MASTER NEGATIVE
NO. 93-81551-
MICROFILMED 1 993
COLUMBIA UNIVERSITY LIBRARIES/NEW YORK
r'
as part of the
"Foundations of Western Civilization Preservation Project"
/
Funded by the
NATIONAL ENDOWMENT FOR THE HUMANITIES
Reproductions may not be made without permission from
Columbia University Library
♦ . •
COPYRIGHT STATEMENT
The Copyright law of the United States - Title 17, United
States Code - concerns the maicing of photocopies or
other reproductions of copyrighted material.
Under certain conditions specified in the law, libraries and
archives are authorized to furnish a photocopy or other
reproduction. One of these specified conditions is that the
photocopy or other reproduction Is not to be "used for any
purpose other than private study, scholarship, or
research." If a user makes a request for, or later uses, a
photocopy or reproduction for purposes m excess of fair
use," that user may be liable for Copyright Infringement.
This Institution reserves the right to refuse to accept a
copy Order if, In Its judgement, fulflllment of the order
would Involve violatlon of the Copyright law.
A UTHOR:
NORDEN, JOSEPH
TITLE:
DIE ETHIK HENRY
HOMES, EIN BEITRAG
PLACE:
HALLE A.S
DA TE:
1895
COLUMBIA UNIVERSITY LIBRARIES
PRESERVATION DEPARTMENT
BIBLIOGRAPHIC MICROFORM TARnFT
Master Negative #
Original Material as Filmed - Existing Bibliographie Record
170
K123
Korden, Joseph, 1870-
Die othik Henry Hones; ein boitrag zur 2:e-
schichte der englisch-schottischen nofalphilo-
sophie in 18. Jahrhundert. Halle a. S. Kaenre-
ror, 1096.
. 81 p. 22 cm.
Restrictions on Use:
Theaio, Halle.
1 Anothor copy«
Box 10
892fi;i
TECHNICAL MICROFORM DATA
FILM SIZE: 5-^^^„
IMAGE PLACEMENT: lA fllA? JR. HB
DATE FILMED: _Zl^^„. INITIALS ^^
FILMED BY: RESEARCH PTJBLldÄTTOMc;, tNC WOnnpRmr,p7rf
REDUCTION RATIO: Z/::^
?v
/
c
Association for Information and Image Management
1100 Wayne Avenue, Suite 1100
Silver Spring, Maryland 20910
301/587-8202
Centimeter
12 3 4 5 6 7
iiiiliiiiliiiiliiiiliiiiliiiiliiiiliiiiliiiiliiiiliiiiliiiiliiiiliii
IUI
8
iiiliii
9 10
liiiiliiiiliiiilii
11 12 13 14 15 mm
iiiiliiiiliiiiliiiiliiiiliiiiliiiiliiiilini
Inches
TTT
1
1 1 1
1.0
1.1
1.25
TTT
iM 2.8
2.5
2.2
163
I:: 1"
ts. '
lA u
2.0
1.8
1.4
1.6
I I I I I n
5
1
MPNUFfiCTURED TO RUM STfiNDFIRDS
BY RPPLIED IMflGEp INC.
vS
'3''
IW
KI23
Columbia ^oU^gie
"^xhxKXVi.
^.
(
rt"*^'-
'iiMl- .f.
(
Die
Ethik Henry Hömes.
Ein Beitrag zur Geseliieht^ * '''' '^
der englisch - schottischen Moralphilosophie
im 18. Jahrhundert.
Inangnral-Dissertation
zur
Erlangung der philosophischen Doktorwürde
der
hohen Philosophischen Fakultät
der
Verein igten Friedrichs - Un i v er si tat Halle -Witten berg
vorgelegt von
Joseph Norden
aus Berlin.
-^^t^—A"
Halle a. S.
Hofbuchdruckerei von C. A. Kaemmerer & Co.
1895.
« •! •
t
i
>
' «. c
« » f t t
,*|,
> ,1 ' , ' ) > ' '
, n 'i * '
J » > »
• »•. ' '
1 t 1
I
1 ■>
Seinen geliebten Eltern
in kindlicher Dankbarkeit
gewidmet
vom Verfasser,
219187
• " • t • ■ t
I c •
• .
t (
. • •
. •
e o
• I
f ' ' '
I
Einleitung.
Home als Ästhetiker und Moralphilosoph. Seine
Biographie. Die „Essays", ihre verschiedenen Auf-
lagen und die deutsche Übersetzung. Veranlassung
ihrer Abfassung. Übersicht.
Henry Home Lord Kames (1696—1782) ist in Deutsch-
land hauptsächlich durch seine ästhetische Schrift „Elements
of Criticism" berühmt geworden. Dieses Werk ward im
Jahre 1762 in London zum ersten Male herausgegeben und
erschien 1788 bereits in siebenter Auflage. Ebenso schnell
verbreitete sich die deutsche Übersetzung ,von Meinhard.
Die Historiker der Ästhetik (Zimmermann, Schasler, v. Stein)
besprechen Home's Werk, und auch Hettner») widmet
ihm einen Abschnitt. In jüngster Zeit erschienen über die
Ästhetik Home 's zwei Monographien 2), m denen ein Ein-
fluss der Home'schen Lehren auf bedeutende deutsche
Ästhetiker, insbesondere auf Lessing, Schiller, Kant und
Fechner, nachgewiesen wird.
1) H. Hettner: Litteraturgeschichte des 18. Jahrhunderts. I, S. 419 f.
2) J. Wohlgemuth: Henry Homes Ästhetik und ihr Einfluss auf
deutsche Ästhetiker. Berlin 1893, - W. Neumann: Die Bedeutung Homes
für die Ästhetik und sein Einfluss auf die deutschen Ästhetiker. Berlin
1894. (Preisgekrönte Schrift).
t«
t •
• • t
• €*••!• • • • • •
'.'fGemgeue ßß^qhtung hat die Ethik Homes gefunden.
Die' • 'Ge'scRiohts^öW ejBer der Philosophie erwähnen ihn
grpss^nt6il^:uvr..als. Autor der ,,Elements^ Schon Buhlei)
bemeficV Höfne • s^i *' bai uns in Deutschland weniger durch
seine moralphilosophischen essays als durch seine „Elemente
der Kritik'^ berühmt geworden. Falkenberg«) begnügt
sich mit der Bemerkung, dass Home „in der Ethik ein
Anhänger Hutchesons" sei, um dann sogleich auf seine
ästhetischen Ansichten einzugehen. Windelband^) erwähnt
ebenfalls nur in aller Kürze „Henry Home, dessen Schriften
eine entschiedene Abhängigkeit von Shaftesbury verraten,
und der sich dem allgemeinen Zuge der deistischen Moral-
und Religionsphilosophie mit anmutiger Darstellung an-
schloss." Auch die Geschichtsschreiber der Ethik berück-
sichtigen ihn wenig oder gar nicht. JodH) behandelt
Home nicht, die Angaben BlakeysS) sind äusserst dürftig,
Mackintoshe) und Whewell?) gehen über ihn hinweg.
Gleichwohl bedeutet die Moralphilosophie Homes in
mehreren Beziehungen einen Fortschritt über seine Vor-
gänger hinaus. Eine kurze Darstellung und Beleuchtung
der Home'schen Lehren, die im folgenden versucht ist, soll
dies klarlegen.
1) J. G. Buhle: Geschichte der neueren Philosophie, Göttiiigen
1800—1805. V, S. 358.
2 R. Falkenhcrg: Geschichte der neueren Philosophie von Nikolaus
von Kues bis zur Gegenwart, 2. Auflage, Leipzig 1892, S. 195. Wenn
Falkenberg übrigens Home einen Bruder David Huiues nennt, so beruht
dies auf einem Irrtum. Die beiden Denker standen zwar in einem engen
Freundschaftsverhältnis, sind aber nicht mit einander verwandt. Derselbe In -
tum findet sich bei Noack: Fhilosophiegeschichtliches Lexikon, Artikel Home.
3) W. Windelband: Die Geschichte der neueren Philosophie, I, S. 340.
4) F. Jodl: Geschichte der Ethik in der neueren Philosophie,
Stuttgart, 1. Band 1882, 2. Band 1889.
5^ R. Blakey: History of Moral Science, London 1833, Kap. 20.
6) J Mackintosh: Dissertation on the Progress of Ethical Philosoph}'.
London 1830.
7^ W. WheweU: Lectures of the History of Moral Philosoph} in
England. London 1852.
- 7 -
Homes Leben ist von A. F. Tytler Lord Woodhouselee,
einem jüngeren Zeitgenossen, mit grosser Ausführlichkeit
beschrieben worden i). Diese Biographie ist von hohem
Interesse, da sie nicht nur über die Lebensschicksale
unseres Philosophen und über seine zahlreichen juristischen^)
und philosophischen Schriften genauen Bericht giebt, sondern
auch zeigt, in wie regem Verkehr er mit den bedeutendsten
Männern seiner Zeit stand, mit Adam Smith, David Hume,
Thomas Reid, James Beattie, Adam Ferguson, Benjamin
Franklin u. A. Eine stattliche Anzahl von Briefen jener
Männer an tlome veranschaulicht diesen geistigen Verkehr 3).
Seine ethischen Ansichten legt Home nieder in dem
ersten Teil seines Werkes „Essays on the principles of
morality and natural religion", das 1751, also in demselben
Jahre, wie Humes „Enquiry concerning the principles of
moral", in Edinburgh erschien. Der zweite Teil behandelt
erkenntnistheorethische und religionsphilosophische Pro-
bleme; er kommt daher für unsere Untersuchung nicht
in Betracht. 1774 gab Home seine „Sketches of the History
of Man" heraus; der zweite Abschnitt des dritten Buches
der „Skizzen" trägt die Überschrift: „Principles and
progress of morality" und deckt sich mit den Ausführungen
der „Essays". Eine zweite Auflage der „Essays" erschien
1758, sie enthält einige Zusätze und Änderungen, besonders
in dem Versuch über Freiheit und Notwendigkeit; nach
dieser Auflage ist eine deutsche Übersetzung von Rauten-
1) Alexander Fräser Tytler: Demoirs of ihe Life and Writings of
the Honourable Henry Home of Kames , containing Sketches of the
Progress of Litterature and General Improvement in Scotland during the
greatcr Part of the eigbteenth Century, Edinburgh 1807 (2 Bände, 4«).
2) Home ist von Hause aus Jurist.
3) Besonders innig ist das Verhältnis zwischen Home und Hume.
Letzterer schätzt das Urteil des 15 Jahre älteren Freundes sehr hoch.
In einem Briefe aus dem Jahre 1738 (1739 erschien Humes „Treatise on
human nature") bitteter Home, wenn er nach London reise, einige Abende
mit ihm zu verbringen „and either correct my judgment, where you diflfer
from me, or coufirm it, where we agree." Tytler, a. a. 0., I, S. 90.
_ 8 -
berg angefertigt worden i). I^ie dritte Auflage endlich, in
welcher gleichfalls besonders der Versuch über die Freiheit
eine Änderung erfahren hat, stammt aus dem Jahre 1779.
Was die Veranlassung zur Abfassung der essays be-
trifft, so meint Tytler, Home habe gefürchtet, manche
Lehren seines Freundes Hume, die dieser in der „Unter-
suchung betreffs des menschlichen Verstandes" ausge-
sprochen, möchten geeignet sein, die Moralität zu unter-
graben, und Home habe nun sein Buch geschrieben, um
jenem verderblichen Einfluss entgegenzuarbeiten. Einen Be-
weis für seine Behauptung findet Tytler in einem Briefe
Humes vom 9. Februar 1748, in welchem er Home mitteilt,
er werde die „Philosophischen Versuche", von deren
Veröffentlichung Home ihm abgeraten«), dennoch drucken
lassen, unbekümmert um das Urteil der Menge. Allein
gegen diese Annahme sprechen mehrere Gründe:
l. Home stimmt in der dem gemeinen Verstände am
meisten anstössigen Lehre von der Notwendigkeit der
menschlichen Handlungen mit Hume vollkommen überein.
Überhaupt lässt es sich schwerlich annehmen, dass Home
mit Rücksicht auf Vorurteile des Publikums den Druck des
„Enquiry'' sollte widerraten haben. Schreibt er doch selbst
im Vorbericht zu seinen essays: „Des Verfassers Denkart
mag vielleicht in einigen Punkten für kühn und neu ge-
halten werden. Aber Freiheit des Denkens wird denen
nicht missfallen, die in ihren Untersuchungen von der
Liebe zur Wahrheit geleitet werden. Für diese allein
schreibt er."
1) Versuche über die ersten Gründe der Sittlichkeit und der
natürlichen Religion in zwei Teilen von Heinrich Home, aus dem Englischen
übersetzt und mit Anmerkungen begleitet von C. G. Rautenberg. Braun-
schweig 1768. Dieser Übersetzung sind die deutschen Zitate entnommen;
die englischen beziehen sich auf die erste Auflage (1751).
\ the Philophical Essays, which you dissuaded me from
printing. (Tytler, a. a. D, I, S. 129). Wie aus der Jahreszahl des Briefes
ersichtlich, kann hier nur von dem „Enquiry concerning human under-
standing" die Rede sein.
2. Der Inhalt der essays bezeugt, dass Home es
keinesfalls auf die Kritik nur eines Philosophen abgesehen,
sondern mit Fleiss und Sorgfalt alle bedeutenderen Moral-
systeme seiner Zeit in seinen Gesichtskreis gezogen und
der Beurteilung unterworfen hat*).
3. Hume wird von Home in dem moralphilosophischen
Teile seines Werkes als der Verfasser der Abhandlung
über die menschliche Natur, nicht ein einziges Mal dagegen
als der Autor des Enquiry zitiert.
4. Im 7. Kapitel des 2. essay polemisiert Home
gegen Humes Erklärung der Gerechtigkeit aus einer Über-
einkunft der Gesellschaft. Dieses Thema wird aber in
Humes „Enquiry" gar nicht behandelt.
Demnach ist es höchst unwahrscheinlich, dass erst
Humes „Enquiry" Home zur Niederlegung seiner ethischen
Ansichten bestimmt hat. Will man durchaus annehmen,
dass irgend eine Schrift den Anstoss zur Abfassung der
essays gab, so möchte es doch weit eher Humes Erstlings-
werk, „Treatise on human nature," gewesen sein, in
welchem er — wie auch später in der mit Ilomes essays
gleichzeitig erschienenen Untersuchung über die Prinzipien
der Moral — die Gerechtigkeit für eine Erfindung der
der Menschen erklärt hatte, was den entschiedensten
Widerspruch Homes hervorrief. Erregte gleich das Werk,
wie Hume in seiner Selbstbiographie mitteilt, bei dem
grossen Publikum nicht einmal in soweit die Aufmerksamkeit,
„dass die Frommen sich darüber ereifert hätten2)", so
(
1) Auch in dem zweiten (dem erkennt nistheorethischen) Teile der
essays ist die Polemik gegen Berkeleys Idealismus genau so eingehend wie
die gegen Humes Erklärung der Kausalität.
2) Dies lag an der Mangelhaftigkeit des Stils. Hume selbst gestand
später, dass er das Buch zu früh veröffentlicht habe. Vielleicht hatte
Home auch an dem Stil des „Enquiry" noch manches auszusetzen und
widerriet deshalb den Druck desselben. So würde sich die oben erwähnte
Briefstelle, die Tytler zum Beweise seiner Annahme heranzieht, sehr ein-
fach erklären.
— 10 —
konnte doch einem Manne wie Home die hohe Tragweite
der Hume'schen Gedanken nicht entgehen.
Aber bedurfte es denn bei einem Manne, der, wie
die meisten englischen und schottischen Philosophen, mitten
im Leben stand, überhaupt erst eines ethischen Werkes,
um ihn zur Abfassung einer Gegenschrift oder Ergänzungs-
schrift anzuspornen? Nennt doch Home einmal die Ethik
die„mistress-science** im Gegensatze zu allen übrigen Wissens-
zweigen , den „hand-maids". (S. 34). Und so finden wir
auch wirklich den 27 jährigen Jüngling bereits mit ethischen
Problemen beschäftigt, lange bevor seine erste juristische
Schrift erschien, und als Hume noch ein Knabe von
12 Jahren war. Er richtet nämlich 1723 ein Schreiben an
den berühmten Geistlichen Samuel Clarke, dem er einige
seiner Ansichten vorlegt»). War so das Interesse für die
Handlungen der Menschen von Anfang an in Home rege,
so w^urde es noch durch den Umstand gesteigert, dass er
ein Zeitgenosse der Deisten und ein Anhänger ihrer
Denkungsart war. Mit grossem Recht sagt Hettner: „Es
war weder der Zufall noch auch, wie man es meist zu be-
trachten pflegt, allein die Unfähigkeit zum eigentlichen
metaphysischen Philosophieren, es war im vollen Sinne des
Wortes eine geschichtliche Notwendigkeit, dass jetzt nach
dem Sieg des Deismus die Moralphilosophie immer ent-
schiedener in den Vordergrund trat und zuletzt zur fast
ausschliessenden Herrschaft gelangte2).'' Im ganzen Mittel-
alter hatte die Religion die Basis der Ethik gebildet.
Diese Basis erlitt jetzt Tag für Tag die gewaltigsten An-
griffe. Wenn sie ihnen erliegen würde, was sollte dann
aus der Moral werden? Würde dann auch sie untergehen
oder auf einer solideren Grundlage neu sich erheben?
Diese ernste Frage aufgeworfen, nach allen Seiten erwogen
und beantwortet zu haben, ist das bleibende Verdienst der
1) Siehe Tytler, a. a. 0., I, Appendix No. 2. Über den Inhalt dieses
Briefes weiter unten, S. 31 f.
2) Hettner, a. a. ü., S. 3.91.
i
— 11 —
englischen und schottischen Moralisten des vorigen Jahr-
hunderts, und zu ihnen, die mit offenem Blick und un-
erschrockenem Mute, frei von Autoritätsglauben und un-
bekümmert um das Urteil der Kirche, unumwunden aus-
sprachen, was sie für wahr und richtig erkannt, zu
ihnen gehört unser Home *).
Der erste, für unsere Darstellung allein in Betracht
kommende Teil der Essays besteht aus drei Versuchen.
Der erste Versuch zeigt an der Hand eines Problems der
Ästhetik, nämlich der Frage nach der Ursache des Ver-
gnügens an tragischen Gegenständen, dass der Mensch ein
geselliges Wesen (a social being) ist, dass seine uneigen-
nützigen Triebe gerade so ursprünglich wie die selbstischen
und nicht etwa erst aus diesen abgeleitet sind. Der zweite
Versuch handelt in neun Kapiteln von der Grundlage und
den Triebfedern des Sittengesetzes 2). Der dritte Versuch
endlich ist dem Problem der Willensfreiheit gewidmet.
Wir gehen nunmehr zur Darstellung der in diesen
drei essays niedergelegten Anschauungen über und zwar
nach folgenden Geschichtspunkten:
1. Kap. Die Grundlage der Moral. (2. Versuch, Kap.
l bis 4 und Kap. 6).
2. Kap. Theorie der Affekte. (1. Versuch; 2. Ver-
such, Kap. 5 und 7).
1) Es würde hier zu weit führen, von den Anfeindungen zu berichten,
welche die Essays vorzüglich wegen des in ihnen gelehrten Determinismus
erlitten, von den Gegenschriften, von der Petition an den geistlichen
Gerichtshof Schottlands, Home und Hume zur Verantwortung zu ziehen,
von der Ablehnung der Petition, von Homes Schrift zur Verteidigung seiner
Anschauungen etc. Tytler teilt dies alles ausführlich mit, a* a. 0., I,
Kap. 5.
2) Of the Foundation and Principles of the Law of Nature". Das
Wort „principle" gebraucht Home am häufigsten in der Bedeutung „Neigung"
„Affekt", „Triebfeder", seltener steht es für „Grundsatz". Mit „law of
nature" bezeichnet er das Sittengesetz, indem er dieses aus der Natur
des Menschen entspringen lässt. Auch Shaftesbury nennt die sozialen
Aftekte „natürliche" mit der deutlichen Absicht, die nahe und ursprüngliche
Beziehung dieser Meigungen zur i^lenschennatur aufzuzeigen.
i
— 12 —
3. Kap. Die Hauptgesetze der Moral. (2. Versuch,
Kap. 8).
4. Kap, Die Entwickelung der sittlichen Anschau-
ungen. (2. Versuch, Kap. 9).
5. Kap. Die Freiheit des Willens. (3. Versuch).
Erstes Kapitel.
Die Grundlage der Moral.
Die sittlichen Kräfte der allgemeinen Menschennatur als
Grundlage des Sittengesetzes. Homes teleologische Welt-
anschauung. Der moral sense in seinem Verhältnis zu der
Loke'schen Erkenntnistheorie. Kritik der Moralsysteme
von Shaftesbury, Hutcheson, Hume und Smith. Der moral
sense als Gewissen; Butler, Home und Kant. Die Haupt-
und Hülfstugenden ; Home und Kant. Polemik gegen die
heteronomen Systeme. Polemik gegen die Vernunftmoral
von Clarke und Wollaston.
In der Einleitung zum zweiten Essay klagt Home
darüber, dass zwar in der Naturwissenschaft und in der
Logik die induktive Methode nach dem Vorgange be-
deutender Forscher immer mehr Platz greife, die Ethik
dagegen nach wie vor ein Tummelplatz für metaphysische
Spekulationen bleibe. ,,Täglich schreibt man dem Menschen
Regeln des Verhaltens vor, ohne im geringsten darauf zu
sehen, ob sie auch aus der menschlichen Natur entspringen
oder ihr gemäss sind." (S. 33). So erhebt der eine Sitten-
lehrer den Menschen zu den Engeln und stellt Anforderungen
an ihn, die er nicht imstande ist zu erfüllen, ein anderer
wiederum erniedrigt ihn und reicht ihm ein Gesetzbuch
dar, „das den unvernünftigen Tieren angemessen wäre als
vernünftigen Wesen". (S. 34). Beides ist von schlimmen
Folgen: Einer unausführbaren Aufgabe gegenüber ver-
zweifelt der Mensch und legt sie bei Seite; verkleinert
^ 13 -
man andererseits den Abstand zwischen Mensch und Tier,
so verstärkt man die Macht der Leidenschaften. Home
verspricht, seine Schlüsse an ihrem wahren Probierstein,
dem der Erfahrung, zu prüfen.
Was ist nun vor allem die wahre Grundlage des
Sittengesetzes, die so viele Philosophen zu bestimmen sich
bemüht haben, bei welchem Bestreben sie aber zu so gänz-
lich von einander verschiedenen Resultaten gelangt sind?
