474-483 MAI 1918 XX. JAHR
DIE FACKEL
HERAUSGEBER
KARL KRAUS
INHALT:
Der begabte Czernin / Glossen / Das technoromantische
Abenteuer / Für Lammasch / Inschriften / Der darbend«?
Bürger / Glossen / Notizen / Bange Stunde / Halbschlaf /
Das zweite Sonett / An eine Falte / Suchen und Finden /
Die Flamme der Epimeleia / Programme / Glossen / Ein Staats-
streich / Inschriften / Am Sarg Alexander Girardis / Der Well-
spiegel / Glossen / Zum ewigen Frieden.
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Preis dieses Heftes: O-*-*
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VERLAG: ,DIE FACKEL4, WIEN
Ett/2. HINTERE ZOLLAMTSSTRASSE 3 TELEPHON NR. 187
VERLAG DER SCHRIFTEN VON KARL KRAU!
<KURT WOLFF)
SITTLICHKEIT UND KRIMINALITÄT 2. Auflag
SPRÜCHE UND WIDERSPRÜCHE 3. Auflag
DIE CHINESISCHE MAUER 3. Auflag
HEINE UND DIE FOLGEN 3. Auflag
PRO DOMO ET MUNDO 2 Auflag
2 NESTROY UND DIE NACHWELT
1916 WORTE IN VERSEN I
7 WORTE IN VERSEN II
1018 WORTE IN VERSEN III
Im Druck: NACHTS
UNTERGANG DER WELT DURCH SCHWARZE MAOI1
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Leipzig, Kreuzstraße 3 b
D I E> FACKEL
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INHALT des vorigen, zweifachen Heftes 472/473, 25. Oktober 1917
Epigramme und andere Gedichte
Das vorliegende Heft eröffnet den XX. Jahrgang der Facke
DIE FACKEL
Nr. 474—483 23. MAI 1918 XX. JAHR
Der begabte Czernin
Dieser Aufsatz, in der Schweiz entstanden, ist wie fast alles dort
im Februar Geschriebene, da es erscheint, von der Zeit überholt;
vieles war schon veraltet, als es geschrieben wurde. Den früheren
Heften der Fackel haftet dieser Fehler nicht mehr in demselben
Maße an, und je weiter sie zurückliegen, umsoweniger. So besteht
denn die Hoffnung, daß auch dieses Heft die Zeit überholen
wird. Bis dahin sollten ihm die Leser erspart bleiben, deren
Aufmerksamkeit vom Zeitpunkt abgelenkt ist. Sie mögen sich
mit der Versicherung begnügen, daß der um die Aktualität
unbesorgte Verfasser einen vom Krieg handelnden Aufsatz lieber
nach dem Friedensschluß als vorher erscheinen lassen wollte.
Immerhin ist es schon ein Fortschritt, daß ein von einem
Minister handelnder Aufsatz nafch dessen Demission erscheint,
wenngleich auch nach der Verleihung des Ehrenbürgerrechtes
von Wien, dessen die dankbare Gemeinde einen Mann für
würdig erachtet, dem sie das Wort vom Brotfrieden und das
Versprechen von Getreide aus der Ukraine, also unter allen
Umständen die Befriedigung unserer Nahrungsphantasie verdankt.
Wer für den übrigen Reichtum an Ehren, der sich dem Grafen
Czernin jetzt darbietet, um eine Erklärung verlegen ist, sollte
nicht übersehen, daß dieses Land auch unbegrenzte Möglich-
keiten hat, geniale Staatsmänner hervorzubringen. Es bedarf zu
einem solchen bloß der Erkenntnis, daß die hier zusammen-
wohnenden Nationen, vor allem Tschechen und Deutsche
einander mit grimmigerem Hasse verfolgen, als jede der Gruppen
jeden der Feinde, und des Mutes, von der amtlichen Norm, die
— 2
ein verbindliches Lächeln zwischen den Gegensätzen vorschreibt,
einmal abzuweichen. Hat sich ein österreichischer Staatsmann
zu dem Entschluß durchgerungen, die eine der beiden Parteien
des Hochverrats zu beschuldigen, so kann er sicher sein, so-
lange er sichs nicht überlegt, von der andern mit Kundgebungen
gefeiert zu werden, vor denen die Popularität des entlassenen
Bismarck sich ins Kleingedruckte der Weltgeschichte zurückzieht,
wiewohl doch weder die Gedanken noch die Erinnerungen des
Grafen Czernin darnach angetan sind, die Klio zu einer
Umgruppierung zu veranlassen. In Wahrheit hat die Gewöhnung
an die Erlebnisse der Quantität seit dem Jahre 1914 uns ver-
gessen lassen, daß vordem schon der zehnte Teil einer heutigen
Weltblamage ausgereicht hätte, um einen Minister des Äußern
zu Falle zu bringen. Die meisten Betrachter sehen an dem
Grafen Czernin nur den Vorzug, sich zu seinem Nachteil von
den Standes- und Amtsgenossen durch den Mangel an Formen
zu unterscheiden, und da in dieser beispiellosen Zeit die
schillernde Mittelmäßigkeit für Persönlichkeit gehalten wird, so
glaubt man allgemein, es sei schon das höchste Glück der
Erdenkinder, kein Burian zu sein. Man vergißt, daß das zwar
viel, aber beiweitem noch nicht alles ist. Immerhin wäre doch
auch ein Maßstab denkbar, nach dem dtr Graf Czernin in der
Weltgeschichte etwa als der Mann fortleben würde, der dem
Präsidenten Wilson die Antwort schuldig geblieben ist und der
sich später nur sehr unzulänglich damit entschuldigt hat, daß
sie ihm der deutsche Reichskanzler aus dem Munde genommen
habe. Ob ihn freilich sein Schweigen mehr als sein Reden dem
Dank der Nachlebenden empfehlen möchte, müßte dahingestellt
bleiben; denn als der Mann der zweiteiligen Rede, der Kant
und Krupp zur Einheit verbunden hat, witd der Graf Czernin
so bald nicht aus dem Gedächtnis verschwinden. Nach diesem
Höhepunkt mußte es rapid abwärts gehen. Später, als er vor
erstaunten Gemeinderäten den Grundstein zum Wiener Ehren-
bürgerrecht legte, hat er nur die Konsequenz aus seiner
Budapester Haltung gezogen. Nichts blieb ihm übrig, als den
Konflikt zwischen den zwei Seelen in seiner Brust auszutragen
und die Bekenner des ersten Teils seiner Rede als Defaitisten,
— 3 —
die Anhänger des zweiten Teils als Annexionisten zu tadeln.
Freilich, die schöne Angelegenheit Clemenceau, in der die ehr-
liche Verlogenheit unserer Presse es Schritt für Schritt ermög-
licht hat, die Wahrheit zu erkennen, die auszusprechen der
Wahrhaftigkeit noch lange nicht möglich sein wird, wäre uns
und der Welt erspart geblieben, wenn statt eines Genies ein
Fadian regiert hätte. Die Frage, ob der Graf Armand sich dem
Grafen Revertera verwandter gefühlt hat, als der Graf Revertera
dem Grafen Armand, ist nicht zu erörtern und auch sonst hat
sich viel zugetragen, woran nicht zu drehn noch zu
deuteln ist. Immerhin kann man sagen und von Glück sagen,
daß die Persönlichkeit des Grafen Czernin dessen Amtsführung
überlebt hat, da doch leicht der umgekehrte Fall hätte eintreten
können. Er hat von sich selbst erklärt, er gehöre dorthin, wo
die Frieden geschlossen werden. Wünschen wir ihm und uns,
daß die Frieden, die er geschlossen hat — inklusive den Brot-
frieden — sein Gewissen dereinst nicht schwerer belasten mögen,
als der Krieg das Gewissen jener, die ihn beschlossen haben,
und daß der Anlaß zu der hier veröffentlichten Betrachtung, so
überholt er im Augenblick ist, nicht dereinst wieder aktuell werde.
Während unser Seidler mitten im Weltkrieg
als Dramatiker durchgefallen ist und dadurch vor
weitern Allotria bewahrt bleibt, hat unser Czernin
sich leider als vorzüglicher Feuilletonist bewährt,
und so peinlich es ist, einen Ministerpräsidenten zu
haben, der im Deutschen Volkstheater gespielt wurde,
so ist es doch noch viel betrüblicher, daß ein
Minister des Äußern den Zeitpunkt der europäischen
Heilsbotschaft mit einer Gewandtheit verspielt, die
ihn in der Art, vor dem jüngsten Gericht die scherz-
hafteZeugenmieneaufzusetzen,Talenten wie Hirschfeld
überlegen erscheinen läßt und an sonnigem
Naturburschentum Hans Müllern an die Seite rückt.
Schon der echt feuilletonistische Einfall, die Re-
naissance der christlichen Idee an eine Frist zu
binden, nach deren Ablauf die weltzerstörenden
Gewalten sich nicht mehr gebunden erachten,
hat ja Chefredakteuren die Bewunderung des
geschickten »Handgriffs« abgerungen. Nach dem
Canossagang zum Antichrist und nachdem die
Preßkanaille aller offiziösen Schattierungen auf
Wilsons Vorschlag losgelassen wurde, folgte die
zweite evangelische Causerie, die diesmal schon in
der gleichzeitigen Hertlingschen Absage befristet
war, so daß sich — man sollte keine der beiden
Reden aus dem Zusammenhang beider reißen —
das Ganze als eine in der diplomatischen Belletristik
neue und reizvolle Etüde, so zwischen Janus und
doppelter Buchhaltung, herausstellte. Während im
allgemein menschlichen Teil Hertling, Biograph
des heiligen Augustinus, mehr Gewicht auf die
bekannte Frage, wer angefangen hat, legte, war
Czernin durchaus zum Aufhören bereit und dem
ausgesprochenen Verzicht auf den Verzichtfrieden,
der jenem gelang, entsprach dieser durch einen
deutlich unausgesprochenen Nichtverzicht auf
Annexionen. Im neutralen Ausland, übermittelt durch
das Wiener Korrespondenzbureau, las man's so:
.. .der Minister nahm keinen Anstand zu erklären, daß er in den letzten
Vorschlägen Wilsons eine bedeutende Annäherung an den österreichisch-
deutschen Standpunkt finde, und daß darunter sich einzelne befinden,
denen wir sogar mit großer Freude zustimmen können. Der Minister
müsse aber vorausschicken: 1. daß er, soweit diese Vorschläge sich
auf unsere Verbündeten beziehen, bezüglich des deutschen
Besitzes von Belgien und bezüglich der Türkei, getreu den
übernommenen Bundespflichten, für die Verteidigung der Bundes-
genossen bis zürn Äußersten zu gehen fest entschlossen sei. Den
vorkriegerischen Bestand unserer Bundesgenossen werden wir
verteidigen wie den eigenen.
Das war nun freilich noch deutlicher als man es
erwartet hätte, und nur wer wie ich weiß, daß ein
fehlendes Komma den Sinn der Schöpfung umdrehen
kann, erkannte zur Not, daß hier so etwas passiert sein
müsse. In einem auch sonst durch die Geschicklich-
keit unseres Korrespondenzbureaus verstümmelten
Satz mußte an der entscheidenden Stelle die Trennung,
— o — 1
die das Schwert der Interpunktion zwischen dem"
deutschen Besitz und Belgien immerhin bewirken
möchte, aufgehoben sein. Aber wer denn außer mir
wäre Pedant genug, derlei für wesentlich zu halten?
Worte entscheiden zwar jetzt über die Eventualität,
ob hunderttausend Menschen auf einen Gashieb um-
kommen sollen, und ob noch etliche Millionen sterben
müssen, ehe das entscheidende Wort gesprochen
wird — aber auf einen Beistrich wird's doch nicht
ankommen? Als ich's in der Neuen Zürcher Zeitung
las, dachte ich an die Aufgabe, die sich hier dem
Übersetzer bot, der's soeben der französischen Presse
telegraphierte. Wie das wirkte, war am übernächsten
Tag zu lesen :
Paris — — Bedenklich sei, daß Graf Czernin sich hin-
sichtlich Belgiens so undeutlich äußere.
Nun, der Schreibfehler war nur Trabant und
Helfer der Undeutlichkeit und da schließlich selbst
das Wiener Korrespondenzbureau einsieht, daß, wenn
auf ein richtig geschriebenes Wort ein Regiment
Toter komme, ein falsch geschriebenes eine Division
kosten kann — nach diesem Kriege wird auch die
übrig gebliebene Menschheit mit mir die Gefahren
des Drucks überschätzen — , so erschien in der
Neuen Zürcher Zeitung die folgende von mir
annähernd antizipierte
Berichtigung zur Rede des Grafen Czernin.
Das Wiener Korr. -Bureau ersucht uns, in der Rede Czernins
bei der Erwähnung der Wilsonschen Vorschläge folgendes richtigzu-
stellen: Der Minister müsse aber vorausschicken 1. soweit sich die
Vorschläge auf unsere Verbündeten beziehen — es ist von dem
deutschen Besitz, von Belgien und vom türkischen Reich
darin die Rede — , erkläre ich, daß ich getreu den übernommenen
Bundespflichten . . .
Ich glaube nicht, daß viele Leser die winzig
gedruckte Notiz bemerkt, auch nur wenige die Rede
nachgelesen haben und daß der Fall einem unserer
für Bridgespielen bezahlten Berner Diplomaten Kopf-
zerbrechen verursacht hat. Nur der Prinz Alexander
zu Hohenlohe — einer jener spärlichen Deutschen, die
durch menschenmöglichesDenken um eine Berichtigung
der internationalen Ansichten über Deutschland
bemüht sind — stellte in eben jener Zeitung fest:
In der ersten Übermittlung seiner Worte war durch Weg-
lassung eines Kommas der Satz arg entstellt worden, und es war
von einem >deutschen Besitz von Belgien« die Rede, was zu
den verschiedensten Auslegungen Anlaß geben
konnte.
Nun kann man nicht oft genug sagen, daß
nicht nur der Stil, sondern auch der Druckfehler
der Mensch ist und daß dergleichen nebst den »ver-
schiedensten Auslegungen«, die die Folge sind, den
Staatsmännern derZentralmächte keineswegs passieren
könnte, wenn sie sich hinsichtlich Belgiens einmal
deutlich äußern wollten. Der Graf Czernin sagt in
dem, was er sagen wollte, auch nicht gerade etwas,
was nicht zu den verschiedensten Auslegungen
Anlaß geben könnte. Er koordiniert den deutschen
Besitz und Belgien, indem er sie als Inhalt der
Wilson'schen Vorschläge zitiert, und gibt, indem er
hinterdrein von der Verteidigung des »vorkriegerischen
Bestandes« spricht, zu verstehen, daß Österreich für
die deutschen Ansprüche auf Belgien, das ja selbst
nach Ansicht des Wolffbüros nicht zum vorkriegerischen
Bestand des Bundesgenossen gehört, eigentlich, nun
ja, allerdings, vermutlich nicht eintreten werde. Es
ist für den delphischen Charakter dieser Auffassung
bezeichnend, daß selbst die Berichtigung nicht nur
als solche wertlos, sondern geradezu eine Handhabe
für weitere Auslegungen war; denn bei Weg-
lassung des Schlusses vom vorkriegerischen Bestand
— und welcher Leser nimmt sich wie gesagt die
Mühe, auf den berichtigten Druck zurückzugreifen — ,
wird trotz dem eingesetzten Komma noch viel weniger
als in der fehlerhaften Fassung gesagt, was Österreich
von -Belgien eigentlich halte; im Gegenteil erweckt
nun der pathetische Ausklang in die übernommenen
Bundespflichten erst recht den Eindruck, daß eben
diese sich auf Belgien beziehen sollen, welches ganz
so wie der deutsche Besitz und wie das türkische
Reich verteidigt werden sollen, unddaß die Berichtigung
eben .den Zweck habe, gegen alle Mißdeutungen der
Bündnistreue jene Absicht zu unterstreichen, gegen
allen Glauben an unsere Besinnungsfähigkeit, der
nach der ersten Fassung immerhin noch Platz greifen
konnte — denn damals konnte ein aufmerksamer
Leser vielleicht doch auf den Sinn kommen, nämlich
den unseres Wunsches, nur den vorkriegerischen
Besitzstand zu verteidigen, und schließlich merken, daß
hier ein Druck- oder Schreibfehler passiert war. Die
kluge Berichtigung unseres Korrespondenzbureaus,
die erst der Prinz Hohenlohe erläutert hat, mußte
wie eine Korrektur der richtigen und nicht der
falschen Auffassung wirken, wie eine feierliche
Betonung der Absicht, die übernommenen Bundes-
pflichten getreu auch auf Belgien zu erstrecken.
Und wenn der Graf Czernin selbst das Glück hat,
in England eine Presse zu finden, die sich bemüht,
seine Gedanken über Belgien zu erraten, wer schützt
ihn und seine Völker gegen eine mißdeutende
feindliche Regierung, der die Preßagenturen einen
Text zutragen, welcher das vom Wiener Korrespon-
denzbureau gelieferte Monstrum in getreuer Über-
setzung wiedergibt — und darum für gefälscht gilt?
Daß von der kleinlichen Korrektur, wie sie mir beliebt,
bis zur blutigen Lesart von Versailles ein Schritt sein
kann, dürfte die folgende Meldung mit erschreckender
Deutlichkeit dartun:
Amsterdam, 11. Februar. Die , Daily News' bezeichnen die
amtliche Erklärung über die Ergebnisse der Versailler Konferenz ....
als beunruhigend, insbesondere die bemerkenswerte Entscheidung, daß
die Rede des Grafen Czernin keiner Erwiderung wert sei. E i n
wichtiger Teil dieser Rede sei von den Preßagenturen
ganz anders wiedergegeben worden, als er in dem von
den deutschen Blättern mitgeteilten Original lautet. Die, wie die
, Daily News' andeuten, vielleicht nicht bloß versehentlich unterlaufene
Entstellung eines wichtigen Teiles der Rede des Giafen Czernin hei
der Übermittlung an die englische Presse wird von dem Blatte durch
Gegenüberstellung der vom Reuterschen Büro verbreiteten Fassung
und der Übersetzung des Originaltextes dargetan. Das Blatt wolle es
unerörtert lassen, wen die Verantwortung für die
Entstellung bei der Wiedergabe der Rede des Grafen Gzernin
treffe; es halte es aber für außerordentlich wichtig, festzustellen,
ob der Versailler Konferenz bei der fraglichen Ent-
scheidung die falsche Fassung der Rede des
Grafen Czernin vorgelegen w a r oder aber der amtliche
Text, der in Verbindung mit der warmen Zustimmung zu der
Botschaft des Präsidenten Wilson an den Kongreß ein sehr
bezeichnendes Abgehen von einer Eroberungspolitik erkennen lasse.
Wir vermögen, schließt das Blatt, die in Versailles eingenommene
Haltung mit dem amtlichen Text der Rede des Grafen Czernin
nicht zu vereinen. Das Parlament muß daher auf einer
Aufklärung bestehen ....
Auch der .Manchester Guardian' widmet dieser Angelegenheit
einen Leitartikel, in dem er sagt: Der Unterschied ist sehr
bedeutend, und es ist nicht leicht verständlich, wie die
telegraphische Fassung so schlimm mißraten konnte. Da die
Richtigkeit der Meldungen von förmlichen Erklärungen
der feindlichen Staaten von der größten Bedeutung ist, so
ersuchen wir die Behörden, Ermittlungen darüber anzustellen, wie die
Irrtümer in diesem Falle entstanden sind.
Das wäre nicht schwer zu ermitteln. Die Lügen des
Auslands sind oft unsere Wahrheiten und zur eigenen
Lücke bedarfs nicht der feindlichen Tücke. Wenn die
diplomatische Sprache die ihr gewachsene Reportage
findet, so darf man sich über Schwerhörigkeit in
weit entfernten Gegenden nicht wundern, sondern
muß eben in Geduld zuwarten, bis die Technik,
die das Hindernis der Entfernung bei Gasangriffen
aus dem Wege geräumt hat, auch für die ungestörte
Gedankenübertragung Vorsorge trifft. Wir haben es
erlebt, daß ein nicht unwichtiger Funkspruch der
russischen Regierung, jener Aufruf »An alle!«, der den
Waffenstillstand angeboten hat, vom Grafen Czernin
zwar allen, aber nicht in allen Teilen übermittelt werden
konnte. Der Unvollkommenheit der Technik oder
dem störenden Eingriff der revolutionären Natur
wurde es zugeschrieben, daß er »verstümmelte ein-
gelangt war, bis zur Ehre jener Gewalten festgestellt
und vom Minister ehrlich, aber nicht ohne Selbst-
behauptung zugegeben wurde, daß die Verstümmlung
erst nach dem Eintreffen durch eine andere Gewalt
erfolgt war, die lediglich in dem Bestreben gehandelt
hat, wieder eine andere Gewalt, nämlich die
russische Revolution, in Österreich nicht aufkommen
zu lassen. Wenn solche Dinge passieren können,
ist Vorsicht bei Übermittlung von Depeschen, deren
Inhalt eine nicht minder wichtige, wenn auch
keineswegs revolutionäre Regierungserklärung bildet,
gewiß empfehlenswert. Wäre es den Feinden
sonst zu verübeln, wenn sie das Datum einer Ver-
stümmlung auch hier zurückverlegen wollten?
Wird ihnen zum Beispiel eine Replik des Grafen
Czernin gegen Trotzky in der folgenden Fassung,
die das Züricher Blatt vom Wiener Korrespondenz-
bureau bezieht, dargeboten :
In Erwiderung hierauf führte der Minister des Äußern, Graf
Czernin, aus, es sei notwendig, darauf hinzuweisen, daß die
Delegationen der verhandelnden Mächte nicht hieher gekommen seien,
um einen geistigen Ringkampf auszuführen, oder um zu versuchen,
ob und inwieweit es möglich sei, zu einer Verständigung zu gelangen
— ist es dann ein Wunder, wenn d^r böse Wille die
Version verbreitet, die Zentralmächte machten aus
ihren Annexionswünschen schon gar kein Hehl mehr,
denn sie hätten in Brest-Litowsk selbst zugegeben, daß
sie gar nicht den Wunsch haben, zu einer Verständigung
zu gelangen ! Zwischen einem »oder« und einem
»sondern« kann eine Welt von Feindschaft liegen,
die berichtigend aus' den Angeln zu heben, sich das
Korrespondenzbureau diesmal nicht mehr die Mühe
10
nimmt.*) Wozu denn auch? Ist denn nicht selbst das
österreichische Strafgesetz fehlbar? Wurde nicht nach
dem § 490 jahrelang falsch judiziert, weil sich dort
»hinreichende Gründe ergeben«, statt »ergaben«,
während zum Glück die in dem gleichen Strafgesetz-
buch geahndeten »Vergehen gegen die Pos tanstalten«
unbestraft blieben, weil man denn doch eingesehen
haben mag, daß sie nicht so bedenklich verlaufen
wie die Vergehen gegen die »Pestanstalten«. Das
Wiener Korrespondenzbureau aber berichtigt wohl jene
Fehler nicht gern, die im Ausland zu seiner Ver-
wechslung mit dem Wolffbüro beitragen können.
Es läßt sich, annexionistischer als die deutsche
Presse veranlagt, von dieser in einem andern Fall
die Berichtigung besorgen. Für Zürich enthielt der
offizielle Wiener Bericht die Stelle:
»Deutschland und Österreich-Ungarn haben nicht die Absicht,
sich jetzt diese besetzten Gebiete (Kurland, Litauen und Polen;
einzuverleiben.«
Das Züricher Blatt stellt fest, daß »dieser Text
nie berichtigt wurde«, und teilt mit, daß deutsche
Blätter nachträglich auf die Variante aufmerksam
machen, die sie selbst veröffentlicht haben:
»Deutschland und Österreich-Ungarn haben nicht die Absicht,
sich die jetzt von ihnen besetzten Gebiete einzuverleiben. <
»Ist dem so, wie man bis auf weiteres
annehmen darf«, meint das Züricher Blatt (nämlich,
daß die deutsche Fassung die richtige ist, nämlich,
ciaß Deutschland und Österreich nicht diese Absicht
haben), »so entfallen natürlich auch alle Folgerungen,
die aus dem Wortlaute des Wiener Berichtes in der
,N. Z. Z.' gezogen wurden.« Die der feindlichen
Presse freilich haben sich inzwischen festgesetzt.
*) Der Verlauf der Begebenheiten hat gezeigt, daß das »oder«
richtig war. Sie waren tatsächlich nicht nach Brest-Litowsk gekommen,
um zu versuchen, ob und inwieweit es möglich sei, zu einer
Verständigung zu gelangen.
— 11 —
Der Graf Czernin aber, der als begabter
Feuilletonist doch Wert darauf legen müßte, daß ihm
seine Pointen nicht verdorben werden, und der
darum das Korrespondenzbureau an Haupt und
Gliedern reformieren sollte, begnügt sich damit, vor
Delegierten seine stilistische Begabung gegen den
Vorwurf der Unklarheit zu verteidigen, die doch
gerade ihr Wesen und ihren aparten Reiz ausmacht.
Er weiß wohl selbst nicht, daß sein Talent, nicht nur
mißverstanden, sondern auch entstellt zu werden, die
Kriegsliteratur um eines ihrer spannendsten Kapitel
bereichert hat. Aber gewiß wird man auch einmal sagen
können, daß ein gut Teil der großenZeituns durch seine
witzigen Auseinandersetzungen mit jenen vertrieben
wurde, die von ihm sachliche Aufklärung verlangt
hatten.
. . . Dann hat mir der Herr Abgeordnete Dr. Ellenbogen wieder
eine meiner Illusionen genommen. Ich hatte immer
geglaubt, daß ich die deutsche Sprache ziemlich
beherrsche. Der Herr Delegierte aber hat mir vorgeworfen, daß
ich wieder unklar und verworren spreche.
Im Gegensatze zum Grafen Czernin beherrsche
ich, wie ich wiederholt eingestanden habe, die
deutsche Sprache ganz und gar nicht, sondern
lasse mich von ihr und weit lieber als vom Grafen
Czernin beherrschen, dem es ja auch viel besser
gelingt, die Sprache zu beherrschen als jene, die sie
sprechen. Trotzdem oder vielleicht eben deshalb weiß
ich, daß gerade jene vom Grafen Czernin gemeinte
Fähigkeit, die Sprache zu annektieren, die Möglich-
keit nicht ausschließt, sich unklar und verworren in
wichtigen Dingen, zum Beispiel über Annexions-
absichten auszudrücken, ja daß sie sie nicht nur
nicht ausschließt, sondern manchmal sogar einschließt,
so daß diese Möglichkeit geradezu zur Fähigkeit
wird. Darum hat auch der Delegierte sehr richtig
dem Grafen Czernin zugerufen:
12
Gestern haben Sie gezeigt, daß Sie die deutsche Sprache
wirklich meisterhaft beherrschen!
Der Graf Czernin jedoch faßte diese Bekräftigung
nicht nur als Kompliment, sondern auch als Revo-
kation auf, als einen Versuch des Delegierten, seine
Äußerung abzuleugnen, und fuhr entschieden depre-
zierend fort:
Ich bitte, im Zusammenhang mit meiner gestrigen Rede wurde
unter Hinweis auf die Stelle über Italien, Rumänien und Serbien
meine Redeweise unklar genannt, in der .Arbeiter-Zeitung' steht
dasselbe. Ich gehe auf das Thema nicht weiter ein, wer mich verstehen
wollte, konnte mich verstehen ....
Der Graf Czernin, der eine witzige Ader hat,
versteht dennoch den Witz nicht, der ihm ernstlich
die Unklarheit in gewissen Europa betreffenden
Angelegenheiten als Sprachbeherrschung auslegt.
Ihm ist im Gegensatz zu vielen andern Redensarten
die oft zitierte Erkenntnis nicht geläufig, daß sich
der Meister des Stils in dem, was er weise verschweigt,
zeige. Er versteht nicht, daß die, die »ihn verstehen
wollen«, zwar seine Unklarheit verstehen, auch
deren Absicht verstehen, aber keinesfalls deren
Grund. Er versteht aber auch nicht, daß es viel
mehr auf jene ankommt, die ihn nicht verstehen
wollen, nämlich auf die Feinde, die zwar
gleichfalls seine Unklarheit verstehen, aber die er
einmal zwingen müßte, seine Klarheit zu verstehen,
wozu allerdings nicht Sprachkunst, sondern nur Staats-
kunst notwendig wäre. Kann denn der Graf Czernin,
selbst wenn man ihm im Gegensatz zu seinem Sprach-
kritiker zubilligen ^wollte, daß er sich in der »Stelle über
Italien, Rumänien und Serbien« einer klaren Rede-
weise beflissen habe, kann er im Ernst behaupten,
daß sein Wort über Belgien, das selbst die Auf-
klärung des Korrespondenzbureaus nicht klarer
machen konnte, die Ansprüche erfüllt hat, die
die fremdsprachigen Völker an einen deutschen
13
Redner heutzutag nun einmal stellen? Wird er gegen-
über der französischen Presse sich mit Recht
beklagen können, daß sie ihm seine Illusion, ein
deutscher Sprachbeherrscher zu sein, genommen habe?
Er würde unrecht tun, die Deutlichkeit, die sie in
diesem Punkte vermißt, für einen literarischen und
nicht für einen politischen Vorzug zu halten, auf
dessen Zuerkennung aus künstlerischem Ehrgeiz zu
bestehen und zu glauben, der ganze Jammer, in
dem die Welt lebt, sei der, daß die Feinde den
Grafen Czernin für einen unzulänglichen Stilisten
halten. Sie tun aber das Gegenteil, sie halten ihn für
einen Meister des Stils, für einen Sprachbeherrscher, ja
für einen Sprachimperialisten, und sehnen sich mit den
Freunden danach, daß er einmal, einmal nur, im aller-
schlechtesten Deutsch ein klares und deutliches Wort
spreche, und zwar so klar, daß es sogar die deutschen
Bundesgenossen verstehen. Tief gekränkt und wie
jenem Abgeordneten gegenüber auf dem irrigen
Standpunkt, daß Deutlichkeit und Sprachkunst
identisch seien und weil er ein Sprachkünstler ist,
er deshalb auch deutlich gesprochen haben müsse,
läßt er durch sein , Fremdenblatt' dem Versailler
Kriegsrat versichern, er habe »in deutlichster und
klarster Weise« einen Frieden ohne Annexionen
proklamiert, und diu Retourkutsche auffahren, die
Feinde hätten wohlweislich vermieden, »mit deut-
lichen Worten das Ziel zu bezeichnen«, das sie
durch Fortsetzung des Krieges erreichen wollen,
vielmehr »ihrer Gewohnheit gemäß ihre Bestrebungen
in einer Hülle allgemeiner Phrasen gehalten«.
Der Graf Czernin weiß aber natürlich nicht, daß er
hier nichts anderes zurückgegeben hat als das
Kompliment, daß auch die feindlichen Staatsmänner
ihre Sprachen beherrschen. Vielleicht ist der Unter-
schied der zwischen der Tüchtigkeit, das, was man
nicht sagen will, wirksam auszusprechen, und
14 —
der Gewandtheit, das, was man sagen soll, weise zu
verschweigen. Die Entscheidung, auf welcher Seite
die virtuosere Fähigkeit geglänzt hat, interessiert
indes die wartenden Völker nicht so sehr wie die Frage,
wie lange sie — ob für Leitartikel oder Feuilleton —
dem Talent, durch Worte Taten zu prolongieren,
Opfer bringen sollen. Was immer die andern für
große Leitartikler sein mögen, wir haben mit uns
selbst zu schaffen, und der Graf Czernin tut unrecht,
die Dinge, auf die es für Leben und Sterben ankommt,
gleich mir, einem politisch uninteressierten Wort-
fetischisten, auf das Sprachgebiet hinüberzuspielen.
Kurzum, wäre er kein Sprachbeherrscher, so
würde er sich klar aussprechen und die Zentral-
mächte hätten zwar um einen Feuilletonisten
weniger, aber um einen Staatsmann mehr, was
umso notwendiger wäre, als sonst keiner da ist.
Das ist ja eben der Fehler, daß in diesen Reichen,
in denen nicht zuletzt auch die Sprache nach
Selbstbestimmung ringt, diese just in dem Augen-
blick so absolut beherrscht wird, wo es sich um
die Freiheit ihrer Sprecher handelt, und daß unser
diplomatisches Vorgehen nur dort »eine deutliche
Sprache spricht«, wo es sie vermissen läßt.
Wenn ich aber bezüglich der Überschätzung
der Sprache den Grafen Czernin mit mir verglichen
habe, so möchte ich ihn bezüglich deren Gebrauchs,
der ja immer eine Folge der Beherrschung ist,
lieber mit jenen vergleichen, denen ich ihn schon
durch die Bezeichnung »Feuilletonist« an die Seite
stellen wollte. Was ist er denn anderes, wenn er die
russische Revolution für den »einzigen Exportartikel«
erklärt, der von dort zu beziehen sei und den er
ablehne? Es ist ein Apercu, das von der falschen
Voraussetzung lebt, daß bei uns die russische
Revolution ausbrechen könnte, die sich ja allerdings
nicht exportieren läßt; die witzige Ausflucht einer
15 —
Politik, die von der Vernachlässigung der Frage lebt,
ob solch ein »Artikel« — es ist von dem Verhältnis
einer Regierung und nicht einer Handelskammer zum
Problem der Freiheit die Rede — nicht am Ende im
Lande selbst erzeugt werden könnte. Die Fähigkeit, mit
einer leicht faßlichen Anwendung aus einer trivialen
Sphäre um die schwierigsten Dinge herumzukommen,
verläßt den Grafen Czernin keinen Augenblick. Da er
seine Antwort an die Delegierten mit der zierlichen
Bemerkung einleitet, er möchte »nur aus dem großen
Bukett von Anregungen und Angriffen einige Blumen
herausnehmen und sich an denselben erfreuen«, so
beweist er, ehe es ihm mißlingt dieses Bukett zu
zerpflücken, daß er immerhin die Fähigkeit besitzt, eine
Schmucknotiz mit falschen Bildern zu besetzen.
Auch die Versicherung, daß die Rede des Generals
Hoffmann »einen Sturm im Glase Wasser ent-
fesselt« habe, läßt ihn nach dieser Richtung
orientiert erscheinen. Echtfeuilletonistisch, eine Pointe,
wie geschaffen die Heiterkeit der Delegierten in ernster
Zeit zu wecken, ist auch der Einfall, mit dem der Graf
Czernin die Zumutung, daß zwischen ihm und
Trotzky eine Ähnlichkeit bestehe, abweist. Ein
Minister hatte es zur Beruhigung der Opposition
behauptet und ein tschechischer Abgeordneter den
Volkskommissär gegen den Vergleich in Schutz
genommen. Beides reizt die Schlagfertigkeit des
Grafen Czernin wie folgt :
.... Ich gestehe jedoch, daß es auch nicht meine Ambition
ist, dem Herrn Trotzky zu gleichen, und in einem Punkt besteht
zwischen mir und Herrn Trotzky jedenfalls ein Unterschied: Wir
sind beide — und das ist ein merkwürdiges Zusammentreffen —
in unsere respektiven Heimaten gefahren, um das
Vertrauensvotum der respektiven verfassungsmäßigen Korporationen
zu erlangen; Herrn Trotzky ist das mißlungen und er hat als
Antwort Maschinengewehre auffahren lassen und die Konstituante
auseinandergetrieben. Wenn Sie mir dasselbe machen, lasse ich
keine Matrosen kommen, sondern demissioniere. (Heiterkeit.) Was
16
freiheitlicher und demokratischer ist, überlasse ich Ihrer Beurteilung.
(Lebhafter Beifall.)
Der Graf Czernin scherzt und es ist die Eigen-
tümlichkeit der Feuilletonisten, lachend die Unwahr-
heit zu sagen und mit einer scheinbaren Schlüssigkeit
Trümpfe auszuspielen. Nur schade, daß in einer
ganzen Delegation sich kein einziger Witzkopf findet,
der keinen Spaß versteht und den Causeur auf den
größeren Unterschied zwischen ihm und Trotzky
aufmerksam macht : daß dieser in seiner respektiven
Heimat ein System repräsentiert, das sich eben, wie es
die Gewalt und selbst die Gewalt der Freiheit immer
zu tun pflegt, mit Gewalt erhaltea will, während der
Graf Czernin nur das zufällige Organ eines andern
Systems vorstellt, welches nach dem konstitutionellen
Opfer eines jeweiligen Angestellten in seiner wesent-
lichen Macht erhalten bliebe, aber den Widerstand,
der sich gegen diese selbst erhöbe, sehr wohl mit
den Mitteln der russischen Demokratie aus dem Weg
zu räumen wüßte. Der Graf Czernin und auch
der Herr von Bilinski, der sich mit ihm in den
königlich polnischen Spaß teilte, hätten unschwer darauf
aufmerksam gemacht werden können, daß zwischen
der bedrohten Revolution, die Trotzky heißt, und dem
Minister einer keineswegs bedrohten Monarchie aller-
dings ein Unterschied besteht — was aber nur eine
nüchterne Feststellung gewesen wäre, mit der in einer
heitern Debatte über den Weltki ieg kein Staat zu machen
ist und nicht einmal der des Herrn v. Bilinski.
Die brillante Laune des Grafen Czernin jedoch,
die die Anfechtungen der Logik so wenig wie die
des Geschmacks fürchtet, findet ihren glücklichsten
Ausdruck in der Verteidigung des Generals Hoffmann:
Als ich in Brest von der Aufregung gehört habe, die diese
Rede hervorgerufen hat, habe ich darüber, aufrichtig gesagt,
herzlich gelacht. Dort hat sich kein Mensch darüber
aufgeregt. Auch nicht Herr Trotzky, der gestern von Dr. Ellenbogen
mit Nachsicht der Taxe in den Adelsstand
17 —
erhoben worden ist (Heiterkeit). Also Herr von Trotzky hat dem
General geantwortet, wenn er ihm sage, daß Rußland von den
Deutschen besetzt sei, so gebe er ihm darauf die Antwort, daß der
Kaukasus und die Türkei von Russen besetzt seien, das eine sei das
andere wert. An dieser Rede, man mag sie mehr oder weniger schön
finden, sterben wird niemand daran, weder Herr
Trotzky noch General Hotfmann, noch der Friede .... Ich glaube,
das Wiener Parlament bietet ein Beispiel, daß kräftige Worte
möglich sind, ohne daß man daran stirbt, denn
wenn man daran sterben würde, dann gäbe es
schon viele Leichen im Paria me n t. (Heiterkeit.)
Die berühmte Erkenntnis vom Wesen der Staats-
kunst wird sich künftig als ein vermehrtes Staunen
äußern: mit wie wenig Weisheit die Völker regiert
werden, aber mit v/ie viel Mangel an Würde. Die
Schalheit des Motivs »mit Nachsicht der Taxe« und
der Wendung »Also Herr von Trotzky« könnte schon
einen, dem diese Jammerzeit einen Funken Hoffnung
übrig gelassen hätte, lebensüberdrüssig machen.
Der unleugbar adelige Czernin reproduziert einen
Scherz, den nicht nur jeder Wiener Kaffe^haus-
besucher seit der Türkenbelagerung, sondern vor
dem frozzelnden Minister der gefrozzelte Delegierte
selbst gemacht hat, dieser aber mit einer berechtigten
Wendung gegen das Korrespondenzbureau, dem wieso
manches andere die Nobilitierung des Herrn Trotzky
geglückt war. Es wäre wahrlich besser, wenn die
Standesgenossen des Grafen Czernin vermeiden
wollten, sich von Familien, die nicht durchs eigene
Blut, sondern durch das der andern empor-
gekommen sind und im Krieg zufällig nicht getötet
oder wenigstens eingesperrt, sondern geadelt wurden,
zum Essen einladen zu lassen, als daß sie von der
überwältigenden Komik jener Antithese zehren. Viel
weniger lustig ist jedenfalls die zwischen der
Munterkeit des Grafen Czernin, der »herzlich gelacht«
hat, und der Erbitterung jener vielen, denen die
Reiterattaque auf den Verhandlungstisch von Brest-
Litowsk nicht eben als das Resultat erschien, auf
— 18
das sie gewartet hatten. Wäre selbst der Vergleich
einer Parlamentssitzung mit einer Friedenskonferenz,
also die Gleichstellung von berufsmäßig zankenden
Parteivertretern, zwischen denen nicht das Wort,
sondern die Abstimmung entscheidet, mit Staats-
vertretern, die zum Frieden zusammenkommen, nicht
so durchbohrend scharfsinnig, man müßte doch
über die Feinfühligkeit staunen, die die aus der landes-
üblichen Gemütsschlamperei bezogene Redensart
»sterben wird niemand dran« unermüdlich abwandelt
und nicht einmal dessen inrre wird, daß dieses zur
mundfaulen Phrase erstarrte Achselzucken hier
ausnahmsweise wirklich in einer Sphäre betätigt
wird, in der man an Worten stirbt. Als ob es das
größte Unglück wäre, daß die, die sie sprechen oder
unmittelbar hören, daran sterben könnten! Die schöne
Vorstellung, daß es »dann schon viele Leichen im
Parlament gäbe«, die doch nur witzige Schlagkraft
hätte, wenn die Prämisse (daß man an einem
kräftigen Wort stirbt), vom Redner nicht konstruiert,
sondern nur beantwortet wäre — nicht einmal
diese anschauliche Konsequenz bringt ihn zu der
Besinnung, daß es die vielen Leichen auf anderen
Plätzen derzeit schon gibt, und zu dem Gedanken,
daß zu deren Vermehrung der Ton auf einer Friedens-
konferenz sehr wohl beitragen könnte. Denn wenngleich
der Zusatz, daß auch der Friede nicht daran sterben
werde, den Redner scheinbar einer ernsteren Möglichkeit
bewußt zeigt, so ist doch eben in dieser Personifika-
tion des sterbenden oder nicht sterbenden Friedens,
die salopp wie ein wurstiges »Malheur!« oder »Tun
S'lhnen nix an» angereiht wird, das Bewußtsein, daß
der Inhalt des Krieges das reale Sterben ist, völlig
ausgeschaltet. Die Gedankenlosigkeit eines, der über
die Materie zu bestimmen hat, sollte wahrlich nicht so
weit gehen wie die aller fühllosen Zeugen, die von ihr
die Worte beziehen, ohne sich an sie erinnert zu
19
fühlen, und ein Staatsmann, der im Weltkrieg das
Wort »sterben« bildlich oder in einem andern
Zusammenhang als dem mit der großen Realität aus-
sprechen wollte, dürfte höchstens bekennen, daß ihm
das Wort auf der Zunge sterbe.
Was aber soll man zu einem Staatsmann und
Aristokraten sagen, dem die Materie des Welttods
so wenig gegenwärtig ist, daß ihm ein Spassettl
vom Sterben über die Lippe kommt, und den der
Zeitpunkt weder davon abhält, es zu wiederholen, noch
solcher Eifer zum Bewußtsein des Zeitpunkts bringt;
der völlig beziehungslos Redensarten wählt, die eine
empfindende Hörerschaft in traurige Erinnerung und
eine taktvolle in Verlegenheit für den unbefangenen
Sprecher versetzen müssen. Und was soll man zu einer
Delegation sagen, deren Gemütsverfassung das
Protokoll an dieser Stelle mit der kürzesten
Charakteristik »(Heiterkeit)« gerecht wird? Das
ist die Auslese jener Menschheit, der der Fortschritt
so sehr alle Phantasie ausgehungert hat, daß ihr
heute der Vorstellungsersatz von ein paar schmierigen
Phrasen das geistige Durchhalten durch die größte
Quantität an Erlebnissen ermöglicht. Das rechnet
mit Offensiven ohne Gesicht und Gehör für die
Ungezählten, die daran blind und taub werden,
und würde staunen, daß hinter der Generalstabs-
meldung »Nichts Neues« immerhin die Begebenheit
von ein paar Lungenschüssen sich abgespielt hat.
Und sie ahnen weder, daß die Bedingungen des
Ereignisses auch die ihrer Unbewegtheit sind, noch
daß sich der Schall an ihrer Atonie steigert.
Oder wie Büchner sagt : »Sie hören nicht, daß jedes
dieser Worte das Röcheln eines Opfers ist. Geht
einmal euern Phrasen nach, bis zu dem Punkte,
wo sie verkörpert werden. Blickt um euch, das
alles habt ihr gesprochen, es ist eine mimische
Übersetzung eurer Worte .... Man arbeitet heut-
20
zutag alles in Menschenfleisch. Das ist der Fluch
unserer Zeit.«
Ein wahrer Staatsmann aber wäre nicht der, der
den Handel abschließt, sondern der die Geister zur Besin-
nung dieses Handels bringt, zum Entsetzen vor sich
selbst, und niemals dürfte er, anstatt sie aus dieser
Niederungheraufzuführen,mitihnenbeiderSpassigkeit,
die es dort gibt und die die Armut der Vorstellung
entschädigt, einverständlich verweilen. Indes, der
Graf Czernin gilt nicht nur jenen Zufriedenen, deren
politischer Humor sich mit der Scherzfrage: »Was ist
das Gegenteil von Apponyi? A Pferd!« abfindet, nicht
nur jenen Relativisten, die die staatsmännischen
Fähigkeiten nach dem geringen Maß dessen, was
man von einem Mitglied des Jockeyklubs verlangen
kann, abschätzen, für einen großen Staatsmann, ja
Bürgen eines neuen Zeitalters, und dies, wiewohl
man schnell genug erkannt haben müßte, daß ein
Minister der menschheitlichen Ideen, die er äußert,
nur dann würdig ist und durch sie, die ja die Ideen
anderer sind, wächst, wenn er sie zur Tat werden
läßt. Obzwar nun der Graf Czernin die Frist, die er an
ihre Erfüllung geknüpft hat, verstreichen ließ, wird er
von den einen, und weil er es tat, von den andern
hoch eingeschätzt, und von den dritten just wegen der
Gabe, zwei Ideale gleichzeitig nicht zu enttäuschen,
zwischen Humanität und Schwertbereitschaft geistig
durchzuhalten und trotz einem Studium bei Lammasch
und Förster nach Tische, da man's anders las, zwischen
Hindenburg undLudendorff sitzen zu bleiben und sich
gleich dem Kollegen Paul Goldmann ins Ohr flüstern
zu lassen, daß Macht vor jenes Recht geht, welches
eben noch vor die Macht gegangen war. Nehmt alles
nur in allem, der Graf Czernin erscheint allen
zusammen als eine Erfüllung des Wiener Friseur-
gesprächs, im Verlauf dessen unterm Einseifen die
Worte hervorgesprudelt werden: »Einen Bismarck
21
braucheten mr halt!«, und nicht etwa bloß darum, weil
Tun wie Reden an die Gewohnheiten des Metiers
erinnert. Nein, die frappante Ähnlichkeit, größer
als die mit Trotzky, hält alle in Banden. Der
Bismarck, den mr halt braucheten, ist niemand
anderer als der Graf Czernin. Ein Vergleich mit der
Emser Depesche ist an dieser Realisierung eines alten
Lieblingswunschesder Wiener Friseureund der über den
Löffel Barbierten keineswegs schuld, da ja die letzten
halbwegs zweckdienlichen deutsch-französischen oder
deutsch-russischen Analoga, die berühmten »Bomben
auf Nürnberg« oder die Extraausgabe des , Lokal-
anzeigers'nicht in Österreich hergestellt wurden und der
verstümmelt eingelangte Funkspruch der Petersburger
Regierung weniger einen diplomatischen als einen
literarischen Treffer bedeutet. Was bewirkt also, daß
man in der Identität dieses Perückenbismarck kein
Haar findet? Ganz gewiß die gleiche Mischung von
Talent und Genie. Nur werden selbst die größten
Czernin-Verehrer nicht übersehen können, daß die
Verteilung der beiden Qualitäten bei beiden Persönlich-
keiten eine verschiedene ist. Denn während Bismarck
als Mensch ein Genie war und als Staatsdiener,
wie es ja auch nicht anders sein kann, nur ein
Talent — Politiker, Bankdirektoren, Bauhandwerker
sind auf der höchsten Stufe ihrer Vollkommenheit
Talente — , gilt für Czernin die Umkehrung. Der
allgemeinen Vermutung, daß er ein Genie von einem
Staatsmann ist, gesellt sich meine Überzeugung von
seinen allgemeinen Talenten. Bismarck wie Czernin
haben außerhalb der Verpflichtung ihres Berufs
Worte geprägt, die Flügel bekommen haben, und
der Unterschied dürfte, den Kraftmaßen von künst-
lerischer Schöpfung und gefälliger Unterhaltung
entsprechend, in aviatischer Hinsicht etwa der
zwischen der Naturgewalt des Adlerfluges sein
und der Tüchtigkeit, die einen Motordefekt erleidet.
22 —
Doch muß man es wohl für ausgeschlossen halten, daß
Bismarck, wenn er es je für nötig erachtet hätte,
sich undeutlich auszudrücken, dies unter Hinweis
auf seine Sprachkünstlerschaft, die ein höheres
Lebensgut als alle Staatspraktiken deckte, abgeleugnet
hätte. Daß seine dialektische Leidenschaft nie mit
der Czerninschen Methode, »aus dem großen
Bukett von Anregungen und Angriffen einige Blumen
herauszunehmen,« ausgekommen wäre, daran kann
auch nicht der geringste Zweifel bestehen und der
Schlager, daß an kräftigen Worten bei einer Friedens-
verhandlung nicht einmal die Menschheit, geschweige
denn die anwesenden Unterhändler sterben, weil es
sonst schon viele Leichen im Parlament gäbe, wäre ihm
bei der größten Selbstüberwindung nicht eingefallen.
Wie er mit annexionsgierigen Generalen fertig wurde
und um wie viel mächtiger sein Wort war als die Faust,
die auf den Verhandlungstisch zu schlagen eben dadurch
verhindert war, ist geschichtsbekannt. Was er getan
hat, war nicht immer für die Menschheit nützlich, aber
was er gesprochen hat, nie das Stichwort der
schlimmeren Tat. Seine Sprache, nicht Dienerin seiner
Pläne, war die Selbstherrscherin seiner Gedanken,
seine Aussprüche, Frucht und nicht Schale, Geschöpfe
und nicht Redensarten, wachsen durch die Zeit,
und sein Wort von den Leuten, die ihren Beruf
verfehlt haben, das ursprünglich auf die Journalisten
gemünzt war, läßt sich noch heute auf die Vertreter
eines anderen Berufes anwenden, die nicht
Journalisten geworden sind.
— 23 —
Glossen
Niemand geringerer als
. . Die Wirkung des Stückes auf das Publikum wurde bereits
erwähnt. Sittlicher Ernst und Kraft der Q.esinnung sind ihm eigen.
Es kommt den tiefsten und reinsten Stimmungen,
welche die kriegerische Gegenwart ausgelöst
hat, entgegen. Es ist eine Abkehr von der Ironie, es
kennt nicht die Angst vor der Begeisterung. Vor herzhaftem
Lachen in den trefflich gestalteten Massenszenen scheut es
ebensowenig zurück wie vor dem befreienden
Weinen. Das Deutsche Volkstheater hat sich mit redlichem
Bemühen und schönem Gelingen um Regie. Darstellung und Aus-
stattung bemüht ....
Der Kritiker hatte natürlich keine Ahnung, wer sich
hinter dem Pseudonym »Wilhelm Engelhardt« verbarg. Niemand
hatte keine Ahnung. Im Hause saßen zufällig sämtliche
Ministerialbeamte Wiens und keiner hatte eine Ahnung. Banhans
bemerkte unter andern Beck, Beck Bleyleben, sie alleCwiklinski,
und keiner hatte eine Ahnung. Zwar, daß der Abend eine
besondere Weihe hatte, spürte jeder. Ging es doch um nichts
Geringeres a!s um die Kriegsanleihe. Die Vorstellung stand
im Zeichen. Sie fand als Festvorstellung in einem Rahmen statt,
und schon ein anderer bedeutender Poet war vorher zu Worte
gekommen :
Vor Beginn des Stückes hatte Herr Klitsch einen Kriegsanleihe-
aufruf aus der Feder Heinrich Glücksmanns gesprochen, dem Herz-
Kchkeit, feuriger Schwung und nicht in letzter Linie literarischer
Geschmack nachgerühmt werden darf. St — g.
Nachdem auf diese Art Wärme ins Haus gekommen war,
stellte sich alsbald der Erfolg für den unbekannten Autor ein,
der sein Inkognito abserlut nicht lüften wollte. Wiewohl niemand
eine Ahnung hatte, erneuerte sich der herzliche Beifall nach
allen Aktschlüssen. Der Regisseur konnte im Namen des Dichters
danken, ohne ihn aber zu verraten. Plötzlich ging ein Gei
um, und in einem Nachtrag zur Kritik, die sich von ihrem
sachlichen Standpunkt durch derlei keineswegs ablenken ließ,
wird von dem Gerücht Notiz genommen:
^4
Der Zuschauerraum machte htute einen ganz ungewöhnlichen
Eindruck. Persönlichkeiten aus dem öffentlichen Leben, der gegen-
wärtige Ministerpräsident und gewesene Minister-
präsidenten, die Mitglieder des Ministeriums Seidler, viele Sektions-
t-hefs, Ministerialräte und andere Mitglieder der hohen Bureaukratie
waren anwesend. Über den Verfasser wurde im Saale folgen-
des bekannt: Das Stück ist von Dr. Ernst Ritter von
S e i d 1 e r vor vier oder fünf Jahren verfaßt worden, al s er Sekt ion s-
chef im Acker bauministerium war, weit mehrMuße hatte
und weniger mit Sorgen beladen gewesen ist als
gegenwärtig. Das Stück enthält gar keinen Anklang an
die Kriegszeit und an die großen und schweren
Verhältnisse, die jetzt der Obhut des Doktor von
Seidler anvertraut sind.
Müssen die Biamten aber paff gewesen sein! Er selbst
saß drin, hatte natürlich auch keine Ahnung, daß sie grad heut
ihm das Stück aufführen werden, und schon gar nicht, daß
irgendeiner seiner Leirf! eine Ahnung haben könnte. Zufällig
waren sie alle da, das traf sich großartig, und als es sich dann
wie ein Lauffeuer verbreitete, daß das Stück vom Seidler sei,
riefen alle wie aus einem Munde: »Da schau her, vom Seidler!
Gratuliere Exlenz!» Das Lauffeuer drang bis zum Referenten für
»Gesellschaftliches im Zwibchenakt«, der zum Glück anwesend war,
und nur eine Stimme, die zufällig auch er vernahm, gab es, daß
das Drama, wiewohl es historisch ist, selbstverständlich gar
keinen Anklang an die Kriegszeit, nämlich an die Verhältnisse,
die der Obhut unseres Seidler anvertraut sind, enthält, das hätte
sich auch nicht gehört, weil es zu persönlich gewesen wäre.
Also das muß man anerkennen: nicht die leiseste Anspielung
auf Kohlen, Kartoffeln und derlei Ressorts. Bis zum Kritiker
selbst aber, den kein Gerücht zu beeinflussen gewagt
hätte, drang es nicht, er saß da und ließ das Werk auf
sich wirken, spürte wohl den Ernst heraus, aber nicht den
Seidler, hörte auf der Bühne nebst befreiendem Weinen herz-
haftes Lachen — im Publikum sämtlicher Rangsklassen war letzteres
ge4Hßt — und fand, was den Zusammenhang des Werkes mit
großen und schweren Verhältnissen betrifft, daß es den
tiefsten und reinsten Stimmungen nebbich, welche die kriegerische
Gegenwart »ausgelöst« hat, entgegenkommt. Nichts brachte ihn
— 25 —
auf die Vermutung, daß das Stück von einem höheren Funktionär
sein müsse, nicht einmal der Umstand, daß es ein so entgegen-
kommendes Stück ist. Das Parlament scheint bis dato auch keine
Ahnung zu haben. Sonst hätte es sich wohl dafür interessieren
müssen, ob ein Ministerpräsident gut tut, mitten in den großen
und schweren Verhältnissen, die seiner Obhut anvertraut sind,
unter Ausschüttung sämtlicher Ministerien, zuerst seine
Tochter als Schauspielerin und dann sich selbst als Autor
dem Staatsbürger vorzustellen, was an und für sich doch einen
Übeln Anklang an die Kriegszeit ergibt, insbesondere aber als
Verfasser eines Stückes, das den Titel »Durch Feuer und Eisen«
führt und den tiefsten und reinsten Stimmungen der Gegenwart
durch den Gedanken, daß es halt im Völkerleben auf die Macht
ankommt, und durch Variationen über das Motiv »Gott strafe
England« gerecht wird. Unter vielen anderen kann auch dieser
Dichter von Glück sagen, daß ich nicht mehr ins Theater gehe.
Ich hätte obstruiert, Zwischenrufe gemacht und, ohne das Massen-
aufgebot von Biamten zu einem Jambendrama des Vorgesetzten
als ein Privatvergnügen gelten zu lassen, die Herren aufgefordert,
nach diesen im Schweiß ihres Angesichtes erledigten fünf Akten
schleunig zu den noch unerledigten zu schauen!
Autor und Direktor
Vom 8. Februar 1918:
Demission der Regierung.
Nach 5 Uhr nachmittags machte der Präsident Dr. Groß dem
Abgeordnetenhause folgende Mitteilung : Eingetretene Ereignisse
machen eine Unterbrechung der Verhandlungen des Hauses not-
wendig. Ich habe soeben von dem Herrn Ministerpräsidenten
Dr. Ritter v. Seidler die Mitteilung erhalten, daß die Regierung
Seiner Majestät ihre Demission überreicht hat — —
Direktor Wallner demissioniert. teilt uns
mit, daß Direktor Wallner dem Vereinsausschuß — — am 6. d.
schriftlich seine Demission für den Schluß des zweiten Vertragsjahres
angeboten habe.
26
Von einem Mann namens Ernst Posse
Über die Ernennung les Barons Burian zum Minister des
Äußern schreibt die >Köln. Zeitung«: — — Baron Burian ist
ein zäher und erprobter Kämpfer, der als Vorgänger des
Grafen Czernin, dessen Nachfolger er ist, seinen Mann gestellt hat.
In erfreulicher Erinnerung sind noch seine Noten
an Amerika, mit denen er der professionellen
amerikanischen Ungezogenheit Wilsons heim-
leuchtete und dem Selbslbeherrscher der Vereinigten Staaten die
Lebensart beibrachte, die im Verkehr der zivilisierten
Länder und ihrer amtlichen Behörden untereinander unerläßlich ist.
Ein Kronzeuge für die österreichische Regierung .
Um Cholm:
»...Auch der Präsident der Vereinigten Staaten hat in
seinem öffentlichen Gedankenaustausch mit uns
den Satz geprägt, daß Völker und Provinzen nicht von einer Staats-
hoheit in eine andere herumgeschoben werden sollen, als ob es sich
lediglich um Gegenstände oder Steine in einem Spiel handelte, daß also
Veränderungen nicht ohne die Zustimmung der Völker vorgenommen
werden sollen . . . .«
Der Seidler, ein Intimus Wilsons, scheint demnach im Aus-
tausch dieselben Gedanken zurückzugeben. Der Krieg dreht sich
nur noch um die bedauerliche Tatsache, daß auch die Völker an
diesem Gedanken festhalten.
Ein Ausspruch
Der Kriegsminister erklärte: Was das feindliche Ausland
denkt, kann uns gleichgültig sein.
— 27 —
Nimmermehr!
Der Leitartikler:
. . . Das deutsche Volk soll durch militärische Not zur
Revolte veranlaßt werden, es soll sich mit seiner Regierung entzweien
und es zu dem bringen, was in dieser Note die Selbst-
befreiung genannt wird.
Allein das deutsche Volk wird sich nicht beugen und
nicht brechen lassen
Auf Deutsch
Burian, der nüchterne Burian, nicht zu verwechseln mit
dem gleichnamigen Opernsänger, der als Lohengrin anläßlich
der Verabschiedung des Schwans Czernin sich einen Rausch
angetrunken hat, darf sich schon am ersten Tage seiner Amts-
führung nachsagen lassen, daß er deutscher fühlt als schreibt.
War es nach dem kaiserlichen Handschreiben dem Grafen
Czernin vergönnt, »mit in vorderster Linie« die
ersten Friedensschlüsse vermitteln zu können, so will der Burian
den Weg nicht aus dem Auge verlieren, auf dem jener grund-
legende und wichtige Etappen zurücklegte«. Den Grafen
Hertling aber bat er, Hochdieselben möchten >das Vertrauen
und Entgegenkommen«, dessen sich sein Amtsvorgänger
>in so hohem Maße erfreuen durfte«, auch seiner Person
»entgegenbringen«. Denn »die Befestigung und der
Ausbau« des und so weiter »bildete seit jeher die Grundlage«
seines politischen Denkens und Fühlens, und er erachte es als
seine vornehmste Pflicht, auf dieser unverrückbaren Grundlage
auch fernerhin — also auf der Grundlage des Ausbaues — »we i ter-
zubauen«. So führt diese babylonische Verwirrung einer und
derselben Sprache, an der man jetzt ausschließlich das deutsche
Wesen erkennt, zu dem Zweifel, ob der grundlegende Ausbau
des Bündnisses wirklich identisch mit der grundlegenden Etappe
zum Frieden ist und ob uns selbst ein entgegengebrachtes Ent-
gegenkommen vor dem Schicksal bewahren wird, dem wir
entgegengehen.
28
Osterreich 1918
Zur Beaufsichtigung unsres Personals suchen wir einen
Reichsdeutschen
der keine Arbeit scheut und wo notwendig, zugreift. Schrift-
liche Offerten an Peter & Wannack, Neu-Purkersdorf, Post
Tullnerbach I. 2490
Zur Beaufsichtigung unsres Personals suchen wir eine
Reichsdeutsche
die keine Arbeit scheut und wo notwendig, zugreift. Schrift-
liche Offerten an Peter & Wannak, Neu-Purkersdorf, Post
Tullnerbach I. 2491
Eine neue Naturgewalt
Das Bündnis steht fest und die Depeschen der beiden Kaiser
haben den Ton eines Gelübdes. Am Tage von Armentieres wird
Clemenceau erfahren, daß auch sein Text des Briefes gegen die
Naturgewalt der Bündnispolitik nichts vermochte.
Fremdwörterschutz
Viel ist's ja nicht, was von all meinem Sehnen nach
Abbau der Kriegsschande hier Erfüllung fand. Immerhin macht's
ein Scherflein zur Wiederherstellung des Menschenverstands.
Wiederherstellung verdeutschter Fremdwörter
Wien. 20. Oktober.
Der Chef des Generalstabes hat mit Erlaß Pers. Nr. 23.490
von 1917 verfügt: Seine k. u. k. Apostolische Majestät geruhten
Allergnädigst anzuordnen, daß hinsichtlich jener eingelebten
Fremdwörter, welche durch ungewohnte Neubildungen ersetzt
wurden, der frühere Sprachgebrauch wieder herzu-
stellen ist und daß eine Zusammenstellung der nunmehr wieder
- 29 —
anzuwendenden Ausdrücke verlautbart werde, auf deren Gebrauch
strenge zu sehen ist.
Es sind daher künftig im dienstlichen Verkehr und sinngemäß
für alle Formen und Zusammensetzungen folgende Wörter anzuwenden:
Adresse, Aspirant, Auto, Automobil, Bibliothek, Distanz, Generator,
Hughes, Instruktion, Kuvert, Legitimation, Loris, Motor, Motorwagen,
Organisation, Pare (Mehrzahl Parien), Photographie, Radio, Rezepisse,
Rubrum, Telegraph, Telephon, Terrain, Urgenz. Etwaige Ergänzungs-
anträge können eingesendet werden.
Bei dieser Gelegenheit wird aufmerksam gemacht, daß Abweich-
ungen von der Geschäftsordnung durch Anlehnung an die
deutsche Geschäftsordnung nicht statthaft sind.
Weiter sind künftig gesuchte Neubildungen von Wörtern
durch Aneinanderreihen von Anfangsbuchstaben
oder Anfangssilben zu unterlassen.
Ohne daß ich je besonderen Wert auf die Erhaltung der
Worte, ja Begriffe Aspirant, Instruktion und Rubrum gelegt hatte
und ohne daß ich weiß, was Loris sonst noch außer einem
Pseudonym für Hofmannsthal bedeutet, welchen Namen aus dem
Kriegsverkehr zu ziehen gewiß auch wünschenswert wäre, und wie-
wohl sich die Reihe jener Termini um weit kostbarere Fremdwörter
vermehren ließe, die der deutschen Sprache, jawohl der deutschen
Sprache ab 1914 durch den vorgeschriebenen Volkheitskoller
(Nationalismus) gestohlen (requiriert) wurden, muß ich doch
sagen, daß es ein sympathischer (anmutender) Erlaß ist. Wenn
ich auch nicht weiß, was die deutsche Geschäftsordnung ist, so
finde ich jedenfalls das Verbot, sich an sie anzulehnen, herz-
erfreuend. Daß das Verbot der Aneinanderreihung von Anfangs-
buchstaben im AOK (sprich Aokah) seinen Ursprung hat, ist
geradezu rührend, ja das der Kuppelung von Wort-
trümmern zu Geschäftszwecken möchte uns, die wir zwischen
Berlin und Budapest ohnehin kaum mehr das nackte Sprach-
leben fristen, von arger Bedrängnis befreien und uns vor der
Ausbreitung von Kriegsseuchen wie der Miag und Ufa, von
den tödlichen Anschlägen dieser Wafa und Iwumba, vor dem
Hexensabbath einer Rohö und Gekawe bewahren. Der Übel
größtes aber ist die Oezeg. Denn hierin ist Budapest und Berlin.
Das Volk Schopenhauers, das die Welt als Wille und Vorstellung
leichter zu regieren glaubt, wenn es eine Telegrammadresse
30
aus ihr macht und diese womöglich noch Drahtanschrift nennt, und
die ungarischen Handeljuden, die auch keine Zeit haben: das ist
die Geistesfinna, deren Betrieb uns jene zur Straßenplage
gewordenen Sprachschiebereien beschert hat und in einer trotz
jenem Erlaß von der Heeresleitung protegierten »Sawerb« ihren
Triumph erlebt. Während aber hier bloß der Plusmachersinn am
Sprachminus arbeitet, ist bei der verbalen Ersatzwirtschaft der
Stolz des blockierten Mitteleuropäers am Werke. Einer der
stärksten Beweise für völkische Selbstbesinnung ist wohl, daß
dieselben Leute, die ehedem höchstens zehn Prozent genommen
hätten, gegenwärtig nicht unter 50 v. H. verdienen dürfen. Dieses
gräßliche »v. H.« — keine Abkürzung für Hofmannsthal —
wird aber nicht bloß von den Alldeutschen, sondern auch von
den Antikorruptionisten angewendet, die den Preistreibern auf
die Finger sehen und unter ihre ethischen Pflichten auch die
sogenannte Sprachreinigung aufgenommen haben. Nun gibt es
zwar wirklich Menschen, die »Anschrift« sagen können — ich
habe einmal auf der Reise im »Abteil« einen solchen gehört — ,
aber zweifelhaft bleibt es wohl, ob je einer, und wenn er es ein
Jahrzehnt lang zur Verblüffung der Leser schriebe, »vom Hundert«
in den Mund nehmen würde. Die den Sprachersatz einbürgern und
in knapper Zeit die letzten Fremdwörter »eindeutschen« möchten,
wären kaum imstande, die Wortabteile, die sie schreiben, zu
schlucken. Leider muß gesagt werden, daß auch die sozial-
demokratische Publizistik wie den Hunden jetzt auch so manchem
treuen Fremdwort die Existenz verargt und so wahr es ist, daß
Hunde öfter von Menschen gegessen werden als ihnen »das
Essen wegnehmen«, so haben in diesen notigen Zeiten die Sprach-
reiniger mehr Sprachgut verzehrt, als die Fremdwörter je von der
Sprache genommen haben. Ehrliche Leute — und zu solchen
zähle ich die sozialdemokratischen Schriftsteller — sollten auf
ein Interesse verzichten, in dessen Sphäre sie die Anrainer der
letzten Menschenkategorie, nämlich der Alldeutschen sind, die
durch keinen noch so großmütigen Verzicht auf Fremdwörter
vergessen machen werden, daß sie die deutsche Welt um das
eine, fluchwürdigste: »Annexionen« bereichert haben. Wäre
Sprache eine Addition von Wörtern, so ließe sich ja aut
— 31
die Untersuchung von Gewinn und Verlust eingehen. Aber die
Sprachreiniger wissen nicht einmal, daß es nicht die Sprache ist,
was sie reinigen. Ich lasse mich gern auf die Prüfung ein, ob
ein Aufsatz, den ein solcher in lauter garantiert deutschen
Vokabeln schreibt, mehr von deutscher Sprache haben wird als
einer von mir, der nur aus Fremdwörtern besteht!
Sawerb
der Todeslaut der Menschheit.
Der am Freitag stattgefundene Kinoabend der Werbe-
abteilung der S a s c h a-F i 1 m f a b r i k machte sowohl der Idee
als ihren Veranstaltern alle Ehre. Zahlreiche Person lichkeiten der
Wiener Gesellschaft, unter anderen Kriegsminister v. Stöger-Steiner, die
Sektionschefs . . der Generaldirektor . . der Kommandant des Kriegs-
pressequartiers . . Exner . . Generaldirektor . . die kaiserlichen
Räte . . Generalsekretär . . Regierungsrat Neumann, General-
sekretär . . wohnten der Vorstellung biszum Ende bei und äußerten
sich in sehr anerkennenswerter Weise über die höchst
gelungenen Aufnahmen, die alle unter der Leitung des Direktors Reich
der S a w e r b hergestellt wurden.
Den Anfang machte höchst eindrucksvoll ein Auszug aus dem
großen Film der P o 1 d i hütte — — höchste Bewunderung.
. . Konserven . . W e t z 1 e r . . Kiralyhida die Her-
stellung der Haubitzen und der 42-Zentimeter-Geschosse, das Verladen
von großkalibrigen Minenwerfern — — ungeahnten Einblick
in die Welt des unermüdlichsten Schaffens — —
Winterbilder vom Semmering — — ManfredWeiß A.-G.
in Budapest. Es muß gleich gesagt werden — — höchste Stufe
— — Die Bewunderung dieses Films äußerte sich auch allgemein
und Chef der Sascha-Filmfabrik Graf Kolowrat und der Direktor
der Werbeabteilung Herr Reich wurden allgemein beglückwünscht
vom Zerschlagen der Glocken bis zur Herstellung
derlnfaruteriepatronenein großer Teil der Fabrikationszweige
gezeigt wurde. Man konnte sehen, wie die Glocken ihre
Umwandlung zum Kupfer erfuhren und wie aus diesem das Messing
entstand, wie aus Eisenabfällen wieder Stahl wurde, aus diesem die
Artilleriegeschosse bis zu ihrer gänzlichen Vollendung.
Trotzdem der Film etwas länger war als die anderen, konnte man
32
deutlich bei den vielen anwesenden Fachleuten bemerken, daß
er das Interesse im höchsten Grade wachhielt.
Als Abschluß der Industriefilme wurde uns von derSchaf-
schur bis zur Marschkompagnie der ganze Werdegang
einer Soldatenmontur gezeigt Wilhelm Beck & Söhne
begannen mit einer landschaftlich reizendenSzene
ausderSchafzucht — — bis zur Übernahme des fertigen Tuches
im k. u. k. Monturdepot und von dort wieder zurück in die Kon-
fektionsfabriken. Wir konnten sehen, wie die höchste Aus-
nützung der menschlichen Leistung durch die genial
erdachte Maschine erzielt wird — —
Als Schlußpunkt und was Bildschönheit anbelangt, auch
als Glanzpunkt des Programms gelangte der Film Budapest
zur Aufführung und entließ das zahlreiche und dankbare Publikum
mit dem Gefühl, daß hier eine Arbeit geleistet wurde, zuweicher
wir uns als Österreicher stolz b e k e n n e n d ü r f e n.
Bitte, ich nicht! Atembeschwerden. Singultus. Heißt Sawerb.
Chef ist Graf. Von der Schafschur bis zur Marschkompagnie.
Vom Zerschlagen der Glocken bis zu ihrer Vollendung als
Infanteriepatronen. Ach, sie erfuhren es! Vom Idyll bis zum k. u. k.
Monturdepot. Von Watteau bis Manfred Weiß A.-G. Poldihütte.
Budapest. Kiralyhida. Semmering. Wetzler. Konserven. Haubitzen.
Generaldirektoren. Generalsekretäre. Generale. Der Weiß heißt
Manfred. Ein Kolowrat heißt Sascha. Wird von Neumann
beglückwünscht: Servus Sascha! Ganz recht geschieht ihm.
Glanzpunkt — gelangt — anbelangt — Kann nicht weiter.
Sehe Blut von Millionen. Millionen von Blut. Sawerb
Die Entschädigten
Die Blinden haben's gut. Nicht nur weil sie nicht lesen
können, daß auch die Bankdirektoren Leitner und Fischl
anwesend waren, als es galt, der Neuen Freien Presse für ihre
aufopfernde Sammeltätigkeit zu danken. Sie ahnen nicht, wie
viel Leute aus dem Grund in die Zeitung kommen, weil
33 —
sie blind geworden sind. Leider ist ihnen dadurch auch die Tat-
sache entgangen, daß ein Kommerzialrat bei dieser Gelegenheit
ein Gedicht von Ottokar Kernstock vorgetragen hat, dessen Tendenz
es ist, die Blinden einigermaßen für ihr Los zu entschädigen,
wiewohl sie eigentlich schon dadurch entschädigt sind, daß der
Kommerzialrat geadelt wurde. Kernstock versichert also, daß den
Armen, die >die roten Rosen und die gelben Halme« nicht schauen
dürfen, >des Mitleids allererste Palme< gebührt. >Drum bangt nicht,
Österreichs blinde Schwertgenossen, weil euch der Quell des Sehens
ausgeflossen«, mahnt der Dichter die Blinden. Aber auch den andern
Invaliden wird insofern eine Entschädigung zuteil, als Kernstock
ihnen nachrühmt, daß sie>geschmückt mitWunden und
mit Ehren in die geliebte Heimat wiederkehren«. Kein Zweifel,
sie würden, wenn der Weltkrieg noch einmal von vorn anfangen
sollte, sich gar kein anderes Schicksal wünschen. Die Lahmen
nicht und nicht die Blinden. Fraglich bleibt nur, ob auch die
sehenden Dichter und die beweglichen Kommerzialräte in solchem
Falle bereit wären, mit ihnen zu tauschen.
Rassenunterschiede
In Rom werden die Verwundeten zur Aufpeitschung der
Kriegslust durch die Straßen geführt. In Berlin werden sie von
Mitgliedern der Vaterlandspartei geprügelt. In Wien wirken sie
in Theatervorstellungen mit.
Unterricht
Man unterscheidet zweierlei Material, das Munitionsmaterial
und das andere, welch letzteres auch >rollende Ersätze« genannt
— 34 —
wird. »Die Abnützung des Materials ist eine enorme«, sagte der
Kriegsminister. Nämlich so:
Die lange Dauer des Krieges warf ja auch die bisher landläufigen
Anschauungen über eine Maximalzahl von zu leistenden scharfen
Schüssenaus einem Geschützrohre (der sogenannten »Lebensdauer«
der Rohre) über den Haufen.
Ich muß gestehen, daß ich mir darüber, also über die
Lebensdauer eines Rohres, nie eine Anschauung gebildet hatte.
Ich war da wirklich ganz unvorbereitet. Jetzt weiß ich schon
einiges.
Gut getroffen
Selbstbildnis.
Zeichnung von Leutnant F. F. Brockmüller, Westfront.
— 35
Die überlegene Wirkung unserer Gase
der deutschen:
Berlin, 25. Febr. (Wolf f.)
Der Aufruf des Genfer Roten
Kreuzes mag von gutem Willen
eingegeben sein. Er rechnet aber
nicht mit den Tatsachen.
Selbstverständlich ist die An-
wendung jedes Kampfmittels zu
verwerfen, das überflüssige Leiden
schafft. Das tut das Gas aber
nicht. Es ist vielmehr ein Kriegs-
mittel geworden, das wie andere
de 1 Gegner außer Gefecht zu
setzen sucht Wäre es nicht
ein unverantwortliches
Versäumnis der deutschen
militärischen Behörden gewesen,
wenn sie nicht auch ihrerseits dieses
Kampfmittel entwickelt hätten?
— — Für den Schwächeren
wird also die Propaganda gegen
die betäubenden Gase ein will-
kommenes Mittel zu dem Versuch
sein, dem Stärkeren eine wirk-
same Waffe aus der Hand
zu schlagen. Es wird be-
hauptet, militärische Kreise der
Entente stehen dem Aufruf sym-
pathisch gegenüber. Sollte
das nicht einZeichen für
die überlegene Wirkung
unserer Gase sein?
Wir Deutschen begrüßen
alleVersuche, dem Völker-
recht und der Mensch-
lichkeit zum Siege zu
verhelfen, mit Freude,
wir lehnen es aber ab, uns
übertölpeln zu lassen. Der
Entwicklung der Angelegen-
heit sehen wir mit Ruhe und
gutem Gewissen entgegen.
Wie man sieht, sind die Gase einander überlegen. Die
links aber wirken wohl noch mit einer größeren Kraft der ehrlichen
der englischen:
L o n d o n, 25. Februar.(R e u t e r.)
Im Unterhaus fragte ein Abge-
ordneter, ob etwas Wahres an
der Meldung sei, daß die deutsche
Regierung durch neutrale Kanäle
die Anregung gegeben habe, daß
der Gebrauch von giftigen Gasen
verboten werden sollte, und
ferner, ob und welche Stellung
die englische Regierung zu diesem
Vorschlag einnehmen wolle.
Minister Bonar Law antwortete,
daß die deutsche Regierung
keine derartige Anregung, gleich-
viel in welcher Weise, gegeben
habe. Ein anderes Mitglied
fragte an, ob Bonar Law
endgültig erklären wolle, daß
die britische Regierung während
des Krieges auf die Verwendung
giftiger Gase nicht verzichten
wolle, und ob es nicht Tatsache
sei, daß England bessere
Gase und bessere Schutz-
maßnahmen gegen die deut-
schen Gase besitze, was der
Grund für ihre Be-
schwerde sei.
Minister Bonar Law entgegnete,
er wünschte ebenso wie der
Vorredner davon überzeugt sein
zu können, daß falls die
Deutschen jemals einen solchen
Vorschlag machten, sie dies
nur tun würden, weil sie
glaubten, nicht ein besseres Gas
zu besitzen. Er sei aber nicht
sicher, daß es sich nicht
um einen Akt
Täuschung handelt.
bloß
der
36 —
Überzeugung. Ein Gas ist doch kein Gift? Und wäre es eines,
und das allerfurchtbarste, so schafft es doch gewiß keine über-
flüssigen Leiden, indem es ja den Gegner sofort außer Gefecht
setzt. Denn wir Deutschen wollen nichts anderes, a!s dem
Völkerrecht und der Menschlichkeit — na was denn nur, nun ja:
zum Siege verhelfen. So haben wir denn das Kampfmittel
entwickelt und sehen der Entwicklung der Angelegenheit, also
der Entwicklung unserer Gase mit gutem Gewissen entgegen.
Wir Deutschen begrüßen alle Versuche, dem Völkerrecht
und der Menschlichkeit zum Siege zu verhelfen, mit
Freude, wir lehnen es aber ab, uns übertölpeln zu lassen
Ich kann nur danken und bewahren. Nie wäre es mir
gelungen, die welthistorische Physiognomie dieser verfolgenden
Unschuld so herauszubringen.
Mit G.
— 37 —
Ein Wunder
■der Technik :
Der .Secolo' berichtet aus Rom: Am Sonntag fielen Tausende
von Aufrufen v o m H i m m e 1, die zur Zeichnung der Anleihe ein-
luden. Sie kamen von fünf Flugzeugen, in denen sich auch der
Unterstaatssekretär für das Flugwesen, Chiesi, der Unterstaatssekretär
des Schatzes, Bisacchi, und der Generaldirektor des Schatzamtes
befanden.
* •
Biblisches
... die Rede des englischen Premierministers Lloyd-George
zeigt, daß, wie der badische Thronfolger in der Ersten Kammer gesagt
hat, das Moratorium der Bergpredigt noch nicht
aufgehoben sei und die Blutopfer noch weiter gefordert werden.
Das Wort, das dem Schlachtbankier so gut gefällt, hat
der Prinz von Baden folgendermaßen zitiert:
. . . überall wird man des Moratoriums der Bergpredigt müde.
Der eben verstorbene Christ Sir William Byles, der diese furcht-
baren Worte vom Moratorium derBergpredigt, das
heißt von der Außerkraftsetzung sprach, dachte dabei nicht an die
unvermeidlichen Schrecken auf dem Schlachtfeld, sondern an die
heidnische Sinnesart ...
Und weder der Prinz von Baden noch Sir William Byles
dürften daran Gefallen finden, daß jener in der Zeit, da das
Moratorium der Bergpredigt noch nicht aufgehoben ist, bereits
wie folgt die Erlösung findet:
Großkapital
gesucht.
Wir benötigen Kapital für die in großartigem Maßstab
zu betreibende Herstellung der
Messiasräder
eine in allen Ländern patentierte Erfindung — — auch im
Frieden — —
sind berufen, die Gummireifen aus der Industrie endgültig zu
verdrängen, so daß ihre fabriksmäßige Herstellung den Erzeugern
voraussichtlich einen
unabsehbaren Gewinn sichern wird.
Probe mit 4 Messiasrädern auf einem 120 HP. Automobil
glänzend gelungen.
<3efl. Anträge unter »Messiasräder 64771« an die Annoncen-
Expedition Josef Schwarz, Budapest, VI. Andrässy-ut 7, erbeten.
— 38 —
Mein Ehrenwort, daß das nicht von mir ist
sondern in der Wiener Allgemeinen Zeitung, Organ des Aus-
wärtigen Amtes, vom 12. März 1918 zu lesen war:
Künstlerbühne Ronacher.] Der aufregende Sketch »Morphium«,
dessen Hauptrolle Rudolf Schildkraut allabendlich an der Künstler-
bühne Ronacher auf Grund seiner an Nervenkliniken vorgenommenen
Studien an Morphinisten mit erschütternder Lebenswahrheit zur Dar-
stellung bringt, erhält das Publikum in höchster Spannung. Die
Charakterisierung des im Morphiumrausch zum Gattenmörder
gewordenen Barons gelingt dem Künstler in so meisterhafter Weise,
daß die Zuschauer während der Aufführung des Einakters völlig in
den Bann der Vorgänge auf der Bühne gezwungen wurden. Dieser
Tage wurde ein Budapester Gast, der Kaufmann
v. Pantz, von der Maske und dem Spiel Schild-
krauts derart ergriffen, daß er ohnmächtig aus
dem Saal getragen und vom Theaterarzt Dr. Heitier
gelabt werden mußte. Am Samstag ereignete sich ein
ähnlicher Zwischenfall. Ein Techniker geriet in Ekstase,
wollte sich aber nicht dazu bequemen, den Saal zu
verlassen, ehe der Vorhang gefallen war. Der junge
Mann, den die Kunst Schildkrauts in so hohem Maße hin-
gerissen hatte, erholte sich dann rasch und wohnte
dem Rest der Elitevorstellung bis zumSchlussebei.
Höher dürften wir's kaum mehr bringen. Fs erklärt am
Ende auch den Weltmord und alles. Ein Techniker geriet in
Ekstase.
Die große Kanone
oder
Beweis gegen Barbarentum
Die Beschießung von Paris
Aus der großen Kanone in der Entfernung von hundert-
zwanzig Kilometer.
Die Wirkung der großen Kanone wird in Paris ge-
heimgehalten. Wir können nur aus einzelnen Mitteilungen schließen,
daß sie einen sehrstarken Rückschlag auf dieStimmung
hatte. . . .
. . . Aber diese Kanone hat noch etwas Besonderes.
Der Gegner, der immer als Barbar geschildert wird,
zeigt plötzlich ein technisches Leistungsvermögen,
— 39 —
das alle bisherigen Vorstellungen von der Macht des Menschen
über die Natur ändert und beinahe umwirft . . , . Die Kanone
ist vielleicht psychologisch im jetzigen Feldzuge wichtiger
als militärisch. In künftigen Zeiten mag ihr eine noch
höhere Bedeutung vorbehalten bleiben.
Übrigens gehen die Ansichten auseinander, ob es bessei
ist, daß die große Kanone, die wie man sieht wirklich etwas
Besonderes hat, aus einer Entfernung von 120 Kilometern oder
nur aus einer Entfernung von 100 Kilometern geschossen hat.
Im ersten Fall ist die Kanone leistungsfähiger, im zweiten sind
die Deutschen näher an Paris. Da wird einem die Wahl schwer.
Man müßte die Pariser fragen, aber vor denen wird eben die
Wirkung geheimgehalten. Sie wissen noch nicht, daß die Deutschen
keine Barbaren sind.
Der Praeceptor Gcrmaniae
Berlin, 29. Jan. (Wolff.) In einer Ansprache, die der Chef
des Hauses Krupp, Dr. Krupp von Bohlen und Halbach, zur Feier
des »eburtstages des Kaisers an seine Beamten und Arbeiter hielt,
sagte er u. a.: »Nach der schnöden Abweisung unseres, in der
Sicherheit des vollsten Kraftgefühles abgegebenen Friedensangebotes
wußte das deutsche Volk zu Anfang des vorigen Jahres, daß das
Schwert doppelt geschliffen und die Büchse
doppelt geladen werden mußte. Das ist 1917 geschehen.
Allerorten regte es sich in deutschen Landen, wie es noch nie
vorher gesehen worden war. Gewaltige Bauten schössen w i e P i 1 z e
aus dem Boden. Sie haben ja hier in Essen unsere gewaltigen
Hindenburgwerkstätten vor Augen, die an Ausdehnung alle
bisherigen bei weitem überragen. Die Schätze der Erde wurden
gehoben, und wo unserer Gegner schadenfrohes Grinsen Mängel
und Fehler zu wittern glaubte, häuften sich Lager und Bestände.
So wurde aus millionenfachem Zusammenarbeiten Großes erreicht, das
den Größten unseres Volkes als Pflicht und Ziel erschienen war —
die Erfüllung des Hindenburgprogramms. Damit ist die
Sicherung unserer kämpfenden Brüder durch Schild und Waffe
selbst den Erzeugnissen dei ganzen Welt gegenüber
gewährleistet.«
Ganz abgesehen davon, daß der Deutsche beim Wort
»Essen« Vorstellungen hat, die ihm der Gedanke an den Herrn
— 40 —
Krupp doch nur sehr unvollständig befriedigt, und lieber schon
sehen würde, daß aus dem deutschen Boden Pilze wie gewaltige
Bauten schießen statt umgekehrt, wobei es aber anerkennenswert ist,
daß ein geistiger Führer des Deutschtums, wenn er vergleichsweise
sagt, daß etwas aus dem Boden schießt, doch noch an die Pilze
denkt statt an die Maschinengewehre, die er erzeugt — ganz
abgesehen davon muß man zugeben, daß dieser Cheff des
Hauses Krupp wirklich das romantische Bedürfnis der deutschen
Seele tadellos effektuiert. Daß er selbst der Erzeuger des doppelt
geschliffenen Schwertes und der doppelt geladenen Büchse und
somit an der schnöden Abweisung von Friedensangeboten einiger-
maßen interessiert ist, hindert ihn nicht nur nicht daran, den Feind
zu verunglimpfen, sondern auch die Konkurrenz schlecht zu
machen. Aber es geschieht immerhin in der Sprache, die der
Auseinandersetzung moderner Mordindustrien den Charakter
des Turniers wenigstens auf deutscher Seite sichert, wo man
mit Schwert und Büchse, Schild und Waffe, also recht-
schaffenen mittelalterlichen Erzeugnissen, ernst aber zu-
versichtlich den feindlichen Flammenwerfern, Gasgranaten
und so Waren gegenübersteht und dennoch leistungsfähig bleibt.
Lionardo da Vinci
ist der Erfinder des Unterseeboots. Er schrieb :
> — — wie und warum ich nicht meine Art
schreibe, unter dem Wasser zu bleiben, solang'
ich bleiben kann . . ; und dies veröffentliche
ich nicht oder erkläre es wegen der bösen Natur
der Menschen, welche Art sie zu Ermordungen
auf dem Grund des Meeres anwenden würden,
indem sie den Boden der Schiffe brächen und
selbige mitsamt den Menschen versenkten, die
drinnen sind — — «
— 41
Das technoromantische Abenteuer
Ich für meinen Teil war von Beginn dieser Aktion der
Ansicht, daß der Kopfsturz der Menschenwürde von einem Gehirn-
bazillus verursacht ist, dem nur die ihm selbst verfallene Wissen-
schaft bislang nicht auf die Spur kommen konnte. Der Eindruck,
daß die ganze aktiv und passiv am Opfer beteiligte Gemeinschaft
aus spezifischen Tollhäuslern besteht, wird nicht so sehr durch
die täglich gesteigerte Rapidität des Entschlusses, sich in Schmach
und Schuld zu stürzen, bewirkt als durch die totale Fühllosigkeit
im Angesicht der geistigen und ethischen Kontraste, zwischen
denen sich dieses Schauerdrama abspielt. Man würde glauben, daß
vorder Systematik der Fügung, daß allstündlich Gerechte den Tod in
Feuer, Wasser, Erde oder Luft erleiden und in der gleichen
Stunde ein Mann von der Engadiner Sonne beschienen wird, der
als Zeichen seiner Zugehörigkeit zu einem »Bob« auf seinem
Hanswurstkostüm die Aufschrift »The Tank« trägt; daß vor
allen ständig geschauten oder gehörten Gegensätzen die
Erkenntnis von der Schnödigkeit des ganzen Unternehmens zu
einem Weltschrei aufbrechen müßte. Aber mehr noch als durch die
Selbstverständlichkeit einer ungerechten Einteilung, vermöge deren
es eine Protektion vor dem Tod und einen Loskauf vom Martyrium
gibt und vermöge welcher selbst die Erinnyen, die diese Menschheit
an ihre Fersen geheftet hat, prostituiert wurden, mehr noch wird
durch ein anderes Moment das Bild des hirnzerfressenen Zeit-
alters vollständig. Das ist jener Zustand einer Epoche, in dem
sie die Konkurrenz der heterogensten Zeitcharaktere, die
sich in ihr begegnen, erleidet, aber nicht mehr spürt. Das
Phänomen, das ich in der Richtung des siegreichen Untergangs
wirken sehe, ist das der »Gleichzeitigkeit«. Die Unmittelbarkeit
des Anschlusses einer neuzeitlichen Erfindung, wonach mit
einem Griff die Vergiftung einer Front und weiter Landstriche
hinter ihr möglich ist, an ein Spiel mittelalterlicher Formen;
die Verwendung einer verblichenen Heraldik im Ausgang von
Aktionen, in denen Chemie und Physiologie Schulter an Schulter
gekämpft haben — das ist es, was die Lebewesen rapider noch
hinraffen wird als das Gift selbst. Wenn der Aufruf des Genfer
Roten Kreuzes fragt:
42
Soll der Sieg sich in Schimpf und Schande wandeln, weil er nicht
mehr der Tapferkeit, dem ehrlichen Kampf der Landeskinder zu
danken sein wird? Soll der Gruß an den heimkehrenden Krieger nicht
mehr dem Helden gelten, der ohne Zögern sein Leben für sein
Vaterland in die Schanze schlug, sondern lediglich dem Mann, der
sich ohne persönliche Gefahr seiner Feinde mittelst Gift entledigt
hat unter fürchterlichsten Leiden seiner Opfer?
so ist zunächst zu sagen, daß speziell der deutsche Gott nicht
nur in einer Gaswolke daherkommt, sondern auch aus der
Maschine; daß auch an dem Zufall eines Minentreffers, einer Luft-
bombe oder eines Torpedos, überhaupt an allen gegen die
Quantität oder den unsichtbaren Feind gerichteten Aktionen
Tapferkeit und ehrlicher Kampf deinen Anteil haben, an der
Bewirkung nicht und nicht an der Erwartung; daß dem
Mangel an Tapferkeit bei dem bewirkenden Teil eine Fülle von
Martyrium beim erwartenden Teil entspricht; daß die eben hier
berufene Schanze, in die man sein Leben für das Vaterland
schlägt, zu jenen Kriegsbehelfen gehört, die heute am seltensten
zur Verwendung gelangen, und daß vollends das Schwert seit
jener historischen Reichstagsitzung vom 4. August 1914 in diesem
Krieg überhaupt nicht mehr gezogen wurde. Ferner wäre beiläufig
zu erwähnen daß die unsterbliche Ideologie, die sich auf den hero-
ischen Begriff stützt, gelegentlich einmal, selbst wenn sie nicht im
Anblick der neuzeitlichen Methoden sich problematisch vorkommen
müßte, darüber nachdenklich werden könnte, ob denn auch der
alte Krieg schön genug war, um die Herzensbildung von
Generationen darauf einzurichten; ob denn die auf die
Fortschritte der Technik kühn verzichtende Auseinander-
setzung der Muskelkräfte just die edelste menschliche Betätigung
vorstellt, und ob der seibst heute noch hin und wieder
geübte ehrliche Kampf der Landeskinder, der darauf beruht, daß
ein Landeskind dem andern in die Rippen sticht oder pollice
verso behutsam die Augen zudrückt, die würdigste Grundlage
der jahrhundertealten Erziehung zu vaterländischen Idealen
geboten hat. Immerhin wäre es noch immer eine sittliche
Aufgabe, den Kindern beizubringen, daß das Handgemenge vor
dem Meuchelmord einen Ehrengrad voraus hat, und gar erst
vor jenem, dessen anonymer Urheber sein Opfer in der anonymen
Quantität findet. Was aber die Gase anbelangt, so ist freilich
43 —
die begriffliche Distanz zwischen dem Instrument und der von
ihm bezogenen Glorie die größte und schauerlichste, und
was das Rote Kreuz hier, ach so vergebens, fühlt, ist von mir
wiederholt und zuletzt durch die Erwägung der Möglichkeit
ausgesprochen worden, jede Armee, die giftige Gase anwendet,
wegen eines Verhaltens vor dem Feind, welches doch nach alt-
militärischem Ehrbegriff das Gegenteil von Tapferkeit ist, aus
dem Armeeverband zu entlassen. Im Wortspiel von einer chlor-
reichen Offensive ist schließlich dieser ganze abominable
Kontrast endgiltig abgebunden. Ein Kalauer könnte dieses
Chaos bändigen, aber alles fernere Grauen durch die
Vorstellung beschwichtigt werden, daß man die Wirksamkeit
der beiderseitigen Chemie, anstatt sie an den Körpern der
hunderttausende unschuldigen Laien zu erproben, durch eine
wissenschaftliche Auseinandersetzung der Laboratorien erweisen
möchte. Seitdem sich die Tapferkeit mit der Technik eingelassen
hat, hat sie vergessen, daß die Quantität immerhin die Grenze
des Irrsinns hat und daß einmal der Punkt erreicht sein muß,
wo das Vorwalten unmilitärischer Kräfte so deutlich wird, daß
ihnen die Austragung des Wettstreites schicklicherweise überlassen
werden müßte, auf eine Art nämlich, die die gleichzeitige Förderung
staatlicher Machtinteressen, also die Vernichtung von Menschen-
leben, ausschließt. Denn wenn man die menschliche Stimme, also
auch das Kommando, auf Entfernungen wie Berlin-Wien übertragen
kann, warum sollte es der Technik, die das Wunder von heute zur
Kommodität von morgen macht, nicht möglich sein, einen Apparat
zu erfinden, durch den es mittelst einer Druck-, Umschalte- oder
Kurbelvorrichtung einem Militäruntauglichen gelingen könnte, von
einem Berliner Schreibtisch aus London in die Luft zu sprengen und
viceversa? Wenn Patriotismus die Hoffnung auf das Gelingen
eines Gasangriffes ist und Hochverrat das Grauen davor — wobei
ich zum Beispiel einer der größten Hochverräter aller Schlachten
und Zeiten bin — , so kann der tödliche Humbug, ohne daß die
Menschheit zugleich an Lächerlichkeit zugrunde geht, unmöglich
anders als durch den Vorschlag beigelegt werden, die gegen-
seitigen Erfindungen auf theoretischem Wege abzuschätzen und
statt der f-'eldherrn wieder die Techniker zu Ehrendoktoren zu
machen, meinetwegen zu solchen der Philosophie. Das Miß-
— 44
Verhältnis zwischen der Tat und der mitgeschleppten Ideologie:
davon allein kommt diese entsetzliche Gasluft, in der wir glorios
ersticken. Eine bunte Tracht und die Pflicht, angesichts de;
Vorgesetzten die Hand an die Stirn zu führen, und alles, was
sonst damit zusammenhängt und vor dem Tod noch alles verlangt
wird — es mögen vortreffliche Gewohnheiten und Einrichtungen
sein: nur, was sie gerade mit der neuzeitlichen Art des Sterbens zu
schaffen haben, inwieweit sie sie fördern oder verhindern
könnten — das eben ist unerfindlich ! . . . Diesem ganzen Chaos von
Begriffen, Pflichten, Leiden, Anforderungen, in das sich ein
auch vordem nicht lastenfreies Leben kopfüber gestürzt hat,
wächst hier eine Realität als Symbol zu. Wer, dereinen Beiwagen
der Wiener Straßenbahn auch nur von fern betrachtet, hätte
noch Hoffnung? Dieser Haufen von Schmutz und Elend, in
dem das Menschen material in einer Art zusammengeknäult ist,
bei der es auf die individuelle Zuteilung der Gliedmaßen kaum
mehr ankommt — man halte dies Bild fest und frage sich nun,
ob dafür >Disziplin< noch Raum ist und gar für einen »Kontroll-
dienst«, der feststellen soll, ob sie verletzt ward, indem Landstürmer,
alte Landstürmer »vor mitfahrenden Offizieren nicht aufstehen oder
ihnen nicht Platz machen«. Denn »die mitfahrenden Zivilpersonen
nehmen dies selbstredend wahr und äußern sich auch über dieses
disziplinlose und herausfordernde Benehmen der Mannschaft«.
Dies aber hat kein Höllenbreughel erfunden. Der Teufel selbst,
wenn er es sähe und hörte und schon eingequetscht drin stünde,
allen Folgen der Seifenknappheit ausgesetzt, er hörte doch nichts
als den selbstredenden Jammer der Menschheit und dazu eine arme
Frauenstimme, die ihm beständig zuruft: »Bitte vorgehn! Jemand
noch ohne Fahrschein? Vorgehn, bitte vorgehn!« Und der Regen
regnet jeglichen Tag, und wieder drängt ein Troß aus Wallensteins
Lager an, und jetzt pressen sie Tornister und Rucksäcke hinein,
und — dennoch hat der Gedanke noch Platz, der uns alle
beherrscht, weil wir im unerforschlichen menschlichen Ratschluß
gefunden haben, daß das Leben mit Not, Tod, Kot viel
schöner ist. Aber halt, wenn noch Platz für Disziplin ist, so
reichts auch noch für den Ehrbegriff. Die arme Stimme hat
einem, der nicht vorgehen wollte, wiewohl er ein Hauptmann
war, zugerufen, daß er keine Bildung nicht habe, denn sie
— 45
wußte nicht, daß er ein Hauptmann war, weil er als solcher
nicht bezeichnet war, sondern Zivilkleidung trug. Trotzdem
erhielt er von der vorgesetzten Behörde den Auftrag, die Klage
einzubringen. Sie hatte »Vorgehn!< gerufen, er aber rief, er wolle
»den Platz nicht verlassen«. So hätte sie merken müssen, daß
die Zivilkleidung nur ein Schein war. In der Verhandlung sagte
sie, so etwas sei ihr, die »im Kriege in der Elektrischen an
vieles gewöhnt sei< — sie meinte aber den Weltkrieg — , noch
nicht vorgekommen. Der Hauptmann fragte sie erregt, ob sie
ihn, da er in Zivil war, wohl für einen Drückeberger gehalten
hätte. Sie erwiderte, solche Gedanken lägen ihr fern, denn
»was hat der Krieg mit der Elektrischen zu tun?« Der Richter
verurteilte sie, denn der Zivilist war ein Militär. All das gibt
es, während es all das gibt! Auf einer Flucht rief einer,
der zu befehlen hatte, einem der zu gehorchen hatte und dem ein
Knopfloch offen stand, aus dem Automobil zu: »Sie dort JEquipieren
Sie sich!« Und viele, die nicht mehr fliehen konnten, lagen in der
Drina. In einem Krakauer Spital werden mit solchen, die an
einer Gasvergiftung darniederliegen oder von einem Bauchschuß
soweit hergestellt sind, Salutierübungen gemacht. Wunder über
Wunder! Es sind die alten Ornamente zum neuen Wesen des
Todes. Aber da dieser, frisch aus der Retorte entsprungen, noch
keine neuen erfinden konnte, so kann die Macht der alten
Ornamente nicht entbehren. Denn nicht allein dulce, auch
decorum muß es sein! Nur daß die Macht den neuen Tod zu
ihrer Erhaltung braucht, nur daß die alte Herrschaft nicht
lieber abdankt, als ihre Stellung der Chemie zu verdanken, daß
die Insignien auf die Chemikalien angewiesen sind — das ist
es, was unsere siegende Kultur unrettbar dem Gifttod geweiht
hat. Die Menschheit, die ihre Phantasie an die Erfindungen
verausgabt hat, kann sich deren Wirksamkeit nicht mehr vor-
stellen — sonst würde sie aus Reue eben damit Selbstmord verüben!
Aber da sie auch ihre Menschenwürde an die Erfindungen
verausgabt hat, so lebt und stirbt sie für alle Macht, die sich
solches Fortschritts gegen sie bedient. Die Unvorstellbarkeit der
täglich erlebten Dinge, die Unvereinbarkeit der Macht und
der Mittel, sie durchzusetzen, das ist der Zustand, und
das technoromantische Abenteuer, in das wir uns eingelassen haben,
wird, wie immer es ausgeht, dem Zustand ein Ende machen.
— 46
Für Lammasch
Die politisch-geistige Gaswelle, der wir uns
überlassen haben und die uns heillos in die ver-
kehrte Richtung treibt, kann nicht verhindern, daß
reinere und im tieferen Sinn patriotische Herzen
unverändert und mit jeder Stunde nur noch inbrün-
stiger das fühlen, was zu sagen manchmal verpönt
ist. Allzuviele in diesem Lande, das so gern sein
Wesen zum Opfer bringt, sind es nicht. Wenige sind
es, die den Inbegriff eines gutgearteten Österreicher-
tums bilden und den einzigen Schatz, der uns der
Welt als dem Absatzmarkt innerer Werte — die
Pofelware scheint auf ihn definitiv verzichten zu
wollen — fürder empfehlen könnte. Aber zu diesen,
deren Bild im Gasdunst so getrübt wird, daß
Verdienst als Schuld und Treue als Verrat erscheint,
gehört der Hofrat Heinrich Lammasch, den
Weisheit und Leidenschaft mehr als die Pairswürde
zieren, dessen Vorzug es ist, sich im Verkehr mit
Historikern, Zeitungsreportern, Berufspolitikern und
ähnlichen Parasiten am Geiste und am Blute jene
Blöße zu geben, die seine Menschlichkeit ist, und
der, wie die Neue Freie Presse meint, das Unglück
gehabt hat, »in Widerspruch zu den Ansichten des
Blattes gekommen zu sein«. Man wird mich,
der in den unvergessenen Tagen, da die" echten
Belgrader Bomben noch mit falschen Wiener Doku-
menten gefüllt waren, ohne politischen Befähigungs-
nachweis, bloß aus dem Anschauen und Anhören der
einander gegenüberstehenden Parteien, die kommen-
den Dinge so klar vorausgewußt hat, daß sich
heute mein damaliger Aufsatz als das Ultimatum
der Menschenwürde an eine kriegstolle Politik liest —
47
man wird mich der Pein überheben, die vorbild-
liche geistige Bescheidenheit dieses Herrn Friedjung
auch noch für die neueste Rettung des Kapitols
darzutun. Dieser wandelnde Tonfall der Plattheit,
dieses als Rest der Bundestreue noch vorrätige Öl
der Beredsamkeit — nein, nur die äußerste Kriegs-
not des Geistes hat es möglich gemacht, daß so
etwas wieder in unsere Hörweite zu treten wagte.
Und dennoch — wie kann dieses Land selbst in
der trübsten Stunde seiner Selbstvergessenheit es
dulden, es ertragen, daß solch ein etwas mit einem
lebendigen Menschen wie Lammasch konfrontiert wird?
Daß ein rückwärts gekehrter Reporter, der sich
deshalb Historiker nennt und dessen Brauchbarkeit
es überschätzen hieße, wenn man ihn in allen
Sätteln ungerecht nennte, da sein Offizium immer
nur der Kampf um die Vorherrschaft der Langeweile
gewesen ist — daß ein schlechter Offiziosus ernst-
haft als sittlicher Widerpart eines Mannes in Betracht
kommt, dessen Herz und Kopf in diesem Krieg
nicht umgesattelt haben und in dem die Welt einst
den einzigen Völkerrechtslehrer erkennen wird, dem
Wissenschaft und Gewissen vom Einmarsch in
Belgien nicht überrannt worden sind! Und dieser
sollte jetzt die Beute der Aushorcher und inspirierten
Nachrichter, der Gebärdenspäher und Geschichten-
träger sein? Mit den jungen Temperamenten, die
im Herrenhaus sitzen, möchte ich nicht zu streng
ins Gericht gehen: sie hätten vermutlich auch den
Kant niedergebrüllt, wenn er ihnen was aus seiner
Schrift »Zum ewigen Frieden« zitiert hätte, den
Bismarck, weil er sich mit Elsaß begnügen wollte,
und der Herr Pattai hätte diesem zugerufen :
»Wir sind die Sieger und wir verlangen auch
die Palme!«, ohne zu wissen, wie sie aussieht
und daß man schließlich doch nicht ungestraft unter
ihr wandelt. Jenem aber, Immanuel Kant, hätte der
Herr v. Plener vorgehalten, daß seine »Mentalität«
— 48 —
»eigentlich mehr Verwandtschaft mit der Denkweise
des Auslandes als mit der österreichischen habe«,
ohne zu ahnen, daß das gar kein so übles Kompli-
ment sei, und daß es eine Zeit gegeben hat, in der
die österreichische Denkweise noch eine Verwandt-
schaft mit der der Welt gehabt hat, und daß wir nichts
flehentlicher vom deutschen Gott zu erbitten haben
als: daß diese Tage noch einmal für uns anbrechen
mögen! Aber wie ist doch diese Denkweise herab-
gekommen, daß sie in die Lage kam, zwischen
Lammasch und Friedjung zu wählen und sich in
Diskussionen über dieses Thema überhaupt einlassen
zu können ! Gegen einen Mutigen, der seine Vaterlands-
liebe mit seiner Popularität bezahlt, und für einen Gefäl-
ligen, der nach Berlin geht, ihn dafür zu denunzieren.
Welche Kriegsnot des Herzens, hier die Entscheidung
zu verfehlen! Ich bin vielleicht nicht der schlechteste,
nicht der unwürdigste Österreicher, — aber das muß
ich sagen : daß ich bei der Wahl zwischen der
Nibelungentreue des Herrn Friedjung und einem
»Anschlag« des Professors Lammasch im Schlaf das
Vaterland ins Verderben zu treiben bereit bin !
Und wie kann dieses Vaterland sich Witzblätter
halten, die einen Mann bespeien, der nicht nur in
Ehren grau geworden ist, was man bekanntlich
nicht von jedem Herrenhausmitglied behaupten kann,
sondern dessen Altersweisheit zum Ehrenbesitz. eben
dieses Vaterlandes gehört? Dessen Konservatismus
Leben genug bat, um gegen die Verödung der
alten Güter im Dienste des Antichrist Opposition
zu machen? Und wie kann dieses Vaterland, das
diesen Weltuntergang nicht in seinen alten Knochen
spürt, sondern im Gegenteil die Welt frisch
»aufgemacht« sieht, so vom Wege irren, daß es
seine journalistischen Söldner den Mann als einen
Ideologen geringfügig machen läßt, der doch das
rechte Gegenteil davon ist, nämlich jener Real-
politiker der idealen Forderung, der heute durch
49 —
Auflösung des alten politischen Inventars die Welt
rettet! Denn während deutsche Ideologie die
Menschheit aus der Politik erbaut, bezweckt dieser
Idealismus nichts anderes, als endlich einmal die
Politik auf der Idee der Menschheit einzurichten.
Wahrlich, daß es noch Menschen gibt, denen das
Bewußtsein, in dieser Zeit zu leben, Schamgefühl
verursacht, ist nicht hoch genug anzuschlagen !
Begeistert trete ich an ihre Seite und bin ent-
schlossen, sie im Angesicht jeder Macht des Übel-
wollens und der Verblendung zu schützen gegen
die völlige Schamlosigkeit, die solchen Wert dem
Zeitgeist preisgab. Der Hofrat Lammasch bleibe der
Menschheit und dem Vaterland erhalten, damit sie
wieder zueinander kommen ! So niedrig die Zeit ist,
in der er lebt — er lebe hoch !
50
Inschriften
Czernins Verzicht
Wir wollen vom Feinde keinen Fußbreit haben,
der Lohn des Friedens wird uns reichlich lohnen,
und selbstlos gehn wir in den Schützengraben
für bundesbrüderliche Annexionen.
Friedensbereitschaft
Herbeizuführen den Friedenstag,
schlug er mit dem Schwert
auf den Verhandlungstisch,
denn so 'n Vertrag
ist ja doch nur ein Wisch
und nicht der Rede wert,
und kriegt man ihn nicht, wie man mag,
so haut man den Verhandlungstisch
um die Erd',
die einem doch ohne Frag'
gehört !
Sprichwörter
Wer einstmals Fülle mochte mehren,
dem sagte man, es möcht' umsonst geschehn,
und weise diesem Drang zu wehren,
wollt' man ihn durch das Wort belehren:
er trüge Eulen nach Athen.
Die jetzt den Mangel noch vermindern
mit sieghaft mitleidloser Miene,
die soll man rasch entschlossen hindern.
Denn solch Beginnen bringt den Landeskindern
Getreide aus der Ukraine.
51 —
Affaire Friedjung
Lang' hat in Nibelungenstaaten
man durchgehalten und sich treu gefrettet.
Nun tut man gütlich sich am Braten
der Gans, die jüngst das Kapitol gerettet.
52
Der darbende Bürger
Vor acht Jahren, in einem nicht mehr erhältlichen
Hefte der Fackel, ist ein Aufsatz über den > Prozeß Fried jung«
erschienen, in welchem ich lediglich aus Hören und Sehen der
einander gegenüberstehenden Parteien, also aus einer Abschätzung
von Persönlichkeitswerten zu politischen Folgerungen gelangte,
die sich heute wie ein Motivenbericht zum Weltkrieg lesen. Es
wird sich empfehlen, die erste Raumgelegenheit zum Wieder-
abdruck dieses (wie ich jetzt erst erfahre, in dem Werke des Scotus
viator über die südslavische Frage zitierten) Aufsatzes zu benützen.
Der Grundgedanke, daß Österreich das Land ist, in dem keine
Konsequenzen gezogen werden, ist unangetastet geblieben : sonst
hätte man nicht diedes Weltkriegs gezogen. Die unsägliche deutsch-
österreichische Banalität, die ich damals in der Stimme des Histori-
kers Friedjung ihren Biedermannstonfall gegen Recht und Kultur
mobil machen hörte, ist seither mit den Mitteln einer entwickelteren
Mechanik über das Leben hinweggeschritten und die Ansicht,
daß ein Volk, dessen Lieder Goethe, Wilhelm Humboldt und
Jakob Grimm, Puschkin, Scott und Merimee begeistert haben,
eine »Murdsbande« sei, hat triumphiert. Herr Friedjung aber,
der Historiker der mit falschen Dokumenten gefüllten Belgrader
Bomben, wirkt in unverminderter geistiger Frische fort und hat
sich, wie ich aus einem Zitat der ,Arbeiter-Zeitung' ersehe, von
seiner serbischen Vergangenheit nicht abschrecken lassen, sich für
die .Vossische Zeitung' Gedanken über Serbiens Zukunft zu
machen. Nur völlige Humorlosigkeit vermag ihn davor zu
bewahren, vor dem Einfall, daß das serbische Volk »zu den
Kriegsgewinnern gehört«, nicht zu erbleichen; sein Kriegs-
gewinn bestehe darin, daß es »in Zukunft durch mehr politische
und wirtschaftliche Bande mit dem Reich der Habsburger vir
53
knüpft sein wird*. Ist nach meiner Definition der Historiker nur
ein rückwärts gekehrter Schmock, so ist der Prophet nur ein
vorwärts schauender Historiker. Bekäme Herr Friedjung, dem
es nur deshalb nicht gelingen wird, das Öl seiner Beredsamkeit
in den Weltbrand zu gießen, weil die Flammen an tödlicher
Langeweile ersticken könnten, nur ein Quentchen Vorstellungs-
kraft geschenkt, könnte er nur ein Millionstel der tragischen
Gegenwart des serbischen Volkes mit seinem Gefühl erfassen —
der Witz, dieses den Kriegsgewinnern zuzuzählen, weil ihm das
Los, dem zu entgehen es leidet, als Erlösung winke, dieser Witz
würde ihn so kalt anstarren wie das Grab, das eine arme Seele
sich selbst schaufeln muß. Herr Friedjung stellt >ein Minimum«
von Forderungen auf Auslöschung des serbischen Staates, an
deren tollhäuslerischem Plan, wie er behauptet, >sich nichts mehr
ändern läßt«, ein Entwurf, den durch Druck weiterzuverbreiten
man sich versagen darf, weil seine Authentizität nicht
einmal so feststeht wie die serbischen Dokumente von anno
dazumal und weil die Regierung vermutlich doch die Konsequenz
gezogen hat, in diesem Fach auf die Mitwirkung des Herrn
Friedjung zu verzichten und ihn seinen eigenen Forschungen
zu überlassen. Nur so viel muß erwähnt werden, daß Herr
Friedjung von den serbischen Bauern und deren Söhnen spricht, als
ob viele von der Gattung noch vorhanden wären, und ferner,
daß er es als »eine Sünde gegen den heiligen Geist einer gesunden
Politik« bezeichnet, eine Vereinigung von Serbien und Montenegro
zu dulden. Es ist zwar eine größere Sünde gegen den heiligen
Geist, diesen für eine Berufsangelegenheit des Herrn Friedjung
zu halten, aber man kann ja von solchen Leuten nicht ver-
langen, daß sie sich von dem Inhalt dessen, was ihnen von der
Zunge geht, erdrücken lassen. Wären sie sich der Tragweite
ihrer Phrasen so sehr bewußt wie der Tragweite ihrer Kanonen,
so wären ja diese nicht losgegangen. Daß das neue Österreich
wirklich Lust haben sollte, mit den Geistern dieses Kalibers
fortzuwursteln, muß nicht unbedingt daraus geschlossen werden,
daß Herr Friedjung auch jetzt noch bei wichtigen Gelegenheiten
als patriotischer Sachverständiger zugezogen wird. Zum Abschluß
von »Kaiser Karls erstem Regierungsjahr« hat er sich mit einem
Feuilleton im Fremdenblatt eingestellt, von dem einige Sätze
genügen dürften, um ihm bei den Volksschülern, die da kommen
werden, zu schaden oder mindestens ein heiteres Andenken zu
sichern :
... Es läßt sich aber nicht sondern, wieviel zu diesem größten
Erfolge des Weltkriegs das Pflichtgefühl und die Vaterlandsliebe der
Kämpfer beitrug, wieviel die Begeisterung für den unermüdlich tätigen
jungen Herrscher, der die Herzen seiner Soldaten im S t u r m e zu
ero b ern verstand und dessen B i 1 d sie bis nahe den Toren des
einst meerbeherrschenden und noch immer gleich
märchenhaft schönen Venedig geführt hat.
