151 Srschiüüön am 4. Jänner 1.904 V. Jalir
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Die Fackel
Nk. 151 WIEN, 4. JÄNNER 1904 V. JAHR
Unter dem Titel: »Der Fall der Prinzessin
Louise von Coburg« hat die , Frank furter
Zeitung' in ihrem Abendblatt vom 22. Dezember
einen Artikel veröffentlicht, den ich, nachdem ich
beschlossen hatte, ihn als die bemerkenswerteste
»Stimme des Auslands« über die österreichische
»Affaire« den Lesern dieses Heftes mitzuteilen, in der
,Arbeiter-Zeitung' vom 25. Dezember exzerpiert fand.
Die Sache ist von so ungeheurer Wichtigkeit, das
reichsdeutsche Urteil über den psychiatrischen Skan-
dal, der zwischen Agram und Coswig spielt, von so
peinlicher Entschiedenheit, daß ich mich für ver-
pflichtet halte, den Artikel der ,Frankfurter Zeitung'
hier in seinem Wortlaute wiederzugeben:
»Das ,Neue Wiener Journal' läßt sich unter dem Schlagwort
»Prinzessin Louise von Coburg im Hausarrest' aus
Dresden schreiben: ,Ein Hausarrest, der vor mehreren Tagen der
Prinzessin Louise von Coburg, welche sich bekanntlich in einer
Heilanstalt unweit Dresden befindet, auferlegt wurde, bildet in den
hiesigen Gesellschaftskreisen das Gesprächsthema. Die Prinzessin
hat sich nämlich, wahrscheinlich in Ermangelung einer anderen
Gesellschaft, in etwas weitgehender Weise mit dem Hausmeister
der Heilanstalt angefreundet . . . Louise von Coburg hätte sich gewiß
die gerade entgegengesetzten Folgen dieser Affaire gewünscht :
Jetzt wurde nämlich der Don Juan an die Türe gesetzt, die Prin-
zessin aber muß in der Anstalt verbleiben'. Diese höhnische
Notiz ist eine Niederträchtigkeit*), da sie, wahr seh ei n-
*) Das Wiener Diebsblatt ist jetzt natürlich auf die .Frankfurter
Zeitung' schlecht zu sprechen. Es revanchiert sich mit Notizen,
lieh in ganz bestimmter Absicht, eine von aller Welt ver-
lassene und wehrlose Frau in der öffentlichen Meinung vollAids
zu vernichten trachtet. Die Angelegenheit dieser Prinzessin ist trotz
aller offiziösen Mitteilungen von Coburg-Koharyscher Seite bis auf den
heutigen Tag vollkommen dunkel geblieben. Finanzielle und
psychiatrische Motive sind darin so eng vermischt, daß
man doch endlich einmal auf eine amtliche Untersuchung des
Falles durch die sächsischen Behörden dringen sollte, denn
man vermöchte wirklich nicht einzusehen, warum eine Unglückliche
einen geringeren Anspruch auf den Schutz der Gesetze haben sollte,
bloß weil sie zufällig eine Prinzessin ist. Resümieren wir kurz die
Affaire: die Prinzessin Louise von Coburg hatte die Leere eines
unbefriedigten Lebens durch allerlei, nicht immer die Dehors
wahrende Liebesabenteuer auszufüllen gesucht und hat dabei viele
und leichtsinnige Schulden gemacht. Beide Verfehlungen sind
bisher in fürstlichen Kreisen häufig genug vorgekommen,
ohne daß man die betreffenden Personen stets gleich für irr-
sinnig erklärt hätte. Bei der Tochter des Königs Leopold
lag die Sache anders. Ihr Verhältnis mit dem Oberleutnant
Matassich hatte zu einem großen Skandal geführt, und ihre Schulden
waren so beträchtlich geworden, daß der Gatte, der sehr begüterte
Prinz Philipp von Coburg, um diese Verpflichtungen in ihrer
vollen Höhe zu tilgen, allerdings tief hätte in die Tasche
greifen müssen. Die Internierung der Prinzessin erst in
einer österreichischen, dann in einer sächsischen Heilanstalt
erleichterte die schwier ige Situation nach jeder Richtung.
Der Leichtsinn der Dame erklärte und entschuldigte sich jetzt auf
die von sittlicher Entrüstung überquellen, daß man von Frankfurt
aus >in frivolster Weise den niederträchtigen Klatsch aus dem in-
timen Familienleben der Fürstin Elisabeth Windisch-Graetz in die
Welt gesetzt hat«. Ist das nicht zum Durchgehen komisch.? Das ordi-
närste Schnüfflerblatt der Welt ist's, das so aufbegehrt! »Es hat für
uns überhaupt den Anschein«, erklärt es, »als ob die .Frankfurter Zeitung'
seit dem Tode ihres vortrefflichen Chefredakteurs Dr. Stern an Zuver-
lässigkeit der Nachrichten und Noblesse des Tons wesentlich verloren
hätte.« Das ist gewiß sehr beklagenswert, und das ,Neue Wiener Journal'
ist vor allen berechtigt, es zu rügen, weil es ja - als ein Gewohnheits-
dieb der Nachrichten der , Frankfurter Zeitung' — am meisten unter der
Verschlechterung des deutschen Blattes leidet.
Anm, d. Herausgebers.
natürliche Weise, und die Gläubiger ließen sich willig herbei, ihre
Forderungen beträchtlich zu ermäßigen. Mancher Unbeteiligte
aber argumentierte so: Kann nicht Jec^er, dessen Geisteszustand
man unter einem bestimmten Vorurteil beobachtet, in den Verdacht
geraten, nicht ganz normal zu sein? Und gibt es selbst bei wirk-
lichen Defekten solcher Art nicht unzählige Nuancen von den
augenfälligsten Erscheinungen herab bis zu den feinsten Stimmungen,
die auf dem Grenzgebiet zwischen Krankheit und Gesundheit liegen?
Und warum sollte es unmöglich gewesen sein, daß die Prinzessin,
ohne ernstlich krank zu sein, in eine Anstalt gebracht wurde, da
man doch ihren Liebhaber, an dessen Schuld niemand recht glaubte,
gleichsam zur Strafe ins Zuchthaus schickte? All dies geschah vor
etwa fünf Jahren, und sejther ist die Prinzessin ihrer Freiheit
beraubt. Was von Zeit zu Zeit über sie in die Öffentlichkeit dringt,
sind inspirierte Berichte,*) in denen die eine oder andere
neue Sonderbarkeit der Prinzessin geschildert wird, als ob man
daraus gegenüber etwa wachwerdenden Bedenken den Eindruck
hervorrufen wollte, daß die aus der Welt Verschwundene wirklich
krank sei. Und die gleiche Absicht verfolgt vermutlich
die oben wiedergegebene Notiz. Was wahr daran ist, weiß
Niemand, aber das glauben wir doch mit Bestimmtheit aussprechen
zu dürfen: ist sie wahr, so wirft sie auf die Heilanstalt, in der sich
die Prinzessin befindet, ein ungünstigeres Lichtes auf die unglückliche
Frau, die vielleicht in ihrer Verzweiflung nach jedem Mittel greift,
um den Weg in die Freiheit zurückzufinden. Jedenfalls: steht sie
unter Aufsicht oder nicht? Und wenn derartiges geschehen konnte,
— wie gelangte die Kunde davon aus den Mauern der Anstalt
auf die Straße und wer hatte ein Interesse daran, sie in die
Welt hinauszuposaunen? Wir glauben, der Fall der
Prinzessin Louise von Coburg liegt derartig, daß alle
Freunde der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit
genügenden Anlaß hätten, sich mit ihm zu beschäftigen.«
Die »Freunde der Menschlichkeit und der Ge-
rechtigkeit« — heutzutage eine besondere Couleur —
haben sich wohl an der Sache eines französischen
Hauptm^-nns verspekuliert und wollen sich auf so
*) Aufpassen, Bachrach ! Anm. d. Herausg.
— 4 —
riskante Gefühlsgeschäfte nicht mehr einlassen ? Viel-
leicht gibt ihnen diese Publikation einen Stoß!
Pie Armee für die Armeelieferanten!
Das ist der patriotische Gedanke, den Kestranek
gegen Kropatschek verficht. Man braucht, um zwischen
Stahl und Bronze zu wählen, nicht zu überlegen,
wessen Autorität man vertrauen will: jener des Ge-
neral-Artillerie-Inspektors, der unser hervorragendster
Waffentechniker ist, oder der des kommerziellen
Leiters der Prager Eisenindustrie-Gesellschaft. Auch
muß man, wenn die Montanindustriellen feierlich be-
kunden, daß Nickelstahl ein besseres Material für
Geschützrohre sei als Schmiedebronze, nicht erst die
Frage auf werfen, woher den Herren solche Kenntnis
kam, da doch die Leistungen der Schmiedebronze
— die Ergebnisse der Schießversuche mit Schmiede-
bronze-Rohren — ebensosehr Geheimnis sind wie ihre
Zusammensetzung und Bearbeitung: Der kleine Be-
trug, der versucht ward, als man im Montanverein
den Daten über das Geschützmaterial, welches die
Eisenindustriellen einführen wollen, jene über
das Geschützmaterial entgegenstellte, welches die
Artilleristen abschaffen wollen, — als man Nickel-
stahl nicht mit der neuen Schmiedebronze, son-
dern mit der alten Stahlbronze verglich — ver-
schlägt wenig. Und nicht mehr kommt darauf an,
ob das Lob stichhält, welches die Industrieritter den
Nickelstahlrohren der Skoda- Werke zollen. Nur das
Übermaß der Dreistigkeit soll zurückgewiesen werden,
mit der man sich darauf beruft, daß die 24 cra-Rohre,
die aus den Skoda -Werkstätten der Kriegsmarine
geliefert wurden, tadellos seien; denn jüngst erst
ward bekannt, daß ein vor Jahresfrist von der
artilleristischen Prüfungskommission der Kriegsmarine
6 —
übernommenes Rohr unbrauchbar geworden ist, und
von zwei Rohren, die neulich übernommen werden
sollten, bekam das eine beim kommissionellen Br-
probungsschießen Risse. Dennoch könnte die öster-
reichische Industrie vielleicht Kanonenrohre kleinen
KaUbers — Peldgeschützrohre — fehlerlos herstellen.
Gewiß ist aber, daß Bronzerohre kaum halb so viel
kosten wie Stahlrohre, und unbezweifelt ist, daß man
in keinem Staat, der in der Lage Österreich-Ungarns
wäre, Kanonenrohre in staatlichen altbewährten Werk-
stätten herzustellen, jemals daran denken würde, die
Armee von der Privatindustrie abhängig zu machen.
Nur in Österreich, wo Industriefeind heißt, wer der
Industrie nicht die Steuerlasten auf Kosten wirt-
schaftlich schwächerer Bevölkerungsschichten erleich-
tern will, wer das Defizit der staatlichen Bahnen
nicht durch verlustbringende Tarife für die Beför-
derung von Industriegütern erhöhen will, wer endlich
nicht Antisozialpolitiker und nicht der Meinung ist,
daß den Industriellen die Beiträge zur Kranken- und
Unfallversicherung ihrer Arbeiter ermäßigt werden
müssen, — nur hier darf man sich unterfangen zu
erklären, das Urteil der Militärs, die Ersparnis von
Miüionen, die Unabhängigkeit des Staates bei der
Beschaffung von Waffen, alles, was für die Wahl der
Bronze den Ausschlag gibt, gelte nichts: aus Pa-
triotismus müsse man Kanonenrohre von Nickelstahl
fordern. Unparteiisch, heißt es, soll noch einmal
zwischen Stahl und Bronze entschieden werden. Und
die Unparteilichkeit soll dadurch garantiert werden,
daß die Partei der Industriellen in eine neue Prüfungs-
kommission Vertreter entsenden darf. Man habe
Grund zu zweifeln, wird behauptet, ob die Kommission,
die sich für die Schmiedebronze aussprach, unvor-
eingenommen war. Sicherhch aber konnten jene weder
vorher noch nachher etwas einnehmen, welche sich
gegen den Nickelstahl erklärten, und man wird dem
General- Artillerie-Inspektor v. Kropatschek und dem
— 6 —
Arsenaldirektor Thiele, wenn schon nicht das bessere
Verständnis, so jedenfalls den selbstloseren Eifer für
die Interessen der Armee zutrauen als jenen, die sie
als Lieferanten umwerben. Es ist indes vielleicht den
Eisenindustriellen selbst gegenwärtig weniger daran
gelegen, daß der Entschluß, Bronze als Rohrmateriai
zu wählen, umgestoßen werde, als daß ihnen der
Staat die so ersparten Millionen durch die Bewilligung
hoher Preise für Lafetten, Protzen, Munitionswagen
und Geschosse, welche die Privatindustrie liefern
wird, hinwerfe. Noch immer ist es nicht zu spät, den
Grundsatz, daß die Armee für die Armeelieferanten
da sei, zu verwirklichen. Und dem Freisinn in Jour-
naille und Parlament muß dieser Gedanke ja auch
ganz plausibel sein. Wenn Kanonen — wie überhaupt
das Heer — in einer Zeit, in der man nicht mehr um
der Ehre willen Kriege führt, dazu bestimmt sind,
wirtschaftliche Interessen zu schützen: warum sollte
man an das Zukunftsinteresse denken, für das die
Kanonen einmal schießen werden, und nicht vielmehr
an jenes, das mit dem Kauf von Kanonen verbunden
ist? Die Industriellen sind überdies nicht die einzigen
Leute in Österreich, die sich auf eine vorteilhafte
Arnaeefreundlichkeit verstehen. Auch die Herren mit
dem Papierweizen führten bewegliche Klage darüber,
daß durch das Verbot des Terrainspiels die Ver-
sorgung der Armee erschwert werde. j.
Oeit der Ärztedebatte im niederösterreichischen
Landtag ist in der liberalen Wiener Presse ein neues
Schlagwort heimisch geworden. Allwöchentlich wird
uns berichtet, daß »Opfer der Ärztefurcht« ihre
christlich-soziale Gesinnung mit schwerer Krankheit
oder gar mit dem Tod gebüßt hätten. Das wäre
schließlich, wenn's wahr ist, vom liberalen Standpunkt
als Dezimierung der christlich-sozialen Wählerschaft
— 7 —
nicht allzusehr zu bedauern. Und vielleicht würden
die Fälle bestrafter Ärztefeindlichkeit, in denen die
Namen der Ärztefeinde immer sorgfältig verschwiegen
werden, nicht einmal so häufig in der liberalen Presse
auftreten, wenn sie nicht der Hoffnung lebte, daß
eine noch stärkere Verminderung der christlich-
sozialen Wähler sich durch Abschreckung werde er-
reichen lassen. Wie viele oder wenige Opfer aber
die Ärztefurcht auch heischen mag, unerträglich wäre
es, wenn auch nur ein einziger Fall sich wirklich
ereignet hat, in dem es ein Opfer nicht eigener,
sondern fremder Furcht gab, wenn wirklich ein Kind
die Torheit seiner Eltern mit dem Leben bezahlt
hat. Ein dreizehnjähriges Mädchen, so ward jüngst
erzählt, sei vor einem Monat mit einer eitrigen Ent-
zündung hinter dem Ohr ins Allgemeine Kranken-
haus gebracht worden; die Ärzte hatten den Eltern
erklärt, ein operativer Eingriff sei »absolut notwendig,
da das Leben des Kindes in Gefahr schwebe«. Aber
aus Mißtrauen gegen die Ärzte hätten die Eltern die
Einwilligung zur Operation verweigert, und als sie
nach einem Monat mit dem sterbenden Kind wieder-
kamen, um jetzt endlich der Operation zuzustimmen,
sei es zu spät gewesen. Das Kind ward operiert, aber
es starb am selbigen Tage. Das mag gruseligen
Zeitungslesern gar rührsam zu hören sein. Aber mit
Empörung müßte der Menschenfreund feststellen, daß
sich, wenn die Erzählung wahr ist, die Ärzte einer
unerhörten Pflichtverletzung schuldig gemacht haben.
Denn sie durften, als sie vor einem Monat den
lebensgefährlichen Zustand des Kindes und die Not-
wendigkeit einer Operation erkannten, die unver-
nünftigen Eltern nicht einfach mit ihrer Ärztefurcht
und deren minderjährigem Opfer davonziehen lassen,
um selbst sich vielleicht von der Klinik weg in einen
Ärzteverein zu begeben und einen Protest gegen die
Landtagsmajorität mitzubeschließen. Wir haben ein
Strafgesetz, dessen § 360 lautet: »Wenn dargetan
— 8 —
wird, daß diejenigen, denen aus natürlicher oder
übernommener Pflicht die Pflege eines Kranken ob-
liegt, es demselben an dem notwendigen medizinischen
Beistande, wo solcher zu verschaffen war, gänzlich
haben mangeln lassen, sind sie einer Übertretung
schuldig, und nach Beschaffenheit der Umstände mit
Arrest von einem bis zu sechs Monaten zu bestrafen<.
Jedem Arzt muß dieser Paragraph bekannt sein, und
ebenso ist es gewiß, daß Eltern, die mit ihrem Kind
den Arzt aufsuchen, es dem Kinde »an dem not-
wendigen medizinischen Beistand mangeln lassen«,
wenn sie dem Arzt die Hilfeleistung, die er uner-
läßlich findet, verwehren. War es also den Ärzten
nicht gelungen, die Zustimmung der Eltern zur Ope-
ration zu erlangen — wobei sie überdies den Eltern
eindringlich erklären mußten, daß sie sich, falls das
Kind stürbe, des mit strengem Arrest bis zu
einem Jahr strafbaren Vergehens gegen die Sicher-
heit des Lebens schuldig machten — , dann mußte
unverzüglich eine Strafanzeige erstattet werden.
Frevelhafter Leichtsinn ist es, wenn Ärzte durch
diese Anzeige wegen einer Übertretung ver-
hüten konnten, daß die Eltern des schwereren Ver-
gehens schuldig würden, und es nicht verhütet haben.
Droht wirklich die Unvernunft, deren Ausschreitun-
gen wir im Landtag erlebt haben, das Wirken der
>\rzte und das Wohl der Patienten zu schädigen, dann
dürfen die Ärzte nicht mit Protesten und Vorstellun-
gen beim Minister ihre Pflicht getan zu haben glau-
ben. Wenn sie ihr eigenes Recht finden wollen, müs-
sen sie vor allem dazu helfen, die im Strafgesetz ver-
bürgten Rechte der Hilflosen zu schützen. Die Kin-
der wenigstens sollen davor bewahrt bleiben, daß die
Kindischen mit ihrer Gesundheit und ihrem Leben
spielen. J. P.
— 9 —
Ich erhalte die folgende Zuschrift:
»Die Moral«, so stand neulich in der ,Fackel',
»ist offenbar aufs beste gewahrt, wenn die Furcht
der Gatten, Kinder zu zeugen, und die Furcht der
Gattinnen, Kinder zu gebären, nicht zur Abtreibung
der Leibesfrucht, sondern bloß zu einer unnatürlichen
Enthaltsamkeit führt, welche die Ehen zerrüttet, und
zu höchst legitimen ehelichen Schweinereien«. Das
scheint ohne alle Ironie die Meinung des geltenden
Strafrechts zu sein. Und ein guter Moralist braucht
bloß ein schlechter Kriminalist zu sein, um auf den
Gedanken zu kommen, man müsse nicht sowohl die
Unmoral der Fruchtabtreibung von dem Delikts-
charakter befreien, als vielmehr der andern Unmoral,
welche die Empfängnis verhütet, den Deliktscharakter
aufprägen. Solch ein guter Moralist und schlechter
Kriminalist ist beispielsweise der Verfasser des
Schweizer Strafgesetzentwurfs; es ist bekannt, daß
er den Hütern der Gesetze Spionierdienste an den
Türen ehelicher Schlafzimmer zugemutet hat und der
Meinung ist, der Staat müsse den Leuten, die ihn
um den von der Ehe zu erwartenden Bevölkerungs-
zuwachs prellen, wenigstens das Vergnügen stören.
Aber gegen die Unterlassung des ehelichen Ver-
kehrs kann auch Herr Professor Stooß kein straf-
rechtliches Mittel ausfindig machen. Und weil
infolge dessen die Verhütung der Empfängnis auch
in dem von den sorgsamsten Kriminalisten be-
schützten Staate immer möglich sein wird, scheint
die Frage von unwiderstehHcher Logik: Wenn es
keine Pflicht des Zeugens und Gebarens gibt und
wenn man nicht etwa, sobald eine Empfängnis erfolgt
ist, statt körperlicher und sozialer Hygiene Theologie
treiben und sich in einen Streit darüber einlassen
will, ob durch die Vernichtung des Keims nicht eine
Seele zerstört werde, — was anderes hat dann das
Verbot der Fruchtabtreibung zum Zweck, als die
Gesundheit der Mutter zu schützen? Strafbar müßte
— 10 —
die Vernichtung des keimenden Lebens immer bleiben,
wo die Gesundheit der Mutter bedroht wird. Doch
ist es unsinnig, solches für ein Delikt eigener Art
zu halten und nicht für einen Fall von Kurpfuscherei,
von unbefugtem ärztlichem Eingriff, der gleich an-
deren zu verfolgen ist. Dem Arzte aber müßte, wenn
die Mutter sie wünscht, die Abtreibung der Leibes-
frucht so gut wie irgendwelche Eingriff gestattet
sein, natürlich unter der Verantwortlichkeit für Polgen,
die auf einen begangenen Kunstfehler schließen lassen.
Vor jeder Operation wird eine Indikation gestellt;
bei der Fruchtabtreibung wäre sie besonders verant-
wortungsvoll, aber keineswegs schwieriger als sonst.
So steht es indes mit der Frage der Frucht-
abtreibung gegenwärtig nicht, daß Moral oder gar
Logik den Standpunkt des Staates bestimmten. Der
Staat will ganz einfach Nachwuchs haben. Und wenn
er schon bei uns die unehelichen Geburten, so sehr
er sich ihrer freuen mag, nicht zu vermehren bemüht
ist — wie's Frankreich einst durch das Verbot, der
Vaterschaft nachzuforschen, tat — , will er sich doch
wenigstens die ehelichen Geburten nicht vermindern
lassen. Ohnmächtig ist er freilich gegenüber einem
Einverständnis der Ehegatten, welche einem Einkind-
oder höchstens Zweikinder-System anhangen. Wie
aber Ohnmacht zumeist zur Schadenfreude zu führen
pflegt, so ist es für den Staat allemal ein rechtes
Gaudium, wenn den einverständlichen Gatten ein
Malheur passiert. Jahre lang hat's keine Kinder mehr
gegeben, die Leutchen haben sich in Sicherheit ge-
wiegt, aber eines Tages — nach einer Nacht, in der
nichts anderes als sonst geschah — muß die Frau dem
Mann jenes Geständnis machen, welches herkömm-
licherweise süß genannt wird. In diesem Augenblick
glaubt man, der Staat sei eine Person und man höre
ihn vor der Türe kichern: Hab' ich euch endlich?
Diese Augenblicke sind es, für die der Staat das
Verbot, das keimende Leben zu zerstören, aufge-
— 11 —
richtet hält. Denn in unserer Zeit, der die alte Ord-
nung zerfallen ist und die sich eine neue, soziale
nicht zu zimmern vermag, müßte die Unerträglich-
keit des Lebens — die psychische gleich der physi-
schen und materiellen — immer neue Tausende zu
dem Entschluß führen, was ungerufen und unerwünscht
ins Leben hereinschlüpfen will, um jeden Preis fern-
zuhalten, ihm die Tür zuzuschlagen, ehe es noch
auf der Schwelle Fuß fassen kann. Aber diesen Ent-
schluß entmutigt das Strafgesetz. Seinen Sinn könnte
der Proletarier, dem die Ehefrau das sechste Kind
ankündigt, etwa in den Worten fassen: Die Un-
gelegenheiten der Armen bedeuten für den Staat die
guten Gelegenheiten der Armee.
Ker Dieb von Abbazia hat, so schreibt mir ein
Kriminalist, jetzt im Gefängnis dritthalb Jahre Zeit,
darüber nachzudenken, wofür er eigentlich dritthalb
Jahre Gefängnis bekommen hat. Betrug der Wert der
Juwelen, die er dem Erzherzog Ludwig Viktor ge-
stohlen hat, mehr als dreihundert Gulden, so ist's, weil
kein Milderungsgrund vorlag, zu wenig. War aber der
Schaden geringer, so ist's zu viel: Sechs Monate bis zu
einem Jahr, könnte der Dieb meinen, hätten nach § 178
des Strafgesetzes genügt. Denn der Diebstahl war zwar,
weil er mehr als fünfundzwanzig Gulden ausmachte, ein
Verbrechen, aber »nicht weiter beschwert«. Wo indes das
Rechtswissen keine Auskunft gibt, findet das Kechtsgefühl
eines Kichters in Österreich noch immer einen Ausweg. Hätte
man denn einen Menschen, der einen Erzherzog bestiehlt,
vielleicht als ganz gewöhnlichen Dieb behandeln
sollen? "Ungewöhnliche Umstände werden einem strebsamen
Juristen leicht als erschwerende erscheinen, und wenn ein
Diebstahl auch bei geringerem Betrag »durch die Eigenschaft
des Täters« — § 176 St.-G. — zum Verbrechen wird,
so ist es durchaus plausibel, daß er bei höherem, wenn-
— 12 —
gleich dreihundert Grulden nicht überschreitenden Betrag
durch die Eigenschaft dessen, an dem er verübt wird, zu
einem Verbrechen unter erschwerenden Umständen werden
kann und mit einem bis zu fünf Jahren zu bestrafen ist. Daß
unter den erschwerenden Umständen, welche das Gesetz
aufzählt, ein solcher sich nicht findet, ist wahr und konnte
den Eichter wankend machen. Doch kennt das Strafgesetz
hinwieder den Fall, daß ein läßliches Vergehen, wenn es
an einem Erzherzog begangen wird, sich als Verbrechen
qualifiziert. Und die Analogie des § 64 drängte sich dem
Kichter unwiderstehlich auf; da es ein bis fünf Jahre
Kerker kostet, einem Mitglied des kaiserlichen Hauses
zu nahe zu treten, sollte man denken, daß, wer sich gar
in die Badekabine eines Erzherzogs drängt, nicht leichteren
Kaufs davon kommen dürfe. Also überlegte der Richter,
und dem Dieb in Abbazia ist recht geschehen . . . Noch gibt
es zwar keinen Paragraphen, der den Diebstahl an
einem Mitglied des kaiserlichen Hauses besonders ahndet.
Wenn aber der Erzherzog Ludwig Viktor so leutselig ist,
sich in das Gedränge eines öffentlichen Herrenbades zu
begeben, so sind so ungewöhnliche Umstände gewiß —
erschwerende. Die Strafgesetzreformatoren mögen ersehen,
wie notwendig es ist* neue Diebstahlsparagraphe zu schaffen.
Dafür gibt es ja wieder andere, die sie aufheben könnten . . .
Qeheimrat Riedler hat richtig abgesagt. Und
dem Unterrichtsministerium vv^ar es doch diesmal
ernstlich darum zu tun gewesen, eine hervorragende
Kraft für die Wiener Technik zu gevs^innen. Was
hat man Riedler nicht alles versprochen ! Aber auch
an Taten hat es nicht gefehlt. Damit man den neuen
Lehrer w^ürdig empfangen könne, scheute mCn sogar
Ausgaben nicht, und die Zeichensäle der Maschinen-
bau-Abteilung w^urden frisch angestrichen. Dennoch
bleibt Riedler in Berlin-Charlottenburg, und in Wien
gibt man, seitdem man sich vom ersten Schrecken
13
erholt hat, zu, es sei eigentlich von allem Anfang
recht unwahrscheinlich gewesen, daß der erste Mann
der ersten technischen Hochschule Deutschlands sich
zur Übersiedlung nach Österreich bereit finden werde.
Müssen wir also für alle Zukunft darauf verzichten,
Männer solchen Ranges an die Wiener Technik heran-
zuziehen? Gewiß, wenn das nur vom Unterrichts-
ministerium abhängig bleibt. Denn auch ein Unter-
richtsminister, der so fähig wäre, wie Herr v. Hartel
unfähig ist, könnte Deutschlands Anziehungskraft für
große Techniker nicht verringern, und Österreichs
Anziehungskraft für große Techniker zu vermehren,
vermögen bloß die österreichischen Industriellen. Will
man für Wien einen hervorragenden Lehrer des
Maschinenbaus finden, so hätte man ihn auf die
folgende Art zu suchen: Die österreichischen
Maschinenbau-Unternehmungen müßten sich mit dem
Unterrichtsrainister über die Berufung und mit dem
Berufenen über die Bedingungen der Annahme einigen.
Sie müßten dem Mann, dem man zumutet,, auf ein
großes Einkommen in Deutschland und auf gewinn-
reiche Beziehungen zur deutschen Industrie zu ver-
zichten, aus eigenen Mitteln ein hohes festes Gehalt
garantieren und ihm für die Verwertung seiner Ar-
beiten Verträge anbieten, die der geistigen Leistung
gerechten Lohn sichern. Was jeder außer Herrn v.
Hartel für die medizinische Fakultät in Wien — weil
Wien eine reiche Praxis gibt — zustandebrächte, ihr
Lehrer von Weltruf anzuwerben, das kann für die
Wiener Technik der Unterrichtsminister allein nicht
leisten. Patriotische Industrielle würden es ermög-
lichen. Aber wir haben, scheint es, bloß industrielle
Patrioten. j.
• •
•
Der Pariser Professor d'Arsonval hat jüngst auf eine An-
frage des ,Matin' geantwortet, er brauche zur Fortsetzung seiner
Radiumforschungen dreißigtausend Francs, »und darauf« — so
14
berichtet der Pariser Korrespondent der ,Zeit' — >hat der gene-
röse ,Matin' sogleich in den eigenen Beutel gegriffen und die
30.000 Franken zu beliebiger Benützung an den Akademiker
überwiesen«. In edler Entrüstung ruft der Herr von der ,Zeit'
aus: >So wird hier Reklame für — Zeitungen gemacht! Denn
nur auf diese Reklame kam es dem Blatte an; das Radium selbst
ist ihm fürchterlich gleichgiltig«. Seien wir stolz: In Wien gab
es niemals ein Blatt gleich dem ,Matin', der um der Reklame
willen für die Radiumforschung Opfer bringt, niemals einen ,New-
York Herald', der — nur zur Reklame — einen Stanley auf die
Suche nach Livingstone schickte. Unsere Zeitungen machten nie
Reklame für sich mit den Arbeiten eines Forschers, den sie unter-
stützten; sie machten nur bisweilen für die Arbeiten eines Forschers
Reklame, der sie unterstützte. Bei der ,Zeit' ist auch dies unmög-
lich. Sie ist ein anständiges Blatt und will nicht von der Korrup-
tion, sondern ausschließlich von der Dummheit leben. Finden sich
Leute, die ihr Geld geben, nicht etwa, um irgend etwas dadurch
zu erreichen, sondern bloß aus Unverstand, dann ist sie zufrieden.
Jede ftlbstlose Tat wird übrigens belohnt: Wer für die , Zeit' Geld
hergibt, erhält statt des Titels > Idiot« den viel besser klingenden
> Kommanditist«. Ob der ,Zeit' aber auf die Dauer der Beweis
gelingen wird, daß man von Kommanditisten allein leben kann?
Ursprünglich hat das Programm der ,Zeit' anders gelautet: sie
wolle von den Abonnements leben. Als indes einer nach dem
andern das Abonnement aufgab, gab auch die ,Zeit' ihr Programm
auf. Heute wird das Blatt Staatsbeamten, Offizieren, Lehrern,
Bankbeamten — kurz, fast allen Gebildeten, die es bisher, wie
begreiflich, nicht geschenkt nehmen wollten, für einen Gulden
monatlich, also unter dem Selbstkostenpreise geliefert. Wächst
dabei das Abonnement, so muß auch das Defizit wachsen, und
je mehr Leute sich bereit finden, mit der Lektüre eines sinn- und
saftlosen Journals die Zeit zu verschwenden, desto mehr haben
die Geldgeber unter der ,Zeit'-Verschwendung zu leiden.
. . +
*
In der liberalen Versöhnungsära des Herrn v.
Koerber, in der Friede den Menschen auf Erden und
15
schon wieder einem Pollak der Adel gegeben wurde,
in der fortwährend ausgeglichen, überbrückt und
angenähert wird, bildet vor allem ein Problem die
Sorge der Regierenden: die »Annäherung« des
Richterstandes und des x4.dvokateiistandes. Die Reform
der Geschwornenjustiz ist bereits angebahnt: im
Schwurgerichtssaal wurde mit feierlichem Gepränge
ein neues Bild des Kaisers enthüllt. »Im Namen
Seiner Majestät zu Recht erkannt«: die Bedeutung
dieses Satzes wird, wenn auch noch das Recht ein
wenig renoviert sein wird, mit der Zeit voll gewürdigt
werden. Aber die gewisse »Annäherung« macht noch
Schwierigkeiten. Die Richter haben sich auch in
Österreich bisher ihre Unabhängigkeit zu bewahren
gewußt. Ihre außeramtliche natürlich. Ihr Privat-
leben brauchte sich von obrigkeitlichen Winken nicht
beeinflussen zu lassen. Wo sie aßen, tranken, Feste
feierten — was ging das den Justizminister an? Ab
1904 soll es anders werden. Die Advokatenkammer
gibt am 5. Januar eine Sylvesterfeier, und »Seine
-Exzellenz wünscht«, verkünden Zirkulare, daß sich
Euer Wohlgeboren an ihr beteiligen. Die »Verstän-
digung« soll angebahnt werden. Herr v. Koerber glaubt
nämlich, daß sich Richter und Advokaten bisher wie
Deutsche und Tschechen gegenüberstanden. In Wahr-
heit war manchem feinfühligen Richter die Geduld
gerissen, wenn eine p'-ononcierte Zierde des Barreaus
sich allzu üppig geberdete, und mancher anständige
Anwalt war aufgebraust, wenn ein gemütsarmer Ver-
handlungsleiter das Schicksal des Angeklagten über
-die Schablone seiner Borniertheit spannen wollte.
Anstatt nun endlich im Garten der Justiz zu jäten
und den Disziplinarrat der Advokatenkammer an
: seine Pflicht zu mahnen, kommandiert man die Gegner
zu einem gemeinschaftlichen Souper, das so nebenbei
auch die durch den neuen Zivilprozeß in ihren Ex-
pensenhoffnungen getäuschten Gemüter beruhigen soll.
Einsichtige Richter und anständige Anwälte, die
151
— m —
keinen Grund zur Versöhnung haben, wie sie keinen
Grund zur Entzweiung hatten, sollen sich mit den
bedenklichen Vertretern des andern Standes an einen
Tisch setzen. Sie werden sich's hoffentlich überlegen
und fernbleiben, wenn Blutdurst und Expensenhunger
sich zum Mahle vereinigen.
,Neue Freie Presse'
(Morgenblatt, 19. Dezember):
»Von Universitätsprofessor
Dr. Eduard Schiff in Wien er-
halten wir folgende Mitteilungen:
Die Methoden der signaletischen
Photographie oder der anthro-
pometrischen Messungen, welche
Alphonse Bertillon ausgebildet
hat, sind bekannt. Sie werden
zur Wiedererkennung rück-
fälliger Verbrecher verwendet. . .
Früher hat man bei Personsbe-
schreibungen auf deutlich sicht-
bare Gebrechen, Narben, Ver-
stümmlungen, Tätowierungen,
Muttermäler, auf Nasen- und
Ohrenformen und andere Äußer-
lichkeiten Gewicht gelegt. . . In
China und Indien wurden von
altersher . . . die Abdrücke des
feinsten Reliefs der Fingerhaut
signaletisch verwendet ; . . . Ber-
ti Hon 's System basiertauf genauen
Messungen von Individuen, deren
Körperwachstum bereits abge-
schlossen ist. Es werden vorge-
nommen : erstens Körpermes-
sungen, Körpergröße, Spann-
weite, Sitzhöhe; zweitens Mes-
sungen am Kopfe, Länge und
Breite des Kopfes, Länge und
Breite des Ohres; drittens Mes-
sungen an Gliedern der linken
Körperseite, Fuß, Mittelfinger,
Brockhaus' Konversations-
Lexikon.
(Supplement-Band 17, 1897):
>Bertillonsystem oder
Bertillonage, die von dem Fran-
zosen Alphonse Bertillon zu be-
wunderungswürdiger Exaktheit
ausgebildete Methode, anthro-
pometrische Messungen zur Wie-
dererkennung (Identifikation)
rückfälliger Verbrecher zu ver-
werten. Während man früher vor-
züglich auf Gebrechen, Narben,
Verstümmlungen, Muttermäler,
Tätowierungen, Komplexion,
Nasen- und Ohren formen, in
China und Indien auf Abdrücke
der Tastleisten der Tastballen
der letzten Fingerglieder u. a.
den Hauplwert legte, treten diese
besondernMerkmale nun in zweite
Linie. Bertillons System basiert
auf genauen Messungen, bei
denen die linke Körperhälfte als
die konstantere im allgemeinen
bevorzugt wird. Dieser Methode
kommt zustatten die fast absolute
Unveränderlichkeit des mensch-
lichen Knochengerüstes vom
20. Lebensjahre an . . . Nach
dem B. werden vorgenommen
1. Körpermessungen : Körper-
größe, Spannweite, Sitzhöhe;
2. Messungen am Kopfe: Länge
und Breite des Kopfes, Länge und
17 —
kleiner Finger, Vorderarm ; vier-
tens wird die Farbe der Regen-
bogenhaut (Iris) nach einer Skala
bestimmt. Diese Daten werden
auf einer Photographie, respek-
tive auf einem Zählblatte ver-
zeichnet, und die Blätter nach
einem bestimmten System ge-
ordnet. Die Bertillonage ist der-
zeit in allen Kulturstaaten ein-
geführt. In Paris wurden nach
diesem System identifiziert: 1883
49, 1884 241, 1885 425, 1886
356, 1887 487, 1888 550, 1890
614, 1891 600 und 1892 680
Menschen.«
Breite des rechten Ohrs; 3. Mes-
sungen an Gliedern der linken
Körperseite: Fuß, Mittelfinger,
kleiner Finger, Vorderarm; 4.
wird die Farbe der Regenbogen-
haut des Auges (in sieben Stufen)
festgestellt. Die gewonnenen
Zahlen werden auf die Photo-
graphie oder, da sich diese als
entbehrlich erwiesen, auf ein
Zählblatt . . . verzeichnet. Das
wichtigste an Bertillons System ist
dieOrdnung dieser Zählkarten. . .
Seit seiner Einführung wurden
in Paris nach dem B. iden-
tifiziert: 1883: 49, 1884: 241,
1885 : 425, 1886 : 356, 1887 : 487,
1888 : 550, 1890 : 614, 1891 : 600,
1892 : 680, im ganzen 4564 Ver-
brecher.«
Universitätsprofessor Dr. Eduard Schiff ist nicht Professor
der Statistik; er hätte sich sonst gewiß bemüht, die Lücken aus-
zufüllen, die unser Wissen von den Erfolgen der Bertillonage aufweist,
weil der Artikel des 1897 erschienenen Lexikonbandes über das
Jahr 1892 hinaus keine Angaben liefert und die Zahl der im Jahre
1889 Bertillonierten durch ein Übersehen ausgefallen ist. Aber
Universitätsprofessor Dr. Eduard Schiff ist wohl, so vermutet der
Laie, von Beruf Stil verbesserer und bemüht sich, das im Konver-
sationslexikon niedergelegte Wissen der Menschheit um stilistische
Veränderungen zu bereichern? Die ,Neue Freie Presse' hat indes
wiederholt versichert, der Herr sei Dermatologe, und er gibt sich
selbst neuestens für einen Röntgenstrahlenforscher aus, beschuldigt
in der Fortsetzung eben jener Zuschrift an die ,Neue Freie Presse'
französische Ärzte, welche die Radiographie der Bertillonage dienstbar
gemacht haben, eines an ihm begangenen Plagiats und erklärt,
es wäre ihm lieber gewesen, »wenn die Röntgenstrahlen als Art icle
de Vienne in die forensische Medizin eingeführt worden wären«,
anstatt als Article de Paris. So streng richtet der Herr die Benützung
fremden geistigen Eigentums, während er selbst einen Article de
Brockhaus den Zeitungslesern als Original- Article de Schiff aufbindet.
X
— 18 —
Dm Bildnis Dorlan Grajr's.
(Zum Bildnis des Friedrich Schütz.)
In jenem Blatte, dessen Inseratenspalten der
Anpreisung jeglicher Perversität geöffnet sind und
dessen Eigentümer notorischer Weise auch aus der
Vermittlung päderastischen Verkehrs Gewinn ziehen,
ist, wie man weiß, ein gewisser P. Seh. in sitt-
licher Entrüstung über Oscar Wilde entbrannt. Sein
literarisches Verdammungsurteil, das vor allem den
Dichter der »Salome« traf, ließ er mit Beziehung
auf Wilde's Roman »Das Bildnis Dorian Gray's« in
den Worten gipfeln: »OfiFenbarungen von der albern-
sten Banalität«. Zwei davon möchte ich hier — in
der trefflichen Verdeutschung Felix Paul Greve's
(J. C. C. Bruns' Verlag in Minden); vor der andern
Ausgabe warne ich — zitieren. Die erste ist eine Rede
über den Wert der Jugend, der ich an ergreifender
Wirkung höchstens die berühmte szenische Gestaltung
des gleichen Motivs bei Ferdinand Raimund an die
Seite stellen könnte. Lord Henry zieht den schöne Dorian
Gray, daß ihm die Sonne nicht den Teint verbrenne,
in den Schatten des Gartens. »Was liegt daran?« ruft
der Jüngling lachend. »Ihnen sollte alles daran liegen,
Mr. Gray.« »Und warum?« »Weil Sie wundervoll
jung sind; und die Jugend der einzige wertvolle
Besitz ist«. Auf die Bemerkung »Ich finde das nicht,
Lord Henry«, antwortet dieser:
»O nein, jetzt nicht. Aber eines Tages, wenn Sie alt und
runzlich und häßlich geworden sind, wenn der Gedanke Ihre Stirn
mit seinen Furchen gezeichnet, und die Leidenschaft Ihre Lippen
mit häßlichen Flammen verzehrt hat, dann werden Sie es empfinden,
und Sie werden es furchtbar empfinden. Jetzt mögen Sie gehen,
wohin Sie wollen - Sie bezaubern die Welt. Wird das so bleiben ?
— Sie sind von wundervoller Schönheit, Mr. Gray. Runzeln Sie
nicht die Stirn! Es ist wahr. Und Schönheit ist eine Form des
Genius — Schönheit ist mehr als Genius, denn sie bedarf keiner
Erklärung. Sie gehört zu den großen Tatsachen der Welt, wie die
Sonne, wie der Frühling oder der Widerschein jener silbernen
— 19 —
Sichel des Mondes in dunklen Wassern. Sie läßt sich nicht an-
fechten. Sie hat ein göttliches Recht auf die Herrschaft. Sie macht
zu Fürsten, die sie besitzen. — Sie lächeln. O, wenn Sie sie einst
verloren haben, werden Sie nicht mehr lächeln . . . Die Menschen
sagen wohl, die Schönheit gehöre der Oberfläche. Mag sein. Aber
der Gedanke gehört ihr noch mehr. Für mich ist die Schönheit
das Wunder der Wunder. Nur Flachköpfe urteilen nicht nach dem
Schein. Das wahre Geheimnis der Welt liegt im Sichtbaren, nicht
im Unsichtbaren ... Ja, Mr. Gray, Ihnen waren die Götter gnädig.
Aber was die Götter geben, das nehmen sie bald zurück. Sie haben
nur wenige Jahre, um wirklich, vollkommen und ganz zu leben.
Wenn Ihre Jugend dahingeht, dann wird auch Ihre Schönheit
schwinden, und plötzlich werden Sie entdecken, daß keine Triumphe
mehr Ihrer harren; oder Sie müssen mit jenen niedrigen Siegen
zufrieden sein, die das Gedächtnis Ihrer Vergangenheit bitterer
machen wird als Niederlagen. Jeder schwindende Mond führt Sie
einem schrecklichen Etwas näher. Die Zeit beneidet Sie und
bestürmt Ihre Lilien und Rosen. Sie werden bleich werden und
hohlwangig und stumpfen Blickes. Sie werden schrecklich zu leiden
haben ... O, nutzen Sie Ihre Jugend, solange sie da ist. Ver-
schwenden Sie nicht das Gold Ihrer Tage; hören Sie nicht auf die
Langweiligen, leihen Sie nicht Ihre Hilfe den doch Verlorenen;
werfen Sie Ihr Leben nicht fort für die Toren, die Vielen, die
Niedrigen. Das Alles sind kranke Ziele, falsche Ideale unserer Zeit.
Leben Sie ! Leben Sie das Leben voll Wunder, das in Ihnen ruht !
Lassen Sie nichts sich entgehen. Suchen Sie stets nach neuen
Empfindungen. Fürchten Sie nichts . . . Ein neuer Hedonismus, das
ist es, was unser Jahrhundert braucht. Sie könnten sein sichtbares
: Symbol sein. Mit Ihrer Persönlichkeit können Sie alles tun. Die
' Welt gehört Ihnen — einen Frühling lang . . . Den Moment, da
' ich Sie traf, sah ich, daß Sie nichts davon wußten, wer Sie eigentlich
sind, wer Sie sein könnten. Ich sah so viel in Ihnen, was mich
I bezauberte, daß ich gezwungen war, Ihnen etwas von Ihnen zu
' erzählen. Der Gedanke kam mir, wie traurig es wäre, wenn Sie
verschwendet würden. Denn nur so kurze Zeit wird Ihre Jugend
dauern — nur so kurze Zeit! Die Menge der Feldblumen welkt,
aber sie blühen wieder. Die Blüten der Bohne sind ebenso gold-
\ gelb im nächsten Juni wie heute. In wenigen Wochen werden
— 20 —
purpurne Sterne auf der Klematis schweben, und Jahr nach Jahr
wird die grüne Nacht ihrer Blätter die purpurnen Sterne bergen.
Aber uns kehrt niemals die Jugend zurück. Der Pulsschlag der
Freude, der uns mit Zwanzig durchzuckt, wird matt und träge.
Unsere Glieder werden schwer, unsere Sinne entschwinden. Wir
entarten zu scheußlichen Gliederpuppen, in denen nur ein
Gedächtnis spukt, das Gedächtnis der Leidenschaften, vor denen
wir in Furcht zurückbebten, und das Gedächtnis der Versuchungen,
denen nachzugeben wir den Mut nicht fanden. Jugend! Jugend!
Es gibt nichts in der Welt außer der Jugend !<
Später nimmt Dorian den Gedanken auf:
>Ja, Lord Henry prophezeite richtig; ein neuer Hedonismus
mußte kommen, der das Leben neu schaffen und es vor jenem
strengen, unschönen Puritanertum schützen sollte, das in unseren
Tagen seine furchtbare Auferstehung feierte. Gewiß sollte er seinen
Kultus des Intellekts erhalten; aber niemals sollte er eine Theorie
oder ein System annehmen, das in sich das Opfer -irgend einer
Erfahrung der Leidenschaft einschlösse. Sein Ziel sollte die Er-
fahrung sein, nicht die Früchte der Erfahrung, mögen sie süß
oder bitter sein. Er sollte nichts wissen vom Asketismus, der die
Sinne tötet, noch auch von der gemeinen Verworfenheit, die sie
abstumpft. Er sollte den Menschen lehren, sich auf die Momente
des Lebens, das selbst nur ein Moment ist, zu konzentrieren. —
Wohl wenige von uns haben noch nie vor Sonnenaufgang
gewacht, sei es nach einer jener traumlosen Nächte, die uns fast
in den Tod verliebt machen, sei es nach einer jener Nächte des
Schreckens und mißgestalteter Freude, wenn durch die Kammern
des Gehirns Phantome schweben, schrecklicher noch als die Wirk-
lichkeit und belebt von jenem lebendigen Leben, das in allem
Grotesken schlummert und das auch der Gothik seine dauernde :
Lebenskraft leiht; denn diese Kunst, möchte man meinen, ist ins-
besondere die Kunst derer, deren Seelen von der Krankheit des
Traumes getrübt sind. Mählich schleichen weiße Finger durch die }
Vorhänge, und sie scheinen zu zittern. Als schwarze, phantastische r
Gestalten kriechen Schatten in die Winkel der Zimmer und lagern ■
sich dort. Draußen regt sich das Rascheln der Vögel im Laube
oder die Schritte der Menschen, die an ihr Werk gehen, oder das 1
Seufzen und Stöhnen des Windes, der von den Hügeln hernieder-
— 21 —
kommt und um das schweigende Haus wandert, als fürchte er, den
Schläfer zu wecken^ und müsse doch den Schlaf aus seiner pur-
purnen Höhle rufen. Schleier nach Schleier aus dünner, dämmriger
Gaze hebt sich, und nach und nach kommen Formen und Farben
den Dingen zurück, und wir sehen, wie der nahende Tag der Welt
ihr altes Gesicht zurückgibt. Die blassen Spiegel erhalten wieder
ihr nachbildendes Leben. Die flammenlosen Kerzen stehen, wo wir
sie ließen, und neben ihnen liegt das halbgeöffnete Buch, in dem
wir lasen, oder die drahtumflochtene Blume, die wir beim Tanze
trugen, oder der Brief, den zu lesen wir fürchteten oder zu oft
gelesen hatten. Nichts scheint uns verändert. Aus den unwirklichen
Schatten der Nacht steigt das wirkliche Leben, das wir kannten.
Wir müssen es aufnehmeUj wo wir es fallen ließen, und ein
furchtbares Gefühl beschleicht uns — das Gefühl der Not-
wendigkeit, ewig in demselben ermüdenden Kreise
festgestellter Gewohnheiten unsere Kraft zu ver-
brauchen, oder vielleicht auch ein wildes Sehnen
kommt uns an, unsere Augen möchten einmal des
iVIorgens über einer Welt sich öffnen, die in der
Dunkelheit neu zu unserer Freude geschaffen wäre,
einer Welt, in der die Dinge neue Gestalten und Farben hätten
und verwandelt wären oder neue Geheimnisse bärgen, einer Welt,
in der das Vergangene keinen oder geringen Platz einnähme oder
doch in keiner bewußten Form der Verpflichtung oder der Reue
fortlebte; denn selbst die Erinnerung an die Freude hat ihre
Bitterkeit, die Erinnerung an den Genuß ihren Schmerz.«
Hundert dichterische, tiefe und geisterfüllte Worte
ließen sich aus diesem Buch zitieren. Was aber be-
deuten sie einem F. Seh., der durch das eine (auf
Seite 87) so gründUch verstimmt wurde?:
>Dann fragte er, ob ich für irgend eine Zeitung schriebe.
Ich sagte ihm, ich hätte nie eine gelesen. Er war furchtbar ent-
täuscht und vertraute mir, daß die ganze Theaterkritik sich gegen
ihn verschworen habe, und jeder einzelne Kritiker sei käuflich.« —
»Es sollte mich nicht wundern, wenn er recht hätte. Aber, nach
ihrem Aussehen zu urteilen, können dafür die meisten auch nicht
teuer sein«. . .
— 22 —
Strebertum und Langeweile lassen es sich nicht nehmen,
der Kaiserin Elisabeth ein Denkmal zu setzen. Ihr »Exekutivkomite«
hat ein paar altgediente Bildhauermeister aufgefordert, die Schwie-
rigkeit der Wahl zwischen drei schlechten Entwürfen zu über-
winden, und die »Experten« entschieden für das Werk des Herrn
Bitterlich. In einer Stadt, in der Klinger's Beethoven angeulkt
wurde, muß man sich über das Treiben eines patriotischen Komites,
das gegen die Proteste moderner Künstler zu einer endlichen
Erledigung seiner Ordensbeschwerden gelangen will, nicht weiter
entrüsten. Nur Freunden einer humoristischen Lektüre sei der
Bericht der sachverständigen Herren dringendst empfohlen. An
dem Modell des Herrn Bitterlich haben sie nur einige >Mängel<
auszusetzen. So unter anderen: »Das Antlitz entbehrt des
bedeutenden Ausdruckes«. »Allein alle diese Mängel <, heißt
es da, »sind nicht so tiefgreifend, als daß sie nicht im Verfolge
der weiteren Durchbildung leicht zu beheben wären«. Die
Auffassung des Herrn Professors Bitterlich ist also zugegebener-
maßen eine spießbürgerliche. »Dieser Entwurf wird daher als
Grundlage für die Ausführung des Denkmals weiland Ihrer Majestät
der Kaiserin Elisabeth von den Unterzeichneten einmütig empfohlen«.
•
Die putzigste Weihnachtsgabe, welche die in den Wiener
Redaktionen beschäftigten Christkindlein den braven Lesern diesmal
beschert haben, ist die Rundfrage der ,Österreichischen Volks-
zeitung': »Welche Worte (Poesie oder Prosa) widmen Sie als
Inschrift für das Denkmal der Kaiserin Elisabeth in Wien?« Eine
schönere Gelegenheit für Leute, die nichts zu sagen haben, war
kaum zu ersinnen. Und wer würde es wagen, in einem Falle, wo
Schmock als Palladin des Andenkens einer Kaiserin auftritt, nicht
zu antworten? Den Reigen eröffnet Herr v. Bezecny mit dem
originellen Vorschlag, auf das Monument als Inschrift die Worte
zu setzen: »Kaiserin Elisabeth«. Schön, aber einfach; und des
Nachdenkens Mühe war dem Finder erspart geblieben. Viele andere
folgen seinem Beispiel. Frau Ottilie B o n d y ist schon komplizierter,
Sie schlägt vor: »Kaiserin Elisabeth. 1837—1898«. Frl. Jenny
v. Glaser setzt gar die Orte der Geburt und des Todes hinzu. '
Der Dichter PhiUpp Haas von Te(pp)ichen aber glaubt, die beste
Ehrung der Verstorbenen gefunden zu haben. Er empfiehltseine Verse :
23
Du hast die Seligkeit, Unerreichte!
Es weint um Dich ein treues Volk im Land,
Es weint, denn in Dir, hehre Fürstin, reichte
Der Edelsinn der Schönheit seine Hand.
Ich glaube, die Frau des Menelaus in der »Schönen Helena«
dichtet ungefähr:
Doch die Hand
Soll man reichen
Dem edlen Jüngling mit Verstand
Ohnegleichen . . .
Ob aber Kaiserin Elisabeth noch die Seligkeit haben wird,
wenn des Dichters Haas Verse auf ihrem Denkmal prangen, bleibe
dahingestellt. Die Widmung des Herrn v. Hartel, der sich als
Philologen empfehlen zu müssen glaubt und ein lateinisches
Sprüchlein verfaßt hat, würde sie wenigstens nicht verstehen. Der
Verlagsbuchhändler Alfred Ritter von Holder schlägt vor: >Der
edelsten Fürstin in Treue und Liebe die Bewohner Wiens«. Er
formuliert die Gefühle, die ihm die Mitarbeiter seines wissen-
schaftlichen Verlags entgegenbringen. Warum schweigt der Besitzer
der Buchhandlung Manz, der doch auch nicht schlechtere Honorare
zahlt? Fünf Verslein, kurz und langweilig, hat der bei allen
patriotischen Gelegenheiten geweckte »Schulmann« Dr. Leo Smolle
beigesteuert. Aber der ganze Tiefsinn des Problems ist in der
Antwort des Herrn Alfons Herold, des liberalen Hoteliers, aus-
geprägt: »Ich würde empfehlen, einfach und schlicht zu setzen:
(Kaiserin Elisabeth'. Ich motiviere es damit, daß ich aus
persönlicher Wahrnehmung in meiner Eigenschaft als Ge-
schäftsführer des , Hotel Europe' in Salzburg (in den Jahren 1868 und
1869) von der erhabenen Kaiserin sehr ^t durch Ansprachen beim
Herrichten der Tafel ausgezeichnet wurde. Die Diners wurden
nämlich am Bahnhof vom , Hotel Europe' in Salzburg für die
I hohe Frau in dazumaliger Zeit beigestellt. Stets war die Kaiserin
äußerst leutselig, dabei höchst einfach und schlicht in allem, in
Ausdrucksweise, Bewegungen u. s. w. und wird mir unvergeßlich
: bleiben.« Die Motivierung ist einleuchtend. Die Diners am Bahn-
: hof in Salzburg wurden vom »Hotel Europe« beigestellt, wo Herr
Herold Geschäftsführer war. Später wurde er liberaler Politiker.
24 —
Das Publikum,
»Über die Weihnachtspremieren in den Münchener Tlieatem
wird uns telegraphisch berichtet: Die Uraufführung von Strind-
berg's Trauerspiel ,Das Band' im Schauspielhause hatte mäßigen,
bestrittenen Erfolg. Wilde's Drama ,Salome' erhielt ge-
teilten Beifall. Schönthan's Erstaufführung von , Maria
Theresia' im Residenztheater brachte es bei glänzender Ausstattung
zu warmem Beifall.«
ANTWORTEN DES HERAUSGEBERS.
Beobachter. Konsul? Schon faul! . . . Was sich zwischen dem
edlen Nheriman und dem edlen Kolischer, zwei großen Khans, ab-
spielte, wiederholt sich jetzt, wie aus den Gerichtssaalberichten hervor-
geht, in der Niederung, in der schlichte Beys ihres Amtes walten.
Immerhin dünken sie sich noch bedeutend genug, um neben sich den
Julius Cäsar, der auch ein Konsul war, als ein armes Waserl erscheinen
zu lassen. Bondy Bey ! Das klingt ! Aber österreichische Richter sprechen
von Erpressung, wo die feinsten Sitten der Türkei betätigt wurden. Die
Herrschaften leben bei uns gemütlich nach der Devise >Verkauft's
meine Orden — ich fahr in Himmel!«, und rechnen darauf, daß auch
dem Antikorruptionisten der Appetit vergehen werde, in den Balkan-
dreck, den Kehricht vor der Pforte und in den Orienlschmutz zu
greifen. Was treibt denn der Herr Kolischer, der die persische Ge-
neralsuniform anlegt, wenn er Inserate für seine drei Winkelblätter
acquirieren geht? Na — kehren wir den berühmten Warnruf um:
Videat res publica, ne quid consulibus detrimenti capiat !
Friedensfreund. Ja, die Suttner! Es ist kaum zu glauben. Und
der Börsenwöchner hat sich auch aus Leibeskräften dagegen gesträubt,
es zu glauben. Am 11. Dezember hatte man erfahren, daß der Nobel-
preis einem Engländer zuerkannt worden sei. Aber noch am 13. De-
zember erklärte Herr Benedikt jeden für einen Sonderling, der da
meinte, >daß Pulver und Schieß wolle trotz des Nobelpreises an die
Baronin Suttner noch recht lange gangbare Artikel bleiben« würden,
und spekulierte ä la baiss# in den Aktien der Hirtenberger Patronen-
fabrik. Schließlich hat jedoch die Wiener Börsenpresse zugeben müssen,
daß William Randal Cremer wirklich der Baronin Suttner vorgezogen
wurde. Mancher gute Patriot ist ob solcher Zurücksetzung einer ver-
dienten österreichischen Frau gekränkt. Nur die Wiener liberalen Zeitungs-
leser wissen jetzt nicht, was eigentlich mehr zu bedauern ist : daß nicht ,
eine Österreicherin den Friedenspreis erhielt, oder daß Österreich nicht '
neue Kanonenrohre aus Stahl erhält.
Inserent. Im Hause des Lippowitz spreche man jetzt nicht vom ,
Spagat! Ein Spagathändler hat sich — so schreibt mir ein Mitarbeiter— '.
erkühnt, einen Prozeß durch alle drei Instanzen gegen das ,Neue .
Wiener Journal' zu gewinnen : Der Unverschämte verlangte bares Geld ]
für den Spagat, den er dem Blatte geliefert hatte, und die Gerichte '
- 25
— so preßfeindlich sind die Oerichte in Österreich bereits geworden —
erkannten zu Recht, daß in Österreich auch Zeitungen verpflichtet sind,
ihre Schulden über Verlangen des Gläubigers in Kronenwährung anstatt
durch Inserate zu bezahlen. Vergebens beschwor Herr Lippowitz die
Richter, sie möchten doch ein Einsehen haben : nie hätte er für Hun-
derte von Kronen Spagat bezogen, wenn er geglaubt hätte, daß In-
seratenscheine von dem Lieferanten nicht ebenso unweigerlich ange-
nommen werden müßten wie Banknoten. Das Gericht stellte den Tat-
bestand fest: Ein Inseratenagent des ,Neuen Wiener Journal' kommt zu
einem Spagathändler. Ich inseriere nicht!, erklärt der Händler. Der
Agent setzt ihm zu: Die Inserate sind so billig wie nirgendwo. Mir
noch immer zu teuer, ist die Antwort. Aber Sie brauchen uns keinen
Kreuzer für die Inserate zu bezahlen; wir nehmen statt der Bezahlung
von Ihnen Spagat ! Der Händler hält bis zur Erschöpfung Stand ;
schließlich drückt ihm der Inseratenagent denn doch einen Auftrag ab.
Von da an bestellt Herr Lippowitz Spagat nur noch bei dem neuein-
gefangenen Inserenten. Bald geht die Rechnung in die tausend Kronen.
Endlich bittet der Händler, den Rest, der nach Abzug der Inseraten-
kosten verbleibt, zu begleichen. Herr Lippowitz weiß nicht, wie ihm
geschieht: Sie wollen Geld? Keine Spur! Inserate können Sie haben,
so viele Sie wollen. Und darüber kommt es zum Prozeß. Die Gerichte
entscheiden: Nicht der Kaufmann hat sich verpflichtet, Inseratenaufträge
zur Ausgleichung der Spagatrechnung zu geben, sondern das ,Neue
Wiener Journal' hat sich verpflichtet, Spagataufträge zur Ausgleichung
der Inseratenrechnung zu geben. Der Lieferant kann nicht verhalten
werden, zu inserieren, aber das Blatt ist verhalten, zu bezahlen.
Das ist ein Urteil, welches alle Rechtsverhältnisse der Wiener Presse
umstößt, und man wird diesen Schlag nicht so bald verwinden wie die
Aberkennung einer Zeitungsehre. Soll es dena wirklich dazu kommen,
daß Wiener Zeitungsmenschen nicht nur die Bedürfnisse der Zeitung,
sondern am Ende auch ihre persönlichen durch Barzahlung bestreiten ?
Wollen die Gerichte Schneider, Schuster oder gar Buchhändler gegen
die Presse aufhetzen?
Techniker. In Nr. 150 ist ein Irrtum unterlaufen. Die der Ver-
öffentlichungspflicht unterliegende Bilanz ist natürlich jene der > Aktien-
gesellschaft für Szczepanik's Textil- Industrie- Fabriksanstalt«. Deren
Gründerin und Schuldnerin ist die offene Handelsgesellschaft >Societ^
des inventions Jan Szczepanik & Cie«, welche wegen Versäumnis des
Lieferungstermins der Textilmaschinen das von dem neuen Geldgeber
jetzt glücklich aufgebrachte Pönale von 40.000 Kronen bezahlen sollte.
Nun ist der Aktiengesellschaft mit dem Pönale und der offenen Handels-
gesellschaft durch den uneigennützigen Geldgeber zur Wahrung der
Ehre Polens geholfen, und beide Unternehmungen werden wohl noch
ein Weilchen fortleben. Die Verwechslung beider liegt übrigens nahe.
Nicht nur wegen des gemeinsamen Wiener Domizils in der Prager-
straße, sondern auch wegen des Zusammenhangs, der durch die Per-
sonen hergestellt ist: durch den in beiden Unternehmungen ausgebeuteten
Erfinder und durch den beide ausbeutenden »Bankier< Ludwig Kleinberg.
— 26
Damenschneider. Zur Theatertoilettenfrage: >Wie oft ist an
die Presse die eindringliche Mahnung ergangen, gegen diesen Unfug
und Unsinn (des Toilettenluxus) Front zu machen. Von Zeit zu Zeit
schlägt ihr auch das Gewissen und sie wagt die Bemerkung: Es wäre
am Ende doch wohl ein bischen zu viel und wohl auch nicht ganz am
Platze. Aber dann kommt ein neues Stück, in dessen Mitte eine wegen
ihrer großartigen Toiletten bekannte Künstlerin steht; das Stück wird
abfällig beurteilt, die künstlerische Leistung mit wohlwollender Duld-
samkeit eben berührt, die Pracht der Toiletten aber mit Angabe der
Lieferanten mit hellem Jubel bewundert. Es ist ja so weit gekommen,
daß Schauspielerinnen einfach als Toilettenträgerinnen behandelt werden,
daß sie sogar in dem verbreitetsten Wochenblatte lediglich ihrer Toiletten
wegen bildlich dargestellt werden.« Diese Sätze sind einem Feuilleton
des Herrn Paul Lindau entnommen, das — die ,Neue Freie Presse'
abdruckt. Ein paar Wochen nach dem > Maria Theresia «-Skandal! Dies
ehrlose Volk sagt auch dann noch, daß es geregnet hat, wenn es sich
selbst ins Gesicht spuckte.
