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Full text of "Die Fackel"

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151  Srschiüüön  am  4.  Jänner  1.904  V.  Jalir 


Die  Facke 


Herausgeber: 


KARL  KRAUS 

Erscheint  drei-  oder   zweimal  im  Monat. 
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Nachdruck  und  gewerbsmäßiges  Verleihen  verboten;  gericlitliche  Verfolgung 

vorbehalten. 


WIEN,  -^ 

Verlag  ,DIB  FACKEL*,  IV.  Schwindgasse  3 


Die  Fackel 

erscheint  drei-  oder  zweimal  im  Monat  im  Umfange  von 
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Die  Fackel 


Nk.  151  WIEN,  4.  JÄNNER  1904  V.  JAHR 


Unter  dem  Titel:  »Der  Fall  der  Prinzessin 
Louise  von  Coburg«  hat  die  , Frank  furter 
Zeitung'  in  ihrem  Abendblatt  vom  22.  Dezember 
einen  Artikel  veröffentlicht,  den  ich,  nachdem  ich 
beschlossen  hatte,  ihn  als  die  bemerkenswerteste 
»Stimme  des  Auslands«  über  die  österreichische 
»Affaire«  den  Lesern  dieses  Heftes  mitzuteilen,  in  der 
,Arbeiter-Zeitung'  vom  25.  Dezember  exzerpiert  fand. 
Die  Sache  ist  von  so  ungeheurer  Wichtigkeit,  das 
reichsdeutsche  Urteil  über  den  psychiatrischen  Skan- 
dal, der  zwischen  Agram  und  Coswig  spielt,  von  so 
peinlicher  Entschiedenheit,  daß  ich  mich  für  ver- 
pflichtet halte,  den  Artikel  der  ,Frankfurter  Zeitung' 
hier  in  seinem  Wortlaute  wiederzugeben: 

»Das  ,Neue  Wiener  Journal'  läßt  sich  unter  dem  Schlagwort 
»Prinzessin  Louise  von  Coburg  im  Hausarrest'  aus 
Dresden  schreiben:  ,Ein  Hausarrest,  der  vor  mehreren  Tagen  der 
Prinzessin  Louise  von  Coburg,  welche  sich  bekanntlich  in  einer 
Heilanstalt  unweit  Dresden  befindet,  auferlegt  wurde,  bildet  in  den 
hiesigen  Gesellschaftskreisen  das  Gesprächsthema.  Die  Prinzessin 
hat  sich  nämlich,  wahrscheinlich  in  Ermangelung  einer  anderen 
Gesellschaft,  in  etwas  weitgehender  Weise  mit  dem  Hausmeister 
der  Heilanstalt  angefreundet . . .  Louise  von  Coburg  hätte  sich  gewiß 
die  gerade  entgegengesetzten  Folgen  dieser  Affaire  gewünscht : 
Jetzt  wurde  nämlich  der  Don  Juan  an  die  Türe  gesetzt,  die  Prin- 
zessin aber  muß  in  der  Anstalt  verbleiben'.  Diese  höhnische 
Notiz  ist  eine  Niederträchtigkeit*),  da  sie,  wahr  seh  ei  n- 

*)  Das  Wiener  Diebsblatt  ist  jetzt  natürlich  auf  die  .Frankfurter 
Zeitung'    schlecht    zu     sprechen.     Es    revanchiert    sich     mit     Notizen, 


lieh  in  ganz  bestimmter  Absicht,  eine  von  aller  Welt  ver- 
lassene und  wehrlose  Frau  in  der  öffentlichen  Meinung  vollAids 
zu  vernichten  trachtet.  Die  Angelegenheit  dieser  Prinzessin  ist  trotz 
aller  offiziösen  Mitteilungen  von  Coburg-Koharyscher  Seite  bis  auf  den 
heutigen  Tag  vollkommen  dunkel  geblieben.  Finanzielle  und 
psychiatrische  Motive  sind  darin  so  eng  vermischt,  daß 
man  doch  endlich  einmal  auf  eine  amtliche  Untersuchung  des 
Falles  durch  die  sächsischen  Behörden  dringen  sollte,  denn 
man  vermöchte  wirklich  nicht  einzusehen,  warum  eine  Unglückliche 
einen  geringeren  Anspruch  auf  den  Schutz  der  Gesetze  haben  sollte, 
bloß  weil  sie  zufällig  eine  Prinzessin  ist.  Resümieren  wir  kurz  die 
Affaire:  die  Prinzessin  Louise  von  Coburg  hatte  die  Leere  eines 
unbefriedigten  Lebens  durch  allerlei,  nicht  immer  die  Dehors 
wahrende  Liebesabenteuer  auszufüllen  gesucht  und  hat  dabei  viele 
und  leichtsinnige  Schulden  gemacht.  Beide  Verfehlungen  sind 
bisher  in  fürstlichen  Kreisen  häufig  genug  vorgekommen, 
ohne  daß  man  die  betreffenden  Personen  stets  gleich  für  irr- 
sinnig erklärt  hätte.  Bei  der  Tochter  des  Königs  Leopold 
lag  die  Sache  anders.  Ihr  Verhältnis  mit  dem  Oberleutnant 
Matassich  hatte  zu  einem  großen  Skandal  geführt,  und  ihre  Schulden 
waren  so  beträchtlich  geworden,  daß  der  Gatte,  der  sehr  begüterte 
Prinz  Philipp  von  Coburg,  um  diese  Verpflichtungen  in  ihrer 
vollen  Höhe  zu  tilgen,  allerdings  tief  hätte  in  die  Tasche 
greifen  müssen.  Die  Internierung  der  Prinzessin  erst  in 
einer  österreichischen,  dann  in  einer  sächsischen  Heilanstalt 
erleichterte  die  schwier  ige  Situation  nach  jeder  Richtung. 
Der  Leichtsinn  der  Dame  erklärte  und  entschuldigte  sich  jetzt  auf 


die  von  sittlicher  Entrüstung  überquellen,  daß  man  von  Frankfurt 
aus  >in  frivolster  Weise  den  niederträchtigen  Klatsch  aus  dem  in- 
timen Familienleben  der  Fürstin  Elisabeth  Windisch-Graetz  in  die 
Welt  gesetzt  hat«.  Ist  das  nicht  zum  Durchgehen  komisch.?  Das  ordi- 
närste Schnüfflerblatt  der  Welt  ist's,  das  so  aufbegehrt!  »Es  hat  für 
uns  überhaupt  den  Anschein«,  erklärt  es,  »als  ob  die  .Frankfurter  Zeitung' 
seit  dem  Tode  ihres  vortrefflichen  Chefredakteurs  Dr.  Stern  an  Zuver- 
lässigkeit der  Nachrichten  und  Noblesse  des  Tons  wesentlich  verloren 
hätte.«  Das  ist  gewiß  sehr  beklagenswert,  und  das  ,Neue  Wiener  Journal' 
ist  vor  allen  berechtigt,  es  zu  rügen,  weil  es  ja  -  als  ein  Gewohnheits- 
dieb der  Nachrichten  der  , Frankfurter  Zeitung'  —  am  meisten  unter  der 
Verschlechterung  des  deutschen  Blattes  leidet. 

Anm,  d.  Herausgebers. 


natürliche  Weise,  und  die  Gläubiger  ließen  sich  willig  herbei,  ihre 
Forderungen  beträchtlich  zu  ermäßigen.  Mancher  Unbeteiligte 
aber  argumentierte  so:  Kann  nicht  Jec^er,  dessen  Geisteszustand 
man  unter  einem  bestimmten  Vorurteil  beobachtet,  in  den  Verdacht 
geraten,  nicht  ganz  normal  zu  sein?  Und  gibt  es  selbst  bei  wirk- 
lichen Defekten  solcher  Art  nicht  unzählige  Nuancen  von  den 
augenfälligsten  Erscheinungen  herab  bis  zu  den  feinsten  Stimmungen, 
die  auf  dem  Grenzgebiet  zwischen  Krankheit  und  Gesundheit  liegen? 
Und  warum  sollte  es  unmöglich  gewesen  sein,  daß  die  Prinzessin, 
ohne  ernstlich  krank  zu  sein,  in  eine  Anstalt  gebracht  wurde,  da 
man  doch  ihren  Liebhaber,  an  dessen  Schuld  niemand  recht  glaubte, 
gleichsam  zur  Strafe  ins  Zuchthaus  schickte?  All  dies  geschah  vor 
etwa  fünf  Jahren,  und  sejther  ist  die  Prinzessin  ihrer  Freiheit 
beraubt.  Was  von  Zeit  zu  Zeit  über  sie  in  die  Öffentlichkeit  dringt, 
sind  inspirierte  Berichte,*)  in  denen  die  eine  oder  andere 
neue  Sonderbarkeit  der  Prinzessin  geschildert  wird,  als  ob  man 
daraus  gegenüber  etwa  wachwerdenden  Bedenken  den  Eindruck 
hervorrufen  wollte,  daß  die  aus  der  Welt  Verschwundene  wirklich 
krank  sei.  Und  die  gleiche  Absicht  verfolgt  vermutlich 
die  oben  wiedergegebene  Notiz.  Was  wahr  daran  ist,  weiß 
Niemand,  aber  das  glauben  wir  doch  mit  Bestimmtheit  aussprechen 
zu  dürfen:  ist  sie  wahr,  so  wirft  sie  auf  die  Heilanstalt,  in  der  sich 
die  Prinzessin  befindet,  ein  ungünstigeres  Lichtes  auf  die  unglückliche 
Frau,  die  vielleicht  in  ihrer  Verzweiflung  nach  jedem  Mittel  greift, 
um  den  Weg  in  die  Freiheit  zurückzufinden.  Jedenfalls:  steht  sie 
unter  Aufsicht  oder  nicht?  Und  wenn  derartiges  geschehen  konnte, 
—  wie  gelangte  die  Kunde  davon  aus  den  Mauern  der  Anstalt 
auf  die  Straße  und  wer  hatte  ein  Interesse  daran,  sie  in  die 
Welt  hinauszuposaunen?  Wir  glauben,  der  Fall  der 
Prinzessin  Louise  von  Coburg  liegt  derartig,  daß  alle 
Freunde  der  Menschlichkeit  und  der  Gerechtigkeit 
genügenden  Anlaß  hätten, sich  mit  ihm  zu  beschäftigen.« 

Die  »Freunde  der  Menschlichkeit  und  der  Ge- 
rechtigkeit« —  heutzutage  eine  besondere  Couleur  — 
haben  sich  wohl  an  der  Sache  eines  französischen 
Hauptm^-nns    verspekuliert   und    wollen    sich   auf   so 


*)  Aufpassen,  Bachrach !  Anm.  d.  Herausg. 


—  4  — 


riskante  Gefühlsgeschäfte  nicht  mehr  einlassen  ?  Viel- 
leicht gibt  ihnen  diese  Publikation  einen  Stoß! 


Pie  Armee  für  die  Armeelieferanten! 
Das  ist  der  patriotische  Gedanke,  den  Kestranek 
gegen  Kropatschek  verficht.  Man  braucht,  um  zwischen 
Stahl  und  Bronze  zu  wählen,  nicht  zu  überlegen, 
wessen  Autorität  man  vertrauen  will:  jener  des  Ge- 
neral-Artillerie-Inspektors,  der  unser  hervorragendster 
Waffentechniker  ist,  oder  der  des  kommerziellen 
Leiters  der  Prager  Eisenindustrie-Gesellschaft.  Auch 
muß  man,  wenn  die  Montanindustriellen  feierlich  be- 
kunden, daß  Nickelstahl  ein  besseres  Material  für 
Geschützrohre  sei  als  Schmiedebronze,  nicht  erst  die 
Frage  auf  werfen,  woher  den  Herren  solche  Kenntnis 
kam,  da  doch  die  Leistungen  der  Schmiedebronze 
—  die  Ergebnisse  der  Schießversuche  mit  Schmiede- 
bronze-Rohren —  ebensosehr  Geheimnis  sind  wie  ihre 
Zusammensetzung  und  Bearbeitung:  Der  kleine  Be- 
trug, der  versucht  ward,  als  man  im  Montanverein 
den  Daten  über  das  Geschützmaterial,  welches  die 
Eisenindustriellen  einführen  wollen,  jene  über 
das  Geschützmaterial  entgegenstellte,  welches  die 
Artilleristen  abschaffen  wollen,  —  als  man  Nickel- 
stahl nicht  mit  der  neuen  Schmiedebronze,  son- 
dern mit  der  alten  Stahlbronze  verglich  —  ver- 
schlägt wenig.  Und  nicht  mehr  kommt  darauf  an, 
ob  das  Lob  stichhält,  welches  die  Industrieritter  den 
Nickelstahlrohren  der  Skoda- Werke  zollen.  Nur  das 
Übermaß  der  Dreistigkeit  soll  zurückgewiesen  werden, 
mit  der  man  sich  darauf  beruft,  daß  die  24  cra-Rohre, 
die  aus  den  Skoda -Werkstätten  der  Kriegsmarine 
geliefert  wurden,  tadellos  seien;  denn  jüngst  erst 
ward  bekannt,  daß  ein  vor  Jahresfrist  von  der 
artilleristischen  Prüfungskommission  der  Kriegsmarine 


6  — 


übernommenes  Rohr  unbrauchbar  geworden  ist,  und 
von  zwei  Rohren,  die  neulich  übernommen  werden 
sollten,  bekam  das  eine  beim  kommissionellen  Br- 
probungsschießen  Risse.  Dennoch  könnte  die  öster- 
reichische Industrie  vielleicht  Kanonenrohre  kleinen 
KaUbers  —  Peldgeschützrohre  —  fehlerlos  herstellen. 
Gewiß  ist  aber,  daß  Bronzerohre  kaum  halb  so  viel 
kosten  wie  Stahlrohre,  und  unbezweifelt  ist,  daß  man 
in  keinem  Staat,  der  in  der  Lage  Österreich-Ungarns 
wäre,  Kanonenrohre  in  staatlichen  altbewährten  Werk- 
stätten herzustellen,  jemals  daran  denken  würde,  die 
Armee  von  der  Privatindustrie  abhängig  zu  machen. 
Nur  in  Österreich,  wo  Industriefeind  heißt,  wer  der 
Industrie  nicht  die  Steuerlasten  auf  Kosten  wirt- 
schaftlich schwächerer  Bevölkerungsschichten  erleich- 
tern will,  wer  das  Defizit  der  staatlichen  Bahnen 
nicht  durch  verlustbringende  Tarife  für  die  Beför- 
derung von  Industriegütern  erhöhen  will,  wer  endlich 
nicht  Antisozialpolitiker  und  nicht  der  Meinung  ist, 
daß  den  Industriellen  die  Beiträge  zur  Kranken-  und 
Unfallversicherung  ihrer  Arbeiter  ermäßigt  werden 
müssen,  —  nur  hier  darf  man  sich  unterfangen  zu 
erklären,  das  Urteil  der  Militärs,  die  Ersparnis  von 
Miüionen,  die  Unabhängigkeit  des  Staates  bei  der 
Beschaffung  von  Waffen,  alles,  was  für  die  Wahl  der 
Bronze  den  Ausschlag  gibt,  gelte  nichts:  aus  Pa- 
triotismus müsse  man  Kanonenrohre  von  Nickelstahl 
fordern.  Unparteiisch,  heißt  es,  soll  noch  einmal 
zwischen  Stahl  und  Bronze  entschieden  werden.  Und 
die  Unparteilichkeit  soll  dadurch  garantiert  werden, 
daß  die  Partei  der  Industriellen  in  eine  neue  Prüfungs- 
kommission Vertreter  entsenden  darf.  Man  habe 
Grund  zu  zweifeln,  wird  behauptet,  ob  die  Kommission, 
die  sich  für  die  Schmiedebronze  aussprach,  unvor- 
eingenommen war.  Sicherhch  aber  konnten  jene  weder 
vorher  noch  nachher  etwas  einnehmen,  welche  sich 
gegen  den  Nickelstahl  erklärten,  und  man  wird  dem 
General- Artillerie-Inspektor  v.  Kropatschek   und  dem 


—  6  — 


Arsenaldirektor  Thiele,  wenn  schon  nicht  das  bessere 
Verständnis,  so  jedenfalls  den  selbstloseren  Eifer  für 
die  Interessen  der  Armee  zutrauen  als  jenen,  die  sie 
als  Lieferanten  umwerben.  Es  ist  indes  vielleicht  den 
Eisenindustriellen  selbst  gegenwärtig  weniger  daran 
gelegen,  daß  der  Entschluß,  Bronze  als  Rohrmateriai 
zu  wählen,  umgestoßen  werde,  als  daß  ihnen  der 
Staat  die  so  ersparten  Millionen  durch  die  Bewilligung 
hoher  Preise  für  Lafetten,  Protzen,  Munitionswagen 
und  Geschosse,  welche  die  Privatindustrie  liefern 
wird,  hinwerfe.  Noch  immer  ist  es  nicht  zu  spät,  den 
Grundsatz,  daß  die  Armee  für  die  Armeelieferanten 
da  sei,  zu  verwirklichen.  Und  dem  Freisinn  in  Jour- 
naille und  Parlament  muß  dieser  Gedanke  ja  auch 
ganz  plausibel  sein.  Wenn  Kanonen  —  wie  überhaupt 
das  Heer  —  in  einer  Zeit,  in  der  man  nicht  mehr  um 
der  Ehre  willen  Kriege  führt,  dazu  bestimmt  sind, 
wirtschaftliche  Interessen  zu  schützen:  warum  sollte 
man  an  das  Zukunftsinteresse  denken,  für  das  die 
Kanonen  einmal  schießen  werden,  und  nicht  vielmehr 
an  jenes,  das  mit  dem  Kauf  von  Kanonen  verbunden 
ist?  Die  Industriellen  sind  überdies  nicht  die  einzigen 
Leute  in  Österreich,  die  sich  auf  eine  vorteilhafte 
Arnaeefreundlichkeit  verstehen.  Auch  die  Herren  mit 
dem  Papierweizen  führten  bewegliche  Klage  darüber, 
daß  durch  das  Verbot  des  Terrainspiels  die  Ver- 
sorgung der  Armee  erschwert  werde.  j. 


Oeit  der  Ärztedebatte  im  niederösterreichischen 
Landtag  ist  in  der  liberalen  Wiener  Presse  ein  neues 
Schlagwort  heimisch  geworden.  Allwöchentlich  wird 
uns  berichtet,  daß  »Opfer  der  Ärztefurcht«  ihre 
christlich-soziale  Gesinnung  mit  schwerer  Krankheit 
oder  gar  mit  dem  Tod  gebüßt  hätten.  Das  wäre 
schließlich,  wenn's  wahr  ist,  vom  liberalen  Standpunkt 
als  Dezimierung    der  christlich-sozialen  Wählerschaft 


—  7  — 

nicht  allzusehr  zu  bedauern.  Und  vielleicht  würden 
die  Fälle  bestrafter  Ärztefeindlichkeit,  in  denen  die 
Namen  der  Ärztefeinde  immer  sorgfältig  verschwiegen 
werden,  nicht  einmal  so  häufig  in  der  liberalen  Presse 
auftreten,  wenn  sie  nicht  der  Hoffnung  lebte,  daß 
eine  noch  stärkere  Verminderung  der  christlich- 
sozialen Wähler  sich  durch  Abschreckung  werde  er- 
reichen lassen.  Wie  viele  oder  wenige  Opfer  aber 
die  Ärztefurcht  auch  heischen  mag,  unerträglich  wäre 
es,  wenn  auch  nur  ein  einziger  Fall  sich  wirklich 
ereignet  hat,  in  dem  es  ein  Opfer  nicht  eigener, 
sondern  fremder  Furcht  gab,  wenn  wirklich  ein  Kind 
die  Torheit  seiner  Eltern  mit  dem  Leben  bezahlt 
hat.  Ein  dreizehnjähriges  Mädchen,  so  ward  jüngst 
erzählt,  sei  vor  einem  Monat  mit  einer  eitrigen  Ent- 
zündung hinter  dem  Ohr  ins  Allgemeine  Kranken- 
haus gebracht  worden;  die  Ärzte  hatten  den  Eltern 
erklärt,  ein  operativer  Eingriff  sei  »absolut  notwendig, 
da  das  Leben  des  Kindes  in  Gefahr  schwebe«.  Aber 
aus  Mißtrauen  gegen  die  Ärzte  hätten  die  Eltern  die 
Einwilligung  zur  Operation  verweigert,  und  als  sie 
nach  einem  Monat  mit  dem  sterbenden  Kind  wieder- 
kamen, um  jetzt  endlich  der  Operation  zuzustimmen, 
sei  es  zu  spät  gewesen.  Das  Kind  ward  operiert,  aber 
es  starb  am  selbigen  Tage.  Das  mag  gruseligen 
Zeitungslesern  gar  rührsam  zu  hören  sein.  Aber  mit 
Empörung  müßte  der  Menschenfreund  feststellen,  daß 
sich,  wenn  die  Erzählung  wahr  ist,  die  Ärzte  einer 
unerhörten  Pflichtverletzung  schuldig  gemacht  haben. 
Denn  sie  durften,  als  sie  vor  einem  Monat  den 
lebensgefährlichen  Zustand  des  Kindes  und  die  Not- 
wendigkeit einer  Operation  erkannten,  die  unver- 
nünftigen Eltern  nicht  einfach  mit  ihrer  Ärztefurcht 
und  deren  minderjährigem  Opfer  davonziehen  lassen, 
um  selbst  sich  vielleicht  von  der  Klinik  weg  in  einen 
Ärzteverein  zu  begeben  und  einen  Protest  gegen  die 
Landtagsmajorität  mitzubeschließen.  Wir  haben  ein 
Strafgesetz,    dessen  §  360   lautet:     »Wenn   dargetan 


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wird,  daß  diejenigen,  denen  aus  natürlicher  oder 
übernommener  Pflicht  die  Pflege  eines  Kranken  ob- 
liegt, es  demselben  an  dem  notwendigen  medizinischen 
Beistande,  wo  solcher  zu  verschaffen  war,  gänzlich 
haben  mangeln  lassen,  sind  sie  einer  Übertretung 
schuldig,  und  nach  Beschaffenheit  der  Umstände  mit 
Arrest  von  einem  bis  zu  sechs  Monaten  zu  bestrafen<. 
Jedem  Arzt  muß  dieser  Paragraph  bekannt  sein,  und 
ebenso  ist  es  gewiß,  daß  Eltern,  die  mit  ihrem  Kind 
den  Arzt  aufsuchen,  es  dem  Kinde  »an  dem  not- 
wendigen medizinischen  Beistand  mangeln  lassen«, 
wenn  sie  dem  Arzt  die  Hilfeleistung,  die  er  uner- 
läßlich findet,  verwehren.  War  es  also  den  Ärzten 
nicht  gelungen,  die  Zustimmung  der  Eltern  zur  Ope- 
ration zu  erlangen  —  wobei  sie  überdies  den  Eltern 
eindringlich  erklären  mußten,  daß  sie  sich,  falls  das 
Kind  stürbe,  des  mit  strengem  Arrest  bis  zu 
einem  Jahr  strafbaren  Vergehens  gegen  die  Sicher- 
heit des  Lebens  schuldig  machten  — ,  dann  mußte 
unverzüglich  eine  Strafanzeige  erstattet  werden. 
Frevelhafter  Leichtsinn  ist  es,  wenn  Ärzte  durch 
diese  Anzeige  wegen  einer  Übertretung  ver- 
hüten konnten,  daß  die  Eltern  des  schwereren  Ver- 
gehens schuldig  würden,  und  es  nicht  verhütet  haben. 
Droht  wirklich  die  Unvernunft,  deren  Ausschreitun- 
gen wir  im  Landtag  erlebt  haben,  das  Wirken  der 
>\rzte  und  das  Wohl  der  Patienten  zu  schädigen,  dann 
dürfen  die  Ärzte  nicht  mit  Protesten  und  Vorstellun- 
gen beim  Minister  ihre  Pflicht  getan  zu  haben  glau- 
ben. Wenn  sie  ihr  eigenes  Recht  finden  wollen,  müs- 
sen sie  vor  allem  dazu  helfen,  die  im  Strafgesetz  ver- 
bürgten Rechte  der  Hilflosen  zu  schützen.  Die  Kin- 
der wenigstens  sollen  davor  bewahrt  bleiben,  daß  die 
Kindischen  mit  ihrer  Gesundheit  und  ihrem  Leben 
spielen.  J.  P. 


—  9  — 

Ich  erhalte  die  folgende  Zuschrift: 
»Die  Moral«,  so  stand  neulich  in  der  ,Fackel', 
»ist  offenbar  aufs  beste  gewahrt,  wenn  die  Furcht 
der  Gatten,  Kinder  zu  zeugen,  und  die  Furcht  der 
Gattinnen,  Kinder  zu  gebären,  nicht  zur  Abtreibung 
der  Leibesfrucht,  sondern  bloß  zu  einer  unnatürlichen 
Enthaltsamkeit  führt,  welche  die  Ehen  zerrüttet,  und 
zu  höchst  legitimen  ehelichen  Schweinereien«.  Das 
scheint  ohne  alle  Ironie  die  Meinung  des  geltenden 
Strafrechts  zu  sein.  Und  ein  guter  Moralist  braucht 
bloß  ein  schlechter  Kriminalist  zu  sein,  um  auf  den 
Gedanken  zu  kommen,  man  müsse  nicht  sowohl  die 
Unmoral  der  Fruchtabtreibung  von  dem  Delikts- 
charakter befreien,  als  vielmehr  der  andern  Unmoral, 
welche  die  Empfängnis  verhütet,  den  Deliktscharakter 
aufprägen.  Solch  ein  guter  Moralist  und  schlechter 
Kriminalist  ist  beispielsweise  der  Verfasser  des 
Schweizer  Strafgesetzentwurfs;  es  ist  bekannt,  daß 
er  den  Hütern  der  Gesetze  Spionierdienste  an  den 
Türen  ehelicher  Schlafzimmer  zugemutet  hat  und  der 
Meinung  ist,  der  Staat  müsse  den  Leuten,  die  ihn 
um  den  von  der  Ehe  zu  erwartenden  Bevölkerungs- 
zuwachs prellen,  wenigstens  das  Vergnügen  stören. 
Aber  gegen  die  Unterlassung  des  ehelichen  Ver- 
kehrs kann  auch  Herr  Professor  Stooß  kein  straf- 
rechtliches Mittel  ausfindig  machen.  Und  weil 
infolge  dessen  die  Verhütung  der  Empfängnis  auch 
in  dem  von  den  sorgsamsten  Kriminalisten  be- 
schützten Staate  immer  möglich  sein  wird,  scheint 
die  Frage  von  unwiderstehHcher  Logik:  Wenn  es 
keine  Pflicht  des  Zeugens  und  Gebarens  gibt  und 
wenn  man  nicht  etwa,  sobald  eine  Empfängnis  erfolgt 
ist,  statt  körperlicher  und  sozialer  Hygiene  Theologie 
treiben  und  sich  in  einen  Streit  darüber  einlassen 
will,  ob  durch  die  Vernichtung  des  Keims  nicht  eine 
Seele  zerstört  werde,  —  was  anderes  hat  dann  das 
Verbot  der  Fruchtabtreibung  zum  Zweck,  als  die 
Gesundheit  der  Mutter  zu  schützen?  Strafbar  müßte 


—  10  — 


die  Vernichtung  des  keimenden  Lebens  immer  bleiben, 
wo  die  Gesundheit  der  Mutter  bedroht  wird.  Doch 
ist  es  unsinnig,  solches  für  ein  Delikt  eigener  Art 
zu  halten  und  nicht  für  einen  Fall  von  Kurpfuscherei, 
von  unbefugtem  ärztlichem  Eingriff,  der  gleich  an- 
deren zu  verfolgen  ist.  Dem  Arzte  aber  müßte,  wenn 
die  Mutter  sie  wünscht,  die  Abtreibung  der  Leibes- 
frucht so  gut  wie  irgendwelche  Eingriff  gestattet 
sein,  natürlich  unter  der  Verantwortlichkeit  für  Polgen, 
die  auf  einen  begangenen  Kunstfehler  schließen  lassen. 
Vor  jeder  Operation  wird  eine  Indikation  gestellt; 
bei  der  Fruchtabtreibung  wäre  sie  besonders  verant- 
wortungsvoll, aber  keineswegs  schwieriger  als  sonst. 
So  steht  es  indes  mit  der  Frage  der  Frucht- 
abtreibung gegenwärtig  nicht,  daß  Moral  oder  gar 
Logik  den  Standpunkt  des  Staates  bestimmten.  Der 
Staat  will  ganz  einfach  Nachwuchs  haben.  Und  wenn 
er  schon  bei  uns  die  unehelichen  Geburten,  so  sehr 
er  sich  ihrer  freuen  mag,  nicht  zu  vermehren  bemüht 
ist  —  wie's  Frankreich  einst  durch  das  Verbot,  der 
Vaterschaft  nachzuforschen,  tat  — ,  will  er  sich  doch 
wenigstens  die  ehelichen  Geburten  nicht  vermindern 
lassen.  Ohnmächtig  ist  er  freilich  gegenüber  einem 
Einverständnis  der  Ehegatten,  welche  einem  Einkind- 
oder höchstens  Zweikinder-System  anhangen.  Wie 
aber  Ohnmacht  zumeist  zur  Schadenfreude  zu  führen 
pflegt,  so  ist  es  für  den  Staat  allemal  ein  rechtes 
Gaudium,  wenn  den  einverständlichen  Gatten  ein 
Malheur  passiert.  Jahre  lang  hat's  keine  Kinder  mehr 
gegeben,  die  Leutchen  haben  sich  in  Sicherheit  ge- 
wiegt, aber  eines  Tages  —  nach  einer  Nacht,  in  der 
nichts  anderes  als  sonst  geschah  —  muß  die  Frau  dem 
Mann  jenes  Geständnis  machen,  welches  herkömm- 
licherweise süß  genannt  wird.  In  diesem  Augenblick 
glaubt  man,  der  Staat  sei  eine  Person  und  man  höre 
ihn  vor  der  Türe  kichern:  Hab'  ich  euch  endlich? 
Diese  Augenblicke  sind  es,  für  die  der  Staat  das 
Verbot,    das   keimende   Leben    zu   zerstören,    aufge- 


—  11  — 

richtet  hält.  Denn  in  unserer  Zeit,  der  die  alte  Ord- 
nung zerfallen  ist  und  die  sich  eine  neue,  soziale 
nicht  zu  zimmern  vermag,  müßte  die  Unerträglich- 
keit  des  Lebens  —  die  psychische  gleich  der  physi- 
schen und  materiellen  —  immer  neue  Tausende  zu 
dem  Entschluß  führen,  was  ungerufen  und  unerwünscht 
ins  Leben  hereinschlüpfen  will,  um  jeden  Preis  fern- 
zuhalten, ihm  die  Tür  zuzuschlagen,  ehe  es  noch 
auf  der  Schwelle  Fuß  fassen  kann.  Aber  diesen  Ent- 
schluß entmutigt  das  Strafgesetz.  Seinen  Sinn  könnte 
der  Proletarier,  dem  die  Ehefrau  das  sechste  Kind 
ankündigt,  etwa  in  den  Worten  fassen:  Die  Un- 
gelegenheiten  der  Armen  bedeuten  für  den  Staat  die 
guten  Gelegenheiten  der  Armee. 


Ker  Dieb  von  Abbazia  hat,  so  schreibt  mir  ein 
Kriminalist,  jetzt  im  Gefängnis  dritthalb  Jahre  Zeit, 
darüber  nachzudenken,  wofür  er  eigentlich  dritthalb 
Jahre  Gefängnis  bekommen  hat.  Betrug  der  Wert  der 
Juwelen,  die  er  dem  Erzherzog  Ludwig  Viktor  ge- 
stohlen hat,  mehr  als  dreihundert  Gulden,  so  ist's,  weil 
kein  Milderungsgrund  vorlag,  zu  wenig.  War  aber  der 
Schaden  geringer,  so  ist's  zu  viel:  Sechs  Monate  bis  zu 
einem  Jahr,  könnte  der  Dieb  meinen,  hätten  nach  §  178 
des  Strafgesetzes  genügt.  Denn  der  Diebstahl  war  zwar, 
weil  er  mehr  als  fünfundzwanzig  Gulden  ausmachte,  ein 
Verbrechen,  aber  »nicht  weiter  beschwert«.  Wo  indes  das 
Rechtswissen  keine  Auskunft  gibt,  findet  das  Kechtsgefühl 
eines  Kichters  in  Österreich  noch  immer  einen  Ausweg.  Hätte 
man  denn  einen  Menschen,  der  einen  Erzherzog  bestiehlt, 
vielleicht  als  ganz  gewöhnlichen  Dieb  behandeln 
sollen? "Ungewöhnliche  Umstände  werden  einem  strebsamen 
Juristen  leicht  als  erschwerende  erscheinen,  und  wenn  ein 
Diebstahl  auch  bei  geringerem  Betrag  »durch  die  Eigenschaft 
des  Täters«  —  §  176  St.-G.  —  zum  Verbrechen  wird, 
so  ist  es  durchaus  plausibel,   daß  er  bei  höherem,  wenn- 


—  12  — 

gleich  dreihundert  Grulden  nicht  überschreitenden  Betrag 
durch  die  Eigenschaft  dessen,  an  dem  er  verübt  wird,  zu 
einem  Verbrechen  unter  erschwerenden  Umständen  werden 
kann  und  mit  einem  bis  zu  fünf  Jahren  zu  bestrafen  ist.  Daß 
unter  den  erschwerenden  Umständen,  welche  das  Gesetz 
aufzählt,  ein  solcher  sich  nicht  findet,  ist  wahr  und  konnte 
den  Eichter  wankend  machen.  Doch  kennt  das  Strafgesetz 
hinwieder  den  Fall,  daß  ein  läßliches  Vergehen,  wenn  es 
an  einem  Erzherzog  begangen  wird,  sich  als  Verbrechen 
qualifiziert.  Und  die  Analogie  des  §  64  drängte  sich  dem 
Kichter  unwiderstehlich  auf;  da  es  ein  bis  fünf  Jahre 
Kerker  kostet,  einem  Mitglied  des  kaiserlichen  Hauses 
zu  nahe  zu  treten,  sollte  man  denken,  daß,  wer  sich  gar 
in  die  Badekabine  eines  Erzherzogs  drängt,  nicht  leichteren 
Kaufs  davon  kommen  dürfe.  Also  überlegte  der  Richter, 
und  dem  Dieb  in  Abbazia  ist  recht  geschehen  . . .  Noch  gibt 
es  zwar  keinen  Paragraphen,  der  den  Diebstahl  an 
einem  Mitglied  des  kaiserlichen  Hauses  besonders  ahndet. 
Wenn  aber  der  Erzherzog  Ludwig  Viktor  so  leutselig  ist, 
sich  in  das  Gedränge  eines  öffentlichen  Herrenbades  zu 
begeben,  so  sind  so  ungewöhnliche  Umstände  gewiß  — 
erschwerende.  Die  Strafgesetzreformatoren  mögen  ersehen, 
wie  notwendig  es  ist*  neue  Diebstahlsparagraphe  zu  schaffen. 
Dafür  gibt  es  ja  wieder  andere,  die  sie  aufheben  könnten  . . . 


Qeheimrat  Riedler  hat  richtig  abgesagt.  Und 
dem  Unterrichtsministerium  vv^ar  es  doch  diesmal 
ernstlich  darum  zu  tun  gewesen,  eine  hervorragende 
Kraft  für  die  Wiener  Technik  zu  gevs^innen.  Was 
hat  man  Riedler  nicht  alles  versprochen !  Aber  auch 
an  Taten  hat  es  nicht  gefehlt.  Damit  man  den  neuen 
Lehrer  w^ürdig  empfangen  könne,  scheute  mCn  sogar 
Ausgaben  nicht,  und  die  Zeichensäle  der  Maschinen- 
bau-Abteilung w^urden  frisch  angestrichen.  Dennoch 
bleibt  Riedler  in  Berlin-Charlottenburg,  und  in  Wien 
gibt  man,   seitdem  man  sich   vom   ersten   Schrecken 


13 


erholt  hat,  zu,  es  sei  eigentlich  von  allem  Anfang 
recht  unwahrscheinlich  gewesen,  daß  der  erste  Mann 
der  ersten  technischen  Hochschule  Deutschlands  sich 
zur  Übersiedlung  nach  Österreich  bereit  finden  werde. 
Müssen  wir  also  für  alle  Zukunft  darauf  verzichten, 
Männer  solchen  Ranges  an  die  Wiener  Technik  heran- 
zuziehen? Gewiß,  wenn  das  nur  vom  Unterrichts- 
ministerium abhängig  bleibt.  Denn  auch  ein  Unter- 
richtsminister, der  so  fähig  wäre,  wie  Herr  v.  Hartel 
unfähig  ist,  könnte  Deutschlands  Anziehungskraft  für 
große  Techniker  nicht  verringern,  und  Österreichs 
Anziehungskraft  für  große  Techniker  zu  vermehren, 
vermögen  bloß  die  österreichischen  Industriellen.  Will 
man  für  Wien  einen  hervorragenden  Lehrer  des 
Maschinenbaus  finden,  so  hätte  man  ihn  auf  die 
folgende  Art  zu  suchen:  Die  österreichischen 
Maschinenbau-Unternehmungen  müßten  sich  mit  dem 
Unterrichtsrainister  über  die  Berufung  und  mit  dem 
Berufenen  über  die  Bedingungen  der  Annahme  einigen. 
Sie  müßten  dem  Mann,  dem  man  zumutet,,  auf  ein 
großes  Einkommen  in  Deutschland  und  auf  gewinn- 
reiche Beziehungen  zur  deutschen  Industrie  zu  ver- 
zichten, aus  eigenen  Mitteln  ein  hohes  festes  Gehalt 
garantieren  und  ihm  für  die  Verwertung  seiner  Ar- 
beiten Verträge  anbieten,  die  der  geistigen  Leistung 
gerechten  Lohn  sichern.  Was  jeder  außer  Herrn  v. 
Hartel  für  die  medizinische  Fakultät  in  Wien  —  weil 
Wien  eine  reiche  Praxis  gibt  —  zustandebrächte,  ihr 
Lehrer  von  Weltruf  anzuwerben,  das  kann  für  die 
Wiener  Technik  der  Unterrichtsminister  allein  nicht 
leisten.  Patriotische  Industrielle  würden  es  ermög- 
lichen. Aber  wir  haben,  scheint  es,  bloß  industrielle 
Patrioten.  j. 

•        • 
• 

Der  Pariser  Professor  d'Arsonval  hat  jüngst  auf  eine  An- 
frage des  ,Matin'  geantwortet,  er  brauche  zur  Fortsetzung  seiner 
Radiumforschungen   dreißigtausend    Francs,    »und   darauf«  —   so 


14 


berichtet  der  Pariser  Korrespondent  der  ,Zeit'  —  >hat  der  gene- 
röse ,Matin'  sogleich  in  den  eigenen  Beutel  gegriffen  und  die 
30.000  Franken  zu  beliebiger  Benützung  an  den  Akademiker 
überwiesen«.  In  edler  Entrüstung  ruft  der  Herr  von  der  ,Zeit' 
aus:  >So  wird  hier  Reklame  für  —  Zeitungen  gemacht!  Denn 
nur  auf  diese  Reklame  kam  es  dem  Blatte  an;  das  Radium  selbst 
ist  ihm  fürchterlich  gleichgiltig«.  Seien  wir  stolz:  In  Wien  gab 
es  niemals  ein  Blatt  gleich  dem  ,Matin',  der  um  der  Reklame 
willen  für  die  Radiumforschung  Opfer  bringt,  niemals  einen  ,New- 
York  Herald',  der  —  nur  zur  Reklame  —  einen  Stanley  auf  die 
Suche  nach  Livingstone  schickte.  Unsere  Zeitungen  machten  nie 
Reklame  für  sich  mit  den  Arbeiten  eines  Forschers,  den  sie  unter- 
stützten; sie  machten  nur  bisweilen  für  die  Arbeiten  eines  Forschers 
Reklame,  der  sie  unterstützte.  Bei  der  ,Zeit'  ist  auch  dies  unmög- 
lich. Sie  ist  ein  anständiges  Blatt  und  will  nicht  von  der  Korrup- 
tion, sondern  ausschließlich  von  der  Dummheit  leben.  Finden  sich 
Leute,  die  ihr  Geld  geben,  nicht  etwa,  um  irgend  etwas  dadurch 
zu  erreichen,  sondern  bloß  aus  Unverstand,  dann  ist  sie  zufrieden. 
Jede  ftlbstlose  Tat  wird  übrigens  belohnt:  Wer  für  die  , Zeit'  Geld 
hergibt,  erhält  statt  des  Titels  > Idiot«  den  viel  besser  klingenden 
> Kommanditist«.  Ob  der  ,Zeit'  aber  auf  die  Dauer  der  Beweis 
gelingen  wird,  daß  man  von  Kommanditisten  allein  leben  kann? 
Ursprünglich  hat  das  Programm  der  ,Zeit'  anders  gelautet:  sie 
wolle  von  den  Abonnements  leben.  Als  indes  einer  nach  dem 
andern  das  Abonnement  aufgab,  gab  auch  die  ,Zeit'  ihr  Programm 
auf.  Heute  wird  das  Blatt  Staatsbeamten,  Offizieren,  Lehrern, 
Bankbeamten  —  kurz,  fast  allen  Gebildeten,  die  es  bisher,  wie 
begreiflich,  nicht  geschenkt  nehmen  wollten,  für  einen  Gulden 
monatlich,  also  unter  dem  Selbstkostenpreise  geliefert.  Wächst 
dabei  das  Abonnement,  so  muß  auch  das  Defizit  wachsen,  und 
je  mehr  Leute  sich  bereit  finden,  mit  der  Lektüre  eines  sinn-  und 
saftlosen  Journals  die  Zeit  zu  verschwenden,  desto  mehr  haben 
die  Geldgeber  unter  der  ,Zeit'-Verschwendung  zu  leiden. 

.     .  + 

* 

In    der   liberalen  Versöhnungsära   des   Herrn  v. 
Koerber,  in  der  Friede  den  Menschen  auf  Erden  und 


15 


schon  wieder  einem  Pollak  der  Adel  gegeben  wurde, 
in  der  fortwährend  ausgeglichen,  überbrückt  und 
angenähert  wird,  bildet  vor  allem  ein  Problem  die 
Sorge  der  Regierenden:  die  »Annäherung«  des 
Richterstandes  und  des  x4.dvokateiistandes.  Die  Reform 
der  Geschwornenjustiz  ist  bereits  angebahnt:  im 
Schwurgerichtssaal  wurde  mit  feierlichem  Gepränge 
ein  neues  Bild  des  Kaisers  enthüllt.  »Im  Namen 
Seiner  Majestät  zu  Recht  erkannt«:  die  Bedeutung 
dieses  Satzes  wird,  wenn  auch  noch  das  Recht  ein 
wenig  renoviert  sein  wird,  mit  der  Zeit  voll  gewürdigt 
werden.  Aber  die  gewisse  »Annäherung«  macht  noch 
Schwierigkeiten.  Die  Richter  haben  sich  auch  in 
Österreich  bisher  ihre  Unabhängigkeit  zu  bewahren 
gewußt.  Ihre  außeramtliche  natürlich.  Ihr  Privat- 
leben brauchte  sich  von  obrigkeitlichen  Winken  nicht 
beeinflussen  zu  lassen.  Wo  sie  aßen,  tranken,  Feste 
feierten  —  was  ging  das  den  Justizminister  an?  Ab 
1904  soll  es  anders  werden.  Die  Advokatenkammer 
gibt  am  5.  Januar  eine  Sylvesterfeier,  und  »Seine 
-Exzellenz  wünscht«,  verkünden  Zirkulare,  daß  sich 
Euer  Wohlgeboren  an  ihr  beteiligen.  Die  »Verstän- 
digung« soll  angebahnt  werden.  Herr  v.  Koerber  glaubt 
nämlich,  daß  sich  Richter  und  Advokaten  bisher  wie 
Deutsche  und  Tschechen  gegenüberstanden.  In  Wahr- 
heit war  manchem  feinfühligen  Richter  die  Geduld 
gerissen,  wenn  eine  p'-ononcierte  Zierde  des  Barreaus 
sich  allzu  üppig  geberdete,  und  mancher  anständige 
Anwalt  war  aufgebraust,  wenn  ein  gemütsarmer  Ver- 
handlungsleiter das  Schicksal  des  Angeklagten  über 
-die  Schablone  seiner  Borniertheit  spannen  wollte. 
Anstatt  nun  endlich  im  Garten  der  Justiz  zu  jäten 
und  den  Disziplinarrat  der  Advokatenkammer  an 
:  seine  Pflicht  zu  mahnen,  kommandiert  man  die  Gegner 
zu  einem  gemeinschaftlichen  Souper,  das  so  nebenbei 
auch  die  durch  den  neuen  Zivilprozeß  in  ihren  Ex- 
pensenhoffnungen  getäuschten  Gemüter  beruhigen  soll. 
Einsichtige    Richter    und    anständige     Anwälte,    die 


151 


—  m  — 

keinen  Grund  zur  Versöhnung  haben,  wie  sie  keinen 
Grund  zur  Entzweiung  hatten,  sollen  sich  mit  den 
bedenklichen  Vertretern  des  andern  Standes  an  einen 
Tisch  setzen.  Sie  werden  sich's  hoffentlich  überlegen 
und  fernbleiben,  wenn  Blutdurst  und  Expensenhunger 
sich  zum  Mahle  vereinigen. 


,Neue  Freie  Presse' 
(Morgenblatt,  19.  Dezember): 

»Von  Universitätsprofessor 
Dr.  Eduard  Schiff  in  Wien  er- 
halten wir  folgende  Mitteilungen: 
Die  Methoden  der  signaletischen 
Photographie  oder  der  anthro- 
pometrischen  Messungen,  welche 
Alphonse  Bertillon  ausgebildet 
hat,  sind  bekannt.  Sie  werden 
zur  Wiedererkennung  rück- 
fälliger Verbrecher  verwendet. . . 
Früher  hat  man  bei  Personsbe- 
schreibungen auf  deutlich  sicht- 
bare Gebrechen,  Narben,  Ver- 
stümmlungen, Tätowierungen, 
Muttermäler,  auf  Nasen-  und 
Ohrenformen  und  andere  Äußer- 
lichkeiten Gewicht  gelegt. . .  In 
China  und  Indien  wurden  von 
altersher  . . .  die  Abdrücke  des 
feinsten  Reliefs  der  Fingerhaut 
signaletisch  verwendet ; . . .  Ber- 
ti Hon 's  System  basiertauf  genauen 
Messungen  von  Individuen,  deren 
Körperwachstum  bereits  abge- 
schlossen ist.  Es  werden  vorge- 
nommen :  erstens  Körpermes- 
sungen, Körpergröße,  Spann- 
weite, Sitzhöhe;  zweitens  Mes- 
sungen am  Kopfe,  Länge  und 
Breite  des  Kopfes,  Länge  und 
Breite  des  Ohres;  drittens  Mes- 
sungen an  Gliedern  der  linken 
Körperseite,    Fuß,    Mittelfinger, 


Brockhaus'  Konversations- 

Lexikon. 
(Supplement-Band  17,  1897): 

>Bertillonsystem  oder 
Bertillonage,  die  von  dem  Fran- 
zosen Alphonse  Bertillon  zu  be- 
wunderungswürdiger Exaktheit 
ausgebildete  Methode,  anthro- 
pometrische  Messungen  zur  Wie- 
dererkennung (Identifikation) 
rückfälliger  Verbrecher  zu  ver- 
werten. Während  man  früher  vor- 
züglich auf  Gebrechen,  Narben, 
Verstümmlungen,  Muttermäler, 
Tätowierungen,  Komplexion, 
Nasen-  und  Ohren  formen,  in 
China  und  Indien  auf  Abdrücke 
der  Tastleisten  der  Tastballen 
der  letzten  Fingerglieder  u.  a. 
den  Hauplwert  legte,  treten  diese 
besondernMerkmale  nun  in  zweite 
Linie.  Bertillons  System  basiert 
auf  genauen  Messungen,  bei 
denen  die  linke  Körperhälfte  als 
die  konstantere  im  allgemeinen 
bevorzugt  wird.  Dieser  Methode 
kommt  zustatten  die  fast  absolute 
Unveränderlichkeit  des  mensch- 
lichen Knochengerüstes  vom 
20.  Lebensjahre  an  .  .  .  Nach 
dem    B.   werden  vorgenommen 

1.  Körpermessungen :     Körper- 
größe,   Spannweite,     Sitzhöhe; 

2.  Messungen  am  Kopfe:  Länge 
und  Breite  des  Kopfes,  Länge  und 


17  — 


kleiner  Finger,  Vorderarm ;  vier- 
tens wird  die  Farbe  der  Regen- 
bogenhaut (Iris)  nach  einer  Skala 
bestimmt.  Diese  Daten  werden 
auf  einer  Photographie,  respek- 
tive auf  einem  Zählblatte  ver- 
zeichnet, und  die  Blätter  nach 
einem  bestimmten  System  ge- 
ordnet. Die  Bertillonage  ist  der- 
zeit in  allen  Kulturstaaten  ein- 
geführt. In  Paris  wurden  nach 
diesem  System  identifiziert:  1883 
49,  1884  241,  1885  425,  1886 
356,  1887  487,  1888  550,  1890 
614,  1891  600  und  1892  680 
Menschen.« 


Breite  des  rechten  Ohrs;  3.  Mes- 
sungen an  Gliedern  der  linken 
Körperseite:  Fuß,  Mittelfinger, 
kleiner  Finger,  Vorderarm;  4. 
wird  die  Farbe  der  Regenbogen- 
haut des  Auges  (in  sieben  Stufen) 
festgestellt.  Die  gewonnenen 
Zahlen  werden  auf  die  Photo- 
graphie oder,  da  sich  diese  als 
entbehrlich  erwiesen,  auf  ein 
Zählblatt  . . .  verzeichnet.  Das 
wichtigste  an  Bertillons  System  ist 
dieOrdnung  dieser  Zählkarten. . . 
Seit  seiner  Einführung  wurden 
in  Paris  nach  dem  B.  iden- 
tifiziert: 1883:  49,  1884:  241, 
1885  :  425, 1886  :  356,  1887  :  487, 
1888  :  550,  1890  :  614,  1891  :  600, 
1892  :  680,  im  ganzen  4564  Ver- 
brecher.« 

Universitätsprofessor  Dr.  Eduard  Schiff  ist  nicht  Professor 
der  Statistik;  er  hätte  sich  sonst  gewiß  bemüht,  die  Lücken  aus- 
zufüllen, die  unser  Wissen  von  den  Erfolgen  der  Bertillonage  aufweist, 
weil  der  Artikel  des  1897  erschienenen  Lexikonbandes  über  das 
Jahr  1892  hinaus  keine  Angaben  liefert  und  die  Zahl  der  im  Jahre 
1889  Bertillonierten  durch  ein  Übersehen  ausgefallen  ist.  Aber 
Universitätsprofessor  Dr.  Eduard  Schiff  ist  wohl,  so  vermutet  der 
Laie,  von  Beruf  Stil  verbesserer  und  bemüht  sich,  das  im  Konver- 
sationslexikon niedergelegte  Wissen  der  Menschheit  um  stilistische 
Veränderungen  zu  bereichern?  Die  ,Neue  Freie  Presse'  hat  indes 
wiederholt  versichert,  der  Herr  sei  Dermatologe,  und  er  gibt  sich 
selbst  neuestens  für  einen  Röntgenstrahlenforscher  aus,  beschuldigt 
in  der  Fortsetzung  eben  jener  Zuschrift  an  die  ,Neue  Freie  Presse' 
französische  Ärzte,  welche  die  Radiographie  der  Bertillonage  dienstbar 
gemacht  haben,  eines  an  ihm  begangenen  Plagiats  und  erklärt, 
es  wäre  ihm  lieber  gewesen,  »wenn  die  Röntgenstrahlen  als  Art  icle 
de  Vienne  in  die  forensische  Medizin  eingeführt  worden  wären«, 
anstatt  als  Article  de  Paris.  So  streng  richtet  der  Herr  die  Benützung 
fremden  geistigen  Eigentums,  während  er  selbst  einen  Article  de 
Brockhaus  den  Zeitungslesern  als  Original- Article  de  Schiff  aufbindet. 

X 


—  18  — 

Dm  Bildnis  Dorlan  Grajr's. 

(Zum  Bildnis  des  Friedrich  Schütz.) 

In  jenem  Blatte,  dessen  Inseratenspalten  der 
Anpreisung  jeglicher  Perversität  geöffnet  sind  und 
dessen  Eigentümer  notorischer  Weise  auch  aus  der 
Vermittlung  päderastischen  Verkehrs  Gewinn  ziehen, 
ist,  wie  man  weiß,  ein  gewisser  P.  Seh.  in  sitt- 
licher Entrüstung  über  Oscar  Wilde  entbrannt.  Sein 
literarisches  Verdammungsurteil,  das  vor  allem  den 
Dichter  der  »Salome«  traf,  ließ  er  mit  Beziehung 
auf  Wilde's  Roman  »Das  Bildnis  Dorian  Gray's«  in 
den  Worten  gipfeln:  »OfiFenbarungen  von  der  albern- 
sten Banalität«.  Zwei  davon  möchte  ich  hier  —  in 
der  trefflichen  Verdeutschung  Felix  Paul  Greve's 
(J.  C.  C.  Bruns'  Verlag  in  Minden);  vor  der  andern 
Ausgabe  warne  ich  —  zitieren.  Die  erste  ist  eine  Rede 
über  den  Wert  der  Jugend,  der  ich  an  ergreifender 
Wirkung  höchstens  die  berühmte  szenische  Gestaltung 
des  gleichen  Motivs  bei  Ferdinand  Raimund  an  die 
Seite  stellen  könnte.  Lord  Henry  zieht  den  schöne  Dorian 
Gray,  daß  ihm  die  Sonne  nicht  den  Teint  verbrenne, 
in  den  Schatten  des  Gartens.  »Was  liegt  daran?«  ruft 
der  Jüngling  lachend.  »Ihnen  sollte  alles  daran  liegen, 
Mr.  Gray.«  »Und  warum?«  »Weil  Sie  wundervoll 
jung  sind;  und  die  Jugend  der  einzige  wertvolle 
Besitz  ist«.  Auf  die  Bemerkung  »Ich  finde  das  nicht, 
Lord  Henry«,  antwortet  dieser: 

»O  nein,  jetzt  nicht.  Aber  eines  Tages,  wenn  Sie  alt  und 
runzlich  und  häßlich  geworden  sind,  wenn  der  Gedanke  Ihre  Stirn 
mit  seinen  Furchen  gezeichnet,  und  die  Leidenschaft  Ihre  Lippen 
mit  häßlichen  Flammen  verzehrt  hat,  dann  werden  Sie  es  empfinden, 
und  Sie  werden  es  furchtbar  empfinden.  Jetzt  mögen  Sie  gehen, 
wohin  Sie  wollen  -  Sie  bezaubern  die  Welt.  Wird  das  so  bleiben  ? 
—  Sie  sind  von  wundervoller  Schönheit,  Mr.  Gray.  Runzeln  Sie 
nicht  die  Stirn!  Es  ist  wahr.  Und  Schönheit  ist  eine  Form  des 
Genius  —  Schönheit  ist  mehr  als  Genius,  denn  sie  bedarf  keiner 
Erklärung.  Sie  gehört  zu  den  großen  Tatsachen  der  Welt,  wie  die 
Sonne,   wie  der  Frühling   oder   der   Widerschein   jener  silbernen 


—  19  — 

Sichel  des  Mondes  in  dunklen  Wassern.  Sie  läßt  sich  nicht  an- 
fechten. Sie  hat  ein  göttliches  Recht  auf  die  Herrschaft.  Sie  macht 
zu  Fürsten,  die  sie  besitzen.  —  Sie  lächeln.  O,  wenn  Sie  sie  einst 
verloren  haben,  werden  Sie  nicht  mehr  lächeln . . .  Die  Menschen 
sagen  wohl,  die  Schönheit  gehöre  der  Oberfläche.  Mag  sein.  Aber 
der  Gedanke  gehört  ihr  noch  mehr.  Für  mich  ist  die  Schönheit 
das  Wunder  der  Wunder.  Nur  Flachköpfe  urteilen  nicht  nach  dem 
Schein.  Das  wahre  Geheimnis  der  Welt  liegt  im  Sichtbaren,  nicht 
im  Unsichtbaren  ...  Ja,  Mr.  Gray,  Ihnen  waren  die  Götter  gnädig. 
Aber  was  die  Götter  geben,  das  nehmen  sie  bald  zurück.  Sie  haben 
nur  wenige  Jahre,  um  wirklich,  vollkommen  und  ganz  zu  leben. 
Wenn  Ihre  Jugend  dahingeht,  dann  wird  auch  Ihre  Schönheit 
schwinden,  und  plötzlich  werden  Sie  entdecken,  daß  keine  Triumphe 
mehr  Ihrer  harren;  oder  Sie  müssen  mit  jenen  niedrigen  Siegen 
zufrieden  sein,  die  das  Gedächtnis  Ihrer  Vergangenheit  bitterer 
machen  wird  als  Niederlagen.  Jeder  schwindende  Mond  führt  Sie 
einem  schrecklichen  Etwas  näher.  Die  Zeit  beneidet  Sie  und 
bestürmt  Ihre  Lilien  und  Rosen.  Sie  werden  bleich  werden  und 
hohlwangig  und  stumpfen  Blickes.  Sie  werden  schrecklich  zu  leiden 
haben ...  O,  nutzen  Sie  Ihre  Jugend,  solange  sie  da  ist.  Ver- 
schwenden Sie  nicht  das  Gold  Ihrer  Tage;  hören  Sie  nicht  auf  die 
Langweiligen,  leihen  Sie  nicht  Ihre  Hilfe  den  doch  Verlorenen; 
werfen  Sie  Ihr  Leben  nicht  fort  für  die  Toren,  die  Vielen,  die 
Niedrigen.  Das  Alles  sind  kranke  Ziele,  falsche  Ideale  unserer  Zeit. 
Leben  Sie !  Leben  Sie  das  Leben  voll  Wunder,  das  in  Ihnen  ruht ! 
Lassen  Sie  nichts  sich  entgehen.  Suchen  Sie  stets  nach  neuen 
Empfindungen.  Fürchten  Sie  nichts . . .  Ein  neuer  Hedonismus,  das 
ist  es,  was  unser  Jahrhundert  braucht.  Sie  könnten  sein  sichtbares 
:  Symbol  sein.  Mit  Ihrer  Persönlichkeit  können  Sie  alles  tun.  Die 
'  Welt  gehört  Ihnen  —  einen  Frühling  lang  .  .  .  Den  Moment,  da 
'  ich  Sie  traf,  sah  ich,  daß  Sie  nichts  davon  wußten,  wer  Sie  eigentlich 
sind,  wer  Sie  sein  könnten.  Ich  sah  so  viel  in  Ihnen,  was  mich 
I  bezauberte,  daß  ich  gezwungen  war,  Ihnen  etwas  von  Ihnen  zu 
'  erzählen.  Der  Gedanke  kam  mir,  wie  traurig  es  wäre,  wenn  Sie 
verschwendet  würden.  Denn  nur  so  kurze  Zeit  wird  Ihre  Jugend 
dauern  —  nur  so  kurze  Zeit!  Die  Menge  der  Feldblumen  welkt, 
aber  sie  blühen  wieder.  Die  Blüten  der  Bohne  sind  ebenso  gold- 
\  gelb  im  nächsten  Juni  wie  heute.    In  wenigen  Wochen  werden 


—  20  — 

purpurne  Sterne  auf  der  Klematis  schweben,  und  Jahr  nach  Jahr 
wird  die  grüne  Nacht  ihrer  Blätter  die  purpurnen  Sterne  bergen. 
Aber  uns  kehrt  niemals  die  Jugend  zurück.  Der  Pulsschlag  der 
Freude,  der  uns  mit  Zwanzig  durchzuckt,  wird  matt  und  träge. 
Unsere  Glieder  werden  schwer,  unsere  Sinne  entschwinden.  Wir 
entarten  zu  scheußlichen  Gliederpuppen,  in  denen  nur  ein 
Gedächtnis  spukt,  das  Gedächtnis  der  Leidenschaften,  vor  denen 
wir  in  Furcht  zurückbebten,  und  das  Gedächtnis  der  Versuchungen, 
denen  nachzugeben  wir  den  Mut  nicht  fanden.  Jugend!  Jugend! 
Es  gibt  nichts  in  der  Welt  außer  der  Jugend  !< 

Später  nimmt  Dorian  den  Gedanken  auf: 
>Ja,  Lord  Henry  prophezeite  richtig;  ein  neuer  Hedonismus 
mußte  kommen,  der  das  Leben  neu  schaffen  und  es  vor  jenem 
strengen,  unschönen  Puritanertum  schützen  sollte,  das  in  unseren 
Tagen  seine  furchtbare  Auferstehung  feierte.  Gewiß  sollte  er  seinen 
Kultus  des  Intellekts  erhalten;  aber  niemals  sollte  er  eine  Theorie 
oder  ein  System  annehmen,  das  in  sich  das  Opfer  -irgend  einer 
Erfahrung  der  Leidenschaft  einschlösse.  Sein  Ziel  sollte  die  Er- 
fahrung sein,  nicht  die  Früchte  der  Erfahrung,  mögen  sie  süß 
oder  bitter  sein.  Er  sollte  nichts  wissen  vom  Asketismus,  der  die 
Sinne  tötet,  noch  auch  von  der  gemeinen  Verworfenheit,  die  sie 
abstumpft.  Er  sollte  den  Menschen  lehren,  sich  auf  die  Momente 
des  Lebens,  das  selbst  nur  ein  Moment  ist,  zu  konzentrieren.  — 
Wohl  wenige  von  uns  haben  noch  nie  vor  Sonnenaufgang 
gewacht,  sei  es  nach  einer  jener  traumlosen  Nächte,  die  uns  fast 
in  den  Tod  verliebt  machen,  sei  es  nach  einer  jener  Nächte  des 
Schreckens  und  mißgestalteter  Freude,  wenn  durch  die  Kammern 
des  Gehirns  Phantome  schweben,  schrecklicher  noch  als  die  Wirk- 
lichkeit und  belebt  von  jenem  lebendigen  Leben,  das  in  allem 
Grotesken  schlummert  und  das  auch  der  Gothik  seine  dauernde  : 
Lebenskraft  leiht;  denn  diese  Kunst,  möchte  man  meinen,  ist  ins- 
besondere die  Kunst  derer,  deren  Seelen  von  der  Krankheit  des 
Traumes  getrübt  sind.  Mählich  schleichen  weiße  Finger  durch  die  } 
Vorhänge,  und  sie  scheinen  zu  zittern.  Als  schwarze,  phantastische  r 
Gestalten  kriechen  Schatten  in  die  Winkel  der  Zimmer  und  lagern  ■ 
sich  dort.  Draußen  regt  sich  das  Rascheln  der  Vögel  im  Laube 
oder  die  Schritte  der  Menschen,  die  an  ihr  Werk  gehen,  oder  das  1 
Seufzen  und  Stöhnen  des  Windes,  der  von  den  Hügeln  hernieder- 


—  21  — 

kommt  und  um  das  schweigende  Haus  wandert,  als  fürchte  er,  den 
Schläfer  zu  wecken^  und  müsse  doch  den  Schlaf  aus  seiner  pur- 
purnen Höhle  rufen.  Schleier  nach  Schleier  aus  dünner,  dämmriger 
Gaze  hebt  sich,  und  nach  und  nach  kommen  Formen  und  Farben 
den  Dingen  zurück,  und  wir  sehen,  wie  der  nahende  Tag  der  Welt 
ihr  altes  Gesicht  zurückgibt.  Die  blassen  Spiegel  erhalten  wieder 
ihr  nachbildendes  Leben.  Die  flammenlosen  Kerzen  stehen,  wo  wir 
sie  ließen,  und  neben  ihnen  liegt  das  halbgeöffnete  Buch,  in  dem 
wir  lasen,  oder  die  drahtumflochtene  Blume,  die  wir  beim  Tanze 
trugen,  oder  der  Brief,  den  zu  lesen  wir  fürchteten  oder  zu  oft 
gelesen  hatten.  Nichts  scheint  uns  verändert.  Aus  den  unwirklichen 
Schatten  der  Nacht  steigt  das  wirkliche  Leben,  das  wir  kannten. 
Wir  müssen  es  aufnehmeUj  wo  wir  es  fallen  ließen,  und  ein 
furchtbares  Gefühl  beschleicht  uns  —  das  Gefühl  der  Not- 
wendigkeit, ewig  in  demselben  ermüdenden  Kreise 
festgestellter  Gewohnheiten  unsere  Kraft  zu  ver- 
brauchen, oder  vielleicht  auch  ein  wildes  Sehnen 
kommt  uns  an,  unsere  Augen  möchten  einmal  des 
iVIorgens  über  einer  Welt  sich  öffnen,  die  in  der 
Dunkelheit  neu  zu  unserer  Freude  geschaffen  wäre, 
einer  Welt,  in  der  die  Dinge  neue  Gestalten  und  Farben  hätten 
und  verwandelt  wären  oder  neue  Geheimnisse  bärgen,  einer  Welt, 
in  der  das  Vergangene  keinen  oder  geringen  Platz  einnähme  oder 
doch  in  keiner  bewußten  Form  der  Verpflichtung  oder  der  Reue 
fortlebte;  denn  selbst  die  Erinnerung  an  die  Freude  hat  ihre 
Bitterkeit,  die  Erinnerung  an  den  Genuß  ihren  Schmerz.« 

Hundert  dichterische,  tiefe  und  geisterfüllte  Worte 
ließen  sich  aus  diesem  Buch  zitieren.  Was  aber  be- 
deuten sie  einem  F.  Seh.,  der  durch  das  eine  (auf 
Seite  87)  so  gründUch  verstimmt  wurde?: 

>Dann  fragte  er,  ob  ich  für  irgend  eine  Zeitung  schriebe. 
Ich  sagte  ihm,  ich  hätte  nie  eine  gelesen.  Er  war  furchtbar  ent- 
täuscht und  vertraute  mir,  daß  die  ganze  Theaterkritik  sich  gegen 
ihn  verschworen  habe,  und  jeder  einzelne  Kritiker  sei  käuflich.«  — 
»Es  sollte  mich  nicht  wundern,  wenn  er  recht  hätte.  Aber,  nach 
ihrem  Aussehen  zu  urteilen,  können  dafür  die  meisten  auch  nicht 
teuer  sein«.  .  . 


—  22  — 

Strebertum  und  Langeweile  lassen  es  sich  nicht  nehmen, 
der  Kaiserin  Elisabeth  ein  Denkmal  zu  setzen.  Ihr  »Exekutivkomite« 
hat  ein  paar  altgediente  Bildhauermeister  aufgefordert,  die  Schwie- 
rigkeit der  Wahl  zwischen  drei  schlechten  Entwürfen  zu  über- 
winden, und  die  »Experten«  entschieden  für  das  Werk  des  Herrn 
Bitterlich.  In  einer  Stadt,  in  der  Klinger's  Beethoven  angeulkt 
wurde,  muß  man  sich  über  das  Treiben  eines  patriotischen  Komites, 
das  gegen  die  Proteste  moderner  Künstler  zu  einer  endlichen 
Erledigung  seiner  Ordensbeschwerden  gelangen  will,  nicht  weiter 
entrüsten.  Nur  Freunden  einer  humoristischen  Lektüre  sei  der 
Bericht  der  sachverständigen  Herren  dringendst  empfohlen.  An 
dem  Modell  des  Herrn  Bitterlich  haben  sie  nur  einige  >Mängel< 
auszusetzen.  So  unter  anderen:  »Das  Antlitz  entbehrt  des 
bedeutenden  Ausdruckes«.  »Allein  alle  diese  Mängel <,  heißt 
es  da,  »sind  nicht  so  tiefgreifend,  als  daß  sie  nicht  im  Verfolge 
der  weiteren  Durchbildung  leicht  zu  beheben  wären«.  Die 
Auffassung  des  Herrn  Professors  Bitterlich  ist  also  zugegebener- 
maßen eine  spießbürgerliche.  »Dieser  Entwurf  wird  daher  als 
Grundlage  für  die  Ausführung  des  Denkmals  weiland  Ihrer  Majestät 
der  Kaiserin  Elisabeth  von  den  Unterzeichneten  einmütig  empfohlen«. 

• 

Die  putzigste  Weihnachtsgabe,  welche  die  in  den  Wiener 
Redaktionen  beschäftigten  Christkindlein  den  braven  Lesern  diesmal 
beschert  haben,  ist  die  Rundfrage  der  ,Österreichischen  Volks- 
zeitung': »Welche  Worte  (Poesie  oder  Prosa)  widmen  Sie  als 
Inschrift  für  das  Denkmal  der  Kaiserin  Elisabeth  in  Wien?«  Eine 
schönere  Gelegenheit  für  Leute,  die  nichts  zu  sagen  haben,  war 
kaum  zu  ersinnen.  Und  wer  würde  es  wagen,  in  einem  Falle,  wo 
Schmock  als  Palladin  des  Andenkens  einer  Kaiserin  auftritt,  nicht 
zu  antworten?  Den  Reigen  eröffnet  Herr  v.  Bezecny  mit  dem 
originellen  Vorschlag,  auf  das  Monument  als  Inschrift  die  Worte 
zu  setzen:  »Kaiserin  Elisabeth«.  Schön,  aber  einfach;  und  des 
Nachdenkens  Mühe  war  dem  Finder  erspart  geblieben.  Viele  andere 
folgen  seinem  Beispiel.  Frau  Ottilie  B  o  n  d  y  ist  schon  komplizierter, 
Sie  schlägt  vor:  »Kaiserin  Elisabeth.  1837—1898«.  Frl.  Jenny 
v.  Glaser  setzt  gar  die  Orte  der  Geburt  und  des  Todes  hinzu.  ' 
Der  Dichter  PhiUpp  Haas  von  Te(pp)ichen  aber  glaubt,  die  beste 
Ehrung  der  Verstorbenen  gefunden  zu  haben.  Er  empfiehltseine  Verse : 


23 


Du  hast  die  Seligkeit,  Unerreichte! 
Es  weint  um  Dich  ein  treues  Volk  im  Land, 
Es  weint,  denn  in  Dir,  hehre  Fürstin,  reichte 
Der  Edelsinn  der  Schönheit  seine  Hand. 

Ich  glaube,  die  Frau  des  Menelaus  in  der  »Schönen  Helena« 
dichtet  ungefähr: 

Doch  die  Hand 

Soll  man  reichen 

Dem  edlen  Jüngling  mit  Verstand 

Ohnegleichen  .  .  . 

Ob  aber  Kaiserin  Elisabeth  noch  die  Seligkeit  haben  wird, 
wenn  des  Dichters  Haas  Verse  auf  ihrem  Denkmal  prangen,  bleibe 
dahingestellt.  Die  Widmung  des  Herrn  v.  Hartel,  der  sich  als 
Philologen  empfehlen  zu  müssen  glaubt  und  ein  lateinisches 
Sprüchlein  verfaßt  hat,  würde  sie  wenigstens  nicht  verstehen.  Der 
Verlagsbuchhändler  Alfred  Ritter  von  Holder  schlägt  vor:  >Der 
edelsten  Fürstin  in  Treue  und  Liebe  die  Bewohner  Wiens«.  Er 
formuliert  die  Gefühle,  die  ihm  die  Mitarbeiter  seines  wissen- 
schaftlichen Verlags  entgegenbringen.  Warum  schweigt  der  Besitzer 
der  Buchhandlung  Manz,  der  doch  auch  nicht  schlechtere  Honorare 
zahlt?  Fünf  Verslein,  kurz  und  langweilig,  hat  der  bei  allen 
patriotischen  Gelegenheiten  geweckte  »Schulmann«  Dr.  Leo  Smolle 
beigesteuert.  Aber  der  ganze  Tiefsinn  des  Problems  ist  in  der 
Antwort  des  Herrn  Alfons  Herold,  des  liberalen  Hoteliers,  aus- 
geprägt: »Ich  würde  empfehlen,  einfach  und  schlicht  zu  setzen: 
(Kaiserin  Elisabeth'.  Ich  motiviere  es  damit,  daß  ich  aus 
persönlicher  Wahrnehmung  in  meiner  Eigenschaft  als  Ge- 
schäftsführer des , Hotel  Europe'  in  Salzburg  (in  den  Jahren  1868  und 
1869)  von  der  erhabenen  Kaiserin  sehr  ^t  durch  Ansprachen  beim 
Herrichten  der  Tafel  ausgezeichnet  wurde.  Die  Diners  wurden 
nämlich  am  Bahnhof  vom  , Hotel  Europe'  in  Salzburg  für  die 
I  hohe  Frau  in  dazumaliger  Zeit  beigestellt.  Stets  war  die  Kaiserin 
äußerst  leutselig,  dabei  höchst  einfach  und  schlicht  in  allem,  in 
Ausdrucksweise,  Bewegungen  u.  s.  w.  und  wird  mir  unvergeßlich 
:  bleiben.«  Die  Motivierung  ist  einleuchtend.  Die  Diners  am  Bahn- 
:  hof  in  Salzburg  wurden  vom  »Hotel  Europe«  beigestellt,  wo  Herr 
Herold  Geschäftsführer  war.  Später  wurde  er  liberaler  Politiker. 


24  — 


Das  Publikum, 

»Über  die  Weihnachtspremieren  in  den  Münchener  Tlieatem 
wird  uns  telegraphisch  berichtet:  Die  Uraufführung  von  Strind- 
berg's  Trauerspiel  ,Das  Band'  im  Schauspielhause  hatte  mäßigen, 
bestrittenen  Erfolg.  Wilde's  Drama  ,Salome'  erhielt  ge- 
teilten Beifall.  Schönthan's  Erstaufführung  von  , Maria 
Theresia'  im  Residenztheater  brachte  es  bei  glänzender  Ausstattung 
zu  warmem  Beifall.« 

ANTWORTEN  DES  HERAUSGEBERS. 

Beobachter.  Konsul?  Schon  faul!  .  .  .  Was  sich  zwischen  dem 
edlen  Nheriman  und  dem  edlen  Kolischer,  zwei  großen  Khans,  ab- 
spielte, wiederholt  sich  jetzt,  wie  aus  den  Gerichtssaalberichten  hervor- 
geht, in  der  Niederung,  in  der  schlichte  Beys  ihres  Amtes  walten. 
Immerhin  dünken  sie  sich  noch  bedeutend  genug,  um  neben  sich  den 
Julius  Cäsar,  der  auch  ein  Konsul  war,  als  ein  armes  Waserl  erscheinen 
zu  lassen.  Bondy  Bey !  Das  klingt !  Aber  österreichische  Richter  sprechen 
von  Erpressung,  wo  die  feinsten  Sitten  der  Türkei  betätigt  wurden.  Die 
Herrschaften  leben  bei  uns  gemütlich  nach  der  Devise  >Verkauft's 
meine  Orden  —  ich  fahr  in  Himmel!«,  und  rechnen  darauf,  daß  auch 
dem  Antikorruptionisten  der  Appetit  vergehen  werde,  in  den  Balkan- 
dreck, den  Kehricht  vor  der  Pforte  und  in  den  Orienlschmutz  zu 
greifen.  Was  treibt  denn  der  Herr  Kolischer,  der  die  persische  Ge- 
neralsuniform anlegt,  wenn  er  Inserate  für  seine  drei  Winkelblätter 
acquirieren  geht?  Na  —  kehren  wir  den  berühmten  Warnruf  um: 
Videat  res  publica,  ne  quid  consulibus  detrimenti  capiat ! 

Friedensfreund.  Ja,  die  Suttner!  Es  ist  kaum  zu  glauben.  Und 
der  Börsenwöchner  hat  sich  auch  aus  Leibeskräften  dagegen  gesträubt, 
es  zu  glauben.  Am  11.  Dezember  hatte  man  erfahren,  daß  der  Nobel- 
preis einem  Engländer  zuerkannt  worden  sei.  Aber  noch  am  13.  De- 
zember erklärte  Herr  Benedikt  jeden  für  einen  Sonderling,  der  da 
meinte,  >daß  Pulver  und  Schieß  wolle  trotz  des  Nobelpreises  an  die 
Baronin  Suttner  noch  recht  lange  gangbare  Artikel  bleiben«  würden, 
und  spekulierte  ä  la  baiss#  in  den  Aktien  der  Hirtenberger  Patronen- 
fabrik. Schließlich  hat  jedoch  die  Wiener  Börsenpresse  zugeben  müssen, 
daß  William  Randal  Cremer  wirklich  der  Baronin  Suttner  vorgezogen 
wurde.  Mancher  gute  Patriot  ist  ob  solcher  Zurücksetzung  einer  ver- 
dienten österreichischen  Frau  gekränkt.  Nur  die  Wiener  liberalen  Zeitungs- 
leser wissen  jetzt  nicht,  was  eigentlich  mehr  zu  bedauern  ist :  daß  nicht , 
eine  Österreicherin  den  Friedenspreis  erhielt,  oder  daß  Österreich  nicht ' 
neue  Kanonenrohre  aus  Stahl  erhält. 

Inserent.  Im  Hause  des  Lippowitz  spreche  man  jetzt  nicht  vom , 
Spagat!  Ein  Spagathändler  hat  sich  —  so  schreibt  mir  ein  Mitarbeiter—  '. 
erkühnt,  einen  Prozeß  durch  alle  drei  Instanzen  gegen  das  ,Neue . 
Wiener  Journal'  zu  gewinnen :  Der  Unverschämte  verlangte  bares  Geld  ] 
für  den  Spagat,    den    er   dem  Blatte  geliefert   hatte,    und   die  Gerichte ' 


-  25 


—  so  preßfeindlich  sind  die  Oerichte  in  Österreich  bereits  geworden  — 
erkannten  zu  Recht,  daß  in  Österreich  auch  Zeitungen  verpflichtet  sind, 
ihre  Schulden  über  Verlangen  des  Gläubigers  in  Kronenwährung  anstatt 
durch  Inserate  zu  bezahlen.  Vergebens  beschwor  Herr  Lippowitz  die 
Richter,  sie  möchten  doch  ein  Einsehen  haben :  nie  hätte  er  für  Hun- 
derte von  Kronen  Spagat  bezogen,  wenn  er  geglaubt  hätte,  daß  In- 
seratenscheine von  dem  Lieferanten  nicht  ebenso  unweigerlich  ange- 
nommen werden  müßten  wie  Banknoten.  Das  Gericht  stellte  den  Tat- 
bestand fest:  Ein  Inseratenagent  des  ,Neuen  Wiener  Journal'  kommt  zu 
einem  Spagathändler.  Ich  inseriere  nicht!,  erklärt  der  Händler.  Der 
Agent  setzt  ihm  zu:  Die  Inserate  sind  so  billig  wie  nirgendwo.  Mir 
noch  immer  zu  teuer,  ist  die  Antwort.  Aber  Sie  brauchen  uns  keinen 
Kreuzer  für  die  Inserate  zu  bezahlen;  wir  nehmen  statt  der  Bezahlung 
von  Ihnen  Spagat !  Der  Händler  hält  bis  zur  Erschöpfung  Stand ; 
schließlich  drückt  ihm  der  Inseratenagent  denn  doch  einen  Auftrag  ab. 
Von  da  an  bestellt  Herr  Lippowitz  Spagat  nur  noch  bei  dem  neuein- 
gefangenen  Inserenten.  Bald  geht  die  Rechnung  in  die  tausend  Kronen. 
Endlich  bittet  der  Händler,  den  Rest,  der  nach  Abzug  der  Inseraten- 
kosten verbleibt,  zu  begleichen.  Herr  Lippowitz  weiß  nicht,  wie  ihm 
geschieht:  Sie  wollen  Geld?  Keine  Spur!  Inserate  können  Sie  haben, 
so  viele  Sie  wollen.  Und  darüber  kommt  es  zum  Prozeß.  Die  Gerichte 
entscheiden:  Nicht  der  Kaufmann  hat  sich  verpflichtet,  Inseratenaufträge 
zur  Ausgleichung  der  Spagatrechnung  zu  geben,  sondern  das  ,Neue 
Wiener  Journal'  hat  sich  verpflichtet,  Spagataufträge  zur  Ausgleichung 
der  Inseratenrechnung  zu  geben.  Der  Lieferant  kann  nicht  verhalten 
werden,  zu  inserieren,  aber  das  Blatt  ist  verhalten,  zu  bezahlen. 
Das  ist  ein  Urteil,  welches  alle  Rechtsverhältnisse  der  Wiener  Presse 
umstößt,  und  man  wird  diesen  Schlag  nicht  so  bald  verwinden  wie  die 
Aberkennung  einer  Zeitungsehre.  Soll  es  dena  wirklich  dazu  kommen, 
daß  Wiener  Zeitungsmenschen  nicht  nur  die  Bedürfnisse  der  Zeitung, 
sondern  am  Ende  auch  ihre  persönlichen  durch  Barzahlung  bestreiten  ? 
Wollen  die  Gerichte  Schneider,  Schuster  oder  gar  Buchhändler  gegen 
die  Presse  aufhetzen? 

Techniker.  In  Nr.  150  ist  ein  Irrtum  unterlaufen.  Die  der  Ver- 
öffentlichungspflicht unterliegende  Bilanz  ist  natürlich  jene  der  > Aktien- 
gesellschaft für  Szczepanik's  Textil- Industrie- Fabriksanstalt«.  Deren 
Gründerin  und  Schuldnerin  ist  die  offene  Handelsgesellschaft  >Societ^ 
des  inventions  Jan  Szczepanik  &  Cie«,  welche  wegen  Versäumnis  des 
Lieferungstermins  der  Textilmaschinen  das  von  dem  neuen  Geldgeber 
jetzt  glücklich  aufgebrachte  Pönale  von  40.000  Kronen  bezahlen  sollte. 
Nun  ist  der  Aktiengesellschaft  mit  dem  Pönale  und  der  offenen  Handels- 
gesellschaft durch  den  uneigennützigen  Geldgeber  zur  Wahrung  der 
Ehre  Polens  geholfen,  und  beide  Unternehmungen  werden  wohl  noch 
ein  Weilchen  fortleben.  Die  Verwechslung  beider  liegt  übrigens  nahe. 
Nicht  nur  wegen  des  gemeinsamen  Wiener  Domizils  in  der  Prager- 
straße,  sondern  auch  wegen  des  Zusammenhangs,  der  durch  die  Per- 
sonen hergestellt  ist:  durch  den  in  beiden  Unternehmungen  ausgebeuteten 
Erfinder  und  durch  den  beide  ausbeutenden  »Bankier<  Ludwig  Kleinberg. 