Es ist, um es gleich vorauszuschicken, die allgemein
menschliche Natur (the common nature of man). Dies
Resultat ergiebt sich Home aus folgender Betrachtung: Es
giebt keine engere Verbindung als die zwischen einem Wesen
und seinen Handlungen; denn es ist die Verbindung zwischen
Ursache und Wirkung. Nun gehört aber jedes Wesen zu einer
bestimmten Klasse, und die verschiedenen Klassen der
Geschöpfe unterscheiden sich nicht nur durch ihre Gestalt,
sondern auch durch ihre innere Einrichtung, wie dies aus
dem einer jeglichen Gattung eigentümlichen Verhalten er-
kannt wird. Handelt nun das einzelne Geschöpf der gemein-
schaftlichen Natur seiner Gattung gemäss, tritt die aus
seiner Zugehörigkeit zu dieser bestimmten Gattung zu er-
wartende Aktion ein, so erweckt dies in uns das Gefühl
der Ordnung und Gesetzmässigkeit, und wir nennen die
Handlung regelmässig und gut. Weicht sie dagegen von
der gemeinschaftlichen Natur der Gattung ab, so mag sie
noch so sehr mit der besonderen Einrichtung dieses Wesens
übereinstimmen, das hindert uns nicht, die That für eine
ordnungswidrige (disorderly) und ungereimte (whimsical)
zu halten, gerade so, wie wir einen Menschen mit zwei
Köpfen oder vier Händen eine Missgeburt nennen, wie ge-
schickt auch immer ein solcher Mensch seine überzähligen
Gliedmassen zu gebrauchen versteht.
Jetzt wissen wir, dass wir die Grundlage des Sittenge-
setzes in der Natur des Menschen zu suchen haben und
zwar nicht in der besonderen Natur eines jeden Einzelnen,
sondern in der gemeinschaftlichen Natur der Gattung. Es
i\
14 —
15
gilt also, die Natur des Menschen als solchen zu unter-
suchen, die sittlichen Kräfte in derselben aufzudecken, um
hiernach seine sittlichen Aufgaben zu bestimmen.
Freilich darf ich die sittlichen Aufgaben und Zwecke
nur dann aus den im Menschen ruhenden sittlichen Kräften
bestimmen , wenn ich von der Zweckmässigkeit in der
Natur überhaupt und somit auch in der Menschennatur im
Besondern überzeugt bin; und diese Überzeugung spricht
denn auch Home deutlich aus, wenn er sagt: „Wir tragen
kein Bedenkrn zu behaupten, dass eine Art der Dinge, die
diese oder jene Natur hat, auch für diesen oder jenen
Endzweck gemacht ist.'' (S. 37). Man hat Home die
häufige Bezugnahme auf Endursachen (final causes) zum
Vorwurt gemacht und ihm das Wort Bacons entgegenge-
halten, welches das Aufsuchen von Endursachen bezeichnet
als eine „inquisitio sterilis et tanquam virgo Deo consecrata,
quae nihil parit." Schon Tytler*) aber nimmt unsern
Philosophen in Schutz: Bacon habe nur behauptet, die
Endursachen dürfen nicht an die Stelle der physikalischen
Ursachen treten, was allerdings der wissenschaftlichen
Forschung Schaden bringen würde. Allein nach Auf-
suchung der physikalischen Ursachen ist es nicht nur nicht
schädlich, sondern sogar förderlich, Endursachen zu ent-
decken. Home verweilt zwar mit Vorliebe bei teleolo-
gischen Betrachtungen, verfällt dabei aber nicht in den
oben gerügten Fehler*^). Wir haben somit keinen Grund,
über Homes teleologische Auseinandersetzungen den Stab
zu brechen. Mag auch die naive Ausdrucksweise uns zu-
weilen etwas seltsam anmuten, der Grundgedanke ist doch
wahr und wertvoll. Denn der Einführung des Zwecks-
begriffes in die Natur verdanken wir es, dass „die innere
Bestimmung des Menschen tiefer erkannt wurde und die
1) a. a. 0., I, Appendix No. 3.
2) So widmet er z. B. im 3. Buch der „Sketches of the History
of Man" zwar den ., final causes" des Sittengesetzes ein hcsondcres Kapitel,
aber erst, nachdem ohne Rücksicht auf sie die Gesetze aufgestellt sind.
Begriffe des Organischen und Ethischen sich gegenseitig
vertieften und aufhellten»).*'
Wenn wir unser Augenmerk auf unser Verhältnis zu
unserer Umgebung richten, so bemerken wir, dass nichts
in der Welt uns gleichgültig lässt, sondern alles uns ent-
weder Freude oder Schmerz bereitet. Diese Empfindungen
haben verschiedene Grade, die von dem Gesichtspunkte
abhangen, von dem aus wir die Gegenstände betrachten.
Manche Dinge erfreuen oder schmerzen uns durch ihr
blosses Vorhandensein; der Anblick einer schattigen Eiche
gefällt, der eines missgestalteten Geschöpfes missfällt ohne
weiteres, und wir nennen erstere schön, letzteres hässlich.
Dieser Art von Schönheit und Hässlichkeit weist Home
die niedrigste Stufe an. Eine höhere Stufe scheint ihm
diejenige Schönheit (resp. Hässlichkeit) zu sein, die wir
einein Gegenstande zuschreiben mit Rücksicht auf seine
Tauglichkeit (resp. Untauglichkeit) zu irgend einem End-
zweck, sei dieser selbst nun gut oder schlecht. Diese
Art der Schönheit findet sich bei den Werken der Kunst
und des Verstandes (Beispiele: Ein zum Wohnen bequemes
Gebäude; ein wohlgeordneter Staat^). Ziehen wir den
Endzweck selbst, dem der Gegenstand dient, in Betracht,
so erhalten wir eine dritte, wiederum höhere Art von
Schönheit und Hässlichkeit, je nachdem der Gegenstand
das Mittel zu einem nützlichen oder schädlichen Endzweck
ist. (Z. B.: Ein schön gebautes Schiff gefallt beim ersten
Anblick [erster Grad], es gefällt noch mehr durch seine
Tauglichkeit zur sicheren Beförderung [zweiter Grad], es
es gefällt schliesslich am meisten durch die Nützlichkeit
1) A. Trendelenburg: Logische Untersuchungen, 3. Auflage, Leipzig
1870, II, S. 40.
2) Im 3. Kap. der „Elements ot Criticism*' nennt Home die erstere
Stufe „intrinsic beauty*' (Schönheit an und für sich), die letztere „relative
beauty" (Zweckniässigkeitsschönheit). Über die Ähnlichkeit dieser Unter-
ßcheidung mit der Kantischen von „freier und anhängender Schönheil**,
sowie über die Verschiedenheit der Schlussfolgeiungen der beiden Ästhetiker
vgl. die oben (S. 5) genannten Monographien über Homes Ästhetik.
!l
— 16 -
dieses Zweckes, den Verkehr zu erleichtern und Bequem-
lichkeilen mancher Art den Menschen zu verschaffen
[dritter Grad]).
Die beiden letzten Arten von Schönheit und Häss-
lichkeit schliessen die Empfindung der Billigung (appro-
bation) und Missbilligung (dissapprobation) in sich, denn
„billigen, loben*' heisst: etwas in Ansehung des Endzweckes
gut, „mJssbilligen, tadeln": etwas in Ansehung des End-
zweckes schlecht finden. Auf die erste »Stufe dfer Schönheit
finden demgemäss jene Ausdrücke keine Anwendung.
Die drei oben geschilderten Arten der Schönheit und
Hässlichkeit kommen allen Dingen zu, lebendigen und leb-
losen. Nun giebt es aber noch eine vierte, von den
übrigen grundverschiedene Stufe, die sich nur bei den
Menschen findet. Betrachtet man nämlich die Handlungen
der Menschen als hervorgegangen aus Absicht, Über-
legung und Wahl (Intention, deliberation and choice),
so unterscheiden wir sie nicht nur als schöne oder häss-
liche in den vorhin erwähnten Bedeutungen, sondern wir
trennen sie noch genauer in schickliche, rechte und
angemessene (fit, right and meet to be done) und in
unschickliche, unrechte und unangentessene
Handlungen (unfit, unmeet and uwrong to be done).
Diese Unterscheidungen beruhen auf einfachen Ge-
fühlen, die einer weiteren Erklärung nicht fähig sind (simple
feelings, capable of no definition). Aber sie bedürfen
solcher auch nicht, ein Jeder findet sie bei scharfer Selbst-
beobachtung in seinem Innern. Eine Handlung, aus über-
legter Absicht hervorgegangen betrachtet , wird in einem
ganz besonderen Sinne als schön oder hässlich bezeichnet.
Daher geben wir dieser vierten Stufe der Schönheit auch
einen besonderen Namen, wir nennen sie moralische
Schönheit (resp. Hässlichkeit), wir sprechen von der
Sittlichkeit oder Unsittlichkeit der menschlichen
Handlungen, und die Kraft oder das Vermögen, durch
*■'
— 17 —
welches wir diesen Unterschied unter den Handlungen
wahrnehmen, heisst das „moralische Gefühl" (moral sense).
Das die moralische Schönheit eine spezifisch andere
ist als die übrigen drei (ästhetischen) Stufen derselben,
bezeugt der Umstand, dass wir einen Künstler, dessen
Werk uns gefällt, wegen seiner Geschicklichkeit loben,
niemals aber wegen seines Charakters.
Wir sehen, wie Home darauf dringt, die „moralische
Schönheit" von der ästhetischen zu trennen. Der Wert-
unterschied zwischen dem Sittlichen und allen übrigen
Lebensgebieten ist von ihm klarer erkannt worden als von
seinen Vorgängern, wie wir weiter aus seiner Polemik
gegen dieselben erkennen werden. Vorher nur noch einige,
Worte zur Charakterisierung des „moralischen Gefühls"
Die Meinung ist verbreitet, als ob Hutcheson, der
zuerst die Lehre vom „moralischen Sinn" aufstellte, und
diejenigen , welche diesen Begriff von ihm annahmen und
weiter ausbildeten, der Erkenntnistheorie Lockes untreu
geworden seien, indem sie wieder eine „angeborene Idee"
in die Philosophie eingeführt hätten »). Allein es ist keines-
wegs die Meinung jener Denker, dass die Empfindungen
des moralischen Sinns angeboren seien. Nichts anders /
haben sie im Sinn als zu zeigen, dass die moralischen Ge- r
fühle dem Menschen natürlich und kein künstliches j
Produkt der Erziehung und der Gesellschaft sind. Da nun
Locke selbst im Allgemeinen einen natürlichen, ur-
sprünglichen Sinn annimmt ~ von einem besonderen
ästhetischen und moralischen Sinne findet sich nichts bei
ihm ~, so bezeichnet Zart 2) umgekehrt die Annahme des
moral sensegeradezu als „eineSpezialisierungderLocke'schen
Psychologie, welche bei genauerer Untersuchung der . . .
moralischen Erscheinungen notwendig schien". Als Be-
weis für die Richtigkeit seiner Auffassung führt er noch
1) So z. B. Windelband, a. a. 0., I, S. 265.
2) G. Zart: Einfluss der englischen Pliilosophen seit Bacon auf die
deutsche Philosophie des 18. Jahrhunderts. Berlin 1881. S. 93.
— 18
19
den Umstand an, dass Butler die moralische Anlage mit
dem Ausdruck „Reflexion" bezeichnet. Hutcheson erklärt
ausdrücklich, dass angeborene praktische Urteile nirgends
nachweisbar seien ; der moral sense ist ihm nicht mehr und
nicht weniger als „die Einrichtung unserer Natur, von be-
stimmten Gegenständen mit einem wohlthuenden oder
widrigen Gefühl affiziert zu werden" i). Es ist daher nicht
zuzugeben, dass die Vertreter des moral sense mit ihrer
Annahme den Boden der Locke'schen Erkenntnistheorie
verlassen hätten.
Wie bedeutend aber auch immer der Fortschritt der
Moralisten war, welche, die Fesseln der Theologie und der
Scholastik abstreifend, die Sittlichkeit nicht in abstrakten
Begriffen, sondern in den Gefühlen des menschlichen
Herzens suchten und auffanden, mit wie grossem Recht
auch Meiners2) den Shaftesbury als den ersten Hochpriester
bezeichnet, der den lange verschlossenen Tempel der
menschlichen Natur wieder geöffnet, der ohne Verleumdung
und Lobrednerei den Menschen so erkannt und geschildert,
wie ihn die Gottheit hervorgebracht: ein Fehler lag dieser
psychologischen Begründung der Ethik sehr nahe, ein
Fehler, der Kant so bedenklich erschien, dass er den un-
natürlichen Versuch unternahm, die Psychologie gänzlich
aus der Ethik zu verbannen. Wir vermissen nämlich bei
den Vertretern der Gefühlsmoral zumeist das imperativische
Moment. Entweder zeigen sie uns, dass es klug und vor-
teilhaft sei, sittlich zu handeln, oder sie erklären, dass
es schön sei, und sie versichern, dass wir durch sittliches
Handeln uns die Liebe unseres Mitmenschen erwerben.
Dass es aber eine strikte Pflicht giebt, der wir ohne
Widerspruch unbedingt gehorchen müssen, diese Lehre
suchen wir bei ihnen vergebens.
1) Siehe E. v. Hart manu: Phänomenologie des sittlichen Bewusst-
seins, Berlin 1879. S. 164 f.
2) Siehe C. Meiners: Allgemeine kritische (Tcschichte der altem und
neueren Ethik oder Lebenswissenschaft, Göttingen 1800. S. 278.
Home hat den hier gerügten Mangel deutlich erkannt,
und er deckt ihn unbarmherzig auf, wiewohl es nach
seiner Ansicht eine unangenehme Arbeit ist, Schriftsteller
zu kritisieren, „die die Sache der Tugend befördert haben.*'
Shaftesbury, so führt er aus, habe überzeugend dar-
gethan, dass die Tugend ein Glück, das Laster ein Un-
glück für uns sei, dass sie aber unsere Pflicht ist, habe er
nicht bewiesen. Wenn also jemand die ethischen Vor-
schriften missachtet, so könne er nach Shaftesbury nur für
thöricht, niemals aber für boshaft gehalten werden.
Ist es bei Shaftesbury's System die eudämonistische
Färbung, welche Home bemängelt, so setzt er an Hutcheson
aus, dass er die Sittlichkeit der Handlungen auf die Be-
schaffenheit derselben gründet, die dem, der sie vollbringt,
Beifall und Liebe erwirbt. Diese Begründung nennt Home
unvollkommen; denn ein Mensch, welcher Niemandem
Schaden zufügt und sein gegebenes Versprechen treulich
erfüllt, ist sittlich, ohne dass wir ihn deshalb gerade lieben.
Unsere Liebe erwirbt er sich erst durch grossmütige und
wohlthätige Handlungen. Hauptsächlich aber, bemerkt
Home, verdient der Umstand Erwähnung, dass, wenn man
den Beifall zum Grunde der Sittlichkeit macht, die Aus-
drücke „Recht, Verbindlichkeit, Pflicht, Sollen, Müssen''
(right, Obligation, duty, ought, should) keine unterscheidende
Bedeutung haben. Beifall (approbation) kommt, wie oben
gezeigt wurde, nicht nur moralischen Handlungen, sondern
auch Gegenständen der Kunst und des Verstandes zu,
wenn sie mit Hinsicht auf den Endzweck betrachtet werden.
Indem so Hutcheson die Grenze zwischen Ästhetik und
Ethik verwischt, lässt er es an einer befriedigenden Er-
klärung des Pflichtbegriffs fehlen.
David Hume lässt in seinem „Treatise on human
nature" die Sittlichkeit einer Handlung in dem Beifall be-
stehen, den wir derselben zollen, wenn wir durch Über-
legung erkennen, dass sie dem Wohle der Gesellschaft
dient. Abgesehen davon, dass dies eine zu schwache Be-
— 20 -
gründung ist, um die Leidenschaften zu zügeln, lässt
auch diese Theorie die Ausdrücke „Pflicht, Schuldigkeit etc."
unerklärt.
In der dritten Auflage der Essays geht Home auch
auf das Sympathieprinzip des Adam Smith ein^). Nach
Smith beruht die Sittlichkeit darauf, dass wir uns in die
Lage des Andern versetzen. Hiergegen macht Home be-
sonders geltend, dass dann die mit der grössten Einbildungs-
kraft begabten Menschen am meisten, und diejenigen,
welche nur im geringen Masse diese Eigenschaft besitzen,
am wenigsten von ihren moralischen Pflichten durchdrungen
sein müssten, was der Erfahrung widerspricht.
Nunmehr ist es an Home, eine festere und stichhaltigere
Grundlage für die Ethik zu finden. Zu diesem Zwecke
nimmt er eine scharfe Analyse des moralischen Gefühls
vor. Dieses Gefühl hatten wir oben als das Vermögen
erkannt, durch welches wir die menschlichen Handlungen
als schicklich, recht, angemessen oder als unschicklich,
unrecht, unangemessen bezeichnen. Diese Ausdrücke
kommen den menschlichen Handlungen zu im Gegensatz
zu den Gegenständen der Kunst. Aber auch zwischen den
menschlichen Handlungen selbst macht das moralische Ge-
fühl einen Unterschied, indem es die Ausübung mancher
Handlungen als schicklich empfiehlt, andere hingegen
als notwendig fordert. Bei einer Gattung von
Handlungen — die genauere Untersuchung ergiebt, dass
es die Werke des Wohlwollens und der Menschenliebe
sind — haben wir die Empfindung, dass es schicklich und
angemessen ist , sie auszuführen ; unterlassen wir sie aber
so sind wir uns keines Unrechts bewusst. Anders bei der
zweiten Gattung — es sind die Handlungen der Ge-
rechtigkeit, Wahrhaftigkeit und Treue - : hier fordert das
moralische Gefühl die Ausführung oder die Unterlassung
1) Adam Smith's „Thcory of moral scntiments" erschien London
1759, ein Jahr nach der 2. Auflage der Essays.
^f
)
— 21 —
von Handlungen als eine strikte Pflicht , der wir unter
keinen Umständen uns entziehen können , „wir sind uns
einer Notwendigkeit bewusst, die uns zu ihrer Ausübung
verbindet und zwingt, nicht anders, als wenn wir durch
eine äusserliche Gewalt getrieben würden." (S. 49).
Das moralische Gefühl hat demnach ein doppeltes
Amt. Indem es die Handlungen unterscheidet als solche,
die unumgängliche Pflicht sind, oder solche, die ausser
den Grenzen der strikten Pflicht liegen und unserer Willkür
überlassen bleiben, schafft es zwei Stufen von Tugenden:
die Haupt- und Hülf stugenden (primary and secondary
virtues). In der ersteren Funktion berührt sich das moralische
Gefühl doch in so fern mit dem ästhetischen, als es die
Hülfstugenden in ihrer Erhabenheit und Schönheit uns vor
Augen führt; in der andern Funktion aber tritt es in der
Gestalt eines mächtigen und unbeugsamen Gesetzes auf,
Gehorsam fordernd ohne Bedingung und ohne Widerspruch,
den zügellosen Leidenschaften ein gewaltiges „Halt"! zu-
rufend und dem Gemüte das „Du sollst" mit aller Strenge
einschärfend. In dieser zweiten Funktion heisst das
moralische Gefühl „Gewissen" (conscience), und es be-
thätigt sich auf doppelte Weise: Es hält dem Schwankenden
seine Pflicht vor Augen, mahnt ihn an die Ausführung oder
Unterlassung der That (mahnendes Gewissen); nach Über-
tretung einer Pflicht aber quält es den Menschen durch
die Empfindung der Selbsterniedrigung, durch das Gefühl
von verdienter Strafe und durch die Furcht vor derselben
(strafendes Gewissen).
Dass das moralische Gefühl diesen Unterschied
zwischen pflichtmässigen und verdienstlichen Handlungen
macht, das ist eine einfache Thatsache des Bewusstseins,
die eine weitere Zergliederung und Erklärung nicht zulässt.
„Wir können keinen andern Beweis davon geben, als dass
wir uns auf eines Jeden eigene Empfindung berufen. Man
lege nur alle Vorurteile bei Seite und gebe auf das genau
Acht, was in der Seele vorgeht. Mehr fordere ich
— 22
nicht*'. (S. 48 f.). In allen Sprachen finden sich auf der
einen Seite die Ausdrücke „Pflicht, Schuldigkeit, Müssen,
Sollen", auf der andern Seite die Bezeichnungen „Edelmut,
Wohlwollen, Güte*'; und da die Sprache der Ausdruck
unserer Gefühle ist , so sind diese Bezeichnungen ein
deutlicher Beweis für das Vorhandensein des moralischen
Gefühls in der angeführten doppelten Form.
In diesen Ausführungen verdienen zwei Punkte be-
sondere Beachtung:
1) Die scharfe Hervorhebung der Funktion des Ge-
wissens,
2) die Trennung von Haupt- und Hülfstugenden,
In dem ersten Punkte hat Home in Butler einen Vor-
gänger; die Haupt- und Hülfstugenden hat Home, wie es
scheint, zum erstenmal einander gegenübergestellt.
Home bezeichnet Butler als denjenigen Philosophen,
der den wahren Grund der sittlichen Verpflichtung tiefer
erkannt habe, als irgend ein Anderer. Joseph Butler,
Bischof in London, ein um vier Jahre älterer Zeitgenosse
Homes, hat in seinen „Predigten" seine ethischen An-
schauungen niedergelegt ^). Ein Schüler Shaftesbury's,
nimmt er dessen „Reflexionsaft'ekte" in seine Lehre auf.
Während diese Affekte aber bei Shaftesbury den selbstischen
und den geselligen Trieben nebengeordnet sind und die
Sittlichkeit in der harmonischen Entfaltung aller dieserTriebe
besteht, weist Butler den Reflexionsaffekten eine höhere
Aufgabe zu: sie sind den übrigen Trieben übergeordnet
und haben die Befugnis, dieselben zu überwachen und ihre
Befriedigung entweder zu gestatten oder zu untersagen.
Er giebt den Reflexionsaffekten den Namen „Gewissen".
Diese wichtigen Bemerkungen Butlers sind vielfach über-
sehen worden. Mackintosh^) schreibt dies seinem un-
genügenden Stil zu. Niemals, meint er, sei ein so grosser
1) J. Butler: Fifteen sermons upon human nature, or man consi-
dered as a moral agent. London 1726.
2) a. a. 0 , Abschnitt über Butler.
