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Die Fackel
Herausgeber t
KARL KRAUS.
INHALT:
lA^dr alte Tepp. Vou I
TDflecre. \ nu Kar! Haii- .
Ö. Q. Z. B. D. a. Von Karl Krai
uih. — Staatliche Kuhb
Sexuelle Aufklärung, v.
Erscheint in swangloeer Folge.
Preis der einielnen Nummer 30 h«
vrtrbsffllßlget Verleihen rerbotcii; gerkhUlclie Vtcf^ifon;
forbehaltea.
vorliegenden, 250. Nummer der
,Fackel*, mit der der X. Jahrgang er-
öffnet wird, liegt das Inhaltsverzeich-
nis des XXX. Bandes hei
In zweiter Auflage erschienen ;
Sittlichkeitu. Kriminalität
i. Band der Aasgewählten Schriften
\'(>r)
Broschiert — — K 7.20 ?ik 3.
Ganzleinen — — — „ 8.70 7.25
Bestellungen auf das im Verlag der Buch-
idlung L. Rosner, Wien und T ig,
chienene Werk nimmf i-h-
idlung sowi' ' -- ^ p
fen, III/.. Hii
Die Fackel
Der alte Tepp.
Der Abgeordnete Bielohlawek hat Tolstoi einen
»alten Teppen« genannt. Das ist nicht zu entschuldigen.
Denn der Abgeordnete Bielohlawek hat von Tolstoi
keine Ahnung, zu golchem Urteil aber könnte einer
nur auf Orund genauer Kenntnis des Tolstoischen
Wirkens gelangen. Und auch dann wäre der Aus-
druck unziemlich. Es geht nicht an, und widerspricht
auch durchaus den parlamentarischen Sitten, dem
Altersschwachsinn einer Persönlichkeit von europä-
ischem Ruf so respektlos zu begegnen und eme
die Kultur umfassende dementia mit einem so rüden
Wort abzutun. Herr Bielohlawek kennt von Tolstoi
wahrscheinlich nicht mehr als den einen Ausspruch,
den Herr Pemerstorfer zitiert hat. Und gerade dieser
Ausspruch ist bei weitem nicht das Unsinnigste, was
Tolstoi in den letzten Jahrzehnten verkündet hat.
Auch in der allgemeinen Fassung, und nicht blofi
auf Rußland bezogen, hat die Sentenz, dafi die
Wohnung der anständigen Menschen das Gefängnis
sei, eine gewisse Berechtigung. Man mufi nur von
der härenen Kittel-Ergebenheit, die im Besitz von
Millionen nach einem Martyrium lechzt, ein wenig
absehen, dann könnte Tolstois Wort immerhin die
Wahrheit erschliefien, dafi weniger unanständige
Menschen im Qefängnis sind als auf freiem Fufi. Es
war also mindestens leichtfertig, auf diesen einen
Ausspruch ein Urteil zu gründen, zu dem gewifi
r ein gewiegter Kenner dessen, was uns der
tsische fiTeiland etwa seit der Kreuzersonate offenbart
b, berufen wäre. Herr Bielohlawek, der es sich
ast trotz allen liberalen Dünkelmännern zum Yor-
g anrechnen darf, vom Mutterwitz statt von der
y Google
— 2 -
Bildung seine Urteile zu beziehen, hat sich ausnahms-
weise auf ein Gebiet begeben, auf dem nur den
Emgeweihten eine Meintmg zusteht Die Schützer
der Bildung durfte es empören, daß über einen
Weltweisen, an dem man mit dem Hut in der
Hand eine respektable Absohwäohung der Gehirn-
tätigkeit feststellen mufi, ein vulgäres Kraftwort ge-
braucht wurde. Als vor ein paar Jahren Tolstoi seine
Enthüllimgen über Shakespeare erscheinen ließ, durch
die es auch dem letzten Zweifler offenbar wurde,
daß Shakespeare ein alter Tepp sei, hätte kein gebil-
deter Europäer es gewagt, die Ehrfurcht vor Tolstoi
durch ein rohes Wort zu verletzen. Keiner hätte sich
dazu hergegeben, einen schon an der Schwelle der Un-
sterblichkeit stehenden Alten, der der Welt noch das
Evangelium von der Nichtigkeit Shakespeares und
anderer irdischen Genies brachte, auf den Mund zu
schlagen. Ich selbst habe damals den Verdacht
imterdrückt, daß ein alter Tepp das Wort ergriffen
habe, den das Urchristentum allem Erfassen fremder
künstlerischer Welten wie auch längst der eigenen Künst-
lerschaft entrückt hat. Ich war so zurückhaltend, ihn
bloß einen alten Schwätzer zu nennen. Aber ich bin
mir jetzt dessen bewußt, wie frivol auch diese
Wertung eines urchristlichen Schänders meines
Shakespeare-Heiligtums war, und aus Furcht, eine
Ungerechtigkeit zu begehen, würde ich mir's heute
dreimal überlegen, ehe ich ein Bekenntnis des Grafen
Tolstoi ausschließlich von der pathologischen Seite
nähme. Die Behauptung, daß er ein alter Tepp sei,
ist nicht nur eine herzlose Ungebühr gegenüber einem
Alten, nicht nur eine Dreistigkeit gegenüber einem
Weltweisen, sie könnte auch eine Unbilligkeit gegen-
über einem alten Weltweisen sein, von dem roanja.doch
nicht wissen kann und den noch keiner darauf unter-
sucht hat, ob er nicht am Ende ein alter Mogler ist.
Einer, der sich zu gern den »tribus magnis impostoribusc
gesellen möchte, ohne an ihre Suggestivkraft heran-
y Google
— 8 --
lureichen. Man konnte sohliefllioh auch aus der
geistigen VerfSassung derer, die eine Heilsbotschaft
empfangen, auf den Ernst des Evangelisten schliefien.
Eine Welt, die au nichts besserem geboren scheint
als aum Betrogenwerden, harrt des Erlösers; und wer
in den Ideenmischmasch dieser Zeit nur mit der An-
weisung hineinfährt. Gras 8U fressen und Shakespeare
fßr einen Kretin su halten, mOflte wirklich schon
ein ausgesuchtes Pech haben, um nicht als Heiliger
▼erehrt zu werden. Wer aber der Armee seines Landes
keine schöneren Siege wünscht als die Niederli^n,
da dem Mutigen swar die Welt, aber dem Feigen das
Himmelreich gehört, und wer sich dazu im Bflfier-
Ewand unter tennisspielenden Enkeln photographieren
tt, der müfite schon ein abgefeimter l^hwindler
sein, wenn er nicht eine göttliche Mission zu voll-
enden hätte. Aber der Heiligenschein trügt nicht, ein
mit allen Salben Geweihter stößt auf ein günstiges
Vorurteil, und es ist ein wahres Glück, daß die
Betriebsmittel dieser eitlen Zivilisation jede Bitte
um ein Martyrium in ein paar Stunden um die Welt
verbreiten können, so dafl, wenn es einst vollbracht
sein sollte, ein Golgatha von Telegraphenstangen da-
für zeugen wird.
Jetzt frage ich aber: Ist die Möglichkeit, dafi
der alte Tolstoi in vollster geistiger Frische ein
biflchen modelt, ausreichend, ihm die Sympathien
einer organisierten Betrügerbande, wie sie der Intellek-
tualismus darstellt, zu gewinnen? Genügt es ihr
wirklich schon, dafi einer nicht glaubt, was er sagt?
Kommt es denn nicht darauf an, was er sagt?
Ist jede Tendenz, auch die feindlichste, dem Libera-
lismus wohlgefällig, wenn nur Aussicht besteht, dafi sie
unecht ist? Wenn Tolstoi insgeheim wirklich der un-
widerruflich letzte Ohrist wäre, und er predigte das Zin-
sennehmen, man könnte die fanatische Parteinahme des
Herrn Benedikt für ihn begreif en.Ob aber sein Urchristen-
tum eine fixe Idee oder eine Pose ist, an welchen
y Google
•. 4 -
Punkten frage ich, berührt es die Kreise der ,Neuen
Freien Presse'? Warum ereifern sich die Händler und
Wechsler fUr Christi Sendung? Wenn Herr Benedikt
an Tolstoi glaubt, so müflte er sioh ausnahmsweise
dreimal bekreuzigen, sobald nur der Name in seiner
Gegenwart ausgesprochen wird. Revolutionär sind
die Ideenrichtungen beider. Aber was hat das
Zerknirschungsideal des russischen Knechts, der das
Väterchen im Himmel anwinselt, mit der Herrschsucht
des liberalen Gheistes zu tun, der der Menschheit den
Zinsfuß auf den Nacken setzt? Die Sympathie wäre
noch verständlich, wenn unter den Entsagungs-
vorschriften Tolstois auch die strikte Anweisung zu
finden wäre: Wenn Dir die rechte Tasche ausgeraubt
wurde, so halte auch die linke hini So geistlos kann
die Bildung doch nicht sein, dafi sie sich wirklich
verpflichtet fflhlte, in allen Fällen blofi die Retour-
kutsche der Unbildung abzugeben. Denn schliefilich
steht diese den Verkündungen des Grafen Tolstoi
näher als jene, steht ßielohlawek dem Urchristentum
näher als Benedikt. Den Anfeindungen, die die Wis-
senschaft im niederOsterreichisohen Landtag erfährt^
klatscht Tolstoi Beifall. Dafi man Bazillen zu Versuchs-
zwecken züchtet, erscheint ihm ebenso unbegreiflich wie
irgendeinem christiichsozisJen Agitator, den die ,Neue
FVeie Presse* darob verhöhnt. Er hält's mit den
Dürrkräutlerinnen und verwirft die Wissenschaft^ weil
sie noch nie an nützliche Dinge gedacht hat, zum
Beispiel, »wie Beil und Besenstiel am besten anzufer-
tigen sind, wie eine gute Säge beschaffen sein muft^
wie man gutes Brot backen kann, welche Mehl-
gattung sich dazu am besten eignet u. s. w.« Un«
gefähr sagt das der Bielohlawek auch, nur mit ein
bifichen andern Worten, und er tut beinahe sa
unrecht, Tolstoi einen alten Teppen zu nennen, wie
der Benedikt, ihn in Schutz zu nehmen. Ich habe
die unbestimmte E/mpflndung, dafi Tolstoi in allen
entscheidenden Fragen die ,Neue Freie Presse^
y Google
im Stich liefle; er hfttte ihr hdohstens als Niohttauoher
aekandiert, aber sie schon als Impf gepier entt&uscht^
denn es ist klar, dafl das erste, was man bei dner
ausbrechenden Bpidemie eu veranlassen hat, die
strenge Beachtung der Vorschrift ist, dem Übel kei-
nen Widerstand su leisten. Wie kommt Sauben^
unter die Propheten? Der LibeMraliamus ist weitherug,
er tanat um das goldene Kalb und pflQgt mit dem
fremden.
Wttin man — nach der Methode, die Herr Bene-
dikt einmal empfahl — »einen Querschnitt durch
Tolstoi machen könntet, so würde man yielleicht
weniger Christentum finden, als man erwarten durfte,
aber doch noch immer genug, um die Sympathie-
kundgebungen des Ldbenüismus für einen fauz pas
zu h^ten. So selig die Armen im Qeiste sein mögen,
sie mfiflten die Lächerlichkeit dieses Bündnisses er-
k^inen. Was in aller Welt — in jener, von der
auch Tolstois Reich ist — hat der Fortschritt, der des
Schwindelgeistes und der der Kultur, mit dem
Urchristentum, demgefühlt^i oder dem gepredigten,
SU schaffen? Bin Ri^;out aus Mystik und Mystifika-
tion könnte ja auch einem ramnierten Gteschmack
behagen, und es mag den Psychologen fesseln, dafl
einer zugleich ein Besitaender und ein Besessener
sein kann. Alle Hochachtung yor einem tanaanden
Derwisch, hal welche Lust Fakir au sein, und
selbst das Amok-Laufen ist eine schöne Beschäf-
tigung. Aber unier allen die ZurechnungsfiUiigkeit aus-
schließenden Betätigungen scheint mir doch die Pro-
paganda des Urchristentums — ein Amok-Laufen
gegen den Sinn des Lebens — die allerbedenklichste,
und so wahr es ist, dafi die Kultur unseres Geistes
von der Maschine verdrängt wird, so wahr ist es,
dafl der letzte Handlanger der sogenannten Zivili-
sation der Ailgottheit näher steht als die Sorte
v(m Fanatikern, die auerst eine Panik der Oeister
eraeugen und dann als Notausgang die »Rück-
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— 6 —
kehr zur Naturc offen lassen. Die Fegefeuerassekuran-
ten, die die Eirohe entsendet und die ohnehin oft
zudringlicher sind, als es sich ziemt, erleichtem einem
wenigstens die Lasten des Diesseits, indem sie sie in eine
VersiQherungsgebühr umwandeln. Aber die Tolstoische
Lehre erhöht diese nicht nur, sondern läfit sie
zugleich die Prämie bedeuten. Sie schlägt einem die
Himmelstür vor der Nase zu, wer sein eigenes Weib
ansieht, ihrer zu begehren, hat schon mit ihr die
Ehe gebrochen, und es ist wahrhaft trostlos, dafl
man sich bereits bei Lebzeiten in den HOUenraohen
stürzen soll, um der ewigen Seligkeit zu entgehen.
Und welche Tantalusqualen, durch einen Altvaterbart,
der uns das Dasein mit der Eriimerung an eine Liqueur-
marke verschönert, zur Enthaltsamkeit gemahnt zu
werden I Man hat ohnehin sein liebes Kreuz mit den
Gottsuchern sowohl, wie mit jenen, die ihn schon gefun-
den haben; aber mit den Gottsuchern, die ihn leug-
nen, auszukonunen ist verdammt schwer. Am besten,
man sagt sich, daß sie achtzig Jahre alt sind, und
dafl wir, um mit Shakespeare, der freilich ein
alter Tepp war, zu sprechen, von ihren Jahren »nicht
nur die Unvollkommenheiten längst eingewurzelter
Gewohnheiten erwarten müssen, sondern aufierdem
noch den störrischen Eigensinn, den gebrechliches
und reizbares Alter mit sich brinetc. Und dafl sie
»nicht hätten alt werden sollen, ehe sie klug |(e wor-
den sind«.
Nur der Liberalismus ist aaderer Meinung. Ihm
scheint nichts natürlicher, als dafl sich die Todes-
zuckungen der europäischen Kultur imter dem harmo-
nischen Gliederzucken eines alten Quäkers vollziehen.
Aber diese Anpassung an die Tolstoische Gedanken weit
ist mehr, als man dem Fortschritt zugetraut hätte. Nicht
die Parteinahme, nur die urchristliche Opferfähigkeit,
die sich in ihr ausdrückt, müflte den Grofigrund-
besitzer von Jasni^a Poljana zu Tränen rühren. Das
hat er nicht erwartet Zwar hätte er seit der Ex*
y Google
kommuniEierung, die immer eine Aufnahme in den
Schofi der allein seligmachenden Presse bedeutet^
darauf gefaflt sein können, imd wenngleich er in
Bann getan wurde, weil ihm die Kirche zu wenig
christlich war, so wirkte das Ereignis doch so
animierend, daß damals der liberale Kursbericht mit
dem Ausruf begann: »Tolstoi hat sich angeklagt Ic
Aber jetzt hat es nur des Zufalls bedurft, daß ein
Sozialdemokrat ein Tolstoisches Wort zitierte und
ein Christlichsozialer infolgedessen von Tolstoi abfiel,
um Herrn Moriz Benedikt zu einem unumwundenen
Bekenntnis seiner nazarenischen Weltanschauung zu
bestimmen. Der Sektirergeist .der österreichischen
Politik tut seine Wunder. Längst wird kein Soldat
mehr im Kaukasus oder in Przemysl den Fahneneid
yerweigem, so wird man noch die sinnverwirrenden
Folgen der urchristlichen Propaganda im Leitartikel
der ,Neuen Freien Presse^ zu spüren bekomnien.
Wenn sich die Qracchen Ober Aufruhr beklagen, so
ist das nicht grotesker, als wenn die Aufklärung die
Tolstoische Weltanschauung lobt. Im österreichischen
Parlament wird jetzt — dank dem Herrn HUbowitzki,
dessen Namen man sich zu merken versuchen wird —
zwischen Zola imterschieden, der blofi der gesamten
Eulturwelt bekannt sei, und Tolstoi, »dessen Werke
nicht blofi von den auf der höchsten Kulturstufe Stehen-
den hoch gepriesen werden, sondern selbst in die Hütten
jenerVollustämme Afrikas und Amerikas ihren Eingang
bereits gefunden haben, denen erst seit Kurzem das
Licht der Zivilisation zu erblicken beschieden wurde«.
Was blieb demnach dem Präsidenten anderes übrig,
als sein Bedauern über den Zwischenruf des Hei^
Bielohlawek auszusprechen? Er hätte höchstens
noch hinzufügen können, dafl in den Hütten
jener Yolksstämme Afrikas und Amerikas die
Tolstoische Weltansicht eines wahren Verständnisses
noch sicherer sei als bei den auf der höchsten Kultur-
stufe Stehenden, und zwar trotz der Zivilisation, deren
y Google
— 8 -
Licht sie übrigens erst vor Kurzem erblickt haben. Aber
der Vergleich Tolstois mit Zola entbehrt nicht eines
fewissen Hintergrunds. Zola hat sich in den Augen
er liberalen Welt von dem Makel seines künstle-
rischen Wertes durch sein Eintreten für Dreyfus
gereinigt, und die Bedeutung Tolstois als Roman-
schriftsteller müßte keine unbestrittene sein, der
Schimpf, den ihm Herr Bielohlawek angetan hat, er-
hebt ihn hoch über Dostojewski, dem so etwas
noch nicht passiert ist. Zola mit der liberalen Ejri-
tik als Schweinkerl, aber wer >j accusec sagt, s'ezcuse.
Und wer galt Herrn Max Nordau nicht als Schwein-
kerl? Nicht als Entarteter? Als Idiot, als Halbnarr,
Faselhans oder alter Tepp? Welcher Große blieb vor
Verkleinerung bewahrt, welcher Alte vor Ehr-
furchtsverletzung, welcher Tote vor Grabschändung?
Wo lebte oder starb ein Nietzsche, ein Plaubert, em
Ibsen, ein Baudelaire, ein Puvis de Chavanne,
ein Rodin, ein Oskar Wilde, der es nicht zu
spüren bekam, daß selbst die Distanz, die ihn
von einem Nordau trennt, überspuckt werden kann?
Tolstoi einen alten Teppen zu nennen ist ein
Unterfangen, das den Freisinn zur Abwehr heraus-
fordert. Er hat vor der Zeiten Ungunst längst die
Retirade bezogen; aber wenn er hört, daß die
Bildung in Gefahr ist, gerät er aus dom Häuschen,
in dem er sonst das Ende seiner Tage abgewartet
hätte, — der alte Tepp I Hält noch den Schlüssel zur
wsdu*en Erkenntnis in der Hand und das Zeitungs-
papier, dessen er sich bedient, und läuft auf die
Gasse. Mit Prügeln wollen wir ihn zurückjagen. Denn
wir brauchen seine Aufklärung nicht. Wir wissen
schon, dafi Herr Bielohlawek nicht berechtigt war,
einen Tolstoi mit einem Wort abzutun. Herr Nordau
hat das ausführlicher besorgt. Tolstoi ist kein alter
Tepp, sondern: »Tolstois Wdtanschauun^, die Frucht
der verzweiflungsvollen Denkarbeit seines ganzen
Lebens, ist nichts als Nebel, Unverständnis seiner
y Google
9 —
eigenen Fra^n und Antworten und hohler Wort-
schwaUt (iBntartungc Bd. I, S. 275). Toktoi ein
alter Tepp? Nein, er Iftflt bloft durch eine seiner
Figuren eine »delirierende Theorie rom Lebensgeaetz«
entwickeln. (S. 286). Diese ist dem gesunden Men-
schenverstand des Herrn Nordau »sofort als das
erkennbar, was sie ist: als Wahnsinne (S. 287).
»Kindisch sind seine Beschwerden und Spöttereien.
Er spricht von der Wissenschaft wie der Blinde von
den Farben ... Er bleicht Bouvard und Pteuchet,
den beiden Idioten Fmuberts, die gänzlich unwissend,
ohne Lehrer und Führer, wahUos eine Anzahl Bücher
durchblättern, selbstverständlich eine haarsträubende
Dununheit nach der andern begehen und sich dann
berechtigt glauben, auf die Wissenschaft zu schimpten . . .
Der Entartete Flaubert und der Entartete Tolstoi
begegnen sich hier in demselben Deliriimi« (S. 288). Ein
alter Tepp? Nein, sageichl Denn als Philosophie gibt
der Tolstoismus ȟber Welt und Leben mit einigen
sinnlosen oder widerspruchsvollen Umschreibungen
absichtlich nüfl verstandener Bibelverse Aufschlüge
(S. 201). Ein alter Tepp? Mehr Respekt, wenn ich
bitten darf I Tolstois Mystizismus ist »eine von Emoti-
vität begleitete krankhafte Dunkelheit und Zusammen-
hanglosigkeit des Denkensc (S. 293). Wie, ein alter
Tepp? Er, der »der blofie Abklatsch einer Menschen-
gattung ist, die in jedem Zeitalter Vertreter gehabt
hatc und als deren Beispiel »Lombroso einen Ver-
rückten anführt, der um 1680 in Schleswig lebte und
behauptete, dafi es weder Gott noch Hölle gebe, daß
Priester und Richter unnütz imd schädlich seien und
die Ehe eine Unsittlichkeit u. s. w.c (S. 294). Ein alter
Tepp? HoF die Pest alle Grobiane I Aber »der geistes-
klare, gesunde Turgeniew hat, ohne die Erfahrungen
der Irrenärzte ssu kennen, aus seiner natürlichen
Empfindung heraus die innige Liebe Tolstois zu dem
bedrückten Volke eine hvstßrische genannt ... Im
Gegensatze zum selbstsüchtigen Geistesschwachen,
y Google
— 10 -
lehrt Legrain, haben wir den Geistesschwachen, der
menschenliebend ist, der tausend absurde Systeme auf-
baut, um das Glück der Menschheit herbeissuffihren.c
(S. 297). Und Liegrainund Turgeniew haben Recht und
weifl Otoity selbst Herr Nordau hat ausnahmsweise
Recht I Und nur Herr Bielohlawek hat Unrecht. Er wird
es sich künftig überlegen, mit solchen Worten herum-
zuwerfen. Nicht vergebens soll die ,Neue Freie Presse'
für die geistige Unversehrtheit Tolstois ssweimal täglich
jene Lanze gebrochen haben, die Gottfried von Bouillon,
der bekanntlich gesagt hat, dafl der Zinsfufi mit uns
ist, in ihrem Lager zurückgelassen hat. Denn zwischen
Bielohlawek und Nordau ist doch ein fi;ewaltiger
Unterschied: der eine spricht im Dialekt, der andere
im Jargon. Wenn nun aber jemand einwenden sollte,
dafl die Ehrfurchtbezeigungen des Herrn Nordau für
Tolstoi blofl in einem Buch stehen und dafl die
,Neue Freie Presse' noch nicht dafür gesorgt hat, in
ihren eigenen Spalten das Opfer des Herrn Bielohla-
wek dem Schutz des Herrn Nordau zu überantworten,
so ist er ein unaufmerksamer Leser der ,Neuen
Freien Presse'. Denn wahrlich, ich sage euch, Herr
Nordau hat auch hier schon das Seine getan, und
Herr Bielohlawek hätte sich ein Beispiel daran
nehmen können, wie respektvoll der gesunde Men-
schenverstand der ehrwürdigen Erscheinung eines gro-
flen Denkers gegenübersteht, von dem der Journäis-
mus erwartet, dafl er denmächst in vollster geistiger
und körperlicher Frische seinen achtzigsten Geburts-
tag feiern wird. Denn es geschah im Jahre 1901 im
zwölften Monat, am 28. des Monates, da redete Nor-
dau zu den über die ganze Welt zerstreuten Lesern
der ,Neuen Freien Presse' und sprach: daß Tolstoi
für »Millionen hochgebildeter Russenc nichts ist als
ein »absurder Konfusionsrat, der nur lächerlich wäre,
wenn sein mystisch-anarchistisches Geschwätz
Schwachköpfen nicht erefährlich werden könntet.
Karl Kraus.
y Google
— 11 ~
staatliche Kanstpflege.
Bei einigen Ministern sprach kürzlich eine
Deputation von Malern und Bildhauern vor, um die
Einstellung von ein oder zwei Millionen Kronen ffir
den Ankauf von Kunstwerken in das Budget des
Staates su verlangen. Die Deputation gab der Meinung
Ausdruck, der Staat sei verpflichtet, die Kunst zu
fBrdem, und die Minister gaben dies zu und ver-
sprachen, ihr Möglichstes für die Kunst zu tun.
Wären aber jene Maler und Bildhauer aufrichtig
gewesen, h&tten sie sagen müssen, es handle sich
uinen nicht um die Kunst — mit der weder sie noch
der Staat etwas zu tun haben — , es handle sich
einfach um die Versorgung der »Künstler«. Wenn
der Staat — so ungefähr hätten sie sprechen sollen —
Kunstschulen errichtet und Künstlerstipendien stiftet,
so verlockt er damit eine grofie Anzahl junger Leute,
sich einem Handwerk zu widmen, das nur eine
ziemlich geringe Anzahl von Menschen zu ernähren
vermag. Und wie der Staat moralisch verpflichtet ist,
jenen Universitäts- Absolventen, die sich nicht anders
fortbringen, einen Beamtensposten zu verschaffen, so
mufl er auch für die vom Bilder- und Galanterie-
warenmarkt, vom Porträtbedürfnis der Parvenüs und
von' der Plakatindustrie nicht absorbierten überzähligen
Absolventen seiner Kunstschulen irgendwie sorgen.
Da er aber nicht so viel neue Kmistschulen errichten
kann, dafl er sie alle als Kunstprofessoren unterbringt
— was ein allzu aufftlliger circulus vitiosus wäre
und schliefilich den ganzen Staat in eine Kunst-
betriebsanstalt verwandeln würde — , so mufl er ihnen
eben ihre Bilder und Statuen abkaufen oder Aufträge
erteilen. Die dadurch entstehende Ansammlung von
Konstprodukten macht dann die Errichtung neuer
Kunstmuseen nötig, und dies ermöglicht wieder die
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• 12 —
Statuierung einer Anzahl neuer Posten für die
Absolventen staatlicher Kunstschulen.
Man mufi sich nun wundern — auch wenn man
weifi, aus welchem schier unentwirrbaren Knäuel
von Dummheiten sich der Geist der Demokratie zu-
sammensetzt — f wie in einer Zeit, in der doch die
Anschauung vom Künstler als von einer großen
Ausnahme der Natur sogar in weitere Kreise ge-
drungen ist, dieser närrische Versuch einer staatlichen
Massenaufzucht von Künstlern bestehen kann. Aber
derselbe Schmeck, der heute schreit, zum Künstler
müsse man geboren sein, er sei die Seltenheit der
Seltenheiten, derselbe Schmeck erhitzt sich morgen
für Verpflichtung des Staates zur Kunstförderung.
Es mag daher angezeigt sein, auseinanderzusetzen,
warum der Staat gar nicht imstande ist, wirkliche
Kunst in irgendeiner Weise zu fördern, geschweige
denn mit Hilfe von Schulen und Stipendien wirkliche
Künstler hervorzubringen. Was sich heute Künstler
nennen und infolge staatlicher Fördenmg und eines
gesellschaftlichen Aberglaubens die Nase bis zu den
Sternen hoch tragen darf, sind nämlich bestenfalls
Kunstwerker, d. h. Leute, die es durch einiges Affen-
talent und geduldiges Sitzfleisch so weit gebracht
haben, in mehr oder weniger freier Nachahmung
mehr oder weniger gefällige Artefakta, sogenannte
Kunstwerke zu produzieren. Wenn ein Schüler in
der Real- oder Gewerbeschule sich durch besonders
adrettes und gewissenhaftes Nachzeichnen oder
Modellieren hervortut, also später vielleicht einen
recht tüchtigen Landkarten-Lithographen oder Knopf-
drechsler abgäbe, dann wird er vom Herrn Professor,
der das schön in Rundschrift beschriebene und akkurat
beschnittene Zeichenblatt (es kann auch ein sauber
in Ton geknetetes Weinlaubrelief sein) mit wohl-
gefälligem Schmunzeln betrachtet, in aller Form er-
muntert, die ehrenvolle Laufbahn der Kunst zu be-
treten. Eine gute Tante (die schon längst ein Genie
y Google
- 13 —
in ihrem Liebling vermutete und mit einer Hofrätin
befreundet ist) schafft die nötige Protektion und der
Familienstolz und aukünftige »Kfinstlerc bezieht die
Akademie, froh, sich mcht länger mit banausischer
Wissenschaft abmühen zu müssen. Wer gerade kein
Mikrozephale ist, hat die paar Handgriffe bald los
und macht in zwei Jahren die schönsten Baumland-
schaften oder Gipsköpfe. Dann wird der Jüngling
zum Staatsstipendisten und kopiert in Rom oder
Florenz etliche alte Bilder. Und wenn er schliefllich
nach seiner Rückkehr alle Verwandten und näheren
Bekannten . unter sanftem Zwange durchporträtiert
hat und niemand mehr für gutes Geld seine Lein-
wänden eintauschen will, erwartet er mit Recht vom
Staat, der ihn zum »Künstlertumc animiert hat, daft
er ihm auch weiterhin ein standesgemäfies Leben
garantiere.
Der Staat ist also bei der Vergebung söge-
nannter Künstlerposten, bei Ankäufen und Aufträgen
in einer moralischen Zwangslage. Er mufl vor allem
die berücksichtigen, die aus seinen Schulen hervor-
gegangen sind, und es bildet sich so ganz Ton selbst
eine Art Inzucht von Staatskünstlern. Solche werden
Akademieprofessoren und Oaleriedirektoren, lehren
die neuen Kunstschüler, was sie selbst als solche
gelernt haben, und schlagen zum Ankauf oder zur
Ausführung natürlich nur »Kunstwerkec vor, die der
Tradition der Staatskunst entsprechen. Bin Galerie-
direktor, der nur wirkliche Kunstwerke ankaufen,
der etwa gar auch das Ausland berücksichtigen will,
weil in manchem Inland überhaupt keine Kxmst-
werke geschaffen werden, ein solcher Galeriedirektor
wird immer rasch ^enug abgesägt. Ein unisones Wut-
geheul, das die »emheimischenc Staatskünstler in den
immer willigen Zeitimgen loslassen, — und der kühne
Galeriedirektor hat Mufle, über das Wesen der Staats-
kunst nachzudenken. Der wirkliche Künstler, der kein
Nachahmer, sondern ein Neuschaffer aus innerstem
y Google
— 14 —
Drang, ein Zerstörer des Alten und ein ungestfim
Vorauseilender ist, der wirkliche Künstler ist mit der
Kunsttradition seiner Zeit stets so sehr im Widerspruch^
dafi seine Schöpfungen nienvkls dem Geschmack der
staatlichen Kunstkommissionen entsprechen können.
Er kann frühestens an seinem Lebensende erkannt
werden, er hat mit seinen Zeitgenossen nichts su tun
und würde durch staatliche Förderung nur geschädigt
werden. Er liefie sich vielleicht, um seiner Not su
entrinnen oder seine Individualeitelkeit zu befriedigen,
2ü Konzessionen herbei, die sein inneres KünsÜertum
vernichten würden. Die eigentliche Ti:agödie des
Künstlers besteht nicht in äufiern Nöten. Mancher
Künstler braucht sogar die Not als jenen Druck»
unter dem erst sein Tiefstes und Wertvollstes in
die Erscheinung dringt und äufiere Gestalt erlangt.
Nimm diesem Künstler die Not und du nimmst i£ii
seinen Wert Die Tragödie des Künstlers besteht in
der Kondeszendenz zum Nichtkünstler. Und wenn
der Staat ihn >fördertec, es bestünde die Gefahr, daft
vielleicht der einzige Künstler eines Volkes in seiner
Seele erstickt würde und dann nichts anderes mehr
#re, als die zwanzigtausend, die als akademische
.unstler im Adrefibucn stehen.
Der Künstler bedarf der staatlichen Förderung
nicht nur nicht, diese ist sogar die schädlichste Be-
einflufiung für ihn. Etwas anderes war die Förderung
von Künstlern durch Fürsten von Geschmack in den
Zeiten, da die Kunst noch höfisch sein durfte, weil
der Herrscher noch nicht der erste Diener des Staates
war. Die Zeit der höfischen Kunst war vielleicht
deshalb die nofle Zeit der Kunst, weil es die bittere
Zeit des Volkes war. Das Zeitalter der Demokratie,
die dem Volke die goldene Zeit verheifit, ist für
den Künster eine bittere Zeit und eine einsame. Denn
es ist niemand mehr da, der seine Gesinnung be-
griffe« In der Zeit der Staatskunst mufl der Begriff
der Kunst notwendig verloren gehen. Wenn die
i!
y Google
— 16 —
traurigen Erseugnuse der staatlichen Kunstpflege al»
Denkmftler überall auf Plätssen und in Straßenecken
faerumstehen, als Qemälde in hundert Museen
herumhängen und als Reproduktionen die illustrierten
Blfttter füllen, daim mufl sich in den Zeitgenossen
die Meinung bilden^ die Kunst bestehe nicht in der
lebendigßn Person eines Künstlers, sondern in diesem
Gerumpel von Leinwand und Marmor; sie sei ein
achtbares Handwerk, das an staatlichen Schulen von
marastischen Professoren gelehrt werden könne, und
fleifiigen, geschickten Leuten viel Ehre und Ge-
winn bringe.
Soll aber die Kunst nicht aussterben, so muB
wenigstens in Einseinen sich die Erkenntnis bilden,
daft Staat und Kunst zwei Gegensätze sind, daß die
Kunst erst anfängt, wo der Staat aufhört, daß staat-
liche Kunstförderung nur eine demokratische Dumm-
heit ist und die Kirnst nicht in Kunstwerken, sondern
in lebendigen Werten, in lebendiger Gesinnung be-
steht. Kunstwerke können, auch in ihrer höchsten
Vollendimg, immer nur die Begleiterscheinung der
Kunst, Nebenprodukte, Abfälle sem. Und der Künstler,
der weder ein verhutzelter Professor noch ein be-
geisterter Student, sondern ein Initiator und selbst-
herrlicher Gewaltmensch ist, streift diese Abfölle mit
dem Pufle von sich, wenn sie sich häufen und ihn
beengen. Bei NachaJimungsprodukten aber, die nicht
einmal Zeugen einer Persönlichkeit sind, ist schade
um die Wedel und Tücher, mit denen sie abgestaubt
werden.
Die einzig mögliche staatliche Kunstp^ege wäre
66, alle Kunstprofessoren zu pensionieren und die
Kunstmuseen zu verbrennen. Dann wäre vielleicht
wieder Platz für Kunst und Künstler.
Karl Hauer.
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— 16 —
Sexuelle Anfkläning.
Ein wenig besser wflrd* er leben,
Hatt'st da ihm nicht den Schein de*
Himmelslichts g^egeben.
Er nennts Vernunft und branchts allein.
Nur tierischer als Jedes Tier zu sein.
Wir unterscheiden uns von den Tieren durch
Sprache, aufrechten Gang und einiges mehr, besonders
aber dadurch^ dafi unsere Kinder eine sexuelle Auf-
klärung brauchen. Es scheint, als müßten die
Menschen aussterben, wenn nicht sozialpolitische
Mütter, eingetrocknete Lehrer und Arzte, die nach
Karbol riechen, den kleinen Wurm in Arbeit nehmen
und ihm die Bedeutung der Staubgefilfie bei den
Pflanzen erklären, auseinandersetzen, dafi beim Band-
wurm beide (Geschlechter in einem Leibe vereinigt,
bei den höheren Tieren aber stets getrennt seien,
dafi Milch und Roggen der Fische zur Fortpflanzung
diene und nicht zum Essen allein. »Alsoc, lautet die
Konklusion, »wirst du einsehen, dafi auch wir uns
fortpflanzen müssen und wirst verzeihn, daß dies auf
so abscheuliche Art xmd Weise geschieht. Wir tun
es selber nur ungern, aber es gibt leider keine andere
Methode. € Ein so präpariertes Kind wird endlich vom
Arzte überfallen, der ihm den (Geschlechtsverkehr
unter gräfilichen Drohungen verekelt, gerade zur
Zeit, wenn Mutter Natur in bester Arbeit ist, dem
blühenden (Geschöpfe den Krönungsmantel umzu-
hängen.
Möglich, daß die Ungunst der Verhältnisse nicht
duldet, d^ß unsere Kinder frei und duftig heran-
wachsen wie Blumen imd Tiere des Feldes. Warum
aber mufl man sie mit einem Rattenkönig von Hygiene,
Pädagogik, Naturwissenschaft und (Christentum so
erbarmungslos überfallen, dafi aus dem Königsmantel
ein zerrissenes und mühsam geecktes Bettelgewand
wird? Zugegeben, dafi der unbändige Gescmechts-
trieb gezähmt werden mufi, weil er soziale \md ge-
y Google
^ IT —
sundheitUohe Gefahren mit sich bringt; aber man
sollte ihn nicht mit Schlageisen erwarten, in denen
er sich die Nase serquetscht, sondern mit den Rosen-
ketten ehrfürchtiger Scheu, die er alleseit verdient,
die ihm in besseren Torchristlichen Zeiten nicht Tor-
enthalten wurde.
»Aber gerade dast, erwidern zartsinnige Damen
und Herren, >ist unser Bestreben I Was gibt es
Heiligeres als das Gesetz der Fortpflanzung; wie
könnte man den Kindern, deren Sexualität noch
schläft, die Liebe höher heben, als wenn man ihre
Macht durch die ganze belebte Natur zeigt?€ Sonder-
bar, daß grofie Dichter, die früher gelebt haben,
solche Wissenschaft durchaus beiseite liefien, wenn
sie der Liebe ein Preislied sangen. Romeo, Werther,
Tristan behelfen sich ohne Bandwürmer, Häringe,
einhäusige und zweihäusifi;e Pflanzen, und das Gast-
mahl des Plato führt tieifor in das Wesen der Liebe
als Wilhelm Bölsche, der das Liebesleben in der
Natur im schnodderigen Berliner Ton erklärt. Mag
der Sinn des Geschlechtstriebes in der Natur immer-
hin die Sicherung der Fortpflanzung sein: bei den
Menschen liegt seine kulturelle Bedeutung anderswo,
nämlich in der Erotik, er ist eine Angelegenheit der
Seele geworden, die man nur im Menschen erkennt
und nicht mehr eine Angelegenheit des Unterleibes,
wie die Spezialisten für Geschlechtskrankheiten an-
zunehmen scheinen.
Allerdings ist diese Erkenntnis in ihrer vollen
Bedeutung dem Kinde verschlossen, es wird nicht
begreifen können, dafi einer sich umbringen kann
aus Liebe zum Weib, es ist eine Erkenntnis, die
man nicht lernen kann, sondern fühlen mufi. Das
Fortpflanzungsraffinement in der Natur kann gelehrt
werden. Das Kind wird aber den Zusammenhang
zwischen den Staubfi^efäßen und dem durchaus ver-
schiedenen menschlichen Geschlechtsleben entweder
nicht finden oder aber, was schlimmer ist, seine
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— 18 —
Ideale in falßohe Riohtung treiben lassen, die freilich
unser biologisch-christliches Säkulum besonders aus-
zeichnet. Aus dem Liebesideal unserer Vorfahren ist
ein Viehzuchtsideal geworden. Zarathustra predigt:
»Ehe, so heiße ich den Willen zu zweien, das Eine
zu schaffen, das mehr ist, als die es schufen, c Er
wird von der Ellen Key und ihrer Gemeinde als
Viehzüchter mißverstanden und einer der Ihren ge-
nannt. Empfindsame Mädchen, die diesen Absatz des
Zarathustra gerne auswendig lernen, mögen zusehen,
ob sie nicht allzusehr die Ehrfurcht vor der Liebes-
göttin verletzen, die über allem thront und die zur
ienerin der Oeres, die man der Fruchtbarkeit
Patronin nennt, nicht taugt. Viel heiliger ab das
Gesetz der Fortpflanzung ist das Gesetz der Brunst,
am hehrsten liebt ein halbes Kind, das Ton der Fort-
pflanzung nichts weiß. Liebe zum Kinde, auch nur
zum erwarteten Kinde bricht natürgemäfl die Ur-
gewalt des Gefühles in einen Doppelstrom. Isolde
stirbt an der Leiche ihres Tristan; mit ihm ist ihre
Liebe tot. Lohengrin läfit die Hoffnung auf einen
Sohn zurück, darum kann Elsa ihn ziehen lassen: ihre
Liebe lebt mxd wartet. Wenn man nun gar ein un-
erfahrenes Geschöpf über den angeblich einzigen
Zweck der Liebe unterrichtet, bevor es von der
Sehnsucht zum anderen Geschlecht noch einen Hauch
verspürt, dann kann, theoretisch genommen, ein \m-
befangenes, großes Gefühl gar nicht mehr entstehen.
Das Geschöpf wird von einer falschen Sittlichkeit
bedrückt, von einer Metaphysik der Gteschleohtsliebe.
Zum Glück ist der Reichtum unserer Seele so groft,
dafi man nicht nur Vater und Mutter sondern auch
das Studium der Naturgeschichte verläßt, um dem
Geliebten zu folgen.
Das Storchmärchen ist wenigstens harmlos. Kein
kluges Kind glaubt lange dran. Das Märchen von
' der Fortpflanzung ist eine Viertelwahrheit und darum
schlimmer als eine ganze Lüge. Die naturwissenschaft-
y Google
19 —
Kdie EntrierangdeB Geschlechtslebens scheint uns Ter-
werflich. Wenn wirklich eine künstliche Aufklärung
der firOhen Jugend nötig ist, empfiehlt sich weit eher
das Studimn der Geschichte. Die erhabenste Wirkung
der Geschichte ist, daft sie auf jeder Seite die Grund-
gewalt der Liiebe zeigt. Sie müflte nur anders ge-
Mui werden^ als es heute geschieht. Man soll nicht
Antonius, den TriumTir, für einen Schw&chlingjer-
klären, weil er »um eines Weibes willen eine Welt
ferlorc, sondern man soll ihn als großen Römer
seigen, wie ers war, der vor der Gröfie eines Weibes
ins Knie sank, weil er ein Mann war. Man soll unserer
Jugend nicht ängstlich verschweigen, welche Rolle
dis Weib im Lel^n unserer Gröfiten gespielt hat,
sdl lehren, dafi kein harmonischer Charakter je se-
iHldet ward ohne den Glana jugendlicher Küsse, Sa&
Bedeutendes niemals entstanden ist ohne das Weib.
Man soll den Buben in der Schule durch eine wahr-
hafte Darstellung der Geschichte tiefe Achtung yor
dem Weibe einflößen, den Mädchen wird aus dem
Reichen Studium henlicher Stolz auf ihr Geschlecht
erwachsen. Man sollte meinen, dafi gründliches Studium
ißr Geechichte für die Wahrheit des Geschlechts-
lebens und auf Hochhaltung des erwachenden Triebes
besser vorbereitet als die Anatomie des Bandwurms.
Mit anderen Augen wird ein so gelehrtes Kind das
Verhältnis seiner Eltern ansehen und eine Mutter
eder ein Vater wird leichteren Herzens zur Erklänmg
der »brutalenc Tatsachen schreiten können, wo dies
notwendig ist. Wenn die Kinder aus der Schule die
Moral der Weltgeschichte nach Hause bringen, anstatt
der heuchlerischen Sittlichkeit, wird man sich vor
ihnen nicht mehr entschuldigen müssen, dafi man
liebt. Der Zynismus, mit dem Kinder von Alters-
genossen die Wahrheit erfahren, steht offenbar höher
als was sozialpolitische Mütter schwatzen, die der
lockigen Unschuld Staubgefäße zeigen, wenn die Kinder
der Reife nahe, das Wunderbare erwarten, das sie
y Google
~ 20 -
ahnen. Solche Weiber sollte man eigentlich verbrennen
wie Wetterhexen. Denn hätten sie nicht ihrer eigenen
Jugend ruchlos vergessen, noch unter der Asche
mi^te eine Erinnerung 'glühen, dafi ihnen Honig von
den Lippen flöfie statt der grauen Theorie. Wären es
noch frommgläubige Christen, die ein asketisches
Ideal im Busen nähren, man könnte sie um ihres
Ideales willen achten. So aber ist es abscheulich,
wenn sie endlich doch von menschlichen Verhält-
nissen reden, die Jeremiade des Geburtsaktes weit
auszuspinnen (Typus: was habe ich um dich leiden
-müssen!) und in das fruchtbare Qemüt des Kindes
Kummer imd Sorge zu pflanzen, als wäre dies die
Wirkung des Geschenkes, um das die Menschen von
den Himmlischen beneidet werden. Soll das Kind für
seine Geburt verantwortlich gemacht werden? Viel-
leicht gibts wirklich vorlaute Kinder, die als ge-
bührende Antwort finden: du hättest dich sollen
chloroformieren lassen. Könnte man nicht Mütter
heranbilden, die sich getrauen, bei der Aufklärung
der Blinder, mit den Freuden der Liebe zu beginnen»
wie es bei ihnen geschah, und sollte das sonnige
Kinderherz für solche Freuden, die es selber erwarten,
nicht mehr Verständnis haben als für durchaus
hysterische Erinnerung an Leiden, die ein gesundes
Weib vergisst^
Frauen sind bildsam. Wo aber finden wir die
Lehrer der Geschichte? Es ist beschlossen, weniger
von Schlachten zu sagen, mehr von Gesetzen, Ver-
trägen, Erfindungen. Dafi man auch von Frauen
mehr sagen müfite, ist nicht beschlossen worden. Eis
kommt viel darauf an, wer etwas unternimmt. Unsere
Geschichtslehrer — mit wenigen Ausnahmen — ^
sollen von Frauen lieber schweigen. Sie sind gute
Christen und wissen es nicht anders, als dafi die
Liebe eine Sünde, und die Sünde durch das Weib in
die Welt gekommen sei. Es ist unverständlich, wie
im Gymnasium hellenische Kultur und Sprache gelehrt
y Google
— 21 —
wird, ohne dem Weibe und auch der Umingliebe,
die doch nur eine Liebe zum Weibe über d»a Weib
hinaus, nämlich zum Weibe im Knaben war, die
breiteste Beachtune su schenken. Die Philologen
trauern darüber, dafl die griechische Sprache im
Gymnasium dem Untergange eeweiht ist; sie sind
selber schuld daran. Sie nahen die Quelle aller Kultur,
den herrlichsten Traum der Menschheit übel bewahrt.
Von Phryne und Lal's kaum ein Wort; aber sahi-
reiche Fünfer für alle, die nicht pünktlich wufiten,
was cSpco für eine Form sei. Einzig ron einer neuen
Renaissance des Hellenismus ist das sexuelle wie
jedes andere Heil zu erwarten. Aber es scheint, als
müsse der Pan erst ganz und gar tot sein, ehe er
wieder auferstehen kann.
Was soll man gar Ton Ärzten sagen, die im
Anschluß an eine Belehrung über Qeschlechtskrank-
heiten, Abstinenz vom Weibe predigen. Hat das Weib
sich so sehr yerändert seit der Zeit der Mänaden,
dafi Arzte unangefochten weiter lehren können, die
behaupten, dafi die röUige Geschlechtsreife erst mit
dem füufundz wanzigsten Lebensjahr beginnt, die
ernstlich der Meinung sind, die Überernährung der
wohlhabenden Stände, langes Schlafen in weichen
Betten, aufreizende Auslagen der inneren Stadt seien
überhaupt an dem , Rummel schuld? Solche Arzte
haben einen tiefen Blick ins Wesen der Natur getan.
Sie verdienen den Namen Nätvforscher.
Fritz Witteis.
Ö. G. Z. B. D. Q*)
So nannte sie sich. Ich fand die geheimnisvollen .
Zeichen auf dem Kuvert eines Briefes, den mir die
Post brachte. So und nicht anders mufl Belsasar zu
Mute gewesen sein, als ein Finger an der Wand au
*) Am dem ,Slniplicissinius'.
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— 22 —
schreiben begann. Aber diese rätselhafte Inschrift zu
deuten, hätte sich selbst ein Daniel vergebens be-
müht. Ö. G. Z. B. D. G. Etwas stand mir bevor.
Zögernd besah ich den Brief. Gewogen und zu leicht
bemnden? Immerhin, dafür mufl man kein Straf-
porto zahlen. Um dieser schrecklichen Ungewifiheit
ein Ende zu machen, entschloß ich mich endlich,
den Brief zu öffnen. Da stellte sich heraus, daß der
Finger an der Wand einem gleichnamigen Spezialisten
für geheime Krankheiten gehörte, der es mit Rück-
sicht auf die öffentliche Gesundheit nötie fand, den
Sündern dieser Welt zuzurufen: Ö. G. Z. B. D. G.
Ununterbrochen rief er es. In die Paläste der Reichen
imd in die Hütten der Armen erschallte sein Ruf, und
wo zwei Obelberatene daran waren, der Stimme der
Natur zu folgen, war der Ruf stärker als die Stimme.
ö. G. Z. B. D. G. I Erst später wurde es mir offenbar,
daß es sich um nichts geringeres als um die Gründung
einer »Osterreichischen Gesellschaft zur Bekämpfung
der Gtoschlechtskrankheitenc handelte. Ich hatte es
also erraten, denn mir war sogleich beim Anblick
der vorsichtigen Chiffre, die sich diese Eampfgesell-
schaft erwählt hatte, die »öffentliche Geneigtheit zur
Bewahrung des Geheimnissesc über diese Fragen ein-
gefallen, und ich war nur im Zweifel, ob es sich
nicht auch um eine öffentliche Gelegenheit zum Be-
weise der Geistlosigkeit handeln könne. Als ich
aber erfuhr, daß der Verein die Veranstaltung einer
Enqudte vorhabe, da verlor ich die Spur meiner
ursprünglichen Auffassung und dachte nur mehr
an die öftere Geneigtheit zur Betätigung der
Gschaftlhuberei. Und siehe, auch diese Deutung
brachte mich dem wahren Sinn der Inschrift nahe.
Es handelte sich also um einen Verein, dessen
Mitglieder statutengemäß verpflichtet waren, keine
Geschlechtskrankheit aufkommen zu lassen. Ich sym-
pathisierte umsomehr mit den Bestrebungen dieses
Vereines, als ich mich aus den Zeitungsartikeln, die
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Google
— 23 —
der Vorstand su propagaDdistUohen Zwecken ver-
öffenüichte, davon überzeugen konnte, daft er auf
dem einaig riofatigen Wege sei, das Ziel der Aus-
rottung der Oeschlechtskrankheiten endlich zu er-
reichen. Der VereinsTorstand ging von der Ansicht
aus, dafi man ihnen durch Enthaltsamkeit und tadel-
losen Lebenswandel ein sicheres Ende bereiten könne,
und nichts schien mir logischer und unanfechtbarer.
Hatte man doch auf Grund wissenschaftlicher Ex-
perimente festgestellt, dafi die Ursache der Syphilis
im Gtoschlechtsyerkehr zu suchen sei. Nur Prüderie
und falsche Scham hätten den Vereinsvorstand davon
abhalten können, der Welt das einzig unfehlbare
Mittel gegen die Infektion zu offenbaren. Freilich, so
sehr man auch die Gesinnung anerkannte, die diese
Aktion ins Leben rief, so muflte man doch die Schwierig-
keiten bedenken, die sich ihr in den Weg stellen,
und sich sagen, dafi die Welt heute noch nicht auf
der sittlichen Höhe solcher Anschauungen steht. Denn
die Menschen sind Heuchler genug, um einem Verein,
der so wertvolle Erkenntnisse wie die vom Nutzen
der Enthaltsamkeit propagiert, bestenfalls als unter-
stützende, aber nicht ab ausübende Mitglieder beizu-
treten. Ich beurteilte die Aussichten des Vereins
nach meinem eigenen Verhalten und fürchtete vom
ersten Augenblick an, dafi seine idealen Bestrebun-
gen an dem Widerstand des Publikums scheitern
würden.
Die 0. G. Z. B. D. G. liefi sich aber nicht ein-
schüchtern, und um den weitesten Kreisen die Zweck-
dienlichkeit der eingeschlagenen Methode zu beweisen,
entschloft sie sich, eben jene Enqudte einzuberufen,
an der die genauesten und fachlich geschultesten
Kenner der Sittlichkeit dem Publikum auf gütlichem
Wege zureden sollten, den Geschlechtskrankheiten
das Feld zu räumen, da ja doch an ein nachgiebiges
Zurückweichen des Feindes nicht zu denken sei. Noch
weniger aber sei Hilfe von der Wissenschaft zu erwarten,
y Google
-24-
die es vorläufig yersohmähei aioh mit einem Gegner
einzulassen, der seine Macht auf der Basis der Un-
moral behaupte. Aus dem Einladungsschreiben, das
ich erhielt, entnahm ich au meiner Genugtuung, dafi
man zwar Ton yomherein darauf yerzichtet hatte,
mich als Vereinsmitglied zu gewinnen, aber den
gröftten Wert darauf leizrte, mich als Experten in
aieser Frage zu hören. Beides schmeichelte meiner
Eitelkeit, aber vor allem fühlte ich, dafi man in mir
den Schriftsteller sah, der das unvergängliche Ver-
dienst hat, in einer Zeit, die die Geschlechtskrank-
heiten zwar zu haben, aber nicht zu nennen wagte,
als erster das Wort »Syphilisc ausgesprochen zu
haben. Denn diese mit bis dahin als eine Krankheit,
bei der Diskretion Ehrensache war, ja mehr als das,
Hauptsache, und die Zeitungen schwiegen von ihr,
als ob es sich um einen Aktienschwindel handelte,
oder drückten sich so respektvoll um sie, als
wäre die Erlangung einer wirklichen geheimen Krank-
heit mit dem Ezzellenztitel verbunden. Hatte man
also die Syphilis bis dahin totgeschwiegen, so schien
es jetzt, als ob man sie eher durch »Besprechungc
bannen wollte. Hatte man früher im Geheimen ge-
sündigt, so wollte man jetzt im vollsten Lichte der
Öffentlichkeit enthaltsam sein. Die neue Methode, die zur
Ausrottung des Übels führen sollte, war die ungleich
radikalere. Wenn's in ein Dach hineinregnet, so wird
diesem Mifistand durch eine Demolierune des Hauses
ein rascheres Ende bereitet, als durch die Vertuschung
des Nafiwerdens. Wenn man aber vorsichtshalber
auch die Bewohner des Hauses aussterben läftt, so
ist die Behebung der Fatalität mit unumstöflliohw
Sicherheit gewämleistet. Der Vorsatz nun, der Lust-
seuche nicht etwa durch eine Bekämpfung der Seuche,
sondern durch Scfhutamafiregeln gegen die Lust den
Garaus zu machen, hätte mich keineswegs abge-
schreckt, mich an der BnquAte zu betdUgeo, deren
Plan mir im Gegenteil schon deshalb sympathisch
y Google
— 26 —
war, weil ein Aussterben der Menschheit notwen-
digiM^rBlse auch ein Ausstetben der Dummheit nach
sich sieht, und in weiterer Folge dann auch jede
Enqudte zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten
im Keime erstickt wird. Aber leider konnte ich mit
der Art, wie die ö. G. Z. B. D. G. ihre Absichten
propagierte, ganz und gar nicht einverstanden sein.
Nach der taktyoUen Einführung auf den
Kuverts der Ladungen hatte man erwarten können,
dafi die Vereinsleitung sich «mit der Empfehlung
d&r Ekithaltsamkeit begnügen und den ohnedies
genug verbreiteten Krankheiten nicht auch noch in
einer das Schamgefühl des Zeitungsleeers gröblich
verletzenden Weise Reklame machen werde. Man kann
es ja in der Tat nicht billigen, dafi Spezialftrzte vom
journalistischen Ehrgeiz befallen werden und gegen
die Lues nur mehr jene Schmierkur anwenden, die an
und für sich schon mit der Pflicht ärztlicher Ver-
schwiegenheit kollidiert. Allerdings fand ich in einem
Artikel, den der Einberufer der Enqudte als ein Mahn-
wort an die Menschheit veröSSsnUichte, die Namen
jener Infektionen, vor denen gewarnt wird, feinfühlig
verschwiegen und diese blofi als »eine bestimmte
Qrvq>pe von Krankheiten« definiert. Aber dafür be-
klagter sich der Verfasser über die Heuchelei der
Gesellschaft, die sie aus lächerlichen Schicklichkeits-
rOcksichten nicht einmal mit ihrem wahren Namen zu
nennen wage. Die Heuchelei ist gewifi eine noch ge-
fährlichere ansteckende Krankheit, der auch die Arzte
nicht entgehen, aber der Verfasser mtnnte sie trotz-
dem, wir erfuhren sogar, dafi Gelenksentzün-
dung, Baochfdlentzflndiiiig und Wodienbettfieber
die Folgen einer anderen ansteckenden Krank-
heit sind, aber diese selbst muBte sich damit be-
gnfigeo, als »eine der uns hier interessierenden
Kraädieiten« bezeichnet zu werden. Leider bewahrte
der Verfasser diese wohltuende Zurückhaltung nidxt
auch gegenüber der zweiten uns hier interessier^iden
y Google
- 26 —
Krankheit, und da er es für notwendig hält, dafi
unsere Gesellschaft, den Standpunkt der Prüderie in
diesen Dingen aufgebe, so entschloß er sich in einem
unüberlegten Augenblick, glücklicherweise erst ^ans
zum Schlufl des Artikels, ihr wenigstens den Namen
»Syphilisc zu verraten. Diese Indiskretion verletzte
mich derart, daß ich es nicht über mich bringen konnte,
der ö. G. Z. B. D. G. meine Expertise zur Verfügung
zu stellen. Der Verlauf der Bnqu6te war leider nur
zu sehr geeignet, mich in meinem Mißtrauen zu be-
stärken. Ein Hofschauspieler hatte zwar die aus-
drückliche Versicherung abgegeben, daB er gegen
das DecoUet^ einer Kollegin Gottseidank gefeit
sei, dafi ihm also die Schönheit nichts anhaben
könne, auch wenn sie nichts anhabe; ich freute
mich, dafi die Propaganda der Unterlassung
wenigstens in Theaterkreisen auf einiges Verständ-
nis stofie, und schöpfte die Hoffnung, dafi am
Ende vielleicht auch die Geistlichkeit sich für die
Abstinenz gewinnen liefie, wenn etwa ein Komödiant
sich entschließen sollte, einen Pfarrer zu lehreu. Aber
sonst boten die Sitzungen wenig Erfreuliches. Zeit-
weise wurde man sogar über den Sinn der geheim-
nisvollen Initialen wieder in die Irre geführt, denn
manchmal klangs wie öliges Geschwätz zur Be-
ruhigung des Gewissens, und mit der Enthaltsamkeit
schien einem das Mittel der Schadloshaltung sozu-
sagen an die Hand gegeben, der Finger an der Wand
schrieb seine eigene Schand, und das traurige
Zeichen, in dem die ö. G. Z. B. D. G. zu siegen
schien, hielt einem die pädagogische Mahnung gegen-
wärtig: Öde Gewohnheiten zerstören bald die Ge-
sundheit . . . Dann aber kam das Thema jener
Liebe an die Reihe, bei der nach der land-
läufigen Ansicht der eine Teil immer der Not
gehorcht und nur der andere dem eigenen Trieb,
nämlich die Prostitution. Hier glaubte man jeden
Augenblick, der bekannte Major würde als deus
y Google
— 2T —
ex machiaa erscheinen, der auf deutschen Sittlioh-
keitBkongressen sum Zwecke der Ausrottung der
Prostitution eine schlechtere Besahlung der Prosti-
taierten su verlangen pflegt, wodurch zwar die Not
yergröflert wird, aber wenigstens der eigene Trieb
befriedigt werden kann. Zum Thema der »Sexuellen
Aufklarung« hätte ich selbst sprechen sollen. Ich zog
es vor, dem VereinsTorstand schriftlich meine Ab-
sage zu erteilen, und zwar schon deshalb, weil ich
fEIrchten muflte, gerade durch dieBeantwortung dieser
Frage Anstoß zu erregen. Nichts liege mir femer,
schrieb ich, als deren yitale Bedeutung zu unter-
schätzen. Aber was mir darüber zu sagen notwendig
scheine, hätte ich oft genug schon gesagt, und ich
könnte nur neuerdings bekennen, für wie dringend
fdboten ich es halte, daß die Kinder endlich die
Itern in die Geheimnisse des Geschlechtslebens ein-
fahren. Denn dunkel und verschlungen, schrieb ich,
sind die Pfade, auf die es führt, und wie oft strauchelt
ein Erwachsener!
Ich zweifelte allerdings, ob mein Schreiben in
der Enqu6te zur Verlesung gelangen würde. Mit Un-
recht würde man es als den Ausdruck einer zynischen
Lebensanschauung auffassen. Aber ich weifi, dafl die
Zukunft mir Recht geben wird. Vorausgesetzt natür-
lich, dafl die Menschheit, soweit sie sich der Pro-
paganda der Keuschheit anschliefit, eine Zukunft
noch hat. Aber auch jetzt schon kann man an täg-
lichen Beispielen sehen, wohin die Unerfahrenheit
der Erwachsenen führt. Hätten die Mitglieder der
Enqudte sich von ihren Kindern rechtzeitig darüber
aufklären lassen, wie rege die Oeschlechtstriebe im
Menschen sind, sie wären nie auf die Idee- verfallen,
die Enqudte ins Leben zu rufen. Denn die Ent-
haltsamkeit ist zwar nach Busch das Vergnügen an
Dbgen, welche wir nicht kriegen, aber Max und
Moritz wissen sich zu helfen, und man glaubt gar
nicht, wie vergnügungssüchtig die Welt im AU-
y Google
— 28 —
gemeinen ist. Sie kriegt lieber Geschlechtskrankheiten,
als dafi sie auf deren Ursache verzichtet^ denn sie
ist von jenen noch immer leichter zu kurieren, als
von der Geneigtheit, sie sich unabsichtlich zuziehen.
Dafi die Gehirnerweichung mit der Syphilis zusammen-
hängt, ersieht sie ohnedies aus den Sitzungsberichten
jener Enqudten, in denen ihr zum Schutz gegen die
Gefahr die Vermeidung des Genusses empfohlen
wird. Sie läfit sich von Sittlichkeitskongressen
ebenso wenig bange machen, wie von medi-
zinischen Versammlungen, die sich als Sittlichkeits-
kongresse entpuppen. Sie liest 0. G. Z. 6. D. G.
und hofft, es werde ihr endlich die Ortliche
Gelegenheit zur Betätigung des Geschlechtstriebes
verraten werden. Denn diese ist es, die ihr so oft
durch einen Paragraphenzaun und durch die Dornen-
hecke der Moral unzugänglich gemacht wird. Müfite
sie jetzt auch aus Furcht vor venerischen Krank-
heiten auf den Anblick der Venus verzichten, so
würde sie trübsinnig. Sie riskiert lieber die Liebe,
als die Niete der Verzweiflung zu gewinnen.
Schlimmeres kanp ihr nicht geschehen, als dafi sich
die Beschäftigung mit der Lues einigen strebsamen
Professoren aufs Gehirn schlägt, so dafi der Beförde-
rung zu Hofräten nichts mehr im Wege steht, und
sie gehorcht dem Naturwillen, wenn es auch vor-
läufig immer noch mehr Orden für die Bekämpfer
der Geschlechtskrankheiten gibt als Mittel zu deren
Bekämpfung. Die Spezialisten werden ihr vielleicht
einmal in der Ordinationsstunde wertvolle Dienste
leisten können. Wenn sie ihr aber in einer Enqudte
Enthaltsamkeit verordnen, so ist im Himmel mehr
Freude über einen Sünder, der nicht bereut, als
über hundert Gerechte, die E^arriere machen.
Karl Kraus.
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Dnck von Jihodt * Siagd« Wien UI. Hintere ZoUanilHlriSe S.
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DIE FACKEL
: KARL KRAUS
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BKZT7GS.SEDINQUNOEN!
IS AbOBnem^Dt erstreckt «ich nicht auf elaea Zeft
tum.^oddern Auf eine bettiaiinte Anzahl ▼»Nummern.
I. Hintere Zollamtsstr. 3.
Otto IVlaler, beipzig
Stephansstrafie Nr. 12.
t« ehtttlf«Hnaf 90 Pf. Berlin NW 7, PHedHcbstraBe lOt BdcU
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'Der V erlag der f aci
befindet sich jetzt
Wien, m/2.
Hintere Zollamtsstrasse Nr. 3j
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Hl ii^v^i^v^AALrAr^ vierzehn kurze Erzählungen.
U mOreSIven , schon in TagesWättem und 7
veröffentlicht.
ROBERT SCHEU, Wien, IV. Theresianui
Im VerUg« ,Dla PACKBL' sind •rechlenea
und duroh alle Buchhandlungen oder direkt au beaiebt
Karl Kraus:
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HAZIMILIiN HARDE
Eine Erlßdigung. Rin Nachrul
Preis 60
lel-Nnnimer (m% eo HBiieo
X. Jahr.
e Fackel
Herausgeben
ARL KHADS.
"""atikar. Carl Kraus. — Sittlich-
uiiener Brief an Herrn Karl
aeus Hein rieh. — Überietzung;
DieForam-Szeiie. - Mencchon-
Eulenborg.
llrSoheint in zwangloser Folge.
'JClultCB.
WIEN.
Der Herausgeber dankt für die Gi
die ihm aus dem Anlaß der 2i
Nummer der „FACKEL" zugekomj
sind.
In zweiter Auflage erschiei
Sittlichkeit u.Kriminali
I. Band der Ausgewänuen Schrij
von
BroBohiert
Ganzleinen
K 7.20
„ 8.70
iieblellungen auf uas im Verlag der Bü
handlang L. Rosner, Wien und Leipa
'^^•""^■'"^lene Werk nimmt jede Bxt
Jer Verlag i|#^^ ,F2^
Die Fackei,
nn. 251-52 WIEN. 28. APRIL 1908 X. JAHR
Zwischenfalle im Vatikan.
Zuerst las man zwei Notizen nebeneinander:
»Ostern im Vatikan« und »Ein Zwischenfall im
Vatikan«. Ein gesperrt gedruckter Name in der
ersten Notiz unterrichtete augenblicklich darüber,
wie die Ostern im Vatikan gefeiert wurden. Der
Papst empfing nämlich Osterreichische Pilger, und
wer, glaubt man, hat den Dolmetsch gemacht? Ein
päpstlicher geheimer Kämmerer natürlich. Und wie
heißt er? Lippay. Oonte ijippay. Er »weilt« seit einigen
Tagen in Rom, um wieder ein Bild des Heiligen
Vaters zu malen. Ich nahm also ursprünglich an, daß
sich darauf die Meldung von dem peinlichen »Zwischen-
fall im Vatikan« bezog. Aber tiefer unten war tatsäch-
lich von einer anderen Religionsstörung, die den
Gläubigen Ärgernis gab, die Rede. Die zweite Afifäre
hat sich inzwischen entwickelt und zu einer euro-
päischen Sensation ausgewachsen. Die erste finde ich
schlinmien Denn dafl der Herr Professor Feilbogen,
dessen wissenschaftliche und bürgerliche Harmlosig-
keit von der ruhigeren klerikalen Publizistik an-
^ itnnt wird, dafl auch seine in der Sixtinischen
»eile überflüssige Schwägerin, deren Unge-
üeit im Empfangen der Kommunion das Malheur
schuldet hat, nach Rom nicht mit der Absicht kam,
Sakrileg zii begehen, kann wohl nicht bestritten
rden. S ist eme Infamie sondergleichen, auf
.an Mann, dem blofl die Taktlosigkeit zur Last
b, sich um den Einlafi zur Ostermesse bemüht
- 2 -
B5U haben, oder der vielleicht ^ar nur das Opfer
weiblicher Sensationsläufigkeit ist, die Erbitterung
der gläubigen Menschheit zu laden. Dafi er die
Redakteure des ^Deutschen Volksblatts^ um Ver-
zeihung bittet und reuig seine Konvertierung anbietet,
und dafi das Professorenkollegium, dem er angehört,
schleunigst eine Kundgebung gegen ihn beschliefit,
ist nur ein trister Beweis dafür, wie hierzulande die
Politik den Charakter verdirbt. Und peinlich genug
ist auch die Schilderung, die dieser Romfahrer
vor der Königin der Wiener Journidistik entwirft.
Man vergleiche nur, was Mortimer der , Neuen Freien
Presse^, und was Feilbogen der Maria Stuart be-
richtet:
Die Osterreiie nach Rom war
ffir mich die Erfüllung einer jahr-
zehntelangen Sehnsucht nach dem
Erlebnis, das antilce und künst-
lerische Rom aus eigener Anschau-
ung kennen zu lernen . . . Der Oster-
messe des Papstes als Zuschauer
beizuwohnen, gilt als besonders
hohes Erl^nis und wird von
Fremden sehr angestrebt ... Im
Augenblicke unserer Ankunft ge-
rieten wir, ehe wir viel fiberlegen
konnten, in einen Zug hinein, der
sich zwischen den Bänken der
Kapelle bewegte und uns nach vorne
trug . . . Von der imposanten Feier-
lichkeit der Handlung inmitten
eines wahrhaft illustren europäi-
schen Publikums und dem erdrük-
kenden Ehrfurchtsgefflhl, in der
unmittelbaren NAhe des unter herr-
lichen Chorgesflngen pontifizieren-
den Oberhauptes der weltumfas-
senden Kirche, kann sich niemand
In schnellei^ Lauf
Durchzog ich Frankreich, das ge-
priesene
Italien mit heifiem Wunsche suchend.
Es war die Zeit des großen Kir-
chenfests,
Von Pilgerschaaren' wimmelten die
Wege,
. . . Mich selbst
Ergriff der Strom der glaubenvol-
len Menge ...
Wie ward mir, Königin I
... Ich hatte nie der Künste Macht
gefühlt;
Es haßt die Kirche, die mich auferzog.
Der Sinne Reiz, kein Abbild duldet
sie . . .
Wie wurde mir, als ich ins Innre nun
Def Kirchen trat . . .
Als ich den Papst drauf sah in
seiner Pracht
Das Hochamt halten und die Völ-
ker segnen.
O, was ist Goldes,was JuwelenSchein
Womit der Erde Königesich schmük-
kenl
Nur er ist mit dem Qöttlichen.um-
geben.
Ein wahrhaft Reich, der Himmel
ist sein Haus,
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- 8
eine Vorstdlung machen, der etwas
Derartiges nicht erlebt hat. Und
sdion wendete sich der Heilige
Vater mir zu . . .
Denn nicht von dieser Welt sind
diese Formen.
Der Treffliche ließ selber sich
herab •*•
In Wahrheit war Herr Dr. Feilbogea, der Pro-
fessor an der Ezportakademie ist» wirtsohaftspolitischer
Stadien halber nach Rom gekommen, und ein heil-
kwes MifiverBtändnis hat es yersohuldety dafi er sich in
beruflichem Übereifer an die Kommunionbank heran-
drftngte. Dies ist aber auch die ganze Schuld, die ihn
tri£Et. Sein weiblicher Anhang mae seinen Irrtum mifl-
braucht und der eigenen Neugierde dienstbar gemacht
haben. Von der Absicht, ein Sakrileg eu begehen, kann
nicht dieRedesein. Wenn die katholische Christenheit, die
immer den größten Wert auf dieVerletzungihrerGtofühle
1^ durcluius ein Ärgernis nehmen will, so halte sie
sich an den anderen Zwischenfall im Vatikan. Der Papst
ist durch ^en Verkehr mjt dem Maler Lippa^ daran
gewöhnt, das israelitische Element in der Sixtmischen
Kapelle vertreten zu sehen; es ist ^anz ausgeschlossen,
dafi ihn das Benehmen der Familien Feubogen und
Zwack überraschen konnte. Aber die wahren Qläubigen
werden die Ungeschicklichkeit einer Frau, die in der
freudigen Erwartung eines Wiener Jourtratsches die
heilige Handlung störte, viel glimpflicher beurtei-
len als die Tatsache, dafi der heilige Vater unauf-
hörlich vom Conte Liipschitz aus Pilsen gemalt wird,
der es noch dazu absichtlich tut. Auch dem
in der Andacht versunkenen Katholiken könnte es
passieren, dafi er angesichts der vatikanischen Reklame
eines absolut talentlosen Malers eine Geste macht, die in
der entstehenden Verwirrung als Ausspucken gedeutet
wird. Selbst Mortimer, der vordem »nie der Künste Macht
gefohlt« hat, hätte von der »Gestalten Fülle, die ver-
schwenderisch aus Wand und Decke quoll«, nicht ent-
iflckt sein können, wenn sie schon damals der Herr
Lippaj geschaSSen hätte. Es reifit einem doch schliefllich
die Geduld, wenn man lesen mufi, dafi sogar jener
Papstmesse, in der die Affäre Feilbogen sich zutrug,
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— 4 -
»zahlreiche Mitglieder der Osterreichischen Aristokratie,
Qraf Qoluchowskiy Fürstin Orsini, Gräfin Mettemich,
Gräfin Hoyos und Gonte Lippay beiwohnten«. Wenn
der dabei ist, kann die Frau Zwack auch dabei sein.
So mag sie gedacht haben. Denn sie wuflte, dafl der
Papst abgehärtet ist.
Karl Kraus.
>
SitÜicfakeit nnd KrimiiiaUtftt
Indem ich eine in der Mflnohener Halbmonats-
schrift yMärz^ vom 16. April 1908 enthaltene
Besprechung meines Werkes in der ^Fackel* abdrucke,
begehe ich einen Akt der Notwehr. Keine Zeit-
schrift sonst, kein Tagesblatt hat bis heute yon dem
Erscheinen meiner Ausgewählten Schriften Notiz ge-
nommen. Der Publizität der wenigen Besprechungen,
die zu erwarten sind, mufl ich für eine österreichisöhe
OffenÜibhkeit, die sonst wahrscheinlich keinen Ton
über meine Bücher vernähme, buchstäblich Nachdruck
geben. Dieses Beginnen lockt mich umsomehr, als es
zu Mißverständnissen Anlafl gibt. Es wird die Nach-
rede der Eitelkeit, den bequemsten Vorwurf der
Flachsichtigen, reizen, aber wohl auch, mit einem
Blick auf <ue Tatsache, dafl der Verfasser der von
mir selbst angeführten Rezension ein Kamerad ist,
den Vorwurf der Kameraderie. Denn für das Urteil
des Durchschnitts bedeutet es ein und dasselbe, dafl
das Theaterstück eines Redakteurs von einem Kollegen
ffelobt wird, und daß eine Sache, gegen die sich
die vereinig Publizistik aller Richtungen verschworen
hat, von emem Schriftsteller anerkannt wird, der sich
zu ihr durch Mitarbeit bekannt hat. Wenn es viele
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nicht verstehen werden, dafi hier Befangenheit erst
mm Urteil berufen macht, so wird mir dies ein An-
sporn sein, nicht nach ihrem Oeschmack bu handehi
and den Urteilen, die Freunde über meine Bücher
niederschreiben möeen, immersu die Wiener Publi-
ntftt zu ersetzen. Wer fi^egenüber der Feigheit, die
Tor dem Werk »Sittlichkeit und Kriminalitätc Reifi-
SU8 nimmt, den Mut hat, su ihm zu stehen, kann
sich auch dem törichten Verdacht einer Oefftlligkeits-
haiidlung aussetzen, und ich für meine Person sehe
nicht ein, warum ich yerpflichtet sein sollte, in das
Totschweigen der Presse über mich einzustimmen.«
Da& die Wiener Publizität ausnahmsweise von ihrer Ge-
pflogenheit abgehen werde, persönliche Kränkung
durch Ignorieren einer Sache zu r&chen, an der das
gute (Gewissen nicht yorüber kann, habe ich nicht
erwartet. Wären es nicht Ig;noranten von Beruf, sie
würden dem Erscheinen dieser Bücher einige Auf-
merksamkeit schenken. Wären sie nicht talentlos, sie
liefien wenigstens ihren Hafi sprechen. So weil! ich
denn, dafi ich nur von mir selbst und meinen Freun-
den einige Hilfe zu erwarten habe. Ich weiß aber
auch, diä die Zeit kommen wird, wo sich die nicht
schämen müssen, die über diese Bücher in der Öffent-
lichkeit ein Wort gesprochen haben.
Karl Kraus, der Herausgeber der in Wien erscheinenden
Revue ,Die Fackel', welche — obwohl sie es als schärfstes Spiegel-
bild österreichischer Kultur und Unkultur verdiente — wie sles
Geistige made in Austria in Deutschland nur wenig Beachtung
findet, hat sich, von Freunden und Verehrern gedrängt, entschlossen,
die in den Heften seiner Zeitschrift eingesargte Stilkunst und Gedanken-
arbeit von neun Jahren auferstehen zu lassen, sie von nebenläufiger
Polemik und vom stofflichen Interesse des Tages zu reinigen und in
Buchform umzugießen. Diese Flucht aus dem engen und verkleinernden
Leserhorizont der Wiener Oemfitlichkeit in die breite Öffentlichkeit des
deutschen Lesepublikums wird hoffentlich recht vielen Gelegenheit geben,
efaien Schriftsteller kennen zu lernen, von dem sie bisher nur vom
Hörensagen wufiten, daß er ein boshafter Witzbold sei. Kraus besitzt
nämlich auch die Gabe des Witzes, die sich für ihn als Danaergeschenk
erwiesen hat. Er hat vor ein Dutzend Jahren in etlichen Aufsätzen und
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6 —
Broschflren eine Anzahl guter und beißender Witze gemacht, die — mit
Ausnahme der Betroffenen — von toute Vienne belacht und mit inniger
Schadenb-eude genossen wurden. Damit war er aber auch ein ffir allemal
katalogisiert ; und was immer er nun schreiben mochte, man suchte nur
nach den Witzen. Seine innerliche und schriftstellerische Persönlichkeit
hat sich im Lauf der Zeit völlig verwandelt, er ist lAngst über .die SphAre
bloßer Witzigkeit hinausgewachsen, aber hierzulande läßt man ihn nur
als Witzbold gelten. Er könnte plötzlich die Weltrdtsel lösen, man hielte
es doch nur fflr eine unnfltze nnd unerquickliche Abschweifung von seiner
eigentlichen Aufgabe, ätzende Witze zu machen. Es gibt nun allerdings
einen Witz, der aus tragischem Grunde erwächst, aus der Erkenntnis der
Ohnmacht des Vereinzelten gegen die Obermacht der kompakten Dumm-
heit, und solcher Witz der Verzweiflung wird zuletzt so scharf und
schneidend, daß seine Spitze an der Dickhaut des Philisters abbricht.
Solcher Witz ist dem Ernste uf verwandt und so mit ihm verwoben,
daß der Dummkopf weder Ernst noch Witz wahrnimmt, denn er faftt
beides nur getrennt. Und in diesem S'tadium der Sachlage pflegt das
liebe Wiener Publikum zu sagen : jetzt ist er fibetgeschnappt . . .
Der vorliegende erste Band der Ausgewählten Schriften^ zeigt
die zwei Hauptvorzflge von Kraus in bestem Licht. Zunächst die meister-
hafte Beherrschung der deutschen Sprache. Kraus gehört zu den wenigen
Schriftstellern, die vor ihrer Muttersprache eine so hohe Achtung haben,
daß sie jede Flflchtigkeit, Jede geringste Vernachlässigung des .sprach-
lichen Ausdrucks wie eine persönliche Schmach empfänden. Die ge-
schmeidige Knappheit seines Stils ist die Frucht eines fHeißes, dessen
Intensität nur der gewissenhafte Schriftsteller ahnt^ Dann die Wucht
seiner vom Wortwitz unabhängigen Satire, die überlegen und tödlich ist.
Kraus kommt niemals mit Gelehrten-Emst, er geht niemals von Theorien,
immer vom Leben, vom alltäglichen Ereignis aus, das in seiner Be-
leuchtung zum typischen Fall wird. Er benatzt als Waffe des Angriffs
hauptsächlich des Gegners eigenes Wort ufld eigene Verteidigung und
bedarf keiner unverständlichen Terminologie und keines Ballasts von
fremder Wissenschaft. Diese zwei Eigenschaften dOrften das Buch auch
dem sympathisch machen, der mit den darin niedergelegten Anschauungen
nicht in allen Punkten einverstanden ist. Karl Kraus bemüht sich darin
um die Reinigung unseres Lebens von allerlei giftigem Abei'^auben, und
Betschwestern und Schlafmützen wird- es daher von vornherein mißfallen.
Aber wer in manchen Fällen die Sittlichkeit der bestehenden Sitte
leugnet, ist nicht notwendig ein zügelloser Libertiner, er ist meist sogar
in höherem Sinne ein Moralist als der eifernde Konservator einer über-
lebten Moral. Er will an die Stelle eines toten Kodex das ' lebendige
Verantwortungsgefühl, an die Stelle äußeren Zwanges eine innere Freiheit
setzen; er möchte das Ethos mehr und mehr aus dem Bann starrer
religiöser und staatlicher Gesetzlichkeit erlösen und ins Individuum selbst
verpflanzen. >Wo Leben erstarrt, türmt sich das Gesetz.'« (Nietzsche.)
Und wo Sittlichkeit nichts anderes sein soll als ein Kompromiß zwfschen
*) Kart Kraus, SitUichkeit und KriminaliUt. Ausgewählte Schriften Bd. I.
Buchhandlung L. Rotner, Wien und Leipzig 1906.
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— 7 —
veralteteil Sitten und abermflchtigen Geboten der Nitur, ist sie nur
Heuchelei nnd Unnatur.
Wie nicht anders möglich, ist es gerade der unzerstörbarste und
elementarste Trieb des JMenschen. der Qeschlechtstrieb, der unter der
ioflerllchen Sittlichiceit der Sitte am meisten leidet. Was dem Menschen
zur höchsten Lust gegeben ward, wird heute von Religion und Justiz
oline Nutzen und vemflnftigen Zweck nach Möglichkeit unterdrQckt.
Nim wäre es die gröOte Torheit, die Notwendigkeit gesetzlicher Ein-
dämmung leugnen zu wollen. Dürften Oberhaupt Triebe sich hemmungs-
los entfalten, sie wflrden alsbald allgemeine Anarchie herbeifflhren. Nicht
die Sexualjustiz an sich ist also verdammenswert und schädlich, sondern
die Starrheit derselben. Da6 Gebote und^ Verbote immer noch fq|;tbe-
steben, wenn schon längst die spezielle Gefahr, die sie bekämpfen, ent-
schwunden ist, dieser schlechte, dem Plufi der Entwicklung hohnsprechende
Konservatismus verttfsacht es, daß die harmloseste und lauterste Lust
zu Sünde und Verbrechen werden kann. Ein Junger Wiener Schriftsteller,
Otto Soyka, schrieb einmal den schönen Satz, der Menschheit sei die
Geschiechtslust wohl als ein so großes und ungeheures Geschenk der
Götter erschienen, daß sie sich niemals getraute, unbekümmert, herzhaft
und mit gutem Gewissen aus ihrem Born zu schöpfen. Wie ein Über-
bleibsel aus den Urzeiten der Furcht und des härtesten Daseinskampfes,
wo alles Lustvolle als etwas Unwahrscheinliches, als eine schlimme
Verlockung mit Mißtrauen betrachtet wurde, wo man den Göttern das
Teuerste opferte, um sich nur nicht zu glücklich zu fühlen, - so mutet
heute den freieren Geist diese immer noch bestehende Scheu an, dieses
schlechte Gewissen vor der Geschlechtslust, dieser Dunstkreis von Bos-
heit, Scham^ptnd üblem Geruch um sie herum. Das schlechte Gewissen,
die Schmutzriecherei und Grausamkeit äußert sich aber auch öffentlich^
und in drei Formen besonders offenbart diese böse Trias sich in ihrer
ganzen ScheußlichkeK: im heuchlerischen Muckertum des verdorrten
Zetoten, in der hämischen Kaltherzigkeit des bureaukratischen Richters
und im giftigen Neid des Philisters, der stets darüber wacht, ob der
Nachbar nicht etwa genießt, was er aus Feigheit entbehrt.
Diese obskurantischen und lebensfeindlichen Mächte sind es vor-
nehmlich, die Kraus aufs Korn nimmt. Welchen Schaden sie anrichten, wie
sie gegen Leben und Glück der Menschen wüten, das zeigt er an der Hand
der markantesten Gerichtsfälle der letzten Jahre. Er bdeuchtet den Geist
dieser Mächte an ihren eigenen Aussprüchen und Feststellungen und ver-
hehlt auch seine persönliche Meinung nicht, die manchem vielleicht allzu
sdiroff und überhebend vorkommen mag, welche aber mit einer pole-
mischen Vehemenz vorgetragen wird, die einen artistischen Genuß für
sich gewährt. Auch Qlädiert Kraus nicht, wie schlecht informierte Gegner
ihm vorwerien, für ein zügelloses Ausleben des Geschlechtstriebes. Er
fordert im Gegenteil in vieler Hinsicht straffere Gesetze und strengere
Strafen. Nur über die Rechtsgüter, deren Schutz hiebei in Frage kommt,
denkt er anders als die meisten. Während nämlich moralische Eiferer
und gesetzgebende Lebensfremdheit vor allem Rechtsgüter von mehr
oder weniger imaginärer Natur geschützt sehen wollen, Ehre, Sittlichkeit,
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-- « -
Normalittt, Seelenheil und anderes, möchte er die wirldichen Recfats-
güter besser als bisher geschützt wissen: das Recht der Unmflndigen,
die leibliche Gesundheit, die freie Willensbestimmung und allenfalls
noch die öffentliche Asthetilc. Verbrechen an Kindern, Schädigung der
Gesundheit und Zwang in jeder Form sollen strenger als bisher bestraft
werden, das Einverständnis mündiger und williger Menschen ^ber sollte
heute endlich als Privatangelegenheit gelten dürfen. Sonst wiederholen
sich endlos die immer betrüblicher wirkenden FflUe, dafi Gesetzesüber-
tretungen und Oberschreitungen der Sitte in Geschlechtsdbigen, die unter
anderen Verhältnissen niemandem Schaden brächten, namenloses Unglück
über ethisch durchaus integre Menschen bringen. Es sollte auch^ nicht
sein, dafi einem des Mordes verdächtigen Menschen die Mordabsicht in
der ^eise nachgewiesen wird, daß man »erhebt«, er habe einmal die
Ehe gebrochen oder »Orgien gefeiert«. Und es sollte nicht sein, daß
aus dem Unglück von Kranken des Empfindens der Weizen *der Er-
presser emporschießt, während ein Luetiker ein blühendes Geschöpf ohne
Furcht vor Gesetzen dem Siechtum weihen und sich selbst vor der ge-
sellschaftlichen Achtung durch die ärztliche Schweigepflicht gesichert
fühlen darf.
Katl Hauer.
Offener Brief an Herrn Karl Spitteler.
Sehr geehrter Herr Spittelerl
Sie haben im Verlag der ,Süddeut8ohefl Monats-
hefte^ eine Schrift erscheinen lassen, die den IHtel
trägt: »Meine Besiehungen eu Nietsschec. Der Be-
wegflTund su Ihrer' Schnft war, wie Sie in der Vor*
rede sagen, dieser:
Es hat der Schwester Nietzsches, der Schriftstellerin Frau Förster-
Nietzsche, beliebt, ohne Not und Anlaß aus Briefen ihres Bruders und
Anderer eine Art Suite zusammenzurunden und unter dem Titel »Nietzsche
und die Kritilct in der Zeitschrift .Morgen' zu veröffentlichen, welche
sich zwar ganz sanft und harmlos anhört, deren Leitmotiv jedoch, in
Worten ausgedrüclct, lautet: »Kommet und schauet, ihr Völker alle,
schauet und lachet, wie die zwei kleHnen Schweizer Zeitungsschreiber
Widmann und Spitteler sich anmaßten, den gewaltigen Nietzsche zu be-
kritteln, wie kläglich sie sich dabei benahmen und wie überlegen, wie
gnadenvoll mein herrlicher Bruder.«
Des weiteren gaben Sie als Beweggrund an,
dafi sich ein »Knäuel falscher Oerüchte« über Ihre
Beziehungen su Nietzsche gebildet habe: dafi be-
sonders über eine geistige Verwandtschaft Ihrer Dich-
te
y Google
- 9 —
tune »Prometheuse mit »Zarathustra« falsche GerQchte
im Umlauf seien.
Indem Sie selbst an mehreren Stellen Ihrer
Sctirift ausdrücklich betonen^ dafi Sie sich in betreff
des Literarischen vollkommen neutral verhalten, und
keinerlei persönliche Ansicht darüber äufiern^ wollen,
ob der Zarathustra tatsächlich Spuren der Beein-
fluflun^ durch Ihren Prometheus trage, roufi wohl
jeder Lieser Ihre Schrift als ein rein menschlisches
Dokument betrachten.
Auch ich tue es. Wenn mir daran liegt, das
Ergebnis meiner Betrachtung in einem offenen Briefe
ausflusprecben, so hat dies seinen guten Orund:
Friedrich Nietzsche, mit dem Sie in Ihrer Schrift wie
mit einem Lebenden Abrechnung halten, ist tot. Er
kann keine Antwort auf das geben, was Sie über '
und gegen ihn sagen. Also möchte ich eine Antwort
versuchen.
Sie schreiben, wie schon angeführt, dafi der
Artikel der * FraiK Förster-Nietzsche >ohne Not und
Anlafic veröffentlicht worden sei.
Dies ist auch meine Meinung. Die Vielschreiberei
der Frau Förster-Nietzsche geht Vielen wider den
Qeschmack. Ich für meinen Teil finde sogar, dafi die
Biographie, die Frau Förster- Nietzsche von ihrem
Bruder geschrieben hat, ein sehr schlechtes Buch ist
dafi denen, die sich für Nietzsche interessieren, zehn
Seiten trockener Daten mehr Nutzen gebracht hätten
als die in zwei Bänden erschienene Interpretation des
Lebens Nietzsches, die sie uns gegeben hat. Ich finde
weiterhin, dafi selten etwas Überflüssigeres geschrieben
worden ist als die Vorreden, die sie in den gesammelten
Briefen Nietzsches in so großer Menge eingestreut hat.
Ich finde endlich, dafi Frau Förster- Nietzsche in
Dingen Friedrich Nietzsches durchaus nicht kompetent
ist; und um zu Ihnen zurückzukehren, dafi sie nicht
nur in Ihrem Falle, sondern auch sonst sehr oft
»ohne Not und Anlafic geschrieben hat, ^ .
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— Io-
was Frau Förstor-Nietzsohe im ^Moreen' gegen
Sie veröffentlicht hat^ stammt aus dem Nacnlafl
Friedrich Nietzsches. Die Veröffentlichung dieses
Nachlasses betreffend, pflichte ich der Meinung des
Herrn Ernst Holzer bei und glaube mit ihm, daß es
in jeder Beziehung, für Herausgeber wie für Leser,
viel gescheiter gewesen ^wäre, noch fünfzig Jahre
damit zu warten. Für mich ist sicher, daß die Nietzsche-
Philologen in fünfzig Jahren eine viel klarere, objek-
tivere Übersicht des Materials haben werden als es
irgend Jemand heute möglich ist. Denn sie werden
den großen Vorteil einer weiten Distanz für sich
haben, einen Vorteil, der besonders Frau Förster-
Nietzsche durchaus fehlt. Diese meine Ansicht ist für
mich ein Grund mehr, Ihr abfälliges Urteil über die
Schwester Nietzsches zu billigen.
Nun aber haben Sie sich in Ihrer Schrift mit
Frau Förster-Nietzsche sehr wenig beschäftigt, um-
somehr dafür mit Nietzsche selbst, der doch fus Toter
an der Veröffentlichung im ,Morgen^ «unschuldig ist.
Man kann Ihnen nicht verübeln, d^fi Sie überhaupt
gesprochen haben; indefi macht der Ton die Musik,
und die Musik Ihres menschlichen Dokuments ist
meinem Qehör nach an mehreren Stellen dishar-
monisch.
Obwohl Sie, Herr Spitteler, öfters erklären, dafi
Sie mit dem Gerücht, der »Zarathustrac sei von Ihrem
»Prometheus« beeinflufit worden, gar nichts zu tun
haben wollen, führen Sie doch auf Seite 15—19 Ihrer
Schrift den langen Wahrscheinlichkeitsbeweis, dafi
Nietzsche Ihr Buch Prometheus gekannt habe. Ge-
statten Sie einen Auszug:
Als Ich, im Jahre 1880, aus der Fremde in die Schweiz zurQclc-
gelcehrt, mein erstes Werk (Prometheus I. Teil) herausgab, und dieses
Werk keine einzige Besprechung erhielt, da wollte es die Ironie, dafi
unmittelbar nach dem Erscheinen des Buches, also im Jänner 1881,
neben vereinzelten SchriftstellSrn, im besonderen einige ehemalige Schfiler
Nietzsches, sich fOr das Buch begeisterten. »Das mufi man unbedhigt
Nietzsche zusenden«, hieß es, »das ist etwas fQr ihn^ Heftig verbot
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— 11 —
ich das jedem, der mir davon sprach, denn ich wollte lieber ganz ver-
schoUen bleiben, als Nietzsche die Pflrsprache, vielleicht den Ruhm ver-
danken. Ob sich jeder an mein Verbot gekehrt hat? Ob es ihm nicht
trotzdem zugeschickt wurde? Davon weifi ich nichts, auch keiner meiner
Bekannten weifi etwas davon. Wenn man mich aber fragt, was ich sonst
ton der Möglichkeit halte, daß Nietzsche schon damals oder bald darauf
(also im Jahre 1881 oder 1882) meinen Prometheus »durch einen merk-
würdigen Zufall« könnte kennen gelernt haben, so antworte ich: ich
halte das nicht bloß für möglich, sondern für wahrscheinlich; ja, wenn
ich meine Meinung ganz aussprechen darf, so sage ich, es müßte ein
merkwürdiger Zufall sein, wenn Nietzsche das Buch nicht schon damals
(1881 oder 1882) kennen gelernt hätte. Man muß eben wissen, daß
trotz dem Stillschweigen der Presse der »Prometheus« in den höchsten
Kreisen der literaris.chen und gelehrten Welt der Schweiz außerordentliches
Anisehen erregte. Die Kunde davon, daß sich ein erstaunliches, geheimnis-
volles Buch biblischen Stils ereignet habe, sprach sich seit Februar 1881
unter den bedeutenden Männern der deutschen Schweiz herum. Keller
besaß es, Mayer besaß es, AdoU Frey und Widmann machten (vergeb-
liche) Versuche, die Nachricht von dem Phänomen nach Deutschland zu
verbreiten. An den schweizerischen Universitäten war es bekannt . . .
Jakob Burckhardt, Professor in Basel, hat es von mir selber zugeschickt
bekommen. Und Nietzsche, Professor in Basel, mit allen berühmten
Männern der Schweiz in Fühlung, soUte nichts davon vernommen haben?
Ich habe schon mitgeteilt, daß zu den allerersten Lesern und Bewunderern
des Buches einige ehemalige Schüler und begeisterte Jünger Nietzsches
gehörten . . . Was ist nun wahrscheinlicher? Daß diese Schüler Nietzsches
ihrem Meister gegenüber sämtlich von dem merkwürdigen Buch ge-
schwi^en haben sollten, oder daß einer von ihnen ihn im Oespräch
darauf aufmerksam gemacht hat? Ferner bedeutete ja das Werk für den
Buchhandel zu zweien Malen eine Neuigkeit. . . . Was ist nun wieder
wahrscheinlicher, daß keiner der Basler Buchhändler das neue Buch Herrn
Professor Dr. Fr. Nietzsche zur Ansicht ins Haus gesandt hätte, oder
daß einer von ihnen das tat? Ich vermute, es wird wohl der oder jener
von ihnen sich ebenfalls gesagt haben: >Das muß man Nietzsche schicken,
das ist etwas für ihn«. Oder ich höre Jakob Burckhardt, wie er beiläufig
im Gespräch zu Nietzsche sagt: »Sehen sie sich doch einmal gelegentlich
das an, wenn Sie Zeit haben! Vielleicht gelingt es Ihnen, aus dem
Zeug klug zu werden, ich kann, weiß Gott, nichts damit anfangen«.
Endlich: Im Herbst 1881,' unmittelbar nach dem Erscheinen des II. Teils,
brachte der Bemer ,Bund* eine große Besprechung des Buches ; Nietzsche
las mit Vorliebe den ,Bund*. In der gelesensten Zeitung Basels, den
.Basier Nachrichten', wies Professor Stephan Born, also ein Kollege
Nietzsches an der Basler Universität, mit auszeichnenden Worten auf
das Werk hin. Darum noch einmal: ich kann zwar keine Spur davon
auffinden, daß Nietzsche den Prometheus im Jahre 1881 oder 1883 zu-
geschickt erhalten hätte, allein es wäre verwunderlich, wenn ihm das
Buch damals, da es als erstaunliche literarische Neuigkeit bei den aus-
erlesensten und berühmtesten Persönlichkeiten der Schweiz Aufsehen er-
regte, entgangen wäre.
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— 12
..Es ist Ihnen, Herr Spitteler, nicht gelungen,
mich yon Ihrer unbefangenen Neutralität su über-
zeugen. Ich halte es im Gegenteil für einen sehr
menschlichen Kniff, dafi Sie Ihre Neutralität be-
tonen, und doch zugleich, in den hier angeführtem
Stellen, den Leser leise und verstohlen zum Qläuben,
dafi Nietzsche*Zarathustr,a von Prometheus beeinflufit
sei, hinführen wollen.
Nicht ohne Absicht sprechen Sie von einem
Buche »biblischen Stilsc. Sie haben von Zara-
thustra, Ihrer Schrift zufolge, genau zwei Seiten
gelesen und da vielleicht biblische Töne herausgehört.
Also: Prometheus hat bibUschen Stil, und Zarathustra,
der zwei Jahre später erschienen ist, hat auch bibli-
schen Stil . . .
Leider täuschen Sie sich in der Sache selbst
Ich setze Ihnen dies, da Sie den Zarathustra nicht
kennen, möglichst kurz auseinander. Einzelne Formeln,
die im Zarathustra an die Bibel gemahnen, erinnern
ebensogut an Homer. Das priesterliche Pathos gehört
zum Wesen Nietzsches, der sich mit Stolz den
Priester des Dionysos genannt hat. Sprachlich ver-
wandt ist dem Zarathustra noch am ehesten Hölder-
lins »Hyperion«. Was den Inhalt des Zarathustra an-
langt, so beweise ich Ihnen jederzeit gern, dafi die
typischen, nämlich die ethischen Umwertungsideen
dieses Buches schon in der »Geburt der Tragödie«
— die zehn Jahre vor Ihrem Prometheus erscnienen
ist — unterirdisch, aber gut hörbar anklingen; daß
sie sich in jedem folgenden Buch Nietzsches immer
deutlicher vernehmen lassen, bis me der Zarathustra
in einer ungeheuren Konzentration zusammenfaflt und
laut und lebendig ertönen läflt. Die Zarathustra-
Sprache, ihr ethisches Pathos, ist Nietzsche auch in
den Büchern vor Zarathustra schon geläufig. Und
ihr Schwung wird umso priesterlicher, je mehr sich
Nietzsche dem Zeitpunkt nähert, wo er — eben in
Zarathustra — sich als Umwerter und Oberwinder
der Moral fühlt, und mit der alten Moral auch eine
y Google
— 18 —
alte Art der philosophisohen Sprache von sich weist,
Ihr Prometheus kommt sdso wirklich nicht in
Betracht, auch wenn ihn Nietzsche gekannt hat Sie
haben daher den Beweis, dafi er ihn gekannt haben
könnte, auch »ohne Not und Anlafi« geliefert. Bs
sind sehr oberflächliche Nietasche-Leser, die behaupten,
>dafl in Nietzsches Zarathustra sich unzweifelhaft
deutliche Spuren großer Beeinflufiung durch Prometheus
erkennen liefien«. Diese Leser kennen die Nietzsche-
BQcher vor Zarathustra herzlich schlecht.
Ein Kuriosum komisch -ängstlicher Verfasser-
Eitelkeit liefern Sie auf Seite 40 Ihrer Schrift:
Um ihr — der Frage nach der Beeinflußung Zarathustras durch
Spftteler — auch in Zukunft fem bleiben zu können, will ich keine
e^fene Oberzeugung gewinnen; und um zu keiner eigenen Oberzeugung
gmdtigt zu werden, habe ich mh verboten, den Zarathustra (In welchen
ich einst, anläßlich jener Besprechung, nur flüchtig hhieingeblickt, um
ihn nach der Probe von zwei Seiten wieder wegzulegen) nachtrlgUch
zn lesen.
Bs reist sehr zum Lachen, Herr Spitteler, mit
welch' feierlichem Elmst Sie unaufgefordert das Ver-
8pre(dien geben, den Zarathustra nicht bu lesen. Aber
wie soll dieses Versprechen den Leser interessieren?
Sie, Herr Spitteler, werden sich doch nicht Tor einem
guten Buche fürchten ?J Ihr schriftstellerischer Ehrgeis
wird doch durch das gute Buch eines anderen Autors
nicht verletzt?!
Ich habe noch mehr an Ihrer Schrift gefunden,
was mich menschlich abgestofien hat. Sie sind immer-
fort bemüht, dankbar gegen Nietzsche zu erscheinen,
dafür, dafi er sich Ihrer angenommen hat, für Sie
nach einem Verleger suchen gegangen ist und Sie
an Herrn Ayenarius, den Gründer des Kunstwarts, so
freundlich empfohlen hat. Aber, Herr Spitteler, ich
habe durchwees die Empfindung, dafi bei Ihnen die
Qehftssigkeit das Gefühl des Dankes überschrieen hat.
Einmal schreiben Sie recht gnädig: »Eines Freundes
BlOfie deckt man zuc. Und an emer anderen Stelle
glossieren Sie nicht sehr zartsinnig, was Ihnen
üigitized by VjOOQl'
14 —
Nietzsche über Ihre Besprechung seiner Bücher ge-
schrieben hat:
JEr tat das in einer Form, die er Ironie zu nennen pflegte (mit
Worte »Ironie« glaubte er sich Oberhaupt immer über äe Ver-
legenheiten weghelfen zu können, auch Über die Verlegenheit von Wahr-
heiten, die ihm nachträglich unbequem geworden waren), das heifit auf
deutsdi gesagt, in einer durch und durch verdrehten Form.
So spricht kein Dankbarer, Herr Spitteler, wie
Sie hier sprechen. Oder aber, Sie haben seltsame
Begriffe von Dankbarkeit.
Nun zum Letzten und Wichtigsten, was gegen
Ihr menschliches Dokument zu sagen ist.
Der gröflte Teil Ihrer Schrift beschäftigt sich
mit den Briefen und Karten, die Nietzsche an Sie
geschrieben hat. Sie üben eine ausführliche und
stellenweise sehr unfreundliche Kritik daran. Aber
Sie vermeiden es,denLesern dieseBriefe
und Karten vorzulegen.
Sollen sich die Leser Ihrer Schrift überhaupt
ein eigenes Urteil in der Sache bilden dürfen, so ist
unbed> nötig, dafi die Nietzscheanischen Schrift-
stücke in ungekürztem Wortlaut vorgelegt werden.
Es liegt dies in Ihrem eigenen Interesse. Ein
mifitrauischer Leser könnte sonst auf den Gedanken
kommen, dafi Sie diese Schriftstücke gar nicht mehr
besitzen und sie nur aus einer dunklen Erinnerung
zitieren. Wäre diese Vermutung richtig, so hätte
der grOfite Teil Ihrer Schrift jeden Wert verloren.
Vielleicht nehmen Sie sich die Mühe, derlei
Vermutungen als unsinnig zu erweisen.
Dies können Sie aber nur, indem Sie die Briefe
Nietzsches der Öffentlichkeit vorlegen.
Hochachtungsvoll
Karl Borromaeus Heinrich.
y Google
— 15 —
Übenetanmg ans Harden,
Seit Jahren gehen, die deutschen Leser der
Zukunft' des eigentlichen Genusses yerlustig. Sie
haben das Gefühl, dafi hier die wertvollsten bedan-
ken in einer fremden Sprache vorgetragen werden,
von der sie nur ahnen können, dafi sie viel schöner
ist als die ihnen geläufige. Wiederholt ist deshalb die
dringende Bitte an mich ergangen, ein Lexikon an-
zulegen, welches, wenngleich mit Preisgabe des dich-
terischen Moments, das gerade für den politischen
Leitartikel unentbehrlich ist, über den Sinn der
einzelnen Sätze trockenen Aufschlufi gibt. Ich
habe dem allgemeinen Drängen nachgegeben und
will die Arbeit durchführen, soweit es mir bei dem
Stand meiner Bildung möglich ist und soweit neu-
griechische und hyperboräische Sprachelemente,
die den deutschen Satzbau erst zu seiner ornamen-
talen Geltung bringen, mir nicht unüberwindliche
Hindemisse in den Weg legen. Ich mufi mindestens
für den ersten Versuch um Nachsicht bitten. Mancher
Stelle konnte ich nur mit einiger Freiheit der Auf-
fasmiig beikommen; manche blieb unübersetzbar.
Anderseits glaube ich nicht fehl zu gehen, wenn ich
gewisse Bezeichnungen, die der Autor anzuwenden
Hebt, wie z. B. »Fritzenstaat« oder >Reussenkaiser«
als Telegrammadressen auffasse und in solchen Fällen
die Klarheit der Kürze vorziehe. Durchwegs aber
möchte ich die Verantwortung ablehnen, wenn etwa
mit der Fremdartigkeit auch der aparte Reiz einer
Wendung verloren ginge.
(28. Märzb
Dei^vom wikrttemberglschen
Wahlkreis Biberach Ab-
geordnete
is 18. April.)
Der Abgeordnete von Biberadi
Der mebiinger Mfiller
Der Abgeordnete MüUer-Mei-
ningen
Der HeUbronner
DerAbgeordnete von Heilbipnn
üigitizedbydOOgle
16
Freisinnshüuflein
Die Freisinnigen
Qenossenfraktion
Die Sozialdemokraten
WanotbrSu
Deutscher Reichstag
Herr Gröt>er runzelt Aber dem
Bartdickicht die Stirn
Herr 'Gröber, der einen dichten
Bart hat, runzelt die Stirn
Wahrscheinlich, daß nur jähe
Wut den schwäbischen Tort
gebar
Wahrscheinlich, daß der schwä-
bische Abgeordnete nur im
Zorn Unrecht tat
Wie Herr Landgerichtsrat
Gröber, wenn er in Kät-
diens Heimat auf der SeUa
säße, darüber urteilen würde
Wie Herr Gröber als Richter
in Heilbronn darüber ur>
teilen würde
Die denunciatio des Herrn
MüUer
Die Denunziation des Herrn
Müller
Habt Ihr so Euer Leben, Euer
Wirken so geträumt, da
heißes Sehnen aus der
Dumpfheit Euch ins Weite
riß?
Habt Ihr Euch so die Er-
füllung Eurer Wünsche ge-
dacht, als Ihr diesen Beruf
wähltet?
Wo ist die Möglichkeit, immer
auf der Seite zu fechten,
nach der des Wesens lei-
denschaftlicher Wille langt?
Wo ist die Möglichkeit, immer
seine Oberzeugung wm
Ausdruck zu bringen? ,'\
Stets bereit sein, vom Mahl
ins Elend zu laufen, wenn
der WiUe zur Wahrheit
sich am gedeckten Tisch
nicht durchsetzen kann
Stets bereit sein, seiner
Stellung verlustig zu gehen,
wenn sie nicht die Gewähr
der Unabhängigkeit bietet
Selbsterziehung zur Mannheit
frommt dem Stand mehr
als emsige Vereinsmächlerei
Streben nach Selbständigkeit
nützt dem Stand besser als
Vereinsmeierei
Korypho
Korfu
Unterm Sonnensegel den Leh-
ren alter Geschichte nach-
träumen
Vor einem Zettelkasten* see-
krank werden
Die Stadt Konstantins
Konstantinopel
Den Sitz Konstantins erklet-
tern
Den byzantinischen Thron be-
steigen
üigitized by VjOOQIC
- 17
Die Beute des geflfigtlten
MarkuslAwen werden
Von Venedig besiegt werden
Johannes Zimiskes, der im
cnbiculum die brünstige
Tbeophano umarmt, we^
dem Romaerreicfa die Sla-
vengetahr ab
•
?
Unter den Kalimafkon, dem
prächtig wallenden Trauer-
schleier, verwest der Leib
des von grofien Kriegern
und Organisatoren geschaf-
fenen Staates
? ?
Von dem Basüeus erbt der
Zar der Moskowiter, der
die Palaeologentochter freit,
den Stimreif des Konstan-
tinos Monomachos
? ? ?
Die Eparchie Kcrkyra
Der Sprengel Korfu
King Edward
König Eduard
Der Sohn Umbertos
Viktor Emanuel
Die monegassische Hoheit
Fürst von Monaco
Der ubiquitAre Herr Jacob
Pichon
Unde Sam
Amerika
Das Stemtnbanierrcich
Die Vereinigten Staaten
Betatigungrecht
BetAtigungsrecht
Jünger des heiligen Fiakrius
Fiaker
Der Kongreß der von Bona-
partes Tatze zerstäckten
Europa
Der Wiener Kongrefl
In schlichterer Lebensmitte
erzogen
Einfacher erzogen
Chronikon
Chronik
Ein vom deutschen Volk Ab-
geordneter *
Ein deutscher Abgeordneter
y Google
— 18 —
Artikel, in denen er stöhnte
Artikel, in denen er klagte
Ein Freund des King
Ein Freund des Königs von
England
Bülow im Schwiegervaterland
Bülow in Italien
Der vom Sultan Gesandte
Der türkische Gesandte
Albanerland
Albanien
Die Reise ins Wikingermeer
Die Nordlandsreise
Der Gottorperhof
Der russische Hof
Das Tier mit den zwei Pigment-
schichten unter der Cha-
grinhaut
Das Chamäleon
Die fflr den Kaiser gedeckte
' Tafel wird mit allen Wun-
dem südlichen Lenzes ge-
schmückt
An der Hoftafel wird junges
Gemüse serviert
Glossen.
In einem Feuilleton über die Aufführung der
Bittnerschen »Roten Qredc bedauert der Musikreferent
der ,ZeitS dafi die Heldin, die sich zum Schluß auf
ein Schiff unter Landsknechte rettet, mit dem Lieben
davon kommt. Er schreibt:
Dieser Ausgang ist ebenso widerwärtig als unbefriedigend, denn
wir tragen das Verlangen, dafi jener Leib, der mit seinen Reizen so
viel des Unheils gebracht hat, vor unseren Augen vernichtet werde, und
ein Mitgefühl, das wir der lebendigen Gred versagen mußten, hätten
wir vielleicht der sterbenden geschenkt. So aber verlassen wir das Haus
in einem Zustande des Mißbehagens, obgleich wir den Abend hindurch
viele günstige Eindrücke empfangen haben.
Der Mann, der aus Mitgefühl so grausam ist,
heifit R. V. Perger und war früher Direktor des
Konseryatoriums. Jetzt hat er sich unter die
Kritiker gerettet. Ein unbefriedigender Ausgang;
Digitized by VjOOQIC
— 19 —
denn wir tragen das Verlangen^ daß der Qeist, der
mit seiner Reizlosigkeit so viel des Unheils über die
Musikjugend gebracht hat u. s. w. Nach dem Straf-
gesetz sind weder die dämonischen Wirkungen^ die
one rote Gred ausübt, noch die tödliche Langweile,
die von der Leitung des Konservatoriums durch
Herrn v. Perger ausging, zu fassen. Dennoch glaube
ich, dafi einem die Wahl nicht schwer fallen wird.
Denn wer würde nicht selbst den Ruin durch eine rote
Ored einem gesicherten Dasein an der Seite des Herrn
T. Perger vorziehen? Die rote Ored kommt kaum
anfs Schiff, und schon raufen die Landsknechte um
ihren Besitz. Sie ist gewifi eine unmoralische Person,
aber man stelle sich vor, was die Landsknechte täten,
wenn Herr v. Perger aufs Schiff käme und sich
ans Steuerruder setzte. Da gäb's keinen Streit, da
blitzte keine Klinge, da würde die vollste Oberein-
stimmung durch ein Schnarchen ausgedrückt, das
hannonischer tönte als selbst ein Schülerorchester
anter der Leitung des Herrn v. Perger, und ruhig
glitte das Schiff seine Bahn . . . Das ist eben der
Unterschied. Eine Person, die so unanständig ist,
die Sinnlichkeit der Männer zu erregen, macht man
nicht zur Heldin einer Operl Oder wenn schon, so
nmfi am Schlufl ihr Leib vernichtet werden. Das ist
jene Reinigimg, die das wahre Drama bieten soll
und die doch auch im Leben die besseren Herren
immer vornehmen, nachdem sie die Reize einer un-
anständigen Person gekostet haben. Denn die Seelen-
stimmung, in der sich >omne animal« zuweilen befindet,
ist der Ausdruck einer höheren Gerechtigkeit, und
wenn durchaus wegen der Erregerin solcher Depression
etwas blitzen soll, so mögen es nicht die Klingen
sein, sondern die Ritter. Herrn v. Perger gebtmrt
das Verdienst, jenen Zustand, in dem auch dem Trouba-
dour das Wort »Schlampen« einfällt, zum ästhetischen
Prinzip erhoben zu haben. Nur vertritt er dieses mit
einer Härte, die im Zeitalter der Humanität befrem-
dend wirken mufi. Toilette machen, davonlaufen
y Google
20-
und nie wieder auf der Strafte grOften — das sollteidocli
genügen I Wenn die sittliche Empörung besonders
groß isty könnte man die rote Gred etwa noch wegen
heimlioher Prostitution anseieen. Aber wer wird denn
gleich den Leib vernichten lassen und dabei noch
Busehen wollen? Ich weifl nicht, ob die Reise der
Konservatoristinnen, damals als Herr v. Perger Direk-
tor war, besonders viel Unheil angerichtet haben. Ich
würde es wünschen; denn es ist immer ein tröstlicher
OedankCy dafi es dem männlichen Ernst nicht völlig
gelingt, das Leben mit Langweile bu verkleistern,
wenn Frauen etwas dawider haben. Aber ich weift,
dafi sich Herr v. Perger als Direktor des Konserva-
toriums durch nichts ausgezeichnet hat, und ich finde
es unbegreiflich, dafi er sich als Musikkritiker gerade
durch Grausamkeit hervortun will. Früher klappten
blofi die Orohesterübungen nicht, wenn Herr v. Perger
den Taktstock in die Hand nahm, aber sonst stand
er im Ruf eines umgän^iohen Mannes; jetzt »wirft
man zu einem Nero und öusiris seinen Namen«. Sollte
er wider Erwarten Gedankenfreiheit geben, dann
werde ich von ihr in Bezug auf ihn den ausgiebig-
sten Gebrauch machen!
Die Leute vom Eisenkartell haben sich mit
Recht darüber aufgehalten, dafi der Maler Hohen-
berger, der sie als Gruppe verewigen sollte, ihre
Verdienervisagen von Kenaissancekostümen sich
abheben liefi. Da die Renaissance nicht weten
Ehrenbeleidigung klagt, mufite Herr Peilchenfeld Sa-
fen. Das Bild war eine Privatsache, und der
Künstler, der auf Bestellung arbeitet, macht sich
lächerlicher als den Bankier, wenn er die öffentliche
Ausstellung solchen Ulks mit heiligem Ernst verteidigt.
Wenn ein Gerichtshot endlich zurecht erkennte, dafi
die Eisenwucherer in der Sezession gehängt werden
sollen, so wäre dagegen nichts einzuwenden ; bis dahin
aber dürfen sie sicn gegen alles, was mit ihnen in
y Google
— 21
effigie geschieht, rerwahren. Zu Ausbrüchen des
Kfinstlerstolses war keine Veranlassung. Sie sind
stets mit logischen Unregelmäßigkeiten verbunden.
Als einer der Geldmenschen sich darüber beklagte,
dafi er auf dem Bilde als Schleppträger dargestellt
sei, wäre die Absicht der Deeradierung leicht beweisbar
gewesen. Aber den Beweis durfte gerade einer der Klä-
ger nicht führen, sonst wäre es wohl herausgekommen,
welche Rolle er und seinesgleichen am Hofe des
Herrn Wittgenstein spielen und welche Direktiven
der Maler vom Mäcen empfangen hat. Darum konnte
Herr Hohenberger pathetisch werden und den schönen
Satz aufstellen : »In der Kunst fi^bt es keine Degradation !
Wenn der Sonnenthal oder der Lewinsky einen Diener
oder einen König darstellt, so ist das egal Ic So logisch ist
nun einmal die gekränkte Künstlerwürde. Wenn der
Sonnenthal einen Diener oder einen König gibt, so
ist das gewifl egal; aber der Vergleich könnte doch
höchstens die Berechtigung des Malers erhärten,
einen Diener oder einen König zu malen, nicht die
Verpflichtung des Modells, sich als Diener oder als
König malen zu lassen. Nicht die Verpflichtung eines
zahlenden Modells. Weil es in der Kunst keine Degra-
dation gibt, so vergibt sich Herr Hohenberger gewiß
nicht das geringste, wenn er einen Eisenwucherer
konterfeit. Das Modell aber macht nicht die Ehren
oder Herabsetzungen der Kunst mit, sondern unterliegt
nur der sozialen Wertung. Wird ein Wucherer als
Könie'^gemalt, so ists eine Ehre, wird ein König als
Wucherer dargestellt, eine Degradation. Nur wenn
das Modell selbst Künstler wäre, ginge ihm die
Wirkung einer Linie oder eines Flecks über die
stoffliche Bedeutung. Aber es ist pure Heuchelei, zu
▼erlangen, daß zum Beispiel ein früherer Bankdirek-
tor sich geehrt fühle, weil der Künstler aus Gründen
der Lichtverteilung ihn so aufgefaßt hat, als ob er
blofl vier Millionen geiAohlen hätte.
y Google
— 22 —
.Wiener Allgemeine Zeitung'
6. April:
Lange Gesichter gibt es zur
Frist an den verschiedenen deut-
schen Höfen und Höichen. Es ist
nichts mit der im größten BaUett-
stil ausgedachten Qratulationscour
sämtlicher deutschen Reichsfürsten
unter dem Kommando Kaiser Wil-
helms II. bei unserem Kaiser in
Wien . . . Quos ego ! War es doch
von allem Anfang ersichtlich, daß
das ganze Massengratulationsprojekt
von irgend einem egoistischen
Berliner Höfling stammte . . . Allein
Kaiser Wilhelm besitzt politischen
Takt, Feingefühl eines vornehm
Denkenden. So war ihm sofort
klar, daß es seinem greisen und
treuen Freund, der doch auch ein
deutscher Fürst ist, nicht angenehm
sein könne, an die peinlichste Zeit
seines arbeitsreichen Lebens erin-
nert zu werden . . . Die Herren von
der Berliner Kamarilla haben es
diesesmal gar zu plump und un-
schlau angefangen. Die Massen-
invasion deutscher Fürstlichkeiten
in Wien wfa-d unterbleiben ... Der
Gewinn ans dem projektierten duo-
dezlflntlichen Fremdenverkehr in
Wien wäre denn doch allzu teuer
durch das Emporbeschwören trüber
Erinnerungen im Geiste jener er-
lesenen Persönlichkeit bezahlt, deren
Jubiläum die Berliner KamariUeriche
mit seltener Taktlosigkeit für ihre
Lüsternheiten zuexploitieren hofften.
, Wiener Allgemeine Zeitung',
10. April:
Wie wir von infoimierter Seite
hören, scheint sich die Nachricht,
daß eine Anzahl deutscher Bundes-
ffirsten unter Führung des deut-
schen Kaisers in Wien erscheinen
werde, um dem Kaiser Franz
Joseph anUßlich seines öOjAhrigen
Jubiläums gemeinsam ihre Glück-
wünsche darzubringen, zu bestäti-
gen. Amtlich ist jedoch diesbezüg-
lich noch keine Verständigung ein-
gelangt. Aus diplomatischen Krei-
sen erfahren wir, daß die deut-
schen Bundesfürsten, insbesondere
Kaiser Wilhelm, schon vor längerer
Zeit dem Wunsch Ausdruck gaben,
eine solche solenne Kundgebung
zu veranstalten, durch welche das
intime und herzliche BundesverhiU-
nis, welches zwischen dem Deut-
schen Reich und Österreich-Ungarn
herrscht, zum Ausdruck gelangen
sollte. Diese Anregung, welche, wie
erwähnt, von deutscher Seite aus-
ging, scheint nunmehr ihrer Ver-
wirklichung entgegenzugehen, wenn-
gleich amtliche Schritte in dieser Rich-
tung noch nkht erfolgt sind. Es wäre
selbstverständlich mit großer Freude
zu begrüßen, falls eine so markante
Demonstration für das innige Verhält-
nis der beiden verbündeten Reiche,
wie es in der von den deustchen
Bundesfürsten geplanten Kundge-
bung zutage treten würde, statt-
finden sollte.
In der 250. Nummer der yPaokal' hat die fol-
gende Elrklärung leider keinen Plats mehr gefundeu :
Von dem ursprfingliohen Vorsats, dieses Hoft
aussohiieftlich der Syphilis tu. widmen, muftte
ioh sohon deshalb abkommen , weil ja der nicht
weniger verbreitete Lippowits auch eine gewisse Be-
achtung verdient und weil gerade jetzt einige Aus-
— 23 -
sieht auf energische Ausrottung dieses Obels besteht.
In der ^Frankfurter Zeitung' yom 8. April war näm-
lich SU lesen:
[Apachen Journalistik.] Im ersten Morgenblatt vom 8. Mflrz
d. J. brachten wir unter dem Titel *»Eine Sedenlescrin« einen Artikel
unserer Pariser Mitarbeiterin Anne Jules Gase. Am 14. N^fßt erhielten
wir von Frau Jules Gase folgenden Brief: »Der Zufall spielt mir ein-
übenden widerrechtlichen Abdruck meines Artikels in die Hände, ohne
Quellenangabe, ohne meinen Namen zu nennen. Das ist doch unerhört f
Wollen Sie mich wissen lassen, was ich zu tun habe, oder ob die
.Frankfurter Zeitung' fflr mich eintritt. Das ist ja geradezu Apachenjour-
nalistlk U Das Blatt, das diesen widerrechtlichen Abdruck gebracht hatte,
war das ,Neue Wiener Journal' (Herausgeber J. Lippowitz). Wir pro-
testierten in einer Zuschrift an diesen Herrn energisch gegen das unserer
Mitarbeiterin zugefügte Untecht und erhielten zu unserem Erstannen am
25. Mfirz von Herrn Lippowitz ein Antwortschreiben, das neben einer
ausfälligen Bemerkung fiber den »unkollegialen« Ton unserer Zuschrift
folgende Stelle enthält: »Im vorliegenden Falle handelt es sich um eine
Arbeit unserer ständigen Pariser Korrespondentin Anne Jules Gase, welche
ans den betreffenden Artikel »Die Setienleserinc selbst überwiesen hat.
Wir haben also allen Orund, uns darüber zu wundem, daß una unsere
Kotrespondentin einen Artikel, der ihr noch dazu als Originalartikel
honoriert whd, anbietet, nachdem diese Art>eit vorher in der ,Frankfurier
Zeitung' zum Abdruck gelangt ist.« Nach dieser »Aufklärung« hätte also
Frau Gase sich bei uns über einen widerrechtlichen Nachdruck beschwert
und unsere Hilfe gegen diese Ari von Apachenjoumalistik angerufen,
gleichzeitig aber den fraglichen Artikel zum Originalpreise dem .Neuen
Wiener Journal' Überwiesen. Einige Kenntnis unserer Pappenheimer hat
uns vor einer verfrühten Entrüstung Über Frau Gase geschützt. Wir sandten
der Dame den Brief des Herrn J. Lippowitz mit der Bitte um Rückäußerung
ein und erhielten am 30. März folgende Antwort : »Nein, das geht dodi
wirklich über alle Erwartungen. Ich bin starr 1 Diese dreiste Lüge ist
geradezu empörend! Hier haben sie meine feierliche Erklärung über
den wahren Tatbestand der Angelegenheit: Es ist mir gar nicht einge-
fallen, dem ,Neuen Wiener Journal' den fflr die »Frankfurter Zeitung* als
Originalartikel eingesandten Beitrag »Eine Seelenleserin« anzubieten. Der-
gleichen »journalistische« Streiche liegen mir fern und gehören nicht zu
der Schule, aus der ich stamme. Als schlagender Beweis aber für meine
Korrektheit in dieser Angelegenheit dient doch die Tatsache, dafi ich
selber Ihre Aufmerksamkeit auf diese Angelegenheit lenkte.« Wir hatten
auch keinen Moment an der Korrektheit von Frau Gase gezweifelt, wohl
aber war es uns von vornherein klar, daß Herr Lippowitz mit seiner
Behauptung verblüffen wollte, wohl unter der Voraussetzung, daß Frau
Gase als gelegentliche Mitarbeiterin des ,Neuen Wiener Journal' nicht
den Mut haben werde, iiire Elire zu verteidigen und ihren »Brotgeber«
öffentlich zu übedühren. Herr Lippowitz hat sich in dieser Annahme
geirrt. Wir übergeben den ganzen Akt der Öffentlichkeit und erklären
damit Herrn Lippowitz als für uns erledigt. ^ 1 .
Digitized by VjOOQIC
— 24 -
Bin Bezirksrichter hat den Ausspruch ^etan:
»Die sittliche Gefährdung ist genügend erwiesen,
wenn man beim Ballett angestellt istc Der Ausspruch
entstammt einem heillosen Optimismus. Denn die
sittliche Gefährdung ist leider ganz und gar nicht
erwiesenr, wenn man beim Ballett angestellt ist. Und
tief traurig ist, dafi sich die Ballerinen im ,Extra-
blatt' entrüsten, anstatt dem Richter für das Kompli-
ment zu danken. Die Ballerinen wollen aus der
Hausbackenheit, zu der sie ihr Beruf verurteilt, nicht
herauskommen. Sie sind stolz darauf, dem Leben so
fremd gegenüberzustehen, wie ein Bezirksrichter. Der
hat wahrhaftig keine Ahnung von diesen Dingen, wenn
er einer Angeklagten sagt: »Hätten Sie Ihre Tochter
nicht mit acht Jahren zum Ballett gegeben I Das heifit ja
die sitüiche Gefährdung bei den Haaren herbeigezogen. c
Wenn eine Mutter es daralif abgesehen hätte, die
letzten Funken sinnlichen Temperaments in ihrer
Tochter auszutreten, sie täte nichts besseres, als diese
mit acht Jahren zum Ballett zu geben. Auf solidere
Art kann eine ihre Weiblichkeit nicht verbrauchen,
als durch den Tanz. Das versteht freilich der Philister
nicht, den ein fliegender Rock ins Elysium entrückt,
und der nicht ahnt, dafi ein Eiszapfen darin steckt.