Kein Volksschüler wird sich hier durch das Ineinandergreifen
zweier Offensiven in dem Genuß der Beschreibung Venedigs
irre machen lassen. Alles andere läßt sich schon durch bloße
Andeutung genießen:
Im Sonnenglanz des Sieges das treulose Rumänien
durch die Klammer des Herrscherhauses zusammengehalten treue
Hingabe an die schweren Pflichten seines Amtes — — die Liebe
seiner Völker erwarb — — ein Füllhorn von Gaben über das Reich
der Habsburger ausgeschüttet — — das innige Verhältnis des
Herrschers zur Gattin und den Kindern — — Wohlfahrt des
Reiches — — zu verwalten und zu mehren — — allgemeine
Bestürzung über die Lebensgefahr, in der der Kaiser in den
Sturz wellen schwebte — — durch eigene Kaltblütigkeit wie
durch den Opfermut seiner Umgebung — — in die Bresche zu
treten — — tapferen Bundesgenossen — — Proben seiner uner-
schütterlichen Bundestreue ablegte — — ehrenvollen, das Reich
gegen künftige Angriffe sichernden Frieden — —
So weit das Schöngeistige. Die Gesinnung des Herrn
Friedjung dokumentiert sich in Sätzen wie diesen:
Metall im Blute ist für die Paladine des Herrschers ebenso
notwendig wie das Eisen in der Faust.
(Paladin bedeutet ursprünglich nicht nur »Hofritter«, sondern
auch »irrender Ritter, Abenteurer«.)
. . .seine (Deutschlands) ans Wunderbare grenzende militärische
Tüchtigkeit.
Unerschütterlich mußte darauf beharrt werden, daß nur von
Siegen auf den Schlachtfeldern dieEntscheidung
kommen könne.
Nie riß der Gedankenaustausch zwischen Wien und Berlin
ab ... . Gerade in den gefährlichen Sommertagen dieses Jahres —
55 —
(Herr Friedjung meint die Zeit, da man auf die Welterlösung
hoffen durfte)
formte sich der herrliche Plan zur Niederwerfung
Italiens im Geiste der verbündeten Herrscher, bei den Beratungen
der Generalstäbe.
Nun aber wieder zum Schöngeistigen, weil es doch echter ist
als die Gesinnung eines Menschen, der den Krieg nur aus dem
eigenen Geschichtswerk kennt, serbische Bomben nur aus
seinen Dokumenten und der seine Begeisterung für Ekrasit und
Cyankali gewiß nicht teilt. Der ganze Schönbart, der sich sträuben
würde, wenn er die Wirkungen eines Bauchschusses auch nur
zu Gesicht bekäme, steckt doch ehrlich in dem folgenden Satz:
Mit heller Freude nahmen die Völker Österreichs und Ungarns
die Berichte auf über die Fürsorge des Kaisers für d e n Soldaten und
den darbenden Bürger, über seinen gewinnenden Umgang
mit den Kriegern an der Front, mit den Verwundeten und Leidenden
in den Spitälern.
Ei siehe da, fürwahr, ich höre den Friedjung von 1909:
»Als unser erhabener Monarch Tausende und Abertausende
unserer Brüder und Söhne zu den Waffen rief . . .« Spürt
man, was in jenem Satz geleistet ist? Wie hier die -durch
alle Fibel- und Zeitungsbravheit durchgebrachte Einteilung
der Staatsbürgerpflichten in einem Punkte renoviert wurde?
>Der Soldat« hat zu kämpfen, die Verwundeten — sie lassen sich
schon eher als Plural gebrauchen — haben zu leiden, — und der
Bürger? Der hat — ei, siehe da — durchzuhalten, also müßte
wohl von dem ausdauernden Bürger oder von dem hoffenden
Bürger die Rede sein? Aber da wäre doch wieder die Fürsorge
nicht am Platze. Also wird der darbende Bürger wie ein längst
vorrätiger Typus, als eine Selbstverständlichkeit, eingeführt und
er wirkt auch im Munde des Friedjung sofort als abge-
tackelte Phrase. Denn wie der Dichter die Kraft hat, ein
altes Wort zum erstenmal zu sagen, so hat der Schönredner,
ei, siehe da, die Kraft, einen neuen Begriff — da ja das
Darben des Bürgers doch nur eine vorübergehende Erscheinung
sein kann — wie eine abgegriffene Floskel hinauszustellen.
Ich glaube, wenn der Friedjung am ersten Schöpfungstag
56
dazugetreten wäre, so wäre die Welt als Phrase zur Welt ge-
kommen und Qott hätte gesagt: Ei siehe da, es ist gut. Der
darbende Bürger erweist sich als eine außerordentlich wichtige
Bereicherung unseres heimischen Vorstellungsschatzes, er hat
eine Lebenskraft, als ob er schon immer gedarbt hätte, als
ob er weiter darben müßte und auch dazu entschlossen wäre,
weil sich das so gehört. »Es ist doch merkwürdig» — klingt es
vom sonoren Friedjungschen Organ — , wie sich der darbende
Bürger in dem Moment seiner Erschaffung bereits eingebürgert
hat. Ich höre Herrn Friedjung sprechen und ich sehe den Bürger
darben. Der darbende Bürger sieht so aus:
Bürgern
<"~^ii£dBauer
$<m als ir@0o»#
St KRIEGS-
ANLEIHE
— 57
Glossen
Die Adresse
Daß mir nach dreimonatiger Abwesenheit die Tobsucht
der Zeit als ein brüllender Berg von Briefen und Drucksorten
und jeglicher durch meine Entfernung rebellisch gewordener
Dummheit den Weg zum Schreibtisch versperrt, ist schließlich
in der Natur der mich umgebenden Dinge begründet. Daß
tausend Menschenhände arbeiten, tausend Füße laufen mußten,
damit dieses aussichtslose Nichts aus tausend Gehirnen meine
Einsicht in die schlechte Ökonomie unseres Lebens vermehre,
nehme ich als unabwendbar hin. Daß mit Exh. Nr. 6027
ad Erlaß des k. u. k. Kriegsministeriums Präs. Nr. 20692 v. 1917
die Verwaltung des Kaiserhuldigungswerkes der k. u. k. Luftfahr-
truppe, die im Einvernehmen mit dem k. u. k. Kriegsarchiv
eine Huldigung für Seine Majestät in der Weise ins Leben
gerufen hat, daß die Leistungen der k. u. k. Luftfahrtruppe in
einem Kaiserhuldigungswerke, welches Seiner Majestät vorgelegt
wird, für ewige Zeiten — für ewige Zeiten! — festgehalten
werden, durch welches Werk eine Würdigung der Leistungen der
k. u. k. Luftfahrtruppe im In- und neutralen Auslande bezweckt
wird, also an die Firma Karl Kraus das höfliche Ersuchen ergehen
läßt, diese Kaiserhuldigungsaktion gleich den anderen maßgebenden
Industrieunternehmungen gütigst fördern zu wollen, die beigefaltete
Subskriptionsliste Nr. 16786 wieder anherzusenden und u. a. zur
Kenntnis zu nehmen, daß die Namen der Subskribenten der
Ausgabe I zum Preise von K 500 pro Stück in dem Seiner
Majestät zu überreichenden Kaiserhuldigungswerke verewigt werden,
und daß also die Verwaltung wirklich einen Augenblick glaubt,
daß die Firma Karl Kraus nicht zögern werde — es sei!
All dies ist gut, natürlich und begreiflich. Warum aber die
Schriftleitung des täglich in einer Auflage von 120000 Stück
erscheinenden Düsseldorfer General-Anzeigers mir mitteilt, daß
dieser ab 1. Januar 1918 den Titel »»Düsseldorfer Nachrichten«
— 58 —
führen wird, während hingegen alle übrigen Einrichtungen,
namentlich die redaktionelle Richtung, das Format und die
Erscheinungsweise unverändert bleiben, daß die Telegrammadresse
vom 1. Januar 1918 ab »Nachrichten Düsseldorf« lautet, während
die Postschließfach- und Fernsprechnummern wie bisher bestehen
bleiben — ich habe über die Sache in der letzten Zeit viel nach-
gedacht, es interessiert mich, beschäftigt mich angelegentlich,
aber ich weiß nicht, welches Merkmal meines geistigen Wesens
meine Empfänglichkeit den Leuten in Düsseldorf verraten haben
mag, und das allein verdrießt mich. Wohl weiß ich, daß der
Urgrund all dieses Verdrusses die Mechanik eines Adreßkatalogs
ist. Aber diese Erkenntnis eben fördert den Verdruß. Die Summe
von Beleidigung, die mir das Bewußtsein meiner Zeitgenossen
täglich zufügt, wiegt nichts neben den Zumutungen des blinden
Registers. Wenn es mir schon nicht gelingt, in die Literatur-
geschichte zu kommen, so habe ich wenigstens den Lehmann
gebeten, mich zu löschen. Er tat es. Ich bin keine Wiener Adresse
mehr. Das ist der erste Schritt zum Erfolg. Jetzt gilt es das
Telefonbuch. Hierauf: wie sage ichs dem »Kürschner«? Doch
»immer höher muß ich steigen, immer weiter muß ich schauen«.
Mich treibt der höchste Ehrgeiz: das Loch im Register der Welt
zu sein!
Bis auf den letzten Mann
3. April, Seite 4:
Czernin schloß, Land- und Seekrieg zu einer verzückten
Apotheose verbindend :
» . . . Ein jeder Österreicher, ein jeder Ungar muß in die
Bresche treten. Niemand hat das Recht, abseits zu bleiben, es
gilt den letzten, den entscheidenden Kampf. Alle Mann auf Deck,
dann werden wir siegen!«
Seite 10:
Wien, 2. April. (Die Begnadigung Leopold Hilsners.) Leopold
Hilsner, über dessen Begnadigung nach lSjähriger Kerkerhaft wir im
Abendblatt berichtet haben, ist, wie verlautet, nach Verlassen der
59
Strafanstalt in Stein, wo er zuletzt interniert gewesen war, der
Musterungskommission zur Prüfung seiner körperlichen Eignung für
die militärische Dienstleistung überstellt worden.
4. April:
» — — Wie bei jeder Begnadigung hat sich auch in diesem
Falle das Justizministerium vergewissert, daß für ein Unterkommen
dei Begnadigten Vorsorge getroffen ist.«
Landsknechte
. . . Ein Blendereignis mit schwindelerregenden Ziffern, diese
Lizitation des Bildernachlasses Ludwig Lobmeyrs, mit ihrem Gesamt-
ergebnis von beinahe 3XJ2 Millionen Kronen I Mit Preissprüngen von
10.000 Kronen gleich geschahen die Überbietungen. Not und Über-
fluß scheinen die Zwillingskinder des Krieges zu sein. Ströme Qeldes
Hießen gemischt mit den Strömen des Blutes. Ich komme über den
Eindruck nicht hinweg, daß etwaswild Landsknechthaftes,
an die bizarren Greuel des Dreißigjährigen Krieges ge-
mahnend, in diesem flotthandigen Hinauswerfen
des Geldes ist. Mitten in dem allgemeinen Jammer zogen d i e
Landsknechte daher mit gefülltem Beutel und waren »splendid«
in Ihrer Art, kargten nicht mit den Talern und ließen sich's und
anderen wohl geschehen, denen dieses Nichtkargen zugute kam.
Ähnliches hab' ich ja schon in Wien erlebt, die
ähnliche Sorglosigkeit im Zahlen von > Höchstpreisen«, im Sichüber-
bieten und Nichtbeachten der Ziffer, wenn man nur den Trumpf
ausspielen kann im Erreichen des Lebensgenusses. Das waren d i e
Jahre des Gründungsschwindels, die dem »großen
Krach« vorangingen.
Die zweite Ähnlichkeit ist frappanter. An den langen
Nasen zu erkennen, die sie schon haben und noch kriegen werden,
die wilden Bilanzknechte, die sich bei der Lobmeyr- Auktion,
hei, zusammenfanden !
Hans Müller war dabei
Er gedenkt nicht allein der Bresthaften, die im Spittel
sind, nein auch jener, die jetzt aus der Gefangenschaft endlich
zu ihren Lieben beim Kader heimkehren. Und wer wie er
60
daran denkt, nämlich an das, was sie mitgemacht haben, nicht an
das, was ihnen bevorsteht
— den wird es in sein Inneres hinein schauern, als blickte er jäh
durch einen Spalt in die letzte Glut des Erlebens.
Wie geschah's, daß Müller so mitfühlen lernte?
Ich war dabei im November,
Piave?
als ein junger Austauschinvalide, Oberleutnant mit kürzer gewordenem
Bein auf dem Bahnhofe von seiner Familie erwartet wurde. . . .
Die mit gutem Beispiel vorangehen und die ihnen folgen
. . . Schließlich erklärte der Generaloberst: Unsere Truppen nahmen
den Befehl, nach zweijähriger heldenmütiger Verteidigung den Vormarsch
anzutreten, als Erlösung auf. Mit dem Vormarsch in Feindesland
wurde ihr heißester Wunsch erfüllt. Frisch, munter und mit Begeisterung
ertragen sie alle Mühen der mit der Offensive verbundenen langen
Märsche.
Heute morgens begeben sich die Schriftsteller Franz Karl
Ginzkey (Wien), Dr. Max Halbe (München), Felix Saiten (Wien)
und Dr. Ludwig Thoma (München) an die Front gegen Italien.
Der Katzeimacher
d' Annunzio ist schlecht auf uns zu sprechen. Zum Glück
gibt es d'Annunzio-Ersatz. Ein anderer italienischer Autor will
um jeden Preis zu den Unsrigen gehören. Es ist Terramare. Er hat
einem Mitarbeiter der , Mittagszeitung' seine geheime Sehnsucht
anvertraut:
Bei Georg v. Terramare.
— — Vor Jahren schon trug ich mich mit dem Gedanken,
einen Prinz Eugen-Roman zu schreiben. Im Frühjahr des Jahres 1914,
61 —
da ich mich nach schwerer Krankheit in Karlsbad zur Kur befand,
befiel m i c h, da ich in meiner Gesundheit wieder langsam erstarkte,
die Idee, Prinz Eugen in den Mittelpunkt eines heiteren Werkes,
eines historischen Lustspiels zu stellen. Und da setzte ich mich eines
Tages hin und schrieb das Stück bis auf die beiden letzten Szenen
des dritten Aktes in drei Tagen nieder.
Das ist schnell. Warum hat er sich so beeilt? Weil das
christlich-germanische Schönheitsideal des Burgtheaterdirektors
es nicht erwarten konnte. Was aber könnte noch besser sein als
ein Österreicher? Ein Italiener, der um jeden Preis ein Öster-
reicher sein will.
— — Terramare betont, es sei ihm seit Jugend stets der
Gedanke vorgeschwebt, ein österreichischer
Schriftsteller zu sein, und diese besondere Akzentuierung
des Österreichertums, das zu sich Vertrauen haben
müsse, liege auch dieser unter seinen vielen Arbeiten zugrunde. — —
Und er will auch weiterhin in erster Linie als
Österreicher schaffen. . .
In erster Linie? Piave-Front? Ich gehe weiter.
Mir nämlich schwebt unter solchen Umständen der
Gedanke vor, ein italienischer Schriftsteller zu sein. Nur
haperts leider mit der Sprache. Das einzige italienische Wort,
das ich übersetzen kann, ist Terramare. Das heißt auf deutsch :
Eisler.
Eine übertriebene Meldung
Gabriele d'Annun/.io gefangen?
(Telegramm der .Neuen Freien Presse".)
Genf, 20. November.
Der seit neun Tagen abgängige Gabriele d'Annunzio gilt, nach
einer »Figaro«-Meldung aus Rom, als gefangen.
Hier ist über eine Gefangennahme d'Annunzios nichts bekannt.
Gleich hinten erfolgt die Aufklärung. Die Österreicher
haben nicht ihn gefangen, wohl aber seinen Film, und führen
diesen ohne Nennung des Autors auf. Mit einem Wort:
62
A 1 1 e i n a u f f ii Ii r u n g s r e c h t I ü r ganz Wien!
Der Kampf um die Weltherrschaft !
Das Publikum wird im eigenen Interesse gebeten, sicli die Karten im
Vorverkauf zu besorgen.
1917
Aus einem kriegspresseamtlichen Film :
»Unsere Sturmtrupps rocken vor, unmittelbar gefolgt von den
Filmtrupps.«
Da können ja die Beutelrupps gar nicht nachkommen.
Der Schächter
Von der Abendblattfront drangen (iurgellaute:
Bestes Fortschreiten unserer Offensive gegen
Italien.
Mitteilung Dr. Wekerles über den Beginn unserer
Offensive.
Günstige Nachrichten über die Angriffsschlacht.
Die Angriffsschlacht und der Friede.
(Unter diesem Titel wird mitgeteilt, daß der italienische
Bericht »sich nur auf Äußerlichkeiten bezieht« und »nur von
beiderseitigem Trompielfeuer, von der Verwendung der Gase
und vom schlechten Wetter erzählt.)
Die Angriffsschlacht gegen Italien.
Die Angriffsschlacht gegen Italien ist jetzt das größte
militärische und politische Ereignis im Kriege. Auch die Entente
hat das Bewußtsein die große Schlacht, die gestern begonnen
hat - —
Die Angriffsschlacht und die bevorstehende
Bündniskonferenz in Paris.
— — Durch die A n g r i f f s s c h 1 a c h t der Mittelmächte gegen
Italien hat sich jedoch — —
Die Angriffsschlacht und die Ministerkrise.
Die Psychologie der A n g r i f f s s c h 1 a c h t ist wichtig
63 -
Ein Soldat steht in den Bergen bei Asiago auf der Wache
Ein Soldat steht in den Bergen bei Asiago
auf der Wache. Der Mantel schützt in solchen Höhen gegen
den Winterfrost nur wenig, der Atem schlägt sich in Eis nieder,
der Sturm durchschauest den Körper und das Auge späht durch die
. Finsternis der Nacht nicht bloß nach dem Feinde, sondern auch nach
der Lawine, die schon so viel hoffnungsvolle Jugend aus dem Leben
gerissen und mit dem Leichentuch von Schnee zugedeckt hat. Der
Soldat, der unter den ernstesten Gefahren, bedroht von den Schrecken
der Natur und von den mörderischen Erfindungen des menschlichen
Geistes seine Pflicht erfüllt, ist Wähler. Er denkt in der
Einsamkeit der Felsenwildnis an den Abge-
ordneten, dem er seine Stimme gegeben hat und von dem er
glaubt, daß er für ihn sorge. . . . Der Soldat auf der Wache bei
Asiago ist vergessen und die Anleihe, die für seine Ernährung und
für sein Wohlbefinden die Mittel aufbringen soll, wird nicht
• bewilligt.
Gut, nicht jeder muß das nachmauscheln können. Aber
wer es nicht hört, verdient wirklich nicht, in dieser Zeit zu
leben. Seit der Nase der Kleopatra dürfte es der einprägsamste
Beginn eines Leitartikels sein. Die »Stimmungen« des in den
Bergen von Asiago auf Wache stehenden Soldaten, der an seinen
Abgeordneten denkt und betrübt ist, weil die Mittel für die mörder-
ischen Erfindungen des menschlichen Geistes nicht bewilligt
werden, wenn sich schon die Schrecken der Natur nicht abwenden
lassen — sie werden ein Dokument von den Gefahren bleiben,
denen dieses Hinterland ausgesetzt war. Denn der Soldat draußen
denkt nur an seinen Abgeordneten. Aber wir müssen an unser
Herrenhausmitglied denken.
«Die innere Krise und der Sieg auf dem Kemmelberge
bei Ypern.
Wie kommt das zu dem? Auf dem kürzesten Weg:
die innere Politik braucht das Einvernehmen mit zehn Millionen
Deutschen, deren Stammesgenossen heute die Franzosen und die
Engländer auf dem Kemmelberge geschlagen haben.
— 64 —
Das kann man nicht oft genug hören!
1. Spalte :
Anerkennung des Kaisers für den Grafen Czernln.
Für den Ausbau und die Vertiefung der
Bündnispolitik.
— — — seine Anerkennung für den konsequenten Ausbau
und die Vertiefung der Bündnispolitik ausgesprochen.
2. Spalte:
Der große Sieg und die Anerkennung für den Grafen Czernin.
Konsequenter Ausbau und Vertiefung der
Bündnispolitik.
— — die Anerkennung für den Ausbau und für die Ver-
tiefung der Bündnispolitik ausgesprochen. — — Das ist Aus-
bau und Vertiefung der Bündnispolitik — —
— — — konnte er . . das Bewußtsein haben, daß
auch er durch den Ausbau und die Vertiefung der Bündnis-
politik — — leise angedeutet in der Depesche des Kaisers
Karl an den Kaiser Wilhelm. Du hast in selbstloser Sach-
lichkeit, telegraphiert Kaiser Karl, meinem Oberbefehl eine
Reihe Deiner prächtigen Divisiorien zur Verfügung gestellt.
Selbstlos und sachlich hat er seine Truppen nach
dem Süden geschickt — — Weil dies geschehen
ist, konnte dem Grafen Czernin nachgerühmt werden,
:i. Spalte:
daß er das Bündnis ausgebaut und vertieft habe.
— — Das Bündnis . . mußte auch in diesen Fragen
ausgebaut und vertieft werden. — — Graf Czernin hat sich
. . nicht hindern lassen, das Bündnis mit Deutschland auszu-
bauen und zu vertiefen — —
— — — Das Bündnis, dessen Aushau und Vertiefung
retten die Menschheit.
Die zu dem Heil, das ilir widerfahren ist, auch das noch
anhören darf !
Angriff tschechischer Überläufer mit schwerer Artillerie
auf deutsche Truppen
Die Tschechen nach dem Kampfe umzingelt.
Wien, 12. März
— —Auf dem Marsche zu den Getreide-
scheunen der Ukraine stellten sich den Deutschen tschechische
ObeTUufe! entgegen. Sie hatten schwere Artillerie und
65
kämpften als Verbündete der Roten Garde gegen die Verbündeten
von Österreich — — Allein so verderbt auch die Überläufer
sind, welche die Waffe gegen ihre früheren Kampfgefährten und deren
Verbündete ergreifen ... der Kampf mit schwerer Artillerie
bei B a c h m a t s c h in der Ukraine reizt den Widerwillen noch mehr.
— — Aber der Kampf mit schwerer Artillerie zur
Unterstützung der Roten Garde bei Bachmatsch in der Ukraine
war mehr als Verrat. — — Vielleicht sind es ihre greisen
Eltern, die Brüder und Schwestern, die hungern und denen aus der
Ukraine durch den Marsch der verbündeten Truppen baldige Hilfe
werden soll. — — Mit schwerer Artillerie ausziehen,
um den eigenen Volksgenossen zu Hause das Brot wegzunehmen . . .
das ist, nach der Politik des Herzens beurteilt, schlimmer als Verrat.
Nationale Überreizung konnte die bei Bach matsch in der
Ukraine mit schwerer Artillerie ausrückenden Überläufer
nicht zum Angriffe hingerissen haben. — —
— — Der tschechische Bauer, dessen Sohn vielleicht
bei Bach matsch in der Ukraine gekämpft hat, ist der schroffste
Gegensatz zu den seltsamen Ausbreitern der Revolution, der sich
vorstellen läß^ . . . Der Sohn, der vielleicht ein Überläufer
geworden ist^^Ümpit jedoch mit der Roten Garde, mit den Bolschewiki,
die kein Privateigentum an Grund und Boden zulassen und in den
Sparkassen wegnehmen, was der Einleger über
zehntausend Rubel hat. — — Das ist Entartung,
Gehässigkeit ohne Sinn und ohne Hemmung.
Der ist unverwüstlich. Also mit schwerer Artillerie — no
wenn's noch leichte Artillerie gewesen wäre — : das ist von allen
»Verderbtheiten« »vielleicht« jene, die die Einbildungskraft —
mer kann sich vorstellen — am lebhaftesten beschäftigt seit den
Tagen, da der Beweis dafür, daß die Russen den Flanken-
angriff lieben, aus den »Verwundungen unserer Soldaten an den
Außenseiten der Arme und der Beine« hergestellt wurde. Rituelleres
als diese Schlacht von »Bachmatsch« aber ward nie zuvor ver-
nommen. Doch soll es während meiner Abwesenheit wieder im
üemäuer der Entente gerieselt haben.
Der Schlachtbankier
. . . Aber durch den Rückzug der Italiener vom Isonzo ....
wird die politische Belastung von England so schwer — —
und in den Augen des russischen Volkes ist das britische Reicii mit
dem Groll über die politische Zahlungsunfähigkeit belastet.
Rumänien verwünscht ebenfalls den Tag, an dem es den englischen
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Verheißungen geglaubt hat, und auch das ist eine Belastung.
Die Belastung der englischen Diplomatie gegenüber den Ver-
bündeten, das fortwährende Hinausschieben fälliger Keller-
wechsel auf den Endsieg — Denn eine neue Zahlungs-
unfähigkeit ist jetzt offenkundig geworden und der beständige
Hinweis auf die militärischen Zuschüsse aus den Vereinigten
Staaten Auch in der Politik hat jeder Wechsel, der nicht
bezahlt werden kann, die Folge, daß sämtliche in Umlauf
gebrachte Schuldversprechungen einen geringeren
Wert haben. Italien ist für die Entente eine militärische
Verlustpost geworden — — Die Politik der Einkreisung ist
z a h 1 u n g s u n f ä h i g.
Nibelungentreue
Auch das warme und überaus wertvolle Freundschaftsverhältnis
zwischen unserem Institut und der Direktion der Diskontogesellschaft
sowie den Bankhäusern S. Bleichröder und Mendelssohn & Co.
in Berlin — —
Laut darf man's ja nicht sagen, aber da nf^pt' ich auch
gern einen Keil hineintreiben!
* *
Schreie
Meldung über Aufwerfen der F r i e d e n s f r a g e
durch Italien.
Auf der Pariser Konferenz.
Der Kaiser an die Armee.
Bewunderung der ganzen Bevölkerung für ihre
Leistungen.
Der schönste Untertitel
Abreise des Grafen Czernin nach Bukarest.
Übermorgen Samstag.
Neue Bezeichnungen
Die Ostersch lacht.
Karfreitagsgefecht um Conchy sü.lösllich von Montdiilier
67
Stellen wir uns vor
Die Entente würde von einem fast unbegreiflichen Irrtum
geblendet sein, wenn sie meinen sollte, nach einem Sonderfrieden
zwischen Rußland und den Mittelmächten den Krieg noch längere
Zeit fortschleppen zu können. Es würde nicht gehen wegen der
militärischen Kräfte, die frei werden und zur Verfügung der Mittel-
mächte wären; es würde nicht gehen wegen der weit größeren
Ausnützungsfähigkeit der Fahrbettiebsmittel auf den kürzeren
Strecken .... Eine Fülle von Zwangsmitteln, gegen die sich die
Entente nicht wehren könnte, würde zum Frieden drängen. Stellen
wir uns vor, daß die Gefangenen zurückkehren,
eine Million, vielleicht noch mehr. Darunter meistens
junge Leute, kriegserfahrene Soldaten, gehärtet im Klima
von Sibirien.
Und auf diese maßlose Dreckigkeit antworten tausende
von Vätern der gesund Zurückkehrenden nicht mit einer Watschen,
sondern mit Fortsetzung des Abonnements!
Die in die Heimat einrücken werden
. . . Der Bürgermeister bat sodann den Minister, dahirr zu
wirken, daß die Kriegsgefangenen bald in die Heimat zurück-
kehren können ....
. . . Der Minister versicherte dann noch, daß das Menschen-
mögliche geschehen werde, damit alle in Rußland befindlichen
österreichisch-ungarischen Kriegsgefangenen dem getroffenen Abkommen
gemäß möglichst bald in ihreHelmat zurückkehren können ....
Das Mutteraug
. . . Der Landesverteidigungsminister Czapp beantwortet die
/dringlichen Anfragen betreffend die zurückkehrenden Kriegsgefangenen
und erklärt, die Militärverwaltung begrüße herzlich
die Rückkehr der in russischer Kriegsgefangenschaft befindlich
gewesenen Soldaten.
Heimkehrend gemacht
— — daß sämtliche in Rußland befindlichen Kriegsgefangenen
freizulassen sind. — — Nach Ablauf dieser Frist werden die
heimkehrenden Gefangenen zu ihren Ersatzkörpern e i n-
rückend gemacht und erhalten von diesen einen vierwöchigen
68
Urlaub. — Alles zu veranlassen, was eine weitere
Verbesserung des Loses unserer zurückkehrenden
Kriegsgefangenen herbeizuführen vermag.
Die bisher zurückgekommenen Kriegsgefangenen sind im
allgemeinen gesund und kräftig — —
Die gefangenen Heimgekehrten
. . . Die Behauptung, daß die Heimkehrenden, wenn sie fehl
diensttauglich sind, sofort in Marschformationen eingeteilt
wurden, ist unrichtig. (Beifall.)
Ein Winkelried
Gerda Walde ruft auf:
Es gibt nur einen Erfolg: Den Enderfolg!
Die siebente Kriegsanleihe soll ihn besiegeln. Nurnichtnach-
lassen, nur nicht mürbe werden in letzter Stunde!
Keinem unserer -Krieger wird es einfallen, plötzlich
im entscheidenden Sturmangriff zurückzubleiben.
Ebensowenig darf jetzt zu Hause auch nur ein einziger mit seinem
Gelde fehlen. Mit der siebenten Kriegsanleihe muß der Sieg erfochten
werden. Dann ist der Frieden sicher!
Darum zeichnet
Welch ein Staat. Welch eine Zeit.
Das Unbeschreibliche, hier ist's getan
. . . Das Artillerieduell schnellte zeitweilig zu eine«
Heftigkeit von ungeheurer Dimension an. Selbst in der Höhe
von Graz konnte es gehört werden.
Die Stimmung der Truppen ist eine nicht
zu überbietende. Die Wegnahme von F 1 i t s c h durch die
bewährten alpenländischen Truppen bedeutet den Höhepunkt des
ersten Tages ....
In dieser Form also lese ich die Todesanzeige des
edelsten Freundes und von Tausenden mit ihm. Einer, der nicht
dabei war und dem es, als er in Wien, nicht einmal in Graz,
im Kaffeehaus saß, das Kriegspressequartier genehmigt hat,
meldet es seinem Blatt.
GO
Notizen
In memoriain Franz J a n o w i t z
(Gesprochen am 18. November 1917)
Ich könnte diese Vorlesung nicht abhalten und nicht
beginnen, ohne eines jungen Freundes zu gedenken, der heute
in diesem Saal zu sitzen so sehr gewünscht hatte. Er ist daran
verhindert worden. Denn er ist als eins der Millionen Opfer,
aber als eines der teuersten, dieses feigen Meuchelmords, zu dem
sich die Menschheit verurteilt hat, am 4. November seinen
Wunden erlegen. Nach meinem edlen Franz Grüner, der, glück-
licher, durch "die Entscheidung einer Sekunde hingerafft wurde,
hat nun auch dieses seltene Herz zu schlagen aufgehört und
das schmale Feld meines menschlichen Umgangs, so furchtbar
in das weite Feld der Unmenschlichkeit einbezogen, ist nun
recht verödet, seit mir auch dieser Lichtpunkt erloschen ist.
Versuchte ich die geistige Luftlinie zu ziehen zwischen den
Bestrebungen jener Vampyre, die noch mehr Blut, heute noch,
wollen, und dem allerstillsten, allerehrlichsten Leben dieses
jungen Dichters, der, nicht zum Landsknecht geboren, durch
vier durchgerackerte Jahre sein mildes Herz trug und in Schützen-
gräben das Geheimnis der Jahreszeiten und die Unbegreiflich keit
dieser Menschenzeiten gefühlt hat — versuchte ich diesen Kontrast
durchzudenken, ich würde, selbst ich, unter dem Unmaß der
Empfindungen zusammenbrechen! Hätte die Staatsweisheit dieser
Welt nur so viel Vorstellungsvermögen gehabt, zu erkennen,
daß die Erhaltung des wertvollsten Menschengutes wichtiger sei
als die Bereithaltung des Menschenmaterials, sie wäre andere
Wege gewandelt. Da aber dieser wahrhaft Unschuldige ein reiner
Dichter war, so war er zwar zum Landsknecht verurteilt — aber
ein Literat zu werden, dazu hat ihn selbst ein Leben der Not
und der Blick auf den Tod nicht vermocht! Je mehr solcher
wenigen unbefleckbaren Seelen mir entrückt werden, die das
70
Sterben im Krieg dem Schreiben für den Krieg vorgezogen haben,
umso inbrünstiger wird meine Verachtung für jene, welche sich
der Glorie verschrieben haben, um ihren Begleiterscheinungen
zu entgehen; welche die ihnen vergönnte Selbstrettung durch die
Propaganda für den Tod der Wertvollem erkaufen müssen:
und keiner von ihnen möge auf den Frieden hoffen, weil ihm
der vielleicht die Chance bringt, daß ich dann seinen Gruß auf
der Straße erwidere. Nie wird für mich alles vorbei sein! Franz
Janowitz war einer von den andern, deren Verbannung in dasGrauen
mir keinen Augenblick dieser bangen Zeit unvorstellbar gewesen ist ;
deren Wertlosigkeit wie ein Gebot zur Rache vor meiner Seele stand
und mich verpflichtet hat, unter dem Druck der herzlähmenden
Kontraste eben noch nach dem Ausdruck für Schmerz und
Schmach dieser Gegenwart zu ringen. Ich hasse diese, und ihn
habe ich geliebt. Sein Andenken sei geheiligt ! Es werde in einem
Band Gedichte bewahrt, den der mühselige Rest seines jungen Lebens
als Ruf der Sehnsucht hinterlassen hat. Ihn mit irgendwelchem
Miß- und Neugetöne einer sogenannten jungen Generation
konfrontieren zu wollen, wäre sündhaft. Wenn ein Mensch so
echter Art auch sterben mußte, es genügt, daß er gelebt hat,
um es mit einer ganzen Richtung von Betrügern und Natur-
verrätern aufzunehmen. Nach jener Zeit, da ich um mich noch
Raum zur Förderung, zur Förderung des Verrats an mir hatte,
trat er zu mir, und war mehr wert als alle. Ich wartete
auf sein Buch und mußte mich mit der Feldpost begnügen. Aus
einem bescheidenen Heftchen, das er im Jährte 1Q13 nur wider-
willig einer fragwürdigen Anthologie einverleiben ließ, ertöne
nun seine Stimme, so leise, so tief. Mögen jene unter meinen
Hörern, die in der Sprache ein Menschenantlitz zu erkennen
vermögen, den Verlust ermessen, den sie durch den Tod eines
Unbekannten erlitten haben.
Es gäbe eine Sühne für alle Kriegsdichtung von vier
Jahren. Wenn sie sich in ihr Nichts auflösen wollte angesichts
dieses erhabenen Heldengedichts, das in Form einer Feldpost-
karte an die Familie des Verstorbenen gelangt ist :
71
K. u. k. Feldspital 1301 am 6/11 1917
Hochgeehrter Herr!
Erlaube mir mit zitternder Hand mitzuteilen, daß mein
Herr Leutnant Janowitz den 4. November seinen Wunden erlag.
Mir wurde trotz meines Bittens nicht erlaubt, mit seinen
Sachen zu Euch zu kommen.
Hab wohl viel Thränen vergossen für den H. Ehre seinem
Andenken. Mein innigstes Beileid. Gott hat es gewollt. Ich
komm wieder zur Kompagnie.
Sein tr. Diener
Josef Qreunz.
Und angesichts dieses Dokuments: Eine Karte, die ich dem
Verwundeten geschrieben hatte — zur Beantwortung eines Tele-
gramms brauchte das Feldspital sechs Wochen — und die nach
seinem Tod einlangte, ist später mit dem folgenden Vermerk
zurückgekommen:
Abgeschoben. Aufenthalt unbekannt.
»W ie sehr ich wieder Liebe zu der Klasse
von Menschen gekriegt habe, die man die
niedre nennt, die aber gewiß vor Gott die
höchste ist! Da sind doch alle Tugenden bei-
sammen, Beschränktheit, Genügsamkeit, ge-
rader Sinn, Treue, Freude über das leidlichste
Gute, Harmlosigkeit, Dulden — Dulden — Aus-
harren — .« Goethe an Frau von Stein 1777.
Das vorliegende Heft enthält — nebstspäter Geschriebenem -r-
nur den kleineren Teil der im Februar und in der ersten Märzhälfte
entstandenen Manuskripte und Dokumentensammlungen. Die täglich
vermehrte Schwierigkeit der Drucklegung hat die Verteilung des
Materials auf die folgenden, hiedurch noch > unaktuelleren« Hefte
notwendig gemacht. — Die ungeheure Fülle des ausden ersten Kriegs-
monaten Aufbewahrten, die mich immer wieder brüllend mahnt, sie
ins Gedächtnis der Nachwelt zu erlösen, soll nach dem Krieg
- 72
wenigstens die Form einer Tatsacliengruppierung erhalten.
Verloren wird nichts gehen, was mein Blick gestreift hat. Doch
muß immer wieder gebeten werden: Zuzug fernzuhalten! Da
schon die Zeit die Bitte nicht erhört, mögen es ihre Genossen tun.
Der Mißton der Zeit ist diesmal nur gelegentlich ihrem
erbärmlichsten Instrument abgenommen; er war auf allerlei
Umwegen zu mir gedrungen. Längere Reisen bringen jene
Erholung, die eine Entfernung vom Anblick der Neuen Freien
Presse bewirkt.
Nachrufe für Wedekind. Der Plauderer der Neuen Freien
Presse hat, da er den Menschen rasch antreten muß, nicht Zeit,
die Biographie zu überblicken. So passiert das folgende. Wede-
kind war beinahe gleichalterig mit Gerhart Hauptmann:
Wedekinds literarisches Schaffen setzte jedoch um Ja h r-
zehnte später ein, w i e das seines Altersgenossen.
Die Grammatik ließe erraten, daß Wedekinds Schaffen w i e
das Hauptmanns um Jahrzehnte später als das Goethes ein-
gesetzt hat. Gemeint ist aber wohl, daß Wedekind so um dreißig
bis vierzig Jahre später als Hauptmann zu produzieren begonnen
hat. Das wäre so zwischen 1920 und 1930. Nun habe ich
zwar »Vor Sonnenaufgang< 1890, »Friedensfest« 1891, »Frühlings
Erwachen« jedoch 1892 kennen gelernt und Wedekind hatte auch
schon vorher geschrieben und produziert. Zehn Zeilen tiefer wird
denn auch bereits ein Ausgleich der Zeiten versucht:
Zwischen Hauptmanns > Friedensfest« und Wedekinds
»Frühlingserwachen« liegen einige Jahre.
Auch diese geben schließlich klein bei.
. . . 1904, als »Frühlingserwachen«, sein zwölf Jahre
früher entstandenes Jugendwerk . . aufgeführt wurde.
Ebenso gut wie über die Anfänge ist der Biograph über
das Ende des Lebens informiert.
Er hat die Kriegszeit zum großen Teil in der Schweiz zu-
gebracht und sich dort zur Aufgabe gestellt, in öffentlichen Vor-
trägen gegen die Verunglimpfung deutschen Wesens und deutscher
Art aufzutreten.
— 73 —
Diese Propaganda-Tätigkeit hat Wedekind in Gesprächen,
die ich ebendort mit ihm über deutsches Wesen und deutsche
Art geführt habe, vor mir streng zu verbergen gewußt. Ich ver-
mute, daß eine Verwechslung mit Hans Müller vorliegt, der aber
Heimarbeiter ist.
Herr Wittmann hinwiederum hat an Wedekind einige
herzige Fragen, auf die dieser >die Antwort schuldig bleibt«,
doch wenn er lebte, sicher mit einem »Verrdammt!« antworten
würde. Er war nämlich leider — und darin konnte er mit Müller
nicht verwechselt werden — immer nur negativ, nicht positiv und
konnte nur niederreißen, nicht aufbauen :
... er verneint bloß. In seiner Kindertragödie, die zum
Selbstmord des vierzehnjährigen Moritz führt, sagt er es
nicht besti r%m t , welche Methode der Kindererziehung
er für die gute hält, er geißelt nur die schlechte. Wir sehen
in seinen Werken die verhängnisvolle Dämonie des Weibes,
aber wie sie abwehren? Die bodenlose Niedertracht
des Mannes, aber wie sie entwurzeln? Die Verderbnis
der ganzen Menschheit, aber wie sie bekämpfen? Der
Dichter bleibt uns auf alle Fragen die Ant-
wort schuldig.
Das literarische Wien hat sich, seit Kürnbergers Tagen,
immer wieder »im Spiegel eines Sarges« von seiner kläglichsten
Seite gezeigt. Aber schon lange nicht so jämmerlich wie bei
Frank Wedekinds Tod, dem es offenbar nachgetragen, wenn auch
nicht nachgerufen wurde, daß ich im Jahre 1905 die >Büch9e der
Pandora« aufgeführt habe.
Bibliographisches. »Karl Kraus und die Sprache«
von Leopold L i e g 1 e r (Verlag der Buchhandlung Richard Länyi
Wien 1918, Vortrag, gehalten am 24. November 1917.)
»Karl Kraus« von Otto Stoeßl, .Marsyas' Berlin, Heft 1. —
Karl Lohs: Anknüpfung an Karl Kraus' »Worte in Versen«,
.Die Wage', XXI. Nr. 8. — Paul Hatvani: Von und über Karl
Kraus, ,Die Weltbühne' (der , Schaubühne' XIV. Jahr), Nr. 17. Und
Notizen in anderen Heften.
.Arbeiter-Zeitung', 30. März 1917: Vorlesung Karl Kraus. —
Zahlreich« Zitierungen in Tagesblättern und Revuen.
74 —
Berichtigung. In Nr. 462—471, S. 22, 18. Zeile bilde
statt »bilden«; S 99, 10. Zeile von unten, entprach statt »entspach« ;
S. 139, 14. Zeile von unten, Kultur, wahrlich statt »Kultur wahrlich«;
S. 141, 14. und 15. Zeile, der ich .... halte statt »der .... hält«;
ebenda 18. Zeile sehe, und statt >sehe und«. In dem Gedicht
»Verlöbnis« S. 80, 1. Zeile von statt »vor«.
In Nr. 472/73, S. 21, 1. Zeile wohlerzogne statt »wohl-
erzogene«; S. 29, 7. Zeile Andern statt »anderen«. (Und noch etliche
kleine Varianten in der Buchausgabe.)
Ende Dezember 1917 sind die ersten Exemplare von
»Worte in Versen III« im Verlag der Schriften von Karl
Kraus, Leipzig, erschienen. Der Band enthält:
Vergelt's Gott! / Der Siebenschläfer Wiedersehn mit
Schmetterlingen / Verlöbnis / Der Anlaß / Aufforderung /
Inschriften T Der Mann und das Wort / Kompetenz vor der
Sprache / Der Satiriker geißelt die Schwächen / Inschriften /
Der Bauer, der Hund und der Soldat / Vision des Erblindeten /
Meinem Franz Grüner / Die letzte Nacht (aus dem Epilog zu
der Tragödie »Die letzten Tage der Menschheit«) / Meinem Franz
Janowitz / Zwei Soldatenlieder / Krieg / Inschriften / Kunterbunt
Wahnschaffe/ Der Heldensarg / Inschriften / Goethe-Ähnlichkeit
Ich und der Stoff / Phantasie an eine Entrückte / Jugend
Es werde Licht / Vallorbe.
Die »Inschriften« enthalten :
I: Bitte an Verehrer / Sonderbare Gäste / Die Zwangs-
lage / Den Psychoanalytikern / Die Satire ist wehrlos / Instanz
des Keimes / Wie man's anpackt / Höllenangst / Warnung
des Lesers / Deutsche Literaturgeschichte / Dienst der Kunst /
Der Vorleser / Das abgeschaffte Orchester / Die Claque / Einem
Polyhistor / Das Originalgenie / Der Erotiker/ Klassiker-Aus-
gaben / Die neue Generation / Täuschung / Der Übermannenden /
Eifersucht ist immer unberechtigt / Der Anstoß / Die Geschlechter /
Kompliment/ Begehrlichkeit / Dank / Grabschrift für Elisabeth R.
II: Beschwörung des bösen Geistes / Glossen werden
Symbole / Gerhart Hauptmann / Richard Dehmel / An denselben /
Hugo v. Hofmannsthal / Derselbe / Artur Schnitzler / Bahrs
Himmelfahrt / Prager Klassiker / Berichtigung / Die Kunst sich
zu freuen / P. A. / Marmor-Chronik / Luxusdrucke ' Der neiu-
Wiener / Der triftige Grund / Für Nichtraucher / Die kranke
Valuta / Czernins Rede / Der neue Pair / Auszeichnung eines
Überlebenden / Die Kriegsberichterstatterin / Ehrendoktorate /
Der Bericht vom Tag.
III: Kineinatographischer Heldentod / Tradition Bomben
auf den Ölberg / Der Flieger / Der neue Krieg / Sieges-
feier / Zwischen den Schlachten / Vorräte / Ausgleich / Knappes
Leben / Kriegsküche / Die Redensart /. Propaganda / Burgtheater-
Tradition / Oirardi im Burgtheater / Der Ruf der Wienerstadt /
Der Fremdenverkehr / Die Instrumente / Unsere Post / Repressalien /
Etymologie / Sprachgebrauch / Vergnügungsanzeiger / Ersatz /
Zeichen und Wunder / Revolution in Deutschland / In eigener
Regie / Revolution / Die Balten und die Letten / Die deutsche
Schuldfrage / Wie es kam / Expansion / Made in Oermany /
Verkehrte Götterwelt / Mit Qott.
IV: Bunte Welt / Die Werte / Das Lebensmittel / So
lesen wir alle Tage / Zusammenhänge / Der Geschäftskrieg /
Der allgemeine Verteidigungskrieg / Die Schuldfrage / Einem
Strategen / Aschermittwoch / Linguistik / Vor dem Helden-
tod / Jahreszeit / Die Tauglichen und die Untauglichen /
Wahlspruch / Sinn und Gedanke / Ein leicht verständliches
Epigramm / Unterricht / Es klingt anders / Die Schwärmer /
Der Hörerin.
Bisher ungedruckt: Vergelt 's Gott ! / Der Siebenschläfer /
Der Anlaß / Kompetenz vor der Sprache / Der Bauer, der Hund
und der Soldat / Vision des Erblindeten / Meinem Franz Grüner/
Die letzte Nacht / Meinem Franz Janowitz ; Krieg / Kunter-
bunt / Phantasie an eine Entrückte / Es werde Licht. — Die In-
schriften: Dienst der Kunst; Der Übermannenden; Grabschrift
für Elisabeth R.; Artur Schnitzler; Der neue Krieg; Etymologie;
Bunte Welt; Sinn und Gedanke; Ein leicht verständliches Epi-
gramm; Unterricht; Der Hörerin.
Der Druck ist diesmal nicht mehr durch die Leipziger
Firma Drugulin, sondern durch die Wiener Buchdruckerei
Jahoda & Siegel erfolgt, und es ist nicht nur ein >schöner Druck*,
sondern auch ein guter geworden. Freilich ist zu bedenken, daß in
einem jener Betriebe, die den Romanbedarf neudeutscher Verleger
zu decken haben, die Sicherheit des Wortes sich nicht von selbst
versteht und daß es schon meiner Zudringlichkeit bedarf,
um dort textliche Ansprüche noch über ausgedruckte Bogen
hinaus durchzusetzen, während die mir benachbarte Druckerei
seit achtzehn Jahren auf die Maßlosigkeit, die den Druck des
vorgeschriebenen, freilich endlos korrigierten Wortes begehrt, red-
lich eingestellt ist. Jedannoch oder eben darum: sollte noch einmal
— siehe die Bemerkung in Nr. 462/471 — jene >Bugra« Zustande-
kommen, so müßte ein Exemplar der > Worte in Versen III« ausge-
— 76
stellt werden, um den Leuten zu zeigen, was Gewissenhaftigkeit,
das ist die Buchstabenfrömmigkeit alter Drucker, mit dem
Minimum an leiblichen und technischen Mitteln, das ihr
die schnöde Zeit gelassen hat, hervorzubringen imstande war.
Die Druckerei Jahoda & Siegel, die seit so vielen Jahren dem
einen Wunsch, den ich habe, Erfüllung gibt, ist die einzige
österreichische Tatsache, die mir patriotische Empfindungen zu
wecken vermag.
Der Druckereibesitzer, der dies während des Drucks ge-
lesen hat, wehrt sich vergebens durch die folgende Warnung;
16. April 1918.
Sehr geehrter Herr Kraus!
Die ehrenvolle Nennung unseres Namens in der bei-
liegenden Notiz läßt mich erröten. Sie ist ja nur zum geringen
Teile verdient, zum größeren fällt das Verdienst auf Sie, der
Sie mit der größten Energie und Selbstaufopferung an meiner
Druckerei ein Erziehungswerk vollbrachten, wie nur Sie es voll-
bringen konnten. Mein geringes Verdienst könnte höchstens in
der willigen Anpassung an Ihre oft schwer erfüllbaren Wünsche
gefunden werden. Das würde nun ohne Zweifel jeder andere
Buchdrucker, der nur Ihrem Wirken die gleiche Begeisterung
gezollt hätte, auch fertig gebracht haben, und es rechtfertigt nach
meiner Ansicht durchaus nicht die so ehrenvolle Erwähnung
und den Vergleich mit einer allerorten anerkannten und
berühmten Anstalt. Der Vergleich scheint außerdem so kraß,
daß mancher Leser, wenn auch nicht Versteher Ihrer Werke
auf den Gedanken kommen könnte, daß Sie denn doch auch
jemandem zu Liebe etwas schreiben. Freilich bei Leuten, die
Sie durch Ihr Wirken genau kennen, wird ein solcher Gedanke
nicht auftauchen. Die Zumutungen der andern zu ignorieren
ist eine von Ihnen seit jeher geübte Gepflogenheit. Trotzdem:
wenn auch nur der dümmste Ihrer Leser einen Augenblick lany
die Empfindung haben sollte, daß dahinter die Erfüllung eines
Wunsches steckt, so wäre mir das Ihretwegen noch mehr als
meinetwegen peinlich. Es wäre darum zu erwägen, ob nicht
diese öffentliche Anerkennung besser unterbleiben würde. Es liegt
mir ja ferne, eine Beeinflussung Ihres Wollens zu versuchen
und ich gebe es Ihnen nur zu bedenken. Genehmigen Sie den
Ausdruck meiner unwandelbaren Verehrung
Georg Jahoda.
77
Dazu sei eines treuen Mitarbeiters gedacht, den eben jene
Zeitumstände, welche die Verminderung eines Druckereipersonals
zum Zweck anderer Beschäftigung bewirken, dem Werk der Fackel
für immer entrückt haben. Franz Koch hat als Setzerlehrling
im Alter von siebzehn Jahren an einem Teil der Kriegshefte
der Fackel gesetzt, bis er gezwungen war, ihren ganzen
Inhalt zu erleben. Nicht lange war's ihm vergönnt ; schon einige
Monate, nachdem er einrückend gemacht war, mußte er in
Italien den tödlichen Zufall erleiden. Kurz vorher hatte seine
Mutter den älteren Sohn verloren. Es ist nur eine persönliche
Empfindung, daß ein guter Setzer der Fackel ein Bataillon von
jenem Gelichter aufwiegt, dessen Kriegsgesänge an den Pranger
meines Druckes zu stellen er geholfen hat. Aber der Verlust
eines guten Menschen, und eines siebzehnjährigen dazu, ist der
allgemeinen Teilnahme wert und eines auch durch stündliche
Wiederholung nicht abzuschwächenden Staunens über den
Widersinn der Zeitdinge.
Bange Stunde
Gebannt steh' ich auf diesem Fleck
und kann nicht zurück und kann nicht weg
und suche mit dreimal flehenden Händen,
ein sicheres Schicksal abzuwenden.
Alles um mich in den bangen Stunden
hat Macht über mich, der gebannt und gebunden.
Gelingt's mir, nur dies und nicht das zu denken,
so wird mich mein Wille zum Ausgang lenken,
und ich weiß mir, der Sklave dem Herren, Dank,
entrinn' ich nur diesmal noch meinem Zwang.
Dort wäre der Weg: wo der Zweifel steht,
ob rechts oder links es sich besser geht.
Ich könnte fliegen, ich möchte eilen,
undgeschwind noch beschwör'ich dieZeit,zu verweilen.
Ich schlage mich durch, ich krieche und hinke,
wie fass' ich die Klinke? Wie faßt mich die Klinke!
Schnell könnten drei Wünsche mir noch verderben:
Herrgott, so laß meine Freunde nicht sterben —
was hältst du mich, scheinbare Vorhangfalte,
was will mir das Fiebergesicht, das alte —
Gott, rette mir jenen, behüte mir diesen,
bewahr ihm das Auge für Wunder und Wiesen —
wie kränkt' ich mich damals, ich wollte nicht warten,
denn ich war krank und die andern im Garten,
eine Spieldose hat die Gavotte gespielt,
ein Gesicht im Vorhang hat nach mir gezielt
Gott, hilf ihnen, die die Zeit mir verwehte,
und die längst nicht glauben, daß ich für sie bete,
und jenen, die du zu dir schon entboten,
— 79
vergiß nicht die Toten, vergiß nicht die Toten !
der Einen aber hier auf dem Bilde,
es lächelt zu meinem Aufruhr so milde,
und dieser aber, o daß ich's nicht dächte,
wenn nicht das Denken Erfüllung mir brächte,
ihr mögest du Leben und Leben und Leben
in vielfach lebendiger Fülle geben
und wirken, daß ihr in unendlichen Lenzen
wie Sonne und Mond die Züge erglänzen,
und für mich selbst, o hör den unendlichen Jammer,
bitt' ich, daß ich in dieser Kammer,
geschmiedet an aller Erden Qual
mich zu Formen erlöse ohne Zähl,
und aus dem vorbestimmten Kreise
mir erbarmungslos und ausnahmsweise
gestattet wäre, zu entrinnen
um immer von neuem zu beginnen,
denn es lähmt mir das Herz, daß einst hinter mir
sich schließe die vorbereitete Tür,
und an dem Gedanken, mich nicht zu beerben,
würd' ich ganz sicher noch einmal sterben!
Laß es nicht zu und lasse mich bleiben,
und bin ich erst fertig, beginn' ich zu schreiben,
denn dem das Wort den Ursinn gelichtet,
sieh, der hat nie zu Ende gedichtet,
und war ich stets des Anfangs gewärtig,
war Leben im Wort: so werd' ich nicht fertig!
Hier ist mir ein heiliges Räthsel gewesen,
ich habe in Hieroglyphen gelesen.
Nie lass' ich das dreimal lebendige Wort,
verstummend in dein undenkliches Dort,
nie lass' ich den Streit und den Zweifel hierniedeu
für jenen unwiderleglichen Frieden.
Nie mögst du von diesem Sessel mich heben.
Lieber den Tod als nicht mehr zu leben !
Nicht feige fleh' ich um meine Errettung;
doch hängen in blutig gespürter Verkettung
an meiner Gestalt die vielen Gestalten,
80
die du zu bewahren mir vorbehalten,
und in dem schmerzbeseligten Bund
unzählige Stimmen an meinem Mund.
Sie nachzuschaffen hast du mich gelehrt,
die von dir sich zum eigenen Abbild verkehrt ;
und gleich' ich nicht jenen, die du erschaffen,
so kannst du mich nicht zu dir entraffen.
Drum laß aus dem marschbereiten Haufen
zurück mich in deine Ewigkeit laufen,
und gib mich mir wieder Stück um Stück!
Mit Macht reiß' ich sonst mein Gedächtnis zurück,
um nimmer zu denken, was noch nicht geschah —
ich will ja nicht weg, ich bleibe doch da!
Was ist das nur heut, was ist das nur hier,
wie dreht sich und droht mir, wie knarrt mir die Tür,
wie rennt mir die Stunde in rasendem Lauf,
wie halten mich alle die Dinge hier auf,
und Falten und Kanten, sie starren mich an,
des Zufalls unseligsten Unterthan!
Gebannt und gebunden steh' ich auf dem Fleck,
und kann nicht zurück, und will nicht weg — .
81
Halbschlaf
Bevor ich war und wenn ich nicht mehr bin,
wie war ich da, wie werde ich da sein?
Zuweilen dringen Duft und Rausch und Schein
vom Ende her und von dem Anbeginn.
Hab* ich geschlafen? Eben schlaf ich ein,
und nun verwaltet mich ein andrer Sinn,
noch bin ich außerhalb, schon bin ich drin,
noch weiß ich es, und füge mich schon drein.
Dies Ding dort ruft, als hätt' ich's oft geschaut,
und dies da blickt wie ein vertrauter Ton,
und an den Wänden wird es bunt und laut.
Dort wartet lang' mein ungeborner Sohn,
hier stellt sich vor die vorbestimmte Braut,
und was ich damals war, das bin ich schon.
- 82
Das zweite Sonett der Louise Lab6
0 schöne Augen, Blicke abgewendet,
o Seufzer, Klagen, o vergossne Thränen,
o dunkle Nächte, die durchwacht mein Wähnen,
o lichter Tag, vergebens mir verendet !
O Trauer du, da Sehnsucht stets verweilt,
o alle Übel wider mich bereitet,
o tausend Tode rings um mich gebreitet,
o Ewigkeit der Qual, da Zeit enteilt!
O Geigenton des Leids, Musik im Schmerz,
o Lächeln, Stirn und Haar, o edle Hand
zu viele Flammen für ein armes Herz !
Weh dir, der alle diese Feuer trägt,
daß du sie an mein Leben hast gelegt,
und bleibst von jedem Funken ninverbrannt !
Nach dem Original und einer vorhandenen Übertragung
83
An eine Falte
Wie Gottes Athem seine Fluren fächelt,
so wird es leicht und licht
in diesem klaren Angesicht.
Es hat die Erde gern
und schwebt ihr fern
und liebt und lächelt.
Und Gottes Finger bildete den Bug
vom Ebenbilde.
Es zieht so milde
hin über alles Leid,
und es verzeiht
der edle Zug.
In dich, o unvergeßlich feine Falte,
betend versanken
meine Gedanken.
Daß diese letzte Spur
seiner Natur
mir Gott erhalte!
84
Suchen und Finden
Die Dinge sind schon an der Fläche tief,
du mußt sie nur mit Ehrfurcht sagen.
Willst du dich aber weiter wagen,
so weist sich's oft, daß dich kein Rätsel rief.
Beneide nicht, die allen Sinn benagen
und den Gedanken, der da schlief,
eh' er durch ihre Tageszeiten lief,
gefühllos weckten durch ihr lautes Fragen.
Sieh das Gewohnte stets zum ersten Mal.
Dann hat sich alles Suchen dir gelohnt,
das Vorgefundne fügt sich deiner Wahl.
Bleibt nur, was ruht, von deinem Drang verschont,
so wird dir das Entlegene banal,'
und neu das Nahe und wie ungewohnt !
8ö
Die Flamme der Epimeleta
(»Pandora«)
Meinen Dankrui,
für mich selbst nur :
Ihr bedürft's nicht,
aber hört ihn!
Eines Gottes
Wort- und Weltbrand,
Goethes Sprachflamm'
hüllt mein Haupt ein
Epimetheus'
angstverbrannte
Tochter reißt mich
mit dem Feuer,
das sie ausruft,
himmelaufwärts,
rettet Ursprung
aller Weibmacht,
und im Weltsturz
steht das Wort auf,
nun als Wunder
von dem letzten
hin zum ersten
Tag der Schöpfung
wieder aufragt's!
86
Wen erschlägt es?
Jene Schuld, wem
droht und winkt sie,
schreckhaft Auge,
ins Gericht hin ?
Diesen hier nicht,
die zugrund gehn,
doch zum Grund nicht !
Mit verpichten
Sinnen leben
Rauchgeborne,
nie Entflammte,
unverzückter
Zeiten Wegwurf.
Und vergebens
strebt zum Himmel
Feuersäule
meines Danks an
Gott und Goethe!
87
Programme
Mittlerer Konzerthaussaal :
17. Oktober 1917, 7 Uhr:
I. Im Namen Goethes! / Friedrich Hölderlin: Vom
deutschen Volk / Wie ein König, mit Bomben beladen, wie
ein Gott! / Ein anderer Ton / Aus: Und der Herrgott lacht! /
Der Irrsinnige auf dem Einspännergaul / Eine Quelle der Ver-
jüngung / Vision / Vor Abgang des Zuges / Wie die Hunde
durchhalten / Der deutsche Professor / Na und ihr zwee beede? /
Ein Kapitel aus Frangois Rabelais' Gargantua: Wie
etliche von Pikrochollers Hauptleuten ihn durch hitzige Rat-
schläge in Gefahr brachten. II. Epigramme: Wahnschaffe;
Der Heldensarg; Zwei Soldatenlieder. Der Flieger; Ehren-
doktorate; Der Bericht vom Tag; Die Kriegsberichterstatterin;
Die Werte; Das Lebensmittel; So lesen wir alle Tage; Knappes
Leben; Die kranke Valuta; Der triftige Grund; Zusammenhänge;
Propaganda; Der Fremdenverkehr; Die Instrumente; Repressalien;
Ersatz; Die Balten und die Letten; Der neue Pair; Glossen
werden Symbole; Bahrs Himmelfahrt; Richard Dehmel; An den-
selben; Hugo von Hofmannsthal; Derselbe; Luxusdrucke; ,Die
neue Generation; Eifersucht ist immer unberechtigt; Der Vor-
leser; Deutsche Literaturgeschichte; In eigener Regie / Deutscher
Bildungshunger / Ein Bild / Das letzte Rätsel / Ein unheimlicher
Korrespondent / Verwandlungen / Wenn einmal alles vorbei /
Vom Glück / Schonet die Kinder! III. Das übervolle
Haus jubelte den Helden begeistert zu, die stramm
salutierend dankten.
(Ein Teil des Ertrages für den Verein »Mariahilfer Kinder-
freunde« und einen notleidenden Lehrer.)
*
Kleiner Konzerthaussaal :
11. November, 3 Uhr:
I. Ein Kapitel aus dem »Abenteuerlichen Simplicissimus<
von Hans Jacob Christoffels von Grimmeishausen (1669) / Tro-
phäen / Zeichen und Wunder / Also was soll ich Ihnen sagen /
Eine Quelle der Verjüngung / Vision / Wie es in London zugeht,
das ist wirklich nicht mehr zu glauben / Ich stoß dir die Augen
aus / Sie wollen von uns nichts wissen /Eine große Meuterei
in der englischen Flotte / Weltalldarin / Überraschungen / Was
sich am Ende der Zeit begab / Eine prinzipielle Erklärung.
II. Epigramme / Schonet die Kinder! / Epigramme
Im Namen Goethes! / Gebet.
(Ein Teil des Ertrages für die Mutter zweier Kriegskrüppel
und eine andere notleidende Frau.)
88
18. November, halb 3 Uhr:
l.In mem oriam FranzJanowitz(mit einigen Gedichten)
Ein Kapitel aus dem abenteuerlichen Simplicissimus< von Hans
Jacob Christoffels von Qrimmelshausen (1669) / Trophäen / Brief
aus dem Publikum über dieses / Worte von Charles Baudelaire
Also was soll ich Ihnen sagen / Überraschungen / Eine Quelle
der Verjüngung / Zur Darnachachtimg / Sie wollen von uns
nichts wissen ! / Die russischen Gefangenen lernen Deutsch / Ein
Irrsinniger auf dem Einspännergaul / Militarismus / Ein Bild /
Szene in einem Palais / Schön brav sein, Wotan / Vom Glück /
Das übervolle Haus jubelte den Helden begeistert zu,
die stramm salutierend dankten. II. Epigramme / Er-
fahrungen / Mit einem vollen Tropfen Druckerschwärze gesalbt
(»Die Bedeutung der Presse im Weltkrieg«) / Im Namen
Goethes! / Eine prinzipielle Erklärung.
(Ein Teil des Ertrages für das »Heim für tuberkulöse
Kinder«.)
25. November, halb 3 Uhr:
Verlorne Liebesmüh', Lustspiel in fünf Aufzügen von
Shakespeare, übersetzt von Wolf Graf Baudissin, Schlegel-
Tieck'sche Ausgabe (»Liebes Leid und Lust«.) Mit Benützung der
Heinrich Voss'schen Übersetzung bearbeitet vom Vorleser.
(Nach dem zweiten und nach dem dritten Aufzug eine
Pause. Musik zu dem Lied des Pagen Motte im ersten und
zweiten, zum Lied des Frühlings [Motte) und des Winters [Schädel]
im fünften Aufzug: Egon Kornauth.)
Programm-Anmerkung zur 2. Szene des 111. Aufzuges:
Goethe in »Wahrheit und Dichtung«, elftes Buch:
». . . Niemand war vielleicht eben deswegen fähiger als er
(Reinhold Lenz), die Ausschweifungen und Auswüchse des Shakes-
peareschen Genies zu empfinden und nachzubilden . . Er behandelt
seinen Autor mit großer Freiheit, ist nichts weniger als knapp und
treu, aber er weiß sich die Rüstung oder vielmehr die Possenjacke
seines Vorgängers so gut anzupassen, sich seinen Gebärden so
humoristisch gleichzustellen, daß er demjenigen, den solche Dinge
anmuteten, gewiß Beifall abgewann.
Die Absurditäten der Clowns machten besonders unsere ganze
Glückseligkeit, und wir priesen Lenzen als einen begünstigten Menschen,
da Ihm jenes Epitaphium des von der Prinzessin geschossenen Wildes
folgendermaßen gelungen war:
89 —
Die schöne Prinzessin schoß und traf
Eines jungen Hirschleins Leben;
Es fiel dahin in schweren Schlaf,
Und wird ein Brätlein geben.
Der Jagdhund boll! — Ein L zu Hirsch,
So wird es denn ein Hirschel;
Doch setzt ein römisch L zu Hirsch,
So macht es fünfzig Hirschel.
Ich mache hundert Hirsche draus,
Schreib Hirscheil mit zwei LLen.«
So Goethe, der noch berichtet, wie diese Lenz'sche Übertragung
von der Straßburger Tischgesellschaft auf einen Rittmeister, der
vom Pferde gestürzt war, variiert wurde. Wie unverdient Goethes
Anerkennung des nüchternen und den Charakter des Originals völlig ver-
fehlenden Lenz'schen Versuches war, zeigen erst die späteren Über-
setzungen. Der Schulmeister Holofernes kündigt das Epitaph mit dem Ver-
sprechen ah, er wolle »die Alliteration in etwas vorwalten lassen,
denn das zeuget von Leichtigkeit«. Die Erfüllung, die Lenz schuldig
bleibt, gelingt bei Heinrich Voß wie folgt r*
Preis dir, Prinzeß, du pirschtest brav und brachtest prächtig Wildpret;
Ein Spießer sonst, Gespießter nun, gespießt von deinem Spieße.
Hell gellt Gebell; zum Spießer 1, ein Spießerl springt vom Wildbett;
Des Spießers Spieß den Spießer spießt; hallali hallt die Wiese;
Dein Spieß spießt fünfzig Spießer, wHlst du L zum Spieß gesellen;
Ein Spießer hundert Spießer wird, fügst du ihm bei zwei LLen.
Zu einem über die Clownerie des alliterierenden Schulmeisters
hinausragenden, stellenweise dichterischen Gebilde wird der Scherz
bei Baudissin :
Straff spannt die Schöne, schnellt und schießt ein Spießtier
schlank und schmächtig ;
Man nannt' es Spießhirsch, denn am Spieß spießt ihn der
Speisemeister.
Hierauf verspeist mit Gabeln wirds ein Gabelhirsch, so dächt' ich,
Und weil die Schützin Kronen trägt, mit Recht ein Kronhirsch heißt er.
Hell gellt die Jagd: nehmt vom Gebell zu Hirsch eins von
den L len,
Sinds fünfzig Hirschel: noch ein L, so tat sie hundert fällen.
Nathanael sagt dazu :»Wie schmeidig bewegt er der Verse zähen
Fußl«, was er, trotz Goethe, zur Lenz'schen Fassung mit Unrecht
gesagt hätte.
(Der volle Ertrag für das »Heim für tuberkulöse Kinder«.;
2. Dezember, halb 3 Uhr:
1. Worte in Versen: Mit der Uhr in der Hand /
Krieg Der Bauer, der Hund und der Soldat / Als Bobby starb /
90 —
An einen alten Lehrer / Jugend / Fahrt ins Fextal / »Alle Vögel
sind schon da« / Meinem Franz Qrüner / Kriegsberichterstatter /
Meinem Franz Janowitz / Bunte Welt / Der Heldensarg / Kompe-
tenz vor der Sprache / Unterricht / Abenteuer der Arbeit /
Wiedersehn mit Schmetterlingen / Vallorbe.
II. Zum dritten Male: Hannele Matterns Himmel-
fahrt, Traumdichtung in zwei Teilen von Gerhart Hauptmann.
(Begleitende Musik: Dr. Egon Kornauth.)
Programmbemerkung: Der Zusammenbruch des Dichters,
der heute zwischen fragwürdigen Dramen Aufrufe für die Kriegs-
anleihe verfaßt, macht es zur Pflicht, ihn vor Verwechslung
mit ihm selbst zu schützen und immer wieder auf die Wunder
seiner Jugend hinzuweisen.
(Der volle Ertrag für den Arbeiterverein »Kinderfreunde«.)
*
9. Dezember, halb 4 Uhr:
I. Pa n d o r a, ein Festspiel (Fragment) von Q o e t h e.
II. Szenen aus: Die letzte Nacht, Epilog zu der Tragödie
»Die letzten Tage der Menschheit« von Karl Kraus (Drei sterbende
Soldaten. Männliche und weibliche Gasmaske. Zwei Kriegskorre-
spondenten. Ein Feldwebel. Die Kriegskorrespondentin. Ein Toten-
kopfhusar.) Der General ; Doktor ing. Abendroth aus Berlin ; Der Er-
blindete; Fressack und Naschkatz, Hyänen; Der Herr der Hyänen;
Drei gelegentliche Mitarbeiter; Stimmen von unten; Stimmen von
oben; Zwei Ordonnanzen ; Die Kinooperateure; Eine Stimme von
unten; Eine Stimme von oben; Die Stimme Gottes. (Die Szenen
mit den in Klammern angeführten Erscheinungen wurden nicht
vorgelesen.) \
Programmbemerkung: Das übliche Saalerlebnis, daß gewisse
Solisten der Hörerschaft das Vergnügen über die leichte Agnoszierung
zeit- und ortsbekannter Namen und Klänge nicht unterdrücken können,
möge dem Vorleser diesmal erspart bleiben. Er ist nicht darauf erpicht,
solche Beweise der Eingeweihtheit, solche Bekenntnisse der Bekannt-
schaft und Verwandtschaft mit den trostlosen Anlässen seiner Ge-
staltung als Erfolg einzuheimsen. Die Übernahme der komischen
Trivialität in das Grauen sollte das Unglück, in dieser Zeit und au
diesem Ort zu leben, tiefer fühlen lassen und keineswegs damit ver-
söhnen. Da die Absicht fehlschlägt, flüchtet der Vorleser oft genug
zu Shakespeare und Andern, froh der verminderten Gefolgschaft und des
Zurückbleibens jener, die an solchen Abenden > nicht auf ihre Kosten
kommen«. Goethe wäre ein vollkommener Schutz, wenn er den Abend
füllte. Da es nicht der Fall ist und eben diesmal die Meinung Platz greifen
könnte, daß ein Wiener Weltuntergang ein Spassettl sei, möge die Bitte
helfen, in der Erheiterung Maß zu halten. Hilft sie nicht, so ist von jenen
besseren Teilen des Publikums, deren Erschütterung bis zur Garderobe
und sogar darüber hinaus vorhält und deren Empfänglichkeit oder Würde
diese Vorlesungen nicht völlig zur beschämten Preisgabe eines Geheim
nisses macht, zu erwarten, daß sie die unbewegten Lacher und Freunde
stofflicher Reize zurechtzischen werden, so daß solche es künftig vor-
ziehen, anstatt in diesem Saal bei den Quellen ihrer Belustigung ein-
zukehren. Zur leichteren Orientierung, welche Hörer hier gemeint sind,
diene das Gefühl jener, die sich durch diese Erklärung getroffen fühlen
oder soeben etwa zu dem Ausruf »Das hat die Welt nicht gesehn l<
geneigt wären. Ihnen wird, mit der Beruhigung, daß Goethe sie
ohnedies langweilen dürfte, anheimgestellt, sich vor Beginn geräusch-
los zu entfernen und ihr Eintrittsgeld an der Kassa zu beheben.
(Der volle Ertrag für den Arbeiterverein »Kinderfreunde«.)
16. Dezember, halb 4 Uhr:
I. Aus »Demokritos« (Karl Julius Weber), mit Vorbemer-
kung / Es ist alles da, es ist nicht so wie bei arme Leute / Der
Untergang der Verite / Mit einem vollen Tropfen Drucker-
schwärze gesalbt (»Die Bedeutung der Presse im Weltkrieg«) /
Stellen wir uns vor (Ein Satz) / Ein Bild / Szene in einem
Palais / Ein Winkelried / Schon wieder eine Forderung! / Das
letzte Duell / Der jüngste Ehrendoktor / Ein Irrsinniger auf dem
Einspännergaul / Schonet die Kinder! / Denn wir sind ein
Kulturvolk / Lied des Alldeutschen. II. Szenen aus: Die
letzte Nacht, Epilog zu der Tragödie »Die letzten Tage der
Menschheit.« (Diesmal auch: Männliche und weibliche Oasmaske.)
Program mbemerkung ähnlich wie am 9. Dezember.
(Ein Teil des Ertrages für eine Arme, der beide Söhne
getötet wurden.)
27. März 1918, 6 Uhr:
Das technoromantische Abenteuer / Von der Sinai-
Iront / Ein Kantianer und Kant / Um Mißverständnissen vor-
zubeugen / Von Goethe / Erfahrungen / Ei-Ersatz Dottofix / Die
europäische Melange / Papierknappheit in Österreich / Das kann
man nicht oft genug hören / Für Lammasch. IL Wie Hinden-
burg und Ludendorff unter Paul Goldmanns Einwirkung zu
Pazifisten wurden / Vor dem Einschlafen der Welt / Die mit
gutem Beispiel vorangehen und die ihnen folgen / Die Kriegs-
schreiber nach dem Krieg ' Der Katzelmacher / Das
Lied vom armen Kind. Von Frank Wedekind f (Erst-
druck in der Fackel 1904) / Unsere Pallas Athene ! / Kriegsmüde /
Lied des Alldeutschen. III. Der Bauer, der Hund und
der Soldat / Aus: Die letzte Nacht: Hyänen-Szene / Zum
ewigen Frieden.
Programmbemerkung wie oben.
(Ein Teil des Ertrages für den Arbeiterverein » Kinder-
freunde«.)
- 92
30. März, halb 7 Uhr:
I. Das technoromantische Abenteuer / Von der
Sinai-Front / Ein Kantianer und Kant / Um Mißverständnissen
vorzubeugen / Von Lionardo da Vinci / Von Goethe / Er-
fahrungen / EiTirsatz Dottofix / Die europäische Melange / Papier-
knappheit in Österreich / Das kann man nicht oft genug hören /
Für Lammasch. II. Wie Hindenburg und Ludendorff unter
Paul Qoldmanns Einwirkung zu Pazifisten wurden / Vor dem
Einschlafen der Welt / Die mit gutem Beispiel vorangehen und
die ihnen folgen / Epigramme / Das Lied vom armen
Kind. Von Frank Wedekind | / Unsere Pallas Athene! /
Kriegsmüde / Die Kriegsschreiber nach dem Krieg.
III. Der Bauer, der Hund und der Soldat / Zum ewigen
Frieden.
(Ein Teil des Ertrages für den Arbeiterverein »Kinder-
freunde«.)
14. April, halb 4 Uhr:
I. Worte in Versen: Goethe-Ähnlichkeit / Abenteuer
der Arbeit / Memoiren / Sonnenthal / Wiedersehn mit Schmetter-
lingen / Der Reim / Der Anlaß / Der Ratgeber / Bange Stunde
Verlöbnis / Die Flamme der Epimeleia.
II. Helena (Faust, der Tragödie zweiter Teil, III. Akt.)
Von Goethe. (Begleitende Musik.)
Auf dem Programm waren, zusammengestellt aus einer
Sammlung von Aussprüchen Goethes über den Faust, die
folgenden Zitate gedruckt: \
> Je inkommensurabler und für den Verstand unfaß-
licher eine poetische Produktion, desto besser.«
Gespräch mit Eckermann, 6. Mai 1827.
»— mit einem Worte, ich verwünsche alles, was diesem
Publikum irgend an mir gefällt. Ich weiß, daß es dem Tag und
daß der Tag ihm angehört; aber ich will nun einmal nicht für den
Tag leben .... Ja, wenn ich es nur jedahin noch
bringen könnte, daß ich ein Werk verfaßte — aber ich bin
zu alt dazu — , daß die Deutschen mich so ein
fünfzig oder hundert Jahre hintereinander recht
gründlich verwünschten und aller Orten und Enden
mir nichts als Übles nachsagten ; das sollte mich außer
Maßen ergötzen.... Sie mögen mich nicht ! Das matte
Wort! Ich mag sie auch nicht! Ich habe es ihnen nie recht zu
Danke gemacht! . . .« Gespräch mit Falk, 21. (?) Juni 1816.
Ein versiegeltes Paket lag auf dem Tisch. Goethe legte seine
Hand darauf. »Was ist das?« sagte er: »Es ist die , Helena', die
— 93
an Cotta zum Druck abgeht.« Ich empfand bei diesen Worten
mehr, als ich sagen konnte, ich fühlte die Bedeutung.des Augen-
blicks. »Ich habe«, sagte Goethe, »bis jetzt immer noch
Kleinigkeiten daran zu tun und nachzuhelfen gefunden. Endlich
aber muß es genug sein .... Es mag nun seine Schicksale
erleben! — Was mich tröstet, ist, daß die Kultur in Deutschland
doch jetzt unglaublich hoch steht und man also nicht zu fürchten
hat, daß eine solche Produktion lange unverstanden und ohne
Wirkung bleiben werde.«
Gespräch mit Eckermann, 29. Januar 1827.
>— — Sie haben vollkommen recht«, sagte Goethe;
»auch kommt es bei einer solchen Komposition bloß darauf an,
daß die einzelnen Massen bedeutend und klar seien, während es
als ein Ganzes immer inkommensurabel bleibt, aber ebendeswegen,
gleich einem unaufgelösten Problem, die Menschen zu wieder-
holter Betrachtung immer wieder anlockt.«
Gespräch mit Eckermann, 13. Februar- 1831.
» - — Wenn das alles so zur Erscheinung käme«, sagte ich,
»wie Sie es gedacht haben, das Publikum müßte vor Erstaunen
dasitzen und gestehen, daß es ihm an Geist und Sinnen fehle,
den Reichtum solcher Erscheinungen würdig aufzunehmen.
»Geht nur«, sagte Goethe, »und laßt mir das Publikum, von
dem ich nichts hören mag. Die Hauptsache ist, daß
es geschrieben steht; mag nun die Welt damit gebaren,
so gut sie kann, und es benützen, so weit sie es fähig ist.«
Gespräch mit Eckermann, 20. Dezember 1829.
Es ist mir, teurer verehrter Freund, höchst wohltätig, wenn
ich erfahre, daß meine ältesten, edelsten Zeitgenossen sich mit
»Helena« beschäftigen, da dieses Werk als ein Erzeugnis vieler
Jahre, mir gegenwärtig ebenso wunderbar vorkommt als die
hohen Bäume in meinem Garten am Stern, welche, doch noch
jünger als diese poetische Konzeption, zu einer Höhe heran-
gewachsen sind, daß ein Wirkliches, welches man selbst verur-
sachte, als ein Wunderbares, Unglaubliches, nicht zu Erlebendes
erscheint Brief an Knebelj 14 November 1827.
»Sie (.Helena'; ist eine fünfzigjährige Konzeption. Ein-
zelnes rührt aus den ersten Zeiten her, in denen ich an den
.Faust' ging, andres entstand zu den verschiedensten Zeiten meines
Lebens. Als ich daran ging, alles in einen Guß zu bringen,
wußte ich lange nicht, was ich damit machen sollte. Endlich
fiel mirs wie Schuppen von den Augen; ich wußte: nur so
kann es sein und nicht anders!«
Owpräch mit C. Kraukling, 1. September 1828.
Ganz ohne Frage würd es mir unendlich Freude machen,
meinen werten, durchaus dankbar anerkannten, weitverteilten
Freunden auch bei Lebzeiten diese sehr ernsten Scherze zu
widmen, mitzuteilen und ihre Erwiderung zu vernehmen. Der
Tag aber ist wirklich so absurd und konfus,
daß ich mich überzeuge, meine redlichen, lange verfolgten
Bemühungen um dieses seltsame Qebäu würden schlecht belohnt
und, an den Strand getrieben, wie ein Wrack in Trümmern
daliegen und von dem Dünenschutt der Stunden zunächst
überschüttet werden. Verwirrende Lehre zu ver-
wirrtem Handel waltet über die Welt, und ich
habe nichts angelegentlicher zu tun, als dasjenige, was an mir
ist und geblieben ist, womöglich zu steigern und meine Eigen-
tümlichkeiten zu kohobieren, wie Sie es, würdiger Freund, auf Ihrer
Burg auch bewerkstelligen.
Brief an W. von Humboldt, 17. März 1832
(fünf Tage vor Goethes Tod>.
(Der volle Ertrag für den Arbeiterverein »Kinderfreunde«
und die Kinder-Schutz- und Rettungs-Gesellschaft.)
22. April, halb 7 Uhr:
I. Hölderlin: Vom deutschen Volk/ Von der
Sinai-Front / Ein Kantianer und Kant / Um Mißverständnissen
vorzubeugen / Von Lionardo da Vinci / Von Goethe (Zwei Zitate)
Hungersnot in England / Getreide aus der Ukraine / Eine Quelle
der Verjüngung / Das kann man nicht oft genug hören /Für
Lammasch. II. Am Sarg Alexander Girardis/
Glück / Ein Bild / Mit einem vollen Tropfen Druckerschwärze
gesalbt / Vor dem Einschlafen der Welt / Szene in einem Palais /
Fürs Vaterland / Zur Darnachachtung /' Unsere Pallas Athene ! /
Kriegsmüde / Die Kriegsschreiber nach dem Krieg.
III. Der Bauer, der Hund und der Soldat / Zum ewigen
Frieden.
(Ein Teil des Ertrages für den Arbeiterverein »Kinder-
freunde«.)
Glossen
Wie Hindenburg und Ludendorff unter Paul Goldmauns
Einwirkung zu Pazifisten wurden
Als Paul Goldmann zu Hindenburg und Ludendorff
ging, stand auf dem Niederwald die Germania und hob mit
hochgestrecktem Arme die deutsche Kaiserkrone in den Morgen-
himmel. Das tut sie zwar immer, aber es gibt Tage, an denen
»Allegorien, sonst konventionell und leer, plötzlich Bedeutigig
und Inhalt durch die Ereignisse bekommen.« Heute ist solch ein
Tag. Hindenburg und Ludendorff erwarten jien Besuch Faul
Goldmanns, »den vierten seit Beginn des Krieges<, und die Härte
dieser Kriegszeiten könnte nicht sinnfälliger zum Ausdruck kommen.
Heute hat die Germania auf dem Niederwald einen starken
Ausdruck. Ruhig, unerschütterlich steht sie, hält das Symbol des
deutschen Reiches, die Kaiserkrone, empor und wendet den Blick
nach Frankreich: »Ihr werdet sie nicht herunterholen!«
Dem Paul Goldmann ist sie geneigt, ihm gibt sie Ernst
aber Zuversicht, und ich erinnere mich aus Friedenszeiten an
eine Eisenbahnfahrt durch Südtirol, da ein Offizier eingestiegen
war und ein älterer Herr neben mir, der offenbar Biach hieß,
den Blick von ihm nicht abwendend, zu seiner Gattin die
Wortesprach: »Das ist also das sogenannte Tridanto!« >Tridantino«,
verbesserte die Gattin. Er aber fuhr fort: »Ja, das möchten sie
haben, die Herren Italiener, das schmecket ihnen. Aber sie
kriegen es nicht!« Die Prophezeiung hat sich erfüllt; doch
unvergeßlich bleibt mir die Haltung des Offiziers, der — ich
muß es trotz allen Erlebnissen dieser Kriegsjahre hervorheben —
schamrot wurde. Er hatte ganz gewiß keinen Festungsplan
verraten, aber er fühlte sich mit dem Feind verbunden und
verraten an den innern Feind, an jene geheimnisvolle Macht,
die heute in Gestalt des Paul Goldmann ihre Siegesgewißheit
auf die Germania stützt und darin leider sowohl von Hindenburg
als auch von Ludendorff bestärkt wird.
9Ü
Die Unteilbarkeit der Individualität, die diese beide Namen
trägt, kommt schon in dem Titel des Interviews »Hindenburg
und Ludendorff über Krieg und Frieden< zum Ausdruck, und
mit höchster Spannung folgt man dem Prozeß, wie sich in den
grundverschiedenen Diskussionsgegenständen die Einheit der
Persönlichkeit zur. Geltung bringt. Das wird wesentlich
dadurch erleichtert, daß Hindenburg und Ludendorff gemein-
schaftlich eine Villa bewohnen, und da auch der Empfang zu
gleicher Zeit stattfindet, so ist die Einheit des Ortes, der Zeit
und des Frühstücks gewahrt, bei dem freilich »dem Qast die
hohe Ehre zuteil wird, zwischen dem Generalfeldmarschall
und dem Generalquartiermeister sitzen zu dürfen«. Es ist, in
eifter Epoche, in der alles photographiert wird, ein unwieder-
bringlicher Verlust, daß eine wenngleich noch so plastische
Schilderung dieser Szene nicht vom Bilde unterstützt wird.
Ehe man Platz nimmt, drückt Hindenburg »dem Gaste die Hand
mit seiner mächtigen Rechten (einer Löwenpranke) und begrüßt
ihn mit der herzgewinnenden Güte, die ihm eigen ist«. Daß
an demselben Tag ein anderer Feuilletongast von der zarten
Hand Hindenburgs gesprochen hat, ist vielleicht darauf zurück-
zuführen, daß er den schmächtigeren Ludendorff beschreiben
wollte, der bekanntlich die rechte Hand Hindenburgs ist.
I.udendorffs Aussehen ist nach Goldmann, der besser auseinander-
halten kann, »unverändert das gleiche wie vor einem, vor zwei,
vor drei Jahren«, also wie bei den früheren Besuchen Goldmanns,
nur daß sein Charakterkopf natürlich noch durchgeistigter
geworden ist. Auch Goldmann hat sich in all der Zeit nicht
verändert, höchstens daß er noch zudringlicher geworden ist.
Da Hindenburg und Ludendorff darauf gefaßt sind und Goldmann
trotzdem zum vierten Mal empfangen, suchen sie wenigstens das
Verfahren tunlichst abzukürzen, indem sie, ohne erst die Fragen
abzuwarten, gleich alle Antworten erteilen, alternierend und
einander ergänzend, indem sie so einerseits alles Wissenwerte
an den Goldmann bringen, andererseits jedoch streng auf die
Wahrung der Einheit bedacht sind. Sie, die sonst Schulter an
Schulter miteinandergehen, sind diesmal zwar durch die Gestalt
des Paul Qoldmann getrennt, aber gerade darum »chelnen ihre
— 97
Stimmen, die von rechts und links auf ihn eindringen, wie eine
einzige zu klingen. Der Grundgedanke des Gespräches ist, daß
man bis zum Endsieg durchhalten muß, einstimmig versichern
beide, daß es schwer ist, aber darüber, daß es gelingen wird,
herrscht unter ihnen nur eine Stimme.
»Es steht alles gut«, beginnt Hindenburg das Gespräch.
Und Ludendorf f bekräftigt: »Die Kriegslage berechtigt zur
größten Zuversicht.«
Ob Goldmann es notiert oder im Kopf behalten hat,
erfahren wir nicht, so oder so muß es schwer gewesen sein,
den sich kreuzenden und doch wieder findenden Gedanken-
gängen zu folgen.
»Überwintern müssen wir freilich«, fährt Hindenburg fort
Ludendorff fügt hinzu: »Den Termin des Friedens bestimmen
können wir natürlich nicht — — «
Die lapidare Wucht dieser Äußerungen verführt beinahe
zu der Vorstellung, daß Goldmann schwerhörig ist und nach-
dem er aufgefaßt hat, befriedigt nach der rechten und dann
nach der linken Seite nickt. Doch gelingt es ihm zuweilen, die
beiden Flügelmänner mit einer Frage zu überraschen. So sieht
er wohl ein, daß sich über das »Wann« des Friedens bestimmte
Angaben nicht machen lassen. Aber vielleicht über das »Wie?«
Und stellt nun die Frage, die wohl jedem daheim am Herzen
liegen mag: »Durch welche Mittel wird der Friede am sichersten
herbeigeführt?« Da nun Goldmann das Glück hat, den beiden
maßgebendsten Heerführern am Herzen zu liegen, so kann man^
wohl auf die Antwort gespannt sein:
»Der Friede wird umso eher herbeigeführt werden,
antwortet Ludendorff
je günstiger unsere Kriegslage wird. Noch steht die Tat über
dem Wort«.
Und Hindenburg:
» Deshalb sollten wir jetzt nicht mehr vom Frieden sprechen
Trotzdem, das Eis ist gebrochen.
»Den Anfang
fährt Ludendorff fort
scheinen die Russen machen zu wollen i
— 98
Und Hindenburg?
»Ein Waffenstillstand von einer Dauer von drei Monaten, von
dem öfter gesprochen wird,
führt Ludendorff weiter aus
ist reichlich lang.«
Und Hindenburg?? Ludendorff macht eine Pause des
Nachdenkens
und spricht weiter: >Wenn mir jemand sagt, die russische
Revolution sei ein Glücksfall für uns gewesen, so protestiere ich
immer. Die Revolution in Rußland war kein Glücksfall, sondern die
natürliche und notwendige Folge unserer Kriegführung. Mit dem
modernen Kriege hat es eine eigene Bewandtnis — «
Und Hindenburg??? Da muß eine technische Störung ein-
getreten sein. Goldmann erklärt, >was im Anschluß hieran über
den Frieden mit Rußland gesprochen wurde, entziehe sich in
seinen Einzelheiten der Veröffentlichung«. Er ist also im Besitze
eines Generalstabsgeheimnisses und verrät es um keinen Preis
der Welt.
Nur so viel darf vielleicht mitgeteilt werden,
daß Hindenburg und Ludendorff einen Frieden wünschen, der möglichst
sichere und stabile Verhältnisse schafft, einen solchen Frieden, der uns
gesicherte Grenzverhältnisse und eine freie wirtschaftliche Betätigung
in der Welt und auf dem Weltmeer bringt.
Das ist überraschend, man hatte immer gefürchtet,
Hindenburg und Ludendorff würden einem Verzichtfrieden das
Wort reden oder gar die Abtretung Elsaß-Lothringens betreiben.
Natürlich will sich weder Hindenburg noch Ludendorff heute
binden.
Hindenburg und Ludendorff sind der Meinung, daß die
Ansichten über den Frieden nicht unveränderlich sein können, da
sie von der Kriegslage abhängen.
Hindenburg speziell meint, vielleicht reiße in Rußland
schließlich »irgendein Gewaltmensch die Macht an sich und
peitscht das kriegsmüde russische Heer noch zu einer letzten
Anstrengung auf.«
»Auch über die Lage an der Westfront kann ich mich
mit voller Beruhigung und Zuversicht aussprechen«
versichert Hindenburg. Ludendorff knüpft daran
noch folgendes:
99
Goldmann möchte wissen, was von dem Obersten Kriegsrat
zu erwarten sei, den die Ententejetzt einzusetzen im Begriffe ist.
Hindenburg lacht
Qoldmann legt den Finger auf die elsaß-lothringische Frage.
»Für die Franzosen mag es eine elsaß-lothringische Frage
geben,
antwortet Ludendorff
für Deutschland gibt es keine. «
Goldmanri, ein ungestümer Mahner, verweist auf Amerika.
»Die Reklame,
äußert Hindenburg
mit der Amerika seine Kriegsleistungen ankündigt, ist imposant
und des Landes würdig, das einen Barnum hervorgebracht hat. Nun
wollen wir erst einmal abwarten, ob die Leistungen selbst
ebenso imposant sein werden. < — —
Hindenburg entwickelt den Gedanken, daß Amerika seit
seinem Eintritt in den Krieg tatsächlich bestrebt sei, ein großes
Heer zu schaffen, denn im Frieden hätte es das schon deshalb
nicht können, weil Japan nicht ruhig zugesehen hätte. Aber
jetzt muß man sich fragen, ob die Amerikaner »nichts Gescheiteres
zu tun haben«, als dieses große Heer nach Europa zu schaffen
und damit ihr eigenes Land wehrlos zu machen, für den Fall,
daß Japan und so weiter. Was die Amerikaner aber getan hätten,
wenn zur Zeit, da sie das Heer noch nicht hatten, Japan und so
weiter — das just erfährt Goldmann nicht. Er errät aber gewiß, daß
Hindenburg meint, die Amerikaner hätten das Heer gegen Japan
aufgestellt. Und dann der herrschende Tonnagemangel! Und
die U-Boote! »Kurzum,« sagt Hindenburg, »das große amerikanische
Heer steht noch in nebelhafter Ferne.« Goldmann hat eine Frage
auf dem Herzen, die an das Problem des U-Bootkrieges streift.
Ludendorff übernimmt e s,
die Antwort zu erteilen. » — — Wir haben nicht daran
gedacht, daß unsere U-Boote England in ein paar Monaten aus-
hungern würden. — — Unser Ziel war nicht, England aus-
zuhungern, sondern es zum Frieden geneigter zu machen. — — <
Ludendorff fährt fort. Und Hindenburg?
Ludendorff hat die Operationen in Italien erwähnt, und die
Unterhaltung geht jetzt zu ihnen über.
100
Nun ist die Reihe an Hindenburg. Er spricht vom
vortrefflichen Zusammenarbeiten, »im Wetteifer mit unseren
Deutschen« hätten sich die österreichisch-ungarischen Soldaten
tapfer geschlagen. Ludendorff schließt sich an. Von allen
Kriegsschauplätzen ist schon die Rede gewesen, Goldmann ver-
mißt jetzt nur noch den Balkan. Hindenburg beruhigt ihn mit
der Versicherung, daß dort die Lage unverändert sei.
Das Mittagmahl ist gegessen, der Kaffee getrunken. Der General-
feldmarschall hebt die Tafel auf.
Qoldmann hat gleich im Anfang erzählt, daß das Mittag-
essen »von militärischer Einfachheit« gewesen sei, der Kaffee
allerdings aus echten Bohnen gemacht und nicht, wie man etwa
vermuten könnte, identisch mit jenem, >den in dieser schweren
Kriegszeit einem Teil des deutschen Volkes ein immerhin
echt d e u tsch er Baum, die Eiche, liefert« — ein schalkhafter
Hinweis auf ein nationales Vorrecht, das allerdings bisher nur
unterschiedslos die alldeutschen Schweine genossen hatten.
Nachdem Qoldmann also den letzten Rest Bohnenkaffees, den
es in Deutschland noch gegeben hat, ausgetrunken hat, verab-
schiedet sich Hindenburg von dem Gaste, der offenbar nicht
gehen will, indem er die Worte spricht:
»Wenn wir noch eine Zeitlang Kraft und Oeduld haben,
bringen wir's zum guten Ende. Das sagen Sie in Österreich-
Ungarn mit einem schönen Gruß von mir!«
Das waren aber noch nicht die letzten Worte. Goldiuann
steht und zaudert. Noch hat Ludendorff nicht Abschied
genommen. Goldmann wartet. Da reißt Ludendorff Hindenburgs
Geduld, und er spricht etwas, was Goldmann nicht ohne vor-
bereitenden Kommentar wiedergeben möchte.
Die Abschiedsworte des Generalquartiermeisters
spielen darauf an, daß der Schreiber dieser Zeilen bisher in jedem
Kriegsherbst einmal an der Tafel des Feldmarschalls hat sitzen dürfen,
und lauten: »Sie sind heute vielleicht zum letztenmal
bei uns gewesen. < Paul Goldmann.
Hat es je einen selbstloseren Berichterstatter gegeben?
Natürlich hat Ludendorff gemeint, vor dem fünften Besuch
werde der Friede kommen. Ja, er hofft es sogar. Er — \\m\
darin dürfte wohl Hindenburg mit ihm einer Meinung sein
101
sie beide, Hindenburg und Ludendorff denken: Soll in Gottes
Namen wieder der Friede kommen, ehe der Paul Qoldmann
wieder kommt! Er faßt das »ehe« als eine Präposition der Zeil
auf, sie jedoch als eine Präposition der Wahl. Denn sie sind
keine Jusqu'auboutisten. Sie sind, Hindenburg und Ludendorff,
in diesem Fall zu einem Verzichtfrieden bereit!
An der Tafel
Berlin, 15. Oktober.
Ein K r i egsber ichter s t atter des ,L o k a 1 a n z e i g e r',
der sich gegenwärtig in Rumänien aufhält, hatte Gelegenheit, während
der Reise des deutschen Kaisers in Rumänien, einer Tafel
beizuwohnen. In dem sehr lebhaften Gespräch an der Tafel
äußerte sich der Kaiser über die fruchtbare rumänische Tief-
ebene: > Ist das nicht ein gesegnetes, reiches Land! Sehen Sie
diesen schwarzen, fetten Boden, diese Riesenschober I Das ist Brot
für das Land und für das Heer. Nein — der Gott, der uns das
wachsen läßt, der will uns nicht a 1 s K n e c h t e. Da ist mir eben
die Jungfernrede des neuen Ministerpräsidenten Painleve" vorgelegt
worden. . . . was sind das wieder für volltönende Phrasen —
und keine Spur von tiefen Gründen hinter all diesen Worten. < Er
wendete sich dabei an den Offizier und sagt: >Sie können den
Text dann vorlesen.« .... Schließlich kam das Gespräch
auf die Ernährung. Der Kaiser sagte: »Es ist des Deutschen
unwürdig, reichlich zu leben, während die Besten
sich einschränken. Was wir an Nahrungsmitteln besitzen, ist ein
gemeinsames Gut, das bei gerechter Verwaltung wohl ausreicht,
uns durch unbeschränkte Zeit genügend zu ernähren, was uns die
Möglichkeit, den letzten Sieg mit Ruhe zu erwarten, verbürgt.«
Der Gott, der uns das wachsen läßt . . .
Vor dem Verein für öffentliche Gesundheitspflege sprach gestern
abend Geheimrat Professor Juckenack über die E r s a t z m i 1 1 e 1 ,
die die Not des Krieges und der Scharfsinn d'er Erfinder
- 102
der Bevölkerung Deutschlands über den Hals geschickt hat. . . .
Fleisch wurde aus Kleintieren, Seetieren mit Essigzusatz schmackhaft
gemacht. Leberwurst wurde aus Stärkekleister und rotgefärbtem
Gemüse hergestellt, wobei für die Fettklümpchen Kartoffelstückchen
zugesetzt wurden. Der in neuester Zeit auf der Bildfläche erschienene
Käseersatz erstand aus Molken, BerlinerQuark mitPaprikaersatz
und gab sich als Ungarischer Liptauer aus. Öl wurde aus Paraffin gemacht
und für Kartoffelpuffer verwendet, bis infolge vielfacher Erkrankungen
die Behörde einschritt. Gänsefett bereitete man aus
Dachsfett, Eier-Ersatz aus Schlemmkreide mit
Backpulver, Kaviar aus gefärbtem Fischroggen, Brot wurde
aus Strohmehl gebacken . . . .
Ei-Ersatz Dottofix
wenn er- uns nichts gebracht hätte, der Krieg, als das und außer-
dem ><Hausmacher-Eiernudeln« — so war er nicht zu führen!
Ja, hätte doch ein Antidämon am 31. Juli 1914 (oder schon
etwas früher) dem Grafen Berchtold und dem Bethmann Hollweg
zugeflüstert: Ei-Ersatz Dottofix! Sie hätten 's nicht getan, bei Gott,
sie hätten's nicht getan. Und gar mancher wäre auch durch die
rechtzeitige Warnung >Tor, was beginnst du, du wirst zwar Prestige,
aber keineColgatd- Rasiercreme haben einst!< dazu gebracht worden,
es lieber mit einer Entspannung zu versuchen. Jetzt haben sie
nur zwischen Ei-Ersatz Dottofix und Eier-Ersatz aus Schlemm-
kreide mit Backpulver die Wahl und wenn sie jenem nicht trauen
und Zahnpulver-Ersatz nicht essen wollen, so bleiben ihnen nur
die Hausmacher-Eiernudeln. Und darum Räuber und Mörder!
Das Blut von zehn Millionen Toten — das konnte sich keiner,
vorstellen. Aber vielleicht hätte es genügt, das Zauberwort
auszusprechen: Die Schuhbandeln werden ausgehen ! >Ja was hat
denn der Schlachtenruhm mit Schuhbandeln zu tun?« Also die
Zündhölzchen werden alle sein! »Nicht doch: was haben denn
Zündhölzchen mit unserer artilleristischen Überlegenheit zu
schaffen?« So hätte denn gesagt werden müssen, was wir
haben werden. Ach, die losgelassene Maschinenbestie wäre
103
still gestanden, wenn einer Phantasie und Mut genug besessen hätte,
vom Belt bis Banjaluka einen Ruf wie Donnerhall brausen zu
lassen: Ei-Ersatz Dottofix!
Getreide aus der Ukraine
»Wieder Vizepräsident der Wiener Börse für landwirtschaftliche
Produkte, M. Kohn, in de; .Neuen Freien Presse' vom 14. Februar
berichtet, wird in den nächsten Tagen eine Gesellschaft mit beschränkter
Haftung gegründet sein, die das Getreide in der Ukraine aufkaufen
und nach Sulina und Braila senden will.«
Man weiß liicht, welche Qetreidevorräte in der Ukraine
überschüssig sind. Man weiß nicht, ob die Bauern in der Ukraine
ihr Getreide werden schnell verkaufen wollen. Man weiß nicht,
ob das Tauwetter die Straßen der Ukraine nicht in Moräste
verwandeln wird. Man weiß nicht, ob es Bahnen in der Ukraine
gibt. Man weiß nicht, ob die Anschlüsse an diese Bahnen in der
Ukraine hergestellt werden können. Man weiß nicht, wer in der
Ukraine über die Häfen des Schwarzen Meeres verfügt. Man
weiß nicht, wer über wen in der Ukraine gesiegt hat. Man weiß
nicht, ob die Regierung der Ukraine, die den Frieden geschlossen
hat, in der Ukraine regiert oder schon getötet ist. Man weiß
nicht, ob man die Ukraine, mit der man Frieden geschlossen hat,
nicht wird erobern müssen. Man weiß nicht, ob das Getreide
in der Ukraine noch vorhanden ist. Man weiß nur, daß die
Ukraine durch ihren Getreidereichtum bekannt ist und daß am
läge nach dem Friedensschluß mit der Ukraine Herr Kohn
eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung gegründet hat, um
das' Getreide in der Ukraine aufzukaufen und aus der Ukraine
herauszubringen, was aus der Ukraine herauszubringen ist, damit
wir doch Getreide aus der Ukraine bekommen.
104 —
Ein logischer Schluß des Grafen Czernin
Und wenn ich zugebe, daß die heutigen Zuschübe aus der
Ukraine noch gering sind und gesteigert werden müssen, so bleibt
doch der logische Schluß, daß unsere Verpflegslage ohne
diese Zuschübe bedeutend schlechter wäre.
Der Tritt ins Leben
[Das Jubilflum der Brotkarte.) Morgen werden es drei Jahre
sein, daß die Brot- und Mehlkarte ins L e t> e n trat. . . .
Peripetie
Dasselbe gilt von Serbien, von dem Graf Czernin
wünscht, daß es recht bald sein eigenstes Interesse einsehen und
sich mit den Zentralmächten verständigen möge. . . . Der serbische
Bauer will eine solche Politik nicht, sondern er will im Frieden
mit seinem natürlichen Nachbar leben, der auch der beste
Abnehmer seiner wirtschaftlichen Produkte ist
Wahr, wahr! Der Krieg ist die Folge der verschmähten
serbischen Schweine und die erwünschten serbischen Schweine
sind die Folge des Kriegs.
In flagranti
Daß das breiteste Lügenmaul in seiner Mission, die Welt zu
verpesten, sich auch nicht durch die Nachbarschaft der Wahr-
heit beirren läßt, das zu erleben war seit dem Ausbruch dieser
Pest täglich Gelegenheit, indem nicht nur »was Brot in einer
Sprache, Oift heißt in der andern Zunge«, sondern auch
— 105
Tatsachen und ihre-* Kommentare in einem schönen
Schulter an Schulter - Verhältnis der Unverträglichkeit belassen
wurden. Ein rührendes Beispiel bietet hiefür der 24. Oktober: der
Leitartikel über eine Lloyd-George-Rede und das umgewendete
Blatt, wo dieser selbst steht.
Benedikt:
. . . Wenn der Götze von Potsdam nicht sollte zerschmettert
werden können, würden Brasilien und Peru ihren Kaffee, ihren
Kakao und ihre Baumwolle den deutschen Kaufleuten nicht
liefern. Welcher Mangel an Durchdachtheit! Deutschland kann siegen
oder unterliegen. Wenn es siegen würde, könnte es gewiß Handels-
kriege, welche auch die Vereinigten Staaten nicht wollen, im Friedens-
vertrage verhindern; wenn es unterliegen sollte, würde es so zerbrochen
aus dem Kampfe hervorgehen, daß* die Nichtlieferung von
Kaffee oder Kakao der mildeste seiner Schmerzen wäre ....
Immerhin würde auch die Baumwolle fehlen wie sie in
der Argumentation fehlt, da es nützlicher schien, bloß auf Kaffee
und Kakao einen logischen Schluß zu machen. Was aber sagte
Lloyd-George:
Deutschland erging sich in ein Gelächter, als es hörte, daß China, Bra-
silien, Peru und Guatemala den Krieg erklärt hatten. Sein Lachen beginnt
hohl zu werden. Es beginnt zu verstehen, was das bedeutet. Diese Länder
erzeugen Nahrung und Rohstoffe für die Welt, n i ch t
nur Luxusbedürfnisse wie Tee, Kaffee, Kakao und Tabak,
sondern Getreide, Baumwolle, Wolle, Häute, öl
Kupfer, Mangan und andere wichtige Mineralien
und Metalle sowie Rohmaterial. . . .
Aber daß was fehlen wird, ficht den Deutschen, der
da ficht, so wenig an, wie den Österreicher, der da liest,
daß was fehlt.
Hungersnot in England
Berlin, 4. April.
Das Wolffsche Bureau meldet : Ein bezeichnendes
Licht auf die englischen Verhältnisse werfen Briefe,
die bei englischen Gefangenen gefunden wurden. . . .
— 106 —
In allen Briefen kehrt der Jamme1',uber die L e b e n s m i 1 1 e 1-
misere wieder. In einem Briefe heißt es: Um Kartoffeln
müssen wir geradezu kämpfen. Wir sind halb verhungert.
Nichts ist zu bekommen. Die Lage ist ernst, die Ernährung
entsetzlich. . . .
Eine Arbeiterfrau aus Reading schreibt am 1 . März : Ihr
bekommt jetzt keinen Urlaub, weil ihr die hiesigen
Zustände nicht sehen sollet. Es wird uns Frauen überlassen bleiben,
diesen Krieg zu beenden. Die Lebensmittelfrage muß
schließlich das Ende herbeiführen.
Noch deutlicher schreibt ein Dockarbeiter aus London am
20. März: Wenn der Krieg noch lange dauert, fangen wir hier an!
Solche Nachrichten aus der Heimat wirken auf die Soldaten
an der Front ungünstig ein, wie ein aus dem Felde datierter Brief
vom 15. März beweist, in dem der Absender im Schützengraben
schreibt : Die Engländer werden es nicht mehr lange
aushalten können, da die Lebensmittel so schrecklich
knapp sind.
Es heißt gewiß die englischen Zustände nicht zu schwarz
sehen, wenn man annimmt, daß die Lebensmittelmisere,
die — nach dem Brief der Arbeiterfrau aus Reading — am
1. März so unerträgliche Formen hatte, sich bereits am 25. Februar
fühlbar gemacht haben muß. Tatsächlich ist denn von der
, Arbeiter-Zeitung' auch die folgende, bei diesem Datum ab-
schließende Beobachtung publiziert worden, in der die englischen
Wucherpreise zu gebührender Würdigung kommen:
Der Glasarbeiter Rudolf Walland, derzeit wohnhaft in Zuck-
inantl Nr. 164, war während der ganzen Kriegszeit in England als
Glasarbeiter beschäftigt. Am 25. Februar d. J. wurde er nach Öster-
reich ausgeliefert, weil er an einem hartnäckigen Kehlkopfleiden
schwer erkrankt ist. Er wurde mit seiner Frau und vier Kindern auf
einem englischen Munitionsdampfer nach Holland gebracht und kam
von dort in seine Heimat nach Österreich. Walland schildert die
Verhältnisse bis zu seiner Abreise am 25. Februar recht ausführlich.
Alle Lebens- und Bedarfsartikel waren bis zu dieser Zeit mit Ausnahme
von Zuckw ohne Marken und uneingeschränkt und zu ganz mäßigen
Preisen zu haben. Zucker wurde ab Oktober 1917 auf Marken gegeben
und zwar 'A Kilogramm für die Woche und für den Kopf. Zur Zeit
seiner Abreise am 25. Februar wurden Marken für Fleisch und Butter
eingeführt, doch kann er nicht angeben, in welcher Quantität es
zugewiesen wird. Die Preise für Kleidung, Wäsche und Schuhe sind
eigentlich noch Friedenspreise. Walland hat sich vor seiner Abreise
107 —
in London einen hochfeinen Kammgarnanzug gekauft und dafür
90 Kronen nach unserem Geld bezahlt. Für ein Paar tadellose Schuhe
hat er knapp vor seiner Abreise 30 Kronen gezahlt. Die übrigen
Lebensmittelpreise gibt er zur Zeit seiner Abreise wie folgt an:
Schilling Pence Kronen
1 Kilogramm Bohnenkaffee 4 — = 4-80
1 » Reis — 10 = L—
1 » Erbsen 1 8 = 2 —
1 » Bohnen 1 8 = 2 —
1 > gute Butter 5 — = 6- —
1 » Fett 3 — <ao 3-60
1 > Speck 3 4 = 4 —
1 > Kindfleisch je nach Qualität . . j . „ ~ e.fi,.
1 > Schweinefleisch 5 — — 6* —
1 » Kartoffeln — 2 = —20
1 » Zucker — 11 = MO
1 Liter Milch — 8= —-80
1 Kilogramm Mehl, weiß 6 = — *60
3 Stück Toiletteseife — 6= —-60
Walland war während der ganzen Kriegszeit nicht interniert,
sondern hat als freier Arbeiter in einer Glasfabrik unbeschränkt
gearbeitet und mit seiner Familie in London gewohnt.
Ein besonders bezeichnendes Licht fällt hier auf den Preis
für angeblich gute Butter. Man denke: für ein Kilogramm sage
und schreibe 6 Kronen, während es bei uns ehedem höchstens
5 gekostet hat und auch jetzt zehn Deka höchstens 5>/2 Kronen kosten
würden, wenn sie zu kriegen wären. Daß in England Toiletteseife
zu haben ist, wird wohl nur als ein Beweis mehr dafür anzu-
sehen sein, daß sie dort eben »mit dem Krieg tändeln«.
Charakteristisch ist auch die Milchverschwendung. Je genauer
man die Tabelle ansieht, desto näher läge allerdings die Ver-
suchung, die Niedrigkeit der Preise einzuräumen. Zwei Momente
jedoch sind es, die es empfehlenswert erscheinen lassen, das Gefühl
des Neides hinter die Pflicht des Zweifels zurückzustellen. Zunächst
ist zu sagen, daß der Brief, da er nicht vom Wolff-Büro
verbreitet wurde, das Merkmal der Unwahrhaftigkeit auf der
Stirn trägt. Dann aber wäre, selbst wenn man dem Beobachter
den subjektiven guten Glauben einräumen wollte, der Einwand
naheliegend, daß er eben in Erwartung der Heimkehr nach
108 —
Österreich unwillkürlich von den österreichischen Ernährungs
Verhältnissen auf die englischen geschlossen hat, und daß seine
nur zu berechtigten Hoffnungen die eben überstandene Leidens-
zeit in besserem Licht erscheinen ließen und auf sein Urteil
abgefärbt haben. Es liegt einfach eine Verwechslung vor. Der
Nachweis, daß die Butter bei uns nicht auch sechs Kronen kostet,
ist nur deshalb zufällig nicht zu erbringen, weil der Butter
zufällig nicht zu haben ist.
Neue Nahrung zugeführt
... Ihr Korrespondent ist, dank des freundlichen Entgegen
kommens des Unterstaatssekretärs Herrn v. Braun vom Kriegs-
ernihrungsamt in der Lage, Ihnen die Ergebnisse eines Interviews
mit diesem hervorragenden deutschen Fachmann mitteilen zu können . . .
Die Lage ist besser als vor einem Jahr. Ja, damals stand
es schlecht, da »hatten wir den Kohlrübenwinter, der an die
Widerstandskraft und Disziplin des Volkes die größten An-
forderungen stellte«. (Und noch dazu einen Kohlrübenwinter ohne
Kohle, und wiewohl es schon damals glänzend stand, so läßt
sich doch heute sagen, daß es damals schlecht stand, aber heute
glänzend.) Wir haben Kartoffeln. Wie stehts mit Brot und
Fleisch? »Ich glaube nicht, daß eine Herabsetzung der Brotration
nötig sein wird« und »die Fleischration ist für die Bevölkerung
in den Großstädten in der bisherigen Höhe gesichert«. Wie steht
es aber, fragt der Interviewer, mit der Fettration? Da ist bald
geholfen. Die Fettknappheit läßt sich zwar während des Krieges
nicht beheben, aber wir schaffend dennoch.
Die Behörden müssen nur darauf bedacht sein, Ausgleich
mittel zu finden, und das ist geschehen. Man hat für diesen Winter
große Mengen guter Brotaufstrichmittel herstellen lassen, dfe
zurzeit zur Verteilung gelangen und von der Bevölkerung überall
gern genommen werden.
Der Interviewer ist nicht neugierig zu erfahren, woraus die
Brotaufstrichmittel bestehen. Er ist gewiß überzeugt, daß sie
— 109 —
schon die richtigen Ausgleichmittel und bekömmlich sein werden.
Man bekommt sie nämlich. Er verläßt sich darin ganz auf den
hervorragenden deutschen Fachmann, der schon im Jahre 1914
eine Schrift »Kann Deutschland durch Hunger besiegt werden?*
geschrieben hat. Es steht jedenfalls famos, und der Ernährer
braucht gar nicht mit der Wahrheit hinterm Berg zu halten,
wenn sich etwa da und dort noch Übelstände fühlbar machen
sollten. Dies und das sei schließlich so oder so zu erklären.