Scherenschleifer. Der dumme Dieb hat sich schon wieder selbst
verraten. ,Neues Wiener Journal' vom 21. Dezember: Ein Londoner Bericht
über »fragwürdige Musikdiplome«. An der Spitze steht: >Von unserem
Korrespondenten«, und zum Schluß heißt es: >Da kaum anzunehmen ist,
daß die Gesellschaft trotz ihres Namens (Reis School of Music of
Oermany...) in unserem Vaterlande viele Geschäfte macht! . .«
Unser Korrespondent oder unser Vaterland ? Eins oder das andere ! . .
Ein paar Tage später herrschte im , Neuen Wiener Journal' große Auf-
regung. Ein Manuskript war eingelaufen! Von einer Hand be-
schriebenes Papier! Es war eine Zuschrift des Burgschauspielers Heine,
der für die »Weihnachtsnummer« die Frage beantworten mußte, >wie er
zum Theater kam«. In* der freudigen Erregung schickte man das
Manuskript ungelesen in die Druckerei. Es erschien mit allen Bissig-
keiten, mit denen Herr Heine die Belästigung in der Weihnachtswoche
quittierte, und enthielt die folgende Wendung: »Ich höre Sie unmutig
mit Federhalter oder Schere aufschlagen und es klingt wie war- ,
nendes Geflüster: ,Zur Sache, wenn's beliebt ....'«
Mondsüchtiger. Für Geld ist alles möglich! »Prachtwetter herrscht
jetzt auf dem Semmering«, hieß es in der Weihnachtsnummer der
,Neuen Freien Presse', »tiefblauer Himmel wölbt sich über die Berge, '■
mild und wohlig ist die Temperatur, um Mittag wird es recht warm.
Nachts verleiht der Silberglanz des strahlenden Vollmondes der
idyllischen Szenerie poetischen Zauber«. Am 25. Dezember war zwar,
wie ein Blick in den Kalender lehrt, schon Neumond. Aber im In-
seratenbureau war Vollmond aufgegeben, und dabei bleibt's, wenn sich
auch die Astronomen auf den Kopf stellen! Die Administration ver-
fügt über den Weltenraum so gut wie über den Raum des lokalen
Teils . . . Und sie bewegt sich doch ! hat Galiläi gerufen. Sicherlich
war er ein unbotmäßiger Redakteur, der seine Meinung gegen die
Ansicht eines Inserenten, daß sie sich nicht bewege, durchsetzen wollte.
— 27 —
Habitus. Wenn ich Alles, was ich in fünf Jahren über die Ver-
derbtheit der Wiener Theaterkritik geschrieben habe, zusammenfassen
wollte, es würde an Wirkung hinter einer einzigen Tatsache, die wir
jetzt erleben, zurückbleiben: dem Fall Buchbinder. Daß Theater-
direktoren die elenden Stücke des aus dem kritischen Machtbereich Ge-
worfenen annehmen, wäre, wenn nicht die Furcht vor einer journa-
listischen Renaissance des Mannes sie bestimmte, wohl ein starker Gegen-
beweis gegen meine Darstellungen von dem Zusammenhang zwischen
Produktion und Kritik. Wie glänzend sind sie aber erhärtet durch die
Haltung, die heute die Rezensentenschar gegen den einstigen Kollegen ein-
nimmt. Der Anblick, der sich da dem Leser der Vorstadttheaterkritiken
bietet, ist ein so anwidernder, daß es zur sittlichen Pflicht wird, sich
des schlechtesten Lieferanten, der je die Wiener Possenbühne besudelt
hat, anzunehmen. Herr Buchbinder hat sich, seitdem er nicht mehr
Notizen schreibt, gewiß nicht verschlechtert. Aber wenn man ein paar
Jahrgänge zurückblättert, so wird man ersehen, daß die »Dritte Eskadron«,
»Er und seine Schwester« und der »Spatz« Meisterwerke reinster Volks-
poesie waren, deren Schöpfer man nie zugetraut hätte, daß er zu jenem
Auswürfling herabsinken könnte, der den Mut hat, seinen Namen auf
die Theaterzettel von »48 Stunden Urlaub« und »Der Mameluck« zu
setzen. Die Notizenschreiber wissen besser als die Theaterdirektoren,
daß der Mann nicht mehr zu fürchten ist, daß ihre eigenen Stücke vor
seinem Tadel sicher sind : also drauf und dran ! Ward der letzte
Schund, den er früher geleistet, über Wasser gehalten, so würde
er jetzt nicht pardonniert werden, auch wenn er einen »Zerbrochenen
Krug« oder den »Revisor« schriebe. Etwas Scheußlicheres als diese
Hetzjagd auf einen, der keinen Revolver hat, bloß weil er
keinen mehr hat, etwas Elementareres als dies Geständnis, daß aus-
schließlich das geschäftliche Cliquen Interesse das öffentliche Urteil be-
stimmt, läßt sich nicht ersinnen ! Das ,Neue Wiener Journal', in dessen
Dienst sich Herr Buchbinder verblutet, für das er sein Bestes an
gemeiner Kulissenschnüffelei hergegeben hat, ist natürlich allen voran.
Am 15. Jänner 1902 schrieb Herr Tann-Bergler: »Vor einem ausver-
kauften, eleganten Premi^renhause — in der Hofloge wohnte Erzherzog
Franz Ferdinand der Vorstellung bei — fand gestern die Erstaufführung
des dreiaktigen Musikschwankes ,Der Spatz' statt. Zwei bühnen vertraute
Männer, denen das Theaterpublikum schon unzählige vergnügte Abende
dankt, waren in Kompagnie gegangen, um wieder emmal im Sinne ihrer
Tradition zu arbeiten. Bernhard Buchbinder, der erfolggewohnte Autor,
und Charles Weinberger, der in einschmeichelnden, wienerischen
Melodien empfindet. Das Verhältnis, in dem ich zu Buchbinder
stehe, auferlegt meinem Referat den Zwang der weitestgehenden Re-
serve. Er ist Journalist. Eine geheiligte Überlieferung an der bisher
noch Niemand zu rütteln gewagt hat, ohne direkt verbrecherischer Ge-
lüste geziehen zu werden, schreibt vor, daß den Zeitungsleuten eine
möglichst üble Nachrede zutheil werde, vor Allem in den Zeitungen.
Er ist femer mein Bureaukollege. Es hieße die Satzungen eines jeglichen
28 -
Bureaukratismus auf den Kopf stellen, wollte ich alles Schöne anders
als mit Bedauern, die Bedenken hingegen ohne die gewisse herzliche
Genugtuung notieren, welche als das untrüglichste Kennzeichen der
Unparteilichkeit gilt und den Verdacht gesinnungsloser ,Kameraderie'
und Cliquengemeinheit wenigstens mildern, wenn auch nicht beseitigen
kann. Er ist schließlich seit Jahren mein persönlicher
Freund. Nun weiß aber doch Jedermann, daß es der schönste, er-
habenste und in der überwiegenden Zahl der Fälle auch der einzige
Gewinn der Freundschaft ist, Unannehmlichkeiten einzuheimsen. Auf
diese Grundsätze mußte ich hinweisen — um sie anwenden zu können . .«
Neckisch, nicht wahr? Dann heißt es: > Possenhaft-lustige, oft karneva-
listisch -übermütige Handlung«, »sprudelnder Dialog«, >Knallerbsen, die
massenhaft explodieren«, »urtoller zweiter Akt«, »wiederholt heraus-
applaudiert« u. s. w. Der »Spatz« war natürlich ebenso blödsinnig und
fiel ebenso durch wie »48 Stunden Urlaub«, über die Buchbinder's
Nachfolger am 8. November 1903 neun Zeilen schreibt: »Die Bezeichnung
Posse ist gewissermaßen eine Bitte um Nachsicht. Jener Teil des
Publikums, der die oberen Ränge füllte, verstand die Andeutung und
lachte. Der andere Teil hat den Autor energisch angeblasen. Mit der
Konstatierung, daß der Inhalt seine komischen Wirkungen aus der
Dummheit eines polnischen Offiziersdieners zu bestreiten sucht und daß
Herr Lackner sich Mühe gab, der Rolle gerecht zu werden, glaube ich
der Referentenpflicht diesmal Genüge getan zu haben. Vielleicht haben
Andere mehr Lust, sich mit dem Stück auseinanderzusetzen.« Und am
23. Dezember über den »Mameluck« : »Die Handlung ist aus einem
Roman Jokai's zugeschnitten, da sich seine Mitautorschaft doch wohl
nicht dahin erklären ließe, daß er Bernhard Buchbinder ins Deutsche
übertragen hat« . . . Was wäre über die elende Carltheateroperette, was
über das Durchfallsstück des Raimundtheaters geschrieben worden, wenn
sie vor des Autors Vertreibung aus dem kritischen Paradiese ans Rampen-
licht gelangt wären? Gibt es etwas, das die Erbärmlichkeit dieses
Cliquentreibens grimmiger illustrierte als die Tatsache, daß ich mich
heute in Wien des Bernhard Buchbinder annehmen muß?!
Zionist. Ich muß es ablehnen, zum »Attentat gegen Dr. Max
Nordau« Stellung zu nehmen. Dieser satirischen Überfülle bin ich nicht
gewachsen. Schon die bloße Tatsache eines Makkabäerkränzchens ! Und
daß der »Attentäter« auf zwei Schritte Distanz zweimal schoß und nicht
traf! Eine »Kugel« kam geflogen: wäre sie aus Wien vom Restaurant
Tonello gekommen, sie hätte ihr Ziel sicherlich nicht verfehlt! Bezeichnend
genug, daß sie, wie gemeldet wird, Herrn Nordau »am Kinn streifte«;
er konnte sich also überzeugen, daß sie nicht rituell zubereitet war,
und wich ihr aus. Chaim Selig Louban heißt der »Fanatiker«, der
sich bis zur Gründung des Königreichs nicht gedulden wollte. Er
wurde verhaftet und wird, wie verlautet, zur Strafe mit dem Marmorek-
Serum behandelt werden ... Es ist zu viel. Ein Satiriker kann zusperren,
wenn ihm die Wirklichkeit derartige Schmutzkonkurrenz bereitet.
Herausgeber und verantwortlicher Redakteur : Karl Kraus.
Hnick von lalioda & Siesel. Wien. III. Hintere ZollamtutraBe n
Erschienen am 16. Jänner 1904 Y. Jibr
Die Fackel
Herausgeber :
KARL KRAUS.
Erscheint drei- oder zweimal im Monat.
Preis der einzelnen Nummer 24 h.
Nachdruck and ffewei-bsmäßisfes Verleihen verbofen: gerichtliche Verfolgung
Torbehalten.
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>Ve*ter^t>*eilMi
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Schwindzass« 3.
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Die Fackel
tranken und Buchhandlungen erhaitnch
BKZÜGS-BBDINGÜNGEN-
der Äckel'^Wien'Tv"^c:' ?'^.^l«"«^kt bei der Adm.r.s 'ation
uer ,rackei, Wien, IV. Schwmdgasse 3 erfolgen:
für Oesterreich-Ungarn, 36 Nummern, portofrei . . K 7.-
» das Deutsche Reich, 36 l ! " w l'^^
» » » > 18 M.7.—
> die Under d. Weltpostver., 36 Nummern; porto/rei' M. Ifo
für Oesterreich-Ungarn, 36 Numraem, portofrei . . K 8.30
. d« Denbche Reich, 36 .' : ; ; ^ «°
. dieUnderd, Weltpostver.,36Nun,me™,'portoirei M. WM
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Die Fackel
Nr 152 WIEN, 16. JÄNNER 1904 V. JAHR
3er Auflösungsprozeß vor dem Handelsgericht.
Ist es denn möglich, über die ,Zeit' einen
ifiiusanten Artikel zu schreiben? Oft entsank mir die
'^eder, wenn ich ihr zumutete, dieses Blattes zu ge-
enken. Im Dunst der Schläfrigkeit, die das bloße Aus-
prechen des Namens erzeugt, muß jeder polemische
Ville erschlaffen. Wenn die »Geldgeber« eines Tages
nter Kuratel gesetzt und der journalistische Freak,
m den sie ihre Gefühle verschwendeten, verreckt
ein wird, werden wir das langsam aus narkotischem
chlaf erwachende Wien sich nur mühsam in der
[orruption seines Geisteslebens zurechtfinden und die
!^eue Freie Presse' lange nicht als Schandblatt wieder-
•kennen sehen. Wie märchenhaft ist diese Stadt ver-
andelt, die einst bewegter Frohsinn war, dann in
sidvoUem Kampfe stöhnte und nun zwei Haschisch-
ringern aus dem Osten erlag, die bloß das Zauber-
wort auszusprechen brauchten: Lesen Sie die ,Zeit'l. . .
)a gibt es kluge Leute, die immer davon sprechen,
ie ,Zeit* habe »Hoffnungen erweckt«. Was ist doch
ie Sprache für eine Meisterin der Ironie 1 Wir sind
üfrieden, wenn es der ,Zeit' gelungen ist, unter
nderem auch unsere Verzweiflungen einzuschläfern,
für ich verdanke ihr mehr. An ihrer täglich erneuten
|ual habe ich die Nichtigkeit einer rein sittlichen
i^eltbetrachtung erkennen gelernt, die törichte Halt-
sigkeit eines Standpunkts, dem die runzlige Vettel,
ie darauf pocht, daß sie für Geld nicht zu haben ist,
öher steht als die anmutige Hure. Es ist ein Erlebnis,
_ 2 —
von einem so tragischen Humor erfüllt, von einer so
aufrüttelnden Wirkung des Kontrastes: Bin Sitten-
richter predigt, und seine Lehre macht sich die
Häßlichkeit zunutze und entblößt, da keiner sie mag,
ihre Scham : Seht her, i c h bin anständig ! . . . Dies
ist mein Glaube: eine Geißel Gottes ward uns die
,Zeit' gesendet, die Eiferer, die bekehren wollten, zu
bekehren, unfreudige Menschen zu lehren, daß diesem
armen Leben nur ästhetische Denkart frommt und
daß wir über der Verachtung der ,Neuen Freien
Presse' nie vergessen sollen, ehrbare Langweile für
der Übel schlimmstes zu halten . . .
Und wenn die Langweile nicht einmal ehrbar
wäre? Wenn hinter der sozialpolitischen Maske
schäbigste Ausbeutergesinnung ihr Spiel triebe ? Solche
Enthüllung wäre so wenig interessant wie die Kor-
ruptionsfreiheit eines von allen Grazien gemiedenen
Blattes. Die Unbestochenheit der ,Zeit*, die niemand
bestechen will, entzieht sich so sehr der öfTentlichen
Anerkennung wie ein Fehltritt, von dem man erführe,
dem öffentlichen Tadel : der schlechte Geschmack des
Zahlers wäre beklagenswert, nicht die Hingabe der
unappetitlichen Jungfer. Bankpauschalien nehmen ist
eine Schande des Talents, sie nicht nehmen kein
Ruhm der Talentlosigkeit. Und es bleibt ja noch
außerhalb des Gebiets, wo Meinungen gegen Valuta
eingelöst werden, ein Spielraum übelster Gesinnung.
Was soll denn die dreimal ekle Farce von dem
»reinen Blatt«, das die alte Preßverderbnis abzulösen
kam und dem ich nachweisen kann, daß es an seine
Korrespondenten Zirkulare mit der Mahnung ver-
sendet hat, fleißig »Mitteilungen aus der chronique
scandaleuse« ihrer Städte zu sammeln ? Wenn j e Schmutz-
konkurrenz eine Konkurrenz des Schmutzes war, so
war es das Treiben einer Zeitung, deren Leitern in dem
kulturhistorischen Prozeß, der neulich vor dem Handels-
gericht spielte, zugerufen wurde, daß sie in die
,Neue Freie Presse' ein Kuppelinserat einschmuggeln
— 3 —
ließen, um die blödsinnige Sensation eines Artikels
»Rückenraarkstudien« bereiten zu können. Wir haben
das Schauspiel erlebt, daß Redakteure als Gerichts-
zeugen die Gelegenheit benützten, das eigene Blatt
vor aller Welt zu verleugnen, daß der erste Kritiker,
Herr Hof rat Burckhard, sich beeilte, jeden Einfluß
auf redaktionelle Angelegenheiten abzulehnen und
sich feierlich von dem Schmutz loszusagen, aus dem
die Angriffe der ,Zeit' gegen Fräulein Adamovics
entstanden. Aber es ließe sich auch nachweisen,
daß die Zeitung, die auf das Programm des jour-
nalistischen Anstands fundiert wurde, die Lippo-
witzkunst nicht nur im Durchforschen fürstlicher Ehe-
betten, sondern auch in der kostenlosen Benützung
fremder Geistesquellen erlernt hat. Mit Recht hat
der Klageanwalt statt eines handelsgerichtlichen
einen Strafprozeß gegen die ,Zeit' geführt, mit Recht
den Angeklagten Singer und Kanner, die besonders
empfindlich auf das Wort »Kultur« reagieren, zuge-
rufen, die ,Zeit' sei heute ein Blatt, »dessen sich ein
Kulturmensch schämen müsse«, mit Recht der sozial-
politischen Firma einen »Menschenkonsum« vorge-
worfen, der »einem Sklavenmarkt« zur Zierde ge-
reichen müßte. Aber er erwähnte nicht, daß statt
der einundzwanzig entlassenen Mitarbeiter einund-
zwanzig Scheren angeschafft wurden. »Nehmen Sie
nur drei Tage«, schreibt mir ein gewissenhafter
Sammler, »und Sie werden über die Fülle billigen
Plauderstofifs, den die ,Zeit* bietet, staunen: Im Abend-
blatt vom 10. Dezember ist der ,talentvolle Rossini'
und der ,schlagfertige Parlamentarier* dem Abend-
blatt der ,Vossischen Zeitung' vom 9. Dezember ent-
nommen, im Abendblatt des 11. ist eine Notiz über
Spencer aus der Mitte eines größeren signierten Ar-
tikels der ,Frankfurter Zeitung' geholt, im Abendblatt
vom 12. entstammten , Heine über Berlioz' und ,Björnson
über den Vogelmord' derselben ungenannten Quelle.«
Wenn's Abend wird, geht eben auch die ,Zeit' stehlen,
— 4 —
und in ihrem »Kleinen Feuilleton« kann man alles
finden, was am nächsten Morgen erst das ,Neue Wiener
Journal', das uns nur einmal täglich erfreut, enthalten
wird. Aber der kulturpolitische Dieb ist feiner. Er
arbeitet mit Titeländerung und ein bischen polnischer
Retouche und behält, wenn im bestohlenen Blatt
eine entlegene Zeitschrift oder ein fremdländisches
Journal zitiert war, ihre Namen vorsichtig bei,
damit der Anschein erweckt werde, als hätte die
,Zeit' selbst alle Blätter durchstöbert, um ihren Lesern
das Interessanteste zu bieten. Ȇbe'r den Ursprung
der Worte ,Trust' und , Budget* plaudert der
,Temps' . . .« »Gibt es denn wirklich«, fragt mein
Sammler, »in der Redaktion der ,Zeit' Leute, die
den ,Temps' lesen können? Wozu dennl In der Re-
daktion der , Vossischen Zeitung' wird er ohnedies
gelesen und übersetzt. Und der Einfachheit halber
ist gleich die nächste Notiz des Berliner Blattes,
unter dem Titel »Praktisch«, mitgestohlen.«
Der Entlarvung der sozialpolitischen Ausbeuter,
die über einen »gewonnenen Prozeß« jubeln, weil sie
bloß zur Zahlung von 18.000 Kronen an einen ent-
lassenen Redakteur verurteilt wurden, mag man sich,
so verfehlt es sonst wäre, dem Jammerblatt interne
Schlechtigkeiten nachzurechnen, ehrlich freuen. Denn
es ist vielleicht doch möglich, daß sie ihre populäre
Wirkung auf die Hintermänner des Blattes übt, die
bisher absolut nicht dazu zu bewegen waren, kein
Geld für die ,Zeit' herzugeben. Wenn das geistige
Unvermögen, welches in das Blatt gesteckt wurde, zum
Himmel stank, ward man immer wieder von den
Freunden langweiliger Lektüre — es muß auch solche
Käuze geben — mit der Meldung überrascht, daß
anstatt eines lesbaren Beitrags eine neue Million ein-
gelaufen sei. Daß man eher eine galizische Steppe in
ein Kornfeld verwandeln wird, als die ,Zeit' — und
wenn die Herren Riedl und Gallia um ihretwillen
verarmten — in eine individuell gemachte Zeitung,
muß der jüngste Setzerlehrling bezeugen. Das »farb-
lose Nachrichtenblatt«, das Herr Kanner im Unmut
zu machen gelobte, wäre ein farbloseres Meinungs-
blatt, wenn ihm der regierungsfreundliche Verwal-
tungsrat wieder erlaubte, selbst mitzuarbeiten, und
nichts vermag die Öde, welche die ,Zeit' beseelt,
besser zu bezeichnen als die Tatsache, daß hier
schon die anempfindsame Geschicklichkeit des Herrn
Saiten wie Persönlichkeit wirkt. Aber vielleicht
verhütet der öffentliche Skandal die weiteren Ver-
suche ruhmloser Helden, ein bodenloses Faß zu füllen
und die Tyrannei der Impotenz dem Wiener Geistes-
leben zu erhalten. Und kann der Hofrat v. Philippo-
vich, der schon nach dem Erscheinen der Adamovics-
Artikel zwischen seiner akademischen Würde und
seiner Stellung als Präsident des Aufsichtsrats der
,Zeit' hätte wählen müssen, nach den Enthüllungen
dieses Prozesses noch schwanken? Ist es wirklich
wahr, daß er, den sozialpolitische Hoffnungen zu
einer Gemeinschaft mit tarnopolitischen Unternehmern
führten, keinen höheren Ehrgeiz mehr kennt als den
in seiner Zeugenaussage einbekannten : »Es ist meine
unangenehme Aufgabe, die Herren fortwährend darauf
aufmerksam zu machen, daß die Ausgaben möglichst
in engeren Grenzen gehalten werden«? Man mag an-
nehmen, daß er erst aus dem Prozeß von den
Vorgängen in der Redaktion erfahren hat, und wie
21 Mitarbeiter in fünfviertel Jahren entlassen wurden.
Aber das System der Herren Kanner und Singer war
schon vor zehn Monaten in der ,Fackel' nachgewie-
sen, als ein GeMnnungsgenosse des Herrn Hofrats in
Nr. 132 schrieb : »Von allem Anfang war es zweifellos,
daß ein großer Teil der armen Teufel, die aus festen
Stellungen herausgerissen und in die Redaktions-
bureaux der ,Zeit' verpflanzt wurden, wieder entlassen
werden müsse. Und für diese sichere Annahme ist
der unwiderlegliche Beweis in dem Kostenvoranschlag
niedergelegt, den man uns Sozialpolitikern im letzten
— ö
Frühjahr ,8tren^ vertraulich' zusandte und auf Grund
dessen das Kapital zur Verfügung gestellt wurde.«
Nach jenem Kosten veranschlag, von dessen Auf-
stellungen ausdrücklich versichert wurde, »daß eine
Erhöhung derselben ausgeschlossen erscheint«, sollten
bei der ,Zeit' außer den Herausgebern 12 Redakteure
angestellt werden. So erzählte die Zuschrift des Sozial-
politikers und fuhr fort: »Als aber im vergangenen
Sommer das Redaktionspersonal der ,Zeit' zusammen-
gestellt wurde, engagierte man ohne alle Rücksicht
auf das einzuhaltende Budget darauf los, Redakteure
und Zeilenhonorarschreiber, weit über alle Möglichkeit,
sie zu beschäftigen und zu entlohnen, hinaus. Und
heute geschieht in der Zeitungsschmiere ,Die Zeit',
was so oft in den Theaterschmieren Österreichs und
Deutschlands geschehen ist: noch kürzlich haben wir
in der Theater-Enquete gehört, wie der oder jener
Direktor statt eines jugendlichen Liebhabers, den
er braucht, ihrer drei engagiert und den Paragraphen,
der ihm das Recht auf Kündigung innerhalb der
ersten sechs Wochen der Saison einräumt, dazu benützt,
sich ' der beiden Überzähligen zu entledigen und dem
dritten, der dem Publikum am besten gefallen hat,
den Kontrakt zu verschlechtern. So sieht auch die
Sozialpolitik der ,Zeit' aus.« Klarer als durch diese
Zuschrift konnte durch den Prozeß des Herrn Ganz
gegen die ,Zeit' nicht ihr System, nur die Zahl jener
konnte gezeigt werden, an denen es betätigt wurde.
Aber in jedem einzelnen Fall weiß Herr Isidor Singer
heute sicherlich so gut wie damals eine Ausrede, und
es kann Richter geben, die sie ihm glauben, solang
sie an dem System zweifeln. Nur die dreiste Be-
hauptung dürfte der Herr jetzt nicht mehr wagen,
die er der ,Fackel' (Nummer 134) als Berichtigung
aufgezwungen hat: »Wahr ist, daß kein einziger
der Angestellten der ,Zeit* aus Gründen der Spar-
samkeit oder deswegen entlassen wurde, weil ich
einsah, daß ich zu viele an mein Unternehmen
— 7 —
gebunden hatte.« Im Prozeß des Herrn Ganz sagte als
Zeuge der Bibliograph Herr A. L. Jellinek aus: »Ich
war redaktionell tätig und hatte das Archiv anzulegen.
Bis diese Arbeit geleistet war, durfte ich nach dem
Vertrage nicht kündigen, mir konnte sechswöchentHch
gekündigt werden. Für den Fall, daß ich das Archiv
innerhalb einer bestimmten Zeit fertigstelle, wurde
mir eine Prämie zugesichert: Ich bekam die Kündigung,
bevor ich noch auf die Prämie Anspruch gehabt hätte.
Als ich sie vom Professor Singer verlangte, berief er
sich auf Geldmangel«. »Sie meinen Sparsamkeit!«
rief der Rechtsanwalt der ,Zeit' — der noch immer
sozialdemokratische Organisationen vertretende Herr
Harpner — in diese Zeugenaussage hinein. Die Spar-
samkeit, die den Herausgebern im vorigen Winter
ein Vorwurf war und berichtigt wurde, ist jetzt ihr
Entschuldigungsgrund, und wenn sie wirklich nicht
selbst eingesehen haben, daß sie zu viele Mitarbeiter
an ihr Unternehmen gebunden hatten, so hat der
Präsident des Aufsichtsrats, Hofrat Philippovich,
vor Gericht bekundet, daß es sein Amt sei, den
Hofrat Wetschl im Hause Singer zu spielen. Im
Prozeß Ganz ist nur die Frage nicht gestellt worden,
ob die Entlassung von 21 Mitarbeitern etwas anderes
als die Einschränkung des Betriebs auf den von
allem Anfang an geplanten Umfang bedeuten konnte.
Wenn irgend einer der Entlassungsgründe, um welche
die Herausgeber der ,Zeit' niemals verlegen waren,
stichhalten soll, dann müßten statt der Entlassenen
neue Kräfte verwendet, nicht bloß die Ausbeutung
der Übriggebliebenen nach dem Versprechen verstärkt
worden sein, das die Herausgeber der ,Zeit' in dem
Memoire an die Kommanditisten (Nr. 132 der ,FackeP)
erteilt hatten: mit ihren Mitarbeitern »den größten
geistigen Nutzeffekt zu erzielen«. Und was sagt Herr
V. Philippovich, der bei der sozialpolitischen Affen-
komödie ernst bleibt und der »außerordentlichen
Leistung« des Herrn Kanner applaudiert, zu der Pointe,
— 8 —
daß dieselbe Mitarbeiterin, die erst durch Klage-
drohung das garantierte Honorar erlangen konnte und
fünf Stunden antichambrieren mußte, bevor sie sich
von Herrn Kanner anschnauzen lassen durfte, sich im
Auftrage der ,Zeit' als Arbeiterin in einer Zigaretten-
hülsenfabrik verdingt hat — »um Studien für einen
Artikel über die Behandlung der dort beschäftigten
Arbeiterinnen durch den Chef anzustellen« ? . . .
Seitdem beim Handelsgericht Prozesse geführt
werden, haben die Richter sicherlich niemals Emotionen
durchgemacht wie bei diesem, in dem sich alle Ver-
worfenheit des Pressetreibens vor ihnen enthüllte, als
ob sie nicht über den Geldanspruch eines gekündigten
Redakteurs, sondern über das Wesen der Preßkorruption
zu urteilen hätten. Nicht wieviel die ,Zeit* schuldig
ist, war das Ergebnis der Verhandlung, sondern daß
sie schuldig ist. Mögen menschliche Unzulänglich-
keiten, die Unverträglichkeit von Temperamenten,
alle Böswilhgkeiten von Chefs gegen Angestellte
entschuldbarer machen, offenkundig ist die mala fides
der Herausgeber der ,Zeit' gegenüber der Öffentlich-
keit, die man getäuscht und auf Jahre hinaus um
die Hoffnung auf eine reine Presse betrogen hat.
Weg mit dem Schund! Hätten wir einen Groben
Unfug-Paragraphen, er müßte angewendet werden auf
den vor keinem Pissoir haltmachenden Reklamelärm
dieser Nichtskönner. Daß sie nicht nur die Öffentlich-
keit malträtieren, sondern sich selbst, haben wir erst
aus dem Prozeßbericht erfahren. Mit Staunen las man
die Kernsätze: »Die Hälfte der Redakteure ist schon
hin.«. . . »Um drei Uhr früh lösen wir Chefs uns bei
der Arbeit ab und können uns bloß bei der Maschine
sprechen« . . . »Auspitz sagte mir, daß Kanner Wut-
anfälle habe, während welcher er Papiere und auch
schwere Gegenstände zu Boden werfe« . . . »Singer sagte,
man darf Kanner in seinen Vorarbeiten nicht stören,
denn er braucht Nachtwandlersicherheit« . . . »Kanner
warf einmal ein Tintenfaß zu Boden« . . . »Autokrat« . . .
»Kanner spricht nicht, sondern schreit« . . . »Ich hätte
auch Familienvater werden können« . . . »Ich hatte
die Befürchtung, daß ich die Last nicht werde ertragen
können, und habe mich von fünf Ärzten untersuchen
lassen, besonders Augen und Magen« . . . »Kanner
hat einen Magenkrampf bekommen; stören Sie ihn in
seiner Nachtwandlersicherheit nicht!« ... »Opfer ge-
bracht« . . .»Lebensaufgabe« . . . »Lebensarbeit« . . . »Die
anderen haben geträumt, wir haben gehandeltl«...
Ja, um Himmelswillen, was ist denn los? Ging da
ein neuer Bismarck daran, ein Reich zu hämmern?
Oder kamen zwei Jüdlein aus Galatz, um ein »farb-
loses Nachrichtenblatt« zu machen? Wenn das
»Handeln« so anstrengend ist, ist das gewiß be-
dauerlich; wenn es aber so geräuschvoll betrieben
wird, werden sich die Hausbewohner Ruhe zu ver-
schaffen wissen I Ist es erhört, daß Zeitungsleute,
deren Dasein durch keinen persönlichen Zug,
keinen neuen Gedanken, keinen Tropfen Humors
entschuldigt wird, das Publikum fortwährend mit
ihrem internen Weh und Ach behelligen? Man muß
sie, um den grimmigen Kontrast von Ursache und
Wirkung zu erfassen, in mehreren Gerichtsverhand-
lungen persönlich in Augenschein genommen haben:
Herrn Isidor Singer, den nur die Großmannssucht treibt
und der Ehrgeiz, als »Prinzipal« anerkannt zu werden,
und Herrn Kanner, der seine Parvenurechte schon
gewaltsamer betätigt. Neben Singer, der wirk-
liche Verdienste um das Blatt hat, indem er das
elektrische Licht überall abdreht, wo es überflüssiger-
weise brennt, berührt die Persönlichkeit seines un-
produktiveren Genossen, der, da er nicht mehr Minister
stürzen darf, Redakteure stürzt, recht wenig sympathisch.
Singer's geistige Genügsamkeit, die sich treuherzig in
dem Geständnis offenbarte. Kanner habe ihm einmal
zugerufen, er rede von einer redaktionellen Angelegen-
heit »wie der Blinde von der Farbe«, ist ein über-
wiegend mildernder Umstand : an diesem Manne wird
— 10 —
— vom Ästhetischen natürlich abgesehen — die ganze
Tendenz des Antisemitismus zuschanden, um sich
erst an Herrn Kanner's Wesensart wieder zu erholen.
Hier arbeitet eine aufreizende Kniffigkeit mit den
kleinen Mitteln osteuropäischer Kultur. Wenn Isidor
Singer einen Ausgleich, der ihm um 4000 Kronen
billiger zu stehen gekommen wäre als der »Sieg«,
scjheitern läßt, um die Besucher seiner Jours, die im
Saale anwesend sind, nicht um den Genuß seiner
»großen Rede« zu bringen, wenn er nach den nieder-
schmetternden Gerichtstagen im Briefkasten von
einem »gewonnenen Prozeß« spricht und für die »in
verschiedenen Zuschriften uns ausgesprochenen Glück-
wünsche« dankt, so wird man über diese dummen-
augusthafte Outrierung eines eitel beschränkten
Sinnes lachen. Die geringere Gutartigkeit des Herrn
Kanner verrät sich in dem Abdruck des richterlichen
Urteils, in dessen Begründung ein Satz dreist hinein-
gefälscht wird, den — der Advokat der ,Zeit' ge-
sprochen hat: Das Beweis verfahren habe »die voll-
ständige Haltlosigkeit der Behauptungen über die
unerträglichen Zustände und speziell das Benehmen
des Chefredakteurs gegenüber den Redakteuren er-
geben«. Ein schnurgerader Verstand und ein völliger
Mangel an Temperament entkleiden Herrn Kanner's Ge-
fährlichkeit zwar nicht ihrer Intensität, wohl aber
jedes ästhetischen Reizes. Das ist die unerquickliche
Art von Händlerschlauheit, die durch das Mitwägen
der Emballage übervorteilt, das ist jene kleine Ge-
rissenheit, die imstande ist, einen tauben Sekretär
anzustellen, damit er vor Gericht wahrheitsgemäß
bezeuge, er habe keinen Skandal im Zimmer des Chefs
gehört, und nicht Grauen, sondern Unbehagen flößt
die Erscheinung dieses Mannes ein, dessen kribbelige
Beredsamkeit auf die Haut wie Ameisenlaufen wirkt.
Wer die Kompagnie vor Gericht gesehen hat, den
kann der Anblick eines Blattes nicht mehr ent-
täuschen, dem farblose Beschränktheit und blutarme
— 11 —
Tücke das geistige Gepräge leihen. Auch den Auf-
lösungsprozeß der jZeit*, der vor dem Handelsgericht
spielte, hat lähmende Langweile begleitet, Langweile
begleitet die ,Zeit' zum AJbgrund. Was aber tut selbst
ein Abgrund, wenn er sich vor einem Blatte wie dem
der Herren Singer und Kanner öfifnet? Er gähnt 1
Une campagne abomlnable.
Unter diesem Titel bringt das ,Echo de Paris'
vom 10. Januar einen vortrefflichen Artikel über die
»campagne de calomnies« gegen die Prinzessin Louise
von Coburg, deren Schauplatz das ,Neue Wiener
Journal' und deren Stratege der Hof- und Polizei-
advokat Dr. Bachrach ist, während der prinzliche
Feldherr sich weit außer Schußlinie hält. Das ,Echo
de Paris' zitiert die jüngste Niederträchtigkeit der
neuen Wiener Journaille gegen die unglückliche Prin-
zessin und fügt hinzu: »Cette Ironie d'un goüt
d^testable a produit une tr^s mauvaise impression sur
le public qui, ^mu par les appels de quelques jour-
naux allemands, et surtout de la ,Packer de Vienne,
recommence ä s'intdresser ä la Situation de la prin-
cesse.« Von den Stimmungsnotizen, die über die Ver-
schlimmerung des Zustandes der Prinzessin in regel-
mäßigen Intervallen in der Wiener Presse auf-
tauchen, heißt es: »On dit que ses articles, repor-
tages et interviews n'dmanent pas de l'initiative
des journaux qui les publient, mais qu'ils sont
inspirds. On nomme l'avocat qui les inspire
et le personnage qui inspire l'avocat«. Es
folgt eine eingehende Schilderung der Machinationen
— 12 —
^egen Louise von Coburg, um auch das französische
Publikum zu der Erkenntnis zu bringen, die allen
anständigen Menschen in Österreich längst feststeht:
»Que les indiscr^tions — die Nachrichten, die an-
geblich aus der Heilanstalt in Coswig stammen, trotz
der Arztespflicht des Schweigens — sont voulues,
c'est ä dire ordonn^es, et que ceux qui les
ordonnent ont un intöröt ä les ordonnerc . . .
Eine drollige Rundfrage in ernster Sache hat das »Deutsche
Volksblatt' veranstaltet. Sämtliche Wiener Theater- und Variet6-
direktoren versichern nach der Brandkatastrophe in Chicago über-
einstimmend, daß in ihrem Haus das Publikum am sicher-
sten sei. Herr Direktor Mahler hebt besonders hervor, daß
das Opemgebäude dem Besucher, >gleichgiltig, ob er Logen-,
Parkett-, Parterre- oder Galleriebesucher ist — breite Zugänge
bietet.« In der Stunde, in der ich dies Gutachten las, erhielt ich
den Brief einer Persönlichkeit, die in öffentlichen Dingen ein ge-
wichtiges Wörtchen zu sprechen hat: »Würden Sie nicht etwa
geneigt sein, aus Anlaß des Theaterbrandes in Chicago die Aus-
gänge des Parketts unserer Hof-Oper zu schildern? Ich bin
überzeugt, daß bei einer aus irgendwelchem Anlasse eintretenden
Panique der allergrößte Teil der Parkettbesucher ums Leben käme.
In dem engen winkligen Gang, in dem man über meh-
rere Stufen hinab und durch eine überaus enge Pforte hindurch
vom Parkett zur Garderobe kommt, würden Menschen zu Hun-
derten erdrückt und zertrampelt! Ich bin überzeugt, daß Sie durch
eine genaue Schilderung dieses Engpasses sich großes Verdienst
erwerben würden« . . . Jeder einzelne Direktor legt den größten
Wert auf die Feststellung, in wieviel Minuten sein Theater erfor-
derlichen Falles geleert sein kann. Da muß man nun wirklich
bedauern, daß die Herren, die in der Prognose so gut überein-
stimmen, ihre Zuschriften nicht kollationiert haben. Sicher wäre dann
manche Behauptung unterblieben, welche jetzt durch die bloße Neben-
einanderstellung der Gutachten als Übertreibung enthüllt wird. Das
Deutsche Volkstheater ist inlVa, das Jubiläumstheater in 3, dasRai-
— 18 —
mundtheater in 4, das Theater in der Josefstadt in 2, dasTTieater an der
Wien- wenn ich nicht irre, das größte -in 1 und das Jantschtheater —
das kleinste — in 5 Minuten zu leeren. Am besten ist Herr
Karezag: >Auf Ihre gefl. Anfrage wage ich ruhig zu behaupten,
daß das Theakr an der Wien eines der sichersten, wenn nicht
das sichersre Theater Wiens bei Feuersgefahr ist.« Es ist gut,
daß der Eindruck dieser Paprika -Schlesinger -Offerte durch
das bescheidene Geständnis gemildert wird, daß das Theater an
der Wien in der Ära Karezag »ohne Gedränge in einer Minute
geleert« ist. Der Aufenthalt auf den Gallerien dieses hundertjährigen
Hauses ist geradezu verlockend: >Die Galleriebesucher kommen
in jedem Stockwerk an Fenstern vorbei, die ins Freie
und auf sichere Plätze führen.« Trotzdem fügt Herr Karezag
noch eine Lehre hinzu: »Wer ruhig bleibt, kommt immer sicher
ins Freie« und spielt den letzten Trumpf der himmlischen Schutz-
vorrichtung aus: >Gott soll uns vor jeder Gefahr bewahren, aber
auch in der Gefahr nicht verzweifeln lassen. Hochachtungsvoll
die Direktion« . . . Auch auf den Gallerien des Carltheaters ist man
so sicher wie bei sich zuhause (wenn's im Bett brennt), und da
ohnedies in den Zwischenakten fortwährend »frisch Wasser !« gerufen
wird, so ist jede Feuersgefahr ausgeschlossen. In dem berühmten
>Colosseum« aber sind sämtliche Bedienstete mit Signalpfeifchen
versehen, und die Artistinnen müssen sich beim Haarbrennen
elektrischer Apparate bedienen... »Alles gerettet!«
Sie aßen so fröhlich beisammen und hatten
einander so lieb, die Advokaten und die Richter. Alle
gegenseitigen Beschwerden schienen sich in ge-
meinsame Magenbeschwerden auflösen zu sollen.
Bei guten Reden floß der Champagner munter fort.
Der Vizepräsident der Advokatenkammer sprach von
Fortschritt und Freiheit, welche die Advokaten immer
hochzuhalten haben, und die anwesenden Richter
: gelobten im Stillen, sich jeder Einmischung in diese
Obliegenheit der Advokaten zu enthalten. Nachdem
hierüber volle Einmütigkeit erzielt war, ließ man dem
192
14 —
Küchenchef mitteilen, es sei Zeit, mit dem Brati
der Hühner zu beginnen, da jetzt der Ministerpräside
das Wort ergreife und Herrn v. Koerber's Tischred(
erfahrungsgemäß etwa die Zeit der Zubereitung ein
Poulards ausfüllen. Der Leiter des Justizministeriur
rief die Tafelgenossen als Zeugen dafür auf, daß
»sich seine eigenen Gedanken mache«, und gab den
zwei zum besten. Der Zweck der Reform des Zivi
Prozesses sei kein anderer, als in ihm den Grundsa
zur Geltung zu bringen, daß ein fetter Prozeß bess
ist als ein magerer Vergleich, — eine Auffassun
durch welche die Advokaten augenblicklich zu A
hängern der Reform bekehrt wurden. Der Grundsa
der Strafjustiz aber laute: »Der schuldige Urheb
einer strafbaren Tat ist entweder der Strafe od
dem Irrenhause zu überantworten!« Herr v. Koerl
erkannte also ausdrücklich an, daß auch künft
Personen, welche als unzurechnungsfähig erkan
werden, nicht mit Gefängnis werden bestraft werc
dürfen, und die Gerichtspsychiater können darüt
beruhigt sein, daß sie wie bisher unentbehrlich s€
werden, um die Irrenhäuser vor Überfüllung
schützen. Blutdurst und Expensenhunger, ward neuli
hier gesagt, würden sich im Sofiensaal zur Ta
setzen; Herr v. Koerber hat die Richter, die an c
Tafel saßen, durch die Erklärung beruhigt,
Schwäche soll das Gerichtsverfahren niemals an^
kränkelt werden«, und die Advokaten durch
Versprechen, daß »ein einmal eingeleiteter (Ziv
Prozeß in der Regel auch nur durch einen Gerieb
Spruch beendet werden sollte« und nicht durch V
gleich. So sind denn die Geister einig geword
Unklar ist nach den Zeitungsberichten über das P
im Sofiensaal bloß, in welchem Kostüme die Teilnehr
erschienen waren: Herr v. Koerber behauptete, i
sei zumute, als ob er von seinem steilen politiscl
Gipfel in eine »tiefer gelegene Almhütte unpolitisc
Menschen« gekommen wäre, und es muß also inmit
- 16 -
H^räcke auch Älplertrachten gegeben haben. Die
ter hatten, wie es scheint, diese Festgewandung
assend gehalten. Eine noch ungewöhnlichere aber
!n die Advokaten gewählt; ihr Sprecher erklärte,
ätten früher den Harnisch getragen, aber »nur
leute den Schlafrock angezogen«. So seitsam war
äußerlich das Bild der Vereinigung von Richtern
Advokaten. o
Aus einem Bericht des »Vorwärts' in Berlin über einen
ssungsprozeß, den dort die Versicherungsgesellschaft »Viktoria«
irt hat: > Direktor Thon von der ,Viktoria' gab an, in dem
ler Witzblatt ,Pschütt' seien unwahre Angaben über
Viktoria' veröffentlicht worden. Die Direktion habe dem
itt' durch Vermittlung eines Wiener Rechtsanwalts nachweisen
daß die Veröffentlichungen bezüglich der .Viktoria' auf
hren Tatsachen beruhen, und gleichzeitig sei die Redaktion
enannten Blattes ersucht worden, weitere derartige Veröffent-
igen zu unterlassen. Aus diesem Anlaß habe die Direktion
dings 14.000 Kronen in Wien deponiert, aber ledigHch
^nwaltshonorar. Über solche Höhe eines Anwalts-
5rars waren Staatsanwalt undRichter sehrerstaunt,
rtor Thon bemerkte jedoch, es sei mit dem Anwalt ausdrücklich
nbart worden, daß Redakteure oder Mitarbeiter des
tes von dem Gelde nichts erhalten dürften, damit
cht den Anschein habe, als wolle die ,Viktoria' das Schweigen
^resse erkaufen.« . , . 14.000 Kronen Anwaltshonorar — die
ler Advokaten werden darüber noch mehr erstaunt sein als
Berliner Gerichtspersonen. Aber wie unwirtschaftlich muß
fiiner Versicherungsgesellschaft gearbeitet werden, die, bloß
len Schein zu wahren, dem Advokaten für seine Bemühungen
das Schweigen eines einzigen Blattes eine Summe auszahlt,
der man, wenn sie zru Preßbestechungen verwendet würde, ein
:s Dutzend solcher Blätter kaufen könnte! Solche Ver-
endung läßt sich nur durch eine satanische Freude an der
eit erklären: zweifellos hat man das Witzblatt von dem
— 16 —
14.000 Kronen-Depot wissen lassen, aber ihm die Vereinbarung i
dem Advolcaten über seine Verwendung verschwiegen. Ist also c
Witzblatt wirklich düpiert worden, und haben journalistis«;
Erpressungsversuche in Wien l^einen andern Erfolg, als den Ad\
katen der angegriffenen Unternehmungen zu einem glänzend
Einkommen zu verhelfen? Die Preßkorruption als Mittel, den Adi
katenstand zu fördern, — diese Kulturmission ist bisher noch nie
gewürdigt worden. Wenn man nur wüßte, wieviel von den 14 000
der Advokat der »Viktoria« unter Barauslagen verrechnet hj
Dronze oder Stahl? Der Streit wütet fort, ab<
die Entscheidung ist gefallen. Wir bekommen Kanone^
röhre aus Bronze. Wohl uns und — der Kunst! »ReÜ
die Kreuze aus der Erden, alle müssen SchwerU
werden!«, hat einst Herwegh gesungen. Möge uri
wenn künftig der Krieg ins Land kommt, ein b'
geisterter Künstler erstehen, der da ruft: Schmel
die Monumente des Zumbusch ein, alle müssen Kanone
sein! Die Geschützprüfungskommission hat Herz fi
die Kunst bewiesen. Wenn sie den Stahl gewäh!
hätte, würden die Denkmäler von Zumbusch ewi
stehen. i '
•
»Hine Frage: Gibt es heutzutage überhauf
noch verkannte Künstler?« Der Musikkritiker de
,Neuen Freien Presse* wirft die Frage auf, weil i
Wien ein Verein unter dem Namen Konrad Ansorge'
— wie vielsagend ist es, daß uns dieser Name s
wenig sagt I — daran geht, lebenden Tonkünstler
Gehör bei einem Publikum zu verschaffen, das fü
die Tonschwingungen der modernen Seele feinhörige
ist als die zünftige Kritik. Und Herr Korngold erteil
sich die Antwort: »Es ist in unserer Zeit schwei
nicht überschätzt zu werden. Die gesteigerte Publi
-17-
Mtät, das geschäftige Interesse an der Kunst und
künstlerischen Fragen, die Suche nach neuen geistigen
>onsationen holt jedes Talentchen aus seinem Winkel.
'iS lebt eine gewisse Angst in der Mitwelt vor dem
ächelnden Vorwurf der Nachwelt.« Wehmütig muß,
ils sein Nachfolger so perorierte, der greise Hanslick
genickt haben: Ja, wir sind weit gekommen, seitdem
iurch die »gesteigerte Publizität« der Glaube an die
Jnfehlbarkeit der ,Neuen Freien Presse' erschüttert
ind die Warnung, die »Talentchen« eines Anton
Brückner und Hugo Wolf nicht zu »überschätzen«,
Qißachtet ward. Aber die ,Neue Freie Presse* darf
ich rühmen, daß sie sich bis zum heutigen Tag treu
\ iieblieben ist, und wenn Herr Korngold versichert,
«ikonrad Ansorge verhalte sich zu Hugo Wolf wie
pheodor Kirchner zu Schumann, will er natürlich
aicht Wolf durch den Vergleich mit Schumann ehren,
ondern bloß Ansorge durch den Vergleich mit Kirchner
llierabsetzen. Nieraals hat die Musikkritik aus der
5I i'ichtegasse in einem »geschäftigen« Interesse für die
jlunst vor der Nachwelt gebangt, und statt des
ji ^chelnden Vorwurfs der Unterschätzung ward höchstens
l\ ler entrüstete der Überschätzung bei einer Nachwelt
fskiert, von der Herr Charles Weinberger, weil er
er Mitwelt nicht Spaß zu machen vermag, sprechen
arf. Andere Zeiten mit anderen Liedern sind ge-
ommen, aber der liberale Stumpfsinn hört immer-
j mit den alten Ohren. Während jedoch Herr Korn-
4old bei Ansorge schüchtern die bewährte Methode
if'Btätigt, beweist der unentwegte Kalbeck den Mut,
i|e heute noch bei Hugo Wolf anzuwenden. Es ist
^ lerrn Kalbeck's Ehrgeiz, zu zeigen, daß er von Beruf
! t, was er durch Berufung nicht werden konnte,
^cianslick's wahrer Nachfolger, und wenn sich jüngere
fsf'unstfeinde mit dem Starrsinn musikalischer Gewohn-
. ^itstiere gegen neue Kunsteindrücke wehren, gibt
-■ sich mit der neuesten Kunst nicht erst ab und wehrt
!f« ch immer noch mit dem alten Haß gegen Künstler,
18
die dem Leben entrückt sind, baut ihnen aus dem
alten Unflat, mit dem er sie zeitlebens beworfen,
Grabdenkmäler. Im neuen Jahre Ansorge zu verkennen,
hat der Mann wahrhaftig nicht nötig, der das alte
Jahr mit der Verunglimpfung Hugo Wolfs beendigt
hat. Wolfs »Elfenlied« und »Peuerreiter« sind ihm
»dankbare pittoreske Tonstücke von nicht gerade tiefem
Gehalt«. Von der »Christnacht« erklärter: »Chor und
Orchester verrät eine fast bemitleidenswerte Dürftigkeit
des Gefühles und den bittersten Mangel an edler
musikalischer Kunst.« Wolf habe das Gedicht »mit
den bunten kreidigen Farben seines Chors und dem
falschen Flittergolde seines Orchesters übertüncht und
beklebt, dergestalt, daß es ein fast barbarisches Aus-
sehen gewonnen hat«; es ist ein »ewiges Glitzern und
Gleißen der Instrumente«, das die »gequälten oder
trivialen Melodien der Singstimmen« begleitet. Herrn
Kalbeck's endgiltiges Urteil über Hugo Wolf aber
lautet: »Wo es sich darum handelt, den Musiker
von Erfindung, Gemüt und Seele zu zeigen, ist Hugo
Wolf nur ausnahmsweise einmal zu sprechen«. Man
könnte zweifeln, ob kritische Äußerungen wie diese
für Bösartigkeit der Gesinnung oder für Borniertheit
des musikalischen Sinns zeugen, und man sollte dabei
erwägen, daß Dummheit meist verdirbt, aber Ver-
derbtheit selten dumm macht. Ist indes die Beschränkt-
heit eines Kritikers minder gefährlich als Beckmesser-
Bosheit? Nirgends ist die Kultur mehr bedroht, als
wo der Ohnmacht, zu verstehen, die Macht verliehen
ist. Und es handelt sich nicht um Herrn Kalbeck's
Persönlichkeit, wenn Hugo Wolf geschmäht wird und
wenn wir — im selben Feuilleton des ,Neuen
Wiener Tagblatt', in dem solches geschah — lesen,
daß nur der Schwung des philharmonischen Orchesters
unter Nikisch' Führung die Zuhörer über das »chro-
matische Elend« der Faust-Ouvertüre Wagner's habe
hinwegreißen können. Unerträglicher als Herr Kalbeck
ist die gemeine Stupidität eines Publikums, das sich
19 —
auch heute noch nicht über ihn empört, so wie es
sich nicht empört hat, als er im März 1899 von
Bruckner's a dur Symphonie schrieb, sie unterscheide
sich von den anderen Symphonien des Komponisten
»höchstens durch die größere Schwäche ihrer Erfindung«,
und als er den größten Symphoniker nach Beethoven
mit den Worten brandmarkte : »Impotenz des Römlings,
dessen geistiger Horizont ewig von Weihrauchwolken
umnebelt war.« a.
Von dem Herausgeber des Weininger'schen Nachlasses
erhalte ich die folgende Zuschrift:
Sehr geehrter Herr!
Ich bitte Sie, folgende Zeilen, welche auf die in der , Fackel'
vom 23. Dezember enthaltenen Bemerkungen über die Weininger-
Biographie Bezug nehmen, freundlichst veröffentlichen zu wollen;
Ad 1.) und 2.): Ich bin zu wiederholtenmalen Augenzeuge
der in der Biographie erwähnten Szenen gewesen.
Ad 3.): Die Darstellung seines Gesundheitszustandes ist
wiederholten eigenen Aussagen des Verstorbenen entnommen.
Hochachtungsvoll
Wien, den 31. Dezember. Moriz Rappaport.
Der Vater Otto Weininger's, dem ich diese Zuschrift vorwies,
bedauert die Nötigung, neuerlich in dieser schmerzlichen Sache das
Wort zu ergreifen, und beklagt die Hartnäckigkeit, mit der der
Biograph seines Sohnes »jedes harmlose Bläschen, das sich auf der
Persönlichkeit des Verstorbenen zeigt, zu einem Abszeß schlimmer
Art umzugestalten« sucht. Er verwahrt sich gegen einen pietät-
vollen Freundeseifer, der durch Aufpürschung abnormaler Züge
den Verkleinerern des Lebenswerkes Otto Weininger's zuhilfe eilt,
und ersucht noch besonders, die aufgebauschte Wiedergabe der »drei
Möglichkeiten«, die es für seinen Sohn nach dessen angeblichem
Bekenntnis gegeben haben soll (Galgen, Selbstmord, glanzvolle
Zukunft — siehe Vorrede S. XIX), auf ein »Kaffeehausgespräch in
vielleicht visionärem Scherz* zu reduzieren, das »den starren ernsten
— 20 —
Ton, den der Herr Biograph dabei anschlägt, in keiner \
rechtfertigt«. Der Behauptung aber, Otto Weininger sei Epilep
gewesen — einer Behauptung, die gewiß nichts Ehrenrührig«
sich schließe und die geistige Bedeutung des Verstorbenen
im geringsten zu schmälern geeignet erscheine — , hätte er
wohl gehütet zu widersprechen, wenn auch nur der gerii
Anhaltspunkt vorläge, sie für glaubwürdig zu halten. Da
wiederholt wird, bleibe ihm nichts übrig, als der Erklärung
Herrn Biographen das Zeugnis des Arztes entgegenzustellen:
5./1. 1904.
Gefertigter bestätigt, daß er als langjähriger Hausarzt
Familie Weininger mehrfach mit dem am 4. Oktober v. J.
storbenen Dr. Otto Weininger verkehrt, diesen auch mehr
ärztlich behandelt hat, aber niemals an ihm auch nur
geringsten Symptome von Epilepsie, auch nicht ein sogenar
psychisches Äquivalent, d. h. eine Seelenstörung, die bei man«
Kranken an Stelle von epileptischen Anfällen auftritt, bemerkt
Gefertigter ist auch der vollsten Überzeugung, daß
Verstorbene kein Epileptiker war.
VII. Westbahnstraße 37. Dr. J. Engel m. p.
Ein Clownscherz nach den traurigen Erörterungen, die
der voranstehenden Erklärung hoffentlich abgeschlossen sind;
gibt kaum ein reichsdeutsches Blatt, das nicht dem im Feuerb
seines Geistes getöteten Schöpfer von >Geschlecht und Chara-
— dem übrigens bald in dritter Auflage erscheinenden Werke,
ernste Betrachtung gewidmet hätte, und draußen ist um die Ja!
wende kaum eine Revue der »berühmten Verstorbenen« von ]
erschienen, in der nicht des Dreiundzwanzigjährigen auf ehren\
Art gedacht worden wäre. In der Totenschau der im Geburts
des Philosophen erscheinenden ,Neuen Freien Presse', die kt
verewigten Reporter oder Librettisten unerwähnt läßt, ist der N
Otto Weininger fürsorglich ausgemerzt. Kann man sich Grotesk
als diesen Eifer vorstellen? Nun glauben diese größenwahnsinni
Schwachköpfe bereits, daß sie — lebendigschweigen könr
Und das können sie schon gar nicht!
— 21 —
Die »Scharfrichter« sind dahin, und man kann, ohne
Aten zu müssen, Philistern aus der Seele zu sprechen, ge-
oekennen, daß es nicht gerade sensationell war. Von dem
isenpaar, das hier schon Peter Altenberg gewürdigt hat, ab-
n, steht die Gesamtleistung unter dem Niveau der Überbrettelei
Jradsky und Straus, die ihrerzeit ein Mitarbeiter der ,Fackel'
ein Gefühl zu unsanft behandelt hat. Die Humore eines auf
labende vergröberten Udelquartetts sind nicht der Comble
abaretkunst, und es ist unbegreiflich, wie sich modern dün-
Künstler die alte Anekdote von der Notdurft des Betrun-
der den Wasserstrahl eines Springbrunnens nicht hemmen
- die bekannte Verwertung des »Mäneken piß<-Motivs — , wie
; Abdominalspässe der »Verschönerungskommission« zum
geben können. — Da dies ausgesprochen ist, kann mit umso
em Nachdruck gegen die Frechheit der Wiener Künst-
eln protestiert werden, die dem Publikum auch das wirklich
.n den Darbietungen der »Elf Scharfrichter« verleidet haben.
Wedekind, dessen »Rabbi Esra« offenbar nur durch eine
ilige Darstellung um seine Wirkung gebracht wurde, haben
{urschen behandelt, als ob er mit Herrn Buchbinder die
ne gehütet hätte. Hätte Wedekind's Dialog auch an und
1 enttäuschen müssen, so bliebe doch die Respektlosigkeit,
r dabei von dem faszinierendsten Dramatiker Deutschlands
:hen wurde, denkwürdig. Was soll man dazu sagen, wenn
mtagshumorist der ,Neuen Freien Presse' einem Wedekind
3er von einem >Tiefpunkt snobistischer Humorlosigkeit«
Oder wenn derselbe Knabe zugibt, in einem Programm,
'»mpositionen von Gedichten Liliencron's und Dehmel's
, habe »bei diesem und jenem Lied auch der Text
gerade störend gewirkt«? Sollte es wirklich einmal
Errichtung journalistischer Schulen Ernst werden, so muß
tschieden für die Einführung der Prügelstrafe plaidieren.
.-ih
Mer jGaulois' hatte kürzlich die »Vernach-
mg« von Heine's Grab auf dem Montmartre
t. Die , Frankfurter Zeitung' stellt nun
— 22 —
fest, daß der Blumenschmuck des Grabes regelmäßi]
erneuert und gepflegt wird, fügt aber hinzu: >Da:
das Grab selbst heute nicht mehr den rührende]
Eindruck hervorbringt wie früher, — eine von viele:
Besuchern mit Bedauern empfundene Tatsache — is
die Schuld der Wiener , Liberalen', die unter Pührunj
ihres Herrn Noske eines Tages Heinrich Heine au
politischen Gründen für sich entdecken zu müssei
glaubten und über das wehrlose schmale Dichtergra'
das protzige Marmordenkraal stürzten, mit dem de
Bildhauer Herr Hasselriis durch halb Europa, von
Achilleion bis Paris, lange vergeblich hausiere]
gegangen war.«
« •
tlerr Dr. Lueger wird jetzt gefrozzelt, weil e
das von Herrn Zifferer's Schwiegersohn erbaute »Hauj
der Kaufmannschaft« wegen seines »weanerischej
Schan« lobte und sich unter den Festgästen des g^
adelten Herrn Pollack gütlich tat. Vor zwei Jahren noQ
habe der christlichsoziale Führer in einer Interpellatio
jene liberalen Persönlichkeiten beschimpft, die Geld^
für den Landtags wahlfonds sammelten, um »durcj
Stimmenkauf in Masse und großartige Bestechung^
die Wahl von solchen Individuen zu ermögliche
welche die Interessen des jüdischen Großkapitä
vertreten«. Die Regierung ward damals aufmerksa
gemacht, daß es sich »um Aufbringung ganz außei
ordentlicher Geldmittel handeln müsse«. Und unter d«
Angegriffenen habe sich Herr Leopold Pollack b
funden . . . Wo die Inkonsequenz des Herrn Dr. Lueg
liegen soll, ist nicht einzusehen. Jetzt, da Herr Polla^
geadelt wurde, meldet sich der Bürgermeister wied
zum Wort, weil es sich eben neuerdings »u
die Aufbringung ganz außerordentlicher Geldmitf
gehandelt haben muß« . . .
I Leopold Pollack
— 28 —
Regierungskassabuch.
(Dezember 1903)
Biedermann-Turonyi
Ritt, von
Baron
160.000 Kr. (Rabatt!)
500.000 Kr.
ANTWORTEN DES HERAUSGEBERS.
- Gewerbeinspektor. Am 19. Dezember erhielt ich das folgende
treiben: >Heute Höteldirektor, kann ich Ihnen nur aus vollem Herzen
Sflr den in Nr. 149 der »Fackel' gebrachten Artikel .Kellnerjungen'
)! lanken. Auch ich war einmal Kellnerjunge. Und wenn ich heute als
ierzigjähriger Mann einem fünfzigjährigen ähnlich sehe, so ist dies
/ohl auf die Überanstrengung und die Mißhandlungen meiner Jugend-
ihre zurückzuführen. Sie können in dieser Sache nicht scharf genug
;eißeln!< Ja, wenn's nur jeder Piccolo bis zum Hoteldirektor brächte!
iber manche gehen, aus Furcht vor ausbeutenden Wirten und befrackten
/lißhandlungsgehilfen, vorzeitig in die Donau.
Theaterfreund. Es ist zu dumm ! Weil jetzt endlich in den Ber-
iner Theatern Sicherheitsmaßregeln getroffen wurden, die seit dem
^ingtheaterbrand allen Theatern in Österreich vorgeschrieben sind,
amentiert Herr Paul Lindau: »Alles um uns her gemahnt uns mit
irutal eindringlicher Fürsorge an die Lebensgefährlichkeit unserer harm-
osen Theaterfreude«. Und für den Nachweis, daß die Sicherheitsvor-
i:ehrungen der Wiener Theater den Berlinern, wenn sie bei ihnen ein-
jeführt werden, alle Theaterlust vergällen und beständige Todesangst
iinjagen müssen, hat sich Herr Lindau den Feuilletonraum der —
Neuen Freien Presse' ausgesucht. »Von allen diesen Sicherheitsvor-
:ehrungen<, erzählt er, (,N. Fr. Presse', 12. Januar), »habe ich den
;isernen Vorhang am meisten auf dem Strich« ; unerträglicher als aller
Jnfug, den man bisher im Theater habe ertragen müssen, sei »das
etzt behördlich angeordnete Herablassen des eisernen Vorhangs in den
'ausen*. Schrecklich, dieses »eiserne Ungetüm von vollendeter Scheuß-
ichkeit«: »Ping-pang! Ping-pang! Mit rasselndem Oestöhne wird das
:iserne Untier auf das Podium herabgewunden. Nur nicht ängstlich !