»Ja, so sind sie, ja, so sind sie, die Damen vom
Ballett !< : wenn sie nicht einen Tugendbund gründen,
sind sie treu. Es gibt keine Klasse bürgerlicher Frauen,
die es ihnen an geradezu lebensfeindlicher Ehrbarkeit
gleichtun könnte. Sie verachten den Sinnentand. »Die
Mitglieder des Balletts«, ruft eine Primaballerina,
»die es ehrlich mit ihren künstlerischen Aufgaben
nehmen, haben zu yiel zu tun, um sich in Niedrig-
keiten zu verlieren, c Stolz bekennt sie, sie für ihre
Person habe »weder die Sittlichkeit in Italien noch
in Frankreich und auch nicht in Wien aus dem
Gleichgewicht gebracht« • Ballerinen lieben nicht,
sondern tanzen. Auch das erweckt manchmal unsittliche
Erwartungen, aber umso ehrenvoller ist dann** die
Enttäuschung, die man den Männern zuteil werden
üigitized by VjOOQl'
— 26 -
I&fit Und je mehr Männer eine nicht interessiert hat,
umso grofiartiger kommt sie sich vor. Eher konnte
man Pfaffen der Gottlosigkeit beschuldigen, als Bai-
erinen der Unmoral.
«
(Hof- und Personalnachrichten.) Ein Maler,
der das Hauptverdienst an der künstlerischen Aus-
gestaltung des Festsugs haben wird, wird schon heute
in den Zeitungen Professor genannt. Ein Anachronis-
mus also. Hoffentlich werden solche Verstoße gegen
die historische Wahrheit wenigstens bei den Kostü-
men vermieden sein. — Handelsminister Fiedler hat
dem Kikiser die Elmennung von acht Ministerialräten
unterbreitet und durch einen Hinweis auf das Jubi-
läum begründet, worauf der Kaiser bemerkte: »Ich
glaube^ die Herren nützen die Sache zu sehr
ffir sich aus. Eis sollte etwas für die unteren
Rangsklassen geschehen.c
Ich habe im ,Neuen Wiener Journal* diese Notiz
gefunden:
(Die Ermordung des Grafen Potocki) hat die größte Auf-
regung hervorgerufen. Das größte Aufsehen in allen Kreisen der Be-
völkerung erregen auch die kfin stierischen tadellosen Arbeiten der Kunst-
anstalt >Photographie-Palast< (II. Bezirk u. s. w.), der es gelungen ist, sich
mit Hilfe ihres Mottos »Erstklassige Leistungen, Preise konkurrenzlos«
das allgemeine Vertrauen zu erwerben.
Nun, photographische Darstellung des Leichen-
begängnisses eines ermordeten Statthalters : das wäre
die Qrenze, bis zu der die Intimität des Geschäftssinns
mit einem Ereignis gehen könnte. Hier aber ist der tote
Statthalter als Sandwichman verwendet. Daß sich ein
Journalismus, dem solche Neuerung geglückt ist,
ge^en das Wort »Saubengel« verwahrt, ist immerhin
ein Beweis von Zartgefühl.
Ein Blatt hat, weil die Dummheit immer noch
überboten werden kann, eine Rundfrage Jjach dem
üigitized by Vj005|
251 ~§2
- 26 -.
schönsten Wiener Lied gestellt, und eine Sängerin
hat geantwortet, am liebsten sei ihr das Lied:
Du guater Himmelvoder
I brauch kein Paradies
I bleib viel lieber doder
Weil mei Wien für mi 's Himmelreich is.
Richtig, das ist's I Ich habe lange doder gelebt,
aber die Formel für die Qräfilichkeit des Doderseins
nicht gefunden. Das ist's also. Und ich frage ernst-
hafty ob man in einer Stadt leben kann, in der sich
»Vatert auf »dac reimt.
K. K.
Die Pornm-Ssene.*)
Wenn Deutschlands Genius ein Cäsar ist, dessen
großes Herz brach und dessen Leichnam noch von
den Wunden blutet, die die Verräterwaffe ihm ge-
schlagen hat, so ist Einer da, der auf offenem Forum
sich mit dem löcherigen Mantel einer toten Pracht
drapiert. Einer, der mit kaltem Pathos, aufgewärmten
Reminiszenzen und einer Gebärde der Innerlichkeit,
die Steine verhärten und Gehirne erweichen konnte,
immerzu »ausspricht, was ist«. Einer, der beinahe
das Vaterland gerettet hätte, dessen publizistisches
Programm jedoch lautet: >Nun wirk' es fort — Un-
heil, du bist im Zuge, nimm welchen Lauf du willst Ic
Einer, der sich als Vollstrecker eines politischen
Testaments aufspielt, die Verschwornen ein Grüpp-
chen nennt und den Brutus und Gassius blofi nach-
weisen kann, daß sie ehrenwerte Männer sind. Aber
keinen Augenblick lang wäre das Volk von Rom im
*; Diese Satire ist im zweiten April-Heft der Zeitschrift ,März'
erschienen. •
Digitized by VjOOQIC
- 27 —
Banne eines Mark Anton gestanden, der den Vor-
wurf politischer Zweideutigkeit durch die Behauptung
hAtte stfltaen wollen, dafi sie alle, alle normwidrig
sind, und dafi sumal Portias Bettgenofi in schwierig^en
Liagen seinen Mann nicht gesteift hat. Er hätte sich
mit diesem Versuch in den Augen des letssten
Plebejers gerichtet, er hätte den ganzen Kredit ein-
SbOfit, den ihm die Erinnerung verschaffen mochte,
fi Cäsar ihm am Lupercusfeste dreimal ein
Vanilleneis angeboten hat Und im günstigsten Fall
konnte er sich nur durch eine undeutliche Ausdrucks-
weise den Folgen seines Wagnisses entsiehen. Wenn
er etwa begonnen hätte:
Mitbürger! Freunde I Nachfahren der im Tiber-
beiirk von der Wölfin Gesäugten I hört mich anl
Oäsam in die Grube zu senken, nicht mit blinkender
Rede ihm seines Wirkens bleibende Spur zu zeichnen,
bin ich vor euch, die der Volkheit Wollen eint, ge-
treten. Was Menschen Obles tun, trägt ins Gedenken
noch die Viruskraft, wenn mit dem längst verdorrten
Leib frommen Handelns Erinnerung die Scholle fühl-
los deckt (Fühllos? Die im Frühlenz Erneute läßt
menschlicher Kurzsicht den mit leiser Tröstung
sänftigenden Kinderglauben der Wiederkehr). So sei
es auch mit Gäsarnl Der edle Brutus hat euch, da er
mit flinkem Finger den Schwichtigunggrund gefunden
wähnte, gesagt, dafi Herrschsucht ihm, der gleiftende
Wurm, am Ziel noch ungesättigt, aus dem Auge
sah. Wenn dies erweislich wahr ist, kein Rüge-
wort könnte den sichtbaren Fehl so schmerzvoll
trefibn, wie ers trotz einem Tag vor Tag an die res
publica gebundenen Daseinsinhät verdiente. Und das
grause finde, das diesem Leben ein Grüppchen der
vom Volk Abgeordneten bereitet hat, würde auch den
im politischen Handlungdrang noch nicht völlig ge-
wirrten Sinn ein von Dike selbst befohlenes Werk
dünken. Hier, mit des Gajus Titus Amilius Marcus
Brutus Willen und der Andern (denn Brutus ist, so^
weit das Urteil der im Geltungbereich ^der Sitte
üigitized by VjjOOQi
28 —
Wohnenden zum Ansehn hilft, ein der Ehren, die
in der Siebenhügelstadt auch geringern Könnern heut
die Stirn beglänzen, werter Mann; und neben ihm,
mit ihm, sind alle, die gleiches Hoffen bindet, gleicher
Erfüllung wert)
Zwischenrufe: »Das Testament I Das Testament Ic
wären schon an dieser Stelle laut geworden. In dem
losbrechenden Lärm versucht Redner vergebens sich
unverständlich zu machen. Man merkt nur, wie er
sich um die kürzeste Bezeichnung der Stadt Rom
herumdrückt, und hOrt eine Geschichte von der dem
Hirtengott bereiteten Wolfsfeier, worunter das be-
kannte Lupercusfest gemeint sein Will. Endlich ver-
schafft er sich Ruhe, nennt Cassius einen stillen
Mächler und behauptet, dafi das Plänchen zur Be-
seitigung Oäsars von Männern geschmiedet sei, die
diesen Namen nicht verdienen, weil ihnen ein
kränkliches Wesen eigne, und die politisch ge-
fährlich seien, weil sie, denen* der Willenskanal
doch nicht völlig verstopft ist, auf ihren warmen
Plätzchen flink ein Weltrühmchen erhaschen möchten.
Da diese Anspielungen niemand versteht, halten alle
den Redner für den Ketter des Vaterlands und ahnen
nicht, daS eine enttäuscht« Frau hinter ihm steht,
eine von jenen, die in der Politik schon einmal ohne
Dank sich betätigt haben, als sie nämlich das Eapitol
retteten. Darum entschUeflt sich Mark Anton zu
einer deutlicheren Sprache. Von einem der römischen
Feldherren werde offiziell zugegeben, er habe seinen
Burschen Lucius »unzüchtig berührte. Solch beschöni-
Pender Darstellung gegenüber hält er es für seine
'flicht, nicht nur anzudeuten, sondern auszusprechen^
was ist, und nachdem er in Parenthese bemerkt hat :
»Nur berührt? Er hat ihn geküfit und versucht, ihm
• den Chiton herunterzureißen«, bekennt er sich zu einer
Tat, auf die ein Repräsentant der Kultur seines
Volkes wahrhaft stolz sein kann: »Mein Handeln hat
das Verfahren gegen die Mifibraucher der Dienst-
gewalt, die Verführer junger Soldaten erwirkt. Durch
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- 29 —
Zeugen, die ich dem Oericht, als es mich vorlud,
genannt habe, ist die OberfQhrung gelungen. Von
Dankbarkeit habe ich nichts gespürte. Und leicht sei es
ihm nicht geworden. Der Gedanke an das Schicksal
dieser Mftnner (Männer?) liefi ihn »manche Nacht im
Fieber«, das man ursprünglich fQr eine Begleit-
erscheinung der Pleuritis melt, »durchbeben; der
grause, nie vOllig wieder aus dem Hirn zu tilgende
Uedanke, Menschenglück getötet, Kindern das Bild
des Vaters verleidet zu haben. Doch mufite es sein.
Quae medicamenta non sanant, ferrum sanat« . . .
Das Volk von Rom merkt sofort, daß man es hier
mit einem WiUensmenschen von säkularer Oröfie su
tun habe, der aus freiem Antrieb die ganze Arbeit
su leisten imstande ist, für die ein Staatsanwalt be-
zahlt werden muß. Er kann sich gar nicht genug tun
in der Anerkennung seines Verdienstes, in zwei
flagranten Fällen ein vergehen gegen das Strafgesetz
nachgewiesen zu haben, nachdem in so vielen
anderen Fällen blofi ein schäbiges . normwidriges
Empfinden und kein ausgewachsenes normwidriges
Han«leln an den Tag gekommen war. »Daß Zwei, die
allzu lange auf fast unnahbar hoher Stelle gestanden
hatten, vernichtet werden konnten und allen Soldaten
von berufenen Warnern jetzt die Lebensgefahr der
Männerlockung, Männerpaarung gezeigt wird, habe
ich bewirktlc
Fünfzehn Jahrhunderte später rief Hütten: »Ich
habs gewagt I«, aber durch die Zeitalter schwoll das
Pathos der sittlichen Überzeugung dermaßen an, daß
es sich schließlich bei einem Berliner Publizisten, der
sich sonst nur auf den alten Bismarck zu berufen
pflegte, im Ausruf Luft machte : »Schon der alte Gehlsen
hat gesagt, der Graf L. habe widernatürliche Un-
zucht mit Männern getrieben, c Deutschland stand
damals auf der Höhe der kulturellen Entwicklung,
die christliche Moral hatte seit der Pilatusfrage nach
der j^ahrheit ungeheure Fortschritte gemacht und
war endlich bis zur Suche nach dem »Erweislich
y Google
— 30 —
Wahren« im Oeschleohtsleben des Nebenmenschen
gelangt. Es war der Weg, an dessen Anfang die
Worte »Es ist vollbracht!« und an dessen Ziel die
Worte »Es ist erreicht I« standen.
Karl Kraus.
Menachenwflrde. *)
Die Stellung des Künstlers zur Menschheit ist
noch immer nicht geklärt. Entweder ist ihre Würde
in seine Hand fi;egeben oder es fafit ihn ihr ganzer
Janmier an. Fühlt er aber die Identität dieser beiden
Möglichkeiten, so macht er sich unmöglich. Ich habe
midi viel und eingehend mit der Menschenwürde
beschäftigt, habe in meinem Laboratorium die ver-
schiedensten Untersuchungen darüber angestellt und
mufi bekennen, daß die Versuche in den meisten
Fällen schon wegen der Schwierigkeit der Be-
schaffung des Materials kläglich verlaufen sind. Die
Menschenwürde hat die Eigentümlichkeit, immer
dort zu fehlen, wo man sie vermutet, und immer
dort zu scheinen, wo sie nicht ist. Der Fähigkeit
gewisser Tiere, die Gestalt lebloser Körper oder
flanzen anzunehmen, welche man Mimikry nennt
und die die Natur erfunden hat, damit sie ihre Ver-
folger zum Narren halten können, entspricht beim
Menschen die sogenannte Würde. Er zieht ein Kleid
an und stellt sich in Positur. Der Hauptmann von
Köpenick aber war es, der dieser unterhaltlichen Schutz-
vorrichtung selbst wieder einen Possen gespielt und
die menschliche Mimikry entlarvt hat; als er
mit Würde daherkam, ereab sich die Würde,
als er mit Trommeln und Pfeifen einzog, ging die
Autorität flöten, und darum ist es begreiflich, dafi er
jetzt in einem Zuchthaus an der Schwindsucht
sterben mufi. Man sagt, er habe sich blofi den
Scherz einer Verkleidung erlaubt; aber in Wahrheit
hat er mehr* getan, er hat die Verkleidung eines
*) Aus dem »Simplldssimus'.
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•
- 81 —
Ernstes enthflUt. Wenn ein Shakespearescher König
wahnsinnig wird, so benützt er die Gelegenheit, um
Weisheiten auszusprechen, die man ihm sonst übel-
nähme; man würde ihn für verrückt halten. Auch
der Narr ihm zur Seite genießt die Vorteile seiner
Stellung: nähme man ihn ernst, man liefie sich von
Ulm auch nicht die kleinste Wahrheit gefallen. Er
darf seinen König einen Narren nennen, der König
darf die Behauptung wagen, dafi man »dem
Hund im Amt gehorchte, und der Schuster in der
Uniform kann beweisen, dafi der Hund im Amt dem
Schuster in der Uniform gehorcht. Einem Mann,
der lange Zeit im Kostüm 'eines persischen Generals
die höchsten E^reise einer Residenzstadt zu seinem
eigenen Besten gehalten hatte, kam man endlich
darauf, dafi er eigentlich gar kein persischer General
oder, wenn er einer sei, dafi er noch avancieren müfite,
um den Rang eines europäischen Korporals zu erreichen.
Jener wahnsinnige König hat sofort die Wahrheit
erkannt; denn er sagte: »Efuch, Herr, halte ich als einen
meiner Hundert; nur gefällt mir der Schnitt eures
Habits nicht. Ihr werdet sagen, es sei persische
Tracht; aber lafit ihn ändern. c Wenn er ihn nun
ändern läfit und sich etwa zur Uniform des Schweizer
Admirals aus »Pariser Leben« entschließen sollte, wird
er darum nicht weniger beliebt sein. Die Menschenwürde,
mag sie selbst als Takowa-Orden verliehen oder als
päiMtliche Jubiläumsmedaille um den Hals gehängt
werden, sie gewährt in allen Formen Schutz vor
Verfolgung und bringt den Respekt jener ein, die
noch nicht auf die Idee verfallen sind, sie sich zu
verschaffen. Die Würde, die das wahre Verdienst
einst um den VerroittlungspreiS bekam, ist jetzt
unter dem Herstellungspreis zu haben. Vorbei die
Zeiten, da ein Gregers Werle mit der idealen For-
derung umherging, die Medaillen, die die Bahnhof-
portiers auf der Brust tragen, müfiten revidiert werden.
Heute schafft der Besitz die Berechtigung. Früher
hatten die .Hochstapler von der Dummheit gelebt;
y Google
— 32 —
jetet bereichert sich die Dummheit auf Kostea
der Hochstapler und beutet sie in der rücksichts-
losesten Weise aus. Denn die Menschenwürde
verleitet zur Erzeugung falscher Bhrenzeichen
und wenn der Schwindler eine Zumutung zurück-
weist, dem Dummen gelingt es stets noch, ihn
zu überlisten. Vor allem aber wollen die Leute einen
Titel hören, unter dem sie sich nichts vorstellen
können. Man kann dem hochmütigsten Beamten den
FuS auf den Nacken setzen, wenn man ihm sagt:
»Ich bitte mir diesen Ton aus, Sie scheinen nicht zu
wissen, daß ich Exhibitionist bin!« Die Menschen-
würde hat die Eigenschaft, sich selbst so zu imponieren,
daß sie sofort nachgibt, wenn sie aufbegehrt. Ich
kenne eine Stadt, in der sie an jeder Straßenecke
solche Siege feiert. Auch dort hat jetzt Gottseidank ein
Kutscher die gleichen politischen Rechte wie ein
Bifton, aber wenn er ihn zum Wahllokal befördert
hat, so sagt er zu ihm : >Eüß die Hand, Euer Gnaden Ic
Als der Staatswagen dahintorkelte, riß das Volk die
Tür auf. Aber es stellte sich heraus, daß es nur
Wagentürl- Aufmacher waren. Man fragte sie, was sie
wollten, und sie sagten: »Euer Gnaden, wissen ehlc
Sie wollten ein Trinkgeld, man gab ihnen die
Menschenwürde, und sie brummten: »So a notiger
Herr! . . .€ Ich habe eine wahre Hochachtung vor dem
Menschenrechte der Freiheit, so sehr, daß ich der
Freiheit das volle Recht auf die Menschen zuerkenne,
die sie verdient Ich habe eine unbegrenzte Ehrfurcht
vor den politischen Rechten ; wenn aber der Absolutisniufi
des Trinkgelds nicht abgeschafft ist, so glaubt das Volk,
ein Achtundvierziger sei die Rufnummer eines Fiakers,
und ein Unnummerierter ist doch mehr. Ich kenne
einen Hoflieferanten, der sich ins Privatleben zurück-
gezogen hat, nicht ohne daß ihm der Verkehr mit den
hohen Herrschaften, die er bedient hatte, zu Kopf
^stiegen wäre. Er benimmt sich noch heute in
jeder Lebenslage so, als ob er eine Lieferung für die
Königin von Hannover zu effektuieren hätte. Die
yGoogk
— 33 —
geheimsten Wfinsohe und Besohwerden des Bttrger-
fienens kommen ans Tageslicht, und als er einmal
iD einem öffentlichen Lokal eines leibhaftigen Aristo-
kraten anaichtin: wurde, verbeugte er sich und rief:
»Zu Faflen des Herrn Grafen« zu FOfienU Es war
mir wie die Vision eines unblutig niedergeworfenen
Au&tandes. Ein radikales Qemfit kann wieder auf
Lebensseit Von einer Leitartikelphrase verwirrt werden.
Ich glaube, dafi die Politik immer entweder daran
krankt, dafi die Ideen aus kleinen EOpfen in kleinere
Hersen oder aus kleinen Hersen in kleinere Köpfe
übergehen« Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei,
dann bekommt er die Masern, dann die Würde, und
mit der weifi er schon gar nichts anssufangeo. Aus-
genommen, wenn er KarteUti<^;er wird. Das ist
nlmlicfa die einzige Situation, in der der Philister
herumgeht, als ob er der Mandatar der Vorsehung
wäre. Weh dem, der ihn in dieser Würde nicht
ernst nimmt, er erhebt sich mit einem »Pardon,
dann hab ich hier nichts mehr eu suchen I«, und das
Protokoll, die Reinschrift der Würde, ist fertig. Wenn
nicht hin und wieder ein Eommis fixiert würde, wir
wtiftten nichts von den ehernen Gesetzen, die uns
an das Schicksal binden. »Würdec ist die konditionale
Form von dem, was einer ist. Wenn aber Würde nicht
wire, gäbs keine Würdelosi^keit. Sie provoziert
die Oaror, und wo Gaffer sind, stockt der Verkehr.
Die Überwindimg der Menschenwürde ist die Vor-
aussetzung des Fortschritts. Ich habe sie in allen
Situationen gesehen. Sie glaubte sich unbeobachtet, und
ich sah, wie ein Kellner vor einem Trinkgeld, das ein Gast
auf dem Tisch zurückgelassen hatte, sich verbeu|?te
nnd »Ich danke vielmsds« sagte. Ein anderes Mal
bemerkte ich, wie er sich bückte, um eines Kreuzers,
der in einen Spucknapf gefallen war, habhaft zu
werden. In einem doppelten Symbol faßte mich der
Menschheit ganzer Jammer an. Wo ist die Menschen-
würde? fragte ich. Jener verstand schlecht, glaubte,
ich verlange eine abgegriffene illustrierte Zeitung,
und sagte: Bedaure, sie ist in der Handl Google
Karl Kraus.
— 84 —
Tagebuch.
Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr
gut : sie hört nicht, was ich sage, und ich sage nicht,
was sie hören möchte.
Das Talent ist ein aufgeweckter Junge. Die
Persönlichkeit schläft länger, erwacht von selbst und
gedeiht darum besser.
Wenn ich sicher wüfite, dafi ich mit gewissen
Leuten die Unsterblichkeit zu teilen haben werde,
so möchte ich doch eine separierte Vergessenheit vor-
ziehen.
Ich bin jederzeit bereit, was ich einem Freunde
unter dem Siegel tiefster Verschwiegenheit mit-
teile, zu veröffentlichen.
Geheimnisse vor Einzelnen müssen nicht Ge-
heimnisse vor der Öffentlichkeit sein. Bei dieser sind
sie besser aufgehoben, weil man hier selbst die Form
der Mitteilung bestimmt. Wem die Form den Inhalt
bedeutet, der gibt das Wort nicht aus der Hand. Er
kann sich getrost Geheimniskrämerei oder äufierste
Schamlosigkeit vorwerfen lassen, oder beides zugleich.
•
Ich kann mit Stolz sagen, dafi ich Tage und
Nächte daran gewendet habe, nichts zu lesen, und
dafi ich mit eiserner Energie jede freie Minute dazu
benützte, mir nach und nach eine enzyklopädische
Unbildung anzueignen.
Sittlichkeit hilft immer. Ein diebisches Dienst-
mädchen droht, sie werde der Polizei erzählen« dafi
die Dame Herrenbesuche empfanere, und entgeht der
Anzeige. Die Moral ist ein Einbruchs Werkzeug, das
den Vorzug hat, dafi es nie am Tatort zurück-
gelassen wird.
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— 85 —
Wenn Frauen, die sich schminken, minderwertig
sind, dann sindMAnner, die Phantasie haben, wertlos.
Kosmetik ist die Lehre vom Kosmos des Weibes.
Die Frauen haben wenigstens Toiletten. Aber
womit decken die Männer ihre Leere?
Nacktheit ist wahrhaftig kein Erotikum, sondern
Sache eines Anschauungsunterrichts. Je weniger
eine an hat, umsoweniger kann sie der kultivierten
Sinnlichkeit anhaben«
Kunstwerke sind überflüssig. Es ist zwar not-
wendig, sie EU schaffen, aber nicht sie zu zeigen.
Wer Kunst in sich hat, braucht den stofflichen Anlafi
nicht. Wer sie nicht hat, sieht nur den stofflichen
Anlafi. Dem einen drängt sich der Künstler auf, dem
andern prostituiert er sich. In jedem Fall sollte er
sich schämen.
Auch mir wird manchmal Trost und Freude.
WenA mir nämlich einer schreibt, dafi ich sie ihm
bereitet habe.
Preuäen: Freizügigkeit mit Maulkorb. Öster-
reich: Isolierzelle, in der man schreien darf.
Die Ratten verlassen das sinkende Schiff und
haben sich vorher am Speck den Ma^en verdorben.
Das p:ilt vom Anhang und vom Stil eines deutschen
Publizisten.
Um Verwechslungen vorzubeugen, unterscheidet
der Wiener: >ifitc und >is<.
Deutsche Literaten: Die Lorbeem, von denen
der eine träumt, lassen den andern nicht schlafen.
Ein anderer träumt, dafi seine Lorbeem wieder
-- 36 -
einen andern nicht schlafen lassen, und dieser schläft
nicht, weil der andere von Lorbeern träumt.
Die Schauspielkunst sollte sich wieder selbst-
ständig machen. Der Darsteller ist nicht der
Diener des Dramatikers, sondern der Dramatiker ist
der Diener des Darstellers. Dazu ist freilich
Shakespeare su gut. Wildenbruch würde genügen.
Die Btäine gehört dem Schauspieler, und der Drama-
tiker liefere blofi die Gelegenheit. Tut er mehr, so
nimmt er dem Schauspieler, was des Schauspielers
ist. Die Dichtung, der das Buch gehOrt, hat seit
Jahrhunderten mit vollem Bewufitsein an der Szene
schmarotzt. Sie hat sich vor der Phantasiearmut des
Lesers geflüchtet und spekuliert auf die des Zuschauers.
Sie sollte sich endlich der populären Wirkungen schämen,
zu denen sie sich herbeiläfit. Kein Theaterpublikum
hat noch einen Shakespeare - Gedanken erfaflt,
sondern es hat sich stets nur vom Rhythmus, der
auch Unsinn tragen könnte, oder vom stofflichen
Gefallen betäuben lassen. »Des Lebens Un-
verstand mit Wehmut zu geniefien, ist Tugend und
Begriffe: damit kann ein Tragöde so das "Haus
erschüttern, daß jeder glaubt, es sei von Sopho-
kles und nicht von Wenzel Scholz. Heil Alexander
Girardi, der in der Wahl unliterarischer Gtolegenheitea
seine schöpferische* Selbstherrlichkeit betont I
Auch der Maler ist auf der Bühne als eine dort
nicht beschäftigte Person au behandeln. Das literarische
und malerische Theater ist ein amputierter Leichnam^
dem betrunkene Mediziner den Arm eines Affen und
das Bein eines Hundes angesetzt haben. Wenn auf der
Bühne die Dichter und Maler hausen, dann bleibt
nichts übrig, als Schauspielkunst in Bibliotheken
und Galerien zu suchen. Vielleicht haben sie die
Hanswurste der Kultur dort inzwischen eingeführt.
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•^ 87
Bndlich sollte einmal zu lesen sein: Die Aus-
Btattung des neuen Stückes hat alles bisher Ober-
troffene geboten.
Man gewöhne sich daran, die Frauen in solche
la unterscheiden, die schon bewufitlos sind, imd
wiche, die erst dazu gemacht werden müssen. Jene
liehen höher und gebieten dem Gedanken. Diese
sind interessanter und dienen dßr Lust. Dort ist die
Liebe ein Opfer; hier ein Akt der Feindseligkeit.
Mit Frauen muft man, wenn sie lange fort waren.
Feste des Niohtwiedererkennens feiern.
EiT hat sie mit Lustgas betäubt, um eine schwere
Qedankenoperation an ihr vorsimehmen.
Ihr (Hite erlaubt ihr, Theater zu spielen — die
Bohdme hätte ihr nicht erlaubt, verheiratet zu sein.
Also ist in der Gesellschaft noch immer mehr Frei-
heit als in der Bohdme, die ihre imumstöSlichen Ge-
setze hat.
Zwei haben nicht geheiratet und leben seit da-
mals in- einer Art gegenseitiger Witwerschaft.
Die Schätzung einer Frau kann nie gerecht
sein; aber die Ober- oder Unterschätzung geschieht
immer nach Verdienst.
Kann man aus der Büchse der Pandora auch
eine Prise Schnupftabak nehmen? Wohl bekomm's,
mein Freund 1
«
HTsterische soll man vorsichtshalber vor einer
Operation, die an einem andern ausgeführt wird,
narkotisieren. Und um ihnen jeden Schmerz zu
ersparen, auch vor einer Operation, die an dem
andern nicht ausgeführt wird.
y Google
--88-
Was war doch der bayrische König, der allein
im Theater safi, ein Freund der Geselligkeit I Ich
würde auch selbst spielen.
Ich sehe durch ein Fenster und der Horizont
ist mir durch ein Laffengesicht verlegt. Das ist
tragisch. Ich habe nichts dagegen, dafi es abscheu-
liche Gesichter gibt Aber warum hat es die Natur
mit den Gesetzen der Optik so eingerichtet, daß ein
vorgehaltener Spazierstock einen Menschen und —
was schlimmer ist — ein Mensch einen Hintergrund
verdecken kann? Wenn der optische Effekt eines
Scheusals nur den Raum einnähme, den das Scheusal
einnimmt, man könnte zufrieden sein. Aber er nimmt
einen breiteren Raum ein. Das hat die Optik sohlecht
gemacht. Die Lichtstrahlen dienen nur der Ver-
mehrung des Menschenhasses.
Höchster Überschwang der Gefühle: Wenn Du
wflfitest, welche Freude Du mir mit Deinem Kommen
bereitest * — Du tätest es nicht, ich weiß, Du tätest
es nicht!
Ich stehe immer unter dem starken Eindruck
dessen, was ich von einer Frau denke.
Aller Spott über Schauspielereitelkeit, Applaus-
bedürfnis und dergleichen ist philiströs. Die Theater-
menschen brauchen den Beifall, um besser zuspielen;
und dazu genü|2;t auch der künstliche. Das Glücks-
gefühl, das mancher Darsteller zei^t, wenn ihm diea^
plaudieren, die er dafür bezahlt nat, ist ein Beweis
von EünstlerschafL Kaum einer wäre ein grofier
Schauspieler geworden, wenn der Glaquechef ohne
Hände auf die Welt gekommen wäre.
Talent haben — Talent sein: das wird immer
verwechselt.
y Google
— 39 —
Wenns die Religion gilt, so erzählt mir ein
Qrientreisender, gibts keinen GÜAkschisoh. Im Abend-
knd kann man das auch der lioeralen Presse nachsagen.
Nicht Jeder, der von einer Frau Oeld nimmt,
darf sich deshalb einbilden, ein Striczi zu sein.
Kein Zweifel, der Hund ist treu. Aber sollen
wir uns deshalb ein Beispiel an ihm nehmen? Er ist
doch dem Menschen treu und nicht dem Hund.
Treu und Glauben im Geschlechtsverkehr ist
mne Börsenusance.
Im Dunstkreis des Geschmacks jüdischer Anek-
doten war der Selbstmord eine unbekannte Pointe.
Soll die gute Gesellschaft den Glauben an ihre Lustig-
macher verlieren? Sie sagten, er müsse die Tat in
einem Aufall von GeistesgestOrtheit begangen haben.
Aber am Ende war sie in einem Anfall von geistiger
Klarheit begangen« Die Lustigmacher überlegen sichs
manchmal anders. In solch einem könnte so viel
Leben gewesen sein, dafl er das eine unbedenklich
hingeben -durfte. Das heißt gewiß, ihn überschätzen;
aber nicht jeder ist wert, überschätzt zu werden. Selbst-
mord kann das Aderlassen einer YoUblütnatur be-
deuten. Die gute Gesellschaft, die der Lederbranche
näher steht als dieser AufiTassung, dürfte der ungün-
sügNk Konjunktur die ganze Schuld geben. Ich habe
ihn nur von fern gekannt, bin deshalb zum Urteil
berufen. Sein Blick gefiel mir, denn der hatte nichts
vom Krämer, oder Kunden« Ich glaube, es war Einer,
d^ dem Leben nichts herunterhandelt und dem es
nichts herunterhandeln kann. Das schafft zu jeder
Zeit glatte Rechnung. Es mag Lederhändler geben,
die sentimentaler sind. Aber wenn es ein Ziel dieser
schäbigen Tage ist, mit Ziegenhäuten Glück zu haben,
ao könnte sich schon Einer, der kein Glück damit
hatte, der Betrachtung empfehlen. Und wi^r sich so
üigitized by VjOOQi?-
- 40 -
ruhiff den Mund von den Genüssen des l^bens ab-
wisont, um ihn für immer 2u yerschliefien, hebt sieh
▼on den Tafelgenossen ab; imd wer sich nur vom
Gewimmel der Wohlhabenden unterschied, denen
der Schneider die Kultur und der Sportlehrer die
Persönlichkeit beibringt, den soll man sich merken.
Oberhaupt werde ich den Verdacht nicht los, dafi
einer schon ein Kerl sein mufi, wenn ihn das heutige
Leben bu Fall bringen soll. Was Feuer hat und einen
leichten Zug, yerbrennt. Nur Männer ohne Mark und
Weiber mit Hirn sind der sozialen Ordnung ge-
wachsen.
Dafi eine Frau bei näherer Betrachtung yerliert,
ist ein Yorcug, den sie mit jedem Kunstwerk gemein
hat, an dem man nicht gerade Farbenlehre studieren
will. Nur Frauen und Maler dürfen sich untereinander
mikroskopisch messen und ihre Technik prüfen.
Wen die Nähe enttäuscht, der verdient es nicht
besser. Solche Enttäuschungen lösen ihm die Rosen-
ketten des Eros. Der Kenner aber versteht es, sie
erst daraus su flechten. Ihn enttäuscht nur die Frau,
die in der Entfernung verliert.
Es kann aber eine Wohltat der Sinne sein, von
Zeit 2U Zeit einem komplizierten Räderwerk nahe-
zustehen. Die Anderen sehen nur das Gehäuse mit
dem schönen Ziffernblatt ; und es ist bequem, zu er-
fahren, wie viel's geschlagen hat. Aber ich hibe
die Uhr aufgezogen.
»Sich keine Illusionen mehr machenc: da begin-
nen sie erst.
Den Inhalt einer Frau erfaftt man bald. Aber
bis man zur Oberfläche vordringt I
Man mufi das Temperament einer Schönen so hal-
ten, dafi sich Laune nie als Falte festlegen kann.
— 41 —
Du Bind OeheimniBse der Beeliaohen Koanetik, deren
Anwendung leider die Bifertuoht yerbietet
KflDstler haben das Recht, bescheiden, und die
Pflicht, eitel %n sein.
Wenn der Dieb in der Anekdote stehlen geht,
80 halt ihm der Wächter das Licht Bine solche
Situation ist auch den Frauen nicht unerwünscht
Wer nicht will, hat schon. Wer nicht will, wird
«nt Das ist der grundlegende Unterschied iwischen
Kann und Weib.
Ihre Brauen waren Gedankenstriche — mandi«
mal wölbten sie sich su TMumphbogen der Wollust
Unter Dankbarkeit versteht man gemeinhin
die Bereitwilligkeit, lebenslänglich Sall^ auüsu-
sohmieren, weil man einmal einen Ausschlag ge«
habt hat
Die Schriftgelehrten können noch immer nur
▼on rechts nach links lesen; so kommt es, daß sie
Leben als Nebel sehen.
Vervielfältigung ist insofern ein Fortschritt, als
sie die Verbreitung des Binfältigen ermöglicht
Bs herrscht Not an Kommis. Alles drängt der
Soiialdemokratie und der Journalistik lu.
Der Zuhälter ist eine soziale Stütse der Frau.
Verliert sie ihn, so kann es leicht geschehen, daß
sie herunterkommt.
Nervenpathologie: Wenn einem nichts fehlt, so
bellt man ihn am besten von diesem Zustand, indem
man ihm sagt, welche Krankheit er hat.
m üigitizedby Google
— 42 —
»Der Besuch Sr. Majestät des Königs Friedr
August Ton Sachsen in der Leipsdger Zementindustrie
in Markranstädt.€ Oder: »Dr. Peters verläßt das Qe-
richtsgebäude« oder »Präsident Roosevelt auf dem
Wege ins Weifie Hause. Was immer es Torstellen
mag, die Leute sehen aus, als ob sie nach melir-
monatiger Bettlägerigkeit die ersten Gehversuche
machten. Und der Ad^jutant sieht dem König von
Sachsen dabei genau auf die Füfie und sagt: Eins,
zwei, Majestät, eins, swei, immer los, immer rin ins
Yergniechenl Bs wird schon gehen I (Er könnte auch
▼ade-mecum, yade-mecum sagen, wie einst der
sächsische Justisrat, der die Villa der Louise
umschlich.) Und das deutsche Volk freut sich an
dem Schauspiel, das in Wahrheit auf einer groben
Fälschung beruht. ESs mag ja interessant sein, lu
sehen, wie die interessanten Leute gehen. Aber dann
halte man sich an den Kinematographen. Ein einzelnes
Momentbild seigt nicht, wie der Köni^ von Sachsen
geht, sondern bloß, dafl sein Schuh eme Sohle hat.
Das zu wissen, scheint freilich für das deutsche Volk
auch wichtig zu sein.
Wenn ein Priester plötzlich erklärt, dafi er
nicht an das Paradies glaube imd dafl er diese Er-
klärung niemals widerrufen werde, dann ist die
übende JPresse begeistert, deren Redakteure sich be-
kanntlich auch nicht ihre Oberzeugung nehmen
lassen. Aber würde nicht doch ein Verlegerpapst
seinen Angestellten sofort a divinis entheben, der
sichs einfaÜen liefie, vor den Lesern zu bekennen,
er glaube an das Paradies? Es ist der widerlichste
Anblick, den die Neuzeit bietet: ein vemunftbeses-
sener Priester von Prefikötem umheult, denen er
Adams Rippe zuwirft.
Die Modemisten sind die einzigen strenggläubi-
en Katholiken^ die es noch gibt. Sie glauben sogar,
afi die Kirche an die Lehren glaubt, die sie ver-
Digitized by VjOOQl'
— 48 —
köndety und glauben» daß es auf den Glauben derer
aokommey die ihn su yerbreiten haben.
Die Orthodoxie der Vernunft verdununt die
Menschheit mehr als jede Religion. Solange wir uns
ein Paradies vorstellen kennen, geht es uns immer
noch besser, als wenn wir ausscmiefllich in der Wirk-
lichkeit einer Redaktion leben müssen. In ihr mögen
wir die Oberseugung, dajß der Mensch vom Affen
abstammt, in Ehren halten. Aber um einen Wahn,
der ein Kunstwerk ist, war's schade.
Kompilatoren sind WissenschafUhuber.
Beeser, es wird einem nichts gestohlen. Dann
hat man wenigstens keine Unannehmlichkeiten mit
der Polisei.
Bin Mann, dem in einem öffentlichen Lokal ein
Winterrock abhanden kam, muflte oft cur Behörde.
Der Beamte sagte su ihm: »Beschreiben Sie den
T&terl« Hat man das notwendig?
DaB Wesen der Prostitution beruht nicht darauf,
<bfl sie sichs gefallen lassen müssen, sondern dafi sie
sichs mififallbn lassen können.
Nur der hebt eine Frau wahrhaft, der auch
eine Besiehung 2u ihren Liebhabern gewinnt. Im
Anfang bildet das immer die größte Sorge. Aber man
gewölmt sich an alles, und es kommt die 2ieit, wo
man eifersüchtig wird und es nicht verträgt, wenn ein
Liebhaber untreu wird.
Die Frau spürt die Schmusen nicht, die der
Mann ihr sufügt. Der Mann sogar die.
Bin Dichter, der liest Ein Anblick, wie ein
KeUner, der speist
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^i
- 44 -
Er beherrscht die deutsche Sprache — das
t vom Kommis. Der Kfinstler ist ein Diener am
ort. \
Zu seiner Belehrung sollte ein Schriftsteller
mehr leben als lesen. Zu seiner Unterhaltung sollte
ein Schriftsteller mehr schreiben als lesen. Dann
können Bücher entstehen, die das Publikum cur Be-
lehrung und zur Unterhaltung liest.
»Ich war gestern in Melk — das war a Wetter«,
sagt einer plötslioh auf«4dr Eisenbahn su mir. »Der
Eder soll g'storben sein, der kaiserliche Rat«, sagt einer
plötslich vom Nebentisch bu mir. »Grojßer Mann ge-
worden!« sagt einer in etwas anderm Tonfall plötzlich
auf der Elektrischen zu mir und zeiet nach einem,
der soeben ausgestiegen und auf dessen Be-
kanntschaft er offenbar stolz ist. Ich erfahre also,
ohne daß ich es verlangt habe, was im Innersten
dieser Zei^enossen vor sich geht. Daft ich ihre äuftere
Häfilichkeit schaue, genügt mnen nicht« In den fünf
Minuten, die wir die Lebensstrecke miteinander
gehen, soll ich auch darüber unterrichtet werden, was
sie bewegt, beglückt, enttäuscht. Das, und nur das
ist der Inhalt unserer Kultur: die Rapidität, mit der
uns die Dummheit in ihre Wirbel zieht. Auch wir
sind von irgend etwas bewegt: aberhastdunicht^esehn
sind wir in Melk, an der Bahre des Eder, m der
Karriere des groflen Mannes. Nie würde unsereinem
eine ähnliche Wirkung auf den Nebenmenschen ge-
lingen. Ich bleibe gebannt stehen, weil die Sonne
blutrot untergeht wie noch nie, und einer bittet mich
um Feuer. Ich beschäftige mich gerade mit dem
Problem der Gedankenübertragung, und hinter mir
ruft's: »Pia — kerl« Solange ein murigenwirt und ein
Schuster Plakate bleiben, wäre das Leben erträglich.
In Oottesoamen, prägen wir uns ihre Gesichter ein!
Aber plötzlich stehen sie vor uns, legen die Hand
• Digitized by VjOOQ IC
- 45 —
auf unsere Schulter und wir 'brechen susammen wie
Don Juan, wenn die Statue lebendig wird.
Mein Wunsch, man mOge meine Sachen 2wei-
mal lesen, hat grofle Erbitterung errefft. Mit Unrecht,
Der Wunsch ist bescheiden. Ich venanfs^e ja nicht*
daS man sie einmal liest.
Karl Kraus.
Bnlenbiirg.
»Jetat wird es niemand mehr wagen, su
sagen, daft ich nichts . gewujßt habel« Aus einem
MOnchener Qerichtsaimmer rief er es sieghaft in
die Welt. Ja, er hat etwas ffewuOtl Im Jahre 1888
hat der Fürst Bulenburg am Starnbergersee mit einem
Fischerknecht — er hatl^gewufltl Ihr glaubt, daft
er aufs (Geratewohl die politische Gefahr an die
Wand gemalt habe? Er hats gewuflti Er, der alles
weift, sollte nicht eewuftt haben, daft im Jahre 1888
am Stamberger See — ? Er hats gewufitl In
Deutschland ist alles erweislich wahr, fest steht
und treu die Wacht am Bett, und es braust ein
Ruf wie Donnerhall: Er hats sewufttl . . . Und
nicht dieser Herr Maximilian Harden, sondern der
Fürst Bulenburg ist fertig. Nicht jenen, diesen richtet
die Lieitartikelwelt. 'Est hat awar in einem abge-
karteten Oerichtsrerfahren nicht Gelegenheit bekom-
men, als Zeuge seine Kindheitserinneningen au fatie-
reo. Aber es besteht die HoShung, ihn für meineidig
SU erklären. Es war ein Gerichtsverfahren, in dessen
• üigrtized by VjOOQb-
— 46 —
Verlauf der Vorsitsende vor den journalistischen Ver-
tretern der ausgeschlossenen Öffentlichkeit das Wort
sprach, diese VeAandlung werde »ein Markstein fflr
Herrn Harden bleibenc . Es war ein Gerichtsverfahren^ an
dessen Schlufi ein Angeklagter seinen Stohs be*
kannte, im Falle der Verurteilung »dem Rechte
zumSie^e verhelfen cu haben c. Der Beleidigte imd
der Beleidiger gingen versöhnt in den Gerichtssaal, beide
priesen die Objektivität des Vorsitzenden, der gegen
einen abwesenden Fürsten, also tatsächlich ohne An-
sehen der Person, verhandelte, und es kam ein ehren-
voller Ausgleich zustande., -indem der Beklagte
vorweg darauf verzichtete, die Bestechung des Herrn
Harden zu beweisen, wogegen sich dieser bereit er-
klärte, in vollem Umfang den Beweis für die
Päderastie deä Fürsten Bulenburg zu führen. Und
als der Fischerknecht sprach, »standen alle Zu-
hörer unter dem tiefen Bindrucke dieser sich dra-
matisch abspielenden Szene, und lebhafte Bewegung
Sb sich kund«. Aber die Spannung der zwischen
trk- und Bernstein spielenden Aktion löste sich in
der frohen Hoffnung auf, den Fürsten Bulenburg wegen
Meineids belan^n zu können . . . Denn er hätte
vor dem Berlmer Landgericht bekennen sollen:
Ja, ich gebe zu, dafi im Jahre 1888 die Hose des
Fischers Bmst einen Bindruck auf mich gemacht hat.
Br schwor ausdrücklich, er habe »keine Schmutzereien«
begangen, und dieser Aussage steht der Bid
des Fischers Brnst gegenüber, Bulenburg habe
mit ihm »Lumpereien« getrieben. Bin erkenntnis-
voller Druckfehler in einer Wiener Zeitungsdepesche
sagtejsogar, der Fürst Bulenburg sei in München »der
S^ualität beschuldigt« worden. Wahrhaftig, das kann
in Deutschland heute jedem passieren. Jeder Sexualakt,
auch der normalste, hat dort Meineid, Zuchthaus,
Mord und Tod zur Folge. Die Verheerungen sind
fürchterlich. Ganze Städte sterben aus, wenn einer
einmal in ein unrechtes Bett gestiegen ist. Dort
ist Sodom auf den Kopf gestellt; denn es wirdzer-
• • Uigitized by VjOOQi'
-47 —
stOrt, wenn auch nur einer gesündigt hat. Denn
dort irt es erlaubt, Yoi Gericht den l^ualakt nach
Art, Richtung und Intensität su beweisen. In anderen
Staaten gäb's in solchen Prozessen Ober einen lumpigen
oder schmutzigen Eingriff ins Privatleben keine Zeugen-
aussagen. Oder die ^ugen dflrften sich der Aussage
entschlagen. Hätte sich freilich der Fflrst Eulenburg
in Berlin der Aussage entschlagen dürfen, so wäre der
Eindruck für ihn ebenso »vernichtende gewesen. Darum
tritt immer klarer die abgrundtiefe Schmach einer
Kriminalität zutage, die den Wahrheitsbeweis für
Niederträchtigkeiten zuläfit, wie sie Herr Harden
▼erfibt hat. Oegenüber einer Kriminalität,
die die Helferin der niederträchtigsten
Niedertracht ist, jener, die an den
Sexus greift, erscheint der Meineid als
eine aus tiefster Ethik begründete Not-
wehr. Denn wenn ein Erpresser in Deutschland
von einer verheirateten Frau schreibt, sie habe
ein Verhältnis mit einem* Offizier, so mufi der
Offizier unter Eid darüber aussagen. Sagt er die
Wahrheit, so mufi er sich ersqhiefien. Sagt er die
Unwahrheit, so mufi er sich erschieflen. Der Pischer-
knabe yom Starnbergersee ist inzwischen GroSvater
geworden, nützt nichts, er mufi zugeben, dafi er im
Jahre 1883 — . Und der Fürst Eulenburg, der es
nicht zugegeben hat, ist vor der im Rotationslärm
triumphiereiiden Sittlichkeit schon heute ein gerichteter
Mann. Herr Harden aber geht seiner »Rehabilitierungc
entgegen. Denn es stellt sich heraus, dafi er etwas
gewußt hat. Der Kürassier Bollhardt — nun, da konnte
die deutsche Kultur zweifeln. Aber der Fischer Ernst
und der Milchhändler Riedl? Zwar, wer zuverlässiger
^f weifi man noch nicht, aber jedenfalls sind die
Deutschen wieder einmal froh, daß sie zwei solche
Kerle haben. Ich selbst muß zugeben, dafi ich immer
gefarchtet habe, Herr Harden werde nichts beweisen
können. Jetzt da er daran ist, etwas zu beweisen, und
jeder Drohung auch wirklich die Enthüllung: folgen
üigitized by VjC
~ 48 -
läfit, sage ich: Wenn Deutschlands Dichter und
Denker nach dieser Münchener Affäre, durch die es
Herrn Maximilian Harden gelungen ist, die sexuellen
Regungen des Fürsten Eulenburg aus dem Jahrgang 1 888
▼er Gericht zu stellen, wenn sie jetzt noch einmal die
Feder in die Hand nehmen soUteni um einen Kultur-
träger zu yerherrlichen, dann ist ihre Hand yon ihrer
Feder beschmutzt, man würde diese verachten und jene
nicht mehr ergreifen! Wer in dem Ekel dieser Wahr*
heitsforschung nicht erstickt, wer es nicht fühlt, dafi
hier die Gemeinheit in dem Mafie wächst, in dem sie
die Wahrheit sagt, und daß auf geschlechtlichem
Gebiete »Lumpereienc oder »Schmutzereien« nie der
Täter und stets der Enthfiller begeht, wer auch jetzt
noch den hosenlatzspähenden Nachbarn für einen
Feuergeist, den Nachttopfgucker für einen Ober-
menschen, den Verbündeten der Todfeindin unserer
Freiheit, der Sexualmoral, für einen Yorkämpfer
deutscher Kultur hält, den verachte ich tiefer ids
Herrn Maximilian Harden. Und dem deutschen Volk,
das Gk)ttes Wunder preist, weil die Wahrheit endlich
ans Licht kommt, und das nicht ermüdet, die Dinge
zu erfahren, über die es sich entrüsten kann, stelle
ich eine neue Nationalhymne zur Verfügung:
Lieb Vaterland, halt hoch den Kopf,
Fest steht und treu die Wacht am Topf I
Durch Nacht zum Licht, man prüft und sagt:
Ich habs gewagt 1
Nun sind es fünfundzwanzig Jahr,
Und doch ist es erweislich wahrl
Eis braust ein Ruf aus Heldenbrust:
Ich habs gewußt 1
Karl Krai
Hcnasg«ber und tcnuitvortlidier Rediktewr: Ktrl Krtas.
Dreck VM Jaliod« k Sl«0el, Wko HI. Hiatm ZoUamMnSe S.
Herausgeber: KARL KRAUS
imhetnt In xiiD^loser Folg« In OmfiBg toi IS— 82 BeltoL
BBZU08-BBDIN0UN0BN:
«Jcsterreich-Ungani, 36 Nummern, ponofrei . . K 9.—
18 » > . . > 4.50
dts Deutsche Rdch, 36 > > » 10.50
• > » 18 « »5.25
die Linder d.Weltpostv.,36Nummen),po.iv».^. » 12.—
»»» »18 » »» 6. —
'bsfl Abonnamant «ntreckt ffcli nicht aaf elnaii Zelt-
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WIEN VII. KIRCHENGASSB 34.
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tigungcn in jeder '^''* k;»,»,^« oi c:»,,r.^uM f.;,. p,\'b,.^»,>>T
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frankiertes Kuvert beiliegt, werden nicht zurückgeg^
Es wird erancbt, adminigtrative Mitteilangen nicht an den Heransgali
Hj^ redakUonelle nicht an den Verlag gelangen zn laiaen.
^■^ Die FA(
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Humoresken
vierzehn kurze Erzähl iinp^en/
agesblätter
ROBERT SCHEU, Wien, IV. Theresianum
unternehmen fttr Zeitung^sauBschnitte
SERVER, Wien, I. Concordlaplatz Nr. 4 (Taleplioii
fersendet Zeitungsausschnitte über jedes gewünschte Thenia.Man verlange 1
^^^p In Verlafa «Dls PACKBL* aind anctalaan
^^^^tmd duroh alle Buohhandlungen oder direkt au benel
H|i Karl Kraus:
PXIHIU&N lARDl
Eine Erledigaog. Ein Nach
15^.-»;^ An u
^äk%S
Faekel
Herausgeber:
IRL KRADS.
PornofTraühie.
Amxkxig aufl Hardon.
iat ia zwangloser Folge.
döf ßir>2o!nßn Numma? 30 b.
-bimÄßliref VcHdIica ferbotto; eerlcbtUchc Yerfol|rQcr
fvrbfkaltn.
WIEN
V) zweiter Auflage erschien!
ittliclikeitu.Kriniinalil
lad der Ausgewählten Schrifl
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iXßÄM JK^ALi ■
°7]ro8ohiert
K 7.20 - Mk.H
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^^K|llur
ypv.];,rT der 9^1
T.^fl
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Die Fackel
K. 2S3 WIEN. 9. MAI 1908 X. JAHR
Die deutsche Schmach.
Berlin, 4. Mai: »Harden ist
damit beschäftigt, die sofortige
Verhaftung Eulenburgs an der
Hand des Gesetzes zu begründen. «
Wenn ich mir von der entfesaelteu Tatsafchen-
kanaille« die durch die deutschen Lande rast, Menschen-
q)fer fordert und mit ihrem Brüllen die Musik des
Gedankens übertönt, eine Gnade ausbitten darf, so
wäre es die: von allen Worten, die ich seit einem
Jahrzehnt gefunden, und die ungehört verhallt sind,
weil es der deutschen Sprache bestimmt ist, an den
Pingen der Rotationsmaschine stumm zu verbluten,
Ton allen möge eines nur den Plug ins Weite nehmen,
im Schweben stolz wie der preußische Adler, und
venn es niederfährt, eine Majestätsbeleidigung — :
Das Wort von den Deutschen, die das Volk der
Bichter und Henker sindl
Denn in Deutschland gibt es keinen Beruf, in
dem sie sich über allen bundesstaatlichen Zwist, über
lUe politische Parteiung, über alle Verschiedenheit
von Kultur und Klasse so glücklich vereinten, und
keinen Beruf gibt es, den sie alle so wenig verfehlt
hätten, wie diesen. Ist einer Journalist, so schafft ihm
«ne Taty ob der anderwärts einem Schlächter die
len über die Backen liefen, den Ruhm eines
achtensiegers. Ist einer ein Kaiser, und weilt er fem
Heimat, so versäumt er es doch nicht, täglich seine
ktiven an den blutigen Schauplatz zu senden. Und
lohen den Beiden ist Friede, denn es gilt einen
ipf gegen höhere Güter. Es gilt die groue Parade
oittlichkeit, bei der die Generale von den Feld-
^»^ wegen vorschriftswidriger Adjustierung ge-
L Digitizedby VjOOQiI
— 2 —
tadelt werden. Es gilt das große Reinemachen der
Bestialität, und da triumphiert zum erstenmal der
Einheitsgedanke. Der Geisteskämpfer braucht sich
nur unter die Strafienrufer zu stellen und mit einer
von Woche zu Woche gesteigerten Deutlichkeit zu
sagen, daß der sexuelle Habitus eines Flügeladjutanten
von der vorgeschriebenen Uniform abweiche, und er geht
durch alle Stadien eines patriotischen Martyriums als
literarischer Heros leuchtend hervor. Aber wäre er zu-
fällig Käsehändler, hätte er in seiner Kneipe Ent-
hüllungen aus dem Geschlechtsleben eines Hochge-
stellten zum Besten gegeben und ginge die Kunde von
Munä zu Mund, er wäre fortan der berühmteste
Käsehändler. Die Sache will's I Das öffentliche Ärgernis,
das in Deutschland entsteht, wenn zwei Leute ein
Geheimnis miteinander haben, macht den berühmt,
der es verriet, und der Schweinehund, der die Fenster
eines Schlafzimmers aufgerissen hat, gilt für einen
Liehtbringer. Denn die Sittlichkeit, deren Gebäude
auf dem Lügengrund der Wahrheit steht, gehört zu
den landesherrlichen Gütern der Demokratie. Sie war
einst ein Vorurteil der höheren Stände, jetzt ist sie
eine Oberzeugung des Pöbels, der sie als Waffe gegen
die älteren Besitzer nützt. Es gibt keinen höheren
Hochgenuß, als vor der Tür des Höhergebornen keh-
ren zu dürfen.
Und eine staatliche Gerechtigkeit, die zu
solchen Genugtuungen hilft, ist wahrlich des Teufels!
Der Grundsatz, daß Allen gleiches Recht werde,
bedeutet vor einer Demokratie, deren Trhimphgeheul
über jeden Sündenfall des Adels die fürchterlichste
Strafverschärfune bietet, den klaren Vorsatz zum
Justizmord. Die Demokratie feiert den großen Sieg der
Gesetzlichkeit, denn hier bekundetder Knecht, daß er das
gleiche Recht habe wie der Fürst, und spuckt ihn aus
Überzeugung an. Wie ein Hiesl nach dem andern ersteht,
um zu schwören, daß er vor fünfundzwanzig Jahren
von einem Edelmann »mißbrauchte worden sei, das ist
vor deutschen Gerichten ein »ergreifendes und über-
üigitized by VjOOQIC
8
seugendes« Schauspiel. Fünfundzwanzig Jahre haben
sie's getragen, sind durch den Miflbrauchy den sie
mit ihren Leibern vornehmen ließen, »vermögende
und hochangesehene Bürger Starnbergsc geworden;
— plötzlich sagt man ihnen, es sei ein unsittlicher
Gewinn, dem sie ihre Wohlhabenheit danken, und
im Nu sind die Qerichtsstuben und Redaktionen mit
bayrischen Hieseln gefüllt, die sogar »Detailsc zu mel-
den wissen. Leugnet er, sie mißbraucht zu haben, so
sind ^e »entrüstet«. Es ist eine sittliche Läuterung der
soeben Enthüllten zu Enthüllern, die ganz Deutsch-
land mit tiefer Rührung erfüllt. Sie brachen
unter der Wahrheit zusammen und erheben sich
zur Anklage siegen den Mann, der sie durch
Wohltaten so schwer geschädigt hat. Aber lebten wir
in einer freudigeren Welt, wir würden Tränen
lachen über dieses Haxenschlagender Gerechtigkeit, und
würden mit naivem Staunen fragen, welcher andern
Verwendung der Leib eines Knechts denn würdig sei,
der sich fünfundzwanzig Jahre an dem Glück
des Mißbrauchtseins wärmt, um im erreichten
Wohlstand gegen den Beglücker zu zeugen.
Der hätte am Ende sterben können und das Geheim-
nis wäre nie an jenen Tag gekommen, dessen Sonne
im Grunewald über das deutsche Land aufgeht!
Noch den Leichnam werden sie schütteln, um viel-
leicht doch ein bisher unbekanntes Detoil heraus-
zubekommen . . . Wo ist der deutsche Adel?
Wäre die Sittlichkeit nicht ein Fluch, der alle Zungen
lähmt, die Freunde des alten Mannes müßten es durchs
Land rufen, daß sie ihm ihre Teilnahme nicht
entziehen, und müßten gegen eine Gerechtigkeit auf-
stehen, die soziale Privilegien mit dem Haß des Pöbels
ausgleicht. Gegen den Wahn eines Rechts, das mit
deichem Maß zu messen behauptet, wenn es den
Hohen wie den Niedern stürzt, und den Unterschied
der Fallhöhe nicht bedenkt und nicht die vertau-
sendfachte Schmerzhaftigkeit eines Sturzes, den
die in den Niederungen johlend erwarten. So weit
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- 4 —
die deutsche Zunge reicht, lecken sie den Staub von
einem Ritterstiefel, um bei gelegener Zeit ihm in ''
die Ferse zu beifien. Es ist ein Otterngezücht, das
im Schutz des Journalismus \md aller Vorwände der
Freiheit lebt. Es ist das moralische Kriechtier auf
dem Boden der Tatsachenwelt, das zugleich ein
Menschen^lQck vergiftet und die Phantasie einer
Gesamtheit erdrosselt I
W^ jetzt in Deutschland geschieht, ist ein
Aufstand der Kammerdiener. So gut haben sie sich in
zufriedenen Tagen nie bewährt, sich so offen nie als
Domestiken gezeigt, wie jetzt, da sie sich verleugnen
möchten. Von dem höchsten Repräsentanten der Un-
kultur bis hinunter zu dem Journalisten, der die ost-
elbischen Familien geistig ausschmarotzt imd Morits
und Rina zuerst durch eme lächerliche Kopie kom-
promittiert hat, ehe er ihnen nachsagte, dafi sie
Blutschande treiben. Von dem Manne, der mit
der Gebärde eines Herodes den Staub aufwirbelt,
den seine Günstlinge von den Schuhen schütteln
müssen, bis hinunter zu seinem seltsamen Jochanaan,
der den Koth aufwirbelt, den sie von sich geben, und
der seit Jahren abgehärmt in einer Zisterne haust,
von der man ursprünglich glaubte, sie sei ein Zettel-
kasten, die aber in Wahrheit ein Detektivbureau ist.
>Wo ist erc — ruft es immer wieder von unten —
»dessen Sündenbecher jetzt voll ist?« Und er siebt
einen in einem Nachen auf dem See von Stambergf
wie er im Jahre 1883 zu den Jüngern redete. Er
behauptet, es sei erweislich wahr, dafi im Palaste die
Flügel des Todesengels gerauscht haben. Sein Mund
ist »wie der Purpur, den die Moabiter in den Gruben
vonMoab finden«, nämlich in der Gegend von Moabit.
•Nichts in der Welt ist so rot wie sein Mund. Aber
wäre ich Salome, ich verlangte sein Haupt blofi um
zu sehen, ob die Welt an Geist verlöre, wenn's auf
der Silberschüssel liegt.
Dies Drama freilich hat einer geschrieben, von
dem es bekannt ist, dafi er normwidrig war. Und dafür
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~ b
bat er in der Tretmühle arbeiten müssen. Aber der feige
Pöbel, der sich dort und damals zum Richtplats der
Sittlichkeit driUigte, und der einen gefesselten Künstler
bespie, hat Anspruch darauf, um vornehmer Zurück-
baltnng willen gepriesen zu werden, wenn man das
Bacchuale der Ordinftrheit überblickt, das jetst
durch Deutschland tobt, dieweil ein sweiundsiebzig-
j&hriger Mann mit geschwollenen Beinen im Bett
liegt Dafi die Moralkanaille sich gegen das Gerücht
empört, der über Nacht aus sozialer Höhe gestoflene
Graf Lynar werde im Qefänenis nicht blofi mit
Wasser und Brot ernährt, und dafi sie sich nicht
gegen das Gerücht empört, das Gnadengesuch des
schwindsüchtigen Schusters von Köpenick sei abge-
wiesen worden, — es ist ein Mangel an Erbarmen,
der eine Nation aus der Reihe der Kultur-
völker streichen müfite. Wie aber wird man dem
unbeschreiblichen Schauspiel gerecht, das sich jetzt
zwischen einem Krankenbett und einem Kaiserthron
abspielt und dessen Autor mit freudestrahlendem
Gesicht die Tantiemen einstreicht, die die viehischeste
Gesinnung dem Menschenjammer abgezapft hat? Wie
fafit man es, dafi in dieser weiten Arena, in der ein
Sterbender ins Stiergefecht geschickt wird, kein
deutsches Herz still steht? Sein Dichter das Volk
beschwört, sich von dem Anblick des Grauens ab-
zuwenden? Sondern dafi sich Dichter finden,
die das Blutopfer als Rehabilitierung des Schlächters
feiern? Dafi das Glücksgefühl, einen Fürsten
bürgerlicher Verfehlungen überführt zu sehen,
einen nationalen Blutrausch erzeugt, in dem die
Wahrheit und die Sittlichkeit als besoffenes Paar
auf dem Marsch zu einem Sterbelager torkeln?
Es ist über alle Mafien entsetzlich ! Und keine
Ruhmestat deutschen Namens wird je die Schande
wettmachen können, die ihm soeben angeheftet
wurde. In Liebenberg haben die Treiber auf Befehl
des kaiserlichen Gastes den Jagdherrn umzingelt.
Preuflische Geheimpolizisten brachten ein todwundes
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- 6 -
Edelwild zur Strecke. Und ein deutscher Geheira-
publizist »ist damit beschäftigt, die sofortige Ver-
haftung an der Hand des Gesetzes zu begi^nden«.
Bei Gott, die Arbeit eines Schriftstellers,
für die er auf die Nachwelt kommen wird, wenn
sie sich seiner Gedankenarmut und sprachlichen
Qual wider Erwarten sperren sollte! Denn was nützt
es, dafi die Gemeindevertretung von Oharlottenburg
in Anerkennung der Verdienste, die sich der Mann
unaufhörlich um das Vaterland erwirbt, beschlossen
hat, den Text eines berühmten Gassenhauers umzuän-
dern, und dafi sie einen Herzenswunsch des Gefeierten
erfüllt hat, wenn jetzt endlich gesungen wird : »Im Grune-
wald, im Grunewald wird die zwischen Baumrinde und
Mark gebettete Masse vergantet«. Das ist erfreulich, —
aber kein Dokument seiner Sprachkunst, sondern nur
das Gedenken seiner Tatkraft wird seinen Namen
kommenden Geschlechtern überliefern. In Deutsch-
land, wird es heifien, war es im Anfang des zwanzig-
sten Jahrhunderts möglich, dafi ein Mann, der die
Feder führte, nicht nur dem Wüten einer para-
graphierten Sittlichkeit Vorschub geleistet, sondern
sich auch in jeder Woche der Erfolge einer Razzia
gerühmt hat, an der er zwischen den Polizeihunden
»Edith« und »Rufi« teilnahm. In Deutschland war es
möglich, daß ein Schriftsteller stolz auf die Ergeb-
nisse von Untersuchungen war, die er im Bunde mit
schlichten Erpressern aus dem Volke, mit Milch-
händlern, Fischerknechten, Wachtmeistern und
Detektivs vornahm. Dafi er nicht bloß ausgesprochen
hat, »was ist«, sondern dafi infolgedessen auch geschah,
was er ausgesprochen hat. DaS er einem Kläger das
Recht bestritt, über »Regungen, die nie über die
Schwelle seines Bewufitseins krochen«, vor Gericht
auszusagen, aber selbst immerzu über die Schwelle
eines fremden Bewufitseins gekrochen ist; und
über die Schwelle fremder Schlafzimmer. Dafi er
sich auch in der Gemeinheit als den Vollstrecker
eines grofien politischen Testaments gebärdete, wo-
— 7 -
durch wir also erfuhren, daft ein Bismarok bei Leb-
leiten den Fürsten Eulenburg zwar für einen politi-
schen Schädling gehalten hat, aber su viel Achtung vor
dem menschlichen Wert des Mannes hatte, um sich
der unseligen Verwirrung seiner Geschlechtstriebe
im politischen Kampfe zu bedienen .und um eine
Henkerarbeit zu vollziehen, mit der er den näch-
sten besten journalistischen Handlanger hätte be-
trauen können. In Deutschland war es mög-
lich, daft sich ein Denunziantentum, neben dem
die erwiesene Päderastie eine geistige Leistung
ist, als eine Tat der Feder ausschrie. Dafi einer
den Strangulierern der ursprünglichsten Menschenrechte
geholfen, aber in einem Winkel seiner Zeitschrift
heuchlerisch die Kultur protegiert und sich von einem
gesinnungslosen Literatenpack Absolution geholt hat;
daß er dem Kehrbesen des Polizeigeistes kommandierte
und sich für einen Märtyrer des freien Wortes aus-
gab; dafi er sich einen Krieger des Geistes nannte
und in jeder Woche die Verurteilungen und die Selbst-
morde in der Armee zählte, die die Folgen seines
Kampfes waren . . . Dies wird *von der Kreuzung
aus einem Metzger und einer lächerlichen Preziösen
auf die Nachwelt kommen, wenn mein Wort längst
im Lärm der Rotationsmaschinen verhallt sein wird.
Ich bekenne, daß mein Haß der Ausbruch des pursten
N^^d«*^*' Karl Kraus.
Pornographie.
Die Wirksamkeit des Christentums hat zu einer
sehr gefährlichen Verinnerlichung des Menschen ge-
führt. Das Christentum hat die sogenannte Seele er-
funden: ein unterirdisches, trübes, brodelndes Qewässer,
— 8 —
das alles verschluckt, was von außen in seine Tiefen
^It. Im System des christlichen Lebens, in das auch
der Nichtgiäubige eingesponnen ist, dringt jegliches
Erlebnis nach innen, unbekannten Abrunden bu,
imd dient nur dem Zwecke, die Seele su nähren. Im
vollendeten Christen ist die Seele so übermächtig,
dafi ihm die natOrliche Reaktion, die Antwort auf
einen Reis durch eine Handlung, beinahe versag ist.
Das Reich der Tat hat keinen Platis im Reich der
Seele, die, einem geschwellten Strome vergleichbar,
mit sich fortreißt, woran .sie rührt und in einen
Schlund versinken läfit Scheinbar spurlos und für
immer. Aber diesem Schlund der Seele entsteigt alles
wieder, was in ihm verschwunden schien. Es ist
allerdings nicht das 'Leben, das hier aus Grüften auf-
ersteht, sondern ein Gespenst des Lebens, seltsam
verwandelt, entwirklicht und von unirdischer Farbe.
Unbedenkliches Handeln ist dem Christen verwehrt,
es ist geßhrlich, es könnte die Versündigung in sich
schliefien und das Heil der Seele verwirken. Was sich
aus der Seele nach^ aufien durchringt ist Begierde
und Phantasie. Die Seele saugt dem Lebenswillen
das Mark aus und verwandelt ihn in ziellose, phan--
tastische Begehrlichkeit. Das Reich der Seele ist
nicht von dieser Welt, es ist ein Reich gedanken-
blasser Phantasie, ein Himmelreich. Es scheut das
TaJB^eslicht, es liebt dämmerte Kirchenschiffe und
haut die Wirklichkeit. Das Keich der Seele ist ein
Reich der Masken, und es ist manchmal schwer, die
schattenhaften Schemen su erkennen, die diesen
Dunstkreis durchschweben, schwer, zu erraten, was sie
ursprünglich waren. Da gibt es eine demütige An-
betung Qottes, die nichts anderes ist als ein verlarvter
Machttrieb, eine AbtOtung des Leibes, die nur Wol-
lust, ein Mitleid, das nur Grausamkeit ist. Die Triebe
verlieren ihre Aktivität und gewinnen ein tugend-
haftes Ansehen, aber sie verlieren nichts von ihrer
Intensität und glühen in der Verhaltenheit. Der
heidnische Mensch war unbesonnen, immer zur Tat
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- 9
genei^ und vom Rausch des Sich-Verschwendens,
des Sioh-Ausströmens hingerftsen. Der Grieche war
bunken auch ohne Wein. Der christliche Mensch ist
nüchtern wider Willen, immer von Bedenken, von
seinem Gewissen gehemmt und neigt zu ekstatischen
Zuständen, die ihn sich selbst vergessen lassen. Er
liebt daher die Narkotika und den künstlichen Rausch.
Die Kunst selbst, dem Heiden ein AusSuß und
heiterer Rahmen der Lebenstrunkenheit, ist dem
Christen nur ein Narkotikum. Der Christ erhebt die
Kunst scheinbar zum heiligen Ernst und Selbstzweck,
aber sie ist ihm nur ein Mittel der Betäubung, eine
Flucht vor dem bösen Gewissen. Genuß und Be-
rauschung sind dem Christen Synonyma.
Es ist nötig, sich dies vor Augen zu halten, um
das Problem der Pornographie zu verstehen. Denn
auch die Pornographie ist in ihren häufigsten Formen
ein Narkotikum, und zwar ein spezifisch christliches
Narkotikum. Während die naive Geschlechtslust sich
am natürlichen Rausch des Lebenswillens entzündet
und in der Geschlechtshandlung erlöst, soll die Porno-
graphie jenen gewaltsamen Rauschzustand erzeugen,
der ein Selbstzweck ist, der die Stimme des Gewissens
verstummen läßt, Furcht und Kleinmut erstickt, die
verhaflte Wirklichkeit wegtaucht und die Phantasie
beschwingt. . Das Kriterium der Pornographie liegt
nur in ihrer Wirkung, nicht im Gegenstand ihrer
Darstellung. Was man als antike Pornographie,
Pomoplaitlk u. s. w. bezeichnet — die Sammlung
des Neapler Museums z. B. — , ist in der Zeit
seiner Entstehung nicht eigentlich pornographisch
in diesem Sinne gewesen, ebensowenig wie ge-
wisse bekannte Bild- und Literaturwerke der
Renaissance. Derlei war nicht gemacht, um eine
selbständige Lust zu erregen, sondern um zum Genuß
der Wirklichkeit anzuregen, um die Geschlechtslust
iu naiver Dankbarkeit zu verherrlichen und diese
Lust allenfalls zu erhöhen. Es war Spiegel und Rahmen
der Wirklichkeit Wechselt aber die Wirklichkeit,
- 10 -
dann wird auch die Darstellung entschwundener
Wirklichkeiten mit anderen Augen betrachtet, und
so ist es möglich, daß heute, wo die Praxis der
christlichen Sittlichkeit die Qeschlechtslust und ihren
Anblick aus der Öffentlichkeit verbannt und 2su einer
Sache vielfacher Verbote und seltener Sensation ge-
macht hat, auch die naive Erotik der Antike und
Renaissance ds Pornographie wirkt. Die Voraussetzung
der pornographischen Wirkung ist ein ^wisser
Kontrast zwischen der Darstellung und der Kealität
des Lebens. Was das reale Leben versagt und ver-
wehrt, wirkt dann im Bilde als lustvolle Sensation. Und
je »sittlichere die Öffentlichkeit des Lebens ist, je
verpönter die Geschlechtslust, desto lebendiger ist
der Hunger nach ihr und nach ihren Surrogaten.
Das einfachste und zugleich vollkommenste Surrogat
der Wirklichkeit ist aber die Phantasie, und deshalb
war und ist zu allen Zeiten die geistige Onanie (meist
in Verbindung mit der körperlichen) die unausbleib-
liche Folge der Enthaltsamkeit. Wo die Enthaltsam-
keit zur idealen Lebenspraxis erhoben wird, sind die
Formen dieser Onanie am zahlreichsten und raffinier-
testen. Der asketische Heilige onaniert in Form von
Visionen, die er »Versuchimgen« nennt, der Moral-
theolog im Aufspüren der Sünden gegen die Keusch-
heit und die Betschwester im Beichten ihrer sündigen
Gedanken. Die allgemeinste Anregung zur geistigen
Onanie geben jedoch die bildlichen und literarischen
Darstellungen aus der Geschlechtssphäre. Und hier
ist es sehr lehrreich, zu sehen, wie genitgsam die
Phantasie in Bezug auf solche Anregungen ist, wie
wenig es zu ihrer Beschwingung bedarf, wenn die
Seele dürstet, weil der Leib hungert. Kindern, Halb-
erwachsenen und Frauen zumal wird fast alles, worin
überhaupt auf Geschlechtliches hingewiesen wird,
zur Pornographie. Das Alte Testament z. B. ist
sicherlich dasjenige Buch, welches am häufigsten als
imfreiwilliges Pornographikum gelesen wird. Und die
Kunstwerke und großen Literaturdenkmäler aus alter
- 11 -
und neuer Zeit sind, soweit sie Geschlechtliches zum
Oe^enstande haben, von diesem Schicksal ebensowenig
befreit. Es gehört die ganze Blindheit unseres heutigen
Pädagogentums dazu, zu glauben, dafi Kinder bei
der modernen Lebensführung, die sie alles Nackte
als unschicklich empfinden läfit, und bei dem System
des katechetischen Moralunterrichts an einem Kunst-
werke das Gegenständliche zu Gunsten des Künstle-
risch-Ästhetischen übersehen können. Selbst die
meisten Erwachsenen sind dies nicht imstande und
eine Darstellung des Nackten und erotischer Be-
ziehungen wird von ihnen pornographisch aufgefaßt.
Um ein Kunstwerk mit künstlerischen Augen zu
sehen, dazu gehört beinahe ebensoviel Schulung, wie
um ein Kunstwerk zu schaffen. Das Pornographische
liegt nicht im Werk, das es auslöst, sondern in der
Gesinnung dessen, der es überall sucht. Um es in
einer Formel zu sagen: Die Pornographie ist
ein Korrelat der Sittjichkeit.
Auch die absichtliche Pornographie hat die
äufierliche Heiligung des Sittlichen zur Voraussetzung,
um als Kontrast des Sittlichen zu wirken. Wer nicht
wenigstens mit den Nerven an die Keuschheit glaubt,
für den hat die Unkeuschheit keinen Reiz. Auf einen
Menschen, der in der Geschlechtslust etwas Natür-
liches sieht und im Leben selbst die volle Befriedi-
gung seiner Sexualwünsche findet, kann die gewollte
Pornographie keine erotische Wirkung üben. Ihm
wird die absichtliche, gehäufte und übertriebene
Darstellung geschlechtlicher Beziehungen zwecklos
und albern vorkommen. Und würden alle unnö-
tigen Verbote, würde alle Geheimnistuerei und
vererbte Scheu vor geschlechtlicher Freiheit ver-
schwinden, so müfite auch die Pornographie (und die
R:erade In strenggläubigen Kreisen stark verbreitete
Zotenreißerei) allmählich verschwinden. Durch ihre
polizeiliche Verfolgung wird sie aber nur gestützt.
Jedes Verbot kommt der Phantasie zugute. Wenn
man die äufierliche .Sittlichkeit erhalten will, kann
üigitized by VjOOQl';
-^ 12 —
man die innere Unreinlichkeit^ geistige Onanie und
Pornographie, nicht ausrotten. Es wäre ja auch kein
Platz für die ungeheure Summe der Kräfte, die frei
und wirksam würden, wenn sie nicht in onanistische
Phantasien zerflössen. Der Mensch des Lebens ist ein
Mensch der Tat und des Kampfes, er kämpft auch
um seine Lust. Er braucht das Ringen um das Weib,
die Lust der Eroberung. Seine Kräfte wachsen mit
den Hindernissen. Die Befriedigung durch die Phan-
tasie ist mühelos. Die Phantastik schwächt den
Willen bis zur völligen Entschlufiunfähigkeit und
verleitet zur Einsamkeit. Je mehr die Phantastik durch
die Wirkung der Sittlichkeit umsichgreift, desto mehr
mufi die Männlichkeit abnehmen, desto mehr mufi
die Figur eines wahren Mannes wie die eines ge-
fährlichen Zerstörers, eines wahren Teufels wirken.
Daher sollte es den Tugendhaften recht sein, daß
die Phantasie, die das Brot der Guten ist, auch das
Brot der Bösen geworden ist. So kommt die Tugend
am besten davon. Wenn auch die Bösen nur mehr
mit der Phantasie freveln, mögen die Guten
ruhig schlafen. Es schadet der Gesundheit der
Schafe weniger als der der Wölfe, wenn diese
die Schafe nur mehr im Geist auffressen. Die
Entrüstung über die Pornographie vonseiten der
Sittlichen ist nur eine erbärmliche Heuchelei. Die
Pornographie aber gar für ein angebliches Oberhand-
nehmen der »Unsittlichkeitf und für die Akquirierung
von Geschlechtskrankheiten verantwortlich zu machen,
ist bodenlose Dummheit. Der Pornographie könnte
es sogar noch am ehesten gelingen, die Geschlechts-
krankheiten auszurotten, denn durch geistigen Koitus
erwirbt man weder Gonorrhoe noch Lues. Da man
aber auf solche Weise das Kind mit dem Bade aus-
schütten würde, so wäre es vernünftiger, die Sittlich-
keit auszurotten. Dann würde die Menschheit samt
den Professoren endlich einsehen, dafi die Geschlechts-
krankheiten keine Strafe Gottes für Unsittlichkeit,
sondern einfach ein Unglück, ein niederträchtiger
y Google
— 13 —
Zufall in der biologischen Entwicklung sind, und
dafi man sie nicht mit Moralsprüchen und Gebet-
büchern, sondern mit durchgreifenden hygienischen
Mafiregeln bekämpfen mufil
Karl Hauer.
Der SkUve.
Der Doktor Hans Ferdinand Werentin kaufte sich einen
Sklaven. Er erstand ihn während seines Aufenthaltes in Cheir und
bezahlte ihn mit 200 Tomans. Er hätte sich auch das Zehnfache
ffir diese Laune leisten können.
Eine dgentümliche Laune war es immerhin. Die Werentins
von der Berghofschen Linie hatten alle ihren Sparren. Franz Xaver
hatte es mit der Kunst, und der Doktor Hans Ferdinand brachte
von seiner Orihitreise einen eingeborenen Diener mit. Der Händler
bot ihm eine junge Dame ffir 150 Tomans an, er nannte sie
schlicht »die Abendsonne von Schiras«. Sie war groß und schhuik
und hatte schöne Augen. Der Doktor ffirchtete, in seiner Hdmat
zuviel Aulsehen mit ihr zu erregen. Audi war er sich fiber den
Verkehrston mit der jungen Dame nicht im Klaren. Aber Assad.
»die Blume von Sndra«, war dn schlanker Knabe von fünfzehn
Jahren. Sdn Gesicht war weiß, sdne Glieder zart, die Züge regel-
mäßig und intelligent. Der Doktor kaufte ihn. Der Doktor hatte
den Ruf dnes Originals, und er gehörte zu den Leuten, die etwas
für ihren Ruf tun.
m
In der Hdmat gab es keine Schwierigkeiten. Die Behörde
erfuhr, was sie wissen wollte: die Rückkehr des Doktors und die
Anwesenheit des pers&hen Dieners. Militärpflichtig war der nicht,
also interesderte er sie wdter in keinerlei Weise.
Der Doktor war dn aufgeklärter Mann. Er kannte den
Katechismus dieser Leute in dnwandfrder Weise auswendig. Es
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^ 14 -
steht geschrieben: »Die Unterschiede innerhalb der Menschenrasse
sind geringfügig. Es sind nur Bildungsunterschiede oder Kapitals-
unterschiede.« Da ist femer ein Absatz Menschenrechte und ein
Kapitel Humanität. Das war ihm alles gelaufig.
Und doch gab es noch Seltsamkeiten für ihn. Ja,
seltsam war er, der Oehorsam des Dieners Assad. Nie fragte
er, nie zögerte er. Er war nur Werkzeug, war ohne eigene Pttsön-
lichkdt, war eine Verstärkung der Kräfte sdnes Gebieters und
nichts anderes. Der Körper des Doktors war um eine Menschen-
kraft stärker, sein Qehim um eine Willenskraft reicher geworden.
Dieser fremdartige Oehorsam eines Menschen, eines Wesens
seiner eigenen Art, erregte ihn. Er befahl um des Befehlens willen,
ohne einen anderen Zweck zu haben, als diesen Oehorsam auszu-
lösen, den er nicht zu begreifen wagte und immer vor sich sah.
Er erdachte Auffaüge, deren Reiz ffir ihn in ihrer Sinnlosigkeit
lag und in der Machtprobe, die sie ihm gaben. Er befahl, um
nach der Vollführung zu widerrufen und das Gegenteil zu be-
fehlen. Und das erfüllte seine Tage, nahm völlig Besitz von seinem
Denken und Wollen. Ein Ankämpfen gab es nicht. Der Katediis-
mus des aufgeklärten Menschen enthielt keine Bannformel gegen
diese Versuchung.
Betrat er die Räume, in denen Assad schaltete, so geriet er
unweigerlich in den Bann dieses bedingungslosen Gehorsams. Es
war ein Rausch, der sich seiner bemäditigte, ein lustvolles Macht-
gefühl, das ihn gefangennahm. Es forderte Betätigung, neue Be-
weise seiner unbeschränkten Herrschaft.
Sein Wille war den Widerstand einer Umgebung von Kulhir-
menschen gewohnt. In dieser Umgebung war er ein Wille von
normaler Kraft und Richtung. Jetzt bewegte er sich in maßlosen
Gesten, weil der gewohnte Widerstand fehlte ; wie ein Körper, der
plötzlich in eine Atmosphäre ohne Schwerkraft geraten ist. Er
suchte die Grenzen seiner Kraft, die notwendige Hemmung und
er exzedierte im Suchen.
Endlich schlug er zu. Es geschah fast instinktiv, gehetzt,
den Widerstand eines Körpers ersehnend, wo alle Gesetze seelischer
Notwendigkeiten ihm versagten. Für seinen Gehorsam züchtigte er
den Knaben. Der schlanke Körper wand sich in Schmerz unter
seinen Schlägen, unter KUgen und Bitten. Aber jede Bewegung
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- 16 --
opießte die Qual, keine Zuckung bedeutete ein Auflehnen des
Gepeinigten.
Und der gebildete und selbstbewußte Mensch seines Jahr-
adintes, der er war, der Doktor Hans Ferdinand Werentin, erbebte
vor dem gemarterten Knaben und vor der eigenen, unheimlichen
Madit Zitternd, nach Atem ringend beugte er sich über ihn,
fohlte die Zeichen seiner Schläge und suchte nach dem unerbitt-
licbcn Gehorsam in den schönen Augen des andern. Er fand
3m wieder.
An jenem Abend wußte der Doktor Werentin, daß er einen
SUaven besaß.
Die Frau Rechnungsrat Werentin (Talhof'sche Linie) sagte
zur BauriLtin Berentin, ihrer erbittersten Feindin, ihrem ständigen
Vcrkdir:
»Mein Neffe ist' das Ideal eines ernsten, zielbewußten jungen
Mannes. Seine Sitten trifft keiner von den Vorwürfen, die man
gegen unsere Jugend erhebt Keine Liaisons, keine Beziehungen
zm* Halbwelt; bei seinem Einkommen ist das doppelt anerkennens-
wert Er versteht noch hauszuhalten. Sein Diener ersetzt ihm Wirt-
schafterin und Stubenmädchen. Da zeigt sich der Mann von Orund-
sitzen und Erziehung. Oute Vorbilder, die hatte er in seiner
Familie; das ist die Hauptsache. Seine Lebensführung entspricht
allen sittlkben Forderungen, die unsere Gesellschaft stellen kann.«
Die Frau Baurat hatte einen Sohn, auf den das gespendete
Lob gar nicht paßte. Sie nahm sich vor, der Sache auf den Grund
zu kommen.
Sie fragte viel, sie fragte jedermann. Sie verfolgte jede
weibUcbe Spur in der Nähe der doktorlichen Lebensführung. Sie
tat das Möglidie. — Aber der Doktor entsprach wirklich allen
sittlicfaen Forderungen, die von der guten Gesellschaft gestellt
vuiden.
Sie ist an einem Leberleiden gestorben. Ihre letzten Worte
richtete sie an ihren Sohn und die enthielten einen Hinweis auf
das ideale VorbUd.
Seit Wochen lag der Doktor zu Bette. Er war kraftlos und
abgezehrt. In dem stummen Kampfe mit dem Diener war er der
Schwächere geblieben. ^ .
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— 16
Nur Herrenrechte hatte er erkaufen können, at)er es fehlte
die alte Herrenkraft, sie zu brauchen. Er litt an seinem Herrentum,
während dem anderen die Sklaverei Lebensluft war. Die Wundmale
seines Körpers heilten schnell und die Demütigungen ließen keine
Narbe in seiner Seele zurQck.
Nach jeder dieser wahnwitzigen Schauübungen der Herren-
macht hielt sich der Doktor nur mit Mühe aufrecht. Er war er-
schöpft, wie nach einem Paroxismus der Leidenschaft und brauchte
Tage, um sich zu erholen. Der andere war nach Stunden wieder
wie stets; sein Blick wurde nicht trübe, sein Körper fiel nicht ab.
Qleich blieb sich sein Eifer und sein erbarmungsloser Oehorsam
gegen den kranken Oebieter. Entsprang er vielleicht dem Glauben
an die absolute Macht seines Herrn, der Furchi, der könnte ihn
nach Belieben von seinem Bette aus niederschießen? Wäre es
nicht in der Heimat gewesen und unter ihren Gesetzen, der
Doktor hätte es getan. Aus dem Triebe der Selbsterhaltung heraus
hätte er es wohl tun müssen, aus dem Gefühle, daß ihm
Körper und Geist zugrunde gingen an diesem Feind.
Er haßte den Sklaven jetzt nur mehr mit dem dumpfen
Haß des Besiegten. Je kraftloser er wurde, desto maßloser peinigte
ihn die verzehrende Lust, seine Macht zu üben, desto aufreibender
wurden die Orgien, die er diese Macht feiern ließ, desto teurer
mußte er sie bezahlen.
Der Doktor konnte das Bett nicht mehr verlassen. Überan-
strengung hatte der Arzt gefunden, körperlichen und geistigen
Verfall. Das Leiden jener, die an der Maßlosigkeit und Unbe-
herrschtheit ihrer Leidenschaften sterben. Die Rechnungsrätin hat
das nie begriffen.
Die Augen des Kranken ruhten in Haß auf der elastischen
Gestalt des Sklaven. Der wich nicht von seiner Seite, stets bereit,
aus Blicken und Lippenbewegungen die Wünsche des Gebieters
zu erraten.
Der Doktor starb an seinem Sklaven.
*
Otto Soyka.
y Google
— 17 —
Zwei Zmchriften.
Antwort ao Hmtb lUrl Borronuidiit Helorlch.
Sie laden mich unter anderm ein, die Briefe
Nietzsches an mich su veröffentlichen, indem Sie
Zweifel an deren Existenz äufiem.
Ja, bin ich denn Oberhaupt sur Veröffentlichung
berechtigt? Wenn ich nicht faJsch benachrichtigt bin,
so ist durch mehrere Qerichtsurteile fOr Deutschland
der Satz festgestellt worden: Das Recht der Ver-
öffentlichung von Briefen kommt nicht dem Empfänger,
sondern dem Absender und seinen Erben su. Folglich
stände es im freien Belieben des streitlustigen
Nietssche- Archivs mir einen Prosefi anzuhängen, ich
verspüre aber weder ein Bedürfnis nach Prozessen,
noch die Neigung, mir von den Hütern des Nietzsche-
Archivs eine gnädige Erlaubnis zu erwirken.
Hingegen erkläre ich mich gewillt, jedem an-
ständigen Menschen, der sich mir gebührend vor-
stellt, die Briefe zum Lesen vorzuzeigen.
Hochachtungsvoll
Carl Spitteler.
Sehr geehrter Herr Spitteler,
Herr Karl Kraus hatte die Freundlichkeit, mir
Ihre Antwort zu übersenden.
Es ist Ihnen durchaus nicht zu verdenken, dafi
Sie mit dem Nietzsche- Archiv keinen Prozefi wollen.
Aber: da sich Ihre Beziehungen zu Nietzsche
auf einige Briefe und Karten beschränkten, und Sie
entschlossen waren, diese Korrespondenz im Wortlaut
nicht zu veröffentlichen — wäre es vornehmer ge-
wesen, überhaupt zu schweigen.
Sie haben ohnehin in dieser Sache vor
Nietzsche viel voraus: nämlich, dafi Sie noch leben.
Der Tote kann sich nicht wehren. Er kann die
Sache nicht von seinem Standpunkt aus darstellen.
Darum tun in einem solchen Fall Dokumente
not, und nur Dokumente. ügizedby Google
- 18-
Und wenn Sie etwas gegen Frau Pörster-
NietsBSche auf dem Herzen hatten, so konnten Sie
dies Ihre Leser auf andere Weise wissen lassen als
in einseitigem Kampf ß:egen das Andenken eines
Verstorbenen, der Ihnen bei seinen Lebzeiten Qutes
erwiesen hat.
Hochachtungsvoll
Karl Borromaeus Heinrich.
Vom russischen Roman sagt Alfred v. Berger:
> Dieser tierische oder barbarische Realismus stobt
vor dem' Menschenleben wie ein Orang-Utan vor
einem Gemälde. Br sieht auf das schärfste und mit
minutiöser Genauigkeit die Farbenkleckse, aus denen
das Gemälde besteht, aber er ist unfähig zu erfassen,
was diese Farbenkleckse in ihrer Totalität bedeuten.
Wenn Tolstoi über Shakespeare oder Goethe spricht,
mufi ich, unbeschadet aller Ehrfurcht vor dem großen
Dichter, an diesen Orang denken. Nach dieser
Methode schildert er auch alle Kulturvorgängec . . .
Die Worte Bergers sind zufällignichtinder ,Neuen Freien
Presse' gestanden. Sie sind einem Artikel iGlossen
zu russischen Romanent entnommen, der auch eine
aufierordentlich gelungene Satire des Tolstoi'sohen
Tonfalls bringt. Ich will sie hieher setzen, denn sie
ist in der ,Osterreichischen Rundschau' (16. November
1907) erschienen, also bisher unveröffentlicht:
. . . Jakow Petrowitsch wurde von seinem Freunde in ein
großes Gebäude geffihrt, in dessen erstem Stockwerk sich eine
Reihe prächtig geschmückter und glänzend erleuchteter Säle be-
fand. In diesen Sälen stand eine große Anzahl von Tischen, die
mit weißen Tüchern bedeckt waren, und rings um die Tische waren
Stühle aufgestellt. Auf diesen Stühlen saßen viele Herren und
Damen, festlich gekleidet, als ob sie hierher gekommen wären, um
irgendeinem großen und geheimnisvollen feierlichen Vorgang bei-
zuwohnen. Doch alsbald bemerkte Jakow Petrowitsch mit Ver-
oogle
— 19 —
Hinderung, daß nicht alle Herren saßen, sondern daß einige, die
ebenfalls sdiwarze Fracks und weiße Halsbinden trugen, zwischen
den an den Tischen sitzenden Leuten und einer Tfire, die in dnen
Nebenraum ffihrte, eilig hin und her gingen, wobei sie in Qesichts-
ansdruck und Benehmen das Qef&hl großer Wichtigkeit ihres Tuns
zur Schau trugen. Ihr Tun bestand aber darin, daß sie den Worten,
welche eine der an den Tischen sitzenden Personen aus einem
«eißen viereckigeii Blatt ablas, mit großer Aufmerksamkeit zu-
hörten und sich hierauf durch die erwähnte Türe fortbegaben. In
der Zwischenzeit, bis sie zurückkamen, war auf den Gesichtern der
um den Tisch sitzenden Personen ein Ausdruck ängstlicher
Spannung wahrzunehmen. Die zurQckkehrenden Herren aber
brachten auf länglichen metallenen Platten dampfende Gegenstände,
stellten diese auf die Tische, worauf die um den Tisch sitzenden
BoBonen die dampfenden Gegenstände zerschnitten, die einzelnen
Teile auf runde Platten legten, die sie vor sich stehen hatten, sie
in noch kleinere Stücke zerschnitten und diese in den Mund
steckten, wobei sie die Kinnbacken rhythmisch bewegten. Dies
schien nicht leichthin, sondern unter Einhaltung bestimmter
Regeln zu geschehen. Als Jakow Petrowitsch einen der in Frack
gekleideten, zwischen den Tischen und dem Nebenraum hin und
her gehenden Herren um den Zweck seiner anstrengenden Tätig-
keit frag, erfuhr er, daß er dies tue, um ebenso, wie die an den
llschen sitzenden Personen, dampfende Gegenstände, in kleine
Stücke zerschnitten, in den Mund stecken zu können. Auch erfuhr
er, daß die zu den Tischen gebrachten Gegenstände Tiere oder
Teile von Tieren seien, welche nur zu dem Zweck mit vieler
Mühe und großen Kosten aufgezogen und ernährt werden, um in
getötetem Zustand den um den Tisch sitzenden Personen gebracht
und von ihnen zerstückelt in den Mund gesteckt zu werden. Die
Menschen aber, welche sich mit dem Aufziehen und Töten der
Tiere beschäftigen, tun dies auch nur, um selbst getötete und
zerstückelte Tiere in den Mund stecken zu können. In dem Neben-
num aber, in welchem große Hitze herrschte und ein starker,
unangenehmer Geruch die Luft erfüllte, befanden sich viele weiß-
gekleidete Personen, weldie viele Stunden des Tages und der Nacht
damit zubrachten, mit den getöteten Tieren allerlei, wie es schien,
höchst schwierig zn erlernende Prozeduren vorzunehmen, und
zwar auch, wie Jakob Petrowitsch zu seiner Verblüffung vernahm.
- 20 -
nur zu dem Zweck, um ihrerseits zerstückelte tote Tiere, nachdem
diese in ähnlicher, wenn auch minder schwieriger Weise zuge-
richtet worden waren, in den Mund stecken zu können . . .
»Man ist um den Preis Künstler, dafi man das,
was alle Nicht-Künstler Form nennen, als Inhalt,
als die Sache selbst empfindet. Damit gehört noian
freilich in eine verkehrte Welt.€ Nietssche.
»Im gansen ist es recht, wenn alles Grofie -
von vielem Sinn für einen seltenen Sinn — nur
kurs und dunkel ausgesprochen wird, damit der kahle
Qeist es lieber für Unsinn erkläre als in seinen Leer-
sinn übersetze. Denn die gemeinen Oeister haben
die häßliche Geschidkliohkeit, im tiefsten und reichsten
Sp/ucfa nichts su sehen als ihre eigene alltägliche
Meinung. € Jean Paul.
SittUchkeit nnd KriminaUtät.
Ich verweise auf das Vorwort, mit dem ich im
letzten Heft die Aktion der Notwehr eingeleitet habe,
und lasse den Abdruck der Besprechung folgen, die
ein mir unbekannter Kritiker in den ,61ättern für
Bibliophilen« (Berlin, Mai 1908) veröjffentlicht hat.
Diesmal also Selbstlob ohne Kameraderie.
Der geistreiche Herausgeber der .Fackel' reproduziert hier die
schärfsten und unterhaltsamsten Stücke seiner Essaikunst. Man glaube
nicht, daß es sich »nur« um eine brillante Qlosslerung von. Lokaltratsch
oder Sensationsprozessen handle.. Hinter diesem atemlosen Stil, diesen
wirbelnden Paradoxen erbaut sich etwas, das der Waschzettel ausnahms-
weise mit rechtem Namen zu nennen weiß: eine Weltanschauung, d. h.
die gesamte Wesenheit einer Person, die in der Tat mehr Parbnuancen
zu sehen weiß, als das bloße Lokalkolorit. Man wird finden, vielleicht
wo man's am wenigsten vermutet, daß sich plötzlich eine Weite auftut,
die sich' da hinaus erstreckt, wo wir alle nichts als Menschen sind.
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- 21 -
Das erzeugt ein Qefflhl, das ich nicht definieren kann; eine gewisse
Sidierheit. ein Erffilltsein bei dem ewigen Tasten nach Wahlverwandt-
sduft. Diese Befriedigung ist die höchste, die uns ein Buch gewähren Icann.
EHn Terkrachter Offizier ist der Zuhälter seiner
Tochter geworden. Das heifit: er legt ihr kein
Hindernis in den Weg, wenn sie den Beruf erß:reift
and ausübt, zu dem sie eine innere Bestimmung
f&hlt, und da sie ihn liebt, wie nur ein Kind den
Vater lieben kann, so sehafft sie dem Erwerbs-
unfähigen eiQ sorgenfreies Alter. Das Seelenheil
beider dürfte dadurch erheblich gefährdet sein, aber
das ist wohl eine Angelegenheit, die nur die
beiden allein angeht. Auch die Familienkuppelei, die
das Gesetz schwerer straft, ist eine Angelegenheit
des Privat- imd Familienlebens. Vater \md Tochter
haben sich unter den fürchterlichen Seelenqualen, die
die Prostitution und deren Duldung bereitet, an*
dauernd wohl gefühlt, und alles wäre in schönster
Ordnung gewesen, ttrenn nicht eines Tages, etwa nach
sechs Jahren, die Polizei auf das >Treiben< auf-
merksam geworden wäre. Die Folge war die Ver-
haftung des Vaters und der Selbstmord der Tochter,
die an dem Vater zärtlich hing. Die Polizei hat also
wie's im Bericht hei&t, »diesem Ghrofistadtskandal ein
Ende gemachte. .. Der Alte, der sich die^ Erlaubnis
SU den Sexualhandlungen seiner Tochter' abkaufen
Iftfit, mufi einem nicht leid tun; aber seine Lebens-
haltung hat kein öffentliches Interesse geschädigt. Um
das hübsche Mädchen ist schade. Solche Existenz ist
wertvoller als die eines Polizeikommissärs, und wenn
& wirkliish so wichtig wäre, wie er sich macht Weil
aber im Totentanz der Sittlichkeit immer die Dumm-
heit den Kotillon arrangiert, veröffentlicht die ,Neue
Freie Presse' einen spaltenlangen Artikel über die
Vorfahren des verhafteten Zuhtiters mit interessanten
Details über die Entwicklung der böhmischen Baum-
wollindustrie, und versichert zum Schluß, das Mädchen
Uigitized by VjOOQl'i
- 22 -
sei hochanständig gewesen. Auf die Anfrage eines
Mitarbeiters habe nämlich die Mutter bestätigt, dafi
ihrer Tochter Einladungen auf Einladungen suge-
kommen seien, >yon denen sie viele nicht annähme.
Ihre Tochter habe »streng daraufgesehen, dafi niemand
in ihren Schreibtisch Einblick nahm. Besuche habe
sie wenige empfangene. Sie könne nicht glauben, daß
ihre Tochter schlecht sei. Denn sie »sei stets mit
ihrem Vater ausgegangene . . . Einer unserer Mit-
arbeiter hatte also Gelegenheit, mit der Mutter zu
sprechen. Aber die Gelegenheitien, die der Vater ge-
macht hat, waren erfreulicher.
»Kein Raum der Welt wird von Ifistemer Indiskretion beharrlicher
umlauert als der Bflhnenraum, und keines Menschen Leben ist dem
Sensationsbedürfnis so grausam preisgegeben, wie das Privatleben des
Schauspielers. Und wenn Er nun gar eine Sie ist und obendrein ein
gefeierter Stern, dann ist kein Schlüsselloch klein genug. Die Literatur,
die ihre Stoffe aus solchen nicht immer ganz reinen Quellen schöpfte,
hat sich, wie es scheint, überlebt.«
Das war im ,Neuen Wiener Journals in einer
Burgtheaterkritik, zu lesen.
Herr Roda Roda, die unvermeidliche Begleit-
erscheinung der deutschen Literatur, hat mir in der
,MusketeS einem Witzblatt, das so recht zum öster-
reichischen Jammer gehört, die folgenden Verse ge-
widmet:
Der Kritiker Wiens.
Was ist der Offensive
Doch für ein seltsamer Gaudi I
Er sammelt Seldstmordmotive
Und macht davon keinen Gebrauch 1
Ein Leser macht mir nun den Vorschlag, so zu
antworten :
Der literarische August.
Wie witzig der Clown aller Laffen
Sich in der , Muskete' ergießt I
Als ob sich ein Sammler von Waffen
Deshalb mit den Waffen erschießt!
y Google
- 28 -
Und er läßt noch eine Ladung folgen:
Doch wenn auchl Gesetzt, daß Ich's tite
So viel steht jedenfaUs fest:
Dann gab mir eine Muskete
Voll Roda Roda den Rest.
O. A.
>... Im fibrigen jedoch mflssen wir uns diesem Oedipus gegenüber
ablehnend verhalten. Vielleicht haben wir morgen, wenn Herr M. im
.Ruy Blas' spielt, Gelegenheit, unser Urteil zu modifizieren.«
»Herrn M. liegt das Romantische offenbar besser als das Griechische,
and Vilctor Hugo naher als Sophokles. Seine Manier ist dieselbe, aber
im Rahmen dieser manirierten Dichtung stört sie weniger. Hier sieht
seine Unnatur oft wie Stil aus . . .<
> Immerhin überraschte Herr M. heute, zumal in den stilleren
Partien seiner Rolle, so am Beginn des berühmten Monologs und in
der Szene mit den Schauspielern d rch einen noblen Verzicht auf die
flun geläufigen Mittel der Deklamation . . .«
> Seine Mimik ist nicht eben reich, aber er weiß damit zu wirt-
schaften . . .<
Der Debütant heiftt Mounet-Sully, der er-
fahrene Kritiker Auernheimer.
Bülow und Münz hatten eine Entrevue in
Venedig. »yDurchlaucht^, sage ich, ,fa8t hätte ich ver-
gessen, Ihnen zu danken für das schöne Oster-
eeschenk, mit dem Sie mich von Berlin aus bedacht
naben — den zweiten Band Ihrer Reden/c Es ist
unbekannt, wer bei diesem Gespräch den Dolmetsch
gemacht hat. Der Fürst sprach deutsch, Herr Münz
nicht italienisch, also war die Verständigung schwer.
Übenetznng ans Harden«*)
Als der Maimond sich rundete
Unterm Wonnemond ein borus-
sisches Sodom bezetern
Im Mai
Im Mai ein preußisches Sodom
ausrufen
*) Siehe Nr. 251-252.
y Google
- 24 -
Der Lärm, der in den Brach-
mond hinaberhallte
Der Lärm, der bis in den Juni
reichte
Schimpf aus hundert Schreib-
stuben
Angriffe von hundert BUttern
Trügerkunst
Betrügerkunst
Skandalosa
Skandalgeschichten
Seine Auffassung nicht hehlen
Seine Auffassung nicht verhehlen
Die Moabiterbedrftngnis
Die Qerichtssaalbedrdngnis
Die angekündete Klage
Die angekündigte Klage
Der Liebenberger
Fürst Eulenburg
Nur auf diese Zeugen durften
wir uns am Mariahilfplatz
stützen
Nur auf diese Zeugen durften
wir uns vor dem Münchener
Gericht stützen
Onans Schatten schleicht durch
Schulen und Internate
In Schulen und Internaten wird
Onanie getrieben
Schnellschreiber
Reporter
Der oft gebüttelte Milchmann
Riedel
Der Milchhändler Riedel, der
oft mit der Polizei zu tun
hatte
Schritt vor SchriU
Schritt für Schritt
Die Kränkelnden
Die Päderasten
Der Skalde, Fasanenjäger und
Krückensimulant wird mit
seinem Qirren dem Reich
nicht mehr schaden
Fürst Eulenburg mag dichten,
auf die Fasanenjagd gehen
und Krankheit simulieren, er
wird mit seinem süßUdhen
Wesen an öffentlicher Stelle
keinen Schaden mehr stiften
Vier Häupter sanken bleichend
vom Rumpf. Nur ein hehrer
Held bleibt dem berliner Preß-
troß. Er mag ihn wahren
Vier Personen sind unmöglich
gemacht. Noch Einer, dt
die Berliner Presse fi
einen Helden ansieht, i
übrig. Sie möge auf ihn achi
geben
Henmssebcr nnd venukvortUcber Redaklau-: Karl Kraut.
Oracle von |ihoda * Sitgel. Wien III. Hinlete ZollantMlraBe 3.
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DI!
KARL KRAUS
icü&uii u iwangioser folge Im Dmfaitj lon 16
^6 Nnmmrni.
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Sad, Buda;
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Maschinschreibstube SCRIPTOI
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WIEN VII. KIRCt"'^
iinschreibarbeiten nach Diktat, "
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adressieren. Unverlangte Manuskripte, dt
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redaktlonelld nielit an den ¥«rlag gelaogan n Iibs
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OBSERVER, Wien, ■ "— -dlaplati Rr ' '"-'
[dff7.fit!in<«isn?schnittcüberjei. ..htcThem
i,e Humoresken,
K. Hl
H^ ROBERT SCHEU,
VA]
Sache Verleger
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Karl Kraus:
Eine Erledigung. Ein Nach
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Die Fac
Herausgeben
ARL KRAUS.
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r^ iirardi osd Kainz. — Oloesen.
- QottMurteil. '<
ti - Tasrebuch. Voi
r> Eolenbnrgi Briefe.
iiu^e auB Harden. — Von dör deuUcIien"
Schmaoh. ^''^^^ u'^^ri i^r-, ,..
reoheint in swangloser Folge.
iüRiBIffei Veridbefl terboieni t«1clitiicbc Verfotfust
TorfaebtltM.
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zweiter Auflage erschieni
iittlichl(eitu.Kriminalii
land der Ausgewählten Schrift!
von
K 7.20
„ 8.70
Igen auf (uis iiu Verlag der
T31ung L. Rosner, Wien und Leij
schienene Werk nimmt jede
»A VI.i 4 «.^ Kj y^'
;wie. dei' Verlag
Die Fackei;
Nl.XM-55 WIEN« 21. MAI INI X.JMR
DaS der deutsohe Kaiser in seiner Ansprache
das Wort »Untertanenc gebrauchte, hat niemand
Terblfiflt Blofi Sosialdemonaten könnten daran An-
^8 nehmen, aber das Volk rauft sich bei solchen
Anlassen um dieBhre, aus Untertanen bu bestehen.
Vestroys »Freiheit im Krähwinkelc wird« jetzt von
einem sosialdemokratischen Verein aufgerahrt, in der
irrigen Annahme, das Werk sei eine Satire auf die
Beaktion. In Wahrheit ist es eine Satire auf die
Bevolution. Es ist also ein vortrefflicher Einfall,
:sie gerade jetzt aufzuführen. Denn wir haben
•nie in einer untertänigeren Zeit gelebt. Einst hätte
das Volk die ewige Seliekeit £irum ffegeben, so
Tasoh wie möglich zu enahren, was die Bundes-
ffirsten gefirühstückt haben. Jetzt wird sein Tatsachen-
^hunger binnen ein paar Stunden gestillt. Die Geistes-
armut hat endlich ein Vehikel, mit dem sie rascher
vorwärts kommt als im Vormärz: die Presse. Nur
«darin besteht der Fortschritt. Die Gesinnung ist die
gleiche, wie in den Zeiten, die Offenbach meint,
"Wenn er den »absoluten Souverän« versichern läfit:
Ich bin satt.
Meine Herrn,
Ich bin satt -
Kann man mehr noch begehr'n?
«nd gnädig zugeben:
Wenn ich's sein Icann,
Der Untertan
Es auch sein kann.
So dann und wann.
8 ist die Stimmung des Wiener FOrstentags. >Gham-
pier zu schlürfen — haben's zuschauen dtUrfenc.
er »werden Leu wagt zu wecken, der kriegt's mit dem
)ckenc. Die Väter stehen von Früh bis Abend Spalier^
Jigitized by vji
^ 2 -
und'irean^mbeivahommen jond den Kindern erzählen
k#xuie^ daft sie. den kaminerdiener^ des Erbprinzen
von Mecklenburg gesehen haben^ so leuchtet's in
Aller Au^en, und es bleibt eine Erinnerung für's Leben.
Das ist ein alter Satirenstoff, aber er wird nie aus-
gehen. Das war so, ist so und wird so sein, durch
alle Entwicklung der sozialen und der politischen
Phrase.
Trotzdem hat der Tag der Bundesfürsten Über-
raschungen mancher Art geboten. Wenn man nämlich
das Bild der Welt aus der Schmockperspektive an-
sieht. Voj^ der Rede Wilhelms II. hieß es: »Volle
Strahlenbündel seiner starken Beredsamkeit hat der
deutsche Kaiser auf die Person des Kaisers Franz
Josef gerichtete. Diese Lichtkur ist aber noch gar
nichts neben den anstrengenden Prozeduren, die an
diesem Tage allerorten vorgenommen wurden. In
Schönbrunn, jenseits der Schloß brücke, erzählt der
Berichterstatter der ,Neuen Freien Presse* (der diesen
Vorgang auch schon auf Hofbällen beobachtet haben
will), »massierte sich das Publikum, das von den
frühen Morgenstunden an zusammengeströmt war«.
Nun ja, wenn man lange steht, wirkt ein wenig
körperliche Aufmischung wohltuend. Und nicht nur
in Schönbrunn; denn wir erfahren, dafi das Publikum
sich auch »vor imd hinter dem äußeren Burgtor
massierte. € Aber nicht nur das Publikum suchte
sich aut diese Art vor dem Einschlafen der Glieder
zu schützen. Man höre und staune: »Weiter imten
massiert sich die glänzende Schar der Obersthof-
meister, der Kammervorsteher, der Hofdienste, und
zu dem Goldglanz der Uniformen gesellen sich die
weichen Farben der Toiletten, in denen die Hofdamen
der Erzherzoginnen erschienen sind.t Ob man es
hier mit einem Akt hygienischer Vorsicht oder mit
einer neuen Form der Huldigung zu tun hat, oder
bloß mit einem Versuch, für die Sache der unter-
drückten Masseusen zu wirken^ ist ungewiß. Jeden-
y Google
- 8 -
&Ib war es ein Bild, wie es nur die ,Neue Freie Presse'
entwerfen kann. Sie hat uns freilich in der Erwartung
enttäuscht, eu erfahren, ob sich auch die Bundes-
fürsten massiert haben. Dagegen läfit sie aus Rüpk-
sicht auf diese beim Dejeuner »Toumedos ä l'AUe-
magnec auftischen. Der patriotische Küchenchef
nämlich, der 1866 nicht verwinden kann, hatte auf
die Karte geschrieben: »Tourne dos ä 1' Allemagnet.
«
Wenn ein Peuilletonist zu schildern anfängt, so
kann man nie wissen, obs der deutsche Kaiser oder
ein italienischer Tenor wird. Das mag nicht so weit
aoseinanderliegen, aber die Nuance ist doch eine
Terscbiedene. Nun ist der Vorrat an den von Herr-
schaften abgelegten Beobachtungen kein allzu großer.
Die meisten der geschilderten Persönlichkeiten müssen
»dampfenc oder »brausenc »Ein brausender Kaiserc^
wird versichert, sei »etwas so Seltenes, dafi Jahr-
hunderte vergehen können, ehe die Welt wieder
einen su schauen kriegte. Wenn man aber auch über
die anderen Bundesfürsten ein Feuilleton zu schreiben
hat? Dann, in Gottes Namen, »brauste auch »im
König von Württemberg eine Lebenslüste, dafi es
seine Art hat. Und wo alles braust, kann vermutlich
anch der Bürgermeister von Hamburg nicht ruhig
bleiben. Dafi sich inswischen das Volk massiert, ist
nur in Ordnung. Denn vom Stehen sind ihm ohne-
dies schon die Füfie eingeschlafen, und jetzt soll
es auch noch die Beschreibungen lesen. V
Der Fürstentag bot aber sogar den Eingeweih-
ten Dberraschungen. In der Politik empfindet näm-
lich immer auch der die Überraschung, der sie in-
szeniert. In Berlin wird »an mafigebender Stellet dem
Korrespondenten »erklärt, dafi die Vorgänge in Wien
in hiesigen amtlichen Kreisen einen tiefen Eindruck
gemacht haben, und dafi man, wie Baron Aehrenthal
an den Fürsten Bülow geschrieben, den heutigen
y Google
— 4 —
Tag auch hier als einen denkwürdigen betrachtete
Besonders wird auf die »warme persönliche Note in
den Ansprachen der beiden Honarchenc hingewiesen
und auch auf »die hohe AuSEeichnung, die dem
Fürsten Bülow 2u teil geworden und die Baron
Aehrenthal in einem l^hreiben von besonderer
Herslichkeit dem Reichskanzler mitgeteilt hat«.
Man hatte in den Ämtern offenbar gefflrohtet,
dafi die Reden anders ausfallen würden, ids sie auf-
gesetzt wurden, und daft der Baron JUirenthal dem
Fürsten Bfllow einen groben Brief schreiben werde . • .
Die Politik macht £e Welt zur Einderstube. Die
Grotten wissen genau, was am Weihnachtsbaum
hängt, aber wenn die Tür geöffnet wird, müsaeu sie
doch »Ahl« sagen. Sonst hOren die Kleinen auf,
ans Ghristkindl zu glauben.
E. E.
Girardi und Kainz.
Herr Kainz hat den schlechten Geschmack, in
der Stadt, in der Girardi den Valentin gespielt
hat, in den Tagen, da Girardi in Wien wieder auf-
tritt, den Valentin zu spielen. Ich habe nie verhehlt,
dafi ich den Mann, dessen Atemtechnik ich ehrlich
anstaune wie nur die Spezialität eines Dresseurs,
Jongleurs oder Equilibristen und dessen Fähigkeit
mir nach dem Variete zu schreien scheint, für einen
der unglücklichsten Schauspieler halte. Aber ich habe
vielleicht seinerzeit, als Herr Eainz dem Burgtheater
den Valentin antat, nicht entschieden genug gegen
diese Eränkun^ protestiert. DaB Herr Eainz es jetzt
wieder wagen konnte, mit seinen Eopflönen in dies
friedlichste Heiligtum gjemütvoUer Darstellung einzu-
dringen, dafi er dazu eine Bühne, eine Galerie und
eine Presse fand, zeigt, wie die Echtheit im Eunst-
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- 6 -
empfinden dieser Stadt auf dem Erepieretandpunkt
angelanirt igt. Bin Kritiker benfltst die Gelefrenheity su
▼errichem, der Mann sei swar »immer scnlicht und
gemQtstief«, aber spiesiell >bei der Entfaltung; von
Valentins Dienertreuec finde er »Töne, die tief ins
Hers dringent. Was mufi das für ein Hen seinl Ein
andrer will gar eine »beswingende und bsorflckende
Fülle« Ton Gemflt und Seele entdeckt haben. Das hat
Herrn Elaina noch niemand nachgesagt I Aber so^riel
KunstTerstand besitat er gewifi, sich für den Reaensenten
zu schämmi, der von ihm gesagt hat, er habe
in manchen Saenen» Girardi »überragt«. Diese Be-
reitwilligkeit, am Mangel au vollem und an der
Fülle EU hunffem, ist auf dem weiten Erdenrund nur
in dieser Stadt anautreffen. Ich wünsche es ihr von
Henen, daS sie den reichsten theatralischen SchOpfer
ihrer Qemfltsaone verliert, dem in kälterem K&mm
die besten kritischen Kenner gehuldigt haben. Er
hat es nicht notwendig, sich von Reportern den
Mangel literarischen Elvgeiaes vorwerfen au lassen.
Er &rf sich auch vor Un^esoeenheiten schütaen,
die im Dienste der joumalistisdien Kulissenpolitik
begangen werden. In Berlin, der Zentrale des Ute*
ransdien Snobismus, hat man noch immer mehr Ver-
ständnis für die Eigenberechtigung eines schöpferischen
Schauspielers. Mit dem Trottelgerede von dem niedrigen
literarischen Niveau^ auf dem Oirardi siefft, verschont
man ihn dort, weil man wcdfii wie spärlich die drama>
tischen Gelegenheiten sind, die auf der Höhe der
£unst dieses Darstellers stünden. Wenn er sich von
einem Buchbinder einen Pappendeckel liefern läftt,
80 bleibt er ungebunden; nie vermöchte ein grofier
Künstler uch selbst ausauschöpfen, wenn er zugleich
einer anderen künstlerischen Persönlichkeit diente. Soll
die Literatur auf die Bühne gehören, dann dient
ihr im besten Fall d^ Regisseur, der ein mittel-
mäSiges Ensemble in der Hand hält, aber nie die dar*
Stellerische Individualität Neunaelmtel Shakespeare
wird an dem grollten Schauspieler auschanden. Das
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hat Goethe erkannt^ aber ein Wiener Reporter würde
es nicht sue^eben. Herr Reinhardt in Berlin, heifit es,
habe eigens für Qirardi einen Nestroy-Zyklus arrangieren
wollen^ und Girardi zog einen Buohbinder-Zyklus vor.
Wer die Anklage liest, mufi davon überzeugt sein,
dafi Girardis objektiver Geschmack die Wahl getroffen
hat. Dafi er Herrn Buchbinder fttr eine bedeutendere
Erscheinung hält als Nestroy, wird über allen Zweifel
ges^Bllt. Ich halte nun jenen für einen szenischen
[andlungsgehilfen und diesen für den tiefsten satiri-
schen Denker, den die Deutschen nach Lichtenberg
gehabt haben (in seiner Nähe den Namen Heine zu
nennen, empfinde ich als Blasphemie). Wie hat dieser
aufierordentliche Geist auf der Bühne geschaltet? Er
stellte sich an die Rampe einer gleichgiltigen^ fran-
zösischen Possenhandlung und lieft an ihr seine Lichter
aufflammen. Trotzdem blieb es noch dunkel. Denn
seine Blitze zwingen den Leser zur Bewunderung, im
Theater wird — durch die Nestroy ähnlichste Darstel-
lung — kaum mehr als das Ergötzen an der lustigen
Situation lebendig. Philosophischer Witz, aphoristisch
erhöhter Humor — ich kann mif* nicht denken, dafi
selbst das aufnahmsfähigere Publikum des Schau-
spielers Nestroy auf der Höhe gestanden hat, die von
einem Erfassen solcher Geistigkeit vorausgesetzt wird.
Wie gestaltet Girardi? Er ist nur Schauspieler. Er
nimmt eine gleichgiltige Possenhandlung und zeigt
an ihr- seine Wunder. Sie sind anderer Art als die
Nestroys, unvergleichlich bühnenhafter. Er spielt
an einem Schund sich selbst. Es ist die törichteste
Meinung, dafi er mehr böte, wenn er Nestroy spielte,
weil er dann weder Nestroy noch sich selbst spielte.
Girardi ist ein wienerischer Typus für sich, der viel-
leicht von der Raimundseite kommt und sich gewifi an
keinem Punkt mit der Welt Nestroys berührt. Dafi er
die Aphorismenkette des komischen Raisonneurs, der
aus dem ureigenen Nestroy'schen Geist redet, nicht
abhaspln könnte, versteht sich; aber er wurzelt auch
außerhalb der breiton Komik der zweiton Figur der
— 7 —
Nestroy-Welt, des Soholzisohen Typus, Er ist eben
Girardi selbst, der am Anfang einer Reihe von
Komikern steht. Da er nicht Possen schreibt, mufi er
sie sich liefern lassen. Notwendig hätte er es nicht; er
schafft; ja doch aus dem Stegreif. Aber es gehOrt der
ganze literarische Snobismus der Reinhardt-Qesellschaft
und ihr ganses Nichtverständnis fQr theatralische
Individualitäten dazu, Qirardi einen Nestroy-Zjklus
zuzumuten. Ein yoUkommener Routinier wie Herr
Thaller, der die überkommene Form des dünnen
Sprechkomikers beherrscht, ist als Weinberl, Eampl,
Ultra, Titus Feuerfuchs durchaus glaubhaft. Was sollte
einer, der völlig anders ist als Nestroy und dabei ein
Eigener, mit diesen Gestalten anfangen? Die Theater-
fremdheit hätte Recht, wenn sie Herrn Thaller in solchen
Rollen über Girardi stellte, ganz so wie sie einst Herrn
Schweighofer gegen ihn ausgespielt hat, der auch
nicht mehr war als der gewandte Faiseur einer ge-
gebenen Tradition. Girardis Popularität ist auf den
ersten Blick unbegreiflich. Die Eigenen sind sonst
immer im Nachteil ; besonders in der Literatur, wo sie
sich selbst statt der »Sache« dienen. Dafl Girardi
trotz seiner imerreichten Feinheit und Selbst-
kerrlichkeit beliebt werden konnte, beweist, dafi
2u den Dingen der Theaterkunst das Publikum
immerhin noch jene Beziehung hat, die ihm zu
den anderen Künsten fehlt. Die Journalisten haben
2u nichts Künstlerischem eine Beziehung. Darum ist
es möglich, dafi sie Girardi zu einem Nestroy-Zyklus
zureden und Herrn Kainz in .einer Raimund-Rolle prote-
gieren. Einen Valentin Girardis, in dem dann ausnahms-
weise die schauspielerische imd die dichterische Per-
sönlichkeit zusammenfliefien, können wir leider nicht an
jedem Tag sehen. Hat er ihn aber einmal gespielt, so
bleibra uns die Thränen für ein Jahr in den Augen,
und unvergefilich hallt die Aufforderung des Todes in
uns weiter. Springt Herr Kainz ein, dann leg' ich
meinen Hobel hin und sag' der Welt adel '
Karl Kraus.
• ♦ üigitizedby Google
— » —
Ein Bild dieser Welt In der Oeriohtssaalrabrik
ein ProEefi wegen Verführung unter der Zusa^ der
Ehe: »Und so entstand aUrnfthlich eine Liebes-
beriehung, bei der immer ihre Ehre streng gewahrt
blieb.t »Die Besiehune zwischen dem Paare blieb
nun dieselbe, an Inni^eit naturgemäß sunehmend,
aber doch in bestimmten Qrensen bleibend.€ Da —
in Steinamanger ffeschah es: er unternahm »einen
Verführungsversuch in illoyaler und verwegener
Weisec. Trotzdem: »sicher ist eines, dafi das Mädchen
unbescholten heims^ekehrt war und daft er sich
nach acht Tagen mit ihr verlobte, womit er ihr ein
Zeugnis gab, daft er sie der Achtung mehr als je
wert halte.c Es versteht sich von selbst, dafi er sie
anspucken würde, wenn sie ihm damals den Gefallen
getan hätte. Aber er hOrt nicht auf, sie auf die Probe
zu stellen, ob sie seiner Achtung wert sei. Endlich
brinfft er sie doch »zu Fallet. Nachdem sie ihm einen
so klaren Beweis niedriger Gesinnung ^liefert hat,
kann von einer Heirat füglich nicht mehr die Rede sein.
Trotzdem »schenkte sie ihm noch etwas, nämlich ein
Kind. Er will aber mehr, nämlich Geld. Das braucht er
für eine Reise, um sich mit einer andern zu verheirateiv
Das Gericht verurteilt ihn. Mit Unrecht. Er hat nur
die Eonsequenz aus einer Moral gezogen, die in ihrer
Terminologie des Lebensgenusses Worte wie: »Ehrec,
»unbescholtene und »Achtungt hat . . . Überschlagen
wir das unerfreuliche Zeitungsblatt. Auf der letzten
Seite feiert die bürgerliche Gesellschaftsordnung
Frühlingserwacben. Denn dort wünscht sich ein
»fescher Engrossistf mit einem vermögenden Fräulein
zu verehelichen und erbittet Anträge unter »Mai-
glOckchent.