Endlich fehlt wohl heute noch einer Anzahl von Landwirten
die Kenntnis von den wirtschaftlichen Zusammenhängen im Kriege,
was umso weniger verwunderlich erscheint, als ja die Volkswirt
schaftlichen Kenntnisse sich bei unserem Eintritt in den Krieg überall,
bei Behörden wie bei der Bevölkerung, als recht mangelhaft erwiesen.
Eine ehrliche Erkenntnis, nur verschiebt sich der Unterschied
insofern zugunsten des Bauern, als dieser ja noch immer nicht zu
wissen braucht, wie man eine Schlacht gewinnt, während der
General nicht gewußt hat, daß man dabei die Butter verliert.
Um die wirtschaftlichen Zusammenhänge muß sich nicht der
kümmern, der etwas von der Wirtschaft versteht, sondern der sie
durch einen Krieg zu zerstören im Begriffe ist. Aber das ist
eben beim besten Willen nicht gelungen, es steht famos und
»die wachsende Kritik an dem Kriegswirtschaftssystem«, nach der
sich der Interviewer erkundigt, ist ganz und gar unbegründet.
Die Zeitung, der so beruhigende Aufschlüsse erteilt werden,
ist der der deutschen Sache stets gewogene , Berner Bund', und
in gesperrtem Druck steht für den, der schon aus der flüchtigen
Durchsicht Beruhigung über die Lage Deutschlands schöpfen
will, plötzlich eine Wendung da, die gar keinen Zweifel mehr
übrig läßt, daß es famos steht. Die Wendung lautet: > * neue
Nahrung zugeführt«. Man mag immerhin zugeben, daß
man aus einem Interview, welches »Die Ernährungsverhältnisse
Deutschlands« betitelt ist, auf den ersten Blick einen günstigen
Eindruck gewinnen muß, wenn weit und breit keine Stelle in
dem Artikel gesperrt gedruckt erscheint außer den Worten: neue
Nahrung zugeführt. Nun also, denkt man sich, da erspar'
ich mir die ganze Lektüre, es kommt aus Rumänien, oder
aha die bekannte italienische Beute, aber nein, dasteht ja »Rußland«,
10
also schon aus der Ukraine, na wie dem immer sei, sie haben
jedenfalls neue Nahrung zugeführt bekommen, ja die Deutschen,
die schaffen es, denen kann's nicht fehlen, es steht famos . . .
Nun, es gibt so gespenstische Erfüllungen, ich erlebe es
immer wieder. In sprachzerfallener Zeit steht auf einmal ein
Wort vor mir, ein Tonfall, eine Form, und ich weiß, das kommt
einmal, das wird Lügenwirklichkeit. Und so fiel mir neulich,
da ich mir Beispiele für die furchtbare Konkurrenz der Redensart
mit dem jetzt erlebten und nie vorgestellten Inhalt einfallen ließ,
diese Kriegsmöglichkeit ein: Das Wolff-Büro wird melden, das
Ende der Streikbewegung werde der Zuversicht, daß Deutschland
durchhalten könne, neue Nahrung zuführen, und
schon das Druckbild der Meldung wird eine glänzende Bestätigung
ergeben. So ähnlich ist's eingetroffen, der deutsche Ernährungs-
fachmann ist in der angenehmen Lage, nicht in Abrede stellen
zu können:
. . . Die infolge der Verhandlungen mit Kußland belebte
I'riedenssehnsucht und Hoffnung auch auf friedliche Wirtschafts
Verhältnisse hat der Opposition gegen die Zwangswirtschaft unstreitig
neue Nahrung zu geffihrt. .. . %
Mit einem vollen Tropfen Druckerschwärze gesalbt
Die Bedeutung der Presse im Weltkriege.
Schwer und langsam hat sich in der deutschen Diplomatie die Erkenntnis,
welche ungeheure Macht die Presse ist, durchgerungen und jetzt
kann man endlich Diplomaten davon reden hören, daß sie die hier
einschlägigen Zusammenhänge voll ermessen. So hat letzthin
der deutsche Gesandte in Sofia, Graf Obern dort f, als er mit
deutschen Schriftleitern, die Gäste ihrer Kollegen waren,
zu Tische saß, recht verständige Worte gesprochen.
Der Graf sagte: Meine verehrten Gäste I Ich freue mich jedesmal, wenn
mir vergönnt ist, hier im Hause, über dem das schwarz-weiß-rote
Banner weht, deutsche und bulgarische Freunde zu gemütlichem
Gedankenaustausch zu vereinen. Heute aberfreue ich mich ganz besonders.
Denn Sie, meine verehrten Herren von der deutschen und bulgarischen
Presse, darf ich als — Kollege n willkommen heißen. Ja, mögen
wir auch ein oder das andere Mal etwas an einander auszusetzen
— 111
haben, wie das zwischenZunftgenossen vorkommen kann,
Diplomatie und Presse gehören eng zusammen.
Kein guter Journalist ohne diplomatisches Empfinden, und kein
brauchbarer Diplomat, der nicht mit einem vollen
TropfenDruckerschwärzefür seinen Beruf gesalbt wäre.
Ich sage Beruf, das Wort ist zu gering. Es ist eine Kunst, eine
hohe Kunst, die wir ausüben, und das Instrument, auf
dem wir spielen, ist das edelste, das sich denken läßt,
es ist die Seele der Völker! Was Diplomatie and
Presse geeinigt vermögen, hat uns dieser Welt-
krieg gezeigt. Vom Feinde soll man lernen. Wenn wir die
Reihe der diplomatischen Größen der Entente an unserem Sinn
vorüberziehen lassen und dabei Namen wie Times und Reuter, Matin,
Havas, Nowoje Wremja hören, nicht zu gedenken der kleinen
Satelliten in Rom, Bukarest, Belgrad, dann müssen wir gestehen, daß
hier ein Bund auftrat, der Erfolge aufweisen kann. Erfolge an
Lügen und Verblendung, Wut und Haß, wie sie die
Welt nie zuvor gesehen. Ja, es ist ein mächtiger Bund und schreckhaft
anzuschauen, und dennoch nur ein künstlich aufgetriebener Koloß,
der eines Tages bersten wird. Denn es fehlt ihm der Leben
spendende und erhaltende Geist, die Wahrheit. Die ficht
auf unserer Seite. Mit ihr und für sie streiten S i e, meine
Herren von der bulgarischen und deutschen Presse, in der stolzen
Erkenntnis, daß jeder Erfolg, den die Wahrheit erringt, auch einen
Erfolg für unsere gemeinsame Sache bedeutet. Ja, an dem Tage, an dem
den Völkern, die man gegen uns in einen vergeblichen Kampf treibt,
endlich die Schuppen von den Augen fallen, am Tage, an dem sie
erkennen werden, wie wir wirklich dastehen, wie unüber-
windlich gerüstet von innen und von außen, an dem Tage endet der
Weltkrieg ....
Na, und die Bomben auf Nürnberg, mit denen er
angefangen hat?
Arbeitsteilung
Während Hindenburg und Ludendorf f es bequem hatten,
dein zwischen ihnen sitzenden Paul Goldmann abwechselnd ins
Ohr zu flüstern, mußten Hindenburg und Ludendorff zwischen
den beiden Tischen hin- und hergehen, an welchen die
Vertreter der Wiener Presse in Gruppen Platz genommen hatten,
um zu hören, was Hindenburg und Ludendorff ihnen anzuver-
trauen hatten. Die Arbeitsteilung vollzog sich folgendermaßen:
- 112
Am 30. November um halb 9 Uhr abends wurden die Vertreter
der österreichischen und ungarischen Presse, die vorher in getrennten
Gruppen die deutsche Westfront bereist hatten, im Großen Haupt-
quartier empfangen. . . . Hierauf lud Hindenburg einen Teil
der Gäste ein, an einem runden Tische Platz zu nehmen
und ein Glas Bier mit ihm zu leeren. An einem zweitenTisch
versammelte Generalquartiermeister I. udendorff den anderen
Teil der Reisegesellschaft um sich. . . . Nach einiger Zeit erhob
sich Hindenburg, um an seine m Tische Lud endorff
Platz zu machen, während er selbst sich in den
anstoßenden Raum begab, um sich den von ihm noch nicht
ins Gespräch gezogenen Gästen zu widmen. Nach einstündigem Bei-
sammensein verabschiedeten sich die beiden Heerführer, d a
wichtige Ereignisse an der Westfront sie zu
nächtlicher Arbeit riefen.
Das sah Auernheimer ein und dankte nur noch dafür,
daß es ihnen vergönnt gewesen sei, »nach dem wunderbaren
Triebwerk des Heeres nun auch den Qenius, der es verkörpert
und beseelt, leibhaftig zu begrüßen«, womit allerdings nur
Hindenburg ohne Ludendorff berücksichtigt war.
»Auszudrücken,« fuhr er fort, »was uns in
diesem Augenblicke bewegt, fühlen wir uns, die wir
mit dem Gebrauch des Wortes vertraut sind, aber
eben darum auch seine Grenzen kennen, am wenigsten imstande.
Gestatten Eure Exzellenz mir daher nur, auszusprechen, daß wir uns
der geschichtlichen Bedeutung dieser Stunde
vollauf bewußt sind, bewußt auch der Bedeutung, die sie in
der Geschichte der Presse hat«. . . .
Hindenburg erwiderte mit folgenden Worten : > — - einen großen
Teil der Verdienste als ehrlicher Mann abschieben auf
Ludendorff — — unsere treuen Bundesgenossen — — mit der
Todesverachtung — — die Vertreter der Presse des befreundeten,
in treuer Waffenbrüderschaft verbundenen Staates — — Ich zweifle
nicht, daß alles gut enden wird, das sagen Sie in Ihrer Heimat.«
Kein Zweifel, es muß irgendeinmal gut enden, wenn /ur
Todesverachtung noch die Achtung vor der Presse dazukommt.
13
Ein Staatsstreich
In dem Staat, in dem für Papiergeld die Bedeckung des
Goldes fehlt und für Zeitungspapier die der Wahrheit (aber nicht
die der Valuta), kann es sogar geschehen, daß eine Redaktion
coram publico einen Meinungswechsel nicht allein vornimmt,
sondern ankündigt, also die Absicht einbekennt, statt der ihr bisher
honorierten Meinung fortan eine neue, von einem andern Geld-
geber bestellte, zu vertreten. Es versteht sich in Anbetracht des
Umstandes, daß die Gehirnerweichung der Leser mit der
Charakterlosigkeit der Schreiber gleichen Schritt gehalten hat,
von selbst, daß dem unveränderten redaktionellen Ensemble auch
eine kaum alterierte Abonnentenliste entsprechen wird. Die
österreichische Spezialität dieser Erscheinung wäre aber nicht
apart genug, wenn sich der Gesinnungswechsel auf alle Fragen
des öffentlichen Lebens gleichmäßig erstrecken müßte. Der neue
Geldgeber hat vielmehr beschlossen, die Weltanschauung seines
Personals, die in eine Stellung zur innern Politik und eine
Stellung zum Ministerium des Äußern zerfällt, nur bezüglich
des Herrn Seidler zu verändern, bezüglich des Grafen Czernin
aber auf sich beruhen zu lassen, so daß die Leser, die ja doch
hauptsächlich erfahren wollen, wer wo abgestiegen ist und welche
was angehabt hat, in den politischen Begleiterscheinungen unseres
Kulturlebens nur einen geringen Unterschied merken werden,
den sie vielleicht überhaupt nicht merken würden, wenn man
sie nicht darauf aufmerksam gemacht hätte. Wie man sieht,
handelt es sich um das , Fremdenblatt' und es ist vielleicht
wirklich ungerecht, bei einem solchen Blatt von Gesinnungs-
wechsel zu sprechen. Aber unser Ministerium des Äußern,
das die Ehrlichkeit hat, sich einer journalistischen Beziehung,
die es unterhält, nicht zu schämen, hat es sich nicht nehmen
IM
lassen, den Umschwung der Dinge in einer feierlichen Note
zu proklamieren. Und zwar so :
Das ,Fremdenblatt', das bis vor kurzem als offiziöses
Organ der österreichischen Regierung galt,
(vermutlich der österreichiscbenRegierung.die das nicht genau wu ßte i
wird nunmehr zu den Fragen der inneren Politik selbständig
(es dürfte dies das einzige Selbstbestimmungsreclit sein, das in
unzweideutiger Weise zugestanden wind)
und nach einem von ihm heute veröffentlichten Programm Stellung
nehmen und kann daher jetzt in diesen Angelegenheiten nicht
mehr als offiziös angesehen werden. Die Stellung
dieses Blattes zu Fragen der auswärtigen Politik, in welchen es
wiederholt die Ansichten des Ministeriums des Äußern zum Ausdruck
bringt, bleibt unberührt. Ohne hiemit für alle die Außenpolitik
betreffenden Äußerungen des .Fremdenblattes' eine Haftung zu über-
nehmen, erklärt das Ministerium des Äußern, daß es jede Verantwortung
für die Ausführungen der genannten Zeitung ablehnt, welche die
innere Politik und die Verwaltung betreffen.
Aber wer ist denn dann für die in dieses Ressort fallenden
Überzeugungen verantwortlich? Doch nicht am Ende die
Redaktion, die schreibt, oder gar der verantwortliche Redakteur,
der nicht liest? Jedenfalls nicht mehr das Ministerratspräsidium,
denn das .Fremdenblatt' hat sich gegen die innere Regierung freie
Hand vorbehalten, so weit das einer Hand möglich ist, die gegen-
über der äußern Regierung offen bleibt. Das .Fremdenblatt' hat aber
die neue Ära wirklich mit einer schwungvollen Attaque gegen den
Herrn Seidler eingeleitet, und ließ dieser geradezu ein Programm
folgen, aus dem hervorging, daß es die Ordnung der innern
Dinge nunmehr selbst in die Hand nehmen wolle. Wenn man
sich gerade im Ausland aufhält, da solch ein Staatsstreich sich
begibt, so erfährt man es natürlich als eine hochoffizielle Meldung:
Wien, 1. Febr. (W. K.-B.) Das .Fremdenblatt' kennzeichnet
in seinem heutigen Leitartikel seine künftige Stellung zur
innern Politik. Die Ereignisse der letzten Jahre hätten bewiesen,
daß das deutsche Volk in Österreich der Eckpfeiler dieses Staates ist.
Dem Heldenmut in der Feldschlacht kam die Opferwilligkeit im Hinter-
land gleich. Es liegt uns fern — — aber niemand kann leugnen
Durchhalten Was wir dazu beitragen können, damit
dem deutschen Volke werde, was ihm zukommt . . werden wir tun.
Das Blatt erklärt sodann, mit aller Kraft und F. n t-
— 115 —
seh iedenheit die höchsten staatlichen Interessen gegen dir
umstürzlerischen, auf die Zerreißung Österreichs hinzielenden
Bestrebungen verteidigen, auf die Förderung der erwerbenden
Klassen durch den Staat hinwirken und den modernen Geist des
Wirtschaftslebens auf das kräftigste unterstützen zu wollen.
Und natürlich auch vom modernen Geist des Wirtschafts-
lebens auf das kräftigste unterstützt werden zu wollen. Daß ein
solches Papier, das von einer Aktiengesellschaft redigiert wird
und dessen nationalökonomischer Fachmann von Partezetteln
Tantiemen nimmt, an der Wiedergeburt dieses Staates beteiligt
sein will, ist wahrhaft tröstlich.
Es schließt: Ein Österreich, das in der Welt geachtet wird,
das in der Monarchie den ihm zustehenden Einfluß besitzt, in welchem
die Deutschen die ihnen gebührende Stellung, in dem
alle Völker die Gewähr für ihre wirtschaftliche und
kulturelle Entwicklung finden, in dem allen zerstörenden
Kräften entschlossen entgegengetreten wird, ein solches Österreich,
denken wir, daß aus dem Kriege entstehe. An der Erreichung dieses
Zieles, erklärt das Blatt, mit voller Objektivität, aber auch mit
der nötigen Entschiedenheit mithelfen zu wollen.
Daß ich in einem Österreich, an dessen Sicherung das
,1-remdenblatt' mitgewirkt hat, nicht lange durchhalten werde,
das kann man sich schon denken. Das sympathische Wiener
Korrespondenzbureau hat nichts eiligeres zu tun, als dem
ungeduldigen Ausland zu versichern, daß nunmehr das , Fremden-
blatt' die Konsolidierung unserer Verhältnisse in die Hand
genommen hat, es also mit den bekannten Aufteilungsplänen
unserer Feinde wieder einmal Essig ist (den wir aber leider noch
immer nicht hereinkriegen können). Jedoch schon um der Even-
tualität, daß das , Fremdenblatt' Ordnung machen könnte, vorzu-
beugen, sollten sich die Nationen so schnell als möglich ver-
söhnen, denen ohnedies reichlich übel davon sein dürfte, fort-
während von der ihnen gebührenden Stellung und von der
Gewähr für ihre wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung lesen
zu müssen, wobei selbstverständlich immer den Deutschen, deren
kulturelle Entwicklung ja bereits abgeschlossen ist, die Stellung
gebührt. Aber den Scherz solcher Programmatik beiseite: sollte
denn das Blutopfer nicht wenigstens die eine Entschädigung
bringen, daß jene Profession, die es bewirkt hat, mundtot gemacht
wird? Sollte es möglich sein, daß wir über Leichenberge
geschritten sind, um von einer Papier-, Zucker- oder Waffenfabrik
gemietete Talente sich als Geburtshelfer der Zukunft uns
vorstellen zu lassen? Ich für meine Person lege gar keinen Wert
darauf, daß das Gerücht von einem Besitzwechsel des Fremden-
blatts auf Wahrheit beruhe. Ich räume gern ein, daß die
Redakteure einer Wiener Zeitung nicht so gesinnungslos sind,
sich vom Morgenblatt zum Abendblatt einem neuen Geldgeber
anzupassen, und daß der Überzeugungswechsel also vielmehr
im Auftrag des alten Geldgebers erfolgt sein kann, der nur eine
neue Gesinnung hat, weil er nämlich einen schwerindustriellen
Zuschuß bekommt. Fern sei es von mir, selbst einer Aktien-
gesellschaft zuzutrauen, daß sie ihr geistiges Inventar so ohne
weiters an eine andere verkaufe, da ja auch in ihrem eigenen
Schöße das Bedürfnis nach einer politischen Neuorientierung
rege werden mag. Wie dem immer sei und wenn selbst die
Redakteure den Abschied nahmen, weil sie zu charaktervoll
sind, um einen politischen Standpunkt, der ihnen durch Jahr-
zehnte »stagelgrün auflag«, mit einem ganz ungewohnten zu
vertauschen, der Hauptspaß bleibt doch, daß die Abonnenten
bleiben und daß die Wiener Idiotie das Vertrauen jener nord-
deutschen Konsortien, die jetzt hierzulande umgehen, nicht ent-
täuscht. Wenn dieses Gesindel von Meinungsaufkäufern die Wahl
hat, zur Durchsetzung ihrer schuftigen Wünsche, zur Propagierung
des Gedankens, daß der Krieg bis zur völligen Auspovernng
Österreichs fortgesetzt werden muß, neue Blätter in Wien zu
gründen oder einen Stock von Abonnenten schon vorzufinden,
so wären sie noch dümmer als dieser Stock, wenn sie sich nicht
fürs zweite entschieden. Die unsägliche Schmach, daß die
Empfänglichkeit des Zeitungslesers gekauft werden kann, ohne
daß sie gefragt wird, dürfte kaum ein Abonnent des Fretjiden-
blatts fühlen — der frißt, wenn nur der Druck der gleiche
bleibt, die Weltanschauung des Siegers von Königgrätz so gern
wie die des Besiegten, und der Regierung fällt es nicht ein, die
geistige Wehrlosigkeit gegen diese neuestens so smart betriebene
Ausbeutung zu schützen, im Gegenteil, das Ministerium des
Äußern bleibt mit dem , Fremdenblatt' auf Gedeih und Verderb
117
verbunden. Was aber das Innere anlangt, so will ja der neue
Kurs unter Umständen gar oppositionell sein, und das, Fremden-
blatt' wird lieber gratis in allen Hotelzimmern als gegen Bezahlung
in einem Kabinett aufliegen, in dem keine Ordnung herrscht,
und an Kraft und Enschiedenheit mit den strengsten Masseusen,
deren Annoncen es bringt, wetteifern. Es gibt nun leider kein
Preßgesetz, das eine Redaktion, wem immer sie gehöre, auf
wessen Wink immer sie Meinungen apportieren mag, zwingen
könnte, mit einem feierlichen politischen Programm auch die
Photographien der Leute, die es verfaßt haben, zu veröffentlichen.
Die Kirche hat längst auf die Initiative verzichtet, am Glück
des Staates mitzuwirken, aber daß die Leute, die den Krumm-
stab im Gesicht tragen, dazu kapabel sind, das scheint einem
offiziellen Nachrichtenbureau keinen Augenblick zweifelhaft. So
habe ich es im Ausland gelesen und infolgedessen den Entschluß
gefaßt, zurückzukehren. Im Ausland schämt man sich hin und
wieder, ein Österreicher zu sein, und da geht der Patriot lieber
gleich dorthin, wo man sich nicht mehr schämt.
Inschriften
Die unzulängliche Macht
Was uns so radikal verheert,
was uns durch Macht geführt zum Dreck,
war neben Herzverhärtung Hirnerweichen.
Nicht Bosheit, Dummheit hat uns aufgezehrt.
Wir waren fähig zu dem schlimmsten Zweck,
unfähig aber, diesen zu erreichen.
Rekonvaleszenz
Die Welt soll am deutschen Wesen gesunden ?
So zahlen wir erst die Erholungsspesen
und gehen selber dann in die Kur !
Nicht allzuweit : wir brauchen ja nur
zu sorgen, bis unser deutsches Wesen
von Potsdam nach Weimar zurückgefunden.
Am Scheideweg
Der Freund hat für zehn Tage Mehl euch verheißen,
der Feind euch fürs Leben die Freiheit gewährt.
Ich rat' euch, nachdem ihr das Mehl verzehrt,
getrost in die andere Speise zu beißen.
19
Straßenrufe
Hätt' man mich gefragt, ich hätte die Zeit
mir gewählt, in die ich geboren,
sie mir ausgesucht nach der Neuigkeit,
die der Tag mir ruft in die Ohren.
O könnt' ich noch einmal zurück aAs der Qual !
Wie lärmen doch Handel und Händel !
Einst hatte die Zeit — ach hätt' ich die Wahl -
nur die Neuigkeit: »Kaufts an Lavendel!«
Jetzt kreischt mir am Sonntag die Vettel ins Ohr
als verkörperte Weltgeschichte,
die den Sieg gewann und den Athem verlor:
»Extraausgabe! Beide Berichte!«
20
Am Sarg Alexander Girardis
trete die Trauer zurück und lasse den Wunsch die
Wache halten: der erbarmende Genius der Vergangen-
heit möge die unbefugten Leidtragenden verjagen,
dorthin, wo sie in Blut und Schmutz Freudenfeste
feiern, dorthin, wo der unerbittliche Zeitgeist sie
treffen will und sie ihn. Die unbefugten Leidtragenden,
die nur der letzte Verzicht auf ein Schamgefühl
ermutigen kann, um Girardi zu klagen, sind die
Henkersknechte eines Lebens, das sie gezwungen
haben, sein eigenes Grab zu schaufeln. Die unbe-
fugten Leidtragenden, die tieftrauernd von aller
Scham Verlassenen, sind aber auch die Bewohner
einer Theaterstadt, die ihrem Ruin als Zuschauerin
bis zum Schluß beiwohnt, sind die Verräter eines
Volkstums, die ihr Gewand verkauft haben, um in
die Hölle zu fahren; ihre Heiligtümer in Aktien-
gesellschaften verwandelt sahen, ihre Wahrzeichen
umgelogen, und nun in den Weltuntergang als Tanz-
operette mit Berliner Text und Budapester Melodie
hineinrennen. Nicht der Hingang, sondern das Dasein
dieses einzigen Girardi war beweinenswert. Denn
wenn alles Menschentum der Kulisse nur ein Wert-
maß der Zeit ist und einem unholden Gegenwärtigen
nur ein Widerwärtiges gemäß sein kann, das die
noch lebendigen Sinne fliehen mögen, so waren sie
vor Girardis Ton rettungslos einer unerfüllbaren
Sehnsucht preisgegeben; denn dieses Bühnenleben
war das Maß des Unermeßlichen, das uns verloren
ist. Da stand durch drei Jahrzehnte ein Gast der
Zeit in ihrem unsäglichen Ensemble, und es war
von tragischer Wirkung, wie die Natur zur letzten
Aussprache mit einer Entmenschtheit kam, die eben
noch Nerven hat, sich kinematographisch zu erleben.
Doch ihrer Schmach unbewußt, treibt diese Zeit-
121
genossenschaft auch Firlefanz * mit den Reliquien,
stellt sie in einem Etablissement aus, das außen von
Marmor ist und innen ohne Geist, und geriet also auf
den kindischen Einfall, einem Girardi das Burg-
theater zu eröffnen, anstatt es ihm zu Ehren zuzu-
sperren. Aber er wußte nicht, wie ihm geschah, und
er ging dahin, ohne zu merken, daß sie ihm ein
Bein abgenommen hatten. Wir aber sollen es merken.
Nichts bleibt zu tun, als es zu wissen. Und da
Girardi hinging, ist erst wahr geworden, was ich damals,
gerade vor zehn Jahren, gewußt habe,, als er aus
Ekel an einem berlinisierten Wien nach Berlin ging.
Ich hab's ihm nachgerufen — und uns, dem Volk,
das seine Selbstbestimmung in der Hingabe an sein
Verhängnis betätigt. Ich fragte, ob es denn der
Donau nicht nahegehe, daß sie jetzt über Passau nach
Berlin fließt und in die Nordsee mündet; und meinte,
daß die Wiener Kultur tot sein müsse, wenn ihr das
Herz herausgeschnitten wurde und sie dennoch
weiterleben kann. Die Weltausstellungsreife der
Wiener Eigenart, schrieb ich, das ethnologische
Interesse, das man jetzt an uns nimmt, die Zärtlich-
keit der Berliner für uns — dies alles ist fast so
tragisch wie unsere Unempfindlichkeit gegen solches
Schicksal. »Wir freuen uns, wie sie Stück für Stück
von uns ausprobieren und immer mehr Geschmack
an unsern Spezialitäten haben und so lange an
allem, was wir haben, teilnehmen, bis sie uns eines
Tages ganz haben werden. Sie setzen den Wiener
auf ihren Schoß, schaukeln ihn und versichern ihm,
daß er nicht untergeht; das macht beiden Teilen
Spaß und ist ein Zeitvertreib, der über den lang-
weiligen Ernst eines Fäulnisprozesses hinüberhilft.
Wir sind auf unsere Tradition stolz gewesen, aber
wir waren nicht imstande, die Spesen ihrer Erhaltung
aufzubringen. Unsere Gegenwart war tot, unsere
Zukunft ungewiß, aber unsere Vergangenheit war
uns geblieben. Sollten wir auch die verkommen
— 122 —
lassen? Da war es 'doch klüger, sie einem Volk in
Kommission zu geben, das eine hinreichend starke
Gegenwart hat, um sich auch noch den Luxus einer
fremden Vergangenheit leisten zu können .... Bis die
Hypertrophie der technischen Entwicklung, der die
Gehirne nicht gewachsen sind, zum allgemeinen
Krach führt, ist es das Schicksal der von Müttern
gebornen, rindfleischessenden Völker, von den
maschinengebornen und maschinell genährten
Völkern verschlungen zu werden.« 1908 war's, als
ich es schrieb. Der Zeitenschauer, der uns anpackt,
wenn wir jetzt mit einem Fuß noch auf dem
Franziskanerplatz stehen und mit dem andern schon
vor dem Haus, in dem das Kaiser Wilhelm -Kaffee
etabliert ist, erstarrt zu der ohnmächtigen Erkenntnis,
daß der Fortschritt dieses Haus bejaht und die
Bombe jenen Platz zerstören würde. Und fern bleiben
wir der Trauer, wenn die Zeit nicht nur die Macht
hat, den Wert zu morden, sondern auch den Mut,
ihn zu beklagen!
123 —
Der Weltspiegel
Der Kronprinz bei den Flammenwerfern der 5. Armee.
Zur Begrüßung des Kronprinzen wird durch Flammen ein >W< gebildet.
Wie kam mir dies Gesicht? Stand dies Weh, triumphal
zu Flammen aufgerichtet, Flammen, die hundert Söhne von
hundert Müttern verzehren werden, vor meinem Aug, als ich
in der Nacht der Menschheit träumen ging? Da ich einschlief,
hatte ich den , Weltspiegel' in der Hand; der gab nur meinem
Traum zurück, was aus ihm als Erdenfluch zum Himmel stieg:
das Wort, das am Ende war, und dieses seine Initiale. Doch als ich
erwachte, hatte ich den , Weltspiegel' zur Hand und von allen Seiten
sah ich die Welt sich spiegeln und bedachte also ihren Sinn:
Die Technik hat nicht allein das für sich, daß sie die
Menschheit in einen Dreckhaufen verwandelt hat, sondern daß
man ihn auch a tempo in Wort und Bild vorgesetzt bekommen
kann. In den Kinematographien gehe ich nun nicht, weil ich
die Nachbarschaft von Schieberhuldinnen, die beim Anblick der
Somme-Schlacht >Gott wie interessant!« sagen, nicht ohne
Anwandiungen von Lust, nämlich zu einer im zivilen Leben
strafbaren Handlung, ertragen könnte und weil ich ja doch nie
— 124
das Glück haben würde, einen ehedem glorreichen Heerführer
vor der gefilmten Prozedur hinfallender Menschenleiber zwanzig-
mal hintereinander »Bumsti!« sagen zu hören. Dagegen vergönne
ich mir gelegentlich den Blick in eine der vielen illustrierten Zeit-
schriften, denen es die technische Entwicklung ermöglicht, eben
jene Lebensstarre, an der sie einen so bedeutenden Anteil hat, in
ihrer bunten Vielgestalt vorzuführen, und da finde ich denn,
wie's die Jahreszeit bietet, alles beisammen, was zwischen Draht-
verhau und Schminkschatulle heutzutage alles da ist, indem es
ja nicht so ist wie bei arme Leute. Wie praktisch zum Beispiel,
gleich auf dem Titelblatt Kühlmann in der Uniform eines Ulanen-
offiziers sehen zu können, wie er dem gleichfalls verkleideten,
aber halb abgewendeten Czernin die treue Rechte reicht, während
sein zugespitzter Mund auf die Formel »Keine Annexionen und
keine Kontributionen« zu pfeifen scheint. Brest-Litowsk, mag es
auch die andern menschlichen Berufe enttäuscht haben, dem
Photographen bot es .eine Fülle von Anregungen. Aus dieser
Dunkelkammer des Friedens sind immerhin »Bilder vom russisch-
deutschen Waffenstillstand« hervorgegangen, die die beiden
Parteien in freundnachbarlichem Warenverkehr zeigen und auf
den preußischen Gesichtern ein unverkennbares Behagen, sich
mal zu den »Panjebrüdern«: herabzulassen. Unschwer gelingt es
mir, den Besitzer von Schneid und Monokel da im Vordergrund
als jenen Leutnant zu agnoszieren, der einst einem verbündeten
General die Worte zugerufen hat: »Na, sagen Se mal Exzellenz,
könnt Ihr denn nich von alleene mit dem ollen Uschook fertich
werden?« Der olle Uschook ist ein zu Beginn der Weltgeschichte
vielgenannter Paß, durch dessen Behauptung es gelungen ist,
Mitteleuropa vor dem Ansturm der Barbaren zu behüten. Sollte
es aber doch nicht der hier abgebildete Leutnant gewesen sein,
so war es ein anderer, der genau so aussieht. Während dir
Verhandlungen in Brest-Litowsk ihren Fortgang nehmen, werden
sie von einem Eheidyll unterbrochen, indem ein junges, aber
hohes Paar auf einem Gang durch die Straßen Berlins begriffen
ist, sie ein Guckindiewelt, er ernst aber zuversichtlich, gleichwohl
ein wenig nachdenklich über die Frage, nicht wo, sondern ob
man heute zu mittag speisen werde, da man doch von einem
Gang durch die Straßen Berlins Appetit bekommen hat. Wie
25
anders der hohe, aber alte Herr, der 9oeben den Festgottesdienst in
Brest-Litowsk verläßt, mein erster Qriechisch-Professor in Uniform,
er ist vergnügt, sein Gang etwas schwankend, er hebt die Hand,
senkt den Kopf, als sagte er gerade: >Tja der Trotzky, der
Trotzky macht die ganze Klasse rebellisch«. Ein Vorfugsschüler,
der Czemin, steht in Uniform Habtacht vor diesem Monolog
und freut sich. Während sich das begibt, bricht eine Tochter
des Exkönigs von Griechenland, die mit Mutter und Schwestern
Schulter an Schulter beim Eislauf am Dolder in Zürich aufgestellt
ist, in ein schallendes Gelächter aus. Die andern folgen ihrem
Beispiel. Ihr Lachen steckt an, schon lacht die ganze Reihe. So aus
vollem Halse habe ich noch nie lachen gesehen. Warum lacht sie?
Weil am Piaveuferin aller Eile hergestellte provisorische Schützen-
gräben zu sehen sind? Oder weil Marguerite Vivian Vnrton
Thomason, eine/amerikanische Schönheit, sich kürzlich zum dritten
Malevermählt hat, diesmal mitdem jungen Grafen Christian Günther
von Bernstorff? Oder weil Rinder als Zugtiere in Berlin ver-
wendet werden? Weil in einem Pariser Militärspital einem
Schwerverwundeten Blut aus einem anderen Körper eingelassen
wird? Weil der Sanitäter Willy Haehnel bereits 400 Konzerte, u. a.
auch solche des Blüthner-Orchesters an der Front und Etappe
geleitet hat? Weil man Badewasser durch ultraviolette Strahlen
entkeimen kann? Die Töchter des Königs von Griechenland stehen
da, wie sich ehedem die feschen Nachtigallen von Wien oder
Berlin stellten vor uns hin. Es klingt wie: >Fesch, schick, wirklich
indresant, können Sie uns vor sich sehn, wir sind, das weiß
ein jeder, anerkannt als Eulen von Athen. Tschau!« Übrigens,
das photographische Treiben der Familie, an allen belebten
Punkten der Schweiz und zumal in St. Moritz, ist wirklich
sehenswert, es zeigt die abgelegte Königswürde in allen Situationen,
die natürlich kein Wiener, Berliner oder Pester Jud, dessen
Adelsbrief die Kurliste ist, ungenützt vorübergehen läßt. Er
stellt sach dazu; wird auch öfter vorgestellt. Der König hat das
gern; er hält das, was ihm in Lugano passiert ist, für standes-
unwürdiger als den Umgang mit dem über die Grenze arrivierten
Auswurf der Zentralstaaten. Er denkt: warum nicht, man ist im
Leben nur einmal ein Märtyrer. Alles, was unter der Engadiner
Sonne schiebt und rodelt, um den Krieg nicht in einem Erdloch zu
— 126 —
verbringen, oder was sich kurzerhand au Bern >attachieren« ließ,
um sich nicht erst in Wien entheben lassen zu müssen, wimmelt
um die Majestät. Es sind Menschen und ich hatte sie mit
Originalaufnahmen verwechselt. Aber was macht denn die Gräfin
Julius Andrassy im Spital in Budapest? Sie läßt sich photo-
graphieren, während sie verklärten Blickes einem anscheinend
den besseren Ständen angehörenden Helden einen Löffel Medizin
verabreicht, den er mit zager Hand und im Vollgefühl der
Situation gerührt entgegennimmt? Warum tut sie das, die
Samariterin? Warum hat sie dem Photographen nicht gesagt,
er möge warten, bis der Patient die Medizin genommen habe?
Im Hintergrund hängt jene ominöse Balkankarte, bei deren Studiuni
einst Conrad v. Hötzendorf überrascht wurde. Ob wohl solche
Genrebilder in und vor dem Weltkrieg auch auf dem Balkan
entstanden sind? Krankenpflegerin ist ein schöner Beruf, fürwahr,
aber gleich darunter sind englische Frauen als Bahnarbeiter und
das »Todesbataillon« der Petersburgerinnen zu sehen und auch
diese Berufe stehen da, als ob sie wüßten, daß sie in die
illustrierten Zeitschriften kommen werden. Wie anders die holde
deutsche Maid dort, die sich lächelnd an einer Vorrichtung zu
schaffen macht, die ein Brunnen sein dürfte. Sie windet wohl Wäsche,
singt sich eins und so. Nicht doch. Die Gebrauchsanweisung steht
darunter: »Die breiartige Pulvermasse wird durch eine Rohranlage
mittels Druckes in die Zenlrifugen geschwemmt und durch
Schleudern vom Wasser befreit.« Das Ganze ist eine Abend-
stimmung und heißt: Aus einer deutschen Pulverfabrik. Die
Sache will's und freudig schafft die Maid. Ob auch sie weiß,
daß sie, eine unter Millionen deutscher Frauen, ihre Züge im
, Weltspiegel' schauen werde? Aber nicht immer ist es dem
Photographen gewährt, das volle Menschenleben dort, wo es
interessant ist, anzupacken oder die Zeit am sausenden Webstuhl
zu erwischen. Während es zum Beispiel ohneweiters gelingt, den
Justizsoldaten dabei zu ertappen, wieer Dokumenteausdem Caillaux-
Prozeß zur Verwahrung in den Gerichtspalast bringt, eine
Situation, die zwar äußerlich nichts Auffälliges hat und mit einem
tausendmal geübten Verfahren eine Ähnlichkeit aufweisen dürfte,
aber doch durch den Inhalt der Dokumente sehenswert ist bedarf
es der Intervention des Malers, um sich vorzustellen, wie Joseph
— 127 —
Caillaux, der frühere französische Premierminister in seinem
Arbeitszimmer bei Anhörung seines Verhaftungsbefehles dasitzt,
der ihm durch den Pariser Festungskommissär Priollet vorgelesen
wird. Ein Photograph hatte nicht Zutritt, da es sich ja um keine
so allgemein zugängliche Gelegenheit gehandelt hat, wie wenn
ein Generalstabschef die Balkankarte studiert. Umso reichlicher
ist die Ausbeute, die er auf der Straße vornehmen kann, unter
den vielen offiziellen Persönlichkeiten, die eine Sitzung, und wäre
es selbst die geheimste, verlassen oder sich in ein öffentliches
Gebäude begeben. Die Quadrille dieser Schrittmacher, die gerade
zum Veitstanz ausholen, der Fallsucht erliegen, von der Beriberi-
Krankheit heimgesucht werden oder auch nur turnen wollen, tiefe
Kniebeuge machen und dergleichen Allotria treiben, stellt sich bei
jeder nur möglichen Gelegenheit zusammen. Darin sind sie alle,
diese Persönlichkeiten, die der Photograph auf der Straße getroffen
hat, einander gleich. Sie nehmen's nicht ernst, sie sind zu allerlei
Unfug aufgelegt. Wie besonnen dagegen die Haltung jener
Auserwählten, die ihn ruhig in Ihrem Heim erwarten können.
Solche Aufnahmen, zumeist dem Reich der Kunst angehörender
Individualitäten, dienen dann nicht nur einem längst gefühlten
Bedürfnis, sondern bieten auch durch ihren idyllischen Charakter
eine erfreuliche Abwechslung zwischen den Familienbildern der
Munitionserzeugung. Da heißt es plötzlich: »Ein interessantes
Paar«, aber nicht Hindenburg und Ludendorff sind es, sondern
der bekannte Maler Eugen Spiro und seine Gattin Elisabeth
Saenger-Sethe, die Tochter der ausgezeichneten Geigerin Irma
Saenger-Sethe und des hervorragenden Publizisten Prof. Dr. S.
Saenger, woraus vor allem die Erkenntnis hervorgeht, daß sie
Spiro-Saenger-Sethe heißt. Gleich daneben scheint der Titel
»Polnische Wirtschaft« auf arge Übelstände hinzuweisen, aber
wir bekommen im Gegenteil das erfreuliche Bild zu sehen: Eine
Kuh als Adoptivmutter verwaister Ferkel, und finden, daß dies
im Grunde menschlicheren Charakter hat, als alles, was rings-
herum an Szenen aus dem deutschen Kriegs- und Familienleben
gezeigt wird. Diese Kuh scheint mir auch insofern Beachtung zu
verdienen, als sie sich unbeobachtet fühlt und weit und breit
das einzige Gottesgeschöpf ist, das ohne jede Pose seine Pflicht
erfüllt und, nicht ahnend, daß sie's für die , Woche' tue, vom
128
Photographien dabei betreten wurde. Von der Bestimmung der
Qenreszene, die uns die gefeierte deutsche kgl. Hofschauspielerin
Tilla Durieux mit ihren Lieblingstieren vorführt, dürfte wenigstens
sie informiert gewesen sein. Während nämlich Margaret Wilson,
dieTochter des amerikanischen Präsidenten, als eifrige Anhängerin
des Schneeschuhlaufens in einer Stimmung ist, als ob sie heut
dijr Welt eine Haxen ausreißen wollte, wirft die Durieux, deren
Kleid, Tischdecke, Sophakissen und Papagei das gleiche kunst-
gewerbliche Muster aufweisen, diesem, dem Papagei, einen strengen
Blick zu. Es scheint sich da um eine mindestens so ernste
Angelegenheit zu handeln wie dort beim Abfeuern eines deutschen
Fliegerabwehrgeschützes; daß es, wenn einmal festgehackt, nach
oben und unten schießen kann, ist selbstverständlich. Aber nicht
alle Berliner kühnen jetzt ihres behaglichen Heimes froh werden.
Da laut einer Verordnung des Berliner Stadtmagistrates die Haus-
bewohner den Schnee vor ihren Häusern kehren müssen, was manch
einen Berliner schon zur schlagfertigen Anwendung des Sprich-
wortes, daß jeder vor seiner Tür zu kehren habe, veranlaßt hat,
so begeben sich heute alle Stände ohne Unterschied des Standes
an die Schneeschippearbeit. Voran zwei schicke JÖhren, die sonst
lieber in die Reinhardtschule gehen; dann ein älterer Schieber im
Pelz; in einiger Entfernung, die Schaufel auf die leichte Achsel
nehmend, ein resignierter junger Mann, sein Liedchen trauernd,
ehedem mag das Trottoir der Friedrichstraße sgjne Domäne
gewesen sein, nun muß man's hinnehmen; zum Schluß der
Reihe der Rechtsanwalt Krotoschiner II. Was ist das aber gegen
das Straßenbild, das Bern bietet, wenn der Neujahrsempfang
der bei der Schweiz beglaubigten fremden Diplomaten im
Bundeshause stattfindet? Sie gehen alle dahin, die Männer,
deren Beruf der überlebende Teil der Menschheit eine pietätvolle
Erinnerung bewahrt. Ja, das sind sie alle, die ihr Möglichstes
getan haben, die für ihr Vaterland repräsentieren, spionieren,
koitieren, Bridge spielen und die, was immer man gegen sie
einwenden möge, alles in allem ihre verfluchte Pflicht und
Schuftigkeit tun. Ja, so sind sie, die Herren vom diplomatischen
Corps de ballett, so sehen sie aus, so gehen sie, jeder Staat auf
seine Art, zu Neujahr ins Bundeshaus. Die Engländer schicken
sich an, die Belgier zögern, die Italiener schreiten, die Serben
129
springen, die Amerikaner gehen, die Franzosen spazieren, die
Deutschen marschieren, na und die Österreicher? Die stehen da
und lassen sich photographieren. Der Unterschied ist exemplarisch:
wie die Bundesbrüder es ernst nehmen, eine förmliche Offensive
gegen das Bundeshaus durchführen und egal druff losgehen zum
Neujahrsempfang, während die Unsern es so aufzufassen scheinen,
daß sie nunmehr das ganze glückliche neue Jahr hindurch damit
beschäftigt sein werden, auf die Gratulation zum nächsten zu
warten. Wir sind die einzige Vertretung eines europäischen
Staates, die dem Leser eines illustrierten Blattes direkt vis-ä-vis
steht. Alle machen ein freundliches Gesicht und der uniformierte
Feschak in der Mitte freut sich sichtlich, daß er hier sein kann
und nicht dort sein muß, wo der Neujahrsempfang von Hand-
granaten bereitet wird. Sehn's so heiter ist das Leben bei uns
in Bern .... Aber was ist das! Faschingin Flandern? Masken-
scherze unweit hinter der Front? Vor einem Hexenkessel sitzt
etwas Undefinierbares und hält etwas Undefinierbares auf dem
Schoß. Walpurgisnacht. Deutsche Kavallerie reitet über den
Blocksberg. Und da müssen denn Mutter und Kind in ihrer
ausgeräumten Hütte sitzen und: >tragen beständig Gasmasken«.
Das Kind wird vor dem Wolf in Großmutters Bett nicht mehr
erschrecken. Aber es lernt das Gruseln wieder, wenn man ihm
dereinst erzählt, daß dies und das und noch etwas und überhaupt
alles für den Weltspiegel geschah.
130 —
Glossen
Der Geist
Hindenburg sagte zu Auernheimer, als die Rede auf die
englischen Tanks kam:
>Es ist immer ein schlechtes Zeichen, wenn eine Armee
versucht, durch derlei mechanische Erfindungen zu
ersetzen, was ihr an lebendigem Geiste abgeht. D e r G e i s t
ist unersetzlich . . .«
Hindenburg meinte aber nicht den Geist Auernheimers,
sondern, wie dieser selbst zugibt, den Geist, von dem Tolstoi in
»Krieg und Frieden« spricht:
»Er (Kutusow) wußte, daß das Schicksal der Schlachten
entschieden wird nicht durch die Anordnungen des Oberbefehlshabers,
nicht durch die Aufstellung der Truppen, nicht durch die Zahl
der Kanonen und die Summe der Gefallenen, sondern durch jene
unberechenbare Kraft, die der Geist des Heeres
genannt wird . . .«
Und Durchbruchswirkungen erzielen kann, wie bei einer
nicht mechanischen, sondern mehr chemischen Kriegführung
das Gas des Heeres.
> Die Mitwirkung „der Technik an den Problemen der
Übergangswirtschaft.«
Das gibts auch ? Bis jetzt hatten wir nur die Mitwirkung
der Technik an den Problemen der Übergangswirtschaft zu
spüren bekommen.
— 131 —
Cui prodest?
(Manfred W e i s - A. G.) Aus Budapest wird uns telegraphiert :
Die Manfred Weissche Munitions-A. G. veröffentlicht heute ihre
Jahresbilanz, aus der hervorgeht, daß sich bei einem Aktienkapital
von 35 Millionen Kronen, Reserven von 9 Millionen und Abschrei-
bungen von 20 Millionen, ein Reingewinn von 11,500.000 Kronen
ergibt. Die Aktien der Gesellschaft befinden sich, wie bekannt, aus-
schließlich im Besitz der Familie Manfred Weis.
Die Aktionäre sind also blutsverwandt.
Seit dein Krieg, in dem der Luxus gestiegen ist
Bezirksrichter Dr. Pohl : Was kosteten diese Shawls in
Friedenszeiten ? — Angekl. : Derartige sehr fein aus-
geführte Seidenshawls kamen in Friedenszeiten
überhaupt nicht auf den Markt;, sie werden erst seit
dem Krieg, indem der Luxus gestiegen ist, erzeugt. —
Der Richter sprach den Angeklagten frei, weil die Besichtigung der Shawls
lehre, daß sie besonders fein seien, so daß es sich nicht um
Gegenstände handle, die einem Lebensbedürfnis dienen, sondern um
reine Luxuswaren, auf die die Preistreibereiverordnung keine An-
wendung finde.
Das ist gerecht, daß der Händler frei ausgeht. Aber
warum werden die Kunden nicht verhaftet?
Nach dem Krieg, wenn der Aufschwung kommt
>. . . Wir als Stadtverordnete sehen aber, wie ein Hotel
nach dem anderen in Berlin geschlossen wird, um eine Kriegs-
gesellschaft aufzunehmen, und wir sehen, wie schwer es einem
Fremden, der nach Berlin kommt, fällt, Unterkunft zu finden. Wie
soll das nach dem Kriege werden, wenn der Auf-
schwung komm t?<
132 —
Es ändert sich die Zeit
Wien, 14. Febr. — — Nur die der reichsdeutschen Schwer-
industrie nahestehende .Zeit' beflegelt Wilson.
Die Wiener Note besteht darin, daß hier alles möglich ist
und man durch nichts unmöglich wird. So war die .Zeit' durch
viele Jahre möglich und wird künftig nicht unmöglich sein.
Auf das Programm, durch Unbestechlichkeit Aufsehen zu
erregen, gegründet, hat sie, wie bekannt, nach Kräften durch-
gehalten und ist, wie erinnerlich, durch Verkehr mit reichen
Leuten der Gefahr begegnet, sich prostituieren zu müssen.
Im Krieg unterschied sie sich von der andern Wiener Presse
durch eine ausgesprochen schwerindustriefeindliche Haltung, die
ihr nichts eintrug als den törichten Verdacht, von der Entente
gekauft zu sein. Da aber dies zu wenig war und der Krieg zu
lange dauert, raffte sie sich eines Tages dazu auf, der
Gedankenwelt der Schwerindustrie, deren Vertreter zur An-
knüpfung journalistischer Geschäftsverbindungen gerade Wien
und die Provinz bereisten, näherzutreten. Es versteht sich von
selbst, daß die Herausgeber der ,Zeit' von dem Augenblick an,
da sie sich zu solchem Opfer alles dessen, was ihnen bis dahin
heilig war, entschlossen hatten, nicht mehr die ,Zeit' heraus-
geben konnten. Nie wären sie imstande gewesen, ihre Feder in
den Dienst einer ihnen unsympathischen , ja bis dahin
bekämpften politischen Gesinnung zu stellen. Was in fremde
Hände übergeht, ist eben nicht der Charakter eines Publizisten
der ist unzerstörbar — , sondern nur sein Lebenswerk und
die Abonnentenliste. So wie der Wiener sein Gewand verkauft,
um in den Himmel zu fahren, so verzichtend haben die Herren
Singerund Kanner, die zwar keine bodenwüchsigen Wiener sind,
aber doch lange genug in Wien gelebt haben, um sich aus-
zukennen, das Zeitliche gesegnet und sind nach St. Moritz
abgereist.
— 133
Au« großer Zeit
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Männer der Tat
— — Aber es kam auch hier schon vor, daß Direktor Karezag
ein Libretto innerhalb 24 Stunden annahm. Ein Mann der raschen
Entscheidungen Ist der neue Burgtheaterdirektor. Er nahm die neueste
Komödie von Hans Müller innerhalb eines Tages an . . .
Herr Reimers.
— i;m
Den Lear spielt
* «
*
Der jüngste Ehrendoktor
Der Verleger des, Berliner Tageblatt' Rudolf
Mosse Ist von der Universität Heidelberg zum
Ehrendoktor c r-n a n n t worden. —
Du Stadt an Ehren reich !
Czernin und Goethe
Den Wiener Gemeinderäten hat der üraf Czernin zugerufen:
.... und ich möchte an das schöne Wort Goethes erinnern :
> Weibisches Zagen,
Ängstliches Klagen,
Wendet kein Elend,
Macht dich nicht frei.
Allen Gewalten
Zum Trutz sich erhalten,
Nimmer sich beugen,
Kräftig sich zeigen,
Rufet die Hilfe
Der Götter herbei,«
Die Version »Rufet die Arme der Götter herbei« ist
offenbar wegen der Mißdeutungsmöglichkeit »Armee der Götter«
(Herr der Heerscharen) geflissentlich vermieden worden. Ich hätte
erwartet, daß Czernin, wenn er schon Goethe zitiert, von den
»drei maßvollen, aber ehrenvollen Frieden«, die er bisher ge-
schlossen hat, eher das Folgende heimbringen würde:
Verflucht sei, wer nach falschem Rat,
Mit überfrechem Mut,
Das was der Corse-Franke tat,
Nun als ein Deutscher tut.
Fr fühle spät, er fühle früh,
Es sei ein dauernd Recht;
Ihm geh' es, trotz Gewalt und Müh',
Ihm und den Seinen schlecht!
— 135 —
Goethe hat mit Czernin eben gemeinsam, daß er sieh
nicht nur gegen die Defaitisten, sondern auch gegen die
Annexionisten wendet. Ich aber lasse mir von ihnen beiden
nicht zweimal sagen, daß man allen Gewalten zum Trutz sich
erhalten muß — was, wie ich hoffe, mir sogar besser als dem
Grafen Czernin gelingen wird.
Czernins Mut
Ich werde auf diesem von mir eingeschlagenen Wege rück-
sichtslos fortschreiten und den Kampf mit jedem aufnehmen, der
sich mir dabei in den Weg stellt.
Ganz recht hat er. Wenn ich die Zensur hätt', ließ' ich auch
den Czernin konfiszieren.
Jetzt erklärt sich Czernins Schweigen
Zu der Antwort des Herrn Präsidenten kann ich nur sagen,
daß ich es für ^ehr wertvoll halte, daß der deutsche Reichskanzler
in seiner ausgezeichneten Rede vom 25. Februar mir die
Antwort aus dem Munde genommen und erklärt hat,
die vier von Herrn Wilson in seiner Rede am 11. Februar entwickelten
Grundsätze seien »eine Basis, auf welcher der allgemeine Friede
erörtert werden kaniu.
Klärung
Den Vorwürfen, daß er sich nicht klar und deutlich aus-
spreche, hat der Graf Czernin durch die folgende scharfsinnige
Darlegung einmal die Spitze abgebrochen:
— 136 —
. . . Ein unfreundlicher Akt gegen die russische Regierung sei
in dem Friedensschlüsse mit der Ukraine nicht zu erblicken. Der
Vierbund habe mit der Ukraine keinen Bundes-, sondern einen Friedens-
vertrag unterzeichnet. Die Ukraine sei also für den Vierbund durch
diesen Vertrag nicht etwa ein Verbündeter, sondern ein neutraler
Staat geworden. Komme der Vierbund auch mit der russischen
Regierung zu einem Friedensschlüsse, so werde Rußland für den Vier-
bund g leich falls ein n e u t r a 1 e r Staat sein. Die Beziehungen des
Vierbundes zur Ukraine und seine Beziehungen zu Rußland würden
in diesem Falle dieselben sein. Ein Unterschied würde
nur dann bestehen, wenn der Vierbund zu keinem Frieden
mit dem Rat der Volkskommissäre gelange, denn in diesem Falle
hätte der Vierbund die ukrainischen Gebiete als neutral, die dem
Einfluß des Rates der Volkskommissäre unterstehenden Gebiete aber
bis auf weiteres als feindlich zu betrachten. . . .
Das hat doch wahrhaftig Hand und Fuß. Nur daß dieser,
der Fuß, um die Sache wieder ein wenig zu verwirren, gleich
darauf für den neutralen Staat wie für einen Verbündeten ein-
geschritten ist.
Der zweite Teil
. . . Irn Zusammenhange hiemit hat er (Graf Karolyi) meiner
Budapester R-ede einige wohlwollende Worte gewidmet, zu
meinem Erstaunen aber nur deren erstem Teil,
wahrend er den zweiten totgeschwiegen hat Dieser zweitt-
Teil ändert aber das ganze Charakteristikum
der Rede.
Wie richtig das ist, hat die Antwort der Welt, vor der
dieser zweite Teil leider nicht totgeschwiegen wurde und deren
Erstaunen einem Zwitter galt, bewiesen. DasganzeCharakteristikum
war geändert. Der erste Teil der Dichtung war Friede, der zweite
Teil war Faust. »Es ist nichts mit die zweiten Teil'«, sagt Nestroy.
Aber wenn schon nicht die Ansicht einer Welt von Feinden,
so hätte der folgende von Czernins Presse totgeschwiegene (hier
nach dem Protokoll zitierte) meisterliche Passus der Herrenhausrede
des Hofrats l.ammascli ihn belehren können, daß seine Wert
137 —
Schätzung des >zweiten Teils« unbegründet ist. Hofrat Lammasch,
der Richter von Haag, dessen Zeugenschaft für Haag alle Mörser
übertönen müßte, ist mit dem Grafen Czernin so sehr der
Meinung, daß jener zweite Teil das ganze Charakteristikum der
Rede ändere, daß er beinahe die Identität des Redners zu
bezweifeln wünscht. Hört hört:
Die Rede in Budapest muß ich, wie bereits gesagt, auf das
allerwärmste begrüßen. Nur hätte ich in einer Beziehung einen
kleinen Wunsch ihr gegenüber gehabt: daß die idealen allgemeinen
Ausführungen unseres Ministers für auswärtige Angelegenheiten eine
etwas konkretere Gestalt angenommen hätten und daß sie wenigstens
in großen Zügen eingegangen wären auf eine Reihe von durchaus
realisierbaren, durchaus praktikablen Vorschlägen, die in der letzten
Zeit nach der Richtung der Entwicklung der zwischenstaatlichen
Organisationen, für die Organisation der Schiedsgerichte und
insbesondere der internationalen Vermittlungsinstanzen, gemacht worden
sind. Allerdings muß ich auch auf den Umstand hinweisen, den Seine
Durchlaucht Fürst Auersperg gerade vorhin berührt hat, daß jene
Rede — ich muß in gewissem Sinne sagen: leider — eine Dinerrede
gewesen ist, wobei es ja nicht möglich gewesen ist, auf solche Details
mehr theoretischer, vielleicht mehr wissenschaftlicher Art einzugehen;
aber es ist ja ungemein zu bedauern, daß der Leiter unserer auswärtigen
Politik nur so selten Gelegenheit hat, öffentlich und amtlich sich über
die wichtigsten Fragen seines Ressorts zu äußern und sich dazu zu
einem Diner in Budapest flüchten muß.
In Bezug auf die Schiedsgerichtsbarkeit muß ich in Parenthese
etwas auf die Ausführungen Seiner Durchlaucht meines unmittelbaren
Herrn Vorredners eingehen. Ich kenne die Praxis der Börsenschieds-
gerichte nicht, aber ich bin überzeugt, daß die Praxis der
internationalen Schiedsgerichte jene Anforderungen, von denen
offenbar Seine Durchlaucht überzeugt ist, daß ihnen die Börsen-
schiedsgerichte nicht ganz entsprechen, befriedigen würde. Ich
kann aus mehrfacher Erfahrung sprechen. Ich habe viermal die
Ehre gehabt, bei internationalen Schiedsgerichten im Haag zu
fungieren, dreimal als deren Vorsitzender; ich habe mit
14 internationalen Schiedsrichtern dabei zu tun gehabt und i c li
muß sagen, mit Ausnahme eines einzigen — ich kann ihn
hier ruhig nennen, jetzt besonders, da wir im Kriegszustande mit
dem betreffenden Staate sind, es war de/ russische Justizminister
Murawiew — , daß mit Ausnahme dieses einzigen, alle diese
Schiedsrichter vollkommen auf der Höhe ihrer
Aufgabe standen, was ihre Kenntnisse betrifft und was vor
allem ihre Unbefangenheit betrifft. Ich kann mit größter
Entschiedenheit und Gewissenhaftigkeit aus-
138
sprechen, daß der Oberrichter von Kanada in allen denjenigen
Fällen, in denen England, beziehungsweise Kanada und Neufundland
im Unrechte gewesen ist, gegen England entschieden hat und daß
ebenso der Oberrichter des Staates Delaware in allen denjenigen
Fällen gegen Amerika entschieden hat, in denen Amerika im Unrechte
gewesen ist. Ich kann ebenso mit voller Gewißheil beteuern,
daß der belgische Ministerpräsident Beernaert, der von Venezuela als
Schiedsrichter bestellt worden war, gegen den Staat, von dem er als
Schiedsrichter bestellt worden war, gegen Venezuela, gestimmt hat
und daß der holländische Minister des Innern Savornin-Lohmann, der in
einem anderen Falle von Frankreich als Schiedsrichter bestimmt worden
wari gegen Frankreich gestimmt hat. Ich bin vollkommen
überzeugt, daß es bei nur einigermaßen vorsichtiger Auswahl
möglich sein wird, unbefangene Männer, insbesondere aus den mehr
neutralen Staaten, aus den skandinavischen Staaten und aus Holland
sowie aus Belgien — von dort vielleicht jetzt nicht mehr mit
derselben Sicherheit wie früher — und aus der Schweiz zu gewinnen,
welche nicht bloß mit Sachkenntnis, sondern auch mit Unbefangenheit
zu entscheiden in der Lage sind.
In Bezug auf die Rede des Ministers des Auswärtigen in
Budapest möchte ich noch eines erwähnen. Ich finde es vollkommen
begreiflich, daß ein Staatsmann, der im Inneren seines
Herzens für Annexionen ist — ich meine damit
durchaus nicht Seine Exzellenz den Grafen C z e r n i n,
ich spreche im allgemeinen — , wenn er auf solche im konkreten
Falle verzichtet, dabei den Vorbehalt macht, daß, wenn der Krieg
fortgesetzt und die Kriegslage in Zukunft eine noch günstigere
sein würde, er eine gewisse Revision der Friedensbedingungen, die er
in Aussicht genommen hat, vorschlagen und insbesondere auf eine
weitergehende strategische Sicherung der Grenzen hinwirken würde.
Das ist als Schreckschuß gewiß höchst angebracht. Aber ich kann
mir nicht gut vorstellen, daß ein Staatsmann,
der sich zur Überzeugung durchgerungen hat,
daß das Gewaltprinzip abgewirtschaftet hat, daß
an Stelle der Herrschaft der Gewalt die Herrschaft
des Rechtes aufgerichtet werden müsse, daß ein
Staatsmann, der zur Überzeugung gekommen ist,
es sei an der Zeit, eine zwischenstaatliche
Organisation aufzurichten und an Stelle der
ewigen Kriegsbereitschaft eine Bereitschaft zum
frieden zu errichten, daß dieser Staatsmann, wenn
er das ausspricht, dies als eine befristete
Erklärung abgibt.
Ich kann mir nicht gut vorstellen, daß er das
Oberhaupt als eine Konzession für die Feind«
139
auffaßt, was doch nur ein Ergebnis seiner Einsicht
in den Gang der Entwicklung der menschlichen Dinge
ist. Der Staatsmann, der sich bereit erklärt, in einen Friedensbund,
in eine zwischenstaatliche Organisation einzutreten, der tritt damit in
eine wechselseitige Versicherungsgesellschaft der Staaten ein, die allen
zum Vorteile gereicht, nicht bloß seinem Staate, sondern ebenso auch
allen übrigen; heute mir, morgen dir. Eine solche Erklärung
kann ich mir nicht gut als eine befristete, als
eine resolutiv bedingte vorstellen. Ich fasse daher
auch die Erklärung des Grafen Czernin in diesem Punkte nicht
als eine resolutiv bedingte auf. Wenn diese Erklärung aber bestimmt
und deutlich auch in diesem Punkte als eine definitive wäre abgegeben
worden, so würde es wieder den Gegnern schwerer geworden sein,
weiterhin noch von unserem Eroberungswillen zu sprechen und uns
Vorwürfe zu machen, daß wir doch immer nach der
Wiederkehr des Gewaltprinzips ringen. Dann würde
diese Erklärung allerdings bei jener Partei, die den
heiligen Namen des Vaterlandes für sich ganz
besonders usurpiert, wahrscheinlich noch ungünstiger
aufgenommen worden sein, als es ohnedies der Fall gewesen
ist. Aber daran ist nichts zu ändern. Wenn diese Erklärung
einmal im definitiven Sinne abgegeben würde, so würde sie noch viel
günstiger in den neutralen Staaten und insbesondere bei den Feinden
aufgenommen werden, vielleicht nicht bei den Regierungen der feind-
lichen Staaten, an die sie gerichtet ist, aber bei den Völkern der
feindlichen Staaten, die dann um so mehr veranlaßt gewesen wären
und um so mehr Anlaß und Mittel gehabt hätten, auf ihre Regierungen
im Sinne des Friedens zu drücken, und man hätte dann auch nicht
im Auslande sagen können : desinit in pisce m.
Klarer, klüger, menschlicher, geistiger kann nicht gesprochen
werden. Demnach wäre wohl das Erstaunen darüber, daß der
Qraf Czernin seinen zweiten Teil stolz reklamiert, berechtigter
als seine Verwunderung, daß der Graf Karolyi ihn totschweigt.
Nein, es ist nichts mit die zweiten Teil'!
Gegen Wilson, der gegen den Militarismus war
». . . Wir dürfen nicht mit Deutschland verbündet sein, wobei
er selbst zugibt, daß wir den Amerikanern bisher keinen Schaden
40
zugefügt haben. Deutschland soll keinen Kaiser haben, obgleich
dieser gerade jetzt das allgemeine Stimmrecht im
preußischen Landtag durchzufechten hat. . . .<
Umschwung
Berlin, 3. März (Wolff) — - Nicht verwunderlich ist es, daß
die französischen Rechthaber - - —
Ja, man beginnt eben doch endlieh auch dort zwischen
den Machthabers und den Rechthabern zu unterscheiden.
An einem Tag
•1 1 -
An einem Friedenstag
>Dank Gottes gnädigem Beistand
haben wir jnit der Ukraine Frieden
geschlossen. Unsere siegreichen
Waffen und unsere mit unver-
drossener Ausdauer verfolgte
aufrichtige Friedenspolitik haben
die erste Frucht des um unsere
Erhaltung geführten Verteidigungs-
kampfes gezeitigt. Im Verein mit
meinen schwer geprüften Vöikem
vertraue ich darauf, daß nach dem
ersten für uns so eifreulichen
Friedensschlußbald der allgemeine
Friede der leidenden Menschheit
gegönnt sein werde.
Unter dem Eindruck dieses
Friedens mit der Ukraine wendet
sich unser Blick voll Sympathie
jenem strebsamen jungen Volke
zu, in dessen Herzen zuerst unter
unseren Gegnern das Gefühl der
Nächstenliebe wirksam wurde und
welches nach in zahlreichen
Schlachten bewiesener Tapferkeit
auch dazu genügende Entschlossen-
heit besaß, um seiner besseren
Überzeugung vor aller Welt durch
dieTatAusdruck zu verleihen ....
Habe ich mich schon vom
ersten Augenblick an, als ich den
Thron meiner erlauchten Vor-
fahren bestieg, eins gefühlt mit
meinen Völkern in dem felsen-
festen Entschluß, den uns aufge-
drängten Kampf bis zur Erreichung
eines ehrenhaften Friedens aus-
/.ufechten, so fühle ich mich um
so mehr eins mit ihnen in dieser
Stunde, in welcher nunmehr der
erste Schritt zur Verwirklichung
dieses Zieles erfolgt ist. Mit
Bewunderung und liebevoller
Anerkennung für die fast über-
» . . .-Es hat unser Herrgott
entschieden mit unserem
deutschen Volke noch
etwas vor Wir
Deutschen, die wir noch
Ideale haben, sollen für die
Herbeiführung besserer Zeiten
wirken. Wir sollen kämplen für
Recht, Treue und Sit!
lichkeit. Unser Herr-
gott will den Frieden
haben, aber einen solchen,
in dem die Welt sich anstrengt,
das Recht und das Gute zu tun.
Wir sollen der Welt den
Frieden bringen, Wir
werden es tun auf jede Art.
Gestern i s t's im Güt-
lichen gelungen. Der
Feind, der von unseren
Heeren gesch lagen ist,
sieht ein, daß es nichts
mehr nützt, zu fechten, und
der uns die Hand entgegenhält,
der erhält auch unsere
Hand. Wir schlagen ein. Aber
der, der den Frieden nicht an-
nehmen will, sondern im Gegen-
teil, seines eigenen und unseres
Volkes Blut vergießend, den
Frieden nicht haben will, d e r
muß dazu gezwungen
werden . . . .
Mit den Nachbarvölkern wollen
wir in Freundschaft leben, aber
vorher muß der Sieg
der deutschen Waffen
anerkannt werden. Unsere
Truppen werden ihn weiter unter
unserem großen Hindenburg er-
fechten. Dann wird der Friede
kommen, ein Friede, wie er not-
wendig ist für eine starke
142
menschliche Ausdauer und
unvergleichliche Opferfreudigkeil
meiner heldenhaftenTruppen sowie
jener, die täglich daheim nicht
mindere Aufopferung bekunden,
blicke ich voll Zuversicht in eine
nahe, glücklichere Zukunft.
Der Allmächtige segne uns
weiter mit Kraft und Ausdauer, auf
daß wir nicht nur fürunsundunsere
tieuen Verbündeten, sondern auch
für die ganze Menschheit den end-
gültigen Frieden erreichen.«
Zukunft des Deutschen
Reiches, und der den Gang
der Weltgeschichte be-
einflussen wird. Dazu
müssen uns die- gewal-
tigen Mäch te des Hi mmels
beistehen, dazu muß ein
jeder von euch, vom Schul-
kind bis zum Greise hinauf,
immer nur dem einen Gedanken
leben : Sieg und ein deutscher
Friede. Das deutsche Vater-
land soll leben! Hurra!«
Der Unterschied ist der: Qott will den Frieden und
der deutsche Gott »will den Frieden, wenn auch nicht den
Frieden um jeden Preis«, das hei Bt, noch lieber als den Frieden
hat er den Sieg.
Ein sonderbarer Schwärmer
Der Prinz Max von Baden zu einem Vertreter des Wolff:
Trotzky proklamiert ein Weltenschicksal, das er herbeiführen
will. Gegen Ideen muß man auch mit Ideen kämpfen. Gewiß, wir
kämpfen für unser Dasein und unsere wirtschaftlichen Entwicklungs-
möglichkeiten. Aber der Gedanke der Selbsterhaltung, wenn er allein
steht, läßt große menschliche Krallquellen unerschlossen. Wir müssen
der Weltunordnung Trotzkys, die die Freiheit zerstört, eine
Weltordnung entgegensetzen, die die Freiheit
schützt. Deutschland soll es getrost bekennen,
daß es das Glück und das Recht anderer Völker
in seinen nationalen Willen aufnimmt Unser Name
darf nicht nur innerhalb unserer Grenzen einen guten
Klang haben. Alle großen Nationen müssen einen Weltzustand
anstreben, wo ihr Namen mit Furcht und Hoffnung überall dort
genannt wird, wo Unrecht geschieht. Hier darf Deutschland nicht
auf die moralische Weltgeltung verzichten. Das hieße einen
V e r z i c h t f r i e d e n anstreben.
— 143
Friedensbereitschaft
Der Glaube, daß Deutschland Krieg um des Krieges willen,
sozusagen mars pour mars führt, ist irrig, v. Kühlmann sagte
ausdrücklich:
...Auch li e » t e noch sind wir bereit, einen
Frieden zu schließen, der u n s e r n Interessen entspricht.
Schlechtes Benehmen
I
. . . Rußland verzichtet auf jede Einmischungen die innern
Verhältnisse dieser Gebiete. Deutschland und Österreich-Ungarn
beabsichtigen, das künftige Schicksal dieser Gebiete im Benehmen
mit deren Bevölkerung zu bestimmen.
Freiheitsdrang bei den Letten
Wolft — — Die besser gestellten Letten, insbe-
sondere die Gesindewirte, warten sehnsüchtig auf den Einzug
der Deutschen, nicht etwa zur vorübergehenden Sicherung
ihres Lebens und Besitzes, sondern zum Zweck vollständigen
Anschlusses Estlands und Livlands an Deutschland .... Sowohl in
Estland wie in Livland werden eifrig Unterschriften für den Anschluß
an Deutschland gesammelt. Viele estnische Bauern weigerten sich,
die ihnen zugeteilten Güter zu übernehmen, auf denen sie bisher die
Angestellten ihrer Gutsherren waren. Sie wurden dann von den
bolschewikischen Soldaten zur Übernahme der Güter ge-
zwungen.
Unbeschreibliches Aufatmen in Rußland
Wolff Der systematische, streifenweise erfolgende Vor-
marsch der Deutschen wird nach allgemeiner Ansicht
144
der Bevölkerung von Riga und ganz Kurland in den befreiten
Gebieten ein unbeschreibliches Aufatmen hervorrufen
und die endliche Erfüllung des langgehegten
dringenden Wunsches in letzter Stunde bringen.
Beispiele für schmachvolle Erniedrigung
>. . . Es ist bitter, sein ganzes Leben als Gouvernante dir
zweihundert Rubel in der Provinz herumzuwandern, aber ich weiß,
daß meine Schwester lieber als Neger zu einem
PIantagenbe%itzer oder als lettischer Bauer zu
einem Deutschen in den Ostseeprovinzen sich
verdingen würde, als sich durch die Verbindung mit einem Manne
zu besudeln, den sie nicht achtet — aus persönlichem Vorteil bloß I«
Dostojewski, Raskolnikoff.
Erwachen In Rußland
W o 1 f f — — Die Einwohner nahmen den Einzug der
Deutschen ruhig und gleichmütig, in ihr Schicksal ergeben,
auf. Die Ukrainer und die Großrussen sehen in den Deutschen die
Retter vor den zuchtlosen Räuber- und Mörderbanden. Aber sie
brechen nicht in lauten Jubel aus. — — Aber jetzt sind
die Deutschen da, die Deutschen — das heißt die
Wiederkehr von Zucht und Ordnung — — man sieht
wieder elegante Damen und russische Offiziere in g u t
sitzenden neuen Uniformen. Die russischen Soldaten fangen
wieder an, ihre Vorgesetzten zu grüßen, und alles
erwacht wie aus einem bösen wilden Traum
Das sind Brave!
W o 1 f f Unsere Gefangenen in Rußland benutzen die Unord-
nung im Lande und die immer schwächer werdende Besetzung
der feindlichen Stellungen, um zu unstrer Front zurück-
145 —
zugelangen. Schon sind viele Offiziere, Unteroffiziere und
Mannschaften zurückgekehrt. Die russische Propaganda macht
keinen Eindruck auf sie. Sie verlachen sie und erklären ausnahmslos,
für eine solche Wirtschaft, wie sie in Rußland herrscht, bedankten
sie sich. Dort lernten sie erst die Ordnung und die
Sicherheit in der Heimat richtig schätzen. Auch
die noch in Rußland zurückgehaltenen Kameraden
dächten ebenso und verlachten die feindlichen Versuche, sie von
der weltbeglückenden Idee der russischen Umstürzler zu überzeugen.
Hoffnung auf Japan
» ... Im Zusammenhange mit diesen Fragen sei auch der
Einfluß gestreift, den eine Besetzung der östlichsten Distrikte — also
zum Beispiel des Amurgebietes durch die Japaner — auf die Lage
unserer zahlreichen, dort befindlichen Kriegsgefangenen ausüben könnte.
Vorweg sei bemerkt, daß eine japanische Okkupation aller Voraussicht
nach keine Verschlechterung ihres Loses zur Folge haben
dürfte. Der japanischenOrganisationdürfte es bald
gelingen, geordnete Verhältnisse, also insbesondere hygienische Unter-
bringung, ausreichende Verpflegung und ordnungsmäßige Auszahlung
der Gagen und Arbeitslöhne, zu schaffen. Überdies ist der
Japaner bestrebt, als Kulturfaktor voll genommen
zu werden. Seiner Denkungsart widerspricht es,
Wehrlose zu mißhandeln oder zu demütigen.«
»Der Japaner«, weiland gelbes Raubgesindel, scheint
also langsam zum Kulturniveau der kriegführenden Staaten
Europas, in denen Gefangenen bekanntlich nie Ohrfeigen statt
eines Strohlagers gewährt werden, emporzureifen.
Ein sonderbarer Fall
Wolff — — In dem Augenblick der Unterzeichnung schon
eingeleitete Truppenbewegungen wurden ausdrücklich ausgenommen.
Die Truppenbewegungen, die noch nach dem 15. Dezember statt-
fanden, waren sämtlich bereits vor oder in dem Augenblick
der Unterzeichnung des Waffenstillstandsvertrages eingeleitet....
146
Halluzination
Im , Lokalanzeiger' heißt es: Daß die Mitteilung vom Wieder-
beginn der Friedensverhandlungen in Brest - Litowsk keine
besonders starke Bewegung hervorrief, will an sich
nicht viel besagen. Man weiß nachgerade, was man von Trotzky und
Genossen zu halten hat. Aber man muß natürlich mit den Leuten
verhandeln, solange sie das heutige Rußland vertreten ....
Der Menschheit ganzer Jammer faßt mich an, wenn ich
den Holzbock das Wort >Bolschewiki« aussprechen höre. Du
ahnst es nicht, was da mit der obern Hälfte der Berliner Schnauze
vorgeht. Ich aber leide so sehr unter der Gabe, mir das alles
vergegenwärtigen zu können!
Die Namen
Der >Hauptschriftleiter« der Kölnischen Zeitung heißt
bekanntlich Ernst Posse, der der Münchner Neuesten Nach-
richten aber Ernst Posselt. Wem das nicht zu denken gibt!
Wie viel wiegt die Lüders?
Aus einem Originalbericht des Neuen Wiener Journals:
». . . Mitten unter ihnen und alle überragend der Gast, den
das Frauenstimmrechtskomitee nach Wien geladen, Frau Doktor Maria
Elisabeth Lüders. »Hundertachtundsiebzig Zentimeter
lang, hundeitzwölf Pfund schwer«, gibt sie selbst lachend
ihre »Personalien< an, und eigentlich enthalten schon
diese Worte jene Genauigkeit und Gewissenhaftigkeit,
durch die es dieser Frau möglich war, ein pracht-
voll ausgearbeitetes Netz gründlich systemisierter
Frauenarbeit über ganz Deutschland auszubreiten.
— 147 —
Man frage einmal eine Reihe von Damen nach
ihrer Körpergröße und ihrem Ge w i c h t, die wenigsten
werden imstande sein, darüber sofort genaue
Auskunft geben zu können. Aber diese preußische
Beamtentochter aus Schleswig-Holstein betrachtet
es als ihre Pflicht, sich und andere genau zu
kennen, um Klarheit für ihre Handlungsweise
zu haben.
Auch sie hat sich dazu erst durchringen
müssen. Stürmerund Dränger wissen selten gleich,
was sie wollen, nur daß sie etwas wollen, empfinden sie mit
machtvoller Stärke . . . .«
Michaelis
» ■ — — Daß die Aufklärung für die Soldaten unbedingt
erforderlich ist, daß eine geistige und sittliche Fürsorge
für die Soldaten im Felde ein dringendes Bedürfnis ist, das unter-
schreiben alle, welche die Verhältnisse draußen kennen — — Es
sind Kinos eingerichtet, Feldpredigten — — Diese ganze
Organisation ist hinausgetragen bis nach Mazedonien; durch
Soldatenheime ist sie gefördert worden, in denen die Feldgrauen
draußen einen gewissen Ersatz erhalten sollen für die Heimat «
Heimatin oder Heimatol?
Vor dem Einschlafen der Welt
> — — Durch die Einkreisungspolitik König Eduards ward
der Traum der Koalitionen zur Wirklichkeit. Dem englischen Imperialismus
stand das aufstrebende, erstarkende Deutsche Reich im Wege. In der
französischen Revanchesucht und im russischen Expansivstreben fand
dieser britische Imperialismus — — «
Nicht von Bethinann, auch nicht von Michaelis, sondern
von Hertling und seinen Nachfolgern. Es war einmal ein Märchen,
das währte schon tausendundeine Nacht. Aber nun ist's schon
weiter, und so geht es weiter, immer weiter bis zum jüngsten
Tag, und die Friedensbedingung wird sein, es ihnen ins Gesicht
148
sagen zu dürfen. Da war also der englische Imperialisn'ius
und die französische Revanchesucht und das russische Expansiv-
streben, und da gingen sie denn hin und nahmen Bomben
und warfen sie auf Nürnberg. Und so ist es gekommen. Und
dann trat noch die italienische Treulosigkeit hinzu. Und nun
will Amerika aus Reklamesucht nicht zurückbleiben.
Pariser Sensationspresse
>Le Journal«, »Echo de Paris« und »L'heure« behandeln die
Mitteilungen Clemenceaus (über den Brief des Kaisers) in sensatio-
nellster Form Alle französischen Zeitungsstimmen zeigen
das Bestreben, aus der Angelegenheit möglichst großes
Kapital zu schlagen.
Veränderung in Frankreich
Er Clemenceau) bildet sich vielleicht ein, Österreich zu kennen,
weil er in Zeiten, da Frankreich durch eine ruhige und besonnene
Politik ein blühendes, glückliches Land gewesen ist, zu den ständigen
Besuchern von Karlsbad gehörte.
Herentgegen sich in Österreich nichts verändert hat.
Ausschnitt aus der Wiener Allgemeinen Zeitung
— — Für unsere öffentliche Meinung ist die Angelegenheit
mit der hochsinnigen Kundgebung Kaiser Karls erledigt. Für die
Frankreichs freilich eröffnet sich jetzt das Feld einer höchst notwendigen
und dabei sehr verantwortungsvollen Tätigkeit. Sie wird sich die
Frage vorlegen müssen, ob dieser Mann, der mit einer Lüge Reiche
zu retten und Schlachten zu gewinnen sucht, geeignet ist, weiter die
Geschicke der ihm anvertrauten Millionen zu lenken.
KAPELLE WILLY KLEINBERG
149 —
Neue Musikalien
San's net grantig.
Kinder halt's mi z'ruckl
Gebt's ma ä Gewähr äher !
Dort, wo der Herrgott die Hand außastreckt.
Nur dich mein Wien, möcht ich wiederseh'n.
Da möcht selbst der Herrgott ein Wiener sein.
Küssen kann nur eine Wienerin.
Das ist Dulli!
Auf dem Friedhof La B a s s £ e.
Mizzerl, Mizzerl, sei doch netter. M. 150
Werde mein. M. 2 —
Schön war der Tanz, aber spiel'n tan s' 'n net.
Sauber lauft's.
Ein Tampus vom Schampus.
Zwa Jücker, die ka Peitschen brauchen.
San ma fesch.
Das sind die Frauen und Mädchen von Wien.
Ich denk an dich, du schöner Kärntnerring.
Mein Mann ist bis sechs Uhr im Bankverein.
Denk an dein Wien.
Dann trinkt ma' s letzte Tröpferl aus!
Und wenn i Wasser saufen muß. M. 150
Nobel geht die Welt zugrund. M. 1*50
Fürs Vaterland
Ausschnitt aus einem Zeitungsartikel. Der Anfang mit
dem Namen des Autors fehlt. Raten!
...Wer dem Vaterland am meisten bringt,
den läßt es willig vor; wer sich bloß besser
geboren dünkt, den weist es zurück. Alle gelten
ihm gleich, die gleich bereit fürs Vaterland sind.
Aber von jedem heischt es, daß ihm das gemeinsame Vaterland
mehr als die Nation sei: das Gefühl, der heiligen österrei-
chischenErde zu gehören, nicht das Blut macht den Österreicher.
Ein geistiges Erleben unserer alten Erde hat uns
dieser Krieg gebracht und jetzt haben wir keine Ruhe
mehr, bis wir auch den Ausdruck, die politische Form dieser unserer
tiefen Erdgemeinsamkeit gefunden haben werden! Das Land, unser
150 —
altes Land ist's, von dem wir nicht lassen können, für das wir zu
jedem Opfer bereit sind ; wissen selber nicht
warum, wissen nur, daß es uns teurer als selbst das
eigene Leben, daß es uns über alles lieb ist! Und war's
uns so teuer und lieb, daß wir selbst das eigene Leben
dafür nicht achten wollten, so werden wir ihm wohl auch
den eitlen Plunder von nationaler Selbstsucht, Übeihebung und
Machtgier noch opfern können . . .
Wissen selber nicht warum, wissen nur, daß das vom
Hermann Bahr sein muß! Deutlich höre ich die Austria, die sich
der ungestümen Annäherung eines alten Drahrers nicht erwehren
kann — andere Herren wollen doch auch berücksichtigt sein,
wer dem Vaterland am meisten bringt, den läßt es willig vor — ,
deutlich höre ich sie sagen: Gehn S' weg, Sie Braver!
Der Chor in der modernen Tragödie
Aus den vielen Urteilen, durch die die Herren König und
Koretz die Bestrebungen böhmischer Köchinnen und Abwasch-
frauen auf Losreißung eines Teiles von dem einheitlichen Staats-
verbande stigmatisiert haben, tobt mir dieser Gesang im Ohr:
Die Olga Hans ist sechsundvierzig Jahre alt; sie war gleichfalls
in der Küche tätig. Sie soll >Ende Oktober, Anfang November 1914«
folgende zwei Aussprüche gemacht haben: »Sie sollen nicht
dumm sein und die Gewehre und alles wegwerfen,
die Gewehre zerbrechen und sagen, sie haben
Rheumatismus; sie werden doch gescheit sein
und auf die Brüder nicht schießen«; » Drei Teile
sind Sokoln und ein Teil die anderen, sie sollen zwischen die
Brüder schießen«. — — zu dreizehn Jahren schweren
Kerkers, mit allen erwähnten Verschärfungen, verurteilt.
Anna Hunacek, gleichfalls ganz unbescholten, soll »Ende
Oktober, Anfang November 1914« folgende Äußerungen gemacht
haben: »Sie sollen nicht dumm sein und die Gewehre
und alles wegwerfen, die Gewehre zerbrechen
und sagen, sie haben Rheumatismus, sie werden
doch gescheit sein und auf die Brüder nicht
schießen«; »In Böhmen kein König, kein Kaiser, Republik«.
zehn Jahre schweren K e r k e r s, mit allen Verschärfungen.
Es ist ein altes dramaturgisches Problem, ob der ganze
Chor die Verse zu sprechen hat oder nur die Chorführerin oder
gar nur der Koretz.
— 151
Was es gibt
Über eine entsetzliche Lehrlingsmißhandlung hatte gestern
das Bezirksgericht Döbling zu urteilen. Der Schmiedemeister Anton
Ecker war da der Angeklagte. Im Dezember vorigen Jahres fiel der
schwächliche und geistig zurückgebliebene Lehrling Johann M. bei der
Arbeit vorErschöpfung zusammen. „Du bist ein Faulenzer
und simulierst!" schrie ihn darauf der Meister an und versetzte ihm
solche Faustschläge, daß dem Jungen das Blut aus Nase
und Mund quoll. In der Verhandlung gab der Lehrling an, daß
acht Tage vor den letzten Weihnachten, als er einige Eisenstücke nicht
gleich finden konnte, ihn der Meister mit einem glühenden
Eisenstück, das er gerade in der Hand hatte, in den Bauch
stieß. — Bezirksrichter Dr. Dörr : Das kann doch nicht
wahr sein, das wäre ja entsetzlichl — Statt aller
Antwort entblößte der Junge seinen Bauchund
zeigte dem Richter eine handgroße schlecht
verheilteBrandwunde auf der linken Bauchhälfte.
— Richter (zum Angeklagten): Was sagen Sie zu dieser Roheit? —
Angekl: Na, wenn man an' Zorn hat, tut man gar viel. Ich bin ihm
halt unvorsichtigerweise angekommen. — Der Richter ließ einen
Amtsarzt rufen. Dieser untersuchte den Lehrling und gab an, daß
die Wunde äußerst schmerzhaft gewesen sein und
mindestens eine achttägige Heilungsdauer in Anspruch genommen haben
muß Der Richter verurteilte den Lehrlingsschinder zueinerWoche
Arrest und außerdem zur Zahlung von hundert Kronen Schmerzens-
geld an den Lehrling.
Daß eine Zivilisation, die mit glühenden Eisenstücken
nicht nur die Erwachsenen über 17 bedroht, sondern sie schon
Kindern in den Bauch treibt, einer Justiz begegnet, die dafür
eine Woche Arrest zu vergeben hat, ist wohl in Ordnung. Der
achttägigen Heilungsdauer entspricht eine Woche Arrest. Der
Richter, der es sah und entsetzlich fand, gab dafür eine Woche
Arrest. In demselben Staat könnte ich dafür, daß ich den Herrn Hans
Müller durch die Meinung, sein Empfangdurch den deutschen Kaiser
sei unglaublich — >Das kann doch nicht wahr sein, das wäre ja
entsetzlich!« sagte ich, aber kein Richter würde es wiederholen — ,
»der Lüge beschuldigt«, also gekränkt habe, von Gesetzwegen
sechs Monate bis zu einem Jahr bekommen. Wir sterben an den
Kontrasten. Aber daß sich die Tollheit noch in Normen und
Formen auslebt, das macht uns tragisch. Ich werde da wirklich
nicht mehr lange mitmachen können.
152 —
Unsere Pallas Athene !
Gestern früh gab ein Soldat von einem Straßenbahnwagen aus
bei der Haltestelle vor dem Parlamentsgebäude gegen die vor diesem
stehende Statue der Pallas Athene zwei scharfe Schüsse aus einem
Gewehr ab. Der Mann wurde von einem Offizier und zwei Soldaten
entwaffnet und das Gewehr entladen. Der Soldat, der offenbar geistes-
gestört ist —
Wieso? Die kann einen schon aufregen. Ich war nicht im
Krieg und trage kein Gewehr bei mir. Aber so oft ich die sehe,
in ihrer vollkommenen Nichtbeziehung zu den Dingen, die in
dem Haus di in und außerhalb vorgehen, höchstens daß einem
der Abgeordnete Groß einfällt oder daß einem jetzt um das
viele Stearin leid ist — wie sie dasteht, ein Denkmal des Wiener
Schönheitssinnes, so eine noch immer fesche Hausmeisterin
des hohen Hauses oder Verkörperung des Ideals halt von etwas
Idealem oder Antikem oder in der Art, die meisten Passanten
glauben jetzt, daß es die Austria ist oder die Germania, aber
die Gebildeten wissen, daß es eine Palastathene ist, eigentlich
gehört sie vors Burgtheater, weil sie akkurat aso aussieht, wie
ich mir das christlichgermanische Schönheitsideal des Herrn
Dr. von Millenkovich in antiker Gewandung vurstelle — so oft
ich die sehe: was ist, frage ich da, aus all den Arbeitskräften
geworden, die das in den Neunzigerjahren hinpappen mußten,
ja die Katzeimacher die haben mit ihnerem Colleoni
einpacken können aus Furcht vor uns, aber unserer Pallas Athene,
der kann nichts g'schehn, in dem Punkt sind wir sicher, sie
steht einmal da, keine feindliche Bombe, keine Kugel wird die
treffen, und wenn jetzt einer von den Unsrigen sich so weit hat
hinreißen lassen, so handelt es sich um die Tat eines offenbar
Geistesgestörten, man darf nicht generalisieren, solche Leute soll
man nicht auf die heimischen Kunstschätze loslassen, sondern
soll sie einrückend machen, die Pallas Athene die muß uns
erhalten bleiben im Weltkrieg, war' nicht schlecht — und so oft
ich die sehe und alles andere rings herum sehe und höre, da
spür' ich ordentlich, daß ich kein Gewehr bei mir trage !
— 153 —
Kriegsmüde
— das ist das dümmste von allen Worten, die die Zeit hat.
Kriegsmüde sein das heißt müde sein des Mordes, müde des
Raubes, müde der Lüge, müde der Dummheit, müde des Hungers,
müde der Krankheit, müde des Schmutzes, müde des Chaos. War man
je zu all dem frisch und munter? So wäre Kriegsmüdigkeit wahrlich
ein Zustand, der keine Rettung verdient. Kriegsmüde hat man immer
zu sein, das heißt, nicht nachdem, sondern ehe man den Krieg
begonnen hat. Aus Kriegsmüdigkeit werde der Krieg nicht
beendet, sondern unterlassen. Staaten, die im vierten Jahr der
Kriegführung kriegsmüde sind, haben nichts besseres verdient
als — durchhalten!
Nachzutragen
wäre viel. Was hier aufbewahrt wurde, macht beiweitem nicht
die Hälfte jenes Materials aus, das mir als die dokumentarische
Verlassenschaft dieses Spuks von Blut und Dreck zugefallen ist.
Nie mehr ach wird die nachdrängende Gewalt der Begeben-
heiten erlauben, die erlösende Leidenschaft des Zitats und der
Photographie an jenen Beginn der großen Zeit zu wenden,
deren geistigen Insult überlebt zu haben im Gedenken an ihre
Märtyrer ein ewiger Vorwurf bleiben wird. Fände ich nur auf
den ersten Griff die autotypierte Feldpostkarte, die in den
Tagen, da eben für Henker und Schieber das goldene Zeitalter
anbrach, der Sieger von Lemberg an den bedeutendsten Kaffee-
sieder der Epoche gerichtet hat, den unvergeßlichen Gruß jenes
Auffenberg an jenen Riedl, beginnend mit den Worten
>In dieser Stunde . . .« ! Würde man mir's denn ohne Unter-
stützung durch den Photographen glauben? Da ja sowieso
alles, was sich begibt, von mir erfunden ist, habe ich einen
schweren Stand und hätte ich Müllers Berufung zu Wilhelm II.
nicht klischieren lassen, hieße ich ein Verleumder, der der Nach-
welt einreden möchte, alles, was er erfand, habe sich
zugetragen, während ich doch in Wahrheit nur alles, was sich zuge-
tragen, erfand. Eine Probe : man glaubt mir doch sicher nicht,
daß die B. Z. am Mittag — möge, seitdem die erscheint,
die Sonne ein schlechtes Gewissen haben! — , daß also dieser
154 —
von Wiener Juden Schulter an Schulter mit Ullstein vollführte
Anschlag gegen die Ehre der Menschheit die Versenkung der
»Lusitania« mit dem Ausruf begleitet hat: Angesagt gilt
doppelt!
Weimarisches Deutschland
Der Prinz als Operationszuschauer. Aus
Weimar wird berichtet: Im Laufe des Disziplinarverfahrens gegen
den Leiter der Weimarer Frauenklinik, Prof. Henkel, der, wie
gemeldet, mit Urteil des Gerichtes seines Amtes enthoben wurde,
kam bekanntlich auch zutage, daß Prof. Henkel eine Operation an
einer Frau vorzeitig nur deshalb vorgenommen hat, um einem
Prinzen zu Lippe Gelegenheit zu geben, der
Operation als Zuschauer beizuwohnen. Diese Affäre
kam am Montag vor Schluß des Beweisverfahrens noch einmal zur
Sprache. Wie sich dieser Fall zutrug, schilderte ein Assistenzarzt in
folgender Weise: >Prof. Henkel fragte Prof. Busse: ,lst nichts
mehr zum Operieren da?' Prof. Busse verneinte, und darauf
sagte Prof. Henkel: ,Wir müssen aber noch etwas
operieren.' Prof. Busse sagte, es sei nichts da; ich hatte
das Empfinden, als ob er nicht wolle. Da sagte Prof.
Henkel: ,Sie haben doch noch einen Fall, bringen
Sie den mal herein.' Prof. Busse sagte, die Patientin habe
gerade gefrühstückt, aber Prof. Henkel meinte: .Das
macht nichts.' Der Fall wurde dann vorbereitet und der
Patientin der Magen ausgepumpt. Die Frau war
sehr erregt darüber, daß sie plötzlich operiert
werden sollte, und es gab eine sehr unangenehme
Szene. Sie wurde sehr schnell operiert und alles
schien sehr schön zu gehen. Plötzlich zupfte mich
eine Schwester am Rock und ich sah, wie die
Frau in den letzten Zügen lag Ich gab ihr noch ein
paar Kampferinjektionen, aber es half nichts, s i e s t a r b. Ich ging
hinein und sagte es Prof. Henkel, der stumm nickte Ich weiß
das noch ganz genau, denn dies war ein Ereignis für
mich, wie man es nicht jeden Tag hat. Der Prinz
zu Lippe sagte zu Professor Henkel: ,D a haben Sie
ganz ausgezeichnet operiert, ich werde das sofort
meiner Schwester mitteilen." Ich hatte das instinktive
Gefühl, daß, wenn der Prinz den tragischen Aus-
gang gewußt hätte, er anders gesprochen haben
würde. Ich sprach über den Vorgang mit einem anderen Assistenz-
arzt, der mir etwas erwiderte, was mich völlig niederschlug. Er sagte
nämlich: ,Henkel ist doch der größte Verbrecher.'
155
Ein Kantianer un
». . . Es hat das Jahr 1917 mit
seinen großen Schlachten gezeigt,
daß das deutsche Volk einen
unbedingt sicheren Ver-
bündeten in dem Herrn
der Heerscharen dort oben
hat. Auf den kann es
sich bombenfest verlassen,
ohne ihn wäre es nicht gegangen . . .
Schon gestern habe ich in der Um-
gebung von Verdun eure Kameraden
gesprochen und gesehen, unddawar
es wie eine Witterung von
Morgenluft, die durch die Ge-
müter ging. . . . Was noch vor uns
steht, wissen wir nicht. Wie aber in
diesen letzten vier Jahren Gottes
Hand sichtbar regiert hat, Ver-
rat bestraft und tapferes Ausharren
belohnt, das habt ihr alle gesehen,
und daraus können wir die feste
Zuversicht schöpfen, daß auch
fernerhin der Herr der
Heerscharen mituns ist.
Will der Feind den Frieden nicht,
dann müssen wir der Welt den
Frieden bringen dadurch, dsß wir
mit eiserner Faust und m i t
blitze ndemSch werte die
Pforten einschlagen bei
denen, die den Frieden nicht
wollen.«
»Der völlige Sieg im Osten er-
füllt mich mit tiefer Dankbarkeit.
Er läßt uns wieder einen der
großen Momente erleben, in denen
wir ehrfürchtig Gottes Walten
in der Geschichte bewundern
können. Welch eine Wen-
dung durch GottesFügung!
Die Heldentaten unserer Truppen,
die Erfolge unserer großen Feld-
herren, die bewunderungswürdigen
Leistungen der Heimat wurzeln
letzten Endes in den
sittlichen Kräften, im
d Kant
»Nach einem been-
digten Kriege, beim
Friedensschlüsse, möchte
es wohl für ein Volk
nicht unschicklich sein,
daß nach dem Dankfeste
ein Bußtag ausge-
schrieben würde, den
Himmel im Namen des
Staats um Gnade für
die große Versündi-
gung anzurufen, die
das menschliche Ge-
schlecht sich noch
immer zu schulden
kommen läßt, sich
keiner gesetzlichen
Verfassung im Ver-
hältnis auf andere
Völker fügen zu wollen,
sondern stolz auf seine
Unabhängigkeit lieber
das barbarische ^littel
des Krieges (wodurch doch
das, was gesucht 'wird,
nämlich das Recht
eines jeden Staats,
nicht ausgemacht wird)
zu gebrauchen. — Die
Dankfeste während
dem Kriege über einen
erföchte nen Sieg, die
Hymnen, die (auf gut
israelitisch) dem Herrn
der Heerschaaren gesungen
werden, stehen mit der
moralischen Idee des
156
kategorischen Imperativ, Vaters der Menschen
die unserm Volk in harter Schule j n n i ch t m i n d e r starkem
anerzogen sind . . . .« ,, ... „
»...Um so dankbarer wird ge- Kontrast; weil Sie außer
rade in Ostpreußen das 0 o 1 1 e s- der Gleichgültigkeit
ge rieht im Osten empfunden wegen der Art, wie Völker
werden. UnserenSieg v e r- jhr gegenseitiges Recht
danken wir nicht zum , /,.
mindesten den s i 1 1- suchen (die traurig
liehen und geistigen genug ist), noch eine
Gütern, die der große Freude h i n e i n b r i n g e n,
Weise von Königsberg recht viel Menschen
oder ihr Glück zer-
unserem Volke geschenkt
hat.... Gott helfe weiter
bis zum endgültigen Siege .« nichtet zu haben.«
Um Mißverständnissen vorzubeugen
erkläre ich, daß ich »Habt acht!«, »Marsch marsch!«, »Immer
feste druff!« und »Durchhalten!« nicht als Beispiele für meinen
kategorischen Imperativ vorgesehen habe. Kant m. p.
Die Kriegsschreiber nach dem Krieg
Jerome K. Jerome in den , Daily News':
. . . Dieser Vorwurf gilt jedoch nicht nur den Zentralmächten.
Ich sehe keinen Grund, an der Aufrichtigkeit eines Bekehrten zu
zweifeln, der von seiner Verrücktheit bekehrt wurde, weil er während
vier Jahren deren verheerende Resultate gesehen hat. Es gibt
sogar welche unter ihnen, die von Anfang an ihr
Knie nie vor Baal gebeugt haben.
Ich möchte die denkenden Männer und Frauen der alliierten
Länder bewegen, sich mit ihnen zu verbinden; sie sollen helfen, in
der ganzen Welt eine Lebensauffassung zu bilden, die den Krieg
unmöglich macht. Ich glaube, daß wir nach diesem schrecklichen
Blutopfer nicht mehr durch eine Flut von dummen
Gedichten und Geschichten, die den Krieg ver-
herrlichen, zu leiden haben werden: daß unsere
Knaben und Mädchen nicht mehr wie früher mit Büchern und
Gedichten aufgezogen werden, die dazu dienen, die natürliche Anlage
des Menschen zum Töten noch zu erhöhen. Ich glaube nicht,
meinem eigenen Berufe eine erhabene Wichtigkeit beizumessen,
wenn ich die Überzeugung ausspreche, daß seit dem
— 157
Entstehen der Presse die Lust der Welt zur
Kriegführung durch die Schriftsteller noch
sehr erhöht wurde. Wenn das so fortgehen würde, könnten
wir jeden Traum für einen dauernden Frieden aufgeben. Wenn sich
die Schriftsteller aller Länder, durch Maler und Musiker unterstützt,
nach dem Kriege nicht Selbstverleugnung auferlegen, wird die
nächste Generation sicher mit einem Hunger nach Krieg aufwachsen.
(Davor bleibe sie durch einen andern Hunger, mit dem
sie aufwachsen wird, bewahrt.)
Man kann die Teufelsmusik nicht immer spielen, ohne zu bewirken,
daß die jungen Leute auch nach ihrer Melodie tanzen ....Eine
schwere Verantwortung wird auf diejenigen
fallen, die aus Gewinnsucht fortfahren, mit ihren
tierischen Instinkten zu spielen.
Von einer Fortsetzung des Gewerbes kann keine Rede sein.
Eine allseitige Friedensbedingung wird den
Tag festsetzen müssen, an welchem gleichzeitig
in sämtlichen Staaten auf offenem Markt vor
den auf Tribünen sitzenden Invaliden die
Kriegslyriker und alle, die mit dem Wort zur
Tat geholfen haben, dadurch von ihr befreit
waren und ihre schmähliche Rettung nicht
allein mit dem Ruin anderer erkauft, sondern
noch mit Gewinn belohnt sahen, zusammen-
getrieben und ausgepeitscht werden. Ich werde,
wenn Wilson das nicht verlangt und erreicht,
nach Friedensschluß nicht ruhen, für unser
eigenesSchuldgebiet diese Prozedur zu befür-
worten und dahin zu wirken, daß eine Pro-
skriptionsliste angelegt werde, damit, wenn
schon die Rücksicht auf unhaltbare Staats-
gesetze, welche die leibliche Sicherheit und
Ehre von Me n seh h ei t sver br ech er n schützen,
die. Initiative lähmen sollte, das immer erneute
Gedächtnis dessen, was jene nicht erleben
mußten, die es propagiert haben, ihr Gewissen
bis zur Selbstvernichtung foltere. Ich denke
dabei nicht nur an solche, die sich freiwillig an der Glorifi-
zierung von Minenvolltreffern betätigt haben, sondern vor allem
an jene, die sich hinterher auf einen angeblichen Zwang berufen
158
und eben das, was sie am schwersten belastet, als Entschuldigung
geltend machen, kurzum an jene, die den Weltsturm unter eigenen
Obdächern mitmachen durften, wo sie allerdings zum Dank hiefür
seine Schönheit zu rekommandieren genötigt waren. Da aber
hier der Zwang nur eine Konsequenz der Wahl ist, indem man
wohl von staatswegen gezwungen werden kann, zu sterben, aber
nicht zu schreiben, und nur dann auch zum Schreiben gezwungen
werden kann, wenn man dieses dem Sterben vorgezogen und
also Protektion die Alternative ermöglicht hat; da es sich ferner
in solchen Fällen beileibe nicht um diese Alternative, sondern
höchstens um die Vermeidung von Spitalauskehren, Brotschupfen,
Kanzleidienst und sonstige gefahrlose Notwendigkeiten handelt und
selbst diesen noch die lyrische oder feuilletonistische Verklärung
von Gasangriffen vorgezogen wurde; da sie mir gegenüber die
Beteuerung parat haben, sie hätten »nicht töten wollen«, wo sie
durch ihre Literatur doch weit mehr Tod verbreitet haben als sie je
durch ihre Taten vermocht hätten, geschweige denn durch ihren
Etappendienst — so werde ich gerade in diesen Fällen auf die uner-
bittlichen Repressalien des wieder erwachenden Schamgefühles
dringen. Umso entschiedener dort, wo vor den Instanzen der Presse
und derQlorie die vorgeschriebene Gesinnung und die völlig unver-
bindliche Uniform, beide mit mehr Anspruch auf Ehre als Gefahr,
stolz getragen und gleichzeitig mir gegenüber, vor der weit unerbitt-
licheren Front meines Gewissens, die Entschuldigung des Zwanges
versucht wurde. Die Nichterwiderung des Grußes, welchen Rang
sie dann immer treffen mag, wird mir bei weitem nicht Genüge
tun. Ich werde dahin wirken, daß jene, die dadurch oder davon
gelebt haben, daß andere gestorben sind; die mit ihrer Feder
andern zu Unternehmungen Mut machten, vor denen sie sich
mit Recht gescheut haben; die durch Begeisterung für Angelegen-
heiten, von denen sie mit Recht entfernt sein wollten, an viel-
facher Blutschuld teilhatten und im sicheren Rückhalt lyrischer
Auditoriate dieses Weltgericht überleben durften — kenntlich
gemacht werden, damit nicht mehr »die Lust der Welt zur
Kriegführung durch die Schriftsteller erhöht« werde, sondern die
Unlust der Welt an den Schriftstellern aufwachse zur Räch« für
unsere erschlagenen Freunde!
159
Zum ewigen Frieden
> Bei dem traurigen Anblick
nicht sowohl der Übel, die
das menschliche Geschlecht
aus Naturursachen drücken,
als vielmehr derjenigen,
welche die Menschen sich
untereinander selbst anthun,
• erheitert sich doch das
Gemüth durch die Aussicht,
es könne künftig besser
werden; und zwar mit un-
eigennützigem Wohlwollen,
wenn wir längst im Grabe
sein und die Früchte, die wir
zum Teil selbst gesät haben,
nicht einernten werden.«
Nie las ein Blick, von Thränen übermannt,
ein Wort wie dieses von Immanuel Kant.
Bei Gott, kein Trost des Himmels übertrifft
die heilige Hoffnung dieser Grabesschrift.
Dies Grab ist ein erhabener Verzicht:
»Mir wird es finster, und es werde Licht!«
Für alles Werden, das am Menschsein krankt,
stirbt der Unsterbliche. Er glaubt und dankt.
Ihm hellt den Abschied von dem dunklen Tag,
daß dir noch einst die Sonne scheinen mag.
Durchs Höllentor des Heute und Hienieden
vertrauend träumt er hin zum ewigen Frieden.
Er sagt es, und die Welt ist wieder wahr,
und Gottes Herz erschließt sich mit »und zwar«.
— 160
Urkundlich wird es; nimmt der Glaube Teil,
so widerfährt euch das verheißne Heil.
O rettet aus dem Unheil euch zum Geist,
der euch aus euch die guten Wege weist!
Welch eine Menschheit! Welch ein hehrer Hirt!
Weh dem, den der Entsager nicht beirrt!
Weh, wenn im deutschen Wahn die Welt verschlief
das letzte deutsche Wunder, das sie rief!
Bis an die Sterne reichte einst ein Zwerg.
Sein irdisch Reich war nur ein Königsberg.
Doch über jedes Königs Burg und Wahn
schritt eines Weltalls treuer Untertan.
Sein Wort gebietet über Schwert und Macht
und seine Bürgschaft löst aus Schuld und Nacht.
Und seines Herzens heiliger Morgenröte
Blutschande weicht : daß Mensch den Menschen töte.
Im Weltbrand bleibt das Wort ihr eingebrannt:
Zum ewigen Frieden von Immanuel Kant!
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Shakespeare und Jugend / Krieg / Ich und das Ichbin
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Grüner / Notizen / Der Bauer, der Hund und der Soldat
Vorlesungen in Berlin / Glossen / Das verjüngte Osterreich
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XHALT des vorigen, zehnfachen Heftes 474/483, 23. Mai 1918
)er begabte Czernin / Glossen / Das techncom antisch«
Abenteuer / Für Lammasch / Inschriften / Der darbende
Bürger / Glossen / Notizen / Bange Stunde- / Halbschlaf /
)as zweite Sonett / An eine Falte / Suchen und Finden /
)ie Flamme der Epimeleia / Programme / Glossen / Ein Staats
treich / Inschriften / Am Sarg Alexander Girardis / Der Welt
Spiegel Glossen / Zum ewigen Frieden.
Nr. 499 und Nr. 500 werden in rascher Folge erscheinen.
DIE FACKEL
Nr. 484—498 15. OKTOBER 1918 XX. JAHR
Ausgebaut und vertieft
September 1918
Der geistige Tiefstand, der diese Katastrophe
ermöglicht hat und dessen Vertiefung durch eben
diese Katastrophe ausgebaut wurde, enthüllt sich
am greifbarsten in der völligen Ausgesetztheit, in
der sich die Gehirne vor dem Schlagwort befinden.
Wehrloser und gebannter ist kein Schaf vor der
Boa constrictor als der durchhaltende Verstand vor
der Phrase. Sein Opfer ist aber umso tragischer, als
er zugleich das Subjekt und das Objekt der
Fütterung ist. Gelingt es einem jener Menschen,
die in Ämtern sitzen und deren Aufgabe es ist, die
Knappheit an Phantasie oder Lebensmitteln in ein
dürftiges Deutsch zu übersetzen, ein solches Merk-
wort zu finden, so kann man sicher sein, daß der
darbende Bürger durch Monate daran zu zehren
haben wird, bis von ihm nichts übrig bleibt.
Der Effekt wäre freilich ein auch nicht annähernd
so ausgiebiger, wenn die Sprache der Ämter nicht
ein Sprachrohr hätte, durch das jede Botschaft erst
schmackhaft wird, oder vielmehr, wenn es nicht hier-
zulande einen so hervorragenden Wiederkäuer gäbe,
dessen täglich zweimal zwanzigmal produzierte
Tätigkeit ein Schlagwort erst appetitlich macht. Die
bürokratische Kost, die einem vielleicht widerstehen
möchte, wenn sie nicht vom Speichelfluß dieser
Beredsamkeit aufgeweicht würde, ist nach solcher
Prozedur nicht wiederzuerkennen, und es ist am Ende
ganz sonderbar, wie die abgelegenste Kanzleiphrase
als frische Jargonwendung wirkt, nachdem sie jener in
den Mund genommen hat. Als vor dem Krieg einmal
der Betmann Hohlweg, der doch weit eher ein Pastor
— 2 —
als ein Rabbiner ist, die Bereitwilligkeit Deutsch-
lands, für den Bundesgenossen zu »fechten«, aus-
gesprochen hatte, war durch Tage der Schrei eines
Echos hörbar, dessen Unaufhörlichkeit die Klang-
farbe hatte : Er hat gesagt, er wird für uns fechten,
fechten wird er für uns hat er gesagt. Ebenso
unerbittlich hat dieser Vorbeter aller Blutandachten
in der Gelegenheit gehaust, die durch das Schlagwort
»Entspannung« bezeichnet war. Ein solches Schlag-
wort versetzt ihn in eine derartige Aufregung, daß
man glaubt, der unaufhörliche Schlag, mit dem
er das Gehirn des Lesers trifft, werde schließlich
ihn treffen. Wenn man dereinst versuchen sollte, die
geistige Akustik dieser Zeit nach ihrem durch-
dringendsten Geräusch darzustellen, so wird man über
die Tragfähigkeit ihres Gehörs noch mehr staunen als
über die ihrer Scham. Denn es kann heute kein noch
so armseliger Lebenslaut der Staatsdummheit —
erfunden, um die Menschheit über den Mangel ihrer
Selbstverständlichkeiten zu betrügen — ausgestoßen
werden, ohne daß er in diesem Schalltrichter zum
Losungswort einer Weltentscheidung würde. Die Spei-
würdigkeit dieses Zeitalters ist aber wohl noch nie so
plastisch an uns herangetreten wie in der Orgie dieses
Merkworts, vom Ausbau und von der Vertiefung.
Entseelter und so um den Sinn des Dings gebracht war
die Papiersprache, die wir in diesem Krieg ausatmen,
noch nie, und die Gewure, die imstande war, durch
Wochen an dem ausgespucktesten Surrogat zu
schlingen, verdient schon allen Respekt. Es war rein so,
als ob die Borniertheit, die dergleichen erfindet,
die Absicht gehabt hätte, durch Hinwerfen eines
Brockens das furchtbare Haustier, das wir uns
halten, rabiat zu machen, wissend, daß es sich
auf so etwas werfen und daß es dann ein Schau-
spiel geben werde und eine Ablenkung für die
vielen, denen etwas Gebackenes oder Gebratenes
lieber ist als etwas Ausgebautes und Vertieftes.
Schon etliche Monate vorher rollte der erste Donner,
und ich habe eine Probe davon gegeben, die aus-
gereicht hat, um den Überdruß an der Sache im
Ekel am Wort fühlen zu lassen. Damals war es der
Graf Czernin, dem nicht oft genug nachgesagt
werden konnte, daß er ausgebaut und vertieft habe,
und ich überschrieb es: »Das kann man nicht oft
genug hören«. Dennoch war's nur ein lächerliches
Vorspiel im Vergleich zu dem was kommen sollte;
»ein Tändeln« mit der Idee, wie das Großmaul in
stillern Stunden zu sagen pflegt. Das Trommel-
feuer, das nun anhub, sollte alles Erlebte über-
treffen. So ausgebaut und vertieft ward nie zuvor.
Wären die Menschen, denen das angetan wird, noch
imstande, die völlige Erstarrtheit des vorgeschrie-
benen Denkens, die solche Gassenhauer des politischen
Optimismus entstehen läßt, zu spüren, sie hätten
sich dagegen aufgebäumt; sie hätten den Erfindern,
den Ingenieuren des Ausbaues und der Vertiefung
begreiflich gemacht, daß es zur Not angeht, eine öde
Sache durch ein ödes Bild anschaulich zu machen, daß
es aber unmöglich ist, sie durch zwei öde Bilder anschau-
lich zu machen, weil hierdurch nicht die Realität, die
verglichen werden soll, die politische, sondern wieder
nur die Realität, mit der verglichen werden soll, die
technische, anschaulich gemacht wird, indem ja der
technische Ausbau von der technischen Vertiefung
im Sinne verschieden ist, der bildliche jedoch mit
der bildlichen so sehr zusammenfällt, daß er eben
zusammenfällt. Wer zum erstenmal vom Ausbau
eines Bündnisses gesprochen hat, der hat nicht
gerade die Sprache bereichert, wenn er schon das
Heil der Menschheit vermehrt hat; wer aber vom
Ausbau und von der Vertiefung eines Bündnisses
gesprochen hat, der hat der Sprache einen heil-
losen Verlust beigebracht. Wie nun ein Korybant
in dieser dürftigen Gelegenheit gerast hat; welch
einem Rausch der Nüchternheit wir standhalten
_ 4 —
mußten ; wie dieser Exzeß rapid auf alle benachbarten
Lebensgebiete übergriff, so daß rechts und links
nun auf einmal auch alles andere ausgebaut und
vertieft war, alle andern Bündnisse, bei Freund
und Feind, und beinahe sogar das, was wirklich
den Sinn dieses Verfahrens vertrug, als etwa eine
Eisenbahn oder ein Kanal; vor allem aber, wie der
Wahnsinn dieser Kuppelung offenbar war, wenn
die beiden Methoden getrennt wurden, so als ob
wirklich der Ausbau des Bündnisses etwas anderes
zu bedeuten hätte als dessen Vertiefung — das zeigt
der folgende Strudel, der nur ein Zitat aus dem
Katarakt vorstellt, welcher verheerend, von keiner
beschwörenden Vernunft aufgehalten, aller Papiernot
trotzend, epidemischer als alle spanische Krankheit
über unser politisches Terrain dahingegangen ist:
13. Mai:
Ausbau und Vertiefung des Bündnisses.
hiebei ergab sich volles Einvernehmen in allen diesen
Fragen und der Entschluß, das bestehende Bündnisverhältnis
auszubauen und zu vertiefen.
