
(nach Lehrſatz 11, Teil 2,) eine Daſeinsform des Denkens
iſt, nicht herrühren. Damit iſt das zweite bewieſen. —
Alſo kann weder der Körper den Geiſt u. ſ. f. — W. z. b. w.
Anmerkung.
Noch deutlicher iſt dies aus dem in der Anmerkung zu
Lehrſatz 7, Teil 2 Geſagten erſichtlich, wonach Geiſt und
Körper ein und dasſelbe Ding ſind, welches bald unter
dem Attribut des Denkens, bald unter dem der Ausdehnung
begriffen wird. Daher kommt es, daß die Ordnung oder
Verkettung der Dinge dieſelbe iſt, ob die Natur unter
dieſem, oder unter jenem Attribut begriffen wird; und
folglich auch, daß die Ordnung der Thätigkeiten und der
Leiden unſeres Körpers von Natur aus der Ordnung der
Thätigkeiten und der Leiden unſeres Geiſtes genau ent—
ſpricht. Dies erhellt auch aus dem, womit ich den 12. Lehr⸗
ſatz des 2. Teils bewieſen habe.
Aber obgleich ſich dies ſo verhält, und durchaus kein
Grund vorliegt, daran zu zweifeln, glaube ich doch kaum,
daß die Menſchen dazu bewogen werden können, die Sache un⸗
befangen zu erwägen, wenn ich ſie nicht mit der Erfahrung
belege; ſo feſt ſind ſie überzeugt, daß der Körper auf einen
bloßen Wink des Geiſtes bald in Bewegung, bald in Ruhe
verſetzt wird, und zahlreiche Handlungen verübt, die allein
vom Willen des Geiſtes und von der Kunſt des Denkens
abhängen. Was freilich der Körper alles vermag, hat bis
jetzt noch niemand feſtgeſtellt; d. h., niemand hat ſich bis
156 Ethik. Dritter Teil.
jetzt auf dem Wege der Erfahrung darüber unterrichtet,
was der Körper nach den bloßen Geſetzen ſeiner Natur,
ſofern ſie nur als eine körperliche betrachtet wird, thun
kann, und was er nicht thun kann, wenn er nicht vom
Geiſte dazu beſtimmt wird. Denn niemand hat bis jetzt
die Werkſtätte des Körpers ſo genau kennen gelernt, um
alle ſeine Verrichtungen erklären zu können; ganz abgeſehen
davon, daß man bei Tieren vieles beobachtet, was die
menſchliche Sinnesſchärfe weit überragt, und daß Nacht⸗
wandler im Schlafe vieles thun, was ſie im wachen Zu⸗
ſtand nicht wagen würden. Das zeigt doch zur Genüge,
daß der Körper an ſich nach den bloßen Geſetzen ſeiner
Natur vieles vermag, worüber ſich ſein eigener Geiſt
wundert. — Es weiß ferner niemand anzugeben, auf welche
Weiſe und mit welchen Mitteln der Geiſt den Körper be-
wegt, noch auch, wie viel Grade der Bewegung er dem
Körper mitteilen könne, und wie groß die Schnelligkeit iſt,
mit welcher er ihn zu bewegen vermöge. — Daraus folgt,
daß, wenn die Menſchen ſagen, dieſe oder jene Körper⸗
thätigkeit entſpringe aus dem Geiſte, welcher die Herrſchaft
über den Körper hat, ſie nicht wiſſen, was ſie ſagen, und
bloß mit bleudenden Worten eingeſtehen, daß ſie die wahre
Urſache jener Thätigkeit nicht wiſſen, ohne ſich über dieſelbe
zu wundern.
Allein man wird ſagen, ob man wiſſe oder nicht wiſſe,
mit welchen Mitteln der Geiſt den Körper bewege, ſo mache
man doch die Erfahrung, daß der Körper ſchlaff ſein würde,
wenn der Geiſt nicht zum Denken fähig wäre. Ferner
mache man die Erfahrung, daß es in der bloßen Macht
des Geiſtes ſtehe, entweder zu reden oder zu ſchweigen, und
noch vieles andere, was man deshalb von der Entſchließung
des Geiſtes abhängig glaubt.
Was nun das erſte anbelangt, ſo frage ich die Gegner
ſelbſt, ob nicht die Erfahrung ebenfalls lehrt, daß auch
umgekehrt, wenn der Körper ſchlaff iſt, auch der Geiſt
Ethik. über den Urſprung und die Natur der Affekte. 157
zugleich unfähig zum Denken iſt? Denn wenn der Körper
im Schlafe ruht, iſt auch der Geiſt mit ihm in Schlaf ver⸗
ſenkt und hat nicht, wie im wachen Zuſtand, die Macht, zu
denken. Ferner wird wohl jeder ſchon die Erfahrung ge—
macht haben, daß der Geiſt nicht immer gleich befähigt iſt,
über ein Objekt zu denken, daß vielmehr, je fähiger der
Körper iſt, das Bild von dieſem oder jenem Objekt in ſich
zu erzeugen, um ſo fähiger auch der Geiſt iſt, dieſes oder
jenes Objekt zu betrachten.
Aber, wird man ſagen, aus den bloßen Geſetzen der
Natur, ſofern ſie nur als körperliche betrachtet wird, können
doch die Urſachen von Gebäuden, Gemälden und andern
Dingen dieſer Art, welche bloß der menſchlichen Kunſt ihre
Entſtehung verdanken, unmöglich hergeleitet werden; und
der menſchliche Körper iſt ja nicht imſtande, einen Tempel
zu erbauen, wenn er nicht vom Geiſte dazu beſtimmt und
angeleitet werde. — Ich habe aber bereits gezeigt, daß die
Gegner ſelbſt nicht wiſſen, was der Körper vermag, und
was aus der bloßen Betrachtung ſeiner Natur abgeleitet
werden kann, und daß ſie ſelbſt die Erfahrung machen,
daß vieles nach den bloßen Geſetzen der Natur geſchieht,
wovon ſie nie geglaubt hätten, daß es ohne die Leitung
des Geiſtes geſchehen könne; ſo z. B. was die Nachtwandler
im Schlafe thun, und worüber ſie ſelbſt im wachen Zu—
ſtand verwundert ſind. Ich will noch auf den künſtlichen
Bau des menſchlichen Körpers hinweiſen, der an Künftlich-
keit alles weit übertrifft, was von menſchlicher Kunſt gebaut
worden iſt, ganz zu ſchweigen davon, daß, wie ſchon oben
ausgeführt wurde, aus der Natur, unter welchem Attribut
ſie auch betrachtet werde, Unendliches folgt.
Was ferner das Zweite betrifft, ſo ſtünde es allerdings
weit beſſer um die menſchlichen Zuſtände, wenn das Schweigen
ebenſo wie das Reden in der Macht des Menſchen ſtünde.
Die Erfahrung aber lehrt genug und übergenug, daß die
Menſchen nichts weniger in ihrer Gewalt haben, als die Zunge,
158 Ethik. Dritter Teil.
und daß ſie nichts weniger vermögen, als ihre Begierden
im Zaum zu halten. Daher kommt es, daß viele glauben,
wir thäten nur das freiwillig, was wir nicht heftig be⸗
gehren; denn die Begierde nach ſolchen Dingen kann leicht
beſchränkt werden durch die Erinnerung an etwas anderes,
deſſen wir häufig gedenken. Dasjenige dagegen, glauben
ſie, thäten wir nicht freiwillig, was wir mit heftigem Affekt
begehren, der alſo durch die Erinnerung an etwas anderes
nicht gedämpft werden kann. Und würden ſie nicht die
Erfahrung gemacht haben, daß der Menſch vieles thut,
was er ſpäter bereut, und daß er oft, wenn er von ent⸗
gegengeſetzten Affekten beſtürmt wird, das Beſſere ſieht und
das Schlechtere befolgt, ſo würden ſie keinen Anſtand
nehmen, zu glauben, daß wir alles freiwillig thun. So
glaubt das Kind, es begehre die Milch freiwillig; der er⸗
zürnte Knabe, er wolle die Rache; der Furchtſame die
Flucht. Der Betrunkene glaubt, er rede aus freier Ent⸗
ſchließung des Geiſtes, was er, wieder ernüchtert, ver⸗
ſchwiegen zu haben wünſcht. So meint der Irrſinnige, der
Schwätzer, der Knabe, und viele dieſes Schlags, aus freier
Entſchließung des Geiſtes zu reden, während ſie doch den
Antrieb zum Reden, den ſie haben, nicht bezähmen können.
Somit lehrt die Erfahrung ſelbſt nicht minder deutlich,
als die Vernunft, daß die Menſchen nur darum glauben,
ſie wären frei, weil ſie ihrer Handlungen bewußt, der Ur⸗
ſachen aber, von denen ſie beſtimmt werden, unkundig ſind.
Und außerdem lehrt ſie, daß die Entſchlüſſe des Geiſtes
nichts anderes ſind, als die Begierden ſelbſt, die je nach
der verſchiedenen Dispoſition des Körpers verſchieden ſind.
Denn jeder entſcheidet ſich in allem gemäß ſeinem Affekt.
Diejenigen alſo, welche von entgegengeſetzten Affekten be⸗
ſtürmt werden, wiſſen nicht, was ſie wollen; die aber von
gar keinem Affekt erregt ſind, werden durch einen gering⸗
fügigen Anlaß dahin und dorthin getrieben.
Alles dies zeigt gewiß klar, daß ſowohl der Entſchluß
Ethik. Über den Urſprung und die Natur der Affekte. 159
des Geiſtes, als auch die Begierde und die Beſtimmung des
Körpers, von Natur einander entſprechen, oder vielmehr
ein und dasſelbe Ding ſind, welches wir, wenn es unter
dem Attribut des Denkens betrachtet und durch dieſes aus⸗
gedrückt wird, Entſchluß nennen, und wenn es unter dem
Attribut der Ausdehnung betrachtet und aus den Geſetzen
der Bewegung und Ruhe abgeleitet wird, Beſtimmung
heißen.
Es wird dies aus den bald folgenden Ausführungen
noch deutlicher erhellen. Hier möchte ich noch auf etwas
anderes beſonders aufmerkſam machen: daß wir nämlich
durch einen Entſchluß des Geiſtes nichts thun können,
deſſen wir uns nicht erinnern. Wir können z. B. ein
Wort, deſſen wir uns nicht erinnern, nicht ausſprechen.
Ferner, daß es nicht in der freien Macht des Geiſtes ſteht,
ſich einer Sache zu erinnern oder ſie zu vergeſſen. Daher
glaubt man, es ſtehe nur in der Macht des Geiſtes, über
eine Sache, an die wir uns erinnern, zu ſchweigen oder
zu reden. Allein wenn wir träumen, daß wir reden, ſo
glauben wir aus freier Entſchließung des Geiſtes zu reden,
und reden doch gar nicht, oder wenn wir reden, ſo geſchieht
es durch eine willkürliche Bewegung des Körpers. Wir
träumen ferner auch, daß wir andern etwas verheimlichen,
und zwar nach derſelben Entſchließung des Geiſtes, nach
welcher wir im wachen Zuſtande etwas verſchweigen, was
wir wiſſen. Wir träumen endlich auch, daß wir nach der
Entſchließung des Geiſtes etwas thun, was wir im wachen
Zuſtande nicht zu thun wagen. Ich möchte alſo fragen,
ob es im Geiſte zweierlei Arten von Entſchlüſſen giebt,
phantaſtiſche und freie? —
Wem nun aber dieſe alberne Annahme zu weit geht,
der muß notwendig zugeben, daß dieſe Entſchließung des
Geiſtes, die man für eine freie hält, ſich von der eigent-
lichen Vorſtellung, oder der Erinnerung, nicht unterſcheidet,
und nichts iſt, als jene Bejahung, welche die Idee, ſofern
160 Ethik. Dritter Teil.
ſie Idee iſt, notwendig in ſich ſchließt (ſ. Lehrſatz 49, Teil 2).
Alſo entſtehen dieſe Entſchlüſſe des Geiſtes nach derſelben
Notwendigkeit im Geiſte, wie die Ideen der wirklich exiſtie⸗
renden Dinge.
Wer alſo glaubt, daß er nach freiem Entſchluß des
Geiſtes rede, oder ſchweige, oder irgend etwas thue, der
träumt mit offenen Augen.
Dritter Lehrſatz.
Die Thätigkeiten (Handlungen) des Geiſtes rühren
von adäquaten Ideen allein her; die Leiden aber hängen
von inadäquaten Ideen allein ab.
Beweis.
Das erſte, was das Weſen des Geiſtes ausmacht, iſt
nichts anderes, als die Idee des wirklich exiſtierenden
Körpers, (nach den Lehrſätzen 11 und 13, Teil 2,) welche
(nach Lehrſatz 15, Teil 2,) aus vielen andern zuſammen⸗
geſetzt wird, von denen manche (nach Zuſatz zu Lehrſatz 38,
Teil 2,) adäquat, manche aber (nach Zuſatz zu Lehrſatz 29,
Teil 2, inadäquat find. Alles dasjenige alſo, was aus
der Natur des Geiſtes folgt, und deſſen nächſte Urſache,
durch die es erkannt werden muß, der Geiſt iſt, muß not⸗
wendig aus einer adäquaten oder inadäquaten Idee folgen.
Sofern aber der Geiſt (nach Lehrſatz 1 dieſes Teils) in⸗
adäquate Ideen hat, inſofern leidet er notwendig. Somit
folgen die Thätigkeiten des Geiſtes aus adäquaten Ideen
allein, und der Geiſt leidet nur deshalb, weil er inadäquate
Ideen hat. — W. z. b. w.
Anmerkung.
Wir ſehen alſo, daß die Leiden auf den Geiſt nur dee
zogen werden, ſofern er etwas hat, was eine Verneinung
in ſich ſchließt, oder ſofern er als ein Teil der Natur be⸗
Ethik. Über den Urſprung und die Natur der Affekte. 161
trachtet wird, der für ſich allein, ohne andere Dinge, nicht
klar und deutlich erfaßt werden kann. Ebenſo könnte ich
noch zeigen, daß die Leiden gleicherweiſe auf die Einzeldinge
wie auf den Geiſt bezogen werden, und nicht anders erfaßt
werden können. Ich beabſichtige indes, nur den menſch⸗
lichen Geiſt zu behandeln.
Vierter Lehrſatz.
Jedes Ding kann nur von einer äußern Urſache zer—
ſtört werden.
Beweis.
Dieſer Satz verſteht ſich von ſelbſt. Denn die Defini⸗
tion jedes Dinges bejaht das Weſen dieſes Dinges, ver⸗
neint ſie aber nicht; oder ſie ſetzt das Weſen des Dinges,
hebt es aber nicht auf. Wenn wir alſo nur das Ding
ſelbſt, nicht aber ſeine äußern Urſachen ins Auge faſſen,
werden wir an ihm nichts finden können, was es zerſtören
könnte. — W. z. b. w.
Fünfter Lehrſatz.
Die Dinge ſind inſofern entgegengeſetzter Natur, d. h.,
fie können in einem und demſelben Subjekt nicht ſein,
ſofern das eine das andere zerſtören kann.
Beweis.
Denn wenn ſie untereinander übereinſtimmen, oder in
demſelben Subjekt zugleich ſein könnten, ſo könnte es alſo
in demſelben Subjekt etwas geben, welches dasſelbe zer—⸗
ſtören könnte, und das wäre (nach dem vorigen Lehrſatz)
widerſinnig. Alſo ſind die Dinge u. ſ. f. — W. z. b. w.
11
162 Ethik. Dritter Teil.
Sechſter Lehrſatz.
Jedes Ding ſtrebt, ſo weit es in ſich iſt, in ſeinem
Sein zu verharren.
Beweis.
Denn die Einzeldinge ſind Daſeinsformen, durch welche
die Attribute Gottes auf gewiſſe und beſtimmte Weiſe aus⸗
gedrückt werden, (nach Zuſatz zu Lehrſatz 25, Teil 1,) d. h.,
(nach Lehrſatz 34, Teil 1,) Dinge, welche die Macht Gottes,
durch welche Gott iſt und handelt, auf gewiſſe und be⸗
ſtimmte Weiſe ausdrücken. Auch hat kein Ding etwas in
ſich, von dem es zerſtört werden könnte, oder das ſeine
Exiſtenz aufhebt (nach Lehrſatz 4 dieſes Teils); vielmehr
ſetzt es allem, was ſeine Exiſtenz aufheben könnte, Wider⸗
ſtand entgegen (nach dem vorigen Lehrſatz). Alſo ſtrebt es
ſo weit es kann, und in ſich iſt, in ſeinem Sein zu ver⸗
harren. — W. z. b. w.
Siebenter Lehrſatz.
Das Beſtreben, womit jedes Ding in ſeinem Sein
zu verharren ſtrebt, iſt nichts als das wirkliche Weſen
des Dinges ſelbſt.
Beweis.
Aus dem gegebenen Weſen eines jeden Dinges folgt
notwendig manches (nach Lehrſatz 36, Teil 1). Auch vermögen
die Dinge nichts anderes, als das, was aus ihrer beſtimm⸗
ten Natur notwendig erfolgt (nach Lehrſatz 29, Teil 1).
Daher iſt das Vermögen oder Beſtreben jedes Dinges,
womit es entweder allein, oder mit andern, etwas thut,
oder zu thun ſtrebt, d. h., (nach Lehrſatz 6 dieſes Teils,
das Vermögen oder Beſtreben, womit es in ſeinem Sein
Ethik. Über den Urſprung und die Natur der Affekte. 163
zu verharren ſtrebt, nichts anderes, als das gegebene oder
wirkliche Weſen des Dinges ſelbſt. — W. z. b. w.
Achter Lehrſatz.
Das Beſtreben, womit jedes Ding in ſeinem Sein
zu verharren ſtrebt, ſchließt keine beſtimmte, ſondern eine
unbeſtimmte Zeit in ſich.
Beweis.
Denn würde es eine begrenzte Zeit in ſich ſchließen,
welche die Dauer des Dinges beſtimmt, ſo würde aus dem
bloßen Vermögen ſelbſt, womit das Ding eriftiert, folgen,
daß das Ding nach jener begrenzten Zeit nicht exiſtieren
könnte, ſondern der Zerſtörung anheimfallen müßte. Nun
iſt dies aber (nach Lehrſatz 4 dieſes Teils) widerſinnig.
Folglich ſchließt das Beſtreben, womit ein Ding exiſtiert,
keine beſtimmte Zeit in ſich; ſondern weil im Gegenteil,
(nach demſelben Lehrſatz 4 dieſes Teils) wenn ein Ding
von keiner äußern Urſache zerſtört wird, es mit demſelben
Vermögen, womit es bereits exiſtiert, zu exiſtieren immer
fortfährt, darum ſchließt dieſes Beſtreben eine unbeſtimmte
Zeit in ſich. — W. z. b. w.
Neunter Lehrſatz.
Der Geiſt ſtrebt, ſowohl ſofern er klare und beftimmtr,
als auch ſofern er verworrene Ideen hat, in ſeinem Sein
auf unbeſtimmte Dauer zu verharren, und er iſt ſich dieſes
ſeines Strebens bewußt. 5
Beweis.
Das Weſen des Geiſtes beſteht aus adäquaten und in⸗
adäquaten Ideen (wie ich in Lehrſatz 3 dieſes Teils bewieſen
habe). Daher ſtrebt er, (nach Lehrſatz 7 dieſes Teils,)
41 *
164 Ethik. Dritter Teil.
ſowohl ſofern er dieſe, als auch ſofern er jene Ideen hat,
in ſeinem Sein zu verharren, und zwar (nach Lehrſatz 8
dieſes Teils) auf unbeſtimmte Dauer. Da aber der Geiſt
(nach Lehrſatz 23, Teil 2,) durch die Ideen der Körper⸗
erregungen notwendig ſich ſeiner bewußt iſt, ſo iſt folglich
(nach Lehrſatz 7 vn ac der Geiſt ſich feines Strebens
bewußt. — W. 3.
Anmerkung.
Dieſes Beſtreben wird, wenn es auf den Geiſt allein
bezogen wird, Wille genannt; wird es aber auf Geiſt und
Körper zugleich bezogen, ſo heißt es Verlangen; welches
alſo nichts anderes iſt, als des Menſchen Weſen ſelbſt, aus
deſſen Natur das, was zu ſeiner Erhaltung dient, not⸗
wendig folgt, weshalb der Menſch beſtimmt iſt, es zu thun.
Auch iſt zwiſchen Verlangen und Begierde kein Unter⸗
ſchied; nur daß Begierde meiſtenteils auf den Menſchen be⸗
zogen wird, ſofern er ſeines Verlangens bewußt iſt. Man
kann es daher ſo definieren: Die Begierde iſt ein Verlangen
mit dem Bewußtſein desſelben. — Aus dem allem geht
darum hervor, daß wir nichts erſtreben, wollen, verlangen
oder begehren, weil wir es für gut halten, ſondern daß
wir umgekehrt darum etwas für gut halten, weil wir es
erſtreben, wollen, verlangen oder begehren.
Zehnter Lehrſatz.
Eine Idee, welche die Exiſtenz unſeres Körpers aus⸗
ſchließt, kann es in unſerm Geiſte nicht geben, ſondern
ſteht mit ihm in Widerſpruch.
Beweis.
Was unſern Körper zerſtören kann, kann es in ihm
nicht geben (nach Lehrſatz 5 dieſes Teils). Es kann alſo
auch keine Idee eines ſolchen Dinges in Gott geben, ſofern
Ethik. über den Urſprung und die Natur der Affekte. 165
er die Idee unſeres Körpers hat (nach Zuſatz zu Lehrſatz 9,
Teil 2); d. h., (nach den Lehrſätzen 11 und 13, Teil 2,
es kann keine Idee eines ſolchen Dinges in unſerm Geiſte
geben. Vielmehr, da (nach den Lehrſätzen 11 und 13, Teil 2,
das erſte, was das Weſen des Geiſtes ausmacht, die Idee
des wirklich exiſtierenden Körpers iſt, ſo iſt es das erſte
und hauptſächliche Streben unſeres Geiſtes, (nach Lehrſatz 7
dieſes Teils,) die Exiſtenz unſeres Körpers zu bejahen.
Folglich ſteht eine Idee, welche die Exiſtenz unſeres Körpers
verneint, mit unſerm Geiſte im Widerſpruch ꝛc. — W. z. b. w.
Elfter Lehrſatz.
Alles, was das Thätigkeitsvermögen unſeres Körpers
vermehrt oder vermindert, fördert oder hemmt, deſſen
Idee vermehrt oder vermindert, fördert oder hemmt das
Denkvermögen unſeres Geiſtes.
Beweis.
Dieſer Lehrſatz erhellt aus dem Lehrſatz 7, Teil 2, oder
auch aus dem Lehrſatz 14, Teil 2.
Anmerkung.
Wir ſehen daher, daß der Geiſt große Veränderungen
erleiden, und bald zu größerer, bald zu geringerer Boll-
kommenheit übergehen kann. Dieſe Leiden erklären uns
die Affekte der Luſt und Unluſt. Unter Luſt verſtehe ich
daher im Nachſtehenden ein Leiden, durch welches der Geiſt
zu größerer Vollkommenheit übergeht; unter Unluſt da⸗
gegen ein Leiden, durch welches der Geiſt zu geringerer
Vollkommenheit übergeht.
Ferner nenne ich den Affekt der Luſt, der ſich auf Geiſt
und Körper zugleich bezieht, Wolluſt oder Wohlbehagen;
den Affekt der Unluſt aber Schmerz oder Mißbehagen.
Doch iſt zu bemerken, daß Wolluſt und Schmerz auf
166 Ethik. Dritter Teil.
den Menſchen bezogen werden, wenn einer ſeiner Teile mehr
als die übrigen erregt iſt, Wohlbehagen und Mif-
behagen aber, wenn alle gleichmäßig erregt ſind.
Was ferner Begierde iſt, habe ich in der Anmerkung
zu Lehrſatz 9 dieſes Teils erklärt. f
Außer dieſen dreien erkenne ich keinen Haupteffekt an;
und ich werde im Folgenden zeigen, daß alle übrigen aus
dieſen dreien entſtehen.
Bevor ich aber weiter gehe, möchte ich den 10. Lehrſatz
dieſes Teils ausführlicher erläutern, um beſſer verſtändlich
zu machen, auf welche Weiſe eine Idee mit einer andern
in Widerſpruch ſteht.
In der Anmerkung zu Lehrſatz 17, Teil 2, habe ich ge⸗
zeigt, daß die Idee, welche das Weſen des Geiſtes ausmacht,
die Exiſtenz des Körpers ſo lange in ſich ſchließt, als der
Körper ſelbſt exiſtiert. Ferner folgt aus dem, was ich
im Zuſatz zu Lehrſatz 8, Teil 2, und in deſſen Anmerkung
ausgeführt habe, daß die gegenwärtige Exiſtenz unſeres
Geiſtes davon allein abhängt, daß der Geiſt die wirkliche
Exiſtenz des Körpers in ſich ſchließt. Endlich habe ich ge⸗
zeigt, daß das Vermögen des Geiſtes, wodurch er die Dinge
vorſtellt und ſich ihrer erinnert, auch davon abhängt, (f. die
Lehrſätze 17 und 18 des 2. Teils mit der Anmerkung,) daß
er die wirkliche Exiſtenz des Körpers in ſich ſchließt. Hieraus
folgt, daß die gegenwärtige Exiſtenz des Geiſtes und ſein
Vorſtellungsvermögen aufgehoben wird, ſobald der Geiſt
die gegenwärtige Exiſtenz des Geiſtes zu bejahen aufhört.
Die Urſache aber, weshalb der Geiſt dieſe Exiſtenz des
Körpers zu bejahen aufhört, kann nicht der Geiſt ſelbſt ſein
(nach Lehrſatz 4 dieſes Teils). Auch daß der Körper zu
ſein aufhört, kann nicht die Urſache ſein. Denn (nach Lehr⸗
ſatz 6, Teil 2,) ift die Urſache, weshalb der Geiſt die Exi⸗
ſtenz des Körpers bejaht, nicht die, daß der Körper zu
eriftieren angefangen hat; ſomit hört er, aus demſelben
Grunde, nicht auf, die Exiſtenz des Körpers zu bejahen,
Ethik. Über den Urſprung und die Natur der Affekte. 167
weil der Körper zu ſein aufhört. Dies rührt vielmehr
(nach Lehrſatz 17, Teil 2 von einer andern Idee her, welche
die gegenwärtige Exiſtenz unſeres Körpers, und folglich auch
unſeres Geiſtes, ausſchließt, und welche mithin mit der
Idee, welche das Weſen unſres Geiſtes ausmacht, im Wider⸗
ſpruch ſteht.
Zwölfter Lehrſatz.
Der Geiſt iſt beſtrebt, ſoviel er vermag, das vor⸗
zuſtellen, was das Thätigkeitsvermögen des Körpers
vermehrt oder fördert.
Beweis.
So lange der menſchliche Körper auf eine Weiſe erregt
iſt, welche die Natur eines äußern Körpers in ſich ſchließt,
ſo lange wird der menſchliche Geiſt denſelben Körper als
gegenwärtig betrachten (nach Lehrſatz 17, Teil 2). Dem⸗
gemäß iſt (nach Lehrſatz 7, Teil 2,) fo lange der menſch⸗
liche Geiſt einen äußern Körper als gegenwärtig betrachtet,
d. h., (nach der Anmerkung zu Lehrſatz 17, Teil 2,) ihn
vorſtellt, auch der menſchliche Körper ſo lange auf eine
Weiſe erregt, welche die Natur dieſes äußern Körpers in
ſich ſchließt. So lange alſo der Geiſt ſich das vorſtellt,
was das Thätigkeitsvermögen unſres Körpers vermehrt
oder fördert, ſo lange iſt der Körper auf eine Weiſe erregt,
welche ſein Thätigkeitsvermögen vermehrt oder fördert
(ſ. Heiſcheſatz 1 dieſes Teils); und demgemäß (nach Lehr⸗
ſatz 11 dieſes Teils) wird auch ſo lange das Denkvermögen
des Geiſtes vermehrt oder gefördert. Folglich wird (nach
Lehrſatz 6 oder 9 dieſes Teils) der Geiſt, ſoviel er vermag,
dasſelbe vorzuſtellen beſtrebt ſein. — W. z. b. w.
168 Ethik. Dritter Teil.
Dreizehnter Lehrſatz.
Wenn der Geiſt etwas vorſtellt, was das Thätig⸗
keitsvermögen des Körpers vermindert oder hemmt, jo
iſt er beſtrebt, ſoviel er vermag, ſich ſolcher Dinge zu
erinnern, welche die Exiſtenz von jenem ausſchließen.
Beweis.
So lange der Geiſt etwas derartiges vorſtellt, ſo lange
wird das Thätigkeitsvermögen des Geiſtes oder Körpers
vermindert oder gehemmt, (wie ich im vorigen Lehrſatz be⸗
wieſen habe). Dennoch wird es der Geiſt ſo lange vor⸗
ſtellen, bis er etwas anderes vorſtellt, was die gegen⸗
wärtige Exiſtenz von jenem ausſchließt, (nach Lehrſatz 17,
Teil 2). Das heißt, (wie ich ſoeben gezeigt,) das Ver⸗
mögen des Geiſtes und Körpers wird ſo lange vermindert
oder gehemmt, bis der Geiſt etwas anderes vorſtellt, was
die Exiſtenz von jenem ausſchließt, und welches daher der
Geiſt, (nach Lehrſatz 9 dieſes Teils,) ſo lange er vermag,
vorzuſtellen oder ins eee zu rufen beſtrebt ſein wird.
— W. z. b. w.
Zuſaß.
Hieraus folgt, daß der Geiſt abgeneigt ſein wird, ſich
etwas vorzuſtellen, was ſein Vermögen und das des Körpers
vermindert oder hemmt.
Anmerkung.
Hieraus iſt klar erſichtlich, was Liebe, und was Haß
iſt. Nämlich Liebe iſt nichts anderes, als Luſt, verbunden
mit der Idee einer äußern Urſache, und Haß nichts anderes,
als Unluſt, verbunden mit der Idee einer äußern Urſache.
— Wir ſehen auch, daß der Liebende notwendig beſtrebt
iſt, den geliebten Gegenſtand gegenwärtig zu haben und zu
erhalten, und daß dagegen der Haſſende beſtrebt iſt, den
Ethik. Über den Urſprung und die Natur der Affekte. 169
verhaßten Gegenſtand zu entfernen und zu zerſtören. Doch
hierüber ſpäter ausführlicher.
Vierzehnter Lehrſatz.
Wenn der Geiſt einmal von zwei Affekten zugleich
erregt geweſen iſt, ſo wird er, wenn er ſpäter von einem
derſelben wieder erregt wird, auch von dem andern wieder
erregt werden.
Beweis.
Wenn der menſchliche Körper einmal von zwei Körpern
zugleich erregt geweſen iſt, ſo wird der Geiſt, wenn er
ſpäter einen derſelben vorſtellt, ſich ſofort auch des andern
erinnern (nach Lehrſatz 18, Teil 2). Die Vorſtellungen
des Geiſtes aber zeigen mehr die Erregungen unſeres
Körpers an, als die Natur der äußern Körper (nach Zuſatz II
zu Lehrſatz 16, Teil 2). Wenn alſo der Körper, und folg-
lich auch der Geiſt (ſ. Definition 3 dieſes Teils), einmal
von zwei Affekten zugleich erregt geweſen iſt, ſo wird er,
wenn er ſpäter von einem derſelben wieder erregt wird,
auch von dem andern wieder erregt werden. — W. z. b. w.
Fünfzehnter Lehrſatz.
Jedes Ding kann zufällig (gelegentlich, durch einen
Nebenumſtand,) Urſache der Luſt, Unluſt oder Begierde
ſein.
Beweis.
Angenommen, der Geiſt würde von zwei Affekten zu⸗
gleich erregt, nämlich von einem, der ſein Thätigkeitsver⸗
mögen weder vermehrt noch vermindert, und von einem
andern, der es vermehrt oder vermindert (f. Heiſcheſatz 1
dieſes Teils). Aus dem vorigen Lehrſatz erhellt, daß, wenn
der Geiſt ſpäter von jenem Affekt durch feine wahre Ur-
ſache, welche an ſich (nach der Vorausſetzung) ſein Denk⸗
170 Ethik. Dritter Teil.
vermögen weder vermehrt noch vermindert, erregt wird, er
ſofort auch von dieſem andern, welcher ſein Denkvermögen
vermehrt oder vermindert, d. h., (nach Anmerkung zu Lehr⸗
ſatz 11 dieſes Teils,) von Luſt oder Unluſt, erregt wird.
Alſo wird jenes Ding nicht durch ſich, ſondern zufällig
Urſache der Luſt oder Unluſt ſein. Und mit dieſem Ver⸗
fahren kann auch leicht gezeigt werden, daß jenes Ding
zufällig Urſache der Begierden ſein kann. — W. z. b. w.
ZJuſatz.
Deshalb allein ſchon, weil wir ein Ding mit dem |
Affekt der Luft oder Unluſt betrachtet haben, können wir
es lieben oder haſſen, obgleich es nicht ſelbſt die wirkende
Urſache dieſer Affekte iſt.
Beweis.
Denn bloß daher kommt es, (nach Lehrſatz 14 dieſes
Teils,) daß der Geiſt, wenn er dieſes Ding ſpäter vorſtellt,
vom Affekt der Luſt oder Unluſt erregt wird, d. h., (nach
Anmerkung zu Lehrſatz 11 dieſes Teils,) daß das Ver⸗
mögen des Geiſtes und Körpers vermehrt oder vermindert
wird ꝛc. Daraus folgt weiter, (nach Lehrſatz 12 dieſes
Teils,) daß der Geiſt geneigt oder (nach Zuſatz zu Lehr⸗
ſatz 13 dieſes Teils) abgeneigt iſt, dasſelbe vorzuſtellen,
d. h., (nach Anmerkung zu Lehrſatz 13 dieſes Teils,) daß
er es liebt oder haßt. — W. z. b. w.
Anmerkung.
Daraus erſehen wir, wie es kommen kann, daß wir
etwas lieben oder haſſen, ohne eine uns bekannte Urſache;
bloß aus Sympathie und Antipathie (wie man fagt).
Hierher gehören auch die Gegenſtände, die uns bloß
deshalb mit Luſt oder Unluſt erregen, weil ſie mit Gegen⸗
ſtänden, die uns mit dieſen Affekten zu erregen pflegen,
irgend eine Ahnlichkeit haben, wie ich im folgenden Lehr⸗
Wr. 33
Ethik. Über den Urſprung und die Natur der Affekte. 171
ſatz zeigen werde. Zwar weiß ich wohl, daß die Schrift-
ſteller, welche dieſe Worte Sympathie und Antipathie zuerſt
eingeführt haben, gewiſſe geheime Eigenſchaften der Dinge
damit bezeichnen wollten; gleichwohl wird es mir, denke ich,
geſtattet ſein, auch bekannte oder offenbare Eigenſchaften
darunter zu verſtehen.
Sechzehnter Lehrſatz.
Deshalb allein ſchon, weil wir uns vorſtellen, daß
ein Ding irgend eine Ahnlichkeit mit einem Gegenſtand
hat, welcher den Geiſt mit Luſt oder Unluſt zu erregen
pflegt, werden wir dasſelbe lieben oder haſſen, wenn auch
das, worin das Ding dem Gegenſtand ähnlich iſt, nicht
die wirkende Urſache dieſer Affekte iſt.
Beweis.
Das, worin es dem Gegenſtand ähnlich iſt, haben wir
in dieſem Gegenſtand ſelbſt (nach der Vorausſetzung) mit
dem Affekt der Luſt oder Unluſt betrachtet. Wenn alſo
(nach Lehrſatz 14 dieſes Teils) der Geiſt von der Vor⸗
ſtellung dieſer Eigenſchaft erregt wird, ſo wird er ſogleich
auch von dieſem oder jenem Affekt erregt werden. Folglich
wird ein Ding, in dem wir dieſe Eigenſchaft wieder wahr-
nehmen, (nach Lehrſatz 15 dieſes Teils,) zufällig die Urſache
der Luſt oder Unluſt ſein. Alſo werden wir (nach dem
vorigen Zuſatz) das Ding lieben oder haſſen, obgleich das,
worin es dem Objekt ähnlich iſt, nicht die wirkende Urſache
dieſer Affekte iſt. — W. z. b. w.
Siebzehnter Lehrſatz.
Wenn wir uns vorſtellen, daß ein Ding, das uns mit
dem Affekt der Unluſt zu erregen pflegt, eine Ahnlichkeit
mit einem andern Ding hat, das uns mit dem gleich
172 Ethik. Dritter Teil.
ſtarken Affekt der Luſt zu erregen pflegt, ſo werden wir
es zugleich haſſen und lieben.
Beweis.
Denn dieſes Ding iſt (nach der Vorausſetzung) an ſich
Urſache der Unluſt, und (nach der Anmerkung zu Lehrſatz 13
dieſes Teils) ſofern wir es mit dieſem Affekt vorſtellen,
werden wir es haſſen. Sofern wir uns außerdem vor⸗
ſtellen, daß es mit einem andern Ding Ahnlichkeit hat, das
uns mit dem gleich ſtarken Affekt der Luſt zu erregen pflegt,
werden wir es mit gleich ſtarkem Gefühl der Luſt lieben
(nach dem vorigen Lehrſatz). Folglich werden wir es haſſen
und lieben zugleich. — W. z. b. w.
Anmerkung.
Dieſer Zuſtand des Geiſtes, welcher nämlich aus zwei
entgegengeſetzten Affekten entſteht, heißt Schwanken des
Gemüts und es verhält ſich zum Affekt, wie der Zweifel
zur Vorſtellung (ſ. Anmerkung zu Lehrſatz 44, Teil 2).
Beide, das Schwanken des Gemüts und der Zweifel, unter⸗
ſcheiden ſich von einander nur nach dem Mehr oder
Weniger.
Es iſt nun noch zu beachten, daß ich im vorigen Lehr-
ſatz dieſe Schwankungen des Gemüts aus Urſachen ab⸗
geleitet habe, wovon die eine an ſich die Urſache des einen
Affekts, die andere zufällig die Urſache des andern Affekts
iſt. Ich habe dies deshalb gethan, weil ich ſie ſo leichter
aus dem Vorhergehenden ableiten konnte; nicht aber, weil
ich beſtreite, daß die Schwankungen des Gemüts häufig von
Einem Gegenſtand herrühren, welcher die wirkende Urſache
beider Affekte iſt. Denn der menſchliche Körper iſt (nach
Heiſcheſatz 1, Teil 2,) aus vielen Individuen von ver⸗
ſchiedener Natur zuſammengeſetzt, und kann daher (nach
Axiom I hinter Hilfsſatz 3, der auf Lehrſatz 13, Teil 2
folgt) von einem und demſelben Körper auf mannigfaltige
Ethik. Über den Urſprung und die Natur der Affekte. 173
und verſchiedene Weiſen erregt werden. Und ebenſo um⸗
gekehrt: Weil ein und dasſelbe Ding auf viele Weiſen er⸗
regt werden kann, wird er folglich auch einen und den-
ſelben Körperteil auf verſchiedene Weiſen erregen können.
Hieraus können wir leicht erſehen, daß ein und derſelbe
Gegenſtand die Urſache vieler einander entgegengeſetzter
Affekte ſein kann.
Achtzehnter Lehrſatz.
Der Menſch wird durch die Vorſtellung eines ver⸗
gangenen oder zukünftigen Dinges mit dem gleichen
Affekt der Luſt und Unluſt erregt, wie durch die Vor⸗
ſtellung eines gegenwärtigen Dinges.
Beweis.
So lange der Menſch von der Vorſtellung eines Dinges
erregt iſt, wird er das Ding, wenn es auch nicht exiſtiert,
als gegenwärtig betrachten, (nach Lehrſatz 17, Teil 2 und
deſſen Zuſatz,) und er wird es als vergangen oder zu—
künftig nur vorſtellen, ſofern die Vorſtellung des Dinges
mit der Vorſtellung der vergangenen oder zukünftigen Zeit
verbunden iſt (ſ. Anmerkung zu Lehrſatz 44, Teil 2). Die
Vorſtellung eines Dinges iſt daher, an ſich allein betrachtet,
dieſelbe, ob ſie auf die zukünftige oder vergangene, oder ob
ſie auf die gegenwärtige Zeit bezogen wird. Das heißt,
(nach Zuſatz II zu Lehrſatz 16, Teil 2, der Zuſtand oder
Affekt des Körpers iſt der gleiche, ob die Vorſtellung ein
vergangenes oder zukünftiges, oder ob ſie ein gegenwärtiges
Ding betrifft. Alſo ift der Affekt der Luft und Unluſt der⸗
ſelbe, mag die Vorſtellung ein vergangenes oder zukünftiges,
oder mag ſie ein gegenwärtiges Ding betreffen. — W. z.
b. w.
174 Ethik. Dritter Teil.
1. Anmerkung.
Ich nenne hier ein Ding inſofern vergangen oder zu⸗
künftig, ſofern wir von ihm erregt geweſen ſind oder erregt
werden; z. B. fofern wir es geſehen haben oder ſehen
werden, ſofern es uns gelabt hat oder laben wird, verletzt
hat oder verletzen wird ꝛc. Denn ſofern wir es ſo vor⸗
ſtellen, inſofern bejahen wir ſeine Exiſtenz; d. h., der Körper
wird von keinem Affekt erregt, welcher die Exiſtenz des
Dinges ausſchließt. Daher wird der Körper (nach Lehr⸗
ſatz 17, Teil 2,) durch die Vorſtellung dieſes Dinges auf
dieſelbe Weiſe erregt, als ob das Ding ſelbſt gegen⸗
wärtig wäre.
Weil es nun aber häufig vorkommt, daß Menſchen,
welche viele Erfahrungen gemacht haben, ſchwanken, ſo
lange ſie ein Ding (eine Sache) als zukünftig oder ver⸗
gangen betrachten, und über den Ausgang des Dinges
(der Sache) häufig im Zweifel find, (ſ. Anmerkung zu
Lehrſatz 44, Teil 2,) jo kommt es, daß die Affekte, welche
aus ſolchen Vorſtellungen der Dinge entſtehen, nicht ſehr
anhaltend ſind, ſondern häufig von den Vorſtellungen
anderer Dinge verdunkelt werden, bis die Menſchen über
den Ausgang des Dinges Gewißheit erlangt haben.
2. Anmerkung.
Durch das ſoeben Geſagte verſtehen wir, was Hoff-
nung, Furcht, Zuverſicht, Verzweiflung, Freude
und Gewiſſensbiß find. Hoffnung iſt nämlich nichts
anderes, als unbeſtändige Luſt, entſprungen aus der Vor⸗
ſtellung eines zukünftigen oder vergangenen Dinges, über
deſſen Ausgang wir im Zweifel ſind. Furcht dagegen iſt
unbeſtändige Unluſt, ebenfalls entſprungen aus der Vor⸗
ſtellung eines zweifelhaften Dinges. Wenn nun der Zweifel
bei dieſen Affekten ſchwindet, ſo wird aus Hoffnung Zu⸗
verſicht, aus Furcht Verzweiflung, nämlich Luſt oder
Ethik. Über den Urſprung und die Natur der Affekte. 175
Unluſt, entſprungen aus der Vorſtellung eines Dinges, das
wir gehofft oder gefürchtet haben. Freude ſodann iſt
Luſt, entſprungen aus der Vorſtellung eines vergangenen
Dinges, über deſſen Ausgang wir im Zweifel waren.
Gewiſſensbiß endlich iſt Unluſt, welche der Luſt entgegen⸗
geſetzt ift.*)
Neunzehnter Lehrſatz.
Wer ſich vorſtellt, daß das, was er liebt, zerſtört
wird, der wird Unluſt empfinden; ſtellt er ſich aber vor,
daß es erhalten wird, ſo wird er Luſt empfinden.
Beweis.
Der Geiſt iſt beſtrebt, ſoviel er vermag, das vorzuſtellen,
was das Thätigkeitsvermögen des Körpers vermehrt oder
fördert (nach Lehrſatz 12 dieſes Teils); d. h., (nach An⸗
merkung zu Lehrſatz 13 dieſes Teils,) das, was er liebt.
Die Vorſtellung aber wird von dem gefördert, was die
Exiſtenz des Dinges ſetzt, und umgekehrt, von dem gehemmt,
was die Exiſtenz des Dinges ausſchließt (nach Lehrſatz 17,
Teil 2). Demnach fördern die Vorſtellungen der Dinge,
welche die Exiſtenz des geliebten Dinges ſetzen, das Be-
ſtreben des Geiſtes, ſich das geliebte Ding vorzuſtellen,
d. h., (nach Anmerkung zu Lehrſatz 11 dieſes Teils,) ſie
erregen den Geiſt mit Luft.
Die Vorſtellungen dagegen, welche die Exiſtenz des ge—
liebten Dinges ausſchließen, hemmen dieſes Beſtreben des
Geiſtes, d. h., (nach derſelben Anmerkung,) ſie erregen den
Geiſt mit Unluſt. Folglich wird, wer ſich vorſtellt, daß
das, was er liebt, zerſtört wird, Unluſt empfinden. —
W. z. b. w.
) Vergl. die Anmerkung zur Definition XVII in den Definitionen
der Affekte, am Ende dieſes Teils.
176 Ethit. Dritter Teil.
Zwanzigſter Lehrſatz.
Wer ſich vorſtellt, daß das, was er haßt, zerſtört
wird, der wird Lnſt empfinden.
Beweis.
Der Geiſt iſt beſtrebt, (nach Lehrſatz 13 dieſes Teils, )
ſich das vorzuſtellen, was die Exiſtenz der Dinge, durch
welche das Thätigkeitsvermögen des Körpers vermindert
oder gehemmt wird, ausſchließt. Das heißt, (nach An⸗
merkung zu dem angeführten Lehrſatz,) er iſt beſtrebt, ſich
das vorzuſtellen, was die Exiſtenz der Dinge, welche er
haßt, ausſchließt. Die Vorſtellung eines Dinges, welche
die Exiſtenz von dem, was der Geiſt haßt, ausſchließt,
fördert ſomit dieſes Beſtreben des Geiſtes, d. h., (nach
Anmerkung zu Lehrſatz 11 dieſes Teils,) ſie erregt den
Geiſt mit Luſt. Folglich wird, wer ſich vorſtellt, daß das,
was er haßt, zerſtört wird, Luſt empfinden. — W. z. b. w.
Einundzwanzigſter Lehrſatz.
Wer ſich vorſtellt, daß das, was er liebt, mit Luſt
oder Unluſt erregt wird, der wird ſelbſt ebenfalls mit
Luſt oder Unluſt erregt werden; und jeder dieſer beiden
Affekte wird im Liebenden ſtärker oder ſchwächer ſein,
je nachdem der Affekt in dem geliebten Gegenſtand ſtärker
oder ſchwächer iſt.
Beweis.
Die Vorſtellungen der Dinge, (wie ich im Lehrſatz 19
dieſes Teils gezeigt habe,) welche die Exiſtenz des geliebten
Dinges ſetzen, fördern das Beſtreben des Geiſtes, das ge⸗
liebte Ding ſich vorzuſtellen. Die Luſt aber ſetzt die Exiſtenz
des Luſt empfindenden Gegenſtands, und das um ſo mehr,
je ſtärker der Affekt der Luſt iſt; denn ſie iſt (nach An⸗
Ethik. Über den Urſprung und die Natur der Affekte. 177
merkung zu Lehrſatz 11 dieſes Teils) übergang zu größerer
Vollkommenheit. Mithin fördert die Vorſtellung der Luſt
des geliebten Gegenſtandes in dem Liebenden jenes Be⸗
ſtreben ſeines Geiſtes, d. h., (nach Anmerkung zu Lehrſatz 11
dieſes Teils,) ſie erregt den Liebenden mit Luſt, und um
ſo mehr, je ſtärker dieſer Affekt in dem geliebten Gegen⸗
ſtand iſt. Damit iſt das erſte bewieſen. — Ferner, ſofern
ein Gegenſtand mit Unluſt erregt wird, inſofern wird es
zerſtört, und um ſo mehr, mit je ſtärkerer Unluſt er erregt
wird (nach derſelben Anmerkung zu Lehrſatz 11 dieſes
Teils). Alſo wird, (nach Lehrſatz 19 dieſes Teils,) wer
ſich vorſtellt, daß das, was er liebt, mit Unluſt erregt wird,
ebenfalls mit Unluſt erregt, und um ſo mehr, je ſtärker
dieſer Affekt in dem geliebten Gegenſtand iſt. — W. z. b. w.
Zweiundzwanzigſter Lehrſatz.
Wenn wir uns vorſtellen, daß jemand einen Gegen⸗
ſtand, den wir lieben, mit Luſt erregt, ſo werden wir
mit Liebe zu ihm erregt werden. Umgekehrt, wenn wir
uns vorſtellen, daß er denſelben mit Unluſt erregt, ſo
werden wir mit Haß gegen ihn erregt werden.
Beweis.
Wer einen Gegenſtand, den wir lieben, mit Luſt oder
Unluſt erregt, der erregt zugleich uns ſelbſt mit Luſt oder
Unluſt, wenn wir uns nämlich den geliebten Gegenſtand
mit dieſem Gefühl der Luſt oder Unluſt erregt vorſtellen
nach dem vorigen Lehrſatz). Dieſe Luſt oder Unluſt aber
ſt, der Annahme gemäß, eine ſolche, welche mit der Idee
einer äußern Urſache verbunden iſt. Alſo werden wir (nach
Anmerkung zu Lehrſatz 13 dieſes Teils) gegen jemand mit
eiebe oder Haß erregt werden, von dem wir uns vorſtellen,
daß er einen Gegenſtand, den wir lieben, mit Luſt oder
Unluſt erregt. — W. z. b. w.
12
178 Ethik. Dritter Teil.
Anmerkung. 88 c
Der 21. Lehrſatz erklärt uns, was Mitleid iſt; wir
können es definieren als Unluſt, entſprungen aus dem
Unglück eines andern. Mit welchem Namen aber die Luſt
zu nennen iſt, die aus dem Glück eines andern entſpringt,
weiß ich nicht.“)
Ferner wollen wir die Liebe zu dem, der einem andern
Gutes gethan, Gunſt, dagegen den Haß gegen den, der
einem andern Böſes gethan, Entrüſtung nennen. End⸗
lich iſt darauf aufmerkſam zu machen, daß wir nicht bloß
einen Gegenſtand, den wir lieben, bemitleiden, (wie in Lehr⸗
ſatz 21 gezeigt worden,) ſondern auch einen ſolchen, für den
wir vorher von keinem Affekt ergriffen waren, wenn wir
ihn nur für unſeresgleichen halten (wie ich ſpäter zeigen
werde). Daher fühlen wir auch gegen denjenigen Gunſt,
der jemand unſeresgleichen Gutes gethan, und ſind über
denjenigen entrüſtet, der jemand unſeresgleichen Böſes zufügt.
Dreiundzwanzigſter Lehrſatz.
Wer ſich vorſtellt, daß das, was er haßt, von Unluſt
erregt iſt, wird Luſt empfinden. Stellt er ſich dagegen
vor, daß es von Luſt erregt iſt, ſo wird er Unluſt
empfinden. Und jeder dieſer beiden Affekte wird ſtärker
oder ſchwächer ſein, je nachdem der entgegengeſetzte Affekt
in dem gehaßten Gegenſtand ſtärker oder ſchwächer iſt.
Beweis.
Sofern ein gehaßter Gegenſtand von Unluſt erregt wird,
inſofern wird er zerſtört, und zwar um ſo mehr, je ſtärker
*) „Im Deutſchen haben wir das Wort Mitfreude.“ (B. Auer⸗
bach in feiner Überſetzung z. St.) Mitleid und Mitfreude werden in
dem Wort Mitgefühl zuſammengefaßt. S. übrigens die Definitionen
der Affekte am Ende dieſes Teils, Definition XXIV.
Anmerkung d. Überfegers.
\
v
Ethik. Über den Urſprung und die Natur der Affekte. 179
die Unluſt iſt, von welcher er erregt wird (nach Anmerkung
zu Lehrſatz 11 dieſes Teils). Wer alſo (nach Lehrſatz 20
dieſes Teils) einen Gegenſtand, den er haßt, von Unluſt
erregt ſich vorſtellt, der wird umgekehrt von Luſt erregt
werden; und zwar um ſo mehr, je ſtärker die Unluſt iſt,
von welcher er den gehaßten Gegenſtand erregt ſich vorſtellt.
Damit iſt das erſte bewieſen. — Ferner ſetzt die Luſt die
Exiſtenz des Luſt empfindenden Gegenſtands, (nach derſelben
Anmerkung zu Lehrſatz 11 dieſes Teils,) und um ſo mehr,
je ſtärker die Luſt gedacht wird. Wenn nun jemand den,
welchen er haßt, von Luſt erregt ſich vorſtellt, ſo wird dieſe
Vorſtellung (nach Lehrſatz 13 dieſes Teils) ſein Streben
hemmen; d. h., (nach Anmerkung zu Lehrſatz 11 dieſes
Teils,) der, welcher haßt, wird von Unluſt erregt werden.
— W. z. b. w.
Anmerkung.
Dieſe Luſt kann kaum eine innige und vom Zwieſpalt
des Gemüts frei ſein. Denn (wie ich bald in Lehrſatz 27
dieſes Teils zeigen werde) ſofern ſich jemand vorſtellt, daß
ein Gegenſtand ſeinesgleichen von dem Affekt der Unluſt
erregt wird, inſofern muß er Unluſt empfinden, und das
Gegenteil, wenn er ihn von Luſt erregt ſich vorſtellt. Doch
habe ich hier nur den Haß im Auge.
Vierundzwanzigſter Lehrſatz.
Wenn wir uns vorſtellen, daß jemand einen Gegen⸗
ſtand, den wir haſſen, mit Luſt erregt, ſo werden wir
auch gegen ihn von Haß erregt werden. Stellen wir uns
dagegen vor, daß er dieſen Gegenſtand mit Unluſt erregt,
ſo werden wir gegen ihn von Liebe erregt werden.
12 *
180 Ethik. Dritter Teil.
Beweis.
Dieſer Lehrſatz wird auf die gleiche Weiſe bewieſen, wie
Lehrſatz 22 dieſes Teils; ſiehe dieſen.
Anmerkung.
Dieſe und ähnliche Affekte des Haſſes gehören zur
Mißgunſt. Dieſe iſt daher nichts anderes, als der Haß
ſelbſt, ſofern er betrachtet wird als den Menſchen ſo dis⸗
ponierend, daß er ſich über das Unglück eines andern freut,
und ſich dagegen über deſſen Glück betrübt.“ g
Fünfundzwanzigſter Lehrſatz.
Wir ſind beſtrebt, von uns, und von einem geliebten
Gegenſtand, alles das zu bejahen, wovon wir uns vor⸗
ſtellen, daß es uns oder den geliebten Gegenſtand mit
Luſt erregt, und dagegen alles das zu verneinen, wovon
wir uns vorſtellen, daß es uns oder den geliebten Gegen⸗
ſtand mit Unluſt erregt.
Beweis.
Das, wovon wir uns vorſtellen, daß es uns oder den
geliebten Gegenſtand mit Luſt oder Unluſt erregt, das erregt
uns ſelbſt mit Luſt oder Unluſt (nach Lehrſatz 21 dieſes
Teils). Der Geiſt aber ſtrebt (nach Lehrſatz 12 dieſes
Teils) das, was uns mit Luſt erregt, ſoviel er vermag,
ſich vorzuſtellen, d. h., (nach Lehrſatz 17, Teil 2 und ſeinem
Zuſatz,) es als gegenwärtig zu betrachten; dagegen von
dem, was uns mit Unluſt erregt, (nach Lehrſatz 13 dieſes
Teils,) die Exiſtenz auszuſchließen. Folglich ſind wir be⸗
ſtrebt, von uns, und von einem geliebten Gegenſtand, alles
*) Im Een haben wir für das eine Schadenfreude, für
das andere Neid Anmerkung d. Überſetzers.
Ethik. über den Urſprung und die Natur der Affekte. 181
das zu bejahen, wovon wir uns vorſtellen, daß es uns, oder
den geliebten Gegenſtand, mit Luſt erregt; und umgekehrt.
— W. z. b. w.
Sechsundzwanzigſter Lehrſatz.
Wir ſind beſtrebt, von einem Gegenſtand, den wir
haſſen, alles das zu bejahen, wovon wir uns vorſtellen,
daß es ihn mit Unluſt erregt, und dagegen alles das zu
verneinen, wovon wir uns vorſtellen, daß es ihn mit
Luſt erregt.
Beweis.
Dieſer Lehrſatz folgt aus Lehrſatz 23, wie der vorige
Lehrſatz aus Lehrſatz 21 dieſes Teils.
Anmerkung.
Hieraus erſehen wir, wie leicht es geſchieht, daß der
Menſch von ſich und dem geliebten Gegenſtand eine größere
Meinung hat, als recht iſt, dagegen von einem verhaßten
Gegenſtand eine geringere Meinung als recht iſt. Dieſe
Vorſtellung heißt, ſoweit ſie ſich auf den Menſchen ſelbſt
bezieht, der alſo von ſich ſelbſt eine größere Meinung hat,
als recht iſt, Hochmut, und iſt eine Art Wahnwitz, weil
ein ſolcher Menſch mit offenen Augen träumt, er vermöge
alles, was er bloß in der Einbildung erreicht. Er betrachtet
daher dies alles als Wirklichkeit, und bläht ſich darob, ſo
lange er ſich das nicht vorſtellen kann, was die Exiſtenz
feiner Einbildungen ausſchließt und fein Thätigkeitsvermögen
beſchränkt. Hochmut iſt alſo Luſt, daraus entſprungen,
daß der Menſch eine größere Meinung von ſich hat, als
recht iſt. — Die Luſt ferner, welche daraus entſpringt, daß
der Menſch von einem andern eine größere Meinung hat,
als recht iſt, wird Uberſchätzung, diejenige endlich, welche
daraus entſpringt, daß er von einem andern eine geringere
Meinung hat, als recht iſt, wird Unterſchätzung genannt.
182 Ethik. Dritter Teil.
Siebenundzwanzigſter Lehrſatz.
Wenn wir einen Gegenſtand unſeresgleichen, für den
wir keinen Affekt empfinden, von irgend einem Affekt
erregt vorſtellen, ſo werden wir eben dadurch von dem
gleichen Affekt erregt.
Beweis.
Die Vorſtellungen der Dinge ſind Erregungen des
menſchlichen Körpers, deren Ideen die äußern Körper uns.
darſtellen, als ob ſie uns gegenwärtig wären (nach An⸗
merkung zu Lehrſatz 17, Teil 2); d. h., (nach Lehrſatz 16,
Teil 2,) deren Ideen die Natur unſeres Körpers, uud zu⸗
gleich die gegenwärtige Natur des äußern Körpers, in ſich
ſchließen. Wenn alſo die Natur des äußern Körpers der
Natur unſeres Körpers ähnlich iſt, ſo wird die Idee des
äußern Körpers, den wir vorſtellen, eine Erregung unſeres
Körpers in ſich ſchließen, welche der Erregung des äußern
Körpers ähnlich iſt. Wenn wir uns daher vorſtellen, daß
jemand unſeresgleichen von einem Affekt erregt iſt, ſo wird
dieſe Vorſtellung eine Erregung unſeres Körpers aus⸗
drücken, welche dieſem Affekt ähnlich iſt. Dadurch alſo,
daß wir einen Gegenſtand unſeresgleichen von irgend einem
Affekt erregt vorſtellen, werden wir von dem gleichen Affekt
erregt, wie dieſer Gegenſtand. Denn wenn wir einen
Gegenſtand unſeresgleichen haſſen, ſo werden wir inſofern
(nach Lehrſatz 23 dieſes Teils) von einem dem ſeinigen
entgegengeſetzten Affekt erregt werden, nicht aber von dem
gleichen. — W. z. b. w.
Aumerkung.
Dieſe Nachahmung der Affekte heißt, wenn ſie Unluſt
betrifft, Mitleid. (S. darüber die Anmerkung zu Lehr⸗
ſatz 22 dieſes Teils.) Betrifft ſie aber die Begierde, ſo
heißt ſie Wetteifer. Dieſe iſt alſo nichts anders, als
Wr
Ethik. Über den Urſprung und die Natur der Affekte. 183
die Begierde nach einem Ding, welche in uns durch die
Vorſtellung erzeugt wird, daß andere unſeresgleichen dieſe
Begierde haben.
ZJuſatz I.
Wenn wir uns vorſtellen, daß jemand, für den wir
keinen Affekt empfinden, einen Gegenſtand unſeresgleichen
mit Luſt erregt, ſo werden wir von Liebe zu ihm erregt
werden. Stellen wir uns dagegen vor, daß er ihn mit
Unluſt erregt, ſo werden wir von Haß gegen ihn erregt
werden.
Beweis.
Dieſer Satz wird ebenſo aus dem vorigen Lehrſatz be⸗
wieſen, wie Lehrſatz 22 dieſes Teils aus Lehrſatz 21.
Zuſah II.
Einen Gegenſtand, den wir bemitleiden, können wir
deshalb nicht haſſen, weil ſein Leid uns mit Unluſt erregt.
Beweis.
Denn wenn wir es haſſen könnten,“) fo würden wir
uns (nach Lehrſatz 23 dieſes Teils) über feine Umluft
freuen, was gegen die Vorausſetzung iſt.
Juſatz III.
Einen Gegenſtand, den wir bemitleiden, werden wir,
ſoviel wir können, von ſeinem Leid zu befreien ſuchen.
Beweis.
Das, was einen Gegenſtand, den wir bemitleiden, mit
Unluſt erregt, erregt uns ſelbſt mit gleicher Unluſt (nach
*) Si enim ex eo. Meines Erachtens iſt dieſes ex eo entweder ein
lapsus calami des Autors oder ein Druckfehler. Jo habe es daher
unüberſetzt gelaſſen. Anm. d. überſetzers.
184 Ethik. Dritter Teil.
dem vorigen Lehrſatzz. Daher werden wir beſtrebt ſein,
alles zu erfinnen,*) was die Exiſtenz dieſes Dinges auf⸗
hebt, oder was das Ding zerſtört (nach Lehrſatz 13 dieſes
Teils); d. h., (nach Anmerkung zu Lehrſatz 9 dieſes Teils,
wir werden das Verlangen haben, es zu zerſtören, oder
wir werden beſtimmt werden, es zu zerſtören. Somit
werden wir einen Gegenſtand, den wir bemitleiden, von
ſeinem Leid zu befreien ſuchen. — W. z. b. w.
Anmerkung.
Dieſer Wille oder dieſes Verlangen, wohl zu thun,
welches daraus entſpringt, daß wir den Gegenſtand bemit⸗
leiden, dem wir die Wohlthat erweiſen wollen, heißt Wohl⸗
wollen, welches alſo nichts anderes iſt, als eine aus
Mitleid entſprungene Begierde. Siehe übrigens über Liebe
und Haß gegen jemand, der einem Gegenſtand, den wir
uns als unſersgleichen vorſtellen, Gutes oder Böſes thut,
die Anmerkung zu Lehrſatz 22 dieſes Teils.
Achtundzwanzigſter Lehrſatz.
Alles, wovon wir uns vorſtellen, daß es zur Luſt
beiträgt, ſuchen wir zu fördern, um ſeine Verwirklichung
herbeizuführen. Alles hingegen, wovon wir uns vor⸗
ſtellen, daß es jenem widerſtrebt, oder daß es zur Un⸗
luſt beiträgt, ſuchen wir zu entfernen und zu zerſtören.
Beweis.
Das, wovon wir uns vorſtellen, daß es zur Luſt bei⸗ |
trägt, ſuchen wir, ſoviel wir vermögen, uns vorzuſtellen
(nach Lehrſatz 12 dieſes Teils); d. h., (nach Lehrſatz 17,
*) comminisci. Die Überjegung Auerbachs „erinnern“ und Kirch⸗
manns „in uns wach zu rufen“ iſt nicht wur ſprachlich unrichtig, ſon⸗
dern verfehlt gänzlich den Sinn des Autors.
Anmerkung des Überſetzers.
Ethik. Über den Urſprung und die Natur der Affekte. 185
Teil 2,) wir werden beſtrebt fein, ſoviel wir vermögen, es
als gegenwärtig, oder als wirklich exiſtierend zu betrachten.
Aber das Beſtreben des Geiſtes, oder ſein Vermögen im
Denken, iſt von Natur gleich und gleichzeitig mit dem Be⸗
ſtreben des Körpers und ſeinem Vermögen im Handeln
(was deutlich hervorgeht aus Zuſatz zu Lehrſatz 7 und
Zuſatz zu Lehrſatz 11, Teil 2). Wir ſuchen alſo abſolut,
oder (was nach Anmerkung zu Lehrſatz 9 dieſes Teils das⸗
ſelbe iſt) wir verlangen und ſtreben, daß es exiſtiere.
Damit iſt das erſte bewieſen. — Ferner: wenn wir uns
vorſtellen, daß das, was wir für die Urſache der Unluſt
halten, d. h., (nach Anmerkung zu Lehrſatz 13 dieſes Teils,
daß das, was wir haſſen, zerſtört wird, ſo werden wir
Luſt empfinden (nach Lehrſatz 12 dieſes Teils). Alſo werden
wir es (nach dem erſten Teil dieſes Beweiſes) zu zerſtören,
oder (nach Lehrſatz 13 dieſes Teils) von uns zu entfernen
ſuchen, damit wir es nicht als gegenwärtig betrachten.
Damit iſt das zweite bewieſen. — Folglich werden wir
alles, wovon wir uns vorſtellen, daß es zur Luft ꝛc. —
W. z. b. w.
Neunundzwanzigſter Lehrſatz.
Alles das, wovon wir uns vorſtellen, daß es die
Menſchenn) mit Luſt anſehen, werden wir ebenfalls zu
thun beſtrebt ſein; dagegen das, wovon wir uns vor⸗
ſtellen, daß die Menſchen ihm abgeneigt ſind, werden
wir zu thun abgeneigt ſein.
Beweis.
Dadurch, daß wir uns etwas von den Menſchen ge=
liebt oder gehaßt vorſtellen, werden wir es ebenfalls lieben
*) NB. Unter „Menſchen“ find hier und im Folgenden ſolche
Menſchen zu eſtehes, für welche wir keinen Affekt empfinden.
Anmerkung des Verfaſſers.
186 Ethik. Dritter Teil.
oder haſſen (nach Lehrſatz 27 dieſes Teils); d. h., (nach
Anmerkung zu Lehrſatz 13 dieſes Teils,) eben dadurch
werden wir über die Gegenwart dieſes Dinges Luſt oder
Unluſt empfinden. Folglich (nach dem vorigen Lehrſatz)
werden wir alles das, wovon wir uns vorſtellen, daß es
die Menſchen lieben, oder mit Luſt anſehen, zu thun be⸗
ſtrebt ſein c. — W. z. b. w.
Anmerkung.
Dieſes Beſtreben, etwas zu thun, wie auch zu unter⸗
laſſen, bloß aus dem Grunde, damit wir den Menſchen
gefallen, heißt Ehrgeiz, beſonders wenn wir ſo übermäßig
der Menge zu gefallen ſtreben, daß wir etwas thun oder
unterlaſſen, ſelbſt wenn es uns oder andern zum Schaden
gereicht; andernfalls pflegt man es Menſchenfreundlich⸗
keit zu nennen.
Die Luſt, womit wir uns die That eines andern vor⸗
ſtellen, mit welcher er uns zu erfreuen beſtrebt war, nenne
ich Lob; die Unluſt dagegen, womit wir die That eines
andern mißbilligen, nenne ich Tadel.
Dreißigſter Lehrſatz.
Wenn jemand etwas gethan hat, wovon er ſich vor⸗
ſtellt, daß es andere mit Luſt erregt, ſo wird er von Luſt,
verbunden mit der Idee ſeiner ſelbſt als deren Urſache,
erregt werden, oder er wird ſich ſelbſt mit Luſt betrachten.