Jetzt könnte Herr Tuselli seine Daseinsbe-
reohtiRung erweisen. Wann sollte denn die Gelegenheit
zum Ohrfeigen gegeben sein, wenn nicht in diesem
Falle? Die ,Neue Freie Presse^ läfit sich aus Florenz
depeschieren, die ehemalige Gräfin Montignoso sei
— 9-—
Ton einem Knaben entbunden worden: »das freudig»
]Breigni8 wird aber noch g^eim gehaltene. Und dSe
^Zeit' setst bu ihrer Depesche mit jener vielaagenden
Ruhe, die selbst das flbliohe »Kommentar aberflOs-
«ig€ versohluckti himsu: »Die^Hoohseit der OrAfin
Montignoso mit dem Pianisten Enrioo Toselli fand
am 27. September 1907 in London stott« Mutter, Kind
und Herr Lippowiti befinden sich wohl
Dafl eine Qummikrise in Rio de Janeiro nicht
<eine>Qummikrisein Argentinienc ist; dafl der Thron-
f ol^ nicht gleichseitig »in der deutschen KOrassier-
imiformcy die weifl ist, und »in der bbuen UUanen-
uniformc gesehen werden kann; dafl aber die Be*
•deutung des toten Ludovic Hal^ry nichts gesagt
ist^ wenn man das Urteil Hanslicu über »O^heus
in der Unterweltc sitiert imd dafl dieses Buch dem
Toten »die Unsterblichkeit in der Geschichte der
Operettec nicht sichern kann, weil es ntmlich von
Hektor Grömieux ist — all dies ist gewifl belanglos
vnd neben der js^roflen Kulturrerpestun^, die too
4er ,Neuen Freien Presse' ausgeht, em kleiner
JfaageL Ich weifl sufilllig, von wem »Orpheuse
ist^ aber wenn man mich, ehe mich Leser autUärten,
auf den Kopf su gefragt hätte, wo Rio de Janeiro
liefft ubd wie die deutsäe Ktkrassieruniform aussieht
imd ob man sie nicht auch als Uhlanenuniform
auffassen kann, ich hfttte den Frager ent-
geistert angestarrt. Wo mir der Bhrgeis fehlt,
au wissen, fehlt mir auch die Pflicht. Wohl
aber intereesiert es mich gelegentlich — Ge-
legeiAeit wäre täglich — 2u aeigen, wie die Presse
auf ihrem ureigensten Gebiet, dem der tatsäch-
lichen Auüichlfisse, ihren getreuen Geistesmob in
die Irre f&hrt Und wie unerschflttert der Glaube an
die OflTenbarungen einer Pythia bleibt, die ftr das
Geschäft weiter nichts mitbringt als ihre Ignorana.
y Google
— 10 —
Gegen den groben Unfug, die Operette des
Herrn Julius Bauer durch eine Serie Yon En suite-
Durchfällen in ein Jubiläum zu bugsieren, wendet
sich mit Recht der Musikreferent der ,Arbeiterzei-
tung^ Trotzdem kann er nicht umhin, Herrn Bauer
neben seinem Librettistenberufe einen Schriftsteller
und zwar einen ungemein witzigen zu nennen, »einen
scharfen und scharfsinnigen Kritiker, der in ernsten
Kunstdingen sein vielbeachtetes Urteil abgibtc. Er
fordert i&i auf, sich die unwürdige journalistische
Kampagne für seinen Operettenschund im Interesse
der Standesehre zu verbitten. An den »ernsten
Schriftistellemc selbst liege es, diesem Treiben Einhalt
zu gebieten. Sonst riskiere der Stand das Mißtrauen
des Publikums \md die »Verdächtigungen der publi-
zistischen Harpjen, die uns unser tägliches Brod
beschmutzenc.Man schickt mindieNotizein,alsosoUwoIÜ
ich getroffen sein« Daß meine Verachtung jenes geistigen
Handwerks, durch das sich ein »tägliche Brod ver-
dienen läfit, auch der sozialdemokratischen Journa-
listik eilt, daraus habe ich nie ein Hehl gemacht.
So viel Besinnungsfähigkeit hätte ich ihr aber trotz-
dem zugetraut, dafi sie nicht in einem Atem einen
Hoohaeitshumoristen einen ernsten Schriftsteller nennen
und über meine Tätigkeit mit jenem verunglückten
Vergleich zur Tagesordnimg übergehen könne. Von
musikalischen Dingen verstehe ich nichts und es
wäre immerhin möglich, dafi einer blofl deshalb, weil
er Bach heifit, noch nicht mehr davon verstehen muß
als * ich. Aber ich möchte es Leuten, die keinen
geraden Satz zustande brii^n, doch dringend raten,
von schriftstellerischen Dingen ihre Meinung zu
lassen. Diesem und den jungwiener Qenossen. Was da
in Wien geistig herumkrabbelt, davon lasse ich mir
wirklich nicht einmal die Ferse jucken. Es sind
Läuse im deutschen Blätterwald oder, wenn's hoch
geht, Wanzen aus Heines Matratzengruft.
y Google
— 11 —
Ein Schmersensschrei des Festeugspräsidenten:
»Ursprfln^idi dachten wir an einen Fassungsraum sämtlicher Tri-
bünen fflr 180.000 Personen. Da kamen die Behörden und reduzierten
dea Fassongsraum, so dafi nur Plätze für 88.000 Personen Übrigblieben , . .
Zur Zeit des Makart'schen Festzuges hatte Wien eine Bevölkerung von
einer Million Seelen. Damals gab es Tribünen für 75.000 Menschen.
Hente, wo Wiens Einwohnerzahl zwei Millionen erreicht, will man
bloß 88.000 Menschen auf den Tribünen dulden (<
Es ist unfflaublicii, wie einsichtslos die Behör-
den sich der ]|&twiokIung entgegenstellen. Dafi mit
der Zunahme der Bevölkerung auch eine Steigerung
dea Bedürfnisses, einen Festsug anssusehen, Hand in
Hand geht, ist klar. Nur ein Qedanke beherrscht
heute die Bevölkerung: Dabei sein! 1908: Zwei Hil-
lionen Seelen und ein Gedanke!
m ■
Prfthlinga Brwmohen.
Einen Orufi an Frank Wedekind, geschrieben
nach der ersten Auffühnmg der Dichtung im Deutschen
Yolkstheater, bittet mich ein junger Student su bestel-
len. Er verdient als Ruf des Dankes der in Finster-
nissen erkannten Jugendseele gehört au werden. Und
gewift durch die Vermittlung der ,FackeP. »Denn von
wo ausc, heiflt's in dem Begteitbrief, »könnte ich den
Dichter besser grüflen, als von dem Orte, wo Sie so
oft für ihn die ... . Waffe Ihrer Feder führten !c
Ein Doraengarten wächst, von Rosenhecken,
Von heuchlerisdien, leuchtenden umblüht:
Dort spielen Eltern leichten Sinns Verstecken
Mit ihrem Kinde, das vom Suchen glüht
Und blutend von der Dummheit Peitschenhieben
Und unter unerhörten Lasten jg[eht.
Und dessen Fffihlingriiassen, Frfihlingslieben
Kein Menschfacitaffihrer gfitevoU verstellt ^
Das ist di« Jugend, die wir alle trugen '
In Jenen gar nicht fernen Knabeojahren,
Wo dürre Lehrer unsere Sinne schlugen,
Weil sie dem warmen Leben nahe waren,
Weil sie der Zeugung Wunder heißer priesen
Als Zeugniswunder, als den Vorzugsgrad
Und uns zu Höhen und in Tiefen wiesen,
Dfe eines Lehrers Fuß noch nie betrat.
y Google
— w —
Und nun kamst Du! Mit dicbteistarken Hfinde»
Rissest die LögenhQIle Du herab,
Um den Erwachenden den Trost zu spenden^
Den niemals so noch ein Erwachter pib.
Ich srfiBe Dich aus meiner tiefsten Seele!
Denn was ich litt — bei Dir flewanns Gestalt
Und meiner ersten Jugend »Scnukl und Fehle«
Hat gestern wieder. mir ins Herz geballt
Zwar, Hänscfaen Rilow durfte nidit er^dnen,.
Und Hinsehen Rilow hab' idi gar so lieb;
Doch könnt* ich über Mekfaiois Mutter weinen^
Die ihrem Sohne keine Mutter blieb.
Und Wendia, Moritz, sah ich, denen beiden
Der erste FrOhlingsbraus das Leben schließt
Und sah — Dich selbst mit einem Ucheln scheiden^
Das freilich mir nodi unerreichbar ist.
Und sah nodi eins: Die Herrn in Frack und Smoking,,
Die Damen mit dem Msten DecoUeti
Empfanden Dein Gedicht als äußerst shötang
Oder ab angenehmes frissonner.
Nun, ihre Herzen haben dicke Bäuche
Und ihre Triebe sind sdion etwas matt
Und Jugendldd und -Lust ist Ihnen Seudie,.
Und Hunger stört sie nicht. Sie shid ja satt.
Ich aber habe das nodi nicht vergessen,
Was mich des Keimens Tage dnst gelehrt.
Und wie ich mich, verzwdfehid. alles dessen,.
Was mich zu Boden drfickte, nidit erwehrt.
Denn sind auch heute andere Qualen da,
Die mir des Maien holden Tag umnachten.
So sind dodi jene noch mu* traumhaft nah,
Die vor der Liebe mich unselig machten.
Wien, 10. Mai 1908. Oskar Jellinek
Eine andere Eundeebung der Jugend, eine
lidealerec, mehr aus dem ^hulbtloherverlag beioff|rae«
Sie spielte sich' während einer Vorstellung yon »Wil-
helm Teilt im Deutschen Vclksiheater ab. Bin
Mädchen sprach <
Hochverehrter Herr Direktor 1 Durch Ihren liebenswfirdigien Ent-
schlttfi, im JttbiUumsiahre Sr. Mtjestit nnseret Kaisers eine Reihe voa
klassischen Vorstenungen fflr Schfller zn geben, haben Sie ehiem grofiea
Tefl der Wiener Schuljugend eine anfierordenüichc Fieiide bereitet.
Noch stehen wir unter dem mAchtigtn Etodmcke der BegelstefMg^
y Google
— 13 —
welche die Worte unseres LlebUngsdichters in unserem Oemflte hervor^
riefen, und frohen Herzens danken wir im Namen unserer Mltschfllerp
dafl wir Qdegenbeit hatten, hier diesen weihevollen Worten lauschen
lü können. Durch künstlerisches Wirken haben die hochverehrten Damen
and Herren die idealen Oestalten unserer Klassiker unserem Verständnis
nähergebracht. Wir haben den Geist des Edlen und Outen, der aus den
schönen Worten unserer Dichter weht, tief empfunden, und wir geloben«
uns dadurch ein Beispiel zu nehmen, nur Wahres und sittlich Gutes zu
wollen zur Ausbildung unseres Charakters. Die Liebe zu unseren
deutschen Dichtem ist neu entfacht und gestflrkt, und sie wird uns eine
nie versiegende Quelle der Kraft sein, welche wir in späteren Jahren
zom Helle unseres, des deutschen Volkes verwenden wollen|l
Aber noch aus einem anderen Grunde danken wir Ihnen hochverehrter
Herr Direktor, aus vollem Herzen. Wir wissen, daß der Reingewinn
dieser Vorstellungen dem Ottakringer Lehrerhilfskomitee zufließt, welches
denselben zur Beköstigung armer Schulkinder verwendet. FQr die armen
hnngemden Kinder, denen der Segen Ihres Wirkens zugute kommt,
dankt Ihnen unser Kindermund mit einem aufrichtigen Vergelts Gottl
Wir bitten Sie, hochverehrter Herr Direktor, diese Blumen gütigst an-
zunehmen. Die Kinder des Frühlings seien Ihnen ein Zeichen un-
serer Dankbarkeit, ein Sinnbild unserer Verehrung. Möchten Sie der
Jugend, der Schule auch fernerhin Ihr Wohlwollen, Ihre QQte erhalten!
Was soll aus einem jungen Mädchen werden,
das sich an dieser Phrasenunzucht des Edlen und Guten
heranbildet, das in einer feierlichen Ansprache die
»Ausbildung des Charakt^rsc gelobt, die Blumen
»Kinder des Frahlingsc nennt, selbst zugibt, dafi es
einen Kindermund habe, und durch > denselben c den
Herrn Weisse, den Vater der Jugend, zum Schutze
nationaler Interessen anruft? Man müßte > Schul-
männer c, die ein armes Geschöpf zu solch wider-
natürlicher Betätigung zwingen, auf Erbsen knieen
lassen I Ist eine Vorstellung von »Wilhelm Teile für
die Entwicklung der jungen Mädchen imerläfilich, so
sollten doch mindestens derartige Possenauftritte
hinter den Koulissen und deren Bekanntmachung
durch die Theaterreklame erläfilich sein. Am Abend
spielen sie »Frühlings Erwachene und am Nachmittag
mufi Wendla an Phrasen glauben, die ihr der Lehrer
Affenschmalz aufgesetzt hat.
Was aus einer Jugend wird, die solche An-
sprachen hält? Wenns ein Knabe ist, so wird er
y Google
- 14 -
»Schriftsteller«. Er hält dann — wohlgemerkt, in einer
Zeitung, nicht vor dem Grab — einen Nachruf für
einen verstorbenen Tbeatersekretär, in dem die fol-
genden Sätze stehen, die, hol mich der Teufel, schon
einmal seit der Erfindung der deutschen Sprache in
Verwendung gebracht sein müssen:
Ein Leben, das in strenger und von wirklicher Liebe zum Berufe
durchdrungener PfichterfüUung aufging, hat einen jähen und ergreifen-
den Abschluß gefunden ... Er stand nicht auf einem beneidenswerten
Posten. In schwerer Krise hat er die Leitung des Raimundtlieaters
übernommen, bereitwillig in die Bresche tretend, die durch den Abgang
Direictor Lautenburgs entstanden war. So gelang es ihm, das ihm an-
vertraute Fahrzeug zwischen Klippen und Untiefen hindurch in ruhi-
geres Fahrwasser zu lenlcen, und es war seine innigste, leider die letzte
Freude seines Lebens, den Stern des Raimundtheaters in freundlicherem
Lichte erglänzen zu' sehen ... So wenig er bestrebt war, seine
Person in den Vordergrund zu schieben, so sehr mag er sich darüber
gefreut haben, daß es ihm gegönnt war etc. Er hat hier Freunde
gefunden, die Stadt und ihre Menschen waren ihm unendlich lieb
geworden, und an dem Raimundtheater 'hing er bis zu seiner
letzten Stunde mit besorgter 2^rtlichkeit. Noch in seinem schwe-
ren Leiden, vor einer lebensgefährlichen Operation stehend etc. Hei-
terkeit und gute Laune gaben seinem Wesen das Gewinnende, machten
ihn zu einem guten, gemütlichen Gesellschafter. Im Dienst streng und
durchaus gewissenhaft, war er im persönlichen Verkehr liebenswürdig,
jovial und von aufrichtiger, oft herzlicher Wärme. Er hat sich in der
kurzen Zeit seiner Wirksamkeit in Wien viele Freunde gewonnen, die
mit reger Teilnahme das Schicksal beklagen werden, das ihn - nach
jahrelangem selbstlosen Mühen endlich zu persönlichen Erfolgen gelangt
— rasch und unerbittlich hinweggerafft hat. Es war ihm nicht mehr
vergönnt, seine Aufgabe, der er sich mit so viel Eifer und Hingabe
gewidmet, zu Ende zu führen, das ihm anvertraute Schifflein in den
Hafen zu lenken . . .
Solche Nachrufe für Theatersekretäre schreiben
die, die einst solche Ansprachen an Theaterdirektoren
gehalten haben.
Qottesnrteil.
Hadraar von Hornsberg wurde in Eberstorf auf der Burg
seines Ohms erzogen. Als er nicht mehr zu Füßen der Frauen
saß| sondern zu Jagd und Fehde an seines Magen Seite ritt, begab
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— IB —
es sich eines Tages, d«B er durch die Galerie des Wintbergturme
ging und seine Base Gertrud ihm entgegen kam.
Als Kinder hatten die zwei mitsammen getollt und gespielt,
dann lernte sie zu Boden seh'n, er trug den Blick umso freier:
dss trennte sie. Die Galerie war schmal, und als die Beiden an-
einander vorbei drängten, umfaßte Hadmar das Mädchen und
kOßte es. Die Wirkung des Kusses war unermeßlich.
Das Mädchen stieß ihn mit äußeistem Abscheu zurück und
lief wie in Todeshast die Treppe zum Innern Hof hinab. Dort auf
dem Rasen sah Hadmar sie zusammensinken und als er nach-
eilte, wand sich ihr Leib in Krämpfen, so daß der erschrockene
Jüngling laut schrie, worauf Gesinde kam und Gertrud ins Frauen-
hans getragen wurde.
Von diesem Tage an sprach Gertrud wenig, und ihrer
Wangen Rot erlosch. Angstlich war sie bedacht, den jungen Ritter
zu meiden und verbarig ihr Antlitz, wenn er unversehens vorüt)er
louD. Hadmar seinerseits konnte sich zwar nicht erklären, wie ein
Kuß so tiefe Wirkung fibte, da er aber sah, wie die Jungfrau litt,
merkte er, daß er an ihr schuldig sei und versuchte mehrmals,
Verzeihung zu erlangen. Er kam jedoch nie über die ersten Worte
hmans, weil Gertrude heftig zu zittern begann, wenn er vor ihr
stand. Also mied auch Hadmar das Mädchen und hätte das Er-
lebnis vielleicht veiigessen, wenn er nicht hätte fühlen müssen,
daß die Jungfrau ihn mit Haß und Verleumdung aller Art ver-
folge. Dies dünkte Hadmar eine unheimliche Wesensänderung der
Kindheitsgespielin, er verlor den Schlaf darüber, und der Aufenthalt
in Eberstorf ward ihm unleidlich. Während er noch erwog, ob er
von seinem Ohm Urlaub beehren seilte, um sich nach Homs-
berg, der väterlichen Veste zu begehen, kam ihm der Eberstorfer
zuvor und entließ ihn, ja er jagte ihn beinahe davon, denn er sah
nach den vielen Anklagen, welchen der junge Hadmar selten und
unkräftig widersprochen, in seinem Neffen eher einen verkappten
Verräter als einen treuen Anverwandten. Bitteren Herzens sprach
Hadmar in dfel- Stunde des Abschieds zu Gertrud und fragte,
warum sie eines Kusses Schuld so hoch werte. Da rief sie:
»Hadmar, ich glaube, Ihr träumt. Wann hättet Ihr mich je
geküßt?« Hadmar erzählte das Begebnis ausführlich,, wobei ihm
vor Erstaunen über des Mädchens Wort die Lippen bebten, aber
da begann sie zu zittern wie ^tets, wenn er zu ihr sprach und er
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— 16 ~
merkte, daß sie nicht hörte, was er sagte. Also verließ er sie und
die Burg seines Ohms und war ihm die Brust durch des Rätsels
Verdoppelung erschüttert, da sie ihn haßte, weil er sie geküßt
und doch nicht wußte, daß ers getan.
Hadmars Vater war ein trotziger Ministerial, ein Feind der
schwäbischen Eindringlinge, die Herzog Albrecht ins Land brachte;
den Abend seines Lebens füllten blutige Kämpfe, in denen er
nicht unterlag, weil er bei währender Fehde starb. Hadmar schloß
Frieden mit dem Habsburger, aber er mied den Hof zu Wien,
woselbst ihm als Sohn des alten Hornsbergers wenig Onade zu
hoffen schien. Unversehens ward er jedoch durch herzoglichen
Befehl nach Wien l>erufen, der Herzog trat ihm zürnend entgegen,
denn es waren Anzeigen eingelaufen, daß er gegen das geheiligte
Haupt konspiriere, ja' der Verschwörer Rädelsführer sei, die des
Herzogs Schwager, den König Wenzel, auf den österreichischen
Thron setzen wollten. Hadmar beteuerte seine Unschuld, und weil
Beweise nicht erbracht waren, nicht einmal der verborgene
Ankläger sich zeigte, begnügte sich der Herzog mit Einziehung
der Homsberger Güter Sallapulka und Hötzelsdorf zur Warnung
und künftigen Damachachtung.
Anläßlich dieses Aufenthaltes in Wien, trat der Magistrat
an Hadmar heran, ob er nicht die vom Herzog geraubte Reicfas-
unmittelbarkeit durch Hadmars Hilfe wieder erlangen könnte^
Bevor der Ritter sich entschied, waren diese Unterhandlungen bei
Hofe bekannt, diesmal war Hermann von Landenberg sein An-
kläger, ein Schwabe, der erst vor kurzem mit schmalem Beutel
den österreichischen Boden betreten und hier zu Ansehen ge-
kommen war. Die neuerliche Anklage brachte dem Homsperger
den Verlust des schönen Qutes Kattau, und Hadmar verließ flucht-
artig die Stadt, in der ihm gänzliche Verarmung drohte. Er hielt
sich still auf seiner Veste, aber es verging kaum ein Jahr, in dem
nicht Anklagen die Ungnade des Wiener Hofes genährt hätten,
wobei immer der Landenberger als unerklärlicher Widersacher
gegen Hadmar stand. Als der Ritter von einer Pilgerfahrt aus Rom
zurückkehrte, fand er gar seine Stammburg ausgeräuchert und es
hieß zwar, daß bäuerliche Mordbrenner die Täter gewesen seien,
aber der Name des Landenbergers spukte in der Gegend, und
Hadmar zweifelte nicht. Jedermann wußte, daß der Landenberger
Hadmars grimmigster Feind war, aber niemand außer Hadmar
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vuBte, daß Gertrud, des Landetibergers Weib, hinter alldem stecke
und Hadmar behfelts fflr sich; denn sollte er sagen, daß aller Haß
aus eines geraubten Kfißleins Zorn gewachsen sei? Wie flfichtiges
Wtld jagte Ihn diese Frau, nie war ein Weib in Liet)e treuer als
Gertrud ihm im Haß. Vor dem geborstenen Wartturm, in dem
die Krähen nisteten, tat Hadmar einen Schwur, ließ die Burg
wieder aufbauen und wohnte in einem Häuschen daneben, denn
er hatte gelobet, die Burg seiner Väter nicht eher zu be-
treten, als bis er an seinem Erzfeind gerächt sei. Also rüstete er
und fiberfiel, nach ehrlich angesagter Fehde des Landenbergers
Fähnlein, machte viele nieder und nahm den Ritter Selbsten ge-
fangen, nachdem er ihm eine tiefe Wunde geschlagen hatte.
Hermann von Landenberg ward in ritterlicher Haft gehalten,
aber seine Wunde schloß' sich nicht, er siechte dahin. Hadmar,
der unbeweibt geblieben, saß an seinem Schmerzenslager, und der
kranke Ritter, den Siechtum und naher Tod milde stimmten, ge-
stand, was Hadmar längst wußte, daß Gertrud des unheilvollen
Hasses Entfacherin gewesen und Ihn mit nimmer müdem Schüren
bis zur letzten Fehde erhalten habe. Hadmar hing an den Lippen
des kranken Ritters, er wollte immer mehr und mehr von Gertrud
hören, ob er vielleicht des alten Rätsels Lösung vernähme, aber
des Kinderknsses ungeheure Wirkung stieg bis zum Himmel und
Hadmar konnte sie nimmermehr ergründen. Da hieß er den
Landenberger sein Weib zu seiner Pflege in die Gefangenschaft
zu bestellen und obwohl ihm vor Gertrud Im Innersten graute,
sah er doch keinen andern Weg, um das Geheimnis seines und
ihres Daseins zu lösen.
Und Gertrud kam. Im binsenbestreuten Prunksaal trat sie
Hadmar gegenüber, blond, stahlblauen Auges, jung, fast kindlich,
als wären diese zwanzig Jahre spurlos an ihr vorbeigeroAnen. So
unversehrt schien die Frau, als hätte eine Vorsehung die schlanke
Jugend für späte Zwecke bewahren wollen. Aber Hadmar war grau.
»Ich danke Euch, daß Ihr gekommen seid,« sagte er.
»Nicht Euretwegen kam ich,« entgegnete die Frau.
»Ihr haßt mich?« fragte der Ritter.
»Habt Ihr mir nicht den Gemahl zu Tode verwundet?« rief
die Frau.
Da überwältigte Hadmar der Schmerz, denn er fühlte allen
Haß, mit dem diese Frau ihn alle seine Tage gehetzt, und diese
18 —
Frau glich seinem fernen Jugendgespiel. Er gedachte des Kiesel-
baches und der blumigen Au, des Schlupfes hoch im Linden-
Wipfel, er dachte an alles, was einstmals war, und er rief zweimal :
»Gertrud, Gertrud !« Sie wandte sich ab. Hadmar geriet in eifer-
vollen Zorn und beschloß die Sache an ein Ende zu bringen. Er
hielt ihr in eiliger Rede die vielen Übeln Dienste vor, so sie ihm
schon in Eberstorf und dann in Wien und anderwärts erwiesen,
faJBte sie schließlich am Arm und sprach mit starker Sthnmc:
» Alles dies um einen Kuß!«
Gertrud zuckte unter dem Worte zusammen nnd sagte
tonlos: »Ich weiß nichts von einem Kuß!«
»Teufelin!« rief da der Ritter, indem er ihren Arm umso
fester umklammerte, »Du sollst nicht von der Steile, ehe Du des
Hasses Grund gestehst!« Gertrud begann zu zittern, ward fahl
und sank zu Boden. Der Ritter erschrak, ihm schien, als hätte er
dies schon einmal erlebt. Er legte die ohnmächtige Frau auf eine
Truhe, rieb ihr Hände und Wangen und bemühte sich um sie
Sie faßte seinen Kopf, zog ihn zu sich und küßte ihn lange,
wobei sie die Augen geschlossen hielt und augenscheinlich schlief.
Der Ritter riß sich los und verließ das Zimmer.
Am andern Tage war der Landenberger gestorben. So mußte
Hadmar die Witwe mit dem Leichnam ihres Oemals entlassen.
Die Bestattungsfeier war kaum vorüber, da erhielt Hadmar strengen
Befehl, vor dem Richterstuhle des Herzogs Albrecht in Wien zu
erscheinen. Es wollte ihm schier das Herz verbrennen, als er in
Wien hörte, er sei des Folgenden bezichtigt: er habe der Gattin
des verwundeten Landenbergers die Auslieferung des Ritters ange-
boten, wenn sie für eine Nacht Hadmars Bett zu teilen sich ent-
schlösse. Gerirud habe kräftig widerstrebt, da aber der Landen-
berger ihimer schwächer wurde, habe sie des Wüstlings Begehren
erfüllt. Am selben Abend sei der Landenberger verschieden, und
Hadmar habe ihrs argliftg verschwiegen, so daß sie wider Wissen
und Willen in ihres Oemals Todesstunde in den Armen eines
andern gdegen sei. Darauf wolle sie das Gottesurteil der Feuer-
probe bestehn.
Der Herzog saß im Kreise seiner Räte, ein rotglühendes
Eisen ward mit Zangen hereingetragen, Gertrud trat vor, den
rechten Arm entblößt, sie faßte das feurige Metall mit nackter
Hand und legte es vor des Herzogs Stuhl zu Boden, sachte und
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olme mit der Wimper zn zucken, daß jedermann im Saale schwieg
and Oottcs Stimme zu vernehmen meinte.
Hadmar sah dem alien zu als wie im Traum. Er leugnete
niclit, er war mfide zum Sterben.
»Es ist nötig, der Frau die Ehre wieder zu geben«, sagte
der Herzog. Der Ehevertrag wurde sofort aufgesetzt, am selben
Nachmittag fand die Trauung statt. Vor der Kirche war ein
Scbaffot errichtet, der Henker erwartete nach des Herzogs Befehl
den verbrecherischen* Ritter. Hadmar hatte sichs nicht anders ver-
seben. Gertrud aber, die jetzt des Homsbergers Gattin war,
schauderte, sie bat den Herzog um Gnade. Als dies vergebens
war, lief sie die Stufen zum Blutgerüst hinan und rief zu allem
Volk: »Idi habe gelogen, Hadmar ist unschuldig und aller Ehren voll U
Zweifelnd sah der Herzog um sich. Aber es dünkte Hadmar
kkhter zu sterben, als mit diesem Weibe zu leben. Er sagte: »Um
mich zu retten, lügt sie jetzt. Bedenkt die Feuerprobe.«
»Die Feuerprobe!« schrie das Volk.
Da zog Gertrud einen Dolch aus dem Gürtel und schnitt
Wunden in ihren rechten Ann,, daß das Blut aus den Adern
spritzte: »Ich bin gezeichnet, mein Arm ist empfindungslos«, sagte
sie, »die FeuenN-obe war Betrug.«
Sie erbläßte und sank. Hadmar kniete bei ihr nieder, $ie
nmsdilang ihn mit blutendem Arme und flüsterte ihm ins Ohr
und sprach zu ihm, bis sie starb.
^ Fritz Witteis.
«
Der Sfindenpfuhl.*)
Die bürgerliche Geseilschaft besteht aus zwei
Arten von MäDnem, aus solchen^ die sagen^ irgendwo
sei eine »Lasterhdhlec ausgehoben worden^ und
solchen, die bedauern, die Adresse au spät erfahren
SU haben. Die Einteilung hat den Vorzug, daß sie
sich in einer und derselben Person vollzieht, weil
nicht Gegensätze der Weltanschauung, sondern bloß
Umstände und Rücksichten für die Wahl des Stand-
punktes mafigebend sind. Man würde aber fehlgehen,
wenn man glauben wollte, daß die sittliche Bnt-
^ Aus dem ,Simplicissinius'.
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— 20 -
rüstune und die Begierde in übersiohtlicher Weise
nebeneinander gelagert sind; sie greifen vielmehr in-
einander und sind unaufhörlich damit besohäftiet,
ihre Kräfte gegenseitig zu steigern und ihr Objekt
£u vergröflem. Jetzt sind es gerade 1908 Jahre,
dafl dieser eifersüchtige Kampf zweier Lebens-
prinzipe andauert, in dem die Entrüstung sich an
der Begierde und die Begierde an der Entrüstung
nährt, in dem die Welt immer moralischer wird, je
unsittlicher, und immer unsittlicher, je moralischer
sie wird. Es würde am Ende gar keine Liasterhöhlen
mehr geben, wenn sie nicht ausgehoben würden,
denn bis zu dem Zeitpunkt, da eine ausgehoben
wird, ist sie ein friedliches Bürgerhaus. Die Phantasie
wälzt sich auf Lotterbetten, und die Sittlichkeit ist
die Enttäuschung darüber, daß es kein Laster nbt.
Sie schlieflt mit Recht die Augen vor einem Sünden-
?fuhl; denn wenn sie ihn sähe, würde sie sich über
jangweile beklagen. Sie wendet sich von Abgründen
der Unmoral, deren Qähnen eine ansteckende Wirkung
hat. Das bifichen Laster, das hin und wieder in
deutschen Landen zustande kommen mag, ist nur
eine Folge der übertriebenen Qerüchte, die darüber
verbreitet werden. Um nicht zu weit hinter ihrem
Ruf zurückzubleiben, tut die Unsittlichkeit manchmal
so, als ob sie da wäre; die Blamage ist noch immer
grofi genug, wenn's an den Tag kommt, was an den
Tag gekommen ist. Nur Staatsanwälte und Berliner
Bohemiens glauben an das Laster. Wenn irgendwo
in einem separierten Zimmer zwei Leute gesessen
sind, so muß nicht die Bibel gelesen worden sein;
aber aus der Beobachtung, dafl das Zimmer versperrt
war, geht auch noch nicht hervor, dafl eine schwarze
Messe gelesen wurde. Blofi das Dunkel, das heutzu-
tage über eine gottgefällige Handlung gebreitet
werden mufl, hat diesen Glauben genährt. Man ahnt
aber gar nicht, wie sündenrein das Leben verliefe,
wenn die Moral daran nicht Anstofi nähme. Seitdem
ich einmal erfahren habe, daß eine Unschuld vom
— 21 ~
Lande durch die Bemühungen einiger Idealisten aus ,
einer Lasterhöhle der Orofistadt befreit und der
Familie zurückgegeben wurde, und seitdem ich weiß,
was dann weiter geschah, wie das Mutterauge sie
doch erkannt und der Vater zur Blutschande ge-
zwungen hat, und wie sie sich am andern Tage aus
den Familienbanden in die Lasterhöhle rettete, die
nichtsnutzige Person, seitdem weiß ich, wie berechtigt
der Abscheu vor dem Laster ist. Ach, die Perversität
des Lebensgenusses zeigt uns in Haus und Gesellschaft
ihre abschreckendsten Formen und schafft das Be-
dürfnis, von Zeit zu Zeit in ein Bordell zu gehen
und sich wieder daran zu erinnern, daß Reinheit des
Empfindens ein unverlierbares Gut ist. Und wo
kommt denn noch heute, in dieser Welt des Un-
friedens, die bürgerliche Gesittung zu Ehren, wenn
nicht bei den paar Kupplerinnen? Um ihretwillen
müßte Sodom vor der Zerstörung bewahrt bleiben.
Sie haben sich in die Bresche gestellt und standhaft
der Unmoral gewehrt, die aus der Familie, aus
den Klöstern und aus adeligen Instituten in die
Bordelle einzudringen drohte. Aber sie trotzen auch
der Verleumdung; denn eine Legende behauptet, daß
ihre Häuser sich die vornehme Abgeschlossenheit
zunutze machen, um erotischen Vergnügungen als
Schauplatz zu dienen. Soll man sie ernstlich gegen
einen Vorwurf verteidigen, der der verdorbenen
Phantasie der bürgerlichen Gesellschaft entstammt?
Die Kupplerinnen dienen einer schlichten Naturnot-
wendigkeit, die den sittlichen Vorzug hat, daß sie
die Beteiligten nicht für das ganze Leben aneinander-
kettet und wenigstens nach ihrer Erledigung jeden
nach seiner Fasson selig werden läßt. Sie gewähren der
Brotik, die eine abgefeimte Betrügerin der Natur ist,
keinen Unterschleif, sie servieren die Hausmannskost
ohne Gewürze, sie weisen mit Entrüstung jede Extra-
vaganz zurück, die vom horizontalen Pfad der Tugend
abweicht. Wir leben ein jammervolles Dasein der
Illusionen, und nur bei den Kupplerinnen ist Wahrheit.
22 —
Selbst ihre Lügen wurzeln in der Realität und sind
* noch immer verläßlicher als unsere Einbildungen. Sie
teilen die Erscheinungen des Lebens in schwarz und
blond oder in groß und klein oder in stark und
schlank, sie haben eine Ästhetik, die in jedem Seminar
tradiert werden könnte. Ihr Haus ist in allen Beziehungen
das Abbild einer verlorenen sozialen Ordnung. Die
Welt ist vom Wahn der Gleichheit beherrachti
hier gibts noch Klassengegensätze. In der Welt
kann der Unterschied zwischen einer Adeligen
und einer Bdrgersfrau mit Geld überbrückt wer-
den, hier bezeichnet das Geld die Rangstufe und
keine adelige Gesinnung vermag den sozialen Ab-
stand zwischen zwei Kupplerinnen wettzumachen.
Aber die Kupplerinnen sind nicht nur ein Kitt
des gesellschaftlichen Lebens, das in der Zeiten Unrast
zerfält, sie sind auch eiäe Staatsnotwendigkeit,
an deren Erhaltung die höchstgestellten Personen ein
Interesse haben, und es gibt politische Gemeinschaften,
in denen man eher mit dem § 14 regieren kann, als
ohne die Frau Löwy. Und da vo0i sie auch not-
wendiger braucht als einen voreiligen Staatsanwalt,
der es auf ihren Hausfrieden abgesehen hat, so kann
es geschehen, daß sie diesen in der Karriere über-
flügelt. Eine soziale Schädlichkeit der Kupplerinnen
wäre überhaupt nur in ihrer Geneigtheit zu erblicken,
das Risiko der gesetzlichen Strafe zu ein bifichen
Ausbeutung zu benützen ; aber man wird n^'cht sagen
können, daß sie mehr Wucher treiben als unbedingt
notwendig ist, um sich in der bürgerlichen Ge-
sellschaft zu behaupten. Solange die Kupplerinnen den
Staat nicht um die Steuer betrügen, liegt kein Grund
vor, ihre Ehrenrechte anzutasten und ihnen etwa
auch jene Titel abzuerkennen, die zu führen sie
berechtigt sind; denn manchmal nennen sie sich
Doktorin, Professorin, Rätin oder dergleichen und
heben sich schon dadurch von den vulgären
Gelegenheitsmacherinnen ab, die infolge schlech-
t<3r Geschäfte fortwährend eine Verfolgung zu
- 23
gewärtigen haben. Tatsächlich gelangen manche
Kupplerinnen zu hohem Ansehen und bringen es so-
par zuweilen zu einer präsidierenden Stellung in
einem Verein zur Bekämpfung des Mädchenhandels.
In jedem Zweig der sozialen Hilfstätigkeit sind sie
Terireten, und als einmal an eine die Frage gestellt
wurde, was denn ein halbwüchsiges Mädchen bei ihr
zu suchen habe^ meinte sie^ zuhause werde das Kind
nur veidorben, weil die Mutter Liebhaber empfange,
und auf die Frage, ob die Abwesenheit des
Mädchens zu so später Stunde nicht dennoch auf-
fällig sei, hatte sie die selbstbewußte Antwort:
»Erlauben Sie, Herr Doktor, die Mutter weifi doch,
wo das Kind istlc Als sie später verhaftet wurde,
war das Bedauern ein allgemeines. Sie hatte viel für
die Witwen und Waisen getan, und kein Polizei-
beamter war unbeschenkt von ihrer Schwelle ge-
gangen. Man fragte sich auch mit Recht, seit wann
es denn Sitte sei, Wohltäterinnen bei Nacht und
Nebel nach dem Qefängnis zu eskortieren. Es war ein
Ausnahmsfall. Die Behörden sind durch Schaden klug
geworden und hüten sich in der Regel vor den ehe-
dem so beliebten Mißgriffen. Es mag noch hin und
wieder vorkommen, dafi statt einer anständigen Frau
eine Kupplerin belästigt wird, aber der Schrei der
Entrüstung, der dann jedesmal durch die Öffentlich-
keit geht, mahnt die Behörden zur Vorsicht. Es ver-
steht sich von selbst, dafi die meisten Kupplerinnen
Schutzpatroninnen der Kirchen ihrer Heimat sind
und das Geld, das sie von gemeinnützigen Zwecken
beziehen, gemeinnützigen Zwecken wieder zukommen
lassen. Der künstlerische Geschmack und der religiöse
Sinn des deutschen Hauses, die in der bürgerlichen
Gesellschaft vielfach durch Snobismus und Heuchelei
entstellt sind, finden sich nur mehr bei ihnen vertreten.
Schon im Vorzimmer fällt einem das Muttergottesbild
auf, das man nicht in allen Bürgerswohnungen trifft,
und während es kaum ein Familienheim mehr gibt, das
nicht den Ehrgeiz hätte, von Van der Velde einge-
— 24 —
richtet zu sein, wird hier noch der altdeutsche Stil
in Ehren gehalten. Eine stehengebliebene Pendeluhr
zeigt, dafi dem Qiücklichen keine Stunde schlägt,
ein thöoernes Schwein dient keiner versteckten Sym-
bolik, sondern der Sparsamkeit, und über dem Bett
hängt eine idyllische Alpenlandschaft, in der die Kühe
grasen und nie Stiere sich's gut gehen lassen. Auch
muß man sagen, dafi die Kupplerinnen streng dynastisch
fohlen und zwar zumeist für das serbische Königshaus.
Sie datieren die Weltgeschichte von der Zeit, da die
Obrenowitsch noch in Blüte standen, und bezeichnen
den Königsmord als die Wende in der Entwicklung
des Mädchenhandels. Ergreifend wirkt die aus tiefer
Geschichtsauffassung geschöpfte Klage, wenn Alezan-
der statt der Draga, die an allem schuld war, die
Finerl geheiratet hätte, die «er »durch uns kennen
gelernt hatc, alles wäre anders gekommen: »Da
ätt' es kein Gemetzel gegeben U Solche und hun-
dert ähnliche Erkenntnisse kann man aus dem Munde
der Kupplerinnen hören, wenn man auf den aus*
sichtslosen Wahn verzichtet, bei ihnen Abenteuer
zu finden. Die gesunde Ahnungslosigkeit, mit der sie
dem Laster gegenüberstehen, gleicht die übertrie-
benen Vorsteflungen, die die Welt von ihrer Tätig-
keit hat, durch einen Humor aus, der besser ist ids
alle Freuden der Sinne. Die Naivität, die sich in einer
Lasterhöhle verbirgt, lebt selbstzufrieden dahin und
gerät in grenzenloses Staunen, wenn es der Zufall
wirklich einmal will, dafi sie ausgehoben wird. Dann
aber hat der Humor ein Ende, die Kupplerinnen
werden aus einem Erwerb gestoßen, mit dem alle
Beteiligten einverstanden waren, und versinken
rettungslos' in dem Sündenpfuhl der bürgerlichen
Gesellschaft.
Karl Kraus.
y Google
»Keines der jetzigen Kulturvölker hat eine so
schlechte Prosa wie das deutsche. Sieht man nach
den Gründen, so kommt man zuletzt zu dem selt-
samen Ergebnis^ daß der Deutsche nur die improvi-
sierte Prosa kennt und von einer anderen gar keinen
Begriff hat. Es klingt ihm schier unbegreiflich, wenn
ein Italiener sagt, dal Prosa gerade um soviel schwerer
sei als Poesie, um wieviel die Darstellung der nackten
Schönheit für den Bildhauer schwerer sei als die der
bekleideten Schönheit. Um Vers, Bild, Rhythmus
und Reim hat man sich redlich zu bemühen — das
begreift auch der Deutsche — , aber an einer Seite
Prosa wie an einer Bildsäule arbeiten? — es ist
ihm, als ob man ihm etwas aus dem Fabelland vor-
erzählte.« Nietzsche.
Der Skeptiker.*)
Nach einem Spruche Qoethes antwortet jedem
Alter des Menschen eine gewisse Philosophie . . . »Ein
Skeptiker zu werden hat der Mann alle Ursache . . .€
Der Name des Skeptikers ^eift einen, allerdings be-
stimmenden Zug, das Zweifeln, aus der Summe von
seelischen und physischen Anzeichen heraus, die das
Wesen dieser Denk- und Lebensrichtung, den Inhalt
und die Stimmung ihres Ausdrucks ausmachen, aber
der Name erschöpft nicht die Fülle ihrer Äußerung.
Aus der männlichen Natur des Skeptikers ist allein
seine Gestalt, sein Schicksal, Pathos und Wirkung
seiner Persönlichkeit etwa zu entwickeln und zu ver-
stehen.
Man betrachte einen geistigen, vom Leben
schonungslos durchgebildeten, gehärteten, ausge-
^) Die guten deutschen Ausgaben von Vauvenargues und Laroche-
fottcauld (Eugen Diederichs), von Champfort (R. Piper & Cie.), die Aus-
wahl von Lichtenbergs Schriften (E. Diederichs) und insbesondere der
eben erschienene erste Band einer vollständigen Übertragung der Essais
von Montaigne (Berlin, Wiegandt & Grieben) geben den Anlafi zu diesem
Versuche einer Darstellung des Slceptikers. r^^^^T^
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^ 254 55
26 ^
schärften, aber in seinem Wesen gleichgewichtig ver-
harrenden Charakter. Aus einer reichlich aufnehmen-
den, von der Realität durchdrungenen Kindheit geht
der Jüngling hervor mit einem meist überschWans-
lichen Krattgeföhl, das alle Aufgaben der Gesamtheit
als persönlichsten Zweck an sich ziehen will in einem
ungemew^senen, weitsichtigen Selbstgefühl. Er bedarf
der Erlebnisse als seiner eigentlichen Nahrung, denen
er sich nicht anpassen kann, sondern die er will-
kürlich deutet, nicht ohne dafi ihre Grausamkeit ihn
immer wieder enttäuscht und abstößt. Er assimiliert
sie in einem ProzeQ fortgesetzter Enttäuschungen.
Die Maßlosigkeit seiner Absichten, die Idealität, die
er allem beilegt, gehören zu seinem Schicksal, die
Leidenschaft, ja der Selbstbetrug, die Welt nach
seinem Bilde formen zu können, sie nur durch sich
zu rechtfertigen, sind ihm gemäß. Die tragischen
Gestalten der ikarischen Jünglinge treten in jeder
Generation von neuem hervor, von den ergreifendsten
Dichtungen erfaßt: ein Werther und Niels Lyhne.
Das Leben erzeugte die Tragödie Heinrichs von Kleist
Diese Jugend ist todgeweiht. Den Idealisten überlebt
der Skeptiker.
Der Mann hat Qualen und Enttäuschungen be-
standen, deren jede eine Wunde geschlagen, die
langsam, vernarbt ist, nicht ohne einen leisen Schmers,
eine Frage statt einer Antwort, Zweifel statt Ver-
zweiflung zu hinterlassen. Er hat die Schauer des
Sterbens physisch und geistig vorempfunden, den
Untergang von Überzeugungen, das Scheitern von
Gefühlen, den Wechsel von Neigungen, die Ver-
änderungen des Urteils, die Vieldeutigkeit sittlicher
Begri£fe erfahren. Körper und Geist mußten sich an die
verschiedenen Klimate der menschlichen Zustände ge-
wöhnen und im fortwährenden Wechsel von Gelingen,
Ertragen, Sichverbergen und -offenbaren bestehen.
Die Beweglichkeit der Jugend verliert sich, wie die
geflügelten Pflanzensamen endlich irgendwo ruhen.
Es gilt, zu wurzeln. Durch gesammelte Spannkraft
-. 27 -
wird der fühlbare Mangel an äußerer Veränderung
orsetst. Standfestigkeit ist das Kennzeichen dieses
Charakters, der das Erleben, die Ereignisse nicht
mehr aufsucht, sondern erwartet, nicht mit ihnen
davonjagt, sondern in ihrer Mitte verharrt. »En
vivant, en voyant les hommes, i) faut, que le coeur
se brise, ou se bronzec (Champfort), Diese Verhärtung
bringt eine Art von Passivität mit sich. Wer möchte
die Bedeutung der Neigungen, die Macht der In-
stinkte, die Herrschaft des Willens, alle Veran-
lassungen der Aktivität noch herbeiwünschen, der
immer wieder an ihre Grenzen gemahnt wurde! Die
Aktivität ist jetzt ganz auf die Fähigkeit des inneren
Erlebens, des Erkennens, nicht auf das Sa^en, sondern
auf das Erwidern verwiesen, der Geist ist zu einer
feiasten Wage der Erscheinungen geworden und be-
stimmt sie mit einer annähernden Objektivität. Die
Antwort auf jeden äußern Anreiz erfolgt lebhaft,
doch ohne den Mann aufier sich selbst zu bringen.
Das Erlebnis gilt nur mehr als ein Anschein. Der
Mann erntet die FrQchte seiner einstigen Niederlagen.
Eheraals bestand seine Freiheit in Hmgabe, jetzt in
der Wahrung seines Selbst. Das Pathos der Jugend
lag darin, dafi sie die eigene Kraft und die der Ge-
samtheit verkehrt einschätzte. Das Pathos des Mannes,
des Skeptikers liegt in dem Wissen um die letzte
Ohnmacht aller selbstischen Energie, die gleichwohl
als die einzige Lebenswürdigkeit empfunden wird.
Die unbedingte Bewegung, das vorwaltende Handeln
der Jugend setzt eine so sichere, wie falsche und ein-
fUtige Wertung von Richtung und Ziel voraus, die
verharrende, beobachtende Ruhe der Skepsis ist durch
einen langsam erwachten, zähen Instinkt für das je-
weilige Gegenargument bedingt. An Stelle einer
Wahrheit treten vielfältige Gegenwahrheiten, die Ge-
sinnung in Dialektik verfeinern. Die Leidenschaft,
das Temperament sind von der Gefolgschaft einer
«nzelnen Idee oder Handlung losgezählt und gehören
in einer Freiheit, die berauscht der eigenen Bestimmung
- 28 -
inne wird, völlig der Argumentation. Früher mochte
man in der Welt mitspielen und unterlag dem ganzen
Schicksal des dargestellten Charakters. Jetzt erblickt
man das Geschehen als Zuschauer und lenkt es an
den Drähten der zugleich imaginierenden und über-
raschten Dialektik. Dies gibt einen Vorsprung des
Skeptikers vor jeder Tat durch die Vorwegnahme
aller ihrer Unzulänglichkeiten^ vor jedem Abschluß
durch die Vorwegnahme des Qegeneinfalls, vor der
Leidenschaft durch die Antizipation ihrer Enttäuschung.
Der Skeptiker führt mit lauter Enttäuschungen seinen
Haushalt. Nur glaube man ihn nicht vor Ver-
bitterung, Empörung, Zorn, Abscheu bewahrt. Aber er
macht aus diesen Notwendigkeiten seine Freiheiten.
Von der Bedingtheit alles Qeschehens tausendfach
gefesselt, lernt er eben sie gebrauchen, in der Ohn-
macht des Lebens die Kraft seiner Anschauung ge-
nießen. Die Macht, die dem Tätigen in diesem kurzen
Leben das einzige sichtbare Mafi seiner Persönlichkeit
bietet, wird verinnerlicht, durchgeistigt durch eine
zugleich entsagende und wieder großartig aus-
schreitende Bewußtheit, die ihr Erkennen mit keinem
Tun vertauschen möchte. Das heroische Pathos des
Skeptikers liegt darin, daß er seinem Erkennen die
Würde, Lust und Bedeutung der Handlung, und zwar
ganz aus eigener Machtvollkommenheit verleiht. Eine
Illusion, die vor der Enttäuschung geschützt ist, weil
sie sich ihrer bedient und an ihr immer wieder er-
neut wird. Dabei geht schließlich selbst der Wille zu
positiver Lebensgestaltung lächelnd unter. Eine Er-
kenntnis, die ihren köstlichsten Anteil der Beute
gerade aus der Torheit, den Irrtümern, der immer
wiederkehrenden Schuld erhält, möchte die schwersten
Mängel nicht missen, deren sie bedarf, um sich in
Leiden und Lust zu erneuen. Sie würde die Torheit
erschaffen, wenn sie nicht bestünde, das Schlechte
erzeugen, um sich darüber zu erzürnen, das Unzu-
längliche aufziehen, um den Traum der Vollkommen-
heit zu erleben. Sein Leiden unter all der Wider-
- 29 —
wirtigkeit, Schwache und Narrheit gibt dem Skeptiker
das gute Recht, sie zu bejahen^ da er aus seinen Bm-
pöruQgen sein einziges Glück schöpft. Man hört oft
die theoretisch gerichteten Ärzte anschuldigen , daß
sie über dem Erkennen des Übels dessen Heilung
veigessen. Das ist ihre Skepsis. Die Krankheit ist
ewigj die Arznei macht einen einzelnen Fall gut.
Der Skeptiker hat an dem erledigten Einzelfall weiter
kein Interesse, So werden Tat, Wirkung, Ruhm und
Macht gegen den Genufi des Erkennens, gegen den
Reis der sich steigernden und am Widerspruch be-
lebenden Dialektik, ^egen die weiten Ausblicke der
Er&hrung, Freude wird gegen Trost, Olück gegen
Genügen, Sieg gegen Ruhe drangegeben. Eine leiden-
schaftliche, unbegrenzte Betrachtung kennt keinen
Wunsch mehr, als sich selbst. Diese bei gesammelter
Kraft scheinbar umso widerspruchsvollere Ruhe, dieser
eifrige Müßiggang (nach Nietzsche »aller Psychologie
Anfange), dies ständige Sichfreireden und Sichlos-
denken, diese Steigerung des geistigen Gtehörs, des
psychologischen Gesichts, dieses gelassene Schauen
in alle Abgründe der Existenz bringt eine eigentümliche
Heiterkeit hervor. »Beim Anblick alles dessen, was
auf der Welt vorkommt, müßte schließlich auch der
größte Menschenfeind heiter werden und Heraklit
vor Lachen sterbenc (Ohampfort). Der Humor, die
gute Laune des Scharfsinns, das durch die treffende
Dialektik befriedigte und befreite Gemüt ist die
Entschädigung des Skeptikers, wie denn der
Humor im Grunde häufiger ein Elrgebnis, als eine
Gabe ist.
So verharrt der « Skeptiker kräftig auf dem
tragenden Erdboden, durchaus geistig, aber nicht
eigentlich spekulativ — müßige Spekulation haßt er
als Tatsachengeist wie einen Urfeind — und hält
sich von seinen nächsten Gefahren: dem Zynismus
und der Mystik in gutem Abstand. Er wird unver-
sehens ein Beispiel für getroste Lebensführung, was
allerdings ein Lächeln abnötigt, denn das Genie des
- 30 -
Erkennens ist nicht lernbar und der unvertretbare
Wert der Erfahrung liegt nur eben im Erleiden.
Bei der kleinen Auslese der Geister, die aus
dem unendlichen Erleiden diese geniale Erfahrung
ziehen und das Erleiden der Wirklichkeit £U ihrem
Glück machen, ist das Werk der Skeptiker leicht zu
überblicken. Intensität, nicht Ausdehnung, Verdichtung
zu einer komplexen Essenz kommt ihm in allen seinen
Äußerungen zu. Auf das reale Leben, Umgang mit
Menschen, Beobachtung der Leidenschaften, Ergrün-
düng von Sitten und Gemütszuständen angewiesen,
ist diese Art der Betrachtung eine glückliche und
einzige Mischung von künstlerischer Synthese und
kritischer Analyse. Das »Als Ganzes Sehenc, das den
Künstler ausmacht, liegt auch dem Schaffen des
Skeptikers zugrunde, die Analyse gibt nur die
Methode der Verarbeitung. Der darstellerische Impuls
des Erkennenden, seine Fähigkeit, Analogien zu
wittern, unerwartete Verwandtschaften aufzuspüren, ge-
heime Motive zu entlocken, ein vieldeutiges Erlebnis
zu vereinfachen, ein scheinbar einfältiges geistig zu
durchleuchten und von allen Seiten strahlend zu
zeigen, macht jede Beobachtung des Skeptikers zu-
gleich giltig und überraschend. In der ungelösten
Verbindung mit dem täglichen Leben, in dem un-
willkürlichen Aufsuchen der Probleme in allen realen
Zuständen wird der unleugbare künstlerische Ursprung
der seelischen Disposition deutlich, die den Skeptiker
bestimmt. Aber die Auswertung dieses Materials ge-
schieht beschreibend, nicht gestaltend, indem das
Unmittelbare des Eindrucks gleichsam abgedampft
wird bis auf seine Elemente. Diesem eigentümlichen
Schwebezustand zwischen ästhetischer Anschauung
und ethischer Formulierung, zwischen künstlerischer
Intuition und gedanklicher Auslösung verdankt die
skeptische Äufierung ihren unnachahmlichen Charakter
einer treffenden Antwort, die nach einem Goethe'schen
Wort einem lieblichen Kusse gleicht. So spotten
selbst jene Schöpfungen des skeptischen Geistes, die
- 31 —
einen rein künstlerischen Ausdruck gewählt, mit der
reisvoUsten Willkür jeder geschlossenen Darstellung,
wie etwa Sternes >En)pfind8ame Reisec Auch die
Werke der »Humoristenc unterliegen zumeist der
formauflösenden skeptischen Laune, wobei der Humor
etwa als überwiegende Qeftihlseuergie zur Gestaltung
und rein künstlerischen Zusammenfassung der An-
schauung drängt, bei einem endlichen Sieg des Er-
kennens und Durchschauens aber sich zum Witz,
zur launigen und abstrakten Wendung des Wortes
als höchsten Restes verflüchtigt (bei Jean Paul). So
erscheinen die Obergänge vom Skeptiker zum Humo-
risten, wie die vom betrachtenden zum gestaltenden
Künstler, vom männlich irdischen zum mystischen
6^te überaus zart abgestuft.
Die Form der treffenden Antwort, nicht in der
allzu knappen Fassung des Spruches, sondern in der
glücklichen momentanen Eingebung, in welcher alle
zuströmenden Erwägungen die Vielseitigkeit des er-
hellten Problems verraten, ein dialogischer, nahezu
dramatischer Charakter einer in ihrer Wesenheit ver-
lautenden geistigen Situation macht die Aphorismen
zu den hauptsächlichen Mittlern der skeptischen Dar-
stellung und gibt ihnen die zugleich klare und un-
heimlich weittragende Lebensstimmung, die über
Jedem Wort einen ungeahnten Horizont eröffnet.
Lichtenberg und Montaigne sind in einigem
Belang Ausnahmen. Der erste durch das Mitspielen
einer witzigen Phantasie, die den Einfällen ein .
barockes Kostüm überwirft und in Variationen über
ein Thema sich ergeht, Gleichnisse leibhaftig jedem
Einfall als Spiegelungen gegenüberstellt und oft nicht
blofi mit dem treffenden Wort, sondern erst mit dem
sinnfälligen Bilde sich beruhigt. Montaigne hinwiederum
ist einzig durch die idyllische, ja epische Natur seines
im Zuständlichen behaglich verweilenden, die Fülle
ordnenden und schätzenden Geistes, der die Lust des
Erkennens nicht in der augenblicklichen Entladung
durch den Blitz des Einfalls büßt, sondern^sie systS-
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- 32 —
matischy durch eine scheinbar spielende Untersuchung
erstreckt und vertieft, mit allen Organen auskostet.
Keiner bedarf wie er, so zahlreicher Hilfen des Gte-
dächtnisseSy der Bildung, eine überreiche Anekdotik
steht ihm zu Dienst, das alte Erbe der romanischen
Erzählerfreude und die Gewohnheit der lateinischen
Kultursprache, seiner Wahlmuttersprache, bleibt ihm
unverkümmert.
Der Skeptiker macht durch die eigentümliche
Weise seines Denkens die Erscheinungen leicht und
durchgängig, er nimmt dem Schicksal seine Schwere
und gibt ihm die Anmut des Spiels, des gewiohtlosen
Schwebens. Der Glanz seiner Heiterkeit hat einen
wunderbar vertieften Gehalt : sie ist Wille, Schicksal,
Selbsteroberun^. Man blickt durch alles Menschliche
wie durch Kristall. Es ist durchsichtig geworden.
Die künstlerische Gestaltung gibt eine mittelbare
Erkenntnis, indem sie die Realität in ihren Wider-
sprüchen hinstellt und die Wirklichkeit noch einmal
gebiert, um sie zu erlösen. Die Aussage des Skeptikers
gibt eine unmittelbare Erkenntnis, indem sie die
Wirklichkeit sowohl voraussetzt, als überwindet, die
Erscheinungen in ihrer Gesamtheit durchdringt und
sich zugleich von ihnen befreit. Sie vereinigt alle
Menschlichkeiten in einem Brennspiegel, der den
Schein in Feuer, die Farbe in Licht, das Erlebnis
in Schicksal verdichtet. Die skeptische Art der
Umwandlung alles Daseins in Erfahrung ist so eigen-
tümlich, dafi zuweilen ein einziges Wort den Skep-
tiker besser kundgibt, als jeder Versuch einer Zu-
sammenfassung dieses unvererblichen und uniehrbaren
Besitzes, der im Grunde wieder geheimnisvoll und
undurchdringlich bleibt, wie alles Naturgewachsene.
»,Sich keine Illusionen mehr machen^: da be-
f innen sie erst.f (Karl Kraus). Das sagt der Skeptiker.
>as ist er.
Otto Stoessl.
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- 33 -
Tagebnch.
Auch ein anständiger Mensch kann, voraus-
gesetzt, dafi es nie herauskommt, sich heutzutage
einen geachteten Namen schaffen.
In Lourdes kann man geheilt werden. Welcher
Zauber sollte aber von einem Nervenspezialisten aus-
gehen?
Ich habe um mancher guten Entschuldigung
willen gesündigt und darum wird mir vergeben werden.
«
Selbstbespie^eluhg ist erlaubt, wenn das Selbst
schön ist. Aber sie erwächst zur Pflicht, wenn der
Spiegel gut ist.
Der persönliche Umgang mit Dichtern ist nicht
inuner erwünscht. Vor allem mag ich die Som-
nambulen nicht, die immer auf die richtige Seite fallen.
Ihm gebührt das Verdienst, in die Anarchie des
Traums eine Verfassung eingeführt zu haben. Aber
es geht darin zu, wie in Osterreich.
»Zu neuen Taten, tapferer Heide, wie liebt' ich
dich, ließ* ich dich nicht It So spricht das Weib Wag-
ners. Dem Helden müfite bei solcher Bereitschaft die
Lust an den Taten und die Lust am Weibe vergehen.
Denn die Lust an den Taten entstammt der Lust am
Weibe. Nicht zu den Taten lasse sie ihn, sondern
zur Liebe: dann kommt er zu den Taten. Solcher Psy-
chologie aber entspräche auch das Wort Wagners,
wenn nur die Interpunktion verändert wäre. Die
Alliteration mag bleiben. Man lese also: >Zu neuen
Taten, tapferer Heide I Wie liebt' ich dich, ließ' ich
dich nicht . . .<
Omne animal triste. Das ist die christliche Mo-
raL Aber auch sie nur post, nicht propter hoc.
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^. 34 •
Die wahre Beziehung der Geschlechter ist es,
wenn der Mann bekennt: Ich habe keinen andern
Gedanken als dich und darum immer neue!
Zur Vollkommenheit fehlt ihr nur ein Mangel.
Die Sündenmoral ist darauf aus, die Ursachen,
auf die das Kinderkriegen zurückzuführen ist, zu be-
seitigen. Sie sagt, die Abtreibung der Lust sei un-
gefährlich, wenn sie unter allen Kautelen der theo-
logischen Wissenschaft durchgeführt wird.
( Was leicht ins Ohr geht, geht leicht hinaus.
Was schwer ins Ohr geht, geht schwer hinaus. Das
gilt vom Schreiben noch mehr als vom Musikmachen.
Wer nichts der Sprache vergibt, vergibt auch
nichts der Sache.
Die alten Bücher sind selten, die zwischen Un-
verständlichem und Selbstverständlichem einen leben-
digen Inhalt bewahrt haben.
Auch die sprachliche Trivialität kann ein Ele-
ment des künstlerischen Ausdrucks sein, nämlich des
Witzes. Der Schriftsteller, der sich ihrer bedient, ist
echter Feierlichkeit fähig. Das Pathos an und für sich
ist ebenso wertlos wie die Trivialität als solche.
*
Werdegang des Schreibenden: Im Anfang ist
mans ungewohnt und es geht deshalb wie geschmiert.
Aber dann wirds schwerer und immer schwerer, und
wenn man erst in die Übung kommt, dann wird man
mit manch einem Satz nicht fertig.
Die bange Frage steigt auf, ob der Journalis-
mus, dem man getrost die besten Werke zur Beute
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- 35 -
hinwirft, nicht auch kommenden Zeiten schon den Ge«
schmack an der sprachlichen Kunst verdorben hat.
T^l^ Exklusive Kunst ist ein Unding. Es heifit
die Kunst dem Pöbel ausliefern. Denn wenn der ganse
Pöbel Zutritt hat, ist es immer noch besser, als wenn
nur ein Teil Zutritt hat. Ein jeder will dann exklusiv
sein, und die Kunst beginnt von der Nebenwirkung
des Bsklusiven zu leben. Es besteht der Verdacht,
daft die ganze moderne Kunst von Nebenwirkungen
lebt. Die Musik von Nebengeräuschen, die Schau-
spielerei von Mängeln.
«
Da das Halten wilder Tiere gesetzlich verboten
ist, und die Haustiere mir kein Vergnügen machen,
80 bleibe ich lieber unverheiratet.
Die Gesellschaft braucht Frauen, die einen
schlechten Charakter haben. Solche, die gar keinen
haben, sind ein bedenkliches Element.
Das höchste Vertrauensamt: Ein Beichtvater
unterlassener Sünden.
Ein Leierkasten im Hof stört den Musiker und
freut den Dichter.
Viele haben den Wunsch, mich zu erschlagen.
Viele den Wunsch, mit mir ein Plauderstündchen zu
▼erbringen. Gegen jene schützt mich das Gesetz.
Man könnte größenwahnsinnig werden : so wenig
wird man anerkannt 1
Karl Kraus.
y Google
36
BnlenbiirgB Briefe.
Fünf Jahre der Freundschaft, unter diesem Titel hat Philipp
Graf zu Eulenburg seinen Briefwechsel mit Fritz von Farenhdd
herausgegeben. Das Buch wurde in wenigen £xempii#en gedruckt,
war nur für Menschen bestimmt, die durch persönliche Beziehung
zu den Autoren für den Inhalt empfänglich gemacht waren. Es
brachte Gefühlsregungen und Stimmungsbilder, wie sie der Freund
dem Freunde unmittelbar nach ihrer Entstdiung bietet, ehe er sie
mit logischen Festungswällen gegen feindliche Kritik gestehet hat.
Jetzt sind diese Briefe bruchstückweise in die Öffent-
lichkeit getragen worden, um einer gierigen Sensationslust zu
dienen oder um in tendenziöser Weise beleuchtet und zu häß-
lichen Angriffen ausgebeutet zu werden. Da hat nunmehr die
Öffentlichkeit auch einen Ansprudi auf objektive Darstellung und
Beurteilung des Werkes, und dieses selbst hat ein Recht darauf.
Und zweifellos von Wert ist das Selbstporträt des vielbesprochenen
Mannes, das er einst unbewußt Zug um Zug in seinen Briefen
gezeichnet hat.
»Der Grund meines Wunsches, Ihre Bekanntschaft zu machen,
hochverehrter Herr Baron, ist eine Sammlung von Briefen, die aus
Ihrer Feder stammend als Manuskript gedruckt sind, und die idi
— möglicher Weise ohne dazu berechtigt zu sein — gelesen
habe.« Diese Worte, die in dem ersten Briefe Eulenburgs an den
ihm unbekannten Farenheid enthalten sind, beziehen sich auf
Farenheids >Briefe an einen verstorbenen Freund«. Der Adel der
Kunst, der Geist einer reinen Freundschaft, fährt Eulenburg fort,
die aus den Blättern des Manuskriptes zu ihm gesprochen haben,
erregten diesen Wunsch, dem Verfasser persönlich nahe zu treten.
Fritz von Farenheid, damals fast ein Siebziger, ist um dreißig
Jahre älter als Eulenburg. Er hat sein Leben der Pflege der Kunst
geweiht. Dieses Lebens Hauptwerk ist die wertvolle Sammlung künst-
lerischer Wiedergaben, die er auf seinem Gute Beynuhnen erstehen
ließ. Sie hat ihm reichlich Anerkennung getragen; die Akademie
der Künste in Berlin ernannte ihn zum Ehrenmitglied, die Uni-
versität zu Königsberg verlieh ihm die Doktorswürde. Die geistige
Atmosphäre dieses Mannes, die auch durch seine Briefe weht, ist
der Gegenwart fern. Die Schönheit uncf das Ideal sind für ihn
nicht bloß Begriffe, sondern fast plastische Wesen, sie sind seine
Hausgötter, mit denen er im vertrauten Umgang lebt. In Eulenburg
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— 87 —
Oftennt er den vcnmidten Odat, nrit dem er die Flhigkdt des-
itvkn Empfindens teilt, an dem er die Qenialitft des MitgefOhls-
bewandert Knnst und Philosophie sind ffir Farenheid ZnOnchts-
sfittcn eines flberreidien Qeffübks, das er aus dem Beitich de^
Menschlichen gjefiflchtet, — gerettet hat Er schreibt: »Diefcnige*
Veltanachanung, welche das ganze Leben unter die BegriÄ der
Schönheit und der Lidie stellt, wekhe hi dem sehnenden Anf*
sireben nach der Schönheit, der Idee, die Verkttrung des Lebens
findet, wird wohl zu allen Zeiten nur eine kleine Genossenschaft
bilden«.
PhiUpp Enlenbmg steht zu sehr im Ld)en der Zeit, um.
(kn abeeklSrten Frieden des Fmndes teilen zu können, kbtr
adne Briefe zeidtnet etwas besonderes aus, das sie auf dn Kultur-
Oman von sdtencr H6he erhebt: Das ist das Sudten nadi dem .
Menschen, die Sehnsudit nach Verstandenadn und Liebe. »Was
bd Weitem am meisten mich bewegt und erfüllt, es ist jenes rdn
mensdiHche Empfinden, das mir so lebenswarm entgegenqnol^—
jenes feine innige Verständnis fflr alles, was mich bewegt! Das ist
der Schatz, den Sie mir bieten, nidit das Oriedientum, iricht jene
Philosophie der Glücklichen, die einen in alle Ritael des Lebens
mid des Todes verstrickten Sterblichen trotz Aufwand größter An-
stxtngnng nicht zu befreien vermag. In dem Gefühle des Ver-
standensdns liegt dn nnbeschrdblicher Zauber, ehi Segen, der von
indem Wdten kommt, dn Segen, der höhö* ist, als jede Be-
mhqBlung, die das Menschenherz aus dem Sdiatz sdner philo-
SG{Aischen Weltanschauung schöpft. Die Einsamkdt des Herzens
ist das traurigste, was wir armen Erdgdx>renen zu tragen erhalten.
Wir bedürfen des ,VefBtandensdns', Das ganze hilflose Elend der
Mcnsdien liegt in dieser Notwendigkdt der Anlehnung, aber es.
hegt darin auch der ganze Reichtum des Lebens«. Hier spricht dn
Mensch, der die Gabe des Mitfühlens in erhöhtem MaBe besitzt,
der stets ddi sdbst im andern wiederfindd, dem fremder Schmeiz
und fremde Freude Erld>nis sind. Er fthildert den Ehidruck, den
die Laokoongruppe des Vatikans auf ihn madite: »— so könnte icb
den Laokoon nicht ertragen! Er hat mich dnmal schon knmk
gemacht! In früheren Jahren hatte er mich nidit berührt; andere
Gestalten waren mir herzbewegender eischienen. Damab atxr
wurde idi durdi dieses merkwürdige Kunstwerk so plötelich und
so gewaltte eisdiüttert, daß ich nicht fihig war, dn Wort zta
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— 88 -
sagen. . . . Die Hoffnangslosigkat, das gefesselte, ohniniditise
Ringen im qualvollen Leben -* wiedergegeben in dnem Bilde, so
vollendet, daß kein Mangel den Beschauenden in dem Fluge aeiaes
pedanicens hemmt — es erschien mir, wie die löystallisatioa der
Erstarrung eines Schmerzes, der mich selbst bewegte: das sanfte
Bild der Kindheit, des Todes konnte mich nicht beruhigen — es
waren die Fesseln, die er trug, welche mich in jene Trostlosigkeit
senkten, die ich kaum zu Qberwinden vermochte. Nein! idi könnte
auch beule nidit den Laokoon ertragen U
Wäre das Buch, wie es heute zu wünschen ist, dem Publikum
zugSnglidi, viele würden eine aige Enttäuschung daran erleben.
Diese beiden Männer sind immer mit Menschen beschäf-
tigt und nie mit sexuellen Problemen. Das ist unmodern.
Ja, sie veii^essen sogar, das Kunstwerk nach seinem Oeschlecht zu
fragen und ihre Gefühle beim Anblick von Statuen sexuell zu
differenzieren.
^ Diese Briefe, deren Gegenstände Kunst, Schönheit, Freund^
Schaft sind, gehören einer anderen KulturH)häre an, als jene
der Interessenten ist, von denen sie heute als »Material c durch-
stöbert werden. Dieses Interesse steht kläglich tief unter seinem
O^enstand. Es sei noch bemerkt, daß es bisher ein Über-
einkommen der menschlichen Gesellschaft war, ein Denken und
Empfinden, wie es hier geboten wird, schön, vornehm und edd
zu finden. Man pflegte auch diese Liebe zum Menschen und zur
Kunst zum Bes^ zu zählen, das die Kultur hochstehenden
Menschen erreichbar macht.
Der Ausdruck leidet am Überschwang, am Superlativ. Der
gute Geschmack, der fünfundzwanzig Jahre später gilt, wehrt stdi
gegen zu starke Worte, gegen jedes Schwelgen in Baffen.
Das Zuviel weckt heute den Reflex des Mißtrauens gegen
das Gefühl übeiiiaupt Aber — aus solchen Gefühlen für einen
Freund heraus hat Philipp fulenbuig später einmal den seltenen
Heroismus besessen, angesichts rings lauernder Gehässigkeit und
Radigier den Schwur, diesen Schwyr zu leisten, der ihn ins
Untersuchungsgefängnis führte. Man kann sich eben heute bei der
Beurteilung der Schriften dieses Mannes der Frage nach seiner
Persönlichkeit und Art nicht entziehen. Und dieser Persönlichkeit,
so un^eügemäß sie ist, wird man das Attribut der Vornehmheit
y Google
— 89 —
niemais absprechen können. Wie aber wird die öffentlidie Meinung:
dis Qesamtlnld eines Ijd>en8 beurtdlen, in dem Kunst- und
Meoacbenliebe so stark zum Ausdruck kamen? Die Antwort kann
mit Sidieriieit gegeben werden. Man wird mit sexuellen Maß-
stibcn ans Urteilen gehen und Sexualgutacfaten einholen. Der
Name des Doktor Magnus Hirschfeld wird wieder genannt^als der
des berufenen Sadiverstindigen. Und selten lag der Mißbrauch der
SexualitStsmanie unserer Zeit so Uar zu Tage, wie in diesem Falle, wo
das Leben eines Menschen in den Beziehungen zur Kunst und zu
voraebmen Menschen wukcU, er seine Sexualtftt als Last emp-
iindet, nur bestrebt ist, sie abzutun, wo immer, möglichst fem
von den Statten seines eigensten Lebens — vielleicht nur, um
eben dieses Leben von ihr frei halten. Eulenburg wird das Opfer
eines argen wissenschaftlichen Unfugs, der heute in BKIte steht.
Für gewisse Beziehungen der Menschen zueinander hatte
die deutsche Sprache das redit tn-auchbare Wort Liebe. Bei wissen-
'^BchafUither Analyse der Erscheinung stellte man zwei Bestandteile
in ihr fest: Sejnialitftt und Erotik. Femer kam mai^zur Anschauung,
dafi die Sexualität das Primäre sei, alle Erotik nur ein »sekundärer
01)crbau«.; Ober die Art des Zusammenhanges zwischen Erotik und
Soniaiität ist nichts bekannt; gewiß ist nur, daß sie einander be-
dingen. Vielleicht nur wie Nordpol und Südpol eines Magneten;
nun kann von dem Vorhandensein des einen auf den andern
sdilieBen, man kann sie auch recht wohl als Gegensätze bezeichnen.
Nie diuite man den einen für den andern in die Rechnung
einfllhren. In modemer Wissenschaft aber wurde es üblich, die
Begriffe Erotik und Sexualität beliebig zu verwechseln. Und dort,
^ der Wissenschaftler besonders gründlich sein will, streicht er
den »sekundären Oberbau € überhaupt und hält sich nur an die
Sexualität. Diese Wissenschaft übt dann Kritik am Liebesieben der
^Acnscbheit: es ist ungefähr dasselbe, wie wenn ein gewissenhafter
Knnstkritiker von einem Gemälde den sekundären Oliiitau der
^be abkratzen würde, um sich an die Beurteilung der daranter
Niesenden primären Leinwandfaser zu halten.' Das ist der Wert, den
Scnuügutachten für die Beurteilung eines Menschen haben.
Aber l)esonders ungeeignet ist diese sexuelle Basis für jene
Votddlgnng ^gleichgeschlechtlicher Liebe, die mit dem Namen des
I)(M)r Magnus Hirschfeld verknüpft ist. Homosexuelle Menschenl
Senielle Mensciien! Wie erbärmlich wenig das ist! Und damit,
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- 40 -
■linier diesem Schlagwort, ffihrt man eine Vertddigong vor einen
Forum von Kuitnrmensdien. Die Erotik wird für diese wissen-
«chaftlicbe Strömung nur ein Hilfsmittel, um über sie liinweg
*Sexualitftt nachzuweisen. Jeder erotisdie Freundschaftsbrief Ooetfacs
'^konnte ihn für diese Leute zum »Homosexuellen« stempdn nnd
darum wohl auch jeder sexuelle Akt mit einem Jungen Herrn X.
für sie zum Ooethe. Solcher Unfug mag hingehn. Aber die Menscben-
•opfer soll man dieser Propaganda verweigern, es soll nnmdglidi
sein» einen Menschen, der ein Leben voll Odst und Erotik führte,
mit dem verhftltnismißig geringen Bni^teil des Sexualitätsgefaaltes
:;zu strangulieren. Hier ist die Medizin zur Charybdis geworden,
in die menschliches Empfinden, das dem Strafpamgraphen aus-
weicht, unweigerlich gerät Und das im Dienste einer im vorhinein
verlorenen Sache. Was zwecklos ist, kann nur geduldet, nicht be
-sonders geachtet werden. Und zwecklos ist jede Sexualität, die nicht
die Zeugung will. Es ist unbestreitbar wahr: »Für die Norm in
•der Sexualität gibt es eine große Richtlinie, sie heißt Fortpffan-
zung«, und aljp andere ist ein Abirren von ihr. Aber es gibt
noch andere Richtlinien im Bereiche des Mensdilichen, und eine
von ihnen heißt Kultur, für sie spielt die Erotik jene Rolle, die
bei der FortpfUmzung der Sexualität zufällt: Befruclitang. Sie
-wvkt im Geistesleben von Mensdi zu Mensch, freilidi ohne vor-
her nach dem Geschlecht gefragt zu haben.
Ob »homosexuellec Privatinteressen geschädigt werden, wenn
»man den Primat der Sexualität fallen läßt? Wenn man sidi der
anderen Richtlinien erinnert, das mensdiliche Lid)esleben nidit
nur nach der zu leistenden Zeugungparbdt, sondern anch nadi
seinen kulturellen Wirkungen in Kunst und Leben efancfaätzt?
Das Gegenteil ist offenbar! Die Homoerotik hat in der Kni-
4ttr das Größte gewirkt Nennt man die Namen derer, die
unter ihrem Antrieb schufen, von Sokrates zu Michel Angdo,
Shakcspdire nnd in die neueste Zeit, so kann man sich kaum des
Gedankens erwehren, daß dieser Erotik eine stärkere, kaiturette
Kraft innewohnt, als jeder andern. Diese Erotik vermag es» die ihr
^ngehöiende Sexualität vor dem Urteil der Mensdihdt za tngrn,
so gut, zumindest, wie die Heterosexualität ihre für »die große
Wcfatlinie der Fortpfhuizung« so zwecklose Erotik trägt Diese
^Sexualität ist nicht perverser vor der Kultur, als die Uebesliedg
:aller Zeiten gemessen ander Fortpflanzung. Am Mafistab liegt «!
y Google
— 41 —
DculKbe Ocrithte vcrdcn €iiK tpndilich iptemmitc Bcgrifb-
IxBliiiimuiig desWortes»Sc]iintttxerei«znniidien haben. Wo beshmt
bliese? Bd dunkeln Anspielungen auf das Privatleben politischer
Ocsner, betm FaUensteUen fQr verinfitiKte Zeugen? Oder wird
es gar nicht zu der etbymologischen Betrachtung kommen ? Fflrst
Enknburg hat geschworen — wenn man den Darstellungen der
Butter fi^lauben darf — , das Gesetz nicht übertreten und keine
'Schmutzereien begangen zu haben. Da sollte es jedem, der \iich
das Leben und Denken des Mannes vor Augen hält, von vorne-
herein Uar sein, daß ein Meineid nur im ersten Teile des Schwurs
enthalten sein kann. N^elleicht hat der Mann sich gegen den
Fuagraphen vergangen; das wire denkbar; Schmutzereien begifi-
gen hat er sicher nicht!
Otto Soyka.
CberaetEiug aus Harden.
Auf dem Qerichtstisch der Kruzi-
fizas
Auf dem Qerichtstisch das Kruzi-
fix
Ein Wort den
einprägen
Hirnzentren
Ein Wort sich merlcen
Hundertmal ist aus Iceuchender
Brust auf Eissprossen die
Furcht hl den Kopf geldettert,
nicht zu dauern, bis all
dies Orausig - Skurrile den
Mitlebenden erzählt ist
Das Leiden der Physis
Die Kranlcheit
Die schmutzig graugelben
Wangen der Pre6schakale
feuchteten Tränen, wenn die
annoch pompöseste der trois
soeors melodramatisch kam
oder das treue Gemüt des
Robenlyrikers Sello unter dem
Eisernen Kreuz in unsäg-
Uchem Weh aufwinsette, wie
in Sternbergs Tagen
Meine Kollegen von der Tages-
presse waren gerührt, wenn
die Gräfin Danckelmann als
Zeugin aaftrat oder der Ad-
vokat Sello, den ich wie
meine sämtlichen früheren Ad-
vokaten auch als Lyriker pro-
tegiert habe — während der
Jetzige Dramatiker ist — ,
nicht anders plaidierte als in
den Tagen des Stemberg-
Prozesses, da mich seine Ver-
teidigung begeisterte
üigitized by VjOOQIC
— 42 —
Pflkhtbewufitsein leacfatet. der
stelze Glanz einer Persön-
lichkeit aus dem über die
Schöffen herragenden Haupt;
und der Schauer empfindet:
Dieser sucht und besinnt nur
das Recht
DerOberlandesgerichtsrat Mayer
in München ist mit der Ber-
liner Schwierigkeit fertig ge-
worden und hat in Ehren-
beleidigungssachen zuredit er-
kannt, dafi der abwesende
Fürst Eulenburg nach § 175
schuldig sei
In dem rotwangigen Weifilcopf
zitterts vor verhaltener Er-
regung
Der Bernstein ist aufgeregt
Der Antaios, der wieder auf
heimischem Boden ringt
Bernstein, der wieder in Mün-
chen plaidiert
Ein gutmütiger Oberbayer, der
Zunge und Faust nicht gern
feiern Iflfit, Wenn ihm ein
Läuslein über die Leber ge-
laufen ist .
Der resolute Machhflndler Riedel,
der die Wahrheit sagen mufl,
wenn ihm Herr Harden über
eine tiefer unten liegende
Partie gelaufen ist
Ein Vergnügen, dem Mann zu
lauschen. Hold wuchs ihm
der Schnabel nicht; aber er
ziert sich auch nicht und
Jedes Wort hat den Schmack
des Erlebten
Er ist ein Grobian; aber wenn
er erz^lt, was er vor fünf-
undzwanzig Jahren erlebt hat,
so lauscht jeder Schmock mit
Vergnügen
Unser Richter sucht bei der
Übertragung ins Hochdeutsche
dem Wort seinen Wesens-
ruch zu wahren
Der Mayer sucht bei der
Übertragung ins Hochdeutsche
dem Wort seinen wesentlichen
Gestank zu wahren
Ungefähr dreifiigmal haben
Polizei und Gerichte ihn ge-
gepönt
Der Riedel ist leider vorbestraft
Nicht für schlimm mäkelnde
Tat
Nicht für entehrende Handlun-
gen (z. B. sexuelle)
Des Sexualtriebes Befriedigung
hat die junge Seele schon
gekitzelt
Der Riedel war keine Unschuld
mehr
Er ging ins Zivile
Er quittierte
Der Feldafinger
Der Riedel
Seit diesen Vorgängen ist viel
Wasser durchs Würmbett ge-
laufen
Lang, lang ist's her
y Google
-48 —
Der ip ödt Thurmstraße Ge-
bietende
Isenbiel
»Was gings Dich an, Tropf,
damischer?« fragt Frau Riedel
(Oberaus seltene Dialektwendung
der Grunewaldbauem. ähnlich
nur noch bei den Kuhmägden
von MOrzzuschlag, die be-
kanntlich seinerzeit Aber den
Bezirkshauptmann Hervay
sagten: t>Dtt kann in der
Brautnacht ein Mensch nicht
von einer Jungfer unter-
scheiden und will im Mflrz-
bezirk hier der Höchste
seint«)
Die Angen mfihen sich, dem
Ausfra^ zu sagen: »Redst
damisch daher. Tropf Du, eis-
kalter«
(Siehe oben)
Das Qehim assoziiert im
Qanfi^OQdnnkel die Möglich-
keiten
Der Fischerjackl hofft doch
noch, dafi nichts heraus-
kommen wird
Wer scharf hinschaut, ahnt in
dem gangUon ciliare dieFurcht,
hioter dem pupillarischen
Spotbrersttch die bange Frage,
was die nächste Minute wohl
bringen könne
Dem Fischerjackl wird entrisch
zu Mut
Der Zetgfinger
Der Zeigefinger
EHe Herren, die vom Mann
heischen, was dem Normalen
das Weib gewahrt
Die Homosexuellen
Vor Gericht die Spinatgarten-
schande ausspreiten
Als päderastischer Zeuge von
Herrn Harden geführt werden
Das Ohr Ufit von auflen her
kehie Schallwelle durch das
ovale Fenster ins knöcherne
Labyrinth
Man hört nichts
Die Magennerven langen nach
Futter
Ich bin hungrig
Das Gefäß, dem ein Kindlein
entbunden werden tcann, mag
Eifersucht bewachen
Auf eine Frau kann man eifer-
sQchtig sein
y Google
44-
Die im Pflichtbett lieblos ge-
zeugte Brut
Die Kinder verheir4etcr Homo-
seznetler
Die Oefflhlsdominante bergen
Seine Anlage verheimlichea
Die weit von der Norm ab-
biegende Wesenskurve ver-
hallen
Den homosexuellen Trieb ver-
bergen
Der von heldischem Wuchs im
Oeneralsrock nahm ein Weib
und schuf Ächzend im Schofi
der Ungeliebten die Frucht
Graf Hohenau verheiratete sich
und wurde Vater
Der krinkelnde, in der schweren
Schule der Verstellung scheu
gewordene Sinn schweift über
das seiner Brunst wider-
strebende Diesseits hinaus
Päderasten werden Mystiker
Der Gesandtschaftsekretflr letzt
sich an dem achtzehnjährigen
Jakob Ernst
Eulenburg geht mit Ernst efai
Verhältnis ein
Kfisse, die von Oethsemane her
unter Männern in Verruf sind
Judasküsse nach § 175
Im Hagestolzenheim, das dem
Tarifeden einer Luxusdime
ähnelt, neben dem breiten
Himmelbett das neuste Buch
des just in die Mode gelotsten
Sexualmystagogen haben
In seiner eleganten Junggesdlen-
wohnnng sich auch geistig
beschäftigen (Tarifeden lies
Tarif-Eden)
Soll der Schoß deutscher Frauen
aus edel gezüchtetem, uner-
schöpftem Stamm verdorren,
weil dem Herrn Gemahl Ephe-
benfleisch besser schmeckt?
SoU^ die deutschen Hausfrauen
unbefriedigt ausgehen, weil
schmack zu langweilig sind?
Die zurückgesUute Wahrheit
stürzt über die Beinpfosten
der Mundschleufle
Der Fischerjackl beeüt sich»
die Wahrheit zu sagen
Der Ruch der Mftnnerminne
Der Verdacht der Homosexuali-
Ut
Der Jttstizrat fflltelt die Wange
Das mühsam in die Badcen ge-
knitterte Lächeln barg kaum
noch die schwarze Sorge
Hinter dem verlegenen Lächeln
des Flschcfjackl verriet sich
die Angst
y Google
— 46 —
Des Masyannhochmttt so zu
fitzen, daft die Wunde dann
mit derZrinyrede abetpflastert
eben auf dem angamchen Glo-
boa den Kamm schwellen lieft
Die Ungarn zuerst zu demütigen
und dann durch die Rede
auf Zriny wieder fibermfltig
zu machen
Britcnfrtnieinromane
Qouvemantenromane
Zwei Interviews ans der ersten
«Uiddode
Zwei Interviews vom Anfang
Mai
Der Schinder ehrlich reifender
Mannbeit
Eulenburg
Entenbniigs Stil. Bne Beschrdbting vom Tode dd Königs
lon Bqreni, schlicht und kfinstlerisch. »Der Mann sdueibt nicht
jcMecfat Ein bißchen schwülstig; im Stil pretiöser Damen. . .
Hhncfae Bilder sind abgeguckt; manche gehen nicht zusammen.
Und die Interpunkäon ist merkwürdig mangelhaft«. Darum
streidit Herr Harden wenigstens das Genitiv - s aus dem Eulen-
hois^Zitat heraus. Es ist tootzdem weitaus das Beste, was je in
der .Zukunft' gestanden hat. Ein Beispiel, wie Bilder gut zusammen-
fdien, folgt aber sogleich: Der geritzte Magyarenhochmut mit
der dnrch die Zrinyiede flberpfkislerten Wunde und dem Hahn-
dien auf dem ungarischen Globus, dem der Kamm sdiwillt . . .
»Keine Persönlichkeit Kdne Eigenwärme. Noch die überschwin-
fOKle, flbefspruddnde Rede fühlt sich eiskalt an; funkdt manchmal
wohl (von geliehenem Glanz), wärmt aber nie.« Wessen Stil?
Enlenbuigs natüriich! ,
DerMüncbener Riditer : »Endlich sdie ich ihn also, von dem ich
so viel gehört habe«. Stimmung, in der dner vor Goethes Antlitz
tat »Wird er audi heute der gute Richter der Legende sein?«
Er wird. »Was sagen Sie zu unserem Mayer?« »Unser Ober-
Imdeseaichtsrat«. Ein »Musterrichter«. »Lassen Sie mich nur
sMdien«, sagt Bernstein. Mayer ist »der Größte im Saal. Auch
^er Weiseste. Der dcherste Menschenbehandler. Ein Riditer.«
»Boes Holbdn Haltung und Haupt« Ja, er, nur er, hat den Riedd
^azn gebracht, die »KramiiU« zuzugd)en, und den Ernst, daß der
Fürst mit ihm »die Gandi, die Lumpod« gemacht habe. Jeder
im Saal »hat Unvergeßliches erlebt«. »Was sagen Sie zu unserem
Mayer?« »Ontnlicre.« »Heute noch wird er verhaftet«
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- 46 -
Was ist bedenklicher? Wenn ein Journalist seinen Richter »un-
sem Richter«, oder ein FfinA seinen Fiadier »meinen Fischer« nennt?
Ein rührender Zug: Der Angeklagte Stftdele »tiigt eine
Sammetweste. Wer löst die Rätsel willkfirlicher Assoziation? In
dieser wichtigen Stunde, vor der Entscheidung eines Kampfes, dem
seit einem Jahr all meine Kraft hingegeben ist, klammert der über-
reizte Sinn sich an dies gieichgiltige Kleidungsstfick; muß ich,
wider Willen, denken: Solche Weste habe ich auch;
und der Abende mich erinnern, da ich sie, au f n o ch gesunder
Brust, trug. Unbegreiflich dumm. Zolas Saccard fällt mir
ein, der, während ein Börsenorkan ihn aus Besitz und Ansehen
fegt, der in seinem Hof erfrorenen Kamelie nachiammert (Ein gar
so schlechter Psychologe war der eitle Spätromantiker von Medan
doch nicht.) Nun spricht Herr Städele . . .«
Noch ein rührender Zug: In der Mittagspause in die Odeon
Bar. »Geröstete Nieren«. »Aus dem Gerichtshaus kommen wir,
von der Zurichtung eines Scharf richterwerkes : und schmausen.
Geröstete Nieren. Hastig und still . . .«
Wieder ein rührender Zug: Mittagspause. »Im Hotel Con-
tinental fällt der Blick auf den Schreibtischkalender. Einund-
zwanzigster April: Huttens Geburtstag. ,Da laß* ich Jeden
reden und lügen, was er will. Hätt' Wahrheit ich gesdiwiegen,
mir wären Hulder viel.' Ad liberos in Germania omnes hat sich
Herr Ulridi gewandt; ob sein Leib auch siech war, aus nie
feig erzitternder Hand den Würfel geschleudert An die Refni^
gung!« (Trara — der Hütten ist da! Ausgerechnet an seinem
Geburtstag! Das hat unser Mayer wieder gut gemacht . . . Auch
ich rufe in dieser Mittagspause einen Uhich an. Und dies,
wiewohl ich keine gerösteten Nieren gegessen habe.)
Der weitaus rührendste Zug: Der fescher ist im Begriffe,
die Gaudi zuzugeben, weil ihm der Bernstein mit dem Kriminal
und unser Mayer mit dem »letzten Richter« zugesetzt hat »Idi
fühle, wie mirs aus dem Auge strömt Unaufhaltsam. Die ange-
wöhnte Reflexbewegung (so möchte ichs nennen) bleibt aus; das
Gcachneuz ins Taschentuch hülfe ja nicht Wie durch feuchte
Schleier sehe ich den Fischermeister . . . Und kann nur denken,
wie gut es war, das Gesicht von der Menge wegzukehren.«
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— 47 —
Wis er alles veiß: Der Fischer erzählt die Geschichte von
den 12.000 Mark. Dazu bemerkt der Kulturkämpfer nur in
Painthcsc: »So wars nicht Als ein Siamberger, der mit Getreide
handelt, die auf Emsts Anwcs^ haftende Hypothek gekündigt
hatte, vandte der Fischerjackl sich an den Grafen Euienbuiig, der,
angeblidi von seiner Mutter, ihm das Geld verschaffte; ohne jede
Stcherang; gegen drei Prozent Zinsen, deren Zahlung nodi nicht
aadigewicsen ist Die Mitgift seiner Frau» einer Waise aus Wengen,
gab Ernst in die Bank. Antwortete auf die Frage, ob ers nicht
vtt Ratenzahlung des Darlehns benutzen wolle: ,Nein; der
Zins, den die Bank mir zahlt, ist um ein halbes Prozent höher
als der, den ich dem Grafen zu zahlen habe : also verdiene ich,
venn ich das Darlehn behalte'.« So war's!
Zeugenbehandlung: Jakob Ernst sagt aus. »Der Rumpf bebt
nicbt Der braune Daumen reibt die Innenhaut des Zeigfingers,
dessen Nachbarn sich in den Handteller graben. Ein Alltagsmittel,
nm die Nerven zur Ruhe zu zwingen. Im Examen macht mans
so; beim Zahnarzt; auf dem Strohstuhl des angeklagten Sünders .. .
Mich dauert der Mann. Ich weiß, daß ein Herzleiden ihn quält.
Was mag sein Innerstes heute ausstehen? . . . Die Finger der rechten
Hand, die Schwurfinger, krümmen und steifen sich hastig. Die
Sucht, unbefangen zu scheinen, hat auch in den Rumpf Bewegung
gebracht Der windet sich wie in wirrem Traum . . . Man hört
den Atem. Des Fischermeisters Rechte krallt sich, über dem
Herzen, in die Brust Wie in Wehen schüttelt er sich. Die Zunge
strauchelt im trockenen Schlund; sucht sich an der Lippenwand
einzuspeichein . . . Noch einmal bäumt sich die Kreatur.« Das
jüngste Geddit tagt.
Nadi dem Urteil: In einer Gesellsdiaft, »wo freundliche
Menschen mit Heinzelmännleinflinkheit den Teetisch zurichten.
Sdilaraffenland.« Wie lieb! »An den Wänden viele Geweihe.
Locker« Speise auf der Tafel. Danke. Nur Tee. Der Justizrat
sieht um zehn Jahre jünger aus «
Zu einem Interviewer: »Fürst Eulenburg log, als er sich
anbelleckt nannte«.
Dem Diplomaten Eulenburg »fehlte es an Sitzfleisch und
Ernst«. Das soll aber kein Witz sein! uigtzedby Google
— 48
»Inzwischen bat der Berliner Unfeersudiui^sviditer mwt
'Schriftsatz von groBem Umfang von Maximilian Harden erhaitoir .
in dem dieser eine lange Liste von Personen anfistellt, mit denen
Forst Eulentmrg nachweisbar bis in die allerletzte Zdt tmerianbtai \
Verkehr gdiabt habe.«
Zu einem Interviewer: »Ich werde froh sein, wenn ich mit ,
•der eklen Angelegenheit, die sdt anderthalb Jahren all mdne ]
Kraft in Anspruch nimmt, nichts fndir zu tun habe und zu dtr \
Betrachtung politischer und kfinstlerischerVot^ginge zurfidf* *,
kehren kann, zu der stillen Arbeit, mit der idi auf meine Art der
deutschen Macht und Kulturbiiduüg an besdieidener Stelle
dienen zu können glaube.«
Ah, das gibts nicht! Das geht nicht mdir! Bei der nidisten
Besprechung eines Kunstwerks wollen wir im Chorus rufen;
Zurflck! Ein General hat seine Frau nicht befriedigt! Es gilt
«ein Vergdiäi nach § 175 zu beweisen! Es ist erweislich wahr,
daß Ffirst Eulenburg auch in Oldenburg ...
»Ich hätte«, sagt Riedel, »der aufredite Mildimann«, zu
einem Interviewer, »nichts gesagt, wenn der Ffirst nicht die Sache
al^eschworen und andere damit hineingerissen hätte. Und fetzt
muß ich es bfißen, denn viele Leute, und gerade die besseren,
haben jetzt die Milch bei mir abbestellt!«
Er mag sich trösten. Auch das Geschäft mit dem Drachengift
ist nicht mdir das alte. Viele Leute, und gerade die besseren,
haben jetzt die ,Zukunff abbestellt . . . Zwei Hausfrauen sagen : W»
gings Dich an. Tropf, damischer!
Nun geht Deutschhuid einer großen Zeit entgegen. Alles
kommt an den Tag, was in den preußisdien Adelsfamilien sät
der Orfindung des Reichs bis in die letzte Zeit geschehen ist
Alles, alles, alles. Wilhelm IL und Harden — seien wir Deutsche
Iroh, daß wir zwei soldie Kerle haben!
La verit^ est en arche!
Karl Kraus.
: Karl Kraai.
DnMi[ VW Jaboda k Sl«cd. Wica lU. Hüte« ZaUMlMlni8c S.
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DIE FACKEL
Herausgeber: KARL KRAUS
«mbeint In nru^oser Folge Im Omfang lon 16— SS S
BEZUGS-BBDINOUNOBN:
für OestOTdch-Ungaru, 36 Nararaem, portof^
» > 18 » »
> das Deutsche Reich, 3^
» ^ » > Ic
» die Linder d» WeJtpostv,, : DIN um nieni,pc>noiiCi » i:<i.-
»>>» » 18 • p »6. —
Das Abonaemeat eritreckt sieb nicht auf alnan Zeit-
rmumf tondera auf eine bestimmte Anzahl v. Nummern.
Verlag: Wien, III. Hintere Zollaxntsstr. 3.
KoTnmissionBvcrlag für Deutschland :
Otfo Maier, Leipzig
Stephanaatraße Nr. 12.
Efudfcrkaof JO Pf. Berlia NW 7, rrieddcbttrafie 101, Bocb-
bindfon^ M. Lnieotbil.
Verlag der L
befindet sicli Jetzt
Wien, ni/i
Hintere Zollamtsstrasse Nr. 3.
Telephon Nr. 187
ibalt der vorigen Nummer
, Schmach
all
CARL GOLSDORF.J»^U) '
Karlsbad. Sudspesl V. Wjen VC . HUffl /r
Maschinschreibstube SCRIPTOI
WIEN Vll. KIRCtlGNGASSe 34.
chinschreibarbdten nach Diktat, Stenogramm, Kor
tigungen r
j^_ A »i. \>:
04 Ci j^.- tr.".^ r>;
Ilascb
lANUSKRIPTE sind Wien, IV. Schwindgai
dressieren. Unverlangte Manuskripte,
frankiertes Kuvert beiliegt, werden nicht zuruc
Et wlri ersiielitp adminlstratlT» ttittellangen nioht an dea Hi
kredaktionalle nicht an den Vorlag gelangen n laiieiL
DIE Fi
F unternehmen für ZeitongeausBohnitts
BSER V ER, Viaii, L lk)neordlapIati Nr. 4 (Taleph
versendet Zeitungsausschnitte über jedes gewünschte Tberaa^Man verli
Sache Verleger
resken, — --^^'^ ^-- ^-^'--«
ROBERT SCHEL
Im Verlage »Die PACKBL' liad •reelileBeD
durob aU^ Buchbandlungen oder su besie
Karl Kraus:
AXIHILIAN lARDl
Eine Erledigung. | Ein Nacli
Preis fj^
u _ >./-» i^r
Die Fackel
Herausgeben
ARL KRADS.
INHALT:
Festxug. Von den Oe-
ktam. Karl Kraus. — Glosflen. — Einf
Bhrift uu^ Hawaii. — Sittlichkeit und Kri
nalitat. — Tagebach. Von Karl Kraus.
Erdohoint in swanglos^i
Preis der einfeinen Nummer 30 h*
fewcrtanAftieca Veridbeo Terboteai cericIiUldic Vcrfi^rttSf
?orb«h altes.
* MC ' Uigitizedby VjV7^^Xi^
in zweiter Aunage erscnieni
Sittlichkeit u. Kriminal
von
Wählten Schrü
K 7.20
8.70
»>
estellungen auf das im Verlag der
handlung L. Rosner, Wien und
erschienene Werk niiiii ■' ''"^'^
handli
Die Fackel
RI.2S6
WIEN, 5. JUNI INS
IL JAHR
Der Pestzng.
Nun kommt also der TriumphsBU^ der Kriecherei
sustande. Und so entblOfit scheint die Absicht der
sich selbst huldigenden Niedrigkeit, dafl ihr Vorwand
Iftngst wie eine Majestätsbeleidigun^ wirkt. Der alte
Kaiser wollte die umständliche Eostümierung der
Ordenssehnsucht nicht, und will sie erst recht nicht,
weil er sie erlauben mufite. Seinem kultivierten Ge-
schmack imd seinem Wunsch nach Ruhe ist der
geräuschvolle Unfug in gleicher Art zuwider. Aber
die Kriecherei hatte mit Oberhebune gedroht, wenn
man sie nicht kriechen liefie, und Kaisertreue und
Volkswirtschaft waren ausgesteckt, um zu erreichen,
was den exekutiv verehrenden Patrioten auf dem
Herzen lag, weil es ihnen uQch nicht auf der Brust
lag. Kaisertreue und Volkswirtschaft: Gott erhalte
diä Kleingewerbe! Aber der Kaiser dankt für die
Treue und das Volk hat die Wirtschaft satt. Der
Kaiser mufi dabei, sein und will nicht, das Volk will
dabei sein und darf nicht. Die kleinen Leute, denen
auf die Beine geholfen werden sollte, haben das
Nachsehen, und nicht einmal das Zusehen. Denn wer
vermöchte einen Tribünensitz zu erschwingen? Ge-
•^r Schneider, mit dessen Wohlfahrt der Patrio-
Qus verknüpft wurde, geht leer aus, undhatsichs
Ende selbst zuzuschreiben. Die Kostümstoffe
ieht man vom Juden und aus dem Ausland, und
Br Zivilkleid ist verpfuscht: die Knopflöcher sind
grofi und die Taschen zu klein.
Digitized by VjOOQIC
— 2 —
und ein Romano steckt: er hat zugleich getan, was er
malte. Aber diesmal verliefl man sich darauf, dafi schon
die Taten malerisch wirken. Dieser Festzng siegte
im Zeichen eines Geistes, der sich bei der Vorstellung,
daß nach Frankreich zwei Grenadiere zogen, an deren
Uniform berauscht. Vor einem Gschnasfest glaubt
auch jeder, dafi er am meisten auffallen werde, und
bemüht sich um jeden Knopf seines Narrengewands;
schließlich wirkt nur die Masse. Warum wird so viel
Schweiß an die historische Treue verschwendet?
Sie fesselt blofl die Sachverständigkeit, und die
kommt im Gewühl nicht zum Urteil. Wenn tausend
blaue Jacken mit grünen Aufschlägen über die Ring-
straße ziehen, jubelt das Volk auch und denkt an
den Kaiser Josef. Das »Malerischec wirkt nicht
wegen, sondern trotz der Echtheit. Ein Leuchtbrun-
nen ist malerisch. Wer ihn springen läfit, weifi ganz
gut, dafi dem Gaffer die Unzufriedenheit überstaat-
liche Dinge vergeht. »Guck — guck, da — dal«
das ist der Sinn eines Festzugs. Dazu bedarfs weder
eines künstlerischen Ingeniums noch der Mühe eines
Uniformforschers. Ob das Kostüm echt ist oder nicht,
spielt keine Rolle. Dagegen ist es nicht zu unter-
schätzen, dafi der echte Nachkomme eines Starhemberg
darin steckt und kein Berufsstatist. Das ist eine Sen-
sation, die mit künstlerischem Empfinden nichts zu
schaffen hat und sich darum gewifl in der gedank-
lichen Linie eines Festzuges bewegt Wenn man das
Glück hat, ladelige Leute zu finden, die so populärem
Interesse entgegenkommen, warum sollte man es
nicht nützen ? Um einer Ähnlichkeit willen begehrt zu
sein, läßt feinfühlige Menschen oft erst den Unterschied
fühlen. Wenn eine Adlernase gesucht wird, so hat
das Bewufitsein etwas Drückendes, dafi man mit den
dazugehörigen Taten nicht dienen kann. Hier hat es
offenbar nicht gedrückt. Jeder fühlte sich geehrt,
seinen ruhmreichen Vorfahren darzustellen. Und
y Google
8 —
mancher liefi leutselig seine Unterlippe hängen, als
wäre sie wirklich ein Schirmdach der Völker.
«
EjS ist schwer, die Forderung der Ähnlichkeit
mit der Bedingun^^ der Verwandtschaft in Einklang
SU bringen. Aber im Zweifel zieht man doch einen
iwanzigjährigen Radetzky, der anders aussieht, einem
besser entsprechenden Magistratsbeamten vor.
*
Das Malerische ist ein Argument, das mit allen
ESnwänden fertig wird. Und es gibt Wirkungen auf
die Nerven, denen sich der oppositionellste Geist
nicht entziehen kann. Wenn alle Glocken läuten,
umarme ich den Klotzberg.
*
Ja, wenn man mit solchen Mitteln arbeitet, dann
ist's keine Kunst, recht zu behalten I In Osterreich
brennt's und man macht ein Feuerwerk daraus.
*
Welch ein Theater I In der Historie wirkten die
Schauspieler mit, im Bauerndrama die Schlierseer.
m
Empfinden die Zuschauer wirklich Geschichte?
Oder wollen sie nur, dafi die (Gesichter stimmen?
Der historische Sinn triumphiert im Ausruf: »Aber
der ganze Napoleon Ic
«
Die Lehre : In historischen Zeiten trug man also
schöne Kostüme, und die Huzulen tragen keinen Frack.
*
Wer nicht hoch ruft, weil er ein Komiteemitglied
für niedrig hält, ist ein Vaterlandsverräter.
So etwas ist nur in Wien möglich I Die Un-
ordnung war so grofi, dafi die Sache wirklich
geklappt hat. Nur der Schlamperei ist es zu ver-
y Google
_ 4 —
danken, dafi kein Unglück geschehen ist. Wäre es
konsequent im Stil der Aktionen des Komitees weiter-
gegangen, so hätte die Ringstraße einem Schlachtfeld
fleichen müssen. Aber es herrschte ein solcher
iTirrwarr, daß schließlich der Zufall die Oberhand
behielt und alles in schönster Ordnung vor sich ging.
Wenn in anderen Städten die bürgerliche Ge-
sellschaft sich zu solchen Festen auf die Strafte
wagte, die ihre rings lauernden Feinde wären recht-
zeitig zur Stelle. Aber hierzulande ist den Anarchisten
um ihre gesicherte soziale Position bange, und von
den Einbrechern hat einer behauptet, daß sie zwar
vollzählig in Bereitschaft waren, aber nur um sich
den Festzug anzuschauen. Sogar das Wetter, das
nicht unbedingt gesellschaftsfreundlich ist, hatte das,
womit man hierzulande die nachgiebige Feigheit be-
zeichnet: »ein Einsehen«. Und £i das Unglück nun
einmal geschehen und der Festzug ohne Störung
verlaufen ist, bewahrt uns nur ein verläßliches Defizit
vor Wiederholungen, Sonst könnte das Komitee leicht
übermütig werden und glauben, es werde immer ohne
Katastrophe abgehen ; und man brauche nur öfter die
Ringstraße abzusperren, um den Namen Klotzberg
definitiv auf die Nachwelt zu bringen.
*
Der historische Teil des Festzugs umfaßte vor
allem jene bedeutungsvollen Augenblicke, in denen
nach der Darstellung der Lehrbücher für Mittel-
schulen am Wiener Hofe die Friedenspartei siegte. Für
die glorreichste Tat in der österreichischen Qeschichte
halten aber die Patrioten die Veranstaltung des Fest-
zugs. Die Verherrlichung dieser Tat, von ihrer Ent-
stehung aus dem Wunsche, den Lohndienern der
Hotels zu helfen^ bis zu der in Österreichs Annalen
beispiellosen Baisse in Tribthiensitzen, wollen sie
künftigen Festzügen vorbehalten.
y Google
— 6
»Die Qer achte, daB TribOnensitze unter dem
normierten Preise abgegeben worden seien, erhalten
sich allerdings.« So hat zum Schlüsse eine offizielle
Note des Komitees gesagt, in der der Ehrengewinn
des Tages ausgewiesen wurde. Wenn's aber wirklich
wahr sein sollte, daß die Emissäre des Komitees vor
dem Lokal Sitze, die 100 Kronen gekostet haben,
um 2 anbrachten, die Veranstalter werden es nicht
glauben. Denn sie haben den allgemeinen Klagen,
dafi das Volk nicht berücksichtigt werde, am Morien
des Festzuges nachgegeben und sich aus sozial-
politischen Gründen bestimmt gesehen, jeden, der
den Pestzug bequem sehen wollte, gratis auf die
Tribünen zu lassen. Die vielgeschmähte Agiotage
überraschte durch das Angebot, wer weniger
gebe, und trieb die Preise in die Tiefe, dafi es eine
Art hatte. Es war für viele Leute sehr schwer, keinen
Tribünensitz aufzutreiben. Da die Annoncen, die be-
deutende Preisreduktionen verhiefien, keinen Erfolg
hatten, wurden aus Kaffeehäusern im letzten Augen-
blick anständig gekleidete Gäste durch das Telephon
requiriert. Aber sie weigerten sich, al^Zuschauer zu
statieren. Und so kann man mit Befriedigung fest-
stellen, dafi es vor allem die breiten Schichten der
Bevölkerung waren, die den Festzug sehen durften.
Man macht jetzt dem Komitee . den Vorwurf, daß
es die besitzenden Klassen von der Betrachtung des
Schauspiels ausgeschlossen hat.
•
Ich bin für eine Zersplitterung der Dummheit.
Es tut nicht gut, wenn sie wochenlang auf einen
Punkt konzentriert ist.
Die unverdiente Schönheit dieser Stadt I Die ihr
aber zum sogenannten »Ernst der Arbeite zureden,
sind so töricht wie ihre Schmeichler und Feuil-
letonisten. Nicht dafi «ihre Männer nicht arbeiten, ist
y Google
— 6
beklagenswert, aber dafi sie nicht denken. Es ist ja
verdienstlich, sich darauf zu verlassen, dafi der
Himmel blau ist und die Wiese grün. Wer da
sagt, davon könne man nicht leben, ist ein Philister.
Aber wer sagt, es sei traurig, davon zu leben,
*sagt die Wahrheit.
Die Vorstellung, dafi eine schöne Frau auf
einer Tribüne sitzt, ist peinigend. Sie hat nicht ein-
mal die Genugtuung, dafi der Festzug sie ansieht.
Und um wieder ihn mit Wohlgefallen zu betrachten,
dazu, meint sie mit Recht, sei man vom Ballett der
Oper doch zu sehr verwöhnt. Auch seien die Plätze
dort bequemer. Aber leidet denn auch sie auf der
Tribüne, wenn mir ihr Rücken weh tut?
■♦
»Es hiefi, dafi zwischen dem historischen Festzug
und den nationalen Gruppen eine längere Pause ein-
treten werde, während welcher der Hof Erfrischungen
nehmen soll. Diese Annahme war jedoch unrichtig.
Eine Pause im Festzug ist nicht geplant Der Vor-
beimarsch wii^ ununterbrochen erfolgen.« Pardon
wird nicht gegeben. Und überhaupt hätte das Ganze
Wilhelm dem Zweiten gefallen. Elr hätte sich nie da-
gegen gesträubt I
»
Die österreichischen Nationalitäten vereinigen
sich zu einer Huldigung und streiten deshalb
um den Vorrang beim Huldigen.
Was man nicht durch einen Festzug lernt: Es
gibt Huzulen in Österreich I
Warum gehen die Männer mit roten Gewändern
und die Männer mit Dolchen im Bauch, die auf der
Strafie die Kinder schrecken, und die gramgebeugten
Männer, die Ovationen darbringen, warum gehen sie
y Google
- 7 -
noch immer in Wien herum? Wir sind ja endlich
flavon überzeug, daß sie mit uns einem und dem-
selben Staatsverband angehören.
Wie? Ein einsiger Einbruchsdiebstahl in ganz
Wien, und an so einem Tag? Ist dies nicht auch
ein Verfallszeichen? Nein, es war eine Demonstration
der Standesehre. Hinter dem Rücken der Wiener Polizei^
die auf der Ringstralto alle Hände voll zu tun hat,
tut ein Einbrecher nichts.
«
Nachdem beschlossen war, die Festzugsstrafie
zu Yerlängem, las man: »Damit wäre nun allerdings
jenen Forderungen, welche die ,Neue Freie Presse'
aufgestellt hat, in weitem Umfang entsprochen. €
»Bekanntlich hat zuerst das ,Deutsche Volksblatt'
darauf hingewiesen . . .€ »Wir dürfen wohl darauf
hinweisen, daß das ,Extrablatt' zu allererst den Ruf
erhoben hat: Platz fürs Yolklc u. s. w. Eine Einig-
keity wem das Verdienst gebührt, ist in solchen Fäl-
len nicht zu erzielen. Aber auch die Beobachtung realer
Tatsachen schwankt. Von dem Wagen, in dem eine
Dame im Blumenkorso fuhr, las man zum Beispiel in
den verschiedenen Blättern : »Ein Wagen aus der Zeit
Louis XVI.«, »Ein Wagen aus der Zeit Louis XV.«,
»Bin Wagen aus der ^eit Louis XIV.« Ein solche
Reduktion wurde nur mehr bei den Tribünensitzen beob-
achtet. Schliefilich bekam diese jeder beliebige Louis
schlechtweg.
*
Das Exekutivkomitee hat insofern die Erwar-
tungen enttäuscht, als es das österreichische Natio-
nalitätenproblem tatsächlich nicht gelöst hat. Vor
dem Eomiteelokal demonstrierten die Dalmatiner,
weil sie mit den Schlafplätzen unzufrieden waren,
die Ruthenen, weil sie überhaupt keine Schlafplätze
hinten, und die Kroaten wollten nicht mitspielen,
y Google
— 8 —
weil sie in der Festschrift durch eine Erinnerung an
das Jahr 48 beleidigt wurden. Die Tschechen und
die Italiener hatten von allem Anfang nicht mitgetan
und hätten erforderlichen Falles darum gestritten, wer
zuerst nicht mittun würde. Der Stiefvater der Völker
Österreichs, Herr Klotzberg, unterwarf sich in Demut
und versprach — in einem Deutsch, das den
kroatischen Ansprüchen vollauf entgegenkam — eine
Neuauflage der Festschrift; aber für das leibliche
Wohl der Nationen hatte er nicht gesorgt. Die vier-
hundert Ruthenen sind in der Nacht vor dem grofien
Tag tatsächlich erfroren und verhungert. Dafi sie
dann dennoch im Festzug waren, ist nur ein Beweis
der belebenden Wirkung des Patriotismus.
•
In den Tagen der Feste las man einen gro-
fien Lokalbericht, der diese Aufschriften trug: >Der
Schauplatz des Unglücksc, »Die Rettungsaktion€^
»Die Bergung der ersten Totenc, »Die Opfere, »Die
Leichenschauc, »Die Liste der Totenc, »Die Liste
der Verletztenc, »Der Bericht an den Magistrate,
»Was die Geretteten erzählen c. Ein Bericht über
den Festzug wars also nicht; blofl der über die
Ezplosionskatastrophe in Ottakring. Aber zu der-
gleichen Lappalien hatte man in Wien jetzt keine
Zeit. Auch unwichtige Details, die wirklich den Fest-
zug betrafen, wurden übersehen. Zum Beispiel:
»Mehr als 400 Bauern aus Ostgallzien sind heute Mittags an-
gekommen, aber das Komitee, das sie hieher bestellt hatte, gab ihnen
nichts zu essen und wollte, daß sie im Prater auf dem nackten Erdboden
schlafen. Sonntag abends kamen sie in Lemberg an, wo sie eine Probe
hatten. Dienstag Nachmittags fuhren sie von dort weg in einem Bum-
melzug, in dem sie ihre Notdurft durch die Fenster verrichten mußten.
Gestern nach 1 Uhr kamen sie in Wien an. Sie wurden in den Prater
gebracht, wo sie hinter der Rennbahn in Zelten untergebracht werden
sollten. Sie mußten bis nach 5 Uhr warten, ehe sie etwas zu essen
bekamen. Was sie aber dann bekamen, war so, daß 70 Bauern das
Essen überhaupt zurückwiesen, well es ihnen, die wirklich nicht an
y Google
- 9
allzu gute Küche gewöhnt sind, zu schlecht war. Das Mittagmahl be-
stand aus einer dünnen Suppe, einem kleinen Stückchen harten Fleisches,
einer Kartoffel und einem Stückchen Brot. Das Fleisch war zu hart,
das Brot zu wenig. Auch diejenigen, die das Essen genommen hatten,
klagten, daß sie hungrig geblieben seien. Noch skandalöser als das
Essen war das Quartler. Etwa 20 Zelte waren errichtet und in jedem
sollten 25 bis 30 Personen schlafen. Um 9 Uhr Abends war blofi in
einigen Zelten ein Strohsack, in den meisten war gar nichts, nicht ein-
mal Stroh, auf das sich die Festgäste hätten legen können, auch nicht
Decken, mit denen sie sich gegen die Kälte schützen konnten. Man
mutete ihnen allen Ernstes zu, in dieser kalten Nacht auf dem nackten
Boden zu schlafen. Es ist kein Wunder; daß die Leute drohten, die
Zelte zusammenzuschlagen.«
^ Aber am andern Morgen ging's hoch her.
Jubel ohne Ende. Dem Festzug folgte ein Na-
tionalitätenfest in der Rotunde, bei dem die Eoroitee-
mitglieder vom Publikum beschimpft wurden, die
Schlesier und Qalizianer zwangsweise tanzten und
die Triestiner die Irredentisten prügelten. Hier fanden
sich endlich auch die lange gesuchten Taschendiebe
ein, die beim Festzug gefehlt hatten, und die jetzt
unter allgemeinem Beifall verhaftet wurden. Sie hatten
den Zuschauem weniger abgenommen und mehr ge-
boten als die Eomiteemitglieder.
Was ist ein Nörgler? Der an allem etwas aus-
zusetzen hat, sogar am Festzug. Und Leute, die im-
Prinzip für Festzüge sind und gerade an diesem
etwas auszusetzen haben, sollte man wirklich des Lan-
des verweisen oder gar zwingen, die Leitartikel der
patriotischen Wiener Presse zu lesÄi. Aber es ist
ungerecht, den einen Nörgler zu nennen, der grund-
sätzlich gegen Lärm, schlechte Luft und Festzüge
ist und diesen da nicht schlechter findet als einen
andern. Der der Meinung ist, daß ein Gemenge aus
Kitsch und historischer Treue nicht den Aufwand
y Google
— 10 —
von Gschaftlhuberei lohnt. Und dafi, wer einen
Orden will, dazu keinen Festzug braucht. Und dafi
überhaupt ein Knopfloch leichter ausgefüllt ist als
eine Tribüne.
Karl Kraus.
Lob der verkehrten Lebensweise*).
Ich hatte die traurigen Folgen einer nornaialen
Lebensweise, mit der ich es eine Zeitlang yersuchte,
nur zu bald an Leib und Qeist zu spüren bekommen
undbeschlofi, noch einmal, ehe es zu spät wäre, ein
unvernünftiges Leben zu beginnen. Nun sehe ich
die Welt wieder mit jenen umflorten Blicken, die
einem nicht nur über die Wirklichkeit der irdi-
schen Dbel hinweghelfen,' sondern welchen ich
auch manch eine übertriebene Vorstellung von den
möglichen Lebensfreuden verdanke. Das gesunde
Prinzip einer verkehrten Lebensweise innerhalb
einer verkehrten Weltordnung hat sich an mir
in jedem Betracht bewährt. Auch ich brachte einmal
das Kunststück zuwege, mit der Sonne aufzustehen
und mit ihr schlafen zu gehen. Aber die unerträgliche
Objektivität, mit der sie alle meine Mitbürger ohne
Ansehen der Person bescheint, allen Mifiwachs und
alle Häfllichkeit, entspricht nicht jedermanns Naturell,
und wer sich beizeiten vor der Gefahr retten kann,
mit klaren Augen in den Tag dieser Erde zu sehen,
der handelt klug, und er erlebt die Freude, darob von
jenen gemieden zu werden, die er flieht Denn als
der Tag sich noch in Morgen und Abend teilte,
*) Aus dem ,Siniplicissiinus^
Digitized by VjOOQIC
— 11
wars eine Lust, mit dem HahDenschrei sbu erwachen
und mit dem Nachtwäohtemif ins Bett su gehen.
Aber dann kam die andere Einteilung auf, es ward
Morgenblatt und es ward Abendblatt, und die Welt
lag auf der Lauer der Ereignisse. Wenn man eine
Weile angesehen hat, in wie beschämender Art sich
diese vor der Neugierde erniedrigen, wie feige sich
der Lauf der Welt den gesteigerten Bedürfnissen der
Information anpaßt und wie schliefilich Zeit und Raum
Erkenntnisformen des journalistischen Subjekts werden,
dann legt man sich aufs andere Ohr und schläft
weiter. »Nehmt, müde Au^en, eures Vorteils wahr,
den Aufenthalt der Schmach nicht ansusehn.«
Darum schlafe ich in den Tag hinein. Und
wenn ich erwache, breite ich die ganze papierene
Schande der Menschheit vor mir aus, um zu
wissen, was ich versäumt habe, und bin glück-
lich. Die Dummheit steht zeitlich auf, darum
haben die Ereignisse die Gewohnheit, vormittags zu
geschehen. Bis zum Abend kann immerhin noch
Manches passieren, aber im allgemeinen fehlt dem
Nachmittag die lärmende Betriebsamkeit^ durch die sich
der menschliche Fortschritt bis zur Stunde der
Fütterung seines guten Rufs würdig zeigen will. Der
richtige Müller erwacht erst, wenn die Mühle stille-
steht, und wer mit den Menschen, deren Dasein ein
Dabeisein ist, nichts gemein haben will, steht spät auf.
Dann aber gehe ich über die Rinestrafie und sehe, wie
sie einen Festzug vorbereiten, ^er Wochen hallt der
Lärm, wie eine Symphonie über das Thema vom Geld,
das unter die Leute kommt Die Menschheit rüstet zu
einem Feiertag, die Ziromermdister schlagen Tribünen
und die Preise auf, und wenn ich bedenke, dafi ich
all die Herrlichkeit nicht sehen werde, beginnen
auch meine Pulse Ireudiger zu gehen. Führte
ich noch die normale Lebensweise, so hätte
ich wegen des Festzugs abreisen müssen; nun
y Google
-^ 12 —
kann ich dableiben und sehe trotsdem nichts.
Ein alter König bei Shakespeare winkt ab: >Macb6
kein Geräusch, macht kein Geräusch; zieht den Vor-
hang zul Wir wollen des Morgens zu Abend speisenc.
Ein Narr, der die Verkehrtheit dieser Welt-
ordnung bestätigt, setzt hinzu: »Und . ich will am
Mittag zu Bette gehnc. Wenn aber ich am Abend
frühstücken werde, wird alles vorbei sein, uqd aus
den Zeitungen erfahre ich bequem die Zahl der
Sonnenstiche.
Alle wichtigeren Unglücksfälle geschehen am Vor-
mittag. Ich kenne sie nur vom Hörensagen und be-
wahre mir dadurch, dafi ich zu spät komme, den
Glauben an die Vortreflflichkeit der menschlichen
Einrichtungen. In den Abendblättern steht nicht nur
was geschehen ist, sondern auch wer dabei war, so
dafi man sich in eine sichere Entfernung von einer
Brandstätte gerückt fühlt und dennoch Gelegenheit
hat, die Häupter seiner Lieben zu zählen, von
denen kein einziges fehlt. Man mache sich die Ver-
wandlung des Weltenraums in einen lokalen Teil
zunutze, so gut man kann, man bediene sich
eines Verfahrens, das unter dem Namen Zeitung
eine Konserve der Zeit herstellt Die Welt ist
häßlicher geworden, seit sie sich täglich in einem
Spiegel sieht, darum wollen wir mit dem Spiegel-
bild vorlieb nehmen, und auf die Betrachtung
des Originals verzichten. Es ist erhebend, den Glauben
an eine Wirklichkeit zu verlieren, die so aussieht,
wie sie in den Zeitungen beschrieben wird. Wer den
halben Tag vorschläft, hat das halbe Leben ge-
wonnen.
^ Alle besseren Dummheiten geschehen am Vormit-
tag; der Bürger sollte erst erwachen, wenn die Amts-
stunden zu Ende sind. Er trete nach Tisch ins Leben
hinaus, wenn es frei von Politik ist. Dafi auch die
Attentate vormittags geschehen, wird er allerdings
y Google
- 13
nicht aus den Abendblättern erfahren können; denn
sie werden aumeist auch vonrden Korrespondenten ver-
schlafen. Es gibt eine Zeitung, die einen Vertreter
nach dem andern nach Paris schickte, um die Atten-
tate auf die Präsidenten rechtseitig su melden; und
siehe da, ein Präsident nach dem andern kam ums
Leben, und jedesmal war der* Tod eines Präsidenten
der Zwillingsbruder des Scblals eines Korrespondent^ .
Als die deutschen Fürsten in unserer Stadt weilten,
wufite ich nichts davon. Aber auch sonst hatte dieser
Zwischenfall keine nachteiligen Folgen für mich,
höchstens, dafi es zum erstenmal geschah, daß ich.
zum Frühstück mein gewohntes Kindfleisch nicht
bekam, also einer Neigung entsagen mußte, durch
die ich bis dahin meine Zugehörigkeit zu der Stadt,
in der ich lebe, demonstrativ bekundet hatte. Der
Kellner entschuldigte sich und verwies mich zum
Trost auf die Festigung des Dreibunds, der über lokale
Interessen hinaus der Oewinn dieses Tages sei. .