23 —
Denker ein so schlechter Schriftsteller gewesen; daher
habe er wohl so wenige Nachfolger aufzuweisen. Es gereicht
Home zur Ehre, zu diesen Wenigen zu gehören und mit
allem Nachdruck auf die Bedeutsamkeit der Butler'schen
Lehre hingewiesen zu haben. Er ist der Ansicht, dass
Butler wohl mehr Licht über das „Gewissen" verbreitet
hätte, wenn der Gegenstand von ihm, statt in der Vorrede,
in den Predigten selbst behandelt worden wäre; so aber
seien seine Ausführungen zu dunkel. Zwei Punkte besonders
sind hervorzuheben, durch welche sich Homes Lehre vom
Gewissen von der Butlers unterscheidet :
1) Nach Home ist das Gewissen weder eine bei-
geordnete noch auch eine übergeordnete Triebfeder, sondern
der Führer und Lenker der Triebfedern. Das
moralische Gefühl findet Affekte vor, and seine Aufgabe
ist es , diese Affekte durch Zustimmung zu verstärken oder
durch Versagung der Zustimmung einzudämmen ; es selbst
aber ist kein Affekt i). 2) Die Herrschaft des Gewissens
besteht keineswegs allein in einer Handlung der Überlegung
(reflection), sondern sie entspringt aus einer unmittelbaren
Empfindung, die sich unserer bemächtigt, sobald der
Gegenstand sich darstellt. Bei der ethischen Schätzung-
redet ja gewiss die Vernunft mit, allein um mit v. Hart-
mann zu sprechen, immer „hat die Empfindung den Vor-
rang, und das Urteil spaziert nur als der hülfreiche Diener
hinterdrein 2).'*
Zart 3) schätzt das Verdienst Homes um die Lehre
von der Unbeugsamkeit des Pflichtgebotes so hoch, dass
er keinen Anstand nimmt, ihn mit den Namen eines
„englischen Kant" auszuzeichnen. Er nennt Homes An-
schauung ,,eine Vorandeutung und Vorbereitung eines
späteren wStandpunktes, die in Form der Vorahnung auftritt."
1) Siehe weiter unten, S. 31.
2) E. V. Hartmann a. a. 0., S. lli.
3) Zart, a. a. 0., S. 230.
— 24 —
Grossen Wert legt Home auf die Unterscheidung der
primären und sekundären Tugenden. Bereits in dem oben ^)
erwähnden Briefe an Clarke — 28 Jahre vor dem Er-
scheinen der Essays — neigt er stark zu dieser Ansicht.
Die Begriffe „Grossmut, Güte, Selbstsucht" hätten gar nicht
gebildet werden können, gäbe es nicht eine Reihe von
Thaten, denen der Charakter der strengen Verbindlichkeit
fehlt. Man nennt einen Menschen, der seine Schulden be-
zahlt, nicht grossmütig ; und ebensowenig heisst der, welcher
sie nicht bezahlt, selbstsüchtig, sondern schlecht. In den
Essays widmet Home der Behandlung der beiden Tugend-
gattungen ein besonderes Kapitel. Er weist darauf hin,
dass die Haupttugenden diejenigen sind, ohne welche ein
Zusammenleben der Menschen undenkbar wäre, die Hülfs-
tugenden dagegen diejenigen, ohne welche die Gesellschaft
bestehen könnte, wenn gleich minder vollkommen. Es ist
daher, vom teleologischen Standpunkte aus betrachtet, eine
treffliche Einrichtung unserer Natur, dass das moralische
Gefühl, während es die Hülfstugenden nur anpreist, die
Haupttugenden geradezu fordert und ihre Übertretung mit
Gewissensbissen straft. Aber werden da die Hülfstugenden
nicht Gefahr laufen, vernachlässigt zu werden? Auch dies
wird durch die Einrichtung unserer Natur verhindert.
Sind auch keine Strafen auf die Verletzung der Hülfs-
tugenden gesetzt, so wird doch ihre Erfüllung belohnt,
und zwar „durch das Bewusstsein unseres inneren Wertes
und durch den Ruhm und den Beifall der Welt". (S. 55).
Diese Trennung der Pflichten in solche von enger
und solche von weiter Verbindlichkeit finden wir bei Wolff
und seiner Schule, sowie bei den Eklektikern (z. B. Sulzer)
wieder; von ihnen hat sie sodann Kant entlehnt 2). Auch
bei Kant sind die „vollkommenen" oder „unnachlasslichen*'
Pflichten diejenigen, ohne die das menschliche Geschlecht
1) S. 10.
2) Vgl. Hegler, die Psychologie in Kants Ethik. Freihurg i. B., 1891.
- 25 —
nicht bestehen könnte, während die „unvollkommenen" oder
„verdienstlichen" Pflichten für die Gesellschaft weniger
wesentlich sindO- Bei ersteren erkennen wir, dass ihre
Verletzung eine Maxime wäre, die unmöglich ein alige-
meines Gesetz werden kann, und diese Einsicht lehrt uns
unsere Schuldigkeit zu erfüllen. Wie aber bei den unvoll-
kommenen Pflichten? Eine Maxime, zu dem Wohle des
Nächsten nichts beizutragen, könnte wohl als allgemeines
Gesetz bestehen ; ein logischer Widerspruch kann hier nicht
gefunden werden. Aber, so fährt Kant fort, höchst merk-
würdigerweise in die egoistische Moral verfallend, die er
sonst so verpönt: der Mensch kann nicht wollen, dass
eine solche Maxime allgemeingültig werde , „indem der
Fälle sich doch manche ereignen können, wo er Anderer
Liebe und Teilnehmung bedarf, und wo er durch ein
solches aus seinem eigenen Willen entsprungenes Natur-
gesetz sich selbst alle Hoffnung des Beistandes, den er
sich wünscht, rauben würde 2)."
Dass dies keine ethische Begründung der Pflichten
zweiten Grades ist, muss Jeder zugeben; die Pflichten des
Wohlwollens und der Menschenliebe sind hier auf den
nakten Egoismus gegründet. Wie viel mehr befriedigt uns
da die Begründung Homes, dass die Erfüllung der Pflichten
des Wohlwollens belohnt wird durch das freudige Bewusst-
sein, sich über das Durchschnittsmass des Verlangten er-
hoben zu haben. Hiergegen könnte höchstens noch ein-
gewandt werden, der sittliche Mensch solle niemals glauben,
mehr als seine Pflicht gethan zu haben. Dies ist in so
fern gewiss richtig, als man in der Erfüllung der wesent-
lichen und der verdienstlichen Pflichten gleichen Eifer
zeigen soll. Im Bewusstsein aber ist der Unterschied der
Grade nicht zu verkennen. Wir müssen Home zugeben,
„dass kein Mensch so vorteilhaft von sich selbst denkt, weil
1) Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, ed. Kirchmann
M
S. 44 flf.
S. 266.
2) ebend. S. 47.
— 26 —
er eine gerechte, als weil er eine edelmütige Handlung
verrichtet". (S. 54).
Eine andere Frage wäre die, wo denn die Grenze ist,
welche die verdienstlichen Handlungen von den strengen
Pflichten sondert; doch davon später i).
In einem Punkt nun ist Home mit allen Moralphilosophen,
an denen er bis jetzt Kritik geübt hat, einig: Sie alle
haben die unschätzbare Bedeutung der Gefühle
erkannt, sie alle haben die Moral in enger Verbindung
mit der Psychologie behandelt. Mit dieser Überein-
stimmung ist eine zweite unvermeidHch verknüpft: alle
jene Moralsysteme sind autonom. Denn ist die Sittlich-
keit uns ins Herz geschrieben, geben unsere Gefühle Auf-
schluss über den Unterschied von gut und böse, so bedarf
es keines von aussen kommenden Gesetzes; es wäre zweck-
los, wenn es geböte, wozu ohnehin die Natur uns antreibt,
es wäre sinnlos, wenn es geböte, was unserer Natur wider-
spricht.
Zu allen Zeiten hat es Vertreter der heteronomen
Moral gegeben. Ihre Lehre gipfelt in der Behauptung,
dass erst der Ausspruch und der Wille Gottes einen
Unterschied zwischen Tugend und Laster hervorbringe.
Home nennt in seiner Polemik keine besonderen Vertreter
jener Pseudomoral, sondern bekämpft sie im Allgemeinen
und zwar mit dem bekannten Argument, dass wir niemals
dem göttlichen Wesen die Prädikate der Güte und der
Heiligkeit, der Liebe und der Gerechtigkeit beilegen
könnten, wenn wir nicht vorher eine Erkenntnis von dem
Unterschiede zwischen Tugend und Laster besässen. Wenn
die Vertreter der heteronomen Moral mit ihrem Satze
nichts anderes sagen wollten, als dass wir von dem Schöpfer
eine Anlage zur Sittlichkeit empfangen haben und dass in
sofern die Sittlichkeit von ihm abhängt, so Hesse sich da-
2) S. 71.
- 27 ^
gegen nichts einwenden. Ein anderes ist es aber, zu be-
haupten, die Entfaltung der sittlichen Anlagen ist dem
göttlichen Willen gemäss, ein anderes, anzunehmen, der
Mensch sei von Natur gegen Tugend und Laster gleich-
gültig und zu ersterer nur durch den willkürlichen Befehl
eines Oberherrn verpflichtet.
Nun giebt es aber noch eine andere Reihe von Denkern,
die zwar die Sittlichkeit auf autonomer Grundlage errichten,
gleichwohl aber Home als auf einem ganz falschen Wege
befindlich erscheinen: es sind die Intellektualisten, die die
Vernunft an die Stelle des Gefühls setzen. Die bekanntesten
Lehrer der Verstandesmoral in der ersten Hälfte des
vorigen Jahrhunderts sind Samuel Clarke^) und William
Wollaston. Clarke lehrt: Aus der ewigen und unwandel-
baren Natur der Dinge ergeben sich Gesetze für unser
Verhalten gegen dieselben. Die Pflanze ist ein vegetatives
Wesen: es ist schicklich, sie als ein solches zu betrachten»
d. h. ihr Wachstum zu befördern. Das Tier ist ein
empfindendes Wesen: es ist schicklich, es als ein solches
zu betrachten, d. h. ihm keinen Schmerz zuzufügen, etc.
So entspringt auch die Pfiicht des Gehorsams gegen Gott
aus seiner Eigenschaft als Herrscher der Menschen.
Das erste, was Home gegen obige Sätze geltend macht,
ist ihre Ungeeigenetheit, den Menschen als Richtschnur zu
2) Clarkes Lehre, dass aus den ewigen und notwendigen unter-
schieden der Dinge moralische Verpflichtungen der Menschen gegen die
Dinge erwachsen, wird allgemein als ein Moralprincip der Vernunft auf-
gefassr. E. v. Hartniann (a. a. 0., S. 131 ff.) ist meines Wissens der
Einzige, welcher sie ein ästhetisches Moralprincip nennt. Wiewohl,
meint er, Clarke seiu Princip als fitness of things (aptitudo rerum) be-
zeichnet, so werde jene Angemessenheit doch erläutert „als geziemende Ein-
ordnung in die Harmonie des Universums". In der weiteren Ausführung
des Clarke'schen Systems nähert sich aber auch v. Hartmann wieder der
gewöhnlichen Auffassung, wenn er gesteht, „dass der Einblick in die
universelle Harmonie derjenige Punkt ist, wo die ästhetische Betrachtung
am unmittelbarsten an die rationalistische streift" (S. 132) und wenn er
an Clarke rühmt, „dass er sich eine Beschränkung auf die ästhetische Seite
der Betrachtung nirgends ausdrücklich auferlegt hat". (S. 133).
— 28 -
dienen. Derartige Schlüsse sind dunkel und der grossen
Menge unverständlich. Die Vernunft ist „ein schwaches
Prinzipium'' (a weak principle). „Für den grossen Haufen
der Menschen, der wenig Fähigkeit hat, abstrakte Schlüsse
durchzudenken, muss es allemal ein schwaches Prinzipium
sein, wie viel Kraft es auch immer bei den Gelehrten und
Tiefsinnigen haben mag." (S. 74).
Dieser Einwand, bemerkt Home, ist unter der Vor-
aussetzung erhoben, dass die Schlüsse wenigstens richtig
sind; dies ist aber nicht einmal der Fall. Wenn Clarke
behauptet, dass, weil Gott unser Oberherr ist, es schicklich
sei, ihm zu dienen, so fragt Home mit vollem Recht, auf
welchem Grundsatz der Vernunft denn dieser Schluss be-
ruht. Es Hesse sich — bei Nichtberücksichtigung des
moralischen Gefühls — recht wohl denken, dass der Mensch
gegen seinen Schöpfer sich auflehnt; ein logischer Wider-
spruch lässt sich hier schlechterdings nicht auffinden^).
Clarke begeht hier eine petitio principii, indem er das,
was er beweisen will, die moralische Verbindlichkeit, ohne
sein Wissen schon als gegeben voraussetzt. Sein Irrtum
besteht darin, „dass er das Gesetz, das in unser Herz ge-
schrieben ist, übersieht, und sich die eitle Einbildung macht,
dass sein metaphysisches Argument richtig ist, weil es sich
trifft, dass die Folge, die er daraus herleitet, richtig ist."
(S. 73).
Endlich macht Home noch gegen Clarkes Lehre
geltend, dass sie der „Analogie der Natur'^ widerspricht.
Wenn die Erhaltung der Individuen durch den Trieb >) der
1) Genau so argumentiert Jodl (a. a. 0., II, S. 18) gegen Kants
Grundgesetz der praktischen Vernunft. „Ist es ein logischer Widerspruch,
der verhindert, dass die Maxime, auf der gewisse unsittliche Handlungen
beruhen, als allgemeines Naturgesetz nicht einmal gedacht, geschweige
denn gewollt werden kann? Sicherlich nicht; dass es kein Depositum, kein
Eigentum, keine gegenseitige Unterstützung gebe, lässt sich ohne jeden
Widerspruch vollkommen klar vorstellen."
2) Über die Triebe siehe nächstes Kapitel.
— 29 —
Selbsterhaltung, die Fortpflanzung der Gattung durch den
Geschlechtstrieb gefördert wird, so ist der Analogieschluss
berechtigt, dass die Pflichten gegen unsere Nebenmenschen
gewiss nicht der „kalten Vernunft" allein überlassen sind-
Nicht minder scharf ist Homes Polemik gegen
Wollaston, der in seinem „wunderlichen" (whimsical)
Systeme alle Laster auf die Lüge zurückführt; aus der
Unsittlichkeit der Lüge ergiebt sich ihm dann die Un-
sittlichkeit aller Laster. Stehlen z. B. ist verwerflich, denn
ich behaupte damit, dass fremdes Eigentum meins ist; des-
gleichen ist der Ehebruch unsittlich, denn ich stelle damit
die Behauptung auf, dass meines Nächsten Weib mir ge-
hört. Treflend weisst nun Home auf die Unnatürlichkeit
hin, mit welcher Wollaston allen so verschiedenen Lastern
den gleichen Stempel aufzudrücken sich bemüht. Sodann
wirft er ihm dieselbe petitio principii vor, die er bei Clarke
aufgedeckt hat. Warum, fragt Home, ist Diebstahl eine
Lüge? Doch wohl, weil der Dieb den Unterschied zwischen
,,Mein" und „Dein" verwischt. Was bedeutet aber: „Dies
ist mein?" Nichts anderes als: Ich habe ein Recht auf
den alleinigen Besitz, und es ist daher unrecht, wenn ein
Anderer es mir raubt. Die Begriffe von „recht" und
„unrecht'^ sind hier also schon vorausgesetzt. Was nun
vom Diebstahl gesagt ist, lässt sich ebenso auf die anderen
Laster anwenden, die Wollaston in das Gewand der Lüge
kleidet.
Schliesslich aber dürfte man doch von Wollaston er-
warten, dass er nun wenigstens die Unsittlichkeit der Lüge
erweise. Dies aber hat er keineswegs gethan, sondern es
der Überzeugung eines Jeden überlassen. Mit demselben
Rechte jedoch hätte er dann auch die übrigen Laster
unserer mneren Überzeugung überlassen können.
Der scharf ablehnende Standpunkt, den Home gegen-
über der Vernunftmoral einnimmt, kann nicht kürzer und
schärfer gekennzeichnet werden, als durch einen Ausspruch
in den „Sketches:" „To maintain that the qualities of
30 —
— 31
right and wrong are discoverable by reason, is no less
absurd than that tnith and falsehood are discoverable by
the moral sense i)". („Die Behauptung, die Eigenschaften
von recht und unreclit könnten von der Vernunft entdeckt
Virerden, ist nicht weniger absurd, als die, dass Wahrheit
und Irrtum durch das moralische Gefühl entdeckt werden
können").
Zweites Kapitel.
Theorie der Affekte.
Das V^erhältnis des moral sense zu den Affekten. Kritik
des extremen Altruismus. Die Sorge für das Gesammt-
wohl. Der Grund des V^ergnügens an tragischen Gegen-
ständen und Kritik des absoluten Egoismus. Tabelle der
Affekte. Eingehende Polemik gegen Humes Theorie von
der Gerechtigkeit als einer künstlichen Tugend; Nachweis
der Ursprünglichkeit des Eigentumsgefühls und des
Gerechtigkeitstriebes.
Wir haben jetzt die wahre Grundlage der Sittlichkeit
deutlich erkannt. Indem wir die menschliche Natur sorg-
fältig untersuchten und unsere Augen den Thatsachen der
Erfahrung nicht verschlossen, fanden wir, dass der Mensch
eine Anlage zur sittlichen Lebensführung besitzt, dass ein
ethisches Gefühl in sein Herz gepflanzt ist, um seines er-
habenen Amtes zu walten, zu loben und zn tadeln, zu
gewähren und zu versagen. Soll das moralische Gefühl
aber seine Funktionen ausüben können, so muss es Material
vorfinden, so muss etwas vorhanden sein, was zu loben
oder zu tadeln, zu gewähren oder zu versagen ist. Dieses
Material liefern die Affekte und Leidenschaften. Der
Mensch geht nie gleichgültig an der Aussenwelt vorüber,
Alles und Jedes macht einen Eindruck nach irgend einer
2) Sketches of the History of Man. Edinbnrgh 1788. ^2. Auflage)
IV, S. 189.
Richtung auf ihn; er liebt und hasst, er hofft und fürchtet,
er wünscht und verabscheut. Mächtig und stark ist das
Getriebe der Leidenschaften , jede Begierde verlangt ihr
Recht und will den Sieg über die andern erringen. An
diesem Punkte nun tritt das moralische Gefühl sein Amt
an; „um zu verhüten, dass wir nicht zu weit gehen oder
eine falsche Direktion nehmen, ist das Gewissen gleichsam
beim Steuerruder gesetzt" (S. 59). Das moralische Gefühl
selbst ist keine Triebfeder, seine Aufgabe ist es vielmehr,
die Triebfedern der Handlungen ethisch zu beleuchten und
von diesem Gesichtspunkte aus den Stempel des Schönen
und Unschönen, des Rechts und Unrechts ihnen aufzudrücken.
Schon oben bei der Kritik Butlers hat Home die vSonderstellung
des moral sense scharf hervorgehoben, und er wird nicht
müde, sie immer und immer von neuem zu betonen. In
der That ist auch jene Bemerkung für Homes System
von hoher Bedeutung. Gegenüber jenen Denkern, welche
die Tugend als schön oder als nützlich hinstellen , hatte
er im Namen der Pflicht kräftig seine Stimme erhoben
und den in der Theologie so fruchtbaren Begriff des Ge-
botes für die Philosophie verwertet. Diese Lehre hatte
aber eine gefährliche Kehrseite: Sollte sie ihre Wirkung
nicht verfehlen, so musste sich Home von einem „starren
Rigorismus" nicht minder fernhalten, als er es von einer
sentimentalen Lobeserhebung der Tugend that. Er durfte
nicht lehren: „Du kannst, denn du sollst", sondern um-
gekehrt musste die Formel lauten: „Du sollst, denn du
kannst". Du kannst, du hast in deiner Natur eine An-
lage zum Edlen und Tugendhaften, drum sollst du auch
tugendhaft sein. Der moral sense ist kein Affekt, der die
anderen aufzuheben vermöchte, denn er ist überhaupt kein
Affekt. Er steht nicht den Neigungen als eine Neigung
entgegen, sondern er steht über ihnen allen, mischt sich
in ihren Kampf und verhilft den höheren zum Sieg über
die niederen, den sittlichen über die unsittlichen, den
sozialen über die selbstischen. „Man kann also ohne Be-
I
32 -
denken den Ausspruch thun, dass keine Handlung unsere
Pflicht ist, zu weicher wir nicht durch einen natürlichen
Bewegungsgrund oder Prinzipium gereizt werden'* (S. 60).
Man darf diese Worte nicht so verstehen, als ob Home
die Erfüllung der sittlichen Gebote stets für leicht hält.
Die Leichtigheit oder Schwierigkeit des Sieges der sittlichen
Motive hängt ganz von der geistigen und sittlichen Stufe
ab, auf welcher der Einzelne und die Gesellschaft stehen J).
Nur das will Home sagen, dass es überhaupt Triebe und
Neigungen im Menschen giebt, die zur Ausübung der
ethischen Vorschriften tendieren, mögen diese Triebe unter
gewissen Umständen auch noch so schwach ausgebildet
sein.
Wenn wir diese Wahrheit, dass die Sittengesetze stets
mit den Trieben und Affekten der menschlichen Natur
rechnen müssen, im Auge behalten, anstatt ohne Rücksicht
auf die Erfahrungsthatsachen „Systeme zu machen", so
werden wir vor den Einseitigkeiten bewahrt bleiben, in die
so viele Moralisten verfallen sind. Diese Einseitigkeiten
sind nach Home zweierlei Art: Entweder übersehen jene
Philosophen die mächtigen selbstischen Triebe und fordern
ein gleiches Wohlwollen gegen Alle, oder aber sie ver-
kennen die Ursprünglichkeit der sozialen Affekte und
lehren einen extremen Egoismus. Beide Lehrmeinungen
werden von Home einer gründlichen Kritik unterzogen.
Was zunächst das System des allgemeinen Wohlwollens
angeht, so ist zu untersuchen, ob in irgend einer Weise
ein Affekt (principle) des allgemeinen Wohlwollens der
menschlichen Natur eigentümlich ist. Wenn wir unsere
Natur genau beobachten, so zeigt sich, dass wir zwar einen
Trieb besitzen, das Elend uns gänzlich fern stehender
Personen zu mindern und ihr Unglück zu erleichtern;
handelt es sich aber darum, positives Glück zu befördern
und Liebesdienste zu erweisen , da beschränkt sich unsere
1) Worüber weiter (Kap. 4) ausführlicher zu handeln ist.