Die brave Feuerwehr ist da 1 . . . Daran hatten wir in dem Momente
mch gerade gedacht«. Zweiundzwanzig Jahre lang haben wir Wiener
jisher nach jedem Aktschluß die Courtine sinken gesehen, ohne daß
lie Augen durch ihre Scheußlichkeit und die Ohren durch ein rasselndes
Oestöhne beleidigt wurden. Aber nach dem Brand in Chicago bat die
Neue Freie Presse' Herrn Paul Lindau, uns die Erkenntnis beizubringen,
laß durch das Herablassen der Courtine nicht die Berliner Theater-
besucher beruhigt, sondern die Wiener künftig beunruhigt werden
nüssen. Es ist zu dumm 1
Dramatiker. Es ist bei dem kargen Raum, der meiner publi-
nstischen Tätigkeit gegönnt ist, und bei dem überreichen Stoff, den ich
lewältigen soll, ganz ausgeschlossen, daß ich mich, von grundsätzlichen
-24 -
Erörterungen abgesehen, auch noch in jedem einzelnen Palle jedes ver-
kannten Talentes annehme. Wenn Ihre »Erlebnisse in Wiener Theater-
und literarischen Kreisen« krasser und t)rpischer Art sind, so ersuche
ich um kurzgefaßte schriftliche Mitteilung.
Kulturmensch. Zu einer Polemik des Professors Forel gegen den
Hygieniker Hueppe druckt die .Arbeiter- Zeitung' einen Brief des
Psychiaters ab, in welchem er erzählt, daß er das JVlanuskript seines
Aufsatzes vor einigen Monaten der .Zeit' übersendet habe. Es wurde
dort nicht gedruckt, der Autor aber, dem man zuerst überhaupt nicht
antwortete, in der schamlosesten Weise hingehalten. Schließlich hieß es,
das Manuskript sei verloren. >Es ist merkwürdige, schließt Forel, >daß
die gleiche ,Zeit' und manche andere ähnliche Blätter mich wiederholt
und dringend um Aufsätze bitten, wenn es ihnen gerade in den Kram
paßt, solche jedoch zunächst nicht beantworten und dann verlieren, wenn
es ihnen nicht in den Kram paßt. Ich habe das schon mehrfach erlebt
und werde immer vorsichtiger. Die .Zeit' telegraphierte mir sogar
um einen Aufsatz über die Prinzessin von Sachsen. Ich
refusierte denselben selbstverständlich, da ein Arzt über
seine Kranken nicht schwätzt. Es ist aber bezeichnend: Das
Manuskript eines solclttfh Aufsatzes wäre sicher nicht ,verloren' gegangen.
Sapienti sat. «... Nicht jeder Gelehrte hält so rein, j
Literat. Nein, > Zapfenstreich« ist keine Dramatisierung der
Bilse'schen Sensation und hat mit dieser nicht das mindeste zu schaffen.
Wenn die Direktion des Deutschen Volkstheaters trotzdem eine Notiz
an die Blätter versendet, in der es heißt : > Das am Samstag dem 1 6. d.
zur ersten Aufführung gelangende militärische Drama ,Zapfenstreich'
von Franz Adam Beyerlein spielt in einer kleinen deutschen
Garnison an der französischen Grenze«, so erwächst aus
solcher Methode bloß die bittere Erkenntnis, daß heutzutage die Literatur
an der Popularität des Schunds schmarotzen muß.
Feuerwehrmann. >Das Feuer entstand durch die Funken eines
platzenden Leitungsdrahtes« . . . >Über den Ausbruch des Feuers
herrscht noch keine Einstimmigkeit. Unbedingt feststehend ist,
daß entzündliche Dekorationsstücke irgendwoher einen
Funken empfingen«... >Fast alle Stimmen erklären, es lag das
uralte Vergehen vor, entzündliches Material den Einflüssen von
Feuer auszusetzen« . . . >Das Blitzlicht, das für den Mondschein
mit Hilfe von Calcium erzeugt wurde...« ...»Nicht ein einziger
atmete noch, als man die zerschmetterten Leiber auflas«...
»Ein Uraht hielt den Vorhang in Zweidrittel der Höhe auf; er
wurde zum Todesengel«... In Chicago brennt's, und der Wiener
Blätterwald steht in hellsten Geistesflammen.
Berichtigung.
In einem Teile der Auflage von Nr. 151 (S. 23, 5. Zeile
von oben) sind die Stegreifverse aus der »Schönen Helena«, welche
die Klytämnestra spricht, irrtümlich der »Frau des Menelaus« in
den Mund gelegt. Es soll auch dort richtig heißen: Frau de»
Agamemnon.
Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: Karl Kraus.
Druck von lahoda & Sieeel. Wien. III. Hintere ZolUmtsttraSe 3,
I
153 Erschienen am 27 Jänner 1904 V. Jihr
ie Fackel
Herausgeber :
KARL KRAUS.
Erscheint drei- oder zweimal im Monat.
Preis der einzelnen Nummer 24 b.
'hdruck and gewerbsmäßiges Verleihen verboten;
gerichtliche Verfolgung
vorbehalten.
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Die Fackel
erscheint drei- oder zweimal im Monat im Umfange von
16-32 Seiten. Einzelne Nummern sind in allen Tabak-
trafiken und Buchhandlungen erhaltlich.
BBZUGS-BKDINGUNGEN:
•i
a) bei Abonnements, die direkt bei der Administration
der ,FackcI', Wien, IV. Schwindgasse 3 erfolgen:
für Oesterreich-Ungarn, 36 Nummern, portofrei . . K 7.—
» » 18 » > . . » 3.60
» das Deutsche Reich, 36 > > . , M.7.—
18 * » . . > 3.60
> die Länder d. Weltpostver., 36 Nummern, portofrei M. 8.20
»>»> » 18» >> 4.10
bj bei Abonnements, die durch Buchhandlungen, Zei-
tungsbureaux und Postämter erfolgen:
für Oesterreich-Ungarn, 36 Nummern, portofrei
» » 18 » »
» das Deutsche Reich, 36 > »
» > » » 18 > >
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5.20
Die Fackel
Nr 153 WIEN, 27. JÄNNER 1904 V. JAHR
Die Briefe der Prinzessin von Coburg.
Wenn dieses Heft der ,FackeP erscheint, wird eben
ein Justizskandal beendet sein, dessen Ausgang ich,
weil meine Geduld geringer ist als meine Erbitterung,
nicht abwarten konnte. Ich weiß also, da ich diese
Zeilen niederschreibe, noch nicht, ob der Zivilrichter,
der über den Anspruch des Besitzers der Briefe
Louisens von Coburg gegen deren treulosen Verwahrer
|izu entscheiden hat, wenigstens in der zweiten Ver-
indlung stark genug war, die Abtretung des Aktes
die Staatsanwaltschaft zu beschließen und vor
''erkündung dieses Beschlusses noch den zudringlichen
|,>Nebenintervenienten«, der die Briefe für eine völlig
iLunbeteiligte Person, für den Gatten, ergattern wollte,
aus dem Saale zu weisen. Ein widerlicheres Schauspiel
als die erste Verhandlung dieser Streitsache ist uns
|lange nicht geboten worden, und mit größerer Selbst-
lyerständlichkeit ward noch selten am hellichten Tag
Jer Versuch gemacht, das Gesetz zu Gunsten der über
lem Gesetze Stehenden umzumauscheln. Herr Geza
lattasich hat von der Prinzessin Louise von Coburg
Iriefe und Photographien erhalten. Sie füllen zwei
lartons, welche er, da er von Wien abreisen muß,
jinem Menschen namens Barber, der sein Advokat
fat, anvertraut. Ein Hallstätter Cretin, der Jus studiert
jat, könnte nicht leugnen, daß M. der Besitzer der
Briefe ist und das Recht hat, sie zu jeder beliebigen
5©it von dem Verwahrer zurückzufordern. Dem Emp-
fänger gteht der Sachbesitz des empfangenen Brief-
2 -
papiers zu, der Schreiberin das Autorrecht an dem
Inhalt der Briefe. Andere Rechtsmöglichkeiten gibt
es da nicht. Wird das Autorrecht an den Briefen verletzt,
veröffentlicht der Empfänger sie gegen den Willen der
Prinzessin, so ist es ihr oder ihrem Kurator gestattet, den
strafrechtlichen Weg zu betreten. Einen Präventiv-
schutz gegen jene Möglichkeit gibt es nicht. Nie aber
könnte ihn der Vertreter des Prinzen von Coburg, als
der der unvermeidliche Bachrach in die Verhandlung
hineinschneite, ansprechen. Daß er dem Besitzer der
Briefe eine mißbräuchliche Verwendung zumutete, ist
eine Insulte, deren Abwehr Privatsache des Herrn
Mattasich ist. Öffentliche Zurückweisung erheischt die
Beleidigung, die dem gesunden Menschenverstand
zugefügt wird, wenn d%r Vertreter des Prinzen von
Coburg seine »Nebenintervention« mit der Verpflichtung
begründet, den Richter darauf aufmerksam zu machen,
daß »Briefe ehebrecherischen Inhalts nicht Verkehrs-
gegenstand sein dürfen«. Nun geht zwar der Inhalt
dieser Briefe den Herrn Bachrach so wenig an wie
die Tatsache, »daß die Prinzessin während ihrer Ehe
in einer Weise mit dem Kläger verkehrte, die leider
Gottes weltbekannt ist« ; aber diese Sätze durften
gesprochen werden, ohne daß der Richter ein Wort dej
Rüge für den Beleidiger einer wehrlosen Frau fand!
Ehebruch ist ein Antragsdelikt; nach Herrn BachracB
ist aber das Schreiben zärtlicher Briefe an eine vonl
Gatten verschiedene männliche Person »verboten^
Nach Ansicht anderer Juristen bliebe es selbst nac^
Publikation der Briefe, deren Inhalt heute niemand
außer der Absenderin und dem Empfänger kennen
darf, strittig, ob der Gatte auch nur wegen Ehren-
beleidigung klagen könnte. Aber Herr Bachrach ist
Hof- und Polizeiadvokat, und im Bewußtsein die-^er
Machtstellung durfte er es wagen, die mangeli e
Befugnis durch Mittel der Einschüchterung wettzu-
machen und auszurufen: »Das fehlte uns noch, daß
selbst der Richter seine Hand dazu gebe, daß solche
— 3 —
Briefe bekannt werden können 1«... Fühlt sich der
Disziplinarrat der Advokatenkamraer noch berufen,
Standes^enossen wegen Standesvergehungen zu strafen,
oder betrachtet er sich schon ausschließHch als Keusch-
heitskommission? Er hat neuHch toller Weise einen
Advokaten verurteilt, der — unentgeltlich — das
literarische Programm der »Herrenabende« eines
Artistenvereines bereichert hatte. Warum werden
nicht Advokaten diszipliniert, die schweinische Anek-
doten erzählen? Würden die Standesrichter, die den
gewiß nicht erquicklichen Herrn bestraften, sich's
verübeln, wenn sie einem jener »Herrenabende« bei-
gewohnt und über seine Darbietungen gelacht hätten?
Welch drolliges Quiproquol Die Herrschaften haben
einmal gehört, es sei ihre Pflicht, den »unanständigen
Advokaten« auf die Finger zu sehen, und jetzt glauben
sie, es handle sich um solche Kollegen, deren Tonart
für junge Mädchen nicht paßt... Oder sieht der
Disziplinarsenat die Standeswidrigkeit jener Zoten-
heferung etwa darin, daß sie unentgeltlich
geschah ? . . . Wenn er endlich wieder zeigen will, was
in Wahrheit seines Amtes ist, wird er sich für den
Prozeß um die Coburg-Briefe interessieren, wird er
die Figur des »Verwahrers« und die RoUF jenes ge-
schäftigen Männchens besehen müssen, das seit Jahren
so üppig von der Unzurechnungsfähigkeit einer Prin-
zessin lebt.
«
Ein Kollege der Herren Bachrach und Barber
— viele haben sich zum Wort in der , Fackel' ge-
meldet — sendet mir die folgenden Ausführungen:
Ich bin Rechtsanwalt, aber doch nicht Jurist
genug, um die klare Rechtslage in dem Prozeß um
die Herausgabe der Briefe der Prinzessin Coburg
mißverstehen zu können. Mich interessiert lediglich
die zivilrechtliche Seite des Falles, der nicht nur
mein natürliches Rechtsgefühl, das ich mir dummer
Weise noch erhalten habe, aufwühlte, sondern auch
mein geringes Vertrauen in meine Gesetzkenntnisse
in bedenkliches Wanken brachte, da ich las, daß drei
Kollegen — pardon, zwei Kollegen und ein Re-
gierungsrat — mit der Pose juristischer Überzeugung
dafür eintreten, daß der Dr. Barber die ihm über-
gebenen, ich sage gar nicht anvertrauten, Briefe seinem
Freunde, ich sage nicht Klienten, Mattasich auf dessen
Verlangen nicht ausfolgen mußte. Da Dr. Barber
ein ihm von Mattasich »anvertrautes Gut« diesem
vorenthielt, so könnte man auf den ersten Blick
glauben, daß hier — nach § 183 St.-G. — eine Ver-
untreuung vorliege, für welche sich der Staatsanwalt
interessieren könnte. Diese naive Rechtsanschauung
wäre vielleicht zutreffend, wenn es sich um ein
Dutzend Silberlöffel, die Herr Dr. Barber nicht
herausgibt, handelte; oder um eine 2D0 K- Rente.
Da aber die nicht einmal als Makulatur verwertbaren
Briefe einer Prinzessin in Frage stehen, welche so
wertlos sind, daß sich für sie das Obersthofraeisteramt
interessiert und der Präsident der Wiener Advokaten-
.kammer zu ihrer Wiedergewinnung die Hand bietet,
so kann man nicht einmal zur Überzeugung gelangen,
daß hier auch nur ein Verwahrungsvertrag von Herrn
Dr. Barbe# gebrochen wurde — dann würde ja die
Sache gerade so erledigt, wie wenn es sich um die
Briefe des Frl. X oder Y handelte — , sondern
muß vielmehr annehmen, daß hier einer jener ver-
zwickten Fälle des praktischen Lebens unter der
glorreichen Intervention des Dr. Bachrach geboren
wurde, für welche das Gesetz nichts vorgesehen
hat oder bei deren Lösung es unbequem wird.
Was also zwischen Dr. Barber und Mattasich
sich ereignete, ist ein contractum sui generis. Da
Dr. Bachrach seine Hand im Spiele hat, bedarf es
hiefür keines weiteren Beweises. Denn seit er mit dieser
unglückseligen Causa beschäftigt ist, scheinen die
Bestimmungen des allgemeinen bürgerlichen Gesetz-
buches: »Wenn jemand eine fremde Sache in seine
Obsorge übernimmt, so entsteht ein Verwahrungsvertrag
(§ 957); der Verwahrer muß dem Hinterleger auf
Verlangen die Sache. . .zurückstellen (§ 962)«, gänzlich
außer Kraft gesetzt, aus dem einfachen Grunde, weil
sie wirklich recht unangenehm sind. Dagegen wurde,
um den Abstrich am Gesetze wett zu machen, dieses
für den vorliegenden Fall in genialer Weise fortgebildet.
Dr. Barber rechtfertigt nämlich seine Untreue
durch den Hinweis auf § 1425 A. B. G.-B, der da sas-t:
»Kann eine Schuld aus dem Grunde, weil der Gläu-
biger unbekannt, abwesend, oder mit dem Angebotenen
unzufrieden ist, oder aus anderen wichtigen
Grü n d en nicht bezahlt werden, so steht dem Schuldner
bevor, die abzutrsigende Sache bei dem Gerichte zu;
hinterlegen.« Ja, ist es denn schon ein genügend
wichtiger Grund, die Interessen des Freundes, Klienten
und Hinterlegers preiszugeben, daß Herr Dr. Bachrach
ganz nebulose Eigentumsansprüche erhebt, trotzdem
der § 323 A.B. G.-B. sagt: »Der Besitzer (und das war
Mattasich zweifellos) einer Sache hat die rechtliche
Vermutung eines giltigen Titels für sich; er kann
also zur Angabe desselben nicht aufgefordert werden«, ,
trotzdem §324 anordnet: »Diese Aufforderung findet
auch dann noch nicht statt, wenn jemand behauptet,
daß der Besitz seines Gegners mit anderen rechtlichen
Vermutungen, z. B. mit der Freiheit des Eigentums,
sich nicht vereinbaren lasse. In solchen Fällen muß
der behauptende Gegner vor dem ordentlichen Richter
klagen und sein vermeintliches stärkeres Recht
dartun. Im Zweifel gebührt dem Besitzer der Vorzug«,
trotzdem § 348 bestimmt: »Wenn der bloße Inhaberin
Barber war mehr, nämlich Verwahrer, hatte daher stren-
gere Pflichten) von mehreren Besitzwerbern zugleich um
die Übergabe der Sache angegangen wird und sich
Einer darunter befindet, in dessen Namen die Sache
aufbewahrt wurde, so wird sie vorzüglich diesem
übergeben und die Übergabe den Übrigen bekannt
gemacht« 1 ? — Dr. Barber durfte daher, wenn er sich
— 6 —
nicht eines schweren Standesvergehens schuldig
machen wollte, den Gegnern seines Klienten nicht
schon die Vollstreckung eines Urteils sichern, dessen
Fällung diese noch gar nicht verlangt hatten. Denn
wie läßt sich dieses Vorgehen mit § 12 der Advokaten-
ordnung vereinbaren, welcher vorschreibt: »Wenn die
Vertretung aufgehört hat, ist der Advokat verpflichtet,
der Partei über Verlangen die ihr gehörigen Urkunden
und Akten im Originale auszuhändigen,«? Was sagt
der Disziplinarsenat der Advokatenkammer zu einer
Auffassung der Anwaltspflichten, welche den Gegnern
des Mandanten Schergendienste leistet?
Aber all dies wird noch durch die bornierten
Rechtsausführungen des Dr. Bachrach weitaus über-
boten. Er ist ein Pfadfinder auf dem Gebiete des
zivilen Blödsinns, denn er behauptet nach dem Be-
richte der ,Neuen Freien Presse^, daß ein Verwahrungs-
vertrag nicht zustande kommen konnte, weil es an
dem Eigentumsrechte der Briefe fehle. Abgesehen
davon, daß es trotz Bachrach unter Juristen unbe-
stritten ist, daß der Empfänger eines Briefes durch
Übergabe seitens der Post das Eigentum an dem
Briefe, noch deutlicher an dem Briefpapiere erwirbt,
gehört es wohl zu den scharfsinnigsten juristischen
Kombinationen, einfach zu sagen, weil möglicherweise
ein Mißbrauch des geistigen Eigentums eintreten
könnte, bestehe überhaupt kein materielles. Oder
einfacher, weil eventuell ein Bauer sein Haus anzünden
könnte, kann er expropriiert werden. Wie würde sich,
um auf die Voraussetzungen des Verwahrungsvertrages
zurückzukommen, Herr Dr. Bachrach verhalten, wenn
er einen bloß entliehenen Regenschirm in einer
Garderobe abgab und der Garderobier ihm die Rück-
stellung verweigerte, weil Herr Dr. Bachrach nicht
Eigentümer ist? FreiUch, — Briefe einer Prinzessin!
— 7 —
In das ,Neue Wiener Tagblatt' vom 16. Jänner
ist durch das Versehen eines Redakteurs die folgende
Notiz geraten:
>(Prinzessin Luise von Coburg.) Aus Dresden, 15. d., wird
uns telegraphiert: Prinzessin Luise von Coburg erscliien gestern
Abends mit dem Geheimrat Pierson, dem Leiter der Heilanstalt
Coswig, in einem Konzert. Die Prinzessin sah überaus frisch und
gesund aus und wurde lebhaft begrüßt. Sie unterhielt sich mit
verschiedenen Aristokraten. Von einer geistigen Umnachtung war
nichts zu bemerken.«
Und wieder ist ein Hofseparatzug des Herzens
abgegangen, und wieder rufen die Kondukteure einer
klatschsüchtigen Öffentlichkeit jede seiner Stationen
aus. Ob der Erzherzog Ferdinand Karl das »Professors-
töchterlein« heiraten wird, darüber zerbrechen sich
mit den beteiligten Verwandten auch die Wiener
Chefredakteure die Köpfe, vor der Wohnungstür eines
schlichten Familienvaters kampieren Reporter, und
wenn uns die Häuslichkeit der Erwählten in klärchen-
haften Zügen geschildert wird, so mag man nur be-
dauern, daß ein kaiserlicher Prinz den Buben, die
seine Braut in der Leute Mund gebracht haben,
nicht versprechen kann, ihnen einmal spanisch
zu kommen . . . Der Kaiser hat noch nicht zuge-
stimmt, aber Herr Lippowitz ist dafür. Und er
sendet dem hocherfreuten Schwiegervater einen
Interviewer. Die Unterredung ist denkwürdig. Der
Hofrat »fügt sich in sein Geschick« und »empfängt
die vielen Besucher, die jetzt erscheinen, mit der ihm
eigenen liebenswürdigen Höflichkeit«. »Sie werden
mir nicht zumuten, daß ich mich über die ganze
Sache derzeit irgendwie äußere.« Nichts sei ihm pein-
licher, als wenn er seinen Namen in der Zeitung lesen
müsse. »Ich muß mich entschieden dagegen verwahren,
bestimmte Auskünfte zu geben. Man muß in seinen
— 8 —
Äußerungen vorsichtig sein . . . Ich kann keine Aus-
kunft geben, ich werde auch nichts dementieren und
all das ruhig hinnehmen, was in dieser Sache ge-
schrieben wird.« Darauf habe sich der Interviewer,
»von dem liebenswürdigen Professor bis an die
Wohnungstür geleitet«, empfohlen. Auch das ist ein
Interview. Würdiger wäre ein Verhalten des Professors
gewesen, das dem ,Neuen Wiener Journal' ermöglicht
hätte, am nächsten Tage zu schreiben: »Gestern hatte
einer unserer Redakteure Gelegenheit, von dem Vater
des Mädchens, dem schlichten Manne der Wissen-
schaft, über die Treppen hinuntergeworfen zu werden«.
Der Herr Hofrat muß bereits seine Unerfahrenheit in
diesen Dingen bereuen. Vor Herrn Lippowitz hatte
dessen publizistischer Schüler, Herr Kanner, ihm einen
Bedränger gesendet, und der arme Mann mußte
hinterdrein sich dagegen verwahren, daß er die ihm
von der ,Zeit' in den Mund gelegten Worte gebraucht
habe: er habe es »für eine Höflichkeitspflicht er-
achtet, den Redakteur des genannten Blattes zu
empfangen, aber wenn er gewußt hätte, daß davon i
in dieser Weise Gebrauch gemacht werde, hätte ^
er ganz entschieden dagegen Einspruch erhoben«.
Und wie zum Hohn schreibt dann die Bande, der
Professor hätte gewiß »ein stilles, häusliches Glück,
von dem die Welt nichts weiß« dem Glück des
Glanzes, in den sein Kind mit einem Male gehoben
sei, vorgezogen. Da der Vater so unfreundlich war,
sich zu wehren, so betrachtet Herr Kanner »die
vielbesprochene Heiratsafiaire seit gestern abends als
erledigt«. Er teilt uns nur noch mit, wie es den
Hof kreisen gelang, den Erzherzog von seinem Plane
abzubringen. »In einer Familienkonferenz bei der
Erzherzogin Maria Therese wurde beschlossen, noch
einmal eine Einwirkung auf den Erzherzog zu ver-
suchen, eine Aufgabe, die Erzherzog Otto über-
nahm. Diese entscheidende Unterredung wurde gestern
nachmittags durch das Telephon geführt und
— 9 —
dauerte weit über eine Stunde«. Kein Wunder,
daß Ferdinand Karl müde wurde und nachgab; dem
Telephon ist es zu danken, daß Habsburgs Haus-
gesetz, eine weniger neuzeitliche Einrichtung, stand-
hält. Herr Lippowitz behauptet freilich, der Erz-
herzog halte an der Heiratsabsicht unerschütterlich
fest, und höhnt mit wahrer Schadchenfreude die ver-
gebens dementierenden Hofkreise. So ist denn jeden-
falls dafür gesorgt, daß die schon durch die Herren
Frischauer und Saiten hergestellten Beziehungen
zwischen dem Erzhaus und der Bevölkerung nicht
gelockert werden. Wird aus der Heirat dennoch nichts,
was verschlägt's, daß der Name eines Mädchens in die
übelsten Klatschmäuler gebracht wurde? Für den
»Zug des Herzens« gibt's nun einmal Freikarten, und
der »Liebesroraan« eines Erzherzogs ist ein Rezensions-
exemplar.
Nach den Interviewern die Schilderer. Das ,Neue Wiener
Journal' läßt sich eigens aus Prag telegraphieren, daß die Erwählte
des Erzherzogs dort allgemein durch ihre Schönheit Bewunderung
erregt habe. »Auch die Mutter der jungen Dame fiel durch ihre
Schönheit auf, die sich also auch auf die Tochter vererbt zu
haben scheint«. Dagegen versichert die ,Zeit': »Ein schlanker
junger Prinz ist Erzherzog Ferdinand Karl immer gewesen.«
Der Erzherzog hält am 19. Jänner auf dem Prager Theater-
vereinsball Cercle. Er spricht .über den »Zapfenstreich«, die
politische Lage, über Stahl und Bronze und über den Prager
Aufenthalt. »Die Privatangelegenheit des Erzherzogs«, ver-
sichert die ,Zeit' anerkennend, »wurde selbstverständlich von
keiner Seite mit irgendeinem Worte berührt.«
— 10 —
Jahresabschluß,
(Zufluß :)
Kronen
(Abfluß :)
Kronen
Diverse diskrete Ein-
Ständige Beihilfen . .
460.000
nahmen für patrioti-
120 Auslandsartikel
sche Zwecice ....
1,315.000
(Marke »großer Staats-
mann«) ä 500 K . .
60.000
»
1125 Inlandsartikel ä
100 K
112.500
600 Dutzend Notizen
(»Klugheit« und »Ge-
schick«) per Dutzend
50 K
30.000
Konfidenten und Kon-
fidentinnen höherer Art
30.000
Demontierung vonKon-
kurrenten
70.000
Für verschiedene patrio-
tische Zwecke . . .
250
Saldovortrag
552250
»In einer englischen Pro-
vinzzeitung ist das folgende In-
serat erschienen:
Qesucht.
Eine wirklich häßliche, aber
erfahrene und tüchtige Gouver-
nante zur Beaufsichtigung und
Erziehung von drei Mädchen,
deren ältestes 16 Jahre alt ist.
»Beim Polizeikommissariat
Mariahilf lief gegen eine junge,
hübsche, zur damaligen Zeit ge-
rade ohne Engagement befind-
liche Schauspielerin die ano-
nyme Anzeige ein, daß sie ge-
heime Prostitution betreibe. Das
Polizeikommissariat leitete hier-
auf Erhebungen ein, ließ die
Schauspielerin bewachen und
~ 11 —
Die betreffende Person muß
musikalisch sein und Deutsch
und Französisch verstehen.
Brillante Konversationsgabe ,
liebenswürdige Manieren und
körperliche Schönheit nicht ge-
wünscht, da der Vater viel zu
Hause ist und außerdem er-
wachsene Söhne vorhanden
sind. ,
Das Inserat hat sofort Zu-
schriften an die englischen
Tageszeitungen veranlaßt, in
denen darüber Klage geführt
wird, daß ein hübsches Qesicht
und liebenswürdige Manieren
für eine Gouvernante ein wahres
Danaergeschenk seien. ,Die un-
vernünftigste und undankbarste
Person,' heißt es in einem
Briefe, ,für die man als Gou-
vernante tätig sein kann, ist die
verheiratete Frau vorgerückten
Alters, deren Schönheit dahin
ist und die nun eifersüchtig auf
ihren Gatten ist.' ,Ich habe
vor Kurzem eine gute Position
in Bayswater verloren,' schreibt
eine Andere, ,weil Mrs. X.
glaubte, ich liebäugelte mit ihrem
Bruder, einem kahlköpfigen Offi-
zier. Es war nicht wahr — er
hielt sich nur häufig in der
Kinderstube auf, weil er die
Kinder gern hatte. Soll ich nun
hungern, weil ich hübsch bin?
Mehrere Stellenvermittlungs-
bureaux haben mir bereits ge-
lud eine Anzahl Leute vor, die
bei ihr verkehrt hatten. Obwohl
nun alle diese Zeugen die An-
gezeigte entlasteten, verurteilte
der Polizeikommissär Scheibs
die Schauspielerin doch wegen
»gewerbsmäßiger Unzucht« zu
achtundvierzig Stunden Arrest.
Die Quartiergeber der Schau-
spielerin — ein Fahrradmecha-
niker und seine Frau — waren
bei der Polizei gleichfalls vernom-
men worden. Sie gaben dort an,
daß absolut nichts Unzüchtiges
vorgekommen sei. Wohl sei es
öfter vorgekommen, daß mehrere
Herren zu gleicher Zeit bei der
Schauspielerin auf Besuch waren,
doch geschah dies immer in
Gegenwart der Hausleute. Gegen
die Quartiergeber, denen der
Polizeikommissär gleich von
allem Anfang an ,Schub' und
das ,Einsperren' in Aussicht
gestellt hatte, wurde hierauf auch
tatsächlich eine Anklage wegen
Kuppelei erhoben. In der Ver-
handlung erklärten sich beide
Angeklagten für nichtschuldig
und versicherten, daß nie etwas
Unzüchtiges vorgekommen sei.
Wenn zu ihrer Mieterin Herren
auf Besuch kamen, so seien sie
immer zugegen gewesen. Eä wurde
hierauf die Schauspielerin als
Zeugin einvernommen. Sie gab
zu, einen ziemlich großen Be-
kanntenkreis und auch viele Ver-
k
— 12 —
sagt, ich sei zu jung und sähe ehrer zu haben. Die Zeugin führt
zu »mädchenhaft' aus.'« das eben darauf zurück, daß sie
Schauspielerin, hüh>sch und dabei
von hebenswürdigen Umgangs-
formen sei. JVlan könne sie aber
unmögh'ch dafür verantwortlich
machen, daß diese ihre Bekannten
ihre Gesellschaft suchen. Die
Zeugin gab auch ohneweiters zu,
}mit einem Herrn in intimen Be-
ziehungen zu stehen.Wenn andere
zu ihr kamen, so geschah es nur,
um mit ihr zu plaudern oder
Karten zu spielen. Die Besucher
seien nie mit ihr allein gewesen. <
»Dat veniam corvis, vexat censura colurabas«.
Das ist vielleicht das perspektivischeste Wort, welches
Juvenal geprägt hat: es trifft die Sexualheuchelei
der Gesellschaftsordnungen, die Männerraoral der
Generationen bis ans Ende der Welt. Alles verzeihen
die Sittenrichter den Raben und peinigen die Tauben.
Die Frau darf nur, was der Mann will, aber nur,
wenn sie es selbst nicht will. Und wehe, wenn das
schwächere Gefäß der Sittlichkeit unsanftester
Berührung nicht Stand hält! Ist es zierlich, greift
man gern darnach und wirft's, wenn es zur Neige
geschlürft, verächtlich in die Ecke . . . Die beiden
Zeitungsnotizen, die ich oben zusammenstellte, habe
ich an einem Tag gefunden. Ist's nicht das Halali
der Hetzjagd auf die schöne Frau? Aus dem bür-
gerlichen Erwerbsweg geworfen, verfällt sie der Fehme,
wenn sie den andern betritt. Für die aufreizende Wir-
kung dieser Parallele ist die Frage belanglos, ob die
Schauspielerin wirklich — wie's im lieblichen Jargon
gesetzgeberischen Stumpfsinns heißt — »gewerbs-
mäßige Unzucht« getrieben hat oder nicht, ob
außer dem Angriff gegen Geschlecht und Selbst-
bestimmungsrecht ihr auch eine persönliche Unbill
13 —
zugefügt wurde. Man mag dies getrost annehmen
und versichert sein, daß hier kein Grund vorlag, die
Tücke eines aus engstirnigem Geist gebornen Gesetzes
spielen zu lassen, und daß bloß ein Polizeigehirn die
Lust angewandelt hat, in Machtvollkommenheit zu
glänzen und die Spässe eines Indizienprozesses in die
Verwaltungssphäre zu übertragen. Aber aucti der
Beweis »geheimer Prostitution« würde an der Scheuß-
lichkeit der Sache nichts ändern. Man fragt sich, in
welchem Jahrhundert man eigentlich lebt, wenn gemel-
det wird, daß eine Frau die Behörde darüber beruhigen
mußte, daß ihre Besucher nicht mit ihr allein im Zimmer
waren, daß sie bloß geplaudert und sonst nichts getan
haben, was den Herrn Scheibs irritieren könnte. Wozu
PoHzeikommissäre auf der Welt sind, erkennt man also
nicht nur, wenn Raubmörder und Taschendiebe entwi-
schen. Aber daß sie auf der Welt sind, kann man sich
nur daraus erklären, daß doch hin und wieder noch etwas
geschieht, was »das Schamgefühl gröblich zu verletzen
geeignet« ist. Freilich, würde man nicht, wenn man
die Sexuairichter am Werke sieht, glauben, daß sie
ihr eigenes Dasein der Paarung eines Paragraphen mit
einer Gesetznovelle zuschreiben?. . . Daß ein Mädchen
»auch ohne finanzielle Absicht Besuche empfangen
kann, ist »hieramts« undenkbar. Man sollte aber
|meinen, daß sie auch im andern Falle kein Rechts*-
;gut verletzt und daß die Gefährdung ihrer Ethik
ihöchstens ihren Freund, ihren Vater, ihren Gott, aber
Inie und nimmer den Staat etwas angeht. Die tiefe Un-
[sittlichkeit einer Sittenpolizei, die Lizenzen für Prosti-
litütion erteilt, die gewerbsmäßige Unzucht Unbefugter
|nicht duldet und vielleicht nächstens den Befähigungs-
lachweis verlangen wird, die unter allen Umständen
jich der schwersten Eingriffe in Privatleben und
lelbstverfügungsrecht der Frauen schuldig macht,
['redet sich vergebens auf hygienische Notwendigkeiten
|3,us. Der Erfolg aller Reglementierung scheitert an^
hrer selbstverständlichen Aussichtslosigkeit, und das
153
- 14
Mißverhältnis zwischen behördlichem Eifer und der
organischen Größe einer in Prauennatur und Gesell-
schaftsstruktur wurzelnden Erscheinung ist nur ein
humoristischer Kontrast. Daß man wirklich die Hygiene
will und nicht die »Sittlichkeit«, würde erst bewiesen,
wenn Männer Gesetze gegen Männer schüfen, wenn's
Paragraphe gäbe, welche die bewußte Übertragung
einer venerischen Erkrankung mit Zuchthaus bedrohen.
Der bürgerlichen Welt, die aufschreit, wenn die
SittenpoHzei irrtümlich eine »anständige Frau«
brutalisiert hat, geschieht nur Recht von ihrem eigenen
Recht. Nicht der »Mißgriff«, der Griff empört den
Menschenfreund, und jeder »Zwischenfall«, der uns
die Bestialität der Behandlung prostituierter Frauen
erkennen läßt, ist erfreulich. In einer Gesellschafts-
ordnung, deren bessere Stützen tue besseren Beutel-
schneider sind, werden ausschließlich dem Weib
sittliche Lasten aufgebürdet, statt der Raben die
Tauben gepeinigt. Und »Sittlichkeit« ist, was das
Schamgefühl des Kulturmenschen gröblich verletzt.
Pie antisoziale Tendenz der Journaille wird auch
dem blödesten Auge täghch offenbarer. Die Parole
des Straßenräubers: »Das Geld her oder das Leben!«
ist ein harmloses Scherzwort gegenüber dem Ruf
der organisierten Gesellschaftsfeinde: »Die Nachricht
her oder das Leben!« ... Da ich noch im Flügel-
kleide liberaler Schuld steckte und mich's nach den
Lorbeeren eines geistigen Taglöhners gelüstete, empfing
ich das erste Grauen über diesen Beruf, Schicksale
in Originalnachrichten einzufangen, in dem Augenblick,
da — im Sommer war's — den im Kurort sich er-
holenden Hyänen gemeldet ward, eine Leiche
liege auf dem Perron des Bahnhofs. »Anscheinend
den besseren Ständen angehörend«. Das Rudel war
aufgestört. Einen reisenden Wiener, dessen Familie
- 16 —
in Wien weilte, hatte der Herzschlag getroffen.
n Uhr, »für's Abendblatt« ging's noch. Da half keine
)rstellung, daß Frau und Kinder das Unglück
ahren sollten, bevor sie's in der Zeitung läsen.
lus Ihnen wird nie ein Journalist 1 «.. .
In Wien ward ein gutes Werk vorbereitet. Die
Theaterlandeskommission trat zusammen, um an den
Lehren von Chicago die Sicherheitszustände der Wiener
Schauspielhäuser zu prüfen. Eine Aktion, deren Wert
in ihrer Geheimhaltung liegt: Die Kommissionsmit-
glieder werden an irgend einem Abend eine Stunde
vor Beginn der Vorstellung in dem Lokale erscheinen
und es erst eine Stunde nach Schluß verlassen; sie
wollen ihre Aufmerksamkeit der Art der Füllung und
Räumung des Hauses, dem Benehmen der Billeteure
als Sitzanweiser, den Garderobeverhältnissen u. s. w.
^widmen. Es wurde beschlossen, die Beratungen als
vertraulich zu erklären. Die Kommission, heißt es,
will vorläufig ihre Beschlüsse geheim halten, weil
die Inspizierung der einzelnen Etablissements eine
überraschende sein soll, so daß seitens der
Direktoren keine Vorbereitungen getroffen werden
können . . . Woher weiß ich das alles ? Aus den
Zeitungen! Sie haben pünktlich den Theaterdirektoren
gemeldet, daß ihnen eine Überraschung bevorsteht, und
sicherlich wurden in den letzten Tagen die Billeteure
und Theaterarbeiter, welche die Kommission »nach
ihren Instruktionen zu befragen« beschlossen hat, so
gut gedrillt, daß sie wenigstens in jener kritischen
Zeit, in der die Gefahr — des Besuchs der
Kommission besteht, tadellos funktionieren werden.
Nach Abschluß der Inspektion soll ein »Communiquö«
— das österreichische Allheilmittel gegen Pest, Feuer
und pohtische Not — herausgegeben werden; daß
darin etwas von »musterhafter Ordnung« stehen wird,
darauf könnte man eine Wette eingehen . . . Eine frivo-
lere Niedertracht als gerade dieser Verrat vertraulicher
Entschließungen unter höhnender Angabe ihrer Ver-
— .16 —
traulichkeit war nicht zu ersinnen. Man kann den
Verdacht nicht Raum geben, daß eines der Kom
missionsraitgUeder — aller Namen wurden gedruckt —
das Geheimnis preisgegeben hat; wie haben sich's di«
Reporter zu verschaffen gewußt? Die einzige Möghch
keit einer Kontrolle der Wiener Theater ist verschüttet
und »überrascht« wird wohl nur die Landeskoraraissioi
sein, wenn sie auf ihrem Rundgang sehen wird, wi(
überall alles aufs beste bestellt ist.
Wenn an der Riviera die Blattern herrschen
werden in den Wiener Zeitungen den trügerischei
Kundmachungen des Obersten Sanitätsrates authen-
tische Hötelierreklamen entgegengestellt. Hier komm
die alte Parole des Straßenräubers mit der Variant(
zu Ehren: »Das Geld her und das Leben 1« Grauen-
hafter aber, weil im tiefsten Wesen des journalistischer
Berufs begründet, ist die Pühllosigkeit der Nachrichten-
jagd. Wenn in Wien ein Theater brennen wird, wei
sein Direktor die behördliche Kontrolle mit einej
rasch arrangierten Sicherheit getäuscht hat, wird es
irgendwo heißen: Die Maßnahmen der Theaterlandes-
komraission, die wir als die ersten bekanntzu-
machen in der Lage waren, haben , sich leider . . .
»Wien, den 19. Januar 1904, An Herrn Karl Kraus, ah
verantwortlichen Redakteur der periodischen Druckschrift ,Di{
Fackel' in Wien, IV., Schwindgasse Nr. 3. Als durch die beilie
gende Vollmacht ddo. Wien, 16. April 1901 ausgewiesener Vertretet
des Herrn Ernst Vergani, Herausgebers des , Deutschen Volksblattes'
in Wien, VIII., Josefsgasse 4—6 fordere ich Sie auf Grund des
§ 19 des Preßgesetzes auf, folgende Berichtigung des in der Nr. 147
der periodischen Druckschrift ,Die Fackel' auf den Seiten 17—19
gebrachten Aufsatzes den gesetzlichen Bestimmungen entsprechend
aufzunehmen. Es ist unwahr, daß Herr Ernst Vergani seit Monaten
im ,Deutschen Volksblatte' einen Kampf gegen das Wiener Brauhaus
geführt hat; es ist unwahr, daß das .Deutsche Volksblatt' vor dem
— IT —
Besuche in Rannersdorf warnte; wahr ist vielmehr, daß das
.Deutsche Volksblatt' stets für die Interessen des .Wiener Brau-
hauses' eingetreten ist, daß das .Deutsche Volksblatt' nur einen
Kampf gegen den derzeitigen Präsidenten des .Wiener Brauhauses',
den Landesrat Dr. Eduard Thoraas geführt hat und dementspre-
chend über das Wiener Brauhaus in der Morgenausgabe vom
12. November 1903. also vor dem Besuche Dr. Luegers in Ran-
nersdorf geschrieben hat: .Zahlreiche ehrenwerte Männer — wir
nennen hier nur den in der antisemitischen Partei als grundehr-
lichen und rechtschaffenen Mann bekannten Kunsthändler Herrn
Heindl — waren bemüht, den... total verfahrenen Karren wieder
ins rechte Geleise zu bringen, allein alle diese Versuche, Ordnung
zu schaffen und das von den Sympathien der Bevölkerung
getragene Unternehmen zur Blüte zu entfalten, schei-
terten und so mußte sich sogar ein Mann wie Heindl, der
gewiß das Vertrauen aller Genossenschafter genoß, dazu bequemen,
seine Bemühungen, die im Interesse des Brauhauses lagen, einzu-
stellen und aus dem Vorstande auszutreten Im Interesse
des Wiener Brauhauses, eines Unternehmens, das die
kräftigste Förderung aller verdient, wäre es zu wünschen,
daß der heutige Besuch nicht seinem . . . Leiter, sondern
dem Unternehmen zugute käme, daß er ihm neue Freunde
zuführen möge, die ihm über alle die zahlreichen Klippen
hinweghelfen.' Dr. Robert Gruber als Vertreter des Herrn Ernst
Vergani, Herausgebers des .Deutschen Volksblattes'.«
Zu den Obligationen, die Herr Vergani, seitdem er von
Mühldorf nach Wien kam. besitzt, gehört bekanntlich auch der
Kampf gegen die Korruption. Und darum, nur darum bekämpft
er das >Wiener Brauhaus«. Oder vielmehr nicht das »Wiener
Brauhaus«, sondern bloß den Herrn Dr. Thomas. Die christlich-
sozialen Parteiführer waren offenbar ebenso wie die .Fackel'
falsch unterrichtet, da sie durch den Massenbesuch in Rannersdorf
für die Interessen des Brauhauses demonstrierten. Sie glaubten das
Unternehmen durch die Angriffe geschädigt und hätten sich,
wenn sie rechtzeitig erfahren hätten, daß Herr Vergani ein Schützer
des Brauhauses ist, gehütet, für eine Einzelperson, die im ,Deutschen
Volksblatt' zufällig bekämpft wird, Stimmung zu machen. Herr Vergani
, aber klärt den Bürgermeister über seine Absichten auf, indem er
— 18 —
die ,FackeI' berichtigt. Seine Zuschrift entspricht diesmal dem Ge-
setz, und darum muß sie gedruckt werden. Vor einigen Wochen
hatte es der Rechtsfreund des Herrn Vergani mit einer weniger
gelungenen Berufung auf den § 19 versucht. Ich lehnte ab, der
Rechtsfreund brachte die Klage ein, der Richter sprach mich frei.
Aber erfahrungsgemäß erscheint jede vom .Gericht abgewiesene
Berichtigung eines Tages in zweiter, wesentlich verkürzter Aus-
gabe, und in der juristischen Reparaturanstalt des Herrn Dr. Gru-
ber wird zwar langsam, aber solid gearbeitet. So muß die alte
Geschichte heute aufgewärmt werden. Zu den Obligationen, die
Herr Vergani, seitdem er von Mühldorf nach Wien kam, besitzt,
gehört nicht zuletzt auch die Verpflichtung, der Wahrheit zum
Siege zu verhelfen.
Der Präf ekt des Seine-Departements hat, wie die , Arbeiter-Zeitung'
nach Pariser Blättern erzählt, einen Erlaß gegen einen Unfug herausge-
geben, der auch bei uns einen erheblichen Umfang angenommen hat:
das Ausleihen der Zeitungen durch die Zeitungshändler. Das
Zirkular, das allen Inhabern von Zeitungskiosken zugestellt worden
ist, stützt sich auf die Anzeige des Syndikats der Pariser Presse
und nennt bestimmte Kioske, bei denen das entgeltliche Ausleihen
von Zeitungen, die nachher den Zeitungsverwaltungen als unver-
kauft zurückgestellt werden, besonders im Schwange ist. Der Präfekt
macht die Kioskinhaber darauf aufmerksam, daß ihre Konzession
sich nur auf den Verkauf und nicht auf das Ausleihen von Zeitungen
beziehe und daß eine Übertretung dieser Befugnis den Verlust
der Konzession zur Folge haben werde. Die Kioskinhaber, die den
Zeitungshandel nicht selbst betreiben, werden gleichwohl für die
Übertretungen ihrer Stellvertreter haftbar gemacht. Der Präfekt
fordert sie auf, diesen die strengsten Unterweisungen zu erteilen.
Überdies ist den Inhabern der zur Anzeige gebrachten Kioske die
amtliche Verständigung zugegangen, daß im Falle der Wieder-
holung des Unfugs die strengsten Maßregeln getroffen würden.
— >Das Vorgehen des Präfektenc, fügt die , Arbeiter-Zeitung" hinzu,
»istganz in der Ordnung. Allerdings, die eigentliche Schuldan
dem unanständigen Verfahren trägtdasPublikum. Es gibt Leute,
— 19 —
ie sonst im ,Ehrenpunkt' eine große Empfindlichkeit bekunden, aber
ch nicht scheuen, aus Schmutzerei mit der Zeitungsverkäuferin
inen Handel zu schließen, der auch strafgesetzlich als Betrug
nd Mitschuld am Betrug strafbar ist. In Wien, wo die Rechtlichkeit
ft mehr mit der Polizeifurcht als mit der Achtung vor den Rechts-
rundsätzen zusammenhängt, fügt des Ausleihen den Zeitungen
leträchtlichen Schaden zu.« Manche Leser der ,Fackel', denen das
aufschneiden der Hefte lästig war, haben vergebens über den
'orteil gegrübelt, der den Verlag bewogen hat, die kleine Unbe-
uemlichkeit über den Käufer zu verhängen. Die Fragen, die immer
'ieder einliefen, beantworten sich jetzt von selbst. Das Leihgeschäft,
as zu florieren begann, mußte erschwert werden. Eine Anzahl der
eachtetsten Bürger, Vertreter aller Stände, besonders einige Zierden
,es Barreaus, hatten als alte Zigarrenkunden mit ihrer Trafikantin
»ereits das Abkommen getroffen, für 1 Kreuzer des Genusses einer
eistigen Arbeit, die größer ist als die ihre, teilhaftig zu werden. . .
Das .Neue Wiener Journal' hat eine Kulturmission: Die
{enommeen zu heilen, die durch die ,Fackel' zu Schaden gekommen
ind. Neulich ist wieder der Musikalienhändler Qutmann in die
Reparatur gekommen. Aber ich hätte nicht geglaubt, daß schon
in paar kleine Notizen in der ,Fackel' die Anwartschaft auf ein
(Wiener Portrait« verleihen, und wer bis heute noch daran gezweifelt
lat, daß der Musikalienhändler Qutmann eine berühmte Persönlichkeit
5t, hört es jetzt aus seinem eigenen Munde. Der Interviewer
reilich muß sich vor dem Publikum ein wenig entschuldigen und
teilt seine 87. Berühmtheit mit den verlegenen Worten vor: >Er
wandelt ein wenig abseits von der großen Menge, und mit seiner
Popularität im Volk ist es nicht weit her.« Dafür die bei den
(ünstlern! »Mag er auch beim Musikahenhandel und beim
Conzertarrangement seine Rechnung gefunden haben, so scheint er
loch nach der Schilderung ernster Kritiker in ersterLinie Idealist
jewesen zu sein.« Und nun ?rzählt Herr Gutmann, wie er Anton
Jruckner gefördert habe. Sogar dem Portraitisten wird schwül. Er
ragt den Mann, der doch nur >in erster Linie« Idealist ist, »ob
iie vielen Künstler, mit denen er in geschäftlichem Verkehr stand,
lerj
tenj
iredl
nil
— 20 —
nicht manchmal mit ihm in Streitigkeiten materieller]
Natur kamen.« > Herr Gutmann antwortet mir mit seiner sanften,
salbungsvollen Stimme: ,Nein, niemals. In den dreißig Jahr
habe ich mit keinem Künstler noch Prozeß geführt, es gab ni
Zwistigkeiten.'< Und gerührt fragt der Reporter weiter: >Sind
Künstler dankbare Menschen? Anerkennen sie es^
wenn man sich für ihre Sache opfertpc ... Ich bemerke^
hiezu, daß der Leser, der etwa glaubt, daß ich übertreibe, die
zitierten Sätze im ,Neuen Wiener Journal' vom 10. Jänner nach-
lesen kann. Zu welchen Opfern an der Einnahme des Autors
Verleger fähig sind, ist ja so gut bekannt wie das mehr hingebende
als hergebende Verhalten von Agenten beim Verrechnen der
Konzerteinnahmen. Aber wenn Herrn Qutmann auch, im Verkehr
mit Komponisten und Virtuosen, nicht das geringste Verschulden
nachzuweisen ist, so wirkt jene Frage in ihrer allgemeinen Fassung
doch aufreizend. Daß er nie einen Prozeß geführt, wäre möglich,
würde aber nichts bedeuten. Künstler sind, wenn schon nicht
immer dankbare, so doch meistens furchtsame und ungeschickte
Menschen. Daß es in den dreißig Jahren keine Zwistigkeiten gab,
ist bestimmt nicht richtig. Aus den letzten Jahren ist vielleicht
noch der Fall Dohnany in Erinnerung, von dem in Musikerkreisen
lange gesprochen wurde, und an mich selbst haben sich des
öfteren Künstler um Rat gewendet, die mit der Impresa des Herrn
Qutmann unzufrieden waren. Ich erinnerte sie an die Pflicht
der Dankbarkeit, die jeder Künstler seinem Verleger schulde. Nur
habe ich leider in allen Fällen das Gefühl zurückbehalten daß es
mit der Popularität des Herrn Gutmann nicht nur im Volk, sondern
auch bei den Künstlern > nicht weit her« ist. . .
Parabel.
Von Peter Altenberg (Wien).
Im Affenreiche von einst erhob sich ein etwas
heiler gefärbter Affe an einem Krück-Aste aufrecht
und sagte mit exaltierter Stimme: »Und es wird, es
muß eine Zeit kommen, sie ist organisch unentrinnbar
— 21 -
1 der notwendigen Entwicklung von Ursache zu
Wirkung, da werden die Affen auf Zweien gehen, auf-
geht, und die Kletter-Hände werden verkümmern
,1 Geh-Püßen und Ihr werdet nicht mehr Buch von
jst zu Ast behende schwingen 1«
tl »Blender Dekadent I«, brüllte ihn nun die Herde
1, »Willst du unsere wertvollsten Kräfte verkümmern
achen?!?«
»Jawohl«, erwiderte der heller gefärbte an einem
eiuraaste aufrecht gelehnte Affe, »zu Gunsten
ertvollerer Kräfte, die da kommen werdenl«
Darauf hin schrieb der damalige Nerven-Pathologe
ofessor Schimpanse eine Broschüre :DieD^cadence
id ihre Gefahren.
ANTWORTEN DES HERAUSGEBERS.
Beobachter. Wie ein Blitz aus heiterm Himmel traf mich neulich
folgendeZuschrift : >Wien, am 9/1. 1904. An die Redaktion der .Fackel',
;n, IV. In rechtsfreundlicher Vertretung des Herrn Clemens Khan
ischer, persischer General und Sektionschef i. D., stelle ich auf Orund
§ 19 des Preßgesetzes das Verlangen, in der nächsten oder zweit-
'lenden Nummer Ihrer Zeitschrift in der Rubrik ,Antworten des Heraus-
Iprs' die nachstehende Berichtigung der in der Nummer 151 Seite 24
llialtenen Notiz zu veröffentlichen: Es ist unwahr, daß Herr Kolischer
Ifdie von ihm herausgegebenen Zeitungen persönlich Inserate acquirieren
oder jemals persönlich Inserate acquiriert hat, und es ist demzufolge
|i unwahr, daß er bei einem solchen Gange seine persische Generals-
3rm anlegt oder jemals angelegt hat. Achtungsvoll Dr. Bondy.«
das macht nichts! . . . Bondy, Bondy? Hat der nicht neulich den Franz
-Orden bekommen? Ja, er hat ihn bekommen. Wofür? Das wußte
Mensch. Aber ich weiß es. Er bekam ihn >in rechtsfreundlicher
ketung des Herrn Clemens Khan Kolischer, persischer General und
lionschef i. D.« Herr Bondy bat, Herr Koiischer lief, Herr Hofrat
leben kam, der Kaiser rief: Laßt mir herein den Bondy! . . . Was
|m Kolischer den Einfluß auf den Präsidialisten des Herrn v. Koerber
:hafft hat, weiß ich allerdings nicht. Über die Berichtigung ist
zu sagen, daß sie einer satirischen Metapher, aber nicht der Wahr-
die ihr zugrundeliegt, den Garaus macht. Natürlich dachte ich nicht
Jmtferntesten daran, daß Herr Kolischer wirklich die persische Ge-
suniform anlegt, wenn er Inserate acquirieren geht. Wahr ist nur,
Agent, der für das von Herrn Kolischer gekaufte Armeeblättchen
l-ate acquirieren geht, sich zum Beispiel bei einem ahnungslosen
ijärlieferanten von Schuhoberteilen als Abgesandten des Qe-
I
— 22 —
her als Kolischer vorstellt. . . . Man ist sich über die Bedeutun
eines »persischen Generals« nicht ganz klar. Es ist möglich, daß ein östei
reichischer Feldwebel im Range niedriger ist, möglich, daß auch de
»persische Sektionschef« mehr bedeutet, als ein österreichischer Kanzlei
offizial. Ich weiß es nicht, höre nur von einer dem Qroßvezier Emin-ci
Sultan nahestehenden Seite, daß es sich beim »General« um keine
militärischen Rang handelt, sondern um einen Titel, der in Persien auc
für Verdienste um die Hebung des Schafwollexportes verliehen werd
kann. Aber in Teheran erschrickt man gewiß auch gewaltig, wenn d
Ankunft eines »kaiserlichen Rates« aus Wien bekannt wird, und
erinnern uns noch, daß sogar in Paris alle monarchistischen Instink
rebellisch wurden, als der , Figaro' unter den die Ausstellung bi
suchenden österreichischen Staatsmännern einen leibhaftigen »conseiÄ
imperial« nannte. Ich wollte aber durchaus nicht gesagt habe
daß alle Annoncen, die in den Herrn Kolischer gehörenden Blättern e
scheinen, ausschließlich durch den Respekt vor Titei und Würden d
Herausgebers verschafft werden. Es gibt zum Beispiel Großwäscii,
fabrikanten, die sich auch für die Erwirkung der Lizenz, daß
Reisenden Luxuswäsche en detail in der Provinz verkaufen dürfen,
Brückenanstrichfirmen, die sich schon für das bloße Versprechen, daß ihi
die behördliche Bewilligung verschafft werde, dankbar erweisen. Ich wol!
aber auch nicht gesagt haben, daß Herr Kolischer Inserate aca
rieren geht. Er fährt natürlich, wenn er mit Geschäftsleuten zu uin
handeln hat, und zwar in einem Gummiradier, den der Fuhrwerksbestti
E. gegen ein Inserat zur Verfügung gestellt hat. Dies ist nun wec
unerlaubt noch unehrenhaft. Aber anderseits wird durch die Berichtigu
auch die Tatsache nicht aus der Welt geschafft, daß man als Gene
nicht nur Schlachten, sondern auch Inserate gewinnen kann.
Sammler. Bringen auch Sie wieder einmal etwas? Sie wisse
ich kann, wenn ich den »Eindruck der Vollständigkeit« vermeiden w
nur das Allerwichtigste brauchen. Also: Der Börsenwöchner schri
neulich, im Eisenbahnministerium nenne man die großen Schmerzen;«
Herrn v. Wittek »sehr höflich und liebenswürdig für den Gebralt
des Delphin: Mehrerfordernis«. Der gute Mann hat einmal die lateinla
Wendung: »in usum Delphini« gehört. Der Ausdruck wurde uo
Ludwig XIV. für die Bearbeitung der zum Gebrauche des Dauphi
bestimmten klassischen Lektüre geprägt und später auf alle Moralze«
angewendet. Der Börsenwöchner aber verwechselt den Kronprinzen j\
Frankreich mit dem Seetier. Oder will er, da er Herrn v. Wittek ein
stummen Fisch vergleicht, auf die Stellung unseres EisenbahnministeiS
Herrn Taussig anspielen? Den Delphinen schreibt man »AnhänglidUl
an den Menschen und Liebe zur Musik« zu, und es ist ja bekannt, n
Herr v. Wittek — aus dem Wasser ist, wenn Herrn Taussig's Siref
klänge ertönen.
Offizier. Sie schreiben: »Die ,Zeit' (Abendblatt vom 20. J
über Mannlicher: ,Seit 1878 beschäftigte er sich mit der
struktion verschiedener Repetiergewehre mit Geradezj|;
— 23 -
Verschluß und Pakettladung und vervollkommneteseine Erfindung
immer mehr, bis er beim automatischen Repetiergewehr, bei
dem auch die Verschlußfunktion durch den Druck des
Pulvergases selbsttätig bewirkt wird, angelangt war —
er hatte das nach ihm benannte ,System Mannlicher'
praktisch verwertbar gemacht. Nach vielen Versuchen entschloß
sich die Heeresverwaltung, eine Neubewaffnung der Armee mit Gewehren
d i e s e s Systems vorzunehmen.' — Soweit die ,Zeit'. Wenn sie recht hat,
dann führt unsere Armee jetzt automatische Repetierer; wenn sie
recht hat, dann hat Mannlicher die Idee des Mittelschaflsmagazin-
Repetierers nicht (wie man allgemein glaubt) erst 1885, sondern schon
1878 gehabt. Es ist nun immerhin möglich, daß sich unter den Lesern
der ,Zeit' auch ein Reserveoffizier befindet; möge er vertrauensvoll bei
dem bleiben, was man ihn in der Freiwilligenschule gelehrt hat: daß
die Armee keine automatischen Repetierer hat und die Idee des
Mittelschaftsmagazins (schlechthin ,System Mannlicher') erst aus dem
Jahre 1885 stammt.< — Nichts stimmt! Die ,Zeit' ist aus den Fugen:
Schmach und Gram, — daß ich zur Welt, sie einzurichten, kam !
Feuerwehrmann. Die Sache ist klein, aber drollig. Ein
düsteres Montagsblättchen meint, daß in Wien »gar kein Grund
zur Ängstlichkeit vorhanden« ist. >Was kann bei uns geschehen?
Gar nichts, überhaupt nichts. Fängt schon irgendwo durch irgend
einen Zufall irgend ein Fetzen Feuer, so wird dies gelöscht,
ehe noch eine Verbreitung möglich ist. Und wenn selbst der Zunder
hell aufflammt, so findet der Brand gar keine Nahrung. Es ist also die
Angstmeierei durchaus nicht am Platze.« Das ist einleuchtend. Brennt
ein Fetzen, so würde, wenn keine Panik entstünde, in den meisten
Wiener Theatern dem Publikum wirklich kein Haar gekrümmt werden.
Durch einen brennenden Fetzen kann also nichts geschehen. Aber viel-
leicht durch die Auiführung von »Hoffmanns Erzählungen*? Dasselbe
Montagsblättchen, das sich jetzt vor dem Feuer so wenig fürchtet und
beruhigend eingreift, hat nämlich seinerzeit durch Wochen gegen die
geplante Aufführung der Offenbach'schen Oper gehetzt und vor deren
seit 1881 bewährter Feuergefährlichkeit Publikum und Direktion gewarnt.
Frivatbeamter. Alles Unrecht der Welt kann ich mit zwei
schwachen Armen nicht auffangen. Ich habe es wiederholt ausgesprochen,
daß Fälle von Ausbeutung oder Zurücksetzung in privaten Betrieben
hier unerörtert bleiben müssen. Und wenn Ihr ehemaliger Chef, wiewohl
Sie strengste Pflichterfüllung durch viele Jahre nachweisen können, über
Sie gehässige Auskünfte erteilt, die es Ihnen seit langer Zeit unmöglich
machen, einen neuen Erwerb zu finden, so wäre meine Intervention lange nicht
so wirksam wie die des Zivilgerichts. Neun Zehntel der Affairen,
die mir seit Jahr und Tag berichtet werden, gehen den Advokaten und nicht
die , Fackel' an.
Udbitu^. Trotz dem dummen Leitartikel der ,Neuen Freien
Presse', der wieder einmal von toraufreißerischem Pathos geschwellt ist,
weisen Ha weis »Politiker« nicht die Spur einer »liberalen« Tendenz
— 24 —
auf. Die gesunde Moral des Stückes lautet: > Politische Parteien —
a Bund Hadern wie der andere!« (Daraus wurde freilich in den späteren
Aufführungen: >Politische Parteien — ane wie die andere !<) Die
dramatische Schwäche des Werkes liegt in der Unentschlossenheit, mit
der der Autor allzulange zwischen dem Standpunkt des liberalen Phrasen-
dreschers und dem des politikverachtenden Onkels zu schwanken scheint.
Der fünfte Akt, in dem der Lehrer von der liberalen Presse so schmäh-
lich im Stich gelassen wird wie vorher der Kleingewerbler von der
christlichsozialen Partei, schafft Klarheit. Aber die ,Neue Freie Presse'
hält sich die Augen zu und leitartikelt von den Versprechungen, die
Herr Hawel die Christlichsozialen nicht halten läßt . . . Ein Stück
von unstreitig erzieherischem Wert — in der Freude über stoffliches
Neuland schweigt der Kunstrichter — , willkommen wie » Gerechtigkeit <,
»Rote Robe« und >Lokalbahn«. Sehenswert schon wegen der Gestal-
tungen der Herren Kirschner und Homma. Welcher Lärm würde
losgehen, wenn diese Charakteristiker, namentlich der zuerst genannte,
in einem Berliner Ensemble bei uns gastierten !
Musiker. Ein Berliner Blatt veranstaltete eine Rundfrage: was die
»führenden Geister« sich vom Jahre 1904 erhoffen und erwünschen. Herr
Richard von Perger sprach den Wunsch nach »Verbesserung der
Wiener Musikzustände« aus... Die Erfüllung scheint nicht so
fern zu sein. »Wie verlautet«, melden die Blätter, »soll sich mit Ende
dieser Saison in der Leitung des Wiener Konservatoriums eine Ver-
änderung vollziehen. Direktor Richard v. Perger dürfte aus dem Amte
scheiden und Professor Heuberger sein Nachfolger werden.«
Meister Anton. Die , Auster', die sich, wie aus den letzten
politischen Debatten Bayerns hervorgeht, so entschiedener klerikaler Gunst
erfreut, ist ein pornographisches Witzblatt. Politik! Das schlechte Kon-
kurrenzunternehmen, das neben dem gefährlichen ,Simplizissimus' ent-
standen ist, muß gefördert werden. Pornographie ist in solchem Falle
kein Hindernis. Aber da finde ich in der letzten Nummer ein wirklich
schönes Gedicht von Friedrich Benz. Ein Hymnus auf die Hetäre:
Verzichterin im Anfeil
Der Obern und untern Welten
In deiner Kinderlust verbirgt sich das Menschenheil
Sei Wanderin unter den Hütten und Zelten.
Fromme Siegbehaftete
Stete Verbluterin
Gestürzte, in die Höhe Geraffte
Du Weltdurchleuchterin — — —
Das konnte in einer klerikalen Druckerei gedruckt werden ! Zoten
gingen ja noch; aber eine philosophische Rechtfertigung? Ich verstehe
die Welt nicht mehr!
Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: Karl. Kraus.
Hrnck von lahoda & Siesel. Wien. IIL Hintere ZolluntsstnB« *
:. 154 Erschienen »m 12. Februar 1904 V. Jahr
ie Fackel
Herausgeber:
KARL KRAUS
Erscheint drei- oder zweimal im Monat.
Preis der einzelnen Nummer 24 h.
(acbdnick and gewerbsmäBiges Veriefhen verboten; g^erichtliche Verfolgang
vorbehalten. <^
*3^
WIEN.
riag ,Die FACKEL", IV. Schwlndgaise 3.
