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Full text of "Die Fackel"

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474-483  MAI  1918  XX.  JAHR 


DIE  FACKEL 


HERAUSGEBER 

KARL  KRAUS 

INHALT: 

Der  begabte  Czernin  /  Glossen  /  Das  technoromantische 
Abenteuer  /  Für  Lammasch  /  Inschriften  /  Der  darbend«? 
Bürger  /  Glossen  /  Notizen  /  Bange  Stunde  /  Halbschlaf  / 
Das  zweite  Sonett  /  An  eine  Falte  /  Suchen  und  Finden  / 
Die  Flamme  der  Epimeleia  /  Programme  /  Glossen  /  Ein  Staats- 
streich /  Inschriften  /  Am  Sarg  Alexander  Girardis  /  Der  Well- 
spiegel /   Glossen   /  Zum  ewigen  Frieden. 


NACHDRUCK   VERBOTEN 


Preis  dieses  Heftes:  O-*-* 

3  Kronen  =  2  Mark  50  Pf. 


VERLAG:   ,DIE  FACKEL4,   WIEN 

Ett/2.    HINTERE  ZOLLAMTSSTRASSE    3     TELEPHON    NR.    187 


VERLAG  DER  SCHRIFTEN  VON  KARL  KRAU! 

<KURT  WOLFF) 

SITTLICHKEIT    UND    KRIMINALITÄT     2.  Auflag 
SPRÜCHE  UND  WIDERSPRÜCHE  3.  Auflag 

DIE  CHINESISCHE  MAUER  3.  Auflag 

HEINE  UND  DIE  FOLGEN  3.  Auflag 

PRO  DOMO  ET  MUNDO  2    Auflag 

2    NESTROY  UND  DIE  NACHWELT 
1916    WORTE  IN  VERSEN  I 
7    WORTE  IN  VERSEN  II 
1018    WORTE  IN  VERSEN  III 
Im  Druck:  NACHTS 

UNTERGANG  DER  WELT  DURCH  SCHWARZE  MAOI1 

Zu  beziehen  durch  alle  Buchhandlungen  und  durch  den  Verla 
Leipzig,  Kreuzstraße  3  b 


D  I  E>       FACKEL 

erscheint  in  zwangloser  Folge. 

Das  Abonnement  erstreckt  sich    nicht   auf   einen   Zeitraum,    sondern   auf   eir 

bestimmte  Anzahl  von  Nummern. 

Für  Österreich-Ungarn:         FfirdasDeutsche  Reich :  Weltpostverein: 

18  Nummern     K  4.50         18  Nummern  Mk.  4.-         18  Nummern    K   6.— 

36         „  „  9.-         36         „  „    8.-         36         „  „  12.- 


Verleger,  Autoren,  Vereine,  Leser  werdei 
ersucht,  die  Zusendung  von  Büchern 
Prospekten,  Einladungen,  Zeitungsaus 
schnitten,  Manuskripten,  Anfragen,  Mit 
teilungen  irgendwelcher  Art  zu  unterlassen 

INHALT  des  vorigen,  zweifachen  Heftes  472/473,  25.  Oktober  1917 
Epigramme  und  andere  Gedichte 

Das   vorliegende   Heft   eröffnet    den    XX.  Jahrgang    der    Facke 


DIE  FACKEL 


Nr.  474—483  23.  MAI  1918  XX.  JAHR 


Der  begabte  Czernin 

Dieser  Aufsatz,  in  der  Schweiz  entstanden,  ist  wie  fast  alles  dort 
im  Februar  Geschriebene,  da  es  erscheint,  von  der  Zeit  überholt; 
vieles  war  schon  veraltet,  als  es  geschrieben  wurde.  Den  früheren 
Heften  der  Fackel  haftet  dieser  Fehler  nicht  mehr  in  demselben 
Maße  an,  und  je  weiter  sie  zurückliegen,  umsoweniger.  So  besteht 
denn  die  Hoffnung,  daß  auch  dieses  Heft  die  Zeit  überholen 
wird.  Bis  dahin  sollten  ihm  die  Leser  erspart  bleiben,  deren 
Aufmerksamkeit  vom  Zeitpunkt  abgelenkt  ist.  Sie  mögen  sich 
mit  der  Versicherung  begnügen,  daß  der  um  die  Aktualität 
unbesorgte  Verfasser  einen  vom  Krieg  handelnden  Aufsatz  lieber 
nach  dem  Friedensschluß  als  vorher  erscheinen  lassen  wollte. 

Immerhin  ist  es  schon  ein  Fortschritt,  daß  ein  von  einem 
Minister  handelnder  Aufsatz  nafch  dessen  Demission  erscheint, 
wenngleich  auch  nach  der  Verleihung  des  Ehrenbürgerrechtes 
von  Wien,  dessen  die  dankbare  Gemeinde  einen  Mann  für 
würdig  erachtet,  dem  sie  das  Wort  vom  Brotfrieden  und  das 
Versprechen  von  Getreide  aus  der  Ukraine,  also  unter  allen 
Umständen  die  Befriedigung  unserer  Nahrungsphantasie  verdankt. 
Wer  für  den  übrigen  Reichtum  an  Ehren,  der  sich  dem  Grafen 
Czernin  jetzt  darbietet,  um  eine  Erklärung  verlegen  ist,  sollte 
nicht  übersehen,  daß  dieses  Land  auch  unbegrenzte  Möglich- 
keiten hat,  geniale  Staatsmänner  hervorzubringen.  Es  bedarf  zu 
einem  solchen  bloß  der  Erkenntnis,  daß  die  hier  zusammen- 
wohnenden Nationen,  vor  allem  Tschechen  und  Deutsche 
einander  mit  grimmigerem  Hasse  verfolgen,  als  jede  der  Gruppen 
jeden  der  Feinde,  und  des  Mutes,  von  der  amtlichen  Norm,  die 


—  2 


ein  verbindliches  Lächeln  zwischen  den  Gegensätzen  vorschreibt, 
einmal  abzuweichen.  Hat  sich  ein  österreichischer  Staatsmann 
zu  dem  Entschluß  durchgerungen,  die  eine  der  beiden  Parteien 
des  Hochverrats  zu  beschuldigen,  so  kann  er  sicher  sein,  so- 
lange er  sichs  nicht  überlegt,  von  der  andern  mit  Kundgebungen 
gefeiert  zu  werden,  vor  denen  die  Popularität  des  entlassenen 
Bismarck  sich  ins  Kleingedruckte  der  Weltgeschichte  zurückzieht, 
wiewohl  doch  weder  die  Gedanken  noch  die  Erinnerungen  des 
Grafen  Czernin  darnach  angetan  sind,  die  Klio  zu  einer 
Umgruppierung  zu  veranlassen.  In  Wahrheit  hat  die  Gewöhnung 
an  die  Erlebnisse  der  Quantität  seit  dem  Jahre  1914  uns  ver- 
gessen lassen,  daß  vordem  schon  der  zehnte  Teil  einer  heutigen 
Weltblamage  ausgereicht  hätte,  um  einen  Minister  des  Äußern 
zu  Falle  zu  bringen.  Die  meisten  Betrachter  sehen  an  dem 
Grafen  Czernin  nur  den  Vorzug,  sich  zu  seinem  Nachteil  von 
den  Standes-  und  Amtsgenossen  durch  den  Mangel  an  Formen 
zu  unterscheiden,  und  da  in  dieser  beispiellosen  Zeit  die 
schillernde  Mittelmäßigkeit  für  Persönlichkeit  gehalten  wird,  so 
glaubt  man  allgemein,  es  sei  schon  das  höchste  Glück  der 
Erdenkinder,  kein  Burian  zu  sein.  Man  vergißt,  daß  das  zwar 
viel,  aber  beiweitem  noch  nicht  alles  ist.  Immerhin  wäre  doch 
auch  ein  Maßstab  denkbar,  nach  dem  dtr  Graf  Czernin  in  der 
Weltgeschichte  etwa  als  der  Mann  fortleben  würde,  der  dem 
Präsidenten  Wilson  die  Antwort  schuldig  geblieben  ist  und  der 
sich  später  nur  sehr  unzulänglich  damit  entschuldigt  hat,  daß 
sie  ihm  der  deutsche  Reichskanzler  aus  dem  Munde  genommen 
habe.  Ob  ihn  freilich  sein  Schweigen  mehr  als  sein  Reden  dem 
Dank  der  Nachlebenden  empfehlen  möchte,  müßte  dahingestellt 
bleiben;  denn  als  der  Mann  der  zweiteiligen  Rede,  der  Kant 
und  Krupp  zur  Einheit  verbunden  hat,  witd  der  Graf  Czernin 
so  bald  nicht  aus  dem  Gedächtnis  verschwinden.  Nach  diesem 
Höhepunkt  mußte  es  rapid  abwärts  gehen.  Später,  als  er  vor 
erstaunten  Gemeinderäten  den  Grundstein  zum  Wiener  Ehren- 
bürgerrecht legte,  hat  er  nur  die  Konsequenz  aus  seiner 
Budapester  Haltung  gezogen.  Nichts  blieb  ihm  übrig,  als  den 
Konflikt  zwischen  den  zwei  Seelen  in  seiner  Brust  auszutragen 
und   die  Bekenner   des   ersten  Teils  seiner  Rede  als  Defaitisten, 


—  3  — 


die  Anhänger  des  zweiten  Teils  als  Annexionisten  zu  tadeln. 
Freilich,  die  schöne  Angelegenheit  Clemenceau,  in  der  die  ehr- 
liche Verlogenheit  unserer  Presse  es  Schritt  für  Schritt  ermög- 
licht hat,  die  Wahrheit  zu  erkennen,  die  auszusprechen  der 
Wahrhaftigkeit  noch  lange  nicht  möglich  sein  wird,  wäre  uns 
und  der  Welt  erspart  geblieben,  wenn  statt  eines  Genies  ein 
Fadian  regiert  hätte.  Die  Frage,  ob  der  Graf  Armand  sich  dem 
Grafen  Revertera  verwandter  gefühlt  hat,  als  der  Graf  Revertera 
dem  Grafen  Armand,  ist  nicht  zu  erörtern  und  auch  sonst  hat 
sich  viel  zugetragen,  woran  nicht  zu  drehn  noch  zu 
deuteln  ist.  Immerhin  kann  man  sagen  und  von  Glück  sagen, 
daß  die  Persönlichkeit  des  Grafen  Czernin  dessen  Amtsführung 
überlebt  hat,  da  doch  leicht  der  umgekehrte  Fall  hätte  eintreten 
können.  Er  hat  von  sich  selbst  erklärt,  er  gehöre  dorthin,  wo 
die  Frieden  geschlossen  werden.  Wünschen  wir  ihm  und  uns, 
daß  die  Frieden,  die  er  geschlossen  hat  —  inklusive  den  Brot- 
frieden —  sein  Gewissen  dereinst  nicht  schwerer  belasten  mögen, 
als  der  Krieg  das  Gewissen  jener,  die  ihn  beschlossen  haben, 
und  daß  der  Anlaß  zu  der  hier  veröffentlichten  Betrachtung,  so 
überholt  er  im  Augenblick  ist,  nicht  dereinst  wieder  aktuell  werde. 
Während  unser  Seidler  mitten  im  Weltkrieg 
als  Dramatiker  durchgefallen  ist  und  dadurch  vor 
weitern  Allotria  bewahrt  bleibt,  hat  unser  Czernin 
sich  leider  als  vorzüglicher  Feuilletonist  bewährt, 
und  so  peinlich  es  ist,  einen  Ministerpräsidenten  zu 
haben,  der  im  Deutschen  Volkstheater  gespielt  wurde, 
so  ist  es  doch  noch  viel  betrüblicher,  daß  ein 
Minister  des  Äußern  den  Zeitpunkt  der  europäischen 
Heilsbotschaft  mit  einer  Gewandtheit  verspielt,  die 
ihn  in  der  Art,  vor  dem  jüngsten  Gericht  die  scherz- 
hafteZeugenmieneaufzusetzen,Talenten  wie  Hirschfeld 
überlegen  erscheinen  läßt  und  an  sonnigem 
Naturburschentum  Hans  Müllern  an  die  Seite  rückt. 
Schon  der  echt  feuilletonistische  Einfall,  die  Re- 
naissance der  christlichen  Idee  an  eine  Frist  zu 
binden,  nach  deren  Ablauf  die  weltzerstörenden 
Gewalten     sich     nicht     mehr    gebunden     erachten, 


hat  ja  Chefredakteuren  die  Bewunderung  des 
geschickten  »Handgriffs«  abgerungen.  Nach  dem 
Canossagang  zum  Antichrist  und  nachdem  die 
Preßkanaille  aller  offiziösen  Schattierungen  auf 
Wilsons  Vorschlag  losgelassen  wurde,  folgte  die 
zweite  evangelische  Causerie,  die  diesmal  schon  in 
der  gleichzeitigen  Hertlingschen  Absage  befristet 
war,  so  daß  sich  —  man  sollte  keine  der  beiden 
Reden  aus  dem  Zusammenhang  beider  reißen  — 
das  Ganze  als  eine  in  der  diplomatischen  Belletristik 
neue  und  reizvolle  Etüde,  so  zwischen  Janus  und 
doppelter  Buchhaltung,  herausstellte.  Während  im 
allgemein  menschlichen  Teil  Hertling,  Biograph 
des  heiligen  Augustinus,  mehr  Gewicht  auf  die 
bekannte  Frage,  wer  angefangen  hat,  legte,  war 
Czernin  durchaus  zum  Aufhören  bereit  und  dem 
ausgesprochenen  Verzicht  auf  den  Verzichtfrieden, 
der  jenem  gelang,  entsprach  dieser  durch  einen 
deutlich  unausgesprochenen  Nichtverzicht  auf 
Annexionen.  Im  neutralen  Ausland,  übermittelt  durch 
das    Wiener  Korrespondenzbureau,  las  man's  so: 

..  .der  Minister  nahm  keinen  Anstand  zu  erklären,  daß  er  in  den  letzten 
Vorschlägen  Wilsons  eine  bedeutende  Annäherung  an  den  österreichisch- 
deutschen Standpunkt  finde,  und  daß  darunter  sich  einzelne  befinden, 
denen  wir  sogar  mit  großer  Freude  zustimmen  können.  Der  Minister 
müsse  aber  vorausschicken:  1.  daß  er,  soweit  diese  Vorschläge  sich 
auf  unsere  Verbündeten  beziehen,  bezüglich  des  deutschen 
Besitzes  von  Belgien  und  bezüglich  der  Türkei,  getreu  den 
übernommenen  Bundespflichten,  für  die  Verteidigung  der  Bundes- 
genossen bis  zürn  Äußersten  zu  gehen  fest  entschlossen  sei.  Den 
vorkriegerischen  Bestand  unserer  Bundesgenossen  werden  wir 
verteidigen  wie  den  eigenen. 

Das  war  nun  freilich  noch  deutlicher  als  man  es 
erwartet  hätte,  und  nur  wer  wie  ich  weiß,  daß  ein 
fehlendes  Komma  den  Sinn  der  Schöpfung  umdrehen 
kann,  erkannte  zur  Not,  daß  hier  so  etwas  passiert  sein 
müsse.  In  einem  auch  sonst  durch  die  Geschicklich- 
keit unseres  Korrespondenzbureaus  verstümmelten 
Satz  mußte  an  der  entscheidenden  Stelle  die  Trennung, 


—  o  —       1 

die  das  Schwert  der  Interpunktion  zwischen  dem" 
deutschen  Besitz  und  Belgien  immerhin  bewirken 
möchte,  aufgehoben  sein.  Aber  wer  denn  außer  mir 
wäre  Pedant  genug,  derlei  für  wesentlich  zu  halten? 
Worte  entscheiden  zwar  jetzt  über  die  Eventualität, 
ob  hunderttausend  Menschen  auf  einen  Gashieb  um- 
kommen sollen,  und  ob  noch  etliche  Millionen  sterben 
müssen,  ehe  das  entscheidende  Wort  gesprochen 
wird  —  aber  auf  einen  Beistrich  wird's  doch  nicht 
ankommen?  Als  ich's  in  der  Neuen  Zürcher  Zeitung 
las,  dachte  ich  an  die  Aufgabe,  die  sich  hier  dem 
Übersetzer  bot,  der's  soeben  der  französischen  Presse 
telegraphierte.  Wie  das  wirkte,  war  am  übernächsten 
Tag  zu  lesen : 

Paris  —  —  Bedenklich  sei,  daß  Graf  Czernin  sich  hin- 
sichtlich Belgiens  so  undeutlich  äußere. 

Nun,  der  Schreibfehler  war  nur  Trabant  und 
Helfer  der  Undeutlichkeit  und  da  schließlich  selbst 
das  Wiener  Korrespondenzbureau  einsieht,  daß,  wenn 
auf  ein  richtig  geschriebenes  Wort  ein  Regiment 
Toter  komme,  ein  falsch  geschriebenes  eine  Division 
kosten  kann  —  nach  diesem  Kriege  wird  auch  die 
übrig  gebliebene  Menschheit  mit  mir  die  Gefahren 
des  Drucks  überschätzen  — ,  so  erschien  in  der 
Neuen  Zürcher  Zeitung  die  folgende  von  mir 
annähernd  antizipierte 

Berichtigung  zur  Rede  des  Grafen  Czernin. 

Das  Wiener  Korr. -Bureau  ersucht  uns,  in  der  Rede  Czernins 
bei  der  Erwähnung  der  Wilsonschen  Vorschläge  folgendes  richtigzu- 
stellen: Der  Minister  müsse  aber  vorausschicken  1.  soweit  sich  die 
Vorschläge  auf  unsere  Verbündeten  beziehen  —  es  ist  von  dem 
deutschen  Besitz,  von  Belgien  und  vom  türkischen  Reich 
darin  die  Rede  — ,  erkläre  ich,  daß  ich  getreu  den  übernommenen 
Bundespflichten  .  .  . 

Ich  glaube  nicht,  daß  viele  Leser  die  winzig 
gedruckte  Notiz  bemerkt,  auch  nur  wenige  die  Rede 


nachgelesen  haben  und  daß  der  Fall  einem  unserer 
für  Bridgespielen  bezahlten  Berner  Diplomaten  Kopf- 
zerbrechen verursacht  hat.  Nur  der  Prinz  Alexander 
zu  Hohenlohe  —  einer  jener  spärlichen  Deutschen,  die 
durch  menschenmöglichesDenken  um  eine  Berichtigung 
der  internationalen  Ansichten  über  Deutschland 
bemüht  sind  —  stellte  in  eben  jener  Zeitung  fest: 

In  der  ersten  Übermittlung  seiner  Worte  war  durch  Weg- 
lassung eines  Kommas  der  Satz  arg  entstellt  worden,  und  es  war 
von  einem  >deutschen  Besitz  von  Belgien«  die  Rede,  was  zu 
den  verschiedensten  Auslegungen  Anlaß  geben 
konnte. 

Nun  kann  man  nicht  oft  genug  sagen,  daß 
nicht  nur  der  Stil,  sondern  auch  der  Druckfehler 
der  Mensch  ist  und  daß  dergleichen  nebst  den  »ver- 
schiedensten Auslegungen«,  die  die  Folge  sind,  den 
Staatsmännern  derZentralmächte  keineswegs  passieren 
könnte,  wenn  sie  sich  hinsichtlich  Belgiens  einmal 
deutlich  äußern  wollten.  Der  Graf  Czernin  sagt  in 
dem,  was  er  sagen  wollte,  auch  nicht  gerade  etwas, 
was  nicht  zu  den  verschiedensten  Auslegungen 
Anlaß  geben  könnte.  Er  koordiniert  den  deutschen 
Besitz  und  Belgien,  indem  er  sie  als  Inhalt  der 
Wilson'schen  Vorschläge  zitiert,  und  gibt,  indem  er 
hinterdrein  von  der  Verteidigung  des  »vorkriegerischen 
Bestandes«  spricht,  zu  verstehen,  daß  Österreich  für 
die  deutschen  Ansprüche  auf  Belgien,  das  ja  selbst 
nach  Ansicht  des  Wolffbüros  nicht  zum  vorkriegerischen 
Bestand  des  Bundesgenossen  gehört,  eigentlich,  nun 
ja,  allerdings,  vermutlich  nicht  eintreten  werde.  Es 
ist  für  den  delphischen  Charakter  dieser  Auffassung 
bezeichnend,  daß  selbst  die  Berichtigung  nicht  nur 
als  solche  wertlos,  sondern  geradezu  eine  Handhabe 
für  weitere  Auslegungen  war;  denn  bei  Weg- 
lassung des  Schlusses  vom  vorkriegerischen  Bestand 
—  und  welcher  Leser  nimmt  sich  wie  gesagt  die 
Mühe,  auf  den  berichtigten  Druck  zurückzugreifen  — , 


wird  trotz  dem  eingesetzten  Komma  noch  viel  weniger 
als  in  der  fehlerhaften  Fassung  gesagt,  was  Österreich 
von -Belgien  eigentlich  halte;  im  Gegenteil  erweckt 
nun  der  pathetische  Ausklang  in  die  übernommenen 
Bundespflichten  erst  recht  den  Eindruck,  daß  eben 
diese  sich  auf  Belgien  beziehen  sollen,  welches  ganz 
so  wie  der  deutsche  Besitz  und  wie  das  türkische 
Reich  verteidigt  werden  sollen,  unddaß  die  Berichtigung 
eben  .den  Zweck  habe,  gegen  alle  Mißdeutungen  der 
Bündnistreue  jene  Absicht  zu  unterstreichen,  gegen 
allen  Glauben  an  unsere  Besinnungsfähigkeit,  der 
nach  der  ersten  Fassung  immerhin  noch  Platz  greifen 
konnte  —  denn  damals  konnte  ein  aufmerksamer 
Leser  vielleicht  doch  auf  den  Sinn  kommen,  nämlich 
den  unseres  Wunsches,  nur  den  vorkriegerischen 
Besitzstand  zu  verteidigen,  und  schließlich  merken,  daß 
hier  ein  Druck-  oder  Schreibfehler  passiert  war.  Die 
kluge  Berichtigung  unseres  Korrespondenzbureaus, 
die  erst  der  Prinz  Hohenlohe  erläutert  hat,  mußte 
wie  eine  Korrektur  der  richtigen  und  nicht  der 
falschen  Auffassung  wirken,  wie  eine  feierliche 
Betonung  der  Absicht,  die  übernommenen  Bundes- 
pflichten getreu  auch  auf  Belgien  zu  erstrecken. 
Und  wenn  der  Graf  Czernin  selbst  das  Glück  hat, 
in  England  eine  Presse  zu  finden,  die  sich  bemüht, 
seine  Gedanken  über  Belgien  zu  erraten,  wer  schützt 
ihn  und  seine  Völker  gegen  eine  mißdeutende 
feindliche  Regierung,  der  die  Preßagenturen  einen 
Text  zutragen,  welcher  das  vom  Wiener  Korrespon- 
denzbureau gelieferte  Monstrum  in  getreuer  Über- 
setzung wiedergibt  —  und  darum  für  gefälscht  gilt? 
Daß  von  der  kleinlichen  Korrektur,  wie  sie  mir  beliebt, 
bis  zur  blutigen  Lesart  von  Versailles  ein  Schritt  sein 
kann,  dürfte  die  folgende  Meldung  mit  erschreckender 
Deutlichkeit  dartun: 

Amsterdam,    11.    Februar.    Die   , Daily    News'    bezeichnen    die 
amtliche  Erklärung  über  die  Ergebnisse  der  Versailler  Konferenz  .... 


als  beunruhigend,  insbesondere  die  bemerkenswerte  Entscheidung,  daß 
die  Rede  des  Grafen  Czernin  keiner  Erwiderung  wert  sei.  E  i  n 
wichtiger  Teil  dieser  Rede  sei  von  den  Preßagenturen 
ganz  anders  wiedergegeben  worden,  als  er  in  dem  von 
den  deutschen  Blättern  mitgeteilten  Original  lautet.  Die,  wie  die 
, Daily  News'  andeuten,  vielleicht  nicht  bloß  versehentlich  unterlaufene 
Entstellung  eines  wichtigen  Teiles  der  Rede  des  Giafen  Czernin  hei 
der  Übermittlung  an  die  englische  Presse  wird  von  dem  Blatte  durch 
Gegenüberstellung  der  vom  Reuterschen  Büro  verbreiteten  Fassung 
und  der  Übersetzung  des  Originaltextes  dargetan.  Das  Blatt  wolle  es 
unerörtert  lassen,  wen  die  Verantwortung  für  die 
Entstellung  bei  der  Wiedergabe  der  Rede  des  Grafen  Gzernin 
treffe;  es  halte  es  aber  für  außerordentlich  wichtig,  festzustellen, 
ob  der  Versailler  Konferenz  bei  der  fraglichen  Ent- 
scheidung die  falsche  Fassung  der  Rede  des 
Grafen  Czernin  vorgelegen  w  a  r  oder  aber  der  amtliche 
Text,  der  in  Verbindung  mit  der  warmen  Zustimmung  zu  der 
Botschaft  des  Präsidenten  Wilson  an  den  Kongreß  ein  sehr 
bezeichnendes  Abgehen  von  einer  Eroberungspolitik  erkennen  lasse. 
Wir  vermögen,  schließt  das  Blatt,  die  in  Versailles  eingenommene 
Haltung  mit  dem  amtlichen  Text  der  Rede  des  Grafen  Czernin 
nicht  zu  vereinen.  Das  Parlament  muß  daher  auf  einer 
Aufklärung  bestehen  .... 

Auch  der  .Manchester  Guardian'  widmet  dieser  Angelegenheit 
einen  Leitartikel,  in  dem  er  sagt:  Der  Unterschied  ist  sehr 
bedeutend,  und  es  ist  nicht  leicht  verständlich,  wie  die 
telegraphische  Fassung  so  schlimm  mißraten  konnte.  Da  die 
Richtigkeit  der  Meldungen  von  förmlichen  Erklärungen 
der  feindlichen  Staaten  von  der  größten  Bedeutung  ist,  so 
ersuchen  wir  die  Behörden,  Ermittlungen  darüber  anzustellen,  wie  die 
Irrtümer  in  diesem  Falle  entstanden  sind. 

Das  wäre  nicht  schwer  zu  ermitteln.  Die  Lügen  des 
Auslands  sind  oft  unsere  Wahrheiten  und  zur  eigenen 
Lücke  bedarfs  nicht  der  feindlichen  Tücke.  Wenn  die 
diplomatische  Sprache  die  ihr  gewachsene  Reportage 
findet,  so  darf  man  sich  über  Schwerhörigkeit  in 
weit  entfernten  Gegenden  nicht  wundern,  sondern 
muß  eben  in  Geduld  zuwarten,  bis  die  Technik, 
die  das  Hindernis  der  Entfernung  bei  Gasangriffen 
aus  dem  Wege  geräumt  hat,  auch  für  die  ungestörte 
Gedankenübertragung  Vorsorge  trifft.  Wir  haben  es 
erlebt,  daß  ein  nicht  unwichtiger  Funkspruch  der 
russischen  Regierung,  jener  Aufruf  »An  alle!«,  der  den 


Waffenstillstand  angeboten  hat,  vom  Grafen  Czernin 
zwar  allen,  aber  nicht  in  allen  Teilen  übermittelt  werden 
konnte.  Der  Unvollkommenheit  der  Technik  oder 
dem  störenden  Eingriff  der  revolutionären  Natur 
wurde  es  zugeschrieben,  daß  er  »verstümmelte  ein- 
gelangt war,  bis  zur  Ehre  jener  Gewalten  festgestellt 
und  vom  Minister  ehrlich,  aber  nicht  ohne  Selbst- 
behauptung zugegeben  wurde,  daß  die  Verstümmlung 
erst  nach  dem  Eintreffen  durch  eine  andere  Gewalt 
erfolgt  war,  die  lediglich  in  dem  Bestreben  gehandelt 
hat,  wieder  eine  andere  Gewalt,  nämlich  die 
russische  Revolution,  in  Österreich  nicht  aufkommen 
zu  lassen.  Wenn  solche  Dinge  passieren  können, 
ist  Vorsicht  bei  Übermittlung  von  Depeschen,  deren 
Inhalt  eine  nicht  minder  wichtige,  wenn  auch 
keineswegs  revolutionäre  Regierungserklärung  bildet, 
gewiß  empfehlenswert.  Wäre  es  den  Feinden 
sonst  zu  verübeln,  wenn  sie  das  Datum  einer  Ver- 
stümmlung auch  hier  zurückverlegen  wollten? 
Wird  ihnen  zum  Beispiel  eine  Replik  des  Grafen 
Czernin  gegen  Trotzky  in  der  folgenden  Fassung, 
die  das  Züricher  Blatt  vom  Wiener  Korrespondenz- 
bureau bezieht,  dargeboten : 

In  Erwiderung  hierauf  führte  der  Minister  des  Äußern,  Graf 
Czernin,  aus,  es  sei  notwendig,  darauf  hinzuweisen,  daß  die 
Delegationen  der  verhandelnden  Mächte  nicht  hieher  gekommen  seien, 
um  einen  geistigen  Ringkampf  auszuführen,  oder  um  zu  versuchen, 
ob  und  inwieweit  es  möglich  sei,    zu  einer  Verständigung  zu  gelangen 

—  ist  es  dann  ein  Wunder,  wenn  d^r  böse  Wille  die 
Version  verbreitet,  die  Zentralmächte  machten  aus 
ihren  Annexionswünschen  schon  gar  kein  Hehl  mehr, 
denn  sie  hätten  in  Brest-Litowsk  selbst  zugegeben,  daß 
sie  gar  nicht  den  Wunsch  haben,  zu  einer  Verständigung 
zu  gelangen !  Zwischen  einem  »oder«  und  einem 
»sondern«  kann  eine  Welt  von  Feindschaft  liegen, 
die  berichtigend  aus'  den  Angeln  zu  heben,  sich  das 
Korrespondenzbureau   diesmal  nicht  mehr  die  Mühe 


10 


nimmt.*)  Wozu  denn  auch?  Ist  denn  nicht  selbst  das 
österreichische  Strafgesetz  fehlbar?  Wurde  nicht  nach 
dem  §  490  jahrelang  falsch  judiziert,  weil  sich  dort 
»hinreichende  Gründe  ergeben«,  statt  »ergaben«, 
während  zum  Glück  die  in  dem  gleichen  Strafgesetz- 
buch geahndeten  »Vergehen  gegen  die  Pos tanstalten« 
unbestraft  blieben,  weil  man  denn  doch  eingesehen 
haben  mag,  daß  sie  nicht  so  bedenklich  verlaufen 
wie  die  Vergehen  gegen  die  »Pestanstalten«.  Das 
Wiener  Korrespondenzbureau  aber  berichtigt  wohl  jene 
Fehler  nicht  gern,  die  im  Ausland  zu  seiner  Ver- 
wechslung mit  dem  Wolffbüro  beitragen  können. 

Es  läßt  sich,  annexionistischer  als  die  deutsche 
Presse  veranlagt,  von  dieser  in  einem  andern  Fall 
die  Berichtigung  besorgen.  Für  Zürich  enthielt  der 
offizielle  Wiener  Bericht  die  Stelle: 

»Deutschland  und  Österreich-Ungarn  haben  nicht  die  Absicht, 
sich  jetzt  diese  besetzten  Gebiete  (Kurland,  Litauen  und  Polen; 
einzuverleiben.« 

Das  Züricher  Blatt  stellt  fest,  daß  »dieser  Text 
nie  berichtigt  wurde«,  und  teilt  mit,  daß  deutsche 
Blätter  nachträglich  auf  die  Variante  aufmerksam 
machen,  die  sie  selbst  veröffentlicht  haben: 

»Deutschland  und  Österreich-Ungarn  haben  nicht  die  Absicht, 
sich  die  jetzt  von  ihnen  besetzten  Gebiete  einzuverleiben. < 

»Ist  dem  so,  wie  man  bis  auf  weiteres 
annehmen  darf«,  meint  das  Züricher  Blatt  (nämlich, 
daß  die  deutsche  Fassung  die  richtige  ist,  nämlich, 
ciaß  Deutschland  und  Österreich  nicht  diese  Absicht 
haben),  »so  entfallen  natürlich  auch  alle  Folgerungen, 
die  aus  dem  Wortlaute  des  Wiener  Berichtes  in  der 
,N.  Z.  Z.'  gezogen  wurden.«  Die  der  feindlichen 
Presse  freilich  haben  sich  inzwischen  festgesetzt. 

*)  Der  Verlauf  der  Begebenheiten  hat  gezeigt,  daß  das  »oder« 
richtig  war.  Sie  waren  tatsächlich  nicht  nach  Brest-Litowsk  gekommen, 
um  zu  versuchen,  ob  und  inwieweit  es  möglich  sei,  zu  einer 
Verständigung  zu  gelangen. 


—  11  — 


Der  Graf  Czernin  aber,  der  als  begabter 
Feuilletonist  doch  Wert  darauf  legen  müßte,  daß  ihm 
seine  Pointen  nicht  verdorben  werden,  und  der 
darum  das  Korrespondenzbureau  an  Haupt  und 
Gliedern  reformieren  sollte,  begnügt  sich  damit,  vor 
Delegierten  seine  stilistische  Begabung  gegen  den 
Vorwurf  der  Unklarheit  zu  verteidigen,  die  doch 
gerade  ihr  Wesen  und  ihren  aparten  Reiz  ausmacht. 
Er  weiß  wohl  selbst  nicht,  daß  sein  Talent,  nicht  nur 
mißverstanden,  sondern  auch  entstellt  zu  werden,  die 
Kriegsliteratur  um  eines  ihrer  spannendsten  Kapitel 
bereichert  hat.  Aber  gewiß  wird  man  auch  einmal  sagen 
können,  daß  ein  gut  Teil  der  großenZeituns  durch  seine 
witzigen  Auseinandersetzungen  mit  jenen  vertrieben 
wurde,  die  von  ihm  sachliche  Aufklärung  verlangt 
hatten. 

.  .  .  Dann  hat  mir  der  Herr  Abgeordnete  Dr.  Ellenbogen  wieder 
eine  meiner  Illusionen  genommen.  Ich  hatte  immer 
geglaubt,  daß  ich  die  deutsche  Sprache  ziemlich 
beherrsche.  Der  Herr  Delegierte  aber  hat  mir  vorgeworfen,  daß 
ich  wieder  unklar  und  verworren  spreche. 

Im  Gegensatze  zum  Grafen  Czernin  beherrsche 
ich,  wie  ich  wiederholt  eingestanden  habe,  die 
deutsche  Sprache  ganz  und  gar  nicht,  sondern 
lasse  mich  von  ihr  und  weit  lieber  als  vom  Grafen 
Czernin  beherrschen,  dem  es  ja  auch  viel  besser 
gelingt,  die  Sprache  zu  beherrschen  als  jene,  die  sie 
sprechen.  Trotzdem  oder  vielleicht  eben  deshalb  weiß 
ich,  daß  gerade  jene  vom  Grafen  Czernin  gemeinte 
Fähigkeit,  die  Sprache  zu  annektieren,  die  Möglich- 
keit nicht  ausschließt,  sich  unklar  und  verworren  in 
wichtigen  Dingen,  zum  Beispiel  über  Annexions- 
absichten auszudrücken,  ja  daß  sie  sie  nicht  nur 
nicht  ausschließt,  sondern  manchmal  sogar  einschließt, 
so  daß  diese  Möglichkeit  geradezu  zur  Fähigkeit 
wird.  Darum  hat  auch  der  Delegierte  sehr  richtig 
dem  Grafen  Czernin  zugerufen: 


12 


Gestern  haben  Sie  gezeigt,  daß  Sie  die  deutsche  Sprache 
wirklich  meisterhaft  beherrschen! 

Der  Graf  Czernin  jedoch  faßte  diese  Bekräftigung 
nicht  nur  als  Kompliment,  sondern  auch  als  Revo- 
kation auf,  als  einen  Versuch  des  Delegierten,  seine 
Äußerung  abzuleugnen,  und  fuhr  entschieden  depre- 
zierend  fort: 

Ich  bitte,  im  Zusammenhang  mit  meiner  gestrigen  Rede  wurde 
unter  Hinweis  auf  die  Stelle  über  Italien,  Rumänien  und  Serbien 
meine  Redeweise  unklar  genannt,  in  der  .Arbeiter-Zeitung'  steht 
dasselbe.  Ich  gehe  auf  das  Thema  nicht  weiter  ein,  wer  mich  verstehen 
wollte,  konnte  mich  verstehen  .... 

Der  Graf  Czernin,  der  eine  witzige  Ader  hat, 
versteht  dennoch  den  Witz  nicht,  der  ihm  ernstlich 
die  Unklarheit  in  gewissen  Europa  betreffenden 
Angelegenheiten  als  Sprachbeherrschung  auslegt. 
Ihm  ist  im  Gegensatz  zu  vielen  andern  Redensarten 
die  oft  zitierte  Erkenntnis  nicht  geläufig,  daß  sich 
der  Meister  des  Stils  in  dem,  was  er  weise  verschweigt, 
zeige.  Er  versteht  nicht,  daß  die,  die  »ihn  verstehen 
wollen«,  zwar  seine  Unklarheit  verstehen,  auch 
deren  Absicht  verstehen,  aber  keinesfalls  deren 
Grund.  Er  versteht  aber  auch  nicht,  daß  es  viel 
mehr  auf  jene  ankommt,  die  ihn  nicht  verstehen 
wollen,  nämlich  auf  die  Feinde,  die  zwar 
gleichfalls  seine  Unklarheit  verstehen,  aber  die  er 
einmal  zwingen  müßte,  seine  Klarheit  zu  verstehen, 
wozu  allerdings  nicht  Sprachkunst,  sondern  nur  Staats- 
kunst notwendig  wäre.  Kann  denn  der  Graf  Czernin, 
selbst  wenn  man  ihm  im  Gegensatz  zu  seinem  Sprach- 
kritiker zubilligen  ^wollte,  daß  er  sich  in  der  »Stelle  über 
Italien,  Rumänien  und  Serbien«  einer  klaren  Rede- 
weise beflissen  habe,  kann  er  im  Ernst  behaupten, 
daß  sein  Wort  über  Belgien,  das  selbst  die  Auf- 
klärung des  Korrespondenzbureaus  nicht  klarer 
machen  konnte,  die  Ansprüche  erfüllt  hat,  die 
die    fremdsprachigen    Völker    an    einen    deutschen 


13 


Redner  heutzutag  nun  einmal  stellen?  Wird  er  gegen- 
über der  französischen  Presse  sich  mit  Recht 
beklagen  können,  daß  sie  ihm  seine  Illusion,  ein 
deutscher  Sprachbeherrscher  zu  sein,  genommen  habe? 
Er  würde  unrecht  tun,  die  Deutlichkeit,  die  sie  in 
diesem  Punkte  vermißt,  für  einen  literarischen  und 
nicht  für  einen  politischen  Vorzug  zu  halten,  auf 
dessen  Zuerkennung  aus  künstlerischem  Ehrgeiz  zu 
bestehen  und  zu  glauben,  der  ganze  Jammer,  in 
dem  die  Welt  lebt,  sei  der,  daß  die  Feinde  den 
Grafen  Czernin  für  einen  unzulänglichen  Stilisten 
halten.  Sie  tun  aber  das  Gegenteil,  sie  halten  ihn  für 
einen  Meister  des  Stils,  für  einen  Sprachbeherrscher,  ja 
für  einen  Sprachimperialisten,  und  sehnen  sich  mit  den 
Freunden  danach,  daß  er  einmal,  einmal  nur,  im  aller- 
schlechtesten  Deutsch  ein  klares  und  deutliches  Wort 
spreche,  und  zwar  so  klar,  daß  es  sogar  die  deutschen 
Bundesgenossen  verstehen.  Tief  gekränkt  und  wie 
jenem  Abgeordneten  gegenüber  auf  dem  irrigen 
Standpunkt,  daß  Deutlichkeit  und  Sprachkunst 
identisch  seien  und  weil  er  ein  Sprachkünstler  ist, 
er  deshalb  auch  deutlich  gesprochen  haben  müsse, 
läßt  er  durch  sein  , Fremdenblatt'  dem  Versailler 
Kriegsrat  versichern,  er  habe  »in  deutlichster  und 
klarster  Weise«  einen  Frieden  ohne  Annexionen 
proklamiert,  und  diu  Retourkutsche  auffahren,  die 
Feinde  hätten  wohlweislich  vermieden,  »mit  deut- 
lichen Worten  das  Ziel  zu  bezeichnen«,  das  sie 
durch  Fortsetzung  des  Krieges  erreichen  wollen, 
vielmehr  »ihrer  Gewohnheit  gemäß  ihre  Bestrebungen 
in  einer  Hülle  allgemeiner  Phrasen  gehalten«. 
Der  Graf  Czernin  weiß  aber  natürlich  nicht,  daß  er 
hier  nichts  anderes  zurückgegeben  hat  als  das 
Kompliment,  daß  auch  die  feindlichen  Staatsmänner 
ihre  Sprachen  beherrschen.  Vielleicht  ist  der  Unter- 
schied der  zwischen  der  Tüchtigkeit,  das,  was  man 
nicht    sagen    will,     wirksam     auszusprechen,     und 


14  — 


der  Gewandtheit,  das,  was  man  sagen  soll,  weise  zu 
verschweigen.  Die  Entscheidung,  auf  welcher  Seite 
die  virtuosere  Fähigkeit  geglänzt  hat,  interessiert 
indes  die  wartenden  Völker  nicht  so  sehr  wie  die  Frage, 
wie  lange  sie  —  ob  für  Leitartikel  oder  Feuilleton  — 
dem  Talent,  durch  Worte  Taten  zu  prolongieren, 
Opfer  bringen  sollen.  Was  immer  die  andern  für 
große  Leitartikler  sein  mögen,  wir  haben  mit  uns 
selbst  zu  schaffen,  und  der  Graf  Czernin  tut  unrecht, 
die  Dinge,  auf  die  es  für  Leben  und  Sterben  ankommt, 
gleich  mir,  einem  politisch  uninteressierten  Wort- 
fetischisten,  auf  das  Sprachgebiet  hinüberzuspielen. 
Kurzum,  wäre  er  kein  Sprachbeherrscher,  so 
würde  er  sich  klar  aussprechen  und  die  Zentral- 
mächte hätten  zwar  um  einen  Feuilletonisten 
weniger,  aber  um  einen  Staatsmann  mehr,  was 
umso  notwendiger  wäre,  als  sonst  keiner  da  ist. 
Das  ist  ja  eben  der  Fehler,  daß  in  diesen  Reichen, 
in  denen  nicht  zuletzt  auch  die  Sprache  nach 
Selbstbestimmung  ringt,  diese  just  in  dem  Augen- 
blick so  absolut  beherrscht  wird,  wo  es  sich  um 
die  Freiheit  ihrer  Sprecher  handelt,  und  daß  unser 
diplomatisches  Vorgehen  nur  dort  »eine  deutliche 
Sprache  spricht«,  wo  es  sie  vermissen  läßt. 

Wenn  ich  aber  bezüglich  der  Überschätzung 
der  Sprache  den  Grafen  Czernin  mit  mir  verglichen 
habe,  so  möchte  ich  ihn  bezüglich  deren  Gebrauchs, 
der  ja  immer  eine  Folge  der  Beherrschung  ist, 
lieber  mit  jenen  vergleichen,  denen  ich  ihn  schon 
durch  die  Bezeichnung  »Feuilletonist«  an  die  Seite 
stellen  wollte.  Was  ist  er  denn  anderes,  wenn  er  die 
russische  Revolution  für  den  »einzigen  Exportartikel« 
erklärt,  der  von  dort  zu  beziehen  sei  und  den  er 
ablehne?  Es  ist  ein  Apercu,  das  von  der  falschen 
Voraussetzung  lebt,  daß  bei  uns  die  russische 
Revolution  ausbrechen  könnte,  die  sich  ja  allerdings 
nicht  exportieren   läßt;   die  witzige   Ausflucht   einer 


15  — 


Politik,  die  von  der  Vernachlässigung  der  Frage  lebt, 
ob  solch  ein  »Artikel«  —  es  ist  von  dem  Verhältnis 
einer  Regierung  und  nicht  einer  Handelskammer  zum 
Problem  der  Freiheit  die  Rede  —  nicht  am  Ende  im 
Lande  selbst  erzeugt  werden  könnte.  Die  Fähigkeit,  mit 
einer  leicht  faßlichen  Anwendung  aus  einer  trivialen 
Sphäre  um  die  schwierigsten  Dinge  herumzukommen, 
verläßt  den  Grafen  Czernin  keinen  Augenblick.  Da  er 
seine  Antwort  an  die  Delegierten  mit  der  zierlichen 
Bemerkung  einleitet,  er  möchte  »nur  aus  dem  großen 
Bukett  von  Anregungen  und  Angriffen  einige  Blumen 
herausnehmen  und  sich  an  denselben  erfreuen«,  so 
beweist  er,  ehe  es  ihm  mißlingt  dieses  Bukett  zu 
zerpflücken,  daß  er  immerhin  die  Fähigkeit  besitzt,  eine 
Schmucknotiz  mit  falschen  Bildern  zu  besetzen. 
Auch  die  Versicherung,  daß  die  Rede  des  Generals 
Hoffmann  »einen  Sturm  im  Glase  Wasser  ent- 
fesselt« habe,  läßt  ihn  nach  dieser  Richtung 
orientiert  erscheinen.  Echtfeuilletonistisch,  eine  Pointe, 
wie  geschaffen  die  Heiterkeit  der  Delegierten  in  ernster 
Zeit  zu  wecken,  ist  auch  der  Einfall,  mit  dem  der  Graf 
Czernin  die  Zumutung,  daß  zwischen  ihm  und 
Trotzky  eine  Ähnlichkeit  bestehe,  abweist.  Ein 
Minister  hatte  es  zur  Beruhigung  der  Opposition 
behauptet  und  ein  tschechischer  Abgeordneter  den 
Volkskommissär  gegen  den  Vergleich  in  Schutz 
genommen.  Beides  reizt  die  Schlagfertigkeit  des 
Grafen  Czernin  wie  folgt : 

....  Ich  gestehe  jedoch,  daß  es  auch  nicht  meine  Ambition 
ist,  dem  Herrn  Trotzky  zu  gleichen,  und  in  einem  Punkt  besteht 
zwischen  mir  und  Herrn  Trotzky  jedenfalls  ein  Unterschied:  Wir 
sind  beide  —  und  das  ist  ein  merkwürdiges  Zusammentreffen  — 
in  unsere  respektiven  Heimaten  gefahren,  um  das 
Vertrauensvotum  der  respektiven  verfassungsmäßigen  Korporationen 
zu  erlangen;  Herrn  Trotzky  ist  das  mißlungen  und  er  hat  als 
Antwort  Maschinengewehre  auffahren  lassen  und  die  Konstituante 
auseinandergetrieben.  Wenn  Sie  mir  dasselbe  machen,  lasse  ich 
keine    Matrosen    kommen,    sondern   demissioniere.     (Heiterkeit.)  Was 


16 


freiheitlicher  und   demokratischer   ist,   überlasse  ich   Ihrer  Beurteilung. 
(Lebhafter  Beifall.) 

Der  Graf  Czernin  scherzt  und  es  ist  die  Eigen- 
tümlichkeit der  Feuilletonisten,  lachend  die  Unwahr- 
heit zu  sagen  und  mit  einer  scheinbaren  Schlüssigkeit 
Trümpfe  auszuspielen.  Nur  schade,  daß  in  einer 
ganzen  Delegation  sich  kein  einziger  Witzkopf  findet, 
der  keinen  Spaß  versteht  und  den  Causeur  auf  den 
größeren  Unterschied  zwischen  ihm  und  Trotzky 
aufmerksam  macht :  daß  dieser  in  seiner  respektiven 
Heimat  ein  System  repräsentiert,  das  sich  eben,  wie  es 
die  Gewalt  und  selbst  die  Gewalt  der  Freiheit  immer 
zu  tun  pflegt,  mit  Gewalt  erhaltea  will,  während  der 
Graf  Czernin  nur  das  zufällige  Organ  eines  andern 
Systems  vorstellt,  welches  nach  dem  konstitutionellen 
Opfer  eines  jeweiligen  Angestellten  in  seiner  wesent- 
lichen Macht  erhalten  bliebe,  aber  den  Widerstand, 
der  sich  gegen  diese  selbst  erhöbe,  sehr  wohl  mit 
den  Mitteln  der  russischen  Demokratie  aus  dem  Weg 
zu  räumen  wüßte.  Der  Graf  Czernin  und  auch 
der  Herr  von  Bilinski,  der  sich  mit  ihm  in  den 
königlich  polnischen  Spaß  teilte,  hätten  unschwer  darauf 
aufmerksam  gemacht  werden  können,  daß  zwischen 
der  bedrohten  Revolution,  die  Trotzky  heißt,  und  dem 
Minister  einer  keineswegs  bedrohten  Monarchie  aller- 
dings ein  Unterschied  besteht  —  was  aber  nur  eine 
nüchterne  Feststellung  gewesen  wäre,  mit  der  in  einer 
heitern  Debatte  über  den  Weltki  ieg  kein  Staat  zu  machen 
ist  und  nicht  einmal  der  des  Herrn  v.  Bilinski. 
Die  brillante  Laune  des  Grafen  Czernin  jedoch, 
die  die  Anfechtungen  der  Logik  so  wenig  wie  die 
des  Geschmacks  fürchtet,  findet  ihren  glücklichsten 
Ausdruck  in  der  Verteidigung  des  Generals  Hoffmann: 

Als  ich  in  Brest  von  der  Aufregung  gehört  habe,  die  diese 
Rede  hervorgerufen  hat,  habe  ich  darüber,  aufrichtig  gesagt, 
herzlich  gelacht.  Dort  hat  sich  kein  Mensch  darüber 
aufgeregt.  Auch  nicht  Herr  Trotzky,  der  gestern  von  Dr.  Ellenbogen 
mit      Nachsicht      der      Taxe       in      den      Adelsstand 


17  — 


erhoben  worden  ist  (Heiterkeit).  Also  Herr  von  Trotzky  hat  dem 
General  geantwortet,  wenn  er  ihm  sage,  daß  Rußland  von  den 
Deutschen  besetzt  sei,  so  gebe  er  ihm  darauf  die  Antwort,  daß  der 
Kaukasus  und  die  Türkei  von  Russen  besetzt  seien,  das  eine  sei  das 
andere  wert.  An  dieser  Rede,  man  mag  sie  mehr  oder  weniger  schön 
finden,  sterben  wird  niemand  daran,  weder  Herr 
Trotzky  noch  General  Hotfmann,  noch  der  Friede  ....  Ich  glaube, 
das  Wiener  Parlament  bietet  ein  Beispiel,  daß  kräftige  Worte 
möglich  sind,  ohne  daß  man  daran  stirbt,  denn 
wenn  man  daran  sterben  würde,  dann  gäbe  es 
schon    viele    Leichen    im    Paria  me  n  t.    (Heiterkeit.) 

Die  berühmte  Erkenntnis  vom  Wesen  der  Staats- 
kunst wird  sich  künftig  als  ein  vermehrtes  Staunen 
äußern:  mit  wie  wenig  Weisheit  die  Völker  regiert 
werden,  aber  mit  v/ie  viel  Mangel  an  Würde.  Die 
Schalheit  des  Motivs  »mit  Nachsicht  der  Taxe«  und 
der  Wendung  »Also  Herr  von  Trotzky«  könnte  schon 
einen,  dem  diese  Jammerzeit  einen  Funken  Hoffnung 
übrig  gelassen  hätte,  lebensüberdrüssig  machen. 
Der  unleugbar  adelige  Czernin  reproduziert  einen 
Scherz,  den  nicht  nur  jeder  Wiener  Kaffe^haus- 
besucher  seit  der  Türkenbelagerung,  sondern  vor 
dem  frozzelnden  Minister  der  gefrozzelte  Delegierte 
selbst  gemacht  hat,  dieser  aber  mit  einer  berechtigten 
Wendung  gegen  das  Korrespondenzbureau,  dem  wieso 
manches  andere  die  Nobilitierung  des  Herrn  Trotzky 
geglückt  war.  Es  wäre  wahrlich  besser,  wenn  die 
Standesgenossen  des  Grafen  Czernin  vermeiden 
wollten,  sich  von  Familien,  die  nicht  durchs  eigene 
Blut,  sondern  durch  das  der  andern  empor- 
gekommen sind  und  im  Krieg  zufällig  nicht  getötet 
oder  wenigstens  eingesperrt,  sondern  geadelt  wurden, 
zum  Essen  einladen  zu  lassen,  als  daß  sie  von  der 
überwältigenden  Komik  jener  Antithese  zehren.  Viel 
weniger  lustig  ist  jedenfalls  die  zwischen  der 
Munterkeit  des  Grafen  Czernin,  der  »herzlich  gelacht« 
hat,  und  der  Erbitterung  jener  vielen,  denen  die 
Reiterattaque  auf  den  Verhandlungstisch  von  Brest- 
Litowsk    nicht    eben   als   das  Resultat   erschien,  auf 


—  18 


das  sie  gewartet  hatten.  Wäre  selbst  der  Vergleich 
einer  Parlamentssitzung  mit  einer  Friedenskonferenz, 
also  die  Gleichstellung  von  berufsmäßig  zankenden 
Parteivertretern,  zwischen  denen  nicht  das  Wort, 
sondern  die  Abstimmung  entscheidet,  mit  Staats- 
vertretern, die  zum  Frieden  zusammenkommen,  nicht 
so  durchbohrend  scharfsinnig,  man  müßte  doch 
über  die  Feinfühligkeit  staunen,  die  die  aus  der  landes- 
üblichen Gemütsschlamperei  bezogene  Redensart 
»sterben  wird  niemand  dran«  unermüdlich  abwandelt 
und  nicht  einmal  dessen  inrre  wird,  daß  dieses  zur 
mundfaulen  Phrase  erstarrte  Achselzucken  hier 
ausnahmsweise  wirklich  in  einer  Sphäre  betätigt 
wird,  in  der  man  an  Worten  stirbt.  Als  ob  es  das 
größte  Unglück  wäre,  daß  die,  die  sie  sprechen  oder 
unmittelbar  hören,  daran  sterben  könnten!  Die  schöne 
Vorstellung,  daß  es  »dann  schon  viele  Leichen  im 
Parlament  gäbe«,  die  doch  nur  witzige  Schlagkraft 
hätte,  wenn  die  Prämisse  (daß  man  an  einem 
kräftigen  Wort  stirbt),  vom  Redner  nicht  konstruiert, 
sondern  nur  beantwortet  wäre  —  nicht  einmal 
diese  anschauliche  Konsequenz  bringt  ihn  zu  der 
Besinnung,  daß  es  die  vielen  Leichen  auf  anderen 
Plätzen  derzeit  schon  gibt,  und  zu  dem  Gedanken, 
daß  zu  deren  Vermehrung  der  Ton  auf  einer  Friedens- 
konferenz sehr  wohl  beitragen  könnte.  Denn  wenngleich 
der  Zusatz,  daß  auch  der  Friede  nicht  daran  sterben 
werde,  den  Redner  scheinbar  einer  ernsteren  Möglichkeit 
bewußt  zeigt,  so  ist  doch  eben  in  dieser  Personifika- 
tion des  sterbenden  oder  nicht  sterbenden  Friedens, 
die  salopp  wie  ein  wurstiges  »Malheur!«  oder  »Tun 
S'lhnen  nix  an»  angereiht  wird,  das  Bewußtsein,  daß 
der  Inhalt  des  Krieges  das  reale  Sterben  ist,  völlig 
ausgeschaltet.  Die  Gedankenlosigkeit  eines,  der  über 
die  Materie  zu  bestimmen  hat,  sollte  wahrlich  nicht  so 
weit  gehen  wie  die  aller  fühllosen  Zeugen,  die  von  ihr 
die  Worte  beziehen,    ohne   sich   an   sie   erinnert   zu 


19 


fühlen,  und  ein  Staatsmann,  der  im  Weltkrieg  das 
Wort  »sterben«  bildlich  oder  in  einem  andern 
Zusammenhang  als  dem  mit  der  großen  Realität  aus- 
sprechen wollte,  dürfte  höchstens  bekennen,  daß  ihm 
das  Wort  auf  der  Zunge  sterbe. 

Was  aber  soll  man  zu  einem  Staatsmann  und 
Aristokraten  sagen,  dem  die  Materie  des  Welttods 
so  wenig  gegenwärtig  ist,  daß  ihm  ein  Spassettl 
vom  Sterben  über  die  Lippe  kommt,  und  den  der 
Zeitpunkt  weder  davon  abhält,  es  zu  wiederholen,  noch 
solcher  Eifer  zum  Bewußtsein  des  Zeitpunkts  bringt; 
der  völlig  beziehungslos  Redensarten  wählt,  die  eine 
empfindende  Hörerschaft  in  traurige  Erinnerung  und 
eine  taktvolle  in  Verlegenheit  für  den  unbefangenen 
Sprecher  versetzen  müssen.  Und  was  soll  man  zu  einer 
Delegation  sagen,  deren  Gemütsverfassung  das 
Protokoll  an  dieser  Stelle  mit  der  kürzesten 
Charakteristik  »(Heiterkeit)«  gerecht  wird?  Das 
ist  die  Auslese  jener  Menschheit,  der  der  Fortschritt 
so  sehr  alle  Phantasie  ausgehungert  hat,  daß  ihr 
heute  der  Vorstellungsersatz  von  ein  paar  schmierigen 
Phrasen  das  geistige  Durchhalten  durch  die  größte 
Quantität  an  Erlebnissen  ermöglicht.  Das  rechnet 
mit  Offensiven  ohne  Gesicht  und  Gehör  für  die 
Ungezählten,  die  daran  blind  und  taub  werden, 
und  würde  staunen,  daß  hinter  der  Generalstabs- 
meldung »Nichts  Neues«  immerhin  die  Begebenheit 
von  ein  paar  Lungenschüssen  sich  abgespielt  hat. 
Und  sie  ahnen  weder,  daß  die  Bedingungen  des 
Ereignisses  auch  die  ihrer  Unbewegtheit  sind,  noch 
daß  sich  der  Schall  an  ihrer  Atonie  steigert. 
Oder  wie  Büchner  sagt :  »Sie  hören  nicht,  daß  jedes 
dieser  Worte  das  Röcheln  eines  Opfers  ist.  Geht 
einmal  euern  Phrasen  nach,  bis  zu  dem  Punkte, 
wo  sie  verkörpert  werden.  Blickt  um  euch,  das 
alles  habt  ihr  gesprochen,  es  ist  eine  mimische 
Übersetzung   eurer  Worte  ....    Man   arbeitet    heut- 


20 


zutag  alles   in   Menschenfleisch.     Das  ist  der  Fluch 
unserer  Zeit.« 

Ein  wahrer  Staatsmann  aber  wäre  nicht  der,  der 
den  Handel  abschließt,  sondern  der  die  Geister  zur  Besin- 
nung dieses  Handels  bringt,  zum  Entsetzen  vor  sich 
selbst,  und  niemals  dürfte  er,  anstatt  sie  aus  dieser 
Niederungheraufzuführen,mitihnenbeiderSpassigkeit, 
die  es  dort  gibt  und  die  die  Armut  der  Vorstellung 
entschädigt,  einverständlich  verweilen.  Indes,  der 
Graf  Czernin  gilt  nicht  nur  jenen  Zufriedenen,  deren 
politischer  Humor  sich  mit  der  Scherzfrage:  »Was  ist 
das  Gegenteil  von  Apponyi?  A  Pferd!«  abfindet,  nicht 
nur  jenen  Relativisten,  die  die  staatsmännischen 
Fähigkeiten  nach  dem  geringen  Maß  dessen,  was 
man  von  einem  Mitglied  des  Jockeyklubs  verlangen 
kann,  abschätzen,  für  einen  großen  Staatsmann,  ja 
Bürgen  eines  neuen  Zeitalters,  und  dies,  wiewohl 
man  schnell  genug  erkannt  haben  müßte,  daß  ein 
Minister  der  menschheitlichen  Ideen,  die  er  äußert, 
nur  dann  würdig  ist  und  durch  sie,  die  ja  die  Ideen 
anderer  sind,  wächst,  wenn  er  sie  zur  Tat  werden 
läßt.  Obzwar  nun  der  Graf  Czernin  die  Frist,  die  er  an 
ihre  Erfüllung  geknüpft  hat,  verstreichen  ließ,  wird  er 
von  den  einen,  und  weil  er  es  tat,  von  den  andern 
hoch  eingeschätzt,  und  von  den  dritten  just  wegen  der 
Gabe,  zwei  Ideale  gleichzeitig  nicht  zu  enttäuschen, 
zwischen  Humanität  und  Schwertbereitschaft  geistig 
durchzuhalten  und  trotz  einem  Studium  bei  Lammasch 
und  Förster  nach  Tische,  da  man's  anders  las,  zwischen 
Hindenburg  undLudendorff  sitzen  zu  bleiben  und  sich 
gleich  dem  Kollegen  Paul  Goldmann  ins  Ohr  flüstern 
zu  lassen,  daß  Macht  vor  jenes  Recht  geht,  welches 
eben  noch  vor  die  Macht  gegangen  war.  Nehmt  alles 
nur  in  allem,  der  Graf  Czernin  erscheint  allen 
zusammen  als  eine  Erfüllung  des  Wiener  Friseur- 
gesprächs, im  Verlauf  dessen  unterm  Einseifen  die 
Worte    hervorgesprudelt    werden:    »Einen  Bismarck 


21 


braucheten  mr  halt!«,  und  nicht  etwa  bloß  darum,  weil 
Tun  wie  Reden  an  die  Gewohnheiten  des  Metiers 
erinnert.  Nein,  die  frappante  Ähnlichkeit,  größer 
als  die  mit  Trotzky,  hält  alle  in  Banden.  Der 
Bismarck,  den  mr  halt  braucheten,  ist  niemand 
anderer  als  der  Graf  Czernin.  Ein  Vergleich  mit  der 
Emser  Depesche  ist  an  dieser  Realisierung  eines  alten 
Lieblingswunschesder  Wiener  Friseureund  der  über  den 
Löffel  Barbierten  keineswegs  schuld,  da  ja  die  letzten 
halbwegs  zweckdienlichen  deutsch-französischen  oder 
deutsch-russischen  Analoga,  die  berühmten  »Bomben 
auf  Nürnberg«  oder  die  Extraausgabe  des  , Lokal- 
anzeigers'nicht  in  Österreich  hergestellt  wurden  und  der 
verstümmelt  eingelangte  Funkspruch  der  Petersburger 
Regierung  weniger  einen  diplomatischen  als  einen 
literarischen  Treffer  bedeutet.  Was  bewirkt  also,  daß 
man  in  der  Identität  dieses  Perückenbismarck  kein 
Haar  findet?  Ganz  gewiß  die  gleiche  Mischung  von 
Talent  und  Genie.  Nur  werden  selbst  die  größten 
Czernin-Verehrer  nicht  übersehen  können,  daß  die 
Verteilung  der  beiden  Qualitäten  bei  beiden  Persönlich- 
keiten eine  verschiedene  ist.  Denn  während  Bismarck 
als  Mensch  ein  Genie  war  und  als  Staatsdiener, 
wie  es  ja  auch  nicht  anders  sein  kann,  nur  ein 
Talent  —  Politiker,  Bankdirektoren,  Bauhandwerker 
sind  auf  der  höchsten  Stufe  ihrer  Vollkommenheit 
Talente  — ,  gilt  für  Czernin  die  Umkehrung.  Der 
allgemeinen  Vermutung,  daß  er  ein  Genie  von  einem 
Staatsmann  ist,  gesellt  sich  meine  Überzeugung  von 
seinen  allgemeinen  Talenten.  Bismarck  wie  Czernin 
haben  außerhalb  der  Verpflichtung  ihres  Berufs 
Worte  geprägt,  die  Flügel  bekommen  haben,  und 
der  Unterschied  dürfte,  den  Kraftmaßen  von  künst- 
lerischer Schöpfung  und  gefälliger  Unterhaltung 
entsprechend,  in  aviatischer  Hinsicht  etwa  der 
zwischen  der  Naturgewalt  des  Adlerfluges  sein 
und  der  Tüchtigkeit,  die  einen  Motordefekt  erleidet. 


22  — 


Doch  muß  man  es  wohl  für  ausgeschlossen  halten,  daß 
Bismarck,  wenn  er  es  je  für  nötig  erachtet  hätte, 
sich  undeutlich  auszudrücken,  dies  unter  Hinweis 
auf  seine  Sprachkünstlerschaft,  die  ein  höheres 
Lebensgut  als  alle  Staatspraktiken  deckte,  abgeleugnet 
hätte.  Daß  seine  dialektische  Leidenschaft  nie  mit 
der  Czerninschen  Methode,  »aus  dem  großen 
Bukett  von  Anregungen  und  Angriffen  einige  Blumen 
herauszunehmen,«  ausgekommen  wäre,  daran  kann 
auch  nicht  der  geringste  Zweifel  bestehen  und  der 
Schlager,  daß  an  kräftigen  Worten  bei  einer  Friedens- 
verhandlung nicht  einmal  die  Menschheit,  geschweige 
denn  die  anwesenden  Unterhändler  sterben,  weil  es 
sonst  schon  viele  Leichen  im  Parlament  gäbe,  wäre  ihm 
bei  der  größten  Selbstüberwindung  nicht  eingefallen. 
Wie  er  mit  annexionsgierigen  Generalen  fertig  wurde 
und  um  wie  viel  mächtiger  sein  Wort  war  als  die  Faust, 
die  auf  den  Verhandlungstisch  zu  schlagen  eben  dadurch 
verhindert  war,  ist  geschichtsbekannt.  Was  er  getan 
hat,  war  nicht  immer  für  die  Menschheit  nützlich,  aber 
was  er  gesprochen  hat,  nie  das  Stichwort  der 
schlimmeren  Tat.  Seine  Sprache,  nicht  Dienerin  seiner 
Pläne,  war  die  Selbstherrscherin  seiner  Gedanken, 
seine  Aussprüche,  Frucht  und  nicht  Schale,  Geschöpfe 
und  nicht  Redensarten,  wachsen  durch  die  Zeit, 
und  sein  Wort  von  den  Leuten,  die  ihren  Beruf 
verfehlt  haben,  das  ursprünglich  auf  die  Journalisten 
gemünzt  war,  läßt  sich  noch  heute  auf  die  Vertreter 
eines  anderen  Berufes  anwenden,  die  nicht 
Journalisten  geworden  sind. 


—  23  — 

Glossen 

Niemand  geringerer  als 

.  .  Die  Wirkung  des  Stückes  auf  das  Publikum  wurde  bereits 
erwähnt.  Sittlicher  Ernst  und  Kraft  der  Q.esinnung  sind  ihm  eigen. 
Es  kommt  den  tiefsten  und  reinsten  Stimmungen, 
welche  die  kriegerische  Gegenwart  ausgelöst 
hat,  entgegen.  Es  ist  eine  Abkehr  von  der  Ironie,  es 
kennt  nicht  die  Angst  vor  der  Begeisterung.  Vor  herzhaftem 
Lachen  in  den  trefflich  gestalteten  Massenszenen  scheut  es 
ebensowenig  zurück  wie  vor  dem  befreienden 
Weinen.  Das  Deutsche  Volkstheater  hat  sich  mit  redlichem 
Bemühen  und  schönem  Gelingen  um  Regie.  Darstellung  und  Aus- 
stattung bemüht  .... 

Der  Kritiker  hatte  natürlich  keine  Ahnung,  wer  sich 
hinter  dem  Pseudonym  »Wilhelm  Engelhardt«  verbarg.  Niemand 
hatte  keine  Ahnung.  Im  Hause  saßen  zufällig  sämtliche 
Ministerialbeamte  Wiens  und  keiner  hatte  eine  Ahnung.  Banhans 
bemerkte  unter  andern  Beck,  Beck  Bleyleben,  sie  alleCwiklinski, 
und  keiner  hatte  eine  Ahnung.  Zwar,  daß  der  Abend  eine 
besondere  Weihe  hatte,  spürte  jeder.  Ging  es  doch  um  nichts 
Geringeres  a!s  um  die  Kriegsanleihe.  Die  Vorstellung  stand 
im  Zeichen.  Sie  fand  als  Festvorstellung  in  einem  Rahmen  statt, 
und  schon  ein  anderer  bedeutender  Poet  war  vorher  zu  Worte 
gekommen : 

Vor  Beginn  des  Stückes  hatte  Herr  Klitsch  einen  Kriegsanleihe- 
aufruf aus  der  Feder  Heinrich  Glücksmanns  gesprochen,  dem  Herz- 
Kchkeit,  feuriger  Schwung  und  nicht  in  letzter  Linie  literarischer 
Geschmack  nachgerühmt  werden  darf.  St — g. 

Nachdem  auf  diese  Art  Wärme  ins  Haus  gekommen  war, 
stellte  sich  alsbald  der  Erfolg  für  den  unbekannten  Autor  ein, 
der  sein  Inkognito  abserlut  nicht  lüften  wollte.  Wiewohl  niemand 
eine  Ahnung  hatte,  erneuerte  sich  der  herzliche  Beifall  nach 
allen  Aktschlüssen.  Der  Regisseur  konnte  im  Namen  des  Dichters 
danken,  ohne  ihn  aber  zu  verraten.  Plötzlich  ging  ein  Gei 
um,  und  in  einem  Nachtrag  zur  Kritik,  die  sich  von  ihrem 
sachlichen  Standpunkt  durch  derlei  keineswegs  ablenken  ließ, 
wird  von  dem  Gerücht  Notiz  genommen: 


^4 


Der  Zuschauerraum  machte  htute  einen  ganz  ungewöhnlichen 
Eindruck.  Persönlichkeiten  aus  dem  öffentlichen  Leben,  der  gegen- 
wärtige Ministerpräsident  und  gewesene  Minister- 
präsidenten, die  Mitglieder  des  Ministeriums  Seidler,  viele  Sektions- 
t-hefs,  Ministerialräte  und  andere  Mitglieder  der  hohen  Bureaukratie 
waren  anwesend.  Über  den  Verfasser  wurde  im  Saale  folgen- 
des bekannt:  Das  Stück  ist  von  Dr.  Ernst  Ritter  von 
S  e  i  d  1  e  r  vor  vier  oder  fünf  Jahren  verfaßt  worden,  al  s  er  Sekt  ion  s- 
chef  im  Acker  bauministerium  war,  weit  mehrMuße  hatte 
und  weniger  mit  Sorgen  beladen  gewesen  ist  als 
gegenwärtig.  Das  Stück  enthält  gar  keinen  Anklang  an 
die  Kriegszeit  und  an  die  großen  und  schweren 
Verhältnisse,  die  jetzt  der  Obhut  des  Doktor  von 
Seidler   anvertraut   sind. 

Müssen  die  Biamten  aber  paff  gewesen  sein!  Er  selbst 
saß  drin,  hatte  natürlich  auch  keine  Ahnung,  daß  sie  grad  heut 
ihm  das  Stück  aufführen  werden,  und  schon  gar  nicht,  daß 
irgendeiner  seiner  Leirf!  eine  Ahnung  haben  könnte.  Zufällig 
waren  sie  alle  da,  das  traf  sich  großartig,  und  als  es  sich  dann 
wie  ein  Lauffeuer  verbreitete,  daß  das  Stück  vom  Seidler  sei, 
riefen  alle  wie  aus  einem  Munde:  »Da  schau  her,  vom  Seidler! 
Gratuliere  Exlenz!»  Das  Lauffeuer  drang  bis  zum  Referenten  für 
»Gesellschaftliches  im  Zwibchenakt«,  der  zum  Glück  anwesend  war, 
und  nur  eine  Stimme,  die  zufällig  auch  er  vernahm,  gab  es,  daß 
das  Drama,  wiewohl  es  historisch  ist,  selbstverständlich  gar 
keinen  Anklang  an  die  Kriegszeit,  nämlich  an  die  Verhältnisse, 
die  der  Obhut  unseres  Seidler  anvertraut  sind,  enthält,  das  hätte 
sich  auch  nicht  gehört,  weil  es  zu  persönlich  gewesen  wäre. 
Also  das  muß  man  anerkennen:  nicht  die  leiseste  Anspielung 
auf  Kohlen,  Kartoffeln  und  derlei  Ressorts.  Bis  zum  Kritiker 
selbst  aber,  den  kein  Gerücht  zu  beeinflussen  gewagt 
hätte,  drang  es  nicht,  er  saß  da  und  ließ  das  Werk  auf 
sich  wirken,  spürte  wohl  den  Ernst  heraus,  aber  nicht  den 
Seidler,  hörte  auf  der  Bühne  nebst  befreiendem  Weinen  herz- 
haftes Lachen  —  im  Publikum  sämtlicher  Rangsklassen  war  letzteres 
ge4Hßt  —  und  fand,  was  den  Zusammenhang  des  Werkes  mit 
großen  und  schweren  Verhältnissen  betrifft,  daß  es  den 
tiefsten  und  reinsten  Stimmungen  nebbich,  welche  die  kriegerische 
Gegenwart  »ausgelöst«  hat,   entgegenkommt.  Nichts  brachte  ihn 


—  25  — 


auf  die  Vermutung,  daß  das  Stück  von  einem  höheren  Funktionär 
sein  müsse,  nicht  einmal  der  Umstand,  daß  es  ein  so  entgegen- 
kommendes Stück  ist.  Das  Parlament  scheint  bis  dato  auch  keine 
Ahnung  zu  haben.  Sonst  hätte  es  sich  wohl  dafür  interessieren 
müssen,  ob  ein  Ministerpräsident  gut  tut,  mitten  in  den  großen 
und  schweren  Verhältnissen,  die  seiner  Obhut  anvertraut  sind, 
unter  Ausschüttung  sämtlicher  Ministerien,  zuerst  seine 
Tochter  als  Schauspielerin  und  dann  sich  selbst  als  Autor 
dem  Staatsbürger  vorzustellen,  was  an  und  für  sich  doch  einen 
Übeln  Anklang  an  die  Kriegszeit  ergibt,  insbesondere  aber  als 
Verfasser  eines  Stückes,  das  den  Titel  »Durch  Feuer  und  Eisen« 
führt  und  den  tiefsten  und  reinsten  Stimmungen  der  Gegenwart 
durch  den  Gedanken,  daß  es  halt  im  Völkerleben  auf  die  Macht 
ankommt,  und  durch  Variationen  über  das  Motiv  »Gott  strafe 
England«  gerecht  wird.  Unter  vielen  anderen  kann  auch  dieser 
Dichter  von  Glück  sagen,  daß  ich  nicht  mehr  ins  Theater  gehe. 
Ich  hätte  obstruiert,  Zwischenrufe  gemacht  und,  ohne  das  Massen- 
aufgebot von  Biamten  zu  einem  Jambendrama  des  Vorgesetzten 
als  ein  Privatvergnügen  gelten  zu  lassen,  die  Herren  aufgefordert, 
nach  diesen  im  Schweiß  ihres  Angesichtes  erledigten  fünf  Akten 
schleunig  zu  den  noch  unerledigten  zu  schauen! 


Autor  und  Direktor 

Vom  8.  Februar  1918: 

Demission  der  Regierung. 

Nach  5  Uhr  nachmittags  machte  der  Präsident  Dr.  Groß  dem 
Abgeordnetenhause  folgende  Mitteilung :  Eingetretene  Ereignisse 
machen  eine  Unterbrechung  der  Verhandlungen  des  Hauses  not- 
wendig. Ich  habe  soeben  von  dem  Herrn  Ministerpräsidenten 
Dr.  Ritter  v.  Seidler  die  Mitteilung  erhalten,  daß  die  Regierung 
Seiner  Majestät  ihre  Demission  überreicht  hat  —  — 

Direktor  Wallner  demissioniert. teilt    uns 

mit,  daß  Direktor  Wallner  dem  Vereinsausschuß  —  —  am  6.  d. 
schriftlich  seine  Demission  für  den  Schluß  des  zweiten  Vertragsjahres 
angeboten  habe. 


26 


Von  einem  Mann  namens  Ernst  Posse 

Über  die  Ernennung  les  Barons  Burian  zum  Minister  des 
Äußern  schreibt  die  >Köln.  Zeitung«:  —  —  Baron  Burian  ist 
ein  zäher  und  erprobter  Kämpfer,  der  als  Vorgänger  des 
Grafen  Czernin,  dessen  Nachfolger  er  ist,  seinen  Mann  gestellt  hat. 
In  erfreulicher  Erinnerung  sind  noch  seine  Noten 
an  Amerika,  mit  denen  er  der  professionellen 
amerikanischen  Ungezogenheit  Wilsons  heim- 
leuchtete und  dem  Selbslbeherrscher  der  Vereinigten  Staaten  die 
Lebensart  beibrachte,  die  im  Verkehr  der  zivilisierten 
Länder  und  ihrer  amtlichen    Behörden    untereinander    unerläßlich  ist. 


Ein  Kronzeuge  für  die  österreichische  Regierung  . 

Um  Cholm: 

»...Auch  der  Präsident  der  Vereinigten  Staaten  hat  in 
seinem  öffentlichen  Gedankenaustausch  mit  uns 
den  Satz  geprägt,  daß  Völker  und  Provinzen  nicht  von  einer  Staats- 
hoheit in  eine  andere  herumgeschoben  werden  sollen,  als  ob  es  sich 
lediglich  um  Gegenstände  oder  Steine  in  einem  Spiel  handelte,  daß  also 
Veränderungen  nicht  ohne  die  Zustimmung  der  Völker  vorgenommen 
werden  sollen  .  .   .  .« 

Der  Seidler,  ein  Intimus  Wilsons,  scheint  demnach  im  Aus- 
tausch dieselben  Gedanken  zurückzugeben.  Der  Krieg  dreht  sich 
nur  noch  um  die  bedauerliche  Tatsache,  daß  auch  die  Völker  an 
diesem  Gedanken  festhalten. 


Ein  Ausspruch 

Der  Kriegsminister  erklärte: Was  das  feindliche  Ausland 

denkt,  kann  uns  gleichgültig  sein. 


—  27  — 

Nimmermehr! 

Der  Leitartikler: 

.  .  .  Das  deutsche  Volk  soll  durch  militärische  Not  zur 
Revolte  veranlaßt  werden,  es  soll  sich  mit  seiner  Regierung  entzweien 
und  es  zu  dem  bringen,  was  in  dieser  Note  die  Selbst- 
befreiung genannt  wird. 

Allein  das  deutsche  Volk  wird  sich  nicht  beugen  und 
nicht  brechen  lassen 


Auf  Deutsch 

Burian,  der  nüchterne  Burian,  nicht  zu  verwechseln  mit 
dem  gleichnamigen  Opernsänger,  der  als  Lohengrin  anläßlich 
der  Verabschiedung  des  Schwans  Czernin  sich  einen  Rausch 
angetrunken  hat,  darf  sich  schon  am  ersten  Tage  seiner  Amts- 
führung nachsagen  lassen,  daß  er  deutscher  fühlt  als  schreibt. 
War  es  nach  dem  kaiserlichen  Handschreiben  dem  Grafen 
Czernin  vergönnt,  »mit  in  vorderster  Linie«  die 
ersten  Friedensschlüsse  vermitteln  zu  können,  so  will  der  Burian 
den  Weg  nicht  aus  dem  Auge  verlieren,  auf  dem  jener  grund- 
legende und  wichtige  Etappen  zurücklegte«.  Den  Grafen 
Hertling  aber  bat  er,  Hochdieselben  möchten  >das  Vertrauen 
und  Entgegenkommen«,  dessen  sich  sein  Amtsvorgänger 
>in  so  hohem  Maße  erfreuen  durfte«,  auch  seiner  Person 
»entgegenbringen«.  Denn  »die  Befestigung  und  der 
Ausbau«  des  und  so  weiter  »bildete  seit  jeher  die  Grundlage« 
seines  politischen  Denkens  und  Fühlens,  und  er  erachte  es  als 
seine  vornehmste  Pflicht,  auf  dieser  unverrückbaren  Grundlage 
auch  fernerhin  —  also  auf  der  Grundlage  des  Ausbaues  —  »we  i  ter- 
zubauen«.  So  führt  diese  babylonische  Verwirrung  einer  und 
derselben  Sprache,  an  der  man  jetzt  ausschließlich  das  deutsche 
Wesen  erkennt,  zu  dem  Zweifel,  ob  der  grundlegende  Ausbau 
des  Bündnisses  wirklich  identisch  mit  der  grundlegenden  Etappe 
zum  Frieden  ist  und  ob  uns  selbst  ein  entgegengebrachtes  Ent- 
gegenkommen vor  dem  Schicksal  bewahren  wird,  dem  wir 
entgegengehen. 


28 


Osterreich  1918 

Zur    Beaufsichtigung     unsres     Personals      suchen     wir     einen 

Reichsdeutschen 
der   keine  Arbeit  scheut  und  wo  notwendig,    zugreift.    Schrift- 
liche   Offerten    an    Peter    &    Wannack,    Neu-Purkersdorf,    Post 
Tullnerbach  I.  2490 

Zur    Beaufsichtigung      unsres     Personals     suchen      wir     eine 

Reichsdeutsche 
die   keine   Arbeit  scheut  und   wo   notwendig,   zugreift.   Schrift- 
liche   Offerten    an    Peter    &    Wannak,    Neu-Purkersdorf,    Post 
Tullnerbach  I.  2491 


Eine  neue  Naturgewalt 

Das  Bündnis  steht  fest  und  die  Depeschen  der  beiden  Kaiser 

haben  den  Ton  eines  Gelübdes.  Am  Tage  von  Armentieres  wird 
Clemenceau  erfahren,  daß  auch  sein  Text  des  Briefes  gegen  die 
Naturgewalt    der    Bündnispolitik  nichts  vermochte. 


Fremdwörterschutz 

Viel  ist's  ja  nicht,  was  von  all  meinem  Sehnen  nach 
Abbau  der  Kriegsschande  hier  Erfüllung  fand.  Immerhin  macht's 
ein  Scherflein  zur  Wiederherstellung  des  Menschenverstands. 

Wiederherstellung  verdeutschter  Fremdwörter 

Wien.  20.  Oktober. 
Der  Chef  des  Generalstabes  hat  mit  Erlaß  Pers.  Nr.  23.490 
von  1917  verfügt:  Seine  k.  u.  k.  Apostolische  Majestät  geruhten 
Allergnädigst  anzuordnen,  daß  hinsichtlich  jener  eingelebten 
Fremdwörter,  welche  durch  ungewohnte  Neubildungen  ersetzt 
wurden,  der  frühere  Sprachgebrauch  wieder  herzu- 
stellen ist  und  daß   eine    Zusammenstellung  der   nunmehr  wieder 


-  29  — 


anzuwendenden  Ausdrücke  verlautbart  werde,  auf  deren  Gebrauch 
strenge  zu  sehen  ist. 

Es  sind  daher  künftig  im  dienstlichen  Verkehr  und  sinngemäß 
für  alle  Formen  und  Zusammensetzungen  folgende  Wörter  anzuwenden: 
Adresse,  Aspirant,  Auto,  Automobil,  Bibliothek,  Distanz,  Generator, 
Hughes,  Instruktion,  Kuvert,  Legitimation,  Loris,  Motor,  Motorwagen, 
Organisation,  Pare  (Mehrzahl  Parien),  Photographie,  Radio,  Rezepisse, 
Rubrum,  Telegraph,  Telephon,  Terrain,  Urgenz.  Etwaige  Ergänzungs- 
anträge können  eingesendet  werden. 

Bei  dieser  Gelegenheit  wird  aufmerksam  gemacht,  daß  Abweich- 
ungen von  der  Geschäftsordnung  durch  Anlehnung  an  die 
deutsche  Geschäftsordnung  nicht  statthaft  sind. 
Weiter  sind  künftig  gesuchte  Neubildungen  von  Wörtern 
durch  Aneinanderreihen  von  Anfangsbuchstaben 
oder  Anfangssilben  zu  unterlassen. 

Ohne  daß  ich  je  besonderen  Wert  auf  die  Erhaltung  der 
Worte,  ja  Begriffe  Aspirant,  Instruktion  und  Rubrum  gelegt  hatte 
und  ohne  daß  ich  weiß,  was  Loris  sonst  noch  außer  einem 
Pseudonym  für  Hofmannsthal  bedeutet,  welchen  Namen  aus  dem 
Kriegsverkehr  zu  ziehen  gewiß  auch  wünschenswert  wäre,  und  wie- 
wohl sich  die  Reihe  jener  Termini  um  weit  kostbarere  Fremdwörter 
vermehren  ließe,  die  der  deutschen  Sprache,  jawohl  der  deutschen 
Sprache  ab  1914  durch  den  vorgeschriebenen  Volkheitskoller 
(Nationalismus)  gestohlen  (requiriert)  wurden,  muß  ich  doch 
sagen,  daß  es  ein  sympathischer  (anmutender)  Erlaß  ist.  Wenn 
ich  auch  nicht  weiß,  was  die  deutsche  Geschäftsordnung  ist,  so 
finde  ich  jedenfalls  das  Verbot,  sich  an  sie  anzulehnen,  herz- 
erfreuend. Daß  das  Verbot  der  Aneinanderreihung  von  Anfangs- 
buchstaben im  AOK  (sprich  Aokah)  seinen  Ursprung  hat,  ist 
geradezu  rührend,  ja  das  der  Kuppelung  von  Wort- 
trümmern zu  Geschäftszwecken  möchte  uns,  die  wir  zwischen 
Berlin  und  Budapest  ohnehin  kaum  mehr  das  nackte  Sprach- 
leben fristen,  von  arger  Bedrängnis  befreien  und  uns  vor  der 
Ausbreitung  von  Kriegsseuchen  wie  der  Miag  und  Ufa,  von 
den  tödlichen  Anschlägen  dieser  Wafa  und  Iwumba,  vor  dem 
Hexensabbath  einer  Rohö  und  Gekawe  bewahren.  Der  Übel 
größtes  aber  ist  die  Oezeg.  Denn  hierin  ist  Budapest  und  Berlin. 
Das  Volk  Schopenhauers,  das  die  Welt  als  Wille  und  Vorstellung 
leichter   zu   regieren   glaubt,    wenn   es  eine  Telegrammadresse 


30 


aus  ihr  macht  und  diese  womöglich  noch  Drahtanschrift  nennt,  und 
die  ungarischen  Handeljuden,  die  auch  keine  Zeit  haben:  das  ist 
die  Geistesfinna,  deren  Betrieb  uns  jene  zur  Straßenplage 
gewordenen  Sprachschiebereien  beschert  hat  und  in  einer  trotz 
jenem  Erlaß  von  der  Heeresleitung  protegierten  »Sawerb«  ihren 
Triumph  erlebt.  Während  aber  hier  bloß  der  Plusmachersinn  am 
Sprachminus  arbeitet,  ist  bei  der  verbalen  Ersatzwirtschaft  der 
Stolz  des  blockierten  Mitteleuropäers  am  Werke.  Einer  der 
stärksten  Beweise  für  völkische  Selbstbesinnung  ist  wohl,  daß 
dieselben  Leute,  die  ehedem  höchstens  zehn  Prozent  genommen 
hätten,  gegenwärtig  nicht  unter  50  v.  H.  verdienen  dürfen.  Dieses 
gräßliche  »v.  H.«  —  keine  Abkürzung  für  Hofmannsthal  — 
wird  aber  nicht  bloß  von  den  Alldeutschen,  sondern  auch  von 
den  Antikorruptionisten  angewendet,  die  den  Preistreibern  auf 
die  Finger  sehen  und  unter  ihre  ethischen  Pflichten  auch  die 
sogenannte  Sprachreinigung  aufgenommen  haben.  Nun  gibt  es 
zwar  wirklich  Menschen,  die  »Anschrift«  sagen  können  —  ich 
habe  einmal  auf  der  Reise  im  »Abteil«  einen  solchen  gehört  — , 
aber  zweifelhaft  bleibt  es  wohl,  ob  je  einer,  und  wenn  er  es  ein 
Jahrzehnt  lang  zur  Verblüffung  der  Leser  schriebe,  »vom  Hundert« 
in  den  Mund  nehmen  würde.  Die  den  Sprachersatz  einbürgern  und 
in  knapper  Zeit  die  letzten  Fremdwörter  »eindeutschen«  möchten, 
wären  kaum  imstande,  die  Wortabteile,  die  sie  schreiben,  zu 
schlucken.  Leider  muß  gesagt  werden,  daß  auch  die  sozial- 
demokratische Publizistik  wie  den  Hunden  jetzt  auch  so  manchem 
treuen  Fremdwort  die  Existenz  verargt  und  so  wahr  es  ist,  daß 
Hunde  öfter  von  Menschen  gegessen  werden  als  ihnen  »das 
Essen  wegnehmen«,  so  haben  in  diesen  notigen  Zeiten  die  Sprach- 
reiniger mehr  Sprachgut  verzehrt,  als  die  Fremdwörter  je  von  der 
Sprache  genommen  haben.  Ehrliche  Leute  —  und  zu  solchen 
zähle  ich  die  sozialdemokratischen  Schriftsteller  —  sollten  auf 
ein  Interesse  verzichten,  in  dessen  Sphäre  sie  die  Anrainer  der 
letzten  Menschenkategorie,  nämlich  der  Alldeutschen  sind,  die 
durch  keinen  noch  so  großmütigen  Verzicht  auf  Fremdwörter 
vergessen  machen  werden,  daß  sie  die  deutsche  Welt  um  das 
eine,  fluchwürdigste:  »Annexionen«  bereichert  haben.  Wäre 
Sprache    eine    Addition    von    Wörtern,    so  ließe    sich   ja     aut 


—  31 


die  Untersuchung  von  Gewinn  und  Verlust  eingehen.  Aber  die 
Sprachreiniger  wissen  nicht  einmal,  daß  es  nicht  die  Sprache  ist, 
was  sie  reinigen.  Ich  lasse  mich  gern  auf  die  Prüfung  ein,  ob 
ein  Aufsatz,  den  ein  solcher  in  lauter  garantiert  deutschen 
Vokabeln  schreibt,  mehr  von  deutscher  Sprache  haben  wird  als 
einer  von  mir,  der  nur  aus  Fremdwörtern  besteht! 


Sawerb 

der  Todeslaut  der  Menschheit. 

Der  am  Freitag  stattgefundene  Kinoabend  der  Werbe- 
abteilung der  S  a  s  c  h  a-F  i  1  m  f  a  b  r  i  k  machte  sowohl  der  Idee 
als  ihren  Veranstaltern  alle  Ehre.  Zahlreiche  Person  lichkeiten  der 
Wiener  Gesellschaft,  unter  anderen  Kriegsminister  v.  Stöger-Steiner,  die 
Sektionschefs  .  .  der  Generaldirektor  .  .  der  Kommandant  des  Kriegs- 
pressequartiers .  .  Exner  .  .  Generaldirektor  .  .  die  kaiserlichen 
Räte  .  .  Generalsekretär  .  .  Regierungsrat  Neumann,  General- 
sekretär .  .  wohnten  der  Vorstellung  biszum  Ende  bei  und  äußerten 
sich  in  sehr  anerkennenswerter  Weise  über  die  höchst 
gelungenen  Aufnahmen,  die  alle  unter  der  Leitung  des  Direktors  Reich 
der  S  a  w  e  r  b  hergestellt  wurden. 

Den  Anfang  machte  höchst  eindrucksvoll  ein  Auszug  aus  dem 
großen  Film  der  P  o  1  d  i  hütte  —   —  höchste  Bewunderung. 

.  .  Konserven  .  .  W  e  t  z  1  e  r  .  .  Kiralyhida die  Her- 
stellung der  Haubitzen  und  der  42-Zentimeter-Geschosse,  das  Verladen 
von  großkalibrigen  Minenwerfern  —  —  ungeahnten  Einblick 
in   die   Welt   des    unermüdlichsten  Schaffens  —  — 

Winterbilder  vom  Semmering  —  —  ManfredWeiß  A.-G. 
in  Budapest.  Es  muß  gleich  gesagt  werden  —  —  höchste  Stufe 
—  —  Die  Bewunderung  dieses  Films  äußerte  sich  auch  allgemein 
und  Chef   der  Sascha-Filmfabrik  Graf   Kolowrat   und  der  Direktor 

der  Werbeabteilung  Herr  Reich  wurden  allgemein  beglückwünscht 

vom  Zerschlagen  der  Glocken  bis  zur  Herstellung 
derlnfaruteriepatronenein  großer  Teil  der  Fabrikationszweige 
gezeigt  wurde.  Man  konnte  sehen,  wie  die  Glocken  ihre 
Umwandlung  zum  Kupfer  erfuhren  und  wie  aus  diesem  das  Messing 
entstand,  wie  aus  Eisenabfällen  wieder  Stahl  wurde,  aus  diesem  die 
Artilleriegeschosse  bis  zu  ihrer  gänzlichen  Vollendung. 
Trotzdem    der  Film   etwas   länger   war  als  die  anderen,   konnte   man 


32 


deutlich  bei  den  vielen  anwesenden  Fachleuten  bemerken,  daß 
er  das  Interesse  im  höchsten  Grade  wachhielt. 

Als  Abschluß  der  Industriefilme  wurde  uns  von  derSchaf- 
schur   bis   zur  Marschkompagnie  der  ganze  Werdegang 

einer  Soldatenmontur  gezeigt Wilhelm  Beck  &  Söhne 

begannen  mit  einer  landschaftlich  reizendenSzene 

ausderSchafzucht  —  —  bis  zur  Übernahme  des  fertigen  Tuches 
im  k.  u.  k.  Monturdepot  und  von  dort  wieder  zurück  in  die  Kon- 
fektionsfabriken. Wir  konnten  sehen,  wie  die  höchste  Aus- 
nützung der  menschlichen  Leistung  durch  die  genial 
erdachte  Maschine  erzielt   wird  —  — 

Als  Schlußpunkt  und  was  Bildschönheit  anbelangt,  auch 
als  Glanzpunkt  des  Programms  gelangte  der  Film  Budapest 
zur  Aufführung  und  entließ  das  zahlreiche  und  dankbare  Publikum 
mit  dem  Gefühl,  daß  hier  eine  Arbeit  geleistet  wurde,  zuweicher 
wir   uns   als   Österreicher   stolz    b  e  k  e  n  n  e  n  d  ü  r  f  e  n. 

Bitte,  ich  nicht!  Atembeschwerden.  Singultus.  Heißt  Sawerb. 
Chef  ist  Graf.  Von  der  Schafschur  bis  zur  Marschkompagnie. 
Vom  Zerschlagen  der  Glocken  bis  zu  ihrer  Vollendung  als 
Infanteriepatronen.  Ach,  sie  erfuhren  es!  Vom  Idyll  bis  zum  k.  u.  k. 
Monturdepot.  Von  Watteau  bis  Manfred  Weiß  A.-G.  Poldihütte. 
Budapest.  Kiralyhida.  Semmering.  Wetzler.  Konserven.  Haubitzen. 
Generaldirektoren.  Generalsekretäre.  Generale.  Der  Weiß  heißt 
Manfred.  Ein  Kolowrat  heißt  Sascha.  Wird  von  Neumann 
beglückwünscht:  Servus  Sascha!  Ganz  recht  geschieht  ihm. 
Glanzpunkt  —  gelangt  —  anbelangt  —  Kann  nicht  weiter. 
Sehe  Blut  von  Millionen.  Millionen  von  Blut.  Sawerb 


Die  Entschädigten 

Die  Blinden  haben's  gut.  Nicht  nur  weil  sie  nicht  lesen 
können,  daß  auch  die  Bankdirektoren  Leitner  und  Fischl 
anwesend  waren,  als  es  galt,  der  Neuen  Freien  Presse  für  ihre 
aufopfernde  Sammeltätigkeit  zu  danken.  Sie  ahnen  nicht,  wie 
viel    Leute   aus  dem    Grund     in    die    Zeitung   kommen,   weil 


33  — 


sie  blind  geworden  sind.  Leider  ist  ihnen  dadurch  auch  die  Tat- 
sache entgangen,  daß  ein  Kommerzialrat  bei  dieser  Gelegenheit 
ein  Gedicht  von  Ottokar  Kernstock  vorgetragen  hat,  dessen  Tendenz 
es  ist,  die  Blinden  einigermaßen  für  ihr  Los  zu  entschädigen, 
wiewohl  sie  eigentlich  schon  dadurch  entschädigt  sind,  daß  der 
Kommerzialrat  geadelt  wurde.  Kernstock  versichert  also,  daß  den 
Armen,  die  >die  roten  Rosen  und  die  gelben  Halme«  nicht  schauen 
dürfen,  >des Mitleids  allererste  Palme<  gebührt.  >Drum  bangt  nicht, 
Österreichs  blinde  Schwertgenossen,  weil  euch  der  Quell  des  Sehens 
ausgeflossen«,  mahnt  der  Dichter  die  Blinden.  Aber  auch  den  andern 
Invaliden  wird  insofern  eine  Entschädigung  zuteil,  als  Kernstock 
ihnen  nachrühmt,  daß  sie>geschmückt  mitWunden  und 
mit  Ehren  in  die  geliebte  Heimat  wiederkehren«.  Kein  Zweifel, 
sie  würden,  wenn  der  Weltkrieg  noch  einmal  von  vorn  anfangen 
sollte,  sich  gar  kein  anderes  Schicksal  wünschen.  Die  Lahmen 
nicht  und  nicht  die  Blinden.  Fraglich  bleibt  nur,  ob  auch  die 
sehenden  Dichter  und  die  beweglichen  Kommerzialräte  in  solchem 
Falle  bereit  wären,  mit  ihnen  zu  tauschen. 


Rassenunterschiede 

In  Rom  werden  die  Verwundeten  zur  Aufpeitschung  der 
Kriegslust  durch  die  Straßen  geführt.  In  Berlin  werden  sie  von 
Mitgliedern  der  Vaterlandspartei  geprügelt.  In  Wien  wirken  sie 
in  Theatervorstellungen  mit. 


Unterricht 

Man  unterscheidet  zweierlei  Material,  das  Munitionsmaterial 
und  das  andere,  welch  letzteres  auch  >rollende  Ersätze«  genannt 


—  34  — 

wird.  »Die  Abnützung  des  Materials  ist  eine  enorme«,  sagte  der 
Kriegsminister.  Nämlich  so: 

Die  lange  Dauer  des  Krieges  warf  ja  auch  die  bisher  landläufigen 
Anschauungen  über  eine  Maximalzahl  von  zu  leistenden  scharfen 
Schüssenaus  einem  Geschützrohre  (der  sogenannten  »Lebensdauer« 
der  Rohre)  über  den  Haufen. 

Ich  muß  gestehen,  daß  ich  mir  darüber,  also  über  die 
Lebensdauer  eines  Rohres,  nie  eine  Anschauung  gebildet  hatte. 
Ich  war  da  wirklich  ganz  unvorbereitet.  Jetzt  weiß  ich  schon 
einiges. 


Gut  getroffen 


Selbstbildnis. 
Zeichnung  von  Leutnant  F.  F.  Brockmüller,  Westfront. 


—  35 


Die  überlegene  Wirkung  unserer  Gase 

der  deutschen: 

Berlin,  25.  Febr.  (Wolf  f.) 


Der  Aufruf  des  Genfer  Roten 
Kreuzes  mag  von  gutem  Willen 
eingegeben  sein.  Er  rechnet  aber 
nicht  mit  den  Tatsachen. 
Selbstverständlich  ist  die  An- 
wendung jedes  Kampfmittels  zu 
verwerfen,  das  überflüssige  Leiden 
schafft.  Das  tut  das  Gas  aber 
nicht.  Es  ist  vielmehr  ein  Kriegs- 
mittel geworden,  das  wie  andere 
de  1  Gegner  außer  Gefecht  zu 

setzen  sucht Wäre  es  nicht 

ein  unverantwortliches 
Versäumnis  der  deutschen 
militärischen  Behörden  gewesen, 
wenn  sie  nicht  auch  ihrerseits  dieses 
Kampfmittel  entwickelt  hätten? 
—  —  Für  den  Schwächeren 
wird  also  die  Propaganda  gegen 
die  betäubenden  Gase  ein  will- 
kommenes Mittel  zu  dem  Versuch 
sein,  dem  Stärkeren  eine  wirk- 
same Waffe  aus  der  Hand 
zu  schlagen.  Es  wird  be- 
hauptet, militärische  Kreise  der 
Entente  stehen  dem  Aufruf  sym- 
pathisch gegenüber.  Sollte 
das  nicht  einZeichen  für 
die  überlegene  Wirkung 

unserer  Gase  sein? 

Wir  Deutschen  begrüßen 
alleVersuche,  dem  Völker- 
recht und  der  Mensch- 
lichkeit zum  Siege  zu 
verhelfen,  mit  Freude, 
wir  lehnen  es  aber  ab,  uns 
übertölpeln  zu  lassen.  Der 
Entwicklung  der  Angelegen- 
heit sehen  wir  mit  Ruhe  und 
gutem  Gewissen  entgegen. 

Wie  man  sieht,   sind   die  Gase   einander  überlegen.   Die 
links  aber  wirken  wohl  noch  mit  einer  größeren  Kraft  der  ehrlichen 


der  englischen: 

L o n  d  o  n,  25.  Februar.(R  e u  t  e  r.) 
Im  Unterhaus  fragte  ein  Abge- 
ordneter, ob  etwas  Wahres  an 
der  Meldung  sei,  daß  die  deutsche 
Regierung  durch  neutrale  Kanäle 
die  Anregung  gegeben  habe,  daß 
der  Gebrauch  von  giftigen  Gasen 
verboten  werden  sollte,  und 
ferner,  ob  und  welche  Stellung 
die  englische  Regierung  zu  diesem 
Vorschlag  einnehmen  wolle. 

Minister  Bonar  Law  antwortete, 
daß  die  deutsche  Regierung 
keine  derartige  Anregung,  gleich- 
viel in  welcher  Weise,  gegeben 
habe.  Ein  anderes  Mitglied 
fragte  an,  ob  Bonar  Law 
endgültig  erklären  wolle,  daß 
die  britische  Regierung  während 
des  Krieges  auf  die  Verwendung 
giftiger  Gase  nicht  verzichten 
wolle,  und  ob  es  nicht  Tatsache 
sei,  daß  England  bessere 
Gase  und  bessere  Schutz- 
maßnahmen gegen  die  deut- 
schen Gase  besitze,  was  der 
Grund  für  ihre  Be- 
schwerde     sei. 

Minister  Bonar  Law  entgegnete, 
er  wünschte  ebenso  wie  der 
Vorredner  davon  überzeugt  sein 
zu  können,  daß  falls  die 
Deutschen  jemals  einen  solchen 
Vorschlag  machten,  sie  dies 
nur  tun  würden,  weil  sie 
glaubten,  nicht  ein  besseres  Gas 
zu  besitzen.  Er  sei  aber  nicht 
sicher,  daß  es  sich  nicht 
um  einen  Akt 
Täuschung    handelt. 


bloß 
der 


36  — 


Überzeugung.  Ein  Gas  ist  doch  kein  Gift?  Und  wäre  es  eines, 
und  das  allerfurchtbarste,  so  schafft  es  doch  gewiß  keine  über- 
flüssigen Leiden,  indem  es  ja  den  Gegner  sofort  außer  Gefecht 
setzt.  Denn  wir  Deutschen  wollen  nichts  anderes,  a!s  dem 
Völkerrecht  und  der  Menschlichkeit  —  na  was  denn  nur,  nun  ja: 
zum  Siege  verhelfen.  So  haben  wir  denn  das  Kampfmittel 
entwickelt  und  sehen  der  Entwicklung  der  Angelegenheit,  also 
der  Entwicklung  unserer  Gase   mit   gutem   Gewissen   entgegen. 


Wir  Deutschen  begrüßen  alle  Versuche,  dem  Völkerrecht 
und  der  Menschlichkeit  zum  Siege  zu  verhelfen,  mit 
Freude,  wir  lehnen  es  aber  ab,  uns  übertölpeln  zu  lassen 

Ich  kann  nur  danken  und  bewahren.  Nie  wäre  es  mir 
gelungen,  die  welthistorische  Physiognomie  dieser  verfolgenden 
Unschuld  so  herauszubringen. 


Mit  G. 


—  37  — 

Ein  Wunder 

■der  Technik : 

Der  .Secolo'  berichtet  aus  Rom:  Am  Sonntag  fielen  Tausende 
von  Aufrufen  v  o  m  H  i  m  m  e  1,  die  zur  Zeichnung  der  Anleihe  ein- 
luden. Sie  kamen  von  fünf  Flugzeugen,  in  denen  sich  auch  der 
Unterstaatssekretär  für  das  Flugwesen,  Chiesi,  der  Unterstaatssekretär 
des    Schatzes,    Bisacchi,    und    der    Generaldirektor    des  Schatzamtes 

befanden. 

*  • 

Biblisches 

...  die  Rede  des  englischen  Premierministers  Lloyd-George 
zeigt,  daß,  wie  der  badische  Thronfolger  in  der  Ersten  Kammer  gesagt 
hat,  das  Moratorium  der  Bergpredigt  noch  nicht 
aufgehoben  sei  und  die  Blutopfer  noch  weiter  gefordert  werden. 
Das  Wort,  das  dem  Schlachtbankier  so  gut  gefällt,  hat 
der  Prinz  von  Baden  folgendermaßen  zitiert: 

.  .  .  überall  wird  man  des  Moratoriums  der  Bergpredigt  müde. 
Der  eben  verstorbene  Christ  Sir  William  Byles,  der  diese  furcht- 
baren Worte  vom  Moratorium  derBergpredigt,  das 
heißt  von  der  Außerkraftsetzung  sprach,  dachte  dabei  nicht  an  die 
unvermeidlichen  Schrecken  auf  dem  Schlachtfeld,  sondern  an  die 
heidnische  Sinnesart  ... 

Und  weder  der  Prinz  von  Baden  noch  Sir  William  Byles 
dürften  daran  Gefallen  finden,  daß  jener  in  der  Zeit,  da  das 
Moratorium  der  Bergpredigt  noch  nicht  aufgehoben  ist,  bereits 
wie  folgt  die  Erlösung  findet: 

Großkapital 

gesucht. 

Wir  benötigen  Kapital  für  die  in  großartigem  Maßstab 

zu  betreibende  Herstellung  der 

Messiasräder 

eine    in    allen    Ländern   patentierte    Erfindung  —    —  auch  im 

Frieden   —    — 

sind    berufen,    die    Gummireifen    aus   der  Industrie   endgültig    zu 
verdrängen,    so   daß   ihre   fabriksmäßige   Herstellung    den    Erzeugern 
voraussichtlich  einen 
unabsehbaren    Gewinn    sichern    wird. 
Probe  mit  4  Messiasrädern  auf  einem  120  HP.  Automobil 
glänzend    gelungen. 
<3efl.  Anträge  unter    »Messiasräder  64771«    an    die  Annoncen- 
Expedition  Josef  Schwarz,  Budapest,  VI.  Andrässy-ut  7,  erbeten. 


—  38  — 

Mein  Ehrenwort,  daß  das  nicht  von  mir  ist 

sondern  in  der  Wiener  Allgemeinen  Zeitung,  Organ  des  Aus- 
wärtigen Amtes,  vom  12.  März  1918  zu  lesen  war: 

Künstlerbühne  Ronacher.]  Der  aufregende  Sketch  »Morphium«, 
dessen  Hauptrolle  Rudolf  Schildkraut  allabendlich  an  der  Künstler- 
bühne  Ronacher  auf  Grund  seiner  an  Nervenkliniken  vorgenommenen 
Studien  an  Morphinisten  mit  erschütternder  Lebenswahrheit  zur  Dar- 
stellung bringt,  erhält  das  Publikum  in  höchster  Spannung.  Die 
Charakterisierung  des  im  Morphiumrausch  zum  Gattenmörder 
gewordenen  Barons  gelingt  dem  Künstler  in  so  meisterhafter  Weise, 
daß  die  Zuschauer  während  der  Aufführung  des  Einakters  völlig  in 
den  Bann  der  Vorgänge  auf  der  Bühne  gezwungen  wurden.  Dieser 
Tage  wurde  ein  Budapester  Gast,  der  Kaufmann 
v.  Pantz,  von  der  Maske  und  dem  Spiel  Schild- 
krauts derart  ergriffen,  daß  er  ohnmächtig  aus 
dem  Saal  getragen  und  vom  Theaterarzt  Dr.  Heitier 
gelabt  werden  mußte.  Am  Samstag  ereignete  sich  ein 
ähnlicher  Zwischenfall.  Ein  Techniker  geriet  in  Ekstase, 
wollte  sich  aber  nicht  dazu  bequemen,  den  Saal  zu 
verlassen,  ehe  der  Vorhang  gefallen  war.  Der  junge 
Mann,  den  die  Kunst  Schildkrauts  in  so  hohem  Maße  hin- 
gerissen hatte,  erholte  sich  dann  rasch  und  wohnte 
dem  Rest  der  Elitevorstellung  bis  zumSchlussebei. 

Höher  dürften  wir's  kaum  mehr  bringen.  Fs  erklärt  am 
Ende  auch  den  Weltmord  und  alles.  Ein  Techniker  geriet  in 
Ekstase. 


Die  große  Kanone 

oder 

Beweis  gegen  Barbarentum 

Die  Beschießung  von  Paris 

Aus    der    großen    Kanone    in    der   Entfernung    von  hundert- 
zwanzig Kilometer. 

Die  Wirkung  der  großen  Kanone  wird  in  Paris  ge- 
heimgehalten. Wir  können  nur  aus  einzelnen  Mitteilungen  schließen, 
daß  sie  einen  sehrstarken  Rückschlag  auf  dieStimmung 
hatte.  .  .  . 

.  .  .  Aber  diese  Kanone  hat  noch  etwas  Besonderes. 
Der  Gegner,  der  immer  als  Barbar  geschildert  wird, 
zeigt  plötzlich  ein  technisches  Leistungsvermögen, 


—  39  — 


das  alle  bisherigen  Vorstellungen  von  der  Macht  des  Menschen 
über  die  Natur  ändert  und  beinahe  umwirft  .  .  ,  .  Die  Kanone 
ist  vielleicht  psychologisch  im  jetzigen  Feldzuge  wichtiger 
als  militärisch.  In  künftigen  Zeiten  mag  ihr  eine  noch 
höhere  Bedeutung  vorbehalten  bleiben. 

Übrigens  gehen  die  Ansichten  auseinander,  ob  es  bessei 
ist,  daß  die  große  Kanone,  die  wie  man  sieht  wirklich  etwas 
Besonderes  hat,  aus  einer  Entfernung  von  120  Kilometern  oder 
nur  aus  einer  Entfernung  von  100  Kilometern  geschossen  hat. 
Im  ersten  Fall  ist  die  Kanone  leistungsfähiger,  im  zweiten  sind 
die  Deutschen  näher  an  Paris.  Da  wird  einem  die  Wahl  schwer. 
Man  müßte  die  Pariser  fragen,  aber  vor  denen  wird  eben  die 
Wirkung  geheimgehalten.  Sie  wissen  noch  nicht,  daß  die  Deutschen 
keine  Barbaren  sind. 


Der  Praeceptor  Gcrmaniae 

Berlin,  29.  Jan.  (Wolff.)  In  einer  Ansprache,  die  der  Chef 
des  Hauses  Krupp,  Dr.  Krupp  von  Bohlen  und  Halbach,  zur  Feier 
des  »eburtstages  des  Kaisers  an  seine  Beamten  und  Arbeiter  hielt, 
sagte  er  u.  a.:  »Nach  der  schnöden  Abweisung  unseres,  in  der 
Sicherheit  des  vollsten  Kraftgefühles  abgegebenen  Friedensangebotes 
wußte  das  deutsche  Volk  zu  Anfang  des  vorigen  Jahres,  daß  das 
Schwert  doppelt  geschliffen  und  die  Büchse 
doppelt  geladen  werden  mußte.  Das  ist  1917  geschehen. 
Allerorten  regte  es  sich  in  deutschen  Landen,  wie  es  noch  nie 
vorher  gesehen  worden  war.  Gewaltige  Bauten  schössen  w  i  e  P  i  1  z  e 
aus  dem  Boden.  Sie  haben  ja  hier  in  Essen  unsere  gewaltigen 
Hindenburgwerkstätten  vor  Augen,  die  an  Ausdehnung  alle 
bisherigen  bei  weitem  überragen.  Die  Schätze  der  Erde  wurden 
gehoben,  und  wo  unserer  Gegner  schadenfrohes  Grinsen  Mängel 
und  Fehler  zu  wittern  glaubte,  häuften  sich  Lager  und  Bestände. 
So  wurde  aus  millionenfachem  Zusammenarbeiten  Großes  erreicht,  das 
den  Größten  unseres  Volkes  als  Pflicht  und  Ziel  erschienen  war  — 
die  Erfüllung  des  Hindenburgprogramms.  Damit  ist  die 
Sicherung  unserer  kämpfenden  Brüder  durch  Schild  und  Waffe 
selbst  den  Erzeugnissen  dei  ganzen  Welt  gegenüber 
gewährleistet.« 

Ganz  abgesehen  davon,  daß  der  Deutsche  beim  Wort 
»Essen«  Vorstellungen  hat,  die  ihm  der  Gedanke  an  den  Herrn 


—  40  — 


Krupp  doch  nur  sehr  unvollständig  befriedigt,  und  lieber  schon 
sehen  würde,  daß  aus  dem  deutschen  Boden  Pilze  wie  gewaltige 
Bauten  schießen  statt  umgekehrt,  wobei  es  aber  anerkennenswert  ist, 
daß  ein  geistiger  Führer  des  Deutschtums,  wenn  er  vergleichsweise 
sagt,  daß  etwas  aus  dem  Boden  schießt,  doch  noch  an  die  Pilze 
denkt  statt  an  die  Maschinengewehre,  die  er  erzeugt  —  ganz 
abgesehen  davon  muß  man  zugeben,  daß  dieser  Cheff  des 
Hauses  Krupp  wirklich  das  romantische  Bedürfnis  der  deutschen 
Seele  tadellos  effektuiert.  Daß  er  selbst  der  Erzeuger  des  doppelt 
geschliffenen  Schwertes  und  der  doppelt  geladenen  Büchse  und 
somit  an  der  schnöden  Abweisung  von  Friedensangeboten  einiger- 
maßen interessiert  ist,  hindert  ihn  nicht  nur  nicht  daran,  den  Feind 
zu  verunglimpfen,  sondern  auch  die  Konkurrenz  schlecht  zu 
machen.  Aber  es  geschieht  immerhin  in  der  Sprache,  die  der 
Auseinandersetzung  moderner  Mordindustrien  den  Charakter 
des  Turniers  wenigstens  auf  deutscher  Seite  sichert,  wo  man 
mit  Schwert  und  Büchse,  Schild  und  Waffe,  also  recht- 
schaffenen mittelalterlichen  Erzeugnissen,  ernst  aber  zu- 
versichtlich den  feindlichen  Flammenwerfern,  Gasgranaten 
und  so  Waren  gegenübersteht  und  dennoch  leistungsfähig  bleibt. 


Lionardo  da  Vinci 

ist  der  Erfinder  des  Unterseeboots.  Er  schrieb : 

> —  —  wie  und  warum  ich  nicht  meine  Art 
schreibe,  unter  dem  Wasser  zu  bleiben,  solang' 
ich  bleiben  kann  .  .  ;  und  dies  veröffentliche 
ich  nicht  oder  erkläre  es  wegen  der  bösen  Natur 
der  Menschen,  welche  Art  sie  zu  Ermordungen 
auf  dem  Grund  des  Meeres  anwenden  würden, 
indem  sie  den  Boden  der  Schiffe  brächen  und 
selbige  mitsamt  den  Menschen  versenkten,  die 
drinnen  sind  —  — « 


—  41 


Das  technoromantische  Abenteuer 

Ich  für  meinen  Teil  war  von  Beginn  dieser  Aktion  der 
Ansicht,  daß  der  Kopfsturz  der  Menschenwürde  von  einem  Gehirn- 
bazillus verursacht  ist,  dem  nur  die  ihm  selbst  verfallene  Wissen- 
schaft bislang  nicht  auf  die  Spur  kommen  konnte.  Der  Eindruck, 
daß  die  ganze  aktiv  und  passiv  am  Opfer  beteiligte  Gemeinschaft 
aus  spezifischen  Tollhäuslern  besteht,  wird  nicht  so  sehr  durch 
die  täglich  gesteigerte  Rapidität  des  Entschlusses,  sich  in  Schmach 
und  Schuld  zu  stürzen,  bewirkt  als  durch  die  totale  Fühllosigkeit 
im  Angesicht  der  geistigen  und  ethischen  Kontraste,  zwischen 
denen  sich  dieses  Schauerdrama  abspielt.  Man  würde  glauben,  daß 
vorder  Systematik  der  Fügung,  daß  allstündlich  Gerechte  den  Tod  in 
Feuer,  Wasser,  Erde  oder  Luft  erleiden  und  in  der  gleichen 
Stunde  ein  Mann  von  der  Engadiner  Sonne  beschienen  wird,  der 
als  Zeichen  seiner  Zugehörigkeit  zu  einem  »Bob«  auf  seinem 
Hanswurstkostüm  die  Aufschrift  »The  Tank«  trägt;  daß  vor 
allen  ständig  geschauten  oder  gehörten  Gegensätzen  die 
Erkenntnis  von  der  Schnödigkeit  des  ganzen  Unternehmens  zu 
einem  Weltschrei  aufbrechen  müßte.  Aber  mehr  noch  als  durch  die 
Selbstverständlichkeit  einer  ungerechten  Einteilung,  vermöge  deren 
es  eine  Protektion  vor  dem  Tod  und  einen  Loskauf  vom  Martyrium 
gibt  und  vermöge  welcher  selbst  die  Erinnyen,  die  diese  Menschheit 
an  ihre  Fersen  geheftet  hat,  prostituiert  wurden,  mehr  noch  wird 
durch  ein  anderes  Moment  das  Bild  des  hirnzerfressenen  Zeit- 
alters vollständig.  Das  ist  jener  Zustand  einer  Epoche,  in  dem 
sie  die  Konkurrenz  der  heterogensten  Zeitcharaktere,  die 
sich  in  ihr  begegnen,  erleidet,  aber  nicht  mehr  spürt.  Das 
Phänomen,  das  ich  in  der  Richtung  des  siegreichen  Untergangs 
wirken  sehe,  ist  das  der  »Gleichzeitigkeit«.  Die  Unmittelbarkeit 
des  Anschlusses  einer  neuzeitlichen  Erfindung,  wonach  mit 
einem  Griff  die  Vergiftung  einer  Front  und  weiter  Landstriche 
hinter  ihr  möglich  ist,  an  ein  Spiel  mittelalterlicher  Formen; 
die  Verwendung  einer  verblichenen  Heraldik  im  Ausgang  von 
Aktionen,  in  denen  Chemie  und  Physiologie  Schulter  an  Schulter 
gekämpft  haben  —  das  ist  es,  was  die  Lebewesen  rapider  noch 
hinraffen  wird  als  das  Gift  selbst.  Wenn  der  Aufruf  des  Genfer 
Roten  Kreuzes  fragt: 


42 


Soll  der  Sieg  sich  in  Schimpf  und  Schande  wandeln,  weil  er  nicht 
mehr  der  Tapferkeit,  dem  ehrlichen  Kampf  der  Landeskinder  zu 
danken  sein  wird?  Soll  der  Gruß  an  den  heimkehrenden  Krieger  nicht 
mehr  dem  Helden  gelten,  der  ohne  Zögern  sein  Leben  für  sein 
Vaterland  in  die  Schanze  schlug,  sondern  lediglich  dem  Mann,  der 
sich  ohne  persönliche  Gefahr  seiner  Feinde  mittelst  Gift  entledigt 
hat  unter  fürchterlichsten  Leiden  seiner  Opfer? 

so  ist  zunächst  zu  sagen,  daß  speziell  der  deutsche  Gott  nicht 
nur  in  einer  Gaswolke  daherkommt,  sondern  auch  aus  der 
Maschine;  daß  auch  an  dem  Zufall  eines  Minentreffers,  einer  Luft- 
bombe oder  eines  Torpedos,  überhaupt  an  allen  gegen  die 
Quantität  oder  den  unsichtbaren  Feind  gerichteten  Aktionen 
Tapferkeit  und  ehrlicher  Kampf  deinen  Anteil  haben,  an  der 
Bewirkung  nicht  und  nicht  an  der  Erwartung;  daß  dem 
Mangel  an  Tapferkeit  bei  dem  bewirkenden  Teil  eine  Fülle  von 
Martyrium  beim  erwartenden  Teil  entspricht;  daß  die  eben  hier 
berufene  Schanze,  in  die  man  sein  Leben  für  das  Vaterland 
schlägt,  zu  jenen  Kriegsbehelfen  gehört,  die  heute  am  seltensten 
zur  Verwendung  gelangen,  und  daß  vollends  das  Schwert  seit 
jener  historischen  Reichstagsitzung  vom  4.  August  1914  in  diesem 
Krieg  überhaupt  nicht  mehr  gezogen  wurde.  Ferner  wäre  beiläufig 
zu  erwähnen  daß  die  unsterbliche  Ideologie,  die  sich  auf  den  hero- 
ischen Begriff  stützt,  gelegentlich  einmal,  selbst  wenn  sie  nicht  im 
Anblick  der  neuzeitlichen  Methoden  sich  problematisch  vorkommen 
müßte,  darüber  nachdenklich  werden  könnte,  ob  denn  auch  der 
alte  Krieg  schön  genug  war,  um  die  Herzensbildung  von 
Generationen  darauf  einzurichten;  ob  denn  die  auf  die 
Fortschritte  der  Technik  kühn  verzichtende  Auseinander- 
setzung der  Muskelkräfte  just  die  edelste  menschliche  Betätigung 
vorstellt,  und  ob  der  seibst  heute  noch  hin  und  wieder 
geübte  ehrliche  Kampf  der  Landeskinder,  der  darauf  beruht,  daß 
ein  Landeskind  dem  andern  in  die  Rippen  sticht  oder  pollice 
verso  behutsam  die  Augen  zudrückt,  die  würdigste  Grundlage 
der  jahrhundertealten  Erziehung  zu  vaterländischen  Idealen 
geboten  hat.  Immerhin  wäre  es  noch  immer  eine  sittliche 
Aufgabe,  den  Kindern  beizubringen,  daß  das  Handgemenge  vor 
dem  Meuchelmord  einen  Ehrengrad  voraus  hat,  und  gar  erst 
vor  jenem,  dessen  anonymer  Urheber  sein  Opfer  in  der  anonymen 
Quantität  findet.    Was   aber  die  Gase  anbelangt,  so   ist  freilich 


43  — 


die  begriffliche  Distanz  zwischen  dem  Instrument  und  der  von 
ihm  bezogenen  Glorie  die  größte  und  schauerlichste,  und 
was  das  Rote  Kreuz  hier,  ach  so  vergebens,  fühlt,  ist  von  mir 
wiederholt  und  zuletzt  durch  die  Erwägung  der  Möglichkeit 
ausgesprochen  worden,  jede  Armee,  die  giftige  Gase  anwendet, 
wegen  eines  Verhaltens  vor  dem  Feind,  welches  doch  nach  alt- 
militärischem Ehrbegriff  das  Gegenteil  von  Tapferkeit  ist,  aus 
dem  Armeeverband  zu  entlassen.  Im  Wortspiel  von  einer  chlor- 
reichen Offensive  ist  schließlich  dieser  ganze  abominable 
Kontrast  endgiltig  abgebunden.  Ein  Kalauer  könnte  dieses 
Chaos  bändigen,  aber  alles  fernere  Grauen  durch  die 
Vorstellung  beschwichtigt  werden,  daß  man  die  Wirksamkeit 
der  beiderseitigen  Chemie,  anstatt  sie  an  den  Körpern  der 
hunderttausende  unschuldigen  Laien  zu  erproben,  durch  eine 
wissenschaftliche  Auseinandersetzung  der  Laboratorien  erweisen 
möchte.  Seitdem  sich  die  Tapferkeit  mit  der  Technik  eingelassen 
hat,  hat  sie  vergessen,  daß  die  Quantität  immerhin  die  Grenze 
des  Irrsinns  hat  und  daß  einmal  der  Punkt  erreicht  sein  muß, 
wo  das  Vorwalten  unmilitärischer  Kräfte  so  deutlich  wird,  daß 
ihnen  die  Austragung  des  Wettstreites  schicklicherweise  überlassen 
werden  müßte,  auf  eine  Art  nämlich,  die  die  gleichzeitige  Förderung 
staatlicher  Machtinteressen,  also  die  Vernichtung  von  Menschen- 
leben, ausschließt.  Denn  wenn  man  die  menschliche  Stimme,  also 
auch  das  Kommando,  auf  Entfernungen  wie  Berlin-Wien  übertragen 
kann,  warum  sollte  es  der  Technik,  die  das  Wunder  von  heute  zur 
Kommodität  von  morgen  macht,  nicht  möglich  sein,  einen  Apparat 
zu  erfinden,  durch  den  es  mittelst  einer  Druck-,  Umschalte-  oder 
Kurbelvorrichtung  einem  Militäruntauglichen  gelingen  könnte,  von 
einem  Berliner  Schreibtisch  aus  London  in  die  Luft  zu  sprengen  und 
viceversa?  Wenn  Patriotismus  die  Hoffnung  auf  das  Gelingen 
eines  Gasangriffes  ist  und  Hochverrat  das  Grauen  davor  —  wobei 
ich  zum  Beispiel  einer  der  größten  Hochverräter  aller  Schlachten 
und  Zeiten  bin  — ,  so  kann  der  tödliche  Humbug,  ohne  daß  die 
Menschheit  zugleich  an  Lächerlichkeit  zugrunde  geht,  unmöglich 
anders  als  durch  den  Vorschlag  beigelegt  werden,  die  gegen- 
seitigen Erfindungen  auf  theoretischem  Wege  abzuschätzen  und 
statt  der  f-'eldherrn  wieder  die  Techniker  zu  Ehrendoktoren  zu 
machen,    meinetwegen  zu  solchen    der  Philosophie.    Das  Miß- 


—  44 


Verhältnis  zwischen  der  Tat  und  der  mitgeschleppten  Ideologie: 
davon  allein  kommt  diese  entsetzliche  Gasluft,  in  der  wir  glorios 
ersticken.  Eine  bunte  Tracht  und  die  Pflicht,  angesichts  de; 
Vorgesetzten  die  Hand  an  die  Stirn  zu  führen,  und  alles,  was 
sonst  damit  zusammenhängt  und  vor  dem  Tod  noch  alles  verlangt 
wird  —  es  mögen  vortreffliche  Gewohnheiten  und  Einrichtungen 
sein:  nur,  was  sie  gerade  mit  der  neuzeitlichen  Art  des  Sterbens  zu 
schaffen  haben,  inwieweit  sie  sie  fördern  oder  verhindern 
könnten  —  das  eben  ist  unerfindlich ! . . .  Diesem  ganzen  Chaos  von 
Begriffen,  Pflichten,  Leiden,  Anforderungen,  in  das  sich  ein 
auch  vordem  nicht  lastenfreies  Leben  kopfüber  gestürzt  hat, 
wächst  hier  eine  Realität  als  Symbol  zu.  Wer,  dereinen  Beiwagen 
der  Wiener  Straßenbahn  auch  nur  von  fern  betrachtet,  hätte 
noch  Hoffnung?  Dieser  Haufen  von  Schmutz  und  Elend,  in 
dem  das  Menschen material  in  einer  Art  zusammengeknäult  ist, 
bei  der  es  auf  die  individuelle  Zuteilung  der  Gliedmaßen  kaum 
mehr  ankommt  —  man  halte  dies  Bild  fest  und  frage  sich  nun, 
ob  dafür  >Disziplin<  noch  Raum  ist  und  gar  für  einen  »Kontroll- 
dienst«, der  feststellen  soll,  ob  sie  verletzt  ward,  indem  Landstürmer, 
alte  Landstürmer  »vor  mitfahrenden  Offizieren  nicht  aufstehen  oder 
ihnen  nicht  Platz  machen«.  Denn  »die  mitfahrenden  Zivilpersonen 
nehmen  dies  selbstredend  wahr  und  äußern  sich  auch  über  dieses 
disziplinlose  und  herausfordernde  Benehmen  der  Mannschaft«. 
Dies  aber  hat  kein  Höllenbreughel  erfunden.  Der  Teufel  selbst, 
wenn  er  es  sähe  und  hörte  und  schon  eingequetscht  drin  stünde, 
allen  Folgen  der  Seifenknappheit  ausgesetzt,  er  hörte  doch  nichts 
als  den  selbstredenden  Jammer  der  Menschheit  und  dazu  eine  arme 
Frauenstimme,  die  ihm  beständig  zuruft:  »Bitte  vorgehn!  Jemand 
noch  ohne  Fahrschein?  Vorgehn,  bitte  vorgehn!«  Und  der  Regen 
regnet  jeglichen  Tag,  und  wieder  drängt  ein  Troß  aus  Wallensteins 
Lager  an,  und  jetzt  pressen  sie  Tornister  und  Rucksäcke  hinein, 
und  —  dennoch  hat  der  Gedanke  noch  Platz,  der  uns  alle 
beherrscht,  weil  wir  im  unerforschlichen  menschlichen  Ratschluß 
gefunden  haben,  daß  das  Leben  mit  Not,  Tod,  Kot  viel 
schöner  ist.  Aber  halt,  wenn  noch  Platz  für  Disziplin  ist,  so 
reichts  auch  noch  für  den  Ehrbegriff.  Die  arme  Stimme  hat 
einem,  der  nicht  vorgehen  wollte,  wiewohl  er  ein  Hauptmann 
war,   zugerufen,   daß   er   keine   Bildung  nicht    habe,   denn   sie 


—  45 


wußte  nicht,  daß  er  ein  Hauptmann  war,  weil  er  als  solcher 
nicht  bezeichnet  war,  sondern  Zivilkleidung  trug.  Trotzdem 
erhielt  er  von  der  vorgesetzten  Behörde  den  Auftrag,  die  Klage 
einzubringen.  Sie  hatte  »Vorgehn!<  gerufen,  er  aber  rief,  er  wolle 
»den  Platz  nicht  verlassen«.  So  hätte  sie  merken  müssen,  daß 
die  Zivilkleidung  nur  ein  Schein  war.  In  der  Verhandlung  sagte 
sie,  so  etwas  sei  ihr,  die  »im  Kriege  in  der  Elektrischen  an 
vieles  gewöhnt  sei<  —  sie  meinte  aber  den  Weltkrieg  — ,  noch 
nicht  vorgekommen.  Der  Hauptmann  fragte  sie  erregt,  ob  sie 
ihn,  da  er  in  Zivil  war,  wohl  für  einen  Drückeberger  gehalten 
hätte.  Sie  erwiderte,  solche  Gedanken  lägen  ihr  fern,  denn 
»was  hat  der  Krieg  mit  der  Elektrischen  zu  tun?«  Der  Richter 
verurteilte  sie,  denn  der  Zivilist  war  ein  Militär.  All  das  gibt 
es,  während  es  all  das  gibt!  Auf  einer  Flucht  rief  einer, 
der  zu  befehlen  hatte,  einem  der  zu  gehorchen  hatte  und  dem  ein 
Knopfloch  offen  stand,  aus  dem  Automobil  zu:  »Sie  dort  JEquipieren 
Sie  sich!«  Und  viele,  die  nicht  mehr  fliehen  konnten,  lagen  in  der 
Drina.  In  einem  Krakauer  Spital  werden  mit  solchen,  die  an 
einer  Gasvergiftung  darniederliegen  oder  von  einem  Bauchschuß 
soweit  hergestellt  sind,  Salutierübungen  gemacht.  Wunder  über 
Wunder!  Es  sind  die  alten  Ornamente  zum  neuen  Wesen  des 
Todes.  Aber  da  dieser,  frisch  aus  der  Retorte  entsprungen,  noch 
keine  neuen  erfinden  konnte,  so  kann  die  Macht  der  alten 
Ornamente  nicht  entbehren.  Denn  nicht  allein  dulce,  auch 
decorum  muß  es  sein!  Nur  daß  die  Macht  den  neuen  Tod  zu 
ihrer  Erhaltung  braucht,  nur  daß  die  alte  Herrschaft  nicht 
lieber  abdankt,  als  ihre  Stellung  der  Chemie  zu  verdanken,  daß 
die  Insignien  auf  die  Chemikalien  angewiesen  sind  —  das  ist 
es,  was  unsere  siegende  Kultur  unrettbar  dem  Gifttod  geweiht 
hat.  Die  Menschheit,  die  ihre  Phantasie  an  die  Erfindungen 
verausgabt  hat,  kann  sich  deren  Wirksamkeit  nicht  mehr  vor- 
stellen —  sonst  würde  sie  aus  Reue  eben  damit  Selbstmord  verüben! 
Aber  da  sie  auch  ihre  Menschenwürde  an  die  Erfindungen 
verausgabt  hat,  so  lebt  und  stirbt  sie  für  alle  Macht,  die  sich 
solches  Fortschritts  gegen  sie  bedient.  Die  Unvorstellbarkeit  der 
täglich  erlebten  Dinge,  die  Unvereinbarkeit  der  Macht  und 
der  Mittel,  sie  durchzusetzen,  das  ist  der  Zustand,  und 
das  technoromantische  Abenteuer,  in  das  wir  uns  eingelassen  haben, 
wird,   wie  immer   es  ausgeht,   dem  Zustand  ein  Ende  machen. 


—  46 


Für  Lammasch 


Die  politisch-geistige  Gaswelle,  der  wir  uns 
überlassen  haben  und  die  uns  heillos  in  die  ver- 
kehrte Richtung  treibt,  kann  nicht  verhindern,  daß 
reinere  und  im  tieferen  Sinn  patriotische  Herzen 
unverändert  und  mit  jeder  Stunde  nur  noch  inbrün- 
stiger das  fühlen,  was  zu  sagen  manchmal  verpönt 
ist.  Allzuviele  in  diesem  Lande,  das  so  gern  sein 
Wesen  zum  Opfer  bringt,  sind  es  nicht.  Wenige  sind 
es,  die  den  Inbegriff  eines  gutgearteten  Österreicher- 
tums  bilden  und  den  einzigen  Schatz,  der  uns  der 
Welt  als  dem  Absatzmarkt  innerer  Werte  —  die 
Pofelware  scheint  auf  ihn  definitiv  verzichten  zu 
wollen  —  fürder  empfehlen  könnte.  Aber  zu  diesen, 
deren  Bild  im  Gasdunst  so  getrübt  wird,  daß 
Verdienst  als  Schuld  und  Treue  als  Verrat  erscheint, 
gehört  der  Hofrat  Heinrich  Lammasch,  den 
Weisheit  und  Leidenschaft  mehr  als  die  Pairswürde 
zieren,  dessen  Vorzug  es  ist,  sich  im  Verkehr  mit 
Historikern,  Zeitungsreportern,  Berufspolitikern  und 
ähnlichen  Parasiten  am  Geiste  und  am  Blute  jene 
Blöße  zu  geben,  die  seine  Menschlichkeit  ist,  und 
der,  wie  die  Neue  Freie  Presse  meint,  das  Unglück 
gehabt  hat,  »in  Widerspruch  zu  den  Ansichten  des 
Blattes  gekommen  zu  sein«.  Man  wird  mich, 
der  in  den  unvergessenen  Tagen,  da  die"  echten 
Belgrader  Bomben  noch  mit  falschen  Wiener  Doku- 
menten gefüllt  waren,  ohne  politischen  Befähigungs- 
nachweis, bloß  aus  dem  Anschauen  und  Anhören  der 
einander  gegenüberstehenden  Parteien,  die  kommen- 
den Dinge  so  klar  vorausgewußt  hat,  daß  sich 
heute  mein  damaliger  Aufsatz  als  das  Ultimatum 
der  Menschenwürde  an  eine  kriegstolle  Politik  liest  — 


47 


man  wird  mich  der  Pein  überheben,  die  vorbild- 
liche geistige  Bescheidenheit  dieses  Herrn  Friedjung 
auch  noch  für  die  neueste  Rettung  des  Kapitols 
darzutun.  Dieser  wandelnde  Tonfall  der  Plattheit, 
dieses  als  Rest  der  Bundestreue  noch  vorrätige  Öl 
der  Beredsamkeit  —  nein,  nur  die  äußerste  Kriegs- 
not des  Geistes  hat  es  möglich  gemacht,  daß  so 
etwas  wieder  in  unsere  Hörweite  zu  treten  wagte. 
Und  dennoch  —  wie  kann  dieses  Land  selbst  in 
der  trübsten  Stunde  seiner  Selbstvergessenheit  es 
dulden,  es  ertragen,  daß  solch  ein  etwas  mit  einem 
lebendigen  Menschen  wie  Lammasch  konfrontiert  wird? 
Daß  ein  rückwärts  gekehrter  Reporter,  der  sich 
deshalb  Historiker  nennt  und  dessen  Brauchbarkeit 
es  überschätzen  hieße,  wenn  man  ihn  in  allen 
Sätteln  ungerecht  nennte,  da  sein  Offizium  immer 
nur  der  Kampf  um  die  Vorherrschaft  der  Langeweile 
gewesen  ist  —  daß  ein  schlechter  Offiziosus  ernst- 
haft als  sittlicher  Widerpart  eines  Mannes  in  Betracht 
kommt,  dessen  Herz  und  Kopf  in  diesem  Krieg 
nicht  umgesattelt  haben  und  in  dem  die  Welt  einst 
den  einzigen  Völkerrechtslehrer  erkennen  wird,  dem 
Wissenschaft  und  Gewissen  vom  Einmarsch  in 
Belgien  nicht  überrannt  worden  sind!  Und  dieser 
sollte  jetzt  die  Beute  der  Aushorcher  und  inspirierten 
Nachrichter,  der  Gebärdenspäher  und  Geschichten- 
träger sein?  Mit  den  jungen  Temperamenten,  die 
im  Herrenhaus  sitzen,  möchte  ich  nicht  zu  streng 
ins  Gericht  gehen:  sie  hätten  vermutlich  auch  den 
Kant  niedergebrüllt,  wenn  er  ihnen  was  aus  seiner 
Schrift  »Zum  ewigen  Frieden«  zitiert  hätte,  den 
Bismarck,  weil  er  sich  mit  Elsaß  begnügen  wollte, 
und  der  Herr  Pattai  hätte  diesem  zugerufen : 
»Wir  sind  die  Sieger  und  wir  verlangen  auch 
die  Palme!«,  ohne  zu  wissen,  wie  sie  aussieht 
und  daß  man  schließlich  doch  nicht  ungestraft  unter 
ihr  wandelt.  Jenem  aber,  Immanuel  Kant,  hätte  der 
Herr  v.  Plener   vorgehalten,   daß  seine  »Mentalität« 


—  48  — 


»eigentlich  mehr  Verwandtschaft  mit  der  Denkweise 
des  Auslandes  als  mit  der  österreichischen  habe«, 
ohne  zu  ahnen,  daß  das  gar  kein  so  übles  Kompli- 
ment sei,  und  daß  es  eine  Zeit  gegeben  hat,  in  der 
die  österreichische  Denkweise  noch  eine  Verwandt- 
schaft mit  der  der  Welt  gehabt  hat,  und  daß  wir  nichts 
flehentlicher  vom  deutschen  Gott  zu  erbitten  haben 
als:  daß  diese  Tage  noch  einmal  für  uns  anbrechen 
mögen!  Aber  wie  ist  doch  diese  Denkweise  herab- 
gekommen, daß  sie  in  die  Lage  kam,  zwischen 
Lammasch  und  Friedjung  zu  wählen  und  sich  in 
Diskussionen  über  dieses  Thema  überhaupt  einlassen 
zu  können !  Gegen  einen  Mutigen,  der  seine  Vaterlands- 
liebe mit  seiner  Popularität  bezahlt,  und  für  einen  Gefäl- 
ligen, der  nach  Berlin  geht,  ihn  dafür  zu  denunzieren. 
Welche  Kriegsnot  des  Herzens,  hier  die  Entscheidung 
zu  verfehlen!  Ich  bin  vielleicht  nicht  der  schlechteste, 
nicht  der  unwürdigste  Österreicher,  —  aber  das  muß 
ich  sagen :  daß  ich  bei  der  Wahl  zwischen  der 
Nibelungentreue  des  Herrn  Friedjung  und  einem 
»Anschlag«  des  Professors  Lammasch  im  Schlaf  das 
Vaterland  ins  Verderben  zu  treiben  bereit  bin ! 
Und  wie  kann  dieses  Vaterland  sich  Witzblätter 
halten,  die  einen  Mann  bespeien,  der  nicht  nur  in 
Ehren  grau  geworden  ist,  was  man  bekanntlich 
nicht  von  jedem  Herrenhausmitglied  behaupten  kann, 
sondern  dessen  Altersweisheit  zum  Ehrenbesitz. eben 
dieses  Vaterlandes  gehört?  Dessen  Konservatismus 
Leben  genug  bat,  um  gegen  die  Verödung  der 
alten  Güter  im  Dienste  des  Antichrist  Opposition 
zu  machen?  Und  wie  kann  dieses  Vaterland,  das 
diesen  Weltuntergang  nicht  in  seinen  alten  Knochen 
spürt,  sondern  im  Gegenteil  die  Welt  frisch 
»aufgemacht«  sieht,  so  vom  Wege  irren,  daß  es 
seine  journalistischen  Söldner  den  Mann  als  einen 
Ideologen  geringfügig  machen  läßt,  der  doch  das 
rechte  Gegenteil  davon  ist,  nämlich  jener  Real- 
politiker  der   idealen  Forderung,    der   heute   durch 


49  — 


Auflösung  des  alten  politischen  Inventars  die  Welt 
rettet!  Denn  während  deutsche  Ideologie  die 
Menschheit  aus  der  Politik  erbaut,  bezweckt  dieser 
Idealismus  nichts  anderes,  als  endlich  einmal  die 
Politik  auf  der  Idee  der  Menschheit  einzurichten. 
Wahrlich,  daß  es  noch  Menschen  gibt,  denen  das 
Bewußtsein,  in  dieser  Zeit  zu  leben,  Schamgefühl 
verursacht,  ist  nicht  hoch  genug  anzuschlagen ! 
Begeistert  trete  ich  an  ihre  Seite  und  bin  ent- 
schlossen, sie  im  Angesicht  jeder  Macht  des  Übel- 
wollens  und  der  Verblendung  zu  schützen  gegen 
die  völlige  Schamlosigkeit,  die  solchen  Wert  dem 
Zeitgeist  preisgab.  Der  Hofrat  Lammasch  bleibe  der 
Menschheit  und  dem  Vaterland  erhalten,  damit  sie 
wieder  zueinander  kommen !  So  niedrig  die  Zeit  ist, 
in  der  er  lebt  —  er  lebe  hoch ! 


50 


Inschriften 


Czernins  Verzicht 


Wir  wollen  vom  Feinde  keinen  Fußbreit  haben, 
der  Lohn  des  Friedens  wird  uns  reichlich  lohnen, 
und  selbstlos  gehn  wir  in  den  Schützengraben 
für  bundesbrüderliche  Annexionen. 


Friedensbereitschaft 

Herbeizuführen  den  Friedenstag, 

schlug  er  mit  dem  Schwert 

auf  den  Verhandlungstisch, 

denn  so  'n  Vertrag 

ist  ja  doch  nur  ein  Wisch 

und  nicht  der  Rede  wert, 

und  kriegt  man  ihn  nicht,  wie  man  mag, 

so  haut  man  den  Verhandlungstisch 

um  die  Erd', 

die  einem  doch  ohne  Frag' 

gehört ! 


Sprichwörter 

Wer  einstmals  Fülle  mochte  mehren, 
dem  sagte  man,  es  möcht'  umsonst  geschehn, 
und  weise  diesem  Drang  zu  wehren, 
wollt'  man  ihn  durch  das  Wort  belehren: 
er  trüge  Eulen  nach  Athen. 

Die  jetzt  den  Mangel  noch  vermindern 

mit  sieghaft  mitleidloser  Miene, 

die  soll  man  rasch  entschlossen  hindern. 

Denn  solch  Beginnen  bringt  den  Landeskindern 

Getreide  aus  der  Ukraine. 


51   — 


Affaire  Friedjung 


Lang'  hat  in  Nibelungenstaaten 
man  durchgehalten  und  sich  treu  gefrettet. 
Nun  tut  man  gütlich  sich  am  Braten 
der  Gans,  die  jüngst  das  Kapitol  gerettet. 


52 


Der  darbende  Bürger 


Vor  acht  Jahren,  in  einem  nicht  mehr  erhältlichen 
Hefte  der  Fackel,  ist  ein  Aufsatz  über  den  >  Prozeß  Fried  jung« 
erschienen,  in  welchem  ich  lediglich  aus  Hören  und  Sehen  der 
einander  gegenüberstehenden  Parteien,  also  aus  einer  Abschätzung 
von  Persönlichkeitswerten  zu  politischen  Folgerungen  gelangte, 
die  sich  heute  wie  ein  Motivenbericht  zum  Weltkrieg  lesen.  Es 
wird  sich  empfehlen,  die  erste  Raumgelegenheit  zum  Wieder- 
abdruck dieses  (wie  ich  jetzt  erst  erfahre,  in  dem  Werke  des  Scotus 
viator  über  die  südslavische  Frage  zitierten)  Aufsatzes  zu  benützen. 
Der  Grundgedanke,  daß  Österreich  das  Land  ist,  in  dem  keine 
Konsequenzen  gezogen  werden,  ist  unangetastet  geblieben :  sonst 
hätte  man  nicht  diedes  Weltkriegs  gezogen.  Die  unsägliche  deutsch- 
österreichische Banalität,  die  ich  damals  in  der  Stimme  des  Histori- 
kers Friedjung  ihren  Biedermannstonfall  gegen  Recht  und  Kultur 
mobil  machen  hörte,  ist  seither  mit  den  Mitteln  einer  entwickelteren 
Mechanik  über  das  Leben  hinweggeschritten  und  die  Ansicht, 
daß  ein  Volk,  dessen  Lieder  Goethe,  Wilhelm  Humboldt  und 
Jakob  Grimm,  Puschkin,  Scott  und  Merimee  begeistert  haben, 
eine  »Murdsbande«  sei,  hat  triumphiert.  Herr  Friedjung  aber, 
der  Historiker  der  mit  falschen  Dokumenten  gefüllten  Belgrader 
Bomben,  wirkt  in  unverminderter  geistiger  Frische  fort  und  hat 
sich,  wie  ich  aus  einem  Zitat  der  ,Arbeiter-Zeitung'  ersehe,  von 
seiner  serbischen  Vergangenheit  nicht  abschrecken  lassen,  sich  für 
die  .Vossische  Zeitung'  Gedanken  über  Serbiens  Zukunft  zu 
machen.  Nur  völlige  Humorlosigkeit  vermag  ihn  davor  zu 
bewahren,  vor  dem  Einfall,  daß  das  serbische  Volk  »zu  den 
Kriegsgewinnern  gehört«,  nicht  zu  erbleichen;  sein  Kriegs- 
gewinn bestehe  darin,  daß  es  »in  Zukunft  durch  mehr  politische 
und  wirtschaftliche  Bande  mit  dem  Reich    der  Habsburger  vir 


53 


knüpft  sein  wird*.  Ist  nach  meiner  Definition  der  Historiker  nur 
ein  rückwärts  gekehrter  Schmock,  so  ist  der  Prophet  nur  ein 
vorwärts  schauender  Historiker.  Bekäme  Herr  Friedjung,  dem 
es  nur  deshalb  nicht  gelingen  wird,  das  Öl  seiner  Beredsamkeit 
in  den  Weltbrand  zu  gießen,  weil  die  Flammen  an  tödlicher 
Langeweile  ersticken  könnten,  nur  ein  Quentchen  Vorstellungs- 
kraft geschenkt,  könnte  er  nur  ein  Millionstel  der  tragischen 
Gegenwart  des  serbischen  Volkes  mit  seinem  Gefühl  erfassen  — 
der  Witz,  dieses  den  Kriegsgewinnern  zuzuzählen,  weil  ihm  das 
Los,  dem  zu  entgehen  es  leidet,  als  Erlösung  winke,  dieser  Witz 
würde  ihn  so  kalt  anstarren  wie  das  Grab,  das  eine  arme  Seele 
sich  selbst  schaufeln  muß.  Herr  Friedjung  stellt  >ein  Minimum« 
von  Forderungen  auf  Auslöschung  des  serbischen  Staates,  an 
deren  tollhäuslerischem  Plan,  wie  er  behauptet,  >sich  nichts  mehr 
ändern  läßt«,  ein  Entwurf,  den  durch  Druck  weiterzuverbreiten 
man  sich  versagen  darf,  weil  seine  Authentizität  nicht 
einmal  so  feststeht  wie  die  serbischen  Dokumente  von  anno 
dazumal  und  weil  die  Regierung  vermutlich  doch  die  Konsequenz 
gezogen  hat,  in  diesem  Fach  auf  die  Mitwirkung  des  Herrn 
Friedjung  zu  verzichten  und  ihn  seinen  eigenen  Forschungen 
zu  überlassen.  Nur  so  viel  muß  erwähnt  werden,  daß  Herr 
Friedjung  von  den  serbischen  Bauern  und  deren  Söhnen  spricht,  als 
ob  viele  von  der  Gattung  noch  vorhanden  wären,  und  ferner, 
daß  er  es  als  »eine  Sünde  gegen  den  heiligen  Geist  einer  gesunden 
Politik«  bezeichnet,  eine  Vereinigung  von  Serbien  und  Montenegro 
zu  dulden.  Es  ist  zwar  eine  größere  Sünde  gegen  den  heiligen 
Geist,  diesen  für  eine  Berufsangelegenheit  des  Herrn  Friedjung 
zu  halten,  aber  man  kann  ja  von  solchen  Leuten  nicht  ver- 
langen, daß  sie  sich  von  dem  Inhalt  dessen,  was  ihnen  von  der 
Zunge  geht,  erdrücken  lassen.  Wären  sie  sich  der  Tragweite 
ihrer  Phrasen  so  sehr  bewußt  wie  der  Tragweite  ihrer  Kanonen, 
so  wären  ja  diese  nicht  losgegangen.  Daß  das  neue  Österreich 
wirklich  Lust  haben  sollte,  mit  den  Geistern  dieses  Kalibers 
fortzuwursteln,  muß  nicht  unbedingt  daraus  geschlossen  werden, 
daß  Herr  Friedjung  auch  jetzt  noch  bei  wichtigen  Gelegenheiten 
als  patriotischer  Sachverständiger  zugezogen  wird.  Zum  Abschluß 
von  »Kaiser  Karls  erstem  Regierungsjahr«  hat  er  sich  mit  einem 


Feuilleton  im  Fremdenblatt  eingestellt,  von  dem  einige  Sätze 
genügen  dürften,  um  ihm  bei  den  Volksschülern,  die  da  kommen 
werden,  zu  schaden  oder  mindestens  ein  heiteres  Andenken  zu 
sichern : 

...  Es  läßt  sich  aber  nicht  sondern,  wieviel  zu  diesem  größten 
Erfolge  des  Weltkriegs  das  Pflichtgefühl  und  die  Vaterlandsliebe  der 
Kämpfer  beitrug,  wieviel  die  Begeisterung  für  den  unermüdlich  tätigen 
jungen  Herrscher,  der  die  Herzen  seiner  Soldaten  im  S  t  u  r  m  e  zu 
ero  b  ern  verstand  und  dessen  B  i  1  d  sie  bis  nahe  den  Toren  des 
einst  meerbeherrschenden  und  noch  immer  gleich 
märchenhaft  schönen  Venedig  geführt  hat. 