Wenn ein Theologe sich dazu durchringt, nicht
mehr an die unbefleckte Empfängnis zu glauben, so
geschieht es am Vormittag, wenn ein Nuntius sich
blamiert, so geschieht es am Vormittag, und es ist
wahrlich immer noch besser, dafi ein Sturm der Bauern
auf eine Universität oder der Ruf »Heraus mit dem
allgemeinen Wahlrecht If uns den Schlaf des Vor-
mittags stört als die Ruhe des Nachmittags. Nur
einmal kam ich zufällig des Weges, wie ein Minister
nach Tisch demissionierte. Aber wie unordentlich ist
es auch damals zugegangen I Die Polizisten hieben
um drei Uhr auf die Volksmenge ein, die »Abzug I<
gerufen hatte, und sagten schon um viertel vier:
»Qeht's z'haus, Leutein, der Badeni is auch schon
gangen I< Wie steht es mit der Justiz? Sie ist nur
am Vormittag blind, und geschieht ausnahmsweise
einmal noch in vorgerückter Stunde ein Justizmord,
80 handelt es sich gewiß um einen besonders wich-
y Google
14
tigen Fall. Oder es kann in deutschen Landen vor-
kommen, dafi in einer geeohlechtlichen Affäre die
Wahrheit auf dem Marsche ist» und zwar seit fünf-
undKwansig Jahren, und dann mufi sie wohl deu
Nachmittag zu Hilfe nehmen. Um einem solchen Er-
eignis seine Aufmerksamkeit zu versagen, nützt es
auch nichts, sich ins Schlafzimmer zurückzuziehen,
d%sich bekanntlich gegenüber dem Wahrheitsdraog
gerade das Schlafzimmer als der am wenigsten
sichere Ort erwiesen hat. Gehört es aber sonst
immerhin zu den Annehmlichkeiten des Lebens,
die Aktionen der staatlichen Verwaltung zu verschla-
fen, so mufi ich leider zugeben, dafi ich auf einem
Gebiete mit meiner Praxis überhaupt kein Glück
habe, und zwar im Reich der schönen Künste. Denn
man hat zum Beispiel festgestellt, daß die meisten
Theaterdurchfälle gerade abends geschehen. Dafür
ist bei der Nacht auf allen Gebieten öffentlicher
Betätigung Ruhe. Nichts regt sich. Es gibt nichts Neues.
Nur die Kehrichtwalze zieht wie das Symbol einer
verkehrten Weltordnung durch die Straßen, damit
der Staub verbreitet werde, den der Tag zurück-
gelassen hat, und wenn's regnet, so geht auch der
Spritzwagen hinterher. Sonst ist Ruhe. Die Dummheit
schläft, da gehe ich an die Arbeit. Von fern klingt
es wie das Geräusch von Druckpressen: die Dumm-
heit schnarcht. Und ich beschleiche sie und ziehe
aus-der meuchlerischen Absicht noch Genuß. Wenn
am östlichen Horizont der Kultur das erste Morgen-
blatt erscheint, gehe ich schlafen . . . Das sind so
die Vorteile der verkehrten Lebensweise.
Karl Kraus.
y Google
— 15 —
Seine Antwort,
Herr K. hat mich, seit ich
ihn als einen Mitarbeiter der ,Wage'
kennen lernte, mit Überschwang-
iicher Liebe, Bewunderung, An-
betung verfolgt, das hat mich ge-
rfihrt und ich habe den talentvollen
jungen Menschen, weil ich ihn für
sauber hielt, leider nicht wegge-
stoßen. Wenn ich nach Wien kam,
holte er mich vom Bahnhof ab, und
ließ mich nicht loß, bis ich wieder
im Zuge safi. Da er von fast allen,
die mir in Wien bekannt und
interessant sind, verachtet wurde
und wird, verzichtete ich, aus Mit-
leid mit dem armen Teufel, auf das
Vergnügen, diese Menschen zu
sehen. Wenn er nach Berlin kam,
war er bei mir wie Kind im Hause,
saß, ohne Rücksicht auf meine
knappe Zeit, stundenlang, halbe Tage
lang bei mir. Ungefähr Jede Ge-
fälligkeit, die man erweisen kann,
habe ich ihm erwiesen. So habe
ich ihm fürs erste oder fürs zweite
Heft seiner , Fackel' (deren ganzen
Plan, innere und äußere Gestaltung
ich auf sein Bitten mit ihm durch-
sprach) einen Artikel geschrieben,
nicht nur umsonst, sondern auch
in dem sicheren Vorgefühl, welchen
Haß ich mir dadurch in Wien zu-
ziehen würde. Das geschah auch
noch, ich war verfemt und die
,N. F. P.' lehnte einen Aufsatz
Bjömsons über mich ab. Für seinen
f^zefi mit Bahr habe ich, trotz-
dem ich Bahr sehr schätze und
immer für einen unbestechlichen
Menschen hielt, ihm ein Gutachten
geschrieben. U. s. w. Seine Bilder,
Briefe, Karten strotzen von »Be-
leb bin ein alter Leser der .Zu-
kunft'. Ein alter und treuloser
Leser. Mein Vorurteil gegen Herrn
Maximilian Harden ist gewiS unter
allen Antipathien, die er sich seit
der Gründung seiner Zeitschrift er-
worben hat, die beachtenswerteste,
weil er mir persönlich so gar keinen
Grund zu ihr gegeben hat. Das be-
lastet in Wien, der Stadt der Ver-
bindungen und Beziehungen, die
sich die Niederlassung des Herrn
Harden redlich verdient hätte, mein
Schuldkonto. In der Reihe verlorener
Freundschaften, die dem Lebens-
weg des Herrn Maximilian Harden
unberechtigter Weise das ehrenvolle
Dunkel der Einsamkeit verliehen
haben, bedeutet mein schroffer Ab-
fall die bitterste Enttäuschung. Bei
allen anderen Verlusten konnte er
die literarische Verfeindung auf die
persönliche reduzieren. Meine Un-
treue nahm den anderen Weg. Ich
habe Herrn Maximilian Harden aus
blauem Himmel angriffen. Welch'
tief unbegründete Abkehr! Wie be-
reute ich es, daß sie notwendig
war, wie schämte sich mein Verrat
des früheren Glaubens 1 Ich erkannte
damals, daß der Altersunterschied
zwischen uns sich umsomehr ver-
engte, als ich mir erlaubte, die
Kriegsjahre des Herrn Harden nur
einfach zu zählen. Der Fünfund-
zwanzigjährige hatte neben dem
Fünfunddreißtgjährigen den Nach-
teil, aber zehn Jahre später den
Vorteil der Jugend. Zuerst konnte
er nicht sehen, und dann sah er
einen Blinden. Die Jugend sollte
sich nur von abschreckenden Bei-
y Google
-.16 —
wunderung« und Liebe. Er nennt
mich nach einem Wiener Aufenthalt
den Unvergeßlichen usw. Daß mir
seine Tätigkeit mehr und mehr miß-
fiel, mußte er merken. Seine ewige
Bitte: Ihn und seine »Fackel* in der
»Zukunft* zu erwähnen» konnte ich
nicht erfflllen, zweimal mußte ich
ihm Artikel ablehnen. Daß ich sein
Vorgehen gegen Bahr, seine Cam-
pagne für die widrig fand,
verhehle ich nicht. Zu einer Kritik
erdreistete er sich zum ersten Male,
als ich über die die das
Berliner Bühnenleften mit ihrer
Geldmacht vergiftet hatte, einige
unfreundliche Worte schrieb. (Er
hatte gemeinen Privatklatsch über
die . . . breitgetreten, war seit seinem
grotesken Roman mit der ....
aber empfindlich in diesem Punkt
geworden.) Ich antwortete schroff
und ließ ihn bei seiner nächsten An-
wesenheit nicht mehr zu mir kom-
men. Seitdem schimpft er . . . Ich
bin der Selbe geblieben, der ich
in der Zeit seiner Verhimmelung
war, habe nur gearbeitet. Sein Blatt
habe ich seit^ zwei Jahren nicht
mehr geöffnet, er schickt es mir
und es bleibt in dem Umschlag
liegen. Ekelhaft war mir's längst,
bevor er mich angriff. Jetzt steht
er mit ,N. F. P.' und ,N. W. T.' in
Reihe und Glied gegen mich. Habeat.
Maximilian Harden
(7. Juni 1908).
spielen erziehen lassen und sich die
Vorbüdcr für die Zeit der Reife
aufheben. Was ihr im weiten Um-
iu-eis deutscher Kultur sich bietet,
ist ein so sicherer und tief
fundierter Schwindel, daß selbst
die Originale Surrogate sind.
Nur die Phantasie wird mit
ihnen fertig, zieht sie dem
Leben vor. Wie sah der große
Einzelkämpfer aus, dessen Meinung
gegen jenen Strom schwamm,
zu dem sich alle journalisti-
schen Schlammgewässer ver-
einigen? Er sah aus, wie ich
mir ihn schuf, und Herr Maxi-
milian Hacden lieferte für meine
Erfindung die Gebärde. Ich sah
seine Blitze zucken, und hörte
seine Donner krachen; denn in
mir war Elektrizität. Ich war
ein Theatermeister, den das Ge-
witter, das er erzeugt, erzittern
macht. Welchen Respekt hatte ich
vor Herrn Maximilian Harden, weil
seine Leere meinem Ergänzungs-
trieb entgegenkam. Solches Ent-
gegenkommen wird zum Erlebnis,
bleibt aber nur so lange das
Verdienst des Andern, als man
für die Werte, die man zu
vergeben hat, nicht in sich selbst
einen besseren Platz findet. Dann
wohnt in den öden Fensterhöhlen
das Grauen.
Karl Kraus
(31. Oktober 1907).
Seit längerer Zeit werden in den Kreisen, die
sich für literarische Personalien interessieren, Wetten
abgeschlossen : Wird er antworten oder wird er nicht?
Ich entmutigte die Hoffenden. Er wird nicht, sa^te
ich allen, die mich fragten und die mit Recht an-
y Google
— 17 —
nahmen, dafl ich über die HenAnungen des Herrn
Maximilian Harden besser informiert bin als er über
die Triebe des Grafen Moltke. Er wird nicht Denn
er ist vornehm. Er hält's auch hierin mit der Religion
der yNeuen Freien Presse*, welche die Abtrünnigen
mit dem dumpf grollenden Fluch dreimal spaltet:
Nicht genannt soll er sein I Und er ist noch viel vor-
nehmer. Denn wer die Betten der Fürstlichkeiten zu
lüften gewohnt ist und grundsatzlich nur die Kübel
der feinsten Herrschaften hinausträgt, wird nicht zu
Leuten hinabsteigen, die weder für die literarisohen
Aufgaben eines Domestiken Verständnis noch Achtung
vor dem Journalisten haben, der seinen Beruf so wenig
verfehlt hat. Jeden Morgen beim Aufräumen des
Schlafzimmers der Frau Gräfin den Lassalle zitieren, aus*
sprechen, »was ist«, und der Nachbarschaft erzählen,
daß der Herr Graf sich wieder einmal gänzlich ab-
geneigt gezeigt hat, mein Gott im Himmel, wer eine
solche Leistung gering schätzt, versteht wirklich
nichts von den Angelegenheiten der großen Welt.
Wer es ferner nicht begreift, dafi ein Nachkomme
der Jesaias und Hütten das Recht haben mufl,
dem Richter, der ihm pariert, »eines Holbein Hal-
tung und Haupt« nachzurühmen, und dem Richter,
der ihn verurteilt, die Zuckerkrankheit vorzuwerfen,
dem ist nicht zu helfen. Ich, in meiner publizistischen
Weltabeeschiedenheit, sage: In die Lücke des deut-
schen Gesetzes, das dem privatesten Leben des
Staatsbürgers den Schutz versagt hat, trete man ihn,
dafi er darin ersticke, den Kerl, der uns jetzt, nach
monatelanger Qual, noch von der »schlimmen Krank*
heit« erzählt, die jener Graf »in die Ehe mitbrachte«.
Indem ich aber so spreche, beweise ich nur, dafi ich
ein armer Teufel bin, dessen enger Horizont die
^oßen Aufgaben der Politik nicht zu fassen vermag.
Es wäre roüfiig, sich mit mir in eine Polemik ein-
zulassen. Ich spüre ja doch nur den Gestank, den
y Google
— 18 —
einer über das Vaterland yerbreitet, und merke nicht,
dafi es fürs Vaterland stinkt. Ich entsetse mich über
die kulturelle Scheufilichkeit, nein, über die geistige
Minderwertigkeit einer Wabrheitsforschung, die mit
Enthüllergebärden die deutsche Moraljustiz antreibt,
in zwei Wochen nachzuholen, was sie in fünfund-
zwanzig Jahren versäumt hat, und die es endlich
dahin bringt, dafi ein Henkerparagraph verschärft
und ein friedlicher Gebirgssee von Untersuchungs-
richtern ausgemessen wird. Ich gedenke eines der
markantesten Worte Maximilian Hardens: Lieber ein
Schweinehund sein als ein Dummkopf! und beklage
es tief, dafi ihm die Entwicklung der politischen
Dinge die Wahl schwerer gemacht hat, als er sich*
ursprünglich vorgestellt hatte. Denn wer der Freiheit
des Geschlechtslebens eine Schlinge legt und sich in
ihr verfängt, der ist wahrlich zu bedauern, er über-
schlägt sich, weifi nicht mehr aus noch ein, und
schreibt schließlich Artikel, die zwar von weitem
nach erpresserischer Gesinnung riechen, aber in der
Nähe sich blofi als die Hilferuf) eines ungeschickten
Angebers erweisen, den die Konsequenz einer ein-
mal begangenen Lumperei um den Verstand gebracht
hat. Er glaubt noch ein Denunziant zu sein, und er
ist schon längst der geistige Bundesgenosse des Herrn
Riedel, und mitleidig wiederholt der Leser die Frage:
Was gieng^s dich an, Tropf, damischer ! Er sehnt sich
nach den alten Zeiten, da ihm eine anonyme Schmäh-
karte an die Redaktion des , Vorwärts* nachgewiesen
wurde, durch die er Otto Erich Hartleben aus seinem
Kritikeramte drängen wollte, und da er durch
das Wort vom Schweinehund die peinliche
Situation zur alle:emeinen Zufriedenheit klärte. Jetzt
zieht er aus Verzweiflung gegen die Schweinehunde
vom Leder, weist ihnen täglich irgend eine körper-
liche Beziehung zu den Fischerknechten nach, doch, ach,
längst ist ihm selbst die geistige Mutualität mit dieser
y Google
— 19 —
Sorte nachgewiesen. Er mufi so tun, als ob er eine
innere Befriedigung spürte, so oft ein bayrischer Hiesl
unter dem auf ihn einstürmenden Bernstein end-
lich zugibt, der Fürst habe ihn »die Qaudi, die
Lumperei€ gelehrt. Und will es das Unglück, dafi
der Abreißkalender gerade Huttens Qeburtstag an-
zeigt, so ersteht dem deutschen Volk aus diesem
Chaos von Wahrhaftigkeit und Ekelhaftigkeit der
Anblick einer Bruderschaft, bei der man nicht mehr
weift, ob Bismarck oder dem Riedel die Einigung
Deutachlands au danken und ob unter dem »auf-
rechten Milchmann« nicht vielleicht doch Lassalle au
verstehen ist.
Er kann nicht mehr aurück. Sein Tagwerk be-
ginnt mit einer gefährlichen Drohung und endet mit
einer Enthüllung. Kein deutscher Mann, der^ sich
beute als Ehegatte schlafen legt, kann wissen, ob er
nicht morgen als »Eiuäde« aufsteht, bei der Nacht
kommt alTes an den Tag, und auf die Gefahr hin,
offene Hosentüren einzurennen, verkündet der Retter
des Vaterlandes: »Pardon, ihr Tüchtigen, wird nicht
mehr gegeben I« Mindestens soll mit dien abgerechnet
werden, die sich der Wahrheit auf ihrem Marsche aus
München nach Berlin entgegengestellt haben. Ob
unter den Bedrohten auch ich gemeint sei — denn
auch »die im schwarzen Schreiberrock« sind in Aus-
sicht genommen — , darum geht seit langem in lite-
rarischen Kreisen die Wette. Er wird nicht 1 sagte ich.
Zwar habe ich Schlimmeres getan als die Mitglieder
jenes Qrüppchens von Berliner »Prefipäderasten«, auf
das der Normenwächter nicht ohne tiefere Absicht
hinweist. Sie begnügten sich, zu sagen, dafi es verfehlt
sei, die vermeintliche Gefahr eines politischen Einflusses
durch Anspielungen auf die genitalen Irrtümer einiger
alten Herren bannen zu wollen. Ich habe diese Taktik
als eine politische Tat gelten lassen, und dann erst
gezeigt, wie sie der Menschheit ins Qesicht schlägt.
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20 --
loh sagte : Der Eerl ist vielleicht wirklich ein Patriot,
ein Kiäturmensch ist er gewifi nicht. Und ich habe
noch Schlimmeres gewagt. An einem Stil, der hier
wirklich den Mann bedeutet, die grofie Unbedeutung
dieses literarischen Charakters nachgewiesen. Das war
eine Enthüllung, die sich vor die Enthüllungen des
Herrn Maximilian Harden stellt ; von der er spürt, daß
sie ihm die gedankenlose Anerkennung seiner Zeit-
genossen gestört hat, und von der ich weifi, daß sie
seinen Ruhm unsterblich machen wird. Anstatt mir
nun dankbar zu sein, weU seine literarische Eigenart
wenigstens in meiner Eommentierung auf die Nach-
welt kommen wird, hegt er unauslöschlichen Groll
gegen mich und sagt jedem, der es hören will, ich
sei treulosen Gemütes, rachsüchtig und handle
blofi aus verletzter. Eitelkeit. Seitdem ich mit besorg-
ter Iiiiene die Schrecken der Elephantiasis an sei-
nen Satzgliedern nachgewiesen habe, hat ßich sein
Leiden nicht gebessert. Wie sollte man glauben, dafi
er in diesem Zustand sich erheben und mir antwor-
ten könnte, er leide nicht ? Ich habe in meiner
Sünden Maienblüte bei ihm zu Mittag gegessen, ich
war »wie Kind im Hause«, und jetzt greife ich ihn
an. Beides ist sozusagen erweislich wahr, die Tat
wie die Reue. Aber was sind alle Leiden eines
kranken Rippenfells gegen den Alpdruck einer hoch-
gestiegenen literarischen Jugend, die man einst be-
wirtet hat und die einem jetzt in die Suppe spuckt?
In solchem Zustand rafft man sich zu keiner Pole-
mik auf. Er wird nicht I Mit jedem Satz, den er gegen
mich schriebe, würde er meine Feindseligkeit gegen
seinen Stil rechtfertigen. Er, der immer gelitten hat,
keinen seiner Briefe je ohne das Postskriptum liefl,
daß er unsäglich leide, die Fatierung eines Einkom-
mens von 62.000 Mark nie ohne vouständige Gebro-
chenheit vollzogen hat, in der Festung Weiohsel-
münde mehr als Dreyfus litt und in Danzig sogar
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— 21 —
Champagner trinken mufite, um die Leiden der
Festung ertragen zu können, er leidet jetzt mehr
denn je. Seinen Körper hat Herr Schweninger be-
handelt, sein Geist leidet unter meiner Massage. Wie
sollte sich der Unglückliche zu einer Abwehr auf-
raffen, der kürzlich einen Leitartikel mit diesem Satz
begann : »Vor hundertzwanzig Jahren, als der dicke,
pomphaft tronende, aus unkriegerischem Festlärm gern
in seichte Salonmystik schweifende Sohn August Wil-
helms just seine Eitelkeit mit dem nährkraftlosen
Erfolg im holländischen Wilhelminenhandel gefüttert
hatte, wurde eine Druckschrift bekannt, die, unter
dem Titel ,0onsid^ration8 sur l'^tat prösent du corps
politique de TEurope*, schon fünfzig Jahre vorher
entstimden wart. Wer so schreibt, sollte mir antwor-
ten können? Er wird nicht. Er weifi, dafi ich ihn
für ein literarisches Deutschland, das die Größe des
Sprechers nicht nach der Länge seiner Stelzen beur-
teilt, erledigt habe. Er hat auch meinen Nachruf
gehört und ahnt, er könnte, wenn er nur im gering-
sten Miene macht, sich für scheintot auszugeben,
eine Schändung seines literarischen Grabes erleben,
die das Mafi meiner gewohnten Pietätlosigkeit weit
übersteigt. Er wird sanft ruhen und sich nicht mit
mir in einen Wortwechsel einlassen. Tut er aber
doch so, als ob er lebte, so reicht in der Besinnungs-
losigkeit des Schlachtens, das er sich in Deutschland
erlauben darf, seine Klugheit auch heute noch so weit,
die Grenzen seiner polemischen Möglichkeit richtig
abzuschätzen. Nach siechen Fürsten, die ihre Feder
höchstens in einem gefühlvollen Briefwechsel ver-
sucht haben und heute in der Charit^ liegen, langt
sein publizistischer Mut. Mich kennt er. Er hat
noch vor einem Jahre vor Frank Wedekind, der sich
später nach Kräften um eine Versöhnung unverein-
barer Gegensätze bemühte, seine höchste Achtung
meines literarischen Wesens bekundet. Die Versöh-
y Google
22 —
nung mußte leider an der Ungleichheit der gegem-
seitigen Schätzung scheitern. Wer aber fühlte so tief
wie er die Lächerlichkeit des Versuchs, mich au einer
persönlichen Polemik herauszufordern? Nein, aus dem
erhofften Hahnenkampf kann infolge Unpäßlichkeit des
einen Hahns nichts werden. Er wird krähen, wenn er auf
den Mist seiner Affären steigt. Er wird möglicherweise
auch vom »feindlichen Feder völkchenc sprechen und
selig im Stolz einer Unfähigkeit sein, die zu Diminutiven
ihre Zuflucht nimmt. Er wird von einem Bürschchen
sprechen, das einst aus seinem Schüsselchen gegessen
hat. Vielleicht in einem Wiener Montagsblättchen, wenn
zufällig einer auf die gute Idee kommt, ihn zu fra-
gen, was er gern sagt. Beileibe nicht in der ,Zukunft'.
Das könnte die Aufmerksamkeit erregen und Moritz
und Rina zur Bestellung der ,FackeP verleiten.
Und so geschah es. Immerhin ist es die
Antwort des Herrn Harden auf meine Angriffe,
wenn sie auch blofi die Antwort auf die Frage
eines Redakteurs ist. Er macht seinen Feinden
mit Vorliebe außerhalb Preußens den Prozefl.
Nur unterscheidet sich mein Fall von dem des
Fürsten Eulenburg dadurch, dafi ich der Gerichts-
verhandlung beiwohnen und dem Zeugen Harden
sofort auf die Finger schlagen kann, wenn er sie
zum Schwur wider mich erhebt. Für einen Augen-
blick wird das Niveau meines Hasses gedrückt. Mein
Kampf gegen die Verpestung Deutschlands, meine
Enthüllung des Mißverhältnisses zwischen einer
literarischen Winzigkeit und ihrem Geräusch, mein
ganzes öffentliches Bemühen soll zu einer Privat-
afläre erniedrigt werden, zu einem Ringkampf mit
Herrn Harden, den jeder unbefangene Zuschauer fü
einen Akt der Feigheit halten könnte. Ich mufi au
Humanität darauf verzichten, einen mit hundert Eil
Bildung beladenen, auf Stelzen daherkommende
Ritter mit dem Rapier anzugehen. Um es ihm leicht«
y Google
— 23 -
zu machen, soll ich ihm auf das mir fremde Qebiet
der Tatsächlichkeit folgen. Ich bin dasu £u haben,
aber man wird mir den Widerwillen glauben müssen,
erweisliche Unwahrheiten, die ich längst verdaut habe,
zu korrigieren. Immerhin mufite ich darauf gefaßt sein,
daft er mir ein paar Zitate an den Kopf wirft, wenn
nicht aus den Korintherbriefen, so doch wenigstens
aus meinen eigenen. Denn eine ausgesprochene Fä-
higkeit hat er : er hebt Briefe auf. Ich vernichte sie
blofi nicht, mache aber von ihnen kein Aufhebens.
Herr Harden wird nachweisen, dafi ich ihn einst
bewundert habe. Es nützt nichts, daß ich es nicht
leugne, nie geleugnet habe und ihm feierlich ver-
spreche, dafi ich es nie leugnen werde. Für alle Fälle
ist es gut, dafi ich die Beweise der gegenseitigen Zu-
neigung nicht vernichtet habe, und dafi ich die Aus-
dauer besitze, aus dem Chaos meines Archivs zu
holen, was ich brauche. Ich gebe zu, dafi ich im
Kampf der Dokumente den kürzeren ziehen mufl
und dafi meine Zuneigung zu Herrn Harden kompromit-
tierender ist als die seine zu mir. Aber anderseits mufi
lob doch wieder betonen, dafi sein Urteil, das
er als reifer Mann über mich gefällt hat, rechts-
verbindlicher ist als das Vorurteil eines schwärmeri-
schen Neulings, und es besteht für Herrn Harden
immerhin die Gefahr, dafi die literarische Forschung
von ihm das Lob meines Schaffens beziehen könnte,
während sie sicherlich meine Begeisterung für seine
Werke als die Meinung eines unreifen Jungen ver-
werfen wird. Der künstlerische Vorzug, den er vor
mir voraus hat: dafi er seine Briefschaften besser
ordnet und registriert und jedem Gegner durch einen
Handgriff beweisen kann, dafi man ihm vor zehn
Jahren mit »vorzüglicher Hochachtung« geschrie-
ben hat, wird ihm dabei nicht das geringste nützen.
Ich erspare ihm auch noch den Handgriff, da ich sogar
nie ein Hehl daraus gemacht habe, daß die Hoch-
y Google
— 24
achtuug meiner Briefe mehr als eine Formalität war:
Aber ich leide imter der Zudringlichkeit eines Men-
schen, der nach Jahren auf der alten Bewunderung
besteht, die ich ihm nach reiflicher Überlegung ent-
zogen habe. Nicht genug, dafi Herr Harden in Bekann-
tenkreisen über die Veränderung, die mit mir vor-
gegangen ist — dafi sie i n mir vorgegangen ist, hält
seinesgleichen für ausgeschlossen — , sich bitter beklagt
oder wie er sagen würde, »stöhnt« ; daß er seinen Besuchern
die »persönlichen Motive« auftischt, die er meinen
Angriffen zugrundelügen läfit, so flüchtet er jetzt mit
seinen Beschwerden noch in die Öffentlichkeit. Ich will
ihm entgegenkommen und die Publizität seiner Anklage
vergröfiern. Schon um die Erfahrung zu verdichten,
dafi ein Denunziant und Moralphilister sich in keiner
Lebenslage verleugnet. Die Antwort des Herrn Harden
liegt vor, und siehe, sie ist ganz im Geschmack
der Aktionen, denen meine Angriffe gegolten haben.
Während ich an meinem Schreibtisch safi, ist Herr
Harden unter mein Bett gekrochen. Ich will ihn von
der Stelle jagen. Wenn er unfähig ist, meinem öffent-
lichen Wirken Wunden zu schlagen, so wird er siohs
künftig überlegen, Wunden meines privaten Fflhlens
aufzureißen. Aber wahrlich, man braucht nicht bis
zu der Stelle zu gelangen, wo ich sterblich bin und
er tückisch wird, um eine Nase voll von diesem
Charakter mitzunehmen und von diesem Geiste.
Ich möchte auf dieVerstandesarmut zunächst auch
hier gröfieren Wert legen als auf die Lumperei.
Jene hilft sich, so gut sie kann. Sie sagt, dafi ich,
Karl Kraus, einen Brudermord begangen habe. An
einem Bruder, den ich einst liebte. Da ich nun weder
die Liebe noch den Mord leugne und jene sogai
bereue, so sagt sie, der Mord habe ein »persönliche'
Motiv«: Mein Bruder hat mir einmal einen Apfel
den ich haben wollte, nicht geschenkt. Ich hab
also aus Rachsucht gehandelt. Ich empfinde es nur
y Google
— 25 —
als eine Zumutung von unbeschreiblicher Ledernheit,
die Legende, die der ermordete Bruder in die Welt
setst, 2u entkräften und dokumentarisch zu beweisen,
dafi ich den Apfel bekommen habe. Ich könnte
getrost zugeben, dafi ich ihn nicht bekommen habe,
und die Geistesschwäche dieses Motivs für einen
BrudemoLord zur Diskussion stellen. Aber nicht einmal
solcher Mühe müfite ich mich unterziehen. Denn der
Gegner selbst scheint den Apfel für faul zu halten
und läfit durchblicken, dafi viel mehr noch als meine
Rachsucht meine Undankbarkeit zu beklagen sei.
Ich habe also den Apfel eigentlich doch bekommen.
Da er mir verweigert wurde, beging ich einen Mord,
und wiewohl er mir gegeben wurde, war ich so un-
dankbar, einen Mord zu begehen. Nun scheint
es freilich notwendig, sich endlich für den Undank
oder für die Rache zu entscheiden. Beides zu-
sammen dürfte nicht angängig sein. Beide Argumen-
tationen, jede für sich und ihre Verbindung,
sind leichtfertiger auf die Dummheit des Lesers
basiert, als es erlaubt sein sollte. Aber es glückt
trotzdem. Denn wenn ich einen des Taschendieb-
stahls beschuldigen will und vor versammeltem
Volke den Verdacht damit begründe, dafi der
Mann schielt, so wird vielen die Nachweisl)arkeit des
Eörperfehlers so sehr imponieren, dafi sie auch den
Diebstahl glauben werden. Ich habe nach einem Apfel
vergebens gehascht, das ist meinetwegen erweislich
wahr, und jeder ruft: Aha! Jetzt verstehen wirl
Aber es gehört schon eine Vereinigung besonderer
Gharakterschäbigkeit und raffinierten Schwachsinns
dasu, das Bild der Situation so darzustellen: Ich, H.,
habe demE. Unfreundlichkeiten erwiesen, darum greift
er mich an, also aus rein persönlichen Gründen; und
dies, wiewohl ich ihm Freundlichkeiten erwiesen
habe: ich hätte erwarten können, daß er mich
aus persönlichen Gründen schonen würde . . .
yGoogL
^«57-58
- 26 •
Ich könnte mich nun dantiit begnOgen, zu sagen:
Aus Dankbarkeit cum Lügner werden, hielte ich
für tadelnswerter, als aus Rachsucht die Wahr-
heit zu sagen. Aber ich werde mich sum
Beweise herablassen, dafi ich sie aus Undank-
barkeit gesagt habe. »Hätf Wahrheit ich geschwie-
gen c oder gesprochen, in jedem Fall geschah es
aus rein persönlichen Gründen. Anders versteht« der
gesunde Menschenverstand nicht und sein publisistj-
scher Diener mutet ihm nichts su, was er nicht ver-
steht. Dafi es anders gewesen sein könnte, iat
unmöglich. Ich gebe däe Liebe zu und den
Mord. Ich gebe auch zu, daB Herr Maximilian
Harden »der Selbe geblieben istc — meinetwegen
soe:ar in dieser Schreibart — , derselbe, der er in der
Zeit meiner Verhimmelung war. Dafi ich ein
anderer geworden sein könnte, dafi ich das Recht hatte,
zwischen zwanzig und dreifiig ein- anderer zu werden,
das wird im Reiche der erweislichen Wahrheit nicht
anerkannt. Sie muß sich, um zu ihrem Ziel zu kommen,
mit erweislichen Lügen behelfen. Meine innere Entwick-
lung, die heute — wenn's niemand hört und sieht— meine
Todfeinde in Staunen setzt, wird nach wie vor offiziell
auf die Verweigerung eines Apfels zurückgeführt.
Er wurde mir zuerst bekanntlich von der ,Neuen
Freien Presse' verweigert und dann von Herrn
Harden. Seitdem schimpfe ich . . . Aus Juvenal zitieren
sie nicht: »Facit indignatio versumt oder »Difficile
est satiram non scriberet, um mein Verhältnis zu
ihnen dem Publikum klarzumachen, sondern immer
nur : »Eine illae lacrimaeU.Habeant. Aber ich mufl leider
darauf eingehen. Ich muß die Legende der Rachsucht
zerstören, damit die Undankbarkeit übrig bleibe. Ich
mufl immer wieder die Engagementsanträge, die mir
die ,Neue Freie Presse' gemacht, und die Gefälligkei-
ten, die mir Herr Harden erwiesen hat, ankreiden, da-
mit auf die dümmste Erklärung für meinen Hafi, die
y Google
— 27 —
der IntelUgens verständlichste, endlich verzichtet
werde. Herrn Harden beruhige ich mit der Ver-
sioherungy dafi ich jetzt auch beim Anblick
jener publizistischen Leistungen, durch die er damals
mein Entzücken erregt hat, denselben Brechreiz ver-
spüre, den mir seine heutigen Artikel verursachen. Ich
hatte viel nachzuholen. Aber es ging, und auch für jene
Lektüre, die ich damals beschwerdelos vertrug, habe
ich nachträglich das Gefühl, als ob mir eine Stelze
dieses kühnen Turners in den Rachen gesteckt würde.
Wenn ich den Artikel, mit dem er die ,Zukunft'
eröffnet hat: >yom Bei zu Babel« mit meinem
Eröffiiungsartikel »Die Vertreibung aus dem Para-
dies« — den ich heute Satz für Satz umbauen müfite — ,
vergleiche, so verstehe ich nicht, wie ich je an
Herrn Maximilan Harden etwas anderes als die Fähig-
keit bewundern konnte, Temperamentsmangel zu deko-
rieren, oder höchstens die, beim Schwingen von Riesen-
p:ewichten aus Papiermache wirklichzu schwitzen. Herr
Harden ist derselbe geblieben. Ich Gottseidank nicht.
Aber auch ich »habe gearbeitet«, mehr als Herr
Harden. Besser als Herr Harden. Und ich reinige
jetzt meine Arbeit vom Schutt des Tages, und ent-
decke, dafi der Schutt mehr künstlerischen Gehalt
hat all seine Edelsteine. Ich fühle meinen Verrat
vor dem Forum der psychologischen Kritik gerecht-
fertigt als eine tiefere Treue gegen mich selbst,
und die Literaturgeschichte wird sagen, er sei
eine Rehabilitierung für meine Liebe. Nicht nach »per-
sönlichen« Motiven werden meine Richter forschen;
nichts anderes werden sie sich zu fragen haben, als die
Frage, ob die »Persönlichkeit« reich genug war,
um sich, wenn auch im Alter der geistigen Entwicklung,
so ausgreifende Schwankungen des Urteils zu erlau-
ben. Der Tatbestand reicht über Herrn Harden weit
hinaus. Ich denunziere mich. Zwei Dritteile des
literarischen Gehaltes meiner Arbeit werfe ich frei-
y Google
— 28
willig hin, ein Dritteil der Meinung. Damit mir
meine Gegner nicht immer nur Widersprüche, son-
dern einmal auch eine Entwicklung nachweisen. Ich
darf mich verleugnen, und mit mir selbst vieles, was
andere zur ,Fackel' beigetragen haben, die heute in
meine Lebensanschauung passen wie Wagner in Paust's
Entzückung. Den ganzen Plan der ,Paökel^, innere
und äußere Gestaltung, hat Herr Harden mit mir
durchgesprochen; trotzdem wurde ich ihm untreu.
Aber bin ich dem Plan der , Fackel', ihrer Innern und
äußern Gestaltung, treu geblieben? Ich bereue keine
meiner Taten ; ich verlange nur, daß sie im Zusammen-
hang beurteilt werden. Ich bereue selbst meine Sym-
pathie für Herrn Maximilian Harden nicht. Aber ich
mache ihm den Vorwurf der Undankbarkeit. Denn er hat
mich schmählich getäuscht. Er hat untreu an mir ge-
handelt, denn er hat mir eine Begeisterung zerstört. Ich
mußte damals, als sich mein Temperament nur in den
schmalen Grenzen sozialer Ethik echauffieren konnte
und im Kampf gegen die Korruption die Lebens-
anschauung eines idealen Staatsbürgertums bejahte,
in einem Manne, der um ein paar Jahre früher in
der Presse ein Übel erkannt hatte, eine Ausnahms-
erscheinung sehen. Die Priorität mußte auch dem
imponieren, der schon damals die Intensität des
Kampfes voraus hatte, wie er jene Erkenntnis der
intellektuellen Korruption voraus hatte, die im Jour-
nalismus — weit über die volkswirtschaftliche
und politische Gefährlichkeit — den Todfeind
der Kultur sieht. Die glückliche Zufallsstellung,
in die* Herr Harden gegen die öffentUche Meinung
Deutschlands geraten war, mußte an eine junge
Phantasie das Bild eines Kämpfers heranbringen
und sie etwa auch zum Widerstand gegen eine Rai-
son reizen, die ihr damals gesagt hätte, daß Her«
kules sichs am Scheideweg lange überlegt hat und
Luther auch anders gekonnt hätte. Die Zeit zur
y Google
29 —
EnttäufichuDg war noch nicht gekommen; ich hätte
jedem die Qurgel durchgebissen, der mir damals über
meinen Harden ausgesprochen hätte, »was istt. Dafi
er etwa ein Philister ist, der es glaubt, oder ein E^]on,
der es den Leuten einredet: dafi einer um einen
Apfel bereit war, eine Liebe zu verraten; oder ein
Antikorruptionist, der es in Ordnung findet: dafi
einer für ein Mittagessen in der Villa Harden eine
eroberte Erkenntnis preisgibt. Was will denn das
Pack von mir? Glaubt es wirklich, dafi die
Glaten meines Hasses aus »Motiven« stammen? Dann
wäre meine Entzündbarkeit ein Wert für sich oder
meine Tätigkeit ein mechanisches Euriosum. Wie,
dieser ausgepichte Meinungswechsler, der im Alter
von vierzig je nach Bedarf die Homosexualität ent-
schuldigt und bekämpft, den Meineid rechtfertigt und
▼erfolgt» Kolonialminister in den Himmel hebt und
sie beschimpft, weil sie öffentlich von ihm abrücken,
der, gerade der wagt es, mir eine Entwicklung, die
sich aus Gefühltem zu Gedachtem hindurchge-
schmerzt hat und die in ein inneres Leben führt, von dem
sich freilich die Zettelkastenweisheit nichts träumen
Iftfit, als die Rache eines refusierten Besuches aps-
sulegen? Welch ein grofizügiger Dummkopf I
Aber indem er meine Kachsucht zu stark be-
tont, unterschätzt er wahrlich meine Undankbarkeit.
Ja, er hat mir für das zweite Heft der ,Fackel' einen
Artikel geschrieben, und nicht nur umsonst, sondern
auch vergebens. Umsonst: wie hätte ich ihm ein
Honorar anzubieten gewagt, da es sich um eine
lobende Einführung der ,FackeP handelte? Ich wufite
nicht, dafi er auf Bezahlung hoffte, als er meinen
Witz und meine Kraft pries, und ich stelle das Honorar
nachträglich — mit den in neun Jahren aufgelaufenen
Zinsen — zu seiner Verfügung. Vergebens : Er hat sich
in diesem offenen Briefe der Wiener Journalistik in einer
Art angebiedert, die schielend zwischen mir und jener zu
y Google
— 80
vermittelQ hoffte. Genützt hat^s ihm nichts, denn die
Verbindung mit mir hat zu der von ihm tief be-
klagten Verstimmung der ,Neuen Freien Presse* ge-
führt. Aber auch bei mir hat es ihm nichts genützt;
denn ich bin ihm schon damals — in jenem zweiten
Heft — verehrungsvoll über den Mund gefahren. Er
lügt aber, wenn er behauptet, dafi ich ihm dauernd
bei der ,Neuen Freien Presse' geschadet habe. Er
lügt, wenn er behauptet, daß ich ihn in Wien durch
meine Gesellschaft dermaßen fesselte, daß er zu den
interessanten Leuten nicht gelangen konnte. Er hatte
immer noch Gelegenheit, sich heimlich zur .Neuen
Freien Presse* zu schleichen, wenngleich ich nicht
in Abrede stellen kann, daß er erst nach unserem
Bruch bei Sacher speiste, wo er an der redak-
tionellen Tafel zwischen den Herren Bacher und
Benedikt fetiert wurde. Er spricht die Wahrheit,
wenn er sagt, daß ich fast von allen Wiener Leuten,
mit denen er gern verkehrt hätte, verachtet wurde
und werde. Verachtet werde ich von den Revolver-
journalisten, den Bankräubern, den Gesellschaftspara-
siten, den talentlosen Literaten und überhaupt von
all den interessanten Leuten, von deren Verkehr ich
Herrn Harden eine 2jeitlang abgehalten habe. Nicht
immer wäre mirs gelungen und nicht immer tat ich
es. Bei seinem ersten Wiener Aufenthalt, vor mehr
als zehn Jahren, damals, als er mir fast den ganzen
Tag widmete, war ich in der schlechten GeseUschaft
noch nicht verachtet, damals war die ,Fackel' noch
nicht gegründet und Herr Harden konnte sich, ohne
beiderseits Anstoß zu erregen, getrost zwischen mir
und Herrn Benedikt teilen. Meine Undankbarkeit ist
grenzenlos. Denn obschon ich ihn bewundert habe,
so kann ich doch nicht leugnen, daß auch er mir
volle Anerkennung widerfahren ließ und bei jeder
Gelegenheit meiner rühmend gedachte. Und ein ganz
so armer Teufel war ich damals nicht mehr. Die
y Google
— 81 —
»Demolierte Literaturc war erschienen, hatte
liemlich starkes Aufsehen gemacht und mir auSer
imerbetenen Rezensionen von Fritz Mauthner,
Friedrich Uhl, Conrad und anderen aucH die be-
sondere Anerkennung des Herrn Harden eingetragen«
Auch in jenem unbezahlten Artikel im zweiten Heft
der ,Fackel^ nannte er sie eine »allerliebste Satirec,
sprach darin von meinem »starken Talent und der
neidens werten Frische meines Witzest, freute sich
»meines Mutes und meiner jungen, frischen Kraft, die
sich im ersten Heft der ,Fackei' so pantherhaft heftig
in Zorn und Spott austobte. Freilich wäre dieses hohe
Lob wertlos, wenn es nur in der Erwartung eines
Honorars geschrieben war und die wahre Meinung
des Herrn Harden über den armeh Teufel, der
damals keines gezahlt hat, erst jetzt an den Tag
kommt. Ich lebte in dem Qlauben an eine gegen-
seitige Anerkennung, wenn auch die meine, die des
um zehn Jahre jaügeren und um hundert heftigeren
Naturells, sicherlich den ungestümeren Ausdruck fand.
Wenn er nach Wien kam, verständigte er mich recht-
zeitig von seiner Ankunft und ließ mich nicht los, bi^
er wieder im Zuge safi. Seine Bilder, Briefe, Karten
strotzen von wärmster Anerkennung und Liebe. Seine
Bücherwidmungen lassen mir alle Ehre widerfahren
und in seinen Conferencen war die Auskunft über
mich und meine literarische Rolle recht schmeichelhaft.
Ich kann mirs nicht denken, dafi das herzlichste Mitleid
mit einem armen Teufel eine jahrelange Korrespondenz
und den Verzicht auf die schöne Beziehung zur
^Neuen Freien Presse* gelohnt hat. Es ist mir pein-
voU, mich auf das Niveau eines Tatsachenkampfes
herunterzulassen und im Wust meiner Papiere nach
Beweisen dafür zu suchen, daß ich Herrn Harden meine
Bewundenmg nicht wie ein Betteljunge seine Schuh-
riemen aufdrängte, und dafi er mir nicht Mitleid, sondern
Freundschaft und hohe Anerkennung gezollt hat. Es
y Google
— 32
ist mir widerwärti|2^; aber da man solche Wahrheit-
suoher nur mit Tatsachen abspeisen kann, so ist
es geboten Jede einzelne Behauptung des Herrn Harden
als Lüge *zu erweisen. Es wäre mir nicht im Schlafe
bei der Lektüre seines Sardanapal - Artikels ein-
gefallen, ihm seine einstige Hochschätsung meines
Könnens zum Vorwurf zu machen. Aber weil er
mit meinen Jugendsünden renommiert und die
Mutualität ableugnet, mufi ich zu den Dokumenten
greifen. Hat er also aus Mitleid sich von einem armen
Teufel seine kostbare Zeit stehlen lassen, oder hat er
vielleicht gefunden, daß meine Gesellschaft ihn für
den Umgang mit den Wiener interessanten Leuten
entschädige? Von einem gemeinsamen Bekannten,
der mich damals noch nicht verachtet hat, heifit es
am 30. November (ohne Angabe des Jahres) :
. . . schrieb mir einen bösen Brief : Ich hatte mich nur um Sie
gekflmmert ... Ich hoffe, die zwei Tage waren Ihnen nicht unan-
genehm . . . Wie sehr wünsche ich Ihnen Frohsinn und Kraft I In
Prag wird die .Fackel' viel gelesen. Und ich sagte, wie gern ich Sie habe . . .
26. August 1903.
. . . Schade, wir hätten auf Helgoland 3 — 4 schöne Tage ver-
lebt . . . Vor 15. September braucht die ,Fackel' nicht zu leuchten.
Dann umso heller . . .
30. August 1903.
. . . Vielleicht geht*s, dafi wir später mal auf ein zehntägiges
Billet zusammen Paris sehen? Das wäre herrlich. . .
Nun ja, gemeinsame Reisen. Aber in Berlin, wo
man zu tun hat, wird man doch nur belästigt. Stunden-
lang, halbe Tage lang safi ich ihm, ohne Rücksicht
auf seine knappe Zeit, im Hause. Zwar, eine Depesche
nach Wien lud mich, wenn ich die Absicht kund-
gegeben hatte, nach Berlin zu kommen, »für ein Uhr
zum Mittagbrot«. Aber dann war ich nicht fortzubringen:
7. März 1900.
... Ich freue mich sehr, wenn Sie Icommen, sehr sogar. Wie wäre
es, wenn wir hier (1. April) den Geburtstag der, Fackel' feierten? Dann
> kämen Sie am 28. März. Los von Wienl
y Google
~ 33 -
Hotel Kaiserfaof, 17. AprU 1903.
Jouni^ des dupes. Der Mann unten sagt auf wiederholte Frage:
Herr K. ist zu Haus. Als ich keuchend vor Nr. 223 stehe, ist die TOr
verKhlossen. Schade . . «
17. Aprfl 1903.
Ich lieft 9 frflh bei Ihnen antelephonlcren und sagen, dafi ich
Sie um 12 erwarte, zu Mittag zu bleiben bitte, da ich nachmittags in die
Stadt mOsse. Es wurde, mit m. Namen und Telephonnr., aufgeschrieben
ofld teleph. wiederholt. Von 12 — 12^/4 wartete ich, dann ging ich Ihnen
entgegen bis 1/22. Schade. Wir wären von 12—4 zusammengewesen.
Nun ist alles umgeworfen und ich Icomme um das Vergnügen, Sie noch
einmal zu sehen. Sie hätten hier Schweninger für Ihren Finger kon-
sultieren können . . .
15. Oktober 1903.
... Die Aussicht, Sie bald einmal hier zu sehen, freut mich
sehr. Und nicht mhider die Damen. Alles Gute!
29. Oktober 1903.
... ich habe sehr bedauert, dafi ich Sie (Anm.: im Hotel) ver-
fehlte und nachher nicht mehr erreichen konnte. Sonst hätte ich den
Tag frei gehabt
Wer hat die Freundschaft verraten? Der sie ab-
legte, da er sich ihr entwachsen fühlte, aber zugibt,
didl er sie einst trug? Oder der später höhnt, sie
sei ein Narrenkleid gewesen ? Er beschimpft die Preund-
scHaft ; ich bereue sie bloß. Ich sage, daß ich mit Herrn
Harden befreundet war, bis ichs nicht mehr sein
konnte. Er sagt, daß er aus Mitleid mich ertrug, bis
er Undank erlebte. Aber der arme Teufel, der sich
ihm aufdrängte, hat außer den gedruckten Ver-
sicherungen höchster Bewunderung wiederholt brief-
liche Beweise der Achtung und Anerkennung emp-
fangen. Ich finde nur ein paar, vielleicht nicht ein-
mal die stärksten.
30. März 1899.
Liebster Kraus, . . . eben, 2 Uhr, kommt die .Fackel'. Tausend
gute Wünsche! Ich lese sie sofort und schreibe Ihnen.
1. April 1899.
. . . Meinen und Bertholds Glückwunsch zum trefflichen ersten
Heft. Excelsiorl . . , Ich. mache Motiz, sobald Notizbuch erscheint.
Herzlichen Ostergruß.
y Google
— 34
9. AprU 1899.
... Sie haben Recht, ich auch — und so soll's in guten Dra-
men sein. Herzlichen Dank fflr Ihren Brief und besten Glückwunsch zum
;großen Erfolg. Qu. fdix faustumque sit.
5. Mai 1900.
. . . Sehr freute ich mich aber ihre Enthüllung der J^finchener Son-
nenthalafi&re. Eine niedliche Bande. Daß sich das Publikum das gefallen
läßt, ist das einzig Traurige . . . Schade, daß Sie nicht hier jetzt (Anm.: An-
wesenheit des Kaisers von Österreich) Ihre Schmöcke an der Arbeit
sehen können. . . . Schonen Sie Ihre Kraft I
12. Mai 1900.
(Verteidigt sich gegen die Beschuldigung der .Zeit', er unterhalte
jgatt Beziehungen zur .Neuen Freien Presse') . . . Das ist Alles. Oder
noch die Visitenkarte an Speidel: > sendet dem starken deutschen Stil-
meister herzl. Glflckwflnsche«. Und das tat ich, weil Sie gesagt hatten,
*r spreche gut über Sie . . . Herzlich grüßt Sie, lieber Karl. Ihr H.
13. Mai 1900.
. . . Ihre Abwehr kontra »Arbeiterzeitung' scheint mir recht wirksam.
Und sehr gut sind die Theatersachen . . .
• 2. Juni 1900.
. . . .Arbeiterzeitung' gegen Sie bübisch gemein. . . . Freue mich,
.daß wir über »Paullne« einig sind.
6. Juni 1900.
Herzlichen Dank, lieber Don Karl, für den Ruf vom Semmering.
Daß Sie nach der Büberei gleich den Beitrag von Liebknecht hatten,
war ein famoser Trumpf, den ich gern in Ihrer Hand sah. Ich bin neu-
gierig, zu hören, was Sie über die Wahlen sagen werden . . .
24. Dezember 1900.
Herzlich danke ich Ihnen für das liebenswürdige Weihnacht-
telegramm, das eben kam, als ich Ihnen einen Gruß senden wol'te.
Wie mag es Ihnen gehen? Ist die Depression gewichen ? Ich glaube es,
denn Ihr »Goethe« ist frisch und allerliebst. Von Herzen wünsche ich.
•das neue Jahr möge Ihnen Befreiung von Sorgen und frohe Art>eit-
kraft bringen. Sie sind jung, haben in ganz kurzer Zeit Außerordent-
liches erreicht — und werden nicht eingesperrt. . . Es würde mich, uns
sehr freuen, wenn Sie vor meiner Abschiebung nochmals herk&men.
Herzlichen Händedruck und: Prosit Neujahr] Ihr alter H.
9. Jänner 1901.
. . , Ich freue mich auf die wiener Wahl-Fackel . . .
28. November 1902.
. . . Altersunterschied, mein Herr. J'ai pass^ par lä ; deshalb dflnkt
«der leise Groll, den ich in Ihren Worten spüre, mich nicht gerecht. . . .
y Google
— 36 -
Also ich hoffe, Sie bald hier zu sehen. Und zu hören, daß Sie nicht
ganz so wflthend auf mich sind, wie mir's scheint. Glauben Sie mir's:
ich bin arg zerbrochen und wünsche Ihnen vom Herzen, diese Erlebnisse
möchten Ihnen erspart bleiben.
Bisniarcktag 1903.
Herzlichen Dank für Ihren liebenswürdigen Zuruf. Rara avis.
Ich glaubte schon an völlige Ungnade. Sprach neulich mit Berger. der
b^fi Stunden bei mir war, viel über Sie...
Ostern 1903.
. . . Maxa war ganz stolz und gerührt; drei Karten: Schwe-
ninger. Kraus, Mauthner. Für vier Lebensjahre Alles Mögliche.
1. Mai 1903.
... S. J., der sehr entzückt über Ihr Beisammensein schrieb,
war bis 1. 5. bei der ,Zeit' ... Ich denke ernstlich an die ,Facker
(Anm. : vermutlich wegen eines versprochenen Beitrags) . . . Bald mehr.
8. Mai 1903.
... Ich habe eine üble Nervenerkrankung. Aber Sie haben mir ja
oft hier gesagt, ich »jammerte immer«. Wenn ich im Narrenhaus sitze,
wird's Ihnen leid tun. Behandelt haben Sie mich ja neulich ganz
human, wofür ich dankbar bin. Übrigens war dieser Absatz der ,Packer
besonders gut geschrieben. Aufrichtig wünsche ich Ihnen gute Tage;
und Nächte.
10. Dezember 1903.
.. . Die Weifi-Sache freilich stark; aber 'soll man Sachen
nach 28 Jahren ausgraben? . . . Die ,Fackel' zeigt, daß Sie frisch
und munter sind. Das freut mich aufrichtig.
19. Dezember 1903.
Lieber Herr K., Ihre Notiz über W. ist das Allerliebsteste, was
ich lange von Ihnen las. Ganz reizend. Neulich war Berger bei mir.
Wir sprachen von Ihnen . . .
Daß ihm meine Tätigkeit mehr und mehr miß-
fiel, mußte ich demnach merken. Meine ewige Bitte,
mich und die ,Fackel* in der, Zukunft' zu erwähnen,
konnte er nicht erfüllen Ich weiß nicht mehr, ob
ich ihn darum gebeten habe. Möglich ist es, daß ich
ihn an eine Zusage, es zu tun, erinnert habe. Diese
Zusage war freiwillig gemacht. Das scheint wohl aus
dem Briefe, den er am Tage der ersten Ausgabe der
,FackeP schrieb — 1. April 1899 — , hervorzugehen :
>Ich mache Notiz, sobald u. s. w.< Warum sollte
ich es damals nicht gewünscht haben? Wenn er es
y Google
— 36 —
nicht tat, so mufi er gefürchtet haben, was ich hoffte:
dafi der ,Fackel' Eingang in Deutschland verschafFt
werde. Wenn er es im Jahre 1899 nicht tat —
warum sollte ich ihn 1904 erst dafür angegriffen
haben? Ich glaube nicht, dafi ich je später auf den
Wunsch zurückkam. Tat ich's, welchem Esel würde
die Versagung einer Notiz- meine Angriffe plausibel
machen? Höchstens, daß das Motiv der Versagun^ —
um auf ein >8tarkes Talente das deutsche Publikum nicht
aufmerksam zu machen — zu meiner Erkenntnis von
dem Wesen des Mannies beigetragen hätte. Aber auch
hier läfit sich eine Gegenseitigkeit nicht in Abrede
stellen. Ich weiß nicht, ob ich Herrn Harden mit
der Bitte, die, Fackel* zu nennen, zudringlich wurde.
Vielleicht hatte ich einmal wirklich Anspruch darauf:
eine wichtige Äußerung Liebknechts in der ,Fackel*
hatte er ohne Quellenangabe zitiert. Aber ich bin in
der angenehmen Lage, zu zeigen, wie schwer es
Herr Harden trug, in einer ihm wichtigen Sache —
gleichfalls Liebknecht betreffend — in der ,FackeP
nicht genannt zu werden.
31. Dezember 1S99.
Lieber Herr Kraus, ich wünsche Ihnen ein gutes Jahr. Und, daß
Keiner komme und sage: Siehe, in Sachen Liebknecht, den er all-
wöchentlich als Finder neuer Weisheit preist, hat auch er, der stets Aber
»Totschweigen« redet, totgeschwiegen. Bleiben Sie gesund und i^uen
Sie sich Ihres Lebens Einen Gruß von H.
Ich ahnte, dafi er sein Monopol als Antidrey-
fusard durch Liebknechts ,Fackel*-PubIikation ge-
fährdet sah. Aber Liebknecht braucht nicht gegen den
im folgenden bittern Brief erhobenen Vorwurf ge-
schützt zu werden.
5. Jänner 1900.
Lieber Herr Kraus, mir ist's nur spaßhaft. Seit Jahren führe idi
diesen Kampf, habe dabei Abonnenten (und Freunde, wie Bjömson)
verloren und Beschimpfungen gewonnen. Da gibt mein früherer Freund
Dr. Berthold dem alten Liebknecht meine Artikel (Zolas Fall u. s. w.).
n s'emballe, wiederholt alle meine Argumente, fügt Einiges hinzu, was
mir töricht scheint, und wird nun in der ,Facker stets als Einer hin-
y Google
— 87 —
^esldlt, der den Mut gehabt habe, der Katze die Schelle umzuhängen,
and der deshalb > totgeschwiegen < werde. Im Gründe ist's gleich. Aber
dnrfte ich es Ihnen gegenüber nicht scherzend erwähnen? Hier hat man
viel darüber gelacht, meinen Todfeind L. hi meiner Garderobe zu
In der ^Fackel' war blofi von der Verlegenheit
der sosialdemokratischen Presse die Rede gewesen,
die Liebknechts Artikel totschwieg. Natürlich hat
dieser nie die Informationen des Herrn Harden ge-
braucht, ihm war es eine Angelegenheit des Tem-
peraments. Die Garderobe des Herrn Harden hätte
ihn gewifl lächerlich gemacht — ungefähr: Ein Rit-
ter im Ballerinenkleid. Aber Herr Harden legte auf die
Anführung seines Verdienstes in der ,Fackel' grofien
Wert. Aus einer Unterlassung solcher Art leitet er
Todfeindschaften ab. Dariun mag er glauben, dafl
ich die angebliche Ablehnung zweier Artikel aus
meiner Feder nicht verschmerzen konnte. Ich erin-
nere mich nur an einen, gebe aber zw^zig zu. Die
Vertei<ügune wäre hier abgeschmackter als der Vor-
wurf. Wenn Herr Harden mir Manuskripte ablehnte, so
konnte mir dies höchstens wieder seinen inneren Wider-
stand gegen die Förderune eines von ihm anerkannten
>8tarken Talents« deutlich machen, also einen beruf-
lichen Zug von Mißgunst, den man kaum an irgend
einem deutschen Publizisten vermissen, ihm kaiun übel-
nehmen wird. Aber soll es eine Abkehr so vehementer
Art wie die meine begründen? Ich weifi nur davon,
dafi ich ein einzigesmal, auf wiederholte Aufforderung
des Herrn, ihm einige Bemerkungen sandte, von denen
ich voraus wufite, daß sie für seine Leserschaft zu
starke Eöst bedeuten würden. Es machte mir damals
schon Spafi, Herrn Harden mit ein paar Unmöglich-
keiten erotischer Psychologie zu versuchen. Aber ich
wollte auch seinen Wunsch ef füllen und schrieb etwa,
wenn ers nicht mehr in die nächste Nummer nehmen
könne, erbäte ich sofortige Rücksendung. Er ant-
wortete — gewifl wars nur höfliche Ausflucht — , es
y Google
— 38
sei zu spät gewesen. Wir blieben trotzdem in freund-
schaftlichem Verkehr. Aber es nagte^ wie ich jetzt
erfahre, an meinem Herzen. Wenns mir um die Mit-
arbeit an der ,Zukunft' gegangen wäre, hätte ich in
fünfjähriger Beziehung wohl öfter die Gelegenheit
gesucht anzukommen. Herr Harden »mufitet mir etwas
ablehnen. Einen Schriftsteller, dem er Geist, Humor,
Kraft, Grazie mündlich, brieflich und auf Druckpapier
nachrühmte, soll er für unwürdig gehalten haben,
neben den Beiträgen seiner lyrischen Advokaten
Platz zu finden. Das glaubt er selbst nicht. Ich habe
seit zwölf Jahren keiner deutschen Zuschrift unauf-
gefordert einen Beitrag geschickt. Wenn ich je für
ein anderes Blatt neben der ,Fackel' schrieb, so to-
schah es auf Grund ehrenden Anerbietens. Ich
glaube nicht, dafi selbst noch im Jahre 1903 meine Zu-
mutung, mitzuarbeiten, irgend ein deutsches Blatt
unglücklich gemacht hätte. Und kein Vollsinniger
wird glauben, dafi die Verweigerung eines Arti-
kels — ich erinnere mich nur an einen, aber
Herr Harden scheint solche Motive rechtzeitig
gesammelt zu haben — den Brudermord verur-
sacht hat. Herr Harden überschätzt durchaus meine
Rachsucht auf Kosten meiner Undankbarkeit. EJr
hielt schon fünf Jahre vor diesem Ereignis so aufier«
ordentlich viel von mir, daß er spontan an Herrn
Benedikt eine Visitkarte schrieb, auf der er mich als
den einzig Berufenen empfahl, das Erbe des Satirikers
Daniel Spitzer in der ,Neuen Freien Presse^ anzu-
treten. Herr Benedikt machte mir bald darauf den
Antrag. Ich gründete die ,FackelS habe also auch
gegen ihn undankbar gehandelt. So treulos war ich
gegen Herrn Harden, der mich empfahl, und gegen
die ,Neue Freie Presse', *die mich wollte, daß ich es
vorzog, mir über beide klar zu werden. Als mir die
Tätigkeit des Herrn Harden mehr und mehr zu mifi-
fallen anfing, schrieb ich es. Er seinerseits, der mit
y Google
— 89 —
mir in demselben Fall war, schrieb es nicht.
Aber er meint, ich müsse es doch gemerkt haben.
So hat er zum Beispiel mein Vorgehen gegen Bahr
>widrigc gefmiden. Er lieferte mir Bwar ein Gut-
achten gegen ihn, aber er rab mir doch deutlich
zu verstehen, dafi er mein vorgehen widrig finde.
Zum Beispiel:
14. Februar 1901.
L. K. . . . Gern, offen gestanden, mische ich mich nicht hinein. Und
anders könnte ich's nicht. Will Ihr Anwalt den Brief so, wie er Ist,
tai toto benfltzen, dann ist's mir recht . . . Aber Sie brauchen mehr
Gutachten. Lammaschl U. s. w. Die Mausefallen in m. Brief
werden Sie nicht übersehen. Kann Hofmannsthal nicht auch seine
Ansicht sagen? Mfiller-0. ! Der wird auch was von Laube wissen. Ihr
Anwalt wird doch versuchen, Bukovics unter den Zeugeneid zu
kriegen. Dawäre Ober die >Zumutungenc (Anm.: Zumutungen der
Kritiker an einen Theaterdirektoi) wohl Manches herauszupressen.
Nachdem Ich mit Bahr eben freundschaftl. Briefe gewechselt, muß ich mich
anständiger Weise persönlich zurückhalten. Das kann auch ihrer Sache
nnr nützen ... Ein >H. St.< heute im .Tag' gegen Sie, ohne Namen,
perfid, ä la G. . . . Ich meine : es wäre gut, wenn unter irgend e. ge-
schickten Vorwand angesehene, den Qeschwornen sympathische Leute
als Zeugen über diese Art von PreBherrschaft vernommen werden
könnten. Geht's nicht — schade. Steht in Bahrs alten Büchern
nichts gegen ähnliche Korruption? . . Blumenthal polemisiert
ja immer gege^ B. Am Ende? Schreiben Sie doch an ihn (Tiergarten-
strafi«), e r habe doch Kritikeramt, trotz Erfolgen, aufgegeben, ob er
nicht Inkompatibilität finde. Weidmannsheil, nochmals! . . .
H^rr Harden hat also meine Kampagne gegen
die Vereinigung des Ejritiker- und Autorenberufs
widrig gefunden. Er lügt. In Wahrheit nahm er Herrn
Bahr blofi gegen den Vorwurf in Schutz, dafi er
nicht immer Originales drucken lasse. (Ein in dem
zitierten Brief ausgelassener Satz lautet: >Bahr ist doch
viel begabter als Bracco. Wie sollte er den plagiieren le)
Dafi Herr Harden die Aktion selbst gut, heilsam und
notwendig fand, ist erwiesen. Aber ich mufite >merken€,
dafi er sie miflbilligte; und darum niff ich ihn vier
Jahre später an. Er wiederum merkt, daß ich ihm
mein Blatt noch heute schicke. E!r lügt natürlich.
Meinen ersten Angriffen hat er mit einer Einstellung
y Google
-40-,
des Tauschexemplars der »Zukunft* geantwortet. Ich
habe die Komik dieses Schrittes damals festgestellt.
Darum mufite ich es verschmähen, meiner Expedition
den Auftrag zu gleicher Kinderei su erteilen. Als ich
im folgenden Jahre einmal die Liste der Personen
durchsah, die die ,Fackel* durch Gefälligkeit be-
kommen, liefi ich natürlich die Karte, auf der sein
Name stand, ablegen. Er bekommt die ,Packel* seit
Jahren nicht. Wenn er sie trotsdem lesen sollte,
kann ich nichts dafür. Für die Widrigkeiten, die ihm
jetzt aufstofien, bitte ich ihn nicht um Ent-
schuldigung. Und die früheren habe ich nicht be-
merkt. Doch, eine: er fand meine Kampagne für
die . . . widrig. Gemeint ist der Fall Hervay.
Nach meinem ersten Artikel schrieb er mir mit einem
Kompliment seine Ansicht, dafi die Dame, die er
kannte, anders sei, als ich sie darstelle, gar nicht
fein und mondain. Ich antwortete, daß dies nichts an
meiner Auffassung des Falles ändern könnte. Eis
komme darauf an, wie die Frau auf den öster-
reichischen Bezirkshauptmann gewirkt habe, der sie sein
»Märchent nannte. Je unbegründeter eine solche Be-
zeichnimp; sei, umso mehr sei meine Auffassung am
Platz. Nicht über die Frau, sondern zur Psychcuogie
des Mannes hätte ich geschrieben und über 4ie Wir-
kung, der die Welt Mürzzuschlags erlag. »Und schliefl-
lich — vielleicht hatte sie doch bessere Unterwäsche
^^die Mürzzuschlagerinnen.t Das War meine letzte
Korrespondenz mit Herrn Harden, Sommer 1904. Mir
S'ngs um eine Erkenntnis, ihm um eine Information,
s war die erste publizistische Äußerung, die mir
auch die Gegner gewann. Jede Post brachte An-
erkennungen. »Ein Leser, der nicht sehr oft Ihr
Anhänger sein kann, beglückwünscht Sie zu der
Einsicht, zu dem Mute und zur Fähiekeit, im Kleinen
das Große zu erkennen, die Ihr Artikel über Hervav
kundgibt c, schrieb mir Professor Freud, den ich
y Google
41 —
nicht kannte. Eine tatsächliche Richtigstellung schrieb
mir Herr Harden, den ich erkannte. Sein eigener
Artikel über die Sache, den ich heftig angriff,
war damals noch nicht erschienen. Jener freund-
schaftlichen Auseinandersetzung folgte nur mehr —
nach Karlsbad — eine Karte mit dem Bilde seines
Tdchterchens :
20. Juli 1904.
Guten Tag wiener Onkel t Es grfißt Deine Grunewaldnichte
Maximiliane Harden.
Das war — abgesehen vom väterlichen Stil-
einfiufi — ein durchaus erfreulicher Qrufl. Seitdem
habe ich nichts gehört. Herr Harden spricht von
einer »schroffen Antworte, die sein letztes Zeichen
gewesen sei. Jene Karte kann er nicht meinen^ wiewohl
sie sein letztes Zeichen war. Er meint also ein anderes,
das ich nicht empfangen habe. »Zu einer Kritik er-
dreistete er sich zum ersten Male, als ich über
die einige unfreundliche Worte schriebe. Gemeint
ist mein Ausfall gegen ihn wegen seines Artikels über
die eben verstorbene Schauspielerin Jenny Qrofi. Diese
Kritik, die zugleich seine Haltung im Fall Coburg
betraf, erschien Anfang Oktober 1904. Herr Harden
»antwortete schroff und lieft mich bei meiner nächsten
Anwesenheit nicht mehr zu sich kommen«. Seitdem
schimpfe ich. Herr Harden lügt. Es ist die letzte in
der Reihe der erweislichen Unwahrheiten, durch die
er meinen Abfall praktisch zu motivieren sucht. Eine
einfache, glatte Lüge. Der schroffe Brief ist verloren
gegangen. Wenn Herr Harden eine Abschrift haben sollte,
mOge er sie vorwei&en. Aber der Brief ging mit Recht ^
verloren. Welchen Sinn hätte er gehabt? HättQ ich ihn
erhalten, wie sollte er meinen späteren Angriff be-
gründen, da er doch die Folge eines früheren An-
griffs ist? Ich schimpfte, er antwortete schroff, seit-
dem schimpfe ich. Das ist dümmer, als notwendig
wäre. Wie kann schroffe Ablehnung meines Ver-
y Google
— 42 —
kehrs die Ursache meiner Angriffe sein^ wenn
sie die Antwort auf meine dreiste Kritik bedeu-
tet ? Meine Dreistigkeit hatte zugegebenerraafien einen
Vorsprung. Und wer wird mir zutrauen, dafi ich nach
einem heftigen Ausfall gegen Herrn Harden und nach
einer schroffen Antwort von seiner Seite noch den Ver-
such gemacht habe, in den Grunewald einzu-
dringen und Herrn Harden die Nachmitti^e weg-
zunehmen? Er >liefi mich nicht mehr zu sich kom-
menc. Das ist eineLüge, wenn es besagen soll, dafi ich
kommen wollte, aber eine Wahrheit, weil er mich ja
auch jetzt nicht »zu sich kommen läßt«, jedenfalls
eine Zweideutigkeit. Ich soll nach meiner publizi-
stischen Abweisung seines Verhaltens im Fall der toten
Jenny Orofi noch auf den Verkehr in seinem Hause
aspiriert haben : ich hatte ihm beiläufig vorgeworfen,
dafi er vom Leichnam einer Frau Profit ziehe, indem
er sie der VerwertunR ihres Leibes bezichtige . . .
Ich habe seit dem Sommer, der meinem Angriff
vorherging, weder von ihm noch hat er von mir
eine Zeile, ein Lebenszeichen erhalten, weder aus Wien
noch während einer späteren Anwesenheit in Berlin.
Ich erdreistete mich der Kritik in den Fällen Orofi
und Coburg, ich erdreistete mich anderer Kritik in
spontaner Undankbarkeit. Wer mich für irrsinnig
hält, wird glauben, dafi ich dazwischen den Versuch
machte, zu Herrn Harden zu kommen. Auf diesen
Versuch wäre eine schroffe Antwort glaubhaft. Besitzt
Herr Harden ein Dokument von meiner Hand, das
ihm nach meinem Eintreten in der Sache Qrofi mei-
nen Wunsch, ihn zu besuchen, kundgab, durch das
ich ihm etwa meine Anwesenheit in Berlin anzeigte?
Dann möge er es produzieren. Tut ers, so beeide ich,
dafi es gefälscht ist. Glaubt er trotzdem, dafi es echt
ist, so kann er mich, seiner Lieblingsneigung folgend,
wegen Meineids anzeigen. Sieht man nicht die Uägliche
Motivenkleisterung für den unerklärlichen Spnmg
y Google
- 43 —
der Freundschaft? Der Qedankengang ist: Ich habe
geschimpft, folglich läfit er mich nicht zu sich kom-
men, folglich schimpfe ich. Aber so einfach ist die
Sache nicht, und mein Rückzug aus dem Grune-
wald hat nicht die geringste Ähnlichkeit mit
einem Hinauswurf aus dem »achsenwald. Ich habe
dort zwar 'manchmal Vanilleneis bekommen, mir aber
nie durch einen Vertrauensmifibrauch den Zorn des
Hausherrn zugezogen, und kein Qraf Fincken-
stein, Mitglied des preußischen Herrnhauses, lebt, der
behaupten könnte, daß mir infolge einer nicht ge-
nehmigten publizistischen Aktion das Haus verboten
worden sei. Ich will Herrn Harden verraten, was mir
schon vor meinem öffentlichen Auftreten gegen die
Sexualschnüffelei, die mir inzwischen »widrig« ge-
worden war, den Entschluß nahegelegt hat, den
Grunewald nicht mehr aufzusuchen. Es hängt wohl
mit einem Vertrauensmifibrauch zusammen, aber mit
einem, den der Hausherr am Gewissen hatte. Als ich das
letzte Mal über seine dringende Bitte ohne Rück-
sicht auf seine knappe Zeit bei ihm weilte, sprach
ich mit ihm über den dürftigen belletristischen Teil
der ,Zukunft' und fragte, warum seiner angesehenen
Revue nicht bessere Beiträge zukämen. In der letzten
Nummer war nämlich eine besonders schwache Skizze
eines Wiener Autors und liebenswürdigen Menschen
(der inzwischen gestorben ist) erschienen. Herr
Barden erwiderte: »Sehen Sie, und der Mann
beklag sich noch, dafi ich ihm zu wenig Honorar
geschickt habe«. Fragte mich, indem er mir
einen grausam niedrigen Betrag nannte, ob das nach
meiner Ansicht denn nicht genug sei. Vor der peinlichen
Alternative, meinem Gastgeber den notorischen Geiz des
reichen Verlegers der ,Zukunft' zu bestätigen, oder
über das wirtschaftliche Interesse eines bekannten
•EU entscheiden, sagte ich : Diesen Beitrag da halte
ich für wertlos, nimmt man aber auf den Namen des
y Google
44 —
Autors Rücksicht, so scheint mir die Rekriminaiion
berechtip:t. Als ich einige Tage später in Wien mei-
nen Bekannten traf, grüfite er unfreundlich. Auf
meine dringende Frage nach der Ursache seiner
Veränderung wies er mir eine lange Abhandlung des
Herrn Harden vor, in der dieser mit einer Emsig-
keit, als ob es die Anlegung einer homosexuellen
Zeugenliste gälte, seinen Honorarsatz verteidigte
und sich auf mich als Sachverständigen berief, dergleich-
falls gemeint habe, der Betrag sei entsprechend. Ich
weiß heute nicht mehr, ob ich Herrn Harden
einen Vorwurf gemacht habe, glaube es aber. Viel-
leicht schrieb ich jene »schroffe Antworte, auf*die kein
Besuch mehr gefolgt ist. Jedenfalls begann sich da-
mals meine Speicheldrüse zu füllen. Sie zögerte
noch, und im Sommer wurden ein paar Qrüfie ge-
wechselt. Im Oktober erfolgte mein erster Angriff.
Inzwischen hatte sich die Kluft zwischen seinem
mehr auf nationalökonomische Fragen und meinem
mehr auf Dinge des inneren Lebens gerichteten
Interesse geöffnet. Der Anstofi, auszusprechen,
was ist, waren die Fälle Coburg und Qrofi. Ich hab's
gewagt, wiewohl ich selbst ein unreines Gewissen
in diesem Punkt hatte. Ich habe nämlich »ge-
meinen Privatklatsch über die ... breitgetretenc.
Was soll das heißen? Wen meint der Herr? Wann
habe ich dergleichen getan? Ich zerbrecH^ mir
.den Kopf und erinnere mich, dafi ich ein-
mal ein Feuilleton, das Frau Odilen geschrieben
oder einem Berliner Journalisten in die Feder
diktiert hatte, in der ,FackeP berührt habe.
Natürlich so, dafi ich das Privatleben der Schau-
spielerin gegen die publizistische Ausschrotung ge-
schützt, nicht selbst der Sensation preisgegeben habe.
Damals hatte ich nur den Standpunkt gegenüber
der journalistischen Gefahr bezogen, mich noch nicht *
zur Bejahung eines solchen Privatlebens an und für
y Google
- 45 -
sich durchgerungen. Später habe ich das Dasein
Yon Freudenspenderinnen, auch von solchen, die
nicht aus der Fülle einer Natur schöpfen, auch
von jener Toten^ gegen die sich Herr Bar-
den verging, für wertvoller gehalten, als die
Tätigkeit eines Lieitartikelschreibers. Verunglimpft
hätte ich eine solche Frau nie, auch im Leben
Qicht. Was Herr Harden breitgetretenen Pri«atklatsch
nennt, kann sich nur auf die gegen das Schmocktum
gekehrte Zitierung einiger Sätze aus dem Feuilleton
der Frau Odilen beziehen. Und wem — ratet —
verdaiÜLte ich die Kenntnis des Feuilletons? Herrn
Harden, der es mir, dicht besät mit hämisch kom-
mentierenden Bleistiftnotizen schickte, mit Beweisen
einer Orientiertheit über die Herkunft und den Wert
Ton Realitäten, die auch in späteren Briefen wieder-
kehrte und ein Material an mich zu vergeuden schien,
für das Herr Lippowitz dankbar gewesen wäre. Von
dem Verkehr mit diesem, der gewifl zu den intere|-
santen Wiener Leuten gehört, die mich verachten,
habe ich Herrn Harden abgehalten. Ich bedaure es
und kann nur zu meiner Entschuldigung sagen, dafi
ich ihn bald freigegeben habe. Er wurde ein Intimus
des Korrespondenten, den Herr Lippowitz in Berlin
hat, und geht heute mit ihm und den Polizeihunden
Bdith und Rufi gemeinsam auf die Jagd nach Sitt-
lichkeitsverbrechem. Ich habe ihm den Schaden, den
er durch seine Verbindimg mit der ,Fackel' erlit-
ten hat, durch meinen ' Verrat reichlich vergütet.
Ich gebe zu, dafi ich damals sein Lob meines
Witzes nicht honoriert habe, ich bedaure auch, dafi
ich ihn um ein Lob des nach Dreyfus wieder
versöhnten Bjömson, das aber vielleicht sogar der
,Neuen Freien Presse' zu schwachsinnig war,
gebracht habe. Qewifi, ich habe seine Beziehungen
zu den Wiener Prefileuten eine Zeitlang lahmgelegt
Aber heute ist längst alles wieder gut und die Meinung,
y Google
— 46 ~
,Neue Freie Presse' und ,Neue8 Wiener TagblatV
hielten es mit mir gegen ihn, ist gewiß nur ein
Wahn des Verängstigten, der sich noch verfolgt glaubt,
da längst schon die schmierigsten Hände hilfreich
sich ihm entgegenstrecken.
Einer hat eine Wahrheit gefragt; aber das tat er
nur, weil man seinen Qruß nicht erwidert hat. Die
Enthüllung enthüllt den andern. Wer die Wahrheit
erlitten hat, beweise, dafi sie unwahr ist oder er
schweige, ehe er zu so jammervoller Motivierung aus-
holt. Und wenn einer von der Hetzjagd auf das
Privatleben der deutschen Generale noch so kaput ist,
solch trostlose Beweise geistiger Ermüdung dürfte er
nicht von sich geben. Aber wenn er, um doch in
Ehren zu bestehen, sich von der mifiglückten
Motivensuche in mein Privatleben zurückzieht, weil er
glaubt, dafi der gewohnte Weg zum Ziel führen
könnte, dann, sage ich, hat er mich überhaupt nie
eekannt. Ob ich aus dem oder jenem aufier der Rache
liegenden Motiv so oder so schreibe, das mag er prüfen
und er mag, solange ich mich nicht auf einen lästigen
Dokimientenbeweis einlasse, mit meiner Entlarvung
dem gesunden Menschenverstand, der sichs längst
gedacht hatte, imponieren. Zieht er aber zur Ifir-
klärung meines kritischen Erdreistens auch meinen
»grotesken Roman mit der...c heran, seit welchem
ich empfindlich in diesem Punkt geworden sei, so hört
für mich die Geneigtheit zu einer literarischen
Erledigung solchen Einwands auf. Denn hier ist.der
Punkt, wo ich noch heute empfindlich bin. Und ich
sage Herrn Harden: Die ganze Lächerlichkeit seiner
Erwiderung hat ihren Reiz für mich verloren. Aber um
dieses einen Satzes willen lasse ich ihn nicht mehr
los. Hier ist er in der Bahn, auf der er heute in
Deutschland mit vollem Dampf fährt; aber durch
meine Reiche kommt er nicht unbeschädigt. Hier ist
die Gemeinheit am Ende. Und sie zeigt noch einmal,
y Google
— 47 —
was sie kanii. Jetzt erst fühle ich ihre Möglichkei-
ten, jetat erst begreife ich den Plan, der ihren Vor-
stößen gegen das privateste Erleben zugrundeliegt : Die
Unfähigkeit, vor dem Qeist zu bestehen, vergreift
sich am Geschlecht. Mein grotesker Roman lag
Herrn Harden nicht als Rez^ensionsexemplar vor, aber er
wußte von ihm, weil ich ihn besuchte, wenn ich auf
einer Reise zu einem Sterbebett in Berlin Station
machte. Für die groteske Art dieses Romans leben
Zeugen wie Alfre<i v. Berger und Detlev v. Lilien-
cron. Deutschlands großer Dichter weiß, wo der Ro-
man beendet liegt, und hat das Qrab in seinen
Schutz genommen. Herr Harden in seinen Schmutz.
Ich aber sage ihm : Ein Roman, den der Andere gro-
tesk findet, kann mehr Macht haben, eine Persönhch-
keit auszubilden, als selbst das Erlebnis, von einem
Bismarck gerufen, von einem Bismarck hinausgeworfen
worden zu sein. Aus den Erkenntnissen dieses grotesken
Romans erwuchs mir die Fähigkeit, einen Moralpatron zu
verabscheuen, ehe er mir den grotesken Roman be-
schmutzte. Was weiß er denn von diesen Dingen? Von
ihm hätte ich nicht gelernt, die unauslöschliche
Schmach dieses Zeitalters zu fühlen, dessen Männer in
Iris-Beete spucken. Bei dem Gedankei) zu erbleichen,
welcher Art von Menschheit Frauenschönheit als
OlOcksgeschenk in den Schoß gefallen ist. Herr Har-
den ist tot, aber der groteske Roman lebt. Er hat die
Kraft, immer wieder aufzuleben, und ich glaube, ich ver-
danke ihm mein Bestes. Wenn ich gegen dieses Heroen-
gezücht losziehe, so ist's mir, als ob mir die Tinte
noch beute aus leuchtenden Augen flöße. Ich tauche
meine Feder nicht in das Spülwasser aristokatischer
Wirtschaften. Wäre ich einer von jenen, die heute
in Deutschland imter einem ungerufenen Domestiken
leiden, ich würfe die Feder hin und forderte diesen vor
meine Klinge, aber ohne ihm meine Zeugen zu
schicken und ohne ihm Zeit zu lassen, im Lexikon
y Google
— 48 —
nachzuschlagen, wie sich die Duellregeln historisch
entwickelt haben. So gelobe ich ihm dieses : Für seine
Kritik meines grotesken Romans wird er mir Rede
stehen. Nicht in seinem Blatte. Denn dies könnte
meine Gegenrede bewirken, und er ist von meiner Un-
erschöpflichkeit überzeugt. Er wird nicht. Aber letat
ist der Augenblick gekommen, wo sich dem Motiv
des Undanks wirklich das der Rachsucht gesellt
Die verjtrete ich nicht publizistisch. Ich verspreche
ihm nur: Wenn er wieder einmal nach Wien kommen
sollte und Frauen vereine durch das Feuerwerk seiner
Belesenheit aufreden wird, wenn er sich am Schlüsse
des Vortrags mit Fragezetteln bewerfen und seme
Qedankenabwesenheit in Form von Geistesgegenwart
be wundem läfit, dann wird ihm diese Frage gestellt
werden: Halten Sie den für einen Schuiten, d^
ohne Nötigung an das privateste Fühlen eines An-
deren greift, und ohne das Bedenken, selbst ein Grab
zu beschmutzen? Und verdient nach Ihrer Ansicht
der, der solches tut, nicht zwei Ohrfeigen ?
Sollte Herr Maximilian Harden dann noch gestimmt
sein, auszusprechen, was ist, so werden ihm bei Gott
und in Gegenwart des Frauenvereines jene zwei
Ohrfeip;en versetzt werden. Er ahnt gar nicht,
und niemand ahnt es, welcher Gesetzesübertretungen
ich fähig bin, wenn es gilt, einen grotesken Roman
gegen einen unberufenen Rezensenten zu schützen!
Karl Kraus.
Herantg^ber and YerantvortUdier Redaktenr: Karl Kr tat.
Dmck voo JihocU & Siegd. Wien HI. Hintere ZolUmtntnBe 3.
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^AL^ilL
Herausgeber: KARL KRAUS
Hl ifl iw&o^Ofter Folge (m Dmraog tod 16— 8S Saiten.
BEZU08-BBDIN0ÜNQBN ;
jÄr Oc8icrreich-Ungani, 36 Nummern, portofrei . . K 9.
» 18 » > • 4,50
das Deutscbe Rdch, 36 > > . .10 50
» » » 18 « p
dk Linder d. Weltpostv., 36 Nuromem^ portofrei
»>»> >18 » »»6.
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Die Fackel
HS.2M--M
WIEN, 13. JULI 1908
X.JAHR
Deutschland.
Der Prozeß hätte vertagt werden müssen,
wenn jener Zeuge nicht endlich wäre zur Stelle ge-
sohafft worden, der vor fünfundzwanzig Jahren durch
ein Schlüsselloch beobachtet hat, was der Angeklagte
tet. Dieser Zeuge ist nicht etwa der Qenius des
deutschen Volkes, sondern ein lebendiger Starnberger,
der auf eine Zeugengebühr Anspruch hat. Jener
Qenius, der alles sieht, muß sich nur vor einem
Spiegel hüten. Seine Häßlichkeit brächte ihn
noch vor dem Ausgang dieses Prozesses zum Platzen.
Denn sein Blick tötet unbedingt, auch wenn der
Basiliskenschnurrbart nicht mehr die alte schreck-
hafte Form hat . . . Wir wissen nicht, was hinter den
▼erschlossenen Türen von Moabit vor sich geht. Die
Niedertracht setzt sich diesmal nicht in der Schweinerei
fort, die leidtragenden Reporter stehen auf dem Eor*
ridor und lassen traurig die Zungen hängen. Nur ihre
Äugten haben Gelegenheit, sich ein Urteil darüber zu
bilden, ob ein Zeuge, der den Saal verläßt, in Jugend-
tagen bloß seine Wade oder berechtigtere Interessen
gegen den Fürsten Eulenburg geschützt hat. Wenn der
Vertreter eines Blattes aus zuverlässiger Quelle etwas
munkeln hört, so sticht er die Konkurrenten aus.
r^"'ch8 Schlüsselloch könnte man Authentisches er-
ren. Da aber diese Form der Information nur zur
)rführung des Angeklagten und nicht zur Bericht-
.attung über den Prozeß zugelassen wird, kann
Ausland bloß ahnen, aber nicht wissen, daß in
bit die Folter aus einem Fürsten nicht schonungs-
r^ als aus einem Holzknecht Sexualbekenntnisse
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2 —
herausprefit Ich habe mich an den Zentren gewendet,
der vor fünfundzwanzig Jahren Gelegenheit hatte, zu
beobachten, was der Angeklagte in einem yersperrten
Zimmer tat. Mein SchlQssellochkorrespondent berichtet
mir, Fürst Eulenbur^ habe sich seit damals sehr ver-
ändert. Er liege jetzt auf einer Bahre und sei seit
einigen Tagen sogar tot. Tag für Tag wird seine
irdische Hülle zum Gerichtstisch getragen, denn die
Verhandlung mufi ihren Fortgang nehmen und kann
mit Rücksicht auf die Geschwornen, die nicht ge-
wechselt werden dürfen und von denen einige schon
unwohl geworden sind, nicht bis zum Begräbnis des
Fürsten vertagt werden. Tag für Tag wird darum
der tote Angeklagte zu Gericht getragen. Hin-
ter der Bahre schreitet die Fürstin, ihr zur Seite
die beiden Söhne des Angeklagten. Das preufiische
Gericht nimmt die Obduktion des Fürsten Eulenburg
vor. Die Homosexualität des Verblichenen, zu der er
sich bei Lebzeiten, da es also noch Zeit war, nicht
bekennen wollte, wird jetzt, nachdem er den einzigen
mildernden Umstand verwirkt hat, auf anatomisohe
Weise festgestellt. Auf dem Korridor triflft der Ver-
treter der ,B. Z. am Mittag', ein Wiener Kanalräumer,
die Anordnungen. Die Söhne des Fürsten können
sich nur mit Mühe der herandrängenden Photo-
graphen erwehren. >Der im Grunewaldc und der in
Potsdam erhalten täglich offizielle Nachrichten über
den Stand der Sache, da sich Beiden die Staatsan-
waltschaft in gleicher Weise verpflichtet fühlt. Der
aufrechte Milchmann liquidiert täglich seine Zeugen-
rechnung, da er mit den siebzig Markin, die er mit-
genommen hat, in Berlin nicht auskommt. Der Zeug^
Irnst ist vollständig gebrochen. In maflgebenden Krei-
sen gibt man sich der HofTnune hin, daß Fürst Eulen-
burg für den Augenblick zum Leben erwachen werde,
da das Urteil im Namen seines Freundes verkün-
det werden wird.
y Google
8 -
Preuftens Geschichte ist die Geschichte von den
drei Löchern. Der rote Faden, der sich durch diese
sieht, setzt bei einem Schlüsselloch an und mündet
in ein Knopfloch.
Die menschlichen Handlungen teilt man in
solche ein, die unter den § 175 fallen und in solche^
lue nicht unter den § 175 fallen. Diese können ent-
weder auch wieder homosexueller Art sein oder an-
ders. Der letzte Fall ist selten.
Die homosexuellen Handlungen, die nicht unter
den § 175 fallen, nennt man Schmutzereien. Das
Ausschnüffeln dieser Handlungen mit Hilfe eines
Detektivbureaus und ihre Anzeige bei der Staats-
anwaltschaft muß man, um Mißverständnissen vor-
subeugen, anders nennen.
Der österreichische Paragraph 129 blickt mit
Verachtung auf den deutschen Paragraphen 176.
So schwer ist er doch noch nie kompromittiert wor-
den I Nie hat er sich mit Politik abgegeben, nie
rieh für patriotische Vorwände mifibrauchen lassen,
öffentliche Interessen tastet er nicht an ; er ist so
anständig, sich blofi um das Privatleben der Leute
zu künomern. Um das Vaterland in stürmischen Zei-
ten zu regieren, dazu ist in Österreich der § 14 da.
•
Die Berliner Presse hat sich also, weil ihr der
Binlafi in den Gerichtssaal verwehrt ist, auf ihre
Wfirde besonnen und solidarisch erklärt, daJB sie nicht
mehr auf dem Qang herumstehen will. Sie streiken,
weil man sie davor bewahrt hat, Saubengels zu sein.
*
Die Berichterstattung ist ausgeschlossen, aber
nicht die Kriecherei vor ihr. Die Gerichtsfunktionäre
entschuldigen sich. Keiner versäumt die Gelegenheit,
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~ 4 —
sioh den Herren auf dem Korridor als einen auf-
richtigen Freund der Presse zu empfehlen, »für deren
bedeutende Aufgaben er das volle Verständnis habe
und deren Mitwirkung namentlich bei der Justiz von
höchster Wichtigkeit sei«. Diesmal freilich müsse
sich die Mitwirkung ausnahmsweise auf dem Korridor
vollziehen. Und selbst der Monsieur Mayer, der Mün-
chener Qeburtshelfer dieses schönen Justizfalles, be-
dauert, sich über das schwebende Verfahren nicht
äußern zu können.
Die Strafrechtslehrer dagegen sind zur Diskretion
über eine Gerichtsverhandlung, bei der sie nicht dabei
sein dürfen, nicht verpflichtet. Der Herr Professor
Kahl wurde nicht zugelassen, er kann natürlich dem
Vertreter des ,Berliner Tageblatts* auch nichts sagen,
aber er sagt ihm doch schon am ersten Tag, daß
der Purst Bulenburg unbedingt verurteilt werden
müsse und daß ihm auch kein mildernder Umstand
zugebilligt werden könne. Geheime Gerichtsverhand-
lungen unter dem Ausschluß der Taktlosigkeit scheint
es nämlich nicht zu geben.
Fürst Eulenburg wird nie zugeben, daß er
homosexuelle Handlungen begangen habe, auch nur
etwa solche, die nicht unter den § 176 fallen. Br
hat es nie zugeben können. Er hat tatsächlich unter
einem unwiderstehlichen Zwang gehandelt, als er den
Schwur leistete. Der Baron Rothschild hat als Zeuge
ausdrücklich erklärt, daß er ihn auf Liebenberg nie
besucht hätte, wenn er geahnt hätte, daß Fürst
Eulenburg anormal veranlc^ sei.
«
Herr Lippowitz findet die Behandlung des
Fürsten zu milde. Er fürchtet, daß man ihm selbst, wenn
er doch einmal wegen autorrechtlicher Vergehungen
gepackt werden sollte, nicht erlauben wird, im Auto«
mobil durch den Prater zu fahren. Er bringt in
y Google
6 —
seioem Blatte den Originalwitz, die Verhandlung
werde noch aus Rücksicht auf den Jour der Fürstin
Eulenburg vertagt werden. Da es nicht genug Speichel
in Deutschland gibt, um die Gefühle auszudrücken,
die einem die Meinung des Herrn Lippowitz über die
Fürstin Eulenburg einflößt, so ziemt es sich auf jede
Kundgebung zu verzichten. Aber Germanias Familien-
leben ist zerstört und sie blickt mit Neid auf die
Haltimg der Fürstin Eulenburg. Zum Jour jener
anderen Dame wird Herr Lippowitz zugelassen, und
es ist ganz gut möglich, dafi. er sich dort die Inspi-
ration zu seiner sympathischen Bemerkung geholt hat.
«
Herrn Hardens Kampfgenossen:
»Die bäuerlichen Gestalten Bayerns scheinen etwas mürrisch
zu sein. Sie scheinen von dem Aufenthalt in der Reichshauptstadt nicht
sehr entzückt zu sein. Sie diskutieren darflber, dafi man mit 9 Mark täglich
nicht auskommen könne, denn 3 Mark kostet das Logis, das Frflhstflck
14 Pfennig und 5 Pfennig Trinkgeld, und dann habe man noch immer nichts
gehabt... Einigen Zeugen ist das Reisegeld ausgegangen. Sie verlangen
einen Vorschuß. Riedel, der sich auch zur Kassa begeben hat, ist zu-
rQckgerufen worden. Er hat seinen letzten Wohnsitz in Berlin ver-
lassen, weil er dort angeblich von Ungeziefer geplagt wurde. Er ist
davongegangen und dem Logierwirt schuldig geblieben und hat ihm
gesagt, er werde bezahlen, bis er das Zeugengeld bekommt. Heute er-
schien der Logierwirt des Riedel vor Gericht und wendete sich an die
Verteidiger Eulenburgs in dieser Sache. Diese haben die Angelegenheit
zur Sprache gebracht und Riedel zur Rede gestellt. Da Riedel gestern
nach Beendigung seiner Einvernehmung in Begleitung des Justizrates
Bernstein und eines Journalisten im Automobil ein Restaurant besucht
hat, verfügte heute das Gericht, daß Riedel isoliert werde, Die Isolierung
besteht darin, daß Riedel auf einem Stuhl vor der Tür des Gerichts-
saales sitzt, umgeben von mindestens zehn Berichterstattern, denen er
sein Herz ausschüttet <,
«
In seinen freien Stunden ist dieser Herr Bernstein
ein Dichter. Qlücklicherweise hat er in der letzten
Zeit wenig freie Stunden, und wenn er er wirklich
einmal dazukommt, mit der Muse Zwiesprache zu
halten, so wird ihm gewifi gleich der Riedel gemeldet.
Aber es werden ruhigere Zeiten kommen, und sollte
inzwischen vielleicht auch der Major Lauff ein Opfer
y Google
6 -.
der fürohterlichen Musterung geworden sein^ so wird
man sich mafigebendenorts erinnern, dafi es noch
Dramatiker in Deutschland gibt, wie es noch
Richter in Deutschland gibt. Der Verfasser von
»Herthas Hochzeit« wird einen Qeschmack nicht ent-
täuschen, der sonst wieder nur auf nichtdeutsche
Produkte, wie »HQttenbesitzer« und »Oharleys Tantec,
angewiesen wäre. Die israelitische Vergangenheit des
Herrn Bernstein ist viel mehr verjährt als die homo-
sexuelle des Ffirsten Eulenburg, da ja jener bekannt-
lich schon beinahe so »bayrisch wirkt«, wie Herr
Harden polnisch.
Der Hanswurst ist aus dem deutschen Drama noch
immer nicht vertrieben. Denn die Veränderung, die
mit dem Forsten Eulenburg vor sich gegangen ist,
wird in der ,Neuen Freien Presse* wie folgt illustriert :
>Das ist nur mehr der Schatten dieses Mannes, und die Ver-
änderungen sind derartig, daß man ihn auf den ersten Blick nicht wieder
erkennt. . . Er war immer noch ein vornehmer stattlicher Mann, er war
immer noch der FQrst, wenn er in seinem eleganten Winterrock mit
dem glänzend gebflgelten Zylinder auf dem Kopfe, von der Krankheit
am Gehen verhindert, aber doch nach Möglichkeit aufrecht, auf die
Schultern seiner Söhne gest&tzt, in den Qerichtssaal halb schritt, halb
getragen wurde. Jetzt aber liegt auf der Bahre ein elender, hilfloser
Mensch. Auch die Eleganz seiner Kleidung ist verschwunden, der
Zylinder von einst hat einem runden braunen Hut platzgemacht, der
vornehme aristokratisctye Überzieher einem sehr bOrgerlichen Paletot.«
41
Die Freundschaft Wilhelms IL ist ja gewift ein
belastendes Moment. Aber wer hätte geglaubt, daß sie
so unerbittlich streng gebüfit werden müsse?
•
Wenn einer vor den Geschwomen steht, so gibt
es wohl kein Faktum aus dem sogenannten Vorleben,
mit dem man nicht augenblicklich einen »uneOnsttgen
Bindruck« erzeugen könnte. Was sich im »vorleben«
auf vierzig Jahre verteilt, wirkt, auf die Spanne
einer Gerichtsverhandlimg projiziert, als lebende
Illustration; was durch das Sieb der Zeit geht, wirkt
y Google
— 7 —
mit verstärkter Aktualitäti so als ob es während
der Untersuchungshaft geschehen wäre. Es be-
leuchtet nioht nur die Tat, mit der es nichts zu
schaffen hat, sondern wird auch von der Tat beleuchtet,
und das Charakterbild des Angeklagten ist immer
von zwei Seiten bespiegelt. Das ist die Methode,
die mit Qlück auf das unperspektivische Denken
judizierender Durchschnittsköpfe spekuliert. Hat Fürst
Eulenburg einmal eine Ehrenbeleidigung begangen,
weil er im guten Glauben an die Mitteilungen einer
Frau unwahre Tatsachen über einen Hofbeamten
verbreitet hat, so ist er ein zielbewußter Verleumder,
der einen herzkranken Unschuldigen in den Tod
S »trieben hat. Der sterbende Pierson soll den
amen Eulenburg »deutlich gemurmelt« haben.
Aber ein herzkranker Schuldiger wäre durch die
Verbreitung wahrer Tatsachen ebenso sicher und
vielleicht noch rascher in den Tod zu treiben. Wie
leicht hätte etwa Herr Harden einen herzkranken
Homosexuellen durch die Enthüllung erweislicher
Wahrheit in den Tod treiben können. Dafi Fürst
Eulenburg ein Heros war, sucht seine Verteidigung
nicht zu erweisen, aber dafi der weichherzige Mann
auch nicht das Zeug hatte, Satanskünste spielen
zu lassen, das mufi jetzt besonders gesagt
werden, damit vor einer Justiz, die über jedes
läppische Detail in Staunen und »Bewegung« gerät,
ein verlorener Mensch nicht noch unter die An-
klagebank gedrückt werde. Die längst erwartete
Zeitungsroeldung, dafi dem Fürsten Eulenburg auch
ein Mord nachzuweisen sei, ist endlich erschienen,
denn es hat sich angeblich herausgestellt, dafi er
einmal als junger Bursch mit dem Säbel renommiert
und einem Beleidiger eine tödliche Verletzung bei-
gebracht hat. Man sollte es nicht glauben, wie die
Delikte einen Menschen förmlich umdrängen, der
sich einmal mit einem von ihnen eingelassen hati
Nun, daß Herr Harden es sich an der Belastung
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8 —
des fürstlichen Sexuallebens nicht genügen läfit,
sondern zwischen Anklagebank und Qeschwornen-
bank vorsichtshalber auch noch Stimmungsmomente
einschiebt, ist mehr als ekelhaft. Die Artikel, die
er jetzt in ganz leserlichem Deutsch für die Kolpor-
tagepresse schreibt und durch die ein aus der Son-
nenhöhe Geraffter noch sicherer beschattet werden
soll, setzen der. Bestialität jene Krone auf, die bis-
her nur wie ein unsichtbares Palladium über der
Aktion des Herrn Harden geschwebt hat.
Wenn >die Gteschwornen den Fürsten Bulenburg
verurteilen werden, so werden sie ihn nicht wegen
der falschen Aussage verurteilen, die er unter
einem fürchterlichen Zwange abgelegt und zu der
ihn der Staatsanwalt förmlich verleitet hat. Nicht
wegen des Schwurs, der dem aus Gunst in
Schmach g:ehetzten Manne eine Rehabilitierung
schaffen sollte und in seiner rein dekorativen Bedeu-
tung weder durch die Wahrheit noch durch die Lüge
die Klagesache des Grafen Moltke verwirren konnte.
Aber wenn sie ihn trotzdem schuldig finden, so wer-
den sie ihn wegen der verjährten oder nicht unter
den Strafparagraphen fallenden homosexuellen Hand-
lungen verurteilen. Denn zum Meineid war er ge-
zwungen, aber kein Geschworner wird es sich einreden
lassen, dafi er angesichts der vielen Kuhmägde, die
am Starnbergersee wohnen, zur Homosexualität ge-
zwungen war.
OJer sie werden ihn verurteilen, weil der Fürst
Dohna-Schlobitten ihm einmal einen groben Brief
geschrieben hat.
»Der Zeuge Riedel tritt unter großer Heiterkeit an den Qerichts-
tisch und überreicht eine Rechnung, aus der hervorgeht, daß er seine
Schuld an den Qasthofbesitzer nunmehr abgetragen habe und, wie er
mit dem Ausdruck der Befriedigung hinzusetzt, sogar noch um fünf
Mark billiger weggekommen sei.«
y Google
- 9 —
Der Gerichtshof wird demnächst darüber be-
raten, ob es Herrn Riedel gestattet werden soll, einen
Schuhplattler zum Besten zu geben. Es unterliegt
keinem Zweifel, dafi eine solche Produktion haxen-
schlagender Beweise, schon deshalb, weil sie auch
eine sogenannte >Qaudi< bedeutet, mit dem Prozeß-
gegenständ mehr zu tun hätte als der Brief des
Ptirsten Dohna. Vorläufig aber vergnügt sich die
Bestialität auf ihre Weise. Der Vorsitzende hält dem
Fürsten jenen Brief vor. Die folgende Ansprache ist
wörtlich so in den Blättern gestanden:
> Als wir hier sehr ausfahrlich über Ihren Charakter sprachen,
habe ich Sie aufgefordert, nach den guten auch die schlech-
ten Eigenschaften Ihres Wesens zu erwähnen. Sie haben
darauf zweierlei erwidert: Erstens seien Sie ein zu enthusiastischer
Freund gewesen und zweitens hätten Sie eine viel zu große Gutmütig-
keit betätigt, die Ihnen meistens nur Undank eingetragen habe. Das war
alles, was Sie von Ihren Fehlern sagten. Ich machte Sie da-
rauf aufmerksam, daß ich diese Eigenschaften nicht gerade zu denjenigen
Fehlern rechnen kann, die Sie hieher gebracht haben und daß wir etwas
Aber Ihre Wahrheitsliebe hören möchten, die schon nach dem
bisherigen Gang der Vernehmung etwas brüchig erscheinen mußte.
Darflber sagten Sie aber nichts. Nun ist hier dieser Brief...«
Der Fürst Eulenbur^ ist in einer argen Be-
drängnis. Verschweigt er die schlechten Eigenschaften
seines Charakters, so beweist er dadurch, wie schlecht
seine Eigenschaften sind. Offenbar wollte er dieses kür-
zere Verfahren einschlagen, aber schon eine solche Ab-
sicht ist eben verdächtig. Da ergeht an ihn die Auffor-
derung, sich über seine Wahrheitsliebe zu äußern.
Angeklagter, sind Sie wahrheitsliebend oder nicht?
Ja oder nein? Sagt er nein, so gibt er selbst zu, daß er
ein Lügner ist. Sagt er ja, so hat er die Unwahrheit
gesagt, ist also erst recht ein Lügner. Würde
er angeben, er sei ein zweifelhafter Charakter,
so hielte Herr Kanzow, der Vorsitzende, eine
solche Aussage wohl nicht für präzis genug. Auch
die Angabe, daß einer ein dunkler Ehrenmann sei,
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fönde Herr Eanzow noch immer zu allgemein.
Bezeichnen Sie uns des Näheren, in welcher Art sich
Ihre Schlechtigkeit äußert, ob Sie etwa hinterhältig:,
tückisch, eine Strebernatur oder sonst ein gemeiner
Kerl sind. Oder: Es wird Ihnen vorgeworfen, daß
Sie einen häfilichen Charakter haben. Ist das
wahr? . . . Herr Kanzow wird als einer der tüch-
tigsten deutschen Richter gerühmt und ist auflerdem
liberaler Politiker.
«
Wenn Fürsten fallen, pifit der Pöbel geschwind
noch aufs Pflaster.
Ein Wiener Kanalräumer, der nach Berlin aus-
gewandert ist und dort ein Mittagsblatt yerschleifit,
beherrscht die Situation des Prozesses. Er hat auf
seinem Schreibtisch — das ist erweislich wahr —
die scheinbar scherzhafte Inschrift angebracht: »Ich
breche zu haben Drecke« Dieser Mensch hält die Fä-
den der Eulenburg-Sache in seiner angenehmen
Hand und ist der Exekutor der gröberen Arbeit, die
sein Freund Harden in der ,Zukunft^ zu yerrichten
sich scheut. Das ist der Mensch, der die Erho-
lungsfahrten des Fürsten Eulenburg beanstandet,
Vorlebensfakten für die Qeschwornen appretiert und
nur über den Gesundheitszustand des Angeklagten
keine unfi;ünstigen Gerüchte aufkommen läftt. Das
ist der Mensch, der die Herren Riedel und Bernstein
im Automobil spazieren führt und deshalb in der
beneideten Lage ist, Deutschland mit authentischem
Dreck zu versorgen. Was er als Originalbericht über
die Zeugenaussage des Herrn Mayer ausgab, war lüler-
dings eine wortwörtliche Abschrift -der Münchener
Urteilsbegründung, die seinerzeit überall zu lesen war,
und die Wiener Blätter ließen sich die Sensation tele-
phonieren. Es braucht nicht eigens hervorgehoben zu
werden, dafi der Mann auch Korrespondent des Herrn
y Google
— 11 —
Lbpowitz ist. In Berlin vertritt er offiziös die Meinung
d^ Herren Riedel, Wilhelm II. und Harden.
•
Tatsächlich war er in der Lage zu versichern,
dafl die unbeschränkte Ausschliefiung der Öffent-
lichkeit -— »Selbste fUr Herrn Maximilian Harden —
»an Stellen, auf die auch ein Oberstaatsanwalt mit
Ehrfurcht emporzublicken scheint, nicht gebilligt
wird«. Tatsächlich war er auch in der Lage, zu -dro-
hen, Herr Harden werde, wenn man dem Skandal
nicht die ersehnte Verbreitung gebe, »noch einmal
in einem anderen Bundesstaate sein Heil suchen««
Dafl Herr Harden unersättlich ist, wufite man. Aber die
Drohung, die Ofientlichkeit des Skandals mit Hilfe
der willigen Justiz eines Bundesstaates herzustellen,
enthflUt bereits ein vom Blutrausch verwüstetes Qehirn.
Da8 sich der partikularistische QroU gegen Preußen
auch weiterhin den judiziellen Wünschen des Herrn
Harden willfährig zeigt, ist ja durchaus möglich. Das
kriminalistische Monstrum, das in Bibern zur Welt
kam, war ein so aufgelegter Hohn auf die deutsche Rechts-
einheit, dafl Herr Harden vielleicht wirklich ein dami-
scher Tropf wäre, wenn er Ober den Fall Eulenburg
nicht auch in Württemberg judizieren ließe. Der
Herr Mayer hat bekanntlich eines Holbein Haltung
bewahrt, als das Beleidigungsgeschäft der Herren
Städele und Harden sich vor ihm etablierte. Die
bayrische Justiz hat mit Vergnügen die Gelegenheit
ergriffen, sich als Revisionsinstanz über der preußi-
schen aufzuspielen und hat gegen alles Recht eine
meritorische Prüfung der in Berlin abgelehnten Zeu-
genschaft der Ernst und Riedel zugelassen. Herr
Städele hatte, um von der Anklage auf Ehrenbe-
leidigung freigesprochen zu werden, zu beweisen, daß
Herr Harden über den Fürsten Eulenburg nichts wußte.
Oder Herr Harden hatte zu beweisen, daß er etwas
wußte. In Osterreich wäre ein solcher Beweis Gott-
seidank nicht nur deshalb imdenkbar, weil es sich
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um Dinge des Privatlebens handelt, sondern auch
schon deshalb, weil der Beklagte St. dem Kläger
H. ein »Antragsdelikt« (Beleidigung des B.) vor-
geworfen hatte. Eine solche — sachliche und
geographische — Dislozierung eines Wahrheits-
beweises wäre bei uns unmöglich. In Bayern
war mehr möglich, als selbst in Deutschland erlaubt
ist. Es konnte sich naturgemäß nur darum handeln,
ob Herr Harden Material zu haben glaubte, nicht
ob dieses Material hinreichend war, um die Homo-
sexualität des Fürsten Eulenburg zu beweisen. Ob
Herr Harden Beweise angeboten hatte, nicht ob es
genügende Beweise waren. Es waren also die Ber-
hner Akten zu requirieren, aus denen hervorginf?,
dafi Herr Harden die Zeugenschaft der beiden bayrischen
Hieseln tatsächlich angeboten hatte; daraufhin war der
Herr Städele glatt schuldig zu sprechen. Seine Ver-
urteilung war von dem Inhalt der Zeugenschaften
Ernst und Riedel unabhängig. Denn wenn der Fischer
und der Milchhändler auch beschworen hätten, dafl
zwischen ihnen und dem Fürsten nichts geschehen
sei, war der Herr Städele schuldig. Damit wäre eben
der gute Qlaube, in dem Herr Harden seine Verdäch-
tigung vorgebracht haben konnte, noch nicht entkräftet
gewesen. Die Zeugen gegen Eulenburg durften nie
Zeugen gegen Städele sein, und es war ausschliefilich
die Tatsache, dafi sie von Herrn Harden dem Ber-
liner Gericht genannt wurden, aktenmäßig zu erhärten.
Aber der Herr Mayer verhörte die Zeugen,
quetschte aus ihnen heraus, was er mit dem
Kolportageton der ewigen Vergeltung und den
Mitteln der Folterjustiz vermochte, und führte einen
Prozefi Eulenburg. Qrotesk ist, dafi die Urteilsbe-
gründung des Münchener Beleidigungsprozesses so
ganz und gar auf die Komödie eingeht, daß sie kaum
mit einem Wort die rehabilitierte Ehre des Herrn
Harden streift und ausschliefilich die Beweise für
die Homosexualität des Fürsten Eulenburg würdigt»
y Google
— 13 —
Dieser wurde in München in contumaciam verurteilt
und in Berlin findet nur mehr eine Berufungsver-
handlung statt. Herr Barden kann mit den Bundes-
staaten zufrieden sein. Bismarck hat Deutschlands
Einheit geschaffen, Herr Harden löst sie wieder auf.
»Ernst war noch bis zum Mflnchener Prozeß ein gesunder und
blühender Mann; alle, die ihn früher gekannt haben, können nicht genug
erzählen von der schrecklichen Veränderung, die seitdem mit ihm vor-
gegangen ist. Sein Haar ist ergraut, er hat ein Herzleiden bekommen,
aus dem gelben Gesicht stehen die Backenknochen hervor. Er selbst
erzählt, wie er früher jeder Anstrengung gewachsen war, wie er sein
Boot gerudert, seine Netze ausgelegt hat, wie er über die Berge ge-
gangen ist, ohne eine Müdigkeit zu kennen; ,ich weide nie mehr, wie
ich war', fügt er traurig hinzu. Man sucht ihn zu trösten und zu be-
ruhigen, aber er ist dem Trost und der Beruhigung nicht zugänglich.
Sein Schwager, ein wackerer Schuhmacher aus Tutzing am Starnbergersee,
der Ernst nach Berlin begleitet hat, um ihn gegen etwaige Angriffe, vor
allem aber wohl um ihn gegen sich selbst zu schützen, erzählt, wie er
sich vergeblich bemüht, den Ernst zu zerstreuen. Sie gehen zusammen
ins Theater, aber der Ernst sieht und hört nichts von der Vorstellung,
und kaum hat er eine Stunde gesessen, so treibt es ihn wieder hinaus,
und sie laufen mitsammen durch die Strafien. Ernst war bisher ein an-
gesehener Mann in Starnberg, wo er, wie der Schwager erzählt, ein
schönes Anwesen besitzt. Jetzt redet das Volk allerlei Anzügliches
hinter ihm drein, und man weiß, daß die oberbayrischen Bauern sich
nicht gerade mit besonderer Zartheit auszudrücken pflegen. . . Dieser
arme, gutherzige, von Gewissensqualen gepeinigte, von seiner inneren
Unruhe halb zerstörte Mensch ruft das Mitleid aller derer hervor, die
hier mit ihm sprechen.«
Welch ein Erfolg der deutschen Sittlichkeit!
Der Herr Mayer in München fand es in seiner
Urteilsbegründung »ergreifend«, wie ihm dieser Er-
folg gelang, und den Herren Harden und Bernstein
standen die Tränen in den Augen. »Was sagen
Sie zu unserem Mayer?« Jeder im Saal hatte >Un-
vergefiliches erlebt«. Die Katharsis, die der Anblick
eines sich befreienden Gewissens bewirkt, büflt ein
armer Teufel mit einer zertrümmerten Existenz und
mit hervorstehenden Backenknochen. Dafür sieht,
wie Herr Harden triumphierend melden konnte, »der
Justizrat um zehn Jahre jünger aus«. Mit einem
y Google
— 14 ~
Wort) eine Bande, die einem annen Teufel das
Blut abgezapft hati
Hoffentlich ist der Verteidigung des Fürsten
Eulenburg die interessante Tatsache nicht ent-
gangen, dafi Herr Maximilian Harden die beiden Aus-
sagen des Zeugen Bulenburg erst in dem Augenblick
für Eide angesehen hat, da die Ergebnisse des Idün-
chener Prozesses diesen Aussagen widersprachen, also
Hoffnung gegeben war, eine Verfolgung wegen
Meineids durchzusetzen. Herr Harden, der bis zum
Münchener Gerichtstag in seinen Prozessen den
Standpunkt vertrat, er habe dem Fürsten Eulenburg
überhaupt nichts nachgesagt und es sei verfehlt, seine
Worte als Anspielungen auf sexuelle Dinge auf-
zufassen, war bemüht, die Aussagen des Fürsten als
unverbindliche Erklärungen hinzustellen, die nichlB
gegen ihn, Harden, beweisen. In einer Broschüre,
die ein Gefolgsmann des Herrn Harden nach dessen
Verurteilung erscheinen ließ, die den stilistischen
Einflufi und in jeder Zeile das sachliche Diktat
des Herrn Harden verrät, und die der Herausgeber
der ,Zukunft' als die richtigste Zusammenfassung der
Prozefiergebnisse empfohlen hat, findet sich die
folgende Stelle, die sich auf die Aussage Eulenburgs
im Brand-Prozeß bezieht:
»Als Eid ist diese Reinigungserklärung wenigstens bisher In der
öffentllchlceit allgemein aufgefaßt worden. In letzter Stunde werde ich
von einem praktischen Juristen darauf aufmerksam gemacht, dafi diese
Auslassung nach wiederholten Entscheidungen des Reichsgerichts nicht
unter den Eid fällt, sondern als nicht zur Sache gehörige, außer-
halb des Eides und der Zeugenpflicht stehende Erklärung
zu bewerten ist . . . Ohrenzeugen haben mir versichert, dafi sowohl
der Vorsitzende als auch Fürst Eulenburg wiederholt betont haben, es
handle sich bei der langen Auslassung des Fürsten um etwas nicht
zur Sache Gehöriges. Mit dieser Feststellung wäre der Erklärung in
derTatder Eidescharakter genommen. Ungeschickt wäre ein solches
Verfahren eben nicht, eine Erklärung rings in der Öffentlichkeit als Eid
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nehmen zu lassen, während sie in Wiridichkeit weiter nichts als eine
ganz unverbindliche Privatäufierung ist, bei der es dann
also auch weder J^eineid noch Falscheid gibt.«
Ungeschickt ist auch ein Verfahren nicht, eine
Aussage rings in der Öffentlichkeit als unverbindliche
Privatäufierung nehmen zu lassen, um ihre Wirkung
8u entkräften, und sobald sich herausstellt, dafi sie
unwahr ist, alle Justizschrecken gegen einen zweifel-
losen Meineid zuhilfe zu rufen . . . Ober die Aus-
sage des Fürsten im Moltke-Prozeß sagt der Beauf-
tragte des Herrn Harden, sie sei ebensowenig präzis
wie die erste. Und:
«Mir ist es nun nicht gelungen, logisch zu ergründen, ob
diese Rückfrage des Fürsten (, Halten Sie das vielleicht für Iceine Schmutze-
rei?') als unter dem ZeugeneidgetaneBehauptunganzusehenist.
Sachlich ist sie es ja zweifellos; ob sie der Form nach dorthin
gehört, will mir durchaus zweifelhaft erscheinen . . .«
Daraus geht auch hervor, dafi Herr Harden bis
zur Hilfeleistung des Herrn Mayer in München nichts
»gewufit«, dafi er auf Orund va^er Gerüchte die
Kampagne eröfiFnet hat, dafi er von den Aussagen
des Fürsten Eulenburg tief betroffen war. Er hätte
sich ja auch, wenn er schon damals, wie er nachträg-
lich lügt, den Köcher voll Pfeile gehabt hätte, nicht
so wehrlos verurteilen lassen. Das Detektivbureau
hat erst später gearbeitet. Die Aussagen des Fürsten
Eulenburg waren bis zum Tag von München keine
Eide. Dafi die Berliner Qeschwornen sie strenger
auffassen sollten, als Herr Harden, wäre grauenvoll.
•
Die Herren Günstlinge lebten sorglos dahin und
rauflten glauben, dafi Majestät ihr Gebaren verstehe.
Das hätte man der Kamarilla sagen müssen, dafi
Homosexualität nicht gewünscht wirdi Jetzt mufi sie
die Unerfahrenheit eines andern büßen.
«
Der aufrechte Milchmann:
»Am 18. Juni d. J. hat Riedel noch einen Brief an den Fürsten
geschrieben. Er setzte ihn in Kenntnis von der traurigen Lage, in der
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€r sich befinde. Er habe seine Milchhandlung schließen müssen, da er
infolge des Bekanntwerdens seiner früheren Beziehungen zum Fürsten
die ganze Kundschaft verloren habe. Das sei nicht seine, sondern des
Fürsten Schuld, der ihn zu jenen Schmutzereien verleitet hat. Der Fürst
möchte ihm innerhalb zweier Wochen mitteilen, ob er ihn entschädigen
wolle. Wenn er nicht schreibe, werde er mit seinem Rechtsanwalt
sprechen. Der Brief schließt mit der Bemerkung, daß der Fürst durch
seine Handlungsweise das ganze Deutsche Reich blamiert habe.<
Dieser Appell an das politische Gewissen des
Fürsten Bulenburg war zwei Wochen vor dem Pro-
zeß ergangen. Gleich Herrn Harden hatte Herr Rie-
del rein politische Motive, gleich ihm ließ er sich
»nur von Schritt zu Schritt drängenc,
«
Mancher Deutsche würde gern den Staub von
seinen Füßen schütteln. Aber der Dreck geht nicht
herunter. ^
Eine Nation, welche den gräßlichen Anblick der
Konfrontierung eines kranken Greises mit den grau-
gewordenen Zeugen seiner Jugendsünden ohne Trauer
erträgt; welche die Ausstellung eines fürstlichen
Siechenbettes und den Lokalaugenschein fürstlicher
Lüste zur demokratischen Forderung erhebt; deren
Interesse an dem Laufe der Gerechtigkeit »sich ab-
flaut«, weil sie nur horchen und nicht zusehen darf;
und bei der es »böses Blut« macht, wenn einem
aristokratischen Häftling die Arzte eine Lufterholung
durchsetzen: eine solche Nation sollte vor ein inter-
nationales Kulturgericht gestellt werden, wo ihr das
Recht aberkannt würde, auf Goethe stolz zu seinl
Oder wo mindestens die Kolonisierung ihres Terri-
toriums durch westafrikanische Ein wanderer beschlossen
werden müßte. Wer was dawider hat, zerschmettere ich.
*
> Ernst und Riedel haben von einem Unternehmer in Düsscldorl
das Angebot erhalten, sich gegen ein monatliches Honorar von je
500 Mark engagieren zu lassen, um mit ihm von Stadt zu Stadt zu
ziehen«.
y Google
— 17 —
Da Ernst abgelehnt hat, soll der Unternehmer
an ein anderes beliebtes Duettistenpaar herange-
treten sein. •
In der Parole »Pardon wird nicht gegeben« hat
sich die aufsehenerregende Verbindung vollzogen.
Herr Harden, dessen Inspirationsbedürftigkeit vom
eisernen Kanzler auf den aufrechten Milchmann ge-
kommen ist, wird sich aber täuschen, wenn er auf
Dankbarkeit rechnet. Es ist eine Shakespearesche
Staatsaktion, die sich in Preufien abspielt und in
einer solchen werden die beauftragten Mörder von
den Königen immer um den Lohn betrogen. Wenn
Bismarck den Fürsten Eulenburg für einen politischen
Schädling gehalten hat, so hat er dessen Beseitigung
auf abdominalem Wege nie gewünscht und nie bei
Herrn Harden angeschafft. Hätte er es getan, unfehlbar
wäre imSachsenwald dieserDialog vernommen worden:
>In diesem Sarg bring' ich dir, großer Kanzler,
Begraben deine Furcht: hier liegt entseelt
Der Feinde mächtigster, die du gezählt,
Philipp von Eulenburg, her durch mich gebracht. <
>Harden, ich dank dir nicht; du hast vollbracht
Ein W^ der Schande, mit verruchter Hand,
Auf unser Haupt und dies berühmte Land.<
»Aus eurem Mund, Herr, tat ich diese Tat.<
»Der liebt das Gift nicht, der es nötig hat.
So ich dich: ob sein Tod erwünscht mir schien,
Den Mörder hass* ich, lieb' ermordet ihn.
Nimm für die Mühe des Gewissens Schuld,
Doch weder mein gut Wort, Hoch hohe Huld.
Wie Kain wandre nun in nacht' gem Graun
Und laß dein Haupt bei Tage nimmer schaun !<
Aber die Shakespeare'schen Mörder trafen mit
einem Axthieb, und hier hat einer Glied für Glied
sein Opfer zu Tode gequält. ^^ , ^^
^ ^ ^ Karl Kraus.
y Google
— 18 —
Der eiserne Besen.*)
O du Ausgeburt der Hölle 1
Soll das ganze Haus ersaufen?
Der Zauberlehrling.
Wo sind die schönea Zeiten — so seufzte alt
und jung — , da es noch in den Zeitungen hieß :
Eine beispiellose Skandalaffäre beschäftigt die
Stadt Bettenhausen. Ein Assessor hat seine Ge-
liebte, ein Mädchen der besseren Bettenhausener
Gesellschaft, einer berüchtigten Hebamme überliefert,
damit diese eine rerbrecherische Operation an ihr
vornehme; da aber die Geliebte eines Fähnrichs
gleichfalls auf Zureden ihres Liebhabers jene Hebamme
aufgesucht hatte, während der Fähnrich sich ins
Ausland begab und ein Schutzmann aus Verzweif-
lung darüber, dafi er ihn nicht mehr verhaften konnte
und weil auch seine Geliebte die Hebamme gekannt
hatte, sich erschofl, da ferner auch zwei Lehrerinnen
in die Affäre verwickelt scheinen — — Wo sind die
schönen Zeiten I Man hatte die sichere Gewähr, dafi
die Familie sich fortpflanze. Sie wollte es nicht im-
mer, aber sie konnte es. Unter dem Titel »Eine
Skandalaffäre in Bettenhausenc erfuhr man, dafi es
noch so etwas wie ein gesundes Liebesleben gab.
Der Unterschied zwischen früher und später prägte
sich vor allem darin aus, dafi man einst den Nach-
wuchs beseitigte, während man sich später nicht
einmal mehr die Mühe nahm, ihn herbeizuführen.
*) Aus dem »Slmplidssimus*.
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— 19 —
Waren früher bloß die Folgen unerwünscht, so wehrte
man sich jetzt auch gegen die Ursachen. Eine bei-
spiellose Skandalaffäre beschäftigte wieder die
Stadt Bettenhausen : Der Assessor lebt mit dem
Fähnrich auf bestem Fufie, dieser beträgt ihn mit
dem Schutzmann, die beiden Lehrerinnen suchen ihr
Glück ^ auf ihre Art, und die Hebammen seufzen
über die schlechten Zeiten • • . Wenn ein Erwerbs-
zweig durch den Umschwung der Verhältnisse lahm-
gelegt war, so war es dieser, und angesichts des
Treibens der Erwachsenen ward der Ausruf berech-
tigt: Es gibt keine Kinder mehrl
Es hiefie Eulen nach Bettenhausen tragen, wollte
man noch ausführlich darlegen, dafi diese Stadt
Athenische Sitten angenommen hatte. Das Fremd-
wort, in dessen Zauberbann bald die ganze Bevöl-
kerung lag, war die »Homosexualität«. Hätte der
Sprachreiniger, der aus einem Chambre separ^e ein
Sonderzimmer gemacht hat, den Bettenhausnem von
allem Anfang die Homosexualität in eine Gleich-
geschlechtlichkeit verwandelt, sie hätten sich viel-
leicht nie darauf eingelassen. Aber nun wars zu spät,
das Wort war einmal in die Debatte geworfen, und
darum griff die Sache um sich, die man je nach
dem Grade der sittlichen Entrüstung eine Mode oder
eine Seuche nannte. Die tonangebenden Männer von
Bettenhausen waren nicht mehr einwandfrei, und bald
traute man keinem Fürsten mehr über die Gasse.