—  26 


Damenschneider.  Zur  Theatertoilettenfrage:  >Wie  oft  ist  an 
die  Presse  die  eindringliche  Mahnung  ergangen,  gegen  diesen  Unfug 
und  Unsinn  (des  Toilettenluxus)  Front  zu  machen.  Von  Zeit  zu  Zeit 
schlägt  ihr  auch  das  Gewissen  und  sie  wagt  die  Bemerkung:  Es  wäre 
am  Ende  doch  wohl  ein  bischen  zu  viel  und  wohl  auch  nicht  ganz  am 
Platze.  Aber  dann  kommt  ein  neues  Stück,  in  dessen  Mitte  eine  wegen 
ihrer  großartigen  Toiletten  bekannte  Künstlerin  steht;  das  Stück  wird 
abfällig  beurteilt,  die  künstlerische  Leistung  mit  wohlwollender  Duld- 
samkeit eben  berührt,  die  Pracht  der  Toiletten  aber  mit  Angabe  der 
Lieferanten  mit  hellem  Jubel  bewundert.  Es  ist  ja  so  weit  gekommen, 
daß  Schauspielerinnen  einfach  als  Toilettenträgerinnen  behandelt  werden, 
daß  sie  sogar  in  dem  verbreitetsten  Wochenblatte  lediglich  ihrer  Toiletten 
wegen  bildlich  dargestellt  werden.«  Diese  Sätze  sind  einem  Feuilleton 
des  Herrn  Paul  Lindau  entnommen,  das  —  die  ,Neue  Freie  Presse' 
abdruckt.  Ein  paar  Wochen  nach  dem  >  Maria  Theresia  «-Skandal!  Dies 
ehrlose  Volk  sagt  auch  dann  noch,  daß  es  geregnet  hat,  wenn  es  sich 
selbst  ins  Gesicht  spuckte. 

Scherenschleifer.  Der  dumme  Dieb  hat  sich  schon  wieder  selbst 
verraten.  ,Neues  Wiener  Journal' vom  21.  Dezember:  Ein  Londoner  Bericht 
über  »fragwürdige  Musikdiplome«.  An  der  Spitze  steht:  >Von  unserem 
Korrespondenten«,  und  zum  Schluß  heißt  es:  >Da  kaum  anzunehmen  ist, 
daß  die  Gesellschaft  trotz  ihres  Namens  (Reis  School  of  Music  of 
Oermany...)  in  unserem  Vaterlande  viele  Geschäfte  macht!  . .« 
Unser  Korrespondent  oder  unser  Vaterland  ?  Eins  oder  das  andere  !  .  . 
Ein  paar  Tage  später  herrschte  im  , Neuen  Wiener  Journal'  große  Auf- 
regung. Ein  Manuskript  war  eingelaufen!  Von  einer  Hand  be- 
schriebenes Papier!  Es  war  eine  Zuschrift  des  Burgschauspielers  Heine, 
der  für  die  »Weihnachtsnummer«  die  Frage  beantworten  mußte,  >wie  er 
zum  Theater  kam«.  In*  der  freudigen  Erregung  schickte  man  das 
Manuskript  ungelesen  in  die  Druckerei.  Es  erschien  mit  allen  Bissig- 
keiten, mit  denen  Herr  Heine  die  Belästigung  in  der  Weihnachtswoche 
quittierte,  und  enthielt  die  folgende  Wendung:  »Ich  höre  Sie  unmutig 
mit  Federhalter  oder  Schere  aufschlagen  und  es  klingt  wie  war-  , 
nendes  Geflüster:  ,Zur  Sache,  wenn's  beliebt  ....'« 

Mondsüchtiger.  Für  Geld  ist  alles  möglich!  »Prachtwetter  herrscht 
jetzt  auf  dem  Semmering«,  hieß  es  in  der  Weihnachtsnummer  der 
,Neuen  Freien  Presse',  »tiefblauer  Himmel  wölbt  sich  über  die  Berge,  '■ 
mild  und  wohlig  ist  die  Temperatur,  um  Mittag  wird  es  recht  warm. 
Nachts  verleiht  der  Silberglanz  des  strahlenden  Vollmondes  der 
idyllischen  Szenerie  poetischen  Zauber«.  Am  25.  Dezember  war  zwar, 
wie  ein  Blick  in  den  Kalender  lehrt,  schon  Neumond.  Aber  im  In- 
seratenbureau war  Vollmond  aufgegeben,  und  dabei  bleibt's,  wenn  sich 
auch  die  Astronomen  auf  den  Kopf  stellen!  Die  Administration  ver- 
fügt über  den  Weltenraum  so  gut  wie  über  den  Raum  des  lokalen 
Teils  .  .  .  Und  sie  bewegt  sich  doch !  hat  Galiläi  gerufen.  Sicherlich 
war  er  ein  unbotmäßiger  Redakteur,  der  seine  Meinung  gegen  die 
Ansicht  eines  Inserenten,  daß  sie  sich  nicht  bewege,  durchsetzen  wollte. 


—  27  — 


Habitus.  Wenn  ich  Alles,  was  ich  in  fünf  Jahren  über  die  Ver- 
derbtheit der  Wiener  Theaterkritik  geschrieben  habe,  zusammenfassen 
wollte,  es  würde  an  Wirkung  hinter  einer  einzigen  Tatsache,  die  wir 
jetzt  erleben,  zurückbleiben:  dem  Fall  Buchbinder.  Daß  Theater- 
direktoren die  elenden  Stücke  des  aus  dem  kritischen  Machtbereich  Ge- 
worfenen annehmen,  wäre,  wenn  nicht  die  Furcht  vor  einer  journa- 
listischen Renaissance  des  Mannes  sie  bestimmte,  wohl  ein  starker  Gegen- 
beweis gegen  meine  Darstellungen  von  dem  Zusammenhang  zwischen 
Produktion  und  Kritik.  Wie  glänzend  sind  sie  aber  erhärtet  durch  die 
Haltung,  die  heute  die  Rezensentenschar  gegen  den  einstigen  Kollegen  ein- 
nimmt. Der  Anblick,  der  sich  da  dem  Leser  der  Vorstadttheaterkritiken 
bietet,  ist  ein  so  anwidernder,  daß  es  zur  sittlichen  Pflicht  wird,  sich 
des  schlechtesten  Lieferanten,  der  je  die  Wiener  Possenbühne  besudelt 
hat,  anzunehmen.  Herr  Buchbinder  hat  sich,  seitdem  er  nicht  mehr 
Notizen  schreibt,  gewiß  nicht  verschlechtert.  Aber  wenn  man  ein  paar 
Jahrgänge  zurückblättert,  so  wird  man  ersehen,  daß  die  »Dritte  Eskadron«, 
»Er  und  seine  Schwester«  und  der  »Spatz«  Meisterwerke  reinster  Volks- 
poesie waren,  deren  Schöpfer  man  nie  zugetraut  hätte,  daß  er  zu  jenem 
Auswürfling  herabsinken  könnte,  der  den  Mut  hat,  seinen  Namen  auf 
die  Theaterzettel  von  »48  Stunden  Urlaub«  und  »Der  Mameluck«  zu 
setzen.  Die  Notizenschreiber  wissen  besser  als  die  Theaterdirektoren, 
daß  der  Mann  nicht  mehr  zu  fürchten  ist,  daß  ihre  eigenen  Stücke  vor 
seinem  Tadel  sicher  sind :  also  drauf  und  dran !  Ward  der  letzte 
Schund,  den  er  früher  geleistet,  über  Wasser  gehalten,  so  würde 
er  jetzt  nicht  pardonniert  werden,  auch  wenn  er  einen  »Zerbrochenen 
Krug«  oder  den  »Revisor«  schriebe.  Etwas  Scheußlicheres  als  diese 
Hetzjagd  auf  einen,  der  keinen  Revolver  hat,  bloß  weil  er 
keinen  mehr  hat,  etwas  Elementareres  als  dies  Geständnis,  daß  aus- 
schließlich das  geschäftliche  Cliquen  Interesse  das  öffentliche  Urteil  be- 
stimmt, läßt  sich  nicht  ersinnen  !  Das  ,Neue  Wiener  Journal',  in  dessen 
Dienst  sich  Herr  Buchbinder  verblutet,  für  das  er  sein  Bestes  an 
gemeiner  Kulissenschnüffelei  hergegeben  hat,  ist  natürlich  allen  voran. 
Am  15.  Jänner  1902  schrieb  Herr  Tann-Bergler:  »Vor  einem  ausver- 
kauften, eleganten  Premi^renhause  —  in  der  Hofloge  wohnte  Erzherzog 
Franz  Ferdinand  der  Vorstellung  bei  —  fand  gestern  die  Erstaufführung 
des  dreiaktigen  Musikschwankes  ,Der  Spatz'  statt.  Zwei  bühnen vertraute 
Männer,  denen  das  Theaterpublikum  schon  unzählige  vergnügte  Abende 
dankt,  waren  in  Kompagnie  gegangen,  um  wieder  emmal  im  Sinne  ihrer 
Tradition  zu  arbeiten.  Bernhard  Buchbinder,  der  erfolggewohnte  Autor, 
und  Charles  Weinberger,  der  in  einschmeichelnden,  wienerischen 
Melodien  empfindet.  Das  Verhältnis,  in  dem  ich  zu  Buchbinder 
stehe,  auferlegt  meinem  Referat  den  Zwang  der  weitestgehenden  Re- 
serve. Er  ist  Journalist.  Eine  geheiligte  Überlieferung  an  der  bisher 
noch  Niemand  zu  rütteln  gewagt  hat,  ohne  direkt  verbrecherischer  Ge- 
lüste geziehen  zu  werden,  schreibt  vor,  daß  den  Zeitungsleuten  eine 
möglichst  üble  Nachrede  zutheil  werde,  vor  Allem  in  den  Zeitungen. 
Er  ist  femer  mein  Bureaukollege.  Es  hieße  die  Satzungen  eines  jeglichen 


28  - 


Bureaukratismus  auf  den  Kopf  stellen,  wollte  ich  alles  Schöne  anders 
als  mit  Bedauern,  die  Bedenken  hingegen  ohne  die  gewisse  herzliche 
Genugtuung  notieren,  welche  als  das  untrüglichste  Kennzeichen  der 
Unparteilichkeit  gilt  und  den  Verdacht  gesinnungsloser  ,Kameraderie' 
und  Cliquengemeinheit  wenigstens  mildern,  wenn  auch  nicht  beseitigen 
kann.  Er  ist  schließlich  seit  Jahren  mein  persönlicher 
Freund.  Nun  weiß  aber  doch  Jedermann,  daß  es  der  schönste,  er- 
habenste und  in  der  überwiegenden  Zahl  der  Fälle  auch  der  einzige 
Gewinn  der  Freundschaft  ist,  Unannehmlichkeiten  einzuheimsen.  Auf 
diese  Grundsätze  mußte  ich  hinweisen  —  um  sie  anwenden  zu  können  .  .« 
Neckisch,  nicht  wahr?  Dann  heißt  es:  > Possenhaft-lustige,  oft  karneva- 
listisch -übermütige  Handlung«,  »sprudelnder  Dialog«,  >Knallerbsen,  die 
massenhaft  explodieren«,  »urtoller  zweiter  Akt«,  »wiederholt  heraus- 
applaudiert« u.  s.  w.  Der  »Spatz«  war  natürlich  ebenso  blödsinnig  und 
fiel  ebenso  durch  wie  »48  Stunden  Urlaub«,  über  die  Buchbinder's 
Nachfolger  am  8.  November  1903  neun  Zeilen  schreibt:  »Die  Bezeichnung 
Posse  ist  gewissermaßen  eine  Bitte  um  Nachsicht.  Jener  Teil  des 
Publikums,  der  die  oberen  Ränge  füllte,  verstand  die  Andeutung  und 
lachte.  Der  andere  Teil  hat  den  Autor  energisch  angeblasen.  Mit  der 
Konstatierung,  daß  der  Inhalt  seine  komischen  Wirkungen  aus  der 
Dummheit  eines  polnischen  Offiziersdieners  zu  bestreiten  sucht  und  daß 
Herr  Lackner  sich  Mühe  gab,  der  Rolle  gerecht  zu  werden,  glaube  ich 
der  Referentenpflicht  diesmal  Genüge  getan  zu  haben.  Vielleicht  haben 
Andere  mehr  Lust,  sich  mit  dem  Stück  auseinanderzusetzen.«  Und  am 
23.  Dezember  über  den  »Mameluck« :  »Die  Handlung  ist  aus  einem 
Roman  Jokai's  zugeschnitten,  da  sich  seine  Mitautorschaft  doch  wohl 
nicht  dahin  erklären  ließe,  daß  er  Bernhard  Buchbinder  ins  Deutsche 
übertragen  hat«  .  .  .  Was  wäre  über  die  elende  Carltheateroperette,  was 
über  das  Durchfallsstück  des  Raimundtheaters  geschrieben  worden,  wenn 
sie  vor  des  Autors  Vertreibung  aus  dem  kritischen  Paradiese  ans  Rampen- 
licht gelangt  wären?  Gibt  es  etwas,  das  die  Erbärmlichkeit  dieses 
Cliquentreibens  grimmiger  illustrierte  als  die  Tatsache,  daß  ich  mich 
heute  in  Wien  des  Bernhard  Buchbinder  annehmen  muß?! 

Zionist.  Ich  muß  es  ablehnen,  zum  »Attentat  gegen  Dr.  Max 
Nordau«  Stellung  zu  nehmen.  Dieser  satirischen  Überfülle  bin  ich  nicht 
gewachsen.  Schon  die  bloße  Tatsache  eines  Makkabäerkränzchens !  Und 
daß  der  »Attentäter«  auf  zwei  Schritte  Distanz  zweimal  schoß  und  nicht 
traf!  Eine  »Kugel«  kam  geflogen:  wäre  sie  aus  Wien  vom  Restaurant 
Tonello  gekommen,  sie  hätte  ihr  Ziel  sicherlich  nicht  verfehlt!  Bezeichnend 
genug,  daß  sie,  wie  gemeldet  wird,  Herrn  Nordau  »am  Kinn  streifte«; 
er  konnte  sich  also  überzeugen,  daß  sie  nicht  rituell  zubereitet  war, 
und  wich  ihr  aus.  Chaim  Selig  Louban  heißt  der  »Fanatiker«,  der 
sich  bis  zur  Gründung  des  Königreichs  nicht  gedulden  wollte.  Er 
wurde  verhaftet  und  wird,  wie  verlautet,  zur  Strafe  mit  dem  Marmorek- 
Serum  behandelt  werden  ...  Es  ist  zu  viel.  Ein  Satiriker  kann  zusperren, 
wenn  ihm  die  Wirklichkeit  derartige  Schmutzkonkurrenz  bereitet. 


Herausgeber  und  verantwortlicher  Redakteur :  Karl  Kraus. 
Hnick  von  lalioda  &  Siesel.  Wien.  III.  Hintere  ZollamtutraBe  n 


Erschienen  am  16.  Jänner  1904  Y.  Jibr 


Die  Fackel 


Herausgeber : 


KARL  KRAUS. 


Erscheint  drei-  oder  zweimal  im  Monat. 


Preis  der  einzelnen  Nummer  24  h. 


Nachdruck  and  ffewei-bsmäßisfes  Verleihen  verbofen:  gerichtliche  Verfolgung 

Torbehalten. 


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>Ve*ter^t>*eilMi 


WläN. 

ßfeÄ«.  IV. 


Schwindzass«  3. 


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Die  Fackel 

tranken  und  Buchhandlungen  erhaitnch 

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Die  Fackel 


Nr    152  WIEN,  16.  JÄNNER  1904  V.  JAHR 


3er  Auflösungsprozeß  vor  dem  Handelsgericht. 

Ist  es  denn  möglich,  über  die  ,Zeit'  einen 
ifiiusanten  Artikel  zu  schreiben?  Oft  entsank  mir  die 
'^eder,  wenn  ich  ihr  zumutete,  dieses  Blattes  zu  ge- 
enken.  Im  Dunst  der  Schläfrigkeit,  die  das  bloße  Aus- 
prechen  des  Namens  erzeugt,  muß  jeder  polemische 
Ville  erschlaffen.  Wenn  die  »Geldgeber«  eines  Tages 
nter  Kuratel  gesetzt  und  der  journalistische  Freak, 
m  den  sie  ihre  Gefühle  verschwendeten,  verreckt 
ein  wird,  werden  wir  das  langsam  aus  narkotischem 
chlaf  erwachende  Wien  sich  nur  mühsam  in  der 
[orruption  seines  Geisteslebens  zurechtfinden  und  die 
!^eue  Freie  Presse'  lange  nicht  als  Schandblatt  wieder- 
•kennen  sehen.  Wie  märchenhaft  ist  diese  Stadt  ver- 
andelt,  die  einst  bewegter  Frohsinn  war,  dann  in 
sidvoUem  Kampfe  stöhnte  und  nun  zwei  Haschisch- 
ringern aus  dem  Osten  erlag,  die  bloß  das  Zauber- 
wort auszusprechen  brauchten:  Lesen  Sie  die  ,Zeit'l. . . 
)a  gibt  es  kluge  Leute,  die  immer  davon  sprechen, 
ie  ,Zeit*  habe  »Hoffnungen  erweckt«.  Was  ist  doch 
ie  Sprache  für  eine  Meisterin  der  Ironie  1  Wir  sind 
üfrieden,  wenn  es  der  ,Zeit'  gelungen  ist,  unter 
nderem  auch  unsere  Verzweiflungen  einzuschläfern, 
für  ich  verdanke  ihr  mehr.  An  ihrer  täglich  erneuten 
|ual  habe  ich  die  Nichtigkeit  einer  rein  sittlichen 
i^eltbetrachtung  erkennen  gelernt,  die  törichte  Halt- 
sigkeit  eines  Standpunkts,  dem  die  runzlige  Vettel, 
ie  darauf  pocht,  daß  sie  für  Geld  nicht  zu  haben  ist, 
öher  steht  als  die  anmutige  Hure.  Es  ist  ein  Erlebnis, 


_  2  — 

von  einem  so  tragischen  Humor  erfüllt,  von  einer  so 
aufrüttelnden  Wirkung  des  Kontrastes:  Bin  Sitten- 
richter predigt,  und  seine  Lehre  macht  sich  die 
Häßlichkeit  zunutze  und  entblößt,  da  keiner  sie  mag, 
ihre  Scham :  Seht  her,  i  c  h  bin  anständig ! . . .  Dies 
ist  mein  Glaube:  eine  Geißel  Gottes  ward  uns  die 
,Zeit'  gesendet,  die  Eiferer,  die  bekehren  wollten,  zu 
bekehren,  unfreudige  Menschen  zu  lehren,  daß  diesem 
armen  Leben  nur  ästhetische  Denkart  frommt  und 
daß  wir  über  der  Verachtung  der  ,Neuen  Freien 
Presse'  nie  vergessen  sollen,  ehrbare  Langweile  für 
der  Übel  schlimmstes  zu  halten  .  .  . 

Und  wenn  die  Langweile  nicht  einmal  ehrbar 
wäre?  Wenn  hinter  der  sozialpolitischen  Maske 
schäbigste  Ausbeutergesinnung  ihr  Spiel  triebe  ?  Solche 
Enthüllung  wäre  so  wenig  interessant  wie  die  Kor- 
ruptionsfreiheit eines  von  allen  Grazien  gemiedenen 
Blattes.  Die  Unbestochenheit  der  ,Zeit*,  die  niemand 
bestechen  will,  entzieht  sich  so  sehr  der  öfTentlichen 
Anerkennung  wie  ein  Fehltritt,  von  dem  man  erführe, 
dem  öffentlichen  Tadel :  der  schlechte  Geschmack  des 
Zahlers  wäre  beklagenswert,  nicht  die  Hingabe  der 
unappetitlichen  Jungfer.  Bankpauschalien  nehmen  ist 
eine  Schande  des  Talents,  sie  nicht  nehmen  kein 
Ruhm  der  Talentlosigkeit.  Und  es  bleibt  ja  noch 
außerhalb  des  Gebiets,  wo  Meinungen  gegen  Valuta 
eingelöst  werden,  ein  Spielraum  übelster  Gesinnung. 
Was  soll  denn  die  dreimal  ekle  Farce  von  dem 
»reinen  Blatt«,  das  die  alte  Preßverderbnis  abzulösen 
kam  und  dem  ich  nachweisen  kann,  daß  es  an  seine 
Korrespondenten  Zirkulare  mit  der  Mahnung  ver- 
sendet hat,  fleißig  »Mitteilungen  aus  der  chronique 
scandaleuse«  ihrer  Städte  zu  sammeln  ?  Wenn  j  e  Schmutz- 
konkurrenz eine  Konkurrenz  des  Schmutzes  war,  so 
war  es  das  Treiben  einer  Zeitung,  deren  Leitern  in  dem 
kulturhistorischen  Prozeß,  der  neulich  vor  dem  Handels- 
gericht spielte,  zugerufen  wurde,  daß  sie  in  die 
,Neue  Freie  Presse'  ein  Kuppelinserat  einschmuggeln 


—  3  — 

ließen,  um  die  blödsinnige  Sensation  eines  Artikels 
»Rückenraarkstudien«  bereiten  zu  können.  Wir  haben 
das  Schauspiel  erlebt,  daß  Redakteure  als  Gerichts- 
zeugen die  Gelegenheit  benützten,  das  eigene  Blatt 
vor  aller  Welt  zu  verleugnen,  daß  der  erste  Kritiker, 
Herr  Hof  rat  Burckhard,  sich  beeilte,  jeden  Einfluß 
auf  redaktionelle  Angelegenheiten  abzulehnen  und 
sich  feierlich  von  dem  Schmutz  loszusagen,  aus  dem 
die  Angriffe  der  ,Zeit'  gegen  Fräulein  Adamovics 
entstanden.  Aber  es  ließe  sich  auch  nachweisen, 
daß  die  Zeitung,  die  auf  das  Programm  des  jour- 
nalistischen Anstands  fundiert  wurde,  die  Lippo- 
witzkunst  nicht  nur  im  Durchforschen  fürstlicher  Ehe- 
betten, sondern  auch  in  der  kostenlosen  Benützung 
fremder  Geistesquellen  erlernt  hat.  Mit  Recht  hat 
der  Klageanwalt  statt  eines  handelsgerichtlichen 
einen  Strafprozeß  gegen  die  ,Zeit'  geführt,  mit  Recht 
den  Angeklagten  Singer  und  Kanner,  die  besonders 
empfindlich  auf  das  Wort  »Kultur«  reagieren,  zuge- 
rufen, die  ,Zeit'  sei  heute  ein  Blatt,  »dessen  sich  ein 
Kulturmensch  schämen  müsse«,  mit  Recht  der  sozial- 
politischen Firma  einen  »Menschenkonsum«  vorge- 
worfen, der  »einem  Sklavenmarkt«  zur  Zierde  ge- 
reichen müßte.  Aber  er  erwähnte  nicht,  daß  statt 
der  einundzwanzig  entlassenen  Mitarbeiter  einund- 
zwanzig Scheren  angeschafft  wurden.  »Nehmen  Sie 
nur  drei  Tage«,  schreibt  mir  ein  gewissenhafter 
Sammler,  »und  Sie  werden  über  die  Fülle  billigen 
Plauderstofifs,  den  die  ,Zeit*  bietet,  staunen:  Im  Abend- 
blatt vom  10.  Dezember  ist  der  ,talentvolle  Rossini' 
und  der  ,schlagfertige  Parlamentarier*  dem  Abend- 
blatt der  ,Vossischen  Zeitung'  vom  9.  Dezember  ent- 
nommen, im  Abendblatt  des  11.  ist  eine  Notiz  über 
Spencer  aus  der  Mitte  eines  größeren  signierten  Ar- 
tikels der  ,Frankfurter  Zeitung'  geholt,  im  Abendblatt 
vom  12.  entstammten , Heine  über  Berlioz'  und  ,Björnson 
über  den  Vogelmord'  derselben  ungenannten  Quelle.« 
Wenn's  Abend  wird,  geht  eben  auch  die  ,Zeit'  stehlen, 


—  4  — 

und  in  ihrem  »Kleinen  Feuilleton«  kann  man  alles 
finden,  was  am  nächsten  Morgen  erst  das  ,Neue  Wiener 
Journal',  das  uns  nur  einmal  täglich  erfreut,  enthalten 
wird.  Aber  der  kulturpolitische  Dieb  ist  feiner.  Er 
arbeitet  mit  Titeländerung  und  ein  bischen  polnischer 
Retouche  und  behält,  wenn  im  bestohlenen  Blatt 
eine  entlegene  Zeitschrift  oder  ein  fremdländisches 
Journal  zitiert  war,  ihre  Namen  vorsichtig  bei, 
damit  der  Anschein  erweckt  werde,  als  hätte  die 
,Zeit'  selbst  alle  Blätter  durchstöbert,  um  ihren  Lesern 
das  Interessanteste  zu  bieten.  Ȇbe'r  den  Ursprung 
der  Worte  ,Trust'  und  , Budget*  plaudert  der 
,Temps'  .  .  .«  »Gibt  es  denn  wirklich«,  fragt  mein 
Sammler,  »in  der  Redaktion  der  ,Zeit'  Leute,  die 
den  ,Temps'  lesen  können?  Wozu  dennl  In  der  Re- 
daktion der  , Vossischen  Zeitung'  wird  er  ohnedies 
gelesen  und  übersetzt.  Und  der  Einfachheit  halber 
ist  gleich  die  nächste  Notiz  des  Berliner  Blattes, 
unter  dem  Titel  »Praktisch«,  mitgestohlen.« 

Der  Entlarvung  der  sozialpolitischen  Ausbeuter, 
die  über  einen  »gewonnenen  Prozeß«  jubeln,  weil  sie 
bloß  zur  Zahlung  von  18.000  Kronen  an  einen  ent- 
lassenen Redakteur  verurteilt  wurden,  mag  man  sich, 
so  verfehlt  es  sonst  wäre,  dem  Jammerblatt  interne 
Schlechtigkeiten  nachzurechnen,  ehrlich  freuen.  Denn 
es  ist  vielleicht  doch  möglich,  daß  sie  ihre  populäre 
Wirkung  auf  die  Hintermänner  des  Blattes  übt,  die 
bisher  absolut  nicht  dazu  zu  bewegen  waren,  kein 
Geld  für  die  ,Zeit'  herzugeben.  Wenn  das  geistige 
Unvermögen,  welches  in  das  Blatt  gesteckt  wurde,  zum 
Himmel  stank,  ward  man  immer  wieder  von  den 
Freunden  langweiliger  Lektüre  —  es  muß  auch  solche 
Käuze  geben  —  mit  der  Meldung  überrascht,  daß 
anstatt  eines  lesbaren  Beitrags  eine  neue  Million  ein- 
gelaufen sei.  Daß  man  eher  eine  galizische  Steppe  in 
ein  Kornfeld  verwandeln  wird,  als  die  ,Zeit'  —  und 
wenn  die  Herren  Riedl  und  Gallia  um  ihretwillen 
verarmten  —  in   eine   individuell   gemachte   Zeitung, 


muß  der  jüngste  Setzerlehrling  bezeugen.  Das  »farb- 
lose Nachrichtenblatt«,  das  Herr  Kanner  im  Unmut 
zu  machen  gelobte,  wäre  ein  farbloseres  Meinungs- 
blatt, wenn  ihm  der  regierungsfreundliche  Verwal- 
tungsrat wieder  erlaubte,  selbst  mitzuarbeiten,  und 
nichts  vermag  die  Öde,  welche  die  ,Zeit'  beseelt, 
besser  zu  bezeichnen  als  die  Tatsache,  daß  hier 
schon  die  anempfindsame  Geschicklichkeit  des  Herrn 
Saiten  wie  Persönlichkeit  wirkt.  Aber  vielleicht 
verhütet  der  öffentliche  Skandal  die  weiteren  Ver- 
suche ruhmloser  Helden,  ein  bodenloses  Faß  zu  füllen 
und  die  Tyrannei  der  Impotenz  dem  Wiener  Geistes- 
leben zu  erhalten.  Und  kann  der  Hofrat  v.  Philippo- 
vich,  der  schon  nach  dem  Erscheinen  der  Adamovics- 
Artikel  zwischen  seiner  akademischen  Würde  und 
seiner  Stellung  als  Präsident  des  Aufsichtsrats  der 
,Zeit'  hätte  wählen  müssen,  nach  den  Enthüllungen 
dieses  Prozesses  noch  schwanken?  Ist  es  wirklich 
wahr,  daß  er,  den  sozialpolitische  Hoffnungen  zu 
einer  Gemeinschaft  mit  tarnopolitischen  Unternehmern 
führten,  keinen  höheren  Ehrgeiz  mehr  kennt  als  den 
in  seiner  Zeugenaussage  einbekannten :  »Es  ist  meine 
unangenehme  Aufgabe,  die  Herren  fortwährend  darauf 
aufmerksam  zu  machen,  daß  die  Ausgaben  möglichst 
in  engeren  Grenzen  gehalten  werden«?  Man  mag  an- 
nehmen, daß  er  erst  aus  dem  Prozeß  von  den 
Vorgängen  in  der  Redaktion  erfahren  hat,  und  wie 
21  Mitarbeiter  in  fünfviertel  Jahren  entlassen  wurden. 
Aber  das  System  der  Herren  Kanner  und  Singer  war 
schon  vor  zehn  Monaten  in  der  ,Fackel'  nachgewie- 
sen, als  ein  GeMnnungsgenosse  des  Herrn  Hofrats  in 
Nr.  132  schrieb :  »Von  allem  Anfang  war  es  zweifellos, 
daß  ein  großer  Teil  der  armen  Teufel,  die  aus  festen 
Stellungen  herausgerissen  und  in  die  Redaktions- 
bureaux  der  ,Zeit'  verpflanzt  wurden,  wieder  entlassen 
werden  müsse.  Und  für  diese  sichere  Annahme  ist 
der  unwiderlegliche  Beweis  in  dem  Kostenvoranschlag 
niedergelegt,  den  man  uns  Sozialpolitikern  im  letzten 


—  ö 


Frühjahr  ,8tren^  vertraulich'  zusandte  und  auf  Grund 
dessen  das  Kapital  zur  Verfügung  gestellt  wurde.« 
Nach  jenem  Kosten  veranschlag,  von  dessen  Auf- 
stellungen ausdrücklich  versichert  wurde,  »daß  eine 
Erhöhung  derselben  ausgeschlossen  erscheint«,  sollten 
bei  der  ,Zeit'  außer  den  Herausgebern  12  Redakteure 
angestellt  werden.  So  erzählte  die  Zuschrift  des  Sozial- 
politikers und  fuhr  fort:  »Als  aber  im  vergangenen 
Sommer  das  Redaktionspersonal  der  ,Zeit'  zusammen- 
gestellt wurde,  engagierte  man  ohne  alle  Rücksicht 
auf  das  einzuhaltende  Budget  darauf  los,  Redakteure 
und  Zeilenhonorarschreiber,  weit  über  alle  Möglichkeit, 
sie  zu  beschäftigen  und  zu  entlohnen,  hinaus.  Und 
heute  geschieht  in  der  Zeitungsschmiere  ,Die  Zeit', 
was  so  oft  in  den  Theaterschmieren  Österreichs  und 
Deutschlands  geschehen  ist:  noch  kürzlich  haben  wir 
in  der  Theater-Enquete  gehört,  wie  der  oder  jener 
Direktor  statt  eines  jugendlichen  Liebhabers,  den 
er  braucht,  ihrer  drei  engagiert  und  den  Paragraphen, 
der  ihm  das  Recht  auf  Kündigung  innerhalb  der 
ersten  sechs  Wochen  der  Saison  einräumt,  dazu  benützt, 
sich '  der  beiden  Überzähligen  zu  entledigen  und  dem 
dritten,  der  dem  Publikum  am  besten  gefallen  hat, 
den  Kontrakt  zu  verschlechtern.  So  sieht  auch  die 
Sozialpolitik  der  ,Zeit'  aus.«  Klarer  als  durch  diese 
Zuschrift  konnte  durch  den  Prozeß  des  Herrn  Ganz 
gegen  die  ,Zeit'  nicht  ihr  System,  nur  die  Zahl  jener 
konnte  gezeigt  werden,  an  denen  es  betätigt  wurde. 
Aber  in  jedem  einzelnen  Fall  weiß  Herr  Isidor  Singer 
heute  sicherlich  so  gut  wie  damals  eine  Ausrede,  und 
es  kann  Richter  geben,  die  sie  ihm  glauben,  solang 
sie  an  dem  System  zweifeln.  Nur  die  dreiste  Be- 
hauptung dürfte  der  Herr  jetzt  nicht  mehr  wagen, 
die  er  der  ,Fackel'  (Nummer  134)  als  Berichtigung 
aufgezwungen  hat:  »Wahr  ist,  daß  kein  einziger 
der  Angestellten  der  ,Zeit*  aus  Gründen  der  Spar- 
samkeit oder  deswegen  entlassen  wurde,  weil  ich 
einsah,     daß    ich     zu    viele    an    mein    Unternehmen 


—  7  — 

gebunden  hatte.«  Im  Prozeß  des  Herrn  Ganz  sagte  als 
Zeuge  der  Bibliograph  Herr  A.  L.  Jellinek  aus:  »Ich 
war  redaktionell  tätig  und  hatte  das  Archiv  anzulegen. 
Bis  diese  Arbeit  geleistet  war,  durfte  ich  nach  dem 
Vertrage  nicht  kündigen,  mir  konnte  sechswöchentHch 
gekündigt  werden.  Für  den  Fall,  daß  ich  das  Archiv 
innerhalb  einer  bestimmten  Zeit  fertigstelle,  wurde 
mir  eine  Prämie  zugesichert:  Ich  bekam  die  Kündigung, 
bevor  ich  noch  auf  die  Prämie  Anspruch  gehabt  hätte. 
Als  ich  sie  vom  Professor  Singer  verlangte,  berief  er 
sich  auf  Geldmangel«.  »Sie  meinen  Sparsamkeit!« 
rief  der  Rechtsanwalt  der  ,Zeit'  —  der  noch  immer 
sozialdemokratische  Organisationen  vertretende  Herr 
Harpner  —  in  diese  Zeugenaussage  hinein.  Die  Spar- 
samkeit, die  den  Herausgebern  im  vorigen  Winter 
ein  Vorwurf  war  und  berichtigt  wurde,  ist  jetzt  ihr 
Entschuldigungsgrund,  und  wenn  sie  wirklich  nicht 
selbst  eingesehen  haben,  daß  sie  zu  viele  Mitarbeiter 
an  ihr  Unternehmen  gebunden  hatten,  so  hat  der 
Präsident  des  Aufsichtsrats,  Hofrat  Philippovich, 
vor  Gericht  bekundet,  daß  es  sein  Amt  sei,  den 
Hofrat  Wetschl  im  Hause  Singer  zu  spielen.  Im 
Prozeß  Ganz  ist  nur  die  Frage  nicht  gestellt  worden, 
ob  die  Entlassung  von  21  Mitarbeitern  etwas  anderes 
als  die  Einschränkung  des  Betriebs  auf  den  von 
allem  Anfang  an  geplanten  Umfang  bedeuten  konnte. 
Wenn  irgend  einer  der  Entlassungsgründe,  um  welche 
die  Herausgeber  der  ,Zeit'  niemals  verlegen  waren, 
stichhalten  soll,  dann  müßten  statt  der  Entlassenen 
neue  Kräfte  verwendet,  nicht  bloß  die  Ausbeutung 
der  Übriggebliebenen  nach  dem  Versprechen  verstärkt 
worden  sein,  das  die  Herausgeber  der  ,Zeit'  in  dem 
Memoire  an  die  Kommanditisten  (Nr.  132  der  ,FackeP) 
erteilt  hatten:  mit  ihren  Mitarbeitern  »den  größten 
geistigen  Nutzeffekt  zu  erzielen«.  Und  was  sagt  Herr 
V.  Philippovich,  der  bei  der  sozialpolitischen  Affen- 
komödie ernst  bleibt  und  der  »außerordentlichen 
Leistung«  des  Herrn  Kanner  applaudiert,  zu  der  Pointe, 


—  8  — 

daß  dieselbe  Mitarbeiterin,  die  erst  durch  Klage- 
drohung das  garantierte  Honorar  erlangen  konnte  und 
fünf  Stunden  antichambrieren  mußte,  bevor  sie  sich 
von  Herrn  Kanner  anschnauzen  lassen  durfte,  sich  im 
Auftrage  der  ,Zeit'  als  Arbeiterin  in  einer  Zigaretten- 
hülsenfabrik verdingt  hat  —  »um  Studien  für  einen 
Artikel  über  die  Behandlung  der  dort  beschäftigten 
Arbeiterinnen  durch  den  Chef  anzustellen«  ? . . . 

Seitdem  beim  Handelsgericht  Prozesse  geführt 
werden,  haben  die  Richter  sicherlich  niemals  Emotionen 
durchgemacht  wie  bei  diesem,  in  dem  sich  alle  Ver- 
worfenheit des  Pressetreibens  vor  ihnen  enthüllte,  als 
ob  sie  nicht  über  den  Geldanspruch  eines  gekündigten 
Redakteurs,  sondern  über  das  Wesen  der  Preßkorruption 
zu  urteilen  hätten.  Nicht  wieviel  die  ,Zeit*  schuldig 
ist,  war  das  Ergebnis  der  Verhandlung,  sondern  daß 
sie  schuldig  ist.  Mögen  menschliche  Unzulänglich- 
keiten, die  Unverträglichkeit  von  Temperamenten, 
alle  Böswilhgkeiten  von  Chefs  gegen  Angestellte 
entschuldbarer  machen,  offenkundig  ist  die  mala  fides 
der  Herausgeber  der  ,Zeit'  gegenüber  der  Öffentlich- 
keit, die  man  getäuscht  und  auf  Jahre  hinaus  um 
die  Hoffnung  auf  eine  reine  Presse  betrogen  hat. 
Weg  mit  dem  Schund!  Hätten  wir  einen  Groben 
Unfug-Paragraphen,  er  müßte  angewendet  werden  auf 
den  vor  keinem  Pissoir  haltmachenden  Reklamelärm 
dieser  Nichtskönner.  Daß  sie  nicht  nur  die  Öffentlich- 
keit malträtieren,  sondern  sich  selbst,  haben  wir  erst 
aus  dem  Prozeßbericht  erfahren.  Mit  Staunen  las  man 
die  Kernsätze:  »Die  Hälfte  der  Redakteure  ist  schon 
hin.«.  . .  »Um  drei  Uhr  früh  lösen  wir  Chefs  uns  bei 
der  Arbeit  ab  und  können  uns  bloß  bei  der  Maschine 
sprechen«  . . .  »Auspitz  sagte  mir,  daß  Kanner  Wut- 
anfälle habe,  während  welcher  er  Papiere  und  auch 
schwere  Gegenstände  zu  Boden  werfe«  . . .  »Singer  sagte, 
man  darf  Kanner  in  seinen  Vorarbeiten  nicht  stören, 
denn  er  braucht  Nachtwandlersicherheit«  .  . .  »Kanner 
warf  einmal  ein  Tintenfaß  zu  Boden«  . . .  »Autokrat« . . . 


»Kanner  spricht  nicht,  sondern  schreit«  . . .  »Ich  hätte 
auch  Familienvater  werden  können«  . . .  »Ich  hatte 
die  Befürchtung,  daß  ich  die  Last  nicht  werde  ertragen 
können,  und  habe  mich  von  fünf  Ärzten  untersuchen 
lassen,  besonders  Augen  und  Magen«  . . .  »Kanner 
hat  einen  Magenkrampf  bekommen;  stören  Sie  ihn  in 
seiner  Nachtwandlersicherheit  nicht!«  ...  »Opfer  ge- 
bracht« . .  .»Lebensaufgabe«  . . .  »Lebensarbeit«  . . .  »Die 
anderen  haben  geträumt,  wir  haben  gehandeltl«... 
Ja,  um  Himmelswillen,  was  ist  denn  los?  Ging  da 
ein  neuer  Bismarck  daran,  ein  Reich  zu  hämmern? 
Oder  kamen  zwei  Jüdlein  aus  Galatz,  um  ein  »farb- 
loses Nachrichtenblatt«  zu  machen?  Wenn  das 
»Handeln«  so  anstrengend  ist,  ist  das  gewiß  be- 
dauerlich; wenn  es  aber  so  geräuschvoll  betrieben 
wird,  werden  sich  die  Hausbewohner  Ruhe  zu  ver- 
schaffen wissen  I  Ist  es  erhört,  daß  Zeitungsleute, 
deren  Dasein  durch  keinen  persönlichen  Zug, 
keinen  neuen  Gedanken,  keinen  Tropfen  Humors 
entschuldigt  wird,  das  Publikum  fortwährend  mit 
ihrem  internen  Weh  und  Ach  behelligen?  Man  muß 
sie,  um  den  grimmigen  Kontrast  von  Ursache  und 
Wirkung  zu  erfassen,  in  mehreren  Gerichtsverhand- 
lungen persönlich  in  Augenschein  genommen  haben: 
Herrn  Isidor  Singer,  den  nur  die  Großmannssucht  treibt 
und  der  Ehrgeiz,  als  »Prinzipal«  anerkannt  zu  werden, 
und  Herrn  Kanner,  der  seine  Parvenurechte  schon 
gewaltsamer  betätigt.  Neben  Singer,  der  wirk- 
liche Verdienste  um  das  Blatt  hat,  indem  er  das 
elektrische  Licht  überall  abdreht,  wo  es  überflüssiger- 
weise brennt,  berührt  die  Persönlichkeit  seines  un- 
produktiveren Genossen,  der,  da  er  nicht  mehr  Minister 
stürzen  darf,  Redakteure  stürzt,  recht  wenig  sympathisch. 
Singer's  geistige  Genügsamkeit,  die  sich  treuherzig  in 
dem  Geständnis  offenbarte.  Kanner  habe  ihm  einmal 
zugerufen,  er  rede  von  einer  redaktionellen  Angelegen- 
heit »wie  der  Blinde  von  der  Farbe«,  ist  ein  über- 
wiegend mildernder  Umstand :  an  diesem  Manne  wird 


—  10  — 

—  vom  Ästhetischen  natürlich  abgesehen  —  die  ganze 
Tendenz  des  Antisemitismus  zuschanden,  um  sich 
erst  an  Herrn  Kanner's  Wesensart  wieder  zu  erholen. 
Hier  arbeitet  eine  aufreizende  Kniffigkeit  mit  den 
kleinen  Mitteln  osteuropäischer  Kultur.  Wenn  Isidor 
Singer  einen  Ausgleich,  der  ihm  um  4000  Kronen 
billiger  zu  stehen  gekommen  wäre  als  der  »Sieg«, 
scjheitern  läßt,  um  die  Besucher  seiner  Jours,  die  im 
Saale  anwesend  sind,  nicht  um  den  Genuß  seiner 
»großen  Rede«  zu  bringen,  wenn  er  nach  den  nieder- 
schmetternden Gerichtstagen  im  Briefkasten  von 
einem  »gewonnenen  Prozeß«  spricht  und  für  die  »in 
verschiedenen  Zuschriften  uns  ausgesprochenen  Glück- 
wünsche« dankt,  so  wird  man  über  diese  dummen- 
augusthafte  Outrierung  eines  eitel  beschränkten 
Sinnes  lachen.  Die  geringere  Gutartigkeit  des  Herrn 
Kanner  verrät  sich  in  dem  Abdruck  des  richterlichen 
Urteils,  in  dessen  Begründung  ein  Satz  dreist  hinein- 
gefälscht wird,  den  —  der  Advokat  der  ,Zeit'  ge- 
sprochen hat:  Das  Beweis  verfahren  habe  »die  voll- 
ständige Haltlosigkeit  der  Behauptungen  über  die 
unerträglichen  Zustände  und  speziell  das  Benehmen 
des  Chefredakteurs  gegenüber  den  Redakteuren  er- 
geben«. Ein  schnurgerader  Verstand  und  ein  völliger 
Mangel  an  Temperament  entkleiden  Herrn  Kanner's  Ge- 
fährlichkeit zwar  nicht  ihrer  Intensität,  wohl  aber 
jedes  ästhetischen  Reizes.  Das  ist  die  unerquickliche 
Art  von  Händlerschlauheit,  die  durch  das  Mitwägen 
der  Emballage  übervorteilt,  das  ist  jene  kleine  Ge- 
rissenheit, die  imstande  ist,  einen  tauben  Sekretär 
anzustellen,  damit  er  vor  Gericht  wahrheitsgemäß 
bezeuge,  er  habe  keinen  Skandal  im  Zimmer  des  Chefs 
gehört,  und  nicht  Grauen,  sondern  Unbehagen  flößt 
die  Erscheinung  dieses  Mannes  ein,  dessen  kribbelige 
Beredsamkeit  auf  die  Haut  wie  Ameisenlaufen  wirkt. 
Wer  die  Kompagnie  vor  Gericht  gesehen  hat,  den 
kann  der  Anblick  eines  Blattes  nicht  mehr  ent- 
täuschen,  dem  farblose  Beschränktheit  und  blutarme 


—  11  — 

Tücke  das  geistige  Gepräge  leihen.  Auch  den  Auf- 
lösungsprozeß der  jZeit*,  der  vor  dem  Handelsgericht 
spielte,  hat  lähmende  Langweile  begleitet,  Langweile 
begleitet  die  ,Zeit'  zum  AJbgrund.  Was  aber  tut  selbst 
ein  Abgrund,  wenn  er  sich  vor  einem  Blatte  wie  dem 
der  Herren   Singer  und  Kanner  öfifnet?   Er  gähnt  1 


Une  campagne  abomlnable. 

Unter  diesem  Titel  bringt  das  ,Echo  de  Paris' 
vom  10.  Januar  einen  vortrefflichen  Artikel  über  die 
»campagne  de  calomnies«  gegen  die  Prinzessin  Louise 
von  Coburg,  deren  Schauplatz  das  ,Neue  Wiener 
Journal'  und  deren  Stratege  der  Hof-  und  Polizei- 
advokat Dr.  Bachrach  ist,  während  der  prinzliche 
Feldherr  sich  weit  außer  Schußlinie  hält.  Das  ,Echo 
de  Paris'  zitiert  die  jüngste  Niederträchtigkeit  der 
neuen  Wiener  Journaille  gegen  die  unglückliche  Prin- 
zessin und  fügt  hinzu:  »Cette  Ironie  d'un  goüt 
d^testable  a  produit  une  tr^s  mauvaise  impression  sur 
le  public  qui,  ^mu  par  les  appels  de  quelques  jour- 
naux  allemands,  et  surtout  de  la  ,Packer  de  Vienne, 
recommence  ä  s'intdresser  ä  la  Situation  de  la  prin- 
cesse.«  Von  den  Stimmungsnotizen,  die  über  die  Ver- 
schlimmerung des  Zustandes  der  Prinzessin  in  regel- 
mäßigen Intervallen  in  der  Wiener  Presse  auf- 
tauchen, heißt  es:  »On  dit  que  ses  articles,  repor- 
tages  et  interviews  n'dmanent  pas  de  l'initiative 
des  journaux  qui  les  publient,  mais  qu'ils  sont 
inspirds.  On  nomme  l'avocat  qui  les  inspire 
et  le  personnage  qui  inspire  l'avocat«.  Es 
folgt  eine  eingehende  Schilderung  der  Machinationen 


—  12  — 


^egen  Louise  von  Coburg,  um  auch  das  französische 
Publikum  zu  der  Erkenntnis  zu  bringen,  die  allen 
anständigen  Menschen  in  Österreich  längst  feststeht: 
»Que  les  indiscr^tions  —  die  Nachrichten,  die  an- 
geblich aus  der  Heilanstalt  in  Coswig  stammen,  trotz 
der  Arztespflicht  des  Schweigens  —  sont  voulues, 
c'est  ä  dire  ordonn^es,  et  que  ceux  qui  les 
ordonnent  ont  un  intöröt  ä  les  ordonnerc  .  .  . 


Eine  drollige  Rundfrage  in  ernster  Sache  hat  das  »Deutsche 
Volksblatt'  veranstaltet.  Sämtliche  Wiener  Theater-  und  Variet6- 
direktoren  versichern  nach  der  Brandkatastrophe  in  Chicago  über- 
einstimmend, daß  in  ihrem  Haus  das  Publikum  am  sicher- 
sten sei.  Herr  Direktor  Mahler  hebt  besonders  hervor,  daß 
das  Opemgebäude  dem  Besucher,  >gleichgiltig,  ob  er  Logen-, 
Parkett-,  Parterre-  oder  Galleriebesucher  ist  —  breite  Zugänge 
bietet.«  In  der  Stunde,  in  der  ich  dies  Gutachten  las,  erhielt  ich 
den  Brief  einer  Persönlichkeit,  die  in  öffentlichen  Dingen  ein  ge- 
wichtiges Wörtchen  zu  sprechen  hat:  »Würden  Sie  nicht  etwa 
geneigt  sein,  aus  Anlaß  des  Theaterbrandes  in  Chicago  die  Aus- 
gänge des  Parketts  unserer  Hof-Oper  zu  schildern?  Ich  bin 
überzeugt,  daß  bei  einer  aus  irgendwelchem  Anlasse  eintretenden 
Panique  der  allergrößte  Teil  der  Parkettbesucher  ums  Leben  käme. 
In  dem  engen  winkligen  Gang,  in  dem  man  über  meh- 
rere Stufen  hinab  und  durch  eine  überaus  enge  Pforte  hindurch 
vom  Parkett  zur  Garderobe  kommt,  würden  Menschen  zu  Hun- 
derten erdrückt  und  zertrampelt!  Ich  bin  überzeugt,  daß  Sie  durch 
eine  genaue  Schilderung  dieses  Engpasses  sich  großes  Verdienst 
erwerben  würden«  .  . .  Jeder  einzelne  Direktor  legt  den  größten 
Wert  auf  die  Feststellung,  in  wieviel  Minuten  sein  Theater  erfor- 
derlichen Falles  geleert  sein  kann.  Da  muß  man  nun  wirklich 
bedauern,  daß  die  Herren,  die  in  der  Prognose  so  gut  überein- 
stimmen, ihre  Zuschriften  nicht  kollationiert  haben.  Sicher  wäre  dann 
manche  Behauptung  unterblieben,  welche  jetzt  durch  die  bloße  Neben- 
einanderstellung der  Gutachten  als  Übertreibung  enthüllt  wird.  Das 
Deutsche  Volkstheater  ist  inlVa,  das  Jubiläumstheater  in  3,  dasRai- 


—  18  — 

mundtheater  in  4,  das  Theater  in  der  Josefstadt  in  2,  dasTTieater  an  der 
Wien- wenn  ich  nicht  irre,  das  größte -in  1  und  das  Jantschtheater  — 
das  kleinste  —  in  5  Minuten  zu  leeren.  Am  besten  ist  Herr 
Karezag:  >Auf  Ihre  gefl.  Anfrage  wage  ich  ruhig  zu  behaupten, 
daß  das  Theakr  an  der  Wien  eines  der  sichersten,  wenn  nicht 
das  sichersre  Theater  Wiens  bei  Feuersgefahr  ist.«  Es  ist  gut, 
daß  der  Eindruck  dieser  Paprika -Schlesinger -Offerte  durch 
das  bescheidene  Geständnis  gemildert  wird,  daß  das  Theater  an 
der  Wien  in  der  Ära  Karezag  »ohne  Gedränge  in  einer  Minute 
geleert«  ist.  Der  Aufenthalt  auf  den  Gallerien  dieses  hundertjährigen 
Hauses  ist  geradezu  verlockend:  >Die  Galleriebesucher  kommen 
in  jedem  Stockwerk  an  Fenstern  vorbei,  die  ins  Freie 
und  auf  sichere  Plätze  führen.«  Trotzdem  fügt  Herr  Karezag 
noch  eine  Lehre  hinzu:  »Wer  ruhig  bleibt,  kommt  immer  sicher 
ins  Freie«  und  spielt  den  letzten  Trumpf  der  himmlischen  Schutz- 
vorrichtung aus:  >Gott  soll  uns  vor  jeder  Gefahr  bewahren,  aber 
auch  in  der  Gefahr  nicht  verzweifeln  lassen.  Hochachtungsvoll 
die  Direktion« . . .  Auch  auf  den  Gallerien  des  Carltheaters  ist  man 
so  sicher  wie  bei  sich  zuhause  (wenn's  im  Bett  brennt),  und  da 
ohnedies  in  den  Zwischenakten  fortwährend  »frisch  Wasser !«  gerufen 
wird,  so  ist  jede  Feuersgefahr  ausgeschlossen.  In  dem  berühmten 
>Colosseum«  aber  sind  sämtliche  Bedienstete  mit  Signalpfeifchen 
versehen,  und  die  Artistinnen  müssen  sich  beim  Haarbrennen 
elektrischer  Apparate  bedienen...  »Alles  gerettet!« 


Sie  aßen  so  fröhlich  beisammen  und  hatten 
einander  so  lieb,  die  Advokaten  und  die  Richter.  Alle 
gegenseitigen  Beschwerden  schienen  sich  in  ge- 
meinsame Magenbeschwerden  auflösen  zu  sollen. 
Bei  guten  Reden  floß  der  Champagner  munter  fort. 
Der  Vizepräsident  der  Advokatenkammer  sprach  von 
Fortschritt  und  Freiheit,  welche  die  Advokaten  immer 
hochzuhalten  haben,  und  die  anwesenden  Richter 
:  gelobten  im  Stillen,  sich  jeder  Einmischung  in  diese 
Obliegenheit  der  Advokaten  zu  enthalten.  Nachdem 
hierüber  volle  Einmütigkeit  erzielt  war,  ließ  man  dem 


192 


14  — 


Küchenchef  mitteilen,   es   sei  Zeit,   mit  dem  Brati 
der  Hühner  zu  beginnen,  da  jetzt  der  Ministerpräside 
das  Wort  ergreife  und  Herrn  v.  Koerber's  Tischred( 
erfahrungsgemäß  etwa  die  Zeit  der  Zubereitung  ein 
Poulards  ausfüllen.  Der  Leiter  des  Justizministeriur 
rief  die  Tafelgenossen  als  Zeugen  dafür  auf,   daß 
»sich  seine  eigenen  Gedanken  mache«,  und  gab  den 
zwei  zum  besten.    Der  Zweck  der  Reform  des  Zivi 
Prozesses  sei  kein  anderer,  als  in  ihm  den  Grundsa 
zur  Geltung  zu  bringen,  daß  ein  fetter  Prozeß  bess 
ist   als   ein  magerer  Vergleich,  —   eine   Auffassun 
durch   welche  die  Advokaten  augenblicklich  zu  A 
hängern  der  Reform  bekehrt  wurden.  Der  Grundsa 
der  Strafjustiz   aber  laute:     »Der   schuldige   Urheb 
einer   strafbaren    Tat   ist   entweder   der   Strafe    od 
dem  Irrenhause  zu  überantworten!«   Herr  v.  Koerl 
erkannte    also    ausdrücklich    an,    daß    auch    künft 
Personen,    welche    als     unzurechnungsfähig    erkan 
werden,  nicht  mit  Gefängnis  werden  bestraft  werc 
dürfen,    und  die    Gerichtspsychiater   können   darüt 
beruhigt  sein,   daß  sie  wie   bisher  unentbehrlich  s€ 
werden,     um    die    Irrenhäuser    vor    Überfüllung 
schützen.  Blutdurst  und  Expensenhunger,  ward  neuli 
hier    gesagt,    würden    sich    im    Sofiensaal    zur    Ta 
setzen;    Herr  v.  Koerber  hat  die  Richter,  die  an  c 
Tafel    saßen,    durch    die    Erklärung    beruhigt, 
Schwäche   soll  das    Gerichtsverfahren    niemals   an^ 
kränkelt    werden«,    und    die    Advokaten    durch 
Versprechen,    daß    »ein   einmal   eingeleiteter   (Ziv 
Prozeß  in  der  Regel  auch  nur  durch  einen  Gerieb 
Spruch  beendet  werden  sollte«  und  nicht  durch  V 
gleich.     So   sind    denn    die    Geister   einig   geword 
Unklar  ist  nach  den  Zeitungsberichten  über  das  P 
im  Sofiensaal  bloß,  in  welchem  Kostüme  die  Teilnehr 
erschienen  waren:    Herr  v.  Koerber  behauptete,   i 
sei  zumute,  als  ob  er  von  seinem   steilen   politiscl 
Gipfel  in  eine  »tiefer  gelegene  Almhütte  unpolitisc 
Menschen«  gekommen  wäre,  und  es  muß  also  inmit 


-  16  - 


H^räcke  auch  Älplertrachten  gegeben  haben.  Die 
ter  hatten,  wie  es  scheint,  diese  Festgewandung 
assend  gehalten.  Eine  noch  ungewöhnlichere  aber 
!n  die  Advokaten  gewählt;  ihr  Sprecher  erklärte, 
ätten  früher  den  Harnisch  getragen,  aber  »nur 
leute  den  Schlafrock  angezogen«.  So  seitsam  war 
äußerlich  das  Bild  der  Vereinigung  von  Richtern 
Advokaten.  o 


Aus  einem  Bericht  des  »Vorwärts'  in  Berlin  über  einen 
ssungsprozeß,  den  dort  die  Versicherungsgesellschaft  »Viktoria« 
irt  hat:  > Direktor  Thon  von  der  ,Viktoria'  gab  an,  in  dem 
ler  Witzblatt  ,Pschütt'  seien  unwahre  Angaben  über 
Viktoria'  veröffentlicht  worden.  Die  Direktion  habe  dem 
itt'  durch  Vermittlung  eines  Wiener  Rechtsanwalts  nachweisen 
daß  die  Veröffentlichungen  bezüglich  der  .Viktoria'  auf 
hren  Tatsachen  beruhen,  und  gleichzeitig  sei  die  Redaktion 
enannten  Blattes  ersucht  worden,  weitere  derartige  Veröffent- 
igen  zu  unterlassen.  Aus  diesem  Anlaß  habe  die  Direktion 
dings  14.000  Kronen  in  Wien  deponiert,  aber  ledigHch 
^nwaltshonorar.  Über  solche  Höhe  eines  Anwalts- 
5rars  waren  Staatsanwalt  undRichter  sehrerstaunt, 
rtor  Thon  bemerkte  jedoch,  es  sei  mit  dem  Anwalt  ausdrücklich 
nbart  worden,  daß  Redakteure  oder  Mitarbeiter  des 
tes  von  dem  Gelde  nichts  erhalten  dürften,  damit 
cht  den  Anschein  habe,  als  wolle  die  ,Viktoria'  das  Schweigen 
^resse  erkaufen.«  . , .  14.000  Kronen  Anwaltshonorar  —  die 
ler  Advokaten  werden  darüber  noch  mehr  erstaunt  sein  als 
Berliner  Gerichtspersonen.  Aber  wie  unwirtschaftlich  muß 
fiiner  Versicherungsgesellschaft  gearbeitet  werden,  die,  bloß 
len  Schein  zu  wahren,  dem  Advokaten  für  seine  Bemühungen 
das  Schweigen  eines  einzigen  Blattes  eine  Summe  auszahlt, 
der  man,  wenn  sie  zru  Preßbestechungen  verwendet  würde,  ein 
:s  Dutzend  solcher  Blätter  kaufen  könnte!  Solche  Ver- 
endung  läßt  sich  nur  durch  eine  satanische  Freude  an  der 
eit  erklären:    zweifellos  hat   man   das   Witzblatt   von    dem 


—  16  — 

14.000  Kronen-Depot  wissen  lassen,  aber  ihm  die  Vereinbarung  i 
dem  Advolcaten  über  seine  Verwendung  verschwiegen.  Ist  also  c 
Witzblatt  wirklich  düpiert  worden,  und  haben  journalistis«; 
Erpressungsversuche  in  Wien  l^einen  andern  Erfolg,  als  den  Ad\ 
katen  der  angegriffenen  Unternehmungen  zu  einem  glänzend 
Einkommen  zu  verhelfen?  Die  Preßkorruption  als  Mittel,  den  Adi 
katenstand  zu  fördern,  —  diese  Kulturmission  ist  bisher  noch  nie 
gewürdigt  worden.  Wenn  man  nur  wüßte,  wieviel  von  den  14  000 
der  Advokat  der  »Viktoria«  unter  Barauslagen  verrechnet  hj 


Dronze  oder  Stahl?  Der  Streit  wütet  fort,  ab< 
die  Entscheidung  ist  gefallen.  Wir  bekommen  Kanone^ 
röhre  aus  Bronze.  Wohl  uns  und  —  der  Kunst!  »ReÜ 
die  Kreuze  aus  der  Erden,  alle  müssen  SchwerU 
werden!«,  hat  einst  Herwegh  gesungen.  Möge  uri 
wenn  künftig  der  Krieg  ins  Land  kommt,  ein  b' 
geisterter  Künstler  erstehen,  der  da  ruft:  Schmel 
die  Monumente  des  Zumbusch  ein,  alle  müssen  Kanone 
sein!  Die  Geschützprüfungskommission  hat  Herz  fi 
die  Kunst  bewiesen.  Wenn  sie  den  Stahl  gewäh! 
hätte,  würden  die  Denkmäler  von  Zumbusch  ewi 
stehen.  i    ' 

• 

»Hine  Frage:  Gibt  es  heutzutage  überhauf 
noch  verkannte  Künstler?«  Der  Musikkritiker  de 
,Neuen  Freien  Presse*  wirft  die  Frage  auf,  weil  i 
Wien  ein  Verein  unter  dem  Namen  Konrad  Ansorge' 
—  wie  vielsagend  ist  es,  daß  uns  dieser  Name  s 
wenig  sagt  I  —  daran  geht,  lebenden  Tonkünstler 
Gehör  bei  einem  Publikum  zu  verschaffen,  das  fü 
die  Tonschwingungen  der  modernen  Seele  feinhörige 
ist  als  die  zünftige  Kritik.  Und  Herr  Korngold  erteil 
sich  die  Antwort:  »Es  ist  in  unserer  Zeit  schwei 
nicht  überschätzt  zu  werden.     Die  gesteigerte  Publi 


-17- 


Mtät,    das   geschäftige  Interesse   an    der  Kunst   und 

künstlerischen  Fragen,  die  Suche  nach  neuen  geistigen 

>onsationen  holt  jedes  Talentchen  aus  seinem  Winkel. 

'iS  lebt  eine  gewisse  Angst  in  der  Mitwelt  vor   dem 

ächelnden  Vorwurf  der  Nachwelt.«    Wehmütig  muß, 

ils  sein  Nachfolger  so  perorierte,  der  greise  Hanslick 

genickt  haben:  Ja,  wir  sind  weit  gekommen,  seitdem 

iurch  die  »gesteigerte  Publizität«  der  Glaube  an  die 

Jnfehlbarkeit  der   ,Neuen  Freien  Presse'  erschüttert 

ind   die   Warnung,    die    »Talentchen«    eines    Anton 

Brückner  und  Hugo  Wolf  nicht  zu  »überschätzen«, 

Qißachtet  ward.     Aber  die  ,Neue  Freie  Presse*  darf 

ich  rühmen,  daß  sie  sich  bis  zum  heutigen  Tag  treu 

\  iieblieben  ist,    und  wenn  Herr  Korngold   versichert, 

«ikonrad   Ansorge   verhalte   sich   zu  Hugo   Wolf  wie 

pheodor   Kirchner   zu   Schumann,    will    er    natürlich 

aicht  Wolf  durch  den  Vergleich  mit  Schumann  ehren, 

ondern  bloß  Ansorge  durch  den  Vergleich  mit  Kirchner 

llierabsetzen.     Nieraals    hat   die  Musikkritik    aus    der 

5I  i'ichtegasse  in  einem  »geschäftigen«  Interesse  für  die 

jlunst   vor    der    Nachwelt    gebangt,    und    statt    des 

ji  ^chelnden  Vorwurfs  der  Unterschätzung  ward  höchstens 

l\  ler  entrüstete  der  Überschätzung  bei  einer  Nachwelt 

fskiert,    von    der   Herr  Charles  Weinberger,    weil   er 

er  Mitwelt  nicht  Spaß  zu  machen  vermag,  sprechen 

arf.     Andere  Zeiten  mit  anderen  Liedern  sind  ge- 

ommen,    aber  der    liberale  Stumpfsinn  hört   immer- 

j  mit  den  alten  Ohren.  Während  jedoch  Herr  Korn- 

4old    bei  Ansorge  schüchtern   die  bewährte   Methode 

if'Btätigt,   beweist  der   unentwegte  Kalbeck  den  Mut, 

i|e  heute  noch   bei  Hugo  Wolf  anzuwenden.     Es  ist 

^  lerrn  Kalbeck's  Ehrgeiz,  zu  zeigen,  daß  er  von  Beruf 

!  t,    was   er   durch    Berufung    nicht    werden    konnte, 

^cianslick's  wahrer  Nachfolger,  und  wenn  sich  jüngere 

fsf'unstfeinde  mit  dem  Starrsinn  musikalischer  Gewohn- 

.  ^itstiere    gegen   neue   Kunsteindrücke  wehren,    gibt 

-■   sich  mit  der  neuesten  Kunst  nicht  erst  ab  und  wehrt 

!f«  ch  immer  noch  mit  dem  alten  Haß  gegen  Künstler, 


18 


die  dem  Leben  entrückt  sind,  baut  ihnen  aus  dem 
alten  Unflat,  mit  dem  er  sie  zeitlebens  beworfen, 
Grabdenkmäler.  Im  neuen  Jahre  Ansorge  zu  verkennen, 
hat  der  Mann  wahrhaftig  nicht  nötig,  der  das  alte 
Jahr  mit  der  Verunglimpfung  Hugo  Wolfs  beendigt 
hat.  Wolfs  »Elfenlied«  und  »Peuerreiter«  sind  ihm 
»dankbare  pittoreske  Tonstücke  von  nicht  gerade  tiefem 
Gehalt«.  Von  der  »Christnacht«  erklärter:  »Chor  und 
Orchester  verrät  eine  fast  bemitleidenswerte  Dürftigkeit 
des  Gefühles  und  den  bittersten  Mangel  an  edler 
musikalischer  Kunst.«  Wolf  habe  das  Gedicht  »mit 
den  bunten  kreidigen  Farben  seines  Chors  und  dem 
falschen  Flittergolde  seines  Orchesters  übertüncht  und 
beklebt,  dergestalt,  daß  es  ein  fast  barbarisches  Aus- 
sehen gewonnen  hat«;  es  ist  ein  »ewiges  Glitzern  und 
Gleißen  der  Instrumente«,  das  die  »gequälten  oder 
trivialen  Melodien  der  Singstimmen«  begleitet.  Herrn 
Kalbeck's  endgiltiges  Urteil  über  Hugo  Wolf  aber 
lautet:  »Wo  es  sich  darum  handelt,  den  Musiker 
von  Erfindung,  Gemüt  und  Seele  zu  zeigen,  ist  Hugo 
Wolf  nur  ausnahmsweise  einmal  zu  sprechen«.  Man 
könnte  zweifeln,  ob  kritische  Äußerungen  wie  diese 
für  Bösartigkeit  der  Gesinnung  oder  für  Borniertheit 
des  musikalischen  Sinns  zeugen,  und  man  sollte  dabei 
erwägen,  daß  Dummheit  meist  verdirbt,  aber  Ver- 
derbtheit selten  dumm  macht.  Ist  indes  die  Beschränkt- 
heit eines  Kritikers  minder  gefährlich  als  Beckmesser- 
Bosheit?  Nirgends  ist  die  Kultur  mehr  bedroht,  als 
wo  der  Ohnmacht,  zu  verstehen,  die  Macht  verliehen 
ist.  Und  es  handelt  sich  nicht  um  Herrn  Kalbeck's 
Persönlichkeit,  wenn  Hugo  Wolf  geschmäht  wird  und 
wenn  wir  —  im  selben  Feuilleton  des  ,Neuen 
Wiener  Tagblatt',  in  dem  solches  geschah  —  lesen, 
daß  nur  der  Schwung  des  philharmonischen  Orchesters 
unter  Nikisch'  Führung  die  Zuhörer  über  das  »chro- 
matische Elend«  der  Faust-Ouvertüre  Wagner's  habe 
hinwegreißen  können.  Unerträglicher  als  Herr  Kalbeck 
ist  die  gemeine  Stupidität  eines  Publikums,  das  sich 


19  — 


auch  heute  noch  nicht  über  ihn  empört,  so  wie  es 
sich  nicht  empört  hat,  als  er  im  März  1899  von 
Bruckner's  a  dur  Symphonie  schrieb,  sie  unterscheide 
sich  von  den  anderen  Symphonien  des  Komponisten 
»höchstens  durch  die  größere  Schwäche  ihrer  Erfindung«, 
und  als  er  den  größten  Symphoniker  nach  Beethoven 
mit  den  Worten  brandmarkte :  »Impotenz  des  Römlings, 
dessen  geistiger  Horizont  ewig  von  Weihrauchwolken 
umnebelt  war.«  a. 


Von   dem  Herausgeber  des  Weininger'schen   Nachlasses 
erhalte  ich  die  folgende  Zuschrift: 
Sehr  geehrter  Herr! 
Ich  bitte  Sie,  folgende  Zeilen,  welche  auf  die  in  der  , Fackel' 
vom  23.  Dezember  enthaltenen  Bemerkungen  über  die  Weininger- 
Biographie  Bezug  nehmen,  freundlichst  veröffentlichen  zu  wollen; 
Ad  1.)  und  2.):    Ich  bin  zu  wiederholtenmalen  Augenzeuge 
der  in  der  Biographie  erwähnten  Szenen  gewesen. 

Ad  3.):  Die  Darstellung  seines  Gesundheitszustandes  ist 
wiederholten  eigenen  Aussagen  des  Verstorbenen  entnommen. 

Hochachtungsvoll 
Wien,  den  31.  Dezember.  Moriz  Rappaport. 

Der  Vater  Otto  Weininger's,  dem  ich  diese  Zuschrift  vorwies, 
bedauert  die  Nötigung,  neuerlich  in  dieser  schmerzlichen  Sache  das 
Wort  zu  ergreifen,  und  beklagt  die  Hartnäckigkeit,  mit  der  der 
Biograph  seines  Sohnes  »jedes  harmlose  Bläschen,  das  sich  auf  der 
Persönlichkeit  des  Verstorbenen  zeigt,  zu  einem  Abszeß  schlimmer 
Art  umzugestalten«  sucht.  Er  verwahrt  sich  gegen  einen  pietät- 
vollen Freundeseifer,  der  durch  Aufpürschung  abnormaler  Züge 
den  Verkleinerern  des  Lebenswerkes  Otto  Weininger's  zuhilfe  eilt, 
und  ersucht  noch  besonders,  die  aufgebauschte  Wiedergabe  der  »drei 
Möglichkeiten«,  die  es  für  seinen  Sohn  nach  dessen  angeblichem 
Bekenntnis  gegeben  haben  soll  (Galgen,  Selbstmord,  glanzvolle 
Zukunft  —  siehe  Vorrede  S.  XIX),  auf  ein  »Kaffeehausgespräch  in 
vielleicht  visionärem  Scherz*  zu  reduzieren,  das  »den  starren  ernsten 


—  20  — 

Ton,  den  der  Herr  Biograph  dabei  anschlägt,  in  keiner  \ 
rechtfertigt«.  Der  Behauptung  aber,  Otto  Weininger  sei  Epilep 
gewesen  —  einer  Behauptung,  die  gewiß  nichts  Ehrenrührig« 
sich  schließe  und  die  geistige  Bedeutung  des  Verstorbenen 
im  geringsten  zu  schmälern  geeignet  erscheine  — ,  hätte  er 
wohl  gehütet  zu  widersprechen,  wenn  auch  nur  der  gerii 
Anhaltspunkt  vorläge,  sie  für  glaubwürdig  zu  halten.  Da 
wiederholt  wird,  bleibe  ihm  nichts  übrig,  als  der  Erklärung 
Herrn  Biographen  das  Zeugnis  des  Arztes  entgegenzustellen: 

5./1.  1904. 

Gefertigter  bestätigt,  daß  er  als  langjähriger  Hausarzt 
Familie  Weininger  mehrfach  mit  dem  am  4.  Oktober  v.  J. 
storbenen  Dr.  Otto  Weininger  verkehrt,  diesen  auch  mehr 
ärztlich  behandelt  hat,  aber  niemals  an  ihm  auch  nur 
geringsten  Symptome  von  Epilepsie,  auch  nicht  ein  sogenar 
psychisches  Äquivalent,  d.  h.  eine  Seelenstörung,  die  bei  man« 
Kranken  an  Stelle  von  epileptischen  Anfällen  auftritt,  bemerkt 

Gefertigter    ist  auch   der   vollsten   Überzeugung,    daß 
Verstorbene  kein  Epileptiker  war. 

VII.  Westbahnstraße  37.  Dr.  J.  Engel  m.  p. 

Ein  Clownscherz  nach  den  traurigen  Erörterungen,  die 
der  voranstehenden  Erklärung  hoffentlich  abgeschlossen  sind; 
gibt  kaum  ein  reichsdeutsches  Blatt,  das  nicht  dem  im  Feuerb 
seines  Geistes  getöteten  Schöpfer  von  >Geschlecht  und  Chara- 
—  dem  übrigens  bald  in  dritter  Auflage  erscheinenden  Werke, 
ernste  Betrachtung  gewidmet  hätte,  und  draußen  ist  um  die  Ja! 
wende  kaum  eine  Revue  der  »berühmten  Verstorbenen«  von  ] 
erschienen,  in  der  nicht  des  Dreiundzwanzigjährigen  auf  ehren\ 
Art  gedacht  worden  wäre.  In  der  Totenschau  der  im  Geburts 
des  Philosophen  erscheinenden  ,Neuen  Freien  Presse',  die  kt 
verewigten  Reporter  oder  Librettisten  unerwähnt  läßt,  ist  der  N 
Otto  Weininger  fürsorglich  ausgemerzt.  Kann  man  sich  Grotesk 
als  diesen  Eifer  vorstellen?  Nun  glauben  diese  größenwahnsinni 
Schwachköpfe  bereits,  daß  sie  —  lebendigschweigen  könr 
Und  das  können  sie  schon  gar  nicht! 


—  21  — 

Die    »Scharfrichter«    sind    dahin,    und   man   kann,    ohne 
Aten  zu  müssen,   Philistern  aus  der  Seele  zu  sprechen,  ge- 
oekennen,   daß   es   nicht  gerade  sensationell  war.    Von   dem 
isenpaar,  das  hier  schon  Peter  Altenberg  gewürdigt  hat,  ab- 
n,  steht  die  Gesamtleistung  unter  dem  Niveau  der  Überbrettelei 
Jradsky  und  Straus,  die  ihrerzeit  ein  Mitarbeiter  der  ,Fackel' 
ein  Gefühl  zu  unsanft  behandelt  hat.  Die  Humore  eines  auf 
labende  vergröberten  Udelquartetts   sind   nicht  der  Comble 
abaretkunst,  und  es  ist  unbegreiflich,  wie  sich  modern  dün- 
Künstler  die   alte  Anekdote  von   der  Notdurft   des  Betrun- 
der den  Wasserstrahl  eines  Springbrunnens  nicht  hemmen 
-  die  bekannte  Verwertung  des  »Mäneken  piß<-Motivs  — ,  wie 
;   Abdominalspässe   der    »Verschönerungskommission«   zum 
geben  können.  —  Da  dies  ausgesprochen  ist,  kann  mit  umso 
em    Nachdruck    gegen    die    Frechheit    der   Wiener   Künst- 
eln protestiert  werden,  die  dem  Publikum  auch  das  wirklich 
.n  den  Darbietungen  der  »Elf  Scharfrichter«  verleidet  haben. 
Wedekind,   dessen  »Rabbi  Esra«   offenbar   nur  durch   eine 
ilige  Darstellung  um  seine  Wirkung  gebracht  wurde,  haben 
{urschen  behandelt,   als   ob  er  mit  Herrn  Buchbinder  die 
ne  gehütet   hätte.    Hätte  Wedekind's  Dialog  auch  an  und 
1  enttäuschen  müssen,   so  bliebe  doch  die  Respektlosigkeit, 
r  dabei  von  dem  faszinierendsten  Dramatiker  Deutschlands 
:hen  wurde,   denkwürdig.    Was  soll  man  dazu  sagen,  wenn 
mtagshumorist  der  ,Neuen  Freien  Presse'  einem  Wedekind 
3er  von   einem    >Tiefpunkt  snobistischer    Humorlosigkeit« 
Oder  wenn  derselbe  Knabe  zugibt,  in  einem  Programm, 
'»mpositionen    von    Gedichten    Liliencron's    und    Dehmel's 
,   habe   »bei   diesem    und   jenem  Lied   auch   der  Text 
gerade  störend  gewirkt«?    Sollte  es  wirklich  einmal 
Errichtung  journalistischer  Schulen  Ernst  werden,  so  muß 
tschieden  für  die  Einführung  der  Prügelstrafe  plaidieren. 


.-ih 


Mer  jGaulois'  hatte  kürzlich  die  »Vernach- 
mg«  von  Heine's  Grab  auf  dem  Montmartre 
t.     Die  , Frankfurter  Zeitung'   stellt   nun 


—  22  — 


fest,  daß  der  Blumenschmuck  des  Grabes  regelmäßi] 
erneuert  und  gepflegt  wird,  fügt  aber  hinzu:  >Da: 
das  Grab  selbst  heute  nicht  mehr  den  rührende] 
Eindruck  hervorbringt  wie  früher,  —  eine  von  viele: 
Besuchern  mit  Bedauern  empfundene  Tatsache  —  is 
die  Schuld  der  Wiener  , Liberalen',  die  unter  Pührunj 
ihres  Herrn  Noske  eines  Tages  Heinrich  Heine  au 
politischen  Gründen  für  sich  entdecken  zu  müssei 
glaubten  und  über  das  wehrlose  schmale  Dichtergra' 
das  protzige  Marmordenkraal  stürzten,  mit  dem  de 
Bildhauer  Herr  Hasselriis  durch  halb  Europa,  von 
Achilleion  bis  Paris,  lange  vergeblich  hausiere] 
gegangen  war.« 

«        • 

tlerr  Dr.  Lueger  wird  jetzt  gefrozzelt,    weil  e 
das  von  Herrn  Zifferer's  Schwiegersohn  erbaute  »Hauj 
der    Kaufmannschaft«    wegen    seines    »weanerischej 
Schan«  lobte   und  sich  unter  den  Festgästen  des  g^ 
adelten  Herrn  Pollack  gütlich  tat.  Vor  zwei  Jahren  noQ 
habe  der  christlichsoziale  Führer  in  einer  Interpellatio 
jene  liberalen  Persönlichkeiten  beschimpft,  die  Geld^ 
für   den   Landtags wahlfonds   sammelten,    um    »durcj 
Stimmenkauf  in  Masse  und  großartige  Bestechung^ 
die   Wahl   von   solchen   Individuen    zu    ermögliche 
welche     die    Interessen    des    jüdischen    Großkapitä 
vertreten«.    Die  Regierung  ward  damals  aufmerksa 
gemacht,  daß  es  sich  »um  Aufbringung  ganz  außei 
ordentlicher  Geldmittel  handeln  müsse«.  Und  unter  d« 
Angegriffenen  habe    sich    Herr  Leopold  Pollack   b 
funden  . . .  Wo  die  Inkonsequenz  des  Herrn  Dr.  Lueg 
liegen  soll,  ist  nicht  einzusehen.  Jetzt,  da  Herr  Polla^ 
geadelt  wurde,  meldet  sich  der  Bürgermeister  wied 
zum    Wort,    weil     es    sich     eben     neuerdings     »u 
die   Aufbringung  ganz   außerordentlicher   Geldmitf 
gehandelt  haben  muß«  .  .  . 


I        Leopold  Pollack 


—  28  — 

Regierungskassabuch. 

(Dezember  1903) 


Biedermann-Turonyi 


Ritt,  von 


Baron 


160.000  Kr.  (Rabatt!) 


500.000  Kr. 


ANTWORTEN  DES  HERAUSGEBERS. 

-  Gewerbeinspektor.     Am  19.  Dezember   erhielt   ich  das  folgende 

treiben:  >Heute  Höteldirektor,  kann  ich  Ihnen  nur  aus  vollem  Herzen 
Sflr  den  in  Nr.  149  der  »Fackel'  gebrachten  Artikel  .Kellnerjungen' 
)!  lanken.  Auch  ich  war  einmal  Kellnerjunge.  Und  wenn  ich  heute  als 
ierzigjähriger  Mann  einem  fünfzigjährigen  ähnlich  sehe,  so  ist  dies 
/ohl  auf  die  Überanstrengung  und  die  Mißhandlungen  meiner  Jugend- 
ihre  zurückzuführen.  Sie  können  in  dieser  Sache  nicht  scharf  genug 
;eißeln!<  Ja,  wenn's  nur  jeder  Piccolo  bis  zum  Hoteldirektor  brächte! 
iber  manche  gehen,  aus  Furcht  vor  ausbeutenden  Wirten  und  befrackten 
/lißhandlungsgehilfen,  vorzeitig  in  die  Donau. 

Theaterfreund.  Es  ist  zu  dumm !  Weil  jetzt  endlich  in  den  Ber- 
iner  Theatern  Sicherheitsmaßregeln  getroffen  wurden,  die  seit  dem 
^ingtheaterbrand  allen  Theatern  in  Österreich  vorgeschrieben  sind, 
amentiert  Herr  Paul  Lindau:  »Alles  um  uns  her  gemahnt  uns  mit 
irutal  eindringlicher  Fürsorge  an  die  Lebensgefährlichkeit  unserer  harm- 
osen  Theaterfreude«.  Und  für  den  Nachweis,  daß  die  Sicherheitsvor- 
i:ehrungen  der  Wiener  Theater  den  Berlinern,  wenn  sie  bei  ihnen  ein- 
jeführt  werden,  alle  Theaterlust  vergällen  und  beständige  Todesangst 
iinjagen  müssen,  hat  sich  Herr  Lindau  den  Feuilletonraum  der  — 
Neuen  Freien  Presse'  ausgesucht.  »Von  allen  diesen  Sicherheitsvor- 
:ehrungen<,  erzählt  er,  (,N.  Fr.  Presse',  12.  Januar),  »habe  ich  den 
;isernen  Vorhang  am  meisten  auf  dem  Strich« ;  unerträglicher  als  aller 
Jnfug,  den  man  bisher  im  Theater  habe  ertragen  müssen,  sei  »das 
etzt  behördlich  angeordnete  Herablassen  des  eisernen  Vorhangs  in  den 
'ausen*.  Schrecklich,  dieses  »eiserne  Ungetüm  von  vollendeter  Scheuß- 
ichkeit«:  »Ping-pang!  Ping-pang!  Mit  rasselndem  Oestöhne  wird  das 
:iserne  Untier  auf  das  Podium  herabgewunden.  Nur  nicht  ängstlich ! 
Die  brave  Feuerwehr  ist  da  1  .  .  .  Daran  hatten  wir  in  dem  Momente 
mch  gerade  gedacht«.  Zweiundzwanzig  Jahre  lang  haben  wir  Wiener 
jisher  nach  jedem  Aktschluß  die  Courtine  sinken  gesehen,  ohne  daß 
lie  Augen  durch  ihre  Scheußlichkeit  und  die  Ohren  durch  ein  rasselndes 
Oestöhne  beleidigt  wurden.  Aber  nach  dem  Brand  in  Chicago  bat  die 
Neue  Freie  Presse'  Herrn  Paul  Lindau,  uns  die  Erkenntnis  beizubringen, 
laß  durch  das  Herablassen  der  Courtine  nicht  die  Berliner  Theater- 
besucher beruhigt,  sondern  die  Wiener  künftig  beunruhigt  werden 
nüssen.  Es  ist  zu  dumm  1 

Dramatiker.  Es  ist  bei  dem  kargen  Raum,  der  meiner  publi- 
nstischen  Tätigkeit  gegönnt  ist,  und  bei  dem  überreichen  Stoff,  den  ich 
lewältigen  soll,  ganz  ausgeschlossen,  daß  ich  mich,  von  grundsätzlichen 


-24  - 


Erörterungen  abgesehen,  auch  noch  in  jedem  einzelnen  Palle  jedes  ver- 
kannten Talentes  annehme.  Wenn  Ihre  »Erlebnisse  in  Wiener  Theater- 
und  literarischen  Kreisen«  krasser  und  t)rpischer  Art  sind,  so  ersuche 
ich  um  kurzgefaßte  schriftliche  Mitteilung. 