Kein  Volksschüler  wird  sich  hier  durch  das  Ineinandergreifen 
zweier  Offensiven  in  dem  Genuß  der  Beschreibung  Venedigs 
irre  machen  lassen.  Alles  andere  läßt  sich  schon  durch  bloße 
Andeutung  genießen: 

Im  Sonnenglanz  des  Sieges das  treulose  Rumänien 

durch  die  Klammer  des  Herrscherhauses  zusammengehalten treue 

Hingabe  an  die  schweren  Pflichten  seines  Amtes  —  —  die  Liebe 
seiner  Völker  erwarb  —  —  ein  Füllhorn  von  Gaben  über  das  Reich 
der  Habsburger  ausgeschüttet  —  —  das  innige  Verhältnis  des 
Herrschers  zur  Gattin  und  den  Kindern  —  —  Wohlfahrt  des 
Reiches  —  —  zu  verwalten  und  zu  mehren  —  —  allgemeine 
Bestürzung  über  die  Lebensgefahr,  in  der  der  Kaiser  in  den 
Sturz  wellen  schwebte  —  —  durch  eigene  Kaltblütigkeit  wie 
durch  den  Opfermut  seiner  Umgebung  —  —  in  die  Bresche  zu 
treten  —  —  tapferen  Bundesgenossen  —  —  Proben  seiner  uner- 
schütterlichen Bundestreue  ablegte  —  —  ehrenvollen,  das  Reich 
gegen  künftige  Angriffe  sichernden  Frieden  —   — 

So  weit  das  Schöngeistige.  Die  Gesinnung  des  Herrn 
Friedjung  dokumentiert  sich  in  Sätzen  wie  diesen: 

Metall  im  Blute  ist  für  die  Paladine  des  Herrschers  ebenso 
notwendig  wie  das  Eisen  in  der  Faust. 

(Paladin  bedeutet  ursprünglich  nicht  nur  »Hofritter«,  sondern 
auch  »irrender  Ritter,  Abenteurer«.) 

. .  .seine  (Deutschlands)  ans  Wunderbare  grenzende  militärische 
Tüchtigkeit. 

Unerschütterlich  mußte  darauf  beharrt  werden,  daß  nur  von 
Siegen  auf  den  Schlachtfeldern  dieEntscheidung 
kommen  könne. 

Nie  riß  der  Gedankenaustausch  zwischen  Wien  und  Berlin 
ab  ...  .  Gerade  in  den  gefährlichen  Sommertagen  dieses  Jahres  — 


55  — 


(Herr  Friedjung   meint   die  Zeit,    da  man  auf  die  Welterlösung 

hoffen  durfte) 

formte  sich  der  herrliche  Plan  zur  Niederwerfung 
Italiens  im  Geiste  der  verbündeten  Herrscher,  bei  den  Beratungen 
der  Generalstäbe. 

Nun  aber  wieder  zum  Schöngeistigen,  weil  es  doch  echter  ist 
als  die  Gesinnung  eines  Menschen,  der  den  Krieg  nur  aus  dem 
eigenen  Geschichtswerk  kennt,  serbische  Bomben  nur  aus 
seinen  Dokumenten  und  der  seine  Begeisterung  für  Ekrasit  und 
Cyankali  gewiß  nicht  teilt.  Der  ganze  Schönbart,  der  sich  sträuben 
würde,  wenn  er  die  Wirkungen  eines  Bauchschusses  auch  nur 
zu  Gesicht  bekäme,  steckt  doch  ehrlich  in  dem  folgenden  Satz: 

Mit  heller  Freude  nahmen  die  Völker  Österreichs  und  Ungarns 
die  Berichte  auf  über  die  Fürsorge  des  Kaisers  für  d  e  n  Soldaten  und 
den  darbenden  Bürger,  über  seinen  gewinnenden  Umgang 
mit  den  Kriegern  an  der  Front,  mit  den  Verwundeten  und  Leidenden 
in  den  Spitälern. 

Ei  siehe  da,  fürwahr,  ich  höre  den  Friedjung  von  1909: 
»Als  unser  erhabener  Monarch  Tausende  und  Abertausende 
unserer  Brüder  und  Söhne  zu  den  Waffen  rief  .  .  .«  Spürt 
man,  was  in  jenem  Satz  geleistet  ist?  Wie  hier  die  -durch 
alle  Fibel-  und  Zeitungsbravheit  durchgebrachte  Einteilung 
der  Staatsbürgerpflichten  in  einem  Punkte  renoviert  wurde? 
>Der  Soldat«  hat  zu  kämpfen,  die  Verwundeten  —  sie  lassen  sich 
schon  eher  als  Plural  gebrauchen  —  haben  zu  leiden,  —  und  der 
Bürger?  Der  hat  —  ei,  siehe  da  —  durchzuhalten,  also  müßte 
wohl  von  dem  ausdauernden  Bürger  oder  von  dem  hoffenden 
Bürger  die  Rede  sein?  Aber  da  wäre  doch  wieder  die  Fürsorge 
nicht  am  Platze.  Also  wird  der  darbende  Bürger  wie  ein  längst 
vorrätiger  Typus,  als  eine  Selbstverständlichkeit,  eingeführt  und 
er  wirkt  auch  im  Munde  des  Friedjung  sofort  als  abge- 
tackelte Phrase.  Denn  wie  der  Dichter  die  Kraft  hat,  ein 
altes  Wort  zum  erstenmal  zu  sagen,  so  hat  der  Schönredner, 
ei,  siehe  da,  die  Kraft,  einen  neuen  Begriff  —  da  ja  das 
Darben  des  Bürgers  doch  nur  eine  vorübergehende  Erscheinung 
sein  kann  —  wie  eine  abgegriffene  Floskel  hinauszustellen. 
Ich    glaube,    wenn    der   Friedjung    am    ersten     Schöpfungstag 


56 


dazugetreten  wäre,  so  wäre  die  Welt  als  Phrase  zur  Welt  ge- 
kommen und  Qott  hätte  gesagt:  Ei  siehe  da,  es  ist  gut.  Der 
darbende  Bürger  erweist  sich  als  eine  außerordentlich  wichtige 
Bereicherung  unseres  heimischen  Vorstellungsschatzes,  er  hat 
eine  Lebenskraft,  als  ob  er  schon  immer  gedarbt  hätte,  als 
ob  er  weiter  darben  müßte  und  auch  dazu  entschlossen  wäre, 
weil  sich  das  so  gehört.  »Es  ist  doch  merkwürdig»  —  klingt  es 
vom  sonoren  Friedjungschen  Organ  — ,  wie  sich  der  darbende 
Bürger  in  dem  Moment  seiner  Erschaffung  bereits  eingebürgert 
hat.  Ich  höre  Herrn  Friedjung  sprechen  und  ich  sehe  den  Bürger 
darben.  Der  darbende  Bürger  sieht  so  aus: 


Bürgern 
<"~^ii£dBauer 

$<m  als  ir@0o»# 


St  KRIEGS- 
ANLEIHE 


—  57 


Glossen 


Die  Adresse 

Daß  mir  nach  dreimonatiger  Abwesenheit  die  Tobsucht 
der  Zeit  als  ein  brüllender  Berg  von  Briefen  und  Drucksorten 
und  jeglicher  durch  meine  Entfernung  rebellisch  gewordener 
Dummheit  den  Weg  zum  Schreibtisch  versperrt,  ist  schließlich 
in  der  Natur  der  mich  umgebenden  Dinge  begründet.  Daß 
tausend  Menschenhände  arbeiten,  tausend  Füße  laufen  mußten, 
damit  dieses  aussichtslose  Nichts  aus  tausend  Gehirnen  meine 
Einsicht  in  die  schlechte  Ökonomie  unseres  Lebens  vermehre, 
nehme  ich  als  unabwendbar  hin.  Daß  mit  Exh.  Nr.  6027 
ad  Erlaß  des  k.  u.  k.  Kriegsministeriums  Präs.  Nr.  20692  v.  1917 
die  Verwaltung  des  Kaiserhuldigungswerkes  der  k.  u.  k.  Luftfahr- 
truppe, die  im  Einvernehmen  mit  dem  k.  u.  k.  Kriegsarchiv 
eine  Huldigung  für  Seine  Majestät  in  der  Weise  ins  Leben 
gerufen  hat,  daß  die  Leistungen  der  k.  u.  k.  Luftfahrtruppe  in 
einem  Kaiserhuldigungswerke,  welches  Seiner  Majestät  vorgelegt 
wird,  für  ewige  Zeiten  —  für  ewige  Zeiten!  —  festgehalten 
werden,  durch  welches  Werk  eine  Würdigung  der  Leistungen  der 
k.  u.  k.  Luftfahrtruppe  im  In-  und  neutralen  Auslande  bezweckt 
wird,  also  an  die  Firma  Karl  Kraus  das  höfliche  Ersuchen  ergehen 
läßt,  diese  Kaiserhuldigungsaktion  gleich  den  anderen  maßgebenden 
Industrieunternehmungen  gütigst  fördern  zu  wollen,  die  beigefaltete 
Subskriptionsliste  Nr.  16786  wieder  anherzusenden  und  u.  a.  zur 
Kenntnis  zu  nehmen,  daß  die  Namen  der  Subskribenten  der 
Ausgabe  I  zum  Preise  von  K  500  pro  Stück  in  dem  Seiner 
Majestät  zu  überreichenden  Kaiserhuldigungswerke  verewigt  werden, 
und  daß  also  die  Verwaltung  wirklich  einen  Augenblick  glaubt, 
daß  die  Firma  Karl  Kraus  nicht  zögern  werde  —  es  sei! 
All  dies  ist  gut,  natürlich  und  begreiflich.  Warum  aber  die 
Schriftleitung  des  täglich  in  einer  Auflage  von  120000  Stück 
erscheinenden  Düsseldorfer  General-Anzeigers  mir  mitteilt,  daß 
dieser  ab   1.  Januar   1918  den  Titel  »»Düsseldorfer  Nachrichten« 


—  58  — 

führen  wird,  während  hingegen  alle  übrigen  Einrichtungen, 
namentlich  die  redaktionelle  Richtung,  das  Format  und  die 
Erscheinungsweise  unverändert  bleiben,  daß  die  Telegrammadresse 
vom  1.  Januar  1918  ab  »Nachrichten  Düsseldorf«  lautet,  während 
die  Postschließfach-  und  Fernsprechnummern  wie  bisher  bestehen 
bleiben  —  ich  habe  über  die  Sache  in  der  letzten  Zeit  viel  nach- 
gedacht, es  interessiert  mich,  beschäftigt  mich  angelegentlich, 
aber  ich  weiß  nicht,  welches  Merkmal  meines  geistigen  Wesens 
meine  Empfänglichkeit  den  Leuten  in  Düsseldorf  verraten  haben 
mag,  und  das  allein  verdrießt  mich.  Wohl  weiß  ich,  daß  der 
Urgrund  all  dieses  Verdrusses  die  Mechanik  eines  Adreßkatalogs 
ist.  Aber  diese  Erkenntnis  eben  fördert  den  Verdruß.  Die  Summe 
von  Beleidigung,  die  mir  das  Bewußtsein  meiner  Zeitgenossen 
täglich  zufügt,  wiegt  nichts  neben  den  Zumutungen  des  blinden 
Registers.  Wenn  es  mir  schon  nicht  gelingt,  in  die  Literatur- 
geschichte zu  kommen,  so  habe  ich  wenigstens  den  Lehmann 
gebeten,  mich  zu  löschen.  Er  tat  es.  Ich  bin  keine  Wiener  Adresse 
mehr.  Das  ist  der  erste  Schritt  zum  Erfolg.  Jetzt  gilt  es  das 
Telefonbuch.  Hierauf:  wie  sage  ichs  dem  »Kürschner«?  Doch 
»immer  höher  muß  ich  steigen,  immer  weiter  muß  ich  schauen«. 
Mich  treibt  der  höchste  Ehrgeiz:  das  Loch  im  Register  der  Welt 
zu  sein! 


Bis  auf  den  letzten  Mann 

3.  April,  Seite  4: 

Czernin  schloß,  Land-  und  Seekrieg  zu  einer  verzückten 
Apotheose  verbindend : 

»   .   .  .  Ein  jeder  Österreicher,    ein   jeder    Ungar    muß    in    die 
Bresche    treten.    Niemand    hat    das    Recht,    abseits  zu  bleiben,  es 
gilt  den  letzten,  den  entscheidenden  Kampf.  Alle  Mann  auf  Deck, 
dann  werden  wir  siegen!« 
Seite  10: 

Wien,  2.  April.  (Die  Begnadigung  Leopold  Hilsners.)  Leopold 
Hilsner,  über  dessen  Begnadigung  nach  lSjähriger  Kerkerhaft  wir  im 
Abendblatt  berichtet  haben,    ist,    wie   verlautet,    nach    Verlassen    der 


59 


Strafanstalt  in  Stein,  wo  er  zuletzt  interniert  gewesen  war,  der 
Musterungskommission  zur  Prüfung  seiner  körperlichen  Eignung  für 
die  militärische  Dienstleistung  überstellt  worden. 

4.  April: 

»  —  —  Wie  bei  jeder  Begnadigung  hat  sich  auch  in  diesem 
Falle  das  Justizministerium  vergewissert,  daß  für  ein  Unterkommen 
dei  Begnadigten  Vorsorge  getroffen  ist.« 


Landsknechte 

.  .  .  Ein  Blendereignis  mit  schwindelerregenden  Ziffern,  diese 
Lizitation  des  Bildernachlasses  Ludwig  Lobmeyrs,  mit  ihrem  Gesamt- 
ergebnis von  beinahe  3XJ2  Millionen  Kronen  I  Mit  Preissprüngen  von 
10.000  Kronen  gleich  geschahen  die  Überbietungen.  Not  und  Über- 
fluß scheinen  die  Zwillingskinder  des  Krieges  zu  sein.  Ströme  Qeldes 
Hießen  gemischt  mit  den  Strömen  des  Blutes.  Ich  komme  über  den 
Eindruck  nicht  hinweg,  daß  etwaswild  Landsknechthaftes, 
an  die  bizarren  Greuel  des  Dreißigjährigen  Krieges  ge- 
mahnend, in  diesem  flotthandigen  Hinauswerfen 
des  Geldes  ist.  Mitten  in  dem  allgemeinen  Jammer  zogen  d  i  e 
Landsknechte  daher  mit  gefülltem  Beutel  und  waren  »splendid« 
in  Ihrer  Art,  kargten  nicht  mit  den  Talern  und  ließen  sich's  und 
anderen  wohl  geschehen,  denen  dieses  Nichtkargen  zugute  kam. 
Ähnliches  hab'  ich  ja  schon  in  Wien  erlebt,  die 
ähnliche  Sorglosigkeit  im  Zahlen  von  > Höchstpreisen«,  im  Sichüber- 
bieten und  Nichtbeachten  der  Ziffer,  wenn  man  nur  den  Trumpf 
ausspielen  kann  im  Erreichen  des  Lebensgenusses.  Das  waren  d  i  e 
Jahre  des  Gründungsschwindels,  die  dem  »großen 
Krach«  vorangingen. 

Die  zweite  Ähnlichkeit  ist  frappanter.  An  den  langen 
Nasen  zu  erkennen,  die  sie  schon  haben  und  noch  kriegen  werden, 
die  wilden  Bilanzknechte,  die  sich  bei  der  Lobmeyr- Auktion, 
hei,  zusammenfanden ! 


Hans  Müller  war  dabei 

Er  gedenkt  nicht  allein  der  Bresthaften,  die  im  Spittel 
sind,  nein  auch  jener,  die  jetzt  aus  der  Gefangenschaft  endlich 
zu    ihren   Lieben   beim   Kader    heimkehren.    Und    wer    wie    er 


60 


daran  denkt,  nämlich  an  das,  was  sie  mitgemacht  haben,  nicht  an 
das,  was  ihnen  bevorsteht 

—  den  wird  es  in  sein  Inneres  hinein  schauern,  als  blickte  er  jäh 
durch  einen  Spalt  in  die    letzte    Glut    des    Erlebens. 

Wie  geschah's,  daß  Müller  so  mitfühlen  lernte? 

Ich    war    dabei    im    November, 

Piave? 

als  ein  junger  Austauschinvalide,  Oberleutnant  mit  kürzer  gewordenem 
Bein  auf  dem  Bahnhofe  von  seiner  Familie  erwartet  wurde.   .  .  . 


Die  mit  gutem  Beispiel  vorangehen  und  die  ihnen  folgen 

.  .  .  Schließlich  erklärte  der  Generaloberst:  Unsere  Truppen  nahmen 
den  Befehl,  nach  zweijähriger  heldenmütiger  Verteidigung  den  Vormarsch 
anzutreten,  als  Erlösung  auf.  Mit  dem  Vormarsch  in  Feindesland 
wurde  ihr  heißester  Wunsch  erfüllt.  Frisch,  munter  und  mit  Begeisterung 
ertragen  sie  alle  Mühen  der  mit  der  Offensive  verbundenen  langen 
Märsche. 

Heute  morgens  begeben  sich  die  Schriftsteller  Franz  Karl 
Ginzkey  (Wien),  Dr.  Max  Halbe  (München),  Felix  Saiten  (Wien) 
und  Dr.  Ludwig  Thoma  (München)  an  die  Front  gegen  Italien. 


Der  Katzeimacher 

d'  Annunzio  ist  schlecht  auf  uns  zu  sprechen.  Zum  Glück 
gibt  es  d'Annunzio-Ersatz.  Ein  anderer  italienischer  Autor  will 
um  jeden  Preis  zu  den  Unsrigen  gehören.  Es  ist  Terramare.  Er  hat 
einem  Mitarbeiter  der  , Mittagszeitung'  seine  geheime  Sehnsucht 
anvertraut: 

Bei  Georg  v.  Terramare. 

—  —  Vor  Jahren  schon  trug  ich  mich  mit  dem  Gedanken, 
einen  Prinz  Eugen-Roman  zu  schreiben.  Im  Frühjahr  des  Jahres  1914, 


61   — 


da  ich  mich  nach  schwerer  Krankheit  in  Karlsbad  zur  Kur  befand, 
befiel  m  i  c  h,  da  ich  in  meiner  Gesundheit  wieder  langsam  erstarkte, 
die  Idee,  Prinz  Eugen  in  den  Mittelpunkt  eines  heiteren  Werkes, 
eines  historischen  Lustspiels  zu  stellen.  Und  da  setzte  ich  mich  eines 
Tages  hin  und  schrieb  das  Stück  bis  auf  die  beiden  letzten  Szenen 
des  dritten  Aktes  in  drei  Tagen  nieder. 

Das  ist  schnell.  Warum  hat  er  sich  so  beeilt?  Weil  das 
christlich-germanische  Schönheitsideal  des  Burgtheaterdirektors 
es  nicht  erwarten  konnte.  Was  aber  könnte  noch  besser  sein  als 
ein  Österreicher?  Ein  Italiener,  der  um  jeden  Preis  ein  Öster- 
reicher sein  will. 

—  —  Terramare  betont,  es  sei  ihm  seit  Jugend  stets  der 
Gedanke  vorgeschwebt,  ein  österreichischer 
Schriftsteller  zu  sein,  und  diese  besondere  Akzentuierung 
des  Österreichertums,  das  zu  sich  Vertrauen  haben 
müsse,  liege  auch  dieser  unter  seinen  vielen  Arbeiten  zugrunde.  —  — 
Und  er  will  auch  weiterhin  in  erster  Linie  als 
Österreicher  schaffen.  .  . 

In  erster  Linie?  Piave-Front?  Ich  gehe  weiter. 
Mir  nämlich  schwebt  unter  solchen  Umständen  der 
Gedanke  vor,  ein  italienischer  Schriftsteller  zu  sein.  Nur 
haperts  leider  mit  der  Sprache.  Das  einzige  italienische  Wort, 
das  ich  übersetzen  kann,  ist  Terramare.  Das  heißt  auf  deutsch : 
Eisler. 


Eine  übertriebene  Meldung 

Gabriele  d'Annun/.io  gefangen? 

(Telegramm  der  .Neuen  Freien  Presse".) 

Genf,  20.  November. 
Der  seit  neun  Tagen  abgängige  Gabriele  d'Annunzio  gilt,  nach 
einer  »Figaro«-Meldung  aus  Rom,  als  gefangen. 


Hier  ist  über  eine  Gefangennahme  d'Annunzios  nichts  bekannt. 

Gleich  hinten  erfolgt  die  Aufklärung.  Die  Österreicher 
haben  nicht  ihn  gefangen,  wohl  aber  seinen  Film,  und  führen 
diesen  ohne  Nennung  des  Autors  auf.  Mit  einem  Wort: 


62 


A  1  1  e  i  n  a  u  f  f  ii  Ii  r  u  n  g  s  r  e  c  h  t    I  ü  r    ganz    Wien! 

Der  Kampf  um  die  Weltherrschaft ! 

Das  Publikum  wird  im  eigenen  Interesse  gebeten,  sicli  die  Karten  im 

Vorverkauf  zu  besorgen. 


1917 

Aus  einem  kriegspresseamtlichen  Film  : 
»Unsere  Sturmtrupps  rocken  vor,  unmittelbar  gefolgt  von  den 
Filmtrupps.« 

Da  können  ja  die  Beutelrupps  gar  nicht  nachkommen. 


Der  Schächter 

Von  der  Abendblattfront  drangen  (iurgellaute: 
Bestes     Fortschreiten     unserer    Offensive     gegen 

Italien. 
Mitteilung  Dr.  Wekerles    über  den  Beginn  unserer 

Offensive. 
Günstige  Nachrichten  über  die  Angriffsschlacht. 
Die  Angriffsschlacht  und  der  Friede. 
(Unter  diesem  Titel  wird  mitgeteilt,  daß  der  italienische 
Bericht  »sich  nur  auf  Äußerlichkeiten  bezieht«  und  »nur  von 
beiderseitigem  Trompielfeuer,  von  der  Verwendung  der  Gase 
und  vom  schlechten  Wetter  erzählt.) 

Die    Angriffsschlacht    gegen    Italien. 
Die  Angriffsschlacht  gegen  Italien  ist   jetzt  das  größte 
militärische    und    politische    Ereignis    im    Kriege.    Auch    die    Entente 

hat   das  Bewußtsein die  große  Schlacht,  die  gestern  begonnen 

hat      -    — 

Die     Angriffsschlacht      und      die      bevorstehende 
Bündniskonferenz  in  Paris. 
—  —  Durch  die  A  n  g  r  i  f  f  s  s  c  h  1  a  c  h  t  der  Mittelmächte  gegen 
Italien  hat  sich  jedoch  —   — 

Die      Angriffsschlacht      und      die      Ministerkrise. 
Die  Psychologie  der  A  n  g  r  i  f  f  s  s  c  h  1  a  c  h  t  ist  wichtig 


63    - 


Ein  Soldat  steht  in  den  Bergen  bei  Asiago  auf  der  Wache 

Ein  Soldat  steht  in  den  Bergen  bei  Asiago 
auf  der  Wache.  Der  Mantel  schützt  in  solchen  Höhen  gegen 
den  Winterfrost  nur  wenig,  der  Atem  schlägt  sich  in  Eis  nieder, 
der  Sturm   durchschauest   den   Körper   und   das  Auge  späht  durch  die 

.  Finsternis  der  Nacht  nicht  bloß  nach  dem  Feinde,  sondern  auch  nach 
der  Lawine,  die  schon  so  viel  hoffnungsvolle  Jugend  aus  dem  Leben 
gerissen  und  mit  dem  Leichentuch  von  Schnee  zugedeckt  hat.  Der 
Soldat,  der  unter  den  ernstesten  Gefahren,  bedroht  von  den  Schrecken 
der  Natur  und  von  den  mörderischen  Erfindungen  des  menschlichen 
Geistes  seine  Pflicht  erfüllt,  ist  Wähler.  Er  denkt  in  der 
Einsamkeit  der  Felsenwildnis  an  den  Abge- 
ordneten, dem  er  seine  Stimme  gegeben  hat  und  von  dem  er 
glaubt,  daß  er  für  ihn  sorge.  .  .  .  Der  Soldat  auf  der  Wache  bei 
Asiago  ist  vergessen  und  die  Anleihe,  die  für  seine  Ernährung  und 
für    sein    Wohlbefinden    die    Mittel    aufbringen    soll,    wird    nicht 

•  bewilligt. 

Gut,  nicht  jeder  muß  das  nachmauscheln  können.  Aber 
wer  es  nicht  hört,  verdient  wirklich  nicht,  in  dieser  Zeit  zu 
leben.  Seit  der  Nase  der  Kleopatra  dürfte  es  der  einprägsamste 
Beginn  eines  Leitartikels  sein.  Die  »Stimmungen«  des  in  den 
Bergen  von  Asiago  auf  Wache  stehenden  Soldaten,  der  an  seinen 
Abgeordneten  denkt  und  betrübt  ist,  weil  die  Mittel  für  die  mörder- 
ischen Erfindungen  des  menschlichen  Geistes  nicht  bewilligt 
werden,  wenn  sich  schon  die  Schrecken  der  Natur  nicht  abwenden 
lassen  —  sie  werden  ein  Dokument  von  den  Gefahren  bleiben, 
denen  dieses  Hinterland  ausgesetzt  war.  Denn  der  Soldat  draußen 
denkt  nur  an  seinen  Abgeordneten.  Aber  wir  müssen  an  unser 
Herrenhausmitglied  denken. 


«Die  innere  Krise  und  der  Sieg  auf  dem  Kemmelberge 
bei  Ypern. 

Wie  kommt  das  zu  dem?  Auf  dem  kürzesten  Weg: 

die  innere  Politik  braucht  das  Einvernehmen  mit  zehn  Millionen 

Deutschen,    deren  Stammesgenossen    heute    die    Franzosen    und    die 
Engländer  auf  dem  Kemmelberge  geschlagen  haben. 


—  64  — 

Das  kann  man  nicht  oft  genug  hören! 

1.  Spalte  : 

Anerkennung  des  Kaisers  für  den  Grafen  Czernln. 

Für     den     Ausbau      und     die     Vertiefung     der 
Bündnispolitik. 

—  —  —  seine  Anerkennung  für  den  konsequenten  Ausbau 
und  die  Vertiefung  der  Bündnispolitik  ausgesprochen. 

2.  Spalte: 

Der  große  Sieg  und  die  Anerkennung  für  den  Grafen  Czernin. 

Konsequenter    Ausbau     und     Vertiefung     der 
Bündnispolitik. 

—  —  die  Anerkennung  für  den  Ausbau  und  für  die  Ver- 
tiefung der  Bündnispolitik  ausgesprochen.  —  —  Das  ist  Aus- 
bau und  Vertiefung  der  Bündnispolitik  —  — 

—  —  —  konnte  er  .  .  das  Bewußtsein  haben,  daß 
auch  er  durch  den  Ausbau  und  die  Vertiefung  der  Bündnis- 
politik —  —  leise  angedeutet  in  der  Depesche  des  Kaisers 
Karl  an  den  Kaiser  Wilhelm.  Du  hast  in  selbstloser  Sach- 
lichkeit, telegraphiert  Kaiser  Karl,  meinem  Oberbefehl  eine 
Reihe  Deiner  prächtigen  Divisiorien  zur  Verfügung  gestellt. 
Selbstlos  und  sachlich  hat  er  seine  Truppen  nach 
dem  Süden  geschickt  —  —  Weil  dies  geschehen 
ist,      konnte     dem     Grafen     Czernin     nachgerühmt     werden, 

:i.  Spalte: 

daß  er  das  Bündnis  ausgebaut  und  vertieft  habe. 

—  —  Das  Bündnis  .  .  mußte  auch  in  diesen  Fragen 
ausgebaut  und  vertieft  werden.  —  —  Graf  Czernin  hat  sich 
.  .  nicht  hindern  lassen,  das  Bündnis  mit  Deutschland  auszu- 
bauen und  zu  vertiefen  —  — 

—  —  —  Das  Bündnis,  dessen  Aushau  und  Vertiefung 
retten  die  Menschheit. 

Die  zu  dem  Heil,  das  ilir  widerfahren  ist,  auch  das  noch 

anhören  darf ! 


Angriff  tschechischer  Überläufer  mit  schwerer  Artillerie 
auf  deutsche  Truppen 

Die  Tschechen  nach  dem  Kampfe  umzingelt. 

Wien,  12.  März 
—      —Auf      dem     Marsche     zu      den     Getreide- 
scheunen   der   Ukraine  stellten   sich  den  Deutschen  tschechische 
ObeTUufe!     entgegen.      Sie     hatten     schwere    Artillerie     und 


65 


kämpften  als  Verbündete  der  Roten  Garde  gegen  die  Verbündeten 
von  Österreich  —  —  Allein  so  verderbt  auch  die  Überläufer 
sind,  welche  die  Waffe  gegen  ihre  früheren  Kampfgefährten  und  deren 
Verbündete  ergreifen  ...  der  Kampf  mit  schwerer  Artillerie 
bei  B  a  c  h  m  a  t  s  c  h  in  der  Ukraine  reizt  den  Widerwillen  noch  mehr. 

—  —  Aber  der  Kampf  mit  schwerer  Artillerie  zur 
Unterstützung  der  Roten  Garde  bei  Bachmatsch  in  der  Ukraine 
war  mehr  als  Verrat.  —  —  Vielleicht  sind  es  ihre  greisen 
Eltern,  die  Brüder  und  Schwestern,  die  hungern  und  denen  aus  der 
Ukraine  durch  den  Marsch  der  verbündeten  Truppen  baldige  Hilfe 
werden  soll.  —  —  Mit  schwerer  Artillerie  ausziehen, 
um  den  eigenen  Volksgenossen  zu  Hause  das  Brot  wegzunehmen  .  .  . 
das  ist,  nach  der  Politik  des  Herzens  beurteilt,  schlimmer  als  Verrat. 

Nationale  Überreizung  konnte  die  bei  Bach  matsch  in  der 
Ukraine  mit  schwerer  Artillerie  ausrückenden  Überläufer 
nicht  zum  Angriffe  hingerissen  haben.  —     — 

—  —  Der  tschechische  Bauer,  dessen  Sohn  vielleicht 
bei  Bach  matsch  in  der  Ukraine  gekämpft  hat,  ist  der  schroffste 
Gegensatz  zu  den  seltsamen  Ausbreitern  der  Revolution,  der  sich 
vorstellen  läß^  .  .  .  Der  Sohn,  der  vielleicht  ein  Überläufer 
geworden  ist^^Ümpit  jedoch  mit  der  Roten  Garde,  mit  den  Bolschewiki, 
die  kein  Privateigentum  an  Grund  und  Boden  zulassen  und  in  den 
Sparkassen  wegnehmen,  was  der  Einleger  über 
zehntausend  Rubel  hat.  —  —  Das  ist  Entartung, 
Gehässigkeit  ohne  Sinn  und  ohne  Hemmung. 

Der  ist  unverwüstlich.  Also  mit  schwerer  Artillerie  —  no 
wenn's  noch  leichte  Artillerie  gewesen  wäre  —  :  das  ist  von  allen 
»Verderbtheiten«  »vielleicht«  jene,  die  die  Einbildungskraft  — 
mer  kann  sich  vorstellen  —  am  lebhaftesten  beschäftigt  seit  den 
Tagen,  da  der  Beweis  dafür,  daß  die  Russen  den  Flanken- 
angriff lieben,  aus  den  »Verwundungen  unserer  Soldaten  an  den 
Außenseiten  der  Arme  und  der  Beine«  hergestellt  wurde.  Rituelleres 
als  diese  Schlacht  von  »Bachmatsch«  aber  ward  nie  zuvor  ver- 
nommen. Doch  soll  es  während  meiner  Abwesenheit  wieder  im 
üemäuer  der  Entente  gerieselt  haben. 


Der  Schlachtbankier 

.  .  .  Aber  durch  den  Rückzug  der  Italiener  vom  Isonzo  .... 
wird  die  politische  Belastung  von  England  so  schwer  —  — 
und  in  den  Augen  des  russischen  Volkes  ist  das  britische  Reicii  mit 
dem  Groll  über  die  politische  Zahlungsunfähigkeit  belastet. 
Rumänien  verwünscht  ebenfalls  den  Tag,   an    dem    es  den  englischen 


66 


Verheißungen  geglaubt  hat,  und  auch  das  ist  eine  Belastung. 

Die  Belastung  der  englischen  Diplomatie  gegenüber  den  Ver- 
bündeten, das  fortwährende  Hinausschieben  fälliger  Keller- 
wechsel auf  den  Endsieg  —  Denn  eine  neue  Zahlungs- 
unfähigkeit ist  jetzt  offenkundig  geworden  und  der  beständige 
Hinweis    auf    die    militärischen    Zuschüsse    aus    den  Vereinigten 

Staaten Auch  in  der  Politik  hat  jeder  Wechsel,   der  nicht 

bezahlt  werden  kann,  die  Folge,  daß  sämtliche  in  Umlauf 
gebrachte  Schuldversprechungen  einen  geringeren 
Wert  haben.  Italien    ist    für    die    Entente    eine    militärische 

Verlustpost  geworden  —  —  Die  Politik  der  Einkreisung  ist 
z  a  h  1  u  n  g  s  u  n  f  ä  h  i  g. 


Nibelungentreue 

Auch  das  warme  und  überaus  wertvolle  Freundschaftsverhältnis 
zwischen  unserem  Institut  und  der  Direktion  der  Diskontogesellschaft 
sowie  den  Bankhäusern  S.  Bleichröder  und  Mendelssohn  &  Co. 
in  Berlin  —  — 

Laut  darf  man's  ja  nicht  sagen,   aber  da  nf^pt'  ich  auch 

gern  einen  Keil  hineintreiben! 

*  * 

Schreie 

Meldung     über     Aufwerfen     der     F  r  i  e  d  e  n  s  f  r  a  g  e 

durch  Italien. 

Auf  der  Pariser  Konferenz. 

Der  Kaiser  an  die  Armee. 

Bewunderung     der    ganzen    Bevölkerung     für     ihre 

Leistungen. 


Der  schönste  Untertitel 

Abreise  des  Grafen  Czernin  nach  Bukarest. 

Übermorgen    Samstag. 


Neue  Bezeichnungen 

Die    Ostersch  lacht. 

Karfreitagsgefecht  um  Conchy  sü.lösllich  von  Montdiilier 


67 


Stellen  wir  uns  vor 


Die  Entente  würde  von  einem  fast  unbegreiflichen  Irrtum 
geblendet  sein,  wenn  sie  meinen  sollte,  nach  einem  Sonderfrieden 
zwischen  Rußland  und  den  Mittelmächten  den  Krieg  noch  längere 
Zeit  fortschleppen  zu  können.  Es  würde  nicht  gehen  wegen  der 
militärischen  Kräfte,  die  frei  werden  und  zur  Verfügung  der  Mittel- 
mächte wären;  es  würde  nicht  gehen  wegen  der  weit  größeren 
Ausnützungsfähigkeit  der  Fahrbettiebsmittel  auf  den  kürzeren 
Strecken  ....  Eine  Fülle  von  Zwangsmitteln,  gegen  die  sich  die 
Entente  nicht  wehren  könnte,  würde  zum  Frieden  drängen.  Stellen 
wir  uns  vor,  daß  die  Gefangenen  zurückkehren, 
eine  Million,  vielleicht  noch  mehr.  Darunter  meistens 
junge  Leute,  kriegserfahrene  Soldaten,  gehärtet  im  Klima 
von   Sibirien. 

Und  auf  diese  maßlose  Dreckigkeit  antworten  tausende 
von  Vätern  der  gesund  Zurückkehrenden  nicht  mit  einer  Watschen, 
sondern  mit  Fortsetzung  des  Abonnements! 


Die  in  die  Heimat  einrücken  werden 

.  .  .  Der  Bürgermeister  bat  sodann  den  Minister,  dahirr  zu 
wirken,  daß  die  Kriegsgefangenen  bald  in  die  Heimat  zurück- 
kehren können  .... 

.  .  .  Der  Minister  versicherte  dann  noch,  daß  das  Menschen- 
mögliche geschehen  werde,  damit  alle  in  Rußland  befindlichen 
österreichisch-ungarischen  Kriegsgefangenen  dem  getroffenen  Abkommen 
gemäß  möglichst  bald  in  ihreHelmat  zurückkehren  können  .... 


Das  Mutteraug 

.  .  .  Der  Landesverteidigungsminister    Czapp    beantwortet   die 

/dringlichen  Anfragen  betreffend  die  zurückkehrenden  Kriegsgefangenen 

und  erklärt,  die  Militärverwaltung  begrüße  herzlich 

die  Rückkehr    der    in    russischer  Kriegsgefangenschaft  befindlich 

gewesenen  Soldaten. 


Heimkehrend  gemacht 

—  —  daß  sämtliche  in  Rußland  befindlichen  Kriegsgefangenen 
freizulassen  sind.  —  —  Nach  Ablauf  dieser  Frist  werden  die 
heimkehrenden  Gefangenen  zu  ihren  Ersatzkörpern  e  i  n- 
rückend  gemacht  und  erhalten  von  diesen  einen  vierwöchigen 


68 


Urlaub.  —     Alles    zu    veranlassen,      was    eine     weitere 

Verbesserung    des    Loses    unserer    zurückkehrenden 
Kriegsgefangenen  herbeizuführen  vermag. 

Die    bisher    zurückgekommenen      Kriegsgefangenen     sind     im 
allgemeinen    gesund    und    kräftig  —  — 


Die  gefangenen  Heimgekehrten 

.  .  .  Die  Behauptung,  daß  die  Heimkehrenden,  wenn  sie  fehl 
diensttauglich  sind,  sofort  in  Marschformationen  eingeteilt 
wurden,  ist    unrichtig.    (Beifall.) 


Ein  Winkelried 

Gerda  Walde  ruft  auf: 

Es    gibt    nur    einen    Erfolg:     Den    Enderfolg! 

Die  siebente  Kriegsanleihe  soll  ihn  besiegeln.  Nurnichtnach- 
lassen,  nur  nicht  mürbe  werden  in  letzter  Stunde! 
Keinem  unserer -Krieger  wird  es  einfallen,  plötzlich 
im  entscheidenden  Sturmangriff  zurückzubleiben. 
Ebensowenig  darf  jetzt  zu  Hause  auch  nur  ein  einziger  mit  seinem 
Gelde  fehlen.  Mit  der  siebenten  Kriegsanleihe  muß  der  Sieg  erfochten 
werden.  Dann  ist  der  Frieden  sicher! 

Darum  zeichnet 

Welch  ein  Staat.  Welch  eine  Zeit. 


Das  Unbeschreibliche,  hier  ist's  getan 

.  .  .  Das  Artillerieduell  schnellte  zeitweilig  zu  eine« 
Heftigkeit  von  ungeheurer  Dimension  an.  Selbst  in  der  Höhe 
von  Graz  konnte  es  gehört  werden. 

Die  Stimmung  der  Truppen  ist  eine  nicht 
zu  überbietende.  Die  Wegnahme  von  F  1  i  t  s  c  h  durch  die 
bewährten  alpenländischen  Truppen  bedeutet  den  Höhepunkt  des 
ersten  Tages  .... 

In  dieser  Form  also  lese  ich  die  Todesanzeige  des 
edelsten  Freundes  und  von  Tausenden  mit  ihm.  Einer,  der  nicht 
dabei  war  und  dem  es,  als  er  in  Wien,  nicht  einmal  in  Graz, 
im  Kaffeehaus  saß,  das  Kriegspressequartier  genehmigt  hat, 
meldet  es  seinem  Blatt. 


GO 


Notizen 

In    memoriain    Franz   J  a  n  o  w  i  t  z 
(Gesprochen  am   18.  November  1917) 

Ich  könnte  diese  Vorlesung  nicht  abhalten  und  nicht 
beginnen,  ohne  eines  jungen  Freundes  zu  gedenken,  der  heute 
in  diesem  Saal  zu  sitzen  so  sehr  gewünscht  hatte.  Er  ist  daran 
verhindert  worden.  Denn  er  ist  als  eins  der  Millionen  Opfer, 
aber  als  eines  der  teuersten,  dieses  feigen  Meuchelmords,  zu  dem 
sich  die  Menschheit  verurteilt  hat,  am  4.  November  seinen 
Wunden  erlegen.  Nach  meinem  edlen  Franz  Grüner,  der,  glück- 
licher, durch  "die  Entscheidung  einer  Sekunde  hingerafft  wurde, 
hat  nun  auch  dieses  seltene  Herz  zu  schlagen  aufgehört  und 
das  schmale  Feld  meines  menschlichen  Umgangs,  so  furchtbar 
in  das  weite  Feld  der  Unmenschlichkeit  einbezogen,  ist  nun 
recht  verödet,  seit  mir  auch  dieser  Lichtpunkt  erloschen  ist. 
Versuchte  ich  die  geistige  Luftlinie  zu  ziehen  zwischen  den 
Bestrebungen  jener  Vampyre,  die  noch  mehr  Blut,  heute  noch, 
wollen,  und  dem  allerstillsten,  allerehrlichsten  Leben  dieses 
jungen  Dichters,  der,  nicht  zum  Landsknecht  geboren,  durch 
vier  durchgerackerte  Jahre  sein  mildes  Herz  trug  und  in  Schützen- 
gräben das  Geheimnis  der  Jahreszeiten  und  die  Unbegreiflich keit 
dieser  Menschenzeiten  gefühlt  hat  —  versuchte  ich  diesen  Kontrast 
durchzudenken,  ich  würde,  selbst  ich,  unter  dem  Unmaß  der 
Empfindungen  zusammenbrechen!  Hätte  die  Staatsweisheit  dieser 
Welt  nur  so  viel  Vorstellungsvermögen  gehabt,  zu  erkennen, 
daß  die  Erhaltung  des  wertvollsten  Menschengutes  wichtiger  sei 
als  die  Bereithaltung  des  Menschenmaterials,  sie  wäre  andere 
Wege  gewandelt.  Da  aber  dieser  wahrhaft  Unschuldige  ein  reiner 
Dichter  war,  so  war  er  zwar  zum  Landsknecht  verurteilt  —  aber 
ein  Literat  zu  werden,  dazu  hat  ihn  selbst  ein  Leben  der  Not 
und  der  Blick  auf  den  Tod  nicht  vermocht!  Je  mehr  solcher 
wenigen    unbefleckbaren   Seelen    mir  entrückt  werden,   die  das 


70 

Sterben  im  Krieg  dem  Schreiben  für  den  Krieg  vorgezogen  haben, 
umso  inbrünstiger  wird  meine  Verachtung  für  jene,  welche  sich 
der  Glorie  verschrieben  haben,  um  ihren  Begleiterscheinungen 
zu  entgehen;  welche  die  ihnen  vergönnte  Selbstrettung  durch  die 
Propaganda  für  den  Tod  der  Wertvollem  erkaufen  müssen: 
und  keiner  von  ihnen  möge  auf  den  Frieden  hoffen,  weil  ihm 
der  vielleicht  die  Chance  bringt,  daß  ich  dann  seinen  Gruß  auf 
der  Straße  erwidere.  Nie  wird  für  mich  alles  vorbei  sein!  Franz 
Janowitz  war  einer  von  den  andern,  deren  Verbannung  in  dasGrauen 
mir  keinen  Augenblick  dieser  bangen  Zeit  unvorstellbar  gewesen  ist ; 
deren  Wertlosigkeit  wie  ein  Gebot  zur  Rache  vor  meiner  Seele  stand 
und  mich  verpflichtet  hat,  unter  dem  Druck  der  herzlähmenden 
Kontraste  eben  noch  nach  dem  Ausdruck  für  Schmerz  und 
Schmach  dieser  Gegenwart  zu  ringen.  Ich  hasse  diese,  und  ihn 
habe  ich  geliebt.  Sein  Andenken  sei  geheiligt !  Es  werde  in  einem 
Band  Gedichte  bewahrt,  den  der  mühselige  Rest  seines  jungen  Lebens 
als  Ruf  der  Sehnsucht  hinterlassen  hat.  Ihn  mit  irgendwelchem 
Miß-  und  Neugetöne  einer  sogenannten  jungen  Generation 
konfrontieren  zu  wollen,  wäre  sündhaft.  Wenn  ein  Mensch  so 
echter  Art  auch  sterben  mußte,  es  genügt,  daß  er  gelebt  hat, 
um  es  mit  einer  ganzen  Richtung  von  Betrügern  und  Natur- 
verrätern aufzunehmen.  Nach  jener  Zeit,  da  ich  um  mich  noch 
Raum  zur  Förderung,  zur  Förderung  des  Verrats  an  mir  hatte, 
trat  er  zu  mir,  und  war  mehr  wert  als  alle.  Ich  wartete 
auf  sein  Buch  und  mußte  mich  mit  der  Feldpost  begnügen.  Aus 
einem  bescheidenen  Heftchen,  das  er  im  Jährte  1Q13  nur  wider- 
willig einer  fragwürdigen  Anthologie  einverleiben  ließ,  ertöne 
nun  seine  Stimme,  so  leise,  so  tief.  Mögen  jene  unter  meinen 
Hörern,  die  in  der  Sprache  ein  Menschenantlitz  zu  erkennen 
vermögen,  den  Verlust  ermessen,  den  sie  durch  den  Tod  eines 
Unbekannten  erlitten  haben. 


Es  gäbe  eine  Sühne  für  alle  Kriegsdichtung  von  vier 
Jahren.  Wenn  sie  sich  in  ihr  Nichts  auflösen  wollte  angesichts 
dieses  erhabenen  Heldengedichts,  das  in  Form  einer  Feldpost- 
karte an  die  Familie  des  Verstorbenen  gelangt  ist : 


71 


K.  u.  k.  Feldspital  1301  am  6/11   1917 
Hochgeehrter  Herr! 
Erlaube  mir  mit  zitternder  Hand   mitzuteilen,   daß  mein 
Herr  Leutnant  Janowitz  den  4.  November  seinen  Wunden  erlag. 
Mir  wurde  trotz  meines  Bittens  nicht  erlaubt,   mit  seinen 
Sachen  zu  Euch  zu  kommen. 

Hab  wohl  viel  Thränen  vergossen  für  den  H.  Ehre  seinem 
Andenken.  Mein  innigstes  Beileid.  Gott  hat  es  gewollt.  Ich 
komm  wieder  zur  Kompagnie. 

Sein  tr.  Diener 
Josef  Qreunz. 

Und  angesichts  dieses  Dokuments:  Eine  Karte,  die  ich  dem 
Verwundeten  geschrieben  hatte  —  zur  Beantwortung  eines  Tele- 
gramms brauchte  das  Feldspital  sechs  Wochen  —  und  die  nach 
seinem  Tod  einlangte,  ist  später  mit  dem  folgenden  Vermerk 
zurückgekommen: 

Abgeschoben.     Aufenthalt  unbekannt. 


»W  ie  sehr  ich  wieder  Liebe  zu  der  Klasse 
von  Menschen  gekriegt  habe,  die  man  die 
niedre  nennt,  die  aber  gewiß  vor  Gott  die 
höchste  ist!  Da  sind  doch  alle  Tugenden  bei- 
sammen, Beschränktheit,  Genügsamkeit,  ge- 
rader Sinn,  Treue,  Freude  über  das  leidlichste 
Gute,  Harmlosigkeit,  Dulden  —  Dulden  —  Aus- 
harren        — .«  Goethe  an  Frau  von  Stein   1777. 


Das  vorliegende  Heft  enthält  —  nebstspäter  Geschriebenem  -r- 
nur  den  kleineren  Teil  der  im  Februar  und  in  der  ersten  Märzhälfte 
entstandenen  Manuskripte  und  Dokumentensammlungen.  Die  täglich 
vermehrte  Schwierigkeit  der  Drucklegung  hat  die  Verteilung  des 
Materials  auf  die  folgenden,  hiedurch  noch  > unaktuelleren«  Hefte 
notwendig  gemacht.  —  Die  ungeheure  Fülle  des  ausden  ersten  Kriegs- 
monaten Aufbewahrten,  die  mich  immer  wieder  brüllend  mahnt,  sie 
ins  Gedächtnis  der  Nachwelt  zu  erlösen,    soll  nach   dem  Krieg 


-  72 


wenigstens  die  Form  einer  Tatsacliengruppierung  erhalten. 
Verloren  wird  nichts  gehen,  was  mein  Blick  gestreift  hat.  Doch 
muß  immer  wieder  gebeten  werden:  Zuzug  fernzuhalten!  Da 
schon  die  Zeit  die  Bitte  nicht  erhört,  mögen  es  ihre  Genossen  tun. 


Der  Mißton  der  Zeit  ist  diesmal  nur  gelegentlich  ihrem 
erbärmlichsten  Instrument  abgenommen;  er  war  auf  allerlei 
Umwegen  zu  mir  gedrungen.  Längere  Reisen  bringen  jene 
Erholung,  die  eine  Entfernung  vom  Anblick  der  Neuen  Freien 
Presse  bewirkt. 


Nachrufe  für  Wedekind.  Der  Plauderer  der  Neuen  Freien 
Presse  hat,  da  er  den  Menschen  rasch  antreten  muß,  nicht  Zeit, 
die  Biographie  zu  überblicken.  So  passiert  das  folgende.  Wede- 
kind war  beinahe  gleichalterig    mit  Gerhart  Hauptmann: 

Wedekinds  literarisches  Schaffen  setzte  jedoch  um  Ja  h  r- 
zehnte  später  ein,  w  i  e   das  seines  Altersgenossen. 

Die  Grammatik  ließe  erraten,  daß  Wedekinds  Schaffen  w  i  e 
das  Hauptmanns  um  Jahrzehnte  später  als  das  Goethes  ein- 
gesetzt hat.  Gemeint  ist  aber  wohl,  daß  Wedekind  so  um  dreißig 
bis  vierzig  Jahre  später  als  Hauptmann  zu  produzieren  begonnen 
hat.  Das  wäre  so  zwischen  1920  und  1930.  Nun  habe  ich 
zwar  »Vor  Sonnenaufgang<  1890,  »Friedensfest«  1891,  »Frühlings 
Erwachen«  jedoch  1892  kennen  gelernt  und  Wedekind  hatte  auch 
schon  vorher  geschrieben  und  produziert.  Zehn  Zeilen  tiefer  wird 
denn  auch  bereits  ein  Ausgleich  der  Zeiten  versucht: 

Zwischen  Hauptmanns  > Friedensfest«  und  Wedekinds 
»Frühlingserwachen«  liegen    einige  Jahre. 

Auch  diese  geben  schließlich  klein  bei. 

.  .  .  1904,  als  »Frühlingserwachen«,  sein  zwölf  Jahre 
früher  entstandenes  Jugendwerk  .  .  aufgeführt  wurde. 

Ebenso  gut  wie  über  die  Anfänge  ist  der  Biograph  über 
das  Ende  des  Lebens  informiert. 

Er  hat  die  Kriegszeit  zum  großen  Teil  in  der  Schweiz  zu- 
gebracht und  sich  dort  zur  Aufgabe  gestellt,  in  öffentlichen  Vor- 
trägen gegen  die  Verunglimpfung  deutschen  Wesens  und  deutscher 
Art  aufzutreten. 


—  73  — 


Diese  Propaganda-Tätigkeit  hat  Wedekind  in  Gesprächen, 
die  ich  ebendort  mit  ihm  über  deutsches  Wesen  und  deutsche 
Art  geführt  habe,  vor  mir  streng  zu  verbergen  gewußt.  Ich  ver- 
mute, daß  eine  Verwechslung  mit  Hans  Müller  vorliegt,  der  aber 
Heimarbeiter  ist. 

Herr  Wittmann  hinwiederum  hat  an  Wedekind  einige 
herzige  Fragen,  auf  die  dieser  >die  Antwort  schuldig  bleibt«, 
doch  wenn  er  lebte,  sicher  mit  einem  »Verrdammt!«  antworten 
würde.  Er  war  nämlich  leider  —  und  darin  konnte  er  mit  Müller 
nicht  verwechselt  werden  —  immer  nur  negativ,  nicht  positiv  und 
konnte  nur  niederreißen,  nicht  aufbauen : 

...  er  verneint  bloß.  In  seiner  Kindertragödie,  die  zum 
Selbstmord  des  vierzehnjährigen  Moritz  führt,  sagt  er  es 
nicht  besti  r%m  t ,  welche  Methode  der  Kindererziehung 
er  für  die  gute  hält,  er  geißelt  nur  die  schlechte.  Wir  sehen 
in  seinen  Werken  die  verhängnisvolle  Dämonie  des  Weibes, 
aber  wie  sie  abwehren?  Die  bodenlose  Niedertracht 
des  Mannes,  aber  wie  sie  entwurzeln?  Die  Verderbnis 
der  ganzen  Menschheit,  aber  wie  sie  bekämpfen?  Der 
Dichter  bleibt  uns  auf  alle  Fragen  die  Ant- 
wort  schuldig. 

Das  literarische  Wien  hat  sich,  seit  Kürnbergers  Tagen, 
immer  wieder  »im  Spiegel  eines  Sarges«  von  seiner  kläglichsten 
Seite  gezeigt.  Aber  schon  lange  nicht  so  jämmerlich  wie  bei 
Frank  Wedekinds  Tod,  dem  es  offenbar  nachgetragen,  wenn  auch 
nicht  nachgerufen  wurde,  daß  ich  im  Jahre  1905  die  >Büch9e  der 
Pandora«  aufgeführt  habe. 


Bibliographisches.  »Karl  Kraus  und  die  Sprache« 
von  Leopold  L  i  e  g  1  e  r  (Verlag  der  Buchhandlung  Richard  Länyi 
Wien  1918,  Vortrag,  gehalten  am  24.  November   1917.) 

»Karl  Kraus«  von  Otto  Stoeßl,  .Marsyas'  Berlin,  Heft  1.  — 
Karl  Lohs:  Anknüpfung  an  Karl  Kraus'  »Worte  in  Versen«, 
.Die  Wage',  XXI.  Nr.  8.  —  Paul  Hatvani:  Von  und  über  Karl 
Kraus,  ,Die  Weltbühne'  (der  , Schaubühne'  XIV.  Jahr),  Nr.  17.  Und 
Notizen  in  anderen  Heften. 

.Arbeiter-Zeitung',  30.  März  1917:  Vorlesung  Karl  Kraus.  — 
Zahlreich«  Zitierungen  in  Tagesblättern  und  Revuen. 


74  — 


Berichtigung.  In  Nr.  462—471,  S.  22,  18.  Zeile  bilde 
statt  »bilden«;  S  99,  10.  Zeile  von  unten,  entprach  statt  »entspach« ; 
S.  139,  14.  Zeile  von  unten,  Kultur,  wahrlich  statt  »Kultur  wahrlich«; 
S.  141,  14.  und  15.  Zeile,  der  ich  ....  halte  statt  »der  ....  hält«; 
ebenda  18.  Zeile  sehe,  und  statt  >sehe  und«.  In  dem  Gedicht 
»Verlöbnis«  S.  80,  1.  Zeile  von  statt  »vor«. 

In  Nr.  472/73,  S.  21,  1.  Zeile  wohlerzogne  statt  »wohl- 
erzogene«; S.  29,  7.  Zeile  Andern  statt  »anderen«.  (Und  noch  etliche 
kleine  Varianten  in  der  Buchausgabe.) 


Ende  Dezember  1917  sind  die  ersten  Exemplare  von 
»Worte  in  Versen  III«  im  Verlag  der  Schriften  von  Karl 
Kraus,  Leipzig,  erschienen.  Der  Band  enthält: 

Vergelt's  Gott!  /  Der  Siebenschläfer       Wiedersehn    mit 
Schmetterlingen    /    Verlöbnis    /    Der  Anlaß   /    Aufforderung   / 
Inschriften    T  Der  Mann  und  das  Wort   /    Kompetenz   vor   der 
Sprache   /   Der  Satiriker  geißelt  die  Schwächen   /   Inschriften  / 
Der  Bauer,  der  Hund  und  der  Soldat  /  Vision  des  Erblindeten  / 
Meinem    Franz    Grüner  /  Die  letzte  Nacht  (aus  dem  Epilog  zu 
der  Tragödie  »Die  letzten  Tage  der  Menschheit«)  /  Meinem  Franz 
Janowitz  /  Zwei  Soldatenlieder  /  Krieg  /  Inschriften  /  Kunterbunt 
Wahnschaffe/  Der  Heldensarg  /  Inschriften  /  Goethe-Ähnlichkeit 
Ich  und  der  Stoff  /   Phantasie   an   eine    Entrückte  /  Jugend 
Es  werde  Licht  /  Vallorbe. 

Die  »Inschriften«  enthalten : 

I:  Bitte  an  Verehrer  /  Sonderbare  Gäste  /  Die  Zwangs- 
lage /  Den  Psychoanalytikern  /  Die  Satire  ist  wehrlos  /  Instanz 
des  Keimes  /  Wie  man's  anpackt  /  Höllenangst  /  Warnung 
des  Lesers  /  Deutsche  Literaturgeschichte  /  Dienst  der  Kunst  / 
Der  Vorleser  /  Das  abgeschaffte  Orchester  /  Die  Claque  /  Einem 
Polyhistor  /  Das  Originalgenie  /  Der  Erotiker/  Klassiker-Aus- 
gaben /  Die  neue  Generation  /  Täuschung  /  Der  Übermannenden  / 
Eifersucht  ist  immer  unberechtigt  /  Der  Anstoß  /  Die  Geschlechter  / 
Kompliment/  Begehrlichkeit  /  Dank  /  Grabschrift  für  Elisabeth  R. 

II:  Beschwörung  des  bösen  Geistes  /  Glossen  werden 
Symbole  /  Gerhart  Hauptmann  /  Richard  Dehmel  /  An  denselben  / 
Hugo  v.  Hofmannsthal  /  Derselbe  /  Artur  Schnitzler  /  Bahrs 
Himmelfahrt  /  Prager  Klassiker  /  Berichtigung  /  Die  Kunst  sich 
zu  freuen  /  P.  A.  /  Marmor-Chronik  /  Luxusdrucke  '  Der  neiu- 
Wiener  /  Der  triftige  Grund  /  Für  Nichtraucher  /  Die  kranke 
Valuta  /  Czernins  Rede  /  Der  neue  Pair  /  Auszeichnung  eines 
Überlebenden  /  Die  Kriegsberichterstatterin  /  Ehrendoktorate  / 
Der  Bericht  vom  Tag. 


III:  Kineinatographischer  Heldentod  /  Tradition  Bomben 
auf  den  Ölberg  /  Der  Flieger  /  Der  neue  Krieg  /  Sieges- 
feier /  Zwischen  den  Schlachten  /  Vorräte  /  Ausgleich  /  Knappes 
Leben  /  Kriegsküche  /  Die  Redensart  /.  Propaganda  /  Burgtheater- 
Tradition  /  Oirardi  im  Burgtheater  /  Der  Ruf  der  Wienerstadt  / 
Der  Fremdenverkehr  /  Die  Instrumente  /  Unsere  Post  /  Repressalien  / 
Etymologie  /  Sprachgebrauch  /  Vergnügungsanzeiger  /  Ersatz  / 
Zeichen  und  Wunder  /  Revolution  in  Deutschland  /  In  eigener 
Regie  /  Revolution  /  Die  Balten  und  die  Letten  /  Die  deutsche 
Schuldfrage  /  Wie  es  kam  /  Expansion  /  Made  in  Oermany  / 
Verkehrte  Götterwelt  /  Mit  Qott. 

IV:  Bunte  Welt  /  Die  Werte  /  Das  Lebensmittel  /  So 
lesen  wir  alle  Tage  /  Zusammenhänge  /  Der  Geschäftskrieg  / 
Der  allgemeine  Verteidigungskrieg  /  Die  Schuldfrage  /  Einem 
Strategen  /  Aschermittwoch  /  Linguistik  /  Vor  dem  Helden- 
tod /  Jahreszeit  /  Die  Tauglichen  und  die  Untauglichen  / 
Wahlspruch  /  Sinn  und  Gedanke  /  Ein  leicht  verständliches 
Epigramm  /  Unterricht  /  Es  klingt  anders  /  Die  Schwärmer  / 
Der  Hörerin. 

Bisher  ungedruckt:  Vergelt 's  Gott !  /  Der  Siebenschläfer  / 
Der  Anlaß  /  Kompetenz  vor  der  Sprache  /  Der  Bauer,  der  Hund 
und  der  Soldat  /  Vision  des  Erblindeten  /  Meinem  Franz  Grüner/ 
Die  letzte  Nacht  /  Meinem  Franz  Janowitz  ;  Krieg  /  Kunter- 
bunt /  Phantasie  an  eine  Entrückte  /  Es  werde  Licht.  —  Die  In- 
schriften: Dienst  der  Kunst;  Der  Übermannenden;  Grabschrift 
für  Elisabeth  R.;  Artur  Schnitzler;  Der  neue  Krieg;  Etymologie; 
Bunte  Welt;  Sinn  und  Gedanke;  Ein  leicht  verständliches  Epi- 
gramm; Unterricht;  Der  Hörerin. 


Der  Druck  ist  diesmal  nicht  mehr  durch  die  Leipziger 
Firma  Drugulin,  sondern  durch  die  Wiener  Buchdruckerei 
Jahoda  &  Siegel  erfolgt,  und  es  ist  nicht  nur  ein  >schöner  Druck*, 
sondern  auch  ein  guter  geworden.  Freilich  ist  zu  bedenken,  daß  in 
einem  jener  Betriebe,  die  den  Romanbedarf  neudeutscher  Verleger 
zu  decken  haben,  die  Sicherheit  des  Wortes  sich  nicht  von  selbst 
versteht  und  daß  es  schon  meiner  Zudringlichkeit  bedarf, 
um  dort  textliche  Ansprüche  noch  über  ausgedruckte  Bogen 
hinaus  durchzusetzen,  während  die  mir  benachbarte  Druckerei 
seit  achtzehn  Jahren  auf  die  Maßlosigkeit,  die  den  Druck  des 
vorgeschriebenen,  freilich  endlos  korrigierten  Wortes  begehrt,  red- 
lich eingestellt  ist.  Jedannoch  oder  eben  darum:  sollte  noch  einmal 
—  siehe  die  Bemerkung  in  Nr.  462/471  —  jene  >Bugra«  Zustande- 
kommen, so  müßte  ein  Exemplar  der  >  Worte  in  Versen  III«  ausge- 


—  76 


stellt  werden,  um  den  Leuten  zu  zeigen,  was  Gewissenhaftigkeit, 
das  ist  die  Buchstabenfrömmigkeit  alter  Drucker,  mit  dem 
Minimum  an  leiblichen  und  technischen  Mitteln,  das  ihr 
die  schnöde  Zeit  gelassen  hat,  hervorzubringen  imstande  war. 
Die  Druckerei  Jahoda  &  Siegel,  die  seit  so  vielen  Jahren  dem 
einen  Wunsch,  den  ich  habe,  Erfüllung  gibt,  ist  die  einzige 
österreichische  Tatsache,  die  mir  patriotische  Empfindungen  zu 
wecken  vermag. 


Der  Druckereibesitzer,  der  dies  während  des  Drucks  ge- 
lesen hat,  wehrt  sich  vergebens  durch  die  folgende  Warnung; 

16.  April  1918. 
Sehr  geehrter  Herr  Kraus! 

Die  ehrenvolle  Nennung  unseres  Namens  in  der  bei- 
liegenden Notiz  läßt  mich  erröten.  Sie  ist  ja  nur  zum  geringen 
Teile  verdient,  zum  größeren  fällt  das  Verdienst  auf  Sie,  der 
Sie  mit  der  größten  Energie  und  Selbstaufopferung  an  meiner 
Druckerei  ein  Erziehungswerk  vollbrachten,  wie  nur  Sie  es  voll- 
bringen konnten.  Mein  geringes  Verdienst  könnte  höchstens  in 
der  willigen  Anpassung  an  Ihre  oft  schwer  erfüllbaren  Wünsche 
gefunden  werden.  Das  würde  nun  ohne  Zweifel  jeder  andere 
Buchdrucker,  der  nur  Ihrem  Wirken  die  gleiche  Begeisterung 
gezollt  hätte,  auch  fertig  gebracht  haben,  und  es  rechtfertigt  nach 
meiner  Ansicht  durchaus  nicht  die  so  ehrenvolle  Erwähnung 
und  den  Vergleich  mit  einer  allerorten  anerkannten  und 
berühmten  Anstalt.  Der  Vergleich  scheint  außerdem  so  kraß, 
daß  mancher  Leser,  wenn  auch  nicht  Versteher  Ihrer  Werke 
auf  den  Gedanken  kommen  könnte,  daß  Sie  denn  doch  auch 
jemandem  zu  Liebe  etwas  schreiben.  Freilich  bei  Leuten,  die 
Sie  durch  Ihr  Wirken  genau  kennen,  wird  ein  solcher  Gedanke 
nicht  auftauchen.  Die  Zumutungen  der  andern  zu  ignorieren 
ist  eine  von  Ihnen  seit  jeher  geübte  Gepflogenheit.  Trotzdem: 
wenn  auch  nur  der  dümmste  Ihrer  Leser  einen  Augenblick  lany 
die  Empfindung  haben  sollte,  daß  dahinter  die  Erfüllung  eines 
Wunsches  steckt,  so  wäre  mir  das  Ihretwegen  noch  mehr  als 
meinetwegen  peinlich.  Es  wäre  darum  zu  erwägen,  ob  nicht 
diese  öffentliche  Anerkennung  besser  unterbleiben  würde.  Es  liegt 
mir  ja  ferne,  eine  Beeinflussung  Ihres  Wollens  zu  versuchen 
und  ich  gebe  es  Ihnen  nur  zu  bedenken.  Genehmigen  Sie  den 
Ausdruck  meiner  unwandelbaren  Verehrung 

Georg  Jahoda. 


77 


Dazu  sei  eines  treuen  Mitarbeiters  gedacht,  den  eben  jene 
Zeitumstände,  welche  die  Verminderung  eines  Druckereipersonals 
zum  Zweck  anderer  Beschäftigung  bewirken,  dem  Werk  der  Fackel 
für  immer  entrückt  haben.  Franz  Koch  hat  als  Setzerlehrling 
im  Alter  von  siebzehn  Jahren  an  einem  Teil  der  Kriegshefte 
der  Fackel  gesetzt,  bis  er  gezwungen  war,  ihren  ganzen 
Inhalt  zu  erleben.  Nicht  lange  war's  ihm  vergönnt ;  schon  einige 
Monate,  nachdem  er  einrückend  gemacht  war,  mußte  er  in 
Italien  den  tödlichen  Zufall  erleiden.  Kurz  vorher  hatte  seine 
Mutter  den  älteren  Sohn  verloren.  Es  ist  nur  eine  persönliche 
Empfindung,  daß  ein  guter  Setzer  der  Fackel  ein  Bataillon  von 
jenem  Gelichter  aufwiegt,  dessen  Kriegsgesänge  an  den  Pranger 
meines  Druckes  zu  stellen  er  geholfen  hat.  Aber  der  Verlust 
eines  guten  Menschen,  und  eines  siebzehnjährigen  dazu,  ist  der 
allgemeinen  Teilnahme  wert  und  eines  auch  durch  stündliche 
Wiederholung  nicht  abzuschwächenden  Staunens  über  den 
Widersinn  der  Zeitdinge. 


Bange  Stunde 


Gebannt  steh'  ich  auf  diesem  Fleck 

und  kann  nicht  zurück  und  kann  nicht  weg 

und  suche  mit  dreimal  flehenden  Händen, 

ein  sicheres  Schicksal  abzuwenden. 

Alles  um  mich  in  den  bangen  Stunden 

hat  Macht  über  mich,   der  gebannt  und  gebunden. 

Gelingt's  mir,  nur  dies  und  nicht  das  zu  denken, 

so  wird  mich  mein  Wille  zum  Ausgang  lenken, 

und  ich  weiß  mir,    der  Sklave  dem  Herren,   Dank, 

entrinn'  ich  nur  diesmal  noch  meinem  Zwang. 

Dort  wäre  der  Weg:  wo  der  Zweifel  steht, 

ob  rechts  oder  links  es  sich  besser  geht. 

Ich  könnte  fliegen,  ich  möchte  eilen, 

undgeschwind  noch  beschwör'ich  dieZeit,zu  verweilen. 

Ich  schlage  mich  durch,  ich  krieche  und  hinke, 

wie  fass'  ich  die  Klinke?  Wie  faßt  mich  die  Klinke! 

Schnell  könnten  drei  Wünsche  mir  noch  verderben: 

Herrgott,  so  laß  meine  Freunde  nicht  sterben  — 

was  hältst  du  mich,  scheinbare  Vorhangfalte, 

was  will  mir  das  Fiebergesicht,  das  alte  — 

Gott,  rette  mir  jenen,  behüte  mir  diesen, 

bewahr  ihm  das  Auge  für  Wunder  und  Wiesen  — 

wie  kränkt'  ich  mich  damals,  ich  wollte  nicht  warten, 

denn  ich  war  krank  und  die  andern  im  Garten, 

eine  Spieldose  hat  die  Gavotte  gespielt, 

ein  Gesicht  im  Vorhang  hat  nach  mir  gezielt 

Gott,  hilf  ihnen,  die  die  Zeit  mir  verwehte, 

und  die  längst  nicht  glauben,  daß  ich  für  sie  bete, 

und  jenen,  die  du  zu  dir  schon  entboten, 


—  79 


vergiß  nicht  die  Toten,  vergiß  nicht  die  Toten ! 

der  Einen  aber  hier  auf  dem  Bilde, 

es  lächelt  zu  meinem  Aufruhr  so  milde, 

und  dieser  aber,  o  daß  ich's  nicht  dächte, 

wenn  nicht  das  Denken  Erfüllung  mir  brächte, 

ihr  mögest  du  Leben  und  Leben  und  Leben 

in  vielfach  lebendiger  Fülle  geben 

und  wirken,  daß  ihr  in  unendlichen  Lenzen 

wie  Sonne  und  Mond  die  Züge  erglänzen, 

und  für  mich  selbst,  o  hör  den  unendlichen  Jammer, 

bitt'  ich,  daß  ich  in  dieser  Kammer, 

geschmiedet  an  aller  Erden  Qual 

mich  zu  Formen  erlöse  ohne  Zähl, 

und  aus  dem  vorbestimmten  Kreise 

mir  erbarmungslos  und  ausnahmsweise 

gestattet  wäre,  zu  entrinnen 

um  immer  von  neuem  zu  beginnen, 

denn  es  lähmt  mir  das  Herz,   daß  einst  hinter  mir 

sich   schließe  die  vorbereitete  Tür, 

und  an  dem  Gedanken,  mich  nicht  zu  beerben, 

würd'  ich  ganz  sicher  noch  einmal  sterben! 

Laß  es  nicht  zu  und  lasse  mich  bleiben, 

und  bin  ich  erst  fertig,  beginn'  ich  zu  schreiben, 

denn  dem  das  Wort  den  Ursinn  gelichtet, 

sieh,  der  hat  nie  zu  Ende  gedichtet, 

und  war  ich  stets  des  Anfangs  gewärtig, 

war  Leben  im  Wort:  so  werd'  ich  nicht  fertig! 

Hier  ist  mir  ein  heiliges  Räthsel  gewesen, 

ich  habe  in  Hieroglyphen  gelesen. 

Nie  lass'  ich  das  dreimal  lebendige  Wort, 

verstummend  in  dein  undenkliches  Dort, 

nie  lass'  ich  den  Streit  und  den  Zweifel  hierniedeu 

für  jenen  unwiderleglichen  Frieden. 

Nie  mögst  du  von  diesem  Sessel  mich  heben. 

Lieber  den  Tod  als  nicht  mehr  zu  leben ! 

Nicht  feige  fleh'  ich  um  meine  Errettung; 

doch  hängen  in  blutig  gespürter  Verkettung 

an  meiner  Gestalt  die  vielen  Gestalten, 


80 


die  du  zu  bewahren  mir  vorbehalten, 

und  in  dem  schmerzbeseligten  Bund 

unzählige  Stimmen  an  meinem  Mund. 

Sie  nachzuschaffen  hast  du  mich  gelehrt, 

die  von  dir  sich  zum  eigenen  Abbild  verkehrt ; 

und  gleich'  ich  nicht  jenen,  die  du  erschaffen, 

so  kannst  du  mich  nicht  zu  dir  entraffen. 

Drum  laß  aus  dem  marschbereiten  Haufen 

zurück  mich  in  deine  Ewigkeit  laufen, 

und  gib  mich  mir  wieder  Stück  um  Stück! 

Mit  Macht  reiß'  ich  sonst  mein  Gedächtnis  zurück, 

um  nimmer  zu  denken,  was  noch  nicht  geschah  — 

ich  will  ja  nicht  weg,  ich  bleibe  doch  da! 

Was  ist  das  nur  heut,  was  ist  das  nur  hier, 

wie  dreht  sich  und  droht  mir,  wie  knarrt  mir  die  Tür, 

wie  rennt  mir  die  Stunde  in  rasendem  Lauf, 

wie  halten  mich  alle  die  Dinge  hier  auf, 

und  Falten  und  Kanten,  sie  starren  mich  an, 

des  Zufalls  unseligsten  Unterthan! 

Gebannt  und  gebunden  steh'  ich  auf  dem  Fleck, 

und  kann  nicht  zurück,  und  will  nicht  weg  — . 


81 


Halbschlaf 


Bevor  ich  war  und  wenn  ich  nicht  mehr  bin, 
wie  war  ich  da,  wie  werde  ich  da  sein? 
Zuweilen  dringen  Duft  und  Rausch  und  Schein 
vom  Ende  her  und  von  dem  Anbeginn. 

Hab*  ich  geschlafen?  Eben  schlaf  ich  ein, 
und  nun  verwaltet  mich  ein  andrer  Sinn, 
noch  bin  ich  außerhalb,  schon  bin  ich  drin, 
noch  weiß  ich  es,  und  füge  mich  schon  drein. 

Dies  Ding  dort  ruft,  als  hätt'  ich's  oft  geschaut, 
und  dies  da  blickt  wie  ein  vertrauter  Ton, 
und  an  den  Wänden  wird  es  bunt  und  laut. 

Dort  wartet  lang'  mein  ungeborner  Sohn, 
hier  stellt  sich  vor   die  vorbestimmte  Braut, 
und  was  ich  damals  war,  das  bin  ich  schon. 


-  82 


Das  zweite  Sonett  der  Louise  Lab6 


0  schöne  Augen,  Blicke  abgewendet, 

o  Seufzer,  Klagen,  o  vergossne  Thränen, 

o  dunkle  Nächte,  die  durchwacht  mein  Wähnen, 

o  lichter  Tag,  vergebens  mir  verendet ! 

O  Trauer  du,  da  Sehnsucht  stets  verweilt, 
o  alle  Übel  wider  mich  bereitet, 
o  tausend  Tode  rings  um  mich  gebreitet, 
o  Ewigkeit  der  Qual,  da  Zeit  enteilt! 

O  Geigenton  des  Leids,  Musik  im  Schmerz, 
o  Lächeln,  Stirn  und  Haar,  o  edle  Hand 
zu  viele  Flammen  für  ein  armes  Herz ! 

Weh  dir,  der  alle  diese  Feuer  trägt, 
daß  du  sie  an  mein  Leben  hast  gelegt, 
und  bleibst  von  jedem  Funken  ninverbrannt ! 


Nach  dem  Original  und  einer  vorhandenen   Übertragung 


83 


An  eine  Falte 


Wie  Gottes  Athem  seine  Fluren  fächelt, 

so  wird  es  leicht  und  licht 

in  diesem  klaren  Angesicht. 

Es  hat  die  Erde  gern 

und  schwebt  ihr  fern 

und  liebt  und  lächelt. 

Und  Gottes  Finger  bildete  den  Bug 

vom  Ebenbilde. 

Es  zieht  so  milde 

hin  über  alles  Leid, 

und  es  verzeiht 

der  edle  Zug. 

In  dich,  o  unvergeßlich  feine  Falte, 

betend  versanken 

meine  Gedanken. 

Daß  diese  letzte  Spur 

seiner  Natur 

mir  Gott  erhalte! 


84 


Suchen  und  Finden 


Die  Dinge  sind  schon  an  der  Fläche  tief, 
du  mußt  sie  nur  mit  Ehrfurcht  sagen. 
Willst  du  dich  aber  weiter  wagen, 
so  weist  sich's  oft,  daß  dich  kein  Rätsel  rief. 

Beneide  nicht,  die  allen  Sinn  benagen 
und  den  Gedanken,  der  da  schlief, 
eh'  er  durch  ihre  Tageszeiten  lief, 
gefühllos  weckten  durch  ihr  lautes  Fragen. 

Sieh  das  Gewohnte  stets  zum  ersten  Mal. 
Dann  hat  sich  alles  Suchen  dir  gelohnt, 
das  Vorgefundne  fügt  sich  deiner  Wahl. 

Bleibt  nur,  was  ruht,  von  deinem  Drang  verschont, 

so  wird  dir  das  Entlegene  banal,' 

und  neu  das  Nahe  und  wie  ungewohnt ! 


8ö 


Die  Flamme  der  Epimeleta 

(»Pandora«) 


Meinen  Dankrui, 
für  mich  selbst  nur : 
Ihr  bedürft's  nicht, 
aber  hört  ihn! 
Eines  Gottes 
Wort-  und  Weltbrand, 
Goethes  Sprachflamm' 
hüllt  mein  Haupt  ein 

Epimetheus' 
angstverbrannte 
Tochter  reißt  mich 
mit  dem  Feuer, 
das  sie  ausruft, 
himmelaufwärts, 
rettet  Ursprung 
aller  Weibmacht, 
und  im  Weltsturz 
steht  das  Wort  auf, 
nun  als  Wunder 
von  dem  letzten 
hin  zum  ersten 
Tag  der  Schöpfung 
wieder  aufragt's! 


86 


Wen  erschlägt  es? 
Jene  Schuld,  wem 
droht  und  winkt  sie, 
schreckhaft  Auge, 
ins  Gericht  hin  ? 
Diesen  hier  nicht, 
die  zugrund  gehn, 
doch  zum  Grund  nicht ! 
Mit  verpichten 
Sinnen  leben 
Rauchgeborne, 
nie  Entflammte, 
unverzückter 
Zeiten  Wegwurf. 

Und  vergebens 
strebt  zum  Himmel 
Feuersäule 
meines  Danks  an 
Gott  und  Goethe! 


87 


Programme 

Mittlerer  Konzerthaussaal : 

17.  Oktober  1917,  7  Uhr: 

I.  Im  Namen  Goethes!  /  Friedrich  Hölderlin:  Vom 
deutschen  Volk  /  Wie  ein  König,  mit  Bomben  beladen,  wie 
ein  Gott!  /  Ein  anderer  Ton  /  Aus:  Und  der  Herrgott  lacht!  / 
Der  Irrsinnige  auf  dem  Einspännergaul  /  Eine  Quelle  der  Ver- 
jüngung /  Vision  /  Vor  Abgang  des  Zuges  /  Wie  die  Hunde 
durchhalten  /  Der  deutsche  Professor  /  Na  und  ihr  zwee  beede?  / 
Ein  Kapitel  aus  Frangois  Rabelais'  Gargantua:  Wie 
etliche  von  Pikrochollers  Hauptleuten  ihn  durch  hitzige  Rat- 
schläge in  Gefahr  brachten.  II.  Epigramme:  Wahnschaffe; 
Der  Heldensarg;  Zwei  Soldatenlieder.  Der  Flieger;  Ehren- 
doktorate; Der  Bericht  vom  Tag;  Die  Kriegsberichterstatterin; 
Die  Werte;  Das  Lebensmittel;  So  lesen  wir  alle  Tage;  Knappes 
Leben;  Die  kranke  Valuta;  Der  triftige  Grund;  Zusammenhänge; 
Propaganda;  Der  Fremdenverkehr;  Die  Instrumente;  Repressalien; 
Ersatz;  Die  Balten  und  die  Letten;  Der  neue  Pair;  Glossen 
werden  Symbole;  Bahrs  Himmelfahrt;  Richard  Dehmel;  An  den- 
selben; Hugo  von  Hofmannsthal;  Derselbe;  Luxusdrucke;  ,Die 
neue  Generation;  Eifersucht  ist  immer  unberechtigt;  Der  Vor- 
leser; Deutsche  Literaturgeschichte;  In  eigener  Regie  /  Deutscher 
Bildungshunger  /  Ein  Bild  /  Das  letzte  Rätsel  /  Ein  unheimlicher 
Korrespondent  /  Verwandlungen  /  Wenn  einmal  alles  vorbei  / 
Vom  Glück  /  Schonet  die  Kinder!  III.  Das  übervolle 
Haus  jubelte  den  Helden  begeistert  zu,  die  stramm 
salutierend  dankten. 

(Ein  Teil  des  Ertrages  für  den  Verein  »Mariahilfer  Kinder- 
freunde« und  einen  notleidenden  Lehrer.) 

* 

Kleiner  Konzerthaussaal : 

11. November,  3  Uhr: 

I.  Ein  Kapitel  aus  dem  »Abenteuerlichen  Simplicissimus< 
von  Hans  Jacob  Christoffels  von  Grimmeishausen  (1669)  /  Tro- 
phäen /  Zeichen  und  Wunder  /  Also  was  soll  ich  Ihnen  sagen  / 
Eine  Quelle  der  Verjüngung  /  Vision  /  Wie  es  in  London  zugeht, 
das  ist  wirklich  nicht  mehr  zu  glauben  /  Ich  stoß  dir  die  Augen 
aus  /  Sie  wollen  von  uns  nichts  wissen  /Eine  große  Meuterei 
in  der  englischen  Flotte  /  Weltalldarin  /  Überraschungen  /  Was 
sich  am  Ende  der  Zeit  begab  /  Eine  prinzipielle  Erklärung. 
II.  Epigramme  /  Schonet  die  Kinder!  /  Epigramme 
Im  Namen  Goethes!  /  Gebet. 

(Ein  Teil  des  Ertrages  für  die  Mutter  zweier  Kriegskrüppel 
und  eine  andere  notleidende  Frau.) 


88 


18.  November,  halb  3  Uhr: 

l.In  mem  oriam  FranzJanowitz(mit  einigen  Gedichten) 
Ein  Kapitel  aus  dem  abenteuerlichen  Simplicissimus<  von  Hans 
Jacob  Christoffels  von  Qrimmelshausen  (1669)  /  Trophäen  /  Brief 
aus  dem  Publikum  über  dieses  /  Worte  von  Charles  Baudelaire 
Also  was  soll  ich  Ihnen  sagen  /  Überraschungen  /  Eine  Quelle 
der  Verjüngung  /  Zur  Darnachachtimg  /  Sie  wollen  von  uns 
nichts  wissen !  /  Die  russischen  Gefangenen  lernen  Deutsch  /  Ein 
Irrsinniger  auf  dem  Einspännergaul  /  Militarismus  /  Ein  Bild  / 
Szene  in  einem  Palais  /  Schön  brav  sein,  Wotan  /  Vom  Glück  / 
Das  übervolle  Haus  jubelte  den  Helden  begeistert  zu, 
die  stramm  salutierend  dankten.  II.  Epigramme  /  Er- 
fahrungen /  Mit  einem  vollen  Tropfen  Druckerschwärze  gesalbt 
(»Die  Bedeutung  der  Presse  im  Weltkrieg«)  /  Im  Namen 
Goethes!  /  Eine  prinzipielle  Erklärung. 

(Ein   Teil  des    Ertrages   für   das    »Heim   für  tuberkulöse 
Kinder«.) 


25.  November,  halb  3  Uhr: 

Verlorne  Liebesmüh',  Lustspiel  in  fünf  Aufzügen  von 
Shakespeare,  übersetzt  von  Wolf  Graf  Baudissin,  Schlegel- 
Tieck'sche  Ausgabe  (»Liebes  Leid  und  Lust«.)  Mit  Benützung  der 
Heinrich  Voss'schen  Übersetzung  bearbeitet  vom  Vorleser. 

(Nach  dem  zweiten  und  nach  dem  dritten  Aufzug  eine 
Pause.  Musik  zu  dem  Lied  des  Pagen  Motte  im  ersten  und 
zweiten,  zum  Lied  des  Frühlings  [Motte)  und  des  Winters  [Schädel] 
im  fünften  Aufzug:  Egon  Kornauth.) 

Programm-Anmerkung    zur  2.  Szene  des  111.  Aufzuges: 

Goethe  in  »Wahrheit  und  Dichtung«,  elftes  Buch: 
».  .  .  Niemand  war  vielleicht  eben  deswegen  fähiger  als  er 
(Reinhold  Lenz),  die  Ausschweifungen  und  Auswüchse  des  Shakes- 
peareschen  Genies  zu  empfinden  und  nachzubilden  .  .  Er  behandelt 
seinen  Autor  mit  großer  Freiheit,  ist  nichts  weniger  als  knapp  und 
treu,  aber  er  weiß  sich  die  Rüstung  oder  vielmehr  die  Possenjacke 
seines  Vorgängers  so  gut  anzupassen,  sich  seinen  Gebärden  so 
humoristisch  gleichzustellen,  daß  er  demjenigen,  den  solche  Dinge 
anmuteten,  gewiß  Beifall  abgewann. 

Die  Absurditäten  der  Clowns  machten  besonders  unsere  ganze 
Glückseligkeit,  und  wir  priesen  Lenzen  als  einen  begünstigten  Menschen, 
da  Ihm  jenes  Epitaphium  des  von  der  Prinzessin  geschossenen  Wildes 
folgendermaßen  gelungen  war: 


89  — 


Die  schöne  Prinzessin  schoß  und  traf 

Eines  jungen  Hirschleins  Leben; 

Es  fiel  dahin  in  schweren  Schlaf, 

Und  wird  ein  Brätlein  geben. 

Der  Jagdhund  boll!  —  Ein  L  zu  Hirsch, 

So  wird  es  denn  ein  Hirschel; 

Doch  setzt  ein  römisch  L  zu  Hirsch, 

So  macht  es  fünfzig  Hirschel. 

Ich  mache  hundert  Hirsche  draus, 

Schreib  Hirscheil  mit  zwei  LLen.« 
So  Goethe,  der  noch  berichtet,  wie  diese  Lenz'sche  Übertragung 
von  der  Straßburger  Tischgesellschaft  auf  einen  Rittmeister,  der 
vom  Pferde  gestürzt  war,  variiert  wurde.  Wie  unverdient  Goethes 
Anerkennung  des  nüchternen  und  den  Charakter  des  Originals  völlig  ver- 
fehlenden Lenz'schen  Versuches  war,  zeigen  erst  die  späteren  Über- 
setzungen. Der  Schulmeister  Holofernes  kündigt  das  Epitaph  mit  dem  Ver- 
sprechen ah,  er  wolle  »die  Alliteration  in  etwas  vorwalten  lassen, 
denn  das  zeuget  von  Leichtigkeit«.  Die  Erfüllung,  die  Lenz  schuldig 
bleibt,  gelingt  bei  Heinrich  Voß  wie  folgt  r* 

Preis  dir,  Prinzeß,  du  pirschtest  brav  und  brachtest  prächtig  Wildpret; 
Ein  Spießer  sonst,  Gespießter  nun,  gespießt  von  deinem  Spieße. 
Hell  gellt  Gebell;  zum  Spießer  1,   ein  Spießerl  springt  vom  Wildbett; 
Des  Spießers  Spieß  den  Spießer  spießt;  hallali  hallt  die  Wiese; 
Dein  Spieß  spießt  fünfzig  Spießer,  wHlst  du  L  zum  Spieß  gesellen; 
Ein  Spießer  hundert  Spießer  wird,  fügst  du  ihm  bei  zwei  LLen. 

Zu  einem  über  die  Clownerie  des  alliterierenden  Schulmeisters 
hinausragenden,  stellenweise  dichterischen  Gebilde  wird  der  Scherz 
bei  Baudissin : 

Straff  spannt  die  Schöne,  schnellt  und  schießt  ein  Spießtier 

schlank  und  schmächtig ; 
Man   nannt'    es    Spießhirsch,    denn   am   Spieß   spießt  ihn    der 

Speisemeister. 
Hierauf  verspeist  mit  Gabeln  wirds  ein  Gabelhirsch,  so  dächt'  ich, 
Und  weil  die  Schützin  Kronen  trägt,  mit  Recht  ein  Kronhirsch  heißt  er. 
Hell    gellt    die    Jagd:    nehmt  vom  Gebell  zu  Hirsch  eins  von 

den  L  len, 
Sinds  fünfzig  Hirschel:  noch  ein  L,  so  tat  sie  hundert  fällen. 

Nathanael  sagt  dazu  :»Wie  schmeidig  bewegt  er  der  Verse  zähen 
Fußl«,  was  er,  trotz  Goethe,  zur  Lenz'schen  Fassung  mit  Unrecht 
gesagt  hätte. 

(Der  volle  Ertrag  für  das  »Heim  für  tuberkulöse  Kinder«.; 


2.  Dezember,  halb  3  Uhr: 

1.  Worte   in    Versen:  Mit  der   Uhr  in   der    Hand / 
Krieg      Der  Bauer,  der  Hund  und  der  Soldat  /  Als  Bobby  starb  / 


90  — 


An  einen  alten  Lehrer  /  Jugend  /  Fahrt  ins  Fextal  /  »Alle  Vögel 
sind  schon  da«  /  Meinem  Franz  Qrüner  /  Kriegsberichterstatter  / 
Meinem  Franz  Janowitz  /  Bunte  Welt  /  Der  Heldensarg  /  Kompe- 
tenz vor  der  Sprache  /  Unterricht  /  Abenteuer  der  Arbeit  / 
Wiedersehn  mit  Schmetterlingen  /  Vallorbe. 

II.  Zum  dritten  Male:  Hannele  Matterns  Himmel- 
fahrt, Traumdichtung  in  zwei  Teilen  von  Gerhart  Hauptmann. 
(Begleitende  Musik:  Dr.  Egon  Kornauth.) 

Programmbemerkung:  Der  Zusammenbruch  des  Dichters, 
der  heute  zwischen  fragwürdigen  Dramen  Aufrufe  für  die  Kriegs- 
anleihe verfaßt,  macht  es  zur  Pflicht,  ihn  vor  Verwechslung 
mit  ihm  selbst  zu  schützen  und  immer  wieder  auf  die  Wunder 
seiner  Jugend  hinzuweisen. 

(Der  volle  Ertrag  für  den  Arbeiterverein  »Kinderfreunde«.) 
* 

9.  Dezember,  halb  4  Uhr: 

I.  Pa  n  d  o  r a,  ein  Festspiel  (Fragment)  von  Q  o  e  t  h  e. 

II.  Szenen  aus:  Die  letzte  Nacht,  Epilog  zu  der  Tragödie 
»Die  letzten  Tage  der  Menschheit«  von  Karl  Kraus  (Drei  sterbende 
Soldaten.  Männliche  und  weibliche  Gasmaske.  Zwei  Kriegskorre- 
spondenten. Ein  Feldwebel.  Die  Kriegskorrespondentin.  Ein  Toten- 
kopfhusar.)  Der  General ;  Doktor  ing.  Abendroth  aus  Berlin ;  Der  Er- 
blindete; Fressack  und  Naschkatz,  Hyänen;  Der  Herr  der  Hyänen; 
Drei  gelegentliche  Mitarbeiter;  Stimmen  von  unten;  Stimmen  von 
oben;  Zwei  Ordonnanzen ;  Die  Kinooperateure;  Eine  Stimme  von 
unten;  Eine  Stimme  von  oben;  Die  Stimme  Gottes.  (Die  Szenen 
mit  den  in  Klammern  angeführten  Erscheinungen  wurden  nicht 
vorgelesen.)  \ 

Programmbemerkung:  Das  übliche  Saalerlebnis,  daß  gewisse 
Solisten  der  Hörerschaft  das  Vergnügen  über  die  leichte  Agnoszierung 
zeit-  und  ortsbekannter  Namen  und  Klänge  nicht  unterdrücken  können, 
möge  dem  Vorleser  diesmal  erspart  bleiben.  Er  ist  nicht  darauf  erpicht, 
solche  Beweise  der  Eingeweihtheit,  solche  Bekenntnisse  der  Bekannt- 
schaft und  Verwandtschaft  mit  den  trostlosen  Anlässen  seiner  Ge- 
staltung als  Erfolg  einzuheimsen.  Die  Übernahme  der  komischen 
Trivialität  in  das  Grauen  sollte  das  Unglück,  in  dieser  Zeit  und  au 
diesem  Ort  zu  leben,  tiefer  fühlen  lassen  und  keineswegs  damit  ver- 
söhnen. Da  die  Absicht  fehlschlägt,  flüchtet  der  Vorleser  oft  genug 
zu  Shakespeare  und  Andern,  froh  der  verminderten  Gefolgschaft  und  des 
Zurückbleibens  jener,  die  an  solchen  Abenden  >  nicht  auf  ihre  Kosten 
kommen«.  Goethe  wäre  ein  vollkommener  Schutz,  wenn  er  den  Abend 
füllte.  Da  es  nicht  der  Fall  ist  und  eben  diesmal  die  Meinung  Platz  greifen 
könnte,  daß  ein  Wiener  Weltuntergang  ein  Spassettl  sei,  möge  die  Bitte 
helfen,  in  der  Erheiterung  Maß  zu  halten.  Hilft  sie  nicht,  so  ist  von  jenen 
besseren  Teilen  des  Publikums,  deren  Erschütterung  bis  zur  Garderobe 
und  sogar  darüber  hinaus  vorhält  und  deren  Empfänglichkeit  oder  Würde 


diese  Vorlesungen  nicht  völlig  zur  beschämten  Preisgabe  eines  Geheim 
nisses  macht,  zu  erwarten,  daß  sie  die  unbewegten  Lacher  und  Freunde 
stofflicher  Reize  zurechtzischen  werden,  so  daß  solche  es  künftig  vor- 
ziehen, anstatt  in  diesem  Saal  bei  den  Quellen  ihrer  Belustigung  ein- 
zukehren. Zur  leichteren  Orientierung,  welche  Hörer  hier  gemeint  sind, 
diene  das  Gefühl  jener,  die  sich  durch  diese  Erklärung  getroffen  fühlen 
oder  soeben  etwa  zu  dem  Ausruf  »Das  hat  die  Welt  nicht  gesehn l< 
geneigt  wären.  Ihnen  wird,  mit  der  Beruhigung,  daß  Goethe  sie 
ohnedies  langweilen  dürfte,  anheimgestellt,  sich  vor  Beginn  geräusch- 
los zu  entfernen  und  ihr  Eintrittsgeld  an  der  Kassa  zu  beheben. 
(Der  volle  Ertrag  für  den  Arbeiterverein  »Kinderfreunde«.) 


16.  Dezember,  halb  4  Uhr: 

I.  Aus  »Demokritos«  (Karl  Julius  Weber),  mit  Vorbemer- 
kung /  Es  ist  alles  da,  es  ist  nicht  so  wie  bei  arme  Leute  /  Der 
Untergang  der  Verite  /  Mit  einem  vollen  Tropfen  Drucker- 
schwärze gesalbt  (»Die  Bedeutung  der  Presse  im  Weltkrieg«)  / 
Stellen  wir  uns  vor  (Ein  Satz)  /  Ein  Bild  /  Szene  in  einem 
Palais  /  Ein  Winkelried  /  Schon  wieder  eine  Forderung!  /  Das 
letzte  Duell  /  Der  jüngste  Ehrendoktor  /  Ein  Irrsinniger  auf  dem 
Einspännergaul  /  Schonet  die  Kinder!  /  Denn  wir  sind  ein 
Kulturvolk  /  Lied  des  Alldeutschen.  II.  Szenen  aus:  Die 
letzte  Nacht,  Epilog  zu  der  Tragödie  »Die  letzten  Tage  der 
Menschheit.«  (Diesmal  auch:  Männliche  und  weibliche  Oasmaske.) 

Program mbemerkung  ähnlich  wie  am  9.  Dezember. 

(Ein  Teil  des  Ertrages  für  eine  Arme,  der  beide  Söhne 
getötet  wurden.) 

27.  März  1918,  6  Uhr: 

Das  technoromantische  Abenteuer  /  Von  der  Sinai- 
Iront  /  Ein  Kantianer  und  Kant  /  Um  Mißverständnissen  vor- 
zubeugen /  Von  Goethe  /  Erfahrungen  /  Ei-Ersatz  Dottofix  /  Die 
europäische  Melange  /  Papierknappheit  in  Österreich  /  Das  kann 
man  nicht  oft  genug  hören  /  Für  Lammasch.  IL  Wie  Hinden- 
burg  und  Ludendorff  unter  Paul  Goldmanns  Einwirkung  zu 
Pazifisten  wurden  /  Vor  dem  Einschlafen  der  Welt  /  Die  mit 
gutem  Beispiel  vorangehen  und  die  ihnen  folgen  /  Die  Kriegs- 
schreiber nach  dem  Krieg  '  Der  Katzelmacher  /  Das 
Lied  vom  armen  Kind.  Von  Frank  Wedekind  f  (Erst- 
druck in  der  Fackel  1904)  /  Unsere  Pallas  Athene !  /  Kriegsmüde  / 
Lied  des  Alldeutschen.  III.  Der  Bauer,  der  Hund  und 
der  Soldat  /  Aus:  Die  letzte  Nacht:  Hyänen-Szene  /  Zum 
ewigen  Frieden. 

Programmbemerkung  wie  oben. 

(Ein  Teil  des  Ertrages  für  den  Arbeiterverein  » Kinder- 
freunde«.) 


-  92 


30.  März,  halb  7  Uhr: 

I.  Das  technoromantische  Abenteuer  /  Von  der 
Sinai-Front  /  Ein  Kantianer  und  Kant  /  Um  Mißverständnissen 
vorzubeugen  /  Von  Lionardo  da  Vinci  /  Von  Goethe  /  Er- 
fahrungen /  EiTirsatz  Dottofix  /  Die  europäische  Melange  /  Papier- 
knappheit in  Österreich  /  Das  kann  man  nicht  oft  genug  hören  / 
Für  Lammasch.  II.  Wie  Hindenburg  und  Ludendorff  unter 
Paul  Qoldmanns  Einwirkung  zu  Pazifisten  wurden  /  Vor  dem 
Einschlafen  der  Welt  /  Die  mit  gutem  Beispiel  vorangehen  und 
die  ihnen  folgen  /  Epigramme  /  Das  Lied  vom  armen 
Kind.  Von  Frank  Wedekind  |  /  Unsere  Pallas  Athene!  / 
Kriegsmüde  /  Die  Kriegsschreiber  nach  dem  Krieg. 
III.  Der  Bauer,  der  Hund  und  der  Soldat  /  Zum  ewigen 
Frieden. 

(Ein  Teil  des  Ertrages  für  den  Arbeiterverein  »Kinder- 
freunde«.) 


14.  April,  halb  4  Uhr: 

I.  Worte  in  Versen:  Goethe-Ähnlichkeit  /  Abenteuer 
der  Arbeit  /  Memoiren  /  Sonnenthal  /  Wiedersehn  mit  Schmetter- 
lingen /  Der  Reim  /  Der  Anlaß  /  Der  Ratgeber  /  Bange  Stunde 
Verlöbnis  /  Die  Flamme  der  Epimeleia. 

II.  Helena  (Faust,  der  Tragödie  zweiter  Teil,  III.  Akt.) 
Von  Goethe.    (Begleitende  Musik.) 

Auf  dem  Programm  waren,  zusammengestellt  aus  einer 
Sammlung  von  Aussprüchen  Goethes  über  den  Faust,  die 
folgenden  Zitate  gedruckt:  \ 

> Je  inkommensurabler  und  für  den  Verstand  unfaß- 
licher eine  poetische  Produktion,  desto  besser.« 

Gespräch  mit  Eckermann,  6.  Mai  1827. 

»—  mit  einem  Worte,  ich  verwünsche  alles,  was  diesem 
Publikum  irgend  an  mir  gefällt.  Ich  weiß,  daß  es  dem  Tag  und 
daß  der  Tag  ihm  angehört;  aber  ich  will  nun  einmal  nicht  für  den 
Tag  leben  ....  Ja,  wenn  ich  es  nur  jedahin  noch 
bringen  könnte,  daß  ich  ein  Werk  verfaßte  —  aber  ich  bin 
zu  alt  dazu  — ,  daß  die  Deutschen  mich  so  ein 
fünfzig  oder  hundert  Jahre  hintereinander  recht 
gründlich  verwünschten  und  aller  Orten  und  Enden 
mir  nichts  als  Übles  nachsagten ;  das  sollte  mich  außer 
Maßen  ergötzen....  Sie  mögen  mich  nicht !  Das  matte 
Wort!  Ich  mag  sie  auch  nicht!  Ich  habe  es  ihnen  nie  recht  zu 
Danke  gemacht! . . .«        Gespräch  mit  Falk,  21.  (?)  Juni  1816. 

Ein  versiegeltes  Paket  lag  auf  dem  Tisch.  Goethe  legte  seine 
Hand  darauf.  »Was  ist  das?«  sagte  er:  »Es  ist  die  , Helena',  die 


—  93 


an  Cotta  zum  Druck  abgeht.«  Ich  empfand  bei  diesen  Worten 
mehr,  als  ich  sagen  konnte,  ich  fühlte  die  Bedeutung.des  Augen- 
blicks.   »Ich  habe«,  sagte  Goethe,    »bis  jetzt  immer  noch 

Kleinigkeiten  daran  zu  tun  und  nachzuhelfen  gefunden.  Endlich 
aber  muß  es  genug  sein  ....  Es  mag  nun  seine  Schicksale 
erleben!  —  Was  mich  tröstet,  ist,  daß  die  Kultur  in  Deutschland 
doch  jetzt  unglaublich  hoch  steht  und  man  also  nicht  zu  fürchten 
hat,  daß  eine  solche  Produktion  lange  unverstanden  und  ohne 
Wirkung  bleiben  werde.« 

Gespräch  mit  Eckermann,  29.  Januar  1827. 

>—  —  Sie  haben  vollkommen  recht«,  sagte  Goethe; 
»auch  kommt  es  bei  einer  solchen  Komposition  bloß  darauf  an, 
daß  die  einzelnen  Massen  bedeutend  und  klar  seien,  während  es 
als  ein  Ganzes  immer  inkommensurabel  bleibt,  aber  ebendeswegen, 
gleich  einem  unaufgelösten  Problem,  die  Menschen  zu  wieder- 
holter Betrachtung  immer  wieder  anlockt.« 

Gespräch  mit  Eckermann,  13.  Februar-  1831. 

»  -  —  Wenn  das  alles  so  zur  Erscheinung  käme«,  sagte  ich, 
»wie  Sie  es  gedacht  haben,  das  Publikum  müßte  vor  Erstaunen 
dasitzen  und  gestehen,  daß  es  ihm  an  Geist  und  Sinnen  fehle, 
den  Reichtum  solcher  Erscheinungen  würdig  aufzunehmen. 
»Geht  nur«,  sagte  Goethe,  »und  laßt  mir  das  Publikum,  von 
dem  ich  nichts  hören  mag.  Die  Hauptsache  ist,  daß 
es  geschrieben  steht;  mag  nun  die  Welt  damit  gebaren, 
so  gut  sie  kann,  und  es  benützen,  so  weit  sie  es  fähig  ist.« 
Gespräch  mit  Eckermann,  20.  Dezember  1829. 

Es  ist  mir,  teurer  verehrter  Freund,  höchst  wohltätig,  wenn 
ich  erfahre,  daß  meine  ältesten,  edelsten  Zeitgenossen  sich  mit 
»Helena«  beschäftigen,  da  dieses  Werk  als  ein  Erzeugnis  vieler 
Jahre,  mir  gegenwärtig  ebenso  wunderbar  vorkommt  als  die 
hohen  Bäume  in  meinem  Garten  am  Stern,  welche,  doch  noch 
jünger  als  diese  poetische  Konzeption,  zu  einer  Höhe  heran- 
gewachsen sind,  daß  ein  Wirkliches,  welches  man  selbst  verur- 
sachte, als  ein  Wunderbares,  Unglaubliches,  nicht  zu  Erlebendes 
erscheint Brief  an  Knebelj  14    November  1827. 

»Sie  (.Helena';  ist  eine  fünfzigjährige  Konzeption.  Ein- 
zelnes rührt  aus  den  ersten  Zeiten  her,  in  denen  ich  an  den 
.Faust' ging,  andres  entstand  zu  den  verschiedensten  Zeiten  meines 
Lebens.  Als  ich  daran  ging,  alles  in  einen  Guß  zu  bringen, 
wußte  ich  lange  nicht,  was  ich  damit  machen  sollte.  Endlich 
fiel  mirs  wie  Schuppen  von  den  Augen;  ich  wußte:  nur  so 
kann  es  sein  und  nicht  anders!« 

Owpräch  mit  C.  Kraukling,  1.  September  1828. 


Ganz  ohne  Frage  würd  es  mir  unendlich  Freude  machen, 
meinen  werten,  durchaus  dankbar  anerkannten,  weitverteilten 
Freunden  auch  bei  Lebzeiten  diese  sehr  ernsten  Scherze  zu 
widmen,  mitzuteilen  und  ihre  Erwiderung  zu  vernehmen.  Der 
Tag  aber  ist  wirklich  so  absurd  und  konfus, 
daß  ich  mich  überzeuge,  meine  redlichen,  lange  verfolgten 
Bemühungen  um  dieses  seltsame  Qebäu  würden  schlecht  belohnt 
und,  an  den  Strand  getrieben,  wie  ein  Wrack  in  Trümmern 
daliegen  und  von  dem  Dünenschutt  der  Stunden  zunächst 
überschüttet  werden.  Verwirrende  Lehre  zu  ver- 
wirrtem Handel  waltet  über  die  Welt,  und  ich 
habe  nichts  angelegentlicher  zu  tun,  als  dasjenige,  was  an  mir 
ist  und  geblieben  ist,  womöglich  zu  steigern  und  meine  Eigen- 
tümlichkeiten zu  kohobieren,  wie  Sie  es,  würdiger  Freund,  auf  Ihrer 
Burg  auch  bewerkstelligen. 

Brief  an  W.  von  Humboldt,  17.  März  1832 
(fünf  Tage  vor  Goethes  Tod>. 

(Der  volle  Ertrag  für  den  Arbeiterverein  »Kinderfreunde« 
und  die  Kinder-Schutz-  und  Rettungs-Gesellschaft.) 


22.  April,  halb  7  Uhr: 

I.  Hölderlin:  Vom  deutschen  Volk/  Von  der 
Sinai-Front  /  Ein  Kantianer  und  Kant  /  Um  Mißverständnissen 
vorzubeugen  /  Von  Lionardo  da  Vinci  /  Von  Goethe  (Zwei  Zitate) 
Hungersnot  in  England  /  Getreide  aus  der  Ukraine  /  Eine  Quelle 
der  Verjüngung  /  Das  kann  man  nicht  oft  genug  hören  /Für 
Lammasch.  II.  Am  Sarg  Alexander  Girardis/ 
Glück  /  Ein  Bild  /  Mit  einem  vollen  Tropfen  Druckerschwärze 
gesalbt  /  Vor  dem  Einschlafen  der  Welt  /  Szene  in  einem  Palais  / 
Fürs  Vaterland  /  Zur  Darnachachtung  /'  Unsere  Pallas  Athene !  / 
Kriegsmüde  /  Die  Kriegsschreiber  nach  dem  Krieg. 
III.  Der  Bauer,  der  Hund  und  der  Soldat  /  Zum  ewigen 
Frieden. 

(Ein  Teil  des   Ertrages  für   den    Arbeiterverein    »Kinder- 
freunde«.) 


Glossen 


Wie  Hindenburg  und  Ludendorff  unter  Paul  Goldmauns 
Einwirkung  zu  Pazifisten  wurden 

Als  Paul  Goldmann  zu  Hindenburg  und  Ludendorff 
ging,  stand  auf  dem  Niederwald  die  Germania  und  hob  mit 
hochgestrecktem  Arme  die  deutsche  Kaiserkrone  in  den  Morgen- 
himmel. Das  tut  sie  zwar  immer,  aber  es  gibt  Tage,  an  denen 
»Allegorien,  sonst  konventionell  und  leer,  plötzlich  Bedeutigig 
und  Inhalt  durch  die  Ereignisse  bekommen.«  Heute  ist  solch  ein 
Tag.  Hindenburg  und  Ludendorff  erwarten  jien  Besuch  Faul 
Goldmanns,  »den  vierten  seit  Beginn  des  Krieges<,  und  die  Härte 
dieser  Kriegszeiten  könnte  nicht  sinnfälliger  zum  Ausdruck  kommen. 

Heute  hat  die  Germania  auf  dem  Niederwald  einen  starken 
Ausdruck.  Ruhig,  unerschütterlich  steht  sie,  hält  das  Symbol  des 
deutschen  Reiches,  die  Kaiserkrone,  empor  und  wendet  den  Blick 
nach  Frankreich:  »Ihr  werdet  sie  nicht  herunterholen!« 

Dem  Paul  Goldmann  ist  sie  geneigt,  ihm  gibt  sie  Ernst 
aber  Zuversicht,  und  ich  erinnere  mich  aus  Friedenszeiten  an 
eine  Eisenbahnfahrt  durch  Südtirol,  da  ein  Offizier  eingestiegen 
war  und  ein  älterer  Herr  neben  mir,  der  offenbar  Biach  hieß, 
den  Blick  von  ihm  nicht  abwendend,  zu  seiner  Gattin  die 
Wortesprach:  »Das  ist  also  das  sogenannte Tridanto!«  >Tridantino«, 
verbesserte  die  Gattin.  Er  aber  fuhr  fort:  »Ja,  das  möchten  sie 
haben,  die  Herren  Italiener,  das  schmecket  ihnen.  Aber  sie 
kriegen  es  nicht!«  Die  Prophezeiung  hat  sich  erfüllt;  doch 
unvergeßlich  bleibt  mir  die  Haltung  des  Offiziers,  der  —  ich 
muß  es  trotz  allen  Erlebnissen  dieser  Kriegsjahre  hervorheben  — 
schamrot  wurde.  Er  hatte  ganz  gewiß  keinen  Festungsplan 
verraten,  aber  er  fühlte  sich  mit  dem  Feind  verbunden  und 
verraten  an  den  innern  Feind,  an  jene  geheimnisvolle  Macht, 
die  heute  in  Gestalt  des  Paul  Goldmann  ihre  Siegesgewißheit 
auf  die  Germania  stützt  und  darin  leider  sowohl  von  Hindenburg 
als  auch  von  Ludendorff  bestärkt  wird. 


9Ü 


Die  Unteilbarkeit  der  Individualität,  die  diese  beide  Namen 
trägt,  kommt  schon  in  dem  Titel  des  Interviews  »Hindenburg 
und  Ludendorff  über  Krieg  und  Frieden<  zum  Ausdruck,  und 
mit  höchster  Spannung  folgt  man  dem  Prozeß,  wie  sich  in  den 
grundverschiedenen  Diskussionsgegenständen  die  Einheit  der 
Persönlichkeit  zur.  Geltung  bringt.  Das  wird  wesentlich 
dadurch  erleichtert,  daß  Hindenburg  und  Ludendorff  gemein- 
schaftlich eine  Villa  bewohnen,  und  da  auch  der  Empfang  zu 
gleicher  Zeit  stattfindet,  so  ist  die  Einheit  des  Ortes,  der  Zeit 
und  des  Frühstücks  gewahrt,  bei  dem  freilich  »dem  Qast  die 
hohe  Ehre  zuteil  wird,  zwischen  dem  Generalfeldmarschall 
und  dem  Generalquartiermeister  sitzen  zu  dürfen«.  Es  ist,  in 
eifter  Epoche,  in  der  alles  photographiert  wird,  ein  unwieder- 
bringlicher Verlust,  daß  eine  wenngleich  noch  so  plastische 
Schilderung  dieser  Szene  nicht  vom  Bilde  unterstützt  wird. 
Ehe  man  Platz  nimmt,  drückt  Hindenburg  »dem  Gaste  die  Hand 
mit  seiner  mächtigen  Rechten  (einer  Löwenpranke)  und  begrüßt 
ihn  mit  der  herzgewinnenden  Güte,  die  ihm  eigen  ist«.  Daß 
an  demselben  Tag  ein  anderer  Feuilletongast  von  der  zarten 
Hand  Hindenburgs  gesprochen  hat,  ist  vielleicht  darauf  zurück- 
zuführen, daß  er  den  schmächtigeren  Ludendorff  beschreiben 
wollte,  der  bekanntlich  die  rechte  Hand  Hindenburgs  ist. 
I.udendorffs  Aussehen  ist  nach  Goldmann,  der  besser  auseinander- 
halten kann,  »unverändert  das  gleiche  wie  vor  einem,  vor  zwei, 
vor  drei  Jahren«,  also  wie  bei  den  früheren  Besuchen  Goldmanns, 
nur  daß  sein  Charakterkopf  natürlich  noch  durchgeistigter 
geworden  ist.  Auch  Goldmann  hat  sich  in  all  der  Zeit  nicht 
verändert,  höchstens  daß  er  noch  zudringlicher  geworden  ist. 
Da  Hindenburg  und  Ludendorff  darauf  gefaßt  sind  und  Goldmann 
trotzdem  zum  vierten  Mal  empfangen,  suchen  sie  wenigstens  das 
Verfahren  tunlichst  abzukürzen,  indem  sie,  ohne  erst  die  Fragen 
abzuwarten,  gleich  alle  Antworten  erteilen,  alternierend  und 
einander  ergänzend,  indem  sie  so  einerseits  alles  Wissenwerte 
an  den  Goldmann  bringen,  andererseits  jedoch  streng  auf  die 
Wahrung  der  Einheit  bedacht  sind.  Sie,  die  sonst  Schulter  an 
Schulter  miteinandergehen,  sind  diesmal  zwar  durch  die  Gestalt 
des  Paul  Qoldmann  getrennt,  aber  gerade  darum  »chelnen  ihre 


—  97 


Stimmen,  die  von  rechts  und  links  auf  ihn  eindringen,  wie  eine 
einzige  zu  klingen.  Der  Grundgedanke  des  Gespräches  ist,  daß 
man  bis  zum  Endsieg  durchhalten  muß,  einstimmig  versichern 
beide,  daß  es  schwer  ist,  aber  darüber,  daß  es  gelingen  wird, 
herrscht  unter  ihnen  nur  eine  Stimme. 

»Es  steht  alles  gut«,  beginnt  Hindenburg  das  Gespräch. 
Und  Ludendorf f  bekräftigt:  »Die  Kriegslage  berechtigt  zur 
größten  Zuversicht.« 

Ob  Goldmann  es  notiert  oder  im  Kopf  behalten  hat, 
erfahren  wir  nicht,  so  oder  so  muß  es  schwer  gewesen  sein, 
den  sich  kreuzenden  und  doch  wieder  findenden  Gedanken- 
gängen zu  folgen. 

»Überwintern  müssen  wir  freilich«,  fährt  Hindenburg  fort 

Ludendorff  fügt  hinzu:  »Den  Termin  des  Friedens  bestimmen 
können  wir  natürlich  nicht  —  — « 

Die  lapidare  Wucht  dieser  Äußerungen  verführt  beinahe 
zu  der  Vorstellung,  daß  Goldmann  schwerhörig  ist  und  nach- 
dem er  aufgefaßt  hat,  befriedigt  nach  der  rechten  und  dann 
nach  der  linken  Seite  nickt.  Doch  gelingt  es  ihm  zuweilen,  die 
beiden  Flügelmänner  mit  einer  Frage  zu  überraschen.  So  sieht 
er  wohl  ein,  daß  sich  über  das  »Wann«  des  Friedens  bestimmte 
Angaben  nicht  machen  lassen.  Aber  vielleicht  über  das  »Wie?« 
Und  stellt  nun  die  Frage,  die  wohl  jedem  daheim  am  Herzen 
liegen  mag:  »Durch  welche  Mittel  wird  der  Friede  am  sichersten 
herbeigeführt?«  Da  nun  Goldmann  das  Glück  hat,  den  beiden 
maßgebendsten  Heerführern  am  Herzen  zu  liegen,  so  kann  man^ 
wohl  auf  die  Antwort  gespannt  sein: 

»Der  Friede  wird  umso  eher  herbeigeführt  werden, 

antwortet  Ludendorff 

je  günstiger  unsere  Kriegslage  wird.  Noch  steht  die  Tat  über 
dem  Wort«. 

Und  Hindenburg: 

»  Deshalb  sollten  wir  jetzt  nicht  mehr  vom  Frieden  sprechen 

Trotzdem,  das  Eis  ist  gebrochen. 

»Den  Anfang 

fährt  Ludendorff  fort 

scheinen  die  Russen  machen  zu  wollen  i 


—  98 


Und  Hindenburg? 

»Ein  Waffenstillstand  von  einer  Dauer  von  drei  Monaten,  von 
dem    öfter    gesprochen    wird, 

führt  Ludendorff  weiter  aus 

ist  reichlich  lang.« 

Und  Hindenburg??  Ludendorff  macht  eine  Pause  des 
Nachdenkens 

und  spricht  weiter:  >Wenn  mir  jemand  sagt,  die  russische 
Revolution  sei  ein  Glücksfall  für  uns  gewesen,  so  protestiere  ich 
immer.  Die  Revolution  in  Rußland  war  kein  Glücksfall,  sondern  die 
natürliche  und  notwendige  Folge  unserer  Kriegführung.  Mit  dem 
modernen  Kriege  hat  es  eine  eigene  Bewandtnis         — « 

Und  Hindenburg???  Da  muß  eine  technische  Störung  ein- 
getreten sein.  Goldmann  erklärt,  >was  im  Anschluß  hieran  über 
den  Frieden  mit  Rußland  gesprochen  wurde,  entziehe  sich  in 
seinen  Einzelheiten  der  Veröffentlichung«.  Er  ist  also  im  Besitze 
eines  Generalstabsgeheimnisses  und  verrät  es  um  keinen  Preis 
der  Welt. 

Nur  so  viel  darf  vielleicht  mitgeteilt  werden, 
daß  Hindenburg  und  Ludendorff  einen  Frieden  wünschen,  der  möglichst 
sichere  und  stabile  Verhältnisse  schafft,  einen  solchen  Frieden,  der  uns 
gesicherte  Grenzverhältnisse  und  eine  freie  wirtschaftliche  Betätigung 
in  der  Welt  und  auf  dem  Weltmeer  bringt. 

Das  ist  überraschend,  man  hatte  immer  gefürchtet, 
Hindenburg  und  Ludendorff  würden  einem  Verzichtfrieden  das 
Wort  reden  oder  gar  die  Abtretung  Elsaß-Lothringens  betreiben. 
Natürlich  will  sich  weder  Hindenburg  noch  Ludendorff  heute 
binden. 

Hindenburg  und  Ludendorff  sind  der  Meinung,  daß  die 
Ansichten  über  den  Frieden  nicht  unveränderlich  sein  können,  da 
sie  von  der  Kriegslage  abhängen. 

Hindenburg  speziell  meint,  vielleicht  reiße  in  Rußland 
schließlich  »irgendein  Gewaltmensch  die  Macht  an  sich  und 
peitscht  das  kriegsmüde  russische  Heer  noch  zu  einer  letzten 
Anstrengung  auf.« 

»Auch  über  die  Lage  an  der  Westfront  kann  ich  mich 
mit  voller  Beruhigung  und  Zuversicht  aussprechen« 

versichert  Hindenburg.  Ludendorff  knüpft  daran 

noch  folgendes:  


99 


Goldmann  möchte  wissen,  was  von  dem  Obersten  Kriegsrat 
zu  erwarten  sei,  den  die  Ententejetzt  einzusetzen  im  Begriffe  ist. 

Hindenburg  lacht  

Qoldmann  legt  den  Finger  auf  die  elsaß-lothringische  Frage. 

»Für  die  Franzosen  mag  es  eine  elsaß-lothringische  Frage 
geben, 

antwortet  Ludendorff 

für  Deutschland  gibt  es  keine. « 

Goldmanri,  ein  ungestümer  Mahner,  verweist  auf  Amerika. 

»Die  Reklame, 

äußert  Hindenburg 

mit  der  Amerika  seine  Kriegsleistungen  ankündigt,  ist  imposant 
und  des  Landes  würdig,  das  einen  Barnum  hervorgebracht  hat.  Nun 
wollen  wir  erst  einmal  abwarten,  ob  die  Leistungen  selbst 
ebenso  imposant  sein  werden. <  —  — 

Hindenburg  entwickelt  den  Gedanken,  daß  Amerika  seit 
seinem  Eintritt  in  den  Krieg  tatsächlich  bestrebt  sei,  ein  großes 
Heer  zu  schaffen,  denn  im  Frieden  hätte  es  das  schon  deshalb 
nicht  können,  weil  Japan  nicht  ruhig  zugesehen  hätte.  Aber 
jetzt  muß  man  sich  fragen,  ob  die  Amerikaner  »nichts  Gescheiteres 
zu  tun  haben«,  als  dieses  große  Heer  nach  Europa  zu  schaffen 
und  damit  ihr  eigenes  Land  wehrlos  zu  machen,  für  den  Fall, 
daß  Japan  und  so  weiter.  Was  die  Amerikaner  aber  getan  hätten, 
wenn  zur  Zeit,  da  sie  das  Heer  noch  nicht  hatten,  Japan  und  so 
weiter  —  das  just  erfährt  Goldmann  nicht.  Er  errät  aber  gewiß,  daß 
Hindenburg  meint,  die  Amerikaner  hätten  das  Heer  gegen  Japan 
aufgestellt.  Und  dann  der  herrschende  Tonnagemangel!  Und 
die  U-Boote!  »Kurzum,«  sagt  Hindenburg,  »das große  amerikanische 
Heer  steht  noch  in  nebelhafter  Ferne.«  Goldmann  hat  eine  Frage 
auf  dem  Herzen,  die  an  das  Problem  des  U-Bootkrieges  streift. 

Ludendorff   übernimmt    e  s, 

die  Antwort  zu  erteilen.  » —  —  Wir  haben  nicht  daran 
gedacht,  daß  unsere  U-Boote  England  in  ein  paar  Monaten  aus- 
hungern würden.  —  —  Unser  Ziel  war  nicht,  England  aus- 
zuhungern,   sondern    es    zum  Frieden  geneigter    zu    machen.  —   — < 

Ludendorff  fährt  fort.  Und  Hindenburg? 

Ludendorff  hat  die  Operationen  in  Italien  erwähnt,  und  die 
Unterhaltung  geht  jetzt  zu  ihnen  über. 


100 


Nun  ist  die  Reihe  an  Hindenburg.  Er  spricht  vom 
vortrefflichen  Zusammenarbeiten,  »im  Wetteifer  mit  unseren 
Deutschen«  hätten  sich  die  österreichisch-ungarischen  Soldaten 
tapfer  geschlagen.  Ludendorff  schließt  sich  an.  Von  allen 
Kriegsschauplätzen  ist  schon  die  Rede  gewesen,  Goldmann  ver- 
mißt jetzt  nur  noch  den  Balkan.  Hindenburg  beruhigt  ihn  mit 
der  Versicherung,  daß  dort  die  Lage  unverändert  sei. 

Das  Mittagmahl  ist  gegessen,  der  Kaffee  getrunken.  Der  General- 
feldmarschall hebt  die  Tafel  auf. 

Qoldmann  hat  gleich  im  Anfang  erzählt,  daß  das  Mittag- 
essen »von  militärischer  Einfachheit«  gewesen  sei,  der  Kaffee 
allerdings  aus  echten  Bohnen  gemacht  und  nicht,  wie  man  etwa 
vermuten  könnte,  identisch  mit  jenem,  >den  in  dieser  schweren 
Kriegszeit  einem  Teil  des  deutschen  Volkes  ein  immerhin 
echt  d  e  u  tsch  er  Baum,  die  Eiche,  liefert«  —  ein  schalkhafter 
Hinweis  auf  ein  nationales  Vorrecht,  das  allerdings  bisher  nur 
unterschiedslos  die  alldeutschen  Schweine  genossen  hatten. 
Nachdem  Qoldmann  also  den  letzten  Rest  Bohnenkaffees,  den 
es  in  Deutschland  noch  gegeben  hat,  ausgetrunken  hat,  verab- 
schiedet sich  Hindenburg  von  dem  Gaste,  der  offenbar  nicht 
gehen  will,  indem  er  die  Worte  spricht: 

»Wenn  wir  noch  eine  Zeitlang  Kraft  und  Oeduld  haben, 
bringen  wir's  zum  guten  Ende.  Das  sagen  Sie  in  Österreich- 
Ungarn  mit  einem  schönen  Gruß  von  mir!« 

Das  waren  aber  noch  nicht  die  letzten  Worte.  Goldiuann 
steht  und  zaudert.  Noch  hat  Ludendorff  nicht  Abschied 
genommen.  Goldmann  wartet.  Da  reißt  Ludendorff  Hindenburgs 
Geduld,  und  er  spricht  etwas,  was  Goldmann  nicht  ohne  vor- 
bereitenden Kommentar  wiedergeben  möchte. 

Die  Abschiedsworte  des  Generalquartiermeisters 
spielen  darauf  an,  daß  der  Schreiber  dieser  Zeilen  bisher  in  jedem 
Kriegsherbst  einmal  an  der  Tafel  des  Feldmarschalls  hat  sitzen  dürfen, 
und  lauten:  »Sie  sind  heute  vielleicht  zum  letztenmal 
bei    uns   gewesen. <    Paul   Goldmann. 

Hat  es  je  einen  selbstloseren  Berichterstatter  gegeben? 
Natürlich  hat  Ludendorff  gemeint,  vor  dem  fünften  Besuch 
werde  der  Friede  kommen.  Ja,  er  hofft  es  sogar.  Er  —  \\m\ 
darin  dürfte  wohl  Hindenburg   mit  ihm  einer  Meinung  sein 


101 


sie  beide,  Hindenburg  und  Ludendorff  denken:  Soll  in  Gottes 
Namen  wieder  der  Friede  kommen,  ehe  der  Paul  Qoldmann 
wieder  kommt!  Er  faßt  das  »ehe«  als  eine  Präposition  der  Zeil 
auf,  sie  jedoch  als  eine  Präposition  der  Wahl.  Denn  sie  sind 
keine  Jusqu'auboutisten.  Sie  sind,  Hindenburg  und  Ludendorff, 
in  diesem  Fall  zu  einem  Verzichtfrieden  bereit! 


An  der  Tafel 

Berlin,  15.  Oktober. 
Ein  K  r  i  egsber  ichter  s  t  atter  des  ,L  o  k  a  1  a  n  z  e  i  g  e  r', 
der  sich  gegenwärtig  in  Rumänien  aufhält,  hatte  Gelegenheit,  während 
der  Reise  des  deutschen  Kaisers  in  Rumänien,  einer  Tafel 
beizuwohnen.  In  dem  sehr  lebhaften  Gespräch  an  der  Tafel 
äußerte  sich  der  Kaiser  über  die  fruchtbare  rumänische  Tief- 
ebene: > Ist  das  nicht  ein  gesegnetes,  reiches  Land!  Sehen  Sie 
diesen  schwarzen,  fetten  Boden,  diese  Riesenschober I  Das  ist  Brot 
für  das  Land  und  für  das  Heer.  Nein  —  der  Gott,  der  uns  das 
wachsen  läßt,  der  will  uns  nicht  a  1  s  K  n  e  c  h  t  e.  Da  ist  mir  eben 
die  Jungfernrede  des  neuen  Ministerpräsidenten  Painleve"  vorgelegt 
worden.  .  .  .  was  sind  das  wieder  für  volltönende  Phrasen  — 
und  keine  Spur  von  tiefen  Gründen  hinter  all  diesen  Worten. <  Er 
wendete  sich  dabei  an  den  Offizier  und  sagt:  >Sie  können  den 
Text  dann  vorlesen.«  ....  Schließlich  kam  das  Gespräch 
auf  die  Ernährung.  Der  Kaiser  sagte:  »Es  ist  des  Deutschen 
unwürdig,  reichlich  zu  leben,  während  die  Besten 
sich  einschränken.  Was  wir  an  Nahrungsmitteln  besitzen,  ist  ein 
gemeinsames  Gut,  das  bei  gerechter  Verwaltung  wohl  ausreicht, 
uns  durch  unbeschränkte  Zeit  genügend  zu  ernähren,  was  uns  die 
Möglichkeit,  den  letzten  Sieg  mit  Ruhe  zu  erwarten,  verbürgt.« 


Der  Gott,  der  uns  das  wachsen  läßt .  .  . 

Vor  dem  Verein  für  öffentliche  Gesundheitspflege  sprach  gestern 
abend  Geheimrat  Professor  Juckenack  über  die  E  r  s  a  t  z  m  i  1 1  e  1  , 
die    die    Not     des     Krieges      und     der     Scharfsinn      d'er     Erfinder 


-   102 


der  Bevölkerung  Deutschlands  über  den  Hals  geschickt  hat.  .  .  . 
Fleisch  wurde  aus  Kleintieren,  Seetieren  mit  Essigzusatz  schmackhaft 
gemacht.  Leberwurst  wurde  aus  Stärkekleister  und  rotgefärbtem 
Gemüse  hergestellt,  wobei  für  die  Fettklümpchen  Kartoffelstückchen 
zugesetzt  wurden.  Der  in  neuester  Zeit  auf  der  Bildfläche  erschienene 
Käseersatz  erstand  aus  Molken,  BerlinerQuark  mitPaprikaersatz 
und  gab  sich  als  Ungarischer  Liptauer  aus.  Öl  wurde  aus  Paraffin  gemacht 
und  für  Kartoffelpuffer  verwendet,  bis  infolge  vielfacher  Erkrankungen 
die  Behörde  einschritt.  Gänsefett  bereitete  man  aus 
Dachsfett,  Eier-Ersatz  aus  Schlemmkreide  mit 
Backpulver,  Kaviar  aus  gefärbtem  Fischroggen,  Brot  wurde 
aus  Strohmehl  gebacken  .  .  .  . 


Ei-Ersatz  Dottofix 

wenn  er- uns  nichts  gebracht  hätte,  der  Krieg,  als  das  und  außer- 
dem ><Hausmacher-Eiernudeln«  —  so  war  er  nicht  zu  führen! 
Ja,  hätte  doch  ein  Antidämon  am  31.  Juli  1914  (oder  schon 
etwas  früher)  dem  Grafen  Berchtold  und  dem  Bethmann  Hollweg 
zugeflüstert:  Ei-Ersatz  Dottofix!  Sie  hätten 's  nicht  getan,  bei  Gott, 
sie  hätten's  nicht  getan.  Und  gar  mancher  wäre  auch  durch  die 
rechtzeitige  Warnung  >Tor,  was  beginnst  du,  du  wirst  zwar  Prestige, 
aber  keineColgatd-  Rasiercreme  haben  einst!<  dazu  gebracht  worden, 
es  lieber  mit  einer  Entspannung  zu  versuchen.  Jetzt  haben  sie 
nur  zwischen  Ei-Ersatz  Dottofix  und  Eier-Ersatz  aus  Schlemm- 
kreide mit  Backpulver  die  Wahl  und  wenn  sie  jenem  nicht  trauen 
und  Zahnpulver-Ersatz  nicht  essen  wollen,  so  bleiben  ihnen  nur 
die  Hausmacher-Eiernudeln.  Und  darum  Räuber  und  Mörder! 
Das  Blut  von  zehn  Millionen  Toten  —  das  konnte  sich  keiner, 
vorstellen.  Aber  vielleicht  hätte  es  genügt,  das  Zauberwort 
auszusprechen:  Die  Schuhbandeln  werden  ausgehen !  >Ja  was  hat 
denn  der  Schlachtenruhm  mit  Schuhbandeln  zu  tun?«  Also  die 
Zündhölzchen  werden  alle  sein!  »Nicht  doch:  was  haben  denn 
Zündhölzchen  mit  unserer  artilleristischen  Überlegenheit  zu 
schaffen?«  So  hätte  denn  gesagt  werden  müssen,  was  wir 
haben    werden.    Ach,   die   losgelassene   Maschinenbestie    wäre 


103 


still  gestanden,  wenn  einer  Phantasie  und  Mut  genug  besessen  hätte, 
vom  Belt  bis  Banjaluka  einen  Ruf  wie  Donnerhall  brausen  zu 
lassen:    Ei-Ersatz  Dottofix! 


Getreide  aus  der  Ukraine 

»Wieder  Vizepräsident  der  Wiener  Börse  für  landwirtschaftliche 
Produkte,  M.  Kohn,  in  de;  .Neuen  Freien  Presse'  vom  14.  Februar 
berichtet,  wird  in  den  nächsten  Tagen  eine  Gesellschaft  mit  beschränkter 
Haftung  gegründet  sein,  die  das  Getreide  in  der  Ukraine  aufkaufen 
und  nach  Sulina  und  Braila  senden  will.« 

Man  weiß  liicht,  welche  Qetreidevorräte  in  der  Ukraine 
überschüssig  sind.  Man  weiß  nicht,  ob  die  Bauern  in  der  Ukraine 
ihr  Getreide  werden  schnell  verkaufen  wollen.  Man  weiß  nicht, 
ob  das  Tauwetter  die  Straßen  der  Ukraine  nicht  in  Moräste 
verwandeln  wird.  Man  weiß  nicht,  ob  es  Bahnen  in  der  Ukraine 
gibt.  Man  weiß  nicht,  ob  die  Anschlüsse  an  diese  Bahnen  in  der 
Ukraine  hergestellt  werden  können.  Man  weiß  nicht,  wer  in  der 
Ukraine  über  die  Häfen  des  Schwarzen  Meeres  verfügt.  Man 
weiß  nicht,  wer  über  wen  in  der  Ukraine  gesiegt  hat.  Man  weiß 
nicht,  ob  die  Regierung  der  Ukraine,  die  den  Frieden  geschlossen 
hat,  in  der  Ukraine  regiert  oder  schon  getötet  ist.  Man  weiß 
nicht,  ob  man  die  Ukraine,  mit  der  man  Frieden  geschlossen  hat, 
nicht  wird  erobern  müssen.  Man  weiß  nicht,  ob  das  Getreide 
in  der  Ukraine  noch  vorhanden  ist.  Man  weiß  nur,  daß  die 
Ukraine  durch  ihren  Getreidereichtum  bekannt  ist  und  daß  am 
läge  nach  dem  Friedensschluß  mit  der  Ukraine  Herr  Kohn 
eine  Gesellschaft  mit  beschränkter  Haftung  gegründet  hat,  um 
das' Getreide  in  der  Ukraine  aufzukaufen  und  aus  der  Ukraine 
herauszubringen,  was  aus  der  Ukraine  herauszubringen  ist,  damit 
wir  doch  Getreide  aus  der  Ukraine  bekommen. 


104  — 


Ein  logischer  Schluß  des  Grafen  Czernin 

Und  wenn  ich  zugebe,  daß  die  heutigen  Zuschübe  aus  der 
Ukraine  noch  gering  sind  und  gesteigert  werden  müssen,  so  bleibt 
doch  der  logische  Schluß,  daß  unsere  Verpflegslage  ohne 
diese  Zuschübe  bedeutend  schlechter  wäre. 


Der  Tritt  ins  Leben 

[Das  Jubilflum   der  Brotkarte.)   Morgen    werden  es   drei  Jahre 
sein,  daß  die  Brot-  und  Mehlkarte  ins  L  e  t>  e  n  trat.   .   .   . 


Peripetie 

Dasselbe  gilt  von  Serbien,  von  dem  Graf  Czernin 
wünscht,  daß  es  recht  bald  sein  eigenstes  Interesse  einsehen  und 
sich  mit  den  Zentralmächten  verständigen  möge.  .  .  .  Der  serbische 
Bauer  will  eine  solche  Politik  nicht,  sondern  er  will  im  Frieden 
mit  seinem  natürlichen  Nachbar  leben,  der  auch  der  beste 
Abnehmer    seiner   wirtschaftlichen  Produkte  ist 

Wahr,  wahr!  Der  Krieg  ist  die  Folge  der  verschmähten 
serbischen  Schweine  und  die  erwünschten  serbischen  Schweine 
sind  die  Folge  des  Kriegs. 


In  flagranti 

Daß  das  breiteste  Lügenmaul  in  seiner  Mission,  die  Welt  zu 
verpesten,  sich  auch  nicht  durch  die  Nachbarschaft  der  Wahr- 
heit beirren  läßt,  das  zu  erleben  war  seit  dem  Ausbruch  dieser 
Pest  täglich  Gelegenheit,  indem  nicht  nur  »was  Brot  in  einer 
Sprache,    Oift   heißt    in    der    andern    Zunge«,    sondern    auch 


—  105 


Tatsachen  und  ihre-*  Kommentare  in  einem  schönen 
Schulter  an  Schulter  -  Verhältnis  der  Unverträglichkeit  belassen 
wurden.  Ein  rührendes  Beispiel  bietet  hiefür  der  24.  Oktober:  der 
Leitartikel  über  eine  Lloyd-George-Rede  und  das  umgewendete 
Blatt,  wo  dieser  selbst  steht. 

Benedikt: 

.  .  .  Wenn  der  Götze  von  Potsdam  nicht  sollte  zerschmettert 
werden  können,  würden  Brasilien  und  Peru  ihren  Kaffee,  ihren 
Kakao  und  ihre  Baumwolle  den  deutschen  Kaufleuten  nicht 
liefern.  Welcher  Mangel  an  Durchdachtheit!  Deutschland  kann  siegen 
oder  unterliegen.  Wenn  es  siegen  würde,  könnte  es  gewiß  Handels- 
kriege, welche  auch  die  Vereinigten  Staaten  nicht  wollen,  im  Friedens- 
vertrage verhindern;  wenn  es  unterliegen  sollte,  würde  es  so  zerbrochen 
aus  dem  Kampfe  hervorgehen,  daß*  die  Nichtlieferung  von 
Kaffee  oder  Kakao  der  mildeste  seiner  Schmerzen  wäre  .... 

Immerhin  würde  auch  die  Baumwolle  fehlen  wie  sie  in 
der  Argumentation  fehlt,  da  es  nützlicher  schien,  bloß  auf  Kaffee 
und  Kakao  einen  logischen  Schluß  zu  machen.  Was  aber  sagte 
Lloyd-George: 
Deutschland  erging  sich  in  ein  Gelächter,  als  es  hörte,  daß  China,  Bra- 
silien, Peru  und  Guatemala  den  Krieg  erklärt  hatten.  Sein  Lachen  beginnt 
hohl  zu  werden.  Es  beginnt  zu  verstehen,  was  das  bedeutet.  Diese  Länder 
erzeugen  Nahrung  und  Rohstoffe  für  die  Welt,  n  i  ch  t 
nur  Luxusbedürfnisse  wie  Tee,  Kaffee,  Kakao  und  Tabak, 
sondern  Getreide,  Baumwolle,  Wolle,  Häute,  öl 
Kupfer,  Mangan  und  andere  wichtige  Mineralien 
und  Metalle  sowie  Rohmaterial.  .  .   . 

Aber  daß  was  fehlen  wird,  ficht  den  Deutschen,  der 
da  ficht,  so  wenig  an,  wie  den  Österreicher,  der  da  liest, 
daß  was  fehlt. 


Hungersnot  in  England 

Berlin,  4.  April. 

Das  Wolffsche  Bureau  meldet :  Ein  bezeichnendes 
Licht  auf  die  englischen  Verhältnisse  werfen  Briefe, 
die  bei  englischen  Gefangenen  gefunden  wurden.   .  .  . 


—  106  — 


In  allen  Briefen  kehrt  der  Jamme1',uber  die  L  e  b  e  n  s  m  i  1 1  e  1- 
misere  wieder.  In  einem  Briefe  heißt  es:  Um  Kartoffeln 
müssen  wir  geradezu  kämpfen.  Wir  sind  halb  verhungert. 
Nichts  ist  zu  bekommen.  Die  Lage  ist  ernst,  die  Ernährung 
entsetzlich.  .  .  . 

Eine  Arbeiterfrau  aus  Reading  schreibt  am  1 .  März :  Ihr 
bekommt  jetzt  keinen  Urlaub,  weil  ihr  die  hiesigen 
Zustände  nicht  sehen  sollet.  Es  wird  uns  Frauen  überlassen  bleiben, 
diesen  Krieg  zu  beenden.  Die  Lebensmittelfrage  muß 
schließlich    das    Ende    herbeiführen. 

Noch  deutlicher  schreibt  ein  Dockarbeiter  aus  London  am 
20.  März:    Wenn  der  Krieg  noch  lange  dauert,    fangen   wir  hier  an! 

Solche  Nachrichten  aus  der  Heimat  wirken  auf  die  Soldaten 
an  der  Front  ungünstig  ein,  wie  ein  aus  dem  Felde  datierter  Brief 
vom  15.  März  beweist,  in  dem  der  Absender  im  Schützengraben 
schreibt :  Die  Engländer  werden  es  nicht  mehr  lange 
aushalten  können,  da  die  Lebensmittel  so  schrecklich 
knapp    sind. 

Es  heißt  gewiß  die  englischen  Zustände  nicht  zu  schwarz 
sehen,  wenn  man  annimmt,  daß  die  Lebensmittelmisere, 
die  —  nach  dem  Brief  der  Arbeiterfrau  aus  Reading  —  am 
1.  März  so  unerträgliche  Formen  hatte,  sich  bereits  am  25.  Februar 
fühlbar  gemacht  haben  muß.  Tatsächlich  ist  denn  von  der 
, Arbeiter-Zeitung'  auch  die  folgende,  bei  diesem  Datum  ab- 
schließende Beobachtung  publiziert  worden,  in  der  die  englischen 
Wucherpreise  zu  gebührender  Würdigung  kommen: 

Der  Glasarbeiter  Rudolf  Walland,  derzeit  wohnhaft  in  Zuck- 
inantl  Nr.  164,  war  während  der  ganzen  Kriegszeit  in  England  als 
Glasarbeiter  beschäftigt.  Am  25.  Februar  d.  J.  wurde  er  nach  Öster- 
reich ausgeliefert,  weil  er  an  einem  hartnäckigen  Kehlkopfleiden 
schwer  erkrankt  ist.  Er  wurde  mit  seiner  Frau  und  vier  Kindern  auf 
einem  englischen  Munitionsdampfer  nach  Holland  gebracht  und  kam 
von  dort  in  seine  Heimat  nach  Österreich.  Walland  schildert  die 
Verhältnisse  bis  zu  seiner  Abreise  am  25.  Februar  recht  ausführlich. 
Alle  Lebens-  und  Bedarfsartikel  waren  bis  zu  dieser  Zeit  mit  Ausnahme 
von  Zuckw  ohne  Marken  und  uneingeschränkt  und  zu  ganz  mäßigen 
Preisen  zu  haben.  Zucker  wurde  ab  Oktober  1917  auf  Marken  gegeben 
und  zwar  'A  Kilogramm  für  die  Woche  und  für  den  Kopf.  Zur  Zeit 
seiner  Abreise  am  25.  Februar  wurden  Marken  für  Fleisch  und  Butter 
eingeführt,  doch  kann  er  nicht  angeben,  in  welcher  Quantität  es 
zugewiesen  wird.  Die  Preise  für  Kleidung,  Wäsche  und  Schuhe  sind 
eigentlich  noch  Friedenspreise.    Walland   hat   sich  vor  seiner  Abreise 


107  — 


in  London  einen  hochfeinen  Kammgarnanzug  gekauft  und  dafür 
90  Kronen  nach  unserem  Geld  bezahlt.  Für  ein  Paar  tadellose  Schuhe 
hat  er  knapp  vor  seiner  Abreise  30  Kronen  gezahlt.  Die  übrigen 
Lebensmittelpreise  gibt  er  zur  Zeit  seiner  Abreise  wie  folgt  an: 

Schilling  Pence        Kronen 

1  Kilogramm  Bohnenkaffee 4  —  =  4-80 

1  »  Reis —  10  =  L— 

1  »  Erbsen 1  8  =  2  — 

1  »  Bohnen      1  8  =  2  — 

1  >  gute  Butter 5  —  =  6-  — 

1  »  Fett 3  —  <ao  3-60 

1  >  Speck 3  4  =  4  — 

1  >  Kindfleisch  je  nach  Qualität   .    .    j    .         „     ~     e.fi,. 

1            >          Schweinefleisch 5  —     —     6* — 

1            »          Kartoffeln      —  2     =  —20 

1            »          Zucker —  11     =     MO 

1   Liter  Milch —  8=  —-80 

1    Kilogramm  Mehl,   weiß 6     =  — *60 

3  Stück  Toiletteseife —  6=  —-60 

Walland  war  während  der  ganzen  Kriegszeit  nicht  interniert, 
sondern  hat  als  freier  Arbeiter  in  einer  Glasfabrik  unbeschränkt 
gearbeitet  und  mit  seiner  Familie  in  London  gewohnt. 

Ein  besonders  bezeichnendes  Licht  fällt  hier  auf  den  Preis 
für  angeblich  gute  Butter.  Man  denke:  für  ein  Kilogramm  sage 
und  schreibe  6  Kronen,  während  es  bei  uns  ehedem  höchstens 
5  gekostet  hat  und  auch  jetzt  zehn  Deka  höchstens  5>/2  Kronen  kosten 
würden,  wenn  sie  zu  kriegen  wären.  Daß  in  England  Toiletteseife 
zu  haben  ist,  wird  wohl  nur  als  ein  Beweis  mehr  dafür  anzu- 
sehen sein,  daß  sie  dort  eben  »mit  dem  Krieg  tändeln«. 
Charakteristisch  ist  auch  die  Milchverschwendung.  Je  genauer 
man  die  Tabelle  ansieht,  desto  näher  läge  allerdings  die  Ver- 
suchung, die  Niedrigkeit  der  Preise  einzuräumen.  Zwei  Momente 
jedoch  sind  es,  die  es  empfehlenswert  erscheinen  lassen,  das  Gefühl 
des  Neides  hinter  die  Pflicht  des  Zweifels  zurückzustellen.  Zunächst 
ist  zu  sagen,  daß  der  Brief,  da  er  nicht  vom  Wolff-Büro 
verbreitet  wurde,  das  Merkmal  der  Unwahrhaftigkeit  auf  der 
Stirn  trägt.  Dann  aber  wäre,  selbst  wenn  man  dem  Beobachter 
den  subjektiven  guten  Glauben  einräumen  wollte,  der  Einwand 
naheliegend,    daß   er   eben    in    Erwartung  der    Heimkehr  nach 


108  — 


Österreich  unwillkürlich  von  den  österreichischen  Ernährungs 
Verhältnissen  auf  die  englischen  geschlossen  hat,  und  daß  seine 
nur  zu  berechtigten  Hoffnungen  die  eben  überstandene  Leidens- 
zeit in  besserem  Licht  erscheinen  ließen  und  auf  sein  Urteil 
abgefärbt  haben.  Es  liegt  einfach  eine  Verwechslung  vor.  Der 
Nachweis,  daß  die  Butter  bei  uns  nicht  auch  sechs  Kronen  kostet, 
ist  nur  deshalb  zufällig  nicht  zu  erbringen,  weil  der  Butter 
zufällig  nicht  zu  haben  ist. 


Neue  Nahrung  zugeführt 

...  Ihr  Korrespondent  ist,  dank  des  freundlichen  Entgegen 
kommens  des  Unterstaatssekretärs  Herrn  v.  Braun  vom  Kriegs- 
ernihrungsamt  in  der  Lage,  Ihnen  die  Ergebnisse  eines  Interviews 
mit  diesem  hervorragenden  deutschen  Fachmann  mitteilen  zu  können  . .  . 

Die  Lage  ist  besser  als  vor  einem  Jahr.  Ja,  damals  stand 
es  schlecht,  da  »hatten  wir  den  Kohlrübenwinter,  der  an  die 
Widerstandskraft  und  Disziplin  des  Volkes  die  größten  An- 
forderungen stellte«.  (Und  noch  dazu  einen  Kohlrübenwinter  ohne 
Kohle,  und  wiewohl  es  schon  damals  glänzend  stand,  so  läßt 
sich  doch  heute  sagen,  daß  es  damals  schlecht  stand,  aber  heute 
glänzend.)  Wir  haben  Kartoffeln.  Wie  stehts  mit  Brot  und 
Fleisch?  »Ich  glaube  nicht,  daß  eine  Herabsetzung  der  Brotration 
nötig  sein  wird«  und  »die  Fleischration  ist  für  die  Bevölkerung 
in  den  Großstädten  in  der  bisherigen  Höhe  gesichert«.  Wie  steht 
es  aber,  fragt  der  Interviewer,  mit  der  Fettration?  Da  ist  bald 
geholfen.  Die  Fettknappheit  läßt  sich  zwar  während  des  Krieges 
nicht  beheben,  aber  wir  schaffend  dennoch. 

Die  Behörden  müssen  nur  darauf  bedacht  sein,  Ausgleich 
mittel  zu  finden,  und  das  ist  geschehen.  Man  hat  für  diesen  Winter 
große  Mengen  guter  Brotaufstrichmittel  herstellen  lassen,  dfe 
zurzeit  zur  Verteilung  gelangen  und  von  der  Bevölkerung  überall 
gern   genommen   werden. 

Der  Interviewer  ist  nicht  neugierig  zu  erfahren,  woraus  die 
Brotaufstrichmittel  bestehen.  Er  ist   gewiß  überzeugt,  daß    sie 


—  109  — 

schon  die  richtigen  Ausgleichmittel  und  bekömmlich  sein  werden. 
Man  bekommt  sie  nämlich.  Er  verläßt  sich  darin  ganz  auf  den 
hervorragenden  deutschen  Fachmann,  der  schon  im  Jahre  1914 
eine  Schrift  »Kann  Deutschland  durch  Hunger  besiegt  werden?* 
geschrieben  hat.  Es  steht  jedenfalls  famos,  und  der  Ernährer 
braucht  gar  nicht  mit  der  Wahrheit  hinterm  Berg  zu  halten, 
wenn  sich  etwa  da  und  dort  noch  Übelstände  fühlbar  machen 
sollten.  Dies  und  das  sei  schließlich  so  oder  so  zu  erklären. 

Endlich  fehlt  wohl  heute  noch  einer  Anzahl  von  Landwirten 
die  Kenntnis  von  den  wirtschaftlichen  Zusammenhängen  im  Kriege, 
was  umso  weniger  verwunderlich  erscheint,  als  ja  die  Volkswirt 
schaftlichen  Kenntnisse  sich  bei  unserem  Eintritt  in  den  Krieg  überall, 
bei  Behörden  wie  bei  der  Bevölkerung,  als  recht  mangelhaft  erwiesen. 