Wichtige Ergebnisse der Kaiserzusammenkunft.
Ausbau undVertiefung des bestehenden Bündnisverhält-
nisses.
wurde im vollen Einvernehmen der Entschluß gefaßt, das
bestehende Bündnisverhältnis auszubauen und zu ver-
tiefen. In welcher Form der Ausbau und die Ver-
tiefung geschehen sollen, wird heute noch nicht mitgeteilt.
Der Krieg hat den Ausbau und die Vertiefung
des Bündnisses zur Notwendigkeit gemacht. In welcher Richtung
dieser Ausbau und die Vertief u ng sich vollziehen sollen,
wird in der amtlichen Mitteilung nicht angedeutet. Gewiß
wird es der Wunsch der beiderseitigen Generalstäbe sein, den
Vorteil, den die Monarchie und Deutschland . . durch den
Grundsatz hatten, der im Kriege Schulter an Schulter genannt
wurde, auch künftig zu behalten, auszubauen und zu
vertiefen.
Mitteilungen von unterrichteter Seite.
Wir müssen also an dem Defensivbündnis festhalten und
für einen Ausbau und eine Vertiefung dieses Bünd-
nisses . . nur andere Vorbedingungen schaffen.
— 5 —
14. Mai:
Ausbau und Vertiefung des Bündnisses mit
Deutschland.
Volles Einvernehmen über das künftige Verhältnis.
und die von ihnen geschaffenen Tatsachen sollen durch
Ausbau und Vertiefung zur Regel für die Zukunft
erhoben werden. — — Wir brauchen nur den Ereignissen des
Krieges zu folgen, um zu verstehen, warum der Ausbau
und die Vertiefung des Bündnisses unvermeid-
lich geworden sind. — — Die Einheit der Front für
die Mittelmächte ist eine zureichende Ursache für die militärische
Vertiefung des Bündnisses.
Nun und der Ausbau? Geduld:
Der Plan, den Mittelmächten die Rohstoffe auch nach dem
Kriege zu entziehen, wird mit der Nachricht vom wirtschaftlichen
Ausbau des Bündnisses beantwortet.
Der Ausbau des Bündnisses mit Deutschland
in wirtschaftlicher Hinsicht.
Das Bündnis mit Deutschland.
Der Ausbau und die Vertiefung des Bündnisses
zwischen der Monarchie und Deutschland haben einen Zu-
sammenhang mit der polnischen Frage — —
Nachrichten über gefälschte deutsche Friedensangebote.
Wahr ist der Ausbau und die Vertiefung des
Bündnisses zwischen der Monarchie und Deutschland — —
Die Erneuerung des Bündnisses mit Deutschland.
Die amtliche Mitteilung, daß bei der Kaiserzusammenkunft
im deutschen großen Hauptquartier der Ausbau und die
Vertiefung des zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn
bestehenden Bündnisses abgeschlossen worden ist, wird von der
Berliner Presse erörtert.
15. Mai:
Sie (die Welt) wird damit rechnen müssen, daß England
mit seinen vierhundert Millionen Einwohnern . . die Beziehungen
zu den_ Vereinigten Staaten ausbaut und vertieft, um
seine Überlegenheit in der Versorgung mit Rohstoffen noch zu
vermehren. — — Welchen Einfluß könnten die Nachrichten
über den Ausbau und die Vertiefung des Bündnisses
auf die Politik der Entente haben? Die Wirkung dürfte nach-
haltig sein.
Der Schluß aus diesen Worten ist gerechtfertigt, daß der
wesentliche Zweck des Ausbaues und der Vertiefung in
der Öffentlichkeit richtig erkannt worden sei.
6 —
16. Mai:
In dieser letzten Stunde der Monarchenbegegnung fühlten
aber alle Zeugen dieses historischen Ereignisses, daß der Bund
zwischen beiden Mittelmächten . . in des Wo rtes wahrster
Bedeutung vertieft worden ist.
— — die Grundlagen einer wesentlichen Vertiefung
Der Ausbau des Bündnisses und die Entente.
. . . der Ausbau und die Vertiefung des Bündnisses
mußten unter solchen Umständen die Entente überraschen.
Der Ausbau des Bündisses und die polnische Frage.
Der Ausbau der Technischen Hochschule und
der Stadtrat.
Wiener Börse: — — und die große Bedeutung des
politischen und militärischen Ausbaues des Bündnisses
wurde weiter eingehend besprochen. Insbesondere wurde
hervorgehoben, daß die Vertiefung — —
23. Mai:
Es ist anzunehmen, daß bei dieser Gelegenheit auch die
Besprechungen über die zur Vertiefung und zum Aus-
bau des Bündnisses zu treffenden Vereinbarungen beginnen
werden.
24. Mai:
Der Ausbau des wirtschaftlichen Bündnisses
mit Deutschland.
.... deshalb ist es von besonderem Interessse, zu hören,
was dieses hervorragende Mitglied des Kabinetts Wekerle über
die Beschlüsse betreffend den Ausbau des wirtschaftlichen
Bündnisses mit Deutschland sagt. ... >. . . Ich selbst strebte
immer eine Vertiefung des Wirtschaftsverhältnisses zum
Deutschen Reiche an . . .*
4. Juni:
... die Welt hörte die Verkündigung, daß der Ent-
schluß gefaßt worden sei, das Bündnis auszubauen und zu
vertiefen — — Die Vertiefung des Bündnisses werden
die Monarchie und Deutschland nach dem Kriege als Bedürfnis
empfinden Sicherheit kann nur werden durch Ausbau
und Vertiefung des Bündnisses. Budget, Anleihen und
Steuern können nicht warten, bis das Bündnis mit Deutschland
politisch, militärisch und wirtschaftlich ausgebaut ist.
Konstantinopel, 4. Juni :
.... In Besprechung der Vertiefung des Bündnisses
der Mittelmächte erklärte Redner .... Dr. Friedjung schloß
mit einem dreifachen Hoch und Eljen auf den Ausbau und
die Dauer des Bündnisses der beiden Mittelmächte mit der Türkei.
7 —
5. Juni:
Das Bündnis und seine Vertiefung.
— — die erste Frage galt der Vertiefung des Bünd-
nisses der Mittelmächte
Der Ausbau des österreichisch-ungarisch-deutschen Bündnisses
in militärischer Beziehung.
— — Die Vertiefung des Bündnisses auch in mili-
tärischer Hinsicht ist darum eine unbedingte Notwendigkeit.
Dr. Wekerle und Graf Tisza über die Vertief ung des Bündnisses.
Äußerungen von einer Seite gefallen sind, die gegen eine
Vertiefung des Bündnisses Bedenken hegte.
13. Juni:
Der Ausbau des Sieges bei Noyon.
Graf Burian über die Vertiefung des Bündnisses.
1. Juli:
Die Beratungen in Salzburg über den Ausbau des Bündnisses.
sind die leitenden Auffassungen bei der wirtschaftlichen
Vertiefung des Bündnisses — — Wirtschaftsgebiet, dessen
Grundmauern in Salzburg aufgerichtet werden sollen
Und noch im September konnte dieser von
keiner Materialnot abgeschreckte Förderer des Bau-
gewerbes die Genugtuung erleben, daß der deutsche
Kaiser dem Hetman nachrühmte, er habe »die Ukraine
zu einem neuen geordneten Staatswesen aus-
zubauen begonnen«, worauf der Hetman der
Hoffnung Ausdruck gab, daß »die Beziehungen
zwischen dem mächtigen deutschen Reiche und der
Ukraine sich immer mehr vertiefen werden«.
Inzwischen hatte sich aber bereits eine Folge der
Vertiefung des andern Bündnisses gezeigt:
Berlin, 23. Mai. (Privattelegramm des .Neuen Wiener
Journals') Die ,Tägliche Rundschau' meldet aus dem Haag:
,T i m e s' melden aus Turin, daß die italienische Börse seit der
deutsch-österreichischen Kaiserzusammenkunft eine bemerkenswert
flaue Stimmung zeige. Man glaubt, daß die Italiener durch die
Tiefe des Bündnisses sehr enttäuscht worden sind.
Der Ausbau hingegen scheint vorläufig noch
keinen Eindruck auf sie zu machen. Immerhin mehrten
sich von Tag zu Tag die Symptome, die es dem
publizistischen Wortführer der Zentralmächte rätlich
erscheinen ließen, die Entente darüber zu beruhigen,
daß man auch hier einem Völkerbund nicht mehr
abgeneigt sei und daß >die Einrichtung der Schieds-
gerichte nach dem Kriege stark ausgebaut
werden müsse*.
Was aber, kann man fragen, wäre geschehen,
wenn ein sogenannter Staatsmann, also der Vertreter
eines zumeist verfehlten Berufs, der, wie nicht allein
der Fall des Herrn Kühlmann beweist, nicht einmal
die Fähigkeit zum Privatmann hat, die Parole aus-
gegeben hätte, die Verhandlungen seien angebahnt
und in Fluß gebracht worden?*) Das Geringste
wäre gewesen, daß nunmehr — im gespenstischen
Gehorsam, mit dem die Phrase überallhin und noch
in ihr eigenes Gebiet folgt — auch die Schiffahrt
zwischen Wien und Budapest in Fluß gebracht
und eine neue Zugsverbindung zwischen Wien und
Berlin angebahnt würde. Da aber in solchem Fall
die Gefahr der Koffereinbrüche und der Postdieb-
stähle in hohem Grade besteht, so wurde für alle
Fälle rechtzeitig verlautbart:
Die Abwehrmaßregeln gegen die Diebstähle an Postgütern,
die bereits getroffen wurden, sind im unablässigen
Ausbau begriffen.
Was nützt das aber? Da eben in den Zeiten
des Ausbaus und auch der Vertiefung die Eisenbahn-
diebstähle überhandgenommen haben, so bleibt nichts
übrig, als das Reisegepäck versichern zu lassen. Da
müßten aber die Versicherungsgesellschaften auch
nach dem Rechten sehn:
Ein Ausbau der Bestimmungen über die Versicherung des
Reisegepäcks ist heute umso dringlicher, als die beraubten Objekte
von den Eisenbahndieben geradezu kunstgerecht behandelt werden.
*) Kaum gedacht, wird es von einer Geisterhand dieser unter-
nehmenden Wirklichkeit einverleibt. Ein Anfang wäre gemacht,
denn die offizielle Erklärung liegt vor, daß die Verhandlungen,
»die von dem Grundgedanken ausgehen, das Bundesverhältnis
zu vertiefen, zurzeit noch im Flusse sind«.
Etwa so wie die Seele der Völker von den
Diplomaten. Welche Feinheiten da möglich sind,
welche Komplikationen da eintreten können, zeigt
ein Vorfall, der sich beim Ausbau und bei der Ver-
tiefung zugetragen hat. Nämlich das Bündnis, kaum
ausgebaut und vertieft, ist plötzlich noch »ausgelegt«
worden. Die neuerlichen Beratungen im deutschen
Hauptquartier haben amtliche Mitteilungen zur Folge
gehabt und diese einen Veitstanz, der alle bisherige
Leidenschaft als den Zustand der Totenstarre erscheinen
läßt. »Die Fassung in Wien und Berlin« bringt den
Unglücklichen derart aus der Fassung, daß er zuerst
nur zu jappen beginnt, bis er in unartikulierten
Lauten hervorbringt, was ihn eigentlich so aufregt.
Wir hören, daß es der Ausbau sei, vermissen die
Vertiefung und erfahren:
Eine genaue Prüfung des Textes, der in Wien und
Berlin veröffentlichten Mitteilung zeigt einen Unterschied, der
in die Augen springt.
Und nun fängt er an in die Augen zu springen,
er, jener.
Die beiden Communiques sind in den Sätzen, in den
Ausdrücken und in den spärlichen Mitteilungen gleichlautend,
mit einer einzigen Ausnahme.
Nein, die erfahren wir noch lange nicht.
In Wien und Berlin wird gesagt — — In Wien und
Berlin wird erzählt — — In Wien und Berlin wird mit-
geteilt da ist volle Gleichheit im Inhalte und in der Form.
wird mit Genugtuung aufgenommen werden. Denn nichts
kann wichtiger sein als der Felsblock — — nichts kann das
Gefühl der Sicherheit mehr befestigen
Nun also. Und der Unterschied?
Das in Wien veröffentlichte Communique sagt, die Zu-
sammenkunft der beiden Kaiser habe auch festgestellt, »daß die
erlauchten Monarchen an ihren im Mai gefaßten bündnis-
vertiefenden Beschlüssen festhalten«. Das in Berlin ver-
öffentlichte Communique sagt, die Zusammenkunft habe »auch
diegleiche und treueste Ausleg ungdesBündnisses
festgestellt«. Wenn der Satz über das Festhalten an de» Mai-
beschlüssen, betreffend die Vertiefung des Bündnisses, im
Wiener Communique in ein Verhältnis gebracht wird zu dem
10 —
Satze über die gleiche und treueste Au siegung des
Bündnisses im Berliner Communique, so ergibt sich kein
Widerspruch, sondern nur die Tatsache, daß in jeder der beiden
Mitteilungen von etwas anderem gesprochen wird.
Nun also.
Die gleiche und treueste Auslegung des Bünd-
nisses kann nicht im Gegensatze zu den Maibeschlüssen über
die Vertiefung des Bündnisses sein und diese wäre undenkbar
ohne die gleiche' und die treueste Auslegung des
jetzigen Bündnisses.
Gewiß nicht.
Aber dem deutschen Publikum wird etwas mitgeteilt, was das
Wiener Communique nicht sagt, und umgekehrt. Es handelt
sich um Erklärungen, die, nebeneinandergestellt und in einem
und demselben Communique veröffentlicht, nichts Auffallendes
•hätten. Sie fallen nur auf, weil in einem Communique vom
Festhalten an der Bündnis Vertiefung nichts zu lesen ist und
in dem anderen wieder nichts von der gleichen und treuesten
Auslegung des jetzigen Bündnisses. Mitteilungen über die
Zusammenkunft der Kaiser pflegen im Einvernehmen verfaßt
und dem Publikum zugänglich gemacht zu werden. Graf Burian
war somit einverstanden mit dem Hinweise auf die gleiche und
treueste Auslegung des Bündnisses und Graf Hertling hat
der Feststellung zugestimmt, daß die beiden Kaiser an ihren im
Mai gefaßten bündnis vertiefenden Beschlüssen festhalten.
Beide Staatsmänner sprechen aus beiden Communiques und
keiner von ihnen kann über die Zusammenkunft sagen, was der
andere nicht billigt.
Gewiß nicht. So weit wären wir also beruhigt,
sind es aber noch immer nicht. Denn es ist nicht
nur die Auslegung des Bündnisses auszulegen,
sondern die gleiche und treueste Auslegung des
Bündnisses und nicht nur des Bündnisses, sondern
des jetzigen Bündnisses im Gegensatz zum Bündnisse
als solchem, und hinter den Gitterstäben dieser
Begriffe hin und her gejagt, in der Selbstqual viel-
facher Zwangshandlung heillos verzappelt, verröchelt
der auslegende Verstand ins Delirium.
Aber die Ungleichheit der Fassung dürfte trotzdem nicht
grundlos sein. Die Andeutung ist zu erkennen, daß die Monarchie
bei der Vertiefung des Bündnisses nach den im Mai gefaßten
Beschlüssen die polnische Frage zur Lösung bringen will. Graf
Burian hat sie schon im Juni damit in Zusammenhang gebracht.
11 —
Deshalb wird die Vertiefung des Bündnisses im Wiener
Communique unterstrichen. Das Berliner Communique spricht von
der gleichen und treuesten Auslegung des jetzigen
Bündnisses. Es will dessen Bestand und Wirkung in keine Ab-
hängigkeit von den schwebenden Fragen des Ausbaues sowie
von der austro-polnischen Lösung bringen ....
Denn das fehlte noch! Die Vertiefung kann aus-
gelegt, aber der Ausbau kann doch nicht verlegt werden.
Auch die treueste Auslegung des Bündnisses —
Ist das noch die gleiche? Er ermattet!
ist, wie das Berliner Communique sagt, in der Monarchie und in
Deutschland gleich. Graf Burian will die Vertiefung
des Bündnisses und Graf Hertling auch. Der deutsche Reichs-
kanzler will aber das jetzige Bündnis, selbst wenn es nicht
vertieft werden könnte. Die Monarchie teilt diese Ansicht.
Die Grundauffassungen über das Zusammenstehen kommen aus
Notwendigkeiten. Die treueste Auslegung des Bündnisses
ist wechselseitige Unterstützung an den Fronten gegen den
Feind. Das tut die Entente; das sollten die Mittelmächte tun.
Sie tun es, weiß Gott, sie tun es, auch wenn
ihnen einer nicht so heftig zuredete und selbst
wenn's ihnen übel ausgelegt werden sollte. Welch
ein Bild vertiefter Nibelungentreue, wenn zwischen
den beiden Schultern dieser Kopf steht, immer in
siedender Sorge um die gegenseitigen Bündnis-
pflichten, zu deren Wahrung er schließlich noch
dieses Opfer auf sich nimmt:
Berlin, 20. August.
Gegenüber gewissen Auffassungen in der Presse wird in
hiesigen informierten Kreisen betont, daß bis heute eine amt-
liche Erklärung über Einzelheiten der Besprechungen im Großen
Hauptquartier nicht veröffentlicht wurde. Von einem Unterschied
zwischen dem deutschen und österreichischen amtlichen Bericht
über die Zusammenkunft könne keine Rede sein.
Welch ein Abschluß der geredeten Unendlichkeit!
Nein, ehe das noch geschah, war's toll genug. Ohne alle
Auslegung: Das war kein Schlagwort mehr, das war
ein Fluch: Ausgebaut und vertieft sollst du werden!
Und ein Schlachtbankier, der sich sonst wahrlich mehr
aufs Einnehmen als aufs Auslegen versteht, ahndete die
Sünden der Väter und es war ein Strafgericht über
12
die lesende Menschheit wie nie zuvor. Denn keinen
von allen jenen, die da schreiben, liest man mehr mit
den Ohren als diesen da. Nie aber ist so der ganze
Inhalt einer Zeit Geräusch geworden, nie so der
Bund von Ton und Ding, einer hoffnungslosen Welt
und eines verzweifelten Rhythmus, ausgebaut und
vertieft gewesen, und schwer lastete es auf Hirn und
Herz jener Minderheit, die noch spürt, was ihr getan
wird und deren Scham das Wort so viel wie die Tat
gilt. Was diese bedeutet, das empfand sie, und daß
sie es täglich zu hören bekam, das machte sie mir
zum erbarmenswürdigsten Ohrenzeugen eines Ver-
hängnisses. Und als ich ihr darum, den ganzen
Explosivstoff erfassend, den hier die dämonische
Regie des Zufalls just damals in denselben Kübel
trug, das da vorlas:
Die chinesisch-japanische Militärkonvention.
Volle Herrschaft Japans in China.
Bern, 30. Mai.
Der »Shanghai Gazette« zufolge haben die geheimen Ab-
machungen der eben zustandegekommenen Militärkonvention
zwischen Japan und China folgenden Inhalt:
Die chinesische Polizei wird von Japan neu organisiert.
Japan übernimmt die Leitung sämtlicher chinesischer
Arsenale und Werften.
Japan erhält das Recht, in allen Teilen Chinas Eisen und
Kohle zu fördern.
Japan erhält alle geforderten Privilegien in der äußeren
und in der inneren Mongolei, ferner in der Mandschurei.
Schließlich sind eine Anzahl von Maßnahmen getroffen,
die das Finanz- und Ernährungswesen Chinas japanischem
Einfluß unterwerfen
da war eine Stille atemloser Bejahung, in die
ich zu noch nie erlebter Tragödienwirkung und zu
einem Beifall, der die überstandene Orgie über-
dröhnte, mit dem schlichten Nachsatz fuhr:
Mit einem Wort — das Bündnis zwischen Japan
und China ist ausgebaut und vertieft.
— 13 —
Glossen
In unserer äußeren Politik steuern wir Gott sei Dank
den deutschen Kurs
rief Czernin daseinstrunken, und er sage dies und das > nicht
für unsere Regierung und nicht für irgend eine maßgebende
Stelle des Reiches, weil sie alle Gott sei Dank darin einig
sind, das Bündnis zu halten*. Nun, über Glaubenssachen läßt
sich so wenig streiten wie über Geschmackssachen. Das Gemüts-
leben des Grafen Czernin bleibe seine Angelegenheit wie das
Privatleben des Herrn v. Kühlmann, und was Bukarest anlangt,
so genüge den Völkern zu erfahren, daß dort Friede geschlossen
wurde. Immerhin dürfte die Gehirntätigkeit des Grafen Czernin
ein öffentliches Interesse beanspruchen. Auf welchen Gedanken-
gängen heutzutage ein Staatscauseur vor Herrenhausmitgliedern
und Zeitungslesern flanieren kann, ersieht man aus der Art, wie
dieser Czernin sein Brest-Litowsk verteidigt:
Auch mir wäre eine andere, konsolidiertere und vor allem
auch eine weniger rote Regierung lieber gewesen. Aber diese Regierung
war nicht vorhanden und ich konnte sie nicht scharfen. Die großen
deutschen Siege, die märchenhaften Erfolge der deutschen
Armee wären nicht eingetreten, wenn nicht der Brest-Litowsker Friede es
ermöglicht hätte, die Truppen an die Westfront abzuziehen. Wenn die
Herren, die den Friedensschluß in Brest tadeln, wüßten, welche
Anstrengung die Entente gemacht hat, ihn zu
verhindern, dann würden sie vielleicht milder über unsere
Tätigkeit denken. Und der scheußliche Gesandtenmord
an Graf Mirbach, ist er nicht ein neuer Beweis, welche
Anstrengungen die Entente macht, um den Frieden im
Osten wieder durch den Kriegszustand zu ersetzen ?
Von allen Formen der Blödmacherei, die seit August 1914
in Schwang sind, dürfte hier die wirkungsvollste erfaßt sein.
Indem man eben das, was die schwerste Anklage rechtfertigt,
mit ernsthafter Miene als Argument der Verteidigung vorbringt,
kann man es erleben, daß jeder Angriff mühelos abjewiesen
wird. Jene deutsche Taktik der verfolgenden Unschuld, die einen
14 —
Überschuß an Wehrhaftigkeit und ein Defizit an Wahrhaftigkeit
zu einem die Welt restlos befriedigenden Ausgleich bringt, ist so
sehr die Force des Grafen Czemin, daß der Ausgang seiner
Karriere in einem Engagement bei Wolff wirklich nur eine
Frage der großen Zeit ist. Er verblüfft seine Hörer, indem er einfach
die Prämisse einschiebt, seine Tadler hätten ihm einen Frieden
zum Vorwurf gemacht, der die Entente befriedigt. Der Schwindel
besteht in der Verwendung des schlichtpatriotischen Gedankens,
die Beunruhigung des Feindes sei ein Erfolg. Daß der Sieg-
frieden, dessen sich der Graf Czemin rühmt und dessen Tat-
sache er zu beweisen sucht, eben das ist, was ihm zum Vorwurf
gemacht wurde, und daß der Gesandtenmord just das Böse ist,
welches vom Fluch der bösen Tat geboren wird — das ihm
zuzurufen, würde sich kein Hörer aufraffen, weil man zumeist im
Leben von der Schlagfertigkeit eines, der sich dumm stellt, um die
andern dumm zu machen, aufs Haupt geschlagen ist. Auf den
Einwand, daß der Friede von Brest-Litowsk ein schlechter Friede sei,
weil er die Welt in Unruhe erhalte, erwidert der Graf Czernin nichts
weiter, als daß der Tadel schon deshalb unberechtigt sei, weil
der Friede von Brest-Litowsk die Feinde in Wut gebracht habe.
Nicht nur in unserer äußeren Politik steuern wir, Gott sei Dank,
den deutschen Kurs, sondern auch in den Methoden, sie zu
rechtfertigen.
Vor der nackten Fälschung der Tatsachen
Wenn die Lüge ein Kriegsmittel ist, so ist jene Lüge,
deren Inhalt die Behauptung ist, daß der andere gelogen hat,
ein Dumdum-Geschoß. Der Gipfel der technischen Entwicklung
ist in der ministeriell-journalistischen Debatte über den Fall
Revertera erreicht worden, und zwar mit der Erörterung der
völlig belanglosen Frage, ob die unter Clemenceau geführten Be-
sprechungen die Fortsetzung der unter Painleve geführten oder
neue waren. Aus der völlig belanglosen Mitteilung des ehemaligen
Ministerpräsidenten, daß ihm von einer Fortsetzung der im Au-
gust geführten Besprechungen bis zu seinem Rücktritt im No-
vember 1917 nichts bekannt sei, wird von dem Bankhalter aller
— 15
Lügen das folgende Kapital geschlagen, dessen Zinsen auf das
Konto der europäischen Bedeutung Painleves gebucht werden:
Es ist vollständig unwahr, daß der Ministerpräsident Clemenceau
nur die begonnenen Unterredungen zwischen dem Grafen Revertera
und dem Grafen Armand habe fortsetzen lassen. Diese Gespräche
waren im August des Jahres 1917 beendigt. Im November wurde
nach dem Rücktritte des Ministeriums PainlevS das Kabinett Clemen-
ceau gebildet. Die Unterredungen im Februar des Jahres 1918 sind
daher nicht die Fortsetzung der früheren gewesen. S i e
mußten unter dem M i n i s t e r iu m C 1 e m e n c e a u und
mit dessen Wissen und Erlaubnis frisch aufge-
nommen werden. Aus diesem Grunde könnte gewiß kein
Vorwurf gegen Clemenceau erhoben werden. Aber ganz unbe-
greiflich ist die Verwegenheit, mit welcher er den von
ihm selbst zugegebenen Sachverhalt erst durch die Beschuldigung
der Lüge wegstreiten wollte, bis die veröffentlichten Einzelheiten
und die Erklärung des früheren Ministerpräsidenten Painleve ihn
gezwungen haben, unter allerlei Entstellungen den-
noch den Kernpunkt, um den sich die ganze Polemik dreht,
zuzugeben. Die Aussprache über den Frieden in Freiburg hat
stattgefunden und Clemenceau ist von seinem eigenen
Vorgänger darin widerlegt, daß er sie nicht angeordnet, sondern nur
nicht unterbrochen habe. Das ist nackte Fälschung der
Tatsachen.
Ohne Zweifel. Denn die Besprechungen sind unter
Clemenceau und mit dessen Wissen und Erlaubnis tatsächlich
frisch aufgenommen worden. Clemenceau sagt hierüber:
Major Armand konnte sich also über eine Bitte des
Grafen Revertera neuerlich nach der Schweiz begeben.
Czernin drückt dies so aus:
Erst im Jänner 1918 nahm Graf Armand, diesmal im
Auftrag Herrn Clemenceau s, mit dem Grafen Revertera
neuerlich Fühlung.
Wer sich im Fuchsbau deutscher Verlautbarungen nur
halbwegs auskennt, spürt, daß hier eine wahre Mitteilung, >diesmal
im Auftrag Herrn Clemenceaus<, dem Zweck unterstellt werden soll,
an eine Initiative Clemenceaus glauben zu machen. Aber sein
> Auftrag« mußte ohneZweifel ergehen, von wem immer die Initiative
ergangen sein mochte, und wenn er neue Besprechungen zuge-
lassen hat, so dürfte ihm das, wenn's herauskommt, weniger
schaden als wenn er die alten herbeigeführt hätte. Der Enthüller
— 16 —
schrickt gleichwohl nicht vor dem Äußersten zurück: »Sie
mußten unter dem Ministerium Clemenceau und mit dessen
Wissen und Erlaubnis frisch aufgenommen werden.« Bei genauerem
Hinsehen erweist es sich als eine unbestreitbare Wahrheit. Denn,
siehe da, es war damals schon Clemenceau und nicht mehr Painleve
derMann und darum tatsächlich in der Lage, von den Besprechungen
zu wissen und sie zu erlauben. Daß sie aber darum nicht die
Fortsetzung der früheren waren, ist nicht ganz so einleuchtend
wie der Schluß, daß sie eben darum die Fortsetzung der früheren
waren. Sie wären nur dann nicht die Fortsetzung der früheren
gewesen, wenn etwa nicht mehr Revertera mit Armand, sondern
Armand mit Revertera verhandelt hätte oder etwa nicht über die
Möglichkeit zu einem Frieden, sondern über die weit geringere
Möglichkeit, zur Wahrheit zu gelangen. Und dennoch gelingt
dies manchmal, wenn auch nicht durch Besprechungen, sondern
durch Enthüllungen. Der Graf Czernin enthüllt, daß die Be-
sprechungen, die er auch in der Ära Clemenceaus fortgesetzt oder
vielmehr erneuert haben wollte, ohne die Bewilligung des neuen
französischen Ministerpräsidenten nicht möglich gewesen wären.
Die Enthüllung des Grafen Czernin, daß Clemenceau franzö-
sischer Ministerpräsident ist, ist gewiß verblüffend, wenn auch
bei weitem nicht so zufriedenstellend wie der Gegenbeweis
Clemenceaus, daß der Graf Czernin nicht mehr österreichischer
Minister des Äußern ist.
No also !
Die Affaire Clemenceau-Czernin oder Armand-Revertera
aus dem Weichselzopf ministeriell -journalistischer Drehung
gelöst :
A. sagt plötzlich: B. hat mich angepumpt. B. sagt: A. lügt.
Die Freunde des A. sagen: Kunststück, einfach alles ableugnen!
Oder — da ja diese beispiellose Wirklichkeit doch immer noch
eindringlicher wirkt als jedes Beispiel — der Leitartikler schreibt:
Clemenceau sagt: Graf Czernin hat gelogen. — —
— — Nun fragen wir, ob Graf Armand nie gelebt, nie mit
dem Grafen Revertera in der Schweiz über den Frieden gesprochen,
— 17 —
ihn nie gesehen und nie gekannt habe, ob die Unterredungen erfun-
den und die Einzelheiten ein Hirngespinst seien. Das wird
kein einziger Franzose glauben.
Muß er auch nicht. B., von den Tölpeln gereizt, antwor-
tet: Hat gelebt, hat gesprochen, hat gesehen und gekannt. Alles
ist wahr, nur: umgekehrt. Oder: Nicht ich habe den A., sondern
der A. hat mich angepumpt; die »Einzelheiten« stimmen; darin
lügt A. durchaus nicht, angepumpt wurde fürwahr, aber nicht
er von mir, sondern ich von ihm. No also, ruft A. strahlend,
es ist also doch wahr! Oder amtlich so:
Gegenüber der ersten kurzen Erklärung Clemenceaus, mit
welcher dieser den Grafen Czernin der Lüge geziehen hatte, wird
dem nunmehr vorliegenden Communique des französischen Minister-
ratspräsidiums vom 6. d. mit Befriedigung das Zugeständ-
nis entnommen, daß zwischen den beiden Vertrauens-
männern der Regierungen Österreich-Ungarns und Frankreichs Bespre-
chungen über die Friedensfrage stattgefunden haben.
Und journalistisch:
Clemenceau hat sich durch seine Unwahrhaftigkeit bloßgestellt.
Wenn er jetzt gezwungen ist, mit allen Verdrehungen und
Wendungen den sachlichen Inhalt der Rede zu bestätigen,
so ist das eine schwere Niederlage, die seine Persönlichkeit ent-
wertet — —
Er habe das, »worauf es ankommt, zugeben müssen«: die
Friedensbesprechungen in Freiburg. Daß gepumpt wurde.
Wie durfte er sich erdreisten, unter solchen Verhältnissen
kurzweg von einer Lüge zu reden — — Wir lassen uns auf
die abstoßende Kleinlichkeit, mit der Clemenceau sich
damit brüsten will, die Unterredungen haben über Wunsch
der Monarchie stattgefunden, gar nicht ein. — — Die
Aussprache über den Frieden in Freiburg hat stattgefunden
Die Einzelheiten stimmen, sie näher zu betrachten wäre
von abstoßender Kleinlichkeit. Die Wahrheit hat sich durch-
gesetzt. Der Leitartikler behält das letzte Wort:
Er (Clemenceau) kann jedoch an der Lüge fallen, die er dem
Grafen Czernin vorgeworfen hat.
Einer ist tatsächlich an der Lüge gefallen. Wieder stim-
men die Einzelheiten. Oder ist einer vielleicht nicht an der
Lüge geFallen? No also!
— 18
Im Sturze
Madrid, 4. Juli. Der Sturz Clemenceaus nähert sich
dem Stadium der Verwirklichung . . . .
Die schlauen Franzosen
Nicht unerwähnt bleibe noch, daß die Franzosen selbst sich
gerade den Grafen Armand als Unterhändler ausgesucht haben, weil
sie wußten, daß er ein Verwandter Reverteras sei.
Während die Österreicher, nicht ahnend, daß Revertera ein
Verwandter Armands sei, beinahe in die Falle gegangen wären.
Im Dschungel
Wir lassen uns auf die abstoßende Kleinlichkeit,
mit der Clemenceau sich damit brüsten will, die Unterredungen haben
über Wunsch der Monarchie stattgefunden, gar nicht ein.
Wer den läppischen Ruhm sucht, daß er nicht einmal auf
vertraulichem Wege — — Wie sticht die Erklärung des
Grafen Czernin davon ab, daß er nie verbergen würde,
die Anregung zu einer Friedensbesprechung gegeben zu haben.
Nämlich so:
»Im Juli 1917 wurde Graf Revertera von einer neutralen
Mittelsperson «im Namen der französischen Regierung
aufgefordert — — Die Initiative zu dieser Anknüpfung ist also
von französischer Seite ausgegangen. Von dieser i m
Auftrage der französischen Regierung gestellten
Anfrage — — Erst im Jänner 1918 nahm Graf Armand, diesmal
im Auftrage Herrn Clemenceaus, mit dem Grafen Revertera
neuerlich Fühlung Angeregt von französischer Seite «
»So weit die Feststellung der Tatsachen. Im übrigen
sei nur bemerkt«, daß Graf Czernin seinerseits keinen Grund
sehen würde, es abzuleugnen wenn — , da er »im Gegensatze zu
Herrn Clemenceau« glaubt, daß es kein Vorwurf für eine
Regierung sein kann, Versuche zur Herbeiführung — . Wie
wahr! Aber warum hat er ihn erhoben? Und noch dazu, da
nicht nur der Vorwurf unberechtigt, sondern auch die Tatsache,
auf die er sich stützt, falsch ist! Wenn A den B. angepumpt hat,
19
wie kann er mit der Enthüllung, daß B. ihn angepumpt habe,
den B. blamieren wollen? Und gar nachträglich den B., der das
Faktum leugnet, darüber belehren wollen, daß das Anpumpen
keine Schande sei? Beneidenswert die Menschheit, die hier an
eine Ethik glaubt und von einer Logik überzeugt wird.
Der Kernpunkt
. . . Durch die von Herrn Clemenceau aufgeworfene Streitfrage ist
übrigens die Aufmerksamkeit von dem eigentlichen Kernpunkte
der Äußerung des Grafen Czernin abgelenkt worden. Das Wesentliche
daran war nicht so sehr, wer die Besprechungen vor Beginn
der Westoffensive angeregt, sondern wer sie zerschlagen
hat. Und das hat Herr Clemenceau bisher nicht geleugnet,
daß er sicli geweigert hat, auf der Basis des Ver-
zichtsauf d e n R ü c k erw e rb Eis a ß -L o t h r i nge n s in
Verhandlungen einzutreten.
Nein, das hat er vorher nicht geleugnet und nachher
sogar zugegeben. »Wer sie zerschlagen hat« — in Sperrdruck
steht es — , das war er. Und da, wer sie zerschlagen hat, in der
Regel der andere sein dürfte und der, der sie angeregt hat, der
eine, so sollte dem Zugeständnis Clemenceaus, daß er sie zer-
schlagen hat, das Czernins entsprechen, daß er sie angeregt hat.
Denn das wäre doch etwas zu viel enthüllt: daß einer die
Besprechungen zugleich angeregt und zerschlagen habe.
Ein Gelehrter mit europäischem Ruf
Painleve war einmal ein Gelehrter mit europäischem Rufe.
Dann wurde er — Krieg ist Krieg — eine Null. Dann wider-
sprach er — scheinbar— dem Clemenceau in einem unwesent-
lichen Punkt. Das heißt also — auf Seite 1 — , daß diesjm
»die Maske vom Gesicht heruntergerissen wurde« und zwar
»nicht etwa vom Grafen Czernin, sondern von dem ehemaligen
20
französischen Ministerpräsidenten Painleve, von einem Gelehrten
mit europäischem Rufe«. In der Hauptsache aber — auf Seite 3 —
teilt dieser mit:
Im Laufe des Jahres 1917 wurden von Österreic h-U n g a r n
mehrere Versuche gemacht, um offizielle Gespräche mit
Persönlichkeiten der Entente einzuleiten. Insbesondere wurde im Juni
1917 von der zweiten Abteilung gemeldet, daß eine österreichische
Persönlichkeit, der Graf Revertera, durch Vermittlung eines
Schweizers zu wiederholten Malen darauf gedrungen
habe, eine private Unterredung mit einem entfernten Verwandten,
dem Major Armand, Offizier in der zweiten Abteilung, abzuhalten.
Auch in dem unwesentlichen Punkt — daß die Bespre-
chungen fortgesetzt und überhaupt nicht abgebrochen worden
seien — widerspricht Painlev6 nicht, sondern er erklärt nur, daß er
davon keine Kenntnis habe und nach der Erklärung Clemenceaus
annehme, >daß es Revertera war, der auf die Sache wieder
zurückgekommen ist«. Das heißt auf ministeriell:
Clemenceau wird daher von seinem Vorgänger Painleve i n
einer jeden Zweifel ausschließenden Welse
dementiert.
Titel: >Eine Widerlegung Clemenceaus durch Painlevd«.
Und wie übersetzt man den durch einen Gelehrten mit europä-
ischem Rufe verfaßten Text ins Deutsche?
Anfang August erschien nun irudieser Angelegen-
heit bei dem Grafen Revertera dessen Verwandter
Graf Armand . . . . Graf Revertera nahm bei diesem
Anlaß Eröffnungen über die Friedensfrage vom Grafen Armand
entgegen und hatte die Aufgabe, festzustellen, ob Aussicht
vorhanden sei — —
Unaufgeklärt bleibt nunmehr nur, warum Armand bei
Revertera in Fribourg und nicht lieber Revertera bei Armand
in St. Gallen erschienen ist. Ich muß einen Gelehrten mit
europäischem Rufe fragen.
Eröffnungen Ober die Friedensfrage
Der ,Matin' erzählt, daß sich bei der berühmten Schweizer
Zusammenkunft zwischen General Smuts und Graf Mensdorff der
afrikanische General höchst unfein benommen habe. Smuts begann das
Gespräch: »Also Ihr wollt einen Sonderfrieden.« Da Graf Mensdorff,
— 21 —
etwas betreten über soviel Mangel an diplomatischer Höflichkeit,
schwieg, wiederholte Smuts: >Ja oder nein.< Mensdorff schwieg immer
noch, worauf der General >Guten Abend« sagte. Damit sei die
Unterhaltung zu Ende gewesen.
Der ,Matin' lügt offenbar. Wahr dürfte die folgende
Version sein: >In dieser Angelegenheit erschien nun bei dem
Grafen Mensdorff der General Smuts. Graf Mensdorff nahm bei
diesem Anlaß Eröffnungen über die Friedensfrage vom General
Smuts entgegen.«
Der Katserbrief
. . . Wie sich für den unbefangenen Beurteiler ergibt,
steht die Beweiskraft der in der Erklärung gemachten Behauptung
mit der Stärke der Worte in scharfem Widerspruch. Wir haben
erwartet, daß Herr Clemenceau uns ein Original oder ein
photographisches Schriftstück vorweisen werde.
Viel Originale wird Clemenceau nicht besessen haben;
aber daß er auch nur eines davon der Neuen Freien Presse
vorweisen werde, war zu viel erwartet. Immerhin macht der
unbefangene Beurteiler kein Hehl daraus, daß er so etwas
erwartet hat.
In Erwartung
. . . Über die Behauptungen Clemenceaus, betreffend Briefe des
Kaisers Karl, wird auf die heutigen offiziellen Veröffentlichungen
hingewiesen, durch welche diese Briefe als absolut falsch und erfunden
bezeichnet werden. Clemenceau gibt ja auch keine weiteren Einzelnheiten
über diese Briefe und erwähnt gar nicht, was sonst in diesen Briefen
enthalten sein soll. Doch wir können in Ruhe weitereEnthüllungen
abwarten. Eine etwaige Wiedergabe von Facsimiles
wird sich zweifellos als Schwindel, als Fälschung herausstellen.
Denn daß diese Briefe Falsifikate sein müssen, steht heute
absolut fest.
22 —
Selbstverständliches
In der Stellung zur Affaire Clemenceau ist von unserer
Presse immer der Nagel auf den Kopf getroffen worden. Zum
Beispiel so:
. . . Daß mit einer Persönlichkeit von derartigen Begriffen niemals
mehr Verhandlungen geführt werden können, ist selbstverständlich.
O hört des armen Mannes Bitte!
. . . Alle Redner gaben in beredten Worten dem Wunsche
Kurlands nach einer Personalunion mit Deutschland Ausdruck — —
Mit beschwörenden Worten bäten sie den Kaiser aufs neue, den
kurländischen Herzogshut anzunehmen und die Hände nicht zurück-
zuweisen, die sich den deutschen Brüdern entgegenstrecken.
Der loyale Hertling
ist wohl noch schwerer durchzuhalten als der langweilige
Michaelis:
Wir stehen auf dem Boden des Friedens von Brest-Litowsk
und wollen diesen Frieden in loyaler Weise ausgeführt sehen ....
Wir sind geneigt, an die Loyalität der gegenwärtigen russischen
Regierung uns gegenüber zu glauben. Wir sind insbesondere geneigt,
an die Loyalität des Vertreters der russischen Regierung hier in
Berlin zu glauben .... Wir stellen uns auf den loyalen Boden
des Friedens von Brest-Litowsk .... Aber ich wiederhole, unser
Prinzip ist: Wir stehen auf dem Boden des Friedens von Brest-Litowsk
und wir wollen den Frieden loyal ausführen; wir wollen mit der
gegenwärtigen Regierung loyal verhandeln .... Wir stehen so,
daß wir loyal mit der jetzigen russischen Regierung verhandeln ....
Das ist absolut tödlich. In einem einzigen Absatz siebenfach
loyal. Der loyale Boden von Brest-Litowsk als solcher dürfte
sachlich und sprachlich ein Unikum in der Weltgeschichte
sein. Dieses Deutschland ist das Wunder aller Wunder: so
wenig Öl zu haben und doch so viel Salbung!
23
Ein rechter Burian
hat gleichzeitig für Österreich-Ungarn gesprochen oder vielmehr
sprechen lassen. Dem loyalen Boden eines Friedens entspricht
bei uns der >willige Kern« eines Bündnisses. Aber auch ein
»weittragendes Ziel« kommt noch für uns in Betracht und
ferner die Versicherung, daß »über den Verhandlungen zwischen
Österreich-Ungarn und Deutschland ein Grundsatz schwebt«.
Es ist ja kein Zweifel, daß die Vertreter der Zentralstaaten
tüchtiger, gescheiter und vor allem ehrlicher sind als die
Staatsmänner der Entente. Fraglich ist nur, ob das Französisch
und Englisch, das diese zur Welt sprechen, nicht besser ist als
das Deutsch der Unsrigen. Aber darauf kommt es freilich nicht
aR. Die Hauptsache ist nicht, daß die Sprache, sondern daß die
Sache gut ist, und da drückt die tote Welt schon gern ein
Auge zu.
Der nüchterne Burian
Beim Personenwechsel im Ministerium des Äußern, zu
dessen Feier sich bekanntlich der böhmische Tenor Burian einen
Rausch angetrunken hat, konnte nicht oft genug festgestellt
werden, daß der Nachfolger des Grafen Czernin ein anderer sei.
Wien, 17. April.
Baron Burian hat auch über sich selbst ein nüchternes Urteil.
Er sieht die eigene Person, wie sie von der Wirklichkeit sich,
abhebt .... Er hat die Neigung zur Gegenständlichkeit im Denken
und wird diese Stimmungen ohne Rücksicht auf das eigene Selbst-
gefühl mit derselben Pflichtmäßigkeit und Erfahrung prüfen wie —
Mit einem Wort, wie es jener andere in dem Zustand
gewiß nicht vermöchte.
Der Ministerwechsel im Ministerium des Äußern
. . . Am späteren Abend waren die Zimmer noch beleuchtet
und im Hause war ein beständiges Kommen und Gehen.
Das dürfte sich nicht nur auf Burian-Czernin und Czernin-
Burian, sondern auch auf Burian-Czernin beziehen.
24
Wie der Teufel von der Wand vertrieben wurde
.... Hätten wir gehandelt, wie die Herren vom Polenklub
■es heute verlangen, so hätten wir nicht nur den ukrainischen Frieden
zerschlagen, wir hätten auch die zarten Fäden zerrissen, die vielleicht
zum allgemeinen Frieden führen können, und die Stimmen, die sich
zur Verteidigung einer solchen Regierung erhoben hätten, wären, wenn
sich überhaupt welche erhoben hätten —
•(vielleicht doch)
verschwunden unter dem brausenden Orkan der
Empörung aller österreichischen Völker. (Leb-
hafter, langanhaltender Beifall und Hände-
klatschen.)
Also Seidler. Auch Kühlmann stimmt, wenngleich etwas
gedämpft, in die Anerkennung der ausgebliebenen Revolution ein:
.... Die erdrückende Mehrheit des deutschen Volkes hätte
(zwar nicht die Regierung erdrückt, aber immerhin)
ein solches Vorgehen nicht verstanden und ein Vorgehen unter
Opferung des so erwünschten Friedens aufs schärfste, ich glaube mit
Recht, mißbilligt.
Aber wenn die Regierungen schon so etwas zu denken
erlauben, läßt sich denn denken, daß sie etwas getan hätten, was
solche Wirkung hat? Und ist diese nur in einem Fall denkbar,
den's nicht gegeben hat, so daß also die von den Regierungen
anerkannte Folge zum Glück abgewendet wurde? Nein, der Teufel
wird nur an die Wand der Vergangenheit gemalt, und wenn auto-
kratische Unfehlbarkeit sich auf die demokratische Selbst-
bestimmung stützt, so kann der Syllogismus des lebhaftesten
Beifalls sicher sein. »Wir verstehn uns, was? Hinausgeworfen
hättet ihr uns!« »Bravo! Dableiben!«
Vom Brotfrieden
.... Es steht außer Zweifel, daß die in der Ukraine
lagernden Getreidevorräte unvergleichlich größer sind, als
das Quantum, welches wir momentan transportieren könnten,
sagte Seidler. Kühlmann, etwas gedämpft und, da er kein Schrift-
steller ist, in minderm Deutsch:
Die Vorräte in der Ukraine sind größer, als wir transportieren
können.
25 —
Es ist platterdings unmöglich, herauszubringen, ob der
Ton auf der Hoffnung oder auf der Enttäuschung liegt. Da aber
immerhin festzustehen scheint, daß, je weniger wir heraus-
bekommen, umsomehr drin sein muß, so triumphiert über die
Erkenntnis, daß es kein Getreide aus der Ukraine gibt, immerhin
der Trost, daß es Getreide in der Ukraine gibt, und das
Durchhalten wird zum Kinderspiel, wenn einen der sichere
Brotfriede sowohl für das Brot wie für den Frieden entschädigt.
Der Besten Einer
Wahrhaftig, sage ich, wir würden schon an der Schwelle des
Friedens stehen, hätten vielleicht schon den Krieg beendigt, wenn es
nicht, besonders in Österreich, doch leider auch bei uns gewissenlose
Leute gegeben hätte, die aus den Leiden der Nation für ihre
elenden Zwecke Kapital schlagen und sich nicht
schämen, ihre Sucht nach dem Frieden und nach dem
Paktieren in einer Weise zu betonen — —
— — Wenn der Leser diese Zeilen liest, werde ich inmitten
tapferer, treuer, für ihr Vaterland zu allem bereiter ungarischer
Husaren sein. Tisza.
Aus der Kinderstube
Berlin, 31. Jänner. Das Wolffsche Büro meldet aus Kopen-
hagen: In London ist die Nachricht vom Streik in Deutschland mit
heller Freude aufgenommen worden. Das Ereignis wurde in
London durch Extrablätter mit der Überschrift »Der Zusammen-
bruch der Mittelmächte« bekanntgegeben.
Da das Gegenteil wahr ist und in London der deutsche
Streik nicht ernst genommen wurde, stellt sich die Situation in
der politischen Kinderstube wie folgt dar: Über den österreichischen
Streik schwieg Wolfff, weil solche Geschichten nun einmal nicht
für Kinder passen, für die nur Geschichten vom Wolff passen,
und weil, solange Soldaten gespielt wird, nicht Wu-Wu gemacht
26 —
werden soll. Als aber dann böse Beispiele gute Sitten zu verderben
drohten und der Lärm in der Nachbarschaft gehört werden konnte,
rief die deutsche Erzieherin: »Schämt ihr euch denn nicht, da
seht doch man hin, wie sich die Miß nebenan freut, die so brave
Jungens hat, sie erzählt es ihnen schon und alle zeigen mit dem
Finger auf euch, da, guckt mal, wie sie rübergucken und
euch auslachen. Seid man stille, damit ihr das Lachen hören
könnt !< Und als es dann stille geworden war, hörte man von
drüben nur die Worte: »So artig seid ihr doch nicht wie jene!«
— und es lachte die Nachbarschaft.
Ein zwiespältiger Fall
und der Verdacht war
nicht abzuweisen, drängte sich viel-
mehr geradezu auf, daß es den
imperialistischen Einflüssen . .
gelungen sei, den Willen zum
allgemeinen Frieden zu verge-
waltigen, daß der Plan besteht,
mit dem Sonderfrieden in Rußland
nur die erwünschte Möglichkeit
zu gewinnen, das Morden im
Westen unter besseren Aussichten
fortzusetzen, den Frieden in
Rußland zu imperialistischen Er-
oberungstendenzen nach dem
Westen hin auszubeuten. Es ent-
stand nicht bloß der Verdacht,
sondern diese Absicht bestand ;
und gegen sie richtete sich die
tapfere Aktion der Arbeiter, und
wenn diese Absicht, wie aus der
heutigen Rede Czernins zu folgern
ist, nun aufgegeben ist,
so ist das mit ein Erfolg der
Tat der Arbeiter und wahrlich ein
Graf Czernin hat offen-
sichtlich das Bestreben, seine
Politik von den deutschen An-
nexionsabsichten zu scheiden, und
er hat darüber auch einige wichtige
Bemerkungen gemacht. Ausdrück-
lich erklärt er, daß er für die
Verteidigung — wohlgemerkt: für
die Verteidigung! — der Bundes-
genossen »bis zum Äußersten
zu gehen fest entschlossen ist«,
daß wir »den vorkriegerischen
Besitzstand« unserer Bundes-
genossen verteidigen werden wie
den eigenen. Aber um bei seiner
Formel zu bleiben, würde die
Offensive im Westen, die nun
in der menschenmörderischesten
Weise geplant ist, zur »Verteidi-
gung Straßburgs« geführt werden?
Die würde zu Eroberungszwecken
unternommen werden I — —
sehr ersprießlicher Erfolg. — —
So wäre denn die aufgegebene Absicht schon in der
nächsten Spalte geplant und der Erfolg der Arbeiterdemonstration
27
wie die Anerkennung des Grafen Czernin damit hinfällig —
eine mehrfache Wendung, die den Tatsachen vielleicht näher
kommen dürfte. Und selbst wenn die westliche Offensive nicht
zu Eroberungs-, sondern garantiert zu Verteidigungszwecken
unternommen würde, sollte der östliche Sonderfriede ihr nicht
auch dann frommen? Wie können zugleich die Verteidigungs-
zwecke zugestanden. und »das Morden im Westen unter bessern
Aussichten« inhirjJP sein? Oder so: Die Eroberungsabsicht
ist aufgegeben, die Verteidigungsabsicht bleibt bestehen, stellt
sich aber als Eroberungsabsicht heraus, und die Handlung als
solche, wie immer sie sich deklarieren mag, ist nicht aufgegeben.
Kurzum, bei aller Sympathie für die Ehrlichkeit, mit der unsere
Sozialdemokratie den Zustand als unerträglich empfindet, und für
Mut und Lauterkeit ihres publizistischen Bekenntnisses — Politik
ist an und für sich ein schwerer Standpunkt, Politik im Krieg
ein noch schwererer, und solange der Graf Örindur nicht Minister
des Äußern ist, wird der Zwiespalt der Natur unerklärlich bleiben.
Wie hätten sie sich verhalten, wenn
Der Abgeordnete Dr. Lodginan kam vorige Woche in einer
Wahlversammlung in Aussig auf das Verhältnis des Grafen Stürgkh
zu den deutschen Forderungen zu sprechen — — Er sei kurz vor
dem Tode des Grafen Stürgkn in die Lage gekommen, mit dein Minister-
präsidenten über die Kreisverfassung in Böhmen zu sprechen — —
Graf Stürgkh habe sich ihm gegenüber, ohne das Bewußt-
sein, eine Ungeheuerlichkeit zu sagen, folgendermaßen
geäußert: »Ja, die deutschen Herren bezichtigen die Tschechen des
Hochverrats. Ich frage, wie hätten sie sich verhalten,
wenn wir gegen Deutschland marschiert wären?«
Für den Grafen Stürgkh war es eben keine naturgemäße Entwicklung
der Jahre seit 1866, daß wir an der Seite Deutschlands marschieren
mußten, sondern nur eine zufällige Konstellation.
Die , Arbeiter-Zeitung' zitiert in diesem Zusammenhang
auch die außerordentlich günstige Zeugenaussage des Grafen
Stürgkh im Prozeß Kramarz. Sollte jenes Wort nicht, über eine
Amnestie hinaus, zu einer Staatsreue über das, was seit 1914
gegen Österreicher unternommen wurde, verpflichten? So oft ich
jenen weißpudelbärtigen Polen sehe, der im Sommer 1907
— 28
das Weltunheil bewirkt hat, sehe ich die winzige Quantität Staats-
weisheit, die zwischen den Begriffen Patriotismus und Hochverrat
umschaltet, und beziehe das Gebrüll wie die Wehklage von
Millionen und alle historische Notwendigkeit, von der all dies
hinterdrein gedeckt wird, auf den dürftigen Einzelfall, mit dem
sich nie rechnen und so selten abrechnen läßt.
Frage
Sollte der Weltkrieg nicht dadurch entstanden sein, daß
eben die Gendarmen, die in Sarajevo gefehlt haben, in Belgrad
intervenieren wollten?
Haarsträubendes
Der deutsche Botschafter in London:
Nachträglich erfuhr ich, daß bei der entscheidenden Bespre-
chung inPotsdam am 5. J ul i die Wiener Anträgedieunbedingle
Zustimmung aller Persönlichkeiten fanden, und zwar mit dem Zusätze,
es. werde auch nicht schaden, wenn daraus ein
Krieg mit Rußland entstehen sollte. So heißt es
wenigstens im österreichischen Protokoll, das Graf Mensdorff in
London erhielt.
Die Zeitung :
Die Geschichte von dem Telegramm an den Grafen Mensdorff,
worin angeblich nach dem Kriegsrate in Potsdam, der überhaupt
nicht stattgefunden hat, dem Botschafter von Wien mitgeteilt worden
wäre, ein Krieg mit Rußland würde nicht schaden, ist so haar-
sträubend, daß es ganz unverständlich bleibt, wie Fürst Lichnowsk y,
der die Formen des Wiener Ballplatzes aus eigener
F.rfahrung kennt, an solche Märchen auch nur einen Augenblick
glauben konnte.
Wenn der deutsche Botschafter in London von einem
Protokoll spricht, das der österreichische Botschafter in London
erhalten habe, so muß er es gesehen und nicht bloß davon
gehört haben. Die Feststellung der Wahrheit, deren Wesen die
Formen des Wiener Ballplatzes doch gewiß nicht widerstreben,
wäre durch Befragung des österreichischen Kollegen ermöglicht.
29 —
Am haarsträubendste» wäre die Tatsache, daß Deutschland einen
Botschafter in Uondon gehabt hätte, der solche Dinge behauptet,
ohne sie zu wissen.
Die Sprache der Diplomaten
... Ich (Mühion) war während dieser Zeit in Berlin und
äußerte zu Helfferich, daß ich den Ton und den Inhalt des Ultimatums
geradezu ungeheuerlich finde. Helfferich meinte aber, das klinge
nur so in deutscher Übersetzung; er habe es in
französischer Sprache zu sehen bekommen und da könne man
es keineswegs als übertrieben empfinden.
Und trotzdem — auf der Basis des französischen Originals
— ist der Weltkrieg entstanden! Im Deutschen lügt man, wenn
man höflich ist; und ganz besonders, nachdem man unhöflich war.
Anweisung für den Frieden
... Da wird es nötig sein, in der Arbeit die Beharrlichkeit, die
Leidenschaftlichkeit zu haben, die den deutschen Kaufmann so groß
und in der Entente so gefürchtet hat werden lassen.
Damit noch einmal der Weltkrieg ausbricht.
Kein Geschäft
Berlin, 14. April. (Eigener Drahtbericht.) Der Kriegsbericht-
erstatter des » Lokalanzeigers < Karl Rosner
(Sohn des braven Wiener Buchhändlers)
der die Erlaubnis erhielt, mit Kaiser Wilhelm auf dem westlichen
Kriegsschauplatz zusammenzukommen, notiert in seinem heutigen Be-
richte folgenden Vorgang: Kaiser Wilhelm, der zu Füßen der Höhe
Gouceaucourt über die ungeheuere Breite des Schlachtfeldes schaut,
ruft mich zu sich, nimmt mich amArm und sagt: > Sehen
Sie, hier allein im Umkreis liegen neun zerschossene englische Tanks;
damit haben die Engländer auch kein Geschäft
gemacht.«
30
Der Kriegshetzer
Lloyd-George:
... In allen Ländern sind die besten Köpfe der Wissen-
schaft von nationalem Wetteifer, nationalem Haß und nationalen
Hoffnungen angespornt, ihre Kräfte für zehn, zwanzig oder dreißig
Jahre der Aufgabe zu weihen, die zerstörenden Wirkungen
jener furchtbaren Werkzeuge zu vergrößern, deren
Macht sich den kriegführenden Völkern erst jetzt innerhalb der letzten
beiden Monate erschlossen hat. Dem müssen wir ein für
allemal ein Ende machen. — Lloyd-George führte weiter
aus: Die Luftwaffe, in ihren Anfängen unbedeutend, und die
Waffe der Tiefe sind außerordentlich entwickelt worden, und ebenso
all die chemischen Elemente, die zum erstenmal
ausgenützt werden. Wenn sich das nach dreißig Jahren
wissenschaftlicher Arbeit und Anwendung wiederholt, glauben Sie
mir, dann sind Männer und Frauen hier in dieser Halle, die den Tod
der Zivilisation mitansehen werden. Einem Streit
dieser Art muß jetzt ein Ende gesetzt werden.
Es ist wesentlich für die zukünftige Wohlfahrt des
Menschengeschlechts, daß eine Entscheidung jetzt in
diesem Kampfe erreicht wird, durch die die rohe Gewalt
für immer vom Thron gestoßen wird, damit unsere
Kinder nicht zu Furchtbarkeiten und Schrecken verurteilt seien, die
die lebhafteste Einbildungskraft nicht auszumalen vermag. Deshalb
setzen wir alle unsere Kraft darein, einen richtigen Ausgang dieses
Streites jetzt zu erzielen.
Benedikt:
Wir glauben noch immer nicht, daß die englische Nation solche
Verderbtheiten billigen und noch längere Zeit ertragen werde.
Die Pflege der Wissenschaft in der Anwendung auf
das Leben
— — aber was ist Hindenburg und Ludendorff unmöglich.
Die deutsche Armee hat einen großen Sieg errungen.
Eine geheimnisvolle Kanone schleudert aus einer Entfernung
von hundertzwanzig Kilometern schwere Bomben in die Stadt. Auch
ein mutiges Volk wird von so vielen Unheimlichkeiten verängstigt,
von Geschossen, die aus den Wolken niederfallen, von Nachrichten über die
schreckliche Wirkung der Gase und von der Sorge um die Angehörigen.
— -Hindenburg und Ludendorff sind das
Gefäß, das diese nationalen Vorzüge in sich aufgenommen hat.
— 31 —
Gesiegt hat jedoch auch die Pflege der Wissenschaft in
der Anwendung auf das Leben. Die Kanonen, die Paris
aus der Entfernung von hundertzwanzig Kilometer beschießen, wären
ohne die Mitarbeit der Forscher an den deutschen Hochschulen, ohne
den Sinn des ganzen deutschen Volkes für industrielle Macht-
entfaltung und ohne das innere Verwachsen zwischen Wissenschaft
und Wirtschaft nie entstanden. Der deutsche Professor gewinnt Schlachten
wie einst der preußische Lehrer, und wieder kommt in Erinnerung
Die Pflege der deutschen Wissenschaft in der Anwendung
auf das Leben von Pariser Kirchenbesuchern! Aber was wäre
diesem Dreckgehirn unmöglich? Hindenburg und Ludendorff
zusammen ein Gefäß, dessen Inhalt die technisch-kapitalistisch-
jüdisch-preußische Weltanschauung bildet.
Nicht übertrieben
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aller
Zeiten!
Der Siegeslauf
. . . Die Truppen des General- . . . Ein großer wichtiger Schritt
obersten Grafen Kirchbach haben zur Herbeiführung der Beendigung
Livland und Estland zur Unter- des Weltkrieges ist gemacht worden
und der rnedensgedanke wird
Stützung der bedrängten Bewohner j „ seinem Siegeslauf nicht
im Siegeszuge durch- mehr lange aufzuhalten
eilt. sein.
Aber doch noch eher als die Deutschen. Und überhaupt:
solange von einem Siegeslauf des Friedensgedankens gesprochen
werden kann, solange der letzte terminologische Rest dieser welt-
strangulierenden Ideologie nicht aus den Hirnen gejätet ist,
wird immer noch ein Siegeslauf deutlicher in Erscheinung treten
als ein Friedensgedanke. Nichts bleibt der bedrohten Welt übrig,
als die Deutschen in ihrem Siegeszuge weiterlaufen zu lassen
32 —
und Spalier zu bilden. Dann führt sich das Ding vielleicht
doch einmal ad absurdum und was am Ziel ankommt, ist der
Friedensgedanke.
Denn auch die Oberste Heeresleitung führt den Krieg
nicht um des Krieges willen
. . . Wenn sich solche Möglichkeiten zeigen, wenn eine
ernste Friedensneigung auf der anderen Seite hervortritt, dann werden
wir sofort darauf eingehen, das heißt wir werden sie nicht
zurückstoßen, wir werden zunächst in kleinem Kreise
sprechen. Ich kann Ihnen auch sagen, daß dieser Standpunkt nicht
etwa nur mein Standpunkt ist, sondern daß dieser Standpunkt auch
von der Obersten Heeresleitung ausdrücklich geteilt
wird. Denn auch die Oberste Heeresleitung führt
den Krieg nicht um des Krieges willen, sondern auch
die Oberste Heeresleitung hat mir gesagt, sobald sich ein
ernster Friedenswille auf der anderen Seite bemerkbar macht, müssen
wir der Sache nachgehen.
Nein, so was! »Die Sache«, die »im Westen gemacht wird«,
sollte also nicht der Sieg, sondern der Friede sein ?
Was ist der Unterschied zwischen Kühlmann und
Czernin?
Kühlmann, der Inkonsequente, zieht eine Rede durch eine
andere Rede zurück. Czernin durch dieselbe!
Die Kombination
Wenn er so fortfährt, der Graf Czernin, so wird er wohl keinen
mehr verführen
schließt nach Erörterung eines Czemin-Stückels, der Bot-
schaft an den König von Rumänien, die Arbeiter-Zeitung, die ihn
33 —
»eine Kombination von Metternich und Wilson« nennt. Man
könnte ihn sogar auch eine Kombination von Macchiavelli und
Kant nennen, aber ich habe ihn längst als eine Kombination
von mehr papiernen Kräften erkannt: er ist ein Zeitungs-
blatt, durch das in der Mitte ein Strich läuft, oben ein deutsch-
treuer Leitartikel in unverläßlichem Deutsch, unten ein Feuilleton
von einem weltbürgerlichen Kommis — den Strich entlang die
Prostitution von allem. Die Kombination von allem; kein
Charakter, sondern eine Kombination. Ich halte ihn für den
zweideutigsten Typus unserer ganzen Publizität, dessen Geschick-
lichkeit aber bei weitem nicht hinreichen würde, einen französischen
Zeitungsleser zu düpieren. Daß er erst fortfahren muß, um
endlich auch keinen Menschen in Österreich mehr zu verführen,
vermehrt die ganze Hoffnungslosigkeit unseres Lebens. Spät genug
haben die paar rechtlichen Leute, die es hierzulande gibt, viel
zu spät nach der Selbstenthüllung, mit der der Graf Czernin
ihnen zuvorkam-, haben sie eine Individualität erkannt, deren
Reiz nichts als ein standeswidriges Talent war, dessen Mangel
den Durchschnittsaristokraten adelt, einen Menschen, der in
keinem verantwortlichen Augenblick seines Daseins, von einer
gesunden Friedensrede bis zu einem bresthaften Frieden, ein
Charakter war, aber in jedem eine Kombination.
Czernins Bruder
ist auch nicht ohne:
— — bereit, die versöhnende Hand auszustrecken, sobald sich
drüben die Vernunft und das Bewußtsein Bahn bricht, daß es höhere
Ideale gibt als schnöde Eroberungsgier. Das letzte
Jahr war reich an Ereignissen und Erfolgen. Es brachte uns die
Friedensschlüsse von Brest-Litowsk und Bukarest, die
großen Siege in Italien — — Zar Ferdinand hurra!
34
So siehste aus
... In dem Augenblicke trat Staatssekretär v. Hintze in den
Saal, eine schlanke, sehr sympathische Erscheinung, die ganz den
Eindruck eines Diplomaten macht.
Hierauf hielt Staatssekretär v. Hintze eine längere
Rede, in der er dieBedeutungderPressehervorhob
und Mitteilungen über den Verlauf der Wiener Besprechungen
machte.
Hintze
Auch in den Reichen einer vollkommenen geistigen Unter-
ernährung, die, selbst zum Anspruch zu schwach, sich noch im
fünften Jahr mit Gedanken wie »Schulter an Schulter« und
»Durchhalten« abgefunden sieht, muß das Niveau dieses Herrn
v. Hintze Verwunderung erregen. In einer Rede, die die
Neue Freie Presse »formvollendet« nennt und in der er sich
»als treuer Anhänger des Bündnisses bekannt« habe — man
hatte offenbar erwartet, daß der deutsche Staatssekretär in Wien
für den Abfall Österreichs agitieren werde — -, ist es ihm schier
gelungen, die unterste Grenze der Möglichkeiten zu erreichen,
innerhalb deren sich eine von keiner Weltrealität eingeschüchterte
Fibelmechanik auslebt.
Der Staatssekretär wies auf die hohe Bedeutung der Presse
als einen wichtigen Faktor des öffentlichen Lebens hin, welche i m
Verein mit der Armee im Felde der Diplomatie den
Verteidigungskrieg gegen die Entente mit gewinnen helfen müsse.
Diese Charakterisierung der Gedanken des Herrn v. Hintze,
in der die Armee und die mit dem opfervolleren Teil der Auf-
gabe betraute Presse als die unterstützenden Faktoren der
Diplomatie erscheinen, ist des geistigen Gehalts der Rede
keineswegs unwürdig. Doch muß man, um Hintze zu erfassen,
ihn selbst hören. Darum sei für alle Zeiten, denen das heutige
fragwürdige Papier eine Kenntnis der unsern ermöglichen wird,
bewahrt, was im fünften Kriegsjahr in deutscher Sprache, aus
dem Munde eines Lenkers deutscher Geschicke, möglich war.
— 35
Nachdem Hintze erklärt hatte, daß er in der Presse »einen so
wichtigen Faktor des öffentlichen Lebens« sehe und »eine
seiner wichtigsten Aufgaben« das Bestreben sei, alles zu
unterstützen, was uns einem ehrenvollen Frieden näher bringen
kann, wobei natürlich »die Waffen des Geistes eine einflußreiche
Rolle spielen, die ebenso wichtig ist wie die der Waffen im
Felde und der Diplomatie*, sagte er wörtlich:
Nicht zum erstenmal komme ich nach Wien. Immer wieder
packt mich die Wucht der Vergangenheit der österreichisch-
ungarischen Monarchie, ihre Glorie und Ruhm, die in den
ehrwürdigen Bauten und Denkmälern in Wien ihren Ausdruck
finden.
Ohne die Wucht der Zukunft der Monarchie speziell zu
berühren, machte er hierauf der Gegenwart ein Kompliment:
Ich habe mich an den regen Wiener Straßen-
bildern gefreut und mit besonderer Freude ersehen, daß es dem
Optimismus des Wieners gelungen ist, diese vier schweren Kriegsjahre
so gut zu überstehen.
Wie rege es auf der Ankunftseite des Nordwestbahnhofs
aussieht, weiß ich nicht genau; auf der Abfahrtseite dürfte
Hintze, selbst auf dem kurzen Weg zum Salonwagen, schon
einige Eindrücke von dem optimistischen Leben und Treiben
der Wiener bekommen haben.
Es muß ein starkes Quantum an Vertrauen
vorhanden sein, um —
Um zu glauben, daß — ? Nein:
um unser Ziel bald zu erreichen.
Aber zur Erreichung eines Zieles braucht man kein Ver-
trauen; nur zum Glauben an die Erreichung eines Ziels. Der
Satz beginnt gut, verhaspelt sich dann aber.
Wenn sich auch zuweilen zweifelnde Stimmen dagegen erhoben
haben, so habe ich mich durch eigenen Augenschein
davon überzeugt, daß solchen Meinungen kein Gewicht
beizulegen ist.
Wie Hintze diesen Augenschein vorgenommen hat, sagt
er nicht, dagegen sagt er von den Journalisten, daß sie »als die
Schreiber der täglichen Eindrücke« berufen seien,
das Zusammenschmelzen und die Harmonie unserer Völker
zu fördern.
36 —
Das wurde noch in Sperrdruck gebracht. Ob es je mit
der Harmonie gelungen ist, bleibe dahingestellt; das Zusammen-
schmelzen der Völker ist der Presse als einem so wichtigen
Faktor in der Kriegführung zweifellos geglückt. Aber diese
Aufgabe sei nicht immer leicht, meint Hintze, »wenn die
Nachrichten nicht von Triumph und Lorbeeren melden«:
Wenn wir manchmal auf diese verzichten und aus strategischen
Gründen eine taktische Rückverlegung der Truppen vornehmen müssen, so
hat das, wie man ja längst weiß, gar nichts zu bedeuten.
Es können nicht immer Lorbeeren blühen, oder auch so:
Es können nicht immer Rosen blühen. Der Krieg ist kein Rosen-
garten, in dem man spazieren geht; wenn man Rosen pflücken will,
muß man auch einen Dornenstich gewärtigen.
Demnach scheint der Krieg, da bekanntlich keine Dornen
ohne Rosen, doch ein Rosengarten zu sein. Wo sollten denn
sonst auf einmal die Dornen herkommen? Es wäre denn, daß man
ihn einem Dornengarten vergleichen wollte. Hier ist das Malheur
passiert, daß zwei notorische Eigenschaften der Rose: Dornen zu
haben undangenehm zusein, Schulter an Schulter aneinandergeraten
sind. Aber das hat, wie man ja längst weiß, gar nichts zu
bedeuten. Es führt irgendwie zum Sprichwort: Keine Presse ohne
Zensur. Versteht sich, in den feindlichen Staaten. Bei uns gibt's
so was nicht:
Wir in Deutschland und Österreich-Ungarn halten an
einer freien Presse selbst unter dem Zwange des Krieges fest.
Was zum Beispiel der Fall der Arbeiter-Zeitung anläßlich
der Besprechung dieses Hintze-Wortes dartut. Wir sind ganz
andere Kerle. Bei unseren Gegnern dagegen
stehen die Journalisten unter der Kontrolle des Staates.
Man denke. Und nicht nur unter der Kontrolle, was man
so unter Kontrolle versteht, sondern es kommt noch doller, die
halten gleich die freie Presse selbst fest:
Ein Zeitungsschreiber, der nicht die Regierungsstimmen vertritt,
wandert bei ihnen einfach ins Zuchthaus.
Was zum Beispiel die Kritik unfähiger Generale durch
die englischen und französischen Zeitungsschreiber tagtäglich
beweist. Wahrscheinlich werden sie alle am Abend eingesperrt.
37
Das aber widerstrebt unserer Auffassung. Solche Maßnahmen
sind für andere Länder, aber nicht für uns
Deutsche. Es ist besser, daß Regierung und Presse miteinander
arbeiten.
So daß, wenn die Zeitungsschreiber die Regierungsstimmen
vertreten, dann viceversa auch die Regierung die Preßstimmen
zur Geltung kommen läßt.
Dies sage ich nicht, um Wohlwollen zu erringen, sondern
es ist meine innerste Überzeugung. Ein Zusammen-
arbeiten kann ungemein nützen, ein Gegenüberstehen
ungemein schaden.
Und wie zwischen Regierung und Presse, so auch zwischen
den verbündeten Staaten.
Durch Opfer, Leiden und Triumphe unauflöslich aneinander
gekettet, wird sich unser Schicksal gemeinsam erfüllen.
Diese Nuance des Schulter an Schulter, die scheinbar
eine Erschwerung ist, in Wahrheit aber eine Vertiefung, ist ein
Gedanke, durch den sich Hintze von seinen Vorgängern
unterscheidet. Hintze ist neuerungssüchtig, aber er geht aufs
Ganze und verpönt die Surrogate:
Wenn ich meine Eindrücke zusammenfasse, so muß ich sagen:
Unser Bündnis ist ein wirkliches »Bündnis«. . Ich gebrauche ausdrücklich
das Wort > Bündnis« ohne jeden Zusatz. Irgendein adjektivisches
Beiwort würde den Begriff nur abschwächen können.
Ohne zu wissen, ob nicht unter seinen Hörern leiden-
schaftliche Anhänger von adjektivischen Beiwörtern seien, bat
Hintze sie, »diese Auffassung ein Echo in der hiesigen Presse
finden zu lassen«. Am gleichen Tage empfing er einen, der
für spanische Blätter korrespondiert, aber Gaiger heißt, und
unterhielt sich mit ihm in zwanglosem, jedoch spanischem
Gespräche. Auf deutsch lautet eine Stelle:
Es ist richtig, daß die Note Spaniens diesmal einige Härten
enthielt; wir glaubten jedoch darüber schon aus dem Grunde
hinweggehen zu können, weil Spanien im Kriege sich unserer Lands-
leute über See in wärmster Weise angenommen und w i r Spanien
dafür dankbar sind. Diese Dankbarkeit, bekanntlich ein echt
deutscher Charakterzug, beeinflußt auch unser politisches
Verhalten.
— 38
Sie war zwar nicht imstande, das Verhalten gegenüber den
spanischen Landsleuten unter See zu beeinflussen, deren sich
Deutschland im Kriege irgendwie angenommen hat, aber die
Hoffnung besteht, daß Spanien sich eben dafür dankbar zeigen,
also bekanntlich einen echt deutschen Charakterzug zur Geltung
bringen wird. Nun, wie immer es ausgehen mag, dieser Hintze
wäre besser zu vermeiden gewesen. In so ernsten Zeiten ist
es geraten, einer ganzen mißgünstigen Welt nicht Persönlich-
keiten gegenüberzustellen, die sich kaum an der dürftigsten Kon-
versation im deutschen Heim beteiligen könnten. Der neue
deutsche Staatssekretär ist ein Mann, der uns nicht nur zum
Stolz auf unsere Vergangenheit, sondern auch zum Stolz auf
unsern Seidler ein Recht gibt, ja zu dem Übermut, den Burian
für ein Genie zu halten.
Aber, aber!
Burian hat dem Chefredakteur des .Fremdenblatt' eine
Mitteilung gemacht:
Das »deutsche Joche ist für Österreich-Ungarn das Joch der
beiderseitigen felsenfesten Freundschaft und vollen Rücksichtnahme
auf die Interessen beider Teile. Anders wäre das Verhältnis zwischen
Österreich-Ungarn und Deutschland nicht einen Augenblick möglich.
Muß man denn noch immer das oft gehörte Wort zitieren :
Nur die allefdümmsten Kälber
Wählen ihre Schlächter selber.
Nein, man hätte nicht müssen. •
39
Auf hoher See
»Wie wir uns der Welle entgegenstemmen müssen«
rief einst der Kapitän Seidler, als er auf hoher See um die
Rettung eines Budgetprovisoriums rang
»welche, aus dem Nordosten heranrollend, schon den Boden
unserer wirtschaftlichen Kultur bedroht, können wir uns ander-
seits nicht dem Gedanken verschließen — «
Da ich das Gefühl hatte, daß es schon kein Gedanke
sein werde, verschloß ich mich der weiteren Lektüre und dachte
darüber nach, wie es denn komme, daß so viele tüchtige Männer
unseres öffentlichen Lebens zwar Karriere gemacht, aber den
Beruf verfehlt haben. Während unser Czernin heute sicher
den Brotfrieden darum gäbe, wenn er, anstatt ihn zu schließen,
• berufen gewesen wäre, ihn in einer Sonntagsplauderei zu
besprechen, trauert unser Seidler einer versunkenen Hoffnung
seiner Jugendtage nach, die ihm ein noch weiteres Gebiet
eröffnet hätte, nämlich nicht die Freie Presse, sondern das
freie Meer. Im Ernst, Seidler, der von außen als eine der
drolligsten Gestalten der Weltgeschichte erscheint und im
tiefsten Grunde seines Seelenlebens eine tragische Figur ist,
muß in seiner Kindheit von dem stürmischen Wunsche durchwogt
gewesen sein, Matrose zu werden. Man kann es unschwer daraus
schließen, daß ihm von allen Phrasengebieten keines so zugäng-
lich ist wie jenes, auf dem die Vergleiche aus dem Marineleben
wachsen. Wenn er nur den Mund aufmacht, so kann man, topp, darauf
wetten, daß der in das schwankende Staatsleben verschlagene See-
mann zum Vorschein kommen wird. Eine alte Teerjacke, dieser
Seidler, hei! Weiß Gott, keine Landratte! In dem Moment, als
er ins Kabinett eintrat, wußte er auch schon, daß es eine Kajüte
sei. Da er aber nun einmal ans Ruder gelangt war, ging er
sofort auf Deck, rief alle Mann an Bord und nun galt es, das
40
Staatsschiff mit fester Hand, eh schon wissen. Im Parlament
freilich hatte er nicht so sehr das Gefühl, das Staatsschiff in
den sicheren Hafen gebracht zu haben, sondern dünkte ihm
vielmehr, daß die Regierungsbank eine Sandbank sei, auf der er
aufgefahren war und nun festsaß. Dieses Festsitzen war ihm aber
eine solche Passion, daß er geradezu der Meinung war, den
Passagieren (sprich: Passascheren) sei es um nichts anderes zu
tun und wenn sie sich trotzdem beklagten und ihrerseits der
Meinung waren, das Ziel der Fahrt sei denn doch ein anderes
und der dauernde Ruhestand wäre eigentlich nicht auf der
Sandbank, sondern wo anders zu suchen, damit nämlich nicht
die ganze Schiffahrt zu dauerndem Ruhestand verurteilt sei, so
war er um eine Antwort nicht verlegen, in der nebst der alten
seemännischen Tüchtigkeit auch die Kenntnis der neueren
Methoden der maritimen Kriegführung bemerkbar wurde:
. . . Geben Sie mir freies Meer, dann werden Sie leicht
erkennen, daß ich zu fahren vermag; aber es ist das Schicksal
dieser Regierung, daß sie in den Sturm, unter Klippen politischer
Natur, ja geradezu zwischen Minenfelder geworfen worden ist . . .
So daß also die Sandbank noch die einzige Rettung für.
Mann und Maus wäre. In Wahrheit jedoch kann der Kapitän
noch von Glück sagen, daß auch die Minenfelder gleich den
Klippen, von denen es ja ausdrücklich zugegeben ist, politischer
Natur sind, nicht so sehr ein Erlebnis als ein Ornament. Man
stelle sich, wenns anders wäre, den Herrn Seidler vor. Natürlich
würde ich, wenn ich auf der kommenden Friedenskonferenz
mein Selbstbestimmungsrecht durchsetzen könnte, mich nicht von
einem Herrn regieren lassen, der, ganz abgesehen davon, daß
erzwischen den diesbezüglichen Minenfeldern gefährliche Theater-
stücke schreibt und sie nicht verbietet, sondern aufführen läßt,
eine Redensart in einem Moment gebraucht, in welchem un-
blutiger Inhalt so vielfach lebendig wurde. Denn gewiß würden
die, denen es geschah, nie auch nur annähernd so pathetisch
davon zu sprechen wagen wie so ein nach allen Windrichtungen
verbindlicher Bureaukapitän, der von sich behauptet, er hätte
»trotzdem den Kurs eingehalten«. Man müßte den Weltkrieg
wirklich von vorn anfangen, wenn man ihn überstanden haben
— 41
sollte, ohne wenigstens von einem geistigen Typus befreit zu
sein, der sich nur durch den Rettungsgürtel der schäbigsten
Schablone über Wasser halten kann. Es hat mir nie eingehen
wollen, daß so etwas eine »Regierung« sein könne und daß
einer in der Lage sein soll, mir das Maß von Freiheit und
anderen Lebensmitteln zu bestimmen, mit dem ich keine zwei
Worte zu sprechen imstande wäre. Man kann es einem intelligenten
Abgeordneten schon nachfühlen, daß es ihn eine ziemliche
Überwindung kosten muß, vor einer solchen Autorität erst
umständlich zu begründen, warum man ihr das Vertrauen ver-
weigere. Als Seidler wieder einmal um die Rettung des Budget-
provisoriums rang, spürte er den Hohn nicht, mit dem ein
Sozialdemokrat zur hohen Sandbank hinaufrief:
Wenn die Regierung das Staatsschiff vor den Klippen
retten will, muß sie es hinausführen auf die hohe See großer
sozialer und politischer Reformen.
Seidler schwamm in Seligkeit, weil ihm die Sphäre, in
der er sich heimisch fühlt, selbst von der Opposition zuerkannt
war. Ich lasse mich aber hängen — und wär's vom König oder
vom Peutelschmied — , wenn er nicht damals, als er die Depu-
tation der deutschen Mannen vor den -Thron führte und dabei
stand, als der Herr Ornik aus Pettau die Worte ausrief:
Majestät! Wir litten inständigst, durch den Steuer-
mann des Staates auch ohne Parlament die Staats-
notwendigkeiten zu prüfen —
— wenn er nicht damals Autorfreuden erlebt hat. Ich habe
Wilhelm Engelhardts Dichtung > Durch Feuer und Eisen« nicht
gelesen, aber ich möchte wetten, daß das Pathos ihrer kriegs-
tüchtigen Sprache von Seeluft geschwellt ist. Wie aber, frage ich,
kommt ein solcher Genius dazu, die erste Rangsklasse im Staat
innezuhaben? Muß ich mich schon von einem Volkstheaterautor
regieren lassen, dann lieber gleich vom Hermann Bahr! Der
schwätzt doch was vom neuen Österreich und der Lebensabend
vergeht uns wie geschmiert. Aber so ein Musterknabe, der im
Matrosenanzug Karriere gemacht hat und sich im Kabinett wie
in der Kajüte und in dieser wie in der Kinderstube bewegt,
ist nicht mein Fall. Ich weiß es positiv: Als man ihn einst
42
fragte: Ernst], was willst du werden?, rief er: Tapitän! Als es
dann Ernst wurde und man ihn fragte: Was bist du?, rief er:
Tapitän!! Und als es noch ernster wurde und man ihn fragte:
Was willst du bleiben?, rief er: Tapitän!!! Des freuten sich die
Ratten, ehe sie das sinkende Schiff verließen.
Postscr i pt u m. Es ist ein eigenes Verhängnis, daß
die Feuilletonisten unseres Chaos und die Admirale unseres
Festlands die Feder schon hingelegt haben, beziehungsweise
nicht mehr am Ruder sind, wenn meine Würdigung vor den
Leser kommt, so daß es den Anschein hat, sie wäre schon als
Nachruf geschrieben. Das ist aber nur insoferne richtig, als alles
was ich schreibe, irgendwie zum Nachruf taugt. Seidler —
ein Hintze, der seinen Beruf verfehlt hat und, wenn's noch
eine Gerechtigkeit gibt, einmal das Marinekommando erhalten
wird, das jener abgelegt hat — Seidler beteuerte noch, daß er
»den deutschen Kurs einhalten« wolle, und schon glaubte man,
Unterseeboote wären ihm zu Hilfe gekommen, oder die Direktion
habe die Preisgabe des Schiffes beschlossen, um das kostbare
Leben des Kapitäns zu retten. Da kam es im letzten Augen-
blick doch anders. Ein westlicher Wind brachte die Ent-
schließung. Die ganze Fahrt mit ihren ernsthaften Gefahren
war ein Gspaß gewesen, eine Amerikareise des Männerge-
sangvereins. Da aber eben Amerika es war, das uns wegen
der seinerzeitigen Landung des Männergesangvereins den Krieg
erklärt hat, so wurden wir doch stutzig und entschlossen uns,
lieber Mann und Maus zu retten und den Kapitän, der sich ans
Ruder klammerte, über Bord zu werfen, auf die Gefahr hin,
daß die Haifische seekrank werden und den Delphinen das
Singen vergeht. '
— 43
Inschriften
Orakel
»Sag an,
wer wird in diesen Kriegen
unterliegen?«
»Der tapfere Mann.«
>Der kann nur siegen!«
»Wohlan !
Weil er nur siegen kann.«
Vorsicht!
Die feindliehen Tröpfe
zerbrachen sich die Köpfe,
um Lügen auszuhecken.
Wir wissen, was wahr ist,
die größere Gefahr ist,
daß sie unsre Wahrheiten entdecken.
Feindliche Propaganda
Gerüchte und Lügen sind abgeprallt
an unsrem Ehrenschilde.
Wer uns so schwarz in schwarz gemalt,
der traf sich selber im Bilde.
Nun haben sie erst unsre Ehre verletzt,
uns gereizt wie mit rotem Tuche.
Denn deutsche Wahrheit ward übersetzt
aus dem deutschen Fliegerbuche.
M
Hurra!
Kein größres Glück kann einem Sieger widerfahren,
als wenn er sich zurückzieht, zum Verdruß
des Feinds. Der fühlt sein ganzes Ungemach.
Er folgt enttäuscht und zögernd nach,
und während er den Sieger suchen muß,
kann der die Kräfte für den nächsten Rückzug sparen.
Verzicht
Laßt uns nach der Ehre streben,
Sieg sei unser täglich Brot.
Unerschwinglich ist das Leben
und umsonst ist nur der Tod.
Wien im Krieg
Im allergemütlichsten Frieden
zur Not zusammen ging's.
Der Wachmann am Weg auf die Wieden
der mahnte und bat: Bitte links!
Zu unserem Seelenheile
brauchten wir keine Disziplin.
Wir waren im Gegenteile
die Bewohner der Hauptstadt Wien.
Im Schlendern und Spazieren
haben wir vom Weg uns entfernt.
Nun mußten wir marschieren,
noch ehe wir gehen gelernt.
— 45
Ein Mord im Weltkrieg
Wenn in einem Ringstraßenhotel ein Mord
geschieht, so sind folgende Begleiterscheinungen
zu beobachten. Die Straße liegt im strahlenden
Sonnenlicht da, vor dem Hotel jedoch brechen sich
die Wellen des Menschenstroms. Warum sie das tun,
ist rätselhaft, aber es ist so. Plaudernd, lachend,
flirtend drängen sich die Korsobesucher aneinander
vorüber. Sie ahnen natürlich gar nichts. Denn wenn
sie was ahneten, würden sie ja die Polizei ver-
ständigen, die arme Kammerfrau Earl dort oben retten
und den Emo Davit entlarven. In den bequemen,
eleganten Korbstühlen in der Hoteleinfahrt sitzen
vornehme Fremde, aus Brunn, vielleicht gar aus
Pest, denn die Bagasch aus Paris und London kann
jetzt leider nicht kommen. Daß die Korbstühle
bequem und elegant sind, versteht sich bei einem
erstklassigen Hotel von selbst, muß aber doch in
Anbetracht der Mißgunst der Entente erwähnt
werden. Was tun die vornehmen Fremden? Sie
betrachten selbstredend das Straßenbild. Welches
Straßenbild? No, das sich ihnen darbietet, nach-
laufen wem sie ihm ! Wie ist das Straßenbild ?
Eines der schönsten, der farbenreichsten, der groß-
städtischesten, das (nicht: die) Wien aufzuweisen
vermag. Und zur selben Stunde? Spielt sich oben
im Hotel ein furchtbarer Kampf auf Leben und Tod
ab, ein Kampf zwischen dem Mörder und seinem
Opfer. Also ein Nahkampf, in jeglicher Hinsicht. Was
sich sonst noch irgendwo in weiterer Entfernung
von den plaudernden, lachenden, flirtenden Wienern
und den sie betrachtenden Fremden abspielt,
tut nichts zur Sache und steht im Generalstabs-
bericht, zusammengefaßt in den Worten: Nichts
— 46
Neues. Würde aber auch, selbst wenns am Piave
etwas bewegter zuginge, keine Attraktion mehr aus-
üben. Nicht was dort unten geschieht, sondern was
dort oben geschieht, ist ein Fall, der den Korso
und sein Spalier eine Woche lang in Atem halten
wird. Die Kontraste sind aber auch gar zu kraß.
Das Leben geht weiter (Zifferer) und oben sinkt
blutüberströmt das Opfer zu Boden. Warum hat
man es nicht gehört? Sehr einfach: Die schweren
Portieren des mit allem Komfort und Luxus aus-
gestatteten Zimmers — Kleinigkeit, Bristol! —
ersticken seinen Todesschrei, lassen das verzweifelte
Röcheln ungehört verhallen. Die schweren Portieren
sollte man abschaffen. Der Mörder hält den Atem
an. Das hat man gehört. Wahrscheinlich, weil sich
sofort herausstellen wird, daß das Domestikenzimmer
eine einfache Einrichtung hat. Auch bezüglich desMord-
instrumentes gehen die Meinungen einer und derselben
Zeitung auseinander. Es war ein Schlegel, wie ihn
Böttcher, ein Klopfer, wie ihn Fleischhauer, eine Keule,
wie sie Athleten, oder eine Handgranate, wie sie Kinder
gebrauchen und wie sie in einem vornehmen Stadt-
geschäft erstanden wird, oder werden könnte, wenn das
Spielzeug nicht das letzte in seiner Art gewesen wäre,
das sich auf Lager befunden hat. Der Absatz dürfte
schon zu Weihnachten ein reißender gewesen sein, so
daß nach Ostern das letzte Exemplar ein Raubmörder
erstehen konnte. Die Sensation einer Stadt ist aber
nicht dieses Faktum, sondern der Mord; nicht die
Perspektive in die ungezählten Morde, die waren und
sein werden, sondern der eine, denn er geschah im
Hotel Bristol, das, wenn es auch den veränderten
Zeitumständen entsprechend sich mit einem Rost-
raum statt eines Grillroom bescheiden muß, unter
allen Umständen ein fashionables Etablissement bleibt.
In dem vornehmen Stadtgeschäft, wo man die
Handgranaten für Kinder bekommt, weiß man sich
47 —
genau an den Käufer zu erinnern, nur schwankt
man, ob er die Handgranate für Kinder vor
zwei Monaten oder gestern Nachmittag, kurz vor
der Bluttat, gekauft hat. Doch hat der Leser,
da die beiden Versionen Spalte an Spalte stehen,
eine leichte Übersicht und kann selbst ent-
scheiden. Jedenfalls wächst die Sensation erheblich,
wenn man erfährt, daß das Instrument zu einer
Bluttat, die in einem vornehmen Stadthotel passiert
ist, in einem vornehmen Stadtgeschäft gekauft wurde.
Was folgt aber daraus. Ein Leitartikel in einem
vornehmen Weltblatt mit der Aufschrift »Der Raub-
mord im Hotel« und mit dem Untertitel, der die
Wahrheit deutlich genug ausspricht: »Bedürfnis
nach stärkerem Schutz für Sicherheit«. Wie soll
diese, dieser oder dieses garantiert, durchgeführt
oder erfüllt werden? Dazu gehört Psychologie,
denn: »vielleicht« ist dieser Vorfall nur die Wieder-
holung u. s. w., Lesage hat jedoch in seinem
Dienerroman recht und »wir möchten uns nicht« bei
Rückblicken aufhalten, aber wir tun es doch, und
zwar gelangen wir von Lesage auf dem kürzesten Weg
zurück über das Hotel Bristol zum Räuberhaupt-
mann Grasel, der »auf« dem Galgen geendet hat,
nachdem er auf dem Holländerdörfl bei der
Sophienalpe verhaftet worden war, von wo nur ein
Katzensprung über Taine zum Grafen Stadion und
zum Freiherrn von Stein ist, von dem wir über Eipel-
dau wieder zum Räuberhauptmann Grasel zurück-
gelangen, nicht ohne die schlichte Erkenntnis: »Lange
Kriege sind nicht gut für die sittliche Entwicklung.
Der Abscheu vor Blutschuld stumpft sich ab.« Blättern
wir jedoch um, so erfahren wir zu unserer Freude, daß
der Hofrat Moriz Stukart, in dessen Ressort zwar
der Mordfall nicht gehört — er ist Verwaltungsrat
der Münchengrätzer Schuhfabrik — , sich gleichwohl
für ihn interessiert zeigt. Er tritt eben in seine
— 48
eigenen Fußstapfen und nennt sich, um darzutun,
daß er seinen Anspruch auf Reklame bei einem Raub-
mord noch nicht verwirkt habe, einfach: »Gewesener
Chef des Sicherheitsbureaus der Wiener Polizei«.
Dieser Stukart, der darin ein wenig an den pensionier-
ten Artisten aus der »Prinzessin von Trapezunt«
erinnert, der noch im Wohlstand das Heben schwerer
Gegenstände nicht lassen kann, oder doch an den
Berthold Frischauer, der noch angesichts einer 1 20 Kilo-
meter-Kanone sich als Unser Pariser Korrespondent
betätigt und des zum Zeichen sogar in Paris Steuer
zahlt, der Stukart also kann den Gedanken einfach nicht
ertragen, daßes schöne Raubmorde geben und ei nimmer
leben soll. Seine Pensionierung aber verschafft ihm
den unleugbaren Vorteil, daß er zur Mitteilung seiner
sachverständigen Ansicht nicht mehr auf den Reporter
warten muß, sondern die Artikel zum Preise
seiner Findigkeit gleich selbst schreiben kann. Er
erzählt, daß er bereits heute früh von einer befreun-
deten Familie, die in einem der vornehmsten Hotels
in Wien logiert, telephonisch angerufen und ange-
fragt worden sei, was sie, seiner Meinung nach,
»in betreff der Verbesserung der Sicherheit« — das
bekannte Bedürfnis nach Vermehrung der Sicherheit
für Erhöhung des Schutzes — in ihrer Wohnung
vorkehren »oder ob sie nicht ihre Wohnung in dem
Hotel aufgeben solle«. Stukart antwortete seinen
Freunden, »sie sollten nur ruhig in ihrem Hotel
verbleiben«, was gewiß das richtigste ist. Sonst aber,
nachdem wir bezüglich der Sicherheit einer ein-
zelnen in den Brennpunkt unseres Interesses
gerückten Mischpoche beruhigt sind, begnügt sich
der Fachmann damit, Mißtrauen gegen die Tätig-
keit seines Nachfolgers zu erregen, und verlangt
nichts weniger, als daß der Kriminalpolizist »sich
frei wie der Vogel in der Luft bewegen soll«. Durch
die »Unzahl von Beamten«, die heute am Tatort
49
erscheinen, und unter denen der Name Stukart fehlt,
würden nur die Spuren verwischt. Der Wunsch, daß
dies im vorliegenden Falle bereits geschehen sei,
hat gewiß weder im Herzen eines pensionier-
ten Kriminalpolizisten, das ja keine Mördergrube
ist, noch zwischen den Zeilen Raum, wohl aber die
Hoffnung, daß »die Zahl der Verbrechen geringer
werden« möge, auf daß es dem Nachfolger nicht mehr
gelänge, sie zu entdecken. Die Entschädigung, die
Herrn Stukart dafür zuteil wird, daß er nicht mehr
in der Lage ist, es nicht zu können, ist reichlich.
Es gelingt dem gewesenen Chef des Sicherheits-
bureaus der Wiener Polizei, die Presse an der
Verwischung der Spuren des vorliegenden Mordfalls
tätig zu sehen, und er kann es erleben, wie dem heutigen
Chef des Sicherheitsbureaus der Wiener Polizei durch
Indiskretion, Geschrei und vorzeitigen Tadel die Arbeit
erschwert wird. Als es dann trotzdem dem heutigen Chef
des Sicherheitsbureaus gelang, hatte dieselbe Presse
allerdings die Stirn, die »zielbewußte, energische und
unermüdliche Arbeit der Polizei«, der sie eben noch
Planlosigkeit, Untüchtigkeit und Langsamkeit zum
Vorwurf gemacht hatte, herauszustreichen und zu
schreiben : »Wer der emsigen, klug kombinierenden
Tätigkeit der Beamten in diesen Tagen zusah, mußte
sie bewundern«. »Eine objektive Berichterstat-
tung muß konstatieren«, daß der Chef des Sicher-
heitsbureaus »trotz verwirrender Widersprüche«, die
die Berichterstattung eingeworfen hatte, und »trotz
scheinbarer Aufklärung belastender Momente«, die
sie wie eine fieberhaft tätige Gegenpolizei zu
Gunsten des Herrn Emo David — ehe dessen
originalitalienische Herkunft feststand — betrieben
hatte, »keinen Augenblick irre wurde«. Mit welcher
Dreistigkeit der Versuch des Irremachens unternom-
men und wie durch die berüchtigte Methode der
»Laienfragen« die Absicht betätigt wurde, die
— 50 —
Polizei ins Verhör zu nehmen, zeigt die folgende
Jargonprobe :
Die Polizeibehörde scheint eher dem Glauben
zuzuneigen, daß Emo D. der Mordtat tatsächlich nicht fern
steht. Um so merkwürdiger berührt es, daß die große
Öffentlichkeit über eine Reihe von Fragen zur Stunde noch nicht
aufgeklärt ist, die sich auch dem Laien in Untersuchungs-
fragen aufdrängen. Wie steht es zunächst mit den Fingerabdrücken?
Heute wird freilich offiziös versichert, daß der Mörder nicht
unbedingt sich über und über mit Blut besudelt haben müsse, daß er
auch nicht unter allen Umständen in das Blut seines Opfers hinein-
getreten sein dürfte. Vor Tische las man anders! . . .
Sind dem in Verwahrungshaft Befindlichen die Fingerabdrücke
bereits abgenommen worden? Sind diese Abnahmen mit den
zahlreichen Abdrücken, die sich am Tatort vorgefunden haben
müssen, verglichen worden, und welche Resultate hat diese
Vergleichung gezeitigt? . . . Ist diese Untersuchung vorgenommen
worden, und welches Resultat hat sie gezeitigt? . . . Die Polizei-
behörde muß also die Frage beantworten, ob und wo es ihm in
der Zwischenzeit möglich gewesen ist, seine Schuhe derart gründ-
lich zu reinigen, daß sie auch nicht die geringsten Blutflecker.
aufwiesen.
Sie hat die Laienfragen bekanntlich damit
beantwortet, daß der Emo D. nicht selbst Hand ange-
legt und nicht persönlich in das Blut seines Opfers
getreten ist. Aber sie hat es versäumt, von einem
Meinungshändler, der kein Problem unberührt lassen
kann und auf jedem Tatort die Spuren seiner
Zudringlichkeit zurückläßt, Fingerabdrücke zu machen.
Nach Tische las mans anders und der Laie mußte
sich entschließen, den Fachmann zu bewundern,
was freilich einer nicht minder unappetitlichen Regung
entsprang, da ja Kriminalpolizisten zwar Tadel ver-
dienen, wenn sie einen Raubmörder entwischen
lassen, aber beileibe keine Reklame, wenn sie ihn
fangen, indem sie dadurch erst ihre Daseinsberechti-
gung erweisen und hinter ihrer eigentlichen Ver-
pflichtung, Raubmorde zu verhindern, immer noch
zurückbleiben. Aber die Wiener Tradition, vom Schau-
platz einer Schandtat journalistische Ehren aufzuheben,
51
muß in dem enthaltsamen Nachfolger fortleben.
Stukart, der vergebens gehofft hat, daß sie
mit seiner Karriere abgeschlossen und in den
Schuhen eines Raubmörders stecken geblieben sei,
wird immerhin noch die Entschädigung zuteil, daß
ihm eine so objektive Berichterstattung geschwind mit
einer Erinnerung an den Fall Hugo Schenk zuhilfe
kommt, wo sich »der junge Stukart« auch nicht
irremachen ließ und sich bekanntlich die Sporen
verdient hat, also an eine Zeit, wo noch keine
Aussicht war, daß er dereinst sogar an Stiefeln ver-
dienen werde. Aber der Glücksfall? daß der entlarvte
Davit — »wir werden darauf aufmerksam gemacht,
daß dies die richtige Schreibweise *des aus alter,
rein italienischer Familie stammenden Mannes ist« —
in Riedls Cafe de l'Europe verkehrt hat, gibt
Gelegenheit, noch andere Wiener Renommeen an
dem ausgiebigen Ertrag der Affäre zu beteiligen. »Im
Cafe de l'Europe erzählt man, daß Davit wohl nicht als
Stammgast bezeichnet werden könne.« Das denn doch
nicht. Und es ist »selbstverständlich, daß man in diesem
Kaffeehausbetrieb, der doch so viele laufende Kund-
schaft besitzt, sich an einzelne Personen, die keine
besonderen Wünsche äußern, nicht genauer erinnert.«
Bedürfte es noch eines Beweises für die Größe
dieses Betriebs, so wäre er hier gegeben. Was aber die
bekannte Aufmerksamkeit desPersonals betrifft, so kann
versichert werden: »Vom letzten Tage selbstver-
ständlich ist bekannt, daß er ruhig und heiter mit
seiner Kollegin die illustrierten Blätter durchblätterte.
Auch als er das Kaffeehaus verließ, zeigte er keine
besondere Erregung.« Da geht er hin, dachten die
Marqueure, gleich wird er den Raubmord im Hotel
Bristol arranschirn und nix laßt er sich anmerken . . .
Eine analoge Wahrnehmung gibt auch die Gesangs-
lehrerin des Mörders zu, nachdem sie der Präsident
gefragt hat: »Konnte man ihm damals in der letzten
52
Stunde, die er am Tage des Mordes genommen,
ansehen, daß er sich zur Assistenz an einer blutigen
Mordtat begibt?« Durchaus nicht, er hat sich verstellt;
sie hätte ihn durchschaut, wenn er selbst der Täter
gewesen wäre. Ganz ahnungslos dagegen war die Ver-
sicherungsgesellschaft, bei der der Täter, der damals
noch David hieß und eine Seele von einem Menschen
war, angestellt gewesen ist. Sein Vorgesetzter sagte
einem unserer Mitarbeiter: »Ich bin starr! Ich verliere
den Glauben an die Menschheit, wenn so etwas
möglich ist! Ich und die Bürokollegen Davids hätten
für seine Unschuld die Hände ins Feuer gelegt.«
Die Versicherungsgesellschaft, deren Prokurist ver-
hältnismäßig spät den Glauben an die Menschheit
verloren hat, erst im vierten Kriegsjahr nach der
Überführung des Emo David, ist zum Glück keine
Feuerversicherungsgesellschaft. Die Presse aber
schwankte keinen Augenblick, Davit preiszugeben,
und ging so weit, ihn mit einer Rücksichtslosigkeit
nach allen Seiten den »Strategen des Mordes« zu
nennen, der »mit der Vorsicht der Feigheit es ver-
mied, mit dem Blut seines Opfers in Berührung zu
kommen«. Dieser mutige Griff, durch den zwei Ver-
gleichswelten überraschend zur Deckung gelangten,
glückte ihr auch mit dem geheimnisvollen Schlüssel, der
in der Mordaffäre eine Rolle spielt. Nachdem der
Schlüssel gefehlt hatte, der Schlüssel verleugnet worden
war, der Schlüssel verschwunden, der Schlüssel
gefunden, der Schlüssel im Überzieher vergessen und
schon von einem Geheimnis des Schlüssels die Rede
gewesen war, hieß es, daß der Schlüssel des Geheim-
nisses nunmehr vorhanden sei, denn dieser Schlüssel
war das Fehlen des Überziehers, in welchem der
Schlüssel war, dessen Geheimnis nunmehr tatsächlich
aufgeklärt schien. Trotzdem behält die Affäre ihr
Rätsel, wie überhaupt jeder Wiener Mordfall einen
gewissen Schleier, sein gwisses Quisiquasi auch
53
nach der Entdeckung nicht abzulegen pflegt. Die
zahlreichen Nichtbeteiligten, die bei solchen Gelegen-
heiten in die Aktion verwickelt sind, handeln
wie unter dem Banne einer Mitwisserschaft und
unter der Verpflichtung, sie erst nach Preisgabe des
Opfers zu verraten. Sie benehmen sich wie der Chor,
der eine Operettenhandlung mit jener verständnis-
innigen Teilnahmslosigkeit begleitet, zu der ihn fünf-
hundert en suite -Vorstellungen berechtigen, und was
da auftritt, Gäste, Kellner, Hotelbedienstete, Passanten,
Gefolge, um ein paar Schwimmtempi des Entsetzens
zur Handlung beizusteuern, bewegt sich nicht
anders, als ob es an der Todesstarre des Opfers
beteiligt wäre. Kein Zweifel, daß die klischierte Art,
in der diese Erzählungen und Mitteilungen von
Augen- und Ohrenzeugen mit Glasaugen und Wachs-
ohren gehalten sind, den lebendigen Inhalt einer Wiener
Begebenheit ebenso zuverlässig wiedergibt, wie die hin-
reißend starren Formen unseres Meisters Schönpflug
die Fülle einer Welt, die eines Tages von selbst in Ein-
rückendgemachte und Tachinierer zerfiel. Auch die
Episodisten, der brave Vater des entarteten Kurt Franke,
dessen Verbrechen von der Presse als eine Frucht der
von ihr geförderten Kinoerziehung durchschaut wird
und der zu ihm die Worte spricht: »Aber Vater,
wofür halten Sie mich denn ? I' w e r d' doch n i t a so
was tun«, das freiherrliche Ehepaar Vivante, das
pantomimisch im Hintergrund die aufbewahrten Gold-
stücke zu zählen hat, sie alle spielen nur die Rolle
von Geschöpfen, denen der Odem von einem Polizei-
offizial eingehaucht ward. Bei allem berechtigten
Stolz auf die Mondainität eines Falles, der einmal
nicht auf dem Eiterleinplatz, sondern auf der Ring-
straße spielt, darf man nie vergessen, daß wir doch
im Bereich einer Schöpfung leben, in der das
Weib eine »Prifate« ist, zumeist eine Hilfsarbeiterin,
während der Mann sich schon bei der Verabreichung
— 54 —
des Schandlohns der späteren Einwendung des groben
Undanks bewußt zeigt, wobei ihm ein »Vertrauter« hilft,
welcher den Weg zum Baum des Lebens behütet. Liebes-
Leid und Lust, Tod und Leben, alles entspringt und
mündet hier in einem Amtszimmer der ungelüfteten
Geheimnisse und man kann von Glück sagen, daß der
Mörder oder sein Opfer oder der Unterstandgeber
oder Aftermieter, der Vorschubleister, der Kronzeuge in
diesem Falle nicht Sikora heißt. Auf welchen Rostraum
das Leben im Hotel Bristol heute angewiesen ist, zeigt
das Protokoll mit der Emma Freifrau von Vivante:
Ich bin mit der Familie Emo Davits entfernt verwandt. . . .
Dieser verkehrte naturgemäß in unserem Hause in Wien,
besonders seit Mitte 1917 kam er fast täglich zu uns ins Hotel,
war etwa viermal wöchentlich bei uns zum Abendbrot. Er
holte sich auch täglich zwischen 4 und 5 Uhr dasSchwarzbrot
undhatte, wenigstens äußerlich, dasBenehmen
eines Gentlemans. Die Earl kannte er schon seit sechzehn
Jahren. Diese war unsere Vertraute, der Verkehr zwischen Emo
und ihr naturgemäß ein herzlicher und vertraulicher.
Dieses Wort »naturgemäß« ist eine öster-
reichische Zwangsform des amtlichen und volkstüm-
lichen Denkens und bezeichnet das, was nicht auf
den ersten Augenschein naturgemäß ist. Der
scharfe Blick des Vertrauten dringt durch alle
Falten. Eine Bedienstete des Hotels erzählt,
die Earl habe ihr am Vormittag ihres letzten
Lebenstages mitgeteilt, sie sei vom Mörder
eingeladen worden, mit ihm den Abend im Kaiser-
garten zu verbringen. »Sie freue sich, und wolle
ihre besten Kleider anlegen, um möglichst schön
auszusehen.« Ob es das ausgesprochene Motiv oder
nur Interpretation ist, man spürt, wie hier das
Protokollarische ein Leben bekommt. Das wahre Leben
aber kommt erst in einen Mordfall, wenn die
Betrachtung von einer höheren Warte einsetzt und die
Untersuchung auf die Konfession des Mörders
überzugreifen beginnt. Während die liberale Presse
55
sich vor den Möglichkeiten, die der Name David
ihr an die Hand gab, gegründeter Zweifel an seiner
Schuld nicht erwehren konnte und bereit schien,
sich der Zeugenaussage zu entschlagen, war für die
antisemitische Presse der entgegengesetzte Weg der
einzig gangbare und mit jedem Tage, der die Indizien
häufte, wurde es ihr offenbarer, daß der Mörder
ein Jud sei. Als dann die Neue Freie Presse mit
der Überführung Davids auch die Enthüllung seiner
rein italienischen Abstammung melden konnte und
der Mörder somit überführt war, eigentlich Davit
zu heißen, da legte die Reichspost das umfassende
Geständnis ab, daß ihr die Religion und der Stamm-
baum des Mörders gleichgiltig seien. Um aber die letzten
Zweifel in dieser Richtung auszumerzen, war die
Sonn- und Montagszeitung in der Lage, bekanntzu-
geben, daß Davit ein frommer Katholik sei, der es
nicht unterlassen habe, die jährliche Beichte und
sogar noch einen Buchstaben abzulegen: »Er heißt,
wie uns mitgeteilt wird, tatsächlich Davi (ohne t)«,
was immerhin viel ist, da er bekanntlich zuerst,
als er noch David hieß, nur kurzweg D. genannt
ward. Mit einem Wort, von welcher Seite immer
dieses Wien einen Mordfall antritt, immer bleibt es
Wien und immer hat es der Welt etwas Besonderes
zu sagen. Das Besonderste aber an ihm ist die
völlige Schamlosigkeit, mit der es seine Interessen
aus dem Weltgeschehen heraushebt und im Ange-
sicht des Weltmordes seinen Lokalfall auszuleben
begehrt. Die Menschheit, die auf dieser Insel der
Unseligen wohnt, glaubt wirklich, mit der zudring-
lichen Armut, die sie wochenlang von einem Raub-
mord leben läßt, weil er in der »City« passiert ist, die
Auhnerksamkeit der Welt zu erregen. Diese unbeirrbare
Großstadtsucht, die noch aus einem Hotelmord
Hoffnungen auf Hebung des Fremdenverkehrs
schöpft, da sie selbst aus der Asche des Weltbrands
— 56 —
einen verjüngten Suckfüll aufsteigen sieht, ahnt
nicht, wie verächtlich sie einem Ausland erscheinen
muß, dessen Städte unter Bomben und vor Kanonen
ihren Geschmack an andern Lokalreizen längst
geopfert haben und im Erleben und Gedenken des Ereig-
nisses so vieler Saisons mortes Trauerwürde tragen.
Die plaudernden, lachenden, flirtenden Korsobesucher
und die vornehmen Fremden in den bequemen
Korbstühlen, diese Untermenschheit, deren Blut- und
Wissensdurst das Rinnsal der Lokalberichte aus-
schlürft, kommt nicht auf die Idee, daß sie, da nur
die Begebenheiten des Hinterlands ihr vorstellbar
sind, noch eine Spur von Anstand beweisen könnte,
wenn sie statt den Zufallsfakten einer zeitlosen
Kriminalität lieber den täglichen Hungermorden
hingegeben wäre. Des Todeszwangs wie jeder mensch-
lichen Regung enthoben, wird ihr frontentfernter
Schlaf von keinem letzten Schrei der Märtyrer, von
keinem Gedanken an die schuldlosen Opfer der
Maschinenwillkür wie der Militärjudikatur gestört; aber
ihr furchtbares Überleben bleibt auch unerschüttert
von den Kontrasten, die ihnen die Not vor das
freche Gesicht stellt. Wo ist, da d i e ihnen nicht an
den Leib kann, der Zuchtmeister, der dieses Gesindel
zu Paaren triebe? Der kleine Junge mit dem Ruck-
sack, den ungarische Grenzpolizisten über Waggon-
dächer zu Tode jagen, ist keine Ringstraßensensation,
aber wert, daß eine ganze Stadt Trauerfahnen aus-
steckt! Er hatte keine Zeit mehr zu spielen und
seine Eltern hatten ihn um Kartoffeln geschickt,
anstatt ihm in einem vornehmen Stadtgeschäft eine
Handgranate zu kaufen. Mit solchem Spielzeug
hätte er selber töten gelernt. Aber es müßte schon
eine echte Handgranate sein, mit der man emen
Korso aufscheuchen könnte, der im Krieg noch einen
Mord und vor dem Weltuntergang noch eine
Sensation braucht!