Kulturmensch.  Zu  einer  Polemik  des  Professors  Forel  gegen  den 
Hygieniker  Hueppe  druckt  die  .Arbeiter- Zeitung'  einen  Brief  des 
Psychiaters  ab,  in  welchem  er  erzählt,  daß  er  das  JVlanuskript  seines 
Aufsatzes  vor  einigen  Monaten  der  .Zeit'  übersendet  habe.  Es  wurde 
dort  nicht  gedruckt,  der  Autor  aber,  dem  man  zuerst  überhaupt  nicht 
antwortete,  in  der  schamlosesten  Weise  hingehalten.  Schließlich  hieß  es, 
das  Manuskript  sei  verloren.  >Es  ist  merkwürdige,  schließt  Forel,  >daß 
die  gleiche  ,Zeit'  und  manche  andere  ähnliche  Blätter  mich  wiederholt 
und  dringend  um  Aufsätze  bitten,  wenn  es  ihnen  gerade  in  den  Kram 
paßt,  solche  jedoch  zunächst  nicht  beantworten  und  dann  verlieren,  wenn 
es  ihnen  nicht  in  den  Kram  paßt.  Ich  habe  das  schon  mehrfach  erlebt 
und  werde  immer  vorsichtiger.  Die  .Zeit'  telegraphierte  mir  sogar 
um  einen  Aufsatz  über  die  Prinzessin  von  Sachsen.  Ich 
refusierte  denselben  selbstverständlich,  da  ein  Arzt  über 
seine  Kranken  nicht  schwätzt.  Es  ist  aber  bezeichnend:  Das 
Manuskript  eines  solclttfh  Aufsatzes  wäre  sicher  nicht  ,verloren'  gegangen. 
Sapienti  sat. «...  Nicht  jeder  Gelehrte  hält  so  rein,  j 

Literat.  Nein,  > Zapfenstreich«  ist  keine  Dramatisierung  der 
Bilse'schen  Sensation  und  hat  mit  dieser  nicht  das  mindeste  zu  schaffen. 
Wenn  die  Direktion  des  Deutschen  Volkstheaters  trotzdem  eine  Notiz 
an  die  Blätter  versendet,  in  der  es  heißt :  >  Das  am  Samstag  dem  1 6.  d. 
zur  ersten  Aufführung  gelangende  militärische  Drama  ,Zapfenstreich' 
von  Franz  Adam  Beyerlein  spielt  in  einer  kleinen  deutschen 
Garnison  an  der  französischen  Grenze«,  so  erwächst  aus 
solcher  Methode  bloß  die  bittere  Erkenntnis,  daß  heutzutage  die  Literatur 
an  der  Popularität  des  Schunds  schmarotzen  muß. 

Feuerwehrmann.  >Das  Feuer  entstand  durch  die  Funken  eines 
platzenden  Leitungsdrahtes«  .  .  .  >Über  den  Ausbruch  des  Feuers 
herrscht  noch  keine  Einstimmigkeit.  Unbedingt  feststehend  ist, 
daß  entzündliche  Dekorationsstücke  irgendwoher  einen 
Funken  empfingen«...  >Fast  alle  Stimmen  erklären,  es  lag  das 
uralte  Vergehen  vor,  entzündliches  Material  den  Einflüssen  von 
Feuer  auszusetzen«  .  .  .  >Das  Blitzlicht,  das  für  den  Mondschein 
mit  Hilfe  von  Calcium  erzeugt  wurde...«  ...»Nicht  ein  einziger 
atmete  noch,  als  man  die  zerschmetterten  Leiber  auflas«... 
»Ein  Uraht  hielt  den  Vorhang  in  Zweidrittel  der  Höhe  auf;  er 
wurde  zum  Todesengel«...  In  Chicago  brennt's,  und  der  Wiener 
Blätterwald  steht  in  hellsten  Geistesflammen. 

Berichtigung. 

In  einem  Teile  der  Auflage  von  Nr.  151  (S.  23,  5.  Zeile 
von  oben)  sind  die  Stegreifverse  aus  der  »Schönen  Helena«,  welche 
die  Klytämnestra  spricht,  irrtümlich  der  »Frau  des  Menelaus«  in 
den  Mund  gelegt.  Es  soll  auch  dort  richtig  heißen:  Frau  de» 
Agamemnon. 


Herausgeber  und  verantwortlicher  Redakteur:  Karl  Kraus. 
Druck  von  lahoda  &  Sieeel.  Wien.  III.  Hintere  ZolUmtsttraSe  3, 


I 


153         Erschienen  am   27  Jänner  1904  V.  Jihr 


ie  Fackel 


Herausgeber : 


KARL  KRAUS. 


Erscheint  drei-  oder  zweimal  im  Monat. 


Preis  der  einzelnen  Nummer  24  b. 


'hdruck  and  gewerbsmäßiges  Verleihen  verboten; 

gerichtliche  Verfolgung 

vorbehalten. 

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Die  Fackel 

erscheint  drei-  oder  zweimal   im  Monat  im  Umfange  von 
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Die  Fackel 


Nr    153  WIEN,  27.  JÄNNER  1904  V.  JAHR 


Die  Briefe  der  Prinzessin  von  Coburg. 

Wenn  dieses  Heft  der  ,FackeP  erscheint,  wird  eben 
ein  Justizskandal  beendet  sein,   dessen  Ausgang  ich, 
weil  meine  Geduld  geringer  ist  als  meine  Erbitterung, 
nicht  abwarten  konnte.    Ich   weiß  also,    da  ich  diese 
Zeilen  niederschreibe,  noch  nicht,  ob  der  Zivilrichter, 
der    über    den    Anspruch    des    Besitzers    der   Briefe 
Louisens  von  Coburg  gegen  deren  treulosen  Verwahrer 
|izu  entscheiden  hat,   wenigstens   in   der  zweiten  Ver- 
indlung  stark  genug  war,  die  Abtretung  des  Aktes 
die    Staatsanwaltschaft   zu    beschließen   und   vor 
''erkündung  dieses  Beschlusses  noch  den  zudringlichen 
|,>Nebenintervenienten«,  der  die  Briefe  für  eine  völlig 
iLunbeteiligte  Person,  für  den  Gatten,   ergattern  wollte, 
aus  dem  Saale  zu  weisen.  Ein  widerlicheres  Schauspiel 
als  die  erste  Verhandlung  dieser  Streitsache  ist  uns 
|lange  nicht  geboten  worden,  und  mit  größerer  Selbst- 
lyerständlichkeit  ward  noch  selten  am  hellichten  Tag 
Jer  Versuch  gemacht,  das  Gesetz  zu  Gunsten  der  über 
lem  Gesetze  Stehenden  umzumauscheln.     Herr  Geza 
lattasich  hat  von  der  Prinzessin  Louise  von  Coburg 
Iriefe  und  Photographien   erhalten.     Sie  füllen  zwei 
lartons,    welche  er,    da   er  von  Wien  abreisen  muß, 
jinem  Menschen   namens   Barber,   der  sein  Advokat 
fat,  anvertraut.    Ein  Hallstätter  Cretin,  der  Jus  studiert 
jat,  könnte  nicht  leugnen,    daß  M.   der   Besitzer   der 
Briefe  ist  und  das  Recht  hat,  sie  zu  jeder  beliebigen 
5©it  von  dem  Verwahrer  zurückzufordern.  Dem  Emp- 
fänger gteht  der  Sachbesitz  des  empfangenen  Brief- 


2  - 


papiers  zu,  der  Schreiberin  das  Autorrecht  an  dem 
Inhalt  der  Briefe.  Andere  Rechtsmöglichkeiten  gibt 
es  da  nicht.  Wird  das  Autorrecht  an  den  Briefen  verletzt, 
veröffentlicht  der  Empfänger  sie  gegen  den  Willen  der 
Prinzessin,  so  ist  es  ihr  oder  ihrem  Kurator  gestattet,  den 
strafrechtlichen  Weg  zu  betreten.  Einen  Präventiv- 
schutz gegen  jene  Möglichkeit  gibt  es  nicht.  Nie  aber 
könnte  ihn  der  Vertreter  des  Prinzen  von  Coburg,  als 
der  der  unvermeidliche  Bachrach  in  die  Verhandlung 
hineinschneite,  ansprechen.  Daß  er  dem  Besitzer  der 
Briefe  eine  mißbräuchliche  Verwendung  zumutete,  ist 
eine  Insulte,  deren  Abwehr  Privatsache  des  Herrn 
Mattasich  ist.  Öffentliche  Zurückweisung  erheischt  die 
Beleidigung,  die  dem  gesunden  Menschenverstand 
zugefügt  wird,  wenn  d%r  Vertreter  des  Prinzen  von 
Coburg  seine  »Nebenintervention«  mit  der  Verpflichtung 
begründet,  den  Richter  darauf  aufmerksam  zu  machen, 
daß  »Briefe  ehebrecherischen  Inhalts  nicht  Verkehrs- 
gegenstand sein  dürfen«.  Nun  geht  zwar  der  Inhalt 
dieser  Briefe  den  Herrn  Bachrach  so  wenig  an  wie 
die  Tatsache,  »daß  die  Prinzessin  während  ihrer  Ehe 
in  einer  Weise  mit  dem  Kläger  verkehrte,  die  leider 
Gottes  weltbekannt  ist« ;  aber  diese  Sätze  durften 
gesprochen  werden,  ohne  daß  der  Richter  ein  Wort  dej 
Rüge  für  den  Beleidiger  einer  wehrlosen  Frau  fand! 
Ehebruch  ist  ein  Antragsdelikt;  nach  Herrn  BachracB 
ist  aber  das  Schreiben  zärtlicher  Briefe  an  eine  vonl 
Gatten  verschiedene  männliche  Person  »verboten^ 
Nach  Ansicht  anderer  Juristen  bliebe  es  selbst  nac^ 
Publikation  der  Briefe,  deren  Inhalt  heute  niemand 
außer  der  Absenderin  und  dem  Empfänger  kennen 
darf,  strittig,  ob  der  Gatte  auch  nur  wegen  Ehren- 
beleidigung klagen  könnte.  Aber  Herr  Bachrach  ist 
Hof-  und  Polizeiadvokat,  und  im  Bewußtsein  die-^er 
Machtstellung  durfte  er  es  wagen,  die  mangeli  e 
Befugnis  durch  Mittel  der  Einschüchterung  wettzu- 
machen und  auszurufen:  »Das  fehlte  uns  noch,  daß 
selbst  der  Richter  seine  Hand  dazu  gebe,  daß  solche 


—  3  — 

Briefe  bekannt  werden  können  1«...  Fühlt  sich  der 
Disziplinarrat  der  Advokatenkamraer  noch  berufen, 
Standes^enossen  wegen  Standesvergehungen  zu  strafen, 
oder  betrachtet  er  sich  schon  ausschließHch  als  Keusch- 
heitskommission? Er  hat  neuHch  toller  Weise  einen 
Advokaten  verurteilt,  der  —  unentgeltlich  —  das 
literarische  Programm  der  »Herrenabende«  eines 
Artistenvereines  bereichert  hatte.  Warum  werden 
nicht  Advokaten  diszipliniert,  die  schweinische  Anek- 
doten erzählen?  Würden  die  Standesrichter,  die  den 
gewiß  nicht  erquicklichen  Herrn  bestraften,  sich's 
verübeln,  wenn  sie  einem  jener  »Herrenabende«  bei- 
gewohnt und  über  seine  Darbietungen  gelacht  hätten? 
Welch  drolliges  Quiproquol  Die  Herrschaften  haben 
einmal  gehört,  es  sei  ihre  Pflicht,  den  »unanständigen 
Advokaten«  auf  die  Finger  zu  sehen,  und  jetzt  glauben 
sie,  es  handle  sich  um  solche  Kollegen,  deren  Tonart 
für  junge  Mädchen  nicht  paßt...  Oder  sieht  der 
Disziplinarsenat  die  Standeswidrigkeit  jener  Zoten- 
heferung  etwa  darin,  daß  sie  unentgeltlich 
geschah  ? . . .  Wenn  er  endlich  wieder  zeigen  will,  was 
in  Wahrheit  seines  Amtes  ist,  wird  er  sich  für  den 
Prozeß  um  die  Coburg-Briefe  interessieren,  wird  er 
die  Figur  des  »Verwahrers«  und  die  RoUF  jenes  ge- 
schäftigen Männchens  besehen  müssen,  das  seit  Jahren 
so  üppig  von  der  Unzurechnungsfähigkeit  einer  Prin- 
zessin lebt. 

« 

Ein  Kollege  der  Herren  Bachrach  und  Barber 
—  viele  haben  sich  zum  Wort  in  der  , Fackel'  ge- 
meldet —  sendet  mir  die  folgenden  Ausführungen: 

Ich  bin  Rechtsanwalt,  aber  doch  nicht  Jurist 
genug,  um  die  klare  Rechtslage  in  dem  Prozeß  um 
die  Herausgabe  der  Briefe  der  Prinzessin  Coburg 
mißverstehen  zu  können.  Mich  interessiert  lediglich 
die  zivilrechtliche  Seite  des  Falles,  der  nicht  nur 
mein  natürliches  Rechtsgefühl,  das  ich  mir  dummer 
Weise  noch  erhalten  habe,   aufwühlte,   sondern  auch 


mein  geringes  Vertrauen  in  meine  Gesetzkenntnisse 
in  bedenkliches  Wanken  brachte,  da  ich  las,  daß  drei 
Kollegen  —  pardon,  zwei  Kollegen  und  ein  Re- 
gierungsrat —  mit  der  Pose  juristischer  Überzeugung 
dafür  eintreten,  daß  der  Dr.  Barber  die  ihm  über- 
gebenen,  ich  sage  gar  nicht  anvertrauten,  Briefe  seinem 
Freunde,  ich  sage  nicht  Klienten,  Mattasich  auf  dessen 
Verlangen  nicht  ausfolgen  mußte.  Da  Dr.  Barber 
ein  ihm  von  Mattasich  »anvertrautes  Gut«  diesem 
vorenthielt,  so  könnte  man  auf  den  ersten  Blick 
glauben,  daß  hier  —  nach  §  183  St.-G.  —  eine  Ver- 
untreuung vorliege,  für  welche  sich  der  Staatsanwalt 
interessieren  könnte.  Diese  naive  Rechtsanschauung 
wäre  vielleicht  zutreffend,  wenn  es  sich  um  ein 
Dutzend  Silberlöffel,  die  Herr  Dr.  Barber  nicht 
herausgibt,  handelte;  oder  um  eine  2D0  K- Rente. 
Da  aber  die  nicht  einmal  als  Makulatur  verwertbaren 
Briefe  einer  Prinzessin  in  Frage  stehen,  welche  so 
wertlos  sind,  daß  sich  für  sie  das  Obersthofraeisteramt 
interessiert  und  der  Präsident  der  Wiener  Advokaten- 
.kammer  zu  ihrer  Wiedergewinnung  die  Hand  bietet, 
so  kann  man  nicht  einmal  zur  Überzeugung  gelangen, 
daß  hier  auch  nur  ein  Verwahrungsvertrag  von  Herrn 
Dr.  Barbe#  gebrochen  wurde  —  dann  würde  ja  die 
Sache  gerade  so  erledigt,  wie  wenn  es  sich  um  die 
Briefe  des  Frl.  X  oder  Y  handelte  — ,  sondern 
muß  vielmehr  annehmen,  daß  hier  einer  jener  ver- 
zwickten Fälle  des  praktischen  Lebens  unter  der 
glorreichen  Intervention  des  Dr.  Bachrach  geboren 
wurde,  für  welche  das  Gesetz  nichts  vorgesehen 
hat  oder  bei  deren  Lösung  es  unbequem  wird. 
Was  also  zwischen  Dr.  Barber  und  Mattasich 
sich  ereignete,  ist  ein  contractum  sui  generis.  Da 
Dr.  Bachrach  seine  Hand  im  Spiele  hat,  bedarf  es 
hiefür  keines  weiteren  Beweises.  Denn  seit  er  mit  dieser 
unglückseligen  Causa  beschäftigt  ist,  scheinen  die 
Bestimmungen  des  allgemeinen  bürgerlichen  Gesetz- 
buches:   »Wenn  jemand  eine  fremde  Sache  in  seine 


Obsorge  übernimmt,  so  entsteht  ein  Verwahrungsvertrag 
(§  957);  der  Verwahrer  muß  dem  Hinterleger  auf 
Verlangen  die  Sache. .  .zurückstellen  (§  962)«,  gänzlich 
außer  Kraft  gesetzt,  aus  dem  einfachen  Grunde,  weil 
sie  wirklich  recht  unangenehm  sind.  Dagegen  wurde, 
um  den  Abstrich  am  Gesetze  wett  zu  machen,  dieses 
für  den  vorliegenden  Fall  in  genialer  Weise  fortgebildet. 
Dr.  Barber  rechtfertigt  nämlich  seine  Untreue 
durch  den  Hinweis  auf  §  1425  A.  B.  G.-B,  der  da  sas-t: 
»Kann  eine  Schuld  aus  dem  Grunde,  weil  der  Gläu- 
biger unbekannt,  abwesend,  oder  mit  dem  Angebotenen 
unzufrieden  ist,  oder  aus  anderen  wichtigen 
Grü  n  d  en  nicht  bezahlt  werden,  so  steht  dem  Schuldner 
bevor,  die  abzutrsigende  Sache  bei  dem  Gerichte  zu; 
hinterlegen.«  Ja,  ist  es  denn  schon  ein  genügend 
wichtiger  Grund,  die  Interessen  des  Freundes,  Klienten 
und  Hinterlegers  preiszugeben,  daß  Herr  Dr.  Bachrach 
ganz  nebulose  Eigentumsansprüche  erhebt,  trotzdem 
der  §  323  A.B.  G.-B.  sagt:  »Der  Besitzer  (und  das  war 
Mattasich  zweifellos)  einer  Sache  hat  die  rechtliche 
Vermutung  eines  giltigen  Titels  für  sich;  er  kann 
also  zur  Angabe  desselben  nicht  aufgefordert  werden«, , 
trotzdem  §324  anordnet:  »Diese  Aufforderung  findet 
auch  dann  noch  nicht  statt,  wenn  jemand  behauptet, 
daß  der  Besitz  seines  Gegners  mit  anderen  rechtlichen 
Vermutungen,  z.  B.  mit  der  Freiheit  des  Eigentums, 
sich  nicht  vereinbaren  lasse.  In  solchen  Fällen  muß 
der  behauptende  Gegner  vor  dem  ordentlichen  Richter 
klagen  und  sein  vermeintliches  stärkeres  Recht 
dartun.  Im  Zweifel  gebührt  dem  Besitzer  der  Vorzug«, 
trotzdem  §  348  bestimmt:  »Wenn  der  bloße  Inhaberin 
Barber  war  mehr,  nämlich  Verwahrer,  hatte  daher  stren- 
gere Pflichten)  von  mehreren  Besitzwerbern  zugleich  um 
die  Übergabe  der  Sache  angegangen  wird  und  sich 
Einer  darunter  befindet,  in  dessen  Namen  die  Sache 
aufbewahrt  wurde,  so  wird  sie  vorzüglich  diesem 
übergeben  und  die  Übergabe  den  Übrigen  bekannt 
gemacht«  1  ?  —  Dr.  Barber  durfte  daher,  wenn  er  sich 


—  6  — 

nicht  eines  schweren  Standesvergehens  schuldig 
machen  wollte,  den  Gegnern  seines  Klienten  nicht 
schon  die  Vollstreckung  eines  Urteils  sichern,  dessen 
Fällung  diese  noch  gar  nicht  verlangt  hatten.  Denn 
wie  läßt  sich  dieses  Vorgehen  mit  §  12  der  Advokaten- 
ordnung vereinbaren,  welcher  vorschreibt:  »Wenn  die 
Vertretung  aufgehört  hat,  ist  der  Advokat  verpflichtet, 
der  Partei  über  Verlangen  die  ihr  gehörigen  Urkunden 
und  Akten  im  Originale  auszuhändigen,«?  Was  sagt 
der  Disziplinarsenat  der  Advokatenkammer  zu  einer 
Auffassung  der  Anwaltspflichten,  welche  den  Gegnern 
des  Mandanten  Schergendienste  leistet? 

Aber  all  dies  wird  noch  durch  die  bornierten 
Rechtsausführungen  des  Dr.  Bachrach  weitaus  über- 
boten. Er  ist  ein  Pfadfinder  auf  dem  Gebiete  des 
zivilen  Blödsinns,  denn  er  behauptet  nach  dem  Be- 
richte der  ,Neuen  Freien  Presse^,  daß  ein  Verwahrungs- 
vertrag nicht  zustande  kommen  konnte,  weil  es  an 
dem  Eigentumsrechte  der  Briefe  fehle.  Abgesehen 
davon,  daß  es  trotz  Bachrach  unter  Juristen  unbe- 
stritten ist,  daß  der  Empfänger  eines  Briefes  durch 
Übergabe  seitens  der  Post  das  Eigentum  an  dem 
Briefe,  noch  deutlicher  an  dem  Briefpapiere  erwirbt, 
gehört  es  wohl  zu  den  scharfsinnigsten  juristischen 
Kombinationen,  einfach  zu  sagen,  weil  möglicherweise 
ein  Mißbrauch  des  geistigen  Eigentums  eintreten 
könnte,  bestehe  überhaupt  kein  materielles.  Oder 
einfacher,  weil  eventuell  ein  Bauer  sein  Haus  anzünden 
könnte,  kann  er  expropriiert  werden.  Wie  würde  sich, 
um  auf  die  Voraussetzungen  des  Verwahrungsvertrages 
zurückzukommen,  Herr  Dr.  Bachrach  verhalten,  wenn 
er  einen  bloß  entliehenen  Regenschirm  in  einer 
Garderobe  abgab  und  der  Garderobier  ihm  die  Rück- 
stellung verweigerte,  weil  Herr  Dr.  Bachrach  nicht 
Eigentümer  ist?   FreiUch,  —   Briefe  einer  Prinzessin! 


—  7  — 

In  das  ,Neue  Wiener  Tagblatt'  vom  16.  Jänner 
ist  durch  das  Versehen  eines  Redakteurs  die  folgende 
Notiz  geraten: 

>(Prinzessin  Luise  von  Coburg.)  Aus  Dresden,  15.  d.,  wird 
uns  telegraphiert:  Prinzessin  Luise  von  Coburg  erscliien  gestern 
Abends  mit  dem  Geheimrat  Pierson,  dem  Leiter  der  Heilanstalt 
Coswig,  in  einem  Konzert.  Die  Prinzessin  sah  überaus  frisch  und 
gesund  aus  und  wurde  lebhaft  begrüßt.  Sie  unterhielt  sich  mit 
verschiedenen  Aristokraten.  Von  einer  geistigen  Umnachtung  war 
nichts  zu  bemerken.« 


Und  wieder  ist  ein  Hofseparatzug  des  Herzens 
abgegangen,  und  wieder  rufen  die  Kondukteure  einer 
klatschsüchtigen  Öffentlichkeit  jede  seiner  Stationen 
aus.  Ob  der  Erzherzog  Ferdinand  Karl  das  »Professors- 
töchterlein« heiraten  wird,  darüber  zerbrechen  sich 
mit  den  beteiligten  Verwandten  auch  die  Wiener 
Chefredakteure  die  Köpfe,  vor  der  Wohnungstür  eines 
schlichten  Familienvaters  kampieren  Reporter,  und 
wenn  uns  die  Häuslichkeit  der  Erwählten  in  klärchen- 
haften  Zügen  geschildert  wird,  so  mag  man  nur  be- 
dauern, daß  ein  kaiserlicher  Prinz  den  Buben,  die 
seine  Braut  in  der  Leute  Mund  gebracht  haben, 
nicht  versprechen  kann,  ihnen  einmal  spanisch 
zu  kommen . . .  Der  Kaiser  hat  noch  nicht  zuge- 
stimmt, aber  Herr  Lippowitz  ist  dafür.  Und  er 
sendet  dem  hocherfreuten  Schwiegervater  einen 
Interviewer.  Die  Unterredung  ist  denkwürdig.  Der 
Hofrat  »fügt  sich  in  sein  Geschick«  und  »empfängt 
die  vielen  Besucher,  die  jetzt  erscheinen,  mit  der  ihm 
eigenen  liebenswürdigen  Höflichkeit«.  »Sie  werden 
mir  nicht  zumuten,  daß  ich  mich  über  die  ganze 
Sache  derzeit  irgendwie  äußere.«  Nichts  sei  ihm  pein- 
licher, als  wenn  er  seinen  Namen  in  der  Zeitung  lesen 
müsse.  »Ich  muß  mich  entschieden  dagegen  verwahren, 
bestimmte  Auskünfte  zu  geben.    Man  muß  in  seinen 


—  8  — 

Äußerungen   vorsichtig  sein . . .  Ich  kann  keine  Aus- 
kunft geben,  ich  werde  auch  nichts  dementieren  und 
all  das   ruhig   hinnehmen,   was   in   dieser   Sache   ge- 
schrieben wird.«     Darauf  habe   sich   der  Interviewer, 
»von    dem    liebenswürdigen    Professor    bis    an     die 
Wohnungstür  geleitet«,  empfohlen.   Auch  das  ist  ein 
Interview.  Würdiger  wäre  ein  Verhalten  des  Professors 
gewesen,  das  dem  ,Neuen  Wiener  Journal'  ermöglicht 
hätte,  am  nächsten  Tage  zu  schreiben:  »Gestern  hatte 
einer  unserer  Redakteure  Gelegenheit,  von  dem  Vater 
des   Mädchens,  dem   schlichten   Manne   der   Wissen- 
schaft, über  die  Treppen  hinuntergeworfen  zu  werden«. 
Der  Herr  Hofrat  muß  bereits  seine  Unerfahrenheit  in 
diesen   Dingen   bereuen.    Vor  Herrn  Lippowitz  hatte 
dessen  publizistischer  Schüler,  Herr  Kanner,  ihm  einen 
Bedränger    gesendet,     und    der    arme    Mann    mußte 
hinterdrein  sich  dagegen  verwahren,    daß  er  die  ihm 
von  der  ,Zeit'  in  den  Mund  gelegten  Worte  gebraucht 
habe:    er    habe    es    »für    eine   Höflichkeitspflicht  er- 
achtet,   den   Redakteur    des    genannten    Blattes    zu 
empfangen,   aber  wenn   er  gewußt  hätte,   daß  davon  i 
in    dieser    Weise    Gebrauch    gemacht    werde,     hätte  ^ 
er   ganz   entschieden    dagegen    Einspruch   erhoben«. 
Und   wie   zum  Hohn   schreibt   dann   die  Bande,   der 
Professor  hätte  gewiß  »ein  stilles,   häusliches  Glück, 
von    dem    die   Welt    nichts    weiß«    dem    Glück    des 
Glanzes,   in  den  sein  Kind  mit  einem  Male  gehoben 
sei,  vorgezogen.     Da  der  Vater  so  unfreundlich  war, 
sich    zu    wehren,    so    betrachtet    Herr    Kanner    »die 
vielbesprochene  Heiratsafiaire  seit  gestern  abends  als 
erledigt«.     Er   teilt   uns   nur   noch   mit,   wie   es   den 
Hof  kreisen  gelang,  den  Erzherzog  von  seinem  Plane 
abzubringen.     »In    einer    Familienkonferenz    bei    der 
Erzherzogin   Maria  Therese   wurde  beschlossen,  noch 
einmal   eine  Einwirkung   auf  den  Erzherzog   zu  ver- 
suchen,   eine    Aufgabe,    die    Erzherzog    Otto     über- 
nahm. Diese  entscheidende  Unterredung  wurde  gestern 
nachmittags    durch    das    Telephon    geführt    und 


—  9  — 

dauerte  weit  über  eine  Stunde«.  Kein  Wunder, 
daß  Ferdinand  Karl  müde  wurde  und  nachgab;  dem 
Telephon  ist  es  zu  danken,  daß  Habsburgs  Haus- 
gesetz, eine  weniger  neuzeitliche  Einrichtung,  stand- 
hält. Herr  Lippowitz  behauptet  freilich,  der  Erz- 
herzog halte  an  der  Heiratsabsicht  unerschütterlich 
fest,  und  höhnt  mit  wahrer  Schadchenfreude  die  ver- 
gebens dementierenden  Hofkreise.  So  ist  denn  jeden- 
falls dafür  gesorgt,  daß  die  schon  durch  die  Herren 
Frischauer  und  Saiten  hergestellten  Beziehungen 
zwischen  dem  Erzhaus  und  der  Bevölkerung  nicht 
gelockert  werden.  Wird  aus  der  Heirat  dennoch  nichts, 
was  verschlägt's,  daß  der  Name  eines  Mädchens  in  die 
übelsten  Klatschmäuler  gebracht  wurde?  Für  den 
»Zug  des  Herzens«  gibt's  nun  einmal  Freikarten,  und 
der  »Liebesroraan«  eines  Erzherzogs  ist  ein  Rezensions- 
exemplar. 


Nach  den  Interviewern  die  Schilderer.  Das  ,Neue  Wiener 
Journal'  läßt  sich  eigens  aus  Prag  telegraphieren,  daß  die  Erwählte 
des  Erzherzogs  dort  allgemein  durch  ihre  Schönheit  Bewunderung 
erregt  habe.  »Auch  die  Mutter  der  jungen  Dame  fiel  durch  ihre 
Schönheit  auf,  die  sich  also  auch  auf  die  Tochter  vererbt  zu 
haben  scheint«.  Dagegen  versichert  die  ,Zeit':  »Ein  schlanker 
junger  Prinz  ist  Erzherzog  Ferdinand  Karl  immer  gewesen.« 


Der  Erzherzog  hält  am  19.  Jänner  auf  dem  Prager  Theater- 
vereinsball Cercle.  Er  spricht  .über  den  »Zapfenstreich«,  die 
politische  Lage,  über  Stahl  und  Bronze  und  über  den  Prager 
Aufenthalt.  »Die  Privatangelegenheit  des  Erzherzogs«,  ver- 
sichert die  ,Zeit'  anerkennend,  »wurde  selbstverständlich  von 
keiner  Seite  mit  irgendeinem  Worte  berührt.« 


—  10  — 


Jahresabschluß, 


(Zufluß :) 

Kronen 

(Abfluß :) 

Kronen 

Diverse    diskrete   Ein- 

Ständige Beihilfen   .    . 

460.000 

nahmen   für   patrioti- 

120 Auslandsartikel 

sche  Zwecice    .... 

1,315.000 

(Marke  »großer  Staats- 

mann«) ä  500  K    .   . 

60.000 

» 

1125  Inlandsartikel  ä 

100  K 

112.500 

600  Dutzend  Notizen 

(»Klugheit«  und  »Ge- 

schick«) per  Dutzend 

50  K 

30.000 

Konfidenten  und  Kon- 

fidentinnen höherer  Art 

30.000 

Demontierung  vonKon- 

kurrenten 

70.000 

Für  verschiedene  patrio- 

tische Zwecke     .   .   . 

250 

Saldovortrag 

552250 

»In  einer  englischen  Pro- 
vinzzeitung ist  das  folgende  In- 
serat erschienen: 

Qesucht. 

Eine  wirklich  häßliche,  aber 
erfahrene  und  tüchtige  Gouver- 
nante zur  Beaufsichtigung  und 
Erziehung  von  drei  Mädchen, 
deren  ältestes  16  Jahre  alt  ist. 


»Beim  Polizeikommissariat 
Mariahilf  lief  gegen  eine  junge, 
hübsche,  zur  damaligen  Zeit  ge- 
rade ohne  Engagement  befind- 
liche Schauspielerin  die  ano- 
nyme Anzeige  ein,  daß  sie  ge- 
heime Prostitution  betreibe.  Das 
Polizeikommissariat  leitete  hier- 
auf Erhebungen  ein,  ließ  die 
Schauspielerin    bewachen    und 


~  11  — 


Die  betreffende  Person  muß 
musikalisch  sein  und  Deutsch 
und  Französisch  verstehen. 
Brillante  Konversationsgabe , 
liebenswürdige  Manieren  und 
körperliche  Schönheit  nicht  ge- 
wünscht, da  der  Vater  viel  zu 
Hause  ist  und  außerdem  er- 
wachsene   Söhne     vorhanden 

sind.  , 

Das  Inserat  hat  sofort  Zu- 
schriften an  die  englischen 
Tageszeitungen  veranlaßt,  in 
denen  darüber  Klage  geführt 
wird,  daß  ein  hübsches  Qesicht 
und  liebenswürdige  Manieren 
für  eine  Gouvernante  ein  wahres 
Danaergeschenk  seien.  ,Die  un- 
vernünftigste und  undankbarste 
Person,'  heißt  es  in  einem 
Briefe,  ,für  die  man  als  Gou- 
vernante tätig  sein  kann,  ist  die 
verheiratete  Frau  vorgerückten 
Alters,  deren  Schönheit  dahin 
ist  und  die  nun  eifersüchtig  auf 
ihren  Gatten  ist.'  ,Ich  habe 
vor  Kurzem  eine  gute  Position 
in  Bayswater  verloren,'  schreibt 
eine  Andere,  ,weil  Mrs.  X. 
glaubte,  ich  liebäugelte  mit  ihrem 
Bruder,  einem  kahlköpfigen  Offi- 
zier. Es  war  nicht  wahr  —  er 
hielt  sich  nur  häufig  in  der 
Kinderstube  auf,  weil  er  die 
Kinder  gern  hatte.  Soll  ich  nun 
hungern,  weil  ich  hübsch  bin? 
Mehrere  Stellenvermittlungs- 
bureaux  haben  mir  bereits  ge- 


lud  eine  Anzahl  Leute  vor,  die 
bei  ihr  verkehrt  hatten.  Obwohl 
nun  alle  diese  Zeugen  die  An- 
gezeigte entlasteten,  verurteilte 
der  Polizeikommissär  Scheibs 
die  Schauspielerin  doch  wegen 
»gewerbsmäßiger  Unzucht«  zu 
achtundvierzig  Stunden  Arrest. 
Die  Quartiergeber  der  Schau- 
spielerin —  ein  Fahrradmecha- 
niker und  seine  Frau  —  waren 
bei  der  Polizei  gleichfalls  vernom- 
men worden.  Sie  gaben  dort  an, 
daß  absolut  nichts  Unzüchtiges 
vorgekommen  sei.  Wohl  sei  es 
öfter  vorgekommen,  daß  mehrere 
Herren  zu  gleicher  Zeit  bei  der 
Schauspielerin  auf  Besuch  waren, 
doch  geschah  dies  immer  in 
Gegenwart  der  Hausleute.  Gegen 
die  Quartiergeber,  denen  der 
Polizeikommissär  gleich  von 
allem  Anfang  an  ,Schub'  und 
das  ,Einsperren'  in  Aussicht 
gestellt  hatte,  wurde  hierauf  auch 
tatsächlich  eine  Anklage  wegen 
Kuppelei  erhoben.  In  der  Ver- 
handlung erklärten  sich  beide 
Angeklagten  für  nichtschuldig 
und  versicherten,  daß  nie  etwas 
Unzüchtiges  vorgekommen  sei. 
Wenn  zu  ihrer  Mieterin  Herren 
auf  Besuch  kamen,  so  seien  sie 
immer  zugegen  gewesen.  Eä  wurde 
hierauf  die  Schauspielerin  als 
Zeugin  einvernommen.  Sie  gab 
zu,  einen  ziemlich  großen  Be- 
kanntenkreis und  auch  viele  Ver- 


k 


—  12  — 


sagt,   ich  sei  zu  jung  und  sähe      ehrer  zu  haben.  Die  Zeugin  führt 
zu  »mädchenhaft'  aus.'«  das  eben  darauf  zurück,  daß  sie 

Schauspielerin,  hüh>sch  und  dabei 
von  hebenswürdigen  Umgangs- 
formen sei.  JVlan  könne  sie  aber 
unmögh'ch  dafür  verantwortlich 
machen,  daß  diese  ihre  Bekannten 
ihre  Gesellschaft  suchen.  Die 
Zeugin  gab  auch  ohneweiters  zu, 
}mit  einem  Herrn  in  intimen  Be- 
ziehungen zu  stehen.Wenn  andere 
zu  ihr  kamen,  so  geschah  es  nur, 
um  mit  ihr  zu  plaudern  oder 
Karten  zu  spielen.  Die  Besucher 
seien  nie  mit  ihr  allein  gewesen. < 
»Dat  veniam  corvis,  vexat  censura  colurabas«. 
Das  ist  vielleicht  das  perspektivischeste  Wort,  welches 
Juvenal  geprägt  hat:  es  trifft  die  Sexualheuchelei 
der  Gesellschaftsordnungen,  die  Männerraoral  der 
Generationen  bis  ans  Ende  der  Welt.  Alles  verzeihen 
die  Sittenrichter  den  Raben  und  peinigen  die  Tauben. 
Die  Frau  darf  nur,  was  der  Mann  will,  aber  nur, 
wenn  sie  es  selbst  nicht  will.  Und  wehe,  wenn  das 
schwächere  Gefäß  der  Sittlichkeit  unsanftester 
Berührung  nicht  Stand  hält!  Ist  es  zierlich,  greift 
man  gern  darnach  und  wirft's,  wenn  es  zur  Neige 
geschlürft,  verächtlich  in  die  Ecke  .  .  .  Die  beiden 
Zeitungsnotizen,  die  ich  oben  zusammenstellte,  habe 
ich  an  einem  Tag  gefunden.  Ist's  nicht  das  Halali 
der  Hetzjagd  auf  die  schöne  Frau?  Aus  dem  bür- 
gerlichen Erwerbsweg  geworfen,  verfällt  sie  der  Fehme, 
wenn  sie  den  andern  betritt.  Für  die  aufreizende  Wir- 
kung dieser  Parallele  ist  die  Frage  belanglos,  ob  die 
Schauspielerin  wirklich  —  wie's  im  lieblichen  Jargon 
gesetzgeberischen  Stumpfsinns  heißt  —  »gewerbs- 
mäßige Unzucht«  getrieben  hat  oder  nicht,  ob 
außer  dem  Angriff  gegen  Geschlecht  und  Selbst- 
bestimmungsrecht ihr  auch   eine   persönliche    Unbill 


13  — 


zugefügt   wurde.     Man   mag   dies  getrost   annehmen 
und  versichert  sein,  daß  hier  kein  Grund  vorlag,  die 
Tücke  eines  aus  engstirnigem  Geist  gebornen  Gesetzes 
spielen  zu  lassen,  und  daß  bloß  ein  Polizeigehirn  die 
Lust   angewandelt   hat,   in  Machtvollkommenheit   zu 
glänzen  und  die  Spässe  eines  Indizienprozesses  in  die 
Verwaltungssphäre    zu   übertragen.     Aber   aucti    der 
Beweis  »geheimer  Prostitution«  würde  an  der  Scheuß- 
lichkeit der  Sache  nichts  ändern.    Man  fragt  sich,  in 
welchem  Jahrhundert  man  eigentlich  lebt,  wenn  gemel- 
det wird,  daß  eine  Frau  die  Behörde  darüber  beruhigen 
mußte,  daß  ihre  Besucher  nicht  mit  ihr  allein  im  Zimmer 
waren,  daß  sie  bloß  geplaudert  und  sonst  nichts  getan 
haben,  was  den  Herrn  Scheibs  irritieren  könnte.  Wozu 
PoHzeikommissäre  auf  der  Welt  sind,  erkennt  man  also 
nicht  nur,  wenn  Raubmörder  und  Taschendiebe  entwi- 
schen. Aber  daß  sie  auf  der  Welt  sind,  kann  man  sich 
nur  daraus  erklären,  daß  doch  hin  und  wieder  noch  etwas 
geschieht,  was  »das  Schamgefühl  gröblich  zu  verletzen 
geeignet«  ist.   Freilich,  würde  man  nicht,  wenn  man 
die  Sexuairichter   am  Werke  sieht,   glauben,    daß  sie 
ihr  eigenes  Dasein  der  Paarung  eines  Paragraphen  mit 
einer  Gesetznovelle  zuschreiben?. . .   Daß  ein  Mädchen 
»auch    ohne    finanzielle    Absicht   Besuche    empfangen 
kann,    ist    »hieramts«    undenkbar.    Man    sollte    aber 
|meinen,   daß  sie  auch  im  andern  Falle  kein  Rechts*- 
;gut   verletzt   und   daß    die    Gefährdung   ihrer    Ethik 
ihöchstens  ihren  Freund,  ihren  Vater,  ihren  Gott,  aber 
Inie  und  nimmer  den  Staat  etwas  angeht.  Die  tiefe  Un- 
[sittlichkeit  einer  Sittenpolizei,  die  Lizenzen  für  Prosti- 
litütion  erteilt,  die  gewerbsmäßige  Unzucht  Unbefugter 
|nicht  duldet  und  vielleicht  nächstens  den  Befähigungs- 
lachweis  verlangen  wird,  die  unter  allen  Umständen 
jich    der    schwersten    Eingriffe    in    Privatleben    und 
lelbstverfügungsrecht    der    Frauen    schuldig    macht, 
['redet  sich  vergebens  auf  hygienische  Notwendigkeiten 
|3,us.     Der  Erfolg  aller  Reglementierung   scheitert  an^ 
hrer  selbstverständlichen  Aussichtslosigkeit,  und  das 


153 


-  14 


Mißverhältnis  zwischen  behördlichem  Eifer  und  der 
organischen  Größe  einer  in  Prauennatur  und  Gesell- 
schaftsstruktur wurzelnden  Erscheinung  ist  nur  ein 
humoristischer  Kontrast.  Daß  man  wirklich  die  Hygiene 
will  und  nicht  die  »Sittlichkeit«,  würde  erst  bewiesen, 
wenn  Männer  Gesetze  gegen  Männer  schüfen,  wenn's 
Paragraphe  gäbe,  welche  die  bewußte  Übertragung 
einer  venerischen  Erkrankung  mit  Zuchthaus  bedrohen. 
Der  bürgerlichen  Welt,  die  aufschreit,  wenn  die 
SittenpoHzei  irrtümlich  eine  »anständige  Frau« 
brutalisiert  hat,  geschieht  nur  Recht  von  ihrem  eigenen 
Recht.  Nicht  der  »Mißgriff«,  der  Griff  empört  den 
Menschenfreund,  und  jeder  »Zwischenfall«,  der  uns 
die  Bestialität  der  Behandlung  prostituierter  Frauen 
erkennen  läßt,  ist  erfreulich.  In  einer  Gesellschafts- 
ordnung, deren  bessere  Stützen  tue  besseren  Beutel- 
schneider sind,  werden  ausschließlich  dem  Weib 
sittliche  Lasten  aufgebürdet,  statt  der  Raben  die 
Tauben  gepeinigt.  Und  »Sittlichkeit«  ist,  was  das 
Schamgefühl  des  Kulturmenschen  gröblich  verletzt. 


Pie  antisoziale  Tendenz  der  Journaille  wird  auch 
dem  blödesten  Auge  täghch  offenbarer.  Die  Parole 
des  Straßenräubers:  »Das  Geld  her  oder  das  Leben!« 
ist  ein  harmloses  Scherzwort  gegenüber  dem  Ruf 
der  organisierten  Gesellschaftsfeinde:  »Die  Nachricht 
her  oder  das  Leben!«  ...  Da  ich  noch  im  Flügel- 
kleide liberaler  Schuld  steckte  und  mich's  nach  den 
Lorbeeren  eines  geistigen  Taglöhners  gelüstete,  empfing 
ich  das  erste  Grauen  über  diesen  Beruf,  Schicksale 
in  Originalnachrichten  einzufangen,  in  dem  Augenblick, 
da  —  im  Sommer  war's  —  den  im  Kurort  sich  er- 
holenden Hyänen  gemeldet  ward,  eine  Leiche 
liege  auf  dem  Perron  des  Bahnhofs.  »Anscheinend 
den  besseren  Ständen  angehörend«.  Das  Rudel  war 
aufgestört.  Einen  reisenden  Wiener,   dessen   Familie 


-  16  — 


in    Wien    weilte,     hatte    der    Herzschlag    getroffen. 

n  Uhr,  »für's  Abendblatt«  ging's  noch.  Da  half  keine 

)rstellung,    daß   Frau    und    Kinder    das    Unglück 

ahren  sollten,  bevor   sie's    in    der   Zeitung  läsen. 

lus  Ihnen  wird  nie  ein  Journalist  1 «.. . 

In  Wien  ward  ein  gutes  Werk  vorbereitet.  Die 
Theaterlandeskommission  trat  zusammen,  um  an  den 
Lehren  von  Chicago  die  Sicherheitszustände  der  Wiener 
Schauspielhäuser  zu  prüfen.  Eine  Aktion,  deren  Wert 
in  ihrer  Geheimhaltung  liegt:  Die  Kommissionsmit- 
glieder werden  an  irgend  einem  Abend  eine  Stunde 
vor  Beginn  der  Vorstellung  in  dem  Lokale  erscheinen 
und  es  erst  eine  Stunde  nach  Schluß  verlassen;  sie 
wollen  ihre  Aufmerksamkeit  der  Art  der  Füllung  und 
Räumung  des  Hauses,  dem  Benehmen  der  Billeteure 
als  Sitzanweiser,  den  Garderobeverhältnissen  u.  s.  w. 
^widmen.  Es  wurde  beschlossen,  die  Beratungen  als 
vertraulich  zu  erklären.  Die  Kommission,  heißt  es, 
will  vorläufig  ihre  Beschlüsse  geheim  halten,  weil 
die  Inspizierung  der  einzelnen  Etablissements  eine 
überraschende  sein  soll,  so  daß  seitens  der 
Direktoren  keine  Vorbereitungen  getroffen  werden 
können  . . .  Woher  weiß  ich  das  alles  ?  Aus  den 
Zeitungen!  Sie  haben  pünktlich  den  Theaterdirektoren 
gemeldet,  daß  ihnen  eine  Überraschung  bevorsteht,  und 
sicherlich  wurden  in  den  letzten  Tagen  die  Billeteure 
und  Theaterarbeiter,  welche  die  Kommission  »nach 
ihren  Instruktionen  zu  befragen«  beschlossen  hat,  so 
gut  gedrillt,  daß  sie  wenigstens  in  jener  kritischen 
Zeit,  in  der  die  Gefahr  —  des  Besuchs  der 
Kommission  besteht,  tadellos  funktionieren  werden. 
Nach  Abschluß  der  Inspektion  soll  ein  »Communiquö« 
—  das  österreichische  Allheilmittel  gegen  Pest,  Feuer 
und  pohtische  Not  —  herausgegeben  werden;  daß 
darin  etwas  von  »musterhafter  Ordnung«  stehen  wird, 
darauf  könnte  man  eine  Wette  eingehen  . . .  Eine  frivo- 
lere Niedertracht  als  gerade  dieser  Verrat  vertraulicher 
Entschließungen  unter  höhnender  Angabe  ihrer  Ver- 


—  .16  — 

traulichkeit  war  nicht  zu  ersinnen.  Man  kann  den 
Verdacht  nicht  Raum  geben,  daß  eines  der  Kom 
missionsraitgUeder  —  aller  Namen  wurden  gedruckt  — 
das  Geheimnis  preisgegeben  hat;  wie  haben  sich's  di« 
Reporter  zu  verschaffen  gewußt?  Die  einzige  Möghch 
keit  einer  Kontrolle  der  Wiener  Theater  ist  verschüttet 
und  »überrascht«  wird  wohl  nur  die  Landeskoraraissioi 
sein,  wenn  sie  auf  ihrem  Rundgang  sehen  wird,  wi( 
überall  alles  aufs  beste  bestellt  ist. 

Wenn  an  der  Riviera  die  Blattern  herrschen 
werden  in  den  Wiener  Zeitungen  den  trügerischei 
Kundmachungen  des  Obersten  Sanitätsrates  authen- 
tische Hötelierreklamen  entgegengestellt.  Hier  komm 
die  alte  Parole  des  Straßenräubers  mit  der  Variant( 
zu  Ehren:  »Das  Geld  her  und  das  Leben  1«  Grauen- 
hafter aber,  weil  im  tiefsten  Wesen  des  journalistischer 
Berufs  begründet,  ist  die  Pühllosigkeit  der  Nachrichten- 
jagd. Wenn  in  Wien  ein  Theater  brennen  wird,  wei 
sein  Direktor  die  behördliche  Kontrolle  mit  einej 
rasch  arrangierten  Sicherheit  getäuscht  hat,  wird  es 
irgendwo  heißen:  Die  Maßnahmen  der  Theaterlandes- 
komraission,  die  wir  als  die  ersten  bekanntzu- 
machen  in  der  Lage  waren,  haben ,  sich  leider . . . 


»Wien,  den  19.  Januar  1904,  An  Herrn  Karl  Kraus,  ah 
verantwortlichen  Redakteur  der  periodischen  Druckschrift  ,Di{ 
Fackel'  in  Wien,  IV.,  Schwindgasse  Nr.  3.  Als  durch  die  beilie 
gende  Vollmacht  ddo.  Wien,  16.  April  1901  ausgewiesener  Vertretet 
des  Herrn  Ernst  Vergani,  Herausgebers  des  , Deutschen  Volksblattes' 
in  Wien,  VIII.,  Josefsgasse  4—6  fordere  ich  Sie  auf  Grund  des 
§  19  des  Preßgesetzes  auf,  folgende  Berichtigung  des  in  der  Nr.  147 
der  periodischen  Druckschrift  ,Die  Fackel'  auf  den  Seiten  17—19 
gebrachten  Aufsatzes  den  gesetzlichen  Bestimmungen  entsprechend 
aufzunehmen.  Es  ist  unwahr,  daß  Herr  Ernst  Vergani  seit  Monaten 
im  ,Deutschen  Volksblatte'  einen  Kampf  gegen  das  Wiener  Brauhaus 
geführt  hat;  es  ist  unwahr,  daß  das  .Deutsche  Volksblatt'  vor  dem 


—  IT  — 

Besuche  in  Rannersdorf  warnte;  wahr  ist  vielmehr,  daß  das 
.Deutsche  Volksblatt'  stets  für  die  Interessen  des  .Wiener  Brau- 
hauses' eingetreten  ist,  daß  das  .Deutsche  Volksblatt'  nur  einen 
Kampf  gegen  den  derzeitigen  Präsidenten  des  .Wiener  Brauhauses', 
den  Landesrat  Dr.  Eduard  Thoraas  geführt  hat  und  dementspre- 
chend über  das  Wiener  Brauhaus  in  der  Morgenausgabe  vom 
12.  November  1903.  also  vor  dem  Besuche  Dr.  Luegers  in  Ran- 
nersdorf geschrieben  hat:  .Zahlreiche  ehrenwerte  Männer  —  wir 
nennen  hier  nur  den  in  der  antisemitischen  Partei  als  grundehr- 
lichen und  rechtschaffenen  Mann  bekannten  Kunsthändler  Herrn 
Heindl  —  waren  bemüht,  den... total  verfahrenen  Karren  wieder 
ins  rechte  Geleise  zu  bringen,  allein  alle  diese  Versuche,  Ordnung 
zu  schaffen  und  das  von  den  Sympathien  der  Bevölkerung 
getragene  Unternehmen  zur  Blüte  zu  entfalten,  schei- 
terten   und  so  mußte  sich  sogar  ein  Mann  wie  Heindl,  der 

gewiß  das  Vertrauen  aller  Genossenschafter  genoß,  dazu  bequemen, 
seine  Bemühungen,  die  im  Interesse  des  Brauhauses  lagen,  einzu- 
stellen und  aus  dem  Vorstande  auszutreten Im  Interesse 

des  Wiener  Brauhauses,  eines  Unternehmens,  das  die 
kräftigste  Förderung  aller  verdient,  wäre  es  zu  wünschen, 
daß  der  heutige  Besuch  nicht  seinem  .  .  .  Leiter,  sondern 
dem  Unternehmen   zugute   käme,  daß   er  ihm   neue  Freunde 

zuführen  möge,  die  ihm  über  alle  die  zahlreichen  Klippen 

hinweghelfen.'  Dr.  Robert  Gruber  als  Vertreter  des  Herrn  Ernst 
Vergani,  Herausgebers  des  .Deutschen  Volksblattes'.« 

Zu  den  Obligationen,  die  Herr  Vergani,  seitdem  er  von 
Mühldorf  nach  Wien  kam.  besitzt,  gehört  bekanntlich  auch  der 
Kampf  gegen  die  Korruption.  Und  darum,  nur  darum  bekämpft 
er  das  >Wiener  Brauhaus«.  Oder  vielmehr  nicht  das  »Wiener 
Brauhaus«,  sondern  bloß  den  Herrn  Dr.  Thomas.  Die  christlich- 
sozialen Parteiführer  waren  offenbar  ebenso  wie  die  .Fackel' 
falsch  unterrichtet,  da  sie  durch  den  Massenbesuch  in  Rannersdorf 
für  die  Interessen  des  Brauhauses  demonstrierten.  Sie  glaubten  das 
Unternehmen  durch  die  Angriffe  geschädigt  und  hätten  sich, 
wenn  sie  rechtzeitig  erfahren  hätten,  daß  Herr  Vergani  ein  Schützer 
des  Brauhauses  ist,  gehütet,  für  eine  Einzelperson,  die  im  ,Deutschen 
Volksblatt'  zufällig  bekämpft  wird,  Stimmung  zu  machen.  Herr  Vergani 
,  aber  klärt  den  Bürgermeister  über  seine  Absichten  auf,   indem   er 


—  18  — 

die  ,FackeI'  berichtigt.  Seine  Zuschrift  entspricht  diesmal  dem  Ge- 
setz, und  darum  muß  sie  gedruckt  werden.  Vor  einigen  Wochen 
hatte  es  der  Rechtsfreund  des  Herrn  Vergani  mit  einer  weniger 
gelungenen  Berufung  auf  den  §  19  versucht.  Ich  lehnte  ab,  der 
Rechtsfreund  brachte  die  Klage  ein,  der  Richter  sprach  mich  frei. 
Aber  erfahrungsgemäß  erscheint  jede  vom  .Gericht  abgewiesene 
Berichtigung  eines  Tages  in  zweiter,  wesentlich  verkürzter  Aus- 
gabe, und  in  der  juristischen  Reparaturanstalt  des  Herrn  Dr.  Gru- 
ber wird  zwar  langsam,  aber  solid  gearbeitet.  So  muß  die  alte 
Geschichte  heute  aufgewärmt  werden.  Zu  den  Obligationen,  die 
Herr  Vergani,  seitdem  er  von  Mühldorf  nach  Wien  kam,  besitzt, 
gehört  nicht  zuletzt  auch  die  Verpflichtung,  der  Wahrheit  zum 
Siege  zu  verhelfen. 


Der  Präf  ekt  des  Seine-Departements  hat,  wie  die ,  Arbeiter-Zeitung' 
nach  Pariser  Blättern  erzählt,  einen  Erlaß  gegen  einen  Unfug  herausge- 
geben, der  auch  bei  uns  einen  erheblichen  Umfang  angenommen  hat: 
das  Ausleihen  der  Zeitungen  durch  die  Zeitungshändler.  Das 
Zirkular,  das  allen  Inhabern  von  Zeitungskiosken  zugestellt  worden 
ist,  stützt  sich  auf  die  Anzeige  des  Syndikats  der  Pariser  Presse 
und  nennt  bestimmte  Kioske,  bei  denen  das  entgeltliche  Ausleihen 
von  Zeitungen,  die  nachher  den  Zeitungsverwaltungen  als  unver- 
kauft zurückgestellt  werden,  besonders  im  Schwange  ist.  Der  Präfekt 
macht  die  Kioskinhaber  darauf  aufmerksam,  daß  ihre  Konzession 
sich  nur  auf  den  Verkauf  und  nicht  auf  das  Ausleihen  von  Zeitungen 
beziehe  und  daß  eine  Übertretung  dieser  Befugnis  den  Verlust 
der  Konzession  zur  Folge  haben  werde.  Die  Kioskinhaber,  die  den 
Zeitungshandel  nicht  selbst  betreiben,  werden  gleichwohl  für  die 
Übertretungen  ihrer  Stellvertreter  haftbar  gemacht.  Der  Präfekt 
fordert  sie  auf,  diesen  die  strengsten  Unterweisungen  zu  erteilen. 
Überdies  ist  den  Inhabern  der  zur  Anzeige  gebrachten  Kioske  die 
amtliche  Verständigung  zugegangen,  daß  im  Falle  der  Wieder- 
holung des  Unfugs  die  strengsten  Maßregeln  getroffen  würden. 
—  >Das  Vorgehen  des  Präfektenc,  fügt  die  , Arbeiter-Zeitung"  hinzu, 
»istganz  in  der  Ordnung.  Allerdings,  die  eigentliche  Schuldan 
dem  unanständigen  Verfahren  trägtdasPublikum.  Es  gibt  Leute, 


—  19  — 

ie  sonst  im  ,Ehrenpunkt'  eine  große  Empfindlichkeit  bekunden,  aber 
ch  nicht  scheuen,  aus  Schmutzerei  mit  der  Zeitungsverkäuferin 
inen  Handel  zu  schließen,  der  auch  strafgesetzlich  als  Betrug 
nd  Mitschuld  am  Betrug  strafbar  ist.  In  Wien,  wo  die  Rechtlichkeit 
ft  mehr  mit  der  Polizeifurcht  als  mit  der  Achtung  vor  den  Rechts- 
rundsätzen zusammenhängt,  fügt  des  Ausleihen  den  Zeitungen 
leträchtlichen  Schaden  zu.«  Manche  Leser  der  ,Fackel',  denen  das 
aufschneiden  der  Hefte  lästig  war,  haben  vergebens  über  den 
'orteil  gegrübelt,  der  den  Verlag  bewogen  hat,  die  kleine  Unbe- 
uemlichkeit  über  den  Käufer  zu  verhängen.  Die  Fragen,  die  immer 
'ieder  einliefen,  beantworten  sich  jetzt  von  selbst.  Das  Leihgeschäft, 
as  zu  florieren  begann,  mußte  erschwert  werden.  Eine  Anzahl  der 
eachtetsten  Bürger,  Vertreter  aller  Stände,  besonders  einige  Zierden 
,es  Barreaus,  hatten  als  alte  Zigarrenkunden  mit  ihrer  Trafikantin 
»ereits  das  Abkommen  getroffen,  für  1  Kreuzer  des  Genusses  einer 
eistigen  Arbeit,  die  größer  ist  als  die  ihre,  teilhaftig  zu  werden. . . 


Das  .Neue  Wiener  Journal'  hat  eine  Kulturmission:  Die 
{enommeen  zu  heilen,  die  durch  die  ,Fackel'  zu  Schaden  gekommen 
ind.  Neulich  ist  wieder  der  Musikalienhändler  Qutmann  in  die 
Reparatur  gekommen.  Aber  ich  hätte  nicht  geglaubt,  daß  schon 
in  paar  kleine  Notizen  in  der  ,Fackel'  die  Anwartschaft  auf  ein 
(Wiener  Portrait«  verleihen,  und  wer  bis  heute  noch  daran  gezweifelt 
lat,  daß  der  Musikalienhändler  Qutmann  eine  berühmte  Persönlichkeit 
5t,  hört  es  jetzt  aus  seinem  eigenen  Munde.  Der  Interviewer 
reilich  muß  sich  vor  dem  Publikum  ein  wenig  entschuldigen  und 
teilt  seine  87.  Berühmtheit  mit  den  verlegenen  Worten  vor:  >Er 
wandelt  ein  wenig  abseits  von  der  großen  Menge,  und  mit  seiner 
Popularität  im  Volk  ist  es  nicht  weit  her.«  Dafür  die  bei  den 
(ünstlern!  »Mag  er  auch  beim  Musikahenhandel  und  beim 
Conzertarrangement  seine  Rechnung  gefunden  haben,  so  scheint  er 
loch  nach  der  Schilderung  ernster  Kritiker  in  ersterLinie  Idealist 
jewesen  zu  sein.«  Und  nun  ?rzählt  Herr  Gutmann,  wie  er  Anton 
Jruckner  gefördert  habe.  Sogar  dem  Portraitisten  wird  schwül.  Er 
ragt  den  Mann,  der  doch  nur  >in  erster  Linie«  Idealist  ist,  »ob 
iie  vielen  Künstler,  mit  denen  er  in  geschäftlichem  Verkehr  stand, 


lerj 
tenj 

iredl 
nil 


—  20  — 

nicht  manchmal  mit  ihm  in  Streitigkeiten  materieller] 
Natur  kamen.«  > Herr  Gutmann  antwortet  mir  mit  seiner  sanften, 
salbungsvollen  Stimme:  ,Nein,  niemals.  In  den  dreißig  Jahr 
habe  ich  mit  keinem  Künstler  noch  Prozeß  geführt,  es  gab  ni 
Zwistigkeiten.'<  Und  gerührt  fragt  der  Reporter  weiter:  >Sind 
Künstler  dankbare  Menschen?  Anerkennen  sie  es^ 
wenn  man  sich  für  ihre  Sache  opfertpc  ...  Ich  bemerke^ 
hiezu,  daß  der  Leser,  der  etwa  glaubt,  daß  ich  übertreibe,  die 
zitierten  Sätze  im  ,Neuen  Wiener  Journal'  vom  10.  Jänner  nach- 
lesen kann.  Zu  welchen  Opfern  an  der  Einnahme  des  Autors 
Verleger  fähig  sind,  ist  ja  so  gut  bekannt  wie  das  mehr  hingebende 
als  hergebende  Verhalten  von  Agenten  beim  Verrechnen  der 
Konzerteinnahmen.  Aber  wenn  Herrn  Qutmann  auch,  im  Verkehr 
mit  Komponisten  und  Virtuosen,  nicht  das  geringste  Verschulden 
nachzuweisen  ist,  so  wirkt  jene  Frage  in  ihrer  allgemeinen  Fassung 
doch  aufreizend.  Daß  er  nie  einen  Prozeß  geführt,  wäre  möglich, 
würde  aber  nichts  bedeuten.  Künstler  sind,  wenn  schon  nicht 
immer  dankbare,  so  doch  meistens  furchtsame  und  ungeschickte 
Menschen.  Daß  es  in  den  dreißig  Jahren  keine  Zwistigkeiten  gab, 
ist  bestimmt  nicht  richtig.  Aus  den  letzten  Jahren  ist  vielleicht 
noch  der  Fall  Dohnany  in  Erinnerung,  von  dem  in  Musikerkreisen 
lange  gesprochen  wurde,  und  an  mich  selbst  haben  sich  des 
öfteren  Künstler  um  Rat  gewendet,  die  mit  der  Impresa  des  Herrn 
Qutmann  unzufrieden  waren.  Ich  erinnerte  sie  an  die  Pflicht 
der  Dankbarkeit,  die  jeder  Künstler  seinem  Verleger  schulde.  Nur 
habe  ich  leider  in  allen  Fällen  das  Gefühl  zurückbehalten  daß  es 
mit  der  Popularität  des  Herrn  Gutmann  nicht  nur  im  Volk,  sondern 
auch  bei  den  Künstlern  > nicht  weit  her«  ist. . . 


Parabel. 

Von  Peter  Altenberg  (Wien). 

Im  Affenreiche  von  einst  erhob  sich  ein  etwas 
heiler  gefärbter  Affe  an  einem  Krück-Aste  aufrecht 
und  sagte  mit  exaltierter  Stimme:  »Und  es  wird,  es 
muß  eine  Zeit  kommen,  sie  ist  organisch  unentrinnbar 


—  21  - 

1  der  notwendigen  Entwicklung  von  Ursache  zu 
Wirkung,  da  werden  die  Affen  auf  Zweien  gehen,  auf- 
geht, und  die  Kletter-Hände  werden  verkümmern 
,1  Geh-Püßen  und  Ihr  werdet  nicht  mehr  Buch  von 
jst  zu  Ast  behende  schwingen  1« 
tl  »Blender  Dekadent I«,  brüllte  ihn  nun  die  Herde 
1,  »Willst  du  unsere  wertvollsten  Kräfte  verkümmern 

achen?!?« 

»Jawohl«,  erwiderte  der  heller  gefärbte  an  einem 
eiuraaste    aufrecht    gelehnte    Affe,    »zu    Gunsten 

ertvollerer  Kräfte,  die  da  kommen  werdenl« 
Darauf  hin  schrieb  der  damalige  Nerven-Pathologe 

ofessor  Schimpanse  eine  Broschüre  :DieD^cadence 

id  ihre  Gefahren. 


ANTWORTEN  DES  HERAUSGEBERS. 

Beobachter.  Wie  ein  Blitz  aus  heiterm  Himmel  traf  mich  neulich 

folgendeZuschrift :  >Wien,  am  9/1.  1904.  An  die  Redaktion  der  .Fackel', 

;n,  IV.   In  rechtsfreundlicher   Vertretung   des    Herrn    Clemens  Khan 

ischer,  persischer  General  und  Sektionschef  i.  D.,  stelle  ich  auf  Orund 

§  19  des  Preßgesetzes    das  Verlangen,  in    der  nächsten  oder  zweit- 

'lenden  Nummer  Ihrer  Zeitschrift  in  der  Rubrik  ,Antworten  des  Heraus- 

Iprs'  die  nachstehende  Berichtigung  der   in  der  Nummer  151  Seite  24 

llialtenen  Notiz  zu  veröffentlichen:  Es  ist  unwahr,  daß  Herr  Kolischer 

Ifdie  von  ihm  herausgegebenen  Zeitungen  persönlich  Inserate  acquirieren 

oder  jemals  persönlich  Inserate  acquiriert  hat,  und  es  ist  demzufolge 

|i  unwahr,  daß  er  bei  einem  solchen  Gange  seine  persische  Generals- 

3rm    anlegt    oder   jemals    angelegt    hat.    Achtungsvoll    Dr.  Bondy.« 

das  macht  nichts!  .  .  .  Bondy,  Bondy?  Hat  der  nicht  neulich  den  Franz 

-Orden  bekommen?  Ja,  er  hat  ihn  bekommen.  Wofür?  Das  wußte 

Mensch.    Aber  ich  weiß  es.    Er    bekam    ihn    >in    rechtsfreundlicher 

ketung   des  Herrn  Clemens  Khan  Kolischer,  persischer  General  und 

lionschef  i.  D.«    Herr  Bondy  bat,    Herr  Koiischer  lief,    Herr  Hofrat 

leben  kam,   der  Kaiser  rief:   Laßt  mir  herein  den  Bondy!  .  .  .   Was 

|m  Kolischer  den  Einfluß  auf  den  Präsidialisten  des  Herrn  v.  Koerber 

:hafft   hat,    weiß   ich    allerdings   nicht.    Über   die    Berichtigung  ist 

zu  sagen,  daß  sie  einer  satirischen  Metapher,  aber  nicht  der  Wahr- 

die  ihr  zugrundeliegt,  den  Garaus  macht.  Natürlich  dachte  ich  nicht 

Jmtferntesten    daran,    daß  Herr  Kolischer  wirklich   die  persische  Ge- 

suniform  anlegt,  wenn  er  Inserate  acquirieren  geht.    Wahr  ist  nur, 

Agent,  der  für  das  von  Herrn   Kolischer   gekaufte  Armeeblättchen 

l-ate   acquirieren    geht,    sich   zum    Beispiel  bei    einem  ahnungslosen 

ijärlieferanten     von     Schuhoberteilen     als      Abgesandten     des     Qe- 


I 


—  22  — 


her  als    Kolischer  vorstellt.  .  .  .  Man    ist    sich    über    die   Bedeutun 
eines  »persischen  Generals«  nicht  ganz  klar.  Es  ist  möglich,  daß  ein  östei 
reichischer  Feldwebel    im  Range   niedriger  ist,    möglich,    daß   auch  de 
»persische  Sektionschef«  mehr   bedeutet,  als  ein  österreichischer  Kanzlei 
offizial.  Ich  weiß  es  nicht,  höre  nur  von  einer  dem  Qroßvezier  Emin-ci 
Sultan    nahestehenden   Seite,   daß    es    sich    beim  »General«    um    keine 
militärischen  Rang  handelt,  sondern  um  einen  Titel,  der  in  Persien  auc 
für  Verdienste    um  die  Hebung    des  Schafwollexportes  verliehen  werd 
kann.  Aber  in  Teheran  erschrickt    man  gewiß  auch   gewaltig,    wenn  d 
Ankunft    eines  »kaiserlichen    Rates«    aus  Wien  bekannt    wird,    und 
erinnern   uns   noch,   daß  sogar  in  Paris  alle   monarchistischen  Instink 
rebellisch    wurden,    als    der   , Figaro'    unter    den    die   Ausstellung    bi 
suchenden   österreichischen  Staatsmännern   einen  leibhaftigen    »conseiÄ 
imperial«     nannte.     Ich    wollte    aber    durchaus     nicht     gesagt     habe 
daß  alle  Annoncen,  die  in  den  Herrn  Kolischer  gehörenden  Blättern  e 
scheinen,    ausschließlich  durch  den  Respekt  vor  Titei    und  Würden   d 
Herausgebers    verschafft   werden.     Es  gibt    zum    Beispiel    Großwäscii, 
fabrikanten,    die    sich    auch    für    die    Erwirkung    der    Lizenz,    daß 
Reisenden  Luxuswäsche  en  detail    in  der  Provinz  verkaufen  dürfen, 
Brückenanstrichfirmen,  die  sich  schon  für  das  bloße  Versprechen,  daß  ihi 
die  behördliche  Bewilligung  verschafft  werde,  dankbar  erweisen.  Ich  wol! 
aber   auch    nicht   gesagt   haben,    daß    Herr    Kolischer    Inserate    aca 
rieren  geht.  Er  fährt  natürlich,  wenn  er  mit  Geschäftsleuten  zu  uin 
handeln  hat,  und  zwar  in  einem  Gummiradier,  den  der  Fuhrwerksbestti 
E.  gegen  ein  Inserat  zur  Verfügung  gestellt  hat.     Dies   ist   nun    wec 
unerlaubt  noch  unehrenhaft.  Aber  anderseits  wird  durch  die  Berichtigu 
auch  die  Tatsache  nicht  aus  der  Welt  geschafft,    daß    man   als  Gene 
nicht  nur  Schlachten,  sondern  auch  Inserate  gewinnen  kann. 

Sammler.  Bringen  auch  Sie  wieder  einmal  etwas?  Sie  wisse 
ich  kann,  wenn  ich  den  »Eindruck  der  Vollständigkeit«  vermeiden  w 
nur  das  Allerwichtigste  brauchen.  Also:  Der  Börsenwöchner  schri 
neulich,  im  Eisenbahnministerium  nenne  man  die  großen  Schmerzen;« 
Herrn  v.  Wittek  »sehr  höflich  und  liebenswürdig  für  den  Gebralt 
des  Delphin:  Mehrerfordernis«.  Der  gute  Mann  hat  einmal  die  lateinla 
Wendung:  »in  usum  Delphini«  gehört.  Der  Ausdruck  wurde  uo 
Ludwig  XIV.  für  die  Bearbeitung  der  zum  Gebrauche  des  Dauphi 
bestimmten  klassischen  Lektüre  geprägt  und  später  auf  alle  Moralze« 
angewendet.  Der  Börsenwöchner  aber  verwechselt  den  Kronprinzen  j\ 
Frankreich  mit  dem  Seetier.  Oder  will  er,  da  er  Herrn  v.  Wittek  ein 
stummen  Fisch  vergleicht,  auf  die  Stellung  unseres  EisenbahnministeiS 
Herrn  Taussig  anspielen?  Den  Delphinen  schreibt  man  »AnhänglidUl 
an  den  Menschen  und  Liebe  zur  Musik«  zu,  und  es  ist  ja  bekannt,  n 
Herr  v.  Wittek  —  aus  dem  Wasser  ist,  wenn  Herrn  Taussig's  Siref 
klänge  ertönen. 

Offizier.  Sie  schreiben:  »Die  ,Zeit'  (Abendblatt  vom  20.  J 
über  Mannlicher:  ,Seit  1878  beschäftigte  er  sich  mit  der 
struktion   verschiedener   Repetiergewehre  mit  Geradezj|; 


—  23  - 


Verschluß  und  Pakettladung  und  vervollkommneteseine  Erfindung 
immer  mehr,  bis  er  beim  automatischen  Repetiergewehr,  bei 
dem  auch  die  Verschlußfunktion  durch  den  Druck  des 
Pulvergases  selbsttätig  bewirkt  wird,  angelangt  war  — 
er  hatte  das  nach  ihm  benannte  ,System  Mannlicher' 
praktisch  verwertbar  gemacht.  Nach  vielen  Versuchen  entschloß 
sich  die  Heeresverwaltung,  eine  Neubewaffnung  der  Armee  mit  Gewehren 
d i  e  s  e  s  Systems  vorzunehmen.'  —  Soweit  die  ,Zeit'.  Wenn  sie  recht  hat, 
dann  führt  unsere  Armee  jetzt  automatische  Repetierer;  wenn  sie 
recht  hat,  dann  hat  Mannlicher  die  Idee  des  Mittelschaflsmagazin- 
Repetierers  nicht  (wie  man  allgemein  glaubt)  erst  1885,  sondern  schon 
1878  gehabt.  Es  ist  nun  immerhin  möglich,  daß  sich  unter  den  Lesern 
der  ,Zeit'  auch  ein  Reserveoffizier  befindet;  möge  er  vertrauensvoll  bei 
dem  bleiben,  was  man  ihn  in  der  Freiwilligenschule  gelehrt  hat:  daß 
die  Armee  keine  automatischen  Repetierer  hat  und  die  Idee  des 
Mittelschaftsmagazins  (schlechthin  ,System  Mannlicher')  erst  aus  dem 
Jahre  1885  stammt.<  —  Nichts  stimmt!  Die  ,Zeit'  ist  aus  den  Fugen: 
Schmach   und    Gram,    —    daß   ich   zur   Welt,    sie     einzurichten,    kam ! 

Feuerwehrmann.  Die  Sache  ist  klein,  aber  drollig.  Ein 
düsteres  Montagsblättchen  meint,  daß  in  Wien  »gar  kein  Grund 
zur  Ängstlichkeit  vorhanden«  ist.  >Was  kann  bei  uns  geschehen? 
Gar  nichts,  überhaupt  nichts.  Fängt  schon  irgendwo  durch  irgend 
einen  Zufall  irgend  ein  Fetzen  Feuer,  so  wird  dies  gelöscht, 
ehe  noch  eine  Verbreitung  möglich  ist.  Und  wenn  selbst  der  Zunder 
hell  aufflammt,  so  findet  der  Brand  gar  keine  Nahrung.  Es  ist  also  die 
Angstmeierei  durchaus  nicht  am  Platze.«  Das  ist  einleuchtend.  Brennt 
ein  Fetzen,  so  würde,  wenn  keine  Panik  entstünde,  in  den  meisten 
Wiener  Theatern  dem  Publikum  wirklich  kein  Haar  gekrümmt  werden. 
Durch  einen  brennenden  Fetzen  kann  also  nichts  geschehen.  Aber  viel- 
leicht durch  die  Auiführung  von  »Hoffmanns  Erzählungen*?  Dasselbe 
Montagsblättchen,  das  sich  jetzt  vor  dem  Feuer  so  wenig  fürchtet  und 
beruhigend  eingreift,  hat  nämlich  seinerzeit  durch  Wochen  gegen  die 
geplante  Aufführung  der  Offenbach'schen  Oper  gehetzt  und  vor  deren 
seit  1881  bewährter  Feuergefährlichkeit  Publikum  und  Direktion  gewarnt. 

Frivatbeamter.  Alles  Unrecht  der  Welt  kann  ich  mit  zwei 
schwachen  Armen  nicht  auffangen.  Ich  habe  es  wiederholt  ausgesprochen, 
daß  Fälle  von  Ausbeutung  oder  Zurücksetzung  in  privaten  Betrieben 
hier  unerörtert  bleiben  müssen.  Und  wenn  Ihr  ehemaliger  Chef,  wiewohl 
Sie  strengste  Pflichterfüllung  durch  viele  Jahre  nachweisen  können,  über 
Sie  gehässige  Auskünfte  erteilt,  die  es  Ihnen  seit  langer  Zeit  unmöglich 
machen,  einen  neuen  Erwerb  zu  finden,  so  wäre  meine  Intervention  lange  nicht 
so  wirksam  wie  die  des  Zivilgerichts.  Neun  Zehntel  der  Affairen, 
die  mir  seit  Jahr  und  Tag  berichtet  werden,  gehen  den  Advokaten  und  nicht 
die  , Fackel'  an. 

Udbitu^.  Trotz  dem  dummen  Leitartikel  der  ,Neuen  Freien 
Presse',  der  wieder  einmal  von  toraufreißerischem  Pathos  geschwellt  ist, 
weisen  Ha  weis   »Politiker«  nicht   die  Spur  einer   »liberalen«  Tendenz 


—  24  — 


auf.  Die  gesunde  Moral  des  Stückes  lautet:  > Politische  Parteien  — 
a  Bund  Hadern  wie  der  andere!«  (Daraus  wurde  freilich  in  den  späteren 
Aufführungen:  >Politische  Parteien  —  ane  wie  die  andere !<)  Die 
dramatische  Schwäche  des  Werkes  liegt  in  der  Unentschlossenheit,  mit 
der  der  Autor  allzulange  zwischen  dem  Standpunkt  des  liberalen  Phrasen- 
dreschers und  dem  des  politikverachtenden  Onkels  zu  schwanken  scheint. 
Der  fünfte  Akt,  in  dem  der  Lehrer  von  der  liberalen  Presse  so  schmäh- 
lich im  Stich  gelassen  wird  wie  vorher  der  Kleingewerbler  von  der 
christlichsozialen  Partei,  schafft  Klarheit.  Aber  die  ,Neue  Freie  Presse' 
hält  sich  die  Augen  zu  und  leitartikelt  von  den  Versprechungen,  die 
Herr  Hawel  die  Christlichsozialen  nicht  halten  läßt  .  .  .  Ein  Stück 
von  unstreitig  erzieherischem  Wert  —  in  der  Freude  über  stoffliches 
Neuland  schweigt  der  Kunstrichter  — ,  willkommen  wie  » Gerechtigkeit <, 
»Rote  Robe«  und  >Lokalbahn«.  Sehenswert  schon  wegen  der  Gestal- 
tungen der  Herren  Kirschner  und  Homma.  Welcher  Lärm  würde 
losgehen,  wenn  diese  Charakteristiker,  namentlich  der  zuerst  genannte, 
in  einem  Berliner  Ensemble  bei  uns  gastierten ! 

Musiker.  Ein  Berliner  Blatt  veranstaltete  eine  Rundfrage:  was  die 
»führenden  Geister«  sich  vom  Jahre  1904  erhoffen  und  erwünschen.  Herr 
Richard  von  Perger  sprach  den  Wunsch  nach  »Verbesserung  der 
Wiener  Musikzustände«  aus...  Die  Erfüllung  scheint  nicht  so 
fern  zu  sein.  »Wie  verlautet«,  melden  die  Blätter,  »soll  sich  mit  Ende 
dieser  Saison  in  der  Leitung  des  Wiener  Konservatoriums  eine  Ver- 
änderung vollziehen.  Direktor  Richard  v.  Perger  dürfte  aus  dem  Amte 
scheiden  und  Professor  Heuberger  sein  Nachfolger  werden.« 

Meister  Anton.  Die  , Auster',  die  sich,  wie  aus  den  letzten 
politischen  Debatten  Bayerns  hervorgeht,  so  entschiedener  klerikaler  Gunst 
erfreut,  ist  ein  pornographisches  Witzblatt.  Politik!  Das  schlechte  Kon- 
kurrenzunternehmen, das  neben  dem  gefährlichen  ,Simplizissimus'  ent- 
standen ist,  muß  gefördert  werden.  Pornographie  ist  in  solchem  Falle 
kein  Hindernis.  Aber  da  finde  ich  in  der  letzten  Nummer  ein  wirklich 
schönes  Gedicht  von  Friedrich  Benz.  Ein  Hymnus  auf  die  Hetäre: 

Verzichterin  im  Anfeil 

Der  Obern  und  untern  Welten 

In  deiner  Kinderlust  verbirgt  sich  das  Menschenheil 

Sei  Wanderin  unter  den  Hütten  und  Zelten. 

Fromme  Siegbehaftete 

Stete  Verbluterin 

Gestürzte,  in  die  Höhe  Geraffte 

Du  Weltdurchleuchterin   —    —    — 

Das  konnte  in  einer  klerikalen  Druckerei  gedruckt  werden !  Zoten 
gingen  ja  noch;  aber  eine  philosophische  Rechtfertigung?  Ich  verstehe 
die  Welt  nicht  mehr! 


Herausgeber  und  verantwortlicher  Redakteur:  Karl. Kraus. 
Hrnck  von  lahoda  &  Siesel.  Wien.  IIL  Hintere  ZolluntsstnB«  * 


:.  154         Erschienen  »m  12.  Februar  1904  V.  Jahr 


ie  Fackel 


Herausgeber: 


KARL  KRAUS 


Erscheint  drei-  oder  zweimal  im  Monat. 
Preis  der  einzelnen  Nummer  24  h. 

(acbdnick  and  gewerbsmäBiges  Veriefhen  verboten;  g^erichtliche  Verfolgang 

vorbehalten.  <^ 


*3^ 

WIEN. 

riag  ,Die  FACKEL",  IV.  Schwlndgaise  3. 


.A,A» 


KLAVIERKUNSTSFIEL 
APPARAT  


: 


Phonola 

mit  seiner  größten   Skala  und  seiner  geteilten 

Abdämpfung   für  Baß   und   Diskant  ermöglicht  f 

allein     die    schwierigsten     Kompositionen    von  J 

Liszt,  Beethoven  etc.  originalgetreu  zu  spielen,  i 

Den  Vortrag    künstlerisch   bis    in   die   kleinsten  j 

Feinheiten  auszugestalten  bleibt  ganz  der  indi-  I 

viduellen  Auffassung  des  Spielenden  überlassen.  J 

£nd  vig  j{up|d9 

Lcipzig-Berlini    j 

Wien,  VI.  Mariahiiferstr.  7—9  ] 

i  TELEPHON  7650  j 

Zur  Besichtigung  wird  höfliclist  eingeladen,  Pro-  { 
■  spekte  gratis,  Bezugsquellen  werden  angegeben,  i 

Preis   Kr.  IIOO.-. 