Wenn dagegen jemand etwas thut, wovon er ſich vor⸗
ſtellt, daß es andere mit Unluſt erregt, ſo wird er ſich
ſelbſt mit Unluſt betrachten.
Beweis.
Wer ſich vorſtellt, daß er andere mit Luſt oder Unluſt
erregt, der wird eben dadurch (nach Lehrſatz 27 dieſes
Teils) von Luſt oder Unluſt erregt werden. Da aber der
wan
Ethik. Über den Urſprung und die Natur der Affekte. 187
Menſch (nach den Lehrſätzen 19 und 23, Teil 2, ſich feiner
bewußt iſt durch die Erregungen, von denen er zum
Handeln beſtimmt wird, ſo wird, wer etwas gethan hat,
wovon er ſich vorſtellt, daß es andere mit Luſt erregt, von
Luft, mit dem Bewußtſein feiner ſelbſt als Urſache, erregt
werden, oder er wird ſich ſelbſt mit Luſt betrachten; und
umgekehrt. — W. z. b. w.
Anmerkung.
Da die Liebe (nach Anmerkung zu Lehrſatz 13 dieſes
Teils) Luſt iſt, verbunden mit der Idee einer äußern Ur⸗
ſache, und der Haß Unluſt, verbunden mit der Idee einer
äußern Urſache, ſo wird demnach dieſe Luſt und Unluſt
eine Art Liebe und Haß ſein. Weil ſich aber Liebe und
Haß auf die äußern Gegenſtände beziehen, ſo wollen wir
dieſe Affekte mit andern Namen bezeichnen. Wir wollen
nämlich dieſe mit der Idee einer äußern Urſache verbundene
Luſt Ehre (Ehrfreude), die ihr entgegengeſetzte Unluſt
Scham nennen. Ich meine hier die Fälle, wo die Luſt
oder Unluſt daraus entſteht, daß ſich der Menſch gelobt oder
getadelt glaubt; andernfalls nenne ich dieſe mit der Idee
einer äußern Urſache verbundene Luft Selbſtzufrieden-
heit, die ihr entgegengeſetzte Unluſt aber Reue.
Weil es ferner (nach Zuſatz zu Lehrſatz 17, Teil 2)
vorkommen kann, daß die Luſt, womit jemand andere zu
erregen ſich vorſtellt, nur eine eingebildete iſt, und (nach
Lehrſatz 25 dieſes Teils) jeder von ſich alles das vor⸗
zuſtellen ſucht, wovon er ſich vorſtellt, daß es ihn mit Luſt
erregt, fo kann es leicht geſchehen, daß der Ehrſüchtige hoch
mütig wird und ſich einbildet, er ſei allen angenehm,
während er allen widerwärtig iſt.
188 Ethik. Dritter Teil,
Einunddreißigſter Lehrſatz.
Wenn wir uns vorſtellen, daß jemand etwas liebt,
oder begehrt, oder haßt, was wir ſelbſt lieben, begehren,
oder haſſen, ſo werden wir eben dadurch dieſes Ding
beharrlicher lieben u. ſ. f. Stellen wir uns dagegen vor,
daß jemand ein Ding, das wir lieben, verſchmäht, oder
umgekehrt, ſo werden wir ein Schwanken des Gemüts
erleiden.
Beweis.
Dadurch allein ſchon, daß wir uns vorſtellen, daß
jemand etwas liebt, werden wir es lieben (nach Lehrſatz 27
dieſes Teils). Wir nehmen aber an, daß wir es auch
ohnedem lieben. Es tritt alſo eine neue Urſache zur Liebe
hinzu, durch welche ſie genährt wird. Daher werden wir
das, was wir lieben, eben dadurch beharrlicher lieben.
Ferner werden wir dadurch, daß wir uns vorſtellen, daß
jemand etwas verſchmäht, dasſelbe gleichfalls verſchmähen
(nach demſelben Lehrſatz). Wenn wir aber annehmen, daß
wir es zu gleicher Zeit lieben, ſo werden wir demnach
dieſes ſelbe Ding gleichzeitig lieben und verſchmähen, oder,
(ſ. Anmerkung zu Lehrſatz 17 dieſes Teils,) wir werden
ein Schwanken des Gemüts erleiden. — W. z. b. w.
Inſatz.
Hieraus und aus Lehrſatz 28 dieſes Teils folgt, daß
jeder, ſoviel er vermag, darnach ſtrebt, daß alle das lieben,
was er ſelbſt liebt, und alle das haſſen, was er ſelbſt haßt.
Darum ſingt der Dichter: “)
„Hoffen zugleich und fürchten zugleich muß jeder, der liebet;
Eiſern iſt, wer da liebt, das, was der andre verließ.“
*) Ovid, Liebesgedichte, Buch II, Elegie 19, V. 5 und 6.
Ethik. über den Urſprung und die Natur der Affekte. 189
Anmerkung.
Dieſes Streben, es dahin zu bringen, daß alle uns bei⸗
ſtimmen, wenn wir etwas lieben oder haſſen, iſt eigentlich
Ehrgeiz (ſ. Anmerkung zu Lehrſatz 29).
Wir ſehen daher, daß von Natur aus jeder verlangt,
andere ſollen nach Seinem Sinn leben. Wenn freilich alle
dieſes gleicherweiſe verlangen, ſo ſind ſich alle einander
gleich hinderlich, und während alle von allen gelobt oder
geliebt werden wollen, werden ſie ſich vielmehr gegen⸗
ſeitig haſſen.
Zweiunddreißigſter Lehrſatz.
Weun wir uns vorſtellen, daß jemand ſich eines
Dinges erfreut, das nur Einer allein beſitzen kann, ſo
werden wir zu bewirken ſuchen, daß jener dieſes Ding
nicht beſitzt.
Beweis.
Dadurch allein ſchon, daß wir uns vorſtellen, daß
jemand ſich eines Dinges erfreut, werden wir (nach Lehr⸗
ſatz 27 dieſes Teils und deſſen Zuſatz II) dieſes Ding
lieben und uns feiner zu erfreuen ſuchen. Aber den Um⸗
ſtand, daß jener ſich eben dieſes Dinges erfreut, ſtellen wir
uns (nach der Vorausſetzung) als Hindernis dieſer Luſt vor.
Folglich werden wir (nach Lehrſatz 28 dieſes Teils) dahin
ſtreben, daß jener dieſes Ding nicht beſitzt. — W. z. b. w.
Anmerkung.
Wir ſehen daher, daß die Natur des Menſchen meiſt
ſo beſchaffen iſt, daß man diejenigen, denen es ſchlecht geht,
bemitleidet, und die, denen es gut geht, beneidet, und zwar
(nach dem vorigen Lehrſatz) um ſo ſtärker, je mehr man
das Ding liebt, in deſſen Beſitz man ſich einen andern vor⸗
ſtellt. — Wir ſehen ferner, daß aus derſelben Eigenſchaft
190 Ethik. Dritter Teil.
der menſchlichen Natur, aus welcher folgt, daß die Menſchen
mitleidig ſind, auch folgt, daß ſie neidiſch und ehrgeizig ſind.
Wenn wir die Erfahrung ſelbſt befragen, ſo werden wir
finden, daß ſie dies alles beſtätigt, beſonders wenn wir
unſere Jugendjahre ins Auge faſſen. Denn wir machen
die Erfahrung, daß die Kinder, weil ihr Körper fortwährend
wie im Gleichgewicht iſt, deshalb allein ſchon lachen oder
weinen, weil ſie andere lachen oder weinen ſehen. Auch
ſuchen fie das, was fie andere thun ſehen, ſofort nach⸗
zuahmen, und ebenſo begehren ſie alles für ſich, wovon ſie
ſich vorſtellen, daß ſich andere daran erfreuen. Der Grund
iſt, weil die Vorſtellungen der Dinge, wie geſagt, Er-
regungen des menſchlichen Körpers ſelbſt ſind, oder die Arten,
wie der menſchliche Körper von äußern Urſachen erregt und
disponiert wird, dies oder jenes zu thun.
Dreiunddreißigſter Lehrſatz.
Wenn wir einen Gegenſtand unſeresgleichen lieben,
ſo ſuchen wir, ſoviel wir vermögen, zu bewirken, daß er
uns wiederum liebt.
Beweis.
Einen Gegenſtand, den wir lieben, ſuchen wir, ſoviel wir
vermögen, uns vor allen andern vorzuſtellen (nach Lehr⸗
ſatz 12 dieſes Teils). Wenn alſo der Gegenſtand unſeres⸗
gleichen iſt, ſo werden wir ihn vor allen andern mit Luſt
zu erregen ſuchen, (nach Lehrſatz 29 dieſes Teils,) oder wir
werden, ſoviel wir vermögen, zu bewirken ſuchen, daß der
geliebte Gegenſtand von Luſt erregt werde, verbunden mit
der Idee unſerer ſelbſt; d. h., (nach Anmerkung zu Lehr⸗
ſatz 13 dieſes rk daß er uns wieder liebe. — W. z.
b. w.
Ethik. über den Urſprung und die Natur der Affekte. 191
Vierunddreißigſter Lehrſatz.
Je ſtärker wir uns den Affekt vorſtellen, von dem
der geliebte Gegenſtand gegen uns erregt iſt, deſto mehr
werden wir uns geehrt fühlen.
Beweis.
Wir ſtreben, ſoviel wir vermögen, (nach dem vorigen
Lehrſatz,) daß der geliebte Gegenſtand uns wiederum liebe;
d. h., (nach Anmerkung zu Lehrſatz 13 dieſes Teils,
daß der geliebte Gegenſtand von Luft erregt werde, ver-
bunden mit der Idee unſerer ſelbſt. Je ſtärker wir uns
alſo die Luft vorſtellen, von welcher der geliebte Gegen—
ſtand um unſeretwillen erregt iſt, deſto mehr wird dieſes
Streben gefördert; d. h., (nach Lehrſatz 11 dieſes Teils mit
feiner Anmerkung,) von deſto ſtärkerer Luft werden wir er⸗
regt. Wenn wir aber darüber Luſt empfinden, daß wir
einen andern unſeresgleichen mit Luft erregt haben, fo be=
trachten wir uns ſelbſt mit Luſt (nach Lehrſatz 30 dieſes
Teils). Je ſtärker wir uns alſo den Affekt vorſtellen, von
dem der geliebte Gegenſtand gegen uns erregt iſt, mit um
ſo ſtärkerer Luſt werden wir uns ſelbſt betrachten, oder
(nach Anmerkung zu Lehrſatz 30 dieſes Teils) deſtomehr
werden wir uns geehrt fühlen. — W. z. b. w.
Fünfunddreißigſter Lehrſatz.
Wenn ſich jemand vorſtellt, daß der geliebte Gegen⸗
ſtand mit einem andern durch ein gleiches, oder engeres
Band der Freundſchaft, als das war, wodurch er allein
dasſelbe in Beſitz hatte, ſich verbindet, ſo wird er von
Haß gegen den geliebten Gegenſtand erregt werden un
jenen andern Gegenſtand beneiden.
192 Ethik. Dritter Teil.
Beweis.
Je ſtärker ſich einer die Liebe vorſtellt, von welcher ein
von ihm geliebter Gegenſtand gegen ihn erregt iſt, deſto
mehr wird er ſich geehrt fühlen, (nach dem vorigen Lehr⸗
ſatz,) d. h., (nach Anmerkung zu Lehrſatz 30 dieſes Teils,
ſich freuen. Er wird daher, (nach Lehrſatz 28 dieſes Teils,)
ſoviel er vermag, ſich vorzuſtellen ſuchen, daß der geliebte
Gegenſtand auf das engſte mit ihm verbunden ſei. Dieſes
Beſtreben oder Verlangen wird noch geſteigert, wenn er
ſich vorſtellt, daß ein anderer denſelben Gegenſtand für ſich
begehrt (nach Lehrſatz 31 dieſes Teils). Es wird aber an⸗
genommen, daß dieſes Beſtreben oder Verlangen von der
Vorſtellung des geliebten Gegenſtandes ſelbſt, verbunden
mit der Vorſtellung deſſen, welchen der geliebte Gegenſtand
mit ſich verbindet, gehemmt wird. Folglich wird er (nach
Anmerkung zu Lehrſatz 11 dieſes Teils) eben dadurch von
Unluſt erregt werden, verbunden mit der Idee des geliebten
Gegenſtands, als deren Urſache, und zugleich mit der Vor⸗
ſtellung jenes andern. Das heißt, (nach Anmerkung zu
Lehrſatz 13 dieſes Teils,) er wird von Haß gegen den ge⸗
liebten Gegenſtand erregt werden, und zugleich auch gegen
jenen andern, (nach Zuſatz zu Lehrſatz 15 dieſes Teibs,
den er daher, (nach Lehrſatz 23 dieſes Teils,) weil er ſich
des geliebten Gegenſtands erfreut, beneiden wird. — W. z. b. w.
Anmerkung.
Dieſer Haß gegen den geliebten Gegenſtand, der mit
Neid verbunden iſt, heißt Eiferſucht. Sie iſt alſo nichts
anderes, als ein Schwanken des Gemüts, entſprungen aus
Liebe und Haß zugleich, verbunden mit der Idee eines
andern, den man beneidet. Dieſer Haß gegen den geliebten
Gegenſtand wird in Bezug auf ſeine Stärke im Verhält⸗
nis ſtehen zur Luſt, von welcher der Eiferſüchtige durch die
Gegenliebe des geliebten Gegenſtandes erregt zu werden
Ethik. Über den Urſprung und die Natur der Affekte. 193
pflegte; wie auch zu dem Affekt, von welchem er gegen den
erregt war, von dem er ſich vorſtellt, daß der geliebte
Gegenſtand ſich mit ihm verbindet. Denn wenn er ihn
gehaßt hatte, jo wird er eben dadurch den geliebten Gegen—
ſtand (nach Lehrſatz 24 dieſes Teils) haſſen, weil er ſich
vorſtellt, daß derſelbe das, was er ſelbſt haßt, mit Luſt
erregt; wie auch (nach Zuſatz zu Lehrſatz 15 dieſes Teils)
deshalb, weil er gezwungen wird, die Vorſtellung des ge⸗
liebten Gegenſtandes mit der Vorſtellung deſſen, den er
haßt, zu verbinden.
Dieſes Verhältnis findet meiſtens in der Liebe zu Frauen
ſtatt. Denn wer ſich vorſtellt, daß eine Frau, die er liebt,
ſich einem andern preisgiebt, wird nicht bloß Unluſt empfin⸗
den, weil ſein Verlangen gehemmt wird, ſondern er verab⸗
ſcheut auch dieſe Frau, weil er gezwungen wird, die Vor—
tellung der Geliebten mit den geheimen Körperteilen und
Exkrementen eines andern zu verbinden.
Hierzu kommt endlich noch, daß der Eiferſüchtige von
dem geliebten Gegenſtand nicht mit der gleichen Miene
empfangen wird, die er ihm ſonſt zeigte; ein weiterer Grund,
veshalb der Liebende von Unluſt erregt wird, wie ich gleich
eigen werde.
Sechsunddreißigſter Lehrſatz.
Wer ſich eines Gegenſtands erinnert, woran er ſich
inmal erfreut hat, begehrt denſelben unter den gleichen
Imſtänden zu beſitzen, als da er ſich zum erſtenmal
ıaran erfreute.
Beweis.
Alles, was der Menſch zugleich mit dem Ding geſehen
hat, das ihn erfreute, iſt (nach Lehrſatz 15 dieſes Teils)
ufällige Urſache der Luſt. Alſo wird er (nach Lehrſatz 28
siefes Teils) das alles zugleich mit dem Ding, das ihn
rfreute, zu beſitzen begehren; oder er wird das Ding unter
13
194 Ethik. Dritter Teil.
den gleichen Umſtänden zu beſitzen begehren, als da er ſich
zum erſtenmal daran erfreute. — W. z. b. w.
Bufaß.
Wenn daher der Liebende die Wahrnehmung macht,
daß einer dieſer Umſtände fehlt, ſo wird er Unluſt empfinden.
Beweis.
Denn ſofern er die Wahrnehmung macht, daß einer
dieſer Umſtände fehlt, inſofern ſtellt er ſich etwas vor, was
die Exiſtenz dieſes Dinges ausſchließt. Da er aber dieſes
Ding oder dieſen Umſtand (nach dem vorigen Lehrſatz) aus
Liebe begehrt, ſo wird er folglich, (nach Lehrſatz 19 dieſes
re eg er ſich vorſtellt, daß er fehlt, Unluſt empfinden.
— W. z. b. w.
Anmerkung.
Dieſe Unluſt, welche die Abweſenheit deſſen, was wir
lieben, betrifft, heißt Sehnſucht.
Siebenunddreißigſter Lehrſatz.
Die Begierde, welche aus Unluſt oder Luſt, aus Haß
oder Liebe entſpringt, iſt um ſo ſtärker, je ſtärker der
Affekt iſt.
Beweis.
Die Unluſt vermindert oder hemmt das menſchliche
Thätigkeitsvermögen, (nach Anmerkung zu Lehrſatz 11 dieſes
Teils,) d. h., (nach Lehrſatz 7 dieſes Teils,) ſie vermindert
oder hemmt das Beſtreben, wonach der Menſch in ſeinem
Sein zu verharren ſtrebt. Sie iſt alſo (nach Lehrſatz 5
dieſes Teils) dieſem Streben entgegengeſetzt, und alles, was
der von Unluſt erregte Menſch anſtrebt, iſt, die Unluſt zu
entfernen. Je ſtärker aber (nach der Definition der Unluſt)
die Unluſt iſt, einem deſto größeren Teil des menſchlichen
Ethik. über den Urſprung und die Natur der Affekte. 195
Thätigkeitsvermögen ſteht fie notwendig entgegen. Je
ſtärker alſo die Unluſt iſt, mit deſto größerem Thätigkeits⸗
vermögen wird der Menſch beſtrebt ſein, die Unluſt zu ent⸗
fernen; d. h., (nach Anmerkung zu Lehrſatz 9 dieſes Teils,)
mit deſto ſtärkerer Begierde, oder mit deſto ſtärkerem Ver⸗
langen, wird der Menſch beſtrebt ſein, die Unluſt zu ent⸗
fernen. — Weil ferner die Luſt (nach derſelben Anmerkung
zu Lehrſatz 11 dieſes Teils) das Thätigkeitsvermögen des
Menſchen vermehrt oder fördert, ſo wird auf dieſelbe Art
leicht bewieſen, daß der von Luſt erregte Menſch nichts
anderes begehrt, als dieſelbe ſich zu erhalten, und zwar mit
um ſo ſtärkerer Begierde, je ſtärker die Luſt iſt. — Weil
endlich Haß und Liebe die Affekte der Unluſt und Luſt
ſelbſt ſind, ſo folgt auf gleiche Weiſe, daß das Streben,
Verlangen oder Begehren, welches aus Haß oder Liebe ent⸗
ſpringt, in Bezug auf ihre Stärke, zur Stärke des Haſſes
und der Liebe im Verhältnis ſtehen wird. — W. z. b. w.
Achtunddreißigſter Lehrſatz.
Wenn jemand einen geliebten Gegenſtand zu haſſen
begonnen hat, ſo daß die Liebe vollſtändig verdrängt
wird, ſo wird er denſelben, bei gleicher Urſache, ſtärker
haſſen, als wenn er ihn niemals geliebt hätte, und zwar
um ſo ſtärker, je ſtärker vorher die Liebe geweſen iſt.
Beweis.
Denn wenn jemand einen geliebten Gegenſtand zu
haſſen beginnt, ſo wird ſein Verlangen in mehr Hinſichten
eingeſchränkt, als wenn er ihn nicht geliebt hätte. Denn
Liebe iſt Luſt, (nach Anmerkung zu Lehrſatz 13 dieſes Teils,)
welche der Menſch, ſoviel er vermag, (nach Lehrſatz 28
dieſes Teils,) ſich zu erhalten ſucht; und zwar (nach der⸗
ſelben Anmerkung) dadurch, daß er den geliebten Gegen⸗
ſtand als gegenwärtig betrachtet und ihn, (nach Lehrſatz 21
13*
196 Ethik. Dritter Teil.
dieſes Teils,) ſoviel er vermag, mit Luſt erregt. Dieſes
Streben iſt (nach dem vorigen Lehrſatz) um ſo ſtärker, je
ſtärker die Liebe iſt, und je ſtärker auch das Beſtreben iſt,
zu bewirken, daß der geliebte Gegenſtand ihn wieder liebt
(ſ. Lehrſatz 33 dieſes Teils). Aber dieſes Beſtreben wird
durch den Haß gegen den geliebten Gegenſtand gehemmt
(nach Zuſatz zu Lehrſatz 13, und nach Lehrſatz 23 dieſes
Teils). Folglich wird der Liebende (nach Anmerkung zu
Lehrſatz 11 dieſes Teils) auch aus dieſer Urſache von Un⸗
luſt erregt, und um ſo ſtärker, je ſtärker die Liebe geweſen
war; das heißt, außer der Unluſt, welche die Urſache des
Haſſes geweſen, entſpringt noch eine andere Unluſt daraus,
daß er den Gegenſtand geliebt hatte. Demnach wird er
den geliebten Gegenſtand mit ſtärkerem Affekt der Unluſt
betrachten; d. h., (nach Anmerkung zu Lehrſatz 13 dieſes
Teils,) er wird ſtärkeren Haß gegen ihn empfinden, als
wenn er ihn vorher nicht geliebt hätte, und dieſer Haß
wird um ſo ſtärker ſein, je ſtärker vorher ſeine Liebe ge⸗
weſen iſt. — W. z. b. w
Neununddreißigſter Lehrſatz.
Wer jemand haßt, wird beſtrebt ſein, ihm Übles
zuzufügen, wenn er nicht fürchtet, daß daraus für ihn
ſelbſt ein größeres übel entſteht. Umgekehrt wird, wer
jemand liebt, beſtrebt ſein, ihm nach demſelben Geſetz
Gutes zuzufügen.
Beweis.
Jemand haſſen iſt, (nach Anmerkung zu ehrſat 31
dieſes Teils,) ihn als die Urſache der Unluſt vorſtellen.
Alſo wird (nach Lehrſatz 28 dieſes Teils) derjenige, der
jemand haßt, beſtrebt ſein, ihn zu entfernen oder zu zer⸗
ſtören. Wenn er aber fürchtet, daß ihm daraus mehr
Unluſt, oder (was dasſelbe iſt) ein größeres Übel erwächſt,
Ethik. Über den Urſprung und die Natur der Affekte. 197
das er verhüten zu können glaubt, wenn er dem Gehaßten
das ihm zugedachte Übel nicht zufügt, ſo wird er (nach
demſelben Lehrſatz 28 dieſes Teils) von dem Vorhaben,
ihm Übles zuzufügen, abzuſtehen begehren; und zwar wird
(nach Lehrſatz 37 dieſes Teils) dieſes Beſtreben ſtärker ſein,
als das, welches ihn antrieb, jenem das Übel zuzufügen,
und es wird daher die Oberhand haben, wie ich behaupte.
— Der Beweis des zweiten Teils wird ebenſo geführt. —
Somit wird, wer jemand haßt, zc. — W. z. b. w.
Aumerkung.
Unter Gut verſtehe ich hier jede Art von Luſt, und
ferner alles, was zur Luſt beiträgt, und hauptſächlich das,
was einen Wunſch, welcher Art er immer ſei, befriedigt.
Unter Übel dagegen jede Art von Unluſt, und haupt⸗
ſächlich das, was die Befriedigung eines Wunſches vereitelt.
Denn oben (in der Anmerkung zu Lehrſatz 9 dieſes Teils)
habe ich gezeigt, daß wir nicht etwas begehren, weil wir es
für gut halten, ſondern daß wir umgekehrt das gut heißen,
was wir begehren; und demgemäß nennen wir ſchlecht
(übel), das, was wir verabſcheuen. Daher beurteilt oder
ſchätzt jeder nach ſeinem Affekt was gut und was ſchlecht,
was das Beſſere und das Schlimmere, was das Beſte und
das Schlechteſte ſei. So hält der Habſüchtige einen Haufen
Gold für das Beſte, dagegen den Mangel daran für das
Schlimmſte. Der Ehrgeizige hingegen begehrt nichts ſo
ſehr, als den Ruhm, und zittert vor nichts mehr als vor
der Schande. Dem Neidiſchen iſt nichts angenehmer, als
das Unglück eines andern, nichts unangenehmer als fremdes
Glück. Und ſo hält jeder nach ſeinem Affekt ein Ding für
gut oder ſchlecht, nützlich oder ſchädlich.
Übrigens heißt dieſer Affekt, von welchem der Menſch
ſo disponiert wird, daß er das, was er möchte, nicht will,
oder das, was er nicht möchte, will, Scheu, welche dem⸗
nach nichts anderes iſt, als Furcht, ſofern der Menſch von
198 Ethik. Dritter Teil.
ihr disponiert wird, ein künftiges Übel, das er befürchtet,
durch ein anderes geringeres zu vermeiden. (S. Lehr⸗
ſatz 28 dieſes Teils.) — Wenn das übel, das er befürchtet,
die Schande iſt, ſo heißt dieſe Befürchtung Ehrgefühl
(Scheu vor Schande). — Wenn endlich das Verlangen, ein
künftiges Übel zu vermeiden, durch die Furcht vor einem
andern Übel gehemmt wird, ſo daß man nicht weiß, was
man vorziehen ſoll, ſo heißt die Furcht Beſtürzung,
namentlich wenn beide Übel, die man fürchtet, zu den
großen gehören. i
Vierzigſter Lehrſatz.
Wer ſich vorſtellt, daß er von jemand gehaßt wird,
ohne daß er ihm einen Grund zum Haß gegeben zu haben
glaubt, der wird denſelben wiederum haſſen.
Beweis.
Wer ſich vorſtellt, daß jemand von Haß erregt iſt, der
wird eben dadurch auch von Haß erregt werden, (nach Lehr⸗
ſatz 27 dieſes Teils,) d. h., (nach Anmerkung zu Lehr⸗
ſatz 13 dieſes Teils,) von Unluſt, verbunden mit der Idee
einer äußern Urſache. Nun ſtellt er ſich aber (nach der
Vorausſetzung) keine andere Urſache dieſer Unluſt vor, als
jenen, der ihn haßt. Folglich wird er dadurch, daß er ſich
vorſtellt, er werde von jemand gehaßt, von Unluſt erregt,
verbunden mit der Idee deſſen, der ihn haßt, oder (nach
derſelben Anmerkung) er wird ihn haſſen. — W. z. b. w
Anmerkung.
Wenn er ſich aber vorſtellt, daß er jenem eine gerechte
Urſache zum Haß gegeben habe, ſo wird er (nach Lehr⸗
ſatz 30 dieſes Teils und ſeiner Anmerkung) von Scham
erregt werden. Doch kommt dies (nach Lehrſatz 25 dieſes
Teils) ſelten vor. e
1
Ethik. über den Urſprung und die Natur der Affekte. 199
Übrigens kann dieſe Gegenſeitigkeit des Haſſes auch
dadurch entſtehen, daß aus dem Haß das Beſtreben folgt,
dem Gehaßten Übles zuzufügen (nach Lehrſatz 39 dieſes
Teils). Wer ſich alſo vorſtellt, daß er von jemand gehaßt
wird, der wird ſich dieſen als Urſache eines Übels oder
einer Unluſt vorſtellen. Er wird alſo von Unluſt oder
Furcht erregt werden, verbunden mit der Idee deſſen, der
ihn haßt, als deren Urſache; d. h., er wird von Gegenhaß
erregt werden, wie oben.
Bufaß I.
Wer ſich vorſtellt, daß jemand, den er liebt, von Haß
gegen ihn erregt iſt, der wird von Haß und Liebe zugleich
beſtürmt werden. Denn ſofern er ſich vorſtellt, daß er von
ihm gehaßt wird, wird er (nach dem vorigen Lehrſatz) be⸗
ſtimmt, ihn wieder zu haſſen. Aber deſſenungeachtet liebt
er ihn (nach der Vorausſetzung). Alſo wird er von Haß
und Liebe zugleich beſtürmt werden.
ZJuſatz II.
Wer ſich vorſtellt, daß ihm von jemand, für den er
vorher keinen Affekt empfunden hat, aus Haß ein Ubel
zugefügt worden ſei, ſo wird er ihm ſofort dasſelbe Übel
wieder zuzufügen ſuchen.
Beweis.
Wer ſich vorſtellt, daß jemand von Haß gegen ihn er⸗
regt iſt, der wird denſelben (nach dem vorigen Lehrſatzz)
wieder haſſen, und er wird (nach Lehrſatz 26 dieſes Teils)
beſtrebt ſein, alles zu erſinnen, was ihn mit Unluſt erregen
kann, und es ihm (nach Lehrſatz 39 dieſes Teils) zuzufügen
ſuchen. Das erſte dieſer Art, woran er denkt, iſt aber (nach
der Vorausſetzung) das ihm ſelbſt von jenem zugefügte
übel. Daher wird er es ihm fofort zuzufügen ſuchen. —
W. z. b. w.
200 Ethik. Dritter Teil.
Anmerkung.
Das Beſtreben, dem, den wir haſſen, Übles zuzufügen,
heißt Zorn. Das Beſtreben aber, ein uns zugefügtes
Übel wieder zu vergelten, heißt Rachſucht.
Einundvierzigſter Lehrſatz.
Wer ſich vorſtellt, daß er von jemand geliebt wird,
ohne daß er ihm einen Grund zur Liebe gegeben zu
haben glaubt, (was nach Zuſatz zu Lehrſatz 15 und nach
Lehrſatz 16 dieſes Teils möglich ift,) der wird denſelben
wiederum lieben.
Beweis.
Dieſer Lehrſatz wird auf gleiche Weiſe bewieſen, wie der
vorige. S. deſſen Anmerkung.
Anmerkung.
Wenn er ſich aber vorſtellt, daß er jenem eine gerechte
Urſache zur Liebe gegeben habe, ſo wird er ſich geehrt ſühlen
(nach Lehrſatz 30 dieſes Teils mit ſeiner Anmerkung).
Dieſer Fall kommt häufiger vor, (nach Lehrſatz 25 dieſes
Teils,) während deſſen Gegenteil, wie ich ſagte, dann ein⸗
trifft, wenn man ſich vorſtellt, man werde von jemand ge⸗
haßt. (S. die Anmerkung zum vorigen Lehrſatz.) —
Dieſe Gegenliebe, und demgemäß (nach Lehrſatz 39
dieſes Teils) das Beſtreben, demjenigen wohlzuthun, der
uns liebt, und der (nach demſelben Lehrſatz 39 dieſes Teils)
uns wohlzuthun ſucht, heißt Dank, oder Dankbarkeit. —
Es erhellt hieraus, daß die Menſchen viel eher zur
Rache als zur Vergeltung der Wohlthaten bereit ſind.
S
Ethik. über den Urſprung und die Natur der Affekte. 201
Bufaß.
Wer ſich vorftellt, daß er von jemand, den er haßt,
geliebt wird, der wird von Haß und Liebe zugleich beſtürmt
werden. — Dies wird auf gleiche Weiſe bewieſen, wie
Zuſatz I zum vorigen Lehrſatz.
Anmerkung.
Überwiegt der Haß, ſo wird er demjenigen, von dem
er geliebt wird, Übles zuzufügen ſuchen. Dieſer Affekt
heißt Grauſamkeit, beſonders wenn der Liebende keine
Urſache zum Haß gegeben zu haben ſcheint.
Zweiundvierzigſter Lehrſatz.
Wer aus Liebe, oder in der Hoffnung auf Ehre,
jemand eine Wohlthat erwieſen hat, der wird Unluſt
empfinden, wenn er ſieht, daß die Wohlthat mit undank⸗
barer Geſinnung empfangen wird.
Beweis.
Wer einen Gegenſtand ſeinesgleichen liebt, der iſt be—
ſtrebt, ſoviel er vermag, zu bewirken, daß er von ihm
wieder geliebt werde (nach Lehrſatz 33 dieſes Teils). Wer
alſo jemand aus Liebe eine Wohlthat erweiſt, der thut es
mit dem Wunſche, wieder geliebt zu werden, d. h., (nach
Lehrſatz 34 dieſes Teils,) mit der Hoffnung auf Ehre, oder
(nach Anmerkung zu Lehrſatz 30 dieſes Teils) auf Luſt.
Er wird daher (nach Lehrſatz 12 dieſes Teils) beſtrebt ſein,
dieſe Urſache der Ehre, ſoviel er vermag, ſich vorzuſtellen,
oder als wirklich exiſtierend zu betrachten. Er ſtellt ſich
aber (nach der Vorausſetzung) etwas anderes vor, was die
Exiſtenz dieſer Urſache ausſchließt. Alſo wird er (nach
i 19 dieſes Teils) dadurch Unluſt empfinden. —
w. x
202 Ethik. Dritter Teil.
Dreiundvierzigſter Lehrſatz.
Der Haß wird durch Erwiderung des Haſſes verſtärkt,
kann dagegen durch Liebe getilgt werden.
Beweis.
Wenn ſich jemand vorſtellt, daß derjenige, den er haßt,
von Gegenhaß gegen ihn erregt iſt, ſo entſpringt daraus
(nach Lehrſatz 40 dieſes Teils) ein neuer Haß, während der
erſte (nach der Vorausſetzung) dabei fortdauert. Stellt er
ſich dagegen vor, daß derſelbe von Liebe gegen ihn erregt
iſt, ſo betrachtet er, ſofern er dies vorſtellt, inſofern (nach
Lehrſatz 30 dieſes Teils) ſich ſelbſt mit Luſt, und inſofern.
wird er (nach Lehrſatz 29 dieſes Teils) ihm zu gefallen
ſuchen; d. h., (nach Lehrſatz 41 dieſes Teils,) inſofern ſtrebt
er, ihn nicht zu haſſen, und ihn mit keiner Unluſt zu er⸗
regen. Dieſes Beſtreben wird (nach Lehrſatz 37 dieſes
Teils) ſtärker oder ſchwächer ſein, je nach dem Affekt, aus
dem es entſpringt. Iſt es nun ſtärker als jenes Beſtreben,
das aus dem Haß entſpringt, und wonach der Betreffende
den Gehaßten (nach Lehrſatz 26 dieſes Teils) mit Unluſt
zu erregen ſucht, ſo wird es die Oberhand haben, und den
Haß aus dem Gemüt verdrängen. — W. z. b. w.
Vierundvierzigſter Lehrſatz.
Der Haß, welcher durch Liebe gänzlich beſiegt wird,
geht in Liebe über; und die Liebe iſt dann ſtärker, als
wenn ihr der Haß nicht vorausgegangen wäre.
Beweis.
Derſelbe wird ebenſo geführt, wie der des 38. Lehrſatzes
dieſes Teils. Denn wer einen Gegenſtand, den er haßt,
oder den er mit Unluſt zu betrachten pflegte, zu lieben an⸗
fängt, empfindet ſchon dadurch Luſt, daß er liebt. Zu dieſer
Ethik. Über den Urſprung und die Natur der Affekte. 203
Luſt, welche die Liebe in ſich ſchließt, (ſ. deren Deftnition in
der Anmerkung zu Lehrſatz 13 dieſes Teils,) kommt noch
jene hinzu, welche daraus entſpringt, daß das Beſtreben,
die Unluſt zu entfernen, welche der Haß in ſich ſchließt,
(wie in Lehrſatz 37 dieſes Teils gezeigt wurde,) ſehr ge-
fördert wird, in Verbindung mit der Idee desjenigen, den
man gehaßt hatte, als Urſache.
Anmerkung.
Obgleich ſich die Sache ſo verhält, ſo wird doch niemand
darnach ſtreben, einen Gegenſtand zu haſſen, oder mit Un⸗
luſt erregt zu werden, nur damit er dieſe ſtärkere Luſt ge⸗
nieße; d. h., niemand wird in der Hoffnung des Schaden
erſatzes Schaden zu leiden wünſchen, noch wird ſich jemand
ſehnen, krank zu ſein, in der Hoffnung auf Wiedergeneſung.
Denn jeder wird immer ſtreben, ſein Sein zu erhalten, und
Unluſt, ſoviel er vermag, zu entfernen. Wäre es indeſſen
denkbar, daß der Menſch die Begierde haben könnte, jemand
zu haſſen, um ihm nachher mit ſtärkerer Liebe zugethan zu
ſein, ſo müßte er die Begierde, ihn zu haſſen, fortwährend
haben; denn je ſtärker der Haß geweſen ſein wird, deſto
ſtärker wird die Liebe ſein, weshalb er fortwährend wünſchen
müßte, daß der Haß mehr und mehr wachſe. Aus dem—
ſelben Grunde müßte der Menſch auch ſtreben, mehr und
mehr krank zu fein, um ſpäter die größere Luft der Wieder⸗
geneſung zu genießen; er würde alſo immer ſtreben, krank
zu ſein. Das aber iſt (nach Lehrſatz 6 dieſes Teils)
widerſinnig.
Fünfundvierzigſter Lehrſatz.
Wenn ſich einer vorſtellt, daß jemand ſeinesgleichen
gegen einen Gegenſtand ſeinesgleichen, den er liebt, von
Haß erregt iſt, ſo wird er ihn haſſen.
204 Ethit. Dritter Teil.
Beweis.
Denn der geliebte Gegenſtand haßt den wiederum, der
ihn haßt (nach Lehrſatz 40 dieſes Teils). Der Liebende
alſo, der ſich vorſtellt, daß jemand den geliebten Gegen⸗
ſtand haßt, ſtellt ſich eben dadurch vor, daß der geliebte
Gegenſtand von Haß, d. h., (nach Anmerkung zu Lehrſatz 13
dieſes Teils,) von Unluſt erregt iſt. Er wird alſo (nach
Lehrſatz 21 dieſes Teils) Unluſt empfinden, und zwar ver⸗
bunden mit der Idee deſſen, der den geliebten Gegenſtand
haßt, als Urſache. Das heißt, (nach Anmerkung zu Lehr⸗
ſatz 13 dieſes Teils,) er wird ihn haſſen. — W. z. b. w.
Sechsundvierzigſter Lehrſatz.
Wenn jemand von einem Angehörigen eines andern
Standes oder Volkes mit Luſt oder Unluſt erregt worden
iſt, verbunden mit der Idee desſelben unter dem all⸗
gemeinen Namen ſeines Standes oder Volkes als Ur⸗
ſache, ſo wird er nicht nur ihn, ſondern alle Angehörigen
ſeines Standes oder Volkes lieben oder haſſen.
Beweis.
Der Beweis dieſes Satzes erhellt aus Lehrſatz 16
dieſes Teils.
Siebenundvierzigſter Lehrſatz.
Die Luſt, welche aus der Vorſtellung entſpringt, daß
ein gehaßter Gegenſtand zerſtört, oder von einem andern
Übel erregt wird, iſt nicht ohne einige Unluſt des Gemüts.
Beweis.
Er erhellt aus Lehrſatz 27 dieſes Teils. Denn ſofern
wir uns vorſtellen, daß ein Gegenſtand unſeresgleichen von
Unluſt erregt wird, inſofern empfinden wir Unluſt.
>
Ethik. Über den Urſprung und die Natur der Affekte. 205
Anmerkung.
Dieſer Lehrſatz kann auch aus Zuſatz zu Lehrſatz 17,
Teil 2, bewieſen werden. Denn fo oft wir uns des Gegen—
ſtands erinnern, auch wenn er nicht wirklich exiſtiert, be⸗
trachten wir ihn als gegenwärtig, und der Körper wird
auf gleiche Weiſe erregt. Sofern daher die Erinnerung an
den Gegenſtand lebendig iſt, inſofern wird der Menſch
beſtimmt, ihn mit Unluſt zu betrachten. Dieſe Beſtim⸗
mung wird, ſo lange die Vorſtellung des Gegenſtandes noch
währt, durch die Erinnerung jener Dinge, welche ſeine
Exiſtenz ausſchließen, zwar gehemmt, aber nicht aufgehoben.
Der Menſch empfindet alſo nur inſofern Luſt, ſofern dieſe
Beſtimmung gehemmt wird. Daher kommt es, daß dieſe
Luft, welche aus dem Übel, das den verhaßten Gegenſtand
trifft, entſpringt, ſo oft wiederkehrt, als wir uns dieſes
Gegenſtandes erinnern. Denn wie gejagt, ſobald die Vor—
ſtellung dieſes Gegenſtandes erweckt wird, beſtimmt ſie den
Menſchen, den Gegenſtand mit derſelben Unluſt zu betrachten,
mit welcher er ihn zu betrachten pflegte, als er noch exiſtierte.
Weil er aber mit der Vorſtellung dieſes Gegenſtandes andere
Vorſtellungen verknüpft hat, welche deſſen Exiſtenz aus-
ſchließen, darum wird dieſe Beſtimmung zur Unluſt ſofort
gehemmt, und der Menſch empfindet von neuem Luſt; und
zwar ſo oft, als ſich dies wiederholt.
Dies iſt auch die Urſache, weshalb die Menſchen Luſt
empfinden, ſo oft ſie ſich eines bereits vergangenen Übels
erinnern, und weshalb ſie Gefahren, aus denen ſie befreit
worden ſind, ſo gerne erzählen. Wenn ſie ſich nämlich die
Gefahr vorſtellen, betrachten ſie dieſelbe, als würden ſie
noch immer von ihr bedroht, und werden beſtimmt, ſie zu
fürchten. Dieſe Beſtimmung aber wird wieder eingeſchränkt
durch die Idee der Befreiung, die ſie mit der Idee dieſer
Gefahr verknüpft haben, als ſie von ihr befreit wurden,
206 Ethik. Dritter Teil.
und welche ſie wieder ſicher macht, weshalb ſie wieder
Luſt empfinden.
Achtundvierzigſter Lehrſatz.
Die Liebe und der Haß, z. B. gegen Peter, wird
aufgehoben, wenn die Unluſt, welche dieſe, und die Luſt,
welche jene in ſich ſchließt, mit der Idee einer andern
Urſache verknüpft wird. Auch wird die eine wie der
andere inſofern vermindert, ſofern wir uns vorſtellen,
daß Peter nicht allein die Urſache davon geweſen iſt.
Beweis.
Derſelbe erhellt aus der bloßen Definition der Liebe und.
des Haſſes; ſiehe dieſe in der Anmerkung zu Lehrſatz 13
dieſes Teils. Denn die Luſt heißt nur deswegen Liebe zu
Peter, und die Unluſt nur darum Haß gegen Peter, weil
Peter als die Urſache des einen und des andern Affefts*)
betrachtet wird. Wird alſo die Vorſtellung ganz oder teil⸗
weiſe aufgehoben, ſo hört auch dieſer Affekt gegen Peter
ganz oder teilweiſe auf. — W. z. b. w.
Neunundvierzigſter Lehrſatz.
Die Liebe und der Haß gegen einen Gegenſtand, den
wir uns als frei vorſtellen, müſſen bei gleicher Urſache
ſtürker ſein, als gegen einen notwendigen (unfreien).
Beweis.
Ein Gegenſtand, den wir uns als frei vorſtellen, muß
(nach Definition 7, Teil 1) durch ſich allein, ohne andere,
erfaßt werden. Wenn wir uns ihn alſo als Urſache der
Luſt oder Unluſt vorſtellen, ſo werden wir ihn eben dadurch
*) Offenbar muß atfectus ſtatt effectus geleſen werden, ſchon
wegen des Kaſus'. Anmerkung des Überſetzers.
Ethik. Über den Urſprung und die Natur der Affekte. 207
(nach Anmerkung zu Lehrſatz 13 dieſes Teils) lieben oder
haſſen, und zwar (nach dem vorigen Lehrſatz) mit der
ſtärkſten Liebe, oder dem ſtärkſten Haß, die aus dem ge⸗
gebenen Affekt entſpringen können. Wenn wir uns aber
den Gegenſtand, der die Urſache dieſes Affekts iſt, als not⸗
wendig vorſtellen, ſo werden wir (nach derſelben Definition 7,
Teil 1,) ihn nicht allein, ſondern mit andern, als Urſache
dieſes Affekts vorſtellen. Alſo wird (nach dem vorigen
Lehrſatz) die Liebe und der Haß gegen denſelben ſchwächer
ſein. — W. z. b. w.
Anmerkung.
Hieraus folgt, daß die Menſchen, weil fie fich für frei
halten, ſtärkere Liebe und ſtärkeren Haß gegen einander
hegen, als gegen andere Dinge. Hierzu kommt noch die
Nachahmung der Affekte. S. hierüber die Lehrſätze 27, 34,
40 und 43 dieſes Teils.
Fünfzigſter Lehrſatz.
Jedes Ding kann zufällig (gelegentlich, durch einen
Nebenumſtand,) Urſache der Hoffnung oder der Furcht ſein.
Beweis.
Dieſer Lehrſatz wird ebenſo bewieſen, wie Lehrſatz 15
dieſes Teils. Vergleiche dieſen, zugleich mit der Anmerkung
zu Lehrſatz 18 dieſes Teils.
Anmerkung.
Die Dinge, welche zufällig Urſache der Hoffnung oder
der Furcht ſind, werden gute oder ſchlechte Vorzeichen
genannt. Sofern ferner dieſe Vorzeichen Urſache der Hoff-
nung oder Furcht ſind, inſofern ſind ſie (nach der Defini⸗
tion von Hoffnung und Furcht, ſiehe dieſe in der 2. An⸗
merkung zu Lehrſatz 18 dieſes Teils,) Urſache der Luſt und
2
208 Ethik. Dritter Teil.
Unluſt, und inſofern folglich (nach Zuſatz zu Lehrſatz 15
dieſes Teils) lieben oder haſſen wir ſie, und ſind beſtrebt,
(nach Lehrſatz 28 dieſes Teils,) ſie als Mittel zu dem,
was wir hoffen, anzuwenden, oder als Hinderniſſe des⸗
ſelben, oder als Urſache der Furcht, zu entfernen. Aus
Lehrſatz 25 dieſes Teils folgt außerdem, daß wir von
Natur ſo beſchaffen ſind, daß wir leicht glauben, was wir
hoffen, aber ſchwer, was wir fürchten, und daß wir von
dem einen mehr, von dem andern weniger als recht iſt,
halten. Und hieraus iſt allerlei Aberglauben entſtanden,
von dem die Menſchen allerorten aufgeregt werden.
Übrigens halte ich es hier nicht für nötig, die Schwan⸗
kungen des Gemüts zu erörtern, welche aus Furcht und
Hoffnung entſpringen, da ja ſchon aus der bloßen Definition
dieſer Affekte folgt, daß es keine Hoffnung ohne Furcht,
und keine Furcht ohne Hoffnung giebt, (was ich an der
geeigneten Stelle ausführlicher auseinanderſetzen werde,) und
da wir außerdem inſofern etwas lieben oder haſſen, ſofern
wir es hoffen oder fürchten; weshalb jeder alles, was von
Liebe und Haß geſagt wurde, leicht auf Hoffnung und
Furcht wird anwenden können.
Einundfünfzigſter Lehrſatz.
Verſchiedene Menſchen können von einem und dem⸗
ſelben Objekt auf verſchiedene Weiſe erregt werden, und
derſelbe Menſch kann von einem und demſelben Objekt
zu verſchiedenen Zeiten auf verſchiedene Weiſe —
werden.
Beweis.
Der menſchliche Körper wird (nach Heiſcheſatz 3, Teil 2,)
von den äußern Körpern auf vielerlei Weiſen erregt. Es
können alſo zu derſelben Zeit zwei Menſchen auf ver⸗
ſchiedene Weiſe erregt ſein, und folglich können ſie (nach
Axiom I hinter Hilfsſatz 3, f. dieſes hinter Lehrſatz 13,
Ethik. Über den Urſprung und die Natur der Affekte. 209
Teil 2,) von einem und demſelben Objekt auf verſchiedene
Weiſe erregt werden. — Ferner kann (nach demſelben
Heiſcheſatz) der menſchliche Körper bald auf dieſe, bald auf
andere Weiſe erregt ſein, und folglich (nach demſelben
Axiom) von einem und demſelben Objekt zu verſchiedenen
Zeiten auf verſchiedene Weiſe erregt werden. — W. z. b. w.
Anmerkung.
Wir erſehen hieraus, wie es geſchehen kann, daß der
eine liebt, was der andere haßt, und daß der eine fürchtet,
was der andere nicht fürchtet; wie auch, daß derſelbe Menſch
jetzt liebt, was er früher gehaßt hat, und jetzt wagt, was
er früher gefürchtet hat u. ſ. f.
Weil ferner jeder nach ſeinem Affekt beurteilt, was gut
und was ſchlecht, was beſſer und was ſchlimmer iſt, (f.
Anmerkung zu Lehrſatz 39 dieſes Teils,) ſo folgt, daß die
Menſchen ſowohl in ihrem Urteil, als in ihrem Affekt,
verſchieden ſein können.“
Daher kommt es, daß, wenn wir die einen mit den
andern vergleichen, wir ſie nach der bloßen Verſchiedenheit
ihrer Affekte von einander unterſcheiden, und daß wir dieſe
unerſchrocken, jene furchtſam, andere wieder mit andern
Namen benennen. So z. B. werde ich den unerſchrocken
nennen, der ein Übel geringſchätzt, das ich zu fürchten pflege.
Faſſe ich daneben noch ins Auge, daß ſeine Begierde, dem
Schlimmes zuzufügen, den er haßt, und dem wohlzuthun,
den er liebt, durch die Furcht vor einem Übel, wegen deſſen
ich manches unterlaſſe, nicht eingeſchränkt wird, ſo werde
ich ihn kühn nennen. Ferner wird mir derjenige als
furchtſam erſcheinen, der ein Übel fürchtet, das ich gering
zu ſchätzen pflege. Faſſe ich daneben noch ins Auge, daß
ſeine Begierde durch die Furcht vor einem übel, das mich
*) NB. Daß dies möglich iſt, obgleich der menſchliche Geiſt ein
Teil des göttlichen Verſtandes iſt, habe ich in der Anmerkung zu Lehr⸗
ſatz 13, Teil 2, gezeigt. Anmerkung des Verfaſſers.
14
210 Ethik. Dritter Teil.
nicht ſchrecken kann, eingeſchränkt wird, fo ſage ich, er fei
ängſtlich; und ſo wird jeder urteilen.
Aus dieſer Natur des Menſchen, und bei der Veränder⸗
lichkeit ſeines Urteils, auch weil der Menſch häufig nach
dem bloßen Affekt die Dinge beurteilt, und weil die Dinge,
die nach ſeiner Meinung zur Luſt und Unluſt beitragen,
und die er darum (nach Lehrſatz 28 dieſes Teils) zu ver⸗
wirklichen oder zu entfernen ſucht, oft nur eingebildet ſind,
— ganz abgeſehen von andern Umſtänden, die im Zweiten
Teil über die Ungewißheit der Dinge dargelegt wurden —
begreift es ſich leicht, daß der Menſch oft die Urſache ſeiner
eigenen Unluſt und Luſt ſein kann, oder daß er die Ur⸗
ſache iſt, daß er mit Unluſt oder Luſt, verbunden mit der
Idee ſeiner ſelbſt als Urſache, erregt wird. Wir verſtehen
dadurch leicht, was Reue und was Selbſtzufriedenheit iſt.
Reue iſt nämlich Unluſt, verbunden mit der Idee ſeiner
ſelbſt als Urſache; Selbſtzufriedenheit iſt Luft, ver⸗
bunden mit der Idee ſeiner ſelbſt als Urſache. Dieſe
Affekte ſind ſehr heftig, weil die Menſchen glauben, ſie
wären frei. (S. Lehrſatz 49 dieſes Teils.)
Zweiundfünfzigſter Lehrſatz.
Ein Objekt, das wir früher zugleich mit andern
Objekten geſehen haben, oder das nach unſerer Meinung
nichts an ſich hat, was nicht auch viele andere Objekte
an ſich haben, werden wir nicht ſo lange betrachten, als
ein Objekt, das nach unſerer Meinung etwas weinen
an ſich hat. f
Beweis.
Sobald wir uns ein Objekt vorſtellen, das wir mit
andern Objekten geſehen haben, erinnern wir uns auch der
andern, (nach Lehrſatz 18, Teil 2, ſ. auch deſſen An⸗
merkung,) und ſo kommen wir von der Betrachtung des
einen ſofort auf die Betrachtung des andern. Ebenſo ver⸗
Ethik. über den Urſprung und die Natur der Affekte. 211
hält es ſich mit einem Objekt, das nach unſerer Meinung
nichts an ſich hat, was nicht auch viele andere Objekte an
ſich haben. Denn damit nehmen wir an, daß wir an ihm
nichts wahrnehmen, was wir nicht vorher auch an andern
Objekten geſehen haben. Wenn wir aber annehmen, daß
wir an einem Objekt etwas beſonderes wahrnehmen, was
wir vorher niemals geſehen haben, ſo ſagen wir nichts
anderes, als daß der Geiſt, während er dieſes Objekt be—⸗
trachtet, nichts anderes in ſich hat, auf deſſen Betrachtung
er von der Betrachtung dieſes Objekts kommen kann; und
er iſt daher beſtimmt, dieſes allein zu betrachten. Ein
Objekt alſo ze. — W. z. b. w.
Anmerkung.
Dieſe Erregung des Geiſtes, oder Vorſtellung eines
beſonderen Dinges, heißt, ſofern ſie bloß im Geiſt vor—
handen iſt, Bewunderung. Geht ſie von einem Objekt
aus, das wir fürchten, ſo wird ſie Beſtürzung genannt;
weil die Verwunderung über dieſes Übel den Menſchen in
deſſen Betrachtung ſo feſt hält, daß er die Kraft nicht ge⸗
winnt, an etwas anderes zu denken, womit es jenes Übel
abhalten könnte. Iſt aber das, was wir bewundern, eines
Menſchen Klugheit, Fleiß, oder etwas derartiges, indem
wir ſehen, daß uns der betreffende darin weit übertrifft,
ſo heißt die Bewunderung Hochachtung (Verehrung,
Ehrfurcht); andernfalls, wenn wir uns über eines Menſchen
Zorn, Mißgunſt u. ſ. f. wundern, fo heißt das Abſcheu.
— Wenn wir ferner die Klugheit, den Fleiß u. ſ. f. eines
Menſchen bewundern, den wir lieben, ſo wird die Liebe
eben dadurch (nach Lehrſatz 12 dieſes Teils) ſtärker ſein,
und eine ſolche mit Bewunderung oder Hochachtung ver—
bundene Liebe nennen wir Ergebenheit. Auf dieſe Weiſe
können wir uns auch den Haß, die Hoffnung, die Zuver—
ſicht, und andere Affekte, mit der Bewunderung verbunden
denken, und können jo mehr Affekte ableiten, als es ge⸗
14 *
212 Ethik. Dritter Teil.
bräuchliche Worte dafür giebt. Hieraus erhellt auch, daß
die Namen der Affekte nicht ſowohl aus der genauen Er⸗
kenntnis der Affekte gebildet wurden, als vielmehr nach
dem Bedürfnis des ſprachlichen Verkehrs.
Der Bewunderung ſteht die Verachtung gegenüber,
deren Urſache meiſtenteils folgende iſt. Wenn wir ſehen,
daß jemand ein Ding bewundert, liebt, fürchtet u. ſ. f.,
oder wenn ein Ding auf den erſten Anblick Ahnlichkeit
mit Dingen zeigt, die wir bewundern, lieben, fürchten u. ſ. f.,
fo werden wir beſtimmt, (nach Lehrſatz 15 mit feinem
Zuſatz, und Lehrſatz 27 dieſes Teils,) dieſes Ding zu be⸗
wundern, zu lieben, zu fürchten u. ſ. f. Sind wir nun
aber, wenn das Ding ſelbſt uns gegenwärtig iſt, oder wenn
wir es genauer betrachten, gezwungen, ihm alles abzusprechen,
was Urſache der Bewunderung, Liebe, Furcht u. ſ. f. fein
kann, ſo bleibt der Geiſt durch die wirkliche Gegenwart des
Dinges mehr beſtimmt, an das zu denken, was nicht an
ihm iſt, als an das, was ja an ihm iſt; während er ſonſt,
wenn ein Ding gegenwärtig iſt, hauptſächlich an das zu
denken pflegt, was an dem Ding iſt. — Wie ſodann die
Ergebenheit aus der Bewunderung eines Dinges, das wir
lieben, entſpringt, ſo entſpringt die Verhöhnung (der
Spott) aus der Verachtung eines Dinges, das wir haſſen
oder fürchten; ebenſo die Geringſchätzung aus der Ver⸗
achtung der Dummheit, wie die Ergebenheit aus der Be⸗
wunderung der Klugheit. — Wir können endlich auch die
Liebe, die Hoffnung, die Ehre mit der Verachtung verbun⸗
den denken, und daraus noch andere Affekte ableiten, die
man ebenfalls mit keinem beſonderen Namen von andern
zu unterſcheiden pflegt.
Sthik. Über den Urſprung und die Natur der Affekte. 213
Dreiundfünfzigſter Lehrſatz.
Wenn der Geiſt ſich ſelbſt und ſein Thätigkeitsver⸗
mögen betrachtet, empfindet er Luſt; und um ſo mehr,
je deutlicher er ſich und ſein Thätigkeitsvermögen vorſtellt.
Beweis.
Der Menſch kennt ſich ſelbſt nur durch die Erregung
feines Körpers und die Ideen derſelben (nach dem Lehr⸗
ſatz 19 und 23, Teil 2). Wenn es alſo geſchieht, daß der
Geiſt ſich ſelbſt betrachten kann, ſo wird angenommen, daß
er eben dadurch zu größerer Vollkommenheit übergeht,
d. h., (nach Anmerkung zu Lehrſatz 11 dieſes Teils,) daß
er von Luſt erregt wird; und um ſo mehr, je deutlicher er
ſich und ſein Thätigkeitsvermögen vorſtellen kann. — W.
z. b. w.
Zuſatz.
Dieſe Luſt wird mehr und mehr genährt, je mehr der
Menſch ſich von andern gelobt vorſtellt. Denn je mehr
er ſich von andern gelobt vorſtellt, um ſo ſtärker ſtellt er
ſich die Luſt vor, von welcher andre durch ihn erregt
werden, und zwar in Verbindung mit der Idee ſeiner ſelbſt
(nach Anmerkung zu Lehrſatz 29 dieſes Teils). Daher
wird er ſelbſt (nach Lehrſatz 27 dieſes Teils) von ſtärkerer
Luſt, verbunden mit der Idee ſeiner ſelbſt, erfüllt. — W.
3. b. w.
Vierundfünfzigſter Lehrſatz.
Der Geiſt ſtrebt, nur das ſich vorzuſtellen, was ſein
Thätigkeitsvermögen ſetzt.
Beweis.
Das Streben oder das Vermögen des Geiſtes iſt das
Weſen des Geiſtes ſelbſt (nach Lehrſatz 7 dieſes Teils).
214 Ethik. Dritter Teil.
Das Weſen des Geiſtes aber bejaht (wie an ſich klar) nur
das, was der Geiſt iſt und vermag; nicht aber das, was
er nicht iſt und nicht vermag. Daher ſtrebt er, nur das
ſich vorzuſtellen, was fein Thätigkeitsvermögen bejaht oder
ſetzt. — W. z. b. w.
Fünfundfünfzigſter Lehrſatz.
Wenn ſich der Geiſt ſein Unvermögen vorſtellt, ſo
empfindet er eben dadurch Unluſt.
Beweis.
Das Weſen des Geiſtes bejaht nur das, was der Geiſt
iſt und vermag; oder es liegt in der Natur des Geiſtes,
ſich nur das vorzuſtellen, was ſein Thätigkeitsvermögen
ſetzt (nach dem vorigen Lehrſatz). Wenn wir alſo ſagen,
daß der Geiſt, während er ſich ſelbſt betrachtet, ſich ſein
Unvermögen vorſtellt, ſo ſagen wir nichts anderes, als daß,
wenn der Geiſt ſich etwas vorzuſtellen ſtrebt, was ſein
Thätigkeitsvermögen fett, dieſes fein Streben gehemmt
wird, oder, (nach Anmerkung zu Lehrſatz 11 dieſes Teils,
daß er Unluſt empfindet. — W. z. b. w
ZJuſatz.
Dieſe Unluſt wird mehr und mehr genährt, wenn er
ſich von andern verachtet vorſtellt; was auf gleiche Weiſe
bewieſen wird, wie der Zuſatz zu Lehrſatz 53 dieſes Teils.
Anmerkung.
Dieſe mit der Idee unſerer Schwäche verbundene Unluß
wird Niedergeſchlagenheit genannt. Die Luſt dagegen,
die aus der Betrachtung unſerer ſelbſt entſpringt, heißt
Selbſtliebe oder Selbſtzufriedenheit. Und da dieſe
Luſt ebenſo oft wiederkehrt, ſo oft der Menſch ſeine Vor⸗
züge oder fein Thätigkeitsvermögen betrachtet, jo kommt
Ethik. Über den Urſprung und die Natur der Affekte. 215
es folglich auch daher, daß jeder ſo gerne ſeine Thaten
erzählt, und ſowohl ſeine körperlichen, wie ſeine geiſtigen
Kräfte an den Tag legt, ſo daß die Menſchen einander
damit läſtig werden. — Hieraus folgt wiederum, daß die
Menſchen von Natur mißgünſtig ſind, (ſ. die Anmerkung
zu Lehrſatz 24, und die Anmerkung zu Lehrſatz 32 dieſes
Teils,) oder daß ſie ſich über die Schwäche ihrer Neben⸗
menſchen freuen, über deren Vorzüge dagegen ſich ärgern.
Denn ſo oft jeder ſich ſeine Thaten vorſtellt, ebenſo oft
wird er von Luft erregt, (nach Lehrſatz 53 dieſes Teils,
und um ſo mehr, je mehr Vollkommenheit ſeine Thaten
nach ſeiner Vorſtellung ausdrücken, und je deutlicher er
ſich dieſelben vorſtellt, d. h., (nach dem, was in der 1. An⸗
merkung zu Lehrſatz 40, Teil 2, ausgeführt iſt,) je mehr
er dieſelben von andern unterſcheiden und als etwas be—
ſonderes betrachten kann. Deshalb wird jeder bei der
Betrachtung ſeiner ſelbſt ſich dann am meiſten freuen, wenn
er etwas an ſich betrachtet, was er von andern verneint.
Wenn aber das, was er von ſich bejaht, zur allgemeinen
Idee des Menſchen oder der lebenden Weſen gehört, ſo
wird er ſich nicht ſo ſehr freuen. Umgekehrt wird er Un⸗
luſt empfinden, wenn er ſich vorſtellt, daß ſeine Handlungen
im Vergleich mit den Handlungen anderer ſchwächer ſind.
Von dieſer Unluſt wird er ſich zwar (nach Lehrſatz 28
dieſes Teils) zu befreien ſuchen, und zwar dadurch, daß er
die Handlungen ſeiner Nebenmenſchen mißdeutet, oder ſeine
eigenen, ſoviel er vermag, herausſtreicht.
Es erhellt demnach, daß die Menſchen von Natur zu
Haß und Mißgunſt geneigt ſind. Dieſe Neigung wird noch
durch die Erziehung gefördert. Denn die Eltern pflegen
ihre Kinder nur durch den Stachel des Ehrgeizes und des
Neids zur Tugend anzueifern. — Vielleicht bleibt aber noch
der Einwand, daß wir nicht ſelten die Tugenden der
Menſchen bewundern und dieſelben hochſchätzen. Um dieſen
Einwand zu beſeitigen, will ich noch folgenden Zuſatz beifügen.
216 Ethik. Dritter Teil.
ZJuſatz.
Der Menſch beneidet nur ſeinesgleichen um einen Vorzug.
Beweis.
Der Neid iſt Haß, (ſ. Anmerkung zu Lehrſatz 24 dieſes
Teils,) oder (nach Anmerkung zu Lehrſatz 13 dieſes Teils)
Unluſt, d. h., (nach Anmerkung zu Lehrſatz 11 dieſes Teils, )
eine Erregung, durch welche das Thätigkeitsvermögen des
Menſchen, oder ſein Beſtreben, gehemmt wird. Der Menſch
aber ſtrebt oder begehrt nichts zu thun, als was aus
ſeiner gegebenen Natur erfolgen kann (nach Anmerkung zu
Lehrſatz 9 dieſes Teils). Alſo wird der Menſch nicht be⸗
gehren, daß ihm ein Thätigkeitsvermögen, oder (was das⸗
ſelbe ift) eine Tugend beigelegt werde, welche der Natur
eines andern eigentümlich, und der ſeinigen fremd iſt. Es
kann folglich ein Begehren nicht deshalb eingeſchränkt
werden, d. h., (nach Anmerkung zu Lehrſatz 11 dieſes
Teils,) er kann nicht deshalb Unluſt empfinden, weil er
an jemand, der nicht ſeinesgleichen iſt, einen Vorzug be⸗
merkt, und folglich wird er ihn nicht darum beneiden
können; wohl aber ſeinesgleichen, bei dem er eine der ſeinen
gleiche Natur vorausſetzt. — W. z. b. w.
Anmerkung.
Wenn ich alſo oben, in der Anmerkung zu Lehrſatz 52
dieſes Teils, geſagt habe, daß wir einen Menſchen deshalb
hochachten, weil wir ſeine Klugheit, Tapferkeit u. ſ. f. be⸗
wundern, ſo kommt dies daher, (wie aus dem Lehrſatz
ſelbſt erhellt) weil wir uns vorſtellen, daß dieſe Tugenden
ihm eigentümlich, und nicht gemeinſame Eigenſchaften der
Menſchennatur ſind. Daher werden wir ihn um dieſelben
ebenſowenig beneiden, wie die Bäume um ihre Höhe, die
Löwen um ihre Stärke u. ſ. f. 1
Ethik. Über den Urſprung und die Natur der Affekte. 217
Sechsundfünfzigſter Lehrſatz.
Von der Luſt, der Unluſt und der Begierde, und folg⸗
lich auch von jedem Affekt, der aus dieſen zuſammen⸗
geſetzt iſt, wie das Schwanken des Gemüts, oder der
von dieſen abgeleitet iſt, wie Liebe, Haß, Hoffnung,
Furcht u. ſ. f., giebt es ebenſoviele Arten, als es Arten
von Objekten giebt, von denen wir erregt werden.
Beweis.
Luſt und Unluſt, und folglich auch die Affekte, welche
aus dieſen zuſammeungeſetzt find, oder von dieſen abgeleitet
werden, ſind Leiden (nach Anmerkung zu Lehrſatz 11 dieſes
Teils). Wir leiden aber notwendig, (nach Lehrſatz 1 dieſes
Teils,) ſofern wir inadäquate Ideen haben; und nur inſofern
leiden wir, ſofern wir dieſe haben (nach Lehrſatz 3 dieſes
Teils). Das heißt, (ſ. Anmerkung zu Lehrſatz 40, Teil 2, nur
inſofern leiden wir notwendig, ſofern wir (ſinnliche) Vorſtel⸗
lungen haben, oder (ſ. Lehrſatz 17, Teil 2, mit ſeiner Anmer⸗
kung,) ſofern wir von einem Affekt erregt werden, welcher die
Natur unſeres Körpers und die Natur des äußern Körpers
in ſich ſchließt. Die Natur eines jeden Leidens muß alſo
notwendig ſo erklärt werden, daß die Natur des Objekts,
von dem wir erregt werden, damit ausgedrückt wird.
Nämlich die Luſt, welche aus einem Objekt, z. B. A, ent⸗
ſpringt, ſchließt die Natur des Objekts A ſelbſt in ſich,
und die Luft, die aus dem Objekt B entſpringt, ſchließt
die Natur des Objekts B in ſich. Daher ſind dieſe beiden
Affekte der Luſt ihrer Natur nach verſchieden, weil ſie von
Urſachen verſchiedener Natur herrühren. So iſt auch der
Affekt der Unluſt, welcher aus dem einen Objekt entſpringt,
ſeiner Natur nach verſchieden von der Unluſt, die von einer
andern Urſache herrührt. Dasſelbe gilt auch von der
Liebe, dem Haß, der Hoffnung, der Furcht, dem Schwanken
des Gemüts u. ſ. f. Alſo giebt es notwendig ebenſoviele
218 Ethik. Dritter Teil.
Arten von Luſt, Unluſt, Liebe, Haß u. ſ. f., als es Arten
von Objekten giebt, von denen wir erregt werden.