57
Glossen
Eine bombensichere Gegend
— — Sieht man, wie die jungen Frauen, die kleinen Bureau-
und Ladenmädchen, die älteren HerreninZivil und die jungen
»besten« männlichen Jahrgänge in Uniform um die Ecke biegen oder
Spalierstehen, so wird man unwillkürlich an die vielfachen Wandlungen
erinnert, die auch die Ecke miterlebt hat. — — Seit Jahr und Tag
aber sieht die Ecke wieder so aus wie ehedem, es sind scheinbar
dieselben Wiener Mädchen, dieselben graziösen Wiener Frauen, das-
selbe Wiener Tempo des behaglichen Schlenderns. Nur das Spalier
ist ganz und gar militärisch geworden. Der elegante Herr, schlank
wie ein Pfeifenröhrl und tiptop vom Zylinder bis zu den Lack-
stiefeln, trägt Uniform und seine Brust schmücken Tapferkeitsauszeich-
nungen. Da sieht man achtzehnjährige Leutnants mit allen Medaillen
von der »Goldenen« bis zur »Bronzenen< und man darf feststellen,
daß unsere Wiener Mädchen schon sehr viel Verständnis für so etwas
haben, ganz genau die Bedeutung der Eisernen Krone mit den
Schwertern auf dem Rock eines blutjungen Oberleutnants zu bewerten
verstehen und dem blonden Fähnrich mit der »großen Silbernen <
und dem Eisernen Kreuz die reizendsten Blicke voll Anerkennung
zuwerfen. — —
Die Wirkung des neuen Sterns
auf jenen, der um 6 Uhr Abend zu leuchten beginnt, war
erhebend. Wir konnten beobachten, wie jener
unsere in Kampf und Hader verstrickte Welt mit der Frage nach
ewigen Rätseln überrascht, unsere vielumstrittenen Probleme und
Ziele gleichsam in den Schatten rückt und uns zur Besinnung ruft, nach
Höherem die Gedanken zu richten und die irdischen Aufgaben i n
einer Annäherungan die hohen und fernen Ziele
der Wissenschaft zu erblicken. Ja, so ein neuer Stern bringt
uns nur in Verlegenheit.
Das merke ich gerade nicht.
. . . Aber heute will ein solcher neuer Stern nicht gedeutet,
er will wissenschaftlich erklärt und ergründet
sein und mahnt an die Schuld der Wissenschaft,
die sie gegenüber dem ganzen großen Firmament,
demTräger der letzenRätsel, hat. Darum ist dieser neue
Stern, der uns 14 Tage sichtbar bleiben soll, nicht weniger froh zu
— 58
begrüßen. Lenkt er uns doch ein wenig ab von der
anhaltenden Kriegsstimmung dieser Tage, richtet er unseren Blick
doch aus dem erdenschweren Düster zum Himmel empor, eine
Mahnung zu höherem Streben, eine Erinnerung an
die Welt des forschenden Geistes.
Als ob nicht eine Luftbombe schon genug dazu beitrüge,
von Torpedos und Grünkreuzgranaten gar nicht zu reden. Und
als ob nicht der neue Stern uns wieder an unsere irdischen
Angelegenheiten mahnte, wenn ein Professor der Urania-Sternwarte
seinen »Standort« beschreibt. Nein, kein neuer Stern wird uns
von unsererGedankenwelt ablenken. Wenn die Wissenschaft mitden
letzten ewigen Rätseln fertig geworden ist, ihre Schuld an das ganze
große Firmament abgetragen und uns die Standorte sämtlicher
Sterne verraten hat, wir halten durch und immer noch wird es
geschehen, daß ein Juwelier einem Kriegsgewinner ein Ding
vorweist, das besser als sie alle funkelt, und es mit den Worten
empfiehlt: »Herr Generaldirektor, munitiös gearbeitet!«
Deutsche Bombenexplosion
oder
Pariser Nachtleben in deutscher Beleuchtung
Ein deutscher Flieger schildert in der .Kölnischen Zeitung'
seine Empfindungen beim Fluge über Paris:
Paris ist das Herz Frankreichs. Wo könnte man welschen Haß
besser treffen als in seinen Mauern? — — Hüte dich Paris!
Zwei Motore dröhnen in Vollgas und ziehen uns hinauf, dem
Ziele zu. Hell leuchtet vor uns als Wegweiser das Sternbild
des Orion. Immer gerade ausl Da — ein schwacher Licht-
schein im Dunst: Paris. — — Ob sie drunten jetzt Alarm blasen?
Und ich stelle mir vor, wie sie zu ihren Abwehrgeschützen,
zu ihren Flugzeugen rennen, wie im Durcheinander der Verkehr stockt,
wie sie aus ihren Nachtcafös, aus ihren Betten in die kalten
Keller fahren. — - Und jetzt liegt sie unter mir, die Seinestadt. Ein
Lichtermeer, ein Häusermeer. Ich sehe alles ganz deutlich: den Mont-
martre, die bunten Signallaternen des Nordbahnhofs, die Seine mit
ihren Brücken, den Ostbahnhof, den Lichterkranz des Place de
Triomphe. Und die Hand greift an den Abzug.
Ich sehe die Einschläge, wie wenn morsches Holz und Gestein
in Feuer auseinanderfliegen. — — Unsere Arbeit ist getanl
59 —
Heimwärts den Kurs ! Noch einmal blicke ich zurück zwischen
Schrapnellen und Leuchtschirmen. Deutsche Bomben-
explosion. Dann geht es geradewegs nach Hause. Wir landen
glücklich. Glücklich kehren auch die anderen Kameraden vom
Geschwader zurück. Ob Paris uns schon vergessen hat?
Opern-
Kino
Untergang von
Pompeji
Sensationsdrama
in 5 Akten.
Lustspiel.
Kriegsberichte.
Leben und Treiben
Kaiser Wilhelm auf
dem Winterberge.
Berlin, 31. Mai (Tel.
der .Wiener Mittags-
zeitung") Der Bericht-
erstatter des .Lokalan-
zeiger" meldet vom
Schlachtfelde an der
Aisne: Genau 24 Stunden,
nachdem unsere Truppen
die Engländer auf dem
Winterberge niederge-
kämpft hatten, ist der
Kaiser heute in dem
unter dem Feuer des
Krieges vom Erdboden
verschwundenen Craonne
erschienen, um von dort
aus die so lange um-
kämpfte Höhe, welche
nun schon tief im neu-
gewonnenen Lande liegt,
zu besichtigen und von
ihrer beherrschenden
Stellung aus einen Blick
über das Schlachtfeld zu
tun. Ist Craonne jetzt eine
ausgelöschte Stadt, so ist
diese einstige waldige
Höhe ein großer aufge-
wühlter Kreidetrichter.
Unsere Leute waren eben
dabei, die Toten zu be-
| graben und das über-
j reiche verlassene Material
i zu sichten. Der Kaiser war
eben in der Betrachtung
des überwältigenden
Panoramas begriffen,
als Hindenburg erschien.
Der Kaiser hatte ihm ge-
stern von seiner Absicht,
denWinterberg zu bestei-
gen,gesprochen und sagte,
daß er das Glück, von
dieser neugewonnenen
Höhe das Land zu über-
blicken, doppelt stark
empfinde, weil er es mit
Hindenburg teile, dessen
Arbeit so gewaltigen An-
teil habe an der Führung
der Schlacht.
Gemein^ am mit Hinden-
burg besichtigte der
Kaiser zwischen Gräbern
und Trichtern, zwischen
Drahtverhauen und Ein-
schlagslöchern die alten
Stellungen des Damen-
weges. Zwischen unzähli-
gen vorwärtsdringenden
Kolonnen schritten beide
durch und nahmen den
Weg zurück nach Cra-
onne. In diesem Trichter-
lande trafen sie uner-
wartet auf denKron-
p r i n z e n. Vater und Sohn
begrüßten einander aufs
herzlichste, vom Jubel
der Truppen begleitet.
Waren Sie schon im
Bar! — Kaiser Wilhelm-Kaffee - Bar!
Haben Sie schon Macho gehört ? Die ganze Stadt spricht
davon! Vornehmste Unterhaltung, vorzügliche Küche vor und
nach dem Theater. Entree frei! 1. Bez., Weihburggasse 10,
Nähe Stephansplatz, 4. Haus von Zwieback, Kärntnerstraße.
60
Die Sache im Westen wird gemacht
Der Riesenerfolg im Westen
Berlins
konnte nur erreicht werden, weil die Hausfrauen, die durch die
oft höchst minderwertigen und scharfen Waschmittel mit Recht
mißtrauisch geworden waren, sich von der hervorragenden Güte
unseres Waschmittels selbst überzeugt haben. Mit Freude denken
sie jetzt wieder an den Waschtag, da sie selbst im Frieden
nicht so saubere Wäsche bekamen, wie nach Gebrauch unseres
Sauerstoff-Extraktes Ozon. — — Keine Verluste mehr
durch Auslaufen oder Eintrocknen, wie es bei den Schmierwasch-
mitteln vorkommt. Wer einmal das selbsttätige Waschmittel
OZON
angewendet hat, benutzt es immer wieder, denn Ozon greift
die Wäsche nicht an und ist garantiert chlorfrei
und unschädlich. — — Ozon erspart Wäsche. Ozon
erspart Arbeit. Ozon erspart Zeit. Ozon erspart Geld. Ozon
wäscht von selbst. — — Vom Kriegsausschuß genehmigt. Von
maßgebenden Stellen glänzend begutachtet — —
Nachbarin, euer Ozon!
Die Metapher
... Er verteilt ein Reich, das ungebrochen, stärker denn je
aus diesem Kriege hervorgegangen ist und das gemeinsam mit dem
treuen Bundesgenossen eben dabei ist, das dritte Verräternest auszu-
heben. Serbien und Rumänien haben die verdiente Strafe für ihre
Treulosigkeit empfangen. Beide existieren nicht oder kaum mehr, und
Italien empfängt gerade den Todesstoß mitten ins
zuckende Herz.
So weit von den Dingen sind jetzt die Worte, daß dem
Buben, der's für die Schmucknotiz brauchte, nicht einmal der
Tod des Jagdtiers, von dem's bezogen ist, nahe war. Sonst wäre
er erschrocken. Aber daß jener Todesstoß das Sterben von gar
vielen jungen Menschen drüben bedeutet und von gar vielen auch
hüben, unter denen seinesgleichen nicht war, das ahnte er nicht.
— 61
Sonst wäre er, eh ers aufschrieb, gestorben. Ja, das schreibt sich so
hin. Tragisch ist es, daß gerade diese Sprache so zum Rückhalt
aller Phantasieleere, so zum Hinterhalt aller Schäbigkeit werden
konnte !
Überlebende
Während ein Teil der Menschheit am Piave starb, ist
in Wien das Folgende geschehen und berichtet worden:
Vor dem Landesgerichtsrat Dr. Weiß des Bezirksgerichtes Josef-
stadt hatte sich gestern der Kaufmann Simon Weißenstein gegen eine
Ehrenbeleidigungsklage zu verantworten, die derFirmeninhaber Alexander
Joachin eingebracht hatte. Joachin befand sich am 31. März 1918
im Cafe Mariahilf und spielte mit einigen Bekannten Karten.
Da trat der Beschuldigte an den Tisch und sagte zu ihm: >Sie
Gauner, Sie haben Butter am Kopf. Wenn man mit Hunden schlafen
geht, steht man mit Flöhen aufU Da Herr Joachin auf diese Anrede
erwidert haben soll: >Sie sind der Hund!«, wurde von Weißen-
stein eine Gegenklage eingebracht. Bei der gestrigen Verhandlung gab
Weißenstein zu, die inkriminierte Äußerung gebraucht zu haben,
er sei aber von Joachin provoziert worden. Als er das Kaffeehaus
betrat, habe nämlich Herr Joachin vor ihm ausgespuckt. Er habe
darauf nicht reagiert; erst als ihm Joachin den Vorwurf
machte, er habe einen falschen Eid abgelegt, sei er in große Erregung
geraten und habe sich zu der inkriminierten Äußerung hinreißen lassen.
. . . Weißenstein: Herr Richter, ich bin unschuldig! Herr Joachin
läßt mich nicht in Ruhe, ich bitte ihm aufzutragen, daß er mich in
Zukunft nicht mehr verfolgt. — Joachin: Ich habe das nicht getan.
Ich bin viel zu intelligent, als daß ich jemanden verfolge.
. . — Weißenstein: Ich denke mir meinen Teil und bin mit dem
einverstanden, was Sie, Herr Landesgerichtsrat, vorgeschlagen haben.
Hierauf wurden beide Klagen zurückgezogen und der Richter ver-
kündete den Freispruch.
Der Tierschutzverein hat es offenbar bisher nicht verstanden,
den Gerichten eine Klagelegitimation für Hunde plausibel zu
machen, und immer bleiben diese darauf angewiesen, sich ihren
Teil über die Menschen, unter denen sie leben müssen, und
insbesondere über die Kultur der Zentralstaaten zu denken. Das
Armeeoberkommando sollte aber in der Anerkennung triftiger
Gründe für die Ausstellung von Schweizer Pässen weitherziger sein.
62 —
Plato führt
Plato war ein Rennpferd, ßurscherl ein anderes. Mehr
wird eine kommende Welt von dieser Epoche nicht zu wissen
brauchen, um den Wunsch zu spüren, aus dem gemeinsamen
Ewigkeitsverband auszutreten. Aber sie empfange mehr aus dem
Sprach- und Vorstellungsschatz eines frontbewahrten Auswurfs,
zu dessen Gewinn und Vergnügen anno Piave ein »Derby«
abgehalten wurde:
. . . Aber es geschah dabei kein Wunder oder
sonst etwas, das zu Bedenken Anlaß geben kann,
Reichenau hatte das Rennen vor acht Tagen gebraucht, um in Form
zu kommen . .
Von den anderen gefiel Szepike am besten, er sah imponierend
aus und erwarb sich bei der Musterung noch viele Anhänger,
auch Plato wurde gelobt. . . .
... der Stall selbst war darauf nicht gefaßt und die Erklärung
hiefür liegt eben darin, daß Reichenau damals nicht so
weit in der Verfassung war wie diesmal. . . .
Der Begleitschmock des Fachmanns, der die »Schönheits-
konkurrenz und Toillettenschau« zu schildern hat, spricht von den
»ehrfurchtgebietend tadellosen jungen Leuten, die, unbekümmert
um die Vorschriften des Volksbekleidungsamtes, noch immer
berückend gut gekleidet sind«. Aber sind die denn nicht gefallen?
Nicht doch:
Nur der Derbyzylinder scheint im Aussterben
begriffen zu sein.
Er habe »diesmal bloß zwei, drei Vertreter entsendet«.
Ferner erfahren wir, daß es 1918 »die überzeugtesten und nun
schwer enttäuschten Burscherl-Enthusiasten« gegeben hat.
. . . Man sieht nur gespannte Mienen und Blicke, hört
abgerissene Rufe : Plato führt! Burscherl bleibt zurück I . . . Plato I . .
Reichenau kommt vor! . . Und da ist auch schon alles entschieden und
vorüber.
Wäre es! Plato hat doch nicht geführt. Es geschah kein
Wunder oder sonst etwas, das zu Bedenken Anlaß geben kann.
Aber das Bild eines Platonikers von 1918 sollte man der
Nachwelt bewahren.
63 —
Rumaroma
Der fixe Satan, der uns den Tisch des Lebens und Denkens
bereitet hat, läßt in dem Wirbel von Salatfix, Dottofix, Teefix,
Punschfix uns kaum der grauenhaften Symbolik all der Namen
innewerden, die in Schall und Rauch dieser Scheinwelt geboren
wurden, und zerrt das müde Ohr in solche Debatte:
Erklärung.
Wir teilen dem p. t. Publikum mit, daß die K r i t i k ü b e r
»T e e f i x«, welches von der Firma Leopold Kollmann, Wien, in
Handel gebracht wurde, keinen Zusammenhang mit unserem Erzeugnis
»Deutschers Teefix«, K u n s t tee-Essenz, hat ....
Wir verwenden für unser Erzeugnis Blätter und Blüten,
welche vom hohen k. k. Kriegsministerium in Erman-
gelung von Teewärmstens zur Tee-Erzeugung empfohlen
und auch gesammelt wurden. Unsere Ware ist gut und schmackhaft,
so daß sie wirklich als Tee mit Rumaroma zu gebrauchen ist.
Nachdem der Name »Teefix« unserer gesetzlich geschützten
Marke »Deutschers Teefix« ähnlich klingt, werden wir dies-
bezüglich bei den Behörden anfragen und eventueller Benach-
teiligung unseres Markenschutzes, die sich da ergeben,
Schritte unternehmen.
Wir ersuchen das p. t. Publikum auf unsere gesetzlich
geschützte Marke »Deutschers Teefix« zu achten und selbe überall
verlangen und wird das p. t. Publikum ganz bestimmt
reell bedient werden.
M. Deutscher & Co., M i s t e k.
Wenn man mich rechtzeitig, vor 1874, darauf aufmerksam
gemacht hätte, daß ich in die Zeit, in der diese Auseinander-
setzung spielt, geraten würde, ich hätte abgesagt. Dies alles ist
deutscher als Teefix und es ist wahrhaftig die Sprache, die unser Karma
spricht. Es ist Kunstkritik und Schlachtbericht zugleich. Es sind
die Herren des Lebens und jeder Widerstand vergeblich. Es sind
die Sieger von Rumaroma, und dies ist glorreicher als Rawaruska,
das für mich schon in der unbeschreiblichen Lippenstellung deutsch-
österreichischer Erzähler einen tödlichen Klang hat. Aber in der
Erkenntnis, daß das Deutsche immer noch einer Steigerung fähig
und das Jüdische doch noch deutscher ist, entsteht mir wie in einer
64 —
Gaswolke homunkulushaft der fixe Vertreter dieser Zeit, der
Blätter und Blüten vom hohen Kriegsministerium empfohlen
wurden, der der Messias ein Gummiersatz ist und Kruzifix
ein Gott aus Granaten.
Das deutsche Wunder, der Neid der Welt
Ernst ist das deutsche Volk. Was es zu vollbringen hat, ist
stets durchdacht und planmäßig. In der Fähigkeit, schöpfe-
risch zu gestalten, dem Mangel die Erfindung
entgegenzustellen, die Kräfte zusammenzufassen
und sie den Notwendigkeiten des Krieges unterzuordnen, ist
Deutschland so groß, daß selbst die Feinde zur Nachahmung
gezwungen sind. . . . Die Verbündeten sehen mit Bewunderung,
was eine einzige Nation, umstellt von Gegnerschaften auf der
ganzen Erde, zu leisten vermag. . . .
Zum Beispiel :
Von einem neuen Wunder der Chemie, der aus Norddeutschland
eingeführten, angeblich nahezu fünfzigprozentigen eiweißhaltigen soge-
nannten Mineralnährhefe, lesen wir in der .Münchener Post' :
— — Die Mineralnährhefe sei ursprünglich nur in den Volksküchen
verwendet und an die Verbraucher erst dann verteilt worden, als die
Hausfrauenvereinigung und die Hauswirtschaftliche
Beratungsstelle erklärt hatten, daß die Mineralnährhefe in
Bezug auf den Nährwert der Brauereinährhefe gleichkomme . . .
Wir bestreiten nun nicht etwa, daß zur Herstellung der Mineral-
nährhefe auch einwandfreie Rohstoffe verwendet werden. Doch
halten wir an der Behauptung fest, daß der Eiweißgehalt der
Mineralnährhefe, der ihren Nährwert — auf den dabei doch alles
ankommt — bestimmt, vorzugsweise durch die Verwendung von
Harnstoff gewonnen wird. Wer daran vielleicht noch zweifeln sollte,
den verweisen wir auf einen in der .Chemikerzeitung' veröffentlichten
Bericht über die 66. Generalversammlung des Vereins der Spiritus-
fabrikanten Deutschlands in Berlin am 22. Februar d. J. Bei dieser
Gelegenheit feierte der Geheime Regierungsrat Professor
Dr. M. Delbrück (Berlin) in einem Rückblick auf die Arbeiten
des vergangenen Jahres als glänzenden Triumph des reinen
Geistes über die rohe Materie die neueste Errungenschaft
ernster Forschung mit folgenden, von höchstem Gelehrtenstolz
zeugenden Worten: »Eine schon 1915 begonnene Arbeitseinrichtung
wurde aufs neue mit großem Erfolg aufgenommen: das ist
— 65
die Ersetzung des schwefelsauren Ammoniaks bei der Erzeugung der
Hefe durch Harnstoff Ist aber der Harnstoff so zu verwenden,
so liegt auch dieMöglichkeit vor, in derselben Richtung
den Harn und die Jauche 'heranzuziehen.« Die
Wissenschaft triumphiert. Das Werk ist gelungen. Die Chemie hat das
Wunder bewirkt. Aus Harnstoff wird Nährhefe erzeugt, deren
Eiweißgehalt hohen Nährwert besitzt ! Was sich eindeutsches
Forscherhirn in strenger Arbeit mühsam abgerungen
hat, das verstehen findigeKapitalisten in reichen
Gewinn auszumünzen. Und darum kostet das Kilogramm
Mineralnährhefe, gleich 3.60 Mark! Schade nur, daß das Zeug trotz
des verschwenderischen Beisatzes unheimlicher Mengen des heute ach
so raren Zuckers immer noch so grauenhaft schmeckt und gar so
abscheulich stinkt. Der unangenehme Geruch der Mineralnähr-
hefe, den selbst die bayrische Lebensmittelstelle wiederholt beanstandet
hat. wird ? gläubigen Käufern damit zu erklären versucht, daß man
einfach behauptet, die Mineralnährhefe sei aus Fischmehl hergestellt.
Ebenso wie man dem Heringsgeruch eine so harmlose Deutung
zu geben wagt, wird natürlich auch der ekle Petroleum-
gesch mack leicht auf Fischtran zurückzuführen sein. Daß dies
eine grobe Täuschung des Publikums ist, scheint ja
heute keine Rolle mehr zu spielen. Der üble Geruch und der widerliche
Geschmack sollen sich beim Kochen vollständig verlieren. Das glauben
nicht einmal die Volksküchengäste, die zuerst den Vorzug genossen,
mit diesem »einwandfreien« Ersatznährmittel beglückt zu werden. Wenn
man sich aber gar zu der kühnen Behauptung versteigen will, daß
die Mineralnährhefe den Speisen einen »feinen Wohlgeschmack«
gebe, so grenzt das schon an Wahnwitz. Warum hat man denn die*
Frage der Gesundheitszuträglichkeit nicht geprüft ? Nach Sachver-
ständigengutachten, die allerdings aus besseren Zeiten stammen, kann
ein Nahrungs- oder Genußmittel, das an sich nicht gesundheitsnachteilig
ist, gesundheitsstörend, ja sogar gesundheitsschädlich wirken, wenn
die Art der Herstellung oder die Zusammensetzung der verwendeten
Materialien geeignet ist, Ekel zu erregen. Darum verschone
man uns in Bayern wenigstens mit einem so zweifelhaften
Ersatznährmittel.
Was man sich in Deutschland gefallen läßt
[Theater in Frankfurt a. M.] Rudolf Lothars »Metternich-
p a s t e t e«, die das Schauspielhaus als leichtbekömmliches,
schmackhaftes Weihnachts g e b ä c k auf eleganter Schüssel
anrichtete, ist als Hohelied der kulinarischen Genüsse,
— 66
der Galgenhumor rationierter Enthaltsamkeit. Ein Phantasiekitzel
des lüsternen Gaumens, der aufreizend wirken könnte,
wäre er nicht durch Witz und Laune des appetitlichen Einfalls
behaglich abgelenkt. In der bunten Gesellschaft um des beruh mten
Wiener Gastwirts Wiesinger Feinschmeckertafel
schnuppern wohlkonterfeite Typen die erlesenen Küchen-
düfte, und die Geschichte von dem Proletarier mit dem Aristokraten-
dünkel, der sich noch rechtzeitig zu seinen Kochtöpfen und
ins solide Ehejoch zurückzieht, wird zu harmlos heiterem Spiel, das
bei der hiesigen reichsdeutschen Erstaufführung lebhaften Anklang
fand. Der anwesende Autor verzeichnete eine stattliche Anzahl von
Hervorrufen.
Im Frieden hätten sie vielleicht gekotzt. Jetzt regen sie sich
nur auf und verhelfen dem lieben Schneck dankbar zu etwas
Kriegsgewinn. Diesen Märtyrern ist wirklich nicht zu helfen.
Der Maßstab
Wolff — — Sollten aber die Dampfer, wie anzunehmen ist,
nicht nur Munition, sondern auch Geschütze oder Lebensmittel an
Bord geführt haben, so wäre der Schaden für die Feinde nicht geringer.
Mit einer solchen Ladung Brotgetreide reicht zum Beispiel ein feind-
liches Heer von einer Million Mann Stärke nach deutschen
Sätzen gut ein Vierteljahr lang aus.
Wolff
. . . Die Stimmung der am Angriff beteiligten Truppen ist
glänzend. Obwohl sie drei Tage ohneSchlaf sind, läßt die
Siegesfreude sie alle Strapazen vergessen.
Das ist glaubhaft. Noch glaubhafter ist dieses:
Die Verpflegung aus der englischen Beute
ist vortrefflich. Überall finden die deutschen Sturmtruppen
Tabak, Zigaretten, Konserven und noch andere willkommene Dinge.
67
Klarstellung
. . . Keinesfalls aber sind Mehl- oder Getreidesendungen
galizischer Provenienz in die Ukraine abgegangen.
Nämlich für die Armee. Es mußte festgestellt werden,
weil offenbar Gerüchte umgingen, daß das Getreide aus der
Ukraine, das nicht wir, aber die Deutschen bekommen, aus Öster-
reich in die Ukraine und von da nach Deutschland gehe, damit
die Deutschen Getreide aus der Ukraine bekommen.
Immer noch mehr Gäste
— — Rowno wurde vom Feinde gesäubert — — An
Gefangenen ein kommandierender General, mehrere Divisionskom-
mandanten, 425 Offiziere und 8700 Mann — —
Das ist gscheit, sollen sich die armen Teufel auch
einmal satt essen.
Die offen geäußerte Freude über das Gefangensein
schafft für den Mangel an Widerstandskraft günstige
seelische Voraussetzungen
W o 1 f f Die Gefangenen bestätigen in allem die Annahmen
der deutschen Führung. Der Gegner war diesmal auf den Stoß
vorbereitet. . . . Das deutsche Artilleriefeuer scheint einen großen Teii
des Gegners völlig entnervt zu haben. Die mit Nachdruck zur Schau
getragene Kriegsmüdigkeit unddie offen geäußerte Freude
über das Gefangensein mag für diesen Mangel an Wider-
standskraft günstige seelische Voraussetzungen
geschaffen haben.
Wir haben in diesem Kriege auch in dem Punkt umgelernt,
68
daß wir bisher eher der Meinung waren, daß der Mangel an
Widerstandskraft günstige seelische Voraussetzungen für die
Gefangennahme und für die darüber offen geäußerte Freude schafft.
Exegese
In zwei Schulter an Schulter abgedruckten Berichten fiel
mir die Verschiedenheit auf: »unter Mitwirkung der unver-
gleichlichen Stoßkraft deutscher Truppen« und »und die mit
unüberwindlicher Stoßkraft vorgehenden deutschen Streitkräfte«.
Ferner: sollte man im vierten Jahr der Erkenntnis nicht auf die
stets gleichlautende Wendung verzichten wollen: »In frischem
Draufgehen erzwangen sich . . .«?
Vor dem Anfangsstadium
Lebhafte Genugtuung in Berlin
Berlin, 17. Juni. Die Nachrichten von dem erfolgreichen Vor-
stoß der Österreicher gegen Italien haben hier lebhafte Genugtuung
ausgelöst. . . . Die gesamte Presse enthält sich vorläufig aller kritischen
Betrachtungen, da das Unternehmen in seinem Anfangs-
stadium ist.
Als ich Anfangs Mai in Berlin war, konnte ich bereits
lebhafte Ungeduld beobachten. In der Friedrichstraße schritt
manch ein Berliner Schieber mit einem Wiener Schieber Schulter
an Schulter. Aber manchmal stieß einer und man hörte die
unwirsche Frage: »Wann geht Ihr denn los?« Antwort: »Weiß
ich?« Oder zwei, die einander verstanden, begrüßten einander
mit schlichtem Treugruß: «Nanu?« »Nuna!«
69
Waffenbrüder
Gelegentlich des Unfugs, der > Waffenbrüderliche Ärzte-
tagung« hieß, hatte man überhaupt nicht mehr das Gelühl,
daß wie sonst Streber von Fleisch und Blut zusammen-
kommen, um sich gegenseitig etwas vorzumachen, was in die
Zeitung kommen soll, sondern es schien eine Monstreversamm-
lung der selbstredenden Phrasen zu sein. Die Entmenschung,
die in der Idee steckt, Ärzte als »Waffenbrüder« figurieren zu
lassen, und dies nicht etwa im ehrlichen Sinne von Menschen-
materiallieferanten und A-Befundleistern, sondern im Zeichen
der über Wurfminen waltenden Humanität — das allein
hätte schon ausgereicht, um einen Dickhäuter nervenkrank zu
machen. Nun aber denke man sich das noch mit der ganzen
ausgewaschenen Terminologie der Bündnistreue ausgerüstet, die
ebenso von den andern Waffenbrüderinnungen getragen
werden könnte, so ergibt sich eine Zusammenstellung von Panzer
und Vollbart, wie sie ehedem nur bei jenen Gelegenheiten zu
beobachten war, wo erwachsene Leute einander plötzlich und
grundlos mit »Lu-lu!« anredeten und eine Gestalt, die aus einem
Spitzbauch, einer Glatze und einer Brille bestand, »Herrlichkeit«
tituliert ward, jene Leute, die sich im Frieden Schlaraffen
nannten — ein Ehrennamen, dem die geänderten Daseinsbedin-
gungen vollends die Geltung entziehen mußten — , sind heute froh,
mit heiler Haut in der Waffenbrüderlichkeit ein Unterkommen
gefunden zu haben. Gewohnt, in Not und Tod ihren Obmann
zu stellen, haben sie im Treubund den passenden Ersatz für die
verlorene Vereinsmeierei erkannt und können ein Leben, das
in »Fühlungnahme« besteht, mit Erfolg fortsetzen. Während
die draußen in den Schützengräben auf die Hinrichtung warten,
findet man sich in der Sorge um den Fremdenverkehr und in sonstigen
humanitären Verrichtungen zusammen und ist entschlossen, »die
einheitliche Front unserer Kulturarbeit« herzustellen, was nur
Reklame und gar keine Gefahr bringt, da erfahrungsgemäß außer
mir kein Feind auf diese Front schießt. Während sich draußen
die Dinge begeben, die es leider gibt, werden drinnen die
Ornamente des blutigen Seins entrollt und jene Fahnen
— 70 —
hochgehalten, die draußen längst durch wirksame Chemikalien
ersetzt sind, und wirklich und wahrhaftig ruft der präsidierende
Fürstenberg die Worte aus: »Schwere Wunden hat der Krieg
geschlagen, sie zu heilen ist unsere erste und vornehmste
Pflicht.« Aber da es doch tatsächlich Ärzte sind, die an dieser
Pflicht des Fürstenberg teilhaben sollen, so stellt er ihnen das
Zeugnis aus, die ärztliche Wissenschaft sei, »nach allen Seiten
abgeschlossen durch einen Wall von Schützengräben, aus-
schließlich auf sich selbst angewiesen, und was sie geschaffen
hat, das schuf sie aus ureigener Kraft«. Also ohne Fühlung-
nahme mit den französischen Ärzten, die allerdings das gleiche
Schicksal und das gleiche Verdienst haben. »Keine Anregung
drang aus dem Feindesland zu ihr«, setzt Fürstenberg erläuternd
hinzu. Ein Ministerialdirektor aus Berlin — ich höre ihn — ist
eher geneigt, diese Hindernisse der Vorsehung hoch anzurechnen,
da ja sie eben den Treubund geschaffen haben, »der nicht mit
dem Kriege endigen«, durch den aber leider auch der Krieg
nicht endigen wird. »Im Sturm des Krieges«, ruft er, »verspüren
wir vielmehr den Hauch des göttlichen Geistes, der uns gebietet,
fortan gemeinsame Wege zu wandeln. Zusammen zu sterben
haben wir gelernt; wir müssen, wir werden noch lernen,
zusammen zu leben.« Und nun, vor dieser Aussicht, ist die ganze
Gesellschaft von Ärzten, Würdenträgern und sonstigen Verehrern des
Zeitalters vom Begriff der Bündnistreue derart fasziniert, daß ein
förmliches Coriandoliwerfen mit den einschlägigen Bezeichnungen
anhebt. Der Generalstabsarzt Hofrat Professor Dr. v. Hochenegg
war, als sich mir dabei der Magen umdrehte, verhindert, mir
die erste ärztliche Hilfe zu leisten, denn er war gerade mit einer
loyalen Behandlung des Protektorats beschäftigt und mit der
Begrüßung sowohl der »in waffenbrüderlicher Gemeinschaft
verbündeten Ärzte« wie der »angesehenen behördlichen Vertreter
der in Bündnistreue uns verbündeten Staaten«, worauf der Herr
Kollege und Vorstand der ärztlichen Abteilung der Ungarischen
Waffenbrüderlichen Vereinigung »in schwungvollen Worten die
Leistungen der Krieger feierte«, nicht ohne auch über die Friedens-
aufgaben der Waffenbrüderlichen Vereinigung zu sprechen sowie
vom festen Band des Dualismus, von welchem Band er wörtlich
— 71
sagte, daß es > heute ebenso wie vor einem halben Jahrhundert
durch die wohltätige, zartfühlende Kaiserin und Königin, die
mit dem Strahlenglanz ihrer Jugend, ihrer Schönheit und Herzens-
güte die Härten des Krieges mildert, noch enger geknüpft wird«.
Nachdem sich dies begeben hatte und die Menschenfreunde
waffenbrüderlich auseinandergegangen waren, erfolgte, was vor-
auszusehen und nicht länger mehr zurückzuhalten war, der
hinter dem Hochenegg schon lauernde Suckfüll trat auf die
Szene und »im Anschluß an die Tagung der ärztlichen
Abteilungen der waffenbrüderlichen Veieinigungen fand ein
Gedankenaustausch statt«, nämlich unter Vertretern der »Fach-
gruppen für Fremdenverkehr der waffenbrtiderlichen Vereinigung«.
Wir waren bis auf den Kern der Waffenbrüderlichkeit vorge-
drungen, bis zu der nie zu begrabenden Hoffnung, daß, was
immer auch noch kommen mag, den Wirts- und Wurzbestrebungen
zugute kommen werde. In Not und Tod ist das bekannte Frosch-
schenkelexperiment ausführbar: man reiße diesem Kadaver der
Gemütlichkeit die letzte Haxen aus, sage vor derselben ganz leise,
ganz gemütlich das Wort »Fremdenverkehr!«, und man wird
sehen, wie sie zu tanzen beginnt. Österreich lebt, und aus
diesem Bedürfnis nach Fühlungnahme entstand der Geselligkeits-
klub »D' Waffenbrüder«.
Aus eiserner Zeit
— Im Festsaale des Korpskommandogebäudes dekorierte
Sonntag Stadtkommandant GM. v. Mossigg eine Anzahl Offiziere
der Kriegervereine mit den Auszeichnungen, die ihnen der Kaiser
in Anerkennung ihrer seit Kriegsbeginn mit aufopfernder Pflichttreue
geleisteten Dienste verliehen, darunter den Kompagniekom-
mandanten des Marinekriegervereines »Tegetthoff« Ludwig
Riedl (Kriegsdekoration zum Ritterkreuz des Franz Josefs-Ordens).
— 72 —
Neoromantik
— — Blut und Eisen schufen* unlösliche Bande zwischen Euch
und Euren aktiven Kameraden, in Not und Tod erprobte Schicksals-
gemeinschaft hat uns für immer geeint.
Die Vorbereitungen zur Schaffung solcher Vereine oder zur
Ausgestaltung schon bestehender wären unter Beobachtung der unter
einem ausgegebenen Leitlinien für die Gründung von Vereinen und
Vereinigungen nichtaktiver Offiziere und Gleichgestellter unverzüglich
in Angriff zu nehmen.
Freiherr v. Stöger-Steiner m. p.
Generaloberst.
Heldensage
— — dem Generalmajor Ernst D i e t e r i c h (Prädikat
»N o r d g o t h e n«) — —
Das ist einmal eine Nuance in der Liste der Nowotny
von Eichensieg, Schlepitschka von Schlachtenwert und Husserl
von Feldsturm. Nur wird es sich späterhin doch zeigen müssen,
ob auch die neuen technischen Mittel der Glorie die Eignung
haben, Embleme und Prädikate abzugeben, etwa: Viktor Nowak
(Prädikat »Minenfeld«) oder Franz Kratochwil (Ehrenwort »Edler«,
Prädikat »Grünkreuz«) oder Vinzenz Dudek von Drahtverhau.
Warum nicht? Nach hundert Jahren wär's romantisch.
Edda
»Sie haben recht«,
sagte Kaiser Wilhelm IL im Hauptquartier zum Dichter Max
Bewer vom Lokalanzeiger,
»Hindenburg ist unser Wotan und I. u d t n d o r f f der
Siegfried unserer Zeit«
— 73 —
Aus der Ordination
[Kaiser Wilhelm und die > Enthüllungen < des amerikanischen
Zahnarztes Dr. Davis.] Die .Times' fahren mit der Publikation der
Erinnerungen des amerikanischen Zahnarztes Dr. Davis fort, der seine
eigenartige Auffassung vom ärztlichen Berufs-
geheimnis in diesen Memoiren in der merkwürdigsten Weise
betätigt. — —
Da der Zahnarzt die politischen Äußerungen, die in der
Ordination gefallen sind, und nicht das Leiden des Patienten
verrät, so ist der Vorwurf der Verletzung des ärztlichen Berufs-
geheimnisses eine Dummheit. Der Esel scheint zu glauben, daß
der Dr. Davis nicht Zahnarzt, sondern etwa Nervenarzt ist.
Einzel Unternehmungen
Ein Soldat, der offenbar nicht im Vollbesitze seiner
Vernunft war, erregte vorgestern auf dem Franzensrirg beträchtliches
Aufsehen. Er erkletterte, nachdem er sich teilweise entkleidet hatte,
das Liebenberg-Denkmal und stach mit dem Rufe: >Du Hundl Du
Italiener!« mit dem Messer gegen das Porträtmedaillon Lieben-
bergs und gegen die Figur des Löwen ....
Die Pallas Athene, im Verdacht eine Griechin zu sein,
steht demnach als verfolgte Unschuld nicht mehr allein auf der
Welt und der Tegetthoff sowie die Maria Theresia sollen in-
zwischen nachgefolgt sein. Wenn die irrsinnigen Soldaten Raison
annehmen und sich, eines Führers durch die Sehenswürdigkeiten
Wiens bedienen wollten, könnte die Aktion planvoll zu Ende
geführt werden. Was ist denn mit den Flußgöttern an der
Albrechtsrampe? Mit dem Canon vor dem Stadtpark? Na, und
der Radetzky vor dem Kriegsministerium, ist der vielleicht kein
Feind? In Deutschland wird die Sache organisiert, die Denkmäler
werden einfach eingezogen, das heißt, wenn sie aus Bronze sind.
Die Wiener Methode hat den Vorteil, daß das Material keine Rolle
spielt. Aber solange Jas Unternehmen nicht vom Kriegsministerium
74 —
in die Hand genommen wird, sondern der Initiative einzelner
herumziehender Soldaten, vermutlich >Heimkehrer« oder am
Ende gar »Tachinierer€, überlassen bleibt, besteht die Gefahr,
daß solche Vorstöße ohne Entwicklung bleiben und daß wir
das einzige anständige Ergebnis des Weltkriegs, die Befreiung
Wiens von seinen Denkmälern, nicht erleben werden.
Alles für die Kunst
Zum Schutze der Kunstdenkmäler in den besetzten italienischen
Gebieten haben die beiderseitigen Heeresleitungen die weitestgehenden
Maßnahmen getroffen. — — eine eigene Kunstkommission — —
Besondere Referenten bereisen das besetzte Gebiet die w i r k 1 i c h
wertvollen Denkmäler im allgemeinen nirgends n e n'n e n s w e r t e n
Schaden gelitten Namentlich sind die Kirchen fast überall
unversehrt. Einige wenige Ausnahmen sind durch Zufalls-
treffer der Artillerie oder der Flieger verursacht worden. Bedeutend
ist der Schaden nicht. Wertvolle Bilder aus Kirchen, Museen und
aus Privatbesitz waren schon seit langer Zelt von den Italienern
selbst entfernt worden; angeblich sind sie geborgen oder
meist nach Florenz zur Restaurierung gebracht worden — — Das
Stadtbild als Ganzes ist meist unversehrt geblieben. Die zahl-
reichen Paläste des friaulischen Adels in Udine und die vielen
Landschlösser sind äußerlich unberührt.
Alles gerettet. Aber Zerstörungen im Feindesland geschehen
doch nie mit Absicht? Und Treffer sind doch immer Zufalls-
treffer? Wer kann denn für die Richtung einer Bombe garantieren?
Der Feuilletonist am Piave
Er ist als Mitglied der Kunstkommission oder als deren
begleitender Schilderer in Venetien einmarschiert und beschreibt
es in Zürich. Einleitung:
— 75
— — Als Wanderer war man in einer Zeit, die eben noch
nicht die große Zeit war, aber eine glücklichere, so oft
im Lande der Sonne gewesen: nicht als Reisender. Und hatte mit
den Leuten drunten gelebt wie einer von ihnen.
Es ist nicht mehr wie damals. Krieg. Verwüstung. Durch wen ?
Den mancherlei Privatpalästen des Friauler Adels ist es beim
Rückzug der Italiener und in der herrenlosen Über-
gangszeit nicht eben so gut ergangen. Es scheint manche
gegeben zu haben, die ein Stückchen Weltuntergang nahe sahen und
rasch noch vorher die Freuden der Welt, von denen sie bisher
ausgeschlossen waren, verkosten wollten. Die ersten Ein-
quartierten werden wohl auch nicht in der Verfassung
gewesen sein, weiter das asketische Leben vom Karst inmitten des
natürlichsten Überflusses zu führen. Es ist nur zu begreiflich.
Aber seither waltet volle Strenge. Den operierenden
Truppen sind die Kunstwerke in ihrem Bereich genau bezeichnet.
Alle Sorgfalt konnte aber natürlich nur dem Gut gelten, das man
noch vorfand.
Zwar :
Den Italienern kann man das Zeugnis nicht versagen, daß sie
im besetzten und nun wieder befreiten österreichischen Gebiet Kunst-
werke geschont haben.
Jedoch :
Der Übergang von der italienischen zur österreichischen
Besetzung vollzog sich hier ganz jäh. Herrensitze dieses schönen
Gebietes wie z. B. Fiumicello bei Aquileja, sahen im Innern schlimm
genug aus, und der Rückzug hat dort schlimmer gewütet als
in den Palästen von Udine.
Nun aber ist hüben und drüben — die neutralen Leser
können eine Freude haben — alles in schönster Ordnung.
Und damit schwindet das Grauen der unbewohnten Wohnungen,
und eine Gefahr für die Häuser und Bilder und für das Bild des
Landes selbst kann nur noch von drüben, von der
anderen Seite, kommen. Wer mit den Friulanern gut sprechen
kann, dem sagen sie, daß sie es sich weit schlimmer
gedacht hätten. Und wer für Pordenone, Conegliano, Belluno
und Feltre bangt, möge erfahren, daß nur noch die eigenen
Landsleute diesen schönen Städtchen schaden können.
Das Land wäre also zufrieden, wie in jener Zeit vor dem
Kriege, in jener glücklicheren Zeit?
76
Schluß:
Was diesem Lande fehlt, das fehlt der ganzen Erde: der
Friede. Und von der Barbarei des Krieges hat es sicherlich
weniger gesehen als von der Barbarei der Vorkriegs-
zeit, unter der wir alle gelitten haben.
Der Arme! Was muß der gelitten haben, ehe er ins
Kriegsarchiv kam! Er hat den Krieg, beziehungsweise dessen
Archiv, gar nicht erwarten können. Die Zeit vor dem Krieg,
die sich anfänglich als eine glückliche Zeit anließ, stellt sich
zum Schluß als eine barbarische heraus, unter der auch die
Leute am Piave und speziell die Friulaner furchtbar gelitten haben.
Auch sie haben es nicht erwarten können. Alles sehnte sich.
Und als er dann endlich kam, der Krieg, da waren sie alle froh,
daß es nun mit der Barbarei ein Ende hatte. Denn von der Barbarei
des Krieges, von der Gerüchte umgingen, haben sie, die Friulaner,
so wenig zu sehen bekommen, daß sie oft glaubten, der Piave
fließe am Kriegsarchiv vorbei.
Von der Front
Komponist Oberleutnant Hans Zieger vom Festungs-
artillerieregiment Nr. 7, der seit Kriegsbeginn an der Front steht und mit
dem Militärverdienstkreuz, beiden Signum laudis und dem Karl-Truppen-
kreuz dekoriert ist, hat sein Schaffen auch im Felde fortgesetzt.
Er hat die Operette „Eine Brautnacht" aus der Feder des
Wiener Schriftstellers Moritz Band komponiert.
Neues Verdienst
(Verleihungen.) Der Kaiser hat verliehen: das Ritterkreuz des
Franz Josef-Ordens mit der Kriegsdekoration: inAnerkennung
hervorragender künstlerischer Leistungen vor
dem Feinde dem akademischen Maler Leo Schneider — —
Vor dem Sturm
[Ein <J u g e n d« -T i t e 1 b 1 a tt von der Hand des
deutschenKronprinzen.) Die Münchner »Jugend« wird Anfang
Mai eine Zeichnung des deutschen Kronprinzen veröffentlichen, die
77
dieser selbst der Schriftleitung mit dem Wunsche übersenden ließ, sie
als TitelblaU zu veröffentlichen. Das farbige Blatt stellt einen Soldaten
der Sturmtruppe dar, in der rechten Hand das Gewehr mit aufgepflanztem
Bajonett. Die Arbeit entstand an der Front mitten in den Vorbereitungen
zur großen Offensive.
Während der Offensive
[Erich Jan Hanussens telepathische Seance] im großen Konzert-
haussaale fand vor vollem Hause mit ebenso großem Erfolge statt
wie das erstemal. In der Hofloge fanden sich abermals Erzherzog
Leopold Salvator, Erzherzogin Blanka mit ihren Töchtern ein. Das
Publikum wählte diesmal zu seinen Vertrauens-
männern den anwesenden F e 1 d m a r s c h a 1 1 C o n r a d
v. Hötzendorf und Herrn Dr. Siegfried Türkei,
Vorstand der Physiologischen Gesellschaft, welch letzterer auch die
äußerst, gelungenen Experimente leitete. Die Überwachungskommission
von Medizinern und mehreren Offizieren, vom Publikum
ebenfalls gewählt, führte stets den Telepathen außerhalb des
Saales, während im Saale die auszuführenden Experimente bestimmt
wurden. Verblüffend wirkte wieder das Auffinden von gedachten
Personen, die Handlungen auszuführen hatten, ebenso als der Telepath
eine Stecknadel fand, die vorher in der Quaste des aus der
H o f 1 o g e herabhängenden Teppichs versteckt worden war ....
Ob auch die tschechischen Verräter gesucht wurden, sagt
der Bericht nicht. In der ersten Veranstaltung war Herr Reimers
Vertrauensmann, und ein Bekannter erzählte mir, daß ihm toten-
übel wurde, als ein Breitmaul von einem Generaldirektor,
Verwaltungsrat oder so was aus diesem Anlaß »Bravo Reimers«
rief. Daß beim Auftreten des Vertrauensmannes Österreichs in
diesem Milieu nicht Hoch gerufen oder der Radetzky-Marsch
intoniert wurde, beweist wohl, daß das Konzertpublikum bereits
kriegsmüde ist.
78
An der Plavefront
(Ein Renkonter an der Piavefront.) Eine am 23.
Juni d. J. in Manzano am P i a v e gefallene Beleidigung bildete heute
beim Strafbezirksgerichte Josefstadt den Gegenstand einer Ehren-
beleidigungsklage, welche der Varietödirektor Karl Edler gegen
den Kapellmeister Edmund Kellner angestrengt hatte. Wie in
der durch Dr. Sp. vertretenen Klage ausgeführt wurde, hatte der
Kläger im Juni dieses Jahres mit einem Artistenensemble mehrere
Vorstellungen an der Piavefront gegeben. Am 23. Juni
befand sich der Kläger mit mehreren Mitgliedern seines Ensembles in
der Offiziersmesse in Manzano. Während des Mittagessens sprach
man über die Vorstellungen des Frontvariet£s. Einer der Herren
lobte es, daß die Vorstellungen einen glatten Verlauf nehmen und
daß insbesondere die anderwärts oft vorkommenden langen Pausen bei
diesen Vorstellungen nicht eintreten. Der Kapellmeister Kellner machte
nun die Bemerkung, daß es dennoch bei Vorstellungen des Herrn
Edler nicht gar so glatt abgehe. Als der Direktor über diese
in Gegenwart vieler Offiziere gemachte Bemerkung sich
aufhielt, sagte ihm Kellner: »Was weißt du, du schläfst ja während
der Vorstellung.« Im weiteren Verlaufe des Wortwechsels soll der
Kapellmeister dem Direktor mit Ohrfeigen gedroht und ihm zugerufen
haben: »Du bist ja ein Niemand I« Diese Äußerungen bildeten den
Gegenstand der eingangs erwähnten Klage. . . . Nachdem zwei Zeugen,
die bei dem erwähnten Wortwechsel an der Piavefront anwesend
waren, die Angabe des Klägers bestätigt hatten, verurteilte der Richter
den Angeklagten wegen Ehrenbeleidigung zu einer Geldstrafe von
100 Kronen.
Viel glatter soll es ebendaselbst beim Gastspiel des
Hofopemballets abgegangen sein.
Sturmtrupps
. . . Dreißig neue Wiener Operetten! Die Wiener Operette
bereitet für die kommende Saison eine heftige Offensive vor. Ein
Operettenstatistiker teilt mit, daß für die neue Spielzeit nicht weniger
als dreißig neue Operetten drohen. Wie in den letzten Jahren werden
Fall und Lehär, Kaiman und Strauß, Nedbal und Eysler als Sturm-
truppen vorgeschickt. . . . Die Phalanx der bewährten Operetten
komponisten und Buchmacher ist eben nicht zu brechen!
— 79
In der Kampfzone
— — Andere Kommandos suchte im Auftrage des Kaisers
Feldmarschall Erzherzog Friedrich auf, der bis in dieKampf-
zone vordrang, um möglichst vielen Truppen, die der Monarch
nicht sehen konnte, den kaiserlichen Gruß zu überbringen und sich
von ihrer Schlagfertigkeit und ihrem durchwegs vorzüglichen Geiste
Überzeugung zu verschaffen.
Es war ein Film
E i n 1 a c
u n g
zur
P r e i s v e r
Heute Donnerstag den 23.
wird auf der Terrasse des
eilung
Mai, mittags lh 1 Uhr
Kursalons im Stadtpark
Herr Hubert Marischka
vom Theater an der Wien
jener Dame, welche das
VIII. Kriegsani
größte Opfer für die
eihe bringt,
einen Kuß ve
r a b r e i c h e n.
Das Komitee.
An der Spitze der Kriegszeitungen stand es, den Offen-
siven voran, im vierten Jahr, eine Fata morgana auf dem
Wüstenweg. Es war ein Film. . .
80
Gerichtssaalbericht
- — — Mitte November redete sich Direktor Wallner aus, er
könne jetzt nicht zehn Proben abhalten, er müsse das Stück
des Ministerpräsidenten aufführen, beschwor ihn, von
dem Termin abzustehen und versprach ihm unter Ehrenwort — —
Unsere Zeitungen sollte man wirklich nicht ins Ausland
lassen.
Lauter Rücktrittsgründe
— — Im Gespräche mit einem unserer Mitarbeiter äußerte
sich Hofrat v. Millenkovich diesbezüglich in folgender Weise: Mir
ist jedenfalls nichts davon bekannt, daß mein Rücktritt unmittelbar
bevorsteht — — Zunächst wird »Hamlet« in Szene gehen mit Harry
Waiden und in völlig neuer Ausstattung. Die Uraufführung
der ersten Neuheit, Hans Müllers Schauspie! > Der Schöpfer«, wird
den Abschluß dieser Festwoche bilden. Sie sehen, ich habe reichliche
Arbeit vor mir und wirklich keine Zeit und Muße, mich bei den
Gerüchten von meinem Kücktritt aufzuhalten.
Der kommende Mann
-- — . Von dorther kommt die Meldung, daß . . die höchsten
in Betracht kommenden Amtsstellen bezüglich der Nachfolgerwahl
schon einen Entschluß gefaßt haben, der dahin geht, die Direktion
einer der bekanntesten literarischen Persönlich-
keiten Österreichs unserer Zeit anzutragen.
Ob es nicht zugleich einer der hervorragendsten Katholiken
Salzburgs der letzten Saison ist?
— 81 —
Der Poldi
^Anfang August
Der neuernannte Generalintendant der beidejf Wiener Hoftheater
Freih. v. Andrian-Werburg äußert sich in einem Gespräche mit einem
Mitarbeiter des ,N. W. Tagbl.': Das neue Amt, zu dem ich berufen
bin, tritt an mich mit Anforderungen heran, an die ich mich
erst gewöhnen muß . . . . Ich werde vorerst nach Deutschland
reisen und mich dort mit verschiedenen Intendanten in Verbindung
setzen. In einer Richtung jedoch bin ich schon heute in der Lage, ein
Programm mitzuteilen. Die beiden Hoftheater müssen in jeder Weise
beispielgebend für alle Bühnen, insbesondere für die Bühnen Österreichs
werden .... Es soll nicht mehr gesagt werden dürfen, daß der
Österreicher ins Ausland gehen müsse, um Anerkennung zu finden ....
Um das zu verhindern, will der Herr v. Andrian ins
Ausland gehen und sich dort erkundigen, wie man es macht,
daß die Wiener Hoftheater für das Ausland beispielgebend
werden, und wenn er — er kann noch nicht sagen, »wie lange
seine Studien dauern werden < — dereinst zurückkehrt, so
werden wir unsere Wunder erleben. Mindestens werden dann
die Wiener Hoftheater für die Bühnen Österreichs, also für Linz
und Graz, maßgebend sein, was ja schon lange nicht mehr der
Fall war und für ein Regime Andrian immerhin eine Leistung
wäre. Wenn man nun bedenkt, wie peinlich heute das Reisen im
Allgemeinen und das Reisen nach Deutschland im Besondern ist,
so kann man die Opferwilligkeit des Herrn v. Andrian nicht
hoch genug anschlagen. Ob sein Wunsch, sich mit deutschen
Intendanten über die Hebung des Wiener Theaterniveaus zu beraten,
von der deutschen Paßstelle als ein triftiger Grund zur Ausreise
anerkannt würde, mag zweifelhaft sein; jedenfalls ist zu hoffen,
daß ihm von der österreichischen Regierung für ein so vergebliches
Beginnen, wie es der Ausbau und die Vertiefung des Burg-
theaterensembles wäre, kein Salonwagen zur Verfügung gestellt
werden wird. Es könnte aber bei einer Gelegenheit, wie sie die
Berufung eines neuen Hoftheaterintendanten bedeutet, die Frage
laut werden, warum man für ein solches Amt nicht den Fähigsten
aussucht, nämlich mich, dessen kleiner Finger nicht nur ein besserer
Hoftheaterintendant ist als der Herr v. Andrian, sondern auch ein
82
besserer Burgtheaterdirektor, als der Herr Bahr sein wird, und zudem
ein besserer Schauspieler, als das ganze Burgtheaterensemble seit
zwanzig Jahren gewesen ist. Die Frage würde von den Maßgebenden
mit demselben Hohngelächter beantwortet werden, das ich für die
Zumutung bereit hätte, eine Lebensaufgabe in der Betätigung
meiner weitaus geringsten Qualität einzugehen, für eine Zumutung,
von der ich überzeugt bin, daß sie mir ein letzter Respekt, der
den sonst instinktverlassenen Instanzen mir gegenüber eignet,
bisher erspart hat. Die Unmöglichkeit, daß sich eine lebendige
Kraft in der Niederung heutiger Bühnenreformen versuche,
ist identisch mit der Unmöglichkeit, dem Burgtheater aufzuhelfen.
Von allen verlorenen Posten, die diese Zeit zu vergeben hat, ist
der eines Burgtheaterleiters der hoffnungsloseste, weil die Erkenntnis,
daß die Zeit ihre Kunst hat, ausschließlich für das Gewerbe
zutrifft, das man heute Theaterkunst nennt. In diesem Sinne mag
es durchaus zeitgemäß anmuten, daß ein Dilettant, der bisher
Diplomat war, also gewohnt, ein Rotbuch von einer Schmink-
schatulle nicht unterscheiden zu können, zum obersten Chef der
Hofbühnen ausersehen wurde. Die Beziehungen des Herrn von
Andrian zum Theater könnten eben noch darin bestehen, daß er
einmal eine pretiöse, aber nicht kostbare Novellegeschrieben hat, von
der nach der Prophezeiung des Herrn Bahr Europa sprechen sollte —
was aber trotz der Enttäuschung, die damals Europa dem Autor wie
dem Kritiker bereitet hat, eher die künftigen Beziehungen des Herrn
Bahr zum Burgtheater rechtfertigen dürfte. Wenn Herr v. Andrian
sich an die Anforderungen seines neuen Amtes erst gewöhnt
haben wird, dürfte es sich herausstellen, daß Herr Bahr zwar
ein ebenso schlechter Burgtheaterdirektor wie Prophet ist, aber
ich jedenfalls ein besserer Prophet als er. Ich kann nicht leugnen,
daß mein Vorurteil gegen Herrn v. Andrian kein selbständiges
ist, sondern wesentlich beeinflußt von meinem Vorurteil gegen
Herrn Bahr, der ihn, während er sonst vielleicht bloß nicht
existiert hätte, zwanzig Jahre vorher schon unmöglich gemacht hat
und seit damals nicht vergebens auf den Dank hiefür gewartet haben
dürfte. Ich habe den heutigen Hoftheaterintendanten eben in jener
Zeit kennen gelernt, in der die großen Burgschauspieler
auszusterben begannen, und ich kenne ihn sehr genau, da er
83
ein Jahr hindurch täglich im Cafe Griensteidl mit der Frage an mich
herantrat: »Gut'n Obend, wor der Bohr nit do?< Er scheint
schon damals den Bohr für den Burgtheaterposten gesucht zu
haben und er stellte die Frage mit jener »dunkeln Stimme», an
die sich der Bohr noch viele Jahre später erinnert hat, als er dem
lieben Hugo zurief: »Nun müßt ihr aber doch bald in Warschau
sein!« und ihn bat, den Poldi, den Freiherrn v. Andrian, den
österreichischen Generalkonsul zu grüßen, wähnend, daß dieser
nach dem Einmarsch der Österreicher im Allgemeinen und des
Leutnants Hofmannsthal im Besonderen noch dort amtiere und
in den Amtsstunden, »und während draußen die Trommeln
schlagen«, Baudelaire deklamierend herumstapfe. Der Poldi hatte
nämlich seit den Tagen, da Europa von ihm sprechen sollte,
diplomatische Karriere gemacht, was mir immer erstaunlich war,
da ich nie glauben konnte, daß einer, der jünger ist als ich und
gewiß nicht gescheiter,- schon Generalkonsul oder gar Gesandter
und bevollmächtigter -Minister sein könne. Europa dürfte es
so wenig wie ich geglaubt haben; immerhin muß ich aber dem
Verfasser des »Garten der Erkenntnis« nachrühmen, daß ihm während
seiner Tätigkeit bei der Okkupation — er blieb dort irgendetwas —
die Preußen auf die Nerven gegangen sein sollen. Das ist viel, das
ist gut für die Politik, wenn es auch vielleicht nicht für die General-
intendantur ausreicht und gewiß nicht für eine solche, die sich
erst durch Erkundigung bei deutschen Kollegen Animo holen
will. Was sein literarisches Urteil betrifft, so ist aus seinen
Anfängen nur das treffende Wort bekannt: »Der Goethe is ganz
g'scheidt«, jener Goethe, neben den Andrians Entdecker diesen
gestellt hatte, und daß ihm später unter allen deutschen Micheln
nur jener Robert Michel imponiert hat, der ihm in militär-
diplomatischer Literaturmission attachiert blieb, bis er ihm als
Major in die Intendanz gefolgt ist. Sonst wüßte ich nichts für und
nichts gegen den neuen Intendanten vorzubringen. Er ist
am Beginn seiner Laufbahn durch Herrn Bahr geschädigt
worden, und erst ich habe dafür gesorgt, daß Europa von ihm
spreche, als Herr Bahr sich ihn Baudelaire deklamierend vorstellte,
damals, als er den Hofmannsthal in Warschau einrückend
gemacht hat. Die Unmöglichkeit des Herrn v. Andrian für
84
den Posten eines Hoftheaterintendanten leuchtet mir durchaus
nicht ein, in einer Zeit, die einen Volkstheaterautor, der ein Budget-
provisoriutn nicht bekommt, deshalb gleich als Direktor der
Kabinettskanzlei walten sieht, wie mir überhaupt in diesem tragischen
Karneval und in diesem provisorischen Staatswesen nichts Unmög-
liches aufstoßen kann, das mir nicht auf den ersten Blick plausibel
ist, und wenn ich dem neuen Mann nicht gerade schmeichle,
so mag das seine Utsache in der Erkenntnis haben, daß ein
Versuch, mein Drama »Die letzten Tage der Menschheit« dem
Burgtheater anzubieten, aussichtslos wäre.
Der Zeit ihre Kunst
Der Kaiser hat das von Fritz Hampel verfaßte vaterländische
Gedicht »Der Tiroler Waschtl« angenommen und in die Fidei-
kommißbibliothek aufnehmen lassen. Dem Autor wurde durch den
Statthalter der Dank bekanntgegeben.
Die Gelegenheit
— Leopold Andrians Gedichte sind im Verbige der Zilverdistel
in einer einmaligen Auflage von 150 Exemplaren erschienen und
durch Buchhändler Hugo Heller, Wien, 1. Bezirk, Bauernmarkt 3, zu
beziehen.
— Robert Michels zwei Novellenbücher »Die Verhüllte« (ge-
bunden 7 K 60 h) und »Geschichten von Insekten« (gebunden
9 K 50 h) sind bei Buchhändler Hugo Heller, Wien, 1. Bezirk, Bauern-
markt 3, vorrätig. Provinz- und Feldpostversand prompt.
— 85
Worauf man stolz sein kann
In der Leo-Gesellschaft hat Hofrat v. Millenkovich . . eine
Art Rechenschaftsbericht über die fünf Vierteljahre seiner Burg-
theaterdirektion erstattet. — — Er rühmte sich, jüngere, wenig
beachtete Kräfte gefördert, zuerst in tragenden Rollen vor das Publikum
gestellt zu haben .... Ferner habe er Reimers den Lear
spielen lassen und für Waiden war zu Beginn der diesjährigen
Spielzeit der Hamlet bestimmt.
Eine äußerst vorsichtige Fassung
Hermann Bahr wird voraussichtlich die Stelle eines dramatur-
gischen Leiters des Hofburgtheaters einnehmen .... Da der Vertrag Bahrs
kein langfristiger sein wird, liegt die Annahme nahe, daß
er sowohl als auch die leitenden Stellen die Ab-
sicht haben festzustellen, ob die Möglichkeit
vorliegt, daß die neue Leitung eine alle Teile
befriedigende Lösung der Burgtheaterkrise
bilden könnte.
Die Antwort auf die gewundene Karriere dieses Satzes
lautet kurz: Nein!
— 86
Ein Staatsverbrechen an Shakespeare und
Jugend
Die folgende Eingabe ist unbeantwortet geblieben:
An das k. k. Ministerium für Kultus und Unterricht!
12. Juni 1918
Das Hofburgtheater hat am 29. Mai eine Frei-
vorstellung von Shakespeares »König Lear« für
Mittel- und Hochschüler veranstaltet. Der Unter-
zeichnete hat das Werk am 30. Mai zu wohltätigen
Zwecken im Kleinen Konzerthaussaale vorgelesen
und auf der Rückseite des Programms, das er hier
beilegt, die schauspielerische und szenische Unzu-
länglichkeit der heutigen Burgtheateraufführung an
einigen drastischen Beispielen dargetan. Das Niveau
dieser Aufführung ist ein derart niedriges und ihr
Stil eine derartige Vergewaltigung Shakespeareschen
Wortes und Wesens, daß jugendliche Zeugen des
da Geschauten und Gehörten, das ihnen zu
Studienzwecken geboten wird, Eindrücke nachhause
tragen müssen, welche die verständnisvollste Lektüre
nicht mehr ausmerzen kann. Wenn sie von dieser
Darstellung nichts im Gedächtnis behielten als die
eindringliche erotische Belebung der Szene, in
der Regan dem Haushofmeister ihren Auftrag
erteilt, so müßte man zugeben, daß hier einem
Dichter ein zu großes Opfer auferlegt sei, um
die Phantasie von Gymnasiasten anzuregen. Wenn-
gleich der Staat zum großen Leidwesen solcher,
die an der Bewahrung künstlerischen Erbgutes ein
Interesse haben und sich das Recht anmaßen, es
erforderlichen Falles zu vertreten, nicht die Befugnis
hat, eine Verunstaltung klassischer Dichtungen zu
verbieten, so sollte er nach der Meinung des Unter-
zeichneten doch eingreifen, wo der Versuch gewagt
— 87 —
wird, die studierende Jugend unter dem Vorwand
belehrender Absicht zum Anblick der vollkommenen
Mißgestalt herbeizulocken. Es wäre demnach, so
meint der Unterzeichnete, Sache der Unterrichts-
verwaltung, anstatt den Besuch einer Freivorstellung
des heutigen Burgtheaters zu erlauben, ihn mit allen
Mitteln zu verhindern. Der Unterzeichnete müßte es
sich nun wie jeder, der ungefragt eine Meinung aus-
spricht, gefallen lassen, daß ihm die Kompetenz
hiezu bestritten wird, wenn nicht zum Glück der
Besuch einer »König Lear«-Vorstellung, die nicht
gerade eine Freivorstellung für Studenten ist,
jedem gestattet und darum die Überprüfung des
Urteils im weitesten Umfang ermöglicht wäre.
Er zweifelt keinen Augenblick, daß vor allem
die Instanz, die zur Wahrnehmung kultureller
Interessen im Staate berufen ist, die Unvereinbar-
keit einer solchen Aufführung mit den Ansprüchen
der Jugendbildung erkennen würde und sich in ihrem
Mißbehagen selbst nicht durch die Erwägung
beirren ließe, daß ein ihr ehemals zugehöriger
Beamter heute eben jener Theaterdirektor ist, der
zum Mißgriff einer solchen »Lear« -Vorstellung
den weit bedenklicheren gefügt hat, sie Unerwachsenen
anzubieten. Der Unterzeichnete würde aber von
dem Recht, das er sich nimmt, den in einem
übel beratenen und anders beschäftigten Zeitalter
mißhandelten Genius zu schützen, kaum in der vor-
liegenden Form Gebrauch machen, wenn er sich nicht
auch die Kraft zuerkennte, diesen Schutz selbst-
tätig wirksam auszuüben. Der Zweck dieser Mitteilung
ist das Ersuchen an das k. k. Ministerium, ihm den
Weg zu zeigen, auf dem er zu solchem Ziel gelangen
könnte. Denn er hat die Absicht, die wichtigste
Schöpfung des größten Dramatikers aller Zeiten den-
selben Schülern der Wiener Lehranstalten vorzuführen,
die sie in der Gestalt jener Freivorstellung des Burg-
theaters kennen gelernt haben. Er bittet deshalb die
Unterrichtsverwaltung, ihn an die Stelle zu weisen,
die in der Lage wäre, ihm ein genaues Verzeichnis
aller damals mit Freikarten versehenen Schulen und
Jahrgänge zur Verfügung zu stellen. Die Vorlesung
würde im Großen Konzerthaussaale stattfinden und
von den Eintrittskarten würden nur so viele zu
öffentlichem Verkauf gelangen, als notwendig wäre,
um die Kosten der Veranstaltung zu decken ; alle
übrigen, also die weitaus überwiegende Mehrzahl
und mehr als das Burgtheä'fer Personen faßt, den
Studenten geschenkt werden. Der Unterzeichnete
spricht die Hoffnung aus, daß die Unterrichts-
verwaltung dieses pädagogische Vorhaben fördern
werde, und sie selbst wird auf Wunsch über genügend
Eintrittskarten verfügen können, daß alle ihre
Organe in der Lage wären, sich von der Würdigkeit
dieser Darbietung zu überzeugen, wenn sie es schon
durch Zufall unterlassen haben, die Unwürdigkeit
jener andern zu beobachten. Hat ihn zu seiner
ersten »Lear«-Vorlesung die Absicht bestimmt, die
Spuren der Unkunst zu verwischen, und ist ihm
dfes ohne jeden Apparat theatralischer wie publi-
zistischer Inszenierung vor einer bewegten Zeugen-
schaft gelungen, so liegt ihm nun umsomehr
der Wunsch am Herzen, einer irregeführten Jugend
das dichterische Urbild wieder herzustellen. Nicht
zuletzt aber leitet ihn — und hierin weiß er sich
der Unterstützung eines k. k. Ministeriums sicher —
die patriotische Erwägung, daß, wenn wir Österreicher
vor der Welt stolz darauf sind, feindliche Ausländer
nicht mißhandelt zu haben, Shakespeare doch nicht
eine Ausnahme machen könne.
Karl Kraus.
Beilage.
Der Vortrag macht nicht den Anspruch, große Schatten
des Burgtheaters zu beschwören, sondern nur, die Spuren der
— 89 —
Herren Wüllner, Reimers und ihrer Mittäter zu verwischen und
die Dichtung wieder einzuweihen.
Die Unsäglichkeit der heutigen Burgtheateraufführung,
die noch tief unter dem Niveau der einer niedrigen Zeit erreich-
baren schauspielerischen Möglichkeiten bleibt, also beinahe an
das christlichgermanische Schönheitsideal der Direktion hinan-
reicht, gehört — von allem Reichtum der Formen und Nuancen
abgesehen, in dem sich der leibhaftige Mangel in Spiel, Regie
und Szene auslebt — durch etliche einprägsame Momente der
Theatergeschichte an. Ein Kritiker hat anerkannt, daß die Regie unter
anderen die Szene wieder hergestellt habe, >in der der Haushof-
meister Oswald als Liebhaber erscheint«. Als diese nie gestrichene,
aber auch nie geschriebene Szene ist jene zu verstehen, in der
Regan dem Haushofmeister, also einem für Geld empfänglichen
Schranzen, einem von der Sorte, die »Bursche« oder »Schurk'«
tituliert wird, einen Brief Qonerils an Edmund abnimmt und ihn
nebenher auffordert, den Grafen Gloster aus dem Weg zu räumen:
»Ein reicher Lohn wird dem, der ihn erschlägt.« Eine der
typischen Szenen, in welchen — andeutend oder geradezu —
königliche Verbrecher bei Shakespeare ihre Instrumente anwerben.
Bei der Begegnung mit dem blinden Gloster ruft der gedungene
Mörder: »Ein Preis verdient! Willkommen!« Jene, für das Ver-
ständnis der Handlung kaum notwendige Auseinandersetzung
wird im heutigen Burgtheater buhlerisch flüsternd, mit einem
Spiel der Blicke und Finger, Schulter an Schulter von einer
Schlange (die es doch aber auf den Edmund abgesehen hat)
und einem noch immer stattlichen Operettentenor geführt und
über den reichen Lohn, der diesem winkt, läßt die indiskrete
Regie dem Ahnungsvermögen jugendlicher Galeriebesucher
keinen Zweifel. Dagegen wird das schweigende Herz der Handlung:
des Narren Hingegebenheit an Cordeliens Schicksal — das
in einem einzigen Satz zu wundervollem Klingen kommt, in
einem naturalistischen Nebenbei verödet. Ein Ritter Lears spricht
zu diesem die Worte: »Seit die junge Prinzessin nach Frankreich
ging, hat sich der Narr sehr abgehärmt.« Dies und nichts anderes
ist der tragische Wendepunkt der Handlung; hier rollt der
erste Donner; hier beginnt, noch vorder entsetzlichen Enttäuschung
90
an den beiden Töchtern, Lears Erkenntnis zum Wahnsinn
zu erwachen. Diese und ungezählte andere Herrlichkeiten sind
in der kläglichen Wüllnerei, psychologisierenden Impotenz
einer neuberlinischen Regie und einer zwischen schlechtestem
Reinhardt und bester Muskete erdachten Mandelbogen-
szenerie untergegangen. Was soll man zu der Nuance sagen,
daß der Kent den Oswald wirklich anspuckt und den Vorsatz:
>Fürs erste schlaf ich was, dann kann ich pfeifen« so aus-
führt, daß er eine lange Weile hindurch pfeift, bevor er schläft.
Oder daß die Anweisung »Schloß des Grafen Gloster« auf einer
Szene, die nicht das Pathos zu weiten Hallen findet, ihre Ver-
wirklichung in einem Speiszimmer bei Glosters findet, in das
der heimkehrende Familienvater eintritt, wobei ihm ein kostümierter
Statist den Monolog zu unterbrechen hat, indem er ihm Mantel
und Mütze abnimmt. Die ganze Winzigkeit einer großen Zeit,
in der Schauspieler nicht mehr in Distanz zu einander
sprechen können und in der Körpernähe auch nicht, die
ganze Frechheit dieser Kunstgewerblerei, die alle ihr entrückte
Größe auf einen elenden Zimmerton herabstimmt, der Menschheit
ganzer Jammer faßt einen bei solchem Theatererlebnis an. »Da
könnte wohl der Mensch in salz'ge Tränen vergehn, wie Kannen
seine Augen brauchend, des Herbstes Staub zu löschen«, dem
wahnsinnigen Lear gleich — wenn man sich nicht heiter
erinnerte, daß der urkomische Professor der Psychiatrie, der ihn
spielt und den das Publikum auf dem Vortragspodium unent-
wegt ernst nimmt, eben dabei eine Geste macht, die
über seine papierene Tragik ein erklärendes Löschpapier breitet.
Und anstatt diesem Herrn Wüllner in Sälen und Theatern ein
»Kommentar überflüssig!« entgegenzubrüllen, jubelt die Jugend
dieser Tage einem Schulmeister zu, gegen den der Gregori ein
Schüler und der selige Strakosch ein Meister war. Die Fähigkeit
des Herrn Reimers, einen weißen Vollbart zu tragen, steht über
allen kunstkritischen Erwägungen, und Blitz und Donner in
der Heideszene beweisen, daß auch im heutigen Burgtheater
die Elemente entfesselt sind. Ach, Sonnenthals Herzkrampf, der
den Töchtern alles gab und dem Vater mehr, als er dem König
schuldig blieb, und erklärend nichts hinzutat, was der
— 91 —
Dichter mit Recht versäumt hatte — denn es war einmal ein
König, der, unbegreiflich wie's einmal im Märchen ist, so und
so getan hat — : vor wessen Aug und Ohr die Aufführung
des Jahres 1890 steht, der muß es unfaßbar finden, daß das
Theatergewissen einer Stadt diesen Wandel der Dinge ohne
Aufschrei und mit Applaus hinnehmen konnte.
Unschwer würde dem Vorleser eine vollkommene stimm-
liche Rekonstruktion jener Bühnengestalt gelingen; doch darf
nur ein, wenngleich unvermeidliches, Anklingen dem Zweck
des Vortrags entsprechen, der nicht das Burgtheater aus der
Schmach zurücktragen will, sondern die entehrte Dichtung in
das Reich des Shakespeareschen Worts.
Eine Erledigung dieser Eingabe ist auch nach
einem Mahnschreiben nicht erfolgt, wodurch das päda-
gogische Werk in seiner Vorbereitung gehemmt, wenn
nicht vereitelt wurde. Die Antwort, die der Unterrichts-
minister schuldig blieb, wird er im Parlament nach-
zuholen haben. Die dort an ihn gerichtete Frage
wird die Sache selbst betreffen wie die Formen des
behördlichen Interesses, die noch verständlich wären,
wenn es sich um den Plan einer Hamlet-Vorlesung
gehandelt hätte. Die Interpellation wird aber das
Zitat von dem Übermut der Ämter und der Schmach,
die Unwert schweigendem Verdienst erweist, keines-
wegs vermeiden.
92
Krieg
Der Bauer bat:
»Herr, dies hier ist mein letzter Rock
und all mein Gut ist dieser Bienenstock.
Bewach' ihn Gott und ein Soldat,
daß die Soldaten ihn nicht nehmen!«
»Ein braver Mann hat so was nicht vonnöten!«
Der stiehlt nicht Bienen. Der kann Bienen töten.
Denn Krieg ist Krieg, da hilft kein Grämen.
Bei Nacht geschah's, die Nacht schwieg still —
im Garten Lärm, und jener eilt zu retten
und er begegnet ihren Bajonetten,
da er es ihnen wehren will.
Denn Krieg ist Krieg, der Herrgott mag's bedauern,
und was da ist, das ist gewesen
und ohne Furcht und Federlesen
zerschlugen sie den Bienenstock dem Bauern.
Es tagt, 'nen Bettel bietet man ihm an.
»Behaltet's, Herr!« »Ist's dir zu wenig, Schuft?«
die Stimme des Gewissens ruft.
»Ich will kein Geld! Nur sehn, wer es getan!«
Sie stehen mit erwartungsvollen Mienen,
da führt man jenen Führer her
der Rotte, die den Stock zerbrochen.
»Ich bin entschädigt! Dies ist mehr!
Sie haben ihm die Stirn zerstochen!
Denn Krieg ist Krieg. O meine braven Bienen!«
— 93
Ich und das Ichbin
Schweiz, Februar 1918
Weifel, Werfel — richtig, das ist der, der das Gefühl von
einsamen Harfenistinnen in Kurkapellen kennt, das Gefühl von
schüchternen Gouvernanten im fremden Familienkreis sowie das
Gefühl von Debütanten, die sich zitternd vor den Souffleurkasten
stellen. Ganz recht, das wird ihm in jeder Rezension bestätigt
und man zweifelt umsoweniger daran, als ers ja selber zugibt.
Und es ist nicht etwa bloß die Inhaltsangabe eines Gedichtes, sondern
auch die ganze Form solcher grenzenlosen Zeilen — denn so
sind nun einmal die Verse dieser Kosmischen, nanafas, also
auch die Zeile — , und es ist der Inhalt des ganzen Dichters
dazu. Er kennt das Gefühl, er hat mitgemacht, nicht etwa
das eigene Erlebnis — das wäre nicht der Rede wert — , aber
das, was die andern mitmachen, die es nicht mitmachen, sondern
nur erleben; alle Erlebnisse alier Mitlebenden, Freud und Leid
aller Kreatur und auch alle Erlebensmöglichkeiten aller Seelen
im Weltenraum. Er hat sich die ganze Karriere des Faust erspart,
indem er trotz den vielfachen Erfahrungen, die er auf diese Art zwar
nicht gemacht hat, aber mitgemacht, bei der Schönheit des Augen-
blicks verweilend, seine Genußfähigkeit durch alle fremden Schick-
sale trägt. Wohl stand er auf eigenen Kindesbeinen, da gab's noch
allerhand9 persönliche Erlebnisse, da ging noch etwas in ihm vor,
aber dann kam es über ihn und riß ihn fort zur Menschheit und
darüber hinaus zuGott, dem er die Freude über die Schöpfung sowie
auch die spätere Reue lebhaft nachfühlen kann. Mitmachend am
sausenden Webstuhl der Zeit, der Gottheit lebendiges Kleid mit-
wirkend, rastloser Seelenwanderer, restloser Bejaher dessen, was
ist, immer in Mitleidenschaft gezogen, erfaßt er den Schicksals-
augenblick im Leben des Nächsten und des Fernsten, was ihm
gleichfalls in jeder Rezension bestätigt wird. »Das ist doch
unvergeßlich in dem Gedicht , Malheur' ausgesprochen«, lesen
wir, »nämlich der Augenblick, wo das Dienstmädchen« —
Werfel kennt das Gefühl — »vor den Gästen die Schüssel fallen läßt.«
Das Mädchen aber stand regungslos, wie in unnatürlichen Schlaf gesenkt,
Krampfhaft die Arme zu einer rettenden Geste verrenkt.
Jedoch dem Mitleid der Gäste hatte sich scheues Erstaunen zugesellt.
Denn sie sahen plötzlich Eine mitten in ein Schicksal gestellt.
— 94 —
Ein Versteher, ein Verzeiher, dessen Gefühl gleich jener
rettenden Geste die sittliche Wirkung des Malheurs auf die Gäste
beistellt, während in der Hausfrau die Empfindungen der
Scham und der Wut bis zu dem eben noch unterdrückten Ausruf
»Trampel!« wogen, aber von jenem weltsichern Takt mit Erfolg
kaschiert werden, der dem Zwischenfall keine Bedeutung beimißt,
was in französischen Parlamenten »la seance continue« formuliert
wird, in israelitischen Gesellschaften jedoch »Malheur !< Nun
sind diese unvergeßlichen Verse zwar um keinen Hauch
mehr deutsche Dichtung als ein Bericht, dessen die in Mit-
leidenschaft gezogene Hausfrau selbst fähig wäre, und nichts
anderes als die nebenbei gereimte psychologisch-adjektivische
Prosa jedes beliebigen kleinen Literaten, wie sie heute für jede
Buchkritik, Schmucknotiz, Gerichtssaalschilderung in jeder Wiener,
Berliner und vor allem Prager Redaktion verlangt wird, lyrischer
Feuilletonismus, an die Lyrik zurückgegeben, die wieder mit
gewollten, weil nicht anders gekonnten Prosaismen die Fülle
der leersten Gesichte aufreiht, ein sprachliches Nebenher, das
nun einmal die neue Art des Sehens und Fühlens darstellen
soll, kurzum die Inhaltsangabe eines Werfel'schen Gedichtes,
wenn es nicht dieses selbst wäre. Doch die Lockerung der
Sprachfessel, das erstemal von Heine, dann von Nietzsche, nun
von Rilke gewährt, die Umgänglichkeit mit Wort und Ding,
die es doch beide nicht so leicht haben wollen, zueirfander zu
kommen, entzückt die neuen Literaturjournalisten, weil jeder mehr
noch als alles mitzumachende Erlebnis die Chance spürt, daß
sogar er das zustandebrächte. Deshalb muß die Ahnungslosigkeit
des Schweizer Kritikers auffallen, dem der seelische Jargon solcher
Schildereien »unvergeßlich« ist, und muß die unbefangene Flachheit
bestaunt werden, die nach Peter Altenbergs Momentaufnahmen
aus dem Leben von Dienstboten und aller mit Blick und Griff
erfaßter und ins Leben gerissener Menschheit, nach diesen Wundern
der Täglichkeit, wo Herz und Laune zur Lyrik eines Worts
verschweben, von solchen Gefühlsplaudereien, die nur die
umständliche Inhaltsangabe einer Leere sind, Aufhebens zu machen
wagt. Das bewundert die Werfel'sche Gabe, zu wissen und
auszusprechen, was in jeder andern Seele vorgeht, und spürt
nicht, daß hier ein Schein der Fülle von einem wesentlichen
95
Mangel glänzt und daß der berühmte Gallimathias von »der
Schwäche Kraft« hier wirklich einmal einen Zustand bezeichnet.
In solchen Gedichten wie dem von der > Witwe am Bette ihres
Sohnes« — so findet jener Zürcher Enthusiast, dem ich viel
heitere Einsicht in die neueste Literatur verdanke und an dessen
Hand ich am liebsten die Irrwege der Entwicklung durchspaziere —
»erkennt man unschwer, daß es immer wieder Sphären des
Unausprechlichen gibt, die auf des Dichters Wort harren«. Freilich ;
doch werden sie, wenn sie auf Werfeis Wort geharrt haben, noch
lange unausgesprochen bleiben. Denn schon die Apostrophe:
Mein Kind, mein Da-sein, mein Tod
ist in der Begriffsspaltung des mittleren Hauptwortes reinster
Feuilletonismus, der wohl die poetische Gegebenheit von »Dasein«
.an dieser Stelle spürt und zu umgehen weiß, aber zum völlig
unpoetischen »Leben« nicht die Kraft hat. Dem Rezensenten
freilich gefällt das so gut, daß er, was nicht einmal einen Sinn
ergibt, gleich von einer Mensch-heit spricht, deren Idee Werfel
betone. Von einem Gedicht, das den »Urgegensatz der Väter und
Söhne« nicht etwa in die Psychoanalyse, sondern in ein angeblich
»neues Pathos« stellt, sagt jener: »Das ist nicht Schiller mehr, ist
durchaus Franz Werfel«. Also Schiller von Rilke, nämlich auf
die Art, »wie wir einst in grenzenlosem Lieben Spaße der
Unendlichkeit getrieben« und wie nun »in einer wunderbaren,
leisen Rührung stürzt der Raum.« Diesem neuen Pathos, dem ein ehr-
licher Eidgenosse nicht umhin kann doch etwas Schiller anzumerken,
weil es sich an Formen wie »geuß« ergetzt — liegt, wie man sieht,
»jede geblähte Geste fern«. Gleichwohl muß der Kritiker »Krämpfe
des Gefühles« rühmend feststellen. Aber die metaphysischen
Blähungen, die zwischen den Kulissen des Alls ihre Spaße der
Unendlichkeit rumoren lassen, sind eben der Reiz, der in Verbindung
mit dem zeitgebornen Talent der Impression der Werfel'schen
Lyrik ihre durchschlagende Wirkung verschafft hat. Das Kindheits-
erlebnis, das die Sprache noch halten konnte, hätte beiweitem
nicht zu den Effekten gelangt, deren eine aus Mangel an
Schwerpunkt in den Äther greifende Gefühlsberedtheit sicher
sein kann.
Dieser Dichter nun, dessen psychischer Geschlechtscharakter
sich wie der so vieler Zeit- und Geschlechtsgenossen in der
— 96
Lust verrät, sein Ich, das er an die Welt hingegeben hat, gegen
mich zu behaupten, nennt sich selbst »unmittelbar und
einfach*, fragt mich, wo in meiner Lyrik »nur ein unmittelbarer,
aus einer Existenz und nicht aus einer Raison geborener Vers«
sei — als ob er diese Frage nicht hymnisch beantwortet hätte —
und zählt sich im Gegensatz zu mir, der kein » Ichbin < sei, den
Schöpfern zu, »die durch sich selbst fliegen können über tausend
Meere«. Und dennoch war er, als er einst in grenzenlosem Lieben
sich auf einem mir benachbarten Planeten beschied und die
Ewigkeit nur für die Treue in Anspruch nahm, die er »dem
Menschen und Künstler< schuldig zu sein glaubte, ein besserer
Euphorion als später, da er wie in die fremden Schicksale sicli
ins fremde Pathos einzuleben wußte, das freilich genügsamen
Hörern wie neu erscheint.
»Hört ihr Kinderlieder singen,
Gleich ist's euer eigner Scherz;
Seht ihr mich im Takte springen,
Hüpft euch allsogleich das Herz.«
»Kaum ins Leben eingerufen,
Heitrem Tag gegeben kaum,
Sehnest du von Schwindelstufen
Dich zu schmerzen vollen Raum.«
Ach, der Urgegensatz von Vätern und Söhnen!
»Bändigel Bändige
Eltern zuliebe
Überlebendige,
Heftige Triebe!«
» Dorthin 1 Ich mußl Ich mußt
Gönnt mir den Flug!«
»Ikarus! Ikarus!
Jammer genug.«
Aber aus den Exuvien, die ich als Phorkyas in die Höhe
hebe, kann immer wieder ein neuer Werfel erstehen:
Und kann ich die Talente nicht verleihen,
Verborg' ich wenigstens das Kleid.
Wobei nicht zu vergessen ist, daß das Kleid eben die
Talente sind. Immer bleibt es die Biographie dieser Leicht-
beschwingten, »Sonne-durchstrahlten Äther kühn und mutwillig
Durchflatternden«:
97 —
So auch er, der behendeste,
Daß er Dieben und Schälken,
Votteilsuchenden allen auch
Ewig günstiger Dämon sei,
Dies betätigt er alsobald
Durch gewandteste Künste.
Schnell des Meeres Beherrscher stiehlt
Er den Trident, ja dem Ares selbst
Schlau das Schwert aus der Scheide .
Wie das?
Nein, nicht ein Kind bin ich erschienen,
in Waffen kommt der Jüngling an . . .
Wie das?
Träumt ihr den Friedenstag?
Träume, wer träumen mag.
Krieg 1 ist das Losungswort.
Sieg! und so klingt es fort.
Aber das ist nur der Welt, nicht des Weltfreunds Sehnsucht;
und Byrons Krieg war ein anderer als der, der nicht Werfeis Krieg
ist. Gleichwohl kann der besorgte Zürcher einen herzbewegenden
Hinweis nicht unterlassen, daß »auch um diesen menschheits-
gläubigen Dichter Mars und die Musen streiten«, ohne aber den
Lesern die Beruhigung zu erteilen, daß Mars nachgegeben hat,
was er in allen Fällen tut, wo die Musen ihm entweder durch ihre
martialische Gesinnung imponieren oder sich wenigstens zu
Kanzleiarbeiten im Kriegspressequartier verwenden lassen. Hätte
Mars nicht nachgegeben, so hätte sich ja auch kein Zürcher
Werfel-Abend als das Ereignis der literarischen Saison
ankündigen lassen. Das war er allerdings in einer Stadt, die
in der Epoche der durch Paßvisa geregelten Völkerwanderung
mit dem Berliner Schiebertum dessen geistige Kultur importiert
hat. Nie zuvor mag es einen Lyriker gegeben haben, der — auch der
Klingklang der Heine'schen Freiheitslockung bietet da kein Pendant
— so das Zeug hatte, den Leuten zum Herzen zu sprechen, die keines
haben, und der einer Rasse, die ohne schlechtes Gewissen ihr
Lebensgeschäft macht, das momentan ein Todesgeschäft ist, ein
Bedürfnis nach Beruhigung, das sie nicht spürt, so vollkommen
gedeckt hat. Auf dem Wege von Christus fort, wieder auf dem Äser-
weg, treffen sie irgendwo den Dichter, deranstatt sie zurückzutreiben,
— 98 —
Ersatz anbietet. Diese Lyrik ist der Gutschein, der den Unberufenen
auf die Seligkeit ausgestellt wird. Was braucht man der Jauche
mehr zu sagen, als daß sich auch in ihr die ewigen Sterne spiegeln
und gerade in ihr, weil derzeit auf Erden kein anderer Spiegel
vorhanden ist! Und wenn man es noch dazu teils in virtuosen,
teils in angenehm mystischen Versen sagt, die zwischen Berlin W
und den Äonen kein Gefühl des Schauderns voreinander
aufkommen lassen, so sind mit einem Schlage eine Vertrautheit
und eine Beliebtheit hergestellt, elementar wie sonst nur Entfernung
und Befremdung, wenn Kunst und Menge aufeinander geraten.
Wer könnte, da dieser Dichter den einzigen bescheidenen Wunsch
hat, dir, o Mensch, verwandt zu sein, widerstehen? Der Welt-
freund, der diese Sehnsucht nicht unter Flüchen vor der Welt
bekennt, sondern ihr, wie sie ist, umarmend, ins Ohr singt, dürfte
ein Allerweltsfreund sein. Das Entzücken der so in camera
caritatis sub specie aeternitatis angesprochenen Welt ist grenzenlos
wie die Liebe, die sich überall dorthin, wo es etwas zu fühlen
gibt, goetheisch wühlt und aus der sprachlichen Landschaft des
ersten > Faust« in die Seelen spült. Mein Mentor durch diese
Gefühlszone, der nicht fühlt, wie hier ein erborgter Ton einem
Himmelsparvenütum zuspricht, ist außer sich, denn er hat
Werfein, den er bisher nur gelesen hatte, gehört, schwelgt nun
erst recht im »neuen Weltgefühl« und nennt die Gedichte, die
es verkünden, »unsere vitalste Angelegenheit: das Da-sein«. Die
Menschheitsstimme ist diesem Dichter »der Sopran Gottes«,
bemerkt er, anstatt lieber zu bemerken, daß dieser Dichter ein
Tenor der Schöpfung ist. Nein, »wäre er mit heiserer und
siebenfach belegter Stimme erschienen, man hätte doch einen
gewalttätigen, einen rasenden und ekstatischen Willen gefühlt,
der die Stimmbänder bezwungen, der in der Menschenstimme
über Orgelton, Pauke und Posaune geboten hätte«, wiewohl sie
doch eigentlich nur der Sopran Gottes ist. Aber es sind wohl
die »zwo Gewuren« gemeint, die in meiner elysischen Hymne
gepriesen werden und die über eine siebenfach belegte Stimme
— Indisposition des Psalmisten — gesiegt hätten. Denn siehe:
Das geschriebene und geprägte Wort riß Franz Werfel wieder
an sich, hielt es in der Schwebe, auf Sternen und Wolken, schmiß es
über Meridiane, über die Erdkugel hin und schlang es zurück in seinen
— 99 —
Busen und scVienkte es — den Vers feierlich zelebrierend — den Menschen,
die auf den Stühlen erst festgeschraubt saßen, bis sie, von jedem
Argwohn befreit, von jener so geheimnisvoll Willige und Laue
bezwingenden Eintracht der Empfindung ergriffen, in die Sphäre des
Enthusiasmus glitten, mit dem Dichterlitten, seiner Hingabe hingegeben,
seinem Erleben, seinem Beben, seinem Schweben.
Zuerst las er das bekannte Programm der Weltfreundschaft:
was er alles kennt und wie er weiß, was sie alle durchgemacht
haben bis herunter zum Kuli. >Er schämt sich dieses harten
Wortes — durchmachen — selbst in der beschwingtesten Rede
nicht«, rühmt der Zürcher, der eben noch nie in Prag gewesen
ist und nicht weiß, was sie dorten täglich entweder durchmachen
müssen oder mitmachen können. Dann las er ein Gedicht, durch
das >alle lyrische Prahlerei mit der Erlebnisfülle und der erlittenen
Pein ins Mark getroffen ist«. Werfel tut keineswegs unrecht, diesen
Subjektivismus ins Mark zu treffen. Denn es ist in der Welt-
literatur schon manchmal vorgekommen, daß der Subjektivismus
in der Lyrik ein Mark hatte, während die lyrische Protzerei mit
der fernen Erlebnisfülle und der durchgemachten Pein des andern,
die jedes Gedicht als eine Gebrauchsanweisung für Nächstenliebe
von sich gibt, innen und außen von fremdem Leben borgt. Etwa so:
Ich bin gesund,
Und weiß noch nicht, wie Greise rosten.
Ich hielt mich nie an groben Pfosten
Wie Frauen in der schweren Stund!
Nie war ich ein Kind, zermalmt in den Fabriken
dieser elenden Zeit, mit Ärmchen ganz benarbt!
Nie hab ich im Asyl gedarbt,
Weiß nicht, wie sich Mütter die Augen aussticken,
Weiß nicht die Qual, wenn Kaiserinnen nicken.
Ihr alle, die ihr starbt, ich weiß nicht, wie ihr starbt.
Und weiß es doch. Welch ein mit Gefühl gefüllter Hohl-
raum! Wie hart in Raum und Reim stoßen sich die Sachen:
die Greise, die rosten, an den gewiß seltenen Fall, daß Frauen
in der schweren Stund sich an Pfosten halten, deren Merkmal,
grob zu sein, sowohl der Anschauung wie dem Schmerzmotiv
genügen soll. Wie kommt die Absicht dem Unvermögen zu Hilfe,
und einzig das Bekenntnis des Dichters, selbst noch nicht die
schwere Stunde durchgemacht zu haben, scheint als ein Naturlaut
— 100
aus femininen Seelengründen und von tiefgefühlter Unfruchtbarkeit
her zu dringen. Aber er, der nie in der Lage war und nicht
weiß, wie Kaiserinnen nicken — ein ungemein suggestives Beispiel
aus dem Vorrat von Weltleid und aus der Reihe alles dessen,
was es gibt — , will auch hier nur zerknirscht bekennen, was er
doch alles fühlt, ahnt und eben, wenn schon nicht durch-, so
doch wenigstens mitgemacht hat. Ist solches nun sprachlich die
Willkür der Sprödigkeit, die von einer Erscheinung bloß die
abseitige Eigenschaft oder das vom Zufall berührte Merkmal
aussagt (nickende Kaiserinnen, Niederkunft an groben Pfosten);
jene technische Errungenschaft der letzten zehn Jahre, die die
deutsche Lyrik als Übersetzung aus irgendwo wirken läßt; jene
Geschicklichkeit, zu können, was man nicht kann; jene
Verfügsamkeit, der zwar die vorhandene Phantasie der Phrase
(>Dasein<) widerstrebt, aber die vorhandene Plastik der Jargon-
wendung (»durchmachen<, »sich die Augen aussticken«) gefällt
— so hat der Kritiker recht, als Verse »wie sie die Lyrik der
vorletzten Zeit längst nicht mehr kannte*, die folgenden
hervorzuheben :
Du auch, Wort, praßte auf, das ich in Ahnung brauche!
Geuß unverzehrbar Dich durchs All: Wir sind!
Denn die vorletzte Zeit ist glücklich zwischen dem älteren
Schillerton und dem neueren Prager Judendeutsch durchgerutscht.
Der vorvorletzten Zeit jedoch den Überschwang der Wortformen zu
entlehnen, die Petrefakte der schönen Seele mit neuzeitlichen Tränen
aufzuweichen, zeugt von einer naiven Unredlichkeit, die fast wieder
einem Original zugehören könnte. Das gebärdet sich, als ob aus-
gerechnet die zwei Seelen, die in der Brust des literarischen
Zwitters wohnen, sich in das Vermächtnis der Dioskuren zu teilen
hätten. Dieser von der Natur überreich Ausgestattete tut mir
und sich selbst Unrecht, zu vermuten, daß ich »mein Wissen
über ihn aus dem journalistischen Waschzettel, der gerade in
Umlauf ist, übernehme.« Wiewohl ein Waschzettel über einen
Lyriker oft bessern Aufschluß gibt als sein Buch und fast so
guten wie sein Charakter, und wenn es gleich richtig ist, daß
ich bei der Lektüre vieler Bücher, die mir mit vergötternden
Widmungen zugeschickt wurden, nicht über diese hinaus-
gekommen bin, so hat mir doch bei andern die Erinnerung, daß
— 101 —
mir ein guter Teil schon aus dem Manuskript bekannt war und
daß ich manch einem Stück selbst zum Druck verholten habe,
auch das Studium des Restes zur Pflicht gemacht. Daß mir
eine begeisterte Rezension, aus der sich gewiß ein paar Wasch-
zettel gewinnen ließen, beim Zitieren hilft und daß mir ihre
Tiraden für den Eindruck der Werfel'schen Lyrik bezeichnend
sind, entspricht nun einmal meiner Gewohnheit, alles, was mir
aus der Zeit geboren scheint, durch deren eigentümlichstes
Medium zu betrachten, wissend, daß ich so bequemer auf den
Grund der Erscheinungen komme als wenn ich mich an sie
selber hielte. Brauche ich mehr von einem Lyriker zu wissen, als
daß ein Berliner Literaturkommis, der als Lebenslaufbursch in den
ersten Verlagshandlungen praktiziert hat, ihm als »Künstler der
neuen Generation« nachrühmt:
Man hat ihn gefeiert. Hunderte von Aufsätzen sind über ihn
geschrieben worden. Politiker wie Ästheten zitieren seine Verse, vor-
nehme Frauen legen seine Gedichte auf ihren Nachttisch und
Ibsen in wehmütigen Stunden darin. Denn dieser junge Dichter
streichelt ihre Gefühle, er verzärtelt sie ... . Einen seiner
Urgesänge widmet er dem »guten Menschen« .... Etwas
Christi ich-Prometheisches ist in ihm .... Er steht zur
Linken Heinrich Manns und Rene' Schickeies als der Jüngste und
Zukunftsreichste. Neben dem polyphonen Orchester des
voltaiiischen Geistes und der nervösen Violine des
elsässischen Kosmopoliten tönt gewaltig — zum Welt-
gericht rufend — die Posaune dieses ekstatischen Lyrikers.
Nun, ich würde mein Instrument nicht zugleich mit dieser
Musik zur Geltung bringen wollen und gewiß nie zugeben, daß
meine Urgesänge auf jenen Nachttisch gelegt werden. Solchem
Waschzettel, der sich nach der neuen Schmonzesweis' »einen
Versuch« nennt, »eine Andeutung von dem hymnischen Wesen
des Dichters zu geben«, verdanke ich den immerhin wertvollen
Aufschluß, daß »der Ethiker Werfel der Ekstatikerin Heinrich
Manns, der Madame Legros ähnelt«. Ich kenne diese Gestalt
nicht, bin aber von der seelischen Identität überzeugt und halte
es für einen Beweis von Instinkt, den die Literaten füreinander
haben, daß hier ein Vergleich mit Danton glücklich vermieden
wurde. Und ist es nicht dankenswert, Verse, die man sonst erst
in einem Buch suchen müßte, gleich als Zitate vorzufinden?
Warum hast Du mich mit diesem Feind erschaffen?
Mein Vater, warum mich zu dieser Zwieheit gemacht?
102
Und gar einen Urgesang wie diesen:
Daß den Busen du erweiterst,
Mußt du freundlich sein,
Mußt du höflich sein,
Mußt du gut sein,
Mußt du brav sein.
Die Posaune kann auch Schalmeien und an der Echtheit
•dieses Hirtentons, der einen Hölty beschämt, üben sich
jetzt allerorten die Berliner Literaten in christlicher Nächstenliebe.
Aber der von Natur herzensgute Schweizer, der einen unsichern
Kantonisten nicht zu durchschauen vermag und nicht
ahnt, daß sich das neue Pathos erst dann ins All ergeußt,
wenn die Um in die Moldau fleußt, hat es mir auch nicht unbequem
gemacht. Sogar von seiner Druckanordnung profitiere ich; denn
an Zufälle glaube ich nicht:
Es geht um unser Leben, um die Existenz der
Dinge, der Natur und der Kreatur, deren Wertet-
kenntnis nur durch die totale, bedingungslose, ufer-
lose schöpferische Liebe uns wiedergegeben werden
kann.
In diesem Sinne räumt er ein, daß der Dichter »nicht
nur die eigene Vollendung des Wortes besitzt, sondern die
Sprachvollendung eines Jahrhunderts erworben hat, das den
ganzen Goethe beerben konnte«. Er hält das für eine An-
erkennung; ich glaube, wenn's keine Verleumdung ist, so ist es
ein Steckbrief, der den Verdächtigen noch vor dem Betreten der
Nachwelt erreichen muß. Aus der wievielten Hand jene Verlassen-
schaft auf Werfein übergegangen ist, kann nicht mehr festgestellt
werden, aber immerhin erwarb er es, um es zu besitzen, wie er
die eigene Vollendung des Wortes besitzt, von der ich indes
auch glaube, daß sie, wenn sie besitzbar ist, erwerbbar oder
ererbbar sein muß und nicht angeboren. Diese Sprachkönner-
schaft verfügt vornehmlich über zwei Tonarten: die hohe und
die tiefe. Die tiefe ist erreicht, wenn der Sopran als Mensch-
heitstriller durchs Grenzenlose in ein »erhabenes Wirrsal< über-
geht, das aber den eben noch hingerissenen Hörer durchaus
nicht chokiert. Denn es ist ein schon gut abgelegenes Mysterium,
— 103 —
an dem sich keiner mehr den Kopf zerbricht, welchen im Gegenteil
etwas metaphysischer Dampf angenehm einhüllt, zumal wenn der
Stern der Weltfreundschaft immerzu hindurchleuchtet. Wie
hoffnungslos unbegleitbar wirkt daneben die Sehnsucht des einzigen
männlichen Lyrikers von heute, der Else Lasker-Schüler, »Ich will in
das Grenzenlose, zu mir zurück.< Noch am Ziel des Werfel'schen
Tiefgangs wird der entzückte Betrachter auf Beispiele einer
Nächstenliebe stoßen, die ihn durch ihre zugleich abgründige
und sympathischeGedanklichkeit an den HerzpunktderWerfel'schen
Anschauung von Gott über die Welt reißen. Wahr, wahr, der
Mensch ist von tausend Rätseln umgeben (was ist der Mensch),
>zwischen denen wir lächeln, atmen und schreiten«, und den
Verstand, der sich an ihnen vergreifen möchte, diesen Verstand
der »Statisten der Lebendigkeiten« (was ist der Feuilletonist),
weist Werfet, so sagt sein Erklärer, »auf den Löwenzahn, von dessen
Leiden der Wissende selbst nicht ergründet, wie dem Löwenzahn
zu Mute ist, wenn das Kind seine Krone zerbläst«. Hier, vor
diesem Gedanken, in dem alles Rätsel und sogar das, was sogar
der Wissende schon weiß, nämlich daß wir nichts wissen können,
eingeschlossen ist, konnte sich der Schwärmer nicht mehr
zurückhalten und brach in einen Satz aus, aus dessen Irrungen
und Wirrungen, Gründen und Abgründen, Schöpfung und
Chaos, Unerforschlichkeiten und vor allem Unermeßlichkeiten
der Lesezirkel Hottingen wie ein Pharus in Sperrdruck hervorragt:
Wir fühlten es, wie Werfel hier im Namen aller sprach, die
»dem Chaos der Gefühle einen Kanon« geben, im Namen eines Geschlechtes,
das nicht satt an dem Faßbaren bleibt, sondejn in die unerforschlichen
Gründe des Herzens dringt, selig und beglückt, wenn es trunken von
neuen Ahnungen und Offenbarungen ins_unermeßliche All der gefühlten
Welt ausschwärmt, ungekränkt, wenn die" weisen Magier aus dem
Morgenlande dieser Jugend, die sich nicht am Gegebenen beruhigen
kann, die »Verwirrung des Gefühls« vorwerfen, wie es einmal Goethe
Kleist vorhalten mußte aus jenem naturnotwendigen Gegensatz der
Väter und Söhne heraus, des Alters und der Jugend, die sich zu dem
vom Lesezirkel Hottingen angeregten literarischen Abend in
gleicher Bereitschaft des Verständnisses zusammenfanden, so daß die
Alten und Jungen in Werfel- Tönen sprechen konnten: »Doch auch uns
sind Abende beschieden, an des Tisches hauserhabenen Frieden . . .«,
wo die gesetzten Meister wie Hans Sachs den Vogel lobten, »dem
der Schnabel so hold gewachsen«, während die Jugend unbedingte
Begeisterung dem Dichter zu erkennen gab, der mit einer vorbildlichen
104 —
innern Vorbereitung und mit einer Meisterschaft, die beinahe zu
meisterhaft werden könnte, für seine Welt im Gedichte hinreißendes
Zeugnis ablegte.
Nachdem sich dieses zugetragen hatte und wir nicht ohne
den glücklichen Zufall der Entdeckung, daß ein Ekstatiker am
Ende doch ein Macher sein könnte, aus diesem Taifun gerettet
waren, geschah ein Übriges. Nicht nur die Spracheist der Mensch,
nicht allein daß jeder auch den Waschzettel hat, den er ver-
dient, sondern unschuldig kommt keiner selbst zu einer Notiz
unter >Lokales-:
Man erlebte gestern das fast Unglaubliche:
Was denn? Hatten sich in der Bahnhofstraße die Schieber
zusammengerottet und für die Beendigung des Weltkrieges
demonstriert? War die Krone auf 38 gestiegen?
nachdem Franz Werfel sich in der Veranstaltung des Lesezirkels
mit einer hinreißenden Inbrunst der Wiederschöpfung seiner
Dichtungen, seiner Rhapsodien hingegeben hatte, wohnte
er noch wachen, scharf prüfenden Geistes der in
den neuen Tag übergreifenden Hauptprobe seiner >Troerinnen«
bei — seiner > Troerinnen« ; denn ihre Sprache, ihre Form ist ganz
sein eigen, will nicht Euripides sein. Man spürte durchweg die
Hingabe unseres Oberregisseurs Danegger an die wahrlich nicht leichte
Aufgabe dieser Wiedergabe. . . . Die heutige Aufführung
dürfte Franz Werfel, dem gestern die Jungmannschaft, die neue
Generation feurig huldigte, aber auch die altern und alten Jahr-
gänge dankbare Aufmerksamkeit schenkten, einen zweiten tiefen
Erfolg bringen.
Es ist ein Wunder, glaubet nur. (Goethe.)
Jedoch dem Mitleid der Gäste hatte sich scheues Erstaunen
zugesellt. Denn sie sahen plötzlich Eine (Einen) mitten in ein
Schicksal gestellt. (Werfel.)
Denn wer der Welt Freund ist, wird Gottes Feind sein.
(Jakobus.)
Was nun mich selbst betrifft, so wird man schwer der
Verlockung widerstehen können, meine Stellung gegenüber einem
-der beliebtesten Pantheisten der Jetztzeit, in dessen Anerkennung
— 105 —
sich sogar der Urgegensatz der Väter und Söhne, in Prag sowohl
wie in den Metropolen, ja neuestens sogar im neutralen Ausland
beruhigt hat, auf die Motive des blassen Neides und der gemeinen
Rachsucht zurückzuführen. Beide Vorwürfe wären unzutreffend.
Der des blassen Neides, mit dem Herr Werfel selbst nicht"
zurückhält, wenn er nicht gerade versichert, daß er mich liebe
und das Leben ohne mich schwer sei, könnte schon darum nicht
berechtigt sein, weil die Qualität der beneideten Leistung außerhalb
meiner von mir selbst erkannten Grenzen und der Erfolg so
sehr jenseits meiner Wünsche liegt, daß ich es als das einzige
Selbstmordmotiv anerkennen würde, wenn mir das Malheur mit
dem Dienstmädchen passiert wäre, und daß ich es für die einzige
Rechtfertigung meines Da-seins halte, die Werke von Franz Werfel
nicht geschrieben zu haben. Man ahnt gar nicht, bis zu welchen
Exzessen des Größenwahns mich in mancher Stunde das Bewußtsein
treibt, kein Attest in der Hand zu haben, daß ich erst dann
meine eigene Sprache schreibe, wenn ich Euripides übersetze,
und wie sehr ich diesen toten Griechen im Grund beklage, daß
er gar nicht gefragt wurde, ob seine Sprache von Franz Werfel sein
will. Wenn mich eine weltfreundliche Fee eines Morgens mit der
Mitteilung weckte, daß Werfeis Verse von nun an nicht mehr
von Goethe, Schiller, Klopstock, Laforgue und Rilke, sondern
von mir seien, — bei Gott, ich nähm's nicht an! So glücklich
preise ich mich, lieber Verse geschrieben zu haben, die aus
keiner Existenz, als solche, die aus mehreren Existenzen geboren
sind. So bin ich nun einmal, und wer mich anders sieht, ver-
wechselt die Eigenschaft der Schadenfreude, die auch keine schöne
Eigenschaft ist, deren ich mich aber in geistigen Dingen ohneweiters
schuldig bekenne, mit der Eigenschaft des Neides, die mir nur vor
den jetzt rarer gewordenen materiellen Besitztümern wie Zigarren,
Butter, Eier, Mehl, anhaftet, sagen wir vor einer Torte, die ein Ge-
dicht ist, aber keineswegs vor Gedichten, die noch süßer sind
und doch nicht alle werden. Liegt die Leistung jenseits meines
Vermögens, ihr Genuß jenseits meines Geschmackes, so bliebe
nur noch die Leistungsfähigkeit des Vortragenden, die physische
Ausdauer als Gegenstand des Neides übrig, aber gerade mit der
könnte ich zur Not konkurrieren und wenn ich die Presse von
der Zeugenschaft nicht ausschlösse, sie ein paar dutzendmal im
— 106 —
Jahr ein Lokalereignis erleben lassen. Was den Wert der Darbietung
anbelangt, so gibt es keinen, der so einsichtig und ungeduldig
im Schatten zu stehen wüßte wie ich, und darin weiß ich mich
hors concours. Nie würde ich bezweifeln, daß eine Volksabstimmung
zugunsten eines Aufbauers gegen einen Niederreißer entscheiden
würde, für den Rhapsoden, der aufs Ganze der Weltschöpfung
geht, gegen den Pedanten, der ein Haar darin findet, nämlich
die Erde und etwa noch den Planeten des Herrn Werfel, weshalb
ich mich ihr gar nicht erst aussetze. Neben dem unwiderstehlichen
Vertreter Gottes, der nicht nur den »Menschen und Dingen« mit
Liebe zusetzt, sondern vom Erlebnis des Seins schlechtweg so
Besitz ergriffen hat, daß es ihm zum Erlebnis des Habens
geworden ist, neben einem solchen unwiderleglichen Ichbin bin ich
nur ein armer Worthascher. Wer wüßte das besser als ich und
sperrte sich selbstgenügsamer in seine Grenzen?
So eigensinnig lebe ich von der Lust, der Welt Werte
abzulehnen und in der Verkehrung mir den Verkehr der Welt
zu ersetzen, daß ich nicht nur für mich nach dem Verzicht
strebe, sondern mir noch in jedem Falle, wo einer von mir weg
in den Erfolg gegangen ist, einen persönlichen Mißerfolg zurechne,
so daß ich mich am Ende des einzigen Talents werde beschuldigen
müssen, in Menschen geirrt zu haben, worauf die gerechte Strafe
steht, nicht auslernen zu dürfen. Umso größer das Glück, manchmal
doch zu sehen, wie zwischen einem Gedicht und einem Mann
kein Erdenrest bleibt, aus dem der Erfolg wächst. Daß er Einem
erspart geblieben wäre, einem, um den auch Mars und die Musen
gestritten haben, einem Gleichalterigen und Landsmann des Franz
Werfel; daß er ihm erspart geblieben wäre, hätte auch Mars
nicht die Oberhand behalten — das weiß ich besser als man die
Dinge weiß, die man schon erfahren hat. Was Franz Janowitz
in den vier Jahren seines Kriegslebens und vorher geschwiegen
hat, könnte dennoch einmal lauter und lauterer sprechen als die
Werfel'sche Posaune, und gegenüber einer Literaturkritik, die dann
von einem Nachfolger auf den Gedankenpfaden der Allfreund-
schaft reden könnte, wird es geboten sein, rechtzeitig darzutun,
wie vor einem, der an seinem Ursprung blieb, ein anderer, der
um fremden Ursprung schwirren konnte, Schein und Schall
voraushatte. Was zugleich uns Entfernte entschuldigen mag, die
— 107 —
gegen den Zauber einer neuen Gefühlswelt sich kritisch nicht
widerstandsfähiger zeigen mußten als Herr Werfel produktiv,
und mein immerhin rechtzeitig aufgetauchtes Mißtrauen bestätigen
wird. Ein geistiges Ding kann eine Zeitlang echt scheinen,
weil sein Stoff die Echtheit ist, aber es verrät sich bei näherer
Kenntnis dessen, der's trägt, und daß sich dann auch noch der
Schöpfer dazu findet, ist nur die erwartete Entscheidung in
jenem einzigen Bereiche, in dem es noch eine Gerechtsame
gibt. Ich möchte schon heute der Prager Literatur in allen
Zentren des Geisteslebens den Rat geben, sich mit ihren Erfolgen
zu begnügen und den Schatten Franz Janowitz, der bei den
schweigenden Lebzeiten des Dichtersauf ihr Da-sein und Dortensein
gedrückt hat, nicht ihren Gestalten anzureihen, wozu sie bereits
schüchterne Anstalten trifft. Er ist heute nicht wehrloser, er
würde jetzt erst sprechen. Die Sprache finden, bei der er immer
war und die er selbst im Trommelfeuer zu hören gewollt hat.