Eine  ehrliche  Erkenntnis,  nur  verschiebt  sich  der  Unterschied 
insofern  zugunsten  des  Bauern,  als  dieser  ja  noch  immer  nicht  zu 
wissen  braucht,  wie  man  eine  Schlacht  gewinnt,  während  der 
General  nicht  gewußt  hat,  daß  man  dabei  die  Butter  verliert. 
Um  die  wirtschaftlichen  Zusammenhänge  muß  sich  nicht  der 
kümmern,  der  etwas  von  der  Wirtschaft  versteht,  sondern  der  sie 
durch  einen  Krieg  zu  zerstören  im  Begriffe  ist.  Aber  das  ist 
eben  beim  besten  Willen  nicht  gelungen,  es  steht  famos  und 
»die  wachsende  Kritik  an  dem  Kriegswirtschaftssystem«,  nach  der 
sich  der  Interviewer  erkundigt,  ist  ganz  und  gar  unbegründet. 

Die  Zeitung,  der  so  beruhigende  Aufschlüsse  erteilt  werden, 
ist  der  der  deutschen  Sache  stets  gewogene  , Berner  Bund',  und 
in  gesperrtem  Druck  steht  für  den,  der  schon  aus  der  flüchtigen 
Durchsicht  Beruhigung  über  die  Lage  Deutschlands  schöpfen 
will,  plötzlich  eine  Wendung  da,   die  gar  keinen  Zweifel  mehr 

übrig  läßt,  daß  es  famos  steht.  Die  Wendung  lautet:  > *  neue 

Nahrung  zugeführt«.  Man  mag  immerhin  zugeben,  daß 
man  aus  einem  Interview,  welches  »Die  Ernährungsverhältnisse 
Deutschlands«  betitelt  ist,  auf  den  ersten  Blick  einen  günstigen 
Eindruck  gewinnen  muß,  wenn  weit  und  breit  keine  Stelle  in 
dem  Artikel  gesperrt  gedruckt  erscheint  außer  den  Worten:  neue 
Nahrung  zugeführt.  Nun  also,  denkt  man  sich,  da  erspar' 
ich  mir  die  ganze  Lektüre,  es  kommt  aus  Rumänien,  oder 
aha  die  bekannte  italienische  Beute,  aber  nein,  dasteht  ja  »Rußland«, 


10 


also  schon  aus  der  Ukraine,  na  wie  dem  immer  sei,  sie  haben 
jedenfalls  neue  Nahrung  zugeführt  bekommen,  ja  die  Deutschen, 
die  schaffen  es,  denen  kann's  nicht  fehlen,  es  steht  famos  .  .  . 

Nun,  es  gibt  so  gespenstische  Erfüllungen,  ich  erlebe  es 
immer  wieder.  In  sprachzerfallener  Zeit  steht  auf  einmal  ein 
Wort  vor  mir,  ein  Tonfall,  eine  Form,  und  ich  weiß,  das  kommt 
einmal,  das  wird  Lügenwirklichkeit.  Und  so  fiel  mir  neulich, 
da  ich  mir  Beispiele  für  die  furchtbare  Konkurrenz  der  Redensart 
mit  dem  jetzt  erlebten  und  nie  vorgestellten  Inhalt  einfallen  ließ, 
diese  Kriegsmöglichkeit  ein:  Das  Wolff-Büro  wird  melden,  das 
Ende  der  Streikbewegung  werde  der  Zuversicht,  daß  Deutschland 
durchhalten  könne,  neue  Nahrung  zuführen,  und 
schon  das  Druckbild  der  Meldung  wird  eine  glänzende  Bestätigung 
ergeben.  So  ähnlich  ist's  eingetroffen,  der  deutsche  Ernährungs- 
fachmann ist  in  der  angenehmen  Lage,  nicht  in  Abrede  stellen 
zu  können: 

.  .  .  Die  infolge  der  Verhandlungen  mit  Kußland  belebte 
I'riedenssehnsucht  und  Hoffnung  auch  auf  friedliche  Wirtschafts 
Verhältnisse  hat  der  Opposition  gegen  die  Zwangswirtschaft  unstreitig 
neue    Nahrung   zu geffihrt.  ..   .  % 


Mit  einem  vollen  Tropfen  Druckerschwärze  gesalbt 

Die  Bedeutung  der  Presse  im  Weltkriege. 
Schwer  und  langsam  hat  sich  in  der  deutschen  Diplomatie  die  Erkenntnis, 
welche  ungeheure  Macht  die  Presse  ist,  durchgerungen  und  jetzt 
kann  man  endlich  Diplomaten  davon  reden  hören,  daß  sie  die  hier 
einschlägigen  Zusammenhänge  voll  ermessen.  So  hat  letzthin 
der  deutsche  Gesandte  in  Sofia,  Graf  Obern  dort  f,  als  er  mit 
deutschen  Schriftleitern,  die  Gäste  ihrer  Kollegen  waren, 
zu  Tische  saß,  recht  verständige  Worte  gesprochen. 
Der  Graf  sagte:  Meine  verehrten  Gäste  I  Ich  freue  mich  jedesmal,  wenn 
mir  vergönnt  ist,  hier  im  Hause,  über  dem  das  schwarz-weiß-rote 
Banner  weht,  deutsche  und  bulgarische  Freunde  zu  gemütlichem 
Gedankenaustausch  zu  vereinen.  Heute  aberfreue  ich  mich  ganz  besonders. 
Denn  Sie,  meine  verehrten  Herren  von  der  deutschen  und  bulgarischen 
Presse,  darf  ich  als  —  Kollege  n  willkommen  heißen.  Ja,  mögen 
wir   auch    ein  oder    das  andere   Mal   etwas    an    einander    auszusetzen 


—  111 


haben,  wie  das  zwischenZunftgenossen  vorkommen  kann, 
Diplomatie  und  Presse  gehören  eng  zusammen. 
Kein  guter  Journalist  ohne  diplomatisches  Empfinden,  und  kein 
brauchbarer  Diplomat,  der  nicht  mit  einem  vollen 
TropfenDruckerschwärzefür  seinen  Beruf  gesalbt  wäre. 
Ich  sage  Beruf,  das  Wort  ist  zu  gering.  Es  ist  eine  Kunst,  eine 
hohe  Kunst,  die  wir  ausüben,  und  das  Instrument,  auf 
dem  wir  spielen,  ist  das  edelste,  das  sich  denken  läßt, 
es  ist  die  Seele  der  Völker!  Was  Diplomatie  and 
Presse  geeinigt  vermögen,  hat  uns  dieser  Welt- 
krieg gezeigt.  Vom  Feinde  soll  man  lernen.  Wenn  wir  die 
Reihe  der  diplomatischen  Größen  der  Entente  an  unserem  Sinn 
vorüberziehen  lassen  und  dabei  Namen  wie  Times  und  Reuter,  Matin, 
Havas,  Nowoje  Wremja  hören,  nicht  zu  gedenken  der  kleinen 
Satelliten  in  Rom,  Bukarest,  Belgrad,  dann  müssen  wir  gestehen,  daß 
hier  ein  Bund  auftrat,  der  Erfolge  aufweisen  kann.  Erfolge  an 
Lügen  und  Verblendung,  Wut  und  Haß,  wie  sie  die 
Welt  nie  zuvor  gesehen.  Ja,  es  ist  ein  mächtiger  Bund  und  schreckhaft 
anzuschauen,  und  dennoch  nur  ein  künstlich  aufgetriebener  Koloß, 
der  eines  Tages  bersten  wird.  Denn  es  fehlt  ihm  der  Leben 
spendende  und  erhaltende  Geist,  die  Wahrheit.  Die  ficht 
auf  unserer  Seite.  Mit  ihr  und  für  sie  streiten  S  i  e,  meine 
Herren  von  der  bulgarischen  und  deutschen  Presse,  in  der  stolzen 
Erkenntnis,  daß  jeder  Erfolg,  den  die  Wahrheit  erringt,  auch  einen 
Erfolg  für  unsere  gemeinsame  Sache  bedeutet.  Ja,  an  dem  Tage,  an  dem 
den  Völkern,  die  man  gegen  uns  in  einen  vergeblichen  Kampf  treibt, 
endlich  die  Schuppen  von  den  Augen  fallen,  am  Tage,  an  dem  sie 
erkennen  werden,  wie  wir  wirklich  dastehen,  wie  unüber- 
windlich gerüstet  von  innen  und  von  außen,  an  dem  Tage  endet  der 
Weltkrieg  .... 

Na,   und    die  Bomben    auf    Nürnberg,    mit    denen    er 
angefangen    hat? 


Arbeitsteilung 

Während  Hindenburg  und  Ludendorf f  es  bequem  hatten, 
dein  zwischen  ihnen  sitzenden  Paul  Goldmann  abwechselnd  ins 
Ohr  zu  flüstern,  mußten  Hindenburg  und  Ludendorff  zwischen 
den  beiden  Tischen  hin-  und  hergehen,  an  welchen  die 
Vertreter  der  Wiener  Presse  in  Gruppen  Platz  genommen  hatten, 
um  zu  hören,  was  Hindenburg  und  Ludendorff  ihnen  anzuver- 
trauen hatten.  Die  Arbeitsteilung  vollzog  sich  folgendermaßen: 


-  112 


Am  30.  November  um  halb  9  Uhr  abends  wurden  die  Vertreter 
der  österreichischen  und  ungarischen  Presse,  die  vorher  in  getrennten 
Gruppen  die  deutsche  Westfront  bereist  hatten,  im  Großen  Haupt- 
quartier empfangen.  .  .  .  Hierauf  lud  Hindenburg  einen  Teil 
der  Gäste  ein,  an  einem  runden  Tische  Platz  zu  nehmen 
und  ein  Glas  Bier  mit  ihm  zu  leeren.  An  einem  zweitenTisch 
versammelte  Generalquartiermeister  I.  udendorff  den  anderen 
Teil  der  Reisegesellschaft  um  sich.  .  .  .  Nach  einiger  Zeit  erhob 
sich  Hindenburg,  um  an  seine  m  Tische  Lud  endorff 
Platz  zu  machen,  während  er  selbst  sich  in  den 
anstoßenden  Raum  begab,  um  sich  den  von  ihm  noch  nicht 
ins  Gespräch  gezogenen  Gästen  zu  widmen.  Nach  einstündigem  Bei- 
sammensein verabschiedeten  sich  die  beiden  Heerführer,  d  a 
wichtige  Ereignisse  an  der  Westfront  sie  zu 
nächtlicher  Arbeit  riefen. 

Das  sah  Auernheimer  ein  und  dankte  nur  noch  dafür, 
daß  es  ihnen  vergönnt  gewesen  sei,  »nach  dem  wunderbaren 
Triebwerk  des  Heeres  nun  auch  den  Qenius,  der  es  verkörpert 
und  beseelt,  leibhaftig  zu  begrüßen«,  womit  allerdings  nur 
Hindenburg  ohne  Ludendorff  berücksichtigt  war. 

»Auszudrücken,«  fuhr  er  fort,  »was  uns  in 
diesem  Augenblicke  bewegt,  fühlen  wir  uns,  die  wir 
mit  dem  Gebrauch  des  Wortes  vertraut  sind,  aber 
eben  darum  auch  seine  Grenzen  kennen,  am  wenigsten  imstande. 
Gestatten  Eure  Exzellenz  mir  daher  nur,  auszusprechen,  daß  wir  uns 
der  geschichtlichen  Bedeutung  dieser  Stunde 
vollauf  bewußt  sind,  bewußt  auch  der  Bedeutung,  die  sie  in 
der  Geschichte  der  Presse  hat«.   .  .  . 

Hindenburg  erwiderte  mit  folgenden  Worten :  >  —  -  einen  großen 
Teil  der  Verdienste  als  ehrlicher  Mann  abschieben  auf 
Ludendorff  —  —  unsere  treuen  Bundesgenossen  —  —  mit  der 
Todesverachtung  —  —  die  Vertreter  der  Presse  des  befreundeten, 
in  treuer  Waffenbrüderschaft  verbundenen  Staates  —  —  Ich  zweifle 
nicht,  daß  alles  gut  enden  wird,  das  sagen  Sie  in  Ihrer  Heimat.« 

Kein  Zweifel,  es  muß  irgendeinmal  gut  enden,  wenn  /ur 
Todesverachtung  noch  die  Achtung  vor  der  Presse  dazukommt. 


13 


Ein  Staatsstreich 


In  dem  Staat,  in  dem  für  Papiergeld  die  Bedeckung  des 
Goldes  fehlt  und  für  Zeitungspapier  die  der  Wahrheit  (aber  nicht 
die  der  Valuta),  kann  es  sogar  geschehen,  daß  eine  Redaktion 
coram  publico  einen  Meinungswechsel  nicht  allein  vornimmt, 
sondern  ankündigt,  also  die  Absicht  einbekennt,  statt  der  ihr  bisher 
honorierten  Meinung  fortan  eine  neue,  von  einem  andern  Geld- 
geber bestellte,  zu  vertreten.  Es  versteht  sich  in  Anbetracht  des 
Umstandes,  daß  die  Gehirnerweichung  der  Leser  mit  der 
Charakterlosigkeit  der  Schreiber  gleichen  Schritt  gehalten  hat, 
von  selbst,  daß  dem  unveränderten  redaktionellen  Ensemble  auch 
eine  kaum  alterierte  Abonnentenliste  entsprechen  wird.  Die 
österreichische  Spezialität  dieser  Erscheinung  wäre  aber  nicht 
apart  genug,  wenn  sich  der  Gesinnungswechsel  auf  alle  Fragen 
des  öffentlichen  Lebens  gleichmäßig  erstrecken  müßte.  Der  neue 
Geldgeber  hat  vielmehr  beschlossen,  die  Weltanschauung  seines 
Personals,  die  in  eine  Stellung  zur  innern  Politik  und  eine 
Stellung  zum  Ministerium  des  Äußern  zerfällt,  nur  bezüglich 
des  Herrn  Seidler  zu  verändern,  bezüglich  des  Grafen  Czernin 
aber  auf  sich  beruhen  zu  lassen,  so  daß  die  Leser,  die  ja  doch 
hauptsächlich  erfahren  wollen,  wer  wo  abgestiegen  ist  und  welche 
was  angehabt  hat,  in  den  politischen  Begleiterscheinungen  unseres 
Kulturlebens  nur  einen  geringen  Unterschied  merken  werden, 
den  sie  vielleicht  überhaupt  nicht  merken  würden,  wenn  man 
sie  nicht  darauf  aufmerksam  gemacht  hätte.  Wie  man  sieht, 
handelt  es  sich  um  das  , Fremdenblatt'  und  es  ist  vielleicht 
wirklich  ungerecht,  bei  einem  solchen  Blatt  von  Gesinnungs- 
wechsel zu  sprechen.  Aber  unser  Ministerium  des  Äußern, 
das  die  Ehrlichkeit  hat,  sich  einer  journalistischen  Beziehung, 
die  es  unterhält,  nicht  zu  schämen,    hat   es  sich    nicht   nehmen 


IM 


lassen,  den  Umschwung  der  Dinge  in  einer  feierlichen  Note 
zu  proklamieren.  Und  zwar  so : 

Das  ,Fremdenblatt',  das  bis  vor  kurzem  als  offiziöses 
Organ  der  österreichischen  Regierung  galt, 

(vermutlich  der  österreichiscbenRegierung.die  das  nicht  genau  wu  ßte  i 
wird  nunmehr  zu  den  Fragen  der  inneren  Politik  selbständig 
(es  dürfte  dies  das  einzige  Selbstbestimmungsreclit  sein,  das  in 
unzweideutiger  Weise  zugestanden  wind) 

und  nach  einem  von  ihm  heute  veröffentlichten  Programm  Stellung 
nehmen  und  kann  daher  jetzt  in  diesen  Angelegenheiten  nicht 
mehr  als  offiziös  angesehen  werden.  Die  Stellung 
dieses  Blattes  zu  Fragen  der  auswärtigen  Politik,  in  welchen  es 
wiederholt  die  Ansichten  des  Ministeriums  des  Äußern  zum  Ausdruck 
bringt,  bleibt  unberührt.  Ohne  hiemit  für  alle  die  Außenpolitik 
betreffenden  Äußerungen  des  .Fremdenblattes'  eine  Haftung  zu  über- 
nehmen, erklärt  das  Ministerium  des  Äußern,  daß  es  jede  Verantwortung 
für  die  Ausführungen  der  genannten  Zeitung  ablehnt,  welche  die 
innere  Politik  und  die  Verwaltung  betreffen. 

Aber  wer  ist  denn  dann  für  die  in  dieses  Ressort  fallenden 
Überzeugungen  verantwortlich?  Doch  nicht  am  Ende  die 
Redaktion,  die  schreibt,  oder  gar  der  verantwortliche  Redakteur, 
der  nicht  liest?  Jedenfalls  nicht  mehr  das  Ministerratspräsidium, 
denn  das  .Fremdenblatt'  hat  sich  gegen  die  innere  Regierung  freie 
Hand  vorbehalten,  so  weit  das  einer  Hand  möglich  ist,  die  gegen- 
über der  äußern  Regierung  offen  bleibt.  Das  .Fremdenblatt'  hat  aber 
die  neue  Ära  wirklich  mit  einer  schwungvollen  Attaque  gegen  den 
Herrn  Seidler  eingeleitet,  und  ließ  dieser  geradezu  ein  Programm 
folgen,  aus  dem  hervorging,  daß  es  die  Ordnung  der  innern 
Dinge  nunmehr  selbst  in  die  Hand  nehmen  wolle.  Wenn  man 
sich  gerade  im  Ausland  aufhält,  da  solch  ein  Staatsstreich  sich 
begibt,  so  erfährt  man  es  natürlich  als  eine  hochoffizielle  Meldung: 

Wien,  1.  Febr.  (W.  K.-B.)  Das  .Fremdenblatt'  kennzeichnet 
in  seinem  heutigen  Leitartikel  seine  künftige  Stellung  zur 
innern  Politik.  Die  Ereignisse  der  letzten  Jahre  hätten  bewiesen, 
daß  das  deutsche  Volk  in  Österreich  der  Eckpfeiler  dieses  Staates  ist. 
Dem  Heldenmut  in  der  Feldschlacht  kam  die  Opferwilligkeit  im  Hinter- 
land gleich.  Es  liegt  uns  fern  —  —  aber  niemand  kann  leugnen 

Durchhalten Was  wir  dazu  beitragen    können,  damit 

dem  deutschen  Volke  werde,  was  ihm  zukommt  .   .  werden  wir  tun. 
Das    Blatt    erklärt    sodann,     mit    aller     Kraft     und     F.  n  t- 


—  115  — 


seh  iedenheit  die  höchsten  staatlichen  Interessen  gegen  dir 
umstürzlerischen,  auf  die  Zerreißung  Österreichs  hinzielenden 
Bestrebungen  verteidigen,  auf  die  Förderung  der  erwerbenden 
Klassen  durch  den  Staat  hinwirken  und  den  modernen  Geist  des 
Wirtschaftslebens  auf  das  kräftigste  unterstützen  zu  wollen. 

Und  natürlich  auch  vom  modernen  Geist  des  Wirtschafts- 
lebens auf  das  kräftigste  unterstützt  werden  zu  wollen.  Daß  ein 
solches  Papier,  das  von  einer  Aktiengesellschaft  redigiert  wird 
und  dessen  nationalökonomischer  Fachmann  von  Partezetteln 
Tantiemen  nimmt,  an  der  Wiedergeburt  dieses  Staates  beteiligt 
sein  will,  ist  wahrhaft  tröstlich. 

Es  schließt:  Ein  Österreich,  das  in  der  Welt  geachtet  wird, 
das  in  der  Monarchie  den  ihm  zustehenden  Einfluß  besitzt,  in  welchem 
die  Deutschen  die  ihnen  gebührende  Stellung,  in  dem 
alle  Völker  die  Gewähr  für  ihre  wirtschaftliche  und 
kulturelle  Entwicklung  finden,  in  dem  allen  zerstörenden 
Kräften  entschlossen  entgegengetreten  wird,  ein  solches  Österreich, 
denken  wir,  daß  aus  dem  Kriege  entstehe.  An  der  Erreichung  dieses 
Zieles,  erklärt  das  Blatt,  mit  voller  Objektivität,  aber  auch  mit 
der   nötigen  Entschiedenheit   mithelfen   zu   wollen. 

Daß  ich  in  einem  Österreich,  an  dessen  Sicherung  das 
,1-remdenblatt'  mitgewirkt  hat,  nicht  lange  durchhalten  werde, 
das  kann  man  sich  schon  denken.  Das  sympathische  Wiener 
Korrespondenzbureau  hat  nichts  eiligeres  zu  tun,  als  dem 
ungeduldigen  Ausland  zu  versichern,  daß  nunmehr  das  , Fremden- 
blatt' die  Konsolidierung  unserer  Verhältnisse  in  die  Hand 
genommen  hat,  es  also  mit  den  bekannten  Aufteilungsplänen 
unserer  Feinde  wieder  einmal  Essig  ist  (den  wir  aber  leider  noch 
immer  nicht  hereinkriegen  können).  Jedoch  schon  um  der  Even- 
tualität, daß  das  , Fremdenblatt'  Ordnung  machen  könnte,  vorzu- 
beugen, sollten  sich  die  Nationen  so  schnell  als  möglich  ver- 
söhnen, denen  ohnedies  reichlich  übel  davon  sein  dürfte,  fort- 
während von  der  ihnen  gebührenden  Stellung  und  von  der 
Gewähr  für  ihre  wirtschaftliche  und  kulturelle  Entwicklung  lesen 
zu  müssen,  wobei  selbstverständlich  immer  den  Deutschen,  deren 
kulturelle  Entwicklung  ja  bereits  abgeschlossen  ist,  die  Stellung 
gebührt.  Aber  den  Scherz  solcher  Programmatik  beiseite:  sollte 
denn  das  Blutopfer  nicht  wenigstens  die  eine  Entschädigung 
bringen,  daß  jene  Profession,  die  es  bewirkt  hat,  mundtot  gemacht 


wird?  Sollte  es  möglich  sein,  daß  wir  über  Leichenberge 
geschritten  sind,  um  von  einer  Papier-,  Zucker-  oder  Waffenfabrik 
gemietete  Talente  sich  als  Geburtshelfer  der  Zukunft  uns 
vorstellen  zu  lassen?  Ich  für  meine  Person  lege  gar  keinen  Wert 
darauf,  daß  das  Gerücht  von  einem  Besitzwechsel  des  Fremden- 
blatts auf  Wahrheit  beruhe.  Ich  räume  gern  ein,  daß  die 
Redakteure  einer  Wiener  Zeitung  nicht  so  gesinnungslos  sind, 
sich  vom  Morgenblatt  zum  Abendblatt  einem  neuen  Geldgeber 
anzupassen,  und  daß  der  Überzeugungswechsel  also  vielmehr 
im  Auftrag  des  alten  Geldgebers  erfolgt  sein  kann,  der  nur  eine 
neue  Gesinnung  hat,  weil  er  nämlich  einen  schwerindustriellen 
Zuschuß  bekommt.  Fern  sei  es  von  mir,  selbst  einer  Aktien- 
gesellschaft zuzutrauen,  daß  sie  ihr  geistiges  Inventar  so  ohne 
weiters  an  eine  andere  verkaufe,  da  ja  auch  in  ihrem  eigenen 
Schöße  das  Bedürfnis  nach  einer  politischen  Neuorientierung 
rege  werden  mag.  Wie  dem  immer  sei  und  wenn  selbst  die 
Redakteure  den  Abschied  nahmen,  weil  sie  zu  charaktervoll 
sind,  um  einen  politischen  Standpunkt,  der  ihnen  durch  Jahr- 
zehnte »stagelgrün  auflag«,  mit  einem  ganz  ungewohnten  zu 
vertauschen,  der  Hauptspaß  bleibt  doch,  daß  die  Abonnenten 
bleiben  und  daß  die  Wiener  Idiotie  das  Vertrauen  jener  nord- 
deutschen Konsortien,  die  jetzt  hierzulande  umgehen,  nicht  ent- 
täuscht. Wenn  dieses  Gesindel  von  Meinungsaufkäufern  die  Wahl 
hat,  zur  Durchsetzung  ihrer  schuftigen  Wünsche,  zur  Propagierung 
des  Gedankens,  daß  der  Krieg  bis  zur  völligen  Auspovernng 
Österreichs  fortgesetzt  werden  muß,  neue  Blätter  in  Wien  zu 
gründen  oder  einen  Stock  von  Abonnenten  schon  vorzufinden, 
so  wären  sie  noch  dümmer  als  dieser  Stock,  wenn  sie  sich  nicht 
fürs  zweite  entschieden.  Die  unsägliche  Schmach,  daß  die 
Empfänglichkeit  des  Zeitungslesers  gekauft  werden  kann,  ohne 
daß  sie  gefragt  wird,  dürfte  kaum  ein  Abonnent  des  Fretjiden- 
blatts  fühlen  —  der  frißt,  wenn  nur  der  Druck  der  gleiche 
bleibt,  die  Weltanschauung  des  Siegers  von  Königgrätz  so  gern 
wie  die  des  Besiegten,  und  der  Regierung  fällt  es  nicht  ein,  die 
geistige  Wehrlosigkeit  gegen  diese  neuestens  so  smart  betriebene 
Ausbeutung  zu  schützen,  im  Gegenteil,  das  Ministerium  des 
Äußern  bleibt  mit  dem  , Fremdenblatt'  auf  Gedeih  und  Verderb 


117 


verbunden.  Was  aber  das  Innere  anlangt,  so  will  ja  der  neue 
Kurs  unter  Umständen  gar  oppositionell  sein,  und  das, Fremden- 
blatt' wird  lieber  gratis  in  allen  Hotelzimmern  als  gegen  Bezahlung 
in  einem  Kabinett  aufliegen,  in  dem  keine  Ordnung  herrscht, 
und  an  Kraft  und  Enschiedenheit  mit  den  strengsten  Masseusen, 
deren  Annoncen  es  bringt,  wetteifern.  Es  gibt  nun  leider  kein 
Preßgesetz,  das  eine  Redaktion,  wem  immer  sie  gehöre,  auf 
wessen  Wink  immer  sie  Meinungen  apportieren  mag,  zwingen 
könnte,  mit  einem  feierlichen  politischen  Programm  auch  die 
Photographien  der  Leute,  die  es  verfaßt  haben,  zu  veröffentlichen. 
Die  Kirche  hat  längst  auf  die  Initiative  verzichtet,  am  Glück 
des  Staates  mitzuwirken,  aber  daß  die  Leute,  die  den  Krumm- 
stab im  Gesicht  tragen,  dazu  kapabel  sind,  das  scheint  einem 
offiziellen  Nachrichtenbureau  keinen  Augenblick  zweifelhaft.  So 
habe  ich  es  im  Ausland  gelesen  und  infolgedessen  den  Entschluß 
gefaßt,  zurückzukehren.  Im  Ausland  schämt  man  sich  hin  und 
wieder,  ein  Österreicher  zu  sein,  und  da  geht  der  Patriot  lieber 
gleich  dorthin,  wo  man  sich  nicht  mehr  schämt. 


Inschriften 


Die  unzulängliche  Macht 

Was  uns  so  radikal  verheert, 

was  uns  durch  Macht  geführt  zum  Dreck, 

war  neben  Herzverhärtung  Hirnerweichen. 

Nicht  Bosheit,  Dummheit  hat  uns  aufgezehrt. 
Wir  waren  fähig  zu  dem  schlimmsten  Zweck, 
unfähig  aber,  diesen  zu  erreichen. 


Rekonvaleszenz 

Die  Welt  soll  am  deutschen  Wesen  gesunden  ? 
So  zahlen  wir  erst  die  Erholungsspesen 
und  gehen  selber  dann  in  die  Kur ! 
Nicht  allzuweit :    wir  brauchen  ja  nur 
zu  sorgen,  bis  unser  deutsches  Wesen 
von  Potsdam  nach  Weimar  zurückgefunden. 


Am  Scheideweg 

Der  Freund  hat  für  zehn  Tage  Mehl  euch  verheißen, 
der  Feind  euch  fürs  Leben  die  Freiheit  gewährt. 
Ich  rat'  euch,  nachdem  ihr  das  Mehl  verzehrt, 
getrost  in  die  andere  Speise  zu  beißen. 


19 


Straßenrufe 

Hätt'  man  mich  gefragt,  ich  hätte  die  Zeit 
mir  gewählt,  in  die  ich  geboren, 
sie  mir  ausgesucht  nach  der  Neuigkeit, 
die  der  Tag  mir  ruft  in  die  Ohren. 

O  könnt'  ich  noch  einmal  zurück  aAs  der  Qual  ! 
Wie  lärmen  doch  Handel  und  Händel ! 
Einst  hatte  die  Zeit  —  ach  hätt'  ich  die  Wahl  - 
nur  die  Neuigkeit:  »Kaufts  an  Lavendel!« 

Jetzt  kreischt  mir  am  Sonntag  die  Vettel  ins  Ohr 
als  verkörperte  Weltgeschichte, 
die  den  Sieg  gewann  und  den  Athem  verlor: 
»Extraausgabe!    Beide  Berichte!« 


20 


Am  Sarg  Alexander  Girardis 

trete  die  Trauer  zurück  und  lasse  den  Wunsch  die 
Wache  halten:  der  erbarmende  Genius  der  Vergangen- 
heit möge  die  unbefugten  Leidtragenden  verjagen, 
dorthin,  wo  sie  in  Blut  und  Schmutz  Freudenfeste 
feiern,  dorthin,  wo  der  unerbittliche  Zeitgeist  sie 
treffen  will  und  sie  ihn.  Die  unbefugten  Leidtragenden, 
die  nur  der  letzte  Verzicht  auf  ein  Schamgefühl 
ermutigen  kann,  um  Girardi  zu  klagen,  sind  die 
Henkersknechte  eines  Lebens,  das  sie  gezwungen 
haben,  sein  eigenes  Grab  zu  schaufeln.  Die  unbe- 
fugten Leidtragenden,  die  tieftrauernd  von  aller 
Scham  Verlassenen,  sind  aber  auch  die  Bewohner 
einer  Theaterstadt,  die  ihrem  Ruin  als  Zuschauerin 
bis  zum  Schluß  beiwohnt,  sind  die  Verräter  eines 
Volkstums,  die  ihr  Gewand  verkauft  haben,  um  in 
die  Hölle  zu  fahren;  ihre  Heiligtümer  in  Aktien- 
gesellschaften verwandelt  sahen,  ihre  Wahrzeichen 
umgelogen,  und  nun  in  den  Weltuntergang  als  Tanz- 
operette mit  Berliner  Text  und  Budapester  Melodie 
hineinrennen.  Nicht  der  Hingang,  sondern  das  Dasein 
dieses  einzigen  Girardi  war  beweinenswert.  Denn 
wenn  alles  Menschentum  der  Kulisse  nur  ein  Wert- 
maß der  Zeit  ist  und  einem  unholden  Gegenwärtigen 
nur  ein  Widerwärtiges  gemäß  sein  kann,  das  die 
noch  lebendigen  Sinne  fliehen  mögen,  so  waren  sie 
vor  Girardis  Ton  rettungslos  einer  unerfüllbaren 
Sehnsucht  preisgegeben;  denn  dieses  Bühnenleben 
war  das  Maß  des  Unermeßlichen,  das  uns  verloren 
ist.  Da  stand  durch  drei  Jahrzehnte  ein  Gast  der 
Zeit  in  ihrem  unsäglichen  Ensemble,  und  es  war 
von  tragischer  Wirkung,  wie  die  Natur  zur  letzten 
Aussprache  mit  einer  Entmenschtheit  kam,  die  eben 
noch  Nerven  hat,  sich  kinematographisch  zu  erleben. 
Doch    ihrer   Schmach    unbewußt,   treibt   diese   Zeit- 


121 


genossenschaft  auch  Firlefanz  *  mit  den  Reliquien, 
stellt  sie  in  einem  Etablissement  aus,  das  außen  von 
Marmor  ist  und  innen  ohne  Geist,  und  geriet  also  auf 
den  kindischen  Einfall,  einem  Girardi  das  Burg- 
theater zu  eröffnen,  anstatt  es  ihm  zu  Ehren  zuzu- 
sperren. Aber  er  wußte  nicht,  wie  ihm  geschah,  und 
er  ging  dahin,  ohne  zu  merken,  daß  sie  ihm  ein 
Bein  abgenommen  hatten.  Wir  aber  sollen  es  merken. 
Nichts  bleibt  zu  tun,  als  es  zu  wissen.  Und  da 
Girardi  hinging,  ist  erst  wahr  geworden,  was  ich  damals, 
gerade  vor  zehn  Jahren,  gewußt  habe,,  als  er  aus 
Ekel  an  einem  berlinisierten  Wien  nach  Berlin  ging. 
Ich  hab's  ihm  nachgerufen  —  und  uns,  dem  Volk, 
das  seine  Selbstbestimmung  in  der  Hingabe  an  sein 
Verhängnis  betätigt.  Ich  fragte,  ob  es  denn  der 
Donau  nicht  nahegehe,  daß  sie  jetzt  über  Passau  nach 
Berlin  fließt  und  in  die  Nordsee  mündet;  und  meinte, 
daß  die  Wiener  Kultur  tot  sein  müsse,  wenn  ihr  das 
Herz  herausgeschnitten  wurde  und  sie  dennoch 
weiterleben  kann.  Die  Weltausstellungsreife  der 
Wiener  Eigenart,  schrieb  ich,  das  ethnologische 
Interesse,  das  man  jetzt  an  uns  nimmt,  die  Zärtlich- 
keit der  Berliner  für  uns  —  dies  alles  ist  fast  so 
tragisch  wie  unsere  Unempfindlichkeit  gegen  solches 
Schicksal.  »Wir  freuen  uns,  wie  sie  Stück  für  Stück 
von  uns  ausprobieren  und  immer  mehr  Geschmack 
an  unsern  Spezialitäten  haben  und  so  lange  an 
allem,  was  wir  haben,  teilnehmen,  bis  sie  uns  eines 
Tages  ganz  haben  werden.  Sie  setzen  den  Wiener 
auf  ihren  Schoß,  schaukeln  ihn  und  versichern  ihm, 
daß  er  nicht  untergeht;  das  macht  beiden  Teilen 
Spaß  und  ist  ein  Zeitvertreib,  der  über  den  lang- 
weiligen Ernst  eines  Fäulnisprozesses  hinüberhilft. 
Wir  sind  auf  unsere  Tradition  stolz  gewesen,  aber 
wir  waren  nicht  imstande,  die  Spesen  ihrer  Erhaltung 
aufzubringen.  Unsere  Gegenwart  war  tot,  unsere 
Zukunft  ungewiß,  aber  unsere  Vergangenheit  war 
uns  geblieben.    Sollten   wir   auch   die   verkommen 


—   122  — 

lassen?  Da  war  es  'doch  klüger,  sie  einem  Volk  in 
Kommission  zu  geben,  das  eine  hinreichend  starke 
Gegenwart  hat,  um  sich  auch  noch  den  Luxus  einer 
fremden  Vergangenheit  leisten  zu  können  ....  Bis  die 
Hypertrophie  der  technischen  Entwicklung,  der  die 
Gehirne  nicht  gewachsen  sind,  zum  allgemeinen 
Krach  führt,  ist  es  das  Schicksal  der  von  Müttern 
gebornen,  rindfleischessenden  Völker,  von  den 
maschinengebornen  und  maschinell  genährten 
Völkern  verschlungen  zu  werden.«  1908  war's,  als 
ich  es  schrieb.  Der  Zeitenschauer,  der  uns  anpackt, 
wenn  wir  jetzt  mit  einem  Fuß  noch  auf  dem 
Franziskanerplatz  stehen  und  mit  dem  andern  schon 
vor  dem  Haus,  in  dem  das  Kaiser  Wilhelm -Kaffee 
etabliert  ist,  erstarrt  zu  der  ohnmächtigen  Erkenntnis, 
daß  der  Fortschritt  dieses  Haus  bejaht  und  die 
Bombe  jenen  Platz  zerstören  würde.  Und  fern  bleiben 
wir  der  Trauer,  wenn  die  Zeit  nicht  nur  die  Macht 
hat,  den  Wert  zu  morden,  sondern  auch  den  Mut, 
ihn  zu  beklagen! 


123  — 


Der  Weltspiegel 


Der  Kronprinz  bei  den  Flammenwerfern  der  5.  Armee. 
Zur  Begrüßung  des  Kronprinzen  wird  durch  Flammen  ein  >W<  gebildet. 

Wie  kam  mir  dies  Gesicht?  Stand  dies  Weh,  triumphal 
zu  Flammen  aufgerichtet,  Flammen,  die  hundert  Söhne  von 
hundert  Müttern  verzehren  werden,  vor  meinem  Aug,  als  ich 
in  der  Nacht  der  Menschheit  träumen  ging?  Da  ich  einschlief, 
hatte  ich  den  ,  Weltspiegel'  in  der  Hand;  der  gab  nur  meinem 
Traum  zurück,  was  aus  ihm  als  Erdenfluch  zum  Himmel  stieg: 
das  Wort,  das  am  Ende  war,  und  dieses  seine  Initiale.  Doch  als  ich 
erwachte,  hatte  ich  den  ,  Weltspiegel'  zur  Hand  und  von  allen  Seiten 
sah  ich  die  Welt   sich    spiegeln  und  bedachte  also  ihren  Sinn: 

Die  Technik  hat  nicht  allein  das  für  sich,  daß  sie  die 
Menschheit  in  einen  Dreckhaufen  verwandelt  hat,  sondern  daß 
man  ihn  auch  a  tempo  in  Wort  und  Bild  vorgesetzt  bekommen 
kann.  In  den  Kinematographien  gehe  ich  nun  nicht,  weil  ich 
die  Nachbarschaft  von  Schieberhuldinnen,  die  beim  Anblick  der 
Somme-Schlacht  >Gott  wie  interessant!«  sagen,  nicht  ohne 
Anwandiungen  von  Lust,  nämlich  zu  einer  im  zivilen  Leben 
strafbaren  Handlung,  ertragen  könnte   und  weil  ich  ja  doch  nie 


—  124 


das  Glück  haben  würde,  einen  ehedem  glorreichen  Heerführer 
vor  der  gefilmten  Prozedur  hinfallender  Menschenleiber  zwanzig- 
mal hintereinander  »Bumsti!«  sagen  zu  hören.  Dagegen  vergönne 
ich  mir  gelegentlich  den  Blick  in  eine  der  vielen  illustrierten  Zeit- 
schriften, denen  es  die  technische  Entwicklung  ermöglicht,  eben 
jene  Lebensstarre,  an  der  sie  einen  so  bedeutenden  Anteil  hat,  in 
ihrer  bunten  Vielgestalt  vorzuführen,  und  da  finde  ich  denn, 
wie's  die  Jahreszeit  bietet,  alles  beisammen,  was  zwischen  Draht- 
verhau und  Schminkschatulle  heutzutage  alles  da  ist,  indem  es 
ja  nicht  so  ist  wie  bei  arme  Leute.  Wie  praktisch  zum  Beispiel, 
gleich  auf  dem  Titelblatt  Kühlmann  in  der  Uniform  eines  Ulanen- 
offiziers sehen  zu  können,  wie  er  dem  gleichfalls  verkleideten, 
aber  halb  abgewendeten  Czernin  die  treue  Rechte  reicht,  während 
sein  zugespitzter  Mund  auf  die  Formel  »Keine  Annexionen  und 
keine  Kontributionen«  zu  pfeifen  scheint.  Brest-Litowsk,  mag  es 
auch  die  andern  menschlichen  Berufe  enttäuscht  haben,  dem 
Photographen  bot  es  .eine  Fülle  von  Anregungen.  Aus  dieser 
Dunkelkammer  des  Friedens  sind  immerhin  »Bilder  vom  russisch- 
deutschen Waffenstillstand«  hervorgegangen,  die  die  beiden 
Parteien  in  freundnachbarlichem  Warenverkehr  zeigen  und  auf 
den  preußischen  Gesichtern  ein  unverkennbares  Behagen,  sich 
mal  zu  den  »Panjebrüdern«:  herabzulassen.  Unschwer  gelingt  es 
mir,  den  Besitzer  von  Schneid  und  Monokel  da  im  Vordergrund 
als  jenen  Leutnant  zu  agnoszieren,  der  einst  einem  verbündeten 
General  die  Worte  zugerufen  hat:  »Na,  sagen  Se  mal  Exzellenz, 
könnt  Ihr  denn  nich  von  alleene  mit  dem  ollen  Uschook  fertich 
werden?«  Der  olle  Uschook  ist  ein  zu  Beginn  der  Weltgeschichte 
vielgenannter  Paß,  durch  dessen  Behauptung  es  gelungen  ist, 
Mitteleuropa  vor  dem  Ansturm  der  Barbaren  zu  behüten.  Sollte 
es  aber  doch  nicht  der  hier  abgebildete  Leutnant  gewesen  sein, 
so  war  es  ein  anderer,  der  genau  so  aussieht.  Während  dir 
Verhandlungen  in  Brest-Litowsk  ihren  Fortgang  nehmen,  werden 
sie  von  einem  Eheidyll  unterbrochen,  indem  ein  junges,  aber 
hohes  Paar  auf  einem  Gang  durch  die  Straßen  Berlins  begriffen 
ist,  sie  ein  Guckindiewelt,  er  ernst  aber  zuversichtlich,  gleichwohl 
ein  wenig  nachdenklich  über  die  Frage,  nicht  wo,  sondern  ob 
man  heute  zu  mittag  speisen  werde,  da  man  doch  von  einem 
Gang   durch    die  Straßen  Berlins  Appetit  bekommen  hat.    Wie 


25 


anders  der  hohe,  aber  alte  Herr,  der  9oeben  den  Festgottesdienst  in 
Brest-Litowsk  verläßt,  mein  erster  Qriechisch-Professor  in  Uniform, 
er  ist  vergnügt,  sein  Gang  etwas  schwankend,  er  hebt  die  Hand, 
senkt  den  Kopf,  als  sagte  er  gerade:  >Tja  der  Trotzky,  der 
Trotzky  macht  die  ganze  Klasse  rebellisch«.  Ein  Vorfugsschüler, 
der  Czemin,  steht  in  Uniform  Habtacht  vor  diesem  Monolog 
und  freut  sich.  Während  sich  das  begibt,  bricht  eine  Tochter 
des  Exkönigs  von  Griechenland,  die  mit  Mutter  und  Schwestern 
Schulter  an  Schulter  beim  Eislauf  am  Dolder  in  Zürich  aufgestellt 
ist,  in  ein  schallendes  Gelächter  aus.  Die  andern  folgen  ihrem 
Beispiel.  Ihr  Lachen  steckt  an,  schon  lacht  die  ganze  Reihe.  So  aus 
vollem  Halse  habe  ich  noch  nie  lachen  gesehen.  Warum  lacht  sie? 
Weil  am  Piaveuferin  aller  Eile  hergestellte  provisorische  Schützen- 
gräben zu  sehen  sind?  Oder  weil  Marguerite  Vivian  Vnrton 
Thomason,  eine/amerikanische  Schönheit,  sich  kürzlich  zum  dritten 
Malevermählt  hat,  diesmal  mitdem  jungen  Grafen  Christian  Günther 
von  Bernstorff?  Oder  weil  Rinder  als  Zugtiere  in  Berlin  ver- 
wendet werden?  Weil  in  einem  Pariser  Militärspital  einem 
Schwerverwundeten  Blut  aus  einem  anderen  Körper  eingelassen 
wird?  Weil  der  Sanitäter  Willy  Haehnel  bereits  400  Konzerte,  u.  a. 
auch  solche  des  Blüthner-Orchesters  an  der  Front  und  Etappe 
geleitet  hat?  Weil  man  Badewasser  durch  ultraviolette  Strahlen 
entkeimen  kann?  Die  Töchter  des  Königs  von  Griechenland  stehen 
da,  wie  sich  ehedem  die  feschen  Nachtigallen  von  Wien  oder 
Berlin  stellten  vor  uns  hin.  Es  klingt  wie:  >Fesch,  schick,  wirklich 
indresant,  können  Sie  uns  vor  sich  sehn,  wir  sind,  das  weiß 
ein  jeder,  anerkannt  als  Eulen  von  Athen.  Tschau!«  Übrigens, 
das  photographische  Treiben  der  Familie,  an  allen  belebten 
Punkten  der  Schweiz  und  zumal  in  St.  Moritz,  ist  wirklich 
sehenswert,  es  zeigt  die  abgelegte  Königswürde  in  allen  Situationen, 
die  natürlich  kein  Wiener,  Berliner  oder  Pester  Jud,  dessen 
Adelsbrief  die  Kurliste  ist,  ungenützt  vorübergehen  läßt.  Er 
stellt  sach  dazu;  wird  auch  öfter  vorgestellt.  Der  König  hat  das 
gern;  er  hält  das,  was  ihm  in  Lugano  passiert  ist,  für  standes- 
unwürdiger als  den  Umgang  mit  dem  über  die  Grenze  arrivierten 
Auswurf  der  Zentralstaaten.  Er  denkt:  warum  nicht,  man  ist  im 
Leben  nur  einmal  ein  Märtyrer.  Alles,  was  unter  der  Engadiner 
Sonne  schiebt  und  rodelt,  um  den  Krieg  nicht  in  einem  Erdloch  zu 


—  126  — 


verbringen,  oder  was  sich  kurzerhand  au  Bern  >attachieren«  ließ, 
um  sich  nicht  erst  in  Wien  entheben  lassen  zu  müssen,  wimmelt 
um  die  Majestät.  Es  sind  Menschen  und  ich  hatte  sie  mit 
Originalaufnahmen  verwechselt.  Aber  was  macht  denn  die  Gräfin 
Julius  Andrassy  im  Spital  in  Budapest?  Sie  läßt  sich  photo- 
graphieren,  während  sie  verklärten  Blickes  einem  anscheinend 
den  besseren  Ständen  angehörenden  Helden  einen  Löffel  Medizin 
verabreicht,  den  er  mit  zager  Hand  und  im  Vollgefühl  der 
Situation  gerührt  entgegennimmt?  Warum  tut  sie  das,  die 
Samariterin?  Warum  hat  sie  dem  Photographen  nicht  gesagt, 
er  möge  warten,  bis  der  Patient  die  Medizin  genommen  habe? 
Im  Hintergrund  hängt  jene  ominöse  Balkankarte,  bei  deren  Studiuni 
einst  Conrad  v.  Hötzendorf  überrascht  wurde.  Ob  wohl  solche 
Genrebilder  in  und  vor  dem  Weltkrieg  auch  auf  dem  Balkan 
entstanden  sind?  Krankenpflegerin  ist  ein  schöner  Beruf,  fürwahr, 
aber  gleich  darunter  sind  englische  Frauen  als  Bahnarbeiter  und 
das  »Todesbataillon«  der  Petersburgerinnen  zu  sehen  und  auch 
diese  Berufe  stehen  da,  als  ob  sie  wüßten,  daß  sie  in  die 
illustrierten  Zeitschriften  kommen  werden.  Wie  anders  die  holde 
deutsche  Maid  dort,  die  sich  lächelnd  an  einer  Vorrichtung  zu 
schaffen  macht,  die  ein  Brunnen  sein  dürfte.  Sie  windet  wohl  Wäsche, 
singt  sich  eins  und  so.  Nicht  doch.  Die  Gebrauchsanweisung  steht 
darunter:  »Die  breiartige  Pulvermasse  wird  durch  eine  Rohranlage 
mittels  Druckes  in  die  Zenlrifugen  geschwemmt  und  durch 
Schleudern  vom  Wasser  befreit.«  Das  Ganze  ist  eine  Abend- 
stimmung und  heißt:  Aus  einer  deutschen  Pulverfabrik.  Die 
Sache  will's  und  freudig  schafft  die  Maid.  Ob  auch  sie  weiß, 
daß  sie,  eine  unter  Millionen  deutscher  Frauen,  ihre  Züge  im 
,  Weltspiegel'  schauen  werde?  Aber  nicht  immer  ist  es  dem 
Photographen  gewährt,  das  volle  Menschenleben  dort,  wo  es 
interessant  ist,  anzupacken  oder  die  Zeit  am  sausenden  Webstuhl 
zu  erwischen.  Während  es  zum  Beispiel  ohneweiters  gelingt,  den 
Justizsoldaten  dabei  zu  ertappen,  wieer  Dokumenteausdem  Caillaux- 
Prozeß  zur  Verwahrung  in  den  Gerichtspalast  bringt,  eine 
Situation,  die  zwar  äußerlich  nichts  Auffälliges  hat  und  mit  einem 
tausendmal  geübten  Verfahren  eine  Ähnlichkeit  aufweisen  dürfte, 
aber  doch  durch  den  Inhalt  der  Dokumente  sehenswert  ist  bedarf 
es  der  Intervention  des  Malers,  um  sich  vorzustellen,  wie  Joseph 


—  127  — 

Caillaux,  der  frühere  französische  Premierminister  in  seinem 
Arbeitszimmer  bei  Anhörung  seines  Verhaftungsbefehles  dasitzt, 
der  ihm  durch  den  Pariser  Festungskommissär  Priollet  vorgelesen 
wird.  Ein  Photograph  hatte  nicht  Zutritt,  da  es  sich  ja  um  keine 
so  allgemein  zugängliche  Gelegenheit  gehandelt  hat,  wie  wenn 
ein  Generalstabschef  die  Balkankarte  studiert.  Umso  reichlicher 
ist  die  Ausbeute,  die  er  auf  der  Straße  vornehmen  kann,  unter 
den  vielen  offiziellen  Persönlichkeiten,  die  eine  Sitzung,  und  wäre 
es  selbst  die  geheimste,  verlassen  oder  sich  in  ein  öffentliches 
Gebäude  begeben.  Die  Quadrille  dieser  Schrittmacher,  die  gerade 
zum  Veitstanz  ausholen,  der  Fallsucht  erliegen,  von  der  Beriberi- 
Krankheit  heimgesucht  werden  oder  auch  nur  turnen  wollen,  tiefe 
Kniebeuge  machen  und  dergleichen  Allotria  treiben,  stellt  sich  bei 
jeder  nur  möglichen  Gelegenheit  zusammen.  Darin  sind  sie  alle, 
diese  Persönlichkeiten,  die  der  Photograph  auf  der  Straße  getroffen 
hat,  einander  gleich.  Sie  nehmen's  nicht  ernst,  sie  sind  zu  allerlei 
Unfug  aufgelegt.  Wie  besonnen  dagegen  die  Haltung  jener 
Auserwählten,  die  ihn  ruhig  in  Ihrem  Heim  erwarten  können. 
Solche  Aufnahmen,  zumeist  dem  Reich  der  Kunst  angehörender 
Individualitäten,  dienen  dann  nicht  nur  einem  längst  gefühlten 
Bedürfnis,  sondern  bieten  auch  durch  ihren  idyllischen  Charakter 
eine  erfreuliche  Abwechslung  zwischen  den  Familienbildern  der 
Munitionserzeugung.  Da  heißt  es  plötzlich:  »Ein  interessantes 
Paar«,  aber  nicht  Hindenburg  und  Ludendorff  sind  es,  sondern 
der  bekannte  Maler  Eugen  Spiro  und  seine  Gattin  Elisabeth 
Saenger-Sethe,  die  Tochter  der  ausgezeichneten  Geigerin  Irma 
Saenger-Sethe  und  des  hervorragenden  Publizisten  Prof.  Dr.  S. 
Saenger,  woraus  vor  allem  die  Erkenntnis  hervorgeht,  daß  sie 
Spiro-Saenger-Sethe  heißt.  Gleich  daneben  scheint  der  Titel 
»Polnische  Wirtschaft«  auf  arge  Übelstände  hinzuweisen,  aber 
wir  bekommen  im  Gegenteil  das  erfreuliche  Bild  zu  sehen:  Eine 
Kuh  als  Adoptivmutter  verwaister  Ferkel,  und  finden,  daß  dies 
im  Grunde  menschlicheren  Charakter  hat,  als  alles,  was  rings- 
herum an  Szenen  aus  dem  deutschen  Kriegs-  und  Familienleben 
gezeigt  wird.  Diese  Kuh  scheint  mir  auch  insofern  Beachtung  zu 
verdienen,  als  sie  sich  unbeobachtet  fühlt  und  weit  und  breit 
das  einzige  Gottesgeschöpf  ist,  das  ohne  jede  Pose  seine  Pflicht 
erfüllt  und,    nicht  ahnend,   daß  sie's  für  die  , Woche'  tue,  vom 


128 


Photographien  dabei  betreten  wurde.  Von  der  Bestimmung  der 
Qenreszene,  die  uns  die  gefeierte  deutsche  kgl.  Hofschauspielerin 
Tilla  Durieux  mit  ihren  Lieblingstieren  vorführt,  dürfte  wenigstens 
sie  informiert  gewesen  sein.  Während  nämlich  Margaret  Wilson, 
dieTochter  des  amerikanischen  Präsidenten,  als  eifrige  Anhängerin 
des  Schneeschuhlaufens  in  einer  Stimmung  ist,  als  ob  sie  heut 
dijr  Welt  eine  Haxen  ausreißen  wollte,  wirft  die  Durieux,  deren 
Kleid,  Tischdecke,  Sophakissen  und  Papagei  das  gleiche  kunst- 
gewerbliche Muster  aufweisen,  diesem,  dem  Papagei,  einen  strengen 
Blick  zu.  Es  scheint  sich  da  um  eine  mindestens  so  ernste 
Angelegenheit  zu  handeln  wie  dort  beim  Abfeuern  eines  deutschen 
Fliegerabwehrgeschützes;  daß  es,  wenn  einmal  festgehackt,  nach 
oben  und  unten  schießen  kann,  ist  selbstverständlich.  Aber  nicht 
alle  Berliner  kühnen  jetzt  ihres  behaglichen  Heimes  froh  werden. 
Da  laut  einer  Verordnung  des  Berliner  Stadtmagistrates  die  Haus- 
bewohner den  Schnee  vor  ihren  Häusern  kehren  müssen,  was  manch 
einen  Berliner  schon  zur  schlagfertigen  Anwendung  des  Sprich- 
wortes, daß  jeder  vor  seiner  Tür  zu  kehren  habe,  veranlaßt  hat, 
so  begeben  sich  heute  alle  Stände  ohne  Unterschied  des  Standes 
an  die  Schneeschippearbeit.  Voran  zwei  schicke  JÖhren,  die  sonst 
lieber  in  die  Reinhardtschule  gehen;  dann  ein  älterer  Schieber  im 
Pelz;  in  einiger  Entfernung,  die  Schaufel  auf  die  leichte  Achsel 
nehmend,  ein  resignierter  junger  Mann,  sein  Liedchen  trauernd, 
ehedem  mag  das  Trottoir  der  Friedrichstraße  sgjne  Domäne 
gewesen  sein,  nun  muß  man's  hinnehmen;  zum  Schluß  der 
Reihe  der  Rechtsanwalt  Krotoschiner  II.  Was  ist  das  aber  gegen 
das  Straßenbild,  das  Bern  bietet,  wenn  der  Neujahrsempfang 
der  bei  der  Schweiz  beglaubigten  fremden  Diplomaten  im 
Bundeshause  stattfindet?  Sie  gehen  alle  dahin,  die  Männer, 
deren  Beruf  der  überlebende  Teil  der  Menschheit  eine  pietätvolle 
Erinnerung  bewahrt.  Ja,  das  sind  sie  alle,  die  ihr  Möglichstes 
getan  haben,  die  für  ihr  Vaterland  repräsentieren,  spionieren, 
koitieren,  Bridge  spielen  und  die,  was  immer  man  gegen  sie 
einwenden  möge,  alles  in  allem  ihre  verfluchte  Pflicht  und 
Schuftigkeit  tun.  Ja,  so  sind  sie,  die  Herren  vom  diplomatischen 
Corps  de  ballett,  so  sehen  sie  aus,  so  gehen  sie,  jeder  Staat  auf 
seine  Art,  zu  Neujahr  ins  Bundeshaus.  Die  Engländer  schicken 
sich  an,    die  Belgier  zögern,    die  Italiener  schreiten,   die  Serben 


129 


springen,  die  Amerikaner  gehen,  die  Franzosen  spazieren,  die 
Deutschen  marschieren,  na  und  die  Österreicher?  Die  stehen  da 
und  lassen  sich  photographieren.  Der  Unterschied  ist  exemplarisch: 
wie  die  Bundesbrüder  es  ernst  nehmen,  eine  förmliche  Offensive 
gegen  das  Bundeshaus  durchführen  und  egal  druff  losgehen  zum 
Neujahrsempfang,  während  die  Unsern  es  so  aufzufassen  scheinen, 
daß  sie  nunmehr  das  ganze  glückliche  neue  Jahr  hindurch  damit 
beschäftigt  sein  werden,  auf  die  Gratulation  zum  nächsten  zu 
warten.  Wir  sind  die  einzige  Vertretung  eines  europäischen 
Staates,  die  dem  Leser  eines  illustrierten  Blattes  direkt  vis-ä-vis 
steht.  Alle  machen  ein  freundliches  Gesicht  und  der  uniformierte 
Feschak  in  der  Mitte  freut  sich  sichtlich,  daß  er  hier  sein  kann 
und  nicht  dort  sein  muß,  wo  der  Neujahrsempfang  von  Hand- 
granaten bereitet  wird.  Sehn's  so  heiter  ist  das  Leben  bei  uns 
in  Bern  ....  Aber  was  ist  das!  Faschingin  Flandern?  Masken- 
scherze unweit  hinter  der  Front?  Vor  einem  Hexenkessel  sitzt 
etwas  Undefinierbares  und  hält  etwas  Undefinierbares  auf  dem 
Schoß.  Walpurgisnacht.  Deutsche  Kavallerie  reitet  über  den 
Blocksberg.  Und  da  müssen  denn  Mutter  und  Kind  in  ihrer 
ausgeräumten  Hütte  sitzen  und:  >tragen  beständig  Gasmasken«. 
Das  Kind  wird  vor  dem  Wolf  in  Großmutters  Bett  nicht  mehr 
erschrecken.  Aber  es  lernt  das  Gruseln  wieder,  wenn  man  ihm 
dereinst  erzählt,  daß  dies  und  das  und  noch  etwas  und  überhaupt 
alles  für  den  Weltspiegel  geschah. 


130  — 


Glossen 


Der  Geist 

Hindenburg  sagte  zu  Auernheimer,  als  die  Rede  auf  die 
englischen  Tanks  kam: 

>Es  ist  immer  ein  schlechtes  Zeichen,  wenn  eine  Armee 
versucht,  durch  derlei  mechanische  Erfindungen  zu 
ersetzen,  was  ihr  an  lebendigem  Geiste  abgeht.  D  e  r  G  e  i  s  t 
ist  unersetzlich  .  .  .« 

Hindenburg  meinte  aber  nicht  den  Geist  Auernheimers, 
sondern,  wie  dieser  selbst  zugibt,  den  Geist,  von  dem  Tolstoi  in 
»Krieg  und  Frieden«  spricht: 

»Er  (Kutusow)  wußte,  daß  das  Schicksal  der  Schlachten 
entschieden  wird  nicht  durch  die  Anordnungen  des  Oberbefehlshabers, 
nicht  durch  die  Aufstellung  der  Truppen,  nicht  durch  die  Zahl 
der  Kanonen  und  die  Summe  der  Gefallenen,  sondern  durch  jene 
unberechenbare  Kraft,  die  der  Geist  des  Heeres 
genannt  wird  .  .   .« 

Und  Durchbruchswirkungen  erzielen  kann,  wie  bei  einer 
nicht  mechanischen,  sondern  mehr  chemischen  Kriegführung 
das  Gas  des  Heeres. 


>  Die  Mitwirkung  „der  Technik    an    den   Problemen    der 
Übergangswirtschaft.« 

Das  gibts  auch  ?  Bis  jetzt  hatten  wir  nur  die  Mitwirkung 
der  Technik  an  den  Problemen  der  Übergangswirtschaft  zu 
spüren  bekommen. 


—  131  — 


Cui  prodest? 

(Manfred  W  e  i  s  -  A.  G.)  Aus  Budapest  wird  uns  telegraphiert : 
Die  Manfred  Weissche  Munitions-A.  G.  veröffentlicht  heute  ihre 
Jahresbilanz,  aus  der  hervorgeht,  daß  sich  bei  einem  Aktienkapital 
von  35  Millionen  Kronen,  Reserven  von  9  Millionen  und  Abschrei- 
bungen von  20  Millionen,  ein  Reingewinn  von  11,500.000  Kronen 
ergibt.  Die  Aktien  der  Gesellschaft  befinden  sich,  wie  bekannt,  aus- 
schließlich im  Besitz  der  Familie  Manfred  Weis. 

Die  Aktionäre  sind  also  blutsverwandt. 


Seit  dein  Krieg,  in  dem  der  Luxus  gestiegen  ist 

Bezirksrichter  Dr.  Pohl :  Was  kosteten  diese  Shawls  in 
Friedenszeiten  ?  —  Angekl. :  Derartige  sehr  fein  aus- 
geführte Seidenshawls  kamen  in  Friedenszeiten 
überhaupt  nicht  auf  den  Markt;,  sie  werden  erst  seit 
dem  Krieg,  indem  der  Luxus  gestiegen  ist,  erzeugt.  — 
Der  Richter  sprach  den  Angeklagten  frei,  weil  die  Besichtigung  der  Shawls 
lehre,  daß  sie  besonders  fein  seien,  so  daß  es  sich  nicht  um 
Gegenstände  handle,  die  einem  Lebensbedürfnis  dienen,  sondern  um 
reine  Luxuswaren,  auf  die  die  Preistreibereiverordnung  keine  An- 
wendung finde. 

Das  ist  gerecht,  daß  der  Händler  frei  ausgeht.  Aber 
warum  werden  die  Kunden  nicht  verhaftet? 


Nach  dem  Krieg,  wenn  der  Aufschwung  kommt 

>.  .  .  Wir  als  Stadtverordnete  sehen  aber,  wie  ein  Hotel 
nach  dem  anderen  in  Berlin  geschlossen  wird,  um  eine  Kriegs- 
gesellschaft aufzunehmen,  und  wir  sehen,  wie  schwer  es  einem 
Fremden,  der  nach  Berlin  kommt,  fällt,  Unterkunft  zu  finden.  Wie 
soll  das  nach  dem  Kriege  werden,  wenn  der  Auf- 
schwung komm  t?< 


132  — 


Es  ändert  sich  die  Zeit 

Wien,   14.  Febr.  —  —    Nur    die    der    reichsdeutschen  Schwer- 
industrie nahestehende  .Zeit'  beflegelt  Wilson. 

Die  Wiener  Note  besteht  darin,  daß  hier  alles  möglich  ist 
und  man  durch  nichts  unmöglich  wird.  So  war  die  .Zeit'  durch 
viele  Jahre  möglich  und  wird  künftig  nicht  unmöglich  sein. 
Auf  das  Programm,  durch  Unbestechlichkeit  Aufsehen  zu 
erregen,  gegründet,  hat  sie,  wie  bekannt,  nach  Kräften  durch- 
gehalten und  ist,  wie  erinnerlich,  durch  Verkehr  mit  reichen 
Leuten  der  Gefahr  begegnet,  sich  prostituieren  zu  müssen. 
Im  Krieg  unterschied  sie  sich  von  der  andern  Wiener  Presse 
durch  eine  ausgesprochen  schwerindustriefeindliche  Haltung,  die 
ihr  nichts  eintrug  als  den  törichten  Verdacht,  von  der  Entente 
gekauft  zu  sein.  Da  aber  dies  zu  wenig  war  und  der  Krieg  zu 
lange  dauert,  raffte  sie  sich  eines  Tages  dazu  auf,  der 
Gedankenwelt  der  Schwerindustrie,  deren  Vertreter  zur  An- 
knüpfung journalistischer  Geschäftsverbindungen  gerade  Wien 
und  die  Provinz  bereisten,  näherzutreten.  Es  versteht  sich  von 
selbst,  daß  die  Herausgeber  der  ,Zeit'  von  dem  Augenblick  an, 
da  sie  sich  zu  solchem  Opfer  alles  dessen,  was  ihnen  bis  dahin 
heilig  war,  entschlossen  hatten,  nicht  mehr  die  ,Zeit'  heraus- 
geben konnten.  Nie  wären  sie  imstande  gewesen,  ihre  Feder  in 
den  Dienst  einer  ihnen  unsympathischen ,  ja  bis  dahin 
bekämpften  politischen  Gesinnung  zu  stellen.  Was  in  fremde 
Hände  übergeht,  ist  eben  nicht  der  Charakter  eines  Publizisten 
der  ist  unzerstörbar  — ,  sondern  nur  sein  Lebenswerk  und 
die  Abonnentenliste.  So  wie  der  Wiener  sein  Gewand  verkauft, 
um  in  den  Himmel  zu  fahren,  so  verzichtend  haben  die  Herren 
Singerund  Kanner,  die  zwar  keine  bodenwüchsigen  Wiener  sind, 
aber  doch  lange  genug  in  Wien  gelebt  haben,  um  sich  aus- 
zukennen,  das  Zeitliche  gesegnet  und  sind  nach  St.  Moritz 
abgereist. 


—  133 
Au«  großer  Zeit 


TRCUBUMO 


THEUOUf.O 


SOHLEN  SCHONER  mit  der 

röo  £>:*  raina  HtRStH  »Oamiwelt 

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SCHIENSO^UU  ist" 
TREUBUND' 

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VIKTOR    FISCHBEIN.    WIEN,    I., 

r.  ■.  n«atni5ti>Afi5n  s. 


EMORME 
ERSPARNIS 

SOHLEN  DUM* 
TREU ©UND' 


Männer  der  Tat 

—  —  Aber  es  kam  auch  hier  schon  vor,  daß  Direktor  Karezag 
ein  Libretto  innerhalb  24  Stunden  annahm.  Ein  Mann  der  raschen 
Entscheidungen  Ist  der  neue  Burgtheaterdirektor.  Er  nahm  die  neueste 
Komödie  von  Hans  Müller  innerhalb  eines  Tages  an  .  .  . 


Herr  Reimers. 


—  i;m 

Den  Lear  spielt 

*  « 

* 

Der  jüngste  Ehrendoktor 

Der  Verleger  des, Berliner  Tageblatt'  Rudolf 
Mosse  Ist  von  der  Universität  Heidelberg  zum 
Ehrendoktor  c  r-n  a  n  n  t    worden.  — 

Du  Stadt  an  Ehren  reich  ! 


Czernin  und  Goethe 

Den  Wiener  Gemeinderäten  hat  der  üraf  Czernin  zugerufen: 
....    und  ich  möchte  an  das  schöne  Wort  Goethes  erinnern : 

> Weibisches  Zagen, 

Ängstliches  Klagen, 

Wendet  kein  Elend, 

Macht  dich  nicht  frei. 

Allen  Gewalten 

Zum    Trutz    sich    erhalten, 

Nimmer  sich  beugen, 

Kräftig  sich  zeigen, 

Rufet  die  Hilfe 

Der  Götter  herbei,« 

Die  Version  »Rufet  die  Arme  der  Götter  herbei«  ist 
offenbar  wegen  der  Mißdeutungsmöglichkeit  »Armee  der  Götter« 
(Herr  der  Heerscharen)  geflissentlich  vermieden  worden.  Ich  hätte 
erwartet,  daß  Czernin,  wenn  er  schon  Goethe  zitiert,  von  den 
»drei  maßvollen,  aber  ehrenvollen  Frieden«,  die  er  bisher  ge- 
schlossen hat,  eher  das  Folgende  heimbringen  würde: 

Verflucht  sei,  wer  nach  falschem  Rat, 

Mit  überfrechem  Mut, 

Das  was  der   Corse-Franke  tat, 

Nun  als  ein  Deutscher  tut. 

Fr  fühle  spät,  er  fühle  früh, 

Es  sei  ein  dauernd  Recht; 

Ihm  geh'  es,  trotz  Gewalt  und  Müh', 

Ihm  und  den  Seinen  schlecht! 


—  135  — 

Goethe  hat  mit  Czernin  eben  gemeinsam,  daß  er  sieh 
nicht  nur  gegen  die  Defaitisten,  sondern  auch  gegen  die 
Annexionisten  wendet.  Ich  aber  lasse  mir  von  ihnen  beiden 
nicht  zweimal  sagen,  daß  man  allen  Gewalten  zum  Trutz  sich 
erhalten  muß  —  was,  wie  ich  hoffe,  mir  sogar  besser  als  dem 
Grafen  Czernin  gelingen  wird. 


Czernins  Mut 

Ich  werde  auf  diesem  von  mir  eingeschlagenen  Wege  rück- 
sichtslos fortschreiten  und  den  Kampf  mit  jedem  aufnehmen,  der 
sich  mir  dabei  in  den  Weg  stellt. 

Ganz  recht  hat  er.  Wenn  ich  die  Zensur  hätt',  ließ'  ich  auch 
den  Czernin  konfiszieren. 


Jetzt  erklärt  sich  Czernins  Schweigen 

Zu  der  Antwort  des  Herrn  Präsidenten  kann  ich  nur  sagen, 
daß  ich  es  für  ^ehr  wertvoll  halte,  daß  der  deutsche  Reichskanzler 
in  seiner  ausgezeichneten  Rede  vom  25.  Februar  mir  die 
Antwort  aus  dem  Munde  genommen  und  erklärt  hat, 
die  vier  von  Herrn  Wilson  in  seiner  Rede  am  11.  Februar  entwickelten 
Grundsätze  seien  »eine  Basis,  auf  welcher  der  allgemeine  Friede 
erörtert  werden  kaniu. 


Klärung 

Den  Vorwürfen,  daß  er  sich  nicht  klar  und  deutlich  aus- 
spreche, hat  der  Graf  Czernin  durch  die  folgende  scharfsinnige 
Darlegung  einmal  die  Spitze  abgebrochen: 


—  136  — 


.  .  .  Ein  unfreundlicher  Akt  gegen  die  russische  Regierung  sei 
in  dem  Friedensschlüsse  mit  der  Ukraine  nicht  zu  erblicken.  Der 
Vierbund  habe  mit  der  Ukraine  keinen  Bundes-,  sondern  einen  Friedens- 
vertrag unterzeichnet.  Die  Ukraine  sei  also  für  den  Vierbund  durch 
diesen  Vertrag  nicht  etwa  ein  Verbündeter,  sondern  ein  neutraler 
Staat  geworden.  Komme  der  Vierbund  auch  mit  der  russischen 
Regierung  zu  einem  Friedensschlüsse,  so  werde  Rußland  für  den  Vier- 
bund g  leich  falls  ein  n  e  u  t  r  a  1  e  r  Staat  sein.  Die  Beziehungen  des 
Vierbundes  zur  Ukraine  und  seine  Beziehungen  zu  Rußland  würden 
in  diesem  Falle  dieselben  sein.  Ein  Unterschied  würde 
nur  dann  bestehen,  wenn  der  Vierbund  zu  keinem  Frieden 
mit  dem  Rat  der  Volkskommissäre  gelange,  denn  in  diesem  Falle 
hätte  der  Vierbund  die  ukrainischen  Gebiete  als  neutral,  die  dem 
Einfluß  des  Rates  der  Volkskommissäre  unterstehenden  Gebiete  aber 
bis  auf  weiteres  als  feindlich  zu  betrachten.  .  .  . 

Das  hat  doch  wahrhaftig  Hand  und  Fuß.  Nur  daß  dieser, 
der  Fuß,  um  die  Sache  wieder  ein  wenig  zu  verwirren,  gleich 
darauf  für  den  neutralen  Staat  wie  für  einen  Verbündeten  ein- 
geschritten ist. 


Der  zweite  Teil 

.  .  .  Irn  Zusammenhange  hiemit  hat  er  (Graf  Karolyi)  meiner 
Budapester  R-ede  einige  wohlwollende  Worte  gewidmet,  zu 
meinem  Erstaunen  aber  nur  deren  erstem  Teil, 
wahrend  er  den  zweiten  totgeschwiegen  hat  Dieser  zweitt- 
Teil  ändert  aber  das  ganze  Charakteristikum 
der    Rede. 

Wie  richtig  das  ist,  hat  die  Antwort  der  Welt,  vor  der 
dieser  zweite  Teil  leider  nicht  totgeschwiegen  wurde  und  deren 
Erstaunen  einem  Zwitter  galt,  bewiesen.  DasganzeCharakteristikum 
war  geändert.  Der  erste  Teil  der  Dichtung  war  Friede,  der  zweite 
Teil  war  Faust.  »Es  ist  nichts  mit  die  zweiten  Teil'«,  sagt  Nestroy. 
Aber  wenn  schon  nicht  die  Ansicht  einer  Welt  von  Feinden, 
so  hätte  der  folgende  von  Czernins  Presse  totgeschwiegene  (hier 
nach  dem  Protokoll  zitierte)  meisterliche  Passus  der  Herrenhausrede 
des  Hofrats  l.ammascli    ihn   belehren   können,   daß  seine  Wert 


137  — 


Schätzung  des  >zweiten  Teils«  unbegründet  ist.  Hofrat  Lammasch, 
der  Richter  von  Haag,  dessen  Zeugenschaft  für  Haag  alle  Mörser 
übertönen  müßte,  ist  mit  dem  Grafen  Czernin  so  sehr  der 
Meinung,  daß  jener  zweite  Teil  das  ganze  Charakteristikum  der 
Rede  ändere,  daß  er  beinahe  die  Identität  des  Redners  zu 
bezweifeln  wünscht.  Hört  hört: 

Die  Rede  in  Budapest  muß  ich,  wie  bereits  gesagt,  auf  das 
allerwärmste  begrüßen.  Nur  hätte  ich  in  einer  Beziehung  einen 
kleinen  Wunsch  ihr  gegenüber  gehabt:  daß  die  idealen  allgemeinen 
Ausführungen  unseres  Ministers  für  auswärtige  Angelegenheiten  eine 
etwas  konkretere  Gestalt  angenommen  hätten  und  daß  sie  wenigstens 
in  großen  Zügen  eingegangen  wären  auf  eine  Reihe  von  durchaus 
realisierbaren,  durchaus  praktikablen  Vorschlägen,  die  in  der  letzten 
Zeit  nach  der  Richtung  der  Entwicklung  der  zwischenstaatlichen 
Organisationen,  für  die  Organisation  der  Schiedsgerichte  und 
insbesondere  der  internationalen  Vermittlungsinstanzen,  gemacht  worden 
sind.  Allerdings  muß  ich  auch  auf  den  Umstand  hinweisen,  den  Seine 
Durchlaucht  Fürst  Auersperg  gerade  vorhin  berührt  hat,  daß  jene 
Rede  —  ich  muß  in  gewissem  Sinne  sagen:  leider  —  eine  Dinerrede 
gewesen  ist,  wobei  es  ja  nicht  möglich  gewesen  ist,  auf  solche  Details 
mehr  theoretischer,  vielleicht  mehr  wissenschaftlicher  Art  einzugehen; 
aber  es  ist  ja  ungemein  zu  bedauern,  daß  der  Leiter  unserer  auswärtigen 
Politik  nur  so  selten  Gelegenheit  hat,  öffentlich  und  amtlich  sich  über 
die  wichtigsten  Fragen  seines  Ressorts  zu  äußern  und  sich  dazu  zu 
einem  Diner  in  Budapest  flüchten  muß. 

In  Bezug  auf  die  Schiedsgerichtsbarkeit  muß  ich  in  Parenthese 
etwas  auf  die  Ausführungen  Seiner  Durchlaucht  meines  unmittelbaren 
Herrn  Vorredners  eingehen.  Ich  kenne  die  Praxis  der  Börsenschieds- 
gerichte nicht,  aber  ich  bin  überzeugt,  daß  die  Praxis  der 
internationalen  Schiedsgerichte  jene  Anforderungen,  von  denen 
offenbar  Seine  Durchlaucht  überzeugt  ist,  daß  ihnen  die  Börsen- 
schiedsgerichte nicht  ganz  entsprechen,  befriedigen  würde.  Ich 
kann  aus  mehrfacher  Erfahrung  sprechen.  Ich  habe  viermal  die 
Ehre  gehabt,  bei  internationalen  Schiedsgerichten  im  Haag  zu 
fungieren,  dreimal  als  deren  Vorsitzender;  ich  habe  mit 
14  internationalen  Schiedsrichtern  dabei  zu  tun  gehabt  und  i  c  li 
muß  sagen,  mit  Ausnahme  eines  einzigen  —  ich  kann  ihn 
hier  ruhig  nennen,  jetzt  besonders,  da  wir  im  Kriegszustande  mit 
dem  betreffenden  Staate  sind,  es  war  de/  russische  Justizminister 
Murawiew  — ,  daß  mit  Ausnahme  dieses  einzigen,  alle  diese 
Schiedsrichter  vollkommen  auf  der  Höhe  ihrer 
Aufgabe  standen,  was  ihre  Kenntnisse  betrifft  und  was  vor 
allem  ihre  Unbefangenheit  betrifft.  Ich  kann  mit  größter 
Entschiedenheit      und     Gewissenhaftigkeit     aus- 


138 


sprechen,  daß  der  Oberrichter  von  Kanada  in  allen  denjenigen 
Fällen,  in  denen  England,  beziehungsweise  Kanada  und  Neufundland 
im  Unrechte  gewesen  ist,  gegen  England  entschieden  hat  und  daß 
ebenso  der  Oberrichter  des  Staates  Delaware  in  allen  denjenigen 
Fällen  gegen  Amerika  entschieden  hat,  in  denen  Amerika  im  Unrechte 
gewesen  ist.  Ich  kann  ebenso  mit  voller  Gewißheil  beteuern, 
daß  der  belgische  Ministerpräsident  Beernaert,  der  von  Venezuela  als 
Schiedsrichter  bestellt  worden  war,  gegen  den  Staat,  von  dem  er  als 
Schiedsrichter  bestellt  worden  war,  gegen  Venezuela,  gestimmt  hat 
und  daß  der  holländische  Minister  des  Innern  Savornin-Lohmann,  der  in 
einem  anderen  Falle  von  Frankreich  als  Schiedsrichter  bestimmt  worden 
wari  gegen  Frankreich  gestimmt  hat.  Ich  bin  vollkommen 
überzeugt,  daß  es  bei  nur  einigermaßen  vorsichtiger  Auswahl 
möglich  sein  wird,  unbefangene  Männer,  insbesondere  aus  den  mehr 
neutralen  Staaten,  aus  den  skandinavischen  Staaten  und  aus  Holland 
sowie  aus  Belgien  —  von  dort  vielleicht  jetzt  nicht  mehr  mit 
derselben  Sicherheit  wie  früher  —  und  aus  der  Schweiz  zu  gewinnen, 
welche  nicht  bloß  mit  Sachkenntnis,  sondern  auch  mit  Unbefangenheit 
zu  entscheiden  in  der  Lage  sind. 

In  Bezug  auf  die  Rede  des  Ministers  des  Auswärtigen  in 
Budapest  möchte  ich  noch  eines  erwähnen.  Ich  finde  es  vollkommen 
begreiflich,  daß  ein  Staatsmann,  der  im  Inneren  seines 
Herzens  für  Annexionen  ist  —  ich  meine  damit 
durchaus  nicht  Seine  Exzellenz  den  Grafen  C  z  e  r  n  i  n, 
ich  spreche  im  allgemeinen  — ,  wenn  er  auf  solche  im  konkreten 
Falle  verzichtet,  dabei  den  Vorbehalt  macht,  daß,  wenn  der  Krieg 
fortgesetzt  und  die  Kriegslage  in  Zukunft  eine  noch  günstigere 
sein  würde,  er  eine  gewisse  Revision  der  Friedensbedingungen,  die  er 
in  Aussicht  genommen  hat,  vorschlagen  und  insbesondere  auf  eine 
weitergehende  strategische  Sicherung  der  Grenzen  hinwirken  würde. 
Das  ist  als  Schreckschuß  gewiß  höchst  angebracht.  Aber  ich  kann 
mir  nicht  gut  vorstellen,  daß  ein  Staatsmann, 
der  sich  zur  Überzeugung  durchgerungen  hat, 
daß  das  Gewaltprinzip  abgewirtschaftet  hat,  daß 
an  Stelle  der  Herrschaft  der  Gewalt  die  Herrschaft 
des  Rechtes  aufgerichtet  werden  müsse,  daß  ein 
Staatsmann,  der  zur  Überzeugung  gekommen  ist, 
es  sei  an  der  Zeit,  eine  zwischenstaatliche 
Organisation  aufzurichten  und  an  Stelle  der 
ewigen  Kriegsbereitschaft  eine  Bereitschaft  zum 
frieden  zu  errichten,  daß  dieser  Staatsmann,  wenn 
er  das  ausspricht,  dies  als  eine  befristete 
Erklärung    abgibt. 

Ich  kann  mir  nicht  gut  vorstellen,  daß  er  das 
Oberhaupt    als    eine    Konzession     für     die    Feind« 


139 


auffaßt,  was  doch  nur  ein  Ergebnis  seiner  Einsicht 
in  den  Gang  der  Entwicklung  der  menschlichen  Dinge 
ist.  Der  Staatsmann,  der  sich  bereit  erklärt,  in  einen  Friedensbund, 
in  eine  zwischenstaatliche  Organisation  einzutreten,  der  tritt  damit  in 
eine  wechselseitige  Versicherungsgesellschaft  der  Staaten  ein,  die  allen 
zum  Vorteile  gereicht,  nicht  bloß  seinem  Staate,  sondern  ebenso  auch 
allen  übrigen;  heute  mir,  morgen  dir.  Eine  solche  Erklärung 
kann  ich  mir  nicht  gut  als  eine  befristete,  als 
eine  resolutiv  bedingte  vorstellen.  Ich  fasse  daher 
auch  die  Erklärung  des  Grafen  Czernin  in  diesem  Punkte  nicht 
als  eine  resolutiv  bedingte  auf.  Wenn  diese  Erklärung  aber  bestimmt 
und  deutlich  auch  in  diesem  Punkte  als  eine  definitive  wäre  abgegeben 
worden,  so  würde  es  wieder  den  Gegnern  schwerer  geworden  sein, 
weiterhin  noch  von  unserem  Eroberungswillen  zu  sprechen  und  uns 
Vorwürfe  zu  machen,  daß  wir  doch  immer  nach  der 
Wiederkehr  des  Gewaltprinzips  ringen.  Dann  würde 
diese  Erklärung  allerdings  bei  jener  Partei,  die  den 
heiligen  Namen  des  Vaterlandes  für  sich  ganz 
besonders  usurpiert,  wahrscheinlich  noch  ungünstiger 
aufgenommen  worden  sein,  als  es  ohnedies  der  Fall  gewesen 
ist.  Aber  daran  ist  nichts  zu  ändern.  Wenn  diese  Erklärung 
einmal  im  definitiven  Sinne  abgegeben  würde,  so  würde  sie  noch  viel 
günstiger  in  den  neutralen  Staaten  und  insbesondere  bei  den  Feinden 
aufgenommen  werden,  vielleicht  nicht  bei  den  Regierungen  der  feind- 
lichen Staaten,  an  die  sie  gerichtet  ist,  aber  bei  den  Völkern  der 
feindlichen  Staaten,  die  dann  um  so  mehr  veranlaßt  gewesen  wären 
und  um  so  mehr  Anlaß  und  Mittel  gehabt  hätten,  auf  ihre  Regierungen 
im  Sinne  des  Friedens  zu  drücken,  und  man  hätte  dann  auch  nicht 
im  Auslande  sagen  können :    desinit    in    pisce  m. 

Klarer,  klüger,  menschlicher,  geistiger  kann  nicht  gesprochen 
werden.  Demnach  wäre  wohl  das  Erstaunen  darüber,  daß  der 
Qraf  Czernin  seinen  zweiten  Teil  stolz  reklamiert,  berechtigter 
als  seine  Verwunderung,  daß  der  Graf  Karolyi  ihn  totschweigt. 
Nein,  es  ist  nichts  mit  die  zweiten  Teil'! 


Gegen  Wilson,  der  gegen  den  Militarismus  war 

».  .  .  Wir  dürfen  nicht  mit  Deutschland  verbündet  sein,  wobei 
er   selbst    zugibt,    daß    wir   den   Amerikanern    bisher    keinen   Schaden 


40 


zugefügt  haben.  Deutschland  soll  keinen  Kaiser  haben,  obgleich 
dieser  gerade  jetzt  das  allgemeine  Stimmrecht  im 
preußischen  Landtag  durchzufechten  hat.   .   .  .< 


Umschwung 

Berlin,  3.  März  (Wolff)  —  -      Nicht  verwunderlich  ist  es,  daß 
die  französischen  Rechthaber  -  -   — 

Ja,  man  beginnt  eben  doch  endlieh  auch  dort  zwischen 
den  Machthabers  und  den  Rechthabern  zu  unterscheiden. 


An  einem  Tag 


•1 1    - 


An  einem  Friedenstag 


>Dank  Gottes  gnädigem  Beistand 
haben  wir  jnit  der  Ukraine  Frieden 
geschlossen.  Unsere  siegreichen 
Waffen  und  unsere  mit  unver- 
drossener Ausdauer  verfolgte 
aufrichtige  Friedenspolitik  haben 
die  erste  Frucht  des  um  unsere 
Erhaltung  geführten  Verteidigungs- 
kampfes gezeitigt.  Im  Verein  mit 
meinen  schwer  geprüften  Vöikem 
vertraue  ich  darauf,  daß  nach  dem 
ersten  für  uns  so  eifreulichen 
Friedensschlußbald  der  allgemeine 
Friede  der  leidenden  Menschheit 
gegönnt  sein  werde. 

Unter  dem  Eindruck  dieses 
Friedens  mit  der  Ukraine  wendet 
sich  unser  Blick  voll  Sympathie 
jenem  strebsamen  jungen  Volke 
zu,  in  dessen  Herzen  zuerst  unter 
unseren  Gegnern  das  Gefühl  der 
Nächstenliebe  wirksam  wurde  und 
welches  nach  in  zahlreichen 
Schlachten  bewiesener  Tapferkeit 
auch  dazu  genügende  Entschlossen- 
heit besaß,  um  seiner  besseren 
Überzeugung  vor  aller  Welt  durch 
dieTatAusdruck  zu  verleihen  .... 

Habe  ich  mich  schon  vom 
ersten  Augenblick  an,  als  ich  den 
Thron  meiner  erlauchten  Vor- 
fahren bestieg,  eins  gefühlt  mit 
meinen  Völkern  in  dem  felsen- 
festen Entschluß,  den  uns  aufge- 
drängten Kampf  bis  zur  Erreichung 
eines  ehrenhaften  Friedens  aus- 
/.ufechten,  so  fühle  ich  mich  um 
so  mehr  eins  mit  ihnen  in  dieser 
Stunde,  in  welcher  nunmehr  der 
erste  Schritt  zur  Verwirklichung 
dieses  Zieles  erfolgt  ist.  Mit 
Bewunderung  und  liebevoller 
Anerkennung    für    die   fast   über- 


»  .  .  .-Es  hat  unser  Herrgott 
entschieden  mit  unserem 
deutschen  Volke  noch 
etwas     vor  Wir 

Deutschen,  die  wir  noch 
Ideale  haben,  sollen  für  die 
Herbeiführung  besserer  Zeiten 
wirken.  Wir  sollen  kämplen  für 
Recht,  Treue  und  Sit! 
lichkeit.  Unser  Herr- 
gott will  den  Frieden 
haben,  aber  einen  solchen, 
in  dem  die  Welt  sich  anstrengt, 
das  Recht  und  das  Gute  zu  tun. 
Wir  sollen  der  Welt  den 
Frieden  bringen,  Wir 
werden  es  tun  auf   jede  Art. 

Gestern  i  s  t's  im  Güt- 
lichen gelungen.  Der 
Feind,  der  von  unseren 
Heeren  gesch  lagen  ist, 
sieht  ein,  daß  es  nichts 
mehr  nützt,  zu  fechten,  und 
der  uns  die  Hand  entgegenhält, 
der  erhält  auch  unsere 
Hand.  Wir  schlagen  ein.  Aber 
der,  der  den  Frieden  nicht  an- 
nehmen will,  sondern  im  Gegen- 
teil, seines  eigenen  und  unseres 
Volkes  Blut  vergießend,  den 
Frieden  nicht  haben  will,  d  e  r 
muß  dazu  gezwungen 
werden  . . . . 

Mit  den  Nachbarvölkern  wollen 
wir  in  Freundschaft  leben,  aber 
vorher  muß  der  Sieg 
der  deutschen  Waffen 
anerkannt  werden.  Unsere 
Truppen  werden  ihn  weiter  unter 
unserem  großen  Hindenburg  er- 
fechten. Dann  wird  der  Friede 
kommen,  ein  Friede,  wie  er  not- 
wendig   ist    für    eine     starke 


142 


menschliche  Ausdauer  und 
unvergleichliche  Opferfreudigkeil 
meiner  heldenhaftenTruppen  sowie 
jener,  die  täglich  daheim  nicht 
mindere  Aufopferung  bekunden, 
blicke  ich  voll  Zuversicht  in  eine 
nahe,  glücklichere  Zukunft. 

Der  Allmächtige  segne  uns 
weiter  mit  Kraft  und  Ausdauer,  auf 
daß  wir  nicht  nur  fürunsundunsere 
tieuen  Verbündeten,  sondern  auch 
für  die  ganze  Menschheit  den  end- 
gültigen Frieden  erreichen.« 


Zukunft  des  Deutschen 
Reiches,  und  der  den  Gang 
der  Weltgeschichte  be- 
einflussen wird.  Dazu 
müssen  uns  die-  gewal- 
tigen Mäch  te  des  Hi  mmels 
beistehen,  dazu  muß  ein 
jeder  von  euch,  vom  Schul- 
kind bis  zum  Greise  hinauf, 
immer  nur  dem  einen  Gedanken 
leben  :  Sieg  und  ein  deutscher 
Friede.  Das  deutsche  Vater- 
land soll  leben!    Hurra!« 


Der  Unterschied  ist  der:  Qott  will  den  Frieden  und 
der  deutsche  Gott  »will  den  Frieden,  wenn  auch  nicht  den 
Frieden  um  jeden  Preis«,  das  hei Bt,  noch  lieber  als  den  Frieden 
hat  er  den  Sieg. 


Ein  sonderbarer  Schwärmer 


Der  Prinz  Max  von  Baden  zu  einem  Vertreter  des  Wolff: 

Trotzky  proklamiert  ein  Weltenschicksal,  das  er  herbeiführen 
will.  Gegen  Ideen  muß  man  auch  mit  Ideen  kämpfen.  Gewiß,  wir 
kämpfen  für  unser  Dasein  und  unsere  wirtschaftlichen  Entwicklungs- 
möglichkeiten. Aber  der  Gedanke  der  Selbsterhaltung,  wenn  er  allein 
steht,  läßt  große  menschliche  Krallquellen  unerschlossen.  Wir  müssen 
der  Weltunordnung  Trotzkys,  die  die  Freiheit  zerstört,  eine 
Weltordnung  entgegensetzen,  die  die  Freiheit 
schützt.  Deutschland  soll  es  getrost  bekennen, 
daß  es  das  Glück  und  das  Recht  anderer  Völker 
in  seinen  nationalen  Willen  aufnimmt  Unser  Name 
darf  nicht  nur  innerhalb  unserer  Grenzen  einen  guten 
Klang  haben.  Alle  großen  Nationen  müssen  einen  Weltzustand 
anstreben,  wo  ihr  Namen  mit  Furcht  und  Hoffnung  überall  dort 
genannt  wird,  wo  Unrecht  geschieht.  Hier  darf  Deutschland  nicht 
auf  die  moralische  Weltgeltung  verzichten.  Das  hieße  einen 
V  e  r  z  i  c  h  t  f  r  i  e  d  e  n    anstreben. 


—  143 


Friedensbereitschaft 

Der  Glaube,  daß  Deutschland  Krieg  um  des  Krieges  willen, 
sozusagen  mars  pour  mars  führt,  ist  irrig,  v.  Kühlmann  sagte 
ausdrücklich: 

...Auch  li  e  » t  e  noch  sind  wir  bereit,  einen 
Frieden  zu  schließen,  der  u  n  s  e  r  n   Interessen  entspricht. 


Schlechtes  Benehmen 

I 

.  .  .  Rußland  verzichtet  auf  jede  Einmischungen  die  innern 
Verhältnisse  dieser  Gebiete.  Deutschland  und  Österreich-Ungarn 
beabsichtigen,  das  künftige  Schicksal  dieser  Gebiete  im  Benehmen 
mit  deren  Bevölkerung  zu  bestimmen. 


Freiheitsdrang  bei  den  Letten 

Wolft  —  —  Die  besser  gestellten  Letten,  insbe- 
sondere die  Gesindewirte,  warten  sehnsüchtig  auf  den  Einzug 
der  Deutschen,  nicht  etwa  zur  vorübergehenden  Sicherung 
ihres  Lebens  und  Besitzes,  sondern  zum  Zweck  vollständigen 
Anschlusses  Estlands  und  Livlands  an  Deutschland  ....  Sowohl  in 
Estland  wie  in  Livland  werden  eifrig  Unterschriften  für  den  Anschluß 
an  Deutschland  gesammelt.  Viele  estnische  Bauern  weigerten  sich, 
die  ihnen  zugeteilten  Güter  zu  übernehmen,  auf  denen  sie  bisher  die 
Angestellten  ihrer  Gutsherren  waren.  Sie  wurden  dann  von  den 
bolschewikischen  Soldaten  zur  Übernahme  der  Güter  ge- 
zwungen. 


Unbeschreibliches  Aufatmen  in  Rußland 

Wolff Der  systematische,  streifenweise  erfolgende  Vor- 
marsch   der    Deutschen    wird    nach    allgemeiner    Ansicht 


144 


der  Bevölkerung  von  Riga  und  ganz  Kurland  in  den  befreiten 
Gebieten  ein  unbeschreibliches  Aufatmen  hervorrufen 
und  die  endliche  Erfüllung  des  langgehegten 
dringenden  Wunsches    in  letzter  Stunde  bringen. 


Beispiele  für  schmachvolle  Erniedrigung 

>.  .  .  Es  ist  bitter,  sein  ganzes  Leben  als  Gouvernante  dir 
zweihundert  Rubel  in  der  Provinz  herumzuwandern,  aber  ich  weiß, 
daß  meine  Schwester  lieber  als  Neger  zu  einem 
PIantagenbe%itzer  oder  als  lettischer  Bauer  zu 
einem  Deutschen  in  den  Ostseeprovinzen  sich 
verdingen  würde,  als  sich  durch  die  Verbindung  mit  einem  Manne 
zu   besudeln,  den  sie  nicht  achtet  —  aus  persönlichem  Vorteil  bloß  I« 

Dostojewski,   Raskolnikoff. 


Erwachen  In  Rußland 

W  o  1  f  f  —  —  Die  Einwohner  nahmen  den  Einzug  der 
Deutschen  ruhig  und  gleichmütig,  in  ihr  Schicksal  ergeben, 
auf.  Die  Ukrainer  und  die  Großrussen  sehen  in  den  Deutschen  die 
Retter  vor  den  zuchtlosen  Räuber-  und  Mörderbanden.  Aber  sie 
brechen  nicht  in  lauten  Jubel  aus.  —  —  Aber  jetzt  sind 
die  Deutschen  da,  die  Deutschen  —  das  heißt  die 
Wiederkehr  von  Zucht  und  Ordnung  —  —  man  sieht 
wieder  elegante  Damen  und  russische  Offiziere  in  g  u  t 
sitzenden  neuen  Uniformen.  Die  russischen  Soldaten  fangen 
wieder  an,  ihre  Vorgesetzten  zu  grüßen,  und  alles 
erwacht  wie  aus  einem  bösen  wilden  Traum 


Das  sind  Brave! 

W o  1  f  f Unsere  Gefangenen  in  Rußland  benutzen  die  Unord- 
nung im  Lande  und  die  immer  schwächer  werdende  Besetzung 
der  feindlichen  Stellungen,    um    zu    unstrer  Front    zurück- 


145  — 


zugelangen.  Schon  sind  viele  Offiziere,  Unteroffiziere  und 
Mannschaften  zurückgekehrt.  Die  russische  Propaganda  macht 
keinen  Eindruck  auf  sie.  Sie  verlachen  sie  und  erklären  ausnahmslos, 
für  eine  solche  Wirtschaft,  wie  sie  in  Rußland  herrscht,  bedankten 
sie  sich.  Dort  lernten  sie  erst  die  Ordnung  und  die 
Sicherheit  in  der  Heimat  richtig  schätzen.  Auch 
die  noch  in  Rußland  zurückgehaltenen  Kameraden 
dächten  ebenso  und  verlachten  die  feindlichen  Versuche,  sie  von 
der  weltbeglückenden  Idee  der  russischen  Umstürzler  zu  überzeugen. 


Hoffnung  auf  Japan 

»  ...  Im  Zusammenhange  mit  diesen  Fragen  sei  auch  der 
Einfluß  gestreift,  den  eine  Besetzung  der  östlichsten  Distrikte  —  also 
zum  Beispiel  des  Amurgebietes  durch  die  Japaner  —  auf  die  Lage 
unserer  zahlreichen,  dort  befindlichen  Kriegsgefangenen  ausüben  könnte. 
Vorweg  sei  bemerkt,  daß  eine  japanische  Okkupation  aller  Voraussicht 
nach  keine  Verschlechterung  ihres  Loses  zur  Folge  haben 
dürfte.  Der  japanischenOrganisationdürfte  es  bald 
gelingen,  geordnete  Verhältnisse,  also  insbesondere  hygienische  Unter- 
bringung, ausreichende  Verpflegung  und  ordnungsmäßige  Auszahlung 
der  Gagen  und  Arbeitslöhne,  zu  schaffen.  Überdies  ist  der 
Japaner  bestrebt,  als  Kulturfaktor  voll  genommen 
zu  werden.  Seiner  Denkungsart  widerspricht  es, 
Wehrlose   zu   mißhandeln   oder   zu    demütigen.« 

»Der  Japaner«,  weiland  gelbes  Raubgesindel,  scheint 
also  langsam  zum  Kulturniveau  der  kriegführenden  Staaten 
Europas,  in  denen  Gefangenen  bekanntlich  nie  Ohrfeigen  statt 
eines  Strohlagers  gewährt  werden,  emporzureifen. 


Ein  sonderbarer  Fall 

Wolff  —  —  In  dem  Augenblick  der  Unterzeichnung  schon 
eingeleitete  Truppenbewegungen  wurden  ausdrücklich  ausgenommen. 
Die  Truppenbewegungen,  die  noch  nach  dem  15.  Dezember  statt- 
fanden, waren  sämtlich  bereits  vor  oder  in  dem  Augenblick 
der  Unterzeichnung  des  Waffenstillstandsvertrages  eingeleitet.... 


146 


Halluzination 

Im  , Lokalanzeiger'  heißt  es:  Daß  die  Mitteilung  vom  Wieder- 
beginn der  Friedensverhandlungen  in  Brest  -  Litowsk  keine 
besonders  starke  Bewegung  hervorrief,  will  an  sich 
nicht  viel  besagen.  Man  weiß  nachgerade,  was  man  von  Trotzky  und 
Genossen  zu  halten  hat.  Aber  man  muß  natürlich  mit  den  Leuten 
verhandeln,  solange  sie  das  heutige  Rußland  vertreten  .... 

Der  Menschheit  ganzer  Jammer  faßt  mich  an,  wenn  ich 
den  Holzbock  das  Wort  >Bolschewiki«  aussprechen  höre.  Du 
ahnst  es  nicht,  was  da  mit  der  obern  Hälfte  der  Berliner  Schnauze 
vorgeht.  Ich  aber  leide  so  sehr  unter  der  Gabe,  mir  das  alles 
vergegenwärtigen  zu  können! 


Die  Namen 

Der  >Hauptschriftleiter«  der  Kölnischen  Zeitung  heißt 
bekanntlich  Ernst  Posse,  der  der  Münchner  Neuesten  Nach- 
richten aber  Ernst    Posselt.    Wem  das  nicht  zu  denken  gibt! 


Wie  viel  wiegt  die  Lüders? 

Aus  einem  Originalbericht  des  Neuen  Wiener  Journals: 

».  .  .  Mitten  unter  ihnen  und  alle  überragend  der  Gast,  den 
das  Frauenstimmrechtskomitee  nach  Wien  geladen,  Frau  Doktor  Maria 
Elisabeth  Lüders.  »Hundertachtundsiebzig  Zentimeter 
lang,  hundeitzwölf  Pfund  schwer«,  gibt  sie  selbst  lachend 
ihre  »Personalien<  an,  und  eigentlich  enthalten  schon 
diese  Worte  jene  Genauigkeit  und  Gewissenhaftigkeit, 
durch  die  es  dieser  Frau  möglich  war,  ein  pracht- 
voll ausgearbeitetes  Netz  gründlich  systemisierter 
Frauenarbeit    über  ganz  Deutschland  auszubreiten. 


—  147  — 


Man  frage  einmal  eine  Reihe  von  Damen  nach 
ihrer  Körpergröße  und  ihrem  Ge  w  i  c  h  t,  die  wenigsten 
werden  imstande  sein,  darüber  sofort  genaue 
Auskunft  geben  zu  können.  Aber  diese  preußische 
Beamtentochter  aus  Schleswig-Holstein  betrachtet 
es  als  ihre  Pflicht,  sich  und  andere  genau  zu 
kennen,  um  Klarheit  für  ihre  Handlungsweise 
zu    haben. 

Auch  sie  hat  sich  dazu  erst  durchringen 
müssen.  Stürmerund  Dränger  wissen  selten  gleich, 
was  sie  wollen,  nur  daß  sie  etwas  wollen,  empfinden  sie  mit 
machtvoller  Stärke  .  .   .  .« 


Michaelis 

»  ■ —  —  Daß  die  Aufklärung  für  die  Soldaten  unbedingt 
erforderlich  ist,  daß  eine  geistige  und  sittliche  Fürsorge 
für  die  Soldaten  im  Felde  ein  dringendes  Bedürfnis  ist,  das  unter- 
schreiben alle,  welche  die  Verhältnisse  draußen  kennen  —  —  Es 
sind  Kinos  eingerichtet,  Feldpredigten  —  —  Diese  ganze 
Organisation  ist  hinausgetragen  bis  nach  Mazedonien;  durch 
Soldatenheime  ist  sie  gefördert  worden,  in  denen  die  Feldgrauen 
draußen  einen  gewissen  Ersatz  erhalten  sollen  für  die  Heimat « 

Heimatin  oder  Heimatol? 


Vor  dem  Einschlafen  der  Welt 

> —  —  Durch  die  Einkreisungspolitik  König  Eduards  ward 
der  Traum  der  Koalitionen  zur  Wirklichkeit.  Dem  englischen  Imperialismus 
stand  das  aufstrebende,  erstarkende  Deutsche  Reich  im  Wege.  In  der 
französischen  Revanchesucht  und  im  russischen  Expansivstreben  fand 
dieser  britische  Imperialismus  —  — « 

Nicht  von  Bethinann,  auch  nicht  von  Michaelis,  sondern 
von  Hertling  und  seinen  Nachfolgern.  Es  war  einmal  ein  Märchen, 
das  währte  schon  tausendundeine  Nacht.  Aber  nun  ist's  schon 
weiter,  und  so  geht  es  weiter,  immer  weiter  bis  zum  jüngsten 
Tag,  und  die  Friedensbedingung  wird  sein,  es  ihnen  ins  Gesicht 


148 


sagen  zu  dürfen.  Da  war  also  der  englische  Imperialisn'ius 
und  die  französische  Revanchesucht  und  das  russische  Expansiv- 
streben, und  da  gingen  sie  denn  hin  und  nahmen  Bomben 
und  warfen  sie  auf  Nürnberg.  Und  so  ist  es  gekommen.  Und 
dann  trat  noch  die  italienische  Treulosigkeit  hinzu.  Und  nun 
will  Amerika  aus  Reklamesucht  nicht  zurückbleiben. 


Pariser  Sensationspresse 

>Le  Journal«,  »Echo  de  Paris«  und  »L'heure«  behandeln  die 
Mitteilungen  Clemenceaus  (über  den  Brief  des  Kaisers)  in  sensatio- 
nellster   Form Alle  französischen  Zeitungsstimmen  zeigen 

das    Bestreben,     aus     der    Angelegenheit     möglichst     großes 
Kapital    zu    schlagen. 


Veränderung  in  Frankreich 

Er  Clemenceau)  bildet  sich  vielleicht  ein,  Österreich  zu  kennen, 
weil  er  in  Zeiten,  da  Frankreich  durch  eine  ruhige  und  besonnene 
Politik  ein  blühendes,  glückliches  Land  gewesen  ist,  zu  den  ständigen 
Besuchern  von  Karlsbad  gehörte. 

Herentgegen  sich  in  Österreich  nichts  verändert  hat. 


Ausschnitt  aus  der  Wiener  Allgemeinen  Zeitung 

—  —  Für  unsere  öffentliche  Meinung  ist  die  Angelegenheit 
mit  der  hochsinnigen  Kundgebung  Kaiser  Karls  erledigt.  Für  die 
Frankreichs  freilich  eröffnet  sich  jetzt  das  Feld  einer  höchst  notwendigen 
und  dabei  sehr  verantwortungsvollen  Tätigkeit.  Sie  wird  sich  die 
Frage  vorlegen  müssen,  ob  dieser  Mann,  der  mit  einer  Lüge  Reiche 
zu  retten  und  Schlachten  zu  gewinnen  sucht,  geeignet  ist,  weiter  die 
Geschicke  der  ihm  anvertrauten  Millionen  zu  lenken. 

KAPELLE    WILLY     KLEINBERG 


149  — 


Neue  Musikalien 

San's  net  grantig. 

Kinder  halt's  mi  z'ruckl 

Gebt's  ma  ä  Gewähr  äher ! 

Dort,  wo  der  Herrgott  die  Hand  außastreckt. 

Nur  dich  mein  Wien,  möcht  ich  wiederseh'n. 

Da  möcht  selbst  der  Herrgott  ein  Wiener  sein. 

Küssen  kann  nur  eine  Wienerin. 

Das  ist  Dulli! 

Auf    dem    Friedhof    La    B  a  s  s  £  e. 

Mizzerl,  Mizzerl,  sei  doch  netter.  M.   150 

Werde  mein.  M.  2  — 

Schön  war  der  Tanz,  aber  spiel'n  tan  s'  'n  net. 

Sauber  lauft's. 

Ein  Tampus  vom  Schampus. 

Zwa  Jücker,  die  ka  Peitschen  brauchen. 

San  ma  fesch. 

Das  sind  die  Frauen  und  Mädchen  von  Wien. 

Ich  denk  an  dich,  du  schöner  Kärntnerring. 

Mein  Mann  ist  bis  sechs  Uhr  im  Bankverein. 

Denk  an  dein  Wien. 

Dann  trinkt  ma'  s  letzte  Tröpferl  aus! 

Und  wenn  i  Wasser  saufen  muß.  M.   150 

Nobel  geht  die  Welt  zugrund.  M.   1*50 


Fürs  Vaterland 

Ausschnitt  aus  einem  Zeitungsartikel.  Der  Anfang  mit 
dem  Namen  des  Autors  fehlt.  Raten! 

...Wer  dem  Vaterland  am  meisten  bringt, 
den  läßt  es  willig  vor;  wer  sich  bloß  besser 
geboren  dünkt,  den  weist  es  zurück.  Alle  gelten 
ihm  gleich,  die  gleich  bereit  fürs  Vaterland  sind. 
Aber  von  jedem  heischt  es,  daß  ihm  das  gemeinsame  Vaterland 
mehr  als  die  Nation  sei:  das  Gefühl,  der  heiligen  österrei- 
chischenErde  zu  gehören,  nicht  das  Blut  macht  den  Österreicher. 
Ein  geistiges  Erleben  unserer  alten  Erde  hat  uns 
dieser  Krieg  gebracht  und  jetzt  haben  wir  keine  Ruhe 
mehr,  bis  wir  auch  den  Ausdruck,  die  politische  Form  dieser  unserer 
tiefen   Erdgemeinsamkeit   gefunden   haben    werden!    Das   Land,    unser 


150  — 


altes  Land  ist's,  von  dem  wir  nicht  lassen  können,  für  das  wir  zu 
jedem  Opfer  bereit  sind ;  wissen  selber  nicht 
warum,  wissen  nur,  daß  es  uns  teurer  als  selbst  das 
eigene  Leben,  daß  es  uns  über  alles  lieb  ist!  Und  war's 
uns  so  teuer  und  lieb,  daß  wir  selbst  das  eigene  Leben 
dafür  nicht  achten  wollten,  so  werden  wir  ihm  wohl  auch 
den  eitlen  Plunder  von  nationaler  Selbstsucht,  Übeihebung  und 
Machtgier  noch  opfern  können  .  .  . 

Wissen  selber  nicht  warum,  wissen  nur,  daß  das  vom 
Hermann  Bahr  sein  muß!  Deutlich  höre  ich  die  Austria,  die  sich 
der  ungestümen  Annäherung  eines  alten  Drahrers  nicht  erwehren 
kann  —  andere  Herren  wollen  doch  auch  berücksichtigt  sein, 
wer  dem  Vaterland  am  meisten  bringt,  den  läßt  es  willig  vor  — , 
deutlich  höre  ich  sie  sagen:  Gehn  S'  weg,  Sie  Braver! 


Der  Chor  in  der  modernen  Tragödie 

Aus  den  vielen  Urteilen,  durch  die  die  Herren  König  und 
Koretz  die  Bestrebungen  böhmischer  Köchinnen  und  Abwasch- 
frauen  auf  Losreißung  eines  Teiles  von  dem  einheitlichen  Staats- 
verbande stigmatisiert  haben,   tobt  mir  dieser  Gesang  im  Ohr: 

Die  Olga  Hans  ist  sechsundvierzig  Jahre  alt;  sie  war  gleichfalls 

in  der  Küche  tätig.  Sie  soll  >Ende  Oktober,  Anfang  November  1914« 
folgende  zwei  Aussprüche  gemacht  haben:  »Sie  sollen  nicht 
dumm  sein  und  die  Gewehre  und  alles  wegwerfen, 
die  Gewehre  zerbrechen  und  sagen,  sie  haben 
Rheumatismus;  sie  werden  doch  gescheit  sein 
und  auf  die  Brüder  nicht  schießen«;  » Drei  Teile 
sind  Sokoln  und  ein  Teil  die  anderen,  sie  sollen  zwischen  die 
Brüder  schießen«.  —  —  zu  dreizehn  Jahren  schweren 
Kerkers,    mit  allen  erwähnten  Verschärfungen,  verurteilt. 

Anna  Hunacek,  gleichfalls  ganz  unbescholten,  soll  »Ende 
Oktober,  Anfang  November  1914«  folgende  Äußerungen  gemacht 
haben:  »Sie  sollen  nicht  dumm  sein  und  die  Gewehre 
und  alles  wegwerfen,  die  Gewehre  zerbrechen 
und  sagen,  sie  haben  Rheumatismus,  sie  werden 
doch     gescheit     sein     und     auf    die     Brüder     nicht 

schießen«;   »In  Böhmen  kein  König,  kein  Kaiser,  Republik«. 

zehn    Jahre    schweren    K  e  r  k  e  r  s,   mit  allen  Verschärfungen. 

Es  ist  ein  altes  dramaturgisches  Problem,  ob  der  ganze 
Chor  die  Verse  zu  sprechen  hat  oder  nur  die  Chorführerin  oder 
gar  nur  der  Koretz. 


—  151 


Was  es  gibt 

Über  eine  entsetzliche  Lehrlingsmißhandlung  hatte  gestern 
das  Bezirksgericht  Döbling  zu  urteilen.  Der  Schmiedemeister  Anton 
Ecker  war  da  der  Angeklagte.  Im  Dezember  vorigen  Jahres  fiel  der 
schwächliche  und  geistig  zurückgebliebene  Lehrling  Johann  M.  bei  der 
Arbeit  vorErschöpfung  zusammen.  „Du  bist  ein  Faulenzer 
und  simulierst!"  schrie  ihn  darauf  der  Meister  an  und  versetzte  ihm 
solche  Faustschläge,  daß  dem  Jungen  das  Blut  aus  Nase 
und  Mund  quoll.  In  der  Verhandlung  gab  der  Lehrling  an,  daß 
acht  Tage  vor  den  letzten  Weihnachten,  als  er  einige  Eisenstücke  nicht 
gleich  finden  konnte,  ihn  der  Meister  mit  einem  glühenden 
Eisenstück,  das  er  gerade  in  der  Hand  hatte,  in  den  Bauch 
stieß.  —  Bezirksrichter  Dr.  Dörr :  Das  kann  doch  nicht 
wahr  sein,  das  wäre  ja  entsetzlichl  —  Statt  aller 
Antwort  entblößte  der  Junge  seinen  Bauchund 
zeigte  dem  Richter  eine  handgroße  schlecht 
verheilteBrandwunde  auf  der  linken  Bauchhälfte. 
—  Richter  (zum  Angeklagten):  Was  sagen  Sie  zu  dieser  Roheit?  — 
Angekl:  Na,  wenn  man  an'  Zorn  hat,  tut  man  gar  viel.  Ich  bin  ihm 
halt  unvorsichtigerweise  angekommen.  —  Der  Richter  ließ  einen 
Amtsarzt  rufen.  Dieser  untersuchte  den  Lehrling  und  gab  an,  daß 
die  Wunde  äußerst  schmerzhaft  gewesen  sein  und 
mindestens  eine  achttägige  Heilungsdauer  in  Anspruch  genommen  haben 
muß  Der  Richter  verurteilte  den  Lehrlingsschinder  zueinerWoche 
Arrest  und  außerdem  zur  Zahlung  von  hundert  Kronen  Schmerzens- 
geld an  den  Lehrling. 

Daß  eine  Zivilisation,  die  mit  glühenden  Eisenstücken 
nicht  nur  die  Erwachsenen  über  17  bedroht,  sondern  sie  schon 
Kindern  in  den  Bauch  treibt,  einer  Justiz  begegnet,  die  dafür 
eine  Woche  Arrest  zu  vergeben  hat,  ist  wohl  in  Ordnung.  Der 
achttägigen  Heilungsdauer  entspricht  eine  Woche  Arrest.  Der 
Richter,  der  es  sah  und  entsetzlich  fand,  gab  dafür  eine  Woche 
Arrest.  In  demselben  Staat  könnte  ich  dafür,  daß  ich  den  Herrn  Hans 
Müller  durch  die  Meinung,  sein  Empfangdurch  den  deutschen  Kaiser 
sei  unglaublich  —  >Das  kann  doch  nicht  wahr  sein,  das  wäre  ja 
entsetzlich!«  sagte  ich,  aber  kein  Richter  würde  es  wiederholen  — , 
»der  Lüge  beschuldigt«,  also  gekränkt  habe,  von  Gesetzwegen 
sechs  Monate  bis  zu  einem  Jahr  bekommen.  Wir  sterben  an  den 
Kontrasten.  Aber  daß  sich  die  Tollheit  noch  in  Normen  und 
Formen  auslebt,  das  macht  uns  tragisch.  Ich  werde  da  wirklich 
nicht  mehr  lange  mitmachen  können. 


152  — 


Unsere  Pallas  Athene  ! 

Gestern  früh  gab  ein  Soldat  von  einem  Straßenbahnwagen  aus 
bei  der  Haltestelle  vor  dem  Parlamentsgebäude  gegen  die  vor  diesem 
stehende  Statue  der  Pallas  Athene  zwei  scharfe  Schüsse  aus  einem 
Gewehr  ab.  Der  Mann  wurde  von  einem  Offizier  und  zwei  Soldaten 
entwaffnet  und  das  Gewehr  entladen.  Der  Soldat,  der  offenbar  geistes- 
gestört ist  — 

Wieso?  Die  kann  einen  schon  aufregen.  Ich  war  nicht  im 
Krieg  und  trage  kein  Gewehr  bei  mir.  Aber  so  oft  ich  die  sehe, 
in  ihrer  vollkommenen  Nichtbeziehung  zu  den  Dingen,  die  in 
dem  Haus  di in  und  außerhalb  vorgehen,  höchstens  daß  einem 
der  Abgeordnete  Groß  einfällt  oder  daß  einem  jetzt  um  das 
viele  Stearin  leid  ist  —  wie  sie  dasteht,  ein  Denkmal  des  Wiener 
Schönheitssinnes,  so  eine  noch  immer  fesche  Hausmeisterin 
des  hohen  Hauses  oder  Verkörperung  des  Ideals  halt  von  etwas 
Idealem  oder  Antikem  oder  in  der  Art,  die  meisten  Passanten 
glauben  jetzt,  daß  es  die  Austria  ist  oder  die  Germania,  aber 
die  Gebildeten  wissen,  daß  es  eine  Palastathene  ist,  eigentlich 
gehört  sie  vors  Burgtheater,  weil  sie  akkurat  aso  aussieht,  wie 
ich  mir  das  christlichgermanische  Schönheitsideal  des  Herrn 
Dr.  von  Millenkovich  in  antiker  Gewandung  vurstelle  —  so  oft 
ich  die  sehe:  was  ist,  frage  ich  da,  aus  all  den  Arbeitskräften 
geworden,  die  das  in  den  Neunzigerjahren  hinpappen  mußten, 
ja  die  Katzeimacher  die  haben  mit  ihnerem  Colleoni 
einpacken  können  aus  Furcht  vor  uns,  aber  unserer  Pallas  Athene, 
der  kann  nichts  g'schehn,  in  dem  Punkt  sind  wir  sicher,  sie 
steht  einmal  da,  keine  feindliche  Bombe,  keine  Kugel  wird  die 
treffen,  und  wenn  jetzt  einer  von  den  Unsrigen  sich  so  weit  hat 
hinreißen  lassen,  so  handelt  es  sich  um  die  Tat  eines  offenbar 
Geistesgestörten,  man  darf  nicht  generalisieren,  solche  Leute  soll 
man  nicht  auf  die  heimischen  Kunstschätze  loslassen,  sondern 
soll  sie  einrückend  machen,  die  Pallas  Athene  die  muß  uns 
erhalten  bleiben  im  Weltkrieg,  war'  nicht  schlecht  —  und  so  oft 
ich  die  sehe  und  alles  andere  rings  herum  sehe  und  höre,  da 
spür'  ich  ordentlich,  daß  ich  kein  Gewehr  bei  mir  trage  ! 


—  153  — 

Kriegsmüde 

—  das  ist  das  dümmste  von  allen  Worten,  die  die  Zeit  hat. 
Kriegsmüde  sein  das  heißt  müde  sein  des  Mordes,  müde  des 
Raubes,  müde  der  Lüge,  müde  der  Dummheit,  müde  des  Hungers, 
müde  der  Krankheit,  müde  des  Schmutzes,  müde  des  Chaos.  War  man 
je  zu  all  dem  frisch  und  munter?  So  wäre  Kriegsmüdigkeit  wahrlich 
ein  Zustand,  der  keine  Rettung  verdient.  Kriegsmüde  hat  man  immer 
zu  sein,  das  heißt,  nicht  nachdem,  sondern  ehe  man  den  Krieg 
begonnen  hat.  Aus  Kriegsmüdigkeit  werde  der  Krieg  nicht 
beendet,  sondern  unterlassen.  Staaten,  die  im  vierten  Jahr  der 
Kriegführung  kriegsmüde  sind,  haben  nichts  besseres  verdient 
als  —  durchhalten! 


Nachzutragen 

wäre  viel.  Was  hier  aufbewahrt  wurde,  macht  beiweitem  nicht 
die  Hälfte  jenes  Materials  aus,  das  mir  als  die  dokumentarische 
Verlassenschaft  dieses  Spuks  von  Blut  und  Dreck  zugefallen  ist. 
Nie  mehr  ach  wird  die  nachdrängende  Gewalt  der  Begeben- 
heiten erlauben,  die  erlösende  Leidenschaft  des  Zitats  und  der 
Photographie  an  jenen  Beginn  der  großen  Zeit  zu  wenden, 
deren  geistigen  Insult  überlebt  zu  haben  im  Gedenken  an  ihre 
Märtyrer  ein  ewiger  Vorwurf  bleiben  wird.  Fände  ich  nur  auf 
den  ersten  Griff  die  autotypierte  Feldpostkarte,  die  in  den 
Tagen,  da  eben  für  Henker  und  Schieber  das  goldene  Zeitalter 
anbrach,  der  Sieger  von  Lemberg  an  den  bedeutendsten  Kaffee- 
sieder  der  Epoche  gerichtet  hat,  den  unvergeßlichen  Gruß  jenes 
Auffenberg  an  jenen  Riedl,  beginnend  mit  den  Worten 
>In  dieser  Stunde  .  .  .«  !  Würde  man  mir's  denn  ohne  Unter- 
stützung durch  den  Photographen  glauben?  Da  ja  sowieso 
alles,  was  sich  begibt,  von  mir  erfunden  ist,  habe  ich  einen 
schweren  Stand  und  hätte  ich  Müllers  Berufung  zu  Wilhelm  II. 
nicht  klischieren  lassen,  hieße  ich  ein  Verleumder,  der  der  Nach- 
welt einreden  möchte,  alles,  was  er  erfand,  habe  sich 
zugetragen,  während  ich  doch  in  Wahrheit  nur  alles,  was  sich  zuge- 
tragen, erfand.  Eine  Probe :  man  glaubt  mir  doch  sicher  nicht, 
daß  die  B.  Z.  am  Mittag  —  möge,  seitdem  die  erscheint, 
die  Sonne  ein  schlechtes  Gewissen  haben!  — ,   daß   also   dieser 


154  — 


von  Wiener  Juden  Schulter  an  Schulter  mit  Ullstein  vollführte 
Anschlag  gegen  die  Ehre  der  Menschheit  die  Versenkung  der 
»Lusitania«  mit  dem  Ausruf  begleitet  hat:  Angesagt  gilt 
doppelt! 


Weimarisches  Deutschland 

Der  Prinz  als  Operationszuschauer.  Aus 
Weimar  wird  berichtet:  Im  Laufe  des  Disziplinarverfahrens  gegen 
den  Leiter  der  Weimarer  Frauenklinik,  Prof.  Henkel,  der,  wie 
gemeldet,  mit  Urteil  des  Gerichtes  seines  Amtes  enthoben  wurde, 
kam  bekanntlich  auch  zutage,  daß  Prof.  Henkel  eine  Operation  an 
einer  Frau  vorzeitig  nur  deshalb  vorgenommen  hat,  um  einem 
Prinzen  zu  Lippe  Gelegenheit  zu  geben,  der 
Operation  als  Zuschauer  beizuwohnen.  Diese  Affäre 
kam  am  Montag  vor  Schluß  des  Beweisverfahrens  noch  einmal  zur 
Sprache.  Wie  sich  dieser  Fall  zutrug,  schilderte  ein  Assistenzarzt  in 
folgender  Weise:  >Prof.  Henkel  fragte  Prof.  Busse:  ,lst  nichts 
mehr  zum  Operieren  da?'  Prof.  Busse  verneinte,  und  darauf 
sagte  Prof.  Henkel:  ,Wir  müssen  aber  noch  etwas 
operieren.'  Prof.  Busse  sagte,  es  sei  nichts  da;  ich  hatte 
das  Empfinden,  als  ob  er  nicht  wolle.  Da  sagte  Prof. 
Henkel:  ,Sie  haben  doch  noch  einen  Fall,  bringen 
Sie  den  mal  herein.'  Prof.  Busse  sagte,  die  Patientin  habe 
gerade  gefrühstückt,  aber  Prof.  Henkel  meinte:  .Das 
macht  nichts.'  Der  Fall  wurde  dann  vorbereitet  und  der 
Patientin  der  Magen  ausgepumpt.  Die  Frau  war 
sehr  erregt  darüber,  daß  sie  plötzlich  operiert 
werden  sollte,  und  es  gab  eine  sehr  unangenehme 
Szene.  Sie  wurde  sehr  schnell  operiert  und  alles 
schien  sehr  schön  zu  gehen.  Plötzlich  zupfte  mich 
eine  Schwester  am  Rock  und  ich  sah,  wie  die 
Frau  in  den  letzten  Zügen  lag  Ich  gab  ihr  noch  ein 
paar  Kampferinjektionen,  aber  es  half  nichts,  s  i  e  s  t  a  r  b.  Ich  ging 
hinein  und  sagte  es  Prof.  Henkel,  der  stumm  nickte  Ich  weiß 
das  noch  ganz  genau,  denn  dies  war  ein  Ereignis  für 
mich,  wie  man  es  nicht  jeden  Tag  hat.  Der  Prinz 
zu  Lippe  sagte  zu  Professor  Henkel:  ,D  a  haben  Sie 
ganz  ausgezeichnet  operiert,  ich  werde  das  sofort 
meiner  Schwester  mitteilen."  Ich  hatte  das  instinktive 
Gefühl,  daß,  wenn  der  Prinz  den  tragischen  Aus- 
gang gewußt  hätte,  er  anders  gesprochen  haben 
würde.  Ich  sprach  über  den  Vorgang  mit  einem  anderen  Assistenz- 
arzt, der  mir  etwas  erwiderte,  was  mich  völlig  niederschlug.  Er  sagte 
nämlich:    ,Henkel  ist  doch  der  größte  Verbrecher.' 


155 


Ein  Kantianer  un 

».  .  .  Es  hat  das  Jahr  1917  mit 
seinen  großen  Schlachten  gezeigt, 
daß  das  deutsche  Volk  einen 
unbedingt  sicheren  Ver- 
bündeten in  dem  Herrn 
der  Heerscharen  dort  oben 
hat.  Auf  den  kann  es 
sich  bombenfest  verlassen, 
ohne  ihn  wäre  es  nicht  gegangen  . . . 
Schon  gestern  habe  ich  in  der  Um- 
gebung von Verdun  eure  Kameraden 
gesprochen  und  gesehen, unddawar 
es  wie  eine  Witterung  von 
Morgenluft,  die  durch  die  Ge- 
müter ging.  .  .  .  Was  noch  vor  uns 
steht,  wissen  wir  nicht.  Wie  aber  in 
diesen  letzten  vier  Jahren  Gottes 
Hand  sichtbar  regiert  hat,  Ver- 
rat bestraft  und  tapferes  Ausharren 
belohnt,  das  habt  ihr  alle  gesehen, 
und  daraus  können  wir  die  feste 
Zuversicht  schöpfen,  daß  auch 
fernerhin  der  Herr  der 
Heerscharen  mituns  ist. 
Will  der  Feind  den  Frieden  nicht, 
dann  müssen  wir  der  Welt  den 
Frieden  bringen  dadurch,  dsß  wir 
mit  eiserner  Faust  und  m  i  t 
blitze  ndemSch  werte  die 
Pforten  einschlagen  bei 
denen,  die  den  Frieden  nicht 
wollen.« 

»Der  völlige  Sieg  im  Osten  er- 
füllt mich  mit  tiefer  Dankbarkeit. 
Er  läßt  uns  wieder  einen  der 
großen  Momente  erleben,  in  denen 
wir  ehrfürchtig  Gottes  Walten 
in  der  Geschichte  bewundern 
können.  Welch  eine  Wen- 
dung durch  GottesFügung! 
Die  Heldentaten  unserer  Truppen, 
die  Erfolge  unserer  großen  Feld- 
herren, die  bewunderungswürdigen 
Leistungen  der  Heimat  wurzeln 
letzten  Endes  in  den 
sittlichen     Kräften,     im 


d  Kant 

»Nach  einem  been- 
digten Kriege,  beim 
Friedensschlüsse,  möchte 
es  wohl  für  ein  Volk 
nicht  unschicklich  sein, 
daß  nach  dem  Dankfeste 
ein  Bußtag  ausge- 
schrieben würde,  den 
Himmel  im  Namen  des 
Staats  um  Gnade  für 
die  große  Versündi- 
gung anzurufen,  die 
das  menschliche  Ge- 
schlecht sich  noch 
immer  zu  schulden 
kommen  läßt,  sich 
keiner  gesetzlichen 
Verfassung  im  Ver- 
hältnis auf  andere 
Völker  fügen  zu  wollen, 
sondern  stolz  auf  seine 
Unabhängigkeit  lieber 
das  barbarische  ^littel 
des  Krieges  (wodurch  doch 
das,  was  gesucht 'wird, 
nämlich  das  Recht 
eines  jeden  Staats, 
nicht  ausgemacht  wird) 
zu  gebrauchen.  —  Die 
Dankfeste  während 
dem  Kriege  über  einen 
erföchte  nen  Sieg,  die 
Hymnen,  die  (auf  gut 
israelitisch)  dem  Herrn 
der  Heerschaaren  gesungen 
werden,  stehen  mit  der 
moralischen    Idee   des 


156 


kategorischen  Imperativ,  Vaters     der    Menschen 

die  unserm  Volk  in  harter  Schule  j  n  n  i  ch  t  m  i  n  d  e  r  starkem 

anerzogen  sind  .  .  .  .«  ,,  ...  „ 

»...Um  so  dankbarer  wird  ge-  Kontrast;  weil  Sie  außer 

rade  in  Ostpreußen  das  0  o  1 1  e  s-  der     Gleichgültigkeit 

ge  rieht  im  Osten  empfunden  wegen  der  Art,  wie  Völker 

werden.  UnserenSieg  v  e  r-  jhr  gegenseitiges  Recht 
danken     wir    nicht    zum  ,  /,. 

mindesten       den        s  i  1 1-  suchen      (die      traurig 

liehen      und      geistigen  genug    ist),    noch    eine 

Gütern,    die    der    große  Freude  h  i  n  e  i  n  b  r  i  n  g  e  n, 

Weise    von    Königsberg  recht      viel     Menschen 


oder     ihr     Glück     zer- 


unserem  Volke  geschenkt 
hat....  Gott  helfe  weiter 
bis  zum  endgültigen  Siege .«  nichtet     zu     haben.« 


Um  Mißverständnissen  vorzubeugen 

erkläre  ich,  daß  ich  »Habt  acht!«,  »Marsch  marsch!«,  »Immer 
feste  druff!«  und  »Durchhalten!«  nicht  als  Beispiele  für  meinen 
kategorischen  Imperativ  vorgesehen  habe.  Kant  m.  p. 


Die  Kriegsschreiber  nach  dem  Krieg 

Jerome  K.  Jerome  in  den  , Daily  News': 

.  .  .  Dieser  Vorwurf  gilt  jedoch  nicht  nur  den  Zentralmächten. 
Ich  sehe  keinen  Grund,  an  der  Aufrichtigkeit  eines  Bekehrten  zu 
zweifeln,  der  von  seiner  Verrücktheit  bekehrt  wurde,  weil  er  während 
vier  Jahren  deren  verheerende  Resultate  gesehen  hat.  Es  gibt 
sogar  welche  unter  ihnen,  die  von  Anfang  an  ihr 
Knie    nie    vor    Baal    gebeugt    haben. 

Ich  möchte  die  denkenden  Männer  und  Frauen  der  alliierten 
Länder  bewegen,  sich  mit  ihnen  zu  verbinden;  sie  sollen  helfen,  in 
der  ganzen  Welt  eine  Lebensauffassung  zu  bilden,  die  den  Krieg 
unmöglich  macht.  Ich  glaube,  daß  wir  nach  diesem  schrecklichen 
Blutopfer  nicht  mehr  durch  eine  Flut  von  dummen 
Gedichten  und  Geschichten,  die  den  Krieg  ver- 
herrlichen, zu  leiden  haben  werden:  daß  unsere 
Knaben  und  Mädchen  nicht  mehr  wie  früher  mit  Büchern  und 
Gedichten  aufgezogen  werden,  die  dazu  dienen,  die  natürliche  Anlage 
des  Menschen  zum  Töten  noch  zu  erhöhen.  Ich  glaube  nicht, 
meinem  eigenen  Berufe  eine  erhabene  Wichtigkeit  beizumessen, 
wenn  ich  die    Überzeugung  ausspreche,    daß    seit    dem 


—  157 


Entstehen  der  Presse  die  Lust  der  Welt  zur 
Kriegführung  durch  die  Schriftsteller  noch 
sehr  erhöht  wurde.  Wenn  das  so  fortgehen  würde,  könnten 
wir  jeden  Traum  für  einen  dauernden  Frieden  aufgeben.  Wenn  sich 
die  Schriftsteller  aller  Länder,  durch  Maler  und  Musiker  unterstützt, 
nach  dem  Kriege  nicht  Selbstverleugnung  auferlegen,  wird  die 
nächste  Generation  sicher  mit  einem  Hunger  nach  Krieg  aufwachsen. 
(Davor  bleibe  sie  durch  einen  andern  Hunger,  mit  dem 
sie  aufwachsen  wird,  bewahrt.) 

Man  kann  die  Teufelsmusik  nicht  immer  spielen,  ohne  zu  bewirken, 
daß  die  jungen  Leute  auch  nach  ihrer  Melodie  tanzen  ....Eine 
schwere  Verantwortung  wird  auf  diejenigen 
fallen,  die  aus  Gewinnsucht  fortfahren,  mit  ihren 
tierischen    Instinkten    zu    spielen. 

Von  einer  Fortsetzung  des  Gewerbes  kann  keine  Rede  sein. 
Eine  allseitige  Friedensbedingung  wird  den 
Tag  festsetzen  müssen,  an  welchem  gleichzeitig 
in  sämtlichen  Staaten  auf  offenem  Markt  vor 
den  auf  Tribünen  sitzenden  Invaliden  die 
Kriegslyriker  und  alle,  die  mit  dem  Wort  zur 
Tat  geholfen  haben,  dadurch  von  ihr  befreit 
waren  und  ihre  schmähliche  Rettung  nicht 
allein  mit  dem  Ruin  anderer  erkauft,  sondern 
noch  mit  Gewinn  belohnt  sahen,  zusammen- 
getrieben und  ausgepeitscht  werden.  Ich  werde, 
wenn  Wilson  das  nicht  verlangt  und  erreicht, 
nach  Friedensschluß  nicht  ruhen,  für  unser 
eigenesSchuldgebiet  diese  Prozedur  zu  befür- 
worten und  dahin  zu  wirken,  daß  eine  Pro- 
skriptionsliste angelegt  werde,  damit,  wenn 
schon  die  Rücksicht  auf  unhaltbare  Staats- 
gesetze, welche  die  leibliche  Sicherheit  und 
Ehre  von  Me  n  seh  h  ei  t  sver  br  ech  er  n  schützen, 
die. Initiative  lähmen  sollte,  das  immer  erneute 
Gedächtnis  dessen,  was  jene  nicht  erleben 
mußten,  die  es  propagiert  haben,  ihr  Gewissen 
bis  zur  Selbstvernichtung  foltere.  Ich  denke 
dabei  nicht  nur  an  solche,  die  sich  freiwillig  an  der  Glorifi- 
zierung von  Minenvolltreffern  betätigt  haben,  sondern  vor  allem 
an  jene,  die  sich  hinterher  auf  einen  angeblichen  Zwang  berufen 


158 


und  eben  das,  was  sie  am  schwersten  belastet,  als  Entschuldigung 
geltend  machen,  kurzum  an  jene,  die  den  Weltsturm  unter  eigenen 
Obdächern  mitmachen  durften,  wo  sie  allerdings  zum  Dank  hiefür 
seine  Schönheit  zu  rekommandieren  genötigt  waren.  Da  aber 
hier  der  Zwang  nur  eine  Konsequenz  der  Wahl  ist,  indem  man 
wohl  von  staatswegen  gezwungen  werden  kann,  zu  sterben,  aber 
nicht  zu  schreiben,  und  nur  dann  auch  zum  Schreiben  gezwungen 
werden  kann,  wenn  man  dieses  dem  Sterben  vorgezogen  und 
also  Protektion  die  Alternative  ermöglicht  hat;  da  es  sich  ferner 
in  solchen  Fällen  beileibe  nicht  um  diese  Alternative,  sondern 
höchstens  um  die  Vermeidung  von  Spitalauskehren,  Brotschupfen, 
Kanzleidienst  und  sonstige  gefahrlose  Notwendigkeiten  handelt  und 
selbst  diesen  noch  die  lyrische  oder  feuilletonistische  Verklärung 
von  Gasangriffen  vorgezogen  wurde;  da  sie  mir  gegenüber  die 
Beteuerung  parat  haben,  sie  hätten  »nicht  töten  wollen«,  wo  sie 
durch  ihre  Literatur  doch  weit  mehr  Tod  verbreitet  haben  als  sie  je 
durch  ihre  Taten  vermocht  hätten,  geschweige  denn  durch  ihren 
Etappendienst  —  so  werde  ich  gerade  in  diesen  Fällen  auf  die  uner- 
bittlichen Repressalien  des  wieder  erwachenden  Schamgefühles 
dringen.  Umso  entschiedener  dort,  wo  vor  den  Instanzen  der  Presse 
und  derQlorie  die  vorgeschriebene  Gesinnung  und  die  völlig  unver- 
bindliche Uniform,  beide  mit  mehr  Anspruch  auf  Ehre  als  Gefahr, 
stolz  getragen  und  gleichzeitig  mir  gegenüber,  vor  der  weit  unerbitt- 
licheren Front  meines  Gewissens,  die  Entschuldigung  des  Zwanges 
versucht  wurde.  Die  Nichterwiderung  des  Grußes,  welchen  Rang 
sie  dann  immer  treffen  mag,  wird  mir  bei  weitem  nicht  Genüge 
tun.  Ich  werde  dahin  wirken,  daß  jene,  die  dadurch  oder  davon 
gelebt  haben,  daß  andere  gestorben  sind;  die  mit  ihrer  Feder 
andern  zu  Unternehmungen  Mut  machten,  vor  denen  sie  sich 
mit  Recht  gescheut  haben;  die  durch  Begeisterung  für  Angelegen- 
heiten, von  denen  sie  mit  Recht  entfernt  sein  wollten,  an  viel- 
facher Blutschuld  teilhatten  und  im  sicheren  Rückhalt  lyrischer 
Auditoriate  dieses  Weltgericht  überleben  durften  —  kenntlich 
gemacht  werden,  damit  nicht  mehr  »die  Lust  der  Welt  zur 
Kriegführung  durch  die  Schriftsteller  erhöht«  werde,  sondern  die 
Unlust  der  Welt  an  den  Schriftstellern  aufwachse  zur  Räch«  für 
unsere  erschlagenen  Freunde! 


159 


Zum  ewigen  Frieden 

>  Bei  dem  traurigen  Anblick 
nicht  sowohl  der  Übel,  die 
das  menschliche  Geschlecht 
aus  Naturursachen  drücken, 
als  vielmehr  derjenigen, 
welche  die  Menschen  sich 
untereinander  selbst  anthun, 
•  erheitert     sich      doch      das 

Gemüth  durch  die  Aussicht, 
es  könne  künftig  besser 
werden;  und  zwar  mit  un- 
eigennützigem Wohlwollen, 
wenn  wir  längst  im  Grabe 
sein  und  die  Früchte,  die  wir 
zum  Teil  selbst  gesät  haben, 
nicht      einernten     werden.« 

Nie  las  ein  Blick,  von  Thränen  übermannt, 
ein  Wort  wie  dieses  von  Immanuel  Kant. 

Bei  Gott,  kein  Trost  des  Himmels  übertrifft 
die  heilige  Hoffnung  dieser  Grabesschrift. 

Dies  Grab  ist  ein  erhabener  Verzicht: 
»Mir  wird  es  finster,  und  es  werde  Licht!« 

Für  alles  Werden,  das  am  Menschsein  krankt, 
stirbt  der  Unsterbliche.  Er  glaubt  und  dankt. 

Ihm  hellt  den  Abschied  von  dem  dunklen  Tag, 
daß  dir  noch  einst  die  Sonne  scheinen  mag. 

Durchs  Höllentor  des  Heute  und  Hienieden 
vertrauend  träumt  er  hin  zum  ewigen  Frieden. 

Er  sagt  es,  und  die  Welt  ist  wieder  wahr, 

und  Gottes  Herz  erschließt  sich  mit  »und  zwar«. 


—  160 


Urkundlich  wird  es;  nimmt  der  Glaube  Teil, 
so  widerfährt  euch  das  verheißne  Heil. 

O  rettet  aus  dem  Unheil  euch  zum  Geist, 
der  euch  aus  euch  die  guten  Wege  weist! 

Welch  eine  Menschheit!  Welch  ein  hehrer  Hirt! 
Weh  dem,  den  der  Entsager  nicht  beirrt! 

Weh,  wenn  im  deutschen  Wahn  die  Welt  verschlief 
das  letzte  deutsche  Wunder,  das  sie  rief! 

Bis  an  die  Sterne  reichte  einst  ein  Zwerg. 
Sein  irdisch  Reich  war  nur  ein  Königsberg. 

Doch  über  jedes  Königs  Burg  und  Wahn 
schritt  eines  Weltalls  treuer  Untertan. 

Sein  Wort  gebietet  über  Schwert  und  Macht 
und  seine  Bürgschaft  löst  aus  Schuld  und  Nacht. 

Und  seines  Herzens  heiliger  Morgenröte 
Blutschande  weicht :  daß  Mensch  den  Menschen  töte. 

Im  Weltbrand  bleibt  das  Wort  ihr  eingebrannt: 
Zum  ewigen  Frieden  von  Immanuel  Kant! 


Durch    alle    Buchhandlungen    und     durch     den    Verlag 

beziehen : 


KARL   KRAUS 

WORTE  IN  VERSE] 

HI 


■ 


LEIPZIG 
VERLAG  DER  SCHRIFTEN  VON  KARL  KRA! 

19  18 


STR.  484-498         OKTOBER  1918  AA.JAm 


HERAUSGEBER 


INHALT: 

Ausgebaut  und  vertieft  /  Glossen  /  Auf  hoher  See  /  Inschriften 
Ein  Mord  im  Weltkrieg  /  Glossen  /  Ein  Staatsverbrechen  i 
Shakespeare  und  Jugend  /  Krieg  /  Ich  und  das  Ichbin 
Meinem  Franz  Janowitz  /  Die  letzte  Nacht  /  Meinem  Fra 
Grüner  /  Notizen  /  Der  Bauer,  der  Hund  und  der  Soldat 
Vorlesungen  in  Berlin  /  Glossen  /  Das  verjüngte  Osterreich 
Gerüchte  {  Glossen  /  Eine  prinzipielle  Erklärung. 


NACHDRUCK  VERBOTEN 

Preis  dieses  Heftes: 

4  Kronen  50  Heller  =  3  Mark  75  Pi. 


VERLAG:  JDIE-  FACKEL»,  WIEN 

IH/2,  HINTERE  ZüLLAMTSSTRASSE    3    TELEPHON 


ERSCHEINT  MINDESTENS  VIERMAL  IM 


VERLAG  DER  SCHRIFTEN  VON  KARL  KRA 

(KÜRTWOLFF) 

[908  SITTLICHKEIT    UND    KRIMINALITÄT  2.  Auflag 

1909  SPRUCHE  UND  WIDERSPRÜCHE  3.  Auflage 

1910  OSE' CHINESISCHE  MAUER      demnächst  4.  Auflage 

1911  HEINE  UND  DIE  FOLÖEN  3,  Auflage 

1912  PRO  DOMO  ET  MUNDO  2.  Auflage 
1912  NESTROY  UND  DIE  NACHWELT 

1916  WORTE  IN  VERSEN  I  demnächst  2.  Auilage 

1917  WORTE  IN  VERSEN  II 

1918  WORTE  IN  VERSEN  HI 
.7i  Druck:  NACHTS 

UNTERGANG  DER  WELT  DURCH  SCHWARZE  MAGIE 
lu  ''    ziehen  durch  alle  Buchhandlungen  und  durch  den  Verlag 
Leipzig»  Kreuzctraße  3  b 

Im  Frühjahr  1918  erschien: 

KARL  KRAUS  UND  DIE  SPRACHE 

VON  LEOPOLD  LIEQLER 
Preis  K  1.50  (M  1. --) 

Verlag  der  Buchhandlung  Richard  Länyi,  Wien,  I.  Kärntnerstr.  44  ! 

O  I  Ü       FACKEL 

erscheint  in  zwangloser  Folge. 

las  Abonnement  erstreckt  sich   nicht  auf  eisen  Zeitraum,   sondern  auf  eim 

bestimmte  Anzahl  von  Nummern. 

für  Österreich-Ungarn ;        Fßrdas  Deutsch?  Reich :  Weltpostverein : 

18  Nummern    K  4.50        13  Kummern  ML  4.—        18  Nummern   K   6.— 

36         „  „  9.  36        „  „    8.-         36         „        ,  „  12.- 


k/erleger,    Autoren,   Vereine,    Leser    werden    ersucht 

"     die   Zusendung    von    Büchern,    Prospekten,    Ein 

adungen,  Zeitungsausschnitten,  Manuskripten,  Anfragen. 

i'Aitteihingen  irgendwelcher  Art  zu  unterlassen. 

XHALT  des  vorigen,  zehnfachen  Heftes  474/483,  23.  Mai  1918 
)er  begabte  Czernin  /  Glossen  /  Das  techncom antisch« 
Abenteuer  /  Für  Lammasch  /  Inschriften  /  Der  darbende 
Bürger  /  Glossen  /  Notizen  /  Bange  Stunde-  /  Halbschlaf  / 
)as  zweite  Sonett  /  An  eine  Falte  /  Suchen  und  Finden  / 
)ie  Flamme  der  Epimeleia  /  Programme  /  Glossen  /  Ein  Staats 
treich  /  Inschriften  /  Am  Sarg  Alexander  Girardis  /  Der  Welt 
Spiegel       Glossen   /  Zum  ewigen  Frieden. 

Nr.  499  und  Nr.  500  werden  in  rascher  Folge  erscheinen. 


DIE  FACKEL 


Nr.  484—498  15.  OKTOBER  1918  XX.  JAHR 


Ausgebaut  und  vertieft 

September  1918 

Der  geistige  Tiefstand,  der  diese  Katastrophe 
ermöglicht  hat  und  dessen  Vertiefung  durch  eben 
diese  Katastrophe  ausgebaut  wurde,  enthüllt  sich 
am  greifbarsten  in  der  völligen  Ausgesetztheit,  in 
der  sich  die  Gehirne  vor  dem  Schlagwort  befinden. 
Wehrloser  und  gebannter  ist  kein  Schaf  vor  der 
Boa  constrictor  als  der  durchhaltende  Verstand  vor 
der  Phrase.  Sein  Opfer  ist  aber  umso  tragischer,  als 
er  zugleich  das  Subjekt  und  das  Objekt  der 
Fütterung  ist.  Gelingt  es  einem  jener  Menschen, 
die  in  Ämtern  sitzen  und  deren  Aufgabe  es  ist,  die 
Knappheit  an  Phantasie  oder  Lebensmitteln  in  ein 
dürftiges  Deutsch  zu  übersetzen,  ein  solches  Merk- 
wort zu  finden,  so  kann  man  sicher  sein,  daß  der 
darbende  Bürger  durch  Monate  daran  zu  zehren 
haben  wird,  bis  von  ihm  nichts  übrig  bleibt. 
Der  Effekt  wäre  freilich  ein  auch  nicht  annähernd 
so  ausgiebiger,  wenn  die  Sprache  der  Ämter  nicht 
ein  Sprachrohr  hätte,  durch  das  jede  Botschaft  erst 
schmackhaft  wird,  oder  vielmehr,  wenn  es  nicht  hier- 
zulande einen  so  hervorragenden  Wiederkäuer  gäbe, 
dessen  täglich  zweimal  zwanzigmal  produzierte 
Tätigkeit  ein  Schlagwort  erst  appetitlich  macht.  Die 
bürokratische  Kost,  die  einem  vielleicht  widerstehen 
möchte,  wenn  sie  nicht  vom  Speichelfluß  dieser 
Beredsamkeit  aufgeweicht  würde,  ist  nach  solcher 
Prozedur  nicht  wiederzuerkennen,  und  es  ist  am  Ende 
ganz  sonderbar,  wie  die  abgelegenste  Kanzleiphrase 
als  frische  Jargonwendung  wirkt,  nachdem  sie  jener  in 
den  Mund  genommen  hat.  Als  vor  dem  Krieg  einmal 
der  Betmann  Hohlweg,  der  doch  weit  eher  ein  Pastor 


—  2  — 

als  ein  Rabbiner    ist,    die    Bereitwilligkeit    Deutsch- 
lands, für  den  Bundesgenossen    zu    »fechten«,    aus- 
gesprochen hatte,  war  durch  Tage  der  Schrei   eines 
Echos  hörbar,    dessen    Unaufhörlichkeit   die    Klang- 
farbe hatte :  Er  hat  gesagt,  er  wird  für  uns  fechten, 
fechten    wird   er  für  uns   hat    er    gesagt.     Ebenso 
unerbittlich  hat  dieser  Vorbeter  aller   Blutandachten 
in  der  Gelegenheit  gehaust,  die  durch  das  Schlagwort 
»Entspannung«  bezeichnet  war.  Ein  solches  Schlag- 
wort  versetzt  ihn  in  eine  derartige  Aufregung,   daß 
man    glaubt,    der   unaufhörliche    Schlag,    mit   dem 
er   das   Gehirn  des  Lesers  trifft,   werde    schließlich 
ihn  treffen.  Wenn  man  dereinst  versuchen  sollte,  die 
geistige    Akustik    dieser    Zeit    nach    ihrem    durch- 
dringendsten Geräusch  darzustellen,  so  wird  man  über 
die  Tragfähigkeit  ihres  Gehörs  noch  mehr  staunen  als 
über  die  ihrer  Scham.  Denn  es  kann  heute  kein  noch 
so    armseliger    Lebenslaut    der   Staatsdummheit    — 
erfunden,  um  die  Menschheit  über  den  Mangel  ihrer 
Selbstverständlichkeiten  zu  betrügen  —  ausgestoßen 
werden,  ohne   daß   er   in  diesem  Schalltrichter  zum 
Losungswort  einer  Weltentscheidung  würde.  Die  Spei- 
würdigkeit dieses  Zeitalters  ist  aber  wohl  noch  nie  so 
plastisch  an  uns  herangetreten  wie  in  der  Orgie  dieses 
Merkworts,  vom    Ausbau   und   von    der   Vertiefung. 
Entseelter  und  so  um  den  Sinn  des  Dings  gebracht  war 
die  Papiersprache,  die  wir  in  diesem  Krieg  ausatmen, 
noch  nie,  und  die  Gewure,  die  imstande  war,  durch 
Wochen    an    dem     ausgespucktesten    Surrogat    zu 
schlingen,  verdient  schon  allen  Respekt.  Es  war  rein  so, 
als    ob    die    Borniertheit,    die    dergleichen    erfindet, 
die   Absicht    gehabt   hätte,    durch    Hinwerfen   eines 
Brockens     das    furchtbare    Haustier,    das   wir    uns 
halten,    rabiat    zu    machen,    wissend,   daß   es   sich 
auf  so  etwas  werfen  und   daß  es  dann    ein    Schau- 
spiel  geben    werde   und    eine    Ablenkung    für    die 
vielen,    denen    etwas   Gebackenes   oder   Gebratenes 
lieber    ist    als    etwas    Ausgebautes    und    Vertieftes. 