Die Begierde aber iſt eines jeden Weſen oder Natur
ſelbſt, ſofern ſie als durch irgend einen gegebenen Zuſtand
derſelben zu irgend einer Thätigkeit beſtimmt begriffen
wird. (S. Anmerkung zu Lehrſatz 9 dieſes Teils.) Je
nachdem alſo jemand durch äußere Urſachen von dieſer
oder jener Art der Luſt, der Unluſt, der Liebe, des Haſſes
u. ſ. f. erregt wird, d. h., je nach dem Zuſtand ſeiner
Natur, muß ſeine Begierde notwendig bald ſo bald anders
ſein, und die Natur der einen muß notwendig von der
Natur der andern genau ſo verſchieden ſein, wie die Affekte,
aus denen jede entſpringt, ſich von einander unterſcheiden.
Alſo giebt es ebenſoviele Arten von Begierden, als es
Arten von Luſt, Unluſt, Liebe u. ſ. f. giebt, und folglich
auch (nach dem bereits Gezeigten) ſo viele, als es Arten
von Objekten giebt, von denen wir erregt werden. —
W. z. b. w.
Anmerkung.
Unter den verſchiedenen Arten von Affekten, deren es
(nach dem vorigen Lehrſatz) ſehr viele geben muß, ſind die
hervorragendſten: die Schwelgerei, die Trunkſucht, die
(geſchlechtliche) Lüſternheit, die Habſucht und der Ehr⸗
geiz. Sie ſind nichts anderes als Begriffe der Liebe und
der Begierde, welche die Natur dieſer beiden Affekte durch
die Objekte erklären, auf welche ſie ſich beziehen. Denn
unter Schwelgerei, Trunkſucht, Lüſternheit und Ehrſucht
verſtehen wir nichts anderes als die unmäßige Liebe und
Begierde zum Schmauſen, zum Zechen, zum Begatten, zum
Reichtum und zur Ehre. Im übrigen ſtehen dieſen Affekten,
ſofern wir ſie bloß nach dem Objekt, worauf ſie ſich be⸗
ziehen, von andern unterſcheiden, keine gegenteiligen Affekte
gegenüber. Denn die Mäßigkeit, die wir der Schwelgerei,
die Nüchternheit, die wir der Trunkſucht, endlich die
Keuſchheit, die wir der Lüſternheit gegenüber zu ſtellen
Ethik. über den Urſprung und die Natur der Affekte. 219
pflegen, ſind keine Affekte oder Leiden, ſondern ſie zeigen
die Macht des Geiſtes an, welche dieſe Affekte zügelt.
Auf die übrigen Arten von Affekten kann ich hier nicht
eingehen, (da es ſo viele giebt, als es Arten von Objekten
giebt,) und wenn ich es auch könnte, fo wäre es nicht
nötig. Denn für das, was ich bezwecke, die Beſtimmung
der Kräfte der Affekte, und der Macht des Geiſtes über
dieſelben, genügt die allgemeine Definition eines jeden
Affekts. Es genügt, ſage ich, die gemeinſamen Eigenſchaften
der Affekte und des Geiſtes zu verſtehen, um beſtimmen zu
können, welcher Art und wie groß die Macht des Geiſtes
iſt, die Affekte zu bezähmen und einzuſchränken. Obgleich
daher zwiſchen dieſem und jenem Affekt der Liebe, des
Haſſes oder der Begierde ein großer Unterſchied iſt, wie
z. B. zwiſchen der Liebe zu den Kindern und der Liebe zur
Frau, fo haben wir hier nicht nötig, dieſe Verſchieden—
heiten zu kennen und die Natur und den Urſprung der
Affekte weiter zu unterſuchen.
Siebenundfünfzigſter Lehrſatz.
Jeder Affekt eines jeden Individuums iſt von dem
Affekt eines andern um ſoviel unterſchieden, als das
Weſen des einen von dem Weſen des andern unter⸗
ſchieden iſt.
Beweis.
Dieſer Lehrſatz erhellt aus Axiom I. Siehe dieſes nach
Hilfsſatz 3 zur Anmerkung bei Lehrſatz 13, im Zweiten
Teil. Gleichwohl will ich ihn auch aus den Deſinitionen
der drei Hauptaffekte beweiſen.
Alle Affekte beziehen ſich auf Begierde, Luft oder Un-
luſt, wie die aufgeſtellten Definitionen derſelben zeigen.
Die Begierde iſt aber eben die Natur oder das Weſen
eines jeden (ſ. deren Definition in der Anmerkung zu
Lehrſatz 9 dieſes Teils). Folglich iſt die Begierde eines
220 Ethik. Dritter Teil.
jeden Individuums von der Begierde eines andern um
ſoviel unterſchieden, als die Natur oder das Weſen des
einen von dem Weſen des andern ſich unterſcheidet. — Luſt
und Unluſt ferner ſind Leiden, durch welche das Vermögen
oder Beſtreben eines jeden vermehrt oder vermindert, ge⸗
fördert oder gehemmt wird (nach Lehrſatz 11 dieſes Teils
und ſeiner Anmerkung). Unter dem Beſtreben aber, in
ſeinem Sein zu verharren, verſtehen wir, ſofern es auf
Geiſt und Körper zugleich bezogen wird, das Verlangen
oder die Begierde (ſ. Anmerkung zu Lehrſatz 9 dieſes Teils).
Folglich find Luſt und Unluſt die Begierde oder das Ver⸗
langen ſelbſt, ſofern es von äußern Urſachen vermehrt oder
vermindert, gefördert oder gehemmt wird; d. h., (nach der⸗
ſelben Anmerkung,) fie find eben die Natur eines jeden.
Mithin iſt auch die Luſt oder Unluſt eines jeden von der
Luſt oder Unluſt eines andern um ſoviel unterſchieden, als
die Natur oder das Weſen des einen von dem Weſen des
andern verſchieden iſt. — Alſo iſt jeder Affekt eines jeden
Individuums von dem Affekt eines andern um ſoviel
unterſchieden u. ſ. f. — W. z. b. w. 0
Anmerkung.
Hieraus folgt, daß die Affekte der Geſchöpfe, die man
vernunftlos nennt, (denn daß die Tiere Empfindung haben,
können wir durchaus nicht bezweifeln, nachdem wir den
Urſprung des Geiſtes kennen gelernt haben,) von den
Affekten der Menſchen ſich um ſoviel unterſcheiden, als ſich
ihre Natur von der menſchlichen Natur unterſcheidet. Das
Pferd wird zwar wie der Menſch von der Zeugungsluſt
angetrieben; aber jenes von der pferdemäßigen, dieſer von
der menſchlichen Zeugungsluſt. So müſſen auch die Lüſte
und Begierden der Inſekten, der Fiſche und der Vögel
untereinander verſchieden ſein. a
Wenn daher auch jedes Individuum mit Seiner Natur,
aus welcher es beſteht, zufrieden lebt, und ſich derſelben
Ethik. über den Urſprung und die Natur der Affekte. 221
erfreut, ſo iſt doch dieſes Leben, mit dem jedes zufrieden
iſt, und dieſe Freude, nichts anderes als die Idee, oder die
Seele des betreffenden Individuums, und darum iſt die
Freude des einen von der Freude des andern von Natur
um ſoviel unterſchieden, als ſich das Weſen des einen von
dem Weſen des andern unterſcheidet.
Endlich folgt aus dem vorſtehenden Lehrſatz, daß auch
ein bedeutender Unterſchied iſt zwiſchen der Freude, von
der z. B. ein Betrunkener erfaßt wird, und der Freude,
von welcher ein Philoſoph erfüllt iſt; was ich hier im
Vorbeigehen bemerken wollte.
Soviel von den Affekten, welche ſich auf den Menſchen
beziehen, ſofern er leidet. Es erübrigt noch, weniges hinzu
zufügen über diejenigen, die ſich auf ihn beziehen, ſofern
er thätig iſt.
Achtundfünfzigſter Lehrſatz.
Außer der Luſt und der Begierde, welche Leiden ſind,
giebt es noch andere Affekte der Luſt und der Begierde,
die ſich auf uns beziehen, ſofern wir thätig ſind.
Beweis.
Wenn der Geiſt ſich ſelbſt und fein Thätigkeitsvermögen
begreift, empfindet er Luft (nach Lehrſatz 53 dieſes Teils).
Der Geiſt aber betrachtet ſich ſelbſt notwendig, wenn er
eine wahre oder adäquate Idee begreift (nach Lehrſatz 43,
Teil 2). Nun begreift der Geiſt einige adäquate Ideen
(nach 2. Anmerkung zu Lehrſatz 40, Teil 2). Folglich
empfindet er auch inſofern Luſt, ſofern er adäquate Ideen
begreift, d. h., (nach Lehrſatz 1 dieſes Teils,) ſofern er
thätig iſt. — Ferner ſtrebt der Geiſt, ſowohl ſofern er
klare und deutliche, als auch ſofern er verworrene Ideen
hat, in feinem Sein zu verharren (nach Lehrſatz 9 dieſes
Teils). Unter Beſtreben verſtehen wir aber die Begierde
222 Ethik. Dritter Teil.
(nach der Anmerkung zu demſelben Lehrſatz). Folglich be⸗
zieht ſich die Begierde auf uns, auch ſofern wir erkennen,
oder (nach Lehrſatz 1 dieſes Teils) ſofern wir thätig ſind.
— W. z. b. w.
Neunundfünfzigſter Lehrſatz.
Unter allen Affekten, die ſich auf den Geiſt, ſofern er
thätig iſt, beziehen, giebt es keine andern, als ſolche,
die ſich auf die Luſt oder die Begierde beziehen.
Beweis.
Alle Affekte beziehen ſich auf die Begierde, die Luſt,
oder die Unluſt, wie die aufgeſtellten Definitionen derſelben
zeigen. Unter Unluſt aber verſtehen wir das, daß das
Denkvermögen des Geiſtes vermindert oder gehemmt wird
(nach Lehrſatz 11 dieſes Teils und ſeiner Anmerkung).
Daher empfindet der Geiſt inſofern Unluſt, ſofern ſein
Erkenntnisvermögen, d. h. fein Thätigkeitsvermögen, (nach
Lehrſatz 1 dieſes Teils,) vermindert oder gehemmt wird.
Es können alſo keine Affekte der Unluſt auf den Geiſt be⸗
zogen werden, ſofern er thätig iſt; ſondern nur Affekte der
Luft und der Begierde, welche (nach dem vorigen Lehrſatz)
ſich inſofern auch auf den Geiſt beziehen. — W. z. b. w.
Anmerkung.
Alle Thätigkeiten, welche aus Affekten folgen, die ſich
auf den Geiſt beziehen, ſofern er erkennt, rechne ich zur
Geiſteskraft,“ an welcher ich die Seelenſtärke und
den Edelmut unterſcheide. Unter Seelenſtärke verſtehe
ich die Begierde, wonach jemand beſtrebt iſt, ſein eignes
*) fortitudo, Auerbach: Thatkraft, Kirchmann wörtlich: Tapferkeit.
Wir haben im Deutſchen kein Wort, das ſich mit dem lateiniſchen
fortitudo im Sinne Spinoza's deckt; am nächſten käme ihm das fran⸗
zöſiſche bravoure. Anmerkung des überſetzers.
Ethik. über den Urſprung und die Natur der Affekte. 223
Sein nach dem bloßen Gebot der Vernunft zu erhalten.
Unter Edel mut aber verſtehe ich die Begierde, wonach
jemand beſtrebt iſt, nach dem bloßen Gebot der Vernunft
ſeinen Mitmenſchen wohlzuthun, und ſie ſich durch
Freundſchaft zu verbinden. Die Handlungen alſo, welche
den Nutzen des Handelnden allein bezwecken, rechne ich zur
Seelenſtärke; die, welche den Nutzen eines andern bezwecken,
zum Edelmut. Mäßigkeit, Nüchternheit, Geiſtes⸗
gegenwart in Gefahren u. ſ. f. find alſo Arten der
Seelenſtärke; Leutſeligkeit, Milde u. ſ. f. hingegen
ſind Arten des Edelſinns.
Damit glaube ich, die wichtigſten Affekte, und die
Schwankungen des Gemüts, welche aus der Verbindung
der drei Hauptaffekte: Begierde, Luſt und Unluſt, entſpringen,
erklärt und auf ihre erſten Urſachen zurückgeführt zu haben.
Es erhellt daraus, daß wir von äußern Urſachen auf
vielerlei Arten hin und her bewegt werden, und wie die
von entgegengeſetzten Winden aufgeregten Meereswellen
dahin und dorthin ſchwanken, unkundig unſeres Verhäng⸗
niſſes und Schickſals.
Ich habe indes ſchon geſagt, daß ich nur die wichtigſten
Erregungen des Gemüts erörtert habe, nicht alle, die es
geben kann. Denn wir könnten, auf demſelben Wege wie
bisher weiter gehend, leicht zeigen, daß ſich die Liebe mit
der Reue, der Geringſchätzung, der Scham u. ſ. f. ver⸗
bindet. Ja, es wird ſich, wie ich glaube, einem jeden aus
den bisherigen Ausführungen klar ergeben, daß die Affekte
auf ſo vielerlei Weiſen ſich mit einander verbinden, und
daß daraus ſo mannigfaltige Arten von Affekten ent⸗
ſtehen können, daß es keine Zahl dafür giebt. Für meinen
Zweck genügt es aber, nur die wichtigſten aufgezählt zu
haben; denn die übrigen, die ich unerwähnt ließ, hätten
mehr ihrer Seltſamkeit, als ihres Nutzens wegen Intereſſe.
Von der Liebe iſt jedoch noch etwas zu bemerken. Es
224 Ethik. Dritter Teil.
kommt nämlich ſehr oft vor, daß, wenn wir den Gegen⸗
ſtand, nach welchem wir Verlangen hatten, genießen, der
Körper durch dieſen Genuß eine Veränderung ſeines Zu⸗
ſtands (Verfaſſung, Beſchaffenheit,) erfährt, ſo daß er anders
beſtimmt wird, und Vorſtellungen anderer Dinge in ihm
wach gerufen werden; womit zugleich der Geiſt ſich etwas
anderes vorzuſtellen, und etwas anderes zu wünſchen be⸗
ginnt. Wenn wir uns z. B. etwas vorſtellen, was uns
durch ſeinen Geſchmack zu ergötzen pflegt, begehren wir, es
zu genießen, d. h. zu eſſen. Während wir es aber ge⸗
nießen, wird der Magen angefüllt, und der Körper gelangt
damit in einen andern Zuſtand. Wenn alſo, während der
Zuſtand des Körpers bereits ein anderer geworden, die
Vorſtellung dieſer Speiſe, weil ſie ſelbſt gegenwärtig iſt,
noch lebhafter wird, und folglich auch das Beſtreben, oder
die Begierde, ſie zu eſſen, ſo wird dieſer Begierde, oder
dieſem Beſtreben, dieſer neue Zuſtand widerſtreben, und
folglich wird die Gegenwart der Speiſe, nach der wir Ver⸗
langen hatten, verhaßt. Das iſt es, was man überdruß
und Ekel nennt.
Übrigens habe ich die äußern Körpererregungen, welche
bei den Affekten beobachtet werden, wie das Zittern, das
Erbleichen, das Schluchzen, das Lachen u. ſ. f., bei Seite
gelaſſen, weil ſie den Körper allein betreffen und keinerlei
Beziehungen zum Geiſte haben.
Schließlich iſt noch einiges über die Definitionen der
Affekte zu bemerken. Ich werde ſie daher hier der Reihe
nach wiederholen, und was bei jedem noch zu beachten ift,
einfügen. — i
Ethik. Über den Urſprung und die Natur der Affekte. 225
Definitionen der Affekte.
Begierde iſt des Menſchen Weſen ſelbſt, ſofern es als
durch irgend eine gegebene Erregung desſelben zu einer
Thätigkeit beſtimmt begriffen wird.
Erläuterung.
Ich habe oben in der Anmerkung zu Lehrſatz 9 dieſes
Teils geſagt, die Begierde ſei ein Verlangen mit dem Be⸗
wußtſein desſelben; das Verlangen aber ſei des Menſchen
Weſen ſelbſt, ſofern es beſtimmt iſt, das zu thun, was zu
einer Erhaltung dient. In derſelben Anmerkung habe
ch aber auch bemerkt, daß ich zwiſchen dem menſchlichen
Berlangen und der Begierde keinen Unterſchied anerkenne.
Denn mag der Menſch ſich ſeines Verlangens bewußt ſein
der nicht, fo bleibt doch das Verlangen eins und dasſelbe.
Darum habe ich, um mich nicht einer ſcheinbaren Tauto—
ogie ſchuldig zu machen, die Begierde nicht durch Verlangen
erklären wollen, ſondern fie in einer Weiſe zu definieren
zeſucht, daß damit alle Beſtrebungen der menſchlichen
Natur, die wir mit dem Namen Verlangen, Wille, Be⸗
jierde oder Trieb bezeichnen, zuſammengefaßt find. Denn
ch hätte ſagen können: „Die Begierde iſt des Menſchen
Weſen ſelbſt, ſofern es als zu irgend einer Thätigkeit be=
timmt begriffen wird.“ Aber aus dieſer Definition würde
nach Lehrſatz 23, Teil 2,) nicht folgen, daß der Geiſt feiner
Begierde oder ſeines Verlangens ſich bewußt ſein könne.
Im daher die Urſache dieſes Bewußtſeins einzuſchließen,
var es nötig, (nach demſelben Lehrſatz,) hinzuzufügen:
„durch irgend eine gegebene Erregung desſelben“. Denn
ter Erregung des menſchlichen Weſens verſtehen wir
eden Zuſtand (Verfaſſung, Beſchaffenheit,) ſeines Weſens,
15
226 Ethik. Dritter Teil.
mag derſelbe angeboren ſein, mag er durch das bloße
Attribut des Denkens oder durch das bloße Attribut der
Ausdehnung begriffen werden, oder mag er ſich auf beide
zugleich beziehen. — Hier alſo verſtehe ich unter dem
Namen Begierde jedes Streben, jeden Trieb, jedes Ver⸗
langen und jedes Wollen, die nach den verſchiedenen Zu⸗
ſtänden desſelben Menſchen verſchieden, und nicht ſelten
einander ſo ſehr entgegengeſetzt ſind, daß der Menſch nach
verſchiedenen Richtungen gezogen wird, und nicht weiß,
wohin er ſich wenden ſoll.
II.
Luft iſt übergang des Meuſchen von geringerer zu
größerer Vollkommenheit.
III.
Unluſt iſt Übergang des Menſchen von größerer zu
geringerer Vollkommenheit.
Erläuterung.
Ich ſage Übergang. Denn Luſt iſt nicht ſelbſt Voll⸗
kommenheit. Denn wenn der Menſch mit der Vollkommen⸗
heit, zu welcher er übergeht, geboren würde, ſo wäre er
ohne den Affekt der Luſt im Beſitze derſelben. Dies er⸗
giebt ſich deutlicher aus dem Affekt der Unluſt, welcher dem
Affekt der Luſt gegenüber ſteht. Denn daß die Unluſt im
übergang zu geringerer Vollkommenheit beſteht, nicht aber
in der geringeren Vollkommenheit ſelbſt, kann niemand
beſtreiten, da ja der Menſch inſofern nicht Unluſt empfin⸗
den kann, ſofern er irgend einer Vollkommenheit teilhaftig
iſt. Auch können wir nicht ſagen, daß die Unluſt im
Mangel einer größeren Vollkommenheit beſteht. Denn
Mangel iſt nichts, der Affekt der Unluſt aber iſt ein Vor⸗
gang, und kann daher nichts anderes ſein, als der Vor⸗
gang des Übergangs zu geringerer Vollkommenheit, d. 2
J
Ethit. über den Urſprung und die Natur der Affekte. 227
der Vorgang, durch welchen das Thätigkeitsvermögen des
Menſchen vermindert oder gehemmt wird. (S. die An⸗
merkung zu Lehrſatz 11 dieſes Teils.)
Die Definitionen von Wohlbehagen und Wolluſt, Miß—
behagen und Schmerz übergehe ich, weil fie ſich haupt-
ſächlich auf den Körper beziehen, und nichts ſind, als Arten
der Luſt und Unluſt.
IV;
Bewunderung iſt die Vorſtellung eines Dinges, in
welcher der Geiſt deshalb verſunken bleibt, weil dieſe be—
ſondere Vorſtellung leine Verbindung mit den ſonſtigen
Vorſtellungen hat.
S. Lehrſatz 52 dieſes Teils mit ſeiner Anmerkung.
Erläuterung.
In der Anmerkung zu Lehrſatz 18 im Zweiten Teil
habe ich gezeigt, welche Urſache es bewirkt, daß der Geiſt
aus der Betrachtung eines Dinges ſofort auf den Ge—
danken eines andern Dinges verfällt: weil nämlich die Vor⸗
ſtellungen dieſer Dinge miteinander verkettet und ſo geordnet
ſind, daß die eine auf die andere folgt. Dies iſt aber nicht
denkbar, wenn die Vorſtellung eines Dinges eine neue iſt,
dann wird vielmehr der Geiſt in der Betrachtung dieſes
Dinges feſtgehalten, bis er von andern Urſachen beſtimmt
wird, etwas anderes zu denken.
Die Vorſtellung eines neuen Dinges iſt alſo, an ſich
betrachtet, von gleicher Natur wie die übrigen Vorſtellungen.
Aus dieſem Grunde zähle ich die Bewunderung nicht zu
den Affekten. Ich ſehe auch gar keinen Grund, dies zu
thun, da ja dieſes Abgezogenſein des Geiſtes nicht aus
irgend einer poſitiven Urſache entſpringt, die den Geiſt von
andern Dingen abzieht, ſondern nur daraus, daß keine
Urſache vorhanden iſt, durch welche der Geiſt beſtimmt
15*
228 Ethik. Dritter Teil.
wird, bei der Betrachtung eines Dinges an andere Dinge
zu denken.
Ich erkenne alſo (wie ich in der Anmerkung zu Lehr⸗
ſatz 11 dieſes Teils bemerkt habe,) nur drei Haupt⸗ oder
primäre Affekte an, nämlich Luſt, Unluſt und Begierde,
und ich ſah mich nur deshalb veranlaßt, von der Bewun⸗
derung zu reden, weil es gebräuchlich geworden iſt, daß
gewiſſe Affekte, welche von den drei Hauptaffekten abgeleitet
werden, mit andern Namen bezeichnet werden, wenn ſie
ſich auf Objekte beziehen, die wir bewundern. Der gleiche
Grund veranlaßt mich, hier noch die Definition der Ver⸗
achtung beizufügen.
N a
Verachtung iſt die Vorſtellung eines Dinges, welche
den Geiſt ſo wenig berührt, daß der Geiſt durch die
Gegenwart des Dinges mehr bewegt wird, das vorzu—
ſtellen, was an dem Ding nicht iſt, als was an ihm iſt.
— S. die Anmerkung zu Lehrſatz 52 dieſes Teils.
Die Definitionen der Hochachtung und der Gering⸗
ſchätzung laſſe ich hier beiſeite, weil meines Wiſſens keine
Affekte ihren Namen von ihnen ableiten.
VI.
Liebe iſt Luſt, verbunden mit der Idee einer äußern
Urſache.
Erläuterung.
Dieſe Definition drückt das Weſen der Liebe vollſtändig
klar aus. Die Definition jener Schriftſteller aber, welche
lautet: Liebe iſt der Wille des Liebenden, ſich mit dem ge⸗
liebten Gegenſtand zu verbinden, drückt nicht das Weſen
der Liebe, ſondern eine Eigenſchaft derſelben aus. Und
weil das Weſen der Liebe von dieſen Schriftſtellern nicht
genügend durchſchaut wurde, konnten ſie auch von ihrer
Ethik. Über den Urfprung und die Natur der Affekte. 229
Eigenſchaft keinen klaren Begriff haben. Daher kommt es,
daß man ihre Definition allgemein für eine ſehr dunkle hält.
Wenn ich nun ſage, es ſei eine Eigenſchaft des Liebenden,
daß er den Willen habe, ſich mit dem geliebten Gegenſtand
zu verbinden, ſo iſt zu beachten, daß ich unter Willen nicht
etwa die Zuſtimmung, oder die überlegung, oder einen
freien Entſchluß verſtehe, (daß dies letztere eine reine Ein-
bildung ſei, habe ich im Lehrſatz 48, Teil 2, bewieſen). Auch
meine ich damit nicht die Begierde, ſich mit dem geliebten
Gegenſtand zu verbinden, wenn er abweſend iſt, oder in
ſeiner Gegenwart zu verharren, wenn er anweſend iſt; denn
die Liebe kann auch ohne dieſe Begierde gedacht werden.
Unter Willen verſtehe ich hier die Befriedigung, welche den
Liebenden bei der Gegenwart des geliebten Gegenſtandes
erfüllt, und durch welche die Luſt des Liebenden verſtärkt,
oder mindeſtens genährt wird.
VII.
Haß iſt Unluſt, verbunden mit der Idee einer äußern
Urſache.
Erläuterung.
Was hier zu bemerken iſt, kann dem, was in der Er⸗
läuterung zur vorigen Definition geſagt iſt, leicht ent—
nommen werden.
S. außerdem die Anmerkung zu Lehrſatz 13 dieſes Teils.
VIII.
Zuneigung iſt Luſt, verbunden mit der Idee eines
Dinges, welches zufällig (gelegentlich, durch einen Nebeu—
umſtand,) Urſache der Luft iſt.
IX.
Abneigung iſt Unluſt, verbunden mit der Idee eines
Dinges, welches zufällig Urſache der Unluſt iſt.
S. darüber die Anmerkung zu Lehrſatz 15 dieſes Teils.
230 Ethik. Dritter Teil.
bi
Ergebenheit ift Liebe zu jemand, den wir bewundern.
Erläuterung.
Daß die Bewunderung aus der Neuheit eines Gegen⸗
ſtands entſpringt, habe ich im Lehrſatz 52 dieſes Teils
gezeigt. Wenn wir uns nun das, was wir bewundern,
oft vorſtellen, ſo hören wir auf, es zu bewundern. Darum
ſehen wir, daß der Affekt der Ergebenheit leicht in ein⸗
fache Liebe übergeht.
XI. b
Verhöhnung (Spott) iſt Luſt, daraus entſprungen,
daß wir uns vorſtellen, es ſei etwas, das wir verachten,
an einem Gegenſtand, den wir haſſen.
Erläuterung.
Sofern wir einen Gegenſtand, den wir haſſen, verachten,
inſofern ſprechen wir ihm Eriftenz*) ab, (f. Anmerkung
zu Lehrſatz 52 dieſes Teils,) und inſofern (nach Lehrſatz 20
dieſes Teils) empfinden wir Luſt.
Da wir aber annehmen, daß der Menſch das, was er
verhöhnt, auch haßt, ſo folgt, daß dieſe Luſt keine innige
iſt. (S. die Anmerkung zu Lehrſatz 47 dieſes Teils.)
XII.
Hoffnung iſt unbeſtändige Luſt, entſprungen aus der
Idee eines zukünftigen oder vergangenen Dinges (Sache),
über deſſen Ausgang wir in gewiſſer Hinſicht im Zweifel ſind.
*) Nicht „ſeine Exiſtenz“ (Kirchmann); denn nur um eine partielle
Krieg handelt es fich; daher nicht ejus (existentiam), ſondern
de eadem.
Ethik. Über den Urſprung und die Natur der Affekte. 231
XIII.
Furcht iſt unbeſtändige Unluſt, entſprungen aus der
Idee eines zukünftigen oder vergangenen Dinges (Sache),
über deſſen Ausgang wir in gewiſſer Hinſicht im Zweifel ſind.
S. hierüber die 2. Anmerkung zu Lehrſatz 18 dieſes Teils.
Erläuterung.
Aus dieſen Definitionen folgt, daß es keine Hoffnung
giebt ohne Furcht, und keine Furcht ohne Hoffnung. Denn
von jemand, der in Hoffnung ſchwebt und über den Aus
gang einer Sache zweifelt, wird angenommen, daß er ſich
etwas vorſtellt, was die Exiſtenz dieſer zukünftigen Sache
ausſchließt, und alſo inſofern Unluſt empfindet, (nach Lehr⸗
ſatz 19 dieſes Teils,) und folglich, während er in Hoffnung
ſchwebt, fürchtet, die Sache möchte nicht eintreffen. — Wer
hingegen in Furcht iſt, d. h. über den Ausgang einer
Sache, die er haßt, zweifelt, ſtellt ſich ebenfalls etwas vor,
was die Exiſtenz dieſer zukünftigen Sache ausſchließt, und
folglich (nach Lehrſatz 20 dieſes Teils) empfindet er Luſt,
und hat alſo inſofern Hoffnung, daß die Sache nicht eine
treffen werde.
XIV.
Zuverſicht iſt Luſt, entſprungen aus der Idee eines
zukünftigen oder vergangenen Dinges, bei welchem die Ur-
ſache des Zweifelns geſchwunden iſt.
XV.
Verzweiflung iſt Unluſt, entſprungen aus der Idee
eines zukünftigen oder vergangenen Dinges, bei welchem
die Urſache des Zweifelns geſchwunden iſt.
Erläuterung.
Aus Hoffnung wird alſo Zuverſicht, und aus Furcht
Verzweiflung, wenn die Urſache des Zweifelns über den
232 Ethik. Dritter Teil.
Ausgang der Sache ſchwindet, entweder weil der Menſch
ſich das vergangene oder zukünftige Ding als ſeiend vor⸗
ſtellt und als gegenwärtig betrachtet, oder weil er ſich
etwas vorſtellt, was die Exiſtenz der Dinge, die ihm
Zweifel erregen, ausſchließt. Denn wenn wir auch über
den Ausgang (Verlauf) der Einzeldinge (nach Zuſatz zu
Lehrſatz 31, Teil 2,) niemals gewiß fein können, jo kann
doch das der Fall ſein, daß wir über ihren Ausgang nicht
zweifeln. Denn wie ich gezeigt habe, (ſ. Anmerkung zu
Lehrſatz 49, Teil 2,) iſt es ein anderes, über ein Ding
nicht zweifeln, und ein anderes, über ein Ding Gewißheit
haben. Daher iſt es wohl möglich, daß wir durch die Vor⸗
ſtellung eines vergangenen oder zukünftigen Dinges von
gleichem Affekt der Luſt oder Unluſt erregt werden, wie
durch die Vorſtellung eines gegenwärtigen Dinges, wie
ich im Lehrſatz 18 dieſes Teils bewieſen habe; ſ. dieſen,
ſamt ſeiner Anmerkung.
XVI.
Freude iſt Luſt, verbunden mit der Idee eines ver⸗
gangenen Dinges, welches unverhofft eingetroffen iſt.
XVII.
Gewiſſensbiß iſt Unluſt, verbunden mit der Idee
eines vergangenen Dinges, welches unerwartet einge⸗
troffen iſt. “
*) Was Spinoza hier Gewiſſensbiß nennt, würden wir Trauer,
oder Niedergeſchlagenheit, Seelenſchmerz nennen. Gewiſſensbiß im
Sinne des deutſchen Sprachgebrauchs iſt eigentlich identiſch mit Reue
(ſ. Definition XXVII), könnte aber von dieſer in der Weiſe unterſchieden
werden, daß Gewiſſensbiß die Unluſt über die nicht beabſichtigte Folge
einer eigenen That, alſo eine unerwartete Wirkung derſelben bezeichnen
würde. Inſofern wäre die obige Definition darauf anwendbar.
Anmerkung des Überſetzers
.
Ethik. Über den Urfprung und die Natur der Affekte. 233
XVIII.
Mitleid iſt Unluſt, verbunden mit der Adee e eines
bels, das einem andern, den wir uns als unſeresgleichen
vorſtellen, begegnet iſt.
S. die Anmerkung zu Lehrſatz 22, und die Anmerkung
zu Lehrſatz 27 dieſes Teils.
Erläuterung.
Zwiſchen Mitleid und Mitgefühl (Barmherzigkeit)
ſcheint kein Unterſchied zu ſein, wenn nicht vielleicht der,
daß Mitleid den einzelnen Affekt bezeichnet, Barmherzigkeit
aber die entſprechende Gemütsanlage.
XIX.
Gunſt iſt Liebe zu jemand, der einem andern Gutes
gethan.
XX.
Entrüſtung iſt Haß gegen jemand, der einem andern
Böſes gethan.
Erläuterung.
Ich weiß, daß dieſe Namen im gewöhnlichen Sprach-
gebrauch etwas anderes bedeuten. Meine Abſicht iſt aber
nicht, die Bedeutung der Wörter, ſondern die Natur der
Dinge zu erläutern, und ſie mit ſolchen Ausdrücken zu
bezeichnen, deren gebräuchlicher Sinn von demjenigen, in
welchem ich ſie gebrauche, nicht ganz abweicht. Dieſe Be⸗
merkung mag ein für allemal genügen.
Über die Urſache dieſer Affekte ſ. Zuſatz I zu Lehr⸗
ſatz 27, und Anmerkung zu Lehrſatz 22 dieſes Teils.
XXI.
Überſchätzung iſt, von jemand aus Liebe eine größere
Meinung haben, als recht iſt.
234 Ethik. Dritter Teil.
XXII.
Unterſchätzung iſt, von jemand aus Haß eine ge⸗
ringere Meinung haben, als recht iſt.
Erläuterung.
Sonach iſt überſchätzung eine Wirkung oder Eigenſchaft
der Liebe, Unterſchätzung eine Wirkung oder Eigenſchaft des
Haſſes. Man kann daher die Überſchätzung auch definieren
als Liebe, ſofern ſie den Menſchen ſo erregt, daß er von
dem geliebten Gegenſtand eine größere Meinung hat, als
recht iſt; die Unterſchätzung als Haß, ſofern ſie den
Menſchen ſo erregt, daß er von dem gehaßten Gegenſtand
eine geringere Meinung hat, als recht iſt.
S. hierüber die Anmerkung zu Lehrſatz 26 dieſes Teils.
XXIII.
Mißgunſt iſt Haß, ſofern er den Menſchen ſo erregt,
daß er ſich über das Glück eines andern betrübt, und ſich
dagegen über das Unglück eines andern freut.
Erläuterung.
Der Mißgunſt wird gewöhnlich das Mitgefühl (Barm⸗
herzigkeit) gegenübergeſtellt, welches daher, gegen die wört⸗
liche Bedeutung, wie folgt definiert werden kann.
XXIV.
Mitgefühl (Barmherzigkeit) iſt Liebe, ſofern ſie den
Menſchen ſo erregt, daß er ſich über das Glück eines andern
freut, und ſich dagegen über das Unglück eines andern
betrübt.
Erläuterung.
Siehe übrigens über Mißgunſt die Anmerkung zu Lehr⸗
ſatz 24 und die Anmerkung zu Lehrſatz 32 dieſes Teils.
Ethik. über den Urſprung und die Natur der Affekte. 235
Dies ſind die Affekte der Luſt und Unluſt, welche die
Idee eines äußern Dinges als eigentliche oder als zufällige
(gelegentliche) Urſache begleitet.
Ich gehe nunmehr zu andern Affekten über, welche die
Idee eines innern Dinges als Urſache begleitet.
XXV.
Selbſtzufriedenheit iſt Luſt, daraus entſprungen,
daß der Menſch ſich ſelbſt und ſein Thätigkeitsvermögen
betrachtet.
XXVI.
Niedergeſchlagenheit ift Unluſt, daraus entſprungen,
daß der Menſch ſein Unvermögen, oder ſeine Schwäche
betrachtet.
Erläuterung.
Selbſtzufriedenheit iſt der Gegenſatz zu Niedergeſchlagen⸗
heit, ſofern wir darunter Luft verſtehen, welche daraus ent
ſpringt, daß wir unſer Thätigkeitsvermögen betrachten.
Sofern wir darunter aber Luſt verſtehen, die von der Idee
einer That begleitet iſt, welche wir aus freier Entſchließung
des Geiſtes gethan zu haben glauben, iſt ſie Gegenſatz zur
Reue, welche von mir wie folgt definiert wird.
XXVII.
Reue iſt Unluſt, begleitet von der Idee einer That,
die wir aus freier Entſchließung des Geiſtes gethan zu
haben glauben.
a Erläuterung.
Die Urſache dieſer Affekte habe ich in der Anmerkung
zu Lehrſatz 51 dieſes Teils und in den Lehrſätzen 53, 54
und 55 dieſes Teils nebſt der Anmerkung dazu dargethan.
Über den freien Entſchluß des Geiſtes aber ſiehe die An⸗
merkung zu Lehrſatz 35 des Zweiten Teils.
236 Ethik. Dritter Teil.
Es muß hier außerdem noch bemerkt werden, daß man
ſich nicht darüber zu wundern braucht, daß überhaupt auf
alle Thaten, welche man für unrecht hält, Unluſt, auf ſolche
aber, die man für recht hält, Luſt folgt. Es hängt dies
nämlich hauptſächlich von der Erziehung ab, was wir dem
Obigen leicht entnehmen können. Denn da die Eltern die
erſteren tadelten, und die Kinder ihretwegen häufig ſchalten,
wogegen ſie die andern empfahlen und lobten, bewirkten
ſie, daß ſich mit den erſteren die Regungen der Unluſt, mit
den andern die der Luſt verbanden. Dies wird auch durch
die Erfahrung beſtätigt. Denn Gewohnheit und Religion
ſind nicht bei allen Menſchen gleich, vielmehr iſt dem einen
heilig, was dem andern unheilig iſt, und was bei dieſem
für ehrbar gilt, gilt jenem für ſchändlich. Je nachdem
alſo der Menſch erzogen iſt, bereut er eine That, oder
rühmt er ſich derſelben.
XXVIII.
Hochmut (Stolz) iſt, aus Liebe zu ſich ſelbſt eine
größere Meinung von ſich haben, als recht iſt.
Erläuterung.
Hochmut unterſcheidet ſich alſo dadurch von der Über⸗
ſchätzung, daß ſich dieſe auf ein äußeres Objekt bezieht,
jener aber auf den Menſchen ſelbſt, der eine größere
Meinung von ſich hat, als recht iſt. Wie übrigens die
Überſchätzung eine Wirkung oder Eigenſchaft der Liebe iſt,
ſo iſt der Hochmut eine Wirkung oder Eigenſchaft der
Selbſtliebe. Man kann ihn alſo auch definieren als: Liebe
zu ſich ſelbſt, oder Selbſtzufriedenheit, ſofern ſie den Menſchen
ſo erregt, daß er von ſich eine größere Meinung hat, als
recht iſt. (S. die Anmerkung zu Lehrſatz 26 dieſes Teils.)
Zu dieſem Affekt giebt es keinen Gegenſatz. Denn
niemand hat, aus Haß gegen ſich ſelbſt, eine geringere
Meinung von ſich, als recht iſt. Ja, es hat auch dann
r
Ethik. Über den Urſprung und die Natur der Affekte. 237
niemand eine zu geringe Meinung von ſich, wenn er ſich
vorſtellt, daß er dies oder jenes nicht vermag. Denn wenn
ſich der Menſch vorſtellt, daß er etwas nicht vermag, ſo
beruht dieſe Vorſtellung auf Notwendigkeit, und dieſe Vor⸗
ſtellung disponiert ihn ſo, daß er thatſächlich nichts zu thun
vermag, wovon er ſich vorſtellt, daß er es nicht vermag.
Denn ſo lange er ſich vorſtellt, daß er das oder jenes
nicht vermag, ſo lange iſt er nicht beſtimmt, es zu thun,
und folglich iſt es ihm ſo lange auch nicht möglich, dies
zu thun.
Wenn wir freilich nur das ins Auge faſſen, was von
der Meinung allein abhängt, ſo werden wir allerdings die
Möglichkeit denken können, daß der Menſch eine zu geringe
Meinung von ſich hat. Iſt es doch möglich, daß ein
Trauriger, indem er ſeine Schwäche betrachtet, ſich vorſtellt,
er werde von jedermann verachtet, während kein Menſch
daran denkt, ihn zu verachten. — Außerdem kann der Menſch
eine zu geringe Meinung von ſich haben, wenn er ſich in
der Gegenwart eine Fähigkeit abſpricht in Bezug auf die
Zukunft, über die er keine Gewißheit hat; z. B. wenn er
ſich die Fähigkeit abſpricht, etwas als gewiß begreifen zu
können, oder wenn er ſich einbildet, nur ſchändliche und
verächtliche Dinge begehren und thun zu können u. ſ. f. —
Ferner können wir ſagen, daß jemand zu gering von ſich
denkt, wenn wir ſehen, daß er aus übertriebener Furcht
vor Schande ſich nicht zu thun getraut, was andere ſeines—
gleichen zu thun ſich getrauen. Dieſen Affekt können wir
dem Hochmut gegenüberſtellen, und ich werde ihn Klein-
mut nennen. Denn wie aus der Selbſtzufriedenheit Hoch-
mut entſpringt, ſo entſpringt aus der Niedergeſchlagenheit
Kleinmut, den ich daher alſo definiere:
XXIX.
Kleinmut iſt, aus Unluſt eine geringere Meinung von
ſich haben, als recht iſt.
238 Ethik. Dritter Teil.
Erläuterung.
Wir pflegen aber häufig dem Hochmut die Demut“)
gegenüberzuſtellen; daun aber haben wir mehr die Wirkung
dieſer beiden Affekte, als ihre Natur im Auge. Denn wir
pflegen jemand hochmütig zu nennen, der ſich übermäßig
rühmt, (ſ. Anmerkung zu Lehrſatz 30 dieſes Teils,) der von
ſich nur Vorzüge, von andern nur Fehler erzählt, der vor
allen den Vorrang haben will, und der endlich fo gravi⸗
tätiſch und prunkvoll auftritt, wie Leute von weit höherer
Stellung. Umgekehrt nennen wir jemand demütig, der
häufig errötet, der ſeine Fehler bekennt und die Vorzüge
anderer erzählt, der gegen andere zurückſteht, und der end⸗
lich mit geſenktem Haupt einhergeht und allen Prunk ver⸗
ſchmäht.
Übrigens kommen dieſe Affekte, nämlich Demut und
Kleinmut, ſehr ſelten vor. Denn die menſchliche Natur,
an ſich betrachtet, widerſtrebt ihnen in hohem Grade (f. die
Lehrſätze 13 und 54 dieſes Teils). Daher ſind die, welche
für die Kleinmütigſten und Demütigſten gehalten werden,
häufig die ehrgeizigſten und neidiſchſten.
KIN
Ehre (Ehrfreude) ift Luft, verbunden mit der Idee einer
eigenen Handlung, die wir uns von andern gelobt vorſtellen.
XXXI.
Scham iſt Unluſt, verbunden mit der Idee einer
eigenen Handlung, die wir uns von andern getadelt vor⸗
ſtellen.
Erläuterung.
Siehe hierüber die Anmerkung zu Lehrſatz 30 dieſes
Teils.
*) humilitas, in Definition XXVI Niedergeſchlagenheit.
*
Ethik. über den Urſprung und die Natur der Affekte. 239
Hier iſt auf den Unterſchied zwiſchen Scham und
Schamhaftigkeit“ aufmerkſam zu machen. Scham iſt
nämlich Unluſt, welche auf eine Handlung folgt, der man
ſich ſchämt. Schamhaftigkeit aber iſt Furcht oder Beſorgnis
vor Scham, durch welche der Meuſch abgehalten wird,
etwas Schimpfliches zu begehen. — Der Schamhaftigkeit
pflegt man die Schamloſigkeit (Unverſchämtheit) gegen⸗
überzuſtellen, welche eigentlich kein Affekt iſt, wie ich an
geeigneter Stelle zeigen werde. — Indeſſen beziehen ſich die
Namen der Affekte (wie ich ſchon erinnert) mehr auf den
Gebrauch, als auf die Natur derſelben.
Damit habe ich die Affekte der Luſt und Unluſt, deren
Erklärung ich mir vorgeſetzt, erledigt.
Ich gehe nun zu denen über, die ich auf die Be—⸗
gierde beziehe.
XXXII.
Sehnſucht iſt Begierde oder Verlangen nach dem Be—
ſitze eines Dinges, welches durch die Erinnerung an das
betreffende Ding genährt wird, aber durch die Erinnerung
an andere Dinge, welche die Exiſtenz des verlangten Dinges
ausſchließen, eingeſchränkt wird.
Erläuterung.
Wenn wir uns an ein Ding erinnern, werden wir,
wie ſchon oft bemerkt wurde, hierdurch disponiert, es mit
gleichem Affekt zu betrachten, wie wenn das Ding gegen
wärtig wäre. Aber dieſe Dispoſition, oder dieſes Streben,
wird im wachen Zuſtand vielfach zurückgedrängt von den
Vorſtellungen der Dinge, welche die Exiſtenz des Dinges,
deſſen wir uns erinnern, ausſchließen. Wenn wir uns alſo
eines Dinges erinnern, das uns mit irgend einer Art von
Luſt erregt, ſtreben wir eben dadurch, es mit demſelben
*) verecundia. Auch Schamgefühl oder Ehrgefühl.
240 Ethik. Dritter Teil.
Affekt der Luſt zu betrachten, als wäre es gegenwärtig;
welches Streben aber ſofort durch die Erinnerung an
Dinge, welche die Exiſtenz jenes Dinges ausſchließen, zurück⸗
gedrängt wird. Darum iſt Sehnſucht eigentlich Unluſt,
welche jener Luſt gegenüberſteht, die aus der Abweſenheit
eines Dinges, das wir haſſen, entſpringt. S. hierüver die
Anmerkung zu Lehrſatz 47 dieſes Teils. Weil aber der
Name Sehnſucht ſich auf die Begierde zu beziehen ſcheint,
darum rechne ich dieſen Affekt zu den Affekten der Begierde.
XXXIII.
Wetteifer iſt Begierde nach einem Ding, welche in
uns dadurch erzeugt wird, daß wir uns vorſtellen, andere
hätten dieſe Begierde.
Erläuterung.
Wenn jemand flieht, weil er andere fliehen ſieht, oder
wenn jemand fürchtet, weil er andere fürchten ſieht; oder
auch wenn jemand, der ſieht, wie ein anderer die Hand
verbrannt hat, ſeine Hand deshalb zurückzieht und Körper⸗
bewegungen macht, als ob er ſeine eigene Hand verbrannt
hätte, ſo ſagen wir, daß er den Affekt eines andern nach⸗
ahmt, aber nicht, daß er mit ihm wetteifert. Nicht etwa,
weil uns eine beſondere Urſache für die Nachahmung, und
eine beſondere für den Wetteifer bekannt wäre, ſondern weil
ſich der Gebrauch eingebürgert hat, daß wir mit Wetteifer
nur die Nachahmung von ſolchen Handlungen bezeichnen,
die wir für anſtändig, nützlich oder angenehm halten.
S. übrigens über die Urſache des Wetteifers Lehr⸗
ſatz 27 dieſes Teils mit ſeiner Anmerkung. Über den
Umſtand aber, daß mit dieſem Affekt häufig der Neid ver⸗
bunden iſt, ſ. Lehrſatz 32 dieſes Teils mit feiner An⸗
merkung.
Ethik. Über den Urſprung und die Natur der Affekte. 241
XXXIV.
Dank oder Dankbarkeit iſt die Begierde oder das
Beſtreben der Liebe, dem wohlzuthun, der uns aus gleichem
Affekt der Liebe wohlgethan hat.
S. Lehrſatz 39 mit der Anmerkung zu Lehrſatz 41
dieſes Teils.
XXXV.
Wohlwollen iſt die Begierde, dem wohlzuthun, den
wir bemitleiden.
S. die Anmerkungen zu Lehrſatz 27 dieſes Teils.
XXXVI.
Zorn iſt die Begierde, durch welche wir aus Haß gegen
jemand angetrieben werden, dem Böſes zuzufügen, den
wir haſſen.
S. Lehrſatz 39 dieſes Teils.
XXXVIL
Rachſucht ift die Begierde, durch welche wir aus
Gegenhaß angetrieben werden, dem Böſes zuzufügen, der
uns aus Haß Böſes zugefügt hat.
S. Zuſatz II zu Lehrſatz 40 dieſes Teils mit ſeiner
Anmerkung.
XXXVIII.
Grauſamkeit oder Wut iſt die Begierde, durch welche
jemand angetrieben wird, dem Böſes zuzufügen, den wir
lieben, oder den wir bemitleiden.
Erläuterung.
Der Grauſamkeit wird die Milde gegenübergeſtellt, welche
aber kein Leiden iſt, ſondern die Macht des Gemüts, mit
welcher der Menſch den Zorn oder die Rachſucht bändigt.
16
242 Ethik. Dritter Teil.
XXXIX.
Scheu iſt die Begierde, ein größeres Übel, das wir
befürchten, durch ein geringeres zu vermeiden.
S. Anmerkung zu Lehrſatz 39 dieſes Teils.
XL.
Kühnheit iſt die Begierde, durch welche jemand an⸗
getrieben wird, etwas zu thun, trotz einer damit verbun⸗
denen Gefahr, die andere ſeinesgleichen von dieſer That
abhält.
XII.
Angſtlichkeit wird dem beigelegt, deſſen Begierde ein⸗
geſchränkt wird durch die Furcht vor einer Gefahr, welcher
fi) andere ſeinesgleichen beherzt unterziehen.
Erläuterung.
„ Nngftlichfeit iſt alſo nichts anderes als Furcht vor einem
Übel, das die meiſten nicht zu fürchten pflegen. Ich rechne
ſie daher nicht zu den Affekten der Begierde. Dennoch
wollte ich ſie hier nicht unerklärt laſſen, weil ſie, ſofern
wir die Begierde ins Auge faſſen, dem Affekt der Kühnheit
in der That entgegengeſetzt iſt.
XLII.
Beſtürzung wird dem beigelegt, deſſen Begierde, ein
übel zu vermeiden, eingeſchränkt wird durch die Werwuf
derung über ein Übel, das er fürchtet. 5
Erläuterung.
Die Beſtürzung iſt daher eine Art der Angſtlichkeit.
Weil aber die Beſtürzung aus einer doppelten Furcht ent⸗
ſpringt, ſo kann man ſie treffender definieren als: Furcht,
die den verblüfften und ſchwankenden Menſchen ſo erfaßt,
Ethik. über den Urſprung und die Natur der Affekte. 243
daß er das Übel nicht abwenden kann. Ich ſage den „ver⸗
blüfften“, ſofern wir in der Verwunderung den Grund
erblicken, daß feine Begierde, das Übel abzuwenden, ein-
geſchränkt wird. Ich ſage aber den „ſchwankenden“, ſofern
wir erkennen, daß dieſe Begierde durch die Furcht vor einem
andern Übel eingeſchränkt wird, das ihn ebenſo ſchreckt, ſo
daß er nicht weiß, welches von beiden er abwenden ſoll.
S. hierüber die Anmerkung zu Lehrſatz 39 und die
Anmerkung zu Lehrſatz 52 dieſes Teils. Über Angſtlichkeit
und Kühnheit ſ. die Anmerkung zu Lehrſatz 51 dieſes Teils.
XLIII.
Menſchenfreundlichkeit oder Leutſeligkeit iſt die
Begierde, zu thun, was den Menſchen gefällt, und zu unter⸗
laſſen, was ihnen mißfällt.
XIIV.
Ehrgeiz iſt unmäßige Begierde nach Ehre.
Erläuterung.
Ehrgeiz iſt eine Begierde, durch welche alle Affekte (nach
den Lehrſätzen 27 und 31 dieſes Teils) genährt oder ver-
ſtärkt werden. Daher iſt dieſer Affekt beinahe unüberwind⸗
lich. Denn ſo lange der Menſch von irgend einer andern
Begierde erfaßt iſt, iſt er notwendig zugleich von dieſer er⸗
faßt. „Die beiten Menſchen,“ ſagt Cicero,“) „werden ſehr
ſtark von Ruhmbegierde geleitet. Sogar die Philoſophen
ſetzen ihre Namen auf die Bücher, die ſie über Verachtung
des Ruhms ſchreiben u. ſ. f.“
XL.
Schwelgerei iſt die unmäßige Begierde, oder auch
Liebe, zum Schmauſen.
*) In feiner Rede für Archias 11.
16 *
244 Ethik. Dritter Teil.
XLVI.
Trunkſucht iſt unmäßige Begierde und Liebe zum Zechen.
XLVII.
Habſucht (Geiz) iſt unmäßige Begierde und Liebe zu
Reichtümern.
XLVIII.
Lüſternheit iſt Begierde und Liebe zur fleiſchlichen
Vermiſchung. N
Erläuterung.
Man pflegt dieſe Begierde zur Begattung, mag ſie eine
mäßige oder unmäßige ſein, Lüſternheit zu nennen.
Dieſe fünf Affekte haben (wie ich in der Anmerkung
zu Lehrſatz 56 erinnert habe) keinen Gegenſatz. Denn die
Leutſeligkeit iſt eine Art des Ehrgeizes; ſ. darüber die
Anmerkung zu Lehrſatz 29 dieſes Teils. Die Mäßig⸗
keit, die Nüchternheit und die Keuſchheit bezeichnen
eine Macht des Geiſtes, nicht aber ein Leiden, wie ich eben⸗
falls bereits erwähnt habe. Und obgleich es vorkommt,
daß ein habſüchtiger, ehrgeiziger, oder furchtſamer Menſch
fi) des Übermaßes im Eſſen, Trinken und Beiſchlaf ent⸗
hält, ſo ſind doch Habſucht, Ehrgeiz und Furcht keine
Gegenſätze zu Schwelgerei, Trunkſucht und Küſternheit.
Denn der Habſüchtige (Geizige) möchte in der Regel gern
an fremder Tafel ſchwelgen. Der Ehrgeizige aber wird,
wenn er hoffen kann, daß es verborgen bleibt, ſich in
keiner Sache mäßigen; ja, wenn er unter Zechern und
Lüſtlingen lebt, wird er, eben weil er ehrgeizig iſt, ſich dieſen
Laſtern nur um ſo mehr hingeben. Der Furchtſame endlich
thut das, was er nicht thun möchte. Denn wenn auch der
Geizige, um dem Tod zu entgehen, ſeine Reichtümer ins
Meer wirft, bleibt er doch ein Geiziger. Und wenn der
Lüſtling betrübt iſt, weil er ſeinem Hang nicht fröhnen
Ethik. Über den Urſprung und die Natur der Affekte. 245
kann, ſo hört er damit nicht auf, lüſtern zu ſein. Über⸗
haupt beziehen ſich dieſe Affekte nicht ſowohl auf die eigent⸗
lichen Handlungen des Schmauſens, Zechens ꝛc., als auf
das Verlangen und die Liebe. Es kann ſomit dieſen Affekten
nichts gegenübergeſtellt werden, als der Edelſinn und die
Selbſtbeherrſchung; darüber im folgenden.
über die Definitionen der Eiferſucht und der übrigen
Gemütsſchwankungen gehe ich hinweg, ſowohl deswegen,
weil ſie durch eine Verbindung der bereits definierten
Affekte entſtehen, als auch darum, weil die meiſten keine
Namen haben; was zeigt, daß für das praktiſche Leben
ſchon eine allgemeine Kenntnis derſelben genügt.
Aus den Definitionen der Affekte, die wir erläutert
haben, geht übrigens mit Klarheit hervor, daß ſie alle aus
der Begierde, der Luſt, oder der Unluſt entſpringen, oder
vielmehr, daß alle nichts anderes ſind, als eben dieſe drei
Affekte, von denen jeder mit verſchiedenen Namen belegt
wird, je nach den verſchiedenen äußerlichen Beziehungen
und Benennungen.
Wenn wir nun dieſe drei Hauptaffekte, wie auch das,
was oben über die Natur des Geiſtes ausgeführt wurde,
ins Auge faſſen, ſo werden wir die Affekte, ſofern ſie ſich
nur auf den Geiſt beziehen, folgendermaßen definieren können.
Allgemeine Definition der Affekte.
Ein Affekt, auch Leidenſchaft genannt, iſt eine verworrene
Idee, durch welche der Geiſt von ſeinem Körper, oder einem
Teil desſelben, eine größere oder geringere Exiſtenzkraft
bejaht, als vorher, und durch deren Vorhandenſein der
Geiſt ſelbſt beſtimmt wird, mehr an dies, als an jenes
zu denken.
246 Ethik. Dritter Teil.
Erläuterung.
Ich ſage zuerſt, ein Affekt, auch Leidenſchaft genannt,
ſei eine verworrene Idee. Denn ich habe gezeigt,
(ſ. Lehrſatz 3 dieſes Teils,) daß der Geiſt nur inſofern
leidet, ſofern er inadäquate oder verworrene Ideen hat. —
Ich ſage ferner, durch welche der Geiſt von ſeinem
Körper, oder einem Teil desſelben, eine größere
oder geringere Exiſtenzkraft bejaht, als vorher.
Denn alle Ideen, welche wir von Körpern haben, zeigen
(nach Zuſatz II zu Lehrſatz 16, Teil 2,) mehr den wirklichen
Zuſtand unſeres Körpers, als die Natur des äußern Körpers
an. Diejenige Idee aber, welche die Form des Affekts aus⸗
macht, muß denjenigen Zuſtand des Körpers, oder eines
Teils desſelben, anzeigen oder ausdrücken, welchen der
Körper, oder ein Teil desſelben dadurch hat, daß ſein
Thätigkeitsvermögen, oder feine Exiſtenzkraft, vermehrt
oder vermindert, gefördert oder gehemmt wird.
Es iſt aber zu beachten, daß, wenn ich ſage: „eine
größere oder geringere Exiſtenzkraft als vorher“, ich nicht
meine, daß der Geiſt den gegenwärtigen Zuſtand des
Körpers mit dem vergangenen vergleicht, ſondern daß die
Idee, welche die Form des Affekts ausmacht, vom Körper
etwas bejaht, was thatſächlich mehr oder weniger Realität
in ſich ſchließt, als vorher. Und weil das Weſen des
Geiſtes darin beſteht, (nach den Lehrſätzen 11 und 13,
Teil 2,) daß er die wirkliche Exiſtenz feines Körpers bejaht,
und wir unter Vollkommenheit das eigentliche Weſen eines
Dinges verſtehen, ſo folgt, daß der Geiſt zu größerer oder
geringerer Vollkommenheit übergeht, ſobald es geſchieht,
daß er von ſeinem Körper, oder von einem Teil desſelben,
etwas bejaht, was mehr oder weniger Realität in ſich
ſchließt, als vorher. Wenn ich alſo oben ſagte, daß das
Denkvermögen des Geiſtes vermehrt oder vermindert werde,
ſo wollte ich nichts anderes ſagen, als daß der Geiſt von
%
u
Ethik. über den Urſprung und die Natur der Affekte. 247
ſeinem Körper, oder von einem Teil desſelben, eine Idee
gebildet habe, welche mehr oder weniger Realität aus⸗
drückt, als er von ſeinem Körper vorher bejaht hatte.
Denn die Vorzüglichkeit der Ideen und das wirkliche Denk—
vermögen wird nach der Vorzüglichkeit des Objekts geſchätzt.
Ich habe endlich noch hinzugefügt, und durch deren
Vorhandenſein der Geiſt ſelbſt beſtimmt wird,
mehr an dies, als an jenes zu denken, um damit
außer der Natur der Luſt und der Unluſt, welche der erſte
Teil der Definitionen erläutert, auch die Natur der Begierde
auszudrücken.
Ende des Dritten Teils.
Vierter Teil.
Über die menſchliche Unfreiheit, oder die
Macht der Affekte.
Vorwort.
Die menſchliche Ohnmacht im Mäßigen und Einſchränken
der Affekte nenne ich Unfreiheit. Denn der den Affekten
unterworfene Menſch ſteht nicht unter ſeinen eigenen Ge⸗
ſetzen, ſondern unter denen des Schickſals, deſſen Macht
er dermaßen unterworfen iſt, daß er oft gezwungen iſt, dem
Schlimmeren zu folgen, obgleich er das Beſſere ſieht. Die
Urſache hiervon, und was außerdem die Affekte Gutes und
Schlimmes haben, will ich in dieſem Teil auseinanderſetzen.
Bevor ich aber beginne, möchte ich einiges über Voll-
kommenheit und Unvollkommenheit, und über das
Gute und Schlechte vorausſchicken.
Wenn jemand ſich vorſetzt, irgend einen Gegenſtand zu
machen, und er hat ihn vollendet, ſo wird nicht nur er
ſelbſt, ſondern jeder, der den Geiſt des Verfertigers dieſes
Werks und ſeinen Zweck genau kennt, oder zu kennen
glaubt, ſagen, der Gegenſtand ſei vollkommen. Angenommen
z. B., jemand habe irgend ein Werk geſehen, (und zwar
ein unfertiges,) und er weiß, daß der Zweck des Verfer⸗
tigers iſt, ein Haus zu bauen, ſo wird er das Haus für
unvollkommen erklären; für vollkommen dagegen, ſobald
er das Werk ſoweit gediehen ſieht, als es der Verfertiger
Über die menſchliche Unfreiheit, oder die Macht der Affekte. 249
beabſichtigte. Sieht aber jemand irgend ein Werk, deſſen⸗
gleichen er niemals geſehen hat, und kennt er den Geiſt
des Verfertigers nicht, ſo wird er natürlich nicht wiſſen
können, ob dieſes Werk vollkommen oder unvollkommen iſt.
Dies ſcheint die urſprüngliche Bedeutung dieſer Wörter
geweſen zu ſein.
Als nun aber die Menſchen anfingen, allgemeine Ideen
zu bilden, und Muſterbilder von Häuſern, Bauten,
Türmen u. ſ. f. zu erſinnen, und dann die einen Muſter⸗
bilder den andern vorzuziehen, kam es, daß jeder das voll⸗
kommen nannte, was er mit der allgemeinen Idee, die er
von dem betreffenden Gegenſtand gebildet hatte, überein⸗
ſtimmen ſah, unvollkommen hingegen, was er mit dem
Urbild, das er ſich gebildet, nicht ganz übereinſtimmen ſah,
wenn es auch der Abſicht des Verfertigers nach ganz und
gar vollendet war.
Aus keinem andern Grunde ſcheint man auch gemeinig⸗
lich die Naturgegenſtände, die nämlich nicht von Menſchen⸗
hand gemacht ſind, vollkommen oder unvollkommen ge—
nannt zu haben. Denn ſowohl von den natürlichen Dingen,
wie von den künſtlichen, pflegen die Menſchen allgemeine
Ideen zu bilden, die ihnen als Muſterbilder der Dinge
gelten und welche, wie ſie glauben, die Natur, (die nach
ihrer Meinung nichts ohne einen Zweck thut,) vor Augen
hat, und ſich als Muſterbilder aufſtellt. Wenn ſie daher
in der Natur etwas entſtehen ſehen, was mit dem an⸗
genommenen Muſterbild des betreffenden Dinges nicht ganz
übereinſtimmt, ſo glauben ſie, die Natur ſelbſt habe da
einen Fehler gemacht, oder ein Verſehen begangen, und das
betreffende Ding ſei unvollkommen.
Wir ſehen daher, daß die Menſchen gewöhnt ſind, die
natürlichen Dinge mehr im vorurteilsvollen Sinne, als
im Sinne wahrer Erkenntnis, vollkommen oder unvoll⸗
kommen zu nennen. Denn im Anhang zum Erſten Teil
habe ich gezeigt, daß die Natur nicht um eines Zwecks
250 Ethik. Vierter Teil.
willen handelt. Jenes ewige und unendliche Weſen, das
wir Gott oder Natur nennen, handelt vielmehr mit der⸗
ſelben Notwendigkeit, mit welcher es exiſtiert. Denn ich
habe gezeigt, (Lehrſatz 16, Teil 1) daß dieſes Weſen durch
dieſelbe Notwendigkeit ſeiner Natur handelt, durch welche
es exiſtiert. Der Grund alſo, oder die Urſache, weshalb
Gott oder die Natur handelt, und weshalb Gott oder die
Natur exiſtiert, iſt eine und dieſelbe. Wie ſie alſo um keines
Zweckes willen exiſtiert, ſo handelt ſie auch um keines Zweckes
willen; vielmehr, wie es für ihre Exiſtenz keinen Anfangs⸗
grund oder Endzweck giebt, ſo auch für ihr Handeln.
Was man aber Endurſache (Zweck) nennt, iſt nichts
anderes, als das menſchliche Verlangen ſelbſt, ſofern es als
der Anfangsgrund, oder die erſte Urſache eines Dinges be⸗
trachtet wird. Wenn wir z. B. ſagen, das Bewohnen ſei
die Endurſache dieſes oder jenes Hauſes geweſen, ſo ver⸗
ſtehen wir doch gewiß nichts anderes darunter, als daß der
Menſch darum, weil er ſich die Annehmlichkeiten eines
häuslichen Lebens vorſtellte, das Verlangen hatte, ein Haus
zu bauen. Daher iſt das Bewohnen, ſofern es als End⸗
urſache betrachtet wird, nichts als dieſes einzelne Verlangen,
welches thatſächlich die wirkende Urſache iſt; die deswegen als
erſte Urſache betrachtet wird, weil die Menſchen die Urſachen
ihres Verlangens in der Regel nicht kennen. Denn die
Menſchen ſind, wie ich ſchon oft geſagt habe, wohl ihres
Thuns und ihres Verlangens bewußt, aber der Urſachen,
von denen ſie beſtimmt werden, etwas zu verlangen, un⸗
kundig. — Überdies zähle ich die Redensarten, daß die
Natur manchmal Fehler mache oder Verſehen begehe, und
unvollkommene Dinge hervorbringe, zu den Fiktionen, von
denen ich im Anhang zum Erſten Teil geſprochen habe.
Vollkommenheit und Unvollkommenheit ſind
alſo thatſächlich nur Formen des Denkens, nämlich Be⸗
griffe, die wir dadurch zu bilden pflegen, daß wir Indivi⸗
duen derſelben Art oder Gattung miteinander vergleichen.
4
Über die menſchliche Unfreiheit, oder die Macht der Affekte. 251
Aus dieſem Grunde habe ich oben (Definition 6, Teil 2,
geſagt, daß ich unter Realität und Vollkommenheit eins
und dasſelbe verſtehe. Denn wir pflegen alle Individuen
der Natur unter Eine Gattung zu bringen, die man die
allgemeinſte nennt, nämlich den Begriff Sein, welcher allen
Individuen der Natur überhaupt zukommt. Sofern wir
daher die Individuen der Natur unter dieſe Gattung
bringen und miteinander vergleichen, und wahrnehmen,
daß die einen mehr Sein oder Realität haben, als die
andern, inſofern ſagen wir, daß die einen vollkommener
find, als die andern. Und ſofern wir ihnen etwas bei-
legen, was eine Verneinung in ſich ſchließt, wie Grenze,
Ende, Ohnmacht u. dgl., inſofern nennen wir fie unvoll-
kommen; weil ſie unſern Geiſt nicht ebenſo erregen, wie
jene, die wir vollkommen nennen, nicht aber darum, weil
ihnen etwas fehlt, was zu ihnen gehört, oder weil die
Natur ein Verſehen begangen hätte. Denn nichts kommt
der Natur eines Dinges zu, als das, was aus der Not⸗
wendigkeit der Natur der wirkenden Urſache folgt; und
alles, was aus der Notwendigkeit der Natur der wirkenden
Urſache folgt, das geſchieht notwendig.
Was das Gute und Schlechte anbelangt, ſo bezeichnen
auch dieſe Namen nichts Poſitives in den Dingen, wenn
man nämlich die Dinge an und für ſich betrachtet, ſondern
ſie ſind nur Formen des Denkens, oder Begriffe, die wir
dadurch bilden, daß wir die Dinge miteinander vergleichen.