Was dieser Franz Janowitz auf einer Feldpostkarte über das
Geheimnis eines Vokals aussagen konnte, in einem meiner
versgewordenen Worte, die so weit von dem Anspruch entfernt
sind, sich durch das All zu ergeußen, das sollte wohl einen
Franz Werfel, der mir »Wortdienst Götzendienst!« zugerufen hat,
beschämen. Er, der Schöpfer, der durch sich selbst fliegen kann
über tausend Meere und wie erst hinweg über meine Grenzen,
überschätzt mich dennoch, wenn er höhnt, daß meine Qualen
»nicht den Menschen und Dingen, die ich zu Worte bringe, gelten,
sondern dem Worte selbst«. Das hält er für armselig genug. Ach, es
ist weit schlimmer um mich bestellt, denn wenn ich nur unter solchem
Zustand litte, so könnte ich mich davon befreien, indem ich mich
von den Menschen und Dingen befreie, die ich, wie Herr Werfel
sich das vorstellt, zu Worte bringen will und doch nicht müßte.
Es ist schön von ihm und zeugt von seiner selbst mich umfassenden
Nächstenliebe, daß er bereit ist, dieses Leid mit mir durch-
zumachen. Aber weiter könnte sein lebendiges Mitgefühl kaum
dringen, nämlich bis dorthin, wo eben das beginnt, was er nicht
versteht. Denn es ist nichts geringeres — Herr Werfel erschrecke
nicht — , als daß die Menschen und Dinge, von denen ich mich
längst befreit hätte, wenn's nur drauf ankäme, sie zu Wort zu
bringen — etwas dagegen haben! Und darin ist jene Qual
108
enthalten, die so schwer mitzumachen ist und bitter wie ihr
Bekenntnis:
Wer sprechen kann, der lache
und spreche von den Dingen.
Mir wird es nie gelingen,
sie bringen mich zur Sprache.
Der Glückspilz des Wortes freilich, dem es zur Verfügung
steht und dem der Schnabel hold gewachsen ist, um von allem und
zu allem, was es gibt, zu sprechen und vor allen, die es gibt —
dessen Anteil gilt unmittelbar den Menschen und Dingen und ihm
bleibt selbst jene formale Wortmühe erspart, als die er meinen
Zustand begreifen möchte. Was weiß denn ein Weltfreund von
meinem Elend? Ahnt er, daß die erreichte Menschenbrüderschaft
eine Schlaraffengemütlichkeit ist neben der furchtbar zärtlichen
Innung der Worte; und daß seine Gefühlsamkeit um die Dinge
ein Kinderspiel ist neben Lust und Schmerz jener Mitwisserschaft,
welche die Anziehungskraft der Laute erlebt? Und daß die
Anziehungskraft der Leute in solchem Stadium keine Ablenkung
vermag? Hat ein Voyeur der Menschenliebe je in dieses Reich
der Leidenschaften geschaut? Ein Shakespeare mag seine
Silbenstecher verspotten, da sein Spott zugleich sie erhöht,
indem er sie um eines Shakespeareschen Zuges willen
und mit Shakespeareschem Wortwitz verspottet und ihnen Sätze
in den Mund legt, die seines Spottes spotten. Aber ich bin
kein allitterierender Schulmeister und Herr Werfel, der sich
von Shakespeare schon durch die Fähigkeit, keinen Wortwitz
machen zu können, unterscheidet, spottet nicht einmal seiner
selbst und weiß bloß nicht wie. Er hat wirklich nebst den
vielen Dingen, die ihm unmittelbar ans Herz gewachsen
sind und die er bloß nicht kennt, von jenen keine Ahnung, zu
denen man keine andere Beziehung als die der Ahnung haben
kann. Es ist eben leichter, sich in die Lage eines Schiffsheizers,
sogar in das Schicksal eines Dienstmädchens, das die Schüssel
fallen läßt, ja selbst in die Situtation einer schwangeren Frau zu
versetzen als in die ganz andern Umstände, die bei meinem
Schreiben vorwalten. Heißer habe ichs, ungeschickter mache
ichs und schmerzlicher ist es. Wenn Herr Werfel aber schon
nicht weiß, wie sich Mütter die Augen aussticken, geschweige
109
denn die Qual, wenn Kaiserinnen nicken, so sollte er auch
so bescheiden sein, sich in eine Erörterung meiner Passion
nicht einzulassen, umsoweniger als man nach seinem eigenen
Eingeständnis nie wissen kann, wie dem Löwenzahn zumute
ist, wenn ein Kind an ihn rührt, und ich ihm gern zu verstehen
gebe, daß meine Wertlosigkeit sich nur auf den Anlaß und nicht
auf den Erreger erstreckt — »Mein Mut ist Löwenzahn!« So eng
meine Grenzen, so lebhaft mein Wunsch, daß sie von außen
nicht überschritten werden, und daß ein Anrainer der ewigen
Sphären darauf verzichte, in der meinigen nachzuschauen und
meine Abenteuer der Arbeit mitzumachen. Er ist entschädigt. Ihm
schenkte nicht allein des Gesanges Gabe, der Lieder süßen
Mund Apoll, damit sich eine erholungsbedürftige Zeit daran
erquicke, er ist auch, um tieferem Bedürfnis zu genügen, des
Gottes voll — mein Eidgenosse beschwor es; ein Götzen-
diener des Worts würde vergebens, erfolglos, es bestreiten.
Aber Neid könnte dem, der im Genuß der Entsagung schwelgt,
nicht vorgeworfen werden. Bliebe nur die Rache.
Ich wüßte nun zwar keinen bessern Grund, um mich
an einem schlechten Gedicht zu rächen, als das schlechte
Gedicht, und könnte darauf verweisen, daß meine Angriffe,
seitdem ich Krieg führe, ihr Motiv an der Stirn tragen, die
ich offen allen Feinden biete mit Ausnahme jener, denen ich
den Rücken biete, weil sie ihre eigene Berechnung oder Hysterie
zum Maß meiner Taten machen. Daß ich einen Weltkrieg
führe, mag für die Krapüle noch immer auf verletzte Eitelkeit
oder auf den Papierkorb, den ich von einem Zeitungsherausgeber
erhalten haben soll, zurückzuführen sein, und die Judengasse
glaubt noch immer nicht, daß ihre Psychologie ein triftigerer
Grund ist, sie zu verpönen, als der Tatbestand, den sie fingiert.
Wie vermöchte der Ehrenschild vor einem Lebenswerk unversehrt
den Sagenkreisen zu entkommen, in denen die Tat ein Geschäft
und der Angriff eine Repressalie ist? Wo gibt es eine Rettung
vor denen, deren Beruf ist, nicht zu glauben? Wo wäre in
dieser Welt der Geschichtenträger, Kaffeebrüder und Mollusken,
über deren Wesenlosigkeit mich die Panzer tracht dieser Jahre
nicht getäuscht hat, eine Klarstellung männlicher Dinge möglich?
Wenn ich es auf diese Region abgesehen habe, so kann freilich
— 110 —
mein Angriff den persönlichen Ursprung so wenig verleugnen
wie die persönliche Richtung. Um zum Urteil über die sprachlich
manifestierte, sprachlich verkleidete Unpersönlichkeit zu gelangen,
hat es immer wieder des persönlichen Aufschlusses bedurft, und
ich bekenne mich nicht nur dieser Methode der literarischen Urteils-
bildung schuldig, sondern auch der Kurzsichtigkeit, die mir manch
einen Vers schön erscheinen ließ, ehe er mir eben das fragwürdige
Gesicht zuwandte, das mir die Seele seines Autors offenbarte.
Ein Gedicht ist so lange gut, bis man weiß, von wem es ist,
und ich maße mir an, von sprachlichen Dingen so viel zu
verstehen, daß ich den ganzen Menschen dazu brauche, um seinen
Vers beurteilen zu können. Er ist zugleich gut und schlecht, und
ehe man das zweite weiß, ist man gerne gewillt, das erste zu
glauben. Denn eben das ist dieser Spielart gegeben, zu zeigen
was sie nicht hat, und so hat auch sie teil an dem
großen Geheimnis der Sprache, die eben dort, wo nicht
Wesen ist, umso mehr Schein zuläßt. Vermag sie kein
Wunder, so vermag sie doch den Zauber. So herzgebunden
ist die Sprache der Lyrik, daß sie es entweder hat oder verhüllt,
was sie nicht hat. Bis man das erkannt hat, gilt es immer wieder
kennen zu lernen. Der Satzbau, der auf dem Flugsand der Hysterie
steht, besteht nicht und der Seele, deren Grundgefühl die Unruhe
des verirrten Geschlechts und deren haltbares Erlebnis die eigene
Unsicherheit ist, traue ich den schönsten Vers nicht zu, den sie
geschrieben hat. Lyrik ist entweder die Flucht des Stärkeren vor
dem Leben oder des Schwächeren vor sich selbst. Zumeist kommt
man ihr erst auf den Grund, wenn man auf keinen stößt, und
manch ein Ichbin ist mir begegnet, das sich lange dieser
Prüfung entzog und erst bewiesen hat, daß ihm das Ich fehle,
als es dieses gegen mich behaupten wollte. Und vor solchen Offen-
barungen sollte eine wahrhafte Literaturkritik Halt machen? Ein
Lyriker selbst hat, da auch nach seiner Ansicht > nicht Hoheit und
Niedrigkeit zugleich in einem Herzen wohnen können«, einmal zu-
gegeben, daß das Werturteil über den Menschen das über den Lyriker
bedeutet. Gegen welche literarische Betätigung wäre denn auch die
persönliche Methode der Urteilsbildung weniger anfechtbar
als gegen die allerpersönlichste? Was ich aber persönlich vergelte,
ist nie die Handlung oder Gesinnung, die den Charakter
111 —
anders deuten ließ, sondern einzig und allein das Gedicht. Dieses
ist mir angetan. Die Handlung auch dann nicht, wenn sie mir
angetan wäre. Das Gedicht aber läßt mich nicht verzeihen und
nicht vergessen, daß ich es früher anders angeschaut habe, und
weil vor der geistigen Front nur das unerbittliche Muß gilt,
und weil mir das Problem der Deckung von Wort und Wesen
unvermeidlich ist wie ein Schicksal, so gibt es da nichts
als Erkenntnis und Bekenntnis, auf die Gefahr hin, daß ein
Tölpel, ein Schuft, ein Gerücht oder wie das weglagernde Ding
sonst heiße, eben das > persönliche Motiv«, welches doch das
einzige Motiv ist, nicht Selbstmord in dieser Welt zu begehen,
mir enthüllend auf den Rücken schreibe.
Meine Rachsucht wird offenbar: Handlungen, die mir
nicht angetan sind, können mir eine Persönlichkeit aufschließen
und das »persönliche Motiv*, an dem ausschließlich das Objekt
beteiligt ist und das Subjekt nur als erkennender, nicht als-
leidender Faktort ist der Hebel der Wendung, die der Flachsinn
immer nur von einem verletzten persönlichen Interesse herleitet.
Wenn ich einen Antialkoholiker auf Grund persönlicher Erfahrung
entlarve, so wird diese als die schmerzliche Enttäuschung verdächtigt
werden, daß er meinen Wein ausgetrunken habe. Wiewohl meine
Erkenntnis seiner Persönlichkeit darum nicht minder stichhaltig
wäre, so wird sie von einer Ethik, die nur das persönliche Interesse
als den Beweggrund aller menschlichen Entschließungen begreift,
selbst dann entwertet, wenn sie auf der Grundlage einer streng
objektiven Erfahrung zustandekommt. Im Angesicht solcher
sittlicher Kompetenz jedoch empfiehlt es sich, das persönliche
Motiv als das einzige sachliche zu bejahen, solange daran nur
die Persönlichkeit des Angegriffenen und nicht das persönliche
Interesse des Angreifers beteiligt ist. Der Verdacht kann sich,
um dennoch »Rache« zu vermuten, vor solcher Hartnäckigkeit
ja getrost auf die Wahrnehmung zurückziehen, daß eine Kritik
als Antwort auf eine Kritik erfolgt. Diese Entwertung könnte
meinem Urteil tatsächlich, wenngleich erst jetzt widerfahren. Denn der
Dichter hat einen »Offenen Brief« an mich veröffentlicht,
mit dem er nicht nur den gern eingeräumten Unterschied
zwischen seiner Weite und meiner Enge gründlich ausschöpft,
sondern auch bis auf die psychische Wurzel meiner
112 —
unfreundlichen Weltbetrach tung vordringt und an diesem Fall
die Problematik, die zwischen Schreiben und Leben spielt,
mit der ganzen Selbstaufopferung, deren die psychoanalytische
Methode fähig ist, entblößt. Indem er die Distanz zwischen
einem Satiriker und der Menschheit auftut, erkenne ich wieder
nur die zwischen einem Vers und einem Menschen. Ich sei,
enthüllt der Verfasser der »Metaphysik des Drehs«, ein Hysteriker,
ich sei es; was ich schreibe, sei ein >sublimierter Alibi-
beweis«, ich führte > Dialoge mit einem scheinbaren Partner«,
ich sei kein Ichbin, ich sei ein >ichsüchtiger Selbstmordkandidat«,
ein »Feigling und Drückeberger des Zerfalls«, »kein wirklicher
Mensch« (welcher Entdeckung sogar ein tätiger Mitstreiter des
Herrn Werfel, der mich vorher »christushaft« befunden hatte,
zustimmen mußte); ich sei einer, dessen Schicksal es ist, die
Welt aus dem Zeitungsblatt zu erleben, »wie es in anderem
Sinne das Schicksal der ganzen Zeitgenossenschaft ist«, die Welt
sei aber »nicht identisch mit der Zeitung« (an welchem Wider-
spruch aber die Welt und nicht der Weltfreund schuld ist); ich
mache schlechte Witze, die Herrn Werfel in der Hand bleiben
und dann wirklich ein Dreck sind ; ich sei ein Taschenspieler, treibe
Gespensterpolitik, liebe Seitenblicke, publiziere Privatbriefe (was
ich doch nur tue, bevor sie als offene erscheinen), kurz und gut,
ich habe mich seit der Stunde, die gebieterisch und unverrück-
bar den Planeten des Herrn Werfel an den meinen band, sehr
veiändert. Nun könnte ich wohl zugeben, daß ich mich dem
Eindruck solcher Konstatierungen nicht leicht entziehen kann
und daß immerhin, wenn ich nicht schon zum Glück mein
endgiltiges Vorurteil über die Werfel'sche Lyrik hätte, dieses noch
durch das polemische Betragen des Dichters ungünstig beeinflußt
werden könnte, das ja reichlich jene Aufschlüsse über den
Menschen liefert, die die Maske des Reims so diskret vorenthält.
Ich möchte der ungebundenen Sprache des Dichters das Ver-
dienst nicht abstreiten, wenn schon nicht an seiner Wertung, so
doch an dem Entschluß, sie zu Wort zu bringen, mitgewirkt
zu haben. Mehr als ein Waschzettel, in dessen Adjektiven ich das
Echo der Persönlichkeit höre; mehr selbst als jene Kritik,
deren Jauchzer nur die bequemen Stichworte der Negation
waren und die ich nicht zitiert, sondern reklamiert habe,
113
weil sie schlechthin meine in Begeisterung übersetzten Original-
bedenken darbieten. Die Anregung, sie zu äußern, habe ich
doch dem Werfel'schen Artikel, diesem Dialog mit einem sehr
realen Partner, zu verdanken. Einen besseren Kommentator,
einen unmittelbarem, hätte dieser Autor nicht finden können als
sich selbst. Wann hat denn jemals ein Schreibender mit stärkerer
Unbefangenheit das Bekenntnis abgelegt, daß das einzige Erleb-
nis, welches er selbst durchzumachen hat und wenn ihn die
Liebe in alle Welten entführte, das des Wortes, ihn entwerte!
Wann hätte ein Künstler mit geringerem Ahnungsvermögen
den tiefsten erotischen Zusammenhang, den mit der Sprache,
zum Kult der Form herabgesetzt, die Verankerung der Welt im
Wortwesen zum ästhetischen Sport! Wenn ich Herrn Werfel
sagte, daß, wer dem Wort näher ist, auch den Menschen und
den Dingen näher ist; daß in der Claudius'schen Zeile »'s ist
leider Krieg«, das »leider« den größten Komparativ von Leid
bedeutet und daß davor alles mitgemachte Leid der Werfel'schen
Liebe wie ein gemachtes Mitleid in Nichts vergeht; daß
ein Wort am rechten Ort das Herz selbst am rechten Fleck
ist; und daß nicht allein im kleinsten meiner Versworte mehr
Existenz ist als in seinem ganzen lyrischen Da -sein, nein, in
meiner letzten Glosse, nein, in meinem letzten Zitat einer
Lokalnotiz, in einem Titel, einem Komma, einer Druck-
anordnung, einem Umbruch, einem Zwischenraum zwischen
Worten mehr Leben, Liebe, Leid und Lyrik ist als in seiner ganzen
Schöpfung — er würde es nicht glauben, nicht verstehen und gegen
solchen Götzendienst der Letter sich auf seine anerkannte
Parteinahme für die Menschen und Dinge berufen. Ich nehme sie
nur beim Wort und was bei diesem Verfahren von Herrn Werfel
übrig bleibt, dürfte man merken. Es könnte auf Rache zurück-
zuführen sein, denn einen schlechten Polemiker zitieren, heißt schon
sich an ihm rächen. Nur daß ich beim redlichsten Willen kein
anderes Motiv für diese Rache zugeben könnte als sein eigenes
Wort. Den Beweggrund gekränkter Eitelkeit oder erlittener Ein-
buße muß ich in Abrede stellen. Da der Werfel'sche Angriff
das Urteil der mir kompetenten Öffentlichkeit nicht beeinflussen
wird, indem er mir weder bei mir schaden noch mich
bei meinem scheinbaren Partner blamieren kann, so hat der
— 114
Wunsch, Werfeis Tun ihm vor seinem viel breiteren Forum zu
vergelten, keinen Raum in meiner Seele. Rachsüchtig bin ich nicht,
und kein gerechter Beurteiler wird in meiner Kritik, die eine
lyrische Unermeßlickeit auf eine begrenzte Persönlichkeit herab-
zustimmen sucht, Spuren dieser unedlen Regung auffinden
können. Hätte ich auf den »Offenen Brief« reagieren wollen,
wie er es verdient hat, so hätte sich mir ein ganz anderes
Mittel geboten, und ich kann verraten, daß ich sowohl
den Einflüsterungen meines scheinbaren Partners wie dem Drän-
gen mancher besseren Freunde widerstehen mußte, die mich zu
einer überaus gehässigen, teuflischen, ja geradezu persönlichen
Abwehr überreden wollten. Was sie mir rieten, war — die
Feder sträubt sich, es anzudeuten — nichts anderes als was ich,
um mir in einem äußersten Falle Ruhe zu verschaffen, notge-
drungen schon einmal in der deutschen Literatur getan habe,
nämlich vis-ä-vis dem Alfred Kerr. Ich habe mich damals hin-
reißen lassen. Aber ich verschmähe es heute, dieses unfaire Mittel
anzuwenden, das gegen einen Berufspolemiker, der nicht Ruhe
geben wollte, als ultima ratio seine befreiende und vernichtende
Wirkung geübt hat, jedoch in der Defensive gegen einen Welt-
freund, der nur einmal aus der Rolle gefallen ist, unerlaubt wäre.
Ich hoffe nicht, daß ich doch noch einmal dazu genötigt sein
werde oder daß mein Partner und die andern Ratgeber mich
so weit treiben. Ihr Rat war Rache. Unerbittlich zu sein.
Keinen Pardon zu geben; sondern schonungslos den Angriff
des Franz Werfe! — nein, so bin ich nicht — abzudrucken!
— 115 —
Meinem Franz Janowitz
(getötet am 4. November 1917;
Ein Landsknecht du? Vier Jahre deines Seins
hast du dein frühlinghaites Herz getragen
durch Blut und Kot und alle Peil* und Plagen
und wurdest der Millionen Opfer eins?
Und durftest, was du mußtest, uns nicht sagen
und fühltest Vogelsang des grünen Rains
und lebtest stumm am Rande dieses Scheins
und fromm genug, um ferner nicht zu fragen.
Und da dein reines Herz erstickt in Kot,
das Mitgefühl der Zeit mußt du entbehren.
Ein treuer Bursch nur stand bei deinem Tod.
Doch seine Thränen wird die Welt vermehren,
färbt einst nicht Blut mehr, färbt die Scham sie rot.
Bis dahin mag sie ihre Henker ehren!
— 116 —
Die letzte Nacht
(Aus dem Epilog zu der Tragödie »Die letzten Tage der Menschheit«.)
Der Horizont ist eine Flammenwand. Nachdem Gasmasken, sterbende
Soldaten, ein General, Kriegskorrespondenten, ein Totenkopfhusar, der
Doktor ing. Abendroth aus Berlin und andere Erscheinungen gesprochen
haben, setzen die folgenden Auftritte ein. (An diese schließen sich die
Wechselreden von drei gelegentlichen Mitarbeitern an, hierauf Rufe
von Kriegern, Ordonnanzen und Kinooperateuren, Stimmen aus dem
Kosmos und die Stimme Gottes.)
Es wird dunkel. Es erscheinen Hyänen, die Menschengesichter tragen.
Als Sprecher die Hyänen Fressack und Naschkatz. Sie kauern vor
den Leichen und sprechen, rechts und links, in ihr Ohr.
Fressack
Wenn Sie vielleicht was bedarfen, wenn Sie vielleicht
was bedarfen,
wir sind da, wir tragen Gesichter als Larven.
Doch erschrecken Sie nicht vor Barten und Mähnen:
wir sind keine Menschen, wir sind nur Hyänen!
Nur daß Ihr Opfer umsonst nicht wäre,
sind wir hier am Platz, auf dem Felde der Ehre.
Bedarfen Sie nichts, nehmen wir Ihnen was ab,
was solin Sie mit Schmuck und Barschaft ins Grab!
Naschkatz
Ihr seid nebbich froh, daß alles erledigt.
Für eure Verluste haben wir uns entschädigt.
Auf unseren Rat gingt ihr frisch in das Feld,
gabt ihr euer Blut, nahmen wir euer Geld.
Damit wir gewinnen, mußtet ihr wagen,
jetzt gilt's noch ein Scherflein beizutragen.
Wenn ihr auch besiegt seid, wir werden doch siegen.
Das Blut ist gesunken, das Fleisch ist gestiegen.
Fressack
Ihr könnt euch in dem Punkt auf uns verlassen:
bald wird euch des Kaisers Rock nicht mehr passen.
Mit euren Granaten und Bomben und Minen
fahrt weiter so fort und laßt uns verdienen.
Das ist ein Vergnügen, herum hier zu lungern,
ihr braucht nicht zu frieren, ihr braucht nicht zu
hungern!
Wir wissen es doch, unser Ehrenwort, heuer
sind Kohle und Fett noch dreimal so teuer!
Naschkatz
Wir sagen es ins Ohr euch, ihr solltet uns danken:
dadurch daß ihr hier liegt, gehts besser den Banken.
Durch die Bank konnten sie das Kapital sich
vermehren,
die Fusion ..mit der Schlachtbank kann man ihnen
nicht wehren.
Ihr könnt noch von Glück sagen, so ruhig zu liegen,
wenn zugleich mit den Kugeln die Tausender fliegen.
Doch ihr seid entschädigt: ein jeder ein Held!
Ihr schwimmt ja in Blut, und wir nur in Geld.
Fressack
Ihr werdet doch fortleben in den Annalen!
Umsonst ist der Tod, doch dafür muß man zahlen.
Wir haben den Krieg ja nicht angefangen.
Wir haben ihn nur gewünscht, aber ihr seid gegangen!
Von unsern Verdiensten wird niemand singen,
euch müssen doch schon die Ohren klingen!
Von euch werden euere Enkel noch sagen.
So solln sich die unsern über uns nicht beklagen.
— 118 —
Naschkatz
Meine Kinder warn auf ein Haar an die Front
gekommen.
Zum Glück aber hat man sie nicht genommen.
Der eine is für Hintertürin zu ehrlich,
er is im Geschäft einfach unentbehrlich.
Der andere is zu stolz, so war ich für ihn oben,
a conto dessen is er heute enthoben.
Aufs Jahr lass' ich meinen Jüngsten entheben.
Ihr wart auch einmal jung — da soll man erleben !
Fressack
Mein Bub hat ka Protektion, doch er hat sichs
gerichtet,
der andere hat Talent, er hat über Siege gedichtet.
In demselben Moment, wie ihn das Vaterland rief,
macht der Jung ein Gedicht und kommt ins Archiv.
Er will aber hinaus — statt bei Hoehn is ihm lieber
er geht, und wird gleich Dramaturg bei Ben Tiber.
Bittsie drin muß er schreiben, was sich draußen
ereignet !
Der Jüngste is nebbich ungeeignet.
Naschkatz
Ihr könnt nicht genug die Mezzie euch preisen,
ihr starbt doch für Wolle, wir leben für Eisen.
Und wir müssen gestern und heute und morgen
uns noch für Leder und Seife und Tafelöl sorgen.
Freihändig offeriert man und erlebt noch die Schand,
ein Dutzend Waggons bleibt einem in der Hand!
Jetzt gehts noch, doch im Frieden — da sag ich
von Glück,
wenn, Gott geb, entsteht eine Waffenfabrik.
119 —
Fressack
Gott verhüte das Unglück, wer redt heut von Frieden,
wir haben uns zur Not mit der Kriegsnot beschieden.
Wir liefern und leisten, und geben auch was her —
dann warn wir geliefert, und das war ein Malheur.
Was heißt Waffenfabrik, ich bin zufrieden mit Skoda,
die Wirkung wie treffend beschreibt Roda Roda.
Wenn ihr schon genug habt, so laßt nackt euch
begraben,
meine Frau will einen neuen Pelzmantel haben.
Naschkatz
Ihr könnt es uns glauben, das Leben ist sauer,
ihr Toten, ihr solltet für uns tragen Trauer.
Wenn sich einmal herausstellt, man hat umsonst
sich geplagt,
das Friedensrisiko — Ihnen gesagt!
Wie wenig bleibt einem, denn für meinen Sohn
kauf ich jetzt ein Gut, und mein Freund wird Baron.
Einem jeden das Seine. Dem Helden das Grab.
Wir sind die Hyänen. Uns bleibt nur der Schab!
Chor der Hyänen
So sei's! So sei's!
Doch nur leis! Nur leis!
Die Schlacht war heiß
und durch eueren Schweiß
und durch unseren Fleiß
ist gestiegen der Preis.
Gott weiß, Gott weiß.
Noch drei Waggon Reis
und noch drei Waggon Mais
stehn auf dem Geleis.
Steh auf, geh leis!
Wir schließen den Kreis.
So sei's! So sei's!
120
Tango der Hyänen um die Leichen. Die Flammenwand im Hintergrund
ist inzwischen verschwunden. Ein schwefelgelber Schein bedeckt den
Horizont. Es erscheint die riesenhafte Silhouette des Herrn der
Hyänen. In diesem Augenblick stehn die Hyänen still und bilden
Gruppen.
Der Herr der Hyänen
Schwarzer, graumelierter, wolliger, ganz kurzer Backen- und Kinnbart,
der das Gesicht wie ein Fell umgibt und mit ebensolcher Haarhaube
verwachsen scheint; energisch gebogene Nase; große gewölbte Augen
mit vielem Weiß und kleiner stechender Pupille. Die Gestalt ist
gedrungen und hat etwas Tapirartiges. Jackettanzug mit Piqueweste.
Der rechte Fuß in ausschreitender Haltung. Die linke Hand, zur Faust
geballt, ruht an der Hosentasche, die rechte weist mit gestrecktem
Zeigefinger, auf dem ein Brillant funkelt, auf die Hyänen.
Habt acht! Und steht mir grade!
Ich komme zur Parade,
und es gefällt mir gut.
Ihr habt die Schlacht gewonnen!
Nun ist die Zeit begonnen!
Nun zeiget euren Mut!
Müßt nicht mit leisen Tritten
den Tod um Beute bitten.
Weh dem, der jetzt noch schleicht!
Nein, sollt mit freiem Fuße
ihn treten, Gott zum Gruße!
Denn jetzt ist es erreicht!
Und der es einst vollbrachte,
an seinem Kreuz verschmachte,
wert, daß man ihn vergißt.
Ich tref an seine Stelle,
die Hölle ist die Helle!
Ich bin der Antichrist.
121 —
Dank steigt von allen Dächern,
daß jener zwischen Schachern
nun auch sein Spiel vollbracht.
Sein bißchen Blut, verronnen
ist's kläglich an den Tonnen
der unverbrauchten Macht!
Die Liebe ist gelindert!
Sie hat es nicht verhindert,
was nun zum Glück geschah.
So hört, ihr wahrhaft Frommen,
das Heil ist doch gekommen,
der Antichrist ist nah!
Die nie besiegte Rache
half der gerechten Sache,
ich war ihr gutes Schwert!
Sie zogen blank vom Leder
dank meiner guten Feder.
Die Macht nur ist der Wert!
Aus diesem großen Ringen
mit vielen Silberlingen
gehn siegreich wir hervor.
So schließen sich zum Ringe
die altgedachten Dinge.
Das Kreuz den Krieg verlor!
Und die gekreuzigt hatten,
wir treten aus dem Schatten
mit gutem Judaslohn!
Mich schickt ein andrer Vater!
Von seinem Schmerztheater
tritt ab der Menschensohn.
— 122
Er weicht dem guten Bösen.
Er wollt' die Welt erlösen;
sie ist von ihm erlöst.
Damit sie ohne Reue,
was sie erlöst hat, freue
und für den Himmel tröst'!
Der Haß mußt' sich empören.
Um nimmer aufzuhören,
war Liebe nicht gemacht.
Dank dieser Weltverheerung
gilt eine ewige Währung,
zu der der Teufel lacht!
Geht auch die Welt auf Krücken,
der Fortschritt mußte glücken,
ging aufs Geschäft er aus.
Was Gott nicht will, gelingt doch,
der Teufel selber hinkt doch
und macht sich nichts daraus.
Mit invalider Ferse
geht dennoch er zur Börse
und treibt den Preis hinauf.
Dort ist's gottlob nicht heilig,
der Teufel hat's nicht eilig
und läßt der Welt den Lauf.
Ich bin sein erster Faktor,
ich bin des Worts Redaktor,
das an dem Ende steht.
Ich kann die Seelen packen
und trete auf den Nacken
von aller Majestät!
— VAÖ
Ich züchtige die Geister.
Drum zollet eurem Meister
den schuldigen Tribut.
Nach diesen großen Taten
auf größern Inseraten
die neue Macht beruht.
Das Leben abzutasten
mit unbeirrtem Hasten,
seid, Brüder, mir bereit.
Versteht der Zukunft Zeichen,
tastet noch ab die Leichen,
in Ziffern spricht die Zeit!
Laßt keine Werte liegen,
die dann die andern kriegen,
macht eure Sache ganz!
Tragt ein in die Annalen
die intressantern Zahlen
und macht mir Blutbilanz 1
Der alte Pakt zerreiße!
So wahr ich Moriz heiße,
der Wurf ist uns geglückt!
Weil jener andre Hirte
sich ganz gewaltig irrte!
Ich heiße Benedikt!
Ich bin gottlob verwandt nicht,
die andere Welt sie ahnt nicht,
daß ich ein andrer Papst.
Denn alle an mich glauben,
die wuchern und die rauben
und die im Krieg gegrapst.
— 124 —
Die Frechen und die Feigen
vor meinem Thron sich neigen,
denn nun erst gilt das Geld.
Daß nie der Zauber weiche
von diesem meinem Reiche!
Es ist von dieser Welt!
Ging' es nicht über Leichen,
die dicken, schweren Reichen
das Reich erreichten nie.
Steht auch die Welt in Flammen,
wir finden uns zusammen,
durch schwärzliche Magie!
Durch die geheime Finte
zum Treubund rief die Tinte
die Technik und den Tod.
Mögt nie den Dank vergessen
den Blut- und Druckerpressen.
Ihr habt es schwarz auf rot!
Ich traf mit Druckerschwärze
den Erzfeind in das Herze!
Und weil es ihm geschah,
sollt ihr den Nächsten hassen,
um Judaslohn verlassen —
der Antichrist ist da!
Walzer der Hyänen um die Leichen.
Die Hyän en
So sei's! So sei's!
Wir treten mit Mut.
Wir treten nicht leis.
Wir trinken das Blut!
125 —
Wir treten mit Mut.
Wir trinken es heiß.
Wir treiben das Blut.
Wir treiben den Preis!
Vergossen, vergessen,
genossen, gegessen,
wir prassen und pressen,
wir treiben den Preist
So sei's! So sei's!
Wir treiben es mit Mut.
Die Schlacht war heiß.
Wir pressen das Blut!
Nicht sinke der Mut.
Wir bleiben im Kreis.
Wir treiben das Blut.
Nicht sinke der Preis!
Vergossen, vergessen,
genossen, gegessen,
wir fressen und pressen,
wir treiben den Preis!
Wir treten und treiben
und trinken das Blut.
Wir pressen es gut!
Wir treten und treiben
und trinken es heiß.
Wir treiben den Preis!
Schlaft gut, schlaft gut!
Wir treten nicht leis.
Eia popeia!
So sei's! So sei's!
Die Hyänen lagern sich über die Leichen.
Drei gelegentliche Mitarbeiter erscheinen.
— 126
Meinem Franz Grüner
(getötet am 19. Juni 1917)
Wo bleibst du denn? Andacht und Wissenschaft
will ich von deiner reinen Stirne lesen.
Welch öder Zufall hat dich mir entrafft?
Was triebst du dort, wo du zuletzt gewesen?
Lebhafter Hörer — sprachst du mir vom Geist,
wie ward dem unruhvollen Herzen stille.
Du frommer Forscher. Sprich, da du es weißt:
Wohin wies dich der unerforschte Wille?
127
Notizen
Romain Rolland, von dem ich überzeugt bin, daß die
Feinschmeckerischen seine Werke um seines Namens willen lieben,
gehört zu jenen manchen Autoren, die es mit der Menschheit
von der Schweiz aus gut meinen, während ich zum Beispiel,
der doch auch einiges auf dem Herzen hat und sich gleichfalls
öfter in der Schweiz aufhält, dortselbst schweige und wenn ich's
schon gar nicht mehr bei mir behalten kann, nach Berlin fahre,
ganz abgesehen davon, daß ich ja während des Krieges in einem
andern Zentralstaate mehr gesagt habe als sämtlichen Miß-
vergnügten zwischen Basel und Genf je einfallen könnte. Wohl
beklage ich eine Ordnung der politischen Dinge, die einem
nicht mehr wie anno Herwegh die fürstliche Gunst einer Ver-
bannung in die Schweiz schenkt, sondern einen erst nach
Beibringung eines »triftigen Grundes« und Bestehung sonstiger
Greuel der Erlaubnis der »Ausreise« teilhaftig werden läßt.
Aber weil dies so ist und weil man ja doch auch von der Erlaubnis
einer Rückkehr Gebrauch macht, solange man ein Verbot der
Rückkehr nicht erlangen kann, da man ja immer wieder zu Hause
zu tun hat, ehe man mit den Vorbereitungen zur endgiltigen Selbst-
verbannung fertig ist, so würde ich es nicht für zimmerrein
halten, hinter dem Rücken des Inlands das zu sagen, was man
ihm ins Gesicht sagen kann. Ich lebe also in der Schweiz als
ein Privatmann, der sich aus unüberwindlicher Abneigung gegen
die Ringstraße in die Berge begeben hat, entschlossen, diese
Antipathie vor den Bergen zu verheimlichen und erst der
Ringstraße wieder zu verraten. Andere halten es anders. Die guten
Europäer aus Wien, Berlin und Budapest, die sich in Zürich
zusammenfinden, werden dort als solche anerkannt, wiewohl sie
bisher keinen Versuch gemacht haben, auch daheim diese Ge-
sinnung zu betätigen, wo sie im Gegenteil fürs .Donauland'
zu sterben bereit sind, und es gelingt ihnen sogar, bei den guten
Europäern aus Paris, die es schon eher sind, aber auch besser
täten, es daheim zu sein, Kredit zu finden. Was sich aus der
geringeren Routine des guten Europäertums derer aus Paris
— 128
erklären könnte. So kommt es/daß Herr Stefan Zweig eine Dichtung
in Zürich aufführen läßt und Romain Rolland infolgedessen —
wohl mit Recht so übersetzt — das schöne Bild bringt : »Nach
den starren Schrecken der ersten Kriegszeit ergrünte von neuem
die geknebelte Kunst« und von einem unaufhaltsamen Sang
der Seele spricht, der aus ihrem Schmerz hervorquoll. Ferner:
So hat ein großherziger Dichter das Beispiel der überragenden
Freiheit des Geistes geschaffen. Andere stellen sich Angesicht
zu Angesicht gegen die Verbrechender Zeit, sie
messen sich mit der Macht, die sie vernichtet .... Hier sieht
die gefriedigte Seele den tragischen Strom der Gegenwart vor sich hin-
ziehen; aber sie quält sich nicht mehr, weil sie den Lauf der
Strömung bis ans Ende überblickt; sie mengt sich den jahrhundertstarken
Kräften, dem geruhigen Geschick, das sie in Ewigkeit zu schreiten weiß.
Herr Romain Rolland hat gewiß nie etwas von der Fackel
gehört. Aber er hat ganz recht, sich einen Gegensatz vorzustellen:
Andere messen sich mit der Macht, stellen sich Angesicht zu
Angesicht gegen die Verbrechen der Zeit, deren Opfer jene sind,
die im Schützengraben Jugend oder Leben verlieren müssen, und
wieder andere, nämlich die gefriedigten Seelen des Kriegsarchivs
mengen sich den jahrhunderistarken Kräften, dem geruhigen
Geschick, quälen sich nicht mehr, weil sie den Lauf der Strömung
bis ans Ende überblicken, und werden sogar auf Propaganda in
die Schweiz geschickt.
Was vom »Jeremias« des Herrn Zweig auszusagen ist:
. . . tiefes inneres Erleben unserer heutigen Nöte lieh
die Klangfarben; Bekenntnishaftes eines kulturweisen Menschen
leuchtet überall durch ....
Was der Jeremias des Herrn Zweig von sich aussagt:
... ich habe gekündet, weil ich meinete, er werde
mich zum Lügner machen, und werde retten Jerusalem.
Demnach wäre auch Jeremias während des chaldäischen
Feldzuges Prophet im hebräischen Kriegsarchiv gewesen.
— 129 —
Noch ein Fall von Dioskurentum, der in Zürich beobachtet
wurde :
. . . Fritz von Unruh muß mit Goethes Faust völlig durchtränkt
sein. Der Rhythmenreichtum des zweiten Teiles ist ganz in sein
Ohr eingegangen, und die bedeutungsschwere, gedrungene, wort-
kühne Diktion von Goethes Altersstil erblüht unter
seiner Hand zu neuem, schwellendem Leben, so daß
ein schillerisch flutendes Pathos in all diese prachtvollen
Formgebilde hineinströmt.
Das ist gewiß bedenklich, im Gegensatz zum Fall Werfel
betrifft es aber einen Schreibenden, der auch ein Erlebender
war und keinesfalls für den Besprechenden verantwortlich
gemacht werden kann. Dieser heißt mit Recht Trog, während
der andere der beiden kritischen Dioskuren nur Korrodi heißt.
Der zweite, der Werfelfreund, hat den Humor, gelegentlich
zu bemerken, »daß gegenwärtig eine maßstablose und maßlose
Superlativkritik im Schwange ist, die die Bewunderung der Verleger,
doch nicht der Leser finden wird«. Und er zweifelt, >ob Salomo
auch den Kritiker meint, wenn er spricht: ,Ein Mann wird
durch den Mund des, der ihn lobt, bewährt, wie das Silber im
Tiegel und das Qold im Ofen.'« Derselbige sagt dem Alfred Kerr
zum fünfzigsten Geburtstag nach, »Herrisches und Herrliches«
sei im Vorwort seines Buches zu lesen, Sätze wie: »Die wert-
vollsten Feststellungen brauchen nicht an den wertvollsten Dramen
gemacht zu sein« und »Dies Buch, das Eintagsfliegen fängt, ist
keine«. Und der Leser müsse Kerrs Selbsturteil akzeptieren, »denn
könnte er besser formulieren als mit dem schon erwähnten, aber
der Wiederholung würdigen Satze: , Dies Buch, das
Eintagsfliegen fängt, ist keine'?« Gewiß nicht, denn ein armer Teufel
oder ein Frosch fangen Fliegen, aber die Fliege selbst kann so
was nicht. Ein Beweis für »diese singulare Kunst der Kritik« :
Kerr schreibe »als strotzender Sprößling einer sehr jungen Kultur«
(was keineswegs bezweifelt werden soll) »ohne Pietät vor
allzu pietätvoll bewahrtem literarischen Erbe anläßlich der
Amphitryonfabel Kleists: ,Daß ein Mythos die Dinge
so darstellt, geht mich einen Quark an. Ich
lebe 191 5.'« Nun ist das nicht so sehr ein Verstoß gegen
— 130 —
die Pietät vor dem literarischen Erbe Kleists — die sei dem
Preußen gewährt — , als die Verletzung der Pietät vor allem
Erbe, .das der Mensch vom Menschen übernommen hat, das man
Kultur nennt und das alle die Güter in sich begreift, die bis
zur Errichtung des Kurfürstendamms vorhanden und geheiligt
waren. Daß Herr Kerr 1915 lebt, braucht er einem nicht erst zu
sagen. Es ist die Weltanschauung, der wir das- so datierte Ereignis
verdanken. Den schuldigen Mann geht's Grausen an; den
Neutralen freut's.
Solche Zeitschrift in des Juweliers Auslage.
Wie der wahrhaft Fromme Andacht nicht mit der Masse ver-
richtet, ist mit dem Kunstwerk der Verständige am liebsten allein.
Carl Sternheim.
Daß Herr Sternheim, der diese Worte einem Berliner
Büttenkleinod widmet, seine Andacht am liebsten vor einer
Juwelierauslage verrichtet, habe ich, wenn ich mit einem Kunst-
werk seiner Sprache allein war, eben daraus entnommen.
Literarische Bühnen sind solche, die am Sonntagnachmittag
aus Unfähigkeit, den Böhm in Amerika zu spielen, einen Besucher
des Caf£ Central einer Schar von Besuchern des Cafe Central
erzählen lassen, wie voll von Ekstasen, Sehnsuchten und neuen
Lebensinhalten gewisse Besucher des Cafe Central sind, und
hierauf Belege für diese Ansicht von engagierten weiblichen
Mitgliedern vorlesen lassen, die im Cafe Central gelernt haben,
daß es keine dankbarere Rolle gibt als so einen geformten Ausdruck
letzter Möglichkeiten aus einer Gesamteinstellung wesentlich
geschauter Ballungen des Ichbin. Oder mit einem Wort:
. . . Das Wesen der Dichtkunst von heute sind die elastischen
Beziehungen, für die es eine logische Manufaktur nicht gibt,
ebensowenig irgend einen Grenz fall. Die Maßstäbe dieser Kunst sind
relative, sie federn. Redner schloß mit der Mahnung: Nehmen
Sie die Dichter elastisch, trachten Sie hinter den Menschen
zu kommen. Wir sind alle ein Ganzes, das sich sammelt. Und
wenn es sich gesammelt hat, dann kann es einmal heißen : Das Ganze
m a r s ch I
131
— — der schönen Frau unter den Weihnachtsbaum zu
legen.
— — Jeder, der es sieht und durchblättert, wird es besitzen
wollen, um wieder und wieder danach zu greifen.
Das ist aber nicht die in Berlin erschienene Anthologie
von Klosettpapier mit aufgedruckten »Lügen unserer Feinde«,
sondern eine andere patriotische Publikation, nämlich der in
Wien erschienene »Donauland-Almanach«.
Dichtungen von . . Czokor (»Marschkompagnie<), Paul Stefan
und ein reizend überlegenes Verslein von Albert Ehrenstein
(Vermutlich nicht identisch mit dem Autor des »Tubutsch«)
erheben sich aus dem Leid dieser Tage . . Kernstock .... Eine
reiche lyrische Lese auch sonst : wir verneigen uns vor Rilke,
grüßen Ginzkey . . Stefan Zweig, freuen uns über . . Max Brod,
Hugo Salus .... Bartsch, Strobl, Hans Müller .... eine amüsante
Geschichte von Roda Roda. . . .
Wir grüßen zwar nicht und freuen uns auch nicht, würden
uns aber vor Rilke verneigen, wenn er es nur einmal vermeiden
wollte, sich in solcher Gesellschaft und an solchem Orte blicken
zu lassen.
Aus der Mittagszeitung vom 17. Oktober 1917:
und dafür sorgen würde, daß auch der Unfug mit den unbeleuchteten
Automobils aufhöre. — Das Rätsel des Karl Kraus: Trösten Sie sich!
Niemand nimmt den eingebildeten Schwätzer ernst, der, durch eine
Schar unreifer Schwärmer in seinem Wahn bestärkt, sich gottähnlich
dünkt. Es ist schade, Papier an ihn zu verschwenden. Man wird sich
in ruhigeren Zeiten mit dieser spezifisch wienerischen Karikatur
beschäftigen und namentlich das Verhalten des bewußten Herrn im
Krieg kennzeichnen. Im allgemeinen verdient er nur Mitleid. Er ist
nichts und kann nichts, nur schimpfen, geifern, besudeln. Und er
hat Geld . . .
Kaufe Oold ! 1 4kar. Gold von K 5.80 bis K 6.80 per Gramm. Feingold K 1 0.
Falsche Zähne bis K 2.80 pro Stück, Gebisse bis K 160.
132 —
»Literarhistoriker. Ihre Mitteilung, daß Nestroys Werke nicht
von Karl Kraus sind, haben wir mit großer Überraschung zur Kenntnis
genommen.«
Out gegeben. Es ist die Antwort auf den Versuch, einen
Theaterjournalisten ohne jeden Tadel für seine Unbildung, mit
einer stilkritischen Studie über die tiefere Berechtigung seines
Irrtums, darauf aufmerksam zu machen, daß ein Nestroysches
Wort nicht von Shakespeare ist. Wie beneide ich die Zeitungs-
leute um ihr Talent. Sie können an mir zu Satirikern werden.
, Die Österreichisch-Ungarische Buchhändler-Correspondenz',
Offizielles Organ des Vereines der österr.-ungar. Buchhändler,
hat am 3. November 1917 den folgenden Brief abgeschickt:
An die Redaktion der .Fackel' in Wien.
Sehr geehrte Herren!
Es wird uns mitgeteilt, daß Sie in Ihrer Nummer
vom 9. Oktober unter der Überschrift »Es ist vollbracht« ein
Inserat abgedruckt haben, welches angeblich in unserem Blatte
enthalten gewesen ist.
Unsere Administration teilt uns mit, daß
dieses Inserat nicht in unserem Blatte erschienen ist.
Wir ersuchen Sie daher uns mitzuteilen, ob
Sie selbst in der nächsten Nummer Ihres Blattes eine diesbezügliche
Berichtigung veranlassen wollen.
Hochachtungsvoll
Carl Junker.
Die dritte Mitteilung ist nicht erfolgt. Das Wort »nicht«
ist in dem mit Schreibmaschine geschriebenen Original mit Tinte
unterstrichen. Die Berechtigung solchen Nachdrucks ist aber
nicht größer als die des Nachdruckes aus der Buchhändler-
Correspondenz. Was zur Abfassung des Briefes geführt hat,
dürfte das Staunen des Redakteurs gewesen sein: »Was? So
eine Annnonce soll bei uns erschienen sein? Nicht möglich!
Unglaublich!« Denn was die Welt immer tut, sie glaubt's nicht,
wenn sie's in der Fackel wied«rholt findet. Der Fall liegt leider
— 133
ähnlich wie mit meinem Staunen über den Empfang des Hans
Müller durch seine Majestät den deutschen Kaiser. Der Unter-
schied ist freilich, abgesehen vom Format, der, daß meine
Weigerung, den Angaben Müllers Glauben zu schenken, pure
Heuchelei ist, da ich ihnen ja selbst durch eine photographische
Reproduktion Verbreitung und Verewigung verschafft habe,
während das »Unglaublich!« des Mannes von der Buchhändler-
Correspondenz ihn zum Ansinnen einer Berichtigung verführt
hat. Nie werde ich Müllern zumuten, daß er, so erstrebenswert
es wäre, seine Behauptung der Audienz revoziere; aber von
mir zu verlangen, daß ich die Tatsache jener Annonce in
Abrede stelle, wäre doch noch mehr verlangt. Wohl, dort liegt
Müllers Aussage vor, an der nicht zu zweifeln ist, wenn sich
auch die Audienz selbst leider nicht photographisch beweisen
läßt. Hier aber liegt mehr vor: nicht bloß meine Aussage, daß
jene Annonce erschienen sei, sondern : die Annonce. Hier könnte
die Tatsache selbst photographiert werden. Dessen bedarf's aber
wohl nicht, da ja das Original in einer Nummer der Buchhändler-
Correspondenz steht, die gewiß noch in einer hinreichenden
Anzahl von Exemplaren vorhanden sein dürfte, deren jedes
einzelne dem Redakteur beweisen wird, daß die Annonce
erschienen ist, und somit den Ausruf : > Unglaublich!« rechtfertigen
könnte. Da jener Nachdruck natürlich kein »Angriff« gegen eine
Redaktion war, die so etwas aufnimmt, so braucht man auch
nicht erst zu sagen, daß ihr Verschulden größer ist, wenn sie sich
mit dem Annoncenteil zwar identifiziert, aber diesen so wenig
liest, daß sie eine dort erschienene Annonce ableugnen kann.
Sie liest auch die Fackel nicht und wenn ihr nicht zufällig »mit-
geteilt« worden wäre, daß die Fackel jene Annonce reproduziert
hat, so wäre es am Ende unberichtigt geblieben. Zum Glück
ist die Mitteilung, die ihr hierüber zugegangen ist, zuverlässiger
als die Mitteilung ihrer Administration. Denn die Kuriosität
des Falles wird dadurch vervollständigt, daß auch die Admini-
stration den Annoncenteil nicht liest und sich nun beide in
dem Entschluß vereinigen, ihrem Erstaunen über solch eine
Annonce mir gegenüber Ausdruck zu geben. Aber ich habe
ja, wiewohl ich dieses Erstaunen teile, nie daran gezweifelt, daß
134
das »Kreuz mit dem 14 Stationen, zeitgemäß, zugkräftig für
Schaufenster« in der Österr.-Ungar. BuchhändlerCorrespondenz
vom 16. Mai 1917, LVIII Nr. 20, S. 225, erschienen ist.
Bibliographisches. Das neue Deutschland VI. 21,
1. August: »Karl Kraus« von Paul Nicolaus (Konstanz) und Nachwort der
Redaktion. — Verschiedene Hefte der ,Weltbühne'. — Heidelberger
Neueste Nachrichten, 20. Juli: >Über Karl Kraus« von Hermann
Bagusche. — Hinweise und Zitate in Zeitschriften und Tagesblättern.
»Fremdwörterhatz und Fremdvölkerhaß.« Eine Streitschrift gegen
die Sprachreinigung. Von Leo Spitzer, Privatdozent an der Universität
Wien. (Wien 1918 bei Manz.)
Kleiner Konzerthaussaal, 21. Mai, 7 Uhr:
I. Ältere Ansichten über das U-Boot (Herder, Französische
Admirale, Lionardo da Vinci) / Mit der Uhr in der Hand /
Beim Anblick eines sonderbaren Plakates / Der Präceptor
Oermaniae / Hungersnot in England / Getreide aus der Ukraine /
Epigramme: Sprichwörter; Straßenrufe; Friedensbereitschaft;
Rekonvaleszenz; Der Heldensarg / Auf Deutsch / Der Irrsinnige
auf dem Einspännergaul / Ein Kapitel aus Frangois
Rabelais' Gargantua (Wie etliche von Pikrochollers
Hauptleuten ihn durch hitzige Ratschläge in Gefahr brachten.) /
Diplomaten (mit Vorwort). II. Vor Abgang des Zugs/
Szene in einem Palais / Glück / Unsere Pallas Athene ! / Neue
Musikalien / Der Weltspiegel / Czernin und Goethe/
Ein Kantianer und Kant / Die Kriegsschreiber nach
dem Krieg/ Der Bauer, der Hund und der Soldat / Zum
ewigen Frieden.
Ein Teil des Ertrages für den Arbeiterverein »Kinder-
freunde«.
30. Mai, halb 7 Uhr:
»König Lear«, Tragödie in fünf Aufzügen von
Shakespeare, nach Wolf Graf v. Baudissin (Schlegel-
Tieck'sche Ausgabe) und anderen Übersetzern bearbeitet.
— 135 —
Nach dem 1., 3., 4. Aufzug eine ganz kurze, nach dem
2. eine längere Pause. Musik hinter der Szene vor Beginn
(Mozart: 1. Satz der D-dur-Sinfonie), zwischen dem 2. und
3. Aufzug (Bach: Orgel-Präludium in c-moll): Frau Emilie
Laske und Dr. Victor Junk; während der Zeltszene des 4. Auf-
zugs (komponiert und gespielt von Dr. Victor Junk).
Der volle Ertrag für den Arbeiterverein »Kinderfreunde«,
den »Verein von Kinderfreunden in Wien« und eine schwer-
kranke Frau.
(Den auf der Rückseite des Personen Verzeichnisses gedruckten
Text siehe S. 88).
17. September, halb 7 Uhr:
»König Lear«, wie oben (Gluck: Ouvertüre zu »Iphigenie
in Aulis«; Bach: Präludium in b-moll aus dem Wohltemperierten
Klavier; Zeltmusik: Dr. Victor Junk).
Der volle Ertrag für den Arbeiterverein »Kinderfreunde«
und einige Notleidende.
7.1t
I. Je
Juni, 7 Uhr:
Jean Paul: Friedenspredigt an den Fürsten vor dem
Kriege (aus »Levana oder Erzieh-Lehre«) / Der Krieg, wie er im
Schulbuch steht, und wie er nicht im Schulbuch steht (Heutiges
und »Kriegslied« von Matthias Claudius) / Ein 2 xh jähriges Kind
zeichnet Kriegsanleihe / Eingedeutschtes / Die große Kanone
oder: Beweis gegen Barbarentum / Glück / Vision / Getreide
aus der Ukraine / Das kann man nicht oft genug hören / Die
chinesisch-japanische Militär konvention: Volle Herrschaft Japans
in China / Ein Irrsinniger auf dem Einspännergaul / Czernin und
Goethe / Um Mißverständnissen vorzubeugen / Ein Kapitel
aus Francois Rabelais' Gargantua (Wie etliche von
Pikrochollers Hauptleuten ihn durch hitzige Ratschläge in
Gefahr brachten.) / Eine angenehme Menage. II. Der Welt-
spie g e 1 / Niemand geringerer als / Vor Abgang des Zugs /
Er war ein Mann, nehmt alles nur in allem / Diplomaten.
III. Der Bauer, der Hund und der Soldat / Eine prinzi-
pielle Erklärung.
Ein Teil des Ertrages für den Arbeiterverein »Kinder-
freunde«.
Einleitung zu »Ein Irrsinniger auf dem Einspännergaul«:
Auch das »kann man nicht oft genug hören«. Es ist ein Re-
pertoirestück, das nun mit jeder Vorlesung verständlicher wird. Und
ich werde es erst absetzen, wenn einmal der sonderbare Reiter absitzt.
136
Zwischen dem Kapitel aus Gargantua und »Eine ange-
nehme Menage«:
Dies also ist von Francois Rabelais geschrieben worden.
Aber ich meine, alles französisch -Parlieren muß jetzt aufhören,
sprechen wir lieber unser deutsches Platt! Zum Beispiel so:
Es ist vielleicht noch auszurechnen, wie viel Zeit und Blei
in der großen Zeit und im neuen Deutschland durch die
Ausrottung der meisten Apostrophe in den Druckereien für
Munitionsbeschaffung und sonstige Kriegsdienstleistung schon
gewonnen wurde. In der Insel-Ausgabe der »Pandora« hat das
Verfahren — bei allerlei kunstgewerblicher Entschädigung —
die volle Anschaulichkeit einer Tempelschändung. Dieses
Sprachheiligtum dürfte auf Goethes Volk ohnedies durch die
Weisung des Prometheus Eindruck gemacht haben: »Nur
Waffen schafft! Geschaffen habt ihr alles dann«, wobei freilich
bereits der Nachsatz: »auch derbster Söhne übermäß'gen
Vollgenuß« auf immer stärkere Zweifel stößt. Der deutsche
Apostrophenraub, der den Indikativ »ich raub'« nicht mehr vom
Imperativ »raub« unterscheiden läßt und den Konjunktiv des
Imperfekts »ich schrieb'« nicht mehr vom Indikativ »ich schrieb«,
macht jede moderne Ausgabe eines Klassikerwerkes schon zur
Augenqual, wenn nicht zur vorgestellten Ohrenpein. Abgesehen
von der Verwechslungsgefahr, die zur Not durch den Sinn paralysiert
wird, ist das eindeutige Monstrum zum Beispiel eines »ich band«
unerträglich. Diese Zeitsparmaschinen ahnen nicht die Bedeutung
eines im Apostroph nachschwingenden Vokals und setzen auch
getrost ein raumhaftes »lang« für das zeithafte »lang'«, um somit
in beiden Fällen »lank« auszusprechen. Der Inseldruck der
»Pandora« ist ferner dadurch ausgezeichnet, daß das Ende der
Dichtung genau bis zum Rand einer rechten Seite reicht,
so daß der keinen Abschluß gewahrende, von keiner Abschluß-
linie gewarnte Leser die Rede der Eos fortsetzen möchte und
umblättert, um weiterzulesen, wodurch das Pathos dieses
wundervollen Ausgangs zerknickt wird. Die primitivste, von
der stilistischen Notwendigkeit erschaffene Druckerregel, daß
ein Abschluß von weither sichtbar sei und ein Werk weder
— 137 —
rechts unten noch links oben ende, damit eben der Leser
rechtzeitig den geistigen Atem auf das Ende einstelle,
wird hier mit einer den erhabenen Abklang, also den Gedanken
tötenden Ruppigkeit mißachtet. Der Leser muß umsomehr glauben,
daß noch etwas folge, weil er ja noch Blätter in der Hand
hält, die ihn dann freilich mit literarhistorischen Zusätzen
überraschen. Der Umstand, daß die »Pandora« ein Fragment ist,
also ein Werk, dessen Abschluß aus keinem dichterischen Plan
erfolgt war, könnte den Barbarismus nicht als Absicht
rechtfertigen, da ja der Akt als solcher kein Fragment ist;
auch wenn noch ein weiterer Akt folgte, wäre ja jener zu
Ende und dürfte nicht rechts unten zu Ende sein. Es ist nichts als
Fühllosigkeit, deutsche Raumgewinnsucht und jene typographische
Unfähigkeit, die mir seinerzeit die »Luxusausgabe« der Chinesischen
Mauer zu einem sechs Monate dauernden Leidenskapitel gemacht
hat. Von einem Wiener Sachverständigen mußte die berühmte
Leipziger Firma (Poeschel &Trepte, deren dekorativen Leistungen auf
der »Bugra« Feuilletons in deutschen Blättern gewidmet wurden
und die eine der Nährmütter des bibliophilen Snobismus ist),
immer wieder belehrt werden, wie man den Druck mit dem
auf jene Art verpatzten Schluß (damals links oben statt rechts Mitte)
umgestalte; wie man Zitate einzustellen habe; daß das Wort
»neugeboren« nicht nach »neuge« abzuteilen sei u. dgl. Doch
sind dies — abgesehen von der Vernichtung des Schluß-
gedankens — Dinge, die hauptsächlich nur die Ehre des Druckers
berühren. Was aber das Heil des Geistes, die Sicherheit
des textlichen Bestandes anlangt, so läßt sich summarisch
behaupten, daß in Deutschland das Schicksal der deutschen
Klassiker besiegelt ist; denn kein Vermerk >Vor Nachdruck wird
gewarnU (der hier kein materielles Autorrecht mehr zu schützen
hätte) bewahrt das geistige Gut vor Einbruch. Welche Instanz
aber sollte den Dichter vor den Gefahren des Nachdruckes
behüten, den Leser davor warnen, da jedem Greisler dessen
Vorteile zustehen? Ist einer dreißig Jahre tot, so fressen ihn,
zugunsten der Volksbildung, die Verleger. Bezeichnend für die
stumpfe Ahnungslosigkeit der »Herausgeber«, dieser für Leichen-
schändung bezahlten Literaturbuben, wären hunderte von
— 138 —
klassischen Versen und Sätzen. Das eindringliche Beispiel aus
Lichtenberg, das durch die Jahrzehnte fortgewälzt wird, habe
ich illustriert; jammervolle Verwüstungen am Worte Goethes,
Schillers, Jean Pauls könnte ich zitieren. In der heiligen »Pandora*
hat der Inselmensch den Setzer an einem der bedeutendsten
Verse sich austoben lassen oder, wenn er den Gedanken für
einen Druckfehler hielt, bewußt und gewissenhaft die infamste
Änderung bewerkstelligt. Prometheus ruft den Kriegern zu:
Aufl rasch Vergnügte,
Schnellen Strichs 1
Der barsch Besiegte
Habe sichs!
Der Dichter nennt mit einer kostbaren Abbreviatur die
Nutznießer eines Sturmlebens, worin der Genuß gepflückt und
halbgenossen vertan wird — eine ganze, in Weinfässern
mündende Offensive ist darin — : »rasch Vergnügte«. Dem"
Drucker oder dem Literaten schien's logischer so:
Auf, rasch I Vergnügte
— schnellen Strichs! Der barsch besiegte Gedanke habe sichs!
Die Krieger sind schlechthin vergnügt, weil ihnen > Immer feste
druff!« zugerufen wird. Die Leser gleichfalls. Und ich wette
hundert versenkte Tonnen gegen eine, daß diese Darlegung den
Insel-Verlag und die nach dessen Vorlage weiterdruckenden
Verschleißer nicht abhalten wird, die deutschere Version bei-
zubehalten.
Ich habe lange nicht die Razzia auf Literarhistoriker
fortgesetzt. Inzwischen hat aber Herr Walzel in Dresden Scherers
Literaturgeschichte fortgesetzt, was bei weitem nicht so dringend
war. Da auch das Werk selbst dazugedruckt wurde, ist ein dicker
Band entstanden, der mit dem folgenden Schleifentext den
Käufer lockt:
Die vorliegende Ausgabe des berühmten Scherer'schen Werkes,
fortgeführt bis in die jüngste Oegenwart von dem bekannten Literarhistoriker
139
Geh. Hofrat Professor Dr. Walzel, Dresden, ist die erste und einzige
Literaturgeschichte, welche die Darstellung deutschen Schrifttums bis
auf die letzten Neuerscheinungen bringt und auch zu den
noch im Kampfe der T a g e s m e i n u n ge n stehenden
Autoren Stellung nimmt.
Wenn sich nur jeder der von Herrn Walzel genannten
Zeitgenossen das Werk kauft, so dürfte sich dem Verleger der
historische Maßstab rentieren. Daß kaum ein expressionistisches
Tinterl übersehen ist, während ich >auch zu den noch im Kampfe
der Tagesmeinungen stehenden Autoren < nicht gehöre, versteht
sich von selbst. Die historische Gilde, die mit der gewissen groß-
zügigen Stupidität Zusammenhänge herzustellen und Erscheinun-
gen zu registrieren versteht und neuestens auch an den Kaffee-
häusern nicht vorübergeht, weiß ganz genau, wie höllisch undank-
bar es wäre, zu mir »Stellung« zu nehmen, da ja die einzige
Stellung, in der ich mir einen Literarhistoriker oder sonstigen
Journalisten mir vis-ä-vis denken kann, eben nicht die vis-ä-vis,
sondern hinter meinem Rücken ist. Allerdings hätten sie
nichtauf solche Separatwünsche Rücksicht zu nehmen, sondern hätten
die Pflicht gegen ihr Publikum und gegen die Nachwelt, die sie
objektiv zu informieren vorgeben, die Existenz der Fackel, beileihe
nicht den Wert des Werkes, wohl aber Tatsache und Wirkung
gebührend auf dem Papier zu verzeichnen, das die Not der Zeit dem
literarhistorischen Unfug in so reichem Maß zur Verfügung
gestellt hat. Daß sie's nicht tun, bekräftigt meine alte Ansicht, daß
ein Historiker nur ein rückwärts gekehrter Journalist ist, der die
einzige Ehrenpflicht, die der Stand kennt: die Unbequemen
totzuschweigen, in scheinbar höheren Wirkungskreis übernimmt.
Herr Walzel, dessen Schönbart viel eher nach einem Scherer verlangt
als ein Scherer nach der eigenen Verlängerung, wird freilich sagen,
daß die Tatsache der Nichtnennung meines Namens die Ursache
meiner abfälligen Kritik seines Werkes ist, aber da hätte er
vollkommen recht. Ich bin wie jeder andere in der Lage, aus
einem maßlos grotesken Faktum Schlüsse auf die wissenschaftliche
Qualität einer Leistung zu ziehen, deren weitere Prüfung, so
überflüssig sie ist, in jeder Zeile dieser von superiorer Unkenntnis
künstlerischer Dinge besorgten Arbeit das Vorurteil, das sich auf
— 140 —
ein Namens- und Sachregister stützt, gutheißt. Der Ignorant meines
Daseins erfüllt eben vollauf die Erwartung, die man an das
Erscheinen einer Literaturgeschichte in dieser Zeit und in diesen
Ländern knüpfen kann. Denn wenn es auch seit zehn Jahren
vorkommen soll, daß der Deutsch-Unterricht in Mittelschulen
die Satzbildung an Proben aus der Fackel darstellt, so
bleibt die germanistische und literarhistorische Hochschul-
wissenschaft in jenem Punkt ein für allemal nach dem Rache-
bedürfnis der Tagespresse orientiert. Großsprecherei ist nur die Be-
hauptung jenes Schleifentextes, daß das Pensum des Herrn Walzel
die erste und einzige Literaturgeschichte sei, die auch zu den
noch im Kampfe der Tagesmeinungen stehenden Autoren Stellung
nimmt. Nichts was Herr Walzel unternimmt oder unterläßt, hat er
vor den andern voraus. Vielmehr haben in den letzten Jahren
etliche Professionisten es fertig gebracht, Herrn Stefan Zweig und
sonstige Manufaktoren sub specie aeternitatis anzusehen und von
mir nichts zu wissen, mit der einzigen Ausnahme jenes Wiener
Schwachkopfs, der für ein deutsches Konversationslexikon das
Kapitel österreichische Literatur« zu bearbeiten hat und meinen
Namen im Zusammenhang mit einem Schlüsselroman erwähnt,
dessen medizinischer Ursprung in Gerichtsakten wie in den vor
und nach der Entstehung an mich gerichteten Liebesbriefen seines
hochwertigen Schöpfers bezeichnet ist. In einem > Fortsetzung
folgt« hatte ich seinerzeit den Entschluß bekundet, dieses düsterste
Hysteriekapitel des Romans meines literarischen Lebens zu eröffnen,
aber,, gelähmt vom Grauen vor der durch jedwede Beachtung
genährten Haßliebe, die zu erwidern ich so wenig wie zu ersticken
fähig bin, es unterlassen, mit dem Vorsatz, späterhin doch
einmal in einem die ganze Passion meines Wirkens umfassenden
Dokumentenwerk den furchtbaren Einklang der Zwitterseele mit
allen Berufen und Instanzen unseres Lebens (Literatur, Presse,
Medizin, ja selbst Gerichtsbarkeit) und die unerschöpfliche Pein,
in die ich noch durch jede Abwehraktion geriet, darzustellen. Der
Fachmann im Konversationslexikon weist eine solche Passivpost
als meines Daseins Ruhm und Inhalt aus, und für die sonstige
Literaturgeschichte leben fort die Quallen, die zitternd in meinem
Licht Farben spielen konnten; ich aber war nicht.
— 141
Der Bauer, der Hund und der Soldat
(Wolhynien)
»Der Hund ist krank! Was fehlt dem armen Hunde?«
»Er ist verwundet, Herr. Das ist der Krieg,
und davon eben hat er seine Wunde«
Der Bauer sprach's und streichelt' ihn und schwieg.
»Wie aber, wann und wo empfing die Wunde
der arme Hund? Er kann ja gar nicht gehn!«
»Herr, es ist Krieg und da ist es dem Hunde,
er stand so da, da ist es ihm geschehn.
Der Hund stand da und da kam ein Soldat,
der ging vorbei und stach nach meinem Hunde,
der keinem Menschen was zu leide tat,
nie biß er wen, nun hat er seine Wunde.
Seht ihn nur an, es war ein gutes Tier,
er dient mir lang', und in der weiten Runde
der beste Schäferhund, er führte mir
das Vieh allein, nun hat er seine Wunde.
Seht, wie er hinkt. Das tut er seit der Stunde,
da der Soldat vorbeikam, der Soldat,
der stach nach meinem alten Schäferhunde,
der keinen Menschen noch gebissen hat.«
»Und warum, glaubt ihr, bracht' er ihm die Wunde,
der Mann dem Hund die schwere Wunde bei?
Der Hund ist stumm, sein Blick befiehlt dem Munde
für ihn zu sprechen, sprecht nur frank und frei.«
— 142 —
»Wir wissen's nicht. Doch wißt ihr's selbst wie wir,
daß Krieg ist. Mir und meinem armen Hunde
und Gott und jedem Kind und auch dem Tier
ist es bekannt, und Krieg schlägt jede Wunde.
Ich sagt's euch Herr, der Mann war ein Soldat
und wer die Waffe hat, der schlägt die Wunde.
Wißt ihr denn nicht, wie viel's geschlagen hat
in dieser gottgesandten Zeit und Stunde?«
»So solltet ihr, daß er vom Schmerz gesunde,
das arme Tier sogleich mit Gift vergeben.
Erschießt ihr ihn, wißt ihr, daß eine Wunde
auch Wohltat sei, und helft ihm aus dem Leben!«
»Ach Herr, ich ließ' es nimmermehr geschehn,
ich kann nur leiden mit dem armen Hunde.
's ist Krieg, ich kann ein Huhn nicht sterben sehn,
's ist Krieg, da, wißt ihr, gibt es manche Wunde.
Der Hund war gut, vorbei ist's mit dem Hunde,
seit der Soldat vorbeiging, 's ist der Krieg.
Man muß es nehmen, was sie bringt die Stunde.«
Der Bauer sprach's und streichelt' ihn und schwieg.
— 143 —
Vorlesungen in Berlin
Klindworth-Scharwenka-Saal :
5. Mai, 12 Uhr:
I. Jean Pauls Friedenspredigt an den Fürsten vor dem Kriege
(aus >Levana oder Erzieh-Lehre<) / Beim Anblick eines sonder-
baren Plakates / Unsere Pallas Athene! / Getreide aus der
Ukraine / Vision / Elegie auf den Tod eines Lautes / Vor
Abgang des Zugs / Diplomaten.
II. »Di e beiden Nach twandler« von Nestroy
(Musikbegleitung: Max Saal).
III. Der Bauer, der Hund und der Soldat /Die
Kriegsschreiber nach dem Krieg.
(Eine Inhaltsangabe der »Beiden Nachtwandler wurde aus-
gegeben.)
6. Mai, 7 Uhr:
I. »Hanneles Himmelfahrt« von Gerhart
Hauptmann (Musikbegleitung : Max Saal).
II. Beim Anblick einer Schwangeren / Grabschrift / Vor
einem Springbrunnen / Wiedersehn mit Schmetterlingen / Als
Bobby starb / An einen alten Lehrer / Der Reim / Unterricht /
Abenteuer der Arbeit / Bange Stunde / Gebet.
7. Mai, 7 Uhr: %
I. »T i m o n von Athen« von Shakespeare (aus
den ersten drei Aufzügen).
II. Diana-Kriegsschokolade / Aus dem Reich der Schaffner /
Ein Bild / Die Schalek und der einfache Mann / Epigramme:
Der Bericht vom Tag; Die Werte; Das Lebensmittel; So lesen
wir alle Tage; Luxusdrucke; Die neue Generation / Kompetenz
vor der Sprache / Ein Kapitel aus Rabelais'
Gargantua (Wie etliche von Pikrochollers Hauptleuten ihn
durch hitzige Ratschläge in Gefahr brachten.) / Der Bauer, der
Hund und der Soldat / Die Kriegsschreiber nach
dem Krieg.
8. Mai, 7 Uhr:
I. Kierkegaard über die Journalisten / Vor Abgang des
Zugs / Getreide aus der Ukraine / Unsere Pallas Athene! /
Szene in einem Palais / Der Anlaß / Memoiren / Fahrt ins
Fextal / Jugend / Matthias Claudius und wir (mit
144
Gedichten) / Über chinesische Kriegs lyrik (Der müde
Soldat; Der Werber; Krieg in der Wüste Gobi; Nachts im
Zelt.) / Das Lied vom armen Kind von Frank
W e d e k i n d / Mit der Uhr in der Hand / Gebet an die
Sonne von Gibeon.
II. Meinem Franz Janowitz / Die letzte Nacht
(Hyänen-Szene) / Der Bauer, der Hund und der Soldat /
Um Mißverständnissen vorzubeugen /Ein Kantianer und
Kant / Zum ewigen Frieden.
Die Vorlesungen haben für die deutschen Kriegsblinden statt-
gefunden; der volle Reinertrag — Mk 202047 — ist dem Kriegs-
blindenheim, Berlin W. Bellevuestraße 12, zugewendet worden.
Die Tagespresse war nicht eingeladen worden. Trotzdem
sind unter anderm im .Berliner Tageblatt' (6. Mai, »Karl Kraus
liest. . .« Von Adolf .Läpp), .Berliner Volkszeitung' (7. Mai, »Bei
Karl Kraus.« Von Max Schach), .National-Zeitung' (7. Mai), an-
geblich auch in einem alldeutschen Blatt ausführliche Be-
sprechungen erschienen.
.Berliner Börsen-Courier' (9. Mai, »Karl Kraus als Vor-
leser.« Von Herbert Ihering):
Der Vorleser Karl Kraus ist eine notwendige Ergänzung und
Fortsetzung des Schriftstellers. Die Energie, die seiner Satire den
Ausdruck gibt, das TemoMament, das seinem Pathos die Schwere und
Dicke fernhält, stehen hinter seinem rezitatorischen Vortrag und nehmen
ihm, gerade wenn Kraus sich selbst liest, alles kleinlich Propagandistische
und aufdringlich Agitatorische. Kraus bleibt hell, scharf, präzise,
plastisch. Er hat nicht die Eitelkeit des Schriftstellers, der seinem
geschriebenen Wort als Vorleser damit zu dienen glaubt, daß er es
unberührt läßt und ohne mimische Unterbrechung als Klang und
logisches Zeichen dem Zuhörer einhämmert. Dem Wesen der Sprache
tiefer vertraut, trägt Kraus das Bewußtsein des Unterschiedes zwischen
dem geschriebenen und dem gesprochenen Wort als Erlebnis in sich
und die konzentrierte Formulierung seiner satirischen Kapitel ist ihm
nicht Hindernis, sondern Anreger, die Sätze aufzulösen und noch
einmal aus einer mimischen Improvisation heraus entstehen zu lassen.
Wir erleben das Wunder: ethischer Wille und geistige Leidenschaft
als schöpferische Kräfte einer schauspielerischen Kunst.
Die mimische Phantasie des Karl Kraus gestaltet die schrift-
stall«risch schon auf einen letzten Ausdruck gebrachte Situation noch
einmal und führt sie mit derselben Intensität und satiriichen Tendenz
145
weiter Es ist genial, wie Kraus ein veröffenüichtes Interview mit Beth-
mann Hollweg auf dem Anhalter Bahnhof pantomimisch illustriert, wie
er bei den aus dem Zuge heraus gesprochenen Worten des Reichskanzlers
die Hand als Sprachrohr an den Mund legt und damit den Augenblick
ironisiert- der Sprecher muß sich im Lärm des Bahnhofs ver-
ständlich machen; und gleichzeitig die Verdickung solcher Zweckge-
spräche preisgibt: der Redner spricht für ein riesenhaftes Zeitungspubhkum,
das wir als Zuhörer vor ihm sehen; und schließlich den Berichterstatter -
polemisch trifft: dieser verdeutlicht die Worte noch einmal, damit sie
auch die Galerie hört. Wie Kraus hier mit einer einzigen Gebärde die
Leserschaft eines großen Blattes als Massenansammlung beschwort,
so gelingt es ihm oft, durch einen Tonfall Worte und Einrichtungen
zu entwerten. Er sagt: >Heilbäder«, und wir lachen. Er hat eine
unnachahmliche sanfte Bosheit für das Wort »Lebensmittelkarten-
Abmeldeschein«, und es erscheint uns als Gespenst. Er hat eine
plastische Ironie des österreichischen Dialekts, die den Staat lebendig
macht. Und das Meisterhafte ist, daß Kraus, mag er »K. u. K.« sagen
oder einen Diplomaten reden lassen, niemals karikiert, sondern mit
einer instinktiven und zugleich bewußten Sicherheit des künsüerischen
Taktes die Satire aus dem Wesen der Sprache zieht, und Menschen und
Dinge von ihrem eigenen Charakter verhöhnen läßt. Darum führt ihn keine
Gebärde zu weit, und jeder Schlag der geöffneten oder geballten
Faust, jedes Ausholen und fechtende Vorstoßen des Armes, wie jedes
lässige Spielen mit dem beweglichen Handgelenk sind verbunden mit
der Tendenz, die der Vorgang selbst in sich hat. Und diese sachliche
Energie ermöglicht es Kraus, umzuschlagen und ohne Riß aus dem
Witz den tragischen Ernst zu entwickeln. Er hat eine solche Leiden-
schaft des Wortspieles und einen solchen Fanatismus der rezitatorischen
Wiedergabe, daß die ironische Pointe notwendig diese Steigerung
fordert, und daß das einzelne Wort fähig gemacht wird, Perspektiven
des Grauens und des Leidens zu erschließen.
Diese tragische Kraft legitimiert erst die Satire des Karl Kraus.
Und die innere Verbundenheit des Rezitators mit dem Schriftsteller
macht es notwendig, daß Kraus fremde Dichtungen, wie Nestroys
»Beide Nachtwandler« nicht mimisch erlösen kann. Die geistige
Leidenschaft, die ihm als gestaltende Kraft aus dem eigenen Werk
zuströmt, trägt er in das fremde hinein und wird dort, was er bei
sich selbst vermeidet: Werbend und agitatorisch.
Die Bemerkung über den Nachtwandler-Vortrag ist grund-
falsch. Die Taubheit der Berliner Hörer für Nestroy, der der
Vorleser diesen Genius allerdings aufgedrängt hat, wird hier
mit der Stummheit einer Kraft verwechselt, die gerade den
Berlinern durch >Timon« und »Hannele« bewiesen hat, daß sie
fremde Dichtungen sehr wohl mimisch erlösen kann. Hätte der
146
Kritiker diese durchschlagenden Beweise erlebt und sich nicht
mit dem Eindruck des ersten Vortrags begnügt, so hätte er nicht
aus diesem den rein intellektuellen Fehlschluß auf eine agitatorische
und darum versagende Absicht geschöpft, sondern mit der
Fähigkeit der Beobachtung, die er an dem lebendigen Vortrag
der »Eigenen Schriften« bekundet, erkannt, daß dieselbe Kraft
noch weit unmittelbarer den fremden Dichtungen zugute komme.
Der Vorleser, der darüber schließlich auch ein Urteil hat, muß
bekennen, daß ihm als Hörer sein Vortrag der einzigartigen
Nestroy'schen Nachtwandler hundertmal erquicklicher ist als
die Darbietung jedes eigenen Werkes, welche vor einer stofflich
befangenen und häufig unerfreulichen Menge immer wieder eine
Überwindung des Schamgefühls kostet, die aber nicht immer
gelingt.
Hiezu aus dem Aufsatz der , Weltbühne' (16. Mai, »Vorleser
Karl Kraus.« Von Siegfried Jacobsohn):
Daß seine vier Abende die Theatersaison aufwiegen, wäre
kein hohes Lob; da diese Theatersaison nichts wiegt. Aber er nahm* es
mit jeder auf. Wenn er Dramatiker liest wie Nestroy, Hauptmann,
Shakespeare, so ist das nicht Ersatz für die Bühne : sondern die Bühne
mit ihrem gewaltigen Apparat ist ein unvollkommener Ersatz für die
eine Stimme, die aus ihrer Fülle mühelos ganze Ensembles versieht.
Ein unvollkommener Ersatz deswegen, weil selbst der bedeutendste
Regisseur besonders günstige, also äußerst selten vorhandene Umstände
nötig hat, um seinen Geist in sämtliche Spieler zu treiben, von denen
ein einziger eine Szene zerstören kann: während Der hier Regisseur
und sein Menschenmaterial in einer Person ist, eine addierte und
multiplizierte Schöpferwollust verspürt und von dieser fähig gemacht
wird, sich beflügelt über tote Punkte zu schwingen. — —
— — Und wenn man sich nachträglich, aus der Erinnerung, die
Totalität dieses Sprechkunstwerkes, des schlesisch-mystischen . . wieder-
herstellt und mit dem ersten, dem wienerisch-drastischen, vergleicht und
dazu das dritte, das klassisch-anklägerische, heranzieht: dann staunt man
doch, wie nicht allein innerhalb jedes einzelnen jedes Teilchen blitz-
blank gegossen ist, sondern wie auch die Atmosphäre der drei Dramen-
gebilde, die Aura der drei Dramenbildner unverwechselbar glänzt.
Girardi, die Blüteperiode Brahms und das ganze große Burgtheater
einer längst versunkenen Zeit: das alles hat ein unendlich musikalisches
Ohr in sich eingefangen und gibt eine Kehle von unbegrenzter Aus-
drucks-Stärke und -Feinheit zurück. —
147
Deutsche Montags-Zeitung (13. Mai, »Karl Kraus.« Von
Peter Altschul):
Es steht ein Mann vor uns, der ein Kämpfer ist; ein Mann,
des heißesten Lebens voll. Es steht ein Mensch vor uns, den
wir lieben.
Sein Beruf? Der AntiJournalist. Der Tagesschriftsteller, dessen
Werke unsere Enkel lesen werden. Er packt das Sein in den alltäglichsten
Begebenheiten: da wird es unter seinen Händen menschliches
Schicksal. — —
Sein Thema? Das Leben. Und wo er's faßt, greift er in
Menschenschande. Er bausche es auf? Ach, man weint bei seinem
trostlosen Spott, der unser Herz bluten macht: daß die Menschen so
jämmerlich sind. — —
Sein Ziel? Die Sauberkeit, die Anständigkeit. Und wenn ihr
das Wort richtig begreift: die Moral. Hier gilt es den Kampf gegen
menschlichste Art. Hier dienen die Fanfarenstöße dem letzten Ziel:
Gesinnung, Leute, Gesinnung! Sie mangelt allerenden. Die Charaktere
fehlen überall.
So müssen wir zu Karl Kraus wallfahren. Hier steht ein
Charakter, mächtig, massiv und groß. Hier bewundern wir, die wir
schwächer sind, vieles am Mann: den Mut des Wortes, das er hinter
jene hertreibt, die er verachtet, die Größe der Kraft, mit der er,
einem versengenden Blitze gleich, in die Abgründe morscher Seelen
niederfährt, das rastlose Streben eines ganzen Lebens für eine Auf-
gabe, die — heute noch — uns unerfüllbar scheint; ja und wir
bewundern voll Staunen und voll Liebe die unnahbare Lauterkeit
eines Herzens, das unbestechlich wacht.
Wen bekämpft er? Sie alle, die heute vorne stehen und leeren
Geistes sind: Maulhelden, die Völker regieren, Phrasenmacher, die
Zeitungen schreiben, Dichterlein, die leere Blätter ohne Zwang füllen.
Sie alle, der Menschheit Feinde, verfolgt sein Haß; er zeigt die
Hohlheit ihrer Worte, die Irrwege ihrer Leitung, den Schwulst ihres
Stiles, die Bürgerlichkeit ihrer Träume. Er zeigte uns die Gefahren.
Sahen wir sie?
Wir dachten nicht immer so. Wir haben früher seine Hefte
lächelnd gelesen. Wir achteten ihn; doch der Fanatiker ging auf
Wegen, die uns unbedeutend schienen. Kleine, wurmstichige,
krakehlende Menschen: übersah Karl Kraus, daß sie alle eines Achsel-
zuckens, nie eines Kampfes wert waren? Wir wußten es besser; wir
standen über ihm. Wir lachten. (Vergebung!) Denn wir wollten zu
anderem Gipfel.
Dann kam es. Und als die Erde zusammenstürzte, begriffen
wir seines tiefen Geistes einen starken Hauch. Wir sahen klar und
schämten uns. Hatte er Hereinbrechendes nicht vorhergesagt? Daß
sie ihr Ziel erreichen, die Welt in Flammen setzen würden? Nun
148
brannte siel Da kamen wir zu ihm; da blieben wir hinter ihm; und
begriffen: bei ihm ist sie, die neue, die ewig alte, die anständige,
die menschliche Oesinnungl Der neue Tag dämmerte: wir ahnten
das Ziel seines Handelns. Wir sahen die Methode: wiederholen,
wiederholen, zehnmal es ihnen einbläuen! Zehn Jahre es immer von
neuem schreien, bis sie es hören werden: daß sie schmutzig sind
und voll unertragbarer Jämmerlichkeit. Bis sie eines Tages aufhorchen
werden. Wann wird das sein?
Ich weiß es nicht. Heute hassen sie ihn. Heute sind sie noch
obenauf, in aller Welt obenauf. Sie tun ihn mit Scherzen ab und
mit Verleumdungen. Das muß wohl so sein. Es erfüllt sich
Prophetenschicksal.
Man sagt, daß sein schönstes Werk seine Gedichte seien.
Freunde singen Hymnen auf die Form seiner Sprache und auf den
Stil seiner Sätze. Ich glaube es. Ich weiß es nicht genau. Ich denke,
daß sein reiner Geist wichtiger ist und sein klares Herz; ich fühle,
daß die Lauterkeit seines Strebens leuchtet, daß die Glut seiner
Worte zündet. Ich schätze eine Form, die wohl vollendet ist; ich
liebe die Gesinnung, die anständig ist. Denn, nicht wahr, Freunde,
wir wissen es:
Über allem Streben — Menschlichkeit!
Nun haben wir ihn hören dürfen. Nun haben wir seinen
hochschultrigen Köiper sehen können, diese ausdruckstiefen, ewig
kämpfenden Hände, seinen Kopf, der wie ein mahnendes Menetekel
über die Menschen schaut. Nun haben wir seine Stimme vernommen,
die rauh ist wie Novemberwind und scharf wie Stahl und laut wie
eine Kampfposaune. Nun haben wir es erlebt, daß wir unbeweglich
und festgebannt dasaßen und uns nicht schützen konnten. Er kam
über uns wie ein Träger des göttlichen Zornes, er sandte in unsere
Herzen Klagelaute, er füllte uns mit großem Schmerz: unsere Hände
wurden feucht, unsere ausgedörrten Seelen frisch getränkt. Da wir
ihn hinter matter Lampe aufstehen sahen, wurden wir fromm in
einem neuen Glauben.
Da wußten wir, es kommt die Zeit, Karl Kraus — es kommt
unsere Zeit. Dann wollen wir den Kampf beginnen.
Denn unser ist das neue Werk!
— 149
Glossen
Vor dem Endsieg
> Ein Wiener Arbeiterverein hatte einen Universitätslehrer gebeten,
einen Vortrag, der viel Beifall gefunden hatte, zu wiederholen. Er
erhielt darauf folgende Antwort: ,Es tut mir leid, Ihnen sagen zu
müssen, daß ich durch Unterernährung und Hungerleiden derart
herabgekommen bin, daß ich mich auf die Erfüllung meiner
Lehramtspflichten beschränken muß. Ich hätte auch den Vortrag in
der Gesellschaft nicht gehalten, wenn ich ihn nicht schon
im Dezember versprochen hätte, wo ich noch verhältnismäßig besser
beisammen war. Wenn ich einen Vortrag über das gewöhnliche
Maß meiner täglichen Vorlesungen hinaus halte, habe ich am folgenden
Tag unangenehmste Herzzustände und Ohnmachtsanwandlungen.
Unter anderen Umständen hätte ich Ihrem Wunsch sehr gern
entsprochen.'«
Die Vorbedingung alles Lebens
Je schmerzlicher wir es erfahren haben (daß
in Budapest ein paar Tage die Zeitungen nicht erschienen sind), desto
fester werden wir es unserer Seele einprägen, daß der
bürgerlichen Gesellschaft die Zeitung das ist,
was Luft und Licht jeglichem Lebewesen: die
Vorbadingung alias Lebens. Pester Lloyd.
150
Ersatzkörper
— — wurden auf Perron V Kriegsinvalide verladen, die von
der dortigen Invalidenschule zu ihren Ersatzkörpern rück-
befördert werden.
Ja, in solchem Zusammenhang fühlt man doch den Sinn
dieses rätselhaft furchtbaren Wortes.
Schadenersatz
Justizminister Dr. R. v. Schauer: In der furchtbaren Not und
Gefahr, in der sich der Staat besonders vor der glücklichen Wendung
im Kriege befand, haben Angehörige der bewaffneten
Macht und staatliche Organe bei der Bekämpfung oder
Abwehr von Angriffen gegen den Staat mitunter die Zonen
des rechtlichen Verfahrens ganz außer Acht
gelassen und es kam wohl auch vor, daß rechtswidrig
Leben und Freiheit verletzt worden ist und damit das
Rechtsbewußtsein schwer gekränkt wurde. Dem durch solches Fehlgehen
der Schutztätigkeit des Staates beleidigten Rechtsgefühl soll Genug-
tuung geboten und der verursachte Schaden gutgemacht
werden, insbesondere wenn sich jemand das Recht über
das Leben anmaßte, dem es nach den Gesetzen nicht zukam
oder wenn die gesetzliche Feststellung, daß der
Beschuldigte das Leben verwirkt habe, unter-
blieben ist.... Selbstverständlich muß der Staat eine
Ersatzpflicht ablehnen, wenn die rechtswidrige Tötung oder Verletzung
mit der Ausübung der Dienstgewalt in keinem Zusammenhange stand,
wenn etwa Soldaten gelegentlich einer Plünderung
oder in einem Streit oder bei sexuellen Ausschreitungen
schwere Gewalttaten verübten.
Der rechtswidrig Getötete bekommt also das Leben nur
ersetzt, wenn die Tötung zwar nicht in Ausübung der Dienst-
gewalt, aber im Zusammenhang mit der Ausübung der Dienst-
gewalt erfolgt ist. Im andern Fall wird er auf den Weg zum
jüngsten Gericht verwiesen.
151
Die Reihe
Mit Rücksicht darauf, daß der Angeklagte
Hryb 26 Jahre alt und des Lesens und Schreibens
unkundig ist, somit keine Bildung hat, sowie
angesichts dessen, daß die Schuld des Angeklagten Hryb dem
Standgericht die kleinste mit Rück s ich t auf die Schuld der anderen
Mitangeklagten zu sein schien, hat das Standgericht beschlossen,
daß die gegen den Angeklagten Hryb gemäß § 444 M.-St.-P.-O.
ausgesprochene Todesstrafe dieser Angeklagte als erster
abzubüßen hat.
— — Die über den Angeklagten Struk verhängte Todesstrafe
soll derselbe als zweiter abbüßen, weil seine Schuld im Verhältnis
zur Schuld des Erstangeklagten krasser ist.
— — Mit Rücksicht darauf, daß der Angeklagte Maeyjiczyn
durch längere Zeit mit den Russen in Verbindung gestanden ist,
wurde beschlossen, daß er als dritter die Todesstrafe abzubüßen hat.
— — Unter einem wurde beschlossen, daß dieser Angeklagte
in Würdigung der ihm zur Last gelegten Tat die Todesstrafe als
vierter in der Reihe abzubüßen hat.
— — Die über ihn gemäß § 444 M.-St.-P.-O. verhängte
Strafe soll Angeklagter Dzus als fünfter verbüßen, weil seine lügnerische
Verteidigung darauf hinwies, daß er den Russen vollauf ergeben war.
— — und hat diese Strafe in Würdigung seiner Handlungs-
weise als sechster abzubüßen.
— — Die Todesstrafe hat der Angeklagte Kowal als der
siebente abzubüßen.
Nachdem dem Fedynyczyn zwei strafbare Handlungen
zur Last fallen, soll er die Todesstrafe als achter verbüßen.
— — Mit Rücksicht auf die Schwere der dem Fedor Budz
zur Last gelegten Tat soll derselbe die Strafe als neunter abbüßen.
— — Die auferlegte Strafe hat Petro Dzus als zehnter
abzubüßen, mit Rücksicht auf die Schwere seines Verschuldens.
— — hat das Standgericht angenommen, daß seine Schuld
die größte ist und daß er eben die gegen ihn verhängte Todesstrafe
als letzter abzubüßen hat.
Wer ist es, der so an der Schwelle des Jenseits Ordnung
hält? Der den Menschen in letzter Stunde die Vorteile
der Bildung, des Lesen- und Schreibenkönnens schätzen gelehrt
hat und das Glück der Jugend? Denn die andern, Familienväter
mit vier bis neun Kindern, zum Teil Greise, mußten je um
ein Weilchen länger leben. Wer ist es, der so an der Schwelle des
großen Geheimnisses regiert hat und so Klarheit schuf? Es waren,
152
am 14. Oktober 1914, elf Todesurteile auf Grund einer einzigen
Zeugenaussage, und über den Verfasser berichtet die , Arbeiter-
Zeitung' vom 7. Febmar 1918:
Der Verhandlungsleiter Dr. Stanislaus v. Zagorski, vor dem
Kriege Advokat in Lemberg, hat während des Krieges eine sehr
umfangreiche Tätigkeit ausgeübt; er war in der Lage, mehr als
hundert Todesurteile auszusprechen und in Vollzug zu setzen. Er
hat seine Aufgabe so ernst genommen, daß er nicht nur allen
von ihm verkündeten Aufhängungen persönlich
beiwohnte, sondern sich sogar erbot, bei der
Exekution der von seinen Amtskollegen ge-
fällten Todesurteile zu assistieren. Unter anderen
hat er im Herbst 1914 in Munkacs (Ungarn) drei galizische
Flüchtlinge : Pfarrer Roman Beresowszkyi, Leo Kob-
lanskyi und Ssemen Zhabjak verurteilt und das
Todesurteil »In Vollzug gesetzt«. Bei der Wiederauf-
nahme der Sache vor dem Militärgericht in Stryi wurde durch das
Urteil dieses Gerichtes vom 17. Jänner d. J. festgestellt, daß die
Verurteilten ganz unschuldig waren. Im Jahre 1915
hat sich der Allgemeine ukrainische Nationalrat über das Vorgehen
des v. Zagorski beim k. u. k. Armeeoberkommando beschwert.
Dr. v. Zagorski wurde seither zum Hauptmann befördert und zum
Justizreferenten beim k. u. k. Korps Hoffmann ernannt.
Sein Name wird in der Mythologie dieses Krieges neben
den vier Gewaltigen, den Koretz, König, Preminger, Peutlschmied
fortleben und selbst jenem Leutnant Widmann, der in der
serbischen Sage eine so große Rolle spielt, an die Seite gestellt
werden.
EH
- Er (der Vorfall) zeigt, wie ungezähmt die Bestie im
Menschen immer noch lä*uert . . und welch unermeßliches, nutzloses,
nie mehr gutzumachendes Unheil sie anrichtet, wenn die Bestie einmal
ihre Ketten sprengt. Was wir übrigens, seit vier Jahren,
auchsonstschonerkannthaben. f. s.
Nämlich der Verfasser des vor vier Jahren erschienenen
Feuilletons >Es muß sein!«
153 —
Lange vor dem Erwachen
Mancherlei Perspektiven würden sich unserem Auge eröffnen.
Das italienische Heer hat schon einmal einen gewaltigen Schlag
erlitten, von dem es sich nur mühsam erholt hat. — — Wir
wollen nicht in Zukunftsträumen schwelgen, doch
ist es denkbar, daß bei Wiederholung solcher Schläge ein Zusammen-
bruch des italienischen Heeres in den Bereich der Möglichkeit rücken
könnte. Ein solcher Preis wäre des Einsatzes wert.
Anhauch und Auftakt
Die Angriffsschlacht gegen Italien
Günstige Nachrichten vom heutigen Tage
Wien, 15. Juni.
Der heutige Tag hat unserer Armee Erfolg gebracht. An zwei
Fronten, vom Norden in der Gegend der Sieben Gemeinden und
vom Westen über die Piave hinweg, sind unsere Truppen in die feind-
lichen Linien eingebrochen. — —
Wir spüren aus den Worten des Kriegspresse-
quartiers den Anhauch des Geschichtlichen. Was
haben die Feinde alles getan, um uns herabzusetzen. ... Nun
werden sie schreien nach der amerikanischen
Unterstützung, nach diesem Irrlicht der Entente,
dem sie nacheilt und das sie immer tiefer hineinführt in den Sumpf,
in Niederlage und Verderbnis. Noch ist nichts Näheres
bekannt und die nächsten Tage müssen abge-
wartet werden. Aber schon jetzt empfinden wir
den Geist des Sieges und die ganze Monarchie begleitet mit
lebhaftester Spannung diese Schlacht, die mit einem prächtigen Auf-
takt und mit einem bedeutsamen Erfolge begonnen hat.
Die nächsten Tage sollten immer abgewartet werden, ehe
man diese Stimme losläßt.
154
Der Beweis
— — machte Ministerpräsident Dr. Wekerle heute folgende
Mitteilungen: Zunächst stelle ich fest, daß wir mit voller Auf-
richtigkeit ohne jede Schönfärberei Kriegsnachrichten veröffentlichen.
Als Beweis will ich nur darauf verweisen, daß unsere eigenen
Berichte stets den wahren Tatbestand enthalten .... und auf
Grund dessen will ich den Tatbestand der Wahrheit entsprechend
beleuchten. (Beifall.)
Aus der Riesenzeit
— — Das Haus weiß, daß wir am Piave . . vorgedrungen sind,
und . . nachdem die Erhaltung unserer Stellungen mit riesigen
Verlusten verbunden gewesen wäre, uns am Piave
zurückgezogen haben Gegenüber den Riesenzahlen (der Gefan-
genen), welche diesbezüglich kolportiert wurden, will ich . . feststellen
— — die Verluste waren leider riesig — — Diese Zahl (der
Gefangenen) kann bei der Offensive und dem Rückzug nicht a 1 s
überaus riesig bezeichnet werden — — Dies zur Grundlage
genommen, haben wir einen riesigen, sehr bedauerlichen
Verlust erlitten — —
So ist es
der aber im Vergleich zur zehnten und elften italienischen
Offensive die damals erlittenen Verluste nicht überschreitet, j i
gegenüber diesen zurückbleibt, denn in der zehnten
und elften italienischen Offensive hatten wir Verluste von 80.000 b i s
100.000 Mann. Jetzt aber ist unser Verlust gleichfalls an-
nähernd 100.000 Mann. Diesen bedauerlichen Umstand bin icli
gezwungen zu konstatieren.
155 —
Das Verbluten Frankreichs für England
Wenn ich trotz dieser traurigen Ereignisse aus dem Ganzen
die Folgerungen ableite, so steht es ohne Zweifel fest, daß wir den
Italienern bedeutende Verluste verursacht und sie verhindert haben,
einen erheblichen Teil ihrer Truppen an die Westfront zu schicken,
was im Interesse der gemeinschaftlichen Kriegführung ohne Zweifel
ein Ziel ist, das zu erreichen jedenfalls unsere Pflicht war. Diesen
Zweck haben wir auch erreicht. So traurig auch die Ergebnisse sind,
glaube ich, wenn wir die Geschehnisse in ihrer Gesamtheit in Betracht
ziehen — —
Genau wie in Frankreich
. . . Lord Rothermere verlangt genau wie in Frankreich kriegs-
gerichtliche Feststellung, ob keine unnötigen und unzweckmäßigen
Menschenopfer durch untüchtige Generale veranlaßt worden sind.
Der Schlachtbankier
hat am 1. Januar 1918, als so etwa fünfzehn Millionen
erschlagen waren, mit der folgenden Feststellung Jahrgang und
Tagwerk begonnen:
Der Krieg schlägt die Völker dreifach : Schlechtes
Geld, Mangel und Hochpreise.
Derselbe
Bei der Verrechnung der beiderseitigen Erschlagenen am
Piave, bedauernd, achselzuckend:
Der Krieg ist grausam und verlangt Opfer.
Bei den Gefangenen war eine Aktivpost:
Wenn wir die Bilanz ziehen, so ergibt sich
noch immer zu unseren Gunsten einPlus von zirka
4 0.0 0 0 Mann.
Und der ging unerschlagen aus dem Weltmord hervor!
— 156
Ein inhaltsschweres Wort
Das muß ein starkes Erlebnis gewesen sein, der Kaiser,
umgeben von den vielen tausend Männern und Frauen, die in den
Anlagen von Friedrich Krupp, deren Hauptbesitzer gegenwärtig
Herr v. Bohlen ist, beschäftigt werden. Die Geschichte dieser welt-
berühmten Unternehmung kann in einem Wort erzählt werden :
Gußstahl.
Gotha 1919
[Leopold Pollack Freiherr v. Parnegg.] Dem
Großindustriellen Leopold Pollack Edlen v. Parnegg in Wien wurde
der österreichische Freiherrnstand verliehen. Freiherr v. Pollack
nimmt in der österreichischen Textilindustrie eine hervorragende
Stellung ein. Er war der erste, der in Österreich die Großerzeugung
feiner Fabrikate, der Baumwollwarenbuntweberei, aufnahm, wodurch
auf diesem Gebiete die ausländische insbesondere die englische
Konkurrenz in Österreich aus dem Felde geschlagen und
ein lebhafter Export erzielt wurde.
Also eigentlich für Schlachtenruhm. Aber irgendwie
müssen diese Verdienste damit zusammenhängen, daß man es
jetzt mit der Konkurrenz der englischen Armeen zu tun hat.
Sicher ist nur, daß dafür in der Wertung großer Männer die
englische Konkurrenz es mit uns nicht aufnehmen kann; denn
keineswegs würden sie dort etwa den Pollackwitz machen, einen
Besieger der Brünner War' fortan als Lord anzusprechen. Dieses
Händler- und Söldnervolk unterscheidet sich von dem Volk der
Helden und Idealisten merkwürdigerweise dadurch, daß es bei
moralischen Werten, wie Adel und Einfluß, keinen Tarif kennt.
Es wäre also ausgeschlossen, daß zum Beispiel, wenn ein Mister
Pollack den Wunsch hätte, Sir zu werden und nicht zufrieden
damit, gar Lord, ein Mister Hummer oder sonst ein Gemeiner,
der Einfluß abzugeben hat, weil er irgendwelche mandatferne
Zwecke verfolgt, zu Lloyd George liefe und für 10.000 Pfund
— was etwa der Summe von einer Million Kronen entspräche —
das Geschäft gemacht wäre. Gott strafe England, aber in diesen
Belangen nationaler Ehre verstehen sie, wie die Lady Pollack
sagen würde, die Hors d'oeuvres zu wahren.
Schwer nachzusprechen
[Auszeichnung des ehrenamtlichen fach-
männischen Beirates der Lebensmittelaktion
der Wiener Zeitungsangestellten.] Der Kaiser hat
dem Wiener Großkaufmann Herrn Hugo Selkes in seiner Eigenschaft
als ehrenamtlicher fachmännischer Beirat der Lebensmittelaktion der
Wiener Zeitungsangestellten den Titel eines kaiserlichen Rates verliehen.
Kaiserlicher Rat Hugo Selkes
Rubrik Inland
»Der Präsident trug namens des Österreichischen Jugendreichs-
bundes die alleruntertänigste Bitte vor, für die allergnädigste Übernahme
des allerhöchsten Protektorates und für die allergnädigste Ernennung
des Präsidenten den alleruntertänigsten Dank allergnädigst entgegen-
nehmen zu wollen.«
Das wird die Welt zum Glück deshalb nicht erfahren,
weil es in keine andere Sprache zu übersetzen wäre.
Ein kaiserlicher Rat
Aus der Masse jener, denen man es an der Nase ansieht,
daß es 50.000 Kronen gekostet hat, ragen zwei interessante kaiser-
liche Räte hervor. Der eine trotzt allen Gefahren und Grenz-
hindernissen, um jährlich einmal, er hat ein Gelübde getan,
die Ruine Habsburg — in der Schweiz — zu besuchen. Ich
war nur einmal dort, aber es hat sich gelohnt; denn ich habe
auf meine Frage, ob schon ein Mitglied des Kaiserhauses die
Ruine besucht habe, von der Ruinenkellnerin die Antwort erhalten:
>0 ja, der Herr kaiserliche Rat kommt jedes Jahr!« Der andere bringt
Anregungen. Sei es, daß es erwünscht wäre eine Jubiläumsmarke
einzuführen, oder praktisch, Tramwaykarten zu sammeln, er regt
unter allen Umständen an. Und ist's nicht immer was Nützliches,
so ist es doch was Apartes:
158
[Der Girardi-Hut.] Kaiserlicher Rat Dr. Moritz Putzker, Brunn,
schreibt uns: — — Diese Volkstümlichkeit des Künstlers brachte es
auch mit sich, daß bekanntlich die Hutmachergenossenschaft in Wien,
die in Friedenszeiten zu Beginn jeder Jahressaison den Hutmodellen
einen Namen beizulegen pflegte, einen Strohhut Girardi taufte. Das
Aussehen dieses Hutmodells scheint mir der Grund zu dessen
Benennung gewesen zu sein. Es war ein einfacher, mit einer
geraden Krempe versehener, nur mit einem schlichten Bande
gezierter Hut, der in symbolischer Weise die persönlichen Eigen-
schaften Girardis wiedergab. Wie dieser Hut waren namentlich die
Grundeigenschaften Girardis, Einfachheit, Gradheit und Unaufdring-
lichkeit. — —
. Ein interessanter kaiserlicher Rat das.
Gedenktage
— — Es sind nunmehr gerade 225 Jahre und das Professoren-
kollegium hat aus diesem Anlaß eine intime Feierlichkeit veran-
staltet — —
— — Es sind in diesem Herbste gerade einundvierzig Jahre
her, daß sie (Josefine Wessely) mit der Cousine Reserl zaghaft an
die Tür der >Frau Direktor< klopfte — —
Das Ende eines eigenartigen Blattes
Die .Newyorker Staatszeitung' hat ihr Erscheinen eingestellt.
Damit hat die systematische Hetze in Amerika gegen die Deutschen
wieder zu einem Erfolg geführt, indem sie der bedeutendsten deutsch-
amerikanischen Zeitung ein Ende bereitete. Besonders das Sonntags-
blatt erfreute sich großer Beliebtheit und Verbreitung in ganz Amerika;
durch den Nachdruck der besten deutschen Romane und Novellen
hielt es seine Leser über die geistige Entwicklung
Deutschlands im laufenden, und die eigenartige
Rubrik >Aus der alten Heimat«, die in kurzer Form alle Todes-
fälle, Heiraten, Lokalereignisse und sonstigen
Begebenheiten in allen Städten und Dörfern
Deutschlands und Deutschösterreichs registrierte,
verschaffte der Zeitung eine außerordentlich hohe Auflage ....
Kein Wunder, daß das den Amerikanern auf die Dauer
zu viel wurde.
— 159
Ein Führer der Menschheit
Der Präsident der Concordia, der Ehrlich heißt und
seinerzeit dem Benedikt mit dem Diktum den Rücken
gekehrt haben soll: Ich geh, ich hab genug!, der ehemalige
Börsenjournalist, der das geistige Wien vertritt, kann seinen
Ursprung nicht verleugnen, indem er sich gleich seinem früheren
Chef im Kriege auf der Gedankenflucht befindet:
— — und fuhr dann fort: Vom Tage, dessen Geschehen wir zu
erfassen haben, erhielten wir den Namen Journalisten. Seit fast vier
Jahren ist der schreckliche Krieg das tägliche Ereignis.
Das ist gar kein so loser Zusammenhang, als es scheint.
So wenden sich auch heute unsere Gedanken den furchtbar spannen-
den Ereignissen zu, die sich im Westen vollziehen. Wir wünschen
den deutschen Waffenbrüdern den vollen, den entscheidenden Erfolg,
der dem mörderischen Ringen der Menschheit ein Ende bereitet
und den dauernden Frieden bringt. Wir sind überzeugt, daß auch
die Völker, die im Banne wahnwitziger Führer stehen, sowohl
die Franzosen, als auch die Engländer, in ihrem
Innern das rasche Ende des Blutvergießens herbeisehnen.
Der Zusatz »sowohl die Franzosen, als auch die Engländer«
war bloß durch den Hinweis auf die wahnwitzigen Führer
geboten, aber zu den Völkern, die das Ende des Blutvergießens
herbeisehnen, gehören natürlich auch wir.
Im Zeichen Schillers ist die > Concordia« vor 59 Jahren gegründet
worden. Zu seinen unsterblichen Idealen, für die wir uns begeistern,
zählt auch das Weltbürgertum. Nach wie vor werden wir dem Genie
huldigen, wo immer es in die Erscheinung tritt.
Nur wird sich leider das Genie nicht immer von der
Concordia huldigen lassen.
Und wenn soeben von hoher Warte verkündet wurde, die Akademie
der Wissenschaft sei in erster Linie berufen, die zerrissenen geistigen
Fäden wieder anzuknüpfen, so wagen wir hinzuzufügen, daß nicht in
letzter Linie auch die Presse dazu berufen ist.
Gemacht; aber wir würden dann schier die von der
Concordia angeknüpften geistigen Fäden für eine Spule Zwirn
hergeben.
160 —
Eine Herzensangelegenheit
Vertreter der reichsdeutschen Tageszeitungen sind als Gäste
der »Concordia« und des »Deutsch-österreichischen Schriftstellervereines <
in Wien eingetroffen .... Die Männer, die stets in stiller Zurück-
gezogenheit ihre Arbeit leisten, treten heute als liebe Gäste vor die
Wiener Öffentlichkeit. Freudig bewegt schlagen ihnen
die Herzen der Wiener entgegen.
Bis auf meines.
Es ist von mir
Die deutschen Gäste fanden alles nach Wunsch bereitet
vor. Der Graf Burian versicherte ihnen, daß der Ausbau des
Bündnisses eine logische Folge der Entwicklung sei, während
hingegen der Präsident der Concordia der Vertiefung des
Bündnisses gedachte sowie des geistigen Bandes, das die Presse
um die verbündeten Reiche schließt, worauf ein gewisser Rippler
das Gelübde tat, die Beziehungen der reichsdeutschen zur
Wiener Presse »auszugestalten und zu vertiefen« und über-
haupt die geistige Waffengemeinschaft zu stählen. Nachdem im
Laufe des Abends noch andere und zwar bedeutsame Reden
gehalten worden waren, welche die Vertiefung des Bundes-
gedankens betrafen, bewies der Botschafter Graf Wedel,
daß er »die Psychologie hat, welche Lord Grey den
deutschen Diplomaten absprechen wollte«, indem er die Erkennt-
nis aussprach, daß Österreich-Ungarn und Deutschland Nachbar-
staaten sind. Auch zitierte er Schopenhauer, aber nicht die
Stellen über die Zeitungsschmierer, sondern den Ausspruch, es sei
eine der weisesten Lebensregeln, die Menschen zu nehmen wie sie
sind, und nicht, wie man sie haben möchte. Das gelte auch im
Völkerleben. Die Aufgabe der Diplomatie sei es, moralische
Eroberungen zu machen. Man müsse die Wesensart anderer
Völker verstehen und berücksichtigen. Offenbar meinte er, daß
Österreich noch ein Feld für die deutsche Diplomatie sei, nach-
dem es ihr mit der ganzen übrigen Welt bereits gelungen ist. Den
ibi
Pressevertretern galt das Kompliment, daß sie mit geistigen
Waffen kämpfen. Es freute ihn sehr, daß er Gelegenheit habe.
»Sind doch« Diplomatie und Presse verwandte Berufe und so.
Die Presse habe die hohe Aufgabe, die Wahrheit zu verkünden.
»Was gut und dauernd ist in dieser Welt, beruht auf Erkenntnis
der Wahrheit. Was nicht echt ist, hat keinen bleibenden Bestand«.
Wahr ist zum Beispiel, daß Österreich und Deutschland
Nachbarstaaten sind. Ferner, daß Botschafter Graf Wedel die
Erschienenen mit gewinnender Liebenswürdigkeit begrüßte. Der
Abgeordnete Groß hingegen würdigte den Besuch der reichs-
deutschen Pressevertreter und die damit verbundenen Gastmähler
vom Gesichtspunkt der Aufgabe von Presse und Parlament, die
Bevölkerung »zum Aushalten, zum Ertragen und zum Durch-
halten aufzumuntern«. Hierauf wurden allen von allen die
Honneurs gemacht. Auch hier geschieht, was längst geschah, spricht
Mephistopheles. Esentwickelte sich denn auch sofortjeneangeregte,
gemütlich frohe Stimmung, die das beste Zeichen für die Gastlichkeit
des Hauses ist. Zwanglose Gruppen bildeten sich,
alte Bekanntschaften wurden erneuert, neue
angeknüpft. Die freundlichen Beziehungen zwischen dem
Reich und der Monarchie zeigten sich auch in dem gemütlichen
Verkehr zwischen den deutschen Gästen und den Wiener
Kollegen. Daß auch die Zeijfragen eingehende Erörterung
fanden, versteht sich von selbst. Wie überhaupt alles. Da neben
der Diplomatie auch die Generalität vertreten war, wurde
»naturgemäß« auch vom Kriege gesprochen, vor allem
von der Westfront, und die Zuversichtlichkeit, mit der hier von
sachverständiger Seite die Kriegslage beurteilt wurde, trug nicht
wenig dazu bei, die Stimmung angeregt und froh zu erhalten
.... Salkind . . Mandl . . Hermann Bahr, Hugo v. Hofmanns-
thal, Rudolf Hans Bartsch, Dr. Hans Müller . . Andrian . .
Burian . . Tressler . . Im Namen der österreichisch-
ungarischen Wehrmacht entbot Kriegsminister v. Stöger-Steiner
den Gästen den soldatischen Willkommgruß .... Ich habe
das alles zitiert, weil es aber doch von mir ist, lieber
gleich in meinen Text aufgenommen. Ich könnte eigentlich
meine Mission heute mit der autorrechtlichen Verwahrung
— 162
abschließen, daß alles was besteht und wert ist, daß es zu
Grunde geht, von mir ist. Eine bessere Schöpfung spreche ich
mir nicht zu. Der Grubenhund war nur ein Spaß. Aber der
Fenriswolf, der umgeht, ist vom gleichen Geschlecht. Wie
mühsam ist es, einen Text zu zitieren, den man selbst verfaßt
hat ! Die Qual dieser Agnoszierungen hat mir den Tag und die
Nacht verschüttet. Ich habe nichts als das Glück der Hoffnung,
daß mir das Plagiat vernichtet wird.