Hatte der Bürger einst, wenn er bei einem Hoch-
gestellten Audienz nahm, aus Respekt es nicht ge-
wagt, ihm beim Verlassen des Saales den Rücken
zu kehren, so unterließ er es jetzt aus Vorsicht. Der
Verkehr zwischen den mafigebenden Persönlichkei-
ten war früher so geregelt, dafi man die heim-
lichen Strebungen hinter dem Rücken des Vor-
gesetzten für Beweise des Ehrgeizes halten konnte,
während jetzt vielfach der Subalterne, ehe er sich
umdrehen konnte, von einer Gunst überrascht wurde,
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— 20
die nicht ohne sinnlichen Beigeschmack war. War
in einer Gerichtsverhandlung ein Polizeidirektor über
den Stand der Unsittlichkeit befragt worden, so
benützte er die Verhandlungspause, um sich zu er-
schiefien; denn es hatte sich inzwischen heraus-
gestellt, daß auch seine Empfindungen wesentlich
von jener Norm abwichen, die der Angeklagte ver-
lassen hatte. Die ärztlichen Sachverständigen mußten
wegen Befangenheit abgelehnt werden, weil selbst sie
in dem dringenden Verdacht standen, sich in ihrem
dunklen Drang des rechten Weges nicht immer be-
wußt gewesen zu sein. Die Qeschlechtsbestimmung,
der die Gerichte von Bettenhausen oblagen, konnte
infolgedessen nie vollständig gelingen und wenn sich
die Richter zur Urteilsberatung zurückzogen, so ging
ein verständnisinniges Lächeln über die Gesichter
der Leute, die im Auditorium saßen; denn da sich
unter den Richtern keine Frau befand, konnte man nie
wissen, was im Beratungszimmer getrieben werde.
Es war keine Lust, zu leben. Man teilte die Men-
schen bereits in solche ein, die homosexuell waren,
und in solche, die dafür galten. Vergebens bemühten
sich die maßgebenden Paktoren dem Rätsel der Ver-
kehrung des Liebeslebens von Bettenhausen auf den
Grund zu kommen. Eine Version, die immerhin eine
große Wahrscheinlichkeit für sich hat, sei hier unter
allem Vorbehalt mitgeteilt. Die Männer von Betten-
hausen hatten gehört, daß die Frauen auf der Hoch-
zeitsreise beim Anblick des Oolleone, im Palazzo
Pitti oder beim Sonnenuntergang in der Campagna
die Frage zu stellen pflegten: Nu, Manne, biste
glicklich? Um dieser Möglichkeit zu entrinnen und
weil auch die körperlichen Vorzüge der Frauen von
Bettenhausen den berechtigten Anforderungen nicht
entsprachen, retteten sich die Männer in eine Liebes-
praxis, die mit der Absicht des Gesetzgebers nicht
völlig in Einklang zu bringen war. Anderseits war
es aber auch nicht zu leugnen, daß sie selbst
y Google
21 —
auf der Hochzeitsreise in Italien mehr schwitzten
als unbedingt notwendig war, so dafi auch die
Frauen gewisse Bedenken gegen die Einrichtung
des eheUchen Zusammenlebens zu äußern anfin-
gen und sich deshalb mehr zu ihresgleichen
ingezop;en fühlten. Man sagte, dafi infolge der
allgemeinen Unsauberkeit der Bewohner von Betten-
hausen nach und nach eine reinliche Scheidung der
Geschlechter herbeigeführt wurde.
Man war's eine Zeitlang zufrieden; als sich aber
später herausstellte, dafi das Familienleben darunter
leide, beschloß man, die Unordnung niSht länger zu
dulden. Handelte es sich doch um nichts Geringeres
als um die Zukunft der Nation, die gewifi zu deren
edelsten Gütern gehört. Darum war es die höchste
Zeit, die allerhöchste Zeit, daß ein Ende gemacht
würde. Einem schlichten Schriftsteller gebührte das
Verdienst, als erster auf diese Obelstände hingewiesen
zu haben. Man holte den eisernen Besen hervor, um
die Geschlechter zu paaren zu treiben und Ehen
zustandezubringen, die infolge gegenseitiger unwider-
stehlicher Abneigung bis dahin nicht geschlossen werden
konnten. Man kommandierte »Herstellt Ic und »Vor-
wärts, marschic. Der Besen funktionierte zur allge-
meinen Zufriedenheit. Seine Borsten sträubten sich
anfangs und standen in die Höhe ; aber später paßten
sie sich der veränderten Situation an. Wie man sieht,
gab es in Bettenhausen nur zwei Gerechte. Einen,
der die Wahrheit suchte, wo immer er sie fand, und
einen, der es nicht glauben konnte.
Der eiserne Besen konnte sich gar nicht genug tun.
Bald hatte er seine Schiddigkeit getan ; aber wie ein
richtiger Zauberbesen hatte er nicht nur die hinweg-
^fegt, g^en die er angewendet wurde, sondern
auch viele von denen, die seiner Anwendungzustimmten.
Kaum hatte ihn einer berührt, so hieß es auch schon, er
selbst sei bekanntlich auch so einer. Seit dem Dahin-
gaag des Meisters, der ihn allein hätte richtig hand-
y Google
— 22 —
haben können, wuchs er jedem, der ihn versuchen
wollte, über den Kopf. »Seine Wort* und Werke
merkt' ich, und den Brauch, und mit Geistesstärke
tu' ich Wunder auch.« Das glaubte so mancher, aber
er konnte es nicht, und der Pein des Zauberlehrlings
machte kein wiederkommender Meister ein Ende. Der
verruchte Besen wollte nicht hören, Stock, der er gewe-
sen, blieb er verstockt. Er wurde gespalten. Aber siehe
da, »beide Teile steh'n in Eile schon als Knechte völ-
lig fertig in die Höhed Und zwar als zwei Fischer-
knechte. »Welch entsetzliches Gewässer Ic Es war, als
ob der Starnbergersee austräte und sich als Sintflut
über das Land er^öße. Man stand einer noch
nicht beobachteten Erscheinung gegenüber. Ja, sagte
man sich, die Zustände waren doch früher da als ihre
Enthüllung, also kann die Enthüllung nicht an den Zu-
ständen schuld sein I Aber sie war es trotzdem. Denn
wenn es auch erweislich wahr ist, daß schon längst,
sozusagen unbewußt, jeder Einwohner von Bettenhau-
sen homosexuell war, so war es doch früher immerhin
noch möglich, daß sich einer heimlich zu einem Mädchen
schlich und sich fortpflanzte. Jetzt war die Erfüllung
solcher Staatsbürgerpflicht unmöglich gemacht, denn
jetzt hielt man sie bloß für einen Alibi-Beweis und jeder
schämte sich, normal zu sein, weil er fürchtete,
durch eine normale Handlung den Verdacht auf eine
homosexuelle Veranlagung zuTenken. Das Leben, dem
die erhofften Erleichterungen nie in besonderem Maße
zuteil geworden waren, war wesentlich erschwert;
denn die verschlungenen Pfade seiner Freuden waren
markiert imd erlaubten keine Verirrung, das Betreten
normwidriger Gebiete war bei Strafe verboten, aber
das Schlimmste war, daß die normalen Anlagen dem
Schutze des Publikums empfohlen wurden. Einerrief:
»Ich habs gewagt«, aber es war keine Lust, zu leben.
Wer lebte, ^It für homosexuell; erschoß er sich
aber, so war der Beweis gelungen. Da in die gleiche
Zeit die Entdeckung des Unbewußten fiel, so wußte
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- 23 —
niemand, woran er war und was hinter seinem
Rücken geschah. Nur das Bewußtsein der unteren
Schichten der Bevölkerung entwickelte sich bis zum
Qröfienwahn. Denn wenn ehedem ein Lakai die
Leutseligkeit einer Gräfin genossen hatte^ so schlofi
ihm die Erinnerung an einen Lohn, der reichlich
lohnet, den Mund. Im Verkehr mit den Grafen
aber machte das Glück dem demokratischen Gefühl
Platz, an einer strafgesetzwidrigen Handlung in
gleicher Weise teil zu haben, was allmälig einen
wirtschaftlichen Aufschwung der niederen lUassen
herbeiführen half. Auch machte diese schon das
Gefühl, um große Dinge zu wissen, redselig, sie be-
gannen sich an der publizistischen Tätigkeit zu beteiligen,
und mancher, der zum Schweigen verurteilt war,
brach wenigstens auf dem Sterbelager in den Ruf
aus: »I waß was, -i waß was und derfsnetderzählnlc
Manche, die noch bei Lebzeiten ihr Herz gegen eine
Zeugengebühr ausgeschüttet hatten, wurden von
Impresarios eingeladen, in einem Variete aufzutreten.
Später verlor aber auch diese Pikanterie ihren Reiz
und bei der allgemeinen Verbreitung der Mode
richteten die Impresarios ihr Augenmerk auf jene
Bewohner der Stadt, die noch normalen Neigungen
huldigten. Sogar die sogenannten »Bohemiengsc hatten
alle ihre Originalität eingebüßt. Während sie sich
früher aus Objektivität beiden Geschlechtern zuge-
wendet hielten, wußten sie jetzt nicht, was sie
machen sollten, in einer Zeit, in der schon jeder Fa-
milienvater sich mit der Bisexualität brüsten konnte.
Die Panik wuchs, weil man alleTore des Sinnenlebens ver-
sperrt fand und den Notausgang nicht benützen durfte.
Der eiserne Besen wütete und da die meisten Men-
schen durch Selbstmord endeten, ehe sie sich nach-
sagen ließen, daß sie nichts zur Entstehung der
kommenden Geschlechter beigetragen hatten, so starb
Bettenhausen aus, bevor es durch die natürliche Ent-
wicklung der Dinge so weit gelangt wäre . . .
y Google
— 24
Nur zwei Männer hatten sich allen Anfech-
tungen zum Trotz als normal erwiesen, einer, der
enthüllte und einer, ders nicht glaubte. Sie retteten sich
vor der Sintflut und dachten darübernach, wie sie endlich
die Zukunft der vollständig vertilgten Nation sichern
könnten. Ringsumher lagen die Steine, mit denen man
nach den normwidrigen Einwohnern von Bettenhausen
geworfen hatte. Und noch einmal warfen sie die
Steine hinterwärts und ganz wie in der alten Sage,
gaben sie dadurch einem neuen Geschlecht das Da-
sein. Nur daß sie eben, der neuen Zeit gemäfi, zwei
Männer waren, und nicht Mann und Frau. Der
eine hiefi Deukalion der Zweite; der andere hiefi
nicht Pyrrha, denn er hatte nichts Weibliches an sich,
sondern war ein Sieger und hieß Pyrrhus.
Karl Kraus.
Knnstschan.
Die Zusammenfassung geistiger Gebiete zu
organisatorischen Einheiten wird abgelöst durch den
der Masse innewohnenden Instinkt der Vereinzelung.
Dieser Trieb, der aus der auferlegten Unterordnung
eine ziellose Freiheit sucht, ist heute in allen Ge-
bieten wirksam, sein quasi-geistiges Ideal läfit sich
mit einem Worte nennen: Demokratisierung.
Die Demokratisierung ist schon begrifflich
ein relativer Vorgang, keine Form der Zusammen-
fassung, sondern der Desorganisation, wider-
spricht doch die Demokratie dem schöpferischen
Prinzip aller Organisation durch den Einzelwillen,
wie sie tatsächlich in der ganzen Geschichte niemals
eigenmächtig gestalten, sondern nur bestehende Macht-
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— 25 —
gebilde «ersetzen und umwandeln konnte. Sie bleibt
ein dauerndes Ferment, sie wirkt als kritischer und
analytischer, nicht als zeugender und synthetischer
Wert. Ihre Lebensäufierimgen haben also eine ständige
Bedingtheit, einen wechselnden, keinen gleichbleiben-
den Inhalt, einen relativen, keinen immanenten
Charakter.
Dieses unorganische Chaos: Demokratisierung
zieht nun die schöpferischen Kräfte in den*Struder.
Die Ideale der Demokratisierung (mit Absicht wird
dieses und nicht das Wort Demokratie gewählt,
welches einen dauernden Zustand ausdrückt, der sich
niemals vollendet) sind diese: QrOStmOgliche Yer-
besserimg und Veredlung des Massenlebens vom
ökonomischen ins seelische, geistige Förderung der
Gesamtheit, ihre Durchdringung mit allen Gütern
der Gesittung. Ihre Wirklichkeit ist: Verkleinerung
alles ^Schöpferischen auf das Durcfaschnittsmafi, Unter-
werfung aller Einzelleistung unter soziale Zwecke.
Der rationale Nutzen wird überhaupt Gebieter alles
geistigen WoUens. Das ökonomisch-brauchbare. Sinn-
lich-förderliche und Faßbare, Sozial-gemäße wird be-
jaht, alles darüber Hinausgehende, Individuelle, Unbe-
dingte verneint oder mit geheucheltem Wohlwollen
recht eigentlich ausgehungert. Die menschheitlichen
Energieen seufzen unter der Bergeslast einer sozialen
Misere, die Eins und Alles geworden ist. An diesem
imendlichen Hungertuche ißt sich die Demokratie
durch die Ewigkeit.
Dabei verkümmern die großen monumentalen
Instinkte der Kunst, ihr Trieb nach Herrschaft und
nach Unterordnung wird gleicherweise mißbraucht
und entstellt, er ersehnt die Vereinigung zu einer
politischen, religiösen, philosophischen Gesamtarchi-
tektur und findet überall das Chaos einer hungernden
und mißtönigen Masse. Weder ökonomische, noch
geistige Bedingungen einer organisatorischen künst-
lerischen Leistung bieten sich dar, Vereinzelung,
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— 26 —
Verfeinerung aller technischen Mittel, Atomisierung
der Anschauung selbst walten vor und machen die
Zusammenfassung immer seltener und schwieriger.
Die Demokratisierung begünstigt und fordert
diese Verkleinerung, wie sie eben selbst Verkleinerung
ist Auf allen schöpferischen Gebieten, in der bildenden
Kunst SEumal, löst eine unerhörte Spezialisierung die
Leistungen auf und macht sie zwar allgemein zu-
gänglich, aber auch allgemein unbedeutend. Aus dem
Uegenstande der höchsten Leidenschaft wird einer
der täglichen verzärtelten Liebhaberei. Nicht die
Unversöhnlichkeit und schroffe Selbstgerechtigkeit
der Kunst, sondern die duldsame Vordringlichkeit des
Dilettantismus ist willkommen. Der Wunsch all der
Beflissenen, Erzieherischen, Ernsthaften, Oefühlvollcn,
Verständnisreichen, Mitleidigen, Ethischen geht nach
der Verallgemeinerung jener Werte, die nur in ^irer
Besonderheit und eigenwilligen Unbedingtheit Sinn
und Macht haben.
Als Erfüllungen dieser tausendstimmig-einfältigen
Wünsche wachsen Kunstschulen, Kunstkenner, Kunst-
macher aus dem dürren Boden.
Eben wie mit der Druckpresse und der soge-
nannten allgemeinen Bildung, mit der Möglichkeit
ungemessener Vervielfältigung und Verbreitung des
sprachlichen Ausdrucks auch scheinbar eine Fähigkeit
der Erzeugung von Gedanken gewonnen wurde, die
in Wahrheit den schöpferischen Geist der Sprache ver-
fälschte und verwüstete, beginnt auch die Lernbar-
keit der bildenden Hantierung einen bildnerischen
Journalismus, eine Gestaltung der künstlerischen All-
tagsanschauung und Tagesmeinung zu ermöglichen.
Binnen kurzem wird alles, wie es schreiben und
sprechen zu können glaubt, auch zeichnen, malen,
bilden zu können vorgeben, wodurch der Künstler
selbst gemach überflüssig und lächerlich erscheint,
wie es der Dichter zum Beispiel längst geworden ist:
eine Art von urzeitlichem Fossil, das m die heilige
y Google
— 27 —
Demokratie nur als antiquarisches und dekoratives
Ungeheuer paßt.
Das Kennwort des ganzen Treibens ist: Ge-
schmack. Das bedeutet: Obereinstimmung des allge-
meinen Empfindens bei der Anschauung des Künst-
lerischen, der Urteilsrichtung aller gegenüber dem
einzelnen« Geschmack heifit: alles Gegebene unter
einen Hut bringen, alles Unvereinbare zusammen-
stecken, sofern es irgend der Gesamttendenz ange-
paßt werden kann. Das Ungemeine wird nicht als
solches und ganzes hingenommen, sondern so lange
mißverstanden und umgedeutet, bis es irgendwie den
allgemeinen Mafistab verträgt. Der ureigentlichen,
schöpferischen Hervorbringung ist aber ein gewisser
Widerspruch zur geltenden Wertung gemäfi, alles
Neue, Grofie ist elementar, alles Elementare aber in
seiner Oberfülle geschmacklos, indem es dem Gesamt-
willen seinen Eigenwillen entgegenstellt, aufzwingt,
überordnet. Es begründet einen neuen, andern Ge-
schmack, aber es hat keinen, es ist Ursache, nicht
Erzeugnis des Geschmacks.
Die Demokratisierung der Kunst setzt nun diesen
braven Gefolgsmann: Geschmack zum Alleinherrscher
ein und tut sich auf sein lauliches, mildes, um-
fassendes, duldsames , elastisches AUerweltsgefühl
und -Verständnis noch wunder was zugute. Dieser
von Natur abhängige, knechtische Geschmack, der
seine eigene Richtung nur so lange wahrt, bis er
durch die Ohrfeige oder den Fufitritt eines Mächtigen
eine andere bekommt, soll dem Schöpferischen seine
Wege vorschreiben. Er läfit sichs in der Welt be-
hagen, die ein anderer als er geschaffen hat, er baut
Häuser, richtet sie ein, macht Sessel und Gerät,
Löffel und Messer und hält sich vor den gewöhn-
lichen, verachtetsten Dingen nicht zurück, da alles
zu verklären, zu veredeln, zum Kunstwerke zu er-
heben seine » demokratisierende c Mission ist.
Der Geschmack ist sozusagen die lackierte
y Google
28 —
Rechtfertigung der Masse, die ihren Kirchtag feiert,
derweil die Katzen fort sind. Durch ihn stellt sie sich
ihr kalligraphiertes Wohlverhaltungszeugnis aus und
besieht mit Staunen ihren Kulturwert.
Ehrfurchtlosigkeit, Mangel an Distanz, zudring-
liche Wichtigtuerei ist dieses Geschmacks »persön-
liche Notec. Niemals ist die Lehre: aus dem Leben
ein Kunstwerk zu schaffen, höhnischer mißverstanden
und in wohlfeilere Dummheit verkehrt worden, als
heute, wo der »Geschmackc dem einzelnen die
schöpferische Willkür und sittliche Aufgabe des per-
sönlichen Lebens sacht aus der Hand windet und die
gemeine Gleichmacherei einer künstlerisch tuenden
Beflissenheit an die Stellen schiebt, die sonst dem
privaten Wollen gewahrt blieben. Dieser Geschmack
guckt durch alle Fenster, in alle Töpfe, mengt sich
in alle Geschäfte, kein Gerät ist ihm zu gering, es
umzubilden und vorgeblich zu durchgeistigen. Er
bringt es zuwege, die einfachsten, noch ursprünglich
gebliebenen Funktionen zu verwirren, schöngeistig
zu pathetisieren und dabei zu ent¥rürdigen, seine
Stimmung in alles hineinzutragen und die natürliche
Stimmung, die allem innewohnt, zu vertreiben und zu
verkehren. Der Adel des täglichen Lebens bestand und
besteht in einer gewissen scharavoUen Abkehr des pri-
vaten Daseins von den notwendig öffentlichen Übungen,
hier gibt es ursprüngliche, bescheidene Grund- und
Gebrauchsformen, die ihrem funktionellen, typischen,
unpersönlichen Zwecke sinnvoll dienen. Die Würde
des Handwerkers gestaltete diese Gegenstände mit
schlichter Sachlichkeit und unvordrin^licher Präzision.
Heute hat sich der Geschmack mit dem größten
Lärm auch dieser Dinge bemächtigt und über ihre
Zwecke den seinen gestellt, eine Phantasie, die das
Große auszusinnen unfähig, dem Kleinsten auf den
Hals gehetzt, den primitiven, natürlichen Stil des
privaten Lebens aufgestört und zur gequälten Repräsen-
tation gezwungen, so daß nicht einmal Essen und Trinken
y Google
— 29 —
mehr sich bescheiden darf, wie es sich gehört. Das Hand-
werk ist heimgesucht von einem Tausendsassa, yon
einem Affen der Kunst: dem Qesohmack« Die Frucht
dieses Alpdrucks ist das, seine eigene Gottähnlichkeit an-
himmelnde Kunsthandwerk von heute. Inmitten der
Demokratisierung geht die Kunst selbst am Qeschmack
zugrunde. Es sind die Satumalien einer verwirrten
Gesellschaft, wo der Herrscher den Sklaven be-
dienen muß.
Das sind etwa die Lehren der »Kunstschauc.
Zwei Persönlichkeiten fallen als schicksalsvolle
Repräsentanten auf.
Der eine: Klimt unterlag durchaus mit den
5;län8endsten Gaben, mit der vornehmsten Ober-
einerung des Könnens diesem Unwesen: Geschmack
und teilt das Schicksal alles so Relativen und Ge-
meinsamen: mit der Zeit zu vergehn. Es ist ein
Typus, der gerade für Wien bezeichnend, Makarts
Wesen und Mrken zu wiederholen scheint.
Der zweite ist von dieser Demokratisierung
glücklich unberührt, mit idlen Urmächten der schöp-
ferischen Natur eins, von instinktivem Trieb nach
höherer machtvoller Organisation beseelt, die er in
seinem Werk ahnt, ausdrückt, erfüllt: Metzner,
der Bildhauer.
Sieht man sein Relief eines Bauern, der in
schweren Holzschuhen den Pflug führt, an dem zwei
starke Rosse ziehen, so ist es, als steige daraus der
Urhauch der zeugenden Ackererde auf und als er-
wache die Einfalt der immer erneuten Fruchtbarkeit
des weiten Landes selbst, jenes Bodens, aus dessen
Furchen die schöpferische Willkür sich in grofien
Ernten erneut und Glauben, Denken, Können des
Volks in der Saat von Männern aufersteht. Sein
Kaiser Otto drückt diesen schöpferischen menschheit-
lichen G^ist selbst gewaltig einfach aus mit seinem
Grimm, seinem Eisengehalt von Willen, seiner
Schwertfaust und seinem heimlichen Lächeln. Das
Digitized by VjOOQIC
— se-
ist primäre Kunst, nicht — abgeleiteter Geschmaok.
Eine Kunst, die ihre Hand fernen, unbekannten, an-
deren Schöpfern entgegenzustrecken scheint, um ein
größeres Ganzes gemeinsam zu erwirken. Wo sind
die Meister aller verschwisterten bauenden Kräfte
der Menschheit, diese Hand zu fassen?
Otto Stoessl.
Der Beamte.
Je vorgeschrittener eine Zivilisation ist, desto deutlicher tritt
aus der Erscheinungen Fülle eine typische Gestalt hervor, die in
unserti Tagen den ganzen Qesellschaftsaufbau stützt — der Beamte.
Eine solche Werbekraft geht von dieser Gestalt aus, daß man hier
das Sprüchlein vom Qolde anwenden könnte, an dem alles hingt,
zu dem alles drängt; und jener Tag scheint nicht allzufem, da
die Menschheit beiderlei Geschlechtes sich nur mehr nach Rangs-
klassen abstufen wird. Um diese Entwicklung zu begreifen, muß
man auf das Wesen des Beamtenstandes eingehen.
Er lockt zunächst durch die relativ höchste Sicherheit der
Existenz, die er bietet, durch die Gewähr der Versorgung. Man
hat für ewige Zeiten Ruhe, braucht sich nicht mehr im Daseins-
kampf zu strapazieren, um am Ende seine gänzliche Unzulänglich-
keit darzutun, hi diesem Sinne kann man die ganze Institution und
Organisation der Beamtenhierarchie als das vielleicht glänzendste
Abwehr- und Schutzmittel bezeichnen, das die kompakte Mittel-
mäßigkeit ihr Instinkt eegen die Auslese durch den Kampf ums
Dasein finden ließ. Diese Sicherheit ist besonders wichtig und
wünschenswert bei Famiiiengründung, die ja ihrerseits die Stabilität
der Existenz vermehrt. Man verdoppelt, vervielfacht das Fundament
seines Lebens und Wesens, verbindet sich (dies wenigstens ist das
Ideal) zu einem neuen Gesellschaftswesen. Die Behaglichkeit des
Daseins wird im allgemeinen gesteigert, auch in geschlechtlicher
Beziehung ist ein Wettbewerb nicht mehr notwendig, und indem
man all das schön sicher und bequem hat, wird man wirklich eiii
»nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft«. Wie leicht
begreiflich, ist auch dem Vorgesetzten ein verheirateter Beamter,
y Google
— 31 —
den er sidierer ia der Hand hat, erwünschter. Denn da ein solcher
für die Familie zu soi^gen hat, darf er nichts riskieren und ist
gesdmicid^ier und arbeitswilliger als ein anderer. Und das Leben
läuft wie ein Zug auf den einmal gelegten Schienen, mit der vor-
gescfariebeneo Geschwindigkeit. Man hat seine genau geregelte^
Tätigkeit Tag für Tag, Woche für Woche das Gleiche. In zweifel-
haften oder kritischen Fällen ist immer noch ein Höherer da, ffir
den das Entscheiden wieder nur eine Gewohnheit ist, die sich
selbsttätig auslast. Fast nichts trübt diese gesunde Regelmäßigkeit
des Geschehens. Man sieht, das mechanische Gesetz des Beharrungs-
vermögens, der Trägheit hat hier eine neue Verkörperung gefunden,.
und aus Organismen, die den Geist in sich bilden und entwickeln
sollten, sind Mechani»nen geworden, die den Geist töten.
Ein weiteres Lockmittel, das den Beamtenstand so zug-
kräftig macht, ist die soziale Stellung, die er garantiert. Es ist eine
bewährte Methode, die seit jeher von allen l^chthabem — den
Größten wie den Kleinsten — mit Erfolg geübt wurde, materielle
Forderungen durch sogenannte ideelle Entschädigungen, die nichts
kosten, zu befriedigen. Je größer und mächtiger eine Organisation
ist, desto leichter und erfolgreicher kann sie diese Absicht durch-
führen. Die stärkste ist der Staat, und die Entschädigung, die er
seinen Beamten für die geringen materiellen Chancen bietet, ist
das soziale Ansehen. Für alle, die nichts sind, ist hier die be-
quemste Möglichkeit, etwas zu werden, nämlich in den Augen
jener, die auch nichts sind. Dies ist nicht etwa bloße Befriedigung
der Eitelkeit, sondern das wichtigste Surrogat für Persönlichkeit.
In sich kann diese Sorte keinen Wert finden, da ihr Individual-
wert meist gleich Null ist; sie ist daher auf jene Wertschätzung an-
gewiesen, die ihr von außen zukommt, und diesen Maßstab eignet
sie sich an. Kräftigst unterstützt wird solches Trachten durch das
Weib, das sich in der heutigen Gesellschaft hinsichtlich der Ein-
schätzung des männlichen Wertes eine sehr maßgebende Bedeutung
zu verschaffen gewußt hat. Einerseits begünstigt der weibliche
Instinkt alles Unechte, jeden Schein, alle Surrogate, sofern sie
nicht die Männlichkeit an sich betreffen. Für wirkliche Werie hat
das Weib im allgemeinen kein Verständnis. Anderseits hat es aber
auch das größte Interesse, die Aussichten seiner Versorgung zu
fördern und darum bevorzugt es den Beamten, welcher derart
seiner Bedeutung und seines Wertes sich noch mehr bewußt wird..
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32 —
Man kann also Arbeiter, Diener, Kommis sein — sofeme man
es aber als Beamter ist, verleiht dieZngehdrigkeit zur Kaste dieser
Betätigung den Adelsbrief. Und das ist nur billig. Denn, verletzt
man die Menschenwürde eines gewöhnlichen Bedienten, so
kündigt dieser — er hat es ja nicht notwendig. Der Beamte aber
läßt sich erniedrigen und treten, und sdiweigt. Die Eigenart und
Bedeutung dieser Figur ergänzt auf das glücklichste das Bild einer
Gesellschaft, die das Wort: > Bildung macht frei« ad absurdum
geführt hat und den Wahlspruch: »Zeit ist Geld« auf ihrem
Schilde trägt. Es ist das keine neue Erscheinung, und wer auf
historische Parallelen Wert legt, lese darüber in der Geschichte
Karihagos, Roms und Frankreichs nach; immer war der Beamte
der treue Begleiter eines sozialen Verwesungsprozesses. Das Unikum
aber blieb doch unserer Zeit vorbehalten : Die Menge, die einem
Denker zujauchzt, der sein Evangelium vom Willen zur Macht
und vom Obermenschen verkündet, schwelgt in einem Taumel von
Knechtseligkeit, kennt nur den Willen zum Sklaventum.
Viele Wege führen nach jenem Rom, wo kein Hirt und
eine Heerde sein wird; dieser hier aber ist die breiteste Heer-
straße. Eine Zeit, deren Streben und Ideal der Beamtenstand ist,
hat sich selbst gerichtet. Sie ist für den Knopfgießer reif.
Artur Hetz.
Tugendknrs.
Die Einschätzung menschlicher Fähigkeiten wechselt; auch
die Tugend hat ihren Kurswert. Und dieses Kursblatt, das öffent-
liche Meinung genannt wird, zeigt starke Schwankungen in der
Notierung des menschlichen Tuns.
Die dominierende Tugend des Altertums war physische
Kraft; sie wurde gepriesen, ihre Besitzer hatten das Heldentum
monopolisiert. Heute? Kraft ist ein Gebrauchsartikel geworden,
der aus der Spannung des Dampfes, der Elektrizität im gewaltigen
Strome fließt. Das bißchen Menschenkraft imponiert nicht mehr.
Wer je einen Dampfhammer bei der Arbeit gesehen hat, kann
schwerlich von homerischen Hieben schwärmen. Einen Türken in
zwei Teile spalten, die vorschriftsmäßig zur Rechten und zur Linken
y Google
~ 83 -^
niedersinken — eine Kleinigkeit! Das macht bei entsprechender
Einrichtung ein winziger Dynamo. Die speziell menschliche Kraft
besitzt fsL noch ihren Raritätenwert; bei Sportwettkftmpfen ekler im
Zirkus; aber im allgemeinen hat sie nach der letzten Volksschul-
klasse aufgehört, ffir den Zeitgenossen von Bedeutung zu sein.
Heute besteht im Reiche der Vorzüge eine merkwürdige
Doppelherrschaft. Die geistigen Fähigkeiten, Intelligenz und Talent,
l>esitzen eine Art Scheinkönigtum. Erst ihr offizielles Siegel liefert
einen Menschen der hergebrachten Verehrung und dem unaus-
weichlichen Nachstreben aus — aber wirklich regierende Tugend
ist zweifellos das Geld. Und mit Recht. Es trägt alle Lasten, erfüllt
alle Pflichten einer Tugend ; es schützt seinen Besitzer vor schlechten
Situationen, gibt dessen Anhängerschaft Sicherheit und
Macht, es ist selber reine Macht, Macht zum täglichen Gebrauche.
Mit all diesen Leistungen ist es vollständig an die Stelle getreten,
die früher von den Beuge- und Streckmuskeln der Arme und
Schenkel eingenommen wurde. Aber wie sehr steht es in der Aner-
kennung hinter diesen zurück! Geld ist eine offiziell nicht aner-
kannte, eine arme Titulartugend ohne moralisches Einkommen.
Der praktische Respekt, den es erzwingt, wird mit Vorbehalt ge-
geben. Ehrlich einbekannte Verehrung, Jugendbegeisterung, beide
erst der eigentliche Purpur einer herrschenden Tugend, wird ihm
vorenthalten.
Und hier läßt sich ein Wandel prophezeien. Auch die
Geistesverfassungsfragen einer Zeit sind in letzter Linie Macht-
fragen. Die Macht der Vorzüge des Geldes wird sich alle Rechte
dieser Vorzüge erzwingen. Der Name Tugend ist ein solches Recht.
Das Geld wird die Jugendverehrung und die dichterische Verherr-
lichung erobern.
Beide sind nur ein letztes Honorar der Mitwelt
für eine praktische Leistung, für gewährten Schutz und
Vorteil. Das Geld wird seinen moralischen Rang erzwingen; es ist
die verfaerrlichungsrelfe Tugend von morgen.
Vom Standpunkt des persönlichen Verdienstes ist wenig
einzuwenden. Selbsterworbenes Geld ist Intelligenz, umgesetzte,
kinetische Intelligenz. Und nichterworbenes? Die vielgepriesene
Kraft eines Achilles war sicher kein größeres Verdienst, als die
vielmiBgönnte der Erben eines Vanderbilt.
y Google
— 34 —
Es wird eine verläßliche Tugend sein, eine, deren Ver-
erbungstheorie nicht angreifbar ist, solange sie das bfirgerliche
Gesetzbuch schützt.
Die letzte Änderung im Range des Reichtums vollzieht sich
unmerklich. Die Phrasen und Redewendungen, die kleine Münze
des täglichen Verkehres, sie tragen ohnehin das Bild des wirklichen
Regenten im Bereiche menschlicher Achtung: Klingende Münze
ist ein Anerkennungswort auf allen Gebieten, Gold ist der ehrendste
Vergleich für Stimmen, Sonnen, Sterne, Weine, Schatz ist eine
selbstverständliche Bezeichnung für die geliebte Person. Nun wird
man mit derselben Selbstverständlichkeit dem wirklichen Geld-
schatze die Liebe zuerkennen. Im Worte Geldaristokratie verliert
die erste Silbe die Betonung. Nicht mehr die Mütter werden
rühmen, nein, die Töchter werden schwärmen. Das ist stets ihre
Betätigung gewesen, gegenüber der letzten Neuheit am Tugend-
markt. Das war noch eben das Genie, das wird in kurzem der
Reichtum sein. Bald werden sich die Attribute süß, entzückend,
herrlich an den Besitzer des Geldes knüpfen. Auf eine Erbschaft
zu warten wird ein geachteter bürgerlicher Beruf bleiben. Erben
ein angebeteter.
Die Höchstachtung der Menschheit hat einen weiten Weg
von der physischen Kraft zur geistigen zurückgelegt. Er ist kaum
kleiner als der von der Persönlichkeit zu ihrem nichtorganischen
Besitz. Eine neue Tugend ist im Anmarsch, und auch diese wird
niemand aufhalten.
Otto Soyka.
Meine Bfidier.*)
Einige Leser eriaubten sich, den Abdruck der über »Sittlich-
keit und Kriminalität« veröffentlichten kritischen Äußerungen zu
*) Die Ausgabe der beiden Bände, die wahrscheinlich den Titel
> Kultur und Presse« führen und als Bände II und III (nicht als zwei
Teile eines Bandes) der Ausgewählten Schriften erscheinen werden, hat
sich verzögert. Sie werden im Oktober, bezw. November in den Buch-
handel Icommen. Der IV. Band, der vor Weihnachten erscheint, führt
den Titel »Gedanken«. Die Sammlung der seit 1906 erschienenen
Satiren und polemischen Aufsätze wird der Inhalt der folgenden Bände sein.
y Google
— 35
beanstanden. Aber nicht deshalb wird mit dieser Methodefortgefabren,
sondern weil es mir sinnlos schiene, auf die Publizität der, Fackel'
zu verzichten, wenn sich zeigen läßt, was alles in Österreich über
meine Büdier. nicht geschrieben wird. Dieses Maß der Selbsthilfe
räume ich mir mit Vergnügen ein, ohne im Übrigen für Form und In-
halt des mir gespendeten Lobs die Verantwortung zu übernehmen.
In der »Berliner Oerichts-Zeitung' (8. Juli 1908) schreibt ein mir
unbekannter Kritiker:
Sittlichkeit und Kriminalität. Von Karl Kraus. Buchhand-
lung L. Rosner, Wien. ~ Endlich einmal ein Wiener, der ein muster-
gfiltiges Deutsch schreibt. Ja, schon das allein wäre ein gewichtiger Qrund,
die LektQre des Buches aufs wärmste zu empfehlen, wenn der Gedanken-
reichtum und der blendende Stil des hochinteressanten Werkes nicht
die Anschaffung jedem Gebildeten gebieterisch nahe legten. Mit un-
erbittlicher Schärfe hält der geistvolle Autor unserer Zeit einen Spiegel
vor. Seine Satire kann nur mit der Heinrich Heines verglichen werden.
Nach meinem Geschmack ist sie um vieles markiger und ätzender.
Tagfebnch.
Der moderne Qeschmack braucht die ausgesuch-
testen KompliftLationen, um zu entdecken, dafi ein
Wasserglas in der Rundform am bequemsten sei. Er
erreicht das Sinnvolle auf dem Weg der Unbequem-
lichkeiten. Er arbeitet im Schweifie seines Ange-
sichtSy um zuzugeben, dafi die Erde kein Würfel,
sondern eine Kugel sei. Dies Indianerstaunen der
Zivilisation über die Errungenschaften der Natur hat
etwas Rührendes.
Auch die Dummheit hat Ehre im Leib, und sie
wehrt sich sogar heftiger gegen den Spott, als die
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A
- 36 —
Oernemheit gegen den Tadel. Denn diese weift, daB
die Kritik recht hat^ jene aber glaubt's nioht.
In einem geordneten geistigen Haushalt sollte
ein paar Mal im Jahr ein grQndUches Reinemachen vor
der Schwelle des Bewufitseins stattfinden.
Schönheitsfehler sind die Hindernisse, an denen
sich die Bravour des Eros bewährt. Blofi Weiber
und Ästheten machen eine kritische Miene.
•
Wer zu den Dingen in seinem Zimmer eine per-
isönliche Beziehung gewonnen hat, rückt sie nicht
gern von der Stelle. Ehe ich ein Buch aus meiner
Bibliothek leihe, kaufe ich lieber ein neues. Sogar
mir selbst, dem ich auch nicht gern ein Buch aus
meiner Bibliothek leihe. Ungelesen an Ort und Stelle,
gibt es mir mehr als ein gelesenes, das nicht da ist.
Es wäre eine interessante Statistik: Wieviel
Leute durch Verbote dazu gebracht werden, sie
zu übertreten. Wieviel Taten die Polgen der Strafen
sind. Wieviel Menschen etwa von der Altersgrenze,
die die Sexualjustiz festgesetzt hat, gereizt werden,
sie zu überschreiten. Interessant wäre es, herauszu-
bringen, ob mehr Kinderschändungen trotz oder wegen
der Altersgrenze begangen werden.
Die Strafen dienen zur Abschreckung derer, die
keine Sünden begehen wollen.
Es verletzt in nichts den Respekt vor Schopen-
hauer, wenn man die Wahrheiten seiner kleinen
Schriften manchmal als Geräusch empfindet. Wie
l)lastisch wirkt in seiner Klage das Türeosuschlagenl
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87 —
Man hört förmlich, wie offene Türen zugeschlagen
werden.
Ein Soldatenzeichner, dessen Figuren Habtacht
Tor dem Betrachter stehen. Und wenn er eine Armee
malte, es wären lauter Einzelne. Ein anderer malt
einen Soldaten und man sieht die Armee.
Auf den Bildern derer, die ohne geistigen Hinter-
grimd gestalten und denNichtkenner durch eine gewisse
Ähnlichmacherei verblüffen, sollte der Vermerk ste-
hen : Nach der Natur kopiert. Hätten sie ein Wachs-
figurenkabinet zu zeichnen, so wüßte man zwischen
den Figuren und den Besuchern nicht zu unter-
scheiden.
Mit einem Blick pin Weltbild erfassen, ist Kunst.
Wie viel doch in ein Auge hineingeht!
*
Weh dem armen Mädchen, das auf dem Pfad
des Lasters strauchelt!
Er war so eifersüchtiger Natur, daß er die Qualen
des Mannes, den er betrog, empfand und der Frau
an die Gurgel fuhr.
Sich im Beisammensein mit einer Frau vorzu-
stellen, dafi man allein ist — solche Anstrengung der
Phantasie ist höchst ungesund.
Passende Wüste für Fata morgana gesucht.
Der Philosoph denkt aus der Ewigkeit in den
Tag, der Dichter aus dem Tag in die Ewigkeit.
y Google
— 38 —
Welch sonderbarer Aufzug ! Sie geht hinter ihm,
wie eine Leiche hinter einem Leidtragenden.
«
In zweifelhaften Fällen entscheide man sich für
das Richtige.
Wie unperspektivisch die Medizin die Symptome
einer Krankheit beschreibt! Sie passen immer auch
zu den eingebildeten Leiden.
Wenn ein Künstler Konzessionen machte so er-
reicht er oft nicht mehr als der Reisende, der sich im
Ausland durch gebrochenes Deutsch verständlich zu
machen hofft.
•
Wie unwesentlich und ungegenwärtig dem
Mann das Geschlechtliche ist, zeigt sich darin, daft
selbst die Eifersüchtigen ihre Frauen auf Maskenbällen
sich frei bewegen lassen. Sie haben vergessen, wie
viel sie sich ehedem mit den Frauen anderer dort erlau-
ben konnten, und glauben, dafi seit ihrer Verheira-
tung die allgemeine Lizenz aufgehoben sei. Ihrer
Eifersucht genügen sie durch ihre Anwesenheit. Dafi
diese ein Sporn ist und kein Hemmschuh, sehen sie
nicht. Keine eifersüchtige Frau würde ihren Mann
auf die Redoute gehen lassen.
Das kurze Gedächtnis der Männer erklärt sich
aus ihrer weiten Entfernung vom Geschlecht, welches
in der Persönlichkeit verschwindet. Das kurze Gedächt-
nis der Frauen erklärt sich aus ihrer Nähe zum Ge-
schlecht, in welchem die Persönlichkeit verschwindet.
•
Wenn ein Vater, der aus Liebe geheiratet hat,
seinem Sohn eine Eheschließung verbietet und die
Mutter sie befürwortet, so geht es durchaus mit
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39 —
natürlichen Dingen zu. Denn die Mutter hat sich
genug Natur bewahrt, um eine Kupplerin aus Gefühl
SU sein, und dem Vater ist nichts übrig geblieben als die
Fähigkeit, die Rentabilität menschlicher Verhältnisse
abzuschätzen.
•
Jemand gab zu, dafi Hetären Genies entzünden:
aber Mütter bestünden als unbedingter Wert. Das ist
wahr, aber man hat immer das Recht, den Acker oder
die Landschaft yorzuziehen.
*
Es kommt schliefilich nur darauf an, dafi man
überhaupt über die Probleme des erotischen Lebens
nachdenkt. Widersprüche, die man zwischen seinen
eigenen Resultaten finden mag, beweisen nur, dafi man
in jedem Falle recht hat. Und die Widersprüche
zwischen den eigenen und den Resultaten, zu denen
andere Denker gelangt sind, entfernen uns nicht so
weit von diesen, wie uns der Abstand von solchen ent-
fernt, die überhaupt nicht über die Probleme des ero-
tischen Lebens nachgedacht haben.
*
Nicht immer muß, wer an der Seele krank ist,
den Unterleibsspezialisten aufsuchen, und nicht immer
braucht man mit einer Darmfistel zum Psychologen
zu gehen. Im Allgemeinen sind aber die Kompetenzen
zwischen den EUtionalisten des Seelenlebens und
den Mystagogen des Unterleibes schwer abzustecken.
Dafi eine Sache künstlerisch ist, mufi ihr nicht
unbedingt beim Publikum schaden. Man überschätzt
das Publikum, wenn man glaubt, es nehme die Vor-
züglichkeit der Form übel. Es beachtet die Form
überhaupt nicht und nimmt getrost auch Wertvolles in
Kauf, wenn nur der Stoff zufällig einem gemeinen
Interesse entspricht.
•
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— 40 —
Man glaubt mit einem Mann su sprechen und
plötzlich fühlt man, daß sein Urteil aus dem Uterus
kommt. Das beobachtet man häufig, und man sollte
so gerecht sein, die Menschen nicht nach den physio-
logischen Merkmalen, die zufällig da sind, zu unter-
scheiden, sondern nach denen, die fehlen.
*
Daß Bäcker und Lehrer streiken, hat einen Sinn.
Aber die Aufnahme der leiblichen und geistigen
Nahrung verweigern, ist grotesk. Wenn es nicht
etwa deshalb geschieht, weil man sie für verfälscht
hält. Die lächerlichste Sache von der Welt ist ein
Bildungshungerstreik. Ich stimme schon für die Sper-
rung der Universitäten, aber sie darf nicht durch
einen Streik herbeigeführt werden. Sie soll freiwillig
gewährt, nicht ertrotzt sein.
•
Den Frauen gegenüber ist man durch die Ge-
sellschaftsordnung immer nur darauf angewiesen,
entweder Bettler oder Räuber zu sein.
•
Die gefährlichsten Literaten sind die, denen
zufällig etwas Fremdes angeflogen ist und die nichts
dafür können, daß sie nicht immer originell sind. Da
ist mir ein ehrlicher Plagiator viel lieber.
Wenn ein Wagen rollt, legt der Hund trotz längst
erkannter Aussichtslosigkeit immer wieder seine prin-
zipielle Verwahrung ein. Das ist reiner Idealismus,
während die Unentwegtheit des liberalen Politikers den
Staatswagen nie ohne eigensüchtigen Zweck umbellt.
•
Die Einteilung der Menschheit in Sadisten und
Masochisten ist beinahe so albern wie die Einteilung
in Esser und Verdauen Von Abnormitäten muß man
in jedem Fall absehen, es gibt ja auch Leute, die
besser verdauen als essen und umgekehrt. Und so
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— 41 —
wird man, was den Masochismus und den Sadismus
betrififty getrost behaupten können, dafi ein gesunder
Mensch über beide Perversitäten verfügt. Scheufilich
an der Sache sind bloß die Worte, besonders ent-
würdigend jenes, das sich von dem deutschen Ro-
manschriftsteller herleitet, und es ist schwer, sich
von den Bezeichungen nicht den Geschmack an den
Dingen verderben zu lassen. Trotzdem gelingt es
einem Menschen mit künstlerischer Phantasie, vor
einer echten Frau zum Masochisten zu werden und
an einer unechten zum Sadisten. Man brutalisiert
dieser die gebildete Unnatur heraus, bis das Weib
zum Vorschein kommt. Die es schon ist, gegen die
bleibt nichts mehr zu tun übrig, als sie anzubeten.
•
Gewiß, der Künstler ist ein Anderer. Aber gerade
deshalb soll er es in seinem Äußeren mit den an-
deren halten. Er kann nur einsam bleiben, wenn er
in der Menge verschwindet. Lenkt er die Betrach-
tung durch eine Besonderheit auf sich, so macht er
sich gemein und führt die Verfolger auf seine Spur.
Eis istjaauch töricht, mit der Extraausgabe einer Zeitung
in ein Lokal zu treten, denn man lockt sogleich
hundert Dummköpfe auf sein Terrain. Je mehr den
Künstler alles dazu berechtigt, ein anderer zu sein,
um so notwendiger ist es, daß er sich der Tracht der
Durchschnittsmenschen als einer Mimicry bediene.
Auffälliges Aussehen ist die Zielscheibe der Betrun-
kenheit. Diese, sonst verlacht, dünkt sich neben lang-
haariger Exzentrizität noch planvoll und erhaben.
Ober den Mann in der Narrenjacke lacht der Be-
trunkene, über den der Pöbel lacht. Sich absichtlich
verwahrlosen, um sich vom Durchschnitt abzuheben,
schmutzige Wäsche als ein Ehrenzeichen für Kunst
und Wissenschaft tragen, über die Verkehrtheit der
Gesellschaftsordnung eine ungekämmte Mähne schüt-
teln— ein Vagantenideal, das längst von Herrschaften
abgetragen ist und heute jedem Spießbürger erreich-
y Google
— 42 --
bar! »Mutter Landstrafiec will yon solchen Söhnen
nichts mehr wissen; denn auch sie ist heute schon
gepflegter. Die Boheme macht den Philistern nicht
mehr das Zugeständnis, sie zu ärgern^ und die
wahren Zigeuner leben nach der Uhr, die nicht ein-
mal gestohlen sein muß. Armut ist noch immer keine
Schande, aber Schmutz ist keine Ehre mehr.
Fechten und Keulenschwingen sind trügerische
Entfettungskuren. Sie schaffen Hunger und Durst.
Was den meisten Menschen abgeht und was ihnen
unfehlbar helfen könnte, ist die Möglichkeit, geistige
Bewegung zu machen.
«
Ein sonderbarer Ehrgeiz, einem Mädchen der
erste zu sein. Und gerade das nennt sich Genießer
und behandelt eine Frau wie einen beliebigen
Labetrunk. Daß auch Frauen Durst haben, wollen
sie nicht gelten lassen. Aber jedenfalls würde ich
mir die Flasche von einem Küfer öffnen lassen und
dann erst trinken.
*
In männermordenden Kämpfen kann man manch-
mal einer Frau einen Blumenstrauß zuwerfen, ohne
daß ein Zuschauer es merkt. Aber bei der zweiten
Lektüre offenbart sich dem Feingefühl ein Pamphlet
als Liebesbrief.
Das Christentum hat die erotische Mahlzeit um
die Vorspeise der Neugier bereichert und durch die
Nachspeise der Reue verdorben.
•
Es ist ein schmerzliches Erlebnis, zu sehen, wie
eine lebensfähige Frau ihren faulen Frieden mit der
Welt macht: Sie verzichtet auf ihre Persönlichkeit
und bekommt dafür die Galanterien zugestanden«
y Google
— 48
Kinder spielen Soldaten. Das ist sinnvoll. Wa-
rum aber spielen Soldaten Kinder?
Nichts kräfikt den Pöbel mehrmals herablassend
2u sein, ohne heraufzulassen.
•
Beim Vergnügen, das einer am Betrug empfindet,
ist die Schönheit der Frau eine angenehme, wenn
auch nicht notwendige Begleiterscheinung.
*
Der ist ein unkluger Berater einer Frau, der
sie vor Gefahren warnt.
*
Aus purer Romantik nimmt sich manche Schöne
einen Handeljuden. Denn sie hofft immer, dann werde
der erotische Raubritter auch nicht mehr weit sein.
•
Praterfahrt: Das Pferd hat die Welt vor sich.
Dem Kutscher ist die Welt so groß wie ein Pferde-
hinterer. Dem Kavalier ist die Weit so groß wie der
Rücken des Kutschers. Und dem gaffenden Volk, dem
ist die Welt nur so grofi wie das Gesicht des Kavaliers.
•
Drei Stufen der Zivilisation gibt es: Wenn in
einem Anstandsorte überhaupt keine Tafel angebracht
ist. Wenn eine Tafel angebracht ist, auf der die Wei-
sung steht, dafi die Kleider vor dem Verlassen der
Anstalt in Ordnung zu bringen sind. Wenn die Wei-
sung ausdrücklich bemerkt, dafi es aus Schicklich-
keitsrücksichten zu geschehenhabe. Auf dieserhöchsten
Stufe der Zivilisation stehen wir.
Die Bildung schlottert an seinem Leib wie ein
Kleid an einem Haubenstock. Bestenfalls sind solche
Gelehrte Probiermamsellea des Fortschritts.
y Google
-44 —
Wem »glaubenc nicht mehr bedeutet als
»nichts wissen c, der mag über die Dogmen demon-
stratiy den Kopf schütteln. Aber es ist jämmerlich,
sich zu einem Standpunkt erst »durchringen < zu
müssen, bei dem ein Hilfslehrer der Physik längst
angelangt ist.
Es gibt zwei Arten von Schriftstellern. Solche,
die es sind, und solche, die es nicht sind. Bei den
ersten gehören Inhalt und Form zusammen wie Seele
und Leib, bei den zweiten gehören Inhalt und Form
zusammen wie Leib und Kleid.
•
Unverstandene Frauen gibt es nicht. Sie sind bloft
die Folge einer Wortverwechslung, die einem Femi-
nisten passierte, weil sie nämlich nicht verstanden,
sondern begriffen sein wollen. Es gibt also doch un-
verstandene Frauen.
•
So lange die Frauenrechtsbewegung besteht^ soll-
ten es sich die Männer wenigstens zur Pflicht machen,
die Qalanterie einzustellen. Man kann es heute gar
nicht riskiren, einer Frau auf der Straßenbahn Platz zu
machen, weil man nie wissen kann, ob man sie
dadurch nicht in ihren Ansprüchen auf den gleichen
Anteil an den Unannehmlichkeiten des Daseins be-
leidigt. Dagegen sollte man sich gewöhnen, gegen
die Feministen in jeder Weise ritterlich und zu-
vorkommend zu sein.
•
Ob Goethe oder Schiller bei den Deutschen po-
pulärer sei, ist ein alter Streit. Und doch hat Schil-
ler mit dem Wort »Franz heifit die Eanaillec nicht
entfernt jene tiefgreifende Wirkung geübt, die demSatz,
den Qoethes Götz dem Hauptmann zurufen läfit, dank
seiner allgemeinen Fassung beschieden war. Da seit
Jahrzehnten kaum ein Gerichtstag vergeht, ohne daft
der Bericht von dem Angeklagten zu sagen wüßte>
Digitized byCjOOSlC
- 46 —
er habe an den Kläger »die bekannte Aufforderune
aus Goethes Qötsc gerichtet, so ist es klar, dal
Goethes Nachruhm bei den Deutschen fester gegründet
ist. Wie das Volk seine Geister ehrt, geht aber nicht
nur daraus heryor, daß es in Goethes Werken sofort
die Stelle entdeckt hat, die der deutschen Zunge am
schmackhaftesten vorkommt, sondern dafi heute kei-
ner mehr so ungebildet ist, die Redensart zu gebrau-
chen, ohne sich dafür auf Goethe zu berufen.
•
Der Momo ist ein unentbehrlicher pädagogischer
Behelf im deutschen Familienleben. Erwachsene
schreckt man damit, dafi man ihnen droht, der Ge-
richtspsychiater werde sie holen.
•
Wenn man bedenkt, dafi dieselbe technische
Errungenschaft der Verbreitung der »Kritik der rei-
nen Vemunftc und den Berichten über eine Reise
des Wiener Männergesangsvereines gedient hat, dann
weicht aller Unfriede aus der Brust und man preist
die Allmacht des Schöpfers.
•
Wie viel Stoff hätte ich, wenns keine Ereignisse
gäbe I
•
Was doch die soziale Sitte aus den Frauen
machen kann ! Nur ein Spinnweb liegt über dem
Krater, aber es gibt nicht nach.
•
Wenn eine Frau Gescheitheiten sagt, so sage
sie sie mit yerhülltem Haupt. Aber selbst dann ist
das Schweigen eines schönen Antlitzes noch immer
anregender.
*
Ein selbstbewuflter Künstler hätte dem Fiesko
sugerufen : Ich habe gemalt, was du nur tatest !
y Google
— 46
Sire, geben Sie wenigstens bis auf Widerruf
freiwillig eröffnete Gedankengänge!
Polonia est omnis divisa in partea tres.
Ein Zitatenprotz leitete einen Nekrolog mit den
Worten ein: De mortuis nil admirari.
Sie hatte immerhin noch so viel SchamgefQhl,
dafi sie errötete, wenn man sie bei keiner Sünde
ertappte.
•
In Berlin wächst kein Qras und in Wien ver-
dorrt es.
Wie hier alles doch den Flug lähmt! Aus Bin-
fliegern werden Einsiedler.
Es ist eine schreckliche Situation, dazuliegen,
wenn die Pferdehufe der Dummheit Über einen hin-
weggegangen sind, und weit und breit keine Hilfe I
•
An einem Wintersonntag nachmittags in einem
Wiener Kaffeehause, eingepfercht zwischen karten-
spielenden Vätern, kreischenden Weibern und witz-
blattlesenden Kindern, erfafit einen ein solches Gefühl
der Einsamkeit, dafi man sich nach dem wechselrollen
Leben sehnt, das um diese Stunde an der Adventbai
herrschen mag.
0 über die gemeine Geschäftsmäfiigkeit der
Berliner Prostitution! Der Wiener ist gewohnt, für
drei Gulden seelische Hingabe und das Gefühl des
Alleinbesitzes zu yerlangen.
•
Ich kannte einen Mann, der fuhr beim Sprechen
mit dem Finger in die Nase und nicht einmal in
seine eigene. ^
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— 47 —
So wie es immer noch neue Gesichter gibt,
wiewohl sich der Inhalt der Menschen wenig unter-
scheidet, so mufl es bei anidoffem Qedankenmaterial
immer noch neue Sätae geben. Es kommt eben auch da
auf den Schöpfer an, der die Fähigkeit hat, die lei-
seste Nuance auszudrOcken.
•
Die einsige Konssession, tu der ich mich etwa
noch herbeiließe, wäre die, mich so weit nach den
Wünschen des Publikums zu richten, daß ich das
Gegenteil tue. Aber ich tue es nicht, weil ich keine
Konsessionen mache und eine Sache selbst dann
schreibe, wenn sie das Publikum erwartet.
In der literarischen Arbeit finde ich einen Genufi
und der literarische Genufi wird mir zur Arbeit. Um
das Werk eines andern Geistes zu genieflen, mufi ich
mich erst kritisch dazu anstellen, also die Lektüre in
eine Arbeit Terwandeha. Trotzdem werde ich noch
immer lieber und leichter ein Buch schreiben als lesen.
Der wahrhaft und in jedem Augenblick pro-
duktive Geist wird zur Lektüre nicht leicht anstellig
sein. Er verhält sich zum Leser wie die Lokomotive
zum Yerenügungsreisenden. Auch fragt man den
Baum nicht, wie ihm die Landschaft gefällt.
Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel
nicht zu lesen?
«
Einen Roman zu schreiben, stelle ich mir als
ein reines Vergnügen vor. Nicht ohne Schwierigkeit
ist es bereits, einen Roman zu er leben. Aber einen Roman
zu lesen, davor hüte ich mich, so gut es irgend geht.
•
Von einem Bekannten hörte ich, dafi er durch
Vorlesen einer meiner Arbeiten eine Frau gewonnen
hat. Das rechne ich zu meinen schönsten Erfolgen.
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- 48 —
Denn wie leicht hätte ich selbst in diese Situation
geraten können I
•
Wohl hat das Qrinzinger Bachl Beethoven zur
Pastoral-Symphonie angeregt. Das beweist aber niclits
für das urinzinger Bachl und alles für Beethoyen.
Je kleiner die Landschaft, desto größer kann das
Kunstwerk sein, und umgekehrt. Aber zu sagen, die
Stimmung, die der Bach einem beliebigen Spaziergäneer
yermittelt, sei kongruent mit der Stimmung, die aar
Hörer von der Symphonie empßlngt, ist töricht. Sonst
könnte man ja auch sagen, der Geruch von faulen
Äpfeln gebe uns Schillers Wallenstein.
•
Ein Hungerleider, der Anarchist wird, ist ein
verdächtiger Werber für die Sache. Denn wenn er
zu essen bekommt, wird er eine Ordnungsstütze. Oft
sogar ein Sozialdemokrat. Nichts ist dagegen sinn-
loser als sich über die Söhne besitzender Bürger
lustig zu machen, die anarchistischen Ideen anhängen.
Sie können immerhin Überzeugungen haben. Jeden-
falls verdächtigt kein abgerissenes Qewand die geistige
Echtheit ihrer kommunistischen Neigungen.
•
Die Sozialdemokraten lassen den Armen klassen-
bewuflt werden und überlassen ihn dann der Pein«
Dieses Vorgehen nennen sie Organisierung.
Dafi Bildung der Inbegriff dessen sei, was man
vergessen hat, ist eines der schönsten Worte. Darüber
hinaus ist Bildung eine Krankheit und eine Last für
die Umgebung des Gebildeten. Eine Qymnasialreform,
die auf die Abschaffung der toten Sprachen mit der
Begründung hinarbeitet, man brauche sie eben nicht fürs
Leben, ist lächerlich. Brauchte man sie fürs Leben,
so müfite man sie eher abschaffen. Sie dienen freilich
nicht dazu, dafi man sich einst in Rom oder Athen durch
die Sehenswürdigkeiten durchfragen könne. Aber sie
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— 49 —
pflanzen in uns die Fähie;keit9 uns diese vorzustellen. Die
Schule dient nicht der Anhäufung praktischen Wissens.
Aber Mathematik reinigt die Oehirnbahnen, und wenn
man Jahreszahlen büffeln mufl, die man nach dem Aus-
tritt sogleich vergifit, so tut man trotzdem nichts Un-
nützes. Verfehlt ist nur der Unterricht in der deut-
schen Sprache. Aber. dafür lernt man sie durch das
Lateinische, das noch diesen besonderen Wert hat.
Wer gute deutsche Aufsätze macht, wird in der
Regel ein Eommis. Wer schlechte macht und dafür
im Lateinischen besteht, wird wahrscheinlich ein
Schriftsteller. Was die Schule bewirken kann, ist,
dafi sie jenen Dunst 7on den Dingen schafft, in den
eine Individualität hineingestellt werden kann. Weifi
einer noch nach Jahren, aus welchem klassischen
Drama und aus welchem Akt ein Zitat stammt, so
hat die Schule ihren Zweck verfehlt. Aber fühlt er,
wo es stehen könnte, so ist er wahrhaft gebildet und
die Schule hat ihren Zweck vollauf erreicht.
•
Nicht der Stock war abzuschaffen, sondern die
Lehrer, die ihn schlecht anwenden. Die neue Gym-
nasialreform ist, wie alles humanitäre Flickwerk,
ein Sieg über die Phantasie. Dieselben Lehrer, die
bis nun nicht imstande waren, mit Hilfe des Katalogs
zu einem Urteil zu gelangen, werden sich jetzt liebe-
voll in die Schülerindividualität versenken müssen.
Die Humanität hat den Alpdruck der Furcht vor
dem »Drankommenc beseitigt, aber das gefahrlose
Schülerleben wird unerträglicher sein als das gefähr-
liche. Zwischen vorzüglich und ganz ungenügend lag
ein Spielraum für romantische Erlebnisse. Ich möchte
den Schweiß um die Trophäen der Kindheit nicht
von meiner Erinnerung wischen. Mit dem Stachel ist
auch der Sporn dahin. Der Gymnasiast lebt
ehrgeizlos wie ein lächelnder Weltweiser und tritt
unvorbereitet in die Streberei des Lebens, die sein
Charakter ehedem schadlos antizipiert hatte, wie
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der geimpfte Körper die Blattorn. Er hatte frOher alle
Gefahren des Lebens bis zum Selbstmord verko-
stet. Anstatt daft man die Lehrer verjagt, die
ihm das Spiel der Gefahren manchmal aum Brost
erwachsen liefien, wird jetzt der Ernst des geruhigen
Lebens verordnet. Früher erlebtmi die Schüler die SohulCi
jetzt mjlssen sie sich von ihr bild^i lassen. Mit den Schau-
ern ist die Schönheit vertrieben und der junge
Geist steht vor der Kalkwand eines protestantischen
Himmels. Die Schülerselbstmorde, deren Moüv die
Dummheit der Lehrer und Eltern war, werden auf-
hören, und als legitimes Selbstmordmotiv bleibt die
Langeweile zurück.
Die Humanität ist eine physikalische Ent-
täuscfaungy die mit Naturnotwendigkeit euitritt. Denn
der Liberalismus stellt immerzu sein Licht unter eine
Glasglocke und glaubt, dafi es im luftleeren Raum
brennen werde. Eher brennt es noch im Sturm des
Lebens. Wenn der Sauerstoff verzehrt ist, geht das Licht
aus. Aber glücklicherweise steht die Glocke im
Phrasenwasser und dieses steift in dem Augenblick,
da die Kerze erloschen ist. Hebt man die Glocke
ab, so verspürt man erst die wahren Eigenschaften
des Liberalismus. Er stinkt nach Kohlenwasserstoff.
Man meidet die Gesellschaft So sucht sie ein^i
auf »neutralem Bodenc auf, setzt sich dreist in einem
Lokal an unseren Tisch. Die Frage: »Sie gestatten
dochc, die nie einen fragenden Ton hat, ist <Se ärgste
Perfidie. Man wird mit der Schlinge der Konvention
gefangen. Im Augenblick ist man in medias res ein-
geführt. Wird nach dem neuen Roman von Schnitsler
eefragt, um seine Ansicht über das Wetter und um
die Sommerpläae. Der Feind rechnet damit, daß man
nicht grob werden, »kein Aufsehenc machen wird.
Er ist gar nicht hochmütig, sondern behandelt mich
y Google
- 61 -
wie seinesgleichen, und als ob ich zur guten QeselU
Schaft gehörte. Da sieht er sich plötslich getäuscht;
es zeigt sich, daft ich keine tianieren habe. Aber da
ich eton nicht gewillt bin, meinen Bekanntenkreis
zu erweitem, sondern zu verringem, so wird mir das
in meinem weiteren Fortkommen nicht schaden.
Wenn man mir persönliche Antipathien vorwirft,
weil ich einen Literaten für einen Pfuscher erkläre,
so unterschätzt man meine Bequemlichkeit Ich werde
doch nicht meine Verachtung strapazieren, um eine
literarische Minderwertigkeit abzutuni
*
Das Gesindel besichtigt »Sehenswürdiffkeitenc.
Noch immer wird also blofi gefragt, ob das Grab
Napoleons würdig sei, vom Herrn Schulze gesehen zu
werden, und noch immer nicht, ob Herr Schulze des
Sehens würdig sei.
«
Ich las eine Beschreibung, die E. Pötzl von
einem niederösterreichischen SUUitchen gab, und
eine von der Ruhe der Inneren Stadt am Tage des
Festzuges. Ich fand wieder, wie ungewöhnlich fein
dieser EleinkOnstler ist, dessen Enge erst stört,
wenn er ihrer bewufit wird und gegen die Aufien-
welt sich wendet. Bei seinen Wiener Schilderungen,
die voll lyrischer Prosa sind, ist mir, als ob
ein Einspännerrofi an der Hippokrene getrunken
hätte; an seinen übrigen Sachen spürt man, daS der
Musenquell in Böotien entspringt.
•
P. A., der ein Fetischist der Frauenseele ist
und den Frauenleib zu ienen Objekten rechnet, die
man in der irdischen Ausstellimg nur ansehen und
nicht berühren darf, steht um einer Weisheit willen,
die genug Humor hat, sich selbst in Frage zu stellen,
trotzalledem über dem schreibenden Haufen. Wenn
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man den Durchschnitt zieht zwischen dem^ was man
ihn im VerkQnderton tagtäglich stammeln läfit^ und
dem Kunstwert seiner beiläufigen lyrischen Be-
trachtung— deren feinste Proben er jetzt gesammelt
hat — f so bleibt erst recht ein Original übrig. Kürzlich
verkündete er freilich: »Eine getreue Frauenseele mufi
also mit einem Walle von Unnahbarkeit und Unein-
nehmbarkeit, von Würde und Seelenadel geschützt,
behütet und verteidigt sein, dafi Don Juans Bück sich
senkte und scheu zur Seite sich wendete! . . . Frauen,
seiet so, daß der wilde Krieger vor dem Walle eures
Tempels freiwillig umkehret . , . Dann wird die Eifer-
sucht, diese schrecklichste Erkrankur.g der Mannes-
seele, gebannt, verbannt, besiegt seinic Was hat er
denn ? I Das ist ja durchaus vom Standpunkt des Besitzers
gesprochen, der den weiblichen Seelenadel monopoli-
sieren möchte, während der Wegnehmer ihn vielleicht so
gut wie der bekannte Wanderer die Wiese empfindet.
Aber andererseits — müßte der Dichter gewiß auch zu-
geben, daß die Uneinnehmbaren, die sich hinter Adel,
Wall und Würde verschanzen, »perfide Heldenreize-
rinnenc sind. Und eine Anschauung, die die Wunschfä-
higkeit einer Gewünschten überhaupt nicht gelten läßt
und alles Unheil vom Don Juan und nie von der Frauen-
seele erwartet, führt uns in eine ästhetische Puppen-
welt, deren Friede von dem keuschen Blick des Be-
trachters abhängt. Wo bleibt da noch Raum für
Eifersucht? Es genügt eine Weisung, die ausge-
stellten Gegenstände nicht zu berühren; und Erotik
wäre die objektive Wertung einer Rückenlinie, einer
Nasenform, einer Hand. Aber in unserer Welt
werden die Puppen lebendig oder hysterisch. Je nach
der Strenge der Vorschriften. Und manchmal hilft
es dem Don Juan nicht, dafi er ordnungsgemäß
den Blick senkt und scheu zur Seite wendet.
Schon hat die getreue Frauenseele den wilden Krieger
beim Wickel, oder bei der Uniform. Er kehrt zum
Tempel zurück, und alles ist verziehen. Erforder-
y Google
53
lichenfalls dient auch die Würde als Lockung und der
Seelenadel als Lasso. Die Unnahbarkeit ist An-
näherung und die Uneinnehmbarkeit Herausforderung.
Vorläufig dürfte also der Vorschlag des Dichters
nicht den gewünschten praktischen Erfolg erzielen.
Und daß er in einem Buche erschienen ist, das den
Titel führt »Felix Austria: Österreichische Dichter
im Jubeljahre 1908«^ ist nicht günstig. P. A. läßt sich
besser repräsentieren als durch Rezepte zur Heilung
der Eifersucht, und Felix Austria wird nicht heiraten,
wenn sie sie befolgt.
Der ständige Mitarbeiter eines militärischen
Witzblattes: Der Clown in der Menage.
•
Ich kann einen Festzug oder eine gewisse Sorte
von Theaterstücken wirklich nur dann objektiv n^h
dem ästhetischen und kulturellen Wert beurteilen,
wenn ich nicht dabei war. Sonst unterliege ich einer
beliebigen Nerven Wirkung, höre auf, kritisch zu
sein und rede wie der Blinde von der Farbe. Wie
leicht kann Musik oder Qlockenläuten einen zur
Duldung einer Geschmacklosigkeit bringen 1 Um mir
also ein gerechtes Urteil zu bewahren, darf ich es
gewissenhafter Weise nicht unterlassen, dem Schau-
spiel fernzubleiben.
Die Gewalttätigkeit des Daseins und die Unmoti-
viertheit aller menschlichen Dinge geht einem nie so
deutlich auf, wie wenn man das Malheur hat, in
einem Wagen zu sitzen, der halten muß, weil ihn
die Burgmusik umbrandet.
•
Die populärsten Gesichter in Wien sind die
zweier Heurigenwirte. In Oberlebensgröfie sind sie
an jeder Straßenecke plakatiert, und ihr Ruhm hat
sicher die Größe des Überlebens. So etwa haben sich
die Deutschen die Köpfe ihrer Schiller und Goethe
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— 64 -
eingeprägt. Aber das österreichisohe Kulturniveau ist
wahrlich ein höheres. Denn zu Schiller und Goethe be*
steht nur jene dekorative Beziehung, die das Geflunker
von Bildung herstellt, während gewifi ein innerer
Zusammenhang zwischen den Wienern und ihren
Heroen besteht. Großväter werden einst aufhorchenden
Enkeln erzählen, daft sie noch den Wolf in Gersthof
gesehen haben, und Groftmütter werden von der Br-
innerung verjüngt sein, daft das Auge Hartwiegers
auf ihnen geruht hat.
•
Was ist alles Machtbewufitsein eines Nero, was
ist aller Vernichtungsdrang eines Tschingiskhan, was
ist die Machtvollkommenheit des jünp;sten Gerichtes
gegen das HoohgefQhl eines Eonzipisten der kon*
skriptionsämtlichen Abteilung des magistratischen
Bezirksamtes, der einen wegen Nichtfolgeleistung
einer Vorladung zur Anmeldung behufs Veranlagung
zur Bemessung der Militärtaze zu einer Geldstrafe
von zwei Kronen verurteilt I
*
Viele Leute möchten mich persönlich kennen
lernen. Wenn aber einer ein Beamter des magistrati-
schen Bezirksamtes ist, so erreicht er es. Ich verkehre
seit Jahren nur noch mit Beamten des magistratisohen
Bezirksamtes; habe aber wenig Anregung davon.
•
Wer Gehirngymnastik treiben will, versuche
das Gespräch einer Tafelrunde, dessen Entfernung von
dem ursprünglichen Thema ihm an einem Punkt be-
sonders auffällt, so schnell als möglich zu rekon-
struieren. Man blättere in diesem Konversationslexikon
und man wird einen Zickzackweg übersehen, an dessen
Anfang und Ende Gegenstände sind, die einen an
die drollige Zusammennanelosigkeit der Aufschriften
erinnern: Von Gothik bis Heizanlage und von Newton
bis Pazifik.
y Google
— 56 —
Im Kampf swischen Natur und Sitte ist die
Perversität eine Trophäe oder eine Wunde. Je nach-
dem, ob die Natur sie erbeutet oder die Sitte sie
geschlagen hat.
•
Wer Witz hat^ kann nie einen Witz entlehnt
haben^ auch wenn dieser noch so bekannt wäre. Es
kommt gerade hier auf das Gewordene an. Wer Zeuge
der Geburt ist^ kann an eine Unterschiebung nicht
glauben, auch wenn das Eind aufs Haar einem frem-
den gliche.
•
Den Witz eines Witzigen zitieren heiflt blofi
einen Pfeil aufheben. Wie er abgeschossen wurde,
kann das Zitat nicht zeigen.
Der Nachahmer verfolgt die Spuren des Ori-
ginals, und hofft, irgendwo müsse ihm das Geheim-
nis der Eigenart aufgehen. Aber je näher er diesem
kommt, um so weiter entfernt er sich von der Mög-
lichkeit, es zu nützen.
Nicht ob das Resultat originell, sondern ob
man selbst dazu gelangt sei, darauf kommt es an.
Also eigentlich auf den Kredit des Finders. Ich habe
dies und das in mir gefunden und fand es nachträg-
lich in Büchern. Da erkannte ich, dafi es nur auf den
Weg ankomme und nicht auf das Ziel. Und fand
auch diesen Gedanken in Büchern.
•
Zum Beispiel fiel mir auch ein: Schimpf-
worte sind nicht an und für sich zu verpönen.
Nur wenn sie an und für sich stehen. Ein
Stilist muß ein Schimpfwort so gebrauchen kön-
nen, als ob es nie zuvor noch ein Kutscher
gebraucht hätte. Die Unfähigkeit sucht unge-
wohnte Worte. Aber das Gewöhnlichste kann
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— 66 ^
getrost verwendet werden^ wenn es nur so gebracht
wird, als ob es eben zum erstenroale gebracht wQrde. So
kann eine Drohung mit Ohrfeigen nicht nur als der
organische Ausdruck einer Stimmung, sondern soRar
wie eine Novität wirken • . • Nachdem ich dies nieder-
geschrieben hatte, fand ich bei Goethe den Satz:
»Die originalsten Autoren der neuesten Zeit sind es
nicht deswegen, weil sie etwas Neues hervorbrin^n,
sondern allein, weil sie fähig sind, dergleichen Dmge
zu sagen, als wenn sie vorher niemals wären gesaijgt
gewesen. c Und dann diesen: »Alles Gescheite ist
schon gedacht worden, man muß nur versuchen, es
noch emmal zu denken.« Und diesen Gedanken hatte
schon La Bruy^re ausgesprochen.
•
Ich hatte diesen und Goethes Maximen nie zuvor
eelesen. Nun fand ich, dafi ich manches Gescheite ge-
dacht habe. Denn Goethe schreibt zum Beispiel: »Es ist
nicht immer nötig, dafi das Wahre sich verkörpere;
schon genug, wenn es geistig umher schwebt und Über-
einstimmung bewirkt; wenn es wie Glockenton ernst-
freundlich durch die Lüfte wogt.« Oder: »Tief und
ernstlich denkendeMenschen haben gegen das Publikum
einen bösen Stand«« Oder: »Die größte Achtung,
die ein Autor für sein Publikum haben kann, irt,
dafi er niemals bringt was man erwartet, sondern
was er selbst, auf der jedesmaligen Stufe eigner
und fremder Bildung für recht und nützlich hält.«
Oder: »Ein jeder, weil er spricht, glaubt auch über
die Sprache sprechen zu können.« Und da ich mich
so zu stützen vermesse, berufe ich mich auch auf
das Wort: »Man sagt, eitles Eigenlob stinket: das
mag sein : was aber fremder und ungerechter Ta
für einen Geruch habe, dafür hat das Publik
keine Nase.«
Karl Krau.
Henssecbcr nod vcranivortliclier Redakteor: Karl Krtni.
Dnick von Jahodi * Slesd, Wien, III. HIntcrt ZollamtsitnBe 3.
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KARL KRAUST
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Der Verlag der Fackel
befindet sich jetzt
Wien, m 2
Hintere Zollamtsstrasse Nr. 3.
Telephon Nr. 187
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Karlsbad. Budapest F. WlenXr^^W^
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ÄANUSKRIPTB sind Wien, IV. S
tdresBieren. Unverlangte Manuskripte,
rankiertesKnvert beiliegt, werden nicht xurückge^
[f wird ersucht, admiAlitriUve Hittelliiogeii flicht aa C,
redaktionelle nlcM an den Verlag gelangen zu i >
Unternehmen für Zeitongeaatachni'
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Karl Kraus:
HAXIMIUiN HÄRl
iine Erledigung. Ein Na-''
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Sairaens .A.niDir<
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Herausgeben
ARL KRAUS.
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The harlot's house.
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Die Mfltter. - Zitate.
Mitteilung.
smASIfct Verkthefl tertioteni gtiichtlldlc Verfolcuor
forbehftitefl.
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In zweiter Auflage ersclileii
Sittlichkeit u.Kriminalij
i. Band der Ausgewählten Scbrifti
Brosohiert
Qanzleinen
K 7.20 Mk.
8.70
Bestellungeu aui uaa iiu V L
handlung L. Rosner, Wien uii<
erschienene Werk nimmt jede
handlung sowie der Verlag ' ' M
Wien, IIT4 Hint Zollr
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VBRLAO JAHODA & SIE
Alte Iiiebesliäudel
'.-".* ^ \ A / : * » ^ I ^
rvj<gAuxis« *
Die Fackel
m. 261-62
WIEN. 13. OKTOBER 1M8
X. JAHR
(Offener Brief an dnt Publilram.)
»Den Oberwinder will ich genießen
lassen von dem Lebensholze, das in
meines Gottes Paradiese steht.«
Am l. April 1909 wird aller menschlichen Vor-
aussicht nach die ,Fackel' ihr Erscheinen einstellen.
Den Weltuntergang aber datiere ich von der EröiT-
nung der Luftschiffahrt.
Eine Verzögerung beider Ereignisse aus äußeren
Gründen könnte an meiner Berechtigung nichtn än-
dern, sie yorherzusagen, und nichts an der Erkennt-
nis, daß beide ihre Wurzel in demselben phänome-
nalen Übel haben: in dem fleberhaften Fortschritt
der menschlichen Dummheit.
Es ist meine Religion, zu glauben, dafi Mano-
meter auf 99 steht. An allen Enden dringen die Gase
aus der Welthirnjauche, kein Atemholen bleibt der
Kultur und am Ende liegt eine tote Menschheit neben
ihren Werken, die zu erßnden ihr so viel Geist ge-
kostet hat, dafi ihr keiner mehr übrig blieb, sie zu
"tzen.
Wir waren kompliziert genug, die Maschine zu
uen, und wir sind zu primitiv, uns von ihr be-
men zu lassen. Wir treiben einen Weltverkehr auf
firaalspurigen Oehirnbahnen.
Aber siehe, die Natur hat sich ^egen die Ver-
jhe, eine weitere Dimension für die Zwecke der
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zivilisatorischen Niedertracht zu mißbrauchen, auf-
gelehnt und den Pionieren der Unkultur zu ver-
stehen gegeben, daß es nioht nur Maschinen gibt^
sondern auch Stürme ! »Hinausgeworfen ward der
große Drache, der alle Welt verführt, geworfen ward er
auf die Erde ... Er war nicht mächtig genug, einen
Platz im Himmel zu behaupten, c Die Luft wollte
sich verpesten, aber nicht »erobern« lassen. Michael
stritt mit dem Drachen, und Michel siüii su.
Vorläufig hat die Natur gesiegt. Aber sie wird
als die Klügere nachgeben und einer ausgehöhl-
ten Menschheit den Triumph gönnen, an der
Erfüllung ihres Lieblingswunsches zugrundezugehen.
Bis zum Betrieb der LuftschifiTahrt geduldet sich
das Chaos, dann kehrt es wieder! Daß Mont-
folfieren vor hundert Jahren aufstiegen, war durch
ie dichterische Verklärung, die ein Jean Paul
davon gab, gerechtfertigt für alle Zeiten; aber
kein Gehirn mehr, das Eindrücke zu Bildern formen
könnte, wird in den Tagen leben, da eine höhen-
staplerische Gesellschaft zu ihrem Ziel gelangen
und der Parvenü ein Maßbe^fT sein wird. Es ist
ein metaphysisches Bubenspiel, aber der Drache,
den sie steigen lassen, wird lebendig. Man wird auf
die Oesellschaftsordnung spucken können, und davon
würde sie unfehlbar Schaden nehmen, wenn ihr
nicht schlimmere Sendung zugedacht wäre . . .
Die Natur mahnt zur Besinnung über ein
Leben, das auf Äußerlichkeiten gestellt ist. Eine
kosmische Unzufriedenheit gibt sich allenthalben
kund, Sommerschnee und Winterhitze demonstrieren
gegen den Materialismus, der das Dasein zum
Prokrustesbett macht, Krankheiten der Seele als
Bauchweh behandelt und das Antlitz der Natur ent-
stellen möchte, wo immer er ihrer Züge gewahr wird:
an der Natur, am Weibe und am Künstler. Einer
Welt, die ihren Untergang ertrüge, wenn ihr nur
soine kinematographische Vorführung nicht ver-
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sagt bleibt, kann man mit dem Unbegreiflichen nicht
bange machen. Aber unsereins nimmt ein Erdbeben
aTs Protest gegen die Einrichtungen der Demokratie
ohneweiters hin und zweifelt keinen Augenblick an
der Möglichkeit, dafi ein Obermafi menschlicher
Dummheit die Elemente empören könnte.
Die Tragik einer gefallenen Menschheit, die für
das Leben in der Ziviusation viel schlechter taugt
als eine Jungfer fürs Bordellwesen, und die sich
mit der Moral über die Syphilis trösten möchte, ist
verschärft durch den unaufhörlichen Verzicht auf
alle seelische Erneuerung. Ihr Leib ist ethisch ge-
schmiert und ihr Hirn ist eine camera obscura, die mit
Druckerschwärze ausgepicht ist. Sie möchte vor der
Presse, die ihr das Mark vergiftet hat, in die
Wälder fliehen, und findet keine Wälder mehr. Wo
einst ragende Bäume den Dank der Erde zum Himmel
hoben, türmen sich Sonntagsauflagen. Hat man nicht
ausgerechnet, dafi eine amerikanische Zeitung für
eine einzige Ausgabe eine Papiermasse braucht, für
deren Herstellung zehntausend Bäume von zwanzig
Metern Höhe gefällt werden müssen? Es ist schneller
nachgedruckt als nachgeforstet. Wehe, wenn es so
weit kommt, dafi die Bäume bloß täglich zweimal,
aber sonst keine Blätter tragen I »Und aus dem
Rauche kamen Heuschrecken über die Erde, wel-
chen Macht gegeben wurde, wie die Skorpionen
Macht haben . . . Menschen ähnlich waren ihre Ge-
sichter . . . Und es wurde ihnen geboten, weder das
Qras auf der Erde, noch etwas Grünes, noch irgend
einen Baum zu beschädigen, sondern blofi die Men-
schen, die nicht haben das Siegel Gottes an ihren
Stirnen.« Aber sie beschädigten die Menschen, und
schonten die Bäume nicht.
Da besinnt sich die Menschheit, dafi ihr der
Sauerstoff vom Liberalismus entzogen wurde und
rennt in den Sport. Aber der Sport ist ein Adoptiv-
kind des Liberalismus, er trägt schon auf eigene
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Faust z\ir Ver<lummunja; der Familie bei. Kein Ent-
rinnen! Auch wenn sie auf dem Misthaufen des
Lebens Tennis spielen, die Schmutzflut kommt immer
näher und das Sausen aller Fabriken übertönt so
wenig ihr Geräusch wie die Klänge der Symphonie-
konzerte, zu denen die ganz Verlassenen ihre Zu-
flucht nehmen.
Inzwischen tun die Politiker ihre Pflicht. Es
sind Märtyrer ihres Berufs. Ich habe gehört, daß
Österreich Bosnien annektiert hat. Warum auch nicht?
Man will alles beisammen haben, wenn alles aufhören
soll. Immerhin ist solch ein einigend Band eine ge-
wagte Unternehmung, — in Amerika, wo man uns so
oft verwechselt hat, heißt es dann wieder, Bosnien
habe Österreich annektiert. Erst die Auflösung unseres
Staates, von der in der letzten Zeit so viel die Rede
war und die sich separat vollziehen wird, weil die
anderen Weltgegenden nicht in solcher Gesellschaft
zugrundegehen wollen, dürfte allem müßigen Qerede
ein Ende machen. Aber es ist eine weitblickende
Politik, den Balkan durcheinanderzubringen. Dort
sind die Reserven zur Herstellung des aligemeinen
Chaos. Die Wanzen mobilisieren schon gegen die
europäische Kultur.
Die Aufgabe der Religion, die Menschheit zu
trösten, die zum Galgen geht, die Aufgabe der Politik,
sie lebensüberdrüssig zu machen, die Aufgabe der
Humanität, ihr die Galgenfrist abzukürzen und gleich
die Henkermahlzeit zu vergiften.
Durch Deutschland zieht ein apokalyptischer
Reiter, der für viere ausgibt. Er ist Volldampf voraus
in allen Gassen. Sein Schnurrbart reicht von Aufgang
bis Niedergang und von Süden gen Norden. »Und
dem Reiter ward Macht gegeben, den Frieden von
der Erde zu nehmen, und daß sie sich einander er-
würgten.« Und alles das ohne Absicht und nur aus
Lust am Fabulieren.
Dann aber sehe ioh ihn wieder als das Tier mit
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5 —
den zehn Hörnern und den sieben Köpfen und einem
Maul e:leich dem Rachen eines Löwen. »Man betete
das THer an und sprach: Wer ist dem Tiere
gleich? Und wer vermag mit ihm zu streiten? Bin
Maul ward ihm zugelassen, groSe Dinge zu reden. c
Neben diesem aber steht die grofie Hure, »die
mit ihrer Hurerei die Welt verdarbt. Indem sie sich
allen^ die da wollten, täglich zweimal hingab. »Von
dem Wollustwein ihrer Unzucht haben alle Völker
getrunken, und die Könige der Erde buhlten
mit ihr.c
Wie werden die Leute aussehen, deren Qrofi-
väter Zeitgenossen des Max Nordau gewesen sind?
Bei Tage Börsengeschäfte abgewickelt und am Abend
Feuilletons gelesen haben? Werden sie aussehen? !
Weh dir, dB& du der Elnkel eines alten Lesers der
«Neuen Freien Presse' bisti Aber so weit läSt es die
Natur nicht kommen, die ihre Beziehungen zur Presse
streng nach deren Verhalten gegen die Kultur ein-
gerichtet hat Einer journalisierten Welt wird die
Schmach eines lebensunfähigen Nachwuchses erspart
sein: das Geschlecht, dessen Fortsetzung der Leser mit
Spannung entgegensieht, bleibt im Obersatz. Die
Schöpfung versagt das Imprimatur. Der intellektuelle
Wechaelbalg, den eine Ratze an innerer Kultur be-
schämen müßte, wird abgelegt. Der Jammer ist so groß,
dafl er gleich den Trost mitbringt, es komme nicht so
weit. Nein, der Bankert aus Journalismus und Hysterie
pfluizt sich nicht fort! Ober die Vorstellung, daß es
ein Verbrechen sein soll, der heute vorrätigen
Menschensorte die Frucht abzutreiben, lacht ein
Totengräber ihrer Mißgeburten. Aber die Natur arbeitet
schon darauf hin, den Hebammen jede Versuchung
zu ersparen I Die Vereinfachung der Gehirnwindungen,
die ein Triumph der liberalen Bildung ist, wird die
Menschen selbst zu jener geringfügigen Arbeit
unfähig machen, deren Leistung die Natur ihnen
eigens schmackhaft gemacht hat. So könnte di«»
y Google
Auffdhrungsserie des » Walzertraums < einen jähen
Abbruch erfahren!
Aber glaubt man, daS die Erfolgsziffem der
neuen Ton werke ohne Einflufi auf die Gestaltung dieser
Verhältnisse bleiben werden? Dafi sie noch vor zwanzig
Jahren möglich gewesen wären? Eine Welt von
Wohllaut ist versunken, und ein krähender Hahn
bleibt auf dem Repertoire; der Qeist liegt auf dem
Schindanger, und jeder Dreckhaufen ist ein Kristall-
palast . . . Hat man den Parallelismus bemerkt,
mit dem jedesmal ein neuer Triumph der »Lustigen
Witwec und ein Erdbeben gemeldet werden? Wir
halten bei der apokalyptischen 666 . . . Die mifi-
handelte Urnatur grollt; sie empört sich dagegen,
dafi sie die Elektrizität zum Betrieb der Dumnmeit
geliefert haben soll. Habt ihr die Unregelmäfiigkeiten
der Jahreszeiten wahrgenommen? S[ein Frühling
kommt mehr, seitdem die Saison mit solcher Schmach
erfüllt isti
Unsere Kultur besteht aus drei Schubfächern,
von denen zwei sich schliefien, wenn eines offen ist,
nämlich aus Arbeit, Unterhaltung und Belehrung.
Die chinesischen Jongleure bewältigen das ganze
Leben mit einem Finger. Sie werden also leichtes
Spiel haben. Die gelbe Hoffnung I . . . Unseren An-
sprüchen auf Zivilisation würden allerdings die
Schwarzen genügen. Nur, dafi wir ihnen in der Sitt-
lichkeit über sind. In Illinois hat es eine weifte
Frau mit einem Neger gehalten. Das Verhältnis
blieb nicht ohne Folgen. > Nachdem eine Menge
Weifier zahlreiche Häuser im Negerviertel in Brand
gesteckt und verschiedene Geschäfte erbrochen
hatten, ergriffen sie einen Neger, schössen zahlreiche
Kugeln auf ihn ab und knüpften die Leiche an
einem Baum auf. Die Menge tanzte dann unter un-
geheurem Jubelgeschrei um die Leiche herum, c In der
Sittlichkeit sind wir ihnen über.
Humanität, Bildung und Freiheit sind kost-
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— 7 —
bare GKiter, die mit Blut, Verstand und Menschen-
würde nicht teuer genug erkauft sind. Nun, bis zu
dem Chinesentraum versteige ich mich nicht: aber
einem gelegentlichen Barbarenangriff auf die Bollwerke
unserer Kultur, Parlamente, Redaktionen und Univer-
sitäten, könnte man zujauchsen, wenn er nicht selbst
eine politische Sache wäre, also eine Gemeinheit.
Als die Bauern eine Hochschule stürmten, wars nur der
andere Pöbel, der seines Geistes Losung durchsetzen
wollte. Die Dringlichkeit, die Universitäten in Bor-
delle zu verwandeln, damit die Wissenschaft wieder
frei werde, sieht keine politische Partei ein. Aber die
Professoren würden als Portiers eine Anstellung
finden, weil die Vollbarte ausgenützt werden können
und die Würde nun einmal da ist, und die Kollegien-
gelder wären reichlich hereingebracht.
»Den Verzagten aber, und Ungläubigen, und
Verruchten, • und Totschlteem, und Götzendienern,
und allen Lügnern, deren Teil wird sein in dem Pfuhl,
der mit Feuer und Schwefel brennte.
Was vermag nun ein Satirenschreiber vor einem
Getriebe, demohnediesin jeder Stunde ein Hohngelächter
der Hölle antwortet? Er vermag es zu hören, dieweil
die anderen taub sind. Aber wenn er nicht gehört
wird? Und wenn ihm selbst bange wird?
Er versinkt im Heute und hat von einem Mor-
gen nichts zu erwarten, weil es kein Morgen
mehr gibt, und am wenigsten eines für die Werke
des Geistes. Wer heute noch eine Welt hat, mit dem
mufi sie untergehen.
Umso sicherer^e länger die äußere Welt Stand
hält. Der wahre Weltuntergang ist die Vernich-
tung des Geistes, der andere hängt von dem gleich-
giltigen Versuch ab, ob nach Vernichtung des
Geistes noch eine Welt bestehen kann.
Darum glaube ich einige Berechtigung zu dem
Wahnwitz zu haben, dafi die Fortdauer der , Fackel*
y Google
8 —
ein Problem bedeute, während die Fortdauer der Welt
blofi ein Experiment sei.
Die tiefste Besoheidenheit, die vor der Welt
zurücktritt, ist in ihr als Gröfienwahn verrufen. Wer
von sich selbst spricht, weil kein anderer von ihm
spricht, ist lästig. Wer niemand mit seiner Sache zu
belasten wagt und sie selbst führt, damit sie nur
einmal geführt sei, ist anmaflend. Und dennoch
weiß niemand besser als ich, dafi mir alles Talent
fehlt, mitzutun, dafi mich auf jedem Schritt der ab-
solute Mangel dessen hemmt, was unentbehrlich ist,
um sich wenigstens im Gedächtnis der MiÜebenden
zu erhalten, der Mangel an Konkurrenzfähigkeit.
Aber ich weifi auch, dafi der Gröfienwahn vor der
Bescheidenheit den Vorzug der Ehrlichkeit hat und
dafi es eine untrügliche Probe auf seine Be-
rechtigung gibt: seinen künstlerischen Ausdruck.
Darüber zu entscheiden, sind freilich die wenigsten
Leser sachverständig, und man ist auch hier wieder
auf den Größenwahn angewiesen. Er sprach: Selbst-
bespiegelung ist erlaubt, wenn das Selbst schön ist;
aber sie erwächst zur Pflicht, wenn der Spiegel gut ist.
Und jedenfalls ist es sogar ehrlicher, zum dyonisischen
Praterausrufer seiner selbst zu werden, als sich von
dem Urteil der zahlenden Kundschaft abhängig su
machen. Die Journalisten sind so bescheiden, die
Keime geistiger Saat für alle Zeiten totzutreten. Ich
bin gröfien wahnsinnig: ich weifi, dafi meine Zeit
nicht kommen wird.
Meine Leserl Wir gehen jetzt ins zehnte Jahr
zusammen, wir wollen nicht nebeneinander älter wer-
den, ohne uns über die wichtigsten Mifiverständnisse
geeinigt zu haben.
Die falsche Verteilung der Respekte, die die
Demokratie durchführte, hat auch das Publikum zu
einer verehrungswürdigen Standesperson gemacht.
Das ist es nicht. Oder ist es blofi für den Sprecher,
dem es die unmittelbare Wirkung des Worts bestätigt,
y Google
nicht für den Schreibenden; für den Redner und
Theatermann, nicht fär den Künstler der Sprache.
Der Journalismus^ der auch das geschriebene Wort
an die Pflicht unmittelbarer Wirkung band, hat die
Gerechtsame des Publikums erweitert und ihm zu
einer geistigen Tyrannis Mut gemacht, der sich jeder
Künstler selbst dann entziehen muß, wenn er sie nur
in den Nerven hat. Die Theaterkunst ist die einzige,
vor der die Menge eine sachverständige Meinung
hat und gegen jedes literarische Urteil behauptet.
Aber das Eintrittsgeld, das sie bezahlt, um der Gaben
des geschriebenen Wortes teilhaft zu werden, berechll^rt
sie nicht zu Beifalls- oder Mißfallsbezeigungen. Bs
ist blofi eine lächerliche Vergünstigung, die es dem
einseinen ermöglicht, um den Preis eines Schinken-
brots ein Werk des Geistes zu beziehen. Daß die
Masse der zahlenden Leser den Gegenwert der
schriftstellerischen Leistung bietet, so wie die
Masse der zahlenden Hörer den des Theatergenusses,
wäre mir schon eine unerträgliche Fiktion. Aber ge-
rade sie schlöfle ein Zensurrecht des einzelnen Lesers
aus und ließe bloß Kundgebungen der gesamten
Leserschar zu. Der vereinzelte Zischer wird im
Theater überstimmt, aber der Briefschreiber kann
ohne akustischen Widerhall seine Dummheit betä-
tigen. Worunter ein Schriftsteller, der mit allen
Nerven bei seiner Kunst ist, am tiefsten leidet, das
ist die Anmaßung der Banalität, ^ die sich ihm mit
individuellem Anspruch auf Beachtung aufdrängt.
Sie schafft ihm das furchtbare Gefühl, daß es Menschen
gibt^ die sich für den Erlag zweier Nickelmünzen
an seiner Freiheit verseifen wollen, und seine Phan-
tasie öffnet ihm den Prospekt einer Welt, in der es
nichts gibt als solche Menschen. Dagegen empfände er
tatsächlich den organisierten Einspruch der Masse als
eine logische Beruhigung, als die Ausübung eines
wohlerworbenen Rechtes, als die kontraktliche Er-
füllung einer Möglichkeit, auf die er vorbereitet
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— 10 —
sein muSte und die demnach weder seinem Stols
noch seinem Frieden ein Feindliches zumutet. Wenn
sich die Enttäuschungen, die meine Leser in den
leteten Jahren an mir erleben, eines Tages in
einem Volksgemurmel Luft machten, ich würde mich
in diesem eingerosteten Leben an der Bereicherung
der Verkehrsformen freuen. Aber dafi ein Chorist
der öffentlichen Meinung sich vorschieben darf,
meine Arie stört und dafi ich die Nuancen
einer Stupidität kennen lernen mufi, die doch nur
in der Einheit imposant wirkt, ist wahrhaft ^äfllidi.
Es ist eine demokratische Wohlfahrtsinstitution, dafi
der Leser seine Freiheit gegen den Autor hat und
dafi seine Privilegien über das Naturrecht hinaus-
reichen, den Bezug einer unangenehmen Zeitschrift
aufzugeben; daS Menschen, mit denen ich wirklich
nicht mehr als Essen und Verdauen und auch dies
nur ungern gemeinsam habe, es wagen dürfen, mir
ihr Mififaüen an meiner »Richtungc kundzutun oder
gr zu motivieren. Es schafft blofi auffenblickli<Ae
leichterung, wenn ich in solchem Pdl sofort das
Abonnement auf die ,FackeP aufgebe und die Ent-
ziehung, so weit sie möglich ist, durchführen lasse.
Deprimierend bleibt die Zähigkeit, mit der diese Leute
auf ihrem Recht bestehen, meine Feder als die
Dienerin ihrer Lebensauffassung und nicht als die
Freundin meiner eigenen zu befrachten; vernichtend
wirkt die Hoffnung, die sie noch am Grabe ihrer
Wünsche aufpflanzen, das lästige Zureden ihrer stoff-
lichen Erwartungen. Wie weit es erst, wie uner-
mefilich weit es mich all den Sachen entrückt,
die zu vertreten oder zu zertreten einst mir
inneres Gebot war, ahnt keiner. Dem Publikum
gilt die Sache. Ob ich mich über oder unter
die Sache gestellt habe, das zu beurteilen, ist kein
Publikum der Erde fähiff, aber wenn es ver-
urteilt, dafi ich aufierhalb der Sache stehe, so ist es
berechtigt, schweigend seine Konsequenz zu ziehen.
y Google
Jl —
Dtf ich die publiEisttsohe Daseinsberechtigung ver-
lonn habe, ist hoffentlich der Fall; die Form perio-
dischen Ehnscheinens dient bloß meiner Produktivität,
die mir in jedem Monat ein Buch schenkt. Zieht mir der
redaktionelle Schein dauernd Mifiyerständni/Me au, bringt
er toir Querulanten ins Haus und die unerträglichen
Scharen jener, denen Unrecht geschieht und denen
ich nicht helfen kann, und jener, die mir Unrecht
tun und ^nen ich nicht helfen will| so mache ich
ihm üa Ende. Jetzt ist die Zeit zur Aussprache ge-
kommen, aber ich bin immer noch nachgiebig genug,
den Laeem die Entscheidung zu überlassen. Ich be-
trage Ihren Appetit, indem ich ihre Erwartung, Pikan-
tes für den Nachtisch zu kriegen, enttäusche und
ihnen Gedanken serviere, die der Nachtruhe gefährlich
sind, lilch selbst bedrückt ihr Alp; denn es ist nicht
meine Art, ahnungslose Qäste zu mißhandeln. Aber
sie soUei im zehnten Jahre nicht sagen, dafi sie un-
pwamt hweingefallen sind. Wer dann noch mit dem
Vorurteil zu mir kommt, dafi ich ein Enthüller stoff-
licher Sensationen sei, dafi ich berufsmäfiig die
Decken von den Häusern hebe, um lichtscheue Wahr-
heiten oder gar nur versteckte Peinlichkeiten empor-
Buziehen, der hat das Kopfweh seiner eigenen Un-
vorsichtigkeit zuzuschreiben. Ein Teil dieser Leser
will die Walu'heit hören um ihrer selbst willen, der
andere will Opfer bluten sehen. Das Instinktleben
beider Grup).en ist plebejisch. Aber ich täusche sie,
weil meine Farbe rot ist und mit der Verheifiuns;
lockt, zu erzählen, wie sichs ereignet hat. Dafi ich
heimlich in eine Betrachtungsweise abgeglitten bin, die
als das einzige Ereignis gelten läßt: wie Ichs erzähle, —
das ist die letzte EnthüUung, die ich meinen Lesern
schuldig bin. Ich täuschte, und war allemal tief be-
troffen, allemal wufite ich, dafi ich mir dergleichen
nicht zugetraut hätte, aber ich blieb dabei, Aphoris-
men zu sagen, wo ich Zustände enthüllen sollte. So
schmarotze ich nur mehr an einem alten Renommee.
y Google
— 12
Glaubt einer; daß es auf die Uauer ein angenehmes
Bewußtsein ist? Nun, ich wollte den Lesern helfen
und ihnen den Weg zeigen, der sur Bntschldigung
für den Ausfall an Sensationen führt. Ich wollte sie
EU einem Verständnis für die Angelegenheiten 1er
deutschen Sprache erziehen, zu jener Höhe, auf der
inan das geschriebene Wort als die natumotwenüge
Verkörperung des Gedankens und nicht bloß als die
gesellschaftepflichtige Hülle der Meinung begreift
Ich wollte sie entjournalisieren. Ich riet imien, tieine
Arbeiten zweimal zu lesen, damit sie auch atwas
davon haben. Sie waren entrüstet und sah#n im
nächsten Heft nur nach, ob nicht doch etwas gegen
die Zustände bei der Länderbank darin stänte . . .
Nun wollen wir sehen, wie lange das noch weiter
geht. Ich sage, daß der einzige öffentliche Obelstand,
den noch aufzudecken sich lohnt, die Dumnlieit ist.
Das Publikum wünscht so allgemeine Themdn nicht
und schickt mir Affären ins Haus. Aber yde selten
ist es, daß das Interesse der Skandalaicht mit
meinen separatistischen Bestrebungen zusammentrifft!
Wenns einen Fall Riehl gibt, Verzeiht mir das Publi-
kum die Gedanken, die ich mir dazu mache, und
freut sich, daß es einen Fall Riehl gibt. Es ist ein
schmerzliches Gefühl, eine Wohltat nicht za verdiene;
aber es ist geradezu tragisch, sein eigener Parasit
zu sein.
Denn das ist es ja eben, daß von meinem
Wachstum, welches die Keihen meiner Anhänger so
stark gelichtet hat, die Zahl meiner Leser im Durch-
schnitt nicht berührt wurde, imd daß ich zwar kein
guter Geschäftsmann bin, so lange ich die ,Fackel'
bewahre, aber gewiß ein schlechter, wenn ich sie im
Überdruß hinwerfe. Und weil es toll ist, auf die
Flucht aus der Aktualität Wiener Zeitun^leser mit-
zunehmen, so ist es anständig, sie zeitweise vor die
Frage zu stellen, ob sie sich die Sache auch gründ-
lich überlegt haben.
y Google
- 13
In Tabakgeschäften neben ^em Kleinen Witz-
blatt liegen zu müssen und neben all dem tristen
Pack, das mit talentlosen Enthüllergebärden auf
den Kunden wartet, es wird immer härter und es ist
eine Schmach unseres Geisteslebens, an der icli nicht
allzulange mehr Teil haben möchte. Um den wenigen,
die es angeht, zugänglich zu sein, lohnt es nicht,
sich den vielen Suchern der Sensation hinzugeben. Im
besten Falle dünke ich diesen ein Ästhet. Denn in den
allgemeinen, gleichen und direkten Schafsköpfen ist
jeder ein Ästhet, der nur durch staatlichen Zwang
zur Ausübung des Wahlrechts sich herbeiläßt. Der
Ästhet lebt fern von der Realität, sie aber haben
den Schlüssel zum wahren Leben; denn das wahre
Leben besteht im Interesse für Landtagswahlreform,
Streikbewegung und Handelsvertrag:. So sprechen vor-
züglich jene Geister, die in der Politik die Viehtreiber
von St. Marx vorstellen. Der Unterschied : dem Ästhe-
ten löst sich alles in eine Linie auf, und dem Politiker
in eine Fläche. Ich glaube, dafi das nichtige Spiel,
welches beide treiben, beide gleich weit vom Leben
führt, in eine Ferne, in der sie überhaupt nicht
mehr in Betracht kommen, der Herr Hugo von Hof-
mannsthal und der Herr Abgeordnete Doleschal. Bs
ist tragisch, für jene Partei reklamiert zu werden,
wenn man von dieser nichts wissen will, und zu
dieser gehören zu müssen, weil man jene verachtet.
Aus der Höhe wahrer Geistigkeit aber sieht man die
Politik nur mehr als ästhetischen Tand und die
Orchidee als eine Parteiblume. Es ist derselbe Mangel
an Persönlichkeit, der die einen treibt, das Leben im
Stoflfe, und die anderen, das Leben in der Form zu
suchen. Ich meine es anders als beide, wenn ich,
fern den Tagen, da ich in äufieren Kämpfen lebte,
fern aber auch den schönen Künsten des Friedens, mir
heute den Gegner nach meinem Pfeil zurechtschnitze.
Die Realität nicht suchen und nicht fliehen,
sondern erschaffen und im Zerstören erst recht er-
y Google
— 14
schaffen: wie sollte man damit Gehirne beglücken,
durch deren Windungen zweimal im Tag der Mist
der Welt gekehrt wird? Ober nichts fühlt sich das
Publikum erhabener als über einen Autor^ den es
nicht versteht, aber Kommis, die sich hinter einer
Budel nicht bewährt hätten oder nicht haben, sind
seine Heiligen. Den Journalisten nahm ein Qott,
zu leiden, was sie sagen. Mir aber wird das Recht
bestritten werden, meiner tiefsten Verbitterimg Worte
zu geben, denn nur den Stimmungen des Lesers darf
eine Feder dienen, die für Leser schreibt. Meine Leser
sind jene Weifien, die einen Neger lynchen, wenn
er etwas Natürliches getan hat. Ich leiste feier-
lichen Verzicht auf die Rasse und will lieber über-
haupt nicht gelesen sein, als von Leuten, die mich
für ihre Rückständigkeit verantwortlich machen.
Sie ist im Fortschritt begriffen: wie wird es
mir ergehen? Die intellektuelle Presse macht dem
Schwachsinn des Philisters Mut und erhebt die
Plattheit zum Ideale: so sind die Folgen meiner
Tätigkeit unabsehbar. Der letzte Tropf, der sich am
sausenden Webstuhl der Zeit zu schaffen macht,
wird mich als Müßiggänger verachten. Ich wollte
nach Deutschland gehen, denn wenn man unter Öster-
reichern lebt, lernt man die Deutschen nicht genü-
gend hassen. Ich wollte meine Angstrufe in Deutsch-
land ausstofien, denn in Österreich bezieht man sie
am Ende auf die Kappen und nicht auf die Köpfe. Aber
ein satanischer Trieb verlockt mich, die Entwicklung der
Dinge hier abzuwarten und auszuharren, bis der grofte
Tag des Zornes kommt und die tausend Jahre voll-
endet sind. Bis der Drache losgelassen ist und mir
eine Stimme aus den Wolken ruft: »Flieg'n m'r,
Euer Gnaden ?c
Karl Kraus.
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15
The harlot'a house.
Von Oskar Wilde.
Im Qlanz der Nacht zu uns her glitt
tanzender Füße Takt und Tritt —
der kam aus einem Hurenhaus —
durch Lärm und Lachen klang zerhackt
ein jauchzender Dreivierteltakt:
das »Treue, liebe Herze von Strauss;
und gleich phantastischen Grotesken
tanzten in tollen Arabesken
die Schatten über die Rouleaus.
Wie zu des Herbstwinds Melodie
die schwarzen Blätter jagten sie
zu Hörn und Geige — atemlos.
Wie grauenhafte Automaten,
die Menschenantlitz haben, traten
sie Hand in Hand an zur Quadrille —
sie tanzten steif und feierlich
die Sarabande — schauerlich
war ihr Gelächter — dünn und schrill.
Bin süfies Lied klang dann und wann —
und manchmal schien es, dafi ein Mann
an einer Puppe Brüsten hing —
manchmal trat eine Marionette
heraus, im Mund die Zigarette
und schien ganz wie ein lebend Ding.
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— 16 —
Ich sprach zu meinem Lieb: Es droht
ein Sturm — Staub wirbelt dort — der Tod
drückt dort den Tod an seine Brust,
Doch sie — sie hörte nur das Lied —
und trat ins Tor, das jeder flieht —
die Liebe in das Haus der Lust.
Da — und ein Mißton klang durchs Haus,
das Licht verlosch, der Tanz war aus,
kein Schatten huschte mehr im Wind —
und durch die stumme StraSe glitt
mit silberner Sandalen Schritt
die Dämmerung — wie ein scheues Kind.
Obersetzt von Felix Orafe.
Die Malerischen.*)
(Phantasien einer Italienreise.)
Zwei einander feindliche Prinzipe bewegen unser
geistiges Dasein: der Sinn für das Malerische und
das Qefalien am Nützlichen. Ich möchte hundert
gegen eins wetten, daß der praktische Mensch, der
sozusagen im Leben steht, also der Philister, dem
Malerischen den Vorzug gibt, während der Dichter
sich's am Nützlichen genügen läßt Denn der Dichter
*) Aus dem ,Simplicissinius'.
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— 17
braucht die freie Bahn des äufieren Lebens, um zu
den Wundern zu gelangen, die er aus sich selbst
holt. Er trägt alle Himmelssonnen in seinem Herzen,
imd um sie recht zu geniefien, braucht er nur eine
Lampe, die tadellos funktioniert. Dafi es Automobil-
droschken gibt, die ihn schnell und bequem an den
Schreibtisch bringen, ist ihm wichtiger als das Be-
wußtsein, daß im Museum seiner Stadt ein Correggio
hängt. Dem Philister dagegen ist der Correggio
unentbehrlich, selbst wenn er etwa nicht in der Lage
sein sollte, ihn von einem echten Enackfufi zu
unterscheiden. Der Philister lebt in einer Gegenwart,
die mit Sehenswürdigkeiten ausgestattet ist, der
Kiinstler strebt in eine Vergangenheit, eingerichtet
mit allem Komfort der Neuzeit. Jener braucht sich
aus den Hindernissen des äufieren Lebens nichts zu
machen, denn er hat kein inneres Leben, das von
ihnen bedroht würde. Und wenn seine dicke Haut
sie dennoch spürt, so bleibt ihm ja ein Trost: die
Kunst. Sie ist dem Philister der Aufputz für des
Tages Müh und Plage, und er schnappt nach den
Ornamenten, wie der Hund nach der Wurst. Die
Hindernisse des äufieren Lebens versöhnen ihn
durch ihren malerischen Anstrich. Ich empfinde die
Peitsche eines italienischen Kutschers, deren Schall
das Angebot seiner »Oarrozzac verstärken soll, als
wahre Gottesgeifiel. Ich möchte mich loskaufen von
der Pein, mit der der öde Wille eines inferioren
Nebenmenschen in meine geistigen Kreise dringt.
Meinetwegen könnte die Taxe überschritten wer-
den, die man dafür erlegen darf, dafi man nicht
zum Fahren aufgefordert wird. Auch empfinde ich
die Herrschaft, die die italienischen Kinder über die
Strafie ausüben, als unerträgliche Tyrannis, wiewohl
sich die künftige Kutschergeneration damit begnügt,
nach einer Zigarette zu verlangen, wenn ein Vul^n
raucht oder mindestens der Kopf des Betrachters.
Alle diese Hindernisse sind aber im höchsten Grade
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— 16 —
malerisch und danach angetan, das Herz des sächsi-
schen Vergnügungsreisenden zu erfreuen, dem getrost
die Bettelkinder über die Gedanken laufen mögen,
wenn ihm nur nicht die malerischen Fliegen über
die Makkaroni laufen. Ich hätte mir den Oolf von
Neapel schöner vorstellen können, als er ist, und
ohne die störenden Begleitumstände, die mir dort
unten die Hauptsache verderben mußten. Aber ich
war gereist, um noch unbekannte Quellen der Ent-
täuschung kennen zu lernen, und kehre befriedigt
heim. Man hofft, es werde gehen, wenn man die
Sprache des Landes nicht versteht, eine Zeitlang
hilft es, aber sobald die Menschen merken, dafi
man auf den Lebensgenuß ausgeht und auf das
Glück der Ruhe, dann liest man es von allen Mienen
geläufig: lasciate ogni speranza.
Was zurückbleibt, ist das Malerische. Man ist auf
die blaue Grotte angewiesen. Kann aber eine Sehens-
würdigkeit auch täuschender nach einer bekannten
Ansichtskarte hergestellt werden ? Von diesen Wänden
tropft das Staunen sächsischer Reisender, und weil
dieses Blau im Laufe der Zeit ein etwas kitschiges
Genre geworden ist, darum bohrt der Bootsmann
gleich bei der Einfahrt in seiner Nase, um der
Sache wieder einen aparteren Anstrich zu geben.
Aber was hilft's? Irgendwo hat sich ein Echo ver-
fangen, das Herrjesäsl ruft, auch wenn man auf
einsamem Kahn schweigend dahingleitet, in Gottes
Wunder versunken, bis der Bootsmann wieder
den Ausweg gefunden hat . . . Übrigens hatte ich
Deutschland gerade damals verlassen, als die Nach-
richt kam, daß ein paar hundert von jenen Leuten,
die sonst in der blauen Grotte schwelgen, der Hin-
richtung der Grete Beier beigewohnt hatten. Oh über
den Sinn für das Malerische I Der Unterschied lag
nur in der Kleidung des Betrachters. Für die Hin-
richtung der Grete Beier war ausdrücklich Frack
oder Gehrock vorgeschrieben, während die blaue
y Google
— 19 —
Grotte auch im Lodenanzug besucht werden kann.
Aber wer wird auf Aufierlichkeiten halten? Die
Hauptsache ist, dafi in beiden Fällen ein ehrliches
Jägersches Normalhemd daruutersteckt. Als der Kopf
eiiies Mädchens fiel, rief ein vereinsamtes Echo
Herrjesäsl . . .
Ein Psychiater jedoch war anderer Meinung
und sagte, um solche Exemplare des homo sapiens
wie Qrete Beier sei es nicht schade, denn sie sei
stark messalinisch veranlagt gewesen und auch ihre
Reue habe keinen inneren ethischen Wert e:ehabt.
Der stark neronisch veranlagte Psychiater bedauerte
später, dafi seine private Äulerung durch alle Blätter
Deutschlands kursiert habe. Aber diese Reue hatte
keinen inneren ethischen Wert und selbst die Gegner der
Todesstrafe an Psychiatern meinten, dafi es um solche
Exemplare des homo sapiens nicht schade wäre. Mir
ist so unerbittliche Nüchternheit wenig sympathisch
und darum sage ich : Lafit sie gehen, die Psychiater,
sie sind zwar nicht nützlich, aber malerisch.
Sie gehören zu den vielen Berufen des modernen
Lebens, die unter solchem Zwiespalt der Bestimmung
genug zu leiden haben. Aber zu einem wahrhaft tragi-
schen Konflikt verschärft er sich in den Hotelportiers,
die zwischen der Müfiigkeit ihres Amtes und der Be-
deutung ihres Kleides zu keiner wahren Daseinsfreude
gelangen. Es ist nur ein Beispiel von den vielen, gewifi
nicht so geläufig wie etwa das der Staatsanwälte, aber
gerade deshalb um so bemerkenswerter. Allen diesen
Berufen ist gemeinsam, dafi der Anblick des Repräsen-
tanten das Auge erfreut, aber dafi seine Tätigkeit nicht
im eigentlichen Sinne des Wortes als nutzbringend
gedacht werden kann. Der Hotelportier ist eine
Person, die namentlich auf Reisen stört. Er schiebt
sich zwil^chen den Reisenden und die Eindrücke,
ohne aber vermittelnd zu wirken. Im Gegenteil
entzweit er beide Teile selbst dort, wo sie aufeinander
geradezu angewiesen sind. Indem er sich wie der
y Google
20 —
leibhaftige Vertreter des Herrn Cook gebärdet —
jener sagenhaften Persönlichkeit, unter der man sich
etwa einen Columbus von fünf Weltteilen vorstellen
mag — , dirigiert er die Passagiere immer dorthin,
wohin sie eigentlich nicht gelangen wollten. Ich
kann und will es nicht sagen, in wie viel unrechte
Züge ich auf den Rat der Portiers gestiegen bin,
denen ich auf meinen Reisen su begegnen das Glück
hatte. Was den Hotelportier, der auf der Höhe der
Situation steht, vor allem auszeichnet, das ist die Prä-
zision der falschen Auskunft. An der Hand des
Kursbuches und mit den Worten: >Das werden
wir gleich haben I< schickt er den Mann, der nach
Mailand wollte, unfehlbar nach Brindisi. Oder er
würde auf die Frage, ob man den Seeweg nehmen
könne, wenn man von Berlin nach Frankfurt wolle,
gelassen antworten : »Ja, das könn' Sie machen U und
während dessen geistesgegenwärtig einem andern Neu-
gierigen aus dem Strafienplan nachweisen, daß er
von der Friedrichstrafie nicht direkt unter die Lin-
den kommen könne. Ein Hotelportier mufi eben alles
zu gleicher Zeit im Kopfe haben* Man versuche es
aber einmal, ihn nach der Beschaffenheit eines See-
bades zu fragen. Wer sich erst in Kopenhagen ent-
scheidet, dem wird das Nordseebad Fanö wegen
seines Waldreichtums und die seeländische Küste
wegen ihres Strandes empfohlen werden. Wer frei-
lich eingesehen hat, dafi er auf Reisen von den
Hotelportiers nichts profitieren kann, erliegt nur au
leicht der Versuchung, ihnen selbst etwas von den
Erfahrungen mitzuteilen, die er schlecht und recht
auf eigene Faust sich erworben hat. Aber er
säet auf steinigem Boden. Enttäuscht zieht er sich
aus der Portierloge zurück und erkennt die Nichtig-
keit menschlichen Mühens. Wahrlich, wemi Hotel-
portiers nicht blofi einen dekorativen Zweck haben
sollten, so sind es scherzhafte Apparate zur Irre-
führung des Publikums. Sicher weifi man es aber
y Google
- 21 —
nicht. Das ist es eben. Man mOohte gern das Gegen-
teil Ton dem tun, was sie einem raten, aber leider
ist auch auf diesen Weg kein Verlaft. Denn es kann
vorkommen, dafl ein Hotelportier irrtümlich eine richtige
Auskunft gibt» und dann steht man da. Oh, es wird
sich einmal herausstellen, daft diese Männer in den
Portierlogen geboren und gleich Kant nie aus ihrem
Geburtsort herausgekommen sind. Wie hätten sie
auch mit ihren geringen Kenntnissen vom Eisen-
bahnwesen die Reise in die Städte machen können,
in deren Hotels sie heute ihre eigenartige Tätigkeit
entfalten ? Sie sind schon auf dem Standpunkt gebo-
ren, auf den unsereins erst nach den mannigfachen
Ärgernissen imd Enttäuschungen gelangt : es sei viel
schöner, sich das Reisen vorsustelTen.
Und mufi man denn wirklich erst reisen, tun 2U
erfahren, daft es so viele Berufe gibt, deren Nützlichkeit
mit ihrer koloristischen Wirkung nicht gleichen Schritt
zu halten vermag? Kontrollore zum Beispiel gibt es
auch auf der Straftenbahn. Sie unterscheiden sich
von den Kondukteuren dadurch, daft sie Handschuhe
tragen, aber während die Kondukteure die Karten
immerhin abzwicken, schauen sie sie bloft an. Wozu
gibt es Kontrollore ? Der Kellner, dem man die Hotel-
rechnung bezahlt, ist gewift ganz besonders rätsel-
haft. Aber hat man denn das Geheimnis jener Per-
sonen ergründet, die in unseren ureigenen Stamm-
lokalen für nichts anderes entlohnt werden, als dafür,
daft sie das Geld bekommen? Sie sind in hohem Grade
malerisch. Und hat man sich schon einmal gefragt,
was die sonderbaren Männer zu bedeuten haben, die
in einem Kaffeehaus oder Restaurant plötzlich vor
uns hintreten und sich stumm verbeugen ? Mit großer
Mühe ist es mir gelungen, herauszubringen, daß
es die Besitzer sind. Aber diese Erschließung hatte
mit so vielen anderen tatsächlichen Wahrheiten ge-
meinsam, daft sie mich nicht befriedigte. Es war
damit noch nicht aufgeklärt, welche Bedeutung die
y Google
22 —
Pantomime jener Männer hat. Denn dafi sie uns
nichts nützte dafi sie uns ssur Unterbrechung unserer
Lektüre, unserer Gespräche, unseres Nachdenkens
zwingt, liegt auf der Hand« Dieser Qrufi nötigt uns so-
gar zu einem Gegengrufi, wir sind also gezwungen,
eine Unfreundlichkeit mit einer Freundlichkeit zu
erwidern. Ich kannte einen Oaf^tier, der täglich mit
einem B]ick vor mich hintrat, gegen den das ave
Caesar, morituri te salutant eine leere Versprechung
war. Ob nun darin blofi eine unzerstörbare Br-
gebenheit oder auch der stille Vorwurf lag, dafi das
Geschäft nicht zum besten gehe, nie vergesse ich
diesen Blick eines verendenden Kaffeesieders. Wie
anders wirkt der Hotelier einer Sommerfrische
auf mich ein, dessen Stummheit weltmännisches Ge-
haben bedeutete, ohne dafi ich mir freilich zu erklä-
ren wufite, warum es gerade vor mir prodiiziert
werde. Als ich mich aber einmal zu der unvorsich-
tigen Bemerkung hinreifien liefi, dafi das Rindfleisch
gut sei, vernahm ich diese Ansprache: »Es ist erfreu-
lich, ein solches Lob aus so kompetentem Munde zu
hören, und soll dies uns ein Ansporn sein, nicht zu
erlahmen, sondern unerschrocken auf dem einmal betre-
tenen Wege fortzufahren, c Er ist also Peuerwehr-
obmann, sagte ich mir, und die Perspektive in ein
winterliches Leben tat sich vor mir auf, wo es keine
Kurgäste mehr gibt und das zurückgehaltene Deutsch-
tum wieder in seine Rechte tritt . . . Ach, ich habe oft
den Nutzen der Restaurants und der Kaffeehäuser
gewürdigt, nie aber ist es mir klar geworden, wel-
chen Zweck die Restaurateure und die Cafötiers
haben.
Wenn mir aber unter den idealen Berufen
einer aufstiefi, mit dem ich mich um keinen Preis
ausgesöhnt hätte, so war es der des Kapitäns auf unse-
ren kleinen Alpenseedampfern, wiewohl gerade dieser
sich durch besondere Farbenpracht auszeichnet. Seit-
dem ich einmal einen dieser beherzten Leute dabei
y Google
— 28
ertappt habe, wie er sich Wettergebräuntheit an-
schminkte, hat auch die Befehlshabergeste, mit der
sie den einen Mann an Bord zu rufen pflegen, ihren
Reis für mich verloren. Sind alte Theerjacken, gewifi ;
aber mehr Kostüm als Inhalt. Die Welt ist eine Kinder-
stube, und neben dem andern Spielzeug, das eine
schöne Uniform hat, gehören auch sie hinein. Es
soll die reisenden Sachsen verblüffen, und für die
gibt es die vielen bunten Dinge, die so unnütz sind.
Für die gibt es Italien, das malerisch ist von oben
bis unten. Auf allgemeines Verlangen entschließe
ich mich endlich eine Oarrozza zu besteigen. Wenn
die arme Mähre überhaupt nicht mehr will, ruft der
Kutscher im Tone der äußersten Bewunderung : Ah I
Es ist aber auch im höchsten Grade malerisch. Je
schwieriger, je holperiger, umso malerischer wird es.
Auf dem Weg des Lebens ergeben sich Hinder-
nisse. Und immer mehr Menschen nehmen auf
dem Kutschbock Platz, immer mehr Hadernballen
sollen aufgeladen werden, und hinten hängen die
lieben Kleinen, die nichts weiter wollen als eine
Zigarette. Und so oft oben einer aufsitzt, meint der
Kutscher entschuldigend : mio fratello I Das schlägt
alle Einwände, besiegt alle Hindernisse des Lebens.
Immer wieder sitzt mio fratello oben auf. Die Familie
mufi sehr zahlreich sein; sie riecht nicht gut, aber
sie ist maleriflch.
Karl Kraus.
Bntwickliing.*)
Kürzlich las ich einen Vorschlag zur Ab-
haffung der deutschen Satire. Hätte ein Greisler
chgewiesen, dafi auch der gesalzene Kaviar keine
dksnahrung sei, ich wär's zufrieden gewesen. Aber
^ Aas dem ,Simpticissimus'.
Digitized by GOOgjg 262
~ 24 —
er sagte, das Volk verlange bessere Nahrung. Die
Satire auf yaterländische Übel habe sich überlebt,
denn das Vaterland habe kein Obel mehr. Die bösen
Zeiten der kulturellen Zerrissenheit seien yorüber und
seit genau fünf Jahren sei die Entwicklung abgeschlos-
sen. Und da es keinen Schwindel und keine HUBlichkeit
mehr gibt, so ist auch kein ersichtlicher Orund für
die geringste satirische Anstrengung vorhanden. Also
ein Vorschlag zur Güte, der annehmbar wäre, wenn
er nicht selbst die Satire auf ein noch wenig be-
bautes Feld verwiese, nämlich auf die Dummheit.