Denn ein und dasſelbe Ding kann zu gleicher Zeit gut
und ſchlecht, und auch indifferent ſein. Z. B. die Muſik
iſt für den Schwermütigen gut, für den Trauernden ſchlecht,
für den Tauben weder gut noch ſchlecht.
Obgleich ſich nun aber die Sache ſo verhält, müſſen
wir doch dieſe Wörter beibehalten. Denn weil ich eine
Idee des Menſchen bilden will, die wir als Muſter der
menſchlichen Natur vor Augen haben, wird es uns von
Nutzen ſein, dieſe Wörter im erwähnten Sinne beizubehalten.
252 Ethik. Vierter Teil.
Unter gut werde ich daher im folgenden das verſtehen,
wovon wir gewiß wiſſen, daß es ein Mittel iſt, uns dem
Muſter der menſchlichen Natur, das wir uns aufftellen,
mehr und mehr zu nähern. Unter ſchlecht dagegen das,
wovon wir gewiß wiſſen, daß es uns hindert, dieſem
Muſter ähnlich zu ſein.
Ferner werde ich die Menſchen vollkommener oder
unvollkommener nennen, ſofern ſie ſich dieſem Exemplar
mehr oder weniger nähern. Denn es muß beſonders
darauf aufmerkſam gemacht werden, daß, wenn ich ſage,
jemand geht von geringerer zu größerer Vollkommenheit
über, und umgekehrt, ich nicht meine, daß er in ein anderes
Weſen, oder in eine andere Form verwandelt wird, —
denn ein Pferd z. B. hört auf, ein Pferd zu ſein, ob es
in einen Menſchen, oder in ein Inſekt verwandelt würde,
— ſondern daß wir ſein Thätigkeitsvermögen, ſofern es
aus ſeiner eigenen Natur erkannt wird, als vermehrt oder
vermindert begreifen.
Endlich werde ich unter Vollkommenheit im all⸗
gemeinen, wie ſchon geſagt, die Realität begreifen, d. h.
das Weſen eines jeden Dinges, ſofern es auf gewiſſe Weiſe
exiſtiert und wirkt, ohne dabei auf feine Dauer Rückſicht
zu nehmen. Denn kein Einzelding kann deswegen voll⸗
kommener genannt werden, weil es längere Zeit im Daſein
verharrt hat. Denn die Dauer der Dinge kann aus ihrem
Weſen nicht beſtimmt werden, weil ja das Weſen der
Dinge keine ſichere und beſtimmte Zeit der Exiſtenz in ſich
ſchließt. Jedes Ding vielmehr, mag es mehr oder weniger
vollkommen ſein, wird mit derſelben Kraft, mit der es zu
exiſtieren angefangen hat, immer in der Exiſtenz verharren
können, ſo daß in dieſer Hinſicht alle Dinge einander
gleich ſind.
Über die menſchliche Unfreiheit, oder die Macht der Affekte. 253
Definitionen.
1) Unter gut verftehe ich das, von dem wir gewiß
wiſſen, daß es uns nützlich iſt.
2) Unter ſchlecht aber verſtehe ich das, von dem wir
gewiß wiſſen, daß es uns hindert, ein Gutes zu erlangen.
(S. hierüber das vorſtehende Vorwort am Schluß.)
3) Ich nenne die Einzeldinge zufällige, ſofern wir,
wenn wir bloß ihr Weſen ins Auge faſſen, nichts finden,
was ihre Exiſtenz notwendig ſetzt, oder was ſie notwendig
ausſchließt.
4) Ich neune die Einzeldinge mögliche, wenn wir,
ſofern wir die Urſachen, durch welche ſie hervorgebracht
werden müſſen, ins Auge faſſen, nicht wiſſen, ob dieſe be=
ſtimmt ſind, ſie hervorzubringen.
(In der 1. Anmerkung zu Lehrſatz 33, Teil 1, habe ich
zwiſchen möglich und zufällig keinen Unterſchied gemacht,
weil es dort nicht nötig war, dies ſcharf zu unterſcheiden.)
5) Unter entgegengeſetzten Affekten werde ich im
folgenden diejenigen verſtehen, welche den Menſchen nach
verſchiedenen Richtungen treiben, obgleich ſie derſelben
Gattung angehören; wie Verſchwendung und Geiz, welche
Arten der Liebe ſind, und nicht von Natur, ſondern durch
einen Nebenumſtand Gegenſätze ſind.
6) Was ich unter Affekt für ein zukünftiges,
gegenwärtiges und vergangenes Ding verſtehe, habe
ich in den beiden Anmerkungen zu Lehrſatz 18 im Dritten
Teil auseinandergeſetzt; ſiehe dieſe.
(Es muß hier aber beſonders darauf aufmerkſam ge⸗
macht werden, daß wir uns die zeitliche Entfernung, ebenſo
wie die räumliche, nur bis zu einer gewiſſen Grenze deutlich
254 Ethik. Vierter Teil.
vorſtellen können; d. h., ſo wie alle Objekte, welche mehr
als zweihundert Fuß von uns entfernt ſind, oder deren
Abſtand von unſerem Standort die Entfernung überſchreitet,
die wir uns deutlich vorſtellen, in gleich weiter Entfernung
und auf der gleichen Fläche ſich zu befinden ſcheinen, ebenſo
ſcheinen auch die Objekte, deren Exiſtenz in einen Zeitpunkt
fällt, der von der Gegenwart durch einen längeren Zeit⸗
raum getrennt iſt, als wir deutlich vorzuſtellen pflegen,
ſämtlich gleich fern von der Gegenwart abzuliegen, und ſie
kommen uns wie gleichzeitige Dinge vor.)
7) Unter Zweck, um deſſentwillen wir etwas thun,
verſtehe ich das Verlangen darnach.
8) Unter Tugend und Vermögen (Fähigkeit, Macht,
Kraft,) verſtehe ich eins und dasſelbe. Das heißt, (nach
Lehrſatz 7, Teil 3,) die Tugend, ſofern ſie auf den Menſchen
bezogen wird, iſt das eigentliche Weſen, oder die eigentliche
Natur des Menſchen, ſofern er die Macht hat, etwas zu
bewirken, was durch die bloßen Geſetze ſeiner eigenen Natur
begriffen werden kann.
Ariom.
Es giebt in der Natur kein Einzelding, das nicht von
einem andern mächtigeren und ſtärkeren übertroffen würde.
Es giebt vielmehr immer ein anderes mächtigeres, als das
gegebene, von dem dieſes zerſtört werden kann.
Erſter Lehrſatz.
Nichts von dem, was eine falſche Idee Poſitives ent⸗
hält, wird durch die Gegenwart des Wahren, ſofern es
wahr iſt, aufgehoben.
Beweis.
Die Falſchheit beſteht in dem bloßen Mangel der Er—
kenntnis, welche die inadäquaten Ideen in ſich ſchließen
(nach Lehrſatz 35, Teil 2); ſie haben aber ſelbſt nichts
Poſitives, wegen deſſen ſie falſch heißen, (nach Lehrſatz 33,
Teil 2,) ſondern find im Gegenteil, ſofern fie auf Gott
bezogen ſind, wahr (nach Lehrſatz 32, Teil 2). Wenn alſo
das, was die falſche Idee Poſitives hat, durch die Gegen—
wart des Wahren, ſofern es wahr iſt, aufgehoben würde,
ſo würde demnach die wahre Idee durch ſich ſelbſt auf—
gehoben werden, was (nach Lehrſatz 4, Teil 3,) widerſinnig
wäre. Folglich wird nichts von dem, was eine falſche
Idee u. ſ. f. — W. z. b. w.
Anmerkung.
Dieſer Lehrſatz erhellt noch deutlicher aus Zuſatz II zu
Lehrſatz 16 im Zweiten Teil. Denn die Vorſtellung iſt
eine Idee, welche mehr den gegenwärtigen Zuſtand des
menſchlichen Körpers, als die Natur des äußern Körpers
anzeigt; zwar nicht deutlich, ſondern verworren. Daher
kommt es, daß man ſagt, der Geiſt irrt. Wenn wir z. B.
die Sonne betrachten, ſtellen wir uns vor, ſie ſei ungefähr
zweihundert Fuß von uns entfernt, und hierin täuſchen
wir uns ſo lange, als wir ihren wahren Abſtand nicht
256 Ethik. Vierter Teil.
kennen. Durch die Erkenntnis ihres Abſtands wird nun
zwar der Irrtum gehoben, nicht aber die Vorſtellung, d. h.
die Idee der Sonne, welche deren Natur nur inſofern aus⸗
drückt, ſofern der Körper von ihr erregt wird. Daher
werden wir, auch wenn wir ihren wahren Abſtand kennen,
dennoch die Vorſtellung haben, daß ſie uns nahe ſei. Denn,
wie ich in der Anmerkung zu Lehrſatz 35 des Zweiten
Teils geſagt habe, nicht deswegen ſtellen wir uns die Sonne
ſo nahe vor, weil wir ihren wahren Abſtand nicht kennen,
ſondern weil der Geiſt inſofern die Größe der Sonne be⸗
greift, ſofern der Körper von ihr erregt wird. — So auch,
wenn die auf die Oberfläche des Waſſers fallenden Sonnen⸗
ſtrahlen nach unſern Augen zurückgeworfen werden, haben
wir die Vorſtellung, als wären ſie im Waſſer, obgleich wir
ihren wahren Ort kennen. — Und ſo ſind auch die übrigen
Vorſtellungen, durch welche der Geiſt getäuſcht wird, mögen
ſie den natürlichen Zuſtand des Körpers, oder die Ver⸗
mehrung oder Verminderung ſeines Thätigkeitsvermögens
anzeigen, dem Wahren nicht entgegengeſetzt, noch verſchwinden
ſie durch deſſen Gegenwart. — Zwar geſchieht es, daß,
wenn wir fälſchlich ein Übel fürchten, die Furcht verſchwindet,
ſobald wir die wahre Sachlage erfahren haben. Umgekehrt
aber geſchieht es ebenfalls, daß, wenn wir ein Übel fürchten,
welches ſicher kommen wird, die Furcht gleichfalls ver⸗
ſchwindet, wenn uns die Sachlage falſch dargeſtellt wird. —
Die Vorſtellungen verſchwinden alſo nicht durch die Gegen⸗
wart des Wahren, ſofern es wahr iſt, ſondern weil ihnen
andere ſtärkere entgegentreten, welche die gegenwärtige
Exiſtenz der vorgeſtellten Dinge ausſchließen, wie ich im
Zweiten Teil, Lehrſatz 17, gezeigt habe.
|
Ethik. Über die menſchliche unfreiheit, od. die Macht d. Affekte. 257
Zweiter Lehrſatz.
Wir leiden inſofern, ſofern wir ein Teil der Natur
ſind, welcher für ſich allein, ohne andere, nicht begriffen
werden kann.
Beweis.
Wir heißen leidend, wenn etwas in uns entſteht, wovon
wir nur die partielle Urſache ſind, (nach Definition 2,
Teil 3,) d. h., (nach Definition 1, Teil 3,) etwas, das aus
den bloßen Geſetzen unſerer Natur nicht abgeleitet werden
kann. Alſo leiden wir, ſofern wir ein Teil der Natur
ſind, der für ſich allein, ohne andere, nicht begriffen werden
kann. — W. z. b. w
Dritter Lehrſatz.
Die Macht (Kraft), mit welcher der Menſch im
Exiſtieren verharrt, iſt eine beſchränkte, und wird von
dem Vermögen der äußern Urſachen unendlich übertroffen.
Beweis.
Der Satz erhellt aus dem Axiom dieſes Teils. Denn,
iſt der Menſch gegeben, ſo giebt es etwas anderes, etwa A,
das mächtiger iſt, und iſt A gegeben, ſo giebt es wieder
etwas anderes, etwa B, das mächtiger iſt, als A, und ſo
ins Unendliche. Alſo wird das Vermögen des Menſchen
durch das Vermögen eines andern Dinges beſchränkt, und
von dem Vermögen der äußern Urſachen unendlich über-
ragt. — W. z. b. w.
Vierter Lehrſatz.
Es iſt unmöglich, daß der Menſch kein Teil der Natur
ki, und daß er keine andere Veränderungen erleiden
17
258 Ethik. Vierter Teil.
könne, als ſolche, die aus ſeiner Natur allein begriffen
werden können, und deren adäquate Urſache er iſt.
Beweis.
Das Vermögen, womit die Einzeldinge, und folglich
auch der Menſch, ſein Sein erhält, iſt das Vermögen Gottes
oder der Natur ſelbſt, (nach Zuſatz zu Lehrſatz 24, Teil 1,
nicht ſofern er unendlich iſt, ſondern ſofern er durch das
wirkliche menſchliche Weſen ausgedrückt werden kann (nach
Lehrſatz 7, Teil 3). Alſo iſt das Vermögen des Menſchen,
ſofern es durch deſſen wirkliches Weſen ausgedrückt wird,
ein Teil des unendlichen Vermögens, d. h. (nach Lehr⸗
fat 34, Teil 1,) Weſens Gottes oder der Natur. Damit
iſt das erſte bewieſen. — Ferner, wenn es möglich wäre,
daß der Menſch keine andere Veränderungen erleiden könne,
als ſolche, die aus ſeiner Natur allein begriffen werden
können, ſo würde daraus folgen, (nach Lehrſatz 4 und 6,
Teil 3,) daß er nicht vergehen könne, ſondern daß er not=
wendig immer exiſtiere. Und zwar müßte dies entweder
aus einer Urſache folgen, deren Vermögen endlich iſt, oder
aus einer Urſache, deren Vermögen unendlich iſt. Nämlich,
entweder aus dem bloßen Vermögen des Menſchen, der bei
dieſer Annahme die Fähigkeit haben müßte, alle Verän⸗
derungen, die von äußeren Urſachen herrühren könnten, von
ſich fern zu halten; oder aus dem unendlichen Vermögen
der Natur, von welcher alles einzelne ſo geleitet würde,
daß der Menſch keine andere Veränderungen erleiden
könnte, als ſolche, welche zu ſeiner Erhaltung dienen. Das
erſte aber iſt (nach dem vorigen Lehrſatz, deſſen Beweis ein
allgemeiner und auf alle Einzeldinge anwendbar iſt,) wider⸗
ſinnig. Wenn es alſo möglich wäre, daß der Menſch keine
andere Veränderungen erlitte, als ſolche, die durch die
Natur des Menſchen allein begriffen werden können, und
daß er folglich (wie bereits gezeigt) immer exiſtierte, ſo
müßte dies aus dem unendlichen Vermögen Gottes folgen
* RE
Ethik. Über die menſchliche Unfreiheit, od. die Macht d. Affekte. 259
Folglich müßte (nach Lehrſatz 16, Teil 1,) aus der Not-
wendigkeit der göttlichen Natur, ſofern ſie als durch die
Idee eines Menſchen erregt betrachtet wird, die Ordnung
der ganzen Natur, ſofern ſie unter den Attributen des
Denkens und der Ausdehnung begriffen wird, abgeleitet
werden. Daraus würde dann folgen, (nach Lehrſatz 21,
Teil 1,) daß der Menſch unendlich wäre, was (nach dem
erſten Teil dieſes Beweiſes) widerſinnig iſt. Es iſt alſo
nicht möglich, daß der Menſch keine andere Veränderungen
erleidet, als ſolche, deren adäquate Urſache er ſelbſt iſt. —
W. z. b. w.
ZJuſah.
Hieraus folgt, daß der Menſch notwendig immer den
Leiden!) unterworfen iſt, und daß er der gemeinſamen
Ordnung der Natur folgt und ihr gehorcht, und ihr, ſoweit
es die Natur der Dinge erfordert, ſich anpaßt.
Fünfter Lehrſatz.
Die Macht und das Wachstum eines jeglichen Leidens,
und ſein Verharren in der Exiſtenz, erklärt ſich nicht
durch das Vermögen, womit wir in der Exiſtenz zu ver⸗
harren ſtreben, ſondern aus dem Vermögen der äußern
Urſache, verglichen mit dem unſerigen.
Beweis.
Das Weſen des Leidens kann nicht durch unſer Weſen
allein ausgedrückt werden, (nach den Definitionen 1 und 2,
Teil 3,) d. h., (nach Lehrſatz 7, Teil 3,) das Vermögen
des Leidens kann nicht erklärt werden durch das Vermögen,
womit wir in unſerem Sein zu verharren ſtreben, ſondern
muß (wie in Lehrſatz 16, Teil 2, gezeigt iſt) notwendig
) S. die Anmerkung zum Zuſatz zu Lehrſatz 1, Teil 3.
17 *
260 Ethik. Vierter Teil.
durch das Vermögen der äußern Urſache, verglichen mit
dem unſrigen, erklärt werden. — W. z. b. w.
Sechſter Lehrſatz.
Die Macht irgend eines Leidens, oder Affekts, kann
die übrigen Handlungen des Menſchen, oder ſein Ver⸗
mögen, übertreffen, derart, daß der Affekt dem Menſchen
hartnäckig anhaftet.
Beweis.
Die Macht und das Wachstum eines jeglichen Leidens,
und ſein Beharren in der Exiſtenz, erklärt ſich aus dem
Vermögen der äußern Urſache, verglichen mit dem unfrigen -
(nach dem vorigen Lehrſatz). Sie kann daher (nach Lehr⸗
ſatz 3 dieſes Teils) das Vermögen des Menſchen über⸗
treffen u. ſ. f. — W. z. b. w.
Siebenter Lehrſatz.
Ein Affekt kann nicht anders gehemmt oder auf⸗
gehoben werden, als durch einen andern, entgegengeſetzten
und ſtärkeren Affekt.
Beweis.
Ein Affekt iſt, ſofern er auf den Geiſt bezogen wird,
eine Idee, durch welche der Geiſt eine größere oder geringere
Exiſtenzkraft als vorher von ſeinem Körper bejaht. (Nach der
allgemeinen Definition der Affekte, die man am Schluß des
Dritten Teils findet.) Wenn alſo der Geiſt von irgend einem
Affekt beſtürmt wird, wird zugleich der Körper von einer
Erregung ergriffen, durch welche ſein Thätigkeitsvermögen
vermehrt oder vermindert wird. Nun erhält dieſe Körper⸗
erregung (nach Lehrſatz 5 dieſes Teils) die Macht, in ihrem
Sein zu beharren, von ihrer Urſache. Sie kann daher
nicht anders gehemmt oder aufgehoben werden, als durch
Ethik. über die menſchliche Unfreiheit, od. die Macht d. Affekte. 261
eine körperliche Urſache, (nach Lehrſatz 6, Teil 2, durch
welche der Körper von einer entgegengeſetzten (nach Lehr⸗
ſatz 5, Teil 3,) und ſtärkeren (nach dem Axiom dieſes Teils)
Erregung ergriffen wird. Es wird alſo der Geiſt (nach
Lehrſatz 12, Teil 2,) von der Idee einer ſtärkeren, und
der erſten entgegengeſetzten Erregung erregt; d. h., (nach
der allgemeinen Definition der Affekte,) der Geiſt wird von
einem ſtärkeren und dem erſten entgegengeſetzten Affekt
erregt, der alſo die Exiſtenz des erſten ausſchließt oder
aufhebt. Mithin kann ein Affekt nicht anders gehemmt
oder aufgehoben werden, als durch einen entgegengeſetzten
und ſtärkeren Affekt. — W. z. b. w.
Bufaß.
Ein Affekt kann, ſofern er auf den Geiſt bezogen wird,
nicht anders gehemmt oder aufgehoben werden, als durch
die Idee einer entgegengeſetzten Körpererregung, die ſtärker
iſt, als die Erregung, die wir erleiden. Denn ein Affekt,
den wir erleiden, kann nicht anders gehemmt oder auf—
gehoben werden, als durch einen ihm entgegengeſetzten und
ſtärkeren Affekt, (nach dem vorigen Lehrſatz,) d. h., (nach
der allgemeinen Definition der Affekte,) durch die Idee
einer ſtärkeren Körpererregung, welche jener Erregung, die
wir erleiden, entgegengeſetzt iſt.
Achter Lehrſatz.
Die Erkenntnis des Guten und Schlechten iſt nichts
anderes, als der Affekt der Luſt oder Unluſt, ſofern wir
uns desſelben bewußt find.
Beweis.
Wir nennen das gut oder ſchlecht, was der Erhaltung
unſeres Seins nützt oder ſchadet, (nach den Definitionen 1
und 2 dieſes Teils,) d. h., (nach Lehrſatz 7, Teil 3,) was
262 Ethik. Vierter Teil.
unſer Thätigkeitsvermögen vermehrt oder vermindert, fördert
oder hemmt. Sofern wir daher (nach der Definition von
Luſt und Unluſt, ſ. dieſelbe in der Anmerkung zu Lehr⸗
ſatz 11, Teil 3,) wahrnehmen, daß uns irgend ein Ding
mit Luſt oder Unluſt erregt, nennen wir es gut oder ſchlecht.
Alſo iſt die Erkenntnis des Guten oder Schlechten nichts
anderes, als die Idee der Luſt und Unluſt, die aus dem
Luſt⸗ oder Unluſtaffekt ſelbſt notwendig folgt (nach Lehr⸗
ſatz 22, Teil 2). Dieſe Idee iſt aber in derſelben Weiſe
mit dem Affekt vereinigt, wie der Geiſt mit dem Körper
vereinigt iſt (nach Lehrſatz 21, Teil 2); d. h., (wie in der
Anmerkung desſelben Lehrſatzes gezeigt worden,) dieſe Idec
unterſcheidet ſich in Wirklichkeit von dem Affekt ſelbſt, oder
(nach der allgemeinen Definition der Affekte) von der Idee
der Körpererregung, durch nichts, als durch den bloßen
Begriff. Folglich iſt dieſe Erkenntnis des Guten und
Schlechten nichts anderes, als der Affekt ſelbſt, ſofern wir
uns desſelben bewußt ſind. — W. z. b. w.
Neunter Lehrſatz.
Ein Affekt, von deſſen Urſache wir uns vorſtellen,
daß ſie in der Gegenwart bei uns iſt, iſt ſtärker, als
wenn wir uns vorſtellen, daß ſie nicht bei uns iſt.
Beweis.
Die Vorſtellung iſt eine Idee, durch welche der Geiſt
ein Ding als gegenwärtig betrachtet, (ſ. deren Definition
in der Anmerkung zu Lehrſatz 17, Teil 2, die aber mehr
den Zuſtand des menſchlichen Körpers, als die Natur des
äußern Dinges anzeigt (nach Zuſatz II zu Lehrſatz 16,
Teil 2). Ein Affekt iſt alſo (nach der allgemeinen Defini⸗
tion der Affekte) eine Vorſtellung, ſofern ſie den Zuſtand
des Körpers anzeigt. Eine Vorſtellung iſt aber (nach Lehr⸗
ſatz 17, Teil 2,) kräftiger, fo lange wir uns nichts vor⸗
Ethik. Über die menſchliche Unfreiheit, od. die Macht d. Affekte. 263
fiellen, was die gegenwärtige Exiſtenz des äußern Dinges
ausſchließt. Folglich iſt auch ein Affekt, von deſſen Urſache
wir uns vorſtellen, daß ſie in der Gegenwart bei uns iſt,
kräftiger oder ſtärker, als wenn wir uns vorſtellen, daß ſie
nicht bei uns iſt. — W. z. b. w.
Anmerkung.
Als ich oben im Dritten Teil, Lehrſatz 18, ſagte, daß
wir durch die Vorſtellung eines zukünftigen oder vergangenen
Dinges von demſelben Affekt erregt werden, als wenn das
Ding, das wir uns vorſtellen, gegenwärtig wäre, bemerkte
ich ausdrücklich, daß dies wahr ſei, ſofern wir bloß die
Vorſtellung des Dinges ſelbſt ins Auge faſſen; denn dieſe
iſt von gleicher Natur, ob wir uns das Ding vorgeſtellt
haben oder nicht. Ich habe jedoch nicht in Abrede geſtellt,
daß die Vorſtellung ſchwächer wird, wenn wir andere Dinge
als uns gegenwärtig betrachten, welche die gegenwärtige
Exiſtenz des zukünftigen Dinges ausſchließen. Ich habe
dies dort zu bemerken unterlaſſen, weil ich die Macht der
Affekte erſt in dieſem Teile behandeln wollte.
Zuſatz.
Die Vorſtellung eines zukünftigen oder vergangenen
Dinges, d. h. eines Dinges, das wir mit Beziehung auf
die zukünftige oder vergangene Zeit, unter Ausſchluß der
gegenwärtigen, betrachten, iſt, bei ſonſt gleichen Umſtänden,
ſchwächer, als die Vorſtellung eines gegenwärtigen Dinges.
Dementſprechend iſt auch der Affekt für ein zukünftiges
oder vergangenes Ding, bei ſonſt gleichen Umſtänden,
weniger heftig, als der Affekt für ein gegenwärtiges Ding.
264 Ethik. Vierter Teil.
Zehnter Lehrſatz.
Gegen ein zukünftiges Ding, von dem wir uns vor⸗
ſtellen, daß es in Bälde gegenwärtig ſein wird, werden
wir kräftiger erregt, als wenn wir uns vorſtellen, daß
die Zeit ſeiner Exiſtenz von der Gegenwart weiter eut⸗
fernt iſt. Und durch die Erinnerung an ein Ding, von
dem wir uns vorſtellen, daß es noch nicht lange ver⸗
gangen iſt, werden wir ebenfalls kräftiger erregt, als
wenn wir uns vorſtellen, daß es ſchon lange vergangen iſt.
Beweis.
Denn ſofern wir uns ein Ding als nahe bevorſtehend,
oder als noch nicht lange vergangen vorſtellen, ſtellen wir
uns eben dadurch etwas vor, was die Gegenwart des
Dinges weniger ausſchließt, als wenn wir uns die Zeit
ſeiner Exiſtenz in der Zukunft oder in der Vergangenheit
weiter von der Gegenwart entfernt vorſtellen (wie von
ſelbſt klar). Daher werden wir (nach dem vorigen Lehr⸗
ſatz) inſofern kräftiger gegen es erregt werden. — W. z. b. w.
Anmerkung.
Aus dem, was ich zur Definition 6 dieſes Teils be⸗
merkt habe, folgt, daß wir gegen Objekte, welche von der
Gegenwart durch einen ſo großen Zeitraum getrennt ſind,
daß wir ihn durch die Vorſtellung nicht genau beſtimmen
können, gleich ſchwach erregt werden, auch wenn wir wiſſen,
daß ſie ſelbſt von einander durch einen großen Zeitraum
getrennt ſind.
Elfter Lehrſatz.
Der Affekt gegen ein Ding, das wir als notwendig
vorſtellen, iſt bei ſonſt gleichen Umſtänden kräftiger, als
gegen ein mögliches oder zufälliges, d. h. nicht notwendiges.
Ethik. Über die menſchliche Unfreiheit, od. die Macht d. Affekte. 265
Beweis.
Sofern wir uns ein Ding als notwendig vorſtellen, in⸗
ſofern bejahen wir ſeine Exiſtenz. Umgekehrt verneinen
wir die Exiſtenz eines Dinges, ſofern wir es uns als nicht
notwendig vorſtellen (nach Anmerkung 1 zu Lehrſatz 33,
Teil 1). Somit ift (nach Lehrſatz 9 dieſes Teils) der Affekt
gegen ein notwendiges Ding, bei ſonſt gleichen Umſtänden,
kräftiger, als gegen ein nicht notwendiges. — W. z. b. w.
Zwölfter Lehrſatz.
Der Affekt gegen ein Ding, von dem wir wiſſen,
daß es in der Gegenwart nicht exiſtiert, und das wir
uns als möglich vorſtellen, iſt bei ſonſt gleichen Umſtänden
kräftiger, als gegen ein zufälliges.
Beweis.
Sofern wir uns ein Ding als zufällig vorſtellen, werden
wir durch keine Vorſtellung eines andern Dinges erregt,
welche die Exiſtenz jenes Dinges ſetzt (nach Definition 3
dieſes Teils); vielmehr ſtellen wir uns (der Vorausſetzung
gemäß) manches vor, was ſeine gegenwärtige Exiſtenz
ausſchließt. Sofern wir uns aber ein Ding als in Zukunft
möglich vorſtellen, inſofern ſtellen wir uns etwas vor, was
feine Exiſtenz ſetzt, (nach Definition 4 dieſes Teils,) d. h.,
(nach Lehrſatz 18, Teil 3,) was Hoffnung und Furcht nährt.
Folglich iſt der Affekt gegen ein mögliches Ding heftiger.
— W. z. b. w.
Bufaß.
Der Affekt gegen ein Ding, von dem wir wiſſen, daß
es in der Gegenwart nicht exiſtiert, und das wir uns als
zufällig vorſtellen, iſt um vieles ſchwächer, als wenn wir
uns vorſtellten, daß das Ding in der Gegenwart bei uns ſei.
266 Ethik. Vierter Teil.
Beweis.
Der Affekt gegen ein Ding, das wir uns in der Gegen⸗
wart exiſtierend vorſtellen, iſt kräftiger, als wenn wir es
als zukünftig vorſtellen würden, (nach Zuſatz zu Lehrſatz 9
dieſes Teils,) und er iſt noch um vieles heftiger, als gegen
ein zukünftig vorgeſtelltes Ding, wenn dieſer zukünftige
Zeitpunkt von der Gegenwart ſehr fern vorgeſtellt wird
(nach Lehrſatz 10 dieſes Teils). Es iſt alſo der Affekt
gegen ein Ding, von dem wir uns vorſtellen, daß die Zeit
ſeiner Exiſtenz von der Gegenwart ſehr fern iſt, viel
ſchwächer, als wenn wir es als gegenwärtig vorſtellten; er
iſt aber gleichwohl (nach dem obigen Lehrſatz) kräftiger, als
wenn wir dasſelbe Ding als zufällig vorſtellten. Somit
iſt der Affekt gegen ein zufälliges Ding um vieles ſchwächer,
als wenn wir uns vorſtellen würden, daß das Ding in
der Gegenwart bei uns ſei. — W. z. b. w.
Dreizehnter Lehrſatz.
Der Affekt gegen ein zukünftiges Ding, von dem wir
wiſſen, daß es in der Gegenwart nicht exiſtiert, iſt bei
ſonſt gleichen Umſtänden ſchwächer, als der Affekt gegen
ein vergangenes Ding.
Beweis.
Sofern wir uns ein Ding als zufällig vorſtellen, werden
wir von keiner Vorſtellung eines andern Dinges erregt,
welche die Exiſtenz jenes Dinges ſetzt, (nach Definition 3
dieſes Teils,) ſondern ſtellen uns (nach der Vorausſetzung)
im Gegenteil etwas vor, was deſſen gegenwärtige Exiſtenz
ausſchließt. Sofern wir es uns aber mit Beziehung auf
die Vergangenheit vorſtellen, inſofern nehmen wir an, daß
wir etwas vorſtellen, was dasſelbe ins Gedächtnis ruft,
oder was die Vorſtellung (das Bild) des Dinges weckt
Ethik. Über die menſchliche Unfreiheit, od. die Macht d. Affekte. 267
(ſ. Lehrſatz 18, Teil 2, mit feiner Anmerkung), und folglich
inſofern bewirkt, daß wir es betrachten, als ob es gegen⸗
wärtig wäre (nach Zuſatz zu Lehrſatz 17, Teil 2). Folglich
(nach Lehrſatz 9 dieſes Teils) iſt der Affekt gegen ein zu⸗
fälliges Ding, von dem wir wiſſen, daß es in der Gegen⸗
wart nicht exiſtiert, bei ſonſt gleichen Umſtänden, ſchwächer,
als der Affekt gegen ein vergangenes Ding. — W. z. b. w.
Vierzehnter Lehrſatz.
Die wahre Erkenntnis des Guten und Schlechten
kann, ſofern ſie wahr iſt, keinen Affekt einſchränken,
ſondern nur, ſofern ſie als Affekt betrachtet wird.
Beweis.
Der Affekt iſt eine Idee, durch welche der Geiſt eine
größere oder geringere Exiſtenzkraft ſeines Körpers, als
vorher, bejaht (nach der allgemeinen Definition der Affekte).
Er hat folglich (nach Lehrſatz 1 dieſes Teils) nichts Poſi⸗
tives, was durch die Gegenwart des Wahren aufgehoben
werden könnte. Folglich kann die wahre Erkenntnis des
Guten und Schlechten, ſofern ſie wahr iſt, keinen Affekt
einſchränken. Sofern ſie aber ein Affekt iſt, (ſ. Lehrſatz 8
dieſes Teils,) wird ſie, wenn ſie ſtärker iſt als der einzu⸗
ſchränkende Affekt, inſofern nur (nach Lehrſatz 7 dieſes
Teils) dieſen Affekt einſchränken können. — W. z. b. w.
Fünfzehnter Lehrſatz.
Die Begierde, welche aus der Erkenntnis des Guten
und Schlechten entſpringt, kann durch viele andere Be⸗
gierden, welche aus Affekten, die uns beſtürmen, eut⸗
ſpringen, erſtickt oder eingeſchränkt werden.
268 Ethik. Vierter Teil.
Beweis.
Aus der wahren Erkenntnis des Guten und Schlechten,
fofern dieſelbe ein Affekt iſt, (nach Lehrſatz 8 dieſes Teils,
entſpringt notwendig eine Begierde, (nach den Definitionen
der Affekte, Ziffer I.) welche um ſo ſtärker ift, je ſtärker
der Affekt iſt, aus welcher ſie entſpringt (nach Lehrſatz 37,
Teil 3). Weil aber dieſe Begierde (nach der Vorausſetzung)
daraus entſpringt, daß wir etwas wahrhaft erkennen, ſo
erfolgt ſie alſo in uns, ſofern wir thätig ſind, (nach Lehr⸗
ſatz 1, Teil 3,) und muß alſo durch unſer Weſen allein
erkannt werden (nach Definition 2, Teil 3); und folglich
(nach Lehrſatz 7, Teil 3,) muß ihre Macht und ihr Wachs⸗
tum aus dem menſchlichen Vermögen allein erklärt werden.
Die Begierden ferner, welche aus den Affekten, die uns
beſtürmen, entſpringen, ſind auch um ſo ſtärker, je heftiger
dieſe Affekte ſind; und folglich muß ihre Macht und ihr
Wachstum (nach Lehrſatz 5 dieſes Teils) aus dem Ver⸗
mögen der äußern Urſachen erklärt werden, welches, im
Vergleich mit unſerm Vermögen, dieſes unendlich übertrifft
(nach Lehrſatz 3 dieſes Teils). Alſo können die Begierden,
welche aus ſolchen Affekten entſpringen, heftiger ſein, als
die Begierde, welche aus der wahren Erkenntnis des Guten
und Schlechten entſpringt, und ſie werden daher (nach
Lehrſatz 7 dieſes a dieſe einſchränken oder erſticken
können. — W. z. b.
Sechzehnter Lehrſatz.
Die Begierde, welche aus der Erkenntnis des Guten
und Schlechten entſpringt, ſofern ſich dieſe Erkenntnis
auf die Zukunft bezieht, kann leichter durch die Begierde
nach Dingen, die in der Gegenwart angenehm ſind, ein⸗
geſchränkt oder erſtickt werden.
Ethik. Über die menſchliche Unfreiheit, od. die Macht d. Affekte. 269
Beweis.
Der Affekt für ein Ding, das wir uns als zukünftig
vorſtellen, iſt ſchwächer, als für ein gegenwärtiges (nach
Zuſatz zu Lehrſatz 9 dieſes Teils). Die Begierde aber,
welche aus der wahren Erkenntnis des Guten und Schlechten
entſpringt, kann, ſelbſt wenn dieſe Erkenntnis ſich um
Dinge dreht, die in der Gegenwart gut ſind, durch irgend
eine von Ungefähr entſtehende Begierde erſtickt oder ge⸗
hemmt werden (nach dem vorigen Lehrſatz, deſſen Beweis
ein allgemeiner iſth. Folglich wird die Begierde, welche
aus derſelben Erkenntnis entſpringt, ſofern ſich dieſe auf
die Zukunft bezieht, leichter eingeſchränkt oder erſtickt werden
können u. ſ. f. — W. z. b. w.
Siebzehnter Lehrſatz.
Die Begierde, welche aus der wahren Erkenntnis des
Guten und Schlechten entſpringt, ſofern ſich dieſe um
zufällige Dinge dreht, kann noch um vieles leichter durch
die Begierde nach Dingen, welche gegenwärtig find, ge⸗
hemmt werden.
Beweis.
Dieſer Lehrſatz wird auf dieſelbe Weiſe wie der vorige
Lehrſatz aus dem Zuſatz zu Lehrſatz 12 dieſes Teils bewieſen.
Anmerkung.
Damit glaube ich die Urſache dargelegt zu haben, wes—
halb die Menſchen mehr von ihrer Meinung, als von der
wahren Vernunft, ſich bewegen laſſen, und weshalb die
wahre Erkenntnis des Guten und Schlechten in der Seele
Aufregungen verurſacht, und häufig Lüſten aller Art den
Platz räumt; was jenen Dichtervers “) eingegeben hat:
*) Ovid, Verwandlungen, VII, 20 und 21.
270 Ethik. Vierter Teil.
.Das Beſſere ſeh' ich und lob ich,
Schlechterem folg' ich jedoch.
Dies ſcheint auch der Prediger Selomo im Sinne ge⸗
habt zu haben, wenn er fagt*):
„Wer das Wiſſen mehrt, mehrt den Schmerz.“
Indeſſen ſage ich das nicht deshalb, um daraus den
Schluß zu ziehen, daß das Nichtwiſſen vorteilhafter ſei, als
das Wiſſen, oder daß kein Unterſchied ſei zwiſchen dem
Verſtändigen und dem Dummen in Bezug auf die Be⸗
zähmung der Affekte; ſondern deshalb, weil es notwendig
iſt, ſowohl das Vermögen als das Unvermögen unſerer
Natur zu kennen, um beſtimmen zu können, was die Ver⸗
nunft im Bezähmen der Affekte vermag und nicht vermag.
In dieſem Teil werde ich, wie ſchon geſagt, bloß das
menſchliche Unvermögen behandeln; die Macht der Vernunft
über die Affekte will ich in einem beſondern Teil behandeln.
Achtzehnter Lehrſatz. |
Die Begierde, welche aus der Luſt entſpringt, ift, bei
ſonſt gleichen Umſtänden, ſtärker, als die Begierde, welche
aus der Unluſt entſpringt.
Beweis.
Die Begierde iſt des Menſchen Weſen ſelbſt, (nach den
Definitionen der Affekte, Ziffer I.) d. h., (nach Lehrſatz 7,
Teil 3,) das Beſtreben, womit der Menſch in ſeinem
Sein zu beharren ſtrebt. Daher wird die Begierde, welche
aus der Luſt entſpringt, durch den Luſtaffekt ſelbſt (nach
der Definition der Luſt, ſ. dieſe in der Anmerkung zu Lehr⸗
ſatz 11, Teil 3,) gefördert oder gehemmt. Die Begierde
dagegen, welche aus der Unluſt entſpringt, wird durch den
Unluſtaffekt ſelbſt (nach derſelben Anmerkung) vermindert
*) Kap. 1, V. 18.
Ethik. Über die menſchliche Unfreiheit, od. die Macht d. Affekte. 271
oder gehemmt. Folglich muß die Macht der Begierde,
welche aus der Luſt entſpringt, aus dem menſchlichen Ver⸗
mögen, und zugleich auch aus dem Vermögen der äußern
Urſache, erklärt werden, die aber, welche aus der Unluſt
entſpringt, bloß aus dem menſchlichen Vermögen. Somit
iſt jene ſtärker als dieſe. — W. z. b. w.
Anmerkung.
Mit dieſen wenigen Sätzen habe ich die Urſachen des
menſchlichen Unvermögens und der menſchlichen Unbeſtän⸗
digkeit erklärt, und zugleich, weshalb die Menſchen die
Vorſchriften der Vernunft nicht befolgen. — Es iſt nun
noch zu zeigen, was denn das ſei, das uns die Vernunft
vorſchreibt, und welche Affekte mit den Regeln der menſch—
lichen Vernunft übereinſtimmen, und welche ihnen ent⸗
gegengeſetzt ſind. Bevor ich aber dies in unſerer aus⸗
führlichen geometriſchen Ordnung beginne, möchte ich zuvor
noch die Vorſchriften der Vernunft ſelbſt hier kurz dar⸗
legen, damit jeder das, was ich meine, leichter verſtehe.
Da die Vernunft nichts verlangt, was der Natur wider-
ſtrebt, ſo verlangt ſie folglich ſelbſt, daß jeder ſich ſelbſt
liebe, ſeinen Nutzen, d. h., was ihm wahrhaft nützlich iſt,
ſuche, und alles, was den Menſchen wahrhaft zu größerer
Vollkommenheit führt, begehre; überhaupt, daß jedermann
ſein Sein, ſo gut er kann, zu erhalten ſtrebe. Dies iſt
ſicherlich ſo notwendig wahr, als daß das Ganze größer
iſt, als ſein Teil. (S. Lehrſatz 4, Teil 3.)
Da nun ferner die Tugend (nach Definition 8 dieſes
Teils) nichts anderes iſt, als nach den Geſetzen ſeiner
eigenen Natur handeln, und da niemand ſein Sein (nach
Lehrſatz 7, Teil 3,) zu erhalten ſucht, als nach den Geſetzen
ſeiner eigenen Natur, ſo folgt daraus:
Erſtens, daß die Grundlage der Tugend eben das
Beſtreben iſt, ſein eigenes Sein zu erhalten, und daß das
212 Ethik. Vierter Teil.
Glück darin beſteht, daß der Menſch ſein Sein zu erhalten
vermag.
Zweitens folgt, daß die Tugend um ihrer ſelbſt willen
erſtrebt werden müſſe, und daß es nichts giebt, was vor⸗
trefflicher und uns nützlicher wäre, um deſſentwillen man
es erſtreben müßte,“) als eben fie.
Drittens endlich folgt, daß diejenigen, welche ſich ſelbſt
ums Leben bringen, geiſtig unvermögend ſind, und daß
ſie von äußern Urſachen, welche ihrer Natur widerſtreben,
gänzlich bezwungen werden.
Ferner folgt aus Heiſcheſatz 4 im Zweiten Teil, daß
wir es niemals dahin bringen können, für die Erhaltung
unſeres Seins keiner Außendinge zu bedürfen, und ohne
allen Verkehr mit der Außenwelt zu leben. Ziehen wir
überdies unſern Geiſt in Betracht, ſo wäre ſicherlich unſer
Verſtand weniger vollkommen, wenn der Geiſt von außen
abgeſondert wäre, und außer ſich ſelbſt nichts erkennen
würde. — Es giebt alſo vieles außer uns, was uns nütz⸗
lich, und daher erſtrebenswert iſt. Unter dieſen Dingen
wiederum iſt das denkbar Vorzüglichſte das, was ganz
und gar mit unſerer Natur übereinſtimmt. Denn wenn
z. B. zwei Individuen von ganz gleicher Natur ſich mit⸗
einander verbinden, ſo bilden ſie Ein Individuum, das zwei⸗
mal ſoviel vermag, als das vereinzelte Individuum.
Es iſt daher dem Menſchen nichts nützlicher, als der
Menſch. Nichts vorzüglicheres, ſage ich, können ſich die
Menſchen zur Erhaltung ihres Seins wünſchen, als daß
alle in allem dermaßen miteinander übereinſtimmen, daß
gleichſam alle Geiſter und Körper Einen Geiſt und Einen
Körper bilden, alle zumal, ſoviel als möglich, ihr Sein zu
) cujus causa deberet appeti bezieht fi nicht auf virtutem,
(wie Auerbach und Kirchmann fälſchlich überſetzen,) ſondern auf nee
quicquam dari, was ſchon aus dem deberet hervorgeht.
Anmerkung des überſetzers.
Ethik. Über die menſchliche Unfreiheit, od. die Macht d. Affekte. 273
erhalten ſuchen, und alle zumal für ſich ſuchen, was allen
gemeinſchaftlich nützlich iſt.
Hieraus folgt, daß Menſchen, die ſich von der Vernunft
regieren laſſen, d. h. Menſchen, die nach der Leitung der
Vernunft ihren Nutzen ſuchen, nichts für ſich verlangen,
was ſie nicht auch für andere Menſchen begehren, und alſo,
daß ſie gerecht, treu und ehrenhaft ſind.
Das ſind jene Gebote der Vernunft, die ich hier in
Kürze darlegen wollte, bevor ich beginne, ſie weitläufig, der
Reihe nach, zu beweiſen. Ich habe dies aus dem Grunde
gethan, um mir, wo möglich, die Aufmerkſamkeit derer zu
verſchaffen, welche glauben, daß dieſes Prinzip, wonach
jeder gehalten iſt, feinen Nutzen zu ſuchen, die Grundlage
des Laſters, nicht der Tugend und guten Geſinnung ſei. —
Nachdem ich nun kurz gezeigt habe, daß ſich die Sache
gerade umgekehrt verhält, fahre ich fort, dies auf dem
bisher betretenen Wege zu beweiſen.
Neunzehnter Lehrſatz.
Jeder verlangt oder verſchmäht nach den Geſetzen
ſeiner Natur notwendig das, was er für gut oder für
ſchlecht hält.
Beweis. .
Die Erkenntnis des Guten und Schlechten ift (nach
zehrſatz 8 dieſes Teils) der Luſt- oder Unluſtaffekt ſelbſt,
ofern wir uns desſelben bewußt find. Daher (nach Lehr—
atz 28, Teil 3,) verlangt jeder notwendig das, was er für
zut hält, und verſchmäht das, was er für ſchlecht hält.
Dieſes Verlangen aber iſt nichts anderes, als des Menſchen
Weſen oder Natur ſelbſt (nach der Definition des Ver⸗
angens, ſ. dieſe in der Anmerkung zu Lehrſatz 9, Teil 3,
ind in der Definition der Affekte, Ziffer I). Folglich ver⸗
angt oder verſchmäht jeder nach den bloßen Geſetzen ſeiner
ſtatur notwendig das u. ſ. f. — W. z. b. w.
18
274 Ethik. Vierter Deil.
Zwanzigſter Lehrſatz.
Je mehr jemand ſtrebt und vermag, das ihm Nütz⸗
liche zu ſuchen, d. h., ſein Sein zu erhalten, deſto tugend⸗
hafter iſt er; und umgekehrt, ſofern jemand unterläßt,
das ihm Nützliche zu ſuchen, d. h. ſein Sein zu erhalten,
inſofern iſt er unvermögend.
Beweis.
Die Tugend iſt das menſchliche Vermögen ſelbſt, welches
aus dem Weſen des Menſchen allein erklärt wird, (nach
Definition 8 dieſes Teils,) d. h., (nach Lehrſatz 7, Teil 3,)
welches allein aus dem Beſtreben, womit der Menſch in
ſeinem Sein zu beharren ſtrebt, erklärt wird. Je mehr
alſo jemand ſein Sein zu erhalten ſtrebt und vermag, um
ſo tugendhafter iſt er, und demgemäß, (nach den Lehr⸗
ſätzen 4 und 6, Teil 3,) ſofern jemand fein Sein zu er⸗
halten unterläßt, inſofern iſt er unvermögend. — W. z. b. w.
Anmerkung.
Niemand alſo, der nicht von äußern und ſeiner Natur
entgegengeſetzten Urſachen bezwungen iſt, unterläßt, das
ihm Nützliche zu erſtreben, oder ſein Sein zu erhalten.
Niemand, ſage ich, verſchmäht die Nahrung oder nimmt
ſich das Leben vermöge der Notwendigkeit ſeiner Natur,
ſondern durch den Zwang äußerer Urſachen. Dies kann
auf vielerlei Arten vorkommen. Jemand kann einen
Selbſtmord begehen, weil ein anderer ihn dazu zwingt,
indem er zufällig ein Schwert in der rechten Hand hat und
ein anderer ihm die Hand umdreht, und ihn zwingt, das
Schwert gegen das eigene Herz zu kehren. Ein anderer
wird, wie Seneca, auf Befehl eines Tyrannen gezwungen,
ſich die Adern zu öffnen, d. h., er will ſich einem größern
übel durch ein kleineres entziehen. Ein dritter endlich thut
Ethik. Über die menſchliche Unfreiheit, od. die Macht d. Affekte. 275
es, weil ihm unbekannte äußere Urſachen die Einbildung
(Vorſtellung) ſo disponieren, und den Körper ſo erregen,
daß dieſer eine andere, der früheren entgegengeſetzte Natur
annimmt, von der es im Geiſte eine Idee nicht geben kann
(nach Lehrſatz 10, Teil 3). Daß aber der Menſch vermöge
der Notwendigkeit ſeiner Natur beſtrebt ſein ſollte, nicht zu
exiſtieren, oder ſich in eine andere Geſtalt zu verwandeln,
iſt ebenſo unmöglich, wie, daß aus nichts etwas werde. Dies
kann jeder bei einigem Nachdenken einſehen.
Einundzwanzigſter Lehrſatz.
Niemand kann begehren, glückſelig zu ſein, gut zu
handeln, und gut zu leben, ohne daß er zugleich begehrt,
zu ſein, zu handeln und zu leben, d. h., zu exiſtieren.
Beweis.
Der Beweis dieſes Lehrſatzes, oder vielmehr die Sache
ſelbſt, iſt an ſich klar, erhellt aber auch aus der Definition
der Begierde. Denn die Begierde, glückſelig oder gut zu
leben, zu handeln ꝛc. iſt (nach den Definitionen der Affekte,
Ziffer I) des Menſchen Weſen ſelbſt, d. h. (nach Lehrſatz 7,
Teil 3,) das Beſtreben, womit jeder ſein Sein zu erhalten
ſucht. Folglich kann niemand begehren u. ſ. f. — W.
z. b. w.
Zweiundzwanzigſter Lehrſatz.
Keine Tugend kann früher als dieſe (nämlich das
Beſtreben, ſich zu erhalten,) begriffen werden.
Beweis.
Das Beſtreben, ſich zu erhalten, iſt des Menſchen Weſen
ſelbſt (nach Lehrſatz 7, Teil 3). Wenn alſo irgend eine
Tugend früher als dieſe, als dieſes Beſtreben nämlich, be⸗
griffen werden könnte, ſo würde alſo (nach Definition 8
18 *
276 Ethik. Vierter Teil.
dieſes Teils) das Weſen eines Dinges früher als das Ding
begriffen werden, was (wie an ſich klar) widerſinnig iſt.
Folglich kann keine Tugend u. ſ. f. — W. z. b. w.
ZJuſah.
Das Beſtreben, ſich zu erhalten, iſt die erſte und einzige
Grundlage der Tugend. Denn früher als dieſes Prinzip
kann kein anderes begriffen werden, (nach dem obigen
Lehrſatz,) und ohne dasſelbe kann (nach Lehrſatz 21 dieſes
Teils) keine Tugend begriffen werden.
Dreiundzwanzigſter Lehrſatz.
Sofern ein Menſch zu irgend einer Thätigkeit dadurch
beſtimmt wird, daß er inadäquate Ideen hat, kann nicht
abſolut von ihm gejagt werden, er handle ans Tugend;
ſondern dies kann nur geſchehen, ſofern er dadurch be⸗
ſtimmt wird, daß er erkennt.
Beweis.
Sofern der Menſch dadurch zu einer Thätigkeit beſtimmt
wird, daß er inadäquate Ideen hat, inſofern leidet er, (nach
Lehrſatz 1, Teil 3,) d. h., (nach den Definitionen 1 und 2,
Teil 3,) er thut etwas, was aus feinem Weſen allein nicht
erfaßt werden kann, d. h., (nach Definition 8 dieſes Teils,)
was nicht aus ſeiner Tugend erfolgt. Sofern er aber zu
einer Thätigkeit dadurch beſtimmt wird, daß er erkennt,
inſofern (nach demſelben Lehrſatz 1, Teil 3,) handelt er,
d. h., (nach Definition 2, Teil 3) er thut etwas, was
durch ſein Weſen allein erfaßt werden kann, oder (nach
Definition 8 dieſes Teils) was aus ſeiner Tugend adäquat
erfolgt. — W. z. b. w.
% Über die menſchliche Unfreiheit, od. die Macht d. Affekte. 277
U
Vierundzwanzigſter Lehrſatz.
Abſolut aus Tugend handeln iſt nichts anderes in
uns, als, nach der Leitung der Vernunft handeln, leben,
ſein Sein erhalten, (dieſe drei Ausdrücke bezeichnen das⸗
jelbe,) aus dem Grunde, daß man den eigenen Nutzen ſucht.
Beweis.
Abſolut aus Tugend handeln iſt nichts anderes, (nach
Definition 8 dieſes Teils,) als, nach den Geſetzen ſeiner
eigenen Natur handeln. Wir handeln aber nur inſofern,
ſofern wir erkennen (nach Lehrſatz 3, Teil 3). Folglich iſt
aus Tugend handeln nichts anderes in uns, als, nach der
Leitung der Vernunft handeln, leben, ſein Sein erhalten,
und zwar (nach Zuſatz zu Lehrſatz 22 dieſes Teils) aus dem
Grunde, daß man den eigenen Nutzen ſucht. — W. z. b. w.
Fünfundzwanzigſter Lehrſatz.
Niemand ſtrebt, ſein Sein um eines andern Dinges
willen zu erhalten.
Beweis.
Das Beſtreben, wonach jedes Ding in ſeinem Sein zu
beharren ſtrebt, erklärt ſich allein aus dem Weſen des
Dinges ſelbſt (nach Lehrſatz 7, Teil 3); und nur daraus,
daß dieſes gegeben iſt, nicht aber aus dem Weſen eines
andern Dinges, folgt notwendig, (nach Lehrſatz 6, Teil 3,
daß jeder ſein Sein zu erhalten ſtrebt. — Außerdem er⸗
hellt dieſer Lehrſatz aus dem Zuſatz zu Lehrſatz 22 dieſes
Teils. Denn wenn der Menſch ſein Sein um eines andern
Dinges willen zu erhalten ſtreben würde, ſo würde jenes
Ding die erſte Grundlage der Tugend ſein, (wie von ſelbſt
klar,) was (nach dem angeführten Zuſatz) abſurd wäre.
Folglich ſtrebt niemand, ſein Sein u. ſ. f. — W. z. b. w.
278 Ethik. Vierter Tell.
Sechsundzwanzigſter Lehrſatz.
Alles das, wonach wir aus Vernunft ſtreben, iſt nichts
anderes, als das Erkennen; und der Geiſt beurteilt,
ſofern er von der Vernunft Gebrauch macht, nur das als
für ihn nützlich, was zur Erkenntnis führt.
Beweis.
Das Beſtreben, ſich zu erhalten, iſt nichts anderes, als
das Weſen des Dinges ſelbſt, (nach Lehrſatz 7, Teil 3,)
welches, ſofern es als ſolches exiſtiert, begriffen wird als
die Kraft beſitzend, in der Exiſtenz zu beharren, (nach Lehr⸗
ſatz 6, Teil 3,) und das zu thun, was aus feiner gegebenen
Natur notwendig erfolgt (ſ. die Definition des Verlangens
in der Anmerkung zu Lehrſatz 9, Teil 3). Aber das Weſen
der Vernunft iſt nichts anderes, als unſer Geiſt, ſofern er
klar und deutlich erkennt (ſ. deſſen Definition in der
2. Anmerkung zu Lehrſatz 40, Teil 2). Folglich iſt (nach
Lehrſatz 40, Teil 2,) alles das, wonach wir aus Vernunft
ſtreben, nichts anderes, als das Erkennen. — Ferner, da
dieſes Beſtreben des Geiſtes, womit der Geiſt, ſofern er
vernunftgemäß denkt, ſein Sein zu erhalten ſtrebt, nichts
anderes iſt, als das Erkennen, (nach dein erſten Teil dieſes
Lehrſatzes,) ſo iſt alſo dieſes Streben nach Erkenntnis (nach
Zuſatz zu Lehrſatz 22 dieſes Teils) die erſte und einzige
Grundlage der Tugend, und wir werden nicht um irgend
eines Zwecks willen (nach Lehrſatz 25 dieſes Teils) die
Dinge zu erkennen ſtreben; ſondern der Geiſt wird vielmehr,
ſofern er vernunftgemäß denkt, nur das als für ihn gut
begreifen können, was zur Erkenntnis führt (nach Defini⸗
tion 1 dieſes Teils). — W. z. b. w.
ZZ
Ethik. Über die menſchliche Unfreiheit, od. die Macht d. Affekte. 279
Siebenundzwanzigſter Lehrſatz.
Nur von dem, was in Wahrheit zur Erkenntuis
führt, oder uns an der Erkenntnis hindert, wiſſen wir
gewiß, daß es gut oder ſchlecht iſt.
Beweis.
Der Geiſt, ſofern er vernunftgemäß denkt, verlangt
nichts anderes, als das Erkennen, und beurteilt nur das
als für ihn nützlich, was zur Erkenntnis führt (nach dem
vorigen Lehrſatz). Der Geiſt aber hat (nach den Lehr⸗
ſätzen 41 und 43, Teil 2, ſ. auch deſſen Anmerkung,) nur
Gewißheit über die Dinge, ſofern er adäquate Ideen hat,
oder (was nach Zuſatz zu Lehrſatz 40, Teil 2, dasſelbe iſt)
ſofern er vernunftgemäß denkt. Alſo wiſſen wir nur von
dem gewiß, daß es gut iſt, was in Wahrheit zur Erkennt-
nis führt, und umgekehrt wiſſen wir nur von dem, daß
es ſchlecht iſt, was uns an der Erkenntnis hindert. —
W. z. b. w.
Achtundzwanzigſter Lehrſatz.
Das höchſte Gut des Geiſtes iſt die Erkenntnis Gottes,
und die höchſte Tugend des Geiſtes iſt, Gott erkennen.
Beweis.
Das Höchſte, was der Geiſt erkennen kann, iſt Gott,
d. h., (nach Definition 6, Teil 1,) das abſolut unendliche
Weſen, ohne welches (nach Lehrſatz 15, Teil 1,) nichts fein,
noch begriffen werden kann. Daher iſt (nach den Lehr—
ſätzen 26 und 27 dieſes Teils) das höchſt nützlichſte für
den Geiſt, oder (nach Definition 1 dieſes Teils) das höchſte
Gut, die Erkenntnis Gottes. Ferner handelt der Geiſt nur
inſofern, ſofern er erkennt, (nach den Lehrſätzen 1 und 3,
Teil 3,) und nur inſofern (nach Lehrſatz 23 dieſes Teils)
280 Ethik. Vierter Teil.
kann man von ihm ſagen, daß er aus Tugend handelt.
Die abſolute Tugend des Geiſtes iſt alſo das Erkennen.
Das höchſte aber, was der Geiſt erkennen kann, iſt Gott
(wie wir eben bewieſen haben). Folglich iſt die höchſte
Tugend des Geiſtes, Gott erkennen oder begreifen. —
W. z. b. w.
Neunundzwanzigſter Lehrſatz.
Ein Einzelding, deſſen Natur von der unſrigen durch⸗
aus verſchieden iſt, kann unſer Thätigkeitsvermögen weder
fördern noch hemmen. Überhaupt kann kein Ding für
uns gut oder ſchlecht ſein, wenn es nicht etwas mit uns
gemeinſam hat.
Beweis.
Das Vermögen jedes Einzeldinges, und folglich auch
(nach Zuſatz zu Lehrſatz 10, Teil 2,) des Menſchen, durch
welches er exiſtiert und wirkt, wird nur durch ein anderes
Einzelding beſtimmt, (nach Lehrſatz 28, Teil 1, deſſen
Natur (nach Lehrſatz 6, Teil 2,) durch eben dieſes Attribut
erkannt werden muß, durch welches die menſchliche Natur
begriffen wird. Unſer Thätigkeitsvermögen kann alſo, wie
es auch begriffen werden mag, beſtimmt, und folglich ge⸗
fördert und gehemmt werden, durch das Vermögen eines
andern Einzeldinges, das etwas mit uns gemeinſam hat,
nicht aber durch das Vermögen eines Dinges, deſſen Natur
von der unſrigen durchaus verſchieden iſt. Weil wir nun
das gut oder ſchlecht nennen, was die Urſache von Luſt
oder Unluſt iſt, (nach Lehrſatz 8 dieſes Teils,) d. h., (nach
Anmerkung zu Lehrſatz 11, Teil 3,) was unſer Thätig⸗
keitsvermögen vermehrt oder vermindert, fördert oder hemmt,
ſo kann folglich ein Ding, deſſen Natur von der unſerigen
durchaus verſchieden iſt, weder gut noch ſchlecht für uns
ſein. — W. z. b. w.
N
Ethik. Über die menſchliche Unfreiheit, od. die Macht d. Affekte. 281
Dreißigſter Lehrſatz.
Kein Ding kann durch das, was es mit unſerer Natur
gemeinſam hat, ſchlecht ſein, ſondern ſofern es für uns
ſchlecht iſt, inſofern iſt es uns entgegengeſetzt.
Beweis.
Wir nennen das ſchlecht, was Urſache der Unluſt iſt,
(nach Lehrſatz 8 dieſes Teils,) d. h., (nach der Definition
der Unluſt, ſ. dieſelbe in der Anmerkung zu Lehrſatz 11,
Teil 3,) was unſer Thätigkeitsvermögen vermindert oder
hemmt. Wenn daher ein Ding durch das, was es mit
uns gemeinſam hat, ſchlecht für uns wäre, ſo könnte alſo
ein Ding eben das, was es mit uns gemeinſam hat, ver⸗
mindern oder hemmen, was (nach Lehrſatz 4, Teil 3,) wider-
ſinnig wäre. Folglich kann kein Ding durch das, was es
mit uns gemeinſam hat, ſchlecht für uns ſein, vielmehr
ſofern es ſchlecht iſt, d. h., (wie oben gezeigt worden,) ſofern
es unſer Thätigkeitsvermögen vermindern oder hemmen
kann, inſofern iſt es (nach Lehrſatz 5, Teil 3,) uns ent⸗
gegengeſetzt. — W. z. b. w.
Einunddreißigſter Lehrſatz.
Sofern ein Ding mit unſerer Natur übereinſtimmt,
inſofern iſt es notwendig gut.
Beweis.
Denn ſofern ein Ding mit unſerer Natur überein-
ſtimmt, kann es (nach dem vorigen Lehrſatz) nicht ſchlecht
ſein. Es wird alſo notwendig entweder gut oder indifferent
ſein. Geſetzt, es wäre das letztere, nämlich weder gut noch
ſchlecht, ſo würde alſo (nach Definition 1 dieſes Teils) aus
ſeiner Natur nichts erfolgen, was zur Erhaltung unſerer
Natur dient, d. h., (nach der Vorausſetzung,) was zur Er⸗
282 Ethik. Vierter Teil.
haltung der Natur des Dinges ſelbſt dient. Aber das
wäre (nach Lehrſatz 6, Teil 3,) widerſinnig. Es wird alſo,
ſofern es mit unſerer Natur übereinſtimmt, notwendig gut
ſein. — W. z. b. w.
ZJuſatz.
Hieraus folgt, daß ein Ding deſto nützlicher oder beſſer
für uns iſt, je mehr es mit unſerer Natur übereinſtimmt,
und umgekehrt, je nützlicher ein Ding für uns iſt, deſto⸗
mehr ſtimmt es inſofern mit unſerer Natur überein. Denn
ſofern es mit unſerer Natur nicht übereinſtimmt, wird es
notwendig von unſerer Natur verſchieden, oder ihr entgegen⸗
geſetzt ſein. Iſt es von ihr verſchieden, ſo wird es (nach
Lehrſatz 29 dieſes Teils) weder gut noch ſchlecht ſein; iſt
es ihr aber entgegengeſetzt, ſo wird es alſo auch dem ent⸗
gegengeſetzt ſein, was mit unſerer Natur übereinſtimmt,
d. h., (nach dem obigen Lehrſatz,) es wird dem Guten ent⸗
gegengeſetzt, oder ſchlecht ſein. Es kann alſo etwas nur
gut ſein, ſofern es mit unſerer Natur übereinſtimmt. Je
mehr daher ein Ding mit unſerer Natur übereinſtimmt,
deſto nützlicher iſt es, und umgekehrt. — W. z. b. w.
Zweiunddreißigſter Lehrſatz.
Sofern die Menſchen den Leiden unterworfen ſind,
inſofern kann man nicht ſagen, daß ſie von Natur über⸗
einſtimmen.
Beweis.
Wenn man von Dingen ſagt, daß ſie von Natur über⸗
einſtimmen, ſo verſteht man darunter, daß ſie durch ihr
Vermögen übereinſtimmen (nach Lehrſatz 7, Teil 3); nicht
aber durch ihr Unvermögen, oder ihre Verneinung, und
folglich auch nicht (ſ. die Anmerkung zu Lehrſatz 3, Teil 3,)
durch ihr Leiden. Folglich kann von den Menſchen, ſofern
Ethik. Über die menſchliche Unfreiheit, od. die Macht d. Affekte. 283
ſie den Leiden unterworfen ſind, nicht geſagt werden, daß
ſie von Natur übereinſtimmen. — W. z. b. w.
Anmerkung.
Die Sache iſt auch an ſich einleuchtend. Denn wer
ſagt, Weiß und Schwarz ſtimmen nur darin überein, daß
beide nicht rot ſind, der behauptet unbedingt, daß Weiß
und Schwarz in keiner Hinſicht übereinſtimmen. So auch,
wenn jemand ſagt, daß Stein und Menſch nur darin über⸗
einſtimmen, daß beide endlich ſind, oder unvermögend, oder
daß fie nicht vermöge der Notwendigkeit ihrer Natur eri-
ſtieren, oder endlich, daß ſie von der Macht der äußeren
Urſachen unendlich überragt werden, der behauptet damit
überhaupt, daß Stein und Menſch in gar nichts überein-
ſtimmen. Denn Dinge, die bloß in der Verneinung, oder
in dem, was ſie nicht haben, übereinſtimmen, ſtimmen that⸗
ſächlich in gar nichts überein.
Dreiunddreißigſter Lehrſatz.
Die Menſchen können von Natur von einander ab⸗
weichen, ſofern ſie von Affekten, welche Leiden ſind, be⸗
ſtürmt werden; inſofern iſt auch ein und derſelbe Menſch
veränderlich und unbeſtändig.
Beweis.
Die Natur oder das Weſen der Affekte kann nicht durch
unſer Weſen oder unſere Natur allein ausgedrückt werden,
(nach den Definitionen 1 und 2, Teil 3,) ſondern muß
durch das Vermögen, d. h., (nach Lehrſatz 7, Teil 3,) durch
die Natur der äußeren Urſachen, verglichen mit unſerer
Natur, erklärt werden. Daher kommt es, daß es von
jedem Affekt ſo viele Arten giebt, als es Arten von
Objekten giebt, von denen wir erregt werden, (ſ. Lehr⸗
ſatz 56, Teil 3,) und daß die Menſchen von einem und
284 a Ethik. Vierter Teil.
demſelben Objekt auf verſchiedene Weiſe erregt werden, (f.
Lehrſatz 51, Teil 3,) und daß fie inſofern von Natur von
einander abweichen; endlich auch, daß ein und derſelbe
Menſch (nach demſelben Lehrſatz 51, Teil 3,) gegen das⸗
ſelbe Objekt auf verſchiedene Weiſe erregt wird, und inſo⸗
fern veränderlich iſt u. ſ. f. — W. z. b. w
Vierunddreißigſter Lehrſatz.
Sofern die Menſchen von Affekten, welche Leiden find,
beſtürmt werden, können ſie einander entgegengeſetzt ſein.
Beweis.