Schon  etliche  Monate  vorher  rollte  der  erste  Donner, 
und  ich  habe  eine  Probe  davon  gegeben,  die  aus- 
gereicht hat,  um  den  Überdruß  an  der  Sache  im 
Ekel  am  Wort  fühlen  zu  lassen.  Damals  war  es  der 
Graf  Czernin,  dem  nicht  oft  genug  nachgesagt 
werden  konnte,  daß  er  ausgebaut  und  vertieft  habe, 
und  ich  überschrieb  es:  »Das  kann  man  nicht  oft 
genug  hören«.  Dennoch  war's  nur  ein  lächerliches 
Vorspiel  im  Vergleich  zu  dem  was  kommen  sollte; 
»ein  Tändeln«  mit  der  Idee,  wie  das  Großmaul  in 
stillern  Stunden  zu  sagen  pflegt.  Das  Trommel- 
feuer, das  nun  anhub,  sollte  alles  Erlebte  über- 
treffen. So  ausgebaut  und  vertieft  ward  nie  zuvor. 
Wären  die  Menschen,  denen  das  angetan  wird,  noch 
imstande,  die  völlige  Erstarrtheit  des  vorgeschrie- 
benen Denkens,  die  solche  Gassenhauer  des  politischen 
Optimismus  entstehen  läßt,  zu  spüren,  sie  hätten 
sich  dagegen  aufgebäumt;  sie  hätten  den  Erfindern, 
den  Ingenieuren  des  Ausbaues  und  der  Vertiefung 
begreiflich  gemacht,  daß  es  zur  Not  angeht,  eine  öde 
Sache  durch  ein  ödes  Bild  anschaulich  zu  machen,  daß 
es  aber  unmöglich  ist,  sie  durch  zwei  öde  Bilder  anschau- 
lich zu  machen,  weil  hierdurch  nicht  die  Realität,  die 
verglichen  werden  soll,  die  politische,  sondern  wieder 
nur  die  Realität,  mit  der  verglichen  werden  soll,  die 
technische,  anschaulich  gemacht  wird,  indem  ja  der 
technische  Ausbau  von  der  technischen  Vertiefung 
im  Sinne  verschieden  ist,  der  bildliche  jedoch  mit 
der  bildlichen  so  sehr  zusammenfällt,  daß  er  eben 
zusammenfällt.  Wer  zum  erstenmal  vom  Ausbau 
eines  Bündnisses  gesprochen  hat,  der  hat  nicht 
gerade  die  Sprache  bereichert,  wenn  er  schon  das 
Heil  der  Menschheit  vermehrt  hat;  wer  aber  vom 
Ausbau  und  von  der  Vertiefung  eines  Bündnisses 
gesprochen  hat,  der  hat  der  Sprache  einen  heil- 
losen Verlust  beigebracht.  Wie  nun  ein  Korybant 
in  dieser  dürftigen  Gelegenheit  gerast  hat;  welch 
einem    Rausch    der    Nüchternheit     wir    standhalten 


_  4  — 

mußten ;  wie  dieser  Exzeß  rapid  auf  alle  benachbarten 
Lebensgebiete  übergriff,  so  daß  rechts  und  links 
nun  auf  einmal  auch  alles  andere  ausgebaut  und 
vertieft  war,  alle  andern  Bündnisse,  bei  Freund 
und  Feind,  und  beinahe  sogar  das,  was  wirklich 
den  Sinn  dieses  Verfahrens  vertrug,  als  etwa  eine 
Eisenbahn  oder  ein  Kanal;  vor  allem  aber,  wie  der 
Wahnsinn  dieser  Kuppelung  offenbar  war,  wenn 
die  beiden  Methoden  getrennt  wurden,  so  als  ob 
wirklich  der  Ausbau  des  Bündnisses  etwas  anderes 
zu  bedeuten  hätte  als  dessen  Vertiefung  —  das  zeigt 
der  folgende  Strudel,  der  nur  ein  Zitat  aus  dem 
Katarakt  vorstellt,  welcher  verheerend,  von  keiner 
beschwörenden  Vernunft  aufgehalten,  aller  Papiernot 
trotzend,  epidemischer  als  alle  spanische  Krankheit 
über   unser   politisches   Terrain   dahingegangen   ist: 

13.  Mai: 
Ausbau    und    Vertiefung   des   Bündnisses. 

hiebei   ergab   sich   volles  Einvernehmen   in  allen  diesen 

Fragen  und  der  Entschluß,  das  bestehende  Bündnisverhältnis 
auszubauen  und  zu  vertiefen. 

Wichtige  Ergebnisse  der  Kaiserzusammenkunft. 
Ausbau  undVertiefung  des  bestehenden  Bündnisverhält- 
nisses. 

wurde  im  vollen  Einvernehmen  der  Entschluß  gefaßt,  das 

bestehende  Bündnisverhältnis  auszubauen  und  zu  ver- 
tiefen. In  welcher  Form  der  Ausbau  und  die  Ver- 
tiefung  geschehen   sollen,   wird   heute  noch  nicht  mitgeteilt. 

Der  Krieg  hat  den  Ausbau  und  die  Vertiefung 

des  Bündnisses  zur  Notwendigkeit  gemacht.  In  welcher  Richtung 
dieser  Ausbau  und  die  Vertief  u  ng  sich  vollziehen  sollen, 

wird  in  der  amtlichen  Mitteilung  nicht  angedeutet. Gewiß 

wird  es  der  Wunsch  der  beiderseitigen  Generalstäbe  sein,  den 
Vorteil,  den  die  Monarchie  und  Deutschland  .  .  durch  den 
Grundsatz  hatten,  der  im  Kriege  Schulter  an  Schulter  genannt 
wurde,  auch  künftig  zu  behalten,  auszubauen  und  zu 
vertiefen. 

Mitteilungen  von  unterrichteter  Seite. 

Wir  müssen  also  an  dem  Defensivbündnis  festhalten  und 

für  einen  Ausbau  und  eine  Vertiefung  dieses  Bünd- 
nisses .  .  nur  andere  Vorbedingungen  schaffen. 


—  5  — 


14.  Mai: 

Ausbau    und    Vertiefung    des    Bündnisses   mit 

Deutschland. 

Volles  Einvernehmen  über  das  künftige  Verhältnis. 

und   die  von  ihnen  geschaffenen  Tatsachen  sollen  durch 

Ausbau  und  Vertiefung  zur  Regel  für  die  Zukunft 
erhoben  werden.  —  —  Wir  brauchen  nur  den  Ereignissen  des 
Krieges  zu  folgen,  um  zu  verstehen,  warum  der  Ausbau 
und  die  Vertiefung  des  Bündnisses  unvermeid- 
lich geworden  sind.  —  —  Die  Einheit  der  Front  für 
die  Mittelmächte  ist  eine  zureichende  Ursache  für  die  militärische 
Vertiefung  des  Bündnisses. 

Nun  und  der  Ausbau?  Geduld: 

Der  Plan,  den  Mittelmächten  die  Rohstoffe  auch  nach  dem 
Kriege  zu  entziehen,  wird  mit  der  Nachricht  vom  wirtschaftlichen 
Ausbau  des  Bündnisses  beantwortet. 

Der  Ausbau  des  Bündnisses    mit   Deutschland 
in  wirtschaftlicher  Hinsicht. 

Das  Bündnis  mit  Deutschland. 
Der  Ausbau   und    die  Vertiefung   des  Bündnisses 
zwischen   der  Monarchie    und    Deutschland    haben    einen    Zu- 
sammenhang mit  der  polnischen  Frage  —  — 

Nachrichten   über   gefälschte   deutsche    Friedensangebote. 

Wahr   ist  der  Ausbau  und  die  Vertiefung   des 

Bündnisses  zwischen  der  Monarchie  und  Deutschland  —  — 

Die  Erneuerung  des  Bündnisses  mit  Deutschland. 

Die  amtliche  Mitteilung,  daß  bei  der  Kaiserzusammenkunft 
im  deutschen  großen  Hauptquartier  der  Ausbau  und  die 
Vertiefung  des  zwischen  Deutschland  und  Österreich-Ungarn 
bestehenden  Bündnisses  abgeschlossen  worden  ist,  wird  von  der 
Berliner  Presse  erörtert. 

15.  Mai: 

Sie  (die  Welt)  wird  damit  rechnen  müssen,  daß  England 
mit  seinen  vierhundert  Millionen  Einwohnern  .  .  die  Beziehungen 
zu  den_  Vereinigten  Staaten  ausbaut  und  vertieft,  um 
seine  Überlegenheit  in  der  Versorgung  mit  Rohstoffen  noch  zu 
vermehren.  —  —  Welchen  Einfluß  könnten  die  Nachrichten 
über  den  Ausbau  und  die  Vertiefung  des  Bündnisses 
auf  die  Politik  der  Entente  haben?  Die  Wirkung  dürfte  nach- 
haltig sein. 

Der  Schluß  aus  diesen  Worten  ist  gerechtfertigt,  daß  der 
wesentliche  Zweck  des  Ausbaues  und  der  Vertiefung  in 
der  Öffentlichkeit  richtig  erkannt  worden  sei. 


6  — 


16.  Mai: 
In  dieser  letzten  Stunde  der  Monarchenbegegnung  fühlten 
aber  alle  Zeugen  dieses  historischen  Ereignisses,    daß  der  Bund 
zwischen  beiden  Mittelmächten  .  .  in  des  Wo  rtes  wahrster 
Bedeutung  vertieft  worden  ist. 
—  —  die  Grundlagen  einer  wesentlichen  Vertiefung 

Der  Ausbau  des  Bündnisses  und  die  Entente. 
.  .  .  der   Ausbau   und   die  Vertiefung  des  Bündnisses 
mußten  unter  solchen  Umständen  die  Entente  überraschen. 

Der  Ausbau  des  Bündisses  und  die  polnische  Frage. 
Der  Ausbau  der  Technischen  Hochschule  und 
der  Stadtrat. 
Wiener  Börse:  —  —  und  die  große  Bedeutung  des 
politischen  und  militärischen  Ausbaues  des  Bündnisses 
wurde  weiter  eingehend  besprochen.  Insbesondere  wurde 
hervorgehoben,  daß  die  Vertiefung  —  — 

23.  Mai: 

Es  ist  anzunehmen,  daß  bei  dieser  Gelegenheit  auch  die 
Besprechungen  über  die  zur  Vertiefung  und  zum  Aus- 
bau des  Bündnisses  zu  treffenden  Vereinbarungen  beginnen 
werden. 

24.  Mai: 

Der  Ausbau   des    wirtschaftlichen  Bündnisses 
mit   Deutschland. 

....  deshalb  ist  es  von  besonderem  Interessse,  zu  hören, 
was  dieses  hervorragende  Mitglied  des  Kabinetts  Wekerle  über 
die  Beschlüsse  betreffend  den  Ausbau  des  wirtschaftlichen 
Bündnisses  mit  Deutschland  sagt.  ...  >.  .  .  Ich  selbst  strebte 
immer  eine  Vertiefung  des  Wirtschaftsverhältnisses  zum 
Deutschen  Reiche  an  .  .  .* 
4.  Juni: 

...  die  Welt  hörte  die  Verkündigung,  daß  der  Ent- 
schluß gefaßt  worden  sei,  das  Bündnis  auszubauen  und  zu 
vertiefen  —  —  Die  Vertiefung  des  Bündnisses  werden 
die  Monarchie  und  Deutschland  nach  dem  Kriege  als  Bedürfnis 

empfinden Sicherheit  kann  nur  werden  durch  Ausbau 

und  Vertiefung  des  Bündnisses. Budget,  Anleihen  und 

Steuern  können  nicht  warten,   bis  das  Bündnis  mit  Deutschland 
politisch,  militärisch  und  wirtschaftlich  ausgebaut  ist. 
Konstantinopel,  4.  Juni : 

....  In  Besprechung  der  Vertiefung  des  Bündnisses 
der  Mittelmächte  erklärte  Redner  ....  Dr.  Friedjung  schloß 
mit  einem  dreifachen  Hoch  und  Eljen  auf  den  Ausbau  und 
die  Dauer  des  Bündnisses  der  beiden  Mittelmächte  mit  der  Türkei. 


7  — 


5.  Juni: 

Das  Bündnis  und  seine  Vertiefung. 

—  —   die  erste    Frage    galt    der    Vertiefung    des    Bünd- 
nisses der  Mittelmächte 

Der  Ausbau  des  österreichisch-ungarisch-deutschen  Bündnisses 
in  militärischer  Beziehung. 

—  —    Die    Vertiefung    des    Bündnisses   auch     in    mili- 
tärischer Hinsicht   ist    darum    eine   unbedingte   Notwendigkeit. 

Dr.  Wekerle  und  Graf  Tisza  über  die  Vertief  ung  des  Bündnisses. 

Äußerungen  von  einer  Seite  gefallen  sind,  die  gegen  eine 

Vertiefung  des  Bündnisses  Bedenken  hegte. 

13.  Juni: 
Der  Ausbau  des  Sieges  bei  Noyon. 
Graf  Burian  über  die  Vertiefung  des  Bündnisses. 

1.  Juli: 
Die  Beratungen  in  Salzburg  über  den  Ausbau  des  Bündnisses. 

sind  die  leitenden  Auffassungen  bei  der  wirtschaftlichen 

Vertiefung   des  Bündnisses  —  —  Wirtschaftsgebiet,  dessen 
Grundmauern  in  Salzburg  aufgerichtet  werden  sollen 

Und  noch  im  September  konnte  dieser  von 
keiner  Materialnot  abgeschreckte  Förderer  des  Bau- 
gewerbes die  Genugtuung  erleben,  daß  der  deutsche 
Kaiser  dem  Hetman  nachrühmte,  er  habe  »die  Ukraine 
zu  einem  neuen  geordneten  Staatswesen  aus- 
zubauen begonnen«,  worauf  der  Hetman  der 
Hoffnung  Ausdruck  gab,  daß  »die  Beziehungen 
zwischen  dem  mächtigen  deutschen  Reiche  und  der 
Ukraine  sich  immer  mehr  vertiefen  werden«. 
Inzwischen  hatte  sich  aber  bereits  eine  Folge  der 
Vertiefung  des  andern  Bündnisses  gezeigt: 

Berlin,  23.  Mai.  (Privattelegramm  des  .Neuen  Wiener 
Journals')  Die  ,Tägliche  Rundschau'  meldet  aus  dem  Haag: 
,T  i  m  e  s'  melden  aus  Turin,  daß  die  italienische  Börse  seit  der 
deutsch-österreichischen  Kaiserzusammenkunft  eine  bemerkenswert 
flaue  Stimmung  zeige.  Man  glaubt,  daß  die  Italiener  durch  die 
Tiefe  des  Bündnisses  sehr  enttäuscht  worden  sind. 

Der  Ausbau  hingegen  scheint  vorläufig  noch 
keinen  Eindruck  auf  sie  zu  machen.  Immerhin  mehrten 
sich  von  Tag  zu  Tag  die  Symptome,  die  es  dem 
publizistischen  Wortführer  der  Zentralmächte   rätlich 


erscheinen  ließen,  die  Entente  darüber  zu  beruhigen, 
daß  man  auch  hier  einem  Völkerbund  nicht  mehr 
abgeneigt  sei  und  daß  >die  Einrichtung  der  Schieds- 
gerichte nach  dem  Kriege  stark  ausgebaut 
werden  müsse*. 

Was  aber,  kann  man  fragen,  wäre  geschehen, 
wenn  ein  sogenannter  Staatsmann,  also  der  Vertreter 
eines  zumeist  verfehlten  Berufs,  der,  wie  nicht  allein 
der  Fall  des  Herrn  Kühlmann  beweist,  nicht  einmal 
die  Fähigkeit  zum  Privatmann  hat,  die  Parole  aus- 
gegeben hätte,  die  Verhandlungen  seien  angebahnt 
und  in  Fluß  gebracht  worden?*)  Das  Geringste 
wäre  gewesen,  daß  nunmehr  —  im  gespenstischen 
Gehorsam,  mit  dem  die  Phrase  überallhin  und  noch 
in  ihr  eigenes  Gebiet  folgt  —  auch  die  Schiffahrt 
zwischen  Wien  und  Budapest  in  Fluß  gebracht 
und  eine  neue  Zugsverbindung  zwischen  Wien  und 
Berlin  angebahnt  würde.  Da  aber  in  solchem  Fall 
die  Gefahr  der  Koffereinbrüche  und  der  Postdieb- 
stähle in  hohem  Grade  besteht,  so  wurde  für  alle 
Fälle  rechtzeitig  verlautbart: 

Die  Abwehrmaßregeln  gegen  die  Diebstähle  an  Postgütern, 
die  bereits  getroffen  wurden,  sind  im  unablässigen 
Ausbau  begriffen. 

Was  nützt  das  aber?  Da  eben  in  den  Zeiten 
des  Ausbaus  und  auch  der  Vertiefung  die  Eisenbahn- 
diebstähle überhandgenommen  haben,  so  bleibt  nichts 
übrig,  als  das  Reisegepäck  versichern  zu  lassen.  Da 
müßten  aber  die  Versicherungsgesellschaften  auch 
nach  dem  Rechten  sehn: 

Ein  Ausbau  der  Bestimmungen  über  die  Versicherung  des 
Reisegepäcks  ist  heute  umso  dringlicher,  als  die  beraubten  Objekte 
von  den  Eisenbahndieben  geradezu  kunstgerecht  behandelt  werden. 

*)  Kaum  gedacht,  wird  es  von  einer  Geisterhand  dieser  unter- 
nehmenden Wirklichkeit  einverleibt.  Ein  Anfang  wäre  gemacht, 
denn  die  offizielle  Erklärung  liegt  vor,  daß  die  Verhandlungen, 
»die  von  dem  Grundgedanken  ausgehen,  das  Bundesverhältnis 
zu  vertiefen,  zurzeit  noch  im  Flusse  sind«. 


Etwa  so  wie  die  Seele  der  Völker  von  den 
Diplomaten.  Welche  Feinheiten  da  möglich  sind, 
welche  Komplikationen  da  eintreten  können,  zeigt 
ein  Vorfall,  der  sich  beim  Ausbau  und  bei  der  Ver- 
tiefung zugetragen  hat.  Nämlich  das  Bündnis,  kaum 
ausgebaut  und  vertieft,  ist  plötzlich  noch  »ausgelegt« 
worden.  Die  neuerlichen  Beratungen  im  deutschen 
Hauptquartier  haben  amtliche  Mitteilungen  zur  Folge 
gehabt  und  diese  einen  Veitstanz,  der  alle  bisherige 
Leidenschaft  als  den  Zustand  der  Totenstarre  erscheinen 
läßt.  »Die  Fassung  in  Wien  und  Berlin«  bringt  den 
Unglücklichen  derart  aus  der  Fassung,  daß  er  zuerst 
nur  zu  jappen  beginnt,  bis  er  in  unartikulierten 
Lauten  hervorbringt,  was  ihn  eigentlich  so  aufregt. 
Wir  hören,  daß  es  der  Ausbau  sei,  vermissen  die 
Vertiefung  und  erfahren: 

Eine  genaue  Prüfung  des  Textes,  der  in  Wien  und 
Berlin  veröffentlichten  Mitteilung  zeigt  einen  Unterschied,  der 
in  die  Augen  springt. 

Und  nun  fängt  er  an  in  die  Augen  zu  springen, 
er,  jener. 

Die  beiden  Communiques  sind  in  den  Sätzen,  in  den 
Ausdrücken  und  in  den  spärlichen  Mitteilungen  gleichlautend, 
mit  einer  einzigen  Ausnahme. 

Nein,  die  erfahren  wir  noch  lange  nicht. 

In  Wien  und  Berlin  wird  gesagt  —  —  In  Wien  und 
Berlin  wird  erzählt  —  —  In  Wien  und  Berlin  wird  mit- 
geteilt   da  ist  volle  Gleichheit  im  Inhalte  und  in  der  Form. 

wird  mit  Genugtuung  aufgenommen  werden.  Denn  nichts 

kann  wichtiger  sein   als   der   Felsblock  —  —    nichts   kann   das 
Gefühl  der  Sicherheit  mehr  befestigen 

Nun  also.  Und  der  Unterschied? 

Das  in  Wien  veröffentlichte  Communique  sagt,  die  Zu- 
sammenkunft der  beiden  Kaiser  habe  auch  festgestellt,  »daß  die 
erlauchten  Monarchen  an  ihren  im  Mai  gefaßten  bündnis- 
vertiefenden Beschlüssen  festhalten«.  Das  in  Berlin  ver- 
öffentlichte Communique  sagt,  die  Zusammenkunft  habe  »auch 
diegleiche  und  treueste  Ausleg ungdesBündnisses 
festgestellt«.  Wenn  der  Satz  über  das  Festhalten  an  de»  Mai- 
beschlüssen, betreffend  die  Vertiefung  des  Bündnisses,  im 
Wiener  Communique   in    ein  Verhältnis   gebracht  wird  zu  dem 


10  — 


Satze  über  die  gleiche  und  treueste  Au  siegung  des 
Bündnisses  im  Berliner  Communique,  so  ergibt  sich  kein 
Widerspruch,  sondern  nur  die  Tatsache,  daß  in  jeder  der  beiden 
Mitteilungen  von  etwas  anderem  gesprochen  wird. 

Nun  also. 

Die  gleiche  und  treueste  Auslegung  des  Bünd- 
nisses kann  nicht  im  Gegensatze  zu  den  Maibeschlüssen  über 
die  Vertiefung  des  Bündnisses  sein  und  diese  wäre  undenkbar 
ohne  die  gleiche' und  die  treueste  Auslegung  des 
jetzigen  Bündnisses. 

Gewiß  nicht. 

Aber  dem  deutschen  Publikum  wird  etwas  mitgeteilt,  was  das 
Wiener  Communique  nicht  sagt,  und  umgekehrt.  Es  handelt 
sich  um  Erklärungen,  die,  nebeneinandergestellt  und  in  einem 
und  demselben  Communique  veröffentlicht,  nichts  Auffallendes 
•hätten.  Sie  fallen  nur  auf,  weil  in  einem  Communique  vom 
Festhalten  an  der  Bündnis  Vertiefung  nichts  zu  lesen  ist  und 
in  dem  anderen  wieder  nichts  von  der  gleichen  und  treuesten 
Auslegung  des  jetzigen  Bündnisses.  Mitteilungen  über  die 
Zusammenkunft  der  Kaiser  pflegen  im  Einvernehmen  verfaßt 
und  dem  Publikum  zugänglich  gemacht  zu  werden.  Graf  Burian 
war  somit  einverstanden  mit  dem  Hinweise  auf  die  gleiche  und 
treueste  Auslegung  des  Bündnisses  und  Graf  Hertling  hat 
der  Feststellung  zugestimmt,  daß  die  beiden  Kaiser  an  ihren  im 
Mai  gefaßten  bündnis vertiefenden  Beschlüssen  festhalten. 
Beide  Staatsmänner  sprechen  aus  beiden  Communiques  und 
keiner  von  ihnen  kann  über  die  Zusammenkunft  sagen,  was  der 
andere  nicht  billigt. 

Gewiß  nicht.  So  weit  wären  wir  also  beruhigt, 
sind  es  aber  noch  immer  nicht.  Denn  es  ist  nicht 
nur  die  Auslegung  des  Bündnisses  auszulegen, 
sondern  die  gleiche  und  treueste  Auslegung  des 
Bündnisses  und  nicht  nur  des  Bündnisses,  sondern 
des  jetzigen  Bündnisses  im  Gegensatz  zum  Bündnisse 
als  solchem,  und  hinter  den  Gitterstäben  dieser 
Begriffe  hin  und  her  gejagt,  in  der  Selbstqual  viel- 
facher Zwangshandlung  heillos  verzappelt,  verröchelt 
der  auslegende  Verstand  ins  Delirium. 

Aber  die  Ungleichheit  der  Fassung  dürfte  trotzdem  nicht 
grundlos  sein.  Die  Andeutung  ist  zu  erkennen,  daß  die  Monarchie 
bei  der  Vertiefung  des  Bündnisses  nach  den  im  Mai  gefaßten 
Beschlüssen  die  polnische  Frage  zur  Lösung  bringen  will.  Graf 
Burian  hat  sie  schon  im  Juni  damit  in  Zusammenhang  gebracht. 


11  — 


Deshalb  wird  die  Vertiefung  des  Bündnisses  im  Wiener 
Communique  unterstrichen.  Das  Berliner  Communique  spricht  von 
der  gleichen  und  treuesten  Auslegung  des  jetzigen 
Bündnisses.  Es  will  dessen  Bestand  und  Wirkung  in  keine  Ab- 
hängigkeit von  den  schwebenden  Fragen  des  Ausbaues  sowie 
von  der  austro-polnischen  Lösung  bringen  .... 

Denn  das  fehlte  noch!  Die  Vertiefung  kann  aus- 
gelegt, aber  der  Ausbau  kann  doch  nicht  verlegt  werden. 

Auch  die  treueste  Auslegung  des  Bündnisses  — 
Ist  das  noch  die  gleiche?  Er  ermattet! 
ist,  wie  das  Berliner  Communique  sagt,  in  der  Monarchie  und  in 
Deutschland  gleich.  Graf  Burian  will  die  Vertiefung 
des  Bündnisses  und  Graf  Hertling  auch.  Der  deutsche  Reichs- 
kanzler will  aber  das  jetzige  Bündnis,  selbst  wenn  es  nicht 
vertieft  werden  könnte.  Die  Monarchie  teilt  diese  Ansicht. 
Die  Grundauffassungen  über  das  Zusammenstehen  kommen  aus 
Notwendigkeiten.  Die  treueste  Auslegung  des  Bündnisses 
ist  wechselseitige  Unterstützung  an  den  Fronten  gegen  den 
Feind.    Das   tut   die  Entente;   das  sollten  die  Mittelmächte  tun. 

Sie  tun  es,  weiß  Gott,  sie  tun  es,  auch  wenn 
ihnen  einer  nicht  so  heftig  zuredete  und  selbst 
wenn's  ihnen  übel  ausgelegt  werden  sollte.  Welch 
ein  Bild  vertiefter  Nibelungentreue,  wenn  zwischen 
den  beiden  Schultern  dieser  Kopf  steht,  immer  in 
siedender  Sorge  um  die  gegenseitigen  Bündnis- 
pflichten, zu  deren  Wahrung  er  schließlich  noch 
dieses  Opfer  auf  sich  nimmt: 

Berlin,  20.  August. 

Gegenüber  gewissen  Auffassungen  in  der  Presse  wird  in 
hiesigen  informierten  Kreisen  betont,  daß  bis  heute  eine  amt- 
liche Erklärung  über  Einzelheiten  der  Besprechungen  im  Großen 
Hauptquartier  nicht  veröffentlicht  wurde.  Von  einem  Unterschied 
zwischen  dem  deutschen  und  österreichischen  amtlichen  Bericht 
über  die  Zusammenkunft  könne  keine  Rede  sein. 

Welch  ein  Abschluß  der  geredeten  Unendlichkeit! 
Nein,  ehe  das  noch  geschah,  war's  toll  genug.  Ohne  alle 
Auslegung:  Das  war  kein  Schlagwort  mehr,  das  war 
ein  Fluch:  Ausgebaut  und  vertieft  sollst  du  werden! 
Und  ein  Schlachtbankier,  der  sich  sonst  wahrlich  mehr 
aufs  Einnehmen  als  aufs  Auslegen  versteht,  ahndete  die 
Sünden  der  Väter   und  es  war  ein  Strafgericht  über 


12 


die  lesende  Menschheit  wie  nie  zuvor.  Denn  keinen 
von  allen  jenen,  die  da  schreiben,  liest  man  mehr  mit 
den  Ohren  als  diesen  da.  Nie  aber  ist  so  der  ganze 
Inhalt  einer  Zeit  Geräusch  geworden,  nie  so  der 
Bund  von  Ton  und  Ding,  einer  hoffnungslosen  Welt 
und  eines  verzweifelten  Rhythmus,  ausgebaut  und 
vertieft  gewesen,  und  schwer  lastete  es  auf  Hirn  und 
Herz  jener  Minderheit,  die  noch  spürt,  was  ihr  getan 
wird  und  deren  Scham  das  Wort  so  viel  wie  die  Tat 
gilt.  Was  diese  bedeutet,  das  empfand  sie,  und  daß 
sie  es  täglich  zu  hören  bekam,  das  machte  sie  mir 
zum  erbarmenswürdigsten  Ohrenzeugen  eines  Ver- 
hängnisses. Und  als  ich  ihr  darum,  den  ganzen 
Explosivstoff  erfassend,  den  hier  die  dämonische 
Regie  des  Zufalls  just  damals  in  denselben  Kübel 
trug,  das  da  vorlas: 

Die  chinesisch-japanische  Militärkonvention. 

Volle  Herrschaft  Japans  in  China. 

Bern,  30.  Mai. 

Der  »Shanghai  Gazette«  zufolge  haben  die  geheimen  Ab- 
machungen der  eben  zustandegekommenen  Militärkonvention 
zwischen  Japan  und  China  folgenden  Inhalt: 

Die  chinesische  Polizei  wird   von  Japan  neu  organisiert. 

Japan  übernimmt  die  Leitung  sämtlicher  chinesischer 
Arsenale  und  Werften. 

Japan  erhält  das  Recht,  in  allen  Teilen  Chinas  Eisen  und 
Kohle  zu  fördern. 

Japan  erhält  alle  geforderten  Privilegien  in  der  äußeren 
und  in  der  inneren  Mongolei,  ferner  in  der  Mandschurei. 

Schließlich  sind  eine  Anzahl  von  Maßnahmen  getroffen, 
die    das   Finanz-   und   Ernährungswesen    Chinas     japanischem 

Einfluß  unterwerfen 

da  war  eine  Stille  atemloser  Bejahung,  in  die 
ich  zu  noch  nie  erlebter  Tragödienwirkung  und  zu 
einem  Beifall,  der  die  überstandene  Orgie  über- 
dröhnte, mit  dem  schlichten  Nachsatz  fuhr: 

Mit  einem  Wort  — das  Bündnis  zwischen  Japan 
und  China  ist  ausgebaut  und  vertieft. 


—   13  — 


Glossen 


In  unserer  äußeren  Politik  steuern  wir  Gott  sei  Dank 
den  deutschen  Kurs 

rief  Czernin  daseinstrunken,  und  er  sage  dies  und  das  > nicht 
für  unsere  Regierung  und  nicht  für  irgend  eine  maßgebende 
Stelle  des  Reiches,  weil  sie  alle  Gott  sei  Dank  darin  einig 
sind,  das  Bündnis  zu  halten*.  Nun,  über  Glaubenssachen  läßt 
sich  so  wenig  streiten  wie  über  Geschmackssachen.  Das  Gemüts- 
leben des  Grafen  Czernin  bleibe  seine  Angelegenheit  wie  das 
Privatleben  des  Herrn  v.  Kühlmann,  und  was  Bukarest  anlangt, 
so  genüge  den  Völkern  zu  erfahren,  daß  dort  Friede  geschlossen 
wurde.  Immerhin  dürfte  die  Gehirntätigkeit  des  Grafen  Czernin 
ein  öffentliches  Interesse  beanspruchen.  Auf  welchen  Gedanken- 
gängen heutzutage  ein  Staatscauseur  vor  Herrenhausmitgliedern 
und  Zeitungslesern  flanieren  kann,  ersieht  man  aus  der  Art,  wie 
dieser  Czernin  sein  Brest-Litowsk  verteidigt: 

Auch  mir  wäre  eine  andere,  konsolidiertere  und  vor  allem 
auch  eine  weniger  rote  Regierung  lieber  gewesen.  Aber  diese  Regierung 
war  nicht  vorhanden  und  ich  konnte  sie  nicht  scharfen.  Die  großen 
deutschen  Siege,  die  märchenhaften  Erfolge  der  deutschen 
Armee  wären  nicht  eingetreten,  wenn  nicht  der  Brest-Litowsker  Friede  es 
ermöglicht  hätte,  die  Truppen  an  die  Westfront  abzuziehen.  Wenn  die 
Herren,  die  den  Friedensschluß  in  Brest  tadeln,  wüßten,  welche 
Anstrengung  die  Entente  gemacht  hat,  ihn  zu 
verhindern,  dann  würden  sie  vielleicht  milder  über  unsere 
Tätigkeit  denken.  Und  der  scheußliche  Gesandtenmord 
an  Graf  Mirbach,  ist  er  nicht  ein  neuer  Beweis,  welche 
Anstrengungen  die  Entente  macht,  um  den  Frieden  im 
Osten  wieder  durch  den  Kriegszustand  zu  ersetzen  ? 

Von  allen  Formen  der  Blödmacherei,  die  seit  August  1914 
in  Schwang  sind,  dürfte  hier  die  wirkungsvollste  erfaßt  sein. 
Indem  man  eben  das,  was  die  schwerste  Anklage  rechtfertigt, 
mit  ernsthafter  Miene  als  Argument  der  Verteidigung  vorbringt, 
kann  man  es  erleben,  daß  jeder  Angriff  mühelos  abjewiesen 
wird.  Jene  deutsche  Taktik  der  verfolgenden  Unschuld,  die  einen 


14  — 


Überschuß  an  Wehrhaftigkeit  und  ein  Defizit  an  Wahrhaftigkeit 
zu  einem  die  Welt  restlos  befriedigenden  Ausgleich  bringt,  ist  so 
sehr  die  Force  des  Grafen  Czemin,  daß  der  Ausgang  seiner 
Karriere  in  einem  Engagement  bei  Wolff  wirklich  nur  eine 
Frage  der  großen  Zeit  ist.  Er  verblüfft  seine  Hörer,  indem  er  einfach 
die  Prämisse  einschiebt,  seine  Tadler  hätten  ihm  einen  Frieden 
zum  Vorwurf  gemacht,  der  die  Entente  befriedigt.  Der  Schwindel 
besteht  in  der  Verwendung  des  schlichtpatriotischen  Gedankens, 
die  Beunruhigung  des  Feindes  sei  ein  Erfolg.  Daß  der  Sieg- 
frieden, dessen  sich  der  Graf  Czemin  rühmt  und  dessen  Tat- 
sache er  zu  beweisen  sucht,  eben  das  ist,  was  ihm  zum  Vorwurf 
gemacht  wurde,  und  daß  der  Gesandtenmord  just  das  Böse  ist, 
welches  vom  Fluch  der  bösen  Tat  geboren  wird  —  das  ihm 
zuzurufen,  würde  sich  kein  Hörer  aufraffen,  weil  man  zumeist  im 
Leben  von  der  Schlagfertigkeit  eines,  der  sich  dumm  stellt,  um  die 
andern  dumm  zu  machen,  aufs  Haupt  geschlagen  ist.  Auf  den 
Einwand,  daß  der  Friede  von  Brest-Litowsk  ein  schlechter  Friede  sei, 
weil  er  die  Welt  in  Unruhe  erhalte,  erwidert  der  Graf  Czernin  nichts 
weiter,  als  daß  der  Tadel  schon  deshalb  unberechtigt  sei,  weil 
der  Friede  von  Brest-Litowsk  die  Feinde  in  Wut  gebracht  habe. 
Nicht  nur  in  unserer  äußeren  Politik  steuern  wir,  Gott  sei  Dank, 
den  deutschen  Kurs,  sondern  auch  in  den  Methoden,  sie  zu 
rechtfertigen. 


Vor  der  nackten  Fälschung  der  Tatsachen 

Wenn  die  Lüge  ein  Kriegsmittel  ist,  so  ist  jene  Lüge, 
deren  Inhalt  die  Behauptung  ist,  daß  der  andere  gelogen  hat, 
ein  Dumdum-Geschoß.  Der  Gipfel  der  technischen  Entwicklung 
ist  in  der  ministeriell-journalistischen  Debatte  über  den  Fall 
Revertera  erreicht  worden,  und  zwar  mit  der  Erörterung  der 
völlig  belanglosen  Frage,  ob  die  unter  Clemenceau  geführten  Be- 
sprechungen die  Fortsetzung  der  unter  Painleve  geführten  oder 
neue  waren.  Aus  der  völlig  belanglosen  Mitteilung  des  ehemaligen 
Ministerpräsidenten,  daß  ihm  von  einer  Fortsetzung  der  im  Au- 
gust geführten  Besprechungen  bis  zu  seinem  Rücktritt  im  No- 
vember 1917  nichts  bekannt  sei,  wird  von  dem  Bankhalter  aller 


—  15 


Lügen  das  folgende  Kapital  geschlagen,  dessen  Zinsen  auf   das 
Konto  der  europäischen   Bedeutung  Painleves  gebucht  werden: 

Es  ist  vollständig  unwahr,  daß  der  Ministerpräsident  Clemenceau 
nur  die  begonnenen  Unterredungen  zwischen  dem  Grafen  Revertera 
und  dem  Grafen  Armand  habe  fortsetzen  lassen.  Diese  Gespräche 
waren  im  August  des  Jahres  1917  beendigt.  Im  November  wurde 
nach  dem  Rücktritte  des  Ministeriums  PainlevS  das  Kabinett  Clemen- 
ceau gebildet.  Die  Unterredungen  im  Februar  des  Jahres  1918  sind 
daher  nicht  die  Fortsetzung  der  früheren  gewesen.  S  i  e 
mußten  unter  dem  M  i  n  i  s  t  e  r  iu  m  C  1  e  m  e  n  c  e  a  u  und 
mit  dessen  Wissen  und  Erlaubnis  frisch  aufge- 
nommen werden.  Aus  diesem  Grunde  könnte  gewiß  kein 
Vorwurf  gegen  Clemenceau  erhoben  werden.  Aber  ganz  unbe- 
greiflich ist  die  Verwegenheit,  mit  welcher  er  den  von 
ihm  selbst  zugegebenen  Sachverhalt  erst  durch  die  Beschuldigung 
der  Lüge  wegstreiten  wollte,  bis  die  veröffentlichten  Einzelheiten 
und  die  Erklärung  des  früheren  Ministerpräsidenten  Painleve  ihn 
gezwungen  haben,  unter  allerlei  Entstellungen  den- 
noch  den  Kernpunkt,  um  den  sich  die  ganze  Polemik  dreht, 
zuzugeben.  Die  Aussprache  über  den  Frieden  in  Freiburg  hat 
stattgefunden  und  Clemenceau  ist  von  seinem  eigenen 
Vorgänger  darin  widerlegt,  daß  er  sie  nicht  angeordnet,  sondern  nur 
nicht  unterbrochen  habe.  Das  ist  nackte  Fälschung  der 
Tatsachen. 

Ohne  Zweifel.  Denn  die  Besprechungen  sind  unter 
Clemenceau  und  mit  dessen  Wissen  und  Erlaubnis  tatsächlich 
frisch  aufgenommen  worden.   Clemenceau  sagt  hierüber: 

Major  Armand  konnte  sich  also  über  eine  Bitte  des 
Grafen  Revertera  neuerlich  nach  der  Schweiz  begeben. 

Czernin  drückt  dies  so  aus: 

Erst  im  Jänner  1918  nahm  Graf  Armand,  diesmal  im 
Auftrag  Herrn  Clemenceau  s,  mit  dem  Grafen  Revertera 
neuerlich  Fühlung. 

Wer  sich  im  Fuchsbau  deutscher  Verlautbarungen  nur 
halbwegs  auskennt,  spürt,  daß  hier  eine  wahre  Mitteilung,  >diesmal 
im  Auftrag  Herrn  Clemenceaus<,  dem  Zweck  unterstellt  werden  soll, 
an  eine  Initiative  Clemenceaus  glauben  zu  machen.  Aber  sein 
>  Auftrag«  mußte  ohneZweifel  ergehen,  von  wem  immer  die  Initiative 
ergangen  sein  mochte,  und  wenn  er  neue  Besprechungen  zuge- 
lassen hat,  so  dürfte  ihm  das,  wenn's  herauskommt,  weniger 
schaden  als  wenn  er  die  alten  herbeigeführt  hätte.  Der  Enthüller 


—  16  — 


schrickt  gleichwohl  nicht  vor  dem  Äußersten  zurück:  »Sie 
mußten  unter  dem  Ministerium  Clemenceau  und  mit  dessen 
Wissen  und  Erlaubnis  frisch  aufgenommen  werden.«  Bei  genauerem 
Hinsehen  erweist  es  sich  als  eine  unbestreitbare  Wahrheit.  Denn, 
siehe  da,  es  war  damals  schon  Clemenceau  und  nicht  mehr  Painleve 
derMann  und  darum  tatsächlich  in  der  Lage,  von  den  Besprechungen 
zu  wissen  und  sie  zu  erlauben.  Daß  sie  aber  darum  nicht  die 
Fortsetzung  der  früheren  waren,  ist  nicht  ganz  so  einleuchtend 
wie  der  Schluß,  daß  sie  eben  darum  die  Fortsetzung  der  früheren 
waren.  Sie  wären  nur  dann  nicht  die  Fortsetzung  der  früheren 
gewesen,  wenn  etwa  nicht  mehr  Revertera  mit  Armand,  sondern 
Armand  mit  Revertera  verhandelt  hätte  oder  etwa  nicht  über  die 
Möglichkeit  zu  einem  Frieden,  sondern  über  die  weit  geringere 
Möglichkeit,  zur  Wahrheit  zu  gelangen.  Und  dennoch  gelingt 
dies  manchmal,  wenn  auch  nicht  durch  Besprechungen,  sondern 
durch  Enthüllungen.  Der  Graf  Czernin  enthüllt,  daß  die  Be- 
sprechungen, die  er  auch  in  der  Ära  Clemenceaus  fortgesetzt  oder 
vielmehr  erneuert  haben  wollte,  ohne  die  Bewilligung  des  neuen 
französischen  Ministerpräsidenten  nicht  möglich  gewesen  wären. 
Die  Enthüllung  des  Grafen  Czernin,  daß  Clemenceau  franzö- 
sischer Ministerpräsident  ist,  ist  gewiß  verblüffend,  wenn  auch 
bei  weitem  nicht  so  zufriedenstellend  wie  der  Gegenbeweis 
Clemenceaus,  daß  der  Graf  Czernin  nicht  mehr  österreichischer 
Minister  des  Äußern  ist. 


No  also ! 

Die  Affaire  Clemenceau-Czernin  oder  Armand-Revertera 
aus  dem  Weichselzopf  ministeriell -journalistischer  Drehung 
gelöst : 

A.  sagt  plötzlich:  B.  hat  mich  angepumpt.  B.  sagt:  A.  lügt. 
Die  Freunde  des  A.  sagen:  Kunststück,  einfach  alles  ableugnen! 
Oder  —  da  ja  diese  beispiellose  Wirklichkeit  doch  immer  noch 
eindringlicher  wirkt  als  jedes  Beispiel  —  der  Leitartikler  schreibt: 

Clemenceau  sagt:  Graf  Czernin  hat  gelogen.  —  — 
—  —  Nun  fragen  wir,  ob  Graf    Armand  nie  gelebt,    nie  mit 
dem  Grafen  Revertera  in  der  Schweiz  über  den    Frieden    gesprochen, 


—  17  — 


ihn  nie  gesehen  und  nie  gekannt  habe,  ob  die  Unterredungen  erfun- 
den und  die  Einzelheiten  ein  Hirngespinst  seien.  Das  wird 
kein  einziger  Franzose  glauben. 

Muß  er  auch  nicht.  B.,  von  den  Tölpeln  gereizt,  antwor- 
tet: Hat  gelebt,  hat  gesprochen,  hat  gesehen  und  gekannt.  Alles 
ist  wahr,  nur:  umgekehrt.  Oder:  Nicht  ich  habe  den  A.,  sondern 
der  A.  hat  mich  angepumpt;  die  »Einzelheiten«  stimmen;  darin 
lügt  A.  durchaus  nicht,  angepumpt  wurde  fürwahr,  aber  nicht 
er  von  mir,  sondern  ich  von  ihm.  No  also,  ruft  A.  strahlend, 
es  ist  also  doch  wahr!  Oder  amtlich  so: 

Gegenüber  der  ersten  kurzen  Erklärung  Clemenceaus,  mit 
welcher  dieser  den  Grafen  Czernin  der  Lüge  geziehen  hatte,  wird 
dem  nunmehr  vorliegenden  Communique  des  französischen  Minister- 
ratspräsidiums vom  6.  d.  mit  Befriedigung  das  Zugeständ- 
nis entnommen,  daß  zwischen  den  beiden  Vertrauens- 
männern der  Regierungen  Österreich-Ungarns  und  Frankreichs  Bespre- 
chungen über  die  Friedensfrage    stattgefunden    haben. 

Und  journalistisch: 

Clemenceau  hat  sich  durch  seine  Unwahrhaftigkeit  bloßgestellt. 

Wenn  er  jetzt  gezwungen     ist,    mit    allen    Verdrehungen    und 

Wendungen  den  sachlichen  Inhalt  der  Rede  zu  bestätigen, 
so  ist  das  eine  schwere  Niederlage,  die  seine  Persönlichkeit  ent- 
wertet —  — 

Er  habe  das,  »worauf  es  ankommt,  zugeben  müssen«:  die 
Friedensbesprechungen  in  Freiburg.  Daß  gepumpt  wurde. 

Wie  durfte  er  sich  erdreisten,  unter  solchen  Verhältnissen 
kurzweg  von  einer  Lüge  zu  reden  —  —  Wir  lassen  uns  auf 
die  abstoßende  Kleinlichkeit,  mit  der  Clemenceau  sich 
damit  brüsten  will,  die  Unterredungen  haben  über  Wunsch 
der  Monarchie  stattgefunden,  gar  nicht  ein.  —  —  Die 
Aussprache  über  den  Frieden  in  Freiburg  hat  stattgefunden 

Die  Einzelheiten  stimmen,  sie  näher  zu  betrachten  wäre 
von  abstoßender  Kleinlichkeit.  Die  Wahrheit  hat  sich  durch- 
gesetzt. Der  Leitartikler  behält  das  letzte  Wort: 

Er  (Clemenceau)  kann  jedoch  an  der  Lüge  fallen,  die  er  dem 
Grafen  Czernin  vorgeworfen  hat. 

Einer  ist  tatsächlich  an  der  Lüge  gefallen.  Wieder  stim- 
men die  Einzelheiten.  Oder  ist  einer  vielleicht  nicht  an  der 
Lüge  geFallen?  No  also! 


—  18 


Im  Sturze 


Madrid,    4.    Juli.     Der   Sturz  Clemenceaus    nähert  sich 
dem  Stadium  der  Verwirklichung  .  .  .  . 


Die  schlauen  Franzosen 

Nicht  unerwähnt  bleibe  noch,  daß  die  Franzosen  selbst  sich 
gerade  den  Grafen  Armand  als  Unterhändler  ausgesucht  haben,  weil 
sie  wußten,  daß  er  ein  Verwandter  Reverteras  sei. 

Während  die  Österreicher,  nicht  ahnend,  daß  Revertera  ein 
Verwandter  Armands  sei,   beinahe  in  die  Falle  gegangen  wären. 


Im  Dschungel 

Wir  lassen  uns  auf  die  abstoßende  Kleinlichkeit, 
mit  der  Clemenceau  sich  damit  brüsten  will,  die  Unterredungen  haben 
über  Wunsch  der  Monarchie  stattgefunden,  gar  nicht  ein. 
Wer  den  läppischen  Ruhm  sucht,  daß  er  nicht  einmal  auf 
vertraulichem  Wege  —  —  Wie  sticht  die  Erklärung  des 
Grafen  Czernin  davon  ab,  daß  er  nie  verbergen  würde, 
die  Anregung  zu  einer  Friedensbesprechung  gegeben  zu  haben. 

Nämlich  so: 

»Im  Juli  1917  wurde  Graf  Revertera  von  einer  neutralen 
Mittelsperson  «im  Namen  der  französischen  Regierung 
aufgefordert  —  —  Die  Initiative  zu  dieser  Anknüpfung  ist  also 
von  französischer  Seite  ausgegangen.  Von  dieser  i  m 
Auftrage  der  französischen  Regierung  gestellten 
Anfrage  —  —  Erst  im  Jänner  1918  nahm  Graf  Armand,  diesmal 
im  Auftrage  Herrn  Clemenceaus,  mit  dem  Grafen  Revertera 
neuerlich  Fühlung Angeregt  von  französischer  Seite « 

»So  weit  die  Feststellung  der  Tatsachen.  Im  übrigen 
sei  nur  bemerkt«,  daß  Graf  Czernin  seinerseits  keinen  Grund 
sehen  würde,  es  abzuleugnen  wenn  — ,  da  er  »im  Gegensatze  zu 
Herrn  Clemenceau«  glaubt,  daß  es  kein  Vorwurf  für  eine 
Regierung  sein  kann,  Versuche  zur  Herbeiführung  — .  Wie 
wahr!  Aber  warum  hat  er  ihn  erhoben?  Und  noch  dazu,  da 
nicht  nur  der  Vorwurf  unberechtigt,  sondern  auch  die  Tatsache, 
auf  die  er  sich  stützt,  falsch  ist!  Wenn  A  den  B.  angepumpt  hat, 


19 


wie  kann  er  mit  der  Enthüllung,  daß  B.  ihn  angepumpt  habe, 
den  B.  blamieren  wollen?  Und  gar  nachträglich  den  B.,  der  das 
Faktum  leugnet,  darüber  belehren  wollen,  daß  das  Anpumpen 
keine  Schande  sei?  Beneidenswert  die  Menschheit,  die  hier  an 
eine  Ethik  glaubt  und  von  einer  Logik  überzeugt  wird. 


Der  Kernpunkt 

. .  .  Durch  die  von  Herrn  Clemenceau  aufgeworfene  Streitfrage  ist 
übrigens  die  Aufmerksamkeit  von  dem  eigentlichen  Kernpunkte 
der  Äußerung  des  Grafen  Czernin  abgelenkt  worden.  Das  Wesentliche 
daran  war  nicht  so  sehr,  wer  die  Besprechungen  vor  Beginn 
der  Westoffensive  angeregt,  sondern  wer  sie  zerschlagen 
hat.  Und  das  hat  Herr  Clemenceau  bisher  nicht  geleugnet, 
daß  er  sicli  geweigert  hat,  auf  der  Basis  des  Ver- 
zichtsauf d e n  R ü c k erw e rb  Eis a ß -L o t h r i nge n s  in 
Verhandlungen  einzutreten. 

Nein,  das  hat  er  vorher  nicht  geleugnet  und  nachher 
sogar  zugegeben.  »Wer  sie  zerschlagen  hat«  —  in  Sperrdruck 
steht  es  — ,  das  war  er.  Und  da,  wer  sie  zerschlagen  hat,  in  der 
Regel  der  andere  sein  dürfte  und  der,  der  sie  angeregt  hat,  der 
eine,  so  sollte  dem  Zugeständnis  Clemenceaus,  daß  er  sie  zer- 
schlagen hat,  das  Czernins  entsprechen,  daß  er  sie  angeregt  hat. 
Denn  das  wäre  doch  etwas  zu  viel  enthüllt:  daß  einer  die 
Besprechungen  zugleich  angeregt  und  zerschlagen  habe. 


Ein  Gelehrter  mit  europäischem  Ruf 

Painleve  war  einmal  ein  Gelehrter  mit  europäischem  Rufe. 
Dann  wurde  er  —  Krieg  ist  Krieg  —  eine  Null.  Dann  wider- 
sprach er  —  scheinbar—  dem  Clemenceau  in  einem  unwesent- 
lichen Punkt.  Das  heißt  also  —  auf  Seite  1  — ,  daß  diesjm 
»die  Maske  vom  Gesicht  heruntergerissen  wurde«  und  zwar 
»nicht  etwa  vom  Grafen  Czernin,  sondern  von  dem  ehemaligen 


20 


französischen  Ministerpräsidenten  Painleve,  von  einem  Gelehrten 
mit  europäischem  Rufe«.  In  der  Hauptsache  aber  —  auf  Seite  3  — 
teilt  dieser  mit: 

Im  Laufe  des  Jahres  1917  wurden  von  Österreic  h-U  n  g  a  r  n 
mehrere  Versuche  gemacht,  um  offizielle  Gespräche  mit 
Persönlichkeiten  der  Entente  einzuleiten.  Insbesondere  wurde  im  Juni 
1917  von  der  zweiten  Abteilung  gemeldet,  daß  eine  österreichische 
Persönlichkeit,  der  Graf  Revertera,  durch  Vermittlung  eines 
Schweizers  zu  wiederholten  Malen  darauf  gedrungen 
habe,  eine  private  Unterredung  mit  einem  entfernten  Verwandten, 
dem  Major    Armand,  Offizier  in  der  zweiten  Abteilung,  abzuhalten. 

Auch  in  dem  unwesentlichen  Punkt  —  daß  die  Bespre- 
chungen fortgesetzt  und  überhaupt  nicht  abgebrochen  worden 
seien  —  widerspricht  Painlev6  nicht,  sondern  er  erklärt  nur,  daß  er 
davon  keine  Kenntnis  habe  und  nach  der  Erklärung  Clemenceaus 
annehme,  >daß  es  Revertera  war,  der  auf  die  Sache  wieder 
zurückgekommen  ist«.   Das  heißt  auf  ministeriell: 

Clemenceau  wird  daher  von  seinem  Vorgänger  Painleve  i  n 
einer  jeden  Zweifel  ausschließenden  Welse 
dementiert. 

Titel:  >Eine  Widerlegung  Clemenceaus  durch  Painlevd«. 
Und  wie  übersetzt  man  den  durch  einen  Gelehrten  mit  europä- 
ischem Rufe  verfaßten  Text  ins  Deutsche? 

Anfang  August  erschien  nun  irudieser  Angelegen- 
heit bei  dem  Grafen  Revertera  dessen  Verwandter 
Graf  Armand  .  .  .  .  Graf  Revertera  nahm  bei  diesem 
Anlaß  Eröffnungen  über  die  Friedensfrage  vom  Grafen  Armand 
entgegen  und  hatte  die  Aufgabe,  festzustellen,  ob  Aussicht 
vorhanden  sei  —  — 

Unaufgeklärt  bleibt  nunmehr  nur,  warum  Armand  bei 
Revertera  in  Fribourg  und  nicht  lieber  Revertera  bei  Armand 
in   St.   Gallen   erschienen    ist.    Ich    muß   einen   Gelehrten   mit 


europäischem  Rufe  fragen. 


Eröffnungen  Ober  die  Friedensfrage 

Der  ,Matin'  erzählt,  daß  sich  bei  der  berühmten  Schweizer 
Zusammenkunft  zwischen  General  Smuts  und  Graf  Mensdorff  der 
afrikanische  General  höchst  unfein  benommen  habe.  Smuts  begann  das 
Gespräch:  »Also  Ihr  wollt  einen  Sonderfrieden.«    Da  Graf  Mensdorff, 


—  21   — 


etwas  betreten  über  soviel  Mangel  an  diplomatischer  Höflichkeit, 
schwieg,  wiederholte  Smuts:  >Ja  oder  nein.<  Mensdorff  schwieg  immer 
noch,  worauf  der  General  >Guten  Abend«  sagte.  Damit  sei  die 
Unterhaltung  zu  Ende  gewesen. 

Der  ,Matin'  lügt  offenbar.  Wahr  dürfte  die  folgende 
Version  sein:  >In  dieser  Angelegenheit  erschien  nun  bei  dem 
Grafen  Mensdorff  der  General  Smuts.  Graf  Mensdorff  nahm  bei 
diesem  Anlaß  Eröffnungen  über  die  Friedensfrage  vom  General 
Smuts  entgegen.« 


Der  Katserbrief 

.  .  .  Wie  sich  für  den  unbefangenen  Beurteiler  ergibt, 
steht  die  Beweiskraft  der  in  der  Erklärung  gemachten  Behauptung 
mit  der  Stärke  der  Worte  in  scharfem  Widerspruch.  Wir  haben 
erwartet,  daß  Herr  Clemenceau  uns  ein  Original  oder  ein 
photographisches  Schriftstück  vorweisen  werde. 

Viel  Originale  wird  Clemenceau  nicht  besessen  haben; 
aber  daß  er  auch  nur  eines  davon  der  Neuen  Freien  Presse 
vorweisen  werde,  war  zu  viel  erwartet.  Immerhin  macht  der 
unbefangene  Beurteiler  kein  Hehl  daraus,  daß  er  so  etwas 
erwartet  hat. 


In  Erwartung 

.  .  .  Über  die  Behauptungen  Clemenceaus,  betreffend  Briefe  des 
Kaisers  Karl,  wird  auf  die  heutigen  offiziellen  Veröffentlichungen 
hingewiesen,  durch  welche  diese  Briefe  als  absolut  falsch  und  erfunden 
bezeichnet  werden.  Clemenceau  gibt  ja  auch  keine  weiteren  Einzelnheiten 
über  diese  Briefe  und  erwähnt  gar  nicht,  was  sonst  in  diesen  Briefen 
enthalten  sein  soll.  Doch  wir  können  in  Ruhe  weitereEnthüllungen 
abwarten.  Eine  etwaige  Wiedergabe  von  Facsimiles 
wird  sich  zweifellos  als  Schwindel,  als  Fälschung  herausstellen. 
Denn  daß  diese  Briefe  Falsifikate  sein  müssen,  steht  heute 
absolut    fest. 


22  — 


Selbstverständliches 

In  der  Stellung  zur  Affaire  Clemenceau  ist  von  unserer 
Presse  immer  der  Nagel  auf  den  Kopf  getroffen  worden.  Zum 
Beispiel  so: 

.  .  .  Daß  mit  einer  Persönlichkeit  von  derartigen  Begriffen  niemals 
mehr  Verhandlungen  geführt  werden  können,  ist  selbstverständlich. 


O  hört  des  armen  Mannes  Bitte! 

.  .  .  Alle  Redner  gaben  in  beredten  Worten  dem  Wunsche 
Kurlands  nach  einer  Personalunion  mit  Deutschland  Ausdruck  —  — 
Mit  beschwörenden  Worten  bäten  sie  den  Kaiser  aufs  neue,  den 
kurländischen  Herzogshut  anzunehmen  und  die  Hände  nicht  zurück- 
zuweisen, die  sich  den  deutschen  Brüdern  entgegenstrecken. 


Der  loyale  Hertling 

ist  wohl  noch  schwerer  durchzuhalten  als  der  langweilige 
Michaelis: 

Wir  stehen  auf  dem  Boden  des  Friedens  von  Brest-Litowsk 
und  wollen  diesen  Frieden  in  loyaler  Weise  ausgeführt  sehen  .... 
Wir  sind  geneigt,  an  die  Loyalität  der  gegenwärtigen  russischen 
Regierung  uns  gegenüber  zu  glauben.  Wir  sind  insbesondere  geneigt, 
an  die  Loyalität  des  Vertreters  der  russischen  Regierung  hier  in 
Berlin  zu  glauben  ....  Wir  stellen  uns  auf  den  loyalen  Boden 
des  Friedens  von  Brest-Litowsk  ....  Aber  ich  wiederhole,  unser 
Prinzip  ist:  Wir  stehen  auf  dem  Boden  des  Friedens  von  Brest-Litowsk 
und  wir  wollen  den  Frieden  loyal  ausführen;  wir  wollen  mit  der 
gegenwärtigen  Regierung  loyal  verhandeln  ....  Wir  stehen  so, 
daß  wir  loyal  mit  der  jetzigen  russischen  Regierung  verhandeln  .... 

Das  ist  absolut  tödlich.  In  einem  einzigen  Absatz  siebenfach 
loyal.  Der  loyale  Boden  von  Brest-Litowsk  als  solcher  dürfte 
sachlich  und  sprachlich  ein  Unikum  in  der  Weltgeschichte 
sein.  Dieses  Deutschland  ist  das  Wunder  aller  Wunder:  so 
wenig  Öl  zu  haben  und  doch  so  viel  Salbung! 


23 


Ein  rechter  Burian 

hat  gleichzeitig  für  Österreich-Ungarn  gesprochen  oder  vielmehr 
sprechen  lassen.  Dem  loyalen  Boden  eines  Friedens  entspricht 
bei  uns  der  >willige  Kern«  eines  Bündnisses.  Aber  auch  ein 
»weittragendes  Ziel«  kommt  noch  für  uns  in  Betracht  und 
ferner  die  Versicherung,  daß  »über  den  Verhandlungen  zwischen 
Österreich-Ungarn  und  Deutschland  ein  Grundsatz  schwebt«. 
Es  ist  ja  kein  Zweifel,  daß  die  Vertreter  der  Zentralstaaten 
tüchtiger,  gescheiter  und  vor  allem  ehrlicher  sind  als  die 
Staatsmänner  der  Entente.  Fraglich  ist  nur,  ob  das  Französisch 
und  Englisch,  das  diese  zur  Welt  sprechen,  nicht  besser  ist  als 
das  Deutsch  der  Unsrigen.  Aber  darauf  kommt  es  freilich  nicht 
aR.  Die  Hauptsache  ist  nicht,  daß  die  Sprache,  sondern  daß  die 
Sache  gut  ist,  und  da  drückt  die  tote  Welt  schon  gern  ein 
Auge  zu. 


Der  nüchterne  Burian 

Beim  Personenwechsel  im  Ministerium  des  Äußern,  zu 
dessen  Feier  sich  bekanntlich  der  böhmische  Tenor  Burian  einen 
Rausch  angetrunken  hat,  konnte  nicht  oft  genug  festgestellt 
werden,  daß  der  Nachfolger  des  Grafen  Czernin  ein  anderer  sei. 

Wien,   17.  April. 

Baron  Burian  hat  auch  über  sich  selbst  ein  nüchternes  Urteil. 
Er  sieht  die  eigene  Person,  wie  sie  von  der  Wirklichkeit  sich, 
abhebt  ....  Er  hat  die  Neigung  zur  Gegenständlichkeit  im  Denken 
und  wird  diese  Stimmungen  ohne  Rücksicht  auf  das  eigene  Selbst- 
gefühl   mit  derselben  Pflichtmäßigkeit  und   Erfahrung  prüfen  wie  — 

Mit  einem  Wort,  wie  es  jener  andere  in  dem  Zustand 
gewiß  nicht  vermöchte. 


Der  Ministerwechsel  im  Ministerium  des  Äußern 

.  .  .  Am  späteren  Abend  waren  die  Zimmer  noch  beleuchtet 
und  im  Hause  war  ein  beständiges  Kommen  und  Gehen. 

Das  dürfte  sich  nicht  nur  auf  Burian-Czernin  und  Czernin- 
Burian,  sondern  auch  auf  Burian-Czernin  beziehen. 


24 


Wie  der  Teufel  von  der  Wand  vertrieben  wurde 

....  Hätten  wir  gehandelt,  wie  die  Herren  vom  Polenklub 
■es  heute  verlangen,  so  hätten  wir  nicht  nur  den  ukrainischen  Frieden 
zerschlagen,  wir  hätten  auch  die  zarten  Fäden  zerrissen,  die  vielleicht 
zum  allgemeinen  Frieden  führen  können,  und  die  Stimmen,  die  sich 
zur  Verteidigung  einer  solchen  Regierung  erhoben  hätten,  wären,  wenn 
sich  überhaupt  welche  erhoben  hätten  — 

•(vielleicht  doch) 

verschwunden  unter  dem  brausenden  Orkan  der 
Empörung  aller  österreichischen  Völker.  (Leb- 
hafter, langanhaltender  Beifall  und  Hände- 
klatschen.) 

Also  Seidler.  Auch  Kühlmann  stimmt,  wenngleich  etwas 
gedämpft,  in  die  Anerkennung  der  ausgebliebenen  Revolution  ein: 

....  Die  erdrückende   Mehrheit   des  deutschen  Volkes  hätte 
(zwar  nicht  die  Regierung  erdrückt,  aber  immerhin) 
ein    solches    Vorgehen    nicht     verstanden    und    ein    Vorgehen    unter 
Opferung  des  so  erwünschten  Friedens  aufs  schärfste,  ich  glaube  mit 
Recht,  mißbilligt. 

Aber  wenn  die  Regierungen  schon  so  etwas  zu  denken 
erlauben,  läßt  sich  denn  denken,  daß  sie  etwas  getan  hätten,  was 
solche  Wirkung  hat?  Und  ist  diese  nur  in  einem  Fall  denkbar, 
den's  nicht  gegeben  hat,  so  daß  also  die  von  den  Regierungen 
anerkannte  Folge  zum  Glück  abgewendet  wurde?  Nein,  der  Teufel 
wird  nur  an  die  Wand  der  Vergangenheit  gemalt,  und  wenn  auto- 
kratische Unfehlbarkeit  sich  auf  die  demokratische  Selbst- 
bestimmung stützt,  so  kann  der  Syllogismus  des  lebhaftesten 
Beifalls  sicher  sein.  »Wir  verstehn  uns,  was?  Hinausgeworfen 
hättet  ihr  uns!«  »Bravo!  Dableiben!« 


Vom  Brotfrieden 

....    Es    steht    außer    Zweifel,    daß  die  in  der  Ukraine 
lagernden  Getreidevorräte  unvergleichlich   größer  sind,    als 
das  Quantum,  welches  wir  momentan  transportieren  könnten, 
sagte  Seidler.  Kühlmann,  etwas  gedämpft  und,  da  er  kein  Schrift- 
steller ist,  in  minderm  Deutsch: 

Die  Vorräte  in  der  Ukraine  sind  größer,  als  wir  transportieren 
können. 


25  — 


Es  ist  platterdings  unmöglich,  herauszubringen,  ob  der 
Ton  auf  der  Hoffnung  oder  auf  der  Enttäuschung  liegt.  Da  aber 
immerhin  festzustehen  scheint,  daß,  je  weniger  wir  heraus- 
bekommen, umsomehr  drin  sein  muß,  so  triumphiert  über  die 
Erkenntnis,  daß  es  kein  Getreide  aus  der  Ukraine  gibt,  immerhin 
der  Trost,  daß  es  Getreide  in  der  Ukraine  gibt,  und  das 
Durchhalten  wird  zum  Kinderspiel,  wenn  einen  der  sichere 
Brotfriede  sowohl  für  das  Brot  wie  für  den  Frieden  entschädigt. 


Der  Besten  Einer 

Wahrhaftig,  sage  ich,  wir  würden  schon  an  der  Schwelle  des 
Friedens  stehen,  hätten  vielleicht  schon  den  Krieg  beendigt,  wenn  es 
nicht,  besonders  in  Österreich,  doch  leider  auch  bei  uns  gewissenlose 
Leute  gegeben  hätte,  die  aus  den  Leiden  der  Nation  für  ihre 
elenden  Zwecke  Kapital  schlagen  und  sich  nicht 
schämen,  ihre  Sucht  nach  dem  Frieden  und  nach  dem 
Paktieren  in  einer  Weise  zu  betonen  —   — 

—  —  Wenn  der  Leser  diese  Zeilen  liest,  werde  ich  inmitten 
tapferer,  treuer,  für  ihr  Vaterland  zu  allem  bereiter  ungarischer 
Husaren  sein.  Tisza. 


Aus  der  Kinderstube 

Berlin,  31.  Jänner.  Das  Wolffsche  Büro  meldet  aus  Kopen- 
hagen: In  London  ist  die  Nachricht  vom  Streik  in  Deutschland  mit 
heller  Freude  aufgenommen  worden.  Das  Ereignis  wurde  in 
London  durch  Extrablätter  mit  der  Überschrift  »Der  Zusammen- 
bruch der  Mittelmächte«  bekanntgegeben. 

Da  das  Gegenteil  wahr  ist  und  in  London  der  deutsche 
Streik  nicht  ernst  genommen  wurde,  stellt  sich  die  Situation  in 
der  politischen  Kinderstube  wie  folgt  dar:  Über  den  österreichischen 
Streik  schwieg  Wolfff,  weil  solche  Geschichten  nun  einmal  nicht 
für  Kinder  passen,  für  die  nur  Geschichten  vom  Wolff  passen, 
und  weil,  solange  Soldaten  gespielt  wird,  nicht  Wu-Wu  gemacht 


26  — 


werden  soll.  Als  aber  dann  böse  Beispiele  gute  Sitten  zu  verderben 
drohten  und  der  Lärm  in  der  Nachbarschaft  gehört  werden  konnte, 
rief  die  deutsche  Erzieherin:  »Schämt  ihr  euch  denn  nicht,  da 
seht  doch  man  hin,  wie  sich  die  Miß  nebenan  freut,  die  so  brave 
Jungens  hat,  sie  erzählt  es  ihnen  schon  und  alle  zeigen  mit  dem 
Finger  auf  euch,  da,  guckt  mal,  wie  sie  rübergucken  und 
euch  auslachen.  Seid  man  stille,  damit  ihr  das  Lachen  hören 
könnt  !<  Und  als  es  dann  stille  geworden  war,  hörte  man  von 
drüben  nur  die  Worte:  »So  artig  seid  ihr  doch  nicht  wie  jene!« 
—  und  es  lachte  die  Nachbarschaft. 


Ein  zwiespältiger  Fall 


und  der  Verdacht  war 

nicht  abzuweisen,  drängte  sich  viel- 
mehr geradezu  auf,  daß  es  den 
imperialistischen  Einflüssen  .  . 
gelungen  sei,  den  Willen  zum 
allgemeinen  Frieden  zu  verge- 
waltigen, daß  der  Plan  besteht, 
mit  dem  Sonderfrieden  in  Rußland 
nur  die  erwünschte  Möglichkeit 
zu  gewinnen,  das  Morden  im 
Westen  unter  besseren  Aussichten 
fortzusetzen,  den  Frieden  in 
Rußland  zu  imperialistischen  Er- 
oberungstendenzen nach  dem 
Westen  hin  auszubeuten.  Es  ent- 
stand nicht  bloß  der  Verdacht, 
sondern  diese  Absicht  bestand ; 
und  gegen  sie  richtete  sich  die 
tapfere  Aktion  der  Arbeiter,  und 
wenn  diese  Absicht,  wie  aus  der 
heutigen  Rede  Czernins  zu  folgern 
ist,  nun  aufgegeben  ist, 
so  ist  das  mit  ein  Erfolg  der 
Tat  der  Arbeiter  und  wahrlich  ein 


Graf  Czernin  hat  offen- 
sichtlich das  Bestreben,  seine 
Politik  von  den  deutschen  An- 
nexionsabsichten  zu  scheiden,  und 
er  hat  darüber  auch  einige  wichtige 
Bemerkungen  gemacht.  Ausdrück- 
lich erklärt  er,  daß  er  für  die 
Verteidigung  —  wohlgemerkt:  für 
die  Verteidigung!  —  der  Bundes- 
genossen »bis  zum  Äußersten 
zu  gehen  fest  entschlossen  ist«, 
daß  wir  »den  vorkriegerischen 
Besitzstand«  unserer  Bundes- 
genossen verteidigen  werden  wie 
den  eigenen.  Aber  um  bei  seiner 
Formel  zu  bleiben,  würde  die 
Offensive  im  Westen,  die  nun 
in  der  menschenmörderischesten 
Weise  geplant  ist,  zur  »Verteidi- 
gung Straßburgs«  geführt  werden? 
Die  würde  zu  Eroberungszwecken 
unternommen     werden  I     —     — 


sehr  ersprießlicher  Erfolg.  —  — 

So   wäre  denn   die   aufgegebene  Absicht   schon    in    der 
nächsten  Spalte  geplant  und  der  Erfolg  der  Arbeiterdemonstration 


27 


wie  die  Anerkennung  des  Grafen  Czernin  damit  hinfällig  — 
eine  mehrfache  Wendung,  die  den  Tatsachen  vielleicht  näher 
kommen  dürfte.  Und  selbst  wenn  die  westliche  Offensive  nicht 
zu  Eroberungs-,  sondern  garantiert  zu  Verteidigungszwecken 
unternommen  würde,  sollte  der  östliche  Sonderfriede  ihr  nicht 
auch  dann  frommen?  Wie  können  zugleich  die  Verteidigungs- 
zwecke zugestanden. und  »das  Morden  im  Westen  unter  bessern 
Aussichten«  inhirjJP  sein?  Oder  so:  Die  Eroberungsabsicht 
ist  aufgegeben,  die  Verteidigungsabsicht  bleibt  bestehen,  stellt 
sich  aber  als  Eroberungsabsicht  heraus,  und  die  Handlung  als 
solche,  wie  immer  sie  sich  deklarieren  mag,  ist  nicht  aufgegeben. 
Kurzum,  bei  aller  Sympathie  für  die  Ehrlichkeit,  mit  der  unsere 
Sozialdemokratie  den  Zustand  als  unerträglich  empfindet,  und  für 
Mut  und  Lauterkeit  ihres  publizistischen  Bekenntnisses  —  Politik 
ist  an  und  für  sich  ein  schwerer  Standpunkt,  Politik  im  Krieg 
ein  noch  schwererer,  und  solange  der  Graf  Örindur  nicht  Minister 
des  Äußern  ist,  wird  der  Zwiespalt  der  Natur  unerklärlich  bleiben. 


Wie  hätten  sie  sich  verhalten,  wenn 

Der  Abgeordnete  Dr.  Lodginan  kam  vorige  Woche  in  einer 
Wahlversammlung  in  Aussig  auf  das  Verhältnis  des  Grafen  Stürgkh 
zu  den  deutschen  Forderungen  zu  sprechen  —  —  Er  sei  kurz  vor 
dem  Tode  des  Grafen  Stürgkn  in  die  Lage  gekommen,  mit  dein  Minister- 
präsidenten über  die  Kreisverfassung  in  Böhmen  zu  sprechen  —  — 
Graf  Stürgkh  habe  sich  ihm  gegenüber,  ohne  das  Bewußt- 
sein, eine  Ungeheuerlichkeit  zu  sagen,  folgendermaßen 
geäußert:  »Ja,  die  deutschen  Herren  bezichtigen  die  Tschechen  des 
Hochverrats.  Ich  frage,  wie  hätten  sie  sich  verhalten, 
wenn  wir  gegen  Deutschland  marschiert  wären?« 
Für  den  Grafen  Stürgkh  war  es  eben  keine  naturgemäße  Entwicklung 
der  Jahre  seit  1866,  daß  wir  an  der  Seite  Deutschlands  marschieren 
mußten,  sondern  nur  eine  zufällige  Konstellation. 

Die  , Arbeiter-Zeitung'  zitiert  in  diesem  Zusammenhang 
auch  die  außerordentlich  günstige  Zeugenaussage  des  Grafen 
Stürgkh  im  Prozeß  Kramarz.  Sollte  jenes  Wort  nicht,  über  eine 
Amnestie  hinaus,  zu  einer  Staatsreue  über  das,  was  seit  1914 
gegen  Österreicher  unternommen  wurde,  verpflichten?  So  oft  ich 
jenen    weißpudelbärtigen    Polen    sehe,    der    im    Sommer   1907 


—  28 


das  Weltunheil  bewirkt  hat,  sehe  ich  die  winzige  Quantität  Staats- 
weisheit, die  zwischen  den  Begriffen  Patriotismus  und  Hochverrat 
umschaltet,  und  beziehe  das  Gebrüll  wie  die  Wehklage  von 
Millionen  und  alle  historische  Notwendigkeit,  von  der  all  dies 
hinterdrein  gedeckt  wird,  auf  den  dürftigen  Einzelfall,  mit  dem 
sich  nie  rechnen  und  so  selten  abrechnen  läßt. 


Frage 

Sollte  der  Weltkrieg  nicht  dadurch  entstanden  sein,  daß 
eben  die  Gendarmen,  die  in  Sarajevo  gefehlt  haben,  in  Belgrad 
intervenieren  wollten? 


Haarsträubendes 

Der  deutsche  Botschafter  in  London: 

Nachträglich  erfuhr  ich,  daß  bei  der  entscheidenden  Bespre- 
chung inPotsdam  am  5.  J  ul  i  die  Wiener  Anträgedieunbedingle 
Zustimmung  aller  Persönlichkeiten  fanden,  und  zwar  mit  dem  Zusätze, 
es. werde  auch  nicht  schaden,  wenn  daraus  ein 
Krieg  mit  Rußland  entstehen  sollte.  So  heißt  es 
wenigstens  im  österreichischen  Protokoll,  das  Graf  Mensdorff  in 
London  erhielt. 

Die  Zeitung  : 

Die  Geschichte  von  dem  Telegramm  an  den  Grafen  Mensdorff, 
worin  angeblich  nach  dem  Kriegsrate  in  Potsdam,  der  überhaupt 
nicht  stattgefunden  hat,  dem  Botschafter  von  Wien  mitgeteilt  worden 
wäre,  ein  Krieg  mit  Rußland  würde  nicht  schaden,  ist  so  haar- 
sträubend, daß  es  ganz  unverständlich  bleibt,  wie  Fürst  Lichnowsk  y, 
der  die  Formen  des  Wiener  Ballplatzes  aus  eigener 
F.rfahrung  kennt,  an  solche  Märchen  auch  nur  einen  Augenblick 
glauben  konnte. 

Wenn  der  deutsche  Botschafter  in  London  von  einem 
Protokoll  spricht,  das  der  österreichische  Botschafter  in  London 
erhalten  habe,  so  muß  er  es  gesehen  und  nicht  bloß  davon 
gehört  haben.  Die  Feststellung  der  Wahrheit,  deren  Wesen  die 
Formen  des  Wiener  Ballplatzes  doch  gewiß  nicht  widerstreben, 
wäre  durch  Befragung  des  österreichischen  Kollegen  ermöglicht. 


29  — 


Am  haarsträubendste»  wäre  die  Tatsache,  daß  Deutschland  einen 
Botschafter  in  Uondon  gehabt  hätte,  der  solche  Dinge  behauptet, 
ohne  sie  zu  wissen. 


Die  Sprache  der  Diplomaten 

...  Ich  (Mühion)  war  während  dieser  Zeit  in  Berlin  und 
äußerte  zu  Helfferich,  daß  ich  den  Ton  und  den  Inhalt  des  Ultimatums 
geradezu  ungeheuerlich  finde.  Helfferich  meinte  aber,  das  klinge 
nur  so  in  deutscher  Übersetzung;  er  habe  es  in 
französischer  Sprache  zu  sehen  bekommen  und  da  könne  man 
es    keineswegs    als    übertrieben    empfinden. 

Und  trotzdem  —  auf  der  Basis  des  französischen  Originals 
—  ist  der  Weltkrieg  entstanden!  Im  Deutschen  lügt  man,  wenn 
man  höflich  ist;  und  ganz  besonders,  nachdem  man  unhöflich  war. 


Anweisung  für  den  Frieden 

...  Da  wird  es  nötig  sein,  in  der  Arbeit  die  Beharrlichkeit,  die 
Leidenschaftlichkeit  zu  haben,  die  den  deutschen  Kaufmann  so  groß 
und  in  der  Entente  so  gefürchtet  hat  werden  lassen. 

Damit  noch  einmal  der  Weltkrieg  ausbricht. 


Kein  Geschäft 

Berlin,    14.  April.     (Eigener  Drahtbericht.)     Der    Kriegsbericht- 
erstatter des  » Lokalanzeigers  <  Karl  Rosner 

(Sohn  des  braven  Wiener  Buchhändlers) 

der  die  Erlaubnis  erhielt,  mit  Kaiser  Wilhelm  auf  dem  westlichen 
Kriegsschauplatz  zusammenzukommen,  notiert  in  seinem  heutigen  Be- 
richte folgenden  Vorgang:  Kaiser  Wilhelm,  der  zu  Füßen  der  Höhe 
Gouceaucourt  über  die  ungeheuere  Breite  des  Schlachtfeldes  schaut, 
ruft  mich  zu  sich,  nimmt  mich  amArm  und  sagt:  > Sehen 
Sie,  hier  allein  im  Umkreis  liegen  neun  zerschossene  englische  Tanks; 
damit  haben  die  Engländer  auch  kein  Geschäft 
gemacht.« 


30 


Der  Kriegshetzer 

Lloyd-George: 

...  In  allen  Ländern  sind  die  besten  Köpfe  der  Wissen- 
schaft von  nationalem  Wetteifer,  nationalem  Haß  und  nationalen 
Hoffnungen  angespornt,  ihre  Kräfte  für  zehn,  zwanzig  oder  dreißig 
Jahre  der  Aufgabe  zu  weihen,  die  zerstörenden  Wirkungen 
jener  furchtbaren  Werkzeuge  zu  vergrößern,  deren 
Macht  sich  den  kriegführenden  Völkern  erst  jetzt  innerhalb  der  letzten 
beiden  Monate  erschlossen  hat.  Dem  müssen  wir  ein  für 
allemal  ein  Ende  machen.  —  Lloyd-George  führte  weiter 
aus:  Die  Luftwaffe,  in  ihren  Anfängen  unbedeutend,  und  die 
Waffe  der  Tiefe  sind  außerordentlich  entwickelt  worden,  und  ebenso 
all  die  chemischen  Elemente,  die  zum  erstenmal 
ausgenützt  werden.  Wenn  sich  das  nach  dreißig  Jahren 
wissenschaftlicher  Arbeit  und  Anwendung  wiederholt,  glauben  Sie 
mir,  dann  sind  Männer  und  Frauen  hier  in  dieser  Halle,  die  den  Tod 
der  Zivilisation  mitansehen  werden.  Einem  Streit 
dieser  Art  muß  jetzt  ein  Ende  gesetzt  werden. 
Es  ist  wesentlich  für  die  zukünftige  Wohlfahrt  des 
Menschengeschlechts,  daß  eine  Entscheidung  jetzt  in 
diesem  Kampfe  erreicht  wird,  durch  die  die  rohe  Gewalt 
für  immer  vom  Thron  gestoßen  wird,  damit  unsere 
Kinder  nicht  zu  Furchtbarkeiten  und  Schrecken  verurteilt  seien,  die 
die  lebhafteste  Einbildungskraft  nicht  auszumalen  vermag.  Deshalb 
setzen  wir  alle  unsere  Kraft  darein,  einen  richtigen  Ausgang  dieses 
Streites  jetzt  zu  erzielen. 

Benedikt: 

Wir  glauben  noch  immer  nicht,  daß  die  englische  Nation  solche 
Verderbtheiten    billigen    und    noch   längere  Zeit  ertragen  werde. 


Die    Pflege   der   Wissenschaft   in    der   Anwendung  auf 
das  Leben 

—  —  aber   was   ist  Hindenburg   und    Ludendorff    unmöglich. 
Die  deutsche  Armee  hat  einen  großen  Sieg  errungen. 

Eine  geheimnisvolle  Kanone  schleudert  aus  einer  Entfernung 

von  hundertzwanzig  Kilometern  schwere  Bomben  in  die  Stadt.  Auch 
ein  mutiges  Volk  wird  von  so  vielen  Unheimlichkeiten  verängstigt, 
von  Geschossen,  die  aus  den  Wolken  niederfallen,  von  Nachrichten  über  die 
schreckliche  Wirkung  der  Gase  und  von  der  Sorge  um  die  Angehörigen. 

—  -Hindenburg     und    Ludendorff    sind    das 
Gefäß,    das   diese   nationalen    Vorzüge    in    sich    aufgenommen    hat. 


—  31   — 


Gesiegt  hat  jedoch  auch  die  Pflege  der  Wissenschaft  in 
der  Anwendung  auf  das  Leben.  Die  Kanonen,  die  Paris 
aus  der  Entfernung  von  hundertzwanzig  Kilometer  beschießen,  wären 
ohne  die  Mitarbeit  der  Forscher  an  den  deutschen  Hochschulen,  ohne 
den  Sinn  des  ganzen  deutschen  Volkes  für  industrielle  Macht- 
entfaltung und  ohne  das  innere  Verwachsen  zwischen  Wissenschaft 
und  Wirtschaft  nie  entstanden.  Der  deutsche  Professor  gewinnt  Schlachten 
wie  einst  der  preußische  Lehrer,  und  wieder  kommt  in  Erinnerung 

Die  Pflege  der  deutschen  Wissenschaft  in  der  Anwendung 
auf  das  Leben  von  Pariser  Kirchenbesuchern!  Aber  was  wäre 
diesem  Dreckgehirn  unmöglich?  Hindenburg  und  Ludendorff 
zusammen  ein  Gefäß,  dessen  Inhalt  die  technisch-kapitalistisch- 
jüdisch-preußische Weltanschauung  bildet. 


Nicht  übertrieben 


Graf 

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aller 

Zeiten! 

Der  Siegeslauf 

.  .  .  Die  Truppen  des  General-  .   .  .  Ein  großer  wichtiger  Schritt 

obersten   Grafen  Kirchbach  haben  zur  Herbeiführung  der  Beendigung 

Livland    und  Estland  zur    Unter-  des  Weltkrieges  ist  gemacht  worden 

und     der    rnedensgedanke     wird 

Stützung  der  bedrängten  Bewohner  j „    seinem    Siegeslauf  nicht 

im      Siegeszuge      durch-  mehr  lange  aufzuhalten 

eilt.  sein. 

Aber  doch  noch  eher  als  die  Deutschen.  Und  überhaupt: 
solange  von  einem  Siegeslauf  des  Friedensgedankens  gesprochen 
werden  kann,  solange  der  letzte  terminologische  Rest  dieser  welt- 
strangulierenden Ideologie  nicht  aus  den  Hirnen  gejätet  ist, 
wird  immer  noch  ein  Siegeslauf  deutlicher  in  Erscheinung  treten 
als  ein  Friedensgedanke.  Nichts  bleibt  der  bedrohten  Welt  übrig, 
als   die   Deutschen    in    ihrem    Siegeszuge  weiterlaufen  zu  lassen 


32  — 


und  Spalier  zu  bilden.  Dann  führt  sich  das  Ding  vielleicht 
doch  einmal  ad  absurdum  und  was  am  Ziel  ankommt,  ist  der 
Friedensgedanke. 


Denn  auch  die  Oberste  Heeresleitung  führt  den  Krieg 
nicht  um  des  Krieges  willen 

.  .  .  Wenn  sich  solche  Möglichkeiten  zeigen,  wenn  eine 
ernste  Friedensneigung  auf  der  anderen  Seite  hervortritt,  dann  werden 
wir  sofort  darauf  eingehen,  das  heißt  wir  werden  sie  nicht 
zurückstoßen,  wir  werden  zunächst  in  kleinem  Kreise 
sprechen.  Ich  kann  Ihnen  auch  sagen,  daß  dieser  Standpunkt  nicht 
etwa  nur  mein  Standpunkt  ist,  sondern  daß  dieser  Standpunkt  auch 
von  der  Obersten  Heeresleitung  ausdrücklich  geteilt 
wird.  Denn  auch  die  Oberste  Heeresleitung  führt 
den  Krieg  nicht  um  des  Krieges  willen,  sondern  auch 
die  Oberste  Heeresleitung  hat  mir  gesagt,  sobald  sich  ein 
ernster  Friedenswille  auf  der  anderen  Seite  bemerkbar  macht,  müssen 
wir  der  Sache  nachgehen. 

Nein,  so  was!  »Die  Sache«,  die  »im  Westen  gemacht  wird«, 
sollte  also  nicht  der  Sieg,  sondern  der  Friede  sein  ? 


Was    ist    der    Unterschied    zwischen    Kühlmann    und 
Czernin? 

Kühlmann,  der  Inkonsequente,  zieht  eine  Rede  durch  eine 
andere  Rede  zurück.  Czernin  durch  dieselbe! 


Die  Kombination 

Wenn  er  so  fortfährt,  der  Graf  Czernin,  so  wird  er  wohl  keinen 
mehr  verführen 

schließt    nach    Erörterung    eines    Czemin-Stückels,     der    Bot- 
schaft an  den  König  von  Rumänien,  die  Arbeiter-Zeitung,  die  ihn 


33  — 


»eine  Kombination  von  Metternich  und  Wilson«  nennt.  Man 
könnte  ihn  sogar  auch  eine  Kombination  von  Macchiavelli  und 
Kant  nennen,  aber  ich  habe  ihn  längst  als  eine  Kombination 
von  mehr  papiernen  Kräften  erkannt:  er  ist  ein  Zeitungs- 
blatt, durch  das  in  der  Mitte  ein  Strich  läuft,  oben  ein  deutsch- 
treuer Leitartikel  in  unverläßlichem  Deutsch,  unten  ein  Feuilleton 
von  einem  weltbürgerlichen  Kommis  —  den  Strich  entlang  die 
Prostitution  von  allem.  Die  Kombination  von  allem;  kein 
Charakter,  sondern  eine  Kombination.  Ich  halte  ihn  für  den 
zweideutigsten  Typus  unserer  ganzen  Publizität,  dessen  Geschick- 
lichkeit aber  bei  weitem  nicht  hinreichen  würde,  einen  französischen 
Zeitungsleser  zu  düpieren.  Daß  er  erst  fortfahren  muß,  um 
endlich  auch  keinen  Menschen  in  Österreich  mehr  zu  verführen, 
vermehrt  die  ganze  Hoffnungslosigkeit  unseres  Lebens.  Spät  genug 
haben  die  paar  rechtlichen  Leute,  die  es  hierzulande  gibt,  viel 
zu  spät  nach  der  Selbstenthüllung,  mit  der  der  Graf  Czernin 
ihnen  zuvorkam-,  haben  sie  eine  Individualität  erkannt,  deren 
Reiz  nichts  als  ein  standeswidriges  Talent  war,  dessen  Mangel 
den  Durchschnittsaristokraten  adelt,  einen  Menschen,  der  in 
keinem  verantwortlichen  Augenblick  seines  Daseins,  von  einer 
gesunden  Friedensrede  bis  zu  einem  bresthaften  Frieden,  ein 
Charakter  war,  aber  in  jedem  eine  Kombination. 


Czernins  Bruder 

ist  auch  nicht  ohne: 

—  —  bereit,  die  versöhnende  Hand  auszustrecken,  sobald  sich 
drüben  die  Vernunft  und  das  Bewußtsein  Bahn  bricht,  daß  es  höhere 
Ideale  gibt  als  schnöde  Eroberungsgier.  Das  letzte 
Jahr  war  reich  an  Ereignissen  und  Erfolgen.  Es  brachte  uns  die 
Friedensschlüsse  von  Brest-Litowsk  und  Bukarest,  die 
großen  Siege  in  Italien    —   —  Zar  Ferdinand  hurra! 


34 


So  siehste  aus 

...  In  dem  Augenblicke  trat  Staatssekretär  v.  Hintze  in  den 
Saal,  eine  schlanke,  sehr  sympathische  Erscheinung,  die  ganz  den 
Eindruck  eines  Diplomaten  macht. 

Hierauf  hielt  Staatssekretär  v.  Hintze  eine  längere 
Rede,  in  der  er  dieBedeutungderPressehervorhob 
und  Mitteilungen  über  den  Verlauf  der  Wiener  Besprechungen 
machte. 


Hintze 

Auch  in  den  Reichen  einer  vollkommenen  geistigen  Unter- 
ernährung, die,  selbst  zum  Anspruch  zu  schwach,  sich  noch  im 
fünften  Jahr  mit  Gedanken  wie  »Schulter  an  Schulter«  und 
»Durchhalten«  abgefunden  sieht,  muß  das  Niveau  dieses  Herrn 
v.  Hintze  Verwunderung  erregen.  In  einer  Rede,  die  die 
Neue  Freie  Presse  »formvollendet«  nennt  und  in  der  er  sich 
»als  treuer  Anhänger  des  Bündnisses  bekannt«  habe  —  man 
hatte  offenbar  erwartet,  daß  der  deutsche  Staatssekretär  in  Wien 
für  den  Abfall  Österreichs  agitieren  werde  — -,  ist  es  ihm  schier 
gelungen,  die  unterste  Grenze  der  Möglichkeiten  zu  erreichen, 
innerhalb  deren  sich  eine  von  keiner  Weltrealität  eingeschüchterte 
Fibelmechanik  auslebt. 

Der  Staatssekretär  wies  auf  die  hohe  Bedeutung  der  Presse 
als  einen  wichtigen  Faktor  des  öffentlichen  Lebens  hin,  welche  i  m 
Verein  mit  der  Armee  im  Felde  der  Diplomatie  den 
Verteidigungskrieg  gegen  die  Entente  mit  gewinnen  helfen  müsse. 

Diese  Charakterisierung  der  Gedanken  des  Herrn  v.  Hintze, 
in  der  die  Armee  und  die  mit  dem  opfervolleren  Teil  der  Auf- 
gabe betraute  Presse  als  die  unterstützenden  Faktoren  der 
Diplomatie  erscheinen,  ist  des  geistigen  Gehalts  der  Rede 
keineswegs  unwürdig.  Doch  muß  man,  um  Hintze  zu  erfassen, 
ihn  selbst  hören.  Darum  sei  für  alle  Zeiten,  denen  das  heutige 
fragwürdige  Papier  eine  Kenntnis  der  unsern  ermöglichen  wird, 
bewahrt,  was  im  fünften  Kriegsjahr  in  deutscher  Sprache,  aus 
dem  Munde  eines   Lenkers    deutscher   Geschicke,   möglich   war. 


—  35 


Nachdem  Hintze  erklärt  hatte,  daß  er  in  der  Presse  »einen  so 
wichtigen  Faktor  des  öffentlichen  Lebens«  sehe  und  »eine 
seiner  wichtigsten  Aufgaben«  das  Bestreben  sei,  alles  zu 
unterstützen,  was  uns  einem  ehrenvollen  Frieden  näher  bringen 
kann,  wobei  natürlich  »die  Waffen  des  Geistes  eine  einflußreiche 
Rolle  spielen,  die  ebenso  wichtig  ist  wie  die  der  Waffen  im 
Felde  und  der  Diplomatie*,  sagte  er  wörtlich: 

Nicht  zum  erstenmal  komme  ich  nach  Wien.  Immer  wieder 
packt  mich  die  Wucht  der  Vergangenheit  der  österreichisch- 
ungarischen Monarchie,  ihre  Glorie  und  Ruhm,  die  in  den 
ehrwürdigen  Bauten  und  Denkmälern  in  Wien  ihren  Ausdruck 
finden. 

Ohne  die  Wucht  der  Zukunft  der  Monarchie  speziell  zu 
berühren,   machte   er  hierauf   der   Gegenwart   ein  Kompliment: 

Ich  habe  mich  an  den  regen  Wiener  Straßen- 
bildern gefreut  und  mit  besonderer  Freude  ersehen,  daß  es  dem 
Optimismus  des  Wieners  gelungen  ist,  diese  vier  schweren  Kriegsjahre 
so  gut  zu  überstehen. 

Wie  rege  es  auf  der  Ankunftseite  des  Nordwestbahnhofs 
aussieht,  weiß  ich  nicht  genau;  auf  der  Abfahrtseite  dürfte 
Hintze,  selbst  auf  dem  kurzen  Weg  zum  Salonwagen,  schon 
einige  Eindrücke  von  dem  optimistischen  Leben  und  Treiben 
der  Wiener  bekommen  haben. 

Es  muß  ein  starkes  Quantum  an  Vertrauen 
vorhanden  sein,  um  — 

Um  zu  glauben,  daß  —  ?  Nein: 
um  unser  Ziel  bald  zu  erreichen. 

Aber  zur  Erreichung  eines  Zieles  braucht  man  kein  Ver- 
trauen; nur  zum  Glauben  an  die  Erreichung  eines  Ziels.  Der 
Satz  beginnt  gut,  verhaspelt  sich  dann  aber. 

Wenn  sich  auch  zuweilen  zweifelnde  Stimmen  dagegen  erhoben 
haben,  so  habe  ich  mich  durch  eigenen  Augenschein 
davon  überzeugt,  daß  solchen  Meinungen  kein  Gewicht 
beizulegen  ist. 

Wie  Hintze   diesen  Augenschein   vorgenommen  hat,  sagt 

er  nicht,  dagegen  sagt  er  von  den  Journalisten,  daß  sie  »als  die 

Schreiber  der  täglichen  Eindrücke«  berufen  seien, 

das  Zusammenschmelzen  und  die  Harmonie  unserer  Völker 
zu  fördern. 


36  — 


Das  wurde  noch  in  Sperrdruck  gebracht.  Ob  es  je  mit 
der  Harmonie  gelungen  ist,  bleibe  dahingestellt;  das  Zusammen- 
schmelzen der  Völker  ist  der  Presse  als  einem  so  wichtigen 
Faktor  in  der  Kriegführung  zweifellos  geglückt.  Aber  diese 
Aufgabe  sei  nicht  immer  leicht,  meint  Hintze,  »wenn  die 
Nachrichten  nicht  von  Triumph  und  Lorbeeren  melden«: 

Wenn  wir  manchmal  auf  diese  verzichten  und  aus  strategischen 
Gründen  eine  taktische  Rückverlegung  der  Truppen  vornehmen  müssen,  so 

hat    das,   wie   man   ja    längst   weiß,   gar   nichts  zu    bedeuten. 
Es  können  nicht  immer  Lorbeeren  blühen,  oder  auch  so: 

Es  können  nicht  immer  Rosen  blühen.  Der  Krieg  ist  kein  Rosen- 
garten, in  dem  man  spazieren  geht;  wenn  man  Rosen  pflücken  will, 
muß  man  auch  einen  Dornenstich  gewärtigen. 

Demnach  scheint  der  Krieg,  da  bekanntlich  keine  Dornen 
ohne  Rosen,  doch  ein  Rosengarten  zu  sein.  Wo  sollten  denn 
sonst  auf  einmal  die  Dornen  herkommen?  Es  wäre  denn,  daß  man 
ihn  einem  Dornengarten  vergleichen  wollte.  Hier  ist  das  Malheur 
passiert,  daß  zwei  notorische  Eigenschaften  der  Rose:  Dornen  zu 
haben  undangenehm  zusein,  Schulter  an  Schulter  aneinandergeraten 
sind.  Aber  das  hat,  wie  man  ja  längst  weiß,  gar  nichts  zu 
bedeuten.  Es  führt  irgendwie  zum  Sprichwort:  Keine  Presse  ohne 
Zensur.  Versteht  sich,  in  den  feindlichen  Staaten.  Bei  uns  gibt's 
so  was  nicht: 

Wir  in  Deutschland  und  Österreich-Ungarn  halten  an 
einer  freien  Presse  selbst  unter  dem  Zwange  des  Krieges  fest. 

Was  zum  Beispiel  der  Fall  der  Arbeiter-Zeitung  anläßlich 
der  Besprechung   dieses  Hintze-Wortes   dartut.    Wir   sind  ganz 
andere  Kerle.  Bei  unseren  Gegnern  dagegen 
stehen  die  Journalisten  unter  der  Kontrolle  des  Staates. 

Man  denke.  Und  nicht  nur  unter  der  Kontrolle,  was  man 
so  unter  Kontrolle  versteht,  sondern  es  kommt  noch  doller,  die 
halten  gleich  die  freie  Presse  selbst  fest: 

Ein  Zeitungsschreiber,  der  nicht  die  Regierungsstimmen  vertritt, 
wandert  bei  ihnen  einfach  ins  Zuchthaus. 

Was  zum  Beispiel  die  Kritik  unfähiger  Generale  durch 
die  englischen  und  französischen  Zeitungsschreiber  tagtäglich 
beweist.   Wahrscheinlich   werden  sie  alle  am  Abend  eingesperrt. 


37 


Das  aber  widerstrebt  unserer  Auffassung.  Solche  Maßnahmen 
sind  für  andere  Länder,  aber  nicht  für  uns 
Deutsche.  Es  ist  besser,  daß  Regierung  und  Presse  miteinander 
arbeiten. 

So  daß,  wenn  die  Zeitungsschreiber  die  Regierungsstimmen 
vertreten,  dann  viceversa  auch  die  Regierung  die  Preßstimmen 
zur  Geltung  kommen  läßt. 

Dies  sage  ich  nicht,  um  Wohlwollen  zu  erringen,  sondern 
es  ist  meine  innerste  Überzeugung.  Ein  Zusammen- 
arbeiten kann  ungemein  nützen,  ein  Gegenüberstehen 
ungemein  schaden. 

Und  wie  zwischen  Regierung  und  Presse,  so  auch  zwischen 
den  verbündeten  Staaten. 

Durch  Opfer,  Leiden  und  Triumphe  unauflöslich  aneinander 
gekettet,  wird  sich  unser  Schicksal  gemeinsam  erfüllen. 

Diese  Nuance  des  Schulter  an  Schulter,  die  scheinbar 
eine  Erschwerung  ist,  in  Wahrheit  aber  eine  Vertiefung,  ist  ein 
Gedanke,  durch  den  sich  Hintze  von  seinen  Vorgängern 
unterscheidet.  Hintze  ist  neuerungssüchtig,  aber  er  geht  aufs 
Ganze  und  verpönt  die  Surrogate: 

Wenn  ich  meine  Eindrücke  zusammenfasse,  so  muß  ich  sagen: 
Unser  Bündnis  ist  ein  wirkliches  »Bündnis«.  .  Ich  gebrauche  ausdrücklich 
das  Wort  > Bündnis«  ohne  jeden  Zusatz.  Irgendein  adjektivisches 
Beiwort  würde  den  Begriff  nur  abschwächen  können. 

Ohne  zu  wissen,  ob  nicht  unter  seinen  Hörern  leiden- 
schaftliche Anhänger  von  adjektivischen  Beiwörtern  seien,  bat 
Hintze  sie,  »diese  Auffassung  ein  Echo  in  der  hiesigen  Presse 
finden  zu  lassen«.  Am  gleichen  Tage  empfing  er  einen,  der 
für  spanische  Blätter  korrespondiert,  aber  Gaiger  heißt,  und 
unterhielt  sich  mit  ihm  in  zwanglosem,  jedoch  spanischem 
Gespräche.  Auf  deutsch  lautet  eine  Stelle: 

Es  ist  richtig,  daß  die  Note  Spaniens  diesmal  einige  Härten 
enthielt;  wir  glaubten  jedoch  darüber  schon  aus  dem  Grunde 
hinweggehen  zu  können,  weil  Spanien  im  Kriege  sich  unserer  Lands- 
leute über  See  in  wärmster  Weise  angenommen  und  w  i  r  Spanien 
dafür  dankbar  sind.  Diese  Dankbarkeit,  bekanntlich  ein  echt 
deutscher  Charakterzug,  beeinflußt  auch  unser  politisches 
Verhalten. 


—  38 


Sie  war  zwar  nicht  imstande,  das  Verhalten  gegenüber  den 
spanischen  Landsleuten  unter  See  zu  beeinflussen,  deren  sich 
Deutschland  im  Kriege  irgendwie  angenommen  hat,  aber  die 
Hoffnung  besteht,  daß  Spanien  sich  eben  dafür  dankbar  zeigen, 
also  bekanntlich  einen  echt  deutschen  Charakterzug  zur  Geltung 
bringen  wird.  Nun,  wie  immer  es  ausgehen  mag,  dieser  Hintze 
wäre  besser  zu  vermeiden  gewesen.  In  so  ernsten  Zeiten  ist 
es  geraten,  einer  ganzen  mißgünstigen  Welt  nicht  Persönlich- 
keiten gegenüberzustellen,  die  sich  kaum  an  der  dürftigsten  Kon- 
versation im  deutschen  Heim  beteiligen  könnten.  Der  neue 
deutsche  Staatssekretär  ist  ein  Mann,  der  uns  nicht  nur  zum 
Stolz  auf  unsere  Vergangenheit,  sondern  auch  zum  Stolz  auf 
unsern  Seidler  ein  Recht  gibt,  ja  zu  dem  Übermut,  den  Burian 
für  ein  Genie  zu  halten. 


Aber,  aber! 

Burian  hat  dem  Chefredakteur  des  .Fremdenblatt'  eine 
Mitteilung  gemacht: 

Das  »deutsche  Joche  ist  für  Österreich-Ungarn  das  Joch  der 
beiderseitigen  felsenfesten  Freundschaft  und  vollen  Rücksichtnahme 
auf  die  Interessen  beider  Teile.  Anders  wäre  das  Verhältnis  zwischen 
Österreich-Ungarn  und  Deutschland  nicht  einen  Augenblick  möglich. 
Muß  man  denn  noch  immer  das  oft  gehörte  Wort  zitieren  : 

Nur  die  allefdümmsten  Kälber 
Wählen  ihre  Schlächter  selber. 

Nein,  man  hätte  nicht  müssen.  • 


39 


Auf  hoher  See 

»Wie  wir  uns  der  Welle  entgegenstemmen  müssen« 
rief   einst  der  Kapitän  Seidler,   als   er  auf   hoher  See   um  die 
Rettung  eines  Budgetprovisoriums  rang 

»welche,  aus  dem  Nordosten  heranrollend,  schon  den  Boden 
unserer  wirtschaftlichen  Kultur  bedroht,  können  wir  uns  ander- 
seits nicht  dem  Gedanken  verschließen  —  « 

Da  ich  das  Gefühl  hatte,  daß  es  schon  kein  Gedanke 
sein  werde,  verschloß  ich  mich  der  weiteren  Lektüre  und  dachte 
darüber  nach,  wie  es  denn  komme,  daß  so  viele  tüchtige  Männer 
unseres  öffentlichen  Lebens  zwar  Karriere  gemacht,  aber  den 
Beruf  verfehlt  haben.  Während  unser  Czernin  heute  sicher 
den  Brotfrieden  darum  gäbe,  wenn  er,  anstatt  ihn  zu  schließen, 
•  berufen  gewesen  wäre,  ihn  in  einer  Sonntagsplauderei  zu 
besprechen,  trauert  unser  Seidler  einer  versunkenen  Hoffnung 
seiner  Jugendtage  nach,  die  ihm  ein  noch  weiteres  Gebiet 
eröffnet  hätte,  nämlich  nicht  die  Freie  Presse,  sondern  das 
freie  Meer.  Im  Ernst,  Seidler,  der  von  außen  als  eine  der 
drolligsten  Gestalten  der  Weltgeschichte  erscheint  und  im 
tiefsten  Grunde  seines  Seelenlebens  eine  tragische  Figur  ist, 
muß  in  seiner  Kindheit  von  dem  stürmischen  Wunsche  durchwogt 
gewesen  sein,  Matrose  zu  werden.  Man  kann  es  unschwer  daraus 
schließen,  daß  ihm  von  allen  Phrasengebieten  keines  so  zugäng- 
lich ist  wie  jenes,  auf  dem  die  Vergleiche  aus  dem  Marineleben 
wachsen.  Wenn  er  nur  den  Mund  aufmacht,  so  kann  man,  topp,  darauf 
wetten,  daß  der  in  das  schwankende  Staatsleben  verschlagene  See- 
mann zum  Vorschein  kommen  wird.  Eine  alte  Teerjacke,  dieser 
Seidler,  hei!  Weiß  Gott,  keine  Landratte!  In  dem  Moment,  als 
er  ins  Kabinett  eintrat,  wußte  er  auch  schon,  daß  es  eine  Kajüte 
sei.  Da  er  aber  nun  einmal  ans  Ruder  gelangt  war,  ging  er 
sofort  auf  Deck,   rief   alle  Mann  an  Bord  und   nun  galt  es,  das 


40 


Staatsschiff  mit  fester  Hand,  eh  schon  wissen.  Im  Parlament 
freilich  hatte  er  nicht  so  sehr  das  Gefühl,  das  Staatsschiff  in 
den  sicheren  Hafen  gebracht  zu  haben,  sondern  dünkte  ihm 
vielmehr,  daß  die  Regierungsbank  eine  Sandbank  sei,  auf  der  er 
aufgefahren  war  und  nun  festsaß.  Dieses  Festsitzen  war  ihm  aber 
eine  solche  Passion,  daß  er  geradezu  der  Meinung  war,  den 
Passagieren  (sprich:  Passascheren)  sei  es  um  nichts  anderes  zu 
tun  und  wenn  sie  sich  trotzdem  beklagten  und  ihrerseits  der 
Meinung  waren,  das  Ziel  der  Fahrt  sei  denn  doch  ein  anderes 
und  der  dauernde  Ruhestand  wäre  eigentlich  nicht  auf  der 
Sandbank,  sondern  wo  anders  zu  suchen,  damit  nämlich  nicht 
die  ganze  Schiffahrt  zu  dauerndem  Ruhestand  verurteilt  sei,  so 
war  er  um  eine  Antwort  nicht  verlegen,  in  der  nebst  der  alten 
seemännischen  Tüchtigkeit  auch  die  Kenntnis  der  neueren 
Methoden  der  maritimen  Kriegführung  bemerkbar  wurde: 

.  .  .  Geben  Sie  mir  freies  Meer,  dann  werden  Sie  leicht 
erkennen,  daß  ich  zu  fahren  vermag;  aber  es  ist  das  Schicksal 
dieser  Regierung,  daß  sie  in  den  Sturm,  unter  Klippen  politischer 
Natur,  ja  geradezu  zwischen  Minenfelder  geworfen  worden  ist .  .  . 

So  daß  also  die  Sandbank  noch  die  einzige  Rettung  für. 
Mann  und  Maus  wäre.  In  Wahrheit  jedoch  kann  der  Kapitän 
noch  von  Glück  sagen,  daß  auch  die  Minenfelder  gleich  den 
Klippen,  von  denen  es  ja  ausdrücklich  zugegeben  ist,  politischer 
Natur  sind,  nicht  so  sehr  ein  Erlebnis  als  ein  Ornament.  Man 
stelle  sich,  wenns  anders  wäre,  den  Herrn  Seidler  vor.  Natürlich 
würde  ich,  wenn  ich  auf  der  kommenden  Friedenskonferenz 
mein  Selbstbestimmungsrecht  durchsetzen  könnte,  mich  nicht  von 
einem  Herrn  regieren  lassen,  der,  ganz  abgesehen  davon,  daß 
erzwischen  den  diesbezüglichen  Minenfeldern  gefährliche  Theater- 
stücke schreibt  und  sie  nicht  verbietet,  sondern  aufführen  läßt, 
eine  Redensart  in  einem  Moment  gebraucht,  in  welchem  un- 
blutiger Inhalt  so  vielfach  lebendig  wurde.  Denn  gewiß  würden 
die,  denen  es  geschah,  nie  auch  nur  annähernd  so  pathetisch 
davon  zu  sprechen  wagen  wie  so  ein  nach  allen  Windrichtungen 
verbindlicher  Bureaukapitän,  der  von  sich  behauptet,  er  hätte 
»trotzdem  den  Kurs  eingehalten«.  Man  müßte  den  Weltkrieg 
wirklich  von  vorn  anfangen,  wenn  man  ihn  überstanden  haben 


—  41 


sollte,  ohne  wenigstens  von  einem  geistigen  Typus  befreit  zu 
sein,  der  sich  nur  durch  den  Rettungsgürtel  der  schäbigsten 
Schablone  über  Wasser  halten  kann.  Es  hat  mir  nie  eingehen 
wollen,  daß  so  etwas  eine  »Regierung«  sein  könne  und  daß 
einer  in  der  Lage  sein  soll,  mir  das  Maß  von  Freiheit  und 
anderen  Lebensmitteln  zu  bestimmen,  mit  dem  ich  keine  zwei 
Worte  zu  sprechen  imstande  wäre.  Man  kann  es  einem  intelligenten 
Abgeordneten  schon  nachfühlen,  daß  es  ihn  eine  ziemliche 
Überwindung  kosten  muß,  vor  einer  solchen  Autorität  erst 
umständlich  zu  begründen,  warum  man  ihr  das  Vertrauen  ver- 
weigere. Als  Seidler  wieder  einmal  um  die  Rettung  des  Budget- 
provisoriums rang,  spürte  er  den  Hohn  nicht,  mit  dem  ein 
Sozialdemokrat  zur  hohen  Sandbank  hinaufrief: 

Wenn  die  Regierung  das  Staatsschiff  vor  den  Klippen 
retten  will,  muß  sie  es  hinausführen  auf  die  hohe  See  großer 
sozialer  und  politischer  Reformen. 

Seidler  schwamm  in  Seligkeit,  weil  ihm  die  Sphäre,  in 
der  er  sich  heimisch  fühlt,  selbst  von  der  Opposition  zuerkannt 
war.  Ich  lasse  mich  aber  hängen  —  und  wär's  vom  König  oder 
vom  Peutelschmied  — ,  wenn  er  nicht  damals,  als  er  die  Depu- 
tation der  deutschen  Mannen  vor  den  -Thron  führte  und  dabei 
stand,  als  der  Herr  Ornik  aus  Pettau  die  Worte  ausrief: 

Majestät!  Wir  litten  inständigst,  durch  den  Steuer- 
mann des  Staates  auch  ohne  Parlament  die  Staats- 
notwendigkeiten zu  prüfen  — 

—  wenn  er  nicht  damals  Autorfreuden  erlebt  hat.  Ich  habe 
Wilhelm  Engelhardts  Dichtung  > Durch  Feuer  und  Eisen«  nicht 
gelesen,  aber  ich  möchte  wetten,  daß  das  Pathos  ihrer  kriegs- 
tüchtigen Sprache  von  Seeluft  geschwellt  ist.  Wie  aber,  frage  ich, 
kommt  ein  solcher  Genius  dazu,  die  erste  Rangsklasse  im  Staat 
innezuhaben?  Muß  ich  mich  schon  von  einem  Volkstheaterautor 
regieren  lassen,  dann  lieber  gleich  vom  Hermann  Bahr!  Der 
schwätzt  doch  was  vom  neuen  Österreich  und  der  Lebensabend 
vergeht  uns  wie  geschmiert.  Aber  so  ein  Musterknabe,  der  im 
Matrosenanzug  Karriere  gemacht  hat  und  sich  im  Kabinett  wie 
in  der  Kajüte  und  in  dieser  wie  in  der  Kinderstube  bewegt, 
ist   nicht   mein   Fall.    Ich   weiß   es  positiv:   Als   man  ihn  einst 


42 


fragte:  Ernst],  was  willst  du  werden?,  rief  er:  Tapitän!  Als  es 
dann  Ernst  wurde  und  man  ihn  fragte:  Was  bist  du?,  rief  er: 
Tapitän!!  Und  als  es  noch  ernster  wurde  und  man  ihn  fragte: 
Was  willst  du  bleiben?,  rief  er:  Tapitän!!!  Des  freuten  sich  die 
Ratten,  ehe  sie  das  sinkende  Schiff  verließen. 

Postscr  i  pt  u  m.  Es  ist  ein  eigenes  Verhängnis,  daß 
die  Feuilletonisten  unseres  Chaos  und  die  Admirale  unseres 
Festlands  die  Feder  schon  hingelegt  haben,  beziehungsweise 
nicht  mehr  am  Ruder  sind,  wenn  meine  Würdigung  vor  den 
Leser  kommt,  so  daß  es  den  Anschein  hat,  sie  wäre  schon  als 
Nachruf  geschrieben.  Das  ist  aber  nur  insoferne  richtig,  als  alles 
was  ich  schreibe,  irgendwie  zum  Nachruf  taugt.  Seidler  — 
ein  Hintze,  der  seinen  Beruf  verfehlt  hat  und,  wenn's  noch 
eine  Gerechtigkeit  gibt,  einmal  das  Marinekommando  erhalten 
wird,  das  jener  abgelegt  hat  —  Seidler  beteuerte  noch,  daß  er 
»den  deutschen  Kurs  einhalten«  wolle,  und  schon  glaubte  man, 
Unterseeboote  wären  ihm  zu  Hilfe  gekommen,  oder  die  Direktion 
habe  die  Preisgabe  des  Schiffes  beschlossen,  um  das  kostbare 
Leben  des  Kapitäns  zu  retten.  Da  kam  es  im  letzten  Augen- 
blick doch  anders.  Ein  westlicher  Wind  brachte  die  Ent- 
schließung. Die  ganze  Fahrt  mit  ihren  ernsthaften  Gefahren 
war  ein  Gspaß  gewesen,  eine  Amerikareise  des  Männerge- 
sangvereins. Da  aber  eben  Amerika  es  war,  das  uns  wegen 
der  seinerzeitigen  Landung  des  Männergesangvereins  den  Krieg 
erklärt  hat,  so  wurden  wir  doch  stutzig  und  entschlossen  uns, 
lieber  Mann  und  Maus  zu  retten  und  den  Kapitän,  der  sich  ans 
Ruder  klammerte,  über  Bord  zu  werfen,  auf  die  Gefahr  hin, 
daß  die  Haifische  seekrank  werden  und  den  Delphinen  das 
Singen  vergeht.    ' 


—  43 


Inschriften 


Orakel 

»Sag  an, 

wer  wird  in  diesen  Kriegen 

unterliegen?« 

»Der  tapfere  Mann.« 

>Der  kann  nur  siegen!« 

»Wohlan ! 

Weil  er  nur  siegen  kann.« 


Vorsicht! 

Die  feindliehen  Tröpfe 

zerbrachen  sich  die  Köpfe, 

um  Lügen  auszuhecken. 

Wir  wissen,  was  wahr  ist, 

die  größere  Gefahr  ist, 

daß  sie  unsre  Wahrheiten  entdecken. 


Feindliche  Propaganda 

Gerüchte  und  Lügen  sind  abgeprallt 
an  unsrem  Ehrenschilde. 
Wer  uns  so  schwarz  in  schwarz  gemalt, 
der  traf  sich  selber  im  Bilde. 

Nun  haben  sie  erst  unsre  Ehre  verletzt, 
uns  gereizt  wie  mit  rotem  Tuche. 
Denn  deutsche  Wahrheit  ward  übersetzt 
aus  dem  deutschen  Fliegerbuche. 


M 


Hurra! 

Kein  größres  Glück  kann  einem  Sieger  widerfahren, 

als  wenn  er  sich  zurückzieht,  zum  Verdruß 

des  Feinds.  Der  fühlt  sein  ganzes  Ungemach. 

Er  folgt  enttäuscht  und  zögernd  nach, 

und  während  er  den  Sieger  suchen  muß, 

kann  der  die  Kräfte  für  den  nächsten  Rückzug  sparen. 


Verzicht 

Laßt  uns  nach  der  Ehre  streben, 
Sieg  sei  unser  täglich  Brot. 
Unerschwinglich  ist  das  Leben 
und  umsonst  ist  nur  der  Tod. 


Wien  im  Krieg 

Im  allergemütlichsten  Frieden 

zur  Not  zusammen  ging's. 

Der  Wachmann  am  Weg  auf  die  Wieden 

der  mahnte  und  bat:  Bitte  links! 

Zu  unserem  Seelenheile 
brauchten  wir  keine  Disziplin. 
Wir  waren  im  Gegenteile 
die  Bewohner  der  Hauptstadt  Wien. 

Im  Schlendern  und  Spazieren 
haben  wir  vom  Weg  uns  entfernt. 
Nun  mußten  wir  marschieren, 
noch  ehe  wir  gehen  gelernt. 


—  45 


Ein  Mord  im  Weltkrieg 

Wenn  in  einem  Ringstraßenhotel  ein  Mord 
geschieht,  so  sind  folgende  Begleiterscheinungen 
zu  beobachten.  Die  Straße  liegt  im  strahlenden 
Sonnenlicht  da,  vor  dem  Hotel  jedoch  brechen  sich 
die  Wellen  des  Menschenstroms.  Warum  sie  das  tun, 
ist  rätselhaft,  aber  es  ist  so.  Plaudernd,  lachend, 
flirtend  drängen  sich  die  Korsobesucher  aneinander 
vorüber.  Sie  ahnen  natürlich  gar  nichts.  Denn  wenn 
sie  was  ahneten,  würden  sie  ja  die  Polizei  ver- 
ständigen, die  arme  Kammerfrau  Earl  dort  oben  retten 
und  den  Emo  Davit  entlarven.  In  den  bequemen, 
eleganten  Korbstühlen  in  der  Hoteleinfahrt  sitzen 
vornehme  Fremde,  aus  Brunn,  vielleicht  gar  aus 
Pest,  denn  die  Bagasch  aus  Paris  und  London  kann 
jetzt  leider  nicht  kommen.  Daß  die  Korbstühle 
bequem  und  elegant  sind,  versteht  sich  bei  einem 
erstklassigen  Hotel  von  selbst,  muß  aber  doch  in 
Anbetracht  der  Mißgunst  der  Entente  erwähnt 
werden.  Was  tun  die  vornehmen  Fremden?  Sie 
betrachten  selbstredend  das  Straßenbild.  Welches 
Straßenbild?  No,  das  sich  ihnen  darbietet,  nach- 
laufen wem  sie  ihm !  Wie  ist  das  Straßenbild  ? 
Eines  der  schönsten,  der  farbenreichsten,  der  groß- 
städtischesten, das  (nicht:  die)  Wien  aufzuweisen 
vermag.  Und  zur  selben  Stunde?  Spielt  sich  oben 
im  Hotel  ein  furchtbarer  Kampf  auf  Leben  und  Tod 
ab,  ein  Kampf  zwischen  dem  Mörder  und  seinem 
Opfer.  Also  ein  Nahkampf,  in  jeglicher  Hinsicht.  Was 
sich  sonst  noch  irgendwo  in  weiterer  Entfernung 
von  den  plaudernden,  lachenden,  flirtenden  Wienern 
und  den  sie  betrachtenden  Fremden  abspielt, 
tut  nichts  zur  Sache  und  steht  im  Generalstabs- 
bericht,   zusammengefaßt    in    den    Worten:     Nichts 


—  46 


Neues.  Würde  aber  auch,  selbst  wenns  am  Piave 
etwas  bewegter  zuginge,  keine  Attraktion  mehr  aus- 
üben. Nicht  was  dort  unten  geschieht,  sondern  was 
dort  oben  geschieht,  ist  ein  Fall,  der  den  Korso 
und  sein  Spalier  eine  Woche  lang  in  Atem  halten 
wird.  Die  Kontraste  sind  aber  auch  gar  zu  kraß. 
Das  Leben  geht  weiter  (Zifferer)  und  oben  sinkt 
blutüberströmt  das  Opfer  zu  Boden.  Warum  hat 
man  es  nicht  gehört?  Sehr  einfach:  Die  schweren 
Portieren  des  mit  allem  Komfort  und  Luxus  aus- 
gestatteten Zimmers  —  Kleinigkeit,  Bristol!  — 
ersticken  seinen  Todesschrei,  lassen  das  verzweifelte 
Röcheln  ungehört  verhallen.  Die  schweren  Portieren 
sollte  man  abschaffen.  Der  Mörder  hält  den  Atem 
an.  Das  hat  man  gehört.  Wahrscheinlich,  weil  sich 
sofort  herausstellen  wird,  daß  das  Domestikenzimmer 
eine  einfache  Einrichtung  hat.  Auch  bezüglich  desMord- 
instrumentes  gehen  die  Meinungen  einer  und  derselben 
Zeitung  auseinander.  Es  war  ein  Schlegel,  wie  ihn 
Böttcher,  ein  Klopfer,  wie  ihn  Fleischhauer,  eine  Keule, 
wie  sie  Athleten,  oder  eine  Handgranate,  wie  sie  Kinder 
gebrauchen  und  wie  sie  in  einem  vornehmen  Stadt- 
geschäft erstanden  wird,  oder  werden  könnte,  wenn  das 
Spielzeug  nicht  das  letzte  in  seiner  Art  gewesen  wäre, 
das  sich  auf  Lager  befunden  hat.  Der  Absatz  dürfte 
schon  zu  Weihnachten  ein  reißender  gewesen  sein,  so 
daß  nach  Ostern  das  letzte  Exemplar  ein  Raubmörder 
erstehen  konnte.  Die  Sensation  einer  Stadt  ist  aber 
nicht  dieses  Faktum,  sondern  der  Mord;  nicht  die 
Perspektive  in  die  ungezählten  Morde,  die  waren  und 
sein  werden,  sondern  der  eine,  denn  er  geschah  im 
Hotel  Bristol,  das,  wenn  es  auch  den  veränderten 
Zeitumständen  entsprechend  sich  mit  einem  Rost- 
raum statt  eines  Grillroom  bescheiden  muß,  unter 
allen  Umständen  ein  fashionables  Etablissement  bleibt. 
In  dem  vornehmen  Stadtgeschäft,  wo  man  die 
Handgranaten  für  Kinder  bekommt,  weiß   man   sich 


47  — 


genau  an  den  Käufer  zu  erinnern,  nur  schwankt 
man,  ob  er  die  Handgranate  für  Kinder  vor 
zwei  Monaten  oder  gestern  Nachmittag,  kurz  vor 
der  Bluttat,  gekauft  hat.  Doch  hat  der  Leser, 
da  die  beiden  Versionen  Spalte  an  Spalte  stehen, 
eine  leichte  Übersicht  und  kann  selbst  ent- 
scheiden. Jedenfalls  wächst  die  Sensation  erheblich, 
wenn  man  erfährt,  daß  das  Instrument  zu  einer 
Bluttat,  die  in  einem  vornehmen  Stadthotel  passiert 
ist,  in  einem  vornehmen  Stadtgeschäft  gekauft  wurde. 
Was  folgt  aber  daraus.  Ein  Leitartikel  in  einem 
vornehmen  Weltblatt  mit  der  Aufschrift  »Der  Raub- 
mord im  Hotel«  und  mit  dem  Untertitel,  der  die 
Wahrheit  deutlich  genug  ausspricht:  »Bedürfnis 
nach  stärkerem  Schutz  für  Sicherheit«.  Wie  soll 
diese,  dieser  oder  dieses  garantiert,  durchgeführt 
oder  erfüllt  werden?  Dazu  gehört  Psychologie, 
denn:  »vielleicht«  ist  dieser  Vorfall  nur  die  Wieder- 
holung u.  s.  w.,  Lesage  hat  jedoch  in  seinem 
Dienerroman  recht  und  »wir  möchten  uns  nicht«  bei 
Rückblicken  aufhalten,  aber  wir  tun  es  doch,  und 
zwar  gelangen  wir  von  Lesage  auf  dem  kürzesten  Weg 
zurück  über  das  Hotel  Bristol  zum  Räuberhaupt- 
mann Grasel,  der  »auf«  dem  Galgen  geendet  hat, 
nachdem  er  auf  dem  Holländerdörfl  bei  der 
Sophienalpe  verhaftet  worden  war,  von  wo  nur  ein 
Katzensprung  über  Taine  zum  Grafen  Stadion  und 
zum  Freiherrn  von  Stein  ist,  von  dem  wir  über  Eipel- 
dau  wieder  zum  Räuberhauptmann  Grasel  zurück- 
gelangen, nicht  ohne  die  schlichte  Erkenntnis:  »Lange 
Kriege  sind  nicht  gut  für  die  sittliche  Entwicklung. 
Der  Abscheu  vor  Blutschuld  stumpft  sich  ab.«  Blättern 
wir  jedoch  um,  so  erfahren  wir  zu  unserer  Freude,  daß 
der  Hofrat  Moriz  Stukart,  in  dessen  Ressort  zwar 
der  Mordfall  nicht  gehört  —  er  ist  Verwaltungsrat 
der  Münchengrätzer  Schuhfabrik  — ,  sich  gleichwohl 
für    ihn    interessiert   zeigt.    Er    tritt   eben    in    seine 


—  48 


eigenen  Fußstapfen  und  nennt  sich,  um  darzutun, 
daß  er  seinen  Anspruch  auf  Reklame  bei  einem  Raub- 
mord noch  nicht  verwirkt  habe,  einfach:  »Gewesener 
Chef  des  Sicherheitsbureaus  der  Wiener  Polizei«. 
Dieser  Stukart,  der  darin  ein  wenig  an  den  pensionier- 
ten Artisten  aus  der  »Prinzessin  von  Trapezunt« 
erinnert,  der  noch  im  Wohlstand  das  Heben  schwerer 
Gegenstände  nicht  lassen  kann,  oder  doch  an  den 
Berthold  Frischauer,  der  noch  angesichts  einer  1 20  Kilo- 
meter-Kanone sich  als  Unser  Pariser  Korrespondent 
betätigt  und  des  zum  Zeichen  sogar  in  Paris  Steuer 
zahlt,  der  Stukart  also  kann  den  Gedanken  einfach  nicht 
ertragen, daßes  schöne  Raubmorde  geben  und  ei  nimmer 
leben  soll.  Seine  Pensionierung  aber  verschafft  ihm 
den  unleugbaren  Vorteil,  daß  er  zur  Mitteilung  seiner 
sachverständigen  Ansicht  nicht  mehr  auf  den  Reporter 
warten  muß,  sondern  die  Artikel  zum  Preise 
seiner  Findigkeit  gleich  selbst  schreiben  kann.  Er 
erzählt,  daß  er  bereits  heute  früh  von  einer  befreun- 
deten Familie,  die  in  einem  der  vornehmsten  Hotels 
in  Wien  logiert,  telephonisch  angerufen  und  ange- 
fragt worden  sei,  was  sie,  seiner  Meinung  nach, 
»in  betreff  der  Verbesserung  der  Sicherheit«  —  das 
bekannte  Bedürfnis  nach  Vermehrung  der  Sicherheit 
für  Erhöhung  des  Schutzes  —  in  ihrer  Wohnung 
vorkehren  »oder  ob  sie  nicht  ihre  Wohnung  in  dem 
Hotel  aufgeben  solle«.  Stukart  antwortete  seinen 
Freunden,  »sie  sollten  nur  ruhig  in  ihrem  Hotel 
verbleiben«,  was  gewiß  das  richtigste  ist.  Sonst  aber, 
nachdem  wir  bezüglich  der  Sicherheit  einer  ein- 
zelnen in  den  Brennpunkt  unseres  Interesses 
gerückten  Mischpoche  beruhigt  sind,  begnügt  sich 
der  Fachmann  damit,  Mißtrauen  gegen  die  Tätig- 
keit seines  Nachfolgers  zu  erregen,  und  verlangt 
nichts  weniger,  als  daß  der  Kriminalpolizist  »sich 
frei  wie  der  Vogel  in  der  Luft  bewegen  soll«.  Durch 
die  »Unzahl   von   Beamten«,    die   heute    am    Tatort 


49 


erscheinen,  und  unter  denen  der  Name  Stukart  fehlt, 
würden  nur  die  Spuren  verwischt.  Der  Wunsch,  daß 
dies  im  vorliegenden  Falle  bereits  geschehen  sei, 
hat  gewiß  weder  im  Herzen  eines  pensionier- 
ten Kriminalpolizisten,  das  ja  keine  Mördergrube 
ist,  noch  zwischen  den  Zeilen  Raum,  wohl  aber  die 
Hoffnung,  daß  »die  Zahl  der  Verbrechen  geringer 
werden«  möge,  auf  daß  es  dem  Nachfolger  nicht  mehr 
gelänge,  sie  zu  entdecken.  Die  Entschädigung,  die 
Herrn  Stukart  dafür  zuteil  wird,  daß  er  nicht  mehr 
in  der  Lage  ist,  es  nicht  zu  können,  ist  reichlich. 
Es  gelingt  dem  gewesenen  Chef  des  Sicherheits- 
bureaus der  Wiener  Polizei,  die  Presse  an  der 
Verwischung  der  Spuren  des  vorliegenden  Mordfalls 
tätig  zu  sehen,  und  er  kann  es  erleben,  wie  dem  heutigen 
Chef  des  Sicherheitsbureaus  der  Wiener  Polizei  durch 
Indiskretion,  Geschrei  und  vorzeitigen  Tadel  die  Arbeit 
erschwert  wird.  Als  es  dann  trotzdem  dem  heutigen  Chef 
des  Sicherheitsbureaus  gelang,  hatte  dieselbe  Presse 
allerdings  die  Stirn,  die  »zielbewußte,  energische  und 
unermüdliche  Arbeit  der  Polizei«,  der  sie  eben  noch 
Planlosigkeit,  Untüchtigkeit  und  Langsamkeit  zum 
Vorwurf  gemacht  hatte,  herauszustreichen  und  zu 
schreiben :  »Wer  der  emsigen,  klug  kombinierenden 
Tätigkeit  der  Beamten  in  diesen  Tagen  zusah,  mußte 
sie  bewundern«.  »Eine  objektive  Berichterstat- 
tung muß  konstatieren«,  daß  der  Chef  des  Sicher- 
heitsbureaus »trotz  verwirrender  Widersprüche«,  die 
die  Berichterstattung  eingeworfen  hatte,  und  »trotz 
scheinbarer  Aufklärung  belastender  Momente«,  die 
sie  wie  eine  fieberhaft  tätige  Gegenpolizei  zu 
Gunsten  des  Herrn  Emo  David  —  ehe  dessen 
originalitalienische  Herkunft  feststand  —  betrieben 
hatte,  »keinen  Augenblick  irre  wurde«.  Mit  welcher 
Dreistigkeit  der  Versuch  des  Irremachens  unternom- 
men und  wie  durch  die  berüchtigte  Methode  der 
»Laienfragen«     die     Absicht    betätigt    wurde,     die 


—  50  — 


Polizei  ins  Verhör  zu    nehmen,    zeigt   die   folgende 
Jargonprobe : 

Die  Polizeibehörde  scheint  eher  dem  Glauben 
zuzuneigen,  daß  Emo  D.  der  Mordtat  tatsächlich  nicht  fern 
steht.  Um  so  merkwürdiger  berührt  es,  daß  die  große 
Öffentlichkeit  über  eine  Reihe  von  Fragen  zur  Stunde  noch  nicht 
aufgeklärt  ist,  die  sich  auch  dem  Laien  in  Untersuchungs- 
fragen aufdrängen.  Wie  steht  es  zunächst  mit  den  Fingerabdrücken? 
Heute  wird  freilich  offiziös  versichert,  daß  der  Mörder  nicht 
unbedingt  sich  über  und  über  mit  Blut  besudelt  haben  müsse,  daß  er 
auch  nicht  unter  allen  Umständen  in  das  Blut  seines  Opfers  hinein- 
getreten sein  dürfte.  Vor  Tische  las  man  anders!  .  .  . 
Sind  dem  in  Verwahrungshaft  Befindlichen  die  Fingerabdrücke 
bereits  abgenommen  worden?  Sind  diese  Abnahmen  mit  den 
zahlreichen  Abdrücken,  die  sich  am  Tatort  vorgefunden  haben 
müssen,  verglichen  worden,  und  welche  Resultate  hat  diese 
Vergleichung  gezeitigt?  .  .  .  Ist  diese  Untersuchung  vorgenommen 
worden,  und  welches  Resultat  hat  sie  gezeitigt?  .  .  .  Die  Polizei- 
behörde muß  also  die  Frage  beantworten,  ob  und  wo  es  ihm  in 
der  Zwischenzeit  möglich  gewesen  ist,  seine  Schuhe  derart  gründ- 
lich zu  reinigen,  daß  sie  auch  nicht  die  geringsten  Blutflecker. 
aufwiesen. 

Sie  hat  die  Laienfragen  bekanntlich  damit 
beantwortet,  daß  der  Emo  D.  nicht  selbst  Hand  ange- 
legt und  nicht  persönlich  in  das  Blut  seines  Opfers 
getreten  ist.  Aber  sie  hat  es  versäumt,  von  einem 
Meinungshändler,  der  kein  Problem  unberührt  lassen 
kann  und  auf  jedem  Tatort  die  Spuren  seiner 
Zudringlichkeit  zurückläßt,  Fingerabdrücke  zu  machen. 
Nach  Tische  las  mans  anders  und  der  Laie  mußte 
sich  entschließen,  den  Fachmann  zu  bewundern, 
was  freilich  einer  nicht  minder  unappetitlichen  Regung 
entsprang,  da  ja  Kriminalpolizisten  zwar  Tadel  ver- 
dienen, wenn  sie  einen  Raubmörder  entwischen 
lassen,  aber  beileibe  keine  Reklame,  wenn  sie  ihn 
fangen,  indem  sie  dadurch  erst  ihre  Daseinsberechti- 
gung erweisen  und  hinter  ihrer  eigentlichen  Ver- 
pflichtung, Raubmorde  zu  verhindern,  immer  noch 
zurückbleiben.  Aber  die  Wiener  Tradition,  vom  Schau- 
platz einer  Schandtat  journalistische  Ehren  aufzuheben, 


51 


muß  in  dem  enthaltsamen  Nachfolger  fortleben. 
Stukart,  der  vergebens  gehofft  hat,  daß  sie 
mit  seiner  Karriere  abgeschlossen  und  in  den 
Schuhen  eines  Raubmörders  stecken  geblieben  sei, 
wird  immerhin  noch  die  Entschädigung  zuteil,  daß 
ihm  eine  so  objektive  Berichterstattung  geschwind  mit 
einer  Erinnerung  an  den  Fall  Hugo  Schenk  zuhilfe 
kommt,  wo  sich  »der  junge  Stukart«  auch  nicht 
irremachen  ließ  und  sich  bekanntlich  die  Sporen 
verdient  hat,  also  an  eine  Zeit,  wo  noch  keine 
Aussicht  war,  daß  er  dereinst  sogar  an  Stiefeln  ver- 
dienen werde.  Aber  der  Glücksfall?  daß  der  entlarvte 
Davit  —  »wir  werden  darauf  aufmerksam  gemacht, 
daß  dies  die  richtige  Schreibweise  *des  aus  alter, 
rein  italienischer  Familie  stammenden  Mannes  ist« — 
in  Riedls  Cafe  de  l'Europe  verkehrt  hat,  gibt 
Gelegenheit,  noch  andere  Wiener  Renommeen  an 
dem  ausgiebigen  Ertrag  der  Affäre  zu  beteiligen.  »Im 
Cafe  de  l'Europe  erzählt  man,  daß  Davit  wohl  nicht  als 
Stammgast  bezeichnet  werden  könne.«  Das  denn  doch 
nicht.  Und  es  ist  »selbstverständlich,  daß  man  in  diesem 
Kaffeehausbetrieb,  der  doch  so  viele  laufende  Kund- 
schaft besitzt,  sich  an  einzelne  Personen,  die  keine 
besonderen  Wünsche  äußern,  nicht  genauer  erinnert.« 
Bedürfte  es  noch  eines  Beweises  für  die  Größe 
dieses  Betriebs,  so  wäre  er  hier  gegeben.  Was  aber  die 
bekannte  Aufmerksamkeit  desPersonals  betrifft,  so  kann 
versichert  werden:  »Vom  letzten  Tage  selbstver- 
ständlich ist  bekannt,  daß  er  ruhig  und  heiter  mit 
seiner  Kollegin  die  illustrierten  Blätter  durchblätterte. 
Auch  als  er  das  Kaffeehaus  verließ,  zeigte  er  keine 
besondere  Erregung.«  Da  geht  er  hin,  dachten  die 
Marqueure,  gleich  wird  er  den  Raubmord  im  Hotel 
Bristol  arranschirn  und  nix  laßt  er  sich  anmerken  .  .  . 
Eine  analoge  Wahrnehmung  gibt  auch  die  Gesangs- 
lehrerin des  Mörders  zu,  nachdem  sie  der  Präsident 
gefragt  hat:  »Konnte  man  ihm  damals  in  der  letzten 


52 


Stunde,  die  er  am  Tage  des  Mordes  genommen, 
ansehen,  daß  er  sich  zur  Assistenz  an  einer  blutigen 
Mordtat  begibt?«  Durchaus  nicht,  er  hat  sich  verstellt; 
sie  hätte  ihn  durchschaut,  wenn  er  selbst  der  Täter 
gewesen  wäre.  Ganz  ahnungslos  dagegen  war  die  Ver- 
sicherungsgesellschaft, bei  der  der  Täter,  der  damals 
noch  David  hieß  und  eine  Seele  von  einem  Menschen 
war,  angestellt  gewesen  ist.  Sein  Vorgesetzter  sagte 
einem  unserer  Mitarbeiter:  »Ich  bin  starr!  Ich  verliere 
den  Glauben  an  die  Menschheit,  wenn  so  etwas 
möglich  ist!  Ich  und  die  Bürokollegen  Davids  hätten 
für  seine  Unschuld  die  Hände  ins  Feuer  gelegt.« 
Die  Versicherungsgesellschaft,  deren  Prokurist  ver- 
hältnismäßig spät  den  Glauben  an  die  Menschheit 
verloren  hat,  erst  im  vierten  Kriegsjahr  nach  der 
Überführung  des  Emo  David,  ist  zum  Glück  keine 
Feuerversicherungsgesellschaft.  Die  Presse  aber 
schwankte  keinen  Augenblick,  Davit  preiszugeben, 
und  ging  so  weit,  ihn  mit  einer  Rücksichtslosigkeit 
nach  allen  Seiten  den  »Strategen  des  Mordes«  zu 
nennen,  der  »mit  der  Vorsicht  der  Feigheit  es  ver- 
mied, mit  dem  Blut  seines  Opfers  in  Berührung  zu 
kommen«.  Dieser  mutige  Griff,  durch  den  zwei  Ver- 
gleichswelten überraschend  zur  Deckung  gelangten, 
glückte  ihr  auch  mit  dem  geheimnisvollen  Schlüssel,  der 
in  der  Mordaffäre  eine  Rolle  spielt.  Nachdem  der 
Schlüssel  gefehlt  hatte,  der  Schlüssel  verleugnet  worden 
war,  der  Schlüssel  verschwunden,  der  Schlüssel 
gefunden,  der  Schlüssel  im  Überzieher  vergessen  und 
schon  von  einem  Geheimnis  des  Schlüssels  die  Rede 
gewesen  war,  hieß  es,  daß  der  Schlüssel  des  Geheim- 
nisses nunmehr  vorhanden  sei,  denn  dieser  Schlüssel 
war  das  Fehlen  des  Überziehers,  in  welchem  der 
Schlüssel  war,  dessen  Geheimnis  nunmehr  tatsächlich 
aufgeklärt  schien.  Trotzdem  behält  die  Affäre  ihr 
Rätsel,  wie  überhaupt  jeder  Wiener  Mordfall  einen 
gewissen    Schleier,    sein    gwisses    Quisiquasi    auch 


53 


nach  der  Entdeckung  nicht  abzulegen  pflegt.  Die 
zahlreichen  Nichtbeteiligten,  die  bei  solchen  Gelegen- 
heiten in  die  Aktion  verwickelt  sind,  handeln 
wie  unter  dem  Banne  einer  Mitwisserschaft  und 
unter  der  Verpflichtung,  sie  erst  nach  Preisgabe  des 
Opfers  zu  verraten.  Sie  benehmen  sich  wie  der  Chor, 
der  eine  Operettenhandlung  mit  jener  verständnis- 
innigen Teilnahmslosigkeit  begleitet,  zu  der  ihn  fünf- 
hundert en  suite  -Vorstellungen  berechtigen,  und  was 
da  auftritt,  Gäste,  Kellner,  Hotelbedienstete,  Passanten, 
Gefolge,  um  ein  paar  Schwimmtempi  des  Entsetzens 
zur  Handlung  beizusteuern,  bewegt  sich  nicht 
anders,  als  ob  es  an  der  Todesstarre  des  Opfers 
beteiligt  wäre.  Kein  Zweifel,  daß  die  klischierte  Art, 
in  der  diese  Erzählungen  und  Mitteilungen  von 
Augen-  und  Ohrenzeugen  mit  Glasaugen  und  Wachs- 
ohren gehalten  sind,  den  lebendigen  Inhalt  einer  Wiener 
Begebenheit  ebenso  zuverlässig  wiedergibt,  wie  die  hin- 
reißend starren  Formen  unseres  Meisters  Schönpflug 
die  Fülle  einer  Welt,  die  eines  Tages  von  selbst  in  Ein- 
rückendgemachte  und  Tachinierer  zerfiel.  Auch  die 
Episodisten,  der  brave  Vater  des  entarteten  Kurt  Franke, 
dessen  Verbrechen  von  der  Presse  als  eine  Frucht  der 
von  ihr  geförderten  Kinoerziehung  durchschaut  wird 
und  der  zu  ihm  die  Worte  spricht:  »Aber  Vater, 
wofür  halten  Sie  mich  denn ?  I'  w e r d'  doch  n i t  a  so 
was  tun«,  das  freiherrliche  Ehepaar  Vivante,  das 
pantomimisch  im  Hintergrund  die  aufbewahrten  Gold- 
stücke zu  zählen  hat,  sie  alle  spielen  nur  die  Rolle 
von  Geschöpfen,  denen  der  Odem  von  einem  Polizei- 
offizial  eingehaucht  ward.  Bei  allem  berechtigten 
Stolz  auf  die  Mondainität  eines  Falles,  der  einmal 
nicht  auf  dem  Eiterleinplatz,  sondern  auf  der  Ring- 
straße spielt,  darf  man  nie  vergessen,  daß  wir  doch 
im  Bereich  einer  Schöpfung  leben,  in  der  das 
Weib  eine  »Prifate«  ist,  zumeist  eine  Hilfsarbeiterin, 
während  der  Mann  sich  schon  bei  der  Verabreichung 


—  54  — 


des  Schandlohns  der  späteren  Einwendung  des  groben 
Undanks  bewußt  zeigt,  wobei  ihm  ein  »Vertrauter«  hilft, 
welcher  den  Weg  zum  Baum  des  Lebens  behütet.  Liebes- 
Leid  und  Lust,  Tod  und  Leben,  alles  entspringt  und 
mündet  hier  in  einem  Amtszimmer  der  ungelüfteten 
Geheimnisse  und  man  kann  von  Glück  sagen,  daß  der 
Mörder  oder  sein  Opfer  oder  der  Unterstandgeber 
oder  Aftermieter,  der  Vorschubleister,  der  Kronzeuge  in 
diesem  Falle  nicht  Sikora  heißt.  Auf  welchen  Rostraum 
das  Leben  im  Hotel  Bristol  heute  angewiesen  ist,  zeigt 
das  Protokoll  mit  der  Emma  Freifrau  von  Vivante: 

Ich  bin  mit  der  Familie  Emo  Davits  entfernt  verwandt.  .  . . 
Dieser  verkehrte  naturgemäß  in  unserem  Hause  in  Wien, 
besonders  seit  Mitte  1917  kam  er  fast  täglich  zu  uns  ins  Hotel, 
war  etwa  viermal  wöchentlich  bei  uns  zum  Abendbrot.  Er 
holte  sich  auch  täglich  zwischen  4  und  5  Uhr  dasSchwarzbrot 
undhatte,  wenigstens  äußerlich,  dasBenehmen 
eines  Gentlemans.  Die  Earl  kannte  er  schon  seit  sechzehn 
Jahren.  Diese  war  unsere  Vertraute,  der  Verkehr  zwischen  Emo 
und  ihr  naturgemäß  ein  herzlicher  und  vertraulicher. 

Dieses  Wort  »naturgemäß«  ist  eine  öster- 
reichische Zwangsform  des  amtlichen  und  volkstüm- 
lichen Denkens  und  bezeichnet  das,  was  nicht  auf 
den  ersten  Augenschein  naturgemäß  ist.  Der 
scharfe  Blick  des  Vertrauten  dringt  durch  alle 
Falten.  Eine  Bedienstete  des  Hotels  erzählt, 
die  Earl  habe  ihr  am  Vormittag  ihres  letzten 
Lebenstages  mitgeteilt,  sie  sei  vom  Mörder 
eingeladen  worden,  mit  ihm  den  Abend  im  Kaiser- 
garten zu  verbringen.  »Sie  freue  sich,  und  wolle 
ihre  besten  Kleider  anlegen,  um  möglichst  schön 
auszusehen.«  Ob  es  das  ausgesprochene  Motiv  oder 
nur  Interpretation  ist,  man  spürt,  wie  hier  das 
Protokollarische  ein  Leben  bekommt.  Das  wahre  Leben 
aber  kommt  erst  in  einen  Mordfall,  wenn  die 
Betrachtung  von  einer  höheren  Warte  einsetzt  und  die 
Untersuchung  auf  die  Konfession  des  Mörders 
überzugreifen  beginnt.    Während  die  liberale  Presse 


55 


sich  vor  den  Möglichkeiten,  die  der  Name  David 
ihr  an  die  Hand  gab,  gegründeter  Zweifel  an  seiner 
Schuld  nicht  erwehren  konnte  und  bereit  schien, 
sich  der  Zeugenaussage  zu  entschlagen,  war  für  die 
antisemitische  Presse  der  entgegengesetzte  Weg  der 
einzig  gangbare  und  mit  jedem  Tage,  der  die  Indizien 
häufte,  wurde  es  ihr  offenbarer,  daß  der  Mörder 
ein  Jud  sei.  Als  dann  die  Neue  Freie  Presse  mit 
der  Überführung  Davids  auch  die  Enthüllung  seiner 
rein  italienischen  Abstammung  melden  konnte  und 
der  Mörder  somit  überführt  war,  eigentlich  Davit 
zu  heißen,  da  legte  die  Reichspost  das  umfassende 
Geständnis  ab,  daß  ihr  die  Religion  und  der  Stamm- 
baum des  Mörders  gleichgiltig  seien.  Um  aber  die  letzten 
Zweifel  in  dieser  Richtung  auszumerzen,  war  die 
Sonn-  und  Montagszeitung  in  der  Lage,  bekanntzu- 
geben, daß  Davit  ein  frommer  Katholik  sei,  der  es 
nicht  unterlassen  habe,  die  jährliche  Beichte  und 
sogar  noch  einen  Buchstaben  abzulegen:  »Er  heißt, 
wie  uns  mitgeteilt  wird,  tatsächlich  Davi  (ohne  t)«, 
was  immerhin  viel  ist,  da  er  bekanntlich  zuerst, 
als  er  noch  David  hieß,  nur  kurzweg  D.  genannt 
ward.  Mit  einem  Wort,  von  welcher  Seite  immer 
dieses  Wien  einen  Mordfall  antritt,  immer  bleibt  es 
Wien  und  immer  hat  es  der  Welt  etwas  Besonderes 
zu  sagen.  Das  Besonderste  aber  an  ihm  ist  die 
völlige  Schamlosigkeit,  mit  der  es  seine  Interessen 
aus  dem  Weltgeschehen  heraushebt  und  im  Ange- 
sicht des  Weltmordes  seinen  Lokalfall  auszuleben 
begehrt.  Die  Menschheit,  die  auf  dieser  Insel  der 
Unseligen  wohnt,  glaubt  wirklich,  mit  der  zudring- 
lichen Armut,  die  sie  wochenlang  von  einem  Raub- 
mord leben  läßt,  weil  er  in  der  »City«  passiert  ist,  die 
Auhnerksamkeit  der  Welt  zu  erregen.  Diese  unbeirrbare 
Großstadtsucht,  die  noch  aus  einem  Hotelmord 
Hoffnungen  auf  Hebung  des  Fremdenverkehrs 
schöpft,  da  sie  selbst  aus  der  Asche  des  Weltbrands 


—  56  — 


einen  verjüngten  Suckfüll  aufsteigen  sieht,  ahnt 
nicht,  wie  verächtlich  sie  einem  Ausland  erscheinen 
muß,  dessen  Städte  unter  Bomben  und  vor  Kanonen 
ihren  Geschmack  an  andern  Lokalreizen  längst 
geopfert  haben  und  im  Erleben  und  Gedenken  des  Ereig- 
nisses so  vieler  Saisons  mortes  Trauerwürde  tragen. 
Die  plaudernden,  lachenden,  flirtenden  Korsobesucher 
und  die  vornehmen  Fremden  in  den  bequemen 
Korbstühlen,  diese  Untermenschheit,  deren  Blut-  und 
Wissensdurst  das  Rinnsal  der  Lokalberichte  aus- 
schlürft, kommt  nicht  auf  die  Idee,  daß  sie,  da  nur 
die  Begebenheiten  des  Hinterlands  ihr  vorstellbar 
sind,  noch  eine  Spur  von  Anstand  beweisen  könnte, 
wenn  sie  statt  den  Zufallsfakten  einer  zeitlosen 
Kriminalität  lieber  den  täglichen  Hungermorden 
hingegeben  wäre.  Des  Todeszwangs  wie  jeder  mensch- 
lichen Regung  enthoben,  wird  ihr  frontentfernter 
Schlaf  von  keinem  letzten  Schrei  der  Märtyrer,  von 
keinem  Gedanken  an  die  schuldlosen  Opfer  der 
Maschinenwillkür  wie  der  Militärjudikatur  gestört;  aber 
ihr  furchtbares  Überleben  bleibt  auch  unerschüttert 
von  den  Kontrasten,  die  ihnen  die  Not  vor  das 
freche  Gesicht  stellt.  Wo  ist,  da  d  i  e  ihnen  nicht  an 
den  Leib  kann,  der  Zuchtmeister,  der  dieses  Gesindel 
zu  Paaren  triebe?  Der  kleine  Junge  mit  dem  Ruck- 
sack, den  ungarische  Grenzpolizisten  über  Waggon- 
dächer zu  Tode  jagen,  ist  keine  Ringstraßensensation, 
aber  wert,  daß  eine  ganze  Stadt  Trauerfahnen  aus- 
steckt! Er  hatte  keine  Zeit  mehr  zu  spielen  und 
seine  Eltern  hatten  ihn  um  Kartoffeln  geschickt, 
anstatt  ihm  in  einem  vornehmen  Stadtgeschäft  eine 
Handgranate  zu  kaufen.  Mit  solchem  Spielzeug 
hätte  er  selber  töten  gelernt.  Aber  es  müßte  schon 
eine  echte  Handgranate  sein,  mit  der  man  emen 
Korso  aufscheuchen  könnte,  der  im  Krieg  noch  einen 
Mord  und  vor  dem  Weltuntergang  noch  eine 
Sensation  braucht! 