Ein Austausch von Zitaten
fand im Rathaus statt. Ein gewisser Piper, dem der Stephansturm
imponiert, gab die Erklärung ab, daß das österreichische Wesen in
der Reichshauptstadt verkörpert sei; »das Wort Grillparzers ,In
deinem Lager ist Österreich ' muß überhaupt auf Wien angewendet
werden«. Dieser talentvolle Vorschlag fand den Beifall des
Herrn Weiskirchner, der aber sofort, um allfälligen Enttäuschungen
vorzubeugen, mit der stolzen Versicherung antwortete: »Wir
sind nicht mehr das Volk der Phäaken!« Weiß Gott, das sind
wir nicht mehr! Da die Phäaken tatsächlich keine Durchhalter waren
und der genügsamste Phäake drei fleischlose Tage in der Woche
nicht ertragen hätte, so ist der Protest des Bürgermeisters gegen das
Zitat immerhin am Platze. Was die Wiener heute im Gegenteil sind,
das auszudrücken gelang ihm unschwer in dem Satz: »Wir Wiener
sind uns bewußt unserer Verantwortung als Bollwerk gegen Osten !«
Ob da auf die uns verbündeten Türken oder nur auf unsere
Feinde, die Ungarn angespielt war, darauf kam es den reichs-
deutschen Gästen weiter nicht an, denen schon die Erhebung
einer offenen Stadt zum Rang eines Bollwerks eine gewisse
Genugtuung bereiten mochte.
Von den Schlagworten
Spitzmüller sprach:
» — — Ich meine hauptsächlich Verflachung durch Schlag-
worte. Namentlich in Österreich — weniger in Ungarn, wo eine
intensivere politische Schulung besteht — ist es üblich, die Schlag-
1Ö3
worte in das Volk gelangen zu lassen, ohne darauf zu reagieren und
ohne das Volk zu schützen vor den Gefahren, die daraus erwachsen.
Die Entente hat das System der Betörung durch Schlagworte
mit einer Kunst betrieben, die überrascht und verblüfft. — — «
Vom Stählen
Eines der häufigsten Worte ist jetzt das Wort »stählen«,
fast so häufig wie das ähnliche. In den wenigen Tagen, da die
deutschen Journalisten hier zu Oast waren, wurde die geistige
Waffengemeinschaft gestählt. Dann lief ein Telegramm des
deutschen Kaisers ein, in welchem zur Stählung des entschlosse-
nen Willens aufgemuntert wurde, worauf der Generalstabschef,
der wie der Kriegsminister und der Vorstand des Kriegspresse-
quartiers den Journalisten einen soldatischen Willkommgruß
entbot, die Ansicht aussprach, daß die Presse »die Psyche des
Volkes zu beleben, dieselbe aufzuklären und den Willen desselben
zu stählen hat«. Ganz zutreffend bemerkte derselbe:
Volk und Heer sind heute eins. Die Stimmung des Volkes
spiegelt sich an der Front wieder, ebenso wie die Ereignisse an
der Front auf die Heimat rückwirken.
Im Zeichen Beethovens
Am Abend trafen sich die Gäste beim Heurigen in
Döbling (Josef Winter in der Grinzingerstraße) zu einem von
der Deutsch-österreichischen Schriftstellergenossenschaft veranstalteten
wienerischen Abschiedsabend. — —
Präsident Puch stein der Schriftstellergenossenschaft begrüßte
die Erschienenen mii herzlichen Worten, in welchen er auf die
lokalhistorische Bedeutung der Stätte des Zusammen-
seins verwies, die einstens den Wiener Poeten Winkel darstellte, in welchem
Saar und Bauernfeld dichteten, Schubert und Beethoven
komponierten,vd ie also wie keine zweite geeignet sei,
wieder Männer der Feder und der Kunst zu ver-
einigen.
Während des Abends fanden auch einige der anwesenden
Kunstkräfte Gelegenheit, die Gäste mit echt wienerischen
Darbietungen zu erfreuen, so Frau Gabriele Modi, Herr Huber . .
Fräulein Grell Fuchs . . Herr Kumpa . . und Herr Theodor Weiser
— 164 —
Zusammengewachsen
Das Problem dieses Österreich ist nicht, daß sich die
Nationen nicht vertragen, sondern daß sie, die nichtdeutschen,
einen Staat, der unaufhörlich versichert, daß er sie beglücke,
nicht vertragen und daß sie es auch nicht tun würden, wenn's
ihm gelänge, das heißt wenn die Regierungsmaxime »Mir san
ja eh die reinen Lamperln« täglich in beglückende Tat umgesetzt
würde. Ihre, ihrer aller Eigenart ist es eben, nicht zu wollen,
und seine ist es, da halt nix machen zu können. Dieser Wider-
spruch lebt sich »naturgemäß« im nationalen Streit aus. Der
Herr von Hussarek scheint dies, wiewohl er vornehmlich der
Träger jener Regierungsmaxime ist, begriffen zu haben. Denn
ihm ist bei rechter Gelegenheit, vor reichsdeutschen Journalisten,
die rechte Formel geglückt:
Im Laufe der Jahrhunderte unter dem glorreichen Scepter unseres
Kaiserhauses zusammengewachsen, sind die österreichischen
Lande die Heimstatt eines Österreichertums geworden, das —
Fünfzig Jahre Nationalitätenstreit können nicht bündiger
formuliert werden.
Sie werden sich überzeugen
Die deutschen Journalisten haben auch einen Ausflug
nach Budapest gemacht. Es versteht sich von selbst, daß auch
dort vertieft und geschultert wurde und daß an reichbesetzten
Tafeln das Bündnis in Fleisch und Blut überging. Zumal der
Handelsminister Baron Szterenyi-Stern, auf den dieses gefährliche
Gleichnis eine spezielle Wirkung ausübt, war es, der sein Scherflein
hiezu beitrug. Dafür verlangte er aber auch von den Fremden, die
voraussichtlich zwei bis drei Fleischtage in Budapest zubringen
wollten, nicht wenig.
»Wenn Sie,« sagte der Minister, »hier Land und Leute wirklich
kennen lernen werden, werden Sie sich davon
überzeugen, daß diese Bestrebungen, unsere staatliche Selbständigkeit
innerhalb der Monarchie zum Ausdrucke zu bringen, immer im Interesse
der Stärke der Monarchie liegen. (Lebhafter Beifall und Hände-
klatschen.) — —
165
Der Minister verwies darauf, daß die Gäste, wenn sie das Land
kennen lernen werden, sich davon überzeugen
werden, daß in Ungarn jede Nationalität ohne Rücksicht auf ihre
Sprache oder Religion vollständig freies Recht hat, ihre nationale
Eigenart in Kirche und Schule zu entwickeln.
Natürlich werden so talentvolle Studienreisende wie die
Berliner Journalisten das alles in zwei Tagen eher heraus haben als
andere in zwei Jahren, und die Kenntnis des Landes wird sich
von selbst einstellen, wenn sie es mit so umgänglichen Leuten
wie diesem ungarischen Handelsminister zu tun haben. Hierauf
sprach ein anderer Budapester, der
unter stürmischem Beifall der Anwesenden daran erinnerte, daß nunmehr
unsere Soldaten vor Verdun Schulter an Schulter mit unseren Bundes-
genossen kämpfen.
Die bei St. Mihiel dürften an demselben Tage mit
Begeisterung dieser Schulter an Schulter für sie essenden Nach-
hut der Hinterländer gedacht haben.
Sie haben sich überzeugt
nachdem sie, ein paar Tage in Budapest gut gegessen hatten.
Beim Abschiedsbankett konnte deshalb Baron Stern sagen:
Ihre Anwesenheit bei uns war sehr kurz bemessen. Diese
kurze Zeit genügte Ihnen aber, um über Land und
Leute in gar mancher Beziehung sich ein Urteil bilden zu können.
Wir zeigen Ihnen keine Potemkinschen Dörfer.
Sie konnten uns in unserem alltäglichen Leben sehen.
Und wenn ich mich da frage, was Sie bei uns gesehen haben, muß
ich mir sagen, daß Sie vorerst eine blühende Großstadt sahen — —
Sie konnten eine Nation kennen lernen, welche zwar an Zahl
gering, aber bestrebt ist, sich den großen Kulturnationen anzureihen —
Und wenn Sie sich der Mühe unterzogen, uns etwas
näher kennen zu lernen, konnten Sie, ja mußten Sie
erkennen, daß diese Nation einen althergebrachten, festen Charakter-
zug besitzt: Anhänglichkeit und Treue.
Seit mehr als einem Jahrtausend stammt
dieser C h a r a k t e r z u g. Er ist aus dem geschichtlichen
166
Blutvertrag entstanden, den die sieben Stämme vor ihrer Einwanderung
in ihr neues Vaterland schlössen.
(Fünf scheinen zurückgeblieben zu sein.)
Diese Treue mußten Sie bei uns auch unserem Bundes-
genossen, dem Deutschen Reiche, gegenüber gesehen haben,
mit welchem unsere Monarchie ihren geschriebenen Bündnisvertrag
in diesem Kriege auch durch einen Blutvertrag bekräftigte. — —
Sie konnten sehen und Sie mußten sehen, daß fest und treu
steht nicht nur die Wacht am Rhein sondern auch an der Donau.
Mit dieser Treue verabschieden wir uns von Ihnen und rufen Ihnen
herzlich zu : Auf baldiges Wiedersehen!
Unverantwortliche Elemente
Der in hundert Tischreden bis zum Erbrechen als wich-
tigster Faktor im Krieg angehimmelte Journalismus wird an
dem Tag, da Faktoren für den Frieden gesucht werden, in der
Burianschen Note wie folgt definiert:
A peine enonc^e et avant meme que l'adversaire ait pu y
repondre officiellement, toute döclaration des hommes d'Etat au
pouvoir est discut^e passionnement et avec exag^ration p a r des
personnes non responsable s.
Oder auf deutsch:
Jede Kundgebung der führenden Staatsmänner wird, sowie
sie stattgefunden hat und noch ehe die zuständigen Stellen der
Gegenseite darauf erwidern können, zum Gegenstand einer leiden-
schaftlichen oder übertreibenden Besprechung unverantwort-
licher Elemente.
Besonders in der deutschen Übersetzung dürften wir der
Wahrheit über die papierenen Mordbrenner näher kommen als
es noch tags zuvor dem Burian und sonstigen Amtsstellen
gelungen ist. B e i Tische las man's anders.
167
Mitteilungen von informierter Seite
— — Dem Umstände, daß unsere Regierung gerade jetzt mit
ihrer Annäherung hervortritt, werden von Denkenden kaum etwa
politische Rücksichten oder Rücksichtnahme auf die augenblickliche
militärische Lage zugeschrieben werden. — —
Was alles passieren kann
Die Hoffnung der Entente auf den inneren Zusammenbruch der
Mittelmächte.
— — Für Deutschland können wir sicher sagen,
daß es unbeirrt von allen Meinungsverschiedenheiten in diesem Wett-
kampfe an Ausdauer und innerer Kraft nicht unterliegen wird,
so viel Mühe sich auch unsere Feinde geben, Uneinigkeit zwischen
uns zu säen.
Aus der Rede des Vizekanzlers. Der Sperrdruck ist der
Neuen Freien Presse passiert.
Zwei Seelen und ein Gedanke,
Zwei Herzen und ein Schlag
Das Friedensangebot des Grafen Burian.
22.000 Kilogramm Bomben auf Paris geworfen.
Expose
Stöger-Steiner sprach:
». . . Das moderne Schlachtfeld im Unterschiede von jenem
der vergangenen Kriege war uns zum Bewußtsein gekommen . . .
wir ahnten, daß Massenkämpfe bevorstehen werden .... Leider
168
mußte sich die Kriegsverwaltung vielfach der finanziellen Leistungs-
fähigkeit der Monarchie anpassen und mußte, sich der Wucht dieses
Arguments unterordnend, mit schwerem Herzen manches
zurückstellen. So blieb denn gegenüber den glücklicheren Nachbarn
unser Rüstzeug für den Krieg rückständig . . . .«
Heimleuchtungen
Wolf f In den drei Nächten des l.,2. und 3. d. belegten die
deutschen Bombengeschwader militärische Ziele hinter der französischen
und englischen Front in zahlreichen Flügen mit der Riesensumme
von 201.2 57 Kilogramm Bomben. — — ausgiebig mit
Bomben beworfen. Zahlreiche Brände und Explosionen bezeichneten
noch stundenlang nach dem Angriff die Wirkung der deutschen
Bomben. Zahlreiche Brände und Explosionen . . leuchteten
den deutschen Fliegern noch lange auf ihrem
H e i m f 1 u g e.
Allerlei Polizei
> . . . Ebensowie auch der bestorganisierte Sicherheitsdienst
es nicht verhüten kann, daß in einer Großstadt bisweilen bei Nacht
und Nebelwetter Einbrüche verübt werden, ist auch die wachsamste
Flotte nicht in der Lage, absolut zu verhindern, daß ab und zu an
irgendeiner Stelle einer mehrere hundert Meilen langen Küste Hand-
streiche, die mit einem minimalen Apparat ins Werk gesetzt werden
und kleinen Zielen gelten, gelingen . . . .«
Der Vergleich stimmt nicht, weil doch die Polizei nicht
ihren Ruhm darin erblickt, das nächste Mal beim Einbrecher
einzubrechen und überhaupt Offensiven zu unternehmen. Wenn
er aber stimmt, so wird sich in der Kriegsgeschichte schon auch
zu dem Fall ein Pendant finden, daß gerade damals im Hotel
Bristol bei hellichtem Tag eine Offensive verübt worden ist.
— 169
Fragen an Mörder
Präsident (zu Davit): Sie hatten Verhältnisse?
Angeklagter (fest): Nein, niemals.
Präsident: Wir haben kein Interesse in diesem Prozeß, die
Namen derselben zu wissen, aber wir wissen die Namen von
mindestens zwei Damen.
Angeklagter (ausweichend): Bekanntschaften.
Präsident: Aber eine war eine sehr »weitgehende« Bekannt-
schaft. — —
Staatsanwalt (zu Franke): Haben Sie Verhältnisse gehabt?
Angeklagter: Beziehungen zu einer Dame. Direkt ein Ver-
hältnis war es nicht.
Staatsanwalt: Sie waren auch Stammgast in öffentlichen
Häusern?
Angeklagter: Ich war häufig dort, das muß ich zugeben.
Staatsanwalt: Mit einem Freimädchen haben Sie auch ein
Verhältnis gehabt?
Angeklagter: Ich habe sie mit Geld unterstützt. — —
Staatsanwalt (zu Davit): Haben Sie in Brunn ein Verhältnis
gehabt?
Angeklagter: Nein, das ist eine Verleumdung.
(Verleumdung ist der Vorwurf eines Verbrechens.)
Staatsanwalt: Haben Sie in Wien Verhältnisse gehabt?
Angeklagter: Verhältnisse nicht, nur Freundschaften.
Staatsanwalt: Die Freundschaft ging aber so weit, daß wir
das in Wien ein Verhältnis nennen. So viel Ehre
sollten Sie doch im Leibe haben, daß Sie uns nicht zwingen,
die Namen dieser Frauen hieher in den Gerichts-
saal zu zerren. — —
(Davit gibt an, daß er in Wien mit zwei Damen intime
Beziehungen unterhalten habe.)
Staatsanwalt: Endlich geben Sie das zu, es genügt
mir. Auf Namen verzichte ich. Wir wollen hier keine
Schmutzwäsche aufwühlen.
Unwillkürlich muß er denken
... So verschiedenartig nun in ihrem Äußern und in ihrem ganzen
Wesen diese beiden Menschen sind, so spürt man doch sehr stark den
verwandtschaftlichen Zug, der sie verbindet. Unwillkürlich muß man
170 —
an die Brüder Karamasow aus dem großen Roman Dostojewskis
denken, an den wilden, ungestümen Mitja und an den sanften,
knabenhaften Aljoscha.
Nämlich Herr Zifferer, nämlich über die beiden Raubmörder
vom Hotel Bristol. Besonders der Vergleich des Kurt Franke mit
Aljoscha, der sich einem aufdrängt, hat etwas Bestechendes. In
einem Kulturstaat, dessen größte Zeitung so etwas gebracht hätte,
würden der Verfasser und der Herausgeber sich bis zum Lebens-
ende nicht auf die Straße trauen und hierauf keinen Kadisch
erhalten.
Ein rasender Schmock
Wer vor dem Weltuntergang sich noch einen heiteren
Abend antun will, versäume nicht, die Wiener Allgemeine
Zeitung zu abonnieren. Dort gibts täglich was in diesem Oenre:
[Die gerächten Berge.] Die Verurteilung des Mörders Rahner
hat den giäßlichen Vorfall wieder in Erinnerung gebracht, der sich
im Vorjahre in dem Wiener Waldgebirge abspielte. Hier liegt
ein Fall vor, wo die strafende Gerechtigkeit beinahe verzweifelnd
nach Sühne ausblickt, um so viel Tücke zu ahnden — — Der Friede
der Berge wurde gestört, der von dem Wiener stets hoch
und heilig gehalten wird. Dort draußen in der erhabenen
Natur der Alpennähe hat er seine Sehnsuchten und Träume
aus dem Trubel der Großstadt gerettet, dort steht sein weihevoller
Altar, zu dem er gern und freudig seine Zuflucht nimmt, der
ihn noch nie enttäuscht hat und den er vor Menschentücke
und Menschenbosheit gefeit glaubt. Freilich wohnt und lauert auch
in diesen Bergen der Tod. Oft genug dringt schmerzliche Botschaft
aus den zerklüfteten Hängen und Firnen des Wienerwaldes,
aber dieser Tod inmitten gigantischer Natur, von ihr selbst
gefordert, hat etwas ungemein Reines und Opferhaftes an sich
in dem Maße, wie er jedem gesellschaftlichen all-
täglichen Leben fernliegt. Auch Therese Preinfalk glaubte
man lange als Opfer der Berge betrachten zu müssen, bis ihr Ende eine
um so erschütterndere, verdammenswertere Aufklärung erfuhr und
man den Übeltäter suchen mußte, der sich nicht scheute, im
Angesichte der von allen Wienern und allen fühlenden
Menschen verehrten majestätischen Natur der
Alpen die scheußlichste Verbrechenstat zu verüben.
Gehst denn nicht.
171
Allerlei Umgang
Im Gegensatz zu Schopenhauer, halte ich nicht anonyme
Seh impf briefe, sondern solche mit vollem Namen für eine Feigheit.
Die Feigheit des Anonymen tritt für mich so wenig in Erscheinung
wie er selbst, ich weiß nicht, wer feige ist, ich merke nur den Drang
mir eine Ansicht bekanntzugeben, die das Fehlen der Unterschrift
eher zur typischen macht und durch deren Mitteilung der Schreiber,
der das Opfer seiner Persönlichkeit bringt, sich ein Verdienst
erwerben kann, auf dessen Ehre er verzichtet. Keine Person, sondern
eine Ansicht tritt an mich heran. Mit dem unterzeichneten
Schimpfbrief jedoch tritt vor der Ansicht die Person an mich
heran. Ich habe aber keine Verbindung mit ihr gesucht und da
im gesellschaftlichen Leben nur auf Grund einer schon vorhandenen
persönlichen Verbindung eine ebensolche Äußerung erfolgen
kann, so drängt sich jener in meine Intimität, der, ohne mich
persönlich zu kennen, mich persönlich anspricht. Weil er dies aber
auf mündliche Weise keineswegs zu tun wagte und weil
er mich zu gut par distance kennt, um nicht zu wissen, daß ich
eine solche Annäherung auf der Straße durch Weitergehen, in
einem Lokal durch Herbeirufung des Kellners vereiteln würde,
so benützt er, indem er den schriftlichen Weg betritt, eine
Gelegenheit, die ihn unsichtbar und mich zum wehrlosen Partner
seiner Ansprache macht, und indem es ihm gelingt, eine Äußerung
an den Mann zu bringen, der sich dieser Mann sonst unfehlbar
entzogen hätte, handelt er feige, zwar nicht wie der anonyme
Briefschreiber im Sinne jener mich nicht berührenden Feigheit, bei
welcher Handlung und Persönlichkeit nicht zur Deckung kommen,
sondern im Sinne der Feigheit, bei welcher Absicht und Form nicht
zur Deckung kommen und die einen technischen Vorteil listig
ausnützt, um ohne persönlichen Nachteil mich belästigen zu
können. Die so häufig geübte Methode, einem andern ohne
Gefahr der Verlegenheit seine Meinung zu sagen, wird
schon durch die Möglichkeit absurd, daß der Korrespondent an
dem Empfänger späterhin grußlos und wunschlos vorbeigeht, ohne
auch nur von dem Verlangen aufgehalten zu sein, sich nach der
Wirkung seines Briefes zu erkundigen. Hundert anonyme Briefe
- 172 —
stellen an meine Nerven keine so bittere Zumutung wie die Zuvor-
kommenheit eines Unbekannten, der sich mir mit vollem Namen
und Adresse unsichtbar gegenüberstellt. Ist die Ansicht, die er
mir offeriert, die er mir unter meine Nase reibt, ohne daß ich
seine Hand zurückschlagen kann, in schmähendem Ton gehalten,
so steht der Fall noch günstig, weil da die Behörde Schutz gewähren
kann. Nicht gegen Beleidigung — die Ehre des Briefempfängers
fühlt sich nicht verletzt und könnte sich gegen die Insulte in
geschlossenem Brief nicht wehren — , wohl aber gegen Belästigung.
Weit fühlbarer jedoch, wenngleich polizeilich nicht faßbar, ist die
Belästigung durch Briefe,die nichtdurch Schmähung abzuschrecken,
sondern durch Belehrung zu bessern suchen. Gegen deren Absender
gibt es nur, wenn sie sich auf ihre Legitimation als »ständige
Abnehmer« berufen, einen Schutz: die Entlassung aus dem
Abonnentenverbande. Die Wehrlosigkeit vor der Intelligenz, die
irgendein schäbiges Fachwissen gegen einen geistigen Zusammen-
hang ausspielen möchte, in dem die objektive Erweislichkeit gar
keinen Ausschlag gibt; die Ohnmacht vor einem Besserwissen, das
einer glücklich entstofflichten Welt ihre öden Sachverhalte
reklamiert; die Bedrängnis durch die Grammatiker, die im Phono-
gramm der Zeit Sprachschnitzer anstreichen — das sind Gefühle,
denen in den allermeisten Fällen jeder Schutz versagt bleibt. Fast
noch schlimmer aber als jene, die eine persönliche Beziehung
herstellen, um eine unfreundliche Meinung anbringen zu können,
sind solche, die eine persönliche Beziehung vortäuschen, um
zu einer Freundlichkeit berechtigt zu sein. So wie es Leute
gibt, die mich, wenn sie mit andern gehen, grüßen, obwohl ich
sie bei diesem Anlaß zum erstenmal sehe, so scheint sich ein
Unbekannter Gewinn davon zu versprechen, daß er mir »aus
angenehmer Sylvestergesellschaft« mit fünf andern einen Gruß
schickt, was gewiß nur eine harmlose Zudringlichkeit wäre, wenn er
bloß sich mit vollem Namen, aber nicht mich bloß beim Vornamen
nennte. X. schrieb mir, er könne mir gar nicht sagen, wie
glücklich er sei, daß ich mich zu den Bestrebungen der Schlaraffia
bekehrt habe, der-Y., der mich besucht hätte, habe ihm von meiner
Wandlung Mitteilung gemacht. Ich ahne gar nicht, wie viel Leute
bei mir ein- und ausgehen, und es ist jammerschade, daß ich die
m - i73
Gesellschaft, deren Mittelpunkt ich bin, so gar nicht frequentiere.
Aber vielleicht tue ichs doch und weiß es nur nicht. Denn ich
erlebe so viel, wenn ich allein bin, daß ich mir manchmal
hinterdrein sage: vielleicht sind wirklich alle die Leute im Zimmer
gewesen.
Flieger über Rodaun
. . . Das Geschwader passierte um 9 Uhr 20 Minuten Rodaunin
schätzungsweise 2200 Meter Höhe Eines der italienischen Flugzeuge
kehrte über der Stadtgrenze um und passierte nach 1 0 Minuten m i t
absteigender Tendenz wieder Rodaun. . . .
Offenbar hat d'Annunzio bei Herrn Hofmannsthal notlanden
und ihn fragen wollen, ob er ihm einen Gegenbesuch machen
werde, aber rechtzeitig erfahren, daß dieser seit 1914 in Russisch-
Polen kämpfe.
Bedingung: Leder
[Der Wiener Buchhandel im Kriege.] Zu den Qeschältsleuten,
deren ganzer Betrieb in der Kfiegszelt eine gründliche Umwälzung
erfahren hat, zählt nicht in letzter Linie der Buchhändler. D i e
geistige Verfassung des Bücher lesenden und des Bücher
kaufenden Publikums ist eine ganz andere geworden . . .
Nicht allein in den vordersten Parkettreihen des Theaters und des
Konzertsaales, nicht nur im Laden des Pelzhändlers und des Juweliers
sieht man die neuen Reichen. Sie stellen sich auch — zu
ihrer Ehre sei es gesagt — in hellen Hauten in der Buch-
handlung ein. Nichts wäre leichter und billiger, als
jene mit wohlfeilem Spott zu bedenken, die sich ihre
Bibliothek nach den Weisungen des Verkäufers in der Buchhandlung
zusammenstellen. Nur gedankenloser Snobismus wird
sich über den naiven Respekt vor der Bildung, die
scheue Kniebeuge vor dem Wissen, die sich in diesem
174 —
wahllosen Massenankauf von Büchern ausspricht, lustig machen.
Wenn nicht diesen Käufern selbst, so zumindest ihren Söhnen und
Töchtern wird solche Anschaffung in absehbarer Zeit noch andere
Freude bereiten als die ein wenig äußerliche, am Ledereinband und
am Goldschnitt. Der Ledereinband, so erzählt uns ein
hervorragender Wiener Buchhändler, ist gegenwärtig
das Gesuchteste, nicht nur bei uns in Wien, sondern ganz
ebenso draußen im Deutschen Reiche, dort vielleicht noch
mehr. Der älteste Schmöker, der sich eines Ledereinbandes rühmen
kann, wird im Handumdrehen abgesetzt. Überhaupt sind gute Tage
für die Luxusausgaben, für numerierte Exemplare
von Büchern und derlei Kostbarkeiten mehr gekommen. Man
braucht sich aber durchaus nicht einzubilden,
daß diese neugebackenen Bibliophilen durchaus
Kriegsgewinner seien .. . Daß einer von der Straße
her die Handlung betritt und um 150, um 200, ja um 300 K
Büchereinkäufe macht, ist durchaus keine Seltenheit.
Mit einem lachenden, einem weinenden Auge sieht
der Buchhändler auf diese Erscheinung. Er sehnt sich nach den
Intellektuellen mit der Jahresrechnung, die in der Friedenszeit
die angesehensten Kunden der Buchhändler waten. Sie sind
leider im Aussterben begriffen . . . .
Weiß Gott, das sind sie; und eben darum hebt sich das
Geschäft und werden die Lederbände und Luxusausgaben gekauft,
an deren Preise mein billiger Spott freilich nicht hinanreicht.
Die Leute, die heute von der Straße her die Buchhandlung
betreten — was sie freilich auch vor dem Krieg zu tun pflegten — ,
müssen aber, wiewohl sie die höchsten Lederpreise für Literatur
zahlen, deshalb keine Kriegsgewinner sein. Zu ihrer Ehre sei es
gesagt, daß sie so handeln ohne zu handeln und wählen ohne zu
wählen, sie wollen eben ihre scheue Kniebeuge vor dem Wissen
wagen und der Inhalt des Lederbandes wird den Kindern und
Kindeskindern zugutekommen. Nun würde ich ja gern dem
hervorragenden Buchhändler, der diese Information hergegeben
hat, wenn ich wüßte, wo er zu finden ist — und wär's der
Hugo Heller — , das Schaufenster, das durch Leder die neue
Kundschaft lockt, einschlagen und ihn zu dem Geständnis bringen,
daß die vielbegehrten Einbände aus Menschenhaut hergestellt
sind. Viel ehrlicher gibt den mir längst bekannten Sachverhalt
eine andere Kapazität des »Weihnachtsgeschäftes« zu, deren
175 —
Gutachten sich geradezu als Inhaltsangabe meines Epigrammes
»Luxusdrucke« darstellt:
Der furchtbare Weltkrieg, der so viele Kulturwerke vernichtet,
zeitigt auch Erscheinungen, die wir nicht zu
bedauern brauchen. Unter diesen rangiert der ungeheure
Aufschwung des Buchhandels, der einen Verschleiß geistiger
Werke bedeutet, gewiß nicht an letzter Stelle. Mag sein, daß
die Menschen, in Ermangelung anderer Geschenkartikel, sich mehr
dem Kauf von Büchern, die noch in hinreichender
Menge vorhanden sind, zuwenden — der Sturm auf die
Buchhandlungen bleibt im merhin ein erfreuliches Moment.
Ins Gewicht fällt die Tatsache, daß die Preise der Bücher
nur wenig gestiegen sind. Der von den Buchhändlern vereinbarte
Zuschlag von 10 Prozent spielt gewiß keine Rolle und die
übrigen Preissteigerungen sind im Verhältnis zu denjenigen anderer
Artikel kaum bemerkbar. Daß die Bücher überhaupt teurer
geworden sind, daran ist übrigens nur die Verteuerung des
Einbandmaterials schuld. — —
Unter den Käufern bemerkt man auch vielfach
Kriegsgewinner. So wollten einige beispielsweise
nur »numerierte Ausgaben auf Büttenpapier«.
Vor einigen Tagen hat in einem Stadtgeschäft ein Herr um zirka
2000 Kronen Bücher gekauft, mit der Bedingung,
daß ihm nur solche Exemplare geliefert werden
dürfen, die in — Leder gebunden sind.
Das ist ja alles von mir, bis auf den herzigen Gedankenstrich,
der aber wie die Freude an der Übereinstimmung mit meinem
Epigramm aussieht. Also es stimmt alles, Leder ist Bedingung,
Bütten versteht sich von selbst, und die Kuppler dieser Bedürfnisse,
die uns einreden wollen, daß sie mit einem lachenden, einem
weinenden Auge die Unsummen einsacken, nennen sich wie einst
Buchhändler. Geist ist so teuer wie Fleisch geworden und wird
versteckt wie dieses, damit er noch teurer werde. Aber mit
zynischer Offenheit wird dafür jene Literatur verleugnet, die das
viele Blut und Geld in Umlauf gebracht, den ganzen Zustand verklärt
hat und nun plötzlich der neuen Kundschaft nicht mehr paßt:
Für den Fachmann erscheint es geradezu phantastisch, daß,
im Falle das Geschäft so weitergeht, bald sämtliche, darunter die
hartnäckigsten Ladenhüter aus dem Buchhandel verschwinden werden.
Unanbringlich ist nur die sogenannte Kriegsliteratur —
mit Kriegsgedichten wird man einheizen können.
76
Sie haben ihre Schuldigkeit getan. Nicht mehr Schwert
und Leier, sondern nur noch Leder und Bütten. Die Hyänen
brauchen keinen Tyrtäus, die Wucherer verabschieden die Barden.
Die haben ihre Pflicht erfüllt, sie haben zum großen Opferfest
geholfen, und jene, denen es gefrommt hat, wollen nicht, daß
ihre Enkel an die verwickelten Umstände erinnert werden, denen
sie Leder und Luxus, Bilder und Bütten, Wälder und Wappen
zu verdanken haben.
Gerichtsbekannt
Vors.: Und dann? — Angekl. (mit gepreßter Stimme): Da
dachte ich mir, daß manche Menschen viel haben und andere nichts. —
Vors. : Draußen an der Front blutet der Soldat
und daheim erwirbt der Kriegsgewinner Reich-
tümer. In den Bergschroffen hungert der Soldat, weil es
mit ungeheuren Schwierigkeiten verbunden ist, die Nahrungsmittel
hinaufzuschaffen. Das ist allgemein bekannt, diese Gegen-
sätze merken Sie auf der Straße, im täglichen Leben. Daß Ihnen
.das so plötzlich in den Kopf gestiegen ist?...
Ich würde mit dieser Erkenntnis im Kopf, auch wenn sie
mir erst allmählich in diesen gestiegen wäre, nicht fünf Minuten
lang Helfer der irdischen Gerechtigkeit sein können. Der sie
ausgesprochen hat, ist aber gleichzeitig ein Helfer der Glorie.
Einer, von dem der Gerichtssaalreporter wahrscheinlich seiner-
zeit erzählt hat, daß er das Schwert der Themis mit dem des Ares
vertauscht habe, wiewohl dieses heutzutag auch nur als Redensart
funktioniert. Ein Strafrichter, der das Strafgericht der Mensch-
heit, bei dem die Unschuldigen zum Tode verurteilt und die
Prozeßkosten den Schuldigen zugesprochen werden, mit Jubel
begrüßt haben soll. Mit einem Wort Herr OLG. von Würth.
Nun, nachdem er sich die Sporen, jenen in diesem Krieg gleich-
falls so selten gewordenen Gebrauchsgegenstand verdient hat und
sogar Major geworden ist, nun hat er es auch noch zu der Erkenntnis
von der neuen Lebenseinteilung gebracht, nämlich daß draußen der
Soldat blutet und hungert und daheim der Kriegsgewinner Reich-
— 177
tümer erwirbt, und kann wieder über solche richten, die daheim
hungern und denen die Erkenntnis nicht erst in drei Jahren
Weltgerichtspraxis, sondern plötzlich in den Kopf gestiegen ist.
Immerhin hat die militärische Verwendung eines Richters den
Erfolg, daß der kontrastvolle Notstand der Welt, der mit dem
Fremdwort Glorie bezeichnet wird, nunmehr gerichtsbekannt ist.
Merk's Wien!
>Der durch die lange Dauer des Krieges gesteigerte Existenz-
kampf Aller gegen Alle nimmt in letzter Zeit Formen an, die einen
jeden Einsichtigen mit ehrlichem Widerwillen, ja sogar mit Abscheu
erfüllen müssen . . . .«
Kein Hirtenbrief, sondern die Besitzerin eines der
bekanntesten Theaterkartenbureaus schreibt uns.
Bei den Töchtern
(Schweizer Stimmung)
Zürich, 6. Febr. Die anfänglich vermißte Tochter ist wohl-
behalten aufgefunden worden.
Wessen Tochter? Keines Vaters Tochter, sondern Tochter
schlechtweg; also eines Geschäftsinhabers Tochter oder wohl, was
noch häufiger vorkommt, eines Gastwirts Tochter, also eine
sogenannte Saaltochter. Was ist das? Ein elbisch Wesen, nicht
zu haschen, erscheint auf keinen Ruf, nicht zu halten, wenn sie
erscheint. Die Töchter sind entweder gutartig oder bösartig. Die
Bösartigen schweigen und versagen; die Gutartigen sagen
— 178 —
»Gern« und »Dochdochc, aber tun es auch nicht. Die
Saaltöchter bewegen sich im Saal wie die Rheintöchter, doch
ihr Wesen ist noch schwerer zu ergründen. Wer aber in die
Mysterien der »Hotellerie« eingedrungen ist, wem es vorbehalten
war, zu den Töchtern hinabzusteigen, der faßt sie auch nicht.
Ich 'bin lange Zeit bei den Töchtern gewesen und weiß nur das
eine, daß sie jedem faustischen Drang eine Nase drehen und jedem
Kommentar widerstehen. »Um sie kein Ort, noch weniger eine Zeit;
von ihnen sprechen ist Verlegenheit....« Heiliges Urgeheimnis
tiefsten Dichterworts, verzeih die Profanation im Anblick dieser
»urchigen« Wirklichkeit von Essen und Trinken — aber die ist dem
Fremden wahrlich von allen Schleiern und Schauern umgeben.
Eine plagt mich. Ich werde mich bei Herrn Hürlimann über
seine Tochter beschweren. Aber vielleicht steckt sie immer bei
ihm, und gleichwohl wär's nicht Blutschande. Jetzt schwebt sie
am Büfett entlang, und doch war's wieder nichts. Die Zeit verrinnt
mit der Lektüre von etwas, dasZürizitig heißt, vorn lese ich von
den Sorgen und Hoffnungen, der Rettung und Erhaltung der
Hotellerie, hinten fällt mir auf, wie häufig eine Tochter gesucht
wird; und nun, heute, ist eine gefunden worden. Aber die eine,
die meine, vermisse ich noch immer. Dann habe ich Zeit, nach-
zudenken, warum hier eigentlich alle Menschen, also Wirte sowohl
wie Gäste, Hürlimann heißen. Ich . wollte »Schweizerbürger«
werden, denn immer nur Österreicher sein verträgt man auf
die Dauer auch nicht. Da höre ich vom Nachbartisch das folgende
Zwiegespräch : »Ja sagen Sie Herr Hürlimann, sind Sie eigentlach
geschäftlach da?« »Wie? Ich bin gesundheitlach, sportlach und
geschäftlach da, Herr Hürlimann.« »Wie? Wirklach? Ich hatte
äben geglaubt, daß Sie Ihre Geschäfte schriftlach abwickeln?«
»Wie? Nein äben, äben, auch mündlach.« »Wie? Aber da
können doch leicht Irrtümer vorkommen?« »Wie? Ja, sehn Sie,
irren ist menschlach.« Die Tochter schwebt am Büfett hin. Ich
habe nur noch die Frage am Herzen: »Wo gahts da uße?«
— 179
Ein Wort
Aus einem Schweizer Blatt:
mußte aber meine Gründlichkeit mit einer langen Wartefrist
büßen, denn inzwischen waren alle Tische im obern Raum besetzt
worden; aber ich fand doch noch köstliche Kriegsleckerbissen
an dem prunkvollen Büfett.
Wie es Schweizerbürger gibt, gibt es auch Schweizer-
schmöcke. Ob es Neutralitätsbruch wäre, wenn sich in solchem
Fall ein französischer und ein deutscher Internierter, die ja beide
nach langer Wartezeit einen Kriegsleckerbissen gekostet haben
mögen, auf eine Ohrfeige einigen wollten?
Phantastisches
[Die Verpflegung der ungarischen Delegations-
mitglieder in Wien.] Der ungarische Minister am Hoflager,
Graf Aladar Zichy über die Frage der Verpflegung
der ungarischen Delegationsmitglieder — — durchaus nicht meine
Angelegenheit, für die Verpflegung der ungarischen
Delegationsmitglieder während ihres Wiener Aufenthaltes Sorge zu
tragen — — mich dafür interessiert — — sowie das
Dienstpersonal, die während der Delegationstagung
durch Arbeiten überaus in Anspruch genommen
sind — — klaglos verköstigt werden können
mit dieser Angelegenheit betraut ein Hotelier in
der Nähe des Ministeriums sich bereit erklärt hat — —
kriegsmäßigen Mittags- und Abendtisch — — vorzusorgen — —
Nachrichten, daß Wiener Hotelbesitzer und Gastwirte a n d i e
Verpflegung der Herrn Delegierten selbst irgend
welche Bedingung geknüpft hätten, auf Unrichtigkeit — — von
einem Mitbringen von Lebensmitteln aus Ungarn ist mir nichts
bekannt — — für ein Büfett im Ungarischen Hause Vorsorge
getroffen sein, dessen Beistellung ein Wiener Restaurateur zuge-
sagt hat.
Eigentlich wäre es die Angelegenheit der ungarischen
Delegationsmitglieder gewesen, rechtzeitig, nämlich schon im
Juli 1914, Vorsorge zu treffen.
— 180 —
Es ist alles da, es ist nicht so wie bei arme Leute
Das Wolffsche Büro meldet: Die englischen Zeitungen verbreiten
seit einiger Zeit wieder einmal allerlei Mitteilungen über den angeblich
schlechten Ernährungszustand der deutschen Bevölkerung ....
Es spricht nicht gerade für die große Kriegs-
freudigkeit unter dem englischen Volke, wenn seine
Stimmung immer wieder durch die Verbreitung
solcher Nachrichten gehoben werden muß, die
allesamt mit den Tatsachen in direktem Wider-
spruch stehen. So ergab eine soeben abgehaltene Rundfrage
bei sechstausend größeren deutschen Krankenkassen, daß die
Erkrankungen unter den Versicherten, bei Männern wie bei
Frauen, in ständigem Rückgang begriffen sind.
Ärztlicherseits wurde dabei ausdrücklich die Bekömmlichkeit
der gegenwärtigen Kriegskost festgestellt . . . Der
Ärzteausschuß für Groß-Berlin insbesondere hat festgestellt, daß
die einfache Lebensweise im Kriege für viele
Personen direkt gesundheitsfördernde Wirkun-
gen hatte, weil jetzt jeder, auch der Wohlhabende, in der
Aufnahme von Eiweißkörpern und Fett und im
Genuß von Spirituosen, Tabak und sonstigen anregenden Mitteln
enthaltsamer leben muß. Infolgedessen ist auch die Sterb-
lichkeit in den unbemittelten Kreisen Berlins nicht größer
als in den bemittelten. Im allgemeinen sind nach den
ärztlichen Feststellungen die Krankenhäuser im Kriege
weit weniger belegt als in Friedenszeiten. Stoff-
-^echselerkrankungen, wie die Zuckerruhr, gehen in den meisten
Fällen zurück oder schwinden völlig. Auch die nahe-
liegende Befürchtung, daß die Kriegskost für die Jugend nach-
teilige Folgen haben werde, hat sich glücklicherweise
nicht erfüllt. Durch eine Rundfrage bei Schulärzten wurde
festgestellt, daß eine gesundheitliche Schädigung bei
den Kindern nicht eingetreten ist. Für Säuglinge
insbesondere wird in völlig ausreichender und
vorbildlicher Weise gesorgt . . .
Ach, wenn es doch immer so bliebe! Oder: Das war
eine herrliche Zeit! Oder wie sagt doch Alletter (Schöpfer
des »Obu«)? So ähnlich wie: Ach könnt' ich noch einmal so
leben! Aber wahr ist und bleibt, daß es nicht gerade für die
Kriegsfreudigkeit unter dem englischen Volke spricht, wenn
seine Stimmung immer wieder durch die Verbreitung solcher
Nachrichten gehoben werden muß, die allesamt mit den Tat-
— 181 —
Sachen in direktem Widerspruch stehen. Wie z. B., daß es den
Deutschen schlecht geht und den Engländern gut. Wie es mit
London in dem Punkt steht, ist unbekannt, aber sicher ist, daß
heute die Sterblichkeit in den unbemittelten Kreisen Berlins
nicht größer ist als in den bemittelten.
Ein Vorschlag zur Güte
Der Dichter Emil Ertl, einer der tüchtigsten Staackmänner,
schlägt vor, die siebente Kriegsanleihe — die achte war
damals noch nicht — »Wahrheitsanleihe« zu nennen.
Weil unser Sieg der Wahrheit endlich doch zu ihrem
Rechte verhelfen muß und wird! Weil die Bedingung erfolgreicher
Friedensverhandlungen die Wahrheit sein muß, nämlich: amtliche
Richtigstellung aller Lügen und Verleumdungen, mit denen
unwürdige Machthaber und Zeitungsschreiber
der Ententeländer ihre eigenen Völker und die Welt betrogen,
vergiftet und mißleitet haben ....
Lügen der Entente
Lynchjustiz an, einer Kartoffelkäuferin.
Wien, 28. Juni. In Stammersdorf bei Wien wurde gestern
eine bisher unbekannte Frau, die dort Kartoffeln gekauft hatte, von
anderen, aus Wien gekommenen Personen, die nichts mehr bekommen
hatten, überfallen und erschlagen. Die Leiche wurde fürchterlich
zugerichtet, da die Leute auf ihr herumtraten.
Kinder als Leichenträger.
In Raudnig in der Aussiger Gegend ereignete sich der Fall, daß
zwei Kinder den Sarg mit der Leiche eines verstorbenen Kindes zum
Friedhof trugen. Der Vater eingerückt, die Mutter krank, blieben nur
Kinder zur Fortschaffung auf den Friedhof übrig. Auf dem Wege
ließen sie den Sarg fallen und Leiche und Zubehör rollten in das
anstoßende Rübenfeld. Die Kinder schleppten beides wieder zum Sarge
und setzten dann ihren Weg fort.
182
Ausbau und Vertiefung
schwirrten an einem Tage so durch die Kolumnen, daß diese
Nachbarschaft sich einstellen mußte:
Erst die Zukunft wird uns die Bedeutung dieser
Stunde voll und ganz würdigen lassen. In dieser letzten
Stunde der Monarchenbegegnung fühlten aber alle Zeugen dieses
historischen Ereignisses, daß der Bund zwischen beiden Mittelmächten,
deren Monarchen hier Seite an Seite standen, in des Wortes vollster
Bedeutung vertieft worden ist.
Neuerliche Verschlechterung der Wohnungsverhältnisse Wiens.
Und nun ging es Spalte an Spalte:
Neuerliche Erhöhung der Milchpreise in Wien.
Herabsetzung der Brotration in Deutschland von Mitte Juni an.
Ob Ausbau Herabsetzung und also Vertiefung Erhöhung
bedeutet, ließ sich in dem Chaos nicht unterscheiden.
Ah da schau i ja
8. Juni 1918:
Ob sich diese Erwartung erfüllen wird, mag dahingestellt
bleiben. Aber sicher ist, daß die wirtschaftlichen Verhältnisse Jedes
Einzelnen in England unter dem Drucke des Unterseebootkrieges
sind, wenn es auch gelungen sein mag, den Nahrungsmangel bisher
zu begrenzen, durch eine kluge Preispolitik solche Ausschreitungen,
wie sie Österreich zerrütten und olrne Notwendigkeit herunterbringen,
zu verhüten und auch die Verbindung mit der Armee in Frankreich
aufrechtzuerhalten.
Die Bahn des Lasters
Und so ist es denn kein Wunder, daß sich in Mürzzuschlag
der Fall ereignete, daß ein ganzer Waggon Tabak ausgeplündert
wurde. Stand nämlich in genannter Station ein Güterzug, in
183 —
dem auch ein Waggon mit der Aufschrift »Tabake einrangiert war.
Ein Personenzug rollte ein und blieb stehen. Mehrere Fahrgäste
bemerkten die lockende Aufschrift, eilten zu dem Waggon, öffneten
ihn und begannen ihn auszuräumen. Böses Beispiel verdirbt gute
Sitten! Kaum war die Öffnung des Waggons bemerkt worden, als
von allen Seiten Bahnbedienstete, Arbeiter, selbst Frauen und Kinder
herbeieilten und sich förmlich um den Tabak rauften. Und als endlich
Polizeiorgane einschreiten wollten, war der Waggon schon längst
leer — — Aus diesem Grunde heraus sind alle die unzähligen Post-
und Bahnhofsdiebstähle zu erklären. Die stete Besorgnis vor dem
drohenden Hungergespenst läßt die Leute alle Besinnung verlieren,
ihr Rechtsbewußtsein wird gelockert, und haben sie einmal
diese Bahn beschritten, so weichen sie von ihr nicht
mehr ab.
Und was sie einmal haben, das genießen sie dann auch
in vollen Zügen.
Ein Blick in die Zukunft
[Die neuen Bestimmungen bezüglich des Eisenbahngepäcks.]
Wir erhalten folgende Zuschrift: — — Es werden sich die
widerlichsten Szenen im Gepäcksraum abspielen. . . .
Mir scheint, die neuen Bestimmungen bezüglich des
Eisenbahngepäcks hats immer schon gegeben.
Eine Überschrift
Von allen Überschriften, die dieser Krieg gebracht hat, war
doch die schönste, die mich jetzt aus einem vergilbten Ausschnitt
anlächelt. In den Vereinigten Staaten war die Präsidentenwahl
noch unentschieden. Da packte das Neue Wiener Journal die
Situation zu balkendicken Lettern zusammen:
Beispielloses Chaos in Amerika.
— 184
Das verjüngte Österreich
Das Wunder dieser Stunden vor dem Kehraus
ist die scheinbare Unveränderlichkeit einer Lebens-
form, die sich auf dauernden Bestand eingerichtet
hat und vorbei an der nur in Druckerschwärze erlebten
Kriegshölle, vorbei an Lues und Läusen aus einer
Friedenswelt in eine Friedenswelt herüberzuleben
hofft. Wäre, wenn's mit rechten Dingen zuginge,
die seit jeher fühlbare Erscheinung, daß nur Schwach-
köpfe und Windbeutel das öffentliche Interesse okku-
pieren, in solcher Verdickung derzeit möglich ? Wäre es
denkbar, daß hinter der Realität von Tanks, Flammen-
werfern, Minen und Grünkreuzgranaten solch ein
Gekröse im Nebel der Redensarten fortwuchern könnte
und die Frechheit hätte, von »geistigen Waffen«
zu reden? Daß die zweibeinigen Phrasen es wagen
würden, unsern tausendmal erlebten Überdruß so
schamlos zu ignorieren und als Entschädigung für
allen tragischen Verlust dieser Zeiten, für den
organisierten Raub an Gut und Blut, für den gott-
losen Eingriff in Glück und Leben und alle Schicksals-
und Schöpferrechte sich selbst uns anzubieten, ihr
Nichts, ihr Minus, das, an unser Dasein angehängt,
es bankerott macht? Die Qual der Sicherheit, im
täglichen Zeitungsblatt die Anwesenheit dieser
Konkursmasse festzustellen, den täglich überbotenen
Exaltationen dieser von Fibelromantik* geblähten
Saldokontowelt, diesem Gefühlsbarock einer aus-
gearteten Mechanik beizuwohnen, ist wahrlich ein
grausameres Verhängnis als alle Schmach, die die
185 —
infamste aller Zeiten den Körpern angetan hat.
Hunger ist nichts neben dem Erdulden der Vor-
stellung, daß gleichzeitig an Tafeln so etwas von
so etwas gesprochen wurde und daß es Ohren gibt,
die es gehört haben. Kam es aus Mündern? Sind
diese Menschen wie wir geschaffen? Den Magen
haben sie, wo wir das Herz haben. Kein Zwerchfell
scheidet ihr Oben und Unten, darum erschüttert sie kein
Gelächter über sich selbst. Wer aber, der lachen könnte,
wo ein Treubund zum Vorwand für Nachtmähler
dient, vermöchte das Erlebnis dieser reichsdeutschen
Kollegenwoche, diese Orgie einer Verlogenheit, die
die Welt noch immer für ein mit Butzenscheiben
verziertes Warenhaus ansieht, nachzuschildern? Die
grauenvolle Zuversicht einer Taubheit, die keine
Stummheit ist, und einer Blindheit, die den Ascher-
mittwoch des tragischen Karnevals nicht herankommen
sieht, das Lallen eines Optimismus, der die Menschheit
ringsherum für so verblödet hält wie ihre Wortführer, das
unbewegte Anbieten desselben falschen Papiers, das
Ehre, Vorsicht und der Ekel an solchen Versuchen
hundertmal abgelehnt haben, diese unerschrockene
Belästigung einer Menschenwürde, die sich mit den
Händen nur die Ohren zuhält, weil sie noch nicht die
Kurage hat loszuhaun — wer, der Nerven hatte, es zu
überstehn, hätte die Kraft es abzubilden? Nein, es ist das
Wunder dieser Stunden, daß die Larven und Lemuren,
daß die längst Toten, denen wir den Untergang
verdanken, ihm mit zuversichtlichen Mienen assistieren
können, ja daß sie, von keiner Hohnfalte des Schicksals
oder der Satire in ihr Nichts gescheucht, uns eine
verschönte Welt, eine erhebende Zeit, ja ein »ver-
jüngtes Österreich« vorzuspiegeln wagen. Und für den
unwahrscheinlichen Fall, daß die Zukunft dieser Welt
und dieses Staates noch einige Aufnahmsfähigkeit
für die Möglichkeiten der Gegenwart übrig haben
wird, sei ihr der Trinkspruch, den der Führer des
— 186 —
geistigen Wien, ein ehemaliger Börsenjournalist, vor
den Vertretern des geistigen Berlin gehalten hat,
aufbewahrt:
Betrachte ich die Versammlung, so entrollt sich mir ein
er heb e n de s Bild. Vor meinem geistigen Auge schweben
die Genien der Freundschaft und der Treue. Der
Bund, der vor mehr als 40 Jahren geschlossen wurde zur Abwehr
habgieriger Feinde und zur Verteidigung unseres Seins, der
Bund, um den der fürchterliche Weltbrand wütet, hat die Feuer-
probe bestanden. Das Herzblut des Volkes hat den Bund
besiegelt. Treue und Freundschaft den Bürgen und Zahlern.
Rückhaltlos haben die beiden erlauchten Herrscher, die jetzt mit
Krone und Zepter beliehen sind, den Bund als heiliges Erbe
übernommen, in Treue gehütet und mit dem Volk in Waffen
unerschüttert aufrechterhalten. Den beiden Fürsten, die den Willen
und die Stärke des Volkes, dessen volles Empfinden und friedfertiges
Sehnen verkörpern, den Trägern der staatlichen Machtfülle, bringen
die Männer, die den Pulsschlag der öffentlichen
Meinung hören, bringen alle, die hier im Saale vereinigt sind,
in geziemender Ehrerbietung ihre Huldigung dar.
Um dem Ausdruck zu geben, gestatten Sie, daß ich Sie einlade,
ein dreifaches Hoch auf Se. Majestät Kaiser Wilhelm II. und
Se. Majestät Kaiser Karl I. auszubringen. Hoch! Hoch! Hoch!
Freundschaft und Treue, wiederhole ich, geben der heutigen
Festversammlung das Gepräge. Sendboten unserer treuesten
Freunde sitzen an der heutigen Tafel. Ich grüße die Herolde,
die mit der geistigen Waffe für den Treubund kämpften, ich
grüße die Abgesandten, ich kann sagen, die außerordent-
lichen Gesandten der reichsdeutschen Presse, w</nn Sie
wollen, des deutschen Volkes.
Aus der mächtig und prächtig aufgestiegenen Metropole
und aus anderen uns trauten, blühenden Städten des deutschen
Reiches, aus München, Frankfurt, Hamburg und Königsberg sind Sie nach
Wien, in die altehrwürdige Stadt an der Donau,
gekommen. >Deutsch ist der Strom, er brauste schon im Lied der
Nibelungen«, so rief Anastasius Grün den Nord- und Süddeutschen
zu, die im Jahre 1868 zum Schützenfeste sich in Wien eingefunden
hatten. Auf deutschem Boden, wo das deutsche Lied
dem deutschen Herzen klingt, heiße ich Sie, meine liehen
Kameraden, von ganzem Herzen willkommen. ... Es ist eil bis in
die ältesten Zeiten reichender schöner Brauch, daß Gesandte mit
allem erdenklichen Prunk und Ghtnz empfangen werden. Diesen
Prunk und Glanz bieten uns die hohen Staats-
würdenträger und die vielen anderen illustren Persön-
lichkeiten, die unserer Einladung Folge zu leisten die Güte hatten.
— 187 —
Aus Freundschaft und Treue quellen Anerkennung und Dank-
barkeit. Wenn die motdenden und sengenden Ein-
dringlinge vertrieben sind und wenn kaum ein Stückchen unseres
heimatlichen Bodens von Feinden besetzt ist, wenn wir bei aller
Entbehrung und Entsagung, die ja auch unsere Wider-
sacher bedrängen, in hoffnungsvoller Stimmung
am häuslichen Herde sitzen dürfen, so danken wir dies den
tapferen Soldaten, die mit ihren Leibern einen
unüberwindlichen Wall um uns bilden, und den
ruhmreichen Feldherren, die an der Spitze unserer Armeen
stehen. . . .
. . . Das Bleibende »in der Erscheinungen Fluchte ist die
Presse. Ich sage nicht ider ruhende Pol«, denfl die Presse
ist ruhelos, in fortwährender Bewegung, sie ist das Perpetuum
mobile. . . .
Wir, meine lieben Kameraden aus dem Deutschen Reiche, sind
zu jeder Stunde für den Treubund eingestanden, alle, ohne
Unterschied der Parteien. . . .
Lassen Sie mich mit einigen Versen aus dem Bundesliede
schließen, das Ernst Moritz Arndt vor mehr als hundert Jahren
ertönen ließ:
Es lebe alte deutsche Treue,
Es lebe deutscher Glaube hoch !
Mit diesen wollen wir bestehen,
S i e sind des Bundes Schild und Hort.
Fürwahr, es muß die Welt vergehen,
Vergeht das feste Männerwort. . . .
Ich erhebe mein Glas auf die unerschütterliche, unverbrüch-
liche Einigkeit der bundestreuen Presse im Deutschen Reiche
und in Österreich-Ungarn Hoch! hochl hoch!
— 188
Die Gerüchte
In Wien waren Gerüchte verbreitet, daß in ganz Österreich
Gerüchte verbreitet seien, es seien in Wien Gerüchte verbreitet,
mehr wurde über das Wesen der Gerüchte nicht gesagt, als
daß das Wesen der Gerüchte eben darin bestehe, daß man es nicht
sagen könne, man war nur auf Gerüchte angewiesen, um
überhaupt herauszubekommen, was es für Gerüchte eigentlich
seien, und so gingen denn in ganz Österreich Gerüchte von
Mund zu Mund, die nichts geringeres besagen wollten, als daß in
Wien Gerüchte verbleitet seien, es seien in ganz Österreich
Gerüchte verbreitet. Dazu kam allerdings noch ein konkreter
Umstand, der den Gerüchten die sonst meistens vermißte Nahrung
gab, nämlich die Verlautbarung der österreichischen Regierung,
welche feststellte, daß Gerüchte verbreitet seien, die ausdrückliche
Warnung enthielt, sie zu glauben oder zu verbreiten und die
Aufforderung, sich an deren Unterdrückung tunlichst auf das
energischeste zu beteiligen. Hiezu kam noch eine ganz gleich-
lautende Erklärung der ungarischen Regierung, welche davon
ausging, daß die Gerüchte auch in Budapest und in ganz Ungarn
verbreitet seien, ohne daß man freilich auch dort mehr wußte,
als daß Gerüchte verbreitet seien, was bald ein jeder Mensch
in Ungarn wie in Österreich gerüchtweise erfahren hatte. Auch
dort ergab sich ganz wie hier für die Bevölkerung die loyale
Pflicht, den Gerüchten tunlichst auf das energischeste entgegen-
zutreten, was sich auch jedermann zu Herzen nahm und dergestalt
ausführte, daß einer den andern fragte, ob er schon von den
Gerüchten gehört habe, und wenn dies verneint wurde, ihn bat,
sie nicht zu glauben, sondern ihnen erforderlichenfalls tunlichst auf
das energischeste entgegenzutreten. Diese Prozedur wurde aber
namentlich in der diesseitigen Territorialhälfte der Gerüchte mit
besonderer Energie durchgeführt. Zuerst erfolgte eine feierliche
Eröffnung der Gerüchte, indem nämlich die Abgeordneten
Teufel, Pantz und Waldner, von denen jeder einzelne nur ein
— 189 -
Drittel ist und die deshalb nur zusammen ausgehen, beim
Ministerpräsidenten Dr. von Seidler erschienen, um ihn auf die
seit einigen Tagen in Umlauf befindlichen Gerüchte aufmerksam
zu machen. Dr. v. Seid ler gab zur Antwort, daß ihm die in
Frage stehenden und im Umlauf befindlichen Gerüchte wohl
bekannt seien. Bei dieser Gelegenheit erfuhr man zum ersten-
mal, daß die Gerüchte das angestammte Herrscherhaus betreffen
und daß die Verbreiter der Gerüchte den Glauben der
Bevölkerung an dasselbe vergiften wollten. Der Ministerpräsident
beteuerte, daß diese Gerüchte unwahr seien, was aber die
Abgeordneten Teufel, Pantz und Waldner schon wußten und was
sich nach dem § 63 bezw. § 64, die ja keinen Wahrheitsbeweis
zulassen, von selbst versteht, so daß eigentlich der Dr. v. Seidler,
der sich für die Unwahrheit der Gerüchte >verbürgt< hat, gegen
diese Paragraphen, die schon die Möglichkeit eines solchen
Gedankens ahnden, verstoßen hat. Kein vernünftiger Mensch, meinte
der Ministerpräsident, werde an derartigen Unsinn glauben. Trotz-
dem trat er ihm auf das energischeste entgegen und vergaß nur zu
erwähnen, daß Unvernunft hier geradezu ein Verbrechensmerkmal
ist, indem das Gesetz vom Staatsbürger nicht so sehr Vernunft als
Ehrfurcht verlangt. Interessante Aufschlüsse gab er jedoch, und
mit ihm der ungarische Ministerpräsident, über die Provenienz
der Gerüchte. Schon in der offiziellen Verlautbarung waren die
Gerüchte verzeichnet worden, daß die Gerüchte »im Frieden
jeweils von einer einzigen phantasievollen Persönlichkeit aus-
gingen und es lange Zeit währte, bis sie breitere Massen erfaßten <;
anders jetzt. Dasselbe Gerücht sei »zur Ursprungszeit jedesmal
an ganz verschiedeneu Stellen gleichzeitig zu vernehmen, weshalb
die Annahme gerechtfertigt sei, daß man es mit einer Organisation
der Gerüchte zu tun habe«. Das war ungemein spannend und
es fehlte nur noch eine Andeutung darüber, ob die Gleichzeitigkeit
der Verbreitung desselben Gerüchtes durch Lokalaugenschein,
Gehörproben oder dergleichen erhoben wurde. Seidler sowohl
wie Wekerle zogen aus den gemachten Wahrnehmungen den
Schluß, daß die Verbreitung der Gerüchte »ein neues Zeichen
der aus den Reihen unserer Feinde kommenden Versuche« sei,
Verwirrung zu stiften; sie gehöre »in das Arsenal unserer
190
Gegner«, die keine Mittel scheuen, um das Qefüge der Monarchie
zu erschüttern sowie die Bande der Liebe und Verehrung zu
lockern. Diese Vermutung beruht indes ganz bestimmt auf einem
übertriebenen Gerücht, das zur Ursprungszeit gleichzeitig in
Wien und in Budapest zu vernehmen war, weshalb die Annahme
gerechtfertigt ist, daß man es mit einer Organisation zu tun hat
Ich speziell habe schon des öfteren der Überzeugung Ausdruck
gegeben, daß die Lügen der Entente im allgemeinen lange
nicht so gefährlich sind wie unsere Wahrheiten und daß sie
deshalb bei weitem nicht so viel Verwirrung anrichten können.
Wenn wir den vierjährigen Lügenfeldzug der Entente Über-
blicken, so müssen wir so wahrheitsliebend sein, zuzugeben, daß
die Lügen der Feindespresse über unsere Zustände dort, wo sie
nicht geradezu die Übersetzung unserer Fakten waren, diesen
höchstens um ein paar Tage, Wochen, sagen wir Monate voraus-
geeilt sind. Kein Redakteur des ,Figaro' wird für seine schaden-
frohen, sich am fremden Hunger mästenden Leser Schlimmeres
über unsere Ernährungsverhältnisse erfinden können, als der
Bürgermeister von Wien dem Grafen Czernin nach seiner Heim-
kehr vom abgeschlossenen Brotfrieden gesagt hat, und wenn in
der ganzen feindlichen Welt als die erste Tat der Northcliffe-
Propaganda eine allerdings grauenhafte, auf den ersten Blick
verleumderische Darstellung des deutschen Fliegerwesens ver-
breitet wurde, so darf man anderseits nicht übersehen, daß es sich
um eine wörtliche Übersetzung der Schrift des Freiherrn von
Richthofen gehandelt hat. Ich habe schon oft gesagt, daß sich statt
eines Einfuhrverbots der feindlichen Literatur ein Ausfuhrverbot
der vaterländischen sehr empfehlen würde, weil dann die Lügen
der Feinde, die heute bloß wir nicht zu lesen kriegen, auch im
Auslande nicht verbreitet wären. Was nun die Gerüchte betrifft,
so hegt es mir mindestens so fern wie dem Dr. v. Seidler, sie
in die Kategorie jener Wahrheiten zu stellen, die wir uns selbst
verdient haben, und ich wäre sogar bereit, wenn ich eine
Ahnung hätte, was es für Gerüchte sind, ihnen tunlichst auf das
energischeste engegenzutreten. Das einzige, was ich von ihnen
sicher weiß, ist, daß sie zwar Lügen enthalten, aber solche, die
ganz wie die Wahrheiten, die uns als Lügen vorkommen, bei
— 191
uns selbst gewachsen sind und nicht im Arsenal der Entente,
sondern in der alldeutschen Presse hergestellt wurden. Dies ist
denn auch der einzige Anhaltspunkt, den ich habe, um mir
vom Wesen der Gerüchte eine Vorstellung machen zu können. »
Zum Wesen ihrer Erfinder gehört es sicherlich, sie vorsichtig
der Entente zuzuschieben, was immerhin der bessere Teil der
Tapferkeit ist, da ohne die Ablenkung durch den Ruf > Haltet
den Verleumder!« möglicherweise dessen Feststellung erfolgt
wäre. Gerüchte haben nun nicht nur die Eigenschaft, daß sie
sich wie ein Lauffeuer verbreiten, sondern daß sogar noch die
Löschaktion zur Verbreitung beiträgt, und es ist immerhin die
Frage möglich, ob die Verwirrung, die die Feinde bei uns zu
allem Überfluß stiften wollten, nicht eher durch geheimnisvolle
Andeutungen über solche Absichten herbeigeführt wird. Denn
es ist eine Erfahrung, daß in einem ohnedies schon aufgeregten
Publikum durch die plötzliche Versicherung, es liege gar
kein Grund zur Beunruhigung vor, diese gern entsteht und
daß der Ausruf »Es brennt — nicht!« eine panikartige
Wirkung hat, in deren Rauch die Negation erstickt. Ferner
ist zu bemerken, daß Gerüchte noch mehr als die Katastrophen,
auf die sie hinzielen, dem Gesetz der Serie unterworfen sind.
Denn kaum hatte der Dr. v. Seidler sich gegen sie gewendet,
so wurde alles was er tat zum Gerücht. Er hatte das Malheur,
eine nächtliche Konferenz der Parteiführer einzuberufen, die gar
keinen und darum auch keinen geheimnisvollen Zweck hatte,
wohl aber die Folge, daß sofort »die verschiedenartigsten, ganz
abenteuerlichen Gerüchte verbreitet« waren, denen er neuerdings
auf das energischeste engegentreten mußte. Man wird dereinst
von ihm sagen können, daß er, ohne die Kolportage in Österreich
freigegeben zu haben, doch viel zur Förderung jener Literatur
beigetragen hat, der sie hauptsächlich zugutegekommen wäre.
Kein Tag ohne Gerüchte. Da geschah es zum Beispiel, daß »in
Paris und Rom Gerüchte über einen Wechsel in höheren
Kommandostellen der österreichisch-ungarischen Armee verbreitet«
wurden, gegen die aber, damit sie nicht auch bei uns eindringen,
rechtzeitig in einer amtlichen Erklärung auf das energischeste
eingeschritten wurde, in welcher dargelegt war, es handle sich um
192
eine Stimmungsmache der Entente, um ein Manöver unserer
Gegner, die, wie schon der Ministerpräsident jüngst betont
habe, »kein Mittel scheuen, um das Gefüge der Monarchie zu
•erschüttern«. In diesem Fall gelang es tatsächlich, das Gerücht
zum Schweigen zu bringen, ehe es zur Wahrheit wurde, denn
schon ein paar Tage später war die feindliche Lüge mit einer
vaterländischen Tatsache identisch, das Manöver beruhte auf
einem strategischen Rückzug, und die Enthebung des Conrad von
Hötzendorf, die Ernennung eines neuen Heeresgruppenkomman-
danten und eines neuen Armeekommandanten wurde amtlich
gemeldet. In diesem Falle also durfte das Publikum erfahren, was
der Inhalt der Gerüchte sei, war aber leider nicht mehr in der Lage,
ihnen entgegenzutreten. Was die anderen Gerüchte betrifft, so
wäre es immerhin trostvoll, wenn das Arsenal unserer Gegner
nichts anderes enthielte als sie. Aber vielleicht besteht doch die
Hoffnung, daß es seinen Betrieb nicht später als die alldeutsche
Presse den ihren einstellt. Geschähe wenigstens das letztere, so
wäre der Fall gewiß seltener zu verzeichnen, daß Gerüchte nicht
nur als Kriegsmittel, sondern sogar als Kriegsgrund Verwendung
finden. Es besteht kern Zweifel, daß die Bomben, die auf
Nürnberg geworfen wurden, ehe Deutschland Frankreich den
Krieg erklärte, dem Arsenal der Entente entstammt wären, wenn
nicht die Gerüchte, daß sie auf Nürnberg geworfen wurden, dem
Arsenal der alldeutschen Kriegspropaganda entstammt wären.
Seit dem Tage, an dem diese Gerüchte verbreitet, und noch lange,
nachdem sie vom Oberbürgermeisteramt von Nürnberg dementiert
waren, sind den Gerüchten Türen und Tore, offene Städte und
andere Festungen geöffnet, und gewiß ist, daß durch Gerüchte, die
ja imstande sind, einen Krieg zu stiften, wenn's diesen einmal
gibt, auch noch Verwirrung gestiftet werden kann. Das ist
vornehmlich in Staaten möglich, deren Lebensinhalt die
Organisation ist und deren Bürger Maschinen sind, jeder ein-
zelne zum Bollwerk gegen den feindlichen Siegeswillen wie
geschaffen. Daß gegen solche Anlagen Versuche, sie zu unter-
minieren und Verwirrung zu stiften, unternommen werden mögen,
ist begreiflich und eine Berufung auf die feindliche Absicht, es
durch Gerüchte zu bewerkstelligen, durchaus sinnvoll. Auf
193
Staaten jedoch, deren Lebensinhalt schon in Friedenszeiten der
Pallawatsch war und deren Angehörige selbst als Gerüchte umgehen,
wären solche Machinationen schwerlich von Einfluß. Der einzige
Zustand, der hier, wo sich keine Talente in der Stille und im Strom
der Welt keine Charaktere, sondern Gruppen bilden, noch gestiftet
werden könnte, wäre nicht der der Verwirrung, sondern der Ordnung.
Aber daß der Wunsch, hier Ordnung zu machen, gerade bei
den Feinden, bestehe, hat noch kein Gerücht und nicht einmal
die Beilage der .Leipziger Neuesten Nachrichten' behauptet.
Drum:
Laßt mich der Regierung ein Loblied singen,
damit sich die Feinde gehörig giften.
Denn nimmermehr wird es ihnen gelingen,
in unseren Reihen Verwirrung zu stiften!
Die weise Vorsicht warnte bei Zeiten,
Gerüchte zu glauben und zu verbreiten.
Sie mahnte, das Unkraut auszujäten
und den Gerüchten energisch entgegenzutreten.
Denn solche Gerüchte, wie sattsam bekannt,
sind doch eine Mache der Entente.
Hat man die Quelle nur, den Lauf
hält jeder gleich mit Empörung auf.
So riß denn jeder sich um die Ehre,
daß energisch er den Gerüchten wehre,
und jeder fragte jeden empört,
ob er schon so etwas gehört,
und jeder erwiderte beklommen,
daß auch er schon von den Gerüchten vernommen,
so daß keiner im Land mehr das Faktum bestreitet :
Die Feinde haben Gerüchte verbreitet.
Sie im Keim zu ersticken, ist keiner faul
und jeder steht da mit offenem Maul,
zu spucken in alle Feindessuppen.
Es bilden sich schon die bekannten Gruppen.
Bald gab es Gerüchte ohne Zahl
und jedes schwoll an zur Ohrenqual,
— 194
doch niemand wußte, welches der Feind
Verwirrung zu stiften hatte gemeint.
Denn solcher Art sind seine Schliche:
ist man den Gerüchten auf der Spur,
und hat man sie schon, so vermißt man nur
noch von den Gerüchten das eigentliche.
Doch jeder schwört, kriegt er's zu fassen,
es sollte ihm ordentlich Haare lassen.
Drum ist auch jeder mit Recht beflissen,
was man nicht sagen darf, doch zu wissen.
Und weit und breit im Publikum
gab' jeder jedem viel darum,
wenn er ihn nicht mehr mit Gerüchten quälte,
sondern ihm die Gerüchte erzählte.
Und es erhob sich ein großes Geschrei,
was in den Gerüchten enthalten sei.
Jedoch sie zu glauben, war keiner verleitet,
denn sie waren ja doch von den Feinden verbreitet.
Drum eben gab es ein Fürchten und Flüchten
vor den verbreiteten Gerüchten,
es liefen die Männer, die Kinder, die Damen,
sobald nur die Gerüchte kamen,
und alle gelobten, darüber zu wachen,
um einander aufmerksam zu machen,
und den Gerüchten entgegen aus ihren Betten
sprangen sie, um sich davor zu retten,
und alles rief und riet und rannte,
bis Stadt und Land wie ein Lauffeuer brannte.
Nur durchgehalten, nur durchgefrettet —
schon ruft eine Stimme: Alles gerettet!
Drum sei der Regierung ein Loblied gesungen,
die Feinde aber sollen sich giften.
Denn ihnen ist es fürwahr nicht gelungen,
in unseren Reihen Verwirrung zu stiften!
— 195
Glossen
Beobachtungen in Deutschland
Die Gerüchte sind dort folgendermaßen festgestellt worden :
». . . Wir stellen sie gleichzeitig in der Schweiz, in
Holland und Dänemark fest. Von dort breiten sie sich wellenartig
über ganz Deutschland aus oder aber sie tauchen gleichzeitig,
in unsinnigen Einzelheiten übereinstimmend, in den entlegensten
Gegenden unserer Heimat auf und nehmen von da aus
ihren Weg über das ganze übrige Heimatsgebiet.«
Verräter
Hindenburg:
. . . Und schließlich verwendet der Feind nicht den ungefähr-
lichsten seiner in Druckerschwärze getauchten Giftpfeile, wenn er
Äußerungen deutscher Männer und deutscher Zeitungen abwirft. Die
Äußerungen deutscher Zeitungen sind aus dem Zusammenhang gerissen.
Bei Äußerungen Deutscher, die wiedergegeben werden, denket daran,
daß es Verräter am Vaterlande in jeder Zeit gegeben hat, bewußte
und unbewußte.
Zum Beispiel Goethe, Hölderlin, Claudius, Jean Paul,
Lichtenberg, Schopenhauer, Kant, Bismarck und Luther.
Das moralische Moment
Zu den Geräuschen, die das Trommelfell der Menschheit seit
vier Jahren verträgt, gehört nebst den täglichen Hinweisen auf erzielte
gute Wirkungen und Fortschritte, nebst dem unermüdlich betonten
Streben nach »Aufklärung« die immer wiederkehrende Hervor-
hebung des »moralischen Moments«. Man müßte glauben, daß
durch eine derartige Anhäufung von moralischen Momenten in
allen Lagern, wie sie in keinem früheren Stadium menschlicher
196
Entwicklung beobachtet wurde, bereits ein verklärter Zustand
sämtlicher einander mit Ekrasit verständigender Nationen erzielt
sein müsse. Ein neutraler, also von Natur objektiver Betrachter
dieser Dinge, der mich durch den nach allen Seiten konzilianten
Ton beruhigt, versichert zum Beispiel, daß eine neugeschaffene
Fliegerart sich »als wirksames und besonders moralisch wirkendes
Verfolgungsmittel bewährt«, weshalb ihr, auf welcher Seite immer
sie sich betätigen mag, ein »wirksames moralisches Moment
innewohnt«. Allerdings kann derselbe Betrachter nicht umhin,
zu bedauern, daß im Haag kein Verbot der Bombenwürfe
zustandegekommen ist, denn wenn auch ein solches Verbot
heutzutage keine Wirkung hätte, so wäre dadurch doch »eine
erhöhte moralische Verantwortlichkeit stipuliert worden«. Da es
mithin schwer ist, auf die Moral von der Geschichte zu kommen,
und man nicht weiß, ob das moralische Moment mehr im Ge-
brauch oder in der Unterlassung zu erblicken ist, begnügt man
sich damit, aus einer so belehrenden Darstellung einer mensch-
lichen Errungenschaft, die es auf den Tod von Säuglingen ab-
gesehen hat, wenigstens zu erfahren, daß nicht etwa erst der
militärische Feuereifer diplomatische Abmachungen in der Luft
zerrissen hat, sondern daß schon im Jahre 1907 deutsche, französische
und russische Zivilisten im Haag, die man vermutlich mit einem
krepierenden Frosch davonjagen könnte, sich nicht entschließen
konnten, die künftige Anwendung des technischen Fortschritts
auf die Zertrümmerung von Kirchen, Museen, Spitälern, Schul- und
Schlafzimmern grundsätzlich abzulehnen. Denn um dies zu tun,
hätten sie den Bombenwurf als solchen ablehnen müssen, da ja
die primitivste Vorstellung vom Wesen der »Luftwaffe« sie
darüber orientieren konnte, daß mit ihr sicherer getötet als
getroffen wird. Indem sie sich aber nur der Beschießung offener
Städte und Plätze, »mit welchen Mitteln es auch sei«, widersetzten,
haben sie eben diese sowohl dem unvermeidlichen Irrtum wie
der Absicht, die sich auf ihn berufen kann, wie der Rache, die
antwortet, preisgegeben und so der unendlichen Folge von Unter-
nehmungen, denen ein wirksames moralisches Moment innewohnt.
197 —
Luftkrieg
Innsbruck, 22. Febr. (Wiener
Korr.-Bureau.) Mittwoch nach-
mittag überflogen vier feindliche
Flieger und ein großes, mit einem
Maschinengewehr ausgerüstetes
Kampfflugzeug von Süden kom-
mend die Stadt Innsbruck und
warfen ungefähr acht leichtere
Bomben ab, von zehn bis
fünfundzwanzig Kilogramm, da-
runter drei Brandbomben. Die-
selben explodierten und richteten
an verschiedenen Stellen der Stadt
Sachschaden an. Der Angriff
forderte auch Opfer; eine Frau
wurde getötet, zwei Personen
wurden erheblich, mehrere leicht
verletzt. Der Kampfflieger
ging bis auf 300 Meter herunter
und beschoß zwei glücklicher-
weise leerstehende Malteser
Verwundetenzüge
mit Maschinengewehrfeuer.
Rom, 22. Febr. (Stefani.) Die
Feinde führten vergangene Nacht
drei Flüge über P a d u a aus.
Der erste dauerte von 7 Uhr 20
bis 8 Uhr 20 abends, der zweite
von 9 Uhr 50 bis 10 Uhr 20
und der dritte von 12 Uhr 10
bis 3 Uhr nachts. Die deutschen
Flieger warfen mit gewohnter
Roheit Bomben ab, unter
anderm auch auf ein Privat-
spital, in dem zwei Schwestern
und eine Arbeiterin getötet
wurden, ferner auf einen Kai,
auf dem vier ältere Frauen
getötet und ein kleines Kind
verletzt wurden. Einige
Gebäude wurden zerstört, andere
beschädigt. Die Bevölkerung,
die schon lange unter diesen
barbarischen Akten zu leiden
hat, bewahrte trotzdem eine
stolze und ruhige Haltung.
Das und nicht mehr ist die Rubrik »Luftkrieg<. In der
Zeitung untereinander, hier nebeneinander. Der Mechanismus
läßt nichts zu wünschen, nichts zu verdammen übrig. Satzbild,
Wortbild, Textbild — alles kommt zur Deckung. Kein Millimeter
Unterschied. Vielleicht wäre doch ein Ausgleich der Wirklich-
keiten auf dieser Basis möglich.
Höher geht's nimmer
. . . Auf Bozen wurden 15 Bomben geworfen, von denen
eine die Baracken traf, die von Kriegsgefangenen bewohnt waren.
8 Kriegsgefangene wurden getötet und 20 verwundet.
— 198
Was könnte eine Kriegführung, deren Ingenium sie allseits
mit dem stupidesten Zufall verbündet hat, besser ehren als
solches Ergebnis? Nun fehlt nur noch zur Kompletierung der
Planhaftigkeit dieser Weltdinge, daß irgendwo ein Schrei nach
Repressalien eine Fliegeraktion zur Tötung österreichischer
Kriegsgefangener verlangt: schlägst du deinen Krieger, schlag'
ich meinen Krieger. Da der Schwachsinn den Mechanismus
der Bestialität nicht mehr handhaben kann und den Ereignissen
nur so nachtorkelt, wäre selbst solcher Wunsch bei einem
leidenschaftlichen Hasser der > Katzeimacher« möglich, wobei es
Mühe kosten würde, diesen auf die Verkehrtheit der angeregten
»Rebrassalien« aufmerksam zu machen.
Aus dem Fenriswolff-Bfiro
In 24 Stunden wurden 6 0.000 Kilogramm
Bomben auf feindliche Ziele abgeworfen. Ganz Dünkirchen
steht in Flammen. Unsere Bombengeschwader haben in den
letzten Tagen, vor allem am 1. Oktober, Außerordentliches
geleistet — — neuerdings mit 14.400 Kilogramm Sprengstoff
beworfen über 40.000 Kilogramm Bomben. In St. Omer-Boulogne
entstanden starke Brände. — — erneut mit Bomben angegriffen. In
London zeugten mehrere Brände von der Wirkung.
In der Festung Dünkirchen riefen besonders gute Würfe
in der Nacht vom 28. auf den 29. September Brände hervor, die an
den riesenhaften Vorräten, die hier angehäuft sind, reichste
Nahrung fanden. Nach 24- Stunden stellten die Flieger
fest, daß derBrand noch nicht gelöschtwar, sondern
weiter um sich gegriffen hatte. 48 Stunden später beobachteten sie, daß
die Feuersbrunst sich über einen ganzen Stadtteil aus-
gebreitet hat, und heute nacht konnten sie melden,
daß ganz Dünkirchen ein Raub der Flammen
geworden ist. — —
199
Eine wahre Meldung
Die Bedeutung Belgiens für Deutschlands Verteidigung.
Das Wolffsche Bureau meldet : Die neuen Fliegerangriffe auf
eine Reihe offener Städte Westdeutschlands haben zwar keinen
militärischen Schaden hervorgerufen, beweisen aber von neuem, wie
stark die Notwendigkeit für Deutschland war, die Basis der feindlichen
Flieger möglichst weit zurückzudrängen. Hätten die Flieger der Entente
heute die Maaslinie oder Belgien als Basis für ihre Angriffe, so müßte
damit gerechnet werden, daß nicht nur der Westen Deutschlands,
sondern auch das Herz des Landes den Bomben der feindlichen
Aeroplane ausgesetzt wäre ....
Das ist nur zu wahr, und der Sachverhalt ist ebenso
vernünftig wie die Aussage ehrlich. Wohl ließe sich einwenden,
daß die feindlichen Flieger höchstwahrscheinlich gar nicht
aufgestiegen wären, wenn man ihre Basis nicht so weit zurück-
gedrängt hätte. Aber ebenso einleuchtend ist auch wieder, daß
man sich doch in einem Verteidigungskrieg gegen die Angriffe,
die eine Folge der Verteidigung sind, verteidigen muß und
wenn man einmal angefangen hat, nämlich die Basis der feindlichen
Flieger zurückzudrängen, das dadurch Deutschland einverleibte
Gebiet gegen die dadurch hervorgerufenen Angriffe der feindlichen
Flieger schützen und deren Basis noch weiter zurückverlegen
muß, so weit, bis durch Einverleibung des Erdkreises den
feindlichen Fliegern jede Basis entzogeti ist.
Originaltelegramm
Die ottomanische Universität hat für den Friedens-Nobel-Preis
den deutschen Kaiser vorgeschlagen.
Von der Blattfront
(Ein Zitat konfisziert)
» — — Die Sache im Westen wird gemacht, aber wir
müssen Geduld üben. — —
— — Alles französisch-Parlieren muß aufhören. Sprechen wir
lieber unser deutsches Platt.«
— 200 —
Ja von wem denn?
— — Dann richtete Graf Conrad das Wort an die jüngsten
Theresienritter. Die von so vielen angefeindete, von ihren
Völkern aber abgöttisch geliebte Kaiserin Maria Theresia sei es ge-
wesen, die nach der Schlacht von Kolin — —
Kruzitürken !
Das Handschreiben des Sultans.
KB Konstantinopel, 21. Mai. Das heutige Amtsblatt veröffent-
licht den Menschur, das ist das kaiserliche Handschreiben, womit
Kaiser Karl zum Marschall der ottomanischen Armee ernannt wird.
Das in den althergebrachten Wendungen der ottomanischen Hofsprache
abgefaßte Dokument lautet in der Übersetzung wie folgt:
Wir, durch die Gnade des Herrn Padischah von Turkistan und der
Länder und Städte, die der Sultan innehat . . indem wir
ein neues Zeichen der aufrichtigen Freundschaft geben,
die seit jeher zwischen unseren Häusern bestand und die
durch den Abschluß des innigen Bündnisses ihren höchsten Grad
erreicht — — — — indem er die Gnade haben möge, ihnen eines
Tages die Wohltaten eines ehrenhaften und dauernden Friedens zu
gewähren und auf das beste die herzliche jahrhundertalte,
innige Bundesfreundschaft . . zwischen unserem und
Ihrem großmächtigen Reiche erhalten. Gegeben am achten des Monats
Chaban im Jahre 1336.
Das Amtsblatt veröffentlicht ferner einen Bericht über das
gestrige Galadiner und den Wortlaut der hierbei gewechselten Trink-
sprüche, was eine Neuerung darstellt.
Es ist die einzige.
201
Ei siehe da
der Friedjung hat in Konstantinopel, wohin die österreichischen
und ungarischen Journalisten gefahren sind, um zu früh-
stücken, obgleich das auch dort schwer sein soll, den Aus-
bau sowohl als die Vertiefung des Bündnisses mit der Türkei
vorgenommen und auf dieses Ereignis sowohl ein Hoch als auch
ein Eljen ausgebracht. Aber er ging noch weiter.
Er feierte die von beiden Reichen vollbrachten Leistungen
neben den glänzenden Taten Deutschlands und fuhr sodann fort:
Zwei Ereignisse haben auf mich einen tiefen Eindruck gemacht.
Zunächst die elegante Art und Weise, mit der
die ottomanische Revolution sich vollzog, während
in Frankreich und in England die Revolution viel Blut und die
Häupter von Königen kostete, und die russische Revolution das
ganze russische Reich zerstörte. Sie haben durch die Revolution die
Türkei groß gemacht. Sodann —
Ei siehe da, aber wenn jemand nun den Deutschen oder
Österreichern im Sinne Friedjungs zurufen wollte: Da nehmt
euch ein Beispiel an den Türken, machet es nicht wie die Fran-
zosen oder Russen, machet es elegant - wer weiß, ob, sodann,
der Herr Friedjung im Sinne der ihn inspirierenden Regierungen
nicht von einem »Anschlag« spräche! Eiei siehe da traun
fürwahr baß nicht doch.
Eine große Meuterei in der englischen Flotte
Unter diesem Titel ist, um die Begebenheit in der deut-
schen Flotte wirksam zu paralysieren, das Folgende erschienen:
Wien, 16. Oktober.
Wir erhalten von ausgezeichneter Seite eine Zuschrift,
worin anläßlich der Übertreibung, mit der in den feindlichen Ländern die
versuchte Meuterei von drei deutschen Matrosen beurteilt worden ist,
an den großen Aufstandsversuch der englischen
Flotte in den letzten Jahren des achtzehnten Jahrhunderts
im Kriege mit Frankreich erinnert wird.
202
Die Zuschrift lautet : > Hochgeehrter Herr! Sie sollten angesichts
der Aufbauschung des Meutereiversuches der drei deutschen Matrosen
durch die Ententepresse als historische Reminiszenz auf die große
Meuterei der englischen Kanalflotte im Jahre 1797 hin-
weisen, welche in Spithead in the Nore vierundzwanzig Segelschiffe
umfaßte und nur mit großer Mühe, teilweise durch Konzessionen
seitens der Admiralität, teilweise durch Gewalt, erstickt werden konnte.
Einige Wochen hindurch war dann England in größter Beunruhigung,
um so mehr als das französische Direktorium eine Invasion in Irland
plante, um dieses Land gegen England zu insurgieren.«
Die Meuterei, an die der geehrte Einsender
erinnert, ergriff fast die ganze Flotte des Admirals Duncan. Die
Meuterer blockierten die Themse mit sechsundzwanzig Kriegsschiffen.
Dieser Aufruhr schien das Vorspiel einer Revolution zu sein. Es
gelang jedoch der Admiralität, nach und nach den Gehorsam wieder
herzustellen und den Anführer Richard Parker gefangen zu nehmen.
Eine Erzählung von Marryat gibt eine Schilderung der Meuterei und
deren Ursachen.
Und bekanntlich ist in Frankreich die Revolution aus-
gebrochen.
Himmelschreiendes aus Paris und Wiener Flüsterpreise
Paris hatte vor fünfzig Jahren bewegte Erlebnisse ....
Ich erwarte, sagte er (Moltke) in diesem vertraulichen Briefe, mehr
von der wachsenden Not. Die Gaslaternen werden nicht mehr ange-
zündet, die Kohle fehlt, so daß trotz des strengen Winters nicht ge-
heizt werden kann. Ein Pfund Butter kostet zwanzig
Francs, ein Huhn hat den gleichen Preis und ein Koch erzählt,
daß er der Frau des Fleischhauers nur durch
allerlei Versprechungen ein Rindsfilet abschmeicheln
konnte. Das deutsche Volk teilte die Auffassung des Schlachten-
meisters nicht ....
Man bittet, den Schlachten meister nicht mit dem Fleisch-
hauer zu verwechseln. Aber daß etwa eine Verwechslung der
Pariser Zustände von 1871 mit den hiesigen von heute platz-
greifen könnte, ist nicht zu befürchten. Immerhin heißt es schon
zwei Wochen später:
203 —
Der Preis des Mehles im Schleichhandel ist beiläufig vierzehn
Kronen. In der Heimlichkeit, wo solche Geschäfte abgeschlossen
werden, sind auch schon höhere Ziffern genannt worden. . . . Butter
ist ein Nahrungsmittel, das selbst wohlhabende Menschen kaum noch
anfassen können. Der Flüsterpreis soll mehr als vierzig Kronen
betragen. Von diesen Ziffern werden noch die Kindeskinder sprechen.
Bibliotheken werden sich aus den Büchern auftürmen, worin aus den
Zeugnissen unserer Gegenwart die Erklärung so außerordentlicher
Vorgänge versucht werden wird. Staunen werden die Forscher über
die Erscheinung - —
Und diese Franzosen haben noch immer nicht genug.
Was aber den Flüsterpreis von vierzig Kronen für Butter betrifft,
von dem noch die Kindeskinder sprechen werden, so ist zu
bemerken, daß ihn schon längst keiner der Großväter gehört
hat, weil jetzt laut achtundsiebzig verlangt werden.
(Hier warf der sonst nur schlechte Satiriker unterbrechende
Setzerlehrling die vorlaute Bemerkung ein: Siebenundachtzig,
wenn das erscheint!)
Warum ?
Während das Mehl in Prag schon 16 K kostete, wurde in
Linz ein Preis von 8 K fürs Kilo geflüstert.
Nicht zu machen
... Die > Rheinisch-Westfälische Zeitung« wünscht, daß unsere
leitenden Staatsmänner (nach englischem Muster) bei Banketten
und Frühstücken, bei Kongressen, in Versammlungen und
Handelskammersitzungen auftreten und dort die Lügen des Auslandes
widerlegen.
204
Eine Beschwerde mit ernsterem Hintergrund, als es dem
flüchtigen Blicke scheinen möchte
Die Rede des Grafen Czernin, deien vielverheißende politische
Bedeutung klar zutage liegt, regt zu ein paar Betrachtungen an; Anlaß
dazu ist die Gelegenheit, bei der sie gehalten wurde. >Beim Dintr
des ungarischen Ministerpräsidenten.« Beim Dinerl Ist es
wirklich notwendig, heute noch immer von einem
Diner zu reden? Würde ein Mittagessen nicht auch
dann genügen, wenn sich große Herren zusammen an den
Tisch setzen? Nicht weil wir mit Frankreich im Kriege sind, ist das
französische Wort zu bemängeln; auch im tiefsten Frieden wäre es
unnötig, ja unwürdig, eine Sache deshalb französisch zu bezeichnen,
weil man sie vornehmer sagen will. Die Zeit sollte doch schon
vorüber sein; man wird so lange nicht voll auf uns hören, solange
wir uns nicht entschließen können, in jedem Sinne deutsch zu reden.
Die Zeit der Diners sollte vorbei sein; wir gönnen den
Lenkern unserer Geschicke gern, daß sie sich zur Tafel setzen, wo
wir schon mit einem ganz gewöhnlichen Essen zufrieden wären;
aber ein ehrlich deutsches Mittagessen soll es
sein und nicht länger ein Diner wie zu der Zeit,
da alles welsch war.
Ernster aber als diese Beschwerde — obwohl auch sie
ernsteren Hintergrund hat, als es dem flüchtigen
Blicke scheinen möchte — sind die folgenden — —
Unzeitgemäße Redensarten
Der ungarische Handelsminister Stern versichert unaufhörlich,
daß das Bündnis der Völker längst zu Fleisch und Blut ge-
worden sei. Ich habe schon einmal im Krieg vor dieser Redens-
art gewarnt. Sie ist immer und zumal im vorliegenden Falle
deplaziert: was das Fleisch betrifft, als Lüge, und was das Blut
betrifft, als Wahrheit. Bei dieser Gelegenheit soll auch empfohlen
werden, von der Phrase »billig wie Brombeeren« tunlichst Umgang
zu nehmen, zumal für eine Scherzhaftigkeit, wie sie kürzlich zu
lesen war: daß die Hoffnungen der feindlichen Staatsmänner
billig wie Brombeeren seien. Die Preissteigerung, die bei uns
selbst die Früchte des Waldes erfahren haben, könnte uns nach-
gerade die Hoffnungen der feindlichen Staatsmänner in einem
— 205
anderen Lichte erscheinen lassen und bei weitem nicht so
unerschwinglich wie unsere Brombeeren. Den Staatsmännern
und Publizisten der Lebensmittelmächte wäre dringend eine
Revision ihrer Sprache, die noch zu viel Viktualien enthält,
anzuraten. Es ist schwer, durchzuhalten, wenn man bei jedem
Brocken der Sprache an jeden Brocken erinnert wird. Ich habe
diesen Mißstand in einem Klagelied dargestellt, das ich mir
demnächst einem Publikum aufzutischen erlauben werde, welches
fleischfreie Wochen leichter als phrasenfreie Tage verträgt.
Propaganda
So oft ich in der Schweiz war, konnte ich mich von den
Erfolgen der deutschen Propaganda, die sich nicht mit der
Aufklärung in Wort und Schrift bescheidet, sondern auch werktätig
durch Beispiele zu wirken und zu werben versteht, überzeugen:
Deutsche Internierte haben auf der Rütli-Wiese eine
Hindenburg-Feier abgehalten, wobei der Festredner den Rütli-
schwur mit dem Fahneneid verglich und erklärte, daß über dem
Schwurplatz der deutsche Geist schwebe. — In Genf wurde eine
Frau gesehen, die eine Brosche mit der Inschrift »Gott strafe
England!« trug. — Auf der Zürcher Straßenbahn schlug ein
Herr Lärm, weil französisch gesprochen wurde. — In einer
Konditorei am Thunersee bestand eine Damengesellschaft darauf,
daß die Verkäuferin >Sahne« statt Creme sage, und verließ das
Lokal, weil es nicht geschah. - In Lugano bewogen reichs-
deutsche Gäste den Hotelier, den feindlichen Konsuln die
Hotelwohnung zu kündigen. — Als in einem Coupe auf
der Drahtseilbahn in St. Moritz fremde Sprachen gesprochen
wurden, sangen zwei deutsche Kriegswucherer, wie ich deren
noch nie geschaut habe, kugelrunde Ungetüme, zwei Meter tief,
doppelbreit, vierfaches Kinn, blau rasiert, Wadenstrümpfe:
»Deutschland, Deutschland über alles!«
— 206
Der Feind
Der englische Oberbefehlshaber
Sir Douglas Haig gedenkt in einem
amtlichen Bericht anerkennend
eines deutschen Offiziers, der bei
Flesquieres mit hervorragender
Tapferkeit gegen die Tanks kämpfte.
Die ,Daily News' veröffentlichte
über den Vorgang folgende Mit-
teilung eines Augenzeugen:
Unsere Leute waren fast
traurig, daß sie ihn der-
art erledigt hatten, denn
er verdiente zu leben.
Ich glaube, es war der
schönste Fall von Tapfer-
keit undHeroismus, der
mir vorgekommen ist.
Einem Bericht des .Teplitzer
Anzeigers' über eine Gemeinde-
ausschußsitzung entnehmen wir:
> Unter anderem wurde auch noch
beschlossen, die dem in Teplitz
am 22. März 1917 verstorbenen
kriegsgefangenen Fran-
zosen Paul Marquis,
der zur Arbeitsleistung auf dem
k. u. k. Militärschacht in Zinn-
wald kommandiert war und
in Teplitz beerdigt liegt,
von seinen Kame-
raden gewidmete
Gedenktafel vom
hiesigen Fried-
hof zu entfernen.«
Mitropa
Die Nachricht im heutigen Abendblatte der > Neuen Freien
Presse < , daß die Royal Society alle ausländischen Mit-
glieder aus Mitteleuropa ausschließen wolle — —
Daß sie sie ausschließen wolle, hat sich sofort als Lüge
herausgestellt. Aber, daß sie nicht die Macht hat, sie aus Mittel-
europa auszuschließen, ist wahr. Andernfalls ließe ich mich gleich
als Mitglied aufnehmen, um solches Benefiz zu erlangen. Denn
der Gesellschaft Mitteleuropa anzugehören wird auf die Dauer
doch mit Unbequemlichkeiten, jedenfalls mit Reiseschwierigkeiten
verbunden sein, zumal da man nur auf die Schlafwagengesellschaft
».Mitropa« angewiesen sein wird.
— 207 -
Die Sieger
Drei Budapester Kriegsgewinner,
die sich auch nach der Sperrstunde
noch in einem Unterhaltungslokal
bei Champagner vergnügten,
empfanden plötzlich den Mangel
weiblicher Gesellschaft äußerst
unangenehm und waren sehr
erfreut, als eine Artistin herbei-
geholt wurde, die bereit war, ihnen
Gesellschaft zu leisten. Zwischen
den drei Millionären kam es nun
zu einem Wettstreit um das
Mädchen, dem immer größere
Summen geboten wurden. Endlich
verfielen die Herren darauf, das
Mädchen zu versteigern.
Einer der Herren, der Fetthändler
Kovacs, trug schließlich mit 50.000
Kronen den Sieg davon. Er stellte
auch sogleich einen Scheck aus
und übergab ihn dem Mädchen.
Damit aber das Mädchen das
Geld nicht beheben könne, stellte
er das Datum mit der Jahres-
zahl 1917 aus. Das Mädchen
verbesserte aber die Zahl auf 1918
und behob das Geld. Als Kovacs
dies erfuhr, drohte er, falls das
Mädchen ihm nicht wenigstens
20.000 Kronen zurückgäbe, mit
einer Anzeige. Das Mädchen
wandte sich an einen Rechtsanwalt,
der einen Schadenersatzprozeß
anstrengte und eine Entschädigung
von 200.000 Kronen für die
verloren gegangene Unschuld des
Mädchens verlangt.
Eine Frau P. aus Charlotten-
burg unternahm eine Reise und
lernte auf der Eisenbahn einen
Landwirt aus Ottorowo, Kreis
Samter, kennen, dessen entgegen-
kommendes Wesen sie ermutigte,
in einem Briefe an ihn die An-
knüpfung geschäftlicher Bezie-
hungen zu versuchen. Sie erhielt
darauf folgende Antwort:
Ottorowo, Kreis Samter,
den 2. September 1918.
Sehr geehrte Frau P . . .,
ihren werten Brief erhalten,
und daraus ersehen, das sie
sich etwas Lebensmittel gern
holen wollen. Nun will ich
auch ihnen entgegenkommen.
Und können sie nach Samter
kommen u. zwar müssen sie
Morgens um 6 Uhr dasein. . .
Ich bringe ihnen 20 Stk. Eier
15 Pfd. Mehl Vz Ctr. Kartoffeln
etwas Gurken und 2 Pfd Fleisch
auch 3 Pfd Käse. Ich will für
die Sachen kein Geld. Mus
ihnen aber gestehen,
ich will mal gutLiben.
Also sie wissen was
ich will. Wenn wir uns erst
kennen, können sie alle Monat
kommen u. ich werde sie schon
immer was besorgen. Also
bestimmt Freitag. Wenn nicht
bitte um Antwort.
Es grust unter einem süssen
Kuss ihr H. S
Eros, Ares und Ceres — sie sind ihr Geld wert. So und
nicht anders ist die Menschheit beschaifen, für die die Menschheit
in den Tod gegangen ist.
208
Es gibt keine Schweißfüße mehr
Diese ein wenig großsprecherische deutsche Annonce wird
hinreichend Lügen gestraft durch die Propaganda, die neuestens
ein Verlag macht, der sich , Verlag Englands »Kultur«' nennt und
schon durch die Anführungszeichen und vollends die im Titel des
Werkes: .Englands »Kultur« in > barbarischer« Beleuchtung' die
ganze Hoffnungslosigkeit einer Zeit- und vor allem Raumgenossen-
schaft mit den Inhabern einer solchen Unternehmung dartut. Die
schlichte, aber geschäftlich nicht aussichtslose Idee, durch eine
Übersetzung aus alten englischen Zeitungsartikeln darzutun, daß
es auch in London einmal einen Salon Tuschl gegeben hat, wobei
schweinische Kapitelüberschriften die »barbarische« Beleuchtung
besorgen, wird in einem Buchhändlerorgan wie folgt kommentiert:
Dieses Buch wurde fälschlich des pornographischen Inhalts
geziehen —
Eine Verwahrung, die dem deutschen Mann die Sortimenter
keineswegs abspenstig machen wird
- — doch nur von Leuten, welche den wahren und patriolischen
Zweck der Herausgabe dieser unsauberen Materie
verkennen.
Und nun kommt der Zweck, der so deutsch ist wie die
Sprache, in der er einbekannt wird. Wörtlich:
Das Buch soll die Schändlichkeit dieses Volkes,
wenigstens in dieser Richtung, kennen lernen,
hassen und bezwecken, daß unsere Industrie und
Gewerbe die Sucht nach ausländischen Einkäufen
überflüssig macht.
Ich habe mir oft vergebens vorzustellen gesucht, wie die
bekannte Lage der Deutschen in Österreich aussieht. Dieser
Satz dürfte annähernd ein Bild geben. So und nicht anders
stehn wir vor England da. Ein Glück, daß das nicht ins
Englische übersetzt werden kann. Ich fürchte aber, daß eine der
Bedingungen der Friedenskonferenz die Auflösung von Gustav
Feitzingers Bücherverlag Wien 3/2 Krieglergasse 18 sein wird.
Dann dürfte freilich jene Annonce erfüllt sein.
— 209
Englands bedrängte Finanzlage
Die Notenpresse als Schöpferin trügerischen
Wohlstandes.'
Telegramm unseres Korrespondenten.
Bern, 12. August.
Im Oberhause lenkte Lord Inchcape die Aufmerksamkeit auf
die bedrohliche Finanzlage Englands — — Es sei nicht zu leugnen,
daß die finanzielle Lage der Feinde noch schlimmer sei als die der
Verbündeten, mit einer einzigen Ausnahme; aber all dies sei
nur ein geringer Trost. — — Unsere innere Währung ist
nur eine Papierwährung. Wir besitzen nicht weniger als 260 Millionen
Pfund Sterling im Umlauf, die nur durch einen geringen Prozentsatz
Goldes gedeckt sind. Der Überschuß ist nur durch Schatzscheine der
Regierung gewährleistet. Dies scheint eine überaus leichte Methode zu
sein, den Krieg zu finanzieren; aber dieselbe Notenpresse hat Rußland
ruiniert. Auch jedes andere Land leidet schwer an den Folgen dieses
Systems, das eine Zeitlang über finanzielle Schwierigkeiten hinweghilft,
letzten Endes aber immer eine sich stetig entwertende Währung und
ebenso stetig steigende Preise bedeutet. — —
Aber all dies ist nur ein geringer Trost.
Verdrossenheit in der Entente
Verdrossenheit in der Entente.
Bevorstehende Ministerkrise in Frankreich und
steigende Verwirrung in Rußland.
— — Die Entente hat die große Gabe der Haltung. Sie will
so lange als möglich den Schein bewahren Aber diese Fähigkeit
der Selbstbeherrschung — — vermag dennoch auf die Dauer nicht
zu verbergen, wie es im Innern aussieht, wie unsicher der Boden
ist, auf dem sie sich bewegt — — Wirtschaftliche Not, politische
Vertändelung in Frankreich, dumpfe Unzufriedenheit in
Italien, Chaos in Rußland und in England und Amerika schrankenlose
Unterdrückung der Friedenssehnsucht. Der vierte Kriegswinter beginnt
mit heftiger Verdrossenheit in der Entente.
— 210 —
Aber damit — es ist seit vier Jahren ein geschriebenes Kopf-
wackeln — damit hat doch schon der erste begonnen? Das wird
eine Anekdote werden: »Was sagen Sie, Kohn sein Plafond
is zusammgestürzt!< »Wieso ?< »Ich hab deutlich gehört, es
rieselt im Gemäuer.« »Was Sie nicht sagen! Grad war ich bei
ihm und hab nix bemerkt.« »Das schaut nur so aus, aber ich
sag Ihnen, ihm is mies zu wohnen, es rieselt im Gemäuer.
Sie können von hier hören.« »Ich hör nix.« »Mir kommt vor
wie ein Geräusch.« »Was für ein Geräusch, lassen Sie mich aus
mit Geräusche, ich hör kein Geräusch.« »Sie hören kein Geräusch?
Kleinigkeit, was dort rieselt!« »Natürlich! Wissen Sie was das
is, das is die Wasserleitung!« »Na also sehn Sie, was hab ich
gesagt?« »Sie haben gesagt, Kohn sein Plafond is zusamm-
gestürzt.« »Ich hab gesagt, es rieselt im Gemäuer.« »Aber es
is doch die Wasserleitung!« »No is das vielleicht gar nix?
Fort fließt Wasser!« »Wieso? Wenn er will, dreht er ab. Und
schon hat er abgedreht!« »Sehn Sie, was hab ich gesagt? Er
hat genug, ihm is schon mies!« »Wovor?« »Vor dem Geriesel!
Ich sag Ihnen, ein Glück, im Nu war sein Plafond zusamm-
gestürzt!«
Dem Toten geht's bereits schlecht
Ich sammle die Klischees, mit denen in der gehirnfreiesten
aller Zeiten die Zwangsdummheit regaliert wurde. Eine Prämie
bekommt:
»Die Entente verbirgt sich noch hinter großen Worten, aber
sie fühlt bereits ihre Schwäche.«
Wenn der Großmauschel diesen Gedanken der Staatsfibel
übernimmt, so ist doch etwas Pikanterie dabei, indem nämlich
ein seit vier Jahren täglich und abendlich beschrieenes Debacle,
das aber — unter fortwährendem Gemäuergeriesel — zusehends
milder wurde, jetzt nur mehr den Untertitel erhält:
— 211 —
Zunehmendes Schwächegefühl in der Entente.
Sie ist hin, kein Hahn kräht mehr nach ihr. Man zweifelt
an ihrem Aufkommen. Wenn das so weiter geht, ist ihr nicht
mehr zu helfen. Schlecht geht's ihr. Die ist auch nicht mehr das
was sie einmal war. Ihr geht es bereits schlecht. — Während
die Glückliche starb, haben wir so alle Tage gelebt. Nein, ich
tausch' mit keinem Engländer!
Strategischer Rückzug
— — Es ist eine böse Zeit für Frankreich, für die Entente
und wohl auch für die übrige Welt.
Es rieselt im Gemäuer
In den Tagen, da wieder die alte Siegfriedstellung in
Sicht kommt; da man in Deutschland einig ist, daß der Krieg
nicht militärisch entschieden werden kann; da auf die vom Feind
unbemerkten Rückzüge Kant- Zitate in deutschen Reden zögernd
folgen, aber nicht allein Krupp durch Kant, sondern auch Wolff
durch Solf ersetzt wird — ist es unausbleiblich, daß auch der
Wiener -Leitartikler für einen Verständigungsfrieden zu haben
ist, was sich freilich auf seine Weise wie folgt kundgibt:
Wir müssen uns in die Entente hineindenken.
— — Die Zeit ist sehr ernst. Aber desto mehr ist es
nützlich zu vermeiden, daß die Urteile über die Entente auch noch
durch den Aberglauben befangen werden.
Daß es im Gemäuer rieselt? Mit nichten, daß sie eine
neue Ostfront noch aufstellen könne.
— 212 —
— — Vielleicht wird schon morgen mehr Klarheit über die
neue Durchbruchsschlacht sein. Die Zeiten sind hart.
Somit wäre also auch die alte Morizstellung wieder bezogen.
Joab mein Sohn, in was bist du gekommen für einer
abscheulichen Period'!
— — Engländer und Franzosen schießen weltberühmte 'Kathe-
dralen zusammen. Unschätzbare Werke großer Baukünstler, Denkmale,
errichtet aus dem Kuhstg-efühle der Zeit, in der
sie entstanden sind, werden vernichtet und lassen sich
kaum mehr ersetzen. Dörfer und sogar Städte verschwinden.
Bäume und Sträucher werden niedergeschlagen,
Felder unterhöhlt oder zerstampft. Schrecklich ist der Krieg
von heutzutage.
Trost im Exil
Wie wärmt es im »neutralen Ausland« — ein Wort, bei
dem mir übel wird, wenn's der die Paßvisumklauselanweisung
ausstellende Vertreter des Vaterlandes sagt; ein Begriff, bei dem
man sich von all dem erholt — , wie wärmt es dort, etwas über die
Heimat vom Korr.-Büro (sprich Korrbüro) zu erfahren. Das, Neue
Wiener Tagblatt' bezeichnet das Vorgehen Deutschlands im Osten
als notwendige Aufgabe. Das beruhigt mich. Balfours Rezept, in
das Bündnis Österreich-Ungarns mit Deutschland einen Keil zu
treiben, werde nicht verfangen. Na Gott sei Dank! Das
»Extrablatt* stellt fest, daß der Schritt Deutschlands
in vollem Einvernehmen mit Österreich-Ungarn erfolgte, und
drückt die Hoffnung aus Da dürfte der Wülson zuspirrn
können.
213
Wilson soll gesagt haben
». . . Der Gedanke an die einfachen Menschen hier und überall
in der Welt, an die Menschen, die sich keines Vorrechtes erfreuen
und sehr einfache und sophistische Maßstäbe für
Recht und Unrecht haben, ist die Luft, die alle Regierungen künftig
atmen müssen, wenn sie lebensfähig sein wollen.«
Wie es gemacht wird
. . . Asquith verlangt selbst für den Fall der Schiedsgerichte
die Anwendung militärischen und wirtschaftlichen Zwanges und
spricht von allen Grundsätzen Wilsons, wie v,on öligen
Gemeinplätzen.
Er hat nämlich von denen Czernins gesprochen.
Verstaatlichung
Das Ziel der inneren Politik muß sein, den Czechen zum
Bewußtsein zu bringen, daß sie nach dem Verlaufe dieses Krieges
ihre Zukunft durch eine Verständigung mit den Deutschen, durch eine
Verstaatlichung ihrer Politik . . den welthistorischen
Verhältnissen anpassen und nüchtern klären müssen.
Ja das wollen sie ja!
214
Vorteile des Friedens mit Rußland
Wir müssen uns hineindenken in die Spannungen
lange vor dem Morde in Sarajewo, an die beständige Sorge wegen der
Pläne in Petersburg und wegen der Feindseligkeiten des Botschafters
Iswolsky. Wir haben alle miterlebt die Morgen, die
vergällt waren durch Berichte über russische
Absichten und Gehässigkeiten, durch Kummer
über Umtriebe des Gesandten in Belgrad und
Streitigkeiten in Montenegro und Albanien.
Unbedeutende Vorfälle wurden beängstigend im fahlen
Lichte zuckender Blitze in der Weltpolitik. Das
Gewaltige dieser Veränderung wird anschaulicher in einem
kleinen Ausschnitte aus der bürgerlichen Lebensweise.
Der Friede sichert ein Frühstück ohne Rußland.
Nicht mehr in der äußeren und vor allem auch nicht in der inneren
Politik beständig an russische Herrscher, Parteien, Verschwörungen
und Rüstungen denken müssen, wird erlösend sein, Befreiung der
Kräfte, ein Gefühl nie vorher gekannter Ruhe. In Milliarden
ausrechnen können wir das nicht. Es gibt jedoch
Milliarden, die sich nicht zählen lassen.
Der Friede sichert ein Frühstück ohne Rußland, aber
nicht ohne die Freie Presse. Das ist denn doch ein etwas ver-
hatschter Ausgang des Weltkriegs. Aber wie immer die Welt
nun laufen mag, das Vorher und das Nachher bleiben in unver-
geßlichen Tonfällen festgehalten. Was überstanden ist: »Wir
müssen uns hineindenken in die Spannungen und wir haben
alle miterlebt die Morgen, die vergällt waren durch Berichte«.
(Wobei der kleine Ausschnitt aus der bürgerlichen Lebensweise
bloß in der Konstatierung besteht, daß da gefrühstückt wird.)
Nun aber der Jauchzer, der Ausdruck für die höchste Entzückung,
wenn der Dulder aus Kerkernacht in den Tag der Freiheit tritt
oder dem Liebenden die Stunde erfüllter Sehnsucht schlägt: »In
Milliarden ausrechnen können wir das nicht. Es gibt jedoch
Milliarden, die sich nicht zählen lassen.« Der Pathetiker eines
früheren Jahrhunderts hatte, den damaligen bescheidenem Ver-
hältnissen entsprechend, für den Hochstand der Gefühle
höchstens den Ausdruck: >Seid umschlungen Millionen, diesen
Kuß der ganzen Welt !« Nebbich. Wenn das Herz Benedikts
seine Schläge zu zählen beginnt, sind Schillers Wonnen ein
Pappenstiel gegen heutzutag.
— 215
Ein Herzensschrei
.... Die englische Regierung hat den Krieg durch eine Preß-
politik vorbereitet, deren psychologischen Scharfblick und modernes
Anpassungsvermögen auch der Gegner anerkennen muß. W i e
töricht sind die Menschen in den Parlamenten und sonst
im öffentlichen Leben, die sich an der Presse reiben,
statt durch sie Einfluß in der Welt zu gewinnen,
Wohlwollen in der Fremde und Opferbereitschaft zu Hause zu verbreiten ;
wie kleinlich und wie veraltet sind die Urteile, die sich nicht erweitern
können zur Auffassung von Erscheinungen, die gerade in
diesem Kriege die Wichtigkeit der Presse Allen,
welche sie früher nicht begreifen wollten, nur
zu deutlich bewiesen haben. England hat Anhänger und
Freunde in der Presse auf dem ganzen Erdenrund. . . . Die Presse
wird durch Achtung vor der Presse gewonnen . . .
Hochmut, der sich in äußerer Freundlichkeit versteckt, Dünkel in herab-
lassenden Formen und Mangel jeder tieferen Einsicht stoßen ab,
und so kann es geschehen, daß Länder, die längst begriffen haben,
was die Presse ist, und sich ihr näher fühlen, werktätige Verteidiger
finden, zum großen Schaden zurückgebliebener
Staaten.
Wie könnte Österreich dastehn! Es sind die günstigsten
Vorbedingungen da. Es hat einen Benedikt und macht keinen
Gebrauch von der Mezzie. England hat nur den Northcliffe,
der doch keine Individualität ist.
Lord Northcliffe ist für die Presse selbst immer schädlich
gewesen. Er hat ihr vielfach genommen, was sie unbedingt braucht,
ein freieres G e w ä h r e n 1 a s s e n der Persönlichkeit
und ein genügend breites Feld für die publizistische
Individualität. Er ist der Massenfabrikant, der Inhaber vieler
Zeitungen, und solches Zusammenkoppeln tut nicht gut, weil der
Leser aus dem Blatt den Menschen spüren will,
der zu ihm spricht, auch wenn er ihn nicht kennt.