ÖiE  Fackel 


Nr.  154  WIEN,  12.  FEBRUAR  1904  V.  JAHR 

Peuerlärm. 

In  Chicago  brennt's,  und  in  Wien  verlieren  sie 
die  Köpfe.  Die  Theaterlandeskoramission  geht  um  und 
erzeugt'  durdhgefährUche  Drohungen  panikartigen 
Schrecketi;  Zöitungspäpier  gibt  dem  Brand  def'Ge^ 
müter  neue  Nahrung.  Der  IndustriellenbaU  wird  diesr 
mal  nicht  unter  dem  Protektorat  des  Kaisers,  aber 
unter  der  Devise  eröffnet,  daß  d^r  Musikvereinssaal 
feuergefährhch  sei.  Ein  paar  Stunden  vorher  hat  dies  die 
Polizei  verlautbaft  Und  nach  langem  Parlaitientiereöl 
und  Intervenieren  den  Industriebaronen  und  Industrie* 
rittern  gestattet,  auf  einfehi  Vulkan  zu  tanzen.  Wenn 
in  Wien  ein  Höfrat  ausrutscht,  Werden  Verbote  gegen 
das  Wegwerfen  von  Orangenschalen  und  Verordnun- 
gen über  das  Aiifstreuen  bei  Glatteis  erlassen.  Freuen 
wir  uns,  daß  diesmal  so  ehtferifites  Unheil  das  behörd- 
liche Gewissen  geschärft  hat.  Wer  nicht  Theater; 
Konzerte  und  Bälle'  besluch^n  öiuß/  den'  mag  die  Ent- 
hüllung belustigen,  däßaufeinitiäl  alles  feue'rgefährlich 
sei.  Lange  genug  hat  die  Aufsichtsbehörde  geschlummert, 
und  es  iatschoti  anerkennenswert;' (iaßeie  diesmal  ihren 
Winterschlaf  unterbricht,  um  den  ermüdenden  Rund- 
gang durch  die  Theater  Wiens,  den  sie  sonst  nur  zu 
Beginn  der  Saison  tut,  anzutreten.  Aber  die  sieben 
Schwaben  wagen  sich  nur  mit  vorgehaltenem  Regent 
schirm  an  den  Feind  und  sind  gewiß  wieder  mit  eilji 
wenig  Preßlärm  zu  verscheuchen.  Im  riesigen  Sophien- 
Saal,  der  beinah  so  viel  Leute  faßt,  wie  bei  einer. au^ 
brechende«  Panik  ;getötet'J%iät^en,  fiödfet/;d^'»Con^ 


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cordiaball«  statt.  Es  muß  nicht  angenehm  sein,  bei 
den  Klängen  eines  Wein berger'schen  Walzers  zu  ster- 
ben, und  wenn  auch  die  Menschen,  die  sich  auf  einem 
Concordiaball  zusammenfinden,  so  ziemlich  die  wert- 
loseste Schichte  der  Wiener  Gesellschaft  repräsentieren, 
so  gebietet  doch  die  Pflicht  der  Humanität,  auch  die 
Beschaffenheit  des  Sophiensaales,  der  weitaus  panik- 
fördernder ist  als  der  Musikvereinssaal,  behördlicher 
Aufmerksamkeit  zu  empfehlen.  Aber  in  den  Wiener 
Redaktionen  wurden  säratUche  Zuschriften,  in  denen 
dies  gesagt  war,  in  den  Papierkorb  geworfen.  Und 
die  Wiener  Vorstadttheater?  Der  fromme  Glaube,  daß 
Preikartenbesitzer  nicht  verbrennen  können,  bestimmt 
hier  die  Maßnahmen  der  journalistischen  Feuerpolizei. 
Aber  die  Herren  scheinen  ganz  vergessen  zu  haben, 
daß  es  auch  ein  zahlendes  Publikum  gibt,  dem  trotz 
Herrn  Karezag  und  der  himmlischen  Vorsehung  vor 
den  Gallerien  des  Theaters  an  der  Wien  bange  wird. 
Der  Ausschuß  des  Bezirkes  Josefstadt  erklärt,  jede  Ver- 
antwortung für  das  Unheil,  das  der  seit  mehr  als  hundert 
Jahren  zwischen  Zinshäusern  eingekeilten  Theater- 
baracke entströmen  könnte,  abzulehnen.  Sofort  sind  die 
Brandreporter  mit  der  Dementierspritze  zur  Stelle,  und 
irgend  ein  Theaterlöwy  depeschiert  in  alle  Welt,  der 
»Wiener  Antisemitismus«  wolle  die  Axt  an  ein 
blühendes  Unternehmen  legen.  Eine  Aufsichts- 
behörde, die  bei  Zeitungsgeräusch  nicht  scheu  wird, 
hätte  —  und  dies  lange  vor  Chicago  —  die  Sperrung  . 
des  Josefstädter  sogut  wie  des  Carltheaters  und  desr 
Theaters  an  der  Wien  verfügen  müssen.  Mit  Recht 
ist  man  jetzt,  da  sie  viel  weniger  einschneidende 
Maßnahmen  verlangt,  über  sie  entrüstet.  Seit  Jahren 
prüft  sie  bei  Saisonbeginn  und  findet,  wie's  in  den 
Zeitungen  zu  lesen  steht,  »alles  in  vollster  Ordnung«. 
Plötzlich  ergibt  sich  die  Notwendigkeit,  da  und  dort . 
etwas  an  einem  Ausgang  zu  flicken,  und  das  Publi- | 
kum,  das  nach  der  zweihundertsten  Aufführung  des] 
»Rastelbinder«  lechzt,  zu  beunruhigen.  Vom  Herbst  ab, ' 


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so  wird  versprochen,  wollen  wir  für  eure  Sicherheit  sor- 
gen, bis  dahin  könnt  ihr  den  leisesten  Anlaß  zu 
einer  Panik  benützenl  Ist  das  nicht  die  frivolste 
Sicherheitspolitik,  die  sich  denken  läßt?  Sofortige 
Sperrung  der  drei  Buden  würde  allem  Bangen  ein 
Ende  machen.  Nicht  einen  Tag  länger  dürfte  behörd- 
liche Gewissenhaftigkeit  das  Publikum  der  furcht- 
baren Erwartung  des  nun  einmal  an  die  Wand  ge- 
malten Übels  überlassen.  In  Berlin  hat  der  hurtige 
Wilhelm,  der  sich  eben  nicht  einmal  von  einer  Theater- 
katastrophe den  Vorrang  der  Plötzlichkeit  ablaufen 
lassen  will,  die  Schließung  seiner  Oper  unter  dem 
geschmackvollen  Motto  verfügt:  »Lieber  soll's  eine 
Million  kosten,  als  daß  auch  nur  ein  Statist  ver- 
brennt!« Warum  wird  unserm  Kaiser  nicht  nahe- 
gelegt, mit  Rücksicht  auf  die  vierte  Gallerie  des 
Burgtheaters  und  die  Parkettausgänge  der  Oper 
ähnliche  spontane  Entschlüsse  zu  fassen  ?  Warum  hat 
die  Theaterlandeskommission  nicht  den  Mut,  gegen 
die  drei  alten  Wiener  Vorstadtbühnen  pietätlos  zu 
^sein?  Die  kleinen  Sicherheitsmittelchen,  die  jetzt  ver- 
ordnet werden,  beseitigen  des  Übels  Wurzel  so  wenig 
wie  Salben  den  Krebs,  und  sie  verschlimmern  nur 
jene  Gemütsverfassung  des  Publikums,  welche  der 
Nährboden  einer  Theaterkatastrophe  ist.  »Nicht 
Mandragora  noch  alle  Schlummerkräfte  der  Natur 
verhelfen  je  dir  zu  dem  süßen  Schlaf,  den  du  noch 
gestern  hattest  1«.  Das  Publikum  i§t  aufgestört.  Es 
wird  bei  den  Texten  Viktor  Leon's  kein  Auge  mehr 
schließen  können.  Es  weiß,  daß  die  drei  alten  Bühnen 
schon  durch  ihr  Dasein  den  denkbar  schärfsten  Wi- 
derspruch gegen  die  baupolizeilichen  Bestimmungen 
bilden,  wonach  Theatergebäude  nach  allen  Seiten  frei 
stehen  müssen.  Und  zwei  davon  stehen  nicht  einmal 
an  der  Straße,  sondern  sind  durch  angebaute  Häuser 
davon  abgesperrt.  Wer  malt  die  Verheerungen,  die 
hier  eine  Panik  bereiten  wird?  Sollte  man  es,  fragen 
mich    Leser,    für  möglich    halten,     daß    Theaterge- 


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bäude  mit  derart  schmalen  und  elenden,  mehreren 
Gallerien  gemeinsamen  Stiegen  alljährlich  für  benutz- 
bar erklärt  wurden?  Wird  sich  die  für  die  Sicher- 
heit des  Publikums  verantwortliche  Kommission  auch 
weiterhin  durch  die  Spiegelwände  der  von  Zeit  zu 
Zeit  auf  den  Glanz  hergerichteten  Foyers  blenden 
lassen?  Wird  man  endlich  einsehen,  daß  die  schönen 
Vestibüle  bloß  den  Zweck  haben,  die  Leichen  der 
Theaterbesucher  zu  bergen,  welche  auf  Stiegen,  die 
nicht  drei  Nebeneinandergehenden  Platz  bieten,  er- 
drückt wurden?  Und  diese  Galleriegarderoben !  >Man 
erinnere  sich«,  heißt  es  in  einer  Zuschrift,  »daß  einige 
Leute,  die  ihre  zwei  Sous  durchaus  zurückerhalten 
wollten,  den  ans  Tageslicht  hinaufdrängenden  Menschen- 
strom auf  dem  Bahnhof  der  Pariser  Untergrund- 
bahn stauten.  Es  brauchen  sich  gegebenen  Falls 
im  Carltheater  oder  im  Theater  an  der  Wien  nur 
ein  paar  männliche  oder  weibliche  ,NigerP  zu 
finden,  die  ihre  ,G'luft'  verlangen,  und  das  Er- 
gebnis wäre  das  gleiche.«  Bringen  diese  schauder- 
vollen Garderoben  auch  an  brandfreien  Theater- 
abenden den  ruhigsten  Besucher  in  Raserei,  sie 
würden  im  Fall  einer  Panik  zu  unheilvollsten  Hin- 
dernissen werden. 

Anfang  Juli  1900  habe  ich  ein  Bild  der  Wiener 
Indolenz  entworfen,  das  gerade  heute  die  Leser,  zumal 
die  neu  nachgerückten,  ansprechen  wird.  Wie  damals 
die  Theaterlandeskommission  vor  der  Presse,  die  sich 
gegen  den  Verlust  des  Operettenterminmarktes  wehrte, 
zurückgewichen  ist,  die  Schilderung  vom  Sündenfall 
österreichischer  Autorität,  ist  jetzt  von  aktuellstem 
Interesse.    Ich  schrieb  in  Nr.  46: 

». . . .  Es  handelt  sich  um  eine  Komödie,  über  die  noch  nach 
Schluß  der  Saison  referiert  werden  mußte.  Die  Theater  sind 
geschlossen,  aber  dieTheaterlandeskommission  hatte  zu  spielen 
begonnen,  und  da  ihr  Spiel  —  mit  der  Sicherheit  des  Publikums, 
mit  der  Existenz  von  Bühnenleuten  —  einen  vollen  Monat  währte, 
so  gab's  alle  Hände  voll  zu  tun.   Wenn  ich  von  Händen  spreche 


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so  will  ich  sagen,  daß  die  Theaterjournalisten  mit  Erregung,  mit 
der  bei  ,großen'  Premieren  der  Saison  gehm^habten,  ihres  Amtes 
walteten.  In  solcher  Gemütsverfassung  vergaßen  sie  freilich,  die 
Leser  über  Tendenz  und  Wesen  der  aufgeführten  Komödie  zu 
unterrichten.  Sie  warfen  das  Wort  ,Theaterlandeskommission'  in 
die  Debatte  und  überließen  es  dem  Publikum,  sich  über  seine 
Bedeutung  klar  zu  werden.  Und  das  Publikum  ging  mit  dem 
Eindruck  nachhause,  jene  Theaterlandeskommission  sei  ein  zum 
Schutz  einer  gewinnsüchtigen  Librettistenclique  geschaffenes  De- 
partement der  niederösterreichischen  Statthalterei.  Wie  es  kam,  daß 
dieser  Eindruck  schließlich  auch  die  richtige  Beurteilung  der 
Komödie  enthielt,  will  ich  in  raschen  Zügen  zu  erklären  versuchen. 
Anfang  Juni  erwachte  die  sogenannte  Theaterlandeskom- 
mission aus  ihrem  Schlafe,  der  nicht  einen,  sondern  recht  viele 
Winter  gedauert  hatte.  Die  ältesten  Theaterbesucher  erinnerten  sich 
ihrer  Existenz  nur  aus  jenen  Tagen,  da  sie  nach  den  Bränden  des 
Ring-  und  Stadttheaters  zur  nachträglichen  Beruhigung  des  Pub- 
likums in  flüchtigen  Sitzungen  zusammengetreten  war.  Ein  Theater 
nach  dem  andern  brannte  ab,  aber  wir  hatten  die  Genugtuung, 
daß  nicht  nur  ,Alles  gerettet',  sondern  auch  die  Theaterlandes- 
kommission uns  unversehrt  erhalten  war.  Seit  Jahrzehnten  be- 
schäftigt sie  sich  damit,  für  die  noch  nicht  von  einer  Katastrophe 
ereilten  Theater  Wiens  bauliche  Adaptierungen  zu  .verlangen'.  Und 
in  diesem  oft  geäußerten,  nie  gestillten  Verlangen  ward  sie  fast 
sentimental.  Nie  hat  sie  sich  —  sie  ist  ja  eine  österreichische 
Behörde  —  bis  zu  jener  seelischen  Höhe  verstiegen,  die  man 
Energie  nennt,  und  wenn  sie  eines  Morgens  aus  den  Zeitungen 
von  einem  großen  Feuerbrand  erfahren  hätte,  der  an  der  Wien 
oder  in  der  Praterstraße  gewütet,  so  hätte  sie  erstaunt  gerufen: 
,Seht  ihr,  ich  habe  es  immer  prophezeit',  und  wäre  mit  der  heim- 
lichen Sehnsucht  nach  baulichen  Adaptierungen  wieder  ein- 
geschlafen. Neulich  erfuhr  sie,  daß  zwei  der  ältesten  Wiener 
Theatergebäude  ihre  Besitzer  wechseln  sollen.  Herrn  v.  Jauner,  den 
Branddirektor,  hatte  sie  im  Carltheater,  Frl.  v.  Schönerer  im  Theater 
an  der  Wien  wirtschaften  und  abwirtschaften  lassen.  Pietätvoll  hatte 
sie  jenem,  dessen  Brandroutine  ihrem  Laienurteil  zweifellos  über- 
legen war,  nachsichtig  hatte  sie  der  Directrice,  die  wohl  hohe 
Protektion  besaß,  nicht  ins  Handwerk  pfuschen  wollen.    Und    in 


der  Tat:  —  künstlerisch  und  finanziell  waren  die  beiden  Theater 
zusammengekracht,  die  morschen  Gebäude  standen.  Nun  ward  ein 
Wechsel  der  Besitzer  angekündigt ;  es  wäre  die  Zeit  gewesen,  artig 
und  in  Ruhe  ,bauliche  Adaptierungen  zu  verlangen'.  Statt  dessen 
ließ  unsere  vortreffliche  Kommission  die  neuen  Männer  alle  Vor- 
bereitungen für  die  neue  feuergefährliche  Aera  treffen,  alle  Engage- 
ments abschließen  und  das  Publikum  mit  verheißungsvollen 
Zeitungsnotizen  verlocken.  Als  aber  die  neuen  Schauspieler  sich 
den  neuen  Direktoren,  diese  sich  den  neuen  Eigentümern  ver- 
pflichtet und  alle  Brücken  für  ein  künstlerisches  und  materielles 
Fortkommen  hinter  sich  abgebrochen  hatten,  begann  sich  die 
Theaterlandeskommission  mit  einem  Male  zu  räkeln,  rieb  sich  den 
Schlaf  von  Jahrzehnten  aus  den  Augen  und  schrie  den  vor  Schreck 
erstarrten  Theaterleuten  die  Frage  entgegen,  warum  man  sie  nicht 
früher  geweckt  habe.  Der  Wunsch,  alles  Versäumte  nachzuholen, 
gab  ihr  die  lange  vermißte  Energie  wieder,  und  mit  Stentorstimme 
sprach  sie  —  das  Verlangen  nach  baulichen  Adaptierungen  aus. 

Diesmal  forderte  sie,  und  so  dezidiert,  daß  alles,  was  in 
Wien  an  Theaterfragen  interessiert  ist,  mit  Zittern  und  Bangen 
der  kommenden  Saison  entgegen  sah.  Man  begann  nämlich  die 
Theaterlandeskommission  ernst  zu  nehmen.  DieVernünftigen  freuten 
sich  der  neuen  Tatkraft  und  fanden  es  ganz  natürlich,  daß  eine 
Behörde,  wenn  auch  spät  genug,  Maßnahmen  für  die  körperliche 
Sicherheit  des  Theaterpublikums  zu  treffen  gewillt  ist.  ,Niederreißen!' 
—  zu  dieser  Parole  hat  sich  längst  die  Pietät  für  die  zwei  alt- 
berüchtigten Menschenfallen :  Carltheater  und  Theater  an  der  Wien 
bekehrt.  Wer  je  mit  Schaudern  daran  gedacht  hat,  daß  die  alten 
Operettenschätze  durch  den  Einbruch  jener  Horde  von  tantiemen- 
gierigen Redakteuren  verwüstet  wurden,  der  hat  auch  mit  Schaudern 
an  die  Möglichkeit  gedacht,  beim  Anhören  eines  Librettos  von 
Landesberg  oder  Stein  und  einer  Melodie  von  Weinberger  des 
gräßlichen  Feuertodes  zu  sterben.  Offenbach's  reizvolle , Hoffmanns 
Erzählungen',  bei  deren  zweiter  Darstellung  das  Ringtheater  in 
Flammen  aufging,  wurden  in  Wien  seit  jenem  Abende  nicht  mehr 
gespielt.  Wollten  wir's  so  weit  kommen  lassen,  daß  der  Theater- 
aberglaube uns  auch  die  Werke  unserer  Bauer,  Leon,  Buchbinder 
und  Landesberg  entrückt?  Die  Kommission  stellte  Bedingungen, 
deren  Erfüllung  mit  dem  Niederreißen  der  alten  Gebäude  identisch 


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war.  Bis  zum  Aufbau  der  neuen  konnte  sich  die  Operette  erholen 
Längst  war  ein  autoritativer  Befehl  herbeizuwünschen,  der  die 
Produi<tion  etwa  mit  dem  Jahre  1885  abschlöße  und  das  Anfertigen 
von  Libretti  in  Wiener  Redaktionen  bei  Strafe  der  Ausweisung 
des  Autors  in  die  jeweiHge  ungarische  Heimalsgemeinde  verböte. 
Nun  waren's  die  Einsichtigen  zufrieden,  daß  die  Reform  der  Vor- 
stadtbühne wenigstens  vom  Architekten  angebahnt  werden  sollte. 
Was  aber  taten  die  Operetten] obber?  Wenn  das  Börsengebäude 
vor  der  Demolierung  stünde,  die  beteiligten  Kreise  würden  den 
Markt  in  die  benachbarten  Kaffeehäuser  verlegen.  Unsere  Librettisten 
brauchen  ihr  Haus.  Und  so  geberdeten  sie  sich,  da  der  Wille 
der  Kommission  ruchbar  wurde,  wie  eine  Mutter,  der  man  ihr 
Schmerzenskind  entreißen  will. 

Da  die  Herren  insgesamt  in  Redaktionen  sitzen,  so  war  die 
Stellung  der  liberalen  Presse  in  diesem  Kampf  um  einen  von 
feindlicher  Macht  bedrängten  , Platz'  von  vornherein  gegeben.  Die 
Theaterlandeskommission  wurde  ob  ihrer  bisherigen  Lethargie 
belobt,  ihr  erster  Versuch  zur  Tatkraft  mit  hohnvoller  Empörung 
zurückgewiesen.  Es  war  ein  ganz  merkwürdiges  Schauspiel. 
Manchmal  mußte  man  sich  fragen,  für  wen  da  eigentlich  gekämpft, 
in  wessen  Interesse  diese  gesträubten  Federn  geführt  werden. 
Dienen  sie  den  Wünschen  des  Publikums,  das  gläubig  und  in  fast 
hypnotischer  Verzückung  jedem  ihrer  Züge  folgt?  Nein;  denn 
dieses  Publikum  ist  doch  berufen,  in  den  Theatern,  deren  Rekon- 
struktion sich  die  Journalistik  tapfer  widersetzt,  zu  verbrennen. 
Also  verrichten  sie  Arbeit  im  privaten  Wirkungskreise,  indem  sie 
schnöde  Interessen  des  materiellen  Eigennutzes  vertreten?  So  muß 
es  wohl  sein.  An  der  ununterbrochenen  Existenz  der  beiden 
Theater  haben  ausschließlich  die  Parasiten  ihrer  Tanti^men- 
kassen  ein  Interesse.  Heuchlerisch  verbrämen  sie  die  selbstgesuchten, 
selbstsüchtigen  Argumente  mit  jener  ranzigen  , Pietät'  für  die  ehr- 
würdigen Kunststätten,  die  man  nicht  dem  Verfall  preisgeben 
dürfe.  Aber  was  sonst  hat  den  Verfall  dieser  ehrwürdigen  Kunst- 
stätten —  lange  vor  dem  Wunsch  der  Theater  komm  ission 
—  zur  Tat  gemacht,  als  dieses  schuftige  Kartell  journalistischer 
Unterhändler,  das  von  den  Direktionen  durch  kritische  Bedrohung 
jahraus  jahrein  die  Annahme  seiner  elenden  Stücke  erpreßte? 
Wer    sonst    als    diese    klebrigen    Kulissiers,   die    gestikulierend 


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heute  im  Zwischengang  des  Parketts  die  Theaterkurse  ausmachen 
und  morgen  vor  der  Rampe  als  beseligt  lächelnde  Autoren 
erscheinen?  Die  Leiterin  des  Theaters  an  der  Wien  hat,  von  dieser 
Bande  vollständig  ausgeraubt,  in  einer  Anwandlung  von  Ekel  ihrem 
Amte  entsagt.  Herrn  v.  Jauner  im  Carltheater  drückten  die  Herren 
eines  Tages  ihren  Revolver  in  die  Hand.  So  starb  die  Operette. 
Wenn  jetzt  die  alten  Mauern,  hinter  denen  sie  einst  gelebt  und 
Generationen  erfreut,  fallen  sollen,  so  ist  es  wahrlich  kein  Anlaß, 
Trauer  anzulegen. 

Ich  will  zugunsten  der  Herren  annehmen  —  und  soweit 
sind  sie  sich  auch  ihrer  Verantwortlichkeit  bewußt  — ,  daß  nicht 
die  bloße  Aussicht  auf  eine  Serie  von  Sensationsberichten  für  den 
Fall  eines  Theaterbrandes  ihren  Standpunkt  in  dieser  Frage  be- 
stimmt hat.  Der  Wunsch  nach  Erhaltung  zweier  gefährlicher 
Ruinen  ist  —  zur  Ehre  der  Wortführer  unserer  öffentlichen  Meinung 
sei  es  gesagt  —  lediglich  dem  Selbsterhaltungstriebe  entsprungen. 
Wien  könnte  sich  eine  Zeitlang  ohne  Operettenbühne  durch- 
fretten,  aber  in  dem  Budget  seiner  kritischen  Berater  würde  der 
entfallenden  Post  »Tantiemen'  die  —  finanztechnisch  gesprochen  — 
»Bedeckung'  fehlen.  Das  Publikum  mag  sehen,  wie  es  bei  aus- 
brechender Panik  durch  die  engen  Korridore  des  Theaters  an  der 
Wien  ins  Freie  gelangt;  —  die  Kritik  hat  auf  ihren  von  allen 
Seiten  freien  Plätzen  nichts  zu  fürchten  .... 

Aber  wenn  man  so  die  unwürdigsten  Schmierer  für  ehr- 
würdige Kunststätten,  wenn  man  die  Zerstörer  aller  Tradition  für 
die  Erhaltung  eines  Kunstgenres  sich  ereifern  sah,  so  durfte  man 
darum  nicht  glauben,  daß  sie  bloß  in  eigener  Sache  die  Feder 
führten.  Auch  die  Kapitalistenkonsortien,  die  an  der  kostenlosen 
Übernahme  der  beiden  Bühnen  interessiert  sind,  mußten  jeden 
Auttrag  der  Theaterkommission  als  einen  argen  Strich  durch  die 
eben  abgeschlossene  Rechnung  empfinden.  Und  wann  hätte  sich 
unsere  Presse  geweigert,  den  Wünschen  einer  kapitalskräftigen 
Gruppe,  deren  Interessen  zum  Überfluß  noch  den  eigenen  parallel 
liefen,  als  Sprachrohr  zu  dienen?    Eine  der  beiden  alten  Bühnen 

—  oh   über  die  dreimalig  geheiligte  Tradition   eines  Kunstgenres! 

—  geht  in  den  Besitz  des  Prager  Kattundruckers  Kubinzky  und 
jenes  Herrn  Simon  über,  der  einst  in  Prag  Holzhändler  war  und 
nun   mit  der  alten  Sehnsucht  nach  Brennmaterial  sich  für  das 


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Theater  an  der  Wien  zu  interessieren  begann.  Hier  gab's  mit 
Aussicht  auf  ein  gutes  Trinkgeld  gerechte  Ansprüche  zu  vertreten, 
und  Herr  Juh'us  Bauer,  dem  die  Aufführungsmöglichkeit  seiner 
jährlichen  Operette  —  da  gibt's  gar  nichts  zu  lachen !  —  eine 
ernste  Lebensfrage  bedeutet,  ging  mit  gutem  Beispiel  voran,  indem 
er  Herrn  Simon  als  ,Wiener  Patrizier'  lancierte. 

Mit  jenem  gewissen  Geschrei,  das  bei  uns  von  altersher 
unbotmäßige  Behörden  einschüchtert  und  das  an  einem  unseligen 
Tage  auch  die  Aufhebung  des  Zeitungsstempels  durchgesetzt  hat, 
stürzte  sich  die  Rotte  der  für  ihre  Domänen  besorgten  Merkantil- 
literaten und  Buchmacher  auf  die  Theaterkommission,  und  wie 
sonst  oft  in  Fragen  des  öffentlichen  Interesses,  so  konnte  man 
auch  diesmal  die  strammsten  Antisemiten  mit  den  prononciertesten 
Herren  von  der  Schachergilde  an  einem  Strange  ziehen  sehen.  Das 
, Deutsche  Volksblatt',  das  als  einziges  Gegengewicht  zu  seinen 
verdächtigen  Bankinseraten  eine  verschwenderische  Fülle  von  anti- 
korruptionistischen  Ausrufungszeichen  hinter  verdächtigen  Eigen- 
namen bietet,  hat  in  der  Frage  des  Advokatenwuchers  den  Herren 
vom  ,Barreau'  treue  Gefolgschaft  geleistet.  Und  da  es  in  der 
Theaterfrage  zwischen  einer  Gefahr  für  das  Leben  der  Wiener 
Theaterbesucher  und  einer  für  die  Taschen  der  Herren  Kubinzky  (!) 
und  Simon  (!)  zu  wählen  galt,  hat  sich  das  Blatt  keinen  Moment 
besonnen,  welcher  von  beiden  Gefahren  im  öffentlichen  Interesse 
kräftiger  zu  wehren  sei.  In  einem  langen  Artikel  klagte  es  am 
6.  Juni  über  die  Begehrlichkeit  der  Kommission,  deren  Verfügungen 
,einen  Sturm  des  Unwillens'  in  Wiener  Theaterkreisen  erregt 
hätten,  dem  sich  ,eine  gewisse  Berechtigung'  nicht  absprechen 
^ieße.  Es  sehe  zwar  selbst  ein,  daß  die  beiden  Häuser  ,den  idealen 
Anforderungen  an  ein  modernes  Theater  nicht  entsprechen'.  Aber 
da  die  Kommission  so  viele  Jahre  untätig  dem  alten  Schlendrian 
zugesehen,  so  dürfe  sie  sich  jetzt  nicht  einer  so  »krassen  Inkon- 
sequenz' schuldig  machen  . .  . 

Zum  Schlüsse  bittet  der  wackere  Antikorruptionist  ,um 
Rücksicht  auf  die  wirtschaftlichen  Interessen  der  Männer, 
die  es  gewagt  haben,  in  den  beiden  fraglichen  Theatern  Wien  zwei 
Kunstinstitute  erhalten  zu  wollen',  also  vor  allem  der  Herren 
Kubinzky  (!)  und  Simon  (!)... 


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Die  Theaterbehörde  hatte  Feuerlärm  geschlagen.  Daß  es 
ein  blinder  war,  hat  kein  Kenner  der  beiden  Örtlichkeiten,  wofern 
er  nur  uninteressiert  und  aufrichtig  ist,  zu  behaupten  gewagt.  Aber 
daß  es  Lahme  waren,  die  das  Signal  gegeben,  sollte  sich  nur  zu 
bald  erweisen.  Ich  hatte  keinen  Moment  an  die  Entschlossenheit 
dieser  Kommission  geglaubt,  nur  an  ihre  Ungeschicklichkeit,  die 
sie  voreilig  Befehle  aussprechen  ließ,  deren  Ignorierung  sie  nach- 
träglich kompromittieren  muß.  Die  ganze  Energie  war  nichts  als 
—  Theaterfeuer,  und  die  Interessentengruppen  haben  einen  Erfolg 
aufzuweisen,  der  sie  selbst  noch  mehr  überraschen  dürfte  als  jene, 
die  so  naiv  waren,  einer  Theateraufsichtsbehörde  Sorge  für  die 
körperliche  Sicherheit  der  Theaterbesucher  zuzumuten.  Jetzt  sehen 
wir,  daß  sie  nicht  dazu  erschaffen  ward,  das  Gefühl  der  Sicherheit 
zu  mehren,  sondern:  ein  Gefühl  der  Unsicherheit  zu  erzeugen. 
Daß  das  Carltheater  und  das  Theater  an  der  Wien  lebensgefähr- 
liche Orte  sind,  haben  bisher  so  manche  schon  gefühlt,  aber  sie 
konnten  nichts  dagegen  tun.  Klar  ausgesprochen  hat  es  erst  die 
löbliche  Theaterkommission,  die  —  auch  nichts  dagegen  tut.  Ein 
beschämenderes  Schauspiel  ward  seit  langem  nicht  der  Öffentlich- 
keit geboten,  und  weit  mehr  als  die  kecke  Resolution  eines  Stadt- 
rates in  Sachen  Heine  könnte  uns  das  zage  Zurückweichen  einer 
Landesbehörde  vor  dem  Gekläff  einer  feilen  Presse  und  vor  den 
Wünschen  etlicher  einflußreicher  Geldmänner  im  ,Ausland'  kom- 
promittieren. 

Eine  Behörde  hat  die  Öffentlichkeit  allarmiert,  indem  sie 
unter  fachmännischem  Beirate  den  Zustand  zweier  großer  Schau- 
spielhäuser als  eminent  sicherheitsgefährlich  bezeichnete  und  den 
vollständigen  Umbau  als  die  einzige  Bedingung  der  Spielerlaubnis 
gelten  lassen  wollte.  Auch  die  Opemredouten  konnten  durch 
zwanzig  Jahre  .anstandslos'  abgehalten  werden;  als  aber  irgend 
ein  bis  dahin  unbekannter  Architekt  im  Wege  der  Zeitung  auf  ihre 
Gefährlichkeit  hinwies,  zögerte  das  Hofamt  nicht,  die  Faschings- 
freuden ein  für  allemal  aus  den  geräumigen  Hallen  des  Opem- 
gebäudes  zu  verbannen.  Jetzt  hat  eine  Staatsbehörde  ihr  Machtwort 
gesprochen,  und  sie  steht  nicht  an,  es  sofort  zurückzuziehen,  da 
sich  die  Herren  Kubinzky  und  Simon  ungehalten  zeigen  und  die 
Herren  Bauer  und  Landesberg  eine  Schmälerung  ihres  jährlichen 
Einkommens  befürchten.  Etliche  geringfügige  ,Adaptierungen',  die 


—  11  — 

von  den  Besitzern  großmütig  zugestanden  werden,  solkn  der 
Landesbehörde  die  Schmach  völliger  Demütigung  ersparen,  sollen 
das  Publikum  über  die  nun  einmal  ins  Land  gerufene  Gefahr 
beruhigen.  Es  gibt  indes  nur  einen  Ausweg:  Das  Publikum  wird 
die  beiden  Stätten,  die  mit  ämtlicher  Genehmigung  wieder  ehr 
würdig  sein  dürfen,  meiden,  so  daß  die  Möglichkeit  einer  Panik  auf 
das  von  der  Behörde  gewünschte  Minimum  reduziert  sein  wird.« 

Ein  Theater  sperren  ist  immer  nützlicher  als 
eines  eröffnen,  und  von  dem  kulturellen  Moment  ab- 
gesehen, muß  man  bloß  an  die  Zahl  der  Neugrün- 
dungen denken,  welche  die  Brotlosigkeit  so  erhebhch 
steigern  halfen.  Schreckt  uns  die  Perspektive,  daß 
wir  uns  ein  Jahr  ohne  »Göttergatten«  und  »General- 
konsul« durchfretten  müßten?  Die  Journaille  fühlt 
antisozial,  da  sie  dem  Gewinst  ihrer  Operetten- 
jobber die  Sicherheit  des  Publikums  opfert.  Gewiß 
würde  der  sozialer  fühlen,  der  die  Sorge  um  das  Leben 
der  Theaterbesucher  über  die  Sorge  um  das  wirt- 
schaftliche Wohl  des  in  der  Saisonmitte  obdachlosen 
Bühnenpersonals  stellte.  Aber  die  »vis  major«  wäre  fühl- 
los, wenn  sie  nicht  beiden  Rücksichten  zugleich  genügen 
könnte.  Es  kann  gar  nicht  davon  die  Rede  sein,  daß 
Staat  und  Stadt  nicht  die  Pflicht  hätten,  dem  Theater- 
direktor, den  die  Sperrung  des  Theaters  der  Schuldig- 
keit gegenüber  den  Angestellten  entbindet,  die  Mittel 
an  die  Hand  zu  geben,  allen  Ansprüchen  bis  zur 
Erbauung  des  neuen  Hauses  gerecht  zu  werden, 
und  die  Errichtung  sicherer  Betriebsstätten  müßte 
selbst  durch  Zufluß  aus  öff'entlichen  Mitteln  ge- 
fördert werden.  Ein  Staat,  der  durch  Jahrzehnte 
seine  Pflichten  gegen  die  Sicherheit  seiner  Bevölkerung 
vernachlässigt  hat,  ist,  wenn  ihn  späte  Einsicht  zur 
Sperrung  eines  Theaters  zwingt,  mindestens  verpflichtet, 
den  Schauspielern  die  Gagen  zu  bezahlen.  Man  erhebe 
ein  paar  Wucherer  in  den  Adelsstand,  und  die  Kosten 
sind  hereingebracht.  Vielleicht  kann  man  dann  auch 
—  Herr  v.  Koerber  wird  sich  gewiß  nicht  sträuben  — 


—  12  — 

den  Journalisten  die  vorläufig  entfallenden  Tantiemen 
erstatten.  Der  Wohltätigkeit  sind  keine  Schranken 
gesetzt.  Wie  immer  aber  der  Staat  über  seine  Regreß- 
pflicht denken  mag,  es  geht  nicht  an,  sich  über 
amerikanische  Fahrlässigkeit  das  Maul  zu  zerreißen  und 
drei  alte  Angstherbergen,  neben  denen  das  Iroquois- 
theaterals  ein  Vorbild  der  Sicherheit  erscheinen  mußte, 
im  Vertrauen  auf  das  Glück  des  dummen  Kerls  von 
Wien  einem  neuen  Jahrhundert  zu  erhalten.  Die  Ein- 
sperrung des  Direktors  Jauner  nach  dem  Ringtheater- 
brand war  ein  Schwabenstreich  der  irdischen  Gerechtig- 
keit, der  sich  an  den  heutigen  Direktoren  der  Vor- 
stadtbühnen wiederholen  wird,  wenn  wieder  einmal 
die  Schuld  höherer  Faktoren  Menschenopfer  fordern 
sollte.  Aber  das  Übel,  das  abgewendet  werden  kann, 
ist  heute  so  klar  erkannt,  so  deutlich  in  den  Protokollen 
der  Theaterlandeskoramission  bezeichnet,  daß  vielleicht 
doch  für  den  Ernstfall  eine  Überraschung  zu  gewär- 
tigen ist  und  wir  statt  der  unschuldigen  Theater- 
pächter den  Minister  des  Innern  und  den  Statthalter 
auf  der  Anklagebank  sehen  werden. 


Wucher. 

Das  naive  Zeitalter  eines  Kürnberger  hat  von 
der  Revolution  geträumt,  die  in  Österreich  kommen 
werde,  wenn  einmal  die  Gesetze  angewendet  würden. 
Aber  kindlich  —  wie  der  Glaube  an  den  großen 
sozialen  Kladderadatsch  —  erscheint  uns  Abgeklärten 
solcher  Chiliastenwahn.  Auf  einen  österreichischen 
Zukunftsstaat  der  Gesetzlichkeit  hoffen  wir  nicht, 
und  wer  hätte  den  Zukunftsstaat  österreichischer  Ge- 


—  13  — 

setzlichkeit  zu  fürchten!  Würden  Österreichs  Ver-' 
waltungsgesetze,  an  die  Kürnberger  dachte,  dereinst 
angewendet,  so  werden  es  Österreichs  Verwaltungs- 
behörden sein,  die  sie  anwenden.  Und  sollten  öster- 
reichische Verwaltungsbeamte  die  Gesetze  anders  an- 
wenden als  österreichische  Richter?  Wem  hülfe  es, 
wenn  künftig  hierzulande  »nach  bestem  Gewissen«  nicht 
bloß  geurteilt,  sondern  auch  verwaltet  würde,  da 
doch  das  »beste  Wissen«  ebenso  von  Verwaltungs- 
bearaten  wie  von  Richtern  Paragraphen-Kenntnis  ist 
und  tiefe  Unwissenheit  vom  Leben!  Heute  können 
wir  uns  über  den  Unsinn  der  Verwaltung  noch  mit 
dem  Gedanken  trösten,  daß  er  ungesetzlich  ist.  Aber 
trostlos  ist  es,  daß  der  Sinn  der  Gesetze  in  den  Ge- 
richtssälen zur  Unvernunft  wird:  wir  haben  ein 
Wuchergesetz,  und  unsere  Gerichte  handhaben  es  — 
zum  Schutze  der  Wucherer. 

Zwei  Arten  von  Prozessen  sind  bei  den  Wiener  Ge- 
richten die  zahlreichsten :  Die  Wucher-  und  die  Ehren- 
beleidigungsprozesse. Man  kann  daraus  schließen,  daß 
zwei  Klassen  von  Menschen  in  Wien  die  zahlreich- 
sten sind:  Die  Bewucherten  und  die  Leute  mit  einer 
ramponierten  Ehre.  Die  österreichische  Rechtspflege 
aber  besteht  darin,  daß  die  Männer  mit  der  schad- 
haften Ehre  in  unseren  Gerichtssälen  regelmäßig  als 
Kläger  auftreten,  während  die  Bewucherten  die  Rolle 
von  Angeklagten  zu  spielen  haben.  Als  im  Mai  1881 
das  Wuchergesetz  erlassen  ward,  da  dachte  man,  nun 
würden  die  Wucherer  einer  nach  dem  andern  vor 
das  Strafgericht  gezogen  werden.  Und  seither  er- 
scheinen die  Wucherer  auch  wirklich  ohne  Unterlaß 
vor  den  Strafgerichten,  —  als  Zeugen,  als  Privatbe- 
teiligte, Schutz  gegen  ihre  Opfer  heischend.  Zu  den 
sechs  Monaten  bis  zwei  Jahren  strengen  Arrests, 
die  auf  gewerbs-  oder  gewohnheitsmäßigen  Wucher 
gesetzt  sind,  hat  es  noch  keiner  von  ihnen  gebracht, 
aber  viele  sind  den  Richtern  als  Gewohnheitszeugen 
wohlbekannt;    als  Zeugen  in  Prozessen,    die  freilich 


—  l*«  — 

von  den  Gerichten  nicht  als  Wucherprozesse  geführt, 
von  den  Zeitungen  nicht  Wucherprozesse  genannt 
werden :  angeklagt  ist  ein  heruntergekommener  Lebe- 
mann, der  Wechsel  gefälscht  oder  Juwelen  heraus- 
gelockt hat,  und  der  Inspirator  des  Staatsanwalts  ist 
ein  Wechseleskompteur  oder  Juwelier,  dessen  kauf- 
männische Ehrbarkeit  sich  besonders  wohltuend  abhebt 
von  dem  skrupellosen  Leichtsinn  des  verlumpten 
Aristokraten.  Triumphierend  verläßt  der  solide  Kauf- 
mann den  Gerichtssaal:  er  hat  wieder  einmal  durch 
das  Strafgericht  an  einem  zahlungsunfähigen  Opfer 
ein  Exempel  statuieren  lassen.  . .  Gibt  es  aber,  so 
könnte  ein  ahnungsloser  Zeitungsleser  fragen,  in  Wien 
nicht  auch  wirkliche  Wucherprozesse  —  solche,  in  denen 
Wucherer  verurteilt  werden?  Und  ein  ahnungsloser 
Wiener  Strafrichter  würde  in  gutem  Glauben  ant- 
worten: gewiß;  jüngst  erst  hat  sich  der  Prozeß  Pajor 
abgespielt,  und  hat  nicht  ein  christlichsoziales  Blatt 
den  Gerichtssaalbericht  unter  dem  Titel  »Das  Haupt 
einer  jüdischen  Wucherkompagnie«  veröffentlicht? 
Dieses  »Haupt«  war  ein  kleiner  Geldagent,  der  Zu- 
treiber  von  Wucherern;  er  wurde  verurteilt  wegen 
Schädigung  der  Wucherer:  Um  sich  eine  Provision 
herauszuschlagen,  hatte  er  unwahre  Angaben  des 
Geldnehmers  vor  den  Geldgebern  bestätigt.  Jetzt  hat 
ein  bürgerliches  Strafgericht  den  Wucherern  Genug- 
tuung an  ihrem  ungetreuen  Bediensteten  verschafft, 
und  das  Militärstrafgericht  wird  den  Leutnant  Inaudy 
wegen  Wechselfälschung  abtun. . . 

Wenn  aber  die  österreichischen  Richter  es  einmal 
satt  werden  sollten,  die  Schergen  der  Wucherer  zu 
sein,  so  brauchen  sie,  um  zu  einer  wirksamen  Hand- 
habung des  Wuchergesetzes  zu  gelangen,  nur  die 
typischen  Aussagen  der  meisten  Wechselfälscher  mit- 
einander zu  vergleichen.  Wer  nicht  schon  aus  der 
Tatsache,  daß  gefälschte  Wechsel  fast  immer  Wucherer- 
wechsel sind,  Erkenntnisse  über  die  Technik  des 
Wuchers  zu  schöpfen  vermag,    den  müßte  es  wenig- 


-  15  — 

stens  stutzig  machen,  daß  immer  wieder  der  Fälscher 
den  Ankläger  —  den  »Beschädigten«  —  seinerseits 
der  Verleitung  zur  Fälschung  anklagt.  Und  wirft 
man  ernsthch  die  Frage  cui  bono?  auf,  so  läßt  sicli 
nicht  verkennen,  daß  die  Fälschung  —  der  Absicht 
nach  —  zum  Nutzen  des  Wucherers  und  zum  Nach- 
teil des  Bewucherten  stattfand.  Aller  Scharfsinn  des 
Wucherers  ist  darauf  gerichtet,  es  dem  Därlehens- 
werber  unmöglich  zu  machen,  daß  er  bei  Fälligkeit 
der  Schuldurkunde  den  Einwand  des  Wuchers  erhebe. 
Das  primitive  Mittel,  bei  mäßigen  Zinsen  hohe  Pro- 
visionen für  vorgeschobene  Mittelsmänner  zu  ver- 
langen, verfängt  auch  bei  österreichischen  Richtern 
nicht  immer  mehr.  Der  Wucherer  muß  also  weiter 
gehen  und  den  Kreditnehmer  zu  unsittlichen  oder 
strafbaren  Handlungen  drängen,  um  sich  den  Raub 
zu  sichern.  Häufig  genügt  ein  Ehrenwort,  bei  minder- 
jährigen Schuldnern  oft  die  Suggestivfrage:  Sie  sind 
natürlich  großjährig?  und  die  Mahnung,  daß  die  Ver- 
schweigung der  Minderjährigkeit  ein  Betrug  wäre.*) 
Aber  wo  große  Summen  auf  dem  Spiel  stehen,  ist 
das  Kavalierswort  dem  Wucherer  eine  zu  unsichere 
Bürgschaft;  er  braucht  ein  Pressionsmittel,  das 
nicht  versagen  kann.  Und  das  darf  nicht  weniger 
als  ein  Verbrechen  des  Schuldners  sein.  Ein  Wechsel 


*)  Freilich  macht  sich  —  nach  §  15  des  Wuchergesetzes  —  einer 
Übertretung  schuldig,  >wer  sich  von  einem  Minderjährigen  oder  von 
einer  Person,  für  welche  die  Nichteinhaltung  einer  unter  Ehrenwort 
übernommenen  Verpflichtung  die  Strafe  des  Verlustes  ihrer  Dienstes- 
stellung zur  Folge  haben  kann,  die  Erfüllung  der  Verpflichtung  aus 
einem  Kreditgeschäfte  unter  Verpfändung  der  Ehre,  eidlich  oder  unter 
ähnhchen  Beteuerungen  versprechen  läßt<.  Aber  der  Minderjährige  wäre' 
nur  dann  wirklich  geschützt,  wenn  man  unter  >ähnlichen  Beteuerungen« 
auch  die  Behauptung  der  Großjährigkeit  subsumieren,  ihn  dafür  —  den 
Fall  natürlich  ausgenommen,  daß  er  Geburlsdokumente  fälscht  —  straf- 
los und  den  Wucherer  in  jedem  Fall  für  strafbar  erklären  würde,  in 
dem  er  sich  über  die  Volljährigkeit,  wenn  sie  nicht  völlig  zweifellos 
war,  nicht  dokumentarische  Gewißheit  verschafft  hat.  Vollends  wertlos 
ist  der  Schutz  derjenigen,  bei  welchen  der  Bruch  des  Ehrenworts  dert 
Verlust    ihrer  Dienstesstellung   zur  Folge    haben    kann.     Dieser   Schutz 


154 


—  16  — 

auf  10.000  Kronen,  der  für  ein  Darlehen  von  500  Kronen 
ausgestellt  wurde,  ist  mit  dem  besten  Giro  nicht  mehr  als 
500  K  wert;  droht  am  Verfallstag  nicht  der  Aussteller 
des  Wechsels  mit  dem  Strafgericht,  so  ist  zehn  gegen  eins 
zu  wetten,  daß  es  der  Girant  tun  wird.  Hat  aber  der 
Schuldner  das  Giros  einer  ihm  nahestehenden  Person 
gefälscht,  so  braucht  der  Wucherer  nichts  zu  be- 
sorgen; vorausgesetzt  natürlich,  daß  entweder  der 
Schuldner  selbst  zahlungsfähig  ist  oder  wenigstens 
der  Girant  und  daß  dieser  sich  dem  Druck,  den  die  Dro- 
hung mit  der  Strafanzeige  gegen  den  Wechselfälscher 
ausübt,  nicht  zu  entziehen  vermag.  Alle  Schhche 
werden  deshalb  aufgeboten,  um  dem  Schuldner  die 
Fälschung  eines  Giros  zu  suggerieren.  Und  der  Leicht- 
fertige tut  endlich,  was,  wie  er  wohl  weiß,  der  Wunsch 
seines  Gläubigers  ist;  er  zweifelt  nicht  daran,  daß 
er  keineswegs  etwa  den  Wucherer  irreführt,  sondern 
daß  vielmehr  der  Wucherer,  indem  er  ihm  das  Odium 
der  angeblichen  Irreführung  auf  lastet,  an  ihm  eine 
Erpressung  ausübt.  Wer  diesen  Hergang  erfaßt,  wird 
die  Fälle  der  Fälschung  von  Wuchererwechseln,  die 
vor  das  Strafgericht  gelangen,  ganz  anders  beurteilen^ 
als  österreichische  Richter  pflegen.  Billigt  man  dem 
Schuldner  den  guten  Glauben  an  die  eigene  Zahlungs- 
fähigkeit oder  an  die  Zahlungsfähigkeit  und  Zahlungs- 
willigkeit desjenigen  zu,  dessen  Namen  er  als  Giranten 


kann  höchstens  dem  gänzlich  verkommenen  Offizier  nützen,  der  mit  der 
Drohung,  ihm  sei  alles  eins  und  er  lasse  sich  kassieren,  um  nur  den 
Wucherer  in  den  Arrest  zu  bringen,  nicht  bloß  den  Wucherzinsen  ent- 
geht, sondern  den  Gläubiger  auch  um  das  bar  Hingegebene  prellt.  Der 
verschuldete  Offizier  aber,  der  noch  moralischen  Halt  besitzt  und  für 
die  Armee  gerettet  werden  sollte,  kann  das  ihm  abgerungene  Ehrenwort 
niemals  gegen  den  Wucherer  geltend  machen;  er  wird  zahlen  —  mehr, 
als  er  kann  —  oder  sich  niederschießen,  aber  der  Wucherer  ist  gewiß, 
daß  die  Standesmoral  seines  Opfers  höchstens  mit  dem  Armee- Revolver 
als  Waffe  gegen  den  eigenen  Leib  und  niemals  mit  Geselzesparagraphen 
operiert,  die  zum  allgemeinen  Wohl  die  individuelle  Unmoral  ausdrück- 
lich gestatten.  Offizieren  und  Staatsbeamten  kann  auch  das  beste  Wucher- 
gesetz nicht  helfen,  sondern  lediglich  eine  staatliche  Organisation  ihres 
Personalkredits.  Anm.  des  Verf. 


—  IT  — 

auf  den  Wechsel  gesetzt  hat,  so  ist  seine  Handlung 
zwar  unethisch  —  unethisch  besonders  gegenüber 
dem  unwissenthch  zum  Giranten  Gemachten  — ,  aber 
nicht  dolos,  nicht  strafgesetzlich  faßbar;  zwischen 
dem  Wucherer  und  dem  Darlehensnehmer,  der  ihn 
nicht  getäuscht  hat  und  nicht  schädigen  wollte,  be- 
steht bloß  ein  zivilrechtliches  Schuldverhältnis.  Das 
Strafgericht  aber  hat  sich  an  den  Wucherer  zu 
halten:  sei  es,  daß  er  wegen  Verleitung  zur  Fäl- 
schung, beziehungsweise,  weil  er  den  Wechsel  weiter- 
begeben hat,  obwohl  ihm  die  Fälschung  des  Giros 
bekannt  war,  wegen  Mitschuld  zu  bestrafen  ist  — 
denn  eine  Mitschuld  des  Wucherers  liegt,  so  seltsam 
es  klingt,  vor,  wenngleich  keine  strafrechtliche  Schuld 
des  Bewucherten  besteht  — ,  sei  es,  daß  man  ihn 
nach  §  2  des  Wuchergesetzes  aburteilen  will:  der 
Wechsel  mit  dem  falschen  Giro  könnte,  ohne  daß 
man  dem  Sinn  des  Gesetzes  Gewalt  antut,  als  eine 
zur  Verdeckung  eines  Wuchergeschäftes  errichtete 
»Urkunde,  welche  unwahre  Umstände  enthält«  auf- 
gefaßt werden.  Mögen  die  Gerichte  indes  das  Urteil, 
wie  immer  sie  wollen,  juristisch  konstruieren,  zweifel- 
los ist  der  Tatbestand:  daß  der  Wucherer  die  An- 
zeige   wegen    Fälschung    nicht    erstattet,    damit    die 

—  ihm  wohlbekannte  —  Fälschung  bestraft  werde, 
sondern  daß  er  dem  Strafgericht  zumutet,  den 
Schuldner  für  seine  Zahlungsunfähigkeit  zu  bestrafen 

—  die  eine  zivilgerichtliche  Angelegenheit  ist  — 
und  für  die  Weigerung  des  als  Giranten  Bezeich- 
neten, zu  zahlen,  —  eine  Weigerung,  welche  nichts 
als  das  Scheitern  eines  vom  Wucherer  begangenen 
Erpressungsversuchs  bedeutet.  Gerichte,  die  bei  sol- 
chem Tatbestand  den  Wechselschuldner  wegen  Fäl- 
schung verurteilen,  handeln  nach  einer  Abschreckungs- 
theorie, die  eigens  von  den  Wucherern  erdacht  zu 
sein  scheint;  denn  sie  schrecken  bloß  Väter,  Ver- 
wandte oder  Freunde,  deren  Namen  von  einem  leicht- 
sinnigen Burschen  mißbraucht  wurden,  davon  ab,  die 


—  18  — 


Forderungen  des  Wucherers  zurückzuweisen  und 
gegen  ihn  die  Gerichte  anzurufen.  Sie  sanktionieren 
durch  strafgerichthches  Urteil  die  Überzeugung  der 
Wucherer,  daß  das  Wuchergesetz  nur  gegen  die 
Dummen,  die  es  nicht  zu  umgehen  wissen,  das  all- 
gemeine Strafgesetz  aber  für  die  Gescheiten  ge- 
schaffen wurde,  die,  wo  ihre  schmutzigen  Hände 
nicht  hinlangen,  Frau  Themis  zu  bereden  verstehen, 
daß  sie  mit  dem  Schwert  dreinschlage. 

Die  Schöpfer  des  Wuchergesetzes  haben  sicher- 
lich nicht  geahnt,  wie  es  in  der  gerichtlichen  Praxis 
angewendet  werden  würde.  Wenn  es  aber  heute  — 
bei  dem  Stillstand  unserer  Gesetzgebung  —  das  Wich- 
tigste ist,  die  Handhabung  der  Gesetze  zu  kritisieren, 
so  darf  doch  auch  nicht  verschwiegen  werden,  daß 
jeder  besseren  Absicht,  den  Wucher  zu  bekämpfen, 
ein  grundschlechtes  Gesetz  von  allem  Anfang  an 
Zaum  und  Zügel  angelegt  hat.  Die  Tage  liberaler 
Herrlichkeit  waren  kaum  erst  entschwunden,  als  man 
—  nach  reichsdeutschem  Muster  —  in  Österreich  ein 
Wuchergesetz  ausarbeitete.  Ärger  als  irgendwo  in 
der  Welt  hatte  hier  der  entfesselte  Kapitalismus  ge- 
haust; enger  als  überall  jedoch  waren  hier  auch  noch 
Jahre  lang  nach  dem  Krach  die  Geister  gebunden, 
in  den  Gedankenketten  des  Manchestertums  verstrickt. 
Auf  österreichischem  Boden  hatte  damals  Jhering 
zu  der  Überzeugung  kommen  müssen:  »Es  wird  erst 
neuer  bitterer  Erfahrungen  bedürfen,  bis  man  wieder 
inne  wird,  welche  Gefahren  der  von  allen  Seiten 
entbundene  individuelle  Egoismus  für  die  Gesellschaft 
in  seinem  Schöße  trägt,  und  warum  die  Vergangen- 
heit es  für  nötig  gehalten  hat,  ihm  einen  Zaum  an- 
zulegen. Unbeschränkte  Verkehrsfreiheit  ist  ein  Frei- 
brief zur  Erpressung,  ein  Jagdpaß  für  Räuber  und 
Piraten  mit  dem  Rechte  der  freien  Pürsch  auf  Alle, 
die  in  ihre  Hände  fallen  —  wehe  dem  Schlachtopfer  ! . . 
Daß  die  Wölfe  nach  Freiheit  schreien,  ist  begreiflich. 
Wenn    aber    die  Schafe   in   ihr  Geschrei  einstimmen. 


—  19  — 

so  beweisen  sie  damit  nur,  daß  sie  eben  Schafe  sind«. 
Und  die  österreichischen  Schafe  schrieen,  als  man  dem 
Wucher  zu  Leibe  gehen  wollte,  so  laut,  daß  alle 
Vernunft  im  Lande  betäubt  ward.  Ein  Jahr  vorher 
hatte  das  deutsche  Reichsgesetz  die  Merkmale  des 
Wuchers  festgestellt:  strafbar  sollte  sein,  wer  »unter 
Ausbeutung  der  Notlage,  des  Leichtsinns  oder  der 
Unerfahrenheit  eines  Andern  bei  einem  Darlehen 
oder  im  Falle  der  Stundung  einer  Geldforderung  sich 
oder  einem  Andern  Vermögensvorteile  versprechen 
oder  gewähren  läßt,  welche  den  üblichen  Zins- 
fuß dergestalt  überschreiten,  daß  nach  den  Um- 
ständen des  Falles  die  Vermögens  vor  teile  im 
auffälligsten  Mißverhältnisse  zur  Leistung 
stehen«.  Aber  in  Österreich  wollten  Regierung  und 
Parlament  den  notleidenden,  leichtsinnigen  oder  un- 
erfahrenen Schuldner  nicht  so  ohneweiters  schützen; 
strafbarer  Wucher  liegt  nach  österreichischem  Gesetz 
erst  vor,  wenn  der  Darlehensgeber  sich  Vermögens- 
vorteile versprechen  oder  gewähren  läßt,  »welche 
durch  ihre  Maßlosigkeit  das  wirtschaftliche 
Verderben  des  Kreditnehmers  herbeizu- 
führen oder  zu  befördern  geeignet  sind«.  Jedes 
gelungene  Wuchergeschäft  ist  daher  straflos.  Denn 
wenn  es  dem  Schuldner  glückte,  seine  Verpflichtungen 
zu  erfüllen,  ist  der  unwiderlegliche  Beweis  erbracht, 
daß  die  Bewucherung  nicht  geeignet  war,  sein  wirt- 
schaftliches Verderben  herbeizuführen  oder  zu  be- 
fördern. Man  muß  in  Österreich,  damit  einen  der 
Staat  vor  dem  Wucherer  rette,  zuerst  durch  Wucher 
ruiniert  sein.  Hat  man  aber  das  Unglück,  nicht  ruiniert 
zu  werden,  so  bleibt  der  Wucherer  ein  ehrbarer  Kauf- 
mann, den  niemand  in  seinem  gesetzlichen  Erwerb 
stören  darf.  Und  daran  ist's  nicht  genug.  Der  Regie- 
rungsentwurf des  Wuchergesetzes  hatte  bloß  die  gelun- 
genen Wuchergeschäfte  sanktioniert;  aber  das  öster- 
reichische Abgeordnetenhaus  bereicherte  den  Gesetz- 
entwurf um  einen  Paragraphen,    der  auch   das    miß- 


—  20  — 

lungene  Wuchergeschäft  straffrei  macht.  Es  ist  der 
§  7  des  Gesetzes:  »Die  Strafbarkeit  erlischt,  wenn 
der  Täter,  bevor  der  öffentliche  Ankläger  oder  das 
Strafgericht  von  der  Tat  Kenntnis  erlangt,  den 
gesetzwidrigen  Vorgang  behebt  und  dem  Kredit- 
nehmer das  bezogene  Übermaß  samt  gesetzlichen 
Zinsen  vom  Tage  des  Bezuges  an  zurückerstattet.« 
Brauchte  es  mehr  als  diesen  Paragraphen,  damit  das 
Wuchergewerbe,  blühe?  Im  schlimmsten  Fall,  wenn 
der  Ausgebeutete  sich  aufrafft,  um  sich  des  Ausbeuters 
zu  erwehren,  oder  wenn  tatkräftige  Angehörige  oder 
Rechtsfreunde  sich  seiner  annehmen,  riskiert  der 
Wucherer  nichts,  als  daß  er,  der  Strafanzeige  vor- 
beugend, seine  Forderung  ermäßigt,  mit  der  Rückgabe 
der  Darlehenssumme  samt  fünf  bis  sechs  Prozent 
Zinsen  sich  abfinden  läßt.  Der  reiche  Aristokrat,  der 
hohe  Militär  oder  Beamte,  der  aufrechte  Fabrikant  oder 
Kaufmann,  dessen  verschwenderischer  Sohn  der  Ver 
leitung  des  Geldmannes  erlag,  wird,  indem  er  Kapital 
und  landesübliche  Zinsen  bezahlt  und  den  Wucherer 
laufen  läßt,  um  dem  eigenen  Kind  nicht  durch  An- 
prangerung seines  Leichtsinns  vor  Gericht  schaden 
zu  müssen,  noch  billigen  Kaufs  davon  zu  kommen 
glauben;  und  hat  doch  um  die  Tausende  zuviel  ge- 
zahlt, die  dem  Leichtfertigen  über  seine  Darlehens- 
forderung hinaus  vom  Wucherer  aufgedrängt  und  die 
wie  ein  Glücksgeschenk  verschleudert  wurden.  Der 
Leutnant  Inaudy  wollte  2000  Kronen  leihen  und 
nahm  —  gegen  eine  Verschreibung  auf  10.000  Kronen 
—  mehr  als  das  Doppelte.  Aber  die  Verleitung  zum 
Leihen,  durch  die  künstlich  Verschwendungssucht 
erzeugt  wird,  ist  kein  Delikt;  das  Gesetz  weiß  nichts 
davon,  daß  Unerfahrenheit  und  Leichtsinn  eines 
Jünglings,  dem  der  Vater  vernünftig  die  Bezüge 
zumißt,  auch  dann  schon  ausgebeutet  werden,  wenn 
ihm  auch  ohne  übermäßige  Zinsen  ein  erbschafts- 
belauernder  Geldgeber  die  Mittel  zu  lebemännischem 
Aufwand   bietet.     So   bleibt   die   wahre   Schädigung 


I 


—  21  — 

straflos,  und  für  das  Risiko,  daß  ihm  ein  Wucher- 
geschäft mißglücke  —  d.  h.  daß  er  einmal  bloß  den 
Gewinn  eines  redlichen  Kreditgebers  erzielen  könnte 
— ,  entschädigt  sich  der  Wucherer  an  einem  Dutzend 
anderer  Opfer,  die  zu  schwächlich  sind,  sich  des  §  7 
des  Wuchergesetzes  zu  bedienen.  Ein  Gesetz,  das  die 
Unerfahrenen  behüten  wollte,  ist  in  Wahrheit  für  die 
Wachsamen  geschrieben:  Schutz  findet,  wer  die 
Energie  findet,  den  Einwand  des  Wuchers  rechtzeitig 
zu  erheben.  Und  Schutz  findet  in  jedem  Fall  der 
Wucherer  vor  den  Straf  folgen  seines  Tuns. 

Es  ist  aber  nicht  genug  an  dem,  daß  eine  Klasse 
von  Schuldnern,  über  deren  —  ach!  wie  oft  so  be- 
scheidenes —  Lebemannstum  bürgerliche  Moralisten 
die  Nase  rümpfen,  dem  Wucher  ausgeliefert  wird. 
Ausdrücklich  erklärte  die  Weisheit  österreichischer 
Gesetzgeber  im  Jahre  1881,  daß  es  auch  ein  Gebiet 
solid  bürgerlicher  Tätigkeit  gebe,  das  dem  Wucher 
nicht  verschlossen  werden  dürjfe.  Der  Gott  der 
Kaufleute  war  den  Alten  auch  der  Gott  der  Diebe. 
Aber  obschon  wir  Diebstahl  und  Handel  zu  unter- 
scheiden wissen,  wollen  wir  doch  nicht  zugeben,  daß 
zwischen  Handel  und  Wucher  eine  deutliche  Unter- 
scheidung möglich  ist.  Der  weitere  Wucherbegriff 
des  deutschen  Reichsgesetzes  wird  auch  auf  den 
Handel  angewendet;  in  Österreich  jedoch  ist,  —  laut 
§  14  des  Wuchergesetzes  —  selbst  wer  Zinsen  fordert, 
deren  Maßlosigkeit  das  wirtschaftliche  Verderben  des 
Kreditnehmers  herbeiführt,  kein  Wucherer,  wenn  er's 
in  einem  Handelsgeschäft  tut  und  Gläubiger  wie 
Schuldner  Kaufleute  sind.  Vergebens  hat  der  Abge- 
ordnete Dr.  Jaques  —  ein  liberaler  Jurist  —  als  Für- 
sprecher eines  Minoritätsvotums  das  österreichische 
Abgeordnetenhaus  davor  gewarnt,  »für  Kaufleute  ein 
Privilegium  odiosum  zu  schaffen,  wonach  sie  als  Objekt 
strafloser  Bewucherung  angesehen  werden  könnten«; 
vergebens  haben  die  feinsten  Köpfe  des  Herrenhauses, 
Männer   wie    Habietinek,    Graf  Schönborn  und  Graf 


—  22  — 

Leo  Thun  dafür  gestritten,  daß  die  Moral  österrei- 
chischen Handels  nicht  geringer  eingeschätzt  werde 
als  jene  des  deutschen  Kaufmannsstandes;  wir  dulden 
nicht,  daß  die  Verletzung  über  die  Hälfte  aus  der 
Handelssitte  getilgt  werde,  und  man  kann  in  Öster- 
reich nicht  einmal  den  Gedanken  fassen,  daß  Wucher 
im  Handel  Wucher  —  also  ein  Delikt  bleibt. 

Und  wie  hat  man  seit  dem  Jahre  1881,  während 
das  Wuchergesetz  sich  wirkungslos, zeigte,  alle  Stände 
der  Ausbeutung  freigegeben!  Osterreich  ist  das 
klassische  Land  des  Wuchers,  heute  wie  zuvor.  Die 
Not  ländHcher  Grundbesitzer,  deren  Arbeit  im  mo- 
dernen Österreich  ärger  dem  Gläubiger  frohndet,  als 
sie  je  vor  der  Zeit  der  Bauernbefreiung  den  Guts- 
herren diente,  hat  sich  schließlich  im  Parlament  Gehör 
verschafft.  Aber  anstatt  die  Wuchergesetzgebung  zu  j 
verbessern,  haben  agrarische  Abgeordnete  die  Exe- 1 
kutionsordnung  verdorben.  Und  noch  hat  die  Gesetz- 

gebung  keinen  Schritt  getan  zu  einer  wirksamen 
Organisation  des  Bauernkredits,  die  den  Raiffeisenkassen 
ohne  staatliche  Förderung  unmöglich  ist.  Man  hat 
die  Arbeiter  vor  Bewucherung  schützen  wollen  und 
das  Trucksystem  verboten;  doch  bekämpft  man  die 
Konsumvereine,  anstatt  das  Konsumvereinswesen 
durch  eine  Kreditorganisation  auszugestalten,  und 
weist  den  Arbeiter  an  den  Greisler,  den  Wucherer 
des  kleinen  Manns,  der  in  Detailpreisen  maßlose 
Schuldzinsen  und  Risikoprämien  fordert.  Und  man  hat 
endlich  mildere  Formen  des  Wuchers  —  zwischen 
12  und  15  Prozent  •  —  gesetzlich  im  Versatzärater- 
wesen  geschaffen,  und  überläßt  die  Kreditbedürfnisse 
der  Beamten  Selbsthilfe-Vereinen,  d.  h.  Vereinen,  in 
denen  Geldgeber,  als  Standesgenossen  maskiert,  sich 
selbst  helfen,  während  niemand  den  Geldnehmern 
hilft.  Die  Frage  des  Personalkredits  ist  die  österreichische 
Hauptfrage.  Denn  die  wichtigste  Einteilung  der  Öster- 
reicher ist  diese:  in  Leute,  die  vom  Borgen  leben, 
und  solche,  die  am  Leihen  zugrunde  gehen;  in 
Wucherer  und  Bewucherte.  J.  F. 


Das  »Porträt«  des  Musikalienhändlers  Qutmann,  das  — 
siehe  Nr.  153  —  der  Künstler  des  ,Neuen  Wiener  lournal'  ent- 
worfen hat,  bedarf  einer  kleinen  Retouche.  >Mag  er  auch«  —  so 
vernahmen  wir  —  >beim  Musikalienhandel  und  beim  Konzert- 
arrangement seine  Rechnung  gefunden  haben,  so  scheint  er  doch 
nach  der  Schilderung  ernster  Kritiker  in  erster  Linie  Idealist 
gewesen  zu  sein«.  In  den  dreißig  Jahren  seiner  segensreichen 
Tätigkeit  hat,  so  hörten  wir,  Herr  Gutmann  nie  Prozesse  oder 
Zwistigkeiten  mit  Künstlern  gehabt,  und  mit  bewundernder  Rührung 
fragte  der  Porträtist,  ob  Künstler  dankbare  Menschen  sind,  ob  sie 
es  anerkennen,  »wenn  man  sich  für  ihre  Sache  opfert«.  Also  eine 
kleine  Retouche!  Daß  der  Idealist  Qutmann  beim  Konzertarrange- 
ment seine  Rechnung  gefunden  hat,  muß  selbst  blindeste  Ver- 
ehrung zugeben.  Aber  unbekannt  dürfte  es  sein,  daß  er  beim 
Konzertarrangement  bisher  immer  zwei  Rechnungen  gefunden 
hat.  Das  verhält  sich  nämlich  so:  Herr  Qutmann  hält  bekanntlich 
die  Musikkritik  durch  gutbezahlte  Konzertinserate,  die  er  den 
Wiener  Zeitungen  gibt,  in  Zügel.  Die  Spesen  dieser  Inserate 
rechnet  er  naturgemäß  den  konzertierenden  Künstlern  als  Baraus- 
lagen auf.  Herr  Qutmann  hat  nun  bei  den  ihm  willfährigen  Ad- 
ministrationen einen  ganz  spassigen  Usus  eingeführt:  er  läßt  sich 
über  die  eingeschaltete  Konzertreklame  zwei  Rechnungen  ausstellen. 
Da  die  Zeitungen  sein  Inserat  direkt  und  nicht  durch  einen  Agenten 
erhalten,  so  gewähren  sie  ihm  selbst  den  üblichen  Nachlaß  von  257o- 
Die  eine  Rechnung  quittiert  nun  den  Empfang  des  ermäßigten  In- 
seratenbetrages: die  ist  für  die  Buchführung  des  Herrn  Qutmann 
ausgefertigt;  die  andere  quittiert  den  Empfang  des  vollen  Inseraten- 
betrages: die  übermittelt  Herr  Qutmann  als  Beleg  dem  Künstler, 
mit  dem  er  seine  »Barauslagen«  verrechnet.  All  die  Jahre  hat  also 
Herr  Qutmann  als  Inseratenagent  die  Geschäfte  gemacht,  die  man 
dem  Konzertagenten  mißgönnte,  und  die  Wiener  Zeitungen  haben 
in  vollem  Bewußtsein,  daß  die  Differenz  den  Schaden  der  Künstler 
bedeute,  das  System  der  doppelten  Rechnung  bewilligt.  Die  ,Zeit', 
die  sich  anfangs  weigerte,  kirrte  Herr  Qutmann  durch  Entziehung 
der  Wochenprogramme.  Herr  Rose,  der  Konkurrent,  soll  den  spas- 
sigen Usus  auch  schon  eingeführt  haben.  Jetzt  fehlt  nur  noch,  daß 
Herr  Rose  auch  dem  päpstlichen  Nuntius  im  Konzertsaal  die 
Hand  küßt. 


—  24  — 

Herr  Hofrat  Max  Burckhard  war  ein  übler  Theaterdirektor 
und  ist  kein  guter  Theaterkritiker.  Seine  Meinung  ist  nicht  immer 
interessant,  aber  durchaus  sympathisch  ist  er  dort,  wo  er  mit  ihr 
>nicht  hinter'm  Berg  halten  kann«.  Seine  journalistische  Auf- 
richtigkeit läßt  auf  ein  besseres  Vorleben  schließen.  Als  Zeuge  in 
dem  handelsgerichtlichen  Prozeß  gegen  seine  Chefredakteure  ver- 
wahrte er  sich  gegen  die  Zumutung  eines  inneren  Zusammenhangs 
mit  der  ,Zeit',  und  jetzt  hat  er  sie  gar  in  ihren  eigenen  Spalten 
angegriffen.  Die  Manuskripte  des  Hofrats  Burckhard  wandern 
geraden  Weges  in  die  Druckerei,  sie  bleiben  kontraktgemäß  von 
einer  Lesung  und  Begutachtung  durch  die  Herren  Singer  und  Kanner 
verschont.  Am  28.  Jänner  veröffentlichte  er  in  der  ,Zeit'  eine 
Notiz  über  die  Entlassung  einer  kleinen  Schauspielerin  aus  dem 
Verbände  des  Deutschen  Volkstheaters.  Es  erregte  einiges  Auf- 
sehen, daß  Herr  Burckhard  die  Besprechung  der  nicht  eben  be-l 
deutenden  Affaire  mit  vollem  Namen  unterzeichnete.  Der  Kenner 
aber  verstand  die  Absicht,  welche  die  Worte  diktiert  hatte : 

>Wenn  diese  Darstellung  auf  Richtigkeit  beruht,  dann  würde 
sie  wohl  jedenfalls  das  Eine  auf  das  deutlichste  illustrieren,  wie 
mangelhaft  das  Vertragsrecht  den  Schauspieler  schützt,  und  wie 
leicht  es  dem  Direktor  ist,  ein  Mitglied  trotz  Vertrages  durch 
Brutalität  hinauszuekeln.  Was  dieser  Vorfall  übrigens 
sonst  noch  ,illustrieren'  würde,  braucht  nicht  erst  gesagt  zu  werden«. 

Vor  dem  Handelsgericht  wurde  es  nachgewiesen,  wie  leicht  i 
es  den  Herausgebern  der  ,Zeit'  war,  die  meisten  ihrer  Ange- 
stellten trotz  den  Verträgen  durch  Brutalität  hinauszuekeln  .  .  ' 
Herr  Burckhard  hat  ein  erfreuliches  Beispiel  gegeben.  Mögen 
sich  auch  andere  Schriftsteller  das  Recht  sichern,  ihre  Manuskripte 
geraden  Weges  in  die  Druckereien  zu  befördern.  Dann  werden 
wir  in  den  Wiener  Zeitungen  endlich  die  Wahrheit  über  die 
Wiener  Zeitungen  erfahren. 


Aus  der  Berichtigung  des 
J.  Singer  in  Nr.  134  der  ,Fackel': 

»Wahr  ist,  daß  kein  ein- 
ziger der  Angestellten  der 
,Zeit'  aus  Gründen  der 
Sparsamkeit  oder  deswegen 


Aus  einem  Zirkular,  das 
mir  am  5.  Februar  zuging : 

»Der  ergebenst  Gefertigte, 
derzeit  Filialleiter  der  Tages- 
zeitung ,Die  Zeit',  erlaubt  sich 
Euer    Hochwohlgeboren     seine 


25  — 


entlassen  wurde,  weil  ich 
einsah,  daß  ich  zu  v  iel  e  an  mein 
Unternehmen  gebunden   hatte«. 


Dienste  anzubieten  ....  Zum 
Schlüsse  sei  noch  erwähnt,  daß 
der  Gefertigte  das  Dienstverhält- 
nis bei  der  ,Zeit'  nur  aus  dem 
Grunde  auflöst,  weil  bei  der- 
selben aus  Ersparungsrück- 
sichten  eine  bedeutende 
Reduzierung  des  Personals 
bevorsteht«. 


Neulich  wurde  eine  Frau  wegen  Beleidigung  der  Kaiserin 
Maria  Theresia  von  einem  Wiener  Gericht  zu  vier  Monaten  Kerkers 
verurteilt.  Ist  es  erlaubt,  ein  Strafgesetz,  dessen  Entstehung  in  die 
Zeit  Maria  Theresia's  zurückreicht,  blödsinnig  zu  nennen? 


ANTWORTEN  DES  HERAUSGEBERS. 

DiseipUnarrat.  Dieses  Österreich  ist  wirklich  das  Land  der 
UnWahrscheinlichkeiten :  Ein  Richter  hat  den  Ansturm  der  Coburg'schen 
Hausmacht  abgewehrt,  den  anmutigen  Herrn  Dr.  Barber  verurteilt,  die 
Briefe  zurückzustellen,  und  den  Nebenbuhlern  des  Unrechts,  den  Bach- 
rach  und  Feistmantel,  die  Oerichtstür  gewiesen.  Als  heiteres  Moment  ist 
aus  dem  Verhandlungsbericht  ein  Zwischenruf  zu  zitieren.  Als  ein  frü- 
herer Diener  des  Klägers  Zeugenschaft  ablegte,  rief  Herr  Barber  ver- 
ächtlich :  >Das  war  also  der  Vertrauensmann  des  Herrn  Mattasich!« 
Ernster  ist,  daß  Herr  Dr.  v.  Feistmantel  das  Vorgehen  des  >Verwahrers« 
der  Briefe  als  korrekt  bezeichnet  hat.  Dazu  gehört  immerhin  mehr  Mut, 
als  man  dem  Präsidenten  der  Advokatenkammer  zugetraut  hätte.    Wenn 

jetzt  auch  noch  der  Disziplinarrat  der  Advoicatenkammer  Mut  hat 

Ober  Herrn  Barber  herrscht  keine  Meinungsverschiedenheit,  über  Herrn 

Bachrach  auch  nicht.  Aber  Herr  Dr.  v.  Feistmantel  könnte  immerhin  noch 

dazu  gebracht  werden,  die  Rolle,  die  er  im  Prozeß  gespielt  hat  und  als 

Kurator«  der  gefangenen  Prinzessin  spielt,  als  undankbar  zu  empfinden  . . . 

Politiker.  Sie  melden :  > Ministerpräsident  Koerber  verkehrt  eifrig 
oei  Frau  Schratt  und  das  Preßbureau  berühmt  sich  guter  Beziehungen 
£ur  .Fackel'  —  ,Alles  gerettet!'«  Die  erste  Nachricht  mag  ebenso  wahr 
sein,  wie  sie  gieichgiltig  ist.  Die  zweite  kann  ich  nicht  kontrollieren.  Ich 
weiß  nur  mit  Sicherheit  anzugeben,  daß  die  , Fackel'  sich  keiner  Be- 
uehungen  zum  Preßbureau  berühmt. 

Feinschmecker.  Der  »Objektivität«  halber  sei  gern  verzeichnet, 
laß    Herr   Gfrorner,    der   als   Qeschworner   den   Totschlag   pardonierte 


—  26  — 


und  als  Konditor  die  Lebensmittel  verdarb,  die  Geldstrafe,  zu  der  ihn 
das  Bezirksgericht  verurteilt  hat,  nicht  erlegen  muß.  Ein  Appellsenat, 
unter  dem  Vorsitz  des  L.-O.-R.  Adamu,  sprach  ihn  kürzlich  frei,  »weil 
in  seinem  Geschäfte  wohl  Inkorrektheiten  vorgekommen  seien,  durch 
diese  jedoch  die  Gesundheit  von  Personen  nicht  gefährdet  war«.  So  hat 
denn  nicht  nur  der  Richter  erster  Instanz,  sondern  auch  der  Magistrat, 
der  Herrn  Gfromer  schon  vor  diesem  verurteilt  hatte,  und  die  marktämtliche 
Kommission,  die  im  Laden  des  Herrn  Gfromer  Russennester  aushob, 
Unrecht  behalten,  und  der  guten  Sache  ist  zum  Durchbruch  verholfen. 
Schimmeliges  Dunstobst  und  mit  Staub  bedeckter  Quittenkäse  sind  zwar 
nicht  appetitlich,  aber  durchaus  nicht  gesundheitsgefährlich,  und  der 
erfolgreiche  Berufungswerber  konnte  wohl  »nachweisen«,  daß  die  verdor- 
benen Waren  nicht  zum  Gebrauch  bestimmt,  sondern  nur  zu  dekorativen 
Zwecken  aufgehoben  wurden.  In  der  ersten  Verhandlung  hatte  ihm  die 
Versicherung  wenig  genützt,  daß  der  Kasten,  in  dem  die  Schätze 
aufbewahrt  waren,  >so  versperrt  gewesen  sei,  daß  er  dem  Personal 
nicht  zugänglich  war«.  Der  Appellsenat  ließ  sich  durch  dies  Argument 
rühren,  sprach  frei  und  flößte  allen  Vertretern  der  Lebensmittelbranche, 
die  marktämtliche  Revisionen  zu  scheuen  haben,  wieder  Mut  ein.  Wenn 
wieder  einmal  in  einer  Wurst  ein  Handschuhdaumen  gefunden  werden 
sollte,  so  werden  wir  das  als  eine  Überraschung,  schlimmstenfalls  als  eine 
»Inkorrektheit«,  aber  keineswegs  als  eine  Gefahr  für  die  Gesundheit 
des  Käufers  zu  betrachten  haben.  Das  Glück  ist  blind,  und  ein  andermal 
kann's  ja  auch  geschehen,  daß  wir  in  einem  Fisch  den  Ring  des  Poly- 
krates  finden.  Und  das  ist  gewiß  nicht  ungesund  . .  .  Man  darf  also  in 
Österreich  seine  Frau  mit  der  Hacke  erschlagen.  So  will's  Herr  Gfromer, 
der  in  seinem  Konditorladen  schimmeliges  Dunstobst  feilhält.  Man 
darf  in  Österreich  schimmeliges  Dunstobst  feilhalten.  So  will's  Herr 
L.-G.-R.  Adamu,  der  in  jenem  Richterkollegium  saß,  welches  mich  einst 
wegen  »Ehrenbeleidigung«  zu  einer  Geldleistung  vemrteilt  hat,  die  dei^ 
Ertrag  eines  Jahres  in  öffentlichem  Interesse  geleisteter  geistiger  Arbeit 
bedeutet.  Ja,  die  »Ehre«  ist  bei  uns  ein  behebteres  Rechtsgut  als  die 
körperliche  Sicherheit,  und  dem  Ansehen  einer  korrupten  Theaterclique 
nahetreten,  ist  etwas,  was  man  in  Österreich  nicht  darf.  Wenn  ich  nicht 
verantwortlicher  Redakteur  der  , Fackel'  wäre,  möchte  ich  Gattenmörder 
oder  wenigstens  Lebensmittelverfälscher  sein!  * 

Rallstätter  Kretin.  Die  ,Zeit'  wird  bekanntlich  ihrer  »kulturi 
aktuellen«  Aufgabe  vor  allem  durch  die  Fixigkeit  gerecht,  mit  der  sie 
in  ihrer  Sonntagsbeilage  wie  in  ihrem  Depeschensaal  > Bildin«  jener  Per- 
sönlichkeiten bringt,  die  eben  »im  Vordergmnd  des  Interesses  stehen«. 
Da  man  von  der  Mandatsniederlegung  des  Tschechenführers  Herold  j 
sprach,  zögerte  sie  nicht,  ihren  Sonntagsiesem  das  Porträt  des  Wiener 
Hoteliers  Herold  vorzuführen,  und  im  Depeschensaal  wurde  neulich  de» 
Jahrestag  des  Kanossaganges  Kaiser  Heinrichs  IV.  auf  würdige  Weise 
gefeiert.  Über  einer  erläuternden  Notiz  sah  man  die  Photographie 
Heinrichs IV.  von  Frankreich,  die  nicht  nur  die  bekannte  Physiognomie! 
mit   dem    Henriquatre-Barte,    sondem    übertriebener   Weise   sogar    dettj 


—  27  — 


Aufdruck  >Henri  IV.«  aufwies.  »Welche  Erschütterung  aller  Quartaner- 
weisheit«, klagt  ein  Leser,  >die  das  berühmte  Huhn  im  Topfe  und  den 
wohlbekannten  Ravaillac  in  den  Investiturstreit  verwickelt  sieht!«  Aber 
das  macht  nichts.  Wenn  der  Quartaner  auch  falsche  Antworten  gibt,  — 
die  Hauptsache  ist,  daß  sie  prompt  sind.  Und  daß  >wir  als  die  ersten 
in  der  Lage«  waren,  unseren  Lesern  zu  zeigen,  wie  Herold  und 
Heinrich  IV.  nicht  ausgesehen  haben!  ...  In  einem  Montagsblatt  wird 
der  60.  Geburtstag  des  Eisenbahnministers  v.  Wittek  gefeiert,  —  mit 
Bild  von  Karl  Emil  Franzos.  Und  der  Tod  des  Karl  Emil  Franzos 
besprochen,  —  mit  Bild  von  Professor  Hochenegg.  Eine  Würdigung  des 
neuernannten  Ordinarius  für  Chirurgie  mußte  unterbleiben,  da  im  letzten 
Moment  kein  unrichtiges  Bild  zu  beschaffen  war  ...  Na  ja,  als  Quelle  für  Ge- 
schichtsforschung sind  die  Zeitungen  nicht  so  ernst  zu  nehmen,  wie  noch 
immer  vielfach  geglaubt  wird.  Begeht  doch  z.  B.  selbst  das  ,Neue  Wiener 
Journal'  —  wo  es  sich  nämlich  auf  seine  eigenen  Federn  verläßt  —  Mißgriffe. 
Frau  Körner  habe,  so  wußte  es  anläßlich  der  Schwind-Feier  zu  melden,  den 
Berger'schen  Prolog  >in  ihrer  bekannten  gewinnenden  Art«  zum  Vor- 
trage gebracht.  Dieses  durchaus  zutreffende  Urteil  wurde  nur  leider 
durch  die  Tatsache  abgeschwächt,  daß  an  Stelle  der  Frau  Körner,  die 
im  letzten  Augenblick  hatte  absagen  müssen,  ein  unbekannter  Student 
den  Prolog  gesprochen  hat. 