.A,A»
KLAVIERKUNSTSFIEL
APPARAT
:
Phonola
mit seiner größten Skala und seiner geteilten
Abdämpfung für Baß und Diskant ermöglicht f
allein die schwierigsten Kompositionen von J
Liszt, Beethoven etc. originalgetreu zu spielen, i
Den Vortrag künstlerisch bis in die kleinsten j
Feinheiten auszugestalten bleibt ganz der indi- I
viduellen Auffassung des Spielenden überlassen. J
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Zur Besichtigung wird höfliclist eingeladen, Pro- {
■ spekte gratis, Bezugsquellen werden angegeben, i
Preis Kr. IIOO.-.
ÖiE Fackel
Nr. 154 WIEN, 12. FEBRUAR 1904 V. JAHR
Peuerlärm.
In Chicago brennt's, und in Wien verlieren sie
die Köpfe. Die Theaterlandeskoramission geht um und
erzeugt' durdhgefährUche Drohungen panikartigen
Schrecketi; Zöitungspäpier gibt dem Brand def'Ge^
müter neue Nahrung. Der IndustriellenbaU wird diesr
mal nicht unter dem Protektorat des Kaisers, aber
unter der Devise eröffnet, daß d^r Musikvereinssaal
feuergefährhch sei. Ein paar Stunden vorher hat dies die
Polizei verlautbaft Und nach langem Parlaitientiereöl
und Intervenieren den Industriebaronen und Industrie*
rittern gestattet, auf einfehi Vulkan zu tanzen. Wenn
in Wien ein Höfrat ausrutscht, Werden Verbote gegen
das Wegwerfen von Orangenschalen und Verordnun-
gen über das Aiifstreuen bei Glatteis erlassen. Freuen
wir uns, daß diesmal so ehtferifites Unheil das behörd-
liche Gewissen geschärft hat. Wer nicht Theater;
Konzerte und Bälle' besluch^n öiuß/ den' mag die Ent-
hüllung belustigen, däßaufeinitiäl alles feue'rgefährlich
sei. Lange genug hat die Aufsichtsbehörde geschlummert,
und es iatschoti anerkennenswert;' (iaßeie diesmal ihren
Winterschlaf unterbricht, um den ermüdenden Rund-
gang durch die Theater Wiens, den sie sonst nur zu
Beginn der Saison tut, anzutreten. Aber die sieben
Schwaben wagen sich nur mit vorgehaltenem Regent
schirm an den Feind und sind gewiß wieder mit eilji
wenig Preßlärm zu verscheuchen. Im riesigen Sophien-
Saal, der beinah so viel Leute faßt, wie bei einer. au^
brechende« Panik ;getötet'J%iät^en, fiödfet/;d^'»Con^
— 2 —
cordiaball« statt. Es muß nicht angenehm sein, bei
den Klängen eines Wein berger'schen Walzers zu ster-
ben, und wenn auch die Menschen, die sich auf einem
Concordiaball zusammenfinden, so ziemlich die wert-
loseste Schichte der Wiener Gesellschaft repräsentieren,
so gebietet doch die Pflicht der Humanität, auch die
Beschaffenheit des Sophiensaales, der weitaus panik-
fördernder ist als der Musikvereinssaal, behördlicher
Aufmerksamkeit zu empfehlen. Aber in den Wiener
Redaktionen wurden säratUche Zuschriften, in denen
dies gesagt war, in den Papierkorb geworfen. Und
die Wiener Vorstadttheater? Der fromme Glaube, daß
Preikartenbesitzer nicht verbrennen können, bestimmt
hier die Maßnahmen der journalistischen Feuerpolizei.
Aber die Herren scheinen ganz vergessen zu haben,
daß es auch ein zahlendes Publikum gibt, dem trotz
Herrn Karezag und der himmlischen Vorsehung vor
den Gallerien des Theaters an der Wien bange wird.
Der Ausschuß des Bezirkes Josefstadt erklärt, jede Ver-
antwortung für das Unheil, das der seit mehr als hundert
Jahren zwischen Zinshäusern eingekeilten Theater-
baracke entströmen könnte, abzulehnen. Sofort sind die
Brandreporter mit der Dementierspritze zur Stelle, und
irgend ein Theaterlöwy depeschiert in alle Welt, der
»Wiener Antisemitismus« wolle die Axt an ein
blühendes Unternehmen legen. Eine Aufsichts-
behörde, die bei Zeitungsgeräusch nicht scheu wird,
hätte — und dies lange vor Chicago — die Sperrung .
des Josefstädter sogut wie des Carltheaters und desr
Theaters an der Wien verfügen müssen. Mit Recht
ist man jetzt, da sie viel weniger einschneidende
Maßnahmen verlangt, über sie entrüstet. Seit Jahren
prüft sie bei Saisonbeginn und findet, wie's in den
Zeitungen zu lesen steht, »alles in vollster Ordnung«.
Plötzlich ergibt sich die Notwendigkeit, da und dort .
etwas an einem Ausgang zu flicken, und das Publi- |
kum, das nach der zweihundertsten Aufführung des]
»Rastelbinder« lechzt, zu beunruhigen. Vom Herbst ab, '
— 8 -
so wird versprochen, wollen wir für eure Sicherheit sor-
gen, bis dahin könnt ihr den leisesten Anlaß zu
einer Panik benützenl Ist das nicht die frivolste
Sicherheitspolitik, die sich denken läßt? Sofortige
Sperrung der drei Buden würde allem Bangen ein
Ende machen. Nicht einen Tag länger dürfte behörd-
liche Gewissenhaftigkeit das Publikum der furcht-
baren Erwartung des nun einmal an die Wand ge-
malten Übels überlassen. In Berlin hat der hurtige
Wilhelm, der sich eben nicht einmal von einer Theater-
katastrophe den Vorrang der Plötzlichkeit ablaufen
lassen will, die Schließung seiner Oper unter dem
geschmackvollen Motto verfügt: »Lieber soll's eine
Million kosten, als daß auch nur ein Statist ver-
brennt!« Warum wird unserm Kaiser nicht nahe-
gelegt, mit Rücksicht auf die vierte Gallerie des
Burgtheaters und die Parkettausgänge der Oper
ähnliche spontane Entschlüsse zu fassen ? Warum hat
die Theaterlandeskommission nicht den Mut, gegen
die drei alten Wiener Vorstadtbühnen pietätlos zu
^sein? Die kleinen Sicherheitsmittelchen, die jetzt ver-
ordnet werden, beseitigen des Übels Wurzel so wenig
wie Salben den Krebs, und sie verschlimmern nur
jene Gemütsverfassung des Publikums, welche der
Nährboden einer Theaterkatastrophe ist. »Nicht
Mandragora noch alle Schlummerkräfte der Natur
verhelfen je dir zu dem süßen Schlaf, den du noch
gestern hattest 1«. Das Publikum i§t aufgestört. Es
wird bei den Texten Viktor Leon's kein Auge mehr
schließen können. Es weiß, daß die drei alten Bühnen
schon durch ihr Dasein den denkbar schärfsten Wi-
derspruch gegen die baupolizeilichen Bestimmungen
bilden, wonach Theatergebäude nach allen Seiten frei
stehen müssen. Und zwei davon stehen nicht einmal
an der Straße, sondern sind durch angebaute Häuser
davon abgesperrt. Wer malt die Verheerungen, die
hier eine Panik bereiten wird? Sollte man es, fragen
mich Leser, für möglich halten, daß Theaterge-
— 4 —
bäude mit derart schmalen und elenden, mehreren
Gallerien gemeinsamen Stiegen alljährlich für benutz-
bar erklärt wurden? Wird sich die für die Sicher-
heit des Publikums verantwortliche Kommission auch
weiterhin durch die Spiegelwände der von Zeit zu
Zeit auf den Glanz hergerichteten Foyers blenden
lassen? Wird man endlich einsehen, daß die schönen
Vestibüle bloß den Zweck haben, die Leichen der
Theaterbesucher zu bergen, welche auf Stiegen, die
nicht drei Nebeneinandergehenden Platz bieten, er-
drückt wurden? Und diese Galleriegarderoben ! >Man
erinnere sich«, heißt es in einer Zuschrift, »daß einige
Leute, die ihre zwei Sous durchaus zurückerhalten
wollten, den ans Tageslicht hinaufdrängenden Menschen-
strom auf dem Bahnhof der Pariser Untergrund-
bahn stauten. Es brauchen sich gegebenen Falls
im Carltheater oder im Theater an der Wien nur
ein paar männliche oder weibliche ,NigerP zu
finden, die ihre ,G'luft' verlangen, und das Er-
gebnis wäre das gleiche.« Bringen diese schauder-
vollen Garderoben auch an brandfreien Theater-
abenden den ruhigsten Besucher in Raserei, sie
würden im Fall einer Panik zu unheilvollsten Hin-
dernissen werden.
Anfang Juli 1900 habe ich ein Bild der Wiener
Indolenz entworfen, das gerade heute die Leser, zumal
die neu nachgerückten, ansprechen wird. Wie damals
die Theaterlandeskommission vor der Presse, die sich
gegen den Verlust des Operettenterminmarktes wehrte,
zurückgewichen ist, die Schilderung vom Sündenfall
österreichischer Autorität, ist jetzt von aktuellstem
Interesse. Ich schrieb in Nr. 46:
». . . . Es handelt sich um eine Komödie, über die noch nach
Schluß der Saison referiert werden mußte. Die Theater sind
geschlossen, aber dieTheaterlandeskommission hatte zu spielen
begonnen, und da ihr Spiel — mit der Sicherheit des Publikums,
mit der Existenz von Bühnenleuten — einen vollen Monat währte,
so gab's alle Hände voll zu tun. Wenn ich von Händen spreche
— ö —
so will ich sagen, daß die Theaterjournalisten mit Erregung, mit
der bei ,großen' Premieren der Saison gehm^habten, ihres Amtes
walteten. In solcher Gemütsverfassung vergaßen sie freilich, die
Leser über Tendenz und Wesen der aufgeführten Komödie zu
unterrichten. Sie warfen das Wort ,Theaterlandeskommission' in
die Debatte und überließen es dem Publikum, sich über seine
Bedeutung klar zu werden. Und das Publikum ging mit dem
Eindruck nachhause, jene Theaterlandeskommission sei ein zum
Schutz einer gewinnsüchtigen Librettistenclique geschaffenes De-
partement der niederösterreichischen Statthalterei. Wie es kam, daß
dieser Eindruck schließlich auch die richtige Beurteilung der
Komödie enthielt, will ich in raschen Zügen zu erklären versuchen.
Anfang Juni erwachte die sogenannte Theaterlandeskom-
mission aus ihrem Schlafe, der nicht einen, sondern recht viele
Winter gedauert hatte. Die ältesten Theaterbesucher erinnerten sich
ihrer Existenz nur aus jenen Tagen, da sie nach den Bränden des
Ring- und Stadttheaters zur nachträglichen Beruhigung des Pub-
likums in flüchtigen Sitzungen zusammengetreten war. Ein Theater
nach dem andern brannte ab, aber wir hatten die Genugtuung,
daß nicht nur ,Alles gerettet', sondern auch die Theaterlandes-
kommission uns unversehrt erhalten war. Seit Jahrzehnten be-
schäftigt sie sich damit, für die noch nicht von einer Katastrophe
ereilten Theater Wiens bauliche Adaptierungen zu .verlangen'. Und
in diesem oft geäußerten, nie gestillten Verlangen ward sie fast
sentimental. Nie hat sie sich — sie ist ja eine österreichische
Behörde — bis zu jener seelischen Höhe verstiegen, die man
Energie nennt, und wenn sie eines Morgens aus den Zeitungen
von einem großen Feuerbrand erfahren hätte, der an der Wien
oder in der Praterstraße gewütet, so hätte sie erstaunt gerufen:
,Seht ihr, ich habe es immer prophezeit', und wäre mit der heim-
lichen Sehnsucht nach baulichen Adaptierungen wieder ein-
geschlafen. Neulich erfuhr sie, daß zwei der ältesten Wiener
Theatergebäude ihre Besitzer wechseln sollen. Herrn v. Jauner, den
Branddirektor, hatte sie im Carltheater, Frl. v. Schönerer im Theater
an der Wien wirtschaften und abwirtschaften lassen. Pietätvoll hatte
sie jenem, dessen Brandroutine ihrem Laienurteil zweifellos über-
legen war, nachsichtig hatte sie der Directrice, die wohl hohe
Protektion besaß, nicht ins Handwerk pfuschen wollen. Und in
der Tat: — künstlerisch und finanziell waren die beiden Theater
zusammengekracht, die morschen Gebäude standen. Nun ward ein
Wechsel der Besitzer angekündigt ; es wäre die Zeit gewesen, artig
und in Ruhe ,bauliche Adaptierungen zu verlangen'. Statt dessen
ließ unsere vortreffliche Kommission die neuen Männer alle Vor-
bereitungen für die neue feuergefährliche Aera treffen, alle Engage-
ments abschließen und das Publikum mit verheißungsvollen
Zeitungsnotizen verlocken. Als aber die neuen Schauspieler sich
den neuen Direktoren, diese sich den neuen Eigentümern ver-
pflichtet und alle Brücken für ein künstlerisches und materielles
Fortkommen hinter sich abgebrochen hatten, begann sich die
Theaterlandeskommission mit einem Male zu räkeln, rieb sich den
Schlaf von Jahrzehnten aus den Augen und schrie den vor Schreck
erstarrten Theaterleuten die Frage entgegen, warum man sie nicht
früher geweckt habe. Der Wunsch, alles Versäumte nachzuholen,
gab ihr die lange vermißte Energie wieder, und mit Stentorstimme
sprach sie — das Verlangen nach baulichen Adaptierungen aus.
Diesmal forderte sie, und so dezidiert, daß alles, was in
Wien an Theaterfragen interessiert ist, mit Zittern und Bangen
der kommenden Saison entgegen sah. Man begann nämlich die
Theaterlandeskommission ernst zu nehmen. DieVernünftigen freuten
sich der neuen Tatkraft und fanden es ganz natürlich, daß eine
Behörde, wenn auch spät genug, Maßnahmen für die körperliche
Sicherheit des Theaterpublikums zu treffen gewillt ist. ,Niederreißen!'
— zu dieser Parole hat sich längst die Pietät für die zwei alt-
berüchtigten Menschenfallen : Carltheater und Theater an der Wien
bekehrt. Wer je mit Schaudern daran gedacht hat, daß die alten
Operettenschätze durch den Einbruch jener Horde von tantiemen-
gierigen Redakteuren verwüstet wurden, der hat auch mit Schaudern
an die Möglichkeit gedacht, beim Anhören eines Librettos von
Landesberg oder Stein und einer Melodie von Weinberger des
gräßlichen Feuertodes zu sterben. Offenbach's reizvolle , Hoffmanns
Erzählungen', bei deren zweiter Darstellung das Ringtheater in
Flammen aufging, wurden in Wien seit jenem Abende nicht mehr
gespielt. Wollten wir's so weit kommen lassen, daß der Theater-
aberglaube uns auch die Werke unserer Bauer, Leon, Buchbinder
und Landesberg entrückt? Die Kommission stellte Bedingungen,
deren Erfüllung mit dem Niederreißen der alten Gebäude identisch
— 7 —
war. Bis zum Aufbau der neuen konnte sich die Operette erholen
Längst war ein autoritativer Befehl herbeizuwünschen, der die
Produi<tion etwa mit dem Jahre 1885 abschlöße und das Anfertigen
von Libretti in Wiener Redaktionen bei Strafe der Ausweisung
des Autors in die jeweiHge ungarische Heimalsgemeinde verböte.
Nun waren's die Einsichtigen zufrieden, daß die Reform der Vor-
stadtbühne wenigstens vom Architekten angebahnt werden sollte.
Was aber taten die Operetten] obber? Wenn das Börsengebäude
vor der Demolierung stünde, die beteiligten Kreise würden den
Markt in die benachbarten Kaffeehäuser verlegen. Unsere Librettisten
brauchen ihr Haus. Und so geberdeten sie sich, da der Wille
der Kommission ruchbar wurde, wie eine Mutter, der man ihr
Schmerzenskind entreißen will.
Da die Herren insgesamt in Redaktionen sitzen, so war die
Stellung der liberalen Presse in diesem Kampf um einen von
feindlicher Macht bedrängten , Platz' von vornherein gegeben. Die
Theaterlandeskommission wurde ob ihrer bisherigen Lethargie
belobt, ihr erster Versuch zur Tatkraft mit hohnvoller Empörung
zurückgewiesen. Es war ein ganz merkwürdiges Schauspiel.
Manchmal mußte man sich fragen, für wen da eigentlich gekämpft,
in wessen Interesse diese gesträubten Federn geführt werden.
Dienen sie den Wünschen des Publikums, das gläubig und in fast
hypnotischer Verzückung jedem ihrer Züge folgt? Nein; denn
dieses Publikum ist doch berufen, in den Theatern, deren Rekon-
struktion sich die Journalistik tapfer widersetzt, zu verbrennen.
Also verrichten sie Arbeit im privaten Wirkungskreise, indem sie
schnöde Interessen des materiellen Eigennutzes vertreten? So muß
es wohl sein. An der ununterbrochenen Existenz der beiden
Theater haben ausschließlich die Parasiten ihrer Tanti^men-
kassen ein Interesse. Heuchlerisch verbrämen sie die selbstgesuchten,
selbstsüchtigen Argumente mit jener ranzigen , Pietät' für die ehr-
würdigen Kunststätten, die man nicht dem Verfall preisgeben
dürfe. Aber was sonst hat den Verfall dieser ehrwürdigen Kunst-
stätten — lange vor dem Wunsch der Theater komm ission
— zur Tat gemacht, als dieses schuftige Kartell journalistischer
Unterhändler, das von den Direktionen durch kritische Bedrohung
jahraus jahrein die Annahme seiner elenden Stücke erpreßte?
Wer sonst als diese klebrigen Kulissiers, die gestikulierend
— 8 —
heute im Zwischengang des Parketts die Theaterkurse ausmachen
und morgen vor der Rampe als beseligt lächelnde Autoren
erscheinen? Die Leiterin des Theaters an der Wien hat, von dieser
Bande vollständig ausgeraubt, in einer Anwandlung von Ekel ihrem
Amte entsagt. Herrn v. Jauner im Carltheater drückten die Herren
eines Tages ihren Revolver in die Hand. So starb die Operette.
Wenn jetzt die alten Mauern, hinter denen sie einst gelebt und
Generationen erfreut, fallen sollen, so ist es wahrlich kein Anlaß,
Trauer anzulegen.
Ich will zugunsten der Herren annehmen — und soweit
sind sie sich auch ihrer Verantwortlichkeit bewußt — , daß nicht
die bloße Aussicht auf eine Serie von Sensationsberichten für den
Fall eines Theaterbrandes ihren Standpunkt in dieser Frage be-
stimmt hat. Der Wunsch nach Erhaltung zweier gefährlicher
Ruinen ist — zur Ehre der Wortführer unserer öffentlichen Meinung
sei es gesagt — lediglich dem Selbsterhaltungstriebe entsprungen.
Wien könnte sich eine Zeitlang ohne Operettenbühne durch-
fretten, aber in dem Budget seiner kritischen Berater würde der
entfallenden Post »Tantiemen' die — finanztechnisch gesprochen —
»Bedeckung' fehlen. Das Publikum mag sehen, wie es bei aus-
brechender Panik durch die engen Korridore des Theaters an der
Wien ins Freie gelangt; — die Kritik hat auf ihren von allen
Seiten freien Plätzen nichts zu fürchten ....
Aber wenn man so die unwürdigsten Schmierer für ehr-
würdige Kunststätten, wenn man die Zerstörer aller Tradition für
die Erhaltung eines Kunstgenres sich ereifern sah, so durfte man
darum nicht glauben, daß sie bloß in eigener Sache die Feder
führten. Auch die Kapitalistenkonsortien, die an der kostenlosen
Übernahme der beiden Bühnen interessiert sind, mußten jeden
Auttrag der Theaterkommission als einen argen Strich durch die
eben abgeschlossene Rechnung empfinden. Und wann hätte sich
unsere Presse geweigert, den Wünschen einer kapitalskräftigen
Gruppe, deren Interessen zum Überfluß noch den eigenen parallel
liefen, als Sprachrohr zu dienen? Eine der beiden alten Bühnen
— oh über die dreimalig geheiligte Tradition eines Kunstgenres!
— geht in den Besitz des Prager Kattundruckers Kubinzky und
jenes Herrn Simon über, der einst in Prag Holzhändler war und
nun mit der alten Sehnsucht nach Brennmaterial sich für das
— 9 —
Theater an der Wien zu interessieren begann. Hier gab's mit
Aussicht auf ein gutes Trinkgeld gerechte Ansprüche zu vertreten,
und Herr Juh'us Bauer, dem die Aufführungsmöglichkeit seiner
jährlichen Operette — da gibt's gar nichts zu lachen ! — eine
ernste Lebensfrage bedeutet, ging mit gutem Beispiel voran, indem
er Herrn Simon als ,Wiener Patrizier' lancierte.
Mit jenem gewissen Geschrei, das bei uns von altersher
unbotmäßige Behörden einschüchtert und das an einem unseligen
Tage auch die Aufhebung des Zeitungsstempels durchgesetzt hat,
stürzte sich die Rotte der für ihre Domänen besorgten Merkantil-
literaten und Buchmacher auf die Theaterkommission, und wie
sonst oft in Fragen des öffentlichen Interesses, so konnte man
auch diesmal die strammsten Antisemiten mit den prononciertesten
Herren von der Schachergilde an einem Strange ziehen sehen. Das
, Deutsche Volksblatt', das als einziges Gegengewicht zu seinen
verdächtigen Bankinseraten eine verschwenderische Fülle von anti-
korruptionistischen Ausrufungszeichen hinter verdächtigen Eigen-
namen bietet, hat in der Frage des Advokatenwuchers den Herren
vom ,Barreau' treue Gefolgschaft geleistet. Und da es in der
Theaterfrage zwischen einer Gefahr für das Leben der Wiener
Theaterbesucher und einer für die Taschen der Herren Kubinzky (!)
und Simon (!) zu wählen galt, hat sich das Blatt keinen Moment
besonnen, welcher von beiden Gefahren im öffentlichen Interesse
kräftiger zu wehren sei. In einem langen Artikel klagte es am
6. Juni über die Begehrlichkeit der Kommission, deren Verfügungen
,einen Sturm des Unwillens' in Wiener Theaterkreisen erregt
hätten, dem sich ,eine gewisse Berechtigung' nicht absprechen
^ieße. Es sehe zwar selbst ein, daß die beiden Häuser ,den idealen
Anforderungen an ein modernes Theater nicht entsprechen'. Aber
da die Kommission so viele Jahre untätig dem alten Schlendrian
zugesehen, so dürfe sie sich jetzt nicht einer so »krassen Inkon-
sequenz' schuldig machen . . .
Zum Schlüsse bittet der wackere Antikorruptionist ,um
Rücksicht auf die wirtschaftlichen Interessen der Männer,
die es gewagt haben, in den beiden fraglichen Theatern Wien zwei
Kunstinstitute erhalten zu wollen', also vor allem der Herren
Kubinzky (!) und Simon (!)...
— 10 —
Die Theaterbehörde hatte Feuerlärm geschlagen. Daß es
ein blinder war, hat kein Kenner der beiden Örtlichkeiten, wofern
er nur uninteressiert und aufrichtig ist, zu behaupten gewagt. Aber
daß es Lahme waren, die das Signal gegeben, sollte sich nur zu
bald erweisen. Ich hatte keinen Moment an die Entschlossenheit
dieser Kommission geglaubt, nur an ihre Ungeschicklichkeit, die
sie voreilig Befehle aussprechen ließ, deren Ignorierung sie nach-
träglich kompromittieren muß. Die ganze Energie war nichts als
— Theaterfeuer, und die Interessentengruppen haben einen Erfolg
aufzuweisen, der sie selbst noch mehr überraschen dürfte als jene,
die so naiv waren, einer Theateraufsichtsbehörde Sorge für die
körperliche Sicherheit der Theaterbesucher zuzumuten. Jetzt sehen
wir, daß sie nicht dazu erschaffen ward, das Gefühl der Sicherheit
zu mehren, sondern: ein Gefühl der Unsicherheit zu erzeugen.
Daß das Carltheater und das Theater an der Wien lebensgefähr-
liche Orte sind, haben bisher so manche schon gefühlt, aber sie
konnten nichts dagegen tun. Klar ausgesprochen hat es erst die
löbliche Theaterkommission, die — auch nichts dagegen tut. Ein
beschämenderes Schauspiel ward seit langem nicht der Öffentlich-
keit geboten, und weit mehr als die kecke Resolution eines Stadt-
rates in Sachen Heine könnte uns das zage Zurückweichen einer
Landesbehörde vor dem Gekläff einer feilen Presse und vor den
Wünschen etlicher einflußreicher Geldmänner im ,Ausland' kom-
promittieren.
Eine Behörde hat die Öffentlichkeit allarmiert, indem sie
unter fachmännischem Beirate den Zustand zweier großer Schau-
spielhäuser als eminent sicherheitsgefährlich bezeichnete und den
vollständigen Umbau als die einzige Bedingung der Spielerlaubnis
gelten lassen wollte. Auch die Opemredouten konnten durch
zwanzig Jahre .anstandslos' abgehalten werden; als aber irgend
ein bis dahin unbekannter Architekt im Wege der Zeitung auf ihre
Gefährlichkeit hinwies, zögerte das Hofamt nicht, die Faschings-
freuden ein für allemal aus den geräumigen Hallen des Opem-
gebäudes zu verbannen. Jetzt hat eine Staatsbehörde ihr Machtwort
gesprochen, und sie steht nicht an, es sofort zurückzuziehen, da
sich die Herren Kubinzky und Simon ungehalten zeigen und die
Herren Bauer und Landesberg eine Schmälerung ihres jährlichen
Einkommens befürchten. Etliche geringfügige ,Adaptierungen', die
— 11 —
von den Besitzern großmütig zugestanden werden, solkn der
Landesbehörde die Schmach völliger Demütigung ersparen, sollen
das Publikum über die nun einmal ins Land gerufene Gefahr
beruhigen. Es gibt indes nur einen Ausweg: Das Publikum wird
die beiden Stätten, die mit ämtlicher Genehmigung wieder ehr
würdig sein dürfen, meiden, so daß die Möglichkeit einer Panik auf
das von der Behörde gewünschte Minimum reduziert sein wird.«
Ein Theater sperren ist immer nützlicher als
eines eröffnen, und von dem kulturellen Moment ab-
gesehen, muß man bloß an die Zahl der Neugrün-
dungen denken, welche die Brotlosigkeit so erhebhch
steigern halfen. Schreckt uns die Perspektive, daß
wir uns ein Jahr ohne »Göttergatten« und »General-
konsul« durchfretten müßten? Die Journaille fühlt
antisozial, da sie dem Gewinst ihrer Operetten-
jobber die Sicherheit des Publikums opfert. Gewiß
würde der sozialer fühlen, der die Sorge um das Leben
der Theaterbesucher über die Sorge um das wirt-
schaftliche Wohl des in der Saisonmitte obdachlosen
Bühnenpersonals stellte. Aber die »vis major« wäre fühl-
los, wenn sie nicht beiden Rücksichten zugleich genügen
könnte. Es kann gar nicht davon die Rede sein, daß
Staat und Stadt nicht die Pflicht hätten, dem Theater-
direktor, den die Sperrung des Theaters der Schuldig-
keit gegenüber den Angestellten entbindet, die Mittel
an die Hand zu geben, allen Ansprüchen bis zur
Erbauung des neuen Hauses gerecht zu werden,
und die Errichtung sicherer Betriebsstätten müßte
selbst durch Zufluß aus öff'entlichen Mitteln ge-
fördert werden. Ein Staat, der durch Jahrzehnte
seine Pflichten gegen die Sicherheit seiner Bevölkerung
vernachlässigt hat, ist, wenn ihn späte Einsicht zur
Sperrung eines Theaters zwingt, mindestens verpflichtet,
den Schauspielern die Gagen zu bezahlen. Man erhebe
ein paar Wucherer in den Adelsstand, und die Kosten
sind hereingebracht. Vielleicht kann man dann auch
— Herr v. Koerber wird sich gewiß nicht sträuben —
— 12 —
den Journalisten die vorläufig entfallenden Tantiemen
erstatten. Der Wohltätigkeit sind keine Schranken
gesetzt. Wie immer aber der Staat über seine Regreß-
pflicht denken mag, es geht nicht an, sich über
amerikanische Fahrlässigkeit das Maul zu zerreißen und
drei alte Angstherbergen, neben denen das Iroquois-
theaterals ein Vorbild der Sicherheit erscheinen mußte,
im Vertrauen auf das Glück des dummen Kerls von
Wien einem neuen Jahrhundert zu erhalten. Die Ein-
sperrung des Direktors Jauner nach dem Ringtheater-
brand war ein Schwabenstreich der irdischen Gerechtig-
keit, der sich an den heutigen Direktoren der Vor-
stadtbühnen wiederholen wird, wenn wieder einmal
die Schuld höherer Faktoren Menschenopfer fordern
sollte. Aber das Übel, das abgewendet werden kann,
ist heute so klar erkannt, so deutlich in den Protokollen
der Theaterlandeskoramission bezeichnet, daß vielleicht
doch für den Ernstfall eine Überraschung zu gewär-
tigen ist und wir statt der unschuldigen Theater-
pächter den Minister des Innern und den Statthalter
auf der Anklagebank sehen werden.
Wucher.
Das naive Zeitalter eines Kürnberger hat von
der Revolution geträumt, die in Österreich kommen
werde, wenn einmal die Gesetze angewendet würden.
Aber kindlich — wie der Glaube an den großen
sozialen Kladderadatsch — erscheint uns Abgeklärten
solcher Chiliastenwahn. Auf einen österreichischen
Zukunftsstaat der Gesetzlichkeit hoffen wir nicht,
und wer hätte den Zukunftsstaat österreichischer Ge-
— 13 —
setzlichkeit zu fürchten! Würden Österreichs Ver-'
waltungsgesetze, an die Kürnberger dachte, dereinst
angewendet, so werden es Österreichs Verwaltungs-
behörden sein, die sie anwenden. Und sollten öster-
reichische Verwaltungsbeamte die Gesetze anders an-
wenden als österreichische Richter? Wem hülfe es,
wenn künftig hierzulande »nach bestem Gewissen« nicht
bloß geurteilt, sondern auch verwaltet würde, da
doch das »beste Wissen« ebenso von Verwaltungs-
bearaten wie von Richtern Paragraphen-Kenntnis ist
und tiefe Unwissenheit vom Leben! Heute können
wir uns über den Unsinn der Verwaltung noch mit
dem Gedanken trösten, daß er ungesetzlich ist. Aber
trostlos ist es, daß der Sinn der Gesetze in den Ge-
richtssälen zur Unvernunft wird: wir haben ein
Wuchergesetz, und unsere Gerichte handhaben es —
zum Schutze der Wucherer.
Zwei Arten von Prozessen sind bei den Wiener Ge-
richten die zahlreichsten : Die Wucher- und die Ehren-
beleidigungsprozesse. Man kann daraus schließen, daß
zwei Klassen von Menschen in Wien die zahlreich-
sten sind: Die Bewucherten und die Leute mit einer
ramponierten Ehre. Die österreichische Rechtspflege
aber besteht darin, daß die Männer mit der schad-
haften Ehre in unseren Gerichtssälen regelmäßig als
Kläger auftreten, während die Bewucherten die Rolle
von Angeklagten zu spielen haben. Als im Mai 1881
das Wuchergesetz erlassen ward, da dachte man, nun
würden die Wucherer einer nach dem andern vor
das Strafgericht gezogen werden. Und seither er-
scheinen die Wucherer auch wirklich ohne Unterlaß
vor den Strafgerichten, — als Zeugen, als Privatbe-
teiligte, Schutz gegen ihre Opfer heischend. Zu den
sechs Monaten bis zwei Jahren strengen Arrests,
die auf gewerbs- oder gewohnheitsmäßigen Wucher
gesetzt sind, hat es noch keiner von ihnen gebracht,
aber viele sind den Richtern als Gewohnheitszeugen
wohlbekannt; als Zeugen in Prozessen, die freilich
— l*« —
von den Gerichten nicht als Wucherprozesse geführt,
von den Zeitungen nicht Wucherprozesse genannt
werden : angeklagt ist ein heruntergekommener Lebe-
mann, der Wechsel gefälscht oder Juwelen heraus-
gelockt hat, und der Inspirator des Staatsanwalts ist
ein Wechseleskompteur oder Juwelier, dessen kauf-
männische Ehrbarkeit sich besonders wohltuend abhebt
von dem skrupellosen Leichtsinn des verlumpten
Aristokraten. Triumphierend verläßt der solide Kauf-
mann den Gerichtssaal: er hat wieder einmal durch
das Strafgericht an einem zahlungsunfähigen Opfer
ein Exempel statuieren lassen. . . Gibt es aber, so
könnte ein ahnungsloser Zeitungsleser fragen, in Wien
nicht auch wirkliche Wucherprozesse — solche, in denen
Wucherer verurteilt werden? Und ein ahnungsloser
Wiener Strafrichter würde in gutem Glauben ant-
worten: gewiß; jüngst erst hat sich der Prozeß Pajor
abgespielt, und hat nicht ein christlichsoziales Blatt
den Gerichtssaalbericht unter dem Titel »Das Haupt
einer jüdischen Wucherkompagnie« veröffentlicht?
Dieses »Haupt« war ein kleiner Geldagent, der Zu-
treiber von Wucherern; er wurde verurteilt wegen
Schädigung der Wucherer: Um sich eine Provision
herauszuschlagen, hatte er unwahre Angaben des
Geldnehmers vor den Geldgebern bestätigt. Jetzt hat
ein bürgerliches Strafgericht den Wucherern Genug-
tuung an ihrem ungetreuen Bediensteten verschafft,
und das Militärstrafgericht wird den Leutnant Inaudy
wegen Wechselfälschung abtun. . .
Wenn aber die österreichischen Richter es einmal
satt werden sollten, die Schergen der Wucherer zu
sein, so brauchen sie, um zu einer wirksamen Hand-
habung des Wuchergesetzes zu gelangen, nur die
typischen Aussagen der meisten Wechselfälscher mit-
einander zu vergleichen. Wer nicht schon aus der
Tatsache, daß gefälschte Wechsel fast immer Wucherer-
wechsel sind, Erkenntnisse über die Technik des
Wuchers zu schöpfen vermag, den müßte es wenig-
- 15 —
stens stutzig machen, daß immer wieder der Fälscher
den Ankläger — den »Beschädigten« — seinerseits
der Verleitung zur Fälschung anklagt. Und wirft
man ernsthch die Frage cui bono? auf, so läßt sicli
nicht verkennen, daß die Fälschung — der Absicht
nach — zum Nutzen des Wucherers und zum Nach-
teil des Bewucherten stattfand. Aller Scharfsinn des
Wucherers ist darauf gerichtet, es dem Därlehens-
werber unmöglich zu machen, daß er bei Fälligkeit
der Schuldurkunde den Einwand des Wuchers erhebe.
Das primitive Mittel, bei mäßigen Zinsen hohe Pro-
visionen für vorgeschobene Mittelsmänner zu ver-
langen, verfängt auch bei österreichischen Richtern
nicht immer mehr. Der Wucherer muß also weiter
gehen und den Kreditnehmer zu unsittlichen oder
strafbaren Handlungen drängen, um sich den Raub
zu sichern. Häufig genügt ein Ehrenwort, bei minder-
jährigen Schuldnern oft die Suggestivfrage: Sie sind
natürlich großjährig? und die Mahnung, daß die Ver-
schweigung der Minderjährigkeit ein Betrug wäre.*)
Aber wo große Summen auf dem Spiel stehen, ist
das Kavalierswort dem Wucherer eine zu unsichere
Bürgschaft; er braucht ein Pressionsmittel, das
nicht versagen kann. Und das darf nicht weniger
als ein Verbrechen des Schuldners sein. Ein Wechsel
*) Freilich macht sich — nach § 15 des Wuchergesetzes — einer
Übertretung schuldig, >wer sich von einem Minderjährigen oder von
einer Person, für welche die Nichteinhaltung einer unter Ehrenwort
übernommenen Verpflichtung die Strafe des Verlustes ihrer Dienstes-
stellung zur Folge haben kann, die Erfüllung der Verpflichtung aus
einem Kreditgeschäfte unter Verpfändung der Ehre, eidlich oder unter
ähnhchen Beteuerungen versprechen läßt<. Aber der Minderjährige wäre'
nur dann wirklich geschützt, wenn man unter >ähnlichen Beteuerungen«
auch die Behauptung der Großjährigkeit subsumieren, ihn dafür — den
Fall natürlich ausgenommen, daß er Geburlsdokumente fälscht — straf-
los und den Wucherer in jedem Fall für strafbar erklären würde, in
dem er sich über die Volljährigkeit, wenn sie nicht völlig zweifellos
war, nicht dokumentarische Gewißheit verschafft hat. Vollends wertlos
ist der Schutz derjenigen, bei welchen der Bruch des Ehrenworts dert
Verlust ihrer Dienstesstellung zur Folge haben kann. Dieser Schutz
154
— 16 —
auf 10.000 Kronen, der für ein Darlehen von 500 Kronen
ausgestellt wurde, ist mit dem besten Giro nicht mehr als
500 K wert; droht am Verfallstag nicht der Aussteller
des Wechsels mit dem Strafgericht, so ist zehn gegen eins
zu wetten, daß es der Girant tun wird. Hat aber der
Schuldner das Giros einer ihm nahestehenden Person
gefälscht, so braucht der Wucherer nichts zu be-
sorgen; vorausgesetzt natürlich, daß entweder der
Schuldner selbst zahlungsfähig ist oder wenigstens
der Girant und daß dieser sich dem Druck, den die Dro-
hung mit der Strafanzeige gegen den Wechselfälscher
ausübt, nicht zu entziehen vermag. Alle Schhche
werden deshalb aufgeboten, um dem Schuldner die
Fälschung eines Giros zu suggerieren. Und der Leicht-
fertige tut endlich, was, wie er wohl weiß, der Wunsch
seines Gläubigers ist; er zweifelt nicht daran, daß
er keineswegs etwa den Wucherer irreführt, sondern
daß vielmehr der Wucherer, indem er ihm das Odium
der angeblichen Irreführung auf lastet, an ihm eine
Erpressung ausübt. Wer diesen Hergang erfaßt, wird
die Fälle der Fälschung von Wuchererwechseln, die
vor das Strafgericht gelangen, ganz anders beurteilen^
als österreichische Richter pflegen. Billigt man dem
Schuldner den guten Glauben an die eigene Zahlungs-
fähigkeit oder an die Zahlungsfähigkeit und Zahlungs-
willigkeit desjenigen zu, dessen Namen er als Giranten
kann höchstens dem gänzlich verkommenen Offizier nützen, der mit der
Drohung, ihm sei alles eins und er lasse sich kassieren, um nur den
Wucherer in den Arrest zu bringen, nicht bloß den Wucherzinsen ent-
geht, sondern den Gläubiger auch um das bar Hingegebene prellt. Der
verschuldete Offizier aber, der noch moralischen Halt besitzt und für
die Armee gerettet werden sollte, kann das ihm abgerungene Ehrenwort
niemals gegen den Wucherer geltend machen; er wird zahlen — mehr,
als er kann — oder sich niederschießen, aber der Wucherer ist gewiß,
daß die Standesmoral seines Opfers höchstens mit dem Armee- Revolver
als Waffe gegen den eigenen Leib und niemals mit Geselzesparagraphen
operiert, die zum allgemeinen Wohl die individuelle Unmoral ausdrück-
lich gestatten. Offizieren und Staatsbeamten kann auch das beste Wucher-
gesetz nicht helfen, sondern lediglich eine staatliche Organisation ihres
Personalkredits. Anm. des Verf.
— IT —
auf den Wechsel gesetzt hat, so ist seine Handlung
zwar unethisch — unethisch besonders gegenüber
dem unwissenthch zum Giranten Gemachten — , aber
nicht dolos, nicht strafgesetzlich faßbar; zwischen
dem Wucherer und dem Darlehensnehmer, der ihn
nicht getäuscht hat und nicht schädigen wollte, be-
steht bloß ein zivilrechtliches Schuldverhältnis. Das
Strafgericht aber hat sich an den Wucherer zu
halten: sei es, daß er wegen Verleitung zur Fäl-
schung, beziehungsweise, weil er den Wechsel weiter-
begeben hat, obwohl ihm die Fälschung des Giros
bekannt war, wegen Mitschuld zu bestrafen ist —
denn eine Mitschuld des Wucherers liegt, so seltsam
es klingt, vor, wenngleich keine strafrechtliche Schuld
des Bewucherten besteht — , sei es, daß man ihn
nach § 2 des Wuchergesetzes aburteilen will: der
Wechsel mit dem falschen Giro könnte, ohne daß
man dem Sinn des Gesetzes Gewalt antut, als eine
zur Verdeckung eines Wuchergeschäftes errichtete
»Urkunde, welche unwahre Umstände enthält« auf-
gefaßt werden. Mögen die Gerichte indes das Urteil,
wie immer sie wollen, juristisch konstruieren, zweifel-
los ist der Tatbestand: daß der Wucherer die An-
zeige wegen Fälschung nicht erstattet, damit die
— ihm wohlbekannte — Fälschung bestraft werde,
sondern daß er dem Strafgericht zumutet, den
Schuldner für seine Zahlungsunfähigkeit zu bestrafen
— die eine zivilgerichtliche Angelegenheit ist —
und für die Weigerung des als Giranten Bezeich-
neten, zu zahlen, — eine Weigerung, welche nichts
als das Scheitern eines vom Wucherer begangenen
Erpressungsversuchs bedeutet. Gerichte, die bei sol-
chem Tatbestand den Wechselschuldner wegen Fäl-
schung verurteilen, handeln nach einer Abschreckungs-
theorie, die eigens von den Wucherern erdacht zu
sein scheint; denn sie schrecken bloß Väter, Ver-
wandte oder Freunde, deren Namen von einem leicht-
sinnigen Burschen mißbraucht wurden, davon ab, die
— 18 —
Forderungen des Wucherers zurückzuweisen und
gegen ihn die Gerichte anzurufen. Sie sanktionieren
durch strafgerichthches Urteil die Überzeugung der
Wucherer, daß das Wuchergesetz nur gegen die
Dummen, die es nicht zu umgehen wissen, das all-
gemeine Strafgesetz aber für die Gescheiten ge-
schaffen wurde, die, wo ihre schmutzigen Hände
nicht hinlangen, Frau Themis zu bereden verstehen,
daß sie mit dem Schwert dreinschlage.
Die Schöpfer des Wuchergesetzes haben sicher-
lich nicht geahnt, wie es in der gerichtlichen Praxis
angewendet werden würde. Wenn es aber heute —
bei dem Stillstand unserer Gesetzgebung — das Wich-
tigste ist, die Handhabung der Gesetze zu kritisieren,
so darf doch auch nicht verschwiegen werden, daß
jeder besseren Absicht, den Wucher zu bekämpfen,
ein grundschlechtes Gesetz von allem Anfang an
Zaum und Zügel angelegt hat. Die Tage liberaler
Herrlichkeit waren kaum erst entschwunden, als man
— nach reichsdeutschem Muster — in Österreich ein
Wuchergesetz ausarbeitete. Ärger als irgendwo in
der Welt hatte hier der entfesselte Kapitalismus ge-
haust; enger als überall jedoch waren hier auch noch
Jahre lang nach dem Krach die Geister gebunden,
in den Gedankenketten des Manchestertums verstrickt.
Auf österreichischem Boden hatte damals Jhering
zu der Überzeugung kommen müssen: »Es wird erst
neuer bitterer Erfahrungen bedürfen, bis man wieder
inne wird, welche Gefahren der von allen Seiten
entbundene individuelle Egoismus für die Gesellschaft
in seinem Schöße trägt, und warum die Vergangen-
heit es für nötig gehalten hat, ihm einen Zaum an-
zulegen. Unbeschränkte Verkehrsfreiheit ist ein Frei-
brief zur Erpressung, ein Jagdpaß für Räuber und
Piraten mit dem Rechte der freien Pürsch auf Alle,
die in ihre Hände fallen — wehe dem Schlachtopfer ! . .
Daß die Wölfe nach Freiheit schreien, ist begreiflich.
Wenn aber die Schafe in ihr Geschrei einstimmen.
— 19 —
so beweisen sie damit nur, daß sie eben Schafe sind«.
Und die österreichischen Schafe schrieen, als man dem
Wucher zu Leibe gehen wollte, so laut, daß alle
Vernunft im Lande betäubt ward. Ein Jahr vorher
hatte das deutsche Reichsgesetz die Merkmale des
Wuchers festgestellt: strafbar sollte sein, wer »unter
Ausbeutung der Notlage, des Leichtsinns oder der
Unerfahrenheit eines Andern bei einem Darlehen
oder im Falle der Stundung einer Geldforderung sich
oder einem Andern Vermögensvorteile versprechen
oder gewähren läßt, welche den üblichen Zins-
fuß dergestalt überschreiten, daß nach den Um-
ständen des Falles die Vermögens vor teile im
auffälligsten Mißverhältnisse zur Leistung
stehen«. Aber in Österreich wollten Regierung und
Parlament den notleidenden, leichtsinnigen oder un-
erfahrenen Schuldner nicht so ohneweiters schützen;
strafbarer Wucher liegt nach österreichischem Gesetz
erst vor, wenn der Darlehensgeber sich Vermögens-
vorteile versprechen oder gewähren läßt, »welche
durch ihre Maßlosigkeit das wirtschaftliche
Verderben des Kreditnehmers herbeizu-
führen oder zu befördern geeignet sind«. Jedes
gelungene Wuchergeschäft ist daher straflos. Denn
wenn es dem Schuldner glückte, seine Verpflichtungen
zu erfüllen, ist der unwiderlegliche Beweis erbracht,
daß die Bewucherung nicht geeignet war, sein wirt-
schaftliches Verderben herbeizuführen oder zu be-
fördern. Man muß in Österreich, damit einen der
Staat vor dem Wucherer rette, zuerst durch Wucher
ruiniert sein. Hat man aber das Unglück, nicht ruiniert
zu werden, so bleibt der Wucherer ein ehrbarer Kauf-
mann, den niemand in seinem gesetzlichen Erwerb
stören darf. Und daran ist's nicht genug. Der Regie-
rungsentwurf des Wuchergesetzes hatte bloß die gelun-
genen Wuchergeschäfte sanktioniert; aber das öster-
reichische Abgeordnetenhaus bereicherte den Gesetz-
entwurf um einen Paragraphen, der auch das miß-
— 20 —
lungene Wuchergeschäft straffrei macht. Es ist der
§ 7 des Gesetzes: »Die Strafbarkeit erlischt, wenn
der Täter, bevor der öffentliche Ankläger oder das
Strafgericht von der Tat Kenntnis erlangt, den
gesetzwidrigen Vorgang behebt und dem Kredit-
nehmer das bezogene Übermaß samt gesetzlichen
Zinsen vom Tage des Bezuges an zurückerstattet.«
Brauchte es mehr als diesen Paragraphen, damit das
Wuchergewerbe, blühe? Im schlimmsten Fall, wenn
der Ausgebeutete sich aufrafft, um sich des Ausbeuters
zu erwehren, oder wenn tatkräftige Angehörige oder
Rechtsfreunde sich seiner annehmen, riskiert der
Wucherer nichts, als daß er, der Strafanzeige vor-
beugend, seine Forderung ermäßigt, mit der Rückgabe
der Darlehenssumme samt fünf bis sechs Prozent
Zinsen sich abfinden läßt. Der reiche Aristokrat, der
hohe Militär oder Beamte, der aufrechte Fabrikant oder
Kaufmann, dessen verschwenderischer Sohn der Ver
leitung des Geldmannes erlag, wird, indem er Kapital
und landesübliche Zinsen bezahlt und den Wucherer
laufen läßt, um dem eigenen Kind nicht durch An-
prangerung seines Leichtsinns vor Gericht schaden
zu müssen, noch billigen Kaufs davon zu kommen
glauben; und hat doch um die Tausende zuviel ge-
zahlt, die dem Leichtfertigen über seine Darlehens-
forderung hinaus vom Wucherer aufgedrängt und die
wie ein Glücksgeschenk verschleudert wurden. Der
Leutnant Inaudy wollte 2000 Kronen leihen und
nahm — gegen eine Verschreibung auf 10.000 Kronen
— mehr als das Doppelte. Aber die Verleitung zum
Leihen, durch die künstlich Verschwendungssucht
erzeugt wird, ist kein Delikt; das Gesetz weiß nichts
davon, daß Unerfahrenheit und Leichtsinn eines
Jünglings, dem der Vater vernünftig die Bezüge
zumißt, auch dann schon ausgebeutet werden, wenn
ihm auch ohne übermäßige Zinsen ein erbschafts-
belauernder Geldgeber die Mittel zu lebemännischem
Aufwand bietet. So bleibt die wahre Schädigung
I
— 21 —
straflos, und für das Risiko, daß ihm ein Wucher-
geschäft mißglücke — d. h. daß er einmal bloß den
Gewinn eines redlichen Kreditgebers erzielen könnte
— , entschädigt sich der Wucherer an einem Dutzend
anderer Opfer, die zu schwächlich sind, sich des § 7
des Wuchergesetzes zu bedienen. Ein Gesetz, das die
Unerfahrenen behüten wollte, ist in Wahrheit für die
Wachsamen geschrieben: Schutz findet, wer die
Energie findet, den Einwand des Wuchers rechtzeitig
zu erheben. Und Schutz findet in jedem Fall der
Wucherer vor den Straf folgen seines Tuns.
Es ist aber nicht genug an dem, daß eine Klasse
von Schuldnern, über deren — ach! wie oft so be-
scheidenes — Lebemannstum bürgerliche Moralisten
die Nase rümpfen, dem Wucher ausgeliefert wird.
Ausdrücklich erklärte die Weisheit österreichischer
Gesetzgeber im Jahre 1881, daß es auch ein Gebiet
solid bürgerlicher Tätigkeit gebe, das dem Wucher
nicht verschlossen werden dürjfe. Der Gott der
Kaufleute war den Alten auch der Gott der Diebe.
Aber obschon wir Diebstahl und Handel zu unter-
scheiden wissen, wollen wir doch nicht zugeben, daß
zwischen Handel und Wucher eine deutliche Unter-
scheidung möglich ist. Der weitere Wucherbegriff
des deutschen Reichsgesetzes wird auch auf den
Handel angewendet; in Österreich jedoch ist, — laut
§ 14 des Wuchergesetzes — selbst wer Zinsen fordert,
deren Maßlosigkeit das wirtschaftliche Verderben des
Kreditnehmers herbeiführt, kein Wucherer, wenn er's
in einem Handelsgeschäft tut und Gläubiger wie
Schuldner Kaufleute sind. Vergebens hat der Abge-
ordnete Dr. Jaques — ein liberaler Jurist — als Für-
sprecher eines Minoritätsvotums das österreichische
Abgeordnetenhaus davor gewarnt, »für Kaufleute ein
Privilegium odiosum zu schaffen, wonach sie als Objekt
strafloser Bewucherung angesehen werden könnten«;
vergebens haben die feinsten Köpfe des Herrenhauses,
Männer wie Habietinek, Graf Schönborn und Graf
— 22 —
Leo Thun dafür gestritten, daß die Moral österrei-
chischen Handels nicht geringer eingeschätzt werde
als jene des deutschen Kaufmannsstandes; wir dulden
nicht, daß die Verletzung über die Hälfte aus der
Handelssitte getilgt werde, und man kann in Öster-
reich nicht einmal den Gedanken fassen, daß Wucher
im Handel Wucher — also ein Delikt bleibt.
Und wie hat man seit dem Jahre 1881, während
das Wuchergesetz sich wirkungslos, zeigte, alle Stände
der Ausbeutung freigegeben! Osterreich ist das
klassische Land des Wuchers, heute wie zuvor. Die
Not ländHcher Grundbesitzer, deren Arbeit im mo-
dernen Österreich ärger dem Gläubiger frohndet, als
sie je vor der Zeit der Bauernbefreiung den Guts-
herren diente, hat sich schließlich im Parlament Gehör
verschafft. Aber anstatt die Wuchergesetzgebung zu j
verbessern, haben agrarische Abgeordnete die Exe- 1
kutionsordnung verdorben. Und noch hat die Gesetz-
gebung keinen Schritt getan zu einer wirksamen
Organisation des Bauernkredits, die den Raiffeisenkassen
ohne staatliche Förderung unmöglich ist. Man hat
die Arbeiter vor Bewucherung schützen wollen und
das Trucksystem verboten; doch bekämpft man die
Konsumvereine, anstatt das Konsumvereinswesen
durch eine Kreditorganisation auszugestalten, und
weist den Arbeiter an den Greisler, den Wucherer
des kleinen Manns, der in Detailpreisen maßlose
Schuldzinsen und Risikoprämien fordert. Und man hat
endlich mildere Formen des Wuchers — zwischen
12 und 15 Prozent • — gesetzlich im Versatzärater-
wesen geschaffen, und überläßt die Kreditbedürfnisse
der Beamten Selbsthilfe-Vereinen, d. h. Vereinen, in
denen Geldgeber, als Standesgenossen maskiert, sich
selbst helfen, während niemand den Geldnehmern
hilft. Die Frage des Personalkredits ist die österreichische
Hauptfrage. Denn die wichtigste Einteilung der Öster-
reicher ist diese: in Leute, die vom Borgen leben,
und solche, die am Leihen zugrunde gehen; in
Wucherer und Bewucherte. J. F.
Das »Porträt« des Musikalienhändlers Qutmann, das —
siehe Nr. 153 — der Künstler des ,Neuen Wiener lournal' ent-
worfen hat, bedarf einer kleinen Retouche. >Mag er auch« — so
vernahmen wir — >beim Musikalienhandel und beim Konzert-
arrangement seine Rechnung gefunden haben, so scheint er doch
nach der Schilderung ernster Kritiker in erster Linie Idealist
gewesen zu sein«. In den dreißig Jahren seiner segensreichen
Tätigkeit hat, so hörten wir, Herr Gutmann nie Prozesse oder
Zwistigkeiten mit Künstlern gehabt, und mit bewundernder Rührung
fragte der Porträtist, ob Künstler dankbare Menschen sind, ob sie
es anerkennen, »wenn man sich für ihre Sache opfert«. Also eine
kleine Retouche! Daß der Idealist Qutmann beim Konzertarrange-
ment seine Rechnung gefunden hat, muß selbst blindeste Ver-
ehrung zugeben. Aber unbekannt dürfte es sein, daß er beim
Konzertarrangement bisher immer zwei Rechnungen gefunden
hat. Das verhält sich nämlich so: Herr Qutmann hält bekanntlich
die Musikkritik durch gutbezahlte Konzertinserate, die er den
Wiener Zeitungen gibt, in Zügel. Die Spesen dieser Inserate
rechnet er naturgemäß den konzertierenden Künstlern als Baraus-
lagen auf. Herr Qutmann hat nun bei den ihm willfährigen Ad-
ministrationen einen ganz spassigen Usus eingeführt: er läßt sich
über die eingeschaltete Konzertreklame zwei Rechnungen ausstellen.
Da die Zeitungen sein Inserat direkt und nicht durch einen Agenten
erhalten, so gewähren sie ihm selbst den üblichen Nachlaß von 257o-
Die eine Rechnung quittiert nun den Empfang des ermäßigten In-
seratenbetrages: die ist für die Buchführung des Herrn Qutmann
ausgefertigt; die andere quittiert den Empfang des vollen Inseraten-
betrages: die übermittelt Herr Qutmann als Beleg dem Künstler,
mit dem er seine »Barauslagen« verrechnet. All die Jahre hat also
Herr Qutmann als Inseratenagent die Geschäfte gemacht, die man
dem Konzertagenten mißgönnte, und die Wiener Zeitungen haben
in vollem Bewußtsein, daß die Differenz den Schaden der Künstler
bedeute, das System der doppelten Rechnung bewilligt. Die ,Zeit',
die sich anfangs weigerte, kirrte Herr Qutmann durch Entziehung
der Wochenprogramme. Herr Rose, der Konkurrent, soll den spas-
sigen Usus auch schon eingeführt haben. Jetzt fehlt nur noch, daß
Herr Rose auch dem päpstlichen Nuntius im Konzertsaal die
Hand küßt.
— 24 —
Herr Hofrat Max Burckhard war ein übler Theaterdirektor
und ist kein guter Theaterkritiker. Seine Meinung ist nicht immer
interessant, aber durchaus sympathisch ist er dort, wo er mit ihr
>nicht hinter'm Berg halten kann«. Seine journalistische Auf-
richtigkeit läßt auf ein besseres Vorleben schließen. Als Zeuge in
dem handelsgerichtlichen Prozeß gegen seine Chefredakteure ver-
wahrte er sich gegen die Zumutung eines inneren Zusammenhangs
mit der ,Zeit', und jetzt hat er sie gar in ihren eigenen Spalten
angegriffen. Die Manuskripte des Hofrats Burckhard wandern
geraden Weges in die Druckerei, sie bleiben kontraktgemäß von
einer Lesung und Begutachtung durch die Herren Singer und Kanner
verschont. Am 28. Jänner veröffentlichte er in der ,Zeit' eine
Notiz über die Entlassung einer kleinen Schauspielerin aus dem
Verbände des Deutschen Volkstheaters. Es erregte einiges Auf-
sehen, daß Herr Burckhard die Besprechung der nicht eben be-l
deutenden Affaire mit vollem Namen unterzeichnete. Der Kenner
aber verstand die Absicht, welche die Worte diktiert hatte :
>Wenn diese Darstellung auf Richtigkeit beruht, dann würde
sie wohl jedenfalls das Eine auf das deutlichste illustrieren, wie
mangelhaft das Vertragsrecht den Schauspieler schützt, und wie
leicht es dem Direktor ist, ein Mitglied trotz Vertrages durch
Brutalität hinauszuekeln. Was dieser Vorfall übrigens
sonst noch ,illustrieren' würde, braucht nicht erst gesagt zu werden«.
Vor dem Handelsgericht wurde es nachgewiesen, wie leicht i
es den Herausgebern der ,Zeit' war, die meisten ihrer Ange-
stellten trotz den Verträgen durch Brutalität hinauszuekeln . . '
Herr Burckhard hat ein erfreuliches Beispiel gegeben. Mögen
sich auch andere Schriftsteller das Recht sichern, ihre Manuskripte
geraden Weges in die Druckereien zu befördern. Dann werden
wir in den Wiener Zeitungen endlich die Wahrheit über die
Wiener Zeitungen erfahren.
Aus der Berichtigung des
J. Singer in Nr. 134 der ,Fackel':
»Wahr ist, daß kein ein-
ziger der Angestellten der
,Zeit' aus Gründen der
Sparsamkeit oder deswegen
Aus einem Zirkular, das
mir am 5. Februar zuging :
»Der ergebenst Gefertigte,
derzeit Filialleiter der Tages-
zeitung ,Die Zeit', erlaubt sich
Euer Hochwohlgeboren seine
25 —
entlassen wurde, weil ich
einsah, daß ich zu v iel e an mein
Unternehmen gebunden hatte«.
Dienste anzubieten .... Zum
Schlüsse sei noch erwähnt, daß
der Gefertigte das Dienstverhält-
nis bei der ,Zeit' nur aus dem
Grunde auflöst, weil bei der-
selben aus Ersparungsrück-
sichten eine bedeutende
Reduzierung des Personals
bevorsteht«.
Neulich wurde eine Frau wegen Beleidigung der Kaiserin
Maria Theresia von einem Wiener Gericht zu vier Monaten Kerkers
verurteilt. Ist es erlaubt, ein Strafgesetz, dessen Entstehung in die
Zeit Maria Theresia's zurückreicht, blödsinnig zu nennen?
ANTWORTEN DES HERAUSGEBERS.
DiseipUnarrat. Dieses Österreich ist wirklich das Land der
UnWahrscheinlichkeiten : Ein Richter hat den Ansturm der Coburg'schen
Hausmacht abgewehrt, den anmutigen Herrn Dr. Barber verurteilt, die
Briefe zurückzustellen, und den Nebenbuhlern des Unrechts, den Bach-
rach und Feistmantel, die Oerichtstür gewiesen. Als heiteres Moment ist
aus dem Verhandlungsbericht ein Zwischenruf zu zitieren. Als ein frü-
herer Diener des Klägers Zeugenschaft ablegte, rief Herr Barber ver-
ächtlich : >Das war also der Vertrauensmann des Herrn Mattasich!«
Ernster ist, daß Herr Dr. v. Feistmantel das Vorgehen des >Verwahrers«
der Briefe als korrekt bezeichnet hat. Dazu gehört immerhin mehr Mut,
als man dem Präsidenten der Advokatenkammer zugetraut hätte. Wenn
jetzt auch noch der Disziplinarrat der Advoicatenkammer Mut hat
Ober Herrn Barber herrscht keine Meinungsverschiedenheit, über Herrn
Bachrach auch nicht. Aber Herr Dr. v. Feistmantel könnte immerhin noch
dazu gebracht werden, die Rolle, die er im Prozeß gespielt hat und als
Kurator« der gefangenen Prinzessin spielt, als undankbar zu empfinden . . .
Politiker. Sie melden : > Ministerpräsident Koerber verkehrt eifrig
oei Frau Schratt und das Preßbureau berühmt sich guter Beziehungen
£ur .Fackel' — ,Alles gerettet!'« Die erste Nachricht mag ebenso wahr
sein, wie sie gieichgiltig ist. Die zweite kann ich nicht kontrollieren. Ich
weiß nur mit Sicherheit anzugeben, daß die , Fackel' sich keiner Be-
uehungen zum Preßbureau berühmt.
Feinschmecker. Der »Objektivität« halber sei gern verzeichnet,
laß Herr Gfrorner, der als Qeschworner den Totschlag pardonierte
— 26 —
und als Konditor die Lebensmittel verdarb, die Geldstrafe, zu der ihn
das Bezirksgericht verurteilt hat, nicht erlegen muß. Ein Appellsenat,
unter dem Vorsitz des L.-O.-R. Adamu, sprach ihn kürzlich frei, »weil
in seinem Geschäfte wohl Inkorrektheiten vorgekommen seien, durch
diese jedoch die Gesundheit von Personen nicht gefährdet war«. So hat
denn nicht nur der Richter erster Instanz, sondern auch der Magistrat,
der Herrn Gfromer schon vor diesem verurteilt hatte, und die marktämtliche
Kommission, die im Laden des Herrn Gfromer Russennester aushob,
Unrecht behalten, und der guten Sache ist zum Durchbruch verholfen.
Schimmeliges Dunstobst und mit Staub bedeckter Quittenkäse sind zwar
nicht appetitlich, aber durchaus nicht gesundheitsgefährlich, und der
erfolgreiche Berufungswerber konnte wohl »nachweisen«, daß die verdor-
benen Waren nicht zum Gebrauch bestimmt, sondern nur zu dekorativen
Zwecken aufgehoben wurden. In der ersten Verhandlung hatte ihm die
Versicherung wenig genützt, daß der Kasten, in dem die Schätze
aufbewahrt waren, >so versperrt gewesen sei, daß er dem Personal
nicht zugänglich war«. Der Appellsenat ließ sich durch dies Argument
rühren, sprach frei und flößte allen Vertretern der Lebensmittelbranche,
die marktämtliche Revisionen zu scheuen haben, wieder Mut ein. Wenn
wieder einmal in einer Wurst ein Handschuhdaumen gefunden werden
sollte, so werden wir das als eine Überraschung, schlimmstenfalls als eine
»Inkorrektheit«, aber keineswegs als eine Gefahr für die Gesundheit
des Käufers zu betrachten haben. Das Glück ist blind, und ein andermal
kann's ja auch geschehen, daß wir in einem Fisch den Ring des Poly-
krates finden. Und das ist gewiß nicht ungesund . . . Man darf also in
Österreich seine Frau mit der Hacke erschlagen. So will's Herr Gfromer,
der in seinem Konditorladen schimmeliges Dunstobst feilhält. Man
darf in Österreich schimmeliges Dunstobst feilhalten. So will's Herr
L.-G.-R. Adamu, der in jenem Richterkollegium saß, welches mich einst
wegen »Ehrenbeleidigung« zu einer Geldleistung vemrteilt hat, die dei^
Ertrag eines Jahres in öffentlichem Interesse geleisteter geistiger Arbeit
bedeutet. Ja, die »Ehre« ist bei uns ein behebteres Rechtsgut als die
körperliche Sicherheit, und dem Ansehen einer korrupten Theaterclique
nahetreten, ist etwas, was man in Österreich nicht darf. Wenn ich nicht
verantwortlicher Redakteur der , Fackel' wäre, möchte ich Gattenmörder
oder wenigstens Lebensmittelverfälscher sein! *
Rallstätter Kretin. Die ,Zeit' wird bekanntlich ihrer »kulturi
aktuellen« Aufgabe vor allem durch die Fixigkeit gerecht, mit der sie
in ihrer Sonntagsbeilage wie in ihrem Depeschensaal > Bildin« jener Per-
sönlichkeiten bringt, die eben »im Vordergmnd des Interesses stehen«.