Der Menſch, z. B. Peter, kann die Urſache ſein, daß
Paul Unluſt 5 ſei es, weil er mit einem Ding
Ahnlichkeit hat, welches Paul haßt, oder weil Peter allein
ein Ding beſitzt, welches Paul ſelbſt auch liebt, (ſ. Lehr⸗
ſatz 32, Teil 3, mit ſeiner Anmerkung,) oder wegen anderer
Urſachen (ſ. die bedeutendſten derſelben in der Anmerkung
zu Lehrſatz 55, Teil 3). Es wird alſo deshalb geſchehen,
(nach den Definitionen der Affekte, Ziffer VII,) daß Paul
den Peter haßt, und das kann leicht die weitere Folge
haben, daß Peter den Paul wieder haßt, und daß ſie alſo
(nach Lehrſatz 39, Teil 3,) einander Böſes zuzufügen ſtreben,
d. h., (nach Lehrſatz 30 dieſes Teils,) daß ſie einander ent⸗
gegengeſetzt ſind. Der Affekt der Unluſt aber iſt immer
ein Leiden (nach Lehrſatz 59, Teil 3). Folglich können die
Menſchen, ſofern ſie von Affekten beſtürmt werden, welche
Leiden ſind, einander entgegengeſetzt ſein. — W. z. b. w.
Anmerkung.
Ich habe geſagt, Paul haſſe den Peter, weil er ſich vor⸗
ſtellt, daß er das beſitzt, was Paul ſelbſt auch liebt. Ober⸗
flächlich betrachtet, ſcheint daraus zu folgen, daß beide des⸗
wegen, weil ſie lieben, und alſo, weil beide von Natur
Ethik. Über die menſchliche Unfreiheit, od. die Macht d. Affekte. 285
übereinſtimmen, ſich gegenſeitig ſchädlich ſind. Wäre nun
dies richtig, ſo müßten die Lehrſätze 30 und 31 dieſes
Teils falſch ſein. Geht man aber der Sache tiefer auf den
Grund, ſo wird ſich zeigen, daß dies alles vollſtändig
zuſammenſtimmt. Denn dieſe beiden ſind einander nicht
unangenehm, ſofern ſie von Natur übereinſtimmen, d. h.,
ſofern beide dasſelbe lieben, ſondern ſofern ſie von einander
abweichen. Denn ſofern beide dasſelbe lieben, wird eben
dadurch die Liebe eines jeden genährt, (nach Lehrſatz 31,
Teil 3,) d. h., (nach den Definitionen der Affekte, Ziffer VI,)
die Luſt eines jeden wird eben dadurch genährt. Weit ent⸗
fernt alſo, daß ſie einander unangenehm ſind, ſofern ſie
dasſelbe lieben und von Natur übereinſtimmen, iſt vielmehr
die Urſache hiervon, wie geſagt, keine andere, als die, daß
man annimmt, ſie weichen von einander ab. Denn wir
nehmen ja an, Peter habe die Idee eines geliebten Gegen—
ſtands, den er beſitzt, Paul dagegen die Idee eines geliebten
Gegenſtands, den er verloren hat. Daher kommt es, daß
dieſer von Unluſt, jener dagegen von Luſt erregt wird, und
daß ſie einander inſofern entgegengeſetzt ſind.
Auf dieſe Weiſe kann leicht gezeigt werden, daß auch
die übrigen Urſachen des Haſſes allein davon abhängen,
daß die Menſchen von einander abweichen, aber nicht davon,
daß ſie mit einauder übereinſtimmen.
Fünfunddreißigſter Lehrſatz.
Sofern die Menſchen nach der Leitung der Vernunft
leben, inſofern allein ſtimmen ſie von Natur immer not⸗
wendig überein.
Beweis.
Sofern die Menſchen von Affekten, welche Leiden ſind,
beſtürmt werden, können fie von Natur verſchieden (nach
Lehrſatz 33 dieſes Teils) und einander eutgegengeſetzt fein
286 Ethik. Vierter Teil.
(nach dem vorigen Lehrſatz). Aber die Menſchen heißen
nur inſofern handelnd, ſofern ſie nach der Leitung der
Vernunft leben (nach Lehrſatz 3, Teil 3). Alſo muß alles,
was aus der menſchlichen Natur folgt, ſofern ſie durch die
Vernunft definiert wird, (nach Definition 2, Teil 3,) durch
die menſchliche Natur allein, als ihre nächſte Urſache, er⸗
kannt werden. Weil aber jeder nach den Geſetzen ſeiner
Natur das verlangt, was er für gut hält, und das zu
entfernen ſucht, was er für ſchlecht hält, (nach Lehrſatz 19
dieſes Teils) und da außerdem das, was wir nach dem
Gebot der Vernunft für gut oder ſchlecht halten, notwendig
gut oder ſchlecht iſt, (nach Lehrſatz 41, Teil 2,) fo thun
alſo die Menſchen, ſofern ſie nach der Leitung der Ver⸗
nunft leben, nur inſofern das notwendig, was für die
menſchliche Natur, und folglich für jeden Menſchen, not⸗
wendig gut iſt, d. h., (nach Zuſatz zu Lehrſatz 31 dieſes
Teils,) was mit der Natur jedes Menſchen übereinſtimmt.
Folglich ſtimmen die Menſchen auch unter ſich, ſofern ſie
nach der Leitung der Vernunft leben, notwendig immer
überein. — W. z. b. w.
Inſat J.
Es giebt in der Natur nichts einzelnes, was den Menſchen
nützlicher wäre, als der Menſch, der nach der Leitung der
Vernunft lebt. Denn dem Menſchen iſt das am nützlich⸗
ſten, was mit ſeiner Natur am meiſten übereinſtimmt,
(nach Zuſatz zu Lehrſatz 31 dieſes Teils,) d. h., (wie an
ſich klar) der Menſch. Der Menſch handelt aber abſolut
nach den Geſetzen ſeiner Natur, wenn er nach der Leitung
der Vernunft lebt, (nach Definition 2, Teil 3,) und nur
inſofern ſtimmt er mit der Natur eines andern Menſchen
notwendig immer überein (nach dem vorigen Lehrſatz).
Folglich giebt es unter den Einzeldingen nichts nützlicher
für den Menſchen, als den Menſchen u. ſ. f. — W. z. b. w.
Ethik. Über die menſchliche Unfreiheit, od. die Macht d. Affekte. 287
Bufaß II.
Wenn die einzelnen Menſchen am meiſten das ihnen
Nützliche ſuchen, dann ſind die Menſchen einander am meiſten
nützlich. Denn je mehr einer das ihm Nützliche ſucht, und
ſich zu erhalten ſtrebt, deſto tugendhafter iſt er, (nach Lehr⸗
ſatz 20 dieſes Teils,) oder, was dasſelbe iſt, (nach Defini⸗
tion 8 dieſes Teils,) deſto größer iſt ſein Vermögen, nach
den Geſetzen ſeiner Natur zu handeln, d. h., (nach Lehr⸗
fat 3, Teil 3,) nach der Leitung der Vernunft zu leben.
Die Menſchen aber ſtimmen von Natur am meiſten dann
überein, wenn ſie nach der Leitung der Vernunft leben (nach
obigem Lehrſatz). Folglich werden die Menſchen (nach dem
vorigen Zuſatz) dann am meiſten einander nützlich ſein,
wenn jeder am meiſten das ihm nützliche ſucht. — W. z. b. w.
Anmerkung.
Was ich ſoeben dargethan habe, beſtätigt auch die täg⸗
liche Erfahrung durch ſo viele und ſo offenkundige Zeug—
niſſe, daß es zum Sprüchwort geworden iſt: Der Menſch
iſt dem Menſchen ein Gott. — Dennoch iſt es ſelten, daß
die Menſchen nach der Leitung der Vernunft leben; viel⸗
mehr ſteht es mit ihnen ſo, daß ſie meiſtens mißgünſtig
und einander unangenehm ſind. Nichtsdeſtoweniger können
ſie ein einſames Leben kaum aushalten, ſo daß jene be—
kannte Definition, daß der Menſch ein geſelliges Tier ſei,
bei den meiſten Beifall findet. Und in der That verhält
ſich die Sache ſo, daß aus der gemeinſamen Vereinigung
der Menſchen weit mehr Vorteile entſpringen, als Nach-
teile. Mögen daher die Satiriker die menſchlichen Dinge
verlachen, ſo viel ſie wollen, und die Theologen ſie ver—
dammen, mögen die Melancholiker ein unciviliſiertes und
bäueriſches Leben preiſen, ſo viel ſie können, die Menſchen
verachten und die Tiere bewundern: ſie werden dennoch die
Erfahrung machen, daß die Menſchen durch wechſelſeitige
288 Ethik. Vierter Teil.
Hilfeleiſtung ihren Bedarf ſich viel leichter verſchaffen, und
nur mit vereinten Kräften die Gefahren, von denen ſie
überall bedroht ſind, vermeiden können; ganz davon zu
ſchweigen, daß es weit vortrefflicher und unſerer Erkenntnis
würdiger iſt, das menſchliche Leben zu betrachten, als das
tieriſche. Doch davon an einem andern Ort ausführlicher.
Sechsunddreißigſter Lehrſatz.
Das höchſte Gut derjenigen, welche der Tugend nach⸗
wandeln, iſt allen gemeinſam, und alle können ſich gleicher⸗
weiſe desſelben erfreuen.
Beweis
Aus Tugend handeln iſt, nach der Leitung der Vernunft
handeln, (nach Lehrſatz 24 dieſes Teils,) und alles, was
wir aus Vernunft zu thun ſtreben, iſt Erkennen (nach Lehr⸗
ſatz 26 dieſes Teils). Daher iſt (nach Lehrſatz 28 dieſes Teils)
das höchſte Gut derjenigen, welche der Tugend nachwandeln,
Gott erkennen, d. h. (nach Lehrſatz 47, Teil 2, und ſeiner
Anmerkung,) ein Gut, welches allen Menſchen gemeinſam iſt,
und von allen Menſchen, ſofern ſie gleicher Natur ſind,
in gleicher Weiſe beſeſſen werden kann. — W. z. b. w.
Anmerkung.
Fragt aber jemand, wie nun, wenn das höͤchſte Gut
derjenigen, welche der Tugend nachwandeln, nicht allen ge⸗
meinſam wäre? Würde daraus nicht, wie oben, (ſ. Lehr⸗
ſatz 34 dieſes Teils,) folgen, daß die Menſchen, die nach
der Leitung der Vernunft leben, d. h., (nach Lehrſatz 35
dieſes Teils,) die Menſchen, ſofern ſie von Natur überein⸗
ſtimmen, einander entgegengeſetzt wären? ſo diene ihm zur
Antwort, daß es nicht von einem Zufall herrührt, ſondern
in der Natur der Vernunft ſelbſt begründet iſt, daß das
höchſte Gut des Menſchen allen gemeinſam iſt: weil es
Ethik. Über die menſchliche Unfreiheit, od. die Macht d. Affekte. 289
nämlich aus dem Weſen des Menſchen ſelbſt, ſofern es
durch die Vernunft definiert wird, abgeleitet wird, und weil
der Menſch weder ſein noch begriffen werden kann, wenn
er nicht das Vermögen hätte, ſich dieſes höchſten Guts zu
erfreuen. Denn es gehört (nach Lehrſatz 47, Teil 2,) zum
Weſen des menſchlichen Geiſtes, eine adäquate Erkenntnis
des ewigen und unendlichen Weſens Gottes zu haben.
Siebenunddreißigſter Lehrſatz.
Das Gut, welches jeder, der der Tugend nachwandelt,
für ſich begehrt, wünſcht er auch den übrigen Menſchen,
und um ſo mehr, je größer ſeine Erkenntnis Gottes iſt.
Beweis.
Die Menſchen, ſofern ſie nach der Leitung der Vernunft
leben, ſind dem Menſchen am nützlichſten (nach Zuſatz zu
Lehrſatz 35 dieſes Teils). Nach der Leitung der Vernunft
werden wir daher (nach Lehrſatz 19 dieſes Teils) notwendig
beſtrebt ſein, zu bewirken, daß die Menſchen nach der Leitung
der Vernunft leben. Das Gut aber, welches jeder, der
nach dem Gebot der Vernunft lebt, d. h., (nach Lehrſatz 24
dieſes Teils,) der der Tugend nachfolgt, für ſich begehrt,
iſt das Erkennen (nach Lehrſatz 26 dieſes Teils). Folglich
wird jeder, der der Tugend nachfolgt, das Gut, das er
für ſich begehrt, auch anderen Menſchen wünſchen. —
Ferner iſt die Begierde, ſofern ſie ſich auf den Geiſt bezieht,
das Weſen des Geiſtes ſelbſt (nach der Definition der Affekte,
Ziffer I). Das Weſen des Geiſtes aber beſteht in der Er—
kenntnis, (nach Lehrſatz 11, Teil 2,) welche die Erkenntnis
Gottes in ſich ſchließt, (nach Lehrſatz 47, Teil 2,) und ohne
velche der Geiſt (nach Lehrſatz 15, Teil 1,) weder ſein
och begriffen werden kann. Je größer alſo die Erkennt⸗
ais Gottes iſt, welche das Weſen des Geiſtes in ſich ſchließt,
deſto größer wird auch die Begierde ſein, womit jeder, der
1 5
290 Ethik. Vierter Teil.
der Tugend nachwandelt, das Gut, das er für ſich begehrt,
andern wünſcht. — W. z. b. w.
Anderer Beweis.
Ein Gut, welches der Menſch für ſich begehrt und liebt,
wird er beharrlicher lieben, wenn er ſieht, daß auch andere
es lieben (nach Lehrſatz 31, Teil 3). Er wird alſo (nach
dem Zuſatz zu demſelben Lehrſatz) beſtrebt ſein, daß auch
die andern es lieben. Weil aber dieſes Gut (nach dem
vorigen Lehrſatz) allen gemeinſam iſt, und alle ſich des⸗
ſelben erfreuen können, ſo wird er folglich (aus demſelben
Grund) beſtrebt ſein, daß alle ſich desſelben erfreuen, und
(nach Lehrſatz 37, Teil 3,) um fo mehr, je mehr er dieſes
Gut genießt. — W. z. b. w.
1. Anmerkung.
Wer bloß aus Affekt darnach trachtet, daß die andern
lieben, was er ſelbſt liebt, und daß die andern nach Seinem
Sinne leben, der handelt bloß ungeſtüm, und iſt deshalb
verhaßt, beſonders denjenigen, die etwas anderes gut heißen,
und die daher ebenfalls ſtreben, und ebenſo ungeſtüm
darnach trachten, daß die andern nach Ihrem Sinne leben.
— Weil ferner das höchſte Gut, welches die Menſchen aus
Affekt begehren, oft ein ſolches iſt, daß es nur Einer be⸗
ſitzen kann, ſo kommt es vor, daß Menſchen, welche etwas
lieben, im Geiſte mit ſich ſelbſt uneinig ſind, und, während
es ihnen Vergnügen macht, den geliebten Gegenſtand zu
loben und herauszuſtreichen, doch nicht haben wollen, daß
man ihnen glaubt.
Wer dagegen aus Vernunft beſtrebt iſt, die andern zu
leiten, der handelt nicht ungeſtüm, ſondern menſchenfreund⸗
lich und milde, und iſt im Geiſte mit ſich vollkommen einig.
Alle Begierden und Handlungen ſodann, deren Ur⸗
ſache wir ſind, ſofern wir eine Idee von Gott haben, oder
ſofern wir Gott erkennen, rechne ich zur Religion.
1
N
N
Ethik. über die menſchliche Unfreiheit, od. die Macht d. Affekte. 291
Aber die Begierde, gut zu handeln, welche daraus ent—
ſpringt, daß wir nach der Leitung der Vernunft leben,
nenne ich Frömmigkeit. Die Begierde ſodann, durch
welche der nach der Leitung der Vernunft lebende Menſch
angetrieben wird, ſich die andern in Freundſchaft zu ver⸗
binden, nenne ich Ehrbarkeit, und ehrbar das, was
die nach der Leitung der Vernunft lebenden Menſchen loben,
ſchändlich (unehrbar) dagegen, was dieſer freundſchaft—
lichen Verbindung entgegen iſt. Außerdem habe ich auch
gezeigt, was die Grundlagen des Staats ſind.
Aus dem Obengeſagten iſt ferner der Unterſchied zwiſchen
der wahren Tugend und dem Unvermögen leicht erſichtlich.
Die wahre Tugend iſt nämlich nichts anderes, als, nach
der Leitung der Vernunft allein leben. Somit beſteht das
Unvermögen darin allein, daß der Menſch von Dingen, die
außer ihm ſind, ſich leiten läßt, und von ihnen beſtimmt
wird, das zu thun, was die gemeinſchaftliche Beſchaffenheit
der äußern Dinge fordert, nicht aber das, was ſeine eigene
Natur ſelbſt, für ſich allein betrachtet, fordert.
Dies iſt es, was ich in der Anmerkung zu Lehrſatz 18
dieſes Teils zu beweiſen verſprochen habe. Es geht daraus
hervor, daß jenes Geſetz, welches verbietet, die Tiere zu
ſchlachten, mehr in einem eitlen Aberglauben und in
weibiſchem Mitleid, als in der geſunden Vernunft begründet
iſt. Wohl lehrt uns die Vernunft, daß es notwendig iſt,
um unſeres Nutzens willen, uns mit den Menſchen zu
verbinden, aber keineswegs mit den Tieren, oder mit andern
Dingen, deren Natur von der menſchlichen Natur verſchieden
iſt; vielmehr haben wir dasſelbe Recht auf ſie, das ſie auf
uns haben. Ja, weil das Recht eines jeden nach ſeiner
Tugend oder ſeinem Vermögen ſich beſtimmt, ſo haben die
Menſchen ein weit größeres Recht auf die Tiere, als die
Tiere auf die Menſchen. — Ich beſtreite aber darum nicht,
daß die Tiere Empfindung haben; ſondern ich beſtreite nur,
daß es deshalb verboten ſein ſoll, ſie zu unſerm Nutzen
19*
292 Ethik. Vierter Teil.
beliebig zu gebrauchen, und ſie ſo zu behandeln, wie es uns
am beſten paßt; da ſie ja von Natur nicht mit uns über⸗
einſtimmen, und ihre Affekte von den menſchlichen Affekten
von Natur verſchieden ſind. (S. die Anmerkung zu Lehr⸗
fat 57, Teil 3.)
Es erübrigt nur noch, zu erklären, was gerecht und
was ungerecht, was Verbrechen (Sünde) und was
Verdienſt iſt. Hierüber ſiehe die folgende Anmerkung.
2. Anmerkung.
Im Anhang zum Erſten Teil habe ich zu erklären ver⸗
ſprochen, was Lob und Tadel, Verdienſt und Ver—
brechen (Sünde), gerecht und ungerecht ſei. Was nun
Lob und Tadel betrifft, ſo habe ich dieſe ſchon in der An⸗
merkung zu Lehrſatz 29 im Dritten Teil erklärt. Von
den andern zu ſprechen, iſt hier die geeignete Stelle. Vorher
aber will ich etwas über den natürlichen und den
bürgerlichen Zuſtand des Menſchen ſagen.
Jeder exiſtiert nach dem höchſten Recht der Natur, und
folglich thut jeder nach dem höchſten Recht der Natur das,
was aus der Notwendigkeit ſeiner Natur folgt. Nach dem
höchſten Recht der Natur bildet ſich daher jeder ſein eigenes
Urteil über gut und ſchlecht, ſorgt jeder für ſeinen Nutzen
nach Seinem Sinne, (ſ. die Lehrſätze 19 und 20 dieſes
Teils,) übt er Rache, (ſ. Zuſatz II zu Lehrſatz 40, Teil 3,
und ſtrebt, was er liebt, zu erhalten, und was er haßt, zu
zerſtören (ſ. Lehrſatz 28, Teil 3).
Lebten nun die Menſchen nach der Leitung der Vernunft,
ſo würde jeder (nach Zuſatz I zu Lehrſatz 35 dieſes Teils)
dieſes ſein Recht behaupten, ohne irgend einen Schaden
eines andern. Weil ſie aber den Affekten unterworfen
ſind, (nach Zuſatz zu Lehrſatz 4 dieſes Teils,) welche das
menſchliche Vermögen oder die menſchliche Tugend weit
überragen, (nach Lehrſatz 6 dieſes Teils,) ſo werden ſie oft
nach verſchiedenen Richtungen getrieben, (nach Lehrſatz 33
Ethik. Über die menſchliche Unfreiheit, od. die Macht d. Affekte. 293
dieſes Teils,) und ſtehen ſich einander feindſelig gegenüber,
(nach Lehrſatz 34 dieſes Teils,) während fie doch zu wechſel⸗
ſeitiger Hilfe einander bedürfen (nach 1 zu Lehr⸗
ſatz 35 dieſes Teils).
Damit alſo die Menſchen in Eintracht leben und hilf⸗
reich gegeneinander ſein können, iſt es notwendig, daß ſie
ihr natürliches Recht aufgeben, und einander Sicherheit ge⸗
währen, daß keiner etwas thun werde, was einem andern
zum Schaden gereichen kann. — Auf welche Weiſe das
aber geſchehen kann, daß nämlich die Menſchen, die doch
den Affekten notwendig unterworfen ſind, (nach Zuſatz zu
Lehrſatz 4 dieſes Teils,) und wankelmütig und veränderlich
ſind, (nach Lehrſatz 33 dieſes Teils,) einander Sicherheit
gewähren, und einander vertrauen können, erhellt aus Lehr⸗
ſatz 7 dieſes Teils und Lehrſatz 39 im Dritten Teil, wonach
ein Affekt nicht anders eingeſchränkt werden kann, als durch
einen anderen ſtärkeren und dem erſten entgegengeſetzten
Affekt, und jeder ſich enthält, Schaden zu ſtiften, aus Furcht
vor größerem Schaden. Durch dieſes Geſetz nun kann ein
Verein gegründet werden, indem der Verein ſich das Recht
aneignet, welches jeder Einzelne hat, das Recht, ſich zu
rächen, und über Gut und Schlecht ſein Urteil zu fällen.
Er muß daher die Macht haben, über die Lebensweiſe all-
gemeine Vorſchriften zu erteilen und Geſetze zu geben, und
dieſelben zur Geltung zu bringen; nicht durch die Vernunft,
welche die Affekte nicht einſchränken kann, (nach Anmerkung
zu Lehrſatz 17 dieſes Teils,) ſondern durch Drohungen.
Ein ſolcher, auf Geſetze und die Macht, ſich zu erhalten,
ſich gründender Verein heißt Staat, und diejenigen, welche
durch deſſen Recht geſchützt werden, heißen Bürger.
Hieraus iſt leicht erſichtlich, daß es im Naturzuſtand
nichts giebt, was nach Übereinftimmung aller gut oder
ſchlecht ift, da ja im Naturzuſtand jeder nur für Seinen
Nutzen ſorgt, und nach Seinem Sinn, und nur ſofern er
auf ſeinen Nutzen Bedacht nimmt, entſcheidet, was gut
294 0. Ethik. Vierter Teil.
und was ſchlecht ift, und durch kein Geſetz verbunden ift,
irgend jemand zu gehorchen, als nur ſich ſelbſt. Im
Naturzuſtand kann daher kein Verbrechen begriffen werden,
wohl aber im bürgerlichen Leben, wo durch allgemeine
Übereinſtimmung entſchieden wird, was gut und was ſchlecht
iſt, und jeder verbunden iſt, dem Staat zu gehorchen.
Verbrechen iſt ſomit nichts anderes, als Ungehorſam,
welcher nur nach dem Staatsgeſetze ſtrafbar iſt, wogegen
der Gehorſam dem Bürger als Verdienſt angerechnet wird,
weil er durch denſelben für ene erachtet wird, der Vor⸗
teile des Staats ſich zu erfreuen.
Ferner iſt im Naturzuſtand niemand nach gemeinſchaft⸗
licher übereinkunft Herr irgend eines Dinges, und es giebt.
in der Natur nichts, was als Eigentum dieſes oder jenes
Menſchen bezeichnet werden könnte, ſondern alles gehört
allen. Daher kann auch im Naturzuſtand der Wille, jemand
das Seinige zu geben, oder zu nehmen, nicht begriffen
werden; d. h., im Naturzuſtand geſchieht nichts, was
gerecht oder ungerecht heißen könnte, wohl aber im
bürgerlichen Leben, wo nach gemeinſchaftlicher Übereinkunft
feſtgeſtellt wird, was dieſem und was jenem gehören ſoll.
Hieraus erhellt, daß gerecht und ungerecht, Sünde und
Verdienſt, äußerliche Begriffe ſind, nicht aber Attribute,
welche die Natur des Geiſtes ausdrücken. Doch nun
genug davon.
Achtunddreißigſter Lehrſatz.
Das, was den menſchlichen Körper ſo disponiert, daß
er auf viele Weiſen erregt werden kann, oder was ihn
fähig macht, äußere Körper auf viele Weiſen zu erregen,
das iſt dem Menſchen nützlich, und um ſo nützlicher, je
fähiger der Körper dadurch gemacht wird, auf viele
Weiſen erregt zu werden und andere Körper zu erregen.
Ethik. Über die menſchliche Unfreiheit, od. die Macht d. Affekte. 295
Umgekehrt iſt das ſchädlich, was den Körper hiezu un⸗
fühiger macht.
Beweis.
Je mehr der Körper hiezu fähig gemacht wird, deſto
fähiger wird der Geiſt gemacht zum Erkennen (nach Lehr-
ſatz 14, Teil 2). Daher iſt das, was den Körper auf dieſe
Weiſe disponiert, und ihn hiezu fähig macht, notwendig
gut oder nützlich, (nach den Lehrſätzen 26 und 27 dieſes
Teils,) und um fo nützlicher, je fähiger es den Körper
hiezu machen kann; und umgekehrt (nach demſelben um⸗
gekehrten Lehrſatz 14, Teil 2, und den Lehrſätzen 26 und
27 dieſes Teils,) ſchädlich, wenn es den Körper hiezu
minder fähig macht. — W. z. b. w.
Neununddreißigſter Lehrſatz.
Das, was bewirkt, daß das Verhältnis von Bewegung
und Ruhe, welches die Teile des menſchlichen Körpers
zu einander haben, erhalten wird, iſt gut. Umgekehrt
iſt das ſchlecht, was bewirkt, daß die Teile des menſch⸗
lichen Körpers ein anderes Verhältnis der Bewegung
und Ruhe zu einander annehmen.
Beweis.
Der menſchliche Körper bedarf zu ſeiner Erhaltung
wieder anderer Körper (nach Heiſcheſatz 4, Teil 2). Aber
das, was die Geſtalt des menſchlichen Körpers ausmacht,
beſteht darin, daß ſeine Teile ihre Bewegungen auf be⸗
ſtimmte Weiſe einander mitteilen (nach der Definition vor
Hilfsſatz 4, hinter Lehrſatz 13, Teil 2). Das alſo, was
bewirkt, daß das Verhältnis von Bewegung und Ruhe,
welches die Teile des menſchlichen Körpers zu einander
haben, erhalten wird, erhält die Geſtalt des menſchlichen
Körpers, und bewirkt folglich, (nach den Heiſcheſätzen 3
296 x Ethit. Vierter Teil.
und 6, Teil 2,) daß der menſchliche Körper auf viele Weiſen
erregt werden, und er ſelbſt wieder die äußeren Körper auf
viele Weiſen erregen kann. Es iſt alſo (nach dem vorigen
Lehrſatz) gut. — Was hinwiederum bewirkt, daß die Teile
des menſchlichen Körpers ein anderes Verhältnis der Be⸗
wegung und Ruhe zu einander annehmen, das bewirkt,
(nach derſelben Definition, Teil 2) daß der menſchliche
Körper eine andere Geſtalt annimmt, d. h., (wie an ſich
klar iſt und am Schluß des Vorworts zu dieſem Teil be⸗
merkt wurde,) daß der menſchliche Körper zerſtört wird,
und folglich, daß er durchaus unfähig gemacht wird, auf
viele Weiſen erregt zu werden. Es iſt alſo (nach dem
vorigen Lehrſatz) ſchlecht. — W. z. b. w.
Anmerkung.
Wie viel dies dem Geiſte ſchaden oder nützen kann,
wird im Fünften Teil erörtert werden. Hier iſt nur zu
bemerken, daß ich das Sterben ſo verſtehe: Der Körper
ſtirbt dann, wenn ſeine Teile ſo disponiert werden, daß
fie ein anderes Verhältnis von Bewegung und Ruhe zu
einander annehmen. Ich wage nämlich nicht, in Abrede zu
ſtellen, daß der menſchliche Körper, auch wenn der Kreis⸗
lauf des Bluts und andere Vorgänge, die als Merkmale
des Lebens gelten, noch fortdauern, dennoch in eine andere,
von der ſeinigen völlig verſchiedene Natur verwandelt
werden kann. Denn kein Grund zwingt mich, zu behaupten,
daß der menſchliche Körper erſt dann ſtirbt, wenn er in
eine Leiche verwandelt wird. Vielmehr überzeugt uns die
Erfahrung ſelbſt, wie mir ſcheint, eines andern. Kommt
es doch mitunter vor, daß ein Menſch ſolche Veränderungen
erleidet, daß man ihn kaum für denſelben halten möchte.
So habe ich von einem ſpaniſchen Dichter erzählen hören,
der von einer Krankheit befallen war, und, obgleich von
derſelben geneſen, doch die Erinnerung an ſein vergangenes
Leben auf die Dauer vergeſſen hatte, dermaßen, daß er die
Ethik. Über die menſchliche Unfreiheit, od. die Macht d. Affekte. 297
Fabeln und Trauerſpiele, die er ſelbſt verfaßt hatte, nicht
für die ſeinigen hielt, und daß man ihn gewiß für ein
großes Kind hätte halten können, wenn er auch ſeine
Mutterſprache vergeſſen hätte. — Wenn dies unglaublich
erſcheint, was ſollen wir von den Kindern ſagen, deren
Natur der erwachſene Menſch von der ſeinigen ſo verſchieden
anſieht, daß er ſich nicht würde überreden können, er ſei
jemals ein Kind geweſen, wenn er nicht von andern auf
ſich ſchließen müßte. — Um jedoch abergläubiſchen Leuten
keinen Stoff zu neuen Querfragen zu geben, will ich hier
lieber abbrechen.
Vierzigſter Lehrſatz.
Was zur gemeinſamen Vereinigung der Menſchen
führt, oder was bewirkt, daß die Menſchen in Eintracht
leben, iſt nützlich, dagegen iſt das ſchlecht, was Zwietracht
in den Staat bringt.
Beweis.
Denn was bewirkt, daß die Menſchen in Eintracht leben,
bewirkt zugleich, daß ſie nach der Leitung der Vernunft
leben, (nach Lehrſatz 35 dieſes Teils,) und iſt daher (nach
den Lehrſätzen 26 und 27 dieſes Teils) gut; dagegen iſt
(aus demſelben Grund) das ſchlecht, was Zwietracht erregt.
— W. z. b. w.
Einundvierzigſter Lehrſatz.
Luſt iſt an und für ſich nicht ſchlecht, ſondern gut;
Unluſt hingegen iſt an und für ſich ſchlecht.
Beweis.
Luſt iſt (nach Lehrſatz 11, Teil 3, mit ſeiner An⸗
merfung,) ein Affekt, durch welchen das Thätigkeitsver⸗
298 Ethik. Vierter Teil.
mögen des Körpers vermehrt oder gefördert wird. Unluſt
hingegen iſt ein Affekt, durch welchen das Thätigkeitsver⸗
mögen des Körpers vermindert oder gehemmt wird. Daher
iſt (nach Lehrſatz 38 dieſes Teils) Luſt an und für ſich
gut u. ſ. f. — W. z. b. w.
Zweiundvierzigſter Lehrſatz.
Wohlbehagen kann kein übermaß haben, ſondern
iſt immer gut; Mißbehagen dagegen iſt immer ſchlecht. 4
Beweis.
Wohlbehagen (f. deſſen Definition in der Anmerkung zu
Lehrſatz 11, Teil 3,) iſt Luſt, welche, ſofern ſie ſich auf den
Körper bezieht, darin beſteht, daß alle Teile des Körpers
gleichmäßig erregt ſind, d. h., (nach Lehrſatz 11, Teil 3,)
daß das Thätigkeitsvermögen vermehrt oder gefördert
wird, ſo daß alle ſeine Teile dasſelbe Verhältnis von Be⸗
wegung und Ruhe zu einander behalten. Darum iſt (nach
Lehrſatz 39 dieſes Teils) Wohlbehagen immer gut, und
kann kein Übermaß haben. — Mißbehagen aber (deſſen
Definition ſ. gleichfalls in derſelben Anmerkung zu Lehr⸗
ſatz 11, Teil 3,) iſt Unluſt, welche, ſofern fie ſich auf den
Körper bezieht, darin beſteht, daß das Thätigkeitsvermögen
des Körpers abſolut vermindert oder gehemmt wird. Darum
iſt dasſelbe (nach Lehrſatz 38 dieſes Teils) immer ſchlecht.
— W. z. b. w.
Dreiundvierzigſter Lehrſatz.
Wo lluſt kann ein übermaß haben, und ſchlecht ſein;
Schmerz aber kann inſofern gut ſein, ſofern Wolluſt
oder Luſt ſchlecht iſt.
Ethik über die menſchliche Unfreiheit, od. die Macht d. Affekte. 299
Beweis.
b iſt Luſt, welche, ſofern ſie fi auf den Körper
bezieht, darin beſteht, daß ein oder einige Teile desſelben
mehr als die übrigen erregt werden (f. deren Definition
in der Anmerkung zu Lehrfa 11, Teil 3). Und das Ver⸗
mögen (die Macht) dieſes Affekts kann ſo groß ſein, daß
es die übrigen Thätigkeiten des Körpers übertrifft, (nach
Lehrſatz 6 dieſes Teils,) und ihm hartnäckig anhaftet, und
alſo die Fähigkeit des Körpers, auf viele andere Weiſen
erregt zu werden, beeinträchtigt. Alſo (nach Lehrſatz 38
dieſes Teils) kann ſie ſchlecht ſein. — Der Schmerz ſodann,
der dagegen Unluſt iſt, kann, für ſich allein betrachtet, nicht
gut ſein (nach Lehrſatz 41 dieſes Teils). Weil aber ſeine
Macht und ſein Wachstum durch das Vermögen einer
äußern Urſache, verglichen mit dem unfrigen, ſich erklärt,
(nach Lehrſatz 5 dieſes Teils,) ſo können wir folglich von
dieſem Affekt unendlich viele Grade und Arten begreifen,
(nach Lehrſatz 3 dieſes Teils,) und ihn alſo als einen
ſolchen begreifen, der die Wolluſt gegen Übermaß einzu=
ſchränken, und inſofern (nach dem erſten Teil dieſes Lehr-
ſatzes) zu bewirken vermag, daß die Fähigkeit des Körpers
nicht vermindert werde. Mithin wird er inſofern gut ſein.
— W. z. b. w.
Vierundvierzigſter Lehrſatz.
Liebe und Begierde können ein übermaß haben.
Beweis.
Liebe iſt Luft, (nach den Definitionen der Affekte,
Ziffer VI,) verbunden mit der Idee einer äußern Urſache.
Wolluſt alſo (nach Anmerkung zu Lehrſatz 11, Teil 3,) ver⸗
bunden mit der Idee einer äußern Urſ ache, iſt Liebe. Somit
kann Liebe (nach dem vorigen Lehrſatz) ein Übermaß haben. —
Die Begierde ſodann iſt um ſo ſtärker, je ſtärker der
300 Fa 10 Ethik. Vierter Teil.
Affekt iſt, aus der ſie entſpringt (nach Lehrſatz 37, Teil 3).
Wie daher ein Affekt (nach Lehrſatz 6 dieſes Teils) die
übrigen Thätigkeiten des Menſchen übertreffen kann, ſo
wird auch eine Begierde, die aus einem ſolchen Affekt ent⸗
ſpringt, die übrigen Begierden übertreffen, und mithin das⸗
ſelbe Übermaß haben können, welches im vorigen Lehrſatz
von der Wolluſt dargethan wurde. — W. z. b. w.
Anmerkung.
Das Wohlbehagen, das ich für gut erklärt habe, wird
leichter begriffen, als beobachtet. Denn die Affekte, von
denen wir täglich beſtürmt werden, beziehen ſich meiſtens
auf irgend einen Teil des Körpers, der mehr als die
übrigen erregt wird. Daher haben die Affekte meiſtens ein
Übermaß, und halten den Geiſt in der bloßen Betrachtung
Eines Objekts ſo gefeſſelt, daß er nicht an andere zu denken
vermag. Und obgleich die Menſchen vielerlei Affekten unter⸗
worfen ſind, und daher ſelten Menſchen angetroffen werden,
welche immer von einem und demſelben Affekt beftürmt
werden, ſo fehlt es doch wieder nicht an ſolchen, welchen ein
und derſelbe Affekt hartnäckig anhaftet. Denn wir ſehen,
daß Menſchen manchmal von Einem Gegenſtand ſo erregt
werden, daß ſie denſelben vor ſich zu haben meinen, obgleich
er nicht gegenwärtig iſt; was, wenn es im wachenden Zu⸗
ſtand vorkommt, den Betreffenden als irrſinnig oder verrückt
erſcheinen läßt. Nicht minder werden diejenigen für ver⸗
rückt gehalten, welche in Liebe entbrannt ſind und Tag
und Nacht nur von der Geliebten oder Dirne träumen;
weil ſie gewöhnlich die Lachluſt erregen. Wenn aber der
Habſüchtige an nichts anderes denkt, als an Profit oder
Geld, der Ehrgeizige an Ruhm, u. ſ. f., ſo hält man dieſe
nicht für irrſinnig, weil ſie gewöhnlich läſtig ſind und für
haſſenswert erachtet werden. In Wahrheit aber ſind Hab⸗
ſucht, Ehrſucht, Lüſternheit u. ſ. f. Arten des Irrſinns,
obgleich ſie nicht zu den Krankheiten gezählt werden.
Ethik. Über die menſchliche Unfreiheit, od. die Macht d. Affekte. 301
Fünfundvierzigſter Lehrſatz.
Der Haß kann niemals gut ſein.
Beweis.
Einen Menſchen, den wir haſſen, ſtreben wir zu ver⸗
nichten, (nach Lehrſatz 39, Teil 3,) d. h., (nach Lehrſatz 37
dieſes Teils,) wir 85 705 etwas, das ſchlecht iſt.
Folglich u. ſ. f. — a
Anmerkung.
Man beachte, daß ich unter Haß hier und im folgenden
nur den meine, der gegen Menſchen gerichtet iſt.
DBufaß I.
Mißgunſt, Verhöhnung (Spott), Verachtung,
Zorn, Rachſucht und die übrigen Affekte, die ſich auf
den Haß beziehen, oder aus ihm entſpringen, ſind ſchlecht;
was gleichfalls aus Lehrſatz 39 im Dritten Teil und Lehr⸗
ſatz 37 dieſes Teils erhellt.
Juſatz II.
Alles, was wir deshalb begehren, weil wir von Haß
erregt ſind, iſt unehrbar, und im Staat ungerecht. Dies
erhellt auch aus Lehrſatz 39 im Dritten Teil und aus der
Definition von unehrbar und ungerecht; ſ. dieſelbe in den
Anmerkungen zu Lehrſatz 37 dieſes Teils.
Aumerkung.
Zwiſchen Verhöhnung (Spott), die ich in Zuſatz I
als ſchlecht bezeichnet habe, und Lachen nehme ich einen
großen Unterſchied an. Denn das Lachen, wie auch der
Scherz, iſt reine Luſt, und iſt daher, wofern nur Übermaß
vermieden wird, an und für ſich gut (nach Lehrſatz 41
302 Ethik. Vierter Teil.
dieſes Teils). Wahrlich, nur ein finſterer und trübſeliger
Aberglaube verbietet, ſich zu erheitern. Denn weshalb
ſollte es ſich weniger geziemen, den Trübſinn zu verſcheuchen,
als den Hunger und den Durſt zu vertreiben?
Ich meinerſeits denke ſo und habe folgende Anſicht
gewonnen: Kein Gott und kein Menſch, außer ein miß⸗
günſtiger, freut ſich über mein Unvermögen und Unbehagen,
und rechnet uns Thränen, Stöhnen, Furcht und andere
ſolche Merkmale geiſtiger Schwäche zur Tugend an. Im
Gegenteil, je mehr wir von Luſt erregt werden, zu deſto
höherer Vollkommenheit gehen wir über, d. h., deſto mehr
ſind wir der göttlichen Natur notwendig teilhaftig.
Die Dinge zu genießen, und ſich an ihnen ſoviel als
möglich zu vergnügen, (nicht zwar bis zum Überdruß, denn
das heißt nicht, ſich vergnügen,) iſt darum eines weiſen
Mannes durchaus würdig. Des weiſen Mannes, ſage ich,
iſt es durchaus würdig, an angenehmen Speiſen und Ge⸗
tränken ſich mäßig zu erquicken und zu ſtärken, wie nicht
minder an Wohlgerüchen, an der Schönheit der Pflanzen⸗
welt“), an Schmuck, Muſik, Kampf⸗ und Schauſpielen
und anderen Dingen dieſer Art, was jeder, ohne irgend
einen Nachteil für einen andern, genießen kann.
Denn der menſchliche Körper iſt aus vielen Teilen von
verſchiedener Natur zuſammengeſetzt, welche fortwährend
neuer und verſchiedener Nahrung bedürfen, damit der ganze
Körper zu allem, was aus ſeiner Natur folgen kann, gleich
befähigt ſei, und demgemäß auch der Geiſt gleich befähigt
ſei, mehreres zugleich zu erkennen. i
Dieſe Einrichtung des Lebens ſtimmt daher ſowohl mit
meinen Prinzipien, wie auch mit der allgemeinen Praxis,
vollkommen überein. Wenn irgend eine, iſt daher dieſe
Lebensweiſe die beſte und in jeder Hinſicht empfehlens⸗
*) plantarum virentium. Kirchmann wunderlich: „an der Schön⸗
heit kräftiger Pflanzen“.
Ethik. Über die menſchliche Unfreiheit, od. die Macht d. Affekte. 303
*
werteſte, und es iſt nicht nötig, noch deutlicher und aus⸗
führlicher darüber zu ſprechen.
Sechsundvierzigſter Lehrſatz.
Wer nach der Leitung der Vernunft lebt, ſtrebt, ſoviel
er kann, den Haß, den Zorn, die Verachtung u. ſ. w.
anderer gegen ihn durch Liebe oder Edelſinn zu ver⸗
gelten.
Beweis.
Alle Affekte des Haſſes find ſchlecht (nach Zuſatz I zum
vorigen Lehrſatz)z. Daher wird, wer nach der Leitung der
Vernunft lebt, ſoviel er kann zu bewirken ſtreben, daß er
nicht von Affekten des Haſſes beſtürmt werde, (nach Lehr-
ſatz 19 dieſes Teils,) und folglich (nach Lehrſatz 37 dieſes
Teils) wird er ſtreben, daß auch kein anderer dieſe Affekte
erleide. Der Haß aber wird durch Gegenhaß vermehrt,
kann aber durch Gegenliebe erſtickt werden, (nach Lehr⸗
ſatz 43, Teil 3,) ſodaß der Haß in Liebe übergeht
(nach Lehrſatz 44, Teil 3). Folglich wird, wer nach der
Leitung der Vernunft lebt, beſtrebt ſein, den Haß u. ſ. f.
eines andern durch Liebe zu vergelten, d. h., durch Edel⸗
ſinn (ſ. deſſen Definition in der Anmerkung zu Lehrſatz 59,
Teil 3). — W. z. b. w.
Anmerkung.
Wer Beleidigungen mit Haß erwidert und ſich an dem
Beleidiger rächen will, verbittert ſicherlich ſein eigenes Leben.
Wer dagegen trachtet, den Haß durch Liebe zu bekämpfen,
der kämpft unſtreitig mit Freude und Zuverſicht, wehrt ſich
ebenſo leicht gegen Einen Menſchen wie gegen viele, und
bedarf der Hilfe des Glücks am wenigſten. Diejenigen
aber, die er beſiegt hat, geben ſich gerne beſiegt, nicht aus
Verluſt an Kräften, ſondern aus Zuwachs daran. — Das
304 Ethik. Vierter Teil.
alles folgt ſo klar aus den bloßen Definitionen der Liebe
und des Verſtandes, daß es nicht nötig iſt, es im einzelnen
nachzuweiſen.
Sievenundvierzigſter Lehrſatz.
Die Affekte der Hoffnung und Furcht können nicht
an und für ſich gut ſein.
Beweis.
Es giebt keine Affekte der Hoffnung und Furcht, ohne
Unluſt. Denn Furcht iſt (nach den Definitionen der Affekte,
Ziffer XIII,) Unluſt, und Hoffnung (ſ. die Erklärung in
Ziffer XII und XIII der Definitionen der Affekte) giebt
es nicht ohne Furcht. Folglich (nach Lehrſatz 41 dieſes
Teils) können dieſe Affekte nicht an ſich gut ſein, ſondern
nur, ſofern fie das Übermaß der Luft zu hemmen vermögen
(nach Lehrſatz 43 dieſes Teils). — W. z. b. w.
Anmerkung.
Hierzu kommt noch, daß dieſe Affekte einen Mangel der
Erkenntnis und ein Unvermögen des Geiſtes anzeigen.
Aus dieſem Grunde find auch Zuverſicht und Ver⸗
zweiflung, Freude und Gewiſſensbiß, Zeichen geiſtigen
Unvermögens. Denn, obgleich Zuverſicht und Freude Affekte
der Luſt ſind, ſo ſetzen ſie doch vorangegangene Unluſt
voraus, nämlich Hoffnung und Furcht. Je mehr wir daher
ſtreben, nach der Leitung der Vernunft zu leben, deſto mehr
ſuchen wir, von der Hoffnung unabhängig zu ſein, von der
Furcht uns zu befreien, das Glück, ſoviel wir vermögen,
zu beherrſchen, und unſere Handlungen nach der ſicheren
Weiſung der Vernunft zu regeln.
Ethik. über die menſchliche Unfreiheit, od. die Macht d. Affekte. 305
Achtundvierzigſter Lehrſatz. |
Die Affekte der überſchätzung und Unterſchätzung
ſind immer ſchlecht.
Beweis.
Denn dieſe Affekte widerſtreiten (nach den Definitionen
der Affekte, Ziffern XXI und XXII) der Vernunft. Alſo
ſind ſie (nach den Lehrſätzen 26 und 27 dieſes Teils) ſchlecht.
* b. w.
Neunundvierzigſter Lehrſatz.
überſchätzung macht leicht den Menſchen, der über⸗
ſchätzt wird, hochmütig.
Beweis.
Wenn wir ſehen, daß jemand aus Liebe eine größere
Meinung von uns hat, als recht iſt, ſo geſchieht es leicht, daß
wir uns geehrt fühlen, (nach Anmerkung zu Lehrſatz 41,
Teil 3,) oder von Luft erregt werden, (nach den Definitionen
der Affekte, Ziffer XXX,) und daß wir das Gute, das wir
uns zuſchreiben hören, glauben (nach Lehrſatz 25, Teil 3).
Wir werden alſo aus Liebe zu uns eine größere Meinung
von uns haben, als recht iſt, d. h., (nach den Definitionen
der Affekte, Ziffer XXVIII, wir werden leicht hochmütig
werden. — W. z. b. w.
Fünfzigſter Lehrſatz.
Mitleid iſt bei einem Menſchen, der nach der Leitung
der Vernunft lebt, an und für ſich ſchlecht und unnütz.
20
306 Ethik. Vierter Teil.
Beweis.
Denn Mitleid iſt (nach den Definitionen der Affekte,
Ziffer XVIII Unluſt, und daher (nach Lehrſatz 41 dieſes
Teils) an und für ſich ſchlecht. Das Gute aber, das aus
ihm folgt, daß wir nämlich den bemitleideten Menſchen von
ſeinem Leid zu befreien ſuchen, (nach Zuſatz III zu Lehr⸗
ſatz 27, Teil 3,) ſuchen wir nach dem bloßen Gebot der
Vernunft zu thun (nach Lehrſatz 37 dieſes Teils); und nur
von dem, was wir nach dem Gebot der Vernunft thun,
können wir gewiß wiſſen, daß es gut iſt (nach Lehrſatz 27
dieſes Teils). Daher iſt Mitleid bei einem Menſchen, der
nach der Leitung der Vernunft lebt, an und für ſich ſchlecht
und unnütz. — W. z. b. w.
ZJuſah.
Hieraus folgt, daß der Menſch, welcher nach der Leitung
der Vernunft lebt, ſoviel als möglich zu bewirken N
daß er nicht von Mitleid ergriffen werde.
Anmerkung.
Wer richtig erkannt hat, daß alles aus der Notwendig⸗
keit der göttlichen Natur folgt, und nach den ewigen Ge⸗
ſetzen und Regeln der Natur geſchieht, der wird ſicherlich
nichts finden, was Haß, Spott oder Verachtung verdient,
noch wird er jemand bemitleiden, ſondern er wird ſtreben,
ſoweit die menſchliche Tugend es vermag, gut zu handeln,
wie man ſagt, und fröhlich zu ſein. — Hierzu kommt noch,
daß derjenige, welcher leicht vom Affekt des Mitleids er⸗
griffen, und von dem Unglück und den Thränen eines
andern bewegt wird, oft etwas thut, was ihn ſelbſt ſpäter
reut; ſowohl, weil wir im Affekt nichts thun, wovon wir
gewiß wiſſen, daß es gut iſt, als auch, weil wir leicht durch
falſche Thränen betrogen werden.
Ethik. Über die menſchliche Unfreiheit, od. die Macht d. Affekte. 307
Ich ſpreche jedoch hier ausdrücklich nur von einem
Menſchen, der nach der Leitung der Vernunft lebt. Denn
wer weder durch die Vernunft, noch durch Mitleid bewegt
wird, andern Hilfe zu leiſten, der wird mit Recht unmenſch⸗
lich genannt, denn er ſcheint (nach Lehrſatz 27, Teil 3,
mit einem Menſchen keine Ahnlichkeit zu haben.
Einundfünfzigſter Lehrſatz.
Gunſt widerſtreitet der Vernunft nicht, ſondern kann
mit ihr übereinſtimmen, und aus ihr entſpringen.
Beweis.
Denn Gunſt iſt Liche zu jemand, der einem andern
wohlgethan hat, (nach den Definitionen der Affekte,
Ziffer XIX,) und kann ſich alſo auf den Geiſt beziehen,
ſofern von ihm geſagt wird, daß er thätig iſt, (nach Lehr⸗
ſatz 59, Teil 3,) d. h., (nach Lehrſatz 3, Teil 3,) ſofern er
erkennt. Folglich ſtimmt ſie mit der Vernunft überein
u. ſ. f. — W. z. b. w.
Anderer Beweis.
Wer nach der Leitung der Vernunft lebt, wünſcht das
Gute, das er für ſich begehrt, auch andern (nach Lehr
ſatz 37 dieſes Teils). Wenn er daher jemand einem
andern wohlthun ſieht, jo wird dadurch fein eigenes Be⸗
ſtreben wohlzuthun gefördert, d. h., (nach Anmerkung zu
Lehrſatz 11, Teil 3,) er wird Luft empfinden, und zwar
(nach der Vorausſetzung) verbunden mit der Idee deſſen,
der dem andern wohlgethan hat. Folglich iſt er (nach den
en der Affekte, Ziffer XIX,) ihm zugeneigt. —
w.
20 *
808 Ethik. Vierter Teil.
Anmerkung.
Entrüſtung, wie fie von mir definiert wurde, (f.
Definitionen der Affekte, Ziffer XX,) iſt notwendig ſchlecht
(nach Lehrſatz 45 dieſes Teils). — Es iſt jedoch zu be⸗
merken, daß ich es nicht als Entrüſtung gegen den Bürger
bezeichne, wenn die höchſte Gewalt in der Abſicht, den
Bürgerfrieden zu ſichern, diejenigen beſtraft, welche andern
Unrecht gethan. Denn ſie will nicht, von Haß gereizt, den
Bürger verderben, ſondern ſie ſtraft ihn aus guten Beweg⸗
gründen.
Zweiundfünfzigſter Lehrſatz.
Selbſtzufriedenheit kann aus der Vernunft ent⸗
ſpringen, und nur dieſe aus der Vernunft entſpringende
Zufriedenheit iſt die höchſte, welche es geben kann.
Beweis.
Selbſtzufriedenheit iſt Luſt, daraus entſprungen, daß der
Menſch ſich ſelbſt und ſein Thätigkeitsvermögen betrachtet
(nach den Definitionen der Affekte, Ziffer XXV). Aber
das wahre Thätigkeitsvermögen des Menſchen, oder die
Tugend, tft die Vernunft ſelbſt, (nach Lehrſatz 3, Teil 3,
welche der Menſch klar und deutlich betrachtet (nach den
Lehrſätzen 40 und 43, Teil 2). Folglich entſpringt Selbſt⸗
zufriedenheit aus der Vernunft. — Ferner erfaßt der
Menſch, während er ſich ſelbſt betrachtet, nur das klar und
deutlich, oder adäquat, was aus ſeinem Thätigkeitsvermögen
erfolgt, (nach Definition 2, Teil 3,) d. h., (nach Lehrſatz 3,
Teil 3,) was aus ſeinem Erkenntnisvermögen folgt. Alſo
entſpringt aus dieſer Betrachtung allein die 1 Zu-
friedenheit, die es geben kann. — W. z. b. w
Ethik. Über die menſchliche Unfreiheit, od. die Macht d. Affekte. 309
Anmerkung.
Die Selbſtzufriedenheit iſt in Wahrheit das Höchſte,
was wir hoffen können. Denn (wie ich in Lehrſatz 25
dieſes Teils gezeigt) niemand ſtrebt, ſein Sein um irgend
eines Zwecks willen zu erhalten. — Und weil Zufriedenheit
durch Lob mehr und mehr genährt und verſtärkt, (nach
Zuſatz zu Lehrſatz 53, Teil 3,) durch Tadel dagegen mehr
und mehr geſchwächt wird, (nach Zuſatz zu Lehrſatz 55,
Teil 3,) darum übt der Ruhm eine fo große Anziehungs⸗
kraft auf uns aus, und können wir ein Leben in Schande
kaum ertragen.
Dreiundfünfzigſter Lehrſatz.
Niedergeſchlagenheit iſt keine Tugend, oder eut⸗
ſpringt nicht aus der Vernunft.
Beweis.
Niedergeſchlagenheit iſt Unluſt, welche daraus ent—
ſpringt, daß der Menſch ſein Unvermögen betrachtet (nach
den Definitionen der Affekte, Ziffer XXVI). Sofern aber
der Menſch ſich ſelbſt wahrhaft vernunftgemäß erkennt, in⸗
ſofern wird er als ein ſolcher angenommen, der ſein Weſen,
d. h., (nach Lehrſatz 7, Teil 3,) fein Vermögen, erkennt.
Wenn daher der Menſch, während er ſich ſelbſt betrachtet,
irgend ein Unvermögen an ſich wahrnimmt, ſo kommt das
nicht daher, daß er ſich erkennt, ſondern (wie ich in Lehr⸗
ſatz 55, Teil 3, gezeigt habe,) daher, daß ſein Thätigkeits⸗
vermögen gehemmt wird. Wenn wir aber annehmen, daß
der Menſch ſein Unvermögen daraus begreift, daß er etwas
erkennt, was mehr Vermögen hat, als er ſelbſt, durch
deſſen Erkenntnis er ſein Thätigkeitsvermögen beſtimmt,
ſo begreifen wir nichts anderes, als daß der Menſch ſich
ſelbſt deutlich erkennt, (nach Lehrſatz 26 dieſes Teils,
310 Ethik. Vierter Teil.
wodurch fein Thätigkeitsvermögen gefördert wird. Nieder⸗
geſchlagenheit, oder die aus der Betrachtung des eigenen
Unvermögens entſpringende Unluſt, entſpringt daher nicht
aus der wahren Betrachtung, oder aus der Vernunft, und
iſt daher keine Tugend, ſondern ein Leiden. — W. z. b. w.
Vierundfünfzigſter Lehrſatz.
Reue iſt keine Tugend, oder entſpringt nicht aus der
Vernunft; ſondern der, welcher eine That bereut, iſt
doppelt gedrückt oder unvermögend.
Beweis. 5
Der erſte Teil dieſes Lehrſatzes wird ſo bewieſen, wie
der vorige Lehrſatz. Der zweite Teil erhellt aus der bloßen
Definition dieſes Affekts (ſ. die Definitionen der Affekte,
Ziffer XXVII). Denn wer eine That bereut, leidet
doppelt, indem er ſich zuerſt durch eine verwerfliche Be⸗
gierde, und dann durch die Unluſt darüber beſiegen läßt.
Anmerkung.
Weil die Menſchen ſelten nach dem Gebot der Vernunft
leben, darum ſtiften dieſe beiden Affekte, nämlich Nieder⸗
geſchlagenheit und Neue, und außer ihnen auch Hoffnung
und Furcht, mehr Nutzen als Schaden; und wenn doch
einmal gefehlt werden ſoll, ſo iſt es immerhin beſſer, nach
dieſer Richtung zu fehlen. Denn wenn die geiſtig ſchwachen
Menſchen gleich hochmütig wären, ſich über nichts ſchämten,
und ſich vor nichts fürchteten, wie ſollten ſie dann durch
(ſtaatliche) Bande vereinigt und zuſammengehalten werden.
Der Pöbel iſt furchtbar, wenn er nicht fürchtet. Kein
Wunder daher, daß die Propheten, welche nicht auf den
Nutzen weniger Menſchen, ſondern auf den allgemeinen
Nutzen bedacht waren, Niedergeſchlagenheit, Reue und Ehr⸗
furcht ſo ſehr empfohlen haben. Und wirklich können
Ethik. Über die menſchliche Unfreiheit, od. die Macht d. Affekte. 311
Menſchen, welche dieſen Affekten unterworfen ſind, viel
leichter als andere nach und nach dahin gebracht werden,
nach der Leitung der Vernunft zu leben, d. h., frei zu ſein
und glückſelig zu leben.
Fünfundfünfzigſter Lehrſatz.
Der größte Hochmut und der größte Klein mut iſt
die größte Unkenntnis ſeiner ſelbſt.
Beweis.
Derſelbe erhellt aus den Definitionen der Affekte,
Ziffern XXVIII und XXIX.
Sechsundfünfzigſter Lehrſatz.
Der größte Hochmut und der größte Kleinmut
bekundet das größte geiſtige Unvermögen.
Beweis.
Die erſte Grundlage der Tugend iſt, ſein Sein zu er⸗
halten, (nach Zuſatz zu Lehrſatz 22 dieſes Teils,) und zwar
nach der Leitung der Vernunft (nach Lehrſatz 24 dieſes
Teils). Wer alſo ſich ſelbſt nicht kennt, kennt nicht die
Grundlage aller Tugenden, und folglich auch nicht dieſe
Tugenden ſelbſt. Aus Tugend handeln iſt ferner nichts
anderes, als, nach der Leitung der Vernunft handeln (nach
Lehrſatz 24 dieſes Teils). Wer aber nach der Leitung der
Vernunft handelt, muß notwendig wiſſen, daß er nach der
Leitung der Vernunft handelt (nach Lehrſatz 43, Teil 2).
Wer alſo ſich ſelbſt, und folglich (wie eben gezeigt worden)
alle Tugenden, am wenigſten kennt, der handelt am wenigſten
aus Tugend, d. h., (wie aus Definition 8 dieſes Teils er⸗
hellt) er iſt am meiſten geiſtig unvermögend. Folglich
bekundet (nach dem vorigen Lehrſatz) der größte Hochmut
312 Ethik. Vierter Teil.
und der größte Kleinmut das größte geiſtige Unvermögen.
— W. z. b. w.
Bufaß.
Hieraus folgt aufs deutlichſte, daß die Hochmütigen
und Kleinmütigen den Affekten am meiſten unterworfen ſind.
Anmerkung.
Kleinmut kann jedoch leichter überwunden werden, als
Hochmut, da dieſer ein Luſtaffekt, jener aber ein Unluſt⸗
affekt und daher (nach Lehrſatz 18 dieſes Teils) ein ſtärkerer
Affekt iſt.
Siebenundfünfzigſter Lehrſatz.
Der Hochmütige liebt die Nähe von Schmarotzern
oder Schmeichlern, haßt aber die der Edelgeſinnten.
Beweis.
Hochmut iſt Luſt, daraus entſprungen, daß der Menſch
eine beſſere Meinung von ſich hat, als recht iſt (nach den
Definitionen der Affekte, Ziffern XXVIII und VI). Dieſe
Meinung ſtrebt der hochmütige Menſch, ſoviel er vermag,
zu nähren (ſ. Anmerkung zu Lehrſatz 13, Teil 3). Daher
wird der Hochmütige die Nähe der Schmarotzer oder
Schmeichler, (deren Definitionen ich übergangen habe, weil
ſie allbekannt ſind,) lieben, die der Edelgeſinnten aber,
welche keine beſſere Meinung von ihm haben, als recht iſt,
fliehen. — W. z. b. w.
Anmerkung.
Es würde zu weit führen, wenn ich hier alle Übel des
Hochmuts aufzählen wollte, da ja die Hochmütigen allen
Affekten unterworfen ſind, aber keinen Affekten weniger, als
denen der Liebe und Barmherzigkeit.
Ethik. Über die menſchliche Unfreiheit, od. die Macht d. Affekte. 313
Indeſſen darf hier nicht verſchwiegen werden, daß auch
derjenige hochmütig genannt wird, der von anderen Menſchen
eine geringere Meinung hat, als recht iſt. In dieſem Sinne
alſo iſt Hochmut zu definieren als: Luſt, entſprungen aus
der falſchen Meinung, daß der Menſch ſich über die andern
erhaben dünkt. Der dieſem Hochmut gegenüberſtehende
Kleinmut wäre zu definieren als: Unluſt, entſprungen aus
der falſchen Meinung, daß der Menſch ſich geringer als
andere wähnt. Bei dieſer Auffaſſung begreift es ſich leicht,
daß der Hochmütige notwendig mißgünſtig iſt, (ſ. die An⸗
merkung zu Lehrſatz 55, Teil 3,) und diejenigen beſonders
haßt, die wegen ihrer Tugend ſehr geprieſen werden; daß
ſein Haß nicht leicht durch Liebe oder Wohlthaten beſiegt
wird (ſ. Anmerkung zu Lehrſatz 41, Teil 3); und daß ihm
nur die Nähe derjenigen Freude macht, die ſeine Geiſtes⸗
ſchwäche hätſcheln, und ihn aus einem Thoren vollends
zum Narren machen.
Obgleich nun Kleinmut der Gegenſatz von Hochmut iſt,
ſo ſteht doch der Kleinmütige dem Hochmütigen ſehr nahe.
Denn, da ſeine Unluſt daraus entſpringt, daß er ſein Un⸗
vermögen nach dem Vermögen oder der Tugend anderer
beurteilt, ſo wird ſeine Unluſt gemildert werden, d. h. er
wird Luſt empfinden, wenn ſeine Vorſtellung ſich mit der
Betrachtung der Fehler anderer Menſchen befaßt. Daher
das Sprüchwort:
Troſt für Unglückliche iſt's, Genoſſen im Unglück zu haben.
Umgekehrt wird er um ſo mehr Unluſt empfinden, je
geringer er ſich gegen andere wähnt. Daher kommt es,
daß niemand mehr zum Neid geneigt iſt, als die Klein⸗
mütigen; daß ſie mit Vorliebe das Thun und Laſſen
anderer beobachten, mehr um zu nörgeln, als um zu beſſern;
und daß ſie endlich nur den Kleinmut loben und ſich deſſen
rühmen, aber fo, daß fie dabei doch den Schein des Klein⸗
muts bewahren. Dies folgt aus dieſem Affekt ſo not⸗
314 Ethik. Vierter Teil.
wendig, wie aus der Natur des Dreiecks folgt, daß ſeine
drei Winkel zwei rechten Winkeln gleich ſind.
Ich habe ſchon geſagt, daß ich dieſe und ähnliche Affekte
als ſchlechte bezeichne, ſofern ich nur den menſchlichen Nutzen
ins Auge faſſe. Die Naturgeſetze aber richten ſich nach der
allgemeinen Ordnung der Natur, von welcher der Menſch
nur ein Teil iſt. Daran wollte ich hier im Vorbeigehen
erinnern, damit man nicht etwa glaube, ich hätte hier die
Laſter und thörichten Handlungen der Menſchen aufzählen,
und nicht vielmehr die Natur und die Eigenſchaften der
Dinge erörtern wollen. Denn, wie ich im Vorwort zum
Dritten Teil geſagt habe, ich betrachte die menſchlichen
Affekte und ihre Eigenſchaften ganz wie die übrigen Dinge
der Natur. Und ſicherlich bekunden die menſchlichen Affekte
das Vermögen und die Geſchicklichkeit, wenn nicht des
Menſchen, ſo doch der Natur, nicht minder, als vieles
andere, das wir bewundern, und an deſſen Betrachtung
wir uns erfreuen.
Ich fahre aber nun fort, über die Affekte das hervor⸗
zuheben, was den Menſchen zum Nutzen, und was ihnen
zum Schaden gereicht.
Achtundfünfzigſter Lehrſatz.
Ehre (Ehrfreude) widerſtreitet der Vernunft nicht,
ſonderu kann aus ihr entſpringen.
Beweis.
Derſelbe erhellt aus den Definitionen der Affekte,
Ziffer XXX, und aus der Definition von ehrbar, ſ. die⸗
ſelbe in der 1. Anmerkung zu Lehrſatz 37 dieſes Teils.
Ethik. Über die menſchliche Unfreiheit, od. die Macht d. Affekte. 315
Anmerkung.
Was man eitlen Ruhm nennt, iſt Zufriedenheit mit
ſich ſelbſt, welche bloß von der guten Meinung der Menge
genährt wird, bei deren Schwinden auch die Zufriedenheit
ſchwindet, d. h., (nach Anmerkung zu Lehrſatz 52 dieſes
Teils,) das höchſte Gut, welches jeder liebt. Daher kommt
es, daß, wer ſich der Meinung der Menge rühmt, in ſteter
Sorge bangend ſich abmüht, thut, probiert, um ſeinen Ruf
zu erhalten. Denn die Menge ift wankelmütig und wetter-
wendiſch, darum vergeht der Ruf bald, wenn er nicht
künſtlich erhalten wird. Ja, weil alle nach dem Beifall der
Menge haſchen, verdunkelt der eine leicht den Ruf des
andern. In dieſem Wettkampf um das vermeintliche höchſte
Gut entwickelt ſich ein gewaltiger Eifer, einander auf jeg⸗
liche Weiſe zu verdunkeln, und wer ſchließlich als Sieger
hervorgeht, gründet ſeinen Ruhm mehr darauf, daß er
anderen geſchadet, als daß er ſich ſelbſt genützt hat. Dieſer
Ruhm, oder dieſe Zufriedenheit, iſt alſo in Wahrheit eitel,
weil ſie gar keine iſt.
Was über Scham zu bemerken iſt, läßt ſich leicht aus
dem abnehmen, was über Barmherzigkeit und Reue ges
ſagt wurde. Nur das ſei noch hinzugefügt, daß die Scham,
ebenſo wie das Mitleid, zwar keine Tugend, aber dennoch
gut iſt, ſofern ſie bekundet, daß dem Menſchen, welcher
Scham empfindet, die Begierde innewohnt, ehrbar zu leben;
ebenſo wie der Schmerz, der inſofern gut heißt, ſofern er
bekundet, daß der verletzte Teil noch nicht ganz verdorben
iſt. Der Menſch, der ſich einer Handlung ſchämt, iſt daher,
obgleich er in Wahrheit Unluſt empfindet, dennoch voll-
kommener, als der Schamloſe, dem die Begierde, ehrbar
zu leben, abgeht.
Das iſt es, was ich über die Affekte der Luſt und
Unluſt bemerken wollte. — Was die Begierden betrifft,
ſo ſind ſie eben gut oder ſchlecht, je nachdem ſie aus guten
316 Ethik. Vierter Teil.
oder ſchlechten Begierden entſpringen. Doch ſind ſie alle,
ſofern ſie aus Affekten, welche Leiden ſind, in uns ent⸗
ſtehen, in Wahrheit blind, (wie dem, was in der Anmer⸗
kung zu Lehrſatz 44 dieſes Teils geſagt wurde, leicht zu
entnehmen iſt,) und ſie würden von keinerlei Nutzen ſein,
wenn die Menſchen leicht dahin gebracht werden könnten,
bloß nach dem Gebot der Vernunft zu leben. Dies will
ich nun in Kürze darthun.