Geograph.  Die  ,Neue  Freie  Presse'  bezeichnet  am  8.  Februar 
als  den  Schauplatz  des  russisch -japanischen  Krieges  die  >östlichste 
Peripherie  des  Erdballs,  wo  der  Stille  Ozean  zum  Gelben  und 
zum  Japanischen  Meer  sich  verengt«. 

Dieb.  ,Neues  Wiener  Journal',  27.  Jänner:  >Die  Entdeckung 
des  Radiums«.  Man  liest:  >.  .  .  Daß  aber  unter  der  Vernachlässigung 
der  ernsten  Forschertätigkeit  auch  so  sensationelle  Entdeckungen  wie 
die  des  Ehepaares  Curie  zu  leiden  haben,  sollte  man  eigentlich  von  der 
Stellung  der  Wissenschaft  in  Frankreich  nicht  erwarten.  —  Von  großer 
Wichtigkeit  ist  es  auch,  den  Atemzug  der  kindlichen 
Seele  zu  belauschen,  um  sich  vor  pädagogischen  Miß- 
griffen zu  bewahren....«  Ja  was  ist  denn  das?  Wie  kommt  das 
Radium  zum  Atemzug  der  kindlichen  Seele?  Was  haben  chemische 
Forschungen  mit  pädagogischen  Mißgriffen  zu  schaffen?  Nun,  die 
Schere  kann  nichts  dafür,  aber  der  Kleister  hat-  diesmal  zu  viel  des 
Guten  getan.  Am  nächsten  Tag  findet  sich  nämlich  ein  Artikel:  >Die 
Seele  des  Kindes«.  Darin  fehlt  der  Absatz,  der  irrtümlich  dem  Artikel 
über  das  Ehepaar  Curie  angehängt  ist.  Der  Dieb  hatte  Radium  und 
Kinderseele  mit  einer  Hand  zusammengerafft  und  gar  nicht  gemerkt, 
daß  hier  irgendetwas  nicht  stimme.  So  hat  er  sich  wieder  einmal 
selbst  verraten. 

Friseur.  Die  Qualität  des  Lesepublikums  des  ,Neuen  Wiener 
Tagblatts'  muß  eine  sonderbare  sein.  In  der  Nummer  vom  1.  Februar 
erteilt  der  Briefkastenmann  gleich  an  zwei  Adressen  die  folgenden  Winke : 

Disespoir.  Reiben  Sie  die  Kopfhaut  mit  grauer  Salbe,  welche  Sie 
unter  diesem  Namen   in  der  Apotheke  bekommen,   Abends   ein    und  ver- 


28  -- 


binden  Sie  Kopf  und  Haare  über  Nacht  mit  einem  Tuche;  die  Haare 
iTiBssien  täglich  mit  einem  5taubkamm  durchgekämmt,  und  durchsucht  und 
die  Einreibung  mehrmals  wiederholt  werden.  Nach  einigen  Tagen  verderi 
Kopf  und  Haare  gewaschen . 

Und: 

Ungreziefer,  L.  Waschen  des  Kopfes  mit  Petroleum,  dariiv  Ein- 
binden über  Nacht.  Früh  abwaschen  mit  Seifenwasser  und  gut  durch- 
kämmen. Die  zurückbleibenden  Nisse  werden  mittels  Waschungen  mit 
^ig  entfernt., 

Zwei  > liebe  Leser«! 

Tierarzt.  .Deutsches  Volksblatt'  vom  10.  Februar.  Vor  den 
Wiener  Landesgericht  ist  ein  Kridatar  wegen  Brandlegang  -  und  hörn  - 
sexueller  Vergehung  angeklagt.  Das  zweite  Delikt  kommt  bekanntlich  :: 
den  besten  Familien  vor.  In  der  Hütte  des  Armen  wie  im  Palaste  es 
Reichen  wird  es,  dort  als  Verbrechen,  hier  als  Krankheit,  geübt.  Sog.r 
in  Herrscherhäusern  soll  es  nicht  unbekannt  sein.  Das  .Deutsche  Volk  - 
blatf  schreibt:  »Wie  wir  schon  erwähnt,  hatte  der  Ehrenjude  Schoßber:  - 
Of*'ohnheiien.  die  von  eiirer  Perversität  zeigen,  v.  : 
eine  solche  in  reio  arischen  Kreisen  gar  jiie  vorz 
kommen  pflegt!«  —  Ein  weiterer  Fair  von  Hundswut  ist  bis;  r 
mcljit.w  verzeichnen. 

Schmock.  Preisfrage:  Welcher  Ball  »übertraf  an  Sdiönbeit  uri 
vornehmer  Eleganz  all  seinö  Vorgänger«  ? 

Höfling.  Übersiedlungen  nach  Prag',  Abbazia.  Ragusa.  Meran. 
Auf.  allen-  Linien  und  Nebenlinien  Züge  des  Herzens,  —  in  direkter 
lind  aufik  in  verkehrter  Richtung,  Und  wieder  wird  »amtlich«  dementiert, 
daß  '  »ein .  junger  Prinz  aus  einer  Nebenlinie«  mit  einer  Wirtstochter 
»ein  ernstes  Liebesverhältnis  unterhalte  und  die  Absicht  habe,  sie 
zu  ehejichen«.  Und  wenn  schon!  Der  junge  Prinz  kann  für  die 
Thronfolge  nie  in  Betracht  kommen,  sein  Handeln  ist  Privatsache.  Oder 
müssen  wir  uns  auch  dafür  interessieren,  wie  kaiserliche  Prinzen  leben 
und  lieben?'  Nächstens  wird  es  uns  bereits  bekfimraem,  wenn  in  dem 
Wahlspruch  »Tu  Felix  Austria  nube!«  der  Nachdruck  ausnahmsweise 
nicht  auf  dem  Heiräten  liegt ...  Es  ist  zu  viel !  Wir  tun  nicht  mehr 
mit.  Mögen  sich  die  Lakaiengeraüter  einstweilen  beruhigen !  Nicht  zur 
Neugierde,  zur  Ehrfurcht  zwingt  uns  Österreicher  das  Gesetz. 


MITTEILUNG  DER  REDAKTION. 

Unverlangte  Manuskripte  werden  nur  zurück- 
gesendet, wenn  frankiertes  und  adressiertes 
Kuvert  beilag.  Es  genügt  die  einer  Drucksache  \ 
entsprechende  Frankierung,  da  die  Rücksendung 
wegen  Zeitmangels  ohne  scKriftliche  Begleitworte, 
Bedauern  oder  Begründung,  erfolgt. 

Herausgeber  und  verantwortlicher  Redakteur:  Karl  Kraus. 
Druck  von  lahoda  &  Sieeei.  Wien.  III.  Hintere  ZollamtsstraBe  3. 


[bb         ErscMenen  am  24.  Febraar  iöOd 


V,  Jilif 


Die  Facki 


Herausgeber: 


KARL  KRAUS 


Erscheint  drei-  oder  zweimal  Im  Monat. 
Preis  der  einzelnen  Nummer  24  h. 


Irock  nnd  Jtewerbsniäßigea  Verleihen  verboten:  ffeiJcfitUche  Verfolpiinsr 


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Vwßit^iEJBACiiiKU,  IV.  Schwinüsaüfio 


KLAVIERKUNSTSPIEL 
=  APPARAT  

Phonola 

mit  seiner  größten  vSkala  und  seiner  geteilten 
Abdämpfung  für  Baß  und  Diskant  ermöglicht 
allein  die  schwierigsten  Kompositionen  von 
Liszt,  Beethoven  etc.  originalgetreu  zu  spielen. 
Den  Vortrag  künstlerisch  bis  in  die  kleinsten 
Feinheiten  auszug(^stalten  bleibt  ganz  der  indi- 
viduellen Auffassung  des  Spielenden  überlassen. 

üdvig  j(np|el9 

Leipzig-Berlin 

Wien,  VI.  Mariahilferstr.  7—9 


i 


TELEPHON  7550 

Zur  Besichtigung  wird  höfhchst  eingeladen,  Pro- 
spekte gratis,  Bezugsquellen  werden  angegeben. 

Preis   Kr.  IIOO.-. 


Die  Fackel 


Nr    155  WIEN,  24.  FEBRUAR  1904  V.  JAHR 


■'!■■  III         III  — 


ils  ist  sehr  löblich,  daß  als  prompte  Illustration 
zu  dem  Wucher- Artikel  in  Nr.  154  der  ,FackelV  der 
Prozeß  Z  i  n  n  e  r  aufgeführt  wurde.  Herr  Pollak,  der 
Anwalt  des  Staates,  erklärte,  daß  auch  an  Verbrechern 
ein  Verbrechen  verübt  werden  könne.  Das  ist  unbe- 
streitbar. Wann  aber  kommen  endlich  die  Prozesse  gegen 
die  —  Verbrecher  an  die  Reihe?  Eine  sympathische 
»Rechtsfindung«,  um  die  Staatsanwälte  und  Wucherer 
in  freundschafthchem  Einvernehmen  bemüht  sindl  Herr 
Zinner  mag  das  unsauberste  Individuum  sein,  das  je 
die  Anklagebank  gedrückt  hat:  der  Gesellschaft  wäre 
noch  immer  besser  gedient,  wenn  man  den  Schädiger 
der  Wucherer  laufen  heße  und  sich  seiner  als  Zeugen 
gegen  die  Zeugen  bediente.  Herr  Zinner,  der  ihnen 
ethisch  ebenbürtig  und  intellektuell  gewachsen  war, 
verdankt  ihnen  bloß  eine  Kerkerstrafe.  Aber  so 
manchem  Opfer  ihrer  Erpressertücken  haben  sie  den 
Revolver  in  die  Hand  gedrückt.  Unsere  Wucherer 
sind  nicht  in  Polizeifurcht  aufgewachsen.  Erinnert 
sich  jener  Sicherheitsbeamte,  der  gern  außeramtlicK 
interveniert,  wie  er  einst  in  Gegenwart  einer  Rotte 
»Geschädigter«  einen  ehrenhaften  jungen  Gelehrten, 
letwa  eine  Stunde  vor  dessen  Selbstmord  gedemütigl 
hat?  .  .  .  Die  Staatsanwaltschaft  sollte  doch  endlich, 
wieder  die  Agenden  an  sich  nehmen,  die  allzulange 
schon  im  übertragenen  Wirkungskreis  die  ,Packel*' 
verrichten  mußte.  Ich  wurde  schamrot,  als  die  Behörde 
(jene  Musikerswitwe,  der  von  Privatdetektivs  ein 
Iden    Kapellmeister    Ziehrer    belastendes    Manuskript'i 


—  2  — 

herausgelockt  wurde,  an  die  , Fackel'  wies.  Und 
nun  laufen  bei  mir  täglich  Anzeigen  gegen  Wucherer 
ein:  »Ihrer  freundlichen  Aufmerksamkeit  sei  die 
Agentenbande  Soundso  in  dem  und  jenem  Kafifee- 
hause  empfohlen.  Sie  würden  sich  den  Dank  vieler 
Betrogener  erwerben.«  Ja,  ich  kann  doch  niemanden 
verhaften?  Könnte  ich's,  so  manche  Tafel  im  Hause 
eines  Wucherers  würde  plötzlich  aufgehoben  und  — 
so  manchen  Staatsanwalt  und  Polizeibeamten  ließe 
ich  von  dort  abführen. 


»Über  1150  Gramm  Blut  fehlen«.  So  kon- 
statiert  das   jDeutsche  Volksblatt'   mit   Befriedigung. 
In   Prag   wurde    ein  junges  Mädchen  ermordet,   und 
der  Herr,   der  im  Wiener   Antisemitenblatt  das  Blut- 
referat innehat,  ist  bereits  zur  Stelle.    Ein  Lustmord 
ist   natürlich    ausgeschlossen.    Und  schon  wird   auch 
beobachtet,    wie   sich    »der   Bevölkerung   eine   große 
Aufregung    bemächtigt«.  .  .  Na,  nur  keine    Übertrei- 
bungen !      Das    Volk    hat    gegenwärtig    dringendere  « 
Sorgen  und  dürfte  selbst  durch  ein  Abonnement  auf  j 
das  ,Deutsche  Volksblatt'  nicht  mehr  auf  jenes  geistige] 
Niveau  hinunterzudrücken  sein,  auf  dem  ein  Interesse' 
für    den    »Ritualmord«    und    verwandte   Fragen    erst  \ 
möglich  ist.  In  Prag  schUeßt  schon  der  mit  gemischt-  J 
sprachigen  Straßentafeln  verhängte  politische  Horizont 
die  Lösung  solcher  Probleme  aus  .  .  .   Viel  wichtiger 
aber  ist  jetzt,   zu  vermeiden,   daß  sich    eines    andern 
Bevölkerungsteiles    »große    Aufregung«    bemächtigt. jj 
Man  sollte  meinen,  daß  die  Juden  endlich  einmal  die .  I 
ihnen  zugeschriebene  Klugheit  beweisen,  auf  den  alten  : 
Schwindel  nicht  mehr  hereinfallen  und  sich  im  Stillen  i' 
freuen   werden,    daß   der  Antisemitismus   seine    wirt-l 
schaftliche  Mission  aufgegeben  und  in  vollkommenerj 
Vertrottelung  sich  ins  Ausgedinge  der  Ritualscherze  ^ 


—  3  — 


zurückgezogen  hat.  Hoffentlich  läßt  es  sich  diesmal 
kein  Vertreter  jüdischer  Interessen  einfallen,  im 
Musikvereinssaal  pathetisch  zu  werden !  Dies  wäre 
gefährlicher  als  der  Stumpfsinn  des  , Deutschen  Volks- 
blatts',das  doch  sicher  zum  Kuschen  zubringen  ist,  wenn 
ihm  ein  paar  jüdische  Bankdirektoren  beweisen,  daß 
in  ihren  Häusern  zwar  Christengeld,  aber  nicht 
Christenblut  verwendet  wird. 


Pas  folgende  vom  Dezember  datierte  Schreiben 
eines  in  Peking  lebenden  Österreichers  wird  mir 
übermittelt : 

Allenthalben  war  großes  Erstaunen,  als  bekannt 
wurde,  Österreich  hätte,  dem  Beispiele  der  anderen 
Mächte  folgend,  sich  einer  Land-Konzession  auf 
chinesischem  Boden  bemächtigt.  Gründe?  Weil  es 
die  Anderen  ebenso  gemacht.  Aber  wir  sind  mit 
einer  unscheinbaren  Macht  hier  erschienen,  umso 
unscheinbarer,  als  an  Ort  und  Stelle  nur  die  Lan- 
dungstruppen gesehen  wurden.  Dies  versetzte  die 
Chinesen  in  den  Glauben,  daß  wir  als  AUiierte  Deutsch- 
lands und  nur  unter  seinem  Schutze  uns  dazu  er- 
mächtigten. Dabei  ist  gerade  unsere  Konzession  den 
Chinesen  ein  Dorn  im  Auge;  sie  wird  von  zwei  Seiten 
direkt  von  der  Chinesenstadt  begrenzt  und  bildete 
früher  einen  Teil  von  dieser.  Da  wir  sie  nun  haben, 
heißt  es  den  besten  Nutzen  daraus  ziehen.  Die  Re- 
gierung ist  für  eine  materielle"  Unterstützung  schwer 
zugänglich.  Ein  Privatinteresse  ist  nicht  vorhanden, 
um  aus  diesem  Stückchen  Land  eine  Niederlassung 
nach  dem  Muster  der  anderen  Mächte  zu  machen. 
Da  wir  bei  der  Besitznahme  die  Gewaltanwendung 
versäumten,  wären  wir  jetzt  zu  einer  kostspieligen 
Expropriierunggezwungen,  falls  wir  ernstlich  die  Absicht 
hätten,  etwas  für  die  Sanierung  und  Regulierung  zu  tun 
und  das  wiedererwachte  chinesische  Leben  aus  den  un- 


__  4  — 

beschreiblich  kleinen  und  schmutzigen  Gäßchen  zu 
treiben.  Die  arme,  aber  zahlreiche  Bevölkerung  ver- 
hielt sich  ruhig,  die  Verwaltung  hatte  kein  Defizit. 
Als  man  letzthin  den  Entschluß  gefaßt,  ein  Konsulat 
und  Kasernen  auf  der  Konzession  zu  bauen,  wurde 
ein  Expropriierungsversuch  gewagt.  Eine  Verordnung 
zur  Taxierung  der  Preise  für  Boden  und  Gebäude 
wurde  erlassen.  Ob  der  niedrigen  Entschädigungen 
gab  es  großes  Geschrei  seitens  der  Chinesen,  die  sich 
mit  einer  Petition  an  den  Vize-König  wandten.  Die 
Sache  fand  natürlich  in  der  lokalen  Presse  ihr  Echo, 
und  das  Ganze  wurde  aufgebauscht,  in  einem  Sensa- 
tionsartikel als  Raubakt  hingestellt.  Die  Beschwerde 
war  zum  Teil  gerechtfertig,  da  eine  Entschädigungs- 
summe von  70  Taels  =  200  Kronen  für  einen  Ziegel- 
bau der  ersten  Kategorie  durchaus  unzulänglich  ist. 
Und  nun  ist  es  von  dieser  Aktion  still  geworden, 
obwohl  ein  energisches  Vorgehen,  sei  es  auch  nicht 
ganz  gerechtfertigt,  gewiß  bessern  Eindruck  gemacht 
hätte.  .  .  Wir  haben  also  eine  Konzession,  ein  Kon- 
sulat und  ein  Detachement  (20  —  30  Mann).  Der 
Besitz  des  emen  begründet  die  Notwendigkeit  der 
beiden  anderen.  Aber  die  Notwendigkeit  des  Ganzen? 
Fromme  Wünsche  sind  es,  daß  man  mit  der  Zeit 
österreichische  Kaufleute  heranziehen  wird,  die  sich 
hier  niederlassen  werden,  um  der  Regierung  ge- 
fäUig  zu  sein;  drei  Kilometer  vom  internationalen  Ge- 
schäftszentrum entfernt,  in  einem  armen  Chinesen- 
stadtteile, in  den  sich  hineinzuwagen  immer  einen 
Entschluß  kostet I  .  .  .  Was  bis  jetzt  in  kommerzieller 
Beziehung  geleistet  wurde,  ist  die  Erteilung  einer 
Lotto-Kollektur  —  ein  Export,  der  uns  wenig 
Ehren  eingebracht  hat  und  von  den  Rivalen  auch  ent- 
sprechend ausgenützt  wurde.  Selbstdiechinesische 
Verwaltung  hat  sich  aus  moralischen  Grün- 
den bemüssigt  gesehen,  ihre  Untertanen 
davor  zu  warnen.  Und  die  Pointe:  daß  es  nicht 
einmal   ein   Österreicher   ist,   der   von    diesem  Privi- 


—  6  — 

legium  einen  Nutzen  zieht,  sondern  einige  deutsche 
Geschäftsleute.  .  .  Man  interessiert  sich  bei  uns  viel 
zu  wenig  für  das,  was  im  fernen  Osten  vorgeht, 
und  unterschätzt  diesen  Markt  der  Zukunft.  Es 
ist  sehr  zweifelhaft,  ob  es  wirksame  Mittel  gibt, 
den  Unternehmungsgeist  zu  beleben  und  anzuspornen: 
um  es  tun  zu  können,  müßte  einer  vorhanden  sein. 
Man  müßte  den  Leuten  sichere  Geschäfte  anbieten, 
womöglich  Resrierungsgeschäfte ,  die  mit  keinem 
Risiko  verbunden  sind,  damit  sie  zuerst  die  Scheu 
vor  dem  Fremden,  Unbekannten  verlieren.  Jetzt  ist 
das  Waffenverbot  aufgehoben,  China  wird  noch  für 
Millionen  Bestellungen  machen.  Die  Aera  der  Bahnen 
und  der  folgenden  Erschließung  beginnt.  Nach  den 
außerordentlichen  Resultaten  der  Belgier,  Amerikaner 
etc.  »reißen  sich«  alle  Nationen  um  derartige  Kon- 
zessionen. Auch  die  Eröffnung  der  Minen  ist  in  aller- 
nächster Zeit  zu  erwarten.  Der  Wettlauf  hat  die 
Chinesen  stutzig  gemacht,  und  sie  wollen  sich  augen- 
blicklich zu  keiner  weiteren  Konzession  entschließen. 
Ein  günstiger  Moment,  um  großmütig  China  die  paar 
Quadratkilometer,  die  uns  nur  Scherereien  machen 
und  kaum  je  etwas  eintragen  werden,  zu  überlassen 
und  dafür  praktischere  Vorteile  zu  erlangen,  —  Pri- 
vilegien für  ausschließliche  Regierungslieferungen, 
Bahnen-  und  Minen-Konzessionen.  Durch  diese  Liefe- 
rungen würden  unsere  Firmen  mit  dem  Lande  in 
Fühlung  kommen  und  dank  dem  chinesischen  Kon- 
servatismus diese  Fühlung  nicht  verlieren.  Unter 
den  Bahnkonzessionen  ist  z.  B.  die  Sechuen-Bahn, 
die  eine  der  reichsten  Provinzen  Chinas  mit  einer 
Bevölkerung  von  über  40  Millionen  dem  Verkehre 
erschließen  wird;  dann  die  Kaigan- Bahn,  eine  Teil- 
strecke der  Karawanenstraße  Peking-Kiatka,  der  direk- 
testen Verbindung  Chinas  mit  Europa.  Und  sollte  auch 
mit  der  Zeit  ganz  Nordchina  in  russische  Hände 
kommen,  wird  solch  ein  Besitz  ein  wertvolles  Tausch- 
objekt bleiben,  an  welchem  man  nur  gewinnen  kann. 


—  6  — 

Unsere  Metall-Industrie  würde  durch  diese  großen  Be- 
stellungen einen  neuen  Aufschwung  erhalten,  auch 
der  Lloyd  hätte  einen  guten  Vorwand  zu  einer 
rascheren  Entwicklung,  mit  einem  Wort,  das  bisher 
unbeachtete  und  unterschätzte  Österreich  hätte  Ge- 
legenheit, in  den  internationalen  Konkurrenzkampf 
einzutreten,  gestützt  auf  Vorteile,  die  den  Erfolg 
sichern 


Im  Prozeß  gegen  den  wegen  Betrugs  und  sexu- 
eller Vergehungen  verurteilten  Josef  Schoßberger  sagte 
der  Staatsanwalt  nach  unberichtigten,  also  wohl  rich- 
tigen Gerichtssaalmeldungen : 

>.  .  .  Auch  alle  natürlichen  Triebe  wirken  mit  Gewalt  auf 
den  Menschen  ein;  das  Gesetz  aber  gebietet,  allen  diesen  Trieben 
zu  widerstehen,  sobald  sie  auf  Kosten  fremder  Rechtsgüter  befrie- 
digt werden  müßten.  < 

Der  Angeklagte  Schoßberger  hat  seinen  per- 
versen Trieb  nicht  auf  Kosten  »fremder  Rechtsgüter« 
befriedigt,  da  er  dem  freien  Willen  seines  Konsorten 
nicht  Gewalt  antat,  dessen  Gesundheit  nicht  schädigte. 
Also  war  er  wegen  Betruges  zu  verurteilen,  wegen 
des  Sexualdelikts  auch  nach  Ansicht  seines  Anklägers 
freizusprechen.  Versteht  sich,  vom  Standpunkt  eines 
kommenden  Gesetzes.  Die  Erklärung  des  Staatsanwaltes 
ist,  selbst  wenn  im  vorliegenden  Fall  ein  »fremdes 
Rechtsgut«  verletzt  wurde,  mindestens  für  die  Reform 
des  Strafgesetzes  richtunggebend.  Gegen  die  perversen 
Triebe  bedarf's  keiner  anderen  gesetzlichen  Schran- 
ken als  gegen  die  natürlichen:  Schutz  der  Unmündig- 
keit, der  persönlichen  Freiheit  und  der  Gesundheit. 
Ihr  Walten  kann  nur  dort  strafbar  sein,  wo  es  diese 
»fremden  Rechtsgüter«  berührt  hat. . .  Ist  die  Wiener  t) 
Staatsanwaltschaft  wirklich  so  vernünftig?  Oder  ist 
sie  es  nur  infolge  fehlerhafter  Gerichtssaalbericht- 
erstattung? 


__  7  — 


Psychiatrie. 

Aus  dem  gerichtsärztlichen  Gutachten  über  den 
~Dr.  Zinner: 

»Er  hatte  Zittern,  heftige  Krämpfe  beim  Einschlafen,  morgens 
Üblichkeiten.  Er  ist  auch  innerlich  haltlos  geworden,  seine 
ursprünglich  feinere  Empfindung  in  poetischer  und  literarischer 
Beziehung  wurde  durch  den  Alkohol  immer  mehr  in  den  Hinter- 
grund gedrängt.  Er  hatte  keinen  Geschmack  mehr  an 
feineren  Darbietungen  des  Burgtheaters  und  der 
Oper,  und  ethisch  immer  tiefer  sinkend,  trieb  er  sich 
mit  weiblichen  Bekannten  im  Tingel-Tangel  herum.« 

Sapperraent!  Sappermentl  Wer  hätte  je  gedacht, 
dajß  es  für  die  Frage,  ob  Herr  Zinner  Betrug  und 
Veruntreuung  begangen  hat,  wichtig  sein  würde,  zu 
erfahren,  daß  er  keinen  Geschmack  mehr  an  den 
feineren  Darbietungen  des  Burgtheaters  und  der  Oper 
gehabt  hat  ?  Mindestens  scheint  nach  der  Anschauung 
der  Wiener  Gerichtspsychiater  der  Besuch  der  Hof- 
theater ein  Beweis  morahscher  Vollwertigkeit  zu  sein. 
In  Wirklichkeit  ist  dem  leider  nicht  so;  es  handelt  sich 
lediglich  um  eine  Geschraacksfrage,  und  Herr  Zinner 
hätte  nicht  den  übelsten  Geschmack  bewiesen,  wenn 
er  dem  Genuß  mancher  Novitäten  der  letzten  Jahre 
die  Gesellschaft  »weiblicher  Bekannter«  (schrecklich!) 
im  Tingel-Tangel  vorgezogen  hat.  Es  ist  auch  ein 
Irrtum,  zu  glauben,  daß  man  durch  den  Verkehr  mit 
weiblichen  Bekannten  oder  durch  den  Aufenthalt  in 
einem  Vari^t^  ethisch  immer  tiefer  sinkt.  Ich  habe 
beides  schon  erprobt,  kann  aber  ruhig  behaupten,  daß 
ich  mich  um  keinen  Schritt  der  Möglichkeit,  Depots 
zu  veruntreuen,  näher  gerückt,  sondern  im  Vollbesitze 
meines  ethischen  Hochmutes  fühle  und  würdig,  Heraus- 
geber der  ,Packel'  zu  sein.  Die  Kunstinteressen  und 
privaten  Neigungen  des  Herrn  Zinner  wären  im  Gut- 
achten wie  in  der  ganzen  Verhandlung  besser 
unerörtert  geblieben.  Sie  sind  wirklich  kein  Maßstab. 
Einer  kann  ein  Don  Juan  sein  —  der  schmierige  kleine 


—  8  — 

Advokat  war  es  nicht  —  und  doch  vom  Scheitel  bis 
zur  Sohle  ein  Ehrenmann  in  wirtschaftlichen  Dingen. 
Einen  andern  brauchte  das  Gelübde  der  Keuschheit 
nicht  zur  Enthaltung  von  fremdem  Eigentum  zu 
zwingen.  Das  schwindende  Interesse  des  Herrn  Zinner 
an  den  Darbietungen  des  Burgtheaters  könnte  —  und 
wenn  er  Millionen  veruntreut  hätte  —  noch  immer 
eher  für  den  künstlerischen  Verfall  des  Burgtheaters 
als  für  den  sittUchen  des  Herrn  Zinner  zeugen.  Und 
der  Mann  ist  nicht  zu  bedauern,  weil  er  durch  seine 
Verhaftung  an  dem  Besuch  der  »Jakobsleiter«  von 
Davis  verhindert  wurde!  .  ,  . 


tierr  Pötzl  ist  als  Beschauer  des  Wiener  Klein- 
lebens eine  so  geschlossene  und  künstlerische  Persön- 
lichkeit, daß  es  wirkUch  schade  ist,  wenn  er  sich 
durch  fortwährende  kritische  Aufregung  aus  seiner 
Position  zu  bringen  sucht.  Man  kann  sehr  viel  gegen 
die  gedankliche  Anmaßung  der  Fakultäten  maierei 
Klimt's  einzuwenden  haben,  aber  es  geht  doch  auf 
die  Dauer  nicht  an,  diesen  außerordenthchen  Könner 
deshalb  zu  verunglimpfen,  weil  seine  Frauengestalten 
nicht  »mollert«  sind  und  dem  Ideale  der  »Mudel- 
sauberkeit«  nicht  entsprechen.  Und  es  ist  einfach 
nicht  wahr,  daß  die  Anerkennung  der  Hodler  und 
Munch  ausschließlich  Sache  der  Snobs  ist,  wie  Pötzl's 
versifizierter  Ärger  uns  neulich  glauben  machen 
wollte.  Überhaupt  bekenne  ich,  daß  mir  das  Treiben 
der  Snobs  im  Kunstgehege  zwar  lächerlicher,  das 
der  Philister  aber  gefährlicher  scheint.  Der  Snob 
fördert  das  Unkraut,  der  Philister  hindert  die  Edel- 
pflanze.  Spießer  zur  Strecke  bringen,  war,  wenn  ich  im 
Blätterwald  streifte,  immer  meine  höchste  Weidmanns- 
lust !  Es  ist  bedauerlich,  daß  Herr  Pötzl,  den  so  manche 
Wiener  Skizze,  die  er  geschrieben,  hoch  über  den  Troß 


—  9  — 


schreibender  Kommis  stellt,  sich  immer  wieder  ins 
kritische  Revier  begibt.  Der  kleinste  Horizont  schließt 
die  Möglichkeit  feinster  Künstlerschaft  ein,  aber  hinter 
ihm  liegt  das  Recht,  eine  Meinung  zu  äußern  über 
tCünstlerschaft,  die  hinter  ihm  liegt.  Man  kann  eine 
prächtige  humoristische  Betrachtung  über  das  Rind- 
fleisch bei  »Meißl  und  Schadn«  schreiben.  Aber  der 
Standpunkt,  von  dem  aus  man  die  moderne  Kunst 
abtut,  ist  dann  in  der  Regel  auch  der  einer  Sach- 
verständigkeit über  Kruspelspitz  und  Hieferschwanzl. 


Zahlreiche  Leser  wünschen  Näheres  über  die  Lebensge- 
wohnheiten des  Herrn  Lippowitzzu  erfahren.  Ich  weiß  nichts,  und 
es  ist  nicht  Sache  der  , Fackel',  große  Männer  bei  ihren  täglichen 
Verrichtungen  zu  belauschen  und  sie  nach  ihren  »Lieblingsspeisen 
und  Lieblingsgetränken«  zu  beurteilen.  Ich  glaube  immerhin, 
daß  Herr  Lippowitz  gern  Krebse  ißt,  weil  sie  bekanntlich  zwei 
Scheren  haben,  und  daß  er  Mineralwässer  nicht  leiden  kann,  weil 
auf  ihnen  immer  die  Quelle  angegeben  ist.  Aber  mich  interessieren 
nur  die  öffentlichen  Funktionen  des  Mannes.  Und  da  muß  ich 
neidlos  anerkennen.  Uneingeschüchtert  durch  warnende  Zurufe  aus 
allen  Gauen  Deutschlands,  mit  einer  Selbstverständlichkeit,  die  den 
Diebstahl  als  journalistisches  Naturrecht  heiligt,  krabbst  das  traurige 
Lippowitzblatt  am  helllichten  Tage  weiter.  Hundertmal  ist  hier  und 
andern  Orts  der  Dieb  ein  Dieb  genannt  worden,  und  anstatt  wegen 
Ehrenbeleidigung  zu  klagen,  ging  er  hin  und  stahl.  Vergebens 
gellen  ihm,  wenn  er  in  seiner  prachtvollen  Equipage,  die  ihm  der 
Schere  Arbeit  erwarb,  dahinrollt,  die  Segenswünsche  unbezahlter 
Mitarbeiter  ins  Ohr.  Der  Diebsanzeiger,  der  hier  etabliert  ward, 
hat  nichts  gefruchtet.  Herr  Lippowitz  ist  ein  Feind  jeglicher  An- 
geberei, nicht  nur  jener  der  Quelle.  So  bleibt  nichts  übrig  als  ihm, 
dem  Reichsdeutschen,  von  Zeit  zu  Zeit  landsmännische  Urteile  über 
seine  Wiener  Wirksamkeit  vorzuhalten.  Nach  der  , Frankfurter 
Zeitung',  nach  den  zahllosen  Festnagelungen  literarischer  Fachblätter 
meldet  sich  jetzt  das  ,Berliner  Tageblatt'.    In  der  Nummer 


—  10  — 

vom    12.   Februar   finde   ich   einen   >Briefkasten    der  Redaktion«, 
der  den  folgenden  Anruf  enthält: 

Redaktion  des  «Neuen  Wiener  Journal'.  Wir  müssen 
zugeben,  daß  Sie  mit  großem  Geschick  aus  verschiedenen  Be- 
richten unseres  New -Yorker  Korrespondenten  sich  ein  hübsches 
Feuilleton  > Amerikanisches  Leben«  zusammengestellt  haben.  Es 
wäre  uns  aber  lieber,  wenn  Sie  weniger  Geschicklich 
keit   und   dafür  mehr  Anstand  besäßen. 


In  der  ,Neuen  Freien  Presse'  hat  sich  an  ein  Feuilleton  des 
Herrn  Ludwig  Fulda  eine  angeregte  Diskussion  über  >d  i  e  Kunst 
des  Übersetzer s<  geknüpft.  Da  bekamen  wir  so  manche  drollige 
Probe  vorgesetzt,  über  die  sich  Einsender  und  Blatt  mit  Recht  lustig 
machten,  und  die  ,Neue  Freie  Presse'  konstatierte,  daß  sie  >jeder 
Beschreibung  spotte«.  Wie  schade,  daß  man  nicht  auf  das  nächst- 
liegende Beispiel  verfiel!  Am  26.  Jänner  war  in  der  42.  Fort- 
setzung des  Ohnet'schen  Romanes  »Der  Weg  zum  Ruhme«,  der 
in  einem  großen  Wiener  Blatt  erscheint,  der  Satz  enthalten:  »Ich 
würde  lieber  eine  wüste  barbarische  Orgie  im  Hofe  hören, 
welche  die  ,Diamanten  der  Königin'  oder  ,Der  Postillon  von 
Longjumeau'  spielt.«  Im  französischen  Original  heißt  es:  Orgue 
de  Barbari e.  Vielfach  wird  behauptet,  daß  dies  auf  deutsch  so- 
viel wie  Drehorgel  bedeutet. ..  Unnötig,  hinzuzufügen,  daß  das 
Blatt,  welches  barbarische  Orgien  im  Hofe  hört,  die  ,Neue  Freie 
Presse'  ist. 


Salzburger  Literaturleben. 

In  Salzburg  herrscht  große  Aufregung.  Das  Stück  eines 
»Heimatkünstlers«  —  man  versteht  darunter  Literaten,  deren 
Talentlosigkeit  sich  auf  jenen  Ort,  wo  sie  zuständig  sind,  erstreckt 
—  ist  im  dortigen  Theater  durchgefallen.  Bei  der  zweiten  Vor- 
stellung kam  es  sogar  zu  einem  Skandal.  Darauf  erschien  im 
,Salzburger  Tagblatt'  (No.  30.  vom  8.  Februar,  Seite  6)  das  nach- 
stehende Inserat: 


11  - 


Erklärung ! 

Die  »Qlockenspielkinder<  wurden  von  Kommissionären  des  Instituts- 
inhabers Kaiser  ausgepfiffen  und  lassen  sich  alle  anderen  Dienstmänner 
zu  solchen,  dem   hohen    Publikum  abfälligen  Handlungen  nicht 
herbei  und  bitten,   bei  eventuellen  Aufträgen  dieses  zu  berücksichtigen. 
Die  hiesigen 
Packträger,  Stadtträger,  Expreß  und  Dlenstmänner. 


Welchen  Erfolg  hatte  »Rose  Bernd«? 

,Neue  Freie  Presse':  »Man  hörte  nach  den  Aktschlüssen  viel 
applaudieren,  auch  konnte  der  anwesende  Dichter  oft  genug 
vor  den  Vorhang  treten;  es  schien  aber  doch,  als  ob  aus 
diesem  Beifall  mehr  Höflichkeit  als  Herzlichkeit  zu  ver- 
nehmen wäre.  Das  Publikum  ist  nicht  recht  mitgegangen.« 

,Neues  Wiener  Tagblatt':  »Großer  Erfolg  ...  in  die  Ehren 
des  Abends  teilen . . .  Gerhart  Hauptmann  dankte  in  Person 
für  rauschenden  Beifall  und  unzählige  Hervorrufe.« 

,Neues  Wiener  Journal':  > Das  Publikum,  welches  der  Stoff 
abzustoßen  schien,  wollte  sich  nicht  für  das  Stück  erwärmen . . . 
und  Hauptmann   wurde  erst  vom  dritten  Akt   an  gerufen, < 

,Zeit':  »Hauptmanns  Drama  hat  trotz  der  Abschwächung,  die  der 
kernige  Dialekt  im  Burgtheater  erfahren  mußte,  gestern  eine 
tiefgehende  Wirkung  geübt.  Anfangs  verhielt  sich  das  Pub- 
likum zwar  etwas  kühl,  aber  es  wurde  immer  mehr  in  den 
Bann  der  Dichtung  gezogen  und  äußerte  nach  den  letzten 
Akten  seinen  Beifall  in  zahlreichen  Hervorrufen  und  lebhaften 
Ovationen  für  den  Dichter« 

, Ostdeutsche  Rundschau':  »Qerhart  Hauptmann  konnte  es 
mit  seinem  neuen  Schauspiel  ,Rose  Bernd'  auch  in  Wien 
zu  nicht  mehr  als  zu  einem  sogenannten  »Achtungserfolg* 
bringen.  Es  war  beinahe  schon  ein  Erfolg  blinder  Hoch- 
achtung vor  der  Person  des  anwesenden  Dichters,  von  dem 
man  wußte,  daß  er  hinter  der  Kulisse  bereit  stand,  hervor- 
gerufen zu  werden.  Sein  Schauspiel  jedoch  . . .  begegnete 
gestern  tauben  Ohren  und  unbewegten  Gemütern. . .  Es  fiel 
sanft  in  das  Massengrab,  das  im  Theaterjargon  ,Archiv' 
heißt.« 


—  12  — 

.Reichswehr':  >Qerhart Hauptmann  erschien  nach  den  folgenden 
Akten.  Man  begrüßte  ihn  stürmisch,  er  hat  seine  Gemeinde, 
die  zu  ihm  betet  und  ihn  preist,  er  mag  Icünden  was  er  will.« 

,Deutsches  Volksblatt':  >Gerhart  Hauptmann  dankte  persön- 
lich für  den  Beifall,  der  kein  allzu  lauter  war  und  in  den 
sich  auch  ziemlich  energisches  Zischen  mengte.« 

»Österreichische  Volkszeitung':  >...  Erst  nach  dem  dritten 
Akt  setzte  voller  Beifall  ein  und  als  Qerhart  Hauptmann 
selbst  dafür  dankte,  brach  lauter  Jubel  los  und  der  Dichter 
mußte  einhalbdutzendmal  erscheinen.  Die  prächtige  Dar- 
stellung trug  viel  zu  dem  Erfolge  des  Stücks  bei.< 

»Deutsche  Zeitung':  »Es  war  der  schwerste  Mißerfolg,  den 
Hauptmann  in  Wien  erfuhr,   weit  verdrießlicher  als  jener 

des  ,Armen  Heinrich'.« 

•         « 

Väter  und  Söhne. 

Richard  Wagner  war  im  November  1875 
nach  Wien  gekommen,  um  den  »Tannhäuser«  zu  in- 
szenieren. Gelegentlich  einer  Auseinandersetzung  mit 
den  Künstlern  der  Hofoper,  in  der  es  sich  um  die 
Aufklärung  eines  durch  eine  Ansprache  Wagners  an 
das  Publikum  hervorgerufenen  Mißverständnisses 
handelte,  sprach  er  —  im  Regiezimmer  des  Theaters 
—  die  Worte:  »Ich  selbst  kann  mit  den  Zeitungen 
nicht  in  Verbindung  treten,  denn  ich  verachte 
die  JournalistikI« 

Siegfried  Wagner  war  im  Februar  1904 
nach  Wien  gekommen,  um  dem  Direktor  der  Hofoper 
den  »Kobold«  zu  überreichen.  Auf  dem  Ball  der 
Wiener  Presse,  den  er  am  Abend  seiner  Ankunft 
trotz  der  Erschöpfung  einer  vielstündigen  Reise  be- 
suchte, hielt  er  —  im  Komiteezimraer  —  eine  Rede, 
die  in  die  Worte  ausklang:  »Die  Ooncordia  lebe 
hochl« 


—  1$  — 

Andachtbücher  .'^) 
Von  August  Strindberg. 

Abends,  ehe  ich  einschlafe,  meditiere  ich  erst 
eine  halbe  Stunde,  das  heißt,  ich  lese  in  einem  An- 
dachtbuch, das  ich  je  nach  der  Gemütstimmung  wähle. 
Zuweilen  habe  ich  ein  katholisches ;  das  bringt  einen 
Hauch  des  apostolischen,  traditionellen  Christentumes 
mit ;  das  ist  wie  Latein  und  Griechisch ;  das  sind  die 
Ahnen ;  denn  mit  dem  katholischen  Christentum  be- 
ginnt unsere,  meine  Kultur.  Mit  dem  römischen  Ka- 
tholizismus fühle  ich  mich  als  römischen  Bürger, 
europäischen  Staatsbürger;  und  die  eingeflochtenen 
lateinischen  Verse  erinnern  mich  daran,  daß  ich  Bildung 
habe.  Ich  b  i  n  nicht  Katholik,  bin  es  nie  gewesen, 
denn  ich  kann  mich  nicht  an  ein  Bekenntnis  binden. 
Darum  nehme  ich  mitunter  ein  lutherisches  altes  Buch, 
mit  einem  Stück  für  jeden  Tag  im  Jahr ;  und  das 
benutze  ich  als  Geißel.  Es  ist  im  17.  Jahrhundert 
geschrieben,  als  es  die  Menschen  schlimm  auf  Erden 
hatten.  Darum  ist  es  schrecklich  streng,  predigt  das 
Leiden  als  eine  Wohltat  und  eine  Gnadengabe.  Selten 
hat  der  Prediger  ein  gutes  Wort ;  kann  einen  zur  Ver- 
zweiflung bringen ;  aber  darum  kämpfe  ich  gegen  ihn. 
Es  ist  nicht  so,  sage  ich  mir,  und  dies  ist  nur  dazu 
da,  um  meine  Kräfte  zu  versuchen.  Der  Katholik  hat 
mich  nämlich  gelehrt,  daß  der  Versucher  in  seiner 
häßlichsten  Rolle  auftritt,  wenn  er  den  Menschen  zur 
Verzweiflung  bringen  und  einer  Hoffnung  berauben 
will ;  aber  die  Hoffnung  ist  eine  Tugend  für  den  Ka- 
tholiken, denn  von  Gott  Gutes  glauben,  ist  der  Kern 
der  Religion ;    Gott  Böses    zutrauen ,   ist    Satanisraus. 

Zuweilen  greife  ich  zu  einem  wunderlichen  Buche 
aus  der  Aufklärungsperiode  des  18.  Jahrhunderts.  Es 
ist  anonym ,  und  ich  kann  nicht  sagen ,  ob  es  von 
einem  Katholiken,   Lutheraner  oder  Galvinisten    ge- 


*)  Aus  dem    unveröffentlichten    schwedischen   Manus- 
kript Strindberg's  übersetzt  von  Emil  Schering. 


155 


—  14  — 

schrieben  ist,  denn  es  enthält  christHche  Lebensweis- 
heit eines  Mannes,  der  Welt  und  Menschen  kennen 
gelernt  hat  und  der  auch  ein  Gelehrter  und  ein  Dichter 
ist.  Er  pflegt  mir  zu  sagen,  wessen  ich  gerade  für  den 
Tag  und  die  Stunde  bedarf.  Und  wenn  ich  mich  einen 
Augenblick  gegen  seine  Ungerechtigkeit  und  seine 
unsinnigen  Forderungen  an  einen  Sterblichen  auf- 
gelehnt habe,  kommt  der  Verfasser  gleich  mit  meinen 
Einwendungen.  Er  ist,  was  ich  einen  raisonnablen 
Menschen  nenne,  der  mit  beiden  Augen  sieht  und 
Recht  und  Unrecht  nach  beiden  Seiten  verteilt.  Er- 
innert etwas  an  Jakob  Böhme,  der  fand,  das  alles  Ja 
und  Nein  enthalte. 

Bei  großen  Gelegenheiten  muß  ich  zur  Bibel 
greifen !  Ich  besitze  mehrere  Bibeln  verschiedenen 
Alters;  und  es  scheint  mir,  als  stände  nicht  dasselbe 
in  ihnen ;  als  besäßen  sie  verschiedene  Stromstärke 
oder  Fälligkeit,  auf  mich  Eindruck  zu  machen.  Eine, 
in  schwarz  Karduan,  mit  Schwabacher  im  17.  Jahr- 
hundert gedruckt,  hat  eine  unerhörte  Kraft.  Sie  hat 
einer  Priesterfamilie  gehört,  deren  Stammtafel  auf  der 
Innenseite  der  Deckel  geschrieben  steht.  Es  ist,  als 
wären  Hass  und  Zorn  in  diesem  Buche  akkumuliert ; 
und  es  schilt  und  straft  nur ;  wie  ich  die  Blätter 
auch  wende,  immer  komme  ich  zu  Davids  oder  Je- 
remias'  Verwünschungen  von  Feinden;  aber  die  will 
ich  nicht  lesen,  denn  sie  erscheinen  mir  unchristlich. 
Zum  Beispiel,  wenn  Jeremias  betet :  »So  strafe  nun 
ihre  Kinder  mit  Hunger,  und  laß  sie  ins  Schwert  fal- 
len, daß  ihre  Weiber  ohne  Kinder  und  Witwen  seien, 
und  ihre  Männer  zu  Tod  geschlagen  u.  s.  w.«  Das 
ist  nicht  für  einen  Christenmenschen.  Wohl  kann  ich 
verstehen,  daß  man  Gott  um  Schutz  gegen  seine 
Feinde  bittet,  die  einen  hinabziehen  wollen,  'wenn 
man  hinauf  strebt;  gegen  die.  Feinde,  die  einem  aus 
Bosheit  das  Brot  rauben.  Ich  verstehe  auch,  daß  man 
Gott  danken  kann,  wenn  der  Feind  geschlagen  ist, 
denn   alle   Völker   haben    Te   Deum    gesungen    nach 


—  lö  — 

einem  gewonnenen  Sieg;  aber  spezifizierte  Strafe  auf 
die  Widersacher  herabbitten,  das  wage  ich  nicht. 
Und  ich  kann  mir  wohl  sagen,  was  damals  für  Jere- 
mias  oder  David  paßte,  paßt  jetzt  nicht  für  mich. 

Dann  aber  habe  ich  eine  andere  Bibel,  in  Kalbleder 
und  Goldpressung,  aus  dem  18.  Jahrhundert.  Es  steht 
natürlich  dasselbe  darin  wie  in  der  ersten,  aber  der 
Inhalt  präsentiert  sich  auf  eine  andere  Weise.  Dieses 
Buch  sieht  wie  ein  Roman  aus  und  kehrt  mir  meistens 
seine  schöne  Seite  zu,  selbst  das  Papier  ist  heller,  die 
Typographie  heiterer,  und  es  läßt  mit  sich  reden,  wie 
Jehova,  wenn  Moses  Vorstellungen  zu  machen  wagt, 
die  voller  Zorn  sind.  Zum  Beispiel,  als  das  Volk  von 
neuem  murrt  und  Moses  alles  satt  hat,  wendet  er  sich 
vorwurfsvoll  an  den  Herrn :  »Hab'  ich  nun  all  das  Volk 
empfangen  oder  geboren,  daß  Du  zu  mir  sagen  magst : 
Trag  es  in  deinen  Armen,  wie  eine  Amme  ein  Kind 
trägt  ? . .  .  Woher  soll  ich  Fleisch  nehmen,  das  ich  all 
diesem  Volke  gebe?...  Ich  vermag  alles  das  Volk 
nicht  allein  zu  ertragen,  denn  es  ist  mir  zu  schwer. 
Und  willst  du  also  mit  mir  tun,  so  erwürge  mich 
lieber...«  Jehova  antwortet,  nicht  unfreundlich,  auf 
die  Vorstellungen ,  und  schlägt  zu  Moses'  Hilfe  die 
Wahl  der  siebzig  Ältesten  vor.  Das  ist  ja  nicht  der 
unerbittliche  rachgierige  Gott  vom  alten  Testament. 
Und  ich  grüble  nicht  darüber ;  ich  weiß  nur,  daß  ich 
Zeiten  habe,  wo  das  alte  Testament  mir  näher  als 
das  neue  ist.  Und  daß  die  Bibel,  für  uns  im  Christen- 
tum Geborene,  eine  erziehende  Kraft  hat,  das  ist  sicher; 
ob  .darum,  weil  unsere  Vorväter  psychische  Kräfte  in 
das  Buch  gelegt,  zugleich  als  sie  sie  daraus  holten, 
wäre  schwer  zu  sagen.  Heiligtümer,  Tempel  und 
heilige  Bücher  besitzen  faktisch  diese  Kraft  als 
Akkumulatoren,  aber  nur  für  den  Gläubigen,  denn 
der  Glaube  ist  meine  Lokalbatterie,  ohne  welche  ich 
das  stumme  Pergament  nicht  zum  Sprechen  bringe. 
Der  Glaube  ist  mein  Gegenstrom,  der  durch  Influenz 
Kraft  weckt;   der  Glaube   ist  das  Reibzeug,   das  die 


—  16  — 

Glasscheibe  elektrisiert ;  der  Glaube  ist  der  Rezipieiil, 
und  muß  Leiter  sein,  sonst  kommt  es  zu  keiner  Auf- 
nahme ;  der  Glaube  ist  des  Mediums  Aufheben  des 
Widerstandes,   wodurch  ein  Rapport  eintreten   kann. 

Darum  sind  alle  heiligen  Bücher  stumm  für  den 
Ungläubigen.  Denn  der  Ungläubige  ist  steril;  sein 
Geist  ist  so  pasteurisiert,  daß  nichts  darin  wächst;  er 
ist  die  Negation,  das  Minus,  eine  imaginäre  Quan- 
tität, die  Kehrseite,  das  Saprophyt,  das  nicht  von 
sich  lebt,  sondern  auf  den  Wurzeln  des  Wachsenden ; 
er  besitzt  kein  selbstständiges  Dasein,  denn  um 
negieren  zu  können,  muß  er  das  Positive  haben, 
das  er  negiert. 

Schließlich  gibt  es  Augenblicke,  wo  nur  etwas 
Buddhismus  hilft.  So  selten  bekommt  man  ja,  was 
man  wünscht;  was  nützt  es  da,  daß  man  wünscht? 
Nichts  wünschen,  nichts  begehren,  von  den  Menschen 
und  dem  Leben,  und  du  wirst  immer  glauben,  mehr 
bekommen  zu  haben,  als  du  hast  begehren  können; 
und  du  weißt  aus  Erfahrung,  wenn  du  bekommen 
hast,  was  du  wünschtest,  so  war  es  weniger  das  Ge- 
wünschte als  die  Erfüllung  selbst,  die  dir  Freude 
machte. 

Zuweilen  fragt  wer  in  mir:  glaubst  du  daran? 
Ich  bringe  die  Frage  sofort  zum  Schweigen,  denn 
ich  weiij,  der  Glaube  ist  nur  ein  Zustand  der  Seele 
und  kein  Gedankenakt,  und  ich  weiß,  dieser  Zustand 
ist  mir  heilsam  und  erzieherisch. 

Es  geschieht  jedoch,  daß  ich  mich  gegen  die 
unsinnigen  Forderungen,  die  allzu  strengen  Er- 
mahnungen, die  unmenschlichen  Strafen  erhebe,  und 
dann  verlasse  ich  für  einige  Zeit  meine  Andacht- 
bücher; aber  ich  kehre  bald  zu  ihnen  zurück,  von 
emer  rufenden  Stimme  aus  der  L^rzeit  gemahnt: 
»Denke  daran,  daß  du  ein  Knecht  in  Egyptenland 
gewesen  bist,  und  der  Herr  dein  Gott  dich  davon 
erlöst  hat.«  Dann  schweigt  meine  Opposition,  und 
ich  komme   mir  wie  ein  undankbarer  feiger  Lümmel 


—  17  — 

vor^  wenn  ich  meinen  Retter  vor  den  Menschen  ver- 
leugnen wollte. 


Ihr  Ruf. 

»Und  dann  mit  dem — 1«  »Und  dem!«   »Und  dem  — 1 
Ja,  waren  Sie  denn  selbst  dabei? 
»Ich?  Gott,  das  ist  doch  einerlei II 
Man  sagt  ja  doch  ganz  allgemein  — « 
Gewiß  I  Dann  muß  es  ja  so  seini 

»Und  neulich  dies  — I»  »Und  dasU  »Und  das  — I« 
Ja,  haben  Sie's  denn  selbst  gesehn? 
»Was  selbst I?  Wozu?  Ich  bitte  schön II 
Wo  alle  Welt,  ganz  allgemein  — « 
Gewiß  1  Dann  muß  es  wohl  so  seinl 

»Und  Sie??«  Ich  habe,  sehr  Verehrte, 
Auch  nichts  gehört,  auch  nichts  gesehn  — 
Und  will  deshalb  nur  eingestehn, 
Daß  manches  Bild  mehr  lehrreich  scheint 
Für  den,  der's  malt,  als  den,  den's  meint. 

»Ja  aber  wenn  —   wenn's  wahr  ist  —  ja?II« 
Wahr?  —  —  Ja  —  und  wenn  Sie  mich  ermorden: 
Sie  ist,  so  oft  ich  sie  besah, 
Bis  jetzt   nicht  häßlicher  gewordenl 

Julius  B ab  Berlin. 


ANTWORTEN  DBS  HERAUSGeBBRS. 

Fregatten-Kapitän.  Darüber,  wie  tapfer  der  japanisch-russische 
Krieg  von  der  Wiener  Presse  geführt  wird,  ließe  sich  wirklich  viel 
sagen.  Ihr  Beispiel  ist  nur  eines  von  den  vielen:  Überrumpelung  der 
zwei  russischen  Kreuzer  Warjag  und  Korejetz  vor  Cheraulpo  durch  eine 
japanische  Flottenabteilung.  Noch  bevor  der  Sachverhalt  klargestellt  ist, 
wirft  die  ,Neue  Freie  Presse'  die  dumme  und  gehässige  Frage  auf:  ob, 
wenn  umgekehrt  zwei  japanische  Schiffe  überrascht  worden  wären,  diese 


^ 


—  18  — 


auch,  ohne  einen  Schuß  abzugeben,  die  Flagge  einfach  gestrichen  hätten, 
ob  nicht  vielmehr  die  japanischen  Kommandanten,  um  nicht  in  die 
Hände  des  Feindes  zu  geraten,  getrachtet  hätten,  ihre  Schiffe  in  die  Luft 
zu  sprengen.  Die  Animosität  der  ,Neuen  Freien  Presse'  gegenüber  den  '; 
Offizieren  einer  befreundeten  Macht  wird,  so  schreiben  Sie,  in  Pola  als 
»ungerecht  und  tölpelhaft«  bezeichnet  .  .  .  Schraock  als  Marineur  ist  doch 
so  übel  nicht,  und  Sie  stören  ihm  das  Vergnügen  durch  die  Frage,  ob 
das  russische  Seeoffizierskorps  es  nötig  hat,  sich  seinen  Mut  in  der  Re-  ii 
daktion  der  , Neuen  Freien  Presse'  zu  holen! 

DiszipUnarrat.  In  einer  Zuschrift  an  die  Tagesblätter  verwahrt 
sich  Herr  Dr.  v.  Feistmantel,  der  bekanntlich  nicnt  nur  Kurator  der  Prin- 
zessin Coburg,  sondern  auch  Präsident  der  Advokatenkammer  ist,  gegen  l|| 
die  im  Prozeß  Zinner  vertretene  Anschauung,  als  ob  die  Zurückhaltung  i| 
von  dem  Klienten  gehörenden  Barschaften  —  zur  Bezahlung  von  Expensen- 
forderungen  —  eine  advokatorische  Usance  sei,  die  auch  die  Billigung 
der  Kammer  fände.  »Der  Ausschuß«,  so  erklärt  in  seinem  Namen 
Herr  Dr.  v.  Feistmantel  pathetisch,  »legt  Wert  darauf,  daß  die  Meinung  nicht 
aufkomme,  als  würde  eine  laxere  Behandlung  der  der  ad  vokatori  sehen 
Treue  entspringenden,  mit  der  VertrauensstellungdesAdvokaten 
untrennbar  verbundenen  Verpflichtungen  von  den  Standesbehörden  geduldet 
werden.«  Herr  Dr.  Feistmantel  hat  Sinn  für  Humor.  Barschaften  müssen 
die  Advokaten  ausliefern.  Aber  was  ist's  denn  mit  den  Briefen, 
die  der  Klient  seinem  Anwalt  übergeben  hat?  Wird  der  Disziplinarrat 
endlich  gegen  den  Barber  einschreiten?  Wird  er  dem  Polizeiadvokaten 
Bachrach,  der  den  Anwalt  des  Herrn  Mattasich  zu  der  Veruntreuung 
angestiftet  hat,  das  Interesse  für  die  Briefe  der  Prinzessin  von  Co- 
burg —  Briefe,  die  er  nicht  erreichte  —  austreiben?  Wird  er  gegen 
den  Präsidenten  Feistmantel  einschreiten,  der  in  offener  Gerichtssitzung 
eine  Handlung  als  korrekt  gelobt  hat,  die  er  zwei  Wochen  später  in 
einer  Zuschrift  an  die  Tagesblätter  als  eine  den  Advokatenstand  diffamierende 
bezeichnet?  ...  f 

Dramaturg.  Herr  Max  Kalbeck  ist  vielleicht  der  einzige  Wiener 
Kritiker,  der  gegen  »Rose  Bernd«  gar  keinen  Einwand  hat.  Aber  ergeht 
in  seiner  Bewunderung  entschieden  zu  weit.  So  z.  B.,  wenn  er  über 
Oerhart  Hauptmann  schreibt:  »Das  Theater  hat  ihn  sehen,  künstlerisch 
sehen  gelehrt,  und  er  versteht  sich  besser  als  irgend  ein  Akademiker 
auf  die  Gesetze  der  Bühne.  Darum  ist  ihm  auch  das  immerhin 
bedenkliche  Wagestück  gelungen,  einen  Vorgang,  der  mehrere 
Monate  währt,  in  einen  Abend  zusammenzudrängen.«  Man  denke! 
Bisher  konnten  bekanntlich  bloß  solche  Vorgänge  dramatisiert  werden,  die  im 
Leben  auch  nur  von  7  bis  10  Uhr  dauern.  Zum  Beispiel  »Faust« !  . . .  Herr 
Kalbeck  ist  Gerhart  Hauptmann  aus  landsmannschaftlichen  Gründen  so 
freundlich  gesinnt,  daß  er  ihn  nicht  einmal  für  Handel  und  Wandel  der  Rose 
Berr.d  verantwortlich  macht.  Und  das  will  viel  sagen.  Herr  Kalbeck  ist 
nämlich  »Idealist«  und  kann  im  Allgemeinen  nur  schwer  über  das 
»Stoffliche«  in  der  Kunst  hinwegkommen  und  sich  mit  dem  Gedanken 
befreunden,    daß  Dichter  nicht  bloß    in  Gartenlauben,    sondern  auch  in 


U 


—  19  — 

Kuhställen  geaeihen  können.  Diesmal  hat  er  sich's  abgerungen.  Er  schildert 
den  Kindesmord  Roses  und  sagt:  >Bei  der  göttlichen  Fähigkeit  des  schöpfe- 
rischen Genius,  sich  selbst  in  den  verschiedensten  Formen  zu  objektivieren, 
werden  wir  uns  hüten,  den  Dichter  für  die  Gesinnung  seiner 
Heldin  zur  Rechenschaft  zu  ziehen.  Was  sind  spekulative  Philo- 
sopheme  auch  mehr  als  Gedankenmusik,  Stimmungen,  die  zu  Reflexionen 
erstarrt  sind,  ehe  sie  wieder  im  grenzenlosen  Meere  des  Unbewußten 
verfließen!?  Die  Gestalten,  welche  sich  aus  der  Phantasie  des  Dichters 
losgelöst  haben,  führen  fortan  ein  selbstständiges  Dasein,  und  die  Kraft 
und  Ursprünglichkeit,  mit  der  sie  geschaffen  worden  sind,  lebt  in  ihnen 
fort.«  Herr  Kalbeck  will  zur  Vermeidung  von  Mißverständnissen  sagen, 
daß  Hauptmann  den  Kindesmord  der  Rose  Bernd  nicht  billigt.  Hoffentlich 
ist  er  auch  überzeugt,  daß  Shakespeare  sich  nicht  mit  Richard  III.  und  Schiller 
sich  nicht  mit  dem  Franz  Moor  identifiziert . . .  Und  doch  und  doch  — : 
von  einer  gewissen  Parteinahme  für  Rose  ist  Hauptmann  nicht  ganz 
freizusprechen;  das  Stück  schließt  mit  den  Worten:  »Das  Mädel .  . .  was 
muß  die  gelitten  han!«  —  Die  Aufführung  der  >Rose  Bernd«  bringt  das 
Feuilleton  des  anmaßenden  Klugschwätzers  Paul  Goldmann  über  die 
Berliner  Premiere  in  Erinnerung.  Hauptmanns  Entwicklung  mag  sich  in 
noch  so  absteigender  Richtung  bewegen,  es  ist  doch  ein  schmachvoller 
Anblick,  ihn  im  führenden  Blatt  deutsch-österreichischer  Intelligenz  dem 
Witzdrang  seichtesten  Schmockgeistes  preisgegeben  zu  sehen.  Von  Paris 
spuckt  Herr  Nordau,  von  Wien  Herr  Schütz  und  von  Berlin  Herr  Gold- 
mann auf  die  moderne  Kunst:  eine  Tripelallianz  pharisäischen  Flach - 
Sinns,  wie  man  sie  sich  »gesünder«  nicht  denken  kann.  Herr  Goldmann, 
der  einst,  da  er  seiner  schmalzigen  Breslauer  Sentimentalität  noch  nicht 
die  »Überlegenheit«  angeschminkt  hatte,  in  einer  Ischler  Sommernacht 
über  ein  Gedicht  Hugo  v.  Hofmannsthals  Tränen  vergießen  konnte, 
kann  jetzt  nicht  genug  Hohn  für  den  Nachdichter  der  »Elektra«  aufbringen. 
Er  mag  ja  mit  manchem,  was  er  gegen  »Rose  Bernd«  sagt,  Recht  haben. 
Solche  Leute,  die  zwickeraufsetzend  die  Kunst  begutachten,  haben  immer 
eher  »Recht«,  als  die  sie  bloß  fühlen.  Aber  der  Ton,  in  dem  das  alles 
80  von  oben  herab  gesagt  wird,  ist  ein  so  unsäglich  widerwärtiger,  diese 
endlose  Diarrhöe  zwölfspaltiger  Klugheit  so  unappetitlich,  daß  einem  die 
Parteibegeisterung  derer  um  Hauptmann  noch  sympathisch  wird.  Was 
aber  hat  Herr  Goldmann  hauptsächlich  an  »Rose  Bernd«  auszusetzen? 
Man  höre:  »Bisher  galt  es  als  die  Aufgabe  des  Bühnenschriftstellers, 
die  dramatischen  Ereignisse  des  Vorganges,  den  er  behandelt,  auf  dem 
Theater  darzustellen.  Hauptmann  verlegt  sie  in  die  Zwischenakte.  Das 
Drama  spielt  sich  bei  ihm  in  den  Zwischenakten  ab;  in  den  Akten 
erscheinen  dann  die  Personen  auf  der  Bühne,  um  über  das,  was  ihnen 
in  den  Zwischenakten  widerfahren  ist,  zu  reden.  ,Rose  Bernd'  bietet, 
wie  gesagt,  ein  .klassisches'  Beispiel  für  diese  Methode.  Vor  Beginn  des 
Stückes  oder  in  den  Zwischenakten  ist  Rose  Bernd  von  Flamm  verführt 
worden,  ist  sie  von  Streckmann  gezwungen  worden,  sich  ihm  hinzu- 
geben, hat  sie  vor  Gericht  den  Meineid  geschworen,  hat  sie  ihr  Kind 
gemordet.     In    den   Akten    werden    dann   Gespräche    geführt   über   die 


20  — 


I 


Verführung,  die  Vergewaltigung,  den  Meineid,  den  Kindesmord.  Es  läßt 
sich  nicht  leugnen,  daß  das  Schreiben  eines  Dramas  sich  wesentlich 
vereinfacht,  wenn  man  aus  dem  Drama  die  Ereignisse  wegläßt.«  Herr  fl 
Ooldmann  findet  es  also  störend,  daß  die  Vorgänge  der  Verführung,  der  fl 
Vergewaltigung  und  des  Kindesraordes  sich  nicht  auf  offener  Szene 
abspielen.  Die  > Ereignisse«  sind  für  ihn  die  Hauptsache,  nicht  deren 
seelische  Verarbeitung.  Ein  Drama,  aus  dem  die  Ereignisse  >  weggelassen « 
sind,  ist  für  sein  Gefühl  keines.  Wie  anders  wirkt  dies  Zeichen  auf 
mich  ein:  der  zartfühlende  Kritiker  der  (Österreichischen  Volkszeitung' 
rechnet  es  nach  der  Wiener  Premiere  der  >Rose  Bernd«  ausdrücklich 
»zu  den  Mängeln  des  Dramas,  daß  sich  die  wichtigsten  und  intimsten 
Vorgänge,  die  sonst  die  Öffentlichkeit  sorgfältig  scheuen,  auf  freiem 
Feld  abspielen«.  Und  dabei  handelt  sich 's  bloß  um  ein  freies  Feld 
hinter  den  Kulissen! 

Geograph.  Die  ,Neue  Freie  Presse'  (9.  Februar  /  meldet,  Admiral  Spaun 
habe  >am  7.  Februar,  10  Uhr  vormittags«  eine  >in  Peking  am  8.  Fe- 
bruar um  1  Uhr  30  Minuten  aufgegebene  Depesche«  erhalten,  und  7^ 
bemerkt  dazu  belehrend:  »Der  Zeitunterschied  erklärt  sich  durch  die 
Differenz  der  geographischen  Länge  zwischen  Peking  und  Wien«.  Setzen !  Ein 
Leser  korrigiert  wie  folgt:  Da  die  Pekinger  Ortszeit  jener  von  Wien  — 
entsprechend  der  Lage  der  beiden  Orte  bei  einem  Längenunterschied 
von  zirka  100  Graden  ä  4  Zeitminuten  —  um  400  Minuten  =  bb,'\ 
rund  sieben  Stunden  voraus  ist,  so  war  es.  als  die  Depesche  (nach  . 
Angabe  der  , Neuen  Freien  Presse')  um  10  Uhr  vormittags  des  7.  Fe-  5 
bruar  in  Wien  anlangte,  in  Peking  5  Uhr  nachmittags  des  7.  Februar,  ' 
weil  Peking  gleich  Wien  auf  der  asiatisch-europäischen  Seite  der  tat-  j 
sächlichen  (auch  der  nautischen)  Datumgrenze  gelegen  ist.  Da  ferner  1 
im  Allgemeinen  jedes  Telegramm  vor  dem  Zeitpunkte  seiner  An- 
kunft aufgegeben  worden  sein  muß,  kann  eine  Pekinger,  in  Wien  \ 
um  10  Uhr  vormittags  des  7.  Februar  angelangte  Depesche  in  ' 
Peking  nicht  nach  5  Uhr  nachmittags  des  7.  Februar  aufgegeben 
worden  sein.  Daß  aber  im  vorliegenden,  besonderen  Falle  die  De-  i 
pesche  in  Peking  dennoch  erst  um  1  Uhr  30  Minuten  am  8.  Februar,  j 
also  entweder  früh  (i.  e.  8V2  Stunden  nach  ihrer  Ankunft  in  Wien)  t 
oder  nachmittags  (i.e.  2OV2  Stunden  nach  ihrer  Ankunft  in  Wien)  ! 
aufgegeben  werden  konnte,  erklärt  sich  sonach  nicht  »durch  die  Differenz  j 
der  geographischen  Länge  zwischen  Peking  und  Wien«,  sondern  nur  J 
durch  die  Ignoranz  der  .Neuen  Freien  Presse'.  Sollen  der  Unter- 
schied der  Tage  .  und  die  Angaben  der  Uhrablesungen  aufrecht 
bleiben  und  die  aufklärende  Bemerkung  der  Redaktion  überhaupt  einen 
Siajj  bekommen,  so  muß  es  heißen:  Ankunft  der  Depesche  in  Wien: 
10  Uhr  abends  des  7.  Februar,  Aufgabe  in  Peking:  1  Uhr  30  Min. 
früh  des  8.  Februar.  Laufzeit  VI2  Stunden.  —  Ein  anderer  Leser  \ 
schreibt  mir:  »Auf  Grund  jenes  Paragraphen  des  Preßgesetzes,  der  Sie  \ 
verpfhchtet,  die  haarsträubendsten  Blödsinnsäußerungen  der  ,Zeit'  zu 
berichtigen,  fordere  ich  Sie  auf,  der  folgenden  Richtigstellung  des  Ar-  \ 
tikels  ,Zeitdifferenz  und  Datumgrenze'  (,Zeit'-Morgenblatt  vom  10.  d.  M.,  j 


! 


—  21 


Seite  6)  Raum  zu  geben:  Es  ist  unwahr,  daß  ,die  Zeitdifferenz,  die  bei 
einem  Längenunterschied  von  15  Grad  eine  Zeitdifferenz  (!)  von  einer 
Stunde  ausmacht',  von  der  geographischen  Breite  beeinflußt 
wird.  Es  ist  unwahr,  daß  sie  am  Äquator  am  größten  ist.  Es 
ist  unwahr,  daß  auf  dem  Meridian  180"  ö.  L.  Oreenwich  in  dem 
Augenblicke,  wo  in  Oreenwich  8^  früh  des  1.  Juli  ist,  zugleich  8^ 
abd.  des  1.  Juli  und  30.  Juni  gezählt  wird.  Wahr  ist,  daß  die  Differenz  der 
Ortszeiten  mit  den  Breitegraden  nicht  das  mindeste  zu  tun  hat;  wahr  ist,  daß 
diese  Differenz  per  Längegrad  am  Äquator  gerade  so  groß  ist,  wie 
unter  jedem  andern  Breitegrad.  Wahr  ist,  daß  auf  dem  Meridian  180° 
(mit  alleiniger  Ausnahme  der  Aleuten,  wo  in  dem  oben  gegebenen  Bei- 
spiel der  30.  Juni  geschrieben  wird)  der  Kalender  um  S""  abd.  Oreen- 
wicher  Zeit  denselben  Tag  zeigt,  wie  in  Oreenwich  selbst  und  die  dem 
fernen  Osten  entstammenden  Leute  mit  alleiniger  Ausnahme  der  ,Zeit'- 
redakteure  ganz  genau  von  der  Existenz  ^iner  im  großen  und  ganzen 
östlich  des  Meridians  verlaufenden  Kurve,  der  sogenannten  , Datum- 
grenze', wissen.« 

Vater.  Ich  kann  doch  nicht  von  jedem  Todesfall  an  der 
Wiener  Hancielsakademie  Notiz  nehmen  ?  Was  hier  vor  langer  Zeit  über 
das  Königtum  Sonndorfer  geschrieben  wurde,  gilt  leider  auch  heute 
noch.  Der  Herr  Regierungsrat  wirkt  in  unverminderter  Rüstigkeit,  und 
sein  Dolinski,  der  vormalige  Offizier,  hat  noch  immer  die  gewissen 
Rückfälle,  denen  seine  Schüler  eine  mehr  rekrutenmäßige  als  pädagogisch 
sachgemäße  Behandlung  verdanken. 
Kenner. 
(Ein  Taschendieb  im  Oerichts- 
saale.)  Vor  den  Augen  des  Straf- 
richters der  Leopoldstadt,  Oerichts- 
sekretär  Dr.  Pick,  wurde  gestern  ein 
irecher  Taschendiebstahl  verübt, 
wie  gewöhnlich,  fanden  sich  auch 
gestern  zahlreiche  Personen  als  Zu- 
hörer im  Strafverhandlungssaale  ein, 
die,  da  wenig  Sitzplätze  im  Saale 
I  sind,  vor  der  Barriere  Aufstellung 
nahmen.  Während  der  Verhand- 
lungen wurde  nun-  einem  der  Zu- 
hörer die  silberne  Uhr  aus  der  Weste 
gestohlen.  Er  bemerkte  den  Abgang 
erst  beim  Verlassen  des  Saales.  Die 
Ausforschung  des  Diebes  wurde 
eingeleitet. 

Klein,  aber  fein.  Im  Oerichtsteil  eines  und  desselben  Blattes 
konnte  man  kürzlich  die  beiden  Notizen  im  Zeiträume  weniger  Tage 
finden.  Was  geht  daraus  hervor?  Ein  Richter,  dem  der  Reporter  nicht 
wohl  will,  wird  auch  nicht  genannt,  wenn  in  seinem  Verhandlungssaal 
eine  Oeldbörse  gezogen  wird.  Dagegen  wird  ein  solcher  Diebstahl  immer 


(Diebstahl  im  Oerichtssaale.) 
Während  der  gestrigen  Verhandlung 
vor  dem  Bezirksgerichte  Josefsfadt, 
in  der  es  sich  um  die  Ehrenbe- 
leidigungsklage von  Dienstmännern 
handelte,  wurde  dem  Klageanwalt 
aus  dem  Winterrocke  eine  Oeldbörse 
mit  etwa  20  K  gestohlen. 


—  22  — 


>vor  den  Augen  des  Oerichtssekretärs  Dr.  Pick«  verübt.  Hier  ist  die 
besondere  Frechheit  erschwerend. . .  Klein,  aber  fein.  Die  Technik  der 
Oewaltreklame  könnte  an  keinem  drolligeren  Beispiel  illustriert  werden. 
Der  richterliche  Funktionär,  für  den  sie  betätigt  wird,  ist  im  einzelnen 
Falle  an  der  Nennung  seines  Namens  sicherlich  so  unschuldig  wie  an 
dem  Diebstahl,  der  vor  seinen  Augen  verübt  wird,  den  aber  der  Be- 
stohlene  erst  beim  Verlassen  des  Saales  merkt.  Doch  müßte  endlich 
ein  Gesetz  zum  Schutze  der  richterlichen  Würde  geschaffen  werden, 
wonach  das  Reklamemachen  im  Oerichtssaal  ebenso  schwer  wie  ein 
Taschendiebstahl  vor  den  Augen  des  Richters  gestraft  wird. 

Klient.  Wie  oft  soll  ich's  noch  sagen!  Einen  Diebstahl  zeigt 
man  nicht  bei  der  ,Fackel',  sondern  bei  der  Polizei  an.  Und  wenn  Ihr 
Advokat  wirklich  mit  Absicht  den  Termin  für  Überreichung  Ihrer  Klage 
hat  verstreichen  lassen  und  das  Interesse  seines  Klienten  an  den  Gegner 
verraten  hat,  so  geht  man  zifr  Advokatenkaramer.  Erst,  wenn  die  aus 
irgendwelchem  Grunde  nicht  will,  kommt  man  zu  mir. 

Sammler.  Was  gibt's  denn  Neues?  Der  hochgebildete  Börsen- 
wöchner  schrieb  das  Wort:  »Nihil  est  in  intellectu,  quod  non  fuerit 
in  sensu«  dem  Descartes,  dessen  System  es  stracks  zuwiderläuft,  anstatt 
dem  Locke  zu.  Sein  Kollege  im  Leitartikel  versicherte,  Japan  »entfalte 
das  Banner  der  offenen  Tür«.  Daneben  hat  sich  »eine  hervor- 
ragende japanische  Seite«  geäußert.  Der  hundertste  Todestag 
Kant's  wurde  als  Kant-Jubiläum  —  nicht  zu  verwechseln  mit  dem 
Hartmann-Jubiläum  —  gefeiert.    Und  so  weiter.    Und  so  weiter. 

Literat.  Ich  glaube,  die  Trebitsch- Bewegung  verebbt  langsam. 
Seit  zehn  Jahren  hieß  es  jede  Woche :  Österreich  hat  wieder  einen  Dichter 
Die  Sache  war  langweilig  geworden  Da  erklang,  neuartig  und  über- 
raschend, der  Ruf:  Österreich  hat  wieder  einen  Übersetzer!,  und  die 
Herren  Lothar  und  Saiten  wetteiferten,  diesem  Siegfried  Trebitsch,  der 
auszog,  den  Drachen  einer  fremden  Sprache  zu  überwinden,  und  diA 
deutsche  umbrachte,  die  Palme  reichen  zu  dürfen.  Noch  nie  vielleicht' 
hat  eine  schlechte  Übersetzung  so  viel  Staub  aufgewirbelt,  wie  in  diesem 
Falle.  Da  man  endlich  die  Affaire  durch  die  Kellnersche  Abfertigung  er- 
ledigt glaubte,  erstanden  Herrn  Trebitsch  erst  recht  begeisterte  Verteidiger. 
Kommende  Literaturforscher  werden  vielleicht  auch  unserer  Zeit  noch 
eine  gewisse  Zurücksetzung  der  Originalgenies  vorzuwerfen  haben. 
Aber  sie  werden  über  die  Fixigkeit  staunen,  mit  der  man  in  Wien  die 
Übersetzer  ans  Licht  gezogen  hat  .  .  .  Freilich  hat  Herr  Trebitsch  auch 
Novellen  geschrieben,  über  die  in  großen  Blättern  ernsthaft  referiert 
wurde,  und  ich  halte  die  Entschuldigung,  es  sei  »noch  immer  besser«,  wenn 
reiche  junge  Leute  ihr  Geld  statt  für  Rennen  für  Dichten  ausgeben,  für  eine 
Niederträchtigkeit.  Ich  bin  auf  das  äußerste  dafür,  daß  reiche  junge 
Leute,  die  auch  nur  den  geringsten  Trieb  zum  Novellenschreiben  ver- 
spüren, sofort  zum  Rennen  fahren  Ui.d  daß  sie  im  Zweifel  immer  lieber 
sich  als  die  Literatur  ruinieren  sollen.  Aber  nicht  dem  produktiven 
Trebitsch,  sondern  dem  Zerdeutscher  Shaw's  und  Courteline's  galt  kurioser 
Weise  die  Begeisterung  der  Wiener  journalistischen  Freunde.  Und  nun  folgt 


i 


—  23 


ihr  leider  die  Berliner  Ernüchterung  auf  dem  Fuße.  Im  > Neuen  Theater« 
ward  Shaw's  »Schlachtenlenker«  aufgeführt,  Herr  Trebitsch,  der  das 
Stück  aus  dem  Englischen  in  eine  fremde  Sprache  übersetzt  hat,  reiste 
persönlich  hin.  Ein  Ereignis  von  literarhistorischer  Bedeutung.  Da  fuhr 
Fritz  Mauthner  im  , Berliner  Tageblatt'  dazwischen  und  schrieb:  »Der 
irische  Publizist  Shaw,  der  seit  Jahren  von  berufsmäßigen  Entdeckern 
als  eine  neue  Größe  angepriesen  wird,  wurde  uns  in  einer  offenbar 
unzulänglichen  Übersetzung  von  Siegfried  Trebitsch  vorgeführt«  . . . 
Ich  glaube,  die  Bewegung  verebbt  langsam. 

Analphabet.  Im  , Deutschen  Volksblatt'  (Abendblatt  vom  10.  Fe- 
bruar) war  von  einer  Dunkelheit  im  Qerichtssaal  zu  lesen,  »die  im 
Interesse  der  Berichterstatter  auch  nicht  durch  das  kleinste  elek- 
trische Flämmchen  erhellt«  wurde.  Ja,  die  Herren  vom  ,Deutschen 
Volksblatt'  wollen  eben  die  Finsternis! 