57 


Glossen 


Eine  bombensichere  Gegend 

—  —  Sieht  man,  wie  die  jungen  Frauen,  die  kleinen  Bureau- 
und  Ladenmädchen,  die  älteren  HerreninZivil  und  die  jungen 
»besten«  männlichen  Jahrgänge  in  Uniform  um  die  Ecke  biegen  oder 
Spalierstehen,  so  wird  man  unwillkürlich  an  die  vielfachen  Wandlungen 
erinnert,  die  auch  die  Ecke  miterlebt  hat.  —  —  Seit  Jahr  und  Tag 
aber  sieht  die  Ecke  wieder  so  aus  wie  ehedem,  es  sind  scheinbar 
dieselben  Wiener  Mädchen,  dieselben  graziösen  Wiener  Frauen,  das- 
selbe Wiener  Tempo  des  behaglichen  Schlenderns.  Nur  das  Spalier 
ist  ganz  und  gar  militärisch  geworden.  Der  elegante  Herr,  schlank 
wie  ein  Pfeifenröhrl  und  tiptop  vom  Zylinder  bis  zu  den  Lack- 
stiefeln, trägt  Uniform  und  seine  Brust  schmücken  Tapferkeitsauszeich- 
nungen. Da  sieht  man  achtzehnjährige  Leutnants  mit  allen  Medaillen 
von  der  »Goldenen«  bis  zur  »Bronzenen<  und  man  darf  feststellen, 
daß  unsere  Wiener  Mädchen  schon  sehr  viel  Verständnis  für  so  etwas 
haben,  ganz  genau  die  Bedeutung  der  Eisernen  Krone  mit  den 
Schwertern  auf  dem  Rock  eines  blutjungen  Oberleutnants  zu  bewerten 
verstehen  und  dem  blonden  Fähnrich  mit  der  »großen  Silbernen < 
und  dem  Eisernen  Kreuz  die  reizendsten  Blicke  voll  Anerkennung 
zuwerfen.  —  — 


Die  Wirkung  des  neuen  Sterns 

auf  jenen,  der  um  6  Uhr  Abend  zu  leuchten  beginnt,  war 
erhebend.  Wir  konnten  beobachten,  wie  jener 
unsere  in  Kampf  und  Hader  verstrickte  Welt  mit  der  Frage  nach 
ewigen  Rätseln  überrascht,  unsere  vielumstrittenen  Probleme  und 
Ziele  gleichsam  in  den  Schatten  rückt  und  uns  zur  Besinnung  ruft,  nach 
Höherem  die  Gedanken  zu  richten  und  die  irdischen  Aufgaben  i  n 
einer  Annäherungan  die  hohen  und  fernen  Ziele 
der  Wissenschaft  zu  erblicken.  Ja,  so  ein  neuer  Stern  bringt 
uns  nur  in  Verlegenheit. 

Das  merke  ich  gerade  nicht. 

.  .  .  Aber  heute  will  ein  solcher  neuer  Stern  nicht  gedeutet, 
er  will  wissenschaftlich  erklärt  und  ergründet 
sein  und  mahnt  an  die  Schuld  der  Wissenschaft, 
die  sie  gegenüber  dem  ganzen  großen  Firmament, 
demTräger  der  letzenRätsel,  hat.  Darum  ist  dieser  neue 
Stern,  der  uns  14  Tage   sichtbar  bleiben  soll,   nicht  weniger  froh  zu 


—  58 


begrüßen.  Lenkt  er  uns  doch  ein  wenig  ab  von  der 
anhaltenden  Kriegsstimmung  dieser  Tage,  richtet  er  unseren  Blick 
doch  aus  dem  erdenschweren  Düster  zum  Himmel  empor,  eine 
Mahnung  zu  höherem  Streben,  eine  Erinnerung  an 
die    Welt    des    forschenden    Geistes. 

Als  ob  nicht  eine  Luftbombe  schon  genug  dazu  beitrüge, 
von  Torpedos  und  Grünkreuzgranaten  gar  nicht  zu  reden.  Und 
als  ob  nicht  der  neue  Stern  uns  wieder  an  unsere  irdischen 
Angelegenheiten  mahnte,  wenn  ein  Professor  der  Urania-Sternwarte 
seinen  »Standort«  beschreibt.  Nein,  kein  neuer  Stern  wird  uns 
von  unsererGedankenwelt  ablenken.  Wenn  die  Wissenschaft  mitden 
letzten  ewigen  Rätseln  fertig  geworden  ist,  ihre  Schuld  an  das  ganze 
große  Firmament  abgetragen  und  uns  die  Standorte  sämtlicher 
Sterne  verraten  hat,  wir  halten  durch  und  immer  noch  wird  es 
geschehen,  daß  ein  Juwelier  einem  Kriegsgewinner  ein  Ding 
vorweist,  das  besser  als  sie  alle  funkelt,  und  es  mit  den  Worten 
empfiehlt:  »Herr  Generaldirektor,  munitiös  gearbeitet!« 


Deutsche  Bombenexplosion 

oder 

Pariser  Nachtleben  in  deutscher  Beleuchtung 

Ein  deutscher  Flieger  schildert  in  der  .Kölnischen  Zeitung' 
seine  Empfindungen  beim  Fluge  über  Paris: 

Paris  ist  das  Herz  Frankreichs.  Wo  könnte  man  welschen  Haß 
besser  treffen  als  in  seinen  Mauern?    —  —    Hüte  dich  Paris! 

Zwei  Motore  dröhnen  in  Vollgas  und  ziehen  uns  hinauf,  dem 
Ziele  zu.  Hell  leuchtet  vor  uns  als  Wegweiser  das  Sternbild 
des  Orion. Immer  gerade  ausl  Da  —  ein  schwacher  Licht- 
schein im  Dunst:  Paris.  —  —  Ob  sie  drunten  jetzt  Alarm  blasen? 
Und  ich  stelle  mir  vor,  wie  sie  zu  ihren  Abwehrgeschützen, 
zu  ihren  Flugzeugen  rennen,  wie  im  Durcheinander  der  Verkehr  stockt, 
wie  sie  aus  ihren  Nachtcafös,  aus  ihren  Betten  in  die  kalten 
Keller  fahren.  —  -  Und  jetzt  liegt  sie  unter  mir,  die  Seinestadt.  Ein 
Lichtermeer,  ein  Häusermeer.  Ich  sehe  alles  ganz  deutlich:  den  Mont- 
martre, die  bunten  Signallaternen  des  Nordbahnhofs,  die  Seine  mit 
ihren    Brücken,    den    Ostbahnhof,    den     Lichterkranz     des    Place    de 

Triomphe.     Und    die    Hand  greift    an    den    Abzug. 

Ich  sehe  die  Einschläge,  wie  wenn  morsches  Holz  und  Gestein 
in  Feuer  auseinanderfliegen.  —  —  Unsere  Arbeit  ist  getanl 


59  — 


Heimwärts  den  Kurs ! Noch  einmal  blicke  ich  zurück  zwischen 

Schrapnellen  und  Leuchtschirmen.  Deutsche  Bomben- 
explosion. Dann  geht  es  geradewegs  nach  Hause.  Wir  landen 
glücklich.  Glücklich  kehren  auch  die  anderen  Kameraden  vom 
Geschwader  zurück.    Ob  Paris  uns  schon  vergessen  hat? 


Opern- 
Kino 

Untergang  von 
Pompeji 

Sensationsdrama 
in  5  Akten. 


Lustspiel. 


Kriegsberichte. 


Leben  und  Treiben 

Kaiser  Wilhelm   auf 
dem  Winterberge. 

Berlin,  31.  Mai  (Tel. 
der  .Wiener  Mittags- 
zeitung")  Der  Bericht- 
erstatter des  .Lokalan- 
zeiger" meldet  vom 
Schlachtfelde  an  der 
Aisne:  Genau  24  Stunden, 
nachdem  unsere  Truppen 
die  Engländer  auf  dem 
Winterberge  niederge- 
kämpft hatten,  ist  der 
Kaiser  heute  in  dem 
unter  dem  Feuer  des 
Krieges  vom  Erdboden 
verschwundenen  Craonne 
erschienen,  um  von  dort 
aus  die  so  lange  um- 
kämpfte Höhe,  welche 
nun  schon  tief  im  neu- 
gewonnenen Lande  liegt, 
zu  besichtigen  und  von 
ihrer  beherrschenden 
Stellung  aus  einen  Blick 
über  das  Schlachtfeld  zu 
tun.  Ist  Craonne  jetzt  eine 
ausgelöschte  Stadt,  so  ist 
diese  einstige  waldige 
Höhe  ein  großer  aufge- 
wühlter Kreidetrichter. 
Unsere  Leute  waren  eben 
dabei,  die  Toten  zu  be- 
|  graben  und  das  über- 
j  reiche  verlassene  Material 
i  zu  sichten.  Der  Kaiser  war 


eben  in  der  Betrachtung 
des  überwältigenden 
Panoramas  begriffen, 
als  Hindenburg  erschien. 
Der  Kaiser  hatte  ihm  ge- 
stern von  seiner  Absicht, 
denWinterberg  zu  bestei- 
gen,gesprochen  und  sagte, 
daß  er  das  Glück,  von 
dieser  neugewonnenen 
Höhe  das  Land  zu  über- 
blicken, doppelt  stark 
empfinde,  weil  er  es  mit 
Hindenburg  teile,  dessen 
Arbeit  so  gewaltigen  An- 
teil habe  an  der  Führung 
der  Schlacht. 

Gemein^  am  mit  Hinden- 
burg besichtigte  der 
Kaiser  zwischen  Gräbern 
und  Trichtern,  zwischen 
Drahtverhauen  und  Ein- 
schlagslöchern die  alten 
Stellungen  des  Damen- 
weges. Zwischen  unzähli- 
gen vorwärtsdringenden 
Kolonnen  schritten  beide 
durch  und  nahmen  den 
Weg  zurück  nach  Cra- 
onne. In  diesem  Trichter- 
lande trafen  sie  uner- 
wartet auf  denKron- 
p  r  i  n  z  e  n. Vater  und  Sohn 
begrüßten  einander  aufs 
herzlichste,  vom  Jubel 
der    Truppen     begleitet. 


Waren  Sie  schon  im 

Bar!     —     Kaiser     Wilhelm-Kaffee     -      Bar! 

Haben  Sie  schon  Macho  gehört  ?  Die  ganze  Stadt  spricht 
davon!  Vornehmste  Unterhaltung,  vorzügliche  Küche  vor  und 
nach  dem  Theater.  Entree  frei!  1.  Bez.,  Weihburggasse  10, 
Nähe  Stephansplatz,  4.  Haus  von  Zwieback,  Kärntnerstraße. 


60 


Die  Sache  im  Westen  wird  gemacht 

Der  Riesenerfolg  im  Westen 

Berlins 
konnte  nur  erreicht  werden,  weil  die  Hausfrauen,  die  durch  die 
oft  höchst  minderwertigen  und  scharfen  Waschmittel  mit  Recht 
mißtrauisch  geworden  waren,  sich  von  der  hervorragenden  Güte 
unseres  Waschmittels  selbst  überzeugt  haben.  Mit  Freude  denken 
sie  jetzt  wieder  an  den  Waschtag,  da  sie  selbst  im  Frieden 
nicht  so  saubere  Wäsche  bekamen,  wie  nach  Gebrauch  unseres 
Sauerstoff-Extraktes  Ozon.  —  —  Keine  Verluste  mehr 
durch  Auslaufen  oder  Eintrocknen,  wie  es  bei  den  Schmierwasch- 
mitteln    vorkommt.     Wer    einmal    das    selbsttätige    Waschmittel 

OZON 
angewendet  hat,  benutzt  es  immer  wieder,  denn  Ozon  greift 
die  Wäsche  nicht  an  und  ist  garantiert  chlorfrei 
und  unschädlich.  —  —  Ozon  erspart  Wäsche.  Ozon 
erspart  Arbeit.  Ozon  erspart  Zeit.  Ozon  erspart  Geld.  Ozon 
wäscht  von  selbst.  —  —  Vom  Kriegsausschuß  genehmigt.  Von 
maßgebenden  Stellen  glänzend  begutachtet  —   — 


Nachbarin,  euer  Ozon! 


Die  Metapher 

...  Er  verteilt  ein  Reich,  das  ungebrochen,  stärker  denn  je 
aus  diesem  Kriege  hervorgegangen  ist  und  das  gemeinsam  mit  dem 
treuen  Bundesgenossen  eben  dabei  ist,  das  dritte  Verräternest  auszu- 
heben. Serbien  und  Rumänien  haben  die  verdiente  Strafe  für  ihre 
Treulosigkeit  empfangen.  Beide  existieren  nicht  oder  kaum  mehr,  und 
Italien  empfängt  gerade  den  Todesstoß  mitten  ins 
zuckende  Herz. 

So  weit  von  den  Dingen  sind  jetzt  die  Worte,  daß  dem 
Buben,  der's  für  die  Schmucknotiz  brauchte,  nicht  einmal  der 
Tod  des  Jagdtiers,  von  dem's  bezogen  ist,  nahe  war.  Sonst  wäre 
er  erschrocken.  Aber  daß  jener  Todesstoß  das  Sterben  von  gar 
vielen  jungen  Menschen  drüben  bedeutet  und  von  gar  vielen  auch 
hüben,  unter  denen  seinesgleichen  nicht  war,  das  ahnte  er  nicht. 


—  61 


Sonst  wäre  er,  eh  ers  aufschrieb,  gestorben.  Ja,  das  schreibt  sich  so 
hin.  Tragisch  ist  es,  daß  gerade  diese  Sprache  so  zum  Rückhalt 
aller  Phantasieleere,  so  zum  Hinterhalt  aller  Schäbigkeit  werden 
konnte ! 


Überlebende 

Während  ein  Teil  der  Menschheit  am  Piave  starb,  ist 
in  Wien  das  Folgende  geschehen  und  berichtet  worden: 

Vor  dem  Landesgerichtsrat  Dr.  Weiß  des  Bezirksgerichtes  Josef- 
stadt hatte  sich  gestern  der  Kaufmann  Simon  Weißenstein  gegen  eine 
Ehrenbeleidigungsklage  zu  verantworten,  die  derFirmeninhaber  Alexander 
Joachin  eingebracht  hatte.  Joachin  befand  sich  am  31.  März  1918 
im  Cafe  Mariahilf  und  spielte  mit  einigen  Bekannten  Karten. 
Da  trat  der  Beschuldigte  an  den  Tisch  und  sagte  zu  ihm:  >Sie 
Gauner,  Sie  haben  Butter  am  Kopf.  Wenn  man  mit  Hunden  schlafen 
geht,  steht  man  mit  Flöhen  aufU  Da  Herr  Joachin  auf  diese  Anrede 
erwidert  haben  soll:  >Sie  sind  der  Hund!«,  wurde  von  Weißen- 
stein eine  Gegenklage  eingebracht.  Bei  der  gestrigen  Verhandlung  gab 
Weißenstein  zu,  die  inkriminierte  Äußerung  gebraucht  zu  haben, 
er  sei  aber  von  Joachin  provoziert  worden.  Als  er  das  Kaffeehaus 
betrat,  habe  nämlich  Herr  Joachin  vor  ihm  ausgespuckt.  Er  habe 
darauf  nicht  reagiert;  erst  als  ihm  Joachin  den  Vorwurf 
machte,  er  habe  einen  falschen  Eid  abgelegt,  sei  er  in  große  Erregung 
geraten  und  habe  sich  zu  der  inkriminierten  Äußerung  hinreißen  lassen. 
.  .  .  Weißenstein:  Herr  Richter,  ich  bin  unschuldig!  Herr  Joachin 
läßt  mich  nicht  in  Ruhe,  ich  bitte  ihm  aufzutragen,  daß  er  mich  in 
Zukunft  nicht  mehr  verfolgt.  —  Joachin:  Ich  habe  das  nicht  getan. 
Ich  bin  viel  zu  intelligent,  als  daß  ich  jemanden  verfolge. 
.  .  —  Weißenstein:  Ich  denke  mir  meinen  Teil  und  bin  mit  dem 
einverstanden,  was  Sie,  Herr  Landesgerichtsrat,  vorgeschlagen  haben. 
Hierauf  wurden  beide  Klagen  zurückgezogen  und  der  Richter  ver- 
kündete den  Freispruch. 

Der  Tierschutzverein  hat  es  offenbar  bisher  nicht  verstanden, 
den  Gerichten  eine  Klagelegitimation  für  Hunde  plausibel  zu 
machen,  und  immer  bleiben  diese  darauf  angewiesen,  sich  ihren 
Teil  über  die  Menschen,  unter  denen  sie  leben  müssen,  und 
insbesondere  über  die  Kultur  der  Zentralstaaten  zu  denken.  Das 
Armeeoberkommando  sollte  aber  in  der  Anerkennung  triftiger 
Gründe  für  die  Ausstellung  von  Schweizer  Pässen  weitherziger  sein. 


62  — 


Plato  führt 

Plato  war  ein  Rennpferd,  ßurscherl  ein  anderes.  Mehr 
wird  eine  kommende  Welt  von  dieser  Epoche  nicht  zu  wissen 
brauchen,  um  den  Wunsch  zu  spüren,  aus  dem  gemeinsamen 
Ewigkeitsverband  auszutreten.  Aber  sie  empfange  mehr  aus  dem 
Sprach-  und  Vorstellungsschatz  eines  frontbewahrten  Auswurfs, 
zu  dessen  Gewinn  und  Vergnügen  anno  Piave  ein  »Derby« 
abgehalten  wurde: 

.  .  .  Aber  es  geschah  dabei  kein  Wunder  oder 
sonst  etwas,  das  zu  Bedenken  Anlaß  geben  kann, 
Reichenau  hatte  das  Rennen  vor  acht  Tagen  gebraucht,  um  in  Form 
zu  kommen  .  . 

Von  den  anderen  gefiel  Szepike  am  besten,  er  sah  imponierend 
aus  und  erwarb  sich  bei  der  Musterung  noch  viele  Anhänger, 
auch  Plato  wurde  gelobt.  .  .  . 

...  der  Stall  selbst  war  darauf  nicht  gefaßt  und  die  Erklärung 
hiefür  liegt  eben  darin,  daß  Reichenau  damals  nicht  so 
weit  in  der  Verfassung  war  wie  diesmal.  .  .  . 

Der  Begleitschmock  des  Fachmanns,  der  die  »Schönheits- 
konkurrenz  und  Toillettenschau«  zu  schildern  hat,  spricht  von  den 
»ehrfurchtgebietend  tadellosen  jungen  Leuten,  die,  unbekümmert 
um  die  Vorschriften  des  Volksbekleidungsamtes,  noch  immer 
berückend  gut  gekleidet  sind«.  Aber  sind  die  denn  nicht  gefallen? 
Nicht  doch: 

Nur  der  Derbyzylinder  scheint  im  Aussterben 
begriffen  zu  sein. 

Er  habe  »diesmal  bloß  zwei,  drei  Vertreter  entsendet«. 
Ferner  erfahren  wir,  daß  es  1918  »die  überzeugtesten  und  nun 
schwer  enttäuschten  Burscherl-Enthusiasten«  gegeben  hat. 

.  .  .  Man  sieht  nur  gespannte  Mienen  und  Blicke,  hört 
abgerissene  Rufe :  Plato  führt!  Burscherl  bleibt  zurück  I .  .  .  Plato  I .  . 
Reichenau  kommt  vor!  .  .  Und  da  ist  auch  schon  alles  entschieden  und 
vorüber. 

Wäre  es!  Plato  hat  doch  nicht  geführt.  Es  geschah  kein 
Wunder  oder  sonst  etwas,  das  zu  Bedenken  Anlaß  geben  kann. 
Aber  das  Bild  eines  Platonikers  von  1918  sollte  man  der 
Nachwelt  bewahren. 


63  — 


Rumaroma 

Der  fixe  Satan,  der  uns  den  Tisch  des  Lebens  und  Denkens 
bereitet  hat,  läßt  in  dem  Wirbel  von  Salatfix,  Dottofix,  Teefix, 
Punschfix  uns  kaum  der  grauenhaften  Symbolik  all  der  Namen 
innewerden,  die  in  Schall  und  Rauch  dieser  Scheinwelt  geboren 
wurden,  und  zerrt  das  müde  Ohr  in  solche  Debatte: 

Erklärung. 

Wir  teilen  dem  p.  t.  Publikum  mit,  daß  die  K  r  i  t  i  k  ü  b  e  r 
»T  e  e  f  i  x«,  welches  von  der  Firma  Leopold  Kollmann,  Wien,  in 
Handel  gebracht  wurde,  keinen  Zusammenhang  mit  unserem  Erzeugnis 
»Deutschers  Teefix«,    K  u  n  s  t  tee-Essenz,  hat  .... 

Wir  verwenden  für  unser  Erzeugnis  Blätter  und  Blüten, 
welche  vom  hohen  k.  k.  Kriegsministerium  in  Erman- 
gelung von  Teewärmstens  zur  Tee-Erzeugung  empfohlen 
und  auch  gesammelt  wurden.  Unsere  Ware  ist  gut  und  schmackhaft, 
so  daß  sie  wirklich  als  Tee  mit    Rumaroma  zu  gebrauchen  ist. 

Nachdem  der  Name  »Teefix«  unserer  gesetzlich  geschützten 
Marke  »Deutschers  Teefix«  ähnlich  klingt,  werden  wir  dies- 
bezüglich bei  den  Behörden  anfragen  und  eventueller  Benach- 
teiligung unseres  Markenschutzes,  die  sich  da  ergeben, 
Schritte  unternehmen. 

Wir  ersuchen  das  p.  t.  Publikum  auf  unsere  gesetzlich 
geschützte  Marke  »Deutschers  Teefix«  zu  achten  und  selbe  überall 
verlangen  und  wird  das  p.  t.  Publikum  ganz  bestimmt 
reell  bedient  werden. 

M.  Deutscher  &  Co.,  M  i  s  t  e  k. 

Wenn  man  mich  rechtzeitig,  vor  1874,  darauf  aufmerksam 
gemacht  hätte,  daß  ich  in  die  Zeit,  in  der  diese  Auseinander- 
setzung spielt,  geraten  würde,  ich  hätte  abgesagt.  Dies  alles  ist 
deutscher  als  Teefix  und  es  ist  wahrhaftig  die  Sprache,  die  unser  Karma 
spricht.  Es  ist  Kunstkritik  und  Schlachtbericht  zugleich.  Es  sind 
die  Herren  des  Lebens  und  jeder  Widerstand  vergeblich.  Es  sind 
die  Sieger  von  Rumaroma,  und  dies  ist  glorreicher  als  Rawaruska, 
das  für  mich  schon  in  der  unbeschreiblichen  Lippenstellung  deutsch- 
österreichischer Erzähler  einen  tödlichen  Klang  hat.  Aber  in  der 
Erkenntnis,  daß  das  Deutsche  immer  noch  einer  Steigerung  fähig 
und  das  Jüdische  doch  noch  deutscher  ist,  entsteht  mir  wie  in  einer 


64  — 


Gaswolke  homunkulushaft  der  fixe  Vertreter  dieser  Zeit,  der 
Blätter  und  Blüten  vom  hohen  Kriegsministerium  empfohlen 
wurden,  der  der  Messias  ein  Gummiersatz  ist  und  Kruzifix 
ein  Gott  aus  Granaten. 


Das  deutsche  Wunder,  der  Neid  der  Welt 

Ernst  ist  das  deutsche  Volk.  Was  es  zu  vollbringen  hat,  ist 
stets  durchdacht  und  planmäßig.  In  der  Fähigkeit,  schöpfe- 
risch zu  gestalten,  dem  Mangel  die  Erfindung 
entgegenzustellen,  die  Kräfte  zusammenzufassen 
und  sie  den  Notwendigkeiten  des  Krieges  unterzuordnen,  ist 
Deutschland  so  groß,  daß  selbst  die  Feinde  zur  Nachahmung 
gezwungen  sind.  .  .  .  Die  Verbündeten  sehen  mit  Bewunderung, 
was  eine  einzige  Nation,  umstellt  von  Gegnerschaften  auf  der 
ganzen  Erde,  zu  leisten  vermag.  .  .  . 

Zum  Beispiel : 

Von  einem  neuen  Wunder  der  Chemie,  der  aus  Norddeutschland 
eingeführten,  angeblich  nahezu  fünfzigprozentigen  eiweißhaltigen  soge- 
nannten Mineralnährhefe,  lesen  wir  in  der  .Münchener  Post'  : 
—  —  Die  Mineralnährhefe  sei  ursprünglich  nur  in  den  Volksküchen 
verwendet  und  an  die  Verbraucher  erst  dann  verteilt  worden,  als  die 
Hausfrauenvereinigung  und  die  Hauswirtschaftliche 
Beratungsstelle  erklärt  hatten,  daß  die  Mineralnährhefe  in 
Bezug  auf  den  Nährwert  der  Brauereinährhefe  gleichkomme  .  .  . 
Wir  bestreiten  nun  nicht  etwa,  daß  zur  Herstellung  der  Mineral- 
nährhefe auch  einwandfreie  Rohstoffe  verwendet  werden.  Doch 
halten  wir  an  der  Behauptung  fest,  daß  der  Eiweißgehalt  der 
Mineralnährhefe,  der  ihren  Nährwert  —  auf  den  dabei  doch  alles 
ankommt  —  bestimmt,  vorzugsweise  durch  die  Verwendung  von 
Harnstoff  gewonnen  wird.  Wer  daran  vielleicht  noch  zweifeln  sollte, 
den  verweisen  wir  auf  einen  in  der  .Chemikerzeitung'  veröffentlichten 
Bericht  über  die  66.  Generalversammlung  des  Vereins  der  Spiritus- 
fabrikanten Deutschlands  in  Berlin  am  22.  Februar  d.  J.  Bei  dieser 
Gelegenheit  feierte  der  Geheime  Regierungsrat  Professor 
Dr.  M.  Delbrück  (Berlin)  in  einem  Rückblick  auf  die  Arbeiten 
des  vergangenen  Jahres  als  glänzenden  Triumph  des  reinen 
Geistes  über  die  rohe  Materie  die  neueste  Errungenschaft 
ernster  Forschung  mit  folgenden,  von  höchstem  Gelehrtenstolz 
zeugenden  Worten:  »Eine  schon  1915  begonnene  Arbeitseinrichtung 
wurde   aufs   neue    mit    großem     Erfolg  aufgenommen:  das  ist 


—  65 


die  Ersetzung  des  schwefelsauren  Ammoniaks  bei  der  Erzeugung  der 
Hefe  durch  Harnstoff  Ist  aber  der  Harnstoff  so  zu  verwenden, 
so  liegt  auch  dieMöglichkeit  vor,  in  derselben  Richtung 
den  Harn  und  die  Jauche  'heranzuziehen.«  Die 
Wissenschaft  triumphiert.  Das  Werk  ist  gelungen.  Die  Chemie  hat  das 
Wunder  bewirkt.  Aus  Harnstoff  wird  Nährhefe  erzeugt,  deren 
Eiweißgehalt  hohen  Nährwert  besitzt !  Was  sich  eindeutsches 
Forscherhirn  in  strenger  Arbeit  mühsam  abgerungen 
hat,  das  verstehen  findigeKapitalisten  in  reichen 
Gewinn  auszumünzen.  Und  darum  kostet  das  Kilogramm 
Mineralnährhefe,  gleich  3.60  Mark!  Schade  nur,  daß  das  Zeug  trotz 
des  verschwenderischen  Beisatzes  unheimlicher  Mengen  des  heute  ach 
so  raren  Zuckers  immer  noch  so  grauenhaft  schmeckt  und  gar  so 
abscheulich  stinkt.  Der  unangenehme  Geruch  der  Mineralnähr- 
hefe,  den  selbst  die  bayrische  Lebensmittelstelle  wiederholt  beanstandet 
hat.  wird ? gläubigen  Käufern  damit  zu  erklären  versucht,  daß  man 
einfach  behauptet,  die  Mineralnährhefe  sei  aus  Fischmehl  hergestellt. 
Ebenso  wie  man  dem  Heringsgeruch  eine  so  harmlose  Deutung 
zu  geben  wagt,  wird  natürlich  auch  der  ekle  Petroleum- 
gesch  mack  leicht  auf  Fischtran  zurückzuführen  sein.  Daß  dies 
eine  grobe  Täuschung  des  Publikums  ist,  scheint  ja 
heute  keine  Rolle  mehr  zu  spielen.  Der  üble  Geruch  und  der  widerliche 
Geschmack  sollen  sich  beim  Kochen  vollständig  verlieren.  Das  glauben 
nicht  einmal  die  Volksküchengäste,  die  zuerst  den  Vorzug  genossen, 
mit  diesem  »einwandfreien«  Ersatznährmittel  beglückt  zu  werden.  Wenn 
man  sich  aber  gar  zu  der  kühnen  Behauptung  versteigen  will,  daß 
die  Mineralnährhefe  den  Speisen  einen  »feinen  Wohlgeschmack« 
gebe,  so  grenzt  das  schon  an  Wahnwitz.  Warum  hat  man  denn  die* 
Frage  der  Gesundheitszuträglichkeit  nicht  geprüft  ?  Nach  Sachver- 
ständigengutachten, die  allerdings  aus  besseren  Zeiten  stammen,  kann 
ein  Nahrungs-  oder  Genußmittel,  das  an  sich  nicht  gesundheitsnachteilig 
ist,  gesundheitsstörend,  ja  sogar  gesundheitsschädlich  wirken,  wenn 
die  Art  der  Herstellung  oder  die  Zusammensetzung  der  verwendeten 
Materialien  geeignet  ist,  Ekel  zu  erregen.  Darum  verschone 
man  uns  in  Bayern  wenigstens  mit  einem  so  zweifelhaften 
Ersatznährmittel. 


Was  man  sich  in  Deutschland  gefallen  läßt 

[Theater  in  Frankfurt  a.  M.]  Rudolf  Lothars  »Metternich- 
p  a  s  t  e  t  e«,  die  das  Schauspielhaus  als  leichtbekömmliches, 
schmackhaftes  Weihnachts  g  e  b  ä  c  k  auf  eleganter  Schüssel 
anrichtete,  ist  als  Hohelied  der  kulinarischen  Genüsse, 


—  66 


der  Galgenhumor  rationierter  Enthaltsamkeit.  Ein  Phantasiekitzel 
des  lüsternen  Gaumens,  der  aufreizend  wirken  könnte, 
wäre  er  nicht  durch  Witz  und  Laune  des  appetitlichen  Einfalls 
behaglich  abgelenkt.  In  der  bunten  Gesellschaft  um  des  beruh  mten 
Wiener  Gastwirts  Wiesinger  Feinschmeckertafel 
schnuppern  wohlkonterfeite  Typen  die  erlesenen  Küchen- 
düfte, und  die  Geschichte  von  dem  Proletarier  mit  dem  Aristokraten- 
dünkel, der  sich  noch  rechtzeitig  zu  seinen  Kochtöpfen  und 
ins  solide  Ehejoch  zurückzieht,  wird  zu  harmlos  heiterem  Spiel,  das 
bei  der  hiesigen  reichsdeutschen  Erstaufführung  lebhaften  Anklang 
fand.  Der  anwesende  Autor  verzeichnete  eine  stattliche  Anzahl  von 
Hervorrufen. 

Im  Frieden  hätten  sie  vielleicht  gekotzt.  Jetzt  regen  sie  sich 
nur  auf  und  verhelfen  dem  lieben  Schneck  dankbar  zu  etwas 
Kriegsgewinn.    Diesen   Märtyrern   ist  wirklich  nicht  zu   helfen. 


Der  Maßstab 

Wolff  —  —  Sollten  aber  die  Dampfer,  wie  anzunehmen  ist, 
nicht  nur  Munition,  sondern  auch  Geschütze  oder  Lebensmittel  an 
Bord  geführt  haben,  so  wäre  der  Schaden  für  die  Feinde  nicht  geringer. 
Mit  einer  solchen  Ladung  Brotgetreide  reicht  zum  Beispiel  ein  feind- 
liches Heer  von  einer  Million  Mann  Stärke  nach  deutschen 
Sätzen  gut  ein  Vierteljahr  lang  aus. 


Wolff 

.  .  .  Die  Stimmung  der  am  Angriff  beteiligten  Truppen  ist 
glänzend.  Obwohl  sie  drei  Tage  ohneSchlaf  sind,  läßt  die 
Siegesfreude  sie  alle  Strapazen  vergessen. 
Das  ist  glaubhaft.  Noch  glaubhafter  ist  dieses: 
Die  Verpflegung  aus  der  englischen  Beute 
ist  vortrefflich.  Überall  finden  die  deutschen  Sturmtruppen 
Tabak,   Zigaretten,    Konserven   und   noch  andere  willkommene  Dinge. 


67 


Klarstellung 

.  .  .  Keinesfalls  aber  sind  Mehl-  oder  Getreidesendungen 
galizischer  Provenienz  in  die  Ukraine  abgegangen. 

Nämlich  für  die  Armee.  Es  mußte  festgestellt  werden, 
weil  offenbar  Gerüchte  umgingen,  daß  das  Getreide  aus  der 
Ukraine,  das  nicht  wir,  aber  die  Deutschen  bekommen,  aus  Öster- 
reich in  die  Ukraine  und  von  da  nach  Deutschland  gehe,  damit 
die  Deutschen  Getreide  aus  der  Ukraine  bekommen. 


Immer  noch  mehr  Gäste 

—  —  Rowno  wurde  vom  Feinde  gesäubert  —  —  An 
Gefangenen  ein  kommandierender  General,  mehrere  Divisionskom- 
mandanten, 425  Offiziere  und  8700  Mann  —  — 

Das  ist  gscheit,  sollen  sich  die  armen  Teufel  auch 
einmal  satt  essen. 


Die   offen    geäußerte    Freude    über    das    Gefangensein 

schafft  für   den  Mangel    an  Widerstandskraft   günstige 

seelische  Voraussetzungen 

W  o  1  f  f Die  Gefangenen  bestätigen  in  allem  die  Annahmen 

der  deutschen  Führung.  Der  Gegner  war  diesmal  auf  den  Stoß 
vorbereitet.  .  .  .  Das  deutsche  Artilleriefeuer  scheint  einen  großen  Teii 
des  Gegners  völlig  entnervt  zu  haben.  Die  mit  Nachdruck  zur  Schau 
getragene  Kriegsmüdigkeit  unddie  offen  geäußerte  Freude 
über  das  Gefangensein  mag  für  diesen  Mangel  an  Wider- 
standskraft günstige  seelische  Voraussetzungen 
geschaffen  haben. 

Wir  haben  in  diesem  Kriege  auch  in  dem  Punkt  umgelernt, 


68 


daß  wir  bisher  eher  der  Meinung  waren,  daß  der  Mangel  an 
Widerstandskraft  günstige  seelische  Voraussetzungen  für  die 
Gefangennahme  und  für  die  darüber  offen  geäußerte  Freude  schafft. 


Exegese 

In  zwei  Schulter  an  Schulter  abgedruckten  Berichten  fiel 
mir  die  Verschiedenheit  auf:  »unter  Mitwirkung  der  unver- 
gleichlichen Stoßkraft  deutscher  Truppen«  und  »und  die  mit 
unüberwindlicher  Stoßkraft  vorgehenden  deutschen  Streitkräfte«. 
Ferner:  sollte  man  im  vierten  Jahr  der  Erkenntnis  nicht  auf  die 
stets  gleichlautende  Wendung  verzichten  wollen:  »In  frischem 
Draufgehen  erzwangen  sich  .  .  .«? 


Vor  dem  Anfangsstadium 

Lebhafte    Genugtuung    in    Berlin 

Berlin,  17.  Juni.  Die  Nachrichten  von  dem  erfolgreichen  Vor- 
stoß der  Österreicher  gegen  Italien  haben  hier  lebhafte  Genugtuung 
ausgelöst.  .  .  .  Die  gesamte  Presse  enthält  sich  vorläufig  aller  kritischen 
Betrachtungen,  da  das  Unternehmen  in  seinem  Anfangs- 
stadium    ist. 

Als  ich  Anfangs  Mai  in  Berlin  war,  konnte  ich  bereits 
lebhafte  Ungeduld  beobachten.  In  der  Friedrichstraße  schritt 
manch  ein  Berliner  Schieber  mit  einem  Wiener  Schieber  Schulter 
an  Schulter.  Aber  manchmal  stieß  einer  und  man  hörte  die 
unwirsche  Frage:  »Wann  geht  Ihr  denn  los?«  Antwort:  »Weiß 
ich?«  Oder  zwei,  die  einander  verstanden,  begrüßten  einander 
mit  schlichtem  Treugruß:  «Nanu?«  »Nuna!« 


69 


Waffenbrüder 

Gelegentlich  des  Unfugs,  der  >  Waffenbrüderliche  Ärzte- 
tagung« hieß,  hatte  man  überhaupt  nicht  mehr  das  Gelühl, 
daß  wie  sonst  Streber  von  Fleisch  und  Blut  zusammen- 
kommen, um  sich  gegenseitig  etwas  vorzumachen,  was  in  die 
Zeitung  kommen  soll,  sondern  es  schien  eine  Monstreversamm- 
lung  der  selbstredenden  Phrasen  zu  sein.  Die  Entmenschung, 
die  in  der  Idee  steckt,  Ärzte  als  »Waffenbrüder«  figurieren  zu 
lassen,  und  dies  nicht  etwa  im  ehrlichen  Sinne  von  Menschen- 
materiallieferanten  und  A-Befundleistern,  sondern  im  Zeichen 
der  über  Wurfminen  waltenden  Humanität  —  das  allein 
hätte  schon  ausgereicht,  um  einen  Dickhäuter  nervenkrank  zu 
machen.  Nun  aber  denke  man  sich  das  noch  mit  der  ganzen 
ausgewaschenen  Terminologie  der  Bündnistreue  ausgerüstet,  die 
ebenso  von  den  andern  Waffenbrüderinnungen  getragen 
werden  könnte,  so  ergibt  sich  eine  Zusammenstellung  von  Panzer 
und  Vollbart,  wie  sie  ehedem  nur  bei  jenen  Gelegenheiten  zu 
beobachten  war,  wo  erwachsene  Leute  einander  plötzlich  und 
grundlos  mit  »Lu-lu!«  anredeten  und  eine  Gestalt,  die  aus  einem 
Spitzbauch,  einer  Glatze  und  einer  Brille  bestand,  »Herrlichkeit« 
tituliert  ward,  jene  Leute,  die  sich  im  Frieden  Schlaraffen 
nannten  —  ein  Ehrennamen,  dem  die  geänderten  Daseinsbedin- 
gungen vollends  die  Geltung  entziehen  mußten  — ,  sind  heute  froh, 
mit  heiler  Haut  in  der  Waffenbrüderlichkeit  ein  Unterkommen 
gefunden  zu  haben.  Gewohnt,  in  Not  und  Tod  ihren  Obmann 
zu  stellen,  haben  sie  im  Treubund  den  passenden  Ersatz  für  die 
verlorene  Vereinsmeierei  erkannt  und  können  ein  Leben,  das 
in  »Fühlungnahme«  besteht,  mit  Erfolg  fortsetzen.  Während 
die  draußen  in  den  Schützengräben  auf  die  Hinrichtung  warten, 
findet  man  sich  in  der  Sorge  um  den  Fremdenverkehr  und  in  sonstigen 
humanitären  Verrichtungen  zusammen  und  ist  entschlossen,  »die 
einheitliche  Front  unserer  Kulturarbeit«  herzustellen,  was  nur 
Reklame  und  gar  keine  Gefahr  bringt,  da  erfahrungsgemäß  außer 
mir  kein  Feind  auf  diese  Front  schießt.  Während  sich  draußen 
die  Dinge  begeben,  die  es  leider  gibt,  werden  drinnen  die 
Ornamente     des     blutigen    Seins    entrollt    und    jene    Fahnen 


—  70  — 


hochgehalten,  die  draußen  längst  durch  wirksame  Chemikalien 
ersetzt  sind,  und  wirklich  und  wahrhaftig  ruft  der  präsidierende 
Fürstenberg  die  Worte  aus:  »Schwere  Wunden  hat  der  Krieg 
geschlagen,  sie  zu  heilen  ist  unsere  erste  und  vornehmste 
Pflicht.«  Aber  da  es  doch  tatsächlich  Ärzte  sind,  die  an  dieser 
Pflicht  des  Fürstenberg  teilhaben  sollen,  so  stellt  er  ihnen  das 
Zeugnis  aus,  die  ärztliche  Wissenschaft  sei,  »nach  allen  Seiten 
abgeschlossen  durch  einen  Wall  von  Schützengräben,  aus- 
schließlich auf  sich  selbst  angewiesen,  und  was  sie  geschaffen 
hat,  das  schuf  sie  aus  ureigener  Kraft«.  Also  ohne  Fühlung- 
nahme mit  den  französischen  Ärzten,  die  allerdings  das  gleiche 
Schicksal  und  das  gleiche  Verdienst  haben.  »Keine  Anregung 
drang  aus  dem  Feindesland  zu  ihr«,  setzt  Fürstenberg  erläuternd 
hinzu.  Ein  Ministerialdirektor  aus  Berlin  —  ich  höre  ihn  —  ist 
eher  geneigt,  diese  Hindernisse  der  Vorsehung  hoch  anzurechnen, 
da  ja  sie  eben  den  Treubund  geschaffen  haben,  »der  nicht  mit 
dem  Kriege  endigen«,  durch  den  aber  leider  auch  der  Krieg 
nicht  endigen  wird.  »Im  Sturm  des  Krieges«,  ruft  er,  »verspüren 
wir  vielmehr  den  Hauch  des  göttlichen  Geistes,  der  uns  gebietet, 
fortan  gemeinsame  Wege  zu  wandeln.  Zusammen  zu  sterben 
haben  wir  gelernt;  wir  müssen,  wir  werden  noch  lernen, 
zusammen  zu  leben.«  Und  nun,  vor  dieser  Aussicht,  ist  die  ganze 
Gesellschaft  von  Ärzten,  Würdenträgern  und  sonstigen  Verehrern  des 
Zeitalters  vom  Begriff  der  Bündnistreue  derart  fasziniert,  daß  ein 
förmliches  Coriandoliwerfen  mit  den  einschlägigen  Bezeichnungen 
anhebt.  Der  Generalstabsarzt  Hofrat  Professor  Dr.  v.  Hochenegg 
war,  als  sich  mir  dabei  der  Magen  umdrehte,  verhindert,  mir 
die  erste  ärztliche  Hilfe  zu  leisten,  denn  er  war  gerade  mit  einer 
loyalen  Behandlung  des  Protektorats  beschäftigt  und  mit  der 
Begrüßung  sowohl  der  »in  waffenbrüderlicher  Gemeinschaft 
verbündeten  Ärzte«  wie  der  »angesehenen  behördlichen  Vertreter 
der  in  Bündnistreue  uns  verbündeten  Staaten«,  worauf  der  Herr 
Kollege  und  Vorstand  der  ärztlichen  Abteilung  der  Ungarischen 
Waffenbrüderlichen  Vereinigung  »in  schwungvollen  Worten  die 
Leistungen  der  Krieger  feierte«,  nicht  ohne  auch  über  die  Friedens- 
aufgaben der  Waffenbrüderlichen  Vereinigung  zu  sprechen  sowie 
vom  festen  Band  des  Dualismus,  von  welchem  Band  er  wörtlich 


—  71 


sagte,  daß  es  > heute  ebenso  wie  vor  einem  halben  Jahrhundert 
durch  die  wohltätige,  zartfühlende  Kaiserin  und  Königin,  die 
mit  dem  Strahlenglanz  ihrer  Jugend,  ihrer  Schönheit  und  Herzens- 
güte die  Härten  des  Krieges  mildert,  noch  enger  geknüpft  wird«. 
Nachdem  sich  dies  begeben  hatte  und  die  Menschenfreunde 
waffenbrüderlich  auseinandergegangen  waren,  erfolgte,  was  vor- 
auszusehen und  nicht  länger  mehr  zurückzuhalten  war,  der 
hinter  dem  Hochenegg  schon  lauernde  Suckfüll  trat  auf  die 
Szene  und  »im  Anschluß  an  die  Tagung  der  ärztlichen 
Abteilungen  der  waffenbrüderlichen  Veieinigungen  fand  ein 
Gedankenaustausch  statt«,  nämlich  unter  Vertretern  der  »Fach- 
gruppen für  Fremdenverkehr  der  waffenbrtiderlichen  Vereinigung«. 
Wir  waren  bis  auf  den  Kern  der  Waffenbrüderlichkeit  vorge- 
drungen, bis  zu  der  nie  zu  begrabenden  Hoffnung,  daß,  was 
immer  auch  noch  kommen  mag,  den  Wirts-  und  Wurzbestrebungen 
zugute  kommen  werde.  In  Not  und  Tod  ist  das  bekannte  Frosch- 
schenkelexperiment ausführbar:  man  reiße  diesem  Kadaver  der 
Gemütlichkeit  die  letzte  Haxen  aus,  sage  vor  derselben  ganz  leise, 
ganz  gemütlich  das  Wort  »Fremdenverkehr!«,  und  man  wird 
sehen,  wie  sie  zu  tanzen  beginnt.  Österreich  lebt,  und  aus 
diesem  Bedürfnis  nach  Fühlungnahme  entstand  der  Geselligkeits- 
klub »D'  Waffenbrüder«. 


Aus  eiserner  Zeit 

—  Im  Festsaale  des  Korpskommandogebäudes  dekorierte 
Sonntag  Stadtkommandant  GM.  v.  Mossigg  eine  Anzahl  Offiziere 
der  Kriegervereine  mit  den  Auszeichnungen,  die  ihnen  der  Kaiser 
in  Anerkennung  ihrer  seit  Kriegsbeginn  mit  aufopfernder  Pflichttreue 
geleisteten  Dienste  verliehen,  darunter  den  Kompagniekom- 
mandanten des  Marinekriegervereines  »Tegetthoff«  Ludwig 
Riedl    (Kriegsdekoration   zum  Ritterkreuz  des  Franz  Josefs-Ordens). 


—  72  — 


Neoromantik 

—  —  Blut  und  Eisen  schufen*  unlösliche  Bande  zwischen  Euch 
und  Euren  aktiven  Kameraden,  in  Not  und  Tod  erprobte  Schicksals- 
gemeinschaft hat  uns  für  immer  geeint. 

Die  Vorbereitungen  zur  Schaffung  solcher  Vereine  oder  zur 

Ausgestaltung  schon  bestehender  wären  unter  Beobachtung  der  unter 
einem  ausgegebenen  Leitlinien  für  die  Gründung  von  Vereinen  und 
Vereinigungen  nichtaktiver  Offiziere  und  Gleichgestellter  unverzüglich 
in  Angriff  zu  nehmen. 

Freiherr  v.  Stöger-Steiner  m.  p. 
Generaloberst. 


Heldensage 

—  —  dem  Generalmajor  Ernst  D  i  e  t  e  r  i  c  h  (Prädikat 
»N  o  r  d  g  o  t  h  e  n«)  —  — 

Das  ist  einmal  eine  Nuance  in  der  Liste  der  Nowotny 
von  Eichensieg,  Schlepitschka  von  Schlachtenwert  und  Husserl 
von  Feldsturm.  Nur  wird  es  sich  späterhin  doch  zeigen  müssen, 
ob  auch  die  neuen  technischen  Mittel  der  Glorie  die  Eignung 
haben,  Embleme  und  Prädikate  abzugeben,  etwa:  Viktor  Nowak 
(Prädikat  »Minenfeld«)  oder  Franz  Kratochwil  (Ehrenwort  »Edler«, 
Prädikat  »Grünkreuz«)  oder  Vinzenz  Dudek  von  Drahtverhau. 
Warum    nicht?   Nach  hundert  Jahren  wär's  romantisch. 


Edda 

»Sie  haben  recht«, 
sagte   Kaiser   Wilhelm  IL    im    Hauptquartier  zum  Dichter  Max 
Bewer  vom  Lokalanzeiger, 

»Hindenburg    ist  unser  Wotan  und  I.  u  d  t  n  d  o  r  f  f  der 
Siegfried  unserer  Zeit« 


—  73  — 


Aus  der  Ordination 

[Kaiser  Wilhelm  und  die  >  Enthüllungen  <  des  amerikanischen 
Zahnarztes  Dr.  Davis.]  Die  .Times'  fahren  mit  der  Publikation  der 
Erinnerungen  des  amerikanischen  Zahnarztes  Dr.  Davis  fort,  der  seine 
eigenartige  Auffassung  vom  ärztlichen  Berufs- 
geheimnis in  diesen  Memoiren  in  der  merkwürdigsten  Weise 
betätigt.   —   — 

Da  der  Zahnarzt  die  politischen  Äußerungen,  die  in  der 
Ordination  gefallen  sind,  und  nicht  das  Leiden  des  Patienten 
verrät,  so  ist  der  Vorwurf  der  Verletzung  des  ärztlichen  Berufs- 
geheimnisses eine  Dummheit.  Der  Esel  scheint  zu  glauben,  daß 
der   Dr.    Davis   nicht   Zahnarzt,    sondern   etwa   Nervenarzt   ist. 


Einzel  Unternehmungen 

Ein  Soldat,  der  offenbar  nicht  im  Vollbesitze  seiner 
Vernunft  war,  erregte  vorgestern  auf  dem  Franzensrirg  beträchtliches 
Aufsehen.  Er  erkletterte,  nachdem  er  sich  teilweise  entkleidet  hatte, 
das  Liebenberg-Denkmal  und  stach  mit  dem  Rufe:  >Du  Hundl  Du 
Italiener!«  mit  dem  Messer  gegen  das  Porträtmedaillon  Lieben- 
bergs und  gegen   die  Figur  des  Löwen  .... 

Die  Pallas  Athene,  im  Verdacht  eine  Griechin  zu  sein, 
steht  demnach  als  verfolgte  Unschuld  nicht  mehr  allein  auf  der 
Welt  und  der  Tegetthoff  sowie  die  Maria  Theresia  sollen  in- 
zwischen nachgefolgt  sein.  Wenn  die  irrsinnigen  Soldaten  Raison 
annehmen  und  sich,  eines  Führers  durch  die  Sehenswürdigkeiten 
Wiens  bedienen  wollten,  könnte  die  Aktion  planvoll  zu  Ende 
geführt  werden.  Was  ist  denn  mit  den  Flußgöttern  an  der 
Albrechtsrampe?  Mit  dem  Canon  vor  dem  Stadtpark?  Na,  und 
der  Radetzky  vor  dem  Kriegsministerium,  ist  der  vielleicht  kein 
Feind?  In  Deutschland  wird  die  Sache  organisiert,  die  Denkmäler 
werden  einfach  eingezogen,  das  heißt,  wenn  sie  aus  Bronze  sind. 
Die  Wiener  Methode  hat  den  Vorteil,  daß  das  Material  keine  Rolle 
spielt.  Aber  solange  Jas  Unternehmen  nicht  vom  Kriegsministerium 


74  — 


in  die  Hand  genommen  wird,  sondern  der  Initiative  einzelner 
herumziehender  Soldaten,  vermutlich  >Heimkehrer«  oder  am 
Ende  gar  »Tachinierer€,  überlassen  bleibt,  besteht  die  Gefahr, 
daß  solche  Vorstöße  ohne  Entwicklung  bleiben  und  daß  wir 
das  einzige  anständige  Ergebnis  des  Weltkriegs,  die  Befreiung 
Wiens  von  seinen  Denkmälern,  nicht  erleben  werden. 


Alles  für  die  Kunst 

Zum  Schutze  der  Kunstdenkmäler  in  den  besetzten  italienischen 
Gebieten  haben  die  beiderseitigen  Heeresleitungen  die  weitestgehenden 
Maßnahmen    getroffen.    —  —    eine    eigene  Kunstkommission  —  — 

Besondere  Referenten  bereisen  das  besetzte  Gebiet die  w  i  r  k  1  i  c  h 

wertvollen  Denkmäler  im  allgemeinen  nirgends  n  e  n'n  e  n  s  w  e  r  t  e  n 

Schaden  gelitten Namentlich  sind  die  Kirchen  fast  überall 

unversehrt.  Einige  wenige  Ausnahmen  sind  durch  Zufalls- 
treffer der  Artillerie  oder  der  Flieger  verursacht  worden.  Bedeutend 
ist  der  Schaden  nicht.  Wertvolle  Bilder  aus  Kirchen,  Museen  und 
aus  Privatbesitz  waren  schon  seit  langer  Zelt  von  den  Italienern 
selbst  entfernt  worden;  angeblich  sind  sie  geborgen  oder 
meist  nach  Florenz  zur  Restaurierung  gebracht  worden  —  —  Das 
Stadtbild  als  Ganzes  ist  meist  unversehrt  geblieben.  Die  zahl- 
reichen Paläste  des  friaulischen  Adels  in  Udine  und  die  vielen 
Landschlösser  sind  äußerlich  unberührt. 

Alles  gerettet.  Aber  Zerstörungen  im  Feindesland  geschehen 
doch  nie  mit  Absicht?  Und  Treffer  sind  doch  immer  Zufalls- 
treffer? Wer  kann  denn  für  die  Richtung  einer  Bombe  garantieren? 


Der  Feuilletonist  am  Piave 

Er  ist  als  Mitglied  der  Kunstkommission  oder  als  deren 
begleitender  Schilderer  in  Venetien  einmarschiert  und  beschreibt 
es  in  Zürich.  Einleitung: 


—  75 


—  —  Als  Wanderer  war  man  in  einer  Zeit,  die  eben  noch 
nicht  die  große  Zeit  war,  aber  eine  glücklichere,  so  oft 
im  Lande  der  Sonne  gewesen:  nicht  als  Reisender.  Und  hatte  mit 
den  Leuten  drunten  gelebt  wie  einer  von  ihnen. 

Es  ist  nicht  mehr  wie  damals.  Krieg.  Verwüstung.  Durch  wen  ? 

Den  mancherlei  Privatpalästen  des  Friauler  Adels  ist  es  beim 
Rückzug  der  Italiener  und  in  der  herrenlosen  Über- 
gangszeit nicht  eben  so  gut  ergangen.  Es  scheint  manche 
gegeben  zu  haben,  die  ein  Stückchen  Weltuntergang  nahe  sahen  und 
rasch  noch  vorher  die  Freuden  der  Welt,  von  denen  sie  bisher 
ausgeschlossen  waren,  verkosten  wollten.  Die  ersten  Ein- 
quartierten werden  wohl  auch  nicht  in  der  Verfassung 
gewesen  sein,  weiter  das  asketische  Leben  vom  Karst  inmitten  des 
natürlichsten  Überflusses  zu  führen.  Es  ist  nur  zu  begreiflich. 

Aber  seither  waltet  volle  Strenge. Den  operierenden 

Truppen  sind  die  Kunstwerke  in  ihrem  Bereich  genau  bezeichnet. 
Alle  Sorgfalt  konnte  aber  natürlich  nur  dem  Gut  gelten,  das  man 
noch  vorfand. 

Zwar  : 

Den  Italienern  kann  man  das  Zeugnis  nicht  versagen,  daß  sie 
im  besetzten  und  nun  wieder  befreiten  österreichischen  Gebiet  Kunst- 
werke geschont  haben. 

Jedoch : 

Der  Übergang  von  der  italienischen  zur  österreichischen 
Besetzung  vollzog  sich  hier  ganz  jäh.  Herrensitze  dieses  schönen 
Gebietes  wie  z.  B.  Fiumicello  bei  Aquileja,  sahen  im  Innern  schlimm 
genug  aus,  und  der  Rückzug  hat  dort  schlimmer  gewütet  als 
in  den  Palästen  von  Udine. 

Nun  aber  ist  hüben  und  drüben  —  die  neutralen  Leser 
können  eine  Freude  haben  —  alles  in  schönster  Ordnung. 

Und  damit  schwindet  das  Grauen  der  unbewohnten  Wohnungen, 
und  eine  Gefahr  für  die  Häuser  und  Bilder  und  für  das  Bild  des 
Landes  selbst  kann  nur  noch  von  drüben,  von  der 
anderen  Seite,  kommen.  Wer  mit  den  Friulanern  gut  sprechen 
kann,  dem  sagen  sie,  daß  sie  es  sich  weit  schlimmer 
gedacht  hätten.  Und  wer  für  Pordenone,  Conegliano,  Belluno 
und  Feltre  bangt,  möge  erfahren,  daß  nur  noch  die  eigenen 
Landsleute  diesen  schönen  Städtchen  schaden  können. 

Das  Land  wäre  also  zufrieden,  wie  in  jener  Zeit  vor  dem 
Kriege,  in  jener  glücklicheren  Zeit? 


76 


Schluß: 

Was  diesem  Lande  fehlt,  das  fehlt  der  ganzen  Erde:  der 
Friede.  Und  von  der  Barbarei  des  Krieges  hat  es  sicherlich 
weniger  gesehen  als  von  der  Barbarei  der  Vorkriegs- 
zeit,   unter    der    wir    alle    gelitten    haben. 

Der  Arme!  Was  muß  der  gelitten  haben,  ehe  er  ins 
Kriegsarchiv  kam!  Er  hat  den  Krieg,  beziehungsweise  dessen 
Archiv,  gar  nicht  erwarten  können.  Die  Zeit  vor  dem  Krieg, 
die  sich  anfänglich  als  eine  glückliche  Zeit  anließ,  stellt  sich 
zum  Schluß  als  eine  barbarische  heraus,  unter  der  auch  die 
Leute  am  Piave  und  speziell  die  Friulaner  furchtbar  gelitten  haben. 
Auch  sie  haben  es  nicht  erwarten  können.  Alles  sehnte  sich. 
Und  als  er  dann  endlich  kam,  der  Krieg,  da  waren  sie  alle  froh, 
daß  es  nun  mit  der  Barbarei  ein  Ende  hatte.  Denn  von  der  Barbarei 
des  Krieges,  von  der  Gerüchte  umgingen,  haben  sie,  die  Friulaner, 
so  wenig  zu  sehen  bekommen,  daß  sie  oft  glaubten,  der  Piave 
fließe  am  Kriegsarchiv  vorbei. 


Von  der  Front 

Komponist  Oberleutnant  Hans  Zieger  vom  Festungs- 
artillerieregiment Nr.  7,  der  seit  Kriegsbeginn  an  der  Front  steht  und  mit 
dem  Militärverdienstkreuz,  beiden  Signum  laudis  und  dem  Karl-Truppen- 
kreuz dekoriert  ist,  hat  sein  Schaffen  auch  im  Felde  fortgesetzt. 
Er  hat  die  Operette  „Eine  Brautnacht"  aus  der  Feder  des 
Wiener  Schriftstellers  Moritz  Band  komponiert. 


Neues  Verdienst 

(Verleihungen.)    Der  Kaiser  hat  verliehen:    das  Ritterkreuz  des 

Franz  Josef-Ordens  mit  der  Kriegsdekoration: inAnerkennung 

hervorragender    künstlerischer    Leistungen    vor 
dem  Feinde  dem  akademischen  Maler  Leo  Schneider  —  — 


Vor  dem  Sturm 

[Ein  <J  u  g  e  n  d«  -T  i  t  e  1  b  1  a  tt  von  der  Hand  des 
deutschenKronprinzen.)  Die  Münchner  »Jugend«  wird  Anfang 
Mai   eine  Zeichnung  des   deutschen   Kronprinzen  veröffentlichen,   die 


77 


dieser  selbst  der  Schriftleitung  mit  dem  Wunsche  übersenden  ließ,  sie 
als  TitelblaU  zu  veröffentlichen.  Das  farbige  Blatt  stellt  einen  Soldaten 
der  Sturmtruppe  dar,  in  der  rechten  Hand  das  Gewehr  mit  aufgepflanztem 
Bajonett.  Die  Arbeit  entstand  an  der  Front  mitten  in  den  Vorbereitungen 
zur  großen  Offensive. 


Während  der  Offensive 

[Erich  Jan  Hanussens  telepathische  Seance]  im  großen  Konzert- 
haussaale fand  vor  vollem  Hause  mit  ebenso  großem  Erfolge  statt 
wie  das  erstemal.  In  der  Hofloge  fanden  sich  abermals  Erzherzog 
Leopold  Salvator,  Erzherzogin  Blanka  mit  ihren  Töchtern  ein.  Das 
Publikum  wählte  diesmal  zu  seinen  Vertrauens- 
männern den  anwesenden  F e 1 d m a r s c h a  1 1  C o n r a d 
v.  Hötzendorf  und  Herrn  Dr.  Siegfried  Türkei, 
Vorstand  der  Physiologischen  Gesellschaft,  welch  letzterer  auch  die 
äußerst,  gelungenen  Experimente  leitete.  Die  Überwachungskommission 
von  Medizinern  und  mehreren  Offizieren,  vom  Publikum 
ebenfalls  gewählt,  führte  stets  den  Telepathen  außerhalb  des 
Saales,  während  im  Saale  die  auszuführenden  Experimente  bestimmt 
wurden.  Verblüffend  wirkte  wieder  das  Auffinden  von  gedachten 
Personen,  die  Handlungen  auszuführen  hatten,  ebenso  als  der  Telepath 
eine  Stecknadel  fand,  die  vorher  in  der  Quaste  des  aus  der 
H  o  f  1  o  g  e  herabhängenden  Teppichs  versteckt  worden  war  .... 

Ob  auch  die  tschechischen  Verräter  gesucht  wurden,  sagt 
der  Bericht  nicht.  In  der  ersten  Veranstaltung  war  Herr  Reimers 
Vertrauensmann,  und  ein  Bekannter  erzählte  mir,  daß  ihm  toten- 
übel wurde,  als  ein  Breitmaul  von  einem  Generaldirektor, 
Verwaltungsrat  oder  so  was  aus  diesem  Anlaß  »Bravo  Reimers« 
rief.  Daß  beim  Auftreten  des  Vertrauensmannes  Österreichs  in 
diesem  Milieu  nicht  Hoch  gerufen  oder  der  Radetzky-Marsch 
intoniert  wurde,  beweist  wohl,  daß  das  Konzertpublikum  bereits 
kriegsmüde  ist. 


78 


An  der  Plavefront 

(Ein  Renkonter  an  der  Piavefront.)  Eine  am  23. 
Juni  d.  J.  in  Manzano  am  P  i  a  v  e  gefallene  Beleidigung  bildete  heute 
beim  Strafbezirksgerichte  Josefstadt  den  Gegenstand  einer  Ehren- 
beleidigungsklage, welche  der  Varietödirektor  Karl  Edler  gegen 
den  Kapellmeister  Edmund  Kellner  angestrengt  hatte.  Wie  in 
der  durch  Dr.  Sp.  vertretenen  Klage  ausgeführt  wurde,  hatte  der 
Kläger  im  Juni  dieses  Jahres  mit  einem  Artistenensemble  mehrere 
Vorstellungen  an  der  Piavefront  gegeben.  Am  23.  Juni 
befand  sich  der  Kläger  mit  mehreren  Mitgliedern  seines  Ensembles  in 
der  Offiziersmesse  in  Manzano.  Während  des  Mittagessens  sprach 
man  über  die  Vorstellungen  des  Frontvariet£s.  Einer  der  Herren 
lobte  es,  daß  die  Vorstellungen  einen  glatten  Verlauf  nehmen  und 
daß  insbesondere  die  anderwärts  oft  vorkommenden  langen  Pausen  bei 
diesen  Vorstellungen  nicht  eintreten.  Der  Kapellmeister  Kellner  machte 
nun  die  Bemerkung,  daß  es  dennoch  bei  Vorstellungen  des  Herrn 
Edler  nicht  gar  so  glatt  abgehe.  Als  der  Direktor  über  diese 
in  Gegenwart  vieler  Offiziere  gemachte  Bemerkung  sich 
aufhielt,  sagte  ihm  Kellner:  »Was  weißt  du,  du  schläfst  ja  während 
der  Vorstellung.«  Im  weiteren  Verlaufe  des  Wortwechsels  soll  der 
Kapellmeister  dem  Direktor  mit  Ohrfeigen  gedroht  und  ihm  zugerufen 
haben:  »Du  bist  ja  ein  Niemand I«  Diese  Äußerungen  bildeten  den 
Gegenstand  der  eingangs  erwähnten  Klage.  .  .  .  Nachdem  zwei  Zeugen, 
die  bei  dem  erwähnten  Wortwechsel  an  der  Piavefront  anwesend 
waren,  die  Angabe  des  Klägers  bestätigt  hatten,  verurteilte  der  Richter 
den  Angeklagten  wegen  Ehrenbeleidigung  zu  einer  Geldstrafe  von 
100  Kronen. 

Viel  glatter  soll  es  ebendaselbst  beim  Gastspiel  des 
Hofopemballets  abgegangen  sein. 


Sturmtrupps 

.  .  .  Dreißig  neue  Wiener  Operetten!  Die  Wiener  Operette 
bereitet  für  die  kommende  Saison  eine  heftige  Offensive  vor.  Ein 
Operettenstatistiker  teilt  mit,  daß  für  die  neue  Spielzeit  nicht  weniger 
als  dreißig  neue  Operetten  drohen.  Wie  in  den  letzten  Jahren  werden 
Fall  und  Lehär,  Kaiman  und  Strauß,  Nedbal  und  Eysler  als  Sturm- 
truppen vorgeschickt.  .  .  .  Die  Phalanx  der  bewährten  Operetten 
komponisten  und  Buchmacher  ist  eben  nicht  zu  brechen! 


—  79 


In  der  Kampfzone 

—  —  Andere  Kommandos  suchte  im  Auftrage  des  Kaisers 
Feldmarschall  Erzherzog  Friedrich  auf,  der  bis  in  dieKampf- 
zone  vordrang,  um  möglichst  vielen  Truppen,  die  der  Monarch 
nicht  sehen  konnte,  den  kaiserlichen  Gruß  zu  überbringen  und  sich 
von  ihrer  Schlagfertigkeit  und  ihrem  durchwegs  vorzüglichen  Geiste 
Überzeugung  zu  verschaffen. 


Es  war  ein  Film 


E  i  n  1  a  c 

u  n  g 

zur 

P  r  e  i  s  v  e  r 
Heute  Donnerstag  den  23. 
wird  auf  der  Terrasse  des 

eilung 

Mai,  mittags  lh  1   Uhr 
Kursalons  im  Stadtpark 

Herr    Hubert    Marischka 
vom  Theater  an  der  Wien 

jener   Dame,    welche    das 
VIII.    Kriegsani 

größte    Opfer    für  die 
eihe    bringt, 

einen    Kuß     ve 

r  a  b  r  e  i  c  h  e  n. 

Das  Komitee. 

An  der  Spitze  der  Kriegszeitungen  stand  es,  den  Offen- 
siven voran,  im  vierten  Jahr,  eine  Fata  morgana  auf  dem 
Wüstenweg.  Es  war  ein  Film.  .  . 


80 


Gerichtssaalbericht 

- —  —  Mitte  November  redete  sich  Direktor  Wallner  aus,  er 
könne  jetzt  nicht  zehn  Proben  abhalten,  er  müsse  das  Stück 
des  Ministerpräsidenten  aufführen,  beschwor  ihn,  von 
dem  Termin  abzustehen  und    versprach  ihm  unter  Ehrenwort    —    — 

Unsere  Zeitungen  sollte  man  wirklich  nicht  ins  Ausland 
lassen. 


Lauter  Rücktrittsgründe 

—   —    Im    Gespräche    mit    einem    unserer   Mitarbeiter  äußerte 

sich  Hofrat  v.  Millenkovich  diesbezüglich  in  folgender  Weise: Mir 

ist  jedenfalls  nichts  davon  bekannt,  daß  mein  Rücktritt  unmittelbar 
bevorsteht  —  —  Zunächst  wird  »Hamlet«  in  Szene  gehen  mit  Harry 
Waiden  und  in  völlig  neuer  Ausstattung.  Die  Uraufführung 

der  ersten  Neuheit,  Hans  Müllers  Schauspie!  > Der  Schöpfer«,  wird 
den  Abschluß  dieser  Festwoche  bilden.  Sie  sehen,  ich  habe  reichliche 
Arbeit  vor  mir  und  wirklich  keine  Zeit  und  Muße,  mich  bei  den 
Gerüchten  von   meinem  Kücktritt  aufzuhalten. 


Der  kommende  Mann 

--  — .  Von  dorther  kommt  die  Meldung,  daß  .  .  die  höchsten 
in  Betracht  kommenden  Amtsstellen  bezüglich  der  Nachfolgerwahl 
schon  einen  Entschluß  gefaßt  haben,  der  dahin  geht,  die  Direktion 
einer  der  bekanntesten  literarischen  Persönlich- 
keiten Österreichs  unserer  Zeit  anzutragen. 

Ob  es  nicht  zugleich  einer  der  hervorragendsten  Katholiken 
Salzburgs  der  letzten  Saison  ist? 


—  81  — 

Der  Poldi 

^Anfang  August 

Der  neuernannte  Generalintendant  der  beidejf  Wiener  Hoftheater 
Freih.  v.  Andrian-Werburg  äußert  sich  in  einem  Gespräche  mit  einem 
Mitarbeiter  des  ,N.  W.  Tagbl.':  Das  neue  Amt,  zu  dem  ich  berufen 
bin,  tritt  an  mich  mit  Anforderungen  heran,  an  die  ich  mich 
erst  gewöhnen  muß  .  .  .  .  Ich  werde  vorerst  nach  Deutschland 
reisen  und  mich  dort  mit  verschiedenen  Intendanten  in  Verbindung 
setzen.  In  einer  Richtung  jedoch  bin  ich  schon  heute  in  der  Lage,  ein 
Programm  mitzuteilen.  Die  beiden  Hoftheater  müssen  in  jeder  Weise 
beispielgebend  für  alle  Bühnen,  insbesondere  für  die  Bühnen  Österreichs 
werden  ....  Es  soll  nicht  mehr  gesagt  werden  dürfen,  daß  der 
Österreicher  ins  Ausland  gehen  müsse,  um  Anerkennung  zu  finden  .... 

Um  das  zu  verhindern,  will  der  Herr  v.  Andrian  ins 
Ausland  gehen  und  sich  dort  erkundigen,  wie  man  es  macht, 
daß  die  Wiener  Hoftheater  für  das  Ausland  beispielgebend 
werden,  und  wenn  er  —  er  kann  noch  nicht  sagen,  »wie  lange 
seine  Studien  dauern  werden  <  —  dereinst  zurückkehrt,  so 
werden  wir  unsere  Wunder  erleben.  Mindestens  werden  dann 
die  Wiener  Hoftheater  für  die  Bühnen  Österreichs,  also  für  Linz 
und  Graz,  maßgebend  sein,  was  ja  schon  lange  nicht  mehr  der 
Fall  war  und  für  ein  Regime  Andrian  immerhin  eine  Leistung 
wäre.  Wenn  man  nun  bedenkt,  wie  peinlich  heute  das  Reisen  im 
Allgemeinen  und  das  Reisen  nach  Deutschland  im  Besondern  ist, 
so  kann  man  die  Opferwilligkeit  des  Herrn  v.  Andrian  nicht 
hoch  genug  anschlagen.  Ob  sein  Wunsch,  sich  mit  deutschen 
Intendanten  über  die  Hebung  des  Wiener  Theaterniveaus  zu  beraten, 
von  der  deutschen  Paßstelle  als  ein  triftiger  Grund  zur  Ausreise 
anerkannt  würde,  mag  zweifelhaft  sein;  jedenfalls  ist  zu  hoffen, 
daß  ihm  von  der  österreichischen  Regierung  für  ein  so  vergebliches 
Beginnen,  wie  es  der  Ausbau  und  die  Vertiefung  des  Burg- 
theaterensembles wäre,  kein  Salonwagen  zur  Verfügung  gestellt 
werden  wird.  Es  könnte  aber  bei  einer  Gelegenheit,  wie  sie  die 
Berufung  eines  neuen  Hoftheaterintendanten  bedeutet,  die  Frage 
laut  werden,  warum  man  für  ein  solches  Amt  nicht  den  Fähigsten 
aussucht,  nämlich  mich,  dessen  kleiner  Finger  nicht  nur  ein  besserer 
Hoftheaterintendant  ist  als  der  Herr  v.  Andrian,  sondern  auch  ein 


82 


besserer  Burgtheaterdirektor,  als  der  Herr  Bahr  sein  wird,  und  zudem 
ein  besserer  Schauspieler,  als  das  ganze  Burgtheaterensemble  seit 
zwanzig  Jahren  gewesen  ist.  Die  Frage  würde  von  den  Maßgebenden 
mit  demselben  Hohngelächter  beantwortet  werden,  das  ich  für  die 
Zumutung  bereit  hätte,  eine  Lebensaufgabe  in  der  Betätigung 
meiner  weitaus  geringsten  Qualität  einzugehen,  für  eine  Zumutung, 
von  der  ich  überzeugt  bin,  daß  sie  mir  ein  letzter  Respekt,  der 
den  sonst  instinktverlassenen  Instanzen  mir  gegenüber  eignet, 
bisher  erspart  hat.  Die  Unmöglichkeit,  daß  sich  eine  lebendige 
Kraft  in  der  Niederung  heutiger  Bühnenreformen  versuche, 
ist  identisch  mit  der  Unmöglichkeit,  dem  Burgtheater  aufzuhelfen. 
Von  allen  verlorenen  Posten,  die  diese  Zeit  zu  vergeben  hat,  ist 
der  eines  Burgtheaterleiters  der  hoffnungsloseste,  weil  die  Erkenntnis, 
daß  die  Zeit  ihre  Kunst  hat,  ausschließlich  für  das  Gewerbe 
zutrifft,  das  man  heute  Theaterkunst  nennt.  In  diesem  Sinne  mag 
es  durchaus  zeitgemäß  anmuten,  daß  ein  Dilettant,  der  bisher 
Diplomat  war,  also  gewohnt,  ein  Rotbuch  von  einer  Schmink- 
schatulle nicht  unterscheiden  zu  können,  zum  obersten  Chef  der 
Hofbühnen  ausersehen  wurde.  Die  Beziehungen  des  Herrn  von 
Andrian  zum  Theater  könnten  eben  noch  darin  bestehen,  daß  er 
einmal  eine  pretiöse,  aber  nicht  kostbare  Novellegeschrieben  hat,  von 
der  nach  der  Prophezeiung  des  Herrn  Bahr  Europa  sprechen  sollte — 
was  aber  trotz  der  Enttäuschung,  die  damals  Europa  dem  Autor  wie 
dem  Kritiker  bereitet  hat,  eher  die  künftigen  Beziehungen  des  Herrn 
Bahr  zum  Burgtheater  rechtfertigen  dürfte.  Wenn  Herr  v.  Andrian 
sich  an  die  Anforderungen  seines  neuen  Amtes  erst  gewöhnt 
haben  wird,  dürfte  es  sich  herausstellen,  daß  Herr  Bahr  zwar 
ein  ebenso  schlechter  Burgtheaterdirektor  wie  Prophet  ist,  aber 
ich  jedenfalls  ein  besserer  Prophet  als  er.  Ich  kann  nicht  leugnen, 
daß  mein  Vorurteil  gegen  Herrn  v.  Andrian  kein  selbständiges 
ist,  sondern  wesentlich  beeinflußt  von  meinem  Vorurteil  gegen 
Herrn  Bahr,  der  ihn,  während  er  sonst  vielleicht  bloß  nicht 
existiert  hätte,  zwanzig  Jahre  vorher  schon  unmöglich  gemacht  hat 
und  seit  damals  nicht  vergebens  auf  den  Dank  hiefür  gewartet  haben 
dürfte.  Ich  habe  den  heutigen  Hoftheaterintendanten  eben  in  jener 
Zeit  kennen  gelernt,  in  der  die  großen  Burgschauspieler 
auszusterben  begannen,  und    ich  kenne  ihn  sehr  genau,  da    er 


83 


ein  Jahr  hindurch  täglich  im  Cafe  Griensteidl  mit  der  Frage  an  mich 
herantrat:  »Gut'n  Obend,  wor  der  Bohr  nit  do?<  Er  scheint 
schon  damals  den  Bohr  für  den  Burgtheaterposten  gesucht  zu 
haben  und  er  stellte  die  Frage  mit  jener  »dunkeln  Stimme»,  an 
die  sich  der  Bohr  noch  viele  Jahre  später  erinnert  hat,  als  er  dem 
lieben  Hugo  zurief:  »Nun  müßt  ihr  aber  doch  bald  in  Warschau 
sein!«  und  ihn  bat,  den  Poldi,  den  Freiherrn  v.  Andrian,  den 
österreichischen  Generalkonsul  zu  grüßen,  wähnend,  daß  dieser 
nach  dem  Einmarsch  der  Österreicher  im  Allgemeinen  und  des 
Leutnants  Hofmannsthal  im  Besonderen  noch  dort  amtiere  und 
in  den  Amtsstunden,  »und  während  draußen  die  Trommeln 
schlagen«,  Baudelaire  deklamierend  herumstapfe.  Der  Poldi  hatte 
nämlich  seit  den  Tagen,  da  Europa  von  ihm  sprechen  sollte, 
diplomatische  Karriere  gemacht,  was  mir  immer  erstaunlich  war, 
da  ich  nie  glauben  konnte,  daß  einer,  der  jünger  ist  als  ich  und 
gewiß  nicht  gescheiter,-  schon  Generalkonsul  oder  gar  Gesandter 
und  bevollmächtigter -Minister  sein  könne.  Europa  dürfte  es 
so  wenig  wie  ich  geglaubt  haben;  immerhin  muß  ich  aber  dem 
Verfasser  des  »Garten  der  Erkenntnis«  nachrühmen,  daß  ihm  während 
seiner  Tätigkeit  bei  der  Okkupation  —  er  blieb  dort  irgendetwas  — 
die  Preußen  auf  die  Nerven  gegangen  sein  sollen.  Das  ist  viel,  das 
ist  gut  für  die  Politik,  wenn  es  auch  vielleicht  nicht  für  die  General- 
intendantur ausreicht  und  gewiß  nicht  für  eine  solche,  die  sich 
erst  durch  Erkundigung  bei  deutschen  Kollegen  Animo  holen 
will.  Was  sein  literarisches  Urteil  betrifft,  so  ist  aus  seinen 
Anfängen  nur  das  treffende  Wort  bekannt:  »Der  Goethe  is  ganz 
g'scheidt«,  jener  Goethe,  neben  den  Andrians  Entdecker  diesen 
gestellt  hatte,  und  daß  ihm  später  unter  allen  deutschen  Micheln 
nur  jener  Robert  Michel  imponiert  hat,  der  ihm  in  militär- 
diplomatischer Literaturmission  attachiert  blieb,  bis  er  ihm  als 
Major  in  die  Intendanz  gefolgt  ist.  Sonst  wüßte  ich  nichts  für  und 
nichts  gegen  den  neuen  Intendanten  vorzubringen.  Er  ist 
am  Beginn  seiner  Laufbahn  durch  Herrn  Bahr  geschädigt 
worden,  und  erst  ich  habe  dafür  gesorgt,  daß  Europa  von  ihm 
spreche,  als  Herr  Bahr  sich  ihn  Baudelaire  deklamierend  vorstellte, 
damals,  als  er  den  Hofmannsthal  in  Warschau  einrückend 
gemacht   hat.     Die    Unmöglichkeit   des   Herrn    v.    Andrian    für 


84 


den  Posten  eines  Hoftheaterintendanten  leuchtet  mir  durchaus 
nicht  ein,  in  einer  Zeit,  die  einen  Volkstheaterautor,  der  ein  Budget- 
provisoriutn  nicht  bekommt,  deshalb  gleich  als  Direktor  der 
Kabinettskanzlei  walten  sieht,  wie  mir  überhaupt  in  diesem  tragischen 
Karneval  und  in  diesem  provisorischen  Staatswesen  nichts  Unmög- 
liches aufstoßen  kann,  das  mir  nicht  auf  den  ersten  Blick  plausibel 
ist,  und  wenn  ich  dem  neuen  Mann  nicht  gerade  schmeichle, 
so  mag  das  seine  Utsache  in  der  Erkenntnis  haben,  daß  ein 
Versuch,  mein  Drama  »Die  letzten  Tage  der  Menschheit«  dem 
Burgtheater  anzubieten,  aussichtslos  wäre. 


Der  Zeit  ihre  Kunst 


Der  Kaiser  hat  das  von  Fritz  Hampel  verfaßte  vaterländische 
Gedicht  »Der  Tiroler  Waschtl«  angenommen  und  in  die  Fidei- 
kommißbibliothek  aufnehmen  lassen.  Dem  Autor  wurde  durch  den 
Statthalter  der  Dank  bekanntgegeben. 


Die  Gelegenheit 


—  Leopold  Andrians  Gedichte  sind  im  Verbige  der  Zilverdistel 
in  einer  einmaligen  Auflage  von  150  Exemplaren  erschienen  und 
durch  Buchhändler  Hugo  Heller,  Wien,  1.  Bezirk,  Bauernmarkt  3,  zu 
beziehen. 

—  Robert  Michels  zwei  Novellenbücher  »Die  Verhüllte«  (ge- 
bunden 7  K  60  h)  und  »Geschichten  von  Insekten«  (gebunden 
9  K  50  h)  sind  bei  Buchhändler  Hugo  Heller,  Wien,  1.  Bezirk,  Bauern- 
markt 3,  vorrätig.  Provinz-  und  Feldpostversand  prompt. 


—  85 


Worauf  man  stolz  sein  kann 


In  der  Leo-Gesellschaft  hat  Hofrat  v.  Millenkovich  .  .  eine 
Art  Rechenschaftsbericht  über  die  fünf  Vierteljahre  seiner  Burg- 
theaterdirektion erstattet.  —  —  Er  rühmte  sich,  jüngere,  wenig 
beachtete  Kräfte  gefördert,  zuerst  in  tragenden  Rollen  vor  das  Publikum 
gestellt  zu  haben  ....  Ferner  habe  er  Reimers  den  Lear 
spielen  lassen  und  für  Waiden  war  zu  Beginn  der  diesjährigen 
Spielzeit  der  Hamlet  bestimmt. 


Eine  äußerst  vorsichtige  Fassung 

Hermann  Bahr  wird  voraussichtlich  die  Stelle  eines  dramatur- 
gischen Leiters  des  Hofburgtheaters  einnehmen  ....  Da  der  Vertrag  Bahrs 
kein  langfristiger  sein  wird,  liegt  die  Annahme  nahe,  daß 
er  sowohl  als  auch  die  leitenden  Stellen  die  Ab- 
sicht haben  festzustellen,  ob  die  Möglichkeit 
vorliegt,  daß  die  neue  Leitung  eine  alle  Teile 
befriedigende  Lösung  der  Burgtheaterkrise 
bilden  könnte. 

Die  Antwort  auf  die  gewundene  Karriere  dieses  Satzes 
lautet  kurz:  Nein! 


—  86 


Ein    Staatsverbrechen    an    Shakespeare    und 
Jugend 

Die  folgende  Eingabe  ist  unbeantwortet  geblieben: 
An  das  k.  k.  Ministerium  für  Kultus  und  Unterricht! 

12.  Juni   1918 

Das  Hofburgtheater  hat  am  29.  Mai  eine  Frei- 
vorstellung von  Shakespeares  »König  Lear«  für 
Mittel-  und  Hochschüler  veranstaltet.  Der  Unter- 
zeichnete hat  das  Werk  am  30.  Mai  zu  wohltätigen 
Zwecken  im  Kleinen  Konzerthaussaale  vorgelesen 
und  auf  der  Rückseite  des  Programms,  das  er  hier 
beilegt,  die  schauspielerische  und  szenische  Unzu- 
länglichkeit der  heutigen  Burgtheateraufführung  an 
einigen  drastischen  Beispielen  dargetan.  Das  Niveau 
dieser  Aufführung  ist  ein  derart  niedriges  und  ihr 
Stil  eine  derartige  Vergewaltigung  Shakespeareschen 
Wortes  und  Wesens,  daß  jugendliche  Zeugen  des 
da  Geschauten  und  Gehörten,  das  ihnen  zu 
Studienzwecken  geboten  wird,  Eindrücke  nachhause 
tragen  müssen,  welche  die  verständnisvollste  Lektüre 
nicht  mehr  ausmerzen  kann.  Wenn  sie  von  dieser 
Darstellung  nichts  im  Gedächtnis  behielten  als  die 
eindringliche  erotische  Belebung  der  Szene,  in 
der  Regan  dem  Haushofmeister  ihren  Auftrag 
erteilt,  so  müßte  man  zugeben,  daß  hier  einem 
Dichter  ein  zu  großes  Opfer  auferlegt  sei,  um 
die  Phantasie  von  Gymnasiasten  anzuregen.  Wenn- 
gleich der  Staat  zum  großen  Leidwesen  solcher, 
die  an  der  Bewahrung  künstlerischen  Erbgutes  ein 
Interesse  haben  und  sich  das  Recht  anmaßen,  es 
erforderlichen  Falles  zu  vertreten,  nicht  die  Befugnis 
hat,  eine  Verunstaltung  klassischer  Dichtungen  zu 
verbieten,  so  sollte  er  nach  der  Meinung  des  Unter- 
zeichneten doch  eingreifen,  wo  der  Versuch  gewagt 


—  87  — 


wird,  die  studierende  Jugend  unter  dem  Vorwand 
belehrender  Absicht  zum  Anblick  der  vollkommenen 
Mißgestalt  herbeizulocken.  Es  wäre  demnach,  so 
meint  der  Unterzeichnete,  Sache  der  Unterrichts- 
verwaltung, anstatt  den  Besuch  einer  Freivorstellung 
des  heutigen  Burgtheaters  zu  erlauben,  ihn  mit  allen 
Mitteln  zu  verhindern.  Der  Unterzeichnete  müßte  es 
sich  nun  wie  jeder,  der  ungefragt  eine  Meinung  aus- 
spricht, gefallen  lassen,  daß  ihm  die  Kompetenz 
hiezu  bestritten  wird,  wenn  nicht  zum  Glück  der 
Besuch  einer  »König  Lear«-Vorstellung,  die  nicht 
gerade  eine  Freivorstellung  für  Studenten  ist, 
jedem  gestattet  und  darum  die  Überprüfung  des 
Urteils  im  weitesten  Umfang  ermöglicht  wäre. 
Er  zweifelt  keinen  Augenblick,  daß  vor  allem 
die  Instanz,  die  zur  Wahrnehmung  kultureller 
Interessen  im  Staate  berufen  ist,  die  Unvereinbar- 
keit einer  solchen  Aufführung  mit  den  Ansprüchen 
der  Jugendbildung  erkennen  würde  und  sich  in  ihrem 
Mißbehagen  selbst  nicht  durch  die  Erwägung 
beirren  ließe,  daß  ein  ihr  ehemals  zugehöriger 
Beamter  heute  eben  jener  Theaterdirektor  ist,  der 
zum  Mißgriff  einer  solchen  »Lear« -Vorstellung 
den  weit  bedenklicheren  gefügt  hat,  sie  Unerwachsenen 
anzubieten.  Der  Unterzeichnete  würde  aber  von 
dem  Recht,  das  er  sich  nimmt,  den  in  einem 
übel  beratenen  und  anders  beschäftigten  Zeitalter 
mißhandelten  Genius  zu  schützen,  kaum  in  der  vor- 
liegenden Form  Gebrauch  machen,  wenn  er  sich  nicht 
auch  die  Kraft  zuerkennte,  diesen  Schutz  selbst- 
tätig wirksam  auszuüben.  Der  Zweck  dieser  Mitteilung 
ist  das  Ersuchen  an  das  k.  k.  Ministerium,  ihm  den 
Weg  zu  zeigen,  auf  dem  er  zu  solchem  Ziel  gelangen 
könnte.  Denn  er  hat  die  Absicht,  die  wichtigste 
Schöpfung  des  größten  Dramatikers  aller  Zeiten  den- 
selben Schülern  der  Wiener  Lehranstalten  vorzuführen, 
die  sie  in  der  Gestalt  jener  Freivorstellung  des  Burg- 


theaters  kennen  gelernt  haben.  Er  bittet  deshalb  die 
Unterrichtsverwaltung,  ihn  an  die  Stelle  zu  weisen, 
die  in  der  Lage  wäre,  ihm  ein  genaues  Verzeichnis 
aller  damals  mit  Freikarten  versehenen  Schulen  und 
Jahrgänge  zur  Verfügung  zu  stellen.  Die  Vorlesung 
würde  im  Großen  Konzerthaussaale  stattfinden  und 
von  den  Eintrittskarten  würden  nur  so  viele  zu 
öffentlichem  Verkauf  gelangen,  als  notwendig  wäre, 
um  die  Kosten  der  Veranstaltung  zu  decken ;  alle 
übrigen,  also  die  weitaus  überwiegende  Mehrzahl 
und  mehr  als  das  Burgtheä'fer  Personen  faßt,  den 
Studenten  geschenkt  werden.  Der  Unterzeichnete 
spricht  die  Hoffnung  aus,  daß  die  Unterrichts- 
verwaltung dieses  pädagogische  Vorhaben  fördern 
werde,  und  sie  selbst  wird  auf  Wunsch  über  genügend 
Eintrittskarten  verfügen  können,  daß  alle  ihre 
Organe  in  der  Lage  wären,  sich  von  der  Würdigkeit 
dieser  Darbietung  zu  überzeugen,  wenn  sie  es  schon 
durch  Zufall  unterlassen  haben,  die  Unwürdigkeit 
jener  andern  zu  beobachten.  Hat  ihn  zu  seiner 
ersten  »Lear«-Vorlesung  die  Absicht  bestimmt,  die 
Spuren  der  Unkunst  zu  verwischen,  und  ist  ihm 
dfes  ohne  jeden  Apparat  theatralischer  wie  publi- 
zistischer Inszenierung  vor  einer  bewegten  Zeugen- 
schaft gelungen,  so  liegt  ihm  nun  umsomehr 
der  Wunsch  am  Herzen,  einer  irregeführten  Jugend 
das  dichterische  Urbild  wieder  herzustellen.  Nicht 
zuletzt  aber  leitet  ihn  —  und  hierin  weiß  er  sich 
der  Unterstützung  eines  k.  k.  Ministeriums  sicher  — 
die  patriotische  Erwägung,  daß,  wenn  wir  Österreicher 
vor  der  Welt  stolz  darauf  sind,  feindliche  Ausländer 
nicht  mißhandelt  zu  haben,  Shakespeare  doch  nicht 
eine  Ausnahme  machen  könne. 

Karl  Kraus. 

Beilage. 

Der  Vortrag  macht    nicht   den  Anspruch,  große  Schatten 
des  Burgtheaters    zu  beschwören,   sondern  nur,   die  Spuren  der 


—  89  — 

Herren  Wüllner,  Reimers  und  ihrer  Mittäter  zu  verwischen  und 
die  Dichtung  wieder  einzuweihen. 

Die  Unsäglichkeit  der  heutigen  Burgtheateraufführung, 
die  noch  tief  unter  dem  Niveau  der  einer  niedrigen  Zeit  erreich- 
baren schauspielerischen  Möglichkeiten  bleibt,  also  beinahe  an 
das  christlichgermanische  Schönheitsideal  der  Direktion  hinan- 
reicht, gehört  —  von  allem  Reichtum  der  Formen  und  Nuancen 
abgesehen,  in  dem  sich  der  leibhaftige  Mangel  in  Spiel,  Regie 
und  Szene  auslebt  —  durch  etliche  einprägsame  Momente  der 
Theatergeschichte  an.  Ein  Kritiker  hat  anerkannt,  daß  die  Regie  unter 
anderen  die  Szene  wieder  hergestellt  habe,  >in  der  der  Haushof- 
meister Oswald  als  Liebhaber  erscheint«.  Als  diese  nie  gestrichene, 
aber  auch  nie  geschriebene  Szene  ist  jene  zu  verstehen,  in  der 
Regan  dem  Haushofmeister,  also  einem  für  Geld  empfänglichen 
Schranzen,  einem  von  der  Sorte,  die  »Bursche«  oder  »Schurk'« 
tituliert  wird,  einen  Brief  Qonerils  an  Edmund  abnimmt  und  ihn 
nebenher  auffordert,  den  Grafen  Gloster  aus  dem  Weg  zu  räumen: 
»Ein  reicher  Lohn  wird  dem,  der  ihn  erschlägt.«  Eine  der 
typischen  Szenen,  in  welchen  —  andeutend  oder  geradezu  — 
königliche  Verbrecher  bei  Shakespeare  ihre  Instrumente  anwerben. 
Bei  der  Begegnung  mit  dem  blinden  Gloster  ruft  der  gedungene 
Mörder:  »Ein  Preis  verdient!  Willkommen!«  Jene,  für  das  Ver- 
ständnis der  Handlung  kaum  notwendige  Auseinandersetzung 
wird  im  heutigen  Burgtheater  buhlerisch  flüsternd,  mit  einem 
Spiel  der  Blicke  und  Finger,  Schulter  an  Schulter  von  einer 
Schlange  (die  es  doch  aber  auf  den  Edmund  abgesehen  hat) 
und  einem  noch  immer  stattlichen  Operettentenor  geführt  und 
über  den  reichen  Lohn,  der  diesem  winkt,  läßt  die  indiskrete 
Regie  dem  Ahnungsvermögen  jugendlicher  Galeriebesucher 
keinen  Zweifel.  Dagegen  wird  das  schweigende  Herz  der  Handlung: 
des  Narren  Hingegebenheit  an  Cordeliens  Schicksal  —  das 
in  einem  einzigen  Satz  zu  wundervollem  Klingen  kommt,  in 
einem  naturalistischen  Nebenbei  verödet.  Ein  Ritter  Lears  spricht 
zu  diesem  die  Worte:  »Seit  die  junge  Prinzessin  nach  Frankreich 
ging,  hat  sich  der  Narr  sehr  abgehärmt.«  Dies  und  nichts  anderes 
ist  der  tragische  Wendepunkt  der  Handlung;  hier  rollt  der 
erste  Donner;  hier  beginnt,  noch  vorder  entsetzlichen  Enttäuschung 


90 


an  den  beiden  Töchtern,  Lears  Erkenntnis  zum  Wahnsinn 
zu  erwachen.  Diese  und  ungezählte  andere  Herrlichkeiten  sind 
in  der  kläglichen  Wüllnerei,  psychologisierenden  Impotenz 
einer  neuberlinischen  Regie  und  einer  zwischen  schlechtestem 
Reinhardt  und  bester  Muskete  erdachten  Mandelbogen- 
szenerie  untergegangen.  Was  soll  man  zu  der  Nuance  sagen, 
daß  der  Kent  den  Oswald  wirklich  anspuckt  und  den  Vorsatz: 
>Fürs  erste  schlaf  ich  was,  dann  kann  ich  pfeifen«  so  aus- 
führt, daß  er  eine  lange  Weile  hindurch  pfeift,  bevor  er  schläft. 
Oder  daß  die  Anweisung  »Schloß  des  Grafen  Gloster«  auf  einer 
Szene,  die  nicht  das  Pathos  zu  weiten  Hallen  findet,  ihre  Ver- 
wirklichung in  einem  Speiszimmer  bei  Glosters  findet,  in  das 
der  heimkehrende  Familienvater  eintritt,  wobei  ihm  ein  kostümierter 
Statist  den  Monolog  zu  unterbrechen  hat,  indem  er  ihm  Mantel 
und  Mütze  abnimmt.  Die  ganze  Winzigkeit  einer  großen  Zeit, 
in  der  Schauspieler  nicht  mehr  in  Distanz  zu  einander 
sprechen  können  und  in  der  Körpernähe  auch  nicht,  die 
ganze  Frechheit  dieser  Kunstgewerblerei,  die  alle  ihr  entrückte 
Größe  auf  einen  elenden  Zimmerton  herabstimmt,  der  Menschheit 
ganzer  Jammer  faßt  einen  bei  solchem  Theatererlebnis  an.  »Da 
könnte  wohl  der  Mensch  in  salz'ge  Tränen  vergehn,  wie  Kannen 
seine  Augen  brauchend,  des  Herbstes  Staub  zu  löschen«,  dem 
wahnsinnigen  Lear  gleich  —  wenn  man  sich  nicht  heiter 
erinnerte,  daß  der  urkomische  Professor  der  Psychiatrie,  der  ihn 
spielt  und  den  das  Publikum  auf  dem  Vortragspodium  unent- 
wegt ernst  nimmt,  eben  dabei  eine  Geste  macht,  die 
über  seine  papierene  Tragik  ein  erklärendes  Löschpapier  breitet. 
Und  anstatt  diesem  Herrn  Wüllner  in  Sälen  und  Theatern  ein 
»Kommentar  überflüssig!«  entgegenzubrüllen,  jubelt  die  Jugend 
dieser  Tage  einem  Schulmeister  zu,  gegen  den  der  Gregori  ein 
Schüler  und  der  selige  Strakosch  ein  Meister  war.  Die  Fähigkeit 
des  Herrn  Reimers,  einen  weißen  Vollbart  zu  tragen,  steht  über 
allen  kunstkritischen  Erwägungen,  und  Blitz  und  Donner  in 
der  Heideszene  beweisen,  daß  auch  im  heutigen  Burgtheater 
die  Elemente  entfesselt  sind.  Ach,  Sonnenthals  Herzkrampf,  der 
den  Töchtern  alles  gab  und  dem  Vater  mehr,  als  er  dem  König 
schuldig    blieb,     und     erklärend    nichts     hinzutat,     was     der 


—  91  — 

Dichter  mit  Recht  versäumt  hatte  —  denn  es  war  einmal  ein 
König,  der,  unbegreiflich  wie's  einmal  im  Märchen  ist,  so  und 
so  getan  hat  — :  vor  wessen  Aug  und  Ohr  die  Aufführung 
des  Jahres  1890  steht,  der  muß  es  unfaßbar  finden,  daß  das 
Theatergewissen  einer  Stadt  diesen  Wandel  der  Dinge  ohne 
Aufschrei  und  mit  Applaus  hinnehmen  konnte. 

Unschwer  würde  dem  Vorleser  eine  vollkommene  stimm- 
liche Rekonstruktion  jener  Bühnengestalt  gelingen;  doch  darf 
nur  ein,  wenngleich  unvermeidliches,  Anklingen  dem  Zweck 
des  Vortrags  entsprechen,  der  nicht  das  Burgtheater  aus  der 
Schmach  zurücktragen  will,  sondern  die  entehrte  Dichtung  in 
das  Reich  des  Shakespeareschen  Worts. 

Eine  Erledigung  dieser  Eingabe  ist  auch  nach 
einem  Mahnschreiben  nicht  erfolgt,  wodurch  das  päda- 
gogische Werk  in  seiner  Vorbereitung  gehemmt,  wenn 
nicht  vereitelt  wurde.  Die  Antwort,  die  der  Unterrichts- 
minister schuldig  blieb,  wird  er  im  Parlament  nach- 
zuholen haben.  Die  dort  an  ihn  gerichtete  Frage 
wird  die  Sache  selbst  betreffen  wie  die  Formen  des 
behördlichen  Interesses,  die  noch  verständlich  wären, 
wenn  es  sich  um  den  Plan  einer  Hamlet-Vorlesung 
gehandelt  hätte.  Die  Interpellation  wird  aber  das 
Zitat  von  dem  Übermut  der  Ämter  und  der  Schmach, 
die  Unwert  schweigendem  Verdienst  erweist,  keines- 
wegs vermeiden. 


92 


Krieg 

Der  Bauer  bat: 

»Herr,  dies  hier  ist  mein  letzter  Rock 

und  all  mein  Gut  ist  dieser  Bienenstock. 

Bewach'  ihn  Gott  und  ein  Soldat, 

daß  die  Soldaten  ihn  nicht  nehmen!« 

»Ein  braver  Mann  hat  so  was  nicht  vonnöten!« 

Der  stiehlt  nicht  Bienen.  Der  kann  Bienen  töten. 

Denn  Krieg  ist  Krieg,  da  hilft  kein  Grämen. 

Bei  Nacht  geschah's,  die  Nacht  schwieg  still  — 

im  Garten  Lärm,  und  jener  eilt  zu  retten 

und  er  begegnet  ihren  Bajonetten, 

da  er  es  ihnen  wehren  will. 

Denn  Krieg  ist  Krieg,  der  Herrgott  mag's  bedauern, 

und  was  da  ist,  das  ist  gewesen 

und  ohne  Furcht  und  Federlesen 

zerschlugen  sie  den  Bienenstock  dem  Bauern. 

Es  tagt,  'nen  Bettel  bietet  man  ihm  an. 

»Behaltet's,  Herr!«  »Ist's  dir  zu  wenig,  Schuft?« 

die  Stimme  des  Gewissens  ruft. 

»Ich  will  kein  Geld!  Nur  sehn,  wer  es  getan!« 

Sie  stehen  mit  erwartungsvollen  Mienen, 

da  führt  man  jenen  Führer  her 

der  Rotte,  die  den  Stock  zerbrochen. 

»Ich  bin  entschädigt!  Dies  ist  mehr! 

Sie  haben  ihm  die  Stirn  zerstochen! 

Denn  Krieg  ist  Krieg.  O  meine  braven  Bienen!« 


—  93 


Ich  und  das  Ichbin 

Schweiz,  Februar  1918 

Weifel,  Werfel  —  richtig,  das  ist  der,  der  das  Gefühl  von 
einsamen  Harfenistinnen  in  Kurkapellen  kennt,  das  Gefühl  von 
schüchternen  Gouvernanten  im  fremden  Familienkreis  sowie  das 
Gefühl  von  Debütanten,  die  sich  zitternd  vor  den  Souffleurkasten 
stellen.  Ganz  recht,  das  wird  ihm  in  jeder  Rezension  bestätigt 
und  man  zweifelt  umsoweniger  daran,  als  ers  ja  selber  zugibt. 
Und  es  ist  nicht  etwa  bloß  die  Inhaltsangabe  eines  Gedichtes,  sondern 
auch  die  ganze  Form  solcher  grenzenlosen  Zeilen  —  denn  so 
sind  nun  einmal  die  Verse  dieser  Kosmischen,  nanafas,  also 
auch  die  Zeile  — ,  und  es  ist  der  Inhalt  des  ganzen  Dichters 
dazu.  Er  kennt  das  Gefühl,  er  hat  mitgemacht,  nicht  etwa 
das  eigene  Erlebnis  —  das  wäre  nicht  der  Rede  wert  — ,  aber 
das,  was  die  andern  mitmachen,  die  es  nicht  mitmachen,  sondern 
nur  erleben;  alle  Erlebnisse  alier  Mitlebenden,  Freud  und  Leid 
aller  Kreatur  und  auch  alle  Erlebensmöglichkeiten  aller  Seelen 
im  Weltenraum.  Er  hat  sich  die  ganze  Karriere  des  Faust  erspart, 
indem  er  trotz  den  vielfachen  Erfahrungen,  die  er  auf  diese  Art  zwar 
nicht  gemacht  hat,  aber  mitgemacht,  bei  der  Schönheit  des  Augen- 
blicks verweilend,  seine  Genußfähigkeit  durch  alle  fremden  Schick- 
sale trägt.  Wohl  stand  er  auf  eigenen  Kindesbeinen,  da  gab's  noch 
allerhand9  persönliche  Erlebnisse,  da  ging  noch  etwas  in  ihm  vor, 
aber  dann  kam  es  über  ihn  und  riß  ihn  fort  zur  Menschheit  und 
darüber  hinaus  zuGott,  dem  er  die  Freude  über  die  Schöpfung  sowie 
auch  die  spätere  Reue  lebhaft  nachfühlen  kann.  Mitmachend  am 
sausenden  Webstuhl  der  Zeit,  der  Gottheit  lebendiges  Kleid  mit- 
wirkend, rastloser  Seelenwanderer,  restloser  Bejaher  dessen,  was 
ist,  immer  in  Mitleidenschaft  gezogen,  erfaßt  er  den  Schicksals- 
augenblick im  Leben  des  Nächsten  und  des  Fernsten,  was  ihm 
gleichfalls  in  jeder  Rezension  bestätigt  wird.  »Das  ist  doch 
unvergeßlich  in  dem  Gedicht  , Malheur'  ausgesprochen«,  lesen 
wir,  »nämlich  der  Augenblick,  wo  das  Dienstmädchen«  — 
Werfel  kennt  das  Gefühl  —  »vor  den  Gästen  die  Schüssel  fallen  läßt.« 

Das  Mädchen  aber  stand  regungslos,  wie  in  unnatürlichen  Schlaf  gesenkt, 
Krampfhaft  die  Arme  zu  einer  rettenden  Geste  verrenkt. 
Jedoch  dem  Mitleid  der  Gäste  hatte  sich  scheues  Erstaunen  zugesellt. 
Denn  sie  sahen  plötzlich  Eine  mitten  in  ein  Schicksal  gestellt. 


—  94  — 

Ein  Versteher,  ein  Verzeiher,  dessen  Gefühl  gleich  jener 
rettenden  Geste  die  sittliche  Wirkung  des  Malheurs  auf  die  Gäste 
beistellt,    während    in    der    Hausfrau    die    Empfindungen    der 
Scham  und  der  Wut  bis  zu  dem  eben  noch  unterdrückten  Ausruf 
»Trampel!«  wogen,  aber  von  jenem  weltsichern  Takt  mit  Erfolg 
kaschiert  werden,  der  dem  Zwischenfall  keine  Bedeutung  beimißt, 
was  in  französischen  Parlamenten  »la  seance  continue«  formuliert 
wird,   in  israelitischen  Gesellschaften   jedoch    »Malheur !<    Nun 
sind    diese    unvergeßlichen     Verse    zwar    um     keinen     Hauch 
mehr  deutsche   Dichtung   als  ein    Bericht,  dessen   die   in    Mit- 
leidenschaft  gezogene   Hausfrau  selbst  fähig  wäre,    und   nichts 
anderes   als   die   nebenbei   gereimte    psychologisch-adjektivische 
Prosa  jedes  beliebigen  kleinen  Literaten,  wie  sie  heute  für  jede 
Buchkritik,  Schmucknotiz,  Gerichtssaalschilderung  in  jeder  Wiener, 
Berliner  und  vor  allem  Prager  Redaktion  verlangt  wird,  lyrischer 
Feuilletonismus,   an   die  Lyrik  zurückgegeben,   die   wieder   mit 
gewollten,   weil    nicht   anders  gekonnten   Prosaismen    die  Fülle 
der  leersten  Gesichte  aufreiht,    ein   sprachliches  Nebenher,   das 
nun  einmal  die  neue   Art  des   Sehens  und    Fühlens  darstellen 
soll,  kurzum    die    Inhaltsangabe    eines   Werfel'schen  Gedichtes, 
wenn  es   nicht  dieses  selbst   wäre.    Doch    die   Lockerung   der 
Sprachfessel,  das  erstemal  von  Heine,  dann  von  Nietzsche,  nun 
von  Rilke   gewährt,    die   Umgänglichkeit  mit  Wort  und   Ding, 
die  es  doch  beide  nicht  so  leicht  haben  wollen,  zueirfander  zu 
kommen,  entzückt  die  neuen  Literaturjournalisten,  weil  jeder  mehr 
noch   als  alles  mitzumachende  Erlebnis  die  Chance  spürt,  daß 
sogar  er  das  zustandebrächte.  Deshalb  muß  die  Ahnungslosigkeit 
des  Schweizer  Kritikers  auffallen,  dem  der  seelische  Jargon  solcher 
Schildereien  »unvergeßlich«  ist,  und  muß  die  unbefangene  Flachheit 
bestaunt  werden,  die  nach  Peter  Altenbergs  Momentaufnahmen 
aus  dem  Leben  von  Dienstboten  und  aller  mit  Blick  und  Griff 
erfaßter  und  ins  Leben  gerissener  Menschheit,  nach  diesen  Wundern 
der  Täglichkeit,    wo    Herz  und    Laune  zur   Lyrik  eines    Worts 
verschweben,    von    solchen    Gefühlsplaudereien,    die    nur    die 
umständliche  Inhaltsangabe  einer  Leere  sind,  Aufhebens  zu  machen 
wagt.    Das   bewundert   die   Werfel'sche   Gabe,    zu   wissen    und 
auszusprechen,   was  in  jeder  andern   Seele  vorgeht,   und    spürt 
nicht,   daß  hier  ein  Schein  der  Fülle   von  einem   wesentlichen 


95 


Mangel  glänzt  und  daß  der  berühmte  Gallimathias  von  »der 
Schwäche  Kraft«  hier  wirklich  einmal  einen  Zustand  bezeichnet. 
In  solchen  Gedichten  wie  dem  von  der  > Witwe  am  Bette  ihres 
Sohnes«  —  so  findet  jener  Zürcher  Enthusiast,  dem  ich  viel 
heitere  Einsicht  in  die  neueste  Literatur  verdanke  und  an  dessen 
Hand  ich  am  liebsten  die  Irrwege  der  Entwicklung  durchspaziere  — 
»erkennt  man  unschwer,  daß  es  immer  wieder  Sphären  des 
Unausprechlichen  gibt,  die  auf  des  Dichters  Wort  harren«.  Freilich ; 
doch  werden  sie,  wenn  sie  auf  Werfeis  Wort  geharrt  haben,  noch 
lange  unausgesprochen  bleiben.  Denn  schon  die  Apostrophe: 

Mein  Kind,  mein  Da-sein,  mein  Tod 
ist  in  der  Begriffsspaltung  des  mittleren  Hauptwortes  reinster 
Feuilletonismus,  der  wohl  die  poetische  Gegebenheit  von  »Dasein« 
.an  dieser  Stelle  spürt  und  zu  umgehen  weiß,  aber  zum  völlig 
unpoetischen  »Leben«  nicht  die  Kraft  hat.  Dem  Rezensenten 
freilich  gefällt  das  so  gut,  daß  er,  was  nicht  einmal  einen  Sinn 
ergibt,  gleich  von  einer  Mensch-heit  spricht,  deren  Idee  Werfel 
betone.  Von  einem  Gedicht,  das  den  »Urgegensatz  der  Väter  und 
Söhne«  nicht  etwa  in  die  Psychoanalyse,  sondern  in  ein  angeblich 
»neues  Pathos«  stellt,  sagt  jener:  »Das  ist  nicht  Schiller  mehr,  ist 
durchaus  Franz  Werfel«.  Also  Schiller  von  Rilke,  nämlich  auf 
die  Art,  »wie  wir  einst  in  grenzenlosem  Lieben  Spaße  der 
Unendlichkeit  getrieben«  und  wie  nun  »in  einer  wunderbaren, 
leisen  Rührung  stürzt  der  Raum.«  Diesem  neuen  Pathos,  dem  ein  ehr- 
licher Eidgenosse  nicht  umhin  kann  doch  etwas  Schiller  anzumerken, 
weil  es  sich  an  Formen  wie  »geuß«  ergetzt  —  liegt,  wie  man  sieht, 
»jede  geblähte  Geste  fern«.  Gleichwohl  muß  der  Kritiker  »Krämpfe 
des  Gefühles«  rühmend  feststellen.  Aber  die  metaphysischen 
Blähungen,  die  zwischen  den  Kulissen  des  Alls  ihre  Spaße  der 
Unendlichkeit  rumoren  lassen,  sind  eben  der  Reiz,  der  in  Verbindung 
mit  dem  zeitgebornen  Talent  der  Impression  der  Werfel'schen 
Lyrik  ihre  durchschlagende  Wirkung  verschafft  hat.  Das  Kindheits- 
erlebnis, das  die  Sprache  noch  halten  konnte,  hätte  beiweitem 
nicht  zu  den  Effekten  gelangt,  deren  eine  aus  Mangel  an 
Schwerpunkt  in  den  Äther  greifende  Gefühlsberedtheit  sicher 
sein  kann. 

Dieser  Dichter  nun,  dessen  psychischer  Geschlechtscharakter 
sich   wie   der  so   vieler  Zeit-   und  Geschlechtsgenossen  in  der 


—  96 


Lust  verrät,  sein  Ich,  das  er  an  die  Welt  hingegeben  hat,  gegen 
mich  zu  behaupten,  nennt  sich  selbst  »unmittelbar  und 
einfach*,  fragt  mich,  wo  in  meiner  Lyrik  »nur  ein  unmittelbarer, 
aus  einer  Existenz  und  nicht  aus  einer  Raison  geborener  Vers« 
sei  —  als  ob  er  diese  Frage  nicht  hymnisch  beantwortet  hätte  — 
und  zählt  sich  im  Gegensatz  zu  mir,  der  kein  » Ichbin  <  sei,  den 
Schöpfern  zu,  »die  durch  sich  selbst  fliegen  können  über  tausend 
Meere«.  Und  dennoch  war  er,  als  er  einst  in  grenzenlosem  Lieben 
sich  auf  einem  mir  benachbarten  Planeten  beschied  und  die 
Ewigkeit  nur  für  die  Treue  in  Anspruch  nahm,  die  er  »dem 
Menschen  und  Künstler<  schuldig  zu  sein  glaubte,  ein  besserer 
Euphorion  als  später,  da  er  wie  in  die  fremden  Schicksale  sicli 
ins  fremde  Pathos  einzuleben  wußte,  das  freilich  genügsamen 
Hörern  wie  neu  erscheint. 

»Hört  ihr  Kinderlieder  singen, 
Gleich  ist's  euer  eigner  Scherz; 
Seht  ihr  mich  im  Takte  springen, 
Hüpft  euch  allsogleich  das  Herz.« 

»Kaum  ins  Leben  eingerufen, 
Heitrem  Tag  gegeben  kaum, 
Sehnest  du  von  Schwindelstufen 
Dich  zu  schmerzen  vollen  Raum.« 

Ach,  der  Urgegensatz  von  Vätern  und  Söhnen! 

»Bändigel  Bändige 
Eltern  zuliebe 
Überlebendige, 
Heftige  Triebe!« 

» Dorthin  1  Ich  mußl  Ich  mußt 
Gönnt  mir  den  Flug!« 
»Ikarus!  Ikarus! 
Jammer  genug.« 

Aber  aus  den  Exuvien,  die  ich  als  Phorkyas  in  die  Höhe 
hebe,  kann  immer  wieder  ein  neuer  Werfel  erstehen: 

Und  kann  ich  die  Talente  nicht  verleihen, 
Verborg'  ich  wenigstens  das  Kleid. 

Wobei  nicht  zu  vergessen  ist,  daß  das  Kleid  eben  die 
Talente  sind.  Immer  bleibt  es  die  Biographie  dieser  Leicht- 
beschwingten, »Sonne-durchstrahlten  Äther  kühn  und  mutwillig 
Durchflatternden«: 


97  — 


So  auch  er,  der  behendeste, 

Daß  er  Dieben  und  Schälken, 

Votteilsuchenden  allen  auch 

Ewig  günstiger  Dämon  sei, 

Dies  betätigt  er  alsobald 

Durch  gewandteste  Künste. 

Schnell  des  Meeres  Beherrscher  stiehlt 

Er  den  Trident,  ja  dem  Ares  selbst 

Schlau  das  Schwert  aus  der  Scheide  . 


Wie  das? 


Nein,  nicht  ein  Kind  bin  ich  erschienen, 
in  Waffen  kommt  der  Jüngling  an  .  .  . 

Wie  das? 

Träumt  ihr  den  Friedenstag? 
Träume,  wer  träumen  mag. 
Krieg  1  ist  das  Losungswort. 
Sieg!  und  so  klingt  es  fort. 

Aber  das  ist  nur  der  Welt,  nicht  des  Weltfreunds  Sehnsucht; 
und  Byrons  Krieg  war  ein  anderer  als  der,  der  nicht  Werfeis  Krieg 
ist.  Gleichwohl  kann  der  besorgte  Zürcher  einen  herzbewegenden 
Hinweis  nicht  unterlassen,  daß  »auch  um  diesen  menschheits- 
gläubigen Dichter  Mars  und  die  Musen  streiten«,  ohne  aber  den 
Lesern  die  Beruhigung  zu  erteilen,  daß  Mars  nachgegeben  hat, 
was  er  in  allen  Fällen  tut,  wo  die  Musen  ihm  entweder  durch  ihre 
martialische  Gesinnung  imponieren  oder  sich  wenigstens  zu 
Kanzleiarbeiten  im  Kriegspressequartier  verwenden  lassen.  Hätte 
Mars  nicht  nachgegeben,  so  hätte  sich  ja  auch  kein  Zürcher 
Werfel-Abend  als  das  Ereignis  der  literarischen  Saison 
ankündigen  lassen.  Das  war  er  allerdings  in  einer  Stadt,  die 
in  der  Epoche  der  durch  Paßvisa  geregelten  Völkerwanderung 
mit  dem  Berliner  Schiebertum  dessen  geistige  Kultur  importiert 
hat.  Nie  zuvor  mag  es  einen  Lyriker  gegeben  haben,  der  —  auch  der 
Klingklang  der  Heine'schen  Freiheitslockung  bietet  da  kein  Pendant 
—  so  das  Zeug  hatte,  den  Leuten  zum  Herzen  zu  sprechen,  die  keines 
haben,  und  der  einer  Rasse,  die  ohne  schlechtes  Gewissen  ihr 
Lebensgeschäft  macht,  das  momentan  ein  Todesgeschäft  ist,  ein 
Bedürfnis  nach  Beruhigung,  das  sie  nicht  spürt,  so  vollkommen 
gedeckt  hat.  Auf  dem  Wege  von  Christus  fort,  wieder  auf  dem  Äser- 
weg, treffen  sie  irgendwo  den  Dichter,  deranstatt  sie  zurückzutreiben, 


—  98  — 

Ersatz  anbietet.  Diese  Lyrik  ist  der  Gutschein,  der  den  Unberufenen 
auf  die  Seligkeit  ausgestellt  wird.  Was  braucht  man  der  Jauche 
mehr  zu  sagen,  als  daß  sich  auch  in  ihr  die  ewigen  Sterne  spiegeln 
und  gerade  in  ihr,  weil  derzeit  auf  Erden  kein  anderer  Spiegel 
vorhanden  ist!  Und  wenn  man  es  noch  dazu  teils  in  virtuosen, 
teils  in  angenehm  mystischen  Versen  sagt,  die  zwischen  Berlin  W 
und  den  Äonen  kein  Gefühl  des  Schauderns  voreinander 
aufkommen  lassen,  so  sind  mit  einem  Schlage  eine  Vertrautheit 
und  eine  Beliebtheit  hergestellt,  elementar  wie  sonst  nur  Entfernung 
und  Befremdung,  wenn  Kunst  und  Menge  aufeinander  geraten. 
Wer  könnte,  da  dieser  Dichter  den  einzigen  bescheidenen  Wunsch 
hat,  dir,  o  Mensch,  verwandt  zu  sein,  widerstehen?  Der  Welt- 
freund, der  diese  Sehnsucht  nicht  unter  Flüchen  vor  der  Welt 
bekennt,  sondern  ihr,  wie  sie  ist,  umarmend,  ins  Ohr  singt,  dürfte 
ein  Allerweltsfreund  sein.  Das  Entzücken  der  so  in  camera 
caritatis  sub  specie  aeternitatis  angesprochenen  Welt  ist  grenzenlos 
wie  die  Liebe,  die  sich  überall  dorthin,  wo  es  etwas  zu  fühlen 
gibt,  goetheisch  wühlt  und  aus  der  sprachlichen  Landschaft  des 
ersten  >  Faust«  in  die  Seelen  spült.  Mein  Mentor  durch  diese 
Gefühlszone,  der  nicht  fühlt,  wie  hier  ein  erborgter  Ton  einem 
Himmelsparvenütum  zuspricht,  ist  außer  sich,  denn  er  hat 
Werfein,  den  er  bisher  nur  gelesen  hatte,  gehört,  schwelgt  nun 
erst  recht  im  »neuen  Weltgefühl«  und  nennt  die  Gedichte,  die 
es  verkünden,  »unsere  vitalste  Angelegenheit:  das  Da-sein«.  Die 
Menschheitsstimme  ist  diesem  Dichter  »der  Sopran  Gottes«, 
bemerkt  er,  anstatt  lieber  zu  bemerken,  daß  dieser  Dichter  ein 
Tenor  der  Schöpfung  ist.  Nein,  »wäre  er  mit  heiserer  und 
siebenfach  belegter  Stimme  erschienen,  man  hätte  doch  einen 
gewalttätigen,  einen  rasenden  und  ekstatischen  Willen  gefühlt, 
der  die  Stimmbänder  bezwungen,  der  in  der  Menschenstimme 
über  Orgelton,  Pauke  und  Posaune  geboten  hätte«,  wiewohl  sie 
doch  eigentlich  nur  der  Sopran  Gottes  ist.  Aber  es  sind  wohl 
die  »zwo  Gewuren«  gemeint,  die  in  meiner  elysischen  Hymne 
gepriesen  werden  und  die  über  eine  siebenfach  belegte  Stimme 
—  Indisposition  des  Psalmisten   —  gesiegt  hätten.    Denn  siehe: 

Das  geschriebene  und  geprägte  Wort  riß  Franz  Werfel  wieder 
an  sich,  hielt  es  in  der  Schwebe,  auf  Sternen  und  Wolken,  schmiß  es 
über  Meridiane,  über  die  Erdkugel  hin  und  schlang  es  zurück  in  seinen 


—  99  — 


Busen  und  scVienkte  es  —  den  Vers  feierlich  zelebrierend  —  den  Menschen, 
die  auf  den  Stühlen  erst  festgeschraubt  saßen,  bis  sie,  von  jedem 
Argwohn  befreit,  von  jener  so  geheimnisvoll  Willige  und  Laue 
bezwingenden  Eintracht  der  Empfindung  ergriffen,  in  die  Sphäre  des 
Enthusiasmus  glitten,  mit  dem  Dichterlitten,  seiner  Hingabe  hingegeben, 
seinem  Erleben,  seinem  Beben,  seinem  Schweben. 

Zuerst  las  er  das  bekannte  Programm  der  Weltfreundschaft: 
was  er  alles  kennt  und  wie  er  weiß,  was  sie  alle  durchgemacht 
haben  bis  herunter  zum  Kuli.  >Er  schämt  sich  dieses  harten 
Wortes  —  durchmachen  —  selbst  in  der  beschwingtesten  Rede 
nicht«,  rühmt  der  Zürcher,  der  eben  noch  nie  in  Prag  gewesen 
ist  und  nicht  weiß,  was  sie  dorten  täglich  entweder  durchmachen 
müssen  oder  mitmachen  können.  Dann  las  er  ein  Gedicht,  durch 
das  >alle  lyrische  Prahlerei  mit  der  Erlebnisfülle  und  der  erlittenen 
Pein  ins  Mark  getroffen  ist«.  Werfel  tut  keineswegs  unrecht,  diesen 
Subjektivismus  ins  Mark  zu  treffen.  Denn  es  ist  in  der  Welt- 
literatur schon  manchmal  vorgekommen,  daß  der  Subjektivismus 
in  der  Lyrik  ein  Mark  hatte,  während  die  lyrische  Protzerei  mit 
der  fernen  Erlebnisfülle  und  der  durchgemachten  Pein  des  andern, 
die  jedes  Gedicht  als  eine  Gebrauchsanweisung  für  Nächstenliebe 
von  sich  gibt,  innen  und  außen  von  fremdem  Leben  borgt.  Etwa  so: 

Ich  bin  gesund, 

Und  weiß  noch  nicht,  wie  Greise  rosten. 
Ich  hielt  mich  nie  an  groben  Pfosten 
Wie  Frauen  in  der  schweren  Stund! 

Nie  war  ich  ein  Kind,  zermalmt  in  den  Fabriken 

dieser  elenden  Zeit,  mit  Ärmchen  ganz  benarbt! 

Nie  hab  ich  im  Asyl  gedarbt, 

Weiß  nicht,  wie  sich  Mütter  die  Augen  aussticken, 

Weiß  nicht  die  Qual,  wenn  Kaiserinnen  nicken. 

Ihr  alle,  die  ihr  starbt,  ich  weiß  nicht,  wie  ihr  starbt. 

Und  weiß  es  doch.  Welch  ein  mit  Gefühl  gefüllter  Hohl- 
raum! Wie  hart  in  Raum  und  Reim  stoßen  sich  die  Sachen: 
die  Greise,  die  rosten,  an  den  gewiß  seltenen  Fall,  daß  Frauen 
in  der  schweren  Stund  sich  an  Pfosten  halten,  deren  Merkmal, 
grob  zu  sein,  sowohl  der  Anschauung  wie  dem  Schmerzmotiv 
genügen  soll.  Wie  kommt  die  Absicht  dem  Unvermögen  zu  Hilfe, 
und  einzig  das  Bekenntnis  des  Dichters,  selbst  noch  nicht  die 
schwere  Stunde  durchgemacht  zu  haben,  scheint  als  ein  Naturlaut 


—  100 


aus  femininen  Seelengründen  und  von  tiefgefühlter  Unfruchtbarkeit 
her  zu  dringen.  Aber  er,  der  nie  in  der  Lage  war  und  nicht 
weiß,  wie  Kaiserinnen  nicken  —  ein  ungemein  suggestives  Beispiel 
aus  dem  Vorrat  von  Weltleid  und  aus  der  Reihe  alles  dessen, 
was  es  gibt  — ,  will  auch  hier  nur  zerknirscht  bekennen,  was  er 
doch  alles  fühlt,  ahnt  und  eben,  wenn  schon  nicht  durch-,  so 
doch  wenigstens  mitgemacht  hat.  Ist  solches  nun  sprachlich  die 
Willkür  der  Sprödigkeit,  die  von  einer  Erscheinung  bloß  die 
abseitige  Eigenschaft  oder  das  vom  Zufall  berührte  Merkmal 
aussagt  (nickende  Kaiserinnen,  Niederkunft  an  groben  Pfosten); 
jene  technische  Errungenschaft  der  letzten  zehn  Jahre,  die  die 
deutsche  Lyrik  als  Übersetzung  aus  irgendwo  wirken  läßt;  jene 
Geschicklichkeit,  zu  können,  was  man  nicht  kann;  jene 
Verfügsamkeit,  der  zwar  die  vorhandene  Phantasie  der  Phrase 
(>Dasein<)  widerstrebt,  aber  die  vorhandene  Plastik  der  Jargon- 
wendung (»durchmachen<,  »sich  die  Augen  aussticken«)  gefällt 
—  so  hat  der  Kritiker  recht,  als  Verse  »wie  sie  die  Lyrik  der 
vorletzten  Zeit  längst  nicht  mehr  kannte*,  die  folgenden 
hervorzuheben : 

Du  auch,  Wort,  praßte  auf,  das  ich  in  Ahnung  brauche! 
Geuß  unverzehrbar  Dich  durchs  All:  Wir  sind! 

Denn  die  vorletzte  Zeit  ist  glücklich  zwischen  dem  älteren 
Schillerton  und  dem  neueren  Prager  Judendeutsch  durchgerutscht. 
Der  vorvorletzten  Zeit  jedoch  den  Überschwang  der  Wortformen  zu 
entlehnen,  die  Petrefakte  der  schönen  Seele  mit  neuzeitlichen  Tränen 
aufzuweichen,  zeugt  von  einer  naiven  Unredlichkeit,  die  fast  wieder 
einem  Original  zugehören  könnte.  Das  gebärdet  sich,  als  ob  aus- 
gerechnet die  zwei  Seelen,  die  in  der  Brust  des  literarischen 
Zwitters  wohnen,  sich  in  das  Vermächtnis  der  Dioskuren  zu  teilen 
hätten.  Dieser  von  der  Natur  überreich  Ausgestattete  tut  mir 
und  sich  selbst  Unrecht,  zu  vermuten,  daß  ich  »mein  Wissen 
über  ihn  aus  dem  journalistischen  Waschzettel,  der  gerade  in 
Umlauf  ist,  übernehme.«  Wiewohl  ein  Waschzettel  über  einen 
Lyriker  oft  bessern  Aufschluß  gibt  als  sein  Buch  und  fast  so 
guten  wie  sein  Charakter,  und  wenn  es  gleich  richtig  ist,  daß 
ich  bei  der  Lektüre  vieler  Bücher,  die  mir  mit  vergötternden 
Widmungen  zugeschickt  wurden,  nicht  über  diese  hinaus- 
gekommen bin,  so  hat  mir  doch  bei  andern  die  Erinnerung,  daß 


—  101  — 


mir  ein  guter  Teil  schon  aus  dem  Manuskript  bekannt  war  und 
daß  ich  manch  einem  Stück  selbst  zum  Druck  verholten  habe, 
auch  das  Studium  des  Restes  zur  Pflicht  gemacht.  Daß  mir 
eine  begeisterte  Rezension,  aus  der  sich  gewiß  ein  paar  Wasch- 
zettel gewinnen  ließen,  beim  Zitieren  hilft  und  daß  mir  ihre 
Tiraden  für  den  Eindruck  der  Werfel'schen  Lyrik  bezeichnend 
sind,  entspricht  nun  einmal  meiner  Gewohnheit,  alles,  was  mir 
aus  der  Zeit  geboren  scheint,  durch  deren  eigentümlichstes 
Medium  zu  betrachten,  wissend,  daß  ich  so  bequemer  auf  den 
Grund  der  Erscheinungen  komme  als  wenn  ich  mich  an  sie 
selber  hielte.  Brauche  ich  mehr  von  einem  Lyriker  zu  wissen,  als 
daß  ein  Berliner  Literaturkommis,  der  als  Lebenslaufbursch  in  den 
ersten  Verlagshandlungen  praktiziert  hat,  ihm  als  »Künstler  der 
neuen  Generation«  nachrühmt: 

Man  hat  ihn  gefeiert.  Hunderte  von  Aufsätzen  sind  über  ihn 
geschrieben  worden.  Politiker  wie  Ästheten  zitieren  seine  Verse,  vor- 
nehme Frauen  legen  seine  Gedichte  auf  ihren  Nachttisch  und 
Ibsen  in  wehmütigen  Stunden  darin.  Denn  dieser  junge  Dichter 
streichelt  ihre  Gefühle,  er  verzärtelt  sie  ...  .  Einen  seiner 
Urgesänge  widmet  er  dem  »guten  Menschen«  ....  Etwas 
Christi  ich-Prometheisches  ist  in  ihm  ....  Er  steht  zur 
Linken  Heinrich  Manns  und  Rene'  Schickeies  als  der  Jüngste  und 
Zukunftsreichste.  Neben  dem  polyphonen  Orchester  des 
voltaiiischen  Geistes  und  der  nervösen  Violine  des 
elsässischen  Kosmopoliten  tönt  gewaltig  —  zum  Welt- 
gericht rufend  —  die  Posaune  dieses  ekstatischen  Lyrikers. 

Nun,  ich  würde  mein  Instrument  nicht  zugleich  mit  dieser 
Musik  zur  Geltung  bringen  wollen  und  gewiß  nie  zugeben,  daß 
meine  Urgesänge  auf  jenen  Nachttisch  gelegt  werden.  Solchem 
Waschzettel,  der  sich  nach  der  neuen  Schmonzesweis'  »einen 
Versuch«  nennt,  »eine  Andeutung  von  dem  hymnischen  Wesen 
des  Dichters  zu  geben«,  verdanke  ich  den  immerhin  wertvollen 
Aufschluß,  daß  »der  Ethiker  Werfel  der  Ekstatikerin  Heinrich 
Manns,  der  Madame  Legros  ähnelt«.  Ich  kenne  diese  Gestalt 
nicht,  bin  aber  von  der  seelischen  Identität  überzeugt  und  halte 
es  für  einen  Beweis  von  Instinkt,  den  die  Literaten  füreinander 
haben,  daß  hier  ein  Vergleich  mit  Danton  glücklich  vermieden 
wurde.  Und  ist  es  nicht  dankenswert,  Verse,  die  man  sonst  erst 
in  einem    Buch  suchen   müßte,   gleich   als  Zitate  vorzufinden? 

Warum  hast  Du  mich  mit  diesem  Feind  erschaffen? 

Mein  Vater,  warum  mich  zu  dieser  Zwieheit  gemacht? 


102 


Und  gar  einen  Urgesang  wie  diesen: 

Daß  den  Busen  du  erweiterst, 
Mußt  du  freundlich  sein, 
Mußt  du  höflich  sein, 
Mußt  du  gut  sein, 
Mußt  du  brav  sein. 

Die  Posaune  kann  auch  Schalmeien  und  an  der  Echtheit 
•dieses  Hirtentons,  der  einen  Hölty  beschämt,  üben  sich 
jetzt  allerorten  die  Berliner  Literaten  in  christlicher  Nächstenliebe. 
Aber  der  von  Natur  herzensgute  Schweizer,  der  einen  unsichern 
Kantonisten  nicht  zu  durchschauen  vermag  und  nicht 
ahnt,  daß  sich  das  neue  Pathos  erst  dann  ins  All  ergeußt, 
wenn  die  Um  in  die  Moldau  fleußt,  hat  es  mir  auch  nicht  unbequem 
gemacht.  Sogar  von  seiner  Druckanordnung  profitiere  ich;  denn 
an  Zufälle  glaube  ich  nicht: 

Es  geht  um  unser  Leben,  um  die  Existenz  der 
Dinge,  der  Natur  und  der  Kreatur,  deren  Wertet- 
kenntnis nur  durch  die  totale,  bedingungslose,  ufer- 
lose schöpferische  Liebe  uns  wiedergegeben  werden 
kann. 

In  diesem  Sinne  räumt  er  ein,  daß  der  Dichter  »nicht 
nur  die  eigene  Vollendung  des  Wortes  besitzt,  sondern  die 
Sprachvollendung  eines  Jahrhunderts  erworben  hat,  das  den 
ganzen  Goethe  beerben  konnte«.  Er  hält  das  für  eine  An- 
erkennung; ich  glaube,  wenn's  keine  Verleumdung  ist,  so  ist  es 
ein  Steckbrief,  der  den  Verdächtigen  noch  vor  dem  Betreten  der 
Nachwelt  erreichen  muß.  Aus  der  wievielten  Hand  jene  Verlassen- 
schaft auf  Werfein  übergegangen  ist,  kann  nicht  mehr  festgestellt 
werden,  aber  immerhin  erwarb  er  es,  um  es  zu  besitzen,  wie  er 
die  eigene  Vollendung  des  Wortes  besitzt,  von  der  ich  indes 
auch  glaube,  daß  sie,  wenn  sie  besitzbar  ist,  erwerbbar  oder 
ererbbar  sein  muß  und  nicht  angeboren.  Diese  Sprachkönner- 
schaft verfügt  vornehmlich  über  zwei  Tonarten:  die  hohe  und 
die  tiefe.  Die  tiefe  ist  erreicht,  wenn  der  Sopran  als  Mensch- 
heitstriller durchs  Grenzenlose  in  ein  »erhabenes  Wirrsal<  über- 
geht, das  aber  den  eben  noch  hingerissenen  Hörer  durchaus 
nicht  chokiert.  Denn  es  ist  ein  schon  gut  abgelegenes  Mysterium, 


—  103  — 

an  dem  sich  keiner  mehr  den  Kopf  zerbricht,  welchen  im  Gegenteil 
etwas  metaphysischer  Dampf  angenehm  einhüllt,  zumal  wenn  der 
Stern  der  Weltfreundschaft  immerzu  hindurchleuchtet.  Wie 
hoffnungslos  unbegleitbar  wirkt  daneben  die  Sehnsucht  des  einzigen 
männlichen  Lyrikers  von  heute,  der  Else  Lasker-Schüler,  »Ich  will  in 
das  Grenzenlose,  zu  mir  zurück.<  Noch  am  Ziel  des  Werfel'schen 
Tiefgangs  wird  der  entzückte  Betrachter  auf  Beispiele  einer 
Nächstenliebe  stoßen,  die  ihn  durch  ihre  zugleich  abgründige 
und  sympathischeGedanklichkeit  an  den  HerzpunktderWerfel'schen 
Anschauung  von  Gott  über  die  Welt  reißen.  Wahr,  wahr,  der 
Mensch  ist  von  tausend  Rätseln  umgeben  (was  ist  der  Mensch), 
>zwischen  denen  wir  lächeln,  atmen  und  schreiten«,  und  den 
Verstand,  der  sich  an  ihnen  vergreifen  möchte,  diesen  Verstand 
der  »Statisten  der  Lebendigkeiten«  (was  ist  der  Feuilletonist), 
weist  Werfet,  so  sagt  sein  Erklärer,  »auf  den  Löwenzahn,  von  dessen 
Leiden  der  Wissende  selbst  nicht  ergründet,  wie  dem  Löwenzahn 
zu  Mute  ist,  wenn  das  Kind  seine  Krone  zerbläst«.  Hier,  vor 
diesem  Gedanken,  in  dem  alles  Rätsel  und  sogar  das,  was  sogar 
der  Wissende  schon  weiß,  nämlich  daß  wir  nichts  wissen  können, 
eingeschlossen  ist,  konnte  sich  der  Schwärmer  nicht  mehr 
zurückhalten  und  brach  in  einen  Satz  aus,  aus  dessen  Irrungen 
und  Wirrungen,  Gründen  und  Abgründen,  Schöpfung  und 
Chaos,  Unerforschlichkeiten  und  vor  allem  Unermeßlichkeiten 
der  Lesezirkel  Hottingen  wie  ein  Pharus  in  Sperrdruck  hervorragt: 

Wir  fühlten  es,  wie  Werfel  hier  im  Namen  aller  sprach,  die 
»dem  Chaos  der  Gefühle  einen  Kanon«  geben,  im  Namen  eines  Geschlechtes, 
das  nicht  satt  an  dem  Faßbaren  bleibt,  sondejn  in  die  unerforschlichen 
Gründe  des  Herzens  dringt,  selig  und  beglückt,  wenn  es  trunken  von 
neuen  Ahnungen  und  Offenbarungen  ins_unermeßliche  All  der  gefühlten 
Welt  ausschwärmt,  ungekränkt,  wenn  die"  weisen  Magier  aus  dem 
Morgenlande  dieser  Jugend,  die  sich  nicht  am  Gegebenen  beruhigen 
kann,  die  »Verwirrung  des  Gefühls«  vorwerfen,  wie  es  einmal  Goethe 
Kleist  vorhalten  mußte  aus  jenem  naturnotwendigen  Gegensatz  der 
Väter  und  Söhne  heraus,  des  Alters  und  der  Jugend,  die  sich  zu  dem 
vom  Lesezirkel  Hottingen  angeregten  literarischen  Abend  in 
gleicher  Bereitschaft  des  Verständnisses  zusammenfanden,  so  daß  die 
Alten  und  Jungen  in  Werfel- Tönen  sprechen  konnten:  »Doch  auch  uns 
sind  Abende  beschieden,  an  des  Tisches  hauserhabenen  Frieden  .  .  .«, 
wo  die  gesetzten  Meister  wie  Hans  Sachs  den  Vogel  lobten,  »dem 
der  Schnabel  so  hold  gewachsen«,  während  die  Jugend  unbedingte 
Begeisterung  dem  Dichter  zu  erkennen  gab,  der  mit  einer  vorbildlichen 


104  — 


innern  Vorbereitung  und  mit  einer  Meisterschaft,  die  beinahe  zu 
meisterhaft  werden  könnte,  für  seine  Welt  im  Gedichte  hinreißendes 
Zeugnis  ablegte. 

Nachdem  sich  dieses  zugetragen  hatte  und  wir  nicht  ohne 
den  glücklichen  Zufall  der  Entdeckung,  daß  ein  Ekstatiker  am 
Ende  doch  ein  Macher  sein  könnte,  aus  diesem  Taifun  gerettet 
waren,  geschah  ein  Übriges.  Nicht  nur  die  Spracheist  der  Mensch, 
nicht  allein  daß  jeder  auch  den  Waschzettel  hat,  den  er  ver- 
dient, sondern  unschuldig  kommt  keiner  selbst  zu  einer  Notiz 
unter  >Lokales-: 

Man  erlebte  gestern  das  fast  Unglaubliche: 
Was  denn?  Hatten  sich  in  der  Bahnhofstraße  die  Schieber 
zusammengerottet  und  für  die  Beendigung  des  Weltkrieges 
demonstriert?  War  die  Krone  auf  38  gestiegen? 
nachdem  Franz  Werfel  sich  in  der  Veranstaltung  des  Lesezirkels 
mit  einer  hinreißenden  Inbrunst  der  Wiederschöpfung  seiner 
Dichtungen,  seiner  Rhapsodien  hingegeben  hatte,  wohnte 
er  noch  wachen,  scharf  prüfenden  Geistes  der  in 
den  neuen  Tag  übergreifenden  Hauptprobe  seiner  >Troerinnen« 
bei — seiner  > Troerinnen« ;  denn  ihre  Sprache,  ihre  Form  ist  ganz 
sein  eigen,  will  nicht  Euripides  sein.  Man  spürte  durchweg  die 
Hingabe  unseres  Oberregisseurs  Danegger  an  die  wahrlich  nicht  leichte 
Aufgabe  dieser  Wiedergabe.  .  .  .  Die  heutige  Aufführung 
dürfte  Franz  Werfel,  dem  gestern  die  Jungmannschaft,  die  neue 
Generation  feurig  huldigte,  aber  auch  die  altern  und  alten  Jahr- 
gänge dankbare  Aufmerksamkeit  schenkten,  einen  zweiten  tiefen 
Erfolg  bringen. 

Es  ist  ein  Wunder,  glaubet  nur.  (Goethe.) 

Jedoch  dem  Mitleid  der  Gäste  hatte  sich  scheues  Erstaunen 
zugesellt.  Denn  sie  sahen  plötzlich  Eine  (Einen)  mitten  in  ein 
Schicksal  gestellt.  (Werfel.) 

Denn  wer  der  Welt  Freund  ist,  wird  Gottes  Feind  sein. 

(Jakobus.) 

Was  nun  mich  selbst  betrifft,  so  wird  man  schwer  der 
Verlockung  widerstehen  können,  meine  Stellung  gegenüber  einem 
-der  beliebtesten  Pantheisten  der  Jetztzeit,  in  dessen  Anerkennung 


—  105  — 

sich  sogar  der  Urgegensatz  der  Väter  und  Söhne,  in  Prag  sowohl 
wie  in  den  Metropolen,  ja  neuestens  sogar  im  neutralen  Ausland 
beruhigt  hat,  auf  die  Motive  des  blassen  Neides  und  der  gemeinen 
Rachsucht  zurückzuführen.  Beide  Vorwürfe  wären  unzutreffend. 
Der  des  blassen  Neides,  mit  dem  Herr  Werfel  selbst  nicht" 
zurückhält,  wenn  er  nicht  gerade  versichert,  daß  er  mich  liebe 
und  das  Leben  ohne  mich  schwer  sei,  könnte  schon  darum  nicht 
berechtigt  sein,  weil  die  Qualität  der  beneideten  Leistung  außerhalb 
meiner  von  mir  selbst  erkannten  Grenzen  und  der  Erfolg  so 
sehr  jenseits  meiner  Wünsche  liegt,  daß  ich  es  als  das  einzige 
Selbstmordmotiv  anerkennen  würde,  wenn  mir  das  Malheur  mit 
dem  Dienstmädchen  passiert  wäre,  und  daß  ich  es  für  die  einzige 
Rechtfertigung  meines  Da-seins  halte,  die  Werke  von  Franz  Werfel 
nicht  geschrieben  zu  haben.  Man  ahnt  gar  nicht,  bis  zu  welchen 
Exzessen  des  Größenwahns  mich  in  mancher  Stunde  das  Bewußtsein 
treibt,  kein  Attest  in  der  Hand  zu  haben,  daß  ich  erst  dann 
meine  eigene  Sprache  schreibe,  wenn  ich  Euripides  übersetze, 
und  wie  sehr  ich  diesen  toten  Griechen  im  Grund  beklage,  daß 
er  gar  nicht  gefragt  wurde,  ob  seine  Sprache  von  Franz  Werfel  sein 
will.  Wenn  mich  eine  weltfreundliche  Fee  eines  Morgens  mit  der 
Mitteilung  weckte,  daß  Werfeis  Verse  von  nun  an  nicht  mehr 
von  Goethe,  Schiller,  Klopstock,  Laforgue  und  Rilke,  sondern 
von  mir  seien,  —  bei  Gott,  ich  nähm's  nicht  an!  So  glücklich 
preise  ich  mich,  lieber  Verse  geschrieben  zu  haben,  die  aus 
keiner  Existenz,  als  solche,  die  aus  mehreren  Existenzen  geboren 
sind.  So  bin  ich  nun  einmal,  und  wer  mich  anders  sieht,  ver- 
wechselt die  Eigenschaft  der  Schadenfreude,  die  auch  keine  schöne 
Eigenschaft  ist,  deren  ich  mich  aber  in  geistigen  Dingen  ohneweiters 
schuldig  bekenne,  mit  der  Eigenschaft  des  Neides,  die  mir  nur  vor 
den  jetzt  rarer  gewordenen  materiellen  Besitztümern  wie  Zigarren, 
Butter,  Eier,  Mehl,  anhaftet,  sagen  wir  vor  einer  Torte,  die  ein  Ge- 
dicht ist,  aber  keineswegs  vor  Gedichten,  die  noch  süßer  sind 
und  doch  nicht  alle  werden.  Liegt  die  Leistung  jenseits  meines 
Vermögens,  ihr  Genuß  jenseits  meines  Geschmackes,  so  bliebe 
nur  noch  die  Leistungsfähigkeit  des  Vortragenden,  die  physische 
Ausdauer  als  Gegenstand  des  Neides  übrig,  aber  gerade  mit  der 
könnte  ich  zur  Not  konkurrieren  und  wenn  ich  die  Presse  von 
der  Zeugenschaft  nicht  ausschlösse,  sie  ein  paar  dutzendmal  im 


—  106  — 

Jahr  ein  Lokalereignis  erleben  lassen.  Was  den  Wert  der  Darbietung 
anbelangt,  so  gibt  es  keinen,  der  so  einsichtig  und  ungeduldig 
im  Schatten  zu  stehen  wüßte  wie  ich,  und  darin  weiß  ich  mich 
hors  concours.  Nie  würde  ich  bezweifeln,  daß  eine  Volksabstimmung 
zugunsten  eines  Aufbauers  gegen  einen  Niederreißer  entscheiden 
würde,  für  den  Rhapsoden,  der  aufs  Ganze  der  Weltschöpfung 
geht,  gegen  den  Pedanten,  der  ein  Haar  darin  findet,  nämlich 
die  Erde  und  etwa  noch  den  Planeten  des  Herrn  Werfel,  weshalb 
ich  mich  ihr  gar  nicht  erst  aussetze.  Neben  dem  unwiderstehlichen 
Vertreter  Gottes,  der  nicht  nur  den  »Menschen  und  Dingen«  mit 
Liebe  zusetzt,  sondern  vom  Erlebnis  des  Seins  schlechtweg  so 
Besitz  ergriffen  hat,  daß  es  ihm  zum  Erlebnis  des  Habens 
geworden  ist,  neben  einem  solchen  unwiderleglichen  Ichbin  bin  ich 
nur  ein  armer  Worthascher.  Wer  wüßte  das  besser  als  ich  und 
sperrte  sich  selbstgenügsamer  in  seine  Grenzen? 