Was ich einmal fürs Leben gern möchte, das
ist, einer sogenannten »Entwicklunge beiwohnen.
Ich war schon dabei, wie Gerüchte entstanden, ich
habe die Ausbreitung mancher Epidemie aus nächster
Nähe miterlebt, aber das, was man eine Entwicklung
nennt, habe ich noch nie mit eigenen Aueen ge-
sehen. Nicht einmal die Entwicklung eines ^ndes,
geschweige denn die eines Volkes. Wenn ich nach
fünf Jahren in eiu Familienhaus kam, so war es wohl
nicht zu verkennen, daft der kleine Rudolf inzwischen
gewachsen war, aber ich fragte mich sogleich, ob
mir der Unterschied zwischen einst und jetzt auch
aufgefallen wäre, wenn ich die ganze Zeit dabei ge-
standen, meine Hand auf seinem Kopfe gehalten oder
wenigstens jeden Morgen nachgesehen hätte, ob er
gröfier geworden sei. Ich glaube, um eine Entwick-
lung recht zu genießen, mufi man sich von ihr über-
raschen lassen. Aber fünf Jahre im Leben eines
Volkes sind vielleicht nicht einmal so viel wie ein
Tag im Leben eines Eandes, und wenn man dort
alle fünf Jahre nachsieht, so fällt einem keine Ver-
änderung auf. Die Fähigkeit, eine Entwicklung zu
übersehen, wächst mit der Entfernung, in der man
von ihr steht, und nur dem sogenannten >historischen
Sinne ist es gegeben, sie aus unmittelbarer Nähe
aufzuspüren. Der historische Sinn ist aber eine Eigen-
schaft, die man gerade beiden jüngeren Zeitgenossen
Uigitized by Vjv
— 25 —
antrifft, weil für sie jede Erfahrung den Reiz des
Ungewohnten hat, jedes zeitliche Erlebnis zum Er-
eignis wird und jeder Qlockenschlag eine Ewigkeit
einläntet. Qewifi wäre der kleine Rudolf, von dessen
Entwicklung ich mir erst Rechenschaft geben kann,
wenn sie abgeschlossen sein wird, schon jetzt im-
stande, die Entwicklung des deutschen Volkes von
gestern auf heute festzustellen. Die Häufigkeit dieser Er-
scheinung ist selbst wieder eine Tatsache der kulturellen
Entwicklung, die man nicht übersehen darf. Denn seit-
dem die Zeitgeschichte täglich zweimal erscheint,
ist jeder in die Lage versetzt, Phrasen zu gebrauchen,
die sonst erst nach einem Jahrhundert in der Leute
Mund kämen. So kann einer zum Beispiel behaupten,
die deutsche Nation sei bis vor fünf Jahren in der
Umbildung begriffen gewesen, seit damals aber habe
sie pünktlich die Verpflichtung erfüllt, eine »aus
heterogensten Ständen plö/^zlich nach aufien eins-
gewordene Qemeinschaft innerlich zur homogenen
Kasse zu verarbeiten«. Wer sollte leugnen, dafi
dies ein Ziel sei, aufs innigste zu wünschen?
Wer außer den Satirikern ist so blind, nicht zu sehen,
dafi es über Nacht erreicht wurde? Jene glauben
noch immer, an der Tafel einer Kultur zu sitzen, in
deren Hause Prahlhans Küchenmeister ist. Wie
Petron vom Gastmahl des Trimalchio sagt: »Nun
folgte ein Gang, welcher unserer Erwartung nicht
entsprach, doch zog er durch seine Neuheit aller
Augen auf sich«, so sehen sie Wunder über Wunder,
und sind unzufrieden. Ein »Mischmasch von einem
Spanferkel und anderem Fleische«, »ein Hase mit
Flügeln, damit er dem Pegasus gleiche«, und »in
den Eicken des Aufsatzes vier Faune, aus deren
Schläuchen Brühe auf die Fische herunterfließt, die
in einem Meeresstrudel schwimmen«. Zum Lob der
Brühe singt ein ägyptischer Sklave mit abscheulicher
Stimme ein Liedchen. Aber die satirischen Gäste
finden sie trotzdem nicht schmackhaft und erdreisten
y Google
26 —
sich; all ihr Salz hineinzuschütten. Und nachdem sie
sich noch an der protzigen Aufschrift des hundert-
jährigen Falerners berauscht haben, träumen sie
diesen Traum:
Die Entwicklung ist eine 0. m. b. H., das
Schicksal ist ein Kaufhaus des Westens, das
Leben ist eine Stehbierhalle. Um die Seele des
Menschen ringen Wertheim und Tietz. Zweimal täg-
lich löst eine Generation die andere ab, aber die
Zeitrechnung beginnt mit der Einführung der ortho-
zentrischen Kneifer, der Reformglücksehe und der
Eröffnung der Halenseer Terrassen. Alles, was Torher
geschah, hat nur dazu gedient, die sogenannte Ent-
wicklung vorzubereiten, wenn es sich nicht etwa
zum Beweise der Homosexualität des Fürsten Eulen-
burg heranziehen läßt. Nicht nur die Geschichte,
auch die Bibelforschung hat wertvolles Material
geliefert, aus dem klar hervorgeht, wie seit Er-
schaffung der Welt alles auf eine Entwicklung
hingearbeitet hat, die erst jetzt abgeschlossen vor
uns liegt. Schon die Häufigkeit der Bemerkung >Und
der Herr spräche scheint darauf hinzudeuten. >Und
der Herr sprach: Es ist ein Geschrei zu Sodom, das
ist groß und ihre Sünden sind schwer ... Da ließ
der Herr Schwefel regnen auf Sodom . . .< Merkwür-
dig ist auch der Hinweis auf die Affäre von Loths
Töchtern : »Also gaben sie ihrem Vater Wein zu
trinken in dieser Nacht . . . Und sie wurden schwan-
ger von ihrem Vater. Und die älteste gebar einen
Sohn, den nannte ^e Moab. Von dem kommen her die
Moabiter, bis auf den heutigen Tage. Und dann war
wieder eine Leiter da, >die stand auf Erden und rührete
mit der Spitze an den Himmel, und siehe, die Engel
des Herrn stiegen daran auf und niedere, denn es waren
Flügeladjutanten Gottes . . . Hier verläßt der Traum
die logische Linie und ist plötzlich an dem Punkt,
wo die eigentliche Entwicklung ansetzt. Es braust
ein Ruf wie Donnerhall:
y Google
— 27
Pauline, au au, au au, au au
Wie haben sie dir veriiaun I
Fünf Jahre später schon ist der Spieß umgekehrt:
Und er rief: Geliebte Krause — immer mit der Hand lang
Machen Se doch 'ne kleine Pause — immer mit der Hand langl
Die Entwicklung ist im Zuge, wir wissen, wie
vieFs geschlagen hat. Zuerst hiefi es blofi: Wir
Deutsche fürchten Gott, aber sonst nichts in der Weltl
Bald aber wird schüchtern hinzugesetzt: Und höch-
stens noch die strengen Masseusen I Ea ist nicht
schimpflich, sich im Frieden schlagen zu lassen, und
kriegerische Tüchtigkeit steht nach wie vor in
hohem Ansehen. Aber die Zeiten haben sich geän-
dert. Früher versicherte die Schangsonette :
Ja, so ein Leudenant, so fesch und sauber.
Wirkt auf ein Mädchenherz als wie ein Zauber.
Jetzt singt zwar noch immer eine ganze Kom-
pagnie :
Ja, wir sind doch 'ne eigne Rasse,
Zivil ist ganz 'ne faule Klasse I
Aber die es singen, sind uniformierte Mädchen . . .
Die Satiriker träumen weiter. Von einer Politik, die
durch eine eifrige Ausnützung der Verkehrsmittel, wie
Post und Telegraph, sich in der ganzen Welt Gel-
tung verschafft, da man einsehen gelernt hat, dafi
das gesprochene Wort nicht ausreicht. Von einer
Justiz, die den Tod eines Angeklagten für keinen
Vertagungsgrund hält, von einem Lauf der Gerech-
tigkeit, bei dem zuerst sie vor den Fürsten und
dann die Fürsten vor ihr ohnmächtig werden, und über-
haupt von all den Dingen, die man Schmutzereien nennt.
Der Schlaf der Satiriker wird unruhig, aber sie haben
nichts zu fürchten, denn zu ihren Häupten stehen
die Schutzmänner Michael und Gabriel. Sie träumen
von einer Welt der Speisehäuser, deren Portiers auf
die Frage, was die Göttinnen im Stiegenraum mit
der Verdauung zu tun haben, prompt die Auskunft
geben: Herr, das hat doch den Zweck, um dem
yGoogk
— 28
Schönheitssinne Rechnung zu tragen I . . . Die Satiriker
wälzen sich auf ihrem Lager. Da sehen sie Böcklins
Toteninsei mit allem Komfort der Neuzeit ausgestat-
tet Es ist erreicht. Die Entwicklung ist soeben auf
ihrem Höhepunkt angelangt, die Nation zur homo-
genen Rasse verarbeitet. Und fünfundzwanzig Jahre hat
es gebraucht, bis das Volk in den Besitz der unent-
behrlichsten Schmutzereien gelangte, und nur fünf,
bis es die Kultur bekam . . . Die Satiriker erwachen.
Die Polizeihunde Edith und Ruß bellten so laut.
Karl Kraus.
Zur Selbsthilfe.
In den Sommertagen hat sich die reichsdeutsche
Publizistik des öfteren mit mir befafit. Ein sehr gründ-
liches Harden-Lexikon, das ich im zweiten September-
Heft des ,März^ veröffentlicht habe, ging durch die
ganze deutsche Presse. Ich hatte einen Franz Moor-
Monolog gehalten über die Frage, welches Mittel
wohl am sichersten töten würde. >Ein Licht aus-
geblasen, das ohnehin nur mit den letzten Oltropfen
noch wuchert — mehr ists nicht.« Ich fragte mich:
»Welche Gattung von Empfindnissen ich werde wählen
müssen? Welche wohl den Flor des Lebens am
grimmigsten anfeinden?« Zorn, Schreck, Gram,
Jammer — alles hatte ich schon versucht. Aber die
deutsche Dummheit ist eine verläfiliche Stütze. So
komm denn du mir zu Hilfe, blühende ,ZukunfV,
halte ihm in deinem Spiegel das Bild seines Geistes
Digitized by VjOOQIC
— 29 —
vor . . • So fall' ich, Streich auf Streich, Sturm auf
Sturm, dieses zerbrechliche Leben an, bis den Furien-
trupp zuletzt schliefit — die Obersetzunel
Daft der Mann die Charit ähaft des Fürsten
Eulenburg nicht überstehen werde, dafür schienen
manche Zeichen zu sprechen. Der Wind hat sich
gedreht, das Ollämpchen ist im Verlöschen. Wäre
ich in Deutschland, es brennte längst nicht mehr.
Was ich noch besorgen will, ist die Pflicht, allen den
deutschen Dichtern, Denkern und Wissensfürsten ins
Gesicht zu treten, die ich auf den Spuren dieses
Genius antreffe. Wer immer die deutsche Kultur in
jenen dunklen Spalten sucht, in denen Herr Maximilian
Harden sie vertritt, kann versichert sein, dafi ich ihm
seine schadhafte Reputation wieder zurechtsetzen
werde. Gefolgsmann des Helden zu sein, der in einer
anonymen Korrespondenz den gemeinsten Päderasten«
klatsch ablagern läfit, ehe er ihn in seine Kultur-
revue aufnimmt, soll manchem teuer zu stehen kommen.
Und mich wird keine politische Rücksicht davon ab-
halten, den Prozeft Harden zu seinem Ende zu
führen.
Schon vor der Zitierung des Lexikons ist mir
manche Zustimmung aus dem publizistischen Jenseits
zuteil geworden. Die ,Königsberger Hartungsche
ZeitungS Deutschlands ältestes Blatt, brachte am 17.
Juli diesen Artikel:
Kraus und Harden.
Der Wiener Schriftsteller Karl Kraus hat seit einigen Wochen
einen scharfen Kampf gegen Maximilian Harden unternommen. Er ist
bestrebt, Herrn Harden, von dem während des Feldzuges Moltke-Eulen-
bürg viele Flitter seines Tagesruhmes gefallen sind, die letzten Fähnchen
des Heroengewandes abzureißen, und man muß sagen, dieser Karl Kraus
ist wohl der gefährlichste Gegner, der Harden entgegentreten kann. Der
gefährlichste Gegner neben der Wahrheit, die über kurz oder lang doch
jeden Hinterhaltigen grell beleuchtet, jede Spiegelfechterei aufdeckt, jede
unberechtigte Größe ins Nichts zurückwirft, jedes Pharisäertum dem
Spott überliefert. Es ist nicht unsere Aufgabe, auf die gründlichen
y Google
— 30 —
Kampfessais, die Kraus in seiner .Fackel' gegen Harden veröffentlicht
hat, einzugehen. Es sei an dieser Stelle nur auf sie hingewiesen mit
der Bemerkung, daß Kraus Herrn Harden stilistisch bedeutend überlegen
ist, nicht etwa darin (worin Harden Meister ist), daß er. nach Bedarf,
jeden Stil nachahmt, sei es den Stil des Pathos oder den Stil von
>Moritz und Rina« oder den von Harden am meisten geliebten: den
der Pseudo- Wissenschaft, des Schwulstes, der seh mockariigen Umschreibung
von Begriffen, deren direkte offene Aussprache Hardens > komplizierter«
Natur widerstreben muß. Der Stil von Kraus ist immer ein gradliniger
Stil, der nicht zu den Hilfsmitteln der Maniriertheit greift, um sich von
anderen auffällig zu unterscheiden. Sein Stil ist geschmeidig, funkelnd,
sprachlich schön, und kann unter Umständen wie ein Keulenschlag
wirken. Allerdings nur unter Umständen. In der Hauptsache besticht
und interessiert Kraus nicht durch die Kraft, sondern durch eine Fülle
von Oeist und von karrikierenden Einfällen. Wir hätten manchmal ge-
wünscht, daß er Herrn Harden mit mehr Ethos, mit mehr Entrüstung
entgegentrete, aber doch ist es vielleicht richtiger, daß er einem Spiegel-
feclitenden Schädling, einem modernen Hütten und Vaterlandsretter
dieser Art mit Ironie, mit Verulkung, mit überlegenem Spott beizu-
kommen sucht. Zu weit geht Kraus unseres Brachtens in der Entlastung
Eulenburgs. Die Hauptsache ist aber, daß die ,Facker-Artikel (der letzte,
> Deutschland« betitelt, befaßt sich mit dem Euleliburgprozeß) von einem
ehrlichen und überzeugten Manne geschrieben zu sein scheinen, weshalb
man manche Übertreibungen und manche Eigenbrödeleien gern hinnimmt
Namentlich wenn man bei der Lektüre merkt, daß man es mit einem
kultivierten und vielseitigen Geist zu tun hat, dem der Kampf Lebens-
element ist.
Ein mir gleichfalls völlig unbekannter Autor
schrieb in der ^Welt am Montag^ (Berlin, 24. August)
über
Sittlichkeit und Kriminalität.
Der Herausgeber der Wiener Fackel, Karl Kraus, hat sich in der
Stadt des gemütlichen Schlendrians und der gröbsten Prefikorniption
durch seine unerschrockene, unbestechliche und unerbittliche Feder zum
bestgehaßten Publizisten der österreichischen Kaiserstadt emporgearbeitet,
deren massenhafter Journalisten-Export nach dem Reich und insbesondere
nach Berlin uns allein schon veranlassen müßte, der Kritik ihres schärfsten
Kenners und Kollegen ein offenes Ohr zu leihen, zumal die Wiene
Presse ihm gegenüber systematisch die Taktik des Totschweigen
anwendet. Er ist mehr als ein witziger Kopf und geistreicher Qlossei
Schreiber zu Tagesereignissen und Wiener Skandalen, auch mehr als eL
bloßer Stil- und Sprachkünstler von eigenartiger Prägung. Sein kritische
Sinn dringt tief in den Zusammenhang der Dinge und sein bis zu
Selbstzerfleischung ehrlicher leidenschaftlicher Wahrheitsdrang, der immc
y Google
— 31
auf das Wesen und den Kern geht, so sehr seine sarkastischen Anti-
thesen und Paradoxe dem fluchtigen Leser als blendendes Spiel
erscheinen, macht ihn zu einem starlcen Kämpfer für eine neue, freiere
Weltanschauung und ein modernes System der sittlichen Welt. In be-
rechtigter Selbstschätzung ist dieser immer schneidig, niemals trocken-
langweilig dozierende Fechter es müde geworden, sich immer im engen
Rahmen seiner Zeitschrift zu bewegen und bietet dem großen Publikum
in anspruchsvollere! Buchform eine Auswahl seiner Schriften, von denen
der vorliegende erste Band auf etwa 400 Seiten > Sittlichkeit und Kri-
minalität« behandelt. (Verlag L. Rosner, Wien.)
Er will dieses Buch, das an die stärksten gerichtlichen Sen-
sationen und Justizskandale der letzten Jahre kritisch anknüpft, als ein
persönliches Bekenntnisbuch aufgefaßt wissen. Und in der Tat tritt das
rein stoffliche Interesse an all den > Fällen« — Luise von Koburg, '
Luise von Sachsen, Girardi und Odilon, die Prozesse Beer, Klein und
Riehl usw. — sehr stark zurück hinter dem Reiz der originellen und
immer, auch wo ' Widerspruch nicht ausbleiben kann, anregenden und
nachdenklich stimmenden Gedanken des glossierenden Autors. Er scheut
vor keinen Konsequenzen seiner schwer erkämpften Überzeugung, auch
den äußersten nicht, zurück. Kein Jagen nach Pikanterien schädigt den
grimmig ernsten Grundton des Buches, so unvcrhüllt und bis zum
Zynismus aufrichtig es von geschlechtlichen Dingen, spricht. Wider die
sinnenfeindliche Askese einer fiberlebten Weltansicht, gegen die herzens-
kalte und lebensfremde Art des Richters, gegen die engstirnige Be-
schränktheit und Unduldsamken des Normalbürgers, sei er auch ver-
eideter Parteisozialist, kämpft er mit gleich scharfer Klinge, mit gleicher
Wucht und Heftigkeit. Besonders haben es ihm noch die psychiatrischen
Sachverständigen angetan. Er >haßt dies Handwerk, weil es auf brüchi-
gem Wissensgrund den Machtwahn des Individuums nährt und gleich
dem Journalismus seinen Mißbrauch in sich trägt«. Auch sonst macht
der Hecht im Wiener Karpfenteich aus seiner durchaus polizeiwidrigen
Gesinnung kein Hehl, die über die übliche Simplizissimus-Stimmung
weit hinausgeht. Sein kampffreudiges Temperament liebt es, heraus-
zufordern und zu verblüffen. Keck schleudert er allen offiziellen und
freiwilligen Hütern der Gesellschaftsordnung die Brandraketen seines
Geistes ins feindliche Lager. Nach ihm sind die führenden Dummköpfe
der Menschheit auf die Idee gekommen, die Moral als ethisches Schutz-
gut zu heiligen. »Nun wütet sie in den legitimen Formen der Lange-
weile und der Syphilis gegen die Menschheit. Moral lähmt, steigt ins
Gehirn, schlägt mit Blindheit, macht Natursäfte vertrocknen, Arterien
verkalken. Aber nichts mehr auf dieser Welt können wir anfassen, kein
Handwerk üben, kein Problem lösen, ohne daß sich der korrumpierende
Einfluß der Moral geltend machte. Handelt es sich um eine Frage der
künstlerischen Entwicklung, so sind wir moralisch; handelt es sich um
praktische Neuerungen, so sind wir moralisch; und stirbt einer am
Fieber, so stecken wir ihn überdies noch mit Moral an. Unc| wir sind
so moralisch, daß wir nicht ausschließlich unseren Priestern das Ver-
y Google
32 —
gnügen gönnen, um unser Seelenheil besorgt zu sein, sondern dieses
rechtzeitig auch tinseren Kriminalisten in Obhut geben, und daß wir
darum Dinge, die eigentlich nur vor den obersten Richter gehören und
wahrscheinlich nicht einmal ihn interessieren, schon vorher in drei
Instanzen zu vertreten haben.« Er feiert unumwunden >die Qottesgabe
des Weibes, genußspendend zu genießen und ohne zu genießen Genuß
zu spenden«, »das Naturrecht der Frau, die Summe ihrer ästhetischen
Vorzüge an wen sie will zu verschwenden oder von wem sie will sich in
eine geltende Währung umsetzen zu lassen. Weil es eine rein moralische
Angelegenheit ist, mischt sich die Behörde hinein«. Er geißelt den
Geschlechtsneid und die Heuchelei, die in diesen Dingen eine so große
Rolle spielen. > Unheilbar liegt die Menschheit an Heuchelei darnieder,
und die Ärzte verordnen Quecksilberkuren.« Nun läßt sich über diese
Fragen gar viel für und wider sagen. Eine Abgrenzung zwischen der
Freiheit des Einzelnen und den Forderungen des Staates, der Gesell-
schaft, des Gattungsinteresses, der Rassenhygiene muß nun einmal in
der Welt stattfinden. Aber sie muß von Zeit zu Zeit neu vorgenommen
werden, und daß die Zukunft sie mehr im Sinne Kraus' nach der Seite
der freien Entwicklung und Entfaltung aller individuellen Kräfte, soweit
sie nicht Rechtsgüter anderer verletzt, vornehmen wird, als nach jener
geltenden der amtlichen Bevormundung, Einmischung und Beschnüf-
felung der intimsten Dinge des Privatlebens, ist sicherlich anzunehmen.
Wenige werden seine lapidaren Sätze ganz unterschreiben, vielleicht er
selbst nicht, den zuweilen seine Schärfe und Frische, seine Kampfes-
freude und sein Widerspruchsgeist zu Behauptungen hinreißen, die trotz
der messerscharfen formalen Logik als Übertreibungen wirken und wohl
auch nur als Füchse mit brennenden Schwänzen ins Land der Philister
gejagt werden sollen, sie aus ihrem Schlaf aufzuscheuchen. Immerhin
sind die Paradoxe eines so kühnen und klaren Geistes anregender, als
die platten AUerweltsweisheiten der andern, und auch als die unehr-
lichen, überladenen, schillernden, dialektischen Jonglierkünste Hardens,
seines ehemaligen Intimus, dessen unechtes Wesen dann keiner schärfer
gekennzeichnet und gebrandmarkt hat. Ein heimtückischer Stflettstoß
des tödlich Gekränkten war die charakteristische Gegenaktion.
Leicht hat es sich der Wiener Satiriker (Harden empfahl ihn einst der
.Neuen Freifen Presse* als Nachfolger D. Spitzers) inmitten der leicht er-
schlaffenden und so angenehm leichtlebigen Wiener Atmosphäre nicht
werden lassen. Seine durchsichtig klare Sprache und sein knapper Stil zeigt
ehrlich erarbeitete, gereifte Kunst, die Kaviar für den Haufen ist. Nur
selbstdenkende, wirklich gebildete reife Männer und Frauen werden
auch Freude daran haben, wenn sie — bei aller eigenen Meinungs-
freiheit — eine ebenso tiefe und grundehrliche, wie geistvolle Schrift-
steller-Individualität zu schätzen wissen. Manches Schwüle, manche for-
ciert erscheinende Wendung erklärt sich aus dem Stoff und dem ur-
sprünglichen Erscheinungsort, der auf Tageswirkung berechnet war. Die
deutsche Kulturgeschichte aber darf dies mutige und trutzige Bekennt-
nisbuch als ein Ereignis in ihren Annalen verzeichnen. G. K.
y Google
~ 33 —
Auch die ^Neue Freie Presse' hat in diesem Sommer
meinen Namen endlich genannt. Und wenn's auch
nur bei Gelegenheit der Veröffentlichung eines Schwur-
gerichtsrepertoires war, so geschah es doch wider
bessere Absicht. Der schuldtragende Redakteur soll
entlassen worden sein.
Harden-Lexikon. *}
In der Reihe der Obersetzungen, durch die man die Master-
verke der fremdsprachigen Literatur dem deutschen Leserpublikum
mgänglich zu machen sucht, hat bis heute eiue verständnisvoUe
Bcarbeitnng der Prosa Maximilian Hardens gefehlt, immer x^ar es
nur ein kleiner Kreis von Liebhabern, der die Arbeiten dieses
interessanten Schriftstellers, der wie kein zweiter den Ziergarten
einer tropischen Kultur von Stilblüten und Lesefrüchten gepflegt
hat, durdiaus zu genießen imstande war. Die Schwierigkeiten des
sprachlichen Erfassens mußten sich hier um so schmerzlicher fühl-
bar machen, je populärer die Oegenstände wurden, die unserem
Antor am Herzen liegen, und je weiter sich das Gebiet eines viel-
seitigen Wissens auszudehnen begann, dem heute, wie man ohne
Übertreibung behaupten Kann, zwischen der Homosexualität und
der Luftschiffahrt nichts Menschliches fremd ist. Die Erkenntnis,
daß heutigen Tages jeder, der nur deutsch schreiben kann, seinen
Zttlauf findet, während hier eine wahre Fülle geistiger Schätze
ungdioben liegen muß, brachte mich zu dem Entschlüsse, ein
Lexikon anzulegen, das deutschen Lesern als ein Führer auf den
verschlungenen Pfaden einer Prosa dienen soll, deren Schönheiten
sie bis heute gewiß öfter geahnt als genossen Msben. Es ist hohe
Zeit, daß jene, die von der geistigen und kulturellen Potenz des
Autors bisher nur überzeugt waren, sich von ihr auch angeheimelt
fühlen. Gerne wird man mir eine Nachsicht gewähren, die einem
Versuche auf unerforschtem Gebiet unter allen Umständen zugute
kommen muß. In der Obersetzungsprobe, die ich biete, dürien
"^ Aus dem ,März'.
Digitized by VjOOQ IC
— 34 -"
selbst Lücken nicht allzu rigoros beurteilt werden. Mandier Stelle
konnte ich nur mit einiger Freiheit der Auffassung beikommen;
manche blieb unübersetzbar. Vorweg aber möchte ich die Verant-
wortung für die Möglichkeit ablehnen, daß hier und dort mit der
Premdartigkeit einer Wendung auch deren künstlerische Schönheit
genommen wäre. Eine Übersetzung aus dieser Sprache wird wohl
ihren Zweck erfüllt haben, wenn es ihr, selbst unter Preisgabe des
dichterischen Momentes, gelungen ist, den Sinn der Darstellung
für das Verständnis zu retten. Daß meine Obersetzung die in
Deutschland einzig autorisierte ist, brauche ich wohl nicht erst
hervorzuheben.
Der Fahrenheidz6gling
Eiüenburg
Der Adlerritter
Eulenbttfg
Der von den alten Feinden aus
der Holzpapierwelt plötzlich Qe-
hatschelte
Eulenburg, fflr den sich plötzlich
die Presse wieder einsetzt
Die Legende der Qrotta Azzurra
Die Gerächte Aber Krupp
Ein Thronender
Ein Monarch
Iphigeoiena Schöpfer, der in langem
Erleben nicht oft einen Freund
gefunden hat
Goethe, der in einem langen Leben
nicht viele Freunde gehabt hat
Der brave Bm
Shakespeare
I>er wilde Georg
Riedel
Er hat auf einem Bau gefront
Er war Bauarbeiter
Der Stank verfliegt schnell
Das Gerücht erweist sich als haltlos
Wer dem verführten MAdchen aus
voUer Kasse des Lebens Not-
durft bezahlt
Der AushSlter
Noch wissen zwei zum Wahrspruch
berufen«* MSnner nicht, was in
der isarau geschehen ist
VieUeicht hatte der eiskalte Klüg-
ling, dessen fiberschwingende
Phantastik auf Handwerkskenner
stets nur wie voilence ä froid
wirken kann, der aber vor Er-
Zwei Geschwornen scheint die Stam-
berger Geschichte noch immer
nicht glaubhaft
Vielleicht bitte Fflrst Eulenburg in
der größten Gefahr doch nodi die
Geschwornen herumgelcriegt
y Google
- 35 —
fahreneren schon den Gefühls-
menschen, Künstler, schwärmen-
den Freund und siechen Am-
fortas mit Qlüclc gemimt hat,
im dichtesten Drang noch drei,
vier Stimmen gefangen
Auf dem Weg, der den dieser
politisch, rechtlich und psycholo-
gisch bedeutsamen Sache Frem-
den die Fundamente des Urteils
erlcennen lehrt
Der Graf, den die Enthüllung des
in den Isaranlagen und auf der
Sendlingertorwache Erlebten das
Kammerhermamt gelcostet hat
Eine, die sich dem Herd verlobt hat
Sie küfit ihn, dem Angstschweiß
die Haarwurzeln feuchtet, mit
heißer Lippe rasch, wie einst,
aufs Ohr, während der Eheherr
Zigarren aus dem Rauchzimmer
holt
Graf Wedel
Eine Hausfrau
Charakterbild einer Buhlerin
Ein von einem Tribunen ange-
griffener Offizier
Ein Kriminalkommissar bringt aus
der ükermark das Ehrenwort
des Fürsten mit: Verleumdersinn
erfand und verbreitete die bösen
Gerflehte
Er säfie heute dann wohl in Hfil-
sens Loge
Der Klavierträger Schömmer, den
ein Herrn Phili eng befreundeter
Graf in einem stamberger Hotel
zu Homosexualbefriedigung ver-
führt hat und der durchs Guck-
loch einer verschlossenen Tür die
beiden Grafen dann gepaart sah
Bin Offizier, den ein Abgeordneter
angegriffen hat
Fürst Ettlenburg gab einem Krimtnal-
kooimissär sein Ehrenwort, daß
alles Verleumdung sei
Er wäre heute vermutlich Hof-
theaterintendant
Ein Kampfgenosse des Herrn Harden
Als% den Diener Dandl ans Bein
faßte
Datum in der preußischen Geschichte
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— 3ß
Der verirrte Oeschlechtstrieb scheut
so Ängstlich das Licht, daß selbst
ia die Polizeiakten meist nur
Gerflehte sickern
Alles menschliche Wissen ist begrenzt
Der kühle Herr Canzellarius
Bülow
Ein Totkranker, den in der näch-
sten Stunde die Sichel aus der
Zeitlichkeit mähen wird
. . . trotzdem sich seit Jahren ein
ungeheures, ungesuchtes Mate-
rial aus hoher und höchster
Uniingschicht bei mir gehäuft
hat und mit den Einzelheiten,
psychologisch und pathologisch
wertvollen, ganze Bände zu fül-
len wären
Ein Sterbender
Ich bin mir bewufit, müne kulturelle
Pflicht eigentlich versllumt 7u
haben
. . Drohbriefe aus nahen und fer-
nen Städten (sie schrecken mich
nicht; mein Revolver ist gut und
Idi habe dafür gesorgt, dafi am
Tag nach einem gelungenen Ober-
fall alle Beweismittel veröffent-
licht werden)
Ich bin kein Revolverjournalist ; aber
wenn ich gereizt werde, so . . .
Einen unter Anerkennung der reinen
Motive verurteilenden Oerichts-
spruch hätte ich, wie die an-
deren Opfer an Gesundheit und
Besitz, die dieser Feldzug mir
eingebracht hat, hingenommen
Der schwache Widerhall seines
Leugnens kann die dröhnende
Stimme der Wahrheit nicht über-
tönen
Niemand hat den Fischermeister
bedrängt; der Richter ihm väter-
lich zugesprochen und Zeit zur
Sammlung angeboten; der An-
walt nicht eindringlicher ge-
mahnt, als Jeden Tag hundert
Ankläger und Verteidiger tun;
einmal nur, mit leiser Stimme,
ihn aufgefordert, nicht durch
Verschweigen des Wesentlichsten
Das versteht sich von selbst
Er hat also dem Dandl doch ans
Bein gegriffen!
Der Fischerjackl hat unter Daum-
sdirauben freiwillig die Wahrheit
gesagt
y Google
37
sich selbst ins Zuchthaus zu
bringen (Seite 169)
Doch Philipp kennt seinen Jakol).
Den kranken, schwerhörigen,
scheuen Menschen, dem die
Zeugenpflicht ein Martyrium ist,
der immer noch der so lange
angestaunten Macht des Herrn zu
erliegen fflrchtet und keine Silbe,
iceine Vorgangsschildening her-
ausbringt, die nicht mit den
Zangen der Inquisition aus sei-
nem dunklen Hirn geholt ward
(Seite 170)
Unter dem Heumond
Im Juli
Der Phrasenspuk, der so lange
schon da:s Ohr tflubt
. . . betäubt
Als Bismarck ins Sachsenwaldhaus
geschickt war
Den Überbleibseln des Memalik-i
Osmanije eine Verfassung ge-
währen
Als Bismarck demissioniert hatte
Padischahim tschock jascha
Der King
Vergleiche Polyglott-Kuntze, Tür-
kisch
Eduard VII.
Der liebste Kömmling
Er wird in Ischl den GeschAfts-
ffihrer der austro-ungarischen
Monarchie sehen
Den Makedonenknäuel entwirren
Die ScherifenenttSuschung
Der Greis, der im Glanz hockt
Der willkommenste Besuch
Er wird in Ischl den Kaiser Franz
Josef sehen
Die macedonischen Wirren beenden
Der Sultan
Menschen, deren Lebensflamme
gestern ein Wink seiner müden
Hand eriöschen ließ
Musulmanen
Menschen, die er gestern norh
tuten lassen konnte
Muselmanen
Abd ttl Aziz
Abdul Aziz
y Google
— 38
Abd ul Hamid
Abd ul Kertm
Abdul Hamid
Abdul Kerim
Der schwache Prasser
Die SUdt Konstantins
Die Osmanenflanke zerstücken
Der Mflhre
Der genußsüchtige Schwächling
Konstantinopel
Albanien teilen
Herr Philipp Langmann
Der wiener Ungar
Ungeschicktes Lob für Herrn Felix
Saiten, der sich als Zionist
lieber einen Pester Juden ge-
nannt hörte
Über der Löwenbucht verglüht der
fünfte Augusttag
Marseille, 5. August
Auf dem Cornicheweg ists leerer
als sonst beim Dämmern eines
Sommerabends
Das immer hastige Leben der Pho-
käerstadt scheint in die Herz-
kammer zurückgedrängt
ich bin zum erstenmal in Marseille,
aber so leer war's noch nie
Marseille ist wie ausgestorben
Zwischen der Rue Honorat
der Cannebt^e regt sichs
und Meine Lokalkenntnis ist verblüffend
Der Fremde merkt bald, daß im
Sinus Galliens das Blut heute
besonders schnell kreist
(Unverständliche Stelle, aus der
nicht hervorgeht, ob das Blut
im Meerbusen oder das Wasser
im Busen der Marseiller auf-
geregt war)
Die mit Bouillabaisse und Süd-
wein Genährten
Die Bewohner von Marseille
Der konstanzer Graf
Graf Ferdinand
Der alte Reitersmann
Ikaros, den eines Gottes Eifer-
sucht empfinden lehrt, daß nur
Wachs, in der Sonnennähe zer-
tropfendes, ihm die Flügel an
den Rumpf geklebt hat
Der Krieger und Wolkenthron-
werber
Der Luftbeherrscher
Der deutsche Graf
Verschiedene Bezeichnungen für den
Grafen Zeppelin
y Google
- 119
Die Patres Lana und Quzman . . .
Dit Brüder Montgolfier, Etienne
und Michel . . . Niimoirts sur
la mach ine a^rostatique . . .
Pilitre de Rozier . . . Nach den
F<:rfahrungen der Charlifcrc er-
gänzt . . . Charles aus Beaugency,
Pilätre aus Metz, Blanchard aus
dem Departement Eure . . .
Biot, Gay-Lussac, Sivel, Tissan-
dier, Hermtte, Renard, Glffard:
bis zu Santos-Dumont und Le-
baudy . . . Der Fallschirm . . .
Zigarrenformat. . . Starres System
. . Halbstarr oder unstarr . . .
De la Vaulx, Berson und Elias
. . . Giffard ersann, um die Wi-
derstandsflflche zu verlcleinern.
das längliche Format und ffihrte
den Dampfmotor ein ; Dupuy de
Lome das Ballonett; Wölfert
den Daimler-Motor ; Schwarz die
AluminiumhOlle ; Renard und
Krebs . . . Parseval und Groß
. . . Von Andr^, dem Nordpol-
sucher, Icam uns nie eine Kunde ;
die Patrie lieft in Irland eine
Riesenschraube mit Zubehör
fallen ; der britische Nulli secun-
dus zerbröckelte Qber der Pauls-
kathedrale
Ich kenne mich m der Luftschift-
fahrt aus
Unter den Lebenden haben Edi-
son, Koch, Van't Hoff, Behring.
Röntgen und mancher Andere
der Menscheit Nfltzlicheres ge-
leistet. FQr die moderne Krieg-
führung waren die Erfindungen
und Kombinationen der Norden-
feit. Z^d^, Romazotti, Laubeuf
vielleicht wichtiger als eine Er-
leichterung der Aeronautik
Ich kenne micN auch sonst aus
Zeppelins haben unter Fritz, unter
Melas bei Marengo und im
deutschen Befreiungskrieg mit-
gcfochtea
Ich wei0 überhaupt alles
y Google
— 40
Fast auf den Tag ists fflnf Viertel-
Jahrhunderte her, dafi der Phy-
siker Charles auf dem Marsfcld
einen mit Wasserstoff geffiUten
Ballon steigen ließ . . . Blan-
chard kam 1785 mit seinem
Luftschiff von Dover nach Ca-
lais und wurde erst auf der
sechsundsechzigsten Fahrt (meist
war seine Frau als *Qehllfln
neben ihm) vom Aeronauten-
sdiicksal ereilt
Wer sollte sich flicht erinnern?.'
Man wird im Ballon, statt auf
stählernem Gleis Ober Zossen
und Elstcrwerda, ins Paradies
der Weihnachtstollen reisen
Ein Bild der »Zukunft«
Das stQrmende Temperament der
großen Persönlichkeit sacht ins
Schreibstubentempo zügeln
Die Summen, die ihm die Flut
jetzt ins Schwabenheim ge-
sdiwemmt hat
Dem Grafen Zeppelin eine Kom-
mission beistellen
Die Summen, die dem Grafen Zep-
pelin jetzt zugeflossen sind
Der Paktolos strömt in den Bodensee Graf Zeppelin bekommt viel Geld
Erwins Kirche
Wie ein Golfstrom braust es er-
wärmend durch Aller Herzen,
schmilzt die Eisrinde und schält
ehrfürchtige Liebe aus dem Kal-
ten Wall
Der Straßburger Dom
(Wahrscheinlich ist hier gemeint'
daß man sich irgendwo für die
Sache Zeppelins erwärmt)
Aus dem Gluthstrom, der den
Kalten Wall öberströmtc, ist
auch anderer Gehalt zu schöpfen
als das Tränensalz, das feuchten
Augen die Freude an schönem
Tiefblau gewährte
Millionen in den Bodensee werfen,
um mit dem Opfer des Hortes,
wie der Tyrann von Samos m 1 1
seines Ringes, fehidliche Oe-
wallen zu seh wichtigen
Riskieren, daß ein Karpfen im
Bodensce mit der Verdauung des
Ringes, wie der Leser mit des
Genitivs, Schwierigkeiten hat und
daß selbst den Rheintöchtcm
übel wird
y Google
- 41
(In den dieser Obersetzung zugrunde Hegenden Kapiteln hat der
Nonst so gewissenhafte Autor leider einige Druckfehler übersehen. Statt
*EntwicMmigsgang< und »Befreiungskrieg« muß es selbstverständlich
heifien: Entwicklunggang und ßefrelungkrieg. Erwähnt sei noch, dati
den Publikationen des Autors im Original unmittelbar ein Inseratenteil
folgt, zu dessen Verständnis das Lexikon nicht herangezogen werden
mufi, und in welchem zumal jene Annonce einer populären Wirkung
sicher ist, die mit den Worten beginnt: Allen, die sich malt und
elend ffihlen . . .)
Die Matter.*}
Eine typische Erscheinung im heutigen Kulturstaate sind die
Matter. Sic fügen sich dem Prinzipe der Unterdrückung der In-
divtduth'tit zu Gunsten der Rentabilität des Menschen so innig
an, daß es begreiflich erscheint, wenn jeder Knecht der QesellschaFts-
oidnung den Einfluß der Mütter auf die kommende Oeneration
mit pRffischem Augen verdrehen als einen segensreichen preist. In
der Tat aber ist der mütterliche Einfluß auf die Kinder, vor-
nehmlich auf die Töchter, ein verderblicher. Die Söhne entziehen
sich dank der größeren Freiheit, die ihnen die Gesellschaft in
sexueller Beziehung zugesteht, eher und leichter dieser üblen Be-
einflussung. Die Töchter aber entarten allmählich unter den Wohl-
taten der mütterlichen Erziehung. Jede Äußerung einer gesunden
vfiblichen Veranlagung, das Begehren, sich lediglich der Lust
vegen hinzugeben und zu empfangen, bemühen sich die Mütter
bei ihren Töchtern mit allen zu Gebote stehenden Mitteln so lange
zn unterdrücken, als es der umsichtige Geschäftsgeist erfordert,
der die Jungferschaft, das heute noch immer hoch* im Kurse
stehende Spekulationsobjekt, zu einem möglichst guten Preis an
den Mann zu bringen trachtet. Von dem Eintritte der Menstruation
an sind die Töchter den Müttern völlig ausgeliefert. Mit einem
Raffinement der Diskretion, das nur eine jahrtausendalte christliche
Kultur gezeitigt haben konnte, veihen die Mütter Ihre Töchter in
*) Anm. d. Herausgeb.: Nicht för alle Mütter scheint mir diese
Betrachtung zu gelten. Aber allen tut sie Unrecht. Was sie darstellt.
^in<l Wahrheiten, und der Haß, den sie ausdrückt, ist um des Ausdrucks
wfll«! berechtigt. .\ber er schlagt die Mütter mit Wahrheiten, für welche
sie nicht verantwortiich sind. Denn die Gesellschaftsordnung haben die
Väter gemacht, die Mütter kriechen in ihr unter, so gut sie können.
y Google
— 42
alle Mysterien der Liebe ein, deren Erkenntnis der trotz zWrt
Anfechtungen immer noch gesunde weibliche Instinkt dem heran-
reifenden MAdchen rechtzeitig und besser vermittelt hätte. Daß
die Sinnlichkeit der Mfltter dabei auf ihre Rechnung kommt, liegt
auf der Hand. Es ist nicht leicht, sich auszumalen, welchen Genuß
es den alternden, von keinem Manne mehr begehrten Wdbem
bereitet, stetig in der Oeschleditssphire ihrer Töchter zu wühlen.
Kein lüsterner Blick eines jungen Mannes nach den ihm ver-
fänglich präsentierten Reizen der Tochter entgeht dem wachsamen
und geübten Mutterauge. Und schon wird die Rentabilität der
Veräußerung der töchterlichen Unberührtheit an den begehrlichen
Späher kalkuliert. Verspricht das Geschäft Ertrag, so beginnt
jenes listige Umstricken des auserkorenen Opfers, das jede Mutter
der anderen als etwas Häßliches vorwirft und abzustellen trachtet,
um gegen eine kleinere Konkurrenz umso leichter siegreich zu
sein. Es ist erstaunlich, welche Routine von den Müttern bei dem
Geschäfte der gesellschaftsordnungsmäßigen Verkuppelung der
Töchter aufgewendet wird. Die Routine der Professionskupplerin
ist plump dagegen, und die von den Töchtern unter mütterlicher
Anleitung diskret durchgeführte Steigerung der wirkenden Reize
ist ungleich raffinierter als die Praxis der Dirnen. Diesen aber,
ihren besten Lehrmeisierinnen, sind die Mütter die grimmigsten
Feindinnen. Wo sich die dem Weibe innewohnende Dimennatur
offen als solche bekennt, wird sie von den Wdbem, denen der
Mut dieser Offenheit fehlt, verfolgt. Mit einem Pathos, das sie
der Oerichtssaalberichterstattung über geheime Verhandlung»!
abgeUuscht haben, wettern die Mütter bei jeder Gelegenheit,
mit begreiflicher Vorliebe aber dem heiratsfähigen jungen Manne
gegenüber, gegen das »Laster«, schildern in kraasea Farben
die Gefahren für Körper und Seele, die dem Verkehr mit Dirnen
wie Gespenster folgen, lassen es auch nicht an zartsinnigen
Anspielungen fehlen auf die reinen Genüsse an der Seite einer
anständigen Ehefrau, und arbeiten derart mit bewußt lügenhaften,
schmutzigen Mitteln gegen die ihnen so uribequeme Konkurrenz
der Dirnen, die wegen der Offenheit der Anpreisung leiblicher
Genüsse zu fixen und billigen Preisen von den Müttern als das
gefährlichste Hindernis bei der ergiebigen Verwertung der Töchter
erkannt wurden. Wie ein Kaufmann dem andern die geschmähten
y Google
43
RekJtmekniffe abzulauschen trachtet, um sie selbst gi^en ihn aus-
zuspielen, so studieren die Mfltter, in der richtigen Erkenntnis der
Oberlegenheit der Dirnen, deren Art, um die Töchter mit dem
Rflstzeug der Halbwelt so gut wie möglich auszustatten und zum
Wettbewerb geeignet zu machen. Das offene Auge gewahrt auf
den ersten Blick, wie rasch und sicher die Errungenschaften des
Dirnentums durch Vermittlung der spekulativen Mutter in die
Familie verpflanzt und hier verderblicher werden für den erotisch
veranlagten Mann als dort, wo er dank der Offenheit, mit der
ihm begegnet wird, von Haus aus weiß, worum es sich handelt.
Durch die gesellschaftlich sanktionierte Praxis der Mfitter
werden die Dirnen mittelbar Trägerinnen der Idee des Bestandes
der Familie und des Staates. Die Töchter aber werden vergewaltigt,
dazu erzogen, jedes natürliche Empfinden zu unterdrücken, Liebe
nur auf mütterliche Anordnung zu empfinden und sich im Übrigen
mit ihrer Phantasie zu behelfen, die sie zwar in schwülen Nächten
manchen OenuB empfinden IflBt, Gesundheit und Schönheit aber
untergräbt. Endlich flndet sich die geknebelte weibliche Natur
dank der frühzeitig begonnenen mütterlichen Erziehung in die
Situation, die von der heutigen Gesellschaft als die einzig mög-
liche hingestellt wird. Und die Töchter, die durch die mütter-
licherseits vermittelten Dimengebrftuche einen Mann zu dauernder
Ausnutzung eingefangen haben, werden Mütter.
Erbt.
Zitate.
»Seine ExceUenz wird gleich da sein, um 1 Uhr
wird aber gegessen I< »Beruhigen Sie sich, liebenswür-
digster aller Famuli, ich will den Minister nur fragen,
wie er geschlafen hat, um es nach Wien zu drahten c.
»Exzellenz wird gleich erscheinen c . . . »Eure Exzellenz
sieht gut aus. Sie haben sich gründlich ausgelüftet,
ehrenwerter Tittoni I« (,Neue Freie Presse', 29. August).
Ferner habe ich im Sommer einen Zeitungsarti-
kel gelesen, der mit den Worten begann:
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— 44 —
Von einem Freunde unseres Blattes erhalten wir die folgende
Zuschrift: Langsam dringt die Nachricht hinaus ins Orfine, in die fernen
Qebirgstfiler, an die stillen Sommerseen, an denen die Wiener jetzt sitzen.
Wie es einst durch die Welt geklungen hat: Der gro6e Pan ist tot, so
Iclingt es nicht viel leiser Jetzt dem kunstfreudigen und -verstlndigen
Wien ins Ohr: »Kainz will vom Burgtheater gehen l< u. s. w.
*
Der erofie Pan bleibt uns erhalten, dagegen ißt
die Hauptfrage unserer Zeit noch immer ungelöst.
Herr Gelber behauptet es in einer Wiener Zeitschrift:
Die Parlamentsferien werden bald vorüber sein, die Volksvertretung
wird wieder zusammentreten und wir werden bald wieder von den gemach-
ten Wichtigkeiten hören, mit denen man das öffentliche Oewissen von
der Hauptfrage unserer Zeit abzulenken sucht. Nun, und da ist es not-
wendig, abermals auf sie hinzuweisen und zu fragen : Was soü mit
Wahrmund geschehen ?
«
Mit ehrlicher Begeisterung aber haben die
Wiener Familienväter diesen Satz (in einem Artikel
von 0. Gurlitt Ober Konstantinopel) gelesen:
Die Jungfräulichkeit und Ihre Wertschätzung ist überall eine
Folge geschlechtlicher Selbstsucht des Mannes, nämlich der, das Weib
für sich allein zu haben.
Dieser Satz stand aber nicht etwa in der ,FackelS
sondern in der ,Neuen Freien Presse*.
aBSSSBBSBsaaEasasssaBEBSssBaBsssBssBBssBBBBaaBsaa^
Blnsendunc von Manoskrlpten od^r Zeitangnn»-
schnitten, Lieferung von Material, Mittollonfen lTZ9n4
welcher Art nicht erwünscht«
Der Herausgeber der «Fackel* hat keine redaktionelle
Sprechstunde und lehnt die Ertellnoa von Ratschlifen
and die Beurtelluna von Talentprohen ab.
Beschwerden administrativer Nator, Abonnements-
auftrife u« dai*f die statt an den Verlaa» an die Privatadresse
des Herattsaebers gelangen, werden nicht berflcksichtift.
Die Verleger von Büchern und Zeitschriften werden
ersucht, die Zusendung von Rexensionsexemplaren
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Bezugsfrist den betreffenden Teilbetrag anrück zu vi
langen, wenn Ihnen der Bexug der Zeltschrift aus Irgi
einem Grunde nicht mehr genehm ist« Das gleit
Recht der Sistierung eines Abonnements behiit sich i
Verlag vor.
HwaiufBbq wttü mnrtvorUicber Redaktnir: Kar! Kra«i.
Dnick Yoo Jthodt * Sfecel, Wien, 111. Hintere ZollftiitsrtnLBe 3.
Herausgeber: KARL KRAUS
«nekelBt li nruigloser Folge Im Umtui vod II— B1 Mtea.
BBZU08-B VDINOUnOBir ;
* 18
.ww — * .xdch, 36 - - . . » IV/../V
• »18 « ► . . » 5^
indcrdWcItpostv., 36 Numincni, portofrei > 12.—
»»» »18 » »» 6. —
>af Aboon«ai«iit •rstrtckt fleh alcbt auf «la^o Zelt-
rAuin, iood«m auf •!»• bMClmmt« Aozatal v. Nummern«
iVerlag: Wien, IIT ^^«tere ZoUamtMtr. 3.
Kommissionfiv^iia^ .ar Deutschland:
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StephsositraAe Nr. 12.
ttacircrkaiif M Pf. Bcrfia NW 7, rricddcfastnük 101, todh
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befindet sich Jetzt
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Telephon Nr 187
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CARL GOLS
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wissen \i
Ute
Maniiskripte
(ancli in englischer nnd französischer Sprauü^; ^d^
korrektesten VerYielfältigüüg mit der Schreibxnaschb
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befindet sich 111/2, Hint. ZoUamti
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Die Fackel
Herausaeber:
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INHALT:
PROZESS VEITH
VON
Ertoheint in swanglottr Folg«.
Preis der eincelnen Nummer 30 b.
Md ftvcrttmlBigct Veridbea fcrboteot rcricfatUdM Verfolciiaf'
Torbehaltca.
WIEN.
PACKBL*. IM. HlDterp ZollamUatraße 3.]
In zweiter AullageefscBiBi
Sittlichkeit u.Kriminaliti
I. Band der Ausgewählten Schrift(
von
BroBohlert _ _ _ _ K 7.20 Mk.
Ganzleinen — — — — „ 8.70
Bestellungen auf das im Verlag der Bu^
landlung L Rosner, Wien und Leips
erschienene Werk nimmt jede Bi
landlung sowie der Verlag der .FackI
Wien, III/2, Hint. Zollamtsstr. 3, entgegä
Soeben erschienen;
Alte Liebeshändi
Von Fritz Witteis.
Elfiff:
,0 JAHODA A STF.av.T.
Die Fackel
WIEN, 26. OKTOBER 1908
X.JAHR
ProseS Veith.
»Die Vorgeschichte des Prozesses, der im
Juli dieses Jahres bereits das Gericht be-
schäftigt hat, ist allgemein belcannt. Die
Stieftochter .Marcell Veiths endete durch
Selbstmord, nachdem ihr Vater von der
Polizei festgenommen worden war«.
Der Zeitungsbericht.
»Ein Sitüichiceitsprozeß ist die zielbewußte
Entwicklung einer individuellen zur all-
gemeinen Unsittllchlceit, von deren düsterem
Grunde sich selbst die erwiesene Schuld
des Angeklagten leuchtend abhebt«.
Karl Kraus. SittUchkeit und Kriminalität.
»Die nächste Zeugin, die wiederholt er-
wähnte Anna Sachs, ist nicht erschienen;
es wird auf ihre Aussage verzichtet«.
Der Zeitungsbericht.
»Wehe euch. Schriftgelehrten und Phari-
säern, ihr Heuchler, die ihr verzehntet die
Minze, Anis und Kfimmel; und laßt da-
hinten das Wichtigere im Gesetz : Gerechtig-
keit, Barmherzigkeit und Treue«.
Ev. Matthäi 23.
Bin sohlafender Rüpel regt sich, wirft einen
L9^ttopf um, legt sich aufs andere Ohr und schnarcht
ter. Das sind die Moralprozeduren des Staates.
I einen rütteln ihn, dafi er erwache. Die andern
nen ihn einen Schweinkerl. Vergebens. Er schläft
« rumort nur im Paulbett, wenn ^wieder die
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— 2
Blähungen der Sittlichkeit ihn befallen. Dann nimmt
die Qereohtigkeit ihren Lauf . • •
0 du alter nichtsnuteiger Lflmmel, du ausge-
schämter Hallodri dU| heiliger Saufaus und ehr-
barer WQstling, du nimmst den Töchtern der
Wollust die sauer erworbenen Oioschen ab, hebst
den Zins von allen Schanden ein, und gehst hin
und verklagst die Überhandnehmende Unsittlichkeit I
Denn die eifersüchtige Alte, die dir im Hause sitet,
die Gesellschaft, ist dir hinter deine Zärtlichkeiten
gekommen, schwingt den Pantoffel Aber dir und
zwingt dich, einmal im Jahr ihr wenigstens mit
deiner Gesinnung z\x willen su sein, wenn du schon
deine Impotene so leichtsinnig aersplittert hast. Dann
schnarchst du Anklagen, rtilpdest Erlässe und lassest
ein paar Moralsprüche ergehen, dafi die Engel im
Himmel sich die Nase euhalten. Schlichst du nicht
hinter der kleinen Mizsi Veith einher, du päpstlicher
Contef Hieltest sie nicht vier Jahre den Kavulieren
feil, denen du die Kabinette Offnest, wenn sie regieren
oder sich auf feinere Art amüsieren wollen f Und
nahmst ihr eines Nachts den Champagner rem
Munde und gabst ihr Wasser su trinken I Und um-
kreistest ihren Leichnam wie eine schwarsgelb ge-
fleckte Hyäne und schleiftest ihn cum Gerichtstisch,
wo er als corpus delicti, nein, als corpus vile dem
Appetit deiner Rache dienen mufil 0 du alter
Tunichtgut, du ärarischer Pförtner der Lust, du
Schüler deiner Hausmeister, du Trinkgeldnehmer
deiner Huren, der du alles siehst und nichts gesehen
haben willst, der du nichts siehst und alles gesehen
haben willst, Bordellwirt zweier Reiche, du in Kalks-
• bu)rg geborener und nach Budapest zuständiger, mehr-
fach vorbestrafter, öfter aus der Zivilisation abge-
schobener warmer Betbruder, du Voyeur mit dem
ewiff zugedrückten und dem Auge des Gesetzes, dw
du in Abenteuer tölpelst, wenn es verlangt wird, du
Mächtiger über die Schwachen und Schwacher vor
der Frau Sachs I Wie oft habe ich dich^packt, wie
Digitized by Vji.
ofk didi gebeten: ta's nicht; m nicht niedertriehtig,
warn du nicht die Kraft hast» es bis ans Bnde in
aein, wie jener preuflisohe SchiitKnann, dessen Beispiel
dich Teriockt hat ; spiel dich nicht auf mit der Dei^,
dafl es noch Richter in Osterreich gibt, so lange
ESuropa das unerschütterliche Vertrauen in die Wahr-
heit hat, daft man sich in Osterreich noch alles
lichtMi kann. Wie oft habe ich dich ^beten: tu's
nieht, und du tatest es doch und schicktest deine
Rtehter Aber deine Huren. Wie habe ich dir mit
etilem Buch auf den Schädel geschlagen, dafi ich
hcflhm^ die Unrereinbarkeit von Sittlichkeit und
Kriminalität werde dir autgehen, ohne dait dir aus
der LektOre ein innerer Schaden entstände. Aber du
schämst dich deiner Beiden nicht und lachst des
Versuchers. Und protsest gar mit der Unschuld deiner
PolisisteD. Denn sie sind swar durdi die Riehl lu
Fialle gebracht worden, aber ihre Jungfräulichkeit
blieb länger bewahrt als selbst die der armen Miesi.
Zigeunermusik umwort wimmernd das Ohr be*
sdigter Pferdehändler und ermannt sich sofort su
mntisrer Melodie, wenn die rem k. u. k. Ulanen*-
regiment u. s. w. das Lokal betreten. An den
Tillchen sitien Larren, die genug fühlende Bruat
haben, um dem heimischen Qeschmack su gefallen,
der immer etwas sum Anhalten braucht, weil ihm
die Phantasie ihre EBlfe rersagt hat. Das sind die
Buffetdamen. Die sich an ihrer Seite des Liebens
freuen, das sind die Wuraen. Eros ist Vertreter einer
Sektfinna und dank einer aufnmrksamen Bedienung
sind die Flaschen rascher gewechselt als geleert Bin
ZiMt Ton BOrgerssOhnen, die im Taillenrook wie
Piqypen aussehen, nur geistig wenig^ regsam sind,
durchschreitet spähend den Qualm, die Kellner, die
den fransOsieohen Adelstitel MarkOre führen, geben
die gewfinschten Auskflnfte. Artisten, die obm im
BtaUissement gearbeitet haben, versammeln sich su
jener i^listresen Geselligkeit, die die Staatsanwälte
_ 4 —
für ein Lotterleben halten, ein Bankkommis erklärt
sich durch Zerschmetterung eines Trinkglases mit
der Aristokratie solidarisch, ein humpelnder Wagen-
türöffner erscheint und fragt, ob die Ella schon
da sei, ein Dichter bekommt einen Tobsuchts-
anfall, weil jemand die Existenz der Frauenseele ge-
leugnet hat, ein hagerer Alter hastet durch das Liokal.
Er sieht mit flackerndem Blick nach einer Ecke, in
der getrunken wird, ist beruhigt, weil in der andern
Ecke der Polieeikommissär sitat, und kehrt wieder
um. Dieser Alte wird nach vier Jahren in Haft ge-
nommen und dann zuschwerem Kerker verurteilt werden.
Er hätte nicht nach der Ecke sehen sollen. Er habe,
wird es heißen, die Gesellschaft durch seinen flackernden
Blick gestört. Er habe die Unmoral in das Nacht-
cafö getragen. Zigeuner, Pferdehändler, Marköre und
Toilettefrauen werden als Zeugen wider ihn aufstehen,
und das Gericht wird blofi das Urteil bestätigen, das
die Nachtkassierin schon längst über ihn ^efSUt hat:
daß er ein Strizzi sei. In der Urteilsbegründung wird
der Gerichtshof ausdrücklich betonen, er wolle dem
Nachtcaf^ selbst nicht nahetreten, aber der Angeklagte
habe durch seine geschäftliche Verbindung mit diesem
das Delikt begangen. Die Gäste werden sagen, dafi
sie es immer gesagt haben, es sei eine Schande, dafi
der Vater ihnen seine eigene Tochter verkupple,
die Schande selbst wird sagen, es sei eine
Schande, und sogar die Nachtlo^redakteure werden
empört sein, die um die Mizzi bei Lebzeiten herum-
gestrichen sind, als ob sie eine Wasserleiche witterten,
oder in der Hoffnung, gratis ihrer Prostitution teil-
haftig zu werden. Der Leiter eines bekannten Er-
ziehungsheimes, das Venedig in Wien heifit, wird be-
kunden, man habe ihn sofort auf den Mann aufmerksam
gemacht und es sei diesem der Besuch der Anstalt unter-
sagt worden, so dafi er sich nicht mehr nach den Fort-
schritten der Tochter erkundigen konnte; auch habe
er dem Mädchen selbst wiederholt Vorstellungen
gemacht. Die ,Neue Freie Presse^ wird einen Leit-
üigitized by VjOOQIC
— 5
artikel bringen^ in dem ausgeführt ist, dafi es ein
Zeichen der Reaktion sei, wenn die Theatersensur
den Werken unabhängiger Dichter Schwierig-
keiten in den Weg lege, aber der Hochadel sich
ung^tört sinnlichen Vergnügungen hingeben dürfe.
»Freilich, als die Geigen klangen und die Champagner-
propfen knalltenc, wird es heißen, »als helles Frauen-
lachen erscholl und elegante Herren im Frack sich
Iftssig auf ihren Sessel lurücklehnten und den Dampf
feiner Zigaretten in die Luft bliesen . . .c Aber jetzt,
wird es heißen, »sind diese Nächte längst vergangen,
die Geigen klingen schrill und das Frauenlachen grell
und geUendc. Die liberale Presse wird »Klarheit und
Wahrheitc verlangen, denn wir stecken tief im Vor-
aiärs, wenn es möglich ist, dafi eine Buffetdame mit
der Schande ihres Leibes, wird es heißen, ihre Familie
ernährt. Die Aristokraten sind an allem schuld, werden
die einen sagen, die Juden sind an allem schuld, werden
die andern sagen« Und die Nachtportiers, die Hotel-
Stubenmädchen und die Fiaker werden bekimden, welche
Schmach sie durch vier Jahre gegen ein relativ
gerini^s Trinkgeld ertragen muSten. Er hat — Nun,
was hat er denn? — Er hat, aber Herr kaiserlicher
Rat, dOs kamma ja gar nOt aussprechen! Er hat ganz
gut g'wußt, daß dös Madel — Nun, was hat sie denn?
Na ja, sie hat halt einen Lebenswandel geführt. Einen
Lebenswandel hat sie halt g'fQhrt . . . Und das Volk,
in dem ein gesunder Kern steckt, wird sich an dem
Wort Lebenswandel berauschen, bis sie alle besoffen
sind, und die Richter, sie hören es gerne, und die
Sanae menschliche Gesellschaft, die 'durch vier Jahre
en sittlichen Ruf der Nachtcafes verteidigen mußte,
wird einen Veitstana aufführen, bei dem em einziger
hinfällt und die andern fröhliche Urständ feiern.
Denn sie hat in der Tat einen Lebenswandel
geführt. Selbständig, heißt es, war sie darin nicht,
liin rauher Stiefvater hat sie frühzeitig verhindert,
Telephonistin au werden. Nicht einmal in eine Zünd-
üigitized by Vjv
hfllMhftnfabrik «msatreton oder sioh sur Tftbak-
arbtttorin ftiUBubildeo, hat er ihr erlaubt Im GeMB*
teil wurde sie von Jugend auf ttienge daau angrehattea,
das Lfeben Ton seiner heiteren Seite su nehmen und
einen Trieb au entwickeln, der dem Weib als sdüimm-
ster Makel anhaftet: den lifinnam au gefallen. Ihr
Stiefvater verlangte von ihr, dafi sie hübsch sei und
es nicht einmal verberge. ISr erniedrigte sie also daau,
aus einem KörperfehlerydessenTrftgerinnendie mensdi-
liehe Qesellschaft einen Bettelpfennig und ihre Vor*
achtung hinwirfti Gtowinn su sieben. Wäre sie ohne
Hände auf die Welt gekommen, so wäre es sittlich
Swesen, davon au leben, wenn auch als Vagaboo-
ge strafbar. Aber weil ihre Hände schön waren,
so war sie ein unehrlicher Erflppel, und wieder
vom Vagantengeseti bedroht Der Vater, der dieae
Hände nicht daau iwang, sich in einem Comptoir oder
einer Fabrik lu schänden su arbeiten, handelte ver-
brecherisch an ihr. Sie sank so tief, daß ihre Formen
allmählich in einer Toilette aur Ueltung kamen, anstatt
sich von einem Kittel verhallen au lassen. Solche
Schaustellung ist Prostitution, und wer sich ihr ergibt^
wird umsomehr verachtet, als er dem empOrten Be»
trachter ein ästhetisches Behagen verursacht, während
die Gebrechen, die die anderen KrOppel aeigen, bloä
ethische Empfindungen wachrufen. Die llntsohul-
digung, dafi ein Weib fflr seine Schönheit nichts
kann, läfit die Kultur nicht gelten, weil sie tau-
send Hüllen bereit hält, das Übel au bergen. Bin
Vater, der die Schaustellung fördert oder duldet,
macht sich eineff Verbrechens schuldig. Miasi Veiidi
wurde daau eraogen, sich das Wohlgefallen und so-
mit die Verachtung der bürgerUohen Gesellschaft au
verdienen.
Manche geht in einem Konflikt augrunde,
der das einaige tragische Problem bedeutet, au dem
sich die Menschheit aus den Niederungen der christ-
lichen Moral emporgerungen hat, manches aur Liebe
bestimmte Oesohöpf wird das Opfer des groSen
Digitized by VjOOQl'
— 7 —
ehrittlicheii NSohstenhasses. Sie setien sich allen
Pfeflen aus, die die soaiale Welt für ihre Leug-
ner bereit hält, leisten der Natur Qefolgschaft und
geben in dem Vernichtungskriege unter, der das
hehrste Schauspiel dieser subalternen Zeit Torstellt.
Was weiß ein Staatsanwalt davon? Verstände er es,
wenn ihm ins Hirn gebrannt wflrde, daB das Huren-
tum das letzte Heroentum einer ausgelaugten Kultur
bedeutet? Oder es ist blofi eine soziale Notwendigkeit,
md Hunderttausende opfern sich einem Beru^ der
Achtung verdient wie ein anderer und dessen Ver-
ächter sich httten sollten, Vergleiche mit Wert und
Nutaen ihres eigenen Berufes au provozieren. Hundert-
tausende folgen keiner Naturbestimmtmg, sie sind Ver-
lorene, schreiben Tagebflcher und ihr Schicksal, fem
aUergrofien Tragik, weckt jene Trauw, die die Unfalls-
(dironik füllt und die das mesquine Elend auf allen
Straften erseugt, wenn wir nur genug christliche
liebe vorrätig haben, sie zu empfinden. Vielleicht
hat Mizzi Veith zu den vielen gehört, die man be-
dauern, und nicht zu den wenigen, die man bewun-
dem sollte. Dann hat sie doch einem Zweck
gelebt, der so reell und lauter, so praktisch und
ethisch berechtigt ist wie die Aufgabe, die Ansprüche
des Publikums am Postschalter va befriedigen. Dann
bat sie nicht ihrer eigenen Notwendigkeit geholfen,
aber der fremden, und ihrer eigenen Not. Dann hat
die Gesellschaft die allergeringste Berechtigung, einen
Vater au tadeln, der bei der Berufswam für sein
Kind dem gröfiten Vorteil der Familie, und dem
stlrksten sozialen Interesse zugleich gedient hat. So
wie ich das arme GtoschOpf, dessen toter Leib
heute noch für Reklaroezwecke gut genug ist, in
Brinnerung habe, war Mizzi Veith unter Larven
ein Lärvchen und kein Dämon trieb sie auf den
KriegspfSad gegen die christliche Welt Sonst hätte
wohl ihre Natur auch nicht so lange dem Zügel des
Vaters pariert Immerhin war hinreichend Lust da,
lu leben und zu lachen, um den Sporn des Vaters
üigitized by VjOOQl'
— 8 ~
nicht als Druck su fühlen. Aber ich mufi mir ihren
Fall stilisieren. Denn dieser nichtsnutsige Wechsel-
balg einer Lebensansicht, die sich ethisch dünkt,
seitdem sie luetisch gewerden ist, besprenst mir blind
die Heiligtümer der Lust wie ihre Betriebsstätten,
hetzt Göttin und Dienstmagd zu schänden und weidet
so den viehischen Trieb nach Sittlichkeit, dafi die
Wiesen hysterisch werden und die Natur das Schä-
men erlernt. Ich mufi den Fall der kleinen Mizzi Veith
vergröfiem, denn die moralische Welt hat eine prin-
zipielle Gebärde der Bestialität und statuiert Exem-
pel, wo kaum ein Beispiel geschah. Man könnte in
ihre Tiefebene steigen, um ihren Mangel an Perspek-
tive zu beweisen und daß ihre Dummheit in sich
selbst gegründet sei. Aber wenn ich schon der Zeit-
genosse ihres Wahnsinns sein mufi, dann will ich mich
lieber in die Lage eines Satumbewohners versetzen,
der zufällig das Glück hat, als Vertrauensmann einer
geheimen Verhandlung vor dem Wiener Landes-
gericht beizuwohnen.
Dann scheint mir die Welt so problemarm, wie
am Tage, bevor sie erschaffen war. Ihr einziger gor-
discher Knoten — aus einem Häutchen gedreht;
und darüber kommt kein Alezander hinweg.
Wie sollte es einem verkrachten päpstlichen Conte
gelingen? Unermüdlich jagt er dem Phantom nach,
das die jüdisch-christliche Lebensmoral für alle Zeiten
geheiligt hat. Ein Don Quichote des Virginitäts-
ideals, der konsequenteste Typus des Sittenrichters,
die Vollendung in der Karikatur, die den Schutz
der Jungfräulichkeit sogar noch im Nachtcaf^ betätigt.
Dafi ihn die Sittlichkeit, der er alles und sogar sie selbst
geopfert hat, schliefilich im Stich läfit, macht ihn
zum christlichen Märtyrer des Christentums. Dieses
hat die Ghristenverfolgungen als eigenes Rc^erungs-
prinzip übernommen und übt es an allen jenen Be-
kennem, die den Glauben auf die Spitze treiben. Ein
zerknirschteres Zugeständnis an die herrschende
Moral und ein ergreifenderer Hohn auf ihre Unerbitt-
üigitized by VjOOQl";
— 9 —
liohkeit läßt sioh nicht denken, als das Leben und
Bnde dieses Vaters, der alles mit seinem Kinde ge-
schehen lieft, was die menschliche Gesellschaft freut,
ohne das letite Band zerreiften zu lassen, welches
mit ihrer Achtung verbindet. Er weiß, wo Gefahr
droht; mag das Verderben mit hundert Zungen dem
ihm anvertrauten Pfand nahe sein, er wacht darüber,
dafi es nicht verloren gehe. Wie ein Türmer lugt er
in alle Richtungen, wie ein Späher erkundet er die
Situation in Feindesland. Durch vier Jahre steht er
auf der Hut und jeden Augenblick glaubt man,
jetzt werde er eine Lache aufschlagen über eine
Sittlichkeit, die ihn zu solchem Dienste zwingt. Aber
er beherrscht sich und mit unerschütterlichem Ernst
geht er an seine Aufgabe, hastet Nacht für Nacht
durch Qualm und Gewimmel, ruft Kellner und
Kutscher zum Konsilium und ist erst beruhigt, wenn
er den Regierungsvertreter an seinem Tische sieht.
Eine widerliche RolU^ sagt die undankbare Moral,
da ihr dieser Vater nach vier Jahren schufirecht
präsentiert wird. Widerlich? Ein Vater! Widerlich
höchstens, daS er es war. Man hat keine Zeit
SU Familiengefühlen, man hat sie in der sozialen
Ordnung verlottern lassen. Sie sind so herunter-
gekommen, dafi man einen Klassiker lesen mufi, um sie
in ihrer ersten Frische zu empfinden. Hier aber hat
einer sie im Nachtcaf^ rehabilitiert. Wir erkennen
»e wieder; denn uns sind sie nicht im Strom der
Welt, sondern in uns selbst abhanden gekommen.
Und wenn je Familienbande für die Ewigkeit ge-
schmiedet schienen, so war es die Zärtlichkeit, die
diesen Zuhälter und sein Kind verband. Der-
51eichen löst nur ein Polizeiprotokoll I Was mir die
ingelegenheit widerlich macht, ist die Kompromit-
tierung des Freudenlebens durch familiäres Senti-
ment. Aber die bürgerliche Gesellschaft sollte zu
dem Manne aufblicken, welcher den Gefühlsinhalt,
der ihr längst zur Form erstarrt war, neu belebt und
ein Vorbild geschaffen hat für ein väterliches Pathos,
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— 10 -
das sie in dsr kaufroftnnischen Prosa des Lebens so
lange schon entbehren mufite. Ein den Bedarfnissen
der Neuzeit angepafiter Odoardo läßt es bis sum
Äußersten kommen, aber rast dann nicht minder.
Wir hören TOne, fttr die heute auf der deutschen
FaroilienbUhne der Stil verloren gegangen ist. Nach
▼ierjährigem Kokottenleben tut eine den Ausruf:
»Vater I Du wirst mich ^ewiS davonjagen, weil ich
das getan habeU Die Erkenntnis: »Vater, was hab'
ich getan Ic gellt durch die Affäre, und man erwartet,
dafi ein augeoroliender Alter mit grofier Gebärde
aum Dolch oder wenigstens aum Sohleier ereift. Veiths
Schmers t&ber das Malheur seiner Tochter, sein
Zorn gegen den » Verführer c ist echt wie nur der
eines Verrina. Und gana im Stil einer sentimentalen
Luise ist es, wenn das Mädchen sich vor dem
Alten aufs Bett wirft und ruft: »Mein Vater hat
mich nicht verkuppelt I Mit diesen Worten gehe ich
SU Oottlf Der Vater diktiert ihr den Abschiedabrief
an den Oeliebten »in die Feder« : Ihre Hand schrieb,
was ihr Hers yerdammte — fast mit diesen Worten
sagt es der Staatsanwalt. Nur ist hier der Alte Wurm
und Miller in einer Person und Ferdinand der Ver-
führer. Fast hOrt man diese Sätae: »Der Segen
war fort aus meiner Hütte, sobald Sie einen Fuft darein
setsten. Sie haben das Elend unter mein Dach ge*
rufen, wo sonst nur die Freude au Hause war. Sind
Sie noch nicht aufrieden? Wollen Sie auch in der
Wunde noch wühlen, die Ihre unglückliche Bekannt-
schaft meinem einzigen Kinde schlugfc Die Antwort:
»Was willst du, Uraukopf? Mit dir hab' ich nichts
SU schaffen. Hast du die Weisheit deiner seohaig
Jahre su den Buhlschaften deiner Tochter geborgt
und dies ehrwürdige Haar mit dem (bewerbe eines
Kupplers geschändet?« • • . »Die Zeit meldet sich all-
gemach bei mir, wo uns Vätern die Kapitale su
Statten kommen, die wir im Heraen unsrer Kinder
anlegten -^ Wirst du mich darum betrügen, Luise?. . .
[ 0 Tochterl Tochter! gefallene, vielleicht schon ver*
y Google
— 11 —
loraiie Toohteric »loh will in den Phiit spriii|[en,
Vater, und im Hinuntorsinken Gott den Allmächtigen
um Erbarmen bittende »Hurol rede deutlicher .. .c
(Spricht SU sich selbst:) »Geduld, armer, unglOcklicber
Vater I Warte ab, bis es Morgen wird. Vielleicht
kommt deine Einsige dann ans Ufer geschwommen
Gottl Gottl Wenn ich mein Hers su abgöttisch
an diese Tochter hing? — Die Strafe ist hart Ich
will nicht murren, himmlischer Vater, aber die Strafe
ist hirt.€ Es ist das erste bOrgerliche Familien-
drama, dessen Gestus sich wieder sehen lassen kann,
und es ist der erste Versuch, eine seitgeborene
Handlung in feierlichem Schritt su führen. Der
flache Geschmack unserer Tage, der nur das Stoff-
liche schmeckt, mag daran Anstofi nehmen. Aber
<tor scheint mir den wahren Blick fttr das Theater
des Lebens su haben, der heute imstande ist, eine
sentimentale Liebhaberin an dem Hersenston su
erkennen, mit dem eine sagt: »Gib mir nicht fOnfsig
Mark, gib sechsig Ic
Inid dort trat ein Meister Anton kopfschüttelnd
▼on der Ssene, der die Welt nicht mehr versteht,
die er so gut verstanden hat. Denn ihre wilden
Krieger können über alles leicht wegkommen, wenn
ihnen nur die Hoffnung auf den Sktup der Jungfrau
bleibt. Der ihn gegen den Willen des Vaters davontrug,
ist der sympathische Held des Dramas und darf auf
die stilvolle Bemerkung des Richters: »Sie ist nicht un*
schuldig gestorben, da war nichts mehr su verkaufenc,
stols erwidern: »Daran bin ich sohuldlc, worauf Zeuge
den Tag angibt, »an dem seine Beziehungen su Missi
Veith sich su intimen gestaltet habenc. Er hat sie
aus reinen Motiven »drangekriegtf und ist deshalb
der Vertreter einer wahrhaft sittlichen Lebensan-
schauung, während der betrogene Vater blofi der Ver-
treter der starren Konvention ist, welche die moralische
Forderung überspannt hat und deshalb von der Moral im
entscheidenden Moment verleugnet wird. Der öffentliche
Ankläger feiert jenen, dem das Auflerordentliche ge*
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— 12 -
langen ist, wie man einen Bahnbrechefi einen Pfad-
finder, einen Eroberer feiert, und der andere, der an
der Überlieferung festhielt, ist ein Auswurf der
Menschheit. So ist die Welt. Aber übertragen wir
den Fall einmal aus dem Familienleben der E^utique
in die Boutique des Familienlebens. Die Presse, aus
deren Annonoenteil Stammbäume wachsen, meldet
mit ironischer Gebärde : »Ein anderer Liebhaber, der
sich erbotig gemacht hat, 200.000 Kronen für Miesi
anzulegen, sei ron ihr abgewiesen worden, weil er
einen Kropf hatte. Mit Bedauern bemerkt der An-
geklagte SU diesem Punkte: ,Und er hätte sie in
Gfold gekleidetPc Soloher Schmerz eines aus allen
honetten ErwerbsmOglichkeiten gejagten Menschen
weckt in den Gemütern der journalistischen Schadehen
nur überlegenen Hohn. Man nenne mir aber die Leser
der ,Neuen Freien Presse^ die Töchter zu versorgen
haben und nicht in jedem Falle einen gefüllten Kropf
einer leeren Tasche Vorzügen. Dafi ein grauslicher
Rabbiner dabei ist und zur Mißheirat noch ein lautes
vernehmliches Ja verlangt wird, das allein, ihr Hunde,
soll den ethischen Wertunterschied ausmachen? Dafi
sich Herr Siegfried Abeles aus Deutschbrod nach
schwerer Mühe und Einsicht in die Geschäftsbücher mit
Fräulein Rosa Bachrach aus Arad verlobt hat, das
dünkt euch appetitlicher als die Versuche eines Aus-
gestofienen, seiner Tochter ein annehmbares Ver-
hältnis zu verschaffen? Und den alten Bachrach, der
zu toben begänne, wenn sein Roserl einen hergelaufenen
Bocher anstatt des Sohnes der Firma Abeles begehrte,
und der sie bis ins dritte Geschlecht verfluchte, wenn
sie das wichtigste Wertobjekt der Inventur ver-
schleuderte, ihr würdet ihn entschuldigen? Ihr, die
ihr die Monogamie mit »Einheirate übersetzt, mögt
freilich vor krimineller Verantwortung geschützt sein;
denn in euren Geschäftsbüchern ist der Schandlohn,
den ihr aus den Kindern zieht, nur eine versteckte
Reserve. Aber gerade deshalb reicht euer Treiben
an die ethische Lauterkeit des Mädchenhandels nicht
y Google
13
heran I Das stolze Wort des Kupplers: »Eine brave
Tochter ist^ die keine Mittel scheut, um ihren Eltern
Bu helfen c^ flößt euem Staatsanwälten Entsetzen ein.
Sie sagen: »Er leugnet nicht, sie in die Lebewelt ein-
geführt zu haben, um sie aushalten zu lassen - das
allein ist schon ein Geständnis der Euppeleic. Der
Hebe Staatsanwalt mag innerhalb der Möglich-
keiten eines' aus dem sittlichen Irrsinn gezeugten
Gesetzes Recht haben. Wie stand der Angeklagte
da, der »zugeben mußte, daß er das Mädchen in eine
Welt eingeführt hat, in der man sich nicht langweilt«!
In einer Welt aber, in der solche Aussage em »Ge-
ständnis« und solches Geständnis die Verurteilung
wegen Verbrechens bedeutet, und in der die Lange-
weile ein Lebensziel ist, mag der Herr Bachrach aus
Arad ein Ethiker sein; denn er zwingt seine Tochter,
in dem Kommis, den er ihr zuführt, den einen und
einzigen Kommis zu lieben, außer welchem kein
anderer Kommis ist auf Erden, er gibt ihr nebst der
Langeweile den lebenslänglichen Ekel zur Mitgift
und macht sie hysterisch bis ins dritte und vierte
Geschlecht. Der Unterschied zwischen dem Leben
einer Mizzi Veith und dem Leben der Rose von Arad
ist der, daß vor den Kohorten der Widerwärtigkeit,
mit denen jene es aufnimmt, ihr Wahl und
Wechsel bleibt, während diese das Paar Schweißfüße,
das ihr die Vaterliebe gesellt hat, als ein Gnaden-
geschenk des Schicksals, als die Erfüllung all ihrer
Lebenswünsche und als die unabänderliche Fasson
der Männlichkeit betrachten muß. Daß die so versorgten
Jung:frauen nicht samt und sonders am Hochzeitstag ins
Wasser gehen, zeugt für die gesunde Prostitutionsfähig-
keit ihres Geschlechtes, der keine Familienerziehung
etwas anhaben kann. Wohl aber verdirbt diese den
Charakter und macht ihn zu heroischen Entschlüssen
unfähig. Denn Mizzi Veith hatte den Geliebten ihrer
Wahl und nahm sich das Leben, weil die Polizei ihr
den Vater nahm.
Was dieser da getan und geduldet hat, ist zehn-
— 14
tauBendmal ästhetischer, ehrlicher, mit Menschenwürde
und Gottes willen vereinbarer» als was an einem Tag zehn-
tausend bürgerliche Väter tun und fordern. Trotzdem
ist es hier, wie in jedem Fall einer sittlichen Ver-
fehlung der Justiz, notwendig, die sogenannte Schuld-
frage zu bejahen, um sich über die Unschuld des
Angeklagten klar zu werden. Der juristische Be-
weis war brüchig, aber Veith hat Ineinetwegen
nicht nur > Unterschleif c oder »Unterschlupf« gewährt
oder wie der terminologische Blödsinn sonst heifien
mag, den erwachsene Richter in den Mund zu neh-
men sich nicht scheuen, er hat auch »Gewinn aus der
Schande seiner Tochter« gezogen. Er hat also eine
strafgesetzlich erlaubte Handlung, die Prostitution
seiner Tochter, geduldet und eine ethische Handlung,
die Unterstützung eines Vaters durch sein Kind, ge-
fördert. Der Konnex einer erlaubten und einer sittlich
gebotenen Handlung bildet das Verbrechen der
Kuppelei. Ich wohne nur mehr als Saturnbewohner
den irdischen Affenkomödien bei, ich bringe die Em-
pörung des Erdensohnes nicht mehr auf, die
vieleicht wirksamer wäre. Dafi die Sittenpolizei,
diese direkt aus dem Chaos erschaffene Institution,
Lizenzen an Prostituierte erteilt und die »Aus-
übung des Schandgewerbes« von keinem Be-
föhigungsnachweis, wohl aber von der Zustimmung
des Vaters oder Vormundes abhängig macht, wir
hören es und sinds zufrieden. Dafi Töchter ihre Väter
unterstützen, wenn diese erwerbsunfähig sind, er-
scheint uns natürlich. Daß sämtliche Buffetdamen,
die vier Jahre lang sich die Konkurrenz der Mizzi
Veith gefallen lassen mußten, irgendwo eine alte
Gemüsefrau oder einen alten Landbriefträger haben,
dem sie monatlich Geld schicken, — es schiene uns
unchristlich, wenns anders wäre. Und dafi Väter
nicht immer Mitgift zahlen, sondern manchmal auch
Mitgift bekommen, wir wissen es. Aber ein
grenzenloses Staunen geht durch die Welt, wenns
einmal in der Zeitung stand, wenn wir^s uns nicht
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— 15 —
icebr bloß vorstellen müssen, sondern wenns uns
ausdrücklich gesagt ward. Die Moralbestie braucht
»PäUec cum Frafi, an denen sie sich auf Jahre hinaus
gütlich tut, und dankt dem Schöpfer, wenn sich
hinter einem die Kerkertür schließt, der von seiner
Tochter, die ihn mit Schätzen überhäuft hätte, Zigarren
und Wäsche nahm. Und ein verwundertes Summen
braust durch das All, weil sich herausgestellt hat,
daß Liebe käuflich ist, und ein Schrei der Entrüstung,
weil ein Vater das zynische Bekenntnis ablegte:
»Mir wärs recht gewesen, wenn sie einen gefunden
hätte, der sie versorgt Ic Wenn aber die empörte
Moral der Sünde den Kücken zuwendet, dann sehen
wir, daß ihre Kehrseite der Konkurrenzneid ist. Wie
sollten die Bufletdamen nicht sittlich alteriert sein,
wenn eine andere größere Würzen fand, und wie
sollten es die Richter nicht sein, wenn sie Ver-
gleiche zwischen ihrem Gehalt und den Beträgen
ziehen, die in der Welt auf mühelose Art verdient
werden können? Denn sie werden es nie einsehen, daß
die Prostitution die Menschheit weiter bringt als die
Jurisdiktion, daß die Existenz der letzten »Schand-
dirnec kulturvoller und sauberer ist als die eines
Kriminalisten, der sich nicht scheut, das hundert-
jährige Pöbelwort in einen Mund zu nehmen, den er
sich vieleicht noch nicht einmal von dem Kuß einer
Schanddirne abgewischt hat. Sie brauchte vielleicht
bloß zu winken, und er kam, sie brauchte bloß das
Zauberwort zu sprechen: Gehst her, ölender
Sklave 1, und er nannte sie seine Herrin. Sie dient
einer Naturnotwendigkeit, die unverwüstlich ist
und keiner Verbesserung fähig; er aber prostituiert
sich einer miserablen Gesetzlichkeit, die er nicht
fühlt und die er erfüllen muß, weil er von ihr
lebt. Es ist ein widerwärtiger Anblick, einen Staats-
anwalt mit züchtigen, verschämten Wangen vor
sich stehen zu sehen, aber es ist eine unausprechliche
Schande, wenn einer einen Glauben nachbetet, den
er nicht glaubt, und wenn er dazu mit der Enthaltung
263
16 —
von allem besseren Wissen protzt. Männer im Talar,
die einen Sexualprozefl für eine Gelegenheit zum
Beweise ihrer Keuschheit halten, mit ihrer Un-
eingeweihtheit protzen und sich dagegen verwahren,
daß sie die Gebräuche des Nachtlebens kennen, dessen
Typen sie zu richten haben: das ist die schlimmste
Perversität, die solch ein Verfahren ans Tageslicht
bringt I Da wird salbungsvoll die Stimme eines
»juristischen Altvatersc zitiert, der das schöne Gesetz
schöner interpretiert und verlangt hat, dafidie Vermitt-
lung einer sexuellen Gelegenheit »auch ohne gewinn-
süchtige Absiebte strafbar sei. Hol mich der Teufel,
dieses Deliktes würde ich mich jederzeit schuldig
machen, und wenn ich die Wahl hätte, einen juristi-
schen Altvater zu achten oder einer jungen Freun-
din gefällig zu sein, ich bedächte mich keinen
Augenblick. Mein Reinlichkeits^efühl ist so sehr ent-
wickelt und die ethischen Hemmungen in mir sind
so stark ausgebildet, dafi ich es seinerzeit ver-
schmäht habe, Jurisprudenz zu studieren. Welch ein
Geschäft, das einen vollsinnigen Menschen zwingt,
eine Anklageschrift zu verfassen I Und eine solche,
in der der Satz vorkommt: »In der Prostituierten-
laufbahn der Mizzi Veith lassen sich deutlich
drei Perioden unterscheiden. Die erste reicht vom
März 1904 bis Ende 1904. In dieser Zeit besuchte
Mizzi Veith fast jede Nacht »Venedig in Wienc, das
Etablissement Ronacher und das dabei befindliche
Nachtcafö . . . Die zweite Periode, die der Freund-
schaft mit Leopoldine Jellinek, reicht von Ende 1904
bis Mai 1906 ... In diese Periode fallen Unterhand-
lungen mit einem Russen, der ihr die Jungfernschaft
abkaufen wollte u. s. w.c Wenn einer blofi Juristerei
studiert hat und noch nicht zu dem Gefühl gelangt
ist, dafi kein Hund so länger leben möchte, so ist
ihm nicht zu helfen, und dem Volk bleibt die Aus-
sicht, der Lebensfremdheit einer Kaste noch femer
Opfer zu bringen und dafür höchstens durch ein
Spektakel entschädigt zu werden. Jedesmal hofft
— 17
man, jetat würden Männer, die Vollbarte tragen und
AnscniAuungen entwickeln müssen, die in der Zeit
vor der Pubertät obligat waren, jetzt würden sie die
Akten zuklappen und erklären, daß sie das Kinder-
spiel satt haben und nicht mehr mittun ; und jedesmal
hat man vergebens gehofft. Mit dem gleichen Ernst,
der nicht nach rechte und nicht nach links blickt
und nur hin und wieder nach oben, werden die
Ereignisse in einem Ghambre separöe abgehandelt,
als ob die Menschheit hier einem noch nicht ent-
rätselten Geheimnis der Schöpfung zum erstenmal
nahe sei. Qott weift alles, aber damit befriedigt sich
ein dunkler Drang nicht, der die letzten Dinge er-
kennen möchte, und fragt den Hausmeister, ob er »etwas
bemerkte hat. Der Ton aller dieser Peststellungen, jede
Gebärde des Richters, jedes Eopfschütteln des An-
klägers, Scherz und Ernst, Pikanterie und Pathos,
das ganze Schauspiel und seine Resonanz in der
Öffentlichkeit, all dies im Besonderen und Allgemei-
nen, es dreht sich nach wie vor um die Angel der
Vorstellung, daß der Koitus als solcher ein Tatbestand
sei und die Lust ein Verbrechensmerkmal, und es setzt
den teuflischen Ursprung der aufterehelichen Liebe als
notorisch voraus. Wenn Aphrodite selbst herabstiege,
vor einem Wiener Qericbt würden der Obletal, der
Hlawatschek und der Schabeteberger befragt werden,
ob sie etwas bemerkt haben . . . Und es ist ein alter
Zauber der Heuchelei, daß in ihrem Reigen die Sünde
selbst nicht fehlen will. Sie nimmt an ihren Heim-
lichkeiten teil und ist die erste, die ihr bei den
Aufklärungen hilft. Die willfährigsten Zeugen der
Moral sind die Pächter der Freude, und wenn die
Gerechtigkeit sich an ehrlicher Entrüstung über eine
Hure und eine Kupplerin weiden will, so braucht sie
blofi die Huren imd die Kupplerinnen als Zeugen zu
mfen. Die Frage, die alle Herzen öffnet, heifit: ob
»etwas Unrechtes geschehen istc. Damit umschreibt
die Sittlichkeit ihr Entsetzen darüber, dafi einmal in
dieser impotenten Zeit etwas Rechtes geschehen sein
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18 —
lUMinte. Die Pichter der Freude mifiTerstohen luent
und meinen verlef^n, es sei nichts Rechtes gesche-
hen; nicht »das Bigentlichec Dann aber werden sie
gesprachig und rersichern, daß sie in ihrem eigenm
oavon natürlich keine Unmoralität nicht dulden und
dafi sie schon seit Jahren mit immer wachsendem
Ärgernis das Treiben des Angeklagten beobachtet
haben, und überhaupt. Nur eine Ghampagnerkneipen*
Wirtin, aus deren moralischer Anstalt du Lded »Die
Mizsi und der Jean gehn miteinanda drahnc au den
Skernen dringt, ist schweigsam; denn siebringt es nidit
flbCMT die Lippen. Aber ule Institutionen der Unmoral
sind plOtslich anerkannt, wie die Justia die Paria-
mente anerkennt, an die sie behufs Auslieferung eines
Abgeordneten herantritt, und die Tugend verständifft
sich mit dem Laster darüber, dafi es ein Ausnahnssfdl
war, der Konkurrenaneid ist ein Bundesgenosse der BSnt-
rüstung, und in das Cafö Ronacher war ein Wehrwolf
eingebrochen und geendet sind die Nächte der Not . . .
Nicht immer freilich fühlt sich das Laster durch
seine moralische Mission geschmeichelt und findet es
manchmal sosrar seiner unwürdig, die Orationen des
Qerichtshofes über sich ergehen su lassen. So bemüht
sich die Justia seit Jahren vergebens um dieMöglidi-
keit, der Frau Sachs durch Berufung aum Zeugen-
amt eine offiaielle Ehrung bu erweisen. Ihr Name
schwirrt durch den Qerichtssaal, so oft eine kleine
Kupplerin eehängt werden soll, und von allen Mienen
liest man das Bedauern: Ja, wenn wir die aJs Sach-
verständige hier haben konnten 1 Aber eher dürfte
ein schwärmerischer Staatsanwalt die Hoffnung hellen,
in einem politischen Prozeft werde die Austna emer
Vorladung folgen, eh' jener Traum in Erfüllung
gebt. Mut kann die Sachs so wenig vor Gericht
stellen, wie man einen Ton oder ein Symbol vor
Gericht stellen kann. Darum müssen sich die
Funktionäre damit begnügen, sie wie eine oberet-
gerichtliche Entscheidung bu aitieren, wie eine Oe-
setaesstelle sv interpretieren oder einfach auf ihre
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19 —
NotorietAt hinauwaiaen. Die Sachs in einer Euppelei-
iftobe vor Qericht haben wollen, das kommt etwa dem
Verlangen eines Reisenden gleich, den Bädecker per-
sönlich BU sprechen, wenn ihm das Hotel nicht gefkUt.
Bs gibt wahrscheinlich den einen so wenig wie die
andere, und die Gelegenheit, die Frau Sachs bei
Gerioht au sehen, ist jedenfalls die einsige, die
sie nicht Terroittelt. Und kein maßvoller Beurteiler,
dw Respekt vor einer Staatsnotwendigkeit hat, wird
daran Anstoß nehmen. Nicht die Zurückhaltung Tor
der Sachs, die eine viel wichtigere und lebens-
fiLhigere Institution darstellt als die Justia, sondern
der SÜfer gegen die kleinen Kupplerinnen wird ihm
mn Oefahl der Obelkeit einflößen. Er findet es be-
greiflich, daft sich ein Gerichtshof der Zeugenaussage
der Frau Sachs entschlägt, weil sie ihm aum Schaden
gereichen konnte, und er sieht ein, daft eine Ver-
nehmung Tor dem Oberstmarsohallamt das Verfahren
unnötig rerschleppen würde. Nur die prinzipielle Ab-
n«gung der Justiz gegen das Delikt der Kuppelei kann
er nicht begreifen. Nur die Distanzlosigkeit gegenüber
dem »Fallt nicht und die Entfernung vom Leben.
Nicht das Pathos einer Betrachtung, die immer eine eben
erachaflbne Welt voraussetzt, in der das erste Animier-
mldehen den ersten Stammgast verführt. Nicht diese
Pttbeszenz einer Amtlichkeit, Scham und Drang au*
gleich, über die Geheinmisse des Nachtlebens endlich
aufgeklärt zu werden. Ach, man mufi nur die raunende
Vertraulichkeit erlebt haben, mit der sie einem Ober-
kellner zusetzt, sein Herz von dem Kummer zu er-
leichtern, durch den eine von der Poldi ihm zugesteckte
Vbitkarte sein Familienglück beschwert hat. Ober-
kellner und Polizeibeamte gehen rein aus dieser Aff&re
hervor. »Aus meiner zwölfjährigen Verbindung mit
I^r.B. weift ich ganz genaue, ruft ein Zeuge pathetisch,
»daft er weiblichen Einflüssen absolut unzugänglich
istit In der Residenz des Herrn Harden wäre solches
Leumundszeugnis einfach vernichtend; in Wien,
wo goltaeidank ein geregelter Geschlechtsverkehr
— 20 —
herrscht, weift man, daft es ein Zeugnis für Fleift und
gute Sitten eines Beamten und Ehemannes bedeutet.
Und alles heult vor Rührung, weil es dem Herrn Policei-
oberkommiss&r gelingt, dank den über seine Sittlichkeit
hieramts gepflogenen Erhebungen die diesbeeügliche
Verleumdung su widerlegen. Nicht, weil er den Vorwurf
des Amtsmiflbrauchs, sondern weil er den Verdacht der
Ausschweifung surückgewiesen hat. Keusch ist er wie
Hermione: ihr (}ötter, blickt herab I Und die Öffentlich-
keit erlebt die Freude, einmal etwasGenaueres aus einem
geordneten Familieiüeben zu erfahren. »Mein Leben
ist ein offenes Buch, als Sohn eines Arbeiters war
ich von Jugend an auf mich selbst angewiesen. loh
habe ein armes Mädchen, mit dem ich drei Jahre
verlobt war, zu meiner Frau gemacht und lebe von
meinem Qehalte in idealer Ehe, der drei Kinder ent-
sprossen sind.« Wie rühmlich das alles aber auch
sein mag, viel verdienstlicher ist eine andere Eigen*
Schaft, die der Gekränkte in öffentlicher Gerichtsver-
handlung nicht oft genug hervorheben kann. Sein Alibi
gegen den Vorwurf ehelicher Untreue ist seine Grobheit
flogen hübsche junge Mädchen, und auf die ist erstell,
mmer wieder gibt er unter dem Jubel der Öffent-
lichkeit zum Besten, wie er »in schroffer, ja unhöf-
licher Weisec die Aimäherung der armen Mizzi Veith
zurückgewiesen habe, wie er noch in der Weihburggasse
grob geworden sei, wie er überhaupt brüsk und barsch
gegen Prostituierte sei, bei denen er »als Wauwau
geltec, er, der bekanntlich »seit dem Jahre 1896 keine
wie immer gearteten Atiflerehelichen Beziehungen
gepflogen« habe. Mit einem Wort, ein Kulturmensch,
und des AvancementB würdig wie nur einer. Glück-
lich der Staat, dessen Sittenpolizei den Mädchenhandel
durch Grobheit eindämmt I In Frankreich zum Bei-
spiel hätten sie nicht das richtige Verständnis dafür
und würden bei solcher Rehabilitierung eines ge-
kränkten Beamten nicht gerührt sein, sondern pfeifen.
Aber dort weift man gewift auch die kulturelle Bedeu-
tung des Hausmeisters nicht zu würdigen. Ich saheinmal
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21 —
Ton meinem Fenster, wie ein solcher eine Prostituierte
mit einer Reitpeitsche durch die Qasse jagte. Er
berief sich darauf, dafi ein Polizist die Bewilligung
erteilt hfttte. Diesem Polizisten hätte sich gewiß die
allgemeine Teilnahme zugewendet, wenn er f&lschlich
einer Beziehung zu dem Mädchen beschuldigt worden
wäre, und er hätte sich auf die Auspeitschung berufen
können . . . Das Nachspiel zu dem Kuppeleiprozefl
enthüllt unsere Weltanschauung noch besser als
dieser selbst. Und wenn die Grobheit eines Oberkom-
missärs bloß ein Alibi ist, so ist die Empfindsamkeit
eines Polizeirats eine Sensation. Er weint, weil endlich
der Verdacht ron ihm genommen ist, mit der Mizzi be-
kamt gewesen zu sein. Ein Mann, der die Tiefen der Ver-
brecherseele kennt und abgehärtet genug ist, die
Beschreibung seiner kühnsten kriminalistischen Lei-
stungen mit Vergnügen im ,Extrablatt' zu lesen,
weinty weil er nach bangen Wochen von dem Makel
bdOreit ist, er sei mit der Mizzi Veith im Theater an der
Wien gewesen, weil er unter einer Verleumdung leiden
mußte, durch welche, wie er versichert, die kost-
barsten Güter der Menschheit, nämlich sein ehelicher
Friede und seine Tugend, gefährdet worden seien. (Weint
abermals). Und »wäre es nicht pathologisch, zu glau-
ben, daß er mit einer stadtbekannten Kokotte sich
habe blicken lassen ?€ Aber es wäre gewiß nicht patho-
logisch, zu glauben, daß er sich mit stadtbekannten
Wucherern blicken läßt. Denn der Verkehr mit diesen
stört weder das Eheglück noch die Moral. Ein stadt-
bekannter Geldagent bezeugt, daß der Chef des Sicher-
heitsamtes die Mizzi Veith nicht gekannt hat. Sie bat
ihn darum, die Bekanntschaft zu vermitteln, er aber
»habe seine Hand nicht dazu geboten« (Bewegung). Und
daß der Geldagentimstande gewesen wäre, die Bekannt-
schaft zu vermitteln, dünkt der Beamtenehre eine rühm-
lichere Enthüllung als der Nachweis der Bekanntschaft.
Nein, der Gekränkte hat an jenem Abend bei der
Hautefinance soupiert, er saß nicht mit der Prosti-
tation im Theater. Auch das bedeutet ein Alibi.
Uigitized by VjOOQl'
22 —
Aber wahiüoh, besser stOnde es nm diesen Steat»
wenn seine BiMimten sich yon dem Verdadity mit
den Popper, Goldberger und Rappaport gesehen wor-
den 8U sein, duroh das Alibi retten könnten, daft sie den
Abend bei Veiths sugebracht haben 1 Der ReinigungSr
protefi, der in solchem Falle geführt würde, hätte
nichts von jener schmalsigen Pathetik, die uns ab
Dessert au einem unverdaulichen Moralgericht senriert
worden ist, und die Tatsache, daß das Sicherheits-
bureau am Schottenring liegt, wäre ein Zufall und
kein Verhängnis. Und sollte man nicht glauben, dat
gegen die Zumutung der Bekanntschaft mit einem
hübschen Oeschöpf der Eid genügt hätte? Die Erkennt-
nis, daft Weiber lügen undProstituierte mit hochgestell-
ten Klienten renommieren, ist nicht so kostbar, daft sie
uns erst durch eine umständliche Sühneproaedur Ter-
ndttelt werden mufite. Der Eid des Betroffenen schlägt
den Verdacht einer Besiehung nieder, die Zeugen
beweisen nur, daft die Behauptung der Zusammen-
kunft erlogen war. Und es kann eine noch so sJte
Erfahrung sein, daft Prostituierte »sich mit Vor-
liebe an rolieeibeamte anlehnenc, der Gegenbeweis
gegen eine öffentliche Zusammenkunft bewiese nodi
nichts gegen eine geheime« Die Andichtung semdleD
Verkehrs — und um eine solche handeU es sidi,
nicht um die des sozialen Verkehrs — läftt sich nur
durch die eidliche Aussage widerlegen. Das ist mit
dem für die k. k. Sittenreinheit wünschenswerten
Erfolg geschehen und hätte hinreichen sollen. Das
Anbot eines Alibi — es wäre denn die Bereitwillig-
keit, seine Impotena su beweisen — ist ein ebenso
sinnToUer Versuch, wie wenn einer dem Vorwarf,
Poker gespielt au haben, nicht mit der Aufforderung
begegnen wollte, daft der Gegner es beweise, sondern
mit dem Anbot des Beweises, daft er nie im
Leben Poker gespielt habe. Ein Kriminalist, der be-
weisen kann, daft etwas nicht geschehen ist, ist sehens-
wert und Terdient einen Plats im Poliaeimuseum; und
es gehurt der ganae Schwachsinn joumalistisoher Lob-
— 28
Jmdkr 4asu,den krimiiialistisohmi Soharffumiu praten,
dttr »durch einen glänzend kompUsierten, sohlagendeo
Gegenbeweis dieröUige Haltlosigkeit der rorgebraohten
Beitthuldigungen erwiesen htttc. Die eidliche Be-
kritftigung hätte diesen Tröpfen wahrscheinlich nicht
ffenfl|^ um den Klischees des Poliseiruhmes jenes neue
hinsuxuiagen, welches das einsige erfreuliche Resultat
dieser Proiesse bedeutet: Dem Ohef des Sicherheits-
bureaus gebührt das Verdienst, mit der Missi Yeith
nicht yerkehrt su haben. Oder: Der Polisei ist es
gelungen, nachsuweisen, dafl sie seit dem Fall Riehl
keine wie immer gearteten auflerehelichen Beuehunffen
imflogen hat. Was wieder reichlich dafOr entschi-
digt, dafl es ihr noch nicht gelungen ist, die Adresse
d«r Frau Sadis ausfindig su machen.
Aber wenn manschen aufafthlt,was der Poliaei alles
gelangen ist und was nicht, dann steht eine Tat vor unse-
ren Augen, vor der die Reklame sich sum Ruhm erhöht.
Der Selbstmord der Missi Yeith ist ihr gelungen, wie ihr
noch nichts gelang. Bs ist pure Verleumdung, daß
ihre Funktionare den Körper dieses Mädchens be-
rflhrt haben. Aber mit dmn Leichnam stehen sie in
Mner Beaiehung, gegen deren Vorwurf kein Alibi
hilft Ihr eheliches Qlück wird diese Besiehung nicht
gefkhrden, aber möge sie den Schlaf stören, den ihr
eheliches Olflck ihnen übrig läfiti Möge sie's; idi
wänsche es aus tiefttem Hersen. Denn sie haben einen
Kuppler seiner Strafe zugefOh^ und den Zweck
aller kriminalistischen Mühe, zu verhüten und
absuschrecken, in geradesu vorbildhafter Weise durch-
gesetst: Marcell Veith wird sein Kind nicht mehr
verkuppeln I Wenn man nun einwendet, dafi dieser
Bflekt auch ohne letalen Beigeschmack zu ersielen ge-
wesen wftre, so vergiflt man, daft noch wichtiger als
die Verhütung eines Verbrechens die Feststellung
eines Verbrechms ist. Die Sittenpolisei hat, wie ihr
aehwergelorftnkter Vertreter vor Gericht su^b, lange
Jahre gewuflt, was dieser Conte Veith treibe, afc^r
sine gewissenhafte Behörde läflt ein Kind so lange dem
- 24 -
Ruin preisgeben, bis sie mit Fug einem Vater die
Schuld beimessen kann. Erhebungen sind wichtiger
als Warnungen und auf einen Tatbestand kommt es
an, nicht auf eine Rettung. Bis man seiner Sache
sicher ist und gegen ein Treiben, das man für ver-
brecherisch hält, einschreiten darf, hilft man sich
eben mit Grobheit gegen das Opfer, so gut man kann.
Bs ist eine alte Polizistenweisheit, dafi man ein Ver-
brechen auswachsen lassen mufl. Eine Warnung bitte
den Verdächtigten vielleicht davon abgehalten, sein
Kind weiter zu verkuppeln, und dann hätte man
überhaupt nicht mehr einschreiten können. Obrieens
war der Hausmeister noch nicht gefragt worden. Aber
die Sittenpolizei war in all den Jahren nicht müfii^ ge-
wesen. Im Jahre 1904, so erzählt der Oberkommissär,
habe er Mizzi Veith bei Ronacher gesehen, »wie sie
champagnisierte und vom Vater abgeholt wurdet ;
er »hatte damals schon den Eindruck, dafi Marceil
Veith seine Tochter dem Laster zuführec. 1905
»glaubte er in seinen Beobachtungen schon so weit
zu sein, um mit der Verhaftung vorgehen zu können«.
Da ergibt sich »ein Zwischenfall, der ihn wieder
davon abhält«. Veith war nämlich im Kaffeehaus
von der Eassierin ein Zuhälter genannt worden.
Also eine Zeugin für den polizeilichen Verdacht?
Mit nichtenl Veith klagte wegen Ehrenbeleidi-
gung und produzierte ein Virginitätszeugnis seiner
Tochter. »Das machte mich stutzig.« Wie denn
auch anders? Hieramts ist nur eine Pforte der Lust'
bekannt, und wenn die vorschriftsmäfiig geschlossen
ist, zweifelt ein Sittenpolizist nicht, dafi »nichts Un-
rechtes« geschehen ist. Das Jahr 1906 bricht heran,
und der Mann avanciert zum Vorstand einer
Abteilung für Prostitutionswesen. Was sich sonst be-
gibt, erzählt der Zeuge nicht. Aber 1907 1 In diesem
Jahr langt — endlich — eine anonyme Anzeige gegen den
Veith ein. Der Oberkommissär, weist sie dem Kom-
missär zu, dieser aber meint, »da werde nicht viel zu
machen sein«. Trotzdem wird ein Akt requiriert, werden
- 25
SUiebungen gepflogen, und der Oberkommissftf ver-
riobert sogar einmal gesprächsweise^ dafl er von der
Richtigkeit der Anzeige überzeugt sei. Aber es ist nichts
SU machen, bis eines Tages Veith glücklicherweise »un-
Torsichtig wirdc und Besuche im eigenen Hause zu-
läßt Jetzt kann der Hausmeister gefragt werden.
Da er ja sagt, schreitet die Polizei ein. Und zwar
im Jahre lOC^ . . . Der Staatsanwalt trat später von
der Anklage, es sei auch im Hause gekuppelt worden,
lurück, und so mag man sich heute vorstellen,
dafi die Polizei noch weiter nach der Lehre Tolstojs
gelebt und dem Obel nicht gewehrt hätte, wenn
die entscheidende Recherche sich schon damals
als haltlos erwiesen hätte. Veith wurde wegen all der
Indizien verurteilt, mit denen die Polizei nichts an-
fangen konnte, bis sie jenes Faktum ermittelte,
von dem er loskam. Das schafft einige Beun-
mhigung. Aber glücklicherweise weiß man, dafi
SU den juristischen Gesichtspunkten, die bei der
Formulierung eines Tatbestandes raaflgebend sind,
auch die Rücksicht auf Theresianisten gehört
Dafi der Staatsanwalt sogar die Unterhändlerschaft
des Marceil Veith »gar nicht beweisen woUte^r, hob
der Gerichtshof dankbar hervor; es blieb ihm er-
spart, die Herren einzuvernehmen, denen die ver-
brecherische Absicht des Angeklagten wohl getan
hatte. Nun war die demokratische Heuchelei, die sich
gegen die Konsumenten der Prostitution kehrte,
gewifi eine der gräulichsten Erscheinungen in diesem
moralischen Fiebertraum. Aber noch weit unappetit-
licher ist eine Gerechtigkeit, die den zahlenden Teil-
nehmer an der verbrecherischen Handlung soear
Tor der Zeugenschaft bewahrt, lieber auf einen Tat-
bestand verzichtet als einen Beweis zuzulassen, und
die sich zwar für die Einsicht gewinnen läßt,
dafi es notwendig sei, sich eines Kupplers zu
bedienen, jedoch nicht für die Erkenntnis von der
Notwendigkeit des Kupplers. Man mag den historischen
206, auf deren Aussage das Gericht verzichtet hat.
26
dtt R«oht «ttf diu Privatleben n^jMtehen-: tUiatief
solieint mir der Mann, der von seiner Toehter Geld
nimmt, nicht unter einer MensohenklaMe lu stehen,
deren Vertreter sich bei den Pidiem beschweren, dsft
sie mit der Poldi Torlieb nehmen mufiten, wenn die
ICini nicht wollte. Wehe der Unglficklichen, die vor
dieser Horde kein Zuhälter schütstl Dafi die bOrgerlidie
Oeselbchaft mit Verachtung auf ihn blickt, ist be-
((reiflich ; denn er ist der heroische Widerpart ihrer Unter*
haltungen. Sie sind bloft schlechtere Christen, er aber ist
ein besserer Teufel. Br ist der Antipoliaist, der die Prosti-
tuierte besser vor dem Staat schatst, als der Staat die
Gesellschaft Tor ihr. Er ist der letste moralischeRückhalt
eines Weibes, das an dw ijruten Gesellschaft au Schan-
den geht Von ihr kann sie nur reich werden, von
ihm wird sie schön. Wenn er sie ausraubt, so hat
sie mehr davon, als wenn die anderen sie beschen-
ken. Weil er »lu ihr halte, ist er mißachteter als sie
selbst; aber diese Miflachtung ist nur ein Mantsi
des Neides: die Gesellsdiaft mufl ihre Lust besaUen,
sie empfängt Ware Iflr Geld, aber das Weib emp-
flingt iuB Geld und behält die Lust, um den Binen
doppelt au beschenken. Dort ist die Liebe eine Oko*
nomische Angelegenh^t, hier macht eine Natur-
gewalt die Rechnung. Wo fängt die Bthik an und wo
hört sie auf? Die Seziehung des Adoptivvaters nr
Missi Veith ist vielleicht mehr Pamilienangriegenh^t
als erotisches Mysterium. Wer Geschäftsbücher fttbrt^
ist ein Administrator, kein Räuber; dieser Beschfltser
hätte sein Mädchen vielleicht auch vor einem Strissi
beschütst. Die Gesellschaft mag den Geschmack
miflbilligen, der ihn bei der Wahl des Berufes für
seine Tochter geleitet hat; in der Eonsequens des
Schrittes ist er allen Anforderungen der Fannlien-
moral gerecht worden.
Und die Hannele- Visionen, die die Offentliohs
Meinung um den Fall gewoben hat, aerstieben vor
der Bntdeokunii:, daft die Poliaei die Miiai Veith ins
Wasser getrieben hat, als sie ihr den Vater nahm, den
27 —
m ereihren wollte. Und daft nicht der Vater, sondern
ein PoUiiBt gegen sie grob war. Ehe er ihren Seihet»
mord beging! Hätte der Vater sie geetofien, ge*
peitscht, am Pamilienherd ger()8tet, er wäre mit der Strafe
der Verwarnung davongekommen. Aber weil er ihren
Körper Zärtlichkeiten aussetste, kommt er auf ein
Jahr ins Zuchthaus. In diesen Grenzen des Irrsinns
lebt unsere Sittlichkeit Und infernalisch ist die Bosheit,
mit der sie dann noch den Mund einer Toten verstopfen
mOdite« Wenn Misai Veith vor Gericht bekundet,
didl ihr Vater sie nicht verkuppelt habe — man
halte sie fOr befangen und lehne ihr Zeugnis in
Gottes Namen ab. Wenn sie sich aber selbst für be-
fisngen erklärt und sagt, sie sei aus Liebe su
ihrem Vater ins Wasser gegangen, dann sollte man
S^lauben, dafl nur mehr ein von der Moral verbranntes
Hirn sich eines Zweifels unterfangen darf. »Weil sie
den Lebenswandel nicht mehr ertragen konnte«, lautet
der Blindheit leteter Schlufi. Sie sehen nur noch mnen
Leichnam und ein Nachtcafä. Aber Miasi Veith hat
sich nach der Verhaftung ihres Vaters ertränkt und nidit
eine Stunde früher; sie war frei, von dem Zwang
einee Kupplers erlöst, konnte endlich Tabakarbeiterin
werden, und hat sich dennoch ertränkt. Nein, die
Freude hätte sie noch lange gefreut, und man
kann nicht einmal sagen, dsA sie das Familienleben
satt hatte. Das Laster mag ja im allgemeinen von
den MoralbegriflTen der bürgerlichen Gesellschaft
schon aiemlich angefressen sein, aber noch ist kein
Familienerlebnis imstande, ihm die Lebensfreude su
verderben. Die Prostitution mag ar^ verbürgerlicht
sein: so schlimm steht es noch nicht um sie, dat
man die Hoffnung aufgeben müflte, das Dasein durch
sie heiterer au gestelten. Ach, ein Verbrechen ist
immer erst das, was nach vier Jahren herauskommt
und bis dahin allen Beteiligten einen Heidenspaß
bereitet hat. Die Unsittlichkeit lebt so lange in
Frieden, bis es dem Neid gefällt, die Moral auf sie auf-
merksam 8U machen, und der Skandal beginnt immer
— 28
erst dann^ wenn 9die Polisei ihm ein Ende bereitete.
Sie übt eine Raison, der wir alle uns zu beugen
haben. Nur manchmal (gelüstet uns, bu glauben, dafi
der einsige Bezirk, durch den die Linie eines logischen
Lebens geht, die Welt der besinnungslosen Huren sei. Dafi
der einsige würdige Betrieb im Staate die Prosti-
tution sei, normal neben der Perversität des geistigen,
planvoll neben der Wirrnis des politischen, reell neben
dem Schwindel des sozialen Betriebes. Der Freudenmarkt
mag seine Auswüchse haben und seine Unordnung, Miß-
bräuche und irdische Mängel, seinen Ekel und Verdruß.
Aber er ist die einzige Einrichtung der bürgerlichen Ge-
sellschaft, die nicht von Qrund aus verkommen ist. Sollen
wir uns auch4hn noch verhunzen lassen? Das Beispiel,
das die bürgerliche Oesellschaft an jedem Tag
der Prostitution ^bt, ist schlimm genug; braucht's
noch einer Einmischung der Autorität? Sie impo-
niert schlecht. Denn schlechter als der Amtsmifibraucb,
dessen Vorwurf die Polizisten entkräftet haben, ist
jener Gebrauch des Amtes, der vier Jahre ein Ver-
brechen sich in der Stille entwickeln läflt, um dann
mit mörderischem Eklat einen Erfolg zu erzielen.
Welch eine kriminalistische Ausbeute: In der einen
Hand ein Tatbestand, in der andern eine Wasserleiche I
Ein nasses Abenteuer der Moral 1 Macht nichts, wir
schütteln uns, und leben gesund weiter. Es gur-
gelt, man prozessiert um eine Welle im Meer, und
der Schlund schlieflt sich... Der Plumpsack geht
um, schlägt ein kleines Mädchen tot, und legt sich
wieder hin. Dann geht das Spiel von neuem los. Das
sind die Moralprozeduren des Staates. Sie lang-
weilen mich. Quousque tandem, Oato, abutere
patientia nostra?
Karl Kraus.
Hcrantoebcr aad venuitvortlldttr RedaUnr: Ktrl Kr ins.
Drndc von Jahodt * SIcgd, Wien, HI. Hlirtere ZotlamtnlfiBc 3.
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Karl Kraus:
MAIIHIUAH lARl
Eine Erlediguag. Eio Nach
Preis 60
Pf.
Hardens Antwort.^
loppei-Nniiiiner ^Preis eo hbiii
16^—265. 1 . ... ... X.Jahr
Die Fackel
Herausgeber:
KARL KRAUS
INHALT:
Politik. Von Karl Kraus. — Ein chinesiicher
loftoph. Von Oj^car Wilde. — Über die Jung-
tAuiohaft. Von Shakespeare. — TagebucL
'1 Kraus. — Der Germanist. ^' >
— Der neue Buhm. Von Otto
Die Liebe zum Staate. Von Bruno Wolfgang.
— OloBsen. Von Karl Kraus.
Erc
aad gewerbsmäßiges Verleihen verboten ; gerichtliche
Verfolgung vorbehalten.
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Broschiert K 7.20 = Mk. 6.—
Ganzleinen „ 8.70 = „ 7.25
n zweiter Auflage ersdhienei
Sittlichkeit und Krlminalltl
»Band der Ausgewählten Schriftj
von
I KARL KRAUS
itellungen auf das im Verlag der Buchhandli ^
L. Rosner, Wien und Leipzig, ersdhienene Werk nimmt
jede Buchhandlung, sowie der Verlag der ,FackeP,
Wien, 111/2, Hintere Zollamtsstraße 3, entgegen^-
[ Mitte Movember erscheint im unterzeichneten Verlag]
HUBERT WILM:
Ein PflRKMflRCHEM
:: SIEBEM ZEICHMUriQEri ::
Liebhaber wertvoller und seltener Kunstwerke seien
schon jetzt auf diese Meuerschelnung aufmerksam
gemacht. Die sieben - farbigen ~ mit den vornehmsten
AVitteln moderner Technik reproduzierten Zeichnunaen^
ind vom Künstler handschriftlich ^ und wu ^1
iner eleganten Mappe im Formate 45 52 cm vereinigtJ
jie einmalige numerierte Ruflage beträgt 200 E|cemplarei
Der Subskriptionspreis einer Mappe Ist 30 Mark»_
D Ausführliche Prospekte at;
IE Facked
Wi. 264-« 18. NOVEMBER 1908
X.JAHR
PoUtik.
Mein Verhältnis cur Politik drückt sich etwa
(in dem teilnahmsvollen Dialog aus, den ich neulich
L führte: >Und wer soll denn Handelsminister werden ?€
]>Der jetzige bleibte. »Ah^ und wer ist denn der
|jetBi|;e?c .. . Ebenso angelegentlich bin ich für die aus-
jwirtige Politik interessiert. Wenn ich gar fOrdie Span-
Inungen eines Krirainalromanes su haben wäre, dann
I übten die Gestionen der Diplomatie einen noch größeren
Reie auf mich, als sie ohnedies tun: ich könnte mich
nicht satt sehen an dem Schauspiel, wie die Staaten
Ton einer internationalen Verbrecherbande steckbrief-
Kch yerfolet werden. Wenn ich sage, dafi mich die
Politik nicht interessiert, so mögen es mir die glau-
ben, die durch die Politik um ihren Verstand gekom-
I voaa sind. In Wahrheit ist mir die Politik zwar nicht
Beruf, aber gerade deshalb Problem. Was mich an
der Politik immer wieder anzieht und beschäftigt,
ist die Tatsache, dafi es Politik gibt. Ich halte sie-
für eine mindestens ebenso vortreffliche Manier, mit
dem Ernst des Lebens fertig zu werden, wie das
Tarockspiel, und da es Menschen gibt, die yom
Tarockspiel leben, so ist der Berufspolitiker eine
; jhaus plausible Erscheinung. Umsomehr, als er
J ler nur auf Kosten jener gewinnt, die nicht mit-
I en. Aber es ist in Ordnung, dafi der Kiebitz
)n mufi, wenn das* geduldige Zuschauen seinen
dinsinhalt bildet. Gäbe es keine Politik, so hätte der
ter bloß sein Innenleben, also nichts, was ihn
< ^en könnte. Spannungen kann ihm nur der
üigitized by VjOOQIC
— 2
Rohstoff de^ Lebens bieten. Die Kunst läfit ihn
darin im Stich, aber Politik und Verbrechen sind
Rohstoff. Je gröfier die Handlung, desto geringer
die geistige Anstrengung, die Handlung zu er-
fassen. Und je gröfier das politische Ereignis ist,
umso auffälliger tritt die geistige Armut hervor, die
sich mit ihm beschäftigt. Politik ist Buhnenwirkung.
Wenn Shakespeare über die Szene ging, hat no(m
jedem Publikum der Waffenlärm die Gedanken über-
tönt. Die Größe Bismarcks, der den politischen Stoff
schöpferisch gestaltet — und warum sollte einem
Künstler nicht ein Abenteuer im Kehricht zur
Schöpfung erwachsen? — , wird mit dem Mafi
der theatralischen Handlung, des Effekts der Auf-
tritte und Abgänge gemessen. Und wenn wir
Deutschen Gott und sonst nichts in der Welt fürchten,
so respektieren wir selbst ihn nicht um seiner Per-
sönlichkeit willen, sondern wegen des Geräusches
seiner Donner. Rhythmus ist alles, nichts die Bedeu-
tung. Als die Hinterbliebenen in Friedrichsruh einem
ungebetenen Gast den Sargdeckel vor der Nase zu-
schlugen, war Gröfie in dem Vorgang, aber das
zuschauende Volk spürte sie nicht, denn es hatte
nur mehr Auge und Ohr für Gebärde und Tonfall des
Mannes, der im Rohstoff der Politik lebt wie keiner
vor ihm. Gibt er nicht restlos alles dem Volke?
Hand aufs Herz, was ist dem Volke lieber : »Der
Müller und sein Kinde oder »Wenn wir Toten erwa-
chenc? Wer aufier den Politikern beklagt denn die
Dummheiten in der Politik? Sind die Gescheitheiten
in der Politik gescheiter ? Bietet das Schweigen mehr
Spannung als das Reden ? Ein Interview, heißt es, und
sechs Millionen hätten beinahe in den Krieg ziehen
müssen 1 Aber sind die Gründe, aus denen sie es sonst tun
müssen, einleuchtender? Ist das Mifi Verhältnis geringer?
Nicht, dafi diese Folge eines Interviews eintritt, son-
dern daß es Folgen geben kann, ist erheblich. Daß es
Politik gibt, ist erheblich. Dafi sich die erwachsene
Menschheit keinen besseren Zeitvertreib weiß, als aul
üigitized by VjOOQi'-
— 3 -
der Lauer ihrer SpannuD^eu zu liegen. Das Mifiverhältuiis
zwischen Ursache und Wirkung ist der ganze Inhalt
des poHtischen Sports. Darum ist es töricht, vom
politischen Standpunkt die Ursache anzuklagen. Je
größer die Gefahr, desto reicher die Befriedigung des
politischen Interesses, und je größer das Ereignis,
desto greller erhellt es die geistige Leere, aus
der es geboren ist. Ob ein Kaiser mehr oder weniger
spricht, das ist das Um und Auf unserer Lebens-
sorgen. Dies, und nur dies, ist mein politisches Thema.