Da man von der Mandatsniederlegung des Tschechenführers Herold j
sprach, zögerte sie nicht, ihren Sonntagsiesem das Porträt des Wiener
Hoteliers Herold vorzuführen, und im Depeschensaal wurde neulich de»
Jahrestag des Kanossaganges Kaiser Heinrichs IV. auf würdige Weise
gefeiert. Über einer erläuternden Notiz sah man die Photographie
Heinrichs IV. von Frankreich, die nicht nur die bekannte Physiognomie!
mit dem Henriquatre-Barte, sondem übertriebener Weise sogar dettj
— 27 —
Aufdruck >Henri IV.« aufwies. »Welche Erschütterung aller Quartaner-
weisheit«, klagt ein Leser, >die das berühmte Huhn im Topfe und den
wohlbekannten Ravaillac in den Investiturstreit verwickelt sieht!« Aber
das macht nichts. Wenn der Quartaner auch falsche Antworten gibt, —
die Hauptsache ist, daß sie prompt sind. Und daß >wir als die ersten
in der Lage« waren, unseren Lesern zu zeigen, wie Herold und
Heinrich IV. nicht ausgesehen haben! ... In einem Montagsblatt wird
der 60. Geburtstag des Eisenbahnministers v. Wittek gefeiert, — mit
Bild von Karl Emil Franzos. Und der Tod des Karl Emil Franzos
besprochen, — mit Bild von Professor Hochenegg. Eine Würdigung des
neuernannten Ordinarius für Chirurgie mußte unterbleiben, da im letzten
Moment kein unrichtiges Bild zu beschaffen war ... Na ja, als Quelle für Ge-
schichtsforschung sind die Zeitungen nicht so ernst zu nehmen, wie noch
immer vielfach geglaubt wird. Begeht doch z. B. selbst das ,Neue Wiener
Journal' — wo es sich nämlich auf seine eigenen Federn verläßt — Mißgriffe.
Frau Körner habe, so wußte es anläßlich der Schwind-Feier zu melden, den
Berger'schen Prolog >in ihrer bekannten gewinnenden Art« zum Vor-
trage gebracht. Dieses durchaus zutreffende Urteil wurde nur leider
durch die Tatsache abgeschwächt, daß an Stelle der Frau Körner, die
im letzten Augenblick hatte absagen müssen, ein unbekannter Student
den Prolog gesprochen hat.
Geograph. Die ,Neue Freie Presse' bezeichnet am 8. Februar
als den Schauplatz des russisch -japanischen Krieges die >östlichste
Peripherie des Erdballs, wo der Stille Ozean zum Gelben und
zum Japanischen Meer sich verengt«.
Dieb. ,Neues Wiener Journal', 27. Jänner: >Die Entdeckung
des Radiums«. Man liest: >. . . Daß aber unter der Vernachlässigung
der ernsten Forschertätigkeit auch so sensationelle Entdeckungen wie
die des Ehepaares Curie zu leiden haben, sollte man eigentlich von der
Stellung der Wissenschaft in Frankreich nicht erwarten. — Von großer
Wichtigkeit ist es auch, den Atemzug der kindlichen
Seele zu belauschen, um sich vor pädagogischen Miß-
griffen zu bewahren....« Ja was ist denn das? Wie kommt das
Radium zum Atemzug der kindlichen Seele? Was haben chemische
Forschungen mit pädagogischen Mißgriffen zu schaffen? Nun, die
Schere kann nichts dafür, aber der Kleister hat- diesmal zu viel des
Guten getan. Am nächsten Tag findet sich nämlich ein Artikel: >Die
Seele des Kindes«. Darin fehlt der Absatz, der irrtümlich dem Artikel
über das Ehepaar Curie angehängt ist. Der Dieb hatte Radium und
Kinderseele mit einer Hand zusammengerafft und gar nicht gemerkt,
daß hier irgendetwas nicht stimme. So hat er sich wieder einmal
selbst verraten.
Friseur. Die Qualität des Lesepublikums des ,Neuen Wiener
Tagblatts' muß eine sonderbare sein. In der Nummer vom 1. Februar
erteilt der Briefkastenmann gleich an zwei Adressen die folgenden Winke :
Disespoir. Reiben Sie die Kopfhaut mit grauer Salbe, welche Sie
unter diesem Namen in der Apotheke bekommen, Abends ein und ver-
28 --
binden Sie Kopf und Haare über Nacht mit einem Tuche; die Haare
iTiBssien täglich mit einem 5taubkamm durchgekämmt, und durchsucht und
die Einreibung mehrmals wiederholt werden. Nach einigen Tagen verderi
Kopf und Haare gewaschen .
Und:
Ungreziefer, L. Waschen des Kopfes mit Petroleum, dariiv Ein-
binden über Nacht. Früh abwaschen mit Seifenwasser und gut durch-
kämmen. Die zurückbleibenden Nisse werden mittels Waschungen mit
^ig entfernt.,
Zwei > liebe Leser«!
Tierarzt. .Deutsches Volksblatt' vom 10. Februar. Vor den
Wiener Landesgericht ist ein Kridatar wegen Brandlegang - und hörn -
sexueller Vergehung angeklagt. Das zweite Delikt kommt bekanntlich ::
den besten Familien vor. In der Hütte des Armen wie im Palaste es
Reichen wird es, dort als Verbrechen, hier als Krankheit, geübt. Sog.r
in Herrscherhäusern soll es nicht unbekannt sein. Das .Deutsche Volk -
blatf schreibt: »Wie wir schon erwähnt, hatte der Ehrenjude Schoßber: -
Of*'ohnheiien. die von eiirer Perversität zeigen, v. :
eine solche in reio arischen Kreisen gar jiie vorz
kommen pflegt!« — Ein weiterer Fair von Hundswut ist bis; r
mcljit.w verzeichnen.
Schmock. Preisfrage: Welcher Ball »übertraf an Sdiönbeit uri
vornehmer Eleganz all seinö Vorgänger« ?
Höfling. Übersiedlungen nach Prag', Abbazia. Ragusa. Meran.
Auf. allen- Linien und Nebenlinien Züge des Herzens, — in direkter
lind aufik in verkehrter Richtung, Und wieder wird »amtlich« dementiert,
daß ' »ein . junger Prinz aus einer Nebenlinie« mit einer Wirtstochter
»ein ernstes Liebesverhältnis unterhalte und die Absicht habe, sie
zu ehejichen«. Und wenn schon! Der junge Prinz kann für die
Thronfolge nie in Betracht kommen, sein Handeln ist Privatsache. Oder
müssen wir uns auch dafür interessieren, wie kaiserliche Prinzen leben
und lieben?' Nächstens wird es uns bereits bekfimraem, wenn in dem
Wahlspruch »Tu Felix Austria nube!« der Nachdruck ausnahmsweise
nicht auf dem Heiräten liegt ... Es ist zu viel ! Wir tun nicht mehr
mit. Mögen sich die Lakaiengeraüter einstweilen beruhigen ! Nicht zur
Neugierde, zur Ehrfurcht zwingt uns Österreicher das Gesetz.
MITTEILUNG DER REDAKTION.
Unverlangte Manuskripte werden nur zurück-
gesendet, wenn frankiertes und adressiertes
Kuvert beilag. Es genügt die einer Drucksache \
entsprechende Frankierung, da die Rücksendung
wegen Zeitmangels ohne scKriftliche Begleitworte,
Bedauern oder Begründung, erfolgt.
Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: Karl Kraus.
Druck von lahoda & Sieeei. Wien. III. Hintere ZollamtsstraBe 3.
[bb ErscMenen am 24. Febraar iöOd
V, Jilif
Die Facki
Herausgeber:
KARL KRAUS
Erscheint drei- oder zweimal Im Monat.
Preis der einzelnen Nummer 24 h.
Irock nnd Jtewerbsniäßigea Verleihen verboten: ffeiJcfitUche Verfolpiinsr
,1^^
'//
'n^N
Vwßit^iEJBACiiiKU, IV. Schwinüsaüfio
KLAVIERKUNSTSPIEL
= APPARAT
Phonola
mit seiner größten vSkala und seiner geteilten
Abdämpfung für Baß und Diskant ermöglicht
allein die schwierigsten Kompositionen von
Liszt, Beethoven etc. originalgetreu zu spielen.
Den Vortrag künstlerisch bis in die kleinsten
Feinheiten auszug(^stalten bleibt ganz der indi-
viduellen Auffassung des Spielenden überlassen.
üdvig j(np|el9
Leipzig-Berlin
Wien, VI. Mariahilferstr. 7—9
i
TELEPHON 7550
Zur Besichtigung wird höfhchst eingeladen, Pro-
spekte gratis, Bezugsquellen werden angegeben.
Preis Kr. IIOO.-.
Die Fackel
Nr 155 WIEN, 24. FEBRUAR 1904 V. JAHR
■'!■■ III III —
ils ist sehr löblich, daß als prompte Illustration
zu dem Wucher- Artikel in Nr. 154 der ,FackelV der
Prozeß Z i n n e r aufgeführt wurde. Herr Pollak, der
Anwalt des Staates, erklärte, daß auch an Verbrechern
ein Verbrechen verübt werden könne. Das ist unbe-
streitbar. Wann aber kommen endlich die Prozesse gegen
die — Verbrecher an die Reihe? Eine sympathische
»Rechtsfindung«, um die Staatsanwälte und Wucherer
in freundschafthchem Einvernehmen bemüht sindl Herr
Zinner mag das unsauberste Individuum sein, das je
die Anklagebank gedrückt hat: der Gesellschaft wäre
noch immer besser gedient, wenn man den Schädiger
der Wucherer laufen heße und sich seiner als Zeugen
gegen die Zeugen bediente. Herr Zinner, der ihnen
ethisch ebenbürtig und intellektuell gewachsen war,
verdankt ihnen bloß eine Kerkerstrafe. Aber so
manchem Opfer ihrer Erpressertücken haben sie den
Revolver in die Hand gedrückt. Unsere Wucherer
sind nicht in Polizeifurcht aufgewachsen. Erinnert
sich jener Sicherheitsbeamte, der gern außeramtlicK
interveniert, wie er einst in Gegenwart einer Rotte
»Geschädigter« einen ehrenhaften jungen Gelehrten,
letwa eine Stunde vor dessen Selbstmord gedemütigl
hat? . . . Die Staatsanwaltschaft sollte doch endlich,
wieder die Agenden an sich nehmen, die allzulange
schon im übertragenen Wirkungskreis die ,Packel*'
verrichten mußte. Ich wurde schamrot, als die Behörde
(jene Musikerswitwe, der von Privatdetektivs ein
Iden Kapellmeister Ziehrer belastendes Manuskript'i
— 2 —
herausgelockt wurde, an die , Fackel' wies. Und
nun laufen bei mir täglich Anzeigen gegen Wucherer
ein: »Ihrer freundlichen Aufmerksamkeit sei die
Agentenbande Soundso in dem und jenem Kafifee-
hause empfohlen. Sie würden sich den Dank vieler
Betrogener erwerben.« Ja, ich kann doch niemanden
verhaften? Könnte ich's, so manche Tafel im Hause
eines Wucherers würde plötzlich aufgehoben und —
so manchen Staatsanwalt und Polizeibeamten ließe
ich von dort abführen.
»Über 1150 Gramm Blut fehlen«. So kon-
statiert das jDeutsche Volksblatt' mit Befriedigung.
In Prag wurde ein junges Mädchen ermordet, und
der Herr, der im Wiener Antisemitenblatt das Blut-
referat innehat, ist bereits zur Stelle. Ein Lustmord
ist natürlich ausgeschlossen. Und schon wird auch
beobachtet, wie sich »der Bevölkerung eine große
Aufregung bemächtigt«. . . Na, nur keine Übertrei-
bungen ! Das Volk hat gegenwärtig dringendere «
Sorgen und dürfte selbst durch ein Abonnement auf j
das ,Deutsche Volksblatt' nicht mehr auf jenes geistige]
Niveau hinunterzudrücken sein, auf dem ein Interesse'
für den »Ritualmord« und verwandte Fragen erst \
möglich ist. In Prag schUeßt schon der mit gemischt- J
sprachigen Straßentafeln verhängte politische Horizont
die Lösung solcher Probleme aus . . . Viel wichtiger
aber ist jetzt, zu vermeiden, daß sich eines andern
Bevölkerungsteiles »große Aufregung« bemächtigt. jj
Man sollte meinen, daß die Juden endlich einmal die . I
ihnen zugeschriebene Klugheit beweisen, auf den alten :
Schwindel nicht mehr hereinfallen und sich im Stillen i'
freuen werden, daß der Antisemitismus seine wirt-l
schaftliche Mission aufgegeben und in vollkommenerj
Vertrottelung sich ins Ausgedinge der Ritualscherze ^
— 3 —
zurückgezogen hat. Hoffentlich läßt es sich diesmal
kein Vertreter jüdischer Interessen einfallen, im
Musikvereinssaal pathetisch zu werden ! Dies wäre
gefährlicher als der Stumpfsinn des , Deutschen Volks-
blatts',das doch sicher zum Kuschen zubringen ist, wenn
ihm ein paar jüdische Bankdirektoren beweisen, daß
in ihren Häusern zwar Christengeld, aber nicht
Christenblut verwendet wird.
Pas folgende vom Dezember datierte Schreiben
eines in Peking lebenden Österreichers wird mir
übermittelt :
Allenthalben war großes Erstaunen, als bekannt
wurde, Österreich hätte, dem Beispiele der anderen
Mächte folgend, sich einer Land-Konzession auf
chinesischem Boden bemächtigt. Gründe? Weil es
die Anderen ebenso gemacht. Aber wir sind mit
einer unscheinbaren Macht hier erschienen, umso
unscheinbarer, als an Ort und Stelle nur die Lan-
dungstruppen gesehen wurden. Dies versetzte die
Chinesen in den Glauben, daß wir als AUiierte Deutsch-
lands und nur unter seinem Schutze uns dazu er-
mächtigten. Dabei ist gerade unsere Konzession den
Chinesen ein Dorn im Auge; sie wird von zwei Seiten
direkt von der Chinesenstadt begrenzt und bildete
früher einen Teil von dieser. Da wir sie nun haben,
heißt es den besten Nutzen daraus ziehen. Die Re-
gierung ist für eine materielle" Unterstützung schwer
zugänglich. Ein Privatinteresse ist nicht vorhanden,
um aus diesem Stückchen Land eine Niederlassung
nach dem Muster der anderen Mächte zu machen.
Da wir bei der Besitznahme die Gewaltanwendung
versäumten, wären wir jetzt zu einer kostspieligen
Expropriierunggezwungen, falls wir ernstlich die Absicht
hätten, etwas für die Sanierung und Regulierung zu tun
und das wiedererwachte chinesische Leben aus den un-
__ 4 —
beschreiblich kleinen und schmutzigen Gäßchen zu
treiben. Die arme, aber zahlreiche Bevölkerung ver-
hielt sich ruhig, die Verwaltung hatte kein Defizit.
Als man letzthin den Entschluß gefaßt, ein Konsulat
und Kasernen auf der Konzession zu bauen, wurde
ein Expropriierungsversuch gewagt. Eine Verordnung
zur Taxierung der Preise für Boden und Gebäude
wurde erlassen. Ob der niedrigen Entschädigungen
gab es großes Geschrei seitens der Chinesen, die sich
mit einer Petition an den Vize-König wandten. Die
Sache fand natürlich in der lokalen Presse ihr Echo,
und das Ganze wurde aufgebauscht, in einem Sensa-
tionsartikel als Raubakt hingestellt. Die Beschwerde
war zum Teil gerechtfertig, da eine Entschädigungs-
summe von 70 Taels = 200 Kronen für einen Ziegel-
bau der ersten Kategorie durchaus unzulänglich ist.
Und nun ist es von dieser Aktion still geworden,
obwohl ein energisches Vorgehen, sei es auch nicht
ganz gerechtfertigt, gewiß bessern Eindruck gemacht
hätte. . . Wir haben also eine Konzession, ein Kon-
sulat und ein Detachement (20 — 30 Mann). Der
Besitz des emen begründet die Notwendigkeit der
beiden anderen. Aber die Notwendigkeit des Ganzen?
Fromme Wünsche sind es, daß man mit der Zeit
österreichische Kaufleute heranziehen wird, die sich
hier niederlassen werden, um der Regierung ge-
fäUig zu sein; drei Kilometer vom internationalen Ge-
schäftszentrum entfernt, in einem armen Chinesen-
stadtteile, in den sich hineinzuwagen immer einen
Entschluß kostet I . . . Was bis jetzt in kommerzieller
Beziehung geleistet wurde, ist die Erteilung einer
Lotto-Kollektur — ein Export, der uns wenig
Ehren eingebracht hat und von den Rivalen auch ent-
sprechend ausgenützt wurde. Selbstdiechinesische
Verwaltung hat sich aus moralischen Grün-
den bemüssigt gesehen, ihre Untertanen
davor zu warnen. Und die Pointe: daß es nicht
einmal ein Österreicher ist, der von diesem Privi-
— 6 —
legium einen Nutzen zieht, sondern einige deutsche
Geschäftsleute. . . Man interessiert sich bei uns viel
zu wenig für das, was im fernen Osten vorgeht,
und unterschätzt diesen Markt der Zukunft. Es
ist sehr zweifelhaft, ob es wirksame Mittel gibt,
den Unternehmungsgeist zu beleben und anzuspornen:
um es tun zu können, müßte einer vorhanden sein.
Man müßte den Leuten sichere Geschäfte anbieten,
womöglich Resrierungsgeschäfte , die mit keinem
Risiko verbunden sind, damit sie zuerst die Scheu
vor dem Fremden, Unbekannten verlieren. Jetzt ist
das Waffenverbot aufgehoben, China wird noch für
Millionen Bestellungen machen. Die Aera der Bahnen
und der folgenden Erschließung beginnt. Nach den
außerordentlichen Resultaten der Belgier, Amerikaner
etc. »reißen sich« alle Nationen um derartige Kon-
zessionen. Auch die Eröffnung der Minen ist in aller-
nächster Zeit zu erwarten. Der Wettlauf hat die
Chinesen stutzig gemacht, und sie wollen sich augen-
blicklich zu keiner weiteren Konzession entschließen.
Ein günstiger Moment, um großmütig China die paar
Quadratkilometer, die uns nur Scherereien machen
und kaum je etwas eintragen werden, zu überlassen
und dafür praktischere Vorteile zu erlangen, — Pri-
vilegien für ausschließliche Regierungslieferungen,
Bahnen- und Minen-Konzessionen. Durch diese Liefe-
rungen würden unsere Firmen mit dem Lande in
Fühlung kommen und dank dem chinesischen Kon-
servatismus diese Fühlung nicht verlieren. Unter
den Bahnkonzessionen ist z. B. die Sechuen-Bahn,
die eine der reichsten Provinzen Chinas mit einer
Bevölkerung von über 40 Millionen dem Verkehre
erschließen wird; dann die Kaigan- Bahn, eine Teil-
strecke der Karawanenstraße Peking-Kiatka, der direk-
testen Verbindung Chinas mit Europa. Und sollte auch
mit der Zeit ganz Nordchina in russische Hände
kommen, wird solch ein Besitz ein wertvolles Tausch-
objekt bleiben, an welchem man nur gewinnen kann.
— 6 —
Unsere Metall-Industrie würde durch diese großen Be-
stellungen einen neuen Aufschwung erhalten, auch
der Lloyd hätte einen guten Vorwand zu einer
rascheren Entwicklung, mit einem Wort, das bisher
unbeachtete und unterschätzte Österreich hätte Ge-
legenheit, in den internationalen Konkurrenzkampf
einzutreten, gestützt auf Vorteile, die den Erfolg
sichern
Im Prozeß gegen den wegen Betrugs und sexu-
eller Vergehungen verurteilten Josef Schoßberger sagte
der Staatsanwalt nach unberichtigten, also wohl rich-
tigen Gerichtssaalmeldungen :
>. . . Auch alle natürlichen Triebe wirken mit Gewalt auf
den Menschen ein; das Gesetz aber gebietet, allen diesen Trieben
zu widerstehen, sobald sie auf Kosten fremder Rechtsgüter befrie-
digt werden müßten. <
Der Angeklagte Schoßberger hat seinen per-
versen Trieb nicht auf Kosten »fremder Rechtsgüter«
befriedigt, da er dem freien Willen seines Konsorten
nicht Gewalt antat, dessen Gesundheit nicht schädigte.
Also war er wegen Betruges zu verurteilen, wegen
des Sexualdelikts auch nach Ansicht seines Anklägers
freizusprechen. Versteht sich, vom Standpunkt eines
kommenden Gesetzes. Die Erklärung des Staatsanwaltes
ist, selbst wenn im vorliegenden Fall ein »fremdes
Rechtsgut« verletzt wurde, mindestens für die Reform
des Strafgesetzes richtunggebend. Gegen die perversen
Triebe bedarf's keiner anderen gesetzlichen Schran-
ken als gegen die natürlichen: Schutz der Unmündig-
keit, der persönlichen Freiheit und der Gesundheit.
Ihr Walten kann nur dort strafbar sein, wo es diese
»fremden Rechtsgüter« berührt hat. . . Ist die Wiener t)
Staatsanwaltschaft wirklich so vernünftig? Oder ist
sie es nur infolge fehlerhafter Gerichtssaalbericht-
erstattung?
__ 7 —
Psychiatrie.
Aus dem gerichtsärztlichen Gutachten über den
~Dr. Zinner:
»Er hatte Zittern, heftige Krämpfe beim Einschlafen, morgens
Üblichkeiten. Er ist auch innerlich haltlos geworden, seine
ursprünglich feinere Empfindung in poetischer und literarischer
Beziehung wurde durch den Alkohol immer mehr in den Hinter-
grund gedrängt. Er hatte keinen Geschmack mehr an
feineren Darbietungen des Burgtheaters und der
Oper, und ethisch immer tiefer sinkend, trieb er sich
mit weiblichen Bekannten im Tingel-Tangel herum.«
Sapperraent! Sappermentl Wer hätte je gedacht,
dajß es für die Frage, ob Herr Zinner Betrug und
Veruntreuung begangen hat, wichtig sein würde, zu
erfahren, daß er keinen Geschmack mehr an den
feineren Darbietungen des Burgtheaters und der Oper
gehabt hat ? Mindestens scheint nach der Anschauung
der Wiener Gerichtspsychiater der Besuch der Hof-
theater ein Beweis morahscher Vollwertigkeit zu sein.
In Wirklichkeit ist dem leider nicht so; es handelt sich
lediglich um eine Geschraacksfrage, und Herr Zinner
hätte nicht den übelsten Geschmack bewiesen, wenn
er dem Genuß mancher Novitäten der letzten Jahre
die Gesellschaft »weiblicher Bekannter« (schrecklich!)
im Tingel-Tangel vorgezogen hat. Es ist auch ein
Irrtum, zu glauben, daß man durch den Verkehr mit
weiblichen Bekannten oder durch den Aufenthalt in
einem Vari^t^ ethisch immer tiefer sinkt. Ich habe
beides schon erprobt, kann aber ruhig behaupten, daß
ich mich um keinen Schritt der Möglichkeit, Depots
zu veruntreuen, näher gerückt, sondern im Vollbesitze
meines ethischen Hochmutes fühle und würdig, Heraus-
geber der ,Packel' zu sein. Die Kunstinteressen und
privaten Neigungen des Herrn Zinner wären im Gut-
achten wie in der ganzen Verhandlung besser
unerörtert geblieben. Sie sind wirklich kein Maßstab.
Einer kann ein Don Juan sein — der schmierige kleine
— 8 —
Advokat war es nicht — und doch vom Scheitel bis
zur Sohle ein Ehrenmann in wirtschaftlichen Dingen.
Einen andern brauchte das Gelübde der Keuschheit
nicht zur Enthaltung von fremdem Eigentum zu
zwingen. Das schwindende Interesse des Herrn Zinner
an den Darbietungen des Burgtheaters könnte — und
wenn er Millionen veruntreut hätte — noch immer
eher für den künstlerischen Verfall des Burgtheaters
als für den sittUchen des Herrn Zinner zeugen. Und
der Mann ist nicht zu bedauern, weil er durch seine
Verhaftung an dem Besuch der »Jakobsleiter« von
Davis verhindert wurde! . , .
tierr Pötzl ist als Beschauer des Wiener Klein-
lebens eine so geschlossene und künstlerische Persön-
lichkeit, daß es wirkUch schade ist, wenn er sich
durch fortwährende kritische Aufregung aus seiner
Position zu bringen sucht. Man kann sehr viel gegen
die gedankliche Anmaßung der Fakultäten maierei
Klimt's einzuwenden haben, aber es geht doch auf
die Dauer nicht an, diesen außerordenthchen Könner
deshalb zu verunglimpfen, weil seine Frauengestalten
nicht »mollert« sind und dem Ideale der »Mudel-
sauberkeit« nicht entsprechen. Und es ist einfach
nicht wahr, daß die Anerkennung der Hodler und
Munch ausschließlich Sache der Snobs ist, wie Pötzl's
versifizierter Ärger uns neulich glauben machen
wollte. Überhaupt bekenne ich, daß mir das Treiben
der Snobs im Kunstgehege zwar lächerlicher, das
der Philister aber gefährlicher scheint. Der Snob
fördert das Unkraut, der Philister hindert die Edel-
pflanze. Spießer zur Strecke bringen, war, wenn ich im
Blätterwald streifte, immer meine höchste Weidmanns-
lust ! Es ist bedauerlich, daß Herr Pötzl, den so manche
Wiener Skizze, die er geschrieben, hoch über den Troß
— 9 —
schreibender Kommis stellt, sich immer wieder ins
kritische Revier begibt. Der kleinste Horizont schließt
die Möglichkeit feinster Künstlerschaft ein, aber hinter
ihm liegt das Recht, eine Meinung zu äußern über
tCünstlerschaft, die hinter ihm liegt. Man kann eine
prächtige humoristische Betrachtung über das Rind-
fleisch bei »Meißl und Schadn« schreiben. Aber der
Standpunkt, von dem aus man die moderne Kunst
abtut, ist dann in der Regel auch der einer Sach-
verständigkeit über Kruspelspitz und Hieferschwanzl.
Zahlreiche Leser wünschen Näheres über die Lebensge-
wohnheiten des Herrn Lippowitzzu erfahren. Ich weiß nichts, und
es ist nicht Sache der , Fackel', große Männer bei ihren täglichen
Verrichtungen zu belauschen und sie nach ihren »Lieblingsspeisen
und Lieblingsgetränken« zu beurteilen. Ich glaube immerhin,
daß Herr Lippowitz gern Krebse ißt, weil sie bekanntlich zwei
Scheren haben, und daß er Mineralwässer nicht leiden kann, weil
auf ihnen immer die Quelle angegeben ist. Aber mich interessieren
nur die öffentlichen Funktionen des Mannes. Und da muß ich
neidlos anerkennen. Uneingeschüchtert durch warnende Zurufe aus
allen Gauen Deutschlands, mit einer Selbstverständlichkeit, die den
Diebstahl als journalistisches Naturrecht heiligt, krabbst das traurige
Lippowitzblatt am helllichten Tage weiter. Hundertmal ist hier und
andern Orts der Dieb ein Dieb genannt worden, und anstatt wegen
Ehrenbeleidigung zu klagen, ging er hin und stahl. Vergebens
gellen ihm, wenn er in seiner prachtvollen Equipage, die ihm der
Schere Arbeit erwarb, dahinrollt, die Segenswünsche unbezahlter
Mitarbeiter ins Ohr. Der Diebsanzeiger, der hier etabliert ward,
hat nichts gefruchtet. Herr Lippowitz ist ein Feind jeglicher An-
geberei, nicht nur jener der Quelle. So bleibt nichts übrig als ihm,
dem Reichsdeutschen, von Zeit zu Zeit landsmännische Urteile über
seine Wiener Wirksamkeit vorzuhalten. Nach der , Frankfurter
Zeitung', nach den zahllosen Festnagelungen literarischer Fachblätter
meldet sich jetzt das ,Berliner Tageblatt'. In der Nummer
— 10 —
vom 12. Februar finde ich einen >Briefkasten der Redaktion«,
der den folgenden Anruf enthält:
Redaktion des «Neuen Wiener Journal'. Wir müssen
zugeben, daß Sie mit großem Geschick aus verschiedenen Be-
richten unseres New -Yorker Korrespondenten sich ein hübsches
Feuilleton > Amerikanisches Leben« zusammengestellt haben. Es
wäre uns aber lieber, wenn Sie weniger Geschicklich
keit und dafür mehr Anstand besäßen.
In der ,Neuen Freien Presse' hat sich an ein Feuilleton des
Herrn Ludwig Fulda eine angeregte Diskussion über >d i e Kunst
des Übersetzer s< geknüpft. Da bekamen wir so manche drollige
Probe vorgesetzt, über die sich Einsender und Blatt mit Recht lustig
machten, und die ,Neue Freie Presse' konstatierte, daß sie >jeder
Beschreibung spotte«. Wie schade, daß man nicht auf das nächst-
liegende Beispiel verfiel! Am 26. Jänner war in der 42. Fort-
setzung des Ohnet'schen Romanes »Der Weg zum Ruhme«, der
in einem großen Wiener Blatt erscheint, der Satz enthalten: »Ich
würde lieber eine wüste barbarische Orgie im Hofe hören,
welche die ,Diamanten der Königin' oder ,Der Postillon von
Longjumeau' spielt.« Im französischen Original heißt es: Orgue
de Barbari e. Vielfach wird behauptet, daß dies auf deutsch so-
viel wie Drehorgel bedeutet. .. Unnötig, hinzuzufügen, daß das
Blatt, welches barbarische Orgien im Hofe hört, die ,Neue Freie
Presse' ist.
Salzburger Literaturleben.
In Salzburg herrscht große Aufregung. Das Stück eines
»Heimatkünstlers« — man versteht darunter Literaten, deren
Talentlosigkeit sich auf jenen Ort, wo sie zuständig sind, erstreckt
— ist im dortigen Theater durchgefallen. Bei der zweiten Vor-
stellung kam es sogar zu einem Skandal. Darauf erschien im
,Salzburger Tagblatt' (No. 30. vom 8. Februar, Seite 6) das nach-
stehende Inserat:
11 -
Erklärung !
Die »Qlockenspielkinder< wurden von Kommissionären des Instituts-
inhabers Kaiser ausgepfiffen und lassen sich alle anderen Dienstmänner
zu solchen, dem hohen Publikum abfälligen Handlungen nicht
herbei und bitten, bei eventuellen Aufträgen dieses zu berücksichtigen.
Die hiesigen
Packträger, Stadtträger, Expreß und Dlenstmänner.
Welchen Erfolg hatte »Rose Bernd«?
,Neue Freie Presse': »Man hörte nach den Aktschlüssen viel
applaudieren, auch konnte der anwesende Dichter oft genug
vor den Vorhang treten; es schien aber doch, als ob aus
diesem Beifall mehr Höflichkeit als Herzlichkeit zu ver-
nehmen wäre. Das Publikum ist nicht recht mitgegangen.«
,Neues Wiener Tagblatt': »Großer Erfolg ... in die Ehren
des Abends teilen . . . Gerhart Hauptmann dankte in Person
für rauschenden Beifall und unzählige Hervorrufe.«
,Neues Wiener Journal': > Das Publikum, welches der Stoff
abzustoßen schien, wollte sich nicht für das Stück erwärmen . . .
und Hauptmann wurde erst vom dritten Akt an gerufen, <
,Zeit': »Hauptmanns Drama hat trotz der Abschwächung, die der
kernige Dialekt im Burgtheater erfahren mußte, gestern eine
tiefgehende Wirkung geübt. Anfangs verhielt sich das Pub-
likum zwar etwas kühl, aber es wurde immer mehr in den
Bann der Dichtung gezogen und äußerte nach den letzten
Akten seinen Beifall in zahlreichen Hervorrufen und lebhaften
Ovationen für den Dichter«
, Ostdeutsche Rundschau': »Qerhart Hauptmann konnte es
mit seinem neuen Schauspiel ,Rose Bernd' auch in Wien
zu nicht mehr als zu einem sogenannten »Achtungserfolg*
bringen. Es war beinahe schon ein Erfolg blinder Hoch-
achtung vor der Person des anwesenden Dichters, von dem
man wußte, daß er hinter der Kulisse bereit stand, hervor-
gerufen zu werden. Sein Schauspiel jedoch . . . begegnete
gestern tauben Ohren und unbewegten Gemütern. . . Es fiel
sanft in das Massengrab, das im Theaterjargon ,Archiv'
heißt.«
— 12 —
.Reichswehr': >Qerhart Hauptmann erschien nach den folgenden
Akten. Man begrüßte ihn stürmisch, er hat seine Gemeinde,
die zu ihm betet und ihn preist, er mag Icünden was er will.«
,Deutsches Volksblatt': >Gerhart Hauptmann dankte persön-
lich für den Beifall, der kein allzu lauter war und in den
sich auch ziemlich energisches Zischen mengte.«
»Österreichische Volkszeitung': >... Erst nach dem dritten
Akt setzte voller Beifall ein und als Qerhart Hauptmann
selbst dafür dankte, brach lauter Jubel los und der Dichter
mußte einhalbdutzendmal erscheinen. Die prächtige Dar-
stellung trug viel zu dem Erfolge des Stücks bei.<
»Deutsche Zeitung': »Es war der schwerste Mißerfolg, den
Hauptmann in Wien erfuhr, weit verdrießlicher als jener
des ,Armen Heinrich'.«
• «
Väter und Söhne.
Richard Wagner war im November 1875
nach Wien gekommen, um den »Tannhäuser« zu in-
szenieren. Gelegentlich einer Auseinandersetzung mit
den Künstlern der Hofoper, in der es sich um die
Aufklärung eines durch eine Ansprache Wagners an
das Publikum hervorgerufenen Mißverständnisses
handelte, sprach er — im Regiezimmer des Theaters
— die Worte: »Ich selbst kann mit den Zeitungen
nicht in Verbindung treten, denn ich verachte
die JournalistikI«
Siegfried Wagner war im Februar 1904
nach Wien gekommen, um dem Direktor der Hofoper
den »Kobold« zu überreichen. Auf dem Ball der
Wiener Presse, den er am Abend seiner Ankunft
trotz der Erschöpfung einer vielstündigen Reise be-
suchte, hielt er — im Komiteezimraer — eine Rede,
die in die Worte ausklang: »Die Ooncordia lebe
hochl«
— 1$ —
Andachtbücher .'^)
Von August Strindberg.
Abends, ehe ich einschlafe, meditiere ich erst
eine halbe Stunde, das heißt, ich lese in einem An-
dachtbuch, das ich je nach der Gemütstimmung wähle.
Zuweilen habe ich ein katholisches ; das bringt einen
Hauch des apostolischen, traditionellen Christentumes
mit ; das ist wie Latein und Griechisch ; das sind die
Ahnen ; denn mit dem katholischen Christentum be-
ginnt unsere, meine Kultur. Mit dem römischen Ka-
tholizismus fühle ich mich als römischen Bürger,
europäischen Staatsbürger; und die eingeflochtenen
lateinischen Verse erinnern mich daran, daß ich Bildung
habe. Ich b i n nicht Katholik, bin es nie gewesen,
denn ich kann mich nicht an ein Bekenntnis binden.
Darum nehme ich mitunter ein lutherisches altes Buch,
mit einem Stück für jeden Tag im Jahr ; und das
benutze ich als Geißel. Es ist im 17. Jahrhundert
geschrieben, als es die Menschen schlimm auf Erden
hatten. Darum ist es schrecklich streng, predigt das
Leiden als eine Wohltat und eine Gnadengabe. Selten
hat der Prediger ein gutes Wort ; kann einen zur Ver-
zweiflung bringen ; aber darum kämpfe ich gegen ihn.
Es ist nicht so, sage ich mir, und dies ist nur dazu
da, um meine Kräfte zu versuchen. Der Katholik hat
mich nämlich gelehrt, daß der Versucher in seiner
häßlichsten Rolle auftritt, wenn er den Menschen zur
Verzweiflung bringen und einer Hoffnung berauben
will ; aber die Hoffnung ist eine Tugend für den Ka-
tholiken, denn von Gott Gutes glauben, ist der Kern
der Religion ; Gott Böses zutrauen , ist Satanisraus.
Zuweilen greife ich zu einem wunderlichen Buche
aus der Aufklärungsperiode des 18. Jahrhunderts. Es
ist anonym , und ich kann nicht sagen , ob es von
einem Katholiken, Lutheraner oder Galvinisten ge-
*) Aus dem unveröffentlichten schwedischen Manus-
kript Strindberg's übersetzt von Emil Schering.
155
— 14 —
schrieben ist, denn es enthält christHche Lebensweis-
heit eines Mannes, der Welt und Menschen kennen
gelernt hat und der auch ein Gelehrter und ein Dichter
ist. Er pflegt mir zu sagen, wessen ich gerade für den
Tag und die Stunde bedarf. Und wenn ich mich einen
Augenblick gegen seine Ungerechtigkeit und seine
unsinnigen Forderungen an einen Sterblichen auf-
gelehnt habe, kommt der Verfasser gleich mit meinen
Einwendungen. Er ist, was ich einen raisonnablen
Menschen nenne, der mit beiden Augen sieht und
Recht und Unrecht nach beiden Seiten verteilt. Er-
innert etwas an Jakob Böhme, der fand, das alles Ja
und Nein enthalte.
Bei großen Gelegenheiten muß ich zur Bibel
greifen ! Ich besitze mehrere Bibeln verschiedenen
Alters; und es scheint mir, als stände nicht dasselbe
in ihnen ; als besäßen sie verschiedene Stromstärke
oder Fälligkeit, auf mich Eindruck zu machen. Eine,
in schwarz Karduan, mit Schwabacher im 17. Jahr-
hundert gedruckt, hat eine unerhörte Kraft. Sie hat
einer Priesterfamilie gehört, deren Stammtafel auf der
Innenseite der Deckel geschrieben steht. Es ist, als
wären Hass und Zorn in diesem Buche akkumuliert ;
und es schilt und straft nur ; wie ich die Blätter
auch wende, immer komme ich zu Davids oder Je-
remias' Verwünschungen von Feinden; aber die will
ich nicht lesen, denn sie erscheinen mir unchristlich.
Zum Beispiel, wenn Jeremias betet : »So strafe nun
ihre Kinder mit Hunger, und laß sie ins Schwert fal-
len, daß ihre Weiber ohne Kinder und Witwen seien,
und ihre Männer zu Tod geschlagen u. s. w.« Das
ist nicht für einen Christenmenschen. Wohl kann ich
verstehen, daß man Gott um Schutz gegen seine
Feinde bittet, die einen hinabziehen wollen, 'wenn
man hinauf strebt; gegen die. Feinde, die einem aus
Bosheit das Brot rauben. Ich verstehe auch, daß man
Gott danken kann, wenn der Feind geschlagen ist,
denn alle Völker haben Te Deum gesungen nach
— lö —
einem gewonnenen Sieg; aber spezifizierte Strafe auf
die Widersacher herabbitten, das wage ich nicht.
Und ich kann mir wohl sagen, was damals für Jere-
mias oder David paßte, paßt jetzt nicht für mich.
Dann aber habe ich eine andere Bibel, in Kalbleder
und Goldpressung, aus dem 18. Jahrhundert. Es steht
natürlich dasselbe darin wie in der ersten, aber der
Inhalt präsentiert sich auf eine andere Weise. Dieses
Buch sieht wie ein Roman aus und kehrt mir meistens
seine schöne Seite zu, selbst das Papier ist heller, die
Typographie heiterer, und es läßt mit sich reden, wie
Jehova, wenn Moses Vorstellungen zu machen wagt,
die voller Zorn sind. Zum Beispiel, als das Volk von
neuem murrt und Moses alles satt hat, wendet er sich
vorwurfsvoll an den Herrn : »Hab' ich nun all das Volk
empfangen oder geboren, daß Du zu mir sagen magst :
Trag es in deinen Armen, wie eine Amme ein Kind
trägt ? . . . Woher soll ich Fleisch nehmen, das ich all
diesem Volke gebe?... Ich vermag alles das Volk
nicht allein zu ertragen, denn es ist mir zu schwer.
Und willst du also mit mir tun, so erwürge mich
lieber...« Jehova antwortet, nicht unfreundlich, auf
die Vorstellungen , und schlägt zu Moses' Hilfe die
Wahl der siebzig Ältesten vor. Das ist ja nicht der
unerbittliche rachgierige Gott vom alten Testament.
Und ich grüble nicht darüber ; ich weiß nur, daß ich
Zeiten habe, wo das alte Testament mir näher als
das neue ist. Und daß die Bibel, für uns im Christen-
tum Geborene, eine erziehende Kraft hat, das ist sicher;
ob .darum, weil unsere Vorväter psychische Kräfte in
das Buch gelegt, zugleich als sie sie daraus holten,
wäre schwer zu sagen. Heiligtümer, Tempel und
heilige Bücher besitzen faktisch diese Kraft als
Akkumulatoren, aber nur für den Gläubigen, denn
der Glaube ist meine Lokalbatterie, ohne welche ich
das stumme Pergament nicht zum Sprechen bringe.
Der Glaube ist mein Gegenstrom, der durch Influenz
Kraft weckt; der Glaube ist das Reibzeug, das die
— 16 —
Glasscheibe elektrisiert ; der Glaube ist der Rezipieiil,
und muß Leiter sein, sonst kommt es zu keiner Auf-
nahme ; der Glaube ist des Mediums Aufheben des
Widerstandes, wodurch ein Rapport eintreten kann.
Darum sind alle heiligen Bücher stumm für den
Ungläubigen. Denn der Ungläubige ist steril; sein
Geist ist so pasteurisiert, daß nichts darin wächst; er
ist die Negation, das Minus, eine imaginäre Quan-
tität, die Kehrseite, das Saprophyt, das nicht von
sich lebt, sondern auf den Wurzeln des Wachsenden ;
er besitzt kein selbstständiges Dasein, denn um
negieren zu können, muß er das Positive haben,
das er negiert.
Schließlich gibt es Augenblicke, wo nur etwas
Buddhismus hilft. So selten bekommt man ja, was
man wünscht; was nützt es da, daß man wünscht?
Nichts wünschen, nichts begehren, von den Menschen
und dem Leben, und du wirst immer glauben, mehr
bekommen zu haben, als du hast begehren können;
und du weißt aus Erfahrung, wenn du bekommen
hast, was du wünschtest, so war es weniger das Ge-
wünschte als die Erfüllung selbst, die dir Freude
machte.
Zuweilen fragt wer in mir: glaubst du daran?
Ich bringe die Frage sofort zum Schweigen, denn
ich weiij, der Glaube ist nur ein Zustand der Seele
und kein Gedankenakt, und ich weiß, dieser Zustand
ist mir heilsam und erzieherisch.
Es geschieht jedoch, daß ich mich gegen die
unsinnigen Forderungen, die allzu strengen Er-
mahnungen, die unmenschlichen Strafen erhebe, und
dann verlasse ich für einige Zeit meine Andacht-
bücher; aber ich kehre bald zu ihnen zurück, von
emer rufenden Stimme aus der L^rzeit gemahnt:
»Denke daran, daß du ein Knecht in Egyptenland
gewesen bist, und der Herr dein Gott dich davon
erlöst hat.« Dann schweigt meine Opposition, und
ich komme mir wie ein undankbarer feiger Lümmel
— 17 —
vor^ wenn ich meinen Retter vor den Menschen ver-
leugnen wollte.
Ihr Ruf.
»Und dann mit dem — 1« »Und dem!« »Und dem — 1
Ja, waren Sie denn selbst dabei?
»Ich? Gott, das ist doch einerlei II
Man sagt ja doch ganz allgemein — «
Gewiß I Dann muß es ja so seini
»Und neulich dies — I» »Und dasU »Und das — I«
Ja, haben Sie's denn selbst gesehn?
»Was selbst I? Wozu? Ich bitte schön II
Wo alle Welt, ganz allgemein — «
Gewiß 1 Dann muß es wohl so seinl
»Und Sie??« Ich habe, sehr Verehrte,
Auch nichts gehört, auch nichts gesehn —
Und will deshalb nur eingestehn,
Daß manches Bild mehr lehrreich scheint
Für den, der's malt, als den, den's meint.
»Ja aber wenn — wenn's wahr ist — ja?II«
Wahr? — — Ja — und wenn Sie mich ermorden:
Sie ist, so oft ich sie besah,
Bis jetzt nicht häßlicher gewordenl
Julius B ab Berlin.
ANTWORTEN DBS HERAUSGeBBRS.
Fregatten-Kapitän. Darüber, wie tapfer der japanisch-russische
Krieg von der Wiener Presse geführt wird, ließe sich wirklich viel
sagen. Ihr Beispiel ist nur eines von den vielen: Überrumpelung der
zwei russischen Kreuzer Warjag und Korejetz vor Cheraulpo durch eine
japanische Flottenabteilung. Noch bevor der Sachverhalt klargestellt ist,
wirft die ,Neue Freie Presse' die dumme und gehässige Frage auf: ob,
wenn umgekehrt zwei japanische Schiffe überrascht worden wären, diese
^
— 18 —
auch, ohne einen Schuß abzugeben, die Flagge einfach gestrichen hätten,
ob nicht vielmehr die japanischen Kommandanten, um nicht in die
Hände des Feindes zu geraten, getrachtet hätten, ihre Schiffe in die Luft
zu sprengen. Die Animosität der ,Neuen Freien Presse' gegenüber den ';
Offizieren einer befreundeten Macht wird, so schreiben Sie, in Pola als
»ungerecht und tölpelhaft« bezeichnet . . . Schraock als Marineur ist doch
so übel nicht, und Sie stören ihm das Vergnügen durch die Frage, ob
das russische Seeoffizierskorps es nötig hat, sich seinen Mut in der Re- ii
daktion der , Neuen Freien Presse' zu holen!
DiszipUnarrat. In einer Zuschrift an die Tagesblätter verwahrt
sich Herr Dr. v. Feistmantel, der bekanntlich nicnt nur Kurator der Prin-
zessin Coburg, sondern auch Präsident der Advokatenkammer ist, gegen l||
die im Prozeß Zinner vertretene Anschauung, als ob die Zurückhaltung i|
von dem Klienten gehörenden Barschaften — zur Bezahlung von Expensen-
forderungen — eine advokatorische Usance sei, die auch die Billigung
der Kammer fände. »Der Ausschuß«, so erklärt in seinem Namen
Herr Dr. v. Feistmantel pathetisch, »legt Wert darauf, daß die Meinung nicht
aufkomme, als würde eine laxere Behandlung der der ad vokatori sehen
Treue entspringenden, mit der VertrauensstellungdesAdvokaten
untrennbar verbundenen Verpflichtungen von den Standesbehörden geduldet
werden.« Herr Dr. Feistmantel hat Sinn für Humor. Barschaften müssen
die Advokaten ausliefern. Aber was ist's denn mit den Briefen,
die der Klient seinem Anwalt übergeben hat? Wird der Disziplinarrat
endlich gegen den Barber einschreiten? Wird er dem Polizeiadvokaten
Bachrach, der den Anwalt des Herrn Mattasich zu der Veruntreuung
angestiftet hat, das Interesse für die Briefe der Prinzessin von Co-
burg — Briefe, die er nicht erreichte — austreiben? Wird er gegen
den Präsidenten Feistmantel einschreiten, der in offener Gerichtssitzung
eine Handlung als korrekt gelobt hat, die er zwei Wochen später in
einer Zuschrift an die Tagesblätter als eine den Advokatenstand diffamierende
bezeichnet? ... f
Dramaturg. Herr Max Kalbeck ist vielleicht der einzige Wiener
Kritiker, der gegen »Rose Bernd« gar keinen Einwand hat. Aber ergeht
in seiner Bewunderung entschieden zu weit. So z. B., wenn er über
Oerhart Hauptmann schreibt: »Das Theater hat ihn sehen, künstlerisch
sehen gelehrt, und er versteht sich besser als irgend ein Akademiker
auf die Gesetze der Bühne. Darum ist ihm auch das immerhin
bedenkliche Wagestück gelungen, einen Vorgang, der mehrere
Monate währt, in einen Abend zusammenzudrängen.« Man denke!
Bisher konnten bekanntlich bloß solche Vorgänge dramatisiert werden, die im
Leben auch nur von 7 bis 10 Uhr dauern. Zum Beispiel »Faust« ! . . . Herr
Kalbeck ist Gerhart Hauptmann aus landsmannschaftlichen Gründen so
freundlich gesinnt, daß er ihn nicht einmal für Handel und Wandel der Rose
Berr.d verantwortlich macht. Und das will viel sagen. Herr Kalbeck ist
nämlich »Idealist« und kann im Allgemeinen nur schwer über das
»Stoffliche« in der Kunst hinwegkommen und sich mit dem Gedanken
befreunden, daß Dichter nicht bloß in Gartenlauben, sondern auch in
U
— 19 —
Kuhställen geaeihen können. Diesmal hat er sich's abgerungen. Er schildert
den Kindesmord Roses und sagt: >Bei der göttlichen Fähigkeit des schöpfe-
rischen Genius, sich selbst in den verschiedensten Formen zu objektivieren,
werden wir uns hüten, den Dichter für die Gesinnung seiner
Heldin zur Rechenschaft zu ziehen. Was sind spekulative Philo-
sopheme auch mehr als Gedankenmusik, Stimmungen, die zu Reflexionen
erstarrt sind, ehe sie wieder im grenzenlosen Meere des Unbewußten
verfließen!? Die Gestalten, welche sich aus der Phantasie des Dichters
losgelöst haben, führen fortan ein selbstständiges Dasein, und die Kraft
und Ursprünglichkeit, mit der sie geschaffen worden sind, lebt in ihnen
fort.« Herr Kalbeck will zur Vermeidung von Mißverständnissen sagen,
daß Hauptmann den Kindesmord der Rose Bernd nicht billigt. Hoffentlich
ist er auch überzeugt, daß Shakespeare sich nicht mit Richard III. und Schiller
sich nicht mit dem Franz Moor identifiziert . . . Und doch und doch — :
von einer gewissen Parteinahme für Rose ist Hauptmann nicht ganz
freizusprechen; das Stück schließt mit den Worten: »Das Mädel . . . was
muß die gelitten han!« — Die Aufführung der >Rose Bernd« bringt das
Feuilleton des anmaßenden Klugschwätzers Paul Goldmann über die
Berliner Premiere in Erinnerung. Hauptmanns Entwicklung mag sich in
noch so absteigender Richtung bewegen, es ist doch ein schmachvoller
Anblick, ihn im führenden Blatt deutsch-österreichischer Intelligenz dem
Witzdrang seichtesten Schmockgeistes preisgegeben zu sehen. Von Paris
spuckt Herr Nordau, von Wien Herr Schütz und von Berlin Herr Gold-
mann auf die moderne Kunst: eine Tripelallianz pharisäischen Flach -
Sinns, wie man sie sich »gesünder« nicht denken kann. Herr Goldmann,
der einst, da er seiner schmalzigen Breslauer Sentimentalität noch nicht
die »Überlegenheit« angeschminkt hatte, in einer Ischler Sommernacht
über ein Gedicht Hugo v. Hofmannsthals Tränen vergießen konnte,
kann jetzt nicht genug Hohn für den Nachdichter der »Elektra« aufbringen.
Er mag ja mit manchem, was er gegen »Rose Bernd« sagt, Recht haben.
Solche Leute, die zwickeraufsetzend die Kunst begutachten, haben immer
eher »Recht«, als die sie bloß fühlen. Aber der Ton, in dem das alles
80 von oben herab gesagt wird, ist ein so unsäglich widerwärtiger, diese
endlose Diarrhöe zwölfspaltiger Klugheit so unappetitlich, daß einem die
Parteibegeisterung derer um Hauptmann noch sympathisch wird. Was
aber hat Herr Goldmann hauptsächlich an »Rose Bernd« auszusetzen?
Man höre: »Bisher galt es als die Aufgabe des Bühnenschriftstellers,
die dramatischen Ereignisse des Vorganges, den er behandelt, auf dem
Theater darzustellen. Hauptmann verlegt sie in die Zwischenakte. Das
Drama spielt sich bei ihm in den Zwischenakten ab; in den Akten
erscheinen dann die Personen auf der Bühne, um über das, was ihnen
in den Zwischenakten widerfahren ist, zu reden. ,Rose Bernd' bietet,
wie gesagt, ein .klassisches' Beispiel für diese Methode. Vor Beginn des
Stückes oder in den Zwischenakten ist Rose Bernd von Flamm verführt
worden, ist sie von Streckmann gezwungen worden, sich ihm hinzu-
geben, hat sie vor Gericht den Meineid geschworen, hat sie ihr Kind
gemordet. In den Akten werden dann Gespräche geführt über die
20 —
I
Verführung, die Vergewaltigung, den Meineid, den Kindesmord. Es läßt
sich nicht leugnen, daß das Schreiben eines Dramas sich wesentlich
vereinfacht, wenn man aus dem Drama die Ereignisse wegläßt.« Herr fl
Ooldmann findet es also störend, daß die Vorgänge der Verführung, der fl
Vergewaltigung und des Kindesraordes sich nicht auf offener Szene
abspielen. Die > Ereignisse« sind für ihn die Hauptsache, nicht deren
seelische Verarbeitung. Ein Drama, aus dem die Ereignisse > weggelassen «
sind, ist für sein Gefühl keines. Wie anders wirkt dies Zeichen auf
mich ein: der zartfühlende Kritiker der (Österreichischen Volkszeitung'
rechnet es nach der Wiener Premiere der >Rose Bernd« ausdrücklich
»zu den Mängeln des Dramas, daß sich die wichtigsten und intimsten
Vorgänge, die sonst die Öffentlichkeit sorgfältig scheuen, auf freiem
Feld abspielen«. Und dabei handelt sich 's bloß um ein freies Feld
hinter den Kulissen!
Geograph. Die ,Neue Freie Presse' (9. Februar / meldet, Admiral Spaun
habe >am 7. Februar, 10 Uhr vormittags« eine >in Peking am 8. Fe-
bruar um 1 Uhr 30 Minuten aufgegebene Depesche« erhalten, und 7^
bemerkt dazu belehrend: »Der Zeitunterschied erklärt sich durch die
Differenz der geographischen Länge zwischen Peking und Wien«. Setzen ! Ein
Leser korrigiert wie folgt: Da die Pekinger Ortszeit jener von Wien —
entsprechend der Lage der beiden Orte bei einem Längenunterschied
von zirka 100 Graden ä 4 Zeitminuten — um 400 Minuten = bb,'\
rund sieben Stunden voraus ist, so war es. als die Depesche (nach .
Angabe der , Neuen Freien Presse') um 10 Uhr vormittags des 7. Fe- 5
bruar in Wien anlangte, in Peking 5 Uhr nachmittags des 7. Februar, '
weil Peking gleich Wien auf der asiatisch-europäischen Seite der tat- j
sächlichen (auch der nautischen) Datumgrenze gelegen ist. Da ferner 1
im Allgemeinen jedes Telegramm vor dem Zeitpunkte seiner An-
kunft aufgegeben worden sein muß, kann eine Pekinger, in Wien \
um 10 Uhr vormittags des 7. Februar angelangte Depesche in '
Peking nicht nach 5 Uhr nachmittags des 7. Februar aufgegeben
worden sein. Daß aber im vorliegenden, besonderen Falle die De- i
pesche in Peking dennoch erst um 1 Uhr 30 Minuten am 8. Februar, j
also entweder früh (i. e. 8V2 Stunden nach ihrer Ankunft in Wien) t
oder nachmittags (i.e. 2OV2 Stunden nach ihrer Ankunft in Wien) !
aufgegeben werden konnte, erklärt sich sonach nicht »durch die Differenz j
der geographischen Länge zwischen Peking und Wien«, sondern nur J
durch die Ignoranz der .Neuen Freien Presse'. Sollen der Unter-
schied der Tage . und die Angaben der Uhrablesungen aufrecht
bleiben und die aufklärende Bemerkung der Redaktion überhaupt einen
Siajj bekommen, so muß es heißen: Ankunft der Depesche in Wien:
10 Uhr abends des 7. Februar, Aufgabe in Peking: 1 Uhr 30 Min.
früh des 8. Februar. Laufzeit VI2 Stunden. — Ein anderer Leser \
schreibt mir: »Auf Grund jenes Paragraphen des Preßgesetzes, der Sie \
verpfhchtet, die haarsträubendsten Blödsinnsäußerungen der ,Zeit' zu
berichtigen, fordere ich Sie auf, der folgenden Richtigstellung des Ar- \
tikels ,Zeitdifferenz und Datumgrenze' (,Zeit'-Morgenblatt vom 10. d. M., j
!
— 21
Seite 6) Raum zu geben: Es ist unwahr, daß ,die Zeitdifferenz, die bei
einem Längenunterschied von 15 Grad eine Zeitdifferenz (!) von einer
Stunde ausmacht', von der geographischen Breite beeinflußt
wird. Es ist unwahr, daß sie am Äquator am größten ist. Es
ist unwahr, daß auf dem Meridian 180" ö. L. Oreenwich in dem
Augenblicke, wo in Oreenwich 8^ früh des 1. Juli ist, zugleich 8^
abd. des 1. Juli und 30. Juni gezählt wird. Wahr ist, daß die Differenz der
Ortszeiten mit den Breitegraden nicht das mindeste zu tun hat; wahr ist, daß
diese Differenz per Längegrad am Äquator gerade so groß ist, wie
unter jedem andern Breitegrad. Wahr ist, daß auf dem Meridian 180°
(mit alleiniger Ausnahme der Aleuten, wo in dem oben gegebenen Bei-
spiel der 30. Juni geschrieben wird) der Kalender um S"" abd. Oreen-
wicher Zeit denselben Tag zeigt, wie in Oreenwich selbst und die dem
fernen Osten entstammenden Leute mit alleiniger Ausnahme der ,Zeit'-
redakteure ganz genau von der Existenz ^iner im großen und ganzen
östlich des Meridians verlaufenden Kurve, der sogenannten , Datum-
grenze', wissen.«
Vater. Ich kann doch nicht von jedem Todesfall an der
Wiener Hancielsakademie Notiz nehmen ? Was hier vor langer Zeit über
das Königtum Sonndorfer geschrieben wurde, gilt leider auch heute
noch. Der Herr Regierungsrat wirkt in unverminderter Rüstigkeit, und
sein Dolinski, der vormalige Offizier, hat noch immer die gewissen
Rückfälle, denen seine Schüler eine mehr rekrutenmäßige als pädagogisch
sachgemäße Behandlung verdanken.
Kenner.
(Ein Taschendieb im Oerichts-
saale.) Vor den Augen des Straf-
richters der Leopoldstadt, Oerichts-
sekretär Dr. Pick, wurde gestern ein
irecher Taschendiebstahl verübt,
wie gewöhnlich, fanden sich auch
gestern zahlreiche Personen als Zu-
hörer im Strafverhandlungssaale ein,
die, da wenig Sitzplätze im Saale
I sind, vor der Barriere Aufstellung
nahmen. Während der Verhand-
lungen wurde nun- einem der Zu-
hörer die silberne Uhr aus der Weste
gestohlen. Er bemerkte den Abgang
erst beim Verlassen des Saales. Die
Ausforschung des Diebes wurde
eingeleitet.
Klein, aber fein. Im Oerichtsteil eines und desselben Blattes
konnte man kürzlich die beiden Notizen im Zeiträume weniger Tage
finden. Was geht daraus hervor? Ein Richter, dem der Reporter nicht
wohl will, wird auch nicht genannt, wenn in seinem Verhandlungssaal
eine Oeldbörse gezogen wird. Dagegen wird ein solcher Diebstahl immer
(Diebstahl im Oerichtssaale.)
Während der gestrigen Verhandlung
vor dem Bezirksgerichte Josefsfadt,
in der es sich um die Ehrenbe-
leidigungsklage von Dienstmännern
handelte, wurde dem Klageanwalt
aus dem Winterrocke eine Oeldbörse
mit etwa 20 K gestohlen.
— 22 —
>vor den Augen des Oerichtssekretärs Dr. Pick« verübt. Hier ist die
besondere Frechheit erschwerend. . . Klein, aber fein. Die Technik der
Oewaltreklame könnte an keinem drolligeren Beispiel illustriert werden.
Der richterliche Funktionär, für den sie betätigt wird, ist im einzelnen
Falle an der Nennung seines Namens sicherlich so unschuldig wie an
dem Diebstahl, der vor seinen Augen verübt wird, den aber der Be-
stohlene erst beim Verlassen des Saales merkt. Doch müßte endlich
ein Gesetz zum Schutze der richterlichen Würde geschaffen werden,
wonach das Reklamemachen im Oerichtssaal ebenso schwer wie ein
Taschendiebstahl vor den Augen des Richters gestraft wird.
Klient. Wie oft soll ich's noch sagen! Einen Diebstahl zeigt
man nicht bei der ,Fackel', sondern bei der Polizei an. Und wenn Ihr
Advokat wirklich mit Absicht den Termin für Überreichung Ihrer Klage
hat verstreichen lassen und das Interesse seines Klienten an den Gegner
verraten hat, so geht man zifr Advokatenkaramer. Erst, wenn die aus
irgendwelchem Grunde nicht will, kommt man zu mir.
Sammler. Was gibt's denn Neues? Der hochgebildete Börsen-
wöchner schrieb das Wort: »Nihil est in intellectu, quod non fuerit
in sensu« dem Descartes, dessen System es stracks zuwiderläuft, anstatt
dem Locke zu. Sein Kollege im Leitartikel versicherte, Japan »entfalte
das Banner der offenen Tür«. Daneben hat sich »eine hervor-
ragende japanische Seite« geäußert. Der hundertste Todestag
Kant's wurde als Kant-Jubiläum — nicht zu verwechseln mit dem
Hartmann-Jubiläum — gefeiert. Und so weiter. Und so weiter.
Literat. Ich glaube, die Trebitsch- Bewegung verebbt langsam.
Seit zehn Jahren hieß es jede Woche : Österreich hat wieder einen Dichter
Die Sache war langweilig geworden Da erklang, neuartig und über-
raschend, der Ruf: Österreich hat wieder einen Übersetzer!, und die
Herren Lothar und Saiten wetteiferten, diesem Siegfried Trebitsch, der
auszog, den Drachen einer fremden Sprache zu überwinden, und diA
deutsche umbrachte, die Palme reichen zu dürfen. Noch nie vielleicht'
hat eine schlechte Übersetzung so viel Staub aufgewirbelt, wie in diesem
Falle. Da man endlich die Affaire durch die Kellnersche Abfertigung er-
ledigt glaubte, erstanden Herrn Trebitsch erst recht begeisterte Verteidiger.
Kommende Literaturforscher werden vielleicht auch unserer Zeit noch
eine gewisse Zurücksetzung der Originalgenies vorzuwerfen haben.
Aber sie werden über die Fixigkeit staunen, mit der man in Wien die
Übersetzer ans Licht gezogen hat . . . Freilich hat Herr Trebitsch auch
Novellen geschrieben, über die in großen Blättern ernsthaft referiert
wurde, und ich halte die Entschuldigung, es sei »noch immer besser«, wenn
reiche junge Leute ihr Geld statt für Rennen für Dichten ausgeben, für eine
Niederträchtigkeit. Ich bin auf das äußerste dafür, daß reiche junge
Leute, die auch nur den geringsten Trieb zum Novellenschreiben ver-
spüren, sofort zum Rennen fahren Ui.d daß sie im Zweifel immer lieber
sich als die Literatur ruinieren sollen. Aber nicht dem produktiven
Trebitsch, sondern dem Zerdeutscher Shaw's und Courteline's galt kurioser
Weise die Begeisterung der Wiener journalistischen Freunde. Und nun folgt
i
— 23
ihr leider die Berliner Ernüchterung auf dem Fuße. Im > Neuen Theater«
ward Shaw's »Schlachtenlenker« aufgeführt, Herr Trebitsch, der das
Stück aus dem Englischen in eine fremde Sprache übersetzt hat, reiste
persönlich hin. Ein Ereignis von literarhistorischer Bedeutung. Da fuhr
Fritz Mauthner im , Berliner Tageblatt' dazwischen und schrieb: »Der
irische Publizist Shaw, der seit Jahren von berufsmäßigen Entdeckern
als eine neue Größe angepriesen wird, wurde uns in einer offenbar
unzulänglichen Übersetzung von Siegfried Trebitsch vorgeführt« . . .