So  eigensinnig  lebe  ich  von  der  Lust,  der  Welt  Werte 
abzulehnen  und  in  der  Verkehrung  mir  den  Verkehr  der  Welt 
zu  ersetzen,  daß  ich  nicht  nur  für  mich  nach  dem  Verzicht 
strebe,  sondern  mir  noch  in  jedem  Falle,  wo  einer  von  mir  weg 
in  den  Erfolg  gegangen  ist,  einen  persönlichen  Mißerfolg  zurechne, 
so  daß  ich  mich  am  Ende  des  einzigen  Talents  werde  beschuldigen 
müssen,  in  Menschen  geirrt  zu  haben,  worauf  die  gerechte  Strafe 
steht,  nicht  auslernen  zu  dürfen.  Umso  größer  das  Glück,  manchmal 
doch  zu  sehen,  wie  zwischen  einem  Gedicht  und  einem  Mann 
kein  Erdenrest  bleibt,  aus  dem  der  Erfolg  wächst.  Daß  er  Einem 
erspart  geblieben  wäre,  einem,  um  den  auch  Mars  und  die  Musen 
gestritten  haben,  einem  Gleichalterigen  und  Landsmann  des  Franz 
Werfel;  daß  er  ihm  erspart  geblieben  wäre,  hätte  auch  Mars 
nicht  die  Oberhand  behalten  —  das  weiß  ich  besser  als  man  die 
Dinge  weiß,  die  man  schon  erfahren  hat.  Was  Franz  Janowitz 
in  den  vier  Jahren  seines  Kriegslebens  und  vorher  geschwiegen 
hat,  könnte  dennoch  einmal  lauter  und  lauterer  sprechen  als  die 
Werfel'sche  Posaune,  und  gegenüber  einer  Literaturkritik,  die  dann 
von  einem  Nachfolger  auf  den  Gedankenpfaden  der  Allfreund- 
schaft reden  könnte,  wird  es  geboten  sein,  rechtzeitig  darzutun, 
wie  vor  einem,  der  an  seinem  Ursprung  blieb,  ein  anderer,  der 
um  fremden  Ursprung  schwirren  konnte,  Schein  und  Schall 
voraushatte.  Was  zugleich  uns  Entfernte  entschuldigen  mag,  die 


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gegen   den  Zauber  einer  neuen  Gefühlswelt  sich  kritisch  nicht 
widerstandsfähiger  zeigen  mußten   als   Herr  Werfel  produktiv, 
und  mein  immerhin  rechtzeitig  aufgetauchtes  Mißtrauen  bestätigen 
wird.    Ein  geistiges  Ding    kann   eine    Zeitlang  echt  scheinen, 
weil  sein  Stoff  die  Echtheit  ist,  aber  es  verrät  sich  bei  näherer 
Kenntnis  dessen,  der's  trägt,  und  daß  sich  dann  auch  noch  der 
Schöpfer   dazu   findet,   ist  nur  die   erwartete   Entscheidung   in 
jenem   einzigen   Bereiche,   in   dem   es  noch   eine   Gerechtsame 
gibt.    Ich   möchte  schon   heute  der  Prager  Literatur  in   allen 
Zentren  des  Geisteslebens  den  Rat  geben,  sich  mit  ihren  Erfolgen 
zu  begnügen  und  den   Schatten    Franz  Janowitz,   der  bei  den 
schweigenden  Lebzeiten  des  Dichtersauf  ihr  Da-sein  und  Dortensein 
gedrückt  hat,  nicht  ihren  Gestalten  anzureihen,  wozu  sie  bereits 
schüchterne   Anstalten   trifft.   Er   ist   heute  nicht  wehrloser,   er 
würde  jetzt  erst  sprechen.  Die  Sprache  finden,  bei  der  er  immer 
war  und   die  er  selbst  im  Trommelfeuer  zu  hören  gewollt  hat. 
Was   dieser  Franz  Janowitz  auf  einer   Feldpostkarte   über   das 
Geheimnis  eines   Vokals    aussagen    konnte,    in    einem    meiner 
versgewordenen  Worte,  die  so  weit  von  dem  Anspruch  entfernt 
sind,  sich  durch  das  All  zu  ergeußen,  das  sollte  wohl  einen 
Franz  Werfel,  der  mir  »Wortdienst  Götzendienst!«  zugerufen  hat, 
beschämen.  Er,  der  Schöpfer,  der  durch  sich  selbst  fliegen  kann 
über  tausend  Meere   und   wie  erst  hinweg  über  meine  Grenzen, 
überschätzt  mich   dennoch,   wenn  er  höhnt,  daß  meine  Qualen 
»nicht  den  Menschen  und  Dingen,  die  ich  zu  Worte  bringe,  gelten, 
sondern  dem  Worte  selbst«.  Das  hält  er  für  armselig  genug.  Ach,  es 
ist  weit  schlimmer  um  mich  bestellt,  denn  wenn  ich  nur  unter  solchem 
Zustand  litte,  so  könnte  ich  mich  davon  befreien,  indem  ich  mich 
von  den  Menschen  und  Dingen  befreie,  die  ich,  wie  Herr  Werfel 
sich  das  vorstellt,  zu  Worte  bringen  will  und  doch  nicht  müßte. 
Es  ist  schön  von  ihm  und  zeugt  von  seiner  selbst  mich  umfassenden 
Nächstenliebe,   daß   er  bereit   ist,   dieses  Leid  mit  mir  durch- 
zumachen.   Aber  weiter  könnte  sein  lebendiges  Mitgefühl  kaum 
dringen,  nämlich  bis  dorthin,  wo  eben  das  beginnt,  was  er  nicht 
versteht.  Denn  es  ist  nichts  geringeres  —  Herr  Werfel  erschrecke 
nicht  — ,  als  daß  die  Menschen  und  Dinge,  von  denen  ich  mich 
längst  befreit  hätte,  wenn's  nur  drauf  ankäme,  sie  zu  Wort  zu 
bringen    —   etwas  dagegen   haben!    Und   darin   ist  jene   Qual 


108 


enthalten,    die   so  schwer  mitzumachen   ist  und   bitter  wie  ihr 
Bekenntnis: 

Wer  sprechen  kann,  der  lache 

und  spreche  von  den  Dingen. 

Mir  wird  es  nie  gelingen, 

sie  bringen  mich  zur  Sprache. 

Der  Glückspilz  des  Wortes  freilich,  dem  es  zur  Verfügung 
steht  und  dem  der  Schnabel  hold  gewachsen  ist,  um  von  allem  und 
zu  allem,  was  es  gibt,  zu  sprechen  und  vor  allen,  die  es  gibt  — 
dessen  Anteil  gilt  unmittelbar  den  Menschen  und  Dingen  und  ihm 
bleibt  selbst  jene  formale  Wortmühe  erspart,  als  die  er  meinen 
Zustand  begreifen  möchte.  Was  weiß  denn  ein  Weltfreund  von 
meinem  Elend?  Ahnt  er,  daß  die  erreichte  Menschenbrüderschaft 
eine  Schlaraffengemütlichkeit  ist  neben  der  furchtbar  zärtlichen 
Innung  der  Worte;  und  daß  seine  Gefühlsamkeit  um  die  Dinge 
ein  Kinderspiel  ist  neben  Lust  und  Schmerz  jener  Mitwisserschaft, 
welche  die  Anziehungskraft  der  Laute  erlebt?  Und  daß  die 
Anziehungskraft  der  Leute  in  solchem  Stadium  keine  Ablenkung 
vermag?  Hat  ein  Voyeur  der  Menschenliebe  je  in  dieses  Reich 
der  Leidenschaften  geschaut?  Ein  Shakespeare  mag  seine 
Silbenstecher  verspotten,  da  sein  Spott  zugleich  sie  erhöht, 
indem  er  sie  um  eines  Shakespeareschen  Zuges  willen 
und  mit  Shakespeareschem  Wortwitz  verspottet  und  ihnen  Sätze 
in  den  Mund  legt,  die  seines  Spottes  spotten.  Aber  ich  bin 
kein  allitterierender  Schulmeister  und  Herr  Werfel,  der  sich 
von  Shakespeare  schon  durch  die  Fähigkeit,  keinen  Wortwitz 
machen  zu  können,  unterscheidet,  spottet  nicht  einmal  seiner 
selbst  und  weiß  bloß  nicht  wie.  Er  hat  wirklich  nebst  den 
vielen  Dingen,  die  ihm  unmittelbar  ans  Herz  gewachsen 
sind  und  die  er  bloß  nicht  kennt,  von  jenen  keine  Ahnung,  zu 
denen  man  keine  andere  Beziehung  als  die  der  Ahnung  haben 
kann.  Es  ist  eben  leichter,  sich  in  die  Lage  eines  Schiffsheizers, 
sogar  in  das  Schicksal  eines  Dienstmädchens,  das  die  Schüssel 
fallen  läßt,  ja  selbst  in  die  Situtation  einer  schwangeren  Frau  zu 
versetzen  als  in  die  ganz  andern  Umstände,  die  bei  meinem 
Schreiben  vorwalten.  Heißer  habe  ichs,  ungeschickter  mache 
ichs  und  schmerzlicher  ist  es.  Wenn  Herr  Werfel  aber  schon 
nicht  weiß,  wie  sich  Mütter  die  Augen  aussticken,   geschweige 


109 


denn  die  Qual,  wenn  Kaiserinnen  nicken,  so  sollte  er  auch 
so  bescheiden  sein,  sich  in  eine  Erörterung  meiner  Passion 
nicht  einzulassen,  umsoweniger  als  man  nach  seinem  eigenen 
Eingeständnis  nie  wissen  kann,  wie  dem  Löwenzahn  zumute 
ist,  wenn  ein  Kind  an  ihn  rührt,  und  ich  ihm  gern  zu  verstehen 
gebe,  daß  meine  Wertlosigkeit  sich  nur  auf  den  Anlaß  und  nicht 
auf  den  Erreger  erstreckt  —  »Mein  Mut  ist  Löwenzahn!«  So  eng 
meine  Grenzen,  so  lebhaft  mein  Wunsch,  daß  sie  von  außen 
nicht  überschritten  werden,  und  daß  ein  Anrainer  der  ewigen 
Sphären  darauf  verzichte,  in  der  meinigen  nachzuschauen  und 
meine  Abenteuer  der  Arbeit  mitzumachen.  Er  ist  entschädigt.  Ihm 
schenkte  nicht  allein  des  Gesanges  Gabe,  der  Lieder  süßen 
Mund  Apoll,  damit  sich  eine  erholungsbedürftige  Zeit  daran 
erquicke,  er  ist  auch,  um  tieferem  Bedürfnis  zu  genügen,  des 
Gottes  voll  —  mein  Eidgenosse  beschwor  es;  ein  Götzen- 
diener des  Worts  würde  vergebens,  erfolglos,  es  bestreiten. 
Aber  Neid  könnte  dem,  der  im  Genuß  der  Entsagung  schwelgt, 
nicht  vorgeworfen  werden.  Bliebe  nur  die  Rache. 

Ich  wüßte  nun  zwar  keinen  bessern  Grund,  um  mich 
an  einem  schlechten  Gedicht  zu  rächen,  als  das  schlechte 
Gedicht,  und  könnte  darauf  verweisen,  daß  meine  Angriffe, 
seitdem  ich  Krieg  führe,  ihr  Motiv  an  der  Stirn  tragen,  die 
ich  offen  allen  Feinden  biete  mit  Ausnahme  jener,  denen  ich 
den  Rücken  biete,  weil  sie  ihre  eigene  Berechnung  oder  Hysterie 
zum  Maß  meiner  Taten  machen.  Daß  ich  einen  Weltkrieg 
führe,  mag  für  die  Krapüle  noch  immer  auf  verletzte  Eitelkeit 
oder  auf  den  Papierkorb,  den  ich  von  einem  Zeitungsherausgeber 
erhalten  haben  soll,  zurückzuführen  sein,  und  die  Judengasse 
glaubt  noch  immer  nicht,  daß  ihre  Psychologie  ein  triftigerer 
Grund  ist,  sie  zu  verpönen,  als  der  Tatbestand,  den  sie  fingiert. 
Wie  vermöchte  der  Ehrenschild  vor  einem  Lebenswerk  unversehrt 
den  Sagenkreisen  zu  entkommen,  in  denen  die  Tat  ein  Geschäft 
und  der  Angriff  eine  Repressalie  ist?  Wo  gibt  es  eine  Rettung 
vor  denen,  deren  Beruf  ist,  nicht  zu  glauben?  Wo  wäre  in 
dieser  Welt  der  Geschichtenträger,  Kaffeebrüder  und  Mollusken, 
über  deren  Wesenlosigkeit  mich  die  Panzer tracht  dieser  Jahre 
nicht  getäuscht  hat,  eine  Klarstellung  männlicher  Dinge  möglich? 
Wenn  ich  es  auf  diese  Region  abgesehen  habe,  so  kann  freilich 


—  110  — 

mein  Angriff  den  persönlichen  Ursprung  so  wenig  verleugnen 
wie  die  persönliche  Richtung.  Um  zum  Urteil  über  die  sprachlich 
manifestierte,  sprachlich  verkleidete  Unpersönlichkeit  zu  gelangen, 
hat  es  immer  wieder  des  persönlichen  Aufschlusses  bedurft,  und 
ich  bekenne  mich  nicht  nur  dieser  Methode  der  literarischen  Urteils- 
bildung schuldig,  sondern  auch  der  Kurzsichtigkeit,  die  mir  manch 
einen  Vers  schön  erscheinen  ließ,  ehe  er  mir  eben  das  fragwürdige 
Gesicht  zuwandte,  das  mir  die  Seele  seines  Autors  offenbarte. 
Ein  Gedicht  ist  so  lange  gut,  bis  man  weiß,  von  wem  es  ist, 
und  ich  maße  mir  an,  von  sprachlichen  Dingen  so  viel  zu 
verstehen,  daß  ich  den  ganzen  Menschen  dazu  brauche,  um  seinen 
Vers  beurteilen  zu  können.  Er  ist  zugleich  gut  und  schlecht,  und 
ehe  man  das  zweite  weiß,  ist  man  gerne  gewillt,  das  erste  zu 
glauben.  Denn  eben  das  ist  dieser  Spielart  gegeben,  zu  zeigen 
was  sie  nicht  hat,  und  so  hat  auch  sie  teil  an  dem 
großen  Geheimnis  der  Sprache,  die  eben  dort,  wo  nicht 
Wesen  ist,  umso  mehr  Schein  zuläßt.  Vermag  sie  kein 
Wunder,  so  vermag  sie  doch  den  Zauber.  So  herzgebunden 
ist  die  Sprache  der  Lyrik,  daß  sie  es  entweder  hat  oder  verhüllt, 
was  sie  nicht  hat.  Bis  man  das  erkannt  hat,  gilt  es  immer  wieder 
kennen  zu  lernen.  Der  Satzbau,  der  auf  dem  Flugsand  der  Hysterie 
steht,  besteht  nicht  und  der  Seele,  deren  Grundgefühl  die  Unruhe 
des  verirrten  Geschlechts  und  deren  haltbares  Erlebnis  die  eigene 
Unsicherheit  ist,  traue  ich  den  schönsten  Vers  nicht  zu,  den  sie 
geschrieben  hat.  Lyrik  ist  entweder  die  Flucht  des  Stärkeren  vor 
dem  Leben  oder  des  Schwächeren  vor  sich  selbst.  Zumeist  kommt 
man  ihr  erst  auf  den  Grund,  wenn  man  auf  keinen  stößt,  und 
manch  ein  Ichbin  ist  mir  begegnet,  das  sich  lange  dieser 
Prüfung  entzog  und  erst  bewiesen  hat,  daß  ihm  das  Ich  fehle, 
als  es  dieses  gegen  mich  behaupten  wollte.  Und  vor  solchen  Offen- 
barungen sollte  eine  wahrhafte  Literaturkritik  Halt  machen?  Ein 
Lyriker  selbst  hat,  da  auch  nach  seiner  Ansicht  > nicht  Hoheit  und 
Niedrigkeit  zugleich  in  einem  Herzen  wohnen  können«,  einmal  zu- 
gegeben, daß  das  Werturteil  über  den  Menschen  das  über  den  Lyriker 
bedeutet.  Gegen  welche  literarische  Betätigung  wäre  denn  auch  die 
persönliche  Methode  der  Urteilsbildung  weniger  anfechtbar 
als  gegen  die  allerpersönlichste?  Was  ich  aber  persönlich  vergelte, 
ist    nie    die   Handlung    oder    Gesinnung,    die    den   Charakter 


111  — 


anders  deuten  ließ,  sondern  einzig  und  allein  das  Gedicht.  Dieses 
ist  mir  angetan.  Die  Handlung  auch  dann  nicht,  wenn  sie  mir 
angetan  wäre.  Das  Gedicht  aber  läßt  mich  nicht  verzeihen  und 
nicht  vergessen,  daß  ich  es  früher  anders  angeschaut  habe,  und 
weil  vor  der  geistigen  Front  nur  das  unerbittliche  Muß  gilt, 
und  weil  mir  das  Problem  der  Deckung  von  Wort  und  Wesen 
unvermeidlich  ist  wie  ein  Schicksal,  so  gibt  es  da  nichts 
als  Erkenntnis  und  Bekenntnis,  auf  die  Gefahr  hin,  daß  ein 
Tölpel,  ein  Schuft,  ein  Gerücht  oder  wie  das  weglagernde  Ding 
sonst  heiße,  eben  das  > persönliche  Motiv«,  welches  doch  das 
einzige  Motiv  ist,  nicht  Selbstmord  in  dieser  Welt  zu  begehen, 
mir  enthüllend  auf  den  Rücken  schreibe. 

Meine  Rachsucht  wird  offenbar:  Handlungen,  die  mir 
nicht  angetan  sind,  können  mir  eine  Persönlichkeit  aufschließen 
und  das  »persönliche  Motiv*,  an  dem  ausschließlich  das  Objekt 
beteiligt  ist  und  das  Subjekt  nur  als  erkennender,  nicht  als- 
leidender  Faktort  ist  der  Hebel  der  Wendung,  die  der  Flachsinn 
immer  nur  von  einem  verletzten  persönlichen  Interesse  herleitet. 
Wenn  ich  einen  Antialkoholiker  auf  Grund  persönlicher  Erfahrung 
entlarve,  so  wird  diese  als  die  schmerzliche  Enttäuschung  verdächtigt 
werden,  daß  er  meinen  Wein  ausgetrunken  habe.  Wiewohl  meine 
Erkenntnis  seiner  Persönlichkeit  darum  nicht  minder  stichhaltig 
wäre,  so  wird  sie  von  einer  Ethik,  die  nur  das  persönliche  Interesse 
als  den  Beweggrund  aller  menschlichen  Entschließungen  begreift, 
selbst  dann  entwertet,  wenn  sie  auf  der  Grundlage  einer  streng 
objektiven  Erfahrung  zustandekommt.  Im  Angesicht  solcher 
sittlicher  Kompetenz  jedoch  empfiehlt  es  sich,  das  persönliche 
Motiv  als  das  einzige  sachliche  zu  bejahen,  solange  daran  nur 
die  Persönlichkeit  des  Angegriffenen  und  nicht  das  persönliche 
Interesse  des  Angreifers  beteiligt  ist.  Der  Verdacht  kann  sich, 
um  dennoch  »Rache«  zu  vermuten,  vor  solcher  Hartnäckigkeit 
ja  getrost  auf  die  Wahrnehmung  zurückziehen,  daß  eine  Kritik 
als  Antwort  auf  eine  Kritik  erfolgt.  Diese  Entwertung  könnte 
meinem  Urteil  tatsächlich,  wenngleich  erst  jetzt  widerfahren.  Denn  der 
Dichter  hat  einen  »Offenen  Brief«  an  mich  veröffentlicht, 
mit  dem  er  nicht  nur  den  gern  eingeräumten  Unterschied 
zwischen  seiner  Weite  und  meiner  Enge  gründlich  ausschöpft, 
sondern     auch     bis     auf     die      psychische     Wurzel     meiner 


112  — 


unfreundlichen  Weltbetrach tung  vordringt  und  an  diesem  Fall 
die  Problematik,  die  zwischen  Schreiben  und  Leben  spielt, 
mit  der  ganzen  Selbstaufopferung,  deren  die  psychoanalytische 
Methode  fähig  ist,  entblößt.  Indem  er  die  Distanz  zwischen 
einem  Satiriker  und  der  Menschheit  auftut,  erkenne  ich  wieder 
nur  die  zwischen  einem  Vers  und  einem  Menschen.  Ich  sei, 
enthüllt  der  Verfasser  der  »Metaphysik  des  Drehs«,  ein  Hysteriker, 
ich  sei  es;  was  ich  schreibe,  sei  ein  >sublimierter  Alibi- 
beweis«, ich  führte  > Dialoge  mit  einem  scheinbaren  Partner«, 
ich  sei  kein  Ichbin,  ich  sei  ein  >ichsüchtiger  Selbstmordkandidat«, 
ein  »Feigling  und  Drückeberger  des  Zerfalls«,  »kein  wirklicher 
Mensch«  (welcher  Entdeckung  sogar  ein  tätiger  Mitstreiter  des 
Herrn  Werfel,  der  mich  vorher  »christushaft«  befunden  hatte, 
zustimmen  mußte);  ich  sei  einer,  dessen  Schicksal  es  ist,  die 
Welt  aus  dem  Zeitungsblatt  zu  erleben,  »wie  es  in  anderem 
Sinne  das  Schicksal  der  ganzen  Zeitgenossenschaft  ist«,  die  Welt 
sei  aber  »nicht  identisch  mit  der  Zeitung«  (an  welchem  Wider- 
spruch aber  die  Welt  und  nicht  der  Weltfreund  schuld  ist);  ich 
mache  schlechte  Witze,  die  Herrn  Werfel  in  der  Hand  bleiben 
und  dann  wirklich  ein  Dreck  sind ;  ich  sei  ein  Taschenspieler,  treibe 
Gespensterpolitik,  liebe  Seitenblicke,  publiziere  Privatbriefe  (was 
ich  doch  nur  tue,  bevor  sie  als  offene  erscheinen),  kurz  und  gut, 
ich  habe  mich  seit  der  Stunde,  die  gebieterisch  und  unverrück- 
bar den  Planeten  des  Herrn  Werfel  an  den  meinen  band,  sehr 
veiändert.  Nun  könnte  ich  wohl  zugeben,  daß  ich  mich  dem 
Eindruck  solcher  Konstatierungen  nicht  leicht  entziehen  kann 
und  daß  immerhin,  wenn  ich  nicht  schon  zum  Glück  mein 
endgiltiges  Vorurteil  über  die  Werfel'sche  Lyrik  hätte,  dieses  noch 
durch  das  polemische  Betragen  des  Dichters  ungünstig  beeinflußt 
werden  könnte,  das  ja  reichlich  jene  Aufschlüsse  über  den 
Menschen  liefert,  die  die  Maske  des  Reims  so  diskret  vorenthält. 
Ich  möchte  der  ungebundenen  Sprache  des  Dichters  das  Ver- 
dienst nicht  abstreiten,  wenn  schon  nicht  an  seiner  Wertung,  so 
doch  an  dem  Entschluß,  sie  zu  Wort  zu  bringen,  mitgewirkt 
zu  haben.  Mehr  als  ein  Waschzettel,  in  dessen  Adjektiven  ich  das 
Echo  der  Persönlichkeit  höre;  mehr  selbst  als  jene  Kritik, 
deren  Jauchzer  nur  die  bequemen  Stichworte  der  Negation 
waren    und    die    ich    nicht    zitiert,    sondern    reklamiert    habe, 


113 


weil  sie  schlechthin  meine  in  Begeisterung  übersetzten  Original- 
bedenken  darbieten.  Die  Anregung,   sie   zu   äußern,   habe   ich 
doch  dem  Werfel'schen  Artikel,  diesem  Dialog  mit  einem  sehr 
realen   Partner,    zu    verdanken.    Einen    besseren  Kommentator, 
einen  unmittelbarem,  hätte  dieser  Autor  nicht  finden  können  als 
sich  selbst.  Wann  hat  denn  jemals  ein  Schreibender  mit  stärkerer 
Unbefangenheit  das  Bekenntnis  abgelegt,  daß  das  einzige  Erleb- 
nis, welches  er  selbst   durchzumachen   hat  und   wenn   ihn   die 
Liebe  in  alle  Welten  entführte,   das  des  Wortes,  ihn   entwerte! 
Wann    hätte    ein   Künstler    mit  geringerem   Ahnungsvermögen 
den  tiefsten  erotischen   Zusammenhang,   den   mit   der   Sprache, 
zum  Kult  der  Form  herabgesetzt,  die  Verankerung  der  Welt  im 
Wortwesen  zum   ästhetischen   Sport!    Wenn   ich   Herrn   Werfel 
sagte,  daß,  wer  dem  Wort   näher  ist,  auch  den  Menschen  und 
den  Dingen  näher  ist;  daß  in  der  Claudius'schen    Zeile    »'s  ist 
leider  Krieg«,  das  »leider«   den   größten   Komparativ  von   Leid 
bedeutet  und  daß  davor  alles  mitgemachte  Leid  der  Werfel'schen 
Liebe    wie    ein    gemachtes    Mitleid     in    Nichts    vergeht;    daß 
ein   Wort   am   rechten   Ort   das  Herz  selbst   am  rechten  Fleck 
ist;   und  daß  nicht  allein   im  kleinsten  meiner  Versworte  mehr 
Existenz   ist  als  in  seinem  ganzen  lyrischen  Da -sein,   nein,  in 
meiner    letzten    Glosse,    nein,    in    meinem    letzten    Zitat    einer 
Lokalnotiz,    in    einem    Titel,     einem    Komma,    einer    Druck- 
anordnung,   einem    Umbruch,    einem    Zwischenraum   zwischen 
Worten  mehr  Leben,  Liebe,  Leid  und  Lyrik  ist  als  in  seiner  ganzen 
Schöpfung  —  er  würde  es  nicht  glauben,  nicht  verstehen  und  gegen 
solchen   Götzendienst    der    Letter    sich    auf    seine   anerkannte 
Parteinahme  für  die  Menschen  und  Dinge  berufen.  Ich  nehme  sie 
nur  beim  Wort  und  was  bei  diesem  Verfahren  von  Herrn  Werfel 
übrig  bleibt,   dürfte  man  merken.  Es  könnte  auf  Rache  zurück- 
zuführen sein,  denn  einen  schlechten  Polemiker  zitieren,  heißt  schon 
sich  an  ihm  rächen.    Nur  daß  ich  beim  redlichsten  Willen  kein 
anderes  Motiv  für  diese  Rache  zugeben  könnte  als  sein   eigenes 
Wort.  Den  Beweggrund  gekränkter  Eitelkeit  oder  erlittener  Ein- 
buße muß  ich  in  Abrede  stellen.    Da  der   Werfel'sche   Angriff 
das  Urteil  der  mir  kompetenten  Öffentlichkeit  nicht  beeinflussen 
wird,    indem     er    mir   weder    bei     mir   schaden    noch    mich 
bei  meinem  scheinbaren   Partner  blamieren   kann,   so   hat   der 


—  114 


Wunsch,  Werfeis  Tun  ihm  vor  seinem  viel  breiteren  Forum  zu 
vergelten,  keinen  Raum  in  meiner  Seele.  Rachsüchtig  bin  ich  nicht, 
und  kein  gerechter  Beurteiler  wird  in  meiner  Kritik,  die  eine 
lyrische  Unermeßlickeit  auf  eine  begrenzte  Persönlichkeit  herab- 
zustimmen sucht,  Spuren  dieser  unedlen  Regung  auffinden 
können.  Hätte  ich  auf  den  »Offenen  Brief«  reagieren  wollen, 
wie  er  es  verdient  hat,  so  hätte  sich  mir  ein  ganz  anderes 
Mittel  geboten,  und  ich  kann  verraten,  daß  ich  sowohl 
den  Einflüsterungen  meines  scheinbaren  Partners  wie  dem  Drän- 
gen mancher  besseren  Freunde  widerstehen  mußte,  die  mich  zu 
einer  überaus  gehässigen,  teuflischen,  ja  geradezu  persönlichen 
Abwehr  überreden  wollten.  Was  sie  mir  rieten,  war  —  die 
Feder  sträubt  sich,  es  anzudeuten  —  nichts  anderes  als  was  ich, 
um  mir  in  einem  äußersten  Falle  Ruhe  zu  verschaffen,  notge- 
drungen schon  einmal  in  der  deutschen  Literatur  getan  habe, 
nämlich  vis-ä-vis  dem  Alfred  Kerr.  Ich  habe  mich  damals  hin- 
reißen lassen.  Aber  ich  verschmähe  es  heute,  dieses  unfaire  Mittel 
anzuwenden,  das  gegen  einen  Berufspolemiker,  der  nicht  Ruhe 
geben  wollte,  als  ultima  ratio  seine  befreiende  und  vernichtende 
Wirkung  geübt  hat,  jedoch  in  der  Defensive  gegen  einen  Welt- 
freund, der  nur  einmal  aus  der  Rolle  gefallen  ist,  unerlaubt  wäre. 
Ich  hoffe  nicht,  daß  ich  doch  noch  einmal  dazu  genötigt  sein 
werde  oder  daß  mein  Partner  und  die  andern  Ratgeber  mich 
so  weit  treiben.  Ihr  Rat  war  Rache.  Unerbittlich  zu  sein. 
Keinen  Pardon  zu  geben;  sondern  schonungslos  den  Angriff 
des  Franz  Werfe!  —  nein,  so  bin  ich  nicht  —  abzudrucken! 


—  115  — 
Meinem  Franz  Janowitz 

(getötet  am  4.  November  1917; 

Ein  Landsknecht  du?  Vier  Jahre  deines  Seins 
hast  du  dein  frühlinghaites  Herz  getragen 
durch  Blut  und  Kot  und  alle  Peil*  und  Plagen 
und  wurdest  der  Millionen  Opfer  eins? 

Und  durftest,  was  du  mußtest,  uns  nicht  sagen 
und  fühltest  Vogelsang  des  grünen  Rains 
und  lebtest  stumm  am  Rande  dieses  Scheins 
und  fromm  genug,  um  ferner  nicht  zu  fragen. 

Und  da  dein  reines  Herz  erstickt  in  Kot, 
das  Mitgefühl  der  Zeit  mußt  du  entbehren. 
Ein  treuer  Bursch  nur  stand  bei  deinem  Tod. 

Doch  seine  Thränen  wird  die  Welt  vermehren, 
färbt  einst  nicht  Blut  mehr,  färbt  die  Scham  sie  rot. 
Bis  dahin  mag  sie  ihre  Henker  ehren! 


—  116  — 


Die  letzte  Nacht 

(Aus  dem  Epilog  zu  der  Tragödie  »Die  letzten  Tage  der  Menschheit«.) 

Der  Horizont  ist  eine  Flammenwand.  Nachdem  Gasmasken,  sterbende 
Soldaten,  ein  General,  Kriegskorrespondenten,  ein  Totenkopfhusar,  der 
Doktor  ing.  Abendroth  aus  Berlin  und  andere  Erscheinungen  gesprochen 
haben,  setzen  die  folgenden  Auftritte  ein.  (An  diese  schließen  sich  die 
Wechselreden  von  drei  gelegentlichen  Mitarbeitern  an,  hierauf  Rufe 
von  Kriegern,  Ordonnanzen  und  Kinooperateuren,  Stimmen  aus  dem 
Kosmos  und  die  Stimme  Gottes.) 

Es  wird  dunkel.  Es  erscheinen  Hyänen,  die  Menschengesichter  tragen. 

Als  Sprecher  die  Hyänen  Fressack  und  Naschkatz.  Sie  kauern  vor 

den  Leichen  und  sprechen,  rechts  und  links,  in  ihr  Ohr. 

Fressack 

Wenn  Sie  vielleicht  was  bedarfen,  wenn  Sie  vielleicht 

was  bedarfen, 
wir  sind  da,  wir  tragen  Gesichter  als  Larven. 
Doch  erschrecken  Sie  nicht  vor  Barten  und  Mähnen: 
wir  sind  keine  Menschen,  wir  sind  nur  Hyänen! 
Nur  daß  Ihr  Opfer  umsonst  nicht  wäre, 
sind  wir  hier  am  Platz,  auf  dem  Felde  der  Ehre. 
Bedarfen  Sie  nichts,  nehmen  wir  Ihnen  was  ab, 
was  solin  Sie  mit  Schmuck  und  Barschaft  ins  Grab! 

Naschkatz 

Ihr  seid  nebbich  froh,  daß  alles  erledigt. 
Für  eure  Verluste  haben  wir  uns  entschädigt. 
Auf  unseren  Rat  gingt  ihr  frisch  in  das  Feld, 
gabt  ihr  euer  Blut,  nahmen  wir  euer  Geld. 
Damit  wir  gewinnen,  mußtet  ihr  wagen, 
jetzt  gilt's  noch  ein  Scherflein  beizutragen. 
Wenn  ihr  auch  besiegt  seid,  wir  werden  doch  siegen. 
Das  Blut  ist  gesunken,  das  Fleisch  ist  gestiegen. 


Fressack 

Ihr  könnt  euch  in  dem  Punkt  auf  uns  verlassen: 
bald  wird  euch  des  Kaisers  Rock  nicht  mehr  passen. 
Mit  euren  Granaten  und  Bomben  und  Minen 
fahrt  weiter  so  fort  und  laßt  uns  verdienen. 
Das  ist  ein  Vergnügen,  herum  hier  zu  lungern, 
ihr  braucht   nicht  zu   frieren,   ihr  braucht   nicht   zu 

hungern! 
Wir  wissen  es  doch,  unser  Ehrenwort,  heuer 
sind  Kohle  und  Fett  noch  dreimal  so  teuer! 


Naschkatz 

Wir  sagen  es  ins  Ohr  euch,  ihr  solltet  uns  danken: 
dadurch  daß  ihr  hier  liegt,  gehts  besser  den  Banken. 
Durch    die    Bank    konnten    sie    das    Kapital    sich 

vermehren, 
die  Fusion  ..mit  der  Schlachtbank  kann  man  ihnen 

nicht  wehren. 
Ihr  könnt  noch  von  Glück  sagen,  so  ruhig  zu  liegen, 
wenn  zugleich  mit  den  Kugeln  die  Tausender  fliegen. 
Doch  ihr  seid  entschädigt:  ein  jeder  ein  Held! 
Ihr  schwimmt  ja  in  Blut,  und  wir  nur  in  Geld. 


Fressack 

Ihr  werdet  doch  fortleben  in  den  Annalen! 

Umsonst  ist  der  Tod,  doch  dafür  muß  man  zahlen. 

Wir  haben  den  Krieg  ja  nicht  angefangen. 

Wir  haben  ihn  nur  gewünscht,  aber  ihr  seid  gegangen! 

Von  unsern  Verdiensten  wird  niemand  singen, 

euch  müssen  doch  schon  die  Ohren  klingen! 

Von  euch  werden  euere  Enkel  noch  sagen. 

So  solln  sich  die  unsern  über  uns  nicht  beklagen. 


—  118  — 


Naschkatz 

Meine    Kinder   warn    auf   ein    Haar    an    die    Front 

gekommen. 
Zum  Glück  aber  hat  man  sie  nicht  genommen. 
Der  eine  is  für  Hintertürin  zu  ehrlich, 
er  is  im  Geschäft  einfach  unentbehrlich. 
Der  andere  is  zu  stolz,  so  war  ich  für  ihn  oben, 
a  conto  dessen  is  er  heute  enthoben. 
Aufs  Jahr  lass'  ich  meinen  Jüngsten  entheben. 
Ihr  wart  auch  einmal  jung  —  da  soll  man  erleben ! 

Fressack 

Mein  Bub    hat    ka   Protektion,   doch    er   hat   sichs 

gerichtet, 

der  andere  hat  Talent,  er  hat  über  Siege  gedichtet. 

In  demselben  Moment,  wie  ihn  das  Vaterland  rief, 

macht  der  Jung  ein  Gedicht  und  kommt  ins  Archiv. 

Er  will  aber  hinaus  —  statt  bei  Hoehn  is  ihm  lieber 

er  geht,  und  wird  gleich  Dramaturg  bei  Ben  Tiber. 

Bittsie   drin    muß    er  schreiben,    was    sich   draußen 

ereignet ! 

Der  Jüngste  is  nebbich  ungeeignet. 

Naschkatz 

Ihr  könnt  nicht  genug  die  Mezzie  euch  preisen, 
ihr  starbt  doch  für  Wolle,  wir  leben  für  Eisen. 
Und  wir  müssen  gestern  und  heute  und  morgen 
uns  noch  für  Leder  und  Seife  und  Tafelöl  sorgen. 
Freihändig  offeriert  man  und  erlebt  noch  die  Schand, 
ein  Dutzend  Waggons  bleibt  einem  in  der  Hand! 
Jetzt  gehts  noch,   doch   im  Frieden  —  da  sag  ich 

von  Glück, 
wenn,  Gott  geb,  entsteht  eine  Waffenfabrik. 


119  — 


Fressack 

Gott  verhüte  das  Unglück,  wer  redt  heut  von  Frieden, 
wir  haben  uns  zur  Not  mit  der  Kriegsnot  beschieden. 
Wir  liefern  und  leisten,  und  geben  auch  was  her  — 
dann  warn  wir  geliefert,  und  das  war  ein  Malheur. 
Was  heißt  Waffenfabrik,  ich  bin  zufrieden  mit  Skoda, 
die  Wirkung  wie  treffend  beschreibt  Roda  Roda. 
Wenn    ihr   schon   genug   habt,   so  laßt   nackt  euch 

begraben, 
meine  Frau  will  einen  neuen  Pelzmantel  haben. 

Naschkatz 

Ihr  könnt  es  uns  glauben,  das  Leben  ist  sauer, 
ihr  Toten,  ihr  solltet  für  uns  tragen  Trauer. 
Wenn  sich   einmal  herausstellt,   man  hat  umsonst 

sich  geplagt, 
das  Friedensrisiko  —  Ihnen  gesagt! 
Wie  wenig  bleibt  einem,  denn  für  meinen  Sohn 
kauf  ich  jetzt  ein  Gut,  und  mein  Freund  wird  Baron. 
Einem  jeden  das  Seine.  Dem  Helden  das  Grab. 
Wir  sind  die  Hyänen.  Uns  bleibt  nur  der  Schab! 

Chor  der  Hyänen 

So  sei's!  So  sei's! 
Doch  nur  leis!  Nur  leis! 
Die  Schlacht  war  heiß 
und  durch  eueren  Schweiß 
und  durch  unseren  Fleiß 
ist  gestiegen  der  Preis. 
Gott  weiß,  Gott  weiß. 
Noch  drei  Waggon  Reis 
und  noch  drei  Waggon  Mais 
stehn  auf  dem  Geleis. 
Steh  auf,  geh  leis! 
Wir  schließen  den  Kreis. 
So  sei's!  So  sei's! 


120 


Tango  der  Hyänen  um  die  Leichen.  Die  Flammenwand  im  Hintergrund 
ist  inzwischen  verschwunden.  Ein  schwefelgelber  Schein  bedeckt  den 
Horizont.  Es  erscheint  die  riesenhafte  Silhouette  des  Herrn  der 
Hyänen.  In  diesem  Augenblick  stehn  die  Hyänen  still  und  bilden 
Gruppen. 


Der  Herr  der  Hyänen 


Schwarzer,  graumelierter,  wolliger,  ganz  kurzer  Backen-  und  Kinnbart, 
der  das  Gesicht  wie  ein  Fell  umgibt  und  mit  ebensolcher  Haarhaube 
verwachsen  scheint;  energisch  gebogene  Nase;  große  gewölbte  Augen 
mit  vielem  Weiß  und  kleiner  stechender  Pupille.  Die  Gestalt  ist 
gedrungen  und  hat  etwas  Tapirartiges.  Jackettanzug  mit  Piqueweste. 
Der  rechte  Fuß  in  ausschreitender  Haltung.  Die  linke  Hand,  zur  Faust 
geballt,  ruht  an  der  Hosentasche,  die  rechte  weist  mit  gestrecktem 
Zeigefinger,  auf  dem  ein  Brillant  funkelt,  auf  die  Hyänen. 


Habt  acht!  Und  steht  mir  grade! 

Ich  komme  zur  Parade, 

und  es  gefällt  mir  gut. 

Ihr  habt  die  Schlacht  gewonnen! 

Nun  ist  die  Zeit  begonnen! 

Nun  zeiget  euren  Mut! 


Müßt  nicht  mit  leisen  Tritten 

den  Tod  um  Beute  bitten. 

Weh  dem,  der  jetzt  noch  schleicht! 

Nein,  sollt  mit  freiem  Fuße 

ihn  treten,  Gott  zum  Gruße! 

Denn  jetzt  ist  es  erreicht! 


Und  der  es  einst  vollbrachte, 
an  seinem  Kreuz  verschmachte, 
wert,  daß  man  ihn  vergißt. 
Ich  tref  an  seine  Stelle, 
die  Hölle  ist  die  Helle! 
Ich  bin  der  Antichrist. 


121  — 


Dank  steigt  von  allen  Dächern, 
daß  jener  zwischen  Schachern 
nun  auch  sein  Spiel  vollbracht. 
Sein  bißchen  Blut,  verronnen 
ist's  kläglich  an  den  Tonnen 
der  unverbrauchten  Macht! 


Die  Liebe  ist  gelindert! 
Sie  hat  es  nicht  verhindert, 
was  nun  zum  Glück  geschah. 
So  hört,  ihr  wahrhaft  Frommen, 
das  Heil  ist  doch  gekommen, 
der  Antichrist  ist  nah! 


Die  nie  besiegte  Rache 
half  der  gerechten  Sache, 
ich  war  ihr  gutes  Schwert! 
Sie  zogen  blank  vom  Leder 
dank  meiner  guten  Feder. 
Die  Macht  nur  ist  der  Wert! 


Aus  diesem  großen  Ringen 
mit  vielen  Silberlingen 
gehn  siegreich  wir  hervor. 
So  schließen  sich  zum  Ringe 
die  altgedachten  Dinge. 
Das  Kreuz  den  Krieg  verlor! 


Und  die  gekreuzigt  hatten, 
wir  treten  aus  dem  Schatten 
mit  gutem  Judaslohn! 
Mich  schickt  ein  andrer  Vater! 
Von  seinem  Schmerztheater 
tritt  ab  der  Menschensohn. 


—  122 


Er  weicht  dem  guten  Bösen. 
Er  wollt'  die  Welt  erlösen; 
sie  ist  von  ihm  erlöst. 
Damit  sie  ohne  Reue, 
was  sie  erlöst  hat,  freue 
und  für  den  Himmel  tröst'! 


Der  Haß  mußt'  sich  empören. 
Um  nimmer  aufzuhören, 
war  Liebe  nicht  gemacht. 
Dank  dieser  Weltverheerung 
gilt  eine  ewige  Währung, 
zu  der  der  Teufel  lacht! 


Geht  auch  die  Welt  auf  Krücken, 
der  Fortschritt  mußte  glücken, 
ging  aufs  Geschäft  er  aus. 
Was  Gott  nicht  will,  gelingt  doch, 
der  Teufel  selber  hinkt  doch 
und  macht  sich  nichts  daraus. 


Mit  invalider  Ferse 
geht  dennoch  er  zur  Börse 
und  treibt  den  Preis  hinauf. 
Dort  ist's  gottlob  nicht  heilig, 
der  Teufel  hat's  nicht  eilig 
und  läßt  der  Welt  den  Lauf. 


Ich  bin  sein  erster  Faktor, 
ich  bin  des  Worts  Redaktor, 
das  an  dem  Ende  steht. 
Ich  kann  die  Seelen  packen 
und  trete  auf  den  Nacken 
von  aller  Majestät! 


—    VAÖ 


Ich  züchtige  die  Geister. 
Drum  zollet  eurem  Meister 
den  schuldigen  Tribut. 
Nach  diesen  großen  Taten 
auf  größern  Inseraten 
die  neue  Macht  beruht. 


Das  Leben  abzutasten 
mit  unbeirrtem  Hasten, 
seid,  Brüder,  mir  bereit. 
Versteht  der  Zukunft  Zeichen, 
tastet  noch  ab  die  Leichen, 
in  Ziffern  spricht  die  Zeit! 


Laßt  keine  Werte  liegen, 
die  dann  die  andern  kriegen, 
macht  eure  Sache  ganz! 
Tragt  ein  in  die  Annalen 
die  intressantern  Zahlen 
und  macht  mir  Blutbilanz  1 


Der  alte  Pakt  zerreiße! 
So  wahr  ich  Moriz  heiße, 
der  Wurf  ist  uns  geglückt! 
Weil  jener  andre  Hirte 
sich  ganz  gewaltig  irrte! 
Ich  heiße  Benedikt! 


Ich  bin  gottlob  verwandt  nicht, 
die  andere  Welt  sie  ahnt  nicht, 
daß  ich  ein  andrer  Papst. 
Denn  alle  an  mich  glauben, 
die  wuchern  und  die  rauben 
und  die  im  Krieg  gegrapst. 


—  124  — 

Die  Frechen  und  die  Feigen 
vor  meinem  Thron  sich  neigen, 
denn  nun  erst  gilt  das  Geld. 
Daß  nie  der  Zauber  weiche 
von  diesem  meinem  Reiche! 
Es  ist  von  dieser  Welt! 

Ging'  es  nicht  über  Leichen, 
die  dicken,  schweren  Reichen 
das  Reich  erreichten  nie. 
Steht  auch  die  Welt  in  Flammen, 
wir  finden  uns  zusammen, 
durch  schwärzliche  Magie! 

Durch  die  geheime  Finte 
zum  Treubund  rief  die  Tinte 
die  Technik  und  den  Tod. 
Mögt  nie  den  Dank  vergessen 
den  Blut-  und  Druckerpressen. 
Ihr  habt  es  schwarz  auf  rot! 

Ich  traf  mit  Druckerschwärze 
den  Erzfeind  in  das  Herze! 
Und  weil  es  ihm  geschah, 
sollt  ihr  den  Nächsten  hassen, 
um  Judaslohn  verlassen  — 
der  Antichrist  ist  da! 

Walzer  der  Hyänen  um  die  Leichen. 


Die    Hyän  en 

So  sei's!  So  sei's! 
Wir  treten  mit  Mut. 
Wir  treten  nicht  leis. 
Wir  trinken  das  Blut! 


125  — 


Wir  treten  mit  Mut. 
Wir  trinken  es  heiß. 
Wir  treiben  das  Blut. 
Wir  treiben  den  Preis! 

Vergossen,  vergessen, 
genossen,  gegessen, 
wir  prassen  und  pressen, 
wir  treiben  den  Preist 

So  sei's!  So  sei's! 
Wir  treiben  es  mit  Mut. 
Die  Schlacht  war  heiß. 
Wir  pressen  das  Blut! 

Nicht  sinke  der  Mut. 
Wir  bleiben  im  Kreis. 
Wir  treiben  das  Blut. 
Nicht  sinke  der  Preis! 

Vergossen,  vergessen, 
genossen,  gegessen, 
wir  fressen  und  pressen, 
wir  treiben  den  Preis! 

Wir  treten  und  treiben 
und  trinken  das  Blut. 
Wir  pressen  es  gut! 

Wir  treten  und  treiben 
und  trinken  es  heiß. 
Wir  treiben  den  Preis! 

Schlaft  gut,  schlaft  gut! 
Wir  treten  nicht  leis. 
Eia  popeia! 
So  sei's!  So  sei's! 

Die  Hyänen  lagern  sich  über  die  Leichen. 
Drei    gelegentliche   Mitarbeiter    erscheinen. 


—  126 


Meinem  Franz  Grüner 

(getötet  am   19.  Juni  1917) 

Wo  bleibst  du  denn?  Andacht  und  Wissenschaft 
will  ich  von  deiner  reinen  Stirne  lesen. 
Welch  öder  Zufall  hat  dich  mir  entrafft? 
Was  triebst  du  dort,  wo  du  zuletzt  gewesen? 

Lebhafter  Hörer  —  sprachst  du  mir  vom  Geist, 
wie  ward  dem  unruhvollen  Herzen  stille. 
Du  frommer  Forscher.  Sprich,  da  du  es  weißt: 
Wohin  wies  dich  der  unerforschte  Wille? 


127 


Notizen 

Romain  Rolland,  von  dem  ich  überzeugt  bin,  daß  die 
Feinschmeckerischen  seine  Werke  um  seines  Namens  willen  lieben, 
gehört  zu  jenen  manchen  Autoren,  die  es  mit  der  Menschheit 
von  der  Schweiz  aus  gut  meinen,  während  ich  zum  Beispiel, 
der  doch  auch  einiges  auf  dem  Herzen  hat  und  sich  gleichfalls 
öfter  in  der  Schweiz  aufhält,  dortselbst  schweige  und  wenn  ich's 
schon  gar  nicht  mehr  bei  mir  behalten  kann,  nach  Berlin  fahre, 
ganz  abgesehen  davon,  daß  ich  ja  während  des  Krieges  in  einem 
andern  Zentralstaate  mehr  gesagt  habe  als  sämtlichen  Miß- 
vergnügten zwischen  Basel  und  Genf  je  einfallen  könnte.  Wohl 
beklage  ich  eine  Ordnung  der  politischen  Dinge,  die  einem 
nicht  mehr  wie  anno  Herwegh  die  fürstliche  Gunst  einer  Ver- 
bannung in  die  Schweiz  schenkt,  sondern  einen  erst  nach 
Beibringung  eines  »triftigen  Grundes«  und  Bestehung  sonstiger 
Greuel  der  Erlaubnis  der  »Ausreise«  teilhaftig  werden  läßt. 
Aber  weil  dies  so  ist  und  weil  man  ja  doch  auch  von  der  Erlaubnis 
einer  Rückkehr  Gebrauch  macht,  solange  man  ein  Verbot  der 
Rückkehr  nicht  erlangen  kann,  da  man  ja  immer  wieder  zu  Hause 
zu  tun  hat,  ehe  man  mit  den  Vorbereitungen  zur  endgiltigen  Selbst- 
verbannung fertig  ist,  so  würde  ich  es  nicht  für  zimmerrein 
halten,  hinter  dem  Rücken  des  Inlands  das  zu  sagen,  was  man 
ihm  ins  Gesicht  sagen  kann.  Ich  lebe  also  in  der  Schweiz  als 
ein  Privatmann,  der  sich  aus  unüberwindlicher  Abneigung  gegen 
die  Ringstraße  in  die  Berge  begeben  hat,  entschlossen,  diese 
Antipathie  vor  den  Bergen  zu  verheimlichen  und  erst  der 
Ringstraße  wieder  zu  verraten.  Andere  halten  es  anders.  Die  guten 
Europäer  aus  Wien,  Berlin  und  Budapest,  die  sich  in  Zürich 
zusammenfinden,  werden  dort  als  solche  anerkannt,  wiewohl  sie 
bisher  keinen  Versuch  gemacht  haben,  auch  daheim  diese  Ge- 
sinnung zu  betätigen,  wo  sie  im  Gegenteil  fürs  .Donauland' 
zu  sterben  bereit  sind,  und  es  gelingt  ihnen  sogar,  bei  den  guten 
Europäern  aus  Paris,  die  es  schon  eher  sind,  aber  auch  besser 
täten,  es  daheim  zu  sein,  Kredit  zu  finden.  Was  sich  aus  der 
geringeren  Routine   des   guten    Europäertums    derer   aus  Paris 


—  128 


erklären  könnte.  So  kommt  es/daß  Herr  Stefan  Zweig  eine  Dichtung 
in  Zürich  aufführen  läßt  und  Romain  Rolland  infolgedessen  — 
wohl  mit  Recht  so  übersetzt  —  das  schöne  Bild  bringt :  »Nach 
den  starren  Schrecken  der  ersten  Kriegszeit  ergrünte  von  neuem 
die  geknebelte  Kunst«  und  von  einem  unaufhaltsamen  Sang 
der  Seele  spricht,    der  aus  ihrem  Schmerz  hervorquoll.    Ferner: 

So  hat  ein  großherziger  Dichter  das  Beispiel  der  überragenden 
Freiheit  des  Geistes  geschaffen.  Andere  stellen  sich  Angesicht 
zu  Angesicht  gegen  die  Verbrechender  Zeit,  sie 
messen  sich  mit  der  Macht,  die  sie  vernichtet  ....  Hier  sieht 
die  gefriedigte  Seele  den  tragischen  Strom  der  Gegenwart  vor  sich  hin- 
ziehen; aber  sie  quält  sich  nicht  mehr,  weil  sie  den  Lauf  der 
Strömung  bis  ans  Ende  überblickt;  sie  mengt  sich  den  jahrhundertstarken 
Kräften,  dem  geruhigen  Geschick,  das  sie  in  Ewigkeit  zu  schreiten  weiß. 

Herr  Romain  Rolland  hat  gewiß  nie  etwas  von  der  Fackel 
gehört.  Aber  er  hat  ganz  recht,  sich  einen  Gegensatz  vorzustellen: 
Andere  messen  sich  mit  der  Macht,  stellen  sich  Angesicht  zu 
Angesicht  gegen  die  Verbrechen  der  Zeit,  deren  Opfer  jene  sind, 
die  im  Schützengraben  Jugend  oder  Leben  verlieren  müssen,  und 
wieder  andere,  nämlich  die  gefriedigten  Seelen  des  Kriegsarchivs 
mengen  sich  den  jahrhunderistarken  Kräften,  dem  geruhigen 
Geschick,  quälen  sich  nicht  mehr,  weil  sie  den  Lauf  der  Strömung 
bis  ans  Ende  überblicken,  und  werden  sogar  auf  Propaganda  in 
die  Schweiz  geschickt. 


Was   vom    »Jeremias«    des   Herrn   Zweig  auszusagen  ist: 

.  .  .  tiefes  inneres  Erleben  unserer  heutigen  Nöte  lieh 
die  Klangfarben;  Bekenntnishaftes  eines  kulturweisen  Menschen 
leuchtet  überall  durch  .... 

Was   der  Jeremias   des  Herrn  Zweig   von   sich   aussagt: 

...  ich  habe  gekündet,  weil  ich  meinete,  er  werde 
mich  zum  Lügner  machen,  und  werde  retten  Jerusalem. 

Demnach  wäre  auch  Jeremias  während  des  chaldäischen 
Feldzuges  Prophet  im  hebräischen  Kriegsarchiv  gewesen. 


—  129  — 

Noch  ein  Fall  von  Dioskurentum,  der  in  Zürich  beobachtet 
wurde : 

.  .  .  Fritz  von  Unruh  muß  mit  Goethes  Faust  völlig  durchtränkt 
sein.  Der  Rhythmenreichtum  des  zweiten  Teiles  ist  ganz  in  sein 
Ohr  eingegangen,  und  die  bedeutungsschwere,  gedrungene,  wort- 
kühne Diktion  von  Goethes  Altersstil  erblüht  unter 
seiner  Hand  zu  neuem,  schwellendem  Leben,  so  daß 
ein  schillerisch  flutendes  Pathos  in  all  diese  prachtvollen 
Formgebilde  hineinströmt. 

Das  ist  gewiß  bedenklich,  im  Gegensatz  zum  Fall  Werfel 
betrifft  es  aber  einen  Schreibenden,  der  auch  ein  Erlebender 
war  und  keinesfalls  für  den  Besprechenden  verantwortlich 
gemacht  werden  kann.  Dieser  heißt  mit  Recht  Trog,  während 
der  andere  der  beiden  kritischen  Dioskuren   nur  Korrodi   heißt. 

Der  zweite,  der  Werfelfreund,  hat  den  Humor,  gelegentlich 
zu  bemerken,  »daß  gegenwärtig  eine  maßstablose  und  maßlose 
Superlativkritik  im  Schwange  ist,  die  die  Bewunderung  der  Verleger, 
doch  nicht  der  Leser  finden  wird«.  Und  er  zweifelt,  >ob  Salomo 
auch  den  Kritiker  meint,  wenn  er  spricht:  ,Ein  Mann  wird 
durch  den  Mund  des,  der  ihn  lobt,  bewährt,  wie  das  Silber  im 
Tiegel  und  das  Qold  im  Ofen.'«  Derselbige  sagt  dem  Alfred  Kerr 
zum  fünfzigsten  Geburtstag  nach,  »Herrisches  und  Herrliches« 
sei  im  Vorwort  seines  Buches  zu  lesen,  Sätze  wie:  »Die  wert- 
vollsten Feststellungen  brauchen  nicht  an  den  wertvollsten  Dramen 
gemacht  zu  sein«  und  »Dies  Buch,  das  Eintagsfliegen  fängt,  ist 
keine«.  Und  der  Leser  müsse  Kerrs  Selbsturteil  akzeptieren,  »denn 
könnte  er  besser  formulieren  als  mit  dem  schon  erwähnten,  aber 
der  Wiederholung  würdigen  Satze:  , Dies  Buch,  das 
Eintagsfliegen  fängt,  ist  keine'?«  Gewiß  nicht,  denn  ein  armer  Teufel 
oder  ein  Frosch  fangen  Fliegen,  aber  die  Fliege  selbst  kann  so 
was  nicht.  Ein  Beweis  für  »diese  singulare  Kunst  der  Kritik« : 
Kerr  schreibe  »als  strotzender  Sprößling  einer  sehr  jungen  Kultur« 
(was  keineswegs  bezweifelt  werden  soll)  »ohne  Pietät  vor 
allzu  pietätvoll  bewahrtem  literarischen  Erbe  anläßlich  der 
Amphitryonfabel  Kleists:  ,Daß  ein  Mythos  die  Dinge 
so  darstellt,  geht  mich  einen  Quark  an.  Ich 
lebe   191  5.'«    Nun  ist  das  nicht  so  sehr  ein  Verstoß  gegen 


—  130  — 

die  Pietät  vor  dem  literarischen  Erbe  Kleists  —  die  sei  dem 
Preußen  gewährt  — ,  als  die  Verletzung  der  Pietät  vor  allem 
Erbe,  .das  der  Mensch  vom  Menschen  übernommen  hat,  das  man 
Kultur  nennt  und  das  alle  die  Güter  in  sich  begreift,  die  bis 
zur  Errichtung  des  Kurfürstendamms  vorhanden  und  geheiligt 
waren.  Daß  Herr  Kerr  1915  lebt,  braucht  er  einem  nicht  erst  zu 
sagen.  Es  ist  die  Weltanschauung,  der  wir  das- so  datierte  Ereignis 
verdanken.  Den  schuldigen  Mann  geht's  Grausen  an;  den 
Neutralen  freut's. 


Solche  Zeitschrift  in  des  Juweliers  Auslage. 

Wie  der  wahrhaft  Fromme  Andacht  nicht  mit  der  Masse  ver- 
richtet, ist  mit  dem  Kunstwerk  der  Verständige  am  liebsten  allein. 

Carl  Sternheim. 

Daß  Herr  Sternheim,  der  diese  Worte  einem  Berliner 
Büttenkleinod  widmet,  seine  Andacht  am  liebsten  vor  einer 
Juwelierauslage  verrichtet,  habe  ich,  wenn  ich  mit  einem  Kunst- 
werk seiner  Sprache  allein  war,  eben  daraus  entnommen. 


Literarische  Bühnen  sind  solche,  die  am  Sonntagnachmittag 
aus  Unfähigkeit,  den  Böhm  in  Amerika  zu  spielen,  einen  Besucher 
des  Caf£  Central  einer  Schar  von  Besuchern  des  Cafe  Central 
erzählen  lassen,  wie  voll  von  Ekstasen,  Sehnsuchten  und  neuen 
Lebensinhalten  gewisse  Besucher  des  Cafe  Central  sind,  und 
hierauf  Belege  für  diese  Ansicht  von  engagierten  weiblichen 
Mitgliedern  vorlesen  lassen,  die  im  Cafe  Central  gelernt  haben, 
daß  es  keine  dankbarere  Rolle  gibt  als  so  einen  geformten  Ausdruck 
letzter  Möglichkeiten  aus  einer  Gesamteinstellung  wesentlich 
geschauter  Ballungen  des  Ichbin.  Oder  mit  einem  Wort: 
.  .  .  Das  Wesen  der  Dichtkunst  von  heute  sind  die  elastischen 
Beziehungen,  für  die  es  eine  logische  Manufaktur  nicht  gibt, 
ebensowenig  irgend  einen  Grenz  fall.  Die  Maßstäbe  dieser  Kunst  sind 
relative,  sie  federn.  Redner  schloß  mit  der  Mahnung:  Nehmen 
Sie  die  Dichter  elastisch,  trachten  Sie  hinter  den  Menschen 
zu  kommen.  Wir  sind  alle  ein  Ganzes,  das  sich  sammelt.  Und 
wenn  es  sich  gesammelt  hat,  dann  kann  es  einmal  heißen :  Das  Ganze 
m  a  r  s  ch  I 


131 


—  —  der  schönen  Frau  unter  den  Weihnachtsbaum  zu 
legen. 

—  —  Jeder,  der  es  sieht  und  durchblättert,  wird  es  besitzen 
wollen,  um  wieder  und  wieder  danach  zu  greifen. 

Das  ist  aber  nicht  die  in  Berlin  erschienene  Anthologie 
von  Klosettpapier  mit  aufgedruckten  »Lügen  unserer  Feinde«, 
sondern  eine  andere  patriotische  Publikation,  nämlich  der  in 
Wien  erschienene  »Donauland-Almanach«. 

Dichtungen  von  .  .  Czokor  (»Marschkompagnie<),  Paul  Stefan 
und     ein     reizend     überlegenes     Verslein      von      Albert     Ehrenstein 

(Vermutlich  nicht  identisch  mit  dem  Autor  des  »Tubutsch«) 

erheben  sich  aus  dem  Leid  dieser  Tage  .  .  Kernstock  ....  Eine 
reiche  lyrische  Lese  auch  sonst :  wir  verneigen  uns  vor  Rilke, 
grüßen  Ginzkey  .  .  Stefan  Zweig,  freuen  uns  über  .  .  Max  Brod, 
Hugo  Salus  ....  Bartsch,  Strobl,  Hans  Müller  ....  eine  amüsante 
Geschichte  von  Roda  Roda.  .  .  . 

Wir  grüßen  zwar  nicht  und  freuen  uns  auch  nicht,  würden 
uns  aber  vor  Rilke  verneigen,  wenn  er  es  nur  einmal  vermeiden 
wollte,  sich  in  solcher  Gesellschaft  und  an  solchem  Orte  blicken 
zu  lassen. 


Aus  der  Mittagszeitung  vom  17.  Oktober  1917: 
und  dafür  sorgen  würde,  daß  auch  der  Unfug  mit  den  unbeleuchteten 
Automobils  aufhöre.  —  Das  Rätsel  des  Karl  Kraus:  Trösten  Sie  sich! 
Niemand  nimmt  den  eingebildeten  Schwätzer  ernst,  der,  durch  eine 
Schar  unreifer  Schwärmer  in  seinem  Wahn  bestärkt,  sich  gottähnlich 
dünkt.  Es  ist  schade,  Papier  an  ihn  zu  verschwenden.  Man  wird  sich 
in  ruhigeren  Zeiten  mit  dieser  spezifisch  wienerischen  Karikatur 
beschäftigen  und  namentlich  das  Verhalten  des  bewußten  Herrn  im 
Krieg  kennzeichnen.  Im  allgemeinen  verdient  er  nur  Mitleid.  Er  ist 
nichts  und  kann  nichts,  nur  schimpfen,  geifern,  besudeln.  Und  er 
hat  Geld  .  .  . 

Kaufe  Oold !  1 4kar.  Gold  von  K  5.80  bis  K  6.80  per  Gramm.  Feingold  K  1 0. 
Falsche  Zähne  bis  K  2.80  pro  Stück,  Gebisse  bis  K   160. 


132  — 


»Literarhistoriker.  Ihre  Mitteilung,  daß  Nestroys  Werke  nicht 
von  Karl  Kraus  sind,  haben  wir  mit  großer  Überraschung  zur  Kenntnis 
genommen.« 

Out  gegeben.  Es  ist  die  Antwort  auf  den  Versuch,  einen 
Theaterjournalisten  ohne  jeden  Tadel  für  seine  Unbildung,  mit 
einer  stilkritischen  Studie  über  die  tiefere  Berechtigung  seines 
Irrtums,  darauf  aufmerksam  zu  machen,  daß  ein  Nestroysches 
Wort  nicht  von  Shakespeare  ist.  Wie  beneide  ich  die  Zeitungs- 
leute um  ihr  Talent.    Sie  können  an  mir  zu  Satirikern  werden. 


, Die  Österreichisch-Ungarische  Buchhändler-Correspondenz', 
Offizielles  Organ  des  Vereines  der  österr.-ungar.  Buchhändler, 
hat  am  3.  November  1917  den  folgenden  Brief  abgeschickt: 

An  die  Redaktion  der  .Fackel'  in  Wien. 
Sehr  geehrte  Herren! 

Es  wird  uns  mitgeteilt,  daß  Sie  in  Ihrer  Nummer 
vom  9.  Oktober  unter  der  Überschrift  »Es  ist  vollbracht«  ein 
Inserat  abgedruckt  haben,  welches  angeblich  in  unserem  Blatte 
enthalten  gewesen  ist. 

Unsere  Administration  teilt  uns  mit,  daß 
dieses  Inserat  nicht  in  unserem  Blatte  erschienen  ist. 

Wir  ersuchen  Sie  daher  uns  mitzuteilen,  ob 
Sie  selbst  in  der  nächsten  Nummer  Ihres  Blattes  eine  diesbezügliche 
Berichtigung  veranlassen  wollen. 

Hochachtungsvoll 
Carl  Junker. 

Die  dritte  Mitteilung  ist  nicht  erfolgt.  Das  Wort  »nicht« 
ist  in  dem  mit  Schreibmaschine  geschriebenen  Original  mit  Tinte 
unterstrichen.  Die  Berechtigung  solchen  Nachdrucks  ist  aber 
nicht  größer  als  die  des  Nachdruckes  aus  der  Buchhändler- 
Correspondenz.  Was  zur  Abfassung  des  Briefes  geführt  hat, 
dürfte  das  Staunen  des  Redakteurs  gewesen  sein:  »Was?  So 
eine  Annnonce  soll  bei  uns  erschienen  sein?  Nicht  möglich! 
Unglaublich!«  Denn  was  die  Welt  immer  tut,  sie  glaubt's  nicht, 
wenn  sie's  in  der  Fackel  wied«rholt  findet.  Der  Fall  liegt  leider 


—   133 


ähnlich  wie  mit  meinem  Staunen  über  den  Empfang  des  Hans 
Müller  durch  seine  Majestät  den  deutschen  Kaiser.  Der  Unter- 
schied ist  freilich,  abgesehen  vom  Format,  der,  daß  meine 
Weigerung,  den  Angaben  Müllers  Glauben  zu  schenken,  pure 
Heuchelei  ist,  da  ich  ihnen  ja  selbst  durch  eine  photographische 
Reproduktion  Verbreitung  und  Verewigung  verschafft  habe, 
während  das  »Unglaublich!«  des  Mannes  von  der  Buchhändler- 
Correspondenz  ihn  zum  Ansinnen  einer  Berichtigung  verführt 
hat.  Nie  werde  ich  Müllern  zumuten,  daß  er,  so  erstrebenswert 
es  wäre,  seine  Behauptung  der  Audienz  revoziere;  aber  von 
mir  zu  verlangen,  daß  ich  die  Tatsache  jener  Annonce  in 
Abrede  stelle,  wäre  doch  noch  mehr  verlangt.  Wohl,  dort  liegt 
Müllers  Aussage  vor,  an  der  nicht  zu  zweifeln  ist,  wenn  sich 
auch  die  Audienz  selbst  leider  nicht  photographisch  beweisen 
läßt.  Hier  aber  liegt  mehr  vor:  nicht  bloß  meine  Aussage,  daß 
jene  Annonce  erschienen  sei,  sondern :  die  Annonce.  Hier  könnte 
die  Tatsache  selbst  photographiert  werden.  Dessen  bedarf's  aber 
wohl  nicht,  da  ja  das  Original  in  einer  Nummer  der  Buchhändler- 
Correspondenz  steht,  die  gewiß  noch  in  einer  hinreichenden 
Anzahl  von  Exemplaren  vorhanden  sein  dürfte,  deren  jedes 
einzelne  dem  Redakteur  beweisen  wird,  daß  die  Annonce 
erschienen  ist,  und  somit  den  Ausruf :  > Unglaublich!«  rechtfertigen 
könnte.  Da  jener  Nachdruck  natürlich  kein  »Angriff«  gegen  eine 
Redaktion  war,  die  so  etwas  aufnimmt,  so  braucht  man  auch 
nicht  erst  zu  sagen,  daß  ihr  Verschulden  größer  ist,  wenn  sie  sich 
mit  dem  Annoncenteil  zwar  identifiziert,  aber  diesen  so  wenig 
liest,  daß  sie  eine  dort  erschienene  Annonce  ableugnen  kann. 
Sie  liest  auch  die  Fackel  nicht  und  wenn  ihr  nicht  zufällig  »mit- 
geteilt« worden  wäre,  daß  die  Fackel  jene  Annonce  reproduziert 
hat,  so  wäre  es  am  Ende  unberichtigt  geblieben.  Zum  Glück 
ist  die  Mitteilung,  die  ihr  hierüber  zugegangen  ist,  zuverlässiger 
als  die  Mitteilung  ihrer  Administration.  Denn  die  Kuriosität 
des  Falles  wird  dadurch  vervollständigt,  daß  auch  die  Admini- 
stration den  Annoncenteil  nicht  liest  und  sich  nun  beide  in 
dem  Entschluß  vereinigen,  ihrem  Erstaunen  über  solch  eine 
Annonce  mir  gegenüber  Ausdruck  zu  geben.  Aber  ich  habe 
ja,  wiewohl  ich  dieses  Erstaunen  teile,  nie  daran  gezweifelt,  daß 


134 


das  »Kreuz  mit  dem  14  Stationen,  zeitgemäß,  zugkräftig  für 
Schaufenster«  in  der  Österr.-Ungar.  BuchhändlerCorrespondenz 
vom    16.    Mai    1917,    LVIII    Nr.    20,    S.    225,    erschienen    ist. 


Bibliographisches.  Das  neue  Deutschland  VI.  21, 
1.  August:  »Karl  Kraus«  von  Paul  Nicolaus  (Konstanz)  und  Nachwort  der 
Redaktion.  —  Verschiedene  Hefte  der  ,Weltbühne'.  —  Heidelberger 
Neueste  Nachrichten,  20.  Juli:  >Über  Karl  Kraus«  von  Hermann 
Bagusche.  —  Hinweise  und  Zitate   in   Zeitschriften  und  Tagesblättern. 

»Fremdwörterhatz  und  Fremdvölkerhaß.«  Eine  Streitschrift  gegen 
die  Sprachreinigung.  Von  Leo  Spitzer,  Privatdozent  an  der  Universität 
Wien.  (Wien   1918  bei  Manz.) 


Kleiner  Konzerthaussaal,  21.  Mai,  7  Uhr: 
I.  Ältere  Ansichten  über  das  U-Boot  (Herder,  Französische 
Admirale,  Lionardo  da  Vinci)  /  Mit  der  Uhr  in  der  Hand  / 
Beim  Anblick  eines  sonderbaren  Plakates  /  Der  Präceptor 
Oermaniae  /  Hungersnot  in  England  /  Getreide  aus  der  Ukraine  / 
Epigramme:  Sprichwörter;  Straßenrufe;  Friedensbereitschaft; 
Rekonvaleszenz;  Der  Heldensarg  /  Auf  Deutsch  /  Der  Irrsinnige 
auf  dem  Einspännergaul  /  Ein  Kapitel  aus  Frangois 
Rabelais'  Gargantua  (Wie  etliche  von  Pikrochollers 
Hauptleuten  ihn  durch  hitzige  Ratschläge  in  Gefahr  brachten.)  / 
Diplomaten  (mit  Vorwort).  II.  Vor  Abgang  des  Zugs/ 
Szene  in  einem  Palais  /  Glück  /  Unsere  Pallas  Athene !  /  Neue 
Musikalien  /  Der  Weltspiegel  /  Czernin  und  Goethe/ 
Ein  Kantianer  und  Kant  /  Die  Kriegsschreiber  nach 
dem  Krieg/  Der  Bauer,  der  Hund  und  der  Soldat  /  Zum 
ewigen  Frieden. 

Ein   Teil   des   Ertrages  für   den   Arbeiterverein  »Kinder- 
freunde«. 


30.  Mai,  halb  7  Uhr: 

»König  Lear«,  Tragödie  in  fünf  Aufzügen  von 
Shakespeare,  nach  Wolf  Graf  v.  Baudissin  (Schlegel- 
Tieck'sche  Ausgabe)  und  anderen  Übersetzern  bearbeitet. 


—  135  — 


Nach  dem  1.,  3.,  4.  Aufzug   eine  ganz   kurze,  nach  dem 

2.  eine  längere  Pause.  Musik  hinter  der  Szene  vor  Beginn 
(Mozart:  1.   Satz    der   D-dur-Sinfonie),    zwischen    dem   2.   und 

3.  Aufzug  (Bach:  Orgel-Präludium  in  c-moll):  Frau  Emilie 
Laske  und  Dr.  Victor  Junk;  während  der  Zeltszene  des  4.  Auf- 
zugs (komponiert  und  gespielt  von  Dr.  Victor  Junk). 

Der  volle  Ertrag  für  den  Arbeiterverein  »Kinderfreunde«, 
den  »Verein  von  Kinderfreunden  in  Wien«  und  eine  schwer- 
kranke Frau. 

(Den  auf  der  Rückseite  des  Personen  Verzeichnisses  gedruckten 
Text  siehe  S.  88). 


17.  September,  halb  7  Uhr: 
»König  Lear«,  wie  oben  (Gluck:  Ouvertüre  zu  »Iphigenie 
in  Aulis«;  Bach:  Präludium  in  b-moll  aus  dem  Wohltemperierten 
Klavier;  Zeltmusik:  Dr.  Victor  Junk). 

Der  volle  Ertrag  für  den  Arbeiterverein  »Kinderfreunde« 
und  einige  Notleidende. 


7.1t 

I.  Je 


Juni,  7  Uhr: 

Jean  Paul:  Friedenspredigt  an  den  Fürsten  vor  dem 
Kriege  (aus  »Levana  oder  Erzieh-Lehre«)  /  Der  Krieg,  wie  er  im 
Schulbuch  steht,  und  wie  er  nicht  im  Schulbuch  steht  (Heutiges 
und  »Kriegslied«  von  Matthias  Claudius)  /  Ein  2 xh  jähriges  Kind 
zeichnet  Kriegsanleihe  /  Eingedeutschtes  /  Die  große  Kanone 
oder:  Beweis  gegen  Barbarentum  /  Glück  /  Vision  /  Getreide 
aus  der  Ukraine  /  Das  kann  man  nicht  oft  genug  hören  /  Die 
chinesisch-japanische  Militär konvention:  Volle  Herrschaft  Japans 
in  China  /  Ein  Irrsinniger  auf  dem  Einspännergaul  /  Czernin  und 
Goethe  /  Um  Mißverständnissen  vorzubeugen  /  Ein  Kapitel 
aus  Francois  Rabelais'  Gargantua  (Wie  etliche  von 
Pikrochollers  Hauptleuten  ihn  durch  hitzige  Ratschläge  in 
Gefahr  brachten.)  /  Eine  angenehme  Menage.  II.  Der  Welt- 
spie g  e  1  /  Niemand  geringerer  als  /  Vor  Abgang  des  Zugs  / 
Er  war  ein  Mann,  nehmt  alles  nur  in  allem  /  Diplomaten. 
III.  Der  Bauer,  der  Hund  und  der  Soldat  /  Eine  prinzi- 
pielle Erklärung. 

Ein  Teil   des   Ertrages   für  den   Arbeiterverein  »Kinder- 
freunde«. 

Einleitung  zu  »Ein  Irrsinniger  auf  dem  Einspännergaul«: 
Auch  das  »kann  man  nicht  oft  genug  hören«.  Es  ist  ein  Re- 
pertoirestück, das  nun  mit  jeder  Vorlesung  verständlicher  wird.  Und 
ich  werde  es  erst  absetzen,  wenn  einmal  der  sonderbare  Reiter  absitzt. 


136 


Zwischen  dem  Kapitel  aus  Gargantua  und  »Eine  ange- 
nehme Menage«: 

Dies  also  ist  von  Francois  Rabelais  geschrieben  worden. 
Aber  ich  meine,  alles  französisch -Parlieren  muß  jetzt  aufhören, 
sprechen  wir  lieber  unser  deutsches  Platt!  Zum  Beispiel  so: 


Es  ist  vielleicht  noch  auszurechnen,  wie  viel  Zeit  und  Blei 
in   der    großen   Zeit    und    im    neuen   Deutschland    durch    die 
Ausrottung  der   meisten   Apostrophe    in   den    Druckereien   für 
Munitionsbeschaffung  und   sonstige   Kriegsdienstleistung  schon 
gewonnen  wurde.    In  der  Insel-Ausgabe  der  »Pandora«  hat  das 
Verfahren   —   bei   allerlei    kunstgewerblicher  Entschädigung  — 
die    volle    Anschaulichkeit     einer    Tempelschändung.      Dieses 
Sprachheiligtum  dürfte  auf  Goethes  Volk   ohnedies  durch   die 
Weisung    des   Prometheus    Eindruck    gemacht    haben:     »Nur 
Waffen  schafft!   Geschaffen  habt  ihr  alles  dann«,  wobei  freilich 
bereits    der    Nachsatz:     »auch    derbster    Söhne    übermäß'gen 
Vollgenuß«    auf   immer   stärkere   Zweifel   stößt.    Der   deutsche 
Apostrophenraub,  der  den  Indikativ  »ich  raub'«  nicht  mehr  vom 
Imperativ    »raub«    unterscheiden    läßt   und    den  Konjunktiv  des 
Imperfekts  »ich  schrieb'«  nicht  mehr  vom  Indikativ  »ich  schrieb«, 
macht  jede  moderne  Ausgabe   eines  Klassikerwerkes  schon   zur 
Augenqual,  wenn  nicht  zur  vorgestellten  Ohrenpein.  Abgesehen 
von  der  Verwechslungsgefahr,  die  zur  Not  durch  den  Sinn  paralysiert 
wird,  ist  das  eindeutige  Monstrum  zum  Beispiel  eines  »ich  band« 
unerträglich.  Diese  Zeitsparmaschinen  ahnen  nicht  die  Bedeutung 
eines  im  Apostroph  nachschwingenden  Vokals  und  setzen  auch 
getrost  ein  raumhaftes  »lang«  für  das  zeithafte  »lang'«,  um  somit 
in    beiden    Fällen    »lank«    auszusprechen.    Der    Inseldruck    der 
»Pandora«  ist  ferner  dadurch  ausgezeichnet,   daß  das  Ende  der 
Dichtung  genau    bis    zum    Rand   einer  rechten  Seite    reicht, 
so  daß  der  keinen  Abschluß  gewahrende,  von  keiner  Abschluß- 
linie  gewarnte  Leser  die  Rede  der  Eos   fortsetzen   möchte   und 
umblättert,    um    weiterzulesen,     wodurch    das    Pathos    dieses 
wundervollen   Ausgangs  zerknickt   wird.    Die   primitivste,    von 
der  stilistischen   Notwendigkeit   erschaffene   Druckerregel,    daß 
ein  Abschluß   von   weither  sichtbar  sei    und   ein  Werk   weder 


—  137  — 

rechts  unten  noch  links  oben  ende,  damit  eben  der  Leser 
rechtzeitig  den  geistigen  Atem  auf  das  Ende  einstelle, 
wird  hier  mit  einer  den  erhabenen  Abklang,  also  den  Gedanken 
tötenden  Ruppigkeit  mißachtet.  Der  Leser  muß  umsomehr  glauben, 
daß  noch  etwas  folge,  weil  er  ja  noch  Blätter  in  der  Hand 
hält,  die  ihn  dann  freilich  mit  literarhistorischen  Zusätzen 
überraschen.  Der  Umstand,  daß  die  »Pandora«  ein  Fragment  ist, 
also  ein  Werk,  dessen  Abschluß  aus  keinem  dichterischen  Plan 
erfolgt  war,  könnte  den  Barbarismus  nicht  als  Absicht 
rechtfertigen,  da  ja  der  Akt  als  solcher  kein  Fragment  ist; 
auch  wenn  noch  ein  weiterer  Akt  folgte,  wäre  ja  jener  zu 
Ende  und  dürfte  nicht  rechts  unten  zu  Ende  sein.  Es  ist  nichts  als 
Fühllosigkeit,  deutsche  Raumgewinnsucht  und  jene  typographische 
Unfähigkeit,  die  mir  seinerzeit  die  »Luxusausgabe«  der  Chinesischen 
Mauer  zu  einem  sechs  Monate  dauernden  Leidenskapitel  gemacht 
hat.  Von  einem  Wiener  Sachverständigen  mußte  die  berühmte 
Leipziger  Firma  (Poeschel  &Trepte,  deren  dekorativen  Leistungen  auf 
der  »Bugra«  Feuilletons  in  deutschen  Blättern  gewidmet  wurden 
und  die  eine  der  Nährmütter  des  bibliophilen  Snobismus  ist), 
immer  wieder  belehrt  werden,  wie  man  den  Druck  mit  dem 
auf  jene  Art  verpatzten  Schluß  (damals  links  oben  statt  rechts  Mitte) 
umgestalte;  wie  man  Zitate  einzustellen  habe;  daß  das  Wort 
»neugeboren«  nicht  nach  »neuge«  abzuteilen  sei  u.  dgl.  Doch 
sind  dies  —  abgesehen  von  der  Vernichtung  des  Schluß- 
gedankens —  Dinge,  die  hauptsächlich  nur  die  Ehre  des  Druckers 
berühren.  Was  aber  das  Heil  des  Geistes,  die  Sicherheit 
des  textlichen  Bestandes  anlangt,  so  läßt  sich  summarisch 
behaupten,  daß  in  Deutschland  das  Schicksal  der  deutschen 
Klassiker  besiegelt  ist;  denn  kein  Vermerk  >Vor  Nachdruck  wird 
gewarnU  (der  hier  kein  materielles  Autorrecht  mehr  zu  schützen 
hätte)  bewahrt  das  geistige  Gut  vor  Einbruch.  Welche  Instanz 
aber  sollte  den  Dichter  vor  den  Gefahren  des  Nachdruckes 
behüten,  den  Leser  davor  warnen,  da  jedem  Greisler  dessen 
Vorteile  zustehen?  Ist  einer  dreißig  Jahre  tot,  so  fressen  ihn, 
zugunsten  der  Volksbildung,  die  Verleger.  Bezeichnend  für  die 
stumpfe  Ahnungslosigkeit  der  »Herausgeber«,  dieser  für  Leichen- 
schändung    bezahlten    Literaturbuben,     wären     hunderte     von 


—  138  — 


klassischen  Versen  und  Sätzen.  Das  eindringliche  Beispiel  aus 
Lichtenberg,  das  durch  die  Jahrzehnte  fortgewälzt  wird,  habe 
ich  illustriert;  jammervolle  Verwüstungen  am  Worte  Goethes, 
Schillers,  Jean  Pauls  könnte  ich  zitieren.  In  der  heiligen  »Pandora* 
hat  der  Inselmensch  den  Setzer  an  einem  der  bedeutendsten 
Verse  sich  austoben  lassen  oder,  wenn  er  den  Gedanken  für 
einen  Druckfehler  hielt,  bewußt  und  gewissenhaft  die  infamste 
Änderung  bewerkstelligt.   Prometheus  ruft  den  Kriegern  zu: 

Aufl  rasch  Vergnügte, 
Schnellen  Strichs  1 
Der  barsch  Besiegte 
Habe  sichs! 

Der  Dichter  nennt   mit   einer   kostbaren  Abbreviatur  die 
Nutznießer  eines  Sturmlebens,  worin  der  Genuß  gepflückt  und 
halbgenossen    vertan    wird     —    eine    ganze,    in    Weinfässern 
mündende    Offensive    ist    darin   — :    »rasch   Vergnügte«.    Dem" 
Drucker  oder  dem  Literaten  schien's  logischer  so: 

Auf,  rasch  I  Vergnügte 

—  schnellen  Strichs!  Der  barsch  besiegte  Gedanke  habe  sichs! 
Die  Krieger  sind  schlechthin  vergnügt,  weil  ihnen  > Immer  feste 
druff!«  zugerufen  wird.  Die  Leser  gleichfalls.  Und  ich  wette 
hundert  versenkte  Tonnen  gegen  eine,  daß  diese  Darlegung  den 
Insel-Verlag  und  die  nach  dessen  Vorlage  weiterdruckenden 
Verschleißer  nicht  abhalten  wird,  die  deutschere  Version  bei- 
zubehalten. 


Ich  habe  lange  nicht  die  Razzia  auf  Literarhistoriker 
fortgesetzt.  Inzwischen  hat  aber  Herr  Walzel  in  Dresden  Scherers 
Literaturgeschichte  fortgesetzt,  was  bei  weitem  nicht  so  dringend 
war.  Da  auch  das  Werk  selbst  dazugedruckt  wurde,  ist  ein  dicker 
Band  entstanden,  der  mit  dem  folgenden  Schleifentext  den 
Käufer  lockt: 

Die  vorliegende  Ausgabe  des  berühmten  Scherer'schen  Werkes, 
fortgeführt  bis  in  die  jüngste  Oegenwart  von  dem  bekannten  Literarhistoriker 


139 


Geh.  Hofrat  Professor  Dr.  Walzel,  Dresden,  ist  die  erste  und  einzige 
Literaturgeschichte,  welche  die  Darstellung  deutschen  Schrifttums  bis 
auf  die  letzten  Neuerscheinungen  bringt  und  auch  zu  den 
noch  im  Kampfe  der  T a g e s m e i n u n ge n  stehenden 
Autoren  Stellung  nimmt. 

Wenn  sich  nur  jeder  der  von  Herrn  Walzel  genannten 
Zeitgenossen  das  Werk  kauft,  so  dürfte  sich  dem  Verleger  der 
historische  Maßstab  rentieren.  Daß  kaum  ein  expressionistisches 
Tinterl  übersehen  ist,  während  ich  >auch  zu  den  noch  im  Kampfe 
der  Tagesmeinungen  stehenden  Autoren <  nicht  gehöre,  versteht 
sich  von  selbst.  Die  historische  Gilde,  die  mit  der  gewissen  groß- 
zügigen Stupidität  Zusammenhänge  herzustellen  und  Erscheinun- 
gen zu  registrieren  versteht  und  neuestens  auch  an  den  Kaffee- 
häusern nicht  vorübergeht,  weiß  ganz  genau,  wie  höllisch  undank- 
bar es  wäre,  zu  mir  »Stellung«  zu  nehmen,  da  ja  die  einzige 
Stellung,  in  der  ich  mir  einen  Literarhistoriker  oder  sonstigen 
Journalisten  mir  vis-ä-vis  denken  kann,  eben  nicht  die  vis-ä-vis, 
sondern  hinter  meinem  Rücken  ist.  Allerdings  hätten  sie 
nichtauf  solche  Separatwünsche  Rücksicht  zu  nehmen,  sondern  hätten 
die  Pflicht  gegen  ihr  Publikum  und  gegen  die  Nachwelt,  die  sie 
objektiv  zu  informieren  vorgeben,  die  Existenz  der  Fackel,  beileihe 
nicht  den  Wert  des  Werkes,  wohl  aber  Tatsache  und  Wirkung 
gebührend  auf  dem  Papier  zu  verzeichnen,  das  die  Not  der  Zeit  dem 
literarhistorischen  Unfug  in  so  reichem  Maß  zur  Verfügung 
gestellt  hat.  Daß  sie's  nicht  tun,  bekräftigt  meine  alte  Ansicht,  daß 
ein  Historiker  nur  ein  rückwärts  gekehrter  Journalist  ist,  der  die 
einzige  Ehrenpflicht,  die  der  Stand  kennt:  die  Unbequemen 
totzuschweigen,  in  scheinbar  höheren  Wirkungskreis  übernimmt. 
Herr  Walzel,  dessen  Schönbart  viel  eher  nach  einem  Scherer  verlangt 
als  ein  Scherer  nach  der  eigenen  Verlängerung,  wird  freilich  sagen, 
daß  die  Tatsache  der  Nichtnennung  meines  Namens  die  Ursache 
meiner  abfälligen  Kritik  seines  Werkes  ist,  aber  da  hätte  er 
vollkommen  recht.  Ich  bin  wie  jeder  andere  in  der  Lage,  aus 
einem  maßlos  grotesken  Faktum  Schlüsse  auf  die  wissenschaftliche 
Qualität  einer  Leistung  zu  ziehen,  deren  weitere  Prüfung,  so 
überflüssig  sie  ist,  in  jeder  Zeile  dieser  von  superiorer  Unkenntnis 
künstlerischer  Dinge  besorgten  Arbeit  das  Vorurteil,  das  sich  auf 


—  140  — 

ein  Namens-  und  Sachregister  stützt,  gutheißt.  Der  Ignorant  meines 
Daseins   erfüllt    eben  vollauf  die  Erwartung,    die   man  an  das 
Erscheinen  einer  Literaturgeschichte  in  dieser  Zeit  und  in  diesen 
Ländern  knüpfen    kann.    Denn  wenn   es   auch  seit  zehn  Jahren 
vorkommen  soll,    daß   der  Deutsch-Unterricht  in    Mittelschulen 
die   Satzbildung    an    Proben     aus    der    Fackel     darstellt,    so 
bleibt    die    germanistische    und    literarhistorische     Hochschul- 
wissenschaft in  jenem  Punkt  ein  für  allemal  nach  dem  Rache- 
bedürfnis der  Tagespresse  orientiert.  Großsprecherei  ist  nur  die  Be- 
hauptung jenes  Schleifentextes,  daß  das  Pensum  des  Herrn  Walzel 
die  erste  und  einzige  Literaturgeschichte  sei,  die  auch  zu  den 
noch  im  Kampfe  der  Tagesmeinungen  stehenden  Autoren  Stellung 
nimmt.  Nichts  was  Herr  Walzel  unternimmt  oder  unterläßt,  hat  er 
vor  den  andern  voraus.    Vielmehr  haben  in  den  letzten  Jahren 
etliche  Professionisten  es  fertig  gebracht,  Herrn  Stefan  Zweig  und 
sonstige  Manufaktoren  sub  specie  aeternitatis  anzusehen  und  von 
mir  nichts  zu  wissen,  mit  der  einzigen  Ausnahme  jenes  Wiener 
Schwachkopfs,    der  für  ein  deutsches    Konversationslexikon  das 
Kapitel  österreichische  Literatur«  zu  bearbeiten  hat  und  meinen 
Namen  im  Zusammenhang  mit  einem  Schlüsselroman  erwähnt, 
dessen  medizinischer  Ursprung  in  Gerichtsakten  wie  in  den  vor 
und  nach  der  Entstehung  an  mich  gerichteten  Liebesbriefen  seines 
hochwertigen  Schöpfers   bezeichnet  ist.    In    einem   > Fortsetzung 
folgt«  hatte  ich  seinerzeit  den  Entschluß  bekundet,  dieses  düsterste 
Hysteriekapitel  des  Romans  meines  literarischen  Lebens  zu  eröffnen, 
aber,,  gelähmt   vom  Grauen  vor  der  durch   jedwede  Beachtung 
genährten  Haßliebe,  die  zu  erwidern  ich  so  wenig  wie  zu  ersticken 
fähig   bin,   es   unterlassen,    mit    dem    Vorsatz,    späterhin  doch 
einmal  in  einem  die  ganze  Passion  meines  Wirkens  umfassenden 
Dokumentenwerk  den  furchtbaren  Einklang  der  Zwitterseele  mit 
allen  Berufen  und   Instanzen  unseres  Lebens  (Literatur,    Presse, 
Medizin,  ja  selbst  Gerichtsbarkeit)  und  die  unerschöpfliche  Pein, 
in  die  ich  noch  durch  jede  Abwehraktion  geriet,  darzustellen.  Der 
Fachmann  im  Konversationslexikon  weist  eine  solche  Passivpost 
als  meines  Daseins  Ruhm  und  Inhalt  aus,  und  für  die  sonstige 
Literaturgeschichte  leben  fort  die  Quallen,  die  zitternd  in  meinem 
Licht  Farben  spielen  konnten;  ich  aber  war  nicht. 


—  141 


Der  Bauer,  der  Hund  und  der  Soldat 

(Wolhynien) 

»Der  Hund  ist  krank!  Was  fehlt  dem  armen  Hunde?« 

»Er  ist  verwundet,  Herr.  Das  ist  der  Krieg, 

und  davon  eben  hat  er  seine  Wunde« 

Der  Bauer  sprach's  und  streichelt'  ihn  und  schwieg. 

»Wie  aber,  wann  und  wo  empfing  die  Wunde 
der  arme  Hund?  Er  kann  ja  gar  nicht  gehn!« 
»Herr,  es  ist  Krieg  und  da  ist  es  dem  Hunde, 
er  stand  so  da,  da  ist  es  ihm  geschehn. 

Der  Hund  stand  da  und  da  kam  ein  Soldat, 
der  ging  vorbei  und  stach  nach  meinem  Hunde, 
der  keinem  Menschen  was  zu  leide  tat, 
nie  biß  er  wen,  nun  hat  er  seine  Wunde. 

Seht  ihn  nur  an,  es  war  ein  gutes  Tier, 
er  dient  mir  lang',  und  in  der  weiten  Runde 
der  beste  Schäferhund,  er  führte  mir 
das  Vieh  allein,  nun  hat  er  seine  Wunde. 

Seht,  wie  er  hinkt.  Das  tut  er  seit  der  Stunde, 
da  der  Soldat  vorbeikam,  der  Soldat, 
der  stach  nach  meinem  alten  Schäferhunde, 
der  keinen  Menschen  noch  gebissen  hat.« 

»Und  warum,  glaubt  ihr,  bracht'  er  ihm  die  Wunde, 
der  Mann  dem  Hund  die  schwere  Wunde  bei? 
Der  Hund  ist  stumm,  sein  Blick  befiehlt  dem  Munde 
für  ihn  zu  sprechen,  sprecht  nur  frank  und  frei.« 


—  142  — 


»Wir  wissen's  nicht.  Doch  wißt  ihr's  selbst  wie  wir, 
daß  Krieg  ist.  Mir  und  meinem  armen  Hunde 
und  Gott  und  jedem  Kind  und  auch  dem  Tier 
ist  es  bekannt,  und  Krieg  schlägt  jede  Wunde. 

Ich  sagt's  euch  Herr,  der  Mann  war  ein  Soldat 
und  wer  die  Waffe  hat,  der  schlägt  die  Wunde. 
Wißt  ihr  denn  nicht,  wie  viel's  geschlagen  hat 
in  dieser  gottgesandten  Zeit  und  Stunde?« 

»So  solltet  ihr,  daß  er  vom  Schmerz  gesunde, 
das  arme  Tier  sogleich  mit  Gift  vergeben. 
Erschießt  ihr  ihn,  wißt  ihr,  daß  eine  Wunde 
auch  Wohltat  sei,  und  helft  ihm  aus  dem  Leben!« 

»Ach  Herr,  ich  ließ'  es  nimmermehr  geschehn, 
ich  kann  nur  leiden  mit  dem  armen  Hunde. 
's  ist  Krieg,  ich  kann  ein  Huhn  nicht  sterben  sehn, 
's  ist  Krieg,  da,  wißt  ihr,  gibt  es  manche  Wunde. 

Der  Hund  war  gut,  vorbei  ist's  mit  dem  Hunde, 
seit  der  Soldat  vorbeiging,  's  ist  der  Krieg. 
Man  muß  es  nehmen,  was  sie  bringt  die  Stunde.« 
Der  Bauer  sprach's  und  streichelt'  ihn  und  schwieg. 


—  143  — 


Vorlesungen  in  Berlin 


Klindworth-Scharwenka-Saal : 

5.  Mai,  12  Uhr: 

I.  Jean  Pauls  Friedenspredigt  an  den  Fürsten  vor  dem  Kriege 
(aus  >Levana  oder  Erzieh-Lehre<)  /  Beim  Anblick  eines  sonder- 
baren Plakates  /  Unsere  Pallas  Athene!  /  Getreide  aus  der 
Ukraine  /  Vision  /  Elegie  auf  den  Tod  eines  Lautes  /  Vor 
Abgang  des  Zugs  /  Diplomaten. 

II.  »Di  e  beiden  Nach  twandler«  von  Nestroy 
(Musikbegleitung:  Max  Saal). 

III.  Der  Bauer,  der  Hund  und  der  Soldat  /Die 
Kriegsschreiber  nach  dem  Krieg. 

(Eine  Inhaltsangabe  der  »Beiden  Nachtwandler  wurde  aus- 
gegeben.) 

6.  Mai,  7  Uhr: 

I.  »Hanneles  Himmelfahrt«  von  Gerhart 
Hauptmann  (Musikbegleitung :  Max  Saal). 

II.  Beim  Anblick  einer  Schwangeren  /  Grabschrift  /  Vor 
einem  Springbrunnen  /  Wiedersehn  mit  Schmetterlingen  /  Als 
Bobby  starb  /  An  einen  alten  Lehrer  /  Der  Reim  /  Unterricht  / 
Abenteuer  der  Arbeit  /  Bange  Stunde  /  Gebet. 

7.  Mai,  7  Uhr:  % 

I.  »T  i  m  o  n  von  Athen«  von  Shakespeare  (aus 
den  ersten  drei  Aufzügen). 

II.  Diana-Kriegsschokolade  /  Aus  dem  Reich  der  Schaffner  / 
Ein  Bild  /  Die  Schalek  und  der  einfache  Mann  /  Epigramme: 
Der  Bericht  vom  Tag;  Die  Werte;  Das  Lebensmittel;  So  lesen 
wir  alle  Tage;  Luxusdrucke;  Die  neue  Generation  /  Kompetenz 
vor  der  Sprache  /  Ein  Kapitel  aus  Rabelais' 
Gargantua  (Wie  etliche  von  Pikrochollers  Hauptleuten  ihn 
durch  hitzige  Ratschläge  in  Gefahr  brachten.)  /  Der  Bauer,  der 
Hund  und  der  Soldat  /  Die  Kriegsschreiber  nach 
dem  Krieg. 

8.  Mai,  7  Uhr: 

I.  Kierkegaard  über  die  Journalisten  /  Vor  Abgang  des 
Zugs  /  Getreide  aus  der  Ukraine  /  Unsere  Pallas  Athene!  / 
Szene  in  einem  Palais  /  Der  Anlaß  /  Memoiren  /  Fahrt  ins 
Fextal  /  Jugend   /   Matthias    Claudius    und    wir    (mit 


144 


Gedichten)  /  Über  chinesische  Kriegs  lyrik  (Der  müde 
Soldat;  Der  Werber;  Krieg  in  der  Wüste  Gobi;  Nachts  im 
Zelt.)  /  Das  Lied  vom  armen  Kind  von  Frank 
W  e  d  e  k  i  n  d  /  Mit  der  Uhr  in  der  Hand  /  Gebet  an  die 
Sonne   von  Gibeon. 

II.  Meinem  Franz  Janowitz  /  Die  letzte  Nacht 
(Hyänen-Szene)  /  Der  Bauer,  der  Hund  und  der  Soldat  / 
Um  Mißverständnissen  vorzubeugen  /Ein  Kantianer  und 
Kant  /  Zum  ewigen  Frieden. 

Die  Vorlesungen  haben  für  die  deutschen  Kriegsblinden  statt- 
gefunden; der  volle  Reinertrag  —  Mk  202047  —  ist  dem  Kriegs- 
blindenheim, Berlin  W.  Bellevuestraße  12,    zugewendet  worden. 


Die  Tagespresse  war  nicht  eingeladen  worden.  Trotzdem 
sind  unter  anderm  im  .Berliner  Tageblatt'  (6.  Mai,  »Karl  Kraus 
liest.  .  .«  Von  Adolf  .Läpp),  .Berliner  Volkszeitung'  (7.  Mai,  »Bei 
Karl  Kraus.«  Von  Max  Schach),  .National-Zeitung'  (7.  Mai),  an- 
geblich auch  in  einem  alldeutschen  Blatt  ausführliche  Be- 
sprechungen erschienen. 

.Berliner  Börsen-Courier'  (9.  Mai,  »Karl  Kraus  als  Vor- 
leser.« Von  Herbert  Ihering): 

Der  Vorleser  Karl  Kraus  ist  eine  notwendige  Ergänzung  und 
Fortsetzung  des  Schriftstellers.  Die  Energie,  die  seiner  Satire  den 
Ausdruck  gibt,  das  TemoMament,  das  seinem  Pathos  die  Schwere  und 
Dicke  fernhält,  stehen  hinter  seinem  rezitatorischen  Vortrag  und  nehmen 
ihm,  gerade  wenn  Kraus  sich  selbst  liest,  alles  kleinlich  Propagandistische 
und  aufdringlich  Agitatorische.  Kraus  bleibt  hell,  scharf,  präzise, 
plastisch.  Er  hat  nicht  die  Eitelkeit  des  Schriftstellers,  der  seinem 
geschriebenen  Wort  als  Vorleser  damit  zu  dienen  glaubt,  daß  er  es 
unberührt  läßt  und  ohne  mimische  Unterbrechung  als  Klang  und 
logisches  Zeichen  dem  Zuhörer  einhämmert.  Dem  Wesen  der  Sprache 
tiefer  vertraut,  trägt  Kraus  das  Bewußtsein  des  Unterschiedes  zwischen 
dem  geschriebenen  und  dem  gesprochenen  Wort  als  Erlebnis  in  sich 
und  die  konzentrierte  Formulierung  seiner  satirischen  Kapitel  ist  ihm 
nicht  Hindernis,  sondern  Anreger,  die  Sätze  aufzulösen  und  noch 
einmal  aus  einer  mimischen  Improvisation  heraus  entstehen  zu  lassen. 
Wir  erleben  das  Wunder:  ethischer  Wille  und  geistige  Leidenschaft 
als  schöpferische  Kräfte  einer  schauspielerischen  Kunst. 

Die  mimische  Phantasie  des  Karl  Kraus  gestaltet  die  schrift- 
stall«risch  schon  auf  einen  letzten  Ausdruck  gebrachte  Situation  noch 
einmal  und  führt  sie  mit  derselben  Intensität  und  satiriichen  Tendenz 


145 


weiter  Es  ist  genial,  wie  Kraus  ein  veröffenüichtes  Interview  mit  Beth- 
mann  Hollweg  auf  dem  Anhalter  Bahnhof  pantomimisch  illustriert,  wie 
er  bei  den  aus  dem  Zuge  heraus  gesprochenen  Worten  des  Reichskanzlers 
die  Hand  als  Sprachrohr  an  den  Mund  legt  und  damit  den  Augenblick 
ironisiert-  der  Sprecher  muß  sich  im  Lärm  des  Bahnhofs  ver- 
ständlich machen;  und  gleichzeitig  die  Verdickung  solcher  Zweckge- 
spräche preisgibt:  der  Redner  spricht  für  ein  riesenhaftes Zeitungspubhkum, 
das  wir  als  Zuhörer  vor  ihm  sehen;  und  schließlich  den  Berichterstatter  - 
polemisch  trifft:  dieser  verdeutlicht  die  Worte  noch  einmal,  damit  sie 
auch  die  Galerie  hört.  Wie  Kraus  hier  mit  einer  einzigen  Gebärde  die 
Leserschaft  eines  großen  Blattes  als  Massenansammlung  beschwort, 
so  gelingt  es  ihm  oft,  durch  einen  Tonfall  Worte  und  Einrichtungen 
zu  entwerten.  Er  sagt:  >Heilbäder«,  und  wir  lachen.  Er  hat  eine 
unnachahmliche  sanfte  Bosheit  für  das  Wort  »Lebensmittelkarten- 
Abmeldeschein«,  und  es  erscheint  uns  als  Gespenst.  Er  hat  eine 
plastische  Ironie  des  österreichischen  Dialekts,  die  den  Staat  lebendig 
macht.  Und  das  Meisterhafte  ist,  daß  Kraus,  mag  er  »K.  u.  K.«  sagen 
oder  einen  Diplomaten  reden  lassen,  niemals  karikiert,  sondern  mit 
einer  instinktiven  und  zugleich  bewußten  Sicherheit  des  künsüerischen 
Taktes  die  Satire  aus  dem  Wesen  der  Sprache  zieht,  und  Menschen  und 
Dinge  von  ihrem  eigenen  Charakter  verhöhnen  läßt.  Darum  führt  ihn  keine 
Gebärde  zu  weit,  und  jeder  Schlag  der  geöffneten  oder  geballten 
Faust,  jedes  Ausholen  und  fechtende  Vorstoßen  des  Armes,  wie  jedes 
lässige  Spielen  mit  dem  beweglichen  Handgelenk  sind  verbunden  mit 
der  Tendenz,  die  der  Vorgang  selbst  in  sich  hat.  Und  diese  sachliche 
Energie  ermöglicht  es  Kraus,  umzuschlagen  und  ohne  Riß  aus  dem 
Witz  den  tragischen  Ernst  zu  entwickeln.  Er  hat  eine  solche  Leiden- 
schaft des  Wortspieles  und  einen  solchen  Fanatismus  der  rezitatorischen 
Wiedergabe,  daß  die  ironische  Pointe  notwendig  diese  Steigerung 
fordert,  und  daß  das  einzelne  Wort  fähig  gemacht  wird,  Perspektiven 
des  Grauens  und  des  Leidens  zu  erschließen. 

Diese  tragische  Kraft  legitimiert  erst  die  Satire  des  Karl  Kraus. 
Und  die  innere  Verbundenheit  des  Rezitators  mit  dem  Schriftsteller 
macht  es  notwendig,  daß  Kraus  fremde  Dichtungen,  wie  Nestroys 
»Beide  Nachtwandler«  nicht  mimisch  erlösen  kann.  Die  geistige 
Leidenschaft,  die  ihm  als  gestaltende  Kraft  aus  dem  eigenen  Werk 
zuströmt,  trägt  er  in  das  fremde  hinein  und  wird  dort,  was  er  bei 
sich  selbst  vermeidet:  Werbend  und  agitatorisch. 

Die  Bemerkung  über  den  Nachtwandler-Vortrag  ist  grund- 
falsch. Die  Taubheit  der  Berliner  Hörer  für  Nestroy,  der  der 
Vorleser  diesen  Genius  allerdings  aufgedrängt  hat,  wird  hier 
mit  der  Stummheit  einer  Kraft  verwechselt,  die  gerade  den 
Berlinern  durch  >Timon«  und  »Hannele«  bewiesen  hat,  daß  sie 
fremde  Dichtungen  sehr  wohl  mimisch  erlösen  kann.    Hätte  der 


146 


Kritiker  diese  durchschlagenden  Beweise  erlebt  und  sich  nicht 
mit  dem  Eindruck  des  ersten  Vortrags  begnügt,  so  hätte  er  nicht 
aus  diesem  den  rein  intellektuellen  Fehlschluß  auf  eine  agitatorische 
und  darum  versagende  Absicht  geschöpft,  sondern  mit  der 
Fähigkeit  der  Beobachtung,  die  er  an  dem  lebendigen  Vortrag 
der  »Eigenen  Schriften«  bekundet,  erkannt,  daß  dieselbe  Kraft 
noch  weit  unmittelbarer  den  fremden  Dichtungen  zugute  komme. 
Der  Vorleser,  der  darüber  schließlich  auch  ein  Urteil  hat,  muß 
bekennen,  daß  ihm  als  Hörer  sein  Vortrag  der  einzigartigen 
Nestroy'schen  Nachtwandler  hundertmal  erquicklicher  ist  als 
die  Darbietung  jedes  eigenen  Werkes,  welche  vor  einer  stofflich 
befangenen  und  häufig  unerfreulichen  Menge  immer  wieder  eine 
Überwindung  des  Schamgefühls  kostet,  die  aber  nicht  immer 
gelingt. 

Hiezu  aus  dem  Aufsatz  der  , Weltbühne'  (16.  Mai,  »Vorleser 
Karl  Kraus.«  Von  Siegfried  Jacobsohn): 

Daß  seine  vier  Abende  die  Theatersaison  aufwiegen,  wäre 

kein  hohes  Lob;  da  diese  Theatersaison  nichts  wiegt.  Aber  er  nahm*  es 
mit  jeder  auf.  Wenn  er  Dramatiker  liest  wie  Nestroy,  Hauptmann, 
Shakespeare,  so  ist  das  nicht  Ersatz  für  die  Bühne :  sondern  die  Bühne 
mit  ihrem  gewaltigen  Apparat  ist  ein  unvollkommener  Ersatz  für  die 
eine  Stimme,  die  aus  ihrer  Fülle  mühelos  ganze  Ensembles  versieht. 
Ein  unvollkommener  Ersatz  deswegen,  weil  selbst  der  bedeutendste 
Regisseur  besonders  günstige,  also  äußerst  selten  vorhandene  Umstände 
nötig  hat,  um  seinen  Geist  in  sämtliche  Spieler  zu  treiben,  von  denen 
ein  einziger  eine  Szene  zerstören  kann:  während  Der  hier  Regisseur 
und  sein  Menschenmaterial  in  einer  Person  ist,  eine  addierte  und 
multiplizierte  Schöpferwollust  verspürt  und  von  dieser  fähig  gemacht 
wird,  sich  beflügelt  über  tote  Punkte  zu  schwingen.   —   — 

—  —  Und  wenn  man  sich  nachträglich,  aus  der  Erinnerung,  die 
Totalität  dieses  Sprechkunstwerkes,  des  schlesisch-mystischen  .  .  wieder- 
herstellt und  mit  dem  ersten,  dem  wienerisch-drastischen,  vergleicht  und 
dazu  das  dritte,  das  klassisch-anklägerische,  heranzieht:  dann  staunt  man 
doch,  wie  nicht  allein  innerhalb  jedes  einzelnen  jedes  Teilchen  blitz- 
blank gegossen  ist,  sondern  wie  auch  die  Atmosphäre  der  drei  Dramen- 
gebilde, die  Aura  der  drei  Dramenbildner  unverwechselbar  glänzt. 
Girardi,  die  Blüteperiode  Brahms  und  das  ganze  große  Burgtheater 
einer  längst  versunkenen  Zeit:  das  alles  hat  ein  unendlich  musikalisches 
Ohr  in  sich  eingefangen  und  gibt  eine  Kehle  von  unbegrenzter  Aus- 
drucks-Stärke und  -Feinheit  zurück.  — 


147 


Deutsche  Montags-Zeitung  (13.  Mai,  »Karl  Kraus.«  Von 
Peter  Altschul): 

Es  steht  ein  Mann  vor  uns,  der  ein  Kämpfer  ist;  ein  Mann, 
des  heißesten  Lebens  voll.  Es  steht  ein  Mensch  vor  uns,  den 
wir  lieben. 

Sein  Beruf?  Der  AntiJournalist.  Der  Tagesschriftsteller,  dessen 
Werke  unsere  Enkel  lesen  werden.  Er  packt  das  Sein  in  den  alltäglichsten 
Begebenheiten:  da  wird  es  unter  seinen  Händen  menschliches 
Schicksal.  —   — 

Sein  Thema?  Das  Leben.  Und  wo  er's  faßt,  greift  er  in 
Menschenschande.  Er  bausche  es  auf?  Ach,  man  weint  bei  seinem 
trostlosen  Spott,  der  unser  Herz  bluten  macht:  daß  die  Menschen  so 
jämmerlich  sind.  —  — 

Sein  Ziel?  Die  Sauberkeit,  die  Anständigkeit.  Und  wenn  ihr 
das  Wort  richtig  begreift:  die  Moral.  Hier  gilt  es  den  Kampf  gegen 
menschlichste  Art.  Hier  dienen  die  Fanfarenstöße  dem  letzten  Ziel: 
Gesinnung,  Leute,  Gesinnung!  Sie  mangelt  allerenden.  Die  Charaktere 
fehlen   überall. 

So  müssen  wir  zu  Karl  Kraus  wallfahren.  Hier  steht  ein 
Charakter,  mächtig,  massiv  und  groß.  Hier  bewundern  wir,  die  wir 
schwächer  sind,  vieles  am  Mann:  den  Mut  des  Wortes,  das  er  hinter 
jene  hertreibt,  die  er  verachtet,  die  Größe  der  Kraft,  mit  der  er, 
einem  versengenden  Blitze  gleich,  in  die  Abgründe  morscher  Seelen 
niederfährt,  das  rastlose  Streben  eines  ganzen  Lebens  für  eine  Auf- 
gabe, die  —  heute  noch  —  uns  unerfüllbar  scheint;  ja  und  wir 
bewundern  voll  Staunen  und  voll  Liebe  die  unnahbare  Lauterkeit 
eines  Herzens,  das  unbestechlich  wacht. 

Wen  bekämpft  er?  Sie  alle,  die  heute  vorne  stehen  und  leeren 
Geistes  sind:  Maulhelden,  die  Völker  regieren,  Phrasenmacher,  die 
Zeitungen  schreiben,  Dichterlein,  die  leere  Blätter  ohne  Zwang  füllen. 
Sie  alle,  der  Menschheit  Feinde,  verfolgt  sein  Haß;  er  zeigt  die 
Hohlheit  ihrer  Worte,  die  Irrwege  ihrer  Leitung,  den  Schwulst  ihres 
Stiles,  die  Bürgerlichkeit  ihrer  Träume.  Er  zeigte  uns  die  Gefahren. 
Sahen  wir  sie? 

Wir  dachten  nicht  immer  so.  Wir  haben  früher  seine  Hefte 
lächelnd  gelesen.  Wir  achteten  ihn;  doch  der  Fanatiker  ging  auf 
Wegen,  die  uns  unbedeutend  schienen.  Kleine,  wurmstichige, 
krakehlende  Menschen:  übersah  Karl  Kraus,  daß  sie  alle  eines  Achsel- 
zuckens, nie  eines  Kampfes  wert  waren?  Wir  wußten  es  besser;  wir 
standen  über  ihm.  Wir  lachten.  (Vergebung!)  Denn  wir  wollten  zu 
anderem  Gipfel. 

Dann  kam  es.  Und  als  die  Erde  zusammenstürzte,  begriffen 
wir  seines  tiefen  Geistes  einen  starken  Hauch.  Wir  sahen  klar  und 
schämten  uns.  Hatte  er  Hereinbrechendes  nicht  vorhergesagt?  Daß 
sie   ihr  Ziel   erreichen,    die  Welt   in   Flammen    setzen  würden?    Nun 


148 


brannte  siel  Da  kamen  wir  zu  ihm;  da  blieben  wir  hinter  ihm;  und 
begriffen:  bei  ihm  ist  sie,  die  neue,  die  ewig  alte,  die  anständige, 
die  menschliche  Oesinnungl  Der  neue  Tag  dämmerte:  wir  ahnten 
das  Ziel  seines  Handelns.  Wir  sahen  die  Methode:  wiederholen, 
wiederholen,  zehnmal  es  ihnen  einbläuen!  Zehn  Jahre  es  immer  von 
neuem  schreien,  bis  sie  es  hören  werden:  daß  sie  schmutzig  sind 
und  voll  unertragbarer  Jämmerlichkeit.  Bis  sie  eines  Tages  aufhorchen 
werden.  Wann  wird  das  sein? 

Ich  weiß  es  nicht.  Heute  hassen  sie  ihn.  Heute  sind  sie  noch 
obenauf,  in  aller  Welt  obenauf.  Sie  tun  ihn  mit  Scherzen  ab  und 
mit  Verleumdungen.  Das  muß  wohl  so  sein.  Es  erfüllt  sich 
Prophetenschicksal. 

Man  sagt,  daß  sein  schönstes  Werk  seine  Gedichte  seien. 
Freunde  singen  Hymnen  auf  die  Form  seiner  Sprache  und  auf  den 
Stil  seiner  Sätze.  Ich  glaube  es.  Ich  weiß  es  nicht  genau.  Ich  denke, 
daß  sein  reiner  Geist  wichtiger  ist  und  sein  klares  Herz;  ich  fühle, 
daß  die  Lauterkeit  seines  Strebens  leuchtet,  daß  die  Glut  seiner 
Worte  zündet.  Ich  schätze  eine  Form,  die  wohl  vollendet  ist;  ich 
liebe  die  Gesinnung,  die  anständig  ist.  Denn,  nicht  wahr,  Freunde, 
wir  wissen  es: 

Über  allem  Streben  —  Menschlichkeit! 


Nun  haben  wir  ihn  hören  dürfen.  Nun  haben  wir  seinen 
hochschultrigen  Köiper  sehen  können,  diese  ausdruckstiefen,  ewig 
kämpfenden  Hände,  seinen  Kopf,  der  wie  ein  mahnendes  Menetekel 
über  die  Menschen  schaut.  Nun  haben  wir  seine  Stimme  vernommen, 
die  rauh  ist  wie  Novemberwind  und  scharf  wie  Stahl  und  laut  wie 
eine  Kampfposaune.  Nun  haben  wir  es  erlebt,  daß  wir  unbeweglich 
und  festgebannt  dasaßen  und  uns  nicht  schützen  konnten.  Er  kam 
über  uns  wie  ein  Träger  des  göttlichen  Zornes,  er  sandte  in  unsere 
Herzen  Klagelaute,  er  füllte  uns  mit  großem  Schmerz:  unsere  Hände 
wurden  feucht,  unsere  ausgedörrten  Seelen  frisch  getränkt.  Da  wir 
ihn  hinter  matter  Lampe  aufstehen  sahen,  wurden  wir  fromm  in 
einem  neuen  Glauben. 

Da  wußten  wir,  es  kommt  die  Zeit,  Karl  Kraus  —  es  kommt 
unsere  Zeit.  Dann  wollen  wir  den  Kampf  beginnen. 

Denn  unser  ist  das  neue  Werk! 


—  149 


Glossen 


Vor  dem  Endsieg 


> Ein  Wiener  Arbeiterverein  hatte  einen  Universitätslehrer  gebeten, 
einen  Vortrag,  der  viel  Beifall  gefunden  hatte,  zu  wiederholen.  Er 
erhielt  darauf  folgende  Antwort:  ,Es  tut  mir  leid,  Ihnen  sagen  zu 
müssen,  daß  ich  durch  Unterernährung  und  Hungerleiden  derart 
herabgekommen  bin,  daß  ich  mich  auf  die  Erfüllung  meiner 
Lehramtspflichten   beschränken   muß.   Ich  hätte   auch   den   Vortrag  in 

der Gesellschaft  nicht  gehalten,    wenn  ich  ihn  nicht  schon 

im  Dezember  versprochen  hätte,  wo  ich  noch  verhältnismäßig  besser 
beisammen  war.  Wenn  ich  einen  Vortrag  über  das  gewöhnliche 
Maß  meiner  täglichen  Vorlesungen  hinaus  halte,  habe  ich  am  folgenden 
Tag  unangenehmste  Herzzustände  und  Ohnmachtsanwandlungen. 
Unter  anderen  Umständen  hätte  ich  Ihrem  Wunsch  sehr  gern 
entsprochen.'« 


Die  Vorbedingung  alles  Lebens 

Je  schmerzlicher  wir  es  erfahren  haben  (daß 
in  Budapest  ein  paar  Tage  die  Zeitungen  nicht  erschienen  sind),  desto 
fester  werden  wir  es  unserer  Seele  einprägen,  daß  der 
bürgerlichen  Gesellschaft  die  Zeitung  das  ist, 
was  Luft  und  Licht  jeglichem  Lebewesen:  die 
Vorbadingung   alias   Lebens.  Pester  Lloyd. 


150 


Ersatzkörper 

—  —  wurden  auf  Perron  V  Kriegsinvalide  verladen,  die  von 
der  dortigen  Invalidenschule  zu  ihren  Ersatzkörpern  rück- 
befördert werden. 

Ja,  in  solchem  Zusammenhang  fühlt  man  doch  den  Sinn 
dieses  rätselhaft  furchtbaren  Wortes. 


Schadenersatz 

Justizminister  Dr.  R.  v.  Schauer:  In  der  furchtbaren  Not  und 
Gefahr,  in  der  sich  der  Staat  besonders  vor  der  glücklichen  Wendung 
im  Kriege  befand,  haben  Angehörige  der  bewaffneten 
Macht  und  staatliche  Organe  bei  der  Bekämpfung  oder 
Abwehr  von  Angriffen  gegen  den  Staat  mitunter  die  Zonen 
des  rechtlichen  Verfahrens  ganz  außer  Acht 
gelassen  und  es  kam  wohl  auch  vor,  daß  rechtswidrig 
Leben  und  Freiheit  verletzt  worden  ist  und  damit  das 
Rechtsbewußtsein  schwer  gekränkt  wurde.  Dem  durch  solches  Fehlgehen 
der  Schutztätigkeit  des  Staates  beleidigten  Rechtsgefühl  soll  Genug- 
tuung geboten  und  der  verursachte  Schaden  gutgemacht 
werden,  insbesondere  wenn  sich  jemand  das  Recht  über 
das  Leben  anmaßte,  dem  es  nach  den  Gesetzen  nicht  zukam 
oder  wenn  die  gesetzliche  Feststellung,  daß  der 
Beschuldigte  das  Leben  verwirkt  habe,  unter- 
blieben ist....  Selbstverständlich  muß  der  Staat  eine 
Ersatzpflicht  ablehnen,  wenn  die  rechtswidrige  Tötung  oder  Verletzung 
mit  der  Ausübung  der  Dienstgewalt  in  keinem  Zusammenhange  stand, 
wenn  etwa  Soldaten  gelegentlich  einer  Plünderung 
oder  in  einem  Streit  oder  bei  sexuellen  Ausschreitungen 
schwere  Gewalttaten  verübten. 

Der  rechtswidrig  Getötete  bekommt  also  das  Leben  nur 
ersetzt,  wenn  die  Tötung  zwar  nicht  in  Ausübung  der  Dienst- 
gewalt, aber  im  Zusammenhang  mit  der  Ausübung  der  Dienst- 
gewalt erfolgt  ist.  Im  andern  Fall  wird  er  auf  den  Weg  zum 
jüngsten  Gericht  verwiesen. 


151 


Die  Reihe 

Mit  Rücksicht  darauf,   daß  der  Angeklagte 

Hryb  26  Jahre  alt  und  des  Lesens  und  Schreibens 
unkundig  ist,  somit  keine  Bildung  hat,  sowie 
angesichts  dessen,  daß  die  Schuld  des  Angeklagten  Hryb  dem 
Standgericht  die  kleinste  mit  Rück s ich  t  auf  die  Schuld  der  anderen 
Mitangeklagten  zu  sein  schien,  hat  das  Standgericht  beschlossen, 
daß  die  gegen  den  Angeklagten  Hryb  gemäß  §  444  M.-St.-P.-O. 
ausgesprochene  Todesstrafe  dieser  Angeklagte  als  erster 
abzubüßen  hat. 

—  —  Die  über  den  Angeklagten  Struk  verhängte  Todesstrafe 
soll  derselbe  als  zweiter  abbüßen,  weil  seine  Schuld  im  Verhältnis 
zur  Schuld  des  Erstangeklagten  krasser  ist. 

—  —  Mit  Rücksicht  darauf,  daß  der  Angeklagte  Maeyjiczyn 
durch  längere  Zeit  mit  den  Russen  in  Verbindung  gestanden  ist, 
wurde  beschlossen,  daß  er  als  dritter  die  Todesstrafe  abzubüßen  hat. 

—  —  Unter  einem  wurde  beschlossen,  daß  dieser  Angeklagte 
in  Würdigung  der  ihm  zur  Last  gelegten  Tat  die  Todesstrafe  als 
vierter  in  der  Reihe  abzubüßen  hat. 

—  —  Die  über  ihn  gemäß  §  444  M.-St.-P.-O.  verhängte 
Strafe  soll  Angeklagter  Dzus  als  fünfter  verbüßen,  weil  seine  lügnerische 
Verteidigung  darauf  hinwies,  daß  er  den  Russen  vollauf  ergeben  war. 

—  —  und  hat  diese  Strafe  in  Würdigung  seiner  Handlungs- 
weise als  sechster  abzubüßen. 

—  —  Die  Todesstrafe  hat  der  Angeklagte  Kowal  als  der 
siebente  abzubüßen. 

Nachdem   dem   Fedynyczyn  zwei  strafbare  Handlungen 

zur  Last  fallen,  soll  er  die  Todesstrafe  als  achter  verbüßen. 

—  —  Mit  Rücksicht  auf  die  Schwere  der  dem  Fedor  Budz 
zur  Last  gelegten  Tat  soll  derselbe   die  Strafe  als  neunter  abbüßen. 

—  —  Die  auferlegte  Strafe  hat  Petro  Dzus  als  zehnter 
abzubüßen,  mit  Rücksicht  auf  die  Schwere  seines  Verschuldens. 

—  —  hat  das  Standgericht  angenommen,  daß  seine  Schuld 
die  größte  ist  und  daß  er  eben  die  gegen  ihn  verhängte  Todesstrafe 
als  letzter  abzubüßen  hat. 

Wer  ist  es,  der  so  an  der  Schwelle  des  Jenseits  Ordnung 
hält?  Der  den  Menschen  in  letzter  Stunde  die  Vorteile 
der  Bildung,  des  Lesen-  und  Schreibenkönnens  schätzen  gelehrt 
hat  und  das  Glück  der  Jugend?  Denn  die  andern,  Familienväter 
mit  vier  bis  neun  Kindern,  zum  Teil  Greise,  mußten  je  um 
ein  Weilchen  länger  leben.  Wer  ist  es,  der  so  an  der  Schwelle  des 
großen  Geheimnisses  regiert  hat  und  so  Klarheit  schuf?  Es  waren, 


152 


am  14.  Oktober  1914,  elf  Todesurteile  auf  Grund  einer  einzigen 
Zeugenaussage,  und  über  den  Verfasser  berichtet  die  , Arbeiter- 
Zeitung'  vom  7.  Febmar  1918: 

Der  Verhandlungsleiter  Dr.  Stanislaus  v.  Zagorski,  vor  dem 
Kriege  Advokat  in  Lemberg,  hat  während  des  Krieges  eine  sehr 
umfangreiche  Tätigkeit  ausgeübt;  er  war  in  der  Lage,  mehr  als 
hundert  Todesurteile  auszusprechen  und  in  Vollzug  zu  setzen.  Er 
hat  seine  Aufgabe  so  ernst  genommen,  daß  er  nicht  nur  allen 
von  ihm  verkündeten  Aufhängungen  persönlich 
beiwohnte,  sondern  sich  sogar  erbot,  bei  der 
Exekution  der  von  seinen  Amtskollegen  ge- 
fällten Todesurteile  zu  assistieren.  Unter  anderen 
hat  er  im  Herbst  1914  in  Munkacs  (Ungarn)  drei  galizische 
Flüchtlinge :  Pfarrer  Roman  Beresowszkyi,  Leo  Kob- 
lanskyi  und  Ssemen  Zhabjak  verurteilt  und  das 
Todesurteil  »In  Vollzug  gesetzt«.  Bei  der  Wiederauf- 
nahme der  Sache  vor  dem  Militärgericht  in  Stryi  wurde  durch  das 
Urteil  dieses  Gerichtes  vom  17.  Jänner  d.  J.  festgestellt,  daß  die 
Verurteilten  ganz  unschuldig  waren.  Im  Jahre  1915 
hat  sich  der  Allgemeine  ukrainische  Nationalrat  über  das  Vorgehen 
des  v.  Zagorski  beim  k.  u.  k.  Armeeoberkommando  beschwert. 
Dr.  v.  Zagorski  wurde  seither  zum  Hauptmann  befördert  und  zum 
Justizreferenten  beim  k.  u.  k.  Korps  Hoffmann  ernannt. 

Sein  Name  wird  in  der  Mythologie  dieses  Krieges  neben 
den  vier  Gewaltigen,  den  Koretz,  König,  Preminger,  Peutlschmied 
fortleben  und  selbst  jenem  Leutnant  Widmann,  der  in  der 
serbischen  Sage  eine  so  große  Rolle  spielt,  an  die  Seite  gestellt 
werden. 


EH 

-  Er  (der  Vorfall)  zeigt,  wie  ungezähmt  die  Bestie  im 
Menschen  immer  noch  lä*uert  .  .  und  welch  unermeßliches,  nutzloses, 
nie  mehr  gutzumachendes  Unheil  sie  anrichtet,  wenn  die  Bestie  einmal 
ihre  Ketten  sprengt.  Was  wir  übrigens,  seit  vier  Jahren, 
auchsonstschonerkannthaben.  f.  s. 

Nämlich   der   Verfasser  des   vor  vier  Jahren  erschienenen 
Feuilletons  >Es  muß  sein!« 


153  — 


Lange  vor  dem  Erwachen 

Mancherlei  Perspektiven  würden  sich  unserem  Auge  eröffnen. 

Das  italienische  Heer  hat  schon  einmal  einen  gewaltigen  Schlag 
erlitten,  von  dem  es  sich  nur  mühsam  erholt  hat.  —  —  Wir 
wollen  nicht  in  Zukunftsträumen  schwelgen,  doch 
ist  es  denkbar,  daß  bei  Wiederholung  solcher  Schläge  ein  Zusammen- 
bruch des  italienischen  Heeres  in  den  Bereich  der  Möglichkeit  rücken 
könnte.    Ein  solcher   Preis   wäre   des  Einsatzes   wert. 


Anhauch  und  Auftakt 

Die  Angriffsschlacht  gegen  Italien 
Günstige  Nachrichten  vom  heutigen  Tage 

Wien,   15.  Juni. 

Der  heutige  Tag  hat  unserer  Armee  Erfolg  gebracht.  An  zwei 
Fronten,  vom  Norden  in  der  Gegend  der  Sieben  Gemeinden  und 
vom  Westen  über  die  Piave  hinweg,  sind  unsere  Truppen  in  die  feind- 
lichen Linien  eingebrochen.   —   — 

Wir  spüren  aus  den  Worten  des  Kriegspresse- 
quartiers den  Anhauch  des  Geschichtlichen.  Was 
haben  die  Feinde  alles  getan,  um  uns  herabzusetzen.  ...  Nun 
werden  sie  schreien  nach  der  amerikanischen 
Unterstützung,  nach  diesem  Irrlicht  der  Entente, 
dem  sie  nacheilt  und  das  sie  immer  tiefer  hineinführt  in  den  Sumpf, 
in  Niederlage  und  Verderbnis.  Noch  ist  nichts  Näheres 
bekannt  und  die  nächsten  Tage  müssen  abge- 
wartet werden.  Aber  schon  jetzt  empfinden  wir 
den  Geist  des  Sieges  und  die  ganze  Monarchie  begleitet  mit 
lebhaftester  Spannung  diese  Schlacht,  die  mit  einem  prächtigen  Auf- 
takt und  mit  einem  bedeutsamen  Erfolge  begonnen  hat. 

Die  nächsten  Tage  sollten  immer  abgewartet  werden,  ehe 
man  diese  Stimme  losläßt. 


154 


Der  Beweis 

—  —  machte  Ministerpräsident  Dr.  Wekerle  heute  folgende 
Mitteilungen:  Zunächst  stelle  ich  fest,  daß  wir  mit  voller  Auf- 
richtigkeit ohne  jede  Schönfärberei  Kriegsnachrichten  veröffentlichen. 
Als  Beweis  will  ich  nur  darauf  verweisen,  daß  unsere  eigenen 
Berichte  stets  den  wahren  Tatbestand  enthalten  ....  und  auf 
Grund  dessen  will  ich  den  Tatbestand  der  Wahrheit  entsprechend 
beleuchten.  (Beifall.) 


Aus  der  Riesenzeit 

—  —  Das  Haus  weiß,  daß  wir  am  Piave  .  .  vorgedrungen  sind, 
und  .  .  nachdem  die  Erhaltung  unserer  Stellungen  mit  riesigen 
Verlusten  verbunden  gewesen  wäre,  uns  am  Piave 
zurückgezogen  haben Gegenüber  den  Riesenzahlen  (der  Gefan- 
genen), welche  diesbezüglich  kolportiert  wurden,  will  ich  .  .  feststellen 
—  —  die  Verluste  waren  leider  riesig  —  —  Diese  Zahl  (der 
Gefangenen)  kann  bei  der  Offensive  und  dem  Rückzug  nicht  a  1  s 
überaus  riesig  bezeichnet  werden  —  —  Dies  zur  Grundlage 
genommen,  haben  wir  einen  riesigen,  sehr  bedauerlichen 
Verlust  erlitten  —   — 


So  ist  es 

der  aber  im  Vergleich  zur  zehnten  und  elften  italienischen 
Offensive  die  damals  erlittenen  Verluste  nicht  überschreitet,  j  i 
gegenüber  diesen  zurückbleibt,  denn  in  der  zehnten 
und  elften  italienischen  Offensive  hatten  wir  Verluste  von  80.000  b  i  s 
100.000  Mann.  Jetzt  aber  ist  unser  Verlust  gleichfalls  an- 
nähernd 100.000  Mann.  Diesen  bedauerlichen  Umstand  bin  icli 
gezwungen  zu  konstatieren. 


155  — 


Das  Verbluten  Frankreichs  für  England 

Wenn  ich  trotz  dieser  traurigen  Ereignisse  aus  dem  Ganzen 
die  Folgerungen  ableite,  so  steht  es  ohne  Zweifel  fest,  daß  wir  den 
Italienern  bedeutende  Verluste  verursacht  und  sie  verhindert  haben, 
einen  erheblichen  Teil  ihrer  Truppen  an  die  Westfront  zu  schicken, 
was  im  Interesse  der  gemeinschaftlichen  Kriegführung  ohne  Zweifel 
ein  Ziel  ist,  das  zu  erreichen  jedenfalls  unsere  Pflicht  war.  Diesen 
Zweck  haben  wir  auch  erreicht.  So  traurig  auch  die  Ergebnisse  sind, 
glaube  ich,  wenn  wir  die  Geschehnisse  in  ihrer  Gesamtheit  in  Betracht 
ziehen  —   — 


Genau  wie  in  Frankreich 

.  .  .  Lord  Rothermere  verlangt  genau  wie  in  Frankreich  kriegs- 
gerichtliche Feststellung,  ob  keine  unnötigen  und  unzweckmäßigen 
Menschenopfer  durch  untüchtige  Generale  veranlaßt  worden  sind. 


Der  Schlachtbankier 

hat  am  1.  Januar  1918,  als  so  etwa  fünfzehn  Millionen 
erschlagen  waren,  mit  der  folgenden  Feststellung  Jahrgang  und 
Tagwerk  begonnen: 

Der    Krieg     schlägt     die    Völker     dreifach :      Schlechtes 
Geld,  Mangel  und  Hochpreise. 


Derselbe 

Bei  der  Verrechnung  der  beiderseitigen  Erschlagenen  am 
Piave,  bedauernd,  achselzuckend: 

Der  Krieg  ist  grausam  und  verlangt  Opfer. 

Bei  den  Gefangenen  war  eine  Aktivpost: 

Wenn  wir  die  Bilanz  ziehen,  so  ergibt  sich 
noch  immer  zu  unseren  Gunsten  einPlus  von  zirka 
4  0.0  0  0  Mann. 

Und   der  ging  unerschlagen  aus  dem  Weltmord  hervor! 


—  156 


Ein  inhaltsschweres  Wort 

Das    muß    ein    starkes    Erlebnis    gewesen    sein,  der    Kaiser, 

umgeben   von   den   vielen   tausend  Männern   und  Frauen,  die   in    den 

Anlagen     von    Friedrich     Krupp,      deren    Hauptbesitzer  gegenwärtig 

Herr  v.  Bohlen  ist,  beschäftigt  werden.  Die  Geschichte  dieser  welt- 
berühmten Unternehmung  kann  in  einem  Wort  erzählt  werden : 
Gußstahl. 


Gotha  1919 

[Leopold  Pollack  Freiherr  v.  Parnegg.]  Dem 
Großindustriellen  Leopold  Pollack  Edlen  v.  Parnegg  in  Wien  wurde 
der  österreichische  Freiherrnstand  verliehen.  Freiherr  v.  Pollack 
nimmt  in  der  österreichischen  Textilindustrie  eine  hervorragende 
Stellung  ein.  Er  war  der  erste,  der  in  Österreich  die  Großerzeugung 
feiner  Fabrikate,  der  Baumwollwarenbuntweberei,  aufnahm,  wodurch 
auf  diesem  Gebiete  die  ausländische  insbesondere  die  englische 
Konkurrenz  in  Österreich  aus  dem  Felde  geschlagen  und 
ein  lebhafter  Export  erzielt  wurde. 

Also  eigentlich  für  Schlachtenruhm.  Aber  irgendwie 
müssen  diese  Verdienste  damit  zusammenhängen,  daß  man  es 
jetzt  mit  der  Konkurrenz  der  englischen  Armeen  zu  tun  hat. 
Sicher  ist  nur,  daß  dafür  in  der  Wertung  großer  Männer  die 
englische  Konkurrenz  es  mit  uns  nicht  aufnehmen  kann;  denn 
keineswegs  würden  sie  dort  etwa  den  Pollackwitz  machen,  einen 
Besieger  der  Brünner  War'  fortan  als  Lord  anzusprechen.  Dieses 
Händler-  und  Söldnervolk  unterscheidet  sich  von  dem  Volk  der 
Helden  und  Idealisten  merkwürdigerweise  dadurch,  daß  es  bei 
moralischen  Werten,  wie  Adel  und  Einfluß,  keinen  Tarif  kennt. 
Es  wäre  also  ausgeschlossen,  daß  zum  Beispiel,  wenn  ein  Mister 
Pollack  den  Wunsch  hätte,  Sir  zu  werden  und  nicht  zufrieden 
damit,  gar  Lord,  ein  Mister  Hummer  oder  sonst  ein  Gemeiner, 
der  Einfluß  abzugeben  hat,  weil  er  irgendwelche  mandatferne 
Zwecke  verfolgt,  zu  Lloyd  George  liefe  und  für  10.000  Pfund 
—  was  etwa  der  Summe  von  einer  Million  Kronen  entspräche  — 
das  Geschäft  gemacht  wäre.  Gott  strafe  England,  aber  in  diesen 
Belangen  nationaler  Ehre  verstehen  sie,  wie  die  Lady  Pollack 
sagen  würde,  die  Hors  d'oeuvres  zu  wahren. 


Schwer  nachzusprechen 

[Auszeichnung  des  ehrenamtlichen  fach- 
männischen Beirates  der  Lebensmittelaktion 
der  Wiener  Zeitungsangestellten.]  Der  Kaiser  hat 
dem  Wiener  Großkaufmann  Herrn  Hugo  Selkes  in  seiner  Eigenschaft 
als  ehrenamtlicher  fachmännischer  Beirat  der  Lebensmittelaktion  der 
Wiener  Zeitungsangestellten  den  Titel  eines  kaiserlichen  Rates  verliehen. 
Kaiserlicher  Rat  Hugo  Selkes 


Rubrik  Inland 

»Der  Präsident  trug  namens  des  Österreichischen  Jugendreichs- 
bundes die  alleruntertänigste  Bitte  vor,  für  die  allergnädigste  Übernahme 
des  allerhöchsten  Protektorates  und  für  die  allergnädigste  Ernennung 
des  Präsidenten  den  alleruntertänigsten  Dank  allergnädigst  entgegen- 
nehmen zu  wollen.« 

Das  wird  die  Welt  zum  Glück  deshalb  nicht  erfahren, 
weil  es  in  keine  andere  Sprache  zu  übersetzen  wäre. 


Ein  kaiserlicher  Rat 

Aus  der  Masse  jener,  denen  man  es  an  der  Nase  ansieht, 
daß  es  50.000  Kronen  gekostet  hat,  ragen  zwei  interessante  kaiser- 
liche Räte  hervor.  Der  eine  trotzt  allen  Gefahren  und  Grenz- 
hindernissen, um  jährlich  einmal,  er  hat  ein  Gelübde  getan, 
die  Ruine  Habsburg  —  in  der  Schweiz  —  zu  besuchen.  Ich 
war  nur  einmal  dort,  aber  es  hat  sich  gelohnt;  denn  ich  habe 
auf  meine  Frage,  ob  schon  ein  Mitglied  des  Kaiserhauses  die 
Ruine  besucht  habe,  von  der  Ruinenkellnerin  die  Antwort  erhalten: 
>0  ja,  der  Herr  kaiserliche  Rat  kommt  jedes  Jahr!«  Der  andere  bringt 
Anregungen.  Sei  es,  daß  es  erwünscht  wäre  eine  Jubiläumsmarke 
einzuführen,  oder  praktisch,  Tramwaykarten  zu  sammeln,  er  regt 
unter  allen  Umständen  an.  Und  ist's  nicht  immer  was  Nützliches, 
so  ist  es  doch  was  Apartes: 


158 


[Der  Girardi-Hut.]  Kaiserlicher  Rat  Dr.  Moritz  Putzker,  Brunn, 
schreibt  uns:  —  —  Diese  Volkstümlichkeit  des  Künstlers  brachte  es 
auch  mit  sich,  daß  bekanntlich  die  Hutmachergenossenschaft  in  Wien, 
die  in  Friedenszeiten  zu  Beginn  jeder  Jahressaison  den  Hutmodellen 
einen  Namen  beizulegen  pflegte,  einen  Strohhut  Girardi  taufte.  Das 
Aussehen  dieses  Hutmodells  scheint  mir  der  Grund  zu  dessen 
Benennung  gewesen  zu  sein.  Es  war  ein  einfacher,  mit  einer 
geraden  Krempe  versehener,  nur  mit  einem  schlichten  Bande 
gezierter  Hut,  der  in  symbolischer  Weise  die  persönlichen  Eigen- 
schaften Girardis  wiedergab.  Wie  dieser  Hut  waren  namentlich  die 
Grundeigenschaften  Girardis,  Einfachheit,  Gradheit  und  Unaufdring- 
lichkeit.   —   — 

.    Ein  interessanter  kaiserlicher  Rat  das. 


Gedenktage 

—  —  Es  sind  nunmehr  gerade  225  Jahre  und  das  Professoren- 
kollegium hat  aus  diesem  Anlaß  eine  intime  Feierlichkeit  veran- 
staltet —  — 

—  —  Es  sind  in  diesem  Herbste  gerade  einundvierzig  Jahre 
her,  daß  sie  (Josefine  Wessely)  mit  der  Cousine  Reserl  zaghaft  an 
die  Tür  der  >Frau  Direktor<  klopfte  —  — 


Das  Ende  eines  eigenartigen  Blattes 

Die  .Newyorker  Staatszeitung'  hat  ihr  Erscheinen  eingestellt. 
Damit  hat  die  systematische  Hetze  in  Amerika  gegen  die  Deutschen 
wieder  zu  einem  Erfolg  geführt,  indem  sie  der  bedeutendsten  deutsch- 
amerikanischen Zeitung  ein  Ende  bereitete.  Besonders  das  Sonntags- 
blatt erfreute  sich  großer  Beliebtheit  und  Verbreitung  in  ganz  Amerika; 
durch  den  Nachdruck  der  besten  deutschen  Romane  und  Novellen 
hielt  es  seine  Leser  über  die  geistige  Entwicklung 
Deutschlands  im  laufenden,  und  die  eigenartige 
Rubrik  >Aus  der  alten  Heimat«,  die  in  kurzer  Form  alle  Todes- 
fälle, Heiraten,  Lokalereignisse  und  sonstigen 
Begebenheiten  in  allen  Städten  und  Dörfern 
Deutschlands  und  Deutschösterreichs  registrierte, 
verschaffte    der    Zeitung    eine    außerordentlich    hohe    Auflage    .... 

Kein  Wunder,  daß  das  den  Amerikanern  auf  die  Dauer 
zu  viel  wurde. 


—  159 


Ein  Führer  der  Menschheit 

Der  Präsident  der  Concordia,  der  Ehrlich  heißt  und 
seinerzeit  dem  Benedikt  mit  dem  Diktum  den  Rücken 
gekehrt  haben  soll:  Ich  geh,  ich  hab  genug!,  der  ehemalige 
Börsenjournalist,  der  das  geistige  Wien  vertritt,  kann  seinen 
Ursprung  nicht  verleugnen,  indem  er  sich  gleich  seinem  früheren 
Chef  im  Kriege  auf  der  Gedankenflucht  befindet: 

—  —  und  fuhr  dann  fort:  Vom  Tage,  dessen  Geschehen  wir  zu 
erfassen  haben,  erhielten  wir  den  Namen  Journalisten.  Seit  fast  vier 
Jahren  ist  der  schreckliche  Krieg  das  tägliche  Ereignis. 

Das  ist  gar  kein  so  loser  Zusammenhang,  als  es  scheint. 

So  wenden  sich  auch  heute  unsere  Gedanken  den  furchtbar  spannen- 
den Ereignissen  zu,  die  sich  im  Westen  vollziehen.  Wir  wünschen 
den  deutschen  Waffenbrüdern  den  vollen,  den  entscheidenden  Erfolg, 
der  dem  mörderischen  Ringen  der  Menschheit  ein  Ende  bereitet 
und  den  dauernden  Frieden  bringt.  Wir  sind  überzeugt,  daß  auch 
die  Völker,  die  im  Banne  wahnwitziger  Führer  stehen,  sowohl 
die  Franzosen,  als  auch  die  Engländer,  in  ihrem 
Innern  das  rasche  Ende  des  Blutvergießens  herbeisehnen. 

Der  Zusatz  »sowohl  die  Franzosen,  als  auch  die  Engländer« 
war  bloß  durch  den  Hinweis  auf  die  wahnwitzigen  Führer 
geboten,  aber  zu  den  Völkern,  die  das  Ende  des  Blutvergießens 
herbeisehnen,  gehören  natürlich  auch  wir. 

Im  Zeichen  Schillers  ist  die  > Concordia«  vor  59  Jahren  gegründet 
worden.  Zu  seinen  unsterblichen  Idealen,  für  die  wir  uns  begeistern, 
zählt  auch  das  Weltbürgertum.  Nach  wie  vor  werden  wir  dem  Genie 
huldigen,  wo  immer  es  in  die  Erscheinung  tritt. 

Nur  wird  sich  leider  das  Genie  nicht  immer  von  der 
Concordia  huldigen  lassen. 

Und  wenn  soeben  von  hoher  Warte  verkündet  wurde,  die  Akademie 
der  Wissenschaft  sei  in  erster  Linie  berufen,  die  zerrissenen  geistigen 
Fäden  wieder  anzuknüpfen,  so  wagen  wir  hinzuzufügen,  daß  nicht  in 
letzter  Linie  auch  die  Presse  dazu  berufen  ist. 

Gemacht;  aber  wir  würden  dann  schier  die  von  der 
Concordia  angeknüpften  geistigen  Fäden  für  eine  Spule  Zwirn 
hergeben. 


160  — 


Eine  Herzensangelegenheit 

Vertreter  der  reichsdeutschen  Tageszeitungen  sind  als  Gäste 
der  »Concordia«  und  des  »Deutsch-österreichischen  Schriftstellervereines < 
in  Wien  eingetroffen  ....  Die  Männer,  die  stets  in  stiller  Zurück- 
gezogenheit ihre  Arbeit  leisten,  treten  heute  als  liebe  Gäste  vor  die 
Wiener  Öffentlichkeit.  Freudig  bewegt  schlagen  ihnen 
die  Herzen  der  Wiener  entgegen. 

Bis  auf  meines. 


Es  ist  von  mir 

Die  deutschen  Gäste  fanden  alles  nach  Wunsch  bereitet 
vor.  Der  Graf  Burian  versicherte  ihnen,  daß  der  Ausbau  des 
Bündnisses  eine  logische  Folge  der  Entwicklung  sei,  während 
hingegen  der  Präsident  der  Concordia  der  Vertiefung  des 
Bündnisses  gedachte  sowie  des  geistigen  Bandes,  das  die  Presse 
um  die  verbündeten  Reiche  schließt,  worauf  ein  gewisser  Rippler 
das  Gelübde  tat,  die  Beziehungen  der  reichsdeutschen  zur 
Wiener  Presse  »auszugestalten  und  zu  vertiefen«  und  über- 
haupt die  geistige  Waffengemeinschaft  zu  stählen.  Nachdem  im 
Laufe  des  Abends  noch  andere  und  zwar  bedeutsame  Reden 
gehalten  worden  waren,  welche  die  Vertiefung  des  Bundes- 
gedankens betrafen,  bewies  der  Botschafter  Graf  Wedel, 
daß  er  »die  Psychologie  hat,  welche  Lord  Grey  den 
deutschen  Diplomaten  absprechen  wollte«,  indem  er  die  Erkennt- 
nis aussprach,  daß  Österreich-Ungarn  und  Deutschland  Nachbar- 
staaten sind.  Auch  zitierte  er  Schopenhauer,  aber  nicht  die 
Stellen  über  die  Zeitungsschmierer,  sondern  den  Ausspruch,  es  sei 
eine  der  weisesten  Lebensregeln,  die  Menschen  zu  nehmen  wie  sie 
sind,  und  nicht,  wie  man  sie  haben  möchte.  Das  gelte  auch  im 
Völkerleben.  Die  Aufgabe  der  Diplomatie  sei  es,  moralische 
Eroberungen  zu  machen.  Man  müsse  die  Wesensart  anderer 
Völker  verstehen  und  berücksichtigen.  Offenbar  meinte  er,  daß 
Österreich  noch  ein  Feld  für  die  deutsche  Diplomatie  sei,  nach- 
dem es  ihr  mit  der  ganzen  übrigen  Welt  bereits  gelungen  ist.  Den 


ibi 


Pressevertretern  galt  das  Kompliment,  daß  sie  mit  geistigen 
Waffen  kämpfen.  Es  freute  ihn  sehr,  daß  er  Gelegenheit  habe. 
»Sind  doch«  Diplomatie  und  Presse  verwandte  Berufe  und  so. 
Die  Presse  habe  die  hohe  Aufgabe,  die  Wahrheit  zu  verkünden. 
»Was  gut  und  dauernd  ist  in  dieser  Welt,  beruht  auf  Erkenntnis 
der  Wahrheit.  Was  nicht  echt  ist,  hat  keinen  bleibenden  Bestand«. 
Wahr  ist  zum  Beispiel,  daß  Österreich  und  Deutschland 
Nachbarstaaten  sind.  Ferner,  daß  Botschafter  Graf  Wedel  die 
Erschienenen  mit  gewinnender  Liebenswürdigkeit  begrüßte.  Der 
Abgeordnete  Groß  hingegen  würdigte  den  Besuch  der  reichs- 
deutschen  Pressevertreter  und  die  damit  verbundenen  Gastmähler 
vom  Gesichtspunkt  der  Aufgabe  von  Presse  und  Parlament,  die 
Bevölkerung  »zum  Aushalten,  zum  Ertragen  und  zum  Durch- 
halten aufzumuntern«.  Hierauf  wurden  allen  von  allen  die 
Honneurs  gemacht.  Auch  hier  geschieht,  was  längst  geschah,  spricht 
Mephistopheles.  Esentwickelte  sich  denn  auch  sofortjeneangeregte, 
gemütlich  frohe  Stimmung,  die  das  beste  Zeichen  für  die  Gastlichkeit 
des  Hauses  ist.  Zwanglose  Gruppen  bildeten  sich, 
alte  Bekanntschaften  wurden  erneuert,  neue 
angeknüpft.  Die  freundlichen  Beziehungen  zwischen  dem 
Reich  und  der  Monarchie  zeigten  sich  auch  in  dem  gemütlichen 
Verkehr  zwischen  den  deutschen  Gästen  und  den  Wiener 
Kollegen.  Daß  auch  die  Zeijfragen  eingehende  Erörterung 
fanden,  versteht  sich  von  selbst.  Wie  überhaupt  alles.  Da  neben 
der  Diplomatie  auch  die  Generalität  vertreten  war,  wurde 
»naturgemäß«  auch  vom  Kriege  gesprochen,  vor  allem 
von  der  Westfront,  und  die  Zuversichtlichkeit,  mit  der  hier  von 
sachverständiger  Seite  die  Kriegslage  beurteilt  wurde,  trug  nicht 
wenig  dazu  bei,  die  Stimmung  angeregt  und  froh  zu  erhalten 
....  Salkind  .  .  Mandl  .  .  Hermann  Bahr,  Hugo  v.  Hofmanns- 
thal, Rudolf  Hans  Bartsch,  Dr.  Hans  Müller  .  .  Andrian  .  . 
Burian  .  .  Tressler  .  .  Im  Namen  der  österreichisch- 
ungarischen Wehrmacht  entbot  Kriegsminister  v.  Stöger-Steiner 
den  Gästen  den  soldatischen  Willkommgruß  ....  Ich  habe 
das  alles  zitiert,  weil  es  aber  doch  von  mir  ist,  lieber 
gleich  in  meinen  Text  aufgenommen.  Ich  könnte  eigentlich 
meine    Mission    heute    mit    der    autorrechtlichen    Verwahrung 


—  162 


abschließen,  daß  alles  was  besteht  und  wert  ist,  daß  es  zu 
Grunde  geht,  von  mir  ist.  Eine  bessere  Schöpfung  spreche  ich 
mir  nicht  zu.  Der  Grubenhund  war  nur  ein  Spaß.  Aber  der 
Fenriswolf,  der  umgeht,  ist  vom  gleichen  Geschlecht.  Wie 
mühsam  ist  es,  einen  Text  zu  zitieren,  den  man  selbst  verfaßt 
hat !  Die  Qual  dieser  Agnoszierungen  hat  mir  den  Tag  und  die 
Nacht  verschüttet.  Ich  habe  nichts  als  das  Glück  der  Hoffnung, 
daß  mir  das  Plagiat  vernichtet  wird. 