33 ~
Teilnahme auf einen mehr oder minder engen Kreis.
Unsere Liebe wenden wir vor allen den nächsten Ver-
wandten und Freunden zu, in geringerem Grade schon
den Nachbarn und Bekannten, und mit Zunahme der Ent-
fernung nimmt das Wohlwollen immer mehr ab, um endlich
ganz zu verschwinden. Wenn demnach Shaftesbury und
Hutcheson ein gleiches Wohlwollen gegen alle Menschen
fordern, so können sie ihre Forderung nicht auf die
menschliche Natur gründen.
Hier machen wir nun eine wichtige Bemerkung.
Während wir näniHch keine Neigung in uns verspüren,
den einzelnen uns unbekannten Menschen Liebe zu er-
weisen, so ist das menschliche Geschlecht, als Ganzes
genommen, ein Gegenstand, dem wir unsere Zuneigung
zuwenden. Wir lieben und schätzen unsere Religion,
unser Vaterland, unsere Regierung, das ganze Menschen-
geschlecht, und hegen eifrige Teilnahme für alle Gesammt-
interessen. „Ein glückliches Kunststück" (a happy con-
trivance) hat hier die Natur zustande gebracht, um den
Mangel der Gewogenheit gegen entfernte Personen zu er-
setzen. Die einzelnen Menschen, aus denen das Volk, die
Religionsgenossenschaft, die Menschheit besteht, können
keine Zuneigung in uns wachrufen, sie stehen ans zu fern.
„Wenn sie aber unter einem allgemeinen Namen zu-
sammengefasst werden, so können sie unser Herz erwärmen
und erweitern." (S. 64). In andere Worte geklf»idet
würde diese feinsinnige Bemerkung Homes lauten: Es liegt
in der Natur des Menschen, Ideale zn bilden, deren
Verwirklichung er anstrebt mit allen Kräften, die ihm zu
Gebote stehen, und mit aller Begeisterung, der er nur
fähig ist. Würde ein gleiches Wohlwollen gegen alle in
uns liegen, so würden unsere Aufmerksamkeit und Zuneigung
zu sehr geteilt und infolge dessen geschwächt werden.
„Die Seele würde durch die Menge der Objekte, die alle
einen gleichen Einfluss haben, so zerstreut werden, dass
sie in Ewigkeit nicht wissen würde, wo sie anfangen sollte."
34 —
— 35 —
(ebend.). In dem oben erläuterten Sinne jedoch, in der
Sorge für Angelegenheiten, die der Gesammtheit zugute
kommen und ihr Wohl befördern, giebt Home mit Freuden
zu, dass es ein „Prinzipium des allgemeinen Wohlwollens"
giebt; unterscheidet sich doch gerade durch die Bildung
und Verfolgung idealer Bestrebungen die Menschennatur
von der tierischen. Dies ist aber etwas wesentlich Anderes
als die Behauptung, dass jede auf das eigene Selbst be-
zügliche Handlung, oder gar die, dass jede Handlung, welche
nicht Allen gleichmässig zugute komme, sittlich wertlos sei.
Wir gehen nun zu Homes Kritik des reinen Egoismus
über. Zu diesem Zwecke müssen wir den bisher über-
gangenen ersten Versuch heranziehen, der das bereits im
Altertum aufgeworfene Problem des Vergnügens an tra-
gischen Gegenständen behandelt. (Of our attachment to
objects of distress). Home bekämft dort zunächst den
französischen Ästhetiker Dubos'). Die Polemik erweitert
sich sodann aber zu einer Kritik des extremen Egoismus,
und so hat dieser Gegenstand mit Recht seine Stelle in
den Essays erhalten 2).
Dubos hatte die Frage nach dem Grund unseres
Vergnügens an traurigen Darstellungen dahin beantwortet,
dass der Mensch, zum handelnden Wesen geschaffen, auf
jede Art und Weise die Unthätigkeit zu fliehen strebt und
daher Gegenstände aufsucht, die seine Leidenschaften
erregen, ungeachtet des Schmerzes, der diese oft be-
gleitet.
Home macht zunächst gegen obige Theorie einige
Einwendungen. Wie kommt es, fragt er u. a., dass nicht
nur gelang weilte, sondern alle Menschen das gleiche Ver-
gnügen an Tragödien empfinden.^ Dann aber behauptet
Home weiter, die Theorie beruhe auf einer falschen Vor-
1) Jean Baptiste Dubos, Reflexions critiques sur la poesie, la pein-
ture et la musique. Paris 1719.
2) Die Ausführungen, die nicht streng zu unserem Thema gehören,
werden hier füglich übergangen.
aussetzung, dass nämlich der Mensch bei allen Handlungen
nichts anderes im Auge habe als Streben nach Lust und
Vermeiden von Unlust. In diesem Glauben stimmt Dubos
nach Home mit Locke überein, und so wenden sich nun
die folgenden Bemerkungen gegen jene Denker, sowie
überhaupt gegen alle Vertreter des reinen Egoismus und
der damit in engster Verbindung stehenden hedonistischen
Anschauung. Ist der Mensch von Natur aus vollkommener
Egoist, so wird freilich sein ganzes Sinnen und Trachten
auf Erjagen der Lust und Fliehen vor dem Schmerze ge-
richtet sein, und alles, was er für Andere thut, wird nur
in so fern einen Wert für ihn haben, als es ihn selbst be-
friedigt. Es hat an Vertretern dieser Anschauung nie ge-
fehlt; Mandeville hat sich, wie wir wissen, in seiner be-
rühmten „Bienenfabel" nicht einmal gescheut, die Laster
des Einzelnen als notwendig und vorteilhaft für die Ge-
sammtheit hinzustellen. Es giebt keine selbstlosen Hand-
lungen : Wohlwollen, Liebe, Neigung, Mitleid, das ist alles
eitel Lug und Trug, Schein und Heuchelei. Diese Lehre
bekämpft Home aufs äusserste, nicht aber, indem er die
Sittlichkeit ihrer Urheber anzweifelt - - eine nur zu oft ge-
übte Kampfmethode — sondern indem er vorurteilslos,
in die Tiefen der menschlichen Natur taucht, um aus ihnen
die Wahrheit an das Licht zu fördern: Die selbstischen
und die selbstlosen, die individuellen uud die
sozialen Affekte sind gleich ursprünglich, nicht
erst sind die altruistischen aus den egoistischen entstanden
und aus ihnen zu erklären.
Wenn wir nämlich unsere Natur mit Aufmerksamkeit
untersuchen, so stossen wir auf einen doppelten Gegensatz
der Gefühle in Bezug auf äussere Gegenstände. Wir
unterscheiden einerseits „angenehme Gefühle** (Lustgefühle,
pleasant impressions) und „unangenehme Gefühle" (Unlust-
gefühle, painful impressions), andererseits solche, die mit
„Zuneigung" (Verlangen, desire) und solche, die mit „Ab-
neigung" (Widerwillen, aversion) verbunden sind. „In der
- 36 —
Kindheit sind Begierde und Leidenschaft die einzigen Trieb-
federn unserer Thätigkeit. Aber in dem Fortgang des
Lebens wenn wir die Gegenstände um uns unterscheiden
lernen, die angenehme oder unangenehme Empfindungen
wirken , erlangen wir andere Triebfedern" (S 9) I ust
und Unlust sind also etwas Sekundäres, das Primäre sind
die instinktiven Triebe, die schon vor aller Einwirkung der
vernünftigen Überlegung vorhanden sind, und „da die Ver-
nunft auf keine Art einen Einfluss darein hat, so macht auch
die Absicht. Unglück zu vermeiden und Glück zu erlangen
(fc.. 10). Die Triebe erregen also den Willen unbekümmert
um Vorteil oder xNachteil , um Lust oder Schmerz. Das
.st wahr", setzt Home hinzu, „dass die Befriedigung unserer
Begierden und Leidenschaften angenehm ist." Wenn die
rriebe ihr Ziel erreichen, so tritt als Begleiterscheinung
Lust, verfehlen sie ihr Ziel, Unlust ein. „Allein diese
Dmge müssen mit dem unmittelbaren Antriebe, der aus der
Beg^rde oder Leidenschaft entspringt, nicht vermischt
werden" (ebend).
Die Erfahrung lehrt, dass wir zuweilen sogar die Nei-
gung haben, Gefühlen der Unlust nachzuhängen. Hat ein
Fremder mich beleidigt, so trachte ich danach, Vergeltung
zu üben. Ist der Beleidiger indes mein Freund , so ist es
mir unmöglich, ihm ein Leid zuzufügen; das Einzige, was
ich Wünsche, ist, dass er sein Unrecht erkenne. Zu diesem
Zwecke verzehre ich mich in Unmut, gehe mürrisch und
verdriesshch einher und verbittere mir so selbst das Leben.
Em von seinem Geliebten verlassenes Mädchen wirft sich
oft einem Unwürdigen in die Arme und stürzt sich so selbst
ins Elend In beiden Fällen, meint Home, ist es der sym-
pathetische Trieb, der das Rachegefühl von dem Beleidiger
auf den Gekränkten ableitet. Deutlicher noch wirkt der
Trieb der Sympathie bei der Trauer um einen gestorbenen
Freund oder Anverwandten. Vergeblich sucht man den
Leidtragenden zu trösten, er weist jedes Trostwort zurück
- 37 -
Wiederum ist es die Sympathie, welche bewirkt, dass er
jede Gelegenheit meidet, seinem Schmerz Erleichterung zu
verschaßen. „Bei dieser Art der Leidenschaft ist allemal
ein Verlangen , ihnen nachzuhängen , sowohl wenn sie uns
Schmerz, als wenn sie uns Vergnügen machen". (S. 17).
So ist das Gefühl des Mitleids, das uns antreibt, Un-
glücklichen zu helfen, stets mit Unlustmomenten verknüpft,
die aus dem Anblick des Elends entstehen. Wie wollen
Locke und die anderen Denker, welche die Hypothese der
vSelbstliebe aufgestellt haben, eine solche Erscheinung er-
klären ? In der That haben sie zu dem Paradoxon ihre
Zuflucht nehmen müssen, dass wir den geselligen Neigungen
lediglich zu unserer eigenen Befriedigung nachhängen.
Aber sieht man nicht deutlich, dass die Erklärung unbe-
friedigt lässt, dass hier nur ein aufgestellter Satz verteidigt
werden soll? Es sollen nun einmal alle Affekte aus einem
Prinzip erklärt werden , und da wird ohne Bedenken der
Natur Gewalt augethan, „und es ist sonderbar zu sehen,
wie sie ein jedes gesellige Prinzipium drehen und martern,
um ihm den Schein des Eigennutzes zu geben". (S. 89).
Allein alle V^ersuche, die sympathischen Triebe aus dem
Egoismus abzuleiten, sind misslungen und mussten miss-
lingen, da eben Wohlwollen, Edelmut, Dankbarkeit, Mit-
leid, Liebe und Freundschaft als qualitativ von der
Selbstliebe verschieden deutlich empfunden werden.
Nachdem Home jetzt die Ursprünglichkeit der al-
truistischen Gefühle erwiesen hat, ist es ihm ein Leichtes,
das Problem des Vergnügens an Tragödien zu lösen. Die
menschliche Natur drängt zur Bethätigung ihrer Affekte,
einerlei, ob dadurch Lust oder Unlust entsteht. Der
Mensch sehnt sich danach, mit dem Unglücklichen zu
leiden, mit dem Glücklichen sich zu freuen, den Trefflichen
zu loben, den Bösewicht zu verdammen, dem Wohlthäter
Dank zu bezeugen und an dem Widersacher rächende
Vergeltung zu üben. Er weiss, dass diese seine Neigungen
im Trauerspiel Gelegenheit finden, sich zu entfalten, und
- 38 -
— 39 -
dies zieht ihn ins Theater. Honies Theorie ist dieselbe,
die einst Aristoteles aufgestellt hat, mit dem einzigen
Unterschiede, dass Aristoteles nur von Furcht und Mitleid
spricht, während nach Home die Tragödie „Freundschaft
Besorgnis für die Tugendhaften, Abscheu an den Laster-
haften, Mitleid, Hoffnung, Furcht und das ganze Gefolge
der geselligen Leidenschaften" erweckt und ausbildet. (S. 15).
Home vergisst auch hier nicht, auf die teleologische Be-
deutung der psychologischen Thatsache hinzuweisen.
Menschen, die vom Glück begünstigt sind und Kummer
und Elend nicht kennen, laufen Gefahr, hartherzig und
und unempfindlich zu werden. „Denn so wie die Leiden-
schaften stärker werden, wenn man sie übt, so werden sie
schwächer, wenn es ihnen an Übung fehlt". (S. 20). Da
ersetzt nun die Bühne das wirkliche Leben, indem sie
fingierte Gegenstände des Mitleids darbietet und so die
Affekte in Übung und Bethätigung erhält»).
So hat Home denn, nachgewiesen, dass weder der
einseitige Egoismus noch auch der einseitige Altruismus in
der menschlichen Natur gegründet ist. Treffend sagt sein
Freund David Hume einmal in seinen „Prinzipien der
Moral" von jenen Theorien: „Alle derartigen Versuche
haben sich bisher als fruchtlos erwiesen und scheinen nur
aus jener Liebe zur Einfachheit herzurühren, welche in
der Philosophie die Quelle vieler falschen Schlüsse gewesen
ist«)." ^
Home stellt nunmehr die Triebe auf, die, wie er sagt,
dem Menschen als solchem zukommen und die allgemeine
1) Es sei hier auf Paulsens lichtvolle Kritik des Hedonismiis hin-
gowieseu; er stellt iiim die „energistische« Auffassung gegenüber die mit
der oben dargelegten Lehre Heines viek» Berührungspunkte hat Auch
die Frage nach der Ursache des Vergnügens an tragischen Gegenständen
erklart er m derselben Weise wie Home. (Paulsen : System der Ethik
3. Aufl. 1894, I, S. 224-259). '
2) D. Hume: Eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral
Deutsch von Masaryk. Wien 1883. S. 137.
menschliche Natur ausmachen. Sie zerfallen in Triebe,
die sich auf die eigene Person und solche, die sich auf
Andere beziehen (selbstische und soziale Affekte).
Zu den selbstischen Affekten gehört:
1) Der Trieb der Selbste rhal tu ng (die Liebe zum
Leben, self-preservation), der stärkste unter allen Trieben.
Der Schmerz ist sein Beaufsichtiger, er warnt vor allem,
was dem Leben gefahrdrohend ist, und lehrt, das Ver-
gnügen der Erhaltung hintanzusetzen.
2) Der Trieb der Selbstliebe (das Verlangen nach
Glückseligkeit, self-love). Er ist stärker als irgend einer
der sozialen Triebe, was sich aus den eingeschränkten
Fähigkeiten des Menschen ergiebt, der „mehr V^ermögen,
Einsicht und Gelegenheit hat, seine eigene Wohlfahrt, als
die Wohlfahrt Anderer zu befördern". (S. 67 f.)-
Zu den sozialen Affekten gehört:
1) Der Trieb zur Gerechtigkeit.
2) Der Trieb zur Wahrheit.
4) Der Trieb zur Treue, zur Erfüllung gegebener
Versprechungen und eingegangener Bedingungen.
4) Der Trieb zur Dankbarkeit.
5) Der Trieb des Wohlwollens, der Menschenliebe,
der sich äussert
a) als Mitleid (compassion) oder als Trieb, Un-
glücklichen zu helfen;
b) als Trieb, das Glück Anderer zu befördern.
Letzterer äussert sich stärker oder schwächer, je
nach der Nähe und Grösse der Objekte, auf die er
gerichtet ist.
Nach diesen allgemeinen Trieben werden die Haupt-
gesetze der Ethik aufzustellen sein, indem die Aussage
des moralischen Gefühls über jene Affekte zu Rate gezogen
wird. Die besondern Begierden und Leidenschaften, wie
Ehrgeiz , Habsucht , Neid etc. , die zu dem allgemeinen
Triebe der Selbstliebe gehören, dürfen zwar in einer Sitten-
lehre nicht übergangen werden; Home aber will keine
_
- 40 -
vollständige Sittenlehre, sondern nur die Hauptgesetze
der Moral geben.
Bevor er indessen daran geht, dieselbe aufzustellen,
nimmt er noch einen Kampf mit einem mächtigen Gegner
auf, mit David Ilume. Hume setzt in seiner schon mehr-
fach erwähnten Erstlingsschrift „A treatise of human
nature" auseinander, dass die moralischen Unterschiede
nicht von der Vernunft, sondern von dem „moralischen
Geftihle" (moral sense) abz\ileiten sind >)• So weit stimmt
er demnach mit Home überein. Dann aber 2) wirft er die
Frage auf, ob die Gerechtigkeit eine natürliche oder eine
künstliche Tugend sei (whether a natural or artificial virtue),
und gelangt zu dem merkwürdigen Resultat, dass die
Tugenden der Gerechtigkeit und der Treue, im Gegensatz
zu den übrigen Tugenden, nicht natürlich seien; im so-
genannten Naturstaat (state of nature) gäbe es die Begriffe
„Eigentum" und „Gerechtigkeit" überhaupt nicht; erst die
Gesellschaft habe sie künstlich erzeugt.
Ein derartiges Paradoxon forderte den Widerspruch
geradezu heraus. Bekannt ist die Entgegnung von Adam
Smith, der in seiner „Theory of moral sentiments" die
Natürlichkeit der Gerechtigkeit Hume gegenüber verteidigt,
indem er sie aus dem Vergeltungstriebe ableitet. Allein
Smith ist nicht, wie man gewöhnlich annimmt, der erste,
welcher Hume in diesem Punkte entgegentrat, sondern vor
ihm hat bereits Home auf die Schwächen der Humeschen
Theorie hingewiesen und ihrer Widerlegung, in Anbetracht
der Berühmtheit ihres Urhebers, das ganze siebente Kapitel
seines zweiten essay gewidmet.
Soweit wir die Geschichte des Menschen zurückver-
folgen können, behauptet Home, finden wir ihn mit dem
Gefühl von Eigentum begabt. Der Jäger hält das von ihm
erlegte Wild für sein Eigentum, der Fischer ist sich bewusst,
1) D. Hume: A treatise of humiin natiire, ed. Green and Grose
1874, II, S. 233 if.
2) abend. S. 252 ft.
_ 41 —
dass der Inhalt seines Netzes ihm gehört, der Hirt macht
Anspruch auf den vollen und ungestörten Besitz seiner
Herde und der von ihr gewonnenen Erzeugnisse, der
Ackerbauer lebt der Überzeugung, das die Früchte des
von ihm bebauten Feldes die seinigen sind. Das Gefühl
des Eigentums ist dem Menschen als solchem natürlich,
denn es korrespondiert dem Selbsterhaltungstrieb, dessen
Existenz doch wohl von Jedem zugegeben wird. Der
Trieb der Selbsterhaltung äussert sich in verschiedenen
Formen; eine derselben ist der Trieb zum Sammeln, zum
Sparen, zum Aufhäufen von Vorräten und Schätzen.
Diese Form des Selbsterhaltungstriebes, der Sammeltrieb
(einen besondern Namen hat die Sprache dafür nicht gebildet ;
wenn er abnorm auftritt, so heisst er „Geiz"), setzt das
Gefühl vom Eigentum als selbstverständlich voraus. Wozu
das Aufhäufen und Sammeln, wenn Jeder auf das Ge-
sammelte das gleiche Anrecht hat, wie der Sammler?
Wozu arbeite ich im Schweisse meines Angesichts, um mir
Unterhalt zu verschaffen, wenn ich nicht weiss, dass ich
ihn mir verschaffe, und wenn nicht auch jeder Andere
weiss, dass das Erworbene mein alleiniges Eigentum ist,
über das ich nach freier Willkür verfügen kann? „Zwischen
einem jeden Menschen und den Früchten seiner Arbeit
entsteht ein Verhältnis, und dies ist eben das, was wir ein
Eigentum nennen: ein Verhältnis, welches er selbst erkennt
und jeder Andere gleichfalls erkennt". (S. 79 f). In allen
Sprachen sind die Ausdrücke „Mein" und „Dein'' ge-
bräuchlich, selbst Wilde kennen sie und Kindern sind sie
geläutig. Was mir gehört, davon weiss ich, dass kein
Anderer ein Anrecht darauf hat, und nimmt er es mir
dennoch , so empfinde ich dies als einen Eingriff in meine
Rechtssphäre, als einen Verstoss gegen die Gerechtigkeit.
Und nicht nur ich empfinde so, sondern auch Jener, der
den Verstoss begeht, weiss, dass er nicht nur das Staats-
gesetz missachtet, welches einen solchen Übergriff ver-
bietet, sondern auch dem Moralgesetz zuwiderhandelt.
— 42 —
Auch der unbeteiligte Zuschauer betrachtet eine solche That
als den Anforderungen der Sittlichkeit zuwiderlaufend. Mithin
ist es einleuchtend, dass das Gefühl vom Eigentum ursprüng-
lich ist und nicht erst der Gesellschaft sein Dasein verdankt.
Mit dieser Widerlegung jedoch giebt Home sich noch
nicht zufrieden, er geht weiter und stellt nun seinerseits
die Behauptung auf, dass ohne das Vorhandensein des
Eigentums- und des Gerechtigkeitsgefühls sich nie eine
Gesellschaft hätte bilden können. Gab es vor Einrichtung
der Staatsverfassung kein Gefühl für Besitz und Eigentum,
so muss notwendigerweise der ursprüngliche Zustand der
Menschen der eines bellum omnium contra omnes gewesen
sein. Hobbes, der in der Auffassung der Gerechtigkeit
mit Hume derselben Meinung ist, vertritt in der That
diese Ansicht; aber auch Hume muss die Folgerung zu-
geben. Herrschte nun aber im Naturstaat der Krieg Aller
gegen Alle, waren dem Naturmenschen die Gerechtigkeit
und ihr Objekt, das Eigentum, unbekannte Begriffe, so
fordert Home von Hume die Erklärung, „durch weiche
überwiegende Kraft, durch welches Wunderwerk Leute,
die so beschaffen waren, jemals so weit kamen, dass sie
sich in eine Gesellschaft vereinigten". „Wir können",
fährt er fort, „zuversichtlich den Ausspruch thun, dass
eine so ausserordentliche Veränderung in der Natur des
Menschen durch natürliche Mittel nie habe können erreicht
werden*, (S. 81) i), während andererseits bei Annahme der
Urspiünglichkeit jener Gefühle das Entstehen der Staaten
1) Sigwart (Vorfragen der Ethik, Freiburg i. B. 1886, S. 44) macht
eben dasselbe Argnment gegen die Verfechter des absoluten Egoismus
geltend. „Wenn gesagt wird, dass die Natur dem Menschen den nakten
Egoismus eingepflanzt habe und die Geschichte allein die sittliche Ge-
sinnung hervorbringe (z. B. Jhcring, Zweck im Recht, II, S. 115), so ist
damit ein Gegensatz zwischen Natur und Geschichte aufgestellt, der die
Geschichte selbst unerklärlich zu machen droht. Die Geschichte des
Menschen kann doch nur die Entwicklung seiner Natur sein;
wären in dieser nur selbstsüchtige Motive angelegt, so könnte auch die
Geschichte keine anderen zeigen".