Denn wenn wir einen Monat lang von nichts anderem
sprechen, so fehlen wir mehr gegen die Kultur, als
ein Gespräch gegen die Politik gefehlt hat. Ich sehe
ein, daß es kein Privatvergnügen ist, sondern
politische Polgen hat, aber eben daran ist die Politik
schuld, die man zum Schweigen bringen muß, um die
Gespräche eines Kaisers ungefährlich zu machen. Politik
zu treiben, wenn ein Erlebensdrang ihren Stoff nicht
zum Kunstwerk formt, ist das traurigste Geschäft
dieser Welt. Aber eher könnte noch Wilhelm II. eine
persönliche Beziehung zu seinen Irrtümern haben als
HerrHarden zu seinen Wahrheiten. Es ist die schlimmste
Möglichkeit der Politik, daß ein politischer Fehler
einem geschlissenen publizistischen Ansehen aufhilft,
und die größte Gefahr der Reden Wilhelms II. sind
die Erfolge des Herrn Harden. Das Interview des
Kaisers war von Übel; aber ist es nicht weit be-
denklicher, daß die deutsche Nation plötzlich er-
fährt, es handle sich gar nicht um das Inter-
view, sondern um >die Interview« ? Wenn Eng-
land, Prankreich, Rußland, Italien und Österreich
sich zum Krieg gegen Deutschland verbänden, es
wäre gewiß eine bedauerliche Folge des politischen
Unfugs. Aber wäre es nicht entsetzlicher, wenn wir
dann lesen müßten, daß der King, Mariannens Vor-
mund, der Reußenherrscher, Umbertos Sproß und
der austrische Greis sich zur Fehde gegen den das
deutsche Reichsgeschäft Führenden geeint haben?
Die Folgen wären nicht auszudenken I . . . Wie man
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— 4 —
sieht, ist der Standpunkt, von dem ich die poütiBchen
Dinge beurteile, ein ziemlich niedriger. Mein Horizont
ist 89 klein, daß Kulissen darin ^ar keinen Platz
haben. Ich beurteile den geistigen Inhalt eines
politischen Ereignisses nach der Beschaffenheit der
Menschen, die es beschäftigt, den Wert des Samens
nach der Qualität des Weizens, den er blühen macht.
Und ich sehe, was Deutschlands Bierbänke und Zei-
tungsspalten okkupiert und dafi deutsche Herzen defi
voll sind, wefi ein Mund übergeht. Inzwischen starb ein
greller deutscher Künstler, einer der größten, die je zu
deutschen Herzen vergebens gesprochen haben: Rudolf
Wilke, der sich vom Tod nicht um die beste Schaffens-
fülle betrügen ließ und als Sterbender hereinbrachte,
was sonst nicht oft dem blühenden Leben beschie-
den ist. Der im Krankenbett Zeichnungen schuf, die
in der leisesten Linie ihres Hintergrunds mehr Be-
ziehung zum Leben haben als alle Handlung, die
auf der politischen Szene spielt, und einen zeitlosen
Hohn, der alle Lächerlichkeiten des Tages in die
Tasche steckt. Das Leben dieses Rudolf Wilke ist
den meisten Deutschen entgangen, weil die Stoffe,
in denen es webte, ihnen zu unscheinbar waren imd
weil ihre Gestaltung des Anlasses entbehrte. So ist
ihnen auch sein Sterben entgangen, und ihre Zei-
tungen haben für den Tod eines Künstlers nicht
dreißig Zeilen Raum, und wenn das politische Leben
seine Rechte fordert, nicht drei. Markerschütternd
dringt dies Schweigen durch den Lärm des Tages.
Es ist das Stigma der journalisierten Zeit: Weil das
Leben eines Kaisers so aktuell ist, muß der Tod
eines Künstlers im Obersatz bleiben.
Karl Kraus.
y Google
— 6 —
Bin chinesischer Philosopli.^)
Von Oscar Wilde.
Ein hervorragender Oxforder Theologe sa^te
einst, die einzige Einwendung, die er gegen den
Fortschritt der Neuzeit erhebe, sei die, dafl dieser
Fortschritt vorwärts schreite statt rückwärts, welche
Ansicht einen gewissen dichterisch veranlagten Stu-
denten^ so begeisterte, dafi er sich sogleich hin-
setzte und einen Eissay über bisher noch nicht ent-
deckte Analogien zwischen der Entwicklung des
menschlichen Geistes und den Bewegungen der
gemeinen Seekrabbe schrieb. Ich bin überzeugt, dafi
dieses Blatt ***) auch von seinen begeistertsten
Freunden nicht der Parteigängerschaft für die Ketzerei
einer solch gefährlichen Rückschrittstheorie verdächtigt
werden wird. Aber ich muß freimütig bekennen,
dafi die beifiendste Satire auf unsere heutige Zeit,
die mir seit langem untergekommen, in den Schriften
des gelehrten Ghuang Tsu enthalten ist, die vor
kurzer Zeit durch Herrn Herbert Oiles, Ihrer Majestät
Konsul zu Tamsui, in die Vulgärsprache übersetzt
worden sind.
Die weite Verbreitung allgemeiner Bildung im
Volke hat ohne Zweifei den Namen dieses ausge-
zeichneten Denkers dem grofien Publikum bekannt
feroacht; aber zum Besten der Wenigen und Ober-
ultivierten fühle ich mich verpflichtet, hier festzu-
stellen, wer er war, und einen kurzen Abriß seiner
Philosophie zu geben.
Ghuang Tsu, dessen Name man wohl acht
haben mufi so auszusprechen, wie er nicht geschrieben
wird, kam im vierten Jahrhundert vor Christi am
Ufer des Gelben Flusses im Lande der Blumen zur
Welt; und Bildnisse des wunderbaren Weisen, die
ihn auf dem geflQgelten Drachen der Betrachtung
•) Erste 'Obersetzung.
**) Darunter ist W. selbst zu verstehen.
***) The Speaker. uigitzedbjlßöOgi Übers.)
— 6 —
sitzend darstellen, sind noch heute auf zierlichen
Teetassen und kunstvollen Orenschirmen in vielen
unserer ehrsamsten Vorstadthäuser zu finden. Der
wackere Steuerzahler und seine blühende Familie
haben wohl oft über die domartige Stirn des Philo-
sophen gespottet und über die seltsame Perspektive
der zu seinen Füfien liegenden Landschaft gelacht.
Wenn sie aber wüflten, wer er war, würden sie
zittern. Denn Chuang Tsu hat sein Leben damit
verbracht, die grofie Qlaubenslehre der Untätigkeit
zu predigen und die Nutzlosigkeit aller nützlichen
Dinge zu beweisen. »Tu nichts, und alles ist getane,
war die Lehre, die er von seinem großen Meister
Lao Tsu überkommen hatte. Die Handlung in Ge-
danken und die Gedanken in Abstraktion aufzu-
lösen, war sein böses transzendentales Ziel. Gleich
dem dunklen primitiven griechischen Philosophen
glaubte er an die Identität der Kontraste; gleich
Plato war er Idealist und empfand die ganze Ver-
achtung eines Idealisten für utilitarische Systeme;
er war Mystiker gleich Dyonisius, Scotus Erigena
und Jakob Böhme und behauptete mit ihnen und mit
Philo, der Zweck des Lebens sei, sich des Bewufit-
seins seiner selbst zu entäufiern und das unbewußte
Werkzeug einer höheren Erleuchtung zu werden.
Ja, man kann sagen, dafi Chuang Tsu alle meta-
physischen und mystischen Philosophiesysteme Europas
in sich vereinigte, von Herakleitus bis herab zu
riegel. Es war auch etwas vom Quietisten in ihm;
und in seiner Verehrung des Nichts hat er bis zu
einem gewissen Grade die seltsamen Träumer des
Mittelalters vorweggenommen, die gleich Tauler und
Meister Eckart das purum nihil anbeteten.
Die zahlreiche Mittelklasse dieses Landes, der
wir, wie männiglich bekannt, unseren ganzen Wohl-
stand, wenn nicht gar unsere ganze Zivilisation ver-
danken, zuckt vielleicht die Achseln über alles dies
und fragt mit einem gewissen Rechte, was die Iden-
tität der Kontraste sie angehe und warum sie sich
des Selbstbewußtseins entäußern sollte, das eines
ihrer hervortretendsten Merkmale ist. Aber Chuang
Tsu war etwas mehr als nur ein Metaphysiker und
Illuminat. Er ging darauf aus, die menschliche Ge-
sellschaft, wie wir sie verstehen, und wie die Mittel-
klassen sie verstehen, zu zerstören, und das Betrübende
ist, daß er die leidenschaftliche Beredsamkeit eines
Rousseau mit der wissenschaftlichen Geistesschärfe
eines Herbert Spencer vereinigt. Er hat nicht ein
Atom von Sentimentalität in sich. Er bemitleidet
die Reichen mehr als die Armen, wenn er sich über-
haupt zum Mitleid herbeiläßt, und Wohlstand scheint
ihm ein ebenso tragisches Schicksal wie Entbehrung.
Er hat nichts von der modernen Sympathie mit den
Schwächen der menschlichen Natur, noch tritt er
dafür ein, daß die Preise aus Gründen der Moral
denen zufallen sollen, die beim Wettlauf als letzte
ankommen. Der Wettlauf selbst ist es, den er tadelt;
und was das tätige Mitgefühl betrifft, das heutigen
Tag^es der Beruf so vieler wackerer Leute geworden
ist, so hält er dafür, daß andere besser machen zu
wollen ein so törichtes Beginnen ist, wie >das
Schlagen einer Trommel in einem Walde, um einen
Flüchtling zu fangenc. Es ist reine Kraftverschwen-
dung, sonst nichts. Und ein vollkommen sympathi-
scher Mensch ist in den Augen Chuang Tsus einfach
nur ein Mensch, der sich unausgesetzt bemüht, jemand
anderer zu sein, und der sich damit der einzigen
möglichen Entschuldigrung für seine Existenz begibt.
Ja, so unglaublich es scheinen mag, dieser
seltsame Philosoph blickte mit einem Seufzer des
Bedauerns auf ein goldenes Zeitalter zurück, da es
noch keine Examina gab, keine beschwerlichen
Unterrichtssysteme, keine Missionare, keine Volks-
küchen, kerne Staatskirchen, keine Wohltätigkeits-
vereine, keine lästigen Ermahnungen über die Pflichten
gegen seinen Nächsten, und keine langweiligen Pre-
digten über irgend einen andern Gegenstand. In
jenen idealen Tagen, erzählt er uns, liebten die
— 8
Menschen einander, ohne sich irgend einer Mild-
tätigkeit dabei bewußt au sein und ohne daß die
Zeitungen darüber schrieben. Sie waren ehrlich und
veröffentlichten doch keine Bücher über den Altruis-
mus. Da jeder sein Wissen für sich behielt, entging
die Welt dem Fluche des Skeptizismus, und da jeder
seine Tugenden für sich behielt, mischte sich niemand
in des anderen Angelegenheiten. Sie lebten ein ein-
faches und friedliches Leben und waren £ufrieden
mit der Nahrung und Kleidung, die ihnen erreichbar
waren. Ihre Wohnsitze lagen in Sehweite voneinander,
und die »Hähne und Hunde des einen konnten in
dem anderen gehört werden c; dennoch wurden die
Leute alt und starben, ohne einander je einen Besuch
gemacht zu haben. Es gab kein Geschwätz über
gebildete Menschen und keine Belobung guter
Menschen. Der unerträgliche Begriff der Verpflichtung
war unbekannt. Die Taten der Menschen ließen keine
Spuren zurück und wurden nicht durch einfältige
Geschichtsschreiber zu einer Last für die Nach-
kommen gemacht.
Da kam in einem unheilvoUßn Augenblicke der
Philantrop zum Vorschein und brachte den verruchten
Gedanken einer Regierung mit sich. >EjS hat einen
Sinn, die Menschen sich selbst zu überlassenc, sagt
Chuang Tsu, »aber es wird nie einen Sinn haben,
die Menschen regieren zu wollen«. Alle Regierungs-
arten sind falsch. Sie sind unwissenschaftlich, denn sie
sind bestrebt, die von der Natur geschaffene Umgebung
des Menschen zu verändern; sie sind unmoralisch, denn
indem sie an dem Individuum herummodeln, züchten
sie den wildesten Egoismus; sie sind unwissend, da
sie sich bemühen. Wissen zu verbreiten; sie sind
selbstzerstörend, denn sie haben die Anarchie im
Gefolge. »Einst, in alter Zeit«, erzählt er uns, »lieft
der Gelbe Kaiser zum erstenmal Barmherzigkeit und
Nächstenliebe die natürliche Güte des menschlichen
Herzens verkünsteln und verfälschen. Die Folge
davon war, dafi Jao und Shun sich die Haare an
ihr^i Beinen weg:mühteny um ihrem Volke Nahrung
SU geben. Sie störten die Ordnung ihrer Seelen, um
Raum für künstliche Tugenden zu schaffen. Sie er-
schöpften ihre Energie, um Qesetze aufzustellen, die
sich nachher als ver^hlt erwiesen.c >Das menschliche
Herz«, fährt unser Philosoph fort, »kann nieder-
gedrückt oder emporgehoben werden«, und in beiden
Fällen sind die Folgen verhängnisvoll. Yao machte
die Menschen zu glücklich, daher waren sie nicht
zufrieden. Ohieh machte sie zu unglücklich, daher
waren sie unzufrieden. Dann begannen alle Leute
über die besten Methoden nachzudenken, an der
Menschheit herumzupfuschen. »Es ist offenbar, daß
etwas geschehen mufl«, sagten sie, und ein allgemeiner
Wettlauf nach Wissen entstand. Das Ergebnis war
so schrecklich, dafi die damalige Regierung Aus-
nahmsgesetze einbringen mußte, die zur Folge hatten,
daß »tugendhafte Männer in Höhlen Zuflucht suchten,
während die Staatslenker zitternd in den Hallen
ihrer Vorfahren saßen«. Und als dann alles in einen
Zustand des vollkommenen Chaos geraten war, be-
stiegen die Sozialreformer die Rednertribüne und
predigten Erlösung von den Obeln, die sie und ihr
System hervorgerufen hatten. Die armen Sozial-
reformer I »Sie kannten nicht die Scham und hatten
das Erröten verlernt« ist Ghuang Tsus Urteil über sie.
Die wirtschaftliche Frage wird ebenfalls von
diesem schlitzäugigen Weisen des Ausführlichen
behandelt, und er spricht über den Fluch des Kapitals
so beredsam wie Karl Marx. Das Aufsammeln von
Reichtum ist nach ihm der Ursprung alles Obels.
Es macht den Starken gewalttätig und den Schwachen
unehrlich. Es schafft den kleinen Dieb und setzt ihn
in einen Bambuskäfig; es schafft den großen Dieb
und setzt ihn auf einen Thron von weißem Nephrit.
Es ist der Yater des Wettbewerbes, und der Wett-
bewerb ist die Verschwendung ebenso wie die Zer-
störung der menschlichen Kraft. Die Einrichtung der
Natur ist Ruhe, Wiederholung und Friede. Mühsal
— 10 —
und Kampf sind die Produkte einer künstlichen Qe-
sellschaft, die auf dem Kapital beruht, und je reicher
diese Qesellschaft ist, desto gründlicher bankerott ist
sie in Wirklichkeit, denn sie hat weder genügende
Belohnung für die Guten, noch genügende Bestra-
fung für die Schlechten. Und auch das darf nicht
außer Acht gelassen werden, dafi die Belohnungen
dieser Welt den Menschen ebenso entwürdigen wie
ihre Bestrafungen. Die Zeit ist verfault bis zum
Grunde durch ihre Anbetung des Erfolges. Und was
die Bildung betrifft, so kann wahre Weisheit weder
gelehrt, noch gelernt werden. Sie ist ein Geistes-
zustand, den derjenige erreicht, der in Eintracht mit
der Natur lebt. Alles Wissen ist seicht, wenn wir es
mit dem Ozean dessen yer|2:Ieiehen, was wir nicht
wissen, und nur das, was wir nie wissen .können, ist
▼on Wert. Die menschliche Gesellschaft bringt Be-
trüger hervor, und die Bildung macht einen Betrüger
geschickter als den anderen. Das ist das einzige Re-
sultat des Schulsystems. Und von welcher philoso-
phischen Bedeutung kann die Bildung sein, wenn sie
bloß dazu führt, jeden Menschen verschieden von
seinem Nächsten zu machen? Wir gelangen schliefi-
lieh zu einem Chaos der Meinungen, zweifeln an
allem und verfallen in die niedrige Gewohnheit des
Disputierens; und nur die geistig Verlorenen dispu-
tieren. Nehmen wir das Beispiel von Hui Tsu. »EJr
war ein Mann mit vielen Gedanken; seine Werke
würden fünf Wagen füllen. Aber seine Lehren waren
paradox, c Er sagte, daß das Ei Federn enthalte, weil
das Huhn Federn habe ; dafi ein Hund auch ein Schaf
sein könne, da alle Namen willkürlich seien; dafi es
einen Moment gebe, wo der abgeschnellte Pfeil weder
in Bewegung noch in Ruhe sei; dafi, wenn man
einen Stab von einem Fufi Länge nehme und jeden
Tag die Hälfte davon abschneide, man niemals zu
Ende komme; und dafi ein braunes Pferd und eine
braune Kuh drei seien, denn jedes für sich genom*
men seien sie zwei, und zusammengenommen seien
— 11
sie eins, und swei und eins gäben drei. »Er glich
einem Mann, der mit seinem eigenen Sohatten um
die Wette läuft und der laut schreit, um das Echo
SU ersticken. Wozu war er nütze ?c
Mit der Moral ist es natürlich ein ander Dins:.
Sie kam aus der Mode, sagt Ghuang Tsu, als die
Leute anfingen zu moralisieren. Die Menschen hörten
damit auf, unbefangen zu sein und aus natürlichem
Antrieb zu handeln. Sie- wurden geckenhaft und ge-
künstelt und waren so verblendet ein bestimmtes
Ziel im Leben zu verfolgen. Dann kamen Regierun-
gen und Philantropen, dieser zweifache Fluch der
^it. Jene versuchten die Menschen zur Güte zu
zwingen und zerstörten damit ihre natürliche Güte;
diese waren eine Schar zudringlicher Vielgeschäf-
tiger, die Verwirruniz: hervorriefen, wohin sie kamen.
Sie waren dumm genug Prinzipien zu haben, und
unglücklich genug, danach zu handeln. Sie nahmen
alle ein schlechtes Ende und zeigten, dafl allgemei-
ner Altruismus ebenso schädlich in seinen Folgen ist
wie allgemeiner Egoismus. Sie »stellten den Menschen
mit der Mildtätigkeit ein Bein und fesselten sie dann
nGiit der Liebe zu dem Nächsten.« Das Ergebnis von
alledem war, da& die Welt ihr Gleichgewicht verlor
und sich seit der Zeit taumelnd fortbewegt.
Wer also ist, nach Ghuang Tsu, der vollkom-
mene Mensch, und wie ist seine Art zu leben? Der
rollkommene Mensch tut nichts als das Weltall be-
trachten. Er hat keinerlei bestimmte Meinung. »In
Bewegung gleicht er dem Wasser. In der Ruhe gleicht
er einem Spiegel. Und gleich dem EJcho antwortet
er nur, wenn er angerufen wird.« Er überlä&t die
Dinge der Aufienwelt sich selbst. Nichts Körperliches
kann ihn verwunden; nichts Geistiges kann ihn be-
drücken. Sein seelisches Gleichgewicht gibt ihm die
Herrschaft über die Welt. Er weifi, dafi »gerade so
wie die beste Sprache die ist, die nicht gesprochen
wird, die beste Tat die ist, die nicht getan wird«.
Er ist passiv und nimmt die Gesetze des Lebens
üigitized by VjOOQIC
12
ohne Widerspruch hin. Er ruht in Untätigkeit und
sieht SU, wie die Welt von selbst tugendhaft wird.
Er bemüht sich nicht »seine guten Tat(3n herbeizu-
führenc. Er verschwendet sich nie in Anstrengung.
Er kümmert sich nicht um moralische Unterschei-
dungen. Er weifi, daft die Dinge sind, was sie sind,
und dafi ihre Folgen sein werden, was sie sein wer-
den. Seine Seele ist »der Spiegel des Weltalls«, und
sein Gemüt ist stets voll Frieden.
Alles dies ist natürlich aufierordentlich gefähr-
lich, aber wir dürfen nicht vergessen, daft Chuang^
Tsu vor mehr als aweitausend Jahren lebte und nicht
das Qlttck hatte, unsere unvergleichliche Zivilisation
kennen su lernen. Dennoch ist es möglich, dafi er,
wenn er jetat wieder auf die Erde käme und uns
besuchte, einiges zu unserem Minister für Irland,
Mr. Balfour, über seine Ausnahmsgesetse und seine
Miftregierung in Irland zu sagen hätte; er würde
vielleicht über unseren philantropischen Eifer lächeln
und über manche unserer Wohlfahrtseinrichtungen
den Kopf schütteln ; unser Schulsystem würde ihm
vielleicht nicht imponieren, noch würde unsere Jagd
nach dem Reichtum seine Bewunderung erregen; er
würde sich vielleicht über unsere Ideale wundem und
betrübt sein über das, was wir erreicht haben. Es
ist vielleicht gut, dafi Ghuang Tsu nicht wiederkeh-
ren kann.
Indessen besitzen wir, dank dem Übersetzer, zu
unserem Tröste sein Werk, das ein höchst anziehen-
des und erquickendes Buch ist. Chuang Tsu ist einer
der Darwinianer vor Darwin. Er verfolgt die Ent-
stehung des Menschen vom Ursprung aus uad er-
kennt seine Einheit mit der Natur. Als Anthropologe
ist er ungemein interessant, und er J)eschreibt unse-
ren auf Bäumen lebenden Urahn, wie er sich vor
den Tieren fürchtet, die stärker sind als er, und wie
er nur einen Verwandten kennt, die Mutter, mit all
der wissenschaftlichen Genauigkeit eines modernen
Universitätsprofessors. Gleich Plato bedient er sich
y Google
— 13 —
des Dialoges fflr seine Darstellungen und »legt die
Worte in den Mund anderer Leutet, wie er uns sagt,
>um dadurch eine gröflere Weite des Blickes zu ge-
winnenc. Als Geschichtenerzähler ist er prächtig. Die
Erzählung von dem Besuche des ehrwfirdieen Gon*
fuzius bei dem groSen Räuber Gh^ ist außerordent-
lich lebendig und geistyoll, und es ist unmöglich,
nicht über den schließlichen Verdrufl des Weisen zu
lachen, dessen moralisierende Plattheiten durch den
erfolgreichen Räuber in all ihrer Unfruchtbarkeit
enthüllt werden. Selbst in seinen metaphysischen
Schriften ist Ghuang Tsu ungemein humorvoll. Er
personifiziert seine abstrakten Begriffe und läßt sie
vor uns dramatische Szenen aufführen. Der Qeist der
Wolken begegnete auf seinem Fluge ostwärts durch
die Weiten des Raumes dem Prinzipe des Lebens.
Dieses hüpfte herum und schlug an seine Rippen ;
worauf der Qeist der Wolken sagte : »Wer bist du,
alter Mann, und was tust du hier?€ »loh gehe spa-
zieren«, erwiderte das Prinzip des Lebens, ohne inne-
zuhalten, denn alle Tätigkeiten sind unaufhörlich.
»Ich möchte dich etwas fragen«, sagte der Geist der
Wolken. »So?« erwiderte das Prinzip des Lebens in
mißbilligendem Tone, und nun folgt ein wundervol-
les Gespräch, nicht unähnlich dem Dialog zwischen
der Sphynx und der Ghimära in dem seltsamen Drama
Flauberts. Auch sprechende Tiere erscheinen in
Ghuang Tsus Parabeln und Erzählungen, und in
Mythe, Gedicht und Märchen findet seine eigenartige
Philosophie künstlerischen Ausdruck.
Natürlich ist es sehr traurig, wenn einem gesagt
wird, daß es unsittlich ist, bewiät gut zu sein, und
daß etwas zu tun die schlimmste Art des Müßig-
ganges ist. Tausende vortrefflicher imd gewissenhaf-
ter rhilantropen würden an den Bettelstab kommen,
wenn der Grundsatz allgemeine Geltung erlangte,
daß niemand sich um Dinge kümmern soll, die ihn
nichts angehen. Die Lehre von der Nutzlosigkeit
alier nützlichen Dinge würde nicht nur die kommer-
üigitized by VJ^
— 14 ~
zidlle Oberlegenheit unseres Landes gefthrden, son-
dern könnte rielen erfolgreichen und ehrenfesten
Mitgliedern des kaufmännischen Standes grofien
Schaden verursachen. Was sollte aus unseren Volks-
predigern und unseren Salon-Evangelisten werden,
wenn wir ihnen in den Worten OhuangTsus sagten:
> Moskitos halten den Menschen die ganze Nacht wach
durch ihre Stiche, und ebenso treibt uns dieses
Qerede von Wohltun und der Pflicht gegen seinen
Nächsten fast zur Verzweiflung. Ihr Herren, trachtet
die Welt in ihrer ursprünglichen Einfalt zu erhalten,
und wie der Wind wehet, wo es ihm gefällt, so
lasset die Tugend sich selbst entwickeln. Wozu die-
ser unnütze Kraftaufwand?« Und was würde das
Schicksal der Regierungen und Berufspolitiker sein,
wenn wir zu der Oberzeugung kämen, dafi es keinen
Sinn hat, die Menschen regieren zu wollen? Es ist
klar, dafi Ohuang Tsu ein sehr gefährlicher Schriftr
steller ist, und die Veröffentlichung seines Buches in
England, zweitausend Jahre nach seinem Tode, ist
offenbar verfrüht und kann leicht sehr vielen durch-
aus ehrenhaften und arbeitsamen Menschen grofle
Pein bereiten. Es mag ja sein, dafi das Ideal der
Selbstkultur und Selbstentwickelung, welches das
Ziel seines Lebensplanes und die Grundlage seines
philosophischen Systems bildet, ein Ideal ist, das
einer Zeit wie der unsrigen sehr not täte, wo die
meisten Leute so beflissen sind ihre Nächsten zu
verbessern, dafi ihnen tatsächlich keine Zeit bleibt
sich selbst zu verbessern. Aber wäre es weise, das
auszusprechen? Es will mir scheinen, dafi, wenn wir
die Berechtigung auch nur eines der destruktiven
Prinzipien Ohuang Tsus zugäben, wir damit auf un-
sere nationale Gewohnheit der Selbstverherrlichimg
hemmend wirken würden; und das einzi|;e, was den
Menschen über die Dummheiten tröstet, die er begeht,
ist, dafi er sich fortwährend Lob dafür spendet, dafi
er sie begeht. Vielleicht gibt es aber doch eini^
Wenige, die des seltsamen Enthusiasmus unserer Zeit
üigitized by VjOOQIC
— 16
für^ydie krampfhaften PAostrengungen des Oeistes
tiberdrfissig geworden sind. Diesen und allen ihnen
yerwandten Naturen wird Chuang Tsu willkommen
sein. Aber mögen sie ihn nur lesen. Mögen sie sich
hüten Ton ihm 2U sprechen. Er würde störend bei
Diners wirken und unerträglich in Teegesellschaften
sein, imd sein ganses Leben war ein Protest geeen
das Tribünenrednertum. Der wahre Weise kennt den
Ruhm nicht; der glückliche Mensch kennt die Tätig-
keit nicht; der vollkommene Mensch kennt sich selbst
micht Das sind die Grundsätze Obuang Tsus.
(Dcntscfa von Leo RonJg.)
Über die Jnngfrauachaft. Von Shakeapeare.^
>Denkt Ihr über das Wesen der Jungfrau-
schaft nach?«
>Ja, eben. Ihr seid so ein Stück von Soldaten;
kifit mich Euch eine Frage tun. Die Männer sind der
Jungfrauschaft feind: wie können wir sie vor ihnen
verrammeln ?«
>Haltet sie drauftenic
*) Diese grofiartigen Tiraden, die Shakespeare einem Spitzbuben
in den Mund legen mufite, stehen in dem Lustspiel »Ende gut, Alles
l^€. Den hier mitgeteilten Text habe ich aus den Obersetzungen
Tieclcs und Heinrich Voss* zusammengestellt, wie denn überhaupt meine
Zitierung Shalcespeare'scher Sfltze immer eine Komposition von Teilen
ist. die mir da und dort den Gedanken am Shakespeareschesten aus-
zudrücken scheinen. So ergibt sich oft durch Vergleichung das intime
Verständnis eines Urtextes, den ich nicht zu lesen vermag. (Ahnlich
verhält es sich mit meiner Anwendung von Bibelworten.) Dieses Verfahren,
an noch nicht geflügelten Worten geübt, ist immerhin pietätvoller als
die Rdcüfizierung längst geläufiger Schlegel-Tieckscher Spracbschön-
heiten, die pedantischen Revisoren neuestens beliebt hat. Die Flügel,
die ein Wort bekommen hat, ihm brechen — das vermag nur ein
philologisches Gewissen. Bemerkenswert ist übrigens, dafi die Worte
>lst die Jungfrauschaft aufgesprengt .... eure Bürgt, in mancher Aus-
gabe auch die Stelle »Die Zeit taugt .... was damit« bei Tieck fehlt.
Anm. d. Herausgebers.
Digitized by VjOOQl';
— 16
»Aber sie stürmen; und unsere Jungfrauachaft,
wenn auch in der Verteidigung tapfer, ist dennoch
schwach. Lehrt uns einen kunstgerechten Wider-
stand Ic
>E!s gibt keinen. Die Männer, sich vor euch
lagernd, unterminieren euch und sprengen euch auf.«
>Der Himmel bewahre unsere arme Jungfrau-
schaft vor Minierem und Aufsprengern I Gibts keine
Kriegskunst, wie Jungfrauen Männ^ aufsprengen
könnten ?<
>Ist die Jungfrauschaft aufgesprengt, so springt
der Mann \un so hurtiger auf; meiner Seel', sprengt
ihr ihn wieder herunter, so verliert ihr durch die
Bresche, die ihr selber gemacht habt, eure Burg. —
Läßt sich denn ein vernünftiger Qrund im Natur-
recht nachweisen, die Jungfrauschaft su bewahren?
Verlust der Jungfrauschaft ist vielmehr verständi-
ger Zuwachs ; und ' noch nie ward eine Jungfrau
geboren, dafi nicht vorher eine Jungfrauschaft ver-
loren ^ard. Das, woraus ihr K^madit seid, ist Stoff,
um Jungfrauen draus zu machen. Eure Jungfrausohaft,
einmal verloren, kann sehnmal wieder ersetzt werden ;
immer erhalten, ist sie immer verloren; sie ist eine
zu frostige Gefährtin ; fort damit U
>Ich will sie doch noch ein wenig festhalten,
sollt' ich auch darüber als Jungfrau sterben.«
> Dafür läfit sich wenig sagen; es ist gegen die
Ordnung der Natur. Die Partei der Jungfrauschaft
nehmen, heifit, seine Mutter anklagen, und das ist
ein handgreiflicher Ungehorsam. Wie einer, der sich
aufhängt, ist solch eine Jungfrauschaft; sie gleicht
einem Selbstmörder und sollte an der Heerstrafie
begraben werden, fern von aller geweihten Erde, als
eine tollkühne Prevlerin gegen die Natur. Die Jung-
frauschaft brütet Grillen, wie ein Käse Maden, ver-
zehrt sich selbst bis auf die Kruste, nährt sich vom
Eingeweide und stirbt an der Stillung des eigenen
Hungers. Überdies ist die Jungfrauschaft wunder-
lich, stolz, müfiig, aus Selbstliebe zusammengesetzt,
17
welches die rerpönteste Sünde in den sehn (Geboten
ist. Behaltet sie nicht; Ihr könnt gar nicht anders,
als dabei rerlieren; fort damit I Leiht sie aus, im
Laufe eines Jahres habt Ihr Zwei fOr Eins; das ist
ein habscher Zins, und das Grundstock hat nicht
▼iel gelitten. Port damit I<
»Was aber tun, um sie su rerlieren nach eig-
Htm Gefallen ?c
»Laflt sehen 1 ei nun, leiden Tielmehr, um dem
lu gefalleo, dem sie nicht KefftUt. Es ist eine Ware,
die durchs Liiegen allen Olana Terliert; je länger
aufbewahrt, je weniger wert: Fort damit, so lanee
sie noch rerkäuflich ist. Nfitst die Zeit der Nach-
frage I Die Jungfrauschaft, wie eine welke Hofdame,
trl^ eine altmodische Haube, ein Hofkleid, dem
keiner mehr den Hof macht; recht wie Hutsohleife
und Zahnstocher, die man nicht mehr trägt. Die Zeit
taugt Eurem Wein besser, als Eurer Wange; und
Eure Jungfrauschaft, Eure alternde JunglErauschaft,
ist wie eine welke Dattel. Sie sieht ledern aus und
schmeckt noch lederner, wenn man sich flberwindet,
sie au kosten; meiner SeeF, sie gleicht einer alten
Dattel; sie war vormals besser; sie ist eben blofl
noch eine alte runaelige Dattel ; wollt Ihr was damit?«
Tagebneh.*)
Die menschlichen Einrichtungen müssen erst so
▼onkommen werden, dait wir ungestört darüber nach*
denken kOnnen, wie unvollkommen die göttlichen sind.
Alles schwelgende Geniefien in Küche und
KeDer, alle Kennerschaft in Liebe und Leben beruht
*) Aus dem .Simplicissimus'.
Digitized by VjOOQI€
— 15 —
nicht auf der Fähigkeit analytischen Prüfens, sondern
auf der phantastiscnen Verwendung der Erkenntnis:
Man weifi nicht, wovon man fett wird.
Es gibt keine Wollust, die an das Hochgeffihl
künstlerischer Zeueung heranreicht, und es gibt keine
Trauer, die dem Zustand vergleichbar ist, in den der
Künstler nach getanem Werk versinkt Die Selbst-
sicherheit des Unbewufitseins schafft jedesmal ihr
erstes Werk, und darum jedesmal ihr bestes. Ist es
getan, so sieht die Unsicherheit des Bewufitseins, daft
es das letete sei, und darum das schlechteste. Solcher
Mutlosigkeit imponiert jedes kritische Bubenwort
Bin Urteil, das dem künstlerischen Schaffen blofl in
die Ernüchterung und nicht in den Oenuft foleen
kann, ist ein wwrer Fluch. Die wissen von der Wol-
lust nichts, die in ihr blofi den Zustand sehen, der
der Trauer vorangeht.
Wer Meinungen von sich gibt, darf sich auf
Widersprüchen nicht ertappen lassen. Wer Gedanken
äufiert, denkt auch zwischen den Widersprüchen. Es
ist ein unglücklicher Hang unserer Tage, Gedanken
mit Meinungen zu verwechseln. Wir fragen nach der
Nutzanwendung eines lyrischen Gedichtes und nageln
Goethe auf den Widerspruch zwischen einer Morgen-
stimmung und einer Abendstimmung fest.
Ansichten pflanzen sich durch Teilung, Gedan-
ken durch Ejiospung fort.
Daß sie das Feuilleton lebensfähig erhalten, ist
das höchste Kompliment, das mau heute den Litera-
ten machen kann. Wie aber klingt es, wenn man
ihnen sagt, dafi sie das Leben feuiUetonf&hig erhalten f
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— 10
Heine ist ein Moses, der mit dem Stab auf den
Felsen der deutschen Sprache schlug. Aber Qesobwin-
digkeit ist keine Zauberei, das Wasser flofi nicht aus
dem Felsen, sondern ^ er hatte es mit der anderen
Hand herangebracht, "und es war eau de Cologne.
Die Prostitution des Leibes teilt mit dem Jour-
aalismus die Fähigkeit, nicht empfinden eu müssen,
hat aber vor ihm die Fähigkeit vonaus, empfinden
tu können.
•
Der Journalismus denkt ohne die Lust des Den-
kens. Der in seiüen Bezirk verbannte Künstler gleicht
einer Eur Prostimtion gezwungenen Hetäre, nur dafi
diese schadlos auch dem Zwang erliegt. Der Zwang
lur Lust kann ihr Lust bedeuten, jenem nur Unlust.
Zur Orientierung in Fragen der Politik genügen
Operettenerinnerungen. Was sich etwa zu Ungunsten
der absolutistischen Regierungsform sagen Iwt, hat
einem die Figur eines Königs Bob^che, eines Erb-
prinsen Kasimir oder eines Generals Kantsohukoff
beigebracht. Wenn die Forderung der Phraseure, dafi
die Kunst sich mit den öffentlichen Angelegenheiten
befasse, überhaupt einen Sinn hüben soll, so kann
sie sich nur auf die Operettenproduktion beziehen.
Diese trifft mit Recht der Vorwurf, dafi sie die ein-
zigen menschlichen Angelegenheiten, die nicht ernst
sa nehmen sind, nämlicn die öffentlichen, seit Jahr-
sehnten vernachlässigt hat. Denn die Kunstform der
Operette ist jene, die dem Wesen aller politischen
EmtwicklunRen angepafit ist, weil sie der Dummheit
die erlösende Unwahrscheinlichkeit gibt. Daß sich
sonst die künstlerische Gestaltung auf die neuge-
backenen Ereignisse werfe, ist ein törichtes Verlan-
gen, und selbst die Satire verschmäht sie, deim diese
— 20 —
kann swar die Lächerlichkeiten der Politik erfassen,
aber die Lächerlichkeiten innerhalb der Politik
vollsiehen säch unter dem Niveau einer im höheren
Sinne witrigen Betrachtung.
Die moderne Tänzerin kann schon Beethoven
tansen. Nur der Ballettonkel ist in seiner Entwicklung
zurückgeblieben.
Nichts ist* sinnloser als der Ruf nach trikotfreien
Tänzerinnen. Es ist die Forderung jenes Literatur-
vegetariertums, das Kunst und Natur so gründlich
mißversteht und indem es sie identifiziert, Wirkun-
gen herbeiführt, die es abschaffen möchte. Der un-
geschminkte Schauspieler spielt als Bleichgesicht vor
Indianern, der ungeschminkte Dialekt ist affektiert
und die Nacktheit der Tänzerin ist ein Kostüm.
Gegenüber dem Schriftsteller ist der Vorwurf
der Eitelkeit nicht am Platze. Wenn er es nieder-
schreibt, dafi er sich für einen bedeutenden Autor
halte, so kann er es in diesem einen Satz beweiaen,
während den Musiker schon der Versuch zu solcher
Programmusik Lügen strafen müflte.
*
Nichts ist den Kommis teurer als ihr Ehrenwort
Aber bei Abnahme einer gröfieren Partie wird Rabatt
gewährt.
Wer da gebietet, dafi eine Xanthippe begehrens-
werter sei als ein Alcibiades, ist ein Schwein, das
immer nur an den Geschlechtsunterschied denkt
•
Mir träumte, es gäbe in Deutschland einen
Kämpfer des Geistes, der strich alle s-Laate aus den
zusammengesetaten Wörtern. Er sprach von Belei-
digungklagen und Verhandlungterminen, von Gewohn-
— 21
heitverbrechen und von UnauohtTermittlungyersuohen.
Die Torsohmähten 8-LAute, die sonst lieb Kind bei
der deutschet Zunge waren, beschlossen, sich zu
riehen. Und als jener einmal einem alten Manne die
geschlechtlichen Verirrungnaohweise aus dessen JOng-
lingtagen vorBählte, da vereinigten sie sich zu einem
Zischchorus, wie er in Deutschland noch nicht gehört
worden war. Und da gab es keinen Schwichtigung-
Rrund . . . Als ich aber erwachte, merkte ich, dkfi es
Zukunftmusik war.
•
Ich kannte einen Helden, der an Siegfried durch
die dicke Haut erinnerte und au Achill durch die
Beschaffenheit seiner Ferse.
In Bchtemaoh im Luxemburgischen finden noch
heute sogenannte Springprosessionen statt. Weil n&m-
lich einst das Vieh von der Tanzkrankheit befallen
war, gelobten die dortigen Bauern, anstatt der Tiere
zu Ehren des heiligen Willibrord zu springen. Heute
kennen weder Menschen noch Vieh mehr die Ursache
der sonderbaren Zeremonie, aber jene bleiben ihr
treu, und wenn sich die Macht der Gewohnheit wei-
ter an den Echtemachem bewährt, so wird vielleicht
einmal wieder das Vieh es sein, das zu Ehren des
heiligen Willibrord springt. Menschen sind es heute
noch, an die fünfzehntausend, die um Pfingsten >drei
Schritte vor, zwei Schritte zurück« springen. Die
Geistlichkeit springt nicht mit, sondern schaut zu.
Ganz befriedig^ sie das Schauspiel nicht; denn sie
sihe es noch lieber, wenn es zwei Schritte vor und
drei zuräckginge.
•
Die Unsittlichkeit tritt immer in Elrscheinung
und wirkt dennoch nicht abschreckend« Um so be-
trQbÜcher ist es, daß die Sittlichkeit, die im Staate
waltet, nicht sichtbar wird und darum nicht vor-
bildlich wirken kann. Wenn man sie nicht hin imd
Uigitized by VjOOQIC
22
wieder in Form der Erpressung zu spüren bekäme,
man wüfite rein nicht« dafi sie auf der Welt ist.
•
Eine Wirtschaftspolitik, die dem Kleingewerbe
zuliebe die Einfuhr hygienischer Schuhe bek&mpft,
hält die Hühneraugen für einen integrierenden Be-
standteil des Fußes, und nur weil diese beim Fort-
schreiten unbequem werden, und weil sie weifi, wo
das Kleingewerbe der Schuh drückt, warnt sie ^or
dem Fortschriit.
•
Die Demokratie teilt die Menschen in Arbeiter
und Faulenzer. Für Solche, die keine Zeit zur Arbeit
haben, ist sie nicht eingerichtet
Lang;eweile und Unbequemlichkeit sind die Pole,
zwischen denen das Entzücken an den Frauen schwankt.
In ihrer äufiersten Konsequenz sind sie entweder bärm-
herzige Schwestern oder unbarmherzige Schwestern.
•
Der Erotiker: Er hatte an ihr eine Ähnlich-
keit entdeckt. Die kultivierte er, safi täglich an ihrem
Lager und schob ihr die Nase zurecht, um die Ähn-
lichkeit herzustellen. Der Ästhetiker : Er hatto an ihr
eine Verschiedenheit entdeckt. Die kultivierte er, safi
täglich an ihrem Lager und pries die Heiligkeit der
Nase um ihrer selbst willen. Dieser dankt dem
Schöpfer; jener macht ihm Konkurrenz.
Es müssen nicht unbedingt die Vorzüge des
männlichen Charakters oder Qeistes sein, die die
Frauen zur Untreue veranlassen. Was betrogen wird,
ist ausschliefilich die Lächerlichkeit der offiziellen
Stellung, die der Besitzer einnimmt. Und dagegen
bieten selbst körperliche Vorzüge nicht immer
einen Schutz.
y Google
— 28
So will es die Qesellschaftsordnung: Wenn
irgendwo ein Mord geschehen ist, wo Ewei Leute zu
einem OeschlechtsaRt zupammengetroffen sind, so
werden sie lieber jenen Verdacht ertragen, als sich
der infamierenden Harmlosigkeit dieser Absicht zu
beschuldigen.
Die Sitte verlangt, dafi ein Lustmörder den
Mord zugebe, aber nicht die Lust.
•
Sorrent, im August: Ich habe nun seit zwei
Wochen kein deutsches Wort gehört und kein
italienisches Terstanden. So läfit sich's mit den
Menschen leben, alles geht wie am Schnürchen und
jedes aufreibende Mifiverständnis ist ausgeschlossen.
Es gibt eine niedrige Leichtgläubigkeit des
Vertrauens und eine höhere Leichtgläubigkeit der
Skepsis. Der eine wird betrogen, der andere ist
Manns genug, sich selbst zu betrügen. Jener ist der
gefoppte Bauer, dieser ist ein Wissender, der sich
vom Wissen nicht das Spiel verderben läfit, wenn er
sich über die eigene Schulter guckt . . . Ich wollte
ihre Unterschrift auf einer Ansichtskarte. Ich bat
einen Freund, sie zu fälschen. Wenn er dann noch
dazu schriebe, dafi sie echt sei, wOrde ich's sicher
glauben. . . Von meiner Leichtgläubigkeit hätte ich
mir früher, da ich noch glaubte, keine Vorstellung
machen könnea Jetzt bin ich oft verblüfft von den
Überraschungen, die ich mir bereite, und von meinem
Oberraschtsein. Seitdem mein Mifltrauen gewachsen
ist, weifi ich, wieviel ich mir zumuten kann.
Wenn ich einen Kutscher schimpfen höre, so
kann es mich zu einem Gedicht anregen. Aber wie
unmusikalisch wird mir, wenn mich ein Musiker
anspricht I
Digitized by VjOOQIC
~ 24 —
Zum Teufel mit dem Oeschwäts über die
sexuelle Aufklärung der Jugend I Sie erfolgt nooh
immer besser durch den Mitschfller, der im Lesebuch
das Wort >Horen« anstreicht, als durch den Lehrei;
der die Sache als eine staatliche Einrichtung er-
klärt, die so nützlich sei und so komplisiert, wiedis
Steuerzahlen.
Die Liebe als Naturwissenschaft! Das Verbot
der Lust bleibt aufrecht und nun wird uns auch die
Romantik des Verbots verboten. Wir aber bitten:
Wenn schon Christentum, dann lieber mit Weihrauch,
Orgelklängen und Dunkel.
•
Wie lernt die Menschheit schwimmen? Man
sagt ihr, wo die gefährlichen Stellen sind, und daft
es durch Verbindung Ton Wasserstoff mit Sauer-
stoff entstehe.
Ich mag mich drehen und wenden, wie ich will,
überall zeigt mir das Leben seine Verluste, da es
entweder &s Malerische dem Nützlichen oder das
Nützliche dam Malerischen aufgeopfert hat
•
Halte deine Leidenschaften im Zaum, aber hüte
dich, deiner Vernunft die Zügel schiefien zu lassen.
Wahrheit ist ein ungeschickter Dienstbote, der
beim Beinmachen die Teller zerschlägt
•
Willst du ein klares Urteil über deine Freunde
gewinnen, so frage deine Träume.
«
Wenn eine Frau auf das Wunderbare wartet,
so ist es ein rerfehltes Rendezvous: das Wunderbare
hat auf die Frau gewartet Die Unpünktlichen!
•
Der Obermensch ist ein verfrühtes Ideal, das
den Menschen voraussetzt.
y Google
— 26 —
Der achtstündige Arbeitetag: das übrige gehört
der Kultur. Und ihr glaubt, dafi sie auf das Oeschäft
emgehen wird?
•
Man verachte die Leute, die keine Zeit haben.
Man beklage die Menschen, die keine Arbeit haben.
Aber die Männer, die keine Zeit zur Arbeit haben,
(fie beneide manl
Alles Leben in Staat und Gesellschaft beruht
auf der stillschweigenden Voraussetzung, daS der
Mensch nicht nach&nkt. Ein Kopf, der nicht in jeder
l^ge einen aufnahmsfUiieen Hohliaum darstellt, hat
66 gar schwer in der Welt.
•
Wenn die Aufforderung eines Kutschers, mit
ihm zu fahren^ nur auf den Wunsch in uns stiefte,
mit ihm nicht zu fahren, wftre das Leben leiohl.
Aber sie stOfit manchmal auf bessere Gedanken und
zerstört sie. Wer denkt denn auch immer nur daran,
nicht zu fahren?
•
Der Scharfsinn der Polizei ist die Qabe, alle
Menschen eines Diebstahls für fähig zu halten, und
das Olück, dafi sich die Unschuld mancher nicht er-
weisen läfit.
Nie habe ich den Sinn des Wortes: »Kamele
schlucken und Mücken seigen« besser erfaßt als in
Itafien, wo liebeToUe Wirte ein Moskitonetz über
unsere Betten breiten.
Dagegen haben die Hamburger Betten eine hohe
Kante. Beim Aufistehen ma^ es schmerzen, aber
man i^t sicher, dafi man bei stürmischer See nicht
herausfällt. Das Volk bewahrt der Kajüte diese Er-
innerung; die Seekrankheit pflanzt sich auf dem Lande
üigitized by VjOOg ^54— 26f
— 26 —
durch Tischlergenerationen fort. Fürst Bismarck frei-
lich führt in seinen Gedanken und Erinnerungen ein
anderes Beispiel für einen sinnentrückten Brauch
an : Den russischen Wachtposten, der auf dem Fleck
steht, wo vor hundert Jahren die Kaiserin ein frühes
Qänseblümchen entdeckt hat. Und es war vornehm
gedacht, dafi man den Wachtposten nicht abziehen
liefi, als man seine Bestimmung ergründet hatte.
Kein Soldat mufi sich schämen, die llrinnerung an
ein Qänseblümchen zu bewachen. Aber da das Ge-
heimnis der Hamburger Betten gelüftet ist, wird
die Tradition, der man dort opfert, nicht Ton langem
Bestand sein. Denn nichts ist beim Aufstehen sohmen-
hafter als die Erinnerung, dafi die Hamburger ein
Volk von Seefahrern sind.
•
Der Nationalismus, das ist die Liebe, die mich
mit den Dummköpfen meines Landes verbindet, mit
den Beleidigern meiner Sitten uud mit den Schän-
dern meiner Sprache.
•
Man mag dem Traum für das bifichen Klarheit,
das er einem hin und wieder schenkt, dankbar sein. Mir
träumte von einer aufgedunsenen Raupe, die ich
töten wollte. Ich stach nach ihr, aber sie lebte, und
drehte mir lachend den Kopf zu und sagte: Ich
komme wieder.
•
Man mufi oft erst nachdenken, worüber man sich
freut; aber man weifi immer, worüber man traurig ist
Die Welt ist das einzige Gefängnis, in dem Ein-
zelhaft vorzuziehen ist.
•
Die neuen Seelenforscher sagen, dafi alles und
jedes auf geschlechtliche Ursachen zurückzuführen
sei. Zum Beispiel könnte man ihre Methode als
Beichtvater-Erotik erklären.
y Google
— 27 —
Wie? die Menschheit vertrottelt zugunsten des
maschinellen Fortschrittes, und wir sollten uns diesen
nicht einmal zunutze machen? Sollten mit der
Dummheit Zwiesprache halten, wenn wir ihr in einem
Automobil entfliehen können?
•
Wie die Mörder bei Shakespeare, so treten jetzt
der Reihe nach Literaten auf, die Shakespeare mor-
den wollen. Es sind komische Figuren wie jene und
sie bleiben unbedankt wie jene. Nur die Leistungs-
fähigkeit ist eine geringere, und zum Schlüsse liegen
sie vollends da, wie die Gemordeten bei Shakespeare.
Die Behörden werden im Verkehr mit dem
Publikum erst dann einen höflichen Ton anschla-
g9n, wenn das Publikum sich entschliefit, in die
edaktionen der Tagespresse einzutreten. Die Re-
dakteure aber werden erst dann gegen das Publikum
aufrichtig sein, wenn es zum Eintritt in die Bureau-
kratie entschlossen ist.
Als mir da neulich einer unserer jungen Dichter
vorgestellt wurde, rutschte mir die Frage heraus,
bei welcher Bank er dichte. Es geschah wirklich
unwillkürlich und ich wollte den jungen Mann nicht
beleidigen.
•
Am unverständlichsten reden die Leute daher,
denen die Sprache zu nichts weiter dient als sich
verständlich zu machen.
Ich lehne es ab, in der Musik aufzugehen. Die
es ist, mufi in mir aufgehen.
•
Viele Frauen möchten mit Männern träumen,
ohne mit ihnen zu schlafen. Man mache sie auf das
Unmögliche dieses Vorhabens nachdrOcklich auf-
merksun.
y Google
28 —
Zuerst sieht man eine Frau, der andere Ähnlich
s^ien. Dann eine, die ähnlich sieht. Sohliefittch ab^
ist keine mehr da und man sieht alles von selbst.
•
Die Aufnahmsfi&higkeit des produktiven Men-
schen ist gering. Der lesende Dichter macht sich
verdächtig.
Wenn es einmal gegenüber den äufleren Bin-
drücken heifit: Zuzug fernzuhalten, dann ist's ein
Beweis, daß die Gedanken nicht streiken.
•
Ich sah einen Dichter auf der Wiese nach einem
Schmetterling jagen. Er le^e das Netz auf eine
Bank, auf der ein Knabe em Buch las. Bis ist ein
Unglück, dafi die Fimktionen sonst anders verteilt sind.
Nichts isttraurip^er als Niedrigkeit, die ihren Lohn
t erzielt hat. Sie bilde sich ^--^'-''-^—^ -— »-*
ein, dafi sie Gemeinheit Tart pour
nicht erzielt hat. Sie bilde sich nachträglich nicht
Einheit Tart pour Tart sei.
Eine Frau wird doch nicht so viel Rücksicht
auf die Gesellschaft nehmen, dafi sie den Ehebruch
immer wirklich begeht, den ihr die Leute jeweils
nachsagen ?
Es genügt, eine Frau anzusehen, tun eine tiefe
Verachtung nlr ihre Liebhaber zu gewinnen. Nie
aber möchte ich sie mit der Verantwortung ftir diese
belasten.
Nichts ist engherziger als Chauvinismus oder
Rassenhafi. Mir sind alle Menschen gleich, überall
gibts Schafsköpfe und für alle habe ich die gleiche
Verachtung. Nur keine kleinlichen Vorurteile I
•
An den Italienern habe ich beobachtet, dat sie
nicht nur in allen Lebensverrichtungen dem bei canto
obliegen, sondern dafi auch der Elmst ihres Lebens
Uigitized by VjOOQIC
20
der Operettenernst ist. Daß sie im Theater bei den
Strophen vom Ghin-chin-chinaman „bis^ rafen, bis
dem SADgw die Kehle platst, würde nichts schaden.
Aber auch ihr Leben fließt dahin, wie die Handlung
der »Geishacy und es scheint durchaus so dargestellt,
daß es die preußischen Zuschauer kapieren und ihr
Vergnügen daran haben. Ich glaube nicht, daß jene
in der Frauenpsychologie ül^r die Erkenntnis la
donna h mobile hinausgekommen sind. Und wagte
es einer zu bestreiten, würde gewiß ein anderer ent-
gegnen: e pur si muovel
*
Ich habe mich im Laufe der Jahre zum Streber
nach gesellschaftlichen Nachteilen entwickelt. Ich
lauere, spüre, jage, wo ich eine Bekanntschaft ab-
stoßen, eine einflußreiche Verbindung verlieren könnte.
Vielleicht bringe ichs doch noch zu einer Position.
Eine Notlöffe ist immer verzeihlich. Wer aber
ohneZwang die Wahrheitsagt, verdient keineNachsicht.
*
Der Ernst des Lebens ist das Spielzeug der Er-
wachsenen. Nur, daß er sich mit den sinnvollen
Dingen, die eine Kinderstube füllen, nicht ver-
gleichen laßt.
Der Journalismus dient nur scheinbar dem Tage.
In Wahrheit zerstört er die geistige Empfänglichkeit
der Nachwelt.
Persönlichkeiten sind übel daran. Die Menge
sieht nur die Fläche, auf der sich die Widersprüche
zeichnen. Aber diese sprechen fOr eine Höhe, in der
ihr Tref^unkt liegt.
Man muß alle Schriftsteller zweimal lesen, die
guten und die schlechten. Die einen wird man er-
kennen, die anderen entlarven.
y Google
— 80 —
Bs beweist immerhin eine gesunde Konstitution^
wenn sich unter der Einwirkung der Strahlen einer
Persönlichkeit die Weltanschauung eu schälen be-
ginnt.
Bs gibt Eweierlei Kunstgeniefier. Die einen
loben das Gute, weil es gut, und tadeln das Schlechte,
weil es schlecht ist. Die anderen tadeln das Gute,
weil es gut, und loben das Schlechte, weil es
schlecht ist. Die Unterscheidung diesei Arten ist
umso einfacher, als die erste nicht yorkonunt. Man
könnte sich also leicht auskennen, wenn nicht eine
dritte Kategorie hinzuträte. Bs sind solche, die das
Oute loben, trotzdem es gut, und das Schlechte
tadeln, trotzdem es schlecht ist. Diese gefährliche
Art hat die ganze Unordnung in künstlerischen
Dingen verschuldet. Ihr Instinkt weist sie an, das
Unrichtige zu treffen, aber vorsätzlich treffen sie das
Richtige. Sie haben Gründe, die außerhalb des künst-
lerischen Empfindens liegen. Ohne den Snobismus,
der ihn erhebt, könnte der Künstler eher leben als
ohne die Dummheit, die ihn herabsetzt.
«
Das Christentum hat die Zollschranken awischea
Geist und Geschlecht aufgehoben. Aber die Durch-
setzung des Sexuallebens mit dem Gedanken ist eine
dürftige Entschädigung für die Durchsetzung des
Gedankenlebens mit dem Sexuellen.
Journalist heifit einer, der das, was der Leser
sich ohnehin schon gedacht hat, in einer Form aus-
spricht, in der es eben doch nicht jeder Kommis
vermöchte.
Sozialpolitik ist der verzweifelte Bntschlufi, ao
einem Krebskranken eine Hühneraugenoperation vor-
zunehmen.
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— 31 —
Wenn . der Dachstuhl brennt, nfitst es weder
SU beten, noch den Fufiboden zu scheuern. Immerhin
ist das Beten praktischer.
•
Als die Sonne tagelang mit den Wolken balete,
war's wie der Kampf awischen dem gelben Panther
und dem schwarzen Stier. Der Spannung solchen
Schauspiels können die Wahrheiten des Barometers
nichts anhaben. ^
Wozu sollte ein Künstler den andern erfassen?
WQrdigt der Vesuv den Aetna? Es könnte sich
höchstens eine feminine Beziehung eifersüchtigen
Vergleichens ergeben: Wer speit besser?
Der Leser läflt es sich gern gefallen, dafi der
Autor ihn an Bildung beschämt. Es imponiert einem
Jeden^ daft er nicht gewuflt hat, wie Korfu auf al-
banisch heifit. Denn von nun an weift er es und kann
sich vor den anderen, die es noch immer nicht wis-
sen, auszeichnen. Bildung ist die einzige Prämisse,
die das Publikum nicht übel nimmt, und der Ruhm
des Tages ist jenem Autor sicher, der den Leser in
diesem Punkte bloflstellt. Wehe dem Andern aber,
der Fähigkeiten voraussetzt, die nicht nachgeholt
werden können oder deren Verwendung mit Un-
bequemlichkeiten verbunden isti Daß ein Autor mehr
gewußt hat als ein Leser, ist in Ordnung. Aber daft
er mehr gedacht hat, wird ihm so leicht nicht ver-
ziehen. Das Publikum darf nicht dümmer sein. Es
ist sogar gescheiter als der gebildete Autor, denn es
erfährt aus einer Zeitschrift, wie Korfu auf albanisch
heiftt, während jener erst ein Lexikon befragen mufite.
•
Das dramatische Kunstwerk hat auf der Bühne
ziohts zu suchen. Die theatralische Wirkung eines
Dramas soll bis zum Wunsch reichen, es aufge-
führt zu sehen: ein Mehr zerstört die künstlerische
Wirkung. Die beste Vorstellung ist jene, die sich
der Leser von der Welt des Dramas macht.
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32
Bsist erlaubt, im Quell der deutschen Sprache em
Fufibad 9SU nehmen. So sollte ein Labetrunk verboten sein.
«
Was die Lues übriggelassen hat, wird von der
Presse verwüstet werden. Bei den Gehirnerweichungen
der Zukunft wird sich die Ursache nicht mehr mit
Sicherheit feststellen lassen.
•
Der Philosoph L. St. aus Ungarn: Kein Führer,
aber der Primas unter den Denkern. Br wird an den
Tisch gerufen und geigt den Leuten die Philosophie
ins Ohr.
«
Da ich die Nachrichten der Tagespresse nur so
überfliege, geschah es mir, dalt ich swei benachbarte
Oberschriften durcheinanderwarf: »Besuch Iswolskis
in österreichc und »Raubversuch in einem Trüdler-
ladenc.
Das deutschliberale Pathos ist eine Mischung
aus voraussetBungsloser Forschung und freiwilliger
Feuerwehr.
Bs gibt Leute, die in öffentlichen LokalMi nur
deshalb geduldet werden, weil sie nicht beiahlen.
Man nennt sie Journalisten.
•
Privatbahnen gewähren keinen Vorteil. Wenn
man einem Stationsvorstand der Südbahn Bsel sMgt,
wird man auch wegen AmtsehrenbeleidiguBgangeUi^.
«
Gern käme ich um die Eonsession cum Hand-
betrieb einer Guillotine ein. Aber die Erwerbsteuerl
«
Wenn mich Einer ansprechen will, hoffe ich
noch bis sum lotsten Augenblick, dafi die Puroht,
kompromittiert su werden, ihn davon abhalten wird.
Manche sind unerschrocken.
y Google
— 38 —
Der Spiegel dient bloft der Eitelkeit des Mannes;
die Frau braucht ihn, um sich ihrer Persönlichkeit
zu versichern.
•
Ist eine Frau im Zimmer, ehe Einer eintritt^ der
sie wahrnimmt? Gibt es das Weib an sich?
Mit Frauen führe ich gern einen Monolog. Aber
die Zwiesprache mit mir selbst ist anregender.
•
Ein Weib ohne Spiegel und ein Mann ohne
Selbstbewufitsein — wie sollten die sich durch die
Welt schlagen?
*
Ein Aphorismus braucht nicht wahr zu sein,
aber er soll die Wahrheit fiberflögeln. Er mufl gleich-
sam mit einem Satz über sie hinauskommen.
Karl Kraus.
Der Germanist.
Heute ist das ehedem veracbtete Handwerk des Totengräbers
ztt einem Ehrenamte geworden, weil es in einer demokratisdien
Weltordnung etwas anderes bedeutet als die wirkliche Leichenbestat-
tung. vielmehr mit den geistig Toten, mit den symbolisch Ver-
storbenen, mit den Nichtumzubringenden zu schaffen hat, mit
den sogenannten Unsterblichen, die auf jedem Gebiete des öffent-
lichen Lebens als mißliche Verkehrshindernisse die allgemeine
Bewegung vordringlich stören, indem sie als monumentale Auto-
ritäten im W^e liegen. Die Bestattung dieser vielseitig und viel-
deutig Toten bringt ein Geschäft von erhöhter Tragweite mit
sich, wozu auch tiefere Bildung verlangt wird« Solche fossile
Trümmer aus dem verffigbaren Welträume, den die gewaltig an-
wachsende Bewegung immer dringlicher benötigt, beiseite zu schaf-
fen, auf abgelegene Friedhöfe zu bringen und unter Verwendung
von Ruhm und Dankbarkeit beizusetzen, wird ein diplomatischer
Beruf, zumal der Verkehr mit Toten besondere Manieren und
Vorsichten verlangt. Die alten Simpeln geringgeachteten sind heute
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— 84 —
nur mehr die armseligen Verwandten der neuen, zu Ehren gekom-
menen Totengrftber, welche als W^;macher und Befreier eine
einzige Bedeutung gewonnen haben.
Der Demokratie kommt es auf dn Ehrengrab, ein Denkmal,
eine Gesamtausgabe, einen Nachruf, eine StniJBentafel mehr
oder weniger nicht an, Hauptsache ist, daß der amtlich eingesetzte
Totengräber dem allgemeinen Bedürfnis nach Platz durch bereit-
willige Unsterblicherklärung von Toten oder Todeserklärung vob
Unsterblichen möglichst genügetut, die Zahl seiner Opfer bestimmt
sein Ansehen, ich spreche hier nicht von den Psychiatern, sonders
von den Germanisten. Ihre Funktion der Totenbeschau und B^
stattung teilen sie mit manchen anderen Berufen, im Besonderoi
fällt ihnen das dichterische Verkehrshindernis zu, nicht nur die
Sorge um das Begraben, sondern auch um die jeweils zu ent-
scheidende Vorfrage, ob einer lebendig oder tot sei. Sie vereini-
gen auf diese Art das Amt des Richters, Nachrichters und Toten-
gräbers. Denn die Demokratie hat durch die Errungenschaft der
Stellvertretung, durch die Idee der unbedingten Vertrettnrkdt, auf
welcher ja auch das aligemeine Wahlrecht beruht, geistige Ver-
einigungen des bisher Unvereinbaren ermöglicht Da niemand alles
verstehen und keiner beurteilen kann, was der andere versteht,
werden fallweise Leute namhaft gemacht, die nach ihrem Berufe
für die einzelnen Zweige des öffentlichen Unverständnisses auf-
zukommen haben, sozusagen Stellvertreter des allgemdnen Irrtums
und Statthalter des ewigen Unsinns. Jeder nimmt in seinem
bescheidenen Wirkungskreise nach bestem Willen sein Teil von
Unfähigkeit auf die Schultern und bewegt damit das Gemeinwesen
vorwärts, wie sich eben der Fortschritt der Menschheit von Irrtum
zu Irrtum unaufhaltsam vollzieht Man neunt diese dauernde Bewegung
nach der Richtung des jeweils Dümmsten auch Entwicklung. Dea
Germanisten ist die stetige Fürsorge um freie Bahn für den literari-
schen Verkehr überantwortet. Sie haben die Poesie, die lebendige und
die tote, berühmte und unberühmte aus dem Weg zu räumen, spielt
sich dieses Laster doch wie so manches andere Verkefarshindemts
geradezu als Selbstzweck auf. Dichten ist bekanntlich eine besondere
Form des menschlichen Sprechens, welches gelernt und gelehrt
werden muß. Schon darum sind die Sprachlehrer die berufenen
und einzigen Vorgesetztender Dichter. Aber das Spradilehren kann
gelernt und gelehrt werden, das Dichten nicht Hieraus ergibt skfa
üigitized by VjOOQl'
— 35 —
vom Standpunkte des öffentlichen Berecbtigiingswesens eine fühl-
bare nnd bedauerliche Lücke: die Sprachlehrer sind durch Zeug-
nisK zur Ausübung des Sprachldirens beflhigt, nicht aber die
Dichter zur Ausübung des Dichtens. Während man also auf der
einen Seite den Zuzug nicht akademisch Befugter fernhalten kann,
Mngf. sich auf der andern ein Au^;ebot nicht Berechtigter zu
den vollen Schüsseln der Anerkennung. Da aber die Demokratie
nur Ehre gönnt, vem sie gebührt, hat sie die vollen Schüsseln der
Anerkennung den Sprachlehrern hingeschoben und diese mit der
Cerechten Ausspeisung der Dichter betraut, sofern noch von den
Gerichten etwas übrig bleibt
Man kann billig ermessen, wie wertvoll und wichtig in
jedem Sinne durch die Ordnung der Dinge das Sprachlemen und
-lehren geworden ist Daher kommt es auch, daß die berühmtesten
Sprachlehrer nicht sprechen, oder in Anbetracht der Schriftlichkeit
des modernen Verfahrens, auch nicht schreiben können; werden
sie doch vorerst durch das Sprachlernen, nachmals durch das
Sprachlehren völlig in Anspruch genommen. Hingegen schwatzen
die Dichter ungelehrt und ohne Zeugniszwang in allen Mundarten
nnd vermehren die Verwirrung und Mannigfaltigkeit der Sprache
in jeder Richtung auf das unleidlichste.
Die armen Sprachlehrer haben genug zu tun, ewig reinzu-
machen, was die Poesie allezeit verunreinigt. Die Dichter haben
leicht schaffen: Die Sprachlehrer haben das Nachsehn! Ihnen
obliegt dann das ganze ungeheure Material, alles was gesprochen,
geschrieben, gelernt, gelehrt, verbessert, herausg^eben, aufgelegt,
Eesiebt, gelesen, gesprachlehri, gelesartet werden kann, eine Viel-
seitigkeit, die ohne ausgebreitete Registratur nicht zu bewältigen
wäre und eine Behandlung von so unzähligen Aktenstücken
voraussetzt, wie sie kein Dichter je aufweisen könnte.
Der eingetragene, gebuchte, in das jeweilen maßgebende
Fach gereihte Inhalt heißt von Stund ab: Dichtung. Somit fällt
einerseits alles, was jemals dergestalt geordnet, unter diesen,
anderseits alles, was noch nicht so behandelt worden, außer diesen
Begriff. Nur durch so sinnreiche Vorkehrung läßt sich eine
eigentliche Prüfung der Dichter ersetzen, indem ihre aktenmäßige
Einreihung platzgreift. Für diese entscheidet wiederum natürlich
die Priorität des Einlaufe
Wer früh genug gedichtet, hat gut genug gedichtet und wer
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36
es lang genug getrieben, dem braucht für seinen Ruhm nicht
bange zu sein.
Die öffentliche Tätigkeit der Sprachlehrer besteht nun darin,
von ihrer privaten Rechenschaft abzulegen, ungefragt« aber unver-
drossen jedes Aktenstück zur Kenntnis zu bringen, das sie be-
handelt, jedes ihrerseits zu besprechen, das ein fachgenosse pro-
duziert hat, die durch Heiß und Eifer germanistischer Vorfahren,
durch sinnreiche Druckfehler und irrige Abschriften entstandenea
Lesarten zu vergleichen, festzustellen und so ein Material zusammen-
zutragen, das sich zur Literatur der Diditer so verhält, wie der
Stefansdom zu einer Hundehütte. Schon durch ihren Fleiß
erheben sich die Germanisten in sittlicher Würde turmhoch
über die simple Frivolität der Dichter, die gar noch zu »arbeiten«
vorgeben. Ja, man könnte von einem echten, ganzen Germanisten
mit Fug sagen: sein Leben wird eine Interpolation, sein Charakter
eine Lesart, die Dichter sprechen, die Germanisten aber — lehren
Sprache. Was Wunder, daß die dankbaren Mitbürger ihnen ge-
wisse, ihren Beruf angehende Ehrenämter, sozusagen geistige
Armenratsstellen anvertrauen. Man ernennt die Germanisten zu
Preisrichtern des dichterischen Wettbewerbs. Dies hängt zusammen
mit dem eingangs erwähnten Verfahren der poetischen Todeser-
klärung und erfolgt in der Absicht, schon bei Lebzeiten gewisse
Berühmtheiten zu schaffen und dadurdi aus dem Wege zu räomen.
Die Sprachlehrer unterziehen sich ihrer hohen Aufgabe nach festen
sittlichen Normen: als das beste Werk gilt 1. das unschftdlidttte,
das, worüber man am meisten spricht und das durch unanfechtbares
demokratisches Weiheurteil der Majorität die erste Stelle eriangt
hat; 2. das »berücksichtigenswerteste«, das heißt die Hervorbringnng
jenes Verfassers, der die meisten unversoigten Kinder, einfluß-
reichen Gönner, journalistischen Beziehungen und sonstige hin-
längliche Armutszeugnisse aufweisen kann.
So ist durch die amtliche und außeramtliche Stellung der
Germanisten für das rechtzeitige Erkennen und Wegschaffen der
Dichter, für deren zeitlich und räumlich geordnete Beisetzung in
der Registratur — die mit vollem Recht das Gedächtnis ersetzei
muß, da der Schwachsinn freie Bahn braucht — , so ist für die
ehrbare und zweckmäßige Bestattung der Poesie auf abseitigeD
Friedhöfen nach allen Regeln der Volkswohlfahri und Verkehrs-
sicherheit gesorgt.
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— 37 —
Auch die Dichter haben sich darein gefügt, freilich soll
dnnuü einer dem Ehrenbegräbnis seiner Werke durch die Ger-
manisten eine schlichte Verbrennung vorgezogen haben, doch ent-
sdieiden darüber souverän die Hinterbliebenen und die Sprach-
lehrer flberleben immer die Literatur, sogar die Sprache.
Otto Stoessl.
Der neue Ruhm.
Die Zahl der Berühmtheiten unserer Tage nähert sich in
den einzelnen Ländern immer mehr dem Resultate der Volks-
xihlung. Es ist unserer Gegenwart endlich gelungen, den oft
zitierten Dornenpfad des Ruhmes in einen l>equemen Spazierweg
für jedermann umzugestalten, und eine bunte i^enge von Men-
schen wälzt sich die neue Chaussee entlang. Zum guten Tone der
Zeit gehört es, in irgend einer Kunst Hervorragendes geleistet
zu haben. Wer nicht literarische Lorbeeren pflücicen kann, nennt
eine pt^rsönliche Note im Denken sein eigen, oder eine zarte
Nuance im Ton, oder eine unvergleichliche Feinheit im Ausdruck,
oder er leistet wenigstens in der Art, das alles zu entbehren, höchst
Beachtenswertes.
Beachtet zu werden, ist eine Anforderung, die mit naiver
Selbstverständlichkeit vom kleinen Mann des Geistes an die öff(*nt-
lichkdt gestellt wird. Diese wird mit Gesuchen um »Kenntnis-
nahme« überlaufen. Die literarische und künstlerische Kritik wird
immer mehr zum Vorschußverein, und Frau Fama ist bedeutend
ieistungsfähiger geworden, seitdem sie an Stelle der Posaune die
Rotationsdruckerpresse benützt und statt hundert Zungen einige
hunderttausend Stahlfedern im Dienst hat Und so kam man in
die Lage, den Ruhm, einen seltenen und kostbaren Artikel frü-
herer Zeit, in großen Quantitäten herzustellen und Anteile von
ihm für minimale Anzahlung auszugeben.
Dieses Verfahren hat Ähnlichkeit mit schwindelhaften Ope-
rationen schlechter Banken. Denn der Ruhm, wie ihn die ^X'elt-
geschichte bewahrt und zeigt, ist aus Arbeit entstanden, ist niciits
anderes als umgesetzte Arbeit selbst. Wenn eine Zeit, wie die
unsere, in unbegrenztem Maße Ruhmesnoten ausgibt, ohne im
entferntesten für diese Anweisungen Deckung in reellen Ari)eits-
— 88 —
werten zu haben, so werden diese Anweisungen bedeutungslose
Zettel und jene tragen eben den Schaden, die die edite Anwart-
schaft auf das Kapital der öffentlichen Anerkennung besitzen.
Echter Ruhm war stets nur ein Schatten, den vollbrachte
menschliche Handlungen in das Gedächtnis von Mit- und Nach-
welt warfen. Unsere Zeit hat neben so vielen industriellen Gedan-
ken auch den gehabt, diesen Schatten künstlich zu erzeugen, ohne
die Leistungen und Mühen, die ihn hervorriefen. Verhieß dodi
die künstliche Herstellung von Ruhm ein glänzendes Geschäft za
werden, da eben dieser Schatten zu allen Zeiten sehr begehrt war
und nicht etwa die oft recht anstrengende Tätigkeit, der er ent-
sprang. Und man brachte in der Retorte der Journale wirklich
etwas zustande, das dem Ruhm recht ähnlich sieht. Eine Art
Homunkulus von Ruhm ist es, ein billiges Fabrikat; dieser neue
Ruhm ist nicht eben dauerhaft, es mangelt ihm auch etwas am
besonderen Aroma, aber zu einem recht angenehmen Rausche
verhilft er doch und unser modernes Leben zeigt Unzählige, die
diesem Genüsse leidenschaftlich fröhnen.
Jeder liebevoUe Vater ist in der Lage, seinem Söhnchen
zum fünfzehnten Geburtstage einen netten, kleinen Knabenruhm
zu kaufen. Die Gedichte des Jungen genügen meist vollkommen
dazu, wenn das aber nicht der Fall sein sollte, so lassen sich die
verbesserten Hausarbeiten zu einem gut aussehenden Bänddien
zusammenfügen. Der Beitrag zu den Druckkosten ist selbst fär
kleinbürgerliche Verhältnisse leicht zu erschwingen. In Bekannten-
kreisen wird das Büchlein viel besprochen, bei einer Tante Ucgt
es im Salon, die andere mutf es, der erwachsenen Tochter wegen,
unter Schloß und Riegel halten. Es gibt zwar immer dnzefaie
Schulkameraden, die boshafte Rezensionen schreiben, aber dafür
loben andere, die nicht dieselbe Anstalt besuchen, umsomebr.
Das ist immerhin noch harmloser als der nur zweideutige Miß-
erfolg einer durchaus reifen und ernst zu nehmenden Taientlos^-
keit Krüppel können sich heute kaum eine bessere Pflege wünschen,
als jene durch die deutsche Kritik. Da wird sorgfältig nntersudit
und mit Jubel wird verkündet, daß ein oder das andere Glied
nicht krumm ist. Da wird an Aufmunterung nicht gespart, mflb-
selig wird mit Krücken auf die Beine gebracht, was von selbst
nie stehen könnte. Die Atmosphäre in der deutschen Kritik hat
heute Spitalsteniperatur. Talente, die gerade gewachsen sind und
S9 -
sich kräftig bewegen wollen, sitoßtn allerorten an. Was sollte man
diesen gegenüber auch mit den ängstlich bereitgehaltenen Krflcken
tun, wenn man sie glficklicherweise nicht ebensogut zum Drein-
sdiiagen benützen könnte?
Der Ruhm ist zum festgesetzten Normalpreis zu haben,
and wer den Kurs nicht beachtet und zu viel bietet, der läuft
Gefahr, nicht ernst genommen zu werden. So kommt es, daß
auch die Wohlhabenden des Geistes nur kleine Münze in Verkehr
bringen. Stimmungsmalerei und Detail florieren. Die Starken unter
den Erzählern holt sich das deutsche Publikum lieber aus Rußland
md Frankreich, die Phantasicvollen aus England. Der deutsche
Uterat aber hat in erster Linie seine lyrischen Pflichten zu erfüllen
und im Detail seine Kunst zu zeigen. Das ist das traditionelle
Püetentum, das deutsche Gauen bevölkert. Ein Unglück ist es
MHch nicht, »im Gegenteil, es wird auf diese Weise wirklich eine
neue Seite der Welt erschlossen, in die sich auch der noch mit
Veignügen einlebt, der über dem Moos, trotz seiner Zierlichkeit,
den Eichbaum nicht vergißt, auf dem es wächst, und über dem
Eichbattm nicht den Wald, zu dem er gehört. Schlimm ist nur,
daß die Grenze leicht überschritten und das Maß verrückt wird,
und das geschieht immer, früher oder spater. Weil das Moos sich
viel ansehnlicher ausnimmt, wenn der Maler sich um den Baum
nicht bekümmert, und der Baum ganz anders hervortritt, wenn
der Wald verschwindet, so entsteht ein allgemeiner Jubel, und
Kräfte, die eben für das Kleinleben der Natur ausreichen und sich
auch instinktiv die Aufgabe nicht höher stellen, werden weit über
andere erhoben, die den Mückentanz schon darum nicht schildern,
weil er neben dem Planetentanz gar nicht sichtbar ist.« Diese
Worte, mit denen im Jahre 1858 Friedrich Hebbel zu ähnlichen
Verhältnissen Stellung nahm, gelten uneingeschränkt für unsere
Tage.
Freilich nimmt die Nachwelt mit derben Strichen ihre
Korrekturen vor und der Zensurstift der Kulturgeschichte ist
erbarmungslos. Man lese einmal die literarischen Notizen, die in
zurückliegenden Jahrgängen einer Revue enthalten sind. Welcher
Lärm um Autoren und Werke, die prompt vergessen wurden!
Herr N. ist ein Wunderkind für die Eltern, der große Mann für
die Gattin gewesen, und das alles, weil er seinen Teil von der
Oberprodnktion an Ruhm abbekam, und Herr N. ist zeitlebens
— 40 —
so stolz und zufrieden gewesen wie die Frau jenes Weisen, die
gfauiht, ihre Lampe sei Oold, und in diesem Glauben selig IMt
und verschied. Wer wollte so grausam sein, diesen idyllischen
Zu&tand zu stören?
Zwei Dinge sprechen für ein Ehnchränken des modernen
Ruhmesvertriebes. Einmal: daß Herr N. jemand besseren den
Platz fortnehmen könnte, und femer: das gut begründete, durdi-
aus unanfechtbare Recht des Publikums, von Herrn N. nichts
zu hören. Das scheint mir ein angebomes Recht von hddister
Wichtigkeit, von der Existenz des Herrn N. nichts, aber gar m'chts
zu wissen. Und doch ist nur verboten, in menschltcfaes Fleisch
Fremdkörper, etwa Messer oder Bleikugeln einzutreiben. In mensch-
liche Gehirne mit Hammerscfalägen die Keile der Reklame zn
pressen, ist derzeit gestattet.
Otto Soyka.
Dift Liebe sum Staate.
Ich bin als Mensch auf die Welt gekommen, jetzt bin ich
Staatsbeamter. Ich fühle, daß ich zu einer Klasse von merkwürdigen
Wesen gehöre, die von der großen und schönen Welt dentli<A
geschieden smd. Mir ist, als befände ich mich auf einer Insel der
Seligen, die vom Drange jeglicher Leidenschaft befreit, einer selbst-
gewählten Gottheit dienen.
Diese Gottheit ist der Staat.
Der Mensch hat sich seit der Erfindung des Staates immer
Gedanken gemacht, was der Staat eigentlich seL Die Alten hatten
eine hohe Auffassung vom Staate, sie konnte sich aber ~ wie
alles Hohe — nicht behaupten. Der Begriff des mittelalterlichen
Polizeistaates wurde geboren, machte Karriere und wurde eine
moralische Person mit allerhand schrecklichen Befugnissen, die im
Busen des Bürgers zunächst Angst, dann Ehrfurcht und schließikfa
den staatserhaltenden Bedientensinn erzeugen.
Ich besitze diesen Bedientensinn, weil ich din^cfa mdirere
Eide mündlich und schriftlich dazu verpflichtet bin. Da ich aoBer-
dem in der Schule gelernt habe, daß Eide zu halten sind, füge
ich mich und glaube ohne Selbstüberhebung sagen zn können,
daß ich ein guter, treuer Beamter bin, der seinen Herrn, den Staat
liebt und für ihn nidit nur zu sterben, sondern auch zu leben
— 41
bcrdt ist Der Offizier ist bloß bereit fflr den Staat zu stoben.
Aber er kann alt wie Methusalem und sogar Oberleutuant werden,
ohne jemals in die Lage zu kommen, von seiner Bereitwilligkeit
Oebreuch zu machen. Das kränkt ihn natfirlich sehr. Denn die
Eisenbraut wird im Laufe der Jahre zu einer dfirren, alten Jungfer,
die, außer bei einer friedlichen SoklatenmiBhandlung, Ihr Lebtag
kdnea Mann erkannt hat Der 2:ivilbeamte ist bereit ffir den Staat
zu leben. Aber auch er kommt niemals in die Lagie. Und auch
ihn kränkt dies sehr.
Trotzdem bin ich ein guter Staatsbeamter. Ich liebe den
Staat. Oder besser gesagt, ich möchte ihn lieben, wenn ich könnte.
Ich kann es einzig und allein aus dem Orunde nicht, weil ich
flidit weiß, was der Staat ist Die alten und neuen Definitionen,
die ich einst lernen mußte, habe ich längst vergessen. Es bleibt
mir nichts übrig, als fflr meinen persönlichen Bedarf eine halb-
vecjs anschauliche Vorstellung vom Staate zu gewinnen, eine Art
begrifflichen Kleiderstockes, auf den ich dann all die schönen,
varmen Gefühle aufhängen kann, die zu pflegen dem Bürger
fflicht und Freude ist.
Bei meinen redlichen Bestrebungen, meinen Brotherrn zu
erkennen, bin ich von dem Satze Wilhem Busch's ausgegangen:
>Gnes weiß man stets hienieden, nämlich wenn man unzufrieden«.
Also ich bin unzufrieden. Warum? Ich bin in den besten
Jabren. Ich bin kräftig und arbeitsfreudig. Ich habe die allge-
meinen menschlichen und vermöge meiner Bildung noch einige
private Bedürfnisse. Das Mittel zur Bedürfnisbefriedigung Ist das
sogenannte OekL Dieses fließt aus der Arbeit Ich arbeite. Aber
der Staat entlohnt mich nur zu einem Viertel mit Geld. Drei
Viertel sind Ehre, die sich an Nährwert mit der Haut einer Knack*
wmst nicht verigldchen kann. Ich kann meine Gläubiger nicht mit
der Ehrfurcht bezahlen, die idi dem Staate schuldig bin. So muß
idi an jedem Zwanzigsten meine Uhr versetzen. So muß ich meine
zerrissenen Schuhe mit Englischpflaster verkleben. So muß ich
Heischselcheigehilfen, Ofensetzer, Kellner und Hausmeister beneiden.
Und ich fühle mit Ingrimm, wie die spitzen Stellen meines Skeletts
sich gegen den lächeriichen Schwindel meiner weißgewaachenen
Haut empören.
Ich führe also ein sogenanntes Hundeleben.
Nidits ist natürlicher, als nach den Ursachen dieser mein
~- 42 —
persönliches Wohlbefinden störenden Erscheinung zu forschen.
Zunächst prüfe ich mich selbst. Ich finde bei aller Bescheidenheit,
daß ich tüchtig arbeite und dem Staat ein schönes Stuck Geld
verdiene.
Behutsam fasse ich den Gedanken: Vielleicht liegt es am
Staate. Mir wäre geholfen, wenn er mich besser bezahlen wollte.
Warum tut er es nicht? Ich will zu ihm gehen und ihn bitten.
Jeder Handlanger geht zu seinem Arbeitgeber, der Ladenschwengel
zum Prinzipal, der Comptoirist zum Chef, der Lehrling zum
Meister: ich werde zum Staat gehen. Ich habe einmal gehört, daß
sogar ein als gemeiner Ausbeuter verschrieener Chef namens Kohn
seinen Bediensteten eine Aufbesserung gewährt hat.
Vertrauensvoll suche ich den Staat. Doch ich stoße auf un-
geahnte Schwierigkeiten. Wo ist der Staat? Auf roten Lehnstfihlen
sitzen dicke Herren mit schwarzen Baden. Sie heißen Hofräte und
sind sehr mächtig. Aber sie sind nicht der Staat. Ihre Macht ist
zu Ende, wenn es gilt, einem armen Teufel ein menschenwürdiges
Dasein zu verschaffen.
Ich gehe von Hofrat zu Hofrat. Sie alle zucken die Achseln.
Ich diene ja dem Staate, nicht den Hofräten. Zum Teufel also,
zeigt mir den Staat! Man deutet schielend nach oben. Oben sitzen
andere Gestalten, die wieder nach unten deuten. Ich stehe da und
suche meinen Herrn wie ein verlaufener Hund.
Wo ist der Staat?
Ein gestaltloses, dunkles Riesengebilde, das mit winzigen,
wackelnden Köpfen und wippenden Achseln besät ist. Wo ich sie
anbohre, diese wesenlose Masse, dieses starre System, das nie ein
Sturm zerreißt, ich stoße auf ein kaltes, lebloses Nichts, einen
wackelnden Hofratsschädel. Der große Staat versteckt sich vor dem
kleinen Bittenden. Das tat auch eine Zeit lang der obenerwähnte
Kohn. Man nannte ihn einen schamlosen Ausbeuter.
Ich greife mir an den Kopf und denke nach, obwohl ich
damit meine Kompetenz bedenklich überschreite. Ein geheimes
Grauen erfaßt mich. Ich fühle mich einem uqbekannten, unhefm-
liehen Wesen ausgeliefert. Ich kann es nicht sehen, nicht fassen,
nicht begreifen. Aber ich fühle, es ist da. Es saugt an meiner
Lebenskraft. Es ist grausam und eiskalt. Es scheint mir Wahnsinn,
_ zu hoffen, daß aus dieser toten Masse jemals ein Funke wohl-
"ender Menschlichkeit auf mich niederleuchten könnte. I<*
^ 43
fange an mich zu fürchten, wie ein Kind, dem man vom schwarzen
Mann erzählt hat Der schwarze Mann, das ist der Staat. Er ist
schwarz an Haupt und Oliedem. Ich möchte davonlaufen, bis an
das Ende der Welt. Aber ich fahle, daß ich es nicht kann, daß
ich gebunden bin.
Ich spinne mich ein in meine Grübeleien.
Es ist ein unbekannter Machthaber da, dem ich Untertan
bin. Viele andere sind ihm gleichfalls Untertan. Warum lieben ihn
alle? Warum lieben sie ein Gespenst, das uns haßt und uns weder
leben noch sterben läßt? Sie beten an, sie tanzen wie Götzen-
diener um ihren Vitzliputzli und sie zeigen jeden bei der Polizei
an, der nicht mittanzt.
Der Staat gleicht einem sehr sinnreichen, sehr komplizierten
Mechanismus, vor dem ein Idiot steht. Wir sehen und betasten
das, was uns zunächst liegt, aber wir sehen das Ganze nicht, das
Ineinandergreifen der tausend Räder, Stangen und Zähne. Der
Idiot hat keine Ahnung, daß man zugrunde geht, wenn man in
die Maschine gerät Es ist anderseits wieder gut, ein Idiot zu sein,
dann furchtet man die Gefahr nicht
Der Vergleich ist gut, aber seine Umkehrung ist besser.
Der Idiot ist der Staat, er ist ein Klumpen ohne jede Spur von
Oeist; und ihm ist der sinnreichste Organismus dieser Welt, der
Mensch, in die plumpen Hände gegeben. Er weiß nicht daß dies
Spielzeug, welches er sinnlos zwischen den blöden Fäusten zer-
inalmt, millionenmal mehr wiegt als sein lebloses Dasein.
Doch wie erkläre ich dann die hündische Ergebenheit der
Menschen gegen den Staat?
Der Zufall heß mich jüngst ein Symbol finden.
Das Volk feierte ein patriotisches Fest und gab seiner Be-
geisterung über das tausendjährige Bestehen des Staates durch Be-
leuchten der Fenster Ausdruck. Ich ging durchweine kleine Straße,
wo nur arme Leute wohnten. Sie hatten ihre Fenster geschmückt,
so gut es ging. Schwarz-gelbe Pyramiden trugen brennende Kerzen,
die zitternd in die große Nacht hinausleuchteten. Ich betrachtete
die Kerzen näher. Sie waren aus billigem Unschlitt und rochen
übel. Die I^ramiden bestanden aus zwei Teilen. Als Umhüllung
schwarzgelbes Papier. Darunter als fester Grund, leere Bierflaschen,
in deren Hals die Kerzen eingezwängt waren.
Dies schien mir das Wesen der bürgerlichen Liebe zu offen-
— 44
baren. Wenig und billiges Licht mit aUerhtttd Nebengerikiien.
Die schwarzgelbe Außenseite ist Papier, ein Idciit entzündiidKr
StofL Dahinter aber als Orund und Zweck zugleich — Bier.
Bei noch näherer Betrachtung bemerkte ich anSatlem, di0
die Bierflaschen leer waren, leer wie die Köpfe und leer wie ihre
Begeisterung.
Das Ergebnis meines Nachdenkens war also gleich NuH
Wenn ich eigensinnig wäre, könnte ich behaupten, der Staat be
stehe nicht. Und doch, er besteht Die Schäbigkeit meiner Lebem-
führung läßt es mich täglich empfinden. Ich habe das dunUe
OefOhl, daß mein Herr, der Staat, der Hflter der Moral, sich ra
seinen Handlungen einer bedenklichen Unmoralität schuldig macht
Aber ich beherrsche dieses dunkle Gefühl, denn es ist nicht
der Zweck dieser Betrachtung, der Liebe jener, die da lieben
wollen. Eintrag zu tun. Mögen sie sterben, wenn sie lieben. Dodi
vom Herzen wünsche ich, sie mögen nie jenem verruchten Staats*
diener gleich werden, der von seinem Brotgeber sagte» wenn eiae
physische Person mit der Moral des Staates ausgestattet wiie,
könnte mit diesem Individuum kein anständiger Mensch verkehreo.
Ich verdamme diese Äußerung« Aber wenn ich ein König
in unserem gesegneten Jahrhundert wäre, würde ich es nicht wagen
zu behaupten: Tetat c'est moi. Denn mehr ate die Unwahiheit
dieser Worte würde mich das Bewußtsein schmerzen, mir adbst
eine Ehrenkränkung zugefügt zu haben.
Bruno Wolfgang.
QloMen.
Das Abenteuer des deutschen Kaisers bringt jene Sommer-
episode in Erinnerung, die zwar keine politische Sensation wir,
aber doch allenthalben peinlich berührte, und über welche nnfcr
der Spitzmarke »Kaiser Wilhelm und der Wiener« in der dm
Wiener nahestehenden Presse berichtet wnrde. Der Kaiser lernte
auf seiner Sommerrdse irrtümlich den Wiener kennen, er hatte
ihn für den Sohn eines Oenenükonsuls gehalten und sagte: »Nadh
dem ich dem Herrn schon einmal die Hand geschüttelt habe,
müssen Ste mir ihn auch vorstellen«. Später war der Kaiser tm-
nahmsweise »äußerst gesprächig«. In welcher Sprache er mit dem
Wiener sprach, wissen wir nicht Die Wiener, die über die gm«
_ 45 -
Weit zerstreut sind, sprechen alle Sprachen. Aber wenn man dem
Wiener glaaben darf, war es die Spreche des Wieneri. Denn der
Kaiser fragte ihn, wie sich Weinfi:artner in der Hofoper dnsrführt
liabe and wie er »sich dort mache«. Sonst war der Bericht so
geschickt abgefaßt, daß er zugleich der Individualität des Wieners
nnd der des Kaisers Rechnung trug. Da der Kaiser nämlich die
Besichtigung seiner Jacht den Passagieren des Vergnfigungsdampiera
frocestellt hatte, so machte die ganze Gesellschaft »selbstredend«
von dieser Erlaubnis Gebrauch. Nachdem er aber speziell den
Wunsch geäußert hatte, den Wiener kennen zu lernen, so geschah
äts >selbstredend€ sofort. Später dinierte der Wiener an der Seite
des Kaisers. Es war ein großes Glück, wie es noch keinem Wiener
passiert ist und in der Erinnerung der Wiener Jouib noch lange
fortleben wu-d. Der Wiener hätte selbsta^end beim Diner nicht
zu sprechen gewagt, aber selbst redend half ihm der Kaiser Aber
die Verlegenheit hinweg.
#
Herr M. G. Saphir, das geistige Rinnsal des alten Wien,
der Quell iener journalistischen Witzigkeit, die vom Mangel an
Charakter lebt und den Kommis vor der Persönlichkeit auszeichnet,
jener Qeistesart, die die Verheerungen einer tiefen Witzarmut ohne
Hemmung zeigt, Herr Saphir also wurde im letzten Sommer von
seinen dankbaren Nachkommen in der Wiener Presse umständlich
Sefeiert. Dabei entschlüpfte einem diese Erinnerung:
>. . . Sich gefürchtet machen und dadurch einen Zwang der Abhängig-
icelt fiben, das sagte dem Zuge seines innersten Wesens sogar mehr zu
— wahrend Bäucile die ihm passendere mUdere Tonart gewählt hatte,
um donelben Zielen mit denselben Mitteln, anch dem des Abhängig-
nachens zuzustreben — und am meisten bekamen das natflilich die
Theaterdlrektionen und die Leiter sonstiger Vergnfigungs- und Genusses-
statten zu verspüren, weU ja diese das einzige Terrain waren, wo die
.öffentliche Meinung' des Vormärz etwas dreinzureden hatte. Die
Direktoren des Theaters an der Wien und in der Leopoldstadt, der
^ Pokomy und Carl, wufiten ein Liedchen davon zu singen — jener
gar. Denn ihm, der von einer naiven Oenerosität und Orofizügigkeit in
kfiostlerischen Dingen war — er richtete sich auch schließlich dadurch
n Gnmde — hatte Saphir seine besondere Gunst in einigermaßen be-
denklicher Weise zugewendet. Er gab seine Vorlesungen Jahre hindurch
sosBchliefilich im Theater an der Wien. Dabei mußte ihm nicht nur das
Theater unentgeltlich zur Verfügung gestellt werden, ohne daß ihm selbst
die Kosten der Tagesregie, wie Beleuchtung, Orchester, Billeteure usw.,
an|[erechnet werden durften; anch mit Anforderungen in anderer Weise
ließ sich Pokomy von ihm in Anspmch nehmen und es bfldete sich
yGoogl
e
- 46
daraus mit der Zeit, wie das schon zu geschehen pflegt, ein Qewohnheits-
recht, dessen geringste Außerachtlassung wie ein Vertragsbruch mit
schwerer Ahndung bedroht war. So kam es dahin, dafi Wien eines Tages
von der Sensation überrascht wurde, Saphir halte seine nächste Vorlesung
nicht mehr an der Wien, sondern in der Leopoldstadt. Und wie bis
dahin das Theater an der Wien auf Kosten des Konlcurrenten an der
Donau Ober den grünen Klee gelobt worden war, so geschah jetzt das
Umgekehrte, in so exzessiver, leidenschaftlich feindseliger und herans-
fordemder Weise, daß der gemißhandelte Direktor, eine stille, bis zum
Obermaß friedfertige Natur, aus sich selbst herausfuhr und in einer
öffentlichen Erklärung sein ganzes Verhältnis zu Saphir und die Ursacbeo
der nunmehrigen, ihm an die persönliche Ehre greifenden Anfeindung
unumwunden und rückhaltlos darlegte.. .<
Ähnliche Vorfälle sind heutigen Tages natürlich nicht mehr
mögh'ch. Denn kein Theaterdirektor würde es wagen, den ihm vor
die Brust gehaltenen Revolver wegzustoßen und etwa der Residenz
eine Geschichte zu erzählen, wie man Librettist wird. Die; Reaktion
des enthüllten Rezensenten wäre mindestens ebenso »leidenschaft-
lich« wie die des Herrn Saphir. Die Empörung der gekränkten
Gewinnsucht, die in diesen Kreisen noch immer Leidenschaft g^
nannt wird, böte sich aber in einer Weise dar, hinter der die kldn-
kalibrigen Verhältnisse der Saphir-Zeit weit zurückbleiben, und der
Theaterdirektor hätte den Korpsgeist eines anerkannten Standes
herausgefordert Immerhin ist die Pietät der Nachkommen b^
greiflich. Herr Saphir war der Erfinder des Systems, das die
Theaterwelt in Kontribution setzt. Er war der Urgroßparasit,
von dem die Enkel bewundernd erzählen» daß es ihm ge-
lungen sei, zur Mitwirkung an seinen schäbigen Deklamations-
abenden eine Haizinger, eine Rettich, eine Louise Neunumn zu
pressen: heutzutag muß einer mit der Niese vorliebnehmen.
Aber solche Erinnerungen sind sicherlich lesenswert Wir erfahren
wenigstens, wie verschweint das Geistesleben selbst dazumal schon
dank dem journalistischen Einfluß war. Die Beliebtheit dieses
Herrn Saphir, dessen Einfälle ein Aufstoßen und dessen Poesie
Schnackerl waren, kannte keine Grenze. Wie ein loser Falter
flatterte der Urschmock auf den Altwiener Festen von Blume zu
Blume, ließ sein Farbenschmalz bewundem, Frauengunst hob ihn
empor und Regierungen gaben ihm die Ehre, ihn fallen zulassen.
Er rcvolverte zwischen Wien, Berlin und München, bespie das
Privatleben der Sängerinnen und bewahrte eine kritische Autorität
gegen den stärksten Geist, den Österreich je erlebt bat,
gegen einen Nestroy. Das Publikum schwankte nidit einen
y Google
47
Augenblick, welcher Art von Witz es den Vorzug geben sollte.
Den Nestroy Verstandes nur, als er einmal auf seinem Rock statt der
Knöpfe die kleiner gewordenen Kaisersemmeln angebracht hatte.
Herrn Saphir verstand es immer. Er legte dem Wiener Publikum
keine Gedanken in den Weg und störte es durch keine Gesinnung.
Da der Festzug über die Ringstraße gehen sollte, war es eine
der bangen Sorgen des Komitees, ob nicht der Kopf mit dem Ende
karambolieren würde. Die Mittel» über welche das Komitee damals
verfügte - Leichtsinn und Loyalität - gestatteten die Erwägung,
durch eine Verlängerung der Ringstraße den räumlichen An-
sprüchen des Festzuges gerecht zu werden. Unbegreiflicherweise
ließ man dieses Projekt, das die Schulden des Komitees um ein
Unbeträchtliches vermehrt hätte, wieder fallen und begnügte sich
mit der Heranziehung schon vorhandener Straßenlinien. Aber jetzt
erfährt die Öffentlichkeit, daß zu den Stationen, die der Festzug
beziehen mußte, um nicht vor dem Abgang der letzten Gruppen
US Ziel zu gelangen, auch der Platz vor dem Justizpalast gehört
hat. In der allgemeinen Begeisterung blieb dieser praktische Einfall
des Komitees bis jetzt ungewürdigt. Aber in Wahrheit steht ein
wesentlicher Teil des Festzugs noch heute vor dem Justizgebiude
und wartet vergebens auf die Möglichkeit, von der Stelle zu rücken.
Man benützt die Gelegenheit, um von der benachbarten Instanz
den Wert der Waffen, der Kostüme und der Loyalität abschätzen
zu lassen. Die Lieferanten bestehen darauf. Sind sie es doch, denen
durch die Veranstaltung geholfen werden sollte und denen zuliebe
sidi der Kaiser schließlich die Geduld abtrotzen ließ, das Spektakel
anzusehen. Bis zu welchen Differenzen zwischen Patriotismus und
Zahlungsfähigkeit sich aber all der Glanz herabgelassen hat, be-
weist eine Anekdote, die durch die Zeituncren geht:
». . . Za den Verpflichtungen des Festzugskomilees gehört eine Schuld-
post von 37 Kronen für Schabstroh, das ein Leopoldstddter Fourage-
händler lieferte, der bis heute keine Zahlung erhielt. Die Geschichte
dieses Strohkaufes ist bemerkenswert. Die für die Tiroler bestimmten
Praterbaracken des Roten Kreuzes wurden im letzten Momente an die
Prauen und Kinder des Festzuges vergeben. Am Vortag des Festzuges
wurde nun dem Vorsitzenden des Andreas Hofer-Denkmalkomitees, Ge-
meinderat A., die Ankunft einer grofien Zahl von Tirolern, auch Frauen,
mitgeteilt. Alle diese Personen sollten in Zelten in der Krieau nächtigen.
Herr A. eüte zum Bürgermeister und erzwang sich trotz des Wider-
standes des Ratsdieners den Einb'itt. Dr. Liieger gestattete, dafi das alte
le
y Google
48 —
LeopoldstAdUr Oemeindehaus den Tirolern als Nachtquartier elngerSanit
werde. In aller Eile fanden dort die Vorbereitungen statt. lazwisdien
hatte man die Frauen der Gruppe in einem Stellwagen nach dem allge-
meinen »Franenlager' in die Baracken des Roten Kreuzes befördert. Um
Q Uhr abends kam der Stellwagea mit allen Frauen wieder xurflek. Die
Baracken waren bereits flberfällt und kein Platz für die Tirolerinnen mehr
aufzutreiben gewesen. Um Vi 10 Uhr abends gelang es Herrn A., zur
Unterbringung seiner Landsleute einen Restaurationssaal in der Leopold-
stadt ausfindig zu machen. Vom Händler N. wurden 40 Schab Stroh
geholt, und Herr A. legte in Qemeüischaft mit einem südtischen
StraBenarbeiter selbst Hand an, um das Stroh mit Leintflchem zu Aber-
ziehen. Um 1/2 11 Uhr nachts kormten endlich die mflden Tiroler
Bauerinnen den Saal beziehen, in dem sie auf dem Boden schliefen, der blofi
mit Stroh bedeckt war. Das Stroh ist Jedoch bis Jetzt noch nicht bezahlt . . . •
Nun entsteht für die Patrioten die Frage, wie nun die
KoiAen des Festzugs hereinbringen solle. Die Frage, wie man den
Festzug veranstalte, war gfewiB wichtiger. Aber da sie mit Erfolg
gelöst wurde, erscheint es immerhin notwendig, auch der anderen
näherzutreten. Das Komitee hat den Ausweg gefunden, Staat und
Gemeinde mit der Bitte anzugehen, seine Schulden zu flber-
nehmen. Fürwahr, kein übler Ausweg, und er mußte vor allem
den Akteuren des Festzugs probabel scheinen, den millionetireichen
Aristokraten, denen man doch nicht zumuten konnte, das Vergnügen,
in der Rüstung ihrer Ahnherren an einem Sommertag auf der
Ringstraße zu spazieren, extra zu bezahiea. Das bitte man ihnen
früher sagen müssen. Es wurde aber nicht auf Teilung sebuidigt,
und so kann auch keine Rede davon sein, daß sie das I>efizit
tragen. Darum wird nichts anderes übrig bleiben, als das Publikum
zu bemühen. Ein Tlieater ist verkracht, weil keine Leute hinein-
gegangen sind, und darum müssen diese zahlen. Mitten sie
damals gezahlt, müßten sie es jetzt nicht tun. Es ist eine Form,
die Wiener nachträglich zur Beteiligung am Festzug heranzuziefaeu.
Freilich eine Form, die zwar die Schulden tilgt, aber die Schuki-
post des Skandals offen lißt. Und wer geduldig seine Steuern an
Staat and Gemeinde entrichten wird, wiewohl er weiß, daß er damit
das Gelüste einiger Ordensstreber sühnen muß, wird zu einer ff~^
terlichen Entdeckung helfen: Das Schabstroh in den Gehirne
auch noch aicht t)ezahlt!
Nach einem Spielerprozeß: Dit Könige lagen unten;
Bttben sind obenauf.
Karl Kra^
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Herausgeber:
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Die Fackel
Nl 267-68 17. DEZEMBER 1906 X.JAHR
Sonneti
written in Holy Weck at Qenoa.
Von Oskar Wilde.
Mein Schritt ging durch Scogliettos Einsamkeit;
▼iel goldne Früchte — überhängend — glühten
gleich Leuchtern heiler als der Tag — und Blüten
warf ein erschreckter Vogel wie ein Kleid
von Schnee auf mich — zu meinen Füfien blühten
Narsissen, bleich in süßer Herrlichkeit —
Ab, dies war Leben: als die Wellen weit
in Sonne lachend nach dem Lande sprühten.
Von ferne kam des jungen Priesters Singen:
Oh kommt und bringt all eure Blumen her,
Jesus, der Sohn Marias, liegt erschlagen —
Mein Gottl in diesen griechisch heitern Tagen
vergafi ich Deinen Schmerz und all die Dinge:
den Kranz, das Kreuz, die Krieger und den Speer.
Übersetzt von Felix Ortfe.
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— 2 — •
Der Patriot.*)
Dies ist ein Borsch,
Der, einst gelobt um Gradheit, sich befleißt
Jetzt plumper Unverschämtheit und sein Wesen
Zu fremdem Schein zwflngt: der kann nicht schmeicheln, der! —
Ein ehrlich, grad Gemüt — spricht nur die Wahrheit t —
Will man es sich gefallen lassen, gut; —
Wo nicht, so ist er grade. — Diese Art
Von Schelmen kenn' ich, die in solcher Gradheit
Mehr Arglist hQllen und verschmitzte Zwecke,
Als zwanzig fflgsam untertän'ge Schranzen,
Die schmeichelnd ihre Pflicht noch überbieten.
Shakespeare.
In den bangen Tagen, die jüngst das deutsche
Vaterland durchlebt hat, weil die Lust 2um
Fabulieren die Fähigkeit zum Regieren ernst-
lich in Frage zu stellen schien, ist es doch einer
*) Herr Maximilian Harden hatte nach der Affäre des englischen
Interviews in Berlin einen Vortrag gehalten, in welchem er nebenbei
auch gegen den ,Simplicis8imus' auftrat und die Tendenzlüge von dessen
»französischer Ausgabe < weitergab. Ludwig Thoma antwortete im
.Berliner Tageblatt' und erbot sich, als Herr Harden dabei blieb, zu einem
dokumentarischen Gegenbeweis. Die Berliner .Zeit am Montag' (23. No-
vember) schrieb: »In seinem Antwortartikel gegen Ludwig Thoma ver-
sichert Harden treuherzig, daß er ,das Blatt nicht mehr ganz so gern
wie früher sehe'. Woran mag das liegen? Man revidiert eüi wenig den
Zettelkasten des Gedächtnisses und entsinnt sich des Umstandes,
dafi der ,Simplicissimus' seit geraumer Zeit einen Mann zum Mitarbeiter
hat, den Max partout nicht leiden mag. Es ist dies der Österreicher
Karl Kraus, der in Wien die , Facker herausgibt und in diesem Oigan
sowohl wie in einigen Sonderschriften die publizistische Persönlichkeit
Herrn Hardens, den er sehr genau kennt, mit den Röntgenstrahlen eines
scharfen Kritikergeistes nach jeder Richtung hin durchleuchtete. So kam
es, dafi Herr Harden vor weiteren Kreisen in erbarmungswürdiger Blöfie
erschien. Als nun Karl Kraus diese Kreise noch weiter zu ziehen be-
gann, und Ludwig Thoma ihm den ,Simplicissimus' und auch den
pMärz' erschloß, da begann sich in Herrn Harden jener geheimnisvolle
Prozeß vorzubereiten, den er in seiner Erwiderung an Thoma mit den
treuherzigen Worten kennzeichnet, daß er das Blatt »nicht mehr ganz
so gern sehe wie früher'. Man kanns begreifen I« Diese Deutung einet
patriotischen Grolls ließ mich das Vergnügen eines Eintretens in
die Sache als Pflicht empfinden und den hier folgenden Aufsatz
entstehen, der soeben auch im zweiten Dezember-Hefte des .MArz* er-
schienen ist.
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— 3 —
Beruhigung froh geworden: Fest steht und treu
Herr Maximilian Harden. Denn wenn auch Deutsch-
lands Gewissen nicht mehr zwischen den Wipfeln
des Sachsenwaldes webt, so macht es dafür den
Grunewald sur Sehenswürdigkeit, und wenn Deutsch-
lands politische Weisheit nicht mehr einer Schöpfer-
kraft entstammt, so ist sie eine jener Anlagen,
die dem Schutze des Publikums empfohlen sind.
Uns lebt ein eiserner Journalist. Das ist einer,
der wie Lassalle ausspricht, was ist, und wie
Bismarck, was sein sollte. Der Einfachheit hal-
ber aber läfit er gleich Bismarck selbst sprechen,
und weil es keine Möglichkeit einer politischen
Situation gibt, über welche sich dieser mit ihm
nicht beraten hätte, so gewöhnen sich die Deutschen
in einen Zustand, dank dem sie den Hingang
des eisernen Kanzlers überhaupt nicht mehr spüren.
Ob freilich Bismarck, als er die Flasche Steinberger
Kabinet mit Herrn Harden teilte, mehr den Gast ehren
oder den Spender kränken wollte, ist bis heute nicht fest-
gestellt, und es ist nur sicher, dafi er mit der Verab-
reichung der Tasse Vanilleeis eine demonstrative
Auszeichnung der publizistischen Eigenart des Herrn
Harden im Sinne hatte. Diese Gelegenheiten böten
aber für die Fülle politischer Vertraiüichkeit, die der
Hausherr dem schüchternen Gast aufgenötigt hat,
keinen Raum, und so bleibt nichts übrig als die
Vermutung, dafi Fürst Bismarck nach dem Hausverbot,
welches von Friedrichsruh an Herrn Harden ergan-
gm war, ihn im Grunewald aufgesucht und ihm jene
ismarck- Worte zugetragen hat, deren Echtheit uns
im Zeitalter der Surrogate immer aufs neue frappiert.
Da aber Bismarck yiel mehr gesprochen haben muß,
als Herr Harden verrät, und die letzten Lebensjahre
des Fürsten kaum ausgereicht hätten, auch nur so
viel zu sagen, als Herr Harden gehört haben will,
so mufl man zu der Erklärung greifen, dafi selbst
der Tod den Kanzler nicht davon abgehalten hat,
mit dem Altreichsjournalisten jene trauliche Zwie-
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sprach zu pflegen, die ihm nun einmal zur Qepfio-
genheit geworden war. Und so erleben wir Deut-
schen, die Otott, aber sonst nichts in der Welt
fürchten, das grausige Schauspiel, wie ein Toter die
Ruhe eines Lebendigen stört, glauben zuweilen, dafi
der Tote im Grunewald sitzt und der Lebende im
Sachsenwald liegt, und aus der Verwirrung der Sinne
hilft uns nur die Anwendung eines weisen Spruches:
Wenn ein Sarg und ein Zettelkasten zusammenstoßen,
und es klingt hohl, so mufi nicht immer der Sarg
daran schuld sein.
Trotz alledem wird es dem Andenken Bismarcks,
der bloß ein Mißvergnügter war, nicht gelingen, die
Taten des Herrn Harden, der ein Patriot ist« zu
kompromittieren. Denn es gibt gottseidank noch einen
Fürsten, der der Lebensanschauimg des Herausgebers
der ,Zukunft' näher steht als Bismarck, und das ist
der Fürst Eulenburg. Man kann es ja heute sagen,
dafi die Kränklichkeit dieses Staatsmannes dw
Individualität des Herrn Maximilian Harden einen
weit größeren Dienst erwiesen hat als der Tod
des Fürsten Bismarck. Nur ein Jahr lang stand Herr
Harden im Banne der Normwidrigkeit jenes Mannes,
dem er bis dahin nichts weiter vorzuwerfen hatte,
als daß er in den Zeiten politischer Not beinahe so
schlechte Gedichte gemacht hat wie die lyrischen
Mitarbeiter der ,Zukunft^ Aber wir wissen, was
dann weiter geschah, wie die Wahrheit nach
fünfundzwanzig Jahren an den Tag kam, und wie
die deutsche Nation sich freute, weil sie zwei solche
Kerle wie den Riedel und den Ernst hatt«.
Durch alle diese Aktionen, zu deren geistiger Deckung
die Inspiration eines Bismarck nicht ausgereicht
hätte und deshalb vernünftigerweise ein Detektiv-
bureau herangezogen wurde, zieht sich wie ein
schwarz- weiß-roter Faden der Patriotismus des Herrn
Maximilian Harden. Nicht um ein erotisches Privat-
vergnügen oder gar die Sensationslust unbeteiligter
Abonnenten zu befriedigen, nein, für dad Vaterland
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- 5
hat er sich unter den Betten der Adlervillen und der
Starnberger Hotels gewälzt. Ein Conimis Yoyeur
ist durch Deutschland gezogen, aber er hat das Er-
lebte, Erlauschte, Erlogene mit staatsretterischer
Oebärde offeriert. Wer sollte glauben, dafi es ihm
darauf ankam, dem Skandal zu opfern, ihm, der den
Skandal nicht scheute, um dem Vaterland zu opfern,
und der um der Ehre willen selbst einen Mehr-
gewinn seines Blattes nicht gescheut hat? Dafi ihm
der Skandal nicht Selbstzweck war, sondern blofi die
notwendigsten Mittel zum Zweck hereinbrachte, beweist
er gerade jetzt, da er der Politik der offenen Hosen-
türen endlich entsagt hat und den Fürsten Eulenburg
einen lahmen Mann sein läflt. Und in der Tat, seit dem
Augenblick, da dieser den Diener Dandl — Herr Har-
den verzichtet heute auf solche Alliterationen — an die
Wade fafite, hat kein politisches Ereignis so sehr die
Wachsamkeit des Vaterlandsfreundes herausgefordert
und so dringend an die Pflicht auszusprechen, was
ist, gemahnt als das kaiserliche Interview. Wenn
man den Opfermut, mit dem er sich auf ein steuerloses
Schiff stellt, unbefangen betrachtet, mufi man
sogar zu der Meinung neigen, dafi für Herrn
Harden heute die Frage, ob der Wille eines Monarchen
auf die bekannten ministeriellen Bekleidungsstücke
verzichten darf, eine wichtigere Sorge bedeutet als
selbst die Frage, ob Graf Moltke mit Unter-
hosen sich ins Ehebett gelegt hat. Ja, hol mich
der Teufel, Herr Harden scheint überzeugt zu sein,
daB ein Eigenwille dem Reiche gröfieren Schaden
zufügt als eine Willfährigkeit, die den Einflufi einer
normwidrigen Hofgesellschaft duldet. Das ist nur
konsequent. Herr Harden hat den Kaiser von sei-
nem Umgang befreit, jetzt ist es an ihm, den Kaiser
vor den Gefahren des Alleinseins zu warnen. Was
immer er aber für das Wohl des Landes unternehmen
maiz:, er ist mit der gleichen Ehrlichkeit eines Kent
bei der Sache. Der kann nicht schmeicheln, derl Ob
er nach Schranzen sticht od^r königlichem Zorn die
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— 6 —
Brust darbietet, ob er Männerstols vor Königsthronen
offeriert oder Eönigsstolz vor Männerliebe behütet, er
handelt stets in Wahrnehmung berechtigter Interessen.
Und nicht etwa solcher, wie sie das Reichsgericht in
wiederholten Entscheidungen anerkannt hat: die einsig
berechtigten Interessen eines Publizisten seien die
seines geschäftlichen Vorteils.
Was aber ist ein Patriot? Wir wollen eine Ent^
Scheidung der allerhöchsten Instanz provozieren, des
kulturellen Schamgefühls. Diese Instanz hatte mit Herrn
Harden noch nichts zu schaffen, sie ist unbefangen.
Sie sagt: So wie das religiöse Oefühl der meisten
Frommen sich erst bekundet, wenn es verletzt wird,
so liegt auch der Patriotismus der meisten Patrioten
auf der Lauer der Gelegenheit, gekränkt zu sein.
Der Sprachgebrauch, der davon spricht, dafi einer,
der leicht zu beleidigen ist, »gerne beleidigt ist, hat
Recht. Das religiöse und das patriotische Gefühl
lieben nichts so sehr wie ihre Kränkung. Will nun
Herr Maximilian Harden als ein echter Patriot da-
stehen, von dem die schwarz-weifi-rote Farbe auch
dann nicht heruntergeht, wenn man ihn in seine
eigene schmutzige Wäsche nimmt, so mufi er vor
allem die Gelegenheit suchen, die Verletzung seines
patriotischen Gefühls durch andere zu beklagen. Der
wahre Patriot liebt zwar das Vaterland, aber er würde
selbst das Vaterland opfern, um jene hassen zu dürfen,
die das Vaterland nicht lieben oder nicht auf dieselbe
Art lieben wie er. Der wahre Patriot ist immer ein
Denunziant der Vaterlandslosen, sowie der wahre
Christ ein Denunziant der Gottlosen ist. Den Hut
vor der Monstranz zu ziehen, ist bei weitem kein so
schönes Verdienst wie ihn jenen vom Kopfe zu schlagen,
die kurzsichtig oder andersgläubig sind. Zwischen
Monstranz und Demonstration lie^ ein Spielraum für
populäre Möglichkeiten, den kein Demagoge des
Glaubens und kein Pfaffe der Politik je ungenützt ließ.
Herr Harden hat das wirksamste Mittel gefunden, um
seinen Patriotismus vor Allen gläubigen Gemütern zu
— 7
legitimieren. Denn es waren Zweifel auffi^taucht. Die
Normwidrigkeit deutscher Höflinge in Ehren, aber
man hatte sich öfter gefragt, ob ein Patriotismus sich
in der Wahl seiner Mittel nicht doch vergriffen habe,
der dem Blick der schadenfrohen Nachbarn eine so
abscheuliche Perspektive dnrch das Loch der Vogesen
eröffnet hat. Da besteigt Herr Harden mit einem un-
widerleglichen Argument ssum Beweise seiner vater-
landsfreundlichen Gesinnung die Tribüne : Der ,Sim-
plicissimusS ruft er, hat eine französische Ausgabel
Und durch sie könnte der Erbfeind ein ungünstiges
Bild von dem Geistesleben deutscher Offiziere be-
kommen. Das sei der bare Landesverrat. Denn so
notwendig es war, Europa über die Geschlechtssitten
der deutschen Armee reinen Wein einzuschenken,
so indiskret ist es, über das Bildungsniveau des Re-
serveleutnants Mitteilungen ins Ausland gelangen zu
lassen.
Als ich dieses Argument für die Echtheit
eines Patriotismus, dem auch ich bis dahin miß-
traut hatte, vernahm, war meine Freude grofi.
Schon deshalb, weil Herr Maximilian Harden, der
der Rede mächtiger ist als der Schrift, es vor-
Eezogen hatte, den Beweis seiner patriotischen
leistungsfähigkeit einem Auditorium statt einer
Leserschar zuzumuten. Denn wäre dieser Beweis
in der ,Zukunft' geführt worden, so hätte ich
die Mühe der Übersetzung in unsere Sprache gehabt,
und von dieser Aufgabe könnte ich nur sagen, dafi ich
es mir immerhin leichter und dankbarer vorstelle, den
Text des ,Simplicissimus' ins Französische zu übersetzen.
Geschähe es doch I Ich bin ein schlechter Verteidiger
gegen den Vorwurf, dafi einer Landesverrat begehe,
wenn er Humor verbreitet oder wenn er eine künst-
lerische Sprachleistung Lesern zugänglich macht,
deren Sprache für künstlerische Leistungen eigens
erschaffen ist. Ich kann das Pathos nicht aufbringen,
Herrn Harden einer Verleumdung zu beschuldigen,
wenn er fälschlich behauptet hat, der ,Simplicissimu8'
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— 8 —
Teranstalte eine französische Ausgabe. Ich habe weder
fOr die Ausfuhrverbote des Geistes noch für die Zoll-
schranken der Kultur jenes Verständnis, das not-
wendig wäre^ um die Behauptungen des Herrn Bar-
den als ehrverletzend zu empfinden. Ich mußte seine
Entrüstung teilen, um ihre Ursache mit Vehemenz zu
bestreiten, und ich müfite einen vaterländischen Stolz
begreifen, der seinen Manschettenknöpfen einen Sieges-
lauf um die Welt ersehnt, aber seinen Satiren das
»made in Germanyc verübelt. Sie sollen im Lande
bleiben und sich redlich von den Übels! änden der
Heimat nähren. Aber das ist schliefilich der Mahnruf
aller kritischen Nachtwächter, die es noch nie ver-
standen haben, daß man von der Kunst auch etwas
anderes beziehen könne als Tendenzen und stoffliche
Reize. Und ich sehe nicht ein, warum ich einem
eine Unwahrheit nachweisen soll, wenn ich ihn einer
Unwahrhaftigkeit beschuldigen kann. Ich würde
Herrn Maximilian Harden die kitschige Gemeinheit
seines Arguments mit demselben Hochmut vor
die Füfie werfen, wenn die französische Ausgabe
des ,Simplicissimus' bestünde, wenn sie sich nicht
auf die Obersetzung der paar Illustrationswitze
reduzierte, mit der deutsche Satiriker ihren fran-
zösischen Kunstgenossen gefällig sein wollten und
die auf 660 Exemplaren einer angeklebten Schleife
das deutsche Ansehen im Ausland gefährdet
Gäb's eine richtige französische Ausgabe, ich
würde trotzdem die äußerste Geringschätzung
für einen Agitator übrig haben, der den Blick der
Weinreisenden von seiner eigenen politischen Schande
abzulenken sucht, indem er vor ihnen die künstlerische
Ehre des Andern in eine politische Schande verwandelt
In den Kehricht des deutschen Geistes mit ihml Und
dafi er nie wieder mit vorgeschützten Kulturinteressen
uns belästige, uns, denen vor Europa eine Produziening
Zeichnerischer Kunstwerke wahrlich besser anstünde
als die literarischen Offenbarungen sexueller Spionage.
Hätten wir die Wahl, einer kultivierten Welt
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9 —
die Satiren der Heine und Gulbransson oder den
speckigen Ernst eines Leitartiklers zu unterbreiten,
die Lumpenhülle der Kunst eines Rudolf Wilke oder
den stilistischen Prunk, in dem die schäbigsten Wahr-
heiten unserer Publizistik einherstolzieren, einen Thöny-
schen Leutnant oder einen Harden'schen Flügeladju-
tanten — , ich wüfite bei solcher Wahl, welches Er-
zeugnis deutschen Geistes ich getrost ins Ausland
schicken wollte, um dessen Achtung zu gewinnen,
und ich wüfite, in welchem Falle ich ein Patriot
wäre I
Beklagen wir es, dafi solche Entscheidung nie
ermöglicht wurde. Der ,Simplicissimus^ hat, wie wir
durch die Aufklärung LudwigThomas gehört haben, die
geschäftlich verlockendsten Anerbietungen abgelehnt,
und so erfahren die Franzosen, die uns ihre Witz-
blätter in hunderttausenden Exemplaren herüber-
schicken, aus unserem Geistesleben leider nur dann etwas,
wenn Herr Harden in einem seiner Sexualprozesse
beweisen will, was er nicht behauptet hat, oder be-
hauptet, was er nicht beweisen kann. So bleibt CF.
ausschliefilich Herrn Harden vergönnt, zu tun, was
er dem ,Simplicissimus' nachsagt: die Scham seines
Volkes zu entblößen, um seine Einnahmsmöglich-
keit zu vergrößern. So bleibt es Herrn Harden
vorbehalten, seine Angriffe auf die hintere Linie
der deutschen Schlachtordnung im Angesicht des
Auslandes zu verüben und den Interviewern des
,Matin' in spaltenlanger Rede zu versichern, dafi
er Material gehabt habe, Material habe und
noch haben werde, * bis der Termin des jüngsten
Gerichtes anbricht. Er mag sich für einen deutschen
Patrioten halten, weil die Franzosen blofi seine
Reden und nicht auch seine Schriften zu übersetzen
vermocht haben, und wir wiederum wüfiten nichts
von der unpatriotischen Gesinnung des ,Simplicis8i-
mus', wenn Herr Harden es vorgezogen hätte, darüber
sn schreiben, anstatt zu sprechen. Aber er wollte ver-
standen werden, er wollte jene Instinkte gewinnen,
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— 10 —
lu denen man auf stilistisohen Stehen nicht gelangen
kann. Nicht populär su sein, dieses Schicksal teilt der
Umworter aller Worte mit jenen, die die Menge
mit Gedanken in Versuchung führen. Will Herr
Harden lügen, wie ihm der Schnabel gewachsen ist,
dann steigt er auf das Podium und heimst für den
Verzicht auf die höhere Bildung und auf das Recht,
den November Nebelmond und den König von Eng-
land Kmg zu nennen, jene Lorbeern ein, die er seit
den Tagen von Moabit so schwer entbehrt hat. Hätte
er in seiner .Zukunft' etwa beteuert, daß der ,Sim-
plicissimusS Mariannens lüsternem Blick die Scham ger-
manischen Wesens, des vom Dünkel der Qewaffnetan
mählich nur in die Zucht des Pritzenstaates gekirrten,
mit flinkem Pinger entblößt habe . . . ach, ich hätte
mich erbarmen und wieder einmal aussprechen
müssen, was ist. Ich freue mich also, dafi Herr
Harden es uns diesmal so leicht gemacht hat, die
Schwäche seiner ethischen Hemmungen zu empfin-
den. Wenn er erweislich Wahres sagt, kommen wir
ihm nur schwer darauf; wenn er lügt, gewinnt er
uns sofort. Aber wer einmal lügt, glaubt einem andern
nicht, und wenn der auch die Wahrheit spricht.
Was Herr Harden vorgebracht hatte, wurde von
Thoma glatt in Abrede gestellt, er selbst hätte also
zugeben müssen, dafi >der Stank schnell verflogt.