Neunundfünfzigſter Lehrſatz.
Zu allen Handlungen, zu welchen wir durch einen
Affekt, welcher ein Leiden iſt, beſtimmt werden, können wir
auch ohne denſelben durch die Vernunft beſtimmt werden.
Beweis.
Aus Vernunft handeln iſt nichts anderes, (nach Lehr⸗
ſatz 3 und Definition 2, Teil 3,) als, das thun, was aus
der Notwendigkeit unſerer Natur, an ſich allein betrachtet,
folgt. Die Unluſt aber iſt inſofern ſchlecht, ſofern ſie dieſes
Thätigkeitsvermögen vermindert oder hemmt (nach Lehr⸗
ſatz 41 dieſes Teils). Folglich können wir durch dieſen
Affekt zu keiner Handlung beſtimmt werden, die wir nicht
thun könnten, wenn wir von der Vernunft geleitet würden.
Außerdem iſt Luſt nur inſofern ſchlecht, ſofern ſie die
Fähigkeit des Menſchen zum Handeln beeinträchtigt (nach
den Lehrſätzen 41 und 43 dieſes Teils). Daher können
wir auch inſofern zu keiner Handlung beſtimmt werden,
die wir nicht thun könnten, wenn wir von der Vernunft
geleitet würden. Sofern endlich die Luſt gut iſt, inſofern
ſtimmt ſie mit der Vernunft überein, (denn ſie beſteht darin,
daß ſie das Thätigkeitsvermögen des Menſchen vermehrt oder
fördert,) und ſie iſt ein Leiden nur, ſofern das Thätigkeitsver⸗
mögen des Menſchen durch ſie nicht ſo ſehr vermehrt wird, daß
er ſich und ſeine Handlungen adäquat begreift (nach Lehr⸗
Ethik. Über die menſchliche Unfreiheit, od. die Macht d. Affekte. 317
ſatz 3, Teil 3, mit ſeiner Anmerkung). Wenn daher der
von Luſt erregte Menſch zu ſolcher Vollkommenheit gebracht
würde, daß er ſich und ſeine Handlungen adäquat begreifen
würde, ſo wäre er zu denſelben Handlungen befähigt, ja
noch befähigter, zu welchen er jetzt durch die Affekte, welche
Leiden ſind, beſtimmt wird. Alle Affekte aber beziehen ſich
auf Luſt, Unluſt, oder Begierde, (ſ. die Erläuterung zu
Ziffer IV der Definitionen der Affekte,) und die Begierde
iſt (nach den Definitionen der Affekte, Ziffer I,) nichts
anderes, als das Thätigkeitsbeſtreben ſelbſt. Folglich können
wir zu allen Handlungen, zu welchen wir durch einen Affekt,
welcher ein Leiden iſt, beſtimmt werden, ohne denſelben,
durch die Vernunft allein veranlaßt werden. — W. z. b. w.
Anderer Beweis.
Jede Handlung heißt inſofern ſchlecht, ſofern ſie daraus
entſpringt, daß wir von Haß, oder von irgend einem
ſchlechten Affekt erregt find (ſ. Zuſatz I zu Lehrſatz 45 dieſes
Teils). Keine Handlung aber iſt, für ſich allein betrachtet,
gut oder ſchlecht, (wie im Vorwort dieſes Teils gezeigt
wurde,) vielmehr iſt eine und dieſelbe Handlung bald gut,
bald ſchlecht. Folglich können wir zu derſelben Handlung,
welche jetzt ſchlecht ift, oder welche aus irgend einem ſchlechten
Affekt entſpringt, durch die Vernunft veranlaßt werden. —
W. z. b. w.
a Anmerkung.
Ein Beiſpiel wird dies klarer machen. Das Schlagen
iſt, ſofern es als phyſiſche Handlung betrachtet wird, und
wir nur das ins Auge faſſen, daß der Menſch den Arm
erhebt, die Hand ballt, und den ganzen Arm mit Kraft
auf einen Gegenſtand fallen läßt, eine Tugend, die aus dem
Bau des menſchlichen Körpers begriffen wird. Wenn alſo
ein Menſch, von Zorn oder Haß bewegt, beſtimmt wird,
die Hand zu ballen, oder den Arm zu bewegen, ſo geſchieht
318 Ethik. Vierter Teil.
es, wie ich im Zweiten Teil gezeigt habe, weil eine und
dieſelbe Handlung mit allerlei Vorſtellungen von Dingen
verbunden werden kann. Daher können wir ſowohl durch
ſolche Vorſtellungen der Dinge, die wir verworren, als auch
durch ſolche, die wir klar und deutlich begreifen, zu einer
und derſelben Handlung beſtimmt werden. Es iſt alſo
klar, daß jede Begierde, die aus einem Affekt, der ein
Leiden iſt, entſpringt, von keinem Nutzen wäre, wenn die
Menſchen von der Vernunft geleitet werden könnten.
Sehen wir nunmehr, warum eine Begierde, die aus
einem Affekt, der ein Leiden iſt, entſpringt, von uns blind
genannt wird.
Sechzigſter Lehrſatz.
Die Begierde, welche aus einer Luſt oder Unluſt ent⸗
ſpringt, die ſich auf einen oder einige, nicht aber auf alle
Teile des Körpers bezieht, hat keine nützliche Beziehung
für den ganzen Menſchen.
Beweis.
Geſetzt z. B., der Körperteil A werde durch die Kraft
irgend einer äußeren Urſache ſo geſtärkt, daß er den andern
überlegen iſt, (nach Lehrſatz 6 dieſes Teils,) ſo wird dieſer
Teil ſeine Kräfte nicht deshalb zu verlieren ſtreben, damit
die andern Körperteile ihre Funktion verrichten können;
denn er müßte alsdann eine Kraft oder ein Vermögen
haben, ſeine Kräfte zu verlieren, was (nach Lehrſatz 6,
Teil 3,) widerſinnig iſt. Dieſer Teil, und folglich auch
(nach den Lehrſätzen 7 und 12, Teil 3,) der Geiſt, wird
daher ſtreben, dieſen Zuſtand zu erhalten. Die Begierde
alſo, welche aus einem ſolchen Luſtaffekt entſpringt, hat
keine Beziehung zum Ganzen. Wird umgekehrt geſetzt, der
Teil A werde ſo gehemmt, daß die andern ihm überlegen
ſind, ſo wird auf dieſelbe Weiſe bewieſen, daß auch die
Ethik. Über die menſchliche Unfreiheit, od. die Macht d. Affekte. 319
Begierde, welche aus Unluſt entſpringt, keine Beziehung
zum Ganzen hat. — W. z. b. w.
Anmerkung.
Da ſich nun die Luſt meiſtenteils (nach Anmerkung zu
Lehrſatz 44 dieſes Teils) auf Einen Körperteil bezieht, ſo
erſtreckt ſich folglich meiſtenteils das Beſtreben, unſer Sein
zu erhalten, nicht auf unſer geſamtes Wohlbefinden. Hiezu
kommt noch, daß die Begierden, von denen wir vorzugs⸗
weiſe erfaßt werden, (nach Zuſatz zu Lehrſatz 9 dieſes Teils,
nur zur gegenwärtigen Zeit, nicht aber zur zukünftigen,
Beziehung haben.
Einundſechzigſter Lehrſatz.
Die Begierde, welche aus der Vernunft entſpringt,
kaun kein Übermaß haben.
Beweis.
Die Begierde, (nach den Definitionen der Affekte, Ziffer I)
abſolut betrachtet, iſt des Menſchen Weſen ſelbſt, ſofern
es als auf irgend eine Weiſe zu handeln beſtimmt begriffen
wird. Die Begierde daher, die aus der Vernunft ent⸗
ſpringt, d. h., (nach Lehrſatz 3, Teil 3,) die in uns ent⸗
ſteht, ſofern wir thätig ſind, iſt des Menſchen Weſen oder
Natur ſelbſt, ſofern es begriffen wird als beſtimmt, das
zu thun, was aus dem Weſen des Menſchen allein adäquat
begriffen wird (nach Definition 2, Teil 3). Wenn alſo
dieſe Begierde ein Übermaß haben könnte, ſo könnte folglich
die menſchliche Natur, an ſich allein betrachtet, ſich ſelbſt
überſchreiten, oder mehr vermögen, als ſie vermag, was
ein offenbarer Widerſpruch iſt. Daher kann dieſe Begierde
ein Übermaß nicht haben. — W. z. b. w.
320 Ethik. Vierter Teil.
Zweiundſechzigſter Lehrſatz.
Sofern der Geiſt die Dinge nach dem Gebot der Ver⸗
nunft begreift, wird er in gleicher Weiſe erregt, mag die
Idee die eines zukünftigen, vergangenen, oder gegen⸗
würtigen Dinges ſein.
Beweis.
Alles, was der Geiſt unter der Leitung der Vernunft
begreift, begreift er unter demſelben Geſichtspunkt der Ewig⸗
keit oder Notwendigkeit, (nach Zuſatz II zu Lehrſatz 44,
Teil 2,) und er wird dabei von derſelben Gewißheit erregt
(nach Lehrſatz 43, Teil 2, und ſeiner Anmerkung). Mag
daher die Idee die eines zukünftigen, vergangenen, oder
gegenwärtigen Dinges ſein, ſo begreift der Geiſt das Ding
mit derſelben Notwendigkeit, und wird von derſelben Ge⸗
wißheit erregt, und die Idee wird, mag ſie die eines zu⸗
künftigen, vergangenen, oder gegenwärtigen Dinges ſein,
dennoch gleich wahr ſein, (nach Lehrſatz 41, Teil 2,) d. h.,
(nach Definition 4, Teil 2 ſie wird dennoch immer die⸗
ſelben Eigenſchaften einer adäquaten Idee haben. Mithin
wird der Geiſt, ſofern er die Dinge nach dem Gebot der
Vernunft begreift, auf dieſelbe Weiſe erregt, ob die Idee
die eines zukünftigen, vergangenen, oder gegenwärtigen
Dinges iſt. — W. z. b. w.
Anmerkung.
Wenn wir von der Dauer der Dinge eine adäquate
Erkenntnis haben, und die Zeit ihrer Exiſtenz durch die
Vernunft beſtimmen könnten, ſo würden wir die zukünftigen
Dinge mit demſelben Affekt betrachten, wie die gegenwär⸗
tigen; der Geiſt würde das Gute, welches er als zukünftig
begreift, ebenſo wie ein gegenwärtiges erſtreben; und folglich
würde er notwendig auf ein geringeres gegenwärtiges Gut
um eines größeren zukünftigen Guts willen verzichten, und
Ethik. Über die menſchliche Unfreiheit, od. die Macht d. Affekte. 321
etwas, das in der Gegenwart gut, aber die Urſache irgend
eines zukünftigen Übels iſt, keineswegs erſtreben, wie ich
bald beweiſen werde. Allein wir können von der Dauer
der Dinge (nach Lehrſatz 31, Teil 2,) nur eine ſehr in⸗
adäquate Erkenntnis haben, und beſtimmen die Exiſtenz der
Dinge (nach Anmerkung zu Lehrſatz 44, Teil 2,) durch die
bloße Zeitenvorſtellung, welche von dem Bild eines gegen⸗
wärtigen und dem eines zukünftigen Dinges nicht gleicher⸗
weiſe erregt wird. Daher kommt es, daß die wahre Er⸗
kenntnis des Guten und Schlechten, die wir haben, nur
eine abſtrakte oder univerſale iſt, und daß das Urteil, das
wir über die Ordnung und den urſächlichen Zuſammen⸗
hang der Dinge bilden, um beſtimmen zu können, was in
der Gegenwart gut oder ſchlecht für uns ſei, mehr ein
imaginäres, als ein ſachgemäßes iſt. Darum iſt es auch
kein Wunder, wenn die Begierde, die aus der Erkenntnis
des Guten und Schlechten, ſofern ſie Zukünftiges betrifft,
entſpringt, ſehr leicht durch die Begierde zu Dingen ein⸗
geſchränkt werden kann, die in der Gegenwart angenehm
ſind. Hierüber ſehe man den 16. Lehrſatz dieſes Teils.
Dreiundſechzigſter Lehrſatz.
Wer von der Furcht geleitet wird, und das Gute
thut, um das Schlechte zu verhüten, der wird nicht von
der Vernunft geleitet.
Beweis.
Alle Affekte, die ſich auf den Geiſt beziehen, ſofern er
thätig iſt, d. h., (nach Lehrſatz 3, Teil 3,) die ſich auf die
Vernunft beziehen, ſind keine andern, als Affekte der Luſt
und der Begierde (nach Lehrſatz 59, Teil 3). Alſo wird,
(nach den Definitionen der Affekte, Ziffer XIII. wer von
der Furcht geleitet wird, und das Gute aus Furcht vor
Schlechtem thut, nicht von der Vernunft geleitet. — W. z. b. w.
21
322 Ethik. Vierter Teil.
Anmerkung.
Die Vertreter des Aberglaubens, welche beſſer verſtehen,
Laſter zu tadeln, als Tugenden zu lehren, und welche die
Menſchen nicht durch die Vernunft leiten, ſondern durch
die Furcht im Zaum halten wollen, es alſo mehr darauf
abſehen, daß die Menſchen das Schlechte fliehen, als die
Tugenden lieben, bezwecken nichts anderes, als daß die
anderen ein ebenſo klägliches Leben führen, wie ſie ſelbſt. Kein
Wunder daher, wenn ſie den Menſchen meiſt läſtig und
verhaßt find.
Zuſah.
Durch die Begierde, welche aus der Vernunft entſpringt, 5
folgen wir dem Guten unmittelbar, und fliehen wir das
Böſe mittelbar.
Beweis.
Denn die Begierde, welche aus der Vernunft entſpringt,
kann nur aus einem Luſtaffekt entſpringen, welcher kein
Leiden iſt, d. h., aus der Luſt, welche kein Übermaß haben
kann, (nach Lehrſatz 61 dieſes Teils,) nicht aber aus der
Unluſt. Mithin entſpringt dieſe Begierde (nach Lehrſatz 8
dieſes Teils) aus der Erkenntnis des Guten, nicht aber
des Schlechten. Alſo erſtreben wir unter der Leitung der
Vernunft das Gute unmittelbar, und fliehen nur inſofern
das Schlechte. — W. z. b. w.
Anmerkung.
Dieſer Zuſatz möge an dem Beiſpiel von einem Kranken
und Geſunden klarer gemacht werden. Der Kranke genießt
Dinge, die ihm zuwider ſind, aus Furcht vor dem Tode.
Der Geſunde dagegen erfreut ſich an der Speiſe, und ge
nießt ſo das Leben beſſer, als wenn er den Tod fürchtete,
und ihn unmittelbar zu vermeiden ſuchte. — So wird der
Ethik. Über die menſchliche Unfreiheit, od. die Macht d. Affekte. 323
Richter, der nicht aus Haß oder Zorn, ſondern bloß aus
Liebe zum öffentlichen Wohl einen Schuldigen zum Tod
verurteilt, bloß von der Vernunft geleitet.
Vierundſechzigſter Lehrſatz.
Die Erkenntnis des Schlechten iſt eine inadäquate
Erkenntnis.
Beweis.
Die Erkenntnis des Schlechten iſt (nach Lehrſatz 8) die
Unluſt ſelbſt, ſofern wir derſelben bewußt ſind. Unluſt
aber iſt Übergang zu geringerer Vollkommenheit, (nach den
Definitionen der Affekte, Ziffer III,) welche daher aus des
Menſchen Weſen ſelbſt nicht verſtanden werden kann, (nach
den Lehrſätzen 6 und 7, Teil 3,) und ſonach (nach Defi-
nition 2, Teil 3,) ein Leiden iſt, das (nach Lehrſatz 3,
Teil 3,) von inadäquaten Ideen abhängt. Folglich iſt
(nach Lehrſatz 29, Teil 2,) deſſen Erkenntnis, nämlich die
Erkenntnis des Schlechten, eine inadäquate. — W. z. b. w.
ZJuſatz.
Hieraus folgt, daß der menſchliche Geiſt, wenn er nur
adäquate Ideen hätte, keinen Begriff des Böſen bilden könnte.
Fünfundſechzigſter Lehrſatz.
Unter der Leitung der Vernunft werden wir von zwei
Gütern das größere, und von zwei Übeln das kleinere
wählen.
Beweis.
Ein Gut, welches uns hindert, ein größeres Gut zu
genießen, iſt in Wahrheit ein Übel. Denn ſchlecht und gut
heißen die Dinge, (wie im Vorwort dieſes Teils gezeigt
wurde,) ſofern wir ſie miteinander vergleichen, und das
21
324 Ethik. Vierter Teil,
kleinere Übel iſt (kaus demſelben Grunde) in Wahrheit ein
Gut. Daher werden wir (nach Zuſatz zum vorigen Lehr⸗
ſatz) unter der Leitung der Vernunft nur das größere Gut
und das kleinere Übel verlangen oder wählen. — W. z. b. w.
Zuſatz.
Unter der Leitung der Vernunft werden wir ein kleineres
Übel um eines größeren Gutes willen wählen, und auf ein
kleineres Gut, das die Urſache eines größeren Übels iſt,
verzichten. Denn das Übel, das in dieſem Fall ein kleineres
heißt, iſt eigentlich ein Gut, und das Gut umgekehrt ein
Übel. Daher (nach Zuſatz zu Lehrſatz 63 dieſes Teils)
— 55 jenes verlangen und auf dieſes verzichten.
— W. z. b. w
Sechsundſechzigſter Lehrſatz.
Unter der Leitung der Vernunft werden wir ein
größeres künftiges Gut einem geringeren gegenwärtigen,
und ein kleineres gegenwärtiges übel einem größeren
künftigen vorziehen.
Beweis.
Wenn der Geiſt von einem zukünftigen Ding eine ad⸗
äquate Erkenntnis haben könnte, ſo würde er gegen ein
zukünftiges Ding von demſelben Affekt, wie gegen ein
gegenwärtiges, erregt werden (nach Lehrſatz 62 dieſes Teils).
Sofern wir alſo die Vernunft ſelbſt ins Auge faſſen, —
was wir, unſerer Annahme gemäß, in dieſem Lehrſatz
thun, — ſo bleibt es ſich gleich, ob das größere Gut oder
Übel als künftig, oder als gegenwärtig angenommen wird.
Daher werden wir (nach Lehrſatz 65 dieſes Teils) ein
größeres künftiges Gut einem geringeren gegenwärtigen u. ſ. f.
vorziehen. — W. z. b. w.
Ethik. Über die menſchliche Unfreiheit, od. die Macht d. Affekte. 325
ZJuſah.
Unter der Leitung der Vernunft werden wir ein gegen⸗
wärtiges kleineres Übel begehren, wenn es die Urſache eines
künftigen größeren Guts iſt, und auf ein gegenwärtiges
kleineres Gut verzichten, wenn es die Urſache eines künftigen
größeren iſt. — Dieſer Zuſatz verhält ſich zum obigen Lehr⸗
ſatz, wie der Zuſatz des 65. Lehrſatzes zu Lehrſatz 65.
Anmerkung.
Vergleichen wir nun das Vorſtehende mit dem, was in
dieſem Teil bis zum 18. Lehrſatz über die Macht der Affekte
dargelegt wurde, ſo ſehen wir leicht, welch ein Unterſchied
zwiſchen einem Menſchen iſt, der bloß vom Affekt und von
der Meinung, und einem Menſchen, der von der Vernunft
geleitet wird. Denn jener thut, er mag wollen oder nicht,
das, worüber er ſich in der größten Unkenntnis befindet.
Dieſer dagegen folgt in allem nur ſich ſelbſt, und thut nur
das, was er als vorteilhaft für das Leben erkannt hat, und
was er deshalb am meiſten begehrt. Darum nenne ich
jenen einen Unfreien, dieſen aber einen Freien, über deſſen
Geſinnung und Lebensweiſe ich noch weniges bemerken möchte.
Siebenundſechzigſter Lehrſatz.
Der freie Menſch denkt über nichts weniger, als über
den Tod; und ſeine Weisheit iſt nicht ein Nachdenken
über den Tod, ſondern über das Leben.
Beweis.
Der freie Menſch, d. h. der, welcher nur nach dem
Gebot der Vernunft lebt, wird nicht von der Todesfurcht
geleitet, (nach Lehrſatz 63 dieſes Teils,) ſondern begehrt
das Gute unmittelbar, (nach Zuſatz zu demſelben Lehrſatz,)
d. h., ſein Trieb zu handeln, zu leben, ſein Sein zu er⸗
326 Ethik. Vierter Teil.
halten, beruht auf der Grundlage, daß er den eigenen
Nutzen ſucht. Daher denkt er über nichts weniger, als
über den Tod, vielmehr iſt ſeine Weisheit das Nachdenken
über das Leben. — W. z. b. w.
Achtundſechzigſter Lehrſatz.
Wenn die Menſchen als frei geboren würden, ſo
würden ſie, ſo lange ſie frei blieben, keine Begriffe von
gut und ſchlecht bilden.
Beweis.
Ich habe den frei genannt, der bloß von der Vernunft
geleitet wird. Wer daher als freier Menſch geboren wird,
und frei bleibt, der hat keine anderen, als adäquate Ideen.
Er kann ſomit keinen Begriff von ſchlecht haben, (nach
Zuſatz zu Lehrſatz 64 dieſes Teils,) und folglich (da gut
und ſchlecht korrelate Begriffe ſind) auch nicht von gut.
— W. z. b. w.
Anmerkung.
Aus Lehrſatz 4 dieſes Teils erhellt, daß die Voraus⸗
ſetzung dieſes Satzes eine falſche iſt, und nur begriffen
werden kann, ſofern wir die menſchliche Natur allein, oder
vielmehr Gott ins Auge faſſen, nicht ſofern er unendlich
iſt, ſondern ſofern er nur die Urſache iſt, daß der Menſch
exiſtiert.
Dieſes nun, und anderes, was ich hier bewieſen habe,
ſcheint in der moſaiſchen Geſchichte vom erſten Menſchen
angedeutet zu ſein. Dort wird nämlich kein anderes Ver⸗
mögen Gottes begriffen, als das, womit er den Menſchen
geſchaffen hat, d. h. das Vermögen, womit er für den
Nutzen des Menſchen allein geſorgt hat. Inſofern wird
erzählt, daß Gott dem freien Menſchen verboten habe, vom
Baume der Erkenntnis des Guten und Böſen zu eſſen, und
Ethik. Über die menſchliche Unfreiheit, od. die Macht d. Affekte. 327
daß der Menſch, ſobald er davon eſſen würde, mehr von
der Furcht vor dem Tod, als von dem Wunſch zu leben
erfüllt ſein würde. Ferner, daß, als der Mann das Weib
gefunden hatte, die mit ſeiner Natur vollſtändig überein⸗
ſtimmte, er erkannte, daß es in der Natur nichts geben
könne, was ihm nützlicher ſein könnte, als ſie; daß aber,
als er glaubte, die Tiere wären ihm ähnlich, er ſogleich
anfing, ihre Affekte nachzuahmen, (ſ. Lehrſatz 27, Teil 3,)
und ſeine Freiheit zu verlieren; welche die Patriarchen
ſpäter wieder erlangten, geführt von dem Geiſte Chriſti,
d. h. von der Idee Gottes, von der es allein abhängt, daß
der Menſch frei iſt, und das Gute, welches er ſich wünſcht,
auch den anderen Menſchen wünſcht, wie ich oben (in Lehr⸗
ſatz 37 dieſes Teils) bewieſen habe.
Neunundſechzigſter Lehrſatz.
Die Tugend des freien Menſchen zeigt ſich ebenſo
groß in Vermeidung, als in Überwindung von Gefahren.
Beweis.
Ein Affekt kann nicht anders eingeſchränkt oder auf-
gehoben werden, als durch einen andern ihm entgegen—
geſetzten und ſtärkeren Affekt (nach Lehrſatz 7 dieſes Teils).
Aber Tollkühnheit und Furcht ſind Affekte, welche als gleich
groß begriffen werden können (nach den Lehrſätzen 5 und 3
dieſes Teils). Folglich iſt eine gleichgroße geiſtige Tugend
oder Stärke (ſ. deren Definition in der Anmerkung zu
Lehrſatz 59, Teil 3,) erforderlich, um die Kühnheit, wie
um die Furcht einzuſchränken. D. h., (nach den Defini⸗
tionen der Affekte, Ziffer XL und XLI,) der freie Menſch
vermeidet mit derſelben geiſtigen Tugend die Gefahren,
mit welcher er ſie zu überwinden ſucht. — W. z. b. w.
328 Ethik. Vierter Teil.
Zuſah.
Dem re Menſchen wird daher die Flucht zur rechten
Zeit als ebenſo große Seelenſtärke (Tapferkeit, Mut,) an⸗
gerechnet, wie der Kampf. Mit andern Worten: der freie
Menſch erwählt mit derſelben Seelenſtärke, oder Geiſtes⸗
gegenwart, die Flucht, wie den Kampf.
Anmerkung.
Was Seelenſtärke iſt, oder was ich darunter verſtehe,
habe ich in der Anmerkung zu Lehrſatz 59, Teil 3, erklärt.
Unter Gefahr aber verſtehe ich alles dasjenige, was Urſache
irgend eines Übels ſein kann, wie: der Unluſt, des Haſſes,
der Zwietracht u. ſ. f.
Siebzigſter Lehrſatz.
Der freie Menſch, der unter Unwiſſenden lebt, ſucht,
ſo ſehr als möglich, ihren Wohlthaten auszuweichen.
Beweis.
Jeder beurteilt nach Seiner Sinnesweiſe, was gut iſt
(ſ. Anmerkung zu Lehrſatz 39, Teil 3). Der Unwiſſende
alſo, der jemand eine Wohlthat erwieſen hat, wird dieſelbe
nach Seiner Sinnesweiſe ſchätzen, und wenn er ſieht, daß
ſie von dem Empfänger geringer geſchätzt wird, ſo wird
er Unluſt empfinden (nach Lehrſatz 42, Teil 3). Der freie
Menſch trachtet aber, ſich die übrigen Menſchen durch
Freundſchaft zu verbinden, (nach Lehrſatz 37 dieſes Teils,
und will die empfangenen Wohlthaten nicht mit ſolchen
heimzahlen, welche die Betreffenden nach ihren Affekten als
Vergeltung anſchlagen, ſondern er ſucht, ſich und die andern
durch das freie Urteil der Vernunft zu leiten, und nur das
zu thun, was er als vorteilhaft für das Leben erkannt hat.
Folglich wird der freie Menſch, um nicht den Unwiſſenden
Ethik. Über die menſchliche Unfreiheit, od. die Macht d. Affekte. 329
Urſache zum Haß zu geben, und um nicht ihren Begierden,
ſtatt ſeiner Vernunft, willfahren zu müſſen, ihren Wohl⸗
thaten ſo ſehr als möglich auszuweichen ſuchen. — W. z. b. w.
Anmerkung.
Ich ſage „ſo ſehr als möglich“. Denn wenn es auch
unwiſſende Menſchen ſind, ſo ſind ſie doch Menſchen, welche
im Notfall menſchliche Hilfe, die ja doch die beſte iſt, leiſten
können. Daher tritt oft der Fall ein, daß wir nicht
umhin können, eine Wohlthat von ihnen anzunehmen, und
folglich ihnen nach ihrem Sinne dankbar zu ſein. Dazu
kommt noch, daß man auch im Ablehnen von Wohlthaten
ſich vorſehen muß, daß man nicht den Schein auf ſich ziehe,
als ob man die Betreffenden verachte, oder aus Geiz die
Gegenleiſtung ſcheue; denn da würde man durch eben das,
womit man ihrem Haß auszuweichen ſucht, denſelben viel⸗
mehr herausfordern. Darum muß man beim Ablehnen
von Wohlthaten auf das Nützliche und Schickliche Rück⸗
ſicht nehmen.
Einundſiebzigſter Lehrſatz.
Nur die freien Menſchen ſind gegen einander recht
dankbar.
Beweis.
Nur die freien Menſchen ſind einander höchſt nützlich,
und durch die feſteſten Bande der Freundſchaft mit einander
verbunden, (nach Lehrſatz 35 dieſes Teils und ſeinem Zu⸗
ſatz I,) und ſtreben mit gleichem Liebeseifer, einander
wohlzuthun (nach Lehrſatz 37 dieſes Teils). Folglich ſind
nur die freien Menſchen gegen einander recht dankbar.
— W. z. b. w.
330 ? Ethik. Vierter Teil.
Anmerkung.
Die Dankbarkeit, welche die von blinder Begierde ge⸗
leiteten Menſchen einander erweiſen, iſt zumeiſt eher ein
Handel oder Köder, als Dankbarkeit.
Undankbarkeit ſodann iſt kein Affekt. Doch iſt Un⸗
dankbarkeit ſchändlich, weil ſie meiſtens einen von Haß,
Zorn, Hochmut, Geiz u. ſ. f. in hohem Grad erregten
Menſchen anzeigt. Denn wer aus Dummheit nicht weiß,
Gaben zu vergelten, iſt nicht undankbar, und noch viel
weniger, wer durch die Geſchenke eines verbuhlten Weibes
ſich nicht bewegen läßt, ihren Lüſten zu dienen, oder eines
Diebs, ſeine Diebſtähle zu verhehlen, u. dgl. mehr. Denn
der zeigt im Gegenteil einen ſtandhaften Sinn, der ſich
durch keine Geſchenke verführen läßt, ſich ſelbſt oder das
allgemeine Wohl zu ſchädigen.
Zweiundſiebzigſter Lehrſatz.
Der freie Menſch handelt niemals argliſtig, ſondern
ſtets aufrichtig.
Beweis.
Wenn der freie Menſch, ſofern er frei iſt, etwas arg⸗
liſtig thun würde, ſo würde er es nach dem Gebote der
Vernunft thun (denn nur inſofern nennen wir ihn frei).
Argliſtig handeln wäre demnach eine Tugend (nach Lehr⸗
ſatz 24 dieſes Teils). Folglich wäre es (nach demſelben
Lehrſatz) für jeden geratener, um fein Sein zu erhalten,
argliſtig zu handeln; d. h., (wie von ſelbſt klar,) es wäre
den Menſchen geratener, bloß in Worten übereinzuſtimmen,
in der That aber einander entgegen zu ſein, was (nach
Zuſatz zu Lehrſatz 31 dieſes Teils) widerſinnig iſt. Folglich
handelt der freie Menſch u. ſ. f. — W. z. b. w.
Ethik. Über die menſchliche Unfreiheit, od. die Macht d. Affekte. 331
Anmerkung.
Falls die Frage geftellt würde: Wie, wenn der Menſch
ſich durch Treuloſigkeit aus einer Todesgefahr befreien
könnte, ob da nicht die Vernunft mit Rückſicht auf die
Selbſterhaltung unbedingt rate, treulos zu ſein? ſo iſt auf
dieſelbe Weiſe zu antworten: Wenn die Vernunft dies
riete, ſo riete ſie das folglich allen Menſchen, und alſo
riete die Vernunft allen Menſchen unbedingt, nur argliſtig
Verträge zu ſchließen, ihre Kräfte zu vereinigen, und all⸗
gemein giltige Rechte zu haben, d. h. in Wahrheit, keine
allgemein giltige Rechte zu haben, was widerſinnig iſt.
Dreiundſiebzigſter Lehrſatz.
Der Menſch, der von der Vernunft geleitet wird, iſt
freier in einem Staate, wo er nach gemeinſchaftlichen
Beſchluſſe lebt, als in der Einſamkeit, wo er ſich allein
gehorcht.
Beweis.
Der von der Vernunft geleitete Menſch wird nicht durch
die Furcht zum Gehorſam veranlaßt (nach Lehrſatz 63
dieſes Teils); ſondern ſofern er ſein Sein nach dem Gebot
der Vernunft zu erhalten ſucht, d. h., (nach Anmerkung zu
Lehrſatz 66 dieſes Teils,) ſofern er frei zu leben fucht,
ſtrebt er, auf das gemeinſchaftliche Leben und den gemein⸗
ſchaftlichen Nutzen Rückſicht zu nehmen, (nach Lehrſatz 37
dieſes Teils,) und folglich, (wie in 2. Anmerkung zu Lehr⸗
ſatz 37 dieſes Teils gezeigt wurde,) nach dem gemeinſchaft—
lichen Beſchluß zu leben. Folglich ſtrebt der Menſch, der
von der Vernunft geleitet wird, um freier zu leben, die
gemeinſchaftlichen Rechte des Staates einzuhalten. —
W. z. b. w.
332 Ethik. Vierter Teil.
Anmerkung.
Dies und ähnliches, was ich über die wahre Freiheit
des Menſchen dargelegt habe, bezieht ſich auf die Geiſtes⸗
kraft, d. h., (nach Anmerkung zu Lehrſatz 59, Teil 3,) auf
die Seelenſtärke und den Edelmut.
Ich halte es aber nicht für nötig, alle Eigenſchaften der
Geiſteskraft hier im einzelnen anzuführen, und noch weniger,
zu beweiſen, daß der geiſteskräftige Menſch niemand haßt,
auf niemand zürnt, niemand beneidet, über nichts ſich ent⸗
rüſtet, niemand verachtet, und nicht im geringſten hoch⸗
mütig iſt. Denn dies, und alles, was zum wahren Leben
und zur Religion gehört, läßt ſich leicht aus den Lehr⸗
ſätzen 37 und 46 dieſes Teils erweiſen, wonach der Haß
durch Liebe zu beſiegen iſt, und jeder, der von der Ver⸗
nunft geleitet wird, wünſcht, daß das Gute, das er für
ſich verlangt, auch andern zu Teil werde.
Hierzu kommt noch, was ich in der Anmerkung zu
Lehrſatz 50 dieſes Teils und an andern Stellen bemerkt
habe, daß nämlich der geiſteskräftige Mann vor allem das
im Auge behält, daß alles aus der Notwendigkeit der gött⸗
lichen Natur erfolgt, und daß folglich alles, was er ſich
als läſtig und ſchlecht denkt, ſowie alles, was als verrucht,
ſchrecklich, unrecht und ſchändlich erſcheint, darauf zurück⸗
zuführen iſt, daß er die Dinge ſelbſt verkehrt, verſtümmelt
und verworren begreift. Eben darum ſtrebt er vor allem,
die Dinge ſo zu begreifen, wie ſie an ſich ſind, und die
Hinderniſſe der wahren Erkenntnis zu entfernen, als da
ſind: Haß, Zorn, Neid, Verhöhnung, Hochmut und anderes
dieſer Art, wie im Vorſtehenden dargethan wurde. Und
daher ſtrebt er, wie erwähnt, ſoviel er vermag, gut zu
handeln und froh zu ſein.
Wie weit aber die menſchliche Tugend reicht, um dies
durchzuführen, und was ſie vermag, werde ich im folgenden
Teil zeigen.
Ethik. Über die menſchliche Unfreiheit, od. die Macht d. Affekte. 333
Anhang.
Was ich in dieſem Teile über die rechte Lebensweiſe
angegeben habe, iſt nicht jo geordnet dargeſtellt, daß eine
raſche Überſicht möglich wäre. Die betreffenden Stellen
finden ſich vielmehr da und dort zerſtreut, indem ich ſie
da zu beweiſen ſuchte, wo ich ſie am beſten von anderen
Sätzen ableiten konnte. Ich will es daher hier zuſammen⸗
faſſen und in einzelnen Hauptſätzen darſtellen.
§ 1.
Alle unſere Beſtrebungen, oder Begierden, er⸗
folgen ſo aus der Notwendigkeit unſerer Natur, daß ſie
entweder aus ihr allein, als ihrer nächſten Urſache,
begriffen werden können, oder ſofern wir ein Teil
der Natur find, der aus ſich allein, ohne andere Indi⸗
viduen, nicht adäquat begriffen werden kann.
8 2
Begierden, welche aus unſerer Natur ſo erfolgen, daß
fie aus ihr allein begriffen werden können, find diejenigen,
die ſich auf den Geiſt beziehen, ſofern dieſer als aus
adäquaten Ideen beſtehend begriffen wird. Die übrigen
Begierden aber find jene, die ſich auf den Geiſt nur be⸗
ziehen, ſofern er die Dinge inadäquat begreift, und deren
Macht und Wachstum nicht durch das menſchliche Ver⸗
mögen erklärt werden kann, ſondern durch das Vermögen
der Dinge, die außer uns ſind, erklärt werden muß. Darum
heißen die erſteren richtig Handlungen, dieſe aber Leiden.
8,
Unſere Handlungen, d. h. jene Begierden, welche durch
das Vermögen des Menſchen, oder durch die Vernunft,
334 Ethik. Vierter Teil.
erklärt werden, ſind immer gut; die andern aber können
ſowohl gut als ſchlecht ſein.
8 4.
Nützlich fürs Leben iſt daher vor allem, den
Verſtand oder die Vernunft, ſoviel als möglich
zu vervollkommnen. Darin allein beſteht des
Menſchen höchſtes Glück, oder die Glückſeligkeit.
Denn die Glückſeligkeit iſt nichts anderes, als die Zu⸗
friedenheit des Geiſtes, welche aus der intuitiven Er⸗
kenntnis Gottes entſpringt. Den Geiſt vervollkommnen
iſt aber nichts anderes, als: Gott und die göttlichen Attri-
bute und Handlungen, welche aus der Notwendigkeit feiner
Natur erfolgen, erkennen.
Der letzte Zweck des von der Vernunft geleiteten
Menſchen, oder ſeine höchſte Begierde, nach welcher er
alle übrigen zu lenken trachtet, iſt daher diejenige, durch
welche er dahin gebracht wird, ſich und alle Dinge, die
in den Bereich ſeines Denkens fallen können,
adäquat zu begreifen.
85.
Es giebt darum kein vernünftiges Leben ohne Erkennt⸗
nis. Auch ſind die Dinge nur inſofern gut, ſofern ſie
den Menſchen fördern, das Leben des Geiſtes zu genießen,
welches durch Erkenntnis definiert wird. Was dagegen
den Menſchen hindert, die Vernunft zu vervollkommnen,
und ein vernünftiges Leben zu genießen, das allein nennen
wir ſchlecht.
§ 6.
Weil aber alles, wovon der Menſch ſelbſt die
wirkende Urſache iſt, notwendig gut iſt, ſo kann folglich
dem Menſchen kein Übel zuſtoßen, als nur von äußern
Urſachen; ſofern er nämlich ein Teil der ganzen Natur
Ethik. Über die menſchliche Unfreiheit, od. die Macht d. Affekte. 335
iſt, deren Geſetzen die menſchliche Natur zu gehorchen, und
welcher er ſich auf faſt unendliche Weiſen anzubequemen
genötigt iſt.
.
Eine Möglichkeit, daß der Menſch kein Teil der Natur
wäre, und ihrer gemeinſchaftlichen Ordnung nicht zu folgen
hätte, giebt es nicht. Wenn aber der Menſch unter ſolchen
Individuen lebt, die mit feiner Natur überein
ſtimmen, fo wird eben dadurch fein Thätigkeits-⸗
vermögen gefördert oder genährt werden. Befindet
er ſich dagegen unter Individuen, welche mit ſeiner Natur
ſehr wenig übereinſtimmen, ſo wird er kaum ohne große
Veränderung ſeiner ſelbſt ſich ihnen anbequemen können.
§ 8.
Alles in der Natur, wovon wir urteilen, daß es ſchlecht
iſt, oder zu hindern vermag, daß wir exiſtieren, und ein
vernünftiges Leben genießen können, das dürfen wir mit
allen Mitteln, die uns die beſten dünken, von uns ab-
halten. Umgekehrt dürfeu wir alles, wovon wir urteilen,
daß es gut iſt, oder nützlich, um unſer Sein zu erhalten,
und ein vernünftiges Leben zu genießen, für unſern Gebrauch
uns nehmen, und auf jede beliebige Weiſe gebrauchen.
Überhaupt iſt nach dem höchſten Naturrecht jedem
erlaubt, das zu thun, was ihm, nach ſeiner
Meinung, zum Vorteil gereicht.
89.
Nichts kann mehr mit der Natur eines Dinges überein-
ſtimmen als andere Individuen derſelben Art. Daher
giebt es, (nach S 7) für den Menſchen nichts, was ihm
nützlicher wäre, ſein Sein zu erhalten, und ein vernünftiges
Leben zu genießen, als der Menſch, der von der Bers
nunft geleitet wird.
336 Ethik. Vierter Teil.
Weil wir ferner unter den Einzeldingen nichts kennen,
was vorzüglicher wäre, als ein Menſch, der von der Ver⸗
nunft geleitet wird, ſo kann folglich jeder einzelne Menſch
durch nichts mehr zeigen, wie ſehr er an Geſchick und
Geiſt voran iſt, als dadurch, daß er die Menſchen ſo heran⸗
bildet, daß ſie endlich nach der ausſchließlichen Weiſung
der Vernunft leben.
8 10.
Sofern die Menſchen von Mißgunſt oder ſonſt einem
Affekt des Haſſes gegen einander erfüllt ſind, inſofern ſind
ſie einander entgegen, und folglich haben ſie von
einander um ſo mehr zu fürchten, je mehr ſie vor andern
Individuen der Natur vermögen.
§ 11.
Die Herzen werden aber nicht durch Waffen, ſondern
durch Liebe und Edelmut gewonnen.
§ 12.
Es iſt den Menſchen vor allem nützlich, Verbin⸗
dungen einzugehen, und ſich durch ſolche Bande an⸗
einander zu ſchließen, durch welche am eheſten alle zur
Einheit werden, und überhaupt alles zu thun, was zur
Befeſtigung der Freundſchaft dient.
$ 13.
Doch dazu gehört Geſchick und Wachſamkeit. Denn
die Menſchen ſind wankelmütig, (weil eben die wenigſten
nach Vorſchrift der Vernunft leben,) dabei aber meiſtens
mißgünſtig, und mehr zur Rache, als zum Mitleid geneigt.
Um alſo jeden, welchen Sinnes er ſein mag, zu ertragen,
dabei aber ſich ſelbſt zu hüten, daß man die Affekte der
anderen nicht nachahme, dazu iſt eine beſondere geiſtige
Kraft vonnöten.
Ethik. über die menſchliche Unfreiheit, od. die Macht d. Affekte. 337
Diejenigen dagegen, welche die Menſchen herunterſetzen,
und ſich beſſer darauf verſtehen, über die Laſter zu ſchimpfen,
als Tugenden zu lehren, und das menſchliche Gemüt zu
zerknirſchen, ſtatt es zu kräftigen, ſie ſind ſich und andern
zur Laſt. — Daher haben viele, infolge ihrer großen
Unduldſamkeit und ihres falſchen Religionseifers, es vor-
gezogen, unter Tieren, ſtatt unter Menſchen zu leben; ſo wie
junge Leute, die, ihren Eltern entfliehend, deren Vorwürfe
ſie nicht geduldig ertragen können, unter die Soldaten
gehen, und die Beſchwerlichkeiten des Kriegs und ein
tyranniſches Regiment den häuslichen Annehmlichkeiten und
elterlichen Ermahnungen vorziehen, und ſich jede Laſt auf⸗
erlegen laſſen, nur um ſich an den Eltern zu rächen.
§ 14.
Obgleich alſo die Menſchen in allem ſich zumeiſt nach
ihren Neigungen richten, ſo ergeben ſich doch aus ihrer
gemeinſamen Vereinigung viel mehr Vorteile, als
Nachteile. Darum iſt es beſſer, ihre Unbilden mit
Gleichmut zu ertragen, und das mit Eifer zu betreiben,
was dazu dient, die Eintracht und Freundſchaft her—
zuſtellen.
§ 15.
Die Eintracht wird durch dasjenige erzeugt, was zur
Gerechtigkeit, Billigkeit und Ehrbarkeit gehört.
Denn nicht bloß das, was ungerecht und unbillig iſt, ver⸗
letzt die Menſchen, ſondern auch, was für unehrbar gilt,
oder was gegen die herrſchenden Sitten verſtößt. — Um
aber Liebe zu gewinnen, iſt vor allem das nötig, was
zur Religion und Frömmigkeit gehört. Siehe hierüber
im Vierten Teil die 1. und 2. Anmerkung zu Lehrſatz 37,
die Anmerkung zu Lehrſatz 46, und die Anmerkung zu
Lehrſatz 78.
22
338 Ethik. Vierter Teil.
§ 16.
Außerdem wird die Eintracht auch vielfach durch die
Furcht erzeugt; doch dieſer Eintracht fehlt die Treue (Zu⸗
verläffigkeit). Dazu kommt, daß die Furcht einem geiſtigen
Unvermögen entſpringt, und darum zum Gebrauch der
Vernunft nicht gehört, ſo wenig als das Mitleid, ob⸗
gleich es anſcheinend eine Art von Frömmigkeit iſt.
§ 17. ö
Die Menſchen werden außerdem durch Freigebigkeit
gewonnen, diejenigen beſonders, welche nicht in der Lage
find, das zum Lebensunterhalt Notwendige ſich zu ver⸗
ſchaffen. — Doch überſteigt es weit die Kräfte und den
Nutzen eines Privatmannes, jedem Bedürftigen Hilfe ge⸗
währen zu können, da der Reichtum eines Privatmannes
lange nicht hinreicht, dies zu leiſten. Zudem iſt auch die
geiſtige Fähigkeit eines Einzelnen viel zu beſchränkt, um
ſich alle in Freundſchaft verbinden zu können. Darum
liegt die Sorge für die Armen der ganzen Geſell—
ſchaft ob, und gehört nur zum Gemeinwohl.
§ 18.
In der Annahme von Wohlthaten und Dankes-
bezeigung muß ein ganz anderes Verhalten beobachtet
werden. Hierüber ſiehe im Vierten Teil die Anmerkungen
zu Lehrſatz 70 und 71.
$ 19. N
Die ſinnliche Liebe ſodann, d. h. die Geſchlechtsluſt,
welche die körperliche Schönheit einflößt, wie überhaupt jede
Liebe, welche eine andere Urſache, als die geiſtige Freiheit
anerkennt, geht leicht in Haß über; wenn ſie nicht, was
noch ſchlimmer iſt, eine Art des Wahns iſt, in welchem
Falle ſie mehr durch Zwietracht, als durch Eintracht genährt
wird. S. den Zuſatz zu Lehrſatz 31 im Dritten Teil.
Ethik. Über die menſchliche Unfreiheit, od. die Macht d. Affekte. 339
$ 20.
Was die Ehe anbelangt, jo ift es gewiß, daß fie mit
der Vernunft übereinſtimmt, wenn die Begierde nach fleiſch⸗
licher Vermiſchung nicht bloß von der äußerlichen Schön—
heit, ſondern auch von dem Verlangen, Kinder zu zeugen
und weiſe zu erziehen, hervorgerufen wird, und wenn
außerdem die gegenſeitige Liebe von Mann und Weib nicht
bloß die Körperſchönheit, ſondern vornehmlich die Geiftes-
freiheit zur Urſache hat.
§ 21.
Auch die Schmeichelei erzeugt Eintracht, aber durch
das häßliche Laſter der Knechtsſeligkeit, oder durch
Heuchelei. Deun niemand läßt ſich mehr durch Schmeichelei
einnehmen, als die Hochmütigen, welche die erſten ſein
möchten, aber nicht ſind.
§ 22.
Im Kleinmut (Demut, Selbſterniedrigung,) ſteckt eine
falſche Art von Frömmigkeit und Religion. Und obgleich
der Kleinmut dem Hochmut gegenüberſteht, ſo ſteht doch
der Kleinmütige dem Hochmütigen am nächſten. Siehe die
Anmerkung zu Lehrſatz 57 im Vierten Teil.
8 23.
Die Scham fördert die Eintracht nur in ſolchen Dingen,
die ſich nicht verbergen laſſen. Weil ferner die Scham eine
Art Unluſt iſt, gehört ſie nicht zum Gebrauch der Vernunft.
8 24.
Die übrigen Affekte der Unluſt gegen andere
Menſchen ſind das gerade Gegenteil von Gerechtigkeit,
Billigkeit, Ehrbarkeit, Frömmigkeit und Religion. Und
obgleich die Entrüſtung anſcheinend eine Art der Billig⸗
22*
340 Ethik. Vierter Teil.
keit iſt, ſo lebt man doch da geſetzlos, wo es jedem erlaubt
iſt, über die Thaten anderer abzuurteilen, und ſich oder
einem andern ſein Recht zu verſchaffen.
§ 25.
Die Leutſeligkeit, “) d. h. die Begierde, den Menſchen
zu gefallen, gehört, wenn ſie aus der Vernunft hervor⸗
geht, zur Frömmigkeit (wie in Zuſatz 1 zu Lehrſatz 37,
Teil 4, geſagt wurde). Entſpringt ſie aber aus dem
Affekt, ſo iſt ſie Ehrgeiz, oder eine Begierde, durch welche
die Menſchen unter dem falſchen Schein der Frömmigkeit
meiſt Zwietracht und Aufruhr erregen. Denn wer die
Nebenmenſchen mit Rat oder That zu unterſtützen ſtrebt,
daß fie, wie er ſelbſt, des höchſten Guts teilhaftig ſeien,
der wird in erſter Linie darnach trachten, ſich ihre Liebe zu
gewinnen; er wird aber nicht darauf ausgehen, von ihnen
bewundert zu werden, damit ſeine Lehre nach ſeinem Namen
benannt werde, und wird ihnen überhaupt keinerlei Anlaß
zum Neid geben. Auch wird er ſich im gewöhnlichen Ge⸗
ſpräch hüten, die Laſter der Menſchen “ ) aufzuzählen, und
über das menſchliche Unvermögen wird er nur ſpärlich zu
ſprechen ſuchen, deſto mehr dagegen von der menſchlichen
Tugend, oder dem menſchlichen Vermögen, und über die
Mittel, durch welche dieſes vervollkommnet werden kann;
damit ſo die Menſchen nicht aus Furcht oder Abneigung,
*) Modestia. Auerbach u. Kirchmann: Beſcheidenheit. Daß Spi⸗
noza dieſe nicht meint, geht aus dem Nachſtehenden klar hervor. In
Spinoza's Sprachgebrauch iſt dieſelbe ſynonym mit humanitas, wie
aus den Definitionen der Affekte am Schluß des 3. Teils, Ziffer XLIII,
erſichtlich iſt, wo er ſie ebenſo wie hier als cupiditas ea faciendi, quae
hominibus placent erklärt. (Dort überſetzt Auerbach: Leutſeligkeit.)
— Unſer „Leutſeligkeit“ drückt übrigens nur annähernd den Sinn
aus, in welchem Spinoza das Wort gebraucht. 5
Anmerkung des Überfegers.
**) In der Ausgabe von Van Vloten u. Land fehlerhaft hominem
ſtatt hominun. Anmerkung des Üöberſetzers.
Ethik. Über die menſchliche Unfreiheit, od. die Macht d. Affekte. 341
ſondern von dem Affekt der Luſt allein angetrieben, nach der
Vorſchrift der Vernunft, ſo gut ſie können, zu leben ſtreben.
8 26.
Außer dem Menſchen kennen wir kein Einzelding in
der Natur, an deſſen Geiſt wir uns erfreuen können, und
mit dem wir uns in Freundſchaft, oder irgend einer Art
des Umgangs, zu verbinden vermöchten. Alles andere,
was es außer den Menſchen in der Natur giebt,
zu erhalten, fordert darum die auf unſern Nutzen abzielende
Vernunft nicht; vielmehr lehrt ſie uns, es je nach ſeiner
mannigfachen Brauchbarkeit zu erhalten, zu zerſtören, und
auf jedwede Art unſerem Nutzen anzupaſſen.
§ 27.
Der Nutzen, den wir von den Dingen außerhalb des
Menſchen ziehen, beſteht, neben der Erfahrung und Er-
kenntnis, die wir gewinnen, indem wir ſie beobachten
und von einer Form in die andere umwandeln, haupt⸗
ſächlich in der Erhaltung unſeres Körpers. In dieſer
Hinſicht ſind diejenigen Dinge beſonders nützlich, welche
den Körper in der Weiſe kräftigen und nähren können,
daß alle ſeine Teile ihre Funktionen gehörig verrichten
können. Denn je befähigter der Körper iſt, auf vielerlei
Weiſen erregt zu werden und die äußern Körper auf vielerlei
Weiſen zu erregen, um ſo befähigter iſt auch der Geiſt zum
Denken. (S. die Lehrſätze 38 und 39, Teil 4.) Dinge
von ſolcher Qualität giebt es aber, wie es ſcheint, in der
Natur ſehr wenig. Zur Ernährung des Körpers, wie es
erforderlich iſt, iſt daher der Gebrauch vieler Nahrungs-
mittel von verſchiedener Natur nötig. Denn der menſch—
liche Körper iſt aus ſehr vielen Teilen von verſchiedener
Natur zuſammengeſetzt, welche einer fortwährenden und
mannigfaltigen Ernährung bedürfen, damit der ganze
Körper zu allem, was aus ſeiner Natur erfolgen kann,
342 Ethik. Vierter Teil.
gleich befähigt ſei, und folglich auch der Geiſt gleich befähigt
ſei, vieles zu begreifen.
8 28.
Um ſich aber dies zu verſchaffen, dazu würden die
Kräfte eines Einzelnen kaum hinreichen, wenn ſich die
Menſchen nicht gegenſeitige Hilfe leiſteten. — Aller Dinge
Inbegriff aber iſt das Geld. Daher kommt es, daß der
Geiſt der Menge am meiſten von der Vorſtellung des
Geldes eingenommen wird; weil man ſich kaum irgend
eine Art der Luſt vorſtellen kann, mit welcher nicht die
Idee des Geldes als Urſache verbunden wäre.
§ 29.
Ein Laſter iſt dies aber nur bei denen, welche nicht aus
Not, noch aus ſonſt einer Notwendigkeit, Geld erwerben
wollen, ſondern weil ſie die Kniffe kennen, wie man Profit
macht, womit ſie ungemein großthun. Im übrigen pflegen
ſie ihren Körper aus Gewohnheit, aber kärglich, weil ſie die
Summen, die fie auf die Erhaltung ihres Körpers ver⸗
wenden, als Verluſt an ihren Gütern betrachten. — Wer
dagegen den wahren Nutzen des Geldes kennt, und das
Maß des Reichtums nur nach dem Bedarf abmißt, der
lebt mit wenigem zufrieden.
§ 30.
Da alſo jene Dinge gut ſind, welche die Teile des
Körpers in der Verrichtung ihrer Funktionen fördern, und
die Luſt darin beſteht, daß das Vermögen des Menſchen,
ſofern es in Geiſt und Körper beſteht, gefördert oder ver⸗
mehrt wird, ſo iſt alſo alles das, was Luſt ver⸗
ſchafft, gut. Da nun aber die Dinge nicht zu dem Zweck
thätig ſind, um uns mit Luſt zu erregen, und ihr Thätig⸗
keitsvermögen ſich nicht nach unſerem Nutzen richtet, da
Ethik. Über die menſchliche Unfreiheit, od. die Macht d. Affekte. 343
endlich meiſtens die Luſt ſich hauptſächlich auf Einen Körper⸗
teil bezieht, darum haben die Luſtaffekte (wenn nicht Ver⸗
nunft und Wachſamkeit dabei ſind,) und folglich auch die
Begierden, die aus ihnen entſtehen, meiſtens ein Über⸗
maß. Dazu kommt, daß wir aus Affekt das für das
Wichtigſte halten, was in der Gegenwart angenehm iſt,
und das Zukünftige nicht mit gleichem Affekt des Ge—
müts ſchätzen können. S. die Anmerkungen zu Lehrſatz 44
und 60 im Vierten Teil.
8 81.
Der Aberglaube dagegen ſcheint das für gut zu
erklären, was Unluſt, für ſchlecht, was Luſt verſchafft.
Allein, wie ich ſchon geſagt habe, (ſ. Anmerkung zu Lehr—
ſatz 45, Teil 4,) niemand als ein Mißgünſtiger freut ſich
über mein Unvermögen und mein Unbehagen. Denn, von
je mehr Luſt wir erregt werden, zu deſto größerer Voll—
kommenheit gehen wir über, und um ſo mehr ſind wir
folglich der göttlichen Natur teilhaftig. Und niemals kann
die Luſt ſchlecht ſein, welche von der Vernunft, unſerem
wahren Nutzen entſprechend, gemäßigt wird. — Wer ſich
dagegen von der Furcht leiten läßt, und das Gute thut,
um das Schlechte zu vermeiden, der wird nicht von der
Vernunft geleitet.
§ 32.
Das menſchliche Vermögen aber iſt ſehr beſchränkt, und
wird von dem Vermögen der äußern Urſachen unendlich
übertroffen. Darum haben wir keine abſolute Macht, die
Dinge, welche außer uns ſind, unſerem Nutzen anzupaſſen.
Doch werden wir alles unſerem Nutzen Wider—
ſtrebende, das uns begegnet, mit Gleichmut er-
tragen, wenn wir uns bewußt ſind, daß wir
unſere Pflicht erfüllt haben, und daß das Ber-
mögen, welches wir haben, ſich nicht ſoweit er—
344 Ethik. Vierter Teil.
ſtreckt, daß wir es hätten vermeiden können, und
daß wir nur ein Teil der Natur find, deren Ord⸗
nung wir folgen. Wenn wir das klar und deutlich ein⸗
ſehen, fo wird Der Teil von uns, welcher als Erkennt⸗
nis definiert wird, d. h. der beſſere Teil in uns, dabei
völlig beruhigt ſein, und in dieſer Beruhigung zu ver⸗
harren ſtreben. Denn ſofern wir erkennen, können wir
nichts anderes begehren, als das, was notwendig iſt, und
überhaupt nur im Wahren beruhigt ſein. Sofern wir
daher dieſes richtig erkennen, inſofern ſtimmt das Beſtreben
unſeres beſſeren Teils mit der Ordnung der ganzen Natur
überein.
Ende des Vierten Teils.
| Fünfter Teil.
Über die Macht der Erkenntnis, oder die
menſchliche Freiheit.
Dormort.
Ich komme nun endlich zur anderen Seite der Ethik,
welche die Mittel und Wege betrifft, die zur Freiheit führen.
In dieſem Teile werde ich alſo von der Macht der Ver⸗
nunft handeln, indem ich zeige, was die Vernunft wider
die Affekte vermag, ſodann auch, was die Freiheit
des Geiſtes, oder die Glückſeligkeit iſt. Wir werden
daraus erſehen, um wie viel der Weiſe mächtiger iſt, als
der Unwiſſende.
In welcher Weiſe aber und auf welchem Wege der
Verſtand zu vervollkommnen ſei, und ferner, mit welcher
Kunſt der Körper gepflegt werden müſſe, um ſeine Funk⸗
tionen gehörig verrichten zu können, gehört nicht hierher.
Denn dieſes gehört in die Medizin, jenes zur Logik.
Hier alſo werde ich, wie geſagt, bloß von der Macht
des Geiſtes oder der Vernunft handeln, und vor allem
zeigen, wie groß und welcher Art ihre Gewalt über die
Affekte iſt, ſie einzuſchränken oder zu mäßigen. Denn daß
wir keine abſolute Gewalt über ſie beſitzen, habe ich ſchon
oben bewieſen.
Die Stoiker dagegen waren der Meinung, daß die
Affekte abſolut von unſerem Willen abhängig ſeien, und
346 Ethik. Fünfter Teil.
daß wir ſie abſolut beherrſchen könnten. Die damit im
Widerſpruch ſtehende Erfahrung, keineswegs aber ihre
Prinzipien, nötigte ſie jedoch zu dem Geſtändnis, daß es
nicht geringer übung und Anſtrengung bedürfe, um die⸗
ſelben einzuſchränkeu und im Zaum zu halten; was jemand
(wenn ich mich recht erinnere) an dem Beiſpiel zweier
Hunde, eines Haushunds und eines Jagdhunds, zu zeigen
verſucht hat. Er brachte es nämlich durch fortgeſetzte
Übung ſoweit, daß der Haushund an das Jagen gewöhnt,
dem Jagdhund dagegen die Verfolgung der Haſen ab⸗
gewöhnt wurde.
Zu dieſer Anſicht neigt ſich auch Carteſius nicht wenig
hin. Denn er nimmt an, die Seele, oder der Geiſt, ſei
hauptſächlich mit einem gewiſſen Teil des Gehirns ver⸗
einigt, mit demjenigen nämlich, den man die Zirbel-
drüſe nennt, vermittelſt deren der Geiſt alle Bewegungen,
welche im Körper erregt werden, und die äußern Objekte,
wahrnimmt, und welche der Geiſt dadurch allein, daß er
will, verſchiedenartig bewegen kann. Dieſe Drüſe ſchwebt
nach ſeiner Annahme ſo in der Mitte des Gehirns, daß
ſie durch die geringſte Bewegung der Lebensgeiſter bewegt
werden kann. Ferner behauptet er, daß dieſe Drüſe auf
ebenſo viel verſchiedene Weiſen in der Mitte des Gehirns
ſchwebt, auf ſo verſchiedene Weiſen ſie von den Lebens⸗
geiſtern einen Anſtoß empfängt, und daß außerdem ebenſo⸗
viel verſchiedene Spuren in ſie eingedrückt werden, ſoviel
verſchiedene äußere Objekte die Lebensgeiſter ſelbſt gegen
die Drüſe ſtoßen. Daher komme es, daß, wenn die Drüſe
ſpäter von dem Willen der Seele, der ſie verſchiedenartig
bewegt, in dieſe oder jene ſchwankende Lage gebracht wird,
in welche fie ſchon einmal von den auf dieſe oder jene
Weiſe angeregten Lebensgeiſtern gebracht worden war, die
Drüſe ſelbſt dann wieder die Lebensgeiſter auf dieſelbe
Weiſe anſtößt und beſtimmt, wie dieſe früher von der
ähnlich ſchwebenden Lage der Drüſe zurückgeſtoßen wurden.
Ethik. Über d. Macht d. Erkenntnis, od. d. menſchliche Freiheit. 347
— Weiter nimmt er an, daß jedes Wollen des Geiſtes
von Natur mit irgend einer beſtimmten Bewegung der
Drüſe vereinigt (verbunden) ſei. Wenn z. B. jemand den
Willen hat, ein entferntes Objekt zu betrachten, ſo wird
dieſes Wollen die Wirkung haben, daß ſich die Pupille er⸗
weitert. Wenn er aber bloß an die Erweiterung der
Pupille denkt, ſo wird es nichts nützen, den Willen dazu
zu haben, weil die Natur die Bewegung der Drüſe, welche
dazu dient, den Lebensgeiſtern einen ſolchen Anſtoß gegen
den Sehnerv zu geben, welcher der Erweiterung oder Ver⸗
engerung der Pupille entſpricht, nicht mit dem Willen, die
Pupille zu erweitern oder zu verengen, verbunden hat,
ſondern lediglich mit dem Willen, ein fernes oder nahes
Objekt zu betrachten. — Endlich behauptet er, daß, obgleich
alle Bewegungen dieſer Drüſe durch die Natur mit gewiſſen
Gedanken, die wir haben, ſeit Beginn unſeres Lebens, ver⸗
bunden zu ſein ſcheinen, ſie dennoch infolge von Ange—
wöhnung mit anderen verbunden werden können; was er
im Erſten Teil ſeiner Schrift „über die Leidenſchaften“,
Artikel 50, zu erweiſen ſucht.
Carteſius folgert hieraus, daß keine Seele ſo ſchwach
wäre, daß ſie nicht, bei guter Anleitung, eine abſolute
Macht über ihre Leidenſchaft erlangen könnte. Denn dieſe
ſind, nach ſeiner Definition, Wahrnehmungen, oder
Empfindungen, oder Bewegungen der Seele, die
ſich ſpeziell auf ſie beziehen, und welche — wohl—
gemerkt! — hervorgebracht, erhalten und verſtärkt
werden durch irgend eine Bewegung der Lebens-
geiſter. (Man ſehe „Über die Leidenſchaften“, Teil 1,
Artikel 27.) Da wir nun mit jedwedem Wollen jedwede
Bewegung der Drüſe, und folglich auch der Lebensgeiſter,
verbinden können, und die Beſtimmung des Willens ledig⸗
lich in unſerer Macht liegt, ſo werden wir alſo eine abſo—
lute Herrſchaft über unſere Leidenſchaften erlangen, wenn
wir unſern Willen durch ſichere und feſte Urteile, nach
848 Ethik. Fünfter Teil.
denen wir unſer Thun und Laſſen regeln wollen, beſtimmen,
und die Bewegungen der Leidenſchaften, die wir haben
wollen, mit dieſen Urteilen verbinden würden.
Dies die Anſicht jenes hochberühmten Mannes (ſoweit
ich ſie ſeinen eigenen Worten entnehme). Ich würde aber
kaum glauben, daß ſie von einem ſo großen Manne her⸗
rühre, wenn ſie nicht ſo ſcharfſinnig wäre. Ich kann mich
wahrlich nicht genug wundern, daß ein Philoſoph, der ſich
zum feſten Grundſatz gemacht hat, alles nur aus Prinzipien
abzuleiten, die durch ſich ſelbſt klar ſind, und nichts zu be⸗
haupten, als was er klar und deutlich begreift, und der die
Scholaſtiker ſo oft getadelt hat, weil ſie dunkle Dinge durch
verborgene Qualitäten erklären wollten, ſelbſt einer Hypo⸗
theſe huldigt, welche dunkler iſt, als alle verborgenen
Qualitäten!
Was, frage ich, verſteht er denn unter Vereinigung des
Geiſtes und des Körpers? Welchen klaren und deutlichen
Begriff hat er von einem mit irgend einem Teilchen einer
Maſſe eng vereinigten Denken? Ich wünſchte fürwahr,
daß er dieſe Vereinigung aus ihrer nächſten Urſache er⸗
klärt hätte! Er hat aber den Geiſt ſo verſchieden vom
Körper aufgefaßt, daß er weder von dieſer Vereinigung,
noch vom Geiſte ſelbſt, eine beſondere Urſache angeben
konnte, ſondern ſelbſt genötigt war, auf die Urſache des
ganzen Univerſums, d. h. auf Gott, zurückzugehen. —
Sodann möchte ich gern wiſſen, wie viel Grade von Be⸗
wegung der Geiſt dieſer Zirbeldrüſe mitteilen und wie groß
die Kraft iſt, mit welcher er ſie ſchwebend erhalten kann.
Denn wir erfahren nicht, ob dieſe Drüſe langſamer oder
ſchneller vom Geiſt herumgetrieben wird, als von den
Lebensgeiſtern, und ob die Bewegungen der Leidenſchaften,
die wir mit feſten Urteilen enge verbunden haben, von
denſelben nicht wieder getrennt werden können. Denn
daraus würde folgen, daß, wenn auch der Geiſt ſich feſt
vorgeſetzt haben würde, Gefahren entgegenzugehen, und
Ethik. Uber d. Macht d. Erkenntnis, od. d. menſchliche Freiheit. 349
mit dieſem Entſchluß die Bewegung der Kühnheit ver⸗
bunden hätte, die Drüſe doch, beim Anblick der Gefahr,
ſo ſchweben würde, daß der Geiſt nur an die Flucht denken
könnte. Und fürwahr, da es kein Verhältnis des Wollens
zur Bewegung giebt, ſo giebt es auch keine Vergleichung
zwiſchen dem Vermögen und den Kräften des Geiſtes, und
denen des Körpers; und folglich können die Kräfte des
Körpers niemals durch die Kräfte des Geiſtes beſtimmt
werden. — Hiezu kommt, daß man dieſe Drüſe nicht in
der Mitte des Gehirns ſo gelegen findet, daß ſie ſo leicht
und auf ſo vielerlei Weiſen herumgetrieben werden könnte
und daß ſich auch nicht alle Nerven bis zu den Gehirn-
höhlen erſtrecken. —
Alles endlich, was er vom Willen und ſeiner Freiheit
behauptet, laſſe ich beiſeite, da ich zur Genüge gezeigt habe,
daß es falſch iſt.