- 43 —
leicht erklärlich ist. Zuerst nämlich vereinigten sich Wenige
zum gegenseitigen Beistand und Schutz gegen diejenigen,
welche ihren Besitz bedrohten, die kleinen Gemeinschaften
vergrösserten sich allmählich, und mit ihnen wurden auch
ihre Einrichtungen, Bestimmungen uud Gesetze mannig-
faltiger und komplizierter.
Wie natürlich und ursprünglich das Gefühl vom Eigen-
tum ist, lässt sich übrigens auch aus der eigenartigen Zu-
neigung ermessen , die ein Jeder für seinen Besitz hat.
Eine Sache kann an und für sich recht geringen Wert
haben; dadurch aber, dass ich sie mein nenne, erhält sie
für mich einen ideellen Wert, so dass ich sie um keinen
Preis mit einem andern Exemplar gleichen oder selbst
höheren Wertes vertauschen würde i).
Home hält es jedoch in dieser wichtigen Frage noch
nicht für zureichend, den Grund der Lehre seines Gegners
umgestossen zu haben; er will ausserdem einzelne Punkte
besonders beleuchten, um so die Unzugänglichkeit der
Hume'schen Theorie noch deutlicher zu erweisen. Zunächst
setzt er an Hume aus, dass er die — durch die Gesell-
schaft entstandene — Gerechtigkeit auf ein allgemeines
Gefühl vom Gemeinwohl zurückführt, was um so aufälliger
ist, als Hume selbst an anderer Stelle das Gemeinwohl als
einen Beweggrund kennzeichnet, der für die grosse Menge
zu entfernt und zu hoch sei, um sie in ihrem Handeln
sonderlich beeinflussen zu können.
Unverständlich bleibt es Home ferner, warum die
Sympathie, die doch nach Hume der Grund aller andern
Tugenden ist, nicht auch Grund der Gerechtigkeit sein
solle. So gut, wie die Sympathie mich hindert, meinem
1) Schön veranschaulicht dies Gefühl Karl v. Holtei in seinem
volkstümlichen ,Mantellied". Der Mantel hat ein Menschenalter lang die
Schicksale des Wachtmeisters mit erlebt, Freud und Leid mit ihm durch-
gemacht; so ist er sein Freund und Vertrauter geworden, von dem der
alte Krieger sein ganzes Leben lang nicht mehr lassen will; ja selbst iu
das Grab soll sein bester Freund dereinst ihn begleiten.
— 44
45 -
Nächsten das Leben zu nehmen, kann sie mich auch davon
zurückhalten, ihm das zu rauben, was er seinem Fleiss und
seiner Anstrengung verdankt*).
Nachdem Ilome endlich von den der Gerechtigkeit
verwandten Tugenden der Wahrhaftigkeit und der Treue,
deren Ursprünglichkeit Ilume gleichfalls leugnet, mit
Leichtigkeit gezeigt hat, dass sie dem Menschen nicht
minder natürlich sind als das Gerechtigkeitsgefühl, beendet
er seine Polemik gegen Hume mit der Bemerkung, dass
wir schon a priori nach der Analogie schliessen, die
Gerechtigkeit werde keine Sonderstellung unter den
Tugenden einnehmen, sie werde vielmehr einer natürlichen
Neigung entspringen, wie das Mitleid, das Wohlwollen, die
Freundschaft, die Liebe und die übrigen „eigentlich so
genannten geselligen Neigungen-, Die Richtigkeit dieses
apriorischen Analogieschlusses ergiebt sich dann, wie wir
gesehen haben, bei der näheren Untersuchung.
1) Wundt in seiner „Ethik" (2. Aufl., Stuttgart WJ2, S. 332f) ist
der Ansicht , Hume habe den Mangel der Gcfühlsmoral eines llutcheson
erkannt, dass sie nämlich „zwischen den sittlichen und anderen natürlichen
Affekten keinen prinzipiellen Unterschied anerkennt'*. Dieser Mangel
dürfte Hume veranlasst haben, „zur Ergänzung seiner Theorie wesentliche
Bestandteile der bisherigen Reflexionsethik sich anzueignen". Wenn jene
Erwägung wirklich Hume zu seiner Theorie über die Gerechtigkeit ge-
drängt hat, so ist m. E. durch diese Annahme für die Erklärung der
^Entstehung sittlicher Normen von verpflichtender Kraft" nicht das Ge-
ringste gewonnen. Denn die durch Reflexion entstandene Gerechtigkeit
hat nach Hume mit den natürlichen Tugenden das gemeinsam, dass sie,
wie jene, ihren Ursprung in der Selbstliebe hat. Wundt selbst erklärt zur
SteUe den Ursprung der Gerechtigkeit (nach Hume) aus der Erwägung,
„dass wir durch eine Einschränkung unserer selbstischen Triebe mehr ge-
winnen, als wenn wir denselben trei die Zügel schiessen lassen".
Drittes K apitel.
Die Hauptgesetze der Moral.
Definition des Begriffes „Hauptgesetze'*. Das Fehlen der
Ptiichten gegen sich selbst. Ableitung und Aufzählung
der llauptgesetze. Die Verschiedenheit des Umfangs von
Ethik und Recht.
Das erste Kapitel hat uns als Grundlage aller Moral
das im menschlichen Herzen wohnende ethische (jefühl
nachgewiesen; dieses Gefühl - so sahen wir — hat den
Beruf, die Affekte zu beaufsichtigen und zu leiten. Von
den beiden Klassen der Affekte aber erkannten wir im
zweiten Kapitel , dass die selbstischen sowohl, als auch die
sozialen in der menschlichen Natur gegründet sind; beide
sind gleich ursprünglich, eine Ableitung der einen Klasse
aus der andern daher notwendigerweise irrig. Wenn also
Home seinem zweiten essay die Überschrift gab: „Of the
Foundation and Principles of the Law of Nature", so hat
er sich eigentlich am Ende des siebenten Kapitels seiner
Aufgabe entledigt. Mit Überraschung lesen wir daher am
Anfang des achten Kapitels den Satz: „Unsere Absicht
bei dem gegenwärtigen Versuch war hauptsächlich, einen
kurzen Abriss und einen flüchtigen Entwurf von den Haupt-
gesetzen der Natur zu machen, in sofern sie aus ihrer
einzigen wahren Quelle, aus der menschlichen Natur, her-
geleitet werden, und jetzt sind wir so weit gekommen, dass
wir diese Absicht ausführen können" (S. 89.) Denn darüber
kann kein Zweifel obwalten, dass es Home in WirkHchkeit
mehr auf die Erforschung jener „einzigen wahren Quelle'' der
Sittengesetze ankommt, als auf die Aufstellung der Gesetze
selbst; er hätte andernfalls nicht so grosse Mühe darauf
verwandt, die ihm irrig scheinenden Lehren seiner Vor-
gänger über die Grundlage des Sittengesetzes und über
die Natur der Affekte zu bekämpfen und zu widerlegen,
um dann seinen Lesern einen — wie er selbst sagt —
„kurzen Abriss" der Moralgesetze, und nicht einmal alier,
I;
1
i
I
--- 46 -^
47 —
sondern nur der Hauptgesetze vorzulegen. Wir dürfen
daher die oben zitierten Worte Uonies nicht urgieren, um
so weniger, als er tbrtfährt: „Ich unternehme diese Arbeit,
bloss um eine Probe von der Schlussart zu geben, die bei
diesem Gegenstande allein stattfindet; denn eine vollständige
Abhandlung ist weit über meine Kräfte*' (ebend.). Die
letzte Bemerkung mag die Bescheidenheit unserem Philo-
sophen in die Feder diktiert haben; die Wahrheit wird
wohl sein, dass die Begründung der Ethik eine wichtigere
und schwierigere Aufgabe ist, als das Ableiten der Gesetze.
Ist doch, wie Schopenhauer sagt, „in der Ethik weit mehr,
als in irgend einer anderen Wissenschaft, das Wesentliche
in den ersten Grundsätzen enthalten; indem die Ableitungen
hier so leicht sind, dass sie sich von selbst machen')."
Bevor Home die Hauptgesetze der Moral (the primary
laws of nature) aufstellt, giebt er, im Anschluss an seine
bisherigen Darlegungen, eine Definition des Begriffes .,Sitten-
gesetze'* überhaupt. Da die Affekte Beweggründe der
Handlungen abgeben, das moralische Gefühl aber die
Affekte reguliert, sie stärkend oder dämpfend und bei
einer Kollision dem einen den Vorzug vor dem andern
erteilend, so lassen sich die Gesetze der Moral definieren
als „Regeln unseres Verhaltens, die auf natürliche
Triebe und Grundsätze gebaut, von dem mora-
lischen Gefühl gebilligt und von natürlichen
Strafenund Belohnungen ei ngeschärftwerden*'i)(S.91).
Wir haben schon früher von den beiden Arten des
moralischen Gefühls gesprochen, dass es einerseits auftritt
als ein dem ästhetischen Beifall verwandtes Gefühl,
welches Handlungen lobt und anempfiehlt, andererseits als
ein Gefühl, das mit gewaltiger Energie gewisse Handlungen
1) Schopeuhauer, Reclam- Ausgabe, Werke, III. Grundlage der
Moral, S. 494.
2) „niles of oiir condnct and behaviour, founded on natural prin-
ciples, approved of by the moral sense, aud enforced by natural rcAvards
and punishments" (S. 122).
fordert oder verwirft (Gewissen). Bei den Hauptgesetzen
der Moral haben wir es nur mit der letzten Art des moral
sense zu thun. Führen wir Handlungen aus, die das Ge-
wissen unbedingt fordert, so handeln wirden Grundgesetzen
der Moral, d. h. den Anforderungen gemäss, die wir an
jeden Menschen stellen. Es scheiden hier also alle die-
jenigen moralischen Vorschriften aus, die etwa verlangen,
über das Durchschnittsmass der Alltagssittlichkeit hinaus-
zugehen; denn diese gehören zwar zu den Gesetzen der
Moral, nicht aber zu ihren Hauptgesetzen.
Als eine Lücke indessen muss es betrachtet werden,
wenn Home die Pflichten gegen die eigene Person als
nicht zu seiner Aufgabe gehörig betrachtet. Bekanntlich
verwirft und verspottet Schopenhaueri) die Annahme von
Pflichten gegen uns selbst; allein mit grossem Unrecht.
Ist es wirklich nur erlaubt, seine Gesundheit zu erhalten,
oder nicht vielmehr eine der wichtigsten Pflichten? Ist
es nur gestattet, mich zu vervollkommen, oder nicht
vielmehr eine vom Gewissen mit aller Macht erhobene
Forderung? Herbert Spencer hat in unserer Zeit in
seinen „Data of Ethics" über das Vorurteil gegen die An-
nahme der die eigene Person betreffenden Pflichten, dem
man noch hie und da begegnet, scharfes Gericht gehalten.
Home teilt dies Vorurteil oflenbar. Sein jüngerer Zeit-
genosse Adam Ferguson, der seine „institution of moral
philosophy** 1769 herausgab, ergänzt ihn in diesem Punkte,
indem er die drei Prinzipien der Selbstliebe, des Wohl-
wollens und der Vervollkommnung mit einander in Ver-
bindung setzt und die Tugend definiert als „fortschreitende
Entwicklung des menschlichen Wesens zu geistiger Voll-
kommenheit".
Nun aber zu unseren Gesetzen. Fünf soziale Affekte
haben wir oben kennen gelernt, den Trieb zur Gerechtig-
keit, den zur Wahrheit, den zur Treue, den zur Dankbar-
keit und endlich den Trieb des Wohlwollens, welcher
li
(i
l) a. a. 0„ S. 506 f.
-^ 48 —
wiederum entweder als Trieb, Leiden zu vermindern (Mit-
leid), oder alc Trieb, Glück zu vermehren, sich kundgiebt.
Wie stellt sich — das ist jetzt die Frage — das moralische
Gefühl zu den verschiedenen geselligen Trieben?
Was die vier ersten Triebe angeht, so ist es Home
ein Leichtes, zu zeigen, dass hier das moralische Gefühl
streng befehlend oder verbietend auftritt. Es untersagt
mit aller Schärte eine Verletzung des Eigentums, der Ehre,
der Gesundheit und des Lebens eines Andern. (Zwangs-
gesetz). Freilich giebt es hier Ausnahmen, wie denn
überhaupt die Forderung der Allgemeingültigkeit der Moral-
gesetze nur von denjenigen Moralisten erhoben wird,
welche die Ethik als eine mathematisch-logische und nicht
vielmehr als eine empirische Wissenschaft ansehen. Ein
Mann von der Denkungsart eines Home muss notwendiger-
weise das „fiat iuslitia, pereat mundus" in der Ethik ver-
werfen, in der Überzeugung, dass wir nicht leben, um
Gesetze zu befolgen, sondern dass es (besetze giebt, um
das Leben würdig zu gestalten. Mit dem Augenblicke
daher, wo die Gesetze aufhören, ihren Zweck zu erfüllen,
sind sie auch hinfällig. Als Beispiele hierfür führt Home
folgende zwei Fälle an: 1) Ein dem Hungertode Naher
darf seine Nahrung nehmen, wo immer er sie findet, ohne
vorher den Eigentümer zu fragen. 2) Wenn zwei Schiff-
brüchige ein Brett ergreifen, das nur Einen zu tragen ver-
mag, so handelt derjenige, welcher es an sich reisst,
rechtmässig, wiewohl sein Leidensgenosse dadurch dem
sicheren Tode entgegengeht; in diesem Falle haben Beide
das gleiche Recht, dem Triebe der Selbsterhaltung zu
folgen.
Wie die Gerechtigkeit, so wird auch die Wahrhaftig-
keit von jedem normal entwickelten Menschen als eine
strenge Pflicht empfunden ; das Gesetz der W^ahrhaftig-
keit und der Vermeidung jedweden Betruges ist daher
ein Hauptgesetz der Sittenlehre. „Dieses Gesetz schliesst
aber weder die Fabel, noch einige Freiheit der Rede aus.
— 49
die auf Vergnügen abzielt" (S. 95) Auch hier sehen wir,
dass Home jeden unangebrachten Rigorismus vermeidet.
Über die Notlüge hat er sich nicht ausgesprochen; dass
er sie je nach den Umständen für erlaubt oder sogar für
Pflicht halten wird, dürfte nach dem Obigen zweifellos
erscheinen.
Treue in der Ausführung der gegebenen Ver-
sprechungen und Dankbarkeit gegen diejenigen, die uns
Gutes erwiesen haben , sind gleichfalls Triebe , welche die
mächtige Unterstützung des gebietenden Gewissens finden.
Der Verräter, sowie der Undankbare können sich vor
ihrem Gewissen nicht rechtfertigen. Mit Fug zählen wir
daher das Gesetz der Treue und das der Dankbar-
keit zu den Hauptgesetzen der Moral.
Etwas verwickelter gestaltet sich die Sache bei dem
Triebe des Wohlwollens. Handlungen, die aus dem Triebe,
Anderer Glück zu befördern, hervorgehen, haben in den
Augen des Zuschauers, wie auch in unseren eigenen, einen
höheren Wert, als Handlungen der Gerechtigkeit, der
Treue etc., und zwar aus dem Grunde, weil hier das
moralische Gefühl nicht gebieterisch auftritt, sondern nur
empfiehlt und antreibt, und demgemäss ein höherer Grad
von Sittlichkeit erforderlich ist, um jene leise Stimme des
Innern nicht zu überhören. Nun giebt es aber „besondere
Verbindungen", vermittelst welcher die Sorge für das Wohl
Anderer zur unumgänglichen Pflicht wird. So fühlen
Eltern die strenge Verpflichtung, für ihre Kinder, denen
sie das Leben geschenkt, auch zu sorgen und sie zu
tüchtigen Gliedein der Gesellschaft zu erziehen. Einer
ähnlichen Verbindlichkeit, wenn auch schon in geringerem
Grade, sind sich nach dem Tode der Eltern die erwachsenen
Kinder gegen ihre minderjährigen Geschwister bewusst;
„und so verringert sie (sc. die Verbindlichkeit) sich durch
eine Reihe anderer Verbindungen stufenweise und un-
merklich, bis zuletzt das Gefühl von Pflicht sich in ein
blosses Wohlgefallen verliert, ohne dass man sich einer
il
- 50 —
Schuldigkeit bewusst ist" (S. 92). Eine scharfe Grenze
zwischen dem, was Pflicht für Jedermann ist, und dem,
was über die strenge Verbindlichkeit hinausgeht und ver-
dienstlich genannt wird, zieht Home nicht; denn sie ist
eben nicht vorhanden. Die Einteilungen trägt ja erst der
Mensch in die Natur hinein, dem Drange des schema-
tisierenden und kategorisierenden Verstandes folgend.
In der. Natur aber giebt es keine scharf gezogenen Grenzen;
„ihre Übergänge sind sanft und gelinde. Sie nähert die
Dinge einander mit einer so feinen Kunst, dass sie keine
Lücke noch Leere übrig lässt" (ebend.). Nach dem Ge-
sagten können wir also zwar kein Hauptgesetz der allge-
meinen Nächstenliebe aufstellen, wohl aber ein Hauptgesetz
des Wohlwollens gegen die Personen, welche besondere
Ansprüche auf unser Wohlwollen haben, gegen „besondere
Nächste", wie Paulsen») sie nennt.
In der zweiten Form hingegen, in welcher der Trieb
des Wohlwollens auftritt, nämlich als Trieb, das Leiden
der Menschen zu mindern, ist er stets von der Stimme des
Gewissens begleitet, das die dem Mitleid entströmenden
Handlungen zu einer unumstösslichen Pflicht erhebt. „Ver-
säumen wir diese Pflicht, so können wir dem Vorwurfe
des Gewissens und unserem eigenen Tadel nicht entgehen
(S. 93). Hier ist es von keiner Bedeutung, ob der Un-
glückliche unser Verwandter oder ein uns Fernstehender
ist, unter allen Umständen gilt das Gesetz, das uns ver-
bindet, nach besten Kräften dem Unglücklichen zu
helfen und mit den uns zu Gebote stehenden Mitteln das
Elend in der Welt zu mindern.
So hat nun Home auf induktivem Wege, indem er
Umschau hielt nach dem, was die Menschen selbst als ihre
Hauptpflichten betrachten, die sie gegen einander auszuüben
haben, eine Reihe von Hauptgesetzen gefunden, von denen
er mit Recht fordern darf, dass jeder Einzelne sich ihnen
1) a. a. 0., II, 160.
— 51 —
widerspruchslos unterwirft. Der Kürze wegen kleiden wir
sie in ein imperativisches Gewand, obschon Home selbst
dies nicht gethan hat.
Die Grundgesetze der Sittlichkeit lauten:
1) Sei gerecht; schade Niemandem an seiner Person,
seinen Gütern, oder was sonst ihm lieb ist.
2) Sei wahr; sprich die Wahrheit, wo man sie von
dir erwartet.
3) Sei treu; erfülle die Verpflichtungen, die du
gegen einen Anderen eingegangen bist.
4) Sei dankbar gegen die, welche dich fördern und
für dein Wohl sorgen.
5) Sei hilfreich gegen alle Unglücklichen; suche ihr
Leid zu verringern.
6) Sei wohlwollend gegen die, welche dir nahe
stehen; befördere ihr Glück auf jede Weise.
Den Schluss des Kapitels über die Hauptgesetze der
Moral bildet ein kurzer Überblick über den verschiedenen
Umfang der Gebiete der Ethik und des Rechts. Die
genaue Abgrenzung der Aufgaben jener beiden Gebiete
wird uns bei einefn gewiegten Rechtsgelehrten wie Home,
der zu dem Amte eines Oberrichters von Schottland empor-
stieg und seiner Verdienste wegen geadelt wurde, nicht
Wunder nehmen. Welches sind die Gründe, fragt Home,
für den Umstand, dass das bürgerliche Gesetz (the muni-
cipal law) nur so wenige von den oben aufgezählten Sitten-
gesetzen in seinen Bereich zieht? In den Staaten giebt es
kein Gesetz, das den Undank bestraft, keins, das Mitleid
für Unglückliche fordert, keins, das die Treue gegen
Freunde gebietet. Die Gründe dafür, dass das Recht nur
einen Teil der Moral in sich schliesst, sind folgende:
L Das Sittengesetz will das Herz läutern, es erstreckt
sich auf die verborgenen Absichten; das bürgerliche Gesetz
hingegen, als von menschlicher Erfindung, regelt nur die
äusserlichen Handlungen, muss also naturgemäss eine
beschränktere Sphäre haben.
I
- 52 —
2. Das Sittengesetz betrachtet den Menschen als
Menschen und dringt so in alle Lagen und Verhältnisse
des Lebens ein; das bürgerliche Gesetz betrachtet den
Menschen nur als Bürger, als Mitglied der Gesellschaft,
es befasst sich nur mit der Regelung von Thaten, welche
in Beziehung zu dem Bestände und der Wohlfahrt der
Gesellschaft stehen. Daher schützen die Gesetze vor Un-
gerechtigkeit und Gewalt; denn bei ihnen könnte der vStaat
nicht bestehen. In so weit die vSicherheit des Gewerbes
vom Halten der Verträge und der übernommenen Ver-
pflichtungen abhängt, befasst sich das Gesetz auch mit
diesem Zweig der Moral. Dagegen greift das Recht nie-
mals in Privatverhältnisse ein, die mit der Geseilschaft in
keiner Art zusammenhängen. Untreue in der Liebe und
in den Freundschaftsbündnissen , Undankbarkeit gegen
Wohlthäter, Hartherzigkeit gegen Bedürftige, so unsittlich
diese Handlungsweisen auch sind, unterliegen nicht der
Gerichtsbarkeit des bürgerlichen Rechts, da sie an dem
Bestände der Gesellschaft nicht rütteln.