Ein  Austausch  von  Zitaten 

fand  im  Rathaus  statt.  Ein  gewisser  Piper,  dem  der  Stephansturm 
imponiert,  gab  die  Erklärung  ab,  daß  das  österreichische  Wesen  in 
der  Reichshauptstadt  verkörpert  sei;  »das  Wort  Grillparzers  ,In 
deinem  Lager  ist  Österreich '  muß  überhaupt  auf  Wien  angewendet 
werden«.  Dieser  talentvolle  Vorschlag  fand  den  Beifall  des 
Herrn  Weiskirchner,  der  aber  sofort,  um  allfälligen  Enttäuschungen 
vorzubeugen,  mit  der  stolzen  Versicherung  antwortete:  »Wir 
sind  nicht  mehr  das  Volk  der  Phäaken!«  Weiß  Gott,  das  sind 
wir  nicht  mehr!  Da  die  Phäaken  tatsächlich  keine  Durchhalter  waren 
und  der  genügsamste  Phäake  drei  fleischlose  Tage  in  der  Woche 
nicht  ertragen  hätte,  so  ist  der  Protest  des  Bürgermeisters  gegen  das 
Zitat  immerhin  am  Platze.  Was  die  Wiener  heute  im  Gegenteil  sind, 
das  auszudrücken  gelang  ihm  unschwer  in  dem  Satz:  »Wir  Wiener 
sind  uns  bewußt  unserer  Verantwortung  als  Bollwerk  gegen  Osten !« 
Ob  da  auf  die  uns  verbündeten  Türken  oder  nur  auf  unsere 
Feinde,  die  Ungarn  angespielt  war,  darauf  kam  es  den  reichs- 
deutschen  Gästen  weiter  nicht  an,  denen  schon  die  Erhebung 
einer  offenen  Stadt  zum  Rang  eines  Bollwerks  eine  gewisse 
Genugtuung  bereiten  mochte. 


Von  den  Schlagworten 

Spitzmüller  sprach: 

» —  —  Ich  meine  hauptsächlich  Verflachung  durch  Schlag- 
worte. Namentlich  in  Österreich  —  weniger  in  Ungarn,  wo  eine 
intensivere  politische  Schulung  besteht   —   ist  es    üblich,    die  Schlag- 


1Ö3 


worte  in  das  Volk  gelangen  zu  lassen,  ohne  darauf  zu  reagieren  und 
ohne  das  Volk  zu  schützen  vor  den  Gefahren,  die  daraus  erwachsen. 
Die  Entente  hat  das  System  der  Betörung  durch  Schlagworte 
mit  einer  Kunst  betrieben,  die  überrascht  und  verblüfft.  —  — « 


Vom  Stählen 

Eines  der  häufigsten  Worte  ist  jetzt  das  Wort  »stählen«, 
fast  so  häufig  wie  das  ähnliche.  In  den  wenigen  Tagen,  da  die 
deutschen  Journalisten  hier  zu  Oast  waren,  wurde  die  geistige 
Waffengemeinschaft  gestählt.  Dann  lief  ein  Telegramm  des 
deutschen  Kaisers  ein,  in  welchem  zur  Stählung  des  entschlosse- 
nen Willens  aufgemuntert  wurde,  worauf  der  Generalstabschef, 
der  wie  der  Kriegsminister  und  der  Vorstand  des  Kriegspresse- 
quartiers den  Journalisten  einen  soldatischen  Willkommgruß 
entbot,  die  Ansicht  aussprach,  daß  die  Presse  »die  Psyche  des 
Volkes  zu  beleben,  dieselbe  aufzuklären  und  den  Willen  desselben 
zu  stählen  hat«.  Ganz  zutreffend  bemerkte  derselbe: 

Volk  und  Heer  sind  heute  eins.  Die  Stimmung  des  Volkes 
spiegelt  sich  an  der  Front  wieder,  ebenso  wie  die  Ereignisse  an 
der  Front  auf  die  Heimat  rückwirken. 


Im  Zeichen  Beethovens 

Am  Abend  trafen  sich  die  Gäste  beim  Heurigen  in 
Döbling  (Josef  Winter  in  der  Grinzingerstraße)  zu  einem  von 
der  Deutsch-österreichischen  Schriftstellergenossenschaft  veranstalteten 
wienerischen  Abschiedsabend.   —   — 

Präsident  Puch  stein  der  Schriftstellergenossenschaft  begrüßte 
die  Erschienenen  mii  herzlichen  Worten,  in  welchen  er  auf  die 
lokalhistorische  Bedeutung  der  Stätte  des  Zusammen- 
seins verwies,  die  einstens  den  Wiener  Poeten  Winkel  darstellte,  in  welchem 
Saar  und  Bauernfeld  dichteten,  Schubert  und  Beethoven 
komponierten,vd  ie  also  wie  keine  zweite  geeignet  sei, 
wieder  Männer  der  Feder  und  der  Kunst  zu  ver- 
einigen.   

Während  des  Abends  fanden  auch  einige  der  anwesenden 
Kunstkräfte  Gelegenheit,  die  Gäste  mit  echt  wienerischen 
Darbietungen  zu  erfreuen,  so  Frau  Gabriele  Modi,  Herr  Huber  .  . 
Fräulein    Grell    Fuchs  .  .  Herr  Kumpa  .  .  und   Herr    Theodor   Weiser 


—  164  — 


Zusammengewachsen 

Das  Problem  dieses  Österreich  ist  nicht,  daß  sich  die 
Nationen  nicht  vertragen,  sondern  daß  sie,  die  nichtdeutschen, 
einen  Staat,  der  unaufhörlich  versichert,  daß  er  sie  beglücke, 
nicht  vertragen  und  daß  sie  es  auch  nicht  tun  würden,  wenn's 
ihm  gelänge,  das  heißt  wenn  die  Regierungsmaxime  »Mir  san 
ja  eh  die  reinen  Lamperln«  täglich  in  beglückende  Tat  umgesetzt 
würde.  Ihre,  ihrer  aller  Eigenart  ist  es  eben,  nicht  zu  wollen, 
und  seine  ist  es,  da  halt  nix  machen  zu  können.  Dieser  Wider- 
spruch lebt  sich  »naturgemäß«  im  nationalen  Streit  aus.  Der 
Herr  von  Hussarek  scheint  dies,  wiewohl  er  vornehmlich  der 
Träger  jener  Regierungsmaxime  ist,  begriffen  zu  haben.  Denn 
ihm  ist  bei  rechter  Gelegenheit,  vor  reichsdeutschen  Journalisten, 
die  rechte  Formel  geglückt: 

Im  Laufe  der  Jahrhunderte  unter  dem  glorreichen  Scepter  unseres 
Kaiserhauses  zusammengewachsen,  sind  die  österreichischen 
Lande  die  Heimstatt  eines  Österreichertums  geworden,  das  — 

Fünfzig  Jahre  Nationalitätenstreit  können  nicht  bündiger 
formuliert  werden. 


Sie  werden  sich  überzeugen 

Die  deutschen  Journalisten  haben  auch  einen  Ausflug 
nach  Budapest  gemacht.  Es  versteht  sich  von  selbst,  daß  auch 
dort  vertieft  und  geschultert  wurde  und  daß  an  reichbesetzten 
Tafeln  das  Bündnis  in  Fleisch  und  Blut  überging.  Zumal  der 
Handelsminister  Baron  Szterenyi-Stern,  auf  den  dieses  gefährliche 
Gleichnis  eine  spezielle  Wirkung  ausübt,  war  es,  der  sein  Scherflein 
hiezu  beitrug.  Dafür  verlangte  er  aber  auch  von  den  Fremden,  die 
voraussichtlich  zwei  bis  drei  Fleischtage  in  Budapest  zubringen 
wollten,  nicht  wenig. 

»Wenn  Sie,«  sagte  der  Minister,  »hier  Land  und  Leute  wirklich 
kennen  lernen  werden,  werden  Sie  sich  davon 
überzeugen,  daß  diese  Bestrebungen,  unsere  staatliche  Selbständigkeit 
innerhalb  der  Monarchie  zum  Ausdrucke  zu  bringen,  immer  im  Interesse 
der  Stärke  der  Monarchie  liegen.  (Lebhafter  Beifall  und  Hände- 
klatschen.) —  — 


165 


Der  Minister  verwies  darauf,  daß  die  Gäste,  wenn  sie  das  Land 
kennen  lernen  werden,  sich  davon  überzeugen 
werden,  daß  in  Ungarn  jede  Nationalität  ohne  Rücksicht  auf  ihre 
Sprache  oder  Religion  vollständig  freies  Recht  hat,  ihre  nationale 
Eigenart  in  Kirche  und  Schule  zu  entwickeln. 

Natürlich  werden  so  talentvolle  Studienreisende  wie  die 
Berliner  Journalisten  das  alles  in  zwei  Tagen  eher  heraus  haben  als 
andere  in  zwei  Jahren,  und  die  Kenntnis  des  Landes  wird  sich 
von  selbst  einstellen,  wenn  sie  es  mit  so  umgänglichen  Leuten 
wie  diesem  ungarischen  Handelsminister  zu  tun  haben.  Hierauf 
sprach  ein  anderer  Budapester,  der 

unter  stürmischem  Beifall  der  Anwesenden  daran  erinnerte,  daß  nunmehr 
unsere  Soldaten  vor  Verdun  Schulter  an  Schulter  mit  unseren  Bundes- 
genossen kämpfen. 

Die  bei  St.  Mihiel  dürften  an  demselben  Tage  mit 
Begeisterung  dieser  Schulter  an  Schulter  für  sie  essenden  Nach- 
hut der  Hinterländer  gedacht  haben. 


Sie  haben  sich  überzeugt 

nachdem  sie,  ein  paar  Tage  in  Budapest  gut  gegessen  hatten. 
Beim  Abschiedsbankett  konnte  deshalb  Baron  Stern  sagen: 

Ihre  Anwesenheit  bei  uns  war  sehr  kurz  bemessen.  Diese 
kurze  Zeit  genügte  Ihnen  aber,  um  über  Land  und 
Leute  in  gar  mancher  Beziehung  sich  ein  Urteil  bilden  zu  können. 
Wir  zeigen  Ihnen  keine  Potemkinschen  Dörfer. 
Sie  konnten  uns  in  unserem  alltäglichen  Leben  sehen. 
Und  wenn  ich  mich  da  frage,  was  Sie  bei  uns  gesehen  haben,  muß 
ich  mir  sagen,  daß  Sie  vorerst  eine  blühende  Großstadt  sahen  —  — 
Sie   konnten   eine  Nation   kennen   lernen,   welche   zwar  an  Zahl 

gering,  aber  bestrebt  ist,  sich  den  großen  Kulturnationen  anzureihen — 

Und  wenn  Sie  sich  der  Mühe  unterzogen,  uns  etwas 
näher  kennen  zu  lernen,  konnten  Sie,  ja  mußten  Sie 
erkennen,  daß  diese  Nation  einen  althergebrachten,  festen  Charakter- 
zug besitzt:  Anhänglichkeit  und  Treue. 

Seit  mehr  als  einem  Jahrtausend  stammt 
dieser     C  h  a  r  a  k  t  e  r  z  u  g.      Er     ist     aus     dem      geschichtlichen 


166 


Blutvertrag  entstanden,  den  die  sieben  Stämme  vor  ihrer  Einwanderung 
in  ihr  neues  Vaterland  schlössen. 

(Fünf  scheinen  zurückgeblieben  zu  sein.) 

Diese  Treue  mußten  Sie  bei  uns  auch  unserem  Bundes- 
genossen, dem  Deutschen  Reiche,  gegenüber  gesehen  haben, 
mit  welchem  unsere  Monarchie  ihren  geschriebenen  Bündnisvertrag 
in  diesem  Kriege  auch  durch  einen  Blutvertrag  bekräftigte.  —  — 
Sie  konnten  sehen  und  Sie  mußten  sehen,  daß  fest  und  treu 
steht  nicht  nur  die  Wacht  am  Rhein  sondern  auch  an  der  Donau. 
Mit  dieser  Treue  verabschieden  wir  uns  von  Ihnen  und  rufen  Ihnen 
herzlich  zu :  Auf  baldiges  Wiedersehen! 


Unverantwortliche  Elemente 

Der  in  hundert  Tischreden  bis  zum  Erbrechen  als  wich- 
tigster Faktor  im  Krieg  angehimmelte  Journalismus  wird  an 
dem  Tag,  da  Faktoren  für  den  Frieden  gesucht  werden,  in  der 
Burianschen  Note  wie  folgt  definiert: 

A  peine  enonc^e  et  avant  meme  que  l'adversaire  ait  pu  y 
repondre  officiellement,  toute  döclaration  des  hommes  d'Etat  au 
pouvoir  est  discut^e  passionnement  et  avec  exag^ration  p  a  r  des 
personnes  non  responsable  s. 

Oder  auf  deutsch: 

Jede  Kundgebung  der  führenden  Staatsmänner  wird,  sowie 
sie  stattgefunden  hat  und  noch  ehe  die  zuständigen  Stellen  der 
Gegenseite  darauf  erwidern  können,  zum  Gegenstand  einer  leiden- 
schaftlichen oder  übertreibenden  Besprechung  unverantwort- 
licher Elemente. 

Besonders  in  der  deutschen  Übersetzung  dürften  wir  der 
Wahrheit  über  die  papierenen  Mordbrenner  näher  kommen  als 
es  noch  tags  zuvor  dem  Burian  und  sonstigen  Amtsstellen 
gelungen  ist.  B  e  i  Tische  las  man's  anders. 


167 


Mitteilungen  von  informierter  Seite 

—  —  Dem  Umstände,  daß  unsere  Regierung  gerade  jetzt  mit 
ihrer  Annäherung  hervortritt,  werden  von  Denkenden  kaum  etwa 
politische  Rücksichten  oder  Rücksichtnahme  auf  die  augenblickliche 
militärische  Lage  zugeschrieben  werden.  —  — 


Was  alles  passieren  kann 

Die    Hoffnung    der    Entente    auf    den    inneren    Zusammenbruch    der 
Mittelmächte. 

—  —  Für  Deutschland  können  wir  sicher  sagen, 
daß  es  unbeirrt  von  allen  Meinungsverschiedenheiten  in  diesem  Wett- 
kampfe an  Ausdauer  und  innerer  Kraft  nicht  unterliegen  wird, 
so  viel  Mühe  sich  auch  unsere  Feinde  geben,  Uneinigkeit  zwischen 
uns  zu  säen. 

Aus  der  Rede  des  Vizekanzlers.  Der  Sperrdruck  ist  der 
Neuen  Freien  Presse  passiert. 


Zwei  Seelen  und  ein  Gedanke, 
Zwei   Herzen   und  ein   Schlag 

Das  Friedensangebot  des  Grafen  Burian. 
22.000  Kilogramm  Bomben  auf  Paris  geworfen. 


Expose 

Stöger-Steiner  sprach: 

». .  .  Das  moderne  Schlachtfeld  im  Unterschiede  von  jenem 
der  vergangenen  Kriege  war  uns  zum  Bewußtsein  gekommen  .  .  . 
wir  ahnten,  daß  Massenkämpfe  bevorstehen  werden  ....  Leider 


168 


mußte  sich  die  Kriegsverwaltung  vielfach  der  finanziellen  Leistungs- 
fähigkeit der  Monarchie  anpassen  und  mußte,  sich  der  Wucht  dieses 
Arguments  unterordnend,  mit  schwerem  Herzen  manches 
zurückstellen.  So  blieb  denn  gegenüber  den  glücklicheren  Nachbarn 
unser  Rüstzeug  für  den  Krieg  rückständig  .   .  .  .« 


Heimleuchtungen 

Wolf  f In  den  drei  Nächten  des  l.,2.  und  3.  d.  belegten  die 

deutschen  Bombengeschwader  militärische  Ziele  hinter  der  französischen 
und  englischen  Front  in  zahlreichen  Flügen  mit  der  Riesensumme 
von  201.2  57  Kilogramm  Bomben.  —  —  ausgiebig  mit 
Bomben  beworfen.  Zahlreiche  Brände  und  Explosionen  bezeichneten 
noch  stundenlang  nach  dem  Angriff  die  Wirkung    der    deutschen 

Bomben. Zahlreiche  Brände  und  Explosionen  .   .  leuchteten 

den  deutschen  Fliegern  noch  lange  auf  ihrem 
H  e  i  m  f  1  u  g  e. 


Allerlei  Polizei 

>  .  .  .  Ebensowie  auch  der  bestorganisierte  Sicherheitsdienst 
es  nicht  verhüten  kann,  daß  in  einer  Großstadt  bisweilen  bei  Nacht 
und  Nebelwetter  Einbrüche  verübt  werden,  ist  auch  die  wachsamste 
Flotte  nicht  in  der  Lage,  absolut  zu  verhindern,  daß  ab  und  zu  an 
irgendeiner  Stelle  einer  mehrere  hundert  Meilen  langen  Küste  Hand- 
streiche, die  mit  einem  minimalen  Apparat  ins  Werk  gesetzt  werden 
und  kleinen  Zielen  gelten,  gelingen  .  .  .   .« 

Der  Vergleich  stimmt  nicht,  weil  doch  die  Polizei  nicht 
ihren  Ruhm  darin  erblickt,  das  nächste  Mal  beim  Einbrecher 
einzubrechen  und  überhaupt  Offensiven  zu  unternehmen.  Wenn 
er  aber  stimmt,  so  wird  sich  in  der  Kriegsgeschichte  schon  auch 
zu  dem  Fall  ein  Pendant  finden,  daß  gerade  damals  im  Hotel 
Bristol    bei    hellichtem   Tag   eine   Offensive   verübt  worden  ist. 


—  169 


Fragen  an  Mörder 

Präsident  (zu  Davit):  Sie  hatten  Verhältnisse? 

Angeklagter  (fest):  Nein,  niemals. 

Präsident:  Wir  haben  kein  Interesse  in  diesem  Prozeß,  die 
Namen  derselben  zu  wissen,  aber  wir  wissen  die  Namen  von 
mindestens  zwei  Damen. 

Angeklagter  (ausweichend):  Bekanntschaften. 

Präsident:  Aber  eine  war  eine  sehr  »weitgehende«  Bekannt- 
schaft. —  — 

Staatsanwalt  (zu  Franke):    Haben    Sie  Verhältnisse  gehabt? 

Angeklagter:  Beziehungen  zu  einer  Dame.  Direkt  ein  Ver- 
hältnis war  es  nicht. 

Staatsanwalt:  Sie  waren  auch  Stammgast  in  öffentlichen 
Häusern? 

Angeklagter:    Ich    war  häufig  dort,    das    muß  ich  zugeben. 

Staatsanwalt:  Mit  einem  Freimädchen  haben  Sie  auch  ein 
Verhältnis  gehabt? 

Angeklagter:  Ich  habe  sie  mit  Geld  unterstützt.  —  — 

Staatsanwalt  (zu  Davit):  Haben  Sie  in  Brunn  ein  Verhältnis 
gehabt? 

Angeklagter:  Nein,  das  ist  eine  Verleumdung. 

(Verleumdung  ist  der  Vorwurf  eines  Verbrechens.) 

Staatsanwalt:  Haben  Sie  in  Wien  Verhältnisse  gehabt? 

Angeklagter:  Verhältnisse  nicht,  nur  Freundschaften. 

Staatsanwalt:  Die  Freundschaft  ging  aber  so  weit,  daß  wir 
das  in  Wien  ein  Verhältnis  nennen.  So  viel  Ehre 
sollten  Sie  doch  im  Leibe  haben,  daß  Sie  uns  nicht  zwingen, 
die  Namen  dieser  Frauen  hieher  in  den  Gerichts- 
saal zu  zerren.  —  — 

(Davit  gibt  an,  daß  er  in  Wien  mit  zwei  Damen  intime 
Beziehungen  unterhalten  habe.) 

Staatsanwalt:  Endlich  geben  Sie  das  zu,  es  genügt 
mir.  Auf  Namen  verzichte  ich.  Wir  wollen  hier  keine 
Schmutzwäsche  aufwühlen. 


Unwillkürlich  muß  er  denken 

...  So  verschiedenartig  nun  in  ihrem  Äußern  und  in  ihrem  ganzen 
Wesen  diese  beiden  Menschen  sind,  so  spürt  man  doch  sehr  stark  den 
verwandtschaftlichen   Zug,  der  sie   verbindet.   Unwillkürlich   muß  man 


170  — 


an  die  Brüder  Karamasow  aus  dem  großen  Roman  Dostojewskis 
denken,  an  den  wilden,  ungestümen  Mitja  und  an  den  sanften, 
knabenhaften  Aljoscha. 

Nämlich  Herr  Zifferer,  nämlich  über  die  beiden  Raubmörder 
vom  Hotel  Bristol.  Besonders  der  Vergleich  des  Kurt  Franke  mit 
Aljoscha,  der  sich  einem  aufdrängt,  hat  etwas  Bestechendes.  In 
einem  Kulturstaat,  dessen  größte  Zeitung  so  etwas  gebracht  hätte, 
würden  der  Verfasser  und  der  Herausgeber  sich  bis  zum  Lebens- 
ende nicht  auf  die  Straße  trauen  und  hierauf  keinen  Kadisch 
erhalten. 


Ein  rasender  Schmock 

Wer   vor    dem   Weltuntergang   sich   noch  einen   heiteren 

Abend    antun    will,    versäume    nicht,    die    Wiener    Allgemeine 

Zeitung  zu  abonnieren.  Dort  gibts  täglich  was  in  diesem  Oenre: 

[Die   gerächten   Berge.]    Die  Verurteilung  des  Mörders  Rahner 

hat  den  giäßlichen  Vorfall  wieder  in  Erinnerung  gebracht,   der  sich 

im  Vorjahre  in  dem  Wiener  Waldgebirge  abspielte. Hier  liegt 

ein  Fall  vor,  wo  die  strafende  Gerechtigkeit  beinahe  verzweifelnd 
nach  Sühne  ausblickt,  um  so  viel  Tücke  zu  ahnden  —  —  Der  Friede 
der  Berge  wurde  gestört,  der  von  dem  Wiener  stets  hoch 
und  heilig  gehalten  wird.  Dort  draußen  in  der  erhabenen 
Natur  der  Alpennähe  hat  er  seine  Sehnsuchten  und  Träume 
aus  dem  Trubel  der  Großstadt  gerettet,  dort  steht  sein  weihevoller 
Altar,  zu  dem  er  gern  und  freudig  seine  Zuflucht  nimmt,  der 
ihn  noch  nie  enttäuscht  hat  und  den  er  vor  Menschentücke 
und  Menschenbosheit  gefeit  glaubt.  Freilich  wohnt  und  lauert  auch 
in  diesen  Bergen  der  Tod.  Oft  genug  dringt  schmerzliche  Botschaft 
aus  den  zerklüfteten  Hängen  und  Firnen  des  Wienerwaldes, 
aber  dieser  Tod  inmitten  gigantischer  Natur,  von  ihr  selbst 
gefordert,  hat  etwas  ungemein  Reines  und  Opferhaftes  an  sich 
in  dem  Maße,  wie  er  jedem  gesellschaftlichen  all- 
täglichen Leben  fernliegt.  Auch  Therese  Preinfalk  glaubte 
man  lange  als  Opfer  der  Berge  betrachten  zu  müssen,  bis  ihr  Ende  eine 
um  so  erschütterndere,  verdammenswertere  Aufklärung  erfuhr  und 
man  den  Übeltäter  suchen  mußte,  der  sich  nicht  scheute,  im 
Angesichte  der  von  allen  Wienern  und  allen  fühlenden 
Menschen  verehrten  majestätischen  Natur  der 
Alpen  die  scheußlichste  Verbrechenstat  zu  verüben. 

Gehst  denn  nicht. 


171 


Allerlei   Umgang 

Im  Gegensatz  zu  Schopenhauer,  halte  ich  nicht  anonyme 
Seh  impf  briefe,  sondern  solche  mit  vollem  Namen  für  eine  Feigheit. 
Die  Feigheit  des  Anonymen  tritt  für  mich  so  wenig  in  Erscheinung 
wie  er  selbst,  ich  weiß  nicht,  wer  feige  ist,  ich  merke  nur  den  Drang 
mir  eine  Ansicht  bekanntzugeben,  die  das  Fehlen  der  Unterschrift 
eher  zur  typischen  macht  und  durch  deren  Mitteilung  der  Schreiber, 
der  das  Opfer  seiner  Persönlichkeit  bringt,  sich  ein  Verdienst 
erwerben  kann,  auf  dessen  Ehre  er  verzichtet.  Keine  Person,  sondern 
eine  Ansicht  tritt  an  mich  heran.  Mit  dem  unterzeichneten 
Schimpfbrief  jedoch  tritt  vor  der  Ansicht  die  Person  an  mich 
heran.  Ich  habe  aber  keine  Verbindung  mit  ihr  gesucht  und  da 
im  gesellschaftlichen  Leben  nur  auf  Grund  einer  schon  vorhandenen 
persönlichen  Verbindung  eine  ebensolche  Äußerung  erfolgen 
kann,  so  drängt  sich  jener  in  meine  Intimität,  der,  ohne  mich 
persönlich  zu  kennen,  mich  persönlich  anspricht.  Weil  er  dies  aber 
auf  mündliche  Weise  keineswegs  zu  tun  wagte  und  weil 
er  mich  zu  gut  par  distance  kennt,  um  nicht  zu  wissen,  daß  ich 
eine  solche  Annäherung  auf  der  Straße  durch  Weitergehen,  in 
einem  Lokal  durch  Herbeirufung  des  Kellners  vereiteln  würde, 
so  benützt  er,  indem  er  den  schriftlichen  Weg  betritt,  eine 
Gelegenheit,  die  ihn  unsichtbar  und  mich  zum  wehrlosen  Partner 
seiner  Ansprache  macht,  und  indem  es  ihm  gelingt,  eine  Äußerung 
an  den  Mann  zu  bringen,  der  sich  dieser  Mann  sonst  unfehlbar 
entzogen  hätte,  handelt  er  feige,  zwar  nicht  wie  der  anonyme 
Briefschreiber  im  Sinne  jener  mich  nicht  berührenden  Feigheit,  bei 
welcher  Handlung  und  Persönlichkeit  nicht  zur  Deckung  kommen, 
sondern  im  Sinne  der  Feigheit,  bei  welcher  Absicht  und  Form  nicht 
zur  Deckung  kommen  und  die  einen  technischen  Vorteil  listig 
ausnützt,  um  ohne  persönlichen  Nachteil  mich  belästigen  zu 
können.  Die  so  häufig  geübte  Methode,  einem  andern  ohne 
Gefahr  der  Verlegenheit  seine  Meinung  zu  sagen,  wird 
schon  durch  die  Möglichkeit  absurd,  daß  der  Korrespondent  an 
dem  Empfänger  späterhin  grußlos  und  wunschlos  vorbeigeht,  ohne 
auch  nur  von  dem  Verlangen  aufgehalten  zu  sein,  sich  nach  der 
Wirkung  seines  Briefes  zu  erkundigen.  Hundert  anonyme  Briefe 


-   172  — 


stellen  an  meine  Nerven  keine  so  bittere  Zumutung  wie  die  Zuvor- 
kommenheit eines  Unbekannten,  der  sich  mir  mit  vollem  Namen 
und  Adresse  unsichtbar  gegenüberstellt.  Ist  die  Ansicht,  die  er 
mir  offeriert,  die  er  mir  unter  meine  Nase  reibt,  ohne  daß  ich 
seine  Hand  zurückschlagen  kann,  in  schmähendem  Ton  gehalten, 
so  steht  der  Fall  noch  günstig,  weil  da  die  Behörde  Schutz  gewähren 
kann.  Nicht  gegen  Beleidigung  —  die  Ehre  des  Briefempfängers 
fühlt  sich  nicht  verletzt  und  könnte  sich  gegen  die  Insulte  in 
geschlossenem  Brief  nicht  wehren  — ,  wohl  aber  gegen  Belästigung. 
Weit  fühlbarer  jedoch,  wenngleich  polizeilich  nicht  faßbar,  ist  die 
Belästigung  durch  Briefe,die  nichtdurch  Schmähung  abzuschrecken, 
sondern  durch  Belehrung  zu  bessern  suchen.  Gegen  deren  Absender 
gibt  es  nur,  wenn  sie  sich  auf  ihre  Legitimation  als  »ständige 
Abnehmer«  berufen,  einen  Schutz:  die  Entlassung  aus  dem 
Abonnentenverbande.  Die  Wehrlosigkeit  vor  der  Intelligenz,  die 
irgendein  schäbiges  Fachwissen  gegen  einen  geistigen  Zusammen- 
hang ausspielen  möchte,  in  dem  die  objektive  Erweislichkeit  gar 
keinen  Ausschlag  gibt;  die  Ohnmacht  vor  einem  Besserwissen,  das 
einer  glücklich  entstofflichten  Welt  ihre  öden  Sachverhalte 
reklamiert;  die  Bedrängnis  durch  die  Grammatiker,  die  im  Phono- 
gramm der  Zeit  Sprachschnitzer  anstreichen  —  das  sind  Gefühle, 
denen  in  den  allermeisten  Fällen  jeder  Schutz  versagt  bleibt.  Fast 
noch  schlimmer  aber  als  jene,  die  eine  persönliche  Beziehung 
herstellen,  um  eine  unfreundliche  Meinung  anbringen  zu  können, 
sind  solche,  die  eine  persönliche  Beziehung  vortäuschen,  um 
zu  einer  Freundlichkeit  berechtigt  zu  sein.  So  wie  es  Leute 
gibt,  die  mich,  wenn  sie  mit  andern  gehen,  grüßen,  obwohl  ich 
sie  bei  diesem  Anlaß  zum  erstenmal  sehe,  so  scheint  sich  ein 
Unbekannter  Gewinn  davon  zu  versprechen,  daß  er  mir  »aus 
angenehmer  Sylvestergesellschaft«  mit  fünf  andern  einen  Gruß 
schickt,  was  gewiß  nur  eine  harmlose  Zudringlichkeit  wäre,  wenn  er 
bloß  sich  mit  vollem  Namen,  aber  nicht  mich  bloß  beim  Vornamen 
nennte.  X.  schrieb  mir,  er  könne  mir  gar  nicht  sagen,  wie 
glücklich  er  sei,  daß  ich  mich  zu  den  Bestrebungen  der  Schlaraffia 
bekehrt  habe,  der-Y.,  der  mich  besucht  hätte,  habe  ihm  von  meiner 
Wandlung  Mitteilung  gemacht.  Ich  ahne  gar  nicht,  wie  viel  Leute 
bei  mir  ein-  und  ausgehen,  und  es  ist  jammerschade,  daß  ich  die 


m    - i73 


Gesellschaft,  deren  Mittelpunkt  ich  bin,  so  gar  nicht  frequentiere. 
Aber  vielleicht  tue  ichs  doch  und  weiß  es  nur  nicht.  Denn  ich 
erlebe  so  viel,  wenn  ich  allein  bin,  daß  ich  mir  manchmal 
hinterdrein  sage:  vielleicht  sind  wirklich  alle  die  Leute  im  Zimmer 
gewesen. 


Flieger  über  Rodaun 

.  .  .  Das  Geschwader  passierte  um  9  Uhr  20  Minuten  Rodaunin 

schätzungsweise  2200  Meter  Höhe Eines  der  italienischen  Flugzeuge 

kehrte  über  der  Stadtgrenze  um  und   passierte  nach  1 0  Minuten  m  i  t 
absteigender  Tendenz  wieder  Rodaun.  .  .  . 

Offenbar  hat  d'Annunzio  bei  Herrn  Hofmannsthal  notlanden 
und  ihn  fragen  wollen,  ob  er  ihm  einen  Gegenbesuch  machen 
werde,  aber  rechtzeitig  erfahren,  daß  dieser  seit  1914  in  Russisch- 
Polen  kämpfe. 


Bedingung:  Leder 

[Der  Wiener  Buchhandel  im  Kriege.]  Zu  den  Qeschältsleuten, 
deren  ganzer  Betrieb  in  der  Kfiegszelt  eine  gründliche  Umwälzung 
erfahren  hat,  zählt  nicht  in  letzter  Linie  der  Buchhändler.  D  i  e 
geistige  Verfassung  des  Bücher  lesenden  und  des  Bücher 
kaufenden  Publikums  ist  eine  ganz  andere  geworden  .  .  . 
Nicht  allein  in  den  vordersten  Parkettreihen  des  Theaters  und  des 
Konzertsaales,  nicht  nur  im  Laden  des  Pelzhändlers  und  des  Juweliers 
sieht  man  die  neuen  Reichen.  Sie  stellen  sich  auch  —  zu 
ihrer  Ehre  sei  es  gesagt  —  in  hellen  Hauten  in  der  Buch- 
handlung ein.  Nichts  wäre  leichter  und  billiger,  als 
jene  mit  wohlfeilem  Spott  zu  bedenken,  die  sich  ihre 
Bibliothek  nach  den  Weisungen  des  Verkäufers  in  der  Buchhandlung 
zusammenstellen.  Nur  gedankenloser  Snobismus  wird 
sich  über  den  naiven  Respekt  vor  der  Bildung,  die 
scheue  Kniebeuge  vor  dem  Wissen,   die  sich   in  diesem 


174  — 


wahllosen  Massenankauf  von  Büchern  ausspricht,  lustig  machen. 
Wenn  nicht  diesen  Käufern  selbst,  so  zumindest  ihren  Söhnen  und 
Töchtern  wird  solche  Anschaffung  in  absehbarer  Zeit  noch  andere 
Freude  bereiten  als  die  ein  wenig  äußerliche,  am  Ledereinband  und 
am  Goldschnitt.  Der  Ledereinband,  so  erzählt  uns  ein 
hervorragender  Wiener  Buchhändler,  ist  gegenwärtig 
das  Gesuchteste,  nicht  nur  bei  uns  in  Wien,  sondern  ganz 
ebenso  draußen  im  Deutschen  Reiche,  dort  vielleicht  noch 
mehr.  Der  älteste  Schmöker,  der  sich  eines  Ledereinbandes  rühmen 
kann,  wird  im  Handumdrehen  abgesetzt.  Überhaupt  sind  gute  Tage 
für  die  Luxusausgaben,  für  numerierte  Exemplare 
von  Büchern  und  derlei  Kostbarkeiten  mehr  gekommen.  Man 
braucht  sich  aber  durchaus  nicht  einzubilden, 
daß  diese  neugebackenen  Bibliophilen  durchaus 
Kriegsgewinner  seien  ..  .  Daß  einer  von  der  Straße 
her  die  Handlung  betritt  und  um  150,  um  200,  ja  um  300  K 
Büchereinkäufe  macht,  ist  durchaus  keine  Seltenheit. 
Mit  einem  lachenden,  einem  weinenden  Auge  sieht 
der  Buchhändler  auf  diese  Erscheinung.  Er  sehnt  sich  nach  den 
Intellektuellen  mit  der  Jahresrechnung,  die  in  der  Friedenszeit 
die  angesehensten  Kunden  der  Buchhändler  waten.  Sie  sind 
leider  im  Aussterben  begriffen  .  .  .  . 

Weiß  Gott,  das  sind  sie;  und  eben  darum  hebt  sich  das 
Geschäft  und  werden  die  Lederbände  und  Luxusausgaben  gekauft, 
an  deren  Preise  mein  billiger  Spott  freilich  nicht  hinanreicht. 
Die  Leute,  die  heute  von  der  Straße  her  die  Buchhandlung 
betreten  —  was  sie  freilich  auch  vor  dem  Krieg  zu  tun  pflegten  — , 
müssen  aber,  wiewohl  sie  die  höchsten  Lederpreise  für  Literatur 
zahlen,  deshalb  keine  Kriegsgewinner  sein.  Zu  ihrer  Ehre  sei  es 
gesagt,  daß  sie  so  handeln  ohne  zu  handeln  und  wählen  ohne  zu 
wählen,  sie  wollen  eben  ihre  scheue  Kniebeuge  vor  dem  Wissen 
wagen  und  der  Inhalt  des  Lederbandes  wird  den  Kindern  und 
Kindeskindern  zugutekommen.  Nun  würde  ich  ja  gern  dem 
hervorragenden  Buchhändler,  der  diese  Information  hergegeben 
hat,  wenn  ich  wüßte,  wo  er  zu  finden  ist  —  und  wär's  der 
Hugo  Heller  — ,  das  Schaufenster,  das  durch  Leder  die  neue 
Kundschaft  lockt,  einschlagen  und  ihn  zu  dem  Geständnis  bringen, 
daß  die  vielbegehrten  Einbände  aus  Menschenhaut  hergestellt 
sind.  Viel  ehrlicher  gibt  den  mir  längst  bekannten  Sachverhalt 
eine    andere    Kapazität    des    »Weihnachtsgeschäftes«    zu,    deren 


175  — 


Gutachten  sich  geradezu  als  Inhaltsangabe  meines  Epigrammes 
»Luxusdrucke«  darstellt: 

Der  furchtbare  Weltkrieg,  der  so  viele  Kulturwerke  vernichtet, 
zeitigt  auch  Erscheinungen,  die  wir  nicht  zu 
bedauern  brauchen.  Unter  diesen  rangiert  der  ungeheure 
Aufschwung  des  Buchhandels,  der  einen  Verschleiß  geistiger 
Werke  bedeutet,  gewiß  nicht  an  letzter  Stelle.  Mag  sein,  daß 
die  Menschen,  in  Ermangelung  anderer  Geschenkartikel,  sich  mehr 
dem  Kauf  von  Büchern,  die  noch  in  hinreichender 
Menge  vorhanden  sind,  zuwenden  —  der  Sturm  auf  die 
Buchhandlungen  bleibt  im  merhin  ein  erfreuliches  Moment. 

Ins  Gewicht  fällt  die  Tatsache,  daß  die  Preise  der  Bücher 
nur  wenig  gestiegen  sind.  Der  von  den  Buchhändlern  vereinbarte 
Zuschlag  von  10  Prozent  spielt  gewiß  keine  Rolle  und  die 
übrigen  Preissteigerungen  sind  im  Verhältnis  zu  denjenigen  anderer 
Artikel  kaum  bemerkbar.  Daß  die  Bücher  überhaupt  teurer 
geworden  sind,  daran  ist  übrigens  nur  die  Verteuerung  des 
Einbandmaterials  schuld.  —  — 

Unter  den  Käufern  bemerkt  man  auch  vielfach 
Kriegsgewinner.  So  wollten  einige  beispielsweise 
nur  »numerierte  Ausgaben  auf  Büttenpapier«. 
Vor  einigen  Tagen  hat  in  einem  Stadtgeschäft  ein  Herr  um  zirka 
2000  Kronen  Bücher  gekauft,  mit  der  Bedingung, 
daß  ihm  nur  solche  Exemplare  geliefert  werden 
dürfen,    die    in    —    Leder    gebunden    sind. 

Das  ist  ja  alles  von  mir,  bis  auf  den  herzigen  Gedankenstrich, 
der  aber  wie  die  Freude  an  der  Übereinstimmung  mit  meinem 
Epigramm  aussieht.  Also  es  stimmt  alles,  Leder  ist  Bedingung, 
Bütten  versteht  sich  von  selbst,  und  die  Kuppler  dieser  Bedürfnisse, 
die  uns  einreden  wollen,  daß  sie  mit  einem  lachenden,  einem 
weinenden  Auge  die  Unsummen  einsacken,  nennen  sich  wie  einst 
Buchhändler.  Geist  ist  so  teuer  wie  Fleisch  geworden  und  wird 
versteckt  wie  dieses,  damit  er  noch  teurer  werde.  Aber  mit 
zynischer  Offenheit  wird  dafür  jene  Literatur  verleugnet,  die  das 
viele  Blut  und  Geld  in  Umlauf  gebracht,  den  ganzen  Zustand  verklärt 
hat  und  nun  plötzlich  der  neuen  Kundschaft  nicht  mehr  paßt: 

Für  den  Fachmann  erscheint  es  geradezu  phantastisch,  daß, 
im  Falle  das  Geschäft  so  weitergeht,  bald  sämtliche,  darunter  die 
hartnäckigsten  Ladenhüter  aus  dem  Buchhandel  verschwinden  werden. 
Unanbringlich  ist  nur  die  sogenannte  Kriegsliteratur  — 
mit  Kriegsgedichten   wird  man  einheizen  können. 


76 


Sie  haben  ihre  Schuldigkeit  getan.  Nicht  mehr  Schwert 
und  Leier,  sondern  nur  noch  Leder  und  Bütten.  Die  Hyänen 
brauchen  keinen  Tyrtäus,  die  Wucherer  verabschieden  die  Barden. 
Die  haben  ihre  Pflicht  erfüllt,  sie  haben  zum  großen  Opferfest 
geholfen,  und  jene,  denen  es  gefrommt  hat,  wollen  nicht,  daß 
ihre  Enkel  an  die  verwickelten  Umstände  erinnert  werden,  denen 
sie  Leder  und  Luxus,  Bilder  und  Bütten,  Wälder  und  Wappen 
zu  verdanken  haben. 


Gerichtsbekannt 

Vors.:  Und  dann?  —  Angekl.  (mit  gepreßter  Stimme):  Da 
dachte  ich  mir,  daß  manche  Menschen  viel  haben  und  andere  nichts.  — 
Vors. :  Draußen  an  der  Front  blutet  der  Soldat 
und  daheim  erwirbt  der  Kriegsgewinner  Reich- 
tümer. In  den  Bergschroffen  hungert  der  Soldat,  weil  es 
mit  ungeheuren  Schwierigkeiten  verbunden  ist,  die  Nahrungsmittel 
hinaufzuschaffen.  Das  ist  allgemein  bekannt,  diese  Gegen- 
sätze merken  Sie  auf  der  Straße,  im  täglichen  Leben.  Daß  Ihnen 
.das    so    plötzlich  in  den  Kopf  gestiegen    ist?... 

Ich  würde  mit  dieser  Erkenntnis  im  Kopf,  auch  wenn  sie 
mir  erst  allmählich  in  diesen  gestiegen  wäre,  nicht  fünf  Minuten 
lang  Helfer  der  irdischen  Gerechtigkeit  sein  können.  Der  sie 
ausgesprochen  hat,  ist  aber  gleichzeitig  ein  Helfer  der  Glorie. 
Einer,  von  dem  der  Gerichtssaalreporter  wahrscheinlich  seiner- 
zeit erzählt  hat,  daß  er  das  Schwert  der  Themis  mit  dem  des  Ares 
vertauscht  habe,  wiewohl  dieses  heutzutag  auch  nur  als  Redensart 
funktioniert.  Ein  Strafrichter,  der  das  Strafgericht  der  Mensch- 
heit, bei  dem  die  Unschuldigen  zum  Tode  verurteilt  und  die 
Prozeßkosten  den  Schuldigen  zugesprochen  werden,  mit  Jubel 
begrüßt  haben  soll.  Mit  einem  Wort  Herr  OLG.  von  Würth. 
Nun,  nachdem  er  sich  die  Sporen,  jenen  in  diesem  Krieg  gleich- 
falls so  selten  gewordenen  Gebrauchsgegenstand  verdient  hat  und 
sogar  Major  geworden  ist,  nun  hat  er  es  auch  noch  zu  der  Erkenntnis 
von  der  neuen  Lebenseinteilung  gebracht,  nämlich  daß  draußen  der 
Soldat  blutet  und  hungert  und  daheim  der  Kriegsgewinner  Reich- 


—  177 


tümer  erwirbt,  und  kann  wieder  über  solche  richten,  die  daheim 
hungern  und  denen  die  Erkenntnis  nicht  erst  in  drei  Jahren 
Weltgerichtspraxis,  sondern  plötzlich  in  den  Kopf  gestiegen  ist. 
Immerhin  hat  die  militärische  Verwendung  eines  Richters  den 
Erfolg,  daß  der  kontrastvolle  Notstand  der  Welt,  der  mit  dem 
Fremdwort  Glorie  bezeichnet  wird,  nunmehr  gerichtsbekannt  ist. 


Merk's  Wien! 

>Der  durch  die  lange  Dauer  des  Krieges  gesteigerte  Existenz- 
kampf Aller  gegen  Alle  nimmt  in  letzter  Zeit  Formen  an,  die  einen 
jeden  Einsichtigen  mit  ehrlichem  Widerwillen,  ja  sogar  mit  Abscheu 
erfüllen  müssen  .  .  .  .« 

Kein  Hirtenbrief,  sondern  die  Besitzerin  eines  der 
bekanntesten  Theaterkartenbureaus  schreibt  uns. 


Bei  den  Töchtern 

(Schweizer  Stimmung) 

Zürich,  6.  Febr.  Die  anfänglich  vermißte  Tochter  ist  wohl- 
behalten aufgefunden  worden. 

Wessen  Tochter?  Keines  Vaters  Tochter,  sondern  Tochter 
schlechtweg;  also  eines  Geschäftsinhabers  Tochter  oder  wohl,  was 
noch  häufiger  vorkommt,  eines  Gastwirts  Tochter,  also  eine 
sogenannte  Saaltochter.  Was  ist  das?  Ein  elbisch  Wesen,  nicht 
zu  haschen,  erscheint  auf  keinen  Ruf,  nicht  zu  halten,  wenn  sie 
erscheint.  Die  Töchter  sind  entweder  gutartig  oder  bösartig.  Die 
Bösartigen    schweigen    und    versagen;    die    Gutartigen    sagen 


—  178  — 

»Gern«     und    »Dochdochc,    aber    tun    es    auch    nicht.    Die 
Saaltöchter  bewegen  sich  im  Saal  wie  die  Rheintöchter,  doch 
ihr  Wesen   ist   noch   schwerer   zu   ergründen.  Wer  aber  in  die 
Mysterien  der  »Hotellerie«  eingedrungen  ist,  wem  es  vorbehalten 
war,   zu  den  Töchtern  hinabzusteigen,   der  faßt  sie  auch  nicht. 
Ich 'bin  lange  Zeit  bei  den  Töchtern  gewesen  und  weiß  nur  das 
eine,  daß  sie  jedem  faustischen  Drang  eine  Nase  drehen  und  jedem 
Kommentar  widerstehen.  »Um  sie  kein  Ort,  noch  weniger  eine  Zeit; 
von  ihnen  sprechen  ist  Verlegenheit....«  Heiliges  Urgeheimnis 
tiefsten  Dichterworts,  verzeih  die  Profanation  im  Anblick  dieser 
»urchigen«  Wirklichkeit  von  Essen  und  Trinken  —  aber  die  ist  dem 
Fremden  wahrlich  von  allen  Schleiern  und  Schauern  umgeben. 
Eine  plagt  mich.   Ich  werde  mich  bei  Herrn  Hürlimann  über 
seine  Tochter  beschweren.  Aber  vielleicht  steckt  sie  immer  bei 
ihm,   und  gleichwohl  wär's  nicht  Blutschande.  Jetzt  schwebt  sie 
am  Büfett  entlang,  und  doch  war's  wieder  nichts.  Die  Zeit  verrinnt 
mit  der  Lektüre  von  etwas,  dasZürizitig  heißt,  vorn  lese  ich  von 
den  Sorgen  und  Hoffnungen,  der  Rettung  und  Erhaltung  der 
Hotellerie,  hinten  fällt  mir  auf,  wie  häufig  eine  Tochter  gesucht 
wird;  und  nun,  heute,  ist  eine  gefunden  worden.  Aber  die  eine, 
die  meine,  vermisse  ich  noch  immer.  Dann  habe  ich  Zeit,  nach- 
zudenken, warum  hier  eigentlich  alle  Menschen,  also  Wirte  sowohl 
wie    Gäste,    Hürlimann    heißen.    Ich .  wollte    »Schweizerbürger« 
werden,  denn   immer    nur  Österreicher  sein   verträgt   man   auf 
die  Dauer  auch  nicht.  Da  höre  ich  vom  Nachbartisch  das  folgende 
Zwiegespräch :  »Ja  sagen  Sie  Herr  Hürlimann,  sind  Sie  eigentlach 
geschäftlach  da?«    »Wie?  Ich  bin  gesundheitlach,  sportlach  und 
geschäftlach   da,    Herr  Hürlimann.«    »Wie?  Wirklach?  Ich  hatte 
äben  geglaubt,   daß  Sie   Ihre  Geschäfte  schriftlach  abwickeln?« 
»Wie?    Nein    äben,   äben,   auch  mündlach.«     »Wie?    Aber  da 
können  doch  leicht  Irrtümer  vorkommen?«   »Wie?  Ja,  sehn  Sie, 
irren  ist  menschlach.«  Die  Tochter  schwebt  am  Büfett  hin.  Ich 
habe  nur  noch  die  Frage  am  Herzen:  »Wo  gahts  da  uße?« 


—  179 


Ein  Wort 

Aus  einem  Schweizer  Blatt: 

mußte  aber  meine  Gründlichkeit   mit  einer  langen  Wartefrist 

büßen,  denn  inzwischen  waren  alle  Tische  im  obern  Raum  besetzt 
worden;  aber  ich  fand  doch  noch  köstliche  Kriegsleckerbissen 
an  dem  prunkvollen  Büfett. 

Wie  es  Schweizerbürger  gibt,  gibt  es  auch  Schweizer- 
schmöcke.  Ob  es  Neutralitätsbruch  wäre,  wenn  sich  in  solchem 
Fall  ein  französischer  und  ein  deutscher  Internierter,  die  ja  beide 
nach  langer  Wartezeit  einen  Kriegsleckerbissen  gekostet  haben 
mögen,  auf  eine  Ohrfeige  einigen  wollten? 


Phantastisches 

[Die  Verpflegung  der  ungarischen  Delegations- 
mitglieder  in   Wien.]    Der   ungarische   Minister   am   Hoflager, 

Graf  Aladar  Zichy über  die  Frage   der  Verpflegung 

der  ungarischen  Delegationsmitglieder  —  —  durchaus  nicht  meine 
Angelegenheit,  für  die  Verpflegung  der  ungarischen 
Delegationsmitglieder  während  ihres  Wiener  Aufenthaltes  Sorge  zu 
tragen  —  —  mich  dafür  interessiert  —  —  sowie  das 
Dienstpersonal,  die  während  der  Delegationstagung 
durch    Arbeiten    überaus    in   Anspruch    genommen 

sind  —  —  klaglos  verköstigt  werden  können 

mit  dieser  Angelegenheit  betraut ein  Hotelier  in 

der  Nähe  des  Ministeriums  sich  bereit  erklärt  hat  —  — 
kriegsmäßigen  Mittags-  und  Abendtisch  —  —  vorzusorgen  —  — 
Nachrichten,  daß  Wiener  Hotelbesitzer  und  Gastwirte  a  n  d  i  e 
Verpflegung  der  Herrn  Delegierten  selbst  irgend 
welche  Bedingung  geknüpft  hätten,  auf  Unrichtigkeit  —  —  von 
einem  Mitbringen  von  Lebensmitteln  aus  Ungarn  ist  mir  nichts 
bekannt  —  —  für  ein  Büfett  im  Ungarischen  Hause  Vorsorge 
getroffen  sein,  dessen  Beistellung  ein  Wiener  Restaurateur  zuge- 
sagt hat. 

Eigentlich  wäre  es  die  Angelegenheit  der  ungarischen 
Delegationsmitglieder  gewesen,  rechtzeitig,  nämlich  schon  im 
Juli  1914,  Vorsorge  zu  treffen. 


—  180  — 


Es  ist  alles  da,  es  ist  nicht  so  wie  bei  arme  Leute 

Das  Wolffsche  Büro  meldet:  Die  englischen  Zeitungen  verbreiten 
seit  einiger  Zeit  wieder  einmal  allerlei  Mitteilungen  über  den  angeblich 
schlechten  Ernährungszustand  der  deutschen  Bevölkerung  .... 
Es  spricht  nicht  gerade  für  die  große  Kriegs- 
freudigkeit unter  dem  englischen  Volke,  wenn  seine 
Stimmung  immer  wieder  durch  die  Verbreitung 
solcher  Nachrichten  gehoben  werden  muß,  die 
allesamt  mit  den  Tatsachen  in  direktem  Wider- 
spruch stehen.  So  ergab  eine  soeben  abgehaltene  Rundfrage 
bei  sechstausend  größeren  deutschen  Krankenkassen,  daß  die 
Erkrankungen  unter  den  Versicherten,  bei  Männern  wie  bei 
Frauen,  in  ständigem  Rückgang  begriffen  sind. 
Ärztlicherseits  wurde  dabei  ausdrücklich  die  Bekömmlichkeit 
der  gegenwärtigen  Kriegskost  festgestellt  .  .  .  Der 
Ärzteausschuß  für  Groß-Berlin  insbesondere  hat  festgestellt,  daß 
die  einfache  Lebensweise  im  Kriege  für  viele 
Personen  direkt  gesundheitsfördernde  Wirkun- 
gen hatte,  weil  jetzt  jeder,  auch  der  Wohlhabende,  in  der 
Aufnahme  von  Eiweißkörpern  und  Fett  und  im 
Genuß  von  Spirituosen,  Tabak  und  sonstigen  anregenden  Mitteln 
enthaltsamer  leben  muß.  Infolgedessen  ist  auch  die  Sterb- 
lichkeit in  den  unbemittelten  Kreisen  Berlins  nicht  größer 
als  in  den  bemittelten.  Im  allgemeinen  sind  nach  den 
ärztlichen  Feststellungen  die  Krankenhäuser  im  Kriege 
weit  weniger  belegt  als  in  Friedenszeiten.  Stoff- 
-^echselerkrankungen,  wie  die  Zuckerruhr,  gehen  in  den  meisten 
Fällen  zurück  oder  schwinden  völlig.  Auch  die  nahe- 
liegende Befürchtung,  daß  die  Kriegskost  für  die  Jugend  nach- 
teilige Folgen  haben  werde,  hat  sich  glücklicherweise 
nicht  erfüllt.  Durch  eine  Rundfrage  bei  Schulärzten  wurde 
festgestellt,  daß  eine  gesundheitliche  Schädigung  bei 
den  Kindern  nicht  eingetreten  ist.  Für  Säuglinge 
insbesondere  wird  in  völlig  ausreichender  und 
vorbildlicher   Weise   gesorgt  .  .  . 

Ach,  wenn  es  doch  immer  so  bliebe!  Oder:  Das  war 
eine  herrliche  Zeit!  Oder  wie  sagt  doch  Alletter  (Schöpfer 
des  »Obu«)?  So  ähnlich  wie:  Ach  könnt'  ich  noch  einmal  so 
leben!  Aber  wahr  ist  und  bleibt,  daß  es  nicht  gerade  für  die 
Kriegsfreudigkeit  unter  dem  englischen  Volke  spricht,  wenn 
seine  Stimmung  immer  wieder  durch  die  Verbreitung  solcher 
Nachrichten    gehoben  werden  muß,   die  allesamt   mit  den  Tat- 


—  181  — 

Sachen  in  direktem  Widerspruch  stehen.  Wie  z.  B.,  daß  es  den 
Deutschen  schlecht  geht  und  den  Engländern  gut.  Wie  es  mit 
London  in  dem  Punkt  steht,  ist  unbekannt,  aber  sicher  ist,  daß 
heute  die  Sterblichkeit  in  den  unbemittelten  Kreisen  Berlins 
nicht  größer  ist  als  in  den  bemittelten. 


Ein  Vorschlag  zur  Güte 

Der  Dichter  Emil  Ertl,  einer  der  tüchtigsten  Staackmänner, 
schlägt  vor,  die  siebente  Kriegsanleihe  —  die  achte  war 
damals  noch  nicht  —  »Wahrheitsanleihe«  zu  nennen. 

Weil  unser  Sieg  der  Wahrheit  endlich  doch  zu  ihrem 
Rechte  verhelfen  muß  und  wird!  Weil  die  Bedingung  erfolgreicher 
Friedensverhandlungen  die  Wahrheit  sein  muß,  nämlich:  amtliche 
Richtigstellung  aller  Lügen  und  Verleumdungen,  mit  denen 
unwürdige  Machthaber  und  Zeitungsschreiber 
der  Ententeländer  ihre  eigenen  Völker  und  die  Welt  betrogen, 
vergiftet  und  mißleitet  haben  .... 


Lügen  der  Entente 

Lynchjustiz  an,  einer  Kartoffelkäuferin. 
Wien,  28.  Juni.  In  Stammersdorf  bei  Wien  wurde  gestern 
eine  bisher  unbekannte  Frau,  die  dort  Kartoffeln  gekauft  hatte,  von 
anderen,  aus  Wien  gekommenen  Personen,  die  nichts  mehr  bekommen 
hatten,  überfallen  und  erschlagen.  Die  Leiche  wurde  fürchterlich 
zugerichtet,  da  die  Leute  auf  ihr  herumtraten. 

Kinder  als  Leichenträger. 
In  Raudnig  in  der  Aussiger  Gegend  ereignete  sich  der  Fall,  daß 
zwei  Kinder  den  Sarg  mit  der  Leiche  eines  verstorbenen  Kindes  zum 
Friedhof  trugen.  Der  Vater  eingerückt,  die  Mutter  krank,  blieben  nur 
Kinder  zur  Fortschaffung  auf  den  Friedhof  übrig.  Auf  dem  Wege 
ließen  sie  den  Sarg  fallen  und  Leiche  und  Zubehör  rollten  in  das 
anstoßende  Rübenfeld.  Die  Kinder  schleppten  beides  wieder  zum  Sarge 
und  setzten  dann  ihren  Weg  fort. 


182 


Ausbau  und  Vertiefung 

schwirrten  an  einem  Tage  so  durch  die  Kolumnen,   daß  diese 
Nachbarschaft  sich  einstellen  mußte: 

Erst  die  Zukunft  wird  uns  die  Bedeutung  dieser 
Stunde  voll  und  ganz  würdigen  lassen.  In  dieser  letzten 
Stunde  der  Monarchenbegegnung  fühlten  aber  alle  Zeugen  dieses 
historischen  Ereignisses,  daß  der  Bund  zwischen  beiden  Mittelmächten, 
deren  Monarchen  hier  Seite  an  Seite  standen,  in  des  Wortes  vollster 
Bedeutung  vertieft  worden  ist. 

Neuerliche  Verschlechterung  der  Wohnungsverhältnisse  Wiens. 
Und  nun  ging  es  Spalte  an  Spalte: 

Neuerliche  Erhöhung  der  Milchpreise  in  Wien. 
Herabsetzung  der  Brotration  in  Deutschland  von  Mitte  Juni  an. 

Ob  Ausbau  Herabsetzung  und  also  Vertiefung  Erhöhung 
bedeutet,  ließ  sich  in  dem  Chaos  nicht  unterscheiden. 


Ah   da  schau  i  ja 

8.  Juni  1918: 

Ob  sich  diese  Erwartung  erfüllen  wird,  mag  dahingestellt 

bleiben.  Aber  sicher  ist,  daß  die  wirtschaftlichen  Verhältnisse  Jedes 
Einzelnen  in  England  unter  dem  Drucke  des  Unterseebootkrieges 
sind,  wenn  es  auch  gelungen  sein  mag,  den  Nahrungsmangel  bisher 
zu  begrenzen,  durch  eine  kluge  Preispolitik  solche  Ausschreitungen, 
wie  sie  Österreich  zerrütten  und  olrne  Notwendigkeit  herunterbringen, 
zu  verhüten  und  auch  die  Verbindung  mit  der  Armee  in  Frankreich 
aufrechtzuerhalten. 


Die  Bahn  des  Lasters 

Und  so  ist  es  denn  kein  Wunder,  daß  sich  in  Mürzzuschlag 

der    Fall    ereignete,    daß    ein    ganzer    Waggon    Tabak    ausgeplündert 
wurde. Stand    nämlich    in    genannter  Station  ein  Güterzug,  in 


183  — 


dem  auch  ein  Waggon  mit  der  Aufschrift  »Tabake  einrangiert  war. 
Ein  Personenzug  rollte  ein  und  blieb  stehen.  Mehrere  Fahrgäste 
bemerkten  die  lockende  Aufschrift,  eilten  zu  dem  Waggon,  öffneten 
ihn  und  begannen  ihn  auszuräumen.  Böses  Beispiel  verdirbt  gute 
Sitten!  Kaum  war  die  Öffnung  des  Waggons  bemerkt  worden,  als 
von  allen  Seiten  Bahnbedienstete,  Arbeiter,  selbst  Frauen  und  Kinder 
herbeieilten  und  sich  förmlich  um  den  Tabak  rauften.  Und  als  endlich 
Polizeiorgane  einschreiten  wollten,  war  der  Waggon  schon  längst 
leer  —  —  Aus  diesem  Grunde  heraus  sind  alle  die  unzähligen  Post- 
und  Bahnhofsdiebstähle  zu  erklären.  Die  stete  Besorgnis  vor  dem 
drohenden  Hungergespenst  läßt  die  Leute  alle  Besinnung  verlieren, 
ihr  Rechtsbewußtsein  wird  gelockert,  und  haben  sie  einmal 
diese  Bahn  beschritten,  so  weichen  sie  von  ihr  nicht 
mehr  ab. 

Und  was  sie  einmal  haben,  das  genießen  sie  dann  auch 
in  vollen  Zügen. 


Ein  Blick  in  die  Zukunft 

[Die  neuen  Bestimmungen  bezüglich  des  Eisenbahngepäcks.] 
Wir  erhalten  folgende  Zuschrift:  —  —  Es  werden  sich  die 
widerlichsten  Szenen  im  Gepäcksraum  abspielen.  .  .  . 

Mir  scheint,  die  neuen  Bestimmungen  bezüglich  des 
Eisenbahngepäcks  hats  immer  schon  gegeben. 


Eine  Überschrift 

Von  allen  Überschriften,  die  dieser  Krieg  gebracht  hat,  war 
doch  die  schönste,  die  mich  jetzt  aus  einem  vergilbten  Ausschnitt 
anlächelt.  In  den  Vereinigten  Staaten  war  die  Präsidentenwahl 
noch  unentschieden.  Da  packte  das  Neue  Wiener  Journal  die 
Situation  zu  balkendicken  Lettern  zusammen: 

Beispielloses  Chaos  in  Amerika. 


—  184 


Das  verjüngte  Österreich 


Das  Wunder  dieser  Stunden  vor  dem  Kehraus 
ist  die  scheinbare  Unveränderlichkeit  einer  Lebens- 
form, die  sich  auf  dauernden  Bestand  eingerichtet 
hat  und  vorbei  an  der  nur  in  Druckerschwärze  erlebten 
Kriegshölle,  vorbei  an  Lues  und  Läusen  aus  einer 
Friedenswelt  in  eine  Friedenswelt  herüberzuleben 
hofft.  Wäre,  wenn's  mit  rechten  Dingen  zuginge, 
die  seit  jeher  fühlbare  Erscheinung,  daß  nur  Schwach- 
köpfe und  Windbeutel  das  öffentliche  Interesse  okku- 
pieren, in  solcher  Verdickung  derzeit  möglich  ?  Wäre  es 
denkbar,  daß  hinter  der  Realität  von  Tanks,  Flammen- 
werfern, Minen  und  Grünkreuzgranaten  solch  ein 
Gekröse  im  Nebel  der  Redensarten  fortwuchern  könnte 
und  die  Frechheit  hätte,  von  »geistigen  Waffen« 
zu  reden?  Daß  die  zweibeinigen  Phrasen  es  wagen 
würden,  unsern  tausendmal  erlebten  Überdruß  so 
schamlos  zu  ignorieren  und  als  Entschädigung  für 
allen  tragischen  Verlust  dieser  Zeiten,  für  den 
organisierten  Raub  an  Gut  und  Blut,  für  den  gott- 
losen Eingriff  in  Glück  und  Leben  und  alle  Schicksals- 
und Schöpferrechte  sich  selbst  uns  anzubieten,  ihr 
Nichts,  ihr  Minus,  das,  an  unser  Dasein  angehängt, 
es  bankerott  macht?  Die  Qual  der  Sicherheit,  im 
täglichen  Zeitungsblatt  die  Anwesenheit  dieser 
Konkursmasse  festzustellen,  den  täglich  überbotenen 
Exaltationen  dieser  von  Fibelromantik*  geblähten 
Saldokontowelt,  diesem  Gefühlsbarock  einer  aus- 
gearteten Mechanik  beizuwohnen,  ist  wahrlich  ein 
grausameres  Verhängnis  als  alle  Schmach,   die  die 


185  — 


infamste  aller  Zeiten  den  Körpern  angetan  hat. 
Hunger  ist  nichts  neben  dem  Erdulden  der  Vor- 
stellung, daß  gleichzeitig  an  Tafeln  so  etwas  von 
so  etwas  gesprochen  wurde  und  daß  es  Ohren  gibt, 
die  es  gehört  haben.  Kam  es  aus  Mündern?  Sind 
diese  Menschen  wie  wir  geschaffen?  Den  Magen 
haben  sie,  wo  wir  das  Herz  haben.  Kein  Zwerchfell 
scheidet  ihr  Oben  und  Unten,  darum  erschüttert  sie  kein 
Gelächter  über  sich  selbst.  Wer  aber,  der  lachen  könnte, 
wo  ein  Treubund  zum  Vorwand  für  Nachtmähler 
dient,  vermöchte  das  Erlebnis  dieser  reichsdeutschen 
Kollegenwoche,  diese  Orgie  einer  Verlogenheit,  die 
die  Welt  noch  immer  für  ein  mit  Butzenscheiben 
verziertes  Warenhaus  ansieht,  nachzuschildern?  Die 
grauenvolle  Zuversicht  einer  Taubheit,  die  keine 
Stummheit  ist,  und  einer  Blindheit,  die  den  Ascher- 
mittwoch des  tragischen  Karnevals  nicht  herankommen 
sieht,  das  Lallen  eines  Optimismus,  der  die  Menschheit 
ringsherum  für  so  verblödet  hält  wie  ihre  Wortführer,  das 
unbewegte  Anbieten  desselben  falschen  Papiers,  das 
Ehre,  Vorsicht  und  der  Ekel  an  solchen  Versuchen 
hundertmal  abgelehnt  haben,  diese  unerschrockene 
Belästigung  einer  Menschenwürde,  die  sich  mit  den 
Händen  nur  die  Ohren  zuhält,  weil  sie  noch  nicht  die 
Kurage  hat  loszuhaun  —  wer,  der  Nerven  hatte,  es  zu 
überstehn,  hätte  die  Kraft  es  abzubilden?  Nein,  es  ist  das 
Wunder  dieser  Stunden,  daß  die  Larven  und  Lemuren, 
daß  die  längst  Toten,  denen  wir  den  Untergang 
verdanken,  ihm  mit  zuversichtlichen  Mienen  assistieren 
können,  ja  daß  sie,  von  keiner  Hohnfalte  des  Schicksals 
oder  der  Satire  in  ihr  Nichts  gescheucht,  uns  eine 
verschönte  Welt,  eine  erhebende  Zeit,  ja  ein  »ver- 
jüngtes Österreich«  vorzuspiegeln  wagen.  Und  für  den 
unwahrscheinlichen  Fall,  daß  die  Zukunft  dieser  Welt 
und  dieses  Staates  noch  einige  Aufnahmsfähigkeit 
für  die  Möglichkeiten  der  Gegenwart  übrig  haben 
wird,    sei  ihr  der  Trinkspruch,    den   der  Führer  des 


—  186  — 


geistigen  Wien,  ein  ehemaliger  Börsenjournalist,  vor 
den  Vertretern  des  geistigen  Berlin  gehalten  hat, 
aufbewahrt: 

Betrachte  ich  die  Versammlung,  so  entrollt  sich  mir  ein 
er  heb  e  n  de  s  Bild.  Vor  meinem  geistigen  Auge  schweben 
die  Genien  der  Freundschaft  und  der  Treue.  Der 
Bund,  der  vor  mehr  als  40  Jahren  geschlossen  wurde  zur  Abwehr 
habgieriger  Feinde  und  zur  Verteidigung  unseres  Seins,  der 
Bund,  um  den  der  fürchterliche  Weltbrand  wütet,  hat  die  Feuer- 
probe bestanden.  Das  Herzblut  des  Volkes  hat  den  Bund 
besiegelt.  Treue  und  Freundschaft  den  Bürgen  und  Zahlern. 
Rückhaltlos  haben  die  beiden  erlauchten  Herrscher,  die  jetzt  mit 
Krone  und  Zepter  beliehen  sind,  den  Bund  als  heiliges  Erbe 
übernommen,  in  Treue  gehütet  und  mit  dem  Volk  in  Waffen 
unerschüttert  aufrechterhalten.  Den  beiden  Fürsten,  die  den  Willen 
und  die  Stärke  des  Volkes,  dessen  volles  Empfinden  und  friedfertiges 
Sehnen  verkörpern,  den  Trägern  der  staatlichen  Machtfülle,  bringen 
die  Männer,  die  den  Pulsschlag  der  öffentlichen 
Meinung  hören,  bringen  alle,  die  hier  im  Saale  vereinigt  sind, 
in  geziemender  Ehrerbietung  ihre  Huldigung  dar. 

Um  dem  Ausdruck  zu  geben,  gestatten  Sie,  daß  ich  Sie  einlade, 
ein  dreifaches  Hoch  auf  Se.  Majestät  Kaiser  Wilhelm  II.  und 
Se.  Majestät  Kaiser  Karl  I.  auszubringen.  Hoch!  Hoch!  Hoch! 
Freundschaft  und  Treue,  wiederhole  ich,  geben  der  heutigen 
Festversammlung  das  Gepräge.  Sendboten  unserer  treuesten 
Freunde  sitzen  an  der  heutigen  Tafel.  Ich  grüße  die  Herolde, 
die  mit  der  geistigen  Waffe  für  den  Treubund  kämpften,  ich 
grüße  die  Abgesandten,  ich  kann  sagen,  die  außerordent- 
lichen Gesandten  der  reichsdeutschen  Presse,  w</nn  Sie 
wollen,  des  deutschen  Volkes. 

Aus  der  mächtig  und  prächtig  aufgestiegenen  Metropole 
und  aus  anderen  uns  trauten,  blühenden  Städten  des  deutschen 
Reiches,  aus  München,  Frankfurt,  Hamburg  und  Königsberg  sind  Sie  nach 
Wien,  in  die  altehrwürdige  Stadt  an  der  Donau, 
gekommen.  >Deutsch  ist  der  Strom,  er  brauste  schon  im  Lied  der 
Nibelungen«,  so  rief  Anastasius  Grün  den  Nord-  und  Süddeutschen 
zu,  die  im  Jahre  1868  zum  Schützenfeste  sich  in  Wien  eingefunden 
hatten.  Auf  deutschem  Boden,  wo  das  deutsche  Lied 
dem  deutschen  Herzen  klingt,  heiße  ich  Sie,  meine  liehen 
Kameraden,  von  ganzem  Herzen  willkommen.  ...  Es  ist  eil  bis  in 
die  ältesten  Zeiten  reichender  schöner  Brauch,  daß  Gesandte  mit 
allem  erdenklichen  Prunk  und  Ghtnz  empfangen  werden.  Diesen 
Prunk  und  Glanz  bieten  uns  die  hohen  Staats- 
würdenträger und  die  vielen  anderen  illustren  Persön- 
lichkeiten, die  unserer  Einladung  Folge  zu  leisten  die  Güte  hatten. 


—  187  — 


Aus  Freundschaft  und  Treue  quellen  Anerkennung  und  Dank- 
barkeit. Wenn  die  motdenden  und  sengenden  Ein- 
dringlinge vertrieben  sind  und  wenn  kaum  ein  Stückchen  unseres 
heimatlichen  Bodens  von  Feinden  besetzt  ist,  wenn  wir  bei  aller 
Entbehrung  und  Entsagung,  die  ja  auch  unsere  Wider- 
sacher bedrängen,  in  hoffnungsvoller  Stimmung 
am  häuslichen  Herde  sitzen  dürfen,  so  danken  wir  dies  den 
tapferen  Soldaten,  die  mit  ihren  Leibern  einen 
unüberwindlichen  Wall  um  uns  bilden,  und  den 
ruhmreichen  Feldherren,  die  an  der  Spitze  unserer  Armeen 
stehen.   .  .   . 

.  .  .  Das  Bleibende  »in  der  Erscheinungen  Fluchte  ist  die 
Presse.  Ich  sage  nicht  ider  ruhende  Pol«,  denfl  die  Presse 
ist  ruhelos,  in  fortwährender  Bewegung,  sie  ist  das  Perpetuum 
mobile.  .  .  . 

Wir,  meine  lieben  Kameraden  aus  dem  Deutschen  Reiche,  sind 
zu  jeder  Stunde  für  den  Treubund  eingestanden,  alle,  ohne 
Unterschied  der  Parteien.  .  .   . 

Lassen  Sie  mich  mit  einigen  Versen  aus  dem  Bundesliede 
schließen,  das  Ernst  Moritz  Arndt  vor  mehr  als  hundert  Jahren 
ertönen  ließ: 

Es  lebe  alte  deutsche  Treue, 

Es  lebe  deutscher  Glaube  hoch ! 

Mit  diesen  wollen  wir  bestehen, 

S  i  e  sind  des  Bundes  Schild  und  Hort. 

Fürwahr,  es  muß  die  Welt  vergehen, 

Vergeht  das  feste  Männerwort.  .  .  . 

Ich  erhebe  mein  Glas  auf  die  unerschütterliche,  unverbrüch- 
liche Einigkeit  der  bundestreuen  Presse  im  Deutschen  Reiche 
und  in  Österreich-Ungarn    Hoch!  hochl  hoch! 


—  188 


Die  Gerüchte 

In  Wien  waren  Gerüchte  verbreitet,  daß  in  ganz  Österreich 
Gerüchte  verbreitet  seien,  es  seien  in  Wien  Gerüchte  verbreitet, 
mehr  wurde  über  das  Wesen  der  Gerüchte  nicht  gesagt,  als 
daß  das  Wesen  der  Gerüchte  eben  darin  bestehe,  daß  man  es  nicht 
sagen  könne,  man  war  nur  auf  Gerüchte  angewiesen,  um 
überhaupt  herauszubekommen,  was  es  für  Gerüchte  eigentlich 
seien,  und  so  gingen  denn  in  ganz  Österreich  Gerüchte  von 
Mund  zu  Mund,  die  nichts  geringeres  besagen  wollten,  als  daß  in 
Wien  Gerüchte  verbleitet  seien,  es  seien  in  ganz  Österreich 
Gerüchte  verbreitet.  Dazu  kam  allerdings  noch  ein  konkreter 
Umstand,  der  den  Gerüchten  die  sonst  meistens  vermißte  Nahrung 
gab,  nämlich  die  Verlautbarung  der  österreichischen  Regierung, 
welche  feststellte,  daß  Gerüchte  verbreitet  seien,  die  ausdrückliche 
Warnung  enthielt,  sie  zu  glauben  oder  zu  verbreiten  und  die 
Aufforderung,  sich  an  deren  Unterdrückung  tunlichst  auf  das 
energischeste  zu  beteiligen.  Hiezu  kam  noch  eine  ganz  gleich- 
lautende Erklärung  der  ungarischen  Regierung,  welche  davon 
ausging,  daß  die  Gerüchte  auch  in  Budapest  und  in  ganz  Ungarn 
verbreitet  seien,  ohne  daß  man  freilich  auch  dort  mehr  wußte, 
als  daß  Gerüchte  verbreitet  seien,  was  bald  ein  jeder  Mensch 
in  Ungarn  wie  in  Österreich  gerüchtweise  erfahren  hatte.  Auch 
dort  ergab  sich  ganz  wie  hier  für  die  Bevölkerung  die  loyale 
Pflicht,  den  Gerüchten  tunlichst  auf  das  energischeste  entgegen- 
zutreten, was  sich  auch  jedermann  zu  Herzen  nahm  und  dergestalt 
ausführte,  daß  einer  den  andern  fragte,  ob  er  schon  von  den 
Gerüchten  gehört  habe,  und  wenn  dies  verneint  wurde,  ihn  bat, 
sie  nicht  zu  glauben,  sondern  ihnen  erforderlichenfalls  tunlichst  auf 
das  energischeste  entgegenzutreten.  Diese  Prozedur  wurde  aber 
namentlich  in  der  diesseitigen  Territorialhälfte  der  Gerüchte  mit 
besonderer  Energie  durchgeführt.  Zuerst  erfolgte  eine  feierliche 
Eröffnung  der  Gerüchte,  indem  nämlich  die  Abgeordneten 
Teufel,  Pantz  und  Waldner,    von   denen   jeder  einzelne  nur  ein 


—  189     - 

Drittel  ist  und  die  deshalb  nur  zusammen  ausgehen,  beim 
Ministerpräsidenten  Dr.  von  Seidler  erschienen,  um  ihn  auf  die 
seit  einigen  Tagen  in  Umlauf  befindlichen  Gerüchte  aufmerksam 
zu  machen.  Dr.  v.  Seid ler  gab  zur  Antwort,  daß  ihm  die  in 
Frage  stehenden  und  im  Umlauf  befindlichen  Gerüchte  wohl 
bekannt  seien.  Bei  dieser  Gelegenheit  erfuhr  man  zum  ersten- 
mal, daß  die  Gerüchte  das  angestammte  Herrscherhaus  betreffen 
und  daß  die  Verbreiter  der  Gerüchte  den  Glauben  der 
Bevölkerung  an  dasselbe  vergiften  wollten.  Der  Ministerpräsident 
beteuerte,  daß  diese  Gerüchte  unwahr  seien,  was  aber  die 
Abgeordneten  Teufel,  Pantz  und  Waldner  schon  wußten  und  was 
sich  nach  dem  §  63  bezw.  §  64,  die  ja  keinen  Wahrheitsbeweis 
zulassen,  von  selbst  versteht,  so  daß  eigentlich  der  Dr.  v.  Seidler, 
der  sich  für  die  Unwahrheit  der  Gerüchte  >verbürgt<  hat,  gegen 
diese  Paragraphen,  die  schon  die  Möglichkeit  eines  solchen 
Gedankens  ahnden,  verstoßen  hat.  Kein  vernünftiger  Mensch,  meinte 
der  Ministerpräsident,  werde  an  derartigen  Unsinn  glauben.  Trotz- 
dem trat  er  ihm  auf  das  energischeste  entgegen  und  vergaß  nur  zu 
erwähnen,  daß  Unvernunft  hier  geradezu  ein  Verbrechensmerkmal 
ist,  indem  das  Gesetz  vom  Staatsbürger  nicht  so  sehr  Vernunft  als 
Ehrfurcht  verlangt.  Interessante  Aufschlüsse  gab  er  jedoch,  und 
mit  ihm  der  ungarische  Ministerpräsident,  über  die  Provenienz 
der  Gerüchte.  Schon  in  der  offiziellen  Verlautbarung  waren  die 
Gerüchte  verzeichnet  worden,  daß  die  Gerüchte  »im  Frieden 
jeweils  von  einer  einzigen  phantasievollen  Persönlichkeit  aus- 
gingen und  es  lange  Zeit  währte,  bis  sie  breitere  Massen  erfaßten <; 
anders  jetzt.  Dasselbe  Gerücht  sei  »zur  Ursprungszeit  jedesmal 
an  ganz  verschiedeneu  Stellen  gleichzeitig  zu  vernehmen,  weshalb 
die  Annahme  gerechtfertigt  sei,  daß  man  es  mit  einer  Organisation 
der  Gerüchte  zu  tun  habe«.  Das  war  ungemein  spannend  und 
es  fehlte  nur  noch  eine  Andeutung  darüber,  ob  die  Gleichzeitigkeit 
der  Verbreitung  desselben  Gerüchtes  durch  Lokalaugenschein, 
Gehörproben  oder  dergleichen  erhoben  wurde.  Seidler  sowohl 
wie  Wekerle  zogen  aus  den  gemachten  Wahrnehmungen  den 
Schluß,  daß  die  Verbreitung  der  Gerüchte  »ein  neues  Zeichen 
der  aus  den  Reihen  unserer  Feinde  kommenden  Versuche«  sei, 
Verwirrung    zu    stiften;    sie   gehöre    »in    das   Arsenal    unserer 


190 


Gegner«,  die  keine  Mittel  scheuen,  um  das  Qefüge  der  Monarchie 
zu  erschüttern   sowie  die  Bande  der   Liebe   und  Verehrung  zu 
lockern.  Diese  Vermutung  beruht  indes  ganz  bestimmt  auf  einem 
übertriebenen    Gerücht,    das    zur   Ursprungszeit    gleichzeitig  in 
Wien  und  in  Budapest  zu  vernehmen  war,  weshalb  die  Annahme 
gerechtfertigt  ist,  daß  man  es  mit  einer  Organisation  zu  tun  hat 
Ich  speziell  habe  schon  des  öfteren  der  Überzeugung  Ausdruck 
gegeben,    daß   die   Lügen   der  Entente   im   allgemeinen   lange 
nicht   so   gefährlich  sind   wie   unsere  Wahrheiten   und  daß  sie 
deshalb  bei   weitem  nicht  so  viel  Verwirrung  anrichten  können. 
Wenn   wir   den   vierjährigen    Lügenfeldzug    der   Entente    Über- 
blicken, so  müssen  wir  so  wahrheitsliebend  sein,  zuzugeben,  daß 
die  Lügen  der  Feindespresse  über  unsere  Zustände  dort,   wo  sie 
nicht  geradezu   die  Übersetzung  unserer   Fakten   waren,   diesen 
höchstens  um  ein  paar  Tage,  Wochen,  sagen  wir  Monate  voraus- 
geeilt sind.  Kein  Redakteur  des  ,Figaro'  wird  für  seine  schaden- 
frohen,  sich  am  fremden  Hunger  mästenden  Leser  Schlimmeres 
über    unsere   Ernährungsverhältnisse    erfinden   können,   als   der 
Bürgermeister  von  Wien  dem  Grafen  Czernin  nach  seiner  Heim- 
kehr  vom  abgeschlossenen  Brotfrieden  gesagt  hat,  und  wenn  in 
der  ganzen   feindlichen  Welt  als   die  erste  Tat  der  Northcliffe- 
Propaganda   eine   allerdings  grauenhafte,   auf   den   ersten  Blick 
verleumderische    Darstellung    des   deutschen  Fliegerwesens    ver- 
breitet wurde,  so  darf  man  anderseits  nicht  übersehen,  daß  es  sich 
um   eine  wörtliche  Übersetzung   der   Schrift  des  Freiherrn  von 
Richthofen  gehandelt  hat.  Ich  habe  schon  oft  gesagt,  daß  sich  statt 
eines  Einfuhrverbots  der  feindlichen  Literatur  ein  Ausfuhrverbot 
der  vaterländischen  sehr  empfehlen  würde,  weil  dann  die  Lügen 
der  Feinde,  die  heute  bloß  wir  nicht  zu  lesen  kriegen,  auch  im 
Auslande  nicht  verbreitet  wären.  Was  nun  die  Gerüchte  betrifft, 
so  hegt  es  mir  mindestens   so  fern  wie  dem  Dr.  v.  Seidler,   sie 
in  die  Kategorie  jener  Wahrheiten  zu  stellen,  die  wir  uns  selbst 
verdient    haben,    und    ich   wäre   sogar    bereit,   wenn    ich    eine 
Ahnung  hätte,  was  es  für  Gerüchte  sind,  ihnen  tunlichst  auf  das 
energischeste  engegenzutreten.    Das  einzige,   was  ich  von  ihnen 
sicher  weiß,  ist,  daß  sie  zwar  Lügen  enthalten,   aber  solche,  die 
ganz   wie  die  Wahrheiten,   die   uns  als  Lügen  vorkommen,    bei 


—  191 


uns  selbst  gewachsen  sind  und  nicht  im  Arsenal  der  Entente, 
sondern  in  der  alldeutschen  Presse  hergestellt  wurden.  Dies  ist 
denn  auch  der  einzige  Anhaltspunkt,  den  ich  habe,  um  mir 
vom  Wesen  der  Gerüchte  eine  Vorstellung  machen  zu  können. » 
Zum  Wesen  ihrer  Erfinder  gehört  es  sicherlich,  sie  vorsichtig 
der  Entente  zuzuschieben,  was  immerhin  der  bessere  Teil  der 
Tapferkeit  ist,  da  ohne  die  Ablenkung  durch  den  Ruf  > Haltet 
den  Verleumder!«  möglicherweise  dessen  Feststellung  erfolgt 
wäre.  Gerüchte  haben  nun  nicht  nur  die  Eigenschaft,  daß  sie 
sich  wie  ein  Lauffeuer  verbreiten,  sondern  daß  sogar  noch  die 
Löschaktion  zur  Verbreitung  beiträgt,  und  es  ist  immerhin  die 
Frage  möglich,  ob  die  Verwirrung,  die  die  Feinde  bei  uns  zu 
allem  Überfluß  stiften  wollten,  nicht  eher  durch  geheimnisvolle 
Andeutungen  über  solche  Absichten  herbeigeführt  wird.  Denn 
es  ist  eine  Erfahrung,  daß  in  einem  ohnedies  schon  aufgeregten 
Publikum  durch  die  plötzliche  Versicherung,  es  liege  gar 
kein  Grund  zur  Beunruhigung  vor,  diese  gern  entsteht  und 
daß  der  Ausruf  »Es  brennt  —  nicht!«  eine  panikartige 
Wirkung  hat,  in  deren  Rauch  die  Negation  erstickt.  Ferner 
ist  zu  bemerken,  daß  Gerüchte  noch  mehr  als  die  Katastrophen, 
auf  die  sie  hinzielen,  dem  Gesetz  der  Serie  unterworfen  sind. 
Denn  kaum  hatte  der  Dr.  v.  Seidler  sich  gegen  sie  gewendet, 
so  wurde  alles  was  er  tat  zum  Gerücht.  Er  hatte  das  Malheur, 
eine  nächtliche  Konferenz  der  Parteiführer  einzuberufen,  die  gar 
keinen  und  darum  auch  keinen  geheimnisvollen  Zweck  hatte, 
wohl  aber  die  Folge,  daß  sofort  »die  verschiedenartigsten,  ganz 
abenteuerlichen  Gerüchte  verbreitet«  waren,  denen  er  neuerdings 
auf  das  energischeste  engegentreten  mußte.  Man  wird  dereinst 
von  ihm  sagen  können,  daß  er,  ohne  die  Kolportage  in  Österreich 
freigegeben  zu  haben,  doch  viel  zur  Förderung  jener  Literatur 
beigetragen  hat,  der  sie  hauptsächlich  zugutegekommen  wäre. 
Kein  Tag  ohne  Gerüchte.  Da  geschah  es  zum  Beispiel,  daß  »in 
Paris  und  Rom  Gerüchte  über  einen  Wechsel  in  höheren 
Kommandostellen  der  österreichisch-ungarischen  Armee  verbreitet« 
wurden,  gegen  die  aber,  damit  sie  nicht  auch  bei  uns  eindringen, 
rechtzeitig  in  einer  amtlichen  Erklärung  auf  das  energischeste 
eingeschritten  wurde,  in  welcher  dargelegt  war,  es  handle  sich  um 


192 


eine  Stimmungsmache  der  Entente,  um  ein  Manöver  unserer 
Gegner,  die,  wie  schon  der  Ministerpräsident  jüngst  betont 
habe,  »kein  Mittel  scheuen,  um  das  Gefüge  der  Monarchie  zu 
•erschüttern«.  In  diesem  Fall  gelang  es  tatsächlich,  das  Gerücht 
zum  Schweigen  zu  bringen,  ehe  es  zur  Wahrheit  wurde,  denn 
schon  ein  paar  Tage  später  war  die  feindliche  Lüge  mit  einer 
vaterländischen  Tatsache  identisch,  das  Manöver  beruhte  auf 
einem  strategischen  Rückzug,  und  die  Enthebung  des  Conrad  von 
Hötzendorf,  die  Ernennung  eines  neuen  Heeresgruppenkomman- 
danten und  eines  neuen  Armeekommandanten  wurde  amtlich 
gemeldet.  In  diesem  Falle  also  durfte  das  Publikum  erfahren,  was 
der  Inhalt  der  Gerüchte  sei,  war  aber  leider  nicht  mehr  in  der  Lage, 
ihnen  entgegenzutreten.  Was  die  anderen  Gerüchte  betrifft,  so 
wäre  es  immerhin  trostvoll,  wenn  das  Arsenal  unserer  Gegner 
nichts  anderes  enthielte  als  sie.  Aber  vielleicht  besteht  doch  die 
Hoffnung,  daß  es  seinen  Betrieb  nicht  später  als  die  alldeutsche 
Presse  den  ihren  einstellt.  Geschähe  wenigstens  das  letztere,  so 
wäre  der  Fall  gewiß  seltener  zu  verzeichnen,  daß  Gerüchte  nicht 
nur  als  Kriegsmittel,  sondern  sogar  als  Kriegsgrund  Verwendung 
finden.  Es  besteht  kern  Zweifel,  daß  die  Bomben,  die  auf 
Nürnberg  geworfen  wurden,  ehe  Deutschland  Frankreich  den 
Krieg  erklärte,  dem  Arsenal  der  Entente  entstammt  wären,  wenn 
nicht  die  Gerüchte,  daß  sie  auf  Nürnberg  geworfen  wurden,  dem 
Arsenal  der  alldeutschen  Kriegspropaganda  entstammt  wären. 
Seit  dem  Tage,  an  dem  diese  Gerüchte  verbreitet,  und  noch  lange, 
nachdem  sie  vom  Oberbürgermeisteramt  von  Nürnberg  dementiert 
waren,  sind  den  Gerüchten  Türen  und  Tore,  offene  Städte  und 
andere  Festungen  geöffnet,  und  gewiß  ist,  daß  durch  Gerüchte,  die 
ja  imstande  sind,  einen  Krieg  zu  stiften,  wenn's  diesen  einmal 
gibt,  auch  noch  Verwirrung  gestiftet  werden  kann.  Das  ist 
vornehmlich  in  Staaten  möglich,  deren  Lebensinhalt  die 
Organisation  ist  und  deren  Bürger  Maschinen  sind,  jeder  ein- 
zelne zum  Bollwerk  gegen  den  feindlichen  Siegeswillen  wie 
geschaffen.  Daß  gegen  solche  Anlagen  Versuche,  sie  zu  unter- 
minieren und  Verwirrung  zu  stiften,  unternommen  werden  mögen, 
ist  begreiflich  und  eine  Berufung  auf  die  feindliche  Absicht,  es 
durch    Gerüchte   zu    bewerkstelligen,    durchaus    sinnvoll.    Auf 


193 


Staaten  jedoch,  deren  Lebensinhalt  schon  in  Friedenszeiten  der 
Pallawatsch  war  und  deren  Angehörige  selbst  als  Gerüchte  umgehen, 
wären  solche  Machinationen  schwerlich  von  Einfluß.  Der  einzige 
Zustand,  der  hier,  wo  sich  keine  Talente  in  der  Stille  und  im  Strom 
der  Welt  keine  Charaktere,  sondern  Gruppen  bilden,  noch  gestiftet 
werden  könnte,  wäre  nicht  der  der  Verwirrung,  sondern  der  Ordnung. 
Aber  daß  der  Wunsch,  hier  Ordnung  zu  machen,  gerade  bei 
den  Feinden,  bestehe,  hat  noch  kein  Gerücht  und  nicht  einmal 
die  Beilage  der  .Leipziger  Neuesten  Nachrichten'  behauptet. 
Drum: 

Laßt  mich  der  Regierung  ein  Loblied  singen, 

damit  sich  die  Feinde  gehörig  giften. 

Denn  nimmermehr  wird  es  ihnen  gelingen, 

in  unseren  Reihen  Verwirrung  zu  stiften! 

Die  weise  Vorsicht  warnte  bei  Zeiten, 

Gerüchte  zu  glauben  und  zu  verbreiten. 

Sie  mahnte,  das  Unkraut  auszujäten 

und  den  Gerüchten  energisch  entgegenzutreten. 

Denn  solche  Gerüchte,  wie  sattsam  bekannt, 

sind  doch  eine  Mache  der  Entente. 

Hat  man  die  Quelle  nur,  den  Lauf 

hält  jeder  gleich  mit  Empörung  auf. 

So  riß  denn  jeder  sich  um  die  Ehre, 

daß  energisch  er  den  Gerüchten  wehre, 

und  jeder  fragte  jeden  empört, 

ob  er  schon  so  etwas  gehört, 

und  jeder  erwiderte  beklommen, 

daß  auch  er  schon  von  den  Gerüchten  vernommen, 

so  daß  keiner  im  Land  mehr  das  Faktum  bestreitet : 

Die  Feinde  haben  Gerüchte  verbreitet. 

Sie  im  Keim  zu  ersticken,  ist  keiner  faul 

und  jeder  steht  da  mit  offenem  Maul, 

zu  spucken  in  alle  Feindessuppen. 

Es  bilden  sich  schon  die  bekannten  Gruppen. 

Bald  gab  es  Gerüchte  ohne  Zahl 

und  jedes  schwoll  an  zur  Ohrenqual, 


—   194 


doch  niemand  wußte,  welches  der  Feind 

Verwirrung  zu  stiften  hatte  gemeint. 

Denn  solcher  Art  sind  seine  Schliche: 

ist  man  den  Gerüchten  auf  der  Spur, 

und  hat  man  sie  schon,  so  vermißt  man  nur 

noch  von  den  Gerüchten  das  eigentliche. 

Doch  jeder  schwört,  kriegt  er's  zu  fassen, 

es  sollte  ihm  ordentlich  Haare  lassen. 

Drum  ist  auch  jeder  mit  Recht  beflissen, 

was  man  nicht  sagen  darf,  doch  zu  wissen. 

Und  weit  und  breit  im  Publikum 

gab'  jeder  jedem  viel  darum, 

wenn  er  ihn  nicht  mehr  mit  Gerüchten  quälte, 

sondern  ihm  die  Gerüchte  erzählte. 

Und  es  erhob  sich  ein  großes  Geschrei, 

was  in  den  Gerüchten  enthalten  sei. 

Jedoch  sie  zu  glauben,  war  keiner  verleitet, 

denn  sie  waren  ja  doch  von  den  Feinden  verbreitet. 

Drum  eben  gab  es  ein  Fürchten  und  Flüchten 

vor  den  verbreiteten  Gerüchten, 

es  liefen  die  Männer,  die  Kinder,  die  Damen, 

sobald  nur  die  Gerüchte  kamen, 

und  alle  gelobten,  darüber  zu  wachen, 

um  einander  aufmerksam  zu  machen, 

und  den  Gerüchten  entgegen  aus  ihren  Betten 

sprangen  sie,  um  sich  davor  zu  retten, 

und  alles  rief  und  riet  und  rannte, 

bis  Stadt  und  Land  wie  ein  Lauffeuer  brannte. 

Nur  durchgehalten,  nur  durchgefrettet  — 

schon  ruft  eine  Stimme:  Alles  gerettet! 

Drum  sei  der  Regierung  ein  Loblied  gesungen, 
die  Feinde  aber  sollen  sich  giften. 
Denn  ihnen  ist  es  fürwahr  nicht  gelungen, 
in  unseren  Reihen  Verwirrung  zu  stiften! 


—  195 


Glossen 

Beobachtungen  in  Deutschland 

Die  Gerüchte  sind  dort  folgendermaßen  festgestellt  worden : 
».  .  .  Wir  stellen  sie  gleichzeitig  in  der  Schweiz,  in 
Holland  und  Dänemark  fest.  Von  dort  breiten  sie  sich  wellenartig 
über  ganz  Deutschland  aus  oder  aber  sie  tauchen  gleichzeitig, 
in  unsinnigen  Einzelheiten  übereinstimmend,  in  den  entlegensten 
Gegenden  unserer  Heimat  auf  und  nehmen  von  da  aus 
ihren  Weg  über  das  ganze  übrige  Heimatsgebiet.« 


Verräter 

Hindenburg: 

.  .  .  Und  schließlich  verwendet  der  Feind  nicht  den  ungefähr- 
lichsten seiner  in  Druckerschwärze  getauchten  Giftpfeile,  wenn  er 
Äußerungen  deutscher  Männer  und  deutscher  Zeitungen  abwirft.  Die 
Äußerungen  deutscher  Zeitungen  sind  aus  dem  Zusammenhang  gerissen. 
Bei  Äußerungen  Deutscher,  die  wiedergegeben  werden,  denket  daran, 
daß  es  Verräter  am  Vaterlande  in  jeder  Zeit  gegeben  hat,  bewußte 
und  unbewußte. 

Zum  Beispiel  Goethe,  Hölderlin,  Claudius,  Jean  Paul, 
Lichtenberg,  Schopenhauer,  Kant,  Bismarck  und  Luther. 


Das  moralische  Moment 

Zu  den  Geräuschen,  die  das  Trommelfell  der  Menschheit  seit 
vier  Jahren  verträgt,  gehört  nebst  den  täglichen  Hinweisen  auf  erzielte 
gute  Wirkungen  und  Fortschritte,  nebst  dem  unermüdlich  betonten 
Streben  nach  »Aufklärung«  die  immer  wiederkehrende  Hervor- 
hebung des  »moralischen  Moments«.  Man  müßte  glauben,  daß 
durch  eine  derartige  Anhäufung  von  moralischen  Momenten  in 
allen  Lagern,  wie  sie  in  keinem  früheren  Stadium  menschlicher 


196 


Entwicklung  beobachtet  wurde,  bereits  ein  verklärter  Zustand 
sämtlicher  einander  mit  Ekrasit  verständigender  Nationen  erzielt 
sein  müsse.  Ein  neutraler,  also  von  Natur  objektiver  Betrachter 
dieser  Dinge,  der  mich  durch  den  nach  allen  Seiten  konzilianten 
Ton  beruhigt,  versichert  zum  Beispiel,  daß  eine  neugeschaffene 
Fliegerart  sich  »als  wirksames  und  besonders  moralisch  wirkendes 
Verfolgungsmittel  bewährt«,  weshalb  ihr,  auf  welcher  Seite  immer 
sie  sich  betätigen  mag,  ein  »wirksames  moralisches  Moment 
innewohnt«.  Allerdings  kann  derselbe  Betrachter  nicht  umhin, 
zu  bedauern,  daß  im  Haag  kein  Verbot  der  Bombenwürfe 
zustandegekommen  ist,  denn  wenn  auch  ein  solches  Verbot 
heutzutage  keine  Wirkung  hätte,  so  wäre  dadurch  doch  »eine 
erhöhte  moralische  Verantwortlichkeit  stipuliert  worden«.  Da  es 
mithin  schwer  ist,  auf  die  Moral  von  der  Geschichte  zu  kommen, 
und  man  nicht  weiß,  ob  das  moralische  Moment  mehr  im  Ge- 
brauch oder  in  der  Unterlassung  zu  erblicken  ist,  begnügt  man 
sich  damit,  aus  einer  so  belehrenden  Darstellung  einer  mensch- 
lichen Errungenschaft,  die  es  auf  den  Tod  von  Säuglingen  ab- 
gesehen hat,  wenigstens  zu  erfahren,  daß  nicht  etwa  erst  der 
militärische  Feuereifer  diplomatische  Abmachungen  in  der  Luft 
zerrissen  hat,  sondern  daß  schon  im  Jahre  1907  deutsche,  französische 
und  russische  Zivilisten  im  Haag,  die  man  vermutlich  mit  einem 
krepierenden  Frosch  davonjagen  könnte,  sich  nicht  entschließen 
konnten,  die  künftige  Anwendung  des  technischen  Fortschritts 
auf  die  Zertrümmerung  von  Kirchen,  Museen,  Spitälern,  Schul-  und 
Schlafzimmern  grundsätzlich  abzulehnen.  Denn  um  dies  zu  tun, 
hätten  sie  den  Bombenwurf  als  solchen  ablehnen  müssen,  da  ja 
die  primitivste  Vorstellung  vom  Wesen  der  »Luftwaffe«  sie 
darüber  orientieren  konnte,  daß  mit  ihr  sicherer  getötet  als 
getroffen  wird.  Indem  sie  sich  aber  nur  der  Beschießung  offener 
Städte  und  Plätze,  »mit  welchen  Mitteln  es  auch  sei«,  widersetzten, 
haben  sie  eben  diese  sowohl  dem  unvermeidlichen  Irrtum  wie 
der  Absicht,  die  sich  auf  ihn  berufen  kann,  wie  der  Rache,  die 
antwortet,  preisgegeben  und  so  der  unendlichen  Folge  von  Unter- 
nehmungen, denen  ein  wirksames  moralisches  Moment  innewohnt. 


197  — 


Luftkrieg 


Innsbruck,  22.  Febr.  (Wiener 
Korr.-Bureau.)  Mittwoch  nach- 
mittag überflogen  vier  feindliche 
Flieger  und  ein  großes,  mit  einem 
Maschinengewehr  ausgerüstetes 
Kampfflugzeug  von  Süden  kom- 
mend die  Stadt  Innsbruck  und 
warfen  ungefähr  acht  leichtere 
Bomben  ab,  von  zehn  bis 
fünfundzwanzig  Kilogramm,  da- 
runter drei  Brandbomben.  Die- 
selben explodierten  und  richteten 
an  verschiedenen  Stellen  der  Stadt 
Sachschaden  an.  Der  Angriff 
forderte  auch  Opfer;  eine  Frau 
wurde  getötet,  zwei  Personen 
wurden  erheblich,  mehrere  leicht 
verletzt.  Der  Kampfflieger 
ging  bis  auf  300  Meter  herunter 
und  beschoß  zwei  glücklicher- 
weise leerstehende  Malteser 
Verwundetenzüge 
mit    Maschinengewehrfeuer. 


Rom,  22.  Febr.  (Stefani.)  Die 
Feinde  führten  vergangene  Nacht 
drei  Flüge  über  P  a  d  u  a  aus. 
Der  erste  dauerte  von  7  Uhr  20 
bis  8  Uhr  20  abends,  der  zweite 
von  9  Uhr  50  bis  10  Uhr  20 
und  der  dritte  von  12  Uhr  10 
bis  3  Uhr  nachts.  Die  deutschen 
Flieger  warfen  mit  gewohnter 
Roheit  Bomben  ab,  unter 
anderm  auch  auf  ein  Privat- 
spital, in  dem  zwei  Schwestern 
und  eine  Arbeiterin  getötet 
wurden,  ferner  auf  einen  Kai, 
auf  dem  vier  ältere  Frauen 
getötet  und  ein  kleines  Kind 
verletzt  wurden.  Einige 
Gebäude  wurden  zerstört,  andere 
beschädigt.  Die  Bevölkerung, 
die  schon  lange  unter  diesen 
barbarischen  Akten  zu  leiden 
hat,  bewahrte  trotzdem  eine 
stolze  und  ruhige  Haltung. 


Das  und  nicht  mehr  ist  die  Rubrik  »Luftkrieg<.  In  der 
Zeitung  untereinander,  hier  nebeneinander.  Der  Mechanismus 
läßt  nichts  zu  wünschen,  nichts  zu  verdammen  übrig.  Satzbild, 
Wortbild,  Textbild  —  alles  kommt  zur  Deckung.  Kein  Millimeter 
Unterschied.  Vielleicht  wäre  doch  ein  Ausgleich  der  Wirklich- 
keiten auf  dieser  Basis  möglich. 


Höher  geht's  nimmer 


.  .  .  Auf  Bozen  wurden  15  Bomben  geworfen,  von  denen 
eine  die  Baracken  traf,  die  von  Kriegsgefangenen  bewohnt  waren. 
8  Kriegsgefangene  wurden  getötet  und  20  verwundet. 


—  198 


Was  könnte  eine  Kriegführung,  deren  Ingenium  sie  allseits 
mit  dem  stupidesten  Zufall  verbündet  hat,  besser  ehren  als 
solches  Ergebnis?  Nun  fehlt  nur  noch  zur  Kompletierung  der 
Planhaftigkeit  dieser  Weltdinge,  daß  irgendwo  ein  Schrei  nach 
Repressalien  eine  Fliegeraktion  zur  Tötung  österreichischer 
Kriegsgefangener  verlangt:  schlägst  du  deinen  Krieger,  schlag' 
ich  meinen  Krieger.  Da  der  Schwachsinn  den  Mechanismus 
der  Bestialität  nicht  mehr  handhaben  kann  und  den  Ereignissen 
nur  so  nachtorkelt,  wäre  selbst  solcher  Wunsch  bei  einem 
leidenschaftlichen  Hasser  der  >  Katzeimacher«  möglich,  wobei  es 
Mühe  kosten  würde,  diesen  auf  die  Verkehrtheit  der  angeregten 
»Rebrassalien«  aufmerksam  zu  machen. 


Aus  dem  Fenriswolff-Bfiro 

In  24  Stunden  wurden  6  0.000  Kilogramm 
Bomben  auf  feindliche  Ziele  abgeworfen.  Ganz  Dünkirchen 
steht  in  Flammen.  Unsere  Bombengeschwader  haben  in  den 
letzten  Tagen,  vor  allem  am  1.  Oktober,  Außerordentliches 
geleistet    —    —    neuerdings    mit    14.400    Kilogramm   Sprengstoff 

beworfen über  40.000  Kilogramm  Bomben.  In  St.  Omer-Boulogne 

entstanden  starke  Brände.  —  —  erneut  mit  Bomben  angegriffen.  In 
London  zeugten  mehrere  Brände  von  der  Wirkung. 

In  der  Festung  Dünkirchen  riefen  besonders  gute  Würfe 
in  der  Nacht  vom  28.  auf  den  29.  September  Brände  hervor,  die  an 
den  riesenhaften  Vorräten,  die  hier  angehäuft  sind,  reichste 
Nahrung  fanden.  Nach  24-  Stunden  stellten  die  Flieger 
fest,  daß  derBrand  noch  nicht  gelöschtwar,  sondern 
weiter  um  sich  gegriffen  hatte.  48  Stunden  später  beobachteten  sie,  daß 
die  Feuersbrunst  sich  über  einen  ganzen  Stadtteil  aus- 
gebreitet hat,  und  heute  nacht  konnten  sie  melden, 
daß  ganz  Dünkirchen  ein  Raub  der  Flammen 
geworden  ist.  —  — 


199 


Eine  wahre  Meldung 

Die  Bedeutung  Belgiens  für  Deutschlands  Verteidigung. 

Das  Wolffsche  Bureau  meldet :  Die  neuen  Fliegerangriffe  auf 
eine  Reihe  offener  Städte  Westdeutschlands  haben  zwar  keinen 
militärischen  Schaden  hervorgerufen,  beweisen  aber  von  neuem,  wie 
stark  die  Notwendigkeit  für  Deutschland  war,  die  Basis  der  feindlichen 
Flieger  möglichst  weit  zurückzudrängen.  Hätten  die  Flieger  der  Entente 
heute  die  Maaslinie  oder  Belgien  als  Basis  für  ihre  Angriffe,  so  müßte 
damit  gerechnet  werden,  daß  nicht  nur  der  Westen  Deutschlands, 
sondern  auch  das  Herz  des  Landes  den  Bomben  der  feindlichen 
Aeroplane  ausgesetzt  wäre  .... 

Das  ist  nur  zu  wahr,  und  der  Sachverhalt  ist  ebenso 
vernünftig  wie  die  Aussage  ehrlich.  Wohl  ließe  sich  einwenden, 
daß  die  feindlichen  Flieger  höchstwahrscheinlich  gar  nicht 
aufgestiegen  wären,  wenn  man  ihre  Basis  nicht  so  weit  zurück- 
gedrängt hätte.  Aber  ebenso  einleuchtend  ist  auch  wieder,  daß 
man  sich  doch  in  einem  Verteidigungskrieg  gegen  die  Angriffe, 
die  eine  Folge  der  Verteidigung  sind,  verteidigen  muß  und 
wenn  man  einmal  angefangen  hat,  nämlich  die  Basis  der  feindlichen 
Flieger  zurückzudrängen,  das  dadurch  Deutschland  einverleibte 
Gebiet  gegen  die  dadurch  hervorgerufenen  Angriffe  der  feindlichen 
Flieger  schützen  und  deren  Basis  noch  weiter  zurückverlegen 
muß,  so  weit,  bis  durch  Einverleibung  des  Erdkreises  den 
feindlichen  Fliegern  jede  Basis  entzogeti  ist. 


Originaltelegramm 

Die   ottomanische  Universität  hat    für  den  Friedens-Nobel-Preis 
den  deutschen  Kaiser  vorgeschlagen. 


Von  der  Blattfront 

(Ein  Zitat  konfisziert) 

»  —  —  Die  Sache  im  Westen  wird  gemacht,  aber  wir 
müssen  Geduld  üben.  —   — 

—  —  Alles  französisch-Parlieren  muß  aufhören.  Sprechen  wir 
lieber  unser  deutsches  Platt.« 


—  200  — 


Ja  von  wem  denn? 


—  —  Dann  richtete  Graf  Conrad  das  Wort  an  die  jüngsten 
Theresienritter.  Die  von  so  vielen  angefeindete,  von  ihren 
Völkern  aber  abgöttisch  geliebte  Kaiserin  Maria  Theresia  sei  es  ge- 
wesen, die  nach  der  Schlacht  von  Kolin   —   — 


Kruzitürken ! 


Das  Handschreiben  des  Sultans. 

KB  Konstantinopel,  21.  Mai.  Das  heutige  Amtsblatt  veröffent- 
licht den  Menschur,  das  ist  das  kaiserliche  Handschreiben,  womit 
Kaiser  Karl  zum  Marschall  der  ottomanischen  Armee  ernannt  wird. 
Das  in  den  althergebrachten  Wendungen  der  ottomanischen  Hofsprache 
abgefaßte  Dokument  lautet  in  der  Übersetzung  wie  folgt: 

Wir,  durch  die  Gnade  des  Herrn  Padischah  von  Turkistan  und  der 
Länder  und  Städte,  die  der  Sultan  innehat  .  .  indem  wir 
ein  neues  Zeichen  der  aufrichtigen  Freundschaft  geben, 
die  seit  jeher  zwischen  unseren  Häusern  bestand  und  die 
durch  den  Abschluß  des  innigen  Bündnisses  ihren  höchsten  Grad 
erreicht  —  —  —  —  indem  er  die  Gnade  haben  möge,  ihnen  eines 
Tages  die  Wohltaten  eines  ehrenhaften  und  dauernden  Friedens  zu 
gewähren  und  auf  das  beste  die  herzliche  jahrhundertalte, 
innige  Bundesfreundschaft  .  .  zwischen  unserem  und 
Ihrem  großmächtigen  Reiche  erhalten.  Gegeben  am  achten  des  Monats 
Chaban  im  Jahre   1336. 

Das  Amtsblatt  veröffentlicht  ferner  einen  Bericht  über  das 
gestrige  Galadiner  und  den  Wortlaut  der  hierbei  gewechselten  Trink- 
sprüche, was  eine  Neuerung  darstellt. 


Es  ist  die  einzige. 


201 


Ei  siehe  da 

der  Friedjung  hat  in  Konstantinopel,  wohin  die  österreichischen 
und  ungarischen  Journalisten  gefahren  sind,  um  zu  früh- 
stücken, obgleich  das  auch  dort  schwer  sein  soll,  den  Aus- 
bau sowohl  als  die  Vertiefung  des  Bündnisses  mit  der  Türkei 
vorgenommen  und  auf  dieses  Ereignis  sowohl  ein  Hoch  als  auch 
ein  Eljen  ausgebracht.  Aber  er  ging  noch  weiter. 

Er  feierte  die  von  beiden  Reichen  vollbrachten  Leistungen 
neben  den  glänzenden  Taten  Deutschlands  und  fuhr  sodann  fort: 
Zwei  Ereignisse  haben  auf  mich  einen  tiefen  Eindruck  gemacht. 
Zunächst  die  elegante  Art  und  Weise,  mit  der 
die  ottomanische  Revolution  sich  vollzog,  während 
in  Frankreich  und  in  England  die  Revolution  viel  Blut  und  die 
Häupter  von  Königen  kostete,  und  die  russische  Revolution  das 
ganze  russische  Reich  zerstörte.  Sie  haben  durch  die  Revolution  die 
Türkei  groß  gemacht.    Sodann  — 

Ei  siehe  da,  aber  wenn  jemand  nun  den  Deutschen  oder 
Österreichern  im  Sinne  Friedjungs  zurufen  wollte:  Da  nehmt 
euch  ein  Beispiel  an  den  Türken,  machet  es  nicht  wie  die  Fran- 
zosen oder  Russen,  machet  es  elegant  -  wer  weiß,  ob,  sodann, 
der  Herr  Friedjung  im  Sinne  der  ihn  inspirierenden  Regierungen 
nicht  von  einem  »Anschlag«  spräche!  Eiei  siehe  da  traun 
fürwahr  baß  nicht  doch. 


Eine  große  Meuterei  in  der  englischen  Flotte 

Unter  diesem  Titel  ist,    um  die  Begebenheit  in  der  deut- 
schen Flotte  wirksam  zu  paralysieren,    das  Folgende  erschienen: 

Wien,  16.  Oktober. 
Wir  erhalten  von  ausgezeichneter  Seite  eine  Zuschrift, 
worin  anläßlich  der  Übertreibung,  mit  der  in  den  feindlichen  Ländern  die 
versuchte  Meuterei  von  drei  deutschen  Matrosen  beurteilt  worden  ist, 
an  den  großen  Aufstandsversuch  der  englischen 
Flotte  in  den  letzten  Jahren  des  achtzehnten  Jahrhunderts 
im  Kriege  mit  Frankreich  erinnert  wird. 


202 


Die  Zuschrift  lautet :  >  Hochgeehrter  Herr!  Sie  sollten  angesichts 
der  Aufbauschung  des  Meutereiversuches  der  drei  deutschen  Matrosen 
durch  die  Ententepresse  als  historische  Reminiszenz  auf  die  große 
Meuterei  der  englischen  Kanalflotte  im  Jahre  1797  hin- 
weisen, welche  in  Spithead  in  the  Nore  vierundzwanzig  Segelschiffe 
umfaßte  und  nur  mit  großer  Mühe,  teilweise  durch  Konzessionen 
seitens  der  Admiralität,  teilweise  durch  Gewalt,  erstickt  werden  konnte. 
Einige  Wochen  hindurch  war  dann  England  in  größter  Beunruhigung, 
um  so  mehr  als  das  französische  Direktorium  eine  Invasion  in  Irland 
plante,  um  dieses  Land  gegen  England  zu  insurgieren.« 

Die  Meuterei,  an  die  der  geehrte  Einsender 
erinnert,  ergriff  fast  die  ganze  Flotte  des  Admirals  Duncan.  Die 
Meuterer  blockierten  die  Themse  mit  sechsundzwanzig  Kriegsschiffen. 
Dieser  Aufruhr  schien  das  Vorspiel  einer  Revolution  zu  sein.  Es 
gelang  jedoch  der  Admiralität,  nach  und  nach  den  Gehorsam  wieder 
herzustellen  und  den  Anführer  Richard  Parker  gefangen  zu  nehmen. 
Eine  Erzählung  von  Marryat  gibt  eine  Schilderung  der  Meuterei  und 
deren  Ursachen. 

Und  bekanntlich  ist  in  Frankreich  die  Revolution  aus- 
gebrochen. 


Himmelschreiendes  aus  Paris  und  Wiener  Flüsterpreise 

Paris  hatte  vor  fünfzig  Jahren  bewegte  Erlebnisse  .... 
Ich  erwarte,  sagte  er  (Moltke)  in  diesem  vertraulichen  Briefe,  mehr 
von  der  wachsenden  Not.  Die  Gaslaternen  werden  nicht  mehr  ange- 
zündet, die  Kohle  fehlt,  so  daß  trotz  des  strengen  Winters  nicht  ge- 
heizt werden  kann.  Ein  Pfund  Butter  kostet  zwanzig 
Francs,  ein  Huhn  hat  den  gleichen  Preis  und  ein  Koch  erzählt, 
daß  er  der  Frau  des  Fleischhauers  nur  durch 
allerlei  Versprechungen  ein  Rindsfilet  abschmeicheln 
konnte.  Das  deutsche  Volk  teilte  die  Auffassung  des  Schlachten- 
meisters nicht  .... 

Man  bittet,  den  Schlachten meister  nicht  mit  dem  Fleisch- 
hauer zu  verwechseln.  Aber  daß  etwa  eine  Verwechslung  der 
Pariser  Zustände  von  1871  mit  den  hiesigen  von  heute  platz- 
greifen könnte,  ist  nicht  zu  befürchten.  Immerhin  heißt  es  schon 
zwei  Wochen  später: 


203  — 


Der  Preis  des  Mehles  im  Schleichhandel  ist  beiläufig  vierzehn 
Kronen.  In  der  Heimlichkeit,  wo  solche  Geschäfte  abgeschlossen 
werden,  sind  auch  schon  höhere  Ziffern  genannt  worden.  .  .  .  Butter 
ist  ein  Nahrungsmittel,  das  selbst  wohlhabende  Menschen  kaum  noch 
anfassen  können.  Der  Flüsterpreis  soll  mehr  als  vierzig  Kronen 
betragen.  Von  diesen  Ziffern  werden  noch  die  Kindeskinder  sprechen. 
Bibliotheken  werden  sich  aus  den  Büchern  auftürmen,  worin  aus  den 
Zeugnissen  unserer  Gegenwart  die  Erklärung  so  außerordentlicher 
Vorgänge  versucht  werden  wird.  Staunen  werden  die  Forscher  über 
die  Erscheinung    -   — 

Und  diese  Franzosen  haben  noch  immer  nicht  genug. 
Was  aber  den  Flüsterpreis  von  vierzig  Kronen  für  Butter  betrifft, 
von  dem  noch  die  Kindeskinder  sprechen  werden,  so  ist  zu 
bemerken,  daß  ihn  schon  längst  keiner  der  Großväter  gehört 
hat,  weil  jetzt  laut  achtundsiebzig  verlangt  werden. 

(Hier  warf  der  sonst  nur  schlechte  Satiriker  unterbrechende 
Setzerlehrling  die  vorlaute  Bemerkung  ein:  Siebenundachtzig, 
wenn  das  erscheint!) 


Warum  ? 

Während    das    Mehl    in    Prag    schon   16  K  kostete,    wurde  in 
Linz  ein  Preis  von  8  K  fürs  Kilo  geflüstert. 


Nicht  zu  machen 

...  Die  > Rheinisch-Westfälische  Zeitung«  wünscht,  daß  unsere 
leitenden  Staatsmänner  (nach  englischem  Muster)  bei  Banketten 
und  Frühstücken,  bei  Kongressen,  in  Versammlungen  und 
Handelskammersitzungen  auftreten  und  dort  die  Lügen  des  Auslandes 
widerlegen. 


204 


Eine  Beschwerde  mit  ernsterem  Hintergrund,  als  es  dem 
flüchtigen  Blicke  scheinen  möchte 

Die  Rede  des  Grafen  Czernin,  deien  vielverheißende  politische 
Bedeutung  klar  zutage  liegt,  regt  zu  ein  paar  Betrachtungen  an;  Anlaß 
dazu  ist  die  Gelegenheit,  bei  der  sie  gehalten  wurde.  >Beim  Dintr 
des  ungarischen  Ministerpräsidenten.«  Beim  Dinerl  Ist  es 
wirklich  notwendig,  heute  noch  immer  von  einem 
Diner  zu  reden?  Würde  ein  Mittagessen  nicht  auch 
dann  genügen,  wenn  sich  große  Herren  zusammen  an  den 
Tisch  setzen?  Nicht  weil  wir  mit  Frankreich  im  Kriege  sind,  ist  das 
französische  Wort  zu  bemängeln;  auch  im  tiefsten  Frieden  wäre  es 
unnötig,  ja  unwürdig,  eine  Sache  deshalb  französisch  zu  bezeichnen, 
weil  man  sie  vornehmer  sagen  will.  Die  Zeit  sollte  doch  schon 
vorüber  sein;  man  wird  so  lange  nicht  voll  auf  uns  hören,  solange 
wir  uns  nicht  entschließen  können,  in  jedem  Sinne  deutsch  zu  reden. 
Die  Zeit  der  Diners  sollte  vorbei  sein;  wir  gönnen  den 
Lenkern  unserer  Geschicke  gern,  daß  sie  sich  zur  Tafel  setzen,  wo 
wir  schon  mit  einem  ganz  gewöhnlichen  Essen  zufrieden  wären; 
aber  ein  ehrlich  deutsches  Mittagessen  soll  es 
sein  und  nicht  länger  ein  Diner  wie  zu  der  Zeit, 
da    alles      welsch    war. 

Ernster  aber  als  diese  Beschwerde  —  obwohl  auch  sie 
ernsteren  Hintergrund  hat,  als  es  dem  flüchtigen 
Blicke  scheinen  möchte  —  sind  die  folgenden  —  — 


Unzeitgemäße  Redensarten 

Der  ungarische  Handelsminister  Stern  versichert  unaufhörlich, 
daß  das  Bündnis  der  Völker  längst  zu  Fleisch  und  Blut  ge- 
worden sei.  Ich  habe  schon  einmal  im  Krieg  vor  dieser  Redens- 
art gewarnt.  Sie  ist  immer  und  zumal  im  vorliegenden  Falle 
deplaziert:  was  das  Fleisch  betrifft,  als  Lüge,  und  was  das  Blut 
betrifft,  als  Wahrheit.  Bei  dieser  Gelegenheit  soll  auch  empfohlen 
werden,  von  der  Phrase  »billig  wie  Brombeeren«  tunlichst  Umgang 
zu  nehmen,  zumal  für  eine  Scherzhaftigkeit,  wie  sie  kürzlich  zu 
lesen  war:  daß  die  Hoffnungen  der  feindlichen  Staatsmänner 
billig  wie  Brombeeren  seien.  Die  Preissteigerung,  die  bei  uns 
selbst  die  Früchte  des  Waldes  erfahren  haben,  könnte  uns  nach- 
gerade  die    Hoffnungen   der  feindlichen  Staatsmänner  in  einem 


—  205 


anderen  Lichte  erscheinen  lassen  und  bei  weitem  nicht  so 
unerschwinglich  wie  unsere  Brombeeren.  Den  Staatsmännern 
und  Publizisten  der  Lebensmittelmächte  wäre  dringend  eine 
Revision  ihrer  Sprache,  die  noch  zu  viel  Viktualien  enthält, 
anzuraten.  Es  ist  schwer,  durchzuhalten,  wenn  man  bei  jedem 
Brocken  der  Sprache  an  jeden  Brocken  erinnert  wird.  Ich  habe 
diesen  Mißstand  in  einem  Klagelied  dargestellt,  das  ich  mir 
demnächst  einem  Publikum  aufzutischen  erlauben  werde,  welches 
fleischfreie  Wochen  leichter  als  phrasenfreie  Tage  verträgt. 


Propaganda 

So  oft  ich  in  der  Schweiz  war,  konnte  ich  mich  von  den 
Erfolgen  der  deutschen  Propaganda,  die  sich  nicht  mit  der 
Aufklärung  in  Wort  und  Schrift  bescheidet,  sondern  auch  werktätig 
durch  Beispiele  zu  wirken  und  zu  werben  versteht,  überzeugen: 

Deutsche  Internierte  haben  auf  der  Rütli-Wiese  eine 
Hindenburg-Feier  abgehalten,  wobei  der  Festredner  den  Rütli- 
schwur  mit  dem  Fahneneid  verglich  und  erklärte,  daß  über  dem 
Schwurplatz  der  deutsche  Geist  schwebe.  —  In  Genf  wurde  eine 
Frau  gesehen,  die  eine  Brosche  mit  der  Inschrift  »Gott  strafe 
England!«  trug.  —  Auf  der  Zürcher  Straßenbahn  schlug  ein 
Herr  Lärm,  weil  französisch  gesprochen  wurde.  —  In  einer 
Konditorei  am  Thunersee  bestand  eine  Damengesellschaft  darauf, 
daß  die  Verkäuferin  >Sahne«  statt  Creme  sage,  und  verließ  das 
Lokal,  weil  es  nicht  geschah.  -  In  Lugano  bewogen  reichs- 
deutsche  Gäste  den  Hotelier,  den  feindlichen  Konsuln  die 
Hotelwohnung  zu  kündigen.  —  Als  in  einem  Coupe  auf 
der  Drahtseilbahn  in  St.  Moritz  fremde  Sprachen  gesprochen 
wurden,  sangen  zwei  deutsche  Kriegswucherer,  wie  ich  deren 
noch  nie  geschaut  habe,  kugelrunde  Ungetüme,  zwei  Meter  tief, 
doppelbreit,  vierfaches  Kinn,  blau  rasiert,  Wadenstrümpfe: 
»Deutschland,  Deutschland  über  alles!« 


—  206 


Der  Feind 


Der  englische  Oberbefehlshaber 
Sir  Douglas  Haig  gedenkt  in  einem 
amtlichen  Bericht  anerkennend 
eines  deutschen  Offiziers,  der  bei 
Flesquieres  mit  hervorragender 
Tapferkeit  gegen  die  Tanks  kämpfte. 
Die  ,Daily  News'  veröffentlichte 
über  den  Vorgang  folgende  Mit- 
teilung eines  Augenzeugen: 

Unsere  Leute  waren  fast 
traurig,  daß  sie  ihn  der- 
art erledigt  hatten,  denn 
er  verdiente  zu  leben. 
Ich  glaube,  es  war  der 
schönste  Fall  von  Tapfer- 
keit undHeroismus,  der 
mir  vorgekommen  ist. 


Einem  Bericht  des  .Teplitzer 
Anzeigers'  über  eine  Gemeinde- 
ausschußsitzung entnehmen  wir: 
>  Unter  anderem  wurde  auch  noch 
beschlossen,  die  dem  in  Teplitz 
am  22.  März  1917  verstorbenen 
kriegsgefangenen  Fran- 
zosen Paul  Marquis, 
der  zur  Arbeitsleistung  auf  dem 
k.  u.  k.  Militärschacht  in  Zinn- 
wald kommandiert  war  und 
in  Teplitz  beerdigt  liegt, 
von  seinen  Kame- 
raden gewidmete 
Gedenktafel  vom 
hiesigen  Fried- 
hof    zu     entfernen.« 


Mitropa 


Die  Nachricht  im  heutigen  Abendblatte  der  > Neuen  Freien 
Presse < ,  daß  die  Royal  Society  alle  ausländischen  Mit- 
glieder aus  Mitteleuropa  ausschließen  wolle  —  — 

Daß  sie  sie  ausschließen  wolle,  hat  sich  sofort  als  Lüge 
herausgestellt.  Aber,  daß  sie  nicht  die  Macht  hat,  sie  aus  Mittel- 
europa auszuschließen,  ist  wahr.  Andernfalls  ließe  ich  mich  gleich 
als  Mitglied  aufnehmen,  um  solches  Benefiz  zu  erlangen.  Denn 
der  Gesellschaft  Mitteleuropa  anzugehören  wird  auf  die  Dauer 
doch  mit  Unbequemlichkeiten,  jedenfalls  mit  Reiseschwierigkeiten 
verbunden  sein,  zumal  da  man  nur  auf  die  Schlafwagengesellschaft 
».Mitropa«  angewiesen  sein  wird. 


—  207  - 


Die  Sieger 


Drei  Budapester  Kriegsgewinner, 
die  sich  auch  nach  der  Sperrstunde 
noch  in  einem  Unterhaltungslokal 
bei  Champagner  vergnügten, 
empfanden  plötzlich  den  Mangel 
weiblicher  Gesellschaft  äußerst 
unangenehm  und  waren  sehr 
erfreut,  als  eine  Artistin  herbei- 
geholt wurde,  die  bereit  war,  ihnen 
Gesellschaft  zu  leisten.  Zwischen 
den  drei  Millionären  kam  es  nun 
zu  einem  Wettstreit  um  das 
Mädchen,  dem  immer  größere 
Summen  geboten  wurden.  Endlich 
verfielen  die  Herren  darauf,  das 
Mädchen  zu  versteigern. 
Einer  der  Herren,  der  Fetthändler 
Kovacs,  trug  schließlich  mit  50.000 
Kronen  den  Sieg  davon.  Er  stellte 
auch  sogleich  einen  Scheck  aus 
und   übergab   ihn    dem  Mädchen. 

Damit  aber  das  Mädchen  das 
Geld  nicht  beheben  könne,  stellte 
er  das  Datum  mit  der  Jahres- 
zahl 1917  aus.  Das  Mädchen 
verbesserte  aber  die  Zahl  auf  1918 
und  behob  das  Geld.  Als  Kovacs 
dies  erfuhr,  drohte  er,  falls  das 
Mädchen  ihm  nicht  wenigstens 
20.000  Kronen  zurückgäbe,  mit 
einer  Anzeige.  Das  Mädchen 
wandte  sich  an  einen  Rechtsanwalt, 
der  einen  Schadenersatzprozeß 
anstrengte  und  eine  Entschädigung 
von  200.000  Kronen  für  die 
verloren  gegangene  Unschuld  des 
Mädchens  verlangt. 


Eine  Frau  P.  aus  Charlotten- 
burg unternahm  eine  Reise  und 
lernte  auf  der  Eisenbahn  einen 
Landwirt  aus  Ottorowo,  Kreis 
Samter,  kennen,  dessen  entgegen- 
kommendes Wesen  sie  ermutigte, 
in  einem  Briefe  an  ihn  die  An- 
knüpfung geschäftlicher  Bezie- 
hungen zu  versuchen.  Sie  erhielt 
darauf  folgende  Antwort: 

Ottorowo,  Kreis  Samter, 
den  2.  September  1918. 
Sehr  geehrte  Frau  P  .  .  ., 
ihren  werten  Brief  erhalten, 
und  daraus  ersehen,  das  sie 
sich  etwas  Lebensmittel  gern 
holen  wollen.  Nun  will  ich 
auch  ihnen  entgegenkommen. 
Und  können  sie  nach  Samter 
kommen  u.  zwar  müssen  sie 
Morgens  um  6  Uhr  dasein.  .  . 
Ich  bringe  ihnen  20  Stk.  Eier 
15  Pfd.  Mehl  Vz  Ctr.  Kartoffeln 
etwas  Gurken  und  2  Pfd  Fleisch 
auch  3  Pfd  Käse.  Ich  will  für 
die  Sachen  kein  Geld.  Mus 
ihnen  aber  gestehen, 
ich  will  mal  gutLiben. 
Also  sie  wissen  was 
ich  will.  Wenn  wir  uns  erst 
kennen,  können  sie  alle  Monat 
kommen  u.  ich  werde  sie  schon 
immer  was  besorgen.  Also 
bestimmt  Freitag.  Wenn  nicht 
bitte  um  Antwort. 

Es  grust  unter  einem  süssen 
Kuss  ihr  H.  S 


Eros,  Ares  und  Ceres  —  sie  sind  ihr  Geld  wert.  So  und 
nicht  anders  ist  die  Menschheit  beschaifen,  für  die  die  Menschheit 
in  den  Tod  gegangen  ist. 


208 


Es  gibt  keine  Schweißfüße  mehr 

Diese  ein  wenig  großsprecherische  deutsche  Annonce  wird 
hinreichend  Lügen  gestraft  durch  die  Propaganda,  die  neuestens 
ein  Verlag  macht,  der  sich  , Verlag  Englands  »Kultur«'  nennt  und 
schon  durch  die  Anführungszeichen  und  vollends  die  im  Titel  des 
Werkes:  .Englands  »Kultur«  in  > barbarischer«  Beleuchtung'  die 
ganze  Hoffnungslosigkeit  einer  Zeit-  und  vor  allem  Raumgenossen- 
schaft mit  den  Inhabern  einer  solchen  Unternehmung  dartut.  Die 
schlichte,  aber  geschäftlich  nicht  aussichtslose  Idee,  durch  eine 
Übersetzung  aus  alten  englischen  Zeitungsartikeln  darzutun,  daß 
es  auch  in  London  einmal  einen  Salon  Tuschl  gegeben  hat,  wobei 
schweinische  Kapitelüberschriften  die  »barbarische«  Beleuchtung 
besorgen,  wird  in  einem  Buchhändlerorgan  wie  folgt  kommentiert: 

Dieses  Buch  wurde  fälschlich  des  pornographischen  Inhalts 
geziehen  — 

Eine    Verwahrung,    die    dem   deutschen  Mann  die  Sortimenter 
keineswegs  abspenstig  machen  wird 

- —  doch  nur  von  Leuten,  welche  den  wahren  und  patriolischen 
Zweck  der  Herausgabe  dieser  unsauberen  Materie 
verkennen. 

Und  nun  kommt  der  Zweck,  der  so  deutsch  ist  wie  die 
Sprache,  in  der  er  einbekannt  wird.   Wörtlich: 

Das  Buch  soll  die  Schändlichkeit  dieses  Volkes, 
wenigstens  in  dieser  Richtung,  kennen  lernen, 
hassen  und  bezwecken,  daß  unsere  Industrie  und 
Gewerbe  die  Sucht  nach  ausländischen  Einkäufen 
überflüssig  macht. 

Ich  habe  mir  oft  vergebens  vorzustellen  gesucht,  wie  die 
bekannte  Lage  der  Deutschen  in  Österreich  aussieht.  Dieser 
Satz  dürfte  annähernd  ein  Bild  geben.  So  und  nicht  anders 
stehn  wir  vor  England  da.  Ein  Glück,  daß  das  nicht  ins 
Englische  übersetzt  werden  kann.  Ich  fürchte  aber,  daß  eine  der 
Bedingungen  der  Friedenskonferenz  die  Auflösung  von  Gustav 
Feitzingers  Bücherverlag  Wien  3/2  Krieglergasse  18  sein  wird. 
Dann  dürfte  freilich  jene  Annonce  erfüllt  sein. 


—  209 


Englands  bedrängte  Finanzlage 

Die     Notenpresse      als      Schöpferin     trügerischen 

Wohlstandes.' 

Telegramm  unseres  Korrespondenten. 

Bern,  12.  August. 
Im  Oberhause  lenkte  Lord  Inchcape  die  Aufmerksamkeit  auf 
die  bedrohliche  Finanzlage  Englands  —  —  Es  sei  nicht  zu  leugnen, 
daß  die  finanzielle  Lage  der  Feinde  noch  schlimmer  sei  als  die  der 
Verbündeten,  mit  einer  einzigen  Ausnahme;  aber  all  dies  sei 
nur  ein  geringer  Trost.  —  —  Unsere  innere  Währung  ist 
nur  eine  Papierwährung.  Wir  besitzen  nicht  weniger  als  260  Millionen 
Pfund  Sterling  im  Umlauf,  die  nur  durch  einen  geringen  Prozentsatz 
Goldes  gedeckt  sind.  Der  Überschuß  ist  nur  durch  Schatzscheine  der 
Regierung  gewährleistet.  Dies  scheint  eine  überaus  leichte  Methode  zu 
sein,  den  Krieg  zu  finanzieren;  aber  dieselbe  Notenpresse  hat  Rußland 
ruiniert.  Auch  jedes  andere  Land  leidet  schwer  an  den  Folgen  dieses 
Systems,  das  eine  Zeitlang  über  finanzielle  Schwierigkeiten  hinweghilft, 
letzten  Endes  aber  immer  eine  sich  stetig  entwertende  Währung  und 
ebenso  stetig  steigende  Preise  bedeutet.   —   — 

Aber  all  dies  ist  nur  ein  geringer  Trost. 


Verdrossenheit  in  der  Entente 

Verdrossenheit  in  der  Entente. 

Bevorstehende   Ministerkrise  in  Frankreich    und 
steigende  Verwirrung  in  Rußland. 

—  —  Die  Entente  hat  die  große  Gabe  der  Haltung.   Sie  will 

so  lange  als  möglich  den  Schein  bewahren Aber  diese  Fähigkeit 

der  Selbstbeherrschung  —  —  vermag  dennoch  auf  die  Dauer  nicht 
zu  verbergen,  wie  es  im  Innern  aussieht,  wie  unsicher  der  Boden 
ist,  auf  dem  sie  sich  bewegt  —  —  Wirtschaftliche  Not,  politische 
Vertändelung  in  Frankreich,  dumpfe  Unzufriedenheit  in 
Italien,  Chaos  in  Rußland  und  in  England  und  Amerika  schrankenlose 
Unterdrückung  der  Friedenssehnsucht.  Der  vierte  Kriegswinter  beginnt 
mit  heftiger  Verdrossenheit  in  der  Entente. 


—  210  — 

Aber  damit  —  es  ist  seit  vier  Jahren  ein  geschriebenes  Kopf- 
wackeln —  damit  hat  doch  schon  der  erste  begonnen?  Das  wird 
eine  Anekdote  werden:  »Was  sagen  Sie,  Kohn  sein  Plafond 
is  zusammgestürzt!<  »Wieso ?<  »Ich  hab  deutlich  gehört,  es 
rieselt  im  Gemäuer.«  »Was  Sie  nicht  sagen!  Grad  war  ich  bei 
ihm  und  hab  nix  bemerkt.«  »Das  schaut  nur  so  aus,  aber  ich 
sag  Ihnen,  ihm  is  mies  zu  wohnen,  es  rieselt  im  Gemäuer. 
Sie  können  von  hier  hören.«  »Ich  hör  nix.«  »Mir  kommt  vor 
wie  ein  Geräusch.«  »Was  für  ein  Geräusch,  lassen  Sie  mich  aus 
mit  Geräusche,  ich  hör  kein  Geräusch.«  »Sie  hören  kein  Geräusch? 
Kleinigkeit,  was  dort  rieselt!«  »Natürlich!  Wissen  Sie  was  das 
is,  das  is  die  Wasserleitung!«  »Na  also  sehn  Sie,  was  hab  ich 
gesagt?«  »Sie  haben  gesagt,  Kohn  sein  Plafond  is  zusamm- 
gestürzt.«  »Ich  hab  gesagt,  es  rieselt  im  Gemäuer.«  »Aber  es 
is  doch  die  Wasserleitung!«  »No  is  das  vielleicht  gar  nix? 
Fort  fließt  Wasser!«  »Wieso?  Wenn  er  will,  dreht  er  ab.  Und 
schon  hat  er  abgedreht!«  »Sehn  Sie,  was  hab  ich  gesagt?  Er 
hat  genug,  ihm  is  schon  mies!«  »Wovor?«  »Vor  dem  Geriesel! 
Ich  sag  Ihnen,  ein  Glück,  im  Nu  war  sein  Plafond  zusamm- 
gestürzt!« 


Dem  Toten  geht's  bereits  schlecht 

Ich  sammle  die  Klischees,  mit  denen  in  der  gehirnfreiesten 
aller  Zeiten  die  Zwangsdummheit  regaliert  wurde.  Eine  Prämie 
bekommt: 

»Die  Entente  verbirgt  sich  noch  hinter  großen  Worten,  aber 
sie  fühlt  bereits  ihre  Schwäche.« 

Wenn  der  Großmauschel  diesen  Gedanken  der  Staatsfibel 
übernimmt,  so  ist  doch  etwas  Pikanterie  dabei,  indem  nämlich 
ein  seit  vier  Jahren  täglich  und  abendlich  beschrieenes  Debacle, 
das  aber  —  unter  fortwährendem  Gemäuergeriesel  —  zusehends 
milder  wurde,  jetzt  nur  mehr  den  Untertitel  erhält: 


—  211  — 

Zunehmendes  Schwächegefühl  in  der  Entente. 
Sie  ist  hin,  kein  Hahn  kräht  mehr  nach  ihr.  Man  zweifelt 
an  ihrem  Aufkommen.  Wenn  das  so  weiter  geht,  ist  ihr  nicht 
mehr  zu  helfen.  Schlecht  geht's  ihr.  Die  ist  auch  nicht  mehr  das 
was  sie  einmal  war.  Ihr  geht  es  bereits  schlecht.  —  Während 
die  Glückliche  starb,  haben  wir  so  alle  Tage  gelebt.  Nein,  ich 
tausch'  mit  keinem  Engländer! 


Strategischer  Rückzug 

—  —   Es  ist   eine   böse  Zeit  für  Frankreich,    für  die  Entente 
und    wohl    auch    für    die    übrige    Welt. 


Es  rieselt  im  Gemäuer 

In  den  Tagen,  da  wieder  die  alte  Siegfriedstellung  in 
Sicht  kommt;  da  man  in  Deutschland  einig  ist,  daß  der  Krieg 
nicht  militärisch  entschieden  werden  kann;  da  auf  die  vom  Feind 
unbemerkten  Rückzüge  Kant- Zitate  in  deutschen  Reden  zögernd 
folgen,  aber  nicht  allein  Krupp  durch  Kant,  sondern  auch  Wolff 
durch  Solf  ersetzt  wird  —  ist  es  unausbleiblich,  daß  auch  der 
Wiener  -Leitartikler  für  einen  Verständigungsfrieden  zu  haben 
ist,  was  sich  freilich  auf  seine  Weise  wie  folgt  kundgibt: 

Wir  müssen  uns  in  die  Entente  hineindenken. 

—  —  Die  Zeit  ist  sehr  ernst.  Aber  desto  mehr  ist  es 

nützlich    zu  vermeiden,    daß  die  Urteile    über  die  Entente    auch  noch 

durch  den  Aberglauben  befangen  werden. 

Daß  es  im  Gemäuer  rieselt?  Mit  nichten,  daß  sie  eine 
neue  Ostfront  noch  aufstellen  könne. 


—  212  — 


—   —  Vielleicht    wird   schon  morgen    mehr  Klarheit  über    die 
neue  Durchbruchsschlacht  sein.  Die  Zeiten  sind  hart. 

Somit  wäre  also  auch  die  alte  Morizstellung  wieder  bezogen. 


Joab   mein   Sohn,  in  was  bist  du  gekommen  für  einer 
abscheulichen   Period'! 

—  —  Engländer  und  Franzosen  schießen  weltberühmte 'Kathe- 
dralen zusammen.  Unschätzbare  Werke  großer  Baukünstler,  Denkmale, 
errichtet  aus  dem  Kuhstg-efühle  der  Zeit,  in  der 
sie  entstanden  sind,  werden  vernichtet  und  lassen  sich 
kaum  mehr  ersetzen.  Dörfer  und  sogar  Städte  verschwinden. 
Bäume  und  Sträucher  werden  niedergeschlagen, 
Felder  unterhöhlt  oder  zerstampft.  Schrecklich  ist  der  Krieg 
von  heutzutage. 


Trost  im  Exil 

Wie  wärmt  es  im  »neutralen  Ausland«  —  ein  Wort,  bei 
dem  mir  übel  wird,  wenn's  der  die  Paßvisumklauselanweisung 
ausstellende  Vertreter  des  Vaterlandes  sagt;  ein  Begriff,  bei  dem 
man  sich  von  all  dem  erholt  — ,  wie  wärmt  es  dort,  etwas  über  die 
Heimat  vom  Korr.-Büro  (sprich  Korrbüro)  zu  erfahren.  Das, Neue 
Wiener  Tagblatt'  bezeichnet  das  Vorgehen  Deutschlands  im  Osten 
als  notwendige  Aufgabe.  Das  beruhigt  mich.  Balfours  Rezept,  in 
das  Bündnis  Österreich-Ungarns  mit  Deutschland  einen  Keil  zu 
treiben,  werde  nicht  verfangen.  Na  Gott  sei  Dank!  Das 
»Extrablatt*  stellt  fest,  daß  der  Schritt  Deutschlands 
in  vollem  Einvernehmen  mit  Österreich-Ungarn   erfolgte,   und 

drückt  die  Hoffnung  aus Da  dürfte  der  Wülson  zuspirrn 

können. 


213 


Wilson  soll  gesagt  haben 

».  .  .  Der  Gedanke  an  die  einfachen  Menschen  hier  und  überall 
in  der  Welt,  an  die  Menschen,  die  sich  keines  Vorrechtes  erfreuen 
und  sehr  einfache  und  sophistische  Maßstäbe  für 
Recht  und  Unrecht  haben,  ist  die  Luft,  die  alle  Regierungen  künftig 
atmen  müssen,  wenn  sie  lebensfähig  sein  wollen.« 


Wie  es  gemacht  wird 


.  .  .  Asquith  verlangt  selbst  für  den  Fall  der  Schiedsgerichte 
die  Anwendung  militärischen  und  wirtschaftlichen  Zwanges  und 
spricht  von  allen  Grundsätzen  Wilsons,  wie  v,on  öligen 
Gemeinplätzen. 

Er  hat  nämlich  von  denen  Czernins  gesprochen. 


Verstaatlichung 

Das  Ziel  der  inneren  Politik  muß  sein,  den  Czechen  zum 
Bewußtsein  zu  bringen,  daß  sie  nach  dem  Verlaufe  dieses  Krieges 
ihre  Zukunft  durch  eine  Verständigung  mit  den  Deutschen,  durch  eine 
Verstaatlichung  ihrer  Politik  .  .  den  welthistorischen 
Verhältnissen  anpassen  und  nüchtern  klären  müssen. 

Ja  das  wollen  sie  ja! 


214 


Vorteile  des  Friedens  mit  Rußland 

Wir  müssen  uns  hineindenken  in  die  Spannungen 
lange  vor  dem  Morde  in  Sarajewo,  an  die  beständige  Sorge  wegen  der 
Pläne  in  Petersburg  und  wegen  der  Feindseligkeiten  des  Botschafters 
Iswolsky.  Wir  haben  alle  miterlebt  die  Morgen,  die 
vergällt  waren  durch  Berichte  über  russische 
Absichten  und  Gehässigkeiten,  durch  Kummer 
über  Umtriebe  des  Gesandten  in  Belgrad  und 
Streitigkeiten  in  Montenegro  und  Albanien. 
Unbedeutende  Vorfälle  wurden  beängstigend  im  fahlen 
Lichte  zuckender  Blitze  in  der  Weltpolitik.  Das 
Gewaltige  dieser  Veränderung  wird  anschaulicher  in  einem 
kleinen  Ausschnitte  aus  der  bürgerlichen  Lebensweise. 
Der  Friede  sichert  ein  Frühstück  ohne  Rußland. 
Nicht  mehr  in  der  äußeren  und  vor  allem  auch  nicht  in  der  inneren 
Politik  beständig  an  russische  Herrscher,  Parteien,  Verschwörungen 
und  Rüstungen  denken  müssen,  wird  erlösend  sein,  Befreiung  der 
Kräfte,  ein  Gefühl  nie  vorher  gekannter  Ruhe.  In  Milliarden 
ausrechnen  können  wir  das  nicht.  Es  gibt  jedoch 
Milliarden,    die    sich    nicht    zählen    lassen. 

Der  Friede  sichert  ein  Frühstück  ohne  Rußland,  aber 
nicht  ohne  die  Freie  Presse.  Das  ist  denn  doch  ein  etwas  ver- 
hatschter  Ausgang  des  Weltkriegs.  Aber  wie  immer  die  Welt 
nun  laufen  mag,  das  Vorher  und  das  Nachher  bleiben  in  unver- 
geßlichen Tonfällen  festgehalten.  Was  überstanden  ist:  »Wir 
müssen  uns  hineindenken  in  die  Spannungen  und  wir  haben 
alle  miterlebt  die  Morgen,  die  vergällt  waren  durch  Berichte«. 
(Wobei  der  kleine  Ausschnitt  aus  der  bürgerlichen  Lebensweise 
bloß  in  der  Konstatierung  besteht,  daß  da  gefrühstückt  wird.) 
Nun  aber  der  Jauchzer,  der  Ausdruck  für  die  höchste  Entzückung, 
wenn  der  Dulder  aus  Kerkernacht  in  den  Tag  der  Freiheit  tritt 
oder  dem  Liebenden  die  Stunde  erfüllter  Sehnsucht  schlägt:  »In 
Milliarden  ausrechnen  können  wir  das  nicht.  Es  gibt  jedoch 
Milliarden,  die  sich  nicht  zählen  lassen.«  Der  Pathetiker  eines 
früheren  Jahrhunderts  hatte,  den  damaligen  bescheidenem  Ver- 
hältnissen entsprechend,  für  den  Hochstand  der  Gefühle 
höchstens  den  Ausdruck:  >Seid  umschlungen  Millionen,  diesen 
Kuß  der  ganzen  Welt !«  Nebbich.  Wenn  das  Herz  Benedikts 
seine  Schläge  zu  zählen  beginnt,  sind  Schillers  Wonnen  ein 
Pappenstiel  gegen  heutzutag. 


—  215 


Ein  Herzensschrei 


....  Die  englische  Regierung  hat  den  Krieg  durch  eine  Preß- 
politik vorbereitet,  deren  psychologischen  Scharfblick  und  modernes 
Anpassungsvermögen  auch  der  Gegner  anerkennen  muß.  W  i  e 
töricht  sind  die  Menschen  in  den  Parlamenten  und  sonst 
im  öffentlichen  Leben,  die  sich  an  der  Presse  reiben, 
statt  durch  sie  Einfluß  in  der  Welt  zu  gewinnen, 
Wohlwollen  in  der  Fremde  und  Opferbereitschaft  zu  Hause  zu  verbreiten ; 
wie  kleinlich  und  wie  veraltet  sind  die  Urteile,  die  sich  nicht  erweitern 
können  zur  Auffassung  von  Erscheinungen,  die  gerade  in 
diesem  Kriege  die  Wichtigkeit  der  Presse  Allen, 
welche  sie  früher  nicht  begreifen  wollten,  nur 
zu  deutlich  bewiesen  haben.  England  hat  Anhänger  und 
Freunde  in  der  Presse  auf  dem  ganzen  Erdenrund.  .  .  .  Die  Presse 
wird  durch  Achtung  vor  der  Presse  gewonnen  .  .  . 
Hochmut,  der  sich  in  äußerer  Freundlichkeit  versteckt,  Dünkel  in  herab- 
lassenden Formen  und  Mangel  jeder  tieferen  Einsicht  stoßen  ab, 
und  so  kann  es  geschehen,  daß  Länder,  die  längst  begriffen  haben, 
was  die  Presse  ist,  und  sich  ihr  näher  fühlen,  werktätige  Verteidiger 
finden,  zum  großen  Schaden  zurückgebliebener 
Staaten. 

Wie  könnte  Österreich  dastehn!  Es  sind  die  günstigsten 
Vorbedingungen  da.  Es  hat  einen  Benedikt  und  macht  keinen 
Gebrauch  von  der  Mezzie.  England  hat  nur  den  Northcliffe, 
der  doch  keine  Individualität  ist. 

Lord  Northcliffe  ist  für  die  Presse  selbst  immer  schädlich 
gewesen.  Er  hat  ihr  vielfach  genommen,  was  sie  unbedingt  braucht, 
ein  freieres  G e w ä h r e n 1 a s s e n  der  Persönlichkeit 
und  ein  genügend  breites  Feld  für  die  publizistische 
Individualität.  Er  ist  der  Massenfabrikant,  der  Inhaber  vieler 
Zeitungen,  und  solches  Zusammenkoppeln  tut  nicht  gut,  weil  der 
Leser  aus  dem  Blatt  den  Menschen  spüren  will, 
der  zu  ihm  spricht,  auch  wenn  er  ihn  nicht  kennt. 