Weil alſo das Vermögen des Geiſtes, wie oben gezeigt
worden, durch die Erkenntnis allein definiert wird, ſo
werden wir die Mittel gegen die Affekte, welche, wie ich
glaube, alle Menſchen zwar aus Erfahrung kennen, aber
weder genau beobachten, noch deutlich erkennen, nur aus
der Erkenntnis des Geiſtes beſtimmen, und aus ihr allein
alles dasjenige, was ſeine Glückſeligkeit betrifft, ableiten.
Axiome.
I. Wenn in demſelben Subjekt zwei entgegengeſetzte
Thätigkeiten angeregt werden, ſo wird notwendig entweder
in beiden, oder in einer allein, eine Veränderung geſchehen,
bis ſie aufhören, entgegengeſetzt zu ſein.
II. Das Vermögen der Wirkung wird durch das Ver⸗
mögen der Urſache ſelbſt beſtimmt, ſofern ihr Weſen durch
das Weſen der Urſache ſelbſt erklärt oder beſtimmt wird.
(Dieſes Axiom erhellt aus Lehrſatz 7, Teil 3.)
Erſter Lehrſatz.
Sowie die Gedanken, und die Ideen der Dinge, im
Geiſte ſich ordnen und verketten, genau ebenſo ordnen
und verketten ſich die Erregungen des Körpers, oder die
Vorſtellungen der Dinge, im Körper.
Beweis.
Die Ordnung und Verknüpfung der Ideen iſt (nach
Lehrſatz 7, Teil 2, dieſelbe, wie die Ordnung und Ver⸗
knüpfung der Dinge, und umgekehrt iſt die Ordnung und Ver⸗
knüpfung der Dinge (nach den Zuſätzen zu den Lehrſätzen 6
und 7, Teil 2,) dieſelbe, wie die Ordnung und Verknüpfung
der Ideen. Sowie daher die Ordnung und Verknüpfung
der Ideen im Geiſte der Ordnung und Verkettung der
Körpererregungen entſpricht, (nach Lehrſatz 18, Teil 2, fo
entſpricht umgekehrt (nach Lehrſatz 2, Teil 3,) die Ordnung
und Verknüpfung der Körpererregungen der Ordnung und
Verkettung der Gedanken, und der Ideen der Dinge, im
Geiſte. — — W. z. b. w.
Zweiter Lehrſatz.
Wenn wir eine Gemütsbewegung, oder einen Affekt,
von dem Gedanken der äußern Urſache trennen, und mit
anderen Gedanken verbinden, ſo werden die Liebe oder
der Haß gegen die äußere Urſache, wie auch die Schwan⸗
kungen des Gemüts, die aus dieſen Affekten entſpringen,
vernichtet werden.
Ethik. Über d. Macht d. Erkenntnis, od. d. menſchliche Freiheit. 351
Beweis.
Denn das, was die Ferm der Liebe oder des Haſſes
ausmacht, iſt Luſt oder Unluſt, verbunden mit der Idee
einer äußern Urſache (nach den Definitionen der Affekte,
Ziffern VI und VII). Wird alſo dieſe aufgehoben, jo wird
die Form der Liebe oder des Haſſes zugleich damit auf—
gehoben. Daher werden dieſe Affekte, und die, welche aus
ihnen entſpringen, vernichtet werden.
Dritter Lehrſatz.
Ein Affekt, der ein Leiden iſt, hört auf, ein Leiden
zu ſein, ſobald wir eine klare und deutliche Idee von
ihm bilden.
Beweis.
Ein Affekt, der ein Leiden iſt, iſt eine verworrene Idee
(nach der allgemeinen Definition der Affekte). Wenn wir
daher eine klare und deutliche Idee von dieſem Affekt
bilden, ſo wird dieſe Idee von dem Affekt ſelbſt, ſofern er
bloß auf den Geiſt bezogen wird, nur nach dem Verhältnis
verſchieden fein (nach Lehrſatz 21, Teil 2, mit feiner An-
merkung). Somit wird der Affekt aufhören, ein Leiden
zu ſein.
ZJuſah.
Ein Affekt ſteht daher deſto mehr in unſerer Gewalt,
und der Geiſt leidet deſto weniger von ihm, je bekannter
er uns iſt.
Vierter Lehrſatz.
Es giebt keine Körpererregung, von der wir nicht
einen klaren und deutlichen Begriff bilden können.
352 Ethik. Fünfter Teil.
Beweis.
Was allen gemeinſam iſt, kann nicht anders begriffen
werden, als adäquat (nach Lehrſatz 38, Teil 2). Folglich
giebt es (nach Lehrſatz 12 und Hilfsſatz 2, der auf die
Anmerkung zu Lehrſatz 13, Teil 2 folgt,) keine Körper⸗
erregung, von der wir nicht einen klaren und deutlichen
Begriff bilden können. — W. z. b. w.
Bufaß.
Hieraus folgt, daß es keinen Affekt giebt, von dem wir
nicht einen klaren und deutlichen Begriff bilden können.
Denn ein Affekt iſt die Idee einer Körpererregung, (nach.
der allgemeinen Definition der Affekte,) welche daher einen
klaren und deutlichen Begriff in ſich ſchließen muß.
Anmerkung.
Da es nichts giebt, woraus nicht irgend eine Wirkung
erfolgt, (nach Lehrſatz 36, Teil 1,) und da wir alles das⸗
jenige, was aus einer Idee, die in uns adäquat iſt, folgt,
klar und beſtimmt erkennen, (nach Lehrſatz 40, Teil 2,) fo
folgt daraus, daß jeder die Macht hat, ſich und ſeine
Affekte, wenn auch nicht abſolut, ſo doch teilweiſe, klar und
deutlich zu erkennen, und folglich auch zu bewirken, daß
er weniger von ihnen erleide.
Darauf hauptſächlich muß daher unſer Bemühen gerichtet
ſein, daß wir jeden Affekt, ſoviel als möglich, klar und
deutlich erkennen, damit ſo der Geiſt, von dem Affekt aus,
zum Denken deſſen beſtimmt werde, was er klar und deut⸗
lich erfaßt, und worin er ſich vollſtändig beruhigt; und ſo
der Affekt ſelbſt von dem Gedanken der äußern Urſache
losgelöſt, und mit wahren Gedanken verbunden werde.
Die Folge hiervon wird ſein, daß nicht bloß die Liebe, der
Haß u. ſ. f. vernichtet werden, (nach Lehrſatz 2 dieſes
Teils,) ſondern auch, daß das Verlangen, oder die Be⸗
Ethik. über d. Macht d. Erkenntnis, od. d. menſchliche Freiheit. 353
gierde, welche gewöhnlich aus einem ſolchen Affekt ent⸗
ſpringen, kein übermaß haben können (nach Lehrſatz 61,
Teil 4).
Es iſt nämlich vor allem zu bemerken, daß es ein und
dasſelbe Verlangen iſt, wegen deſſen der Menſch ſowohl
thätig, als leidend heißt. Z. B., wenn ich gezeigt habe,
daß die menſchliche Natur ſo beſchaffen iſt, daß jeder ver—
langt, die anderen ſollen nach Seinem Sinne leben, (ſ. An⸗
merkung zu Lehrſatz 31, Teil 3,) fo iſt dieſes Verlangen
bei einem Menſchen, der nicht von der Vernunft geleitet
wird, ein Leiden, welches Ehrgeiz heißt, und ſich vom Hoch—
mut nicht ſehr unterſcheidet; bei einem Menſchen dagegen,
der nach dem Gebot der Vernunft lebt, iſt es eine Hand—
lung, oder eine Tugend, welche Frömmigkeit heißt (ſ. die
1. Anmerkung zu Lehrſatz 37, Teil 4, und den 2. Beweis
zu demſelben Lehrſatz). Und ſo ſind alle Verlangen oder
Begierden nur inſofern Leiden, ſofern ſie aus inadäquaten
Ideen entſpringen, ſie werden aber zu den Tugenden ge—
rechnet, wenn ſie von adäquaten Ideen hervorgerufen oder
erzeugt werden. Denn alle Bgierden, durch welche wir
beſtimmt werden, etwas zu thun, können ſowohl von ad—
äquaten, als von inadäquaten Ideen herrühren (ſ. Lehr⸗
fat 59, Teil 4).
Es kann (um wieder auf das zurückzukommen, wovon
ich ausgegangen bin,) gegen die Affekte kein vortrefflicheres,
in unſerer Macht ſtehendes Heilmittel erdacht werden, als
dieſes, welches in der wahren Erkenntnis derſelben beſteht.
Denn es giebt ja kein anderes Vermögen des Geiſtes, als
das Denken, und das Bilden adäquater Ideen, wie oben
(Lehrſatz 3, Teil 3,) gezeigt worden iſt.
23
354 Ethik. Fünfter Teil.
Fünfter Lehrſatz.
Der Affekt gegen ein Ding, das wir uns ſchlechthin
vorſtellen, alſo weder als notwendig, noch als möglich,
noch als zufällig, iſt, bei ſonſt gleichen Umſtänden, unter
allen Affekten der ſtärkſte.
Beweis.
Der Affekt gegen ein Ding, das wir uns frei vorſtellen,
iſt ſtärker, als gegen ein notwendiges, (nach Lehrſatz 49,
Teil 3,) und folglich noch viel ſtärker, als der Affekt gegen
ein Ding, das wir uns als möglich oder zufällig vorſtellen
(nach Lehrſatz 11, Teil 4). Ein Ding ſich als frei vor⸗
ſtellen kann aber nichts anderes ſein, als daß wir uns
das Ding ſchlechthin vorſtellen, indem wir die Urſachen, von
welchen es zum Handeln beſtimmt wurde, unbeachtet laſſen
(nach dem, was in der Anmerkung zu Lehrſatz 35, Teil 2,
gezeigt wurde). Folglich iſt der Affekt gegen ein Ding, das
wir uns ſchlechthin vorſtellen, bei ſonſt gleichen Umſtänden,
ſtärker, als gegen ein notwendiges, mögliches, oder zufälliges,
und mithin iſt er der ſtärkſte. — W. z. b. w.
Sechſter Lehrſatz.
Sofern der Geiſt alle Dinge als notwendige erkennt,
inſofern hat er eine größere Macht über die Affekte, oder
leidet er weniger von ihnen.
Beweis.
Der Geiſt erkennt, daß alle Dinge notwendig ſind, (nach
Lehrſatz 29, Teil 1,) und durch eine unendliche Kette von
Urſachen zum Exiſtieren und Wirken beſtimmt werden (nach
Lehrſatz 28, Teil 1). Daher bewirkt er inſofern, (nach
dem vorigen Lehrſatz,) daß er von den Affekten, die aus
Ethik. Über d. Macht d. Erkenntnis, od. d. menſchliche Freiheit. 355
ihnen entſpringen, weniger leidet, und (nach Lehrſatz 48,
Teil 3,) weniger gegen fie erregt wird. — W. z. b. w.
Aumerkung.
Je mehr dieſe Erkenntnis, daß nämlich die Dinge not⸗
wendig ſind, auf die Einzeldinge, die wir uns deutlicher
und lebhafter vorſtellen, ſich erſtreckt, um ſo größer iſt dieſe
Macht des Geiſtes über die Affekte.
Es bezeugt dies auch die Erfahrung. Denn wir ſehen,
daß die Unluſt über ein verlorenes Gut gemildert wird,
ſobald der Menſch, der den Verluſt dieſes Guts erlitten
hat, bedenkt, daß es auf keine Weiſe erhalten werden konnte.
— So ſehen wir auch, daß niemand die Kinder bemitleidet,
weil ſie nicht ſprechen und laufen, keine Vernunftſchlüſſe
machen können, und mehrere Jahre gewiſſermaßen ohne
Bewußtſein ihres Selbſt verleben. Würden aber die meiſten
Menſchen als Erwachſene, und nur der eine und andere
als Kind geboren werden, ſo würde jedermann die Kinder
bemitleiden. Denn alsdann würde man den Zuſtand der
Kindheit nicht als etwas Natürliches und Notwendiges,
ſondern als einen Fehler, oder ein Verſehen der Natur be=
trachten. — Dergleichen könnte noch vieles angeführt werden.
Siebenter Lehrſatz.
Die Affekte, welche aus der Vernunft entſpringen,
oder von ihr erregt werden, ſind in Bezug auf die Zeit
ſtärker, als diejenigen, die ſich auf Einzeldinge beziehen,
welche wir als abweſend betrachten.
Beweis.
Wir betrachten ein Ding nicht vermöge des Affekts,
durch welchen wir es vorſtellen, als abweſend, ſondern des⸗
halb, weil der Körper von einem andern Affekt erregt wird,
welcher die Exiſtenz dieſes Dinges ausſchließt (nach Lehr⸗
23 *
356 Ethik. Fünfter Teil.
ſatz 17, Teil 2). Daher iſt ein Affekt, der ſich auf ein
Ding bezieht, das wir als abweſend betrachten, nicht von
ſolcher Natur, daß er die übrigen Handlungen des Menſchen
und ſein Vermögen übertrifft, (ſ. hierüber Lehrſatz 6,
Teil 4,) vielmehr iſt er von ſolcher Natur, daß er von
denjenigen Erregungen, welche die Exiſtenz ihrer äußern
Urſache ausſchließen, auf gewiſſe Weiſe eingeſchränkt werden
kann (nach Lehrſatz 9, Teil 4). — Ein Affekt aber, der aus
der Vernunft entſpringt, bezieht ſich notwendig auf die ge⸗
meinſamen Eigenſchaften der Dinge, (ſ. die Definition der
Vernunft in der 2. Anmerkung zu Lehrſatz 40, Teil 2,) die
wir immer als gegenwärtig betrachten, (denn es kann nichts
geben, was ihre gegenwärtige Exiſtenz ausſchließt,) und
immer auf dieſelbe Weiſe vorſtellen (nach Lehrſatz 38,
Teil 2). Daher bleibt ein ſolcher Affekt ſtets derſelbe, und
folglich müſſen (nach Axiom dieſes Teils) die Affekte, die
ihm entgegengeſetzt ſind, und die von ihren äußeren Ur⸗
ſachen nicht genährt werden, ſich ihm mehr und mehr an⸗
bequemen, bis ſie nicht mehr entgegengeſetzt ſind. Und
inſofern iſt ein Affekt, der aus der Vernunft entſpringt,
der ſtärkere. — W. z. b. w.
Achter Lehrſatz.
Von je mehr zuſammenwirkenden Urſachen ein Affekt
erregt wird, deſto ſtärker iſt er.
Beweis.
Viele Urſachen zuſammen vermögen mehr, als wenn
es nicht ſo viele wären (nach Lehrſatz 7, Teil 3). Folglich
iſt (nach Lehrſatz 5, Teil 4,) ein Affekt um ſo kräftiger,
von je mehr zuſammenwirkenden Urſachen er erregt wird.
— W. z. b. w.
Anmerkung.
Dieſer Lehrſatz erhellt auch aus Axiom II dieſes Teils.
Ethik. über d. Macht d. Erkenntnis, od. d. menſchliche Freiheit. 357
Neunter Lehrſatz.
Ein Affekt, der ſich auf viele und verſchiedene Urſachen
bezieht, die der Geiſt mit dem Affekt zugleich betrachtet,
iſt minder ſchädlich, und wir leiden minder durch ihn,
und ſind gegen jede einzelne Urſache minder erregt, als
ein anderer, gleich ſtarker Affekt, der ſich bloß auf Eine
Urſache, oder auf wenigere, bezieht.
Beweis.
Ein Affekt iſt nur inſofern ſchlecht oder ſchädlich, ſofern
der Geiſt durch ihn am Denken gehindert wird (nach den
Lehrſätzen 26 und 27, Teil 4). Daher iſt ein Affekt, durch
welchen der Geiſt beſtimmt wird, viele Objekte zugleich zu
betrachten, minder ſchädlich, als ein anderer, gleich ſtarker
Affekt, welcher den Geiſt in der Betrachtung bloß eines
einzelnen Objekts, oder einer geringeren Anzahl von Ob—
jekten, ſo feſthält, daß er an andere nicht denken kann.
Damit iſt das erſte bewieſen. — Da ferner das Weſen des
Geiſtes, d. h., (nach Lehrſatz 7, Teil 3,) fein Vermögen, im
Denken allein beſteht, (nach Lehrſatz 11, Teil 2,) fo leidet
folglich der Geiſt durch einen Affekt, durch welchen er be—
ſtimmt wird, vieles zugleich zu betrachten, weniger, als
durch einen gleich ſtarken Affekt, welcher den Geiſt in der
Betrachtung bloß eines einzelnen Objekts, oder einer ge=
ringeren Anzahl von Objekten, feſthält. Damit iſt das
zweite bewieſen. — Endlich iſt auch dieſer Affekt, (nach
Lehrſatz 48, Teil 3,) ſofern er ſich auf viele äußere Ur⸗
ſachen bezieht, gegen jede einzelne derſelben ſchwächer. —
W. z. b. w.
358 Ethik. Fünfter Teil.
Zehnter Lehrſatz.
So lange wir nicht von Affekten beſtürmt werden, die
unſerer Natur entgegengeſetzt ſind, ſo lange haben wir
die Macht, die Körpererregungen gemäß ihrer Ordnung
nach der Erkenntnis zu ordnen und zu verketten.
Beweis.
Affekte, die unſerer Natur entgegengeſetzt ſind, d. h.,
(nach Lehrſatz 30, Teil 4,) die ſchlecht find, find inſofern
ſchlecht, ſofern ſie den Geiſt am Erkennen hindern (nach
Lehrſatz 27, Teil 4). Solange wir alſo von Affekten, die
unſerer Natur entgegengeſetzt ſind, nicht beſtürmt werden,
ſolange wird das Vermögen des Geiſtes, womit er die
Dinge zu erkennen ſtrebt, (nach Lehrſatz 26, Teil 4,) nicht
gehindert, und ſolange vermag er daher, klare und deutliche
Ideen zu bilden, und Ideen von Ideen abzuleiten. (S. die
Anmerkung zu Lehrſatz 40, und die Anmerkung zu Lehr⸗
ſatz 47, Teil 2.) Folglich (nach Lehrſatz 1 dieſes Teils)
haben wir folange auch die Macht, die Körpererregungen
gemäß ihrer Ordnung nach der Erkenntnis zu ordnen und
zu verketten. — W. z. b. w.
Anmerkung.
Durch dieſe Macht, die Körpererregungen richtig zu
ordnen und zu verketten, können wir bewirken, daß wir
nicht leicht von ſchlimmen Affekten erregt werden. Denn
es iſt (nach Lehrſatz 7 dieſes Teils) eine größere Kraft er⸗
forderlich, die Affekte, welche gemäß ihrer Ordnung nach
der Erkenntnis geordnet und verkettet ſind, einzuſchränken,
als die unſicheren und ſchwankenden.
Das Beſte alſo, was wir thun können, ſolange wir
keine vollkommene Erkenntnis unſerer Affekte haben, iſt,
daß wir uns eine richtige Methode der Lebensweiſe, oder
beſtimmte Lebensregeln aufſtellen, ſie unſerem Gedächtnis
Ethik. über d. Macht d. Erkenntnis, od. d. menſchliche Freiheit. 359
einprägen, und in den einzelnen, im Leben häufig vor⸗
kommenden Fällen ſtets anwenden, damit ſo unſere Vor⸗
ſtellung von ihnen tief durchdrungen werde, und wir die⸗
ſelben jederzeit vor Augen haben.
So habe ich z. B. unter andern die Lebensregel auf-
geſtellt, (ſ. Lehrſatz 46, Teil 4, mit feiner Anmerkung,) daß
man den Haß durch Liebe oder Edelmut beſiegen, nicht
aber durch Gegenhaß erwidern ſolle. Damit wir aber
dieſer Vorſchrift der Vernunft immer eingedenk ſeien, wo
ſie zur Anwendung kommen ſoll, muß man über die
Kränkungen, welche die Menſchen einander gewöhnlich zu⸗
fügen, nachdenken und oft darüber nachſinnen, auf welche
Art und durch welche Mittel dieſelben am beſten durch
Edelmut abgewehrt werden können. Denn ſo werden wir
die Vorſtellung der Kränkung mit der Vorſtellung dieſer
Lebensregel verbinden, und wir werden derſelben (nach
Lehrſatz 18, Teil 2,) ſtets eingedenk fein, ſobald uns eine
Kränkung widerfährt.
Wenn wir nun auch noch die Rückſicht auf unſern
wahren Nutzen vor Augen haben werden, und auch des
Guten eingedenk find, das aus der gegenſeitigen Freund⸗
ſchaft und der gemeinſamen Vereinigung erfolgt, und ferner
daran denken, daß aus einer richtigen Lebensweiſe die
höchſte Befriedigung der Seele entſpringt, (nach Lehrſatz 52,
Teil 4,) und daß die Menſchen, wie alles andere, aus
Naturnotwendigkeit handeln, ſo wird die Kränkung, oder
der Haß, der aus ihr zu entſpringen pflegt, den geringſten
Teil unſerer Vorſtellung einnehmen, und leicht überwunden
werden. Und wenn der Zorn, der aus ſehr ſchweren
Kränkungen zu entſpringen pflegt, nicht ſo leicht überwunden
werden ſollte, ſo wird er, wenn auch nicht ohne Seelen⸗
kampf, dann doch in viel kürzerer Zeit überwunden werden,
als wenn wir vorher nicht in der angegebenen Weiſe
darüber nachgedacht hätten, wie aus den Lehrſätzen 6, 7
und 8 dieſes Teils erhellt.
360 Ethik. Fünfter Teil.
Gleicherweiſe müſſen wir über die Seelenſtärke nach⸗
denken, um die Furcht abzulegen. Wir müſſen uns näm⸗
lich die im Leben vorkommenden Gefahren vorrechnen
und öfters vorſtellen, und überlegen, wie ſie durch Geiſtes⸗
gegenwart und Mut am beſten vermieden und überwunden
werden können.
Es iſt aber zu bemerken, daß wir beim Ordnen unſerer
Gedanken und Vorſtellungen immer auf das achten müſſen,
(nach Zuſatz zu Lehrſatz 63, Teil 4, und Lehrſatz 59, Teil 3,)
was in jedem Ding gut iſt, damit wir ſo ſtets durch den
Affekt der Luſt zum Handeln beſtimmt werden. Wenn z. B.
jemand bemerkt, daß er allzuſehr nach Ruhm dürſtet, ſo
möge er über deſſen richtigen Gebrauch nachdenken, und
auch, zu welchem Zweck ihm nachzutrachten ſei, und mit
welchen Mitteln derſelbe erlangt werden könne; nicht aber
über den Mißbrauch desſelben, und deſſen Eitelkeit, oder
über die Unzuverläſſigkeit der Menſchen, und anderes dieſer
Art, worüber man nur bei verſtimmtem Gemüt nachdenkt.
Denn mit ſolchen Gedanken quälen ſich gerade die Ehr⸗
geizigſten am allermeiſten, wenn ſie daran verzweifeln, die
heißbegehrten Ehren zu erlangen; und während ſie ihrem
Zorn Luft machen, wollen ſie weiſe ſcheinen. Daher iſt es
gewiß, daß diejenigen die Ruhmbegierigſten ſind, welche das
größte Geſchrei erheben über den Mißbrauch des Ruhms
und die Eitelkeit der Welt.
Übrigens iſt dies nicht eine ausſchließliche Eigenſchaft
der Ehrgeizigen, ſondern allen geiſtigen Schwächlingen eigen,
denen das Glück nicht günſtig iſt. Denn auch der Arme,
der gern reich ſein möchte, redet unaufhörlich vom Miß⸗
brauch des Geldes und den Laſtern der Reichen, womit er
aber keine andere Wirkung erzielt, als daß er ſich ärgert,
und andern zeigt, daß er nicht bloß über die eigene Armut,
ſondern auch über den Reichtum anderer, Groll hegt. —
Ebenſo machen es Männer, die von ihrer Geliebten übel
aufgenommen wurden; ſie denken nur an den Wankelmut
Ethik. Über d. Macht d. Erkenntnis, od. d. menſchliche Freiheit. 361
der Weiber und ihr falſches Herz, und an andere ab—
gedroſchene Vorwürfe, die man den Weibern macht.
Wer alſo ſeine Affekte und Neigungen aus Liebe zur
Freiheit allein zu zügeln trachtet, der wird ſich angelegen
fein laſſen, ſo ſehr er kann, die Tugenden und ihre Ur-
ſachen kennen zu lernen, und ſeine Seele mit der Freude
zu erfüllen, die aus dieſer wahren Erkenntnis entſpringt;
nicht aber wird er ſich mit der Betrachtung der menſchlichen
Laſter abgeben, die Menſchen durchhecheln, und am Schein
einer falſchen Freiheit Freude haben. Und wer hierauf
mit Eifer ſein Augenmerk richtet, (denn es iſt nicht ſchwer,)
und ſich darin übt, der wird ſicherlich in kurzer Zeit ſeine
Handlungen meiſt nach den Geboten der Vernunft regeln
können.
Elfter Lehrſatz.
Auf je mehr Dinge ſich eine Vorſtellung bezieht, um
ſo häufiger iſt ſie, oder um ſo öfter lebt ſie auf, und
deſto mehr nimmt ſie den Geiſt ein.
Beweis.
Denn auf je mehr Dinge ſich eine Vorſtellung oder ein
Affekt bezieht, deſto mehr Urſachen ſind vorhanden, von
welchen fie hervorgerufen und genährt werden kann. Sie
alle betrachtet der Geiſt (nach der Vorausſetzung) vermöge
des Affekts miteinander. Daher iſt der Affekt um ſo
häufiger, oder lebt um ſo öfter auf, und nimmt den Geiſt
deſto mehr ein. — W. z. b. w.
362 Ethik. Fünfter Teil.
Zwölfter Lehrſatz.
Die Vorſtellungen der Dinge werden leichter mit Vor⸗
ſtellungen verbunden, die ſich auf Dinge beziehen, welche
wir klar und deutlich erkennen, als mit anderen.
Beweis.
Die Dinge, welche wir klar und deutlich erkennen, ſind
entweder gemeinſame Eigenſchaften der Dinge, oder was
von dieſen abgeleitet wird, (ſ. die Definition der Vernunft
in der 2. Anmerkung zu Lehrſatz 40, Teil 2,) und fie
werden folglich (nach dem vorigen Lehrſatz) öfter in uns
hervorgerufen. Es kann daher leichter geſchehen, daß wir
andere Dinge zugleich mit dieſen, als mit andern zuſammen
betrachten, und folglich auch, (nach Lehrſatz 18, Teil 2, daß
ſie leichter mit dieſen, als mit andern verbunden werden.
— W. z. b. w.
Dreizehnter Lehrſatz.
Mit je mehr andern Vorſtellungen eine Vorſtellung
verbunden iſt, deſto öfters lebt ſie auf.
Beweis.
Denn mit je mehr andern Vorſtellungen eine Vorſtellung
verbunden iſt, deſto mehr Urſachen giebt es, (nach Lehrſatz 18,
Teil 2,) von denen fie hervorgerufen werden kann. —
W. z. b. w.
Vierzehnter Lehrſatz.
Der Geiſt kann bewirken, daß alle Körpererregungen, |
oder Vorſtellungen der Dinge, auf die Idee Gottes be⸗
zogen werden.
Ethik. über d. Macht d. Erkenntnis, od. d. menſchliche Freiheit. 363
Beweis.
Es giebt keine Körpererregung, von welcher der Geiſt
nicht einen klaren und deutlichen Begriff bilden kann (nach
Lehrſatz 4 dieſes Teils). Daher kann er bewirken (nach
Lehrſatz 15, Teil 1,) daß alle auf die Idee Gottes bezogen
werden. — W. z. b. w.
Fünfzehnter Lehrſatz.
Wer ſich und ſeine Affekte klar und deutlich erkennt,
liebt Gott, und um ſo mehr, je mehr er ſich und ſeine
Affekte erkennt.
Beweis.
Wer ſich und ſeine Affekte klar und deutlich erkennt,
empfindet Luft (nach Lehrſatz 53, Teil 3,) und zwar ver⸗
bunden mit der Idee Gottes (nach dem vorigen Lehrſatz).
Alſo (nach den Definitionen der Affekte, Ziffer VI,) liebt
er Gott, und (aus demſelben Grund) um ſo mehr, je mehr
er ſich und feine Affekte erkennt. — W. z. b. w.
Sechzehnter Lehrſatz.
Dieſe Liebe zu Gott muß den Geiſt am meiſten
einnehmen.
Beweis.
Denn dieſe Liebe iſt mit allen Erregungen des Körpers
verbunden, (nach Lehrſatz 14 dieſes Teils,) und wird von
ihnen allen genährt (nach Lehrſatz 15 dieſes Teils). Daher
muß ſie (nach Lehrſatz 11 dieſes Teils) den Geiſt am
meiſten einnehmen. — W. z. b. w.
364 Ethik. Fünfter Teil.
Siebzehnter Lehrſatz.
Gott iſt frei von allen Leiden, und wird von keinem
Affekt der Luſt oder Unluſt erregt.
Beweis.
Alle Ideen ſind, ſofern ſie auf Gott bezogen werden,
wahr, (nach Lehrſatz 32, Teil 2,) d. h., (nach Definition 4,
Teil 2,) adäquat. Daher iſt Gott frei von allen Leiden
(nach der allgemeinen Definition der Affekte). Ferner kann
Gott weder zu größerer, noch zu geringerer Vollkommenheit
übergehen (nach Zuſatz II zu Lehrſatz 20, Teil 1). Daher
kann er (nach den Definitionen der Affekte, Ziffern II
und III,) von keinem Affekt der Luft oder Unluſt erregt
werden. — W. z. b. w.
ZJuſah.
Gott liebt und haßt im eigentlichen Sinne niemand.
Denn Gott wird (nach obigem Lehrſatz) von keinem Affekt
der Luſt und Unluſt erregt, und folglich (nach der allge⸗
meinen Definition der Affekte, Ziffern VI und VII) liebt
und haßt er auch niemand.
Achtzehnter Lehrſatz.
Niemand kann Gott haſſen.
Beweis.
Die Idee Gottes, welche in uns iſt, iſt eine adäquate
und vollkommene (nach den Lehrſätzen 46 und 47, Teil 2).
Sofern wir alſo Gott betrachten, inſofern ſind wir thätig
(nach Lehrſatz 3, Teil 3). Folglich (nach Lehrſatz 59, Teil 3,
kann es eine Unluſt, verbunden mit der Idee Gottes, nicht
geben, d. h., (nach den Definitionen der Affekte, Ziffer VII)
niemand kann Gott haſſen. — W. z. b. w.
Ethik. über d. Macht d. Erkenntnis, od. d. menſchliche Freiheit. 365
Bufaß.
Die Liebe zu Gott kann ſich nicht in Haß verwandeln.
Anmerkung.
Man könnte dagegen einwenden, daß, während wir Gott
als die Urſache aller Dinge erkennen, wir damit Gott auch
als die Urſache der Unluſt betrachten. Darauf erwidere ich
aber: Sofern wir die Urſachen der Unluſt erkennen, inſo⸗
fern hört dieſelbe auf, ein Leiden zu ſein, (nach Lehrſatz 3
dieſes Teils,) d. h., (nach Lehrſatz 59, Teil 3,) inſofern hört
fie auf, Unluſt zu ſein. Sofern wir daher Gott als Ur⸗
ſache der Unluſt betrachten, inſofern empfinden wir Luſt.
Neunzehnter Lehrſatz.
Wer Gott liebt, kann nicht wünſchen, daß Gott ihn
wieder liebt.
Beweis.
Wenn der Menſch dies wünſchen würde, ſo würde er
folglich wünſchen, (nach Zuſatz zu Lehrſatz 17 dieſes Teils,)
daß Gott, den er liebt, nicht Gott ſei, und folglich (nach
Lehrſatz 19, Teil 3,) würde er Unluſt zu empfinden wünſchen,
was (nach Lehrſatz 28, Teil 3,) widerſinnig iſt. Folglich
wird, wer Gott liebt, u. ſ. f. — W. z. b. w.
Zwanzigſter Lehrſatz.
Dieſe Liebe zu Gott kann weder durch den Affekt des
Neids, noch der Eiferſucht, getrübt werden, ſondern ſie
wird deſto mehr genährt, je mehr Menſchen wir uns
durch dasſelbe Band der Liebe mit Gott verbunden
vorſtellen.
366 Ethik. Fünfter Teil.
Beweis.
Dieſe Liebe zu Gott iſt das höchſte Gut, das wir nach
dem Gebot der Vernunft verlangen können, (nach Lehr⸗
ſatz 28, Teil 4,) und von dem wir wünſchen, daß alle
Menſchen ſich desſelben erfreuen (nach Lehrſatz 37, Teil 4).
Daher kann ſie (nach den Definitionen der Affekte,
Ziffer XXIII,) durch den Affekt des Neids nicht befleckt
werden, und ebenſowenig (nach Lehrſatz 18 dieſes Teils,
und der Definition der Eiferſucht, ſ. dieſelbe in der An⸗
merkung zu Lehrſatz 35, Teil 3, durch den Affekt der
Eiferſucht. Im Gegenteil wird fie (nach Lehrſatz 31, Teil 3,)
deſto mehr genährt werden, je mehr Menſchen ſich ihrer er⸗
freuend wir uns vorſtellen. — W. z. b. w. N
Anmerkung.
Auf gleiche Weiſe können wir zeigen, daß es keinen
Affekt giebt, der an und für ſich dieſer Liebe entgegengeſetzt
wäre, und von dem dieſe Liebe vernichtet werden könnte.
Daher können wir den Schluß ziehen, daß dieſe Liebe zu
Gott der beharrlichſte unter allen Affekten iſt, und daß ſie,
ſofern ſie ſich auf den Körper bezieht, nur mit dem Körper
ſelbſt zerſtört werden kann. Welcher Art ſie aber iſt,
ſofern ſie ſich auf den Geiſt allein bezieht, werden wir
ſpäter ſehen.
Sämtliche Mittel gegen die Affekte, oder alles, was der
Geiſt, an ſich allein betrachtet, gegen die Affekte vermag, iſt
im Vorſtehenden zuſammengefaßt. Es erhellt daraus, daß
die Macht des Geiſtes über die Affekte in Folgendem beſteht.
1. In der Erkenntnis der Affekte ſelbſt. (S. die
Anmerkung zu Lehrſatz 4 dieſes Teils.)
2. In der Trennung des Affekts von dem Ge—
danken der äußern Urſache, die wir verworren vor⸗
ſtellen. (S. Lehrſatz 2, und die oben eitierte Anmerkung
zu Lehrſatz 4 dieſes Teils.)
Ethik. Über d. Macht d. Erkenntnis, od. d. menſchliche Freiheit. 367
3. In der Zeit, worin die Erregungen, welche ſich auf
Dinge beziehen, die wir erkennen, diejenigen übertreffen,
welche ſich auf Dinge beziehen, die wir verworren und ver⸗
ſtümmelt begreifen. (S. Lehrſatz 7 dieſes Teils.)
4. In der Menge der Urſachen, durch welche die
Erregungen, welche ſich auf die allgemeinen Eigenſchaften,
oder auf Gott beziehen, genährt werden. (S. die Lehr⸗
ſätze 9 und 11 dieſes Teils.)
5. In der Ordnung, nach welcher der Geiſt ſeine
Affekte ordnen und miteinander verketten kann. (S. die
Anmerkung zu Lehrſatz 10, außerdem noch die Lehrſätze 12,
13 und 14 dieſes Teils.)
Damit aber dieſe Macht des Geiſtes über die Affekte
beſſer verſtanden werde, muß hier in erſter Linie bemerkt
werden, daß ich die Affekte als ſtarke bezeichne, wenn wir
bei Vergleichung des Affekts eines Menſchen mit dem Affekt
eines andern Menſchen wahrnehmen, daß der eine von
demſelben Affekt mehr als der andere aufgeregt wird; oder
wenn wir bei Vergleichung der Affekte eines und desſelben
Menſchen miteinander wahrnehmen, daß der Menſch von
dem einen Affekt mehr als von dem andern erregt oder
bewegt wird.
Denn die Macht eines jeden Affekts erklärt ſich (nach
Lehrſatz 5, Teil 4,) aus dem Vermögen der äußern Urſache,
verglichen mit dem unſerigen. Das Vermögen des Geiſtes
aber erklärt ſich aus der bloßen Erkenntnis allein, ſein
Unvermögen dagegen, oder das Leiden, aus dem bloßen
Mangel an Erkenntnis, d. h., es bemißt ſich nach dem,
wegen deſſen die Ideen inadäquate heißen. Hieraus folgt,
daß der Geiſt am meiſten leidet, deſſen größten Teil in-
adäquate Ideen ausmachen, ſodaß er mehr durch das,
was er leidet, als durch das, was er thut, ſich kennzeichnet;
und daß der dagegen am meiſten thätig iſt, deſſen größten
Teil adäquate Ideen ausmachen, ſodaß, obgleich ihm eben⸗
368 Ethik. Fünfter Teil.
ſoviel inadäquate Ideen innewohnen, als dem andern, er
doch mehr durch jene, welche der menſchlichen Tugend an⸗
gehören, als durch dieſe, welche das menſchliche Unvermögen
bekunden, ſich kennzeichnet.
Weiter muß bemerkt werden, daß der Kummer und das
Unglücksgefühl des Gemüts ihren Urſprung hauptſächlich
in der übermäßigen Liebe zu einem Ding haben, welches
vielen Veränderungen unterworfen iſt, und das wir niemals
beſitzen können. Denn niemand iſt über ein Ding be-
kümmert und gedrückt, wenn er es nicht liebt, und jede
Kränkung, jeder Argwohn, jede Feindſchaft u. ſ. f. ent⸗
ſpringt aus der Liebe zu Dingen, in deren wahrem Beſitz
niemand ſein kann.
Hieraus erſehen wir leicht, was die klare und deutliche
Erkenntnis, und beſonders jene dritte Erkenntnisgattung,
(ſ. hierüber die Anmerkung zu Lehrſatz 47, Teil 2,) deren
Grundlage eben die Erkenntnis Gottes ſelbſt iſt, über die
Affekte vermag; indem ſie, ſofern dieſelben Leiden ſind,
wenn auch nicht vollſtändig ſie aufhebt, (ſ. Lehrſatz 3 mit
der Anmerkung zu Lehrſatz 4 dieſes Teils,) ſo doch bewirkt,
daß ſie den kleinſten Teil des Geiſtes ausmachen. (S. Lehr⸗
ſatz 14 dieſes Teils.) — Ferner erzeugt dieſe Erkenntnis
die Liebe zu dem, was unveränderlich und ewig iſt, (ſ. Lehr⸗
fat 15 dieſes Teils,) und das wir wahrhaft beſitzen können
(ſ. Lehrſatz 45, Teil 2). Darum kann dieſe Liebe nicht
von den Fehlern, mit welchen die gemeine Liebe behaftet
iſt, getrübt werden, vielmehr kann ſie immer ſtärker und
ſtärker werden, (nach Lehrſatz 15 dieſes Teils,) den größten
Teil des Geiſtes einnehmen, (nach Lehrſatz 16 dieſes Teils,)
und ihn gänzlich durchdringen.
Damit habe ich alles erledigt, was das gegenwärtige
Leben betrifft. Denn daß ich mit dieſen wenigen Worten
alle Mittel gegen die Affekte zuſammengefaßt habe, wie ich
im Eingang dieſer Anmerkung ſagte, wird jeder leicht finden,
der den Ausführungen dieſer Anmerkung, und zugleich den
Ethik. Über d. Macht d. Erkenntnis, od. d. menſchliche Freiheit. 369
Definitionen des Geiſtes und ſeiner Affekte, endlich auch
den Lehrſätzen 1 und 3 im Dritten Teil ſeine Aufmerkſam⸗
keit zuwendet.
Es iſt daher nun Zeit zu dem überzugehen, was die
Dauer des Geiſtes, ohne Beziehung auf den Körper betrifft.
Einundzwanzigſter Lehrſatz.
Der Geiſt kann nur, ſolange der Körper dauert, ſich
etwas vorſtellen, und ſich der vergangenen Dinge erinnern.
Beweis.
Der Geiſt drückt die wirkliche Exiſtenz ſeines Körpers
nur aus, und begreift auch die Erregungen des Körpers
als wirkliche nur, fo lange der Körper dauert, (nach Zus
ſatz zu Lehrſatz 8, Teil 2,) und folglich (nach Lehrſatz 26,
Teil 2, begreiſt er feinen Körper als wirklich exiſtierend
nur, ſolange ſein Körper dauert. Somit kann er ſich
nichts vorſtellen, (ſ. die Definition der Vorſtellung in der
Anmerkung zu Lehrſatz 17, Teil 2,) und ſich keiner ver⸗
gangenen Dinge erinnern, (ſ. die Definition der Erinnerung
in der Anmerkung zu Lehrſatz 18, Teil 2,) als nur, ſo⸗
lange der Körper dauert. — W. z. b. w.
Zweiundzwanzigſter Lehrſatz.
In Gott giebt es jedoch notwendig eine Idee, welche
das Weſen dieſes oder jenes menſchlichen Körpers unter
dem Geſichtspunkt der Ewigkeit ausdrückt.
Beweis.
Gott iſt nicht nur die Urſache von der Exiſtenz dieſes
und jenes menſchlichen Körpers, ſondern auch von deſſen
Weſen (nach Lehrſatz 25, Teil 1). Dieſes muß daher
durch Gottes Weſen ſelbſt notwendig begriffen werden,
2⁴
370 Ethik. Fünfter Teil.
(nach Axiom VI, Teil 1,) und zwar mit einer gewiſſen ewigen
Notwendigkeit (nach Lehrſatz 16, Teil 1); welchen Begriff
es notwendig in Gott geben muß (nach Lehrſatz 3, Teil 2).
— W. z. b. w.
Dreiundzwanzigſter Lehrſatz.
Der menſchliche Geiſt kann mit dem Körper nicht
abſolut zerſtört werden, ſondern es bleibt von ihm etwas
übrig, was ewig iſt.
Beweis.
In Gott giebt es notwendig einen Begriff, oder eine
Idee, welche das Weſen des menſchlichen Körpers ausdrückt,
(nach dem vorigen Lehrſatz,) die deshalb notwendig etwas
iſt, was zum Weſen des menſchlichen Geiſtes gehört (nach
Lehrſatz 13, Teil 2). Wir legen aber dem menſchlichen
Geiſt eine Dauer, welche durch die Zeit definiert werden
kann, nur bei, ſofern ſie die wirkliche Exiſtenz des Körpers,
welche durch Dauer ausgedrückt, und durch Zeit beſtimmt
werden kann, ausdrückt; d. h., (nach Zuſatz zu Lehrſatz 8,
Teil 2,) wir legen ihm Dauer nur bei, ſolange der Körper
dauert. Da aber nichtsdeſtoweniger dasjenige etwas iſt,
was mit einer gewiſſen Notwendigkeit durch Gottes Weſen
ſelbſt begriffen wird, (nach dem vorigen Lehrſatz,) ſo wird
notwendig dieſes Etwas, das zum Weſen des Geiſtes gehört,
ewig ſein. — W. z. b. w.
Anmerkung.
Es iſt, wie geſagt, dieſe Idee, welche das Weſen des
Körpers unter dem Geſichtspunkt der Ewigkeit ausdrückt,
eine gewiſſe Form (Modus) des Denkens, welche zum Weſen
des Geiſtes gehört, und welche notwendig ewig iſt. —
Dennoch iſt es unmöglich, daß wir uns erinnern, vor dem
Körper exiſtiert zu haben, da es ja im Körper keine Spuren
Ethik. Über d. Macht d. Erkenntnis, od. d. menſchliche Freiheit. 371
davon geben, und die Ewigkeit weder durch die Zeit definiert
werden, noch irgend eine Beziehung zur Zeit haben kann.
Deſſenungeachtet aber wiſſen und erfahren wir, daß wir
ewig ſind. Denn der Geiſt weiß jene Dinge, die er durch
das Erkennen begreift, nicht minder, als jene, die er im
Gedächtnis hat. Denn die Augen des Geiſtes, mit welchen
er die Dinge ſieht und beobachtet, ſind eben die Beweiſe.
Obgleich wir uns alſo nicht erinnern, vor dem Körper
exiſtiert zu haben, ſo wiſſen wir doch, daß unſer Geiſt,
ſofern er das Weſen des Körpers unter dem Geſichtspunkt
der Ewigkeit in ſich ſchließt, ewig iſt, und daß dieſe Exiſtenz
desſelben nicht durch Zeit definiert, oder durch Dauer er⸗
klärt werden kann. — Unſer Geiſt kann alſo nur inſofern
dauernd heißen, und ſeine Exiſtenz kann nur inſofern durch
eine gewiſſe Zeit beſtimmt werden, ſofern er die wirkliche
Exiſtenz des Körpers in ſich ſchließt; und nur inſofern hat
er das Vermögen, die Exiſtenz der Dinge durch Zeit zu be—
ſtimmen, und ſie unter dem Begriff der Dauer zu begreifen.
Vierundzwanzigſter Lehrſatz.
Je mehr wir die Einzeldinge erkennen, um ſo mehr
erkennen wir Gott.
Beweis.
Derſelbe erhellt aus dem Zuſatz zum Lehrſatz 25 im
Erſten Teil.
Fünfundzwanzigſter Lehrſatz.
Das höchſte Beſtreben des Geiſtes, und die höchſte
Tugend, iſt, die Dinge nach der dritten Erkenntnis⸗
gattung zu erkennen.
Beweis.
Die dritte Erkenntnisgattung ſchreitet von der ab»
äquaten Idee gewiſſer Attribute Gottes zur adäquaten Er⸗
24 *
372 Ethik. Fünfter Teil.
kenntnis des Weſens der Dinge fort, (ſ. die Definition
derſelben in der 2. Anmerkung zu Lehrſatz 40, Teil 2,
und je mehr wir die Dinge auf dieſe Weiſe erkennen, deſto⸗
mehr erkennen wir Gott (nach dem vorigen Lehrſatzu).
Folglich (nach Lehrſatz 28, Teil 4,) iſt die höchſte Tugend
des Geiſtes, d. h., (nach Definition 8, Teil 4,) das Ver⸗
mögen, oder die Natur des Geiſtes, oder (nach Lehrſatz 7,
Teil 3,) ſein höchſtes Streben, die Dinge nach der dritten
Erkenntnisgattung zu erkennen. — W. z. b. w.
Sechsundzwanzigſter Lehrſatz.
Je befähigter der Geiſt iſt, die Dinge nach der dritten
Erkenntnisgattung zu erkennen, deſto mehr begehrt er, die
Dinge nach dieſer Erkenntnisgattung zu erkennen.
Beweis.
Der Satz iſt von ſelbſt einleuchtend. Denn ſofern wir
begreifen, daß der Geiſt befähigt iſt, die Dinge nach dieſer
Erkenntnisgattung zu erkennen, inſofern begreifen wir ihn
als beſtimmt, die Dinge nach eben dieſer Erkenntnisgattung
zu begreifen. Je befähigter folglich (nach den Definitionen
der Affekte, Ziffer I) der Geiſt dazu iſt, deſto mehr begehrt
er darnach. — W. z. b. w.
Siebenundzwanzigſter Lehrſatz
Aus dieſer dritten Erkenntnisgattung entſpringt die
höchſte Befriedigung des Geiſtes, die es geben kann.
Beweis.
Die höchſte Tugend des Geiſtes iſt, Gott erkennen, (nach
Lehrſatz 28, Teil 4,) oder, die Dinge nach der dritten Er⸗
kenntnisgattung erkennen (nach Lehrſatz 25 dieſes Teils).
Dieſe Tugend iſt um ſo größer, je mehr der Geiſt die
Ethik. Über d. Macht d. Erkenntnis, od. d. menſchliche Freiheit. 378
Dinge nach dieſer Erkenntnisgattung erkennt (nach Lehr⸗
fat 24 dieſes Teils). Wer daher die Dinge nach dieſer
Erkenntnisgattung erkennt, der erreicht die höchſte menſch⸗
liche Vollkommenheit, und wird folglich (nach den Defini⸗
tionen der Affekte, Ziffer II,) mit der höchſten Luſt erregt,
und zwar, (nach Lehrſatz 43, Teil 2,) verbunden mit der
Idee ſeiner ſelbſt und ſeiner Tugend. Mithin entſpringt
(nach den Definitionen der Affekte, Ziffer XXV.) aus dieſer
Erkenntnisgattung die höchſte Befriedigung, die es geben
kann. — W. z. b. w.
Achtundzwanzigſter Lehrſatz.
Das Beſtreben, oder die Begierde, die Dinge nach
der dritten Erkenntnisgattung zu erkennen, kann nicht
aus der erſten, wohl aber aus der zweiten Erkenntnis⸗
gattung entſpringen.
Beweis.
Dieſer Lehrſatz erhellt von ſelbſt. Denn was wir klar
und deutlich erkennen, das erkennen wir entweder durch es
ſelbſt, oder durch ein anderes, durch welches es begriffen
wird. Das heißt, die Ideen, welche in uns klar und
deutlich ſind, oder welche zur dritten Erkenntnisgattung
gehören, (ſ. die 2. Anmerkung zu Lehrſatz 40, Teil 2,)
können nicht aus verſtümmelten und verworrenen Ideen
folgen, welche (nach derſelben Anmerkung) zur erſten Er⸗
kenntnisgattung gehören, ſondern aus adäquaten Ideen,
oder (nach derſelben Anmerkung) aus der zweiten und
dritten Erkenntnisgattung. Somit kann (nach den Defini⸗
tionen der Affekte, Ziffer I.) die Begierde, die Dinge nach
der dritten Erkenntnisgattung zu erkennen, nicht aus der
erſten entſpringen, wohl aber aus der zweiten. — W. z. b. w.
374 Ethik. Fünfter Teil.
Neunundzwanzigſter Lehrſatz.
Alles, was der Geiſt unter dem Geſichtspunkt der
Ewigkeit erkennt, das erkennt er nicht daraus, daß er
die gegenwärtige wirkliche Exiſtenz des Körpers begreift,
ſondern daraus, daß er das Weſen des Körpers unter
dem Geſichtspunkt der Ewigkeit begreift.
Beweis.
Sofern der Geiſt die wirkliche Exiſtenz ſeines Körpers
begreift, inſofern begreift er eine Dauer, welche durch Zeit
beſtimmt werden kann, und nur inſofern hat er das Ver⸗
mögen, die Dinge mit Beziehung auf die Zeit zu begreifen
(nach Lehrſatz 21 dieſes Teils, und Lehrſatz 26, Teil 3).
Die Ewigkeit aber kann nicht durch Dauer ausgedrückt
werden (nach Definition 8, Teil 1, und ihrer Erläuterung).
Folglich hat der Geiſt inſofern die Macht nicht, die Dinge
unter dem Geſichtspunkt der Ewigkeit zu begreifen, ſondern
er hat dieſe Macht, weil es zur Natur der Vernunft ge⸗
hört, die Dinge unter dem Geſichtspunkt der Ewigkeit zu
begreifen, (nach Zuſatz Il zu Lehrſatz 44, Teil 2,) und es
zur Natur des Geiſtes auch gehört, das Weſen des Körpers
unter dem Geſichtspunkt der Ewigkeit zu begreifen, (nach
Lehrſatz 23 dieſes Teils,) und außer dieſen beiden nichts
anderes zum Weſen des Geiſtes gehört (nach Lehrſatz 13,
Teil 2). Folglich gehört dieſes Vermögen, die Dinge unter
dem Geſichtspunkt der Ewigkeit zu begreifen, zum Geiſte
nur, ſofern er das Weſen des Körpers unter dem Geſichts⸗
punkt der Ewigkeit begreift. — W. z. b. w.
Anmerkung.
Die Dinge werden von uns auf zweierlei Arten als
wirkliche begriffen: entweder, ſofern wir ſie mit Beziehung
auf eine beſtimmte Zeit und einen beſtimmten Raum exi⸗
Ethik. über d. Macht d. Erkenntnis, od. d. menſchliche Freiheit. 375
ſtierend begreifen, oder ſofern wir ſie als in Gott enthalten,
und aus der Notwendigkeit der göttlichen Natur folgend
begreifen. Die Dinge aber, die auf dieſe zweite Art als
wahr oder real begriffen werden, ſie begreifen wir unter
dem Geſichtspunkt der Ewigkeit, und ihre Ideen ſchließen
das ewige und unendliche Weſen Gottes in ſich, wie ich in
Lehrſatz 45 im Zweiten Teil bewieſen habe, deſſen An⸗
merkung man ebenfalls ſehe.
Dreißigſter Lehrſatz.
Sofern unſer Geiſt ſich und den Körper unter dem
Geſichtspunkt der Ewigkeit erkennt, inſofern hat er not⸗
wendig eine Erkenntnis Gottes, und weiß, daß er in
Gott iſt, und durch Gott begriffen wird.
Beweis.
Die Ewigkeit iſt Gottes Weſen ſelbſt, ſofern es dieſe
notwendige Exiſtenz in ſich ſchließt (nach Definition 8, Teil 1).
Die Dinge unter dem Geſichtspunkt der Ewigkeit begreifen
iſt daher, die Dinge begreifen, ſofern ſie durch das Weſen
Gottes als reale Weſen begriffen werden, oder ſofern ſie
durch das Weſen Gottes die Exiſtenz in ſich ſchließen.
Sofern daher unſer Geiſt ſich und den Körper unter dem
Geſichtspunkt der Ewigkeit begreift, inſofern hat er not⸗
wendig eine Erkenntnis Gottes, und weiß u. ſ. f. —
W. z. b. w.
Einunddreißigſter Lehrſatz.
Die dritte Erkenntnisgattung hängt vom Geiſte als
der formalen Urſache ab, ſofern der Geiſt ſelbſt ewig iſt.
376 Ethik. Fünfter Teil.
Beweis.
Der Geiſt begreift unter dem Geſichtspunkt der Ewig⸗
keit nur, ſofern er das Weſen ſeines Körpers unter dem
Geſichtspunkt der Ewigkeit begreift, (nach Lehrſatz 29 dieſes
Teils,) d. h., (nach den Lehrſätzen 21 und 23 dieſes Teils,)
ſofern er ewig iſt. Daher hat er, ſofern er ewig iſt, (nach
dem vorigen Lehrſatz,) eine Erkenntnis Gottes, welche Er⸗
kenntnis notwendig eine adäquate iſt (nach Lehrſatz 46,
Teil 2). Mithin iſt der Geiſt, ſofern er ewig iſt, befähigt,
alles das zu erkennen, was aus dieſer gegebenen Erkennt⸗
nis Gottes folgen kann, (nach Lehrſatz 40, Teil 2,) d. h.,
die Dinge nach dieſer dritten Erkenntnisgattung zu er⸗
kennen, (ſ. deren Definition in der 2. Anmerkung zu Lehr⸗
fat 40, Teil 2,) von welcher der Geiſt daher, (nach Defi⸗
nition 1, Teil 3,) fofern er ewig iſt, die adäquate oder
formale Urſache if. — W. z. b. w.
Anmerkung.
Je weiter es daher jemand in dieſer Erkenntnisgattung
gebracht hat, deſto beſſer iſt er ſeiner ſelbſt und Gottes ſich
bewußt, d. h., deſto vollkommener und glückſeliger iſt er,
was aus dem Folgenden noch klar werden wird.
Hier iſt noch zu bemerken, daß, obgleich wir jetzt Gewiß⸗
heit darüber erlangt haben, daß der Geiſt ewig iſt, ſofern
er die Dinge unter dem Geſichtspunkt der Ewigkeit begreift,
ſo werde ich ihn doch, behufs leichterer Erläuterung und
beſſeren Verſtändniſſes deſſen, was ich darthun will, ſo be⸗
trachten, als ob er erſt jetzt anfinge, zu ſein, und als ob
er erſt jetzt anfinge, die Dinge unter dem Geſichtspunkt
der Ewigkeit zu erkennen; wie ich es bisher gethan. Es
kann dies geſchehen, ohne jede Gefahr, in Irrtümer zu ge⸗
raten, wenn wir nur auf der Hut ſind, daß wir keine
andern Schlüſſe ziehen, als aus ganz klaren Prämiſſen.
Ethik. Über d. Macht d. Erkenntnis, od. d. menſchliche Freiheit. 377
Zweiunddreißigſter Lehrſatz.
Was wir nach der dritten Erkenntnisgattung erkennen,
daran erfreuen wir uns, und zwar verbunden mit der
Idee Gottes als Urſache.
Beweis.
Aus dieſer Erkenntnisgattung entſpringt die höchſte Be⸗
friedigung des Geiſtes, die es geben kann, d. h., (nach den
Definitionen der Affekte, Ziffer XXV.) die höchſte Luft, und
zwar verbunden mit der Idee ſeiner ſelbſt, (nach Lehrſatz 27
dieſes Teils,) und folglich auch, (nach Lehrſatz 30 dieſes
Teils,) verbunden mit der Idee Gottes, als Urſache. —
W. z. b. w.
Bufaß.
Aus der dritten Erkenntnisgattung entſpringt notwendig
die intellektuelle Liebe zu Gott. Denn aus dieſer
Erkenntnisgattung entſpringt (nach obigem Lehrſatz) Luft,
verbunden mit der Idee Gottes als Urſache; d. h., (nach
den Definitionen der Affekte, Ziffer VI,) Liebe zu Gott,
nicht ſofern wir ihn als gegenwärtig vorſtellen, (nach Lehr⸗
ſatz 29 dieſes Teils,) ſondern ſofern wir erkennen, daß
Gott ewig iſt. Und das iſt es, was ich intellektuelle Liebe
zu Gott nenne.
Dreiunddreißigſter Lehrſatz.
Die intellektuelle Liebe zu Gott, die aus der dritten
Erkenntnisgattung entſpringt, iſt ewig.
Beweis.
Denn die dritte Erkenntnisgattung iſt ewig (nach Lehre
ſatz 31 dieſes Teils, und Axiom III, Teil 1). Daher iſt
378 Ethik. Fünfter Teil.
(nach demſelben Axiom, Teil 1,) auch die Liebe, die aus
ihr entſpringt, notwendig ewig. — W. z. b. w.
Anmerkung.
Obgleich dieſe Liebe zu Gott keinen Anfang gehabt hat,
(nach obigem Lehrſatz,) ſo hat ſie doch alle Vollkommen⸗
heiten der Liebe, ganz ſo, als ob ſie ſo entſtanden wäre,
wie ich im Zuſatz zum vorigen Lehrſatz fingiert habe. Denn
es iſt hier kein Unterſchied, außer daß der Geiſt dieſelben
Vollkommenheiten, von denen wir dort fingierten, daß ſie
ihm erſt jetzt zu teil wurden, als ewige gehabt hat, und
zwar verbunden mit der Idee Gottes als ewige Urſache.
Wenn die Luſt im Übergang zu größerer Vollkommen⸗
heit beſteht, ſo muß doch gewiß die Glückſeligkeit darin
beſtehen, daß der Geiſt mit der Vollkommenheit ſelbſt be⸗
gabt iſt.
Vierunddreißigſter Lehrſatz.
Der Geiſt iſt nur, ſolange der Körper dauert, den
Affekten unterworfen, die zu den Leiden gehören.
Beweis.
Die Vorſtellung iſt eine Idee, vermöge welcher der Geiſt
irgend ein Ding als gegenwärtig betrachtet (ſ. deren Defi⸗
nition in der Anmerkung zu Lehrſatz 17, Teil 2); die aber
mehr den gegenwärtigen Zuſtand des menſchlichen Körpers,
als die Natur der äußern Urſache anzeigt (nach Zuſatz II
zu Lehrſatz 16, Teil 2). Ein Affekt iſt alſo (nach der all⸗
gemeinen Definition 5 Affekte) eine Vorſtellung, ſofern ſie
den gegenwärtigen Zuſtand des Körpers anzeigt. Daher
iſt der Geiſt (nach Lehrſatz 21 dieſes Teils) nur, ſolange
der Körper dauert, den Affekten unterworfen, die zu den
Leiden gehören. — W. z. b. w
Ethik. Über d. Macht d. Erkenntnis, od. d. menſchliche Freiheit. 379
ZJuſah.
Hieraus folgt, daß keine andere Liebe ewig iſt, als die
intellektuelle Liebe.
Anmerkung.
Wenn wir auf die gemeine Meinung der Menſchen
achten, ſo ſehen wir, daß ſie zwar der Ewigkeit ihres Geiſtes
ſich bewußt ſind, dieſelbe aber mit der Dauer vermengen,
und ſie der Vorſtellung oder der Erinnerung beilegen,
welche nach ihrem Glauben nach dem Tode fortdauert.
Fünfunddreißigſter Lehrſatz.
Gott liebt ſich ſelbſt mit unendlicher intellektueller Liebe.
Beweis.
Gott iſt abſolut unendlich, (nach Definition 6, Teil 1,)
d. h., (nach Definition 6, Teil 2.) die Natur Gottes er=
freut ſich einer unendlichen Vollkommenheit, und zwar,
(nach Lehrſatz 3, Teil 2,) verbunden mit der Idee feiner
ſelbſt, d. h., (nach Lehrſatz 11, und Definiton 1, Teil 1,
mit der Idee ſeiner Urſache. Das aber iſt es, was ich im
Zuſatz zu Lehrſatz 32 dieſes Teils als intellektuelle Liebe
bezeichnet habe.
Sechsunddreißigſter Lehrſatz.
Die intellektuelle Liebe des Geiſtes zu Gott iſt eben
die Liebe Gottes, womit Gott ſich ſelbſt liebt, nicht ſofern
er unendlich iſt, ſondern fofern er durch das Weſen des
menſchlichen Geiſtes, unter dem Geſichtspunkt der Ewig⸗
keit betrachtet, ausgedrückt werden kann. Das heißt, die
intellektuelle Liebe des Geiſtes zu Gott iſt ein Teil der
unendlichen Liebe, womit Gott ſich ſelbſt liebt.
380 Ethik. Fünfter Teil.
Beweis.
Dieſe Liebe des Geiſtes muß zu den Handlungen des
Geiſtes gerechnet werden (nach Zuſatz zu Lehrſatz 32 dieſes
Teils, und nach Lehrſatz 3, Teil 3). Sie iſt daher eine
Handlung, womit der Geiſt ſich ſelbſt betrachtet, verbunden
mit der Idee Gottes als Urſache, (nach Lehrſatz 32 dieſes
Teils und ſeinem Zuſatz,) d. h., (nach Zuſatz zu Lehr⸗
ſatz 25, Teil 1, und Zuſatz zu Lehrſatz 11, Teil 2,) eine
Handlung, womit Gott, fofern er durch den menſchlichen
Geiſt ausgedrückt werden kann, ſich ſelbſt betrachtet, ver⸗
bunden mit der Idee ſeiner ſelbſt. Mithin iſt (nach dem
vorigen Lehrſatz) dieſe Liebe des Geiſtes ein Teil der unend⸗
lichen Liebe, womit Gott ſich ſelbſt liebt. — W. z. b. w.
Zuſag.
Hieraus folgt, daß Gott, ſofern er ſich ſelbſt liebt, die
Menſchen liebt, und folglich, daß die Liebe Gottes zu den
Menſchen, und die intellektuelle Liebe des Geiſtes zu Gott,
eins und dasſelbe ſind.
Anmerkung.
Hieraus erkennen wir deutlich, worin unſer Heil, oder
unſere Glückſeligkeit, oder Freiheit beſteht. Sie beſteht
nämlich in der beſtändigen und ewigen Liebe zu
Gott, oder in der Liebe Gottes zu den Menſchen.
Und dieſe Liebe oder Glückſeligkeit wird in den heiligen
Schriften Ehre genannt,“) und nicht mit Unrecht. Denn
mag dieſe Liebe auf Gott, mag ſie auf den Geiſt bezogen
werden, ſo kann ſie ganz richtig Zufriedenheit der Seele,
*) Spinoza hat hier meines Erachtens das in der Litteratur des
Alten Teſtaments als Attribut Gottes ſo häufig und in ſo mannig⸗
fachen Beziehungen wiederkehreude Wort chabod (713>) im Auge,
welches gewöhnlich Ehre (oder Ruhm) bedeutet.
Anmerkung d. Überſetzers.
Ethik. Über d. Macht d. Erkenntnis, od. d. menſchliche Freiheit. 381
die ſich von der Ehre (nach den Definitionen der Affekte,
Ziffern XXV und XXX) nicht unterſcheidet, genannt
werden. Denn ſofern ſie auf Gott bezogen wird, iſt ſie
(nach Lehrſatz 35 dieſes Teils) Luſt, — man geſtatte vor⸗
läufig noch dieſen Ausdruck, — verbunden mit der Idee
ſeiner ſelbſt, ebenſo wie ſie Luſt iſt, ſofern ſie auf den
Menſchen bezogen wird (nach Lehrſatz 27 dieſes Teils).
Weil ſodann das Weſen unſeres Geiſtes in der Er⸗
kenntnis allein beſteht, deren Prinzip und Fundament Gott
iſt, (nach Lehrſatz 15, Teil 1, und Anmerkung zu Lehr⸗
fat 47, Teil 2,) fo wird uns damit klar, auf welche Weiſe
und in welcher Hinſicht unſer Geiſt, nach ſeinem Weſen
und ſeiner Exiſtenz, aus der Natur Gottes folgt, und fort-
während von Gott abhängt.
Ich hielt dies hier für erwähnenswert, um an dieſem
Beiſpiel zu zeigen, welch hohen Wert die Erkenntnis der
Einzeldinge hat, welche ich die intuitive, oder Erkenntnis
dritter Gattung genannt habe, (ſ. 2. Anmerkung zu Lehr⸗
ſatz 40, Teil 2,) und wie viel mehr fie vermag, als die
allgemeine Erkenntnis, die ich als Erkenntnis zweiter
Gattung bezeichnet habe. Denn obgleich ich im Erſten Teil
im allgemeinen gezeigt habe, daß alles, (und folglich auch
der menſchliche Geift,) nach Weſen und Exiſtenz von Gott
abhängt, fo macht jener Beweis, obſchon er regelrecht ges
führt iſt, und jeden Zweifel abſchneidet, doch keinen ſolchen
Eindruck auf unſern Geiſt, als die Folgerung dieſes Satzes
aus dem Weſen ſelbſt jedes Einzeldinges, von dem ich ſage,
daß es von Gott abhängt.
Siebenunddreißigſter Lehrſatz.
Es giebt in der Natur nichts, was dieſer intellek⸗
tuellen Liebe entgegengeſetzt wäre, oder ſie aufheben
könnte.
382 Ethik. Fünfter Teil.
Beweis.
Dieſe intellekruelle Liebe folgt notwendig aus der Natur
des Geiſtes, ſofern dieſer als ewige Wahrheit durch die
Natur Gottes betrachtet wird (nach den Lehrſätzen 29 und
33 dieſes Teils). Gäbe es alſo etwas, was dieſer Liebe
entgegengeſetzt wäre, ſo wäre es dem Wahren entgegen⸗
geſetzt, und demnach würde das, was dieſe Liebe aufheben
könnte, bewirken, daß das, was wahr iſt, falſch ſein würde;
was (wie ſelbſtverſtändlich) widerſinnig iſt. Folglich giebt
es in der Natur nichts u. ſ. f. — W. z. b. w.
Anmerkung. 8
Das Axiom des Vierten Teils bezieht ſich auf die Einzel⸗
dinge, ſofern ſie in ihrer Beziehung auf eine beſtimmte Zeit
und einen beſtimmten Raum betrachtet werden; was wohl
niemand bezweifeln wird.
Achtunddreißigſter Lehrſatz.
Je mehr Dinge der Geiſt nach der zweiten und dritten
Erkenntnisgattung erkennt, deſtoweniger leidet er von den
Affekten, welche ſchlecht ſind, und deſtoweniger fürchtet
er den Tod.