3. Die bürgerlichen Gesetze müssen klar und deutlich
gefasst sein, sonst würde der Willkür der Richter Thür
und Thor geöffnet. Nun sind aber die Pflichten des
Sittengesetzes in der Mehrzahl der Fälle dehnbar und von
den jeweiligen Umständen abhängig. Für das, was man
an Dankbarkeit gegen Wohlthäter, an Sorge für die Nach-
kommen, an Wohlthätigkeit von dem sitdichen Menschen
verlangt, lässt sich schlechterdings kein genaues Mass fest-
setzen. Um nur ein Beispiel zu erwähnen: Wo fängt die
Dankbarkeit an? Wo hört sie auf? Wann nenne ich
Jemanden undankbar? Worin zeigt sich die Dankbarkeit?
Dies alles ist doch offenbar in dem verschiedenen Fällen
verschieden. Unmöglich kann ein Gesetzeskodex derartige
Begriffe definieren. In bestimmte Regeln können hingegen
wohl die Enthaltung von gegenseitiger Gewalt und Be-
leidigung, wie auch die Erfüllung von Versprechungen
gebracht werden; auf diese Dinge richtet daher das
bürgerliche Gesetz sein Auge.
53
Zu dieser Formulierung des Unterschiedes zwischen
Recht und Moral sei noch die Bemerkung gestattet, dass der
erste Unterschied in ganz anderen Worten bei Schopen-
hauer^) sich wiederfindet. Nach ihm ist es die Aufgabe
der Moral, dass Niemand Unrecht thue, die Aufgabe des
positiven Rechts, dass Niemand Unrecht leide. Das
Gesetz schreitet daher nur in den Fällen ein, wo eine un-
gehörige Handlung begangen wird; gewaltthätige Ge-
sinnungen jedoch, durch welche Niemand zu Schaden
kommt , werden wohl von der Moral , nicht aber vom
positiven Recht beanstandet.
Viertes Kapitel.
Die Entwickelung der sittlichen Anschauungen. .
Mangelhafte Entwickelung des moralischen Gefühls bei den
unzivilisierten V^ölkern und ihre Gründe. Die Bedeutung
der Vernunft und der Erziehung für die Sittlichkeit. Das
Völkerrecht, seine Entstehung und Entwickelung.
„Die Betrachtung der moralischen Erscheinungen
unter dem Gesichtspunkt des Werdens .... ist besonders
Home und Hume eigentümlich 2)**. Diesen beiden Denkern
gebührt das Verdienst, den Gedanken der Entwickelung
in die Geschichte des Menschengeschlechts eingeführt und
gezeigt zu haben, dass nicht nur das einzelne Individuum
allmählich aus dem Zustande geistiger Beschränktheit zu
grösserer Vollkommenheit sich emporringt, sondern dass
das Gleiche stattfindet in dem grossen Körper der Mensch-
heit. Die deutschen Philosophen nahmen diesen frucht-
bringenden Gedanken auf, ein Herder schrieb seine „Ideen
zur Philosophie der Geschichte der Menschheit", ein Lessing
„die Erziehung des Menschengeschlechts.**
1) Gruudiage der Moral, § 17. Die Welt als W. u. V. I, § 62.
2) Zart, a. a. ()., S 93.
11
^ 54 —
Das die moralischen Gesetze keine starren, unwandel-
baren Gebote sind, dass sie vielmehr heute einen anderen
Inhalt haben als in der grauen Vorzeit, und dass sie in
der Zukunft noch weiter ausgebildet werden können, dies
will uns Home im letzten (neunten) Kapitel seines zweiten
essay zeigen. Zwar hat er dem Abschnitt die Überschritt
„Von dem Völkerrechte" (Of the Law of Nations) ge-
geben, aber diesen Gegenstand behandelt er erst am Schlüsse,
und zwar soll das Völkerrecht tür die aufgestellte Lehre
von der allmählichen Erweiterung des ethischen Gesichts-
kreises ein Beispiel abgeben. In gleichem Sinne, und zwar
ausführlicher, bespricht Home diese Lehre in den bereits
oben erwähnten „Skizzen der Menschheitsgeschichte',
(Sketches of the History of Man); die zweite Skizze des
dritten Buches handelt in ihrem zweiten Teile von dem
„Fortschritt der Sittlichkeit" (Progress of Morality).
In den Tagen der Vorzeit, so beginnt Home seine
Ausführungen, waren die Menschen roh und wild; ja sogar
jetzt giebt es noch, fern von uns, barbarische Völker, denen
Raub und Blutvergiessen nichts Ungewöhnliches ist. „Aus
diesem Anblik des ursprünglichen menschlichen Zustandes
sollte es fast scheinen, dass moralische Tugenden dem
Menschen nicht sowohl natürlich, als vielmehr vermittelst
der Erfahrung und des Exempels in einer wohleingerichteten
Gesellschaft erworben sind, mit einem Worte, dass der
ganze morahsche Teil des menschlichen Systems künstlich
ist" (S. 100). Sollt»^ dies der Fall sein, so wäre dem ganzen
Lehrgebäude Homes der Boden entzogen. Nicht die Natur
wäre es alsdann, deren Stimme uns zur Sittlichkeit ruft,
sondern die Kunst und die Erfindung nähmen das Verdienst
für sich in Anspruch, die Natur verdrängt und erst so der
Sittlichkeit den Pfad geebnet zu haben.
Allein dem ist nicht so. Der Einwand, den Home
bereits gegen Humes Theorie von der bloss konventionellen
Bedeutung der Gerechtigkeit und der Treue erhoben hat,
trifft in erhöhtem Masse diejenigen, welche das gesammte
.- 55 —
Sittengesetz für nichts anderes als eine Einrichtung der
Gesellschaft erklären. Denn „in der That ist es augen-
scheinlich, dass Erziehung und Exempel, so stark auch ihr
Eintluss sonst sein mag. nie eine Empfindung oder ein Ge-
fühl erschaffen können Sie können die Pflanzen, die
die Natur gebildet hat, hervortreiben und verbessern,
aber keine neue oder ursprüngliche Pflanze hervor-
bringen'^ (ebend.). Würde demnach gar keine Anlage
zur sittlichen Lebensführung in der menschlichen Natur
vorhanden sein, so wäre es einer noch so vortrefflich ein-
gerichteten Gesellschaft nimmermehr gelungen, die Moral
zu erzeugen.
Wenn nun aber der Wilde nicht weniger als der
zivilisierte Mensch die Anlage zur Tugend besitzt, wie er-
klärt sich dann der weite Abstand, der sich betreffs der
Sittlichkeitsgefühle zwischen ihnen befindet?
Die Antwort auf diese Frage wird unschwer gefunden,
wenn wir den ursprünglichen Zustand des Menschen genauer
betrachten. Das Leben ist für den Naturmenschen nichts
weniger als bequem; die Erde ist unfruchtbar und unbebaut,
die Mittel zur Fristung des Daseins sind nur mit Mühe zu
erreichen. Kein Wunder, wenn unter den Einzelnen ein
fortwährender Streit der Interessen herrscht. Der Trieb
der Selbsterhaltung erhält so täglich und stündlich Nahrung
auf Kosten der geselligen Neigungen. Er erstarkt durch
die häufigeBethätigung, während die wohlwollenden Affekte,
durch Mangel an Übung geschwächt, von ihm mit Leichtig-
keit in den Hintergrund gedrängt werden. Diesem Miss-
verhältnis der Stärke der verschiedenen Triebe gegenüber
ist das moralische Gefühl nicht imstande, seiner gebietenden
Stimme Achtung und Ansehen zu verschaffen. Es ist vor-
handen, aber es erlangt nicht die Machtstellung eines Be-
herrschers der Affekte, sondern wird in den meisten Fällen
von dem Selbsterhaltungstriebe überstimmt, der allgewaltig
drängt und stürmt und den vom moralischen Gefühl be-
günstigten Trieben die Bethätigung versagt.
f !!
III
- 56 -
Die hauptsächliche Ursache jedoch des ungesitteten
Verhaltens des unzivilisierten Menschen ist die noch un-
genügende Ausbildung der Verstandeskräfte. (Im Grunde
genommen hängt ja damit auch die eben geschilderte
Mangelhaftigkeit der Gewinnung der Nahrungsmittel zu-
sammen). Und hier ist nun der Ort, wo Home die hohe
Bedeutung der Vernunft für die Ethik in das rechte Licht
setzt. Hat es doch bis jetzt den Anschein erweckt, als
wisse er diese nicht zu schätzen, wenn er in tadelndem
Tone von denen sprach, die „die kalte Vernunft" an die
Stelle der Gefühle und Empfindungen setzen wollen Allein
die folgenden Ausführungen werden deutlich zeigen, dass
Home kein einseitiger Gefühlsethiker ist. Was er be-
hauptet und mit Recht behauptet, ist: Die moralischen
Unterscheidungen „gut und böse, recht und unrecht, lobens-
wert und tadelnswert", diese Unterscheidungen werden
nicht von der logischen Vernunft getroffen, sondern von
einem moralischen Gefühl ; die Vernunft lehrt nur den Un-
terschied zwischen wahr und falsch, richtig und unrichtig,
nützlich und schädlich.
Wie das Kind in der gebildeten Gesellschaft, lehrt
Home, die ersten Eindrücke von äusseren Objekten erhält
und erst später durch Übung und durch den Einfluss der
Erziehung die Fertigkeit erlangt, „zusammengesetzte Ideen"
(complex ideas) und ., abstrakte Sätze" (abstract propositions)
zu denken, so hat auch die gesammte Menschheit eine
Periode der Kindheit. Die unzivilisierten Menschen ge-
hörten — und soweit sie noch existieren, gehören — dieser
Kindheitsstufe an. Die Begriffe vom gemeinen Besten,
von einem Staat, von einem \^olk, von der Gesellschaft
unter einer Regierung, sind zusammengesetzt, und werden
selbst von dem denkenden Teil des menschlichen Geschlechtes
nicht so bald erlangt. Der Rohe und Ungebildete kann
sie kaum erlangen, und daher können sie auch kaum einigen
Eindruck auf ihn machen*' (S. 101 f.). Hier sehen wir die
Aufgabe der V^ernunft genau und präcise bezeichnet: Die
Vernunft bildet Begriffe, zuerst einfache, dann allmählich
- 57 -
I
immer zusammengesetztere; das ist ihr mächtiges Amt.
Allein sie ist kein Motiv zum Handeln. Das sind vielmehr
die Gefühle, die sich der von der Vernunft neu erworbenen
Begriffe und Verhältnisse bemächtigen und mit ihnen
operieren. In diesem Punkte herrscht zwischen Home und
Hume gänzliche Übereinstimmung. Im ersten Anhang zu
seiner „Untersuchung über die Prinzipien der Moral" »)
sucht Hume den Anteil festzustellen, „welcher der Vernunft
und welcher dem Gefühl an allen Entscheidungen des
Lobes oder Tadels zukommt", und gelangt zu dem Er-
gebnis, dass die Vernunft die Gegenstände darlegt, wie sie
sich in der Natur vorfinden, ohne etwas hinzuzufügen oder
wegzunehmen, dass das moralische Gefühl hingegen, nach-
dem alle Umstände und Verhältnisse ihm vorgelegt sind,
gleichsam eine neue Schöpfung hervorbringt, indem es die
Gegenstände „entweder vergoldet oder befleckt".
Wir haben nach dem Gesagten also keine Veran-
lassung, den wilden Völkern das moralische Gefühl abzu-
sprechen. Sie besitzen es so gut wie wir. „Ihr Fehler
liegt vielmehr in der Schwäche der allgemeinen Triebfedern
der Handlungen, welche auf Gegenstände gehen, die zu
sehr zusammengesetzt sind, als dass Wilde sie leicht fassen
könnten" (S. 103)«). Sagen wir doch auch nicht von den
Mitgliedern der zivilisierten Welt, die ihren augenblick-
lichen Leidenschaften folgen und den Moralgesetzen zu-
widerhandeln, sie seien des moralischen Gefühls gänzlich
it
1) a. a. 0., S. 122«f.
2) Nach Lessing („Die Erziehung des Menschengeschlechts") gehört
die Lehre von der Erbsünde zu jenen Wahrheiten, „die wir als Offen-
barungen so lange anstaunen sollen, bis sie die Vernunft aus ihren andern
ausgemachten Wahrheiten herleiten und mit ihnen verbinden lernen" (§ 72).
In die philosophische Sprache übersetzt, ist ihm die Erbsünde nichts
anders als die von Home behauptete anfängliche Unfähigkeit des Menschen,
sittlich zu handeln. „Wie", ruft er aus, „wenn uns endlich alles über-
führte, dass der Mensch auf der ersten und niedrigsten Stufe seiner Mensch-
heit schlechterdings so Herr seiner Handlungen nicht sei, dass er morali-
schen Gesetzen folgen könne** ? (§ 74).
1 ;i
- 58 —
*l
ii|
bar; dann wären sie ja unverbesserlich, dann gälte ja das
entmutigende „velle non discitur" Schopenhauers, das
Paulsen bezeichnend einen der „AberglaubensarlikeP' jenes
Philosophen nennt. Es ist vielmehr die wissenschaftliche
Überzeugung Homes, dass vernünftige Überlegung und ver-
nünftige Erziehung gewaltige Eintluss auf die sittliche
Entwickelung ausüben. „Das moralische Gefühl, ob es
gleich in der Natur des Menschen eingewurzelt ist, kann
doch durch die Erziehung und Bildung sehr viel feiner
werden. Es verbessert sich, so wie unsere andern Kräfte
und Fähigkeiten, stufenweise". „Jeder muss die grossen
Vorteile der Erziehung und Nachahmung einsehen" (S. 104).
Theoretisches Erkennen, Sinn für Schönheit, praktische
Sittlichkeit, sie alle sind zwar in der Natur jedes Menschen
angelegt. Aber wie weit alle diese Anlagen zur Entfaltung
kommen, das hängt in hohem Masse von den äusseren Um-
ständen ab, in denen der Mensch aufwächst, von dem
Bildungsgrad der Eltern, der Freunde, der Lehrer, des
Volkes, des Zeitalters. „Deswegen können die Wirkungen
des moralischen (jefühls bei einem Wilden überhaupt gar
keine Gleichheit haben mit denen, die sich bei einer Person
äussern, die alle Vorteile besitzt, deren die menschliche
Natur durch eine feine Erziehung fähig ist** (S. 105 f).
Ein Beispiel für die fortwährende Verfeinerung der
sittlichen Anschauungen sind die Gesetze, welche die
einzelnen Völker im Verkehr mit einander beobachten, das
Völkerrecht. Dasselbe ist nicht weniger natürlich als das
Sittengesetz innerhalb der einzelnen Gesellschaft. Wohl
behaupten Manche, es sei durch allgemeine Einwilligung
unter den Völkern festgesetzt worden. Jedoch, fragt Home,
wann geschah denn dies und von wem geschah es? Auf
blosser Übereinkunft beruhen solche Gesetze nicht; sondern
im Laufe der Zeiten läuterten sich die Anschauungen über
Sittlichkeit, und so wurden sich die Völker immer grösserer
Rücksichten bewusst, die sie gegen ihnen gleichgültige
oder selbst feindselige Nachbarn auszuüben haben. Erst
- 59 —
hinterher erlangen dann durch die allgemeine Einwilligung
diese Gesetze eine neue Unterstützung; jedes Volk verlässt
sich dann darauf, dass das Nachbarvolk sie beobachten
werde. Mit vergifteten Waffen zu kämpfen, galt früher
lür weniger tückisch, als heute. Die Kriegsgefangenen,
die -inst getötet oder schmählich behandelt wurden, haben
heute keine Grausamkeiten zu befürchten, da die gebildeten
Nationen einsehen, dass der einzelne Gefangene eigentlich
kein Feind ist, dass er, nur dem Kufe seines Herrschers
folgend, in den Kampf gezogen ist. Ja, die Sitte verbreitet
sich sogar, die Gefangenen auszuwechseln. Der Gesandte
war schon in alter Zeit eine unverletzliche Person; in der
neueren Zeit jedoch sind seine Rechte immer mehr er-
weitert worden.
So erkennen wir beim Völkerrecht im Besondern, was
Home im Allgemeinen von dem gesamten Gebiete der
Sittlichkeit behauptet hat, eine fortschreitende Entwickelung.
„Das Naturgesetz, welches das Gesetz unserer Natur ist,
kann nicht allezeit einerlei Gestalt behalten. Es muss sich
mit der menschlichen Natur verändern, und folglich, so wie
diese feiner wird, von Stufe zu Stufe auch feiner werdend
(S. 106)1).
f 1 >
I
Fünftes Kapitel.
Die Freiheit des Willens.
Homqs Vorgänger in dieser Frage. Hume und Home.
Die Veränderungen in der 2. und 3. Auflage. Die Gesetz-
mässigkeit in Innen- und Aussenwelt. Widerlegung der
Einwände gegen den Determinismus. Home gegen Clarke.
Die „physische" und die „moralische" Ursache. Die
l) „The law of nature, which is the law of our nature, cannoi be
stationary.' It must vary with the nature of man, and cousequently
refine gradually as human nature refines" (S. 147).
— 60 —
moralische Notwendigkeit und das liberum arbitrium. Die
Ungereimtheiten der indeterministischen Anschauung. Deter-
minismus und Verantwortlichkeit. Der Ursprung des
falschen Freiheitsbegriffs. Die Kausalität und die ignava
ratio. Die Theodicee. Home, Priestley und Schopenhauer.
Home und die schottische Schule.
fi
Im fünften Bande seiner „Geschichte der neueren
Philosophie** handelt Buhle ausführlich über die „Geschichte
des Streits über Materialismus und Determinismus in Eng-
land" ^). In der That war die Willensfreiheit eine Frage,
die im vorigen Jahrhundert mehr denn je die Gemüter er-
regte. Besonders in England-Schottland und in Frankreich
wurde das Problem eifrig diskutiert, und in Deutschland
verfolgte man den Streit mit grossem Interesse. Wenn
Buhle gerade an der Hand zweier englischer Philosophen
(Priestley und Price) denselben erläutert, so begründet er
sein Verfahren damit, dass in England die freie Forschung
weder vom Hofe unterdrückt , noch von der Geistlichkeit
verfolgt, der Kampf der Meinungen daher ohne Gehässig-
keit geführt wurde; in Frankreich hingegen waren die
Denker infolge der Unterdrückung der wissenschaftlichen
Ansichten nicht unbefangen, sondern schrieben in gereiztem
Tone. ,,Und so ward für Wahrheit und Wissenschaft durch
die französischen Philosophen ungleich weniger gewonnen
als durch die britischen" 2).
Home nun gehört zu eben jenen britischen Denkern
des 18. Jahrhunderts, welche die Willensfreiheit eingehend
behandelt und das Problem nach allen Seiten hin ruhig
und voraussetzungslos erwogen haben. Er schrieb nicht
für die Kirche und nicht gegen sie, er schrieb für die
Wahrheit; und wenn es richtig ist, was Schopenhauer in
seiner Abhandlung über die Freiheit des Willens sagt,
dass dieses Problem ein Probierstein sei, an welchem man
1) Buhle, a. a. 0„ S. 369—481.
2) Buhle, a. a. 0., S. 374.
iii
— 61 —
die tief denkenden Geister von den oberflächlichen unter-
scheiden könne, indem jene stets dem Determinismus, diese
aber dem Indeterminismus huldigen, so würde unserem
Home das Prädikat eines tiefen Denkers nicht versagt
werden dürfen , denn er ist ausgesprochener Determinist.
Schon im 17. Jahrhundert hatte Thomas Hobbes in
seiner Schrift: „Quaestiones de libertate, necessitate et casu"
und Spinoza in seiner „Ethik" die Determination des Willens
gelehrt. Dann aber folgten Locke und Leibniz, die ihren
Standpunkt in dieser Frage nicht deutlich und scharf
kennzeichneten, sei es, dass sie selbst vor den Konsequenzen
des Determinismus zurückschreckten, oder aber, dass sie^
es für angebracht hielten, dieselben ihren Lesern zu ver-
hüllen M- So herrschte wieder Unklarheit über das Pro-
blem, bis es im 18. Jahrhundert von David Hume in seinem
„Treatise on human nature' (1739—1740)2) und nochmals
in seinem „Enquiry concerninghuman understanding"(1748)3)
wieder aufgenommen und zugunsten des strengen Deter-
minismus entschieden wurde. Ihm folgte hierin David
Hartley in seinen „Observations on man, his frame, his duty
and his expectations" (1749); zwei Jahre darauf erschienen
Homes „Essays**.
Merkwürdiger Weise beruft sich Home auf seine Zeit-
genossen in dem ausführlichen essay nicht ein einziges Mal.
Was freilich Hartley angeht, so dürfte Home bei der Ab-
fassung des essay dessen Schrift noch nicht gekannt haben.
Nicht dasselbe gilt jedoch von Hume, mit dessen „Treatise",
wie wir zu wiederholten Malen sahen, Home innig vertraut
ist, und dessen Urteil er so hoch schätzt, dass die Ver-
schvveigung der Übereinstimmung mit ihm in einer so be-
strittenen Frage uns im ersten Augenblick Wunder nimmt.
Allein bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass der Deter-
1) Man vergleiche Locke: „Versuch über den menschlichen Ver-
stand", II, Kap. 21; Leibniz: „Theodicee", 11, §45—53.
2) Book II, Part III, Sest. 1 und 2.
3) Part Vni, Sect. 1 und 2.
*
»
Jü
62 —
minismus, wie ihn Hume lehrt, kein Vorbild für Home ab-
zugeben vermochte. Die Verbindung zwischen Motiv und
Handlung entspricht der Verbindung zwischen Ursache
und Wirkung in der Körperwelt. Nun besteht aber nach
Hume die in der Körperwelt anzufindende Kausalität lediglich
in der Gleichförmigkeit, mit welcher auf bestimmte Er-
scheinungen gewisse andere Erscheinungen folgen, was den
Verstand veranlasst, durch Gewohnheit von der einen Er-
scheinung auf die andere zu schliessen. Eine Kraft da-
gegen in der Ursache anzunehmen, mit weicher sie die
Wirkung hervorruft, soll uns nichts berechtigen. Was hier
aber von der Aussenwelt gesagt ist, wird von Hume auch
auf die Vorgänge in der Seele übertragen. Wir kennen
nur eine beständige Verbindung zwischen gewissen Beweg-
gründen und gewissen Handlungen, und der Verstand ge-
wöhnt sich daran , von den Beweggründen auf die Hand-
lungen einen Schluss zu ziehen. Wir haben aber kein
Recht, einem Motiv die Kraft zuzuschreiben, eine bestimmte
Handlung hervorzubringen. Nun genügt zwar Hume die
beständige Verbindung von Motiv und Handlung und der
Verstandesschluss von jenem auf diese, um die Determination
des Willens anzunehmen; er kommt also zu demselben
Resultat wie Home. Nichtsdestoweniger mochte es letzterem,
da er die Gesetzmässigkeit der menschlichen Handlungen
in dem engsten Zusammenhang mit der Kausalität in der
Körperwelt behandelte , unangebracht scheinen , sich bei
der Notwendigkeit der Handlungen auf denjenigen zu be-
rufen, dessen Auffassung der Kausalität er auf das schärfste
bekämpfte').