Der Leser in Wien spürt den Menschen, der Mensch faßt
ihn zweimal im Tag am Rockknopf und jüdelt ihm ins Herz
hinein. Und der Leser hat das gern, er läßt sich das gefallen,
auch wenn er den Menschen nicht kennt, nein, weil er ihn nicht
kennt. Denn wenn ihm die Photographie zum Frühstück beigelegt
würde, er würde doch unfehlbar sich für den unpersönlicher
216
aussehenden Northcliffe entscheiden und auf die Daily Mail
abonnieren. Und dies ist vielleicht der Grund, warum zurück-
gebliebene Staaten nicht zugreifen wollen. Der kulturelle Einfluß
Benedikts lebt von der Unsichtbarkeit und ist größer, als die
Individualität sich's in ihrer Bescheidenheit zutraut, weit größer
als der Northcliffes. Aber vor einer offiziellen politischen
Verbindung graust's den zurückgebliebenen Staaten, und das
kann man ihnen schließlich nicht übelnehmen.
Der jüdische Indikativ
Ich habe den ganzen letzten Winter nicht mauscheln
gehört, aber dies ist mir noch im Ohr:
Einer der größten Kenner von England, Sidney Webb, hat gesagt,
nach diesem Kriege wird die Welt müde sein, frieren und hungern.
W i r werden dafür sorgen müssen, daß wir der Hungersnot und der
Revolution entgehen.
Hier führt das Selbstbestimmungsrecht der abhängigen
Sätze zu bedenklichen Weiterungen.
Er sagte, es ist nicht zu leugnen, Italien hat eine ernste Niederlage
erlitten, aber w i r brauchen nicht zu fürchten, daß das Ergebnis des
Krieges davon beeinflußt werde.
Auch hier.
Nun mag Sonnino in Frankreich, in London und in dem so
heiß geliebten Petersburg fragen, wie steht es um die Erfüllung des
Aprilvertrages. Wo ist Istrien, wo Triest und wo Dalmatien?
Hier scheint das Selbstbestimmungsrecht auch nicht zu
unsern Gunsten entschieden zu haben. Ganz unzweideutig
dagegen ist :
Kerenski hat gesagt, Rußland ist erschöpft.
— 217 —
Das rabiate Ich
Es gibt kein Land, wo die Leute nicht heimlich flüstern, ich
wollt', es wäre Schlafenszeit und alles war' vorüber.
Präsident Wilson hat einmal gesagt, ich lege das Ohr auf den
Boden und horche auf die Wünsche des Landes.
Und alles bückt sich, flüstert, fragt: Was hat er gesagt?
Der Ton
Die Rettung des Kaisers aus ernster Lebensgefahr.
In einem Torrente nahe bei Ruda.
Der Kaiser war in einer sehr ernsten Gefahr. — — — Die
Gedanken an die Folgen, welche dieser Vorfall hätte haben können,
möchten wir nicht ausdenken. — — — Die Rettung
des Kaisers durch den Mut und die Entschlossenheit vortrefflicher
Männer ist nicht nur die Befreiung von einer Sorge, sondern,
fast möchten wir sagen, eine politische Notwendig-
keit gewesen. — — — Wir sind in einem der wichtigsten
Abschnitte des Krieges und der Kaiser soll uns hinüberleiten aus
dem Blutstrom zum ersehnten Frieden.
Aus dieser Mitteilung geht hervor, daß der Kaiser heute in
ernster Lebensgefahr geschwebt hat. Es wird besser sein, gar nicht
an die Folgen zu denken, welche sich hätten daraus entwickeln können.
Die Schlacht am oberen Isonzo hat erst heute früh
begonnen und wir möchten ihrem Verlaufe nicht vorgreifen.
Wer sich in die Italiener nur ein wenig hineindenkt,
wird verstehen — —
— — und da kann der Schrecken sich auch über die Grenze
verbreiten — —
Die italienische Grenze ist nahe und Schrecken dürfte sich
bereits unter den Bewohnern verbreiten.
— — ohne die Möglichkeiten, die sich dem Nachdenken
aufdrängen, schon jetzt, ehe das Werk vollendet ist, in den
Einzelheiten zu erörtern.
- 218 —
Wir können uns vorstellen, wie er dort sitzt
auf der Regierungsbank, im Palaste des Monte Citorio, ein
düsterer, schweigsamer Mensch
— — und Spuren der Gedrücktheit werden erkennbar.
Vielleicht geht jetzt schon ein Flüstern durch
die englische Gesellschaft, daß der Krieg sich nicht mehr
bezahlt machen könne — —
Das Blei ist jedoch im Flügel.
Die Antwort ist die Vernichtung von Dünkirchen gewesen.
Es scheint auch, daß die berühmte Towerbrücke in London teilweise
zertrümmert worden sei. Ein Gerücht meldet, daß auch einer der Türme
des Tower zusammengestürzt sei. Schreckliche Zeiten! Alle
diese Berichte sind beklemmend.
Heute wird der größte Fliegererfolg gemeldet,
der jemals stattgefunden hat. In der Nacht vom 28. zum
29. September erschienen die Flugzeuge über der Stadt und die
Phantasie kann sich ausmalen, wie die Bomben
herunterdonnern und riesenhafte Flammen die Nacht
erhellen. — —
Wenn der Vertrag über den Sonderfrieden unterzeichnet wird,
ist Lloyd-George verloren und vielleicht auch Clemenceau.
Dann werden die Engländer und die Franzosen das Gefühl haben,
als würde eine Pulvermine aufgeflogen sein — —
(Gerade dies Gefühl müssen sie im Krieg schon öfter
gehabt haben.)
Mitglieder des Oberhauses in England verlangen täglich den
Verständigungsfrieden. Wilson ist vielleicht ein Reisender,
der den Zug versäumt hat.
Die Schlacht an der Marne dauert fort. Der Krieg ist wie vor
vier Jahren beinahe in die Nachbarschaft von Paris vorgerückt. W i r
können uns denken, welchen Eindruck die Nachricht in Wien
hervorrufen würde, daß eine große Schlacht in Gloggnilz oder Neun-
kirchen stattfinde.
Nun werden sie schreien nach der amerikanischen
Unterstützung, nach diesem Irrlicht der Entente, dem sie nacheilt
und das sie immer tiefer hineinführt in den Sumpf, in Nieder-
lage und Verderbnis.
219
Was sind »Stimmungen«
von denen man täglich zu lesen bekommt? Ist es etwas, woran
man verdient? Wird es an der Börse gehandelt? Nein, nichts
Solides, nichts was man »abtasten« kann.
Denn die Stimmungen sind Schlüsse aus Vordersätzen unter-
halb des Bewußtseins mit der Wirkung, daß sie dem berechnenden
Urteil vorgreifen.
Ein Titel
Französische Ausreden über den langsamen Vormarsch.
Nein, die läßt die Neue Presse nicht gelten.
Der Untertitel
Ei» Geschwader von italienischen Fliegern über Wien.
Heute am Vormittag zwischen neun und zehn Uhr.
*
Die Entscheidung der Krise bevorstehend.
Wahrscheinlich morgen.
*
Die Abreise des Grafen Czernin nach Bukarest.
Übermorgen Samstag.
Titel und Untertitel
Der Friedensvertrag vom Moskauer Sowjet mit
ungeheurer Mehrheit angenommen.
Von 195 Sowjets 110 für die Ratifizierung.
220 —
Die wichtigsten Fragen der Monarchie im
Fluß.
So, genau so hat es ausgesehen. Die Verwendung
dieser fatalen Redensart als Aufschrift
hat eine Mauschelgewalt, die unter tausend deutschen Ohren
kaum eins noch heute spürt. Ob wir bald aus dem Wasser sein
werden, hat der Artikel nicht verraten.
Staatsprüfung
Wonach im Laufe des Tages folgte was am Abend wo?
Nach den ernsten Beratungen im Laufe des heutigen Tages
folgte am Abend eine gesellige Veranstaltung in den Räumen des
Ministerratspräsidiums.
Was führte rasch wozu?
Die Liebenswürdigkeit der Gastgeber und ein sorgsames,
jedem Zwange freies Arrangement führte rasch zu einer belebten und
ungezwungenen Unterhaltung der Gäste.
Wiederhole das Gesagte: Wovon war das Arrangement
frei? Von jedem Zwange. Und wie war infolgedessen die Unter-
haltung? Ungezwungen. Beweise es:
An kleinen Tischen fanden sich alte Freunde zusammen, neue
Bekanntschaften wurden angeknüpft und —
Was sonst? Was wird der Abend sonst gebracht oder
herbeigeführt haben? Besteht eine Vermutung?
Der Abend wird manche wertvolle Anregung gebracht, manche
Dauer versprechende Beziehung zwischen den deutschen und öster-
reichisch-ungarischen Teilnehmern herbeigeführt haben.
Gut, fassen wir jetzt noch einmal zusammen, oder geben wir
eine Schilderung, wie sie etwa ein anderer Gewährsmann
entworfen hätte.
221
Die mitten in den unruhevollen Zeiten des Weltkrieges tagenden
und in eine ruhigere und glücklichere wirtschaftliche Zukunft voraus-
blickenden deutsch - österreichisch -ungarischen Wirtschaftskonferenzen
gaben heute abend dem Ministerpräsidenten Dr. Ernst Ritter v. Seidler
und Frau Thea v. Seidler willkommenen Anlaß, die Teilnehmer an
diesen Konferenzen —
Aber was für welche denn, woher denn? Ordentlicher!
Wie, aus dem deutschen Reiche? Noch ordentlicher!
Aus dem untrennbar verbündeten deutschen Reiche.
So ist's in Ordnung. Und woher noch? Aus Österreich-
Ungarn? Keine Schlamperei, wenn ich bitten darf!
und aus den beiden Staaten der österreichisch-ungarischen
Monarchie
Sowie?
sowie einen Kreis hervorragender Persönlichkeiten zu Gaste
zu sehen.
Wobei war was doch über die gesellschaftliche Veranstaltung
gebreitet?
bei aller Schlichtheit, die der Krieg gebietet, bei dem Ernst —
Bei welchem Ernst?
der Zeit und der Gegenstände der Beratungen, war doch —
Also was war gebreitet?
ein Hauch der gastlichen Gemütlichkeit
Der welchene ist das?
der den Ruf der Kaiserstadt in der ganzen Welt begründet hat.
Ah der, richtig, das hätt' ich beinah selbst vergessen.
Was war das historisch bedeutsame und prunkvolle Palais?
ein würdiger Rahmen für den Empfang und —
Aha, was taten der Hausherr Dr. Ritter v. Seidler und
Frau v. Seidler? Sie —
wetteiferten
Was zu tun? Von wem unterstützt?
unterstützt von den Herren des Ministerratspräsidiums, den
Gästen den Aufenthalt an der gastlichen Stätte so angenehm als
möglich zu gestalten.
222
Ist es gelungen? Hat's keiner bereut? Waren A leerschienen?
Zum heutigen Empfang waren etwa dreihundert Einladungen
ergangen und es gab fast gar keine Absagen.
Was war schon bald nach 8 Uhr?
Schon bald nach 8 Uhr waren die Salons —
Wovon gefüllt?
mit ihrem schönen künstlerischen Schmuck
Falsch. Wovon gefüllt?
von den Gästen gefüllt.
Was taten hierauf Dr. v. Seidler und Frau v. Seidler? Sie —
hießen jeden neuen Gast herzlich willkommen.
So ist's recht. Was tat man unter den Anwesenden?
Unter den Anwesenden bemerkte man
Wen natürlich zuerst?
den Kriegsminister Freiherrn v. Stöger-Steiner
Wen noch?
Banhans . . Cwiklinsky . . Bleyleben . . Exner . . Sieghart
. . Chlumecky . . Ruß . . Groß . .
Genug! Wie heißt der ungarische Handelsminister Stern?
Szterenyi.
Wo standen die deutschen Teilnehmer?
Im Mittelpunkte des Interesses.
Fahren Sie fort !
Ferner waren geladen Aus Ungarn waren außerdem
geladen — — Das Ministerratspräsidium war vertreten — Ferner
waren anwesend — — ferner waren erschienen — —
Ich sehe schon, Sie haben den Beamtenkalender gelernt.
Sie haben seit den Empfängen unter Hohenwart, Taaffe, Badeni,
Gautsch, Beck, Stürgkh nichts vergessen. Merken Sie es sich für
Hussarek!
— 223
Es kann passieren
daß ein Artikel, der die Demission des Herrn v. Seidler verlangt,
»der nötige Ernst« betitelt ist und die Forderung aufstellt, es
müsse dem Volke die Gewißheit werden, daß er »oben nicht
fehlt«. Darum eben hat sich die Sache so lange hingezogen.
Der Admiral
... Im englischen Kabinett bestanden am 31. Juli 1914 zwei
Gruppen .... Ganz allein stand in jenem Augenblick Winston
Churchill, der als Erster Lord der Admiralität die
Schiffe bereits hinter sich verbrannt und seine
Pflicht getan hatte.
Erkundungsvorstoß in die Sprache
Daß die Sprache von Fachausdrücken des alten' Kriegs-
handwerkes durchwirkt ist, merkt man erst, wenn sie jetzt
mit den neuen termini technici zusammenstoßen oder
zusammenfließen. Oder vielmehr: die deutsche Phantasie, die sich
für deren Erwerbung aufgeopfert hat, merkt es nicht; und da die
neuen technischen Methoden nicht die Kraft haben, Sprachgut
zu hinterlassen, so wird, wenn nichts anderes, die alte Redensart
den neuen Krieg überleben. Das Beispiel der bei einem erfolgreichen
Gasangriff hochgehaltenen Fahne setzt sich endlos fort. Aber
nicht nur der Anachronismus, den unser ganzes heroisches
Denken vorstellt, auch die Gleichzeitigkeit von Tatmethode und
Redensart kommt einer entseelten Sprache nicht mehr zum
Gefühl. Daß einmal dem Papst nachgesagt wurde, er habe mit
— 224
einer pazifistischen Forderung übers Ziel geschossen, war gewiß
ein empfindlicher Vorwurf. Aber empfindlicher ist es, wenn es
nicht karamboliert, sondern zusammengeht:
— — durch Einbruch in die gegnerischen Linien — — liefer in die
gegnerischen Slellungslinien einzudringen — — Einblick in die von
den vordersten Linien verschiedene Art der Truppenbelegung zu
bekommen — — begibt sich die Erkundungsabteilung wieder in
die eigenen Linien zurück — — In erster Linie ist daran zu
erinnern, daß ein größerer deutscher Erkundungsvorstoß statt-
gefunden hat — —
Mit solchen Kleinigkeiten habe ich mich im Weltkrieg
abgegeben mein Herrgott, überzeugt, daß die großen Angelegen-
heiten aus eben der Fähigkeit, sich bei einem Wort, bei einer
Kriegserklärung nichts mehr vorzustellen, entstanden sind. Nach
solchem Erkundungsvorstoß begebe ich mich in die eigene
Sprache zurück.
Der Generalquartiermeister des Stils
Februar 1918
Kriegsminister v. Stein äußerte in einer Unterredung
mit dem Berliner Korrespondenten des .Budapesti Hirlap'
(das hätte er nicht sollen)
u. a. : Unsere Lage an der Westfront sei gut. Gegenüber dem neuen
Feinde Amerika seien wir gut gerüstet. Welche Bedeutung auch der
Technik zukomme, die treibende, siegreiche Kraft bleibe immer der
einzelne Mann. Audi den neuen Wunderwerken der Technik,
den englischen Tanks, seien wir durch unsere Kanonen
beigekommen Ein voreiliger Verzicht auf die
Vorteile aus einem glücklich verlaufenen Kriege
sei ein Zeichen der Schwäche . . . .
Der Herr General Stein hat sich im ersten Stadium der
Begebenheit als Autor einer Literatur, deren Aktualität unser
225
Interesse so lange wachhielt, bis sie uns ganz erschöpfte, nämlich
der deutschen Generalstabsberichte, durch den Verzicht auf die
Phrase, auf den handgreiflichsten Vorteil aus einem glücklich
verlaufenden Krieg, bemerkbar gemacht. Außerdem hat der
Generalquartiermeister durch die Einräumung der mutigen Ansicht,
d4ß ein Erraffen der Vorteile aus einem glücklich verlaufenen
Krieg eine kulturelle Katastrophe bedeute, wie der Zustand
Deutschlands seit Sedan erschreckend dargetan habe, Aufsehen
erregt. Dennoch und wenngleich der Herr v. Stein damals eine
sympathischere Begleiterscheinung des Weltuntergangs war als
etwa unsere Schalek, hätte man ihn der Bereitschaft, lieber ein
Märtyrer seiner Ansicht als ein preußischer Kriegsminister zu
werden, mit Unrecht überführt. Als solchem mag man ihm die
Erkenntnis zugutehalten, daß die Technik, nämlich ein Tank,
weniger als der einzelne Mann, nämlich die Kanone, tauge. Sie
schließt durchaus keinen Widerspruch ein, wie es auf den ersten
Blick scheinen mag. Denn auch bei der Artillerie ist immer mehr
die treibende, siegreiche Kraft der einzelne Mann, der ja ganz
gewiß zum Beispiel die große Kanone bedient hat, deren Einwirkung
auf Pariser Kirchenbesucher mit Genugtuung festgestellt
werden konnte, und der wohl auch einmal an dem Apparat
beschäftigt sein wird, durch den vom Berliner Stützpunkt
die Festung London in die Luft zu sprengen ohne Zweifel im
Bereich der technischen Möglichkeiten gelegen ist. Aber auch
abgesehen von dieser sachlichen Motivierung ließe sich die Ansicht
des preußischen Kriegsministers schon rechtfertigen, wenn man
dem Stilisten Stein die Fähigkeit zu bildlicher Ausdrucks-
weise zuerkennt. Man müßte den Satz nur richtig zu lesen
verstehen. Herr v. Stein spricht vom »einzelnen Mann« und
rühmt dabei »unsere Kanonen«. »Kanone« ist in Preußen —
vielleicht eben aus dem Grund, weil dort der Technik »große
Bedeutung zukommt« — der Maßbegriff für Tüchtigkeit, und
wie in Berlin vaschtehste etwa ein Weinreisender, ein »Dekorateur«,
ein Kinoschauspieler oder sonst eine Kraft »'ne Kanone« heißt
und sogar — schon lange vor der Einwirkung auf Paris — jeder
Star »die große Kanone« hieß, so wollte Herr v. Stein offenbar
auch die Soldaten, die einzelnen Männer, »unsere Kanonen« nennen.
— 226 —
Möglicherweise wird sich, wenn der Krieg noch länger dauert
und auch die kulturelle Einwirkung auf den Feind vonstatten geht,
in England die Sitte herausbilden, die dortigen Individualitäten
oder Kräfte »Tanks« zu nennen. Aber diesen wären unsere Kanonen
versteht sich erst recht überlegen.
Beweis, daß der amerikanische Kriegsminister lügt
. . . Noch ein Wort des Kriegsministers v. Stein
war wichtig. Er sagte, die Amerikaner bleiben an Zahl und
Stärke weit hinter der Erwartung und den Nachrichten der Entente
zurück. Diese Tatsache bedeutet eine der schwersten Ent-
täuschungen der Entente und insbesondere Frankreichs. Der
amerikanische Kriegsminister Baker hat behauptet,
daß 700.000 Amerikaner an die französische Front geschickt worden
seien. Wenn das richtig wäre, könnte Herr v. Stein
nicht davon sprechen, daß die amerikanischen Truppen erheblich
schwächer seien, als die Franzosen es erzählen.
Geographisch unbekannt
Englischer Bericht
Unser Angriff von heute morgen östlich von Ypern wurde
auf einer Front von ungefähr acht Meilen . . ausgeführt .... Das Nord-
landregiment nahm das Inverneßdickicht, australische Truppen stürmten
den Glincorsewald und None Bosch, schottische Truppen im Vereine
mit südafrikanischen Brigaden nahmen Potsdam Vampir(?) . . .
Mit Recht werden oft im Abdruck der feindlichen Berichte
Fragezeichen hinter den Namen von Örtlichkeiten angebracht,
die es anscheinend gar nicht gibt und mit deren Eroberung der
Gegner offenbar renommieren will.
227 —
Neuer Maßbegriff
. . . Gestern wurde aus Genf gemeldet, daß in Monaco eine
Ministerkrise ausgebrochen ist! Die Welt hält den Atem an, die
Armeen rüsten ab, denn Ungeheueres vollzieht sich. Das Land, das
ein Mörser wegzuhusten imstande ist, ohne Minister !
Ein Konflikt zwischen einer Dame und einem Offizier
Irgendwo war zu lesen:
Zeugen "gesucht! Jene Damen und Herren, welche Augenzeugen
des Vorfalles waren, wie ein Hauptmann am 21. Mai, um ljt 1 Uhr
mittags, in einem 59er Wagen bei der Stiftskaserne eine Dame tätlich
beleidigte, werden gebeten, Namen und Adresse an Dr. Hans K.
einzusenden.
Wie, fragte man, das gibts? Ja das gibts, so leben wir
alle Tage. Es wird noch Schönres geben, und mir wem —
infolgedessen - nimmer leben. Der Advokat scheint den Versuch
gemacht zu haben, denselben Aufruf in das vornehmste Blatt
der Residenz einrückend zu machen. Das gelang ihm aber nur
unvollständig:
[Zeugen gesucht.] Jene Damen und Herren, die Augenzeugen
eines Konflikts zwischen einer Dame und einem Offizier
waren, der sich am 21. Mai um halb 1 Uhr mittags in einem 59 er
Wagen bei der Stiftskaserne abspielte, werden gebeten, Namen und
Adresse an Dr. Hans K. — — einzusenden.
» Pardon Herr Doktor, tätlich beleidigen, das geht nicht !< » Das
finde ich auch, noch dazu eine Dame! Ich bin Ihnen dankbar,
Herr Redakteur!« >Und ein Hauptmann! Das is zu stark!«
>Nicht wahr! Ich bin Ihnen wirklich dankbar!« »Er is imstand
und kommt noch über uns!« »Wir wollen nicht hoffen. Und Sie
ficht ja das nicht an, Sie sind ja als unerschrockener Vorkämpfer
bekannt.« »No ja, das is was anders. Wissen Sie was, wir wem
sagen es war ein Konflikt mit einem Offizier. Da kann man auch
228
glauben, sie hat ihn tätlich beleidigt und er sucht Zeugen. < »Ja,
aber — « >Nix aber, wir sind ein objektives Blatt und können
nicht Partei ergreifen zwischen einem Hauptmann und einer
Dame. Waren wir dabei? Etwas anderes wäre gewesen, wenn
wir wären dabei gewesen. Da hätten Sie sehn sollen, ob der
Hauptmann sich getraut hätte, die Dame tätlich zu beleidigen!«
»Und wenn Sie einem Konflikt zwischen einer Dame und einem
Offizier beigewohnt hätten?« »Mischt man sich auch nicht herein,
aber man bringt!«
Wie kann man nur
kein Freund des Militarismus
sein, wenn man
In dieser möglicherweise
bona fide ins Leben gerufenen
Aktion ist eine Einmischung von
unberufener Seite in die aus-
schließlich der Entscheidung der
verantwortlichen Re-
gierungen vorbehaltenen
Fragen zu erblicken und es wird
befürchtet, daß der Internatio-
nale Studienkongreß, wenn auch
die Absicht ausdrücklich in Ab-
rede gestellt wird, doch ver-
suchen könnte, auf eine
vorzeitige Beendigung
des Krieges hinzuwir-
ken, wodurch die Operationen
der k. u. k. Armee ungünstig
beeinflußt werden könnten. Es
sind vertrauliche Er-
hebungen zu pflegen und
jene Persönlichkeiten
namhaft zu machen, deren Teil-
nahme an dieser Bewegung
wahrscheinlich ist ... .
gleich daneben so etwas zu
lesen kriegt :
... ist beschuldigt, die Mann-
schaft seines Zuges in unerhörter
Weise gepeinigt zu haben, wenn
sie seinem Verlangen
nach Tabak und Brot
nicht nachkam . . . Gaben
sie nichts, so habe er ganz ein-
fach in der dienstfreien Zeit eine
Koffervisite abgehalten,
und wenn er Tabak oder Brot
fand, habe er sich die Sachen
sofort angeeignet, ohne
einen Heller dafür zu bezahlen . . .
Oft ließ er Gewehrgriffe
machen, noch lieber aber kom-
mandierte er so lange »Auf
und nieder«, bis den
Leuten das Blut aus Mund
und Nase rann . . . .
229 —
Es wird alles aufgebauscht
. . . Wenn trotzdem Beschwerden geführt werden, so könne
es sich nur um Übergriffe untergeordneter Organe
handeln.
Dies setzt, wenn's ehrlich gemeint ist, immerhin voraus,
daß man eine Hinrichtung leichter erträgt, wenn sie nicht auch
mit einer schmerzlichen Enttäuschung am Justizminister verbunden
ist. Leider aber hat man es in den verschiedenen Lebenslagen
zumeist mit dem Wachmann zu tun und weit öfter mit dem
Feldwebel als mit dem General. Man darf aber eben deshalb nicht
generalisieren. »Was machen S' denn für an Pahöl! Der
was Ihnen in der Wachstuben eine Watschen gegeben hat, war ja
nur ein untergeordnetes Organ, Sie Tepp!«
Das Menschenmaterial
Ein Erlaß der zehnten Abteilung des Kriegsministeriums vom
8. April bestimmt: Frontdiensttaugliche sowie frontdienstuntaugliche
Professionisten-Heimkehrer sind an die Arbeitersammei-
kader vorläufig nicht mehr abzugeben. Bereits an die Arbeiter-
sammeikader abgegebene frontdiensttaugliche Heimkehrer-Professio-
nisten sind sofort an die zuständigen Ersatzkörper zurück zu-
in stradieren. An die Arbeitersammeikader abgegebene frontdienst-
untaugliche Heimkehrer-Professionisten sind dort zu belassen, bestens
zu disziplinieren und a u f entsprechende Arbeiten in geschlossenen
Arbeitspartien heranzuziehen. Einzelabgaben jeder Art
sind vollkommen unzulässig. Von den Arbeitersammeikaders an
Betriebe bereits Abgegebene sind einzuziehen und gemäß obigem
zu behandeln. . . . Etwa an die Betriebsabteilung Kleinmünchen
230
bereits abgegebene Heimkehrer-Eisenbahner sind an die zuständigen
Ersatzköiper zurückzuschieben.
Was, da staunt wohl selbst der Marsbewohner.
Neuorientierung
.... Hauptmann Polletin der Abteilung III U des Ministeriums
für Landesverteidigung orientierte nun die Teilnehmer über Wesen,
Zweck und Durchführung der vaterländischen Erziehung ....
Er verteidigte vor allem das Ministerium für Landes-
verteidigung gegen die Anklage, daß es in Fragen der
Jugenderziehung nicht kompetent sei. Das Militär ist wie
ein Fabrikant: aus Rohmaterial soll es Produkte
machen, es ist also von großer Wichtigkeit, daß es gutes,
ja besseres Material erhalte. Wir haben keine
Garantie für einen künftigen Frieden, wir brauchen
tüchtige Soldaten. Das Ministerium für Landesverteidigung hat Interesse
an der Güte, an der Erstklassigkeit des Menschen-
materials. Darum bekundet es lebhaftes Interesse für alles, was
damit zusammenhängt : Mutterschutz, Säuglingsschutz,
Kleinkinderfürsorge, Schulzwang, Frauenarbeit bei Nacht und auch für
Jugenderziehung. — —
— — Der letzte Vortrag des ersten Tages war der des
Regierungsrates Schiffner über die vaterländische Erziehung vom
Standpunkte des Schulmannes und Erziehers. Mit begeisterten
Worten erklärte er, daß wahrhaftige Schulmänner
nur im Sinne der Wehrmacht und im Interesse der
Wehrfähigkeit tätig sein können. Mit größerer Aus-
führlichkeit ließ er sich über die Notwendigkeit der Ausbildung der
Sinne aus, besonders des Gesichts und Gehörs, aber auch die
übrigen Sinne dürfen nicht vernachlässigt werden.
Zumindest ist darnach zu streben, daß die Organe nicht
geschädigt, sondern gehegt und geschont werden.
Was wir von der ethischen Erziehung fordern, auch
das stimme mit den militärischen Anforderungen überein ....
— 231 —
Die Anwesenden zollten dem schönen und begeisterten Vortrage
lebhaften Beifall.
Nachmittags begaben sich die Teilnehmer des Kurses auf den
Kahlenberg und den Leopoldsberg, wo praktische Darbietungen
der Jungmannschaft stattfanden.
Kindheit und Wiesenglück
[Verunglückte Kinder.] Aus Görz wird uns berichtet: In der
Ortschaft Vipolze bei Görz fanden fünf Kinder im Alter von fünf
bis zwölf Jahren auf einer Wiese eine Handgranate, die sie zur
Explosion brachten. Ein neunjähriger Knabe blieb auf der Stelle tot
liegen. Ein anderer verschied während der Überführung ins Kranken-
haus. Nach ärztlicher Aussage ist auch hinsichtlich der anderen
schwerverletzten Kinder wenig Hoffnung, sie am Leben zu erhalten.
Ein Trauermantel, der letzte, folgte dem Zug.
232
Eine prinzipielle Erklärung
November 1917
Es hat vor einigen Monaten einen Augenblick
in der Weltgeschichte gegeben, wo die Hoffnung
aufleuchtete, daß diese zerschundene Maschine, die
Mensch genannt wird, wieder zum Menschen werden
könnte, und weil diese Hoffnung in Österreich
geboren wurde, war's auch die Hoffnung, ein Patriot
zu sein, Patriot im edelsten, längst nicht mehr vor-
rätigen, längst vergriffenen, längst ersetzten und ver-
fälschten und nun plötzlich wieder lebendigen und
heimatsberechtigten Sinne. Es waren Worte gesprochen
worden, die mehr waren als Taten, denn sie waren
die Erholung von Taten; Worte, deren letztes freilich
wieder der Tat glich und darum dem Glauben
die Aussicht auf Erfüllung entrückte. Dennoch,
es war die Idee; nach dem verhängnisvollen Walten
der Quantität doch etwas vom Geiste. Es war zum
erstenmal aus dem Munde eines mitteleuropäischen
Staatsmannes die Sehnsucht der Menschen bejaht
worden, sich von dem furchtbarsten Erdenfluche,
Nun, da der externe Mitarbeiter der Neuen Freien Presse
Czernin den als Handgriff einbekannten Vorschlag zur Welt-
befreiung wieder als Evangelium reklamiert und nach Ausbruch
des Friedens mit Rußland die Budapester Rede dort aufnehmen
möchte, wo er sie unterbrochen hat; nun, da wir im Sinne
der Wiener Rede in der äußern Politik zwar Qott sei Dank
den deutschen Kurs steuern, aber im Sinne eines Wiener Zeitungs-
artikels hoffentlich den Weltkurs steuern werden; nun, da die
Möglichkeit einer militärischen Entscheidung von jenen Spielern
bestritten wird, die alles auf eine günstige Kriegskarte gesetzt
hatten, und Kant wieder öfter als Krupp zitiert wird — mag die
vor einem Jahr gehaltene, dann zweimal wiederholte Ansprache
auch hier zu Ehren kommen.
233
unter dem sie je seit Erschaffung ihren Nacken
gebeugt hielt, durch ein Machtwort über sich selbst,
also durch den Aufstand der Menschenwürde zu
befreien, vom Militarismus nicht als einer wirtschaft-
lichen Last allein, sondern von dem Alpdruck der
militaristischen Lebensanschauung, und nicht mehr
jener, die einst als das Vorrecht eines Berufs das
Leben auf die Spitze eines Säbels gestellt hat, sondern
der Geistesrichtung, die dasLeben unter dem Verhängnis
tödlicher Zufallswirkungen und einer meuchelmörde-
rischen Technik zum Ersatz für Menschenrechte und
zur Sicherung merkantiler Interessen gefangen hält.
Der Staat schien plötzlich der Menschheit Recht zu
geben in ihrem bis dahin strafbaren Verlangen nach
Selbstbefreiung aus der schmachvollsten Knechtschaft,
in die ihr Erwerbsgeist die schuldige und unschuldige
Kreatur gejagt hat, als ein organisiertes Schicksal
über allem Lebendigen, Männern und Müttern,
Säuglingen und Tieren, immer die würgende Faust
zwischen die Sonne und dieses kurze Menschendasein
gereckt. Daß diese Teufelsmacht es verstanden hatte,
die Träger des staatlichen Machtideals herumzu-
kriegen, sich gar die alte Glorie für ihre schmutzige
Neuerung auszuleihen und schließlich durch den
Tod der Menschheit zum hohnlachenden Triumph
des Wuchers über den wehrlosen Schlachtensieg zu
führen — dies ungeheuerste Erlebnis behält durch
alle Wirklichkeit hindurch die närrische Gestaltung
eines Fiebertraums, und die unter uns nicht stehlen,
sondern nur fühlen, müssen in einem narkotischen
Zustand die Zeit durchschreiten, um dieses Unmaß
von Phantastik außerhalb des Tollhauses durchzu-
halten. Wie könnte uns Vernunft und Ehre sonst
erlauben, Raumgenossen dieser Zeitgenossen zu
sein? Wie könnten wir seit vier Jahren in dieser
Hyänenluft den Lebensmut aufbringen, uns um das
tägliche Brot zu quälen? Nun war's ein Augenblick,
234
zu glauben, die Menschheit hätte die Prüfung
bestanden und sei reif zur Reue. Nicht mehr werde
es künftig die ingeniöse Phantasiearmut vermögen,
uns in diese Delirien zu treiben. Der menschheits-
widrige Gedanke, der den Lebenszweck dem Lebens-
mittel und also dem Todesmittel unterstellt hat,
liege in den letzten Zügen. Nicht fortsetzbar sei der
Zustand, daß nicht nur einer Klasse von Bunt-
gekleideten Gewalt über die Farblosen gegeben ist,
sondern daß alle auf einmal durch ein Zauberwort
bunt werden können, alle über alle Macht gewinnen,
alle vor allen Ehre gewinnen, alle gezwungen sind,
einander zu grüßen und allerhand Hochachtung vor
einander zu haben. Ich, der ich vor der Gesellschaft
umso weniger Hochachtung habe, je mehr sie in
ihrem eigenen Ansehen steigt, der sie im Gegenteil
erst dann auf das Tiefste mißachtet, sobald sie ihre
abgelebten Machtvorstellungen mit ihrer frischen
Raubgier verbündet, sich selbst zu wechselseitiger
Bewucherung mobilisiert und einen Jargon aus Fibel
und Börse nachbetet, wenns die gute Sache der
allgemeinen Peinigung gilt — ich muß bekennen,
daß ich an den Entschluß zur Einkehr, an den Ernst
der Erkenntnis, daß die Zukunft des Geschlechts bei
Kant besser als bei Krupp aufgehoben sei, ernsthaft
geglaubt habe. Die Einfalt kann eine Wahrheit nicht
schnell genug erleben, und sie fühlt sich nicht
beschämt, wenn sich herausstellt, daß ein Staats-
mann zwar einmal die Wahrheit gesagt, aber an sie
nicht geglaubt hat. Wenn's noch zu früh ist, warte nur
balde wird die Weltanschauung, die diesen Krieg
bewirkt hat und die sich mit Gott durch jeden
Tag des Siegs widerlegt, sich, sagen wir bis zum
letzten Hauch von Mann und Roß erledigt haben.
Möge es dann noch Zeugen geben! Und hätte sie's
freiwillig rechtzeitig getan, wie schön wäre es gewesen
und hätte dem Krieg fast die Weihe eines Plans
— 235
verliehn. Nun aber haben wir von Kant zu Krupp
heimg'funden und in Tat und Wort neuerdings
erfahren, daß wir bei jenem uns nur so pro forma
aufgehalten haben und daß wir auch weiterhin damit
vorlieb nehmen wollen, Feldherrn zu Ehrendoktoren
der Philosophie zu machen. Und aus dem Munde
des schlechtesten und deshalb wichtigsten Menschen,
der heute in Österreich zur Öffentlichkeit spricht,
haben wir Schwärmer die Aufklärung empfangen,
daß die Botschaft der letzten sittlichen Errettung der
Menschheit ein »Handgriff« war. Man höre:
— — — Es liegt in der Persönlichkeit des Grafen Czernin,
daß er das Verschleppen und Gehenlassen nicht leicht erträgt. Er
hatte sofort das Bedürfnis, das Evangelium des Präsidenten Wilson,
das jedoch nicht den Frieden, sondern den Krieg bringen sollte, i n
unsere diplomatische Sprache zu übersetzen. Die
Menschen, die vom Schwünge seiner Rede in Budapest gefesselt
waren, haben zuweilen übersehen, welche praktische Ver-
anlagung sich darin zeigte und wie groß die Verlegenheit der
Entente über den Handgriff war, mit der ihr eine Waffe
entwunden worden ist. Nicht etwa, daß Graf Czernin die
Gesinnung, zu der er sich bekannte, nicht vollständig in
sich aufgenommen hätte. Der Diplomat braucht solche
Meinungen als Zielpunkte, aber das tägliche Leben hat
auch andere Bedingungen.
Das tägliche Leben, das tägliche Sterben.
Halten wir's durch! Warten wir ab, wie lange diese
Bedingungen ihre Tragfähigkeit und Geltung bewahren.
Es kommt die Zeit, wo stärker als der siegreichste
Staat die Erkenntnis sein wird, daß kein Macht-
zuwachs, aber selbst nicht die Machterhaltung den
Verlust an Lebenswerten, den sie bedingen, lohnen
kann. Ich spreche gegen die Hochverräter an der
Menschheit! Ich spreche irn Namen einer Irredenta
des sittlichen Ideals! Die in der deutschen Ideologie
befangene Welt weiß es nicht — aber ich habe schon
im Jahre 1914 nicht gezweifelt, daß dies ein Religions-
krieg ist, geführt von der nüchternsten Welt gegen
— 236
eine, die die eigene Nüchternheit mit abgelegten
Machtfetzen »aufmachen« und gar exportieren wollte.
Ich erlebe die Genugtuung, daß diese schmerzlichste
Intuition nun von Männern, die im praktischen
Leben das Lügen nicht erlernt haben, bestätigt wird.
Weder den, der nur geahnt, noch die, welche wissen,
darf es bekümmern, daß die wahren Hochverräter
an der Menschheit, und am Vaterland selbst, für diese
Erkenntnis den Vorwurf des mangelnden Patriotismus
bereit halten. Wie es die Staaten anstellen werden,
das Glück ihrer Bürger mit jenen Interessen zu
vermählen, die ihnen bisher die wichtigeren waren,
darüber mögen sich Politiker den Kopf zerbrechen,
wenn er ihnen nur erst einmal mit Ehrfurcht vor
dem Sinn des Lebens angefüllt ist. Ich habe nur zu
wissen, daß jener Staat der Sieger sein wird, der
die größte moralische Macht aufbietet, dem, was er
bisher als Übel empfunden hat, nicht zu wehren,
und der im plötzlich ausbrechenden Wettabrüsten
den andern voran sein wird. Es ist unmöglich, daß
der Fortschritt in der Verbreitung giftiger Gase die
Entwicklung eines Gedankens aufhalten kann; es
sei denn, daß es ihm inzwischen gelingen könnte,
die Menschheit in einen lorbeerumhüllten Leichnam
zu verwandeln. Da ich Gottseidank nur Optimist und
nicht Staatsmann bin, also auch keinesweg imstande,
meine Überzeugung einer noch vorrätigen Kriegs-
karte anzupassen und meinen Gottesglauben erforder-
lichenfalls als Handgriff einzubekennen, so kann ich
nicht anders als aussprechen, was ich zugunsten der
Menschheit denke. Und selbst wenn das Aussprechen
auf technische Schwierigkeiten stieße — ich meine
da nicht nur den Überfluß an Paragraphen, sondern
auch die Not an Papier, die das Erscheinen meines
Wortes in Frage stellt, während sie das Erscheinen
der Zeitschande ermöglicht — , nun, auch dann wäre
das Denken stark genug, schon ganz von selbst
237
durch die Dünste eines Zeitalters zu dringen. Denn
das Ärgste was dem Menschen bekanntlich passieren
kann, ist, daß er einrückend gemacht wird; nie aber
könnte er nicht denkend gemacht werden und selbst
der tödliche Zufall, dem er ausgesetzt wird, kann an
der eingebornen Disposition nichts ändern, weil ein
einmal gedachter Gedanke stärker ist als eine millionen-
mal vollbrachte Tat. Die Kloake in einem Schützen-
graben reinigen ist überdies eine belebende Separation
von der Wirkungssphäre jener, die sich dort Schatz-
gräber halten, und wo immer ich innerhalb dieser
Zeit stünde, mein stummer Blick träfe sie vernich-
tender, als sie mir leiblich nahe kommen könnte,
und darüber hinaus! Mir, das mögen sich alle Rädels-
führer dieser Gegenwart gesagt sein lassen, kann
nichts mehr geschehn, seitdem ich eine Mannheit,
die sich auf den Wink ihrer Habsucht der Maschine
ergeben hat, für entehrt halte und eine Weibschaft
nicht minder, welche ihr Instinkt nicht davor bewahrt
hat, hierin eine Befriedigung ihres mütterlichen oder
erotischen Stolzes zu erblicken. Die Hoffnung also,
daß die Menschheit um ein paar Jahre früher als
sie dazu gezwungen sein wird, an Gott glaube —
ist vorüber. Mir bleibt keine als die, daß die Zeit,
von der jeder einzelne Staat glaubt, daß sie für ihn
wirke, gegen sie alle wirkt. Die Menschheit
aber, wenigstens die hiesige, 'scheint sich noch mit
einer andern Hoffnung fretten zu wollen. Es ist die
Hoffnung — man lache nicht vor dem Tragischesten,
das uns dieser Karneval beschert hat — es ist die
Hoffnung auf Hebung des Fremdenverkehrs. Wie das?
Ich will es beweisen. .
Ein englischer Journalist hatte den törichten
Einfall, den Deutschen aufzubringen, daß sie »aus
Kadavern«, er meinte aus Soldatenleichen, Fett
gewinnen. Die Deutschen, nicht faul, faßten gleich den
Plan zu einer wissenschaftlichen Arbeit, die nun im
— 238 —
Auftrag des Berliner Auswärtigen Amtes flott von statten
geht — der Beweis ist in meinen Händen — , also den
Plan zu einer wissenschaftlichen Arbeit zu internatio-
nalen Propagandazwecken, wie es ausdrücklich heißt;
sie sammeln wirklich und wahrhaftig Material, aus
dem hervorgehen soll, daß die Engländer und Franzosen
schon seit jeher aus Menschenleichen Fett und öl
produziert haben. Diese Kulturpropaganda hat in
den Tagen unserer Postulate nach einem Verständi-
gungsfrieden praktisch eingesetzt. Der Unglücks-
mensch, ein gewisser Schultze, den das Amt mit
dieser Arbeit betraut hat, ist von einem Spaßvogel
in Hamburg dazu verführt worden, mich um fach-
männische Unterstützung, »aus dem Schatze meiner
Kenntnisse« wie er sagt, anzugehen, wobei das
Wort »ausgerechnet« zum erstenmal seit dessen
Entstehung am Platz sein dürfte. Wollte ich das
Dokument vorlesen, man würde an die Geistes-
verfassung in Alldeutschland mit gesträubten Haaren
glauben lernen. Das Werk wird den Titel führen:
»Grab- und Leichenschändungen durch Engländer
und Franzosen«, die deutsche Wissenschaft ist am
Werke. Und Österreich? Österreich hat dafür den
Fremdenverkehr. Das heißt, es hat ihn nicht und
das war sein Verderben. Man lache nicht! Was, es
mit der Fettgewinnung aus Soldatenleichen zu
schaffen hat? Es ist das nämliche; man höre:
Der Fremdenverkehr nach dem Krieg.
Äußerungen des Leiters des niederösterreichischen
Landesverbandes für Fremdenverkehr Generalsekretär
Hauptmann Gerenyi.
Bekanntlich fand dieser Tage i m A n s c h 1 u ß an die Tagung
der ärztlichen Abteilungen der waffenbrüderlichen
Vereinigungen ein Gedankenaustausch unter Vertretern der
FachgruppenfürFremdenverkehrder waffenbrüderlichen
Vereinigung Deutschlands, Ungarns und Österreichs statt. Nun
— 239
werden selbst verständlich die französischen und belgischen Fremden-
verkehrsplätze aller Voraussicht nach von den Reichsdeutschen
nicht aufgesucht werden. Für. die Nordseebäder bietet ja die deutsche
Küste ausreichenden Ersatz. Die französische Riviera mit ihren
klimatischen Vorzügen als Frühlings- und Herbstaufenthalt zu ersetzen,
dazu ist sicherlich die österreichische Küste der Adria vorzüglich
geeignet, die demnach auch einen großen Fremdenzufluß zu erwarten
haben wird. Außerdem werden die Alpenländer mit ihren hervor-
ragenden Kriegserinnerungen einen Anziehungspunkt des
mitteleuropäischen Reisepublikums bilden, wie
schließlich auch der pietätsvolle Besuch der Helden-
gräber und Soldatenfriedhöfe eine lebhafte Verkehrs-
bewegung zur Folge haben wird. Es handelt sich ja, unser
Haus wiederum zu bestellen. . . .
Bestelle dein Haus, denn du wirst sterben!
sagt Jesajas. Und nichts, was wir seit dem
1. August 1914 mit starren Augen gelesen haben,
vermöchte an dieses hinanzureichen. Gefallen zur
Hebung des Fremdenverkehrs! Keine Heiterkeit, die
sonst mit den Hanswurstiaden unserer Fremden-
verkehrssehnsucht verbunden bleibt, dämpfe das
Grauen dieser Idee. Als die Reste des Regiments
von Uszieczko vor einem Theaterparkett defilieren
mußten, wähnte ich, die Entmenschung sei nicht
mehr zu überbieten. Nun aber sollen die Toten des
Regiments zur Parade vor den zahlenden Besuchern!
Gefallen zur Hebung des Fremdenverkehrs! Nein,
aller Abscheu vor allem, was diese Zeit uns angetan
hat, trete scheu zur Seite vor diesem Plan. Meine
Metapher ist wahr geworden: Wir lugen, schrieb
ich, noch auf Leichenfeldern nach einem Fremden-
verkehr und wir können es uns nicht versagen,
schrieb ich, die endlich herankommenden Hyänen zu
würzen. Nun wird es mir buchstäblich erfüllt! Die
Gesellschaft, die nach Heringsdorf ging, ehe sie
der Menschheit den Krieg ansagte, soll unsere
Soldatengräber besichtigen kommen, so hoffen wir
Waffenbrüder. Wenn sich der noch lebendige seelische
Rest in uns gegen diese Erfüllung, gegen diese
— 240 —
Erwartung nicht aufbäumt, so werden es die irdischen
Reste unserer Toten tun! Und wenn sie's nicht tun,
weil selbst der Tod von dieser Diebszeit um sein
Wunder geprellt wurde, wenn sich unter uns kein
Rächer dieses Frevels erhebt — ich werde fern von
der Landesgrenze sein, innerhalb deren es sich
begeben soll, in Gegenden, in denen die Sprache,
die ich schreibe, nicht gesprochen und darum besser
verstanden wird. Die Fremden mögen kommen —
um einen Einheimischen, der diese Blütenträume
reifen sieht, wird es weniger geben. Ich bestelle
mein Haus! Ich gehe zu den Fremden! Keine Macht
wird stark genug sein, mich bei lebendigem Leib
zu zwingen, der Mitbürger jener Menschen zu
bleiben, die es erdacht haben und die es geschehen
ließen. Denn nie, solange ich Atem habe, werde ich
zugeben, daß mir meine Freunde getötet wurden,
damit einer aus Berlin, der daran verdient hat, ihre
Gräber besichtigen könne und Geld unter die Leute
komme. Solange es unwidersprochen bleibt, solange
nicht feierlich kundgemacht wird, daß es nie
gesprochen wurde, erkläre ich den Staat und jeden
seiner Bürger, die es gelesen oder durch meinen
Bericht empfangen haben und es dennoch geschehen
ließen, alle Amtlichkeit und Sozietät an dem Gottes-
frevel für mitschuldig! Unwürdig des tragischen
Inhalts dieser durchlittenen Jahre! Unwert der Ehre,
daß ein toter Soldat in den Alpen begraben liegt!
Und wehe der Gewalt, die die Wirksamkeit dieses
Fluches anzutasten wagt!
Vorlesungen Karl Krau
Kleiner Konzerthaussaal
(III. Lothringerstraße 20)
Im Oktober:
Sonntag, 13., 6 Uhr
Donnerstag, 17., */2j7 Uhr
Sonntag. 27., 0 Uhr
Im November:
Freitag- 1.» 4 Uhr:
Aus drei Akten des »Timon von Athen»
und »Hanneie Matteres Himmelfahrt«
(mit M'iSikbegiettwg)
(Unbestimmt :)
Sonntag, 10., 3 Uhr
Sonntag, 17«, 3 Uhr
Sonntag, 24., 3 Uhr
(Bei den Voiüescngcn aus eigenen Schriften ein Teil des Ertrags,
^H bei den anderen der volle Ertrag für wohltätige Zwecke.)
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straße 25, bei Kehlendorfer, I. Krugerstraße 3 und
dzr Buchhandlung Richard Lfiayi, I. Karntnerstraße 4
Herau5»ebrt nnti «r!#brarÜtetier Redakteur: Karl Kraus
HUV. lykO 1>X\.. *477/^^^J^ ^^ -fx-nk.- umu'
E FACKEL
HERAUSGEBER
KARL KRAU
INHALT:
Weltgericht / Lied des Alldeutschen / Mir san ja eh die reine
-amperln / Österreichs Fürsprech bei Wilson / Heldengräber
Hausmannskost / Absage / Die Sintflut.
Mit einem Bild
NACHDRUCK VERBOTEN
Preis dieses Heftes:
60 Heller = 50 Pfennig:
VERLAG: ,DIE FACKEL', WIEN
m/2. HINTERE ZOLLAMTSSTRASSE 3 TELEPHON Nr. 187
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VORLESUNG KARL KRAUS
Sonntag, 24. November, 3 Uhr: Aus eigenen Schrifter
VERLAG DER SCHRIFTEN VON KARL KRAU
(KURT WOLFF)
1908 SITTLICHKEIT UND KRIMINALITÄT 2. Auflaj
1909 SPRÜCHE UND WIDERSPRÜCHE 3. Auflaj
1910 DIE CHINESISCHE MAUER demnächst 4. Auflaj
1911 HEINE UND DIE FOLGEN 3. Auflaj
1912 PRO DOMO ET MUNDO 2. Aufla
1912 NESTROY UND DIE NACHWELT
1916 WORTE IN VERSEN I demnächst % Aufla
1917 WORTE IN VERSEN II
1918 WrORTE IN VERSEN III
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Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und durch den Verl
Leipzig, Kreuzctraße 3b
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DIB JR iV O K J3> I
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Ausgebaut und vertieft / Glossen / Auf hoher See / Inschriften
Ein Mord im Weltkrieg / Glossen / Ein Staatsverbrechen
Shakespeare und Jugend / Krieg / Ich und das Ichbin
Meinem Franz Janowitz / Die letzte Nacht / Meinem Frs
Grüner / Notizen / Der Bauer, der Hund und der Soldat
•sungen in Berlin / Glossen / Das verjüngte Österreich
Gerüchte / Glossen / Ein* prinzipielle Erklärung.
-ichst erscheint cm Sonderheft der Fackel außerhalb des Abonneme
I und im Verlag erhältlich. Preis: K 2- ■ ■ I
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Deutsche Ansichtskarte
Franz Josef Huber's Kunstverl.-Anst. -München
UNSER KAISER IN HARNISCH!
In Treue und [jJljjj in Waffen fest!
»Wir Deutsche fürchten Gott
und sonst absolut nichts und
niemanden auf dieser Welt!«
Aus der Rede S. M. Wilhelm II., gehalten an Bord S. M. S. »Viktoria Luise« .
DIE FACKEL
Nr. 499—500 20. NOVEMBER 1918 XX. JAHR
Anfang Oktober 1918
Weltgericht
Der bis zum letzten Hauch von Mann und Roß
beschworene Glaube, daß die Welt gottbehüte am
deutschen Wesen genesen werde, ist begraben. Die
Hoffnung, daß sie vom deutschen Wesen genesen werde,
lebt auf. Und gottlob auch die Hoffnung, daß es von
sich selbst genesen werde, zurückfinden von dem
seinem Wert und seiner Sprache ungemäßen Wahn zu
sich selbst und seinen guten Geistern, vom Export
zu dem Platz an der Sonne seiner Naturgaben. Ehre
einem verunglückten Volk, das sich bis zur Erkenntnis
aufgeopfert hat — Schande seinen Verleitern, mag
nun Tücke oder Dummheit das größte aller welt-
geschichtlichen Verbrechen begangen, das größte
aller weltgeschichtlichen Opfer bewirkt haben! Das
Erlebnis aber, daß eine Anschauung, zu der man sich als
einer von den wenigen bekannt hat, von den vielen geteilt
wird und fast gefahrlos geworden ist, und daß es nicht
mehr den Kopf kostet, ihn behalten zu wollen ;
dieses überraschende Abenteuer eines völligen
Kurssturzes der Phrase, des Eintretens in das
letzte, bitterste und doch beglückende Stadium
der Nibelungenreue; diese rapide Verwandlung des
Kühnsten in das Selbstverständliche — enthebt
mich nicht der Pflicht, es zu bekennen. Man bleibt
doch immer der, der schon bei einem Durchbruch
von Gorlice und noch früher, ja am ersten Tag
dieses Spießrutenlaufs durch das Spalier der
mechanisierten Phantasiearmut, an all diesen krieg-
verlängernden Siegen vorbei, entlang dieser Tobsucht
einer Quantität, die nicht den Mut hatte, sich selbst
zu berechnen — geahnt, nein gewußt hat, daß mit
einer von keinem Shakespeare zu erreichenden
tragischen Folgerichtigkeit die Befreiung aus dem
Zwang des Idols erfolgen und daß eines Tages,
leider noch vor dem leiblichen Jammer, die größere
geistige Not beendet sein werde, die da geboten
hat, aus der Verächtlichkeit eine Tugend, aus der
Verhaßtheit einen Erfolg, aus der Nichtswürdigkeit
eine Ehre zu machen. Wollte man in den Gespenster-
reichen dieser Lebensmittelmächte — gespensterhaft
deshalb, weil hier Börseaner die Sprache der Grüfte
redeten und weil darin Macht war, Grüfte zu füllen,
die Macht von Technik und Romantik in Einem, die
Macht der sich automatisch entzündenden Phrase —
wollte man heute hier eine Abstimmung veranstalten,
welcher Mitteleuropäer wohl am weitesten von der
Möglichkeit entfernt war, einen Wehrmann zu
benageln oder gar einem eisernen Hindenburg
etwas ins Auge zu stoßen oder dem Geschmack
jener Tage sonst was zuliebe zu tun, wo Fibel und
Chemie, Ornamentik und Organisation, Schwachsinn
und Bestialität Schulter an Schulter ihre unnennbaren
Offensiven gegen die Menschenwürde unternahmen
wohl wäre ich einer unter den wenigen, die in
die engere Wahl kämen und denen nachgesagt
werden müßte, daß sie sich weigernd und wehrend
der heiligen Pflicht, diese unheilige Zeit zu vertreiben,
entsprochen haben. Man wird mir, wenn man mir
in diesen zweitausend Seiten der Kriegsfackel —
einem Bruchteil von dem, was technische und
staatliche Hindernisse mir begrenzt haben — keine
positivere Leistung zuerkennt, immerhin das Zeugnis
ausstellen, daß die schmutzige Zumutung der Macht
an den Geist: Lüge für Wahrheit, Unrecht für Recht,
Tollwut für Vernunft zu halten, von mir tagtäglich
mühelos abgewiesen wurde. Denn der bessere Mut
war der meine, im eigenen Lager den Feind zu
3 —
sehen! Und wer die Furcht vor der wirkenden Macht
nicht gekannt hat, dem, nur dem, steht es
auch zu, kein Mitleid mit der gebrochenen
Macht zu kennen. War doch die Gemütsverfassung,
mit der ich mich vor das Angesicht dieser höchst
subalternen Gewalttäter gestellt habe, durch alle
Trauer hindurch, durch allen Schmerz und alle
Scham hindurch stets die einer unbesiegbaren
Heiterkeit. Und solche Zeugenschaft ist opfervoll
genug. Denn gäbe es ein schwereres Durchhalten
als lachen zu müssen, wo man aufschluchzend
in den letzten Wald rennen möchte, den dieses
organisierte Verhängnis noch nicht vergast hat?
als das Unvermögen, einer Glorie, die in einer
verelendeten, verhungerten, verlausten, verluderten
Welt umging und in Rucksäcken ihre Lorbeern trug,
die Glorie zu glauben? als den Fluch, standzuhalten
diesem elenden Komplott von Schindern und
Schiebern, das ein Volk mit dem Fusel des Schlacht-
ruhms besoffen gemacht hat, um es abzuschlachten,
und abgeschlachtet hat, um es auszurauben! Diesen
Allerhöchstverrätern, die keinen Vorwand vater-
ländischer Ehre gescheut haben, um sich selbst
zuliebe den schuftigen Griff in die fremden Lebensgüter
zu begehen; die mit jedem Atemzug jene abgelebten
Vorstellungen geschändet haben, in deren Namen
sie über Leben, Glück, Jugend, Gesundheit, Freiheit,
Ehre, Recht und Besitz der andern verfügten; hinter
Fahnen ihr Diebsgeschäft betrieben und, herzlose
Verwalter des feigen Maschinentods, die Menschheit
an das Vaterland verraten haben und das Vaterland
an ihre Niedertracht. Nun aber welche Wendung
durch Gottes Fügung! Nun aber welche Atempause!
Welch ein Lauschen auf den großen Hammer am
Tor dieser Zeit; welch ein Spähen nach dem Licht,
das in die Nacht dieser geistigen Burgverließe dringt;
welch ein Beben in den Basalten, die nicht zu haben,
Amerika es besser hat! Wenn dies keine Wende ist,
— 4
hat der Planet noch keine erlebt! Wenn hier
kein Fortinbras naht, hat es nie Trümmer einer
Herrschaft gegeben, war nie eine aus den Fugen
gegangene Zeit einzurichten. Wie Horatio empfange
ich ihn:
Und laßt der Welt, die noch nicht weiß, mich sagen,
Wie alles dies geschah; so sollt ihr hören
Von Taten, fleischlich, blutig, unnatürlich,
Zufälligen Gerichten, blindem Mord;
Von Toden, durch Gewalt und List bewirkt,
Und Planen, die verfehlt zurückgefallen
Auf der Erfinder Haupt: dies alles kann ich
Mit Wahrheit melden.
Und werde, da sie alle schon, diese- Macht-
und Unrechthaber in der Nachbarschaft ihres
Schicksals leben, dazu helfen, daß auch ihre Helfer,
ihre Verführer, die Handlanger ruchlosesten Tag-
werks, die journalistischen Rädelsführer dieses
blutigen Betrugs, die Dekorateure des Untergangs,
die Rekommandeure der Leichenfelder, die unfaß-
baren Berichterstatter dieses tragischen Karnevals
dingfest gemacht werden. Auch verbürge ich mich
dafür, daß es dahin kommen wird, daß alle
jene, die, soweit das Gehirnweichbild dieser Stadt
sich dehnt und solange die Belange dieses
Reiches reichen, eine der Blutpressen noch halten,
für ehrlos erklärt werden. Weh dem, der den anonymen
Henkern das neue Geschäft fördern wollte, ihnen, die
nun, weil der wortgeborne Mord nicht mehr Gewinn,
sondern Gefahr bringt, schon daran sind, die Mensch-
lichkeit in eine Phrase zu verwandeln! Der panikartige
Übergang ganzer Divisionen von Tellerleckern zu
Wilson, die elende Bereitschaft, die Konjunktur des
neuen Weltgefühls auszunützen, wird weder die
Parasiten des entthronten Ideals noch deren ganzen
Anhang davor schützen, erkannt und nach den
Verdiensten ihrer doppelt gezählten Kriegsjahre
behandelt zu werden — und so wahr mir Gott helfe,
ich werde es mir angelegen sein lassen, daß alle
jene, denen vierzehn fernhintreffende Punkte heute
fast so imponieren wie gestern ein hundertzwanzig
Kilometer-Geschütz, für eine Auszeichnung bei der
nun weltmaßgebenden Stelle »eingegeben« werden.
Gewaltiger als die Reue über die Tat fasse uns der Ekel
am Wort und nehme so Besitz von den Gemütern,
daß wir uns nie wieder Gut und Blut von jenen unverant-
wortlichen Organen herauslocken lassen, die den Ruf des
Vaterlands mißtönender wiedergaben und die sich nun
unter den Stimmen des ewigen Friedens verstecken
möchten. Wenn die große Zeit, die in unserer Zone
die niedrigste war, nun endlich daran ist, eine große
Zeit zu werden, so wird sie es uns sein,
wenn wir dem unbrauchbaren politischen Hausrat
mit einem zweiten Ruck auch allen geistigen Unrat
nachwerfen, allen Trödel ausrangierter Vorstellungen
und alles Inventar der professionellen Wortverbrecher
und sie selbst! Es kommt der Tag, wo die Embleme
und Ornamente der überstandenen Glorie uns zu
ü bernächtigem Grauen anstarren werden wie Faschings-
masken und fahle Schminkgesichter bei Sonnenlicht.
Aber wenn wir, großmütig wie wir Menschenkinder
sind, weil wir um eines Strahles der Freiheit willen
gern alle Fieberträume der Nacht vergessen, die
staatlichen Träger und Diener jener tödlichen Ideale
pardonnieren möchten, und weil wir Mitleid mit
ihrer Dummheit haben — Gott schütze uns vor
der Gnade, die wir an die publizistischen Zwischen-
träger und Nutznießer vergeuden würden, an die
Schriftgelehrten, die es schwarz auf rot gaben, als
die Menschheit gekreuzigt wurde. Feder für Feder,
Schuft für Schuft sollen sie uns das Blutbad, das sie
uns gerüstet und gepriesen haben, ausgießen!
Lied des Alldeutschen
Barbarische Melodie
29. Oktober 1918
Nun, da die angestammte Verächtlichkeit Österreichs vor
der von Gottes Gnaden fortgefristeten Hassenswürdigkeit Preußens
um Beachtung ringt; da unser weiland Staat mit seinem
letzten Seufzer bekundet hat, daß er seiner historischen Mission, zu
spät Verrat zu üben, treu bleiben wolle; da ein Seelenbund, in
dessen Namen die Welt zum Teufel gehen mußte, sich offiziell
in jene Jauche aufgelöst hat, in der unser aller Leben schon
erstickt war — kann das gerechte Ohr des unerbittlich Zurück-
hörenden das gräßliche Geräusch, den Lebens- und Todesinhalt
dieser Jahre nicht vergessen, derin den folgenden Strophen mi'geteilt
ist. Der Treubund mit diesem Partner war immer unmöglich,
seine Lösung immer notwendig, zu Zeiten eine Ehrenpflicht;
zu spät erfolgt, ist sie fast so unsittlich wie der Vertrag. Daß
aber Österreich ein Opfer seiner tragischen Bestimmung ist, in
ein schiefes Licht hinter dem Platz an der Sonne zu kommen,
kann nicht vergessen machen, für welche Ideale es die ihm
ungemäße heroische Montur durchgehalten hat. Dieses Lied,
entstanden im Juli 1917, ist am 16. Dezember 1917 und
am 27. März 1918 vorgetragen worden. Das erstemal:
in der Stunde der Nachricht über den Waffenstillstand
mit Rußland, des Auftakts zu Brest-Litowsk. >Trotz einer Extra-
ausgabe« — so war der Vortrag eingeleitet — >bleibt das I\uplet,
das ich im Sommer verfaßt habe, leider Gottes aktuell, denn
nach meiner wenn auch unmaßgeblichen, so doch öfter
bewährten Ansicht bedeuten nicht nur Siege eine Verlängerung
des Kriegs, sondern sogar Waffenstillstände den Beginn des
Kriegs. Das Kuplet erschöpft das Problem Deutschlands an-
nähernd so sehr, wie Deutschland die Welt.*) Das Unsägliche
findet seinen Ausdruck in einer beispiellos barbarischen Melodie.«
(Das musikalische Nachspiel stellt das Gelächter des Auslands dar.)
Heute, da das Lied so tragisch verstummt ist, mag es die
*) Es erklärt ganz wie jene Ansichtskarte den Krieg, den
Deutschland der Welt erklärt hat.
— 7
zurückhörenden Zeitgenossen in jeder Strophe, nur zum Glück der
Nachwelt in den letzten nicht, an seine furchtbare Wahrheit erinnern.
rtltmttiJ'J,
Ob unter See, ob in der Luft,
wen Kampf nicht freut, der ist ein Schuft.
Doch weil das Schuften ich gewohnt,
so schuft' ich nicht bloß an der Front,
ich kämpf auch schneidig und gewandt
und halte durch im Hinterland,
ich schufte früh, ich schufte spat,
die Schufte das erbittert hat.
Nur feste druff! Ich bin ein Deutscher!
Im Frieden schon war ich ein Knecht,
drum bin ich es im Krieg erst recht.
Hab stets geschuftet, stets geschafft,
vom Krieg alleine krieg' ich Kraft.
Weil ich schon vor dem Krieg gefrohnt,
hat sich die Front mir auch gelohnt.
Leicht lebt es sich als Arbeitsvieh
im Dienst der schweren Industrie.
Heil Krupp und Krieg! Ich bin ein Deutscher!
Ich scheue keine Müh' und Plag',
zu wenig Stunden hat der Tag.
Daß fester steh am Rhein die Wacht,
hab' ich die Nacht zum Tag gemacht.
Weil vor dem Krieg ich nicht geruht,
drum gibt es Krieg und uns gehts gut.
Wir schlagen uns mit Vehemenz
und schlagen kühn die Konkurrenz.
In Not und Tod: ich bin ein Deutscher!
Ich geb' mein deutsches Ehrenwort:
wir Deutsche brauchen mehr Export.
Um an der Sonne 'nen Platz zu haben,
gehn wir auch in den Schützengraben.
Zu bessrer Zukunft Expansionen
hilft uns so unbequemes Wohnen.
Einst fragt' ich nicht nach Gut und Geld,
der neue Deutsche ist ein Held.
Der neue Deutsche ist ein Deutscher!
Krieg dient uns, damit Waffen sind,
wir drehn den Spieß, wer wagt gewinnt.
Das Lebensmittet ist uns Zweck,
drum nehmen wir vorlieb mit Dreck.
Wir mischen Handel mit Gebet,
die Kunst im Dienst des Kaufmanns steht.
Es war einmal, doch jetzt ist's aus,
Walhalla ist ein Warenhaus.
Für Ideale lebt der Deutsche!
In solchem Leipziger Allerlei
lebt es sich fromm, jedoch nicht frei.
Fehlt es dann aber auf dem Tisch,
lebt es sich fröhlich, doch nicht frisch.
Lebt von der Hand sichs nur zum Mund,
so ist das Leben ungesund.
Denn mehr noch von dem Mund zur Hand
hält durch des Deutschen Vaterland.
Von Idealen lebt der Deutsche!
Für dies Prinzip, und es ist gut,
schwimmt heute der Planet in Blut.
Für Fertigware und Valuten
muß heut' die ganze Menschheit bluten.
Nehmt Gift für Brot, gebt Gold für Eisen
und laßt den deutschen Gott uns preisen!
Gebt Blut — habt ihr das nicht gewußt? —
für Mark: das ist kein Kursverlust!
Darum erhofft Profit der Deutsche!
Steht unsre Sache mal so so,
gibt Wahrheit uns das Wolffbüro.
Doch geht die andre Wahrheit aus,
verköstigen wir uns doch im Haus.
Fehlt selbst das Fremdwort Surrogat,
wir Deutsche wissen dennoch Rat.
Wir setzen prompt an seinen Platz
das gute deutsche Wort Ersatz.
Auf deutsch gesagt: ich bin ein Deutscher!
Der Hungerplan wird ausgelacht,
den Willen haben wir zur Macht.
Im U-Boot sitzend lachen wir
und sagen einfach: Machen wir;
um Zeit zu sparen, auch: m. w.
Die Schiffahrt lernt man auf der Spree.
Was nützt den Feinden alle List,
die Mahlzeit machen wir aus Mist.
Nicht unterkriegt der Krieg den Deutschen!
Und wenn die Welt voll Teufel war',
die Fibel sagt: Viel Feind, viel Ehr.
Drum: Deutschland über alles setzt
sich kühn hinweg zuguterletzt.
Weil bei uns alles schneidig ist,
die ganze Welt uns neidig ist.
Gott weiß allein, wir sind so brav,
wir wünschen, daß er England straf.
Beim deutschen Gott, ich bin ein Deutscher!
— 10 —
Wir preisen Gott auf unsre Weise
wie vor dem Krieg zum alten Preise.
Zur Ehre Gottes, des gerechten,
woll'n wir auch gern im Schatten fechten.
Gäb's alleweil nur Sonnenschein,
man könnt' des Lebens sich nicht freun.
Das wahre Glück bringt Schießen nur,
drum gaudeamus igitur.
Ein muntrer Bursche bleibt der Deutsche!
Das eine aber weiß ich nur,
wir Deutsche haben mehr Kultur.
Kultur, bei allen andern Gaben,
ist mit das Beste, was wir haben.
Wir schwärmen für die Schlachtenlenker,
doch sind wir auch das Volk der Denker.
Gern woll'n für Schillern und selbst Goethen
wir ein »Denn er war unser« beten.
Mit Bildung schmückt sein Heim der Deutsche!
Deutsch ist das Herz, deutsch der Verstand,
mit Gott für Krupp und Vaterland!
Die Grenzen sichert Hindenburch,
im Innern halt' ich selber durch.
Wir Deutsche haben zu viel Glück;
gehn wir bescheiden drum zurück,
nimmt man, des Sieges sich zu freun,
die eigne Siegfriedstellung ein.
Hurra! sagt in dem Fall der Deutsche!
Wir sagen stolz: Viel Feind, viel Ehr'!
Belegte Brötchen gibts nicht mehr.
Und mangels derer unentwegt
die Welt mit Bomben wird belegt.
Uns hilft die deutsche Wissenschaft
nebst Gott, der eben England straft
und der den Menschen nur erschuf,
zu dreschen immer feste druff.
Denn Gottes Ebenbild ist nur der Deutsche!
11 —
Noch lieber laßt uns als den Feind
die Phrase dreschen, die uns eint.
Am Ende wird die Wahrheit stehn:
Der Kampf wird bis zum Ende gehn!
Wir sorgen, daß uns nicht entgeh'
das erzne Becken von Briey.
Der Friede uns nicht intressiert,
eh wir die Welt nicht annektiert.
Die wenigstens gehört dem Deutschen!
Es geht uns doch nur um die Ehr'.
Nein, Belgien geben wir nicht her!
Wir halten rein das Ehrenkleid;
in Ehre wissen wir Bescheid.
Der Endsieg unser Recht beweist:
die Welt wird von uns eingekreist!
So muß und wird es uns gelingen,
die Pofelware anzubringen.
Ja, made in Germany ist doch der Deutsche!
Nur weil man etwas Sonne braucht,
haben wir die Welt in Nacht getaucht.
Mit Gift und Gasen, Dunst und Dämpfen
woll'n bis zum jüngsten Tag wir kämpfen.
Denn bis wir Gottes Donner hören,
muß unsrer uns Ersatz gewähren.
Drum überall und auf jeden Fall
braust unser Ruf wie Donnerhall.
Ist das nicht praktisch von dem Deutschen?
Schon brennt die Erde lichterloh
dank unserm Fenriswolff-Büro.
Solang es andere Völker gibt,
ist leider unsres nicht beliebt.
Wo man nichts auf die Waffe setzt,
wird unsre Leistung unterschätzt.
Die Welt will weniger Krawall,
und unsrer braust wie Donnerhall.
So hört man überall den Deutschen!
— 12 —
Nach'm Krieg wird noch mehr Arbeet sein
und noch mehr Krieg und noch mehr Pein.
Wie freue ich mich heut' schon drauf,
die Liebe höret nimmer auf.
Ach, wenn nur schon der Friede war',
damit ich seiner müde war' !
Es gilt die Technik auszubaun.
Zum U-Boot haben wir Vertraun.
Den Fortschritt liebt nun 'mal der Deutsche
Wir woll'n die Wehrpflicht dann verschärfen,
die Kleinen lehren, Flammen werfen.
Wir woll'n indes auch für die Alten
die Kriegsdienstleistung beibehalten.
Was wir gelernt, nicht zu verlernen,
laßt uns vermehren die Kasernen.
Die Welt vom Frieden zu befrein,
steht fest und treu die Wacht am Rhein.
Aus der Geschichte lernt der Deutsche!
Und wenn die Welt voll Teufel war',
und wenn sie endlich menschenleer,
wenn's endlich mal verrichtet ist,
und jeder Feind vernichtet ist,
und wenn die Zukunft ungetrübt,
weil es dann nur noch Preußen gibt —
nee, darauf fall'n wir nicht herein!
Fest steht und treu die Wacht am Rhein !
Und weiter kriegt und siegt der Deutsche !
13
Mitte Oktober 1918-
Mir san ja eh die reinen Lamperln
Was Schiedsgericht und Völkerbund!
Sie Kellner, bringen S' ein paar Stamperln!
So etwas brauchen wir nicht und
mir san ja eh die reinen Lamperln !
Was Völkerbund und Schiedsgericht!
Wenn wir die Friedenspfeife rauchen,
so brauchen wir so etwas nicht,
denn mir wer'n doch kein Richter brauchen !
Kennt uns der Wülson von der Näh',
macht sich die Weltgeschicht' von selber.
Und Euer Gnaden wissen eh',
die Hölle ist noch weit schwarzgelber.
Im Ernstfall wär'n wir ja geschnapst,
die Welt soll Österreich nicht verlieren !
Drum wird, so hoffen wir, der Papst
uns doch beim Wülson protegieren.
Der Wiener geht nicht unter und
dann geht die G'schichte wie am SchnürL
Gehn wir schon in den Völkerbund,
so gehn wir durch ein Hintertürl !
Da kann man halt nix machen, doch
es macht sich alstern alles gütlich.
Wir pfeifen aus dem letzten Loch,
doch pfeifen wir noch sehr gemütlich.
Wir hab'n ja niemanden gekränkt,
ich bitt' Sie, weg'n dem bisserl Sengen !
Zwar hab'n wir viele aufgehängt,
doch lass'n wir unsre Köpf nicht hängen.
— 14 —
Dagegen hängt uns zum Genuß
seit je der Himmel voller Geigen.
Das werden wir beim Friedensschluß
den Feinden wie den Freunden zeigen.
Da von der Nibelungen Spur
wir uns ein Alzerl westwärts wandten,
verlor'n wir doch nicht den Hamur,
wir Burg- und Bettelmusikanten.
Nur zugeteilt, nicht aufgeteilt !
Als a Ganzer sein, wenn auch als Torso!
Rasch sind die Wunden dann verheilt
und nix mirkt man am Grabenkorso.
Mit der Ernährung hat es zwar
noch vorderhand so manchen Haken.
Doch heißen wir, das ist doch klar,
dereinst das Volk noch der Phäaken.
Wir nannten unsere Helden brav,
sie haben tapfer sich geschlagen —
und Jud und Christ, Portier und Graf
sie werden sich Hab die Ehre sagen.
Wie schnell die große Zeit vergeht!
Wem S' sehn, Euer Gnaden, auf die Wochen
wird allseits, wie's da geht und steht,
wieder von vorn in 'n Arsch gekrochen.
Auf demokratisch tut's es nicht,
die Richtung wird uns wenig frommen.
Wir woll'n nicht wegen der Weltgeschicht'
um Eigenart und Trinkgeld kommen!
Was Völkerbund ! Das is doch stier !
Sie Kellner, bringen S' noch paar Stamperln !
Was Selbstbestimmung! Mir san mir,
und mir san eh die reinen Lamperln !
— 15 —
Anfang Oktober 1918
Österreichs Fürsprech bei Wilson
Damit man an einem Beispiel sehe, von welcher
Individualität sich die deutsch-österreichische Bürger-
schaft die Lust zu diesem Kriege und hinterdrein die
Reue hat beibringen lassen, sei die folgende Konfron-
tierung zweier Dreckseelen, die in einer Brust wohnen,
einer schlecht unterrichteten Mitwelt dargeboten und an
eine besser zu unterrichtende Nachwelt weitergegeben.
Das publizistische Ungeheuer, dessen Feder die
Prokura des Blutschachers gerührt hat und dessen
Wort, wenn nicht durch seine Feilheit, so durch die
abscheuliche Klangfarbe einer zwischen Frechheit
und Feigheit lebenden Gesinnung in die verhärteten
Ohren dieser Zeit dringen- müßte, der unsittlichste
Vertreter der mitteleuropäischen Öffentlichkeit hat
durch Monate die hochherzige und weise Entschließung
des Präsidenten Wilson als die Finte eines Pharisäers,
als den moralheuchlerischen Vorwand eines Kriegs-
gewinners in allen Rassetönen beschrieen und sein
redlich Teil der Schuld an einem aussichtslosen
Blutverlust übernommen. Und zwar so:
WennausderBotschaftWilsons nicht hundert-
tausend Leichen herausstarrten, wenn sie nicht für
Millionen neues Verderben, Krankheit und Hunger
bedeutete, würde es verlockend sein, die Fertigkeit zu
schildern ....Erwill seinen Krieg haben.... Die vierzehn
Friedensbedingungen sind auch ein Plan der künftigen
Landverteilung . . . . Die Unwahrhaftigkeit von
Grundsätzen, die nicht für das eigene Land und nur für andere
gelten sollen, ist vielleicht auch Hochmut, der im Deutschen und
Österreicher untergeordnete Wesen sieht. . . . Die Botschaft hat
natürlich auch den Zweck, die Verhandlungen in Brest-
Litowsk zu sprengen, eine Arbeit, die Präsident Wilson
übernommen hat, wie schon früher aus mancherlei Beziehungen
zu Petersburg zu merken war. Präsident Wilson verdächtigt
und hetzt.
Dasselbe Individuum, das jedem veränderten
Kurs mit dem Bekenntnis gerecht wird, daß man
16 —
sich in einen eben noch begeiferten Gegner »hinein-
denken« müsse, weiß nun um Wilson wie folgt Bescheid :
Fr ist eine Persönlichkeit.... Er hat die
Fähigkeit, die Einbildungskraft eines großen Landes zu
erfüllen, und so ganz ist es seinem Willen Untertan, daß er nirgends
Widerspruch zu fürchten braucht ....
Das große Land ist natürlich Amerika.
Wir müssen versuchen, in Wilson uns hinein-
zudenken . . . . Wir müssen uns vorstellen, daß Wilson
aus seinem innersten Gefühle sich für berufen hält, den
demokratischen Gedanken zur Regierungsform der Weltgemeinschaft
zu erheben, und daß er für diese Politik, die sich bei ihm bis zum
Glaubenssatze steigert, genau so einen Feldzug unternimmt, wie
Gustav Adolf über die Ostsee nach Deutschland gekommen ist, um
für die protestantische Religion im dreißigjährigen Kriege zu kämpfen ....
Denn jeder Mensch pflegt nach dem Antriebe seiner Natur zu handeln.
Präsident Wilson hat puritanische Eigenschaften.
Die vierzehn Punkte und deren Ergänzungen sind für ihn die neuen
Gesetzestafeln für das kommende demokratische Zeitalter, u n d
der Hügel, auf dem das Weiße Haus steht, ist der
neue Berg Sinai . . . . Das Hochgefühl eines
Erfolges wird Präsident Wilson haben. Die
Entente mag sagen, was sie will; ohne seine Truppen,
seine Lieferungen, sein Geld und seine Nahrungsmittel wäre sie jetzt
in starker Bedrängnis....
Die puritanische Richtung seines innersten
Wesens zeigt sich auch in dem fast biblischen Apostolat
für ein mit Zwangsgewalt ausgestattetes Völkerrecht. Wenn das Recht
eine Macht hätte, die größer wäre als die der Armeen, w ürde das
Reich des beständigen Friedens anbrechen. Dann
könnten die Rüstungen aufhören, die Schäden des Krieges rascher
heilen, und die Summen, die für die Truppen ausgegeben worden
sind, der allgemeinen Wohlfahrt dienen. Das paßt so
ganz zu seiner Persönlichkeit, dieses Hinein-
bohren in einen Rechtsgedanken, diese Erhöhun
Rechtsbegriffes und des Rechtsschutzes .... Redlich enFrieden^
willen kann er nicht verwerfen.
Helfe Gott, daß er es nicht tue. Aber wenn er
es nicht tun wird — einen Fußtritt wird er doch,
hoffen wir, übrig haben für solchen Fürsprech !
Und für alle jene, die das Stahlbad, das sie gerühmt
haben, überleben konnten und sich nun auch aus
der kalten Dusche retten möchten!
— 17 —
November 1918
Heldengräber
Es reut uns fürs Leben. Und auf dieser Sünde
nie Freude, nie Glück, nie mehr Hoffnung sich gründe.
Es reut uns wohl alle, die wir's nicht verschuldet,
uns reut die Geduld, mit der wir's geduldet.
Es reut uns, daß nächtlich im Bette wir ruhten
bei diesem Verbluten der Edlen und Guten.
Es reut uns, die wir uns freuten und lachten
in der Zeit, die in Qual und in Schmutz sie verbrachten.
Es quält uns durchs Leben, beschmutzt uns das Leben,
daß es diesen Krieg, diesen Kaiser gegeben.
Wir alle, wir alle, wir wollen uns kränken
und mit Grämen und Fluchen der Schande gedenken.
Nun ist sie vorüber und nichts wird uns freuen,
vorüber die Sünde, nun wird es uns reuen.
Wir sehn nur Hyänen, wir hören nur Raben,
dort sind sie verscharrt, dort sind sie begraben.
Ich aber schaue in rosiger Wolke
die Zukunft von dem mir vertrautesten Volke.
Das wird sich über den Untergang gfretten.
Denn es gibt Operetten und es gibt noch Soubretten.
Keine Laus, die es hat, läuft ihm über die Leber.
Am Graben gibts halt keine Heldengräber.
Doch schade um jeden Zug'reisten wäre,
der sich nacher nicht anschaut die Felder der Ehre.
Für ein kleines Dussör wolln m'r gern ihn begleiten
zu die Friedhof und sonstige Sehnswürdigkeiten.
Ist alles auch hin, lebt die Wienerstadt, der es
gereicht zur Hebung des Fremdenverkehres.
— 1,
Hausmannskost
August 1918
Redensarten sind die Reste,
die wir in den Mund noch kriegen
als den Schmaus zum Siegesfeste,
wenn den Hunger wir besiegen.
Sie sind unsre letzte Labe
in den glorreich großen Tagen,
da wir all mit unsrer- Habe
unsre Haut zu Markte tragen.
Unser Mangel schmeckt noch besser,
weil auch drüben manches Loch ist.
Seelentrost für starke Esser
heute mit der beste Koch ist.
Freilich, wenn von heut auf morgen
schwindelnd steigen alle Taxen,
ist den nächsten Nahrungssorgen
meistenteils kein Kraut gewachsen.
Auf des Feindes Mangel zählen,
schadenfroh ihm Rübchen schaben,
macht noch nicht, daß sie ihm fehlen,
doch auch nicht, daß wir sie haben.
Andernfalls, ich möchte wetten,
würde Fülle uns betrüben.
Wenn wir Kraut und Rüben hätten,
lägen sie wie Kraut und Rüben.
Im chaotischen Betriebe
nähren wir uns von Gerüchten,
da nichts andres übrig bliebe,
als den alten Kohl zu züchten.
— 19 —
Doch um ihn nicht fett zu machen
und den Friedensdrang zu stillen,
opfern wir dem Höllenrachen
mit vermehrtem Siegeswillen.
Jeden Tag ein neuer Treffer,
daß die Lebenslust sich hebe.
Ja, da lag' der Has' im Pfeffer,
wenn es Has' und Pfeffer gäbe.
Fehlt das Fleisch, so gibt es Blut noch,
weil die Weisheit so geruhte.
Der Gehorsam und der Mut noch
stecken uns im Fleisch und Blute.
Deutsch das Herz, deutsch der Verstand auch
immer wird es so was geben.
Könnte nur von deutscher Hand auch
in den deutschen Mund man leben!
Uns die Siege zu versalzen,
scheut der Gastwirt keine Mühe.
Nur die Rechnung ist geschmalzen
und der Gast sitzt in der Brühe.
Kommt der Appetit beim Siegen,
soll man an kein Wunder glauben.
Meist sind's Flieger, selten fliegen
in das Maul gebratne Tauben.
Wie erklärt sich's dem Verstände,
daß wir stets das Schwert noch zücken?
Weil wir gern im Feindeslande
irgendwo ein Hühnchen pflücken.
Des gerechten Gottes Zorn noch,
ach, den müssen wir verschärfen.
Wo gedeiht denn heut ein Korn noch,
um die Flinte hinzuwerfen!
20
Wie die neue Ernte, raten
alle Bürger nur mit Bangen.
Wissen bloß, daß blutige Saaten
wieder glücklich aufgegangen.
Eine Schlachtbank läßt nie darben
die dort angestellten Kunden.
Raben haben, seit wir starben,
täglich Nahrung noch gefunden.
Doch den Untertan verlockt hat,
er besorgt es unterdessen,
was man so ihm eingebrockt hat,
bis zum Endsieg auszuessen.
Sitzt man mit Gemeinschaftsmägen
an dem ungedeckten Tische:
heute gibt es außer Schlägen
höchstens etwa faule Fische.
Manche diplomat'sche Note
für die Welt nur ein Geräusch ist,
die im Friedensangebote
schmeckt, daß es nicht Fisch, nicht Fleisch ist.
Riecht man dann selbst hier den Braten,
kriegt man ihn doch nicht zu schauen.
Ich mag diesen Surrogaten,
nein, beim deutschen Gott nicht trauen !
In Geheimrats Teufelsküche
möcht' in keinen Topf ich gucken ;
müßte wegen der Gerüche
Hexen in die Suppe spucken.
Wovon man denn fett wird, war schon
schwierig ehedem ergründet;
während man seit manchem Jahr schon
nicht mehr weiß, wovon man schwindet.
21 —
Bleibt der Seele ein Gehäuse,
wird der Mensch noch nicht begraben.
Einstens hierzuland die Läuse
auch nichts mehr zu beißen haben.
Von den deutschen Chemikalien
scheint das Gas allein gediegen,
während durch die Viktualien
der, den's trifft, sofort bleibt liegen.
Um das Leben zu ersetzen,
sinnt die Wissenschaft noch heute.
Sonst ist alles da an Schätzen,
nicht so wie bei arme Leute.
's ist wie einmal, da der Prahlhans
war der deutsche Küchenmeister;
doch das Mahl nicht mal vom Schmalhans,
denn die Soß nicht mal ein Kleister.
Eine schöne Soße war' das,
wenn das nicht ein Fremdwort wäre.
In der Tunke sein : auf Ehr' das
fordert nationale Ehre.
Alle diese welschen Speisen
sind ja doch zu gar nichts nütze.
Unschwer ließe sich's beweisen
mit ein wenig deutscher Grütze.
Üppigkeit von damals muß sich
heute durch Entbehrung rächen.
Ach, wie ließ' man mit Genuß sich
wieder mal vom Hafer stechen!
Während wir um schlechte Währung
mit noch minderm Vorrat geizen,
blüht auf unterster Ernährung
heute bloß des Wuchrers Weizen.
— 22 —
Statt des Fleisches äße Leder
schon der eingefleischte Sparer.
Aber Leder, das weiß jeder,
ist ja noch bei weitem rarer.
Daß dem Wirt schon alles Wurst ist,
führt in Irrtum nur die Toren.
Aber auch für ihren Durst ist
Malz und Hopfen längst verloren.
Nimmer mag das Volk der Denker
über seine Lage denken.
Gern vermeiden seine Lenker
reinen Wein ihm einzuschenken.
Aber Zuckerbrot und Peitsche
nicht mehr der Erziehung ziemen ;
denn es fehlt ja doch der deutsche
Zucker und der deutsche Riemen.
Täglich sie die Milch der frommen
Denkart diesem Volk entzogen.
Kinder, die jetzt angekommen,
haben Drachengift gesogen.
Totentanz ist's, sei der Titel
Tango oder wieder Ländler.
Hast du keine Lebensmittel,
werde Lebensmittelhändler.
Hin ist hin, die Hetz ist hin und
G'spaß gibt's keinen gegenwärtig.
Krieg ist Krieg, sagt man in Wien und
da gibt's keine Würstel, fertig.
Wenn das Schicksal sich vollendet,
wird kein Kren mehr übrig bleiben,
daß den Wiener man verwendet,
um im Notfall Kren zu reiben.
23
Dafür ist man kaum entschädigt
durch ein kriegsgemäßes Leben,
wozu mit der Sittenpredigt
ihren Senf die Sieger geben.
Schnittlauch selbst auf allen Suppen,
Zutat fremdem Wert und Werke,
bilden sie um Gräber Gruppen,
hoffend, daß man sie bemerke.
Hungert man im Hinterlande,
bleibt der Mut doch ungebrochen
jener, die am Weltenbrande
ihre eigne Suppe kochen.
Nimmer würde sie's verdrießen
und sie würden unablässig
Öl noch in das Feuer gießen,
damit aber ist es Essig.
Vor den furchtbaren Kontrasten ;
lernt man diese Ordnung hassen,
in der die Gerechten fasten
und die Ungerechten prassen.
Diese Ersten, die sich mästen
und sich selbst die Kreme heißen,
wenn die namenlosen Besten
ungezählt ins Gras doch beißen —
keinen gibt es, der nicht nähme,
während andere verrecken.
Welch ein Abschaum diese Kreme!
Längst schon kann ich sie nicht schmecken!
Durchzuhalten, wird von Tröpfen
manch ein Scherflein beigesteuert,
wenn die Butter auf den Köpfen
aller Schieber sich verteuert.
— 24 —
Dazu würden Siegesweisen
wie ein Ei dem andern gleichen,
könnte man zu höchsten Preisen
das Vergleichsobjekt erreichen.
Lange schon auf Mehl wir harren.
Finden wir's, wenn wir es suchen?
Da sagt man in Wien : Ja Schmarren !
In Berlin sagt man : Ja Kuchen !
Was du noch bekommen solltest,
nicht bekömmlich ist's. Zum Hohne
heißt's dort, wenn du fragen wolltest:
»Gibt es Kaffee?« »Nicht die Bohne!«
Aber unser täglich Brot doch
wird man uns wohl nicht verstecken !
Das gibt's in der Zeit der Not doch
stets beim Bäcker ? Ja beim Backen !
Neue Nahrung ward dem Neide,
nicht uns selbst: mit Duldermiene
hörten wir von dem Getreide,
lagernd in der Ukraine.
Billig wie die Brombeern waren
nicht einmal die Brombeern heuer.
Sie zu kriegen, war seit Jahren
guter Rat nicht mehr so teuer.
Vor den Obstgeschäften standen
viele Füchse auf der Lauer;
wären Trauben noch vorhanden,
keinem wären sie zu sauer.
Fruchtlos ferner uns zu freuen,
ward von oben uns geheißen.
Möchten gern, wenn wir ihn hätten,
in den sauern Apfel beißen.
25
Auch die Zuversicht, sie glaubt nur
täglich noch den schummern Wandel.
Fortan kriegt man überhaupt nur
eine harte Nuß im Handel.
Über weitere Annexionen
freuten wir uns ungeheuer,
trügen gern zu allen Thronen
die Kastanien aus dem Feuer.
Und mit diesen Staatsgewalten —
fast hätt' ich den Punkt vergessen —
war' es gut, sich zu verhalten
und mit ihnen Kirschen essen.
Essen suchen selbst die Rüpel,
die sich jenes Krupp erinnern,
Herbergsvaters aller Krüppel,
Vorbilds allen Kriegsgewinnern.
Schön ist es, im Sommer ländlich
so im deutschen Wald zu wohnen.
Wie die Pilze schießen endlich
aus der Erde die Kanonen.
Aber diese herzlos harten
Winter soll der Teufel holen.
Wärmeres Wetter zu erwarten,
sitzt man fluchend wie auf Kohlen.
Mit Tabak ist's noch viel schlimmer.
Doch man wird ihn nicht mehr brauchen,
wenn doch immerzu die Trümmer
nur in diesem Kriege rauchen.
Jedenfalls bei weitem schärfer
spürt den Mangel man an Zündern,
da vermehrte Flammenwerfer
solchen Notstand nicht vermindern.
— 26
Opfervoll ist diese Prüfung,
hält die Treu' durch Not und Tod man.
Ach, des Bündnisses Vertiefung
braucht wie einen Bissen Brot man.
Und den Ausbau, den verlangen
Nibelungenpflichten eben.
Auf den Speck sind wir gegangen,
als wir unsern hingegeben.
Und wir müssen es beklagen,
die wir Höchstes doch besessen :
daß wir auf den Lorbeern lagen
und sie nicht gleich aufgegessen.
Denn nach vielen Feindeslügen
eine ward erst jetzt vernommen :
daß die Deutschen dieses Siegen
endlich einmal satt bekommen !
Absage
September 1918
Wo die Maschine mit dem Menschen rauft,
wo Blutverlust bedeutet Geld-Erraffen,
wo Hunger herrscht und Reichtum Nahrung kauft —
mit solcher Menschheit hab* ich nichts zu schaffen !
Wo Männer ächten, was sie selbst begehrt,
und wo die Sinne zu der Sünde finden,
wo Liebe Schmach bringt und Natur entehrt —
mit solcher Mannheit kann mich nichts verbinden!
Wo Freigeborne jedem Schall und Schein
gehorchen, ewiger Menschenfurcht verschworen,
um als Tyrannen Sklaven noch zu sein,
in solchen Reichen hab' ich nichts verloren.
— 27 —
Wo Druck in jeder Form die Geister lähmt
und wo die Phrase sich von selbst entzündet,
wo Technik sich dem Tode anbequemt,
in solcher Welt ist nicht mein Glück begründet.
Wo fauler Zauber allen Lebens Zweck
dem schnöden Mittel heimlich längst vermietet,
wie sehn' ich mich aus dieser Wohnung weg,
in der ein Besen mir die Stirne bietet!
Wo Willkür, Wucher, Krankheit, Haß und Schmutz
als die Verbündeten des Schlachtruhms schalten,
da will ich kühn dem Vaterland zum Trutz
mich für den allergrößten Feigling halten!
Wo Wissenschaft den Heldentod erfand,
in Gift und Gas die Glorie sich erneuert,
da hat sich mir das teure Vaterland,
denn Krieg ist Krieg, bedeutend noch verteuert.
Wo statt der Glocken die Kanonen nun
die frommen Christen zum Gebete rufen,
mit solchen hat der Teufel nichts zu tun,
da sie auf Erden schon die Hölle schufen.
Wo Ehre fällt und Schande aufwärts steigt
und heute gilt, wer gestern erst gestohlen —
gern hätt' ich Jenem doch den Weg gezeigt,
daß er mir könnte diese Ordnung holen !
Wo sie vor jedem Sonnenuntergang
durch Wort und Tat ihr Seelenheil verfluchen —
mein Leben und mein weiteres Leben lang
hab' ich bei dem Gelichter nichts zu suchen !
— 28 —
1. November 1918
Die Sintflut
die ein Aktenstück heraufbeschworen hat — mag auch
ihr strategisches Vorspiel beendet sein — , ist unab-
wendbar. Alles Märtyrertum dieser heillosen Jahre
werde geweiht von dem Heldentum, welches der
großen Vergeltung wissend entgegengeht, die als
die Idee der blinden Naturgewalt Gerechte wie
Ungerechte trifft. Die grauenhafte Offensive des
Hungers, der Sturmlauf der durch die unselige
Erlaubnis geweckten und abgerichteten, durch ein
fluchwürdiges Kommando zugleich niedergehaltenen
und verstärkten, durch den Zusammenbruch der
elenden Scheinmacht entfesselten Triebe: dies Chaos
mag dunkler sein als einer jener Siege, die, mit
Gott und Gas errungen, in geraubten Weinfässern
ersoffen sind — Hand auf die Stelle, wo selbst
dem Kriegsausbeuter ein Herz sitzen soll: ist das da
nicht der Krieg als solcher? Der wieder in seine
Naturrechte eingesetzte Krieg? Der Krieg, in dem
nicht mehr die andern sterben, der Krieg, in dem
nicht gelogen wird, der Krieg, den Hunger gewinnt,
nachdem ihn Feldherrn und Diplomaten verloren
haben, der Krieg, der beginnt, wenn die General-
stabsberichte aufhören? Hand auf das Herz, dessen
Habgier vom Welttod Gewinn und Ehre nahm —
denn lügen hilft nur, wenn das Vaterland die andern
ruft — : ist es zu Ende, wenn die Glorie auf dem eigenen
Schindanger krepiert ist? Sind nicht nach der Ausein-
andersetzung mit dem »Feind«, der, ein Bundes-
genosse der Kriegsleiden, als Individuum immer nur
unschuldigstes Opfer seines Mörders ist, sind nicht
gemäß dem Diktat der unabsetzbaren Naturmächte
alle Feindgefühle aufgespart für einen Haufen
von Landsgenossen, die weitab von der Gefahr die
Bestialisierung der Menschheit bejubelt und bedichtet,
29
die Effekte in Kinogenüssen und Zeitungstiteln
erlebt haben und ihren Appetit von keiner Blut-
vorstellung verderben, von keinem Gedanken an
fremden Hunger und an fernen Tod verringern ließen?
Nicht der Zusammenbruch von staatlichen
Rumpelkammern und Kriegskartenhäusern, nicht
diese Nochnichtdagewesenheit einer Niederlage vor
dem Feind, sondern die panikartige Flucht des
Vaterlandes vor seinen Beschützern zeichnet einen
Ausgang, den die Urheber einer auf Quantität ein-
gestellten Handlung selbst bei völligem Minus an
Phantasie hätten berechnen können, wenn dem von
Lesebuchidealen erfüllten Staatsgehirn nicht auch
das Einmaleins abhanden gekommen wäre und
somit die Fähigkeit, die Quantitäten an Menschen,
Maschinen und Mehl mit einander zu messen.
Überschätzer der Menschheit hätten die Gefahr,
die heute den gelernten Siegern droht, schon acht
Tage nach Kriegsbeginn von einem Aufstand der
Menschenwürde erhofft, und es stellt der seelischen
Tragfähigkeit dieser Tiergattung ein bedenklich
gutes Zeugnis aus, daß ihre Auftraggeber, die für
die Erweiterung von Absatzgebieten über Leben und
Glück von Millionen verfügt haben, erst nach mehr
als vier Jahren und erst von einer Revolution des
Hungers die Geschäftsstörung befürchten müssen.
Nun aber, da meine Ansage, die Front werde einmal
ins Hinterland verlegt werden, bis zu der Not-
wendigkeit einer Front gegen sie erfüllt ist, hat die
Ideologie abgedankt, die durch ihre einzigartige
Gewalt, Sachverhalte auszuschalten, dieses Unglück
über uns gebracht hat, und jetzt, da wir sie
stimmungshalber erst nötig hätten, da sich das
Grauen nicht mehr irgendwo draußen abspielt,
wohin wir zum Glück keine Reisegelegenheit hatten,
von wo wir aber täglich auf dem Laufenden erhalten
wurden, jetzt, da Sengen und Brennen zu einer
Angelegenheit des Lokalberichts zu entarten droht,
— 30 —
jetzt, da man die Einteilung, wonach die andern
starben und die einen logen, brauchen würde, sperrt
das Kriegspressequartier zu, versagt die Kunst, die
das Durchhalten fremder Leiden ermöglicht hat,
verläßt uns die letzte persönliche Qualität, die in
diesem Krieg zur Entfaltung kam : eine blutige Welt
schönzufärben.
Kriege sind von ihren Folgen unterschieden
durch Beschließbarkeit und durch Abwendbarkeit.
Die Folgen kann nur der Selbstmord abwenden,
das freiwillig dargebotene Bußopfer mildern.
So erwächst denn den neuen Vaterländern eine
heilige Pflicht zu Schutz und Sühne zugleich. Wenn
die neuen Vaterländer, deren Lebensfähigkeit schon
von dem Ruin des alten gestützt wird, nicht mit
Sünde beladen vor die Welt treten wollen, so mögen
sie, vor dem Jux der Zertrümmerung alter Fassaden
und vor dem Spiel der Erfindung neuer Wappen,
unverzüglich daran gehen, der Rache der geschän-
deten Mannheit die Grenzen zu bestimmen
und zum Schutze der Gerechten Anstalten zu
treffen, daß die Ungerechten zwar mit ihrem wert-
losen Leben, aber nicht mit ihrer wertvollen Beute
das große Unglück, das sie angerichtet oder bei-
fällig betrachtet haben, überleben dürfen. So mag
man dazu schauen, daß alles vorbereitet sei zum
Empfange jener, die sich der Staatskretinismus
vor vier Jahren als die unter den Klängen der Burg-
musik einziehenden Sieger vorgestellt hat, mit
Auszeichnungen beladen und etwa noch mit Kriegs-
andenken: Russenlebern und Serbenohren, die ein
katholisches Blatt den in der Heimat wartenden Lieben
von den Braven im Felde versprochen hatte. Sie mögen,
und zerbrächen sie mit den alten Adlern sich die neuen
Köpfe, dafür sorgen, daßdieimGeschmack der Zeitungs-
fibel heimkehrenden und nun in der Tat bang
erwarteten Helden vor allen in Betracht kommenden
Bank- und Bauernhäusern Nahrung, Kleider,
31 —
Schuhe und Barschaft vorfinden. Eine härtere Ver-
geltung als diese Lieferpflicht an die Überlebenden und
als die wochenlange Angst vor jenen »Eigenen«, zu
deren Abwehr dasselbe ruchlose Gesindel, das einst,
long long ago, »Gott strafe England« gebrüllt hat, heute
den Feind herbeirufen möchte — eine Strafe, die im alt-
testamentarischen Sinn dieser Kriegshandlung auch dem
rächenden Gedächtnis der Millionen Hingemordeten
gerecht würde, wird der herzquälende Traum der
Mütter und Bräute von einem Tod in Flammen oder
Gasen auch den verruchtesten Akteuren und Claqueuren
dieses Krieges nicht herabflehen.
Wohl aber bliebe, da alles programmgemäß
verlaufen ist, und damit der tragische Karneval noch
seinen Mittwoch finde, wo die Häupter mit geweihter
Asche bestreut werden, die Veranstaltung eines großen
Sühntags zu wünschen, welcher den mit Invaliden
besetzten Tribünen die Demütigung der Generale,
der besseren Kriegsgewinner, der schlechten Kriegs-
schreiber vorzuführen hätte, kurzum jenes ganzen
Packs von Ferntötern und Parforcejägern der
Menschheit, dessen Lebensmut sich an gelungenen
Durchbrüchen stärkte, das seiner friedlichen Tätigkeit
nachging, die Brust voller Orden trug und aus Bor-
dellen und Hauptquartieren Champagnerflaschen zum
Fenster hinauswarf, während Millionen Sklaven dieser
Ehrlosigkeit in Unterständen auf den Augenblick
der Erlösung warteten, wo sie ihre Leiber vom
Eisenhagel zerreißen lassen mußten. Nichts wäre so
wirksam, um die Unschuldigen vor den Repressalien
des Hungers zu schützen und vor der Elementar-
kraft einer Wut, die aus dem gestohlenen Glück, aus
der überwältigten Menschenehre und aus vier
beschmutzten Jahren nach Hause rennt, als das
Arrangement der Vorführung jener Elenden, die zur
Hinausschiebung des unentrinnbaren Endes und zur
Fortfristung ihres verkrachten Geschäfts so viel
Piothesen brauchten, als sie Orden haben wollten,
32 —
und so viel Lügen erfinden mußten, als sie Läuse
mobilisiert hatten. Ich, der keinen Augenblick
seit dem 1. August 1914 sich einen andern Endsieg
als die Verwandlung der Erde in einen Dreckhaufen,
keine andere Sühne als die Brandmarkung der
Rädelsführer dieses größten Verbrechens der histo-
rischen Zeitrechnung vorgestellt, keinen Gedanken
der Sympathie für ein Vaterland rotgestreifter Mörder
undDiebe, gewalttätiger Kretins und entgegenkommen-
der Schufte gehabt und nie, vom konservativsten,
patriotischesten Standpunkt aus, einen andern Wunsch
als daß sich die nüchterne, fibelfreie, demokratische
Zivilisation der Welt mit den zur Ausrottung
dieser Unzucht, zur Abkürzung dieser Blut-
schande leider Gottes nötigen Behelfen armiere,
auf daß sie dem grauen Elend den bunten Rock
abziehe und dieses von einer lausigen Glorie orna-
mentierte Leben in die tabula rasa verwandle, auf
der wieder Gottes Gras wächst — ich stelle keine
härtere Friedensbedingung und erachte das Welt-
gewissen für befriedigt, wenn die Befehlshaber und
Parasiten unserer in Tod, Not, Ruhm, Syphilis,
Hunger, Dreck und Erzlüge verlorenen Tage,
wenn die Schinder und Schieber unserer Schulter
an Schulter durchgehaltenen, gemusterten, ein-
rückend gemachten, ausgebauten und vertieften
Dummheit mit dem Leben und ein paar Ohrfeigen
davonkommen. Den Tirpitz zu torpedieren, statt
daß ihn das Bild der zwei Kinderleichen von der
»Lusitania« durchs Leben begleite; unsere kühnen
Luftsieger ihre Wirkungen auf der Erde auskosten
zu lassen ; die Ritter Krupp, Skoda und den
romantischen Manfred Weiß zum Kirchenbesuch
zu zwingen, wenn eine 120 Kilometer-Kanone zu
arbeiten beginnt — wäre verfehlt, weil erfahrungsgemäß
in solchen Fällen nicht die militärischen Objekte,
sondern die anständigen Menschen getroffen werden.
Wenn aber etwa den Munitionsfabrikanten feierlich
33 —
eröffnet würde, daß sie den Gesamtertrag ihrer Tätig-
keit zu Gunsten der Invaliden erworben haben und nur
noch den Kriegsblinden die Füße zu küssen hätten,
so würde ich selbst auf die Erfüllung meines Lieblings-
wunsches verzichten, Wilhelm II. und seine gesamten
Söhne in der von den preußischen Hotelzimmer-
bildern bekannten Stechschrittübung in einen Käfig
abrücken zu sehen. Die befohlene Linie ist erreicht.
Es ist erreicht! Ich, der an die von jenen Siegern
geschändete deutsche Sprache glaubt, habe nie
verschwiegen, daß ich für das einzige wahre Wort,
das in diesen von einem Wolffbüro befriedigten
Zeitläuften gesprochen wurde, jenes hielt, das ein
russischer Minister am Kriegsbeginn gesprochen
hat: daß dieser Krieg Österreichs eine Keckheit ist —
und es nur durch die Feststellung ergänzt, daß dieser
Krieg Deutschlands eine Frechheit ist, damit das
bundesbrüderliche Verhältnis zwischen Räuber und
Dieb, Gehaßtem und Verachtetem auch im Punkt der
Kriegsschuld zur vollen Anschauung komme. Und
ich verschweige nicht, daß ich noch ein wahres
Wort aus österreichischen Blättern, am Kriegsende,
empfangen habe, das des Czechenführers, der mit
jener Schmucklosigkeit, die allein schon deutsche
Hirne in Harnisch bringen kann, den klarsten Sach-
verhalt formuliert hat: daß für einen Krieg, der als
eine Aktion der germanischen gegen die slawische
Rasse ausgebrüllt wurde, seine Landsleute »keinen
Blutstropfen freiwillig geopfert haben«. Die Frage,
wie viel Blutstropfen die Deutschen geopfert hätten,
wenn ihr Rassekrieg nicht zugleich ein Krieg der
allgemeinen Wehrpflicht gewesen wäre, muß in
einer Welt, die mit solcher Schmach auch die
Pflicht zur Lüge auf sich nimmt, unbeantwortet
bleiben. In einer österreichischen Welt, die Bomben
in Belgrad, und in einer deutschen Welt, die Bomben
auf Nürnberg herstellt, wenn sie sie braucht, und die
beiderseits auf Gedeih und Verderb das Blaue vom
— 34 —
Himmel heruntergelogen hat, um die Erde rot zu machen,
und dabei die Keckheit und die Frechheit hatte,
den Ehrenmann unter Staatsmännern, dessen Gestalt
abwehrend vor dieser Kriegsschande stand, zum
»Lügen-Grey« zu verunstalten. Nie habe ich mich
in dieser patriotischen Pestluft anders als mit
offenen Augen und zugehaltener Nase bewegt!
Hätte dieses Vaterland, dem ich über alle Maße
geistiger Kriegserlaubnis hinaus meine Über-
zeugung in sein Doppelgesicht gesagt habe, es
gewagt, meinen Körper anzutasten, ich hätte vor Gott
und beim Feldwebel keine Erleichterungdieser Schmach
gegen eine Belastung meines Gewissens eingetauscht
und der hieramts durch Feigheit gemilderten Tücke
bewiesen, welche Gedanken auch der Zwang noch
erlaubt und welche man der eigenen Menschheit
gegen ein fremdes Vaterland schuldig ist! Ich habe
in all den Jahren, da Fibelverbrecher schalteten und
Advokaturskandidaten sich ihnen für Enthebung
vom Heldentod durch Henkersdienste gefällig zeigten,
alle Märtyrer beweint, den Toten auf Feindesseite
zuerkannt, daß sie, wenn nicht begeistert, wenn nicht
freiwillig, doch im Joch einer Idee und nicht
bloß eines schuftigen Willens und eines schlechten
Geschäfts gefallen sind, und die belgischen Frank-
tireure für Kämpfer gehalten. Nicht Grenzschwierig-
keiten, sondern die Pflicht, vor dem eigenen Feind
zu bestehen, das Bewußtsein, im Ertragen des
gigantischen Ekels den teuern Opfern auf dieser
Seite nahe zu sein, den vielfach tragischen, weil
sie gegen dieselbe Erkenntnis, gegen die eigene
Erkenntnis gestorben sind — nur dies hat mich, den
Untertan der deutschen Sprache, verhindert, die Konse-
quenz einer Gesinnung zu ziehen, für deren Gefühl
und Ausdruck ich von Unrechtswegen tausendfachen
Tod durch die Hand eines Peutelschmied verdient
habe. Nicht vor dem höchsten Auditor, der einst
über die Anstifter und Helfer einer Aktion richten wird,
— 35 —
durch welche die Edelsten hingeschlachtet und
wie ein Stück Aas irgendwo verscharrt wurden, wo
der Tränenblick der Sehnsucht von Müttern, Bräuten,
Freunden ein Heldengrab sucht — nicht vor Gott
werde ich in Abrede stellen, daß der Kaiser als der
erste verpflichtet war, den Fahneneid eines Kriegs
zu brechen, dessen Ruhm von einem Schurkenstück
der Technik geborgen, dessen Tapferkeit von der
Feigheit anonymer Waffen und unsichtbarer Quanti-
täten ersetzt, dessen Ehre von der Kompagnie
der Selbstsucht und der Wissenschaft erstritten
wurde, und dessen Verrat ich, immer bereit, der
Menschheit gegen das Vaterland, dem Freund gegen
den Feind beizustehn, mit vollem Bewußtsein auf
mein ethisches Gewissen genommen hätte! Und heute,
da ich sagen kann und muß, daß nur die Erbärm-
lichkeit, deren eine schnöde Gewalt fähig ist, vor
den Dokumenten ihrer Schmach und meines Zornes
haltgemacht hat; heute, wo ich aussprechen kann, was
in vier Jahrgängen der Fackel geschrieben steht, und
was ich mit aller Pein der Kenntnis des Auslands
entzogen habe, erkläre ich, daß ich, solange ich lebe,
dafür besorgt sein werde, das Andenken wach zu rufen
jener Ungezählten, die für eine Regung kulturellen
Abscheus vor dem Blutgeschäft glorreicher Diebe,
und der Myriaden, die zur Erhaltung solcher
Bestrebungen aus dem Leben gerissen wurden!
Und erkläre : daß ich den wildesten Aufzug befreiter
Sklaven für ein geordneteres und Gott gefälligeres
Schauspiel halte als den reglementierten Auftrieb von
Menschenvieh zum Tod für die fremde Idiotie, für das
fremde Verbrechen! Was immer die Zeit, die wohl
größer ist als ihr Vorspiel, das im August 1914
begonnen hat, an Enttäuschungen und Leiden noch
bringen mag; welche Fieberträume die Ablösung der
Macht, die Blut und Hunger schuf, durch Mächte,
die den posthumen Kriegsgewinn erwarten, uns
noch vorbehält; wie schmählich sich der Tonwechsel
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jener offenbart, die, im schmutzigen Maul noch
den Kriegsgesang, schon den radikalen Inhalt
zur Phrase verrufen haben und im nachgemachten
Zeremoniell fremder Revolutionen nur mehr Habsbürger
geltenlassen; wie überraschendunsdieVerwandlungdes
Kriegspressequartiers in eine Rote Garde kommen mag ;
wie verächtlich sich die Wagentürlaufmachervon gestern
als Barrikadenbauer ausnehmen ; wie schäbig die Bereit-
schaft aller Pöbelinstinkte und die Anschmarotzung
der Schadenfreude an die Weltgeschichte anmutet, jene
grundsätzliche Niedrigkeit, die nicht die Bedeutung
des Sturzes erlebt, sondern sich an der Nicht-
bedeutung des Gestürzten erhöht; wie scheußlich
die Identität solcher, die heute auf Doppeladler
Jagd machen, mit jenen sein mag, die einst das
Abreißen fremdsprachiger Firmatafeln betrieben
haben ; welch törichter Unfug es auch sei, Rosetten
zu entfernen anstatt gleich Säbel in Verwahrung
zu nehmen; wie unerquicklich die Freiheit durch ein-
geschlagene Fensterscheiben einzieht; wie lästig ihr
die Freibeuter aller Gesinnungen zulaufen und wie
eifrig die Siegfriede von der vorigen Woche die
Republik annektieren ; wie peinlich die Hysterie mit
der Flamme, wie schrill der nationale Ton mit dem
Weckruf der Welt vermengt sein mag — ich
beuge mich ehrfürchtig vor dem Wunder dieser
Erweckung, und erwachte die Welt erst durch den
Tod! Und vor jedem persönlichen Schicksal, das
mir noch im letzten Atemzug die Genugtuung gönnte,
die schlotterichte Majestät einer gefallenen Kriegs-
gewalt zu schauen, die im Zusammenwirken von
Glorie undSchurkerei gelebt und gegen ihren Plan durch
Millionen Qualentode, durch die Labyrinthe des
Irrsinns, der Lüge, der Verseuchung, des sittlichen
und leiblichen Schmutzes die Menschheit zur Besinnung
auf ein gottgemäßeres Leben zurückgeführt hat!
Herautgeber und ver»st»ortlicber Redaktiur: Karl Kram
Druck ras Jah»da & Siegel, Wien. 111. Hintere loJanHatr. 3
AP Die Fackel
30
F32
Nr. 474-
$00
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