Der  Leser  in  Wien  spürt  den  Menschen,  der  Mensch  faßt 
ihn  zweimal  im  Tag  am  Rockknopf  und  jüdelt  ihm  ins  Herz 
hinein.  Und  der  Leser  hat  das  gern,  er  läßt  sich  das  gefallen, 
auch  wenn  er  den  Menschen  nicht  kennt,  nein,  weil  er  ihn  nicht 
kennt.  Denn  wenn  ihm  die  Photographie  zum  Frühstück  beigelegt 
würde,   er  würde   doch   unfehlbar  sich   für   den  unpersönlicher 


216 


aussehenden  Northcliffe  entscheiden  und  auf  die  Daily  Mail 
abonnieren.  Und  dies  ist  vielleicht  der  Grund,  warum  zurück- 
gebliebene Staaten  nicht  zugreifen  wollen.  Der  kulturelle  Einfluß 
Benedikts  lebt  von  der  Unsichtbarkeit  und  ist  größer,  als  die 
Individualität  sich's  in  ihrer  Bescheidenheit  zutraut,  weit  größer 
als  der  Northcliffes.  Aber  vor  einer  offiziellen  politischen 
Verbindung  graust's  den  zurückgebliebenen  Staaten,  und  das 
kann  man  ihnen  schließlich  nicht  übelnehmen. 


Der  jüdische  Indikativ 

Ich  habe  den  ganzen  letzten  Winter  nicht  mauscheln 
gehört,  aber  dies  ist  mir  noch  im  Ohr: 

Einer  der  größten  Kenner  von  England,  Sidney  Webb,  hat  gesagt, 
nach  diesem  Kriege  wird  die  Welt  müde  sein,  frieren  und  hungern. 
W  i  r  werden  dafür  sorgen  müssen,  daß  wir  der  Hungersnot  und  der 
Revolution  entgehen. 

Hier  führt  das  Selbstbestimmungsrecht  der  abhängigen 
Sätze  zu  bedenklichen  Weiterungen. 

Er  sagte,  es  ist  nicht  zu  leugnen,  Italien  hat  eine  ernste  Niederlage 
erlitten,  aber  w  i  r  brauchen  nicht  zu  fürchten,  daß  das  Ergebnis  des 
Krieges  davon  beeinflußt  werde. 

Auch  hier. 

Nun  mag  Sonnino  in  Frankreich,  in  London  und  in  dem  so 
heiß  geliebten  Petersburg  fragen,  wie  steht  es  um  die  Erfüllung  des 
Aprilvertrages.    Wo  ist  Istrien,  wo  Triest  und  wo  Dalmatien? 

Hier  scheint  das  Selbstbestimmungsrecht  auch  nicht  zu 
unsern  Gunsten  entschieden  zu  haben.  Ganz  unzweideutig 
dagegen  ist : 

Kerenski  hat  gesagt,  Rußland  ist  erschöpft. 


—  217  — 
Das  rabiate  Ich 


Es  gibt  kein  Land,  wo  die  Leute  nicht  heimlich  flüstern,  ich 
wollt',  es  wäre  Schlafenszeit  und  alles  war'  vorüber. 

Präsident  Wilson  hat  einmal  gesagt,  ich  lege  das  Ohr  auf  den 
Boden  und  horche  auf  die  Wünsche  des  Landes. 

Und  alles  bückt  sich,  flüstert,  fragt:    Was  hat  er  gesagt? 


Der  Ton 

Die  Rettung  des  Kaisers  aus  ernster  Lebensgefahr. 
In    einem    Torrente    nahe    bei    Ruda. 

Der  Kaiser  war  in  einer  sehr  ernsten  Gefahr.  —  —  —  Die 
Gedanken  an  die  Folgen,  welche  dieser  Vorfall  hätte  haben  können, 
möchten  wir  nicht  ausdenken.  —  —  —  Die  Rettung 
des  Kaisers  durch  den  Mut  und  die  Entschlossenheit  vortrefflicher 
Männer  ist  nicht  nur  die  Befreiung  von  einer  Sorge,  sondern, 
fast  möchten  wir  sagen,  eine  politische  Notwendig- 
keit gewesen.  —  —  —  Wir  sind  in  einem  der  wichtigsten 
Abschnitte  des  Krieges  und  der  Kaiser  soll  uns  hinüberleiten  aus 
dem  Blutstrom  zum  ersehnten  Frieden. 

Aus  dieser  Mitteilung  geht  hervor,  daß  der  Kaiser  heute  in 

ernster  Lebensgefahr  geschwebt  hat.  Es  wird  besser  sein,  gar  nicht 
an  die  Folgen  zu  denken,  welche  sich  hätten  daraus  entwickeln  können. 

Die  Schlacht  am  oberen  Isonzo  hat  erst  heute  früh 
begonnen   und  wir  möchten  ihrem  Verlaufe  nicht  vorgreifen. 

Wer  sich  in  die  Italiener  nur  ein  wenig  hineindenkt, 
wird  verstehen  —  — 

—  —  und  da  kann  der  Schrecken  sich  auch  über  die  Grenze 
verbreiten  —  — 

Die  italienische  Grenze  ist  nahe  und  Schrecken  dürfte  sich 
bereits  unter  den  Bewohnern  verbreiten. 

—  —  ohne  die  Möglichkeiten,  die  sich  dem  Nachdenken 
aufdrängen,  schon  jetzt,  ehe  das  Werk  vollendet  ist,  in  den 
Einzelheiten  zu  erörtern. 


-  218  — 


Wir  können  uns  vorstellen,  wie  er  dort  sitzt 
auf  der  Regierungsbank,  im  Palaste  des  Monte  Citorio,  ein 
düsterer,  schweigsamer  Mensch 

—  —  und  Spuren  der  Gedrücktheit  werden  erkennbar. 

Vielleicht  geht  jetzt  schon  ein  Flüstern  durch 
die  englische  Gesellschaft,  daß  der  Krieg  sich  nicht  mehr 
bezahlt  machen  könne  —  — 

Das  Blei  ist  jedoch  im  Flügel. 

Die  Antwort  ist  die  Vernichtung  von  Dünkirchen  gewesen. 
Es  scheint  auch,  daß  die  berühmte  Towerbrücke  in  London  teilweise 
zertrümmert  worden  sei.  Ein  Gerücht  meldet,  daß  auch  einer  der  Türme 
des  Tower  zusammengestürzt  sei.  Schreckliche  Zeiten!  Alle 
diese  Berichte  sind  beklemmend. 

Heute  wird  der  größte  Fliegererfolg  gemeldet, 

der  jemals  stattgefunden  hat. In  der  Nacht  vom  28.  zum 

29.  September  erschienen  die  Flugzeuge  über  der  Stadt  und  die 
Phantasie  kann  sich  ausmalen,  wie  die  Bomben 
herunterdonnern  und  riesenhafte  Flammen  die  Nacht 
erhellen.  —  — 

Wenn  der  Vertrag  über  den  Sonderfrieden  unterzeichnet  wird, 
ist  Lloyd-George  verloren  und  vielleicht  auch  Clemenceau. 
Dann  werden  die  Engländer  und  die  Franzosen  das  Gefühl  haben, 
als  würde  eine  Pulvermine  aufgeflogen  sein  —   — 

(Gerade  dies  Gefühl  müssen  sie  im  Krieg  schon  öfter 
gehabt  haben.) 

Mitglieder  des  Oberhauses  in  England  verlangen  täglich  den 
Verständigungsfrieden.  Wilson  ist  vielleicht  ein  Reisender, 
der  den  Zug  versäumt  hat. 

Die  Schlacht  an  der  Marne  dauert  fort.  Der  Krieg  ist  wie  vor 
vier  Jahren  beinahe  in  die  Nachbarschaft  von  Paris  vorgerückt.  W  i  r 
können  uns  denken,  welchen  Eindruck  die  Nachricht  in  Wien 
hervorrufen  würde,  daß  eine  große  Schlacht  in  Gloggnilz  oder  Neun- 
kirchen stattfinde. 

Nun  werden  sie  schreien  nach  der  amerikanischen 
Unterstützung,  nach  diesem  Irrlicht  der  Entente,  dem  sie  nacheilt 
und  das  sie  immer  tiefer  hineinführt  in  den  Sumpf,  in  Nieder- 
lage und  Verderbnis. 


219 


Was  sind  »Stimmungen« 

von  denen  man  täglich  zu  lesen  bekommt?  Ist  es  etwas,  woran 
man  verdient?  Wird  es  an  der  Börse  gehandelt?  Nein,  nichts 
Solides,  nichts  was  man  »abtasten«  kann. 

Denn  die  Stimmungen  sind  Schlüsse  aus  Vordersätzen  unter- 
halb des  Bewußtseins  mit  der  Wirkung,  daß  sie  dem  berechnenden 
Urteil  vorgreifen. 


Ein  Titel 

Französische    Ausreden    über    den    langsamen    Vormarsch. 
Nein,  die  läßt  die  Neue  Presse  nicht  gelten. 


Der  Untertitel 

Ei»  Geschwader  von  italienischen  Fliegern  über  Wien. 
Heute  am  Vormittag  zwischen  neun  und  zehn  Uhr. 

* 

Die  Entscheidung  der  Krise  bevorstehend. 
Wahrscheinlich  morgen. 

* 

Die  Abreise  des  Grafen  Czernin  nach  Bukarest. 
Übermorgen    Samstag. 


Titel  und  Untertitel 

Der    Friedensvertrag    vom    Moskauer    Sowjet    mit 
ungeheurer   Mehrheit    angenommen. 

Von  195  Sowjets   110  für  die  Ratifizierung. 


220  — 


Die  wichtigsten  Fragen  der  Monarchie  im 
Fluß. 

So,    genau    so    hat    es    ausgesehen.     Die    Verwendung 
dieser  fatalen  Redensart  als  Aufschrift 

hat  eine  Mauschelgewalt,  die  unter  tausend  deutschen  Ohren 
kaum  eins  noch  heute  spürt.  Ob  wir  bald  aus  dem  Wasser  sein 
werden,  hat  der  Artikel  nicht  verraten. 


Staatsprüfung 

Wonach  im  Laufe  des  Tages  folgte  was  am  Abend  wo? 

Nach  den  ernsten  Beratungen  im  Laufe  des  heutigen  Tages 
folgte  am  Abend  eine  gesellige  Veranstaltung  in  den  Räumen  des 
Ministerratspräsidiums. 

Was  führte  rasch  wozu? 

Die  Liebenswürdigkeit   der  Gastgeber  und  ein  sorgsames, 
jedem  Zwange  freies  Arrangement  führte  rasch  zu  einer  belebten  und 
ungezwungenen  Unterhaltung  der  Gäste. 

Wiederhole  das  Gesagte:  Wovon  war  das  Arrangement 
frei?  Von  jedem  Zwange.  Und  wie  war  infolgedessen  die  Unter- 
haltung? Ungezwungen.  Beweise  es: 

An  kleinen  Tischen  fanden  sich  alte  Freunde  zusammen,  neue 
Bekanntschaften  wurden  angeknüpft  und  — 

Was  sonst?  Was  wird  der  Abend  sonst  gebracht  oder 
herbeigeführt  haben?  Besteht  eine  Vermutung? 

Der  Abend  wird  manche  wertvolle  Anregung  gebracht,  manche 
Dauer  versprechende  Beziehung  zwischen  den  deutschen  und  öster- 
reichisch-ungarischen Teilnehmern  herbeigeführt  haben. 

Gut,  fassen  wir  jetzt  noch  einmal  zusammen,  oder  geben  wir 
eine  Schilderung,  wie  sie  etwa  ein  anderer  Gewährsmann 
entworfen  hätte. 


221 


Die  mitten  in  den  unruhevollen  Zeiten  des  Weltkrieges  tagenden 
und  in  eine  ruhigere  und  glücklichere  wirtschaftliche  Zukunft  voraus- 
blickenden deutsch  -  österreichisch -ungarischen  Wirtschaftskonferenzen 
gaben  heute  abend  dem  Ministerpräsidenten  Dr.  Ernst  Ritter  v.  Seidler 
und  Frau  Thea  v.  Seidler  willkommenen  Anlaß,  die  Teilnehmer  an 
diesen  Konferenzen  — 

Aber  was  für  welche  denn,  woher  denn?  Ordentlicher! 
Wie,  aus  dem  deutschen  Reiche?  Noch  ordentlicher! 

Aus  dem  untrennbar  verbündeten  deutschen  Reiche. 

So  ist's  in  Ordnung.  Und  woher  noch?  Aus  Österreich- 
Ungarn?  Keine  Schlamperei,  wenn  ich  bitten  darf! 

und  aus  den  beiden  Staaten  der  österreichisch-ungarischen 
Monarchie 

Sowie? 

sowie  einen  Kreis  hervorragender  Persönlichkeiten  zu  Gaste 
zu  sehen. 

Wobei  war  was  doch  über  die  gesellschaftliche  Veranstaltung 
gebreitet? 

bei  aller  Schlichtheit,  die  der  Krieg  gebietet,  bei  dem  Ernst  — 

Bei  welchem  Ernst? 

der   Zeit    und   der   Gegenstände  der  Beratungen,    war  doch   — 

Also  was  war  gebreitet? 

ein  Hauch  der  gastlichen  Gemütlichkeit 

Der  welchene  ist  das? 

der  den  Ruf  der  Kaiserstadt  in  der  ganzen  Welt  begründet  hat. 

Ah  der,  richtig,  das  hätt'  ich  beinah  selbst  vergessen. 
Was  war  das  historisch  bedeutsame  und  prunkvolle  Palais? 

ein  würdiger  Rahmen  für  den  Empfang  und  — 

Aha,    was   taten   der  Hausherr   Dr.  Ritter  v.  Seidler  und 
Frau  v.  Seidler?  Sie  — 
wetteiferten 
Was  zu  tun?  Von  wem  unterstützt? 

unterstützt  von  den  Herren  des  Ministerratspräsidiums,  den 
Gästen  den  Aufenthalt  an  der  gastlichen  Stätte  so  angenehm  als 
möglich  zu  gestalten. 


222 


Ist  es  gelungen?  Hat's  keiner  bereut?  Waren  A  leerschienen? 

Zum  heutigen  Empfang  waren  etwa  dreihundert  Einladungen 
ergangen  und  es  gab  fast  gar  keine  Absagen. 

Was  war  schon  bald  nach  8  Uhr? 

Schon  bald  nach  8  Uhr  waren  die  Salons  — 

Wovon  gefüllt? 

mit  ihrem  schönen   künstlerischen  Schmuck 

Falsch.  Wovon  gefüllt? 

von  den  Gästen  gefüllt. 

Was  taten  hierauf  Dr.  v.  Seidler  und  Frau  v.  Seidler?  Sie  — 

hießen  jeden  neuen  Gast  herzlich  willkommen. 

So  ist's  recht.  Was  tat  man  unter  den  Anwesenden? 

Unter  den  Anwesenden  bemerkte  man 

Wen  natürlich  zuerst? 

den  Kriegsminister  Freiherrn  v.  Stöger-Steiner 

Wen  noch? 

Banhans  .  .  Cwiklinsky  .  .  Bleyleben  .  .  Exner  .  .  Sieghart 
.  .  Chlumecky  .  .  Ruß  .  .  Groß  .  . 

Genug!  Wie  heißt  der  ungarische  Handelsminister  Stern? 

Szterenyi. 

Wo  standen  die  deutschen  Teilnehmer? 

Im  Mittelpunkte  des  Interesses. 

Fahren  Sie  fort ! 

Ferner    waren    geladen  Aus    Ungarn    waren  außerdem 

geladen   —   —  Das  Ministerratspräsidium  war  vertreten    —         Ferner 
waren  anwesend  —   —  ferner  waren  erschienen  —   — 

Ich  sehe  schon,  Sie  haben  den  Beamtenkalender  gelernt. 
Sie  haben  seit  den  Empfängen  unter  Hohenwart,  Taaffe,  Badeni, 
Gautsch,  Beck,  Stürgkh  nichts  vergessen.  Merken  Sie  es  sich  für 
Hussarek! 


—  223 


Es  kann  passieren 


daß  ein  Artikel,  der  die  Demission  des  Herrn  v.  Seidler  verlangt, 
»der  nötige  Ernst«  betitelt  ist  und  die  Forderung  aufstellt,  es 
müsse  dem  Volke  die  Gewißheit  werden,  daß  er  »oben  nicht 
fehlt«.   Darum   eben   hat  sich   die  Sache   so  lange  hingezogen. 


Der  Admiral 

...  Im  englischen  Kabinett  bestanden  am  31.  Juli  1914  zwei 
Gruppen  ....  Ganz  allein  stand  in  jenem  Augenblick  Winston 
Churchill,  der  als  Erster  Lord  der  Admiralität  die 
Schiffe  bereits  hinter  sich  verbrannt  und  seine 
Pflicht   getan   hatte. 


Erkundungsvorstoß  in  die  Sprache 

Daß  die  Sprache  von  Fachausdrücken  des  alten' Kriegs- 
handwerkes durchwirkt  ist,  merkt  man  erst,  wenn  sie  jetzt 
mit  den  neuen  termini  technici  zusammenstoßen  oder 
zusammenfließen.  Oder  vielmehr:  die  deutsche  Phantasie,  die  sich 
für  deren  Erwerbung  aufgeopfert  hat,  merkt  es  nicht;  und  da  die 
neuen  technischen  Methoden  nicht  die  Kraft  haben,  Sprachgut 
zu  hinterlassen,  so  wird,  wenn  nichts  anderes,  die  alte  Redensart 
den  neuen  Krieg  überleben.  Das  Beispiel  der  bei  einem  erfolgreichen 
Gasangriff  hochgehaltenen  Fahne  setzt  sich  endlos  fort.  Aber 
nicht  nur  der  Anachronismus,  den  unser  ganzes  heroisches 
Denken  vorstellt,  auch  die  Gleichzeitigkeit  von  Tatmethode  und 
Redensart  kommt  einer  entseelten  Sprache  nicht  mehr  zum 
Gefühl.  Daß  einmal  dem  Papst  nachgesagt  wurde,  er  habe  mit 


—  224 


einer  pazifistischen  Forderung  übers  Ziel  geschossen,  war  gewiß 
ein  empfindlicher  Vorwurf.  Aber  empfindlicher  ist  es,  wenn  es 
nicht  karamboliert,  sondern  zusammengeht: 

—  —  durch  Einbruch  in  die  gegnerischen  Linien  —  —  liefer  in  die 
gegnerischen  Slellungslinien  einzudringen  —  —  Einblick  in  die  von 
den  vordersten  Linien  verschiedene  Art  der  Truppenbelegung  zu 
bekommen  —  —  begibt  sich  die  Erkundungsabteilung  wieder  in 
die  eigenen  Linien  zurück  —  —  In  erster  Linie  ist  daran  zu 
erinnern,  daß  ein  größerer  deutscher  Erkundungsvorstoß  statt- 
gefunden hat  —  — 

Mit  solchen  Kleinigkeiten  habe  ich  mich  im  Weltkrieg 
abgegeben  mein  Herrgott,  überzeugt,  daß  die  großen  Angelegen- 
heiten aus  eben  der  Fähigkeit,  sich  bei  einem  Wort,  bei  einer 
Kriegserklärung  nichts  mehr  vorzustellen,  entstanden  sind.  Nach 
solchem  Erkundungsvorstoß  begebe  ich  mich  in  die  eigene 
Sprache  zurück. 


Der  Generalquartiermeister  des  Stils 

Februar  1918 

Kriegsminister     v.     Stein      äußerte      in      einer      Unterredung 
mit      dem      Berliner      Korrespondenten      des      .Budapesti      Hirlap' 

(das  hätte  er  nicht  sollen) 

u.  a. :  Unsere  Lage  an  der  Westfront  sei  gut.  Gegenüber  dem  neuen 
Feinde  Amerika  seien  wir  gut  gerüstet.  Welche  Bedeutung  auch  der 
Technik  zukomme,  die  treibende,  siegreiche  Kraft  bleibe  immer  der 
einzelne  Mann.  Audi  den  neuen  Wunderwerken  der  Technik, 
den    englischen    Tanks,     seien     wir    durch     unsere     Kanonen 

beigekommen Ein    voreiliger    Verzicht    auf    die 

Vorteile  aus  einem  glücklich  verlaufenen  Kriege 
sei  ein  Zeichen  der  Schwäche  .  .  .  . 

Der  Herr  General  Stein  hat  sich   im  ersten  Stadium  der 
Begebenheit   als   Autor   einer  Literatur,   deren  Aktualität  unser 


225 


Interesse  so  lange  wachhielt,  bis  sie  uns  ganz  erschöpfte,  nämlich 
der  deutschen  Generalstabsberichte,  durch  den  Verzicht  auf  die 
Phrase,  auf  den  handgreiflichsten  Vorteil  aus  einem  glücklich 
verlaufenden  Krieg,  bemerkbar  gemacht.  Außerdem  hat  der 
Generalquartiermeister  durch  die  Einräumung  der  mutigen  Ansicht, 
d4ß  ein  Erraffen  der  Vorteile  aus  einem  glücklich  verlaufenen 
Krieg  eine  kulturelle  Katastrophe  bedeute,  wie  der  Zustand 
Deutschlands  seit  Sedan  erschreckend  dargetan  habe,  Aufsehen 
erregt.  Dennoch  und  wenngleich  der  Herr  v.  Stein  damals  eine 
sympathischere  Begleiterscheinung  des  Weltuntergangs  war  als 
etwa  unsere  Schalek,  hätte  man  ihn  der  Bereitschaft,  lieber  ein 
Märtyrer  seiner  Ansicht  als  ein  preußischer  Kriegsminister  zu 
werden,  mit  Unrecht  überführt.  Als  solchem  mag  man  ihm  die 
Erkenntnis  zugutehalten,  daß  die  Technik,  nämlich  ein  Tank, 
weniger  als  der  einzelne  Mann,  nämlich  die  Kanone,  tauge.  Sie 
schließt  durchaus  keinen  Widerspruch  ein,  wie  es  auf  den  ersten 
Blick  scheinen  mag.  Denn  auch  bei  der  Artillerie  ist  immer  mehr 
die  treibende,  siegreiche  Kraft  der  einzelne  Mann,  der  ja  ganz 
gewiß  zum  Beispiel  die  große  Kanone  bedient  hat,  deren  Einwirkung 
auf  Pariser  Kirchenbesucher  mit  Genugtuung  festgestellt 
werden  konnte,  und  der  wohl  auch  einmal  an  dem  Apparat 
beschäftigt  sein  wird,  durch  den  vom  Berliner  Stützpunkt 
die  Festung  London  in  die  Luft  zu  sprengen  ohne  Zweifel  im 
Bereich  der  technischen  Möglichkeiten  gelegen  ist.  Aber  auch 
abgesehen  von  dieser  sachlichen  Motivierung  ließe  sich  die  Ansicht 
des  preußischen  Kriegsministers  schon  rechtfertigen,  wenn  man 
dem  Stilisten  Stein  die  Fähigkeit  zu  bildlicher  Ausdrucks- 
weise zuerkennt.  Man  müßte  den  Satz  nur  richtig  zu  lesen 
verstehen.  Herr  v.  Stein  spricht  vom  »einzelnen  Mann«  und 
rühmt  dabei  »unsere  Kanonen«.  »Kanone«  ist  in  Preußen  — 
vielleicht  eben  aus  dem  Grund,  weil  dort  der  Technik  »große 
Bedeutung  zukommt«  —  der  Maßbegriff  für  Tüchtigkeit,  und 
wie  in  Berlin  vaschtehste  etwa  ein  Weinreisender,  ein  »Dekorateur«, 
ein  Kinoschauspieler  oder  sonst  eine  Kraft  »'ne  Kanone«  heißt 
und  sogar  —  schon  lange  vor  der  Einwirkung  auf  Paris  —  jeder 
Star  »die  große  Kanone«  hieß,  so  wollte  Herr  v.  Stein  offenbar 
auch  die  Soldaten,  die  einzelnen  Männer,  »unsere  Kanonen«  nennen. 


—  226  — 


Möglicherweise  wird  sich,  wenn  der  Krieg  noch  länger  dauert 
und  auch  die  kulturelle  Einwirkung  auf  den  Feind  vonstatten  geht, 
in  England  die  Sitte  herausbilden,  die  dortigen  Individualitäten 
oder  Kräfte  »Tanks«  zu  nennen.  Aber  diesen  wären  unsere  Kanonen 
versteht  sich  erst  recht  überlegen. 


Beweis,  daß  der  amerikanische  Kriegsminister  lügt 

.  .  .  Noch  ein  Wort  des  Kriegsministers  v.  Stein 
war  wichtig.  Er  sagte,  die  Amerikaner  bleiben  an  Zahl  und 
Stärke  weit  hinter  der  Erwartung  und  den  Nachrichten  der  Entente 
zurück.  Diese  Tatsache  bedeutet  eine  der  schwersten  Ent- 
täuschungen der  Entente  und  insbesondere  Frankreichs.  Der 
amerikanische  Kriegsminister  Baker  hat  behauptet, 
daß  700.000  Amerikaner  an  die  französische  Front  geschickt  worden 
seien.  Wenn  das  richtig  wäre,  könnte  Herr  v.  Stein 
nicht  davon  sprechen,  daß  die  amerikanischen  Truppen  erheblich 
schwächer  seien,  als  die  Franzosen  es  erzählen. 


Geographisch  unbekannt 

Englischer  Bericht 

Unser  Angriff  von  heute  morgen  östlich  von  Ypern  wurde 
auf  einer  Front  von  ungefähr  acht  Meilen  .  .  ausgeführt  ....  Das  Nord- 
landregiment nahm  das  Inverneßdickicht,  australische  Truppen  stürmten 
den  Glincorsewald  und  None  Bosch,  schottische  Truppen  im  Vereine 
mit  südafrikanischen  Brigaden  nahmen  Potsdam  Vampir(?)  .   .  . 

Mit  Recht  werden  oft  im  Abdruck  der  feindlichen  Berichte 
Fragezeichen  hinter  den  Namen  von  Örtlichkeiten  angebracht, 
die  es  anscheinend  gar  nicht  gibt  und  mit  deren  Eroberung  der 
Gegner  offenbar  renommieren  will. 


227  — 


Neuer  Maßbegriff 

.  .  .  Gestern  wurde  aus  Genf  gemeldet,  daß  in  Monaco  eine 
Ministerkrise  ausgebrochen  ist!  Die  Welt  hält  den  Atem  an,  die 
Armeen  rüsten  ab,  denn  Ungeheueres  vollzieht  sich.  Das  Land,  das 
ein  Mörser  wegzuhusten  imstande  ist,   ohne  Minister ! 


Ein  Konflikt  zwischen  einer  Dame  und  einem  Offizier 

Irgendwo  war  zu  lesen: 

Zeugen  "gesucht!  Jene  Damen  und  Herren,  welche  Augenzeugen 
des  Vorfalles  waren,  wie  ein  Hauptmann  am  21.  Mai,  um  ljt  1  Uhr 
mittags,  in  einem  59er  Wagen  bei  der  Stiftskaserne  eine  Dame  tätlich 

beleidigte,  werden  gebeten,  Namen  und  Adresse  an  Dr.  Hans  K. 

einzusenden. 

Wie,  fragte  man,  das  gibts?  Ja  das  gibts,  so  leben  wir 
alle  Tage.  Es  wird  noch  Schönres  geben,  und  mir  wem  — 
infolgedessen  -  nimmer  leben.  Der  Advokat  scheint  den  Versuch 
gemacht  zu  haben,  denselben  Aufruf  in  das  vornehmste  Blatt 
der  Residenz  einrückend  zu  machen.  Das  gelang  ihm  aber  nur 
unvollständig: 

[Zeugen  gesucht.]  Jene  Damen  und  Herren,  die  Augenzeugen 
eines  Konflikts  zwischen  einer  Dame  und  einem  Offizier 
waren,  der  sich  am  21.  Mai  um  halb  1  Uhr  mittags  in  einem  59  er 
Wagen  bei  der  Stiftskaserne  abspielte,  werden  gebeten,  Namen  und 
Adresse  an  Dr.  Hans  K.   —   —   einzusenden. 

»  Pardon  Herr  Doktor,  tätlich  beleidigen,  das  geht  nicht  !<  »  Das 
finde  ich  auch,  noch  dazu  eine  Dame!  Ich  bin  Ihnen  dankbar, 
Herr  Redakteur!«  >Und  ein  Hauptmann!  Das  is  zu  stark!« 
>Nicht  wahr!  Ich  bin  Ihnen  wirklich  dankbar!«  »Er  is  imstand 
und  kommt  noch  über  uns!«  »Wir  wollen  nicht  hoffen.  Und  Sie 
ficht  ja  das  nicht  an,  Sie  sind  ja  als  unerschrockener  Vorkämpfer 
bekannt.«  »No  ja,  das  is  was  anders.  Wissen  Sie  was,  wir  wem 
sagen  es  war  ein  Konflikt  mit  einem  Offizier.  Da  kann  man  auch 


228 


glauben,  sie  hat  ihn  tätlich  beleidigt  und  er  sucht  Zeugen.  <  »Ja, 
aber  — «  >Nix  aber,  wir  sind  ein  objektives  Blatt  und  können 
nicht  Partei  ergreifen  zwischen  einem  Hauptmann  und  einer 
Dame.  Waren  wir  dabei?  Etwas  anderes  wäre  gewesen,  wenn 
wir  wären  dabei  gewesen.  Da  hätten  Sie  sehn  sollen,  ob  der 
Hauptmann  sich  getraut  hätte,  die  Dame  tätlich  zu  beleidigen!« 
»Und  wenn  Sie  einem  Konflikt  zwischen  einer  Dame  und  einem 
Offizier  beigewohnt  hätten?«  »Mischt  man  sich  auch  nicht  herein, 
aber  man  bringt!« 


Wie  kann  man  nur 


kein  Freund  des  Militarismus 
sein,  wenn  man 
In  dieser  möglicherweise 
bona  fide  ins  Leben  gerufenen 
Aktion  ist  eine  Einmischung  von 
unberufener  Seite  in  die  aus- 
schließlich der  Entscheidung  der 
verantwortlichen  Re- 
gierungen vorbehaltenen 
Fragen  zu  erblicken  und  es  wird 
befürchtet,  daß  der  Internatio- 
nale Studienkongreß,  wenn  auch 
die  Absicht  ausdrücklich  in  Ab- 
rede gestellt  wird,  doch  ver- 
suchen könnte,  auf  eine 
vorzeitige  Beendigung 
des  Krieges  hinzuwir- 
ken, wodurch  die  Operationen 
der  k.  u.  k.  Armee  ungünstig 
beeinflußt  werden  könnten.  Es 
sind  vertrauliche  Er- 
hebungen zu  pflegen  und 
jene  Persönlichkeiten 
namhaft  zu  machen,  deren  Teil- 
nahme an  dieser  Bewegung 
wahrscheinlich  ist  ...  . 


gleich  daneben  so  etwas  zu 
lesen  kriegt : 
...  ist  beschuldigt,  die  Mann- 
schaft seines  Zuges  in  unerhörter 
Weise  gepeinigt  zu  haben,  wenn 
sie  seinem  Verlangen 
nach  Tabak  und  Brot 
nicht  nachkam  .  .  .  Gaben 
sie  nichts,  so  habe  er  ganz  ein- 
fach in  der  dienstfreien  Zeit  eine 
Koffervisite  abgehalten, 
und  wenn  er  Tabak  oder  Brot 
fand,  habe  er  sich  die  Sachen 
sofort  angeeignet,  ohne 
einen  Heller  dafür  zu  bezahlen  .  .  . 
Oft  ließ  er  Gewehrgriffe 
machen,  noch  lieber  aber  kom- 
mandierte er  so  lange  »Auf 
und  nieder«,  bis  den 
Leuten  das  Blut  aus  Mund 
und   Nase  rann   .   .   .   . 


229  — 


Es  wird  alles  aufgebauscht 

.  .  .  Wenn  trotzdem  Beschwerden  geführt  werden,  so  könne 
es  sich  nur  um  Übergriffe  untergeordneter  Organe 
handeln. 

Dies  setzt,  wenn's  ehrlich  gemeint  ist,  immerhin  voraus, 
daß  man  eine  Hinrichtung  leichter  erträgt,  wenn  sie  nicht  auch 
mit  einer  schmerzlichen  Enttäuschung  am  Justizminister  verbunden 
ist.  Leider  aber  hat  man  es  in  den  verschiedenen  Lebenslagen 
zumeist  mit  dem  Wachmann  zu  tun  und  weit  öfter  mit  dem 
Feldwebel  als  mit  dem  General.  Man  darf  aber  eben  deshalb  nicht 
generalisieren.  »Was  machen  S'  denn  für  an  Pahöl!  Der 
was  Ihnen  in  der  Wachstuben  eine  Watschen  gegeben  hat,  war  ja 
nur  ein  untergeordnetes  Organ,  Sie  Tepp!« 


Das  Menschenmaterial 


Ein  Erlaß  der  zehnten  Abteilung  des  Kriegsministeriums  vom 
8.  April  bestimmt:  Frontdiensttaugliche  sowie  frontdienstuntaugliche 
Professionisten-Heimkehrer  sind  an  die  Arbeitersammei- 
kader vorläufig  nicht  mehr  abzugeben.  Bereits  an  die  Arbeiter- 
sammeikader abgegebene  frontdiensttaugliche  Heimkehrer-Professio- 
nisten  sind  sofort  an  die  zuständigen  Ersatzkörper  zurück  zu- 
in  stradieren.  An  die  Arbeitersammeikader  abgegebene  frontdienst- 
untaugliche Heimkehrer-Professionisten  sind  dort  zu  belassen,  bestens 
zu  disziplinieren  und  a  u  f  entsprechende  Arbeiten  in  geschlossenen 
Arbeitspartien  heranzuziehen.  Einzelabgaben  jeder  Art 
sind  vollkommen  unzulässig.  Von  den  Arbeitersammeikaders  an 
Betriebe  bereits  Abgegebene  sind  einzuziehen  und  gemäß  obigem 
zu  behandeln.  .  .  .  Etwa  an  die  Betriebsabteilung  Kleinmünchen 


230 


bereits  abgegebene  Heimkehrer-Eisenbahner  sind  an  die  zuständigen 
Ersatzköiper  zurückzuschieben. 

Was,  da  staunt  wohl  selbst  der  Marsbewohner. 


Neuorientierung 


....  Hauptmann  Polletin  der  Abteilung  III U  des  Ministeriums 
für  Landesverteidigung  orientierte  nun  die  Teilnehmer  über  Wesen, 
Zweck  und  Durchführung  der  vaterländischen  Erziehung  .... 
Er  verteidigte  vor  allem  das  Ministerium  für  Landes- 
verteidigung gegen  die  Anklage,  daß  es  in  Fragen  der 
Jugenderziehung  nicht  kompetent  sei.  Das  Militär  ist  wie 
ein  Fabrikant:  aus  Rohmaterial  soll  es  Produkte 
machen,  es  ist  also  von  großer  Wichtigkeit,  daß  es  gutes, 
ja  besseres  Material  erhalte.  Wir  haben  keine 
Garantie  für  einen  künftigen  Frieden,  wir  brauchen 
tüchtige  Soldaten.  Das  Ministerium  für  Landesverteidigung  hat  Interesse 
an  der  Güte,  an  der  Erstklassigkeit  des  Menschen- 
materials. Darum  bekundet  es  lebhaftes  Interesse  für  alles,  was 
damit  zusammenhängt :  Mutterschutz,  Säuglingsschutz, 
Kleinkinderfürsorge,  Schulzwang,  Frauenarbeit  bei  Nacht  und  auch  für 
Jugenderziehung.  —    — 

—  —  Der  letzte  Vortrag  des  ersten  Tages  war  der  des 
Regierungsrates  Schiffner  über  die  vaterländische  Erziehung  vom 
Standpunkte  des  Schulmannes  und  Erziehers.  Mit  begeisterten 
Worten  erklärte  er,  daß  wahrhaftige  Schulmänner 
nur  im  Sinne  der  Wehrmacht  und  im  Interesse  der 
Wehrfähigkeit  tätig  sein  können.  Mit  größerer  Aus- 
führlichkeit ließ  er  sich  über  die  Notwendigkeit  der  Ausbildung  der 
Sinne  aus,  besonders  des  Gesichts  und  Gehörs,  aber  auch  die 
übrigen  Sinne  dürfen  nicht  vernachlässigt  werden. 
Zumindest  ist  darnach  zu  streben,  daß  die  Organe  nicht 
geschädigt,  sondern  gehegt  und  geschont  werden. 

Was  wir  von  der  ethischen  Erziehung  fordern,  auch 
das  stimme  mit  den  militärischen  Anforderungen  überein  .... 


—  231  — 


Die  Anwesenden  zollten  dem  schönen  und  begeisterten  Vortrage 
lebhaften  Beifall. 

Nachmittags  begaben  sich  die  Teilnehmer  des  Kurses  auf  den 
Kahlenberg  und  den  Leopoldsberg,  wo  praktische  Darbietungen 
der  Jungmannschaft  stattfanden. 


Kindheit  und  Wiesenglück 

[Verunglückte  Kinder.]  Aus  Görz  wird  uns  berichtet:  In  der 
Ortschaft  Vipolze  bei  Görz  fanden  fünf  Kinder  im  Alter  von  fünf 
bis  zwölf  Jahren  auf  einer  Wiese  eine  Handgranate,  die  sie  zur 
Explosion  brachten.  Ein  neunjähriger  Knabe  blieb  auf  der  Stelle  tot 
liegen.  Ein  anderer  verschied  während  der  Überführung  ins  Kranken- 
haus. Nach  ärztlicher  Aussage  ist  auch  hinsichtlich  der  anderen 
schwerverletzten  Kinder  wenig  Hoffnung,  sie  am  Leben  zu  erhalten. 

Ein  Trauermantel,  der  letzte,  folgte  dem  Zug. 


232 


Eine  prinzipielle  Erklärung 

November  1917 

Es  hat  vor  einigen  Monaten  einen  Augenblick 
in  der  Weltgeschichte  gegeben,  wo  die  Hoffnung 
aufleuchtete,  daß  diese  zerschundene  Maschine,  die 
Mensch  genannt  wird,  wieder  zum  Menschen  werden 
könnte,  und  weil  diese  Hoffnung  in  Österreich 
geboren  wurde,  war's  auch  die  Hoffnung,  ein  Patriot 
zu  sein,  Patriot  im  edelsten,  längst  nicht  mehr  vor- 
rätigen, längst  vergriffenen,  längst  ersetzten  und  ver- 
fälschten und  nun  plötzlich  wieder  lebendigen  und 
heimatsberechtigten  Sinne.  Es  waren  Worte  gesprochen 
worden,  die  mehr  waren  als  Taten,  denn  sie  waren 
die  Erholung  von  Taten;  Worte,  deren  letztes  freilich 
wieder  der  Tat  glich  und  darum  dem  Glauben 
die  Aussicht  auf  Erfüllung  entrückte.  Dennoch, 
es  war  die  Idee;  nach  dem  verhängnisvollen  Walten 
der  Quantität  doch  etwas  vom  Geiste.  Es  war  zum 
erstenmal  aus  dem  Munde  eines  mitteleuropäischen 
Staatsmannes  die  Sehnsucht  der  Menschen  bejaht 
worden,    sich    von    dem    furchtbarsten    Erdenfluche, 


Nun,  da  der  externe  Mitarbeiter  der  Neuen  Freien  Presse 
Czernin  den  als  Handgriff  einbekannten  Vorschlag  zur  Welt- 
befreiung wieder  als  Evangelium  reklamiert  und  nach  Ausbruch 
des  Friedens  mit  Rußland  die  Budapester  Rede  dort  aufnehmen 
möchte,  wo  er  sie  unterbrochen  hat;  nun,  da  wir  im  Sinne 
der  Wiener  Rede  in  der  äußern  Politik  zwar  Qott  sei  Dank 
den  deutschen  Kurs  steuern,  aber  im  Sinne  eines  Wiener  Zeitungs- 
artikels hoffentlich  den  Weltkurs  steuern  werden;  nun,  da  die 
Möglichkeit  einer  militärischen  Entscheidung  von  jenen  Spielern 
bestritten  wird,  die  alles  auf  eine  günstige  Kriegskarte  gesetzt 
hatten,  und  Kant  wieder  öfter  als  Krupp  zitiert  wird  —  mag  die 
vor  einem  Jahr  gehaltene,  dann  zweimal  wiederholte  Ansprache 
auch  hier  zu  Ehren  kommen. 


233 


unter  dem  sie  je  seit  Erschaffung  ihren  Nacken 
gebeugt  hielt,  durch  ein  Machtwort  über  sich  selbst, 
also  durch  den  Aufstand  der  Menschenwürde  zu 
befreien,  vom  Militarismus  nicht  als  einer  wirtschaft- 
lichen Last  allein,  sondern  von  dem  Alpdruck  der 
militaristischen  Lebensanschauung,  und  nicht  mehr 
jener,  die  einst  als  das  Vorrecht  eines  Berufs  das 
Leben  auf  die  Spitze  eines  Säbels  gestellt  hat,  sondern 
der  Geistesrichtung,  die  dasLeben  unter  dem  Verhängnis 
tödlicher  Zufallswirkungen  und  einer  meuchelmörde- 
rischen Technik  zum  Ersatz  für  Menschenrechte  und 
zur  Sicherung  merkantiler  Interessen  gefangen  hält. 
Der  Staat  schien  plötzlich  der  Menschheit  Recht  zu 
geben  in  ihrem  bis  dahin  strafbaren  Verlangen  nach 
Selbstbefreiung  aus  der  schmachvollsten  Knechtschaft, 
in  die  ihr  Erwerbsgeist  die  schuldige  und  unschuldige 
Kreatur  gejagt  hat,  als  ein  organisiertes  Schicksal 
über  allem  Lebendigen,  Männern  und  Müttern, 
Säuglingen  und  Tieren,  immer  die  würgende  Faust 
zwischen  die  Sonne  und  dieses  kurze  Menschendasein 
gereckt.  Daß  diese  Teufelsmacht  es  verstanden  hatte, 
die  Träger  des  staatlichen  Machtideals  herumzu- 
kriegen, sich  gar  die  alte  Glorie  für  ihre  schmutzige 
Neuerung  auszuleihen  und  schließlich  durch  den 
Tod  der  Menschheit  zum  hohnlachenden  Triumph 
des  Wuchers  über  den  wehrlosen  Schlachtensieg  zu 
führen  —  dies  ungeheuerste  Erlebnis  behält  durch 
alle  Wirklichkeit  hindurch  die  närrische  Gestaltung 
eines  Fiebertraums,  und  die  unter  uns  nicht  stehlen, 
sondern  nur  fühlen,  müssen  in  einem  narkotischen 
Zustand  die  Zeit  durchschreiten,  um  dieses  Unmaß 
von  Phantastik  außerhalb  des  Tollhauses  durchzu- 
halten. Wie  könnte  uns  Vernunft  und  Ehre  sonst 
erlauben,  Raumgenossen  dieser  Zeitgenossen  zu 
sein?  Wie  könnten  wir  seit  vier  Jahren  in  dieser 
Hyänenluft  den  Lebensmut  aufbringen,  uns  um  das 
tägliche  Brot  zu  quälen?  Nun  war's  ein  Augenblick, 


234 


zu  glauben,  die  Menschheit  hätte  die  Prüfung 
bestanden  und  sei  reif  zur  Reue.  Nicht  mehr  werde 
es  künftig  die  ingeniöse  Phantasiearmut  vermögen, 
uns  in  diese  Delirien  zu  treiben.  Der  menschheits- 
widrige Gedanke,  der  den  Lebenszweck  dem  Lebens- 
mittel und  also  dem  Todesmittel  unterstellt  hat, 
liege  in  den  letzten  Zügen.  Nicht  fortsetzbar  sei  der 
Zustand,  daß  nicht  nur  einer  Klasse  von  Bunt- 
gekleideten Gewalt  über  die  Farblosen  gegeben  ist, 
sondern  daß  alle  auf  einmal  durch  ein  Zauberwort 
bunt  werden  können,  alle  über  alle  Macht  gewinnen, 
alle  vor  allen  Ehre  gewinnen,  alle  gezwungen  sind, 
einander  zu  grüßen  und  allerhand  Hochachtung  vor 
einander  zu  haben.  Ich,  der  ich  vor  der  Gesellschaft 
umso  weniger  Hochachtung  habe,  je  mehr  sie  in 
ihrem  eigenen  Ansehen  steigt,  der  sie  im  Gegenteil 
erst  dann  auf  das  Tiefste  mißachtet,  sobald  sie  ihre 
abgelebten  Machtvorstellungen  mit  ihrer  frischen 
Raubgier  verbündet,  sich  selbst  zu  wechselseitiger 
Bewucherung  mobilisiert  und  einen  Jargon  aus  Fibel 
und  Börse  nachbetet,  wenns  die  gute  Sache  der 
allgemeinen  Peinigung  gilt  —  ich  muß  bekennen, 
daß  ich  an  den  Entschluß  zur  Einkehr,  an  den  Ernst 
der  Erkenntnis,  daß  die  Zukunft  des  Geschlechts  bei 
Kant  besser  als  bei  Krupp  aufgehoben  sei,  ernsthaft 
geglaubt  habe.  Die  Einfalt  kann  eine  Wahrheit  nicht 
schnell  genug  erleben,  und  sie  fühlt  sich  nicht 
beschämt,  wenn  sich  herausstellt,  daß  ein  Staats- 
mann zwar  einmal  die  Wahrheit  gesagt,  aber  an  sie 
nicht  geglaubt  hat.  Wenn's  noch  zu  früh  ist,  warte  nur 
balde  wird  die  Weltanschauung,  die  diesen  Krieg 
bewirkt  hat  und  die  sich  mit  Gott  durch  jeden 
Tag  des  Siegs  widerlegt,  sich,  sagen  wir  bis  zum 
letzten  Hauch  von  Mann  und  Roß  erledigt  haben. 
Möge  es  dann  noch  Zeugen  geben!  Und  hätte  sie's 
freiwillig  rechtzeitig  getan,  wie  schön  wäre  es  gewesen 
und    hätte   dem   Krieg  fast   die  Weihe   eines   Plans 


—  235 


verliehn.  Nun  aber  haben  wir  von  Kant  zu  Krupp 
heimg'funden  und  in  Tat  und  Wort  neuerdings 
erfahren,  daß  wir  bei  jenem  uns  nur  so  pro  forma 
aufgehalten  haben  und  daß  wir  auch  weiterhin  damit 
vorlieb  nehmen  wollen,  Feldherrn  zu  Ehrendoktoren 
der  Philosophie  zu  machen.  Und  aus  dem  Munde 
des  schlechtesten  und  deshalb  wichtigsten  Menschen, 
der  heute  in  Österreich  zur  Öffentlichkeit  spricht, 
haben  wir  Schwärmer  die  Aufklärung  empfangen, 
daß  die  Botschaft  der  letzten  sittlichen  Errettung  der 
Menschheit  ein  »Handgriff«  war.  Man  höre: 

—  —  —  Es  liegt  in  der  Persönlichkeit  des  Grafen  Czernin, 
daß  er  das  Verschleppen  und  Gehenlassen  nicht  leicht  erträgt.  Er 
hatte  sofort  das  Bedürfnis,  das  Evangelium  des  Präsidenten  Wilson, 
das  jedoch  nicht  den  Frieden,  sondern  den  Krieg  bringen  sollte,  i  n 
unsere  diplomatische  Sprache  zu  übersetzen.  Die 
Menschen,  die  vom  Schwünge  seiner  Rede  in  Budapest  gefesselt 
waren,  haben  zuweilen  übersehen,  welche  praktische  Ver- 
anlagung sich  darin  zeigte  und  wie  groß  die  Verlegenheit  der 
Entente  über  den  Handgriff  war,  mit  der  ihr  eine  Waffe 
entwunden  worden  ist.  Nicht  etwa,  daß  Graf  Czernin  die 
Gesinnung,  zu  der  er  sich  bekannte,  nicht  vollständig  in 
sich  aufgenommen  hätte.  Der  Diplomat  braucht  solche 
Meinungen  als  Zielpunkte,  aber  das  tägliche  Leben  hat 
auch  andere  Bedingungen. 

Das  tägliche  Leben,  das  tägliche  Sterben. 
Halten  wir's  durch!  Warten  wir  ab,  wie  lange  diese 
Bedingungen  ihre  Tragfähigkeit  und  Geltung  bewahren. 
Es  kommt  die  Zeit,  wo  stärker  als  der  siegreichste 
Staat  die  Erkenntnis  sein  wird,  daß  kein  Macht- 
zuwachs, aber  selbst  nicht  die  Machterhaltung  den 
Verlust  an  Lebenswerten,  den  sie  bedingen,  lohnen 
kann.  Ich  spreche  gegen  die  Hochverräter  an  der 
Menschheit!  Ich  spreche  irn  Namen  einer  Irredenta 
des  sittlichen  Ideals!  Die  in  der  deutschen  Ideologie 
befangene  Welt  weiß  es  nicht  —  aber  ich  habe  schon 
im  Jahre  1914  nicht  gezweifelt,  daß  dies  ein  Religions- 
krieg ist,   geführt  von   der  nüchternsten  Welt  gegen 


—  236 


eine,  die  die  eigene  Nüchternheit  mit  abgelegten 
Machtfetzen  »aufmachen«  und  gar  exportieren  wollte. 
Ich  erlebe  die  Genugtuung,  daß  diese  schmerzlichste 
Intuition  nun  von  Männern,  die  im  praktischen 
Leben  das  Lügen  nicht  erlernt  haben,  bestätigt  wird. 
Weder  den,  der  nur  geahnt,  noch  die,  welche  wissen, 
darf  es  bekümmern,  daß  die  wahren  Hochverräter 
an  der  Menschheit,  und  am  Vaterland  selbst,  für  diese 
Erkenntnis  den  Vorwurf  des  mangelnden  Patriotismus 
bereit  halten.  Wie  es  die  Staaten  anstellen  werden, 
das  Glück  ihrer  Bürger  mit  jenen  Interessen  zu 
vermählen,  die  ihnen  bisher  die  wichtigeren  waren, 
darüber  mögen  sich  Politiker  den  Kopf  zerbrechen, 
wenn  er  ihnen  nur  erst  einmal  mit  Ehrfurcht  vor 
dem  Sinn  des  Lebens  angefüllt  ist.  Ich  habe  nur  zu 
wissen,  daß  jener  Staat  der  Sieger  sein  wird,  der 
die  größte  moralische  Macht  aufbietet,  dem,  was  er 
bisher  als  Übel  empfunden  hat,  nicht  zu  wehren, 
und  der  im  plötzlich  ausbrechenden  Wettabrüsten 
den  andern  voran  sein  wird.  Es  ist  unmöglich,  daß 
der  Fortschritt  in  der  Verbreitung  giftiger  Gase  die 
Entwicklung  eines  Gedankens  aufhalten  kann;  es 
sei  denn,  daß  es  ihm  inzwischen  gelingen  könnte, 
die  Menschheit  in  einen  lorbeerumhüllten  Leichnam 
zu  verwandeln.  Da  ich  Gottseidank  nur  Optimist  und 
nicht  Staatsmann  bin,  also  auch  keinesweg  imstande, 
meine  Überzeugung  einer  noch  vorrätigen  Kriegs- 
karte anzupassen  und  meinen  Gottesglauben  erforder- 
lichenfalls als  Handgriff  einzubekennen,  so  kann  ich 
nicht  anders  als  aussprechen,  was  ich  zugunsten  der 
Menschheit  denke.  Und  selbst  wenn  das  Aussprechen 
auf  technische  Schwierigkeiten  stieße  —  ich  meine 
da  nicht  nur  den  Überfluß  an  Paragraphen,  sondern 
auch  die  Not  an  Papier,  die  das  Erscheinen  meines 
Wortes  in  Frage  stellt,  während  sie  das  Erscheinen 
der  Zeitschande  ermöglicht  — ,  nun,  auch  dann  wäre 
das   Denken   stark   genug,    schon   ganz    von    selbst 


237 


durch  die  Dünste  eines  Zeitalters  zu  dringen.  Denn 
das  Ärgste  was  dem  Menschen  bekanntlich  passieren 
kann,  ist,  daß  er  einrückend  gemacht  wird;  nie  aber 
könnte  er  nicht  denkend  gemacht  werden  und  selbst 
der  tödliche  Zufall,  dem  er  ausgesetzt  wird,  kann  an 
der  eingebornen  Disposition  nichts  ändern,  weil  ein 
einmal  gedachter  Gedanke  stärker  ist  als  eine  millionen- 
mal  vollbrachte  Tat.  Die  Kloake  in  einem  Schützen- 
graben reinigen  ist  überdies  eine  belebende  Separation 
von  der  Wirkungssphäre  jener,  die  sich  dort  Schatz- 
gräber halten,  und  wo  immer  ich  innerhalb  dieser 
Zeit  stünde,  mein  stummer  Blick  träfe  sie  vernich- 
tender, als  sie  mir  leiblich  nahe  kommen  könnte, 
und  darüber  hinaus!  Mir,  das  mögen  sich  alle  Rädels- 
führer dieser  Gegenwart  gesagt  sein  lassen,  kann 
nichts  mehr  geschehn,  seitdem  ich  eine  Mannheit, 
die  sich  auf  den  Wink  ihrer  Habsucht  der  Maschine 
ergeben  hat,  für  entehrt  halte  und  eine  Weibschaft 
nicht  minder,  welche  ihr  Instinkt  nicht  davor  bewahrt 
hat,  hierin  eine  Befriedigung  ihres  mütterlichen  oder 
erotischen  Stolzes  zu  erblicken.  Die  Hoffnung  also, 
daß  die  Menschheit  um  ein  paar  Jahre  früher  als 
sie  dazu  gezwungen  sein  wird,  an  Gott  glaube  — 
ist  vorüber.  Mir  bleibt  keine  als  die,  daß  die  Zeit, 
von  der  jeder  einzelne  Staat  glaubt,  daß  sie  für  ihn 
wirke,  gegen  sie  alle  wirkt.  Die  Menschheit 
aber,  wenigstens  die  hiesige,  'scheint  sich  noch  mit 
einer  andern  Hoffnung  fretten  zu  wollen.  Es  ist  die 
Hoffnung  —  man  lache  nicht  vor  dem  Tragischesten, 
das  uns  dieser  Karneval  beschert  hat  —  es  ist  die 
Hoffnung  auf  Hebung  des  Fremdenverkehrs.  Wie  das? 
Ich  will  es  beweisen.    . 

Ein  englischer  Journalist  hatte  den  törichten 
Einfall,  den  Deutschen  aufzubringen,  daß  sie  »aus 
Kadavern«,  er  meinte  aus  Soldatenleichen,  Fett 
gewinnen.  Die  Deutschen,  nicht  faul,  faßten  gleich  den 
Plan  zu  einer  wissenschaftlichen  Arbeit,  die  nun  im 


—  238  — 


Auftrag  des  Berliner  Auswärtigen  Amtes  flott  von  statten 
geht  —  der  Beweis  ist  in  meinen  Händen  — ,  also  den 
Plan  zu  einer  wissenschaftlichen  Arbeit  zu  internatio- 
nalen Propagandazwecken,  wie  es  ausdrücklich  heißt; 
sie  sammeln  wirklich  und  wahrhaftig  Material,  aus 
dem  hervorgehen  soll,  daß  die  Engländer  und  Franzosen 
schon  seit  jeher  aus  Menschenleichen  Fett  und  öl 
produziert  haben.  Diese  Kulturpropaganda  hat  in 
den  Tagen  unserer  Postulate  nach  einem  Verständi- 
gungsfrieden praktisch  eingesetzt.  Der  Unglücks- 
mensch, ein  gewisser  Schultze,  den  das  Amt  mit 
dieser  Arbeit  betraut  hat,  ist  von  einem  Spaßvogel 
in  Hamburg  dazu  verführt  worden,  mich  um  fach- 
männische Unterstützung,  »aus  dem  Schatze  meiner 
Kenntnisse«  wie  er  sagt,  anzugehen,  wobei  das 
Wort  »ausgerechnet«  zum  erstenmal  seit  dessen 
Entstehung  am  Platz  sein  dürfte.  Wollte  ich  das 
Dokument  vorlesen,  man  würde  an  die  Geistes- 
verfassung in  Alldeutschland  mit  gesträubten  Haaren 
glauben  lernen.  Das  Werk  wird  den  Titel  führen: 
»Grab-  und  Leichenschändungen  durch  Engländer 
und  Franzosen«,  die  deutsche  Wissenschaft  ist  am 
Werke.  Und  Österreich?  Österreich  hat  dafür  den 
Fremdenverkehr.  Das  heißt,  es  hat  ihn  nicht  und 
das  war  sein  Verderben.  Man  lache  nicht!  Was, es 
mit  der  Fettgewinnung  aus  Soldatenleichen  zu 
schaffen  hat?  Es  ist  das  nämliche;  man  höre: 

Der  Fremdenverkehr  nach  dem  Krieg. 

Äußerungen    des    Leiters    des    niederösterreichischen 

Landesverbandes  für  Fremdenverkehr  Generalsekretär 

Hauptmann  Gerenyi. 

Bekanntlich  fand  dieser  Tage  i  m  A  n  s  c  h  1  u  ß  an  die  Tagung 
der  ärztlichen  Abteilungen  der  waffenbrüderlichen 
Vereinigungen  ein  Gedankenaustausch  unter  Vertretern  der 
FachgruppenfürFremdenverkehrder  waffenbrüderlichen 
Vereinigung   Deutschlands,  Ungarns  und  Österreichs  statt. Nun 


—  239 


werden  selbst  verständlich  die  französischen  und  belgischen  Fremden- 
verkehrsplätze  aller  Voraussicht  nach  von  den  Reichsdeutschen 
nicht  aufgesucht  werden.  Für.  die  Nordseebäder  bietet  ja  die  deutsche 
Küste  ausreichenden  Ersatz.  Die  französische  Riviera  mit  ihren 
klimatischen  Vorzügen  als  Frühlings-  und  Herbstaufenthalt  zu  ersetzen, 
dazu  ist  sicherlich  die  österreichische  Küste  der  Adria  vorzüglich 
geeignet,  die  demnach  auch  einen  großen  Fremdenzufluß  zu  erwarten 
haben  wird.  Außerdem  werden  die  Alpenländer  mit  ihren  hervor- 
ragenden Kriegserinnerungen  einen  Anziehungspunkt  des 
mitteleuropäischen  Reisepublikums  bilden,  wie 
schließlich  auch  der  pietätsvolle  Besuch  der  Helden- 
gräber und  Soldatenfriedhöfe  eine  lebhafte  Verkehrs- 
bewegung zur  Folge  haben  wird.  Es  handelt  sich  ja,  unser 
Haus  wiederum  zu  bestellen.  .  .  . 

Bestelle  dein  Haus,  denn  du  wirst  sterben! 
sagt  Jesajas.  Und  nichts,  was  wir  seit  dem 
1.  August  1914  mit  starren  Augen  gelesen  haben, 
vermöchte  an  dieses  hinanzureichen.  Gefallen  zur 
Hebung  des  Fremdenverkehrs!  Keine  Heiterkeit,  die 
sonst  mit  den  Hanswurstiaden  unserer  Fremden- 
verkehrssehnsucht verbunden  bleibt,  dämpfe  das 
Grauen  dieser  Idee.  Als  die  Reste  des  Regiments 
von  Uszieczko  vor  einem  Theaterparkett  defilieren 
mußten,  wähnte  ich,  die  Entmenschung  sei  nicht 
mehr  zu  überbieten.  Nun  aber  sollen  die  Toten  des 
Regiments  zur  Parade  vor  den  zahlenden  Besuchern! 
Gefallen  zur  Hebung  des  Fremdenverkehrs!  Nein, 
aller  Abscheu  vor  allem,  was  diese  Zeit  uns  angetan 
hat,  trete  scheu  zur  Seite  vor  diesem  Plan.  Meine 
Metapher  ist  wahr  geworden:  Wir  lugen,  schrieb 
ich,  noch  auf  Leichenfeldern  nach  einem  Fremden- 
verkehr und  wir  können  es  uns  nicht  versagen, 
schrieb  ich,  die  endlich  herankommenden  Hyänen  zu 
würzen.  Nun  wird  es  mir  buchstäblich  erfüllt!  Die 
Gesellschaft,  die  nach  Heringsdorf  ging,  ehe  sie 
der  Menschheit  den  Krieg  ansagte,  soll  unsere 
Soldatengräber  besichtigen  kommen,  so  hoffen  wir 
Waffenbrüder.  Wenn  sich  der  noch  lebendige  seelische 
Rest    in    uns   gegen   diese    Erfüllung,    gegen    diese 


—  240  — 

Erwartung  nicht  aufbäumt,  so  werden  es  die  irdischen 
Reste  unserer  Toten  tun!  Und  wenn  sie's  nicht  tun, 
weil  selbst  der  Tod  von  dieser  Diebszeit  um  sein 
Wunder  geprellt  wurde,  wenn  sich  unter  uns  kein 
Rächer  dieses  Frevels  erhebt  —  ich  werde  fern  von 
der  Landesgrenze  sein,  innerhalb  deren  es  sich 
begeben  soll,  in  Gegenden,  in  denen  die  Sprache, 
die  ich  schreibe,  nicht  gesprochen  und  darum  besser 
verstanden  wird.  Die  Fremden  mögen  kommen  — 
um  einen  Einheimischen,  der  diese  Blütenträume 
reifen  sieht,  wird  es  weniger  geben.  Ich  bestelle 
mein  Haus!  Ich  gehe  zu  den  Fremden!  Keine  Macht 
wird  stark  genug  sein,  mich  bei  lebendigem  Leib 
zu  zwingen,  der  Mitbürger  jener  Menschen  zu 
bleiben,  die  es  erdacht  haben  und  die  es  geschehen 
ließen.  Denn  nie,  solange  ich  Atem  habe,  werde  ich 
zugeben,  daß  mir  meine  Freunde  getötet  wurden, 
damit  einer  aus  Berlin,  der  daran  verdient  hat,  ihre 
Gräber  besichtigen  könne  und  Geld  unter  die  Leute 
komme.  Solange  es  unwidersprochen  bleibt,  solange 
nicht  feierlich  kundgemacht  wird,  daß  es  nie 
gesprochen  wurde,  erkläre  ich  den  Staat  und  jeden 
seiner  Bürger,  die  es  gelesen  oder  durch  meinen 
Bericht  empfangen  haben  und  es  dennoch  geschehen 
ließen,  alle  Amtlichkeit  und  Sozietät  an  dem  Gottes- 
frevel für  mitschuldig!  Unwürdig  des  tragischen 
Inhalts  dieser  durchlittenen  Jahre!  Unwert  der  Ehre, 
daß  ein  toter  Soldat  in  den  Alpen  begraben  liegt! 
Und  wehe  der  Gewalt,  die  die  Wirksamkeit  dieses 
Fluches  anzutasten  wagt! 


Vorlesungen  Karl  Krau 

Kleiner  Konzerthaussaal 

(III.  Lothringerstraße  20) 

Im  Oktober: 

Sonntag,  13.,  6  Uhr 

Donnerstag,  17.,  */2j7  Uhr 

Sonntag.  27.,  0  Uhr 

Im  November: 

Freitag-     1.»  4  Uhr: 
Aus  drei  Akten  des  »Timon  von  Athen» 
und    »Hanneie  Matteres   Himmelfahrt« 

(mit  M'iSikbegiettwg) 
(Unbestimmt :) 

Sonntag,  10.,  3  Uhr 
Sonntag,  17«,  3  Uhr 
Sonntag,  24.,  3  Uhr 

(Bei  den  Voiüescngcn  aus  eigenen  Schriften  ein  Teil  des  Ertrags, 
^H     bei  den   anderen   der  volle  Ertrag  für  wohltätige  Zwecke.) 


KARTEN   an    der    Konzert  hau  ska^sa,    HE.   Loth  ringt 
straße  25,  bei  Kehlendorfer,  I.  Krugerstraße  3   und 
dzr  Buchhandlung  Richard  Lfiayi,  I.  Karntnerstraße  4 

Herau5»ebrt  nnti  «r!#brarÜtetier  Redakteur:    Karl    Kraus 


HUV.     lykO  1>X\..   *477/^^^J^   ^^  -fx-nk.-    umu' 


E  FACKEL 


HERAUSGEBER 


KARL  KRAU 


INHALT: 

Weltgericht  /  Lied  des  Alldeutschen  /  Mir  san  ja  eh  die  reine 
-amperln   /   Österreichs  Fürsprech  bei  Wilson  /  Heldengräber 
Hausmannskost  /  Absage   /  Die  Sintflut. 

Mit  einem  Bild 


NACHDRUCK   VERBOTEN 

Preis  dieses  Heftes: 

60  Heller  =  50  Pfennig: 


VERLAG:  ,DIE  FACKEL',  WIEN 

m/2.   HINTERE  ZOLLAMTSSTRASSE    3     TELEPHON    Nr.   187 
ERSCHEINT  MINDESTENS  VIERMAL  IM  JAHRE. 


VORLESUNG  KARL  KRAUS 

Sonntag,  24.  November,  3  Uhr:  Aus  eigenen  Schrifter 


VERLAG  DER  SCHRIFTEN  VON  KARL  KRAU 

(KURT  WOLFF) 

1908  SITTLICHKEIT    UND    KRIMINALITÄT  2.  Auflaj 

1909  SPRÜCHE  UND  WIDERSPRÜCHE  3.  Auflaj 

1910  DIE  CHINESISCHE  MAUER      demnächst  4.  Auflaj 

1911  HEINE  UND  DIE  FOLGEN  3.  Auflaj 

1912  PRO  DOMO  ET  MUNDO  2.  Aufla 
1912  NESTROY  UND  DIE  NACHWELT 

1916  WORTE  IN  VERSEN  I  demnächst  %  Aufla 

1917  WORTE  IN  VERSEN  II 

1918  WrORTE  IN  VERSEN  III 
Im  Druck:  NACHTS 

UNTERGANG  DER  WELT  DURCH  SCHWARZE  MAG 
Zu  beziehen  durch  alle  Buchhandlungen  und  durch  den  Verl 
Leipzig,  Kreuzctraße  3b 


Im  Frühjahr  1918  erschien: 

KARL  KRAUS  UND  DIE  SPRACHE 

VON  LEOPOLD  LIEGLER 
Preis  K  1.50  (M  1.— ) 

Verlag  der  Buchhandlung  Richard  Länyi,  Wien,  I.  Kärntnerstr.  4 


DIB       JR  iV  O  K  J3>  I 

erscheint  In  zwangloser  Folge. 
Das  Abonnement  erstreckt  sich   nicht   auf   einen   Zeitraum,    sondern   auf  c 
bestimmte  Anzahl  von  Nummern. 
Für  Österreich-Ungarn:         Fürdas  Deutsche  Reich:  Weitpostverein: 

36   Nummern    K  9.—         36  Nummern  Mk.  8.—        36  Nummern  K  12.- 

INHALTdesvorigen,fünfzehnfachenHeftcs484/498,15.0ktoberl91 
Ausgebaut  und  vertieft  /  Glossen  /  Auf  hoher  See  /  Inschriften 
Ein  Mord  im  Weltkrieg  /  Glossen  /  Ein  Staatsverbrechen 
Shakespeare  und  Jugend  /  Krieg  /  Ich  und  das  Ichbin 
Meinem  Franz  Janowitz  /  Die  letzte  Nacht  /  Meinem  Frs 
Grüner  /  Notizen  /  Der  Bauer,  der  Hund  und  der  Soldat 
•sungen  in  Berlin  /  Glossen  /  Das  verjüngte  Österreich 
Gerüchte   /   Glossen    /    Ein*  prinzipielle  Erklärung. 

-ichst   erscheint  cm  Sonderheft  der  Fackel   außerhalb   des   Abonneme 
I    und   im    Verlag   erhältlich.     Preis:    K  2-  ■    ■   I 

ung  für  den  Buchhandel:  Richard  Länyi,  Wien.) 


Deutsche  Ansichtskarte 

Franz  Josef  Huber's  Kunstverl.-Anst. -München 


UNSER    KAISER    IN    HARNISCH! 

In   Treue  und  [jJljjj  in  Waffen  fest! 

»Wir  Deutsche  fürchten  Gott 
und  sonst  absolut  nichts  und 
niemanden  auf  dieser  Welt!« 


Aus  der  Rede  S.  M.  Wilhelm  II.,  gehalten  an  Bord  S.  M.  S.  »Viktoria  Luise« . 


DIE  FACKEL 

Nr.  499—500  20.  NOVEMBER  1918  XX.  JAHR 


Anfang  Oktober  1918 

Weltgericht 

Der  bis  zum  letzten  Hauch  von  Mann  und  Roß 
beschworene  Glaube,  daß  die  Welt  gottbehüte  am 
deutschen  Wesen  genesen  werde,  ist  begraben.  Die 
Hoffnung,  daß  sie  vom  deutschen  Wesen  genesen  werde, 
lebt  auf.  Und  gottlob  auch  die  Hoffnung,  daß  es  von 
sich  selbst  genesen  werde,  zurückfinden  von  dem 
seinem  Wert  und  seiner  Sprache  ungemäßen  Wahn  zu 
sich  selbst  und  seinen  guten  Geistern,  vom  Export 
zu  dem  Platz  an  der  Sonne  seiner  Naturgaben.  Ehre 
einem  verunglückten  Volk,  das  sich  bis  zur  Erkenntnis 
aufgeopfert  hat  —  Schande  seinen  Verleitern,  mag 
nun  Tücke  oder  Dummheit  das  größte  aller  welt- 
geschichtlichen Verbrechen  begangen,  das  größte 
aller  weltgeschichtlichen  Opfer  bewirkt  haben!  Das 
Erlebnis  aber,  daß  eine  Anschauung,  zu  der  man  sich  als 
einer  von  den  wenigen  bekannt  hat,  von  den  vielen  geteilt 
wird  und  fast  gefahrlos  geworden  ist,  und  daß  es  nicht 
mehr  den  Kopf  kostet,  ihn  behalten  zu  wollen ; 
dieses  überraschende  Abenteuer  eines  völligen 
Kurssturzes  der  Phrase,  des  Eintretens  in  das 
letzte,  bitterste  und  doch  beglückende  Stadium 
der  Nibelungenreue;  diese  rapide  Verwandlung  des 
Kühnsten  in  das  Selbstverständliche  —  enthebt 
mich  nicht  der  Pflicht,  es  zu  bekennen.  Man  bleibt 
doch  immer  der,  der  schon  bei  einem  Durchbruch 
von  Gorlice  und  noch  früher,  ja  am  ersten  Tag 
dieses  Spießrutenlaufs  durch  das  Spalier  der 
mechanisierten  Phantasiearmut,  an  all  diesen  krieg- 
verlängernden Siegen  vorbei,  entlang  dieser  Tobsucht 


einer  Quantität,  die  nicht  den  Mut  hatte,  sich  selbst 
zu  berechnen  —  geahnt,  nein  gewußt  hat,  daß  mit 
einer  von  keinem  Shakespeare  zu  erreichenden 
tragischen  Folgerichtigkeit  die  Befreiung  aus  dem 
Zwang  des  Idols  erfolgen  und  daß  eines  Tages, 
leider  noch  vor  dem  leiblichen  Jammer,  die  größere 
geistige  Not  beendet  sein  werde,  die  da  geboten 
hat,  aus  der  Verächtlichkeit  eine  Tugend,  aus  der 
Verhaßtheit  einen  Erfolg,  aus  der  Nichtswürdigkeit 
eine  Ehre  zu  machen.  Wollte  man  in  den  Gespenster- 
reichen dieser  Lebensmittelmächte  —  gespensterhaft 
deshalb,  weil  hier  Börseaner  die  Sprache  der  Grüfte 
redeten  und  weil  darin  Macht  war,  Grüfte  zu  füllen, 
die  Macht  von  Technik  und  Romantik  in  Einem,  die 
Macht  der  sich  automatisch  entzündenden  Phrase  — 
wollte  man  heute  hier  eine  Abstimmung  veranstalten, 
welcher  Mitteleuropäer  wohl  am  weitesten  von  der 
Möglichkeit  entfernt  war,  einen  Wehrmann  zu 
benageln  oder  gar  einem  eisernen  Hindenburg 
etwas  ins  Auge  zu  stoßen  oder  dem  Geschmack 
jener  Tage  sonst  was  zuliebe  zu  tun,  wo  Fibel  und 
Chemie,  Ornamentik  und  Organisation,  Schwachsinn 
und  Bestialität  Schulter  an  Schulter  ihre  unnennbaren 
Offensiven  gegen  die  Menschenwürde  unternahmen 
wohl  wäre  ich  einer  unter  den  wenigen,  die  in 
die  engere  Wahl  kämen  und  denen  nachgesagt 
werden  müßte,  daß  sie  sich  weigernd  und  wehrend 
der  heiligen  Pflicht,  diese  unheilige  Zeit  zu  vertreiben, 
entsprochen  haben.  Man  wird  mir,  wenn  man  mir 
in  diesen  zweitausend  Seiten  der  Kriegsfackel  — 
einem  Bruchteil  von  dem,  was  technische  und 
staatliche  Hindernisse  mir  begrenzt  haben  —  keine 
positivere  Leistung  zuerkennt,  immerhin  das  Zeugnis 
ausstellen,  daß  die  schmutzige  Zumutung  der  Macht 
an  den  Geist:  Lüge  für  Wahrheit,  Unrecht  für  Recht, 
Tollwut  für  Vernunft  zu  halten,  von  mir  tagtäglich 
mühelos  abgewiesen  wurde.  Denn  der  bessere  Mut 
war   der   meine,    im    eigenen   Lager   den  Feind  zu 


3  — 


sehen!  Und  wer  die  Furcht  vor  der  wirkenden  Macht 
nicht  gekannt  hat,  dem,  nur  dem,  steht  es 
auch  zu,  kein  Mitleid  mit  der  gebrochenen 
Macht  zu  kennen.  War  doch  die  Gemütsverfassung, 
mit  der  ich  mich  vor  das  Angesicht  dieser  höchst 
subalternen  Gewalttäter  gestellt  habe,  durch  alle 
Trauer  hindurch,  durch  allen  Schmerz  und  alle 
Scham  hindurch  stets  die  einer  unbesiegbaren 
Heiterkeit.  Und  solche  Zeugenschaft  ist  opfervoll 
genug.  Denn  gäbe  es  ein  schwereres  Durchhalten 
als  lachen  zu  müssen,  wo  man  aufschluchzend 
in  den  letzten  Wald  rennen  möchte,  den  dieses 
organisierte  Verhängnis  noch  nicht  vergast  hat? 
als  das  Unvermögen,  einer  Glorie,  die  in  einer 
verelendeten,  verhungerten,  verlausten,  verluderten 
Welt  umging  und  in  Rucksäcken  ihre  Lorbeern  trug, 
die  Glorie  zu  glauben?  als  den  Fluch,  standzuhalten 
diesem  elenden  Komplott  von  Schindern  und 
Schiebern,  das  ein  Volk  mit  dem  Fusel  des  Schlacht- 
ruhms besoffen  gemacht  hat,  um  es  abzuschlachten, 
und  abgeschlachtet  hat,  um  es  auszurauben!  Diesen 
Allerhöchstverrätern,  die  keinen  Vorwand  vater- 
ländischer Ehre  gescheut  haben,  um  sich  selbst 
zuliebe  den  schuftigen  Griff  in  die  fremden  Lebensgüter 
zu  begehen;  die  mit  jedem  Atemzug  jene  abgelebten 
Vorstellungen  geschändet  haben,  in  deren  Namen 
sie  über  Leben,  Glück,  Jugend,  Gesundheit,  Freiheit, 
Ehre,  Recht  und  Besitz  der  andern  verfügten;  hinter 
Fahnen  ihr  Diebsgeschäft  betrieben  und,  herzlose 
Verwalter  des  feigen  Maschinentods,  die  Menschheit 
an  das  Vaterland  verraten  haben  und  das  Vaterland 
an  ihre  Niedertracht.  Nun  aber  welche  Wendung 
durch  Gottes  Fügung!  Nun  aber  welche  Atempause! 
Welch  ein  Lauschen  auf  den  großen  Hammer  am 
Tor  dieser  Zeit;  welch  ein  Spähen  nach  dem  Licht, 
das  in  die  Nacht  dieser  geistigen  Burgverließe  dringt; 
welch  ein  Beben  in  den  Basalten,  die  nicht  zu  haben, 
Amerika  es  besser  hat!  Wenn  dies  keine  Wende  ist, 


—  4 


hat  der  Planet  noch  keine  erlebt!  Wenn  hier 
kein  Fortinbras  naht,  hat  es  nie  Trümmer  einer 
Herrschaft  gegeben,  war  nie  eine  aus  den  Fugen 
gegangene  Zeit  einzurichten.  Wie  Horatio  empfange 
ich  ihn: 

Und  laßt  der  Welt,  die  noch  nicht  weiß,  mich  sagen, 
Wie  alles  dies  geschah;  so  sollt  ihr  hören 
Von  Taten,  fleischlich,  blutig,  unnatürlich, 
Zufälligen  Gerichten,  blindem  Mord; 
Von  Toden,  durch  Gewalt  und  List  bewirkt, 
Und  Planen,  die  verfehlt  zurückgefallen 
Auf  der  Erfinder  Haupt:  dies  alles  kann  ich 
Mit  Wahrheit  melden. 

Und  werde,  da  sie  alle  schon,  diese-  Macht- 
und  Unrechthaber  in  der  Nachbarschaft  ihres 
Schicksals  leben,  dazu  helfen,  daß  auch  ihre  Helfer, 
ihre  Verführer,  die  Handlanger  ruchlosesten  Tag- 
werks, die  journalistischen  Rädelsführer  dieses 
blutigen  Betrugs,  die  Dekorateure  des  Untergangs, 
die  Rekommandeure  der  Leichenfelder,  die  unfaß- 
baren Berichterstatter  dieses  tragischen  Karnevals 
dingfest  gemacht  werden.  Auch  verbürge  ich  mich 
dafür,  daß  es  dahin  kommen  wird,  daß  alle 
jene,  die,  soweit  das  Gehirnweichbild  dieser  Stadt 
sich  dehnt  und  solange  die  Belange  dieses 
Reiches  reichen,  eine  der  Blutpressen  noch  halten, 
für  ehrlos  erklärt  werden.  Weh  dem,  der  den  anonymen 
Henkern  das  neue  Geschäft  fördern  wollte,  ihnen,  die 
nun,  weil  der  wortgeborne  Mord  nicht  mehr  Gewinn, 
sondern  Gefahr  bringt,  schon  daran  sind,  die  Mensch- 
lichkeit in  eine  Phrase  zu  verwandeln!  Der  panikartige 
Übergang  ganzer  Divisionen  von  Tellerleckern  zu 
Wilson,  die  elende  Bereitschaft,  die  Konjunktur  des 
neuen  Weltgefühls  auszunützen,  wird  weder  die 
Parasiten  des  entthronten  Ideals  noch  deren  ganzen 
Anhang  davor  schützen,  erkannt  und  nach  den 
Verdiensten     ihrer     doppelt     gezählten     Kriegsjahre 


behandelt  zu  werden  —  und  so  wahr  mir  Gott  helfe, 
ich  werde  es  mir  angelegen  sein  lassen,  daß  alle 
jene,  denen  vierzehn  fernhintreffende  Punkte  heute 
fast  so  imponieren  wie  gestern  ein  hundertzwanzig 
Kilometer-Geschütz,  für  eine  Auszeichnung  bei  der 
nun  weltmaßgebenden  Stelle  »eingegeben«  werden. 
Gewaltiger  als  die  Reue  über  die  Tat  fasse  uns  der  Ekel 
am  Wort  und  nehme  so  Besitz  von  den  Gemütern, 
daß  wir  uns  nie  wieder  Gut  und  Blut  von  jenen  unverant- 
wortlichen Organen  herauslocken  lassen,  die  den  Ruf  des 
Vaterlands  mißtönender  wiedergaben  und  die  sich  nun 
unter  den  Stimmen  des  ewigen  Friedens  verstecken 
möchten.  Wenn  die  große  Zeit,  die  in  unserer  Zone 
die  niedrigste  war,  nun  endlich  daran  ist,  eine  große 
Zeit  zu  werden,  so  wird  sie  es  uns  sein, 
wenn  wir  dem  unbrauchbaren  politischen  Hausrat 
mit  einem  zweiten  Ruck  auch  allen  geistigen  Unrat 
nachwerfen,  allen  Trödel  ausrangierter  Vorstellungen 
und  alles  Inventar  der  professionellen  Wortverbrecher 
und  sie  selbst!  Es  kommt  der  Tag,  wo  die  Embleme 
und  Ornamente  der  überstandenen  Glorie  uns  zu 
ü  bernächtigem  Grauen  anstarren  werden  wie  Faschings- 
masken und  fahle  Schminkgesichter  bei  Sonnenlicht. 
Aber  wenn  wir,  großmütig  wie  wir  Menschenkinder 
sind,  weil  wir  um  eines  Strahles  der  Freiheit  willen 
gern  alle  Fieberträume  der  Nacht  vergessen,  die 
staatlichen  Träger  und  Diener  jener  tödlichen  Ideale 
pardonnieren  möchten,  und  weil  wir  Mitleid  mit 
ihrer  Dummheit  haben  —  Gott  schütze  uns  vor 
der  Gnade,  die  wir  an  die  publizistischen  Zwischen- 
träger und  Nutznießer  vergeuden  würden,  an  die 
Schriftgelehrten,  die  es  schwarz  auf  rot  gaben,  als 
die  Menschheit  gekreuzigt  wurde.  Feder  für  Feder, 
Schuft  für  Schuft  sollen  sie  uns  das  Blutbad,  das  sie 
uns  gerüstet  und  gepriesen  haben,  ausgießen! 


Lied  des  Alldeutschen 

Barbarische  Melodie 

29.  Oktober  1918 
Nun,  da  die  angestammte  Verächtlichkeit  Österreichs  vor 
der  von  Gottes  Gnaden  fortgefristeten  Hassenswürdigkeit  Preußens 
um  Beachtung  ringt;  da  unser  weiland  Staat  mit  seinem 
letzten  Seufzer  bekundet  hat,  daß  er  seiner  historischen  Mission,  zu 
spät  Verrat  zu  üben,  treu  bleiben  wolle;  da  ein  Seelenbund,  in 
dessen  Namen  die  Welt  zum  Teufel  gehen  mußte,  sich  offiziell 
in  jene  Jauche  aufgelöst  hat,  in  der  unser  aller  Leben  schon 
erstickt  war  —  kann  das  gerechte  Ohr  des  unerbittlich  Zurück- 
hörenden das  gräßliche  Geräusch,  den  Lebens-  und  Todesinhalt 
dieser  Jahre  nicht  vergessen,  derin  den  folgenden  Strophen  mi'geteilt 
ist.  Der  Treubund  mit  diesem  Partner  war  immer  unmöglich, 
seine  Lösung  immer  notwendig,  zu  Zeiten  eine  Ehrenpflicht; 
zu  spät  erfolgt,  ist  sie  fast  so  unsittlich  wie  der  Vertrag.  Daß 
aber  Österreich  ein  Opfer  seiner  tragischen  Bestimmung  ist,  in 
ein  schiefes  Licht  hinter  dem  Platz  an  der  Sonne  zu  kommen, 
kann  nicht  vergessen  machen,  für  welche  Ideale  es  die  ihm 
ungemäße  heroische  Montur  durchgehalten  hat.  Dieses  Lied, 
entstanden  im  Juli  1917,  ist  am  16.  Dezember  1917  und 
am  27.  März  1918  vorgetragen  worden.  Das  erstemal: 
in  der  Stunde  der  Nachricht  über  den  Waffenstillstand 
mit  Rußland,  des  Auftakts  zu  Brest-Litowsk.  >Trotz  einer  Extra- 
ausgabe« —  so  war  der  Vortrag  eingeleitet  —  >bleibt  das  I\uplet, 
das  ich  im  Sommer  verfaßt  habe,  leider  Gottes  aktuell,  denn 
nach  meiner  wenn  auch  unmaßgeblichen,  so  doch  öfter 
bewährten  Ansicht  bedeuten  nicht  nur  Siege  eine  Verlängerung 
des  Kriegs,  sondern  sogar  Waffenstillstände  den  Beginn  des 
Kriegs.  Das  Kuplet  erschöpft  das  Problem  Deutschlands  an- 
nähernd so  sehr,  wie  Deutschland  die  Welt.*)  Das  Unsägliche 
findet  seinen  Ausdruck  in  einer  beispiellos  barbarischen  Melodie.« 
(Das  musikalische  Nachspiel  stellt  das  Gelächter  des  Auslands  dar.) 
Heute,    da    das  Lied    so  tragisch   verstummt   ist,    mag    es    die 

*)  Es  erklärt  ganz  wie    jene  Ansichtskarte  den  Krieg,    den 
Deutschland  der  Welt  erklärt  hat. 


—  7 


zurückhörenden  Zeitgenossen  in  jeder  Strophe,  nur  zum  Glück  der 
Nachwelt  in  den  letzten  nicht,  an  seine  furchtbare  Wahrheit  erinnern. 


rtltmttiJ'J, 


Ob  unter  See,  ob  in  der  Luft, 

wen  Kampf  nicht  freut,  der  ist  ein  Schuft. 

Doch  weil  das  Schuften  ich  gewohnt, 

so  schuft'  ich  nicht  bloß  an  der  Front, 

ich  kämpf  auch  schneidig  und  gewandt 

und  halte  durch  im  Hinterland, 

ich  schufte  früh,  ich  schufte  spat, 

die  Schufte  das  erbittert  hat. 

Nur  feste  druff!  Ich  bin  ein  Deutscher! 

Im  Frieden  schon  war  ich  ein  Knecht, 

drum  bin  ich  es  im  Krieg  erst  recht. 

Hab  stets  geschuftet,  stets  geschafft, 

vom  Krieg  alleine  krieg'  ich  Kraft. 

Weil  ich  schon  vor  dem  Krieg  gefrohnt, 

hat  sich  die  Front  mir  auch  gelohnt. 

Leicht  lebt  es  sich  als  Arbeitsvieh 

im  Dienst  der  schweren  Industrie. 

Heil  Krupp  und  Krieg!  Ich  bin  ein  Deutscher! 


Ich  scheue  keine  Müh'  und  Plag', 

zu  wenig  Stunden  hat  der  Tag. 

Daß  fester  steh  am  Rhein  die  Wacht, 

hab'  ich  die  Nacht  zum  Tag  gemacht. 

Weil  vor  dem  Krieg  ich  nicht  geruht, 

drum  gibt  es  Krieg  und  uns  gehts  gut. 

Wir  schlagen  uns  mit  Vehemenz 

und  schlagen  kühn  die  Konkurrenz. 

In  Not  und  Tod:  ich  bin  ein  Deutscher! 

Ich  geb'  mein  deutsches  Ehrenwort: 

wir  Deutsche  brauchen  mehr  Export. 

Um  an  der  Sonne  'nen  Platz  zu  haben, 

gehn  wir  auch  in  den  Schützengraben. 

Zu  bessrer  Zukunft  Expansionen 

hilft  uns  so  unbequemes  Wohnen. 

Einst  fragt'  ich  nicht  nach  Gut  und  Geld, 

der  neue  Deutsche  ist  ein  Held. 

Der  neue  Deutsche  ist  ein  Deutscher! 

Krieg  dient  uns,  damit  Waffen  sind, 
wir  drehn  den  Spieß,  wer  wagt  gewinnt. 
Das  Lebensmittet  ist  uns  Zweck, 
drum  nehmen  wir  vorlieb  mit  Dreck. 
Wir  mischen  Handel  mit  Gebet, 
die  Kunst  im  Dienst  des  Kaufmanns  steht. 
Es  war  einmal,  doch  jetzt  ist's  aus, 
Walhalla  ist  ein  Warenhaus. 
Für  Ideale  lebt  der  Deutsche! 

In  solchem  Leipziger  Allerlei 

lebt  es  sich  fromm,  jedoch  nicht  frei. 

Fehlt  es  dann  aber  auf  dem  Tisch, 

lebt  es  sich  fröhlich,  doch  nicht  frisch. 

Lebt  von  der  Hand  sichs  nur  zum  Mund, 

so  ist  das  Leben  ungesund. 

Denn  mehr  noch  von  dem  Mund  zur  Hand 

hält  durch  des  Deutschen  Vaterland. 

Von  Idealen  lebt  der  Deutsche! 


Für  dies  Prinzip,  und  es  ist  gut, 
schwimmt  heute  der  Planet  in  Blut. 
Für  Fertigware  und  Valuten 
muß  heut'  die  ganze  Menschheit  bluten. 
Nehmt  Gift  für  Brot,  gebt  Gold  für  Eisen 
und  laßt  den  deutschen  Gott  uns  preisen! 
Gebt  Blut  —  habt  ihr  das  nicht  gewußt?  — 
für  Mark:  das  ist  kein  Kursverlust! 
Darum  erhofft  Profit  der  Deutsche! 

Steht  unsre  Sache  mal  so  so, 

gibt  Wahrheit  uns  das  Wolffbüro. 

Doch  geht  die  andre  Wahrheit  aus, 

verköstigen  wir  uns  doch  im  Haus. 

Fehlt  selbst  das  Fremdwort  Surrogat, 

wir  Deutsche  wissen  dennoch  Rat. 

Wir  setzen  prompt  an  seinen  Platz 

das  gute  deutsche  Wort  Ersatz. 

Auf  deutsch  gesagt:  ich  bin  ein  Deutscher! 

Der  Hungerplan  wird  ausgelacht, 

den  Willen  haben  wir  zur  Macht. 

Im  U-Boot  sitzend  lachen  wir 

und  sagen  einfach:  Machen  wir; 

um  Zeit  zu  sparen,  auch:  m.  w. 

Die  Schiffahrt  lernt  man  auf  der  Spree. 

Was  nützt  den  Feinden  alle  List, 

die  Mahlzeit  machen  wir  aus  Mist. 

Nicht  unterkriegt  der  Krieg  den  Deutschen! 

Und  wenn  die  Welt  voll  Teufel  war', 

die  Fibel  sagt:  Viel  Feind,  viel  Ehr. 

Drum:  Deutschland  über  alles  setzt 

sich  kühn  hinweg  zuguterletzt. 

Weil  bei  uns  alles  schneidig  ist, 

die  ganze  Welt  uns  neidig  ist. 

Gott  weiß  allein,  wir  sind  so  brav, 

wir  wünschen,  daß  er  England  straf. 

Beim  deutschen  Gott,  ich  bin  ein  Deutscher! 


—  10  — 

Wir  preisen  Gott  auf  unsre  Weise 

wie  vor  dem  Krieg  zum  alten  Preise. 

Zur  Ehre  Gottes,  des  gerechten, 

woll'n  wir  auch  gern  im  Schatten  fechten. 

Gäb's  alleweil  nur  Sonnenschein, 

man  könnt'  des  Lebens  sich  nicht  freun. 

Das  wahre  Glück  bringt  Schießen  nur, 

drum  gaudeamus  igitur. 

Ein  muntrer  Bursche  bleibt  der  Deutsche! 

Das  eine  aber  weiß  ich  nur, 

wir  Deutsche  haben  mehr  Kultur. 

Kultur,  bei  allen  andern  Gaben, 

ist  mit  das  Beste,  was  wir  haben. 

Wir  schwärmen  für  die  Schlachtenlenker, 

doch  sind  wir  auch  das  Volk  der  Denker. 

Gern  woll'n  für  Schillern  und  selbst  Goethen 

wir  ein  »Denn  er  war  unser«  beten. 

Mit  Bildung  schmückt  sein  Heim  der  Deutsche! 

Deutsch  ist  das  Herz,  deutsch  der  Verstand, 
mit  Gott  für  Krupp  und  Vaterland! 
Die  Grenzen  sichert  Hindenburch, 
im  Innern  halt'  ich  selber  durch. 
Wir  Deutsche  haben  zu  viel  Glück; 
gehn  wir  bescheiden  drum  zurück, 
nimmt  man,  des  Sieges  sich  zu  freun, 
die  eigne  Siegfriedstellung  ein. 
Hurra!  sagt  in  dem  Fall  der  Deutsche! 

Wir  sagen  stolz:  Viel  Feind,  viel  Ehr'! 

Belegte  Brötchen  gibts  nicht  mehr. 

Und  mangels  derer  unentwegt 

die  Welt  mit  Bomben  wird  belegt. 

Uns  hilft  die  deutsche  Wissenschaft 

nebst  Gott,  der  eben  England  straft 

und  der  den  Menschen  nur  erschuf, 

zu  dreschen  immer  feste  druff. 

Denn  Gottes  Ebenbild  ist  nur  der  Deutsche! 


11  — 


Noch  lieber  laßt  uns  als  den  Feind 
die  Phrase  dreschen,  die  uns  eint. 
Am  Ende  wird  die  Wahrheit  stehn: 
Der  Kampf  wird  bis  zum  Ende  gehn! 
Wir  sorgen,  daß  uns  nicht  entgeh' 
das  erzne  Becken  von  Briey. 
Der  Friede  uns  nicht  intressiert, 
eh  wir  die  Welt  nicht  annektiert. 
Die  wenigstens  gehört  dem  Deutschen! 

Es  geht  uns  doch  nur  um  die  Ehr'. 

Nein,  Belgien  geben  wir  nicht  her! 

Wir  halten  rein  das  Ehrenkleid; 

in  Ehre  wissen  wir  Bescheid. 

Der  Endsieg  unser  Recht  beweist: 

die  Welt  wird  von  uns  eingekreist! 

So  muß  und  wird  es  uns  gelingen, 

die  Pofelware  anzubringen. 

Ja,  made  in  Germany  ist  doch  der  Deutsche! 

Nur  weil  man  etwas  Sonne  braucht, 

haben  wir  die  Welt  in  Nacht  getaucht. 

Mit  Gift  und  Gasen,  Dunst  und  Dämpfen 

woll'n  bis  zum  jüngsten  Tag  wir  kämpfen. 

Denn  bis  wir  Gottes  Donner  hören, 

muß  unsrer  uns  Ersatz  gewähren. 

Drum  überall  und  auf  jeden  Fall 

braust  unser  Ruf  wie  Donnerhall. 

Ist  das  nicht  praktisch  von  dem  Deutschen? 

Schon  brennt  die  Erde  lichterloh 
dank  unserm  Fenriswolff-Büro. 
Solang  es  andere  Völker  gibt, 
ist  leider  unsres  nicht  beliebt. 
Wo  man  nichts  auf  die  Waffe  setzt, 
wird  unsre  Leistung  unterschätzt. 
Die  Welt  will  weniger  Krawall, 
und  unsrer  braust  wie  Donnerhall. 
So  hört  man  überall  den  Deutschen! 


—  12  — 

Nach'm  Krieg  wird  noch  mehr  Arbeet  sein 

und  noch  mehr  Krieg  und  noch  mehr  Pein. 

Wie  freue  ich  mich  heut'  schon  drauf, 

die  Liebe  höret  nimmer  auf. 

Ach,  wenn  nur  schon  der  Friede  war', 

damit  ich  seiner  müde  war' ! 

Es  gilt  die  Technik  auszubaun. 

Zum  U-Boot  haben  wir  Vertraun. 

Den  Fortschritt  liebt  nun  'mal  der  Deutsche 

Wir  woll'n  die  Wehrpflicht  dann  verschärfen, 

die  Kleinen  lehren,  Flammen  werfen. 

Wir  woll'n  indes  auch  für  die  Alten 

die  Kriegsdienstleistung  beibehalten. 

Was  wir  gelernt,  nicht  zu  verlernen, 

laßt  uns  vermehren  die  Kasernen. 

Die  Welt  vom  Frieden  zu  befrein, 

steht  fest  und  treu  die  Wacht  am  Rhein. 

Aus  der  Geschichte  lernt  der  Deutsche! 

Und  wenn  die  Welt  voll  Teufel  war', 

und  wenn  sie  endlich  menschenleer, 

wenn's  endlich  mal  verrichtet  ist, 

und  jeder  Feind  vernichtet  ist, 

und  wenn  die  Zukunft  ungetrübt, 

weil  es  dann  nur  noch  Preußen  gibt  — 

nee,  darauf  fall'n  wir  nicht  herein! 

Fest  steht  und  treu  die  Wacht  am  Rhein ! 

Und  weiter  kriegt  und  siegt  der  Deutsche ! 


13 


Mitte  Oktober  1918- 

Mir  san  ja  eh  die  reinen  Lamperln 

Was  Schiedsgericht  und  Völkerbund! 

Sie  Kellner,  bringen  S'  ein  paar  Stamperln! 

So  etwas  brauchen  wir  nicht  und 

mir  san  ja  eh  die  reinen  Lamperln ! 

Was  Völkerbund  und  Schiedsgericht! 

Wenn  wir  die  Friedenspfeife  rauchen, 

so  brauchen  wir  so  etwas  nicht, 

denn  mir  wer'n  doch  kein  Richter  brauchen ! 

Kennt  uns  der  Wülson  von  der  Näh', 
macht  sich  die  Weltgeschicht'  von  selber. 
Und  Euer  Gnaden  wissen  eh', 
die  Hölle  ist  noch  weit  schwarzgelber. 

Im  Ernstfall  wär'n  wir  ja  geschnapst, 
die  Welt  soll  Österreich  nicht  verlieren ! 
Drum  wird,  so  hoffen  wir,  der  Papst 
uns  doch  beim  Wülson  protegieren. 

Der  Wiener  geht  nicht  unter  und 
dann  geht  die  G'schichte  wie  am  SchnürL 
Gehn  wir  schon  in  den  Völkerbund, 
so  gehn  wir  durch  ein  Hintertürl ! 

Da  kann  man  halt  nix  machen,  doch 
es  macht  sich  alstern  alles  gütlich. 
Wir  pfeifen  aus  dem  letzten  Loch, 
doch  pfeifen  wir  noch  sehr  gemütlich. 

Wir  hab'n  ja  niemanden  gekränkt, 

ich  bitt'  Sie,  weg'n  dem  bisserl  Sengen ! 

Zwar  hab'n  wir  viele  aufgehängt, 

doch  lass'n  wir  unsre  Köpf  nicht  hängen. 


—  14  — 


Dagegen  hängt  uns  zum  Genuß 
seit  je  der  Himmel  voller  Geigen. 
Das  werden  wir  beim  Friedensschluß 
den  Feinden  wie  den  Freunden  zeigen. 

Da  von  der  Nibelungen  Spur 
wir  uns  ein  Alzerl  westwärts  wandten, 
verlor'n  wir  doch  nicht  den  Hamur, 
wir  Burg-  und  Bettelmusikanten. 

Nur  zugeteilt,  nicht  aufgeteilt ! 
Als  a  Ganzer  sein,  wenn  auch  als  Torso! 
Rasch  sind  die  Wunden  dann  verheilt 
und  nix  mirkt  man  am  Grabenkorso. 

Mit  der  Ernährung  hat  es  zwar 
noch  vorderhand  so  manchen  Haken. 
Doch  heißen  wir,  das  ist  doch  klar, 
dereinst  das  Volk  noch  der  Phäaken. 

Wir  nannten  unsere  Helden  brav, 
sie  haben  tapfer  sich  geschlagen  — 
und  Jud  und  Christ,  Portier  und  Graf 
sie  werden  sich  Hab  die  Ehre  sagen. 

Wie  schnell  die  große  Zeit  vergeht! 
Wem  S'  sehn,  Euer  Gnaden,  auf  die  Wochen 
wird  allseits,  wie's  da  geht  und  steht, 
wieder  von  vorn  in  'n  Arsch  gekrochen. 

Auf  demokratisch  tut's  es  nicht, 
die  Richtung  wird  uns  wenig  frommen. 
Wir  woll'n  nicht  wegen  der  Weltgeschicht' 
um  Eigenart  und  Trinkgeld  kommen! 

Was  Völkerbund !  Das  is  doch  stier ! 

Sie  Kellner,  bringen  S'  noch  paar  Stamperln ! 

Was  Selbstbestimmung!  Mir  san  mir, 

und  mir  san  eh  die  reinen  Lamperln ! 


—  15  — 

Anfang  Oktober   1918 

Österreichs  Fürsprech  bei  Wilson 

Damit  man  an  einem  Beispiel  sehe,  von  welcher 
Individualität  sich  die  deutsch-österreichische  Bürger- 
schaft die  Lust  zu  diesem  Kriege  und  hinterdrein  die 
Reue  hat  beibringen  lassen,  sei  die  folgende  Konfron- 
tierung zweier  Dreckseelen,  die  in  einer  Brust  wohnen, 
einer  schlecht  unterrichteten  Mitwelt  dargeboten  und  an 
eine  besser  zu  unterrichtende  Nachwelt  weitergegeben. 
Das  publizistische  Ungeheuer,  dessen  Feder  die 
Prokura  des  Blutschachers  gerührt  hat  und  dessen 
Wort,  wenn  nicht  durch  seine  Feilheit,  so  durch  die 
abscheuliche  Klangfarbe  einer  zwischen  Frechheit 
und  Feigheit  lebenden  Gesinnung  in  die  verhärteten 
Ohren  dieser  Zeit  dringen- müßte,  der  unsittlichste 
Vertreter  der  mitteleuropäischen  Öffentlichkeit  hat 
durch  Monate  die  hochherzige  und  weise  Entschließung 
des  Präsidenten  Wilson  als  die  Finte  eines  Pharisäers, 
als  den  moralheuchlerischen  Vorwand  eines  Kriegs- 
gewinners in  allen  Rassetönen  beschrieen  und  sein 
redlich  Teil  der  Schuld  an  einem  aussichtslosen 
Blutverlust  übernommen.  Und  zwar  so: 

WennausderBotschaftWilsons  nicht  hundert- 
tausend Leichen  herausstarrten,  wenn  sie  nicht  für 
Millionen  neues  Verderben,  Krankheit  und  Hunger 
bedeutete,  würde  es  verlockend  sein,  die  Fertigkeit  zu 
schildern  ....Erwill  seinen  Krieg  haben....  Die  vierzehn 
Friedensbedingungen  sind  auch  ein  Plan  der  künftigen 
Landverteilung  .  .  .  .  Die  Unwahrhaftigkeit  von 
Grundsätzen,  die  nicht  für  das  eigene  Land  und  nur  für  andere 
gelten  sollen,  ist  vielleicht  auch  Hochmut,  der  im  Deutschen  und 
Österreicher  untergeordnete  Wesen  sieht.  .  .  .  Die  Botschaft  hat 
natürlich  auch  den  Zweck,  die  Verhandlungen  in  Brest- 
Litowsk  zu  sprengen,  eine  Arbeit,  die  Präsident  Wilson 
übernommen  hat,  wie  schon  früher  aus  mancherlei  Beziehungen 
zu  Petersburg  zu  merken  war.  Präsident  Wilson  verdächtigt 
und  hetzt. 

Dasselbe  Individuum,  das  jedem  veränderten 
Kurs  mit   dem   Bekenntnis  gerecht   wird,    daß   man 


16    — 


sich  in  einen  eben  noch  begeiferten  Gegner  »hinein- 
denken« müsse,  weiß  nun  um  Wilson  wie  folgt  Bescheid : 

Fr  ist  eine  Persönlichkeit....  Er  hat  die 
Fähigkeit,  die  Einbildungskraft  eines  großen  Landes  zu 
erfüllen,  und  so  ganz  ist  es  seinem  Willen  Untertan,  daß  er  nirgends 
Widerspruch  zu  fürchten  braucht  .... 

Das  große  Land  ist  natürlich  Amerika. 

Wir  müssen  versuchen,  in  Wilson  uns  hinein- 
zudenken .  .  .  .  Wir  müssen  uns  vorstellen,  daß  Wilson 
aus  seinem  innersten  Gefühle  sich  für  berufen  hält,  den 
demokratischen  Gedanken  zur  Regierungsform  der  Weltgemeinschaft 
zu  erheben,  und  daß  er  für  diese  Politik,  die  sich  bei  ihm  bis  zum 
Glaubenssatze  steigert,  genau  so  einen  Feldzug  unternimmt,  wie 
Gustav  Adolf  über  die  Ostsee  nach  Deutschland  gekommen  ist,  um 
für  die  protestantische  Religion  im  dreißigjährigen  Kriege  zu  kämpfen  .... 
Denn  jeder  Mensch  pflegt  nach  dem  Antriebe  seiner  Natur  zu  handeln. 
Präsident  Wilson  hat  puritanische  Eigenschaften. 
Die  vierzehn  Punkte  und  deren  Ergänzungen  sind  für  ihn  die  neuen 
Gesetzestafeln  für  das  kommende  demokratische  Zeitalter,  u  n  d 
der  Hügel,  auf  dem  das  Weiße  Haus  steht,  ist  der 
neue  Berg  Sinai  .  .  .  .  Das  Hochgefühl  eines 
Erfolges  wird  Präsident  Wilson  haben.  Die 
Entente  mag  sagen,  was  sie  will;  ohne  seine  Truppen, 
seine  Lieferungen,  sein  Geld  und  seine  Nahrungsmittel  wäre  sie  jetzt 
in    starker    Bedrängnis.... 

Die  puritanische  Richtung  seines  innersten 
Wesens  zeigt  sich  auch  in  dem  fast  biblischen  Apostolat 
für  ein  mit  Zwangsgewalt  ausgestattetes  Völkerrecht.  Wenn  das  Recht 
eine  Macht  hätte,  die  größer  wäre  als  die  der  Armeen,  w  ürde  das 
Reich  des  beständigen  Friedens  anbrechen.  Dann 
könnten  die  Rüstungen  aufhören,  die  Schäden  des  Krieges  rascher 
heilen,  und  die  Summen,  die  für  die  Truppen  ausgegeben  worden 
sind,  der  allgemeinen  Wohlfahrt  dienen.  Das  paßt  so 
ganz  zu  seiner  Persönlichkeit,  dieses  Hinein- 
bohren in  einen  Rechtsgedanken,  diese  Erhöhun 
Rechtsbegriffes  und  des  Rechtsschutzes  ....  Redlich  enFrieden^ 
willen  kann  er  nicht  verwerfen. 

Helfe  Gott,  daß  er  es  nicht  tue.  Aber  wenn  er 
es  nicht  tun  wird  —  einen  Fußtritt  wird  er  doch, 
hoffen  wir,  übrig  haben  für  solchen  Fürsprech ! 
Und  für  alle  jene,  die  das  Stahlbad,  das  sie  gerühmt 
haben,  überleben  konnten  und  sich  nun  auch  aus 
der  kalten  Dusche  retten  möchten! 


—  17  — 

November  1918 

Heldengräber 

Es  reut  uns  fürs  Leben.  Und  auf  dieser  Sünde 
nie  Freude,  nie  Glück,  nie  mehr  Hoffnung  sich  gründe. 

Es  reut  uns  wohl  alle,  die  wir's  nicht  verschuldet, 
uns  reut  die  Geduld,  mit  der  wir's  geduldet. 

Es  reut  uns,  daß  nächtlich  im  Bette  wir  ruhten 
bei  diesem  Verbluten  der  Edlen  und  Guten. 

Es  reut  uns,  die  wir  uns  freuten  und  lachten 

in  der  Zeit,  die  in  Qual  und  in  Schmutz  sie  verbrachten. 

Es  quält  uns  durchs  Leben,  beschmutzt  uns  das  Leben, 
daß  es  diesen  Krieg,  diesen  Kaiser  gegeben. 

Wir  alle,  wir  alle,  wir  wollen  uns  kränken 

und  mit  Grämen  und  Fluchen  der  Schande  gedenken. 

Nun  ist  sie  vorüber  und  nichts  wird  uns  freuen, 
vorüber  die  Sünde,  nun  wird  es  uns  reuen. 

Wir  sehn  nur  Hyänen,  wir  hören  nur  Raben, 
dort  sind  sie  verscharrt,  dort  sind  sie  begraben. 

Ich  aber  schaue  in  rosiger  Wolke 

die  Zukunft  von  dem  mir  vertrautesten  Volke. 

Das  wird  sich  über  den  Untergang  gfretten. 

Denn  es  gibt  Operetten  und  es  gibt  noch  Soubretten. 

Keine  Laus,  die  es  hat,  läuft  ihm  über  die  Leber. 
Am  Graben  gibts  halt  keine  Heldengräber. 

Doch  schade  um  jeden  Zug'reisten  wäre, 

der  sich  nacher  nicht  anschaut  die  Felder  der  Ehre. 

Für  ein  kleines  Dussör  wolln  m'r  gern  ihn  begleiten 
zu  die  Friedhof  und  sonstige  Sehnswürdigkeiten. 

Ist  alles  auch  hin,  lebt  die  Wienerstadt,  der  es 
gereicht  zur  Hebung  des  Fremdenverkehres. 


—  1, 


Hausmannskost 


August  1918 


Redensarten  sind  die  Reste, 
die  wir  in  den  Mund  noch  kriegen 
als  den  Schmaus  zum  Siegesfeste, 
wenn  den  Hunger  wir  besiegen. 

Sie  sind  unsre  letzte  Labe 
in  den  glorreich  großen  Tagen, 
da  wir  all  mit  unsrer-  Habe 
unsre  Haut  zu  Markte  tragen. 

Unser  Mangel  schmeckt  noch  besser, 
weil  auch  drüben  manches  Loch  ist. 
Seelentrost  für  starke  Esser 
heute  mit  der  beste  Koch  ist. 

Freilich,  wenn  von  heut  auf  morgen 
schwindelnd  steigen  alle  Taxen, 
ist  den  nächsten  Nahrungssorgen 
meistenteils  kein  Kraut  gewachsen. 

Auf  des  Feindes  Mangel  zählen, 
schadenfroh  ihm  Rübchen  schaben, 
macht  noch  nicht,  daß  sie  ihm  fehlen, 
doch  auch  nicht,  daß  wir  sie  haben. 

Andernfalls,  ich  möchte  wetten, 
würde  Fülle  uns  betrüben. 
Wenn  wir  Kraut  und  Rüben  hätten, 
lägen  sie  wie  Kraut  und  Rüben. 

Im  chaotischen  Betriebe 
nähren  wir  uns  von  Gerüchten, 
da  nichts  andres  übrig  bliebe, 
als  den  alten  Kohl  zu  züchten. 


—  19  — 


Doch  um  ihn  nicht  fett  zu  machen 
und  den  Friedensdrang  zu  stillen, 
opfern  wir  dem  Höllenrachen 
mit  vermehrtem  Siegeswillen. 

Jeden  Tag  ein  neuer  Treffer, 
daß  die  Lebenslust  sich  hebe. 
Ja,  da  lag'  der  Has'  im  Pfeffer, 
wenn  es  Has'  und  Pfeffer  gäbe. 

Fehlt  das  Fleisch,  so  gibt  es  Blut  noch, 
weil  die  Weisheit  so  geruhte. 
Der  Gehorsam  und  der  Mut  noch 
stecken  uns  im  Fleisch  und  Blute. 

Deutsch  das  Herz,  deutsch  der  Verstand  auch 
immer  wird  es  so  was  geben. 
Könnte  nur  von  deutscher  Hand  auch 
in  den  deutschen  Mund  man  leben! 

Uns  die  Siege  zu  versalzen, 
scheut  der  Gastwirt  keine  Mühe. 
Nur  die  Rechnung  ist  geschmalzen 
und  der  Gast  sitzt  in  der  Brühe. 

Kommt  der  Appetit  beim  Siegen, 
soll  man  an  kein  Wunder  glauben. 
Meist  sind's  Flieger,  selten  fliegen 
in  das  Maul  gebratne  Tauben. 

Wie  erklärt  sich's  dem  Verstände, 
daß  wir  stets  das  Schwert  noch  zücken? 
Weil  wir  gern  im  Feindeslande 
irgendwo  ein  Hühnchen  pflücken. 

Des  gerechten  Gottes  Zorn  noch, 
ach,  den  müssen  wir  verschärfen. 
Wo  gedeiht  denn  heut  ein  Korn  noch, 
um  die  Flinte  hinzuwerfen! 


20 


Wie  die  neue  Ernte,  raten 
alle  Bürger  nur  mit  Bangen. 
Wissen  bloß,  daß  blutige  Saaten 
wieder  glücklich  aufgegangen. 

Eine  Schlachtbank  läßt  nie  darben 
die  dort  angestellten  Kunden. 
Raben  haben,  seit  wir  starben, 
täglich  Nahrung  noch  gefunden. 

Doch  den  Untertan  verlockt  hat, 
er  besorgt  es  unterdessen, 
was  man  so  ihm  eingebrockt  hat, 
bis  zum  Endsieg  auszuessen. 

Sitzt  man  mit  Gemeinschaftsmägen 
an  dem  ungedeckten  Tische: 
heute  gibt  es  außer  Schlägen 
höchstens  etwa  faule  Fische. 

Manche  diplomat'sche  Note 

für  die  Welt  nur  ein  Geräusch  ist, 

die  im  Friedensangebote 

schmeckt,  daß  es  nicht  Fisch,  nicht  Fleisch  ist. 

Riecht  man  dann  selbst  hier  den  Braten, 
kriegt  man  ihn  doch  nicht  zu  schauen. 
Ich  mag  diesen  Surrogaten, 
nein,  beim  deutschen  Gott  nicht  trauen  ! 

In  Geheimrats  Teufelsküche 
möcht'  in  keinen  Topf  ich  gucken ; 
müßte  wegen  der  Gerüche 
Hexen  in  die  Suppe  spucken. 

Wovon  man  denn  fett  wird,  war  schon 
schwierig  ehedem  ergründet; 
während  man  seit  manchem  Jahr  schon 
nicht  mehr  weiß,  wovon  man  schwindet. 


21  — 


Bleibt  der  Seele  ein  Gehäuse, 
wird  der  Mensch  noch  nicht  begraben. 
Einstens  hierzuland  die  Läuse 
auch  nichts  mehr  zu  beißen  haben. 

Von  den  deutschen  Chemikalien 
scheint  das  Gas  allein  gediegen, 
während  durch  die  Viktualien 
der,  den's  trifft,  sofort  bleibt  liegen. 

Um  das  Leben  zu  ersetzen, 
sinnt  die  Wissenschaft  noch  heute. 
Sonst  ist  alles  da  an  Schätzen, 
nicht  so  wie  bei  arme  Leute. 

's  ist  wie  einmal,  da  der  Prahlhans 

war  der  deutsche  Küchenmeister; 

doch  das  Mahl  nicht  mal  vom  Schmalhans, 

denn  die  Soß  nicht  mal  ein  Kleister. 

Eine  schöne  Soße  war'  das, 
wenn  das  nicht  ein  Fremdwort  wäre. 
In  der  Tunke  sein :  auf  Ehr'  das 
fordert  nationale  Ehre. 

Alle  diese  welschen  Speisen 
sind  ja  doch  zu  gar  nichts  nütze. 
Unschwer  ließe  sich's  beweisen 
mit  ein  wenig  deutscher  Grütze. 

Üppigkeit  von  damals  muß  sich 
heute  durch  Entbehrung  rächen. 
Ach,  wie  ließ'  man  mit  Genuß  sich 
wieder  mal  vom  Hafer  stechen! 

Während  wir  um  schlechte  Währung 
mit  noch  minderm  Vorrat  geizen, 
blüht  auf  unterster  Ernährung 
heute  bloß  des  Wuchrers  Weizen. 


—  22  — 


Statt  des  Fleisches  äße  Leder 
schon  der  eingefleischte  Sparer. 
Aber  Leder,  das  weiß  jeder, 
ist  ja  noch  bei  weitem  rarer. 

Daß  dem  Wirt  schon  alles  Wurst  ist, 
führt  in  Irrtum  nur  die  Toren. 
Aber  auch  für  ihren  Durst  ist 
Malz  und  Hopfen  längst  verloren. 

Nimmer  mag  das  Volk  der  Denker 
über  seine  Lage  denken. 
Gern  vermeiden  seine  Lenker 
reinen  Wein  ihm  einzuschenken. 

Aber  Zuckerbrot  und  Peitsche 
nicht  mehr  der  Erziehung  ziemen ; 
denn  es  fehlt  ja  doch  der  deutsche 
Zucker  und  der  deutsche  Riemen. 

Täglich  sie  die  Milch  der  frommen 
Denkart  diesem  Volk  entzogen. 
Kinder,  die  jetzt  angekommen, 
haben  Drachengift  gesogen. 

Totentanz  ist's,  sei  der  Titel 
Tango  oder  wieder  Ländler. 
Hast  du  keine  Lebensmittel, 
werde  Lebensmittelhändler. 

Hin  ist  hin,  die  Hetz  ist  hin  und 
G'spaß  gibt's  keinen  gegenwärtig. 
Krieg  ist  Krieg,  sagt  man  in  Wien  und 
da  gibt's  keine  Würstel,  fertig. 

Wenn  das  Schicksal  sich  vollendet, 
wird  kein  Kren  mehr  übrig  bleiben, 
daß  den  Wiener  man  verwendet, 
um  im  Notfall  Kren  zu  reiben. 


23 


Dafür  ist  man  kaum  entschädigt 
durch  ein  kriegsgemäßes  Leben, 
wozu  mit  der  Sittenpredigt 
ihren  Senf  die  Sieger  geben. 

Schnittlauch  selbst  auf  allen  Suppen, 
Zutat  fremdem  Wert  und  Werke, 
bilden  sie  um  Gräber  Gruppen, 
hoffend,  daß  man  sie  bemerke. 

Hungert  man  im  Hinterlande, 
bleibt  der  Mut  doch  ungebrochen 
jener,  die  am  Weltenbrande 
ihre  eigne  Suppe  kochen. 

Nimmer  würde  sie's  verdrießen 
und  sie  würden  unablässig 
Öl  noch  in  das  Feuer  gießen, 
damit  aber  ist  es  Essig. 

Vor  den  furchtbaren  Kontrasten     ; 
lernt  man  diese  Ordnung  hassen, 
in  der  die  Gerechten  fasten 
und  die  Ungerechten  prassen. 

Diese  Ersten,  die  sich  mästen 
und  sich  selbst  die  Kreme  heißen, 
wenn  die  namenlosen  Besten 
ungezählt  ins  Gras  doch  beißen  — 

keinen  gibt  es,  der  nicht  nähme, 

während  andere  verrecken. 

Welch  ein  Abschaum   diese  Kreme! 

Längst  schon  kann  ich  sie  nicht  schmecken! 

Durchzuhalten,  wird  von  Tröpfen 
manch  ein  Scherflein  beigesteuert, 
wenn  die  Butter  auf  den  Köpfen 
aller  Schieber  sich  verteuert. 


—  24  — 

Dazu  würden  Siegesweisen 
wie  ein  Ei  dem  andern  gleichen, 
könnte  man  zu  höchsten  Preisen 
das  Vergleichsobjekt  erreichen. 

Lange  schon  auf  Mehl  wir  harren. 
Finden  wir's,  wenn  wir  es  suchen? 
Da  sagt  man  in  Wien :  Ja  Schmarren ! 
In  Berlin  sagt  man :  Ja  Kuchen ! 

Was  du  noch  bekommen  solltest, 
nicht  bekömmlich  ist's.  Zum  Hohne 
heißt's  dort,  wenn  du  fragen  wolltest: 
»Gibt  es  Kaffee?«  »Nicht  die  Bohne!« 

Aber  unser  täglich  Brot  doch 
wird  man  uns  wohl  nicht  verstecken ! 
Das  gibt's  in  der  Zeit  der  Not  doch 
stets  beim  Bäcker  ?  Ja  beim  Backen ! 

Neue  Nahrung  ward  dem  Neide, 
nicht  uns  selbst:  mit  Duldermiene 
hörten  wir  von  dem  Getreide, 
lagernd  in  der  Ukraine. 

Billig  wie  die  Brombeern  waren 
nicht  einmal  die  Brombeern  heuer. 
Sie  zu  kriegen,  war  seit  Jahren 
guter  Rat  nicht  mehr  so  teuer. 

Vor  den  Obstgeschäften  standen 
viele  Füchse  auf  der  Lauer; 
wären  Trauben  noch  vorhanden, 
keinem  wären  sie  zu  sauer. 

Fruchtlos  ferner  uns  zu  freuen, 
ward  von  oben  uns  geheißen. 
Möchten  gern,  wenn  wir  ihn  hätten, 
in  den  sauern  Apfel  beißen. 


25 


Auch  die  Zuversicht,  sie  glaubt  nur 
täglich  noch  den  schummern  Wandel. 
Fortan  kriegt  man  überhaupt  nur 
eine  harte  Nuß  im  Handel. 

Über  weitere  Annexionen 
freuten  wir  uns  ungeheuer, 
trügen  gern  zu  allen  Thronen 
die  Kastanien  aus  dem  Feuer. 

Und  mit  diesen  Staatsgewalten  — 
fast  hätt'  ich  den  Punkt  vergessen  — 
war'  es  gut,  sich  zu  verhalten 
und  mit  ihnen  Kirschen  essen. 

Essen  suchen  selbst  die  Rüpel, 
die  sich  jenes  Krupp  erinnern, 
Herbergsvaters  aller  Krüppel, 
Vorbilds  allen  Kriegsgewinnern. 

Schön  ist  es,  im  Sommer  ländlich 
so  im  deutschen  Wald  zu  wohnen. 
Wie  die  Pilze  schießen  endlich 
aus  der  Erde  die  Kanonen. 

Aber  diese  herzlos  harten 
Winter  soll  der  Teufel  holen. 
Wärmeres  Wetter  zu  erwarten, 
sitzt  man  fluchend  wie  auf  Kohlen. 

Mit  Tabak  ist's  noch  viel  schlimmer. 
Doch  man  wird  ihn  nicht  mehr  brauchen, 
wenn  doch  immerzu  die  Trümmer 
nur  in  diesem  Kriege  rauchen. 

Jedenfalls  bei  weitem  schärfer 
spürt  den  Mangel  man  an  Zündern, 
da  vermehrte  Flammenwerfer 
solchen  Notstand  nicht  vermindern. 


—  26 


Opfervoll  ist  diese  Prüfung, 
hält  die  Treu'  durch  Not  und  Tod  man. 
Ach,  des  Bündnisses  Vertiefung 
braucht  wie  einen  Bissen  Brot  man. 

Und  den  Ausbau,  den  verlangen 
Nibelungenpflichten  eben. 
Auf  den  Speck  sind  wir  gegangen, 
als  wir  unsern  hingegeben. 

Und  wir  müssen  es  beklagen, 
die  wir  Höchstes  doch  besessen : 
daß  wir  auf  den  Lorbeern  lagen 
und  sie  nicht  gleich  aufgegessen. 

Denn  nach  vielen  Feindeslügen 
eine  ward  erst  jetzt  vernommen : 
daß  die  Deutschen  dieses  Siegen 
endlich  einmal  satt  bekommen ! 


Absage 


September   1918 


Wo  die  Maschine  mit  dem  Menschen  rauft, 

wo  Blutverlust  bedeutet  Geld-Erraffen, 

wo  Hunger  herrscht  und  Reichtum  Nahrung  kauft  — 

mit  solcher  Menschheit  hab*  ich  nichts  zu  schaffen  ! 

Wo  Männer  ächten,  was  sie  selbst  begehrt, 
und  wo  die  Sinne  zu  der  Sünde  finden, 
wo  Liebe  Schmach  bringt  und  Natur  entehrt  — 
mit  solcher  Mannheit  kann  mich  nichts  verbinden! 

Wo  Freigeborne  jedem  Schall  und  Schein 
gehorchen,  ewiger  Menschenfurcht  verschworen, 
um  als  Tyrannen  Sklaven  noch  zu  sein, 
in  solchen  Reichen  hab'  ich  nichts  verloren. 


—  27  — 


Wo  Druck  in  jeder  Form  die  Geister  lähmt 
und  wo  die  Phrase  sich  von  selbst  entzündet, 
wo  Technik  sich  dem  Tode  anbequemt, 
in  solcher  Welt  ist  nicht  mein  Glück  begründet. 

Wo  fauler  Zauber  allen  Lebens  Zweck 
dem  schnöden  Mittel  heimlich  längst  vermietet, 
wie  sehn'  ich  mich  aus  dieser  Wohnung  weg, 
in  der  ein  Besen  mir  die  Stirne  bietet! 

Wo  Willkür,   Wucher,  Krankheit,  Haß  und  Schmutz 
als  die  Verbündeten  des  Schlachtruhms  schalten, 
da  will  ich  kühn  dem  Vaterland  zum  Trutz 
mich  für  den  allergrößten  Feigling  halten! 

Wo  Wissenschaft  den  Heldentod  erfand, 

in  Gift  und  Gas  die  Glorie  sich  erneuert, 

da  hat  sich  mir  das  teure  Vaterland, 

denn  Krieg  ist  Krieg,  bedeutend  noch  verteuert. 

Wo  statt  der  Glocken  die  Kanonen  nun 
die  frommen  Christen  zum  Gebete  rufen, 
mit  solchen  hat  der  Teufel  nichts  zu  tun, 
da  sie  auf  Erden  schon  die  Hölle  schufen. 

Wo  Ehre  fällt  und  Schande  aufwärts  steigt 
und  heute  gilt,  wer  gestern  erst  gestohlen  — 
gern  hätt'  ich  Jenem  doch  den  Weg  gezeigt, 
daß  er  mir  könnte  diese  Ordnung  holen ! 

Wo  sie  vor  jedem  Sonnenuntergang 
durch  Wort  und  Tat  ihr  Seelenheil  verfluchen  — 
mein  Leben  und  mein  weiteres  Leben  lang 
hab'  ich  bei  dem  Gelichter  nichts  zu  suchen  ! 


—  28  — 

1.  November  1918 

Die  Sintflut 

die  ein  Aktenstück  heraufbeschworen  hat  —  mag  auch 
ihr  strategisches  Vorspiel  beendet  sein  — ,  ist  unab- 
wendbar. Alles  Märtyrertum  dieser  heillosen  Jahre 
werde  geweiht  von  dem  Heldentum,  welches  der 
großen  Vergeltung  wissend  entgegengeht,  die  als 
die  Idee  der  blinden  Naturgewalt  Gerechte  wie 
Ungerechte  trifft.  Die  grauenhafte  Offensive  des 
Hungers,  der  Sturmlauf  der  durch  die  unselige 
Erlaubnis  geweckten  und  abgerichteten,  durch  ein 
fluchwürdiges  Kommando  zugleich  niedergehaltenen 
und  verstärkten,  durch  den  Zusammenbruch  der 
elenden  Scheinmacht  entfesselten  Triebe:  dies  Chaos 
mag  dunkler  sein  als  einer  jener  Siege,  die,  mit 
Gott  und  Gas  errungen,  in  geraubten  Weinfässern 
ersoffen  sind  —  Hand  auf  die  Stelle,  wo  selbst 
dem  Kriegsausbeuter  ein  Herz  sitzen  soll:  ist  das  da 
nicht  der  Krieg  als  solcher?  Der  wieder  in  seine 
Naturrechte  eingesetzte  Krieg?  Der  Krieg,  in  dem 
nicht  mehr  die  andern  sterben,  der  Krieg,  in  dem 
nicht  gelogen  wird,  der  Krieg,  den  Hunger  gewinnt, 
nachdem  ihn  Feldherrn  und  Diplomaten  verloren 
haben,  der  Krieg,  der  beginnt,  wenn  die  General- 
stabsberichte aufhören?  Hand  auf  das  Herz,  dessen 
Habgier  vom  Welttod  Gewinn  und  Ehre  nahm  — 
denn  lügen  hilft  nur,  wenn  das  Vaterland  die  andern 
ruft  — :  ist  es  zu  Ende,  wenn  die  Glorie  auf  dem  eigenen 
Schindanger  krepiert  ist?  Sind  nicht  nach  der  Ausein- 
andersetzung mit  dem  »Feind«,  der,  ein  Bundes- 
genosse der  Kriegsleiden,  als  Individuum  immer  nur 
unschuldigstes  Opfer  seines  Mörders  ist,  sind  nicht 
gemäß  dem  Diktat  der  unabsetzbaren  Naturmächte 
alle  Feindgefühle  aufgespart  für  einen  Haufen 
von  Landsgenossen,  die  weitab  von  der  Gefahr  die 
Bestialisierung  der  Menschheit  bejubelt  und  bedichtet, 


29 


die    Effekte    in    Kinogenüssen    und    Zeitungstiteln 
erlebt   haben    und   ihren   Appetit   von   keiner  Blut- 
vorstellung   verderben,    von    keinem  Gedanken    an 
fremden  Hunger  und  an  fernen  Tod  verringern  ließen? 
Nicht     der     Zusammenbruch     von     staatlichen 
Rumpelkammern    und    Kriegskartenhäusern,     nicht 
diese  Nochnichtdagewesenheit   einer  Niederlage   vor 
dem    Feind,    sondern    die    panikartige    Flucht    des 
Vaterlandes   vor  seinen  Beschützern    zeichnet  einen 
Ausgang,    den  die  Urheber  einer  auf  Quantität  ein- 
gestellten Handlung   selbst  bei  völligem  Minus   an 
Phantasie  hätten  berechnen  können,  wenn  dem  von 
Lesebuchidealen    erfüllten   Staatsgehirn    nicht    auch 
das    Einmaleins    abhanden    gekommen    wäre    und 
somit   die  Fähigkeit,  die  Quantitäten  an  Menschen, 
Maschinen    und    Mehl    mit    einander    zu     messen. 
Überschätzer    der    Menschheit    hätten    die    Gefahr, 
die  heute  den  gelernten  Siegern   droht,    schon  acht 
Tage   nach   Kriegsbeginn   von   einem  Aufstand   der 
Menschenwürde  erhofft,  und  es  stellt  der  seelischen 
Tragfähigkeit    dieser    Tiergattung     ein    bedenklich 
gutes  Zeugnis  aus,   daß   ihre   Auftraggeber,   die  für 
die  Erweiterung  von  Absatzgebieten  über  Leben  und 
Glück  von  Millionen  verfügt  haben,  erst  nach  mehr 
als  vier  Jahren    und   erst   von  einer  Revolution  des 
Hungers   die    Geschäftsstörung    befürchten    müssen. 
Nun  aber,  da  meine  Ansage,  die  Front  werde  einmal 
ins    Hinterland    verlegt    werden,    bis    zu    der   Not- 
wendigkeit einer  Front  gegen  sie  erfüllt  ist,  hat  die 
Ideologie    abgedankt,    die    durch    ihre    einzigartige 
Gewalt,  Sachverhalte  auszuschalten,   dieses  Unglück 
über    uns    gebracht    hat,    und    jetzt,    da    wir    sie 
stimmungshalber    erst    nötig    hätten,    da    sich    das 
Grauen    nicht    mehr    irgendwo    draußen    abspielt, 
wohin  wir  zum  Glück  keine  Reisegelegenheit  hatten, 
von  wo  wir  aber  täglich  auf  dem  Laufenden  erhalten 
wurden,    jetzt,   da   Sengen    und  Brennen    zu    einer 
Angelegenheit  des  Lokalberichts   zu  entarten  droht, 


—  30  — 


jetzt,  da  man  die  Einteilung,  wonach  die  andern 
starben  und  die  einen  logen,  brauchen  würde,  sperrt 
das  Kriegspressequartier  zu,  versagt  die  Kunst,  die 
das  Durchhalten  fremder  Leiden  ermöglicht  hat, 
verläßt  uns  die  letzte  persönliche  Qualität,  die  in 
diesem  Krieg  zur  Entfaltung  kam :  eine  blutige  Welt 
schönzufärben. 

Kriege  sind  von  ihren  Folgen  unterschieden 
durch  Beschließbarkeit  und  durch  Abwendbarkeit. 
Die  Folgen  kann  nur  der  Selbstmord  abwenden, 
das  freiwillig  dargebotene  Bußopfer  mildern. 
So  erwächst  denn  den  neuen  Vaterländern  eine 
heilige  Pflicht  zu  Schutz  und  Sühne  zugleich.  Wenn 
die  neuen  Vaterländer,  deren  Lebensfähigkeit  schon 
von  dem  Ruin  des  alten  gestützt  wird,  nicht  mit 
Sünde  beladen  vor  die  Welt  treten  wollen,  so  mögen 
sie,  vor  dem  Jux  der  Zertrümmerung  alter  Fassaden 
und  vor  dem  Spiel  der  Erfindung  neuer  Wappen, 
unverzüglich  daran  gehen,  der  Rache  der  geschän- 
deten Mannheit  die  Grenzen  zu  bestimmen 
und  zum  Schutze  der  Gerechten  Anstalten  zu 
treffen,  daß  die  Ungerechten  zwar  mit  ihrem  wert- 
losen Leben,  aber  nicht  mit  ihrer  wertvollen  Beute 
das  große  Unglück,  das  sie  angerichtet  oder  bei- 
fällig betrachtet  haben,  überleben  dürfen.  So  mag 
man  dazu  schauen,  daß  alles  vorbereitet  sei  zum 
Empfange  jener,  die  sich  der  Staatskretinismus 
vor  vier  Jahren  als  die  unter  den  Klängen  der  Burg- 
musik einziehenden  Sieger  vorgestellt  hat,  mit 
Auszeichnungen  beladen  und  etwa  noch  mit  Kriegs- 
andenken: Russenlebern  und  Serbenohren,  die  ein 
katholisches  Blatt  den  in  der  Heimat  wartenden  Lieben 
von  den  Braven  im  Felde  versprochen  hatte.  Sie  mögen, 
und  zerbrächen  sie  mit  den  alten  Adlern  sich  die  neuen 
Köpfe,  dafür  sorgen,  daßdieimGeschmack  der  Zeitungs- 
fibel heimkehrenden  und  nun  in  der  Tat  bang 
erwarteten  Helden  vor  allen  in  Betracht  kommenden 
Bank-      und      Bauernhäusern      Nahrung,      Kleider, 


31  — 


Schuhe  und  Barschaft  vorfinden.  Eine  härtere  Ver- 
geltung als  diese  Lieferpflicht  an  die  Überlebenden  und 
als  die  wochenlange  Angst  vor  jenen  »Eigenen«,  zu 
deren  Abwehr  dasselbe  ruchlose  Gesindel,  das  einst, 
long  long  ago,  »Gott  strafe  England«  gebrüllt  hat,  heute 
den  Feind  herbeirufen  möchte  —  eine  Strafe,  die  im  alt- 
testamentarischen Sinn  dieser  Kriegshandlung  auch  dem 
rächenden  Gedächtnis  der  Millionen  Hingemordeten 
gerecht  würde,  wird  der  herzquälende  Traum  der 
Mütter  und  Bräute  von  einem  Tod  in  Flammen  oder 
Gasen  auch  den  verruchtesten  Akteuren  und  Claqueuren 
dieses  Krieges  nicht  herabflehen. 

Wohl  aber  bliebe,  da  alles  programmgemäß 
verlaufen  ist,  und  damit  der  tragische  Karneval  noch 
seinen  Mittwoch  finde,  wo  die  Häupter  mit  geweihter 
Asche  bestreut  werden,  die  Veranstaltung  eines  großen 
Sühntags  zu  wünschen,  welcher  den  mit  Invaliden 
besetzten  Tribünen  die  Demütigung  der  Generale, 
der  besseren  Kriegsgewinner,  der  schlechten  Kriegs- 
schreiber vorzuführen  hätte,  kurzum  jenes  ganzen 
Packs  von  Ferntötern  und  Parforcejägern  der 
Menschheit,  dessen  Lebensmut  sich  an  gelungenen 
Durchbrüchen  stärkte,  das  seiner  friedlichen  Tätigkeit 
nachging,  die  Brust  voller  Orden  trug  und  aus  Bor- 
dellen und  Hauptquartieren  Champagnerflaschen  zum 
Fenster  hinauswarf,  während  Millionen  Sklaven  dieser 
Ehrlosigkeit  in  Unterständen  auf  den  Augenblick 
der  Erlösung  warteten,  wo  sie  ihre  Leiber  vom 
Eisenhagel  zerreißen  lassen  mußten.  Nichts  wäre  so 
wirksam,  um  die  Unschuldigen  vor  den  Repressalien 
des  Hungers  zu  schützen  und  vor  der  Elementar- 
kraft einer  Wut,  die  aus  dem  gestohlenen  Glück,  aus 
der  überwältigten  Menschenehre  und  aus  vier 
beschmutzten  Jahren  nach  Hause  rennt,  als  das 
Arrangement  der  Vorführung  jener  Elenden,  die  zur 
Hinausschiebung  des  unentrinnbaren  Endes  und  zur 
Fortfristung  ihres  verkrachten  Geschäfts  so  viel 
Piothesen  brauchten,  als  sie   Orden  haben  wollten, 


32  — 


und  so  viel  Lügen  erfinden  mußten,  als  sie  Läuse 
mobilisiert  hatten.  Ich,  der  keinen  Augenblick 
seit  dem  1.  August  1914  sich  einen  andern  Endsieg 
als  die  Verwandlung  der  Erde  in  einen  Dreckhaufen, 
keine  andere  Sühne  als  die  Brandmarkung  der 
Rädelsführer  dieses  größten  Verbrechens  der  histo- 
rischen Zeitrechnung  vorgestellt,  keinen  Gedanken 
der  Sympathie  für  ein  Vaterland  rotgestreifter  Mörder 
undDiebe,  gewalttätiger  Kretins  und  entgegenkommen- 
der Schufte  gehabt  und  nie,  vom  konservativsten, 
patriotischesten  Standpunkt  aus,  einen  andern  Wunsch 
als  daß  sich  die  nüchterne,  fibelfreie,  demokratische 
Zivilisation  der  Welt  mit  den  zur  Ausrottung 
dieser  Unzucht,  zur  Abkürzung  dieser  Blut- 
schande leider  Gottes  nötigen  Behelfen  armiere, 
auf  daß  sie  dem  grauen  Elend  den  bunten  Rock 
abziehe  und  dieses  von  einer  lausigen  Glorie  orna- 
mentierte Leben  in  die  tabula  rasa  verwandle,  auf 
der  wieder  Gottes  Gras  wächst  —  ich  stelle  keine 
härtere  Friedensbedingung  und  erachte  das  Welt- 
gewissen für  befriedigt,  wenn  die  Befehlshaber  und 
Parasiten  unserer  in  Tod,  Not,  Ruhm,  Syphilis, 
Hunger,  Dreck  und  Erzlüge  verlorenen  Tage, 
wenn  die  Schinder  und  Schieber  unserer  Schulter 
an  Schulter  durchgehaltenen,  gemusterten,  ein- 
rückend gemachten,  ausgebauten  und  vertieften 
Dummheit  mit  dem  Leben  und  ein  paar  Ohrfeigen 
davonkommen.  Den  Tirpitz  zu  torpedieren,  statt 
daß  ihn  das  Bild  der  zwei  Kinderleichen  von  der 
»Lusitania«  durchs  Leben  begleite;  unsere  kühnen 
Luftsieger  ihre  Wirkungen  auf  der  Erde  auskosten 
zu  lassen ;  die  Ritter  Krupp,  Skoda  und  den 
romantischen  Manfred  Weiß  zum  Kirchenbesuch 
zu  zwingen,  wenn  eine  120  Kilometer-Kanone  zu 
arbeiten  beginnt  — wäre  verfehlt,  weil  erfahrungsgemäß 
in  solchen  Fällen  nicht  die  militärischen  Objekte, 
sondern  die  anständigen  Menschen  getroffen  werden. 
Wenn  aber  etwa  den  Munitionsfabrikanten  feierlich 


33  — 


eröffnet  würde,  daß  sie  den  Gesamtertrag  ihrer  Tätig- 
keit zu  Gunsten  der  Invaliden  erworben  haben  und  nur 
noch  den  Kriegsblinden  die  Füße  zu  küssen  hätten, 
so  würde  ich  selbst  auf  die  Erfüllung  meines  Lieblings- 
wunsches verzichten,  Wilhelm  II.  und  seine  gesamten 
Söhne  in  der  von  den  preußischen  Hotelzimmer- 
bildern bekannten  Stechschrittübung  in  einen  Käfig 
abrücken  zu  sehen.  Die  befohlene  Linie  ist  erreicht. 
Es  ist  erreicht!  Ich,  der  an  die  von  jenen  Siegern 
geschändete  deutsche  Sprache  glaubt,  habe  nie 
verschwiegen,  daß  ich  für  das  einzige  wahre  Wort, 
das  in  diesen  von  einem  Wolffbüro  befriedigten 
Zeitläuften  gesprochen  wurde,  jenes  hielt,  das  ein 
russischer  Minister  am  Kriegsbeginn  gesprochen 
hat:  daß  dieser  Krieg  Österreichs  eine  Keckheit  ist  — 
und  es  nur  durch  die  Feststellung  ergänzt,  daß  dieser 
Krieg  Deutschlands  eine  Frechheit  ist,  damit  das 
bundesbrüderliche  Verhältnis  zwischen  Räuber  und 
Dieb,  Gehaßtem  und  Verachtetem  auch  im  Punkt  der 
Kriegsschuld  zur  vollen  Anschauung  komme.  Und 
ich  verschweige  nicht,  daß  ich  noch  ein  wahres 
Wort  aus  österreichischen  Blättern,  am  Kriegsende, 
empfangen  habe,  das  des  Czechenführers,  der  mit 
jener  Schmucklosigkeit,  die  allein  schon  deutsche 
Hirne  in  Harnisch  bringen  kann,  den  klarsten  Sach- 
verhalt formuliert  hat:  daß  für  einen  Krieg,  der  als 
eine  Aktion  der  germanischen  gegen  die  slawische 
Rasse  ausgebrüllt  wurde,  seine  Landsleute  »keinen 
Blutstropfen  freiwillig  geopfert  haben«.  Die  Frage, 
wie  viel  Blutstropfen  die  Deutschen  geopfert  hätten, 
wenn  ihr  Rassekrieg  nicht  zugleich  ein  Krieg  der 
allgemeinen  Wehrpflicht  gewesen  wäre,  muß  in 
einer  Welt,  die  mit  solcher  Schmach  auch  die 
Pflicht  zur  Lüge  auf  sich  nimmt,  unbeantwortet 
bleiben.  In  einer  österreichischen  Welt,  die  Bomben 
in  Belgrad,  und  in  einer  deutschen  Welt,  die  Bomben 
auf  Nürnberg  herstellt,  wenn  sie  sie  braucht,  und  die 
beiderseits  auf  Gedeih  und  Verderb  das  Blaue  vom 


—  34  — 


Himmel  heruntergelogen  hat,  um  die  Erde  rot  zu  machen, 
und  dabei  die  Keckheit  und  die  Frechheit  hatte, 
den  Ehrenmann  unter  Staatsmännern,  dessen  Gestalt 
abwehrend  vor  dieser  Kriegsschande  stand,  zum 
»Lügen-Grey«  zu  verunstalten.  Nie  habe  ich  mich 
in  dieser  patriotischen  Pestluft  anders  als  mit 
offenen  Augen  und  zugehaltener  Nase  bewegt! 
Hätte  dieses  Vaterland,  dem  ich  über  alle  Maße 
geistiger  Kriegserlaubnis  hinaus  meine  Über- 
zeugung in  sein  Doppelgesicht  gesagt  habe,  es 
gewagt,  meinen  Körper  anzutasten,  ich  hätte  vor  Gott 
und  beim  Feldwebel  keine  Erleichterungdieser  Schmach 
gegen  eine  Belastung  meines  Gewissens  eingetauscht 
und  der  hieramts  durch  Feigheit  gemilderten  Tücke 
bewiesen,  welche  Gedanken  auch  der  Zwang  noch 
erlaubt  und  welche  man  der  eigenen  Menschheit 
gegen  ein  fremdes  Vaterland  schuldig  ist!  Ich  habe 
in  all  den  Jahren,  da  Fibelverbrecher  schalteten  und 
Advokaturskandidaten  sich  ihnen  für  Enthebung 
vom  Heldentod  durch  Henkersdienste  gefällig  zeigten, 
alle  Märtyrer  beweint,  den  Toten  auf  Feindesseite 
zuerkannt,  daß  sie,  wenn  nicht  begeistert,  wenn  nicht 
freiwillig,  doch  im  Joch  einer  Idee  und  nicht 
bloß  eines  schuftigen  Willens  und  eines  schlechten 
Geschäfts  gefallen  sind,  und  die  belgischen  Frank- 
tireure für  Kämpfer  gehalten.  Nicht  Grenzschwierig- 
keiten, sondern  die  Pflicht,  vor  dem  eigenen  Feind 
zu  bestehen,  das  Bewußtsein,  im  Ertragen  des 
gigantischen  Ekels  den  teuern  Opfern  auf  dieser 
Seite  nahe  zu  sein,  den  vielfach  tragischen,  weil 
sie  gegen  dieselbe  Erkenntnis,  gegen  die  eigene 
Erkenntnis  gestorben  sind  —  nur  dies  hat  mich,  den 
Untertan  der  deutschen  Sprache,  verhindert,  die  Konse- 
quenz einer  Gesinnung  zu  ziehen,  für  deren  Gefühl 
und  Ausdruck  ich  von  Unrechtswegen  tausendfachen 
Tod  durch  die  Hand  eines  Peutelschmied  verdient 
habe.  Nicht  vor  dem  höchsten  Auditor,  der  einst 
über  die  Anstifter  und  Helfer  einer  Aktion  richten  wird, 


—  35  — 


durch  welche  die  Edelsten  hingeschlachtet  und 
wie  ein  Stück  Aas  irgendwo  verscharrt  wurden,  wo 
der  Tränenblick  der  Sehnsucht  von  Müttern,  Bräuten, 
Freunden  ein  Heldengrab  sucht  —  nicht  vor  Gott 
werde  ich  in  Abrede  stellen,  daß  der  Kaiser  als  der 
erste  verpflichtet  war,  den  Fahneneid  eines  Kriegs 
zu  brechen,  dessen  Ruhm  von  einem  Schurkenstück 
der  Technik  geborgen,  dessen  Tapferkeit  von  der 
Feigheit  anonymer  Waffen  und  unsichtbarer  Quanti- 
täten ersetzt,  dessen  Ehre  von  der  Kompagnie 
der  Selbstsucht  und  der  Wissenschaft  erstritten 
wurde,  und  dessen  Verrat  ich,  immer  bereit,  der 
Menschheit  gegen  das  Vaterland,  dem  Freund  gegen 
den  Feind  beizustehn,  mit  vollem  Bewußtsein  auf 
mein  ethisches  Gewissen  genommen  hätte!  Und  heute, 
da  ich  sagen  kann  und  muß,  daß  nur  die  Erbärm- 
lichkeit, deren  eine  schnöde  Gewalt  fähig  ist,  vor 
den  Dokumenten  ihrer  Schmach  und  meines  Zornes 
haltgemacht  hat;  heute,  wo  ich  aussprechen  kann,  was 
in  vier  Jahrgängen  der  Fackel  geschrieben  steht,  und 
was  ich  mit  aller  Pein  der  Kenntnis  des  Auslands 
entzogen  habe,  erkläre  ich,  daß  ich,  solange  ich  lebe, 
dafür  besorgt  sein  werde,  das  Andenken  wach  zu  rufen 
jener  Ungezählten,  die  für  eine  Regung  kulturellen 
Abscheus  vor  dem  Blutgeschäft  glorreicher  Diebe, 
und  der  Myriaden,  die  zur  Erhaltung  solcher 
Bestrebungen  aus  dem  Leben  gerissen  wurden! 

Und  erkläre :  daß  ich  den  wildesten  Aufzug  befreiter 
Sklaven  für  ein  geordneteres  und  Gott  gefälligeres 
Schauspiel  halte  als  den  reglementierten  Auftrieb  von 
Menschenvieh  zum  Tod  für  die  fremde  Idiotie,  für  das 
fremde  Verbrechen!  Was  immer  die  Zeit,  die  wohl 
größer  ist  als  ihr  Vorspiel,  das  im  August  1914 
begonnen  hat,  an  Enttäuschungen  und  Leiden  noch 
bringen  mag;  welche  Fieberträume  die  Ablösung  der 
Macht,  die  Blut  und  Hunger  schuf,  durch  Mächte, 
die  den  posthumen  Kriegsgewinn  erwarten,  uns 
noch  vorbehält;  wie  schmählich  sich  der  Tonwechsel 


36 


jener  offenbart,  die,  im  schmutzigen  Maul  noch 
den  Kriegsgesang,  schon  den  radikalen  Inhalt 
zur  Phrase  verrufen  haben  und  im  nachgemachten 
Zeremoniell  fremder  Revolutionen  nur  mehr  Habsbürger 
geltenlassen;  wie  überraschendunsdieVerwandlungdes 
Kriegspressequartiers  in  eine  Rote  Garde  kommen  mag ; 
wie  verächtlich  sich  die  Wagentürlaufmachervon  gestern 
als  Barrikadenbauer  ausnehmen ;  wie  schäbig  die  Bereit- 
schaft aller  Pöbelinstinkte  und  die  Anschmarotzung 
der  Schadenfreude  an  die  Weltgeschichte  anmutet,  jene 
grundsätzliche  Niedrigkeit,  die  nicht  die  Bedeutung 
des  Sturzes  erlebt,  sondern  sich  an  der  Nicht- 
bedeutung  des  Gestürzten  erhöht;  wie  scheußlich 
die  Identität  solcher,  die  heute  auf  Doppeladler 
Jagd  machen,  mit  jenen  sein  mag,  die  einst  das 
Abreißen  fremdsprachiger  Firmatafeln  betrieben 
haben ;  welch  törichter  Unfug  es  auch  sei,  Rosetten 
zu  entfernen  anstatt  gleich  Säbel  in  Verwahrung 
zu  nehmen;  wie  unerquicklich  die  Freiheit  durch  ein- 
geschlagene Fensterscheiben  einzieht;  wie  lästig  ihr 
die  Freibeuter  aller  Gesinnungen  zulaufen  und  wie 
eifrig  die  Siegfriede  von  der  vorigen  Woche  die 
Republik  annektieren ;  wie  peinlich  die  Hysterie  mit 
der  Flamme,  wie  schrill  der  nationale  Ton  mit  dem 
Weckruf  der  Welt  vermengt  sein  mag  —  ich 
beuge  mich  ehrfürchtig  vor  dem  Wunder  dieser 
Erweckung,  und  erwachte  die  Welt  erst  durch  den 
Tod!  Und  vor  jedem  persönlichen  Schicksal,  das 
mir  noch  im  letzten  Atemzug  die  Genugtuung  gönnte, 
die  schlotterichte  Majestät  einer  gefallenen  Kriegs- 
gewalt zu  schauen,  die  im  Zusammenwirken  von 
Glorie  undSchurkerei  gelebt  und  gegen  ihren  Plan  durch 
Millionen  Qualentode,  durch  die  Labyrinthe  des 
Irrsinns,  der  Lüge,  der  Verseuchung,  des  sittlichen 
und  leiblichen  Schmutzes  die  Menschheit  zur  Besinnung 
auf    ein    gottgemäßeres   Leben    zurückgeführt    hat! 


Herautgeber  und  ver»st»ortlicber  Redaktiur:    Karl    Kram 
Druck  ras  Jah»da  &  Siegel,  Wien.  111.  Hintere  loJanHatr.  3 


AP       Die  Fackel 
30 
F32 

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