Ungläubiger.  »Aus  Innsbruck  wird  telegraphiert :  Papst  Pius  hat 
dem  Erzherzog  Eugen  das  Qroßkreuz  des  Christus-Ordens  mit  der 
Kriegsdekoration  in  Brillanten  verliehen.  Mit  der  Überreichung  der  In- 
signien  und  des  Brevets  dieser  höchsten  und  seltensten  Auszeichnung 
hat  der  Papst  mit  Beglaubigungsschreiben  seinen  Hofmaler  den  geheimen 
Kämmerer  Conte  Lippay  als  außerordentlichen  Abgesandten  betraut. 
Derselbe  ist  gestern  hier  eingetroffen,  und  heute  vormittags  erfolgte  die 
Übergabe  der  Auszeichnung.  Zu  Ehren  des  päpstlichen  Ablegaten  fand 
um  1  Uhr  ein  Hofdiner  statt.  Conte  Lippay  ist  nach  Salzburg  abgereist, 
wo  er  morgen  mittags  Gast  des  Oroßherzogs  von  Toskana  ist«.  — 
Manchmal  liest  man  in  einer  Zeitung  und  wähnt  sich  in  einem  Fieber- 
traum befangen.  Die  Lettern  beginnen  zu  tanzen,  kommen  zu  den 
unmöglichsten  Verbindungen,  und  plötzlich  liest  man  den  Namen  Lippay 
neben  dem  Namen  Pius  X. . . .  Nichts  ist  unmöglich.  Täglich  erwarte 
ich  die  Meldung,  daß  Herr  Sigmund  Münz  Kardinal  geworden  ist  und 
der  Erzbischof  Kohn  in  die  Redaktion  der  .Neuen  Freien  Presse'  eintritt. 
Der  »Kunstsinn  der  Päpste«  ist  traditionell.  Warum  aber  hat  Papst 
Pius  X.  gerade  Herrn  Lippay  auserkoren?  Warum  nicht  den  Zeichner 
des  .Extrablatt'  oder  des  , Interessanten'?  Ich  hab's  nicht  glauben  wollen, 
als  ich  las,  der  Papst  habe  Lippay,  in  dessen  Bild  —  nicht  durch  dessen 
Bild  —  er  sich  getroffen  fühlte,  geküßt.  Oder  ich  hielt  es  für  den 
Ausdruck  verzeihender  Gnade,  die  nichts  persönlich  nimmt.  Aber  siehe, 
Lippay  stieg  immer  höher,  ward  geheimer  Kämmerer,  Conte  und  endlich 
Mittler  zwischen  Seiner  Heiligkeit  und  dem  österreichischen  Erzhause. 
Will  man  daraus  auf  die  Unhaltbarkeit  der  Theorie  schließen,  daß  die 
Juden  es  heutzutage  zu  nichts  bringen  können  ?  Will  man  Vergleiche 
ziehen  zwischen  der  Behandlung,  die  Herr  Lippay  im  Vatikan  erfährt, 
und  jener,  die  er  in  Wiener  Advokalurskanzleien  erfuhr,  da  er  die  Ab- 
drücke seines  berühmten  Bildes  »Im  Schwurgerichtssaal«  an  den  Mann 
zu  bringen  suchte?...  Ein  Fiebertraum!  Und  auch  die  Nuntiatur  will's 
nicht  glauben.  Sie  ist,  so  wird  gemeldet,  »überaus  befremdet«,  da  die 
Überbringung  des  Christusordens  durch  eine  Privatperson  »aller  diplo- 
matischen   Gepflogenheit     widerspricht«,     und   hat    sich    auch   an    das 


-  24 


Staatssekretariat  des  Papstes  gewendet,  um  eine  Aufklärung  über  den 
seltsamen  Vorgang  zu  erhalten.  Solange  nicht  eine  amtliche  Bestätigung 
aus  Rom  eingetroffen  ist>  >wird  die  Annahme  des  Ordens  durch  den 
Erzherzog  in  suspenso  bleiben«.  Blieb  auch  das  Hofdiner,  das  Herrn 
Lippay  zu  Ehren  gegeben  wurde,  in  suspenso?  Hoffentlich  gelingt  es 
der  Nuntiatur,  die  den  Vorfall  darauf  zurückführt,  daß  der  Papst  »mit 
den  diplomatischen  Formen  noch  nicht  genau  vertraut  ist«,  ihn  also  mit 
Fehlbarkeit  entschuldigt,  den  irregeleiteten  Kunstsinn  Pius  X.  in 
andere  Bahnen  zu  lenken.  Wenn  erst  der  Papst  darüber  aufgeklärt  ist, 
daß  Herr  Lippay  nicht,  wie  er  ihm  erzählte,  mit  der  päpstlichen  Familie 
Rezzonico,  sondern  im  Gegenteil  mit  der  Familie  Lipschitz  verwandt  i 
dann  wird  alles  wieder  gut  werden  und  die  Christenheit  an  dem  Beisp  i 
ihres  Führers  sich  aufrichtend  lernen,  daß  Gläubigkeit,  nicht  Leicli 
gläubigkeit  ihre  erste  Pflicht  ist. 


Bfichereinlauf. 

Bessemer  Hermann,  Der  Mann  mit  dem  Spiegel.  Geschichte 
eines  ^Niedergangs.  Leipzig- Rudnitz.  Magazin-Verlag,  Jacques 
Hegner. 

Skfivana  Karla,    Potulny  Zpeväk.    Neutitschein.   Verlag  ,Novy  Zivo: 

LackaEmil,  Gaia,  Das  Leben  der  Erde.  Eine  Dichtung.  Leipzig. 
Modernes   Verlagsbureau  Kurt  Wigand. 

Lucka  Emil,  Sternennächte.  Dichtungen.  Leipzig.  Modernes V^erlagt- 
bureau  Kurt  Wigand. 

Weichberger  Konrad,  Schorlemorle.  Studentengedichte.  Leipzig. 
Modernes  Verlagsbureau  Kurt  Wigand. 

Hollitscher  Dr.  Jakob  J.,  Friedrich  Nietzsche.  Darstellung 
und  Kritik.  (Mit  einem  Titelbild:  M.  Klein's  Nietzsche- Statue.) 
Wien  und  Leipzig.  Wilhelm  Braumüller. 

Ein  Österreicher,  Militär  und  Zivil.  Zeitgemäße  Betrachtungen. 
Wien  und  Leipzig.  Wilhelm  Braumüller. 

Seh we gel  Dr.  H.,  k.  u.  k.  Vizekonsul  in  Chicago,  Die  Einwanderung 
in  die  Vereinigten  Staaten  von.  Amerika  (Mit  beson- 
derer Rücksicht  auf  die  öst.-ung.  Auswanderung).  Wien  und 
Leipzig.     Wilhelm  Braumüller. 

Springer  Rudolf,  Die  Krise  des  Dualismus  und  das  Ende 
der  Deäkistischen  Episode  in  der  Geschichte  der 
Habsburgischen  Monarchie.  Eine  politische  Skizze. 
Wien.     Kommissionsverlag  Franz  Deuticke. 


Herausgeber  und  verantwortlicher  Redakteur:  Karl  Kraus. 
nruck  von  lahoda  &  Siesel.  Wien.  III.  Hintere  ZollamtsstraB«  3 


k.  ioO  ICischieneii  am  9.  März  1904 


V.  abr 


Fackel 


Herausgeber : 


ARL  KMU 


Erscheint  drei-  oder  zweimal  im  Monat. 


Preis  der  einzelnen  Nummer  24  b. 


ehdruck  und  jfewerhsmäßjges  Verleihen  verboten;  gerichtliche  Verfolgung 
vorbeftaiien. 


wiEr 


Verlan  ,Di 


Schwind&asse  3. 


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mit  seiner  größten  Skala  und  seiner  geteilten 
Abdämpfung  für  Baß  und  Diskant  ermöglicht 
allein  die  schwierigsten  Kompositionen  von 
Liszt,  Beethoven  etc.  originalgetreu  zu  spielen. 
Den  Vortrag  künstlerisch  bis  in  die  kleinsten 
Feinheiten  auszugestalten  bleibt  ganz  der  indi- 
viduellen Auffassung  des  Spielenden  überlassen. 

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Die  Fackel 


Nr    156  WIEN.  9.  MÄRZ  1904  V.  JAHR 


Louise  von  Coburg  und  Rose  Bernd  haben 
neulich  an  einem  Tage  ihre  Zügellosigkeit  und  ihr 
mit  höfischen  Sitten  unvereinbares  Vorleben  zu 
büßen  bekommen.  Man  hatte  erwartet,  daß  Louise 
die  Irrenanstalt  in  Lindenhof  verlassen  und  Rose  im 
Burgtheater  bleiben  werde.  Am  l.  März  sah  man, 
daß  man  sich  getäuscht  hatte.  Das  Obersthofmarschall- 
amt ließ,  um  die  alarmierten  Leser  der  ,FackeP 
zu  beruhigen,  ein  Gutachten  über  »die  neuerliche 
Überprüfung  des  Geisteszustandes«  veröffentlichen, 
welche  die  Vielgeprüfte,  Schuldenreiche  über  sich  hatte 
ergehen  lassen  müssen.  Sie  bleibt,  da  ihr  sauberer  Vater 
und  ihr  Gemahl  sich  zur  Bezahlung  der  Schneider- 
rechnungen noch  immer  nicht  herbeilassen  wollen,  »nach 
wie  vor  unfähig,  ihre  Angelegenheiten  selbst  zu  be- 
sorgen« ;  ihr  »Zustand  von  krankhafter  Geistesschwäche 
besteht  unverändert  fort«.  Wir  sind  jetzt  vollkommen 
beruhigt,  und  sogar  davon  überzeugt,  daß  nach  einem 
weitern  Jahre  Lindenhof  die  Psychiater,  die  heute 
statt  einer  wissenschaftlichen  Diagnose  bloß  die  übliche 
Kuratorenphrase  zu  liefern  imstande  sind,  mit  bestem 
Wissen  und  Gewissen  alle  Symptome  des  Irrsinns  werden 
konstatieren  können  . . .  Leichter  könnte  man  sich 
damit  abfinden,  daß  Rose  Bernd  dem  höfischen  Leben 
entrückt  wurde.  Nur  in  diesem  kotigen  Klatschnest, 
dem  an  jedem  Tage  seine  Sensation  druckfertig  serviert 
werden  muß,  war  die  Aufbauschung  des  Falles  möglich. 


—  2  — 


Eine  unvernünftige  Kritik,  die  nicht  weiß,  daß  das 
Burgtheater  nie  mehr  als  eine  Zuchtstätte  guter 
Schauspielerei  war,  geht  seit  Jahren  rait  der  idealen 
Forderung  nach  »Literatur«  hausieren  und  bewirft  einen 
Direktor,  der  einem  Bernhard  Baumeister  zuliebe  Schön- 
than  spielt,  mit  jenen  faulen  Äpfeln,  an  denen  sich 
Schiller's  Schaffenslust  erholt  hat.  Gewiß,  die  Ver- 
nachlässigung des  klassischen  Repertoires  ist  ein  Ver- 
brechen, das  gerade  dem  Leiter  eines  Schauspieler- 
theaters zur  Last  gelegt  werden  kann.  Aber  das 
Burgtheater  soll  auch  literarisches  Neuland  entdecken, 
soll  im  Vordertreffen  moderner  Eroberungen  stehen, 
und  der  Unvernünftigsten  einer  verlangt,  daß  es  sich 
schämen  solle,  wenn  ihm  Herr  Brahm  in  Berlin 
mit  einer  Hirschfeld-Premiöre  zuvorgekommen  ist. 
Nun,  der  »Geist  des  Burgtheaters«  hat  sich  stets  die 
österreichische  Maxime  zunutze  gemacht:  Wir  können 
warten.  Und  im  Bereiche  spanischer  Kunstetikette 
wirkte  ihre  Befolgung  durchaus  nicht  widernatürlich. 
Wider  die  Natur  einer  Hofbühne  ginge  es,  sie  in 
modernen  Geisteskämpfen,  die  noch  nicht  ausge- 
tobt haben,  zu  engagieren.  Das  mag  traurig  sein,  aber 
wahr  ist  es.  Ibsen  mag  der  Welt  mehr  bedeuten 
als  sämtliche  Monarchen  der  Welt:  —  wer  einst  im 
rechten  Seitengang  des  Burgtheaterparketts  aus  der 
Kaiserloge  ein  heftiges  Wort  über  »Klein  Eyolf«  er- 
lauscht hat,  würde  selbst  die  Verbannung  eines  Geistes, 
der  die  moderne  Welt  aus  einer  höhern  Höhe  sieht 
als  der  der  schlewschen  Dialekttragik,  begreiflich 
finden.  Der  Preiheitspöbel  möchte  immer  das  Unver- 
einbare vereinen.  Anstatt  sich  in  seiner  Art  zu 
freuen,  daß  der  Hof  nicht  hauptmannfähig  ist,  greint 
er  jetzt,  weil  Hauptmann  nicht  für  hoffähig  erklärt 
wurde,  und  plagt  die  Welt  mit  seinem  Leitartikel- 
jammer. Und  dabei  wird  nicht  einmal  das  natürliche 
Recht  jedes  Hausbesitzers  respektiert,  in  seinem 
Hause  seinen  Geschmack  und  seine  Vorurteile,  sein 
Verständnis  und  seine  Rückständigkeiten  ein  Wörtchen 


—  3  — 

mitsprechen  zu  lassen,  wird  eine  Maßregel  als 
»Österreicherei«  verhöhnt,  mit  der  in  Wilhelm's  IL 
Theater  einst  dem  künstlerisch  viel  zarteren  »Hannele« 
begegnet  wurde.  Daß  der  deutsche  Kaiser  die  Stadt 
mit  der  Puppenallee  begnadet  hat,  daß  er  die  deutsche 
Kunstentwicklung  seinem  knackfüßigen  Geschmack 
Untertan  machen  will,  dagegen  und  nicht  gegen  die 
Anstellung  des  Majors  Lauff  als  Hoftheaterdichters 
wehrt  sich  deutsches  Kulturbewußtsein.  Will  man  den 
Mitgliedern  des  österreichischen  Kaiserhauses,  die 
bisher  in  öffentlichen  Kunstangelegenheiten  ruhige 
Zurückhaltung  bewahrt  haben,  private  Neigungen 
im  eigensten  Machtbereich  verbieten  ?  Die  Absetzung 
der  »Rose  Bernd«  ist  viel  weniger  überraschend  als  ihre 
Annahme.  Am  überraschendsten  die  Naivetät  der 
Überraschten  und  die  Dummheit  der  Autoren,  die  das 
Burgtheater  noch  immer  als  eine  Literaturbühne  be- 
trachten und  sich  für  die  Ehre,  hier  aufgeführt  zu 
werden,  entrechten  lassen.  »Überrascht«  können  wir 
höchstens  sein,  wenn  wir  daran  denken,  daß  ein 
Literat  an  der  Spitze  der  Hofbühne  steht.  Wenn 
wir  uns  erinnern,  daß  er  dienstlich  einem  Oberststall- 
meister untersteht,  werden  wir's  nicht  mehr  sein. 
Daß  Herr  Schienther,  der  Freund  und  Biograph 
Hauptmanns,  den  letzten  Schlag  so  leicht  verwindet, 
bleibt  dann  die  einzige  Überraschung.  Sein  glück- 
liches Naturell  gewöhnt  sich  schließHch  auch  an  den 
Gedanken,  den  jeder  Kenner  längst  gedacht  hat:  daß 
das  Burgtheater  aus  aller  hterarischen  Entwicklung 
endgiltig  auszuschalten  ist.  Und  da  Sein  oder  Nicht- 
sein von  hoher  Gnade  abhängt  und  die  volle  Pension 
ein  Ziel  ist,  auf's  innigste  zu  wünschen,  so  wird  es 
selbst  begreiflich,  daß  Herr  Schlenther  bei  der  Ver- 
treibung der  Rose  Bernd  einem  freundlichen  Wunsch 
schon  gehorchte,  ohne  den  amtlichen  Befehl  abzuwarten. 
Wie  sagt  doch  das  Mitglied  eines  regierenden  Hauses 
bei  Shakespeare,  das  die  aufrichtigen  Naturen  nicht 
leiden  kann? 


—  4  — 

Ich  kenne  Schurken,  die  in  solcher  Qradheit 
Mehr  Arglist  hüllen,  mehr  verruchten  Plan, 
Als  zwanzig  fügsam  unterthän'ge  Schranzen, 
Die  schmeichelnd  ihre  F*flicht  noch  überbieten. 

Das  einzige  »öfiFentliche«  Moment  an  der  ganzen 
Angelegenheit,  die  überdies  beigelegt  worden  wäre,  wenn 
nicht,  wie  ein  Tratschblatt  selbst  zugibt,  »die  vorzeitige 
Publikation  die  Bemühungen  kompetenter  Kreise,  das 
Drama  zu  retten,  gehindert«  hätte,  ist  die  autorrecht- 
liche Frage.  Und  diese  ist  durch  das  Entgegenkommen 
des  im  vorhegenden  Fall  betroffenen,  dem  Direktor 
befreundeten  Dichters  durchaus  nicht  aus  der  Welt 
geschafft.  Man  sollte  es  nicht  für  möglich  halten,  daß 
die  Autoren,  die  das  Burgtheater  keiner  Kontrakt- 
schließung würdigt,  sich  die  Schändlichkeit  jenes 
»Tantiferaenreverses«  gefallen  lassen,  der  nicht  nur 
hausherrlichen  Launen,  sondern  auch  direktorialer 
Böswilligkeit  jeden  Spielraum  öffnet  und  vor  jedem 
Gericht  als  Schulbeispiel  eines  unsittlichen  Vertrages 
anzufechten  wäre.  Ein  Publikumsrecht  wird  durch 
die  Sistierung  der  Aufführungen  eines  Literaturwerkes 
auf  der  Hofbühne  nicht  verkürzt.  Dort,  wo  durch 
Absetzung  eines  Stückes  ein  Eingriff  in  die  Rechte  des 
Zuschauers  wirklich  erfolgt,  dort  kuschen  die  Hüter 
öffentlicher  Interessen.  Ich  denke  an  den  Fall,  daß 
z.  B.  »Rose  Bernd«  nicht  wegen  Verstimmung 
einer  Prinzessin  ein-  für  allemal,  sondern  wegen 
Indisposition  der  Frau  Medelsky  einmal  abgesetzt, 
daß  an  ihrer  Stelle  der  »Bibhothekar«  gegeben  wird 
und  daß  die  Käufer  der  Billets,  wenn  sie  sich  nicht 
zu  solchem  Genuß  zwingen  lassen  wollen,  ihres  Geldes 
verlustig  gehen.  Gegen  diesen  Skandal,  der  wie  das 
Bestehen  der  »Tantiferaenreverse«  die  Anmaßung  eines 
Sonderzivilrechts  für  die  Geschäftsführung  der  Hof- 
bühnen bedeutet,  müßte  in  Leitartikeln  gewettert, 
müßte  die  Hilfe  der  Gerichte  angerufen  werden.  Die 
Empörung  wegen  der  »Rose  Bernd«  ist  ein  Eingriff 
in  das  Privat-  und  Familienleben  einer  Erzherzogin. 
Würde     die     liebe    Demokratie     bei     der    parlamen- 


tarischen  Erledigung  des  Punktes  »Zivilliste«  ein 
wenig  verweilen  und  gewisse  Bedingungen  für  die 
künstlerische  Verwaltung  der  Hofbühnen  stellen,  dann 
hätte  sie  auch  das  Recht,  die  höfische  Zensur  des 
Burgtheaterrepertoires  zu  mißbilligen.  Heute  wäre  das 
ganze  Geschrei  über  Rückständigkeit  am  Platze,  wenn 
etwa  die  staatliche  Behörde  eine  Privatbühne  ge- 
zwungen hätte,  »Rose  Bernd«  in  ihrer  Sünden  und 
Tantiemen  Maienblüte  abzusetzen.  Das  Ärgernis,  das 
eine  Prinzessin  an  der  Wald-  und  Wiesengeschlecht- 
lichkeit  nimmt,  enttäuscht  uns  nicht,  und  daß  sie  als 
Hausherrntochter  Einfluß  hat  und  ihn  zur  Beseitigung 
des  Ärgernisses  nützt,  sollte  uns  auch  nicht  enttäuschen. 
Wäre  ich  Mitglied  des  kaiserlichen  Hauses,  ich  würde 
zum  Beispiel  ohne  weiters  die  »Jakobsleiter«  absetzen 
lassen.  Da  ich  es  nicht  bin,  dürfte  ich  nicht  einmal 
etwas  dagegen  einzuwenden  haben,  wenn  mir  verboten 
würde,  bei  der  Aufführung  dieses  Stückes  zu  zischen, 
und  wenn,  wie  in  alten  Hoftheaterzeiten,  Wand- 
Plakate  dem  Publikum  das  Benehmen  in  den 
Pausen,  die  Enthaltung  von  jeder  Beifalls-  und  Miß- 
fallsbezeugung vorschrieben.  Der  Groll  der  Literatur- 
pharisäer gegen  die  »peinlichen«  Stoffe,  die  —  als  ob 
Shakespeare  nie  einen  »Macbeth«  und  »Titus  Andro- 
nicus«  geschrieben  hätte—  bloß  die  Originalitätssucht  der 
Modernen  in  die  Welt  gesetzt  hat,  ist  ja  von  anwidernder 
Dummheit,  und  die  ehrliche  Begeisterung  der 
•Antisemitenpresse  für  die  Absetzung  der  »Rose 
Bernd«  verdient  schon  einen  humoristischen  Fußtritt. 
Aber  der  höfische  Unmut  hat  uns  nicht  zu  bekümmern 
und  nicht  zu  verdrießen.  Vielleicht  ist  einem  Werke 
gegenüber,  das  aus  geschlechtlichen  Wirrungen  seine 
Wirkung  holt,  gerade  in  hoher  Gesellschaftsregion 
der  Hinweis  auf  den  Ernst  des  Lebens  und  auf 
die  Zerstreuungsmission  des  Theaters  keine  Phrase. 
Und  würde  der  liebe  Liberalismus  aufzumucken 
wagen,  wenn  Herr  Theodor  Ritter  von  Taußig  ein 
Theater  subventionierte   und  eine  seiner  Töchter  die 


6  — 


Aufführung  von    »Geschäft  ist  Geschäft«   nach  dem 
zweiten  Akt  ärgerUch  verließe  ? . . . 


Per  Lastzug  der  österreichischen  Justiz  schleppt 
wertlose  Rechtsgüter  mit  und  überführt  die  Gerechten. 
Wir  leben  im  Lande  der  unschuldig  Verurteilten  und 
der  schuldig  Freigesprochenen.  Wenn  man  die 
Anarchisten  der  Gesetzlichkeit  am  Werke  sieht,  er- 
scheinen einem  die  Bombenwerfer  in  milderem  Licht. 
Erinnert  man  sich  noch  an  die  Geschichte  vom  aus- 
geliehenen alten  Regenschirm?  Im  August  1900  hat's 
geregnet.  Damals  trug  einer  einen  Schirm,  der  ihm 
nicht  gehörte.  Im  April  1901  begegnete  ihm  der 
Eigentümer  und  erinnerte  ihn  an  die  Rückstellung. 
Aber  wenn's  gegen  Regen  einen  Schutz  gibt,  so  gibt's 
gegen  Quartierfrauen,  die  wertloses  Gerumpel  fort- 
schaffen, keinen.  Und  keinen  gegen  die  Justiz.  So 
wird  einem  denn  eines  Tages  eröffnet,  daß  man  eine 
»Veruntreuung«  begangen  hat.  Fünf  Tage  Arrest. 
Vom  Landesgericht  Wien  bestätigt.  Im  August  1901 
regnet's  wieder,  aber  man  wird  nicht  naß,  wenn  man' 
die  Tage  vom  13.  bis  zum  18.  im  Arrest  zubringt. 
Am  18.  August  herrscht  Kaiser wetter,  und  man  kann 
die  Zelle  verlassen.  Wer  sich  in  Österreich  einen 
Regenschirm  ausleiht,  kann  darauf  rechnen,  einige 
Zeit  gegen  alle  Unbilden  der  Witterung  geschützt 
allen  Unbilden  der  Justiz  preisgegeben  zu  sein.  Denn 
was  nützt  es,  daß  der  Kassationshof  das  Urteil  auf- 
hebt und  »die  neuerliche  Durchführung  der  Berufungs- 
verhandlung: anordnet«?  Es  hat  schon  geregnet,  der  An- 
geklagte wird  nach  verbüßter  Strafe  freigesprochen,  und 


—  7  — 

bei  schönem  Wetter  den  Regenschirm  aufspannen  ist 
eine  zwecklose  Demonstration,  die  den  armen  Teufel 
für  den  nassen  Jammer  nicht  mehr  entschädigt.  Ent- 
schädigt wird  nämlich  in  Österreich  nicht.  Man  teilt 
hier  die  Menschen  ein  in  solche,  die  »vorbestraft« 
sind,  und  solche,  die  es  noch  nicht  sind,  und  wer, 
weil  Frau  Themis  Pausse-Couche  machte,  zu  Schaden 
kam,  hat  bloß  den  Vorteil,  daß  dies  bei  der  nächsten 

>  Beanständung«  kein  erschwerender  Umstand  ist 

Frau  Therese  Giezinger,  das  Opfer  der  Rieder  Justiz- 
katastrophe, verlangt  jetzt  11.990  Kronen  13  Heller 
für  Verdienstentgang,  für  die  infolge  vierjähriger 
Kerkerstrafe  eingetretene  Arbeits-  und  Erwerbsun- 
fähigkeit, für  sonstige  Verluste,  Nachteile  und  Kosten, 
z.  B.  für  das  »ohne  ihr  Wissen  und  ihren  Willen  ver- 
äußerte Holz,  für  den  Verlust  ihrer  Kleider,  Einrich- 
tungsgegenstände und  sonstiger  Habseligkeiten«.  Frau 
Therese  Giezinger  war  nämlich  —  dank  der  Helligkeit 
der  Geschwornengehirne  —  bloß  zum  Tode  durch  den 
Strang  verurteilt  worden.  Eine  Entschädigung  für  die 
Todesqualen,  für  das  seelische  und  körperliche  Leid 
der  Kerkerjahre  gewährt  ihr  das  österreichische  Gesetz 
nicht.  Sie  soll  vollkommen  gebrochen  sein,  krank 
und  völlig  mittellos.  Der  österreichischen  Presse,  die  bloß 
für  Unschuldige  der  Teufelsinsel  pathetisch  wird,  kann 
man  ein  werktätiges  Interesse  für  den  heimischen  Fall 
nicht  zumuten.  Es  wäre  wünschenswert,  daß  man  den 
Kaiser,  den  es  betrüben  muß,  daß  in  seinem  Namen 
auch  das  Urteil  von  Ried  gefällt  wurde,  von  dem  Furcht- 
baren verständigt.  Er  würde  sicher  verfügen,  daß 
eine  Summe,  wie  sie  neulich  dem  Schwedenkönig  zu 
Ehren  für  die  neue  Ausstattung  eines  Aktes  von 
»Excelsior«  verausgabt  wurde,  künftig  den  Opfern  der 
österreichischen  Unrechtspflege  zugewendet  werde. 


—  8  — 

So  mancher  Stoßseufzer  aus  Pola  dringt  jetzt 
an  mein  Ohr.  »Bringen  schon  unter  normalen  Ver- 
hältnissen unsere  Tagesblätter  über  Marinefragen  nur 
Stumpfsinn,  so  spottet  das  jetzt  anläßlich  des  japanisch- 
russischen Krieges  Gebotene  einfachjeder  Beschreibung. 
Wie  kann  Schmock  sich  unterstehen,  auf  einem  Ge- 
biete, wo  ihm  kein  Grundbegriff  geläufig  ist,  seine 
Phantasie  schweifen  zu  lassen  und  durch  Redewen- 
dungen wie  ,die  ganze  Welt'  oder  ,man  staunt'  die 
Leser  für  seine  eigene  Dummheit  verantwortlich  zu 
machen?«  Ja,  »wie  kann«!  Befähigungsnachweis  für 
den  Gebrauch  von  Druckerschwärze?  Ach,  der  Gebrauch 
von  Druckerschwärze  ist  selbst  ein  Befähigungsnach- 
weis für  alles  und  jedes.  Bin  Reporter  kann  heute 
einen  Admiral  lehren.  Und  das  Publikum  »glaubt« 
immerzu.  Die  Macht  der  Presse  fußt  selbst  auf  dem 
Respekt  der  Fachmänner.  Der  Speziahst  für  Kriegs- 
wissenschaft denkt  doch  immer,  daß  ein  Blatt,  das  hier 
Unsinn  schwätzt,  dafür  in  literarischen  Dingen  be- 
schlagen sein  muß.  Das  Geheimnis  ihrer  Wirkung  ist, 
daß  die  Journalistik  von  so  vielem  nichts  weiß. 
Immerhin,  ruchbarer  wird  der  ganze  Schwindel  beim 
Betreten  entlegener  Spezialgebiete.  Da  fühlt  man  sich 
wirklich  zu  dem  satanischen  Gedanken  angeregt,  wie 
es  wäre,  wenn  einmal  die  Wiener  Journalisten  in  den 
Krieg  ziehen  müßten  und  Soldaten  als  Kritiker  ihrer 
Ruhmestaten  erständen.  Die  würden  sich  gewiß  nicht 
erdreisten,  mit  Nonchalance  und  im  Tone  sachverstän- 
diger Routine  an  jede  Lügendepesche  ihr  apodiktisches 
Urteil  zu  knüpfen.  »Könnte  man  nicht«,  fragt  ein 
Marineoffizier  in  Pola,  einer  für  viele,  »einen  Brander 
mit  dem  schreibenden  Ungeziefer  von  Wien  bemannen 
und  vor  Port  Arthur  versenken?  Da  würde  sich 
gewiß  kein  Russe  vorübertrauen!«  Ich  weiß  nicht,  ob 
man  es  könnte.  Aber  man  sollte  es  wirklich  selbst  der 
standesüblichen  Frechheit  nicht  zutrauen,  daß  Leute, 
die  mit  Wasser  so  selten  in  Berührung  kommen,  über 
Marinefragen  Gutachten  abgeben. 


—  9  — 

Cin  neues  Strafgesetz  wird  die  »Ehrenbeleidigung« 
in  die  folgenden  Kategorien  scheiden  müssen:  Schmä- 
hung, Verspottung,  Beschimpfung  und  Verleihung 
eines  türkischen  Ordens.  Daß  es  aber  noch  immer 
sonderbare  Schwärmer  gibt,  ist  leider  unbestreitbar. 
Sonst  hätte  man  nicht  neulich  erfahren  können,  daß 
in  der  Türkei  ein  großer  »Ordensschwindel«  aufgedeckt 
wurde.  Die  ottomanischen  Dekorationen  also,  die  in 
den  letzten  Jahren  verliehen  wurden,  sind  nicht  ein- 
mal echt?  Das  ist  zu  dumm!  »Zahlreiche  ausländische 
Persönlichkeiten«  sollen  »kompromittiert«  sein.  Auch 
österreichische?  Hoffentlich  werden  ihre  Namen  genannt 
werden.  Man  muß  die  Leute  kennen  lernen,  die  um  eines 
Ideals  willen,  das  sie  auf  ehrlichem  Wege  für  hundert 
Gulden  erreichen  können,  zu  Fälschern  werden.  Solche 
Zustände,  wie  in  der  Türkei,  sind  bei  uns  »denn  doch« 
nicht  möglich !  Bei  uns  stimmt  die  Rechnung  immer. 
Das  Ordensgeschäft  ist  ein  durchaus  reelles,  und  wer 
nur  beim  Herzog  in  Gnade  ist, . .  Ich  meine  natürlich 
den  Herzog  von  der  ,Montagsrevue'.  Er  rühmt  sich 
einer  solchen  Intimität  mit  Herrn  v.  Koerber,  daß  man 
behauptet,  er  bezahle  seine  Schulden  nur  mehr  in 
eisernen  Kronen... 


Advokatenrechnungen. 

Der  Ausdruck  »Blutdurst  und  Expensenhunger«, 
der  hier  gebraucht  ward,  als  die  , Fackel'  wünschte,  die 
würdigeren  Vertreter  des  Richter-  und  des  Anwaltstandes 
möchten  sich  von  der  ministeriell  arrangierten  Syl- 
vesterorgie fernhalten,  hat  auch  die  verstimmt,  die 
er  nicht  anging,  —  anständige  Advokaten,  die  mir  oft  von 
richterlichem  Blutdurst,  und  anständige  Richter,  die  mir 
oft  von  advokatorischem  Expensenhunger  erzählt  haben. 
Was  verschlägt's?  Ich  lasse  Sylvesterräusche  als  mildern- 
den Umstand  gelten.  Und  gerade  ich,  der  sich  seit  fünf 
Jahren  wie  em  Versuchsobjekt  in  einer  juristischen 


—  10  — 

Klinik  vorkommt,  war  berechtigt,  das  Wort  auszu- 
sprechen. Ich  hätte  oft  Gelegenheit  gehabt,  aus  der 
Schule  zu  plaudern.  Jetzt  hat  die  , Frankfurter  Zei- 
tung' (5.  März)  eines  der  lehrreichsten  Kapitel  aus 
meiner  juristischen  Leidensgeschichte  veröffentlicht. 
Ich  habe  es  mündlich  da  und  dort  zum  Besten  ge- 
geben, ahne  aber  nicht,  wer  der  Mann  sein  kann, 
der  unter  dem  Pseudonym  Erich  Xaver  Wippling  in 
einer  Betrachtung  über  »Advokatenrechnungen  in 
Wien«  davon  Notiz  genommen  hat.  Er  schreibt: 

»Es  gibt  in  unserer  Zeit  des  immer  reeller  werdenden  Han- 
delsverkehrs eigentlich  nur  noch  zwei  Sorten  Leute  in  Europa,  bei 
denen  der  ursprünglich  geforderte  und  der  schließlich  bereitwillig  an- 
genommene Preis  in  einem  kaum  glaublichen  Mißverhältnis  zu 
einander  stehen.  Das  sind  viele  Straßenhändler  in  Neapel 
und  viele  Advokaten  in  Wien.  Wenn  man  die  Chiaia  herunter- 
schlendert und  dann  unter  den  Palmen  der  Villa  Nazionale  längs 
des  leuchtenden  Meeres  einherwandelt,  entgeht  man  sicher  nicht 
dem  Gespräche  mit  jenen  zudringlichen  und  doch  amüsanten 
Kerlen,  die  einem  nachlaufen  und  Stöcke,  Kämme,  Korallen,  Lava- 
schmuck anbieten.  Sucht  man  eine  Reihe  ihrer  Sachen  aus  und 
fragt  nach  dem  Preise,  so  addieren  sie  lange  und  gelangen  dann 
etwa  auf  siebzig  Lire.  Nun  bietet  man  ihnen  drei  statt  der 
siebzig,  und  schließlich  kommt  das  Geschäft  nach  vielen  Dekla- 
mationen und  Anrufungen  der  Madonna  auf  der  Basis  zustande, 
daß  man  acht  oder  neun  Lire  zahlt.  Der  Verkäufer  steckt  sie 
ein,  und  man  bemerkt  an  seiner  FröhHchkeit,  daß  er  immer  noch 
einen  unerwartet  günstigen  Abschluß  gemacht  hat«. 

Dann  spricht  der  Verfasser  von  den  »Expensen- 
rechnungen«  der  Wiener  Advokaten: 

»In  dem  Bewußtsein,  daß  dem  Rotstift  Gelegenheit  geboten 
werden  muß.  Überflüssiges  zu  streichen,  damit  immer  noch  mehr 
als  genug  übrig  bleibe,  stellen  die  Advokaten  eine  Liste  ihrer 
Leistungen  auf,  die  in  der  Länge  an  den  papiemen  Bandwurm 
erinnert,  den  Leporello  aus  der  Tasche  zieht.  Mein  Himmel,  was 
hat  solch  ein  Anwalt  nicht  alles  für  Mühen  auf  sich  genommen ! 
Da  ist  eine  ,Zusammentretung'  mit  dem  Klienten,    die  über  zwei 


11 


stunden  gedauert  hat.  Während  dieser  Zeit  wurde  vielleicht  zehn 
Minuten  über  den  Prozeß  gesprochen,  und  eine  Stunde  und  fünfzig 
Minuten  unterhielt  man  sich  von  Theater,  Politik  oder  hübschen 
Frauen.  Dann  kommen  sechs  bis  sieben  , Fahrten'  zum  Gericht, 
um  nachzusehen,  ob  der  Gegner  nicht  irgend  einen  Antrag  zu  den 
Akten  gestellt  hat.  (Berühmt  geworden  ist  die  vor  Jahren  einmal 
aufgestellte  Post  einer  solchen  Expensen-Note:  ,Nachts  aufgewacht 
ind  über  den  Fall  nachgedacht ...  50  Gulden'.)  Hierauf  folgt 
das  viele  Stunden  beanspruchende  Studium  juristischer  Bücher 
,zum  Zwecke  der  Information',  obgleich  sich  der  Laie  sagt,  daß 
er  einen  Advokaten  gerade  deshalb  bezahle,  weil  es  dessen  Ge- 
schäft sei,  die  juristischen  Bücher  ohnehin  zu  kennen.  Aus  vielen 
Dutzenden  solcher  einzeln  berechneter  Berufshandlungen  setzen 
sich  die  ,Expensen'  zusammen,  wobei  die  eigentliche  Tätigkeit  des 
Anwalts,  nämlich  die  Wahrnehmung  der  gerichtlichen  Termine, 
noch  nicht  liquidiert  ist.< 

Und  nun  wird  ein  konkretes  Beispiel  für  die 
»arithmetischen  Künste«  angeführt,  die  der  Verfasser 
gewissen  Wiener  Advokaten  nachsagt.  Er  erinnert  an 
einen  »vor  ein  paar  Jahren  stattgehabten  literarischen 
Prozeß«,  dessen  »hinter  den  forensischen  Kulissen 
spielender  Rechnungsakt«  bis  heute  unbekannt  ge- 
blieben sei: 

>  Durch  publizistische  Angriffe  fühlten  sich  ein  Theaterdirektor 
und  ein  Autor  beleidigt.  Sie  verklagten  ihren  Gegner  oder  —  wie 
es  in  der  wienerischen  Gerichtssprache  heißt  —  sie  ,klagten'  ihren 
Gegner  wegen  Ehrenbeleidigung.  Er  wurde  verurteilt  und  hatte 
die  Kosten  zu  tragen.  Da  es  in  Österreich  keine  Gerichtskosten  in 
Strafsachen  gibt  und  die  Kriminaljustiz  einige  der  wenigen  Sachen 
ist,  die  hier  völlig  frei  zu  sein  sich  rühmen  dürfen,  besteht  die  Ver- 
urteilung vornehmlich  darin,  daß  der  schuldig  Befundene  den 
Rechtsanwalt  seines  Widersachers  zu  bezahlen  hat.  Für  die  ihm 
I  erwachsene  Mühewaltung  forderte  nun  im  vorliegenden  Fall  dieser 
Herr  eine  Pauschalsumme  von  zwölftausend  Kronen^ 
Zwei  Tage  hatte  die  Verhandlung  gedauert,  und  da  erschien  eine 
solche  Rechnung  dem  Gerichte  denn  doch  etwas  gepfeffert.  Man 
ersuchte  darum  zunächst  den  Advokaten,  die  Nota  zu  spezifizieren, 
damit  man  sähe,  weich  zeitraubende  Arbeit  ihn  zu  der  unverhält- 


—  12  — 

nismäßig  hohen  Forderung  berechtigte.  Die  Einzelaufstellung  ward 
nunmehr  dem  Verlangen  entsprechend  eingereicht.  Aber  so  große 
Mühe  auch  der  Scharfsinn  des  Sachwalters  darauf  verwendet  hatte, 
eine  schier  endlose  Reihe  von  dienstlichen  Handlungen  herauszu- 
drechseln,  —  die  12.000  Kronen  wollten  nicht  zusammenkommen. 
Beim  Addieren  ergab  sich  in  der  spezialisierten  Liste  n  u  r  die  Summe 
von  7800  Kronen.  Dieses  Minus  von  4200  war  schon  erstaunUch 
genug,  da  sonst  auf  Erden  eine  Pauschalsumme  und  nicht  eine 
Rechnung  im  Einzelnen  geringer  zu  sein  pfl^.  Nun  besah  man 
sich  die  verschiedenen  Posten,  die  da  aufgeführt  waren.  Der  An- 
walt behauptete,  er  habe  sechzig  Nummern  einer  Wochenschrift 
durchlesen  müssen,  und  berechnete  dafür  zweitausend  Kronen. 
Da  es  sich  um  eine  Publikation  handelt,  die  jeder  Kaffeehaus- 
besucher in  ungefähr  zwanzig  Minuten  zu  lesen  pflegt,  erregte  die 
Honorarforderung  ein  ziemliches  Schütteln  des  Kopfes.  Der 
Herausgeber  der  betreffenden  Wochenschrift  aber 
schrieb  an  die  Richter,  ersehe  zu  seiner  freudigen 
Verwunderung,  daß  die  Lektüre  seines  Blattes  weit 
gewinnbringender  sei,  als  dessen  Herstellung.  Das 
Resultat  der  gerichtlichen  Festsetzung  der  Kosten  war  dann,  daß 
dem  Advokaten  zwölfhundert  Kronen  zugebilligt  wurden.  Also  10% 
seiner  ursprünglichen  Forderung.  Ganz  wie  bei  den  Straßenhänd- 
lem  in  Neapel.  Ein  überaus  bezeichnender  Punkt  jedoch,  von  dem  ein 
scharfes  Licht  auf  den  Unterschied  zwischen  österreichischer  und 
deutscher  Advokatur  ausgestrahlt  wird,  fand  sich  noch  in  den  Akten 
dieser  Kostenfrage.  Für  die  Prozeßführung  war  es  nämlich  not- 
wendig gewesen,  als  Zeugen  einige  in  Berlin  wohnende  Theater- 
leute zu  vernehmen,  welche  dort  ihre  Aussage  gemacht  hatten. 
Dem  Termin  wohnte  als  Vertreter  des  Wiener  Advokaten  ein  an- 
gesehener Berliner  Rechtsanwalt  bei.  An  der  von  diesem  deutschen 
Sachwalter  für  Wahrnehmung  des  mehrstündigen  Termins  ein- 
gesandten Rechnung  konnte  sein  Wiener  Kollege  nichts  änderrt 
sondern  mußte  sie  im  Original  seiner  Auslagennote  beilegen.  Und 
die  Honorarforderung  des  Beriiners  betrug  —  zwanzig  Mark. 
Worauf  alle  Wiener  Justizbeamten  trauernd  ihr  Haupt  verhüllten. < 
Was  die  ,Frankfurter  Zeitung'  da  erzählt,  ist  im 
Wesentlichen  wahr.  Daß  die  Pauschalsumme  den 
Endbetrag  der  speziaHsierten  Liste  um  4200  Kronen 


—  18  — 


tiberstieg,  darauf  könnte  ich  allerdings  heute  keinen 
Eid  mehr  schwören.  Aber  sonst  ist  höchstens  noch 
die  Mitteilung  irrig,  daß  die  ,Packel*  eine  Wochen- 
schrift ist.  Richtig  ist  die  Angabe  der  7800  Kronen, 
richtig  das  Detail  der  für  Lektüre  der  , Fackel*  ein- 
gestellten  2000   Kronen.     Herr  Dr.   Gustav   Harpner 

—  der  nämliche  Sozialpolitiker,  der  heute  die  Ausbeuter 
der  ,Zeit'  vertritt  —  betonte,  er  habe  sich  der  mühevollen 
Arbeit  unterziehen  müssen,  um  den  Nachweis  zu  er- 
bringen, daß  der  Angeklagte  einen  »konsequenten 
Kampf«  gegen  seine  Klienten  Bahr  und  Bukovics 
geführt  habe.  Ich  erwiderte  in  meiner  Eingabe  an 
das  Landesgericht,  daß  Herr  Dr.  Harpner,  wie  ich 
nachweisen   könnte,   ein   alter   Leser,   Abonnent   und 

—  bis  zum  Prozeßtage  —  Freund  der  ,Fackel'  ge- 
wesen sei,  daß  die  Lektüre  der  bis  zum  Prozeß  er- 
schienenen Hefte  somit  weder  besonders  mühsam 
noch  unangenehm  für  ihn  habe  sein  müssen  und  daß 
sie  jedenfalls  überflüssig  war,  da  ich  selbst  nie  in 
Abrede  stellte,  einen  konsequenten  Kampf  gegen  seine 
Klienten  geführt  zu  haben.  Ich  wäre,  da  ich,  um  die 
»Beleidigung«    nicht   als    eine   zufällige,    sondern   als 

in  Glied  in  der  Kette  ernst  gezielter  Angriffe  er- 
»/heinen  zu  lassen,  mich  selbst  zu  gleicher  Zeit  der 
leichen  Arbeit  unterziehen  mußte,  mit  Vergnügen 
reit  gewesen,  dem  Klageanwalt  jene  Nummern  der 
|,Fackel'  zu  bezeichnen  und  zur  Verfügung  zu  stellen, 
denen  seine  Klienten  in  einer  ihnen  unliebsamen 
eise  genannt  waren.  Sollte  das  Gericht  trotzdem  die 
Fahnwitzige  Forderung  von  2000  Kronen  für  Lektüre 
liner  Zeitschrift  —  also  eine  Summe,  die  den  Betrag  der 
Geldstrafe,  zu  der  ich  verurteilt  wurde,  übersteigt  —  be- 
willigen, »so  würde  für  mich  daraus  die  bittere  Erkenntnis 
erwachsen,  daß  das  Lesen  der, Fackel'  einträglicher  ist  als 
das  Schreiben  der  ,Fackel'«  ...  So  schrieb  ich  damals  an 
das  Wiener  Landesgericht.  Und  wies  der  erschütternden 
humoristischen  Kontrastwirkung  zuliebe  auf  die  von 
Herrn  Dr.  Harpner  unter  den  Barauslagen  angesprochene 


156 


—  u  — 

Summe  für  den  Berliner  Kollegen  Dr.  Wolfgang  Heine 
hin,  der  auch  sozialdemokratischer  Anwalt  ist  und 
für  die  Mühe  eines  ganzen  Vormittags  20  (oder  25  ? ) 
Mark  berechnete. 

Die  Angaben  der  ,Prankfurter  Zeitung*  sind 
also  durchaus  richtig.  Das  ,Neue  Wiener  Journal* 
hat  den  Aufsatz  —  inklusive  der  meinen  Fall 
erörternden  Stelle  — unter  dem  Titel  »Phantasien 
eines  Publizisten«  abgedruckt.  Mit  Quellenangabe,  da 
es  ja  mit  dem  Standpunkt  des  Artikels  nicht  einver- 
standen ist.  Grotesk  aber  ist  es,  wenn  ein  Diebsblatt 
einer  von  ihm  so  oft  gebrandschatzten  Zeitung  vor- 
wirft, daß  sie  »Räubergeschichten«  erzähle. 
Nicht  um  uns  mit  fremden  Federn  zu  schmücken, 
nein,  nur  »der  Kuriosität  halber  entnehmen  wir  dem 
Artikel«  einige  Stellen.  »Vielleicht  beweisen  Wiener 
Advokaten  dem  Herrn  Wippling,  daß  sie  es  verstehen, 
kurzen  Prozeß  zu  machen,  wenn  es  sich  darum 
handelt,  ihren  Stand  gegen  die  kindlich-bösartigen 
Phantasien  eines  Sachunverständigen  zu  schützen«, 
ruft  das  Diebsblatt.  Aber  da  werden  die  Wiener 
Advokaten  kein  Glück  haben.  Denn  das  Tatsächliche, 
das  Herr  Wippling  vorbringt,  ist  buchstäblich  wahr, 
und  im  übrigen  findet  er  selbst  für  die  Exzesse  des 
Expensenhungers  eine  wohlwollende  Erklärung  in  der 
methodischen  Verständnislosigkeit,  mit  der  manche 
Gerichte  die  Wertung  der  advokatorischen  Arbeit  vor- 
nehmen. In  Deutschland  biete  schon  der  Tarif,  der  im 
Zivilprozeß  die  Vertretungskosten  nach  der  Höhe  des 
Streitobjekts  berechnet,  dem  Advokaten  eine  materiell 
bessere  Position.  Der  Wiener  Kollege  gehe  auch  bei 
einem  Verfahren,  bei  dem  Riesensummen  in  Frage 
kommen,  verhältnismäßig  leer  aus,  wenn  er  nicht 
durch  vorherige  besondere  Vereinbarung  sich  seinen 
Anteil  an  dem  Erfolge  gesichert  habe.  Der  Verfasser 
gibt  ausdrücklich  zu,  daß  die  gerichtlich  festgesetzte 
Entlohnung  der  Tätigkeit  mit  den  großen  Beträgen,  die 
erstritten  werden,  in  einem  auffallenden  Mißverhältnis 


I 


l 


—  15  — 

steht*  Hier  wäre  besonders  der  Praxis  unseres  Obersten 
Gerichtshofes  zu  gedenken.  Man  glaubt,  den  Expensen- 
hunger  zu  bekämpfen,  indem  man  ihm  auch  die 
geringste  Befriedigung  versagt.  Natürhch  wird  der 
gegenteihge  Erfolg  erzielt.  20  Kronen  für  die  Berufungs- 
schrift einer  Zivilklage,  deren  Gegenstand  40.000  Kronen 
w^ar,  führt  mit  mathematischer  Notwendigkeit  zu  einer 
Forderung  von  2000  Kronen  für  Lektüre  der  ,FackeP  .  .  . 


OJAI 

Die  ärztliche  Standesehre  ist  glücklich  aus  allen 
Landtagsfährlichkeiten  gerettet.  Aber  wenn  wir  den 
Ansturm  der  Unberufenen  auf  die  Forschung  abge- 
wehrt haben  und  wieder  schön  unter  uns  sind,  kön- 
nen wir  ja  manch'  Hühnchen,  das  zu  Versuchszwecken 
uns  schließlich  doch  belassen  ward,  miteinander 
pflücken.  Was  macht  denn  die  liebe  Reklame?  Die 
brieflich  ordinierenden  Ärzte  und  die  Herren  Professoren, 
welche  Ferndiagnosen  stellen,  sind  ein  altes  Kapitel. 
Heute  wollen  wir  einmal  eine  neue  Spezies  diplo- 
mierter Annonceure  betrachten.  Daß  sich  Arzte 
dazu  hergeben,  den  Erzeugern  pharmazeutischer  Prä- 
parate publizistische  Dienste  zu  leisten,  ist  aus  Nr.  36 
der  ,Fackel'  (Ende  März  1900)  bekannt,  wo  der  Fall 
eines  Privatdozenten  erörtert  wurde,  den's  eine  Zeit- 
lang sogar  nach  den  Lorbeeren  eines  Inseratenagenten 
gelüstet  hat.  Die  Abhängigkeit  des  redaktionellen 
Teils  medizinischer  Fachblätter  von  den  Wünschen 
inserierender  Firmen,  die  Fälschung  der  wissenschaft- 
lichen Meinung  ward  damals  beklagt:  »Nicht  bloß 
der  fernerstehende  Arzt  wird  über  den  Wert  eines 
Mittels  getäuscht;  was  in  Fachzeitungen  stand,  geht 
mit  oder  ohne  Hinzutun  des  interessierten  Inserenten 
in  Tageszeitungen  über  und  wird  als  echtes  Geld  der 
Wissenschaft  in  Kurs  gesetzt ...  In  letzter  Linie  leidet 


'4 


—  16  — 

unter  solchem  Geschäftstreiben  der  Kranke,    der  ein 
oft  minderwertiges  Mittel  teuer  —  nicht  nur  mit  Geld 
—  bezahlen  muß.«...  Als  eine  Neuerung  darf  man  es 
nun   begrüßen,  daß  Ärzte  über  kosmetische  Mittel 
Reklamefeuilletons  schreiben.  Ob  es  der  publizistische 
Moral  entspricht,    der    Empfehlung    von    Teintseifen,' 
Pasten,  Parfüms,    Mundwässern    und  all'  den  Schön- 
heits- und  Reinlichkeitsmitteln,  den  >vielzuvielen«,auch 
nur  im  Inseratenteil  Raum   zu  geben?    Die    gesamte 
Presse  nickt  freudig:  *Oja«  und  »Javol«.    Ich  sage: 
Nein.  Wenigstens  vom  Standpunkt  eines  Blattes,  de 
das    körperliche    und     wirtschaftliche     Wohl     seine 
Leser,    soweit    die   Redaktion    es    beeinflußen   kann, 
nicht  gleichgiltig  ist.     Gewiß  könnte  es  unter  zehn 
tausend  kosmetischen  Mitteln  hundert  geben,  die  nich 
gesundheitsschädlich,    zehn,    die    nicht    mit  Wucher 
Zinsen  überzahlt  sind;    aber  der  Verlag    der  ,Fackel' 
läßt  sich  auf  solche  Untersuchungen   nicht   ein    und 
lehnt  auch  die  verlockendsten  Anträge  ab.  Hier  über 
nimmt  bekanntlich  die  Redaktion  auch  .für  den  Inhalt 
des  Inseratenteils  eine  Verantwortung.  Anders  in  derj 
Tagespresse.     Da  ist  es  wieder  die  Administration,  di 
für  den  Inhalt    des    redaktionellen  Teils  die  Verant 
wortung  übernimmt.  Und  so  finden  wir  allwöchentlia 
da  und  dort  eine  »Schmucknotiz«  oder  eine  Plauderei,  di 
selbst  nur  ein  Schönheitsmittel  zur  Verhüllung  einer" 
bezahlten  Warenreklame  ist.  Aber  das  eine  Kosmetiku 
ist   des  andern    wert;   geschärfter    Sinn    merkt  bald,! 
daß  beide  Schwindelmittel  sind.     Darum  müssen  die 
Erzeug«^  sich  nach  wirkungsvollerer  Täuschung  um- 
sehen.^/Der  Leitartikel  der  , Neuen  Freien  Presse'  ist 
^^^.^ür'Tjwecke  des  Börsenschwindels  so  sehr  in  Anspruch 
genommen,  daß  er  für  die  Anpreisung  eines   Seifen 
Präparates  noch  immer  nicht  zu  haben  ist.    Aber  e 
kommt  wohl  nicht  so  sehr  auf  den  Ort  der  Einschal-| 
tung  wie  auf  das   Ansehen  des  Verfassers    der  emp- 
fehlenden Notiz   an.  Wozu  hätten    wir    denn   Ärzte? 
Das  -wäre   wahrhch   ein  unpraktischer  Arzt,  der  den 


17  — 


Eintrag  einer  kosmetischen  Firma  zurückwiese,  einen 
ileklameartikel   über   ihre   Erzeugnisse  zu  schreiben 
md    mit    seinem     Namen  zu  vertreten.    Mit   Recht 
ieichnet    er    »Med.   Dr.   Josef  Weiß,    praktischer 
Vrzt  in  Wien«,  der  Mann,    der  seinen   Namen    unter 
en    Artikel  gesetzt  hat,    der  am  31.  Jänner   in    der 
Neuen   Freien   Presse'   erschien   und   die    Aufschrift 
ührte:     »Meine    Ansicht     über     Schönheits- 
aittel«.  Welche  Ansicht  kann  ein  Arzt  über  Schön- 
leitsraittel  haben?  Daß  sie  fast  alle  zumindest  wertlos, 
Fenn  nicht  gesundheitsschädlich  sind?  Gewiß ;  und  auch* 
inser  praktischer  Arzt   legt  in   der  Einleitung  seines 
Aufsatzes    dies     Bekenntnis    ab.     »Während    meiner 
ielj ährigen    Praxis    habe    ich    sehr    oft    Gelegenheit 
;ehabt,  ein  Unzahl    von  Schönheitsmitteln  nicht  nur 
u  untersuchen,    sondern  auch  praktisch  zu  erproben 
ind  deren  Wirkung  bei  meiner  Klientel  zu  beobachten, 
jin  großer  Teil  dieser  Präparate  war  an  und  für  sich 
(wertlos,    oft  hatte  ich  Veranlassung,  die  Anwendung 
^nes   solchen  Mittels    zu   verbieten,    und   nur   selten 
Lonnte   ich   ein  verwendbares  Produkt  finden.     Was 
jh   aber    allen   bisher    versuchten   Kosmeticis    nach- 
jigen   mußte,    war,    daß    die    Anwendung    derselben 
ine   total  überflüssige,  ja   sogar   verkehrte  ist.«     Ist 
lies     das     Bekenntnis     eines     menschenfreundlichen 
Varners?  Ach  nein,  es  ist  bloß  der  Wunsch  des  un- 
Autern  Wettbewerbers,   die  Konkurrenz   schlecht   zu 
lachen.      »Nach     so    reichlicher    Beobachtung    ent- 
5hiedener    Mißerfolge    freut   es   mich    besonders, 
ndlich  Kosmetika  gefunden  zu  haben,  welche  zweck- 
ntsprechend  sind  und  schon  deshalb  allein  eine  gute 
\/'irkung    voraussehen    lassen.     Es    drängt    mich, 
ir  diese  ausgezeichneten  Präparate  ein  befürworten- 
es  Urteil   abzugeben,    da  ich   dies   mit   bestem  Ge- 
issen tun  kann.  Ich  meine  die  von  der  amerikanischen 
.'arfümerie    Oja    (erster   amerikanischer    Parfümerie- 
alast  ,Oja*,  folgt   genaue  Adresse)  eingeführten  Prä- 
ftrate,  unter  welchen  ich  die  Oja-Seife  und  das  Terol 


—  18  — 

als  hervorragende  Mittel  usw.  usw.«  »Noch  mehr 
erfreut  war  ich  über  die  Ipe-Knol!«i  (Mittel  gegen 
Haarausfall)«  .  .  .  »Es  nürde  zu  weit  führen,  wollte 
ich  alle  Vorzüge  der  Präparate,  welche  die  Parfüraerie 
Oja  eingeführt  hat,  hervorheben,  denn  es  war  raii 
nur  darum  zu  tun,  weiteren  Kreisen  meine  geraachter 
Erfahrungen  mitzuteilen  und  im  Interesse  des  Pub^ 
likums  auf  das  Beste  hinzuweisen,  um  so  mehr,  ab 
man  sich  ja  heute  in  der  Flut  von  angepriesene^ 
Schönheits-  und  Haarwuchsmitteln  fast  nicht  mehr 
auskennt.«  ....  Nach  dem  Wohnungsanzeiger  gibt  e« 
zwei  Dr.  Josef  Weiß  in  Wien.  Bisher  hat  keiner  voi 
beiden  gegen  den  Mißbrauch  seines  Namens  —  dem 
es  handelt  sich  hoffentlich  nur  um  einen  solchen  — i 
protestiert.  Ist  aber  der  Autorname  nicht  fingiert,  st 
wäre  es  jetzt  an  der  Zeit,  daß  sich  jeder  der  beide* 
dagegen  verwahrt,  mit  dem  andern  identisch  zu  sein 
,Neue   Freie    Presse'  und    ,Fackel'    sind   gern  bereit 

ihre  Erklärungen  aufzunehmen Oder  sollte  nicht  di< 

Ärztekammer  rascher  das  Geeignete  vorkehren?  Oja' 


J. 


Ja,  glauben  Sie  denn,  lieber  Leser,  ich  halte  di 
antisemitische  JournaHstik  für  weniger  verworfen' 
Nur  für  talentloser  1  Darum  konnte  ich  ihr  die  geringer 
Gefährlichkeit  zuerkennen  und  mußte  sie  erst  u 
zweiter  Linie  betreuen.  Würde  die  Rücksicht  auf  da 
öflFentliche  Wohl,  auf  Taschen  und  Gesundheit  de 
Bevölkerung,  mir's  nicht  so  oft  verwehren,  die  Ding 
vom  rein  ästhetischen  Standpunkt  zu  betrachten,  hätt 
ich  nicht  die  leidige,  von  mir  oft  bereute  Verpflichtur 
auf  mich  genommen,  einen  Spitzbuben  ernster  i 
nehmen  als  einen  Dummkopf  heiter,  dürfte  ich  blo 
den  Launen  meiner  satirischen  Individualität  genüger 
—  ja,  ich  bitte  sich  beiläufig  vorzustellen,  welch 
Ausbeute  mir  in  den   fünf  Jahren   die  Wiener  anti 


—  19  — 

emitische  Presse  gewährt  hätte?  Am  dankbarsten 
i^ar  ich  darum  immer  dort,  wo  Dummheit  und 
chlechtigkeit  sich  im  Gesichtsfeld  meiner  Wächter- 
itigkeit  gepaart  haben.  Und  da  bin  ich  mir  wahrlich 
einer  Unterlassungssünde  bewußt.  Eher  könnte  man 
eraerkt  haben,  wie  ich  mit  den  Jahren  der  Erkenntnis, 
aß  mein  Blatt  neben  den  Wünschen  des  Publikums 
uch  dem  Ausdrucksbedürfnis  meines  Naturells  zu 
ienen  habe,  nachgab,  den  Zorn  entließ,  wenn  mir 
'sr  Hohn  besser  gefiel,  und  die  öffentlichen  Schäden  dem 
rivaten  Spott  opferte.  Wenn  ich  so  aber  zu 
ilistischer  Erholung  die  Gauner  hinter  den  Tölpeln 
urückzusetzen  begann,  mußte  mein  Interesse  für  die  anti- 
mitische  Publizistik  eo  ipso  wachsen.  Nie  werde  ich  ver- 
ennen,  daß  die  ,Neue  Freie  Presse'  gefährlicher  ist  als 
IS  , Deutsche  Volksblatt'.  Aber  man  ist  schließlich 
ich  Ästhet,  und  bei  der  Table  d'hote  sind  Leute,  die 
it  den  Händen  fressen,  störender  als  die,  welche 
(is  Besteck  säuberlich  benützen  und  es  nachher  mit- 
3hmen.  Freilich,  wo  die  antisemitische  Presse  gar 
)ch  der  Korruption  nachstümpert,  ist  sie  mir  ja  am 
ibsten.  Sehr  spassige  Komplikationen  ergeben  sich 
ihon,  wenn  das  , Deutsche  Volksblatt'  eine  der  Lügen- 
ethoden der  Judenpresse,  die  ihm  immer  imponiert 
iben,  nachzuahmen  sucht,  z.  B.  den  Interview- 
hwindel.  Felix  Dahn,  eine  Eiche  im  Teutoburger 
ichterwald,  feierte  seinen  siebzigsten  Geburtstag, 
Lid  es  gab  keine  deutsche  Brust,  die  nicht  bei  dem 
edanken,  daß  uns  so  viel  Langweile  noch  so  rüstig 
id  gesinnungstüchtig  entgegentritt,  in  ihrem  Jäger- 
ohen  Norraalhemd  freudiger  transpiriert  hätte.  Natür- 
)h  mußten  sich  auch  die  »deutschen  Antisemiten« 
|Sterreichs  erhoben  fühlen.  Alles,  was  bei  uns  durch 
nen  schlappen  Hut  feste  Gesinnung  und  durch 
[hwarze  Fingernägel  deutsche  Treue  ausdrückt,  was 
e  »Heimatkunst«  liebt  und  die  »D^cadence«  haßt, 
las  Heinrich  Heine  für  einen  Stümper  und  Geßmann 
pn  Jüngeren  für  einen  Dichter  erklärt,   war  festlich 


—  20  — 


gestimmt,  und  die  »deutsche«  Tagespresse,  die  bei 
einigermaßen  besserer  Beherrschung  der  deutschen 
Grammatik  wirklich  Unheil  anrichten  könnte,  brachte! 
weihevolle  Artikel.  Das  ,Deutsche  Volksblatt*  war| 
sogar  in  der  Lage,  den  Gefeierten  selbst  sprechen 
zu  lassen.  Auf  dem  bekannten,  nicht  nur  für  die 
Judenpresse  gangbaren  Weg:  »Einer  unserer  Mit-' 
arbeiter  hatte  Gelegenheit  .  .  .«  Und  Dahn  sprach 
natürlich  ganz  im  Sinne  des  Herrn  Vergani.  Nicht 
mehr  so  ganz  später,  als  er  in  reichsdeutschen  Tage»- 
blättern  eine  Zuschrift  veröffentlichte,  die  zwar  in-| 
zwischen  auch  in  liberalen  "Wiener  Tagesblätterri 
zitiert  wurde,  die  aber  doch  als  ein  Dokument  von 
der  Journaille  Schande  durch  die  , Fackel'  konserviert 
zu  werden  verdient: 

>Das   »Deutsche  Volksblatt'   in  Wien   bringt   zum  9.  d.  M' 
einen  Bericht   eines  Herrn  A.  Hafner  über  einen  Besuch  bei  mit 
(im  Oktober),  der  von  Lügen  strotzt;   das  wäre  gleichgültig^ 
würden  mir   nicht  darin  Urteile   über  Schriftsteller  in  den  Munc 
gelegt,   die  (d.  h.  die  Urteile)   durchaus   erlogen    und    mir  schor 
wegen  ihrer  Rohheit  höchst  peinlich  sind.    Das  Ganze  hat,  aL« 
ein  Muster  frechster  Verlogenheit  in  unserer  Tagespresse 
weit  über  meine  Person  hinausreichende  Bedeutung.    In  meinen- 
Empfangszimmer  sollen  stehen  , Büsten  von  Goethe,  von  Hermes 
von  Epikur  und  Beethoven'  —  frei  erfunden!   Ich  soll  nach  Em- 
pfang eines  völlig  unbekannten  Interviewers  sofort  in  die  Häni 
geklatscht  haben,  ein  Dienstmädchen  herbeizurufen,  eine  ,Jai] 
(österreichisch)   von  Gebäck   und  Tee  zu  bestellen,   die  ich  da 
mit  Herrn  H.  ,rauchend'  (ich  rauche  nie!)  bis  Abend  9  Uhr  (v<] 
5  Uhr  ab!)  gemütlich  plaudernd  soll  verzehrt  haben;  in  Wahrh« 
schickte  ich  den  Herrn  ohne  jede  Jause  nach  höchstens  zeh^ 
Minuten  fort  (der  Aufsatz  heißt:   ein  Abend  bei  F.  D. !!),   e 
machte   mir   einen   sonderbaren    Eindruck.    Ich  werde  vie 
Stunden  meiner  kostbaren  Zeit  mit  einem  Interviewer  vertrödeln! 
Richtig   ist,  daß  ich  ihm,  weil  er  über  Geldmangel    klagte 
eine  Karte  an  die  Redaktion  von  ,Nord  und  Süd'  gab,  dort  eine 
Aufsatz  einzureichen,  aber  abscheulich  gelogen  ist,  ich  hal 
dabei   gesagt:    ,Wenn  Dahn   Sie  empfiehlt,   genügt  das!'    Weld 
Gemeinheit  an  Eitelkeit  wird  mir  da  zugeschoben!  Dann  soll  id 
(einen   Wildfremden!)  gefragt  haben,   ,wie  das   geistige  Leben  ir 
Wien  blühe?'    Folgt  ein   angebliches  ,Qespräch'    über  die   ,neuer» 
Richtung'   in  der  Literatur,   in  dem   mir  verächtliche  Äußerung« 
über   Julius   Bierbaum    (ich   soll    angeführt    haben    Gling-glang; 


—  21  — 


loribusch,  Dagluiglua-Glulala  Trulala  als  Bierbaiuns  Poesie  —  mir 
nerklärlich  —  soll  die  moderne  Malerei  ,zerlaufenen  Eierkuchen, 
enannt  haben!  Alles  erlogen!)  und  Wedekind  beigelegt 
erden;  das  ist  geradezu  empörend;  nie  würde  ich  bei  aller  Geg- 
erschaft  wider  die  Richtung  solche  Gemeinheiten  in 
en  Mund  nehmen;  angeführt  wird  ein  Urteil  von  mir  über 
7edekinds  ,Tantenmörder',  ein  Werk,  das  ich  nie  gesehen  habe! 
•ann  wird  ein  Hanns  Ostwald  von  mir  als  ein  ,erffeuliches  Talent', 
s  eine  ,Oase  in  der  Wüste  jetziger  geistiger  Verflachung'  gerühmt; 
rmutlich  ein  guter  Freund  von  Herrn  H.,  mir  aber  gänzlich 
n bekannt!!  Endlich  —  und  das  ist  vielleicht  das  Abscheu- 
chste!  -  wird  von  mir  ,ein  sehr  bedeutender  Berliner  Schrift- 
eller  sehr  abfällig  kritisiert,  weil  ich  in  dessen  letzten  Werken 
lagiate  meiner  eigenen  zu  finden  glaube!!'  Diese  ganz  allgemein 
nd  unbestimmt  gegen  alle  »bedeutenden  Berliner  Schriftsteller' 
ischleuderte  Verdächtigung  und  Verhetzung  gegen  mich  ist  doch 
nerhört!  Das  Lügengespinst,  das  Herrn  H.  in  vertrau- 
tstem Verkehr  mit  mir  hinstellen  will,  schließt  mit  dem 
itze:  ,so  verging  der  Abend!!  (nicht  eine  Viertelstunde!) 
ite  im  Fluge  und  es  war  9  Uhr  (!!!)  als  ich  mich  von  meinem 
benswürdigen  Wirte  verabschiedete.'  —  Und  so  was  muß  man 
im  sonder  wirksame  Abwehr  über  sich  ergehen  lassen!  Diese 
[ummen  Lügen  halten  Hunderte  von  Lesern  für  wahr!  Bierbaum, 
i'edekind,  ,sehr  bedeutende  Berliner',  sollen  mich  für  einen  solchen 
copf  halten!  Ich  bitte  alle  anständigen  deutschen  und  öster- 
ichischen  Zeitungen,  wenigstens  in  Kürze  meine  Verwahrung 
gen  solche  empörende  Lügen  zu  verbreiten. 

Breslau,  22.  Februar  1904.  Felix  Dahn.« 

Siehe,  Felix  Dahn  ist  eine  deutsche  Eiche,  die 
Ich  der  Blattläuse  selbst  erwehrt.  Behauptet  das 
Wtsche  Volksblatt*  nun  noch,  daß  er  ein  »liebens- 
ürdiger  Wirt«  sei?  Er  gebraucht  ja  in  dieser  kurzen 
iaschrift  mehr  Ausrufungszeichen,  als  Herr  Vergani  in 
inem  Jahrgang  hinter  Judennamen  anbringt!  Aber  das 
'ifläßliche  Blatt  hat  den  Fußtritt  nicht  ohneweiters 
ngenommen.  Es  rehabilitierte  sich  glänzend.  Ein 
iTudenblatt«  hatte  sich  aus  Breslau  den  Inhalt  der 
.hn'schen  Erklärung  telegraphieren  lassen.  Da 
hrieb  das  ,Deutsche  Volksblatt*:  »Nach  der  Stili- 
3rung  dieser  Notiz  (in  der  ,Zeit')  konnte  jeder- 
ann  glauben,  daß  der  ganze  Artikel  über 
ahn  in  unserem  Blatte  eine  Erfindung  sei,  und  wir 
ilbst   hielten    uns    schon    für    das    Opfer    einer 


—  22  — 

starken  Mystifikation.     In   der   abends   eingetroffene: 
,Schlesischen  Zeitung*   finden  wir  nun  in  dem  Brief 
Felix Dahn's,  daß  ihn  Hafner  tatsächlich  besucht 
und    auch    eine   Empfehlungskarte    von    ihm    erhiel 
Hafner   hat  uns   die  Karte   vorgewiesen   und   dieser 
Beweisstücke  verdankte  er  die  Aufnahme  des  Artikel' 
Von  dem  wirklich  erfolgten  Besuche  berichtet 
die  ,Zeit'  nichts  .  .  .«  Nein,  das  , Deutsche  Volksblat 
hat  unrecht  gehabt,   sich  für   das  Opfer  einer  Myst 
fikation  zu  halten.     Sein  Mitarbeiter  hat  Felix  Üah 
»tatsächlich   besucht« ;    die    Hauptsache   bleibt  unbe 
stritten.    Und  es  ist  nur  die  Tücke  der  Judenblätte 
die   einem   christlichen    Gegner   den   Triumph    diese 
Konstatierung  mißgönnen  möchte.    Aber  gottseidan 
treffen   ja    die    deutschen  Journale  in  Wien  ein  un 
machen  einen  ordentlichen  Strich  durch  die  Rechnung 
der  Besuch  bei  Felix  Dahn  ist  wirklich  erfolgt!  . . 
Dabei  konnte  sich  das  , Deutsche  Volksblatt*  beruhige: 
Freilich  nicht  allzulange.  Denn  als  der  Skandal  eir 
ungewöhnliche    Publizität    erlangte,   gab    es    die   B 
klärung    ab,    daß    es    gegen   seinen   Interviewer  d; 
»Betrugsanzeige«  erstattet  habe.  Das  kann  ein  heiter« 
Prozeß    werden.   Wenn   Herr   Hafner,    dem    bloß  d( 
Versuch    mißlungen   ist,    orientalische    Phantasie   f^ 
antisemitische   Zwecke   auszubeuten,    wirklich    ein^ 
Betruges    im    kriminellen    Sinne    schuldig    befundid 
werden   sollte,   dann  wäre   das  , Deutsche    Volksblat 
für  jede  Zeile  wegen — Ritualmordes  strafbar,  begang^ 
an  der  Vernuiift,  dem  Geschmack  und  dem  Vertrau« 
christlichsozialer  Leser. 


i 


Wie  war's  also? 


jNeues  Wiener  Tagblatt' 

28.  Februar: 
»Aus  München  wird  uns  tele- 
graphiert:   Im    Schauspielhause 


,Zeit' 
28.  Februar: 
»Man  telegraphiert  uns 
München  vom  27.  d.  M.:  Bai 


Hl 


-  23 


hatte  ,Der  Meister'  von  Her- 
mann Bahr  bei  ausgezeichneter 
Darstellung  einen  starken  Erfolg. 
Das  ausverkaufte  Haus  zeigte 
sich  vom  Anfange  lebhaft  interes- 
siert. . . .  Schon  nach  dem  zweiten 
Akt  steigerte  sich  der  stürmische 
Beifall  zu  Rufen  nach  dem  Autor, 
lan  dessen  Stelle  die  Darsteller 
oftmals  erschienen.« 


,Meister'  fand  bei  seiner  Erstauf- 
f  jhrung  im  Schauspielhaus  einen 
von  Akt  zu  Akt  wachsenden 
Widerspruch.« 


ANTWORTEN  DES  HERAUSGEBERS. 

Techniker.     Die  Kundgebung  des    Ingenieur-    und    Architekten - 
Vereins  gegen  einen  von  Herrn  v.  Koerber  verübten  Protektionsakt  verdient 
auch   noch   nachträglich   verzeichnet  zu  werden.    Professor  Viktor  Loos 
schreibt  darüber  in  der, Allgemeinen  Ingenieur-Zeitung':  »Der Ingenieur-  und 
LArchitektenverein  in  Wien  gilt  dem  Kundigen  gewiß  nicht  als  eine  Ver- 
einigung   von    Malkontenten    und  Revolutionären,    denn    er    zählt    eine 
igroße  Zahl    von  Hof-,    Oberbau-,    Bergräten,  k.  k.  Professoren  etc.  zu 
^seinen  Mitgliedern.  Dennoch  hat  sich  dieser  Verein  gegen  den  Minister- 
präsidenten   Dr.  V.  Koerber  aufgelehnt   und  über  den  Antrag  des  diol. 
ing.    Dr.  Kapaun    dem    Minister    sogar    die  ,tiefste  Entrüstung'    ausge- 
drückt und  (Verwahrung'  dagegen  eingelegt,  daß  einem  Oewerbeschüler 
die  Autorisation  als  Bau-  und  Kulturingenieur  erteilt  wurde   mit  Nach- 
icht    des    Hochschul-Studiennachj/eises,    mit  Nachsicht   der  Praxis  und 
der  strengen  praktischen  Prüfung.     Der   unbeteiligte   Leser  der  in   den 
Zeitungen  erschienenen  Notizen  über   diese  Resolution   hat  da  gemeint, 
die  Kundgebung  sei   bloß  eine  Konsequenz  des  bekannten  Kampfes  der 
Hochschultechniker  gegen  die  Oewerbeschüler.     Aber   schon   die   unge- 
wöhnliche Schärfe  ließ  auf  triftigere  Motive  rückschließen.    Die   Autori- 
ation   als    Bau-    und    Kulturingenieur   wurde  nämlich  vom  Ministerium 
des    Innern    auch    Hochschultechnikern    verweigert,    weil    sie    bloß   die 
Architekturabteilung  einer  technischen  Hochschule  absolviert  hatten.  Bei 
ierrn  Zehra,  dem  mit  so  viel  Nachsicht  Autorisierten,  liegt  die  Sache 
'iel  einfacher.     Er   hat   zwar   keine   Architekturabteilung   einer  Technik 
ibsolviert,    aber  es  steht  ziemlich  fest,    daß  er   die   politische  Handels- 
ibteiiung  des  Parlaments,   wo  Stellen   vom  Hofrat  abwärts  verschachert 
Verden,  mit  gutem  Erfolg  besucht  hat.  Wer  das  politische  Geschäft  mit^ 
4errn  v.  Koerber  abgeschlossen  hat,  dessen  Oewinn  Herr  Zehra  genießt, 
vätt  noch  zu  ermitteln.     Vielleicht   findet  sich  ein  Parlamentarier,    der 
nomentan   keine   Ounstbezeugung  von   der  Regierung  beansprucht  und 
iarum    den    Minister    interpellieren    kann !  . . .    Charakteristisch    war    in 
liesem  Falle  die  Indolenz  unserer  Presse,   die  aus  der  Unkenntnis  der 
lachlage   entsprang.     Keine    einzige   jener    Zeitungen,    die    bei    jedem 


24  — 


schlechten  politischen  Anlaß  bereit  sind,  Minister  vorlaut  abzukanzehi, 
hat  diesen  ganz  unerhörten  Fall  entsprechend  gewürdigt . . .  Welches 
gigantische  Qeschrei  hätte  dieselbe  Presse  erhohen,  wenn  es  dem  Herrn 
V.  Koerber  als  Leiter  des  Justizministeriums  etwa  eingefallen  wäre, 
.gnadenweise'  einem  Herrn  Zehra  die  Ausübung  der  Advokatenpraxis 
ohne  Nachweis  der  juridischen  Hochschulstudien,  ohne  Nachweis  der 
Konzipienten-  und  Gerichtspraxis  und  ohne  Ablegung  der  strengen 
Advokatenprüfung  zu  verleihen! . .  .< 

Lakai.  Die  Anwesenheit  des  Schwedenkönigs  in  Wien  hat  wied( 
allerlei  Verwirrung  gestiftet.  Eine  Meinungsverschiedenheit  herrschte  z.  B, 
darüber,  ob  der  75jährige  Mann  —  bei  grimmiger  Kälte  und  beginnen 
dem  Schneefall  —  im  offenen  oder  geschlossenen  Hofwagen  vom  Bahn 
hof  in  die  Burg  gefahren  ist.  Die  ,Zeit'  ist  für  die  Abhärtung  di 
Monarchen,  wird  aber  leider  vom  .Extrablatt'  dementiert,  das  sogar  eine 
Abbildung  des  geschlossenen  Wagens  brachte.  Solche  Divergenzen  sind 
in  der  Tat  bedauerlich.  Es  ist  klar,  daß  ein  König,  der  in  Wien  an- 
kommt, nur  entweder  in  einem  offenen  oder  in  einem  geschlossenen 
Wagen  von  der  Bahn  in  die  Stadt  fahren  kann.  Ein  drittes  gibt  es 
nicht.  Für  künftige  Fälle  sollte  doch  wenigstens  in  so  wichtigen  Dingen 
Einigkeit  erzielt  werden,  da  sonst  der  Leser  wirklich  nicht  mehr  weiß, 
woran  er  sich  halten  soll.  Noch  schlimmer  ist  es  freilich,  wenn  ein  Blatt 
mit  sich  selbst  in  Zwiespalt  ist.  Im  Abendblatt  der  , Zeit' vom  24.  Februar 
kommt  unser  Kaiser  »in  der  Oberstenuniforra  seines  schwedi- 
schen Regiments«  auf  den  Perron,  um  den  Gast  zu  begrüßen.  Im, 
Morgenblatt  der  ,Zeit'  vom  25.  Februar  heißt  es  in  dem  Bericht  übe« 
das  Theatre  pare:  >Da  der  Kaiser  kein  schwedisches  Regimea^ 
innehat,  erschien  er  in  der  österreichischen  Marschallsuniform«.  Also 
hat  er  eins  oder  hat  er  keins?  .  .  .  Bekanntlich  genießt  die  Wiener 
Publizistik  das  Benefizium,  zusehen  zu  dürfen,  wenn  bei  Hof  ein  Gala- 
diner verzehrt  wird.  Am  stolzesten  von  allen  Wiener  Blättern  ist  die 
kulturaktuelle,  demokratische  ,Zeit'  auf  diese  Ehre  Sie  schreibt  am  26 
Februar  wörtlich:  >!m  weiteren  Verlaufe  des  Diners  warf  der  König 
Oskar  einen  Blick  auf  die  Galerie  des  Saales,  von  wo  eine  Anzahl 
schwarzbefrackter  Herren  —  die  Zeitungsberichterstatter  —  dem  glanz- 
vollen Feste  zusahen.  Man  bemerkte,  wie  die  schwedische  Majestät  an 
den  Kaiser  eine  Frage  richtete;  der  Kaiser  warf  nun  auch  einen  Blick 
nach  oben  und  antwortete.  König  Oskar  wußte  nun,  wer  die  schwar-j 
zen  Gäste  waren,  und  er  neigte  grüßend  leicht  das  Haupt  gegen  di^ 
Vertreter  der  Presse,  eine  Höflichkeit,  die  sich  noch  keiner  der  in  die-i 
sem  Saale  erschienenen  Potentaten  je  hat  zuschulden  kommen  lassen. 
Die  Hofgesellschaft,  gewohnt,  bei  solchen  Festlichkeiten  die  höchsten 
Herrschaften  nicht  aus  dem  Auge  zu  lassen,  wurde  durch  diese  kleine 
Szene  ebenfalls  auf  die  Galerie  aufmerksam  gemacht,  und  so  waren  die 
Zeitungsleute  wenigstens  einen  Augenblick  lang  Gegenstand  eines  Inter- 
esses, das  ihnen  sonst  —  und  nicht  bloß  bei  solchen  Anlässen  -  ver- 
sagt bleibt.«  Was  wohl  die  beiden  Monarchen  einander  gesagt  habet 
mögen?  »Sehen  Sie,  das  dort  ist  der  Löwy!«  »Nicht  möglich,  den  hab 
ich  mir  ganz  anders  vorgestellt!«.  Und  die  Hofgesellschaft  sah  zu,  wi< 
die  Publizistik  zusah,  wie  die  Hofgesellschaft  aß.  Bei  der  Verdauung 
und  den  folgenden  Begebenheiten  sah  die  Publizistik  nicht  mehr  zu  . . 