Home hat den ziemlich umfangreichen Versuch über
die Freiheit nicht in einzelne Kapitel eingeteilt. Es lassen
sich indessen deutlich drei Teile unterscheiden, welche
folgende Fragen behandeln:
1) Im zweiten Teile der „Essays'* enthält der vierte Versuch „Von
uuseru) Begriff von der Kraft" ^Of our idea of power) eine eingehende
Kritik des Hume'schen Skeptizismus.
63 —
1. Sind die menschHchen Handlungen gesetzmässig oder
willkürlich?
2. Ist zur Erklärung der Verantwortlichkeit und der Reue
die Annahme eines liberum arbitrium notwendig?
3. Ist zur Erklärung der Thätigkeit des Menschen die
Annahme der Zufälligkeit in den Begebenheiten er-
forderlich ?
Beachtenswert ist es nun, dass Home im Laufe der
Jahre seine Anschauung geändert und sich erst allmählich
zu einem konsequenten Determinismus hindurchgerungen
hat. Es ist nicht ihm allein so ergangen; auch Spinoza,
Hardey, Priestley und Voltaire konnten sich, wie Schopen-
hauer berichtet, nur mit Mühe von der vulgären Willens-
freiheit losreissen. Wir können es Flome daher wohl nach-
fühlen, wenn er in der Vorrede zur dritten Auflage seiner
essays dem Leser zuruft: „And now, rejoice with me, my
good reader, in being at last relieved from so many dis-
tressing errors".
In den drei Auflagen vs^erden die obigen Fragen
folgendermassen beantwortet:
1. Auflage (1751).
1. Die menschlichen Handlungen sind gesetzmässig und
notwendig.
2. Wir fühlen uns nur bei Annahme der Willensfreiheit
verantwortlich. Aus diesem Grunde ist uns ein natür-
liches, gleichwohl trügerisches Gefühl von Freiheit
eingepflanzt. ^-
3. Nur bei Annahme der Zufälligkeit in den Begeben-
heiten bleiben wir vor der ignava ratio der Stoiker
bewahrt. Uns ist daher ein natürliches, gleichwohl
trügerisches Gefühl von Zufälligkeit eingepflanzt.
2. Auflage (1758).
1. Die menschlichen Handlungen sind gesetzmässig und
notwendig (Also wie 1. Auflage).
1) Schopenhauer, a. a. 0. Freiheit des Willens, S. 456 ff.
^■jCÄ.
— 64 ~
2. Eine Freiheit, gegen Motive zu handeln, wird von dem
Bewusstsein der Verantwortlichkeit nicht vorausgesetzt,
sondern nur die Freiheit, nach eigenem Ermessen ohne
äussern Zwang zu handeln. Wir haben auch kein
natürliches Gefühl von der Freiheit der Willkür (Ver-
änderte Auffassung),
3. Dagegen entgehen wir der ignava ratio nur durch An-
nahme der Zufälligkeit. Ein natürliches, freilich
trügerisches Gefühl von Zufälligkeit spornt uns zur
Thätigkeit an (Also wie 1. Auflage).
3. Auflage (1779).
1. Die menschlichen Handlungen sind gesetzmässig und
notwendig (Wie schon 1. und 2. Auflage).
2. Die Verantwortlichkeit setzt nur Freiheit von äusserem
Zwang voraus (Wie 2. Auflage).
3. Unser Wirken und Schaffen setzt durchaus keine Zu-
fälligkeit in den Begebenheiten, es setzt im Gegenteil
Gesetzmässigkeit voraus. Wir haben auch kein natür-
liches Gefühl von Zufälligkeit (Veränderte Auffassung).
Aus dieser Übersicht ersehen wir, dass die Gesetz-
mässigkeit der Handlungen bei Home von vorn herein fest
stand. Das liberum arbitrium indifl'erentiae glaubt er in
der 1. Auflage zur Erklärung der Verantwortlichkeit nicht
entbehren zu können; in der 2. Auflage lässt er es fallen.
Dagegen hält er in dieser Auflage die Empfindung vom
Zufall noch fest, jene „falsche'^ und ,,betrügliche„ Em-
pfindung, wie er sie „in Ermangelung eines geschickten
Ausdrucks" nennt, durch die allein wir zur Thätigkeit an-
gespornt weiden. Endlich in der dritten Auflage sagt er
sich auch von dieser letzten Konzession an indeterministische
Anschauungen los. Unsere Darstellung folgt demgemäss
der Schlussansicht unseres Philosophen ^).
1) Es ist mir nicht gelungen, in den Besitz der dritten Auflage zu
gelangen. Ich hätte also die „Zufälligkeit'* entweder überhaupt nicht,
oder nach der zweiten Auflage darstellen müssen, wenn nicht Uomes
„Sketches*' und Tytler, sein Biograph , das Fehlende ergänzt hätten.
~ 65 -
„Dass sich nichts ohne Ursache zutragen kann, ist
ein Grundsatz, der von allen Menschen angenommen wird,
von den ungelehrten und unwissenden sowohl, als von den
gelehrten. (S. 111). Die Ursache einer Begebenheit mag
uns noch so unbekannt sein, eins steht uns ausser
Zweifel, nämlich, dass eine solche vorhanden ist. Schon
die Kinder sind danach bestrebt, die Ursachen der Dinge
zu erfahren, welche sie um sich herum wahrnehmen. Der
Mann aus dem Volke nimmt, wenn er sich eine Erscheinung
nicht zu erklären vermag, lieber zu unsichtbaren Mächten
seine Zuflucht, als dass er eine ursachlose Begebenheit
annähme.
Gleichwohl haben wir neben diesem ausgeprägten Be-
wusstsein von der Gesetzmässigkeit der Begebenheiten in
gewissen Fällen eine Empfindung von Zufälligkeit Von
Dass die oben geschilderte Änderung sich in der 3. Auflage findet, ent-
nahm ich aus der Vorrede zu ihr, welche Tytler (a. a. 0.. S. 164 f. Fuss-
note) mitteilt. Home sagt daselbst u. a. : „In the Essay of Liberty and
Necessity, our notions of chancc and contingency are held to be delusive
and consequently that so far we are led by our uature to deviate from
trath. £t is a harsh doctrine, that we should be so led astray in any
instance. As that doctrine never sat easy upon me, I discovered it also
to be erroneous; and the error is corrected in the present edition, where
I hopc it is made clcarly out, that the notion we have of chance and
contingency is entirely conformable the neccssary chain of causcs and
effects". — Wie aber Home die „Möglichkeit" und „Zufälligkeit" mit
der „notwendigen Kette von Ursachen und Wirkungen" in Einklang
brachte, hahe ich den „Sketches ' entnommen. Im Jahre 1789 — 9 Jahre
nach Homes Tode — erschienen sie zu Edinburgh in zweiter Auflage,
„considerably enlarged by the last additions and corrections ot the author."
Wie schon erwähnt, behandelt die zweite Skizze des dritten Buches die
Prinzipien und den Fortschritt der Sittlichkeit. Der erste Teil zerfällt
wiederum in acht „Sektionen", deren letzte den Titel fuhrt: „Liberty and
Nee ssity with respect to Morality". Dieser Sektion ist ein Anhang bei-
gegeben, betitelt „üpon chance and contingency'' (Vol. IV, 120—127).
Es unterliegt wohl keinem Zweifel , dass der Inhalt jenes Anhangs sieh
mit der Darstellung der „Zufälligkeit" in der (drei Jahre vor Homes Tod
erschienen) dritten Auflage der essays deckt, da dort in der That der Zu
lall mit der Notwendigkeit in Einklang gebracht ist.
66
- 67
\
ii
manchen künftigen Ereignissen glauben wir wahrzunehmen,
dass sie in den vorhergenden Ursachen nicht fest genug
gei^ründet sind, um sich notwendiger Weise zutragen zu
müssen. Während z. B. der Tod eine Tliatsache ist, deren
schliessliches Eintreffen wir nach den (besetzen der Natur
als gewiss und notwendig betrachten, scheint uns doch
die besondere Stunde unseres Todes etwas Zufälliges
zu sein.
Richten wir unser Augenmerk auf die Handlungen
derMenschen, so begegnen wir einem ähnlichen scheinbaren
Widerspruch. Allgemein wird zugestanden, dass wir nach
Motiven handeln. „Dass ein Geiziger jede bequeme Ge-
legenheit ergreifen werde, sich zu bereichern, daran wird
ebenso wenig gezweifelt, als dass nach Regen und Sonnen-
schein die Pflanzen wachsen werden** (S. 113). Der Be-
weggrund des Gewinns wirkt auf seinen Willen genau so
sicher, als die Wärme und die Nässe auf den Erdboden.
Wir können mit den Beweggründen eines Menschen un-
bekannt und so ausser Stande sein, seine Handlungsweise
vorauszubestimmen; dass aber irgend welche Motive auf
ihn einwirken, ziehen wir keinen Augenblick in Zweifel.
Nichtsdestoweniger glauben wir zuweilen, die Hand-
lungen in anderem Lichte zu sehen Hat Jemand ein Un-
recht begangen, sofort tadeln wir ihn und fordern, dass
er anders hätte handeln sollen, gleich als ob jene That
frei gewesen wäre von allen äusseren Beweggründen, die
sie doch mit Notwendigkeit hervorbrachten.
Wie sind diese Widersprüche - denn solche scheinen
es zu sein — zu erklären und zu lösen? Hierzu bedarf
es zweifelsohne einer gründlichen und unparteiischen Unter-
suchung darüber, „was wir von der Zufälligkeit in den
Begebenheiten und von der Freiheit oder Notwendigkeit
in den menschlichen Handlungen zu halten haben'* (S. 115).
1. Die Notwendigkeit der menschlichen
Handlungen.
In der Körperwelt schreiten alle Dinge in einer fest-
gesetzten und bestimmten Folge von Ursachen und Wir-
kungen fort. Die kleinsten Bewegungen , die geringsten
Veränderungen sind das Resultat feststehender Gesetze,
jeder Zufall, jede Freiheil ist hier ausgeschlossen.
In der „moralischen Welt" scheint beim ersten An-
blick nicht die gleiche Gesetzmässigkeit stattzufinden.
Der Mensch handelt nicht nach mechanischen Gesetzen,
er fängt selbständig die Bewegungen an und handelt nach
freier Wahl. Seinen Leidenschaften braucht er nicht blind-
lings zu folgen, sondern kann Motive der vernünftigen
Überlegung auf sein Gemüt einwirken lassen. In so fern
ist der Mensch frei; er erleidet keinen äusseren Zwang,
er steht nicht unter einer physischen Notwendigkeit. Aber
Freiheit von Zwang ist nicht Ursachlosigkeit. Innere Not-
wendigkeit - moralische Notwendigkeit, wie Home sie
nennt - kommt einer jeden Handlung zu ; Beweggründe,
sie seien nun schwach oder stark, wirken allemal auf den
Willen ein und besti nmen ihn zu Thaten. Je stärker der
Beweggrund, um so sicherer der Eintritt der Handlung.
„Wir erwarten solche Handlung, einem solchen Bewegungs-
grunde zur Folge, ebenso zuverlässig, als wir erwarten,
dass ein Stein zur Erde sinken wird, wenn man ihn aus
der Hand fallen lässt** (S. 117 f.)- Sind in der Seele
mehrere Beweggründe, die nach verschiedenen Seiten hin
wirken, so mag sie kurze oder auch längere Zeit hin und
her schwanken, endlich aber wird sie demjenigen folgen,
welcher der stärkste ist. „Hieran kann man ebensowenig
zweifeln, als daran, dass in einer Wage das grösste Gewicht
die Schale niederziehen muss'- (S. Il8).
Der Einwand jedoch, dass die Menschen oft sehr
unvernünftig handeln und sich von augenblicklichen Ein-
fällen und Launen bestimmen lassen, ist ganz hinfällig.
Das den Willen bestimmende Motiv mag vernünftig oder
i
i|i
— 68 -
wunderlich sein, unter allen Umständen ist sein Einfluss
gesetzmässig und notwendig. Wenn beispielsweise ein
träger Mensch allen Motiven der Tugend und der Vernunft
widersteht und die Hände in den Schoss legt, so ist die
Ursache seines Entschlusses eben ein solches Motiv,
das jene anderen an Stärke übertrifft, nämlich die Liebe
zur Unthätigkeit und zum Müssiggang. Dieses Motiv ist
ebenso wirksam, ihn an einen Stuhl zu fesseln , wie es die
Liebe zur Ehre und zum Erwerb bei dem Strebsamen ist,
ihn zur Thätigkeit zu reizen.
Aber, wendet der Verfechter der indeterministischen
Lehre nun ein, ich kann doch, wenn ich will, ein geringeres
Gut dem grösseren vorziehen! Hier liegt eine Anzahl
Äpfel vor mir, das Motiv des Genusses drängt mich dahin,
einen möglichst guten zu wählen, ich nehme aber gleich-
wohl den schlechtesten, und zwar ohne Ursache, bloss weil
ich es so will. Allein, entgegnet Home, wer sieht hier
nicht, ,.dass das Verlangen, zu zeigen, dass er gegen Be-
wegungsgründe handeln kann, in diesem Fall selbst der
Bewegungsgrund zu dem wunderhchen Vorzuge ist?*'
(S. 120)0.
iTüi^se Bemerkung scheint von Home zum ersten Male gemacht
worden zu sein. Bei Hume findet sie sich in einer der Anmerkungen zum
Enquiry" die Anmerkungen aber stammen erst aus dem Jahre 177U,
wo Home mehrere seiner einzelnen edierten Werke zusammendrucken lie^ss.
Man bedenkt nicht," so heisst es in jener Note, „dass hier (sc bei
einer scheinhar den Motiven zum Trotz ausgeführten That) der phantastische
Wunsch, die Freiheit darzulegen, der Beweggrund des Handelns ist
(Hume, Untersuchung über d. menschl. Verstand, ed. Kirchmann, S 9^.
Fassnote). Sodann finden wir die gleiche Bemerkung wieder in Pnestleys
Schrift über den Determinismus: „The doctrine of philosophical necessity
iUustrated" (1777). Endlich sei an Schopenhauers Beispiel von dem ü.he-
gatten erinnert, der n ch gethaner Arbeit, a len Lockungen zum Ver-
Lügen widerstehend, zu seiner Gattin heimkehrt, und zwar, wie er mein ,
fedighch. weil er es nun einmal will. Wenn ich ihm nun beweisen will
fährt Schopenhauer fort, dass er infolge eines zwingenden Motivs nicht
anders handeln konnte, kann es zwar leicht geschehen, dass er, um mich
zu widerlegen, das Haus verlässt. „Dann wäre aber gerade mein Leugnen
und dessen Wirkung auf seinen Widerspruchsgeist das ihn dazu nötigende
Motiv gewesen*- (Schopenhauer, a. a. 0., S. 422).
— 69 -
Nach diesen Ausführungen wendet sich Home gegen
Clarke, welcher den notwendigen Einfluss der Motive auf
den Willen zugiebt, dennoch aber die Willensfreiheit auf-
recht erhalten zu können glaubt mit der Begründung,
dass doch nicht die Motive direkt die Bewegungen des
Menschen verursachen, sondern der Mensch selbst. Nun,
erwidert Home, das behauptet ja Niemand, dass etwa das
Vergnügen eines Spaziergangs die Bewegungen eines
Menschen hervorruft. Das Vergnügen verursacht zunächst
nur den Entschluss, ins Freie zu gehen. Der Entschluss
aber ist wiederum eine Ursache, die mit Notwendigkeit
die Handlung des Spaziergangs bewirkt, und so hat Clarke
mit seinem Argument nichts gewonnen; Motiv, Wille und
Handlung stehen in einer unzertrennlichen Verbindung.
Wenn Clarke aber weiter behauptet: „Eine moralische Not-
wendigkeit ist überall gar keine Notwendigkeit, da sie mit
der höchsten Freiheit bestehen kann", so muss er, wenn
das Argument überhaupt einen Sinn haben soll, das zweite
Mal das Wort „Notwendigkeit" im Sinne „Zwang" ge-
braucht haben, und dann würde er etwas Selbstverständ-
liches und Unbestrittenes aussagen; hingegen hätte er so
für die Ursachlosigkeit des Willens nichts bewiesen. Ist
die Stelle aber wörtlich zu nehmen, dann hat sie nicht mehr
Sinn als die Behauptung, die physische Notwendigkeit sei
gar keine Notwendigkeit, weil sie keine moralische ist.
„Eine grosse Quelle der Verwirrung bei dieser Unter-
suchung scheint die zu sein, dass man Notwendigkeit und
Zwang nicht unterscheidet" (S. 122). Diese beiden Begriffe
müssen streng von einander gesondert werden. Ein Ge-
fangener, der zu entkommen wünscht, bleibt in seinem
Kerker aus Zwang, weil die Thüren bewacht werden.
Sind die Aufseher unachtsam, so entflieht er. Diese Flucht
ist freilich kein Zwang, aber sie ist darum nicht minder
notwendig, d. h. sie ist eine ebenso gewisse und unfehlbare
t'olge der Umstände, in denen der Gefangene sich befindet,
als sein früheres Verbleiben im Kerker. In diesem Sinne
n
!
I
i
^ 70 -
sind sämtliche Handlungen notwendig, gewiss und unver-
meidlich; mit vollkommener Gesetzmässigkeit erfolgen sie
aus dem überwiegenden Beweggrunde.
Die Notwendigkeit der Handlungen wird uns ein-
leuchtend, sobald wir über die Umstände nachdenken, unter
welchen Handlungen überhaupt eintreten. Wann wird denn
eine That unternommen? Doch nur, wenn ich einen Erfolg,
einen Endzweck im Auge habe. Den Endzweck strebe
ich an, er ist Gegenstand meiner Begierde, und die Hand-
lung ist das Mittel, ihn zu erreichen. So innig hängen
Motiv und Handlung zusammen. Dem Menschen eine der
moralischen Notwendigkeit entgegengesetzte Freiheit zu-
sprechen, würde also dasselbe sein, wie ihm ein Vermögen
zusprechen, seiner Begierde zuwider, oder mit anderen
Worten: jedem Endzweck, jeder Absicht zuwider zu
handeln. Ein solches Vermögen aber verträgt sich nicht
mit einer vernünftigen Natur.
Selbst bei scheinbar gleichgültigen Entscheidungen
liegt keine Willkür vor. Die Gegenstände, unter denen
ich eine Wahl zu treffen habe, mögen einander so gleichen,
dass ich den Grund für meine schliessliche Entscheidung
nicht anzugeben vermag. Daraus folgt aber noch nicht,
dass ein Grund nicht vorhanden ist. In solchen Fällen
können „mancherlei Umstände, die aus kleinen unbemerkten
Besonderheiten der Phantasie, der Gewohnheit, der nähern
Stelle u. s. w. entspringen", die Entscheidung beeinflussen.
Und sehr tretTend fügt Home hinzu: Hier „ist selbst die
unangenehme Verlegenheit, die man empfindet, und die
Mühe, die man sich giebt, einen Grund der Wahl aufzu-
suchen, ein Beweis, dass es unnatürlich ist, ganz willkür-
lieh zu handeln, und dass unsere Einrichtung es mit sich
bringt, durch Bewegungsgründe bestimmt zu werden"
(S. 125)1).
1) Das ist ja auch der Sinn unseres Sprüchworts: „Wer die Wahl
hat, hat die Qual". - Merkwürdig ist es übrigens, dass Home das typische
Beispiel von Buridans Esel nicht zur Erläuterung herbeizieht.
'
- 71 -
Da nun aber einmal die Lehre von der Gesetzmässig-
keit der Handlungen „in einigen besonderen Stücken den
gewöhnlichen Begriffen des menschlichen Verstandes wider-
spricht" und der Mann aus dem Volke sie gemeiniglich
so versteht, als werde ihm hiermit das Privilegium der
Selbstbestimmung entrissen, so hält Home es für angebracht,
in kurzen Worten den Unterschied zwischen einer „phy-
sischen" und einer „moralischen" Ursache auszuführen.
Er besteht in folgenden Punkten:
1) Bei der physischen Ursache verhält sich der Mensch
ganz passiv ; es wird auf ihn gewirkt, er selbst wirkt nicht.
Die moralische Ursache treibt den Menschen an, selbst zu
wirken.
2) Die physische Ursache wirkt fast stets gegen die
Neigung des Menschen. (Ausnahme z. B.: Ein heftiger
Sturm treibt das Schiff, das durch ihn seine Segel einge-
büsst hat, in den Hafen hinein). Die moralische Ursache
ist allemal dem Willen gemäss; denn sie wirkt nie durch
Zwang und Gewalt, sondern durch Begierde und Über-
redung
3) Die physische Ursache ist uns unangenehm');
denn wir leiden ungern Zwang. Die moralische Ursache
ist angenehm, weil wir nach eigenem Willen handeln.
4) Die physische Ursache, als gleichbedeutend mit
Zwang, wird als Notwendigkeit empfunden. Von der Not-
wendigkeit der moralischen Ursache, welcher das Moment
des Zwanges abgeht, haben wir nicht das Gleiche un-
mittelbare Bewusstsein; sie wird nur durch Nachdenken
erkannt.
Die Thatsache nun, dass der Mensch von der mora-
lischen Notwendigkeit kein unmittelbares Bewusstsein hat,
ist der Grund jener Vorurteile, mit denen die Verteidiger
der Freiheit den Deterministen begegnen. Für die allen
Menschen bekannte physische Notwendigkeit hat die
1) Eine Wiederholung des vorhergehenden Unterschiedes, nur sub-
ektiv betrachtet.
V
- n -
Sprache das Wort „Zwang" gebildet; eine Bezeichnung
für die moralische Notwendigkeit giebt es dagegen nicht.
„Daher kommt es, dass der grösste Teil der Menschen
sogleich unruhig wird, wenn sie von Notwendigkeit reden
hören, weil sie sich keine Begriffe von einer Notwendig-
keit machen können, die von der Art des Zwanges ver-
schieden ist, bei welchem die Notwendigkeit mit dem
Willen streitet'- (S. 127). Home hofft nun, durch eine
Gegenüberstellung der moralischen Notwendigkeit und des
liberum arbitrium indifferentiae die Gegner der ersteren zu
beruhigen und auf seine Seite zu ziehen.