Ich glaube, die Bewegung verebbt langsam.
Analphabet. Im , Deutschen Volksblatt' (Abendblatt vom 10. Fe-
bruar) war von einer Dunkelheit im Qerichtssaal zu lesen, »die im
Interesse der Berichterstatter auch nicht durch das kleinste elek-
trische Flämmchen erhellt« wurde. Ja, die Herren vom ,Deutschen
Volksblatt' wollen eben die Finsternis!
Ungläubiger. »Aus Innsbruck wird telegraphiert : Papst Pius hat
dem Erzherzog Eugen das Qroßkreuz des Christus-Ordens mit der
Kriegsdekoration in Brillanten verliehen. Mit der Überreichung der In-
signien und des Brevets dieser höchsten und seltensten Auszeichnung
hat der Papst mit Beglaubigungsschreiben seinen Hofmaler den geheimen
Kämmerer Conte Lippay als außerordentlichen Abgesandten betraut.
Derselbe ist gestern hier eingetroffen, und heute vormittags erfolgte die
Übergabe der Auszeichnung. Zu Ehren des päpstlichen Ablegaten fand
um 1 Uhr ein Hofdiner statt. Conte Lippay ist nach Salzburg abgereist,
wo er morgen mittags Gast des Oroßherzogs von Toskana ist«. —
Manchmal liest man in einer Zeitung und wähnt sich in einem Fieber-
traum befangen. Die Lettern beginnen zu tanzen, kommen zu den
unmöglichsten Verbindungen, und plötzlich liest man den Namen Lippay
neben dem Namen Pius X. . . . Nichts ist unmöglich. Täglich erwarte
ich die Meldung, daß Herr Sigmund Münz Kardinal geworden ist und
der Erzbischof Kohn in die Redaktion der .Neuen Freien Presse' eintritt.
Der »Kunstsinn der Päpste« ist traditionell. Warum aber hat Papst
Pius X. gerade Herrn Lippay auserkoren? Warum nicht den Zeichner
des .Extrablatt' oder des , Interessanten'? Ich hab's nicht glauben wollen,
als ich las, der Papst habe Lippay, in dessen Bild — nicht durch dessen
Bild — er sich getroffen fühlte, geküßt. Oder ich hielt es für den
Ausdruck verzeihender Gnade, die nichts persönlich nimmt. Aber siehe,
Lippay stieg immer höher, ward geheimer Kämmerer, Conte und endlich
Mittler zwischen Seiner Heiligkeit und dem österreichischen Erzhause.
Will man daraus auf die Unhaltbarkeit der Theorie schließen, daß die
Juden es heutzutage zu nichts bringen können ? Will man Vergleiche
ziehen zwischen der Behandlung, die Herr Lippay im Vatikan erfährt,
und jener, die er in Wiener Advokalurskanzleien erfuhr, da er die Ab-
drücke seines berühmten Bildes »Im Schwurgerichtssaal« an den Mann
zu bringen suchte?... Ein Fiebertraum! Und auch die Nuntiatur will's
nicht glauben. Sie ist, so wird gemeldet, »überaus befremdet«, da die
Überbringung des Christusordens durch eine Privatperson »aller diplo-
matischen Gepflogenheit widerspricht«, und hat sich auch an das
- 24
Staatssekretariat des Papstes gewendet, um eine Aufklärung über den
seltsamen Vorgang zu erhalten. Solange nicht eine amtliche Bestätigung
aus Rom eingetroffen ist> >wird die Annahme des Ordens durch den
Erzherzog in suspenso bleiben«. Blieb auch das Hofdiner, das Herrn
Lippay zu Ehren gegeben wurde, in suspenso? Hoffentlich gelingt es
der Nuntiatur, die den Vorfall darauf zurückführt, daß der Papst »mit
den diplomatischen Formen noch nicht genau vertraut ist«, ihn also mit
Fehlbarkeit entschuldigt, den irregeleiteten Kunstsinn Pius X. in
andere Bahnen zu lenken. Wenn erst der Papst darüber aufgeklärt ist,
daß Herr Lippay nicht, wie er ihm erzählte, mit der päpstlichen Familie
Rezzonico, sondern im Gegenteil mit der Familie Lipschitz verwandt i
dann wird alles wieder gut werden und die Christenheit an dem Beisp i
ihres Führers sich aufrichtend lernen, daß Gläubigkeit, nicht Leicli
gläubigkeit ihre erste Pflicht ist.
Bfichereinlauf.
Bessemer Hermann, Der Mann mit dem Spiegel. Geschichte
eines ^Niedergangs. Leipzig- Rudnitz. Magazin-Verlag, Jacques
Hegner.
Skfivana Karla, Potulny Zpeväk. Neutitschein. Verlag ,Novy Zivo:
LackaEmil, Gaia, Das Leben der Erde. Eine Dichtung. Leipzig.
Modernes Verlagsbureau Kurt Wigand.
Lucka Emil, Sternennächte. Dichtungen. Leipzig. Modernes V^erlagt-
bureau Kurt Wigand.
Weichberger Konrad, Schorlemorle. Studentengedichte. Leipzig.
Modernes Verlagsbureau Kurt Wigand.
Hollitscher Dr. Jakob J., Friedrich Nietzsche. Darstellung
und Kritik. (Mit einem Titelbild: M. Klein's Nietzsche- Statue.)
Wien und Leipzig. Wilhelm Braumüller.
Ein Österreicher, Militär und Zivil. Zeitgemäße Betrachtungen.
Wien und Leipzig. Wilhelm Braumüller.
Seh we gel Dr. H., k. u. k. Vizekonsul in Chicago, Die Einwanderung
in die Vereinigten Staaten von. Amerika (Mit beson-
derer Rücksicht auf die öst.-ung. Auswanderung). Wien und
Leipzig. Wilhelm Braumüller.
Springer Rudolf, Die Krise des Dualismus und das Ende
der Deäkistischen Episode in der Geschichte der
Habsburgischen Monarchie. Eine politische Skizze.
Wien. Kommissionsverlag Franz Deuticke.
Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: Karl Kraus.
nruck von lahoda & Siesel. Wien. III. Hintere ZollamtsstraB« 3
k. ioO ICischieneii am 9. März 1904
V. abr
Fackel
Herausgeber :
ARL KMU
Erscheint drei- oder zweimal im Monat.
Preis der einzelnen Nummer 24 b.
ehdruck und jfewerhsmäßjges Verleihen verboten; gerichtliche Verfolgung
vorbeftaiien.
wiEr
Verlan ,Di
Schwind&asse 3.
KLAVIERKÜNSTSPIEL
APPARAT
Phonola
mit seiner größten Skala und seiner geteilten
Abdämpfung für Baß und Diskant ermöglicht
allein die schwierigsten Kompositionen von
Liszt, Beethoven etc. originalgetreu zu spielen.
Den Vortrag künstlerisch bis in die kleinsten
Feinheiten auszugestalten bleibt ganz der indi-
viduellen Auffassung des Spielenden überlassen.
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spekte gratis, Bezugsquellen werden angegeben.
Preis Kr. IIOO.-.
Die Fackel
Nr 156 WIEN. 9. MÄRZ 1904 V. JAHR
Louise von Coburg und Rose Bernd haben
neulich an einem Tage ihre Zügellosigkeit und ihr
mit höfischen Sitten unvereinbares Vorleben zu
büßen bekommen. Man hatte erwartet, daß Louise
die Irrenanstalt in Lindenhof verlassen und Rose im
Burgtheater bleiben werde. Am l. März sah man,
daß man sich getäuscht hatte. Das Obersthofmarschall-
amt ließ, um die alarmierten Leser der ,FackeP
zu beruhigen, ein Gutachten über »die neuerliche
Überprüfung des Geisteszustandes« veröffentlichen,
welche die Vielgeprüfte, Schuldenreiche über sich hatte
ergehen lassen müssen. Sie bleibt, da ihr sauberer Vater
und ihr Gemahl sich zur Bezahlung der Schneider-
rechnungen noch immer nicht herbeilassen wollen, »nach
wie vor unfähig, ihre Angelegenheiten selbst zu be-
sorgen« ; ihr »Zustand von krankhafter Geistesschwäche
besteht unverändert fort«. Wir sind jetzt vollkommen
beruhigt, und sogar davon überzeugt, daß nach einem
weitern Jahre Lindenhof die Psychiater, die heute
statt einer wissenschaftlichen Diagnose bloß die übliche
Kuratorenphrase zu liefern imstande sind, mit bestem
Wissen und Gewissen alle Symptome des Irrsinns werden
konstatieren können . . . Leichter könnte man sich
damit abfinden, daß Rose Bernd dem höfischen Leben
entrückt wurde. Nur in diesem kotigen Klatschnest,
dem an jedem Tage seine Sensation druckfertig serviert
werden muß, war die Aufbauschung des Falles möglich.
— 2 —
Eine unvernünftige Kritik, die nicht weiß, daß das
Burgtheater nie mehr als eine Zuchtstätte guter
Schauspielerei war, geht seit Jahren rait der idealen
Forderung nach »Literatur« hausieren und bewirft einen
Direktor, der einem Bernhard Baumeister zuliebe Schön-
than spielt, mit jenen faulen Äpfeln, an denen sich
Schiller's Schaffenslust erholt hat. Gewiß, die Ver-
nachlässigung des klassischen Repertoires ist ein Ver-
brechen, das gerade dem Leiter eines Schauspieler-
theaters zur Last gelegt werden kann. Aber das
Burgtheater soll auch literarisches Neuland entdecken,
soll im Vordertreffen moderner Eroberungen stehen,
und der Unvernünftigsten einer verlangt, daß es sich
schämen solle, wenn ihm Herr Brahm in Berlin
mit einer Hirschfeld-Premiöre zuvorgekommen ist.
Nun, der »Geist des Burgtheaters« hat sich stets die
österreichische Maxime zunutze gemacht: Wir können
warten. Und im Bereiche spanischer Kunstetikette
wirkte ihre Befolgung durchaus nicht widernatürlich.
Wider die Natur einer Hofbühne ginge es, sie in
modernen Geisteskämpfen, die noch nicht ausge-
tobt haben, zu engagieren. Das mag traurig sein, aber
wahr ist es. Ibsen mag der Welt mehr bedeuten
als sämtliche Monarchen der Welt: — wer einst im
rechten Seitengang des Burgtheaterparketts aus der
Kaiserloge ein heftiges Wort über »Klein Eyolf« er-
lauscht hat, würde selbst die Verbannung eines Geistes,
der die moderne Welt aus einer höhern Höhe sieht
als der der schlewschen Dialekttragik, begreiflich
finden. Der Preiheitspöbel möchte immer das Unver-
einbare vereinen. Anstatt sich in seiner Art zu
freuen, daß der Hof nicht hauptmannfähig ist, greint
er jetzt, weil Hauptmann nicht für hoffähig erklärt
wurde, und plagt die Welt mit seinem Leitartikel-
jammer. Und dabei wird nicht einmal das natürliche
Recht jedes Hausbesitzers respektiert, in seinem
Hause seinen Geschmack und seine Vorurteile, sein
Verständnis und seine Rückständigkeiten ein Wörtchen
— 3 —
mitsprechen zu lassen, wird eine Maßregel als
»Österreicherei« verhöhnt, mit der in Wilhelm's IL
Theater einst dem künstlerisch viel zarteren »Hannele«
begegnet wurde. Daß der deutsche Kaiser die Stadt
mit der Puppenallee begnadet hat, daß er die deutsche
Kunstentwicklung seinem knackfüßigen Geschmack
Untertan machen will, dagegen und nicht gegen die
Anstellung des Majors Lauff als Hoftheaterdichters
wehrt sich deutsches Kulturbewußtsein. Will man den
Mitgliedern des österreichischen Kaiserhauses, die
bisher in öffentlichen Kunstangelegenheiten ruhige
Zurückhaltung bewahrt haben, private Neigungen
im eigensten Machtbereich verbieten ? Die Absetzung
der »Rose Bernd« ist viel weniger überraschend als ihre
Annahme. Am überraschendsten die Naivetät der
Überraschten und die Dummheit der Autoren, die das
Burgtheater noch immer als eine Literaturbühne be-
trachten und sich für die Ehre, hier aufgeführt zu
werden, entrechten lassen. »Überrascht« können wir
höchstens sein, wenn wir daran denken, daß ein
Literat an der Spitze der Hofbühne steht. Wenn
wir uns erinnern, daß er dienstlich einem Oberststall-
meister untersteht, werden wir's nicht mehr sein.
Daß Herr Schienther, der Freund und Biograph
Hauptmanns, den letzten Schlag so leicht verwindet,
bleibt dann die einzige Überraschung. Sein glück-
liches Naturell gewöhnt sich schließHch auch an den
Gedanken, den jeder Kenner längst gedacht hat: daß
das Burgtheater aus aller hterarischen Entwicklung
endgiltig auszuschalten ist. Und da Sein oder Nicht-
sein von hoher Gnade abhängt und die volle Pension
ein Ziel ist, auf's innigste zu wünschen, so wird es
selbst begreiflich, daß Herr Schlenther bei der Ver-
treibung der Rose Bernd einem freundlichen Wunsch
schon gehorchte, ohne den amtlichen Befehl abzuwarten.
Wie sagt doch das Mitglied eines regierenden Hauses
bei Shakespeare, das die aufrichtigen Naturen nicht
leiden kann?
— 4 —
Ich kenne Schurken, die in solcher Qradheit
Mehr Arglist hüllen, mehr verruchten Plan,
Als zwanzig fügsam unterthän'ge Schranzen,
Die schmeichelnd ihre F*flicht noch überbieten.
Das einzige »öfiFentliche« Moment an der ganzen
Angelegenheit, die überdies beigelegt worden wäre, wenn
nicht, wie ein Tratschblatt selbst zugibt, »die vorzeitige
Publikation die Bemühungen kompetenter Kreise, das
Drama zu retten, gehindert« hätte, ist die autorrecht-
liche Frage. Und diese ist durch das Entgegenkommen
des im vorhegenden Fall betroffenen, dem Direktor
befreundeten Dichters durchaus nicht aus der Welt
geschafft. Man sollte es nicht für möglich halten, daß
die Autoren, die das Burgtheater keiner Kontrakt-
schließung würdigt, sich die Schändlichkeit jenes
»Tantiferaenreverses« gefallen lassen, der nicht nur
hausherrlichen Launen, sondern auch direktorialer
Böswilligkeit jeden Spielraum öffnet und vor jedem
Gericht als Schulbeispiel eines unsittlichen Vertrages
anzufechten wäre. Ein Publikumsrecht wird durch
die Sistierung der Aufführungen eines Literaturwerkes
auf der Hofbühne nicht verkürzt. Dort, wo durch
Absetzung eines Stückes ein Eingriff in die Rechte des
Zuschauers wirklich erfolgt, dort kuschen die Hüter
öffentlicher Interessen. Ich denke an den Fall, daß
z. B. »Rose Bernd« nicht wegen Verstimmung
einer Prinzessin ein- für allemal, sondern wegen
Indisposition der Frau Medelsky einmal abgesetzt,
daß an ihrer Stelle der »Bibhothekar« gegeben wird
und daß die Käufer der Billets, wenn sie sich nicht
zu solchem Genuß zwingen lassen wollen, ihres Geldes
verlustig gehen. Gegen diesen Skandal, der wie das
Bestehen der »Tantiferaenreverse« die Anmaßung eines
Sonderzivilrechts für die Geschäftsführung der Hof-
bühnen bedeutet, müßte in Leitartikeln gewettert,
müßte die Hilfe der Gerichte angerufen werden. Die
Empörung wegen der »Rose Bernd« ist ein Eingriff
in das Privat- und Familienleben einer Erzherzogin.
Würde die liebe Demokratie bei der parlamen-
tarischen Erledigung des Punktes »Zivilliste« ein
wenig verweilen und gewisse Bedingungen für die
künstlerische Verwaltung der Hofbühnen stellen, dann
hätte sie auch das Recht, die höfische Zensur des
Burgtheaterrepertoires zu mißbilligen. Heute wäre das
ganze Geschrei über Rückständigkeit am Platze, wenn
etwa die staatliche Behörde eine Privatbühne ge-
zwungen hätte, »Rose Bernd« in ihrer Sünden und
Tantiemen Maienblüte abzusetzen. Das Ärgernis, das
eine Prinzessin an der Wald- und Wiesengeschlecht-
lichkeit nimmt, enttäuscht uns nicht, und daß sie als
Hausherrntochter Einfluß hat und ihn zur Beseitigung
des Ärgernisses nützt, sollte uns auch nicht enttäuschen.
Wäre ich Mitglied des kaiserlichen Hauses, ich würde
zum Beispiel ohne weiters die »Jakobsleiter« absetzen
lassen. Da ich es nicht bin, dürfte ich nicht einmal
etwas dagegen einzuwenden haben, wenn mir verboten
würde, bei der Aufführung dieses Stückes zu zischen,
und wenn, wie in alten Hoftheaterzeiten, Wand-
Plakate dem Publikum das Benehmen in den
Pausen, die Enthaltung von jeder Beifalls- und Miß-
fallsbezeugung vorschrieben. Der Groll der Literatur-
pharisäer gegen die »peinlichen« Stoffe, die — als ob
Shakespeare nie einen »Macbeth« und »Titus Andro-
nicus« geschrieben hätte— bloß die Originalitätssucht der
Modernen in die Welt gesetzt hat, ist ja von anwidernder
Dummheit, und die ehrliche Begeisterung der
•Antisemitenpresse für die Absetzung der »Rose
Bernd« verdient schon einen humoristischen Fußtritt.
Aber der höfische Unmut hat uns nicht zu bekümmern
und nicht zu verdrießen. Vielleicht ist einem Werke
gegenüber, das aus geschlechtlichen Wirrungen seine
Wirkung holt, gerade in hoher Gesellschaftsregion
der Hinweis auf den Ernst des Lebens und auf
die Zerstreuungsmission des Theaters keine Phrase.
Und würde der liebe Liberalismus aufzumucken
wagen, wenn Herr Theodor Ritter von Taußig ein
Theater subventionierte und eine seiner Töchter die
6 —
Aufführung von »Geschäft ist Geschäft« nach dem
zweiten Akt ärgerUch verließe ? . . .
Per Lastzug der österreichischen Justiz schleppt
wertlose Rechtsgüter mit und überführt die Gerechten.
Wir leben im Lande der unschuldig Verurteilten und
der schuldig Freigesprochenen. Wenn man die
Anarchisten der Gesetzlichkeit am Werke sieht, er-
scheinen einem die Bombenwerfer in milderem Licht.
Erinnert man sich noch an die Geschichte vom aus-
geliehenen alten Regenschirm? Im August 1900 hat's
geregnet. Damals trug einer einen Schirm, der ihm
nicht gehörte. Im April 1901 begegnete ihm der
Eigentümer und erinnerte ihn an die Rückstellung.
Aber wenn's gegen Regen einen Schutz gibt, so gibt's
gegen Quartierfrauen, die wertloses Gerumpel fort-
schaffen, keinen. Und keinen gegen die Justiz. So
wird einem denn eines Tages eröffnet, daß man eine
»Veruntreuung« begangen hat. Fünf Tage Arrest.
Vom Landesgericht Wien bestätigt. Im August 1901
regnet's wieder, aber man wird nicht naß, wenn man'
die Tage vom 13. bis zum 18. im Arrest zubringt.
Am 18. August herrscht Kaiser wetter, und man kann
die Zelle verlassen. Wer sich in Österreich einen
Regenschirm ausleiht, kann darauf rechnen, einige
Zeit gegen alle Unbilden der Witterung geschützt
allen Unbilden der Justiz preisgegeben zu sein. Denn
was nützt es, daß der Kassationshof das Urteil auf-
hebt und »die neuerliche Durchführung der Berufungs-
verhandlung: anordnet«? Es hat schon geregnet, der An-
geklagte wird nach verbüßter Strafe freigesprochen, und
— 7 —
bei schönem Wetter den Regenschirm aufspannen ist
eine zwecklose Demonstration, die den armen Teufel
für den nassen Jammer nicht mehr entschädigt. Ent-
schädigt wird nämlich in Österreich nicht. Man teilt
hier die Menschen ein in solche, die »vorbestraft«
sind, und solche, die es noch nicht sind, und wer,
weil Frau Themis Pausse-Couche machte, zu Schaden
kam, hat bloß den Vorteil, daß dies bei der nächsten
> Beanständung« kein erschwerender Umstand ist
Frau Therese Giezinger, das Opfer der Rieder Justiz-
katastrophe, verlangt jetzt 11.990 Kronen 13 Heller
für Verdienstentgang, für die infolge vierjähriger
Kerkerstrafe eingetretene Arbeits- und Erwerbsun-
fähigkeit, für sonstige Verluste, Nachteile und Kosten,
z. B. für das »ohne ihr Wissen und ihren Willen ver-
äußerte Holz, für den Verlust ihrer Kleider, Einrich-
tungsgegenstände und sonstiger Habseligkeiten«. Frau
Therese Giezinger war nämlich — dank der Helligkeit
der Geschwornengehirne — bloß zum Tode durch den
Strang verurteilt worden. Eine Entschädigung für die
Todesqualen, für das seelische und körperliche Leid
der Kerkerjahre gewährt ihr das österreichische Gesetz
nicht. Sie soll vollkommen gebrochen sein, krank
und völlig mittellos. Der österreichischen Presse, die bloß
für Unschuldige der Teufelsinsel pathetisch wird, kann
man ein werktätiges Interesse für den heimischen Fall
nicht zumuten. Es wäre wünschenswert, daß man den
Kaiser, den es betrüben muß, daß in seinem Namen
auch das Urteil von Ried gefällt wurde, von dem Furcht-
baren verständigt. Er würde sicher verfügen, daß
eine Summe, wie sie neulich dem Schwedenkönig zu
Ehren für die neue Ausstattung eines Aktes von
»Excelsior« verausgabt wurde, künftig den Opfern der
österreichischen Unrechtspflege zugewendet werde.
— 8 —
So mancher Stoßseufzer aus Pola dringt jetzt
an mein Ohr. »Bringen schon unter normalen Ver-
hältnissen unsere Tagesblätter über Marinefragen nur
Stumpfsinn, so spottet das jetzt anläßlich des japanisch-
russischen Krieges Gebotene einfachjeder Beschreibung.
Wie kann Schmock sich unterstehen, auf einem Ge-
biete, wo ihm kein Grundbegriff geläufig ist, seine
Phantasie schweifen zu lassen und durch Redewen-
dungen wie ,die ganze Welt' oder ,man staunt' die
Leser für seine eigene Dummheit verantwortlich zu
machen?« Ja, »wie kann«! Befähigungsnachweis für
den Gebrauch von Druckerschwärze? Ach, der Gebrauch
von Druckerschwärze ist selbst ein Befähigungsnach-
weis für alles und jedes. Bin Reporter kann heute
einen Admiral lehren. Und das Publikum »glaubt«
immerzu. Die Macht der Presse fußt selbst auf dem
Respekt der Fachmänner. Der Speziahst für Kriegs-
wissenschaft denkt doch immer, daß ein Blatt, das hier
Unsinn schwätzt, dafür in literarischen Dingen be-
schlagen sein muß. Das Geheimnis ihrer Wirkung ist,
daß die Journalistik von so vielem nichts weiß.
Immerhin, ruchbarer wird der ganze Schwindel beim
Betreten entlegener Spezialgebiete. Da fühlt man sich
wirklich zu dem satanischen Gedanken angeregt, wie
es wäre, wenn einmal die Wiener Journalisten in den
Krieg ziehen müßten und Soldaten als Kritiker ihrer
Ruhmestaten erständen. Die würden sich gewiß nicht
erdreisten, mit Nonchalance und im Tone sachverstän-
diger Routine an jede Lügendepesche ihr apodiktisches
Urteil zu knüpfen. »Könnte man nicht«, fragt ein
Marineoffizier in Pola, einer für viele, »einen Brander
mit dem schreibenden Ungeziefer von Wien bemannen
und vor Port Arthur versenken? Da würde sich
gewiß kein Russe vorübertrauen!« Ich weiß nicht, ob
man es könnte. Aber man sollte es wirklich selbst der
standesüblichen Frechheit nicht zutrauen, daß Leute,
die mit Wasser so selten in Berührung kommen, über
Marinefragen Gutachten abgeben.
— 9 —
Cin neues Strafgesetz wird die »Ehrenbeleidigung«
in die folgenden Kategorien scheiden müssen: Schmä-
hung, Verspottung, Beschimpfung und Verleihung
eines türkischen Ordens. Daß es aber noch immer
sonderbare Schwärmer gibt, ist leider unbestreitbar.
Sonst hätte man nicht neulich erfahren können, daß
in der Türkei ein großer »Ordensschwindel« aufgedeckt
wurde. Die ottomanischen Dekorationen also, die in
den letzten Jahren verliehen wurden, sind nicht ein-
mal echt? Das ist zu dumm! »Zahlreiche ausländische
Persönlichkeiten« sollen »kompromittiert« sein. Auch
österreichische? Hoffentlich werden ihre Namen genannt
werden. Man muß die Leute kennen lernen, die um eines
Ideals willen, das sie auf ehrlichem Wege für hundert
Gulden erreichen können, zu Fälschern werden. Solche
Zustände, wie in der Türkei, sind bei uns »denn doch«
nicht möglich ! Bei uns stimmt die Rechnung immer.
Das Ordensgeschäft ist ein durchaus reelles, und wer
nur beim Herzog in Gnade ist, . . Ich meine natürlich
den Herzog von der ,Montagsrevue'. Er rühmt sich
einer solchen Intimität mit Herrn v. Koerber, daß man
behauptet, er bezahle seine Schulden nur mehr in
eisernen Kronen...
Advokatenrechnungen.
Der Ausdruck »Blutdurst und Expensenhunger«,
der hier gebraucht ward, als die , Fackel' wünschte, die
würdigeren Vertreter des Richter- und des Anwaltstandes
möchten sich von der ministeriell arrangierten Syl-
vesterorgie fernhalten, hat auch die verstimmt, die
er nicht anging, — anständige Advokaten, die mir oft von
richterlichem Blutdurst, und anständige Richter, die mir
oft von advokatorischem Expensenhunger erzählt haben.
Was verschlägt's? Ich lasse Sylvesterräusche als mildern-
den Umstand gelten. Und gerade ich, der sich seit fünf
Jahren wie em Versuchsobjekt in einer juristischen
— 10 —
Klinik vorkommt, war berechtigt, das Wort auszu-
sprechen. Ich hätte oft Gelegenheit gehabt, aus der
Schule zu plaudern. Jetzt hat die , Frankfurter Zei-
tung' (5. März) eines der lehrreichsten Kapitel aus
meiner juristischen Leidensgeschichte veröffentlicht.
Ich habe es mündlich da und dort zum Besten ge-
geben, ahne aber nicht, wer der Mann sein kann,
der unter dem Pseudonym Erich Xaver Wippling in
einer Betrachtung über »Advokatenrechnungen in
Wien« davon Notiz genommen hat. Er schreibt:
»Es gibt in unserer Zeit des immer reeller werdenden Han-
delsverkehrs eigentlich nur noch zwei Sorten Leute in Europa, bei
denen der ursprünglich geforderte und der schließlich bereitwillig an-
genommene Preis in einem kaum glaublichen Mißverhältnis zu
einander stehen. Das sind viele Straßenhändler in Neapel
und viele Advokaten in Wien. Wenn man die Chiaia herunter-
schlendert und dann unter den Palmen der Villa Nazionale längs
des leuchtenden Meeres einherwandelt, entgeht man sicher nicht
dem Gespräche mit jenen zudringlichen und doch amüsanten
Kerlen, die einem nachlaufen und Stöcke, Kämme, Korallen, Lava-
schmuck anbieten. Sucht man eine Reihe ihrer Sachen aus und
fragt nach dem Preise, so addieren sie lange und gelangen dann
etwa auf siebzig Lire. Nun bietet man ihnen drei statt der
siebzig, und schließlich kommt das Geschäft nach vielen Dekla-
mationen und Anrufungen der Madonna auf der Basis zustande,
daß man acht oder neun Lire zahlt. Der Verkäufer steckt sie
ein, und man bemerkt an seiner FröhHchkeit, daß er immer noch
einen unerwartet günstigen Abschluß gemacht hat«.
Dann spricht der Verfasser von den »Expensen-
rechnungen« der Wiener Advokaten:
»In dem Bewußtsein, daß dem Rotstift Gelegenheit geboten
werden muß. Überflüssiges zu streichen, damit immer noch mehr
als genug übrig bleibe, stellen die Advokaten eine Liste ihrer
Leistungen auf, die in der Länge an den papiemen Bandwurm
erinnert, den Leporello aus der Tasche zieht. Mein Himmel, was
hat solch ein Anwalt nicht alles für Mühen auf sich genommen !
Da ist eine ,Zusammentretung' mit dem Klienten, die über zwei
11
stunden gedauert hat. Während dieser Zeit wurde vielleicht zehn
Minuten über den Prozeß gesprochen, und eine Stunde und fünfzig
Minuten unterhielt man sich von Theater, Politik oder hübschen
Frauen. Dann kommen sechs bis sieben , Fahrten' zum Gericht,
um nachzusehen, ob der Gegner nicht irgend einen Antrag zu den
Akten gestellt hat. (Berühmt geworden ist die vor Jahren einmal
aufgestellte Post einer solchen Expensen-Note: ,Nachts aufgewacht
ind über den Fall nachgedacht ... 50 Gulden'.) Hierauf folgt
das viele Stunden beanspruchende Studium juristischer Bücher
,zum Zwecke der Information', obgleich sich der Laie sagt, daß
er einen Advokaten gerade deshalb bezahle, weil es dessen Ge-
schäft sei, die juristischen Bücher ohnehin zu kennen. Aus vielen
Dutzenden solcher einzeln berechneter Berufshandlungen setzen
sich die ,Expensen' zusammen, wobei die eigentliche Tätigkeit des
Anwalts, nämlich die Wahrnehmung der gerichtlichen Termine,
noch nicht liquidiert ist.<
Und nun wird ein konkretes Beispiel für die
»arithmetischen Künste« angeführt, die der Verfasser
gewissen Wiener Advokaten nachsagt. Er erinnert an
einen »vor ein paar Jahren stattgehabten literarischen
Prozeß«, dessen »hinter den forensischen Kulissen
spielender Rechnungsakt« bis heute unbekannt ge-
blieben sei:
> Durch publizistische Angriffe fühlten sich ein Theaterdirektor
und ein Autor beleidigt. Sie verklagten ihren Gegner oder — wie
es in der wienerischen Gerichtssprache heißt — sie ,klagten' ihren
Gegner wegen Ehrenbeleidigung. Er wurde verurteilt und hatte
die Kosten zu tragen. Da es in Österreich keine Gerichtskosten in
Strafsachen gibt und die Kriminaljustiz einige der wenigen Sachen
ist, die hier völlig frei zu sein sich rühmen dürfen, besteht die Ver-
urteilung vornehmlich darin, daß der schuldig Befundene den
Rechtsanwalt seines Widersachers zu bezahlen hat. Für die ihm
I erwachsene Mühewaltung forderte nun im vorliegenden Fall dieser
Herr eine Pauschalsumme von zwölftausend Kronen^
Zwei Tage hatte die Verhandlung gedauert, und da erschien eine
solche Rechnung dem Gerichte denn doch etwas gepfeffert. Man
ersuchte darum zunächst den Advokaten, die Nota zu spezifizieren,
damit man sähe, weich zeitraubende Arbeit ihn zu der unverhält-
— 12 —
nismäßig hohen Forderung berechtigte. Die Einzelaufstellung ward
nunmehr dem Verlangen entsprechend eingereicht. Aber so große
Mühe auch der Scharfsinn des Sachwalters darauf verwendet hatte,
eine schier endlose Reihe von dienstlichen Handlungen herauszu-
drechseln, — die 12.000 Kronen wollten nicht zusammenkommen.
Beim Addieren ergab sich in der spezialisierten Liste n u r die Summe
von 7800 Kronen. Dieses Minus von 4200 war schon erstaunUch
genug, da sonst auf Erden eine Pauschalsumme und nicht eine
Rechnung im Einzelnen geringer zu sein pfl^. Nun besah man
sich die verschiedenen Posten, die da aufgeführt waren. Der An-
walt behauptete, er habe sechzig Nummern einer Wochenschrift
durchlesen müssen, und berechnete dafür zweitausend Kronen.
Da es sich um eine Publikation handelt, die jeder Kaffeehaus-
besucher in ungefähr zwanzig Minuten zu lesen pflegt, erregte die
Honorarforderung ein ziemliches Schütteln des Kopfes. Der
Herausgeber der betreffenden Wochenschrift aber
schrieb an die Richter, ersehe zu seiner freudigen
Verwunderung, daß die Lektüre seines Blattes weit
gewinnbringender sei, als dessen Herstellung. Das
Resultat der gerichtlichen Festsetzung der Kosten war dann, daß
dem Advokaten zwölfhundert Kronen zugebilligt wurden. Also 10%
seiner ursprünglichen Forderung. Ganz wie bei den Straßenhänd-
lem in Neapel. Ein überaus bezeichnender Punkt jedoch, von dem ein
scharfes Licht auf den Unterschied zwischen österreichischer und
deutscher Advokatur ausgestrahlt wird, fand sich noch in den Akten
dieser Kostenfrage. Für die Prozeßführung war es nämlich not-
wendig gewesen, als Zeugen einige in Berlin wohnende Theater-
leute zu vernehmen, welche dort ihre Aussage gemacht hatten.
Dem Termin wohnte als Vertreter des Wiener Advokaten ein an-
gesehener Berliner Rechtsanwalt bei. An der von diesem deutschen
Sachwalter für Wahrnehmung des mehrstündigen Termins ein-
gesandten Rechnung konnte sein Wiener Kollege nichts änderrt
sondern mußte sie im Original seiner Auslagennote beilegen. Und
die Honorarforderung des Beriiners betrug — zwanzig Mark.
Worauf alle Wiener Justizbeamten trauernd ihr Haupt verhüllten. <
Was die ,Frankfurter Zeitung' da erzählt, ist im
Wesentlichen wahr. Daß die Pauschalsumme den
Endbetrag der speziaHsierten Liste um 4200 Kronen
— 18 —
tiberstieg, darauf könnte ich allerdings heute keinen
Eid mehr schwören. Aber sonst ist höchstens noch
die Mitteilung irrig, daß die ,Packel* eine Wochen-
schrift ist. Richtig ist die Angabe der 7800 Kronen,
richtig das Detail der für Lektüre der , Fackel* ein-
gestellten 2000 Kronen. Herr Dr. Gustav Harpner
— der nämliche Sozialpolitiker, der heute die Ausbeuter
der ,Zeit' vertritt — betonte, er habe sich der mühevollen
Arbeit unterziehen müssen, um den Nachweis zu er-
bringen, daß der Angeklagte einen »konsequenten
Kampf« gegen seine Klienten Bahr und Bukovics
geführt habe. Ich erwiderte in meiner Eingabe an
das Landesgericht, daß Herr Dr. Harpner, wie ich
nachweisen könnte, ein alter Leser, Abonnent und
— bis zum Prozeßtage — Freund der ,Fackel' ge-
wesen sei, daß die Lektüre der bis zum Prozeß er-
schienenen Hefte somit weder besonders mühsam
noch unangenehm für ihn habe sein müssen und daß
sie jedenfalls überflüssig war, da ich selbst nie in
Abrede stellte, einen konsequenten Kampf gegen seine
Klienten geführt zu haben. Ich wäre, da ich, um die
»Beleidigung« nicht als eine zufällige, sondern als
in Glied in der Kette ernst gezielter Angriffe er-
»/heinen zu lassen, mich selbst zu gleicher Zeit der
leichen Arbeit unterziehen mußte, mit Vergnügen
reit gewesen, dem Klageanwalt jene Nummern der
|,Fackel' zu bezeichnen und zur Verfügung zu stellen,
denen seine Klienten in einer ihnen unliebsamen
eise genannt waren. Sollte das Gericht trotzdem die
Fahnwitzige Forderung von 2000 Kronen für Lektüre
liner Zeitschrift — also eine Summe, die den Betrag der
Geldstrafe, zu der ich verurteilt wurde, übersteigt — be-
willigen, »so würde für mich daraus die bittere Erkenntnis
erwachsen, daß das Lesen der, Fackel' einträglicher ist als
das Schreiben der ,Fackel'« ... So schrieb ich damals an
das Wiener Landesgericht. Und wies der erschütternden
humoristischen Kontrastwirkung zuliebe auf die von
Herrn Dr. Harpner unter den Barauslagen angesprochene
156
— u —
Summe für den Berliner Kollegen Dr. Wolfgang Heine
hin, der auch sozialdemokratischer Anwalt ist und
für die Mühe eines ganzen Vormittags 20 (oder 25 ? )
Mark berechnete.
Die Angaben der ,Prankfurter Zeitung* sind
also durchaus richtig. Das ,Neue Wiener Journal*
hat den Aufsatz — inklusive der meinen Fall
erörternden Stelle — unter dem Titel »Phantasien
eines Publizisten« abgedruckt. Mit Quellenangabe, da
es ja mit dem Standpunkt des Artikels nicht einver-
standen ist. Grotesk aber ist es, wenn ein Diebsblatt
einer von ihm so oft gebrandschatzten Zeitung vor-
wirft, daß sie »Räubergeschichten« erzähle.
Nicht um uns mit fremden Federn zu schmücken,
nein, nur »der Kuriosität halber entnehmen wir dem
Artikel« einige Stellen. »Vielleicht beweisen Wiener
Advokaten dem Herrn Wippling, daß sie es verstehen,
kurzen Prozeß zu machen, wenn es sich darum
handelt, ihren Stand gegen die kindlich-bösartigen
Phantasien eines Sachunverständigen zu schützen«,
ruft das Diebsblatt. Aber da werden die Wiener
Advokaten kein Glück haben. Denn das Tatsächliche,
das Herr Wippling vorbringt, ist buchstäblich wahr,
und im übrigen findet er selbst für die Exzesse des
Expensenhungers eine wohlwollende Erklärung in der
methodischen Verständnislosigkeit, mit der manche
Gerichte die Wertung der advokatorischen Arbeit vor-
nehmen. In Deutschland biete schon der Tarif, der im
Zivilprozeß die Vertretungskosten nach der Höhe des
Streitobjekts berechnet, dem Advokaten eine materiell
bessere Position. Der Wiener Kollege gehe auch bei
einem Verfahren, bei dem Riesensummen in Frage
kommen, verhältnismäßig leer aus, wenn er nicht
durch vorherige besondere Vereinbarung sich seinen
Anteil an dem Erfolge gesichert habe. Der Verfasser
gibt ausdrücklich zu, daß die gerichtlich festgesetzte
Entlohnung der Tätigkeit mit den großen Beträgen, die
erstritten werden, in einem auffallenden Mißverhältnis
I
l
— 15 —
steht* Hier wäre besonders der Praxis unseres Obersten
Gerichtshofes zu gedenken. Man glaubt, den Expensen-
hunger zu bekämpfen, indem man ihm auch die
geringste Befriedigung versagt. Natürhch wird der
gegenteihge Erfolg erzielt. 20 Kronen für die Berufungs-
schrift einer Zivilklage, deren Gegenstand 40.000 Kronen
w^ar, führt mit mathematischer Notwendigkeit zu einer
Forderung von 2000 Kronen für Lektüre der ,FackeP . . .
OJAI
Die ärztliche Standesehre ist glücklich aus allen
Landtagsfährlichkeiten gerettet. Aber wenn wir den
Ansturm der Unberufenen auf die Forschung abge-
wehrt haben und wieder schön unter uns sind, kön-
nen wir ja manch' Hühnchen, das zu Versuchszwecken
uns schließlich doch belassen ward, miteinander
pflücken. Was macht denn die liebe Reklame? Die
brieflich ordinierenden Ärzte und die Herren Professoren,
welche Ferndiagnosen stellen, sind ein altes Kapitel.
Heute wollen wir einmal eine neue Spezies diplo-
mierter Annonceure betrachten. Daß sich Arzte
dazu hergeben, den Erzeugern pharmazeutischer Prä-
parate publizistische Dienste zu leisten, ist aus Nr. 36
der ,Fackel' (Ende März 1900) bekannt, wo der Fall
eines Privatdozenten erörtert wurde, den's eine Zeit-
lang sogar nach den Lorbeeren eines Inseratenagenten
gelüstet hat. Die Abhängigkeit des redaktionellen
Teils medizinischer Fachblätter von den Wünschen
inserierender Firmen, die Fälschung der wissenschaft-
lichen Meinung ward damals beklagt: »Nicht bloß
der fernerstehende Arzt wird über den Wert eines
Mittels getäuscht; was in Fachzeitungen stand, geht
mit oder ohne Hinzutun des interessierten Inserenten
in Tageszeitungen über und wird als echtes Geld der
Wissenschaft in Kurs gesetzt ... In letzter Linie leidet
'4
— 16 —
unter solchem Geschäftstreiben der Kranke, der ein
oft minderwertiges Mittel teuer — nicht nur mit Geld
— bezahlen muß.«... Als eine Neuerung darf man es
nun begrüßen, daß Ärzte über kosmetische Mittel
Reklamefeuilletons schreiben. Ob es der publizistische
Moral entspricht, der Empfehlung von Teintseifen,'
Pasten, Parfüms, Mundwässern und all' den Schön-
heits- und Reinlichkeitsmitteln, den >vielzuvielen«,auch
nur im Inseratenteil Raum zu geben? Die gesamte
Presse nickt freudig: *Oja« und »Javol«. Ich sage:
Nein. Wenigstens vom Standpunkt eines Blattes, de
das körperliche und wirtschaftliche Wohl seine
Leser, soweit die Redaktion es beeinflußen kann,
nicht gleichgiltig ist. Gewiß könnte es unter zehn
tausend kosmetischen Mitteln hundert geben, die nich
gesundheitsschädlich, zehn, die nicht mit Wucher
Zinsen überzahlt sind; aber der Verlag der ,Fackel'
läßt sich auf solche Untersuchungen nicht ein und
lehnt auch die verlockendsten Anträge ab. Hier über
nimmt bekanntlich die Redaktion auch .für den Inhalt
des Inseratenteils eine Verantwortung. Anders in derj
Tagespresse. Da ist es wieder die Administration, di
für den Inhalt des redaktionellen Teils die Verant
wortung übernimmt. Und so finden wir allwöchentlia
da und dort eine »Schmucknotiz« oder eine Plauderei, di
selbst nur ein Schönheitsmittel zur Verhüllung einer"
bezahlten Warenreklame ist. Aber das eine Kosmetiku
ist des andern wert; geschärfter Sinn merkt bald,!
daß beide Schwindelmittel sind. Darum müssen die
Erzeug«^ sich nach wirkungsvollerer Täuschung um-
sehen.^/Der Leitartikel der , Neuen Freien Presse' ist
^^^.^ür'Tjwecke des Börsenschwindels so sehr in Anspruch
genommen, daß er für die Anpreisung eines Seifen
Präparates noch immer nicht zu haben ist. Aber e
kommt wohl nicht so sehr auf den Ort der Einschal-|
tung wie auf das Ansehen des Verfassers der emp-
fehlenden Notiz an. Wozu hätten wir denn Ärzte?
Das -wäre wahrhch ein unpraktischer Arzt, der den
17 —
Eintrag einer kosmetischen Firma zurückwiese, einen
ileklameartikel über ihre Erzeugnisse zu schreiben
md mit seinem Namen zu vertreten. Mit Recht
ieichnet er »Med. Dr. Josef Weiß, praktischer
Vrzt in Wien«, der Mann, der seinen Namen unter
en Artikel gesetzt hat, der am 31. Jänner in der
Neuen Freien Presse' erschien und die Aufschrift
ührte: »Meine Ansicht über Schönheits-
aittel«. Welche Ansicht kann ein Arzt über Schön-
leitsraittel haben? Daß sie fast alle zumindest wertlos,
Fenn nicht gesundheitsschädlich sind? Gewiß ; und auch*
inser praktischer Arzt legt in der Einleitung seines
Aufsatzes dies Bekenntnis ab. »Während meiner
ielj ährigen Praxis habe ich sehr oft Gelegenheit
;ehabt, ein Unzahl von Schönheitsmitteln nicht nur
u untersuchen, sondern auch praktisch zu erproben
ind deren Wirkung bei meiner Klientel zu beobachten,
jin großer Teil dieser Präparate war an und für sich
(wertlos, oft hatte ich Veranlassung, die Anwendung
^nes solchen Mittels zu verbieten, und nur selten
Lonnte ich ein verwendbares Produkt finden. Was
jh aber allen bisher versuchten Kosmeticis nach-
jigen mußte, war, daß die Anwendung derselben
ine total überflüssige, ja sogar verkehrte ist.« Ist
lies das Bekenntnis eines menschenfreundlichen
Varners? Ach nein, es ist bloß der Wunsch des un-
Autern Wettbewerbers, die Konkurrenz schlecht zu
lachen. »Nach so reichlicher Beobachtung ent-
5hiedener Mißerfolge freut es mich besonders,
ndlich Kosmetika gefunden zu haben, welche zweck-
ntsprechend sind und schon deshalb allein eine gute
\/'irkung voraussehen lassen. Es drängt mich,
ir diese ausgezeichneten Präparate ein befürworten-
es Urteil abzugeben, da ich dies mit bestem Ge-
issen tun kann. Ich meine die von der amerikanischen
.'arfümerie Oja (erster amerikanischer Parfümerie-
alast ,Oja*, folgt genaue Adresse) eingeführten Prä-
ftrate, unter welchen ich die Oja-Seife und das Terol
— 18 —
als hervorragende Mittel usw. usw.« »Noch mehr
erfreut war ich über die Ipe-Knol!«i (Mittel gegen
Haarausfall)« . . . »Es nürde zu weit führen, wollte
ich alle Vorzüge der Präparate, welche die Parfüraerie
Oja eingeführt hat, hervorheben, denn es war raii
nur darum zu tun, weiteren Kreisen meine geraachter
Erfahrungen mitzuteilen und im Interesse des Pub^
likums auf das Beste hinzuweisen, um so mehr, ab
man sich ja heute in der Flut von angepriesene^
Schönheits- und Haarwuchsmitteln fast nicht mehr
auskennt.« .... Nach dem Wohnungsanzeiger gibt e«
zwei Dr. Josef Weiß in Wien. Bisher hat keiner voi
beiden gegen den Mißbrauch seines Namens — dem
es handelt sich hoffentlich nur um einen solchen — i
protestiert. Ist aber der Autorname nicht fingiert, st
wäre es jetzt an der Zeit, daß sich jeder der beide*
dagegen verwahrt, mit dem andern identisch zu sein
,Neue Freie Presse' und ,Fackel' sind gern bereit
ihre Erklärungen aufzunehmen Oder sollte nicht di<
Ärztekammer rascher das Geeignete vorkehren? Oja'
J.
Ja, glauben Sie denn, lieber Leser, ich halte di
antisemitische JournaHstik für weniger verworfen'
Nur für talentloser 1 Darum konnte ich ihr die geringer
Gefährlichkeit zuerkennen und mußte sie erst u
zweiter Linie betreuen. Würde die Rücksicht auf da
öflFentliche Wohl, auf Taschen und Gesundheit de
Bevölkerung, mir's nicht so oft verwehren, die Ding
vom rein ästhetischen Standpunkt zu betrachten, hätt
ich nicht die leidige, von mir oft bereute Verpflichtur
auf mich genommen, einen Spitzbuben ernster i
nehmen als einen Dummkopf heiter, dürfte ich blo
den Launen meiner satirischen Individualität genüger
— ja, ich bitte sich beiläufig vorzustellen, welch
Ausbeute mir in den fünf Jahren die Wiener anti
— 19 —
emitische Presse gewährt hätte? Am dankbarsten
i^ar ich darum immer dort, wo Dummheit und
chlechtigkeit sich im Gesichtsfeld meiner Wächter-
itigkeit gepaart haben. Und da bin ich mir wahrlich
einer Unterlassungssünde bewußt. Eher könnte man
eraerkt haben, wie ich mit den Jahren der Erkenntnis,
aß mein Blatt neben den Wünschen des Publikums
uch dem Ausdrucksbedürfnis meines Naturells zu
ienen habe, nachgab, den Zorn entließ, wenn mir
'sr Hohn besser gefiel, und die öffentlichen Schäden dem
rivaten Spott opferte. Wenn ich so aber zu
ilistischer Erholung die Gauner hinter den Tölpeln
urückzusetzen begann, mußte mein Interesse für die anti-
mitische Publizistik eo ipso wachsen. Nie werde ich ver-
ennen, daß die ,Neue Freie Presse' gefährlicher ist als
IS , Deutsche Volksblatt'. Aber man ist schließlich
ich Ästhet, und bei der Table d'hote sind Leute, die
it den Händen fressen, störender als die, welche
(is Besteck säuberlich benützen und es nachher mit-
3hmen. Freilich, wo die antisemitische Presse gar
)ch der Korruption nachstümpert, ist sie mir ja am
ibsten. Sehr spassige Komplikationen ergeben sich
ihon, wenn das , Deutsche Volksblatt' eine der Lügen-
ethoden der Judenpresse, die ihm immer imponiert
iben, nachzuahmen sucht, z. B. den Interview-
hwindel. Felix Dahn, eine Eiche im Teutoburger
ichterwald, feierte seinen siebzigsten Geburtstag,
Lid es gab keine deutsche Brust, die nicht bei dem
edanken, daß uns so viel Langweile noch so rüstig
id gesinnungstüchtig entgegentritt, in ihrem Jäger-
ohen Norraalhemd freudiger transpiriert hätte. Natür-
)h mußten sich auch die »deutschen Antisemiten«
|Sterreichs erhoben fühlen. Alles, was bei uns durch
nen schlappen Hut feste Gesinnung und durch
[hwarze Fingernägel deutsche Treue ausdrückt, was
e »Heimatkunst« liebt und die »D^cadence« haßt,
las Heinrich Heine für einen Stümper und Geßmann
pn Jüngeren für einen Dichter erklärt, war festlich
— 20 —
gestimmt, und die »deutsche« Tagespresse, die bei
einigermaßen besserer Beherrschung der deutschen
Grammatik wirklich Unheil anrichten könnte, brachte!
weihevolle Artikel. Das ,Deutsche Volksblatt* war|
sogar in der Lage, den Gefeierten selbst sprechen
zu lassen. Auf dem bekannten, nicht nur für die
Judenpresse gangbaren Weg: »Einer unserer Mit-'
arbeiter hatte Gelegenheit . . .« Und Dahn sprach
natürlich ganz im Sinne des Herrn Vergani. Nicht
mehr so ganz später, als er in reichsdeutschen Tage»-
blättern eine Zuschrift veröffentlichte, die zwar in-|
zwischen auch in liberalen "Wiener Tagesblätterri
zitiert wurde, die aber doch als ein Dokument von
der Journaille Schande durch die , Fackel' konserviert
zu werden verdient:
>Das »Deutsche Volksblatt' in Wien bringt zum 9. d. M'
einen Bericht eines Herrn A. Hafner über einen Besuch bei mit
(im Oktober), der von Lügen strotzt; das wäre gleichgültig^
würden mir nicht darin Urteile über Schriftsteller in den Munc
gelegt, die (d. h. die Urteile) durchaus erlogen und mir schor
wegen ihrer Rohheit höchst peinlich sind. Das Ganze hat, aL«
ein Muster frechster Verlogenheit in unserer Tagespresse
weit über meine Person hinausreichende Bedeutung. In meinen-
Empfangszimmer sollen stehen , Büsten von Goethe, von Hermes
von Epikur und Beethoven' — frei erfunden! Ich soll nach Em-
pfang eines völlig unbekannten Interviewers sofort in die Häni
geklatscht haben, ein Dienstmädchen herbeizurufen, eine ,Jai]
(österreichisch) von Gebäck und Tee zu bestellen, die ich da
mit Herrn H. ,rauchend' (ich rauche nie!) bis Abend 9 Uhr (v<]
5 Uhr ab!) gemütlich plaudernd soll verzehrt haben; in Wahrh«
schickte ich den Herrn ohne jede Jause nach höchstens zeh^
Minuten fort (der Aufsatz heißt: ein Abend bei F. D. !!), e
machte mir einen sonderbaren Eindruck. Ich werde vie
Stunden meiner kostbaren Zeit mit einem Interviewer vertrödeln!
Richtig ist, daß ich ihm, weil er über Geldmangel klagte
eine Karte an die Redaktion von ,Nord und Süd' gab, dort eine
Aufsatz einzureichen, aber abscheulich gelogen ist, ich hal
dabei gesagt: ,Wenn Dahn Sie empfiehlt, genügt das!' Weld
Gemeinheit an Eitelkeit wird mir da zugeschoben! Dann soll id
(einen Wildfremden!) gefragt haben, ,wie das geistige Leben ir
Wien blühe?' Folgt ein angebliches ,Qespräch' über die ,neuer»
Richtung' in der Literatur, in dem mir verächtliche Äußerung«
über Julius Bierbaum (ich soll angeführt haben Gling-glang;
— 21 —
loribusch, Dagluiglua-Glulala Trulala als Bierbaiuns Poesie — mir
nerklärlich — soll die moderne Malerei ,zerlaufenen Eierkuchen,
enannt haben! Alles erlogen!) und Wedekind beigelegt
erden; das ist geradezu empörend; nie würde ich bei aller Geg-
erschaft wider die Richtung solche Gemeinheiten in
en Mund nehmen; angeführt wird ein Urteil von mir über
7edekinds ,Tantenmörder', ein Werk, das ich nie gesehen habe!
•ann wird ein Hanns Ostwald von mir als ein ,erffeuliches Talent',
s eine ,Oase in der Wüste jetziger geistiger Verflachung' gerühmt;
rmutlich ein guter Freund von Herrn H., mir aber gänzlich
n bekannt!! Endlich — und das ist vielleicht das Abscheu-
chste! - wird von mir ,ein sehr bedeutender Berliner Schrift-
eller sehr abfällig kritisiert, weil ich in dessen letzten Werken
lagiate meiner eigenen zu finden glaube!!' Diese ganz allgemein
nd unbestimmt gegen alle »bedeutenden Berliner Schriftsteller'
ischleuderte Verdächtigung und Verhetzung gegen mich ist doch
nerhört! Das Lügengespinst, das Herrn H. in vertrau-
tstem Verkehr mit mir hinstellen will, schließt mit dem
itze: ,so verging der Abend!! (nicht eine Viertelstunde!)
ite im Fluge und es war 9 Uhr (!!!) als ich mich von meinem
benswürdigen Wirte verabschiedete.' — Und so was muß man
im sonder wirksame Abwehr über sich ergehen lassen! Diese
[ummen Lügen halten Hunderte von Lesern für wahr! Bierbaum,
i'edekind, ,sehr bedeutende Berliner', sollen mich für einen solchen
copf halten! Ich bitte alle anständigen deutschen und öster-
ichischen Zeitungen, wenigstens in Kürze meine Verwahrung
gen solche empörende Lügen zu verbreiten.
Breslau, 22. Februar 1904. Felix Dahn.«
Siehe, Felix Dahn ist eine deutsche Eiche, die
Ich der Blattläuse selbst erwehrt. Behauptet das
Wtsche Volksblatt* nun noch, daß er ein »liebens-
ürdiger Wirt« sei? Er gebraucht ja in dieser kurzen
iaschrift mehr Ausrufungszeichen, als Herr Vergani in
inem Jahrgang hinter Judennamen anbringt! Aber das
'ifläßliche Blatt hat den Fußtritt nicht ohneweiters
ngenommen. Es rehabilitierte sich glänzend. Ein
iTudenblatt« hatte sich aus Breslau den Inhalt der
.hn'schen Erklärung telegraphieren lassen. Da
hrieb das ,Deutsche Volksblatt*: »Nach der Stili-
3rung dieser Notiz (in der ,Zeit') konnte jeder-
ann glauben, daß der ganze Artikel über
ahn in unserem Blatte eine Erfindung sei, und wir
ilbst hielten uns schon für das Opfer einer
— 22 —
starken Mystifikation. In der abends eingetroffene:
,Schlesischen Zeitung* finden wir nun in dem Brief
Felix Dahn's, daß ihn Hafner tatsächlich besucht
und auch eine Empfehlungskarte von ihm erhiel
Hafner hat uns die Karte vorgewiesen und dieser
Beweisstücke verdankte er die Aufnahme des Artikel'
Von dem wirklich erfolgten Besuche berichtet
die ,Zeit' nichts . . .« Nein, das , Deutsche Volksblat
hat unrecht gehabt, sich für das Opfer einer Myst
fikation zu halten. Sein Mitarbeiter hat Felix Üah
»tatsächlich besucht« ; die Hauptsache bleibt unbe
stritten. Und es ist nur die Tücke der Judenblätte
die einem christlichen Gegner den Triumph diese
Konstatierung mißgönnen möchte. Aber gottseidan
treffen ja die deutschen Journale in Wien ein un
machen einen ordentlichen Strich durch die Rechnung
der Besuch bei Felix Dahn ist wirklich erfolgt! . .
Dabei konnte sich das , Deutsche Volksblatt* beruhige:
Freilich nicht allzulange. Denn als der Skandal eir
ungewöhnliche Publizität erlangte, gab es die B
klärung ab, daß es gegen seinen Interviewer d;
»Betrugsanzeige« erstattet habe. Das kann ein heiter«
Prozeß werden. Wenn Herr Hafner, dem bloß d(
Versuch mißlungen ist, orientalische Phantasie f^
antisemitische Zwecke auszubeuten, wirklich ein^
Betruges im kriminellen Sinne schuldig befundid
werden sollte, dann wäre das , Deutsche Volksblat
für jede Zeile wegen — Ritualmordes strafbar, begang^
an der Vernuiift, dem Geschmack und dem Vertrau«
christlichsozialer Leser.
i
Wie war's also?
jNeues Wiener Tagblatt'
28. Februar:
»Aus München wird uns tele-
graphiert: Im Schauspielhause
,Zeit'
28. Februar:
»Man telegraphiert uns
München vom 27. d. M.: Bai
Hl
- 23
hatte ,Der Meister' von Her-
mann Bahr bei ausgezeichneter
Darstellung einen starken Erfolg.
Das ausverkaufte Haus zeigte
sich vom Anfange lebhaft interes-
siert. . . . Schon nach dem zweiten
Akt steigerte sich der stürmische
Beifall zu Rufen nach dem Autor,
lan dessen Stelle die Darsteller
oftmals erschienen.«
,Meister' fand bei seiner Erstauf-
f jhrung im Schauspielhaus einen
von Akt zu Akt wachsenden
Widerspruch.«
ANTWORTEN DES HERAUSGEBERS.
Techniker. Die Kundgebung des Ingenieur- und Architekten -
Vereins gegen einen von Herrn v. Koerber verübten Protektionsakt verdient
auch noch nachträglich verzeichnet zu werden. Professor Viktor Loos
schreibt darüber in der, Allgemeinen Ingenieur-Zeitung': »Der Ingenieur- und
LArchitektenverein in Wien gilt dem Kundigen gewiß nicht als eine Ver-
einigung von Malkontenten und Revolutionären, denn er zählt eine
igroße Zahl von Hof-, Oberbau-, Bergräten, k. k. Professoren etc. zu
^seinen Mitgliedern. Dennoch hat sich dieser Verein gegen den Minister-
präsidenten Dr. V. Koerber aufgelehnt und über den Antrag des diol.
ing. Dr. Kapaun dem Minister sogar die ,tiefste Entrüstung' ausge-
drückt und (Verwahrung' dagegen eingelegt, daß einem Oewerbeschüler
die Autorisation als Bau- und Kulturingenieur erteilt wurde mit Nach-
icht des Hochschul-Studiennachj/eises, mit Nachsicht der Praxis und
der strengen praktischen Prüfung. Der unbeteiligte Leser der in den
Zeitungen erschienenen Notizen über diese Resolution hat da gemeint,
die Kundgebung sei bloß eine Konsequenz des bekannten Kampfes der
Hochschultechniker gegen die Oewerbeschüler. Aber schon die unge-
wöhnliche Schärfe ließ auf triftigere Motive rückschließen. Die Autori-
ation als Bau- und Kulturingenieur wurde nämlich vom Ministerium
des Innern auch Hochschultechnikern verweigert, weil sie bloß die
Architekturabteilung einer technischen Hochschule absolviert hatten. Bei
ierrn Zehra, dem mit so viel Nachsicht Autorisierten, liegt die Sache
'iel einfacher. Er hat zwar keine Architekturabteilung einer Technik
ibsolviert, aber es steht ziemlich fest, daß er die politische Handels-
ibteiiung des Parlaments, wo Stellen vom Hofrat abwärts verschachert
Verden, mit gutem Erfolg besucht hat. Wer das politische Geschäft mit^
4errn v. Koerber abgeschlossen hat, dessen Oewinn Herr Zehra genießt,
vätt noch zu ermitteln. Vielleicht findet sich ein Parlamentarier, der
nomentan keine Ounstbezeugung von der Regierung beansprucht und
iarum den Minister interpellieren kann ! . . . Charakteristisch war in
liesem Falle die Indolenz unserer Presse, die aus der Unkenntnis der
lachlage entsprang. Keine einzige jener Zeitungen, die bei jedem
24 —
schlechten politischen Anlaß bereit sind, Minister vorlaut abzukanzehi,
hat diesen ganz unerhörten Fall entsprechend gewürdigt . . . Welches
gigantische Qeschrei hätte dieselbe Presse erhohen, wenn es dem Herrn
V. Koerber als Leiter des Justizministeriums etwa eingefallen wäre,
.gnadenweise' einem Herrn Zehra die Ausübung der Advokatenpraxis
ohne Nachweis der juridischen Hochschulstudien, ohne Nachweis der
Konzipienten- und Gerichtspraxis und ohne Ablegung der strengen
Advokatenprüfung zu verleihen! . . .<
Lakai. Die Anwesenheit des Schwedenkönigs in Wien hat wied(
allerlei Verwirrung gestiftet. Eine Meinungsverschiedenheit herrschte z. B,
darüber, ob der 75jährige Mann — bei grimmiger Kälte und beginnen
dem Schneefall — im offenen oder geschlossenen Hofwagen vom Bahn
hof in die Burg gefahren ist. Die ,Zeit' ist für die Abhärtung di
Monarchen, wird aber leider vom .Extrablatt' dementiert, das sogar eine
Abbildung des geschlossenen Wagens brachte. Solche Divergenzen sind
in der Tat bedauerlich. Es ist klar, daß ein König, der in Wien an-
kommt, nur entweder in einem offenen oder in einem geschlossenen
Wagen von der Bahn in die Stadt fahren kann. Ein drittes gibt es
nicht. Für künftige Fälle sollte doch wenigstens in so wichtigen Dingen
Einigkeit erzielt werden, da sonst der Leser wirklich nicht mehr weiß,
woran er sich halten soll. Noch schlimmer ist es freilich, wenn ein Blatt
mit sich selbst in Zwiespalt ist. Im Abendblatt der , Zeit' vom 24. Februar
kommt unser Kaiser »in der Oberstenuniforra seines schwedi-
schen Regiments« auf den Perron, um den Gast zu begrüßen. Im,
Morgenblatt der ,Zeit' vom 25. Februar heißt es in dem Bericht übe«
das Theatre pare: >Da der Kaiser kein schwedisches Regimea^
innehat, erschien er in der österreichischen Marschallsuniform«. Also
hat er eins oder hat er keins? . . . Bekanntlich genießt die Wiener
Publizistik das Benefizium, zusehen zu dürfen, wenn bei Hof ein Gala-
diner verzehrt wird. Am stolzesten von allen Wiener Blättern ist die
kulturaktuelle, demokratische ,Zeit' auf diese Ehre Sie schreibt am 26
Februar wörtlich: >!m weiteren Verlaufe des Diners warf der König
Oskar einen Blick auf die Galerie des Saales, von wo eine Anzahl
schwarzbefrackter Herren — die Zeitungsberichterstatter — dem glanz-
vollen Feste zusahen. Man bemerkte, wie die schwedische Majestät an
den Kaiser eine Frage richtete; der Kaiser warf nun auch einen Blick
nach oben und antwortete. König Oskar wußte nun, wer die schwar-j
zen Gäste waren, und er neigte grüßend leicht das Haupt gegen di^
Vertreter der Presse, eine Höflichkeit, die sich noch keiner der in die-i
sem Saale erschienenen Potentaten je hat zuschulden kommen lassen.