Herausgeber  und  verantwortlicher  Redakt;ur:  Karl  Kraus. 
rki.i..<k  onn  lahnHa  Ar  «ImtaI    Wipn    HI     Hinter»  TallatniasiraB«  3 


r.  157  Erschionen  am  19.  März  1904  V.  Jahr 


ie  Fackel 


Herausgeber: 

KARL  KRAUS. 


Erscheint  drei-  oder  zweimal  im  Monat. 
Preis  der  einzelnen  Nummer  24  h. 


Nachdruck  und  gewerbsmäßiges  Verleihen  verboten;  gerichtliche  Verfolgung 

törbeftäfft«!!. 


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Verlag  ,L)lti  HACKbL*,  IV.  Schwindgasse  3. 


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mit  seiner  größten  Skala  und  seiner  geteilten 
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allein  die  schwierigsten  Kompositionen  von 
Liszt,  Beethoven  etc.  originalgetreu  zu  spielen.  ^ 
Den  Vortrag  künstlerisch  bis  in  die  kleinsten 
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Nr.  157  WIEN,  19.  MÄRZ  1904  V.  JAHR 


BIN  UNHOLD.  - 

>Des  Himmels  Antlitz  glüht,  ja  diese  Feste, 
Dies  Weltgebäu,  mit  trauerndem  Gesicht, 
Als  nahte  sich  der  jüngste  Tag,  gedenkt 
Trübsinnig  dieser  Tat..  .< 

Johann  Peigl,  Hofrat  und  Vizepräsident  des 
Wiener  Landesgerichts,  hat  als  Vorsitzender  einer 
Schwurgerichtsverhandlung  am  10.  März  1904  einen 
dreiundzwanzigj ährigen  Buben,  der  in  trunkenem  Zu- 
stand eine  Frau  auf  der  Ringstraße  attackiert  und 
ihr  1  K  20  h  zu  entreißen  versucht  hatte,  zu  lebens- 
länglichem schweren  Kerker  verurteilt. 

Das  Datum  wird  aus  der  Geschichte  der  öster- 
reichischen Rechtspflege,  der  raärzgefallenen,  nicht 
mehr  verschwinden.  Wenn  wir  die  Reihe  der 
Sünder  im  Talar  passierten,  die  in  nüchternem 
Zustand  die  leibhaftige  Gerechtigkeit  attackiert,  ver- 
gewaltigt, geschändet  haben,  nur  Einem  konnten 
wir  keinen  Milderungsgrund  zubilligen:  Herrn 
Johann  Peigl.  Er  ist  der  persönlichen  Freiheit 
der  Staatsbürger  am  gefährlichsten  geworden,  er, 
der  einzige,  der  dem  Wahnwitz  jenes  hundert- 
jährigen Gesetzes  buchstäblich  gerecht  ward.  Die 
grauenvollsten  Strafgebote  hat  man,  da  ein  delirantes 
Parlament  die  gesetzgeberische  Arbeit  hindert,  auf 
alle  Art  zu  dämpfen  gesucht.  Oft  wird  dies  ja 
in  verblüffender  Weise  durch  einen  Freispruch  der 
Geschwornen   bewirkt,   der   dem  Freunde  der  Rechts- 


Sicherheit  einen  nicht  gelindern  Schrecken  einflößt, 
als  das  Wüten  des  Paragraphenrichters,  und  auch 
dem  liberalsten  Verteidiger  des  Unfugs  »Volks- 
justiz« zu  denken  gibt.  Aber  hinter  dem  Berufsrichter 
steht  jetzt  eine  von  ihrer  Modernität  begeisterte  Re- 
gierung und  beschwört  ihn  in  allwöchentlichen  Erlässen 
und  Festreden,  nicht  des  unmenschlichen  Gesetzes, 
nein,  seines  humanen  Pühlens  Strafmaße  anzu- 
wenden. Ach,  man  könnte,  wenn  man  diesen  Johann 
Feigl  des  Ministers  Wünsche  in  Tat  umsetzen  sieht, 
beinah  sich  zum  Glauben  bekehren,  die  alte  List 
österreichischer  Staatskunst  sei  auch  hier  am  Werke 
und  »Küsse  auf  den  Lippen,  Schwerter  im  Busen  I« 
der  Wahlspruch  modernster  Justizpohtik.  Und  Karl 
Moor,  der  Räuber,  handelt  ethischer  als  die  Heuchler- 
welt, die  ihn  richten  wird  .  . . 

Hat  Herr  v.  Koerber  den  Mut,  das  Urteil  vom 
10.  März  ungesühnt  zu  lassen?  Wird  man  aus 
plötzlichem  Respekt  vor  einem  Staatsgrundgesetz,  dem 
über  die  richterliche  Unabhängigkeit  und  Unabsetzbar- 
keit,  Herrn  Johann  Feigl  seine  Attacken  auf  Menschen- 
gefühl und  Gerechtigkeit  weiter  verüben  lassen  ?  Weg 
mit  dem  österreichischen  »Justament  not«!  Weg  mit 
dem  törichten  Beamtenhochmut,  der  sich  entgegen  aller 
bessern  Einsicht  nur  deshalb  sträubt,  ein  Übel  zu 
beseitigen,  weil  seine  Beseitigung  auch  in  ein  paar 
»Druckschriften«  verlangt  wurde !  Die  Wiener  Bevöl- 
kerung will  Herrn  Johann  Feigl  nicht,  und  wenn 
ihre  Vertreter  in  Staat,  Land  und  Gemeinde  ihren 
Wünschen  zu  horchen  verständen,  dann  würde  jetzt 
in  einer  Sache,  die  tausendmal  wichtiger  ist  als  der 
ganze  nationale  Trödel,  ein  parlamentarisches  Bom- 
bardement losgehen,  dem  die  Justizverwaltung  nicht 
lange  trotzen  dürfte.  Nicht  der  Räuber  von  der  Ring- 
straße, Herr  Feigl  war  längst  unschädlich  zu  machen. 
Für  jenen  ein,  höchstens  zwei  Jahre  Gefängnis,  für 
diesen  ein  Zivilgericht  —  damit  wäre  der  Gerechtigkeit 
Genüge   geschehen,  der  Wiener  Menschheit   ein  Er- 


starren  des  Blutes  erspart  geblieben.  Wenn  man 
bedenkt,  ein  wie  wertvolles  Gefühl  der  Rechts- 
sicherheit Millionen  durch  die  Kaltstellung  eines 
einzigen  Hofrates  wiedergegeben  werden  kann,  dann 
muß  man  eigentlich  staunen,  daß  eine  auf  populäre 
Wirkungen  bedachte  Regierung  nicht  öfter  die  Ge- 
legenheit nützt.  Der  Papst  hat  der  Unzufriedenheit 
des  kleinen  Klerus  einen  Pürsterzbischof  geopfert: 
kann  der  österreichische  Ministerpräsident  auch  nur 
einen  Augenblick  schwanken,  für  bei  weitem  ernstere 
und  viel  schwerer  verletzte  Interessen  einzutreten? 
Wir  haben  es  satt,  dem  Spiel  mit  Menschen- 
leben und  Menschenwürde  länger  zuzusehen.  Und 
wenn  wir  ihm  —  gemäß  dem  neuesten  Erlaß  zur 
Hebung  des  Ansehens  der  Justiz  —  nicht  mehr  mit 
Opernguckern  zusehen  dürfen,  so  wollen  wir  es  über- 
haupt nicht  mehr  sehen.  Wir  haben  es  satt,  diesen 
Räuschen  des  Blutdurstes  beizuwohnen,  in  die  eine 
nüchterne  Verhöhnung  des  Angeklagten  nach  der 
Schablone  verfällt.  Wir  haben  dies  Walten  einer 
Wiener  Criminalistik  satt,  die  ihren  Namen  nicht 
vom  »crimen«,  sondern  vom  Crirainal  ableitet, 
und  die  sich  in  selbstgefälligem  Stumpfsinn  als  die 
Wissenschaft  vom  »Einspirrn«  definiert.  Wir  haben 
Herrn  Holzinger's  Ende  nicht  vergessen.  Und  wir  er- 
tragen an  dürftigen  Epigonen  nicht,  was  uns  an  der 
stilvollen  Persönlichkeit  eines  großzügigen  Sünders 
entsetzt,  nie  abgestoßen  hat.  Holzinger  war  mehr  als 
ein  österreichischer  Kerkermeister;  jedes  seiner  Urteile 
schien  eine  Schuld  der  Menschheit  zu  rächen.  Eigene 
Rache  befriedigt,  eigener  Bosheit  fröhnt  Herr  Johann 
Peigl.  Ihn  erfüllt  bloß  die  Spielerfreude  seiner 
Machtvollkommenheit,  das  urkräftige  Behagen  an  dem 
Mißverhältnis  zwischen  einem  kleinen  Menschen  und 
einem  großen  Amt.  Er  ist  ganz  und  gar  Shakespeare's 
»winz'ger  Richter«,der  mit  Jo  vis  Himmel  donnern  möchte 
—  »nichts  als  donnern«,  ganz  der  »in  kurze  Majestät 
gekleidete   Mensch«,    der,   sein  gläsern  Element  ver- 


_  4  — 

gessend,  »wie  zorn'ge  Afifen  spielt  solchen  Wahnsinn 
gaukelnd  vor  dem  Himmel,  daß  Engel  weinen,  die, 
gelaunt  wie  wir,  sich  alle  sterblich  lachen  würden*. 
Darum  »weckt  er  die  längst  verjährten  Strafgesetze, 
die  gleich  bestäubter  Wehr  im  Winkel  hingen«, 
darum  höhnt  er  den  Delinquenten,  bevor  sein  Urteil  die 
Gerechtigkeit  höhnt  .  .  .  Ein  norwegischer  Strafrechts- 
gelehrter, der  einmal  in  Wien  einer  Verhandlung  unter 
dem  Präsidium  des  Herrn  Feigl  beigewohnt  hat,  ver- 
sicherte, daß  in  seiner  Heimat  kein  Staatsanwalt  so 
viel  nörgelnde  Gehässigkeit  gegen  den  Angeklagten 
aufbrächte  wie  hier  der  über  den  Parteien  stehende 
Verhandlungsleiter.  Und  der  Wiener  Staatsanwalt 
hat  —  ein  Fall,  der,  soweit  das  Gedächtnis  der  ältesten 
Juristen  reicht,  nicht  vorgekommen  ist  —  zum  Schutze 
des  letzten  Opfers  Peigl'scher  Judikatur  Berufung 
angemeldet.  Ich  weiß  und  bin  in  der  Lage  zu  beweisen, 
wie  Richter  mit  fünf  Sinnen,  wie  hochgestellte 
Funktionäre  über  ,  die  Tätigkeit  Johann  Peigl's 
denken.  Ist  es  wirklich  unumgänglich,  mit  verschränkten 
Armen  auch  vor  der  strafgerichtlichen  Abteilung 
des  österreichischen  Chaos  zu  stehen?  Könntet  Ihr 
hier  nicht  Wandel  wirken,  wo  die  Reform  des  Ge- 
setzes beiweitem  nicht  so  dringend  ist  wie  die  Per- 
sonenfrage ? . . . 

Die  Verurteilung  des  Dreiundzwanzigj ährigen 
bis  zum  Tode,  die  furchtbarer  als  die  zum  Tode  ist,  / 
wollte  man  selbst  Herrn  Peigl's  bewährter  Kerker- 
meisterschaft nicht  glauben.  Nur  genaueste  Lektüre 
des  Verhandlungsberichtes  bietet  die  Möglichkeit, 
dem  Wahnwitz  psychologisch  beizukommen.  Durch 
Jahrzehnte  hatte  Grausamkeit  den  Hohn  abgelöst. 
Aber  sie  war  doch  immerhin  gemildert  durch  den 
starken  Verbrauch  seiner  Natur,  den  eine  lange  Ver- 
handlung Herrn  Feigl  erlaubte.  Das  fühlte  er  selbst: 
ein  gut  Teil  der  Strafe  hat  ein  Angeklagter  über- 
standen, der  eine  Verhandlung  unter  seinem  Vorsitz 
über  sich  hatte  ergehen  lassen  müssen ;  wie  eine  Erlösung 


—  5  — 

wirkte  das  Urteil.  Wie  würde  es,  so  hätte  man  sich 
längst  fragen  können,  wirken,  wie  würde  es  ausfallen, 
wenn  Herrn  Feigl  einmal  die  Gelegenheit  genommen 
wäre,  mit  dem  Angeklagten  wie  die  Katze  mit  der  Maus 
zu  spielen?  Wenn  ihm  ein  Desperado  gegenüberstände, 
der  in  Lebensnot  sein  Selbstbewußtsein  nicht  verloren 
hat,  den  Richter  nicht  als  sein  Schfcksal  betrachtet,  nach 
seinem  Mienenspiel  nicht  ängstlich  forscht,  sich  nicht 
duckt,  dem  Spott  nicht  mit  Erröten,  dem  Schimpf 
mit  Trotz  antwortet?  Herr  Johann  Feigl  hat  seinen 
Meister  gefunden.  »Das  mag  Ihre  Ansicht  sein,  Herr 
Präsident!  Ich  teile  diese  Ansicht  nicht«  —  ruft  ihm 
der  Bursche  zu,  der  wegen  eines  Raubanfalls  vor 
seinem  Richtstuhl  steht.  Einmal,  wieder,  immer  wieder. 
Herr  Feigl  stutzt.  »Man  kommt  nach  Ihrem  Auftreten 
nahezu  auf  den  Gedanken,  •  daß  Sie  unverbesserlich 
sind  .  .  .  .  Ihre  ungehörige  Verantwortung  muß  ich 
rügen«.  Der  Angeklagte  verwahrt  sich  gegen  »die 
spitzen  Redensarten  des  Gerichtshofs«.  Er  kanzelt 
seinen  Verteidiger  herunter  und  hält  selbst  ein 
Plaidoyer,  das  als  ein  hochdeutsches  Sammelsurium 
der  bekanntesten  Verteidigerphrasen,  in  dem  auch 
zum  Schluß  der  Hinweis  auf  die  eigene  psychische 
Minderwertigkeit  nicht  fehlt,  ein  parodistisches 
Meisterstück  genannt  werden  muß.  Mit  Hohn  war 
diesem  Angeklagten  nicht  beizukommen,  diesem 
nicht.  Also  blieb  nichts  übrig,  als  ein  Urteil  zu 
fällen,  das  weithin  wirke  als  Exempel  —  zur  Ver- 
hütung künftiger  Raubanfälle?  Nein,  zur  Verhütung 
unbotmäßigen  Betragens  vor  Gericht.  War  gestern  in 
demselben  Hause  ein  Mann,  der  einem  andern  eip  Messer 
in  den  Bauch  gerannt  hatte,  zu  fünf  Tagen  Arrests 
verurteilt  worden,  hier  mußte  mit  anderm  Strafmaß 
gemessen  werden.  In  diesem  Dreiundzwanzigjährigen 
war  ja  noch  Leben!  Ein  Kerl,  stark  genug,  um  zwei 
Jahre  Gefängnis,  die  er  redlich  verdient  hat,  zu  über- 
tauchen, noch  nicht  vöüig  verkommen,  der  ßesserungs- 
fähigkeit    dringend    verdächtig,    und    möglicherweise 


—  6  — 

imstande,  sich  mit  seinem  Witz  noch  ehrUch  durch's 
Leben  zu  schlagen.  Vor  allem  aber  —  sympathischer 
als  Herr  Johann  Feigl,  der  ja  mit  seiner  Carriere  ab- 
geschlossen hat  und,  wenn  er  aus  dem  Landesgericht 
herauskäme,  nichts  Rechtes  mehr  anzufangen  wüßte  .  .  . 
So  ward  denn  Anton  Kraft  zu  lebenslänglichem 
schweren  Kerker  verurteilt.  »Er  war  allerdings 
auch«,  bemerkt  das  »Deutsche  Volksblatt*  wörtlich, 
»während  der  Verhandlung  ungemein  keck  und  trat 
sogar  dem  Vorsitzenden  Dn  Feigl  entgegen,  wo  er 
nur  konnte« .  .  .  Am  10.  März  1904  wurde  in  Wien 
lebenslänglicher  schwerer  Kerker  wegen  frechen 
Benehmens  im  Gerichtssaal  diktiert  I  .  .  . 

Wird  Herrn  Johann  Feigl  nicht  bang?  Es  soll 
irgendwo  im  Paragraphendickicht  eine  Möglichkeit 
verborgen  sein,  aus  der  sich  die  Verhängung  der 
grauenvollsten  Pein  für  den  Trunkenheitsexzeß  des 
Minderjährigen,  der  keinen  Heller  erbeutet  hat, 
formell  rechtfertigen  läßt,  ein  Paragraph,  den  Herr 
Feigl  bei  einigem  guten  Willen  »anwenden«  konnte. 
Wenn  Herr  Feigl  einst  sein  tatenreiches  Leben  endet, 
das  etwa  zehntausend  Jahre,  die  andere  im  Kerker 
verbrachten,  umfaßt  hat,  so  mag  sich  ihm  in  schwer- 
ster Stunde,  vor  der  Entscheidung  einer  höhern 
Instanz,  seiner  schwersten  Sünde  Beichtbekenntnis 
entringen:  »Ich  habe  mein  ganzes  Leben  hindurch 
das  österreichische  Strafgesetz  angewendet  . . .« 


Per  österreichische  Staat  ist  ein  Simandl  in 
seinem  Verhältnis  zur  Nordbahn.  Das  ist  von  den 
Privatbahnen  die  weitaus  frechste.  Auf  jede  Art 
läßt  sie  den  wehrlosen  Gichtkrüppel  ihre  Tücke 
fühlen.  Von  einer  Kontrolle  ihres  Haushalts  ist  längst 
keine  Rede  mehr,  aber  wie  um  zum  wirtschaftlichen 


—  7  — 


Sohaden  noch  den  Spott  zu  fügen,  versagt  sie 
neuesten«  auch  die  natürlichsten  Gefälligkeiten,  zu  denen 
eheliche  Gemeinschaft  verpflichtet.  Die  österreichi- 
schen Privatbahnen  haben,  wie  man  weiß,  von  alters- 
her  ein  System  der  Preikartenkorruption  eingeführt, 
das  den  löbHchen  Zweck  hat,  die  publizistische  und 
parlamentarische  Aufsicht  von  etwa  vorkommenden 
mörderischen  Schlampereien  abzulenken.  Die  Zu- 
weisung von  Erste  Klasse-Biltets  an  Journalisten,  von 
Separatcoup^s  an  Abgeordnete  hat  sich  als  eine 
österreichische  Selbstverständlichkeit  eingebürgert,  der 
füglich  auch  durch  die  Einführung  der  Pahrkarten- 
steuer  kein  Abbruch  geschehen  durfte.  Dagegen  haben 
die  Privatbahnen  in  ihrer  unerforschlichen  Prechheit 
die  Einführung  dieser  Steuer  als  Vorwand  benützt, 
um  den  Staatsbeamten,  die  einen  vernünftigen  An- 
spruch auf  Äihrpreiserraäßigung  haben,  den  gewohn- 
ten Bezug  der  verbilligten  Karten  zu  erschweren. 
Die  Nordbahn  war  resoluter  als  die  anderen.  Sie  hat 
den  Staatsbeamten  —  mit  Ausnahme  der  poli- 
tischen Beamten  —  die  Ermäßigung  einfach  ent- 
zogen. Die  Beamten  politischer  Ressorts  können  auf 
der  Nordbahn  so  billig  reisen  wie  früher.  Damit 
ist  Pflicht  zur  Gunst  geworden,  und  die  Nordbahn 
hat  ihr  Bestreben  enthüllt,  auch  die  Staatsbeamten 
an  die  Kette  der  Korruption  zu  legen.  Nun  könnte 
ja  manch  ein  naiver  Professor  einer  Provinzuniversität, 
in  dessen  Budget  die  Entziehung  der  Fahrpreiser- 
mäßigung eine  beträchtliche  Rolle  spielt,  das  Be- 
dürfnis verspüren,  Parlament  und  Presse  gegen  das 
Unrecht,  das  ihm  und  anderen  Staatsbeamten  widerfährt, 
anzurufen.  Er  fände  verschlossene  Türen.  Wenn  man  sie 
öffnet,  gelangt  man  in  Separatcoup^s  erster  Klasse . . . 

«        « 
• 

Per  bevorstehenden  Spiritus- Ausstellung,  die  zu 
den  guten  Einfällen  unserer  an  Eingebungen  nicht 
allzu  reichen  Regierung  gehört,  kami  der  Agitations- 


—  8  — 

eifer  des  Herrn  Sektionschefs  Exner  nicht  gerade 
förderlich  sein.  Der  Mann  spielt  sich  als  ihren  Spiritus 
familiaris  auf.  In  Berlin,  in  den  Gewerbevereinen  von 
Wien  und  Brunn  hält  er  Vorträ<>e,  in  der  ,Neuen  Freien 
Presse*  veröflFentlicht  er  Feuilletons  über  die  wirt- 
schaftliche Bedeutung  der  Spiritusverwertung.  Der- 
gleichen trieft  natürlich  von  Wissenschaft,  es  flimmert  nur 
so  von  »Kraft,  Licht  und  Wärme«,  und  die  »Fach- 
männer« lauschen  und  lesen  in  atemloser  Spannung. 
So  wird  uns  wenigstens  in  spaltenlangen  Reklame- 
berichten versichert.  Wenn  nur  Herrn  Exner  nicht 
wieder  etwas  Menschliches  passiert,  wie  damals,  als 
er  noch  Hofrat  und  schon  Gschaftlhuber  war!  Es 
war  hier,  wenn  ich  nicht  irre,  bereits  einmal  von  jener 
Verwahrung  die  Rede,  zu  der  sich  wissenschaftliche 
Namensvettern  des  Herrn  Professors  Wilhelm  Exner 
gedrängt  fühlten.  Ich  bin  heute  in  der  Lage,^hren  Wort- 
laut zu  veröffentlichen.  In  dem  Mittagblatt  der  .Wiener 
Allgemeinen  Zeitung'  vom  21.  November  1885  las 
man  die  folgende  Kundgebung,  die  damals  Aufsehen 
erregte,  aber  Herrn  Exner  in  seinem  Fortkommen 
nicht  geschadet  hat: 

In  Nummer  8  der  »Neuen  Illustrierten  Zeitung'  vom  15.  No- 
vember 1885  findet  sich  eine  »Abhandlung«  unter  dem  Titel:  »Kraft 
und  Leistung«.  Da  der  Inhalt  derselben  gegen  allbekannte  Grund- 
begriffe der  Mechanik  gröblich  verstößt,  der  Aufsatz  aber  mit  dem 
Namen  »Professor  W.  F.  Exner«  als  Verfasser  bezeichnet  ist,  finden 
sich  die  Unterzeichneten  gleichen  Namens,  die  sämtlich  Professoren 
der  Naturwissenschaften  in  Wien  sind,  um  Verwechslungen 
vorzubeugen,  genötigt,  für  ihre  Person  die  Autorschaft  obiger 
»Abhandlung«  öffentlich  abzulehnen. 

Dr.  K.  F.  Exner, 

Professor   der   Physik  und  Mathematik   am  k.  k.  Staats-Gymnasium  im 

neunten  Bezirke; 

Dr.  S.  Exner, 

Professor  der  Physiologie  an  der  k.  k.  Universität; 

Dr.  F.  E X n e r, 

Professor  der  Physik  an  der  k.  k.  Universität. 


—  9  — 

Nun,  in  Brunn  waren,  wie  mir  ein  Mitarbeiter 
verrät,  die  oratorischen  Blüten  schon  recht  bedenk- 
lich. »Die  Anbaufläche  für  Kartoffeln  ist  unendlich 
größer  als  die  vorhandenen  und  etwa  noch  zu 
entdeckenden  Kohlen-  und  Petroleumgruben.  Die 
Menschheit  ist  demnach  in  der  Lage,  in  fast  unbe- 
schränkter Quantität  Spiritus  zu  produzieren,  um  das 
Bedürfnis  an  Energie  zur  Erzeugung  von  Wärme, 
Licht  und  Kraft  zu  befriedigen  . . .  (Minutenlanger,  leb- 
hafter Beifall).«  Wenn  aber  einmal  die  Anbaufläche  der 
Erde  zum  Kartoffelbau  benützt  und  aus  allen  diesen 
gigantischen  Kartoffelmengen  die  fast  unbeschränkte 
Quantität  Spiritus  produziert  werden  sollte,  würde 
man  sich  wahrscheinlich  gezwungen  sehen,  das  Ge- 
treide aus  den  vorhandenen  und  etwa  noch  zu  ent- 
deckenden Kohlen-  und  Petroleumgruben  zu  schöpfen. 
Müßige  Statistiker  haben  überdies  schon  berechnet, 
in  welcher  Zeit  die  Anbauflächen  der  Erde  für  den 
Brotbedarf  nicht  mehr  zureichen  werden.  Wenn  nun 
Sektionschef  Exner  uns  auch  noch  diese  Flächen 
schmälert,  so  ist  zu  erkennen,  daß  die  Menschheit 
umso  schneller,  allerdings  festlich  beleuchtet  vom 
Spiritus,  dem  Hungerelend  verfallen  muß  .  .  ,  Zur 
Beruhigung  kann  man  aber  annehmen,  daß  unsere 
Nachfolger  vernünftig  genug  sein  werden,  statt  Spiritus, 
Kartoffelpüree  zu  bereiten. 


In  dem  Gewimmel  schwärzlicher  Schmöcke,  das  bei  Premieren 
den  Mittelgang  unserer  Theater  versperrt,  fiel  mir  schon  lange  eine 
Dame  auf.  Ich  sah  sofort,  daß  sie  Rosenbaum  heißt,  aber  ich  erfuhr, 
daß  sie  sich  »Kory  Towska«  nenne.  Die  liebe  Presse,  deren  Prosa- 
humor schon  wie  eine  Krätze  des  Geistes  empfunden  wird,  belästigte 
-  uns  von  Zeit  zu  Zeit  mit  »Epigrammen  aus  weiblicher  Feder«,  in  denen 
sich  eine  erhebliche  Wertlosigkeit  des  Gedankens  mit  einer  auffallenden 
Trostlosigkeit  der  Form  paarte.  »Kory  Towska<  waren  sie  gezeichnet. 


-  16  - 

Wer  verbarg  sich  hinter  diesem  Pseudonym  und  hätte  Orufld,  sich 
zu  verbergen?  Wir  hörten  es  immer  wieder:  eine  »Frau  von  Geist«. 
Aber  da  sie  auch  die  Frau  von  Rosenbaum  ist,  die  Gattin  des  Burg- 
theaterlektors, so  umstand  sie  der  Schmöcke  schwärzHches  Gewimmel 
bei  den  Premieren,  schützte  sie  die  Phalanx  jenör  Kunstrichter,  deren 
oberste  kritische  Raison  lautet:  »Man  kann  nicht  wissen  —!«...  Eine 
Witzboldin!  Ich  kann  mir  an  und  für  sich  nichts  Unerfreulicheres 
denken.  Nichts,  was  der  Vorstellung  von  weiblicher  Anmut  mehr 
zuwiderliefe.  Wenn  man  hört,  daß  eine  Frau  die  Passion  hat,  zu 
»geißeln«,  so  ist  der  Gedanke  noch  immer  natürlicher,  daß  sie  eine 
Sadistin  ist.  Aber  eine  Satirikerin?  Brrr  .  .  .  Satirische  Nadelstiche 
sind  kdne  weibliche  Handarbeit.  In  welch  ein  Jammertal  würde  diese 
Welt  verwandelt,  wenn  die  Frauen  anfingen,  statt  lyrisch  »epigram- 
matisch« zu  denken,  wenn  Herz  sich  nicht  mehr  auf  Schmerz,  sondern 
auf  Scherz  reimte  und  Liebes-Leid  und  Lust  sich  auf  ihren  Höhepunkten 
in  einem  Kalauer  auslösten !  Otto  Weininger  hat  die  Blütezeit  Kory 
Towska's  nicht  hi6hr  erlebt.  Er  hätte  zugegeben,  daß  sie  80%  »M« 
enthalte,  aber  von  dem  Masculinum  »Sternberg«.  Ich  könnte  mir  nicht 
einmal  denken,  daß  eine  Ballreporterin  in  der  ewigen  Umgebung 
ihrer  männlichen  Kollegen  den  Itzig-Witzig-Stil  erlernt,  der  Kory 
Towska's  Epigrammen  eignet,  oder  den  Knofel-  und  Pofelwitz,  von 
dem  ihr  Lustspiel  »Michael  Kohlhaas«  duftet,  das  neulich  mit  ver- 
heerender Wirkung  über  die  Volkstheater-Besucher  niedergegangen 
ist.  Eine  frechere  Zumutung  hat  sich  eine  dem  Cüquengebot  will- 
fährige Direktion  seit  Jahren  nicht  geleistet,  und  keine  schamlosere 
Fälschung  eines  Durchfalls  die  liberale  Preßclique.  Das  Publikum 
war  weniger  »galant«  als  die  Ladenschwengel  der  öffentlichen 
Meinung  und  rehabilitierte  das  Geschlecht,  da  es  den  weiblichen 
Witzbold  anzischte.  Ein  seltsamer  Theaterabend:  Unter  den  Aus- 
brüchen der  Empörung  des  Publikums  wurden  der  Dame  nach 
jedem  Aktschluß  mit  Blumen  gefüllte  Papierkörbe  auf  die  Bühne 
gereicht.  Ein  Literaturprofessor  im  Stücke  heißt  »Meibauer«,  damit 
er  in  einer  Prozeßsache  »Meineidbauer«  genannt  werden  könne, 
ein  anderer  hat  eine  Abhandlung  »über  den  Einfluß  von  Goethe's 
, Faust'  auf  Shakespeare's  , Hamlet'«  geschrieben,  ein  weiblicher 
Michael  Kohlhaas  wird  »Kohlhäsin«  genannt,  und  ein  Herr,  der 
drei  weinende  Frauen  vor  sich  sieht,  fragt,  ob  er  in  eine  »Wein- 
stube« geraten  sei.    In  der   befreundeten  Presse   wurde  tagsdarauf 


11 


von  *Gedankenreichtum€,  >sarkastischeni  Geist«,  >ironischer  Heiter- 
keit des  Dialogs«,  >Charme  und  Leichtigkeit«,  »geistiger  Gewandt- 
heit<,  »charakteristischen  Details«,  »geschickter  Beobachtung«  ge- 
sprochen. Und  von  einem  »amüsanten  Gerichtsakt«  ward  erzählt, 
»in  welchem  die  spottlustige  Verfasserin  der  Themis  eine  Nase 
drehte«.  Es  war  sichtlich  eine  Nase,  die  der  Verkürzung  durch 
Herrn  Professor  Gersuny  harrt.  Herr  Lothar  aber,  der  den  Duich- 
fall  zugab,  weil  er  aus  eigener  Erfahrung  weiß,  wie  wenig  ^s 
Vertuschen  nützt,  schrieb  wörtlich:  »Das  Publjkjum  des  Deutscljen 
Volkstheaters  war  diesmal  sehr  hart.  Ungewöhnlich  hart.  Es 
behandelte  ein  harmloses  deutsches  Lustspiel  mit  einer  Strenge, 
die  eine  schlimmere  Sache  verdient  hätte.«  Und  nachdem  er  einen 
»guten  und  lustigen  Dialog«,  »allerliebste,  echte  Lustspielszenen« 
und  »eine  Fülle  hübscher  Einfälle  und  lustiger  Wendungen«  kon- 
statiert und  Kory  Towska  eine  Frau  von  Geist  genannt  hat, 
tadelt  er  Hugo  v.  Hofmannsthal's  »uferlose,  verschwommene  Poesie, 
der  man  auf  der  Bühne  nicht  folgen  kann«.  Ich  hatte  mir  die  Frau 
Towska  immer  als  einen  weiblichen  Lothar  vorgestellt;  und  nun 
sehe  ich,  wie  sehr  ich  sie  unterschätzte:  Herr  Lothar  beneidet  sie 
um  ihren  Humor.  Oder  trägt  er  selbst  ein  »deutsches«  Lustspiel 
unter  dem  Herzen,  dem  er  in  der  Burgtheaterkanzlei  liebevolle 
Aufnahme  sichern  will?  Herr  Rosenbaum,  der  Lektor  und  Gatte, 
sah  dem  Unfug  von  einer  Loge  zu  .  . .  In  einer  andern  Ehe  wäre 
»Michael  Kohlhaas«  ein  Scheidungsgrund  und  somit  eine  Angelegen- 
heit des  Familienlebens.  Herr  Rosenbaum  wollte  den  artistischen 
Geschmack,  von  dem  das  Burgtheater  geleitet  wird,  demonstrieren 
und  gestattete  die  Aufführung  des  deutschen  Lustspiels.  Jetzt  ist  es 
zur  öffentlichen  Sache  geworden  und  somit  zum  Scheidungsgrund 
vom  Dramaturgenposten  des  Bargtheaters. 


l 


12 


Otto  Welninger's  »Geschlecht  und  Charakter«. 

Von  Karl  Bleibtren.  1 

Der   jugendliche    Philosoph    hat    bekanntlich    nach  ' 
Erscheinen  seines  ungewöhnlichen  Werkes  Selbstmord  ver- 
übt. Er  wählte  den  Tod,  weil  er  das  von  ihm  so  tödlich 
gehaßte  Antimoralische  in  sich  selber  Übermächtig   fühlte 
und  angeblich  nicht  zum  Verbrecher  werden   wollte.   Für 
jeden    auf   nüchterne    Exaktheit    des  »Normalen«    Einge- 
schworenen verrät  dies  natürlich  krankhaften  Gehirnzustand 
und  wäre  ein  neuer  Beweis,  wie   nahe   das  Pathologische  I 
oft  dem  Genialischen  liegt.  Wer  jedoch  tieferen  theosophisch- 
okkulten    Einsichten    zuneigt,   wird   in     dieser    scheinbar  ö 
phantastischen    Überzeugung   des  jungen    Denkers  gerade  | 
eine    geniale    Erkenntnis    bewundern,    die    freilich    seine  I 
eigene  Theorie  einer  angeblichen  Willensfreiheit  gründlich 
widerlegt.  Wenn  ein    so    mächtiger   Wille   und    Intellekt 
wie   derjenige   Weininger's   sich    gegenüber    dem  inneren 
Dämon    ohnmächtig   fühlte,    so    hat    der   Determinismus 
hier  wieder  einmal  sein  Spiel  gewonnen.  Wenn  verschiedene 
Theosophen  noch    mit  Willensfreiheit   operieren,  so    zeigt 
dies    ihre    schwere    denkerische    Verworrenheit    oder    ein 
naives    Mißverstehen    der   transcendentalen    Freiheit    (des  j 
trän scen dentalen  Ego),  die  mit   der   völligen    empirischen 
Unfreiheit    alles    WoUens    und     Handelns    im    irdischen 
Körperleben  gar  nichts  gemein  hat.  Doch   wir  wollen  uns'f 
hier  nicht  in   solch    okkulte    Gebiete    verlieren    und    nur' 
andeuten,  daß    der    Selbstmord    auch    vom   theosophisch- 
buddhistischen  Sehwinkel    aus    als    eine   Torheit   getadeltf 
werden  muß.  Der  Selbstmörder  vernichtet  willkürlich  den! 
Schein,  ohne  das  ihn  quälende  individuelle  Sein    antasten  t 
zu  können,    das    unverändert   fortbesteht.    Er    lehnt    sich! 
gegen  sein  Karma  auf,  weil  es  ihm  eine  unbequeme  Phase  t 
der    Wiedergeburt    bereitet,    obschon    dies     nur  streng-* 
gerechte    Folge    seiner    eigenen    früheren    Präexistenzen.  \ 
Damit  erreicht  er  gar  nichts,  als  erneutes  Durchlaufen  der  1 
gleichen    Phase    in  späterer   Wiedergeburt.    Es    ist   dem  ^ 
Individuum  nicht  gegeben,   das    Netz   der    Kausalität    zu.j 
sprengen.  Solche  Ungeduld  beleidigt  die  ewige  Logik.  Des-  j 


—  13 


halb  bedarf  das  wahre  Genie  nicht  so  stürmischer 
Unsterblichkeitsprobe,  weil  es  sein  Jenseits  immer  bei 
sich  hat  und  sein  Unsterbliches  zu  jeder  Stunde  fühlt. 
Immerhin  darf  ein  solches  Motiv  ethischer  Verzweif- 
lung nicht  mit  jener  gemeinen  materiellen  Verzweif- 
lung verwechselt  werden,  welche  fast  alle  Selbstmorde 
veranlaßt,  mit  der  feigschwächlichen  Wut  über  persönliche 
mißliche  Lebensumstände  und  rein  egoistisch  empfundene 
Leiden.  Der  Buddhismus  gestattet  nur  die  Selbstver- 
nichtung als  Opfertod  aus  ideellen  Motiven  z.  B.  zui 
Rettung  Anderer,  aber  die  »Herren  des  Karma«,  um 
theosophisch  zu  reden ,  dürften  auch  dem  eigentümlichen 
Entschluß  des  genialen  Jünglings,  lieber  den  Tod  als  das 
Versinken  ins  Böse  zu  wählen,  mildernde  Umstände  zu- 
billigen. Auch  mag  dabei  unheilbarer  Lebensekel  mit- 
gewirkt haben.  Philosophische  Gewißheit  der  Unsterblichkeit 
jeder  Seelenmonade  kann  dazu  verführen,  lieber  sofort  das 
unbekannte  Land  jenseits  der  Bewußtseinsschwelle  aufzu- 
suchen, als  sich  länger  in  unsrer  Niedrigkeit  und  Klein- 
lichkeit herumzuschlagen.  Indem  wir  also  tief  beklagen, 
daß  so  seltene  Frühreife,  die  eine  Fortspinnung  von  Kant 
und  Giordano  erwarten  ließ,  sich  uns  so  früh  entziehen 
mußte,  erachten  wii-  dies  Müssen  als  symbolisch,  gleich- 
sam als  höhnische  Absage  an  unser  Zeitalter:  Alles, 
was  großgeartet,  trachte  von  ihm  wegzukommen !  Otto 
Weininger  —  ein  Name,  der  bleiben  soll  —  mußte 
sich  erschießen,  um  dem  Modernen  aus  dem  Wege  zu 
gehen.  Andere,  stärker  als  er,  haben  freilich  die  Kraft,  es 
zu  ertragen. 

Nun  wohl,  er  wollte  nicht,  und  gehört  jetzt  der 
Ewigkeit  an,  in  deren  Vorstellung  er  webte.  Uns  bleibt 
nur  die  Pflicht,  seine  geistige  Hinterlassenschaft  zu  prüfen. 
Auf  der  höheren  Daseinsebene,  die  er  so  brünstig  suchte, 
aus  einem  Leben  ins  andere  hinüberstürzend,  empfing  ihn 
der  Daseinsbegriff  in  seiner  jetzigen  Existenz  jenseits 
irdischer  Bewußtseinsschwelle  gewiß  mit  gleicher  Strenge. 
Wahrscheinlich  fügte  aber  sein  unerträglich  scheinendes 
Leid,  das   zur   Fahnenflucht  vor    dem    irdischen    Lebens- 


157 


14 


kämpfe  trieb,  ihrp  neue  Krgft  hinzu,  wie  sie  eben  duich 
jedes  große  Leid  innerlich  zuwächst,  um  so  den  Mut  { 
zum  ewigen  Leben  zu  erhöhen.  Wenn  er  behauptet:  »Der 
Mensch  ist  allein  im  All  in  ewiger  Einsamkeit.  Nicht  die 
Sinnlosigkeit  einer  Welt  von  ungefähr  ist  ihm  Pflicht, 
sondern  seine  Pflicht  ist  ihm  der  Sinn  des  Alls«,  so 
täuscht  er  sich  wohl  über  diesen  Sinn  und  das  Problem 
der  Einsamkeit.  Unendlichkeit  ist  nicht  Einsamkeit,  und 
aus  der  Ich-Einsamkeit  in  die  All-Gemeinsamkeit  aufzu- 
gehen scheint  gerade  der  Sinn  der  Allordnung.  Obsehon 
er  sich  über  den  positiven  Unsinn  des  Positivismus  so 
hoch  erhob,  hätte  esoterischer  Buddhismus  ihn  wohl  der 
Lösung  nähergebracht. 

Festgefügtes  System  wird  man  in  »Geschlecht  und 
Charakter«  füglich  weniger  finden,  als  den  Ausdruck  allge- 
meiner heroischer  Weltanschauung  und  bedeutender  Per- 
sönlichkeit. Beim  gedruckten  Nachlaß,  das  Hauptwerk 
ergänzend,  wird  man  die  Empfindung  nicht  los,  daß 
jonglierendes  Franzosentum  des  Geistes,  wie  der  Pole 
Nietzsche  es  für  deutsch  ausgab,  auch  Weininger  ansteckte. 
Seine  Parerga  und  Paralipomena  enthalten  oft  recht 
gequälte  und  erkünstelte  Einfälle,  einen  aphoristisch 
irrlichtein  den  Orgiasmus  schrullenhaft  manirierter  Begriffs- 
sprünge. Der  höchst  geistvolle  Aufsatz  über  Ibsen's  »Peer 
Gynt«,  reich  an  eigenwüchsigen  Gedankenbildern,  ähnelt 
den  bekannten  Kommentaren  über  Faust  IL  Teil,  wo 
jeder  die  Sphinx  reden  läßt,  wie  ihm  der  Schnabel  ge- 
wachsen, und  hineingebeimnißt,  was  ihm  beliebt.  Auch 
das  Hauptwerk  leidet  an  systemloser  Mischung  streng 
fachlicher  Philosophie  mit  sozusagen  feuilletonistischer  Vor- 
tragsweise. Die  besten  und  tiefsten  Kapitel  des  gewaltigen 
Buches  haben  mit  dem  angeschlagenen  Thema  fast  nichts 
zu  schaffen,  und  jeder  nicht  fachphilosophisch  gebildete 
Leser  wird  sie  vermutlich  überschlagen.  Wir  meinen  z.  B. 
den  glanzvollen  Abschnitt  »Logik,  Ethik  und  das  Ich«, 
worin  er  mit  einem  mir  unmittelbar  verwandten  Ideen- 
gange die  Ethik  aus  der  Logik  ableitet.  Den  Erfolg  des 
aufsehenerregenden    Werkes    machte    natürlich    nur    der 


—  15  - 


grundlegende  sexuale  Inhalt  aus,  der  freilich  in  «inigeii 
Hauptpunkten  unanfechtbar  bleibt,  dessen  matilose  Über- 
treibung jedoch  des  Autors  Jugendlichkeit  verrät. 

Sobald  ein  Mann  grimmig  gegen  die  Frauen  zetert, 
weiß  der  Psychologe,  daß  er  einen  Erotiker  und  halben 
Masochisten  vor  sieh  hat.  Nur  wen  das  Sexuale  ganz 
beheiTScht,  über  den  hat  das  Weib  Gewalt,  nur  er  wird 
aus  mitleidiger  Verachtung  der  »Weiber«  gleich  wüsten 
Haß  gegen  das  Weib-an-sich  schöpfen.  Derlei  erinnert 
immer  an  den  Briten,  der  angesichts  eines  rothaarigen 
Kellners  dekretierte:  alle  Deutschen  sind  rothaarig.  Daß 
Weininger  sich  gegen  den  albertien  und  verlogenen  Kultus 
des  Ewigweiblichen  wendet,  bleibt  sein  Verdienst,  und 
hier  dürfte  er  mannigfach  klärend  gewirkt  haben.  Aber 
gerade  daß  er  —  wenngleich  nicht  neu,  weil  schon  von  Plato 
sattsam  angedeutet  —  zahllose  Zwischenstufen  zwischen 
Ganz -Mann  und  Ganz -Weib  nachweist,  hebt  zahllose 
Frauen  aus  seinem  Verdammungsurteil  heraus,  das  doch 
nur  dem  Ganz-Weibe  gelten  könnte.  Auch  entgingen  ihm 
zwei  Eätselfragen.  Erstens:  daß  im  Tierreich  keinerlei 
geistige  und  sittliche  Differenzierung  zwischen  Männchen 
und  Weibchen  waltet  oder  vielmehr  eher  eine  zu  Gunsten  des 
Weibchens,  wie  denn  der  soziale  Altruismus  des  Ameisen- 
und  Bienenstaats  auf  dem  Ewigweibliclien  beruht.  Zweitens: 
da  des  Menschen  Urerscheinung  hermaphroditisch  angelegt, 
wovon  bei  beiden  Geschlechtern  noch  Kudimente  vor- 
handen, und  da  ferner  der  Embryo  anfangs  keine  Geschlechts- 
differenzierung vermuten  läßt ,  —  woher  dann  plötzliches 
Hervorgehen  zweier  angeblich  heterogener  Wesen  aus  dem 
gleichen  weiblichen  Gebärteil  ?  Scheint  nicht  diese  Dif- 
ferenz erst  durchs  Dasein  selber  sich  herauszubilden,  je 
tiefer  das  Weib  in  seinen  Sexualberuf  einsinkt  und  je 
höher  der  Mann  als  Geisteskärapfer  davon  abrückt?  Wohl 
hat  Weininger  Recht:  »Was  für  seichte  Psychologen  die 
Materialisten  und  Empiristen  sind ,  kann  man  abermals 
hieraus  entnehmen,  daß  gerade  aus  ihren  Kreisen  die 
Männer  gekommen  sind,  welche  für  die  ursprünglich  ange- 
borene   psychologische    Gleichheit    zwischen    Mann    und 


16 


Weib  eintreten.«  Die  Ungleichheit  als  solche  besteht,  wie 
sie  eben  aus  des  Weibes  Sexualität  notwendig  folgert. 
Aber  orakelt  Weininger  nicht  selbst  das  tiefe  Wort  der 
Menschenkunde:  »Der  Fluch,  den  wir  auf  dem  Weibe 
lastend  ahnten,  ist  der  böse  Wille  des  Mannes«,  »daß  das 
Weib  da  ist,  heißt  also  nichts,  als  daß  vom  Manne  die 
Geschlechtlichkeit  bejaht  wurde«?  Erbringt  ferner  Juden- 
tum und  Femininum  in  unmittelbare  Verbindung,  beide 
als  Verkuppler  der  Menschheit  ans  Philiströse,  Antiideale. 
Wir  pflichten  ihm  bei,  daß  Judentum  weniger 
Eassenfrage  als  Geistesrichtung,  daher  verjudete 
Arier  jüdischer  seien  als  Juden,  die  sich  innerlich  vom 
Jüdischen  lossagten.  »Es  ist  die  welthistorische  Bedeutung 
des  Judentums,  den  Arier  zum  Bewußtsein  seines  Selbst  ;■ 
zu  bringen«,  daß  er  sich  hüte  »vor  dem  Judentum  als  {\ 
Möglichkeit  in  ihm  selber«.  i 

Des  jungen  Denkers  Edelsinn  verlangt  trotz  seiner 
Ablehnung  des  Ewigweiblichen  gleiche  Rechte  für  Mann 
und  Frau,  da  das  Problem  der  Sklaverei  unsittlich  sei. 
Ganz  recht,  es  schädigt  so  die  Ethik  des  Mannes  mit,  und 
Hebung  der  Männerwelt  kann  nur  durch  Erlösung  des 
Weibes  vom  Bann  ausschließlicher  Sexualität  erfolgen. 
Vergißt  Weininger  nicht  den  seltsamen  Fingerzeig  der  Natur, 
daß  jedes  Talent  der  Söhne  von  ihrer  Mütter  Intellektu- 
alität  sich  übertrug?  Er  mißt  das  Weib  immer  nur  an 
den  höchsten  Möglichkeiten  des  Mannes.  Für  die  angeb- 
liche Undenkbarkeit  eines  weiblichen  Genies  hat  unser 
feminines  Jahrhundert  schon  dies  Problem  gelöst:  im 
Lebenswerk  der  Helena  Petrowna  Blavatzky,  eines  Mahatma 
(Übermenschen)  in  weiblicher  Hülle. 

Gewiß,  das  Durchschnittsweib  ist  oft  ein  kläglich 
kleinliches  Geschöpf,  mitunter  eine  nichtsnutzige  Schmeiß- 
fliege. Doch  steht  der  Durchschnittsmann  wirklich  so  viel 
höher, um  Weininger's  wahnsinniges Diktum  zu  rechtfertigen: 
Der  tiefststehende  Mann  sei  mehr  wert  als  die  höchst- 
stehende Frau?  Die  plumpe  Galanterie  »Das  Ewigweibliche 
zieht  uns  hinan«  ward  wohl  nur  von  einfältigen  Gänsen 
ie    ernstgenommen.     Doch    der  Legende   von  ätherischer 


—  17  — 

Sittlichkeit  der  Frau  steht  gar  manche  abföllige  Legende 
über  ihre  angebliche  Geistlosigkeit  gegenüber.  Hiezu  rech- 
nen wir  das  gang  und  gäbe  Axiom,  die  Frau  sei  unfähig 
zur  Objektivität.  Nun  haben  zwar  J.  St.  Mill  und  Herbert 
Spencer,  was  Weininger  zu  zitieren  vergißt,  sich  in  ihrer 
Frauen rechtlerei  bis  zu  dem  Ausruf  gelegentlich  verstiegen, 
die  Frau  denke  sogar  objektiver  als  der  Mann.  Aber  selbst 
in  dieser  Hyperbel,  die  wir  ablehnen,  steckt  ein  Körnchen 
Wahrheit.  ÜUvSere  eigene  Beobachtung  drängt  uns  zu  der 
Ansicht,  daß  die  Frauen  tatsächlich  eigentümliche  Objek- 
tivität besitzen,  nur  anders  als  der  Mann.  Beim  Über- 
wiegen der  sensitiven  über  die  intellektuale  Sphäre  versteht 
die  Frau  sozusagen  mit  dem  Gemüte,  statt  mit  dem  Ver- 
stände. Oft  urteilt  sie  weit  verständnisvoller  über  Abson- 
derliches als  der  Durchschnittsphilister,  oft  gilt  nur  für 
sie  das  populäre  Wort:  Das  Herz  auf  dem  rechten  Fleck. 
Objektives  Interesse  für  fernliegende  Dinge  trifft  man  unter 
Umständen  eher  bei  Frauen  als  bei  Männern.  Um  ein 
beliebiges  Beispiel  zu  wählen:  Würde  je  ein  Mann  ein 
Buch  über  weibliche  Handarbeiten  lesen?  Nein,  wohl  aber 
lesen  Frauen  mit  lebhaftem  Vergnügen  Bücher  über  mili- 
tärische Vorgänge,  die  doch  von  ihrem  Empfindungskreis 
ausgeschlossen  sein  sollten.  Und  endlich:  wenn  eine  Frau 
geistreich  erörterte,  alle  Männer  seien  Kanaillen  und 
Dummköpfe,  so  würde  sie  verhöhnt,  verleumdet,  verfolgt 
werden.  Dein  Buch  aber,  o  lieber  Spirit  Weininger,  lesen 
kluge  Frauen  mit  Beifall,  beklagen  die  ungerechte  Ver- 
bitterung, schütteln  den  Kopf  über  verrückte  Ausfälle, 
doch  verkennen  nicht  vielfache  Wahrheiten  und  edles 
Streben.  Die  berühmte  Subjektivität  der  Frau  kehrt  sich 
also  nur  dann  heraus,  wenn  ihre  persönlichste  Selbstsucht 
erregt  wird.  Und  wer  wüßte  nicht,  wie  in  solchem  Falle 
wir  Männer  zu  handeln  und  zu  denken  pflegen  —  kolossal 
objektiv,  nicht  wahr?  .  .  . 

Zuletzt  stellt  der  junge  Denker  die  sittliche  Forde- 
rung absoluter  Keuschheit  auf,  als  metaphysischer  Unsterb- 
lichkeitsgläubiger allerdings  logischer  als  Tolstoi,  der 
keine  entschiedene  Stellung  zum  »Jenseits«  nimmt.  Ohne 


-  IS 


solchen  Glaulyen,  der  völlige  Vergeistigung  und  Eotkör- 
perung  des  Menschen  in  Aussicht  stellt  und  hiefflr  giößt- 
m^gliche  ünbeflecktheit  mit  Materiellem  voraussetzt,  tväre 
Selbstkasteiung  umso  sinnloser,  als  Keuschheit  an  und  für 
sich  noch  gar  keine  sittliche  und  geistige  Erhöhung  ge- 
währleistet. Hier  entsteht  ein  Dilemm'a  wie  bei  jeder 
Askese.  Geschieht  es  nämlich  in  Hoffnung  jenseitiger  Ver- 
geltung, so  hört  wahre  Ethik  dabei  auf,  und  gelingt  es 
wegen  ohnehin  geringer  sexueller  Neigung,  so  hat  das 
Opfer  wenig  Wert;  trifft  aber  das  Umgekehrte  zu,  dann 
verschlingt  der  verzweifelte  Kampf  gegen  allmächtigen 
Naturtrieb  alle  Seelenkräfte,  die  zu  nützlicherer  Geistes- 
arbeit verwendet  werden  soUten.  Um  es  deutlich  zu  sagen : 
Ob  Dante  die  Beatrice  platonisch  anbetet  und  nebenbei 
mit  einem  Eheweib  Kinder  zeugt,  erscheint  sehr  un- 
wichtig, wenn  er  nur  die  Divina  Comedia  schreibt. 
Und  ob  Gottlieb  Schulze  in  geschlechtlicher  Ehe  oder  gar 
lüderlich  lebt,  ist  für  seine  sittliche  Beschaffenheit  lange 
nicht  so  wichtig,  wenn  er  nur  sonst  gerecht  und  mitleidig 
mit  seinen  Nebenmenschen  verkehrt.  Erzwungene  Keusch- 
heit, zu  der  ja  unzählige  alte  Jungfern  genötigt,  bessert 
keineswegs  das  verbitterte  Gemüt.  Wir  sehen  es  an  so 
manclien  Eremiten  der  Thebaide,  die  ihres  Fleisches  An- 
fechtung widefi'standen ,  um  zelotische  Hoffart  und  Ge- 
hässigkeit zu  hellem  Wahnwitz  auszubilden.  Die  Askese 
bändigt  den  Leib,  reinigt  aber  nicht  die  Seele. 

Auch  wäre  Verzicht  auf  Fortpflanzung  unzulässig 
gerade  in  Tolstoi's  Sinne.  Denn  da  er  allen  Wert  in  gott- 
selig Diesseits  verlegt,  so  würde  Aussterben  der  Mensch- 
heit die  Möglichkeit  vernichten,  etwas  Ethisches  im  Uni- 
versum darzustellen.  Wenn  kein  Lebender  mehr  Christi 
Gebote  befolgen  kann,  so  wären  sie  ja  umsonst  gegeben, 
und  dies  Selbstaussterben  der  Menschheit  gliche  einer 
Furcht,  das  Kreuz  der  Ethik  fürdei-  auf  sich  zu 
nehmen.  Ferner  würden  nur  Edelste  und  Beste  die  Kraft 
aufbringen,  dem  Keuschheitsgebote  nachzuleben  ;  die  sich 
lustig. fortpflanzende  Masse  verlöi-e  also  die  Möglichkeit, 
sich  durchs  Beispiel  einer  höheren  Rasse  zu  evolutionieren. 


—  19  — 

Man  kann  daher  nicht  unahin,  den  Verzicht  auf  Sexualität 
als  unsittlich  im  höheren  Sinne  zu  verwerfen,  insofern 
solcher  »Heiliger«  aus  Pflichttreue  gegen  sich  selber  die 
Pflicht  gegen  die  Menschheit  vernachlässigt.  Keuschheit 
hat  wahren  Weit  nur  beim  Yoga  -  Adepten,  der  sie  als 
Mittel  zum  Zwecke  höherer  Machtfülle  der  Seelenkräfte 
benützt,  wie  ja  sogar  der  körperliche  Athlet  sich  aus 
Kämpferstolz  zur  Enthaltsamkeit  zwingt.  Immerhin  mag 
man  Aufhören  der  Portpflanzung  als  letztes  Endziel 
im  Auge  behalten.  Denn  es  wäre  möglich,  daß  der  Dua- 
lismus geschlechtlicher  Differenzierung  dereinst  wieder 
in  jene  geschlechtslose  Einheit  sich  auflöst,  welche  laut 
Geheimlehre  den  halbgottartigen  spirituellen  Urmenschen 
zu  eigen  gewesen  sei.  Mit  solchem  Hinübergleiten  in 
höhere  Sphären  des  Menschentums  wirds  aber  noch 
gute  Weile  haben  für  Jahrtausende,  und  unser  Bestreben 
kann  einzig  sein,  den  Naturtrieb  einzudämmen,  ihn  als 
lästige  tierische  Funktion  wie  Ernährung  und  Ausschei- 
dung peinlich  zu  empfinden,  statt  ihn  priapisch  zu  ver- 
göttern wie  unser  lieber  guter  Zeitgeist  der  Zucht-  und 
ünzuchtwahl.*) 

Weininger's  Ruhm  trotz  jugendlicher  Überspannung 
des  Bogens  beruht  also  darauf,  daß  er  das  Weib  als 
Pflegerin  des  Naturtriebs  und  das  Judentum  als  Hohen- 
priester alles  Sexualen  und  Anti-Transcendentalen  entlarvt 
und  vor  diesen  Verbündeten,  die  sich  das  19.  Jahrhundert 
unterwarfen,  die  Zukunft  warnt.    Hier  sehen   wir   also   in 

•)  Das  eben  ist  mit  das  Verdienst  Otto  Weininger's,  daß  er  das 
>Bedürfnis«,  von  allem  ethischen  Ballast  befreit,  in  gleichem,  wenn  nicht 
höherem  Maß  der  Frauennatur  als  der  des  Mannes  zubilligt.  Man  lese  die 
großartige  Deutung  der  Phänomene  »Mutterschaft«  und  »Prostitution«. 
An  der  Hand  solcher  Argumente  werden  der  Misogyn  und  der  Troubadour, 
Leugner  einer  Frauenseele  und  Bekenner  eines  Frauenlächelns,  Strind- 
berg  und  Altenberg  einig.  Nur  die  brutale  Männermoral  unserer  Tage 
—  ich  meine  die  Moral  jener  höchststehenden  Männer,  die  tief  unter  der 
tiefststehenden  Frau  stehen  —  kommt  zu  kurz,  jene  Weltanschauung, 
die  der  Frau  die  Pflicht  der  Sittlichkeit  und  dem  Mann  das  Recht  der 
Geilheit  zuteilt  und  deren  deutsches  Virginitätsideal  ich  schon  einmal 
mit  dem  Wunsche,  zu  devirginiereii,  in  erklärenden  Zusammenhang  gebracht 
habe.  Anm.  d.  Herausgebers. 


—  20  —  ^1 

Weininger,   dem  Juden,  den  echten  deutschen  Idealismus, 
von  welchem  unzählige  Urgermanen  abgefallen,  wieder  sein 
Haupt    erheben.    Die    große    Contrerevolution    wider    die 
Verneinung  idealer  Instintrte  wirbt  sogar   in    den    eigenen 
Schlachtreihen  naturwissenschaftlicher  Kraftstoffelei  täglich | 
neue  Anhänger.  Wenn  die  Theosophie  siegreich  ihr  Banner 
über   die   Erde   schwingt,    dann   wird   man    gerührt    auch! 
dieses  jugendlichen  Märtyrers  gedenken,    der   ähnlich   wie 
sein  —  auch  von  ihm  argverkannter  und   verlästerter  — 
Stammesgenosse    Heine     ein     besserer    Deutscher 
war,     als     das     bier  saufende,     tarockspielen  de 
Bärenhäuterpack  der  Heil6-S  chreier.  Friede  undj 
Ehre  seinem  Andenken! 


ANTWORTEN  DES  HERAUSGEBERS. 

Europäer.  Sie  lesen  seit  etlichen  Tagen  in  den  Wiener  Blättern 
große  Artikel  unter  der  Aufschrift:  »Demonstrationen  an  der 
Universität<  und  vermuten,  daß  es  sich  um  die  Demonstrierung 
wissenschaftlicher  Entdeckungen,  etwa  um  die  Vorführung  neuer  physi- 
kalischer oder  physiologischer  Versuche  handelt.     Das  ist  ein  Irrtum       s 

Österreicher.  Bei  dem  Aufruhr  in  den  Studentenkreisen  von  Pra^ 
und  Wien,  beim  Anblick  des  Herrn  Malik  wird  nichts  Heiliges  in  mir' 
entzündet,  und  ich  muß  nach  wie  vor,  wenn  ich  von  >nationalen  Be- 
schwerden« höre,  an  Bauchgrimmen  denken.  Ein  Bismarck  hätte  die 
Frage  des  Rechts  auf  »Bummeln«  bereits  entschieden.  Die  Vertrottelung 
schreitet  rapid  fort. 

Irrenwärter.  Aus  einem  Linzer  Bericht  der  ,Ostdeutschen  Rund-^ 
schau':  »Der  bekannte  tschechische  Violinvirtuos  Jan  Kübel ik,  defö 
ebenso  wie  seine  beiden  Stammesbrüder  Ondricek  und  Kocian  schoBS 
einigemale  in  Linz  konzertierte,  beabsichtigt  nun  wieder,  und  zwar  ani^ 
15.  d.  M.  in  unserer  Stadt  ein  Konzert  zu  geben.  -  —  -  Selbst 
das  Blut  der  Ruhigsten  muß  da  in  Wallung  kommen.  Die 
Erregung  darüber  nimmt  hier  aber  auch  täglich  zu.  Daher  begaben  sich 
heute  der  Sekretär  der  Deutschen  Volkspartei, 'Herr  Hans  Schlögl,  und  der 
Vertrauensmann  der  Frei-Alldeutschen,  Ingenieur  Herr  Rudolf  Urbanitzky, 
zu  dem  Veranstalter  des  Konzertes,  um  ihn  über  die  Stimmung 
der  Bevölkerung  aufzuklären  und  ihm  nahezulegen,  daß  es  nicht  allein 
im  nationalen,  sondern  gewiß  auch  in  seinem  und  Kubelik's  Interesse 
gelegen  sei,  von  dem  Konzerte  diesmal  Abstand  zu  nehmen.  Der  Herr 
Veranstalter  verhielt  sich  vollständig  ablehnend  und  meinte,  es  werde 
genügen,  wenn  er  die  Behörde  auf  das  Mitgeteilte  aufmerksam  mache., 
Uns  kann's  recht  sein.  Wenn  man  aber  meint,  auf  wohlgemeinte, 
Vorstellungen    nicht    hören   zu    brauchen    und    den    Linzern    alleSi 


21 


bieten  zu  können,  kann  doch  vielleicht  alle  Rechnung  ohne  den 
Wirt,  und  das  ist  in  diesem  Falle  wohl  die  gesamte  national  fühlende 
Bewohnerschaft  der  Stadt,  gemacht  werden.  Wer  nicht  hören  will, 
muß  fühlen!«  —  Am  15.  März  Konzert  Kubelik.  Tosende  Pfuirufe, 
tätliche  Bedrohung  der  Besucher,  Angriff  auf  den  Wagen  des  Statthalterei- 
Vizepräsidenten,  Verwundung  eines  Statthaltereirates,  Steinwürfe  in  den 
Konzertsaal,  Katzenmusik  mit  Steinwürfen  vor  der  Wohnung  des  Künstlers, 
nächtliche  Flucht  Kubelik's  unter  polizeilicher  Begleitung,  —  Erklärung  von 
deutsch-nationaler  Seite,  »daß  die  Demonstration  gegen  den  tschechischen 
^ -iger  Jan  Kubelik  sich  nicht  gegen  die  Person  des  Künstlers 
chtet  habe.«...  Waffengewalt?  Nein,  Irrenpflege! 

Fregattenkapitän.  Man  kann  dem  japanisch-russischen  Krieg 
;  anche  interessante  Seite  abgewinnen:  warum  nicht  auch  eine  Inseraten- 
s(ite?  In  der  ,Zeit'  vom  2.  März  war  das  Folgende  zu  lesen:  >(Der 
Krieg  und  die  Skodawerke.)  ,Plzenske  Listy'  berichten:  Zahlreiche  der 
Schiffe,  die  dermalen  im  Kampf  gegen  Japan  stehen,  sind  in  Pilsen  von 
den  Skodawerken  ausgerüstet.  Der  Kreuzer  ,Pereswjet',  der  als  Admiral- 
schiff  des  Kontreadmirals  Fürsten  Uchtomskij  vor  Port-Arthur  im  Treffen 
stand,  der  Kreuzer  ,Osljalja',  der  als  Kommandeurschiff  mit  den  Panzer- 
fregatten ,Dimitri  Donskoi'  und  ,Aurora'  auf  dem  Wege  nach  Ostasien  ist, 
sind  in  Pilsen  ausgerüstet.  Aber  auch  auf  japanischer  Seite  ist  Pilsner 
Arbeit  zu  finden.  Der  Panzer  des  Panzerschiffes  , Mikado'  ist  aus  den 
Werkstätten  der  Skodawerke  hervorgegangen.  Die  Panzer-  und  Ma- 
schineneinrichtung der  von  Japan  angekauften  Kriegsschiffe  ,Nischin'  und 
,Kasuga' (ursprünglich  für  Argentinien  gebaut)  ist  in  Pilsen  gearbeitet. 
—  Ebenso  dürften  jetzt  die  Japaner  gegen  Rußland  jene  Geschütze 
benützen,  die  sie  im  Kriege  mit  China  erobert  haben,  und  welche  durch- 
weg Arbeiten  der  Skodawerke  sind.  Noch  bei  Lebzeiten  des  Gründers 
der  Skodawerke,  Emil  Ritter  v.  S k o d a,  kam  ein  Professor  der  Kriegs- 
schule in  Tokio  nach  Pilsen,  um  die  Skodawerke  zu  besichtigen. 
Als  ihm  Ritter  von  Skoda  die  Type  jener  Geschütze  zeigte,  welche  die 
Skoda  werke  an  China  lieferten,  sagte  der  japanische  Offizier  lächelnd: 
,Ich  kenne  diese  Geschütze.  Hoffentlich  haben  Sie  bereits  von  China 
das  Geld  für  die  Kanonen  —  denn  die  Geschütze  selbst  haben  wir  den 
Chinesen  abgenommen!'«  —  Die  ,Zeit'  ist  ein  autikorruptionistisches 
Blatt  und  hat  diese  Texteinschaltung  gewiß  gratis  besorgt. 

Satiriker.  >Die  jüdischen  Schwindler  und  Gauner  fürchten  die 
Antisemiten,  welche  die  Korruption  bekämpfen,  weit  mehr  als  jene,  die 
Ritualmorde  entdecken«.  Wo  stand  dieses  Wahrwort,  dessen  Gedanke 
hier  oft  abgewandelt  wurde,  zu  lesen?  In  der  .Deutschen  Zeitung'  (13. 
März),  dem  > christlichsozialen  Organ«.  Herr  F.  F.  Masaidek  hat  es 
ausgesprochen.  Herr  Masaidek  vertritt  die  Satire  der  antisemitischen 
Presse.  Er  gehört  zu  den  eifrigsten,  wenn  auch  nicht  geistig  regsamsten 
Lesern  der  , Fackel'.  Peinlich  ist  mir,  daß  er  manchen  Wendungen  der 
, Fackel'  zuerst  die  Pointe  abbrechen  zu  müssen  glaubt,  bevor  er  sie 
veröffentlicht.  An  der  Mitteilung,  daß  Österreich  in  seinem  Settlement 
in  China  eine  k.  k.  Lottokollektur  errichtet  hat  (siehe  Nr.  155),  ist  freilich 
nichts  zu  verderben.  Aber  es  kommen  Fälle  vor,  wo  man  die  Ehrlichkeit 


-  22  -^ 


dieses  Satirikers  bedauert  und  eine  wörtliche  Benützung  der  yFackel' 
wünschen  würde.  Ich  glaube  übrigens  wirkh'ch  nicht,  daß  Herr  Masaidek 
ganz  humorlos  ist;  unter  fünfhundert  >OIosJ.en«,  die  er  liefert,  sind 
doch  immerhin  fünf,  in  denen  eine  Art  verschlafener  Satire  sich  regt 
und  die  ihm  gewiß  einen  Platz  über  der  lebhaften  Talentlosigkeit  libe- 
raler Sonntagshumoristen  anweisen.  Aber  geradezu  hinreißend  wirkt  er, 
wo  er  unbestreitbare  Wahrheiten  mit  aphoristischer  Kürze  vorbringt.  In  den 
Tagen,  da  die  Affaire  des  Abgeordneten  Wolf  viel  Geräusch  machte, 
schrieb  Masaidek  den  Satz  hin:  »Die  Familie  Tschan  scheint  eine  saubere 
Familie  zu  sein<.  Weiter  nichts.  Unter  den  Gedankensplittern  der  letzten 
Sonntage  wären  bemerkenswert:  >Wenn  man  liest,  mit  welchem  Jubel 
der  Abg.  Voelkl  bei  seinem  Erscheinen  im  Parlament  empfangen  wurde, 
fragt  man  sich  unwillkürlich:  ,Was  hat  denn  dieser  Mann  für  sein 
Vaterland  geleistet?'«  Oder:  >Das  Genie  verfällt  leicht  dem  Wahnsinn, 
weil  es  das  Unmögliche  anstrebt.  <  Gleich  daneben  der  Aphorismus : 
»Wenn  es  der  Regierung  mit  der  Einführung  der  Kronenwährung 
ernst  wäre,  so  hätte  sie  schon  längst  die  Guldenstücke  einziehen 
müssen.«  Ach  ja! 

Detektiv.  Das  ordinäre  Diebsblatt  des  Lippowitz  wird  jetzt  viel- 
fach überwacht.  Das  in  Hannover  erscheinende  Fachorgan,  ,D e r  Zei- 
tungs-Verlag' (Eigentum  des  Vereines  deutscher  Zeitungsverleger)  ,| 
bringt  in  der  Nummer  vom  3.  März  unter  der  Aufschrift  »Gegen  /! 
den  systematischen  Diebstahl  beim  , Wiener  Journal'«  ^ 
eine  Zusammenstellung  der  neulich  im  .Berliner  Tageblatt'  und  in  i 
der  , Fackel'  veröffentlichten  Diebsanzeigen.  Dazu  auch  eine  der 
Wiener  ,ReichspOst',  die  den  folgenden  Wortlaut  hat:  >Die  Schere  des 
,Neuen  Wiener  Journals'  wütet  in  letzter  Zeit  Wieder  derart,  daß 
selbst  das  Ausland  sich  immer  mehr  davon  beunruhigt  fühlt  .  .  .  Gestern 
schrieben  vc^ir  in  der  , Reichspost'  eine  Notiz:  .Johann  Orth,  der  Refor- 
mator der  japanischen  Marine'  und  begannen  sie  also:  .Richtig,  wir 
hatten  ohnehin  unseren  Kopf  darauf  gewettet,  daß  auch  bei  diesem 
Kriege  der  unglückliche  Johann  Orth  .  .  .  wieder  auftauchen  wird!  usw  ' 
Heute  morgen  finden  wir  im  , Neuen  Wiener  Journal'  unter  derselben 
Überschrift  dieselbe  Notiz  wortwörtlich  mit  dem  Anfang:  .Richtig,  wir 
hatten  ohnehin  unseren  Kopf  darauf  gewettet  .  .  .'  Daß  die  Herren  vom 
.Wienfer  Journal'  unseren  Kopf  verwetten  konnten,  dazu  gehört  doch 
viel  Geschicklichkeit;  oder  wollten  die  Herren  nur  bekennen,  daß  sie 
selbst  über  Kopf  nicht  verfügen?«  —  Das  Schandblatt  hat  übrigens 
eine  neue  Methode  eingeführt.  Wenn  es  schon  einmal  gezwungen  ist, 
eine  Quelle  zu  nennen,  so  rächt  es  sich  an  dem  Bestohlenen  und  be- 
schiinpft  ihn.  Neulich  wurde  eine  der  feinsten  Skizzen  Peter  Altenberg's 
gekfabbst  und  zugleich  der  Dichter  in  bodenlos  gemeiner  Weise  ange- 
griffen. Es  wäre  kihdisch.  einen  Peter  Altenberg,  der  für  die  verständnis- 
volle Achtung  allier  Künstlermenschen  Europas  nihig  den  Hohn  aller 
Flächköpfe  Wiens  in  Kauf  nehmen  kann,  gegen  die  Beschmutzung  durch 
eitle  schäbige  Reporterseele  in  Schutz  zu  näimen.    Drollig  ist  nur  die 


n 


neue  Methode  des  Diebes,  unter  dem  Vorwande  der  Glossierung  sein 
Blatt  mit  fremdem  Lesestoff  zu  füllen.  Ich  wette  hundert  gegen  eins, 
dalj  das  ,Neue  Wiener  Journal'  auch  diesmal  nicht  beleidigen,  sondern 
einfach  stehlen  wollte. 

Literat.  Es  ist  die  höchste  Zeit,  daß  Herr  Herzl  nach  Palästina 
gellt.  Hier  schreibt  er  schon  zu  dumme  Feuilletons.  Neulich  das 
lüeschwätz  über  Japan,  dessen  Kultur  Herrn  Herzl  aus  einer  Auf- 
führung der  »Geisha«  —  nicht  einmal  des  >Mikado«  -  bekannt  ist. 
lUnd  jetzt  übet  die  Vorstellung  von  Hofmannsthal's  >Tod  des  Tizian« 
im  >  Hagenbund«.  Man  kann  Hofmannsthal  für  einen  Dichter  oder  für 
emen  Eklektiker  von  feinstem  Kunstgeschmack  halten.  Jedenfalls  steht 
er  als  kultivierter  Mitteleuropäer  turmhoch  über  dem  Niveau  eines 
menschen,  der  es  zuwegebringt,  die  Würde  eines  Messias  mit  der  eines 
Sonntagshumoristen  zu  vereinigen.  Trotzdem  ist  es  notwendig,  gegen  die 
Impertinenz,  mit  der  das  Feuilleton  vom  11.  März  schloß,  ein  eigenes 
W^örtchen  zu  sagen.  Aus  prinzipiellen  Gründen.  Herrn  Herzl  schwillt 
bämlich  der  Kamm,  und  er  glaubt  als  Literaturvormund  nur  jene  Jünglinge 
fördern  zu  dürfen,  die  klug  genug  waren,  sich  eine  zionistische  Welt- 
inschauung  beizubiegen  und  palästinensische  Heimatkunst  zu  pflegen. 
Herr  Herzl  >empfiehlt«,  ohne  Furcht,  ausgelacht  zu  werden,  »jun^e 
Dichter,  die  ungefähr  das  können,  was  der  junge  Hof  mannsthal  konnte«. 
Stefan  Zweig,  Sil  Vara,  Hans  Müller,  >um  nur  einige  zu  nennen, 
lie  mir  in  den  Wurf  gekommen  sind«.  Das  ist  zu  dumin,  um  ernst 
jemeint  zu  sein.  Herr  Zweig  ist  ein  Formtalentchen,  Herr  Sil  Vara, 
Jeenn  die  Kaffeehausskizze,  die  neulich  einmal  die  ,Neue  Freie  Presse' 
im  Sonntag  brachte,  den  Gipfel  seines  Schaffens  bedeutet,  ein  dürftiger 
Reporter.  Es  ist  eine  Frechheit,  die  man  auch  einem  Judenkönig 
nicht  ruhig  hingehen  lassen  kann,  diese  armen  Teufel  mit  Hugo  von 
riofmannsthal  in  einem  Athem  zu  nennen.  Die  >großen  Dichter«,  schwätzt 
rlerr  Herzl  weiter,  brauche  man  nicht  zu  entdecken.  »Der  Erfolg  zu 
hren  Lebzeiten  bringt  sie  vielmehr  in  Verlegenheit.  Was  um  des 
iimmelswillen  sollen  sie  mit  dem  Beifall  der  Menge  machen,  der  sie 
iich  fremd  fühlen?  Da  nehmen  sie  falsche  Posen  an,  wie  man  es 
)ei  Ibsen  sehen  konnte*.  Wenn  Herr  Herzl  einst  den  Thron  von 
erusalem  besetzt  finden  sollte,  so  wird  er  dort  noch  immer  als  Hofnarr 
interkommen. 

Habitus.  Ich  war  nie  ein  Odi  Ion -Fanatiker.  Sie  aber  jetzt,  da 
;ie  leidend  ist,  herunterzureißen  und  zu  Gunsten  des  Fräuleins  Petri 
loch  dazu,  das  ist  nur  mein  Freund  Schütz  imstande.  Fräulein  Petri 
st  eine  routinierte  Normalsalon dame.  Herrn  Schütz  bedeutet  sie  das 
Jm  und  Auf  deutscher  Schauspielkunst.  Trotz  den  Hohenfels,  Dor^, 
Conrad- Ramlo  und  Sorma,  trotz  den  Mitterwurzer,  Sandrock,  Eysoldt 
md  Lehmann.  Aber  ahnt  man  denn,  was  Fräulein  Petri  als  Nora  zu- 
vege  gebracht  hat  ?  » Im  Volkstheater  versöhnte  ihre  die  egoistische  Härte 
>Jora's  erklärende  Darstellung  die  Gegner  des  Dichters«.  Das  ist 
nehr,  als  man  selbst  —  von  Herrn  Schütz  erwartet  hätte.  .  .  .  Was  in 
Vien  nicht  Alles  Kritiken  schreiben  kann  !  Da  ist  ein  Herr  in  der  , Reichs- 


24  — 


wehr',  der  in  einer  begeisterten  Rezension  des  Schmarrens  >Michael  Kohl- 
haas* wörtlich  schreibt:  »Ungemein  drollig  und  humorvoll  spielte  das 
Ehepaar  Kramer  -  Glöckner  zwei  grundverschiedene  Rollen; 
s  i  e  mit  frappierender  Naturtreue  eine  Berliner  Vorstadttype,  e  r  einen 
liebenswürdigen  Charmeur«.  Wie  seltsam !  Sie  sind  vciheiratet  und 
spielen  doch  verschiedene  Rollen :  er  eine  männliche  und  sie  eine  weibliche ! 
Man  sollt's  nicht  glauben ! 

Sammler.  Die  »barbarische  Orgie«  —  siehe  Nr.  1 55  —  hat  ein 
prächtiges  Seitenstück  erhalten.  In  der  9.  Sitzung  der  ungarischen  Delegation 
läßt  die  ,Neue  Freie  Presse'  (24.  Februar)  den  Grafen  Apponyi  wie  folgt 
sprechen:  »Dem  Kriegsminister  sei  es  gelungen,  in  der  ungarischen  und 
in  der  österreichischen  Delegation  Befriedigung  zu  erwecken,  wobei  ihm 
die  Erfindung  des  Ministerpräsidenten  zu  Hilfe  gekommen  sei,  daß  es 
in  der  deutschen  Sprache  keinen  Unterschied  zwischen  Nation  und 
Nationalität  gebe.  Dem  Redner  falle  hiebei  eine  Szene  aus  , Faust'  ein, 
in  welcher  Gretchen  den  Faust  fragt,  was  eigentlich  Religion 
sei.  Faust  erwidert  ihr  mit  einer  etwas  hochtrabenden  Darlegung 
des  Pantheismus,  worauf  Orete  antwortet:  ,Nun,  so  etwas  hat 
mir  ja  auch  der  Herr  Pastor  gesagt.'  (Heiterkeit.)*  ...  Ja, 
solche  Probe  der  »Kunst  des  Übersetzers«  verdient  schon  Heiterkeit. 
Daß  die  Übersetzung  aus  dem  Französischen  oft  schwierig  ist,  begreift 
man.  Aber  wer  zwingt  die  ,Neue  Freie  Presse',  den  »Faust«  aus  dem 
Ungarischen  zu  übersetzen?  Die  Stellen:  »Nun  sag',  wie  hast  du's  mit 
der  Religion?«  und  »Ungefähr  sagt  das  der  Pfarrer  auch,  nur  mit  ein 
bischen  andern  Worten«  waren  ja  schneller  zu  ermitteln.  Die  ,Neue  Freie 
Presse'  kennt  gewiß  ihren  Goethe.  Aber  i  h  r  Goethe  ist  eben  nicht  unser 
Goethe,  und  wenn  sie  »Faust  «zitiert,  so  können  wir  nur  bedauernd  versichern: 
Ungefähr  sagt  das  Goethe  auch,  nur  mit  ein  bischen  andern  Worten  .  .  . 
Viel  treffsicherer  geht  die  ,Neue  Freie  Presse'  zu  Werke,  wenn  sie  ihr 
schlechtes  Deutsch  direkt  bezieht  und  nicht  erst  übersetzen  muß.  Von 
dem  ehemaligen  englischen  Botschafter  Lord  Loftus,  der  neulich  starb, 
versichert  sie  am  i  O.März,  er  habe  »ein  Alter  von  weit  über  8  6  Jahren 
erreicht«.  Und  einen  andern  Botschafter  läßt  sie  am  13.  März  andere 
seltsame  Dinge  treiben.  Von  ihm  heißt  es  in  dem  Berichte  über  die 
III.  Mode- Ausstellung:  »Auch  der  französische  Botschafter  fand  Gefallen 
an  den  schönen  Dingen,  besonders  als  die  Hofdame  der  Erzherzogin 
ein  ungarisches    gesticktes  Hemd    anprobierte  und  zeigte«  .  .  . 

Arzt.  Herr  Berthold  Frischauer  hat  neulich  den  berühmten 
Chirurgen  Doyen  interviewt  und  interessante  Mitteilungen  über  eine 
neue  Krebsheilmethode  erhalten.  Dieses  Interview  hat  wohl  stattgefunden. 
Wenigstens  ist  es  zweifellos,  daß  Herr  Frischauer  interviewt  hat  und  daß 
ihm  Auskünfte  erteilt  wurden.  Nur  ein  kleines  Detail  scheint  nicht  zu 
stimmen:  Die  Identität  des  Interviewten.  Herr  Frischauer  beschreibt 
nämlich  den  Dr.  Doyen  wie  folgt:  »Ein  schwarzer  Vollbart  umrahmt 
das  energische  Gesicht,  aus  dessen  starken  Zügen  Wohlwollen  gepaart 
mit  großer  Energie  hervorleuchtet,  während  die  schwarzen  Augen 
von  Intelligenz  nicht  ohne  einen  Anflug  menschen  durchblickender  Malice 
strahlen.«  Herr  Frischauer  scheint  das  Opfer  eine  Personenverwechslung 
geworden  zu  sein.  Doyen  ist  nämlich  blond. 

Herausgeber  und  verantwortlicher  Redakteur:  Karl  Kraus. 
Druck  von  lahoda  &  Sieeel.  Wien.  III.  Hintere  ZoUamtastraBr  .') 


fr.  158  Erschienen  am  30.  März  1904  V.  Jahr 


Die  Fackel 


Herausgeber: 


KARL  KRAUS. 


Erscheint  drei-  oder  zweimal  im  Monat. 
Preis  der  einzelnen  Nummer  24  h. 

Nachdruck  and  gewerbsmäßiges  Verleihen  verboten;  gerichtliche  Verfolgung 

^halten. 

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Verlag  .DIE  FACKEL«,  IV.  Schwindcasse  3. 