Dass die moralische Notwendigkeit, als dem Willen
gemäss, frei von Zwang ist und vielmehr angenehme
Wirkung auf uns ausübt, hat Home bereits bemerkt. Jetzt
geht er noch einen Schritt weiter und behauptet, dass
Notwendigkeit und Annehmlichkeit unzertrennlich sind.
„Eine Handlung", so schliesst er, „ist notwendig, weil sie
durch die Begierde hervorbracht wird; sie ist zu gleicher
Zeit angenehm, weil sie auf die Erfüllung der Begierde
abzielt. Und daraus folgt deutlich, dass das Vergnügen
auch so viel grösser sein muss, je grösser die Notwendig-
keit ist" (S. 128). Wie sieht es dagegen mit dem liberum
arbitrium aus? Fassen wir es als ein Vermögen, frei
von Motiven zu handeln, so ist es jedenfalls leer von
aller Lust und Neigung. Verstehen wir darunter aber
gar ein Vermögen, gegen alle Motive zu handeln,
dann muss dasselbe eine höchst unangenehme Wirkung
ausüben, es würde einen Widerspruch in unserer Natur be-
gründen und uns unglücklich machen.
Und doch , wenden die Indeterministen ein , ziehen
wir das liberum arbitrium der Notwendigkeit vor; denn
wenn es uns auch keine Lust gewährt, jedenfalls sind wir
dann doch nicht willenlos der Gewalt des Bösen anheim-
gegeben. Die Freiheit der Willkür setzt uns in den Stand,
allen Motiven des Lasters zu trotzen und ungestört auf der
Bahn der Tugend zu wandeln. Die Einseitigkeit dieser
I.
^
— 73 -
Betrachtungsweise aufzeigend, erwidert Home: Vorausge-
setzt, wir besässen jene Freiheit der Willkür, kann sie
nicht ebenso wohl den Motiven der Moral Trotz bieten?
Es wäre also reiner Zufall, ob wir tugendhaft oder laster-
haft handeln. Überhaupt wären wir mit jenem Vermögen
gänzlich dem Zufall unterworfen: Wir könnten uns auf
Niemanden verlassen. Versprechungen, Schwüre, Gelübde
wären sinnlos, denn sie vermögen nur den zu binden, der
durch Beweggründe geleitet wird. Der Unterschied der
Charaktere würde verschwinden; denn einen Charakter
besitzt nur derjenige, der feste und bestimmte Gründe für
seine Handlungen hat. Die Gesetze, Ermahnungen, Be-
lohnungen, Drohungen wären alle vergeblich; denn wer
von Motiven unabhängig ist, kann nicht Gegenstand einer
vernünftigen Regierung sein. Die Freiheit der Willkür
würde den Menschen nicht erheben, sondern erniedrigen.
„So lange wir nicht aus dem Menschen lieber ein wunder-
liches und lächerliches, als ein vernünftiges und moralisches
Wesen machen wollen, so lange haben wir auch keine
Ursache zu bedauern, dass wir den Willen den Bewegungs-
gründen notwendig unterworfen finden" (S. 130).
Das Ergebnis seiner Untersuchung fasst Home in
die folgenden Worte zusammen : „Wenn wir die moralische
und materialische Welt mit einander vergleichen, so ist in
der einen sowohl als in der andern alles, was geschieht,
das Resultat von feststehenden Gesetzen. Nichts ist in
der ganzen Welt, das eigentlich zufällig kann genannt
werden, nichts, das sein kann oder nicht sein kann, nichts
in der ganzen Natur, das ungebunden und ungewiss wankt,
sondern jede Bewegung in der materialischen Welt und
jede EntSchliessung und Handlung in der moralischen Welt
werden von unveränderlichen Gesetzen regiert. So lange
diese Gesetze in ihrer Kraft bleiben, kann nicht das kleinste
Glied von der allgemeinen Kette der Ursachen und
Wirkungen zerbrochen werden, noch irgend etwas anders
sein, als es ist" (S. 131 f.).
- 74 -
2. Der Determinismus und die
Verantwortlichkeit.
Ein Argument jedoch wird stets gegen den Deter-
minismus geltend gemacht, welches so gewichtig ist, dass
es die oben aufgestellte Lehre von Grund aus zu erschüttern
droht, und welches daher eine besondere Beachtung von
Seiten des Denkers erheischt. Wenn nämlich — so werfen
die Verteidiger der Willkür ein — die Handlungen not-
wendig erfolgen, mit welchem Rechte machen wir dann
die Menschen für ihre Thaten verantwortlich, mit welchem
Rechte spenden wir ihnen Lob oder geben ihnen unsere
Missbilligung zu erkennen, mit welchem Recht sprechen
wir von Verdienst und Schuld, aus welchem Grunde endlich
peinigen wir uns selbst mit Qualen des Gewissens, da ja
alles kommen musste, wie es kam, und wir nicht die ge-
ringste Freiheit hatten, anders zu handeln? Das System
der Notwendigkeit verträgt sich nicht mit den Gefühlen
der Verantwortlichkeit und der Reue; und da diese Ge-
fühle nicht weggeleugnet werden können, so ist eine Lehre,
die sie aufhebt, ein blosses Hirngespinnst.
Um diesem starken Einwurf zu begegnen, ist es er-
forderlich, die Gefühle der Billigung und Missbilligung und
das Gefühl der Reue einer sorgfältigen Untersuchung zu
unterziehen. Zunächst bemerkt Home, dass eine Handlung
jeder Zeit gebilligt wird, wenn sie aus einem tugendhaften
Motiv entspringt und somit von der guten x\bsicht des
Handelnden Zeugnis ablegt. Aber noch mehr: Gerade die
Verbindung zwischen Motiv und tugendhafter Handlung
ist es, welche die Billigung hervorruft, und je grösser der
Einlluss des Motivs, um so höher schätzen wir den
Handelnden. Wenn wir Gott wegen seiner Güte preisen,
so verringert die Erwägung, dass er notwendig gütig
ist, so wenig unsere Anerkennung, dass sie dieselbe viel-
mehr noch verstärkt. Dasselbe gilt von der Missbilligung:
Je grösseren Einfluss das lasterhafte Motiv auf einen
Menschen hat, um so verächtlicher erscheint er uns. Wohl
i
- 75 -
ist eine Freiheit notwendig, um einen Menschen zum
Gegenstand der Verantwortung zu machen; allein die ge-
naue Untersuchung ergiebt, dass es die Freiheit vom
äusseren Zwang ist, nicht aber die Freiheit von inneren
Beweggründen. „Wenn wir nur das Einzige wissen, dass
ein Mensch die Freiheit hat, zu handeln, wie es ihm ge-
fällt, so loben oder tadeln wir ihn sogleich wegen seines
Verhaltens, ohne noch eine andere Bedingung zu fordern.
Wir verlangen nicht, dass er auch das Vermögen haben
soll, seiner eigenen Begierde, der Wahl zuwider zu handeln.
Der Begriff von einem solchen Vermögen ist in keiner von
unsern Empfindungen eingeschlossen." (S. 135 f.).
Habe ich selbst eine unsittliche Handlung begangen,
so stellt sich hinterher die Reue ein. Das Gewissen ruft:
Du hättest anders handeln sollen, es war deine Pflicht,
anders zu handeln. Was ist der Sinn jener inneren Stimme?
Durch die Gewissensbisse tadele ich mein Naturell, mache
ich mir Vorwürfe, das ich das Motiv der Pflicht von einem
lasterhaften Motiv habe verdrängen lassen. Gewiss, ich
hätte anders handeln können. Niemand zwang mich,
Schlechtes zu thun, wenn ich nur vor der That die
Neigung zum Andershandeln gehabt hätte, wie ich sie
jetzt habe. Der Mangel der Neigung zur Pflicht ist es,
den ich tadle.
Nunmehr giebt Home den gegen seine Lehre ge-
richteten Einwurf den Gegnern zurück. Wenn der Mensch
das liberum arbitrium besässe, wenn er allen guten Motiven
zum Trotz boshaft und allen schlechten zum Trotz tugend-
haft sein könnte, dann gerade wäre er kein Gegenstand
des Lobes oder des Tadels. Waren es nicht die Motive
der Pflicht, die mich antrieben, dieselbe zu erfüllen, so ist
kein Schluss auf meinen Charakter berechtigt; und auch
der Böse kann jeden Tadel von sich abwenden, indem
eine schlechte Handlung keinen Rückschluss auf einen
verderbten Willen gestattet. Ein mit dem liberum arbitrium
ausgestatteter Mensch gleicht einem solchen, der zwischen
- 76 -
77
I
I
., i
,1
tugendhaften und lasterhaften Motiven unentschlossen wankt,
und es wäre doch sehr ungereimt zu behaupten, „dass eine
Neigung zum Guten oder zum Bösen, die so schwach wäre,
dass sie dem Gemüt die Freiheit Hesse, ihr zu widerstehen,
eines grösseren Lobes oder Tadels würdig wäre, als eben
diese Neigung, die so stark wäre, dass sie kein Vermögen
zu widerstehen übrig Hesse" (S. 138).
So weit ist der Determinismus also davon entfernt,
die Grundlagen der Sittlichkeit zu erschüttern, dass er um-
gekehrt eine Stütze derselben ausmacht. Verantwortlich-
keit und Reue lassen sich nur durch ihn erklären. Durch
den Determinismus sind wir in den Stand gesetzt, von der
Handlung einen Rückschluss auf den Charakter des
Handelnden zu machen. Der Determinismus ist es, der zu
der Behauptung berechtigt: operari sequitur esse, wie
Schopenhauer sagt.
Zum Schlüsse wirft Home noch die Frage auf, wie
denn der falsche Begriff des liberum arbitrium so tief habe
Wurzel schlagen können, dass er aus dem Bewusstsein der
Menschen so schwer sich entfernen lasse. Zu dem schon
erörterten Vorurteil , als sei jener Begriff eine Stütze der
Sittlichkeit, kommen, wie Home richtig bemerkt, besonders
noch zwei Umstände hinzu. Zunächst ist Macht und Ver-
mögen „eine Lieblingsidee des Menschen", er nimmt da-
her mit Freuden ein System an, das dieser Idee schmeichelt 0-
Ein fernerer Grund aber ist der, dass der nicht tief in das
Problem eindringende Mensch das Vermögen, der Wahl
gemäss zu handeln, mit dem Vermögen, zu wählen, ver-
wechselt. Er kann thun, was er wiH, und glaubt nun,
auch wollen zu können, was er wiU^).
1) VgL E. von Hartmann, a. a. 0. S. 448—469, über das liberum
arbitrium indifferentiae. Auch er führt als einen der Gründe der Illusion
den „Dünkel der Menschenwürde** an.
2) Vgl. Schopenhauer, a. a. 0. S. 393 ö. „Der Wille vor dem
Selbstbewusstsein".
i
ä
A
1
i
3. Die Kausalität und die ignava ratio.
Jetzt gilt es für Home noch den letzten Einwand zu
beseitigen, der gegen die Lehre von der allgemeinen Ge-
setzmässigkeit erhoben wird, den Einwand, welchen man
schon im Altertum den Stoikern entgegenhielt. Wenn
nämlich, so wird behauptet, alles in der Natur nach un-
veränderlichen Gesetzen geregelt ist, so hat unsere Thätig-
keit keinen Sinn und Zweck, denn wir können ja zu
unserem Wohl nichts hinzuthun und von unserem Leid
nichts verringern; dann können wir nur ruhig die Hände
in den Schoss legen und der Dinge warten, die da kommen.
Dass wir arbeiten und uns regen, ist ein Beweis gegen die
allgemeine Gültigkeit der Kausalität. Allein dieser ganze
Einwand beruht, wie Home richtig zeigt, auf einer falschen
Auffassung des Begriffs „Notwendigkeit". Wie wir oben
eine Verwechselung der inneren Gesetzmässigkeit mit dem
Zwang aufgefunden haben, so entdecken wir hier eine
Verwirrung der Begriffe „Gesetzmässigkeit" und „Unab-
änderlichkeit". Die grosse Menge indentifiziert beide BegriflTe
und nennt daher alles, was nicht unabänderlich ist, zufällig.
Jedoch bei genauer Analyse dessen, was wir unter Zufall
verstehen, zeigt sich, dass derselbe in keiner Weise der
Gesetzmässigkeit widerspricht. Wenn wir sagen: Dieses
Ereignis geschah durch Zufall (by chance), so heisst dies
nicht: Der Zufall verursachte es, sondern: Wir kennen
die Ursache nicht. Das Kausalitätsgesetz wird dabei keinen
Augenblick in Frage gestellt. Die Zufälligkeit (contingency)
des Witterungswechsels beruht lediglich auf unserer Un-
kenntnis der Ursachen desselben; das und nichts anderes
meinen wir auch, wenn wir davon reden. Zufall bedeutet
also stets nur Nicht-Wissen der Ursachen, nie ihr Nicht-
Vorhandensein. Eine Weltauffassung, welche Aus-
nahmen von dem Gesetze der Kausalität zulässt, ist un-
wissenschaftlich uud unphilosophisch.
Die Erkenntnis der Ausnahmslosigkeit des Kausalitäts-
gesetzes aber ist weit davon entfernt, der ignava ratio das
- 78 -
Wort zu reden. Gerade das Gegenteil ist der Fall. Wenn
ich die Überzeugung habe, dass alles in der Welt unter
dem gewaltigen Gesetzt der Kausalität steht, so weiss ich,
dass auch meine Thaten Glieder in der Kette der Ursachen
und Wirkungen bilden; und die Erkenntnis, dass die Forde-
rung meines leiblichen, geistigen und sittlichen Wohls zum
grössten Teil in meine eigenen Hände gelegt ist, wird
nicht verfehlen, mich zum eitrigen und fleissigen Gebrauch
aller meiner Kräfte anzuspornen. Würde ich dagegen a.i-
nehme>i - hier kehrt Home wiederum den Spiess gegen
seine Gegner -. es hänge vom Zufall ab, ob ich weise
werde oder thöricht, tugendhaft oder schlecht, dann freilich
wäre die ignava ratio am Platze, dann wäre es verlorene
Mühe, mich anzustrengen und an meiner Ausbildung zu
arbeiten. . j- j i
So sehen wir unsern Philosophen also tief durch-
drungen von der Gesetzmässigkeit in der Körperwelt, wie
in der Geisteswelt. Schärfer als er könnte sie auch heute
kein Denker aussprechen. „Diese Welt ist eine grosse
Maschine, die aufgewunden und in Gang gebracht ist.
Die verschiedenen Triebfedern und Räder wirken auf ein-
ander, ohne zu fehlen. Der Zeiger rückt fort und die Uhr
schlägt genau so, wie der Künstler es bestimmt hat. Wer
richtige Ideen und einen wahren Geschmack an der Philo-
sophie hat. muss sehen, dass dies die wirkliche Theorie
der Welt ist und dass bei jeder andern Theorie keine all-
gemeine Ordnung, kein Ganzes, kein Plan, weder Mittel
noch Endzweck in der Regierung der Welt stattfinden"
(S. 145).
Am Schlüsse des ersten Teils unseres essay hat Home
auch das Problem der Theodicee mit ganz kurzen Worten
gestreift. Die Kürze ist berechtigt; denn für die Ethik
muss es völlig gleichgültig bleiben, welche Folgerungen
aus ihren Lehren für die Eigenschaften des göttlichen
I
m
.1
^- 7^ -
Wesens sich ergeben. Ausführlicher bespricht Home die
Frage nach dem Ursprung des Übels im zweiten Teile
seines Werkes; dort handelt der siebente essay von der
Erkenntnis Gottes (Of our knowledge of the Deity).
Home ist sich der Schwierigkeit wohl bewusst, und er ist
nicht der Mann, der sich durch Winkelzüge herauszu-
winden sucht. Eins aber weist er bereits in unserm
essay mit Entschiedenheit zurück, nämlich die Ansicht,
dass nur dem Determinismus gegenüber das Problem
sich erhebe. Die Schwierigkeit „fällt auf jede Hypothese,
die wir annehmen können, zuletzt mit gleicher Stärke
zurück. Das moralische Böse kann gar nicht da sein,
wenn es nicht wenigstens von Gott zugelassen wird. In
Ansehung der ersten Ursache aber ist „zulassen" soviel
als „verursachen" (Permitting is the same thing with Cau-
sing), sintemal es nicht möglich ist, dass sich gegen seinen
Willen etwas zutragen könnte" (S. 132 f. Fussnote). Die
eingehende Behandlung der Frage erfolgt sodann, wie
schon erwähnt, in den Versuchen über natürliche Religion.
Durch seinen trefflichen essay über die Willensfreiheit
hat Home mächtig auf einen jüngeren Zeitgenossen ein-
gewirkt. Es ist dies Josef Priestley, einer der entschieden-
sten Vorkämpfer des Determinismus. Im Jahre 1777 er-
schien sein Werk : The doctrine of philosophical necessity
illustrated, dem Schopenhauer nachrühmt; „Wen dieses
überaus klar und fasslich geschriebene Buch nicht über-
zeugt, dessen Verstand muss durch Vorurteile wirklich
paralysiert sein" i). Priestley selbst gesteht nun, dass seine
Schrift nicht erschöpfend sei. Er will nur das erwähnen,
wo er glaubt, Neues beizubringen. Im Übrigen verweist
er auf die Werke von Hume, Hartley und Home (letzteren
nennt er unter dem Namen Lord Kames). Die Argumente
aber, die Priestley für das deterministische System herbei-
bringt, sind zum grossen Teil nicht ganz neu, sondern
1) Schopenhauer, a. a. 0. S. 457.
— 80 —
Ausführungen dessen, was wir bei Home kennen lernten
— das von Priestley neu Herbeigebrachte fällt mehr in
das Gebiet der Theologie — ; und so beruft er sich denn
auch zuweilen bei seinen Argumenten, wie z. B. bei der
Erklärung des Reuegefühls, auf Home. Da nun Schopen-
hauer Priestley so hoch schätzte, so dürfen wir wenigstens
eine indirekte Einwirkung unseres Home auf Schopenhauer
behaupten, wodurch dann die frappante Ähnlichkeit der
klassischen Abhandlung des Letzteren mit den Home'schen
Gedanken erklärlich wird. Dagegen sind wir nicht be-
rechtigt anzunehmen, dass Schopenhauer Home selbst
kannte , da er ihn sonst bei der Aufstellung seiner „Vor-
gänger" sicherlich nicht übergangen hätte.
Endlich mag der deterministische Standpunkt Homes
uns noch über die Frage Aufschluss geben, ob Home den
Philosophen der sogenannten schottischen Schule zuzu-
zählen ist, oder nicht. Windelband») hält ihn mit Hinsicht
auf seinen Grundsatz, dass „unsere Schlüsse zuletzt auf
Gefühl und Empfindung beruhen", für einen Vorläufer der
common -sense- Schule. Als ihr Begründer gälte darum
nicht er, sondern erst Thomas Reid, weil dieser durch
schärferes Eindringen in die philosophischen Probleme
Home in den Schatten gestellt habe. Um die Richtigkeit
dieser Behauptung zu prüfen, bedürfte es zuvor einer ein-
gehenden Beschäftigung mit den erkenntnistheoretischen
Anschauungen Homes, wie er sie in dem zweiten Teil der
essays niedergelegt hat. Jedoch, wenn wir auch ohne
weiteres zugeben, dass Berührungspunkte zwischen Home
und Reid stattfinden, so scheint doch andrerseits Homes
Determinismus schon hinzureichen, um ihn nicht zu den
„Schotten" zu zählen. Dugald Stewart berichtet in seiner
Biographie Reids2), dieser habe in herzlicher Freundschaft
mit Home gelebt, „notwithstanding the avowed Opposition
1) In der Eacyklopädie von Ersch und Gruber, Artikel „Kames".
2^ D. Stewart: Account of the Life and Writings of Thomas Keid,
S. Ul.
I
— 81 —
of their sentiments, on some moral questions, to which he
attached the greatest importance". Zu diesen ethischen
Fragen, in denen die beiden Denker in so entschiedenem
Gegensatz zu einander standen, gehört in erster Linie die
der Freiheit des Willens »). Der common sense - Philosoph
steht selbstverständlich auf Seiten der Freiheit der Will-
kür, während Home ihm die wissenschaftliche Ansicht
über das Problem entgegenhält. Einen Denker, der in
einer so bedeutsamen Frage mit dem „gesunden Menschen-
verstand" im scharfen Widerspruch steht, dürfen wir wohl
schwerlich in die Reihe der common sense- Philosophen
stellen; und so haben die Historiker der Philosophie mit
Recht nicht Home, sondern Reid den Begründer der
schottischen Schule genannt.
1) In einem Briefe an Home vom a. Dezember 1772 beruft sich
Reid betreffs der Willensfreiheit auf den „gesunden Menschenverstand" :
„The common sense of mankind dictates, that what a man did volun-
tarilj and with intention, he had power not to do*'. Siehe Tytler, a. a.
0. I, Appendix S. 44).
Vita.
ili
Natus sum, Josephus Norden, Hammoniae a. d. XV
Kai. Jul. anni 1870 patre Mose matre Bertha. Fidei ad-
dictus sum Judaicae. Eadem in urbe gymnasium Johanne-
um adü ibique litterarum studiis me dedi. Deinde,
testimonio maturitatis accepto, anno 1890 Berolinum me
contuli et numero civium Universitatis Fridericae-Guilelmae
Berolinensis adscriptus sum. Ibi per septem semestria
scholas frequentavi virorum doctissimorum :
Dessoir, Dillmann, von Gizycki, Lasson,
Lazarus, Paulsen, Pfleiderer, E. Schmidt,
Strack, Zeller.
Eodem tempore theologica studia tractavi atque tracto
in seminario illo rabbinico, cui praeest vir iUustrissimus
I. Hildesheimer, ibique scholas frequentavi, quas et ille
habet, et Barth, Berliner, IL Hildesheimer, Hoff-
mann, viri doctissimi.
Quibus Omnibus viris optime de me meritis gratias
ago quam maximas.
}
% i>
COLUMBIA UNIVERSITY LIBRARIES
This book is due on the date indicated below, or at the
expiration of a definite period af ter the date of borrowing, as
provided by the library ruies or by special arrangement with
the Librarian in Charge.
DATE BORROWED
DATE DUE
DATE BORROWED
DATE DUC
UOec'44
- "^ -
(
1
t
.
C28(842)MSC
■
_,_ ' m ^ M
$^
mzz^\