Die Hofgesellschaft, gewohnt, bei solchen Festlichkeiten die höchsten
Herrschaften nicht aus dem Auge zu lassen, wurde durch diese kleine
Szene ebenfalls auf die Galerie aufmerksam gemacht, und so waren die
Zeitungsleute wenigstens einen Augenblick lang Gegenstand eines Inter-
esses, das ihnen sonst — und nicht bloß bei solchen Anlässen - ver-
sagt bleibt.« Was wohl die beiden Monarchen einander gesagt habet
mögen? »Sehen Sie, das dort ist der Löwy!« »Nicht möglich, den hab
ich mir ganz anders vorgestellt!«. Und die Hofgesellschaft sah zu, wi<
die Publizistik zusah, wie die Hofgesellschaft aß. Bei der Verdauung
und den folgenden Begebenheiten sah die Publizistik nicht mehr zu . .
Herausgeber und verantwortlicher Redakt;ur: Karl Kraus.
rki.i..<k onn lahnHa Ar «ImtaI Wipn HI Hinter» TallatniasiraB« 3
r. 157 Erschionen am 19. März 1904 V. Jahr
ie Fackel
Herausgeber:
KARL KRAUS.
Erscheint drei- oder zweimal im Monat.
Preis der einzelnen Nummer 24 h.
Nachdruck und gewerbsmäßiges Verleihen verboten; gerichtliche Verfolgung
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Die Fackel
Nr. 157 WIEN, 19. MÄRZ 1904 V. JAHR
BIN UNHOLD. -
>Des Himmels Antlitz glüht, ja diese Feste,
Dies Weltgebäu, mit trauerndem Gesicht,
Als nahte sich der jüngste Tag, gedenkt
Trübsinnig dieser Tat.. .<
Johann Peigl, Hofrat und Vizepräsident des
Wiener Landesgerichts, hat als Vorsitzender einer
Schwurgerichtsverhandlung am 10. März 1904 einen
dreiundzwanzigj ährigen Buben, der in trunkenem Zu-
stand eine Frau auf der Ringstraße attackiert und
ihr 1 K 20 h zu entreißen versucht hatte, zu lebens-
länglichem schweren Kerker verurteilt.
Das Datum wird aus der Geschichte der öster-
reichischen Rechtspflege, der raärzgefallenen, nicht
mehr verschwinden. Wenn wir die Reihe der
Sünder im Talar passierten, die in nüchternem
Zustand die leibhaftige Gerechtigkeit attackiert, ver-
gewaltigt, geschändet haben, nur Einem konnten
wir keinen Milderungsgrund zubilligen: Herrn
Johann Peigl. Er ist der persönlichen Freiheit
der Staatsbürger am gefährlichsten geworden, er,
der einzige, der dem Wahnwitz jenes hundert-
jährigen Gesetzes buchstäblich gerecht ward. Die
grauenvollsten Strafgebote hat man, da ein delirantes
Parlament die gesetzgeberische Arbeit hindert, auf
alle Art zu dämpfen gesucht. Oft wird dies ja
in verblüffender Weise durch einen Freispruch der
Geschwornen bewirkt, der dem Freunde der Rechts-
Sicherheit einen nicht gelindern Schrecken einflößt,
als das Wüten des Paragraphenrichters, und auch
dem liberalsten Verteidiger des Unfugs »Volks-
justiz« zu denken gibt. Aber hinter dem Berufsrichter
steht jetzt eine von ihrer Modernität begeisterte Re-
gierung und beschwört ihn in allwöchentlichen Erlässen
und Festreden, nicht des unmenschlichen Gesetzes,
nein, seines humanen Pühlens Strafmaße anzu-
wenden. Ach, man könnte, wenn man diesen Johann
Feigl des Ministers Wünsche in Tat umsetzen sieht,
beinah sich zum Glauben bekehren, die alte List
österreichischer Staatskunst sei auch hier am Werke
und »Küsse auf den Lippen, Schwerter im Busen I«
der Wahlspruch modernster Justizpohtik. Und Karl
Moor, der Räuber, handelt ethischer als die Heuchler-
welt, die ihn richten wird . . .
Hat Herr v. Koerber den Mut, das Urteil vom
10. März ungesühnt zu lassen? Wird man aus
plötzlichem Respekt vor einem Staatsgrundgesetz, dem
über die richterliche Unabhängigkeit und Unabsetzbar-
keit, Herrn Johann Feigl seine Attacken auf Menschen-
gefühl und Gerechtigkeit weiter verüben lassen ? Weg
mit dem österreichischen »Justament not«! Weg mit
dem törichten Beamtenhochmut, der sich entgegen aller
bessern Einsicht nur deshalb sträubt, ein Übel zu
beseitigen, weil seine Beseitigung auch in ein paar
»Druckschriften« verlangt wurde ! Die Wiener Bevöl-
kerung will Herrn Johann Feigl nicht, und wenn
ihre Vertreter in Staat, Land und Gemeinde ihren
Wünschen zu horchen verständen, dann würde jetzt
in einer Sache, die tausendmal wichtiger ist als der
ganze nationale Trödel, ein parlamentarisches Bom-
bardement losgehen, dem die Justizverwaltung nicht
lange trotzen dürfte. Nicht der Räuber von der Ring-
straße, Herr Feigl war längst unschädlich zu machen.
Für jenen ein, höchstens zwei Jahre Gefängnis, für
diesen ein Zivilgericht — damit wäre der Gerechtigkeit
Genüge geschehen, der Wiener Menschheit ein Er-
starren des Blutes erspart geblieben. Wenn man
bedenkt, ein wie wertvolles Gefühl der Rechts-
sicherheit Millionen durch die Kaltstellung eines
einzigen Hofrates wiedergegeben werden kann, dann
muß man eigentlich staunen, daß eine auf populäre
Wirkungen bedachte Regierung nicht öfter die Ge-
legenheit nützt. Der Papst hat der Unzufriedenheit
des kleinen Klerus einen Pürsterzbischof geopfert:
kann der österreichische Ministerpräsident auch nur
einen Augenblick schwanken, für bei weitem ernstere
und viel schwerer verletzte Interessen einzutreten?
Wir haben es satt, dem Spiel mit Menschen-
leben und Menschenwürde länger zuzusehen. Und
wenn wir ihm — gemäß dem neuesten Erlaß zur
Hebung des Ansehens der Justiz — nicht mehr mit
Opernguckern zusehen dürfen, so wollen wir es über-
haupt nicht mehr sehen. Wir haben es satt, diesen
Räuschen des Blutdurstes beizuwohnen, in die eine
nüchterne Verhöhnung des Angeklagten nach der
Schablone verfällt. Wir haben dies Walten einer
Wiener Criminalistik satt, die ihren Namen nicht
vom »crimen«, sondern vom Crirainal ableitet,
und die sich in selbstgefälligem Stumpfsinn als die
Wissenschaft vom »Einspirrn« definiert. Wir haben
Herrn Holzinger's Ende nicht vergessen. Und wir er-
tragen an dürftigen Epigonen nicht, was uns an der
stilvollen Persönlichkeit eines großzügigen Sünders
entsetzt, nie abgestoßen hat. Holzinger war mehr als
ein österreichischer Kerkermeister; jedes seiner Urteile
schien eine Schuld der Menschheit zu rächen. Eigene
Rache befriedigt, eigener Bosheit fröhnt Herr Johann
Peigl. Ihn erfüllt bloß die Spielerfreude seiner
Machtvollkommenheit, das urkräftige Behagen an dem
Mißverhältnis zwischen einem kleinen Menschen und
einem großen Amt. Er ist ganz und gar Shakespeare's
»winz'ger Richter«,der mit Jo vis Himmel donnern möchte
— »nichts als donnern«, ganz der »in kurze Majestät
gekleidete Mensch«, der, sein gläsern Element ver-
_ 4 —
gessend, »wie zorn'ge Afifen spielt solchen Wahnsinn
gaukelnd vor dem Himmel, daß Engel weinen, die,
gelaunt wie wir, sich alle sterblich lachen würden*.
Darum »weckt er die längst verjährten Strafgesetze,
die gleich bestäubter Wehr im Winkel hingen«,
darum höhnt er den Delinquenten, bevor sein Urteil die
Gerechtigkeit höhnt . . . Ein norwegischer Strafrechts-
gelehrter, der einmal in Wien einer Verhandlung unter
dem Präsidium des Herrn Feigl beigewohnt hat, ver-
sicherte, daß in seiner Heimat kein Staatsanwalt so
viel nörgelnde Gehässigkeit gegen den Angeklagten
aufbrächte wie hier der über den Parteien stehende
Verhandlungsleiter. Und der Wiener Staatsanwalt
hat — ein Fall, der, soweit das Gedächtnis der ältesten
Juristen reicht, nicht vorgekommen ist — zum Schutze
des letzten Opfers Peigl'scher Judikatur Berufung
angemeldet. Ich weiß und bin in der Lage zu beweisen,
wie Richter mit fünf Sinnen, wie hochgestellte
Funktionäre über , die Tätigkeit Johann Peigl's
denken. Ist es wirklich unumgänglich, mit verschränkten
Armen auch vor der strafgerichtlichen Abteilung
des österreichischen Chaos zu stehen? Könntet Ihr
hier nicht Wandel wirken, wo die Reform des Ge-
setzes beiweitem nicht so dringend ist wie die Per-
sonenfrage ? . . .
Die Verurteilung des Dreiundzwanzigj ährigen
bis zum Tode, die furchtbarer als die zum Tode ist, /
wollte man selbst Herrn Peigl's bewährter Kerker-
meisterschaft nicht glauben. Nur genaueste Lektüre
des Verhandlungsberichtes bietet die Möglichkeit,
dem Wahnwitz psychologisch beizukommen. Durch
Jahrzehnte hatte Grausamkeit den Hohn abgelöst.
Aber sie war doch immerhin gemildert durch den
starken Verbrauch seiner Natur, den eine lange Ver-
handlung Herrn Feigl erlaubte. Das fühlte er selbst:
ein gut Teil der Strafe hat ein Angeklagter über-
standen, der eine Verhandlung unter seinem Vorsitz
über sich hatte ergehen lassen müssen ; wie eine Erlösung
— 5 —
wirkte das Urteil. Wie würde es, so hätte man sich
längst fragen können, wirken, wie würde es ausfallen,
wenn Herrn Feigl einmal die Gelegenheit genommen
wäre, mit dem Angeklagten wie die Katze mit der Maus
zu spielen? Wenn ihm ein Desperado gegenüberstände,
der in Lebensnot sein Selbstbewußtsein nicht verloren
hat, den Richter nicht als sein Schfcksal betrachtet, nach
seinem Mienenspiel nicht ängstlich forscht, sich nicht
duckt, dem Spott nicht mit Erröten, dem Schimpf
mit Trotz antwortet? Herr Johann Feigl hat seinen
Meister gefunden. »Das mag Ihre Ansicht sein, Herr
Präsident! Ich teile diese Ansicht nicht« — ruft ihm
der Bursche zu, der wegen eines Raubanfalls vor
seinem Richtstuhl steht. Einmal, wieder, immer wieder.
Herr Feigl stutzt. »Man kommt nach Ihrem Auftreten
nahezu auf den Gedanken, • daß Sie unverbesserlich
sind . . . . Ihre ungehörige Verantwortung muß ich
rügen«. Der Angeklagte verwahrt sich gegen »die
spitzen Redensarten des Gerichtshofs«. Er kanzelt
seinen Verteidiger herunter und hält selbst ein
Plaidoyer, das als ein hochdeutsches Sammelsurium
der bekanntesten Verteidigerphrasen, in dem auch
zum Schluß der Hinweis auf die eigene psychische
Minderwertigkeit nicht fehlt, ein parodistisches
Meisterstück genannt werden muß. Mit Hohn war
diesem Angeklagten nicht beizukommen, diesem
nicht. Also blieb nichts übrig, als ein Urteil zu
fällen, das weithin wirke als Exempel — zur Ver-
hütung künftiger Raubanfälle? Nein, zur Verhütung
unbotmäßigen Betragens vor Gericht. War gestern in
demselben Hause ein Mann, der einem andern eip Messer
in den Bauch gerannt hatte, zu fünf Tagen Arrests
verurteilt worden, hier mußte mit anderm Strafmaß
gemessen werden. In diesem Dreiundzwanzigjährigen
war ja noch Leben! Ein Kerl, stark genug, um zwei
Jahre Gefängnis, die er redlich verdient hat, zu über-
tauchen, noch nicht vöüig verkommen, der ßesserungs-
fähigkeit dringend verdächtig, und möglicherweise
— 6 —
imstande, sich mit seinem Witz noch ehrUch durch's
Leben zu schlagen. Vor allem aber — sympathischer
als Herr Johann Feigl, der ja mit seiner Carriere ab-
geschlossen hat und, wenn er aus dem Landesgericht
herauskäme, nichts Rechtes mehr anzufangen wüßte . . .
So ward denn Anton Kraft zu lebenslänglichem
schweren Kerker verurteilt. »Er war allerdings
auch«, bemerkt das »Deutsche Volksblatt* wörtlich,
»während der Verhandlung ungemein keck und trat
sogar dem Vorsitzenden Dn Feigl entgegen, wo er
nur konnte« . . . Am 10. März 1904 wurde in Wien
lebenslänglicher schwerer Kerker wegen frechen
Benehmens im Gerichtssaal diktiert I . . .
Wird Herrn Johann Feigl nicht bang? Es soll
irgendwo im Paragraphendickicht eine Möglichkeit
verborgen sein, aus der sich die Verhängung der
grauenvollsten Pein für den Trunkenheitsexzeß des
Minderjährigen, der keinen Heller erbeutet hat,
formell rechtfertigen läßt, ein Paragraph, den Herr
Feigl bei einigem guten Willen »anwenden« konnte.
Wenn Herr Feigl einst sein tatenreiches Leben endet,
das etwa zehntausend Jahre, die andere im Kerker
verbrachten, umfaßt hat, so mag sich ihm in schwer-
ster Stunde, vor der Entscheidung einer höhern
Instanz, seiner schwersten Sünde Beichtbekenntnis
entringen: »Ich habe mein ganzes Leben hindurch
das österreichische Strafgesetz angewendet . . .«
Per österreichische Staat ist ein Simandl in
seinem Verhältnis zur Nordbahn. Das ist von den
Privatbahnen die weitaus frechste. Auf jede Art
läßt sie den wehrlosen Gichtkrüppel ihre Tücke
fühlen. Von einer Kontrolle ihres Haushalts ist längst
keine Rede mehr, aber wie um zum wirtschaftlichen
— 7 —
Sohaden noch den Spott zu fügen, versagt sie
neuesten« auch die natürlichsten Gefälligkeiten, zu denen
eheliche Gemeinschaft verpflichtet. Die österreichi-
schen Privatbahnen haben, wie man weiß, von alters-
her ein System der Preikartenkorruption eingeführt,
das den löbHchen Zweck hat, die publizistische und
parlamentarische Aufsicht von etwa vorkommenden
mörderischen Schlampereien abzulenken. Die Zu-
weisung von Erste Klasse-Biltets an Journalisten, von
Separatcoup^s an Abgeordnete hat sich als eine
österreichische Selbstverständlichkeit eingebürgert, der
füglich auch durch die Einführung der Pahrkarten-
steuer kein Abbruch geschehen durfte. Dagegen haben
die Privatbahnen in ihrer unerforschlichen Prechheit
die Einführung dieser Steuer als Vorwand benützt,
um den Staatsbeamten, die einen vernünftigen An-
spruch auf Äihrpreiserraäßigung haben, den gewohn-
ten Bezug der verbilligten Karten zu erschweren.
Die Nordbahn war resoluter als die anderen. Sie hat
den Staatsbeamten — mit Ausnahme der poli-
tischen Beamten — die Ermäßigung einfach ent-
zogen. Die Beamten politischer Ressorts können auf
der Nordbahn so billig reisen wie früher. Damit
ist Pflicht zur Gunst geworden, und die Nordbahn
hat ihr Bestreben enthüllt, auch die Staatsbeamten
an die Kette der Korruption zu legen. Nun könnte
ja manch ein naiver Professor einer Provinzuniversität,
in dessen Budget die Entziehung der Fahrpreiser-
mäßigung eine beträchtliche Rolle spielt, das Be-
dürfnis verspüren, Parlament und Presse gegen das
Unrecht, das ihm und anderen Staatsbeamten widerfährt,
anzurufen. Er fände verschlossene Türen. Wenn man sie
öffnet, gelangt man in Separatcoup^s erster Klasse . . .
« «
•
Per bevorstehenden Spiritus- Ausstellung, die zu
den guten Einfällen unserer an Eingebungen nicht
allzu reichen Regierung gehört, kami der Agitations-
— 8 —
eifer des Herrn Sektionschefs Exner nicht gerade
förderlich sein. Der Mann spielt sich als ihren Spiritus
familiaris auf. In Berlin, in den Gewerbevereinen von
Wien und Brunn hält er Vorträ<>e, in der ,Neuen Freien
Presse* veröflFentlicht er Feuilletons über die wirt-
schaftliche Bedeutung der Spiritusverwertung. Der-
gleichen trieft natürlich von Wissenschaft, es flimmert nur
so von »Kraft, Licht und Wärme«, und die »Fach-
männer« lauschen und lesen in atemloser Spannung.
So wird uns wenigstens in spaltenlangen Reklame-
berichten versichert. Wenn nur Herrn Exner nicht
wieder etwas Menschliches passiert, wie damals, als
er noch Hofrat und schon Gschaftlhuber war! Es
war hier, wenn ich nicht irre, bereits einmal von jener
Verwahrung die Rede, zu der sich wissenschaftliche
Namensvettern des Herrn Professors Wilhelm Exner
gedrängt fühlten. Ich bin heute in der Lage,^hren Wort-
laut zu veröffentlichen. In dem Mittagblatt der .Wiener
Allgemeinen Zeitung' vom 21. November 1885 las
man die folgende Kundgebung, die damals Aufsehen
erregte, aber Herrn Exner in seinem Fortkommen
nicht geschadet hat:
In Nummer 8 der »Neuen Illustrierten Zeitung' vom 15. No-
vember 1885 findet sich eine »Abhandlung« unter dem Titel: »Kraft
und Leistung«. Da der Inhalt derselben gegen allbekannte Grund-
begriffe der Mechanik gröblich verstößt, der Aufsatz aber mit dem
Namen »Professor W. F. Exner« als Verfasser bezeichnet ist, finden
sich die Unterzeichneten gleichen Namens, die sämtlich Professoren
der Naturwissenschaften in Wien sind, um Verwechslungen
vorzubeugen, genötigt, für ihre Person die Autorschaft obiger
»Abhandlung« öffentlich abzulehnen.
Dr. K. F. Exner,
Professor der Physik und Mathematik am k. k. Staats-Gymnasium im
neunten Bezirke;
Dr. S. Exner,
Professor der Physiologie an der k. k. Universität;
Dr. F. E X n e r,
Professor der Physik an der k. k. Universität.
— 9 —
Nun, in Brunn waren, wie mir ein Mitarbeiter
verrät, die oratorischen Blüten schon recht bedenk-
lich. »Die Anbaufläche für Kartoffeln ist unendlich
größer als die vorhandenen und etwa noch zu
entdeckenden Kohlen- und Petroleumgruben. Die
Menschheit ist demnach in der Lage, in fast unbe-
schränkter Quantität Spiritus zu produzieren, um das
Bedürfnis an Energie zur Erzeugung von Wärme,
Licht und Kraft zu befriedigen . . . (Minutenlanger, leb-
hafter Beifall).« Wenn aber einmal die Anbaufläche der
Erde zum Kartoffelbau benützt und aus allen diesen
gigantischen Kartoffelmengen die fast unbeschränkte
Quantität Spiritus produziert werden sollte, würde
man sich wahrscheinlich gezwungen sehen, das Ge-
treide aus den vorhandenen und etwa noch zu ent-
deckenden Kohlen- und Petroleumgruben zu schöpfen.
Müßige Statistiker haben überdies schon berechnet,
in welcher Zeit die Anbauflächen der Erde für den
Brotbedarf nicht mehr zureichen werden. Wenn nun
Sektionschef Exner uns auch noch diese Flächen
schmälert, so ist zu erkennen, daß die Menschheit
umso schneller, allerdings festlich beleuchtet vom
Spiritus, dem Hungerelend verfallen muß . . , Zur
Beruhigung kann man aber annehmen, daß unsere
Nachfolger vernünftig genug sein werden, statt Spiritus,
Kartoffelpüree zu bereiten.
In dem Gewimmel schwärzlicher Schmöcke, das bei Premieren
den Mittelgang unserer Theater versperrt, fiel mir schon lange eine
Dame auf. Ich sah sofort, daß sie Rosenbaum heißt, aber ich erfuhr,
daß sie sich »Kory Towska« nenne. Die liebe Presse, deren Prosa-
humor schon wie eine Krätze des Geistes empfunden wird, belästigte
- uns von Zeit zu Zeit mit »Epigrammen aus weiblicher Feder«, in denen
sich eine erhebliche Wertlosigkeit des Gedankens mit einer auffallenden
Trostlosigkeit der Form paarte. »Kory Towska< waren sie gezeichnet.
- 16 -
Wer verbarg sich hinter diesem Pseudonym und hätte Orufld, sich
zu verbergen? Wir hörten es immer wieder: eine »Frau von Geist«.
Aber da sie auch die Frau von Rosenbaum ist, die Gattin des Burg-
theaterlektors, so umstand sie der Schmöcke schwärzHches Gewimmel
bei den Premieren, schützte sie die Phalanx jenör Kunstrichter, deren
oberste kritische Raison lautet: »Man kann nicht wissen —!«... Eine
Witzboldin! Ich kann mir an und für sich nichts Unerfreulicheres
denken. Nichts, was der Vorstellung von weiblicher Anmut mehr
zuwiderliefe. Wenn man hört, daß eine Frau die Passion hat, zu
»geißeln«, so ist der Gedanke noch immer natürlicher, daß sie eine
Sadistin ist. Aber eine Satirikerin? Brrr . . . Satirische Nadelstiche
sind kdne weibliche Handarbeit. In welch ein Jammertal würde diese
Welt verwandelt, wenn die Frauen anfingen, statt lyrisch »epigram-
matisch« zu denken, wenn Herz sich nicht mehr auf Schmerz, sondern
auf Scherz reimte und Liebes-Leid und Lust sich auf ihren Höhepunkten
in einem Kalauer auslösten ! Otto Weininger hat die Blütezeit Kory
Towska's nicht hi6hr erlebt. Er hätte zugegeben, daß sie 80% »M«
enthalte, aber von dem Masculinum »Sternberg«. Ich könnte mir nicht
einmal denken, daß eine Ballreporterin in der ewigen Umgebung
ihrer männlichen Kollegen den Itzig-Witzig-Stil erlernt, der Kory
Towska's Epigrammen eignet, oder den Knofel- und Pofelwitz, von
dem ihr Lustspiel »Michael Kohlhaas« duftet, das neulich mit ver-
heerender Wirkung über die Volkstheater-Besucher niedergegangen
ist. Eine frechere Zumutung hat sich eine dem Cüquengebot will-
fährige Direktion seit Jahren nicht geleistet, und keine schamlosere
Fälschung eines Durchfalls die liberale Preßclique. Das Publikum
war weniger »galant« als die Ladenschwengel der öffentlichen
Meinung und rehabilitierte das Geschlecht, da es den weiblichen
Witzbold anzischte. Ein seltsamer Theaterabend: Unter den Aus-
brüchen der Empörung des Publikums wurden der Dame nach
jedem Aktschluß mit Blumen gefüllte Papierkörbe auf die Bühne
gereicht. Ein Literaturprofessor im Stücke heißt »Meibauer«, damit
er in einer Prozeßsache »Meineidbauer« genannt werden könne,
ein anderer hat eine Abhandlung »über den Einfluß von Goethe's
, Faust' auf Shakespeare's , Hamlet'« geschrieben, ein weiblicher
Michael Kohlhaas wird »Kohlhäsin« genannt, und ein Herr, der
drei weinende Frauen vor sich sieht, fragt, ob er in eine »Wein-
stube« geraten sei. In der befreundeten Presse wurde tagsdarauf
11
von *Gedankenreichtum€, >sarkastischeni Geist«, >ironischer Heiter-
keit des Dialogs«, >Charme und Leichtigkeit«, »geistiger Gewandt-
heit<, »charakteristischen Details«, »geschickter Beobachtung« ge-
sprochen. Und von einem »amüsanten Gerichtsakt« ward erzählt,
»in welchem die spottlustige Verfasserin der Themis eine Nase
drehte«. Es war sichtlich eine Nase, die der Verkürzung durch
Herrn Professor Gersuny harrt. Herr Lothar aber, der den Duich-
fall zugab, weil er aus eigener Erfahrung weiß, wie wenig ^s
Vertuschen nützt, schrieb wörtlich: »Das Publjkjum des Deutscljen
Volkstheaters war diesmal sehr hart. Ungewöhnlich hart. Es
behandelte ein harmloses deutsches Lustspiel mit einer Strenge,
die eine schlimmere Sache verdient hätte.« Und nachdem er einen
»guten und lustigen Dialog«, »allerliebste, echte Lustspielszenen«
und »eine Fülle hübscher Einfälle und lustiger Wendungen« kon-
statiert und Kory Towska eine Frau von Geist genannt hat,
tadelt er Hugo v. Hofmannsthal's »uferlose, verschwommene Poesie,
der man auf der Bühne nicht folgen kann«. Ich hatte mir die Frau
Towska immer als einen weiblichen Lothar vorgestellt; und nun
sehe ich, wie sehr ich sie unterschätzte: Herr Lothar beneidet sie
um ihren Humor. Oder trägt er selbst ein »deutsches« Lustspiel
unter dem Herzen, dem er in der Burgtheaterkanzlei liebevolle
Aufnahme sichern will? Herr Rosenbaum, der Lektor und Gatte,
sah dem Unfug von einer Loge zu . . . In einer andern Ehe wäre
»Michael Kohlhaas« ein Scheidungsgrund und somit eine Angelegen-
heit des Familienlebens. Herr Rosenbaum wollte den artistischen
Geschmack, von dem das Burgtheater geleitet wird, demonstrieren
und gestattete die Aufführung des deutschen Lustspiels. Jetzt ist es
zur öffentlichen Sache geworden und somit zum Scheidungsgrund
vom Dramaturgenposten des Bargtheaters.
l
12
Otto Welninger's »Geschlecht und Charakter«.
Von Karl Bleibtren. 1
Der jugendliche Philosoph hat bekanntlich nach '
Erscheinen seines ungewöhnlichen Werkes Selbstmord ver-
übt. Er wählte den Tod, weil er das von ihm so tödlich
gehaßte Antimoralische in sich selber Übermächtig fühlte
und angeblich nicht zum Verbrecher werden wollte. Für
jeden auf nüchterne Exaktheit des »Normalen« Einge-
schworenen verrät dies natürlich krankhaften Gehirnzustand
und wäre ein neuer Beweis, wie nahe das Pathologische I
oft dem Genialischen liegt. Wer jedoch tieferen theosophisch-
okkulten Einsichten zuneigt, wird in dieser scheinbar ö
phantastischen Überzeugung des jungen Denkers gerade |
eine geniale Erkenntnis bewundern, die freilich seine I
eigene Theorie einer angeblichen Willensfreiheit gründlich
widerlegt. Wenn ein so mächtiger Wille und Intellekt
wie derjenige Weininger's sich gegenüber dem inneren
Dämon ohnmächtig fühlte, so hat der Determinismus
hier wieder einmal sein Spiel gewonnen. Wenn verschiedene
Theosophen noch mit Willensfreiheit operieren, so zeigt
dies ihre schwere denkerische Verworrenheit oder ein
naives Mißverstehen der transcendentalen Freiheit (des j
trän scen dentalen Ego), die mit der völligen empirischen
Unfreiheit alles WoUens und Handelns im irdischen
Körperleben gar nichts gemein hat. Doch wir wollen uns'f
hier nicht in solch okkulte Gebiete verlieren und nur'
andeuten, daß der Selbstmord auch vom theosophisch-
buddhistischen Sehwinkel aus als eine Torheit getadeltf
werden muß. Der Selbstmörder vernichtet willkürlich den!
Schein, ohne das ihn quälende individuelle Sein antasten t
zu können, das unverändert fortbesteht. Er lehnt sich!
gegen sein Karma auf, weil es ihm eine unbequeme Phase t
der Wiedergeburt bereitet, obschon dies nur streng-*
gerechte Folge seiner eigenen früheren Präexistenzen. \
Damit erreicht er gar nichts, als erneutes Durchlaufen der 1
gleichen Phase in späterer Wiedergeburt. Es ist dem ^
Individuum nicht gegeben, das Netz der Kausalität zu.j
sprengen. Solche Ungeduld beleidigt die ewige Logik. Des- j
— 13
halb bedarf das wahre Genie nicht so stürmischer
Unsterblichkeitsprobe, weil es sein Jenseits immer bei
sich hat und sein Unsterbliches zu jeder Stunde fühlt.
Immerhin darf ein solches Motiv ethischer Verzweif-
lung nicht mit jener gemeinen materiellen Verzweif-
lung verwechselt werden, welche fast alle Selbstmorde
veranlaßt, mit der feigschwächlichen Wut über persönliche
mißliche Lebensumstände und rein egoistisch empfundene
Leiden. Der Buddhismus gestattet nur die Selbstver-
nichtung als Opfertod aus ideellen Motiven z. B. zui
Rettung Anderer, aber die »Herren des Karma«, um
theosophisch zu reden , dürften auch dem eigentümlichen
Entschluß des genialen Jünglings, lieber den Tod als das
Versinken ins Böse zu wählen, mildernde Umstände zu-
billigen. Auch mag dabei unheilbarer Lebensekel mit-
gewirkt haben. Philosophische Gewißheit der Unsterblichkeit
jeder Seelenmonade kann dazu verführen, lieber sofort das
unbekannte Land jenseits der Bewußtseinsschwelle aufzu-
suchen, als sich länger in unsrer Niedrigkeit und Klein-
lichkeit herumzuschlagen. Indem wir also tief beklagen,
daß so seltene Frühreife, die eine Fortspinnung von Kant
und Giordano erwarten ließ, sich uns so früh entziehen
mußte, erachten wii- dies Müssen als symbolisch, gleich-
sam als höhnische Absage an unser Zeitalter: Alles,
was großgeartet, trachte von ihm wegzukommen ! Otto
Weininger — ein Name, der bleiben soll — mußte
sich erschießen, um dem Modernen aus dem Wege zu
gehen. Andere, stärker als er, haben freilich die Kraft, es
zu ertragen.
Nun wohl, er wollte nicht, und gehört jetzt der
Ewigkeit an, in deren Vorstellung er webte. Uns bleibt
nur die Pflicht, seine geistige Hinterlassenschaft zu prüfen.
Auf der höheren Daseinsebene, die er so brünstig suchte,
aus einem Leben ins andere hinüberstürzend, empfing ihn
der Daseinsbegriff in seiner jetzigen Existenz jenseits
irdischer Bewußtseinsschwelle gewiß mit gleicher Strenge.
Wahrscheinlich fügte aber sein unerträglich scheinendes
Leid, das zur Fahnenflucht vor dem irdischen Lebens-
157
14
kämpfe trieb, ihrp neue Krgft hinzu, wie sie eben duich
jedes große Leid innerlich zuwächst, um so den Mut {
zum ewigen Leben zu erhöhen. Wenn er behauptet: »Der
Mensch ist allein im All in ewiger Einsamkeit. Nicht die
Sinnlosigkeit einer Welt von ungefähr ist ihm Pflicht,
sondern seine Pflicht ist ihm der Sinn des Alls«, so
täuscht er sich wohl über diesen Sinn und das Problem
der Einsamkeit. Unendlichkeit ist nicht Einsamkeit, und
aus der Ich-Einsamkeit in die All-Gemeinsamkeit aufzu-
gehen scheint gerade der Sinn der Allordnung. Obsehon
er sich über den positiven Unsinn des Positivismus so
hoch erhob, hätte esoterischer Buddhismus ihn wohl der
Lösung nähergebracht.
Festgefügtes System wird man in »Geschlecht und
Charakter« füglich weniger finden, als den Ausdruck allge-
meiner heroischer Weltanschauung und bedeutender Per-
sönlichkeit. Beim gedruckten Nachlaß, das Hauptwerk
ergänzend, wird man die Empfindung nicht los, daß
jonglierendes Franzosentum des Geistes, wie der Pole
Nietzsche es für deutsch ausgab, auch Weininger ansteckte.
Seine Parerga und Paralipomena enthalten oft recht
gequälte und erkünstelte Einfälle, einen aphoristisch
irrlichtein den Orgiasmus schrullenhaft manirierter Begriffs-
sprünge. Der höchst geistvolle Aufsatz über Ibsen's »Peer
Gynt«, reich an eigenwüchsigen Gedankenbildern, ähnelt
den bekannten Kommentaren über Faust IL Teil, wo
jeder die Sphinx reden läßt, wie ihm der Schnabel ge-
wachsen, und hineingebeimnißt, was ihm beliebt. Auch
das Hauptwerk leidet an systemloser Mischung streng
fachlicher Philosophie mit sozusagen feuilletonistischer Vor-
tragsweise. Die besten und tiefsten Kapitel des gewaltigen
Buches haben mit dem angeschlagenen Thema fast nichts
zu schaffen, und jeder nicht fachphilosophisch gebildete
Leser wird sie vermutlich überschlagen. Wir meinen z. B.
den glanzvollen Abschnitt »Logik, Ethik und das Ich«,
worin er mit einem mir unmittelbar verwandten Ideen-
gange die Ethik aus der Logik ableitet. Den Erfolg des
aufsehenerregenden Werkes machte natürlich nur der
— 15 -
grundlegende sexuale Inhalt aus, der freilich in «inigeii
Hauptpunkten unanfechtbar bleibt, dessen matilose Über-
treibung jedoch des Autors Jugendlichkeit verrät.
Sobald ein Mann grimmig gegen die Frauen zetert,
weiß der Psychologe, daß er einen Erotiker und halben
Masochisten vor sieh hat. Nur wen das Sexuale ganz
beheiTScht, über den hat das Weib Gewalt, nur er wird
aus mitleidiger Verachtung der »Weiber« gleich wüsten
Haß gegen das Weib-an-sich schöpfen. Derlei erinnert
immer an den Briten, der angesichts eines rothaarigen
Kellners dekretierte: alle Deutschen sind rothaarig. Daß
Weininger sich gegen den albertien und verlogenen Kultus
des Ewigweiblichen wendet, bleibt sein Verdienst, und
hier dürfte er mannigfach klärend gewirkt haben. Aber
gerade daß er — wenngleich nicht neu, weil schon von Plato
sattsam angedeutet — zahllose Zwischenstufen zwischen
Ganz -Mann und Ganz -Weib nachweist, hebt zahllose
Frauen aus seinem Verdammungsurteil heraus, das doch
nur dem Ganz-Weibe gelten könnte. Auch entgingen ihm
zwei Eätselfragen. Erstens: daß im Tierreich keinerlei
geistige und sittliche Differenzierung zwischen Männchen
und Weibchen waltet oder vielmehr eher eine zu Gunsten des
Weibchens, wie denn der soziale Altruismus des Ameisen-
und Bienenstaats auf dem Ewigweibliclien beruht. Zweitens:
da des Menschen Urerscheinung hermaphroditisch angelegt,
wovon bei beiden Geschlechtern noch Kudimente vor-
handen, und da ferner der Embryo anfangs keine Geschlechts-
differenzierung vermuten läßt , — woher dann plötzliches
Hervorgehen zweier angeblich heterogener Wesen aus dem
gleichen weiblichen Gebärteil ? Scheint nicht diese Dif-
ferenz erst durchs Dasein selber sich herauszubilden, je
tiefer das Weib in seinen Sexualberuf einsinkt und je
höher der Mann als Geisteskärapfer davon abrückt? Wohl
hat Weininger Recht: »Was für seichte Psychologen die
Materialisten und Empiristen sind , kann man abermals
hieraus entnehmen, daß gerade aus ihren Kreisen die
Männer gekommen sind, welche für die ursprünglich ange-
borene psychologische Gleichheit zwischen Mann und
16
Weib eintreten.« Die Ungleichheit als solche besteht, wie
sie eben aus des Weibes Sexualität notwendig folgert.
Aber orakelt Weininger nicht selbst das tiefe Wort der
Menschenkunde: »Der Fluch, den wir auf dem Weibe
lastend ahnten, ist der böse Wille des Mannes«, »daß das
Weib da ist, heißt also nichts, als daß vom Manne die
Geschlechtlichkeit bejaht wurde«? Erbringt ferner Juden-
tum und Femininum in unmittelbare Verbindung, beide
als Verkuppler der Menschheit ans Philiströse, Antiideale.
Wir pflichten ihm bei, daß Judentum weniger
Eassenfrage als Geistesrichtung, daher verjudete
Arier jüdischer seien als Juden, die sich innerlich vom
Jüdischen lossagten. »Es ist die welthistorische Bedeutung
des Judentums, den Arier zum Bewußtsein seines Selbst ;■
zu bringen«, daß er sich hüte »vor dem Judentum als {\
Möglichkeit in ihm selber«. i
Des jungen Denkers Edelsinn verlangt trotz seiner
Ablehnung des Ewigweiblichen gleiche Rechte für Mann
und Frau, da das Problem der Sklaverei unsittlich sei.
Ganz recht, es schädigt so die Ethik des Mannes mit, und
Hebung der Männerwelt kann nur durch Erlösung des
Weibes vom Bann ausschließlicher Sexualität erfolgen.
Vergißt Weininger nicht den seltsamen Fingerzeig der Natur,
daß jedes Talent der Söhne von ihrer Mütter Intellektu-
alität sich übertrug? Er mißt das Weib immer nur an
den höchsten Möglichkeiten des Mannes. Für die angeb-
liche Undenkbarkeit eines weiblichen Genies hat unser
feminines Jahrhundert schon dies Problem gelöst: im
Lebenswerk der Helena Petrowna Blavatzky, eines Mahatma
(Übermenschen) in weiblicher Hülle.
Gewiß, das Durchschnittsweib ist oft ein kläglich
kleinliches Geschöpf, mitunter eine nichtsnutzige Schmeiß-
fliege. Doch steht der Durchschnittsmann wirklich so viel
höher, um Weininger's wahnsinniges Diktum zu rechtfertigen:
Der tiefststehende Mann sei mehr wert als die höchst-
stehende Frau? Die plumpe Galanterie »Das Ewigweibliche
zieht uns hinan« ward wohl nur von einfältigen Gänsen
ie ernstgenommen. Doch der Legende von ätherischer
— 17 —
Sittlichkeit der Frau steht gar manche abföllige Legende
über ihre angebliche Geistlosigkeit gegenüber. Hiezu rech-
nen wir das gang und gäbe Axiom, die Frau sei unfähig
zur Objektivität. Nun haben zwar J. St. Mill und Herbert
Spencer, was Weininger zu zitieren vergißt, sich in ihrer
Frauen rechtlerei bis zu dem Ausruf gelegentlich verstiegen,
die Frau denke sogar objektiver als der Mann. Aber selbst
in dieser Hyperbel, die wir ablehnen, steckt ein Körnchen
Wahrheit. ÜUvSere eigene Beobachtung drängt uns zu der
Ansicht, daß die Frauen tatsächlich eigentümliche Objek-
tivität besitzen, nur anders als der Mann. Beim Über-
wiegen der sensitiven über die intellektuale Sphäre versteht
die Frau sozusagen mit dem Gemüte, statt mit dem Ver-
stände. Oft urteilt sie weit verständnisvoller über Abson-
derliches als der Durchschnittsphilister, oft gilt nur für
sie das populäre Wort: Das Herz auf dem rechten Fleck.
Objektives Interesse für fernliegende Dinge trifft man unter
Umständen eher bei Frauen als bei Männern. Um ein
beliebiges Beispiel zu wählen: Würde je ein Mann ein
Buch über weibliche Handarbeiten lesen? Nein, wohl aber
lesen Frauen mit lebhaftem Vergnügen Bücher über mili-
tärische Vorgänge, die doch von ihrem Empfindungskreis
ausgeschlossen sein sollten. Und endlich: wenn eine Frau
geistreich erörterte, alle Männer seien Kanaillen und
Dummköpfe, so würde sie verhöhnt, verleumdet, verfolgt
werden. Dein Buch aber, o lieber Spirit Weininger, lesen
kluge Frauen mit Beifall, beklagen die ungerechte Ver-
bitterung, schütteln den Kopf über verrückte Ausfälle,
doch verkennen nicht vielfache Wahrheiten und edles
Streben. Die berühmte Subjektivität der Frau kehrt sich
also nur dann heraus, wenn ihre persönlichste Selbstsucht
erregt wird. Und wer wüßte nicht, wie in solchem Falle
wir Männer zu handeln und zu denken pflegen — kolossal
objektiv, nicht wahr? . . .
Zuletzt stellt der junge Denker die sittliche Forde-
rung absoluter Keuschheit auf, als metaphysischer Unsterb-
lichkeitsgläubiger allerdings logischer als Tolstoi, der
keine entschiedene Stellung zum »Jenseits« nimmt. Ohne
- IS
solchen Glaulyen, der völlige Vergeistigung und Eotkör-
perung des Menschen in Aussicht stellt und hiefflr giößt-
m^gliche ünbeflecktheit mit Materiellem voraussetzt, tväre
Selbstkasteiung umso sinnloser, als Keuschheit an und für
sich noch gar keine sittliche und geistige Erhöhung ge-
währleistet. Hier entsteht ein Dilemm'a wie bei jeder
Askese. Geschieht es nämlich in Hoffnung jenseitiger Ver-
geltung, so hört wahre Ethik dabei auf, und gelingt es
wegen ohnehin geringer sexueller Neigung, so hat das
Opfer wenig Wert; trifft aber das Umgekehrte zu, dann
verschlingt der verzweifelte Kampf gegen allmächtigen
Naturtrieb alle Seelenkräfte, die zu nützlicherer Geistes-
arbeit verwendet werden soUten. Um es deutlich zu sagen :
Ob Dante die Beatrice platonisch anbetet und nebenbei
mit einem Eheweib Kinder zeugt, erscheint sehr un-
wichtig, wenn er nur die Divina Comedia schreibt.
Und ob Gottlieb Schulze in geschlechtlicher Ehe oder gar
lüderlich lebt, ist für seine sittliche Beschaffenheit lange
nicht so wichtig, wenn er nur sonst gerecht und mitleidig
mit seinen Nebenmenschen verkehrt. Erzwungene Keusch-
heit, zu der ja unzählige alte Jungfern genötigt, bessert
keineswegs das verbitterte Gemüt. Wir sehen es an so
manclien Eremiten der Thebaide, die ihres Fleisches An-
fechtung widefi'standen , um zelotische Hoffart und Ge-
hässigkeit zu hellem Wahnwitz auszubilden. Die Askese
bändigt den Leib, reinigt aber nicht die Seele.
Auch wäre Verzicht auf Fortpflanzung unzulässig
gerade in Tolstoi's Sinne. Denn da er allen Wert in gott-
selig Diesseits verlegt, so würde Aussterben der Mensch-
heit die Möglichkeit vernichten, etwas Ethisches im Uni-
versum darzustellen. Wenn kein Lebender mehr Christi
Gebote befolgen kann, so wären sie ja umsonst gegeben,
und dies Selbstaussterben der Menschheit gliche einer
Furcht, das Kreuz der Ethik fürdei- auf sich zu
nehmen. Ferner würden nur Edelste und Beste die Kraft
aufbringen, dem Keuschheitsgebote nachzuleben ; die sich
lustig. fortpflanzende Masse verlöi-e also die Möglichkeit,
sich durchs Beispiel einer höheren Rasse zu evolutionieren.
— 19 —
Man kann daher nicht unahin, den Verzicht auf Sexualität
als unsittlich im höheren Sinne zu verwerfen, insofern
solcher »Heiliger« aus Pflichttreue gegen sich selber die
Pflicht gegen die Menschheit vernachlässigt. Keuschheit
hat wahren Weit nur beim Yoga - Adepten, der sie als
Mittel zum Zwecke höherer Machtfülle der Seelenkräfte
benützt, wie ja sogar der körperliche Athlet sich aus
Kämpferstolz zur Enthaltsamkeit zwingt. Immerhin mag
man Aufhören der Portpflanzung als letztes Endziel
im Auge behalten. Denn es wäre möglich, daß der Dua-
lismus geschlechtlicher Differenzierung dereinst wieder
in jene geschlechtslose Einheit sich auflöst, welche laut
Geheimlehre den halbgottartigen spirituellen Urmenschen
zu eigen gewesen sei. Mit solchem Hinübergleiten in
höhere Sphären des Menschentums wirds aber noch
gute Weile haben für Jahrtausende, und unser Bestreben
kann einzig sein, den Naturtrieb einzudämmen, ihn als
lästige tierische Funktion wie Ernährung und Ausschei-
dung peinlich zu empfinden, statt ihn priapisch zu ver-
göttern wie unser lieber guter Zeitgeist der Zucht- und
ünzuchtwahl.*)
Weininger's Ruhm trotz jugendlicher Überspannung
des Bogens beruht also darauf, daß er das Weib als
Pflegerin des Naturtriebs und das Judentum als Hohen-
priester alles Sexualen und Anti-Transcendentalen entlarvt
und vor diesen Verbündeten, die sich das 19. Jahrhundert
unterwarfen, die Zukunft warnt. Hier sehen wir also in
•) Das eben ist mit das Verdienst Otto Weininger's, daß er das
>Bedürfnis«, von allem ethischen Ballast befreit, in gleichem, wenn nicht
höherem Maß der Frauennatur als der des Mannes zubilligt. Man lese die
großartige Deutung der Phänomene »Mutterschaft« und »Prostitution«.
An der Hand solcher Argumente werden der Misogyn und der Troubadour,
Leugner einer Frauenseele und Bekenner eines Frauenlächelns, Strind-
berg und Altenberg einig. Nur die brutale Männermoral unserer Tage
— ich meine die Moral jener höchststehenden Männer, die tief unter der
tiefststehenden Frau stehen — kommt zu kurz, jene Weltanschauung,
die der Frau die Pflicht der Sittlichkeit und dem Mann das Recht der
Geilheit zuteilt und deren deutsches Virginitätsideal ich schon einmal
mit dem Wunsche, zu devirginiereii, in erklärenden Zusammenhang gebracht
habe. Anm. d. Herausgebers.
— 20 — ^1
Weininger, dem Juden, den echten deutschen Idealismus,
von welchem unzählige Urgermanen abgefallen, wieder sein
Haupt erheben. Die große Contrerevolution wider die
Verneinung idealer Instintrte wirbt sogar in den eigenen
Schlachtreihen naturwissenschaftlicher Kraftstoffelei täglich |
neue Anhänger. Wenn die Theosophie siegreich ihr Banner
über die Erde schwingt, dann wird man gerührt auch!
dieses jugendlichen Märtyrers gedenken, der ähnlich wie
sein — auch von ihm argverkannter und verlästerter —
Stammesgenosse Heine ein besserer Deutscher
war, als das bier saufende, tarockspielen de
Bärenhäuterpack der Heil6-S chreier. Friede undj
Ehre seinem Andenken!
ANTWORTEN DES HERAUSGEBERS.
Europäer. Sie lesen seit etlichen Tagen in den Wiener Blättern
große Artikel unter der Aufschrift: »Demonstrationen an der
Universität< und vermuten, daß es sich um die Demonstrierung
wissenschaftlicher Entdeckungen, etwa um die Vorführung neuer physi-
kalischer oder physiologischer Versuche handelt. Das ist ein Irrtum s
Österreicher. Bei dem Aufruhr in den Studentenkreisen von Pra^
und Wien, beim Anblick des Herrn Malik wird nichts Heiliges in mir'
entzündet, und ich muß nach wie vor, wenn ich von >nationalen Be-
schwerden« höre, an Bauchgrimmen denken. Ein Bismarck hätte die
Frage des Rechts auf »Bummeln« bereits entschieden. Die Vertrottelung
schreitet rapid fort.
Irrenwärter. Aus einem Linzer Bericht der ,Ostdeutschen Rund-^
schau': »Der bekannte tschechische Violinvirtuos Jan Kübel ik, defö
ebenso wie seine beiden Stammesbrüder Ondricek und Kocian schoBS
einigemale in Linz konzertierte, beabsichtigt nun wieder, und zwar ani^
15. d. M. in unserer Stadt ein Konzert zu geben. - — - Selbst
das Blut der Ruhigsten muß da in Wallung kommen. Die
Erregung darüber nimmt hier aber auch täglich zu. Daher begaben sich
heute der Sekretär der Deutschen Volkspartei, 'Herr Hans Schlögl, und der
Vertrauensmann der Frei-Alldeutschen, Ingenieur Herr Rudolf Urbanitzky,
zu dem Veranstalter des Konzertes, um ihn über die Stimmung
der Bevölkerung aufzuklären und ihm nahezulegen, daß es nicht allein
im nationalen, sondern gewiß auch in seinem und Kubelik's Interesse
gelegen sei, von dem Konzerte diesmal Abstand zu nehmen. Der Herr
Veranstalter verhielt sich vollständig ablehnend und meinte, es werde
genügen, wenn er die Behörde auf das Mitgeteilte aufmerksam mache.,
Uns kann's recht sein. Wenn man aber meint, auf wohlgemeinte,
Vorstellungen nicht hören zu brauchen und den Linzern alleSi
21
bieten zu können, kann doch vielleicht alle Rechnung ohne den
Wirt, und das ist in diesem Falle wohl die gesamte national fühlende
Bewohnerschaft der Stadt, gemacht werden. Wer nicht hören will,
muß fühlen!« — Am 15. März Konzert Kubelik. Tosende Pfuirufe,
tätliche Bedrohung der Besucher, Angriff auf den Wagen des Statthalterei-
Vizepräsidenten, Verwundung eines Statthaltereirates, Steinwürfe in den
Konzertsaal, Katzenmusik mit Steinwürfen vor der Wohnung des Künstlers,
nächtliche Flucht Kubelik's unter polizeilicher Begleitung, — Erklärung von
deutsch-nationaler Seite, »daß die Demonstration gegen den tschechischen
^ -iger Jan Kubelik sich nicht gegen die Person des Künstlers
chtet habe.«... Waffengewalt? Nein, Irrenpflege!
Fregattenkapitän. Man kann dem japanisch-russischen Krieg
; anche interessante Seite abgewinnen: warum nicht auch eine Inseraten-
s(ite? In der ,Zeit' vom 2. März war das Folgende zu lesen: >(Der
Krieg und die Skodawerke.) ,Plzenske Listy' berichten: Zahlreiche der
Schiffe, die dermalen im Kampf gegen Japan stehen, sind in Pilsen von
den Skodawerken ausgerüstet. Der Kreuzer ,Pereswjet', der als Admiral-
schiff des Kontreadmirals Fürsten Uchtomskij vor Port-Arthur im Treffen
stand, der Kreuzer ,Osljalja', der als Kommandeurschiff mit den Panzer-
fregatten ,Dimitri Donskoi' und ,Aurora' auf dem Wege nach Ostasien ist,
sind in Pilsen ausgerüstet. Aber auch auf japanischer Seite ist Pilsner
Arbeit zu finden. Der Panzer des Panzerschiffes , Mikado' ist aus den
Werkstätten der Skodawerke hervorgegangen. Die Panzer- und Ma-
schineneinrichtung der von Japan angekauften Kriegsschiffe ,Nischin' und
,Kasuga' (ursprünglich für Argentinien gebaut) ist in Pilsen gearbeitet.
— Ebenso dürften jetzt die Japaner gegen Rußland jene Geschütze
benützen, die sie im Kriege mit China erobert haben, und welche durch-
weg Arbeiten der Skodawerke sind. Noch bei Lebzeiten des Gründers
der Skodawerke, Emil Ritter v. S k o d a, kam ein Professor der Kriegs-
schule in Tokio nach Pilsen, um die Skodawerke zu besichtigen.
Als ihm Ritter von Skoda die Type jener Geschütze zeigte, welche die
Skoda werke an China lieferten, sagte der japanische Offizier lächelnd:
,Ich kenne diese Geschütze. Hoffentlich haben Sie bereits von China
das Geld für die Kanonen — denn die Geschütze selbst haben wir den
Chinesen abgenommen!'« — Die ,Zeit' ist ein autikorruptionistisches
Blatt und hat diese Texteinschaltung gewiß gratis besorgt.
Satiriker. >Die jüdischen Schwindler und Gauner fürchten die
Antisemiten, welche die Korruption bekämpfen, weit mehr als jene, die
Ritualmorde entdecken«. Wo stand dieses Wahrwort, dessen Gedanke
hier oft abgewandelt wurde, zu lesen? In der .Deutschen Zeitung' (13.
März), dem > christlichsozialen Organ«. Herr F. F. Masaidek hat es
ausgesprochen. Herr Masaidek vertritt die Satire der antisemitischen
Presse. Er gehört zu den eifrigsten, wenn auch nicht geistig regsamsten
Lesern der , Fackel'. Peinlich ist mir, daß er manchen Wendungen der
, Fackel' zuerst die Pointe abbrechen zu müssen glaubt, bevor er sie
veröffentlicht. An der Mitteilung, daß Österreich in seinem Settlement
in China eine k. k. Lottokollektur errichtet hat (siehe Nr. 155), ist freilich
nichts zu verderben. Aber es kommen Fälle vor, wo man die Ehrlichkeit
- 22 -^
dieses Satirikers bedauert und eine wörtliche Benützung der yFackel'
wünschen würde. Ich glaube übrigens wirkh'ch nicht, daß Herr Masaidek
ganz humorlos ist; unter fünfhundert >OIosJ.en«, die er liefert, sind
doch immerhin fünf, in denen eine Art verschlafener Satire sich regt
und die ihm gewiß einen Platz über der lebhaften Talentlosigkeit libe-
raler Sonntagshumoristen anweisen. Aber geradezu hinreißend wirkt er,
wo er unbestreitbare Wahrheiten mit aphoristischer Kürze vorbringt. In den
Tagen, da die Affaire des Abgeordneten Wolf viel Geräusch machte,
schrieb Masaidek den Satz hin: »Die Familie Tschan scheint eine saubere
Familie zu sein<. Weiter nichts. Unter den Gedankensplittern der letzten
Sonntage wären bemerkenswert: >Wenn man liest, mit welchem Jubel
der Abg. Voelkl bei seinem Erscheinen im Parlament empfangen wurde,
fragt man sich unwillkürlich: ,Was hat denn dieser Mann für sein
Vaterland geleistet?'« Oder: >Das Genie verfällt leicht dem Wahnsinn,
weil es das Unmögliche anstrebt. < Gleich daneben der Aphorismus :
»Wenn es der Regierung mit der Einführung der Kronenwährung
ernst wäre, so hätte sie schon längst die Guldenstücke einziehen
müssen.« Ach ja!
Detektiv. Das ordinäre Diebsblatt des Lippowitz wird jetzt viel-
fach überwacht. Das in Hannover erscheinende Fachorgan, ,D e r Zei-
tungs-Verlag' (Eigentum des Vereines deutscher Zeitungsverleger) ,|
bringt in der Nummer vom 3. März unter der Aufschrift »Gegen /!
den systematischen Diebstahl beim , Wiener Journal'« ^
eine Zusammenstellung der neulich im .Berliner Tageblatt' und in i
der , Fackel' veröffentlichten Diebsanzeigen. Dazu auch eine der
Wiener ,ReichspOst', die den folgenden Wortlaut hat: >Die Schere des
,Neuen Wiener Journals' wütet in letzter Zeit Wieder derart, daß
selbst das Ausland sich immer mehr davon beunruhigt fühlt . . . Gestern
schrieben vc^ir in der , Reichspost' eine Notiz: .Johann Orth, der Refor-
mator der japanischen Marine' und begannen sie also: .Richtig, wir
hatten ohnehin unseren Kopf darauf gewettet, daß auch bei diesem
Kriege der unglückliche Johann Orth . . . wieder auftauchen wird! usw '
Heute morgen finden wir im , Neuen Wiener Journal' unter derselben
Überschrift dieselbe Notiz wortwörtlich mit dem Anfang: .Richtig, wir
hatten ohnehin unseren Kopf darauf gewettet . . .' Daß die Herren vom
.Wienfer Journal' unseren Kopf verwetten konnten, dazu gehört doch
viel Geschicklichkeit; oder wollten die Herren nur bekennen, daß sie
selbst über Kopf nicht verfügen?« — Das Schandblatt hat übrigens
eine neue Methode eingeführt. Wenn es schon einmal gezwungen ist,
eine Quelle zu nennen, so rächt es sich an dem Bestohlenen und be-
schiinpft ihn. Neulich wurde eine der feinsten Skizzen Peter Altenberg's
gekfabbst und zugleich der Dichter in bodenlos gemeiner Weise ange-
griffen. Es wäre kihdisch. einen Peter Altenberg, der für die verständnis-
volle Achtung allier Künstlermenschen Europas nihig den Hohn aller
Flächköpfe Wiens in Kauf nehmen kann, gegen die Beschmutzung durch
eitle schäbige Reporterseele in Schutz zu näimen. Drollig ist nur die
n
neue Methode des Diebes, unter dem Vorwande der Glossierung sein
Blatt mit fremdem Lesestoff zu füllen. Ich wette hundert gegen eins,
dalj das ,Neue Wiener Journal' auch diesmal nicht beleidigen, sondern
einfach stehlen wollte.
Literat. Es ist die höchste Zeit, daß Herr Herzl nach Palästina
gellt. Hier schreibt er schon zu dumme Feuilletons. Neulich das
lüeschwätz über Japan, dessen Kultur Herrn Herzl aus einer Auf-
führung der »Geisha« — nicht einmal des >Mikado« - bekannt ist.
lUnd jetzt übet die Vorstellung von Hofmannsthal's >Tod des Tizian«
im > Hagenbund«. Man kann Hofmannsthal für einen Dichter oder für
emen Eklektiker von feinstem Kunstgeschmack halten. Jedenfalls steht
er als kultivierter Mitteleuropäer turmhoch über dem Niveau eines
menschen, der es zuwegebringt, die Würde eines Messias mit der eines
Sonntagshumoristen zu vereinigen. Trotzdem ist es notwendig, gegen die
Impertinenz, mit der das Feuilleton vom 11. März schloß, ein eigenes
W^örtchen zu sagen. Aus prinzipiellen Gründen. Herrn Herzl schwillt
bämlich der Kamm, und er glaubt als Literaturvormund nur jene Jünglinge
fördern zu dürfen, die klug genug waren, sich eine zionistische Welt-
inschauung beizubiegen und palästinensische Heimatkunst zu pflegen.
Herr Herzl >empfiehlt«, ohne Furcht, ausgelacht zu werden, »jun^e
Dichter, die ungefähr das können, was der junge Hof mannsthal konnte«.
Stefan Zweig, Sil Vara, Hans Müller, >um nur einige zu nennen,
lie mir in den Wurf gekommen sind«. Das ist zu dumin, um ernst
jemeint zu sein. Herr Zweig ist ein Formtalentchen, Herr Sil Vara,
Jeenn die Kaffeehausskizze, die neulich einmal die ,Neue Freie Presse'
im Sonntag brachte, den Gipfel seines Schaffens bedeutet, ein dürftiger
Reporter. Es ist eine Frechheit, die man auch einem Judenkönig
nicht ruhig hingehen lassen kann, diese armen Teufel mit Hugo von
riofmannsthal in einem Athem zu nennen. Die >großen Dichter«, schwätzt
rlerr Herzl weiter, brauche man nicht zu entdecken. »Der Erfolg zu
hren Lebzeiten bringt sie vielmehr in Verlegenheit. Was um des
iimmelswillen sollen sie mit dem Beifall der Menge machen, der sie
iich fremd fühlen? Da nehmen sie falsche Posen an, wie man es
)ei Ibsen sehen konnte*. Wenn Herr Herzl einst den Thron von
erusalem besetzt finden sollte, so wird er dort noch immer als Hofnarr
interkommen.
Habitus. Ich war nie ein Odi Ion -Fanatiker. Sie aber jetzt, da
;ie leidend ist, herunterzureißen und zu Gunsten des Fräuleins Petri
loch dazu, das ist nur mein Freund Schütz imstande. Fräulein Petri
st eine routinierte Normalsalon dame. Herrn Schütz bedeutet sie das
Jm und Auf deutscher Schauspielkunst. Trotz den Hohenfels, Dor^,
Conrad- Ramlo und Sorma, trotz den Mitterwurzer, Sandrock, Eysoldt
md Lehmann. Aber ahnt man denn, was Fräulein Petri als Nora zu-
vege gebracht hat ? » Im Volkstheater versöhnte ihre die egoistische Härte
>Jora's erklärende Darstellung die Gegner des Dichters«. Das ist
nehr, als man selbst — von Herrn Schütz erwartet hätte. . . . Was in
Vien nicht Alles Kritiken schreiben kann ! Da ist ein Herr in der , Reichs-
24 —
wehr', der in einer begeisterten Rezension des Schmarrens >Michael Kohl-
haas* wörtlich schreibt: »Ungemein drollig und humorvoll spielte das
Ehepaar Kramer - Glöckner zwei grundverschiedene Rollen;
s i e mit frappierender Naturtreue eine Berliner Vorstadttype, e r einen
liebenswürdigen Charmeur«. Wie seltsam ! Sie sind vciheiratet und
spielen doch verschiedene Rollen : er eine männliche und sie eine weibliche !
Man sollt's nicht glauben !
Sammler. Die »barbarische Orgie« — siehe Nr. 1 55 — hat ein
prächtiges Seitenstück erhalten. In der 9. Sitzung der ungarischen Delegation
läßt die ,Neue Freie Presse' (24. Februar) den Grafen Apponyi wie folgt
sprechen: »Dem Kriegsminister sei es gelungen, in der ungarischen und
in der österreichischen Delegation Befriedigung zu erwecken, wobei ihm
die Erfindung des Ministerpräsidenten zu Hilfe gekommen sei, daß es
in der deutschen Sprache keinen Unterschied zwischen Nation und
Nationalität gebe. Dem Redner falle hiebei eine Szene aus , Faust' ein,
in welcher Gretchen den Faust fragt, was eigentlich Religion
sei. Faust erwidert ihr mit einer etwas hochtrabenden Darlegung
des Pantheismus, worauf Orete antwortet: ,Nun, so etwas hat
mir ja auch der Herr Pastor gesagt.' (Heiterkeit.)* ... Ja,
solche Probe der »Kunst des Übersetzers« verdient schon Heiterkeit.
Daß die Übersetzung aus dem Französischen oft schwierig ist, begreift
man. Aber wer zwingt die ,Neue Freie Presse', den »Faust« aus dem
Ungarischen zu übersetzen? Die Stellen: »Nun sag', wie hast du's mit
der Religion?« und »Ungefähr sagt das der Pfarrer auch, nur mit ein
bischen andern Worten« waren ja schneller zu ermitteln. Die ,Neue Freie
Presse' kennt gewiß ihren Goethe. Aber i h r Goethe ist eben nicht unser
Goethe, und wenn sie »Faust «zitiert, so können wir nur bedauernd versichern:
Ungefähr sagt das Goethe auch, nur mit ein bischen andern Worten . . .
Viel treffsicherer geht die ,Neue Freie Presse' zu Werke, wenn sie ihr
schlechtes Deutsch direkt bezieht und nicht erst übersetzen muß. Von
dem ehemaligen englischen Botschafter Lord Loftus, der neulich starb,
versichert sie am i O.März, er habe »ein Alter von weit über 8 6 Jahren
erreicht«. Und einen andern Botschafter läßt sie am 13. März andere
seltsame Dinge treiben. Von ihm heißt es in dem Berichte über die
III. Mode- Ausstellung: »Auch der französische Botschafter fand Gefallen
an den schönen Dingen, besonders als die Hofdame der Erzherzogin
ein ungarisches gesticktes Hemd anprobierte und zeigte« . . .
Arzt. Herr Berthold Frischauer hat neulich den berühmten
Chirurgen Doyen interviewt und interessante Mitteilungen über eine
neue Krebsheilmethode erhalten. Dieses Interview hat wohl stattgefunden.
Wenigstens ist es zweifellos, daß Herr Frischauer interviewt hat und daß
ihm Auskünfte erteilt wurden. Nur ein kleines Detail scheint nicht zu
stimmen: Die Identität des Interviewten. Herr Frischauer beschreibt
nämlich den Dr. Doyen wie folgt: »Ein schwarzer Vollbart umrahmt
das energische Gesicht, aus dessen starken Zügen Wohlwollen gepaart
mit großer Energie hervorleuchtet, während die schwarzen Augen
von Intelligenz nicht ohne einen Anflug menschen durchblickender Malice
strahlen.« Herr Frischauer scheint das Opfer eine Personenverwechslung
geworden zu sein. Doyen ist nämlich blond.
Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: Karl Kraus.
Druck von lahoda & Sieeel. Wien. III. Hintere ZoUamtastraBr .')
fr. 158 Erschienen am 30. März 1904 V. Jahr
Die Fackel
Herausgeber:
KARL KRAUS.
Erscheint drei- oder zweimal im Monat.
Preis der einzelnen Nummer 24 h.