Beweis.
Das Weſen des Geiſtes beſteht in der Erkenntnis (nach
Lehrſatz 11, Teil 2). Je mehr Dinge alſo der Geiſt nach
der zweiten und dritten Erkenntnisgattung erkennt, ein um
ſo größerer Teil von ihm dauert fort, (nach den Lehr⸗
ſätzen 29 und 23 dieſes Teils,) und folglich bleibt (nach
dem vorigen Lehrſatz) ein um ſo größerer Teil von ihm
von den Affekten unberührt, welche unſerer Natur entgegen⸗
geſetzt find, d. h., (nach Lehrſatz 30, Teil 4,) welche Leiden
ſind. Je mehr Dinge daher der Geiſt nach der zweiten
Ethik. Über d. Macht d. Erkenntnis, od. d. menſchliche Freiheit. 383
und dritten Erkenntnisgattung erkennt, ein um ſo größerer
Teil von ihm bleibt unverletzt, und folglich leidet er weniger
von den Affekten u. ſ. f. — W. z. b. w.
Anmerkung.
Damit verſtehen wir das, was ich in der Anmerkung
zu Lehrſatz 39 im Vierten Teil berührt, und in dieſem Teil
zu entwickeln verſprochen habe, daß nämlich der Tod um ſo
weniger ſchädlich iſt, je größer die klare und deutliche Er⸗
kenntnis des Geiſtes iſt, und dem entſprechend, je mehr der
Geiſt Gott liebt.
Weil ferner (nach Lehrſatz 27 dieſes Teils) aus der
dritten Erkenntnisgattung die höchſte Befriedigung ent-
ſpringt, die es geben kann, ſo folgt, daß der menſchliche
Geiſt von ſolcher Natur ſein kann, daß das, woran ich
gezeigt habe, daß es mit dem Körper untergeht, (ſ. Lehr⸗
fat 21 dieſes Teils,) im Verhältnis zu dem, was von ihm
fortdauert, von keiner Erheblichkeit iſt. Doch hiervon
ſogleich ausführlicher.
Neununddreißigſter Lehrſatz.
Wer einen Körper hat, der zu ſehr vielen Dingen
befähigt iſt, der hat einen Geiſt, deſſen größter Teil
ewig iſt.
Beweis.
Wer einen zu ſehr vielen Thätigkeiten befähigten Körper
hat, der wird am wenigſten von Affekten beſtürmt, welche
ſchlecht find, (nach Lehrſatz 38, Teil 4,) d. h., (nach Lehr⸗
ſatz 30, Teil 4,) von Affekten, welche unſerer Natur ent⸗
gegengeſetzt ſind. Er hat deshalb (nach Lehrſatz 10 dieſes
Teils) das Vermögen, die Körpererregungen, ihrer Ord-
nung dem Verſtande gemäß, zu ordnen und zu verketten, und
folglich auch, zu bewirken, (nach Lehrſatz 14 dieſes Teils,)
384 Ethik. Fünfter Teil.
daß alle Körpererregungen auf die Idee Gottes bezogen
werden. Das hat die Wirkung, (nach Lehrſatz 15 dieſes
Teils,) daß er von Liebe zu Gott erregt wird, welche (nach
Lehrſatz 16 dieſes Teils) den größten Teil des Geiſtes ein⸗
nehmen oder ausmachen muß. Folglich hat er (nach Lehr⸗
ſatz 33 dieſes Teils) einen Geiſt, deſſen größter Teil ewig
if. — W. z. b. w.
Anmerkung.
Weil die menſchlichen Körper zu ſehr vielem befähigt
ſind, ſo unterliegt es keinem Zweifel, daß ſie von ſolcher
Natur ſein können, daß ſie zu Geiſtern gehören, welche von
ſich und von Gott eine große Erkenntnis haben, und deren.
größter oder hauptſächlichſter Teil ewig iſt, und zwar der⸗
maßen, daß ſie den Tod kaum fürchten.
Damit aber dies klarer verſtanden werde, muß hier
darauf aufmerkſam gemacht werden, daß wir in beſtändiger
Veränderung leben, und daß wir, je nachdem wir uns
zum beſſeren oder ſchlechteren verwandeln, glücklich oder
unglücklich heißen. Denn wenn ein Kind, oder ein Knabe,
eine Leiche wird, ſo heißt das unglücklich; umgekehrt wird
es zum Glück gerechnet, wenn wir unſere ganze Lebenszeit
mit geſundem Geiſt in geſundem Körper verleben konnten.
Und wirklich, wer wie ein Kind, oder ein Knabe, einen zu
ſehr wenigem befähigten, und meiſtens von äußern Urſachen
abhängigen Körper hat, der hat einen Geiſt, welcher, für
ſich allein betrachtet, faſt gar kein Bewußtſein von ſich, noch
von Gott, oder von den Dingen hat. Umgekehrt, wer
einen zu ſehr vielem befähigten Körper hat, der hat einen
Geiſt, welcher, für ſich allein betrachtet, viel Bewußtſein von
ſich, wie von Gott, und von den Dingen hat. In dieſem
Leben alſo ſtreben wir vor allem dahin, daß ſich der Körper
des Kindes, ſoweit es ſeine Natur zuläßt, und ſoweit es
ihm zuträglich iſt, in einen andern verwandle, der zu ſehr
vielem befähigt iſt, und der zu einem Geiſt gehört, der ſehr
Ethik. Über d. Macht d. Erkenntnis, od. d. menſchliche Freiheit. 385
viel Bewußtſein von ſich, von Gott, und von den Dingen
hat; und zwar ſo, daß alles, was zu ſeiner Erinnerung,
oder ſeiner Vorſtellung gehört, im Verhältnis zur Erkennt⸗
nis, kaum von Erheblichkeit iſt, wie ich in der Anmerkung
zum vorigen Lehrſatz bereits geſagt habe.
Vierzigſter Lehrſatz.
Je mehr Vollkommenheit ein Ding hat, deſto mehr
thätig, und deſtoweniger leidend iſt es, und umgekehrt,
je mehr ein Ding thätig iſt, deſto vollkommener iſt es.
Beweis.
Je vollkommener ein Ding iſt, deſto mehr Realität
hat es, (nach Definition 6, Teil 2,) und folglich (nach
Lehrſatz 3, Teil 3, mit ſeiner Anmerkung,) iſt es umſo⸗
mehr thätig, und umſoweniger leidend. Dieſer Beweis
wird in umgekehrter Ordnung auf gleiche Weiſe geführt,
woraus folgt, daß umgekehrt ein Ding um ſo vollkom⸗
mener iſt, je mehr es thätig iſt. — W. z. b. w.
ZJuſatz.
Hieraus folgt, daß derjenige Teil des Geiſtes, welcher
fortdauert, von welcher Größe er auch fein mag, voll-
kommener iſt, als der übrige. Denn der ewige Teil des
Geiſtes iſt (nach den Lehrſätzen 23 und 29 dieſes Teils)
die Erkenntnis, vermöge welcher allein wir thätig heißen
(nach Lehrſatz 3, Teil 3). Jener aber, von dem ich gezeigt
habe, daß er untergeht, iſt eben die Vorſtellung, (nach Lehr⸗
ſatz 21 dieſes Teils,) vermöge welcher wir allein leidend
heißen (nach Lehrſatz 3, Teil 3, und der allgemeinen Defi⸗
nition der Affekte). Demnach iſt (nach obigem Lehrſatz)
jener Teil, von welcher Größe er auch fein mag, voll
kommener als dieſer. — W. z. b. w.
25
386 Ethik. Fünfter Teil.
Anmerkung.
Das iſt es, was ich vom Geiſt, ſofern er ohne Beziehung
auf die Exiſtenz des Körpers betrachtet wird, zu zeigen mir
vorgenommen hatte. Hieraus, zuſammengenommen mit
Lehrſatz 21 im Erſten Teil, und andern Sätzen, erhellt,
daß unſer Geiſt, ſofern er erkennt, eine ewige Daſeinsform
des Denkens iſt, der von einer andern ewigen Daſeinsform
des Denkens beſtimmt wird, und dieſer wieder von einer
andern, und ſo ins Unendliche; ſodaß alle zuſammen den
ewigen und unendlichen Verſtand Gottes ausmachen. 8
Einundvierzigſter Lehrſatz.
Wenn wir auch nicht wüßten, daß unſer Geiſt ewig
iſt, ſo würden wir doch die Frömmigkeit und die Religion,
und überhaupt alles, was, wie im Vierten Teil gezeigt
wurde, zur Seelenſtärke und zur Großmut gehört, für
das Wichtigſte halten.
Beweis.
Die erſte und einzige Grundlage der Tugend, oder der
richtigen Lebensweiſe, iſt, (nach Zuſatz zu Lehrſatz 22, und
nach Lehrſatz 24, Teil 4.) feinen Nutzen ſuchen. Um aber
das zu beſtimmen, was die Vernunft als nützlich vorſchreibt,
haben wir auf die Ewigkeit des Geiſtes, die wir erſt in
dieſem Teile kennen gelernt haben, keinen Bezug genommen.
Obgleich wir alſo dort noch nicht gewußt haben, daß der
Geiſt ewig ift, haben wir doch das als das Wichtigſte ge⸗
ſchätzt, was nach unſerer Ausführung zur Seelenſtärke und
zur Großmut gehört. Wenn wir alſo dieſelbe auch jetzt
nicht wüßten, ſo würden wir doch die Vorſchriften der Ver⸗
nunft für das Wichtigſte halten. — W. z. b. w.
Ethik. Über d. Macht d. Erkenntnis, od. d. menſchliche Freiheit. 387
Anmerkung.
Die gewöhnliche Anſicht der Menge ſcheint eine andere
zu ſein. Denn die meiſten ſcheinen zu glauben, daß ſie
inſofern frei ſeien, ſofern ſie ihren Lüſten fröhnen dürfen,
und daß ſie inſofern ihr Recht vergeben, ſofern ſie ver⸗
pflichtet ſind, nach der Vorſchrift des göttlichen Geſetzes zu
leben. Frömmigkeit alſo, und Religion, wie überhaupt
alles, was zur Geiſteskraft gehört, halten ſie für Laſten,
und ſie hoffen, nach dem Tode dieſelben abzuwerfen, und
den Lohn für ihre Knechtſchaft, nämlich Frömmigkeit und
Religion, zu empfangen. — Aber nicht durch dieſe Hoff-
nung allein, ſondern auch und hauptſächlich durch die Furcht,
nach dem Tode mit ſchrecklichen Martern beſtraft zu werden,
laſſen ſie ſich bewegen, nach der Vorſchrift des göttlichen
Geſetzes zu leben, ſoweit es ihre Schwächlichkeit und ihr
unvermögender Geiſt erlaubt.
Würde dieſe Hoffnung und dieſe Furcht den Menſchen
nicht innewohnen, würden ſie vielmehr glauben, daß der
Geiſt mit dem Körper vergehe, und daß den Unglücklichen,
die von der Laſt der Frömmigkeit ganz erſchöpft ſind, kein
anderes Leben bevorſtehe, ſo würden ſie zu ihrer natürlichen
Sinnesweiſe zurückkehren, und es vorziehen, alles nach
ihren Lüſten zu regeln, und dem Ungefähr mehr als ſich
ſelbſt zu gehorchen.
Mir kommt dies nicht minder widerſinnig vor, als
wenn jemand deshalb, weil er weiß, daß er ſeinen Leib
nicht für alle Ewigkeit mit guten Nahrungsmitteln erhalten
kann, ſich lieber mit Giften und tödlichen Stoffen ſättigen
wollte; oder weil er ſieht, daß der Geiſt nicht ewig und
unſterblich iſt, lieber aberwitzig ſein, und ohne Vernunft
leben will. Dies ist fo widerſinnig, daß es kaum einer
Erwähnung bedarf.
25 *
388 Ethik. Fünfter Teil.
Zweiundvierzigſter Lehrſatz.
Die Glückſeligkeit iſt nicht der Lohn der Tugend,
ſondern die Tugend ſelbſt; und wir erfreuen uns der⸗
ſelben nicht, weil wir die Lüſte einſchränken, ſondern
umgekehrt, weil wir uns derſelben erfreuen, können wir
die Lüſte einſchränken.
Beweis.
Die Glückſeligkeit beſteht in der Liebe zu Gott (nach
Lehrſatz 36 dieſes Teils und ſeiner Anmerkung). Dieſe
Liebe entſpringt aus der dritten Erkenntnisgattung (nach
Zuſatz zu Lehrſatz 32 dieſes Teils). Daher muß dieſe
Liebe (nach den Lehrſätzen 59 und 3, Teil 3,) auf den Geiſt,
ſofern er thätig iſt, ſich beziehen. Mithin iſt ſie (nach
Definition 8, Teil 4.) die Tugend ſelbſt. — Damit iſt das
erſte bewieſen. — Je mehr ſodann der Geiſt dieſer gött⸗
lichen Liebe, oder Glückſeligkeit, ſich erfreut, deſto mehr er⸗
kennt er, (nach Lehrſatz 32 dieſes Teils,) d. h., (nach Zuſatz
zu Lehrſatz 3 dieſes Teils,) eine um ſo größere Macht hat
er über die Affekte, und (nach Lehrſatz 38 dieſes Teils)
deſto weniger leidet er von den Affekten, welche ſchlecht ſind.
Dadurch alſo, daß der Geiſt dieſer göttlichen Liebe, oder
Glückſeligkeit, ſich erfreut, hat er die Macht, die Begierden
einzuſchränken. Und weil das menſchliche Vermögen, die
Affekte einzuſchränken, in der Erkenntnis allein beſteht,
darum erfreut ſich niemand der Glückſeligkeit, weil er die
Affekte eingeſchränkt hat, ſondern umgekehrt entſpringt die
Macht, die Affekte einzuſchränken, aus der Glückſeligkeit
ſelbſt. — W. z. b. w.
s Anmerkung.
Damit habe ich alles erledigt, was ich von der Macht
des Geiſtes über die Affekte, und von der Freiheit des
Geiſtes, darthun wollte. Es erhellt daraus, wie ſehr der
#
Ethik. über d. Macht d. Erkenntnis, od. d. menſchliche Freiheit. 389
Weiſe dem Unwiſſenden überlegen iſt, und wie viel er an
Macht voraus hat vor dieſem, der nur von den Lüften
getrieben wird. Denn außerdem, daß der Unwiſſende von
äußern Urſachen auf vielfache Weiſen gehetzt wird, und
nicht im Beſitze der wahren Befriedigung der Seele iſt,
lebt er überdies gleichſam ohne Bewußtſein ſeiner ſelbſt,
Gottes und der Dinge, und ſobald er aufhört, zu leiden,
hört er auf, zu ſein. Der Weiſe dagegen, ſofern er als
ſolcher betrachtet wird, wird in der Seele kaum beunruhigt,
ſondern, ſeiner ſelbſt, Gottes und der Dinge mit einer ge⸗
wiſſen ewigen Notwendigkeit bewußt, hört er niemals auf,
zu ſein, und iſt immer im Beſitze der wahren Befriedigung
der Seele.
Wenn nun auch der von mir gezeigte Weg, welcher
dahin führt, ſehr ſchwierig ſcheint, ſo kann er doch gefunden
werden. Und allerdings muß eine Sache ſchwierig ſein,
die ſo ſelten angetroffen wird. Denn wenn das Heil ſo
bequem wäre, und ohne große Mühe gefunden werden
könnte, wie wäre es dann möglich, daß es faſt von jeder⸗
mann vernachläſſigt wird?
Alles Erhabene aber iſt ebenſo ſchwierig, wie ſelten.
Ends.
Führer durch Spinozas Ethik.
Die Zahlen beziehen ſich auf die Seiten.
A.
Aberglaube 208. 343.
Abneigung (Antipathie) 170. 229.
Abſcheu 211.
adäquate Ideen, ſ. Idee.
adäquate Urſache, ſ. Urſache
Affekte.
Allgemeines 149—151.
Allgemeine Definition 151. 245.
Hauptaffekte 166. 245.
Beſondere Urſachen der Affekte
169—171. 182. 213 f.
Verſchiedene Arten 217.221. 253.
Individuelle Verſchiedenheit
208 f. 219f.
In Bezug auf Gegenwart, Ver⸗
gangenheit und Zukunft (f.
auch Stärke und Schwäche)
188. 262 — 267.
Stärke und Schwäche 188. 262—
267. 354—357. 367.
gute und ſchlechte Affekte 297 ff.
Affekte der Thätigkeit 221—223.
Macht der Affekte 259 f.
Einſchränkung und Aufhebung
der Affekte 260. 350 f. 382 f.
Macht des Menſchen über die
Affekte 345 ff. 351—355. 358.
366—368 388.
Antipathie, ſ. Abneigung.
Argliſt 330.
Armenfürſorge 338.
Attribut 21. 30 f. 50 f. 80.
Aufrichtigkeit 330.
Ausdehnung 80. 142.
B.
Barmherzigkeit (ſ. auch Mitgefühl
und Mitleid) 234.
Befriedigung 372 f. 389.
Begehren, ſ. Begierde und Wille.
Begierde (ſ. auch Affekte).
Allgemeines 164. 225. 333 f.
Stärke 188. 194. 270.
Übermaß 299. 319.
vernunftgemäße Begierde 319.
322. 334. 353. 366.
Einſchränkung und Aufhebung
267-269.
Begriffe.
Gattungsbegriffe 126.
Gemeinbegriffe 123—125.
transcendentale Begriffe 125.
Beharren — der Exiſtenz 162—
164.
gerubigung = Gemüts, ſ. Gleich⸗
mut.
Beſtreben, ſ. Begierde und Streben.
Beſtürzung 198. 211. 242.
Bewunderung 211. 227.
Bilder der Dinge 105 f. 141 f.
Billigkeit 337.
Bürgerlicher Zuſtand 292 f.
C.
Cauſalität, ſ. Urſache.
Führer durch Spinozas Ethik.
D.
Dank, Dankbarkeit 200. 241. 239 f.
Daſeinsform, ſ. Einzelding und
Modus.
Dauer 78.
Definition 29.
Demut (ſ. auch Kleinmut) 238. 339.
Denken (ſ. auch Erkenntnis, Geiſt,
Idee, Vernunft, Verſtand,) 58.
80. 142. 386.
Determinismus, ſ. Wille.
E.
Eckel 224.
Edelmut 222 f. 336. 386.
Ehe 339.
ehrbar, Ehrbarkeit 291, 337.
Ehre 187. 191. 238. 314. 380 f.
Ehrgefühl 198.
Ehrgeiz 186. 189. 218. 243. 3 40. 360.
Eiferſucht 192.
Einſamkeit (ſ. auch Menſch) 287.
331
Eintracht 297. 337 ff.
Einzeldinge 54. 78 f. 119. 122.
134 f. 161. 254. 280.
endlich 21.
entgegengeſetzt 161. 349.
Entrüftung 178. 233. 308. 332. 339.
Ergebenheit 211. 230.
Erinnerung, ſ. Gedächtnis.
Erkenntnis.
Verſchiedene Gattungen 128. 368.
371—378. 381—383.
Erkenntnis und Vorſtellung 42.
74. 105. 141 f. 255 f.
re der äußern Körper
113 f.
Selbſterkenntnis des Geiſtes
111 f.
Erkenntnis Gottes 135 f. 147.
279. 334. 371 f. 375.
Erkenntnis des Guten und
Schlechten 267.
Erkenntnis der Affekte (ſ. auch
Affekte) 351 ff. 363.
Erkenntnis der Notwendigkeit
147 f. 306. 332. 354 f.
391
Erkenntnis unter dem Geſichts⸗
punkt der Ewigkeit 134. 374f.
Erkenntnis iſt das höchſte Gut
278. 334.
Hinderniſſe der wahren Erkennt⸗
nis 332.
Erziehung 215.
Erziehung der Menſchen 322. 336 f.
340.
Ewigkeit 22.
Exiſtenz und Weſen 21. 23. 47.
49. 52.
F.
falſch, ſ. wahr.
Fanatismus, ſ. Intoleranz.
Feindesliebe 303.
Fehler, ſ. Laſter.
Flucht 328.
Form, ſ. Modus.
Fortdauer des Geiſtes, ſ. Geiſt.
frei 22.
freie Menſchen, ſ. Menſch.
Freigebigkeit 338.
Freiheit des Willens, ſ. Wille.
Freude 174. 232. 304.
Freundſchaft 328. 336 f.
Frömmigkeit 147. 291. 337. 340.
386 f.
Furcht 174. 231. 304. 310. 360.
Furchtſamkeit 209.
G.
Gattungsbegriffe, ſ. Begriffe.
Gedächtnis 107.
Gefahren 327.
Gefühle, ſ. Affekte.
Geiſt (ſ. auch Denken, Erkenntnis,
Idee, Vernunft, Verſtand).
Allgemein 90—94.
Menſchlicher Geiſt 94. 101—108.
386.
Geiſt und Körper 93. 108. 154.
165. 378. 383—385.
Veränderlichkeit des Geiſtes 165.
thätig und leidend 153 f.
Vervollkommnung des Geiſtes
334.
392
Befriedigung d.Geiftes 372f. 389.
Fortdauer des Geiſtes 369—3 71.
382 f. 385—387.
Geiſteskraft 222. 332.
Geiſtesgegenwart 223.
8 90 (ſ. 2 Habſucht) 244.
eld 3
Gemeinbegriffe, ſ. Begriffe.
Gemütsbewegungen, ſ. Affekte.
Genügſamkeit (ſ. auch Zufrieden⸗
heit) 148.
gerecht, Gerechtigkeit 294. 397.
Geringſchätzung 212.
Geſellſchaft, ſ. Einſamkeit und
Menſch.
Gewinnung der Herzen 336 ff. 340.
Gewiſſensbiß 174 f. 232. 304.
gezwungen, ſ. frei.
Gleichmut 147. 343.
Glück 147. 272. 334. 384.
Glückſeligkeit 147. 334. 376. 378.
380. 388.
Gott (ſ. auch Subſtanz).
Definition 21 f.
Exiſtenz Gottes 32. 49.
Ewigkeit Gottes 48.
Unveränderlichkeit Gottes 49.
Gott iſt einzig 36.
Gott iſt frei 44 f. 60.
Macht Gottes 45 f. 65. 81.
Gott iſt die Urſache aller Dinge
37. 44. 53. 56.
Verſtand und Wille Gottes
46—48. 60. 386.
Idee in Gott 81 f. 91. 369 f.
Körperlichkeit 38—43.
Gott iſt ohne Affekte 364.
Gott liebt ſich ſelbſt 379 f.
Grauſamkeit 201. 241.
Gunſt 178. 233. 307.
Gut, höchſtes 279. 288. 366.
gut und ſchlecht 72. 197. 251 —
253. 279—282. 294— 298. 333
bis 344.
H.
Habſucht (ſ.auch il 244.360.
häßlich, ſ. ſchön
Führer durch Spinozas Ethik.
handeln, Handlung, ſ. thätig.
Haß (ſ. auch Affekte und Begierde).
Definition 168. 229.
Natur des Haſſes 176. 178 f.
181. 188. 195 f.
Urſachen 168. 177. 179. 191.
198 f. 203 f.
Stärke 202. 206.
Aufhebung und Verwandlung in
Liebe 202. 206. 332. 336. 359.
Haß iſt ſchlecht 301.
Nichts iſt haſſenswert 148. 306.
332.
Heuchelei 339.
Hochachtung 211.
Hochmut 181. 236. 311—313. 332
339.
Hoffnung 174. 230. 304. 310.
J.
Idee (ſ. auch Denken, Erkenntnis,
Geiſt).
Definition 77.
Idee und Vorſtellung 42. 74.
105. 141 f. 255 f.
Ideen der Körpererregungen
108.
Ideen der äußern Körper 103.
Ordnung und Verknüpfung der
Ideen 84 f. 350.
adäquate und inadäquate Ideen
78. 91. 112— 124. 135 f. 323.
333.
Idee in Gott, ſ. Gott.
inadäquate Idee, ſ. Idee.
inadäquate Urſache, ſ. Urſache.
Individuum 97f.
Intoleranz und Toleranz 189. 290.
336 f.
intuitive Erkenntnis (ſ. auch Er⸗
kenntnis, Verſchiedene Gat⸗
tungen) 128 f. 334.
Irrtum (ſ. auch wahr und falſch)
105 f. 120 f. 137.
Führer durch Spinozas Ethik.
K.
Keuſchheit 218. 244.
Klaſſenhaß und ⸗liebe 204.
Kleinmut (ſ. auch Demut) 237.
311. 312. 313. 339.
Knechtsſeligkeit 339.
Körper.
Definition 77.
Erregbarkeit auf verſchiedene
Weiſen 152.
Veränderlichkeit 152.
Geſetze über Körper 94—101.
Körper und Geiſt, ſ. Geiſt.
Kühnheit 209. 242.
Kummer 368.
L.
Lachen 301.
Laſter 149—151. 314.
Lebensgenuß 302.
Lebensregeln 358 f.
Leib, ſ. Körper.
leiden und handeln, Leiden und
Thätigkeit (ſ. auch Affekte) 151.
153 f. 160. 257. 333.
Leidenſchaft 300.
Leutſeligkeit (ſ. auch Menſchen⸗
freundlichkeit) 223. 243 f. 340.
Liebe (ſ. auch Affekte und Begierde).
Definition 168. 228.
Natur der Liebe 175—177. 180.
188. 190 f. 196 f.
Urſachen 168. 177. 179. 200 f.
204.
Stärke 202. 206.
Übermaß 299.
Aufhebung 206.
Liebe zu Gott 363 — 366. 368. 377
bis 383.
Liebe zu den Menſchen, ſ. Men⸗
ſchenliebe und Wohlwollen.
Liebe, ſinnliche, ſ. Lüſternheit.
Lob 186.
Lohn der Tugend 388.
Lüſternheit 218. 244. 338.
Luſt (ſ. auch Affekte) 165. 226.
297. 343.
393
M.
Mäßigkeit 218. 223. 244.
Maximen, ſ. Lebensregeln.
Meinungsverſchiedenheit 74. 137.
Menſch.
Weſen des Menſchen 88.
Abhängigkeit des Menſchen und
Beſchränktheit ſeiner Macht
(ſ. auch Affekte) 257 f. 272.
334 f. 343.
Natur des Menſchen 215.
Streben des Menſchen, ſ. Streben.
Veränderlichkeit und Unbeſtän⸗
digkeit 283. 336. 384.
Nützlichkeit des einmütigen Zu⸗
ſammenlebens und gemein⸗
ſamen Strebens der Menſchen
272 f. 287 f. 297. 331. 336 f.
Disharmonie und Harmonie
unter den Menſchen 283—
287. 335 f.
Der vernünftige Menſch iſt der
Geſellſchaft am nützlichſten
286. 335 f.
Der freie Menſch 325—332. 361.
380. 387.
Menſchenfreundlichkeit (ſ. auch
Leutſeligkeit) 148.186.243.336.
Menſchenliebe 147 f. 289. 336.
Milde 223. 241.
Mißbehagen 165. 298.
ee (ſ. auch Neid) 180. 234.
Mitgefühl 178. 233 f.
Mitleid 148. 178. 182 f. 189 f. 233.
305—307. 338.
Modifikation, ſ. Modus.
Modus, Mz. Modi (ſ. auch Einzel⸗
ding) 21. 28. 52. 83.
möglich 253.
N.
Nachahmung 190. 240.
Nationalhaß und ⸗liebe 104.
Natur, ſ. Gott und Subſtanz.
Natur, 1 und geſchaffene
57
394
Naturrecht, Naturzuſtand 292 f.
en , gl Mißgunſt) 148. 189.
Niedergeſchlagenzeit 214. 235. 309.
notwendig 22. 61.
Nüchternheit 218. 223. 244.
nützlich, ſ. gut und ſchlecht.
O.
Ordnung und Verkettung
der Ideen, ſ. Idee.
der Körpererregungen 350. 358 f.
Ordnung und Verwirrung 72.
P.
Pflege des Leibes 341 f.
R.
Rachſucht 200. 241. 301. 303.
Realität 78.
Recht, natürliches und bürgerliches
292 f. 335.
Regierung 148. 336.
Religion 290. 332. 337. 386 f.
Reue 210. 235. 310.
Ruf, ſ. Ruhm.
Ruhm (ſ. auch Ehre) 315.
S.
Schadenfreude 180.
ſchädlich, ſ. gut und ſchlecht.
ſchändlich (ſ. auch unehrbar) 291.
Scham 187. 238 f. 315. 339.
Scherz 301.
Scheu 197. 242.
Schickſal 147.
ſchlecht, ſ. gut.
Schmeichelei 312. 339.
Schmerz 165. 298.
ſchön und häßlich 73.
Schwanken des Gemüts 172.
Schwelgerei 218. 243.
Seele 346 ff.
Seelenſtärke 222 f. 386.
Führer durch 1 Ethik.
Sehnſucht 194. 239.
Selbſtbeherrſchung, ſ. Seelenſtärke.
Selbſterhaltung 274 f. 277.
Selbſterniedrigung (ſ. auch Demut)
339
Selbſtliebe 214.
Selbſtmord 274f.
Selbſtzufriedenheit 187. 210. 214.
235. 308. 381.
Servilismus, ſ. Knechtsſeligkeit.
Sitte 337.
Sittlichkeit, ſ. Tugend.
Skeptizismus 74.
Spott, ſ. Verhöhnung.
Sprache, ſ. Worte.
Staat 293.
Stammeshaß und ⸗liebe 204.
Sterben 296.
Stolz, ſ. Hochmut.
Streben (ſ. auch Begierde).
der Dinge 162.
des Menſchen (im allgemeinen
184. 185. 189. 273 f. 277.
des Geiſtes 163. 167 f. 213. 371 f.
vernunftgemäßes 278.
Subſtanz (ſ. auch Gott).
Definition 21. 28.
Unteilbarkeit 36. 41 f.
Einzigkeit 37.
Unendlichkeit 27.
Ewigkeit 29— 29.
Sünde 292.
Sympathie, ſ. Zuneigung.
T.
Tadel 186.
thätig, Thätigkeit, ſ. leiden.
Thätigkeitsvermögen, ſ. Tugend.
Thätigkeitsvermögen, Luft aus der
Betrachtung desſelben 213.
Teilbarkeit, ſ. Subſtanz.
Tiere 291.
Thorheiten der Menſchen 149—151.
314.
Tod 296. 325. 383.
Todesfurcht 325. 382. 384.
Toleranz, ſ. Intoleranz.
Tollkühnheit 327 f.
Führer durch Spinozas Ethik.
Trauer 232.
Treue 331.
Trunkſucht 218. 244.
Tugend. 8
Definition 254.
Grundlage der Tugend 271 f. 276.
Wahre Tugend 274 f. 291.
tugendhaft handeln 276 f.
höchſte Tugend 279.
U.
Abel, ſ. gut und ſchlecht.
Überdruß 224.
Übereinſtimmung der Menſchen
untereinander, ſ. Menſch.
vi (der guten Affekte)
298
Überfhägung 181. 233 f. 305.
Übung in der Tugend 359.
Unbeſtändigkeit der Menſchen, ſ.
Menſch.
Undankbarkeit (ſ. auch Dank) 201.
230.
Unduldſamkeit, ſ. Intoleranz.
unehrbar(ſ auch ſchändlich) 291.301.
unendlich 22.
Unerſchrockenheit 209.
ungerecht 294.
Unglück, ſ. Glück.
Unglücksgefühl 368.
Unluſt (s. 8 Affekte) 165. 226.
297. re
unmöglich 6
unterökkung 181. 234. 305.
Unvermögen (f. auch Tugend) 291.
Unvermögen, Unluſt aus der Be⸗
trachtung desſelben 214.
Unvollkommenheit, ſ. Vollkommen⸗
eit.
Unwiſſende, der, 388 f.
Urſache.
ſeiner ſelbſt 21.
Urſache und Wirkung 22 f. 66.
349
adäquate und inadäquate Ur⸗
ſache 151.
395
V.
Veränderlichkeit, ſ. Geiſt, Körper,
Menſch.
Verachtung 148. 212. 228. 301.
306. 332.
Verbrechen 294.
Verdienſt 294.
Vergeltung, Haß mit Liebe 303. 339.
Vereinigung d. Menſchen, ſ.Menſch.
Verhöhnung (Spott) 148. 212.
230. 301. 306.
Verlangen (ſ. auch Streben) 164.
Vernunft (ſ. auch Erkenntnis).
theoretiſche 128. 132—134.
praktiſche (ſ. auch Tugend) 271—
273. 278. 316. 322—324. 334.
386.
Vervollkommnung der Vernunft
334.
Verſtand (ſ. auch Denken, Erkennt-
nis, Idee,) 58. 334.
Verwirrung, ſ. Ordnung.
verworrene Idee, ſ. inadäquate
Idee.
Verzweiflung 174. 231. 304.
Vollkommenheit 75. 78. 248 — 252.
376. 385.
Vorſtellungen 42.74. 105. 141.361 f.
Vorzeichen 207.
W.
8 3 Gütern und Übeln
a 205 falſch (ſ. auch Irrtum
und adäquate Ideen) 119 f.
129— 132. 255.
Wankelmut, ſ. Menſch.
Weiſe, = A auch Menſch) 302.
325. 388 f.
Weſen (ſ. ns Feen u. Weſen) 77.
Wetteifer 182. 240
Wille 59 f. 67. 138—148. 155—
160. 164.
Wirkung, ſ. Urſache.
Wohlbehagen 165. 298. 300.
Wohlthaten 328 f.
Wohlthun 307.
396 Führer durch Spinozas Ethik.
Wohlwollen (ſ. auch Menſchen⸗ | zufällig 61. 253.
liebe) 184. 241. 332. Zufall 56
Wolluſt 165. 298. Zufriedenheit 148. 334. 380.
Worte 107. 141. Zuneigung (Sympathie) 170. 229.
Wut 241. uverſicht 174. 231. 304.
f weck 254.
3. wecke in der Natur 66—76.
Zerſtörung eines Dinges 161. wietracht (ſ. auch Eintracht)
Zorn 148. 200. 241. 301. 332. 359. 297.
Erläuternde Bemerkungen zu Spinozgas Ethik.
Vom Überfeger.
1.
Der dunkelſte Punkt im Syſtem Spinozas iſt ſeine Lehre vom
Denken, bezw. vom Geiſt. Um das Rätſelhafte aufzuhellen und die
Widerſprüche auszugleichen, welche das Syſtem ſcheinbar enthält, wurden
allerlei, zum Teil recht abenteuerliche Deutungen verſucht, von denen
jedoch keine einzige befriedigen kann. Noch der neueſte Spinozaforſcher,
Th. Camerer, verzweifelt an der Löſung und erklärt, daß hier ein
„Myſterium“ fein müſſe; ein recht artiger Euphemismus, feine Un⸗
fähigkeit, etwas zu begreifen, auszudrücken.
Höchſt rätſelhaft iſt es, und wie philoſophiſcher Myſtizismus ſieht
es aus, daß von Spinoza das Denken (cogitatio) parallel mit der
Ausdehnung (extensio) zum Attribut der Subſtanz geſtempelt wird,
dasſelbe mithin nicht erſt im Menſchen oder in den animalifchen
Organismen auftritt, ſondern der Subſtanz als ſolcher zukommt; wie
denn auch die Anmerkung zum Zuſatz des 13. Lehrſatzes im Zweiten
Teil alle Dinge beſeelt ſein läßt. Eben dieſe Stelle, an welcher viele
Erklärer ſchweigend vorbei zu ſchleichen pflegen, während ſie doch eine
Erklärung lebhaft herausfordert, zeigt auch, daß man mit der Auf⸗
faſſung des Denkattributs als Denkfähigkeit den Sinn Spinozas
nicht trifft.
Die nachſtehende Auffaſſung dürfte alle Nebel zerſtreuen und den
herrlichen Gedankenbau des Spinozismus im vollen Lichte der Klarheit
und der Wahrheit erglänzen laſſen.
Vor allem iſt feſtzuſtellen, daß das Attribut des Denkens auch
das Empfinden, Fühlen und Begehren, alſo ſämtliche pfychologiſche
Phänomene oder Zuſtände umfaßt; was ja allgemein zugeſtanden wird.
Beobachten wir den geſamten Inhalt unſeres Bewußtſeins, die
eigentliche Domäne unſeres Denkens, ſo werden wir gewahr, daß ſich
398 Erläuternde Bemerkungen zu Spinozas Ethik.
derſelbe in zwei verſchiedene Gruppen zerlegt: Räumliches und Nicht⸗
räumliches, oder Körper und pſychologiſche Phänomene (ſ. Axiom V
im Zweiten Teil). Wir werden weiter gewahr, daß die pſychologiſchen
Phänomene immer nur in Berbindung mit Körpern auftreten (und
gewiſſen körperlichen Vorgängen entſprechen). Wir können die Exiſtenz
einer Empfindung, eines Denkens, Fühlens oder Begehrens nicht denken,
als in Verbindung mit einem denkenden Subjekt, d. h. einem Körper,
ſei es der eigene oder der eines andern. (Es ſind das, beiläufig be⸗
merkt, Bewußtſeinsthatſachen, die nicht weiter erwieſen zu werden
brauchen noch können, und welche die Baſis der Denkoperation bilden,
welche letztere überdies die Scheidung der Körper in Ich und Nicht⸗Ich
vorausſetzt.) Dagegen laſſen ſich Körper ſehr wohl ohne pfychologiſche
Zuſtände denken, reſp. vorſtellen, und in der That wird von der
heutigen im materialiſtiſchen Fahrwaſſer ſegelnden exakten Wiſſenſchaft
angenommen, daß alle pſychologiſchen Qualitäten erſt im animaliſchen
Organismus ins Daſein treten, weil ſie nichts anderes ſeien, als
Produkte phyſiologiſcher Prozeſſe.
Iſt es nun aber, genau beſehen, denkbar, daß in der Tierzelle,
wenn ſie anders aus dem Anorganiſchen entſtanden iſt, ein ſpezifiſch
neues Element auftreten kann, das dem Anorganiſchen abſolut abgeht?
Denn die pſychologiſchen Phänomene find doch thatſächlich etwas ganz
anderes, als die Materie und ihre verſchiedenen Bewegungsformen
oder Kräfte. Die durch Atherſchwingung bewirkte Vibration der Netz⸗
haut zum Beiſpiel, und die dieſen phyſiologiſchen Prozeß begleitende
Lichtempfindung, ſind zwei abſolut verſchiedene Bewußtſeinszuſtände,
deren Zuſammengehörigkeit in einem und demſelben Subjekt wir zwar
wahrnehmen, die wir aber keineswegs in urſächlichen Zuſammenhang
bringen können, ſodaß die Lichtempfindung als Wirkung des phyſio⸗
logiſchen Prozeſſes zu begreifen wäre. (Vergleiche die Stelle im Traktat
De intellectus emendatione [berfelbe erſcheint von mir neu überſetzt im
gleichen Verlag]: „Die wahre Idee ift verſchieden vom Gegenſtand der
Idee. Ein anderes iſt ein Kreis, ein anderes die Idee eines Kreiſes.
Dieſe iſt nämlich nicht etwas, was Peripherie und Mittelpunkt hat
wie der Kreis ſelbſt, und ebenſowenig iſt die Idee des Körpers der
Körper ſelbſt.“)
In der That beruht die materialiſtiſche Vorſtellung, wonach die
pſychologiſchen Phänomene Produkte der phyſtologiſchen Prozeſſe im
Tierkörper ſein ſollen, auf einer mißverſtändlichen Anwendung der
Erläuternde Bemerkungen zu Spinozas Ethik. 399
Kauſalitätskategorie. Etwas kauſal begreifen heißt, ein Neues, vorher
noch nicht vorhanden Geweſenes, etwa B, auf ein ſchon vorher vor⸗
handen Geweſenes, A, zurückführen, indem B nur als Formverwand⸗
lung des in A enthalten geweſenen Stoffes begriffen wird. Die Form⸗
verwandlung ſelbſt aber geſchieht durch die Bewegung (Kräfte). Die
Entſtehung des Zinnobers z. B. begreifen wir kauſaliter, indem wir
wiſſen, daß gewiſſe Quantitäten Queckſilber und Schwefel unter der
Einwirkung gewiſſer Wärmegrade ihre Form verändert haben. —
Erkennen wir ſodann auch in A etwas, das einmal nicht vorhanden
war, jo ſuchen wir es auf dieſelbe Weiſe in einem andern ſchon vor=
handen Geweſenen nachzuweiſen, und ſo fort, bis wir bei Dem Halt
machen, was nicht geworden, ſondern als von jeher exiſtierend begriffen
wird. Inſoweit iſt die Stoff⸗ und Krafttheorie befriedigend, (und
deckt fie ſich mit der ſpinoziſtiſchen Subſtanz,) denn der ewige Stoff
und die ewige Bewegung desſelben ſind die letzten Inſtanzen der
Kauſalität.
Wenn nun aber in dem Stoff oder der Materie oder Subſtanz an ſich
nicht eine Spur von dem vorhanden iſt, was wir im animaliſchen Organis⸗
mus als pſychologiſche Zuſtände wahrnehmen, wie ſollten dann dieſe aus
jenem kauſal begriffen werden? Muß nicht vielmehr notwendig an⸗
genommen werden, daß die pfychologiſchen Phänomene, welche die
phyſiologiſchen Prozeſſe begleiten, bezw. etwas ihnen Analoges, in
minimen Graden auch die phyſikaliſchen und chemiſchen Vorgänge in
der lebloſen Materie oder Subſtanz begleiten, ſodaß die pſychologiſchen
Qualitäten im animaliſchen Organismus nur eine kompoſitionelle
Potenzierung deſſen ſind, was der Subſtanz in jeglichem Modus mehr
oder minder inhäriert! — So wenig das Licht als „Produkt“ der
Wärme erklärt werden kann, vielmehr Licht und Wärme zwei kosxiſtente
Eigenſchaften des Feuers ſind, ebenſowenig können die pſychologiſchen
Zuſtände logiſcherweiſe als „Produkte“ der Gehirnfunktionen erklärt
werden, ſondern ſie müſſen der Subſtanz immanent ſein. (Vgl. den
5. Lehrſatz des Zweiten Teils.)
Bekanntlich hat Schopenhauer allen Dingen einen Willen vindiziert,
d. h., was im Menſchen als Wille wahrgenommen wird, das ſoll in
allen Dingen der Erſcheinungswelt vorhanden fein, und in den phyſi—
kaliſchen und chemiſchen Vorgängen erblickt er Außerungen dieſes
Willens. „Wenn wir die unorganiſche Welt mit forſchenden Blicken
betrachten,“ lautet eine Stelle in „Die Welt als Wille und Vorſtellung“,
400 Erläuternde Bemerkungen zu Spinozas Ethik.
„wenn wir den gewaltigen, unaufhaltſamen Drang ſehen, mit dem die
Gewäſſer der Tiefe zueilen, die Beharrlichkeit, mit welcher der Magnet
ſich immer wieder zum Nordpol wendet, die Sehnſucht, mit der das
Eiſen zu ihm fliegt, die Heftigkeit, mit welcher die Pole der Elektricität
zur Wiedervereinigung ſtreben und welche, gerade wie die der menſch⸗
lichen Wünſche, durch Hinderniſſe geſteigert wird; wenn wir den Kryſtall
ſchnell und plötzlich anſchießen ſehen, mit ſoviel Regelmäßigkeit der
Bildung, die offenbar nur eine von Erſtarrung ergriffene und feſt⸗
gehaltene, ganz entſchiedene und genau beſtimmte Beſtrebung nach ver⸗
ſchiedenen Richtungen iſt; wenn wir die Auswahl bemerken, mit der
die Körper, durch den Zuſtand der Flüſſigkeit in Freiheit geſetzt und
den Banden der Starrheit entzogen, ſich ſuchen und fliehen, vereinigen
und trennen; wenn wir endlich ganz unmittelbar fühlen, wie eine Laſt,
deren Streben zur Erdmaſſe unſer Leib hemmt, auf dieſen unabläſſig
drückt und drängt, ihre einzige Beſtrebung verfolgend: ſo wird es uns
keine große Anſtrengung der Einbildungskraft koſten, ſelbſt aus ſo
großen Entfernungen unſer eigenes Weſen wieder zu erkennen ꝛc. und
das hier wie dort den Namen Wille führen muß ꝛc.“. So phantaſtiſch
nun aber die Lehre Schopenhauers vom Weltwillen im allgemeinen
auch ft, (und an welcher ſich namentlich auch ausſetzen läßt, daß er
den Willen, und nicht vielmehr das Gefühl, welches doch das
Primäre und Konſtante iſt, zum Ding an ſich ſtempelt,) ſo wenig
läßt ſich die Analogie der phyſiologiſchen, vom Willen (oder beſſer
Begehren) begleiteten Prozeſſe mit den phyſikaliſchen und chemi⸗
ſchen Vorgängen verkennen, und man wird die Erwartung wohl
kaum als eine abenteuerliche bezeichnen dürfen, daß es der fort⸗
ſchreitenden Naturforſchung gelingen werde, ein Analogon der pſfycho⸗
logiſchen Zuſtände, welche die phyſiologiſchen Vorgänge im Cerebro⸗
ſpinalſyſtem begleiten, auch im Anorganiſchen nachzuweiſen und den
Schleier der Iſis zu lüften. Haben doch neuere Naturforſcher auf
Grund eingehender Unterſuchungen bereits auch den Pflanzen einen
Farbenſinn, wie überhaupt Empfindung, zuſchreiben zu müſſen geglaubt.
(Vgl. „Über Licht⸗ und Farbenperception niederſter Organismen“ in
Pflügers Archiv für die geſamte Phyſiologie. Band XXIX, Heft 7.)
Die Lehre Spinozas, auf exakter Beobachtung der Bewußtſeins⸗
thatſachen und der Funktionen der Denkoperation beruhend, und von
der Bahn ſtrengſter Logik durch keinerlei ſubjektive Spekulationen ab⸗
gezogen, iſt der Skylla und Charybdis der Idealiſten wie der Materia⸗
Erläuternde Bemerkungen zu Spinozas Ethik. 401
liſten glücklich entronnen, und es bewährt ſich an ihrem Autor auch
in dieſem philoſophiſchen Hauptproblem das Horaz'ſche qui nil
molitur inepte.
Bei der vorſtehenden Auffaſſung der cogitatio ſtoßen wir uns
nicht mehr an dem verblüffenden Lehrſatz 3 des Zweiten Teils, wonach
es in Gott eine Idee giebt, welche nach dem folgenden Lehrſatz nur
eine einzige ſein kann. Gleich ratlos ſtehen mehr oder weniger alle
Erklärer vor dieſer philoſophiſchen Sphinx, und die mannigfaltigen
Deutungen, welche verſucht wurden, tragen nur zu deutlich den Stempel
der asyla ignorantiae. Faßt man jedoch die cogitatio in unſerem
Sinne, ſo iſt die Sache vollſtändig klar. Jedem Ding haftet auch eine
pſychologiſche Qualität an, in der ſich dieſes Ding und was in ihm
vorgeht, in ähnlicher Weiſe reflekliert, wie beim Menſchen der Körper
und ſeine Zuſtände im Geiſt. Beim Menſchen, dem ſehr komplizierten
Modus, iſt dieſe pſychologiſche Qualität der Verſtand (intellectus, den
Spinoza von der absoluta cogitatio ſehr ſcharf unterſcheidet; vgl. z. B.
den Beweis zu Lehrſatz 31, Teil 1). In den verſchiedenen, mannigfach
ſich abſtufenden andern Modi tritt ſie in anderer Form auf, immer
dem modus extensionis entſprechend als modus cogitandi. Und in der
Subſtanz, d. i. das einfache, von jeder Modifikation abſtrahirte Sein,
iſt ſie die einfache Idee des Seins; Idee natürlich nicht im Sinne
des menſchlichen Intellekts.
Der Satz iſt im Spinozismus von höchſter Wichtigkeit, weil er er⸗
klärt, wie der Menſch, der doch ein Modus der Subſtanz iſt, die Sub⸗
ſtanz zu begreifen vermag leine ſcheinbare Antinomie des Syſtems,
welche der im übrigen für den Spinozismus ſehr eingenommene Profeſſor
Kuno Fiſcher gegen dasſelbe geltend macht; ſ. die 30. Vorleſung ſeiner
„Geſchichte der neueren Philoſophie“). Der Menſch erfaßt die Subſtanz
denkend, ſofern er ſelbſt Subſtanz iſt. Was der menſchliche Intellekt
noch außerdem enthält, kommt ihm zu, ſofern er Modifikation der
Subſtanz iſt. (Der Modus oder die modifizierte Subſtanz hört ſelbſt⸗
redend nicht auf, Subſtanz zu fein, was manchen Kommentatoren vor⸗
zuſchweben ſcheint, welche im Modus ſozuſagen die degradierte Subſtanz
zu erblicken ſcheinen. Die Modi oder Einzeldinge ſind eben auch die
Subſtanz, aber in beſonderer, durch die Bewegung vermittelter, ver⸗
Zänglicher Form. [NB. Die Bewegung hat Spinoza im Sinn, wenn
er in Lehrſatz 23 des Erſten Teils von einer Modifikation ſpricht,
welche ſowohl notwendig als unendlich exiſtiert. Vgl. die Briefe 65
28
402 Erläuternde Bemerkungen zu Spinozas Ethik.
und 66.] Das Vergängliche an ihnen iſt Modifikation, das Ewige,
Unzerſtörbare an ihnen iſt Subſtanz, bezw. Attribut.)
Damit klärt ſich endlich auch alles Rätſelhafte auf, was der
Fünfte Teil der Ethik von der Fortdauer des Geiſtes nach dem
Tode lehrt.
2.
Eine weitere unüberwindliche Schwierigkeit hat man in den Stellen
der Ethik zu finden geglaubt, welche das Verhältnis zwiſchen Geiſt und
Körper betreffen. Namentlich ſoll der 2. Lehrſatz im Dritten Teil,
welcher dem Geiſt jede determinierende Einwirkung auf den Körper
und umgekehrt abſpricht, mit der Wirklichkeit, wie mit andern Sätzen
Spinozas, in auffallendem Widerſpruch ſtehen. Bei näherer Beleuch⸗
tung ergiebt ſich jedoch, daß Spinoza nur den einen Fehler begangen
hat, daß er ſich zu knapp und koncis ausdrückte, weil er dem Leſer ein
zu großes Verſtändnis zutraute.
Die Sache ſteht in engem Zuſammenhang mit folgendem.
In der Anmerkung zum Zuſatz des 49. Lehrſatzes im Zweiten Teil
unterſcheidet Spinoza ſehr ſcharf zwiſchen der ſinnlichen Wahrnehmung
oder den Bildern der Dinge (rerum imagines) einerſeits und der Idee
anderſeits. Dieſe iſt ihm ein Modus des Denkens, jene ein Modus
der Ausdehnung. Die Idee ſchließt Bejahung und Verneinung (affir-
matio et negatio) ein, was bei der bloßen Wahrnehmung nicht der
Fall iſt. Die Bilder der Dinge, welche die Wahrnehmung ausmachen,
entſtehen durch körperliche Eindrücke, d. h., ſie ſind phyſiologiſcher Natur,
wie denn auch im 1. Lehrſatz des Fünften Teils die rerum imagines-
mit den corporis affectiones identifiziert werden. Unter dieſen
imagines meint Spinoza offenbar die Empfindung oder die Bilder der
Gegenſtände, welche durch die Einwirkung des Lichts auf der Netzhaut
erzeugt werden. Nach der obigen Darlegung wie nach der Annahme
aller Pſychologen gehört jedoch die Empfindung in das pſychologiſche
Gebiet. — Man kann ferner hienach ſchwanken, ob Spinoza nicht auch
die Vorſtellungen (imaginationes) in das körperliche Gebiet verweiſt,
da ſie doch im Grunde nur reproduzierte Empfindungen ſind. Indeſſen
ergiebt ſich aus zahlreichen Stellen als unzweifelhaft, daß ihm die
imaginationes Denkakte find, alſo der pſychologiſchen Sphäre an⸗
gehören (mens imaginatur).
Erläuternde Bemerkungen zu Spinozas Ethik. 403
Die Sache hellt ſich jedoch vollſtändig auf, ſobald wir das im
Spinozismus eine ſo große Rolle ſpielende quatenus (den Zauberſtab
oder die Quatenuskrücke, wie Kuhn ſpottet,) zu Hilfe nehmen.
Das Denken iſt nicht die Wahrnehmung; aber die Wahrnehmung
bildet das Material des Denkens. Die durch die Wahrnehmung em⸗
pfangenen ſinnlichen Eindrücke, d. h. die körperlichen Erregungen oder
phyſiologiſchen Prozeſſe, werden pſychologiſch reflektiert, d. h. empfunden.
Die Empfindung iſt zwar ein pſychologiſcher Vorgang, aber ſie deckt
ſich vollſtändig mit dem phyſiologiſchen. Das gleiche iſt der Fall mit
den Vorſtellungen im Reſervoire des Gehirns. Die Wahrnehmungen,
reſp. Vorſtellungen, werden nun aber im Geiſte (mens) zu Begriffen
kombiniert durch Urteile (und Schlüſſe). Erſt dieſer Prozeß, das
eigentliche Denken, konſtruiert die Gedankenwelt als Spiegelbild der
Welt des Seins (oder der Ausdehnung). Das Urteil (die affirmatio
und negatio) bejaht und verneint die Exiſtenz der Dinge und ihre
Eigenſchaften nach dem Nebeneinander und Nacheinander (räumlich und
zeitlich), ihre urſächlichen Beziehungen und ihre Wirkungen (bei Spinoza
die ordo et connexio rerum). In der bloßen Wahrnehmung oder Vor⸗
ſtellung verhält ſich der Geiſt rein paſſiv, erſt mit dem Urteil tritt
eine Aktion des Geiſtes ein, ein Neues tritt auf, das „iſt“ oder „iſt
nicht“. (Um den Unterſchied konkret klar zu machen: ich kann mir
ein geflügeltes Pferd vorſtellen, aber ich kann es nicht denken, d. h.
als exiſtierend begreifen. — NB. Die aus der Wahrnehmung gewonnenen
Ideen betreffen nur die Exiſtenz der Modi, denn die Idee der Exiſtenz
der Subſtanz iſt eben die „Idee in Gott“; ſ. oben bei Ziffer 1.)
Soweit nun die Urteile der ſimplen Wahrnehmung blindlings
folgen oder die Sinneseindrücke kritiklos acceptieren, iſt der Geiſt dem
Irrtum unterworfen. Das ſind die inadäquaten Ideen Spinozas,
oder die Erkenntnis aus vager Erfahrung (2. Teil, Lehrſatz 40, 2. An⸗
merkung). Denn die ſimple ſinnliche Wahrnehmung erfaßt die Dinge
und Vorgänge nur teilweiſe (verſtümmelt, mutilate) und nicht im
richtigen Zuſammenhang (verworren, confuse). Erſt wenn der Geiſt
die Wahrnehmungen wechſelſeitig korrigiert, (2. Teil, 29. Lehrſatz, An⸗
merfung,) oder ſeine Ideen von der Idee der Subſtanz und ihrer
Attribute deduktiv herleitet, (dritte Erkenntnisgattung,) bildet er ad⸗
äquate Ideen. Das auf fimpler Wahrnehmung ſich gründende ptole⸗
mäiſche Sonnenſyſtem z. B. hat durch das kopernikaniſche ſeine Korrektur
26 *
404 Erläuternde Bemerkungen zu Spinozas Ethik.
erfahren, nachdem die Beobachtung zu Schlüſſen geführt hatte, welche
ſchließlich die Wahrheit ergaben.
Nun kann nach Lehrſatz 2, Teil 3, der Geiſt den Körper nicht zur
Bewegung und Ruhe determinieren, Thätigkeit und Ruhe des Körpers
erfolgen alſo nur durch Körpererregungen. Mit andern Worten: es
ſind immer phyſiologiſche Prozeſſe, welche die Körperthätigkeit bewirken.
Der Anblick einer ſüßen Frucht z. B. übt auf den Geſchmacksnerv einen
Reiz aus, infolge deſſen der Körper erregt wird, die Frucht zu ge⸗
nießen, und ſich in Bewegung ſetzt, um ſich den Genuß der Frucht zu
verſchaffen. Derſelbe Reiz des Geſchmacksnervs kann auch durch die
Vorſtellung erregt werden. (Denn dem pſychologiſchen Vorſtellungsakt
entſpricht ein phyſiologiſcher Vorgang im Gehirn, die Vorſtellung tritt
ein, wenn das Gehirn den phyſiologiſchen Empfindungsprozeß repro⸗
duziert). — Während nun die Frucht gebrochen wird, ſchließt der Be⸗
treffende aus irgend einem Umſtand, daß die Frucht giftig iſt. Er
genießt ſie darum nicht. War es das Urteil an und für ſich, alſo das
rein pſychologiſche Moment, welches den Genuß verhinderte? Offenbar
nicht. Vielmehr hat die Vorſtellung der Erkrankung und des Todes,
welche der Genuß herbeiführen würde, alſo ein ſinnlicher Unluſtreiz,
den die Frucht nunmehr erweckte, mithin wiederum ein phyſiologiſcher
Prozeß, und zwar ein ſtärkerer als der erſte, den Körper zur Ruhe
determiniert. Die Verbindung der Vorſtellung der Erkrankung und
des Todes mit der Frucht wurde allerdings durch die Idee bewerk⸗
ſtelligt, aber die Idee hat den Körper nicht determiniert, ſondern die
Vorſtellung. Die Idee hat ſozuſagen nur die Rolle des Regiſſeurs
geſpielt. Der Geiſt verbindet die Vorſtellungen anders, als ſie ſich
nach den bloßen ſinnlichen Wahrnehmungen gruppieren, darum iſt der
Effekt der Vorſtellungen, wie ſie aus der geiſtigen Werkſtätte hervor⸗
gehen, auf das Begehren ein anderer, als in ihrer Verbindung auf
Grund der ſimplen Wahrnehmung. Das beſagt der 1. N im
Fünften Teil.
Man vergleiche auch den 14. Lehrſatz im Vierten Teil, wonach die
wahre Erkenntnis des Guten und Schlechten nur ſofern ſie als Affekt
betrachtet wird, einen Affekt einſchränken kann.
Das iſt keineswegs philoſophiſche Haarſpalterei, ſondern eine
überaus wichtige Erkenntnis, weil ſie erklärt, weshalb die Menſchen
ſo häufig gegen ihre beſſere Einſicht handeln. Wäre das Urteil an
Erläuternde Bemerkungen zu Spinozas Ethik. 405
ſich fähig, auf den Körper einzuwirken, jo müßte die Erkenntnis mit
abſoluter Souveränität das Thun und Laſſen beherrſchen und regu⸗
lieren. Da aber nur die Vorſtellungen, welche in den Urteilen ent⸗
halten ſind, das Handeln determinieren, ſo unterliegt das Urteil dem
ſtärkeren Begehren. Zugleich aber auch ergiebt ſich daraus die wichtige
Anweiſung in der Anmerkung des 10. Lehrſatzes im Fünften Teil,
Denn je häufiger die Vorſtellungen vernunftgemäß miteinander ver⸗
bunden werden, deſto ſtärker ſind ſie, und deſto weniger können ſie von
imaginären Vorſtellungen überwunden werden.
8.
Laetitia und Tristitia im Dritten Teil, was mit Luſt und Unluſt
überſetzt wurde, wäre vielleicht beſſer mit Freudigkeit und Traurig⸗
keit wiedergegeben worden, weil es ſich dabei nicht um die unmittel⸗
baren und lokalen Gefühle der Luſt und Unluſt handelt, welche die
Förderung und Hemmung der körperlichen Aktionskraft begleiten,
ſondern um die mittelbaren, durch die Vorſtellung reflektierten Gemüts⸗
bewegungen, (vgl. die Fußnote zum Vorwort, S. 13) d. h. die
Stimmungen.
4.
Die Moraltheorie Spinozas iſt bis auf die Gegenwart viel angefochten,
und viel geprieſen worden; angefochten, ſofern ſie die Moral auf die
Baſis der Selbſterhaltung oder des eigenen Nutzens gründet, ge⸗
prieſen, indem ſie aus dieſer Prämiſſe die edelſten ſittlichen Grund⸗
ſätze ableitet.
Die Moral, die adäquate Erkenntnis der Ziele des menſchlichen
Wollens im Dienſte der Glückſeligkeit, hat bekanntlich zwei Haupt⸗
ſphären. Im Verhalten des Menſchen zu ſich ſelbſt iſt ſie der Weg⸗
weiſer zu den edleren, dem Glückſeligkeitstrieb am meiſten entſprechenden
Arten der Luſt; im Verhalten zu andern verlangt ſie die Einſchränkung
des Egoismus zu Gunſten der Mitmenſchen, oder die Gleichſtellung des
Wohls der andern dem eigenen Wohl. (Wozu noch als formale Moral
kommt: die Zügelung des Willens, daß er im Kampf der Einſicht mit
der Neigung der Einſicht Gehorſam leiſte.)
406 Erläuternde Bemerkungen zu S pinozas Ethik.
Es kann nun in der That die Unzulänglichkeit des individual⸗
eudämoniſtiſchen Moralprinzips, wie es im Vierten Teil der Ethik
entwickelt iſt, für dieſe zweite Sphäre nicht verkannt werden. In der
Kolliſion der eigenen mit fremden Intereſſen wird die Erwägung, daß
das, was der Geſellſchaft nützlich iſt, auch dem Individuum nützt, in
vielen Fällen ein ſehr fragwürdiges Motiv für die moraliſche Praxis
abgeben. In einer Geſellſchaft vollends, in welcher die ethiſche Dis⸗
harmonie die Regel, nicht die Ausnahme bildet, wird die Rückſicht auf
die geſellſchaftliche Harmonie das Individuum kaum bewegen können,
ſeine Intereſſen preiszugeben, um die „geſellſchaftliche Harmonie“ nicht
zu ſtören. Mag immerhin der Philoſoph dem hausbackenen Verſtand
einen Rechnungsfehler in ſeinem Kalkul vordemonſtrieren, dieſer läßt
deſſen Subtilitäten nicht gelten, und führt ihn mit den greifbaren
Vorteilen des Egoismus ad absurdum.
Glücklicherweiſe enthält die Ethik Spinozas ſelbſt das Moment,
durch welches das Moralprinzip des perſönlichen Wohlbefindens zu ver⸗
tiefen iſt, um zum vollkommen zureichenden ethiſchen Motiv ſich aus⸗
zuwachſen.
Der 27. Lehrſatz des Dritten Teils zeigt, daß das Mitgefühl
oder das Wohlwollen der menſchlichen Pſyche tief eingepflanzt iſt,
(ſogar der tieriſchen, wie das Verhalten des Muttertiers zu den Jungen
beweiſt,) und Selbſtbeobachtung wie Erfahrung beſtätigen es tauſend⸗
fach. Die Opfer, welche den Geliebten, Verwandten, Freunden, dem
Vaterland, der Menſchheit gebracht wurden und werden, das Märtyrium,
welches aus religiöſen, patriotiſchen, wiſſenſchaftlichen und überhaupt
kulturellen Beweggründen ſchon ſo vielfach erduldet wurde, beweiſen, daß
die Vorſtellung der Gefühlszuſtände anderer Perſonen fähig iſt, unter
Umſtänden einen kräftigeren Affekt zu erzeugen, als die Vorſtellung
der eigenen Gefühlszuſtände. Dies kann nicht auffallen, wenn man
bedenkt, daß das Streben nach Leben und Wohlbefinden des Ich,
ſoweit es ſich auf die Zukunft bezieht, ebenſo durch die Vor⸗
ſtellung vermittelt wird, wie das Streben nach Leben und Wohl⸗
befinden anderer. Die Vorſtellung iſt ſozuſagen die kommunizierende
Röhre oder der Leitungsdraht, welcher die Gefühlszuſtände anderer
Individuen in das eigene Gefühl herüberleitet. Nur ſoweit die Menſchen
die Gefühlszuſtände anderer ignorieren, oder ſoweit Liebe und Haß
mitſprechen, oder momentane Erregungen (Not, Leidenſchaft,) im Spiele
Erläuternde Bemerkungen zu Spinozas Ethik. 407
ſind, oder endlich Erziehung und Gewohnheit dasſelbe abgeſtumpft
haben, ſchweigt das Mitgefühl oder Wohlwollen.
Es iſt eine Feinheit der hebräiſchen Sprache, daß ſie für Erkennen
und Liebe das gleiche Wort jada gebraucht; weil das Mitgefühl eine
natürliche Konſequenz der Erkenntnis des Seelenzuſtands anderer iſt.
Je vollkommner die Erkenntnis, deſto tiefer das Mitgefühl.
Anſeres Erachtens iſt nun dieſes Wohlwollen ein Vernunft⸗
affekt erſten Rangs, weil es dem Leben erſt ſeinen vollen Inhalt giebt,
und ohne dasſelbe es keine wahre Glückſeligkeit giebt; was ja alle
beſtätigen, welche über das menſchliche Glück unbefangen reflektierten,
von Paulus, welcher erklärt, der Menſch ſei ohne die Agape ein tönend
Erz und eine klingende Schelle, bis Goethe, der das Diſtichon ſchrieb:
„Wer iſt der glücklichſte Menſch? Der fremdes Verdienſt zu empfin⸗
den Weiß und an fremdem Genuß ſich wie am eignen zu freun.“
Das Wohlwollen hat ein Janusgeſicht: Mitfreude und Mitleid,
und dieſes letztere erklärt Spinoza für nicht vernunftgemäß. Wir
können das unterſchreiben, ſoweit es jenes ſentimentale, weichliche,
weibiſche Gefühl betrifft, das mehr als paſſiver Affekt auftritt, denn
als kräftiges Motiv zum Handeln. Das vernunftgemäße Mitleid hat
ſeinen Schwerpunkt im Wollen, es manifeſtiert ſich als Maxime des
Handelns, wenn es auch affektiv motiviert iſt.
Hienach iſt es ein Poſtulat der praktiſchen Vernunft, das Wohl⸗
wollen als eminenten Glücksfaktor zu kultivieren; woraus ſich denn
die Regelung des Wollens im Sinne des Altruismus als unabweis⸗
bare Konſequenz ergiebt, da jede Verletzung desſelben als Unluſt em⸗
pfunden wird, und bei häufiger Wiederholung das Wohlwollen mehr
und mehr abſtumpft.
Hierzu kommt ein Weiteres. Die Unluſt über den Untergang
der eigenen Individualität kann nur aufgehoben werden durch die
Idee der Fortdauer anderer Individuen. Der Wille zum Leben iſt
nichts anderes als das Streben nach Luſt auf die Zukunft bezogen.
(Der Selbſtmörder entflieht darum dem Leben, weil ihm die Zukunft
mehr Unluſt zu bieten ſcheint, als Luſt.) Die Vorſtellung, mit dem
Tod in das Nirwana einzugehen, erzeugt die Unluſt der unbefrie⸗
digten Begierde nach Luſt. Sobald aber der Menſch ſich vorhält, daß
auch nach ſeiner Auflöſung zahlreiche andere gleichfühlende Weſen fort⸗
beſtehen, von welchen die ſüße Luſt des Daſeins fortempfunden wird,
fühlt er ſich beruhigt. — Iſt der Menſch nun gar von der überzeu⸗
408 Erläuternde Bemerkungen zu Spinozas Ethik.
gung durchdrungen, daß die Menſchheit ſich in materieller und idealer
Hinſicht immer mehr entwickelt und von Generation zu Generation
zu höherer Vollkommenheit aufſteigt, ſo wird ſich dermaßen „ſein eigen
Selbſt zu ihrem Selbſt erweitern“, daß er ſein Ich und deſſen Inter⸗
eſſen der Geſamtheit und ihrem Wohl fröhlich unterordnet, und nicht
mehr ſeine verwelkliche Individualität, ſondern die Gattung das Zen⸗
trum ſeines Wollens behauptet. Daraus ergiebt ſich die höchſte Tu⸗
gend: das aktionskräftige Streben im Dienſte des Kulturfortſchritts.
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