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KLÄVIERKUNSTSFIEL 
=  APPARAT  = 


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mit  seiner  größten  Skala  und  seiner  geteilten 
Abdämpfung  für  Baß  und  Diskant  ermöglicht 
allein  die  schwierigsten  Kompositionen  von 
Liszt,  Beethoven  etc.  originalgetreu  zu  spielen. 
Den  Vortrag  künstlerisch  bis  in  die  kleinsten 
Feinheiten  auszugestalten  bleibt  ganz  der  indi- 
viduellen Auffassung  des  Spielenden  überlassen. 


Leipzig-Berlin 

Wien,  Vi.  Mariahilferstr.  7—9 

TELEPHON  7550 

Zur  Besichtigung  wird  höflichst  eingeladen,  Pro- 
spekte gratis,  Bezugsquellen  werden  angegeben. 

Preis   Kr.   IIOO.-. 


Die  Fackel 


Nr.  158  WIEN,  30.  MÄRZ  1904  V.  JAHR 


DER  FALL  EALBBCE. 

>Über   denjenigen    nach    seinem    Tode 
%  nichts   als  Gutes   zu    sagen,    der   während 

seines  Lebens  fast  nur  Übles  über  sich  ver- 
nahm, ist  eine  eben  so  heilige  Pflicht,  als 
es  zu  einer  traurigen  Nötigung  wird,  von 
demjenigen,  der  mit  angestrengtester  Sorge 
sich  dessen  versicherte,  daß  während  seines 
Lebens  nur  Gutes  über  ihn  gesagt  würde, 
den  falschen  Schein  abzuziehen,  welcher 
jetzt  die  Nachlebenden  nachteilig  beirren 
müßte. « 
Richard  Wagner,  »Entwürfe,  Gedanken, 
Fragmente«. 

Wer  ist  denn  eigentlich  dieser  Max  Kalbeck? 
Was  will  er?  Wess  vermißt  er  sich?  Verdrossen  durch 
die  allgemeine  Nichtbeachtung,  deren  sich  seine 
Brahms- Biographie  erfreut,  wütet  er  in  jüngster  Zeit 
mit  erneuter  Vehemenz  gegen  alle  Meister  der 
Tonkunst,  die  bei  Schaffung  ihrer  Werke  sich  von 
ihrem  Genius  und  nicht  von  den  ästhetischen  Rezepten 
der  Kritikergilde  bestimmen  heßen.  Daß  Wagner, 
Liszt,  Brückner  und  Hugo  Wolf  sich  seine  Ungnade 
zugezogen  haben,  wissen  wir  längst.  Er  ist  unver- 
söhnlich. Warum  aber  diese  Sucht,  den  alten  Hader 
immer  wieder  vom  Zaun  zu  brechen  und  auf  Gräber 
zu  spucken,  in  denen  die  Meister  friedevoll  mit  dem 
Rücken  gegen  die  Herren  Hanslick  und  Kalbeck 
ruhen?  Der  Musikrichter  des  ,Neuen  Wiener  Tag- 
blatt' hat  am  9.  März  einen  Akt  der  Verzweiflung 
verübt.    Er  sah  Hugo  Wolfs  Lieder  durch  die  Welt 


—  2 


il 


ziehen  und  konnte  sie  nicht  aufhalten.    Er  sah,   da 
Hugo  Wolf  lebte.  Und  so  glaubte  er,  ihn  schmähen' 
zu   dürfen,   wie   man  einen   Lebenden   schmäht.    Er 
schrieb  ein  Feuilleton,  um  wenigstens  die  persönliche 
"Bhre    eines    leiblich    Gestorbenen    zu    beschmutzen, 
dessen  Werk  zu  beschmutzen  ihm  nicht  gelungen  war. 
in  den  Jahren  1884--87  war  Hugo  Wolf  Musik- 
kritiker des   »Wiener  Salonblatt',   Kollege  jenes  Max 
Schlesinger,   dessen   Genie  als  Ballreporter   von  den 
Kennern  viel  früher-  gewürdigt '  wurde  als   das  Genie 
des  Liederkomponisten   Hugo  Wolf.     Es  gibt  spezi- 
fische   Wiener    Ereignisse    und    Wiener    Tatsachen.! 
'Nicht  für  Wolf,  für  dieses  im  Pressdienst  heillos  ver- 
^saute  Wien   war's  beschämend,  daß  ein  Musikheros 
sein  Leben  von  den  Groschen  eines  den  gemeinsamen 
Angelegenheiten   der   Aristokratie   und    des    Balletts 
dienenden  Schmutzblättchens  fristen  mußte.  Aber  bei 
uns   könnte  ja   auch  Beethoven   Klavierspieler  beim 
Brädy  sein.  Schämen  wir  uns,  wenn  wir  die  Kritiken 
H,ugo  Wolfs  lesen,   mit   deren  Wiederabdruck    heute 
das     ,Salonblatt'    protzt  1    Ist    es    nicht,   als    ob    ein 
Kinderschänder  von  Vaterstolz  gebläht  wäre,  weil  das 
Kind  nachträglich  zum  berühmten   Mann   erwachsen 
ist?  Daß  diese  Kritiken  Ausbrüche  stürmischen  Künstler- 
temperaments,     edeln    Künstlerzorns    über   die   rings 
sprossende  Unfähigkeit  und  ungebändigten  Hasses  gegen 
Cliquenanmaßung  sind,  fühlen  und  bewundern  wir  viel- 
leicht urasomehr,  da  wir  ihnen  an  dem  anrüchigen  Ort 
wieder  begegnen,  an  den  der  Einsame  verbannt  war.  Herr 
Max  Kalbeck  fühlt  und  bewundert  es  nicht.   Und  er 
hält  sich  nicht  für  so  klein,  daß  er  sich  für  verpflichtet 
hielte,    vor  eines   Großen  Grab  den  Mund  zu  halten. 
Ich"  bin  anderer  Meinung,  und  ich  kann  den  Entschluß 
des  Hugo  Wolf- Vereins   nur  billigen,  die  Geschwister 
'  des    toten   Meisters    zur   gerichtlichen   Klage    gegen 
.diesen  Kälbeck  zu  bestimmen,  der  sich  erdreistet  hat, 
'^H^ugo   Wolfs    kritische    Weise    »gehässig,    verleura- 
•  dwisch  und  bübisch«,  seine  Angriffe  gegen  Brahms 


-  3 


^.^.brutal  und,  yerlpgeu«  «umnennen.  Denn,  wejjn  eines 
,  in  dieser,  von  Pressdünkel  verwirrten  Welt  klar  ist, 
so  ist  es;  die- Tatsache,  daß  die  Angriffe  eines  Hugo 
Wolf  dem  Urteil  der  .MusiJ^geschichte,  die  ;  eines 
Max  Kalbeck  der  Judikatur  des  Landesgerichts 
unterstehen. 

Nicht  bloß  das  Andenken  Hugo  Wolfs  von  dem 
Schimpf  zu  befreien,  sondern  ihn  auf  Herrn  Kalbeck's 
Tätigkeit:  zurückzuwerfen,  muß  jetzt  das  Streben  aller 
fühlenden.  Zeitgenossen  sein,  welche  die  Erscheinung 
eines  Achilles  verehrungswürdiger  dünkt  als  die 
eines  Thersites,  und  so  bin  ich  jenen  Musikern  dank- 
bar, die  meinem  im  engern  Fachgebiet  unsichern 
Gedächtnis  mit  einigen  schätzbaren  musikhistorischen 
Daten,  aus  der  reichen  Fülle  des  von  Herrn  , Kalbeck 
seit  zwanzig  Jahren  Gebotenen  zuhilfe  kamen. 

Gehässig,  verleumderisch,  bübisch,  brutal  nnd 
verlogen.  Den  Wahrheitsbeweis  für,  diese  Worte,  soll 
nicht  Herr  Kalbeck,  seine  Ankläger  sollen  ihn  er- 
bringen dürfen.  Ich  empfehle  ihnen,  Seite  90 .  des 
erst  im  Jahre  1903  in  zweiter  Auflage  erschienenen 
Buches  »Richard  Wagner  im  Spiegel  der  .Kritik  cyon 
Wilhelm  Tappert  nachzulesen:  »Einen  recht  un- 
würdigen Ton  schlägt  Max  Kalbeck  mit  Vorliebe 
an,  wenn  er  über  Wagner  zu  schreiben  hat.  Zwar 
hält  er  den  .Bayreuther  Meister  für  ein  -großes 
musikalisches  Talent,  doch  ohne  eigentliche  Originalität 
der  Erfindung,  mit  bescheidener  poetischer  Begabung. 
Wörtlich  charakterisiert  er  ihn  so;, Er  ist  kein  großer 
Künstler,  sondern  ein  >  Vereinsmeier,  Reklame- 
held, Ränkeschmied,  Skandalmacher  und 
Sektierer.  (18.82)  Die.  ganze  Handlung  des  Parsifal 
ist  ihm  barer  Unsinn  1  Gurneraanz  nennt  er  , den  ersten 
Chargierten  des  tugendhaften  Ritterkorps',  Kundry 
eine  , barmherzige  Schwester,  die  von  Lachkrämpfen 
,  gepeinigt  wird  und ;  epileptische  Zufälle  hat*.  Am- 
.tortas  .laboriert,  nach  .Kalbeck,  an  einem  bösen  Leber- 
,leiden.    Eine  ausgesucht  geschmacklose:  Stelle 


—  4  — 

hat  nachstehenden  Wortlaut:  Alles  schmiegt  sich  (im 
3.  Akte)  voll  heiliger  Ergriffenheit  an  die  frisch  gewasche- 
nen Füße  Parsifals.«  Daß  ein  Herr  Kalbeck  Wagner's 
poetische  Begabung  bescheiden  findet,    gehört  ja  zu 
den  vielen  Erscheinungen,  über  die  das  vorige  Jahr- 
hundert zu  lachen  vergessen  hat.  Es  merkte  nicht  einmal, 
daß     der     Mann      wirklich     unbescheidener     ist     als 
Richard   Wagner,   dem  es  doch  nie  eingefallen  wäre, 
über    die    Gedichte    eines    Herrn    Max    Kalbeck    so 
dumme  Witze    zu    machen.    Immerhin,    neben  Hugo 
Wolfs    Gehässigkeit    und    Büberei    hebt    sich     des 
Kritikers    Kalbeck    wohlwollender     und     männlicher 
Ton  vorteilhaft  ab.  Durch  mehr   als    zwanzig   Jahre. 
Auch,  als  1901  Emil  Sauer  zum  Leiter  der  Ciavier- 
Meisterschule  in  Wien  ernannt  wurde.  Daß  ein  hoch- 
strebender Künstler  und  Meister  seines  Fachs  dauernd 
an  Wien  gefesselt  werden  sollte,  ging  der  altgedienten 
Mittelmäßigkeit   so  gut  wider    den  Strich  wie  Herrn 
Max  Kalbeck,  ihrem  kritischen  Sachwalter.  Aber  wie 
hilft   sich   die  Bosheit,   da  sie   dem  fest  gegründeten 
Ruf   eines    Künstlers    nicht    mehr     schaden     kann? 
Zum    Glück    hat    Sauer    kurz    zuvor    ein    stilistisch 
nicht    ganz  einwandfreies   Buch  geschrieben,   betitelt 
»Meine    Welt,    Bilder  aus   dem   Geheimfache   meiner 
Kunst     und     meines     Lebens«.     Diese     Gelegenheit 
benützt  Kalbeck  sofort,  um   --  in  dem  Feuilleton  des 
jNeuen  Wiener  Tagblatt*  vom  5.  Dezember  1901  —  die 
Person  des  Mannes  dem  Wiener  Lachbedürfnis  preis- 
zugeben, und  zwar  in  dem  Augenblick,  da  er  sein  neues 
Amt  antritt.  Er  übersieht  absichthch  die  guten  Seiten 
des  Buches,  frozzelt  Sauer  wegen  der    Meisterschule, 
spricht  schielend  von  seinen  »Erlebnissen  an  Fürsten- 
höfen«, ist  böse,  weil  er  zu  wenigaus  dem  »Geheimfach« 
zu  hören  bekommt,  verhöhnt  die  Schilderung  des  glück- 
lichen Familienlebens   des  Künstlers  und  schont  dif 
Gattin  nicht,  die  nie  in  die  Öffentlichkeit  getreten  ist 
Eine  Stelle   lautet:     »Sauer   schreibt  von  seiner  Ge- 
mahlin: jAuch  wird  sie  mir  nie  auf  die  verschiedenen 


—  5  — 

Zweige  der  Kunst  folgen,  auf  welchen  ich  mich 
heimisch  fühle;  aber  sie  hält  unter  dem  Baumstamm 
treulich  Wacht'.  Bravo,  Frau  Alice  1  Bravissimo  1  Geben 
Sie  nur  um  Himmelswillen  Acht,  verehrteste  Frau 
Sauer,  geborene  Elb,  daß  sich  Ihr  waghalsiger  Gemahl 
nicht  zu  hoch  versteigt,  und  daß  er  sich  auf  keinen 
Ast  setzt,  der  dem  Gewichte  seiner  Persönlichkeit 
nicht  gewachsen  ist !  Sonst  hilft  die  treulichste  Wacht 
am  Stamme  nichts,  und  der  auf  verschiedenen  Zweigen 
der  Kunst  herumkletternde  ,Bamkraxler'  bricht  am 
Ende  Hals  und  Beine!  , Solche  Frau',  fügt  Emil  Sauer 
bekräftigend  hinzu,  ,hat  weder  Zeit  für  Emanzipations- 
bestrebungen, noch  Sinn  für  Putz,  Toiletten  und  hohle 
Vergnügungen;  auch  malt,  singt  und  dichtet  sie  nicht. 
Das  einzige  und  schönste  Gedicht,  welches  sie  mir 
zu  Füßen  legte,  ist  eine  reiche,  muntere  Kinderschaar.' 
Gleich  eine  Schaar?  Wieviel  sind  das?  Auch 
das  verschweigt  des  Sängers  Höflichkeit.  Wenn 
das  , einzige,  schönste  Gedicht'  nicht  nur  ein  unglück- 
liches poetisches  Gleichnis  des  von  der  Last  seiner 
Erinnerungen  aufs  Haupt  gedrückten  Gatten  ist,  so 
gehört  der  Fall  in  der  Familie  Sauer  unter  die  Rubrik 
der  merkwürdigen  Naturerscheinungen,  und 
'Frau  Alice  hat  ihrem  Mann  mindestens 
Vierlinge  zu  Füßen  gelegt.«  Man  sieht,  wie 
■  fern  dem  Herrn  Max  Kalbeck  bübische  Schreibweise 
'liegt.  Auch  die  verleumderische,  gemeine  und  ver- 
logene. Denn  im  März  1 903  kommt  Richard  Strauss 
nach  Wien,  um  mit  seinem  Orchester  ein  Konzert  zu 
geben.  Ursprünglich  hatte  er  Beethoven's  Eroica  aufs 
Programm  gesetzt,  kommt  aber  von  diesem  Plane  ab 
und  legt  seine  Beweggründe  hiefür  in  einem  Briefe 
dar,  der  im  ,Neuen  Wiener  Abendblatt'  vom  4.  März 
1903  veröffentlicht  ist.  Jederman  kann  aus  diesem 
I  Briefe  ersehen,  daß  Strauss  keine  billigen  Dirigenten- 
erfolge durch  Vorführung  eines  bewährten  Meister- 
werkes erzielen  will,  daß  es  ihm  vielmehr  darum  zu 
'  tun  ist,  neuen,  nie  gehörten  Werken  zur  Anerkennung 


—  6^ 

zu  -verhelfen,    und  daß»  es  »wenig  Bierechti^ng  hat, 
den 'Wienern  Sachen  vorzuspielen,   die  sie  von  ihren 
Philharmonikern    aüjährlrch    doch     besser    zu    hören 
bekommen     als     von     seinem     jungen     Orchester«. 
Gewiß   ein  ehrliches   Beginnen.  Doch   unser   Kritiker 
konstruiert    flugs     daraus,    in    dem    Feuilleton    vom 
7.  März  1908,  eine  Anklage    des  Inhalts,    daß  Strauss 
moderne     Werke,     namentlich     sein     » Heldenleben  c, 
der  Eroiea    vorziehe.   Strauss    verwahrt   sich    gegen- 
diesen   ungerechtfertigten  Vorwurf  in   einem  zweiten 
Briefe  (abgedruckt  im  ,Neuen  Wiener  Tagblatt*  vom 
15.  März  1903):    »Während    ich    doch    nur   aus    rein 
künstlerischen  Gründen  mich  entschlossen  hatte,  gerade 
in  Wien  nicht  Beethoven's  Eroiea  mit  meinem  jungen 
Orchester   zu  spielen,   hat  der  Inhalt  meines  Briefe*^ 
—  dank  absichtlicher  Mißdeutung  —  mir  den' 
Vorwurf   mangelnden  Respekts  :  vor    einem    unserer- 
herrlichsten  Meisterwerke  zugezogen.  Ich  möchte  da» 
Prädikat  eines  ,Kkssikerverächters*,  womit  man  einen' 
wahrhaft  Großen  schon  Zeit  seines  Lebens  sekiert  hat,' 
nicht  gerne  auf  mir  sitzen  lassen.  Gerade  diesen  Vor- 
wurf nicht«.     Sicherlich    ist    die   Eroiea   bei    diesem 
Künstler  besser  aufgehoben   als  bei   Herrn  Kalbeck, 
der  trotz  seiner  Schreiblust  den  Vorwurf  der  »absicht- 
lichen Mißdeutung«   bis  heute   ruhig  auf  sich  sitzen 
ließ.     Aber   er  hatte  ja  anderes  zu  tun,    an  anderen 
Künstlern   seinen   Schnabel   zu   wetzen.     Im  Dezem- 
ber 1903  leitet  Arthur  Ni  k  i  s  c  h  ein  Konzert  der  Wiene* 
Philharmoniker,  ein  Mann  von  immensem  Können  und' 
Wissen,  ein  unbeding:t  ernst  zu  nehmender : Künstler.' 
Er  huldigt  aber  dem  musikalischen  Portschritt,   folg- 
lich entgeht  er  nicht  dem  Schicksal,  von  Herrn  Kai--'' 
beck  angerempelt    zu  werden,    obwohl  er  neben    den^' 
Werken   größerer  Meister   auch  Brahms  mit  gleicher^ 
Liebe  und  Sorgfalt  zur  Aufführung  bringt.     Da  aber* 
diesem  bedeutenden  Musiker  sachlich  nicht  beizukora*- 
men  ist  und,  wäre  es  selbst  möglich,  Herrn  Kaiheck  das ' 
dafür    nötige    Fachwissen    mangelt,    so    macht    er*" 


sich  im  ^Feuilleton  vomi22.  Dezember  1903 'über  den 
i  gutgemachten  Prack'iund  die  tadellosen  Manchetten 
Nikisch's  '  weidlich  lustig.  *  Was  soll  nun  der  arme 
.'Nikisoh  tun?  Konmat.  er  ein  näöhstesmal  ■  mit«  einem 
.•schlecht  sitzenden  Frack  nach  Wien,  so  fällt  die  kri- 
c  tische  Schneidereeele  wieder  über  ihn  her.  Das  künst- 
lerische Interesse  dieses  irausikalischen  Afterkritikers 
'.  beginnt '  bei'  den  Frackschößen  des  Künstlers . . . 

Doch  ließe  sich  die  Anwendbarkeit  jener  schlim- 
:men' Worte    auf  Herrn  »Kalbeck's   Gesinnung    besser 
'.  erhärten  als  gerade  mit  dem  Angriff  auf-  Hugo  Wolfs 
iMenschenehre?  So  bübisch,  gehässig  und  brutal  kann 
adieser  bei  Lebzeiten   nicht   gewesen    sein  wie    einer, 
der     ihm     solchen    Schimpf    in     die     Grube  !  nach- 
cuft.  iWeruhier    den  Erdschollen    der  Liebe  die  Kot- 
ballen des  Hasses  vorzieht,   muß  darauf  gefaßt    sein, 
daß  sieiihm  —  so  wehrhaft  sind  die  Toten  —  ins  eigene 
■  liebe  Antlitz  zuTückfliegen.  Ich  beneide  Herrn  Kalbeck 
um  seine  Geschmacksrichtung  nicht  und  möchte  nicht  in 
seiner  Haut   stecken.    Um   der  Tat  willen,   nicht  um 
i  der  Strafe  vs^illen,  die  seiner  harrt.  Man  wehre  falscher 
Pietät  und' 'enthülle  schonungslos  erschlichenen  Nach- 
!  rühm  I  Ist;  aber  Hugo  Wolf,  der  durch  Not  und  Wahn- 
sinn in  den  Tod.  ging,  eine    Cliquengröße?    Und- soll 
i  est  erlaubt  sein,  der  stürmischen  Anerkennung,  in  der 
die  Reue  der  Nachlebenden  zum  Ausdruck  kommt,  in 
den  Arm    zu    fallen  ?     Der  Erhöhung    des    Künstlers 
durch .  Erniedrigung    des  Menschen    entgegenzuarbei- 
iten?  Plötzlich  und  mutwillig  den  kleinlichsten  Tratsch 
i-aufasutischen?  Bloß  aus  dem  Grunde,  weil  der  Meister, 
da  er  «einen  Unmut  in  kritischen  Explosionen  austobte, 
sich  einmal  so  unsanft  an  einem  Eck  in  Herrn  Kalb- 

•  eck's  Namen  gestoßen  haben  soll,  daß  er  dessen  Entfer- 
nung wünschte?  Der  edle  Kalbeek  revanchiert  sich,  in- 
dem er  nicht  die  Beleidigung  seiner  Majestät  zugibt,  son- 
dern auf  einen  Klatsch  zurückgreift,  der  Hugo  Wolfs 
Elegeljahre  kompromittieren  soll.  Er  berichtet  aus  eiaem 

•  Gespräche  mit  Hans  Richter^der  lö-oder  16  jährigeWolf 


8  — 


habe  sich  zu  diesem  g^eäußert,  »er  könne  bei  dem  Esel 
Hellmesberger  (Josef  Hellmesberger  sen.  ist  gemeint) 
nichts  lernen«.  Man  kann  die  Richtigkeit  dieser  Er- 
zählung kaura  in  Zweifel  ziehen,  da  ja  der  berühmte 
Dirigent  Hans  Richter  dem  Tondichter  den  Satz 
in  den  Mund  legt.  Immerhin  muß  man  das  phäno- 
menale Gedächtnis  dieses  Mannes  bewundern,  der 
nach  28  Jahren  sich  noch  an  den  Wortlaut  einer 
Unterredung  erinnert,  die  er  damals  mit  einem  ihm 
höchst  gleichgiltigen  15jährigen  Jungen  geführt  hat. 
Wolf  war  zwar  nie  unmittelbar  Schüler  Hellmesberger's, 
und  derartige  Aussprüche  haben  wohl  auch  schon  andere 
Jungen  dieses  Alters  über  ihren  Direktor  oder  gar 
ihren  Lehrer  getan;  das  wird  niemand  tragisch 
nehmen.  Aber  bezeichnend  ist,  daß  der  unreife  Junge 
Wolf,  der  den  schöpferischen  Genius  bereits  in  der 
Brust  trug,  verhältnismäßig  lange  nicht  so  hart  über 
den  Musiker  Hellmesberger  geurteilt  hat  wie  der 
32  jährige  Nichts-Schöpfer  Kalbeck —  1882  und  später 
—  über  die  gewaltige  Kulturerscheinung  eines  Richard 
Wagner.  Und  noch  bezeichnender  ist,  daß  Herr  Kalbeck 
die  gedruckten,  also  authentischen  Äußerungen  des 
25jährigen  Mannes  Hugo  Wolf  über  Hellmesberger, 
die  des  Lobes  voll  sind,  verschweigt.  Sie  sind  in  eben 
denselben  ,Salonblatt'-Kritiken  enthalten,  die  Herr  Kal- 
beck ja  so  genau  kennt.  Herr  Kalbeck  ist  zwar  kein 
Meister  des  Stils;  aber  er  zeigt  sich  ganz  dort, 
wo  er  weise  verschweigt.  Einem  Hugo  Wolf 
hätte  man  solches  Manöver  als  verlogen  oder  gar 
verleumderisch  angemerkt.  Nun,  die  Verschweigungs- 
taktik  wäre  besser  am  Platze  gewesen,  wo  Herr 
Kalbeck  den  Ausspruch  Hans  Richter's  über  die  »Pen- 
thesilea«  vorbringt:  »Sehen  Sie,  meine  Herren,  solche 
unmögliche  Sachen  komponiert  ein  Mensch,  der  jeden 
Sonntag  einen  Meister  wie  Brahms  im  , Salonblatt'  ver- 
unglimpft!« Damals  hatte  Hans  Richter  sein  ausge- 
zfichnetes  Gedächtnis  im  Stiche  gelassen ;  sonst  hätte  er 
sich  erinnern  müssen,    daß  man  seinerzeit  auch  den 


—  9  — 

»Tristan«  und  andere  Schöpfungen  seines  Meisters 
Wagner  als  »unmögliche  Sachen«  deklarierte.  Tat- 
sächlich ist  das  genial-stürmische  Jugendwerk  Wolfs 
nach  kaum  20  Jahren  »möglich«  geworden,  »Penthe- 
silea«  hat  in  diesem  Winter  nicht  nur  mehrere  erfolg- 
reiche Aufführungen  in  Deutschland  (besonders  unter 
Weingartner)  erlebt,  sondern  wurde  am  15.  März  1904 
sogar  in  Wien  mit  einem  Beifall  aufgenommen,  der 
zugleich  wie  der  Demonstrations-Applaus  eines  Pub- 
likums klang,  das  nicht  länger  gewillt  ist,  sich  seine 
ästhetischen  Anschauungen  von  den  Zeitungsleuten 
vorschreiben  zu  lassen.  Einem  Hans  Richter  übrigens 
ist  ein  einmaliger  Irrtum  leicht  zu  verzeihen;  steht 
er  doch  als  Mensch  und  Künstler  so  hoch,  daß  die 
taktlose  Bloßstellung  durch  Herrn  Kalbeck  seinem 
wohlverdienten  Ansehen  nicht  schaden  wird. 

Im  Nachlasse  Wolfs  fand  sich,  mit  dem  Datum 
seines  35.  Geburtstages  (13.  'März  1895)  versehen, 
eine  Photographie  Eduard  Hanslick's  nebst  einigen 
Versen  vor.  Der  Wolf- Biograph  Decsey  erzählt  von 
dieser  Widmung  —  nicht  etwa  in  seiner  sachlich  und 
vornehm  gehaltenen  Biographie,  sondern  nur  in  seinen 
Wolf-Miscellen,  abgedruckt  in  Heuberger's  »Musik- 
buch aus  Österreich  1904«,  wo  derlei  Anekdoten 
gewiß  nicht  deplaciert  sind  —  und  spricht  seine  Ver- 
wunderung aus,  daß  Hanslick  den  Komponisten  be- 
glückwünscht habe.  Die  Widmung  war  ein  Scherz, 
den  sich  ein  Bekannter  Wolfs  mit  diesem  erlaubt 
hatte,  ein  Scherz,  den  der  Biograph  —  in  gutem  und 
begreiflichem  Glauben  —  ernst  nahm.  Es  trifft  ihn 
also  immerhin  der  Vorwurf,  daß  er  eine  zu  hohe 
Meinung  von  dem  Musikhofrat  hatte.  Denn  wäre  die 
Widmung  tatsächlich  von  Hanslick's  Hand,  so  hätte  er 
wenigstens  einmal  in  seinem  Leben  die  Fähigkeit 
bewiesen,  die  musikalische  Begabung  eines  Zeit- 
genossen zu  erkennen.  Sicherlich  hat  er  sonst  nichtigeren 
Geschöpfen  als  Hugo  Wolf  Photographien  mit  Wid- 
mungen   verehrt.    Aber    Herr    Kalbeck    nimmt    die 


10  — 


Sache  nicht  so  leicht.  Er  wittert  ein  großes  Verbrechen, 
schlägt  vor  1  Entrüstung  Purzelbäume  und  eilt  zum 
.Oberbonzen,  um  ihm  die  schmachvolle  Zumutung  mit- 
zuteilen. Dieser  erklärt,  er  »kenne  jene  Verse  gar 
nicht«     und    habe    »Hugo     Wolf    weder    sein     Bild 

geschenkt,  nochihm  jemals  zum  Geburtstage  gratuliert«, 
.  »a  haben  wir  es  1  Der  böse  Anschlag  ist  enthüllt. 
Herr  Kalbeck  schließt:  »Die  Widmung  ist  demnach 
eine  Fälschung«.  Es  ist  am  Tage,  Hugo  Woli 
hat,  da  er  die  Anerkennung  Hanslick's  bei  Leb- 
zeiten nicht  erringen  konnte,  die  Unterschrift  aut 
einem  Bilde  des  großen  Ruhmverhinderers  fingiert, 
-uin  wenigstens  den  Durchforschern  seines  Nachlasses 
zu  imponieren...  Die  alberne  Enthüllung  sollten  die 
Schützer  des  Wolf'schen  Andenkens  ignorieren  und 
in  die  Beleidigungsklage  nicht  einbeziehen.  Daß  der 
Biograph  die  Widmung  so  ernst  nehmen  durfte  wie 
Friedrich  Eckstein,  ^'ener  Freund  Wolfs,  der  sie  aus 
dem  Nachlaß  überkommen  hatte  und  Herrn  Dr.  Decsey 
übergab,  ist  klar.  Herr  Kalbeck  freilich,  der  Gewissen- 
hafte, besteht  darauf,  der  Schriftsteller,  der  »so  etwas« 
veröffentlicht,  sei  »verpflichtet  gewesen,  den  Sach| 
verhalt  an  der  Quelle  zu  eruieren«.  Herr  Kalbeck  scheiif 
wirklich  der  Meinung  zu  sein,  daß  einer,  dem  eine  an- 
ständige Handlung  des  Hofrats  HansUck  berichtet  wird 
vor  allem  an  einen  Aufsitzer  zu  denken  hat.  Aber  muß 
man  denn  mit  Widmungen  berühniter  Männer  rigorose 
verfahren  als  eben  Herr  Hanslick,  der  sie  —  und  wäii 
selbst  eine  seines  Freundes  Kalbeck  darunter  — 
munter  zum  Antiquar  trägt?  Gewiß,  das  Bild  Hans- 
lick's, das  sich  in  Wolfs  Nachlaß  fand,  trag 
eine  falsche  Unterschrift.  Aber  ist's  nicht  schlimmer 
daß  die  Widmungen,  die  sich  auf  den  von  Herrr 
Hanslick  verklopften  Büchern  finden,  echt  sind?... 
Jedenfalls  ist  der  Spaßvogel,  der  Hugo  Wolf  genarrt  hat 
literaturkundiger  als  die  Wiener  Musikkritik,  diefl 
für  seinen  Streich  den  Meister  selbst  verantwort-' 
•iich  machen- möchte.  »Hanslick- kennt  jene  Verse  ga: 


nicht.«  Herr  Ktilb  eck  kennt  sie  natütlich, auch 'nicht. 
Er  macht  wohl  selbst  bessere.  Und  der  dritte;  im 
Bünde,  Herr  Korngold,  verkündet  am  17.  März  in 
der  , Neuen  Freien  Presse':  »Nun  hätte  ja  gewiß  eine 
solche  Aufmerksamkeit  eine  ebenso  ungewöhnliche  wie 
schmeichelhafte  Auszeichnuqg  für  den  jungen  Kom- 
ponisten bedeutet  —  wären  nur  die  Verse  besser, 
die  Handschrift  auf  der  Photographie  jene  Hanslick's 
md  die  ganze  Geschichte  so  wahr,  wie  sie  falsch  ist.« 
SS  ist  zwar  nicht  einzusehen,  warum  eine  An- 
läherung  Hanslick's  an  Wolf  für  diesen  hätte 
ichmeichelhafter  sein  sollen  als  für  jenen.  Aber 
\sQ)  Herr  Hanslick  auch  gegen  den  Verdacht  der 
\.ütorschaft  jener  Verse  geschützt  werden  muß,  ist 
las  drolligste  an  der  Sache.  Schon  einmal  hat  ein 
Sflitarbeiter  der  ,Neuen  Freien  Presse'  über  ein  Ge- 
licht, das  er  auf  einem  Grabstein  fand,  gespottet. 
Der  Spötter  hieß  Wittmann  und  der  Dichter  Schiller. 
Jnd  nun  heißt  jener  Korngold  und  dieser  —  Goethe. . . 
Das  letzte  Histörchen  des  Herrn  Kalbeck  ist 
vohl  das  widerwärtigste  und  abgeschmackteste.  Herr 
ü[albeck  bekennt,  er  habe  einmal,  da  er  einen  Angriff 
iVölf's  auf  Brahms  las,  diesen  »empört  gefragt,  wer 
ienn  eigentlich  dieser  Hugo  Wolf  sei«.  Brahms 
iiabe  entgegnet:  »Ach  Gott,  das  ist  ja  so  ein  dürf- 
läger,  armseliger  Kerl,  ein  verunglückter 
Musikant,   der  nichts  lernen  will.     Er  kam  einmal 

u  mir,  da  war  er  nicht  von  der  Türe  wegzu- 
bringen: er  küßte  immerzu  die  Klinke  ,aus 
Verehrung*...«  Brahms  habe  hinzugefügt:  »Ekel- 
laft!«.  Ja  wohl,  Herr  Kalbeck,  ekelhaft!  Könnte  der 

eser  selbst  glauben,  daß  Brahms  so  pöbelsinnig. über 
)in  aufstrebendes  Musikgenie  gesprochen  habe,  so 
«rürde  ihn  die  Mitteilung  der  häßlichen  Rede  als  eine 
Beleidigung    zweier    Toten    abstoßen    und    als    die. 

chäbige  Ausnutzung  der  Gelegenheit,  daß  für  diö 
Sfzählung    bloß    Herr    Kalbeck,     für    das    Erzählte 

ein  Zeuge  mehr  bürgen  kann.     Hat  Brahms  es  ge- 


—  12  — 

sagt,  schlimm  genug  für  ihn.  Ist  es  wahr,  so  bleibt 
darum  kein  Fleck  auf  Wolfs  Andenken  haften,  und 
der  Vorwurf  der  Unaufrichtigkeit  kann  den  nicht 
treffen,  dessen  heißes  Temperament  durch  Entwick- 
lungen zu  stürmen,  aus  Liebe  in  Haß  zu  stürzen 
geschaffen  war.  Anton  Brückner  hat  einmal 
Hanslick's  Hand  geküßt.  Die  Schmach  fällt  auf  eine 
im  Mißbrauch  gefürchtete  Presstyrannis  zurück,  und 
die  Verehrung  würde  heute  nicht  zaudern,  könnte 
sie  noch  einmal  vor  die  Wahl  gestellt  werden,  ob 
jener  Mund  verstummen  oder  jene  Hand  verdorren 
solle . . . 

Genug  von  dem  widerwärtigen  Getratsche  I  Was 
soll  der  ganze  Hader,  weil  außer  Brahms  noch  andere 
Tondichter,  die  andere  Wege  einschlagen,  wirkten? 
Hätten  die  Meister,  die  oft  Not  und  Hunger  litten, 
wenigstens  das  Honorar  bezogen,  das  heute  ein  Kal- 
beck mit  ihrer  Besudelung  verdient  I  Aber  sind  sie, 
die  Brückner  und  Wolf,  die  Wagner  und  Liszt,  nicht 
auch  allzu  anspruchsvoll,  allzu  frech?  Erst  versucht 
man  sie  totzuschweigen,  dann  rezensiert  man  sie  zu 
Tode,  dann  sterben  sie  wirklich,  aber  je  mehr  die 
Hanslick  und  Kalbeck  losschlagen,  umso  lebendiger 
und  größer  stehen  sie  im  Herzen  des  Volkes  wieder 
auf. . .  Wer  ist  denn  eigentlich  dieser  Kalbeck,  was 
will  er,  wess  vermißt  er  sich  ?  Er  hat  einige  dürftige 
lyrische  Gedichte  geschrieben  und  einige  schon  wieder 
verschollene  Operettentexte  geliefert,  hat  fremd- 
ländische Opern  angeblich  ins  Deutsche  übertragen  — 
Alois  Obrist  führt  in  seinen  in  Lessmann's  Musik- 
zeitung (Berlin-Charlottenburg)  über  »schlechtes  Opern- 
deutsch« veröffentlichten  Aufsätzen  unter  den  ab- 
schreckendsten Beispielen  eine  erkleckliche  Anzahl 
aus  Kalbeck's  »Feder  an  — ,  hat  eine  ehrfurchtlose 
»Bearbeitung«  des  Don  Juan  gewagt,  hat  wohl  auch 
einigen  Musikunterricht  genossen  und  wurde,  da  er 
weder  zum  Dichter  noch  zum  Musiker  taugte,  Zeitungs- 
kritiker für  Literatur  und  Musik.  Als  solcher  trat  er 


—  18  — 

in  die  Reihe  der  Wiener  Beckmesser,  die  sich  von 
jenem  Wagner's  bloß  dadurch  unterscheiden,  daß  sie 
oft  nicht  einmal  die  Tabulatur  kennen,  pflanzte  die 
Anschauungen  seines  Förderers  Hanslick  fort,  hängte 
sich,  um  nicht  die  Überfuhr  zur  Unsterblichkeit  zu 
versäumen,  an  die  Prackschöße  Johannes  Brahms' 
und  schien  gewillt,  alles,  was  neben  diesem  in  Tönen 
zu  empfinden  wagte,  einer  Rache,  einer  Laune, 
einem  Spaß  zu  opfern.  Denn  in  diese  Wiener  Grund- 
stimmung, die  ein  großes  Kunstwerk  bedenkenlos  für 
einen  kleinen  Witz  hingibt,  hat  sich  der  Breslauer 
Philister  vortrefflich  eingelebt.  Das  findet  man  -»  so  hat 
er's  gelernt  —  amüsant,  das  liest  man  mit  Behagen, 
das  wird  bei  allen  Jours  nachgeplappert,  und 
das  ernährt  seinen  Mann.  Lebten  wir  in  dem  von 
Wagner  erträumten  Staat,  —  Pakta  wie  jenes  Hugo 
Wolf-Feuilleton  würden  nicht  als  Ehrenbeleidigung, 
sondern  als  Religionsstörung  behandelt  werden. 
Oder  sollen  wir  uns  heute  lieber  nach  Wagner's 
Bekenntnis  richten,  er  sei  »von  Anfang  herein  unsren 
Musikzeitungsschreibern  mit  einer  Verachtung  be- 
gegnet, wie  sie  stärker  nie  in  der  Welt  bezeigt 
worden  sein  dürfte«?  »Wenn  das  deutsche  Publikum«, 
lehrt  er  in  demselben  Kapitel,  »es  liebt,  die  Abtritts- 
schlotten seiner  Gemeinheit  sich  auf  die  offene  Straße, 
bis  in  seine  Unterhaltungsräume  hineinziehen  zu 
lassen,  wie  es  dies  mit  der  Pflege  seiner  Zeitungs- 
presse tut,  so  muß  man  ihm  das  lassen,  kann  aber 
bei  dem  Gestanke  nichts  mehr  mit  ihm  zu  tun  haben«. 


158 


—  14  — 

Iil  einem  Wiener  Vergnügungslokale'  soll  ein 
»Japanischer  Kriegsmarsch«  aufgeführt  werden.  Das 
regt  die  , Ostdeutsche  Rundschau',  die  jetzt  »Deutsches 
Tägblatt'  heißt,  gewaltig  auf.  »Wir  Deutsche  haben 
gar  keinen  Grrund,  uns  besonders  für  die  Angelegen- 
heiten der  Japaner  zu  begeistern,  und  am  wenigsten 
ist  es  angebracht,  gewisse  Vergleiche  zu  ziehen.  Die 
heldenhaft  getragene  blutige  Not  eines  stammver- 
wandten Volkes  ließ  bei  uns  alle  Herzen  erzittern, 
und  diese  Teilnahme  mußte  sich  Luft' machen,  indem 
das  Burenlied  bejubelt  wurde«.  Die  Begeisterung  für 
Japan  aber  sollten  wir  den  Juden  überlassen... 
Die  Grroßherzigkeit,' mit  der  ein  antisemitisches  Blatt 
das  Verständnis  für  die  Lebensäußerungen  einer 
höheren  Kultur  den  Juden  überlassen  will,  ist  ja 
rührend.  Oder  glaubt  die  »Ostdeutsche  Rundschau',  daß 
es  der  Menschenschlag  der  Herren  Malik,  Herzog  und 
Franko  Stein  ist,  der  die  höhere  Kultur  repräsentiert? 
Wir  werden  uns  doch  nicht,  wenn  wir  die  Wahl 
zwischen  Russen  und  Japanern  haben,  für  das  teu- 
tonische Gesindel,  das  dem  Künstler  Kubelik  in  Linz 
die  Fenster  einschlug,  entscheiden  müssen?  Wenn  der 
»Japanische  Kriegsmarsch«  besser  ist  als  die  Buren- 
hymne, möge  er  immerhin  gespielt  werden ;  man  sieht 
die  nationalen  Begeisterungen  des  Spießers  lieber  in 
Gassenhauern  als  in  Straßenprügeleien  ihre  Ableitung 
finden.  Aber  müssen  wir  denn  unbedingt  zwischen 
»Russen«  und  »Japanern«  wählen?  Drückt  uns  nicht 
schon  diese  MaulafFenfreude  an  einem  Blutvergießen 
tief  unter  das  Kulturniveau  beider  Streitteile?  Wird 
die  Entscheidung  irgendwie  beeinflußt,  wenn  jüdische 
Reporter  Japan  und  Kerzelweiber  RulSland  ihrer  un- 
wandelbaren Sympathien  versichern?  Der  schmutzigste 
Kosak  steht  gewiß  so  hooh  über  einem  Wiener  Börsen- 
redakteur wie  eine  Geisha  über  einer  christlichsozi- 
alen Wahlraegäre ...  Es  ist  übrigens  kein  schlechter 
Einfall,  die  Burenbegeisterung,  die  wir  glücklich  über- 
standen haben,  aus  Gründen  der  »Stammes verwandt- 


—  >15  — 

Schaft«  zu  erklären.  Die  Verwandtschaft- des  Buren- 
volkes mit  dem  Stamm  der  Herren  Popölak,i  Inderka, 
Molinek,  Honsik,  Haluschka,  Miklautschitsch,  Kudielka, 
Prochaska  und  Wiskozil  ist  >  nicht  ohneweiters  ein- 
leuchtend. Das  sind  die  Namen  der  besten  Deutschen, 
'SO  wir  haben,  —  der  •  Teilnehmerliste  eines  stramm- 
deutsohnationalen  Festes  entnommen,  das  vor  Jahren 
in  Iglau  gefeiert  wurde.  Herr  MaHk  ist  alldeütsclier 
Abgeordneter,  Herr  Sedlak  Redakteur  der , Ostdeutschen 
Rundschau',  Herr  Stepischnegg  Schwiegervater  des 
K.  H.  Wolf.  In  Nr.  17  der  ,Fackel' waren  die  Herren 
Kokoschinegg,  Kovatschitsch,  Mravlag,  Besgorschak 
und  Podgorschegg  als  die  politischen  Wortführer  der 
Deutschen  in  Südsteiermark  bezeichnet,  lauter  Namen, 
die  einen  guten  Klang  haben,  so  weit  die  deutsche 
Zunge  reichen  muß,  um  sich  auszukegeln.  Wenn  man 
daneben  bedenkt,  daß  politisch  einflußreiche  Slovenen 
>  Kaisersberger,  Fischer,  Mayer,  Blachmann,  Schuster, 
Rosenstein  und  Krämer  heißen,  daß  der  Deutsche,  der 
einmal  in  Cilli  angeschossen  wurde,  Pollanetz,  der  Slave, 
der  auf  ihn  schoß,  geradezu  Jahn  (Vater  Jahn, 
schau  obal)  heißt,  wenn  in  Marburg  die  Herren 
Glantschnigg  und  Woschnagg  deutschnational  und 
ihre  Brüder  Glancnik  und  Voinjak  slovenischnational 
krakehlen,  so  mag  man  sich  an  den  nachdenklichen 
Ausspruch  des  Tschechen  Rieger  erinnern:  »Mir 
scheint,  mir  scheint,  daß  dem  Cheruskerfürsten  Her- 
mann meine  Ahnen  näher  standen  als  die  des  Frei- 
herrn V.  Chiumeckyl«  Hierzulande  wenigstens  stimmt 
es:  »Der  Nationalismus«,  so  hat  mir  ein  geist- 
voller Mann  einmal  gesagt,  »ist  eine  Sache  der 
Entschließung«..  .  Wann  werden  die  Regierenden 
dieser  Affenkomödie,  bei  der  die  Fensterscheiben  der 
Völker  und  höhere  Kulturgüter  flöten  gehen,  ein  Ende 
machen? 

Wie  sehr  der  slavische  Ansturm  die   deutschen   National- 
güter und  vor  ■  allem   die  deutsche  Sprache   schon>  bedrängt^  geht 


—  16  — 

aus  einem  Aufruf  hervor,  den  mir  ein  Verein  zur  Oründung  einer 
»Deutschen  Volksschule  in  Witteschau«  bei  Hohenstadt  in  Mähren 
zusendet.  Daß  Witteschau  slavisiert  wird,  ist  »leider  mit  der  Zeit 
zu  befürchten,  da  wir  gegenwärtig  gezwungen  sind,  unsere  Kinder 
in  die  slavische  Schule  zu  senden,  wo  die  Kleinen  dem  Terroris- 
mus slavischer  Volksbildner  noch  ausgesetzt  sind,  nachdem  die 
nächste  deutsche  Volksschule  17«  Wegstunden  von  uns  enifemt 
ist«.  Der  Einfluß  der  slavischen  Volksbildner  zeigt  sich  auch  schon 
in  dem  Satze :  »iVlit  der  frohen  Zuversicht,  daß  unser  Notschrei  aus 
schwer  bedrängter  Lage  nicht  ungehört  bei  unseren  Volksgenossen 
verhalle,  wir  doch  stolz  darauf  sind,  einem  Kulturvolke  ersten 
Ranges  anzugehören,  . .  .  gründeten  wir  den  Verein  .  .  .,  welcher 
keinen  andern  Zweck  verfolgt  als  wie  die  Errichtung  einer 
deutschen  Volksschule  in  Witteschau<.  Da  ist  rasche  Hilfe  gebo- 
boten.  Denn  es  handelt  sich  um  die  »Sicherung  des  deutschen 
Besitzes  von  Hohenstadt,  da  durch  diese  Schule  der  immer  mäch- 
tiger werdende  tschechische  Ansturm  von  letzterer  Stadt  abgelenkt 
werden  muß«.  Die  weite  Entfernung  einer  deutschen  Volksschule 
verleugnet  sich  auch  in  der  Schreibweise  der  Erwachsenen  von 
Witteschau  nicht.  »Wir  wollen  treu  bleiben  unserer  trauten,  süßen 
Muttersprache«.  Aber  man  sieht,  wie  schwer  es  ist.  Darum 
empfehle  ich  —  und  viel  ernster  und  nachdrücklicher  als  die 
deutschnationale  Publizistik  —  den  Aufruf  werktätiger  Beachtung. 


Diebsanzeiger. 

Das  ,Neue  Wiener  Journal'  vom  27.  März  bringt  unter  der 
Rubrik  »Pariser  Leben.  Von  unserem  Korrespondenten«,  natürlich 
ohne  Quellenangabe,  die  in  ,le  Journal'  vom  23.  März  von  Michel 
Provins  veröffentlichte  Novellette:  »le  troisieme  sexe«.  Das  Plagiat 
dürfte,  wie  mir  ein  mit  Pariser  journalistischen  Kreisen  in  Ver- 
bindung stehender  Leser  mitteilt,  Anlaß  zur  Klage  gegen  das  un- 
verschämte Diebsblatt  geben.  Unter  der  Bezeichnung  »Les  para- 
sites  du  journalisme«  sei  in  Paris  einmal  das  Lippowitzblatt 
als  »le  refuge  des  cambrioleurs  de  la  presse«  an  den 
Pranger  gestellt  worden.  —  Wahrlich,  ein  internationaler  Dieb !  Die 


—  17  — 

Erlassung  eines  Steckbriefs  empfiehlt  sich  nicht,  da  ihn  das  ,Neus 
Wiener  Journal'  sicher  ohne  Quellenangabe   nachdrucken  würde. 


In  den  Tbeaterrubriken  kann  man  oft  ganz  gute  Witze 
lesen.  Zum  Beispiel: 

>Die  Direktion  des  Deutschen  Volkstheaters  hat  an  Henrik 
Ibsen  die  Einlädung  ergehen  lassen,  zur  Erstaufführung  von  ,Wenn 
wir  Toten  erwachen'  nach  Wien  zu  kommen«. 

Noch  besser: 

>Aus  Anlaß  von  Ibsens  76.  Geburtstag  wird  morgen  im 
Deutschen  Volkstheater  den  Theaterbesuchern  nebst  dem  Theater- 
zettel von  ,Wenn  wir  Toten  erwachen'  auch  eine  Ansichtskarte 
mit  dem  Bilde  des  Dichters  überreicht  werden.  Die  erste  dieser 
Ansichtskarten  wurde  heute  dem  Dichter  zugeschickt.« 

Die  Direktion  des  Deutschen  Volkstheaters  hat  die  Inten- 
tionen Ibsen's,  die  man  sonst  immer  für  so  schwer  verständlich 
ausgibt,  sehr  fein  erfaßt.  Ibsen  soll  hocherfreut  gewesen  sein  und 
aus  der  fortwirkenden  pessimistischen  Stimmung,  die  seinen  Epilog 
erfüllt  und  in  der  ihn  diese  Verklärung  seines  Lebensabends  durch 
die  Herren  Weisse  und  Bukovics  überraschte,  gerufen  haben: 
>Das  hätte  ich  nicht  erwartet!« 


ANTWORTEN  DES  HeRAUSGBBBRS. 

Kriminalist.  Das  Urteil  über  die  Tat  des  Johann  Feigl  ist  vom 
Oberlandesgericht  augenblicklich  gefällt  worden.  Die  Justiz  hat  mit 
standgerichtlicher  Promptheit  gearbeitet.  Leider  ist  die  Differenz  zwischen 
lebenslänglich  und  zwölf  Jahren,  zu  der  Herr  Feigl  verurteilt  wurde, 
eine  viel  zu  geringe,  und  zwölf  Jahre  für  den  Trunkenheitsexzeß,  den 
ein  minderjähriger  Bursche  auf  der  Ringstraße  verübt  hat,  noch  immer 
horrend.  Wiewohl  Herrn  Feigl  kein  mildernder  Umstand  zugebilligt 
werden  kann,  wiewohl  er  weder  minderjährig  ist,  noch  in  Volltrunken- 
heit gehandelt  hat,  wiewohl  er  sich  der  Folgen  seiner  Handlungs- 
weise —  z.  B.  Erschütterung  des  Vertrauens  in  die  Strafjustiz,  dauernde 
Berufsstörung  bei  Anton  Kraft  usw.  —  bewußt  sein  mußte,  hat  das 
iOberlandesgericht  sich  für  bemüßigt  gehalten,  ihn  mit  mehr  Rücksicht 
zu  behandeln  als  den  andern  Angeklagten.  Warum,  Ihr  Herren?  Warum 
;wird  denn  mit  den  »Jahrin«  nur  so  herumgeschmissen?  Es  ist  ja 
isehr  selbstlos,  wenn  ein   Berufungsgericht    einen  Teil   des   Entsetzens, 


—  il8  — 


1 


das  ein  Urteil  >  erregt  hat,  auf  sich  nehmen  will.  Aber  schließlich  ist 
doidi  die  Gerechtigkeit  auch  etwas,  worauf  in  der  Judikatur  Rücksicht 
genommen  werden  sollte,  wenn  ich  auch  gern  einsehe,  daß  die 
Kollegialität  vorangehen  muß.  Das  Schicksal  eines  Angeklagten  dürfte 
doch  nicht  so  ganz  apathisch  zwischen  den  Höflichkeitsbezeugungea 
der  Instanzen  zerrieben  werden !  »Sollte  nicht  selbst  die  Umwandlung 
des  lebenslangen  in  zwölfjährigen  Kerker  durch  das  Oberlandesgeiicht 
der  gewiß  schwer  ins  Gewicht  fallenden '  Absicht,  •  die  Richter  der  ersten 
Instanz  nicht  allzuschroff  ins  Unrecht  zu  setzen,  entsprungen  sein? 
Dann  würde  der  Fehler,  den  diese  begangen  haben,  zum  Nachteile 
eines  Unglücklichen  fortgewirkt  haben.  Uns  scheint,  daß  der  Fall  Kraft 
sich  eher  zu  einer  Annäherung  an  die  unterste  Grenze  der  drei 
Jahre  schweren  Kerkers  empfohlen  hätte.«  So  schreibt  Dr.  Edmund 
Benedikt  in  den  ,Juristischen  Blättern'  vom  27.  März.  Wenn  die  Empörung 
fühlender  Laien  die  Maßgebenden  nicht  aufgerüttelt  hat,  vielleicht  macht 
sie  die  Tatsache  stutzig,  daß  dem  Fall  Feigl  gegenüber  ein  juristisches 
Fachblatt  zum  erstenmal  aus  seiner' wissenschaftlichen  Reserve  heraus- 
tritt. Dr.  Benedikt  schreibt :  >Nach  der  letzten  veröffentlichten  Statistik  wurde 
in  ganz  Österreich  im  Laufe  des  Jahres  1897  über  28  Personen  lebens- 
länglicher Kerker  verhängt,  darunter  über  21  infolge  gnadenweiser  Um- 
wandlung der  gesetzlichen  Todesstrafe.  Wenn  man  die  Seltenheit  der 
Hinrichtungen  bedenkt,  deren  Zahl  im  Jahre  1897  nicht  mehr  als  5 
betrug,  so  daß  die  vielleicht  ebenso  fürchterliche  Strafe  des  ewigen 
Kerkers  bei  den  verworfensten  Mördern  an  deren  Stelle  gesetzt  wird, 
während  in  41  von  im  ganzen  67  Fällen  todeswürdig  erkannter  Mord- 
taten 8-  bis  20jähriger  Kerker  als  angemessene  Sühne  erkannt  wurde, 
so  muß  die  ungeheuere  Aufregung,  welche  die  Verurteilung  da 
Kraft  durch  einen  Wiener  Schwurgerichtssenat  hervorgerufen  hat,  selbst 
vom  trockensten  Zahlenmenschen  geteilt  werden.«  Nach  Benedikt's  An- 
sicht hat  Herr  Feigl  nicht  einmal  die  Berufung  auf  den  traungen  Buch- 
staben des  österreichischen  Strafgesetzes  für  sich:  >Die  Überfallene 
hatte  infolge  des  Schreckens  einen  Nervenchok  Erlitten,  der  sie  durdi 
mehr  als  zwanzig  Tage  arbeitsunfähig  machte.  Es  ist  bei  diesem  Tat- 
bestände zweifelhaft,  ob  überhaupt  die  Sanktion  dei 
lebenslänglichen  Kerkers  zutrifft,  ob  nicht  vielmehr  xias  Gesetz 
Iiri  §  195  eine  unmittelbare  schwere  Verwundung  oder  Verletzuag  fordert, 
so  daß  der  Eintritt  eines  Nervenchoks,  dem  sonst  die  Gericht« 
nicht  allzu  freundlich  zu  sein  pflegen,  außerhalb  dieses 
Rahmens  fällt.«  »Aber  sei  dem  wie  immer«,  fährt  der  Jurist  fort,  >di' 
Thatsache,  daß  die  unmittelbar  zugefügten  Verletzungen  ganz  leichte 
Art  waren,  ist  ein  höchst  wichtiger  Milderungsumstand.  Dazu  korarr. 
die  NichtvoUbringung  des  Raubes,  dessen  Begehung  am  hellen  Tage  s: 
sehr  belebter  Gegend,  also  unter  möglichst  ungefährlichen  Umständen 
in  subjektiver  Hinsicht  das  jugendliche  Alter,  die  Angetrunkenheit  un 
die  Not.  Und  dieses  Verbrechen,  das,  verglichen  mit  den  übrigei 
schweren  Straftaten  in  der  Monarchie,  kaum  in  deren  oberen  Hälfte  zu 
stehen  kommeu  dürfte,    wurde   mit   der   fürchterlichsten   Strafe 


-  19^— 


deren  Schwere  desto  gr/5ßer  Ist,  einen,  je  jüngeren -Delinquenten  sie  trifft., 
Unter  allen  begnadigten  Mördern  des  Jahres  1897  war  nur  Ein  Minder- 
jähriger, dem  Kerker  auf  Lebenszeit  zuerkannt   wurde,  und  dieser  hatte 
ein  achtjähriges  Kind  getötet,  das  er  mißbrauchen  wollte.   In  wie  bei- 
spielloser Weise  das  Urteil  des  Wiener  Schwurgerichts- 
hofes die  seit  so  vielen  Jahrzehnten  in  so  vielen  tausen- 
den  von  Fällen  jiergestellte  Verhältnismäßigkeit  zwischen 
Strafe    und     Verbrechen     gestört    hat,    sagt,  jedem 
die    Erfahrung    und    bestätigen    die    Zahlen.    Wie    immer    man    über 
Orund    und    Zweck    der    Strafe    denken    mag,    wie    sehr   man    davon 
überzeugt    sein   mag,    daß    eine   absolute    Gerechtigkeit    schon    wegen 
der     Inkommensurabilität     von    Schuld    und    Strafe    niemals    erreicht 
werden    kann,    man    muß    daran    festhalten,    daß   jene    Proportion,    die 
sich  auf  Grund  der  Gesetze  durch  die  Übung  der  Spruchpraxis  heraus- 
gebildet hat,  nicht  verletzt  werden  darf,  wenn  man  nicht  aus  der  Straf - 
Justiz  eine    willkürliche    und   sinnlose    Straferei  machen  will.« 
In  zutreffender  Weise  werden  nun  die  Folgen  der  Feigl'schen  Tat  erörtert. 
Das  Urteil  habe   nicht  nur  die   heilsame  Assoziation    der  Vorstellungen 
w)d    Verbrechen    und    Strafübel,    in    der   allein    die  Rechtfertigung  der 
itrafe  liege,  erschüttert ;  es  »scheint  noch  eine  weitere  verwerfliche  Wir- 
rang   in    der    kurz    darauf    unter   demselben    Vorsitz    erfolgten    Frei- 
jp rechung  von  Funddieben  durch  die  Geschwornen  hervorgerufen 
11  haben.  Daß  die  Jury,    wenn  Ihr  Verdikt    In   einer  unerwartet  harten 
iträfbemessung     Geltung     erhalten     hat,      durch      Absolvierung 
inderer   Angeklagter    sich    zu    salvieren    glaubt,    ist    eine 
edem  Praktiker  bekannte  Sache.  Aber  es  irren  sich  diejenigen,  die  sich 
n  gutherziger  Welse  über  solche  Geschenke  des  Schicksals  an  Schuldige 
euen,    denn  In  solchen  Freisprüchen  liegt  eine  tiefe  Grausamkeit,  weil 
;e   die  Wurzel    des  Strafrechtes   angreifen    und  Willkür   an    Stelle  des 
rteils  setzen.«  .  .  .  Am  schärfsten  trifft  Herrn  Feigl  wohl  das  folgende: 
So  traurig  uns  die  Überschreitung   des  Strafmaßes  berührt,   so  können 
^rdoch  nicht  glauben,  daß   das  Benehmen   des  Beschuldigten  bei  der 
cfhandlung  dabei   in   Betracht  gekommen   sei.     Leider  ist  ja   die 
radition  noch  nicht  bei  allen  Vorsitzenden   verschwun- 
en,  daß  es  richtig  sei,  zu  dem  Angeklagten  in  die  Arena 
inabzusteigen  und  Ihn  Im  Ringkampf  die  geistige  Über- 
gen heit  fühlen  zu  lassen  und  jede  Auflehnung  des  Dell  n- 
uenten    oder    auch    manchmal     der     Entlastungszeugen 
egen    dieses   oft    grausame   Spiel  als  Rebellion    zu    em- 
{flnden.     Daß  aber  Richter   eine  solche  Auflehnung  den  Verurteilten 
Spruche   entgelten  lassen    sollten,  können    wir  nicht  glauben.     Daß 
der  Vorsitzende    den  minderjährigen  Angeklagten,    der   soeben  zu 
inslänglichem    Kerker    verurteilt    worden    war,    zu    einer  Strafe,    die 
[den    härter    dünkt  als    der    Tod,    sofort   mit    der    Frage    über- 
ilte,  ob   er  berufen  wolle,    statt  ihn  ausdrücklich  zu  warnen,  die  Er- 
mg    nicht  früher  abzugeben,    bevor  er    sich  nicht   mit    seinem  Ver- 
Itfiger  besprochen    und    sich  die    Sache  genau    überlegt  habe,    daß  er 


-  20  — 


dann  die  in  verbissenem  Trotz  hervorgestoßene  Erklärung,  auf  die  Be- 
rufung zu  verzichten,  als  eine  unwiderrufliche  statuierte,  ist 
ein  Vorgang,  den  man  nicht  begreifen  kann.  Die  Rechtsmittel- 
belehrung hat  den  Zweck,  den  Inkulpaten  auf  die  ihm  zustehenden 
Rechte  aufmerksam  zu  machen  und  ihm  Zeit  und  auch  womöglich  die 
Sammlung  zur  Überlegung  zu  gewähren,  nicht  aber  ihn  in  derSchlinge 
der  unvermittelt  hervorgestoßenen  Erkl  ärung  zu  fangen.« 
»Wer  in  solcher  Weise«,  schließt  Benedikt,  »an  dem  Verhält- 
nis zwischen  Strafe  und  Tat  rüttelt,  zerbricht  einen  der 
stärksten  Pfeiler  unserer  ohnehin  unvollkommenen  Ge- 
rechtigkeit und  lädt  eine  schwere  Schuld  aufsich.<  — 
Wie  Shakespeare  Richter  richtet,  habe  ich  neulich  hier  zitiert.  Die  Verse 
waren  aus  >Maß  für  Maß«.  Aber  neben  dem  schlechten  Richter  Angelo 
tritt  in  diesem  Stück  auch  eineharmlosere  Justizperson  auf:  »El  bogen, 
ein  einfältiger  Gerichtsdiener«.  Es  stimmt  also  alles.  Und  der 
Clownscherz  ist  wirklich  so  heiter  zu  nehmen  wie  bei  Shakespeare.  Die 
Berechtigung  des  allgemeinen  Entsetzens  über  das  Feigl'sche  Urteil  ist 
jetzt  definitiv  erwiesen:  Herr  Dr.  Friedrich  Elbogen  billigt  es.  In  der 
,Wage'  —  diese  Revue  aller  menschlichen  Langweile  lebt  noch  immer 
—  hat  er  seinen  Kohl  angebaut.  Er  rechtfertigt  die  lebenslängliche 
Strafe  —  Feigl  hat  sie,  wie  nachträglich  bekannt  wurde,  über  den  Irr- 
sinn des  österreichischen  Strafgesetzes  hinaus  mit  einem  jährlichen  Fast- 
tage »verschärft«  —  aus  einem  »höheren,  soziologischen  Gesichtspunkt«, 
Diese  verfluchten  Gesichtspunkte  auf  dem  schönen  Antlitz  der  Frau 
Justitia!  Und  vollends  Herr  Feigl  als  Soziolog!  Anton  Kraft  ist  ein 
»geborener  Verbrecher.«  Seine  etwaige  Besserung  müsse  »im  Gefängnisse 
abgewartet:  werden«.  Das  ist  natürlich,  ganz  abgesehen  von  der  psycho- 
logischen Verläßlichkeit  der  Gefangenaufseher,  ein  Unsinn.  Den  »gebomen 
Verbrecher«  kann  ich  am  Kaffeehaustisch  agnoszieren ;  gestraft  werden 
kann  er  nur  nach  dem  Maß  der  kriminellen  Tat,  die  er  begangen  hat.  Da 
müßte  man,  wenn  man  auf  Numero  Sicher  gehen  wollte,  vorsichtshalber 
die  ganze  Menschheit  einsperren.  Und  wie  sollte  man  sich  in  einem 
Milieu,  in  welchem  verbrecherische  Triebe  keiner  Verlockung  erliegen 
können,  von  einer  »Besserung«  überzeugen?  Die  Reklamesucht  eines 
Advokaten  ist  auch  eine  Gefahr,  gegen  die  »sich  die  Gesellschaft  schützen 
muß«.  Ginge  es  deshalb  an,  ihn  zeitlebens  an  einem  finstern  Ort  abzu- 
schließen? Es  ist  lustig,  aber  nicht  appetitlich,  einen  Advokaten,  der 
als  Verteidiger  des  Delinquenten  nicht  genug  Unschuldsphrasen  hätte 
häufen  können,  um  des  bißchens  Aufsehen  willen  sein  Handwerk  so 
flink  verleugnen  zu  sehen.  Schmocks  Privileg  war  es  bisher,  nach  rechts 
und  nach  links  zu  schreiben.  Rechts-  und  Linksanwalt  zu  sein,  ist  aber 
auch  lohnend. 

Advokat.  Das  ,Barreau'  hat  zu  der  Publikation  der  .Frankfurter 
Zeitung'  über  Wiener  Advokatenrechnungen  und  besonders  zum  Fall 
Harpner  -  siehe  Nr.  156  der  .Fackel'  -■  so  dummes  Zeug  geschwätzt, 
daß  man  die  »Standesinteressen  der  Anwälte  Österreichs«,  deren  »Organ< 
zu  sein  es  vorgibt,  nicht  mit  den  Verstandesinteressen,  die  ja  von  einem 


—  21 


edleren  Organ  vertreten  werden,  verwechseln  darf.  Die  »Frankfurter 
Zeitung'  reagiert  am  22.  März  wie  folgt  darauf :  >Es  war  in  diesem 
Feuilleton  dargelegt  worden,  daß  die  Kostenrechnung  des  gegnerischen 
Advokaten,  zu  deren  Zahlung  eine  Partei  verurteilt  wird,  fast  immer  vom 
Gericht  auf  50  bis  10  Prozent  der  geforderten  Summe  herabgesetzt  wird. 
Es  war  ferner  gesagt,  daß  die  Advokaten  im  Bewußtsein  dieser  Abstriche 
übermäßige  Liquidationen  aufstellen.  Endlich  war  ohne  Nennung  von 
Namen  ein  besonders  krasser  Fall  erzählt  worden,  bei  dem  ein  Anwalt 
zwölftausend  Kronen  forderte  und  zwölfhundert  als  angemessenes 
Honorar  zugesprochen  erhielt.  Bezüglich  dieser  drei  Punkte  richtet  das 
,Barreau'  an  uns  eine  ,Aufklärung'  und  erwartet  von  unserer  Loyalität, 
daß  wir  sie  den  Lesern  zugänglich  machen  würden.  Wir  haben  die  merk- 
würdige Aufklärung  sorgfältig  mehrmals  durchgelesen  und  aus  ihren 
langen  Erörterungen  entnommen,  daß  sie  eine  Bestätigung  aller  in 
dem  von  uns  publizierten  Artikel  dargelegten  Zustände  darstellt.  Man 
höre  ihren  Inhalt,  der  im  Auszuge  folgendes  enthält :  ,Der  Advokat  ist 
berechtigt,  sich  eine  bestimmte  Belohnung  zu  bedingen.  Hat  er  das 
vorher  versäumt,  dann  ist  er  auf  das  Wohlwollen  des  Richters  an- 
gewiesen, der  seine  Befugnis  der  Kostenbestimmung  oft  auf  Praktikanten 
überträgt,  die  keine  Ahnung  von  dem  Wert  der  advokatorischen  Leistung 
haben  und  die  Rechnung  möglichst  herabsetzen.  Das  hat  die  Folge, 
daß  die  Advokaturskanzleien  die  einzelnen  Posten  höher  bewerten, 
in  der  Erwartung,  die  nach  den  Abstrichen  bleibende  Summe  werde 
dann  den  Betrag  erreichen,  den  der  Anwalt  wirklich  haben  wollte. 
Die  Advokaten  haben  öfter  schon  selbst  anerkannt,  daß  die  Tarifsatz»" 
für  kleine  Rechtsgeschäfte  zu  hoch  sind.'  In  diesen  Ausführunger.  ..erden 
klipp  und  klar  die  beiden  ersten  Punkte  zugegeben :  die  enorme  Herab- 
setzung der  Kosten  durch  das  Gericht  und  das  bewußte  übermäßige 
Liquidierungssystem.  Bezüglich  des  dritten  Punktes,  der  ohne  Namen 
erzählten  Affäre,  teilt  das  ,Barreau'  das  betreffende  Urteil  mit  und  be- 
weist dadurch,  daß  ihm  selbst  die  Sache  und  die  Namen  gut  bekannt 
sind.  Die  , Aufklärung'  fügt  nur  hinzu,  daß  der  Advokat  nicht  12.000, 
sondern  nur  10.000  Kronen  verlangt  hätte,  daß  ihm  persönlich  jedes 
Interesse  an  diesem  Honorar  fehlte,  da  seine  eigene  Partei  ihn  bezahlt 
hatte,  und  daß  ein  Prozeßgegner  nicht  verurteilt  wird,  den  Anwalt  des 
Siegers  zu  honorieren,  sondern  dem  Sieger  selbst  alle  durch  die  Prozeß- 
führung verursachten,  zur  Rechtsverfolgung  notwendigen  Kosten  zu 
ersetzen.  -  Das  ist  ein  Spiel  mit  Worten,  wie  es  forensischer  Dialektik 
entspricht.  Denn  in  der  Praxis  bekommt  fast  immer  der  Advokat  die- 
jenige Summe,  zu  der  das  Gericht  den  Gegner  verurteilt.  Aber  auch 
hier  gibt  die  , Aufklärung'  das  Tatsächliche  zu,  daß  nämlich  von  der 
Liquidation  ungefähr  zwölf  Prozent  gerichtlich  als  berechtigt  anerkannt 
wurden.  Wir  konstatieren  also,  daß  das  Organ  für  die  Standesinteressen 
der  Anwälte  Österreichs  durch  seine  eigenen  Angaben  die  Richtigkeit  der 
in  unserem  Feuilleton  dargelegten  Fakten  bekräftigt.  Wenn  es  trotz- 
dem diesen  Artikel  ein  .Pamphlet'  nennt,  so  wird  man  an  das  seltsame 
Oebahren  von    Leuten  erinnert,   die  den  Spiegel  schmähen,   weil  er  das 


22 


wirkliche  Aussehen  der  Dinge  wiederzugeben  wagt.«  -  Im  .Barreau' 
war  übrigens  der  Bescheid  über  die  Kostenbestimmung  des  Landesgerichtes 
in  meinem  Prozeß  mitgeteilt.  Entstellt.  Nicht  1400,  sondern  bloß 
1200  Kronen  hat  das  Gericht  Herrn  Dr.  Harpner  für  Verhandlung  und 
Vorarbeit  zugesprochen. 

Sklavenhalter.  »Kürzlich  wurde  die  Arzten^attin  Frau  H.  vom 
Bezirksgerichte  Neubau  wegen  Ehrenbeleidigung  zu  einer  Geldstrafe 
von  40  Kronen  verurteilt,  weil  sie  ihr  Dienstmädchen  Anna  F. 
.aller gemeinste  Person'  genannt  hatte.  Als  Zeugen  wurden  die 
Stiefkinder  der  von  dem  Dienstmädchen  geklagten  Frau  veraommen, 
welche  die  inkriminierten  Worte  bestätigten.  Frau  H.  berief  gegen 
das  Urteil.  Ein  landesgerichtlicher  Appellsenat  hob,  gestern  das  Urteil 
auf  und  fällte  einen  Freispruch.  In  der  Begründung  heißt  es,  daß 
die  Frau  die  aus  dem  Jahre  1809  stammende,  noch  zu  Recht  bestehende 
Dienstbotenordnung  nicht  überschritten  habe,  nach  welcher  eine  be- 
rechtigte Kritik  des  Hausgesindes  erlaubt  ist.«  Demselben  Appellsenat 
verdanken  wir  auch  den  Freispruch  des  Herrn  Gfromer.  Er  tagt  unter 
dem  Vorsitz  des  Herrn  Landesgerichtsrates  Adamu.  Muh.  .  .! 

Monarchist.     Zum    Pressleiter    der   Modeausstellung    sagte    der 
Kaiser:    »Die  Wiener  Presse  hat  sich  viel  mit  der  Modeau&stellung  be- 
schäftigt«. Wie  viel,  läßt  sich    in  österreichischer  Wähiung   freilich  erst 
-SO  recht  nach  dem  Rundgang  des  Kaisers  berechnen.  Hier  der  beiläu- 
fige Tarif  der  , Neuen  Freien  Presse' : 


Firma 

Kaiser  wort 

Kronen 

Orendi 

»Das  ist  ja  entzückend«  und  »Übrigens  ist 
mir  Ihre  Firma  ja.  schon    längst   bekannt«. 

300.— 

Zwieback 

»Ich  kenne   Ihr    Haus   sehr   genau,    es  ist 

eine  alte  renommierte  Firma.«  Der  Monarch 

äußert  seine  Befriedigung  darüber,  daß  Herr 

Zwieback  eine  Weltreise  antreten  will. 

200.— 

Pohl 

»Diese  Hüte  sind  wirklich  sehr  schön«. 

30.— 

Pollak 

».  .  .  wobei  er  sich  über  einen  lichten  Über- 
zieher besonders  lobend  aussprach«. 

40.— 

Schacher! 
Stern  &  Co. 

».  .  .  erkundigte  sich  über  den  Export  von 

Damenblusen    und    war   erfreut,    zu  hören, 

daß  dieser  Artikel  einen  großen  Aufschwung 

genommen  habe«. 

»Das  sind  sehr  schöne  Sachen«. 

90.— 
50.— 

Paprika- 
Schlesinger 

».  .  .  bemerkte,    daß   die   Firma  sehr   viel- 
seitig sei«. 

50.-     i 

etc. 

etc. 

etc.      ^ 

Wann 
\  Kaiserworten. 


endlich    wird    dieser    schändlichen   Ausschlachtung    von 
diesem  merkantilen  Mißbrauchter  Höflichkeit  deS'Mooar- 


I 


— <28  — 


eben    gesteuert    werden  ?    Die    .Neue  Freie  Presse'    soll  bei  der  letzten 
Gelegenheit  gegen  2400  Kronen  in  die  Debatte  gezogen  haben. 

Kahlkopf.  Von  dem  VerschleiBer  eines  Haarwuchsmittels  erhalte 
ich  —  in  gedrucktem  Zirkular  — das  folgende  Angebot:  »Löbliche 
Redaktion!  Erlaube  mir  mit  diesem  anzufragen,  für  welchen  Preis  Sie 
mir  die  nebenstehende  Empfehlung  in  Ihrem  geschätzten  Blatte  •  ver- 
öffentlichen möchten.  Wollen  gefälligst  die  Preise  für  einmalige  Ein- 
schaltung und  bei  Wiederholungen,  wöchentlich,  monatlich,"viertel-,  halb- 
und  ganzjährig  angeben.  Bitte  auch  die  Zahlungsbedingungen  anzugeben. 
Diese  Empfehlung  wünsche  ich  im  redaktionellen  Teile 
zwischen  die  Zeitungsartikeln  (freilich  ohne  Umrahmung),  weil  es 
nicht  wie  ein  Inserat,  sondern  nur  wie  eine  Empfehlung 
aussieht.  Ersuche  dieses  gleich  in  die  folgende  Nummer  einzureihen. 
Bitte  auch  um  die  Mitteilung,  welchen  Preis  Sie  mir  bestimmen^  wenn 
ich  diese  Empfehlung  gleichzeitig  im  redaktionellen,  sowie  auch  im 
Inseratenteile  eingeschaltet  wünsche  und  zwar  auf  der  ersten  Seite,  so 
daß  es  in  jeder  Nummer  zweimal  angeführt  ist.  Erbitte  mir  die  denk- 
barst niedrigsten  Preise,  denn  ich  bin  entschlossen,  ganzjährig  zu  inserieren. 
Hoffe,  daß  mir  die  Preise,  sowie  Bedingungen  günstig  gestellt'  werden, 
worauf  ich  dann  Ihr  steter  Kunde  bleibe,  denn  mein  Geschäft  ist  gut 
eingeführt,  erfreut  sich  allgemeinen  Wohlwollens  und  hat  eine  große 
Zukunft  zu  erwarten.  Belegnummern  erwünsche  ich  mir  nach  Erscheinen 
jeder  Nummer.  Nach  Übersehen  verteile  ich  diese  in  die  umliegenden 
Gasthäuser  und  gebe  sie  auch  Jedem,  der  sich  fürs  Lesen  interessiert, 
und  damit  mache  ich  Ihnen  nicht  nur  Reklame,  sondern  auch  Ihrem 
Blatte  große  Bekanntschaft.  Auf  baldige  und  günstige  Rückäußerung 
wartend,  zeichne  ich  hochachtungsvoll  .  .  .<  —  Der  Mann  hat  sich 
offenbar  durch  die  Betrachtung  über  den  kosmetischen  Schwindel  in 
Nr.  156  der  , Fackel'  zu  diesem  ehrbaren  Antrag  ermutigt  gefühlt. 

Literat.  In  der  »Literarischen  Praxis'  veröffentlichte  kürzlich  der 
österreichische  Schriftsteller  Roda  Roda  die  folgende  Verwahrung:  >Ihre 
sehr  gesch,  Nr.  vom  1.  d.  M.  enthält  einen  Artikel  ,Österreichische 
Schriftstellermisere',  den  ich  ausdrücklich  widerlegen  will,  wiewohl  jedem 
halbwegs  Kundigen  das  Nichtzutreffende  in  des  Herrn  Autors  Aus- 
führungen ohnehin  in  die  Augen  sticht.  Zunächst  ist'  es  wohl  augen- 
scheinlich unrichtig,  daß  ,die  Norddeutschen  auf  die  süddeutsche  und 
da  namentlich  auf  die  Wiener  Literatur  mit  scheelem  Blicke  sähen'. 
Namen  wie  Artur  Schnitzler,  Hofmannsthal,  Peter  Altenberg,  Paul 
Busson,  (Wiener),  Hugo  Salus  imd  Gustav  Meyrink  (Prager)  widerlegen 
•  die  ungeheuerliche« -Behaup^ng  durch  ibten  guten  Klang,  der  auch  in 
Norddeutschland  allenthalben .  Sympathien  auslöst.  Diese  und  andere 
Österreicher  werden  dafür  sorgen,  daß  der  ,österreichische  Sangesfrühling' 
(wie  der  Herr  Verfasser  befürchtet)  ,nicht  doch  noch  erstickt  werde'.  Von 
einem  Vorurteil  der  Kritik  gegen  Österreicher  zu  reden,  ist  angesichts  der  Er- 
folge der  eben  genannten  Autoren  nichts  als  widersinnig.  Es  ist  auch 
nicht  wahr,  daß  wir  in  Österreich  keine  gute  Verlagsanstalt  haben.  Ich 
■erinnere  an' die  Österreichische '  Verlagsasstalt,   den  Wiener  VerlAg^  <lic 


—  24  — 


Verleger  Konegen,  Braumüller,  Seidel  &  Sohn,  Holder,  Gerold,  Mohr, 
Rosner,  Stern  usw.,  von  denen  jeder  wenigstens  einen  Zweig  der  schönen 
Literatur  pflegt.  Es  ist  nicht  wahr,  daß  wir  in  Österreich  keine  billigen 
Druckeieien  haben.  Unsere  großen  Verlage  lassen  ihre  Bücher  in  Öster- 
reich drucken.  Wir  haben  auch  —  was  der  Herr  Autor  nicht  bestritten 
hat  —  in  Wien  eine  Anstalt  für  Zinkätzung  und  verwandte  graphische 
Künste,  die  den  Weltmarkt  beherrscht  und  an  der  Herstellung  der 
meisten  englischen  Prachtwerke  mitbeteiligt  ist.  Auf  die  übrigen  (nach 
meiner  Ansicht  ebenfalls  vollkommen  irrigen)  Ausführungen  des  Ver- 
fassers einzugehen,  habe  ich  kein  Interesse.«  Alles  richtig.  Auch  daß 
unsere  Verlage  ihre  Bücher  in  Österreich  drucken  lassen.  Nur  eines  ist 
kurios:  unsere  Dichter  lassen  ihre  Bücher  nicht  in  unseren  Verlagen 
erscheinen.  Die  sechs  genannten  Autoren  haben  fast  ihre  sämtlichen 
Bücher  in  Deutschland  verlegen  lassen. 

Leser.  Aus  dem  Bericht  über  einen  Doppelselbstmord:  >Da3 
Entstehen  der  Beziehungen  zwischen  der  Frau  und  dem  halbwüchsigen 
Burschen  ist  psychologisch  merkwürdig.  Fiala  kam  als  Freund  der  Fa- 
milie oft  ins  Haus.  Die  Frau  fand  Gefallen  an  dem  Burschen.  Wann 
es  zur  Aussprache  gekommen,  ist  deshalb  nicht  zu  be- 
stimmen, weil  er  und  sie  es  sorgfältig  geheimzuhalten 
verstanden,  daß  sie  nicht  bloß  die  Freundschaft,  sondern 
auch  die  Liebe  aneinander  fesselte«.  Welch'  unberechtigte 
Geheimniskrämerei  vor  der  Presse!  »Höchst  sonderbar  und  seltsam,  ii^ 
der  Tat!« 

BÜCHEREINLAUF. 

Suse  Theodor,  Pygmalion.  Lieder  aus  dem  Rosenhag.  Sym- 
phonien in  Rosen  und  Marmor.  Leipzig.  S.  Hirzel. 

Charmatz  Richard,  Der  demokratisch-nationale  Bundesstaat 
Österreich.  Betrachtungen.  Frankfurt  a.  M.  Neuer  Frankfurter 
Verlag.  G.  m.  b.  H. 

Herbatschek  Dr.  Heinrich,  Ausgedinge  oder  Bauernversiche- 
rung? Wirtschaftspolitische  Studie.  Wien.  Im  Selbstverlage,  IX* 
Schulz-Strassnitzkigasse  5. 

Kurz  Leopold,  Die  Zerbrochenen.  Novellen.  Leipzig-Wien.  Fritz| 
Sachs. 


MITTEILUNG  DER  REDAKTION. 
Unverlangte  Manuskripte  werden  nur   zurück-» 
gesendet,    wenn    frankiertes    und    adressiertes 
Kuvert   beilag. 


MITTEILUNG  DES  VERLAGES. 

Am  1.  April  sind  fünf  Jahre  seit  dem  Erscheinen  der  ersten 
Nummer  der  «Fackel'  vergangen.  Mit  dem  nächsten  Heft  wird  der 
sechste  Jahrgang  der  ,Fackel'  eröffnet. 


Herausgeber  und  verantwortlicher  Redakteur:  Karl  Kraus. 
Druck  von  jahoda  &  Siesel.  Wien.  ill.  Hintere  ZoUamtutniBe  3 


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»NDINGSECT.  AUß20  t97T 


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