Nachdruck and gewerbsmäßiges Verleihen verboten; gerichtliche Verfolgung
^halten.
iv-
:n.
Verlag .DIE FACKEL«, IV. Schwindcasse 3.
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»^w^i»^<^^%i^*»A>'^'^^V^*m^'^^^'V^'^»'l^'^'*'V^>^^**fil
KLÄVIERKUNSTSFIEL
= APPARAT =
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viduellen Auffassung des Spielenden überlassen.
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spekte gratis, Bezugsquellen werden angegeben.
Preis Kr. IIOO.-.
Die Fackel
Nr. 158 WIEN, 30. MÄRZ 1904 V. JAHR
DER FALL EALBBCE.
>Über denjenigen nach seinem Tode
% nichts als Gutes zu sagen, der während
seines Lebens fast nur Übles über sich ver-
nahm, ist eine eben so heilige Pflicht, als
es zu einer traurigen Nötigung wird, von
demjenigen, der mit angestrengtester Sorge
sich dessen versicherte, daß während seines
Lebens nur Gutes über ihn gesagt würde,
den falschen Schein abzuziehen, welcher
jetzt die Nachlebenden nachteilig beirren
müßte. «
Richard Wagner, »Entwürfe, Gedanken,
Fragmente«.
Wer ist denn eigentlich dieser Max Kalbeck?
Was will er? Wess vermißt er sich? Verdrossen durch
die allgemeine Nichtbeachtung, deren sich seine
Brahms- Biographie erfreut, wütet er in jüngster Zeit
mit erneuter Vehemenz gegen alle Meister der
Tonkunst, die bei Schaffung ihrer Werke sich von
ihrem Genius und nicht von den ästhetischen Rezepten
der Kritikergilde bestimmen heßen. Daß Wagner,
Liszt, Brückner und Hugo Wolf sich seine Ungnade
zugezogen haben, wissen wir längst. Er ist unver-
söhnlich. Warum aber diese Sucht, den alten Hader
immer wieder vom Zaun zu brechen und auf Gräber
zu spucken, in denen die Meister friedevoll mit dem
Rücken gegen die Herren Hanslick und Kalbeck
ruhen? Der Musikrichter des ,Neuen Wiener Tag-
blatt' hat am 9. März einen Akt der Verzweiflung
verübt. Er sah Hugo Wolfs Lieder durch die Welt
— 2
il
ziehen und konnte sie nicht aufhalten. Er sah, da
Hugo Wolf lebte. Und so glaubte er, ihn schmähen'
zu dürfen, wie man einen Lebenden schmäht. Er
schrieb ein Feuilleton, um wenigstens die persönliche
"Bhre eines leiblich Gestorbenen zu beschmutzen,
dessen Werk zu beschmutzen ihm nicht gelungen war.
in den Jahren 1884--87 war Hugo Wolf Musik-
kritiker des »Wiener Salonblatt', Kollege jenes Max
Schlesinger, dessen Genie als Ballreporter von den
Kennern viel früher- gewürdigt ' wurde als das Genie
des Liederkomponisten Hugo Wolf. Es gibt spezi-
fische Wiener Ereignisse und Wiener Tatsachen.!
'Nicht für Wolf, für dieses im Pressdienst heillos ver-
^saute Wien war's beschämend, daß ein Musikheros
sein Leben von den Groschen eines den gemeinsamen
Angelegenheiten der Aristokratie und des Balletts
dienenden Schmutzblättchens fristen mußte. Aber bei
uns könnte ja auch Beethoven Klavierspieler beim
Brädy sein. Schämen wir uns, wenn wir die Kritiken
H,ugo Wolfs lesen, mit deren Wiederabdruck heute
das ,Salonblatt' protzt 1 Ist es nicht, als ob ein
Kinderschänder von Vaterstolz gebläht wäre, weil das
Kind nachträglich zum berühmten Mann erwachsen
ist? Daß diese Kritiken Ausbrüche stürmischen Künstler-
temperaments, edeln Künstlerzorns über die rings
sprossende Unfähigkeit und ungebändigten Hasses gegen
Cliquenanmaßung sind, fühlen und bewundern wir viel-
leicht urasomehr, da wir ihnen an dem anrüchigen Ort
wieder begegnen, an den der Einsame verbannt war. Herr
Max Kalbeck fühlt und bewundert es nicht. Und er
hält sich nicht für so klein, daß er sich für verpflichtet
hielte, vor eines Großen Grab den Mund zu halten.
Ich" bin anderer Meinung, und ich kann den Entschluß
des Hugo Wolf- Vereins nur billigen, die Geschwister
' des toten Meisters zur gerichtlichen Klage gegen
.diesen Kälbeck zu bestimmen, der sich erdreistet hat,
'^H^ugo Wolfs kritische Weise »gehässig, verleura-
• dwisch und bübisch«, seine Angriffe gegen Brahms
- 3
^.^.brutal und, yerlpgeu« «umnennen. Denn, wejjn eines
, in dieser, von Pressdünkel verwirrten Welt klar ist,
so ist es; die- Tatsache, daß die Angriffe eines Hugo
Wolf dem Urteil der .MusiJ^geschichte, die ; eines
Max Kalbeck der Judikatur des Landesgerichts
unterstehen.
Nicht bloß das Andenken Hugo Wolfs von dem
Schimpf zu befreien, sondern ihn auf Herrn Kalbeck's
Tätigkeit: zurückzuwerfen, muß jetzt das Streben aller
fühlenden. Zeitgenossen sein, welche die Erscheinung
eines Achilles verehrungswürdiger dünkt als die
eines Thersites, und so bin ich jenen Musikern dank-
bar, die meinem im engern Fachgebiet unsichern
Gedächtnis mit einigen schätzbaren musikhistorischen
Daten, aus der reichen Fülle des von Herrn , Kalbeck
seit zwanzig Jahren Gebotenen zuhilfe kamen.
Gehässig, verleumderisch, bübisch, brutal nnd
verlogen. Den Wahrheitsbeweis für, diese Worte, soll
nicht Herr Kalbeck, seine Ankläger sollen ihn er-
bringen dürfen. Ich empfehle ihnen, Seite 90 . des
erst im Jahre 1903 in zweiter Auflage erschienenen
Buches »Richard Wagner im Spiegel der .Kritik cyon
Wilhelm Tappert nachzulesen: »Einen recht un-
würdigen Ton schlägt Max Kalbeck mit Vorliebe
an, wenn er über Wagner zu schreiben hat. Zwar
hält er den .Bayreuther Meister für ein -großes
musikalisches Talent, doch ohne eigentliche Originalität
der Erfindung, mit bescheidener poetischer Begabung.
Wörtlich charakterisiert er ihn so;, Er ist kein großer
Künstler, sondern ein > Vereinsmeier, Reklame-
held, Ränkeschmied, Skandalmacher und
Sektierer. (18.82) Die. ganze Handlung des Parsifal
ist ihm barer Unsinn 1 Gurneraanz nennt er , den ersten
Chargierten des tugendhaften Ritterkorps', Kundry
eine , barmherzige Schwester, die von Lachkrämpfen
, gepeinigt wird und ; epileptische Zufälle hat*. Am-
.tortas .laboriert, nach .Kalbeck, an einem bösen Leber-
,leiden. Eine ausgesucht geschmacklose: Stelle
— 4 —
hat nachstehenden Wortlaut: Alles schmiegt sich (im
3. Akte) voll heiliger Ergriffenheit an die frisch gewasche-
nen Füße Parsifals.« Daß ein Herr Kalbeck Wagner's
poetische Begabung bescheiden findet, gehört ja zu
den vielen Erscheinungen, über die das vorige Jahr-
hundert zu lachen vergessen hat. Es merkte nicht einmal,
daß der Mann wirklich unbescheidener ist als
Richard Wagner, dem es doch nie eingefallen wäre,
über die Gedichte eines Herrn Max Kalbeck so
dumme Witze zu machen. Immerhin, neben Hugo
Wolfs Gehässigkeit und Büberei hebt sich des
Kritikers Kalbeck wohlwollender und männlicher
Ton vorteilhaft ab. Durch mehr als zwanzig Jahre.
Auch, als 1901 Emil Sauer zum Leiter der Ciavier-
Meisterschule in Wien ernannt wurde. Daß ein hoch-
strebender Künstler und Meister seines Fachs dauernd
an Wien gefesselt werden sollte, ging der altgedienten
Mittelmäßigkeit so gut wider den Strich wie Herrn
Max Kalbeck, ihrem kritischen Sachwalter. Aber wie
hilft sich die Bosheit, da sie dem fest gegründeten
Ruf eines Künstlers nicht mehr schaden kann?
Zum Glück hat Sauer kurz zuvor ein stilistisch
nicht ganz einwandfreies Buch geschrieben, betitelt
»Meine Welt, Bilder aus dem Geheimfache meiner
Kunst und meines Lebens«. Diese Gelegenheit
benützt Kalbeck sofort, um -- in dem Feuilleton des
jNeuen Wiener Tagblatt* vom 5. Dezember 1901 — die
Person des Mannes dem Wiener Lachbedürfnis preis-
zugeben, und zwar in dem Augenblick, da er sein neues
Amt antritt. Er übersieht absichthch die guten Seiten
des Buches, frozzelt Sauer wegen der Meisterschule,
spricht schielend von seinen »Erlebnissen an Fürsten-
höfen«, ist böse, weil er zu wenigaus dem »Geheimfach«
zu hören bekommt, verhöhnt die Schilderung des glück-
lichen Familienlebens des Künstlers und schont dif
Gattin nicht, die nie in die Öffentlichkeit getreten ist
Eine Stelle lautet: »Sauer schreibt von seiner Ge-
mahlin: jAuch wird sie mir nie auf die verschiedenen
— 5 —
Zweige der Kunst folgen, auf welchen ich mich
heimisch fühle; aber sie hält unter dem Baumstamm
treulich Wacht'. Bravo, Frau Alice 1 Bravissimo 1 Geben
Sie nur um Himmelswillen Acht, verehrteste Frau
Sauer, geborene Elb, daß sich Ihr waghalsiger Gemahl
nicht zu hoch versteigt, und daß er sich auf keinen
Ast setzt, der dem Gewichte seiner Persönlichkeit
nicht gewachsen ist ! Sonst hilft die treulichste Wacht
am Stamme nichts, und der auf verschiedenen Zweigen
der Kunst herumkletternde ,Bamkraxler' bricht am
Ende Hals und Beine! , Solche Frau', fügt Emil Sauer
bekräftigend hinzu, ,hat weder Zeit für Emanzipations-
bestrebungen, noch Sinn für Putz, Toiletten und hohle
Vergnügungen; auch malt, singt und dichtet sie nicht.
Das einzige und schönste Gedicht, welches sie mir
zu Füßen legte, ist eine reiche, muntere Kinderschaar.'
Gleich eine Schaar? Wieviel sind das? Auch
das verschweigt des Sängers Höflichkeit. Wenn
das , einzige, schönste Gedicht' nicht nur ein unglück-
liches poetisches Gleichnis des von der Last seiner
Erinnerungen aufs Haupt gedrückten Gatten ist, so
gehört der Fall in der Familie Sauer unter die Rubrik
der merkwürdigen Naturerscheinungen, und
'Frau Alice hat ihrem Mann mindestens
Vierlinge zu Füßen gelegt.« Man sieht, wie
■ fern dem Herrn Max Kalbeck bübische Schreibweise
'liegt. Auch die verleumderische, gemeine und ver-
logene. Denn im März 1 903 kommt Richard Strauss
nach Wien, um mit seinem Orchester ein Konzert zu
geben. Ursprünglich hatte er Beethoven's Eroica aufs
Programm gesetzt, kommt aber von diesem Plane ab
und legt seine Beweggründe hiefür in einem Briefe
dar, der im ,Neuen Wiener Abendblatt' vom 4. März
1903 veröffentlicht ist. Jederman kann aus diesem
I Briefe ersehen, daß Strauss keine billigen Dirigenten-
erfolge durch Vorführung eines bewährten Meister-
werkes erzielen will, daß es ihm vielmehr darum zu
' tun ist, neuen, nie gehörten Werken zur Anerkennung
— 6^
zu -verhelfen, und daß» es »wenig Bierechti^ng hat,
den 'Wienern Sachen vorzuspielen, die sie von ihren
Philharmonikern aüjährlrch doch besser zu hören
bekommen als von seinem jungen Orchester«.
Gewiß ein ehrliches Beginnen. Doch unser Kritiker
konstruiert flugs daraus, in dem Feuilleton vom
7. März 1908, eine Anklage des Inhalts, daß Strauss
moderne Werke, namentlich sein » Heldenleben c,
der Eroiea vorziehe. Strauss verwahrt sich gegen-
diesen ungerechtfertigten Vorwurf in einem zweiten
Briefe (abgedruckt im ,Neuen Wiener Tagblatt* vom
15. März 1903): »Während ich doch nur aus rein
künstlerischen Gründen mich entschlossen hatte, gerade
in Wien nicht Beethoven's Eroiea mit meinem jungen
Orchester zu spielen, hat der Inhalt meines Briefe*^
— dank absichtlicher Mißdeutung — mir den'
Vorwurf mangelnden Respekts : vor einem unserer-
herrlichsten Meisterwerke zugezogen. Ich möchte da»
Prädikat eines ,Kkssikerverächters*, womit man einen'
wahrhaft Großen schon Zeit seines Lebens sekiert hat,'
nicht gerne auf mir sitzen lassen. Gerade diesen Vor-
wurf nicht«. Sicherlich ist die Eroiea bei diesem
Künstler besser aufgehoben als bei Herrn Kalbeck,
der trotz seiner Schreiblust den Vorwurf der »absicht-
lichen Mißdeutung« bis heute ruhig auf sich sitzen
ließ. Aber er hatte ja anderes zu tun, an anderen
Künstlern seinen Schnabel zu wetzen. Im Dezem-
ber 1903 leitet Arthur Ni k i s c h ein Konzert der Wiene*
Philharmoniker, ein Mann von immensem Können und'
Wissen, ein unbeding:t ernst zu nehmender : Künstler.'
Er huldigt aber dem musikalischen Portschritt, folg-
lich entgeht er nicht dem Schicksal, von Herrn Kai--''
beck angerempelt zu werden, obwohl er neben den^'
Werken größerer Meister auch Brahms mit gleicher^
Liebe und Sorgfalt zur Aufführung bringt. Da aber*
diesem bedeutenden Musiker sachlich nicht beizukora*-
men ist und, wäre es selbst möglich, Herrn Kaiheck das '
dafür nötige Fachwissen mangelt, so macht er*"
sich im ^Feuilleton vomi22. Dezember 1903 'über den
i gutgemachten Prack'iund die tadellosen Manchetten
Nikisch's ' weidlich lustig. * Was soll nun der arme
.'Nikisoh tun? Konmat. er ein näöhstesmal ■ mit« einem
.•schlecht sitzenden Frack nach Wien, so fällt die kri-
c tische Schneidereeele wieder über ihn her. Das künst-
lerische Interesse dieses irausikalischen Afterkritikers
'. beginnt ' bei' den Frackschößen des Künstlers . . .
Doch ließe sich die Anwendbarkeit jener schlim-
:men' Worte auf Herrn »Kalbeck's Gesinnung besser
'. erhärten als gerade mit dem Angriff auf- Hugo Wolfs
iMenschenehre? So bübisch, gehässig und brutal kann
adieser bei Lebzeiten nicht gewesen sein wie einer,
der ihm solchen Schimpf in die Grube ! nach-
cuft. iWeruhier den Erdschollen der Liebe die Kot-
ballen des Hasses vorzieht, muß darauf gefaßt sein,
daß sieiihm — so wehrhaft sind die Toten — ins eigene
■ liebe Antlitz zuTückfliegen. Ich beneide Herrn Kalbeck
um seine Geschmacksrichtung nicht und möchte nicht in
seiner Haut stecken. Um der Tat willen, nicht um
i der Strafe vs^illen, die seiner harrt. Man wehre falscher
Pietät und' 'enthülle schonungslos erschlichenen Nach-
! rühm I Ist; aber Hugo Wolf, der durch Not und Wahn-
sinn in den Tod. ging, eine Cliquengröße? Und- soll
i est erlaubt sein, der stürmischen Anerkennung, in der
die Reue der Nachlebenden zum Ausdruck kommt, in
den Arm zu fallen ? Der Erhöhung des Künstlers
durch . Erniedrigung des Menschen entgegenzuarbei-
iten? Plötzlich und mutwillig den kleinlichsten Tratsch
i-aufasutischen? Bloß aus dem Grunde, weil der Meister,
da er «einen Unmut in kritischen Explosionen austobte,
sich einmal so unsanft an einem Eck in Herrn Kalb-
• eck's Namen gestoßen haben soll, daß er dessen Entfer-
nung wünschte? Der edle Kalbeek revanchiert sich, in-
dem er nicht die Beleidigung seiner Majestät zugibt, son-
dern auf einen Klatsch zurückgreift, der Hugo Wolfs
Elegeljahre kompromittieren soll. Er berichtet aus eiaem
• Gespräche mit Hans Richter^der lö-oder 16 jährigeWolf
8 —
habe sich zu diesem g^eäußert, »er könne bei dem Esel
Hellmesberger (Josef Hellmesberger sen. ist gemeint)
nichts lernen«. Man kann die Richtigkeit dieser Er-
zählung kaura in Zweifel ziehen, da ja der berühmte
Dirigent Hans Richter dem Tondichter den Satz
in den Mund legt. Immerhin muß man das phäno-
menale Gedächtnis dieses Mannes bewundern, der
nach 28 Jahren sich noch an den Wortlaut einer
Unterredung erinnert, die er damals mit einem ihm
höchst gleichgiltigen 15jährigen Jungen geführt hat.
Wolf war zwar nie unmittelbar Schüler Hellmesberger's,
und derartige Aussprüche haben wohl auch schon andere
Jungen dieses Alters über ihren Direktor oder gar
ihren Lehrer getan; das wird niemand tragisch
nehmen. Aber bezeichnend ist, daß der unreife Junge
Wolf, der den schöpferischen Genius bereits in der
Brust trug, verhältnismäßig lange nicht so hart über
den Musiker Hellmesberger geurteilt hat wie der
32 jährige Nichts-Schöpfer Kalbeck — 1882 und später
— über die gewaltige Kulturerscheinung eines Richard
Wagner. Und noch bezeichnender ist, daß Herr Kalbeck
die gedruckten, also authentischen Äußerungen des
25jährigen Mannes Hugo Wolf über Hellmesberger,
die des Lobes voll sind, verschweigt. Sie sind in eben
denselben ,Salonblatt'-Kritiken enthalten, die Herr Kal-
beck ja so genau kennt. Herr Kalbeck ist zwar kein
Meister des Stils; aber er zeigt sich ganz dort,
wo er weise verschweigt. Einem Hugo Wolf
hätte man solches Manöver als verlogen oder gar
verleumderisch angemerkt. Nun, die Verschweigungs-
taktik wäre besser am Platze gewesen, wo Herr
Kalbeck den Ausspruch Hans Richter's über die »Pen-
thesilea« vorbringt: »Sehen Sie, meine Herren, solche
unmögliche Sachen komponiert ein Mensch, der jeden
Sonntag einen Meister wie Brahms im , Salonblatt' ver-
unglimpft!« Damals hatte Hans Richter sein ausge-
zfichnetes Gedächtnis im Stiche gelassen ; sonst hätte er
sich erinnern müssen, daß man seinerzeit auch den
— 9 —
»Tristan« und andere Schöpfungen seines Meisters
Wagner als »unmögliche Sachen« deklarierte. Tat-
sächlich ist das genial-stürmische Jugendwerk Wolfs
nach kaum 20 Jahren »möglich« geworden, »Penthe-
silea« hat in diesem Winter nicht nur mehrere erfolg-
reiche Aufführungen in Deutschland (besonders unter
Weingartner) erlebt, sondern wurde am 15. März 1904
sogar in Wien mit einem Beifall aufgenommen, der
zugleich wie der Demonstrations-Applaus eines Pub-
likums klang, das nicht länger gewillt ist, sich seine
ästhetischen Anschauungen von den Zeitungsleuten
vorschreiben zu lassen. Einem Hans Richter übrigens
ist ein einmaliger Irrtum leicht zu verzeihen; steht
er doch als Mensch und Künstler so hoch, daß die
taktlose Bloßstellung durch Herrn Kalbeck seinem
wohlverdienten Ansehen nicht schaden wird.
Im Nachlasse Wolfs fand sich, mit dem Datum
seines 35. Geburtstages (13. 'März 1895) versehen,
eine Photographie Eduard Hanslick's nebst einigen
Versen vor. Der Wolf- Biograph Decsey erzählt von
dieser Widmung — nicht etwa in seiner sachlich und
vornehm gehaltenen Biographie, sondern nur in seinen
Wolf-Miscellen, abgedruckt in Heuberger's »Musik-
buch aus Österreich 1904«, wo derlei Anekdoten
gewiß nicht deplaciert sind — und spricht seine Ver-
wunderung aus, daß Hanslick den Komponisten be-
glückwünscht habe. Die Widmung war ein Scherz,
den sich ein Bekannter Wolfs mit diesem erlaubt
hatte, ein Scherz, den der Biograph — in gutem und
begreiflichem Glauben — ernst nahm. Es trifft ihn
also immerhin der Vorwurf, daß er eine zu hohe
Meinung von dem Musikhofrat hatte. Denn wäre die
Widmung tatsächlich von Hanslick's Hand, so hätte er
wenigstens einmal in seinem Leben die Fähigkeit
bewiesen, die musikalische Begabung eines Zeit-
genossen zu erkennen. Sicherlich hat er sonst nichtigeren
Geschöpfen als Hugo Wolf Photographien mit Wid-
mungen verehrt. Aber Herr Kalbeck nimmt die
10 —
Sache nicht so leicht. Er wittert ein großes Verbrechen,
schlägt vor 1 Entrüstung Purzelbäume und eilt zum
.Oberbonzen, um ihm die schmachvolle Zumutung mit-
zuteilen. Dieser erklärt, er »kenne jene Verse gar
nicht« und habe »Hugo Wolf weder sein Bild
geschenkt, nochihm jemals zum Geburtstage gratuliert«,
. »a haben wir es 1 Der böse Anschlag ist enthüllt.
Herr Kalbeck schließt: »Die Widmung ist demnach
eine Fälschung«. Es ist am Tage, Hugo Woli
hat, da er die Anerkennung Hanslick's bei Leb-
zeiten nicht erringen konnte, die Unterschrift aut
einem Bilde des großen Ruhmverhinderers fingiert,
-uin wenigstens den Durchforschern seines Nachlasses
zu imponieren... Die alberne Enthüllung sollten die
Schützer des Wolf'schen Andenkens ignorieren und
in die Beleidigungsklage nicht einbeziehen. Daß der
Biograph die Widmung so ernst nehmen durfte wie
Friedrich Eckstein, ^'ener Freund Wolfs, der sie aus
dem Nachlaß überkommen hatte und Herrn Dr. Decsey
übergab, ist klar. Herr Kalbeck freilich, der Gewissen-
hafte, besteht darauf, der Schriftsteller, der »so etwas«
veröffentlicht, sei »verpflichtet gewesen, den Sach|
verhalt an der Quelle zu eruieren«. Herr Kalbeck scheiif
wirklich der Meinung zu sein, daß einer, dem eine an-
ständige Handlung des Hofrats HansUck berichtet wird
vor allem an einen Aufsitzer zu denken hat. Aber muß
man denn mit Widmungen berühniter Männer rigorose
verfahren als eben Herr Hanslick, der sie — und wäii
selbst eine seines Freundes Kalbeck darunter —
munter zum Antiquar trägt? Gewiß, das Bild Hans-
lick's, das sich in Wolfs Nachlaß fand, trag
eine falsche Unterschrift. Aber ist's nicht schlimmer
daß die Widmungen, die sich auf den von Herrr
Hanslick verklopften Büchern finden, echt sind?...
Jedenfalls ist der Spaßvogel, der Hugo Wolf genarrt hat
literaturkundiger als die Wiener Musikkritik, diefl
für seinen Streich den Meister selbst verantwort-'
•iich machen- möchte. »Hanslick- kennt jene Verse ga:
nicht.« Herr Ktilb eck kennt sie natütlich, auch 'nicht.
Er macht wohl selbst bessere. Und der dritte; im
Bünde, Herr Korngold, verkündet am 17. März in
der , Neuen Freien Presse': »Nun hätte ja gewiß eine
solche Aufmerksamkeit eine ebenso ungewöhnliche wie
schmeichelhafte Auszeichnuqg für den jungen Kom-
ponisten bedeutet — wären nur die Verse besser,
die Handschrift auf der Photographie jene Hanslick's
md die ganze Geschichte so wahr, wie sie falsch ist.«
SS ist zwar nicht einzusehen, warum eine An-
läherung Hanslick's an Wolf für diesen hätte
ichmeichelhafter sein sollen als für jenen. Aber
\sQ) Herr Hanslick auch gegen den Verdacht der
\.ütorschaft jener Verse geschützt werden muß, ist
las drolligste an der Sache. Schon einmal hat ein
Sflitarbeiter der ,Neuen Freien Presse' über ein Ge-
licht, das er auf einem Grabstein fand, gespottet.
Der Spötter hieß Wittmann und der Dichter Schiller.
Jnd nun heißt jener Korngold und dieser — Goethe. . .
Das letzte Histörchen des Herrn Kalbeck ist
vohl das widerwärtigste und abgeschmackteste. Herr
ü[albeck bekennt, er habe einmal, da er einen Angriff
iVölf's auf Brahms las, diesen »empört gefragt, wer
ienn eigentlich dieser Hugo Wolf sei«. Brahms
iiabe entgegnet: »Ach Gott, das ist ja so ein dürf-
läger, armseliger Kerl, ein verunglückter
Musikant, der nichts lernen will. Er kam einmal
u mir, da war er nicht von der Türe wegzu-
bringen: er küßte immerzu die Klinke ,aus
Verehrung*...« Brahms habe hinzugefügt: »Ekel-
laft!«. Ja wohl, Herr Kalbeck, ekelhaft! Könnte der
eser selbst glauben, daß Brahms so pöbelsinnig. über
)in aufstrebendes Musikgenie gesprochen habe, so
«rürde ihn die Mitteilung der häßlichen Rede als eine
Beleidigung zweier Toten abstoßen und als die.
chäbige Ausnutzung der Gelegenheit, daß für diö
Sfzählung bloß Herr Kalbeck, für das Erzählte
ein Zeuge mehr bürgen kann. Hat Brahms es ge-
— 12 —
sagt, schlimm genug für ihn. Ist es wahr, so bleibt
darum kein Fleck auf Wolfs Andenken haften, und
der Vorwurf der Unaufrichtigkeit kann den nicht
treffen, dessen heißes Temperament durch Entwick-
lungen zu stürmen, aus Liebe in Haß zu stürzen
geschaffen war. Anton Brückner hat einmal
Hanslick's Hand geküßt. Die Schmach fällt auf eine
im Mißbrauch gefürchtete Presstyrannis zurück, und
die Verehrung würde heute nicht zaudern, könnte
sie noch einmal vor die Wahl gestellt werden, ob
jener Mund verstummen oder jene Hand verdorren
solle . . .
Genug von dem widerwärtigen Getratsche I Was
soll der ganze Hader, weil außer Brahms noch andere
Tondichter, die andere Wege einschlagen, wirkten?
Hätten die Meister, die oft Not und Hunger litten,
wenigstens das Honorar bezogen, das heute ein Kal-
beck mit ihrer Besudelung verdient I Aber sind sie,
die Brückner und Wolf, die Wagner und Liszt, nicht
auch allzu anspruchsvoll, allzu frech? Erst versucht
man sie totzuschweigen, dann rezensiert man sie zu
Tode, dann sterben sie wirklich, aber je mehr die
Hanslick und Kalbeck losschlagen, umso lebendiger
und größer stehen sie im Herzen des Volkes wieder
auf. . . Wer ist denn eigentlich dieser Kalbeck, was
will er, wess vermißt er sich ? Er hat einige dürftige
lyrische Gedichte geschrieben und einige schon wieder
verschollene Operettentexte geliefert, hat fremd-
ländische Opern angeblich ins Deutsche übertragen —
Alois Obrist führt in seinen in Lessmann's Musik-
zeitung (Berlin-Charlottenburg) über »schlechtes Opern-
deutsch« veröffentlichten Aufsätzen unter den ab-
schreckendsten Beispielen eine erkleckliche Anzahl
aus Kalbeck's »Feder an — , hat eine ehrfurchtlose
»Bearbeitung« des Don Juan gewagt, hat wohl auch
einigen Musikunterricht genossen und wurde, da er
weder zum Dichter noch zum Musiker taugte, Zeitungs-
kritiker für Literatur und Musik. Als solcher trat er
— 18 —
in die Reihe der Wiener Beckmesser, die sich von
jenem Wagner's bloß dadurch unterscheiden, daß sie
oft nicht einmal die Tabulatur kennen, pflanzte die
Anschauungen seines Förderers Hanslick fort, hängte
sich, um nicht die Überfuhr zur Unsterblichkeit zu
versäumen, an die Prackschöße Johannes Brahms'
und schien gewillt, alles, was neben diesem in Tönen
zu empfinden wagte, einer Rache, einer Laune,
einem Spaß zu opfern. Denn in diese Wiener Grund-
stimmung, die ein großes Kunstwerk bedenkenlos für
einen kleinen Witz hingibt, hat sich der Breslauer
Philister vortrefflich eingelebt. Das findet man -» so hat
er's gelernt — amüsant, das liest man mit Behagen,
das wird bei allen Jours nachgeplappert, und
das ernährt seinen Mann. Lebten wir in dem von
Wagner erträumten Staat, — Pakta wie jenes Hugo
Wolf-Feuilleton würden nicht als Ehrenbeleidigung,
sondern als Religionsstörung behandelt werden.
Oder sollen wir uns heute lieber nach Wagner's
Bekenntnis richten, er sei »von Anfang herein unsren
Musikzeitungsschreibern mit einer Verachtung be-
gegnet, wie sie stärker nie in der Welt bezeigt
worden sein dürfte«? »Wenn das deutsche Publikum«,
lehrt er in demselben Kapitel, »es liebt, die Abtritts-
schlotten seiner Gemeinheit sich auf die offene Straße,
bis in seine Unterhaltungsräume hineinziehen zu
lassen, wie es dies mit der Pflege seiner Zeitungs-
presse tut, so muß man ihm das lassen, kann aber
bei dem Gestanke nichts mehr mit ihm zu tun haben«.
158
— 14 —
Iil einem Wiener Vergnügungslokale' soll ein
»Japanischer Kriegsmarsch« aufgeführt werden. Das
regt die , Ostdeutsche Rundschau', die jetzt »Deutsches
Tägblatt' heißt, gewaltig auf. »Wir Deutsche haben
gar keinen Grrund, uns besonders für die Angelegen-
heiten der Japaner zu begeistern, und am wenigsten
ist es angebracht, gewisse Vergleiche zu ziehen. Die
heldenhaft getragene blutige Not eines stammver-
wandten Volkes ließ bei uns alle Herzen erzittern,
und diese Teilnahme mußte sich Luft' machen, indem
das Burenlied bejubelt wurde«. Die Begeisterung für
Japan aber sollten wir den Juden überlassen...
Die Grroßherzigkeit,' mit der ein antisemitisches Blatt
das Verständnis für die Lebensäußerungen einer
höheren Kultur den Juden überlassen will, ist ja
rührend. Oder glaubt die »Ostdeutsche Rundschau', daß
es der Menschenschlag der Herren Malik, Herzog und
Franko Stein ist, der die höhere Kultur repräsentiert?
Wir werden uns doch nicht, wenn wir die Wahl
zwischen Russen und Japanern haben, für das teu-
tonische Gesindel, das dem Künstler Kubelik in Linz
die Fenster einschlug, entscheiden müssen? Wenn der
»Japanische Kriegsmarsch« besser ist als die Buren-
hymne, möge er immerhin gespielt werden ; man sieht
die nationalen Begeisterungen des Spießers lieber in
Gassenhauern als in Straßenprügeleien ihre Ableitung
finden. Aber müssen wir denn unbedingt zwischen
»Russen« und »Japanern« wählen? Drückt uns nicht
schon diese MaulafFenfreude an einem Blutvergießen
tief unter das Kulturniveau beider Streitteile? Wird
die Entscheidung irgendwie beeinflußt, wenn jüdische
Reporter Japan und Kerzelweiber RulSland ihrer un-
wandelbaren Sympathien versichern? Der schmutzigste
Kosak steht gewiß so hooh über einem Wiener Börsen-
redakteur wie eine Geisha über einer christlichsozi-
alen Wahlraegäre ... Es ist übrigens kein schlechter
Einfall, die Burenbegeisterung, die wir glücklich über-
standen haben, aus Gründen der »Stammes verwandt-
— >15 —
Schaft« zu erklären. Die Verwandtschaft- des Buren-
volkes mit dem Stamm der Herren Popölak,i Inderka,
Molinek, Honsik, Haluschka, Miklautschitsch, Kudielka,
Prochaska und Wiskozil ist > nicht ohneweiters ein-
leuchtend. Das sind die Namen der besten Deutschen,
'SO wir haben, — der • Teilnehmerliste eines stramm-
deutsohnationalen Festes entnommen, das vor Jahren
in Iglau gefeiert wurde. Herr MaHk ist alldeütsclier
Abgeordneter, Herr Sedlak Redakteur der , Ostdeutschen
Rundschau', Herr Stepischnegg Schwiegervater des
K. H. Wolf. In Nr. 17 der ,Fackel' waren die Herren
Kokoschinegg, Kovatschitsch, Mravlag, Besgorschak
und Podgorschegg als die politischen Wortführer der
Deutschen in Südsteiermark bezeichnet, lauter Namen,
die einen guten Klang haben, so weit die deutsche
Zunge reichen muß, um sich auszukegeln. Wenn man
daneben bedenkt, daß politisch einflußreiche Slovenen
> Kaisersberger, Fischer, Mayer, Blachmann, Schuster,
Rosenstein und Krämer heißen, daß der Deutsche, der
einmal in Cilli angeschossen wurde, Pollanetz, der Slave,
der auf ihn schoß, geradezu Jahn (Vater Jahn,
schau obal) heißt, wenn in Marburg die Herren
Glantschnigg und Woschnagg deutschnational und
ihre Brüder Glancnik und Voinjak slovenischnational
krakehlen, so mag man sich an den nachdenklichen
Ausspruch des Tschechen Rieger erinnern: »Mir
scheint, mir scheint, daß dem Cheruskerfürsten Her-
mann meine Ahnen näher standen als die des Frei-
herrn V. Chiumeckyl« Hierzulande wenigstens stimmt
es: »Der Nationalismus«, so hat mir ein geist-
voller Mann einmal gesagt, »ist eine Sache der
Entschließung«.. . Wann werden die Regierenden
dieser Affenkomödie, bei der die Fensterscheiben der
Völker und höhere Kulturgüter flöten gehen, ein Ende
machen?
Wie sehr der slavische Ansturm die deutschen National-
güter und vor ■ allem die deutsche Sprache schon> bedrängt^ geht
— 16 —
aus einem Aufruf hervor, den mir ein Verein zur Oründung einer
»Deutschen Volksschule in Witteschau« bei Hohenstadt in Mähren
zusendet. Daß Witteschau slavisiert wird, ist »leider mit der Zeit
zu befürchten, da wir gegenwärtig gezwungen sind, unsere Kinder
in die slavische Schule zu senden, wo die Kleinen dem Terroris-
mus slavischer Volksbildner noch ausgesetzt sind, nachdem die
nächste deutsche Volksschule 17« Wegstunden von uns enifemt
ist«. Der Einfluß der slavischen Volksbildner zeigt sich auch schon
in dem Satze : »iVlit der frohen Zuversicht, daß unser Notschrei aus
schwer bedrängter Lage nicht ungehört bei unseren Volksgenossen
verhalle, wir doch stolz darauf sind, einem Kulturvolke ersten
Ranges anzugehören, . . . gründeten wir den Verein . . ., welcher
keinen andern Zweck verfolgt als wie die Errichtung einer
deutschen Volksschule in Witteschau<. Da ist rasche Hilfe gebo-
boten. Denn es handelt sich um die »Sicherung des deutschen
Besitzes von Hohenstadt, da durch diese Schule der immer mäch-
tiger werdende tschechische Ansturm von letzterer Stadt abgelenkt
werden muß«. Die weite Entfernung einer deutschen Volksschule
verleugnet sich auch in der Schreibweise der Erwachsenen von
Witteschau nicht. »Wir wollen treu bleiben unserer trauten, süßen
Muttersprache«. Aber man sieht, wie schwer es ist. Darum
empfehle ich — und viel ernster und nachdrücklicher als die
deutschnationale Publizistik — den Aufruf werktätiger Beachtung.
Diebsanzeiger.
Das ,Neue Wiener Journal' vom 27. März bringt unter der
Rubrik »Pariser Leben. Von unserem Korrespondenten«, natürlich
ohne Quellenangabe, die in ,le Journal' vom 23. März von Michel
Provins veröffentlichte Novellette: »le troisieme sexe«. Das Plagiat
dürfte, wie mir ein mit Pariser journalistischen Kreisen in Ver-
bindung stehender Leser mitteilt, Anlaß zur Klage gegen das un-
verschämte Diebsblatt geben. Unter der Bezeichnung »Les para-
sites du journalisme« sei in Paris einmal das Lippowitzblatt
als »le refuge des cambrioleurs de la presse« an den
Pranger gestellt worden. — Wahrlich, ein internationaler Dieb ! Die
— 17 —
Erlassung eines Steckbriefs empfiehlt sich nicht, da ihn das ,Neus
Wiener Journal' sicher ohne Quellenangabe nachdrucken würde.
In den Tbeaterrubriken kann man oft ganz gute Witze
lesen. Zum Beispiel:
>Die Direktion des Deutschen Volkstheaters hat an Henrik
Ibsen die Einlädung ergehen lassen, zur Erstaufführung von ,Wenn
wir Toten erwachen' nach Wien zu kommen«.
Noch besser:
>Aus Anlaß von Ibsens 76. Geburtstag wird morgen im
Deutschen Volkstheater den Theaterbesuchern nebst dem Theater-
zettel von ,Wenn wir Toten erwachen' auch eine Ansichtskarte
mit dem Bilde des Dichters überreicht werden. Die erste dieser
Ansichtskarten wurde heute dem Dichter zugeschickt.«
Die Direktion des Deutschen Volkstheaters hat die Inten-
tionen Ibsen's, die man sonst immer für so schwer verständlich
ausgibt, sehr fein erfaßt. Ibsen soll hocherfreut gewesen sein und
aus der fortwirkenden pessimistischen Stimmung, die seinen Epilog
erfüllt und in der ihn diese Verklärung seines Lebensabends durch
die Herren Weisse und Bukovics überraschte, gerufen haben:
>Das hätte ich nicht erwartet!«
ANTWORTEN DES HeRAUSGBBBRS.
Kriminalist. Das Urteil über die Tat des Johann Feigl ist vom
Oberlandesgericht augenblicklich gefällt worden. Die Justiz hat mit
standgerichtlicher Promptheit gearbeitet. Leider ist die Differenz zwischen
lebenslänglich und zwölf Jahren, zu der Herr Feigl verurteilt wurde,
eine viel zu geringe, und zwölf Jahre für den Trunkenheitsexzeß, den
ein minderjähriger Bursche auf der Ringstraße verübt hat, noch immer
horrend. Wiewohl Herrn Feigl kein mildernder Umstand zugebilligt
werden kann, wiewohl er weder minderjährig ist, noch in Volltrunken-
heit gehandelt hat, wiewohl er sich der Folgen seiner Handlungs-
weise — z. B. Erschütterung des Vertrauens in die Strafjustiz, dauernde
Berufsstörung bei Anton Kraft usw. — bewußt sein mußte, hat das
iOberlandesgericht sich für bemüßigt gehalten, ihn mit mehr Rücksicht
zu behandeln als den andern Angeklagten. Warum, Ihr Herren? Warum
;wird denn mit den »Jahrin« nur so herumgeschmissen? Es ist ja
isehr selbstlos, wenn ein Berufungsgericht einen Teil des Entsetzens,
— il8 —
1
das ein Urteil > erregt hat, auf sich nehmen will. Aber schließlich ist
doidi die Gerechtigkeit auch etwas, worauf in der Judikatur Rücksicht
genommen werden sollte, wenn ich auch gern einsehe, daß die
Kollegialität vorangehen muß. Das Schicksal eines Angeklagten dürfte
doch nicht so ganz apathisch zwischen den Höflichkeitsbezeugungea
der Instanzen zerrieben werden ! »Sollte nicht selbst die Umwandlung
des lebenslangen in zwölfjährigen Kerker durch das Oberlandesgeiicht
der gewiß schwer ins Gewicht fallenden ' Absicht, • die Richter der ersten
Instanz nicht allzuschroff ins Unrecht zu setzen, entsprungen sein?
Dann würde der Fehler, den diese begangen haben, zum Nachteile
eines Unglücklichen fortgewirkt haben. Uns scheint, daß der Fall Kraft
sich eher zu einer Annäherung an die unterste Grenze der drei
Jahre schweren Kerkers empfohlen hätte.« So schreibt Dr. Edmund
Benedikt in den ,Juristischen Blättern' vom 27. März. Wenn die Empörung
fühlender Laien die Maßgebenden nicht aufgerüttelt hat, vielleicht macht
sie die Tatsache stutzig, daß dem Fall Feigl gegenüber ein juristisches
Fachblatt zum erstenmal aus seiner' wissenschaftlichen Reserve heraus-
tritt. Dr. Benedikt schreibt : >Nach der letzten veröffentlichten Statistik wurde
in ganz Österreich im Laufe des Jahres 1897 über 28 Personen lebens-
länglicher Kerker verhängt, darunter über 21 infolge gnadenweiser Um-
wandlung der gesetzlichen Todesstrafe. Wenn man die Seltenheit der
Hinrichtungen bedenkt, deren Zahl im Jahre 1897 nicht mehr als 5
betrug, so daß die vielleicht ebenso fürchterliche Strafe des ewigen
Kerkers bei den verworfensten Mördern an deren Stelle gesetzt wird,
während in 41 von im ganzen 67 Fällen todeswürdig erkannter Mord-
taten 8- bis 20jähriger Kerker als angemessene Sühne erkannt wurde,
so muß die ungeheuere Aufregung, welche die Verurteilung da
Kraft durch einen Wiener Schwurgerichtssenat hervorgerufen hat, selbst
vom trockensten Zahlenmenschen geteilt werden.« Nach Benedikt's An-
sicht hat Herr Feigl nicht einmal die Berufung auf den traungen Buch-
staben des österreichischen Strafgesetzes für sich: >Die Überfallene
hatte infolge des Schreckens einen Nervenchok Erlitten, der sie durdi
mehr als zwanzig Tage arbeitsunfähig machte. Es ist bei diesem Tat-
bestände zweifelhaft, ob überhaupt die Sanktion dei
lebenslänglichen Kerkers zutrifft, ob nicht vielmehr xias Gesetz
Iiri § 195 eine unmittelbare schwere Verwundung oder Verletzuag fordert,
so daß der Eintritt eines Nervenchoks, dem sonst die Gericht«
nicht allzu freundlich zu sein pflegen, außerhalb dieses
Rahmens fällt.« »Aber sei dem wie immer«, fährt der Jurist fort, >di'
Thatsache, daß die unmittelbar zugefügten Verletzungen ganz leichte
Art waren, ist ein höchst wichtiger Milderungsumstand. Dazu korarr.
die NichtvoUbringung des Raubes, dessen Begehung am hellen Tage s:
sehr belebter Gegend, also unter möglichst ungefährlichen Umständen
in subjektiver Hinsicht das jugendliche Alter, die Angetrunkenheit un
die Not. Und dieses Verbrechen, das, verglichen mit den übrigei
schweren Straftaten in der Monarchie, kaum in deren oberen Hälfte zu
stehen kommeu dürfte, wurde mit der fürchterlichsten Strafe
- 19^—
deren Schwere desto gr/5ßer Ist, einen, je jüngeren -Delinquenten sie trifft.,
Unter allen begnadigten Mördern des Jahres 1897 war nur Ein Minder-
jähriger, dem Kerker auf Lebenszeit zuerkannt wurde, und dieser hatte
ein achtjähriges Kind getötet, das er mißbrauchen wollte. In wie bei-
spielloser Weise das Urteil des Wiener Schwurgerichts-
hofes die seit so vielen Jahrzehnten in so vielen tausen-
den von Fällen jiergestellte Verhältnismäßigkeit zwischen
Strafe und Verbrechen gestört hat, sagt, jedem
die Erfahrung und bestätigen die Zahlen. Wie immer man über
Orund und Zweck der Strafe denken mag, wie sehr man davon
überzeugt sein mag, daß eine absolute Gerechtigkeit schon wegen
der Inkommensurabilität von Schuld und Strafe niemals erreicht
werden kann, man muß daran festhalten, daß jene Proportion, die
sich auf Grund der Gesetze durch die Übung der Spruchpraxis heraus-
gebildet hat, nicht verletzt werden darf, wenn man nicht aus der Straf -
Justiz eine willkürliche und sinnlose Straferei machen will.«
In zutreffender Weise werden nun die Folgen der Feigl'schen Tat erörtert.
Das Urteil habe nicht nur die heilsame Assoziation der Vorstellungen
w)d Verbrechen und Strafübel, in der allein die Rechtfertigung der
itrafe liege, erschüttert ; es »scheint noch eine weitere verwerfliche Wir-
rang in der kurz darauf unter demselben Vorsitz erfolgten Frei-
jp rechung von Funddieben durch die Geschwornen hervorgerufen
11 haben. Daß die Jury, wenn Ihr Verdikt In einer unerwartet harten
iträfbemessung Geltung erhalten hat, durch Absolvierung
inderer Angeklagter sich zu salvieren glaubt, ist eine
edem Praktiker bekannte Sache. Aber es irren sich diejenigen, die sich
n gutherziger Welse über solche Geschenke des Schicksals an Schuldige
euen, denn In solchen Freisprüchen liegt eine tiefe Grausamkeit, weil
;e die Wurzel des Strafrechtes angreifen und Willkür an Stelle des
rteils setzen.« . . . Am schärfsten trifft Herrn Feigl wohl das folgende:
So traurig uns die Überschreitung des Strafmaßes berührt, so können
^rdoch nicht glauben, daß das Benehmen des Beschuldigten bei der
cfhandlung dabei in Betracht gekommen sei. Leider ist ja die
radition noch nicht bei allen Vorsitzenden verschwun-
en, daß es richtig sei, zu dem Angeklagten in die Arena
inabzusteigen und Ihn Im Ringkampf die geistige Über-
gen heit fühlen zu lassen und jede Auflehnung des Dell n-
uenten oder auch manchmal der Entlastungszeugen
egen dieses oft grausame Spiel als Rebellion zu em-
{flnden. Daß aber Richter eine solche Auflehnung den Verurteilten
Spruche entgelten lassen sollten, können wir nicht glauben. Daß
der Vorsitzende den minderjährigen Angeklagten, der soeben zu
inslänglichem Kerker verurteilt worden war, zu einer Strafe, die
[den härter dünkt als der Tod, sofort mit der Frage über-
ilte, ob er berufen wolle, statt ihn ausdrücklich zu warnen, die Er-
mg nicht früher abzugeben, bevor er sich nicht mit seinem Ver-
Itfiger besprochen und sich die Sache genau überlegt habe, daß er
- 20 —
dann die in verbissenem Trotz hervorgestoßene Erklärung, auf die Be-
rufung zu verzichten, als eine unwiderrufliche statuierte, ist
ein Vorgang, den man nicht begreifen kann. Die Rechtsmittel-
belehrung hat den Zweck, den Inkulpaten auf die ihm zustehenden
Rechte aufmerksam zu machen und ihm Zeit und auch womöglich die
Sammlung zur Überlegung zu gewähren, nicht aber ihn in derSchlinge
der unvermittelt hervorgestoßenen Erkl ärung zu fangen.«
»Wer in solcher Weise«, schließt Benedikt, »an dem Verhält-
nis zwischen Strafe und Tat rüttelt, zerbricht einen der
stärksten Pfeiler unserer ohnehin unvollkommenen Ge-
rechtigkeit und lädt eine schwere Schuld aufsich.< —
Wie Shakespeare Richter richtet, habe ich neulich hier zitiert. Die Verse
waren aus >Maß für Maß«. Aber neben dem schlechten Richter Angelo
tritt in diesem Stück auch eineharmlosere Justizperson auf: »El bogen,
ein einfältiger Gerichtsdiener«. Es stimmt also alles. Und der
Clownscherz ist wirklich so heiter zu nehmen wie bei Shakespeare. Die
Berechtigung des allgemeinen Entsetzens über das Feigl'sche Urteil ist
jetzt definitiv erwiesen: Herr Dr. Friedrich Elbogen billigt es. In der
,Wage' — diese Revue aller menschlichen Langweile lebt noch immer
— hat er seinen Kohl angebaut. Er rechtfertigt die lebenslängliche
Strafe — Feigl hat sie, wie nachträglich bekannt wurde, über den Irr-
sinn des österreichischen Strafgesetzes hinaus mit einem jährlichen Fast-
tage »verschärft« — aus einem »höheren, soziologischen Gesichtspunkt«,
Diese verfluchten Gesichtspunkte auf dem schönen Antlitz der Frau
Justitia! Und vollends Herr Feigl als Soziolog! Anton Kraft ist ein
»geborener Verbrecher.« Seine etwaige Besserung müsse »im Gefängnisse
abgewartet: werden«. Das ist natürlich, ganz abgesehen von der psycho-
logischen Verläßlichkeit der Gefangenaufseher, ein Unsinn. Den »gebomen
Verbrecher« kann ich am Kaffeehaustisch agnoszieren ; gestraft werden
kann er nur nach dem Maß der kriminellen Tat, die er begangen hat. Da
müßte man, wenn man auf Numero Sicher gehen wollte, vorsichtshalber
die ganze Menschheit einsperren. Und wie sollte man sich in einem
Milieu, in welchem verbrecherische Triebe keiner Verlockung erliegen
können, von einer »Besserung« überzeugen? Die Reklamesucht eines
Advokaten ist auch eine Gefahr, gegen die »sich die Gesellschaft schützen
muß«. Ginge es deshalb an, ihn zeitlebens an einem finstern Ort abzu-
schließen? Es ist lustig, aber nicht appetitlich, einen Advokaten, der
als Verteidiger des Delinquenten nicht genug Unschuldsphrasen hätte
häufen können, um des bißchens Aufsehen willen sein Handwerk so
flink verleugnen zu sehen. Schmocks Privileg war es bisher, nach rechts
und nach links zu schreiben. Rechts- und Linksanwalt zu sein, ist aber
auch lohnend.
Advokat. Das ,Barreau' hat zu der Publikation der .Frankfurter
Zeitung' über Wiener Advokatenrechnungen und besonders zum Fall
Harpner - siehe Nr. 156 der .Fackel' -■ so dummes Zeug geschwätzt,
daß man die »Standesinteressen der Anwälte Österreichs«, deren »Organ<
zu sein es vorgibt, nicht mit den Verstandesinteressen, die ja von einem
— 21
edleren Organ vertreten werden, verwechseln darf. Die »Frankfurter
Zeitung' reagiert am 22. März wie folgt darauf : >Es war in diesem
Feuilleton dargelegt worden, daß die Kostenrechnung des gegnerischen
Advokaten, zu deren Zahlung eine Partei verurteilt wird, fast immer vom
Gericht auf 50 bis 10 Prozent der geforderten Summe herabgesetzt wird.
Es war ferner gesagt, daß die Advokaten im Bewußtsein dieser Abstriche
übermäßige Liquidationen aufstellen. Endlich war ohne Nennung von
Namen ein besonders krasser Fall erzählt worden, bei dem ein Anwalt
zwölftausend Kronen forderte und zwölfhundert als angemessenes
Honorar zugesprochen erhielt. Bezüglich dieser drei Punkte richtet das
,Barreau' an uns eine ,Aufklärung' und erwartet von unserer Loyalität,
daß wir sie den Lesern zugänglich machen würden. Wir haben die merk-
würdige Aufklärung sorgfältig mehrmals durchgelesen und aus ihren
langen Erörterungen entnommen, daß sie eine Bestätigung aller in
dem von uns publizierten Artikel dargelegten Zustände darstellt. Man
höre ihren Inhalt, der im Auszuge folgendes enthält : ,Der Advokat ist
berechtigt, sich eine bestimmte Belohnung zu bedingen. Hat er das
vorher versäumt, dann ist er auf das Wohlwollen des Richters an-
gewiesen, der seine Befugnis der Kostenbestimmung oft auf Praktikanten
überträgt, die keine Ahnung von dem Wert der advokatorischen Leistung
haben und die Rechnung möglichst herabsetzen. Das hat die Folge,
daß die Advokaturskanzleien die einzelnen Posten höher bewerten,
in der Erwartung, die nach den Abstrichen bleibende Summe werde
dann den Betrag erreichen, den der Anwalt wirklich haben wollte.
Die Advokaten haben öfter schon selbst anerkannt, daß die Tarifsatz»"
für kleine Rechtsgeschäfte zu hoch sind.' In diesen Ausführunger. ..erden
klipp und klar die beiden ersten Punkte zugegeben : die enorme Herab-
setzung der Kosten durch das Gericht und das bewußte übermäßige
Liquidierungssystem. Bezüglich des dritten Punktes, der ohne Namen
erzählten Affäre, teilt das ,Barreau' das betreffende Urteil mit und be-
weist dadurch, daß ihm selbst die Sache und die Namen gut bekannt
sind. Die , Aufklärung' fügt nur hinzu, daß der Advokat nicht 12.000,
sondern nur 10.000 Kronen verlangt hätte, daß ihm persönlich jedes
Interesse an diesem Honorar fehlte, da seine eigene Partei ihn bezahlt
hatte, und daß ein Prozeßgegner nicht verurteilt wird, den Anwalt des
Siegers zu honorieren, sondern dem Sieger selbst alle durch die Prozeß-
führung verursachten, zur Rechtsverfolgung notwendigen Kosten zu
ersetzen. - Das ist ein Spiel mit Worten, wie es forensischer Dialektik
entspricht. Denn in der Praxis bekommt fast immer der Advokat die-
jenige Summe, zu der das Gericht den Gegner verurteilt. Aber auch
hier gibt die , Aufklärung' das Tatsächliche zu, daß nämlich von der
Liquidation ungefähr zwölf Prozent gerichtlich als berechtigt anerkannt
wurden. Wir konstatieren also, daß das Organ für die Standesinteressen
der Anwälte Österreichs durch seine eigenen Angaben die Richtigkeit der
in unserem Feuilleton dargelegten Fakten bekräftigt. Wenn es trotz-
dem diesen Artikel ein .Pamphlet' nennt, so wird man an das seltsame
Oebahren von Leuten erinnert, die den Spiegel schmähen, weil er das
22
wirkliche Aussehen der Dinge wiederzugeben wagt.« - Im .Barreau'
war übrigens der Bescheid über die Kostenbestimmung des Landesgerichtes
in meinem Prozeß mitgeteilt. Entstellt. Nicht 1400, sondern bloß
1200 Kronen hat das Gericht Herrn Dr. Harpner für Verhandlung und
Vorarbeit zugesprochen.
Sklavenhalter. »Kürzlich wurde die Arzten^attin Frau H. vom
Bezirksgerichte Neubau wegen Ehrenbeleidigung zu einer Geldstrafe
von 40 Kronen verurteilt, weil sie ihr Dienstmädchen Anna F.
.aller gemeinste Person' genannt hatte. Als Zeugen wurden die
Stiefkinder der von dem Dienstmädchen geklagten Frau veraommen,
welche die inkriminierten Worte bestätigten. Frau H. berief gegen
das Urteil. Ein landesgerichtlicher Appellsenat hob, gestern das Urteil
auf und fällte einen Freispruch. In der Begründung heißt es, daß
die Frau die aus dem Jahre 1809 stammende, noch zu Recht bestehende
Dienstbotenordnung nicht überschritten habe, nach welcher eine be-
rechtigte Kritik des Hausgesindes erlaubt ist.« Demselben Appellsenat
verdanken wir auch den Freispruch des Herrn Gfromer. Er tagt unter
dem Vorsitz des Herrn Landesgerichtsrates Adamu. Muh. . .!
Monarchist. Zum Pressleiter der Modeausstellung sagte der
Kaiser: »Die Wiener Presse hat sich viel mit der Modeau&stellung be-
schäftigt«. Wie viel, läßt sich in österreichischer Wähiung freilich erst
-SO recht nach dem Rundgang des Kaisers berechnen. Hier der beiläu-
fige Tarif der , Neuen Freien Presse' :
Firma
Kaiser wort
Kronen
Orendi
»Das ist ja entzückend« und »Übrigens ist
mir Ihre Firma ja. schon längst bekannt«.
300.—
Zwieback
»Ich kenne Ihr Haus sehr genau, es ist
eine alte renommierte Firma.« Der Monarch
äußert seine Befriedigung darüber, daß Herr
Zwieback eine Weltreise antreten will.
200.—
Pohl
»Diese Hüte sind wirklich sehr schön«.
30.—
Pollak
». . . wobei er sich über einen lichten Über-
zieher besonders lobend aussprach«.
40.—
Schacher!
Stern & Co.
». . . erkundigte sich über den Export von
Damenblusen und war erfreut, zu hören,
daß dieser Artikel einen großen Aufschwung
genommen habe«.
»Das sind sehr schöne Sachen«.
90.—
50.—
Paprika-
Schlesinger
». . . bemerkte, daß die Firma sehr viel-
seitig sei«.
50.- i
etc.
etc.
etc. ^
Wann
\ Kaiserworten.
endlich wird dieser schändlichen Ausschlachtung von
diesem merkantilen Mißbrauchter Höflichkeit deS'Mooar-
I
— <28 —
eben gesteuert werden ? Die .Neue Freie Presse' soll bei der letzten
Gelegenheit gegen 2400 Kronen in die Debatte gezogen haben.
Kahlkopf. Von dem VerschleiBer eines Haarwuchsmittels erhalte
ich — in gedrucktem Zirkular — das folgende Angebot: »Löbliche
Redaktion! Erlaube mir mit diesem anzufragen, für welchen Preis Sie
mir die nebenstehende Empfehlung in Ihrem geschätzten Blatte • ver-
öffentlichen möchten. Wollen gefälligst die Preise für einmalige Ein-
schaltung und bei Wiederholungen, wöchentlich, monatlich,"viertel-, halb-
und ganzjährig angeben. Bitte auch die Zahlungsbedingungen anzugeben.
Diese Empfehlung wünsche ich im redaktionellen Teile
zwischen die Zeitungsartikeln (freilich ohne Umrahmung), weil es
nicht wie ein Inserat, sondern nur wie eine Empfehlung
aussieht. Ersuche dieses gleich in die folgende Nummer einzureihen.
Bitte auch um die Mitteilung, welchen Preis Sie mir bestimmen^ wenn
ich diese Empfehlung gleichzeitig im redaktionellen, sowie auch im
Inseratenteile eingeschaltet wünsche und zwar auf der ersten Seite, so
daß es in jeder Nummer zweimal angeführt ist. Erbitte mir die denk-
barst niedrigsten Preise, denn ich bin entschlossen, ganzjährig zu inserieren.
Hoffe, daß mir die Preise, sowie Bedingungen günstig gestellt' werden,
worauf ich dann Ihr steter Kunde bleibe, denn mein Geschäft ist gut
eingeführt, erfreut sich allgemeinen Wohlwollens und hat eine große
Zukunft zu erwarten. Belegnummern erwünsche ich mir nach Erscheinen
jeder Nummer. Nach Übersehen verteile ich diese in die umliegenden
Gasthäuser und gebe sie auch Jedem, der sich fürs Lesen interessiert,
und damit mache ich Ihnen nicht nur Reklame, sondern auch Ihrem
Blatte große Bekanntschaft. Auf baldige und günstige Rückäußerung
wartend, zeichne ich hochachtungsvoll . . .< — Der Mann hat sich
offenbar durch die Betrachtung über den kosmetischen Schwindel in
Nr. 156 der , Fackel' zu diesem ehrbaren Antrag ermutigt gefühlt.
Literat. In der »Literarischen Praxis' veröffentlichte kürzlich der
österreichische Schriftsteller Roda Roda die folgende Verwahrung: >Ihre
sehr gesch, Nr. vom 1. d. M. enthält einen Artikel ,Österreichische
Schriftstellermisere', den ich ausdrücklich widerlegen will, wiewohl jedem
halbwegs Kundigen das Nichtzutreffende in des Herrn Autors Aus-
führungen ohnehin in die Augen sticht. Zunächst ist' es wohl augen-
scheinlich unrichtig, daß ,die Norddeutschen auf die süddeutsche und
da namentlich auf die Wiener Literatur mit scheelem Blicke sähen'.
Namen wie Artur Schnitzler, Hofmannsthal, Peter Altenberg, Paul
Busson, (Wiener), Hugo Salus imd Gustav Meyrink (Prager) widerlegen
• die ungeheuerliche« -Behaup^ng durch ibten guten Klang, der auch in
Norddeutschland allenthalben . Sympathien auslöst. Diese und andere
Österreicher werden dafür sorgen, daß der ,österreichische Sangesfrühling'
(wie der Herr Verfasser befürchtet) ,nicht doch noch erstickt werde'. Von
einem Vorurteil der Kritik gegen Österreicher zu reden, ist angesichts der Er-
folge der eben genannten Autoren nichts als widersinnig. Es ist auch
nicht wahr, daß wir in Österreich keine gute Verlagsanstalt haben. Ich
■erinnere an' die Österreichische ' Verlagsasstalt, den Wiener VerlAg^ <lic
— 24 —
Verleger Konegen, Braumüller, Seidel & Sohn, Holder, Gerold, Mohr,
Rosner, Stern usw., von denen jeder wenigstens einen Zweig der schönen
Literatur pflegt. Es ist nicht wahr, daß wir in Österreich keine billigen
Druckeieien haben. Unsere großen Verlage lassen ihre Bücher in Öster-
reich drucken. Wir haben auch — was der Herr Autor nicht bestritten
hat — in Wien eine Anstalt für Zinkätzung und verwandte graphische
Künste, die den Weltmarkt beherrscht und an der Herstellung der
meisten englischen Prachtwerke mitbeteiligt ist. Auf die übrigen (nach
meiner Ansicht ebenfalls vollkommen irrigen) Ausführungen des Ver-
fassers einzugehen, habe ich kein Interesse.« Alles richtig. Auch daß
unsere Verlage ihre Bücher in Österreich drucken lassen. Nur eines ist
kurios: unsere Dichter lassen ihre Bücher nicht in unseren Verlagen
erscheinen. Die sechs genannten Autoren haben fast ihre sämtlichen
Bücher in Deutschland verlegen lassen.
Leser. Aus dem Bericht über einen Doppelselbstmord: >Da3
Entstehen der Beziehungen zwischen der Frau und dem halbwüchsigen
Burschen ist psychologisch merkwürdig. Fiala kam als Freund der Fa-
milie oft ins Haus. Die Frau fand Gefallen an dem Burschen. Wann
es zur Aussprache gekommen, ist deshalb nicht zu be-
stimmen, weil er und sie es sorgfältig geheimzuhalten
verstanden, daß sie nicht bloß die Freundschaft, sondern
auch die Liebe aneinander fesselte«. Welch' unberechtigte
Geheimniskrämerei vor der Presse! »Höchst sonderbar und seltsam, ii^
der Tat!«
BÜCHEREINLAUF.
Suse Theodor, Pygmalion. Lieder aus dem Rosenhag. Sym-
phonien in Rosen und Marmor. Leipzig. S. Hirzel.
Charmatz Richard, Der demokratisch-nationale Bundesstaat
Österreich. Betrachtungen. Frankfurt a. M. Neuer Frankfurter
Verlag. G. m. b. H.
Herbatschek Dr. Heinrich, Ausgedinge oder Bauernversiche-
rung? Wirtschaftspolitische Studie. Wien. Im Selbstverlage, IX*
Schulz-Strassnitzkigasse 5.
Kurz Leopold, Die Zerbrochenen. Novellen. Leipzig-Wien. Fritz|
Sachs.
MITTEILUNG DER REDAKTION.
Unverlangte Manuskripte werden nur zurück-»
gesendet, wenn frankiertes und adressiertes
Kuvert beilag.
MITTEILUNG DES VERLAGES.
Am 1. April sind fünf Jahre seit dem Erscheinen der ersten
Nummer der «Fackel' vergangen. Mit dem nächsten Heft wird der
sechste Jahrgang der ,Fackel' eröffnet.
Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: Karl Kraus.
Druck von jahoda & Siesel. Wien. ill. Hintere ZoUamtutniBe 3
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