Aber man müßte »seines Wesens Ruch« nicht
kennen, wenn man es verwunderlich finden sollte, dafi
er nun erst mit der Pestigkeit eines Qalilei an seiner
Entdeckung festzuhalten begann. Und es gibt doch eine
französische Ausgabel Er hat eine gesehen! Waren
nicht hundert Lügen gegen eine Wahrheit zu wetten,
daß Herr Harden sich auf die Friedensnummer,
die unter dem Titel »Paix ä la Prancec im Jahre
1906 erschien, berufen würde? Thoma war abge-
führt; denn : >die Behauptung, es habe nie eine
französischen Ausgabe des ,Simplicissimus^ gegeben,
ist also unrichtige. Ist sie's?, muß man sofort im
feinpolemischen Pragestil des Herrn Harden hinzu-
— 11 —
setzen. Die Entblößung der deutschen Armee vor
dem Ausland beweist er folgerichtig durch jene
Publikation des ySiroplicissimus', die eine Pro-
paganda der Abrüstung bezweckt hat. Einer
behauptet^ dafi ich meine Hausfrau verraten habe,
weil ich meiner Nachbarin erzählte, dafi sie Wan-
zen beherberge, und meint, es gehe nicht an,
die eig:ene Hausfrau in den Augen der Nachbarin
herabzusetzen. Ich antworte, dafi ich dergleichen
nie getan habe. So?, sagt er, zufällig kann ich be-
weisen, dafi du einmal bei der Nachbarin warst. Und
das stimmt wirklich, denn das war damals, als ich sie
für eine gemeinsame Aktion gegen das Teppichklopfen
gewinnen wollte . . . Herr Harden ist ein Ehrenmann
mit logischen Unterbrechungen. Und er wird so lange
bei seinem Argument bleiben, als dessen Billigkeit
ihn mit dessen Nichtigkeit versöhnt und in den Augen
deutscher Spiefier zum ehrlichen Manne macht. Denn
es mufi ein verflucht angenehmes Gefühl sein, das
Odium eines Polizeihundes, der auf homosexuelle
Tiergartenabenteuer geht, mit dem Ruf eines Wach*
ters am Rhein vertauschen zu dürfen, der anschlägt,
wenn ein Satiriker vorbei will.
Zum heuchlerischen Alarm ist da und dort
Gelegenheit; aber so sehr es der Bürger liebt, wenn
ihm die Moral gerettet wird, noch mehr staunt er
die Bravour des Tapferen an, der ihm das Vaterland
rettet. Und das zweite Problem ist umso interessanter, als
es neben der politischen Spannung auch wieder Ge-
legenheit für eine moralische Kunstfertigkeit bietet.
Die ahnungslosen Deutschen sitzen in einem Biergarten,
da steigt Herr Harden auf einen Sessel und wird seine
Leistungsfähigkeit zeigen; vorerst aber bittet er die
Herrschaften >um ein kleines Trinkgeld oder Douceurc ;
— die französische Obersetzung ist bei der Ansprache
der Trapezkünstler üblich, wird ihnen aber nicht
weiter übelgenommen. Und Herr Harden versichert
den angenehm überraschten Biertrinkern, dafi ihn
die »Täte des ,SimplicissimusS der den 650 Exem-
y Google
— 12 —
pliuren eine Schleife mit fünf französischen Zeilen
beigeheftet hat, »unverzeihlich dünkt, so unverzeihlich
wie das Handeln eines, der eine schmähliche oder
lächerliche Familiengeschichte in die Zeitung:
bringt . . . Süd oder Nord: die Deutschen sollen
sich als einer Familie angehörig fühlen und die
Darstellung der traurigen oder* lächerlichen Miftstände,
die im Familienhaus leider noch fühlbar sind, nicht
selbst den Fremden zum Kauf anbieten c. Die Besucher
sind entzückt, geben ein Trinkgeld und kein Douceur,
und alle stehen im Bann einer erstklassigen akroba-
tischen Leistung, die den patriotischen Bauchauf-
schwung mit dem großen salto morale vereinigt.
Nur einer im Hintergrund ruft : Eulenburg 1 . . llr
wUl damit sagen, daß er den Artisten schon von
früher her kennt und dafi ihm die Methode, mit
der Moral Politik zu machen, schon einmal Übel-
keit erregt hat. Er will sein Mißbehagen aus-
drücken, dafi Herr Harden die Erinnerung an eine
Produktion heraufbeschwört, die ihm beinahe den
Hals gekostet hätte. Denn dafi einer ein Jahr lang
nichts anderes tat, als die Geheimnisse fremder Betten
zu lüften und den Familienfrieden derer von Sokrates
bis Lynar zu zerstören, war eine stärkere Oesin-
nungsprobe, als ein durchschnittlicher Moralheuch-
ler eigentlich nötig hat. Aber dafi er es dann als
eine unverzeihliche Handlung brandmarkt, schmäh-
liche oder lächerliche Familiengeschichten in die
Zeitung zu bringen, ist bereits eine Fleifiauf^be dw
Scheinheiligkeit. Freilich wünscht er nicht, dafi
man die sittlichen Wirkungen seiner Aktion mit
der Erschütterung des deutscheu Ansehens durch
die Übersetzung der Simplicissimus - Witze ver-
gleiche. Hat Herr Harden »sein Beweismaterial
in einer Weltverkehrssprache veröffentlichte? Das
hat er, wenn man von den Interviews in der
französischen Presse absieht, weiß Gott nicht getan,
und trotzdem ist »durch sein Reinigungswerk das
deutsche Ansehen wesentlich gebesserte worden. Die
y Google
- 18 —
Welt hat also davon erfahren, es hat ihr imponiert,
und es kommt offenbar auf den Kredit dessen an,
der ein Reinigungswerk vornimmt. Der ySimplicissimus'
kann sich gewifl nicht auf ein anerkennendes Schreiben
des deutschen Botschafters in den Vereinigten
Staaten, des Barons Speck v. Sternburg berufen.
Herr Harden kann es. Denn der Baron Speck hat
ihm bestätigt, dafi alle führenden Männer in den
Vereinigten Staaten des Lobes voll waren. Er ist
tot, er starb bald, nachdem er Herrn Harden seine An-
erkennung ausgesprochen hatte. Er teilte das Schicksal
aller bedeutenden Männer, die sich auf ihre Vertraulich-
keit mit Herrn Harden etwas zugute taten. Qui mange
du pape, en meurt. Aber essen die Leser von diesem
Speck? Möglich, daß der Tote Herrn Harden gelobt
hat. Aber selbst wenn wir diesen Botschafter hörten,
es fehlte uns der Glaube. Dean es kommt auch beim
Ansehen des Herrn Harden im Ausland, wie in allen
Lebensproblemen, weniger auf das erweislich Wahre,
als auf die innere Wahrscheinlichkeit an.
Wie umständlich muß heute ein deutscher
Patriot seine Ehrlichkeit beweisen, damit sie die
Welt nicht glaubt I Man verdächtigt die Motive
des Herrn Harden, die ihre Ursprünglichkeit an
der Stirne tragen. Man ist nicht einmal vorweg
davon überzeugt, dafi er in die Volksversammlung
kam, um den künstlerischen Wert des .Simplicis-
simus' zu loben, und dafi ihm >erst während er
sprach, einfiel, dafi dieses Lob als ein auch der
Qeschäftspolitik des Blattes geltendes gedeutet wer-
den könntec. Weil ihm dies erst während er sprach,
aufällig einfiel, deshalb, nur deshalb sagte er, »dafi
er das Blatt nicht mehr ganz so gern wie früher sehec,
und brachte auch die französische Ausgabe zur Sprache.
Anstatt dafi man nun der spontanen Natur des Herrn
Harden, deren Unberechenbarkeit heute nur noch im
Wesen einer einzigen Persönlichkeit in Deutschland
ihresgleichen hat, Gerechtigkeit widerfahren läfit,
anstatt dafi man zugleich eine Besonnenheit anei kennt,
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-14-
durch die sich auch ein Temperament im letsten Augen-
blick Zügel anzulegen vermag, behaupten die Feinde,
der Tadel des ^Simplicissimus' sei nicht von der
Gerechtigkeit der Liebe, sondern das Lob sei
von der Taktik des Hasses diktiert, und der
Wandel in der Ansicht des Herrn Harden sei
nicht dem verletzten patriotischen Qeftthl zuzu-
schreiben, sondern der verletzten Eitelkeit. Daft
die Welt das Strahlende zu schwärzen liebt, ist be-
kannt, aber es ist besonders undankbar von der
Welt, wenn sie diese Praxis gegenüber einem Manne
betätigt, der sich so gern an die Welt wendet.
Müssen solche Erlebnisse nicht schiiefilich ziur Ver-
einsamung der Agitatoren führen? Mit ungerechter
Rauhheit sehen wir da ein Berliner Blatt in em naives
Seelenleben greifen, wenn es dreist behauptet, der
Wandel in der Ansicht des Herrn Harden über den
,8iraplicis8imus* sei auf meine Mitarbeit am ,Simpl]-
cissimus^ zurückzuführen . . . Wärs möglich? Wäre
ich wirklich schuld? Aber da es behauptet wird,
so fühlt mein Magen auch noch eine moralische Ver-
pflichtung, sich bei der patriotischen Zubereitimg
einer Ranküne mit allen anderen deutschen Magen
umzudrehen.
Wenn ich schuld bin, mufi ichs auf mich
nehmen, und tue es vor der ganzen Öffentlichkeit
mit jener freudigen Bereitschaft, die Herr Hardeo
an mir schon gewohnt ist. Dafi ich blofl als Mitarbeiter
des von ihm beschimpften ,Simplicissimus^ das Wort
führe, mag er behaupten, wenn er sich seinerseits
darauf verlegen will, die Motive einer Aussprache
zu verdächtigen. Ich würde mich zu meiner Kon-
sequenz so gut bekennen, wie zu jenem Widerspruch,
dessen die aufrechten Männer mich damals beschuldigt
haben, als ich nach einer Polemik gegen den ,Simplioi88i-
mus' mich durch Mitarbeit zu ihm bekannte. Was ioh
einmal — mit höherer Achtung vor dessen künsileri*
schem Wert als Herr Harden — - gegen den
,SimpUois8imu8' einzuwenden hatte, das hat noieine
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— 15 —
Subjektivität eingewendet, die von Zugeständnissen
an den Qesohmack des Publikums nichts wissen
will und deren luxuriöses Recht ich mir nur
selbst zugestehen darf. Keinen besseren Beweis seines
Verständnisses für solch unerbittliche Kunstauffas-
sung konnte der ,Simplic]ssimus^ erbringen^als durch
Einladung eines Autors, dessen Beiträge sicherlich
kein Zugeständnis an den Geschmack des Publikums
bedeuten, und in keinem ehrlicheren Krieg der Meinun-
gen ist je ein ehrlicherer Friede geschlossen worden.
Wenn er aber den unehrlichen Krieg des Herrn Maxi-
milian Harden gegen den »Simplicissimus' eröffnet hat,
so lasse ich es mir gefallen, dafi man meinen Angriff
auf den Angreifer als die Erfüllung einer Bündnis-
pflioht deutet. Ich habe oft genug bewiesen, dafi ich
keines anderen Winks bedarf, um gegen diese publi-
sistische Macht mobil zu sein, als einer Lektüre der
,Zukunft^ und wer mich kennt, wird mir glauben,
dafi ein patriotisches Bekenntnis des Herrn Maximilian
Harden durchaus genügt hat, um mich in den alten
Zustand der Feindseligkeit zu versetzen. Vollends im
Angesicht des Versuchs, die Tribüne zu erobern und
zum Paradeplatz für eine Qesinnung zu machen,
deren populäres Verständnis die Sprache des Literaten
so lange gehemmt hat. Dafi Herr Harden die Zeit
für solche Veränderung seiner Operationsbasis ge-
kommen sieht imd dafi er so verpönte Hilfsmittel nicht
verschmäht, ist ein Beweis, wie hoch er den Verlust
an publizistischer Ehre einschätzt, den er erlitten,
und wie sehr die Eulenbure-Kampagne sein Ansehen
im Inland herabgesetzt hat. Wahrlich, grofi ist
der Schaden, der sich auf allen Seiten ergibt.
Und wenn wir an Frankreich fünf Milliarden
Simplicissimus- Witze bezahlten, die Niederlage könnte
nicht gröfier sein. Deutschland steht vor der Welt
als ein Staat da, dessen Mannschaft durch Selbstmord
dezimiert und infolfice gewisser Schwierigkeiten der
Fortpflanzung nicht ergänzt wird. Dem Riedel, dem
»aufrechten Milchmann c, haben die besseren Leute
— 16 —
die Milch abbestellt. Und einem aufrechten Publi-
sisten bleibt nichts übrig, als ein Patriot su
werden.
Karl Kraus.
Kameraderie.
Gemeine Menschen machen selbst eine aus-
nahmsweise edle Handlung gemein, während der
Hohe sogar Böses adelt, das er verüben mufi. Den
Mafistab für die sittliche Beurteilung gibt nicht die
Tat, nur der Täter. Deshalb hält der vulgäre Irrtum
sich gerade an die deutliche, in ihren Polgen schein-
bar leicht SU messende Tat. Er stellt dem bestim-
menden Wesen der handelnden Charaktere, das er
nicht ohneweiters enträtseln will, noch kann, eine
Mauer moralischer Majoritätsbeschlüsse gegenüber.
Dieses Mifitrauen der Gemeinheit belauert doppelt
wachsam jeden Versuch einer freien geistigen
Organisation und lügt dem unbekümmerten Trieb
den niedrigsten Zweck an, weil es die natürliche
Feindschaft höherer Menschenvereinigungen wittert
und fürchtet. Ein typisches Beispiel hiefür möchte
der gehässige Sinn der Formel »Kameraderiec ab-
geben. Das Wort ist die Verhöhnung eines an sich
edlen Instinkts: der Freundschaft, der Hilfbereit-
schaft innerlich Verwandter, geistig Zugehöriger,
eine so unvorsichtige Verdächtifsrung, dafi man billig
fragen könnte, warum nicht jede Sammlung von
Menschen zu bestimmten Handlungen und Pflichten
schon mit ihrem Namen ihren Spott, ihre sittliche
Verneinung aussagt, warum sich nicht schon an
weit umfassendere Bindungen von Anbeginn an die
— 17 —
Sereohtere Gtohäasigkeit knüpft, etwa an den Staat,
ie Kirche, Armee, Oewerk- und Eonsumrereine.
Müßte dann yon rechtswegen nicht jeder Beruf
schon mit seinem Namen alles Obie anschuldigen,
das er enthalten und gelegentlich ausbilden mag?
Aufler dem Wort »Pfaflfec bekommt nicht leicht
eines den Geburtsfehler so üblen Nebensinnes mit,
wie die >Kameraderie<. Die Sprache, welche immerhin
ein tieferes Gewissen der schaffenden Menschlichkeit
bedeutet und wahrt, versagt sich mit Recht solcher
Verallgemeinerung, es widerstrebt ihr, das Wort
»Freundschaftf durch eine schielende Verdächtigung
zu entstellen, so mufl ein fremdes erborg werden,
um für den Instinkt der Gemeinheit, der sein Eben-
bild und Gleichnis in allem Tun wittert, einen Aus-
druck hersugeben, worin alle Absichten engerer
Verknüpfung von Menschen unter Einem als bösartig
angezeigt werden. Was sich in Berufen zu bestimmten,
sichtbaren Wirkunaren, zu Machtorganisationen mit
offenkundigen Zwecken verdichtet, entgeht dem
Unglimpf, was seine wahren oder vorgeblichen
Motive auf der Stirne geschrieben trägt, braucht
ihre Mißdeutung nicht zu fürchten, wenn es sie
gleich hundertmal in aller Gelassenheit verkehrt,
öfort aber stürzt sich das Übelwollen der Masse
und mit unfehlbarer Gewalt auf Verhältnisse, die,
unabhängig von äufieren Gründen durch innere Not-
wendigkeit zustande gebracht, inneren Gesetzen, den
Willensrichtungen und Gemütsforderungen gehorchen
und nach verschiedenen Seiten gleichsam eine Aus-
strahlung geistiger Kräfte entsenden, die nach der
Art der Genossen fruchtbar oder verderblich, immer
aber von äufieren Bedingungen halbwegs befreit,
ihre Wirkung ausüben. Der geheimnisvollen An-
ziehung, Gewandtheit und Macht solcher Wahl-
gemeinschaften begegnet die grofie Masse, der das
Argument nicht gehört, mit Hohn, einerlei, ob sie
das beste Gewächs ausrottet, das ihr Boden trägt,
oder das geile Unkraut. Dem angeblichen Urteil der
üigitized by VjOOQl'
— 18
Meng« letat der Binfleln« billig lein Vorurteil gegeo-
flber, ihr Vorurteil kann er nur mit der EUarheit des
Urteils erwidern.
EjS ist die tiefste Weisheit der Natur, dafi sie
ihre Gebilde durch den Kampf, ihre Fruchtbarkeit
durch das stete Widerspiel erhält, worin jede Be-
wegung ihren GtogensatE lugleich entfesselt und
besiegt, erzeugt und braucht, sich in ihm auflöst
und neu gebiert. So läflt sie dem Machtinstinkt des
Ichs ein tiefes, seelisches GemeinsohaftsbedQrfnis,
den groben Zweckvereinigungen der Oesellsobaft
sarte, willkürliche Wahlgemeinschaften antworten:
Freundschaft, Liebe.
Die subtilste Wahlgemeinschaft, die Freund-
schaft, wird in ihrem (^fühlswert gans durch die
Auslese des Genossen bestimmt, ihr Zweck bleibt
verinnerlicht. Darum sind alle Handlungen, die der
Freundschaft entspringen, so recht unmeflbar und
fragwürdig. Jeder Selbstbetrug bringt serstörende
Folgen. Das Vertrauen wird allzuleicht enttäuscht^
die Kraft des Gefühls erschwert die Dauer, seine
Besonderheit und Willkür läßt keine allgemeine
Glaubwürdigkeit su. Gibt es eine zartere Hutnonie,
ein feineres Gleichgewicht?
Man wendet das Wort Kameraderie an, wo
.solche seelische Verbindungen über das engste Mai)
individueller Zugehörigkeit hinausgreifen, einen ranzen
Ring von Gleichgesinnten erfassen und ihre ICräfte
dem Ziele gegenseitiger Eirhöhung dienstbar machen.
Was dem Einzelnen gern zugestanden wird, dafl er
nach allem Vermögen schlecht und recht auf seinen
Vorteil bedacht sei, bleibt der Kameradschaft ver-
übelt. Sie bringt nämlich dieses mit sich: der Ejrei
ihrer Zugehörigen schätzt das Gemeinsame so in
ständig, dafl er selbst die widersprechenden indivi
duellen Hemmungen überwindet, er miflt jedei
Einzelnen so viel Wert bei, dall er dessen An«
kennung wie seine eigene empfindet und zur eigene
Sache macht, jeder handelt in uubewuflter oder a^
üigitized by VjOOQi'
19
sichtlicher Obereinstimmung mit den übrieen so, daß
er jedem Genossen dieser Wahlgemeinschaft das beste
Gelingen seiner persönlichen Bestrebungen mit allen
Mitteln zu ermöglichen sucht, nicht ohne ein Gleiches
Ton ihm vorausiusetzen, zu verlangen, zu erreichen.
Jeder ist jedem in diesem Verhältnis zugleich unter-
und übergeordnet.
Ein geheimnisvoller Zusammenhang scheinbar
unabhängiger Menschen übt seine Macht spontan
aus, er wirkt nach allen Richtungen, wirbt Teil-
nehmer selbst ohne es zu wissen, das Beispiel ver-
lockt Unschlüssige, reizt zur Nachahmung, zusehends
entwickelt sich eine bestimmende Bewegung.
Es ist , das rechte Beispiel für die Gewalt des
Persönlichen, das. Verwandtes an sich ziehend, die
eigene Art potenziert. Die Gefahr der Verallgemeinerung
solcher, ursprünglich individuell bedin^r und ge-
färbter Zugehörigkeiten ist erheblich, denn mit der
Verbreitung tritt eine Verflachung der Ideen, eine
Vergröberung der Zwecke und Mittel ein, es ent-
wickeln sich Meinunes-, Geschmackskonventionen,
kurz die Masse schleicht sich in den Kreis ein, den
sie vorerst geschmäht, sie löst ihn auf; indem sie
ihm den Schafsgehorsam zollt, macht sie ihn selbst
' zum Leithammel Die Nahrung, die sie solcher neuen
schöpferischen Organisation dankt, verschlingt sie
gierig, trotzdem sie sie durch Mifltrauen, Verleumdung
und Hohn beschmutzt hat.
Aber um diese unvermeidliche Entwicklung
braucht sich der ursprüngliche Trieb nicht zu kümmern,
der sein höheres Recht wahren darf. Der Spott, der
^ie Einzelnen treffen soll, fällt auf die Menge zurück,
die von ihnen besiegt wird.
Es gilt, den Instinkt selbst zu erwägen und
dienstbar zu machen, die No^endigkeit zur Freiheit
zu erheben und vor sich selbst zu rechtfertigen. Die
Masse, die sich der verächtlichen Eameraderie nicht
erweCiren kann, mag der gerechten ruhig unterworfen
werden. Aber die Eameraderie sollte sich auf sich
— 20
selbst besinnen, sich zu sich selbst bekennen: es ist
die vornehmste Eigenschaft des Geistes, allenthalben
den Geist zu ahnen, das Bedeutende wie mit einer
Springwurzel aus dem Versteck aufzuspüren und
unter Tausenden sein Zeichen zu erkennen. Es ist
Beruf und Pflicht des Geistes, dem Geist anzugehören
und zu helfen und dabei sich selbst die höchste
Rechtfertigung zu gewinnen. Es ist nahezu das
einzige zuverläfiige Zeugnis für eines Mannes Wert,
wenn er mit dem Bewüfitsein der eigenen auch das
fremder Bedeutung vereinigt, wenn er neben dem
einfachen Instinkt der Icherhaltung den feineren,
selteneren einer gerechten Würdigung des fremden,
edlen Selbst bewahrt. Es bleibt die einziee Aufgabe,
die ein unabhängiger schöpferischer Mensch an-
erkennen mag, der ^leichgiltigen Zwangsgesellschafb
ringsum eine absichtsvolle, freie, aus unabhängiger
Wahl aneinandergeschlossene, durchgeformte und be-
stimmte Vereinigung entgegenzubilden, die durch
sich selbst eine höhere Art erwirkt, welche den Ein-
zelnen über sein gegebenes Mafi hinaushebt. Es ist
die einzige Entwicklung, die ihren Mann verdient.
Freilich gehört ein gewisser Mut dazu, soviel Zu-
trauen nicht bloß zu sich, sondern zu fremden
Menschen, Ideen, Leistungen zu haben, nichts kann
tiefer erschüttern, als ein Irrtum in dieser Grund-
frage. Aber Geist ist eben Mut schlechthin.
Die Rechtfertigung des eigenen Wesens durch
solche Wahlgemeinschaft bedeutet einen Gewinn,
der selbst mit Enttäuschungen nicht zu teuer bezaüblt
wird, Oberhaupt welche Angst vor bösen Erfahrungen!
Als wären sie nicht die einzige Währung, mit der
wir die Launen, Abenteuer, Zügellosigkeiten, Genüsse,
all die Jahreszeitenwechsel, den Sternenhimmel
unserer Geistigkeit bez^len müssen!
Das Vertrauen zu Menschen, die Ehrerbietung
vor solchen, die ich als grofi erkenne, mein unbe-
irrtes Zeugnis für sie, erhebt mich selbst, dag^^en
schränkt mich die Unfähigkeit der Hingabe an fremde
— 21 —
Ideen und fremden Wert, die Feigheit, mich in mich
selbst und swar in die leerste, kümmerlichste Sekurität
der ungestörten Ezistens zu flüchten, aufs engste
ein. Den Gemeinschaftsinstinkt zu einer Freiheit und
Sicherheit der Wahl auszubilden, ist die einzige
Pflicht eben des individuellen Geistes und das einzige
gerechte Maß seiner Beurteilung. Das hat natürlich
nichts mit der notwendigen und selbstgerechten Ein-
samkeit zu schaffen, in der jeder lebt, auch ohne sie
erst bewufit zu erwirkeUi denn es gibt Zustände und
Handlungen, Absichten und Äufierungen auch des
geistigen Lebens, die schlechthin und notwendig
sozial sind, Beziehungen verlangen und erzeugen,
während nebenher, darüberhin der ganze ungeminderte
Horizont der Einsamkeit sich wölbt.
Diese eigentümliche Notwendigkeit innerer Be-
siehungen, einer willkürlichen Sozialität befreit den
Einzelnen selbst bei übernommener Bindung. Irgend-
wie ist seine Leistung der von ihm bejahten, auf-
gesuchten, geförderten, verwandt. Was einer draußen
irgendwo entdeckt, an sich zieht, liebt, wird seine
Ergänzung und sein Triumph.
Nichts Böses und Widerwärtiges liegt in der
Natur solcher Gemeinschaftsbildungen und Äußerun-
gen, die erst durch Einzelne und ihren Unwert
verdächtig, schlecht werden können. Alle grofien
Menschen haben Verwandte vereinigt, mit unver-
gleichlicher Gabe der Anziehung festgehalten und
jedem sein Äufierstes und Bestes entlockt, so dafl
jeder dem Genie zumindest mit einem Strahl des
Genies erwiderte. Durch die Eameraderie Richard
Wagners ist Nietzsches Geist entbunden worden,
dessen Freiheit eben den Gemeinschaftsinstinkt
heiligte, da er ihn überwand. Die Welt einfacherer
Sitten hat solche Wahlorganisationen selbstverständ-
lich gefunden und geachtet, nicht verleumdet. Man
lese etwa die ehrerbietige Schilderung der germani-
schen Gefolgschaft bei Tacitus. Die Sage, die den
geheimnisvoUen Grundcharakter menschlicher Zu-
22
sammenhänge durch längstrergangene, rom Glaiu
der Ewigkeit umleuchtete Begebenheiten vergegen-
wärtigt, hat alle schöpferischen Gestalten der Ge-
schichte in einen Kreis gleichgesinnter, hilfreicher
Oeföhrten gestellt und die Einsamkeit jedes Gko-
fien erst recht vertieft, indem sie sein Mafl an
der Gemeinschaft der Besten zeigt.
Wir wollen den Mut haben, uns ebensowohl su
uns selbst, wie zu denen zu bekennen, die wir wie
uns selbst bejahen, zu fördern, was wir dessen fOr
würdig halten, wie auch ein gleiches anzunehmen.
Was die tägliche Gemeinheit in aller Unschuld
und Schuld selbstverständlich yerübt, ohne jegliche
Skrupel, ja nicht einmal durch ein schlichtes QefQhl
gerechtfertigt, aus niedrigstem Trieb, das unwürdigste«
auch nur, was ihr gleicht und gemäfi ist, durchsu-
setzen, wird dem strengen, unabhängigen Urteil, der
gewissenhaften Einsicht, der Freiheit des Einzelnen
zur Pflicht Der Feindschaft, Rohheit und Unfähig-
keit zu begegnen gewärtig, sollte er der immer bereiten
Organisation der Dummheit nicht die naire und stolse
Wahlgemeinschaft der Begabung, des reinsten Willens
entgegensetzen? Er sollte nicht getrost seine
Eameraderie mit dem Werte der Kameraden be-
gründen ? Unsere Handlungen sind genau soviel wert,
wie wir selbst. Wir müssen ihnen vertrauen, denn
der Maßstab für unser Tun liegt in uns. Wir dürfen
ihn nicht aus der Hand geben.
Ihr sollt unsere Taten an ims erkennen.
Otto Stoessl.
Selbatbeapiegelnng.
Daß ich den Vorwurf der Selbstbespiemlung
als die Feststellung eines mir bekannten Wesens«
zuges hinnehme und nicht mit Zerknirschung, son-
dern mit einer Fortsetzung des Ärgernisses erwidere,
Uigitized by VjOOQIC
— 28 —
daran sollten 8iob meine Leser nachgerade gewohnt
haben. Natürlich tue ichs nicht ihnen su Trotz, und
nicht einmal mir su Liebe« Mit dem Abdruck der
Urteile, die im Ausland über m^ine Bücher erscheinen,
will ich keinen kränken und keinem gefällig sein,
sondern nur als Vertreter des österreichischen Geistes-
lebens der Qefahr vorbeugen, dafi e? einmal heifien
könnte, hierzulande habe überhaupt niemand über
mein Wirken gesprochen. Dafür sollte mir die Wiener
Qeistigkeit dankbar sein, dafi ich ihr eine Mühe ab-
nehme und einen Ruf bewahre. Daß aber auch die
Freude über ein anerkennendes Wort seiner Wieder-
holung zugrundeliegt, warum sollte ichs leugnen?
Wer das Lob der Menge gern vermifit, wird sich die
Gelegenheit, sein eigener Anhänger zu werden, nicht
versagen. Die Phantasie hat ein Recht, im kärg-
lichsten Schatten eines Baumes zu schwelgen, aus
dem sie einen Wald macht, und es ^ibt keinen
Iftcherlicheren Vorwurf als den der Eitelkeit, wenn sie
sich ihrer selbst bewufit ist. Ich bin so frei, alles
Olück der Koterien mir selbst zu bereiten. Der
böswilligste Tropf wird nicht glauben, dafi ich
Wert darauf lege, ein Liebling der Wiener Kritik zu
sein, und dafi ich mich beklage^ weil ichs nicht
bin« Aber festzustellen, dafi diese ihre täglich wach-
sende Achtung hinter einer feigen Konvention ver-
birgt und sich mundtot macht, wenn sie sprechen
möchte, gehört zu den Aufgaben, die mir gerade
dann obliegen, wenn man mich blofi für einen Auf-
seher über die korrupten Machenschaften einer Stadt
hält. Was hätte ich denn von diesem Schweifen,
wenn ichs nicht hörbar machte? Es wäre eine faule
Retourkutsche, nichts darüber zu sprechen!
Aber die Zitierung ausländischer Urteile entspringt
auch einer allgemein kunstkritischen Einsicht. Sie be-
zeichnen nämlich samt und sonders die Distanz, in der
fernstehende Leser sich zu einer Produktion befinden, die
von aktuellen oder zufälligen, fast immer unschein-
baren Anlässen zu perspektivischer Gestaltung empor-
— 24 —
dringt. In der Stadt, in der diese Arbeiten entstan-
den sind, kennt man die Anlässe bu gut, um die
Gestaltung eu verstehen. Dieser Unterschied scheint
dafQr zu sprechen, dafi auch hier yon einer vermin-
derten Aktualität ein erhöhtes Verständnis abhängen
werde.
Zu einer ähnlichen Hoffnung berechtigt das
Eopfschütteln, mit dem kürzlich meiner Publikation
>Persönliches€ selbst solche Leser begeraet sind, die
einem Autor, . der sein Tagebuch als Zeitschrift
herausgibt, ein für allemal das Recht auf Über-
raschungen zubilligen. Von dem Durchschnittsleser,
der nur den stofflichen Anstofi dieser aphoristischen
Bemerkungen spürt, aber ihn nicht erfährt, von dem er-
warte ich natürlich nichts anderes als die Frage, »gegen
wenc sie sich richten. Ich antworte ihm: Gegen mich,
ausschliefilich gegen michl Aber das Recht auf
Selbstmord will er mir nur dann einräumen, wenn
ich ihm auch das Motiv angebe. Sie lesen:
Er..., und fragen: Wer? Lesern, die ein Liebes-
gedicht für die Empfehlung einer Adresse und
die satirische Gestaltung eines Typus für einen
Angriff halten, kann ichs und möchte ichs nicht recht
machen. Andere wieder kennen den zufälligen An-
laß meiner Selbstzerfleischung: ihr stoffliches Interesse
an dem Fall wird so sehr befriedigt, dafi sie darüber
die Perspektive vergessen, und wären sie auch sonst
imstande, sie zu würdigen. Daß ein Dramatiker das
Recht hat, die gleichgiltigste Lebensfigur zu über-
schätzen und zugleich ihre Besonderheiten zu ver-
werten, wenn sie ihm für die Herausarbeitung des
Typischen dienlich scheinen, räumen solche Leser wohl
im Prinzip ein. Aber gegebenenfalls benehmen sie sich
wie vor einem Schlüsselstück: sie sehen nur das
Porträt, der ihnen bekannten Person, übersehen den
Kunstwert, der die Erinnerung an ein gleichgiltiges
BAodell weit hinter sich läfit, und meinen, es sei
diesem »zu viel Ehret widerfahren. Nur jene werden
dem Ausdruck eines Zornes oder einer Liebe gerecht,
üigitized by VjV
— 25 -
die von dem Anlafl Oberhaupt keine Ahnung haben.
Sie verlangen nicht, daß einer eine Königin besinge
oder einen König verlache, sie würdigen das Gedicht,
SU dem eine Närrin oder ein Narr hergehalten hat. Das
Recht, sich' vom kleinsten Anstofi erregen zu lassen,
darf schliefilich keinem empfindenden Menschen be-
stritten werden; aber den Anstofi zu prüfen, wenn die
Erregung gut war, ist eine Methode, die jedem künstle-
rischen Tun denQaraus macht. Wer Aphorismen, deren
Berechtigung um ihrer selbst willen schon die deut-
liche Variation desselben Gedankens erkennen läfit und
deren Eigenwert nur erhöht scheint, wenn ihr Tempo
noch vom Erlebnis beflügelt wird, für eine Polemik
hält, mag jedes dramatische Werk, dessen Beziehun-
feil ihm zufällig bekannt sind, für ein Schlüsselstück
alten. Er hat die Prämisse und glaubt gerade des-
halb, dafl sie anderen fehlen werde. Aber in jenen
Aphorismen war für die Fremden nichts voraus-
gesetzt, nur für die Eingeweihten. Und wo eine
Zeile Polemik zu viel wäre, dort können vier-
zehn Seiten Satire wenig genug sein. Polemik
setzt Notorietät des Obels voraus (Harden) oder
sie wird als Verteidigungsmittel begreiflich. Po-
lemik verlangt, dafi die Gestalt mit der Person
kongruent sei. Aber die Lust an der satirischen
Qestoltung von Erlebnissen, die objektiv nur wenig
bedeuten mögen, habe ich mir nie durch die Furcht
benehmen lassen, das Objekt bekannt oder beliebt
zu machen, und es bleibt meine Art, dem kleinsten
Anstofi zu viel Ehre zu erweisen.
Wem so subjektive Willkür nicht beliebt, mag
den Autor meiden; aber er hat nicht in jedem
einzelnen Falle das Recht, ihn um SPiiner Konse-
quenz willen zu tadeln. Dafi ich vollends Persön-
liches persönlich durche:estalte, sollte keinen über-
raschen, und mir zu verübeln, dafi ich mich in den
Mittelpunkt meiner eigenen Erlebnisse stelle, ist
ein Ungebühr, die ich nicht verdient habe. Der
langohrige treue Leser, der mir vorrechnet, wie oft »ichc
üigitized by Vji
— 26
und »meine in einer Publikation yorkorameni deren
publisistiBohe Berechtigung ich nicht Esel genug bni
2U behaupten, hat ja von seinem Standpunkt gani
recht. Nur begreife ich nicht, daß er dann so indiskret
ist, in das Tagebuch eines andern hineinzusehen. Dafi
ich so anmaßend bin, es drucken zu lassen, recht-
fertigt solche Neugierde noch lange nicht. Betrach-
tungen über die »Lage« wird man darin nicht
finden. Die Nutzarbeit des Putzens einer Reichs-
fassade kann man von mir auch nicht erwarten.
An solchem Werk wäre freilich kein »Ich« beteiligt.
Aber mir fernstehende und fernlebende Menschen
messen den Wert literarischen Schaffens nicht an
dem stofilichen Oehalt, der hierzulande meine einzige
Daseinsborechtigune ausmacht, sondern erkennen
jenen, weil dieser ihrem Verständnis entrückt ist.
Karl Kraus.
Über »Sittlichkeit und KriminalitAt« sind in der
letzten Zeit mehrere deutsche Urteile erschienen. Aus einem Artikd
des Berliner Professors Bruno Meyer im Oktoberheft der Zeit-
schrift ,Sexual-Probleme' seien die folgenden Steilen zitiert:
>Das Buch verlockt mehr zu einer Betrachtung unter dem ästheti-
schen oder stilistischen Gesichtspunkte, der an dieser Stelle der unter-
geordnete ist, als unter dem sachlichen, in dem an dieser Stelle wiederum
ein wesentlicher Unterschied in der Anschauungsweise mit dem Ver-
fasser nicht bestehen kann. Seine Darstellung ist im höchsten Qrade
originell und vielfach überaus anziehend. Es ist der Ton Jener fast ver-
zweifelten schwarzseherischen Polemik gegen die öffentlichen Zustände.
die man in Osterreich gewohnt ist, und die vielfältig an einen der
feinsten Feuilletonisten, Ferdinand Kflmberger, erinnert . . .
Sein Grundgedanke, den er in diesem Sammelwerke in An-
knüpfung an eine Reihe auffälliger Gerichtsverhandlungen durchführt, ist
der, daß unsere Strafjustiz — in dieser Beziehung sind wir im Deutschen
Reiche mit Ost erreich durchaus in derselben Verdammnis — sich unzu-
lässigerweise um die ausschliefilich sogenannte »Sittlichkeit«, d. h. die
moralische Haltung in geschlechtlicher Beziehung nach der einmal fflr
giltig angenommenen Moral, bekümmert und dadurch mehr Schaden als
Nutzen stiftet. . . .
Es sind das entscheidende Grundgedanken, die an dieser Stelle
als Leitsätze gelten können, und die in so schlagender und spitziger,
durchaus geistreicher Weise an einer Fülle lehrreicher ElnzelfäUe durch-
geführt zu sehen, für den noch nicht auf diesem Stundpunkte Stehenden
üigitized by VjOOQIC
27 —
flberaus lehrreich, fOr den schon von Ihm Ausgehenden interessant und
amüsant ist. Mehrere der hier besonders ausführlich behandelten Fälle
haben ja weit über die Grenzen Österreichs Aufsehen erregt, und man
sieht daher gern, wie diese Dinge von unabhängig Denkenden in ihrem
Ursprungslande angesehen werden. . . .<
Aus der ,Zeit am Montag' (Berlin, 2. November):
». . . Wenn Sie sich über die von Ihnen mit fassungslosem
Entsetzen wahrgenommenen wunderlichen Beziehungen zwischen > Sitt-
lichkeit und Kriminalität« gründlich orientieren wollen, so lesen Sie
ehimal das Buch, das der Wiener Schriftsteller Karl Kraus — der
durch einen erheblichen Mangel an sentimentaler Qemütsschlamperei
seine Wienerische Bodenständigkeit allerdings schnöde verleugnet -
unter diesem Titel herausgegeben hat. Da werden Sie erkennen, mit
welchem Eifer unsere Rechtspflege bei »Sittlichkeits« -fragen drauf und
dran ist, die ganze Verlogenheit unserer »Kultur« in Verdikten wieder-
zttspiegeln, die einer späteren Periode wirklicher Kultur nicht weniger
unfafilich erscheinen werden, als uns die Greuel der Inquisition. Lesen
Sie das Buch, aber hüten Sie sich — wenn Ihnen Ihre Ruhe lieb
ist — die Nutzanwendungen des Autors zu ziehen, den die Braven
und Satten sehier Heimat wegen seiner unbequemen Unerschrockenheit
nicht minder hassen, wie ihn die Schmöcke boykottieren, weil er ein
Eigener ist.«
In den Anthropophyteia-Jahrbachem 1908, p. 388/9 schreibt
Alfred Kind (Berlin):
»Außer Karl Kraus wüfite ich keinen deutschen Journalisten, der
für die sexuelle Frage als ernsthaft lesenswert in Betracht käme. Karl
Kraus ist aber nicht blofi lesenswert; er mufi unbedingt gelesen werden.
Hier ist Versäumnis unmittelbarer Schaden.
Wonach streben wir denn mit unserer neumodischen Sezual-
iorschung? Der Jesuitismus hat uns die unbefangene Sinnenfreudigkeit
versiegelt, und Krafft-Ebing hat das Placet seiner PseudoWissenschaft
darauf gesetzt. Der Pfiff ist so genial, dafi schon jeder Sitzredakteur es
gderot hat, mit priapischer Entrüstung und Irrenhaus-Phrasen nach
starken Aufierungen der menschlichen Liebe zu werfen. Die Anthro-
pophyteia-Jahrbücher sammeln in aller Stille Material aus der ganzen
Welt, um methodisch zu beweisen, dafi die jesuitische Normalfigur eine
faiustdicke Lüge und nebenbei ein schlaues Geschäftchen ist, und dafi
Krafft-Ebing dem Bombastus Paracelsus zwar stark auf die Hacken ge-
treten, im übrigen aber niemals einen gesunden Menschen nach seiner
Erotik befragt hat.
Karl Kraus, dem Satiriker des Tages, steht es frei, das Ergebnis
unserer Untarsuchungen ohne gelehrte Beweise, allein aus kraftvollem
— 28
Instinkt, vorweg zu nehmen. Br wird damit zum aktuellen Wortfahrer
einer kleinen Minorität, nicht von Deutschen, sondern von Kultur-
menschen schlechthin. Diese Minorität findet das Wahlverwandte bei
ihm künstlerisch zum Ausdruck gebracht ; demonstriert an einer Auslese
jener Affären, die den Zeitungen ein willkommener Anlafi zur Exhibitkni
der eigenen Lüsternheit zu sein pflegen.
Im Vordergrunde der Qeschlechtsethik findet man bei Karl Kraus
eine unbedingte und minneritterliche Wertschätzung des Weibes; ein
Hauch von Ovid und Sacher-Masoch umschwebt sie. Wer vom Weibe
ebenso erfüllt ist, wie Karl Kraus, wird wissen, dafi diese glflcklidic
Mischung des Temperaments bedeutet: Anerkennung der erotischen
Selbständigkeit des Weibes und ihres ebenbürtigen, weil freien, Wahl-
rechtes in der Liebe.«
Bflcher.
In dem Buche »Karl Asenkofer, Geschichte einer
Jugend«^ von Karl Borromäus Heinrich ist die Geschichte
eines Menschen enthalten. Das ist zweierlei, eine Geschichte und
ein Mensch, und kann sehr wenig sein oder sehr viel Nichts Un-
gewöhnliches, Seltsames findet sich in den ftußeren Begebenheiten
dieser Jugend und sie sind auch nicht mehr als die Kulisse, vor
der sich die Entwicklung eines Innenlebens abspielt. Dieses aber
ist ungewöhnlich in seiner eigreifenden Intensität und dramatischen
Bewegtheit; und fast seltsam wirkt daneben die alltägliche Deko-
ration, mit ihren Möglichkeiten, sich selber einzudenken und wie-
derzufinden.
Karl Asenkofer ist eines armen Mannes Sohn, drückende
Not lastet auf dieser Jugend, sie ist das erste Erlebnis. Selbst-
geschaffener religiöser Zwang ist das zweite. Zwischen diesen
starren Uferwänden eingeengt nimmt der Strom dieses Lebens sei-
nen Lauf. Es ist eine Hochflut des Lebensgefühls, die steh Bahn
brechen möchte. Denn da ist einer, dem das Erleben ein so mädi-
tiger Genuß ist, daß er mit unnennbarer Sehnsucht ins Unbe-
kannte, Neue strebt, um ihn wieder und wieder zu kosten. Selt-
sam, fast beängstigend ist es, zu sehen, wie die gehemmte Strö-
mung stärker und stärker wird, ihre inneren Energien sich ins
Ungemessene erhöhen. Der Jüngling krankt an diesem Übermaß
Albert Langen, München 1907.
y Google
2Ö —
latenter Seelenlcräfte, ihr Ausbnidi führt ihn zu einer schweren
Krise, fast zur Seibstvernichtung. Das ist der Inhalt der Geschichte,
die in dem Buche steht. Sie ist in knappen, starken Worten, in
einer Sprache von zwingender Anschaulichkeit erzählt
Die Art des Menschen aber, der uns hier entgegentritt, die
Art — im Outen und im Bösen — kann nicht mit wenigen Wor-
ten gekennzeichnet werden. Vielleicht, wenn der Name Mensch
eine Substanz bedeutete, die den vernunftbegabten Wesen
in verschiedenem Maße zugemessen wurde, könnte man ihn als
Träger eines konzentrierteren Menschentums bezeichnen. Sicher
aber wurde das Versprechen, das einmal ein anderer gab, »einen
Menschen in seiner ganzen Natnrwahrheit zu zeichnen«, hier ein-
gelöst, und es wurde diesmal kein Schriftsteller, kein Mitglied
einer bestimmten Gesellschaft, sondern ein Mensch gezeichnet.
Mit rücksichtsloser Wahrheit ist das Wesen einer Menschen-
seele hier offenbart; in seiner ganzen Größe, in seiner ganzen
Schwäche steht es da. Und man zweifelt an seinem Rechte, wahr-
zunehmen und zu folgen, wenn ein Mensch, wie es hier geschieht,
sein Innerstes und Bestes dem Auge des andern preisgibt. Und
doch ist nichts Keuscheres denkbar, als diese Nacktheit, nichts
Stolzeres, als diese Preisgabe. Seltsam ist es dann, zu erkennen,
daß auch dieses Buch, voll Güte und Liebe für alle anderen, daß
es in letzter Linie ein Rechtfertigungsbuch ist und Sühne bringt
für ungetilgte Schuld.
Karl Asenkofer hat nie nach sich selber, hat immer nur
nach den anderen gesucht. Er selbst war sich gegeben vom ersten
Augenblicke seines Bewußtseins an. Er sagte ja und nein zu Men-
schen und Dingen, und sah. Von einer Entwicklung im gewöhn-
lichen Sinne war nicht die Rede. Er nahm nur von neuen Teilen
des Lebens für seine Liebe Besitz. An Liebe ist er überreich; er
braucht auch Gegenstände für sie. Einmal tritt ein Lehrer in der
Volksschule dem Knaben gütig entgegen: »von diesem Momente
an flutete ein heißer Liebesstrom von meinem Pulte zum Katheder«,
schreibt er. Ein heißer Liebesstrom flutet auch von ihm zu seinen
Dtem, mit unaussprechlicher Kraft umfängt er die Gestalt der
Mutter mit seiner Liebe. Eltern, Freunde, Geschwister, alle liebt
er, und alle lieben ihn. Sie wissen es von einander und fügen sich
Schmerz zu; aber in dem Buche steht nur, daß er es gewesen
ist, der den anderen Schmerz zufügte.
^ le
y Google
— 30 —
Dem Knaben und dem Jüngling ist fast jeder Qenuß ver-
sagt, als der, ffir andere zu empfinden. Und schrankenlos gibt er
sich diesem hin. Was immer in den Bereich seines Lebens kommt,
er nährt damit sein Oefahi. Er steigert stets seine Bhigkdt, zu
lieben, er häuft gewaltige Kräfte der Leidenschaft an. Er weiß es
dabei gamicht, daß sein Fühlen längst überstark geworden ist
und daß es in den Wegen menschlichen Liebesverkehres eine arge
Verwüstung anrichten muß. Maßlos scheint seine Eifeisudit, sein
Bedürfnis nach Neigung zu sein; aber es ist nur Schein, er hat
ein i^aß dafür: sich selber.
Es ist schwer, wohl unm^Vglich, die Geschichte, wie Karl
Asenkofer lebte und fühlte, unpersönlich zu werten. Sie ist eine
der stärksten Sympathiewerbungen, die unsere Literatur besitzt,
und in Ton und Art vielleicht die vornehmste von allen.
Manches wäre noch über den Künstler, über seine stille
Kraft in der Darbietung, über seine Art zu sehen, zu sagen. Aber
das meiste davon ist in dem über den Men&chen Gesagten sdion
vorweg genommen. Friedrich Hebbel spricht es einmal aus, daß
der Dichter eine Voraussetzung habe: den Menschen. Hier hat
der Mensch eine Folge: den Dichter.
>Oedipus«, Roman von Willi Speyer*) ist ein Buch vom
Leben und vom Tode, das mit einem Siege des Lebens schließt.
Also verlangt es nach einer Fortsetzung, oder nach mehreren.
Hier sind Bilder von schönen, hellen Menschen, die sich
zwischen schönen Dingen bewegen, und Menschen sind das, die ein
Feind umschleicht und belauert: das Denken an den Sinn des
Lebens, das Denken an das Woher und Wohin.
In Wirklichkeit ist nur einer in dem Buche, einer, den die
Schatten des Trübsinns >rubelos jagen«, bis an das Heiligtum,
über dessen Schwelle sie ihm nicht folgen können. Dieses
Heiligtum ist ihm das mütterliche Weib.
Dieser eine ist ein schlanker feiner Knabe von fünfzehn
Jahren, stolz und rein, der Erbe von Gedankenqualen der Väter.
Er sucht nach sich selber. Die Menschen, die er trifft, sind schemen-
gleich und oft scheinen sie nur Geschöpfe seiner Phantasie zu sein.
*) Bruno Cassir«. Berlin 1907.
y Google
— 81 -
Er Hebt und haflt nicht, er durchkämpft tdnen innern Kampf und
macht dabd die Gebärden des Liebenden nnd Hassenden. Die Be-
gebenbeltcn der Dichtung, denn eine solche ist es, sind traumhaft
verschleiert. In manchen Szenen bricht dann das helle Licht des
Tages durch den Nebel. Es ist kein Alltag, und die Szene wird
nicht von gewöhnlichen Menschen gespielt. Aber sie setzt dennoch
mit der vollen Kraft und dem vollen Reiz der Wirklichkeit ein.
Knabentreiben ist es, das in seiner herben Frische hier die Wirk-
lichkeit darstellt.
Mit den Worten des Oedipus hat Otfrieds Vater den Neu-
gebomen begrüßt: »Weh', was ist ein Mensch! Wer über diesem
brütet, stirbt.« Dann hat er nach dem ersten Zeichen der Vernunft
bei seinem Knaben geforscht und sich den Tod gegeben, als dieses
erste ein Zeichen des Wahnsinns war. Er floh vor der Verant-
wortung, gezeugt zu haben. % Und der Knabe findet aus seinen
Gedanken den Weg des Oedipus zur mütterlichen Frau.
Traumvoll ist das Leben zwischen Geburt und Wieder-
Reburt: >Ruhe nur gibt die Geliebte, zu der der Mann sich bittend
wendet. Durch sie wird er von seinem Traumdasein zur Wirk-
lichkeit geboren . . .« Das ist Leitmotiv, Inhalt und Sinn.
Hier ist die Befreiung eines Gefesselten aus einer Gedanken-
schlinge, die ihn würgt. Und in großen Zügen steht hier ge-
schrieben, wie einer sich die Tatsachenwelt zur Heimat gewann,
ein Vornehmer aus anderen Reichen.
Fieberphantasien, Träume und plastische Wirklichkeiten in
bunter Folge. Ob sie sich auch zum Ganzen einen? Der Dichter
verfllhrt hier mit diesen Elementen, wie etwa ein Maler mit Licht
und Schatten, er sucht nach der Wirkung, indem er sie neben-
einander stellt. Aber er bietet nichts Bedeutungsloses. In dem
Momente, wo er den Boden der Wirklichkeit wiederfindet, stellt
sich auch die Unbedrücktheit und Sicherheit des Künstlers ein.
Hier ist selbstfrohe Gestaltungskraft am Werke.
Otto Soyka.
»Auf Erden, ein Zeit- und Reisebuch in fünf Passionen«
heißt dn Gedichtband von Alfons Paquet in Frankfurt, der bei
Eugen Diederichs in Jena verlegt ist. Als ich ihn aufschlug, fiel
mein Blick auf diese wunderschönen Zeilen:
^ le
y Google
82 —
Dl« begraben« Matter.
Wir haben heute den Leib begraben, der uns einst geboren hat;
Wir haben heute die Mutter versenkt in den trockenen scholligen Boden
Und Schollen hinterher geschaufelt (sie schlugen auf wie Fäuste
Ober dem seligen schmalen Frauenantlitz, über den geschlossenen Augen.
Ober dem Frauenleibe, dem wir viele Maiblumen mitgaben).
Warum Tränen, ihr Schwestern? Warum den gebeugten Nacken, Vater?
Sind wir Sträflinge? Sind wir etwa durch ein Joch gegangen?
Ihr Besucher, wollet nicht weinen.
Und du, mein Qeist, der du aus dem Bette auf;>tehst.
Unruhig umherzugehen im eklen Dunkel:
Lafi uns schlafen, laß uns den Stachel aus der Seele reifien und schwören :
Nicht der Mutter zu rufen, die nun schreitet in der Morgen frische;
Nicht das ferne Frohgespräch der Abgeschiedenen zu stören.
Von den fröhlichen Menschen.
Zum Teufel mit allea Forderungen, die von
Menschen an den Menschen gestellt werden! Früher
hieß es: sei tugendhaft, gerecht, mitleidig, weise;
heute hört man wohl auch: sei stark, rticksichtslos,
schön. Es ist aber noch nicht gelungen, auch nur
für eine einzige dieser Forderungen eine Begründung
zu finden, die allen Menschen einleuchten müfite,
und die berühmten Lehrer der Menschheit, auf die
man sich bei solchen Forderungen beruft, haben
sich immer nur als sehr anmaßliche, von Einbil-
dungen geplagte Leute entpuppt, die uns weder
etwas erklären, noch uns helfen können, wenn wir
uns nicht selber helfen.
Das Leben selbst fordert nur eines von uns:
sei fröhlichl Und dies heifit nichts anderes als:
grüble nicht über das Leben, sondern freue dich
üigitized by VjOOQIC
— 88 -
desselben. Alles andere ist Wahnl Oereohtigkeit ist
yielleicht nur Gberhebung, Mitleid nur Schwäche,
Weisheit nur Einbildung, Schönheit nur ein äußerer
Firnis, Stärke nur grobes Wüten. An der Fröhlich-
keit oder Traurigkeit aber kann nichts Falsches,
Zweifel)iaftes oder Schwankendes sein. Wenn ich
fröhlich oder traurig bin, so bin ich es zweifels-
ohne« Und wie es auf Erden nichts Zwiespältigeres,
nichts Zerrisseneres gibt, als den traurigen Menschen,
so fpht es auch keine höhere Harmonie als den
fröhlichen Menschen.
Wenn wir den Wert einer Zeit oder Umgebung
danach bemessen, ob sie angetan sind, fröhliche
Menschen su erzeugen und zu begünstigen, oder ob
sie angetan sind, die Fröhlichkeit zu beschränken
und zu unterdrücken, dann ist jede Zeit, in der der
sogenannte Ernst des Lebens vorherrscht, in der
alles in praktische Zwecke eingespannt und vom
Kampf um die blofie Existenz verdüstert ist, eine
schlimme Zeit. Wenn wir Fröhlichkeit und Kultur
als dasselbe, als die zwei untrennbaren Erscheinungs-
formen der Harmonie des Lebens betrachten, dann
ist eine unfröhliche Zeit nur die Yorform oder die
Yerfallsform einer Kultur, ein Obergang oder ein
Untergang, Nur darf man den Fröhlichkeitsgehalt
einer Epoche nicht mit wehleidigem Herzen prüfen,
aus geschichtlichen Tatsachen allein läöt sich überhaupt
nicht auf die Vorherrschaft von Heiterkeit oder Ernst
schließen. Und dem kurzsichtigen Blick eines Histo-
rikers mag oft eine Zeit besonders düster und von
Schrecken erfüllt vorkommen, während der Sehende
in den hinterlassenen Geistesspuren gerade dieser
Epoche, deren ganze sogenannte Geschichte Krieg,
Rache, Mord und Grausamkeit bilden, eine besonders
strahlende Heiterkeit, eine unbändige, überquellende
Lebenslust entdeckt. Die Grausamkeit des Griechen-
tums war eine furchtbare, Homers Gesang besteht
aus Schlachten, Morden und Foltern, aber welch eine
kindliche, herzerquickende Fröhlichkeit leuchtet aus
üigitize'd by Vjv
34
diesem Gesang hervor I Welch späterer Ausflufl einer
Volksseele kann sich damit vergleichen?
Die Fröhlichkeit hat gans und gar nichts mit
der sogenannten Humanität su tun, diese ist viel-
mehr in vieler Besiehung recht eigentlich ihr Gegen-
satss. Humanität in unserem Sinne war ursprünglich
ein Produkt der Not, ein ökonomisches Prinsip. Die
Humanität beginnt, wenn der Mensch vor allem auf
seinen Wert als Arbeitstier hin abgeschätst wird,
und sie verzärtelt nach und nach die lebendigsten,
die lustauslösenden Triebe, sie verbindet sich mit
einem Gefühl der Furcht vor jeder starken Lust
(Gewissen), sie macht wehleidig und legt sich wie
Reif über die naive Fröhlichkeit.
Mit der Humanität beginnt der leidige ESmst
des Lebens, die Trübsal des Daseins. Mit der Huma-
nität beginnen auch die Rechte auf Kosten des
Rechts, der natürlichen Macht des Oberlegenen.
Recht ist von Hause aus natürliches Vorrecht, und
alle Würde ist von Hause aus die Würde eines Vor-
rechtes. Mit Rechten und Würden aber, die sich auf
alle verteilen, mit Menschenrecht und Menschen-
würde müssen Recht und Würde faktisch sum Teufel
gehen. Wo begegnen wir heute — da jeder auf seine
Menschenwürde pocht — wahrhafter Würde ? Würde
ist natürlicher Wert, Würde setzt ein frohes Gemüt
voraus oder wenigstens Sicherheit und Glauben an
sich selbst. Es ist einer der stärksten Einwände gegen
unsere Zeit, dafl man heute allgemein die Würde —
das Wertbewuötsein, den Ausdruck frohgemuter
Sicherheit — mit dem Ernst verwechselt, der der
Ausdruck der Furcht, der sinnenden Besorgtheit ist.
Die innere Möglichkeit der Fröhlichkeit ist
jedem Menschen ohne Ausnahme gegeben* Erst das
Verlassen der natürlichen sozialen Schichtung und
die Verlockungen einer falschen Freiheit berau-
ben den Menschen dieser Möglichkeit Wer nicht
an der Stelle steht, die seine Natur ihm an*
weist, wer frei sein will, ohne sich selbst beherr-
üigitized by VjOOQIC
— 36 —
gehen tu können, der wird notwendigerweise
Bum unfröhlichen Menschen. Die Freuden, die ein
solcher sucht, sind in Wirklichkeit Betäubungen
seiner inneren Freudlosigkeit. Freudlosigkeit ist nach
einem schönen Worte Nietsssches die Mutter der Aus-
schweifung. Fröhlichkeit ist Wohlsein von innen aus,
ein Gefühl innerer und äußerer Harmonie.
Es ribt eine Fröhlichkeit der Bescheidenheit
und Verehrung und es gibt eine Fröhlichkeit der
Überlegenheit und des Wohlwollens. Die eine er-
wächst aus der Lust, eingereiht zu sein in eine feste,
natürliche Ordnung, gelenkt zu werden von Führern,
2U denen man mit gutem Vertrauen aufblicken kann,
und benützt zu werden zum sichtbaren Wohl eines
Gktnzen. Die andere Fröhlichkeit erwächst aus der
Lust, zu ordnen, zu lenken, zu schaffen. Der Glaube
an die Führung und der Glaube an sich selbst finden
in der Fröhlichkeit ihren Ausdruck. Es besteht eine
tiefe Kluft zwischen Mensch und Mensch, die Fröhlich-
keit allein vermag sie zu überbrücken. Und dafi es
ein natürliches Oben und Unten gebe, ist wiederum
ihre Voraussetzung. Die eine Art Mensch kann nur
fröhlich sein, wenn sie sich begrenzt fühlt, wenn sie
ihren guten Willen und ihre kleine Nützlichkeit ge-
schützt und behütet weifi vor dem unzähmbaren
Wilden, vor dem ewigen Barbaren in ihm selbst:
dies ist der Zustand, den das Volk sich wünscht, um
guter Dinge zu sein, — das Volk, solange es noch
nicht von Demagogen verführt und verhetzt ist. Die
höhere Art des Menschen, die schaffende, kann nur
fröhlich sein, wenn sie sich unbegrenzt nach außen
fühlt, denn sie hat ihre Grenzen in sich, sie reprä-
sentiert den gebändigten Menschen, den Menschen
der Selbstzucht.
Die Hauptquelle allgemeiner Unfröhlichkeit, all-
gemeinen seelischen Unbehagens ist Freiheit, mit
der man Jiichts zu beginnen weifi. Die gröfite Last,
die auf eme Seele gelegt werden kann, ist Selbst-
bestimmungsrecht. Und das gröfite Verbrechen der
üigitized by VjOOQl'
36
Machthaber unserer Zeit besteht darin, dafi sie» um
ihre Machte der sie innerlich nicht gewachsen sind,
äufierlich zu behaupten, denen ein Selbstbestimmungs-
recht geben, die diese Last nicht tragen können,
weil sie nicht mündig, nicht geschult, nicht kulti-
viert genug sind: dem Volk, den Frauen, der Jugend.
Man wird einmal vcm Wahn der demokratischen
Prinzipien erwachen und mit verwunderten Augen er-
kennen, was man für Wahrheit und Vernunft gehalten
hat. Denn mit dem gleichen Recht für alle wird das
natürliche Gleichgewicht einer Gemeinschaft auf^
hoben, und alles in dieser Gemeinschaft gerät uia
Rollen. Niemand fühlt sich mehr fest und an seiner
Stelle, niemand fühlt sich mehr eingegliedert in ein
organisches System; alles wird unsicher, schwankend,
ein Für-Sich ohne zwingenden Zusammenhang mit
seiner Umgebung; nichts wird mehr von heiUunm^i
Notwendigkeiten bewegt. Eine erkünstelte, steten
Veränderungen unterworfene Ordnung (der sogenannte
soziale Fortschritt) tritt an Stelle der natürlichen
und unveränderlichen Ordnung der patriarchalischen
Gemeinschaft. Es gibt kein wirkliches Ober und
Unter mehr, keinen Zusammenschluß zu organischen
und daher lebensfähigen sozialen Gebilden, keine
soziale Synthese.
Der Fortschritt der Demokratie ist für den von
Gegenwartsphrasen nicht verdummten Beobachter ein
Prozeß der Auflösung, des fortschreitenden Ausein-
anderfallens, der Atomisierung des sozialen Lebens:
eine soziale Diathese. Die Anbetung des letzten
Zerfallsproduktes, des Atoms oder Individuums, ist
nicht etwa — wie man heute vielfach glaubt —
eine Reaktion gegen die demokratische Nivellierung,
sondern vielmehr deren logische und letzte Kon-
sequenz. Im losgelösten, selbstherrlichen und unver-
antwortlichen Individuum des christlich-demokrati-
schen End-Ideals ist jede Möglichkeit einer Kultur
des Genius und jede Möglichkeit der Fr&hlichkeit
erstorben. Denn Genie und Fröhlichkeit sind im
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~ 37 —
tieftten Grunde eines und dasselbe: der lebendige
ZuBEDEimenhang des Einzelnen mit allem, was ihn
umgibt. Fröhlichkeit ist Harmonie, Dreieinigkeit von
(Jememschaft, Individuum und Natur, Heiligkeit der
Ordnung, Glaube an die Ordnung. Seelische Ver-
dOsterung ist Disharmonie, Auseinanderstreben von
Individuum und Gemeinschaft, von Leben und Natur,
Unbeständigkeit der Ordnung, Neuerungssucht und
Kritixismus. Dies aUbs sind aber Kennzeichen des
modernen Lebens, und gerade die besten Menschen
leiden am meisten unter der allgemeinen seelischen
VerdQsterung, die heute wie ein giftiger Nebel über
dem Lieben lagert. Die Menschen, die mit der
reichsten innerlichen Möglichkeit, fröhlich zu sein,
ausgestattet sind, müssen heute die Yerdüstertsten
und Yerbittertsten sein. Die Obersten und Untersten
sind heute die Kränksten, nur das menschliche
Mittelgut ist noch halbwegs verschont, aber von
Oben und Unten wird das Krebs^eschwür der Zeit
sich bis zur Mitte durchfressen: vielleicht ist es ein
Gesundungsprozefi. Vielleicht kommt ein Anfang
nach einem Bndel •
Dem Volke Selbstbestimmungsrecht geben, heifit
das Volk unfehlbar zum Gesindel machen, denn
mit der Freiheit wächst die Begehrlichkeit ins Un-
gemessene. Ein Volk ist eine Masse von natür-
lichem Zusammenhang und natürlicher Struktur,
eine Masse, in der Zufriedenheit und Fröhlichkeit
herrschen kann; eine ungegliederte Masse aber,
die blofi durch Begehrlichkeit und Unzufrie-
denheit zusammenhängt, eine Masse, in der die
mit dem Selbstbestimmungsrecht Unreifer unausbleib-
lich verknüpfte materielle und seelische Verlotterung
jeden Keim der Fröhlichkeit erstickt, eine solche
Masse ist ein Gesindel. Das Merkzeichen des Ge-
sindels ist, daß es nicht fröhlich sein kann. Was beim
Gesindel Fröhlichkeit heifit, verdient diesen Namen
idcht Das Gesindel kennt kein Wohlgefühl aus sich
heraus, es braucht stets einen äufiem Anlafi oder
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— 88
eine Betäubung, um sich wohl zu fohlen. Es kann
sich »diebisch freuen c, wenn seine Begehrlichkeit för
einen Augenblick gestillt wird, es kann sich »kanni-
balisch wohlfühlenc, wenn seine stets wache Schaden-
freude sich ergötzen darf, und es kann »ausgelassen
vergnügte sein, wenn es gaffend eine Sensation mit-
macht, oder wenn Trunkenheit es seine geheime
Trauer vergessen läfit, wenn es von der Trauer einen
Augenblick ausgelassen wird« Niemals aber kann
das Gesindel innerlich fröhlich sein. Schon sein Blick
zeigt dies, hinter dem stets der mifiverstehende Neid
hervorlugt. Es kann sich den Höherstehenden nur
als den Geniefienden vorstellen, als den Menschen,
der das besitzt und geniefit, was es begehrend ent-
behrt. Ein schauerlicher Irrtum des Gtesindelgeistesi
Und das heute in sehr hohe Regionen reichende Par-
venutum gibt diesem schauerlichen Irrtum einen
noch schauerlicheren Anschein von Wahrheit. Trotz-
dem gibt es kein härteres, kein entsagungsreicheres
Leben als das eines von der Natur zum Lenker, zum
Voranschreitenden bestimmten Menschen, als das
Leben eines Sich- Verantwortlichen! Sein Glück be-
ruht in nichts weniger als in materiellen Genüssen.
Darin beruht gerade das Glück des kleinen Menschen,
der frei von grofier Verantwortung seine Arbeit
leistet und dafür eine frohe Behaglichkeit geniefien
darf. Fluch dem gewissenlosen Demagogentum, das
ihm diese Behaglichkeit vergällt und die Zufrieden-
heit raubt I Fluch denen, die ihm schon das Früh-
stück mit dem Morgenblatt vergiften, und die ihm
den Feierabend durch eine politische Versammlung
wegstehlen I
Ist die demagogische Verhetzung des Volkes
das tragischeste Schauspiel der neuen Zeit, so ist
die unter der Patronanz gehimloser Männer sich
breitmachende sogenannte Frauenbewegung das
groteskeste Schauspiel dieser Tage. Die Frau war bis-
her für den Mann der vornehmste Quell der Fröhlich-
keit, denn die Frau ist in höherem Grade als der Ma^n
üigitized by VjOOQ IC"
— 39 —
eia Gefäfi veredelter Natürlichkeit Die Erhaltung und
Veredelung der weiblichen Natürlichkeit ist eine der
▼omehmsten Aufgaben wirklicher Kultur, denn diese
Natürlichkeit ist der Jungbrunnen der Menschheit.
Und wenn der Qeist des Mannes sich nicht mehr
an der Natur des Weibes beleben und erholen kann,
dann altert die Menschheit und wird greisenhaft
und unfruchtbar.
Dafi man nun die Frau, die so recht dazu be-
stimmt ist, durch FrOhlichsein froh zu machen, mit
sozialen und politischen Rechten beglücken will,
darin seigt sich in grotesker Weise der ganze Jam-
mer einer um alle Vernunft, um allen natürlichen
Instinkt gekommenen Zeit. Aber die Fröhlichkeit der
Frau wird schon vor dem Sieg der Frauenbewegung
sterben, denn schon vor diesem Sieg wird es keine
Männer mehr geben, für die und durch die die Frauen
fröhlich sein könnten . . .
So bliebe noch die Kunst als Quelle der Fröhlich-
keit. Damit aber die Kunst eine Quelle des Frohsinns
sei, mufi Frohsinn die Quelle der Kunst sein. Die
Kunst, die in ihren großen Zeiten eine Folge, ein
Ausfluß, eine Begleiterscheinung der Fröhlichkeit war,
soll in unserer Zeit die wunderwirkende Bringerin,
die Erzeugerin der Fröhlichkeit sein, die nicht von
Natur aus in den Menschen ist. Wunderlichster Irr-
tum einer kranken ZeitI Daher wird heute soviel
Kunst gemacht und als berauschendes Narkotikum
konsumiert. Ehemals aber war viel ungemachte Kunst,
viel ungesuchte Anmut und Oröfie, viel heiteres Linien-
spiel und viel Musik. Es war in den Dingen, in den
Menschen und im Leben selbst ! Einst war die Kunst
)m zierender Rahmen der Lebensfröhlichkeit, heute
3t sie eine vom Zusammenhang mit dem Leben los-
getrennte Berauschungsmaschinerie . . .
Der fröhliche Mensch ist heute nicht nur kein
'üel der Bewunderung, er wird sogar mit Mifitrauen,
& mit Verachtung betrachtet. Er wird nicht ernst
:enommen, weil er über dem Ernste seiner Zeit steht.
üigitized by VjOOQi'-
— 40 —
^
Am meisten wird heute — wie im Rom der Verfalls-
zeit oder wie bei den Indianern — der Mensch d^
starren Maske, der Mimiker seelischer Unbeweglich-
keit, der stoische Mensch bewundert Der Mensch
der Ataraxia gilt heute als höchster Typus, dem
heimlich oder offen, bewuflt oder unbewufit alle
nachstreben. Das moderne Leben untergräbt alle
Wurzeln der Fröhlichkeit, denn es ist em System
der Verwüstung aller natürlichen Ordnung. Die
Predigt der Demokratie, die Politisierung der Massen
durch Demagogie von unten und Abwälzung der
Verantwortung yon oben, die Verödung des Geistes
durch die Erzeugnisse der Schnellpressen und fort-
schreitende Machinalisierung des ganzen Lebens,
Dberproduktion und Industrialisierung der Kunst
neben . überhebendem Ästhetentum, Verbrauch der
Kräfte durch ein wahnwitziges Zuviel an unnützer
Arbeit, die von Männern geförderte Frauenemanzi-
pation: dies alles sind ebenso viele Ertötungen von
Möglichkeiten des Frohsinns. Was dieser Zeit am
meisten abgeht, ist ein homerisches Gelächter
über siel
München. Karl Hauer.
Tagebach.*)
Eine umfassende Bildung ist eine gut dotierte
Apotheke; aber es besteht keine Sicherheit, dafl nicht
für Schnupfen Oyankali gereicht wird.
•
Im Anfang war das Rezensionsexemplar, und
einer bekam es vom Verleger zugeschickt. Dann
schrieb er eine Rezension. Schließlich schrieb er ein
Buch, welches der Verleger annahm und als Resen-
sionsexemplar weitergab. Der nächste, der es bekam,
tat desgleichen. So ist die moderne Literatur ent-
standen.
*) Aus dem .Simplicissimus*.
Digitized by VjOOQI€
— 41 —
Ein guter Sohciftsteller erhält beiweitem nicht
so viel anonyme Schmähbriefe, als man gemeinhin
annimmt. Auf hundert Esel kommen nicht zehn, die
es zugeben, und höchstens einer, ders niederschreibt.
•
Ein Snob ist unrerläfilich. Denn das Werk, das
er lobt, kann gut sein.
Die Zeitungen haben zum Leben annähernd
dasselbe Verhältnis, wie die Kartenaufschlägerinnen
fiur Metaphysik.
Die verkommenste Existenz ist die eines Men-
schen, der nicht die Berechtigung hat, ein Schand-
fleck seiner Familie und ein Auswurf der Gesell-
schaft zu sein.
Man mufi jedesmal so schreiben, als ob man
zum ersten und zum letzten Male schriebe. So viel
sagen, als obs ein Abschied wäre, und so gut, als
bestände man ein Debüt.
«
Feuilletonisten und Friseure haben gleich viel
mit den Köpfen zu schaffen.
«
Zuerst riecht der Hund, dann hebt er selbst das
Bein. Gtegen diesen Mangel an Originalität kann man
füglich nichts einwenden. Aber dafi der Literat zu-
erst liest, ehe er schreibt, ist trostlos.
♦
Wenn man es nicht kann, dann ist ein Roman
leichter zu schreiben als ein Aphorismus.
*
Heine hat das Höchste geschaffen, was mit der
Sprache zu schaffen ist. Höher steht, was aus der
Sprache geschaffen wird.
•
Der Qeist enttäuscht im persönlichen Verkehr,
aber die Dimimheit ist immer produktiv. Läfit
Digitized by VjOOQIC
— 42 —
man sie auf den Qeist einwirket) so kann sie eine
yoUständige Ermüdung eraeugen, während dieser auf
die Dummheit keinerlei belebenden Btnflufi hat.
Wie man im Gespräch mit einem Schwachkopf kör-
perlich yerfällt^ wie die Gesichtsfarbe fahl und die
Haut schlaff wird, das sollte ein medizinisches Pro-
blem sein. Man hat yielleicht um ein Pfund abgenom-
men, und das ist, wie jede forcierte Abmagerungskur,
bedenklich.
Die Einsamkeit wäre ein idealer Zustand, wenn
man sich die Menschen aussuchen könnte, die man
meidet.
Ein ganzer Kerl ist einer, der die Lumpereien
nie begehen wird, die man ihm zutraut. Ein halber,
dem man die Lumpereien nie zugetraut hätte, die
er begeht.
Die anständigen Frauen empfinden es als die
gröfite Dreistigkeit, wenn man ihnen unter das
Bewufitsein greift.
Die blofie Mahnung an die Richter, nach bestem
Wissen und Gewissen zu urteilen, genügt nicht. Es
müfiten auch Vorschriften erlassen werden, wie klein
das Wissen und wie grofi das Gewissen sein darf.
*
Ein Bettler wurde verurteilt, weil er auf
einer Bank gesessen und traurig dreingeschaut hatte.
In dieser Weltordnung machen sich die Männer
verdächtig, die traurig, und die Weiber, die lustig
dreinschauen. Immerhin zieht sie die Bettler den
Freudenmädchen vor. Denn die Freudenmädchen sind
unehrliche Krüppel, die aus dem Körperfehler der
Schönheit Gewinn ziehen.
•
Im Wörterbuch steht, dafi »Aphroditec entwe-
der die Göttin der Liebe oder einen Wurm bedeutet
I
,y Google
— 48 «
Sodomie ist verboten, das Abschlachten von
Tieren ist erlaubt. Aber hat man noch nicht bedacht^
dafi es ein sodomitischer Lustmord sein könnte?
*
Emanzipierte Weiber gleichen Fischen, die ans
Land gekommen sind, um der Angelrute zu ent-
gehen. Faule Fische fängt der faulste Fischer nicht.
•
Erfahrungen sind Ersparnisse, die ein Geizhals
beiseite legt. Weisheit ist eine Erbschaft, mit der
ein Verschwender nicht fertig wird.
•
Der Mensph denkt, aber der Nebenmensch lenkt.
Er denkt nicht einmal so viel, daß er sich denken
könnte, dafi ein anderer denken könnte. ^
•
Der Klügere gibt nach, aber nur einer von jenen,,
die durch Schaden klug geworden sind.
«
Wenn wir einen Fehler längst abgelegt haben,
werfen uns die Oberflächlichen den Fehler und die
Gründlichen Inkonsequenz vor.
•
* Man träumt oft, dafi man fliegen könne. Jetzt
träumt die Menschheit; aber sie spricht zu viel aus
dem Schlafe. «. .
Ein Leierkasten spielt zu jedem Schmerz die
Melodie. ^
Tugend und Laster sind verwandt wie Kohle
und Diamant.
Sie richten, damit sie nicht gerichtet werden.
Christlicher Umlaut.
Seit die Lust aus der Welt entschwand und die Last
ihr beschieden,
Lebt sie am Tag mit der Last, flieht sie des Nachts
zu der List.
♦ üigitizedby Google
— 44 —
Kurz vor dem EinBchlafen kann maa sich allerlei
Fratzen in die Luft zeichnen. Das sind die hypn»-
gogischen Gesichte. Wem die leibhaftigen Menschen
als solche erscheinen, der ist nah daran, aus dem
Leben zu scheiden.
Karl Kraus.
Pflr das KincL
Daß wir im Jahrhundert des Kindes leben, muß jeder
merken, der eine Nase hat. Es riecht nach dem Kinde. Aus dem
Treiben geschäftiger Agitatoren steigt ein Dunst von Kautschuk
und nassen Windeln. Es ist nicht jedermanns Sache, diesen Kultur-
parfum mit der vorgeschriebenen Rfihrung einzuziehen. Man muß
kein Menschenfeind sein, um diesen Geruch widerlich zu finden.
Doch wenn schon jener Vater sonderbar wirkt, der in iffisdier
Liebe die Pfirsichrundung seines Kindes küßt, um wie vid merk-
würdiger erscheint das Gebaren einer Gesellschaft, welche diesen
Körperteil zur Sonne ihres ziellosen Daseins macht.
Sie meint den Weg zur Natur zurückgefunden zu haben,
indem sie sich ausdauernd um das Kind bemüht WShrend sie
Kinderseelen wie Spargel zieht, beh:achtet sie im Spiegel selbst-
gefällig ihr alterndes Gesicht und glaubt auf den Wangen das
blühende Rot ihrer Jugend wiederzufinden. Aber in Wahrheit ist
der von unendlichem Qeschwfttz begleitete Schutz der Schwachen
eines der vielen Symptome der Schwäche und Kraftlosigkeit unserer
Zeit Es ist Täuschung, darin Gesundheit und Natürlichkeit zu er-
blicken. Ein kraftvolles Zeitalter durfte es wagen, seine mißratenen
Kinder im Taygetus auszusetzen. Ein mürbes Greisengeschtedit
päppelt elende Fleischklümpchcn zu jammerexistenzen auf, die ihren
fluchenden Erzeugern fluchen. Es steckt viel von der Lüge, die
alle Welt erfüllt, in dieser so gesunden, natürlichen und sittlich
reinen Bewegung für das Kind.
Wenn die Freude, mit welcher der Eintritt eines Kindes In
das Leben von den Eltern begrüßt wird, den einzigen Schutz
seines Daseins bildete, würde die Zahl der Kindesmorde ins Unge*
messene steigen. Daß der Kindesmord selbst von einem lebens-
fremden Strafgesetz dem gemeinen Morde an erwachsenen Personen
nicht durchaus gleichgestellt werden konnte, spricht deutlich für
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— 46 -
die Absurdifit, die in einer fibertrieben Wertschätzung des Kindes
liegt. Es ist absurd, das Kind dem reifen Menschen gleichzuhalten;
es aber höher zu bewerten, ist barer Unsinn. Für das Kind soigen
und den Erwachsenen verhungern lassen, heißt das Roß beim
Sdiwanz aufzäumen. Und die medizinische Auskunft: »Das Leben
der Mutter mußte geopfert werden, um das Kind zu erhalten«, ist
das Bekenntnis eines Verbrechens, weit schwerer als Kindesmord;
denn es ist gemeiner Mord, wenn weise Frauen und Männer zu
Gunsten des Kindes über das Leben der Mutter verfügen.
Die Kinder, soweit sie sich nicht rechtzeitig kunstvoll ver-
meiden ließen, wachsen und blühen. Für die Eltern sind sie eine
Quelle vieler Freuden und Leiden. Insbesondere bilden sie — das
ist die Regel — ein Einigungsmoment von großer Stärke, wenn
ach das Gesetz der gegenseitigen Abstossung, das allen Körpern
innewohnt, in den Eltern geltend macht. Sie können aber auch —
das ist häufige Ausnahme -— zur unerträglichen Fessel werden,
wenn die Gegensätze zwischen den Eltern mit unwiderstehlicher
Macht zur Trennung drängen. Wenn die büigerliche Moral auf
dem Schein besteht, dessen Wahrung ihr Lebenszweck ist, wenn
sie mit der Würde, die nur innerster Verlogenheit entstammt,
darauf bebarrt, daß die Eltern ihr Lebensglück den Kindern opfern,
so ist dies unnatürlich, grausam und verbrecherisch, trotz allem
Gackern besorgter Schwiegermütter, Onkel und Tanten.
Wenn femer jene Enthusiasten, die es gelüstet, an des
Jahrhunderts Neige die traditioneilen Palmenzweige mit Windeln
zu vertauschen, dadurch die gangbare Sittlichkeit zu kräftigen ver-
meinen, mögen sie bedenken, daß sie, bei Licht betrachtet, eine
Kcht bedenkliche Sache unterstfitzen und ihrer eigenen Moral ins
Gesicht schlagen. Für sie müßte das Kind das Produkt fluch-
vfirdigen Beginnens sein, die fleischgewordene Sünde, der geborene
Verbrecher, zum Leben durch den Nabelstrang verurteilt. Seine
Hilflosigkeit der Protest der entrüsteten Natur gegen die unan-
ständigen Dinge, die bei der Erzeugung vor sich gingen und die
der Bflrger nachher nur mit Schauder nennt. Vielleicht ersteht
nns einmal der Prophet, welcher der Logik in diesem Punkte zum
Siege verfailft. und die kfinftige Generation stopft ihre Kinder nach
Urväter-Sitte wieder in den Flammenbauch des Moloch. Immerhin
«I die Zeit größer, die ihre Kinder tötet, als jene, die sie zu Ge-
mischtwarenhändlem, Amtsdienem und Hausmeistern erzieht.
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- 46 -
Wer sind jene Obereifrigen, welche unserem Jahriiiuidot
den Kautschukstempel des Kindes aufprägen wollen? Natfirtick
jene, welche Kinder haben? Weit gefehlt. Wenn sieb Menscfaci
recht emsig um etwas bekümmern, ist hundert gegen eins zi
wetten, daß es sie nichts angeht. FOr das Kind sind außer der
Kirche, die bekanntlich einen guten Magen hat, allerlei mfifiise
Damen, die mit den Kindern nichts als den Mangel eines Bosob
gemein haben. Sie wollen unser Jahrhundert kindlich machen «nd
es wird bloß kindisch. Alte Jungfern, unfruchtbare Franen,
Varietäten der allgemein verbreiteten Wohltätigkeitshytnen. Sie
wollen die Ammen der Zukunft sein und ver^gessen, daß dk
Ammen der Gegenwart sich an dem realen Leben hervomgend
betätigt haben, ehe sie hingingen, die Kinder anderer zu saagcB.
Bruno Wolf gang.
Glossen.
Ein Feuilletonist schreibt über das Buch des Tierfaändkn
Hagenbeck »Von Tieren und Menschen« und verherrlicht die
Mission, wertvolle Engagements für Schaubuden und zoologische
Gärten abzuschließen, als eine Spielart menschlichen Genies. Die
delikate Art, mit der der alte Hagenbeck dieser Mission oblag, sott
ihn bei den Tieren beliebt und den Menschen wohlgefill^
gemacht haben, und die Feuilletonisten wiederum finden, er habe
ein »liebes Buch« geschrieben. Aus solchem Lob sden hier cia
paar Sätze zitiert:
» . . . Gewöhnlich fängt man aber die Jungen Tiere. Die Hagenbeck-
Jäger wissen, wann die Wurfzeiten der Tiere sind, und haben nai
leichteres Spiel. Entweder werden die Eltern weggeschossen und die
Waisen dann einfach in die Gefangenschaft geführt, oder die alten Tiere
werden gehetzt, was man bei wilden Pferden, Zebras, Antilopen vA
Erfolg veranstaltet. Die Herde nimmt Reißaus, aber die zarten Jangai
können das rasende Tempo nicht lange halten, bleiben atemlos imidL
und sind gleichsam mit Händen zu greifen. Die edle und vor Hagenbecks
Wirken in Europa selten gesehene Elenantilope wird so gehetzt. Währeni
die alten Tiere davonsprengen, bleiben die jungen stehen, »von etnea
klebrigen Angstschweiß voUkommen bedeckt und jämmerlich schieicad«.
Jetzt werden sie von den nachstürmenden Reitern am Schwanz gepecki
und zu Boden gerissen. Man fesselt ihre Hinterbeine und hflUt die im
Angst und Erschöpfung bebenden Tiere in warme Decken. Die metsta
von ihnen sterben aber schon eine Viertelstunde nachher an HerzschUf
infolge der ausgestandenen Aufregung .... Der beständige vertmle
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— 47
Umgang mit den Tieren macht ihn (Hagenbeck) zu ihrem besten Ver-
steher und damit auch zu ihrem besten Freund.«
Ein Wiener Kaffeehausstammgast, der auch mit vielen
Künstlern persönlich bekannt war, feierte neulich seinen siebzigsten
Geburtstag. Darüber wurde in den Wiener Zeitungen geschrieben,
und in den Vomotizen wie in den Berichten war der Name des
Jubilars nie ohne das Attribut angeführt: »Eine der bekanntesten
Persönlichkeiten der letzten Jahrzehnte des vorigen Jahrhunderts.«
Als aber gar ein Kaffeesieder selbst seinen fünfzigsten Geburts-
tag feierte, war der Aufregung kein Ende. Was bei dieser Feier,
so versicherte ein Berichterstatter, »an Größe und Glanz der Ver-
sammlung und an herzlicher, fiberschwänglicher Begeisterung für
das Geburtstagskind zu spüren war, das läßt sich wirklich nicht
schildern«. Noch lange Zeit nach dem Festbankett »bildete der
Verlauf desselben das Tagesgespräch in allen Kreisen unserer
Stadt«. Freilich handelte es sich auch um einen der bedeutendsten
Nachtcafetiers der Epoche, um eine Persönlichkeit, die nicht nur
wegen ihrer Charaktereigenschaften für eine ganze Generation
von Nachtcafetiers vorbildlich geworden ist, sondern die auch w^en
der Einrichtung, daß die Huren erst um zwei Uhr das Lokal
betreten dürfen, sich in bürgerlichen Kreisen des größten Ansehens
erfreut, um einen Mann also, den man nicht so mir nichts dir
nichts persönlich zum Tisch rufen kann, wenn man sich wegen
einer schmutzigen Serviette beschweren wollte. Das Ist alles wahr
und muß von jedem objektiven Kulturhistoriker zugegeben werden.
Immerhin bleibt die Frage offen, ob Beethoven annähernd so
herzliche Anerkennung gefunden und ob sich dreihundert Vertreter
des Wiener Bürgertums um die Ehre beworben haben, Grillparzer
zu seinem Geburtstag zu gratulieren und ihre Namen bei diesem
AnUuse In die Zeitung zu bringen. In unserem Fall haben sich
Redakteure, Vertreter des Wiener Geisteslebens, verpflichtet gefühlt,
selbst die Sache in die Hand zu nehmen und ein Komitee zu
bilden, an dessen Spitze ein Graf und k. k. Bezirkshauptmann
stand. Ein Oberst, ein k. k. Oberintendant, ein k. k. Intendant,
ein Sektionsrat, drei Hauptleute, zwei Polizeioberkommissäre, drei
Bezirksräte, drei kaiserliche Räte, Volkssänger, Präsidenten von Schrift-
stellergenossenschaften, Hoteliers, eine Abordnung des Nibelungen-
vereines »Bechelaren«, Vertreter aller anderen Stände und Berufe,
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— 48 —
»darunter sehr viele Damen aus den besten Kreisen der Gesell-
schaft«, und ein Kirchenverwalter wetteiferten, die Verdienste des
Nachtaifetiers in Bankettreden hervorzuheben. Hiebei kam, so
hören wir, »das Oemüt auf seine Rechnung durch die alle
Anwesenden rührende Szene, wie der Chef seinem ersten Markör
Jean für alle Liebe und Treue dankte und ihn am Schlüsse herzlich
küßte«. Aber man war sich auch der politischen Bedeutung des
i^oments bewußt, als der Cafetier sich erhob und erklärte, daß
er die ihm bereitete Ovation »als einen Beweis der Einigkeit im
Wiener Bürgerstande betrachte«. Indem das Bürgertum seine
Cafetiers ehrt, ehrt es sich selbst, und es ist erfreulich, daß von
der Gewohnheit, die Verdienste bedeutender Männer erst nach
ihrem Tode anzuerkennen, in besonders berücksichtigenswerten
Fällen Abstand genommen wird. Der Kirchen Verwalter speziell
betonte, das Nachtcaf6 des Gefeierten sei »zum zweiten Wahrzeichen
Wiens geworden«, und gratulierte deshalb namens des alten Steffel,
»unter dessen Schutze« es dazu geworden sei . . . Bis hieher
hatte ich gelesen und beschlossen, einer Stadt mit so ausge-
sprochen katholischem Charakter der Rücken zu kehren. Da fiel
mein Blick auf einen Zeitungsausschnitt, den ich mir bewahrt
habe. In Berlin hatte ein Restaurateur den Erlös eines Tages den
Opfern einer Grubenkatastrophe zugewendet und ein Interviewer
beeilte sich, die Ansichten eines Wiener Gastwirts über diesen
Fall zu publizieren. Dieser, ein Herr Hopfner, meinte, er könnte
auf seine Tageseinnahme nicht verzichten, sie wäre überhaupt
nur dann ergiebig, »wenn er einen Hopfner-Tag veranstalten
würde«. Dieses Wort, so dunkel es ist — schon der Begriff einer
»Hopfnercremetorte« wirkt verwirrend — , läßt mich dennoch das
Wiener Leben von einer anderen Seite ansehen. Es zerfällt einfach in
Hopfner-Tage und in Riedl-Nächte. Man kann sich's einteilen. Und
solange wir noch Persönlichkeiten haben, die entweder wegen
ihrer Popularität beliebt oder wegen ihrer Beliebtheit populär
sind, und solang' der alte Steffel auf seine Nachbarschaft sta
ist und wenn's zwei Uhr wird, bloß »Ah, da schau i ja« sag
ist kein Grund zur Traurigkeit absolut in keiner Beziehung nid
vorhanden.
Karl Krauai
j
ticnuugeber tuid tenuitwortnclifr Redakteur: Kurt Kraab
Drack von Jahoda fli Siegel. Wien, III. Hintere ZollaaiMnac 3. !■
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18
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^ica. Von Karl Borromäus Heinrich. — Der
ialkor*'Äii"nnTi*lp7>f Yf\n Karl K » •" " *-
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*eiff der einzelnen Nummer 30 h.
Uüd gewerbsmäßiges Verleihen verboten ^ gerichtlic
Verfolgung vorbehalten.
WIEN.
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Liebhaber wertvoller und seltener Kunstwerke seien
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Der Subskriptionspreis einer Mappe 1^1 30 tA^rU.
a AusfOhrlich« ProspeHtg auf Verla
Die Fackel
Ni. 269 31. DEZEMBER 1908 X.JAHR
Mehr L&tt8et
lo einen hohlen Kopf geht viel Wissen. Der
Wert der Bildung offenbart sich am deutlichsten,
wenn die Gebildeten £u einem Problem, das außer-
halb ihrer Bildungsdomäne liegt, das Wort er-
greifen. Sie haben es nicht, also müssen sie es er-
greifen. Herr Professor Franz v. Lisst ist wahr-
Bcheinlich ein tüchtiger Kriminalist, er dürfte auch
ein tüchtiger Politiker sein. Aber es ist von Obel, daß
erneuestens den Ehrgeiz hat, anderen Leuten zuzu-
reden, daS sie auch Politiker werden sollen. Zu einer
theoretischen Auseinandersetzungdarüber langt's nicht.
Herr ▼. Liszt erläßt in der ,Neuen Freien Presse' eine
Art Aufruf zur »Politisierung der Gebildetere. Die
Jugend vor allem, die sich offenbar noch nicht
genug im Straßengraben gewälzt hat, soll »politisierte
werden. Achtung vor der Vereinsmeierei I ruft Herr
V. Liszt; sie verdiene den »Spott der Ästheten«
tttcht, denn sie sei es, die die »politische Kleinarbeit«
leiste. Zu welchem ^oßen Zweck? Wenn Herr
Y. Liszt ahnte, daB es Lebenswünsche gibt, die erst
in Erfüllung gehen können, wenn die Politiker und die
Asthetenauf demselben Schindanger zusammenkommen,
er würde so feine Unterscheidungen nicht machen.
Bis dahin mag man die Forderung des Herrn v. Liszt
für berechtigt halten. Politischer Indifferentismus ist
unter allen Umständen beklagenswert. Es handelt
' h ja im Sinne einer Desinfektion der Kultur
rum, die Ansteckungskeime der Bildung und der
litik abzutöten, und da ist es wohl am prak-
chesten, wenn man die Gebildeten so schnell wie
}glich politisiert . . . Welche der beiden Tendenzen,
* der Demokratisierung innewohnen — fragte jüngst
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— 2 —
ein anderer Gelehrter, Herr v. Ooropers, in der ^Neueo
Freien Presse' — wird obsiegen? Die fortschrittsfeind-
liche, nämlich die Unterdrückung der Persönlichkeit,
oder die fortschrittsfreundliche, uämlich die Schaffung
neuer Bildangszentren? Ich denke, beide. Wenn einer
Lause hat, so ist es klar, dafl die Abnahme der
Reinlichkeit mit der Zunahme der Läuse gleichen
Schritt hält. Sollte aber dieser Prosefi unaufhaltsam
sein, so finde ich den Ruf nach gründlicher Ver-
lausung immerhin begreiflich.
^ ^ Karl Kraus.
Jubel und Jammer.*)
Ein Wiener Brief.
Herr, erlöse uns von unserer Not und mach
unserm Jubel ein Ende! rief der Österreicher am
Ausgange des Jahres 1908 und sank ermattet in das
Faulbett der Geschichte. Arm am Beutel, krank am
Hersen schleppt' er seine langen Tage, aber anders
als dem Schatzgräber Goethes ward ihm ein Zauber-
wort: Frohe Feste — Saure Wochen I . .
Nun stehen wir da, die wir keinen Orden be-
kommen haben, und finden, es sei nicht der MOhe
wert gewesen. Haben wir dazu einen Festsug veran-
stalten müssen? Es hat eine Zeit gegeben, wir
alle haben sie erlebt, in der die Auszeichnung, keinen
Orden su bekommen, müheloser erreicht wurde als
heute, wo sich einer schon durch ein besonderes Ver-
dienst oder durch eine besondere Blamage hervortun
mufl, um ihrer teilhaft zu werden. Es ist hart. Und
wer vermöchte sich in die Lage eines Kaiser jubiläums-
huldigungsfestzugsexekutivkomiteepräsidenten zu ver-
setzen, der mit diesem Titel vorlieb nehmen muft und
der am 2. Dezember das Nachsehen hat, wiewohl er
im Amtsblatt der kaiserlichen ,Wiener Zeitung' nach«
gesehen hat? 0 Jahr der Träume, o Tag des Erwachens I
^u spät erkennt der Mensch, dafi er geirrt hat, solang
^ Aus dtm .SlmpUdMlmiisV
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— 8
er strebte. Denn am Ende seines Weges steht die
Weisheit, dafi viel eher noch als ein Festzug dessen
Unterlassung zu jenen Verdiensten gehört, die einen
Orden nach sich ziehen. Weil aber die Probe auf das
Gegenteil nicht gemacht wurde, wird er ewig im
Dunkeln tappen, nämlich aus jenen Regionen der
Gunst, in die er vergebens hineingekrochen ist, nicht
mehr herausfinden. Aber er hat dieses Los seiner
eigenen Unvorsichtigkeit zuzuschreiben. Denn zwi>
sehen einem Festzug und einem Orden ist kein Ver-
hältnis. Einen Festzug kann man im äußersten Falle
gegen den Willen eines Kaisers durchsetzen, nie und
nimmer aber einen Orden. Das ist ein Unterschied,
den jedes Kind kennt, und vor allem jene Kinder,
welchen der Kaiser die Wohltätigkeit des Jubiläums-
jahres zugewendet wissen wollte. Darum keine über-
triebene Humanität für die Ärmsten der Armen,
derer in diesem Jahre niemand gedacht hat, ich meine
fDr die Mitglieder des Festzugskomitees. Die Gerechtig-
keit nimmt ihren Lauf, für handelsrechtliche Delikte
gibt es keine Amnestie, und warum mußten sie auch
noch die Blumen vom Kaiserzelt schuldig bleiben?
Es ist ja grausam. Könnte man die Mengen von
Schweiß, Loyalität und sonstigen Ausscheidungen, die
dieses Jahr zwischen Preßburg und Passau ergeben
bat, in einem einzigen Bückling aufwenden, der
Himmel selbst müßte ein Einsehen haben und alle
Dekorationen der Milchstraße verleihen I Aber so ward
ein großer Aufwand unnütz vertan, und gerade die
am meisten gerobotet hatten, kamen zu kurz. Was
sind denn das für Zustände? Wer keinen Orden ver-
dient hat, bekommt ihn nicht? Das ist vielleicht die
alte Osterreichische Schlamperei ; aber es ist ein neuer
Ton in diesem Jahrmarkt der Menschenwürde.
Nur der Humorist ist für ihn dankbar. Denn er
war längst einer Realität überdrüssig, in der just die
abgebrauchteste Charge, der Titeljäger, den Spott am
längsten überlebt hat. Die Lächerlichkeit einesjStrebens,
das sich sein Ziel nicht verdient, sondern verleihen
y Google
— 4 —
läfitydie Gemeinheit einer Ehre, die ins Himraelreicb
kommt, wenn sie durch ein Knopfloch geht, die Leer«
einer Eitelkeit, die nicht vom Wert^ sondern Tom
Ansehen lebt: sie finden noch immer ihre Kunden,
und wänn's einen Orden mit Nachsicht der Menschen-
rechte zu erlangen gälte, unsere Zeitgenossen liefen
sich die Fülle wund. Was sie zur Qesellschaft zu-
sammenschließt, sind Bänder, und ihre Ausge-
schlossenen sind Märtyrer, die kein Kreuz bekommen
haben. Es ist das alte Lied der Dummheit, die sich
noch sehen lassen möchte, wenn ihr in Anerkennung
ihrer Verdienste um den Weltuntergang ein Stern
auf den Kopf fiele. Darum dankt der Humor för den
neuen Ton. Uns, die das Getriebe in einem Jubiläums-
jahr nicht mehr zu Vergleichen anregen und die nicht
einmal das Gedränge um einen Futtertrog zu patri-
otischen Erinnerungen stimmen könnte, hat diese Zeit
eine neue Spielart beschert: den gefoppten Streber,
jenen, der die Taxe der Menschenwürde im vcniuis
erlegt und dennoch den Orden nicht bekommen *hat;
der sich für das Vaterland auf den Kopf spucken liefi
und schließlich als Idealist aus der Affäre hervorgeht.
Einer, der sich auf dem Altar der Vaterlandsliebe ge-
opfert hat, dem es aber nichts nützte, weil der Altar
nicht bezahlt war,
Gut und Blutl erscholl es ein Jahr lang in
Osterreich. Das Gut mufite vor dem Handelsgericht
eingeklagt werden, und das Blut wurde auf der Ring-
straße vergossen, als sie auf den Einfall kamen, cUe
Nacht eines Landes durch Kerzen und Lampions zu
erhellen. Das Schauspiel wird allen Betrachtern un-
vergeßlich bleiben. Denn um zu sehen, wie am Abend
des L Dezember Wien seit zehn Jahren wieder ein-
mal anständig beleuchtet war, rückten anderthalb
Millionen Menschen aus. Bei ungenügender Straßen-
beleuchtung bleiben ebensoviele in den Häusern, und
infolgedessen geschieht auf der StraBe kein Unglück.
Aber die beste Beleuchtung kann ein Unglück nicht
verhindern, wenn alle auf einmal neugierig sind, sie
y Google
— 6 —
SU sehen. Das Sohicksal seigte sich der wohltfttigen
Derise »Fürs Kindlc eingedenk; es wurden viel
weniger Kindsköpfe zerquetscht^ als man erwartet
hatte, und die meisteu, vom Säugltng im Kinderwagen
bis zum Oemeinderat, kamen mit dem Lebetf davon.
Nur wenige starben. Die es taten, saete die Polizei,
hatten es sich selbst zuzuschreiben. Sie waren, wie
die Obduktion ergab, von schwächlicher Gesundheit,
und im Besitz einer solchen setzt man sich nicht den
Gefahren der patriotischen Begeisterung ausi Ver-
letzungen haben bloß 105 Leute davongetragen, und
vermutlich solche, denen eine Inklination zu Rippen-
brflehen polizeiärztlich nachgewiesen werden könnte.
Dafi sonst nichts geschah, beweist tatsächlich die
Gesundheit einer Bevölkerung, die in vollster körper-
licher Frische ihr Re^ierungsjubiläum beging. Und
nichts geht Aber das Bild eines geordneten Familien-
lebens, das selbst noch in dem Chaos der drängenden
Massen einen rührenden Zufj; heimischer Gemütsart
offenbarte: Vater — tot, Mutter — Nervenchok,
Tante — Quetschung des Kniegelenks, Tochter —
Hautabschürfung. »Pfüat enk Gott, Kinder c, sprach
ein lebensmüder Wiener zu den Seinen, >i geh jubi-
lieren !c Das Motiv ist unbekannt Der Polizeibericht
aber gedachte nur der Bresthaften und verschwieg,
daß unter den Toten dieses Jubeltages auch Selbst-
mörder waren . . . Und nachdem das Unglück ge-
schehen war, »fanden sich zahlreiche Neugierige ein,
um die Unglücksstätte zu besichtigenc, und da war
das Unglück gegen die Provokationen der Neugierde
bereits so abgestumpft, dafi es sich mit der stillen
Verachtung begnügte.
Ob in Wien oder in Prag gejubelt wird, immer
gibt's Tote. Hier durch einen Freudengrufi, dort durch
eine Salve. Die Nationen raufen um den Vorrang bei
einer Huldigung. Hier sind Pylonen aufgerichtet,
dort ein Galgen. Die Zeitungen halten es mit der
doppelten Buchführung: neben einer Liste der illu-
minierenden Firmen ein Verzeichnis der Verwundeten,
y Google
— 6 —
neben einem Verzeichnis der bei der PestvorBtellung
Anwenenden eine Liste der Toten* Die Politik sieht
im Henker den kommenden Mann, und den Reigen
der Feste schließt ein Batlabille der Inseratenagenten
ab . • . Der Humor aber ist im Gedränge ohnmächtig
p:eworden. Dann wehrt er mit zitternden Fäusten die
Schmach ab, die den Frieden eines Alters urabrtillt.
Er wirft einen Rückblick in Österreichs Zukunft und
fleht: Herr, mach unserra Jubel ein Endel
Karl Kraus.
Missa Solemnis Tragica.*)
Von Karl Borromius Heinrich.
Der junge Philosoph sperrte sich zehn Tage lang in »an
Zimmer und schrieb den zweiten Teil seines Buches: »Der jtmge
Mensch und die Institutionen der Gesellschaft.« Der Inhalt dieses
zweiten Teiles stand seit langem unverrückliar in seinem Kopfe
fest. Was er jetzt zu tun hatte, war also nur mehr eine tedmisdR
Arbeit, die ihm leicht von der Hand ging. Er gab aber seto
ganzes Wesen hinein. Alles was er an Erfahrungen hinter sidi
hatte, sprach er hier aus. Viele seiner Leiden schrieb er »der Ge-
sellschaft« zu. Die Schrift spiegelte den ganzen Haß und den
ganzen Hohn wieder, auf den er sich während des letzten Jahres
so leidenschaftlich konzentriert hatte.
Dieses geistige Wiedererleben seiner Vergangenheit kooole
nicht ohne Nachteil für ihn bleiben. Mit Entsetzen erkannte er
dabei aufs neue, und in einer Form von grausiger Prägnanz, seine
absolute Beziehungslosigkeit zu allem, was Mensch heißt. Lebte er
nicht dahin wie einer, der sich im tiefsten Walde verirrt hat und
*) Unter dem Titel >Qeschichte einer moralischen
Krankheit« wird der Autor eine Fortsetzung des ueulldi t>esprocbeiieB
Romans >Karl Asenkofer, Geschichte einer Jagend« im Verlage voe
Albert Langen in München erscheinen lassen. Aus dem Manuskript da
Werket - aus dessen Schluß — wird hier ein Abschnitt verAffeotUcfat
y Google
dessen Webschreie ungehört verhallten im verschwiegenen Dunkel der
Tannen? War das noch ein Leben? mußte er sich erschüttert fragen.
So genet er denn in eine Verdüsterung, wie er sie noch nie
erlebt hatte. Es war ein Unglück, daß sein Gönner gerade jetzt
verreist war. Vielleicht wollte das Schicksal, daß er allein mit sich
fertig werde. Niemand stand ihm in so schweren Tagen bei.
In der Nacht des zehnten Tages schloß er, von tiefstem
Qram erfüllt, sein Buch mit jenem berüchtigten Satze, den man
füglich als Motto und Inhaltsangabe zugleich, als Leit- und Schluß-
motiv des ganzen Werkes bezeichnen kann:
>. . . Ein junger Mensch von heute, der nicht mehr Offizier
und Korpsstudent oder noch nicht Sozialist werden will, lebt,
da die zweitausendjährige Kultur des Christentums nunmehr
zusammenbricht und alle bürgerlichen Ideale verfault sind, in
einer unerhörten Rat- und Führerlosigkeit dahin; von der Kultur
der Vergangenheit genießt er im besten Falle eine rein intellektuelle
mit systematischer Oedächtnisqual verbundene Erinnerung, dank
der vollkommensten Unfähigkeit jener angeblichen Erzieher, der
Philologen, die, mit geringen Ausnahmen, nicht mehr Vertreter
der Humanität sind, sondern nur unterrichten, um zu leben und
so der instinktiven Verachtung der Eltern immer mehr anheim-
fallen; die dem jungen Menschen also den Weg in die Ver-
gangenheit zeigen sollen, wissen ihn selber nicht ; Wegweiser in
die Zukunft sucht er vergebens; in Ermangelung aller positiven
Werte wird er dann zu dem Anarchisten wider Willen, als
den ich ihn hier, nicht ohne Schmerz und mit wenig Aussicht
auf Besserung, dargestellt habe.«
Karl Asenkofer fühlte sich selbst als den Typus dieses jungen
Menschen von heute. Sein Schmerz ging daher über seine Person
hinaus, in einer philosophischen Größe, und umfaßte in jener
Nacht mit einer unendlichen Gebärde alle jene, die Gleiches mit
ihm litten! Draußen begann es heftig zu regnen und (^in wilder
Shum ging durch die Gassen.
Da trieb es Karl Asenkofer fort ins Freie. Er wanderte dem
kleinen Berge zu, der sich nahe bei der Stadt erhob. Auf seinem
Qipfel stand er stundenlang in Sturm und Regen, er, ein schmächtiger
Mensch, preisgegeben dem Toben der Natur . . .
»Muß ich mich also töten?« . . dies war die fürchterliche
Frage, die er an das Schicksal stellte. Aber der Sturm überschrie
y Google
— 8 -
sdne Selbstverwünschungen. Wehe ihm, in dieser Zelt des Rfidi-
falißi wenn seine Seele ietzt nicht bald Rettung und Wcf fsnd! . .
Das Wetter schlug wieder um. Und Karl Asenkofer «änderte
in diesen Tagen der großen letzten und entscheidenden ftsge
durch die Berge der Umgebung, um sich vorerst von der Spanunqg
und Selbstkonzentration zu erhoieni aus der heraus sein Werk
geboren war.
Es war ein eigentümliches OefQhl fnr ihn« daß nun die
Außenwelt allmählich wieder Macht fiber ihn gewann, daA tf
anfing, wieder etwas zu bemerken. Er verfiel in tiefe Rfihmng.
Mit einer religiösen Zärtlichkeit sah er zur milden und gicicb-
mäßigen Sonne dieses Spätsommers empor. . . .
Es schritten glatzköpfige Bürger, die diese letzten wannen
Strahlen auf ihren viereckigep Häuptern sammelten, an ihm vorüber
und grüßten ihn. Er dankte ihnen, ohne ihnen ihre ZutFaulicfaheit
sonderlich übelzunehmen. Nur gegen den Wortschwall setoer Haus-
wirtin blieb er unerbittlich; er zählte jeweils bis dreißig, wenn sie
sprach und verließ sie dann, ohne ein W(m1 zu sprechen.
Im Übrigen aber war Waffenstillstand in seiner Stimmang
und er schwelgte in der Oewißheit, daß, wenn er jetzt ein Ende
machen wolle, er nicht »hinsterben werde, wie ein Rix, keine
Spur nachlassend von seiner lebendigen Wirkung«.
Einmal, als er in solch ungehemmter Zuversicht aedis
Stunden durch die Wälder gezogen war und eben am Rande des
Gehölzes stand, von wo aus er die Stadt, tief zu seinen Füßen
sich baden sah in der langsam zerfließenden Abendsonne — dt
schaute er in einer ungeheuren Vision sein ganzes junges Dasein,
wie es verflossen war, von der ersten bewußten Stunde bis heule.
Und in die ganze dunkle Waghalsigkeit und Fragwürdigkeit dieaa
Menschenlebens schien ihm mit einem i\Aale Licht und Wärme zu
kommen, Versöhnung und Gläubigkeit. Er vermochte sich dis
Gefühl nicht zu deuten,, aber es überfiel ihn mit einer ganz na-
widerstehlichen Macht. Er streckte die Arme aus und murmelte
unter Tränen: »Tod, Tod, wo ist dein Stachel!«
Er konnte sich dieser Tränen nicht erwehren: denn a
flössen aus der innerlichsten, verzweifelten Empörung seiner See
die er nun schon so Unge und so sehr mit Leid überhäuft hat
daß sie darunter ersticken mußte. Sic erstickte unter jener hart
y Google
!SeS!SESSSZ*!
gniiiMincn, unfirtritillcben Selbstkritik» die — ohne ihn früher zum
MAOflc sni machen ** doch tlles Juj!:endlicfae in ihm begrub; —
imter der, im Vergleich zu fidnen Jahren, unnatörllchen Oröße
der fibernommenen Aufgabe . . ., unter der tiefen Feindschaft, die
er zuerst zwischen sich und seine Familie, dann zwischen sich und
die ganze Welt gelegt hatte . . . und endlich unter der ganzen
Zusammensetzung seines Charaktets, dieser erschrecklichen Mischung
aus Stolz und Armut, Herrschsucht und Askese, die sein ver-
feinerter Geschmack als unedel empfand und die er mit Oewalt-
mittein veredeln wollte.
All dies mußte einmal zu einer Exploaion führen.
Ach, und es war ein Wunder, daß er nicht schon unter-
lagen war, daß ihn sein Wille zur Höhe mit einer rührenden
Zähigkeit so lang in einem Kampfe aufrecht erhalten hatte, dessen
wesentliches Ziel doch ihm selbst noch verborgen war!
Möchten es erlösende Tränen sein, die er jetzt weinte! Denn
auch so erhob sich vor seiner Seele noch immer die große letzte
und entscheidende Frage, ob sie ihn zum Leben oder zum Tode
erlösten . . .
Als er an diesem heiligen Tage in seine Behausung zurück-
kam, fand er auf seinem Tisch einen Brief vor, der von einer
feinen dünnen Feder, aber mit sehr großen, selbstbewußten Buch-
itaben geschrieben war, und der lautete wie folgt:
Sehr geehrter Herr!
Wie Sie vielleicht wissen, wohnen in diesem Hause lauter
alte Damen und nur zwei männliche Wesen, nämlich Sie und
ich. Wenn Sie's noch nicht wissen sollten ^ ich wohne ein
Stockwerk über Ihnen.
Nun haben Sie gestern den Hausflur mit einer rauchenden
Zigarette betreten. Dies ist natürlich Ihr gutes Recht. Ich aber
kann den Tabakrauch nicht vertragen, so wenig, daß ich davon
krank werde. Auch habe ich in diesem Haus nur Logis
genommen, weil ich unter den alten Damen keine Raucher
vermutete.
Ich bitte Sie, mich nicht mißzuverstehen, wenn ich Sie
höflich bitte, während der paar Sekunden, die Sie brauchen,
um den Hausflur zu durchschreiten, das Rauchen gütigst zu
ttuterUnsen.
y Google
— 10 —
Sollten Sie diese kleine Bitte nicht gewähren können,
müßte ich hier ausziehen;. dies wäre einerseits sehr unbequem
und andererseits ist es sehr fraglich, ob es in dieser Sfaidt noch
ein Nichtraucherhaus gibt.
Zwar könnte ich mich in mein väterliches Schloß zurfi^-
ziehen; aber mein frfiherer Kammerdiener, der dort lebt, ist
ebenfalls Raucher; ihn, der seit vierzig Jahren im Hause dient,
zu entlassen, brächte ich aber nicht übers Herz. Ihm seinen
Knaster zu verbieten, ebensowenig. Ich riskiere lieber, mit meiner
Bitte lächerlich vor Ihnen zu erscheinen.
In Hochachtung
Theodor Freiherr von Rudlüng.
Vielleicht machen Sie mir im Laufe des morgigen Vor-
mittags einen kleinen Besuch, damit Sie den Menschen kennen
lernen, der so unbescheiden ist, Sie mit diesem Brief zu be-
lästigen. —
Karl Asenkofer lächelte und war ohne Weiteres einverstanden
mit dem Vorschlag des Herrn von Rudlfmg. Auch den Besach
wollte er ihm machen ; es war ihm jetzt ganz angenehm, durch
eine neue Bekanntschaft etwas zerstreut zu werden, namentlich weil
er Nachrichten von Baron Dossenheim voller Ungeduld erwaitete.
In dessen Haus hatte er ja schon vor acht Tagen sein Buch abgegeben.
Er klopfte also kurz vor Mittag an der Türe im erstes
Stock. Eine zusammengeschrumpfte alte Frau öffnete ihm, sichtlich
bemüht, jedes Geräusch dabei zu vermeiden, nahm ihm in voll-
kommener Schweigsamkeit Hut und Mantel ab und machte ihm,
wiederum geräuschlos, die Tür zu einem Empfangszimmer auf.
»Einen Augenblick!« flüsterte sie und verschwand.
Karl Asenkofer sah sich mit einiger Befangenheit im Hmxaer
um. Es war sehr geräumig und enthielt wenig Möbel; diese waren
in einem ungemein ernsten empireartigen Stile gehalten. Plötzlidi
zuckte Karl Asenkofer erschreckt zusammen. Er glaubte, eine
Vision der HäBlichkeit zu haben. Er strich sich über die Augen,
wie um den Eindruck wegzuwischen, sah scharf hin und entdeckte
zu seinem , Abscheu, daß dort, am Kamin, zwei gräßliche 0^
schöpfe, ein Hund und ein Mensch, eng zusammengekauert und
bewegungslos am Boden hockten.
Der Hund war ein grauschwarzer, struppiger und ganz ud-
möglicher Bastard, eine Mischung aus allen Rassen, mit nnsagbar
y Google
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kldnoi verrunzelten Angen. Er klappte das Manl an! und zu, ala
ob er bellen wollte; offenbar war er stumm. Indessen sah das Tier
im Vergleich zu dem Monstrum, das neben ihm kauerte, noch
menschlich aus. Ein gelbbrauner Kropf hing diesem, in der Form
einer gewaltigen Birne, tief auf die Brust herab. Sein Gesicht«
überhaupt seine ganze Haut, schien aus Leder zu sein. Die Haare
gingen fast auf die Nase herunter, er zog an ihnen mit unge-
heuren, tiptschen Händen. Er grinste Karl Asenkofer mit ekel*
erregender Freundlichkeit an und stieß dumpfe Laute aus.
Der also Überraschte wandte sich eben wieder zum Gehen,
um diesem Anblick zu entkommen. Da trat Herr von Rudifing ein.
»Ach, entschuldigen Sie!«, rief er, als er der zwei Geschöpfe
am Kamin gewahr wurde. »Entschuldigen Sie vielmals, ich wußte
nicht, daß sie sich gerade hierher verkrochen haben. Entschuldigen
Siel« Und er winkte dem seltsamen Paar, das mühselig, Hund
und Mensch auf allen Vieren zur TOr hinauskroch.
Karl Asenkofer war noch immer sprachlos. Er betrachtete
den Menschen, der vor ihm stand. Man konnte ihn für sechzehn
und dann wieder für vierzig halten. Schlank und groß, aber sehr
zart gebaut. Sein Gesicht war außerordentlich schön, jedoch fast
blutleer. Beinahe weißblonde Haare, tiefliegende leidende Augen,
eine typisch-aristokratische Nase und ein fein geschwungener
Mund mit ungemein dünnen Lippen. So sah Herr von Rudifing
aus. Er reichte Karl Asenkofer die Hand, eine Unge schmale
Hand, und entschuldigte sich wiederholt
Endlich fand Karl Asenkofer die Sprache wieder und ent-
schuldigte sich nun seinerseits, daß er vor den sichtlich harm-
losen Geschöpfen so viel Schrecken gezeigt habe. Der Herr von
Rudifing bat ihn, sich zu setzen. Er selbst ließ sich in einem der
hoben Stühle nieder, schlug die Füße übereinander, neigte den
Kopf etwas vor und wollte eben etwas sagen. Da platzte Karl
Asenkofer — der ihn nicht aus den Augen verlor und fand, daß
jede seiner Bew^;ungen wie gemeißelt aussah — mit der Frage
heraus: »Wie alt sind Sie eigentlich, Herr von Rudifing?«
Jener lächelte gewissermaßen verzeihend: »Ich bin ungefähr
zwölfhundert Jahre alt«, sagte er, »geboren wurde ich allerdings
vor sechzehn Jahren. Ich bin der letzte Nachkomme derer von
Rudifing. Der erste bekannte Rudifinger war mit Karl dem
Großen verwandt.«
y Google
12 —
Karl Asenkofer bereute seine Frage. »Wie kommen Sie
eigenüicfa zu so merkwürdigen Haustieren?« forschte er.
»Der Kretin mit dem Kropf ist wahrscheinlich mdn Stief-
bruder. Wenigstens hat die Magd, die ihn geboren hat, meinen
Vater als Erzeuger angegeben. Verifizieren* ließ es sich nicht Die
Magd ist auch blöd, und mein Vater war drei Monate vor der
Geburt gestorben. Der Hund ist ins Schloß zugeUiufen und hat
sich sofort mit dem Kretin befreundet Als ich von zu Hanse
wegzog» rannten sie mir nach. Ich hatte nicht das Herz, sie
davonzujagen.«
»Entschuldigen Sie!« stotterte Karl Asenkofer verwirrt »idi
konnte nicht wissen . . .«
»Aber natürlich; nein — . Sie studieren wohl hier?«
»Ja. Darf ich fragen, was Sie treiben, Herr von Rudifing.«
»Ich warte. Seit einigen Jahren warte ich, eigentlich schon
mein ganzes Leben. Vielleicht könnte ich Offizier werden ^ aher
ich rauche nicht und triöke nicht. Man würde wohl tudi
schwitzen. Ich kann aber den Schweiß nicht leiden. Es ist on-
rdnlich. Also warte ich einfach.«
»Haben Sie zu gar nichts Neigung?«
»Ich habe alles in mir, von Geburt aus. Und zu erwvbeo
habe ich auch nichts. Ich bin reich genug ... So oder so, idi
sehe, daß alle Neigung der anderen nach Dingen geht, die id
schon habe. Was soll man tun!« Er sah traurig in die Ecke.
»Aber Sie könnten doch Politik treiben, Sie köonten
Diplomat werden!«
»Wozu! Meine Väter konnten das noch machen. Ahcr
heute ist ja alles anders. geworden; es handelt sich jetzt nur mehr
um Industrie und Kolonialwaren. Ich verstehe und mag das
nicht . . . Vielleicht wäre ich Arzt geworden oder Krankenpfleger.
Aber die meisten Kranken sind doch unreinlich. Da laufe ick
davon.«
»Aber wenn Sie gerne helfen, können Sie doch zn den
Armen gehen, Liebeswerke tun!«
»|a, ich helfe gern. Aber gerade das ist mein größtes Ui
glück. Schon so manchem wollte ich helfen. Aber die meiste
Armen riechen Ja aus dem Mund. Da werfe ich dann sdinell ei
Almosen hin und drücke mich. Ich kann also nicht einmal Woli
t&ter von Beruf werden.«
y Google
— 18
»Was für ein Leben!« murmelte Karl Asenkofer traurig,
»Was f&r ein hartes Leben ! — «
»Ja, gar kein Ziel. Ich muß einfach warten. Ich warte schon
seit einigen Jahren.«
»Was für ein Leben! Und immer sollen Sie mit diesen
beiden . . pardon, mit Ihrem Herrn Stiefbruder und seinem Hund
zusammenleben !«
»Nun ja, nun ja . . . beide sind übrigens reinlich, der
KreKn und der Hund. Die Magd war nicht reinlich. Der Kretin
wird also seine Tugend von unserem Vater haben.«
»Wenn Sie gar kein Ziel haben«, fuhr es Karl Asenkofer her-
aus, »gar kein Ziel und nur immer warten . . . worauf warten Sie
denn, um Ootteswillen, worauf . . .«
»Auf das Ende . . .« antwortete der junge Baron mit einem
schmerzlichen Lächeln.
»Welches Schicksal ! • . Welche Bosheit des Schicksals! . .<
Und Karl Asenkofer dachte, daß die Existenz jenes Menschen
wahrhaftig der gemeinste Witz sei, den sich die Vorsehung
erlaubt habe. Es herrschte Stillschweigen zwischen den zwei jungen
Menschen. Der junge Baron faßte sich zuerst und begann von den
und jenen Kleinigkeiten zu sprechen. Aber Karl Asenkofer war in
tiefste Betrübnis gesunken und setzte ihm Schweigen entgegen.
»Sie sind ja noch unglücklicher als ich?« begann er endlich.
Jener warf mit einem Male stolz den Kopf zurück und be-
trachtete Karl Asenkofer von oben herab — als ob In seiner Frage
eine Frechheit liege.
»Verzeihung!«, rief er halblaut, »in Dingen des Unglücks
hält niemand mit mir den Vergleich aus. Mein Unglück baut sich auf
dner Tradition von zwölfhundert Jahren auf . . Ich bin das kul-
tivierteste Unglück, das es gegenwärtig auf Erden gibt! . .«
Karl Asenkofer war so in Mitleid befangen, daß er diese
Abweisung vollkommen überhörte.
»Auch ich habe kein Ziel« — fuhr er fort.
»— Oh !« rief Baron Rudifing, »das ist doch stark. Sie können
sidi wirklich nicht mit mir vergleichen! Hören Sie, Sie haben
noch kein Ziel, Herr Asenkofer, ich habe aber kein Ziel mehr.
Veretehen Sie den Unterschied nicht ?«
Karl Asenkofer schwieg verdutzt auf diesen heftigen Aus-
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14
brach des Baron Rudifing. Langsam überlegte er, wie diese letztes
Worte gemeint waren.
»Ihr Ziel !« fuhr der Baron fort, »Ihr Ziel, das ist sehr ein-
fach. Ihr Ziel muü sein, die zwölf Jahrhunderte Kultur emzuholen,
die ich vor Ihnen voraus habe. Sie haben eher zu viel Ziele als zu
wenig . . .«
Alimählich begriff ihn Karl Asenkofer und errötete ober
und über. Am liebsten wäre er sofort weggegangen. Dieser Mensch
war junger als er; wie kam er dazu, ihm Lehren zu geben.
Als ob der Baron seinen Gedanken erraten hätte,
begann er jetzt, ruhigeren Tones, Karl Asenkofer zu beschwichtigen :
»Ich bin Ihnen dankbar, daß Sie meinetwegen nicht mehr im
Hausflur rauchen wollen. Und Sie brauchen sich nicht zu schämen,
ich bin doch um so viel älter als Sie! Seien Sie nicht beleidigt !
. . . ich habe ja nur den Trost, daß mein Unglück aus der
Tradition, aus der übergroßen Verfeinerang meines Oescfalechtes
fließt . . . Nein, verzeihen Sie mir, Ihre Jugend ist doch etvas^
was Sie vor mir voraushaben ... Sie brauchen noch nicht zu sterben,
Sie sind noch so jung, so jung . . .<
Karl Asenkofer hatte ihm schon längst verziehen. Das Ab-
sonderliche des Erlebnisses hatte ihn aber in Verwirrung geworfen.
Er schüttelte traurig den Kopf. Sie schwiegen eine lange Weile.
»Herr, erbarme dich unser !« schluchzte der Baron von Rndl-
fing. Der Hund scharrte heulend an der Tür und der Kretin
stieß dumpfe Laute aus.
Karl Asenkofer schüttelte traurig den Kopf und vcrliefi
das Gemach.
Andern Tags stürzte seine Hauswirtin ins Zimmer: »Wissen's
schon, Herr Dokter, der spinnerte Baron im ersten Stock hat sich
vergift', mit samt sein Hund und sein Kropfeten!«
Karl Asenkofer, der am ganzen Leibe zitterte, wies sie
schnell hinaus.
Dann aber sank er in die Knie und verhüllte sein Gesteht
mit den Händen: »Was soll man tun, rang es sich aus ihm, waa soll
man tun? . . .<
». . . wenn es sogar für die Güte, für die Zudit des
Menschen, wenn es auch für seinen Adel eine bestii^te Grenze
y Google
15
gibt, die nicht überachritlcn werden darf — wie das Leben und der
Tod dieses Menschen zeigt . . . was soll man tun ... er besaß
doch alles. Vergangenheit. Tradition. Kultur und Reichtum . . ja,
-was soll man tun ! . .<
Und in diesem Augenblicke überfiel ihn, gleichsam mit der
^ucht eines epileptischen Anfalls, die tiefste und letzte Einsicht
— seine Seele selbst begann durch ihn zu sprechen (halb klang es
wie ein Fluch, halb wie ein Gebet):
»Gebt mir, oh Götter — schrie seine Seele — gebt einen
Menschen, einen Zwang, eine Idee, gebt ein Evangelium und
Credo, woran ich glauben kanni . .
. . . Nehmt mir den Intellekt, o Götter, schlagt mich mit
Blindheit, werft mich in ein Gefängnis des Geistes und laßt mich
an etwas glauben! . .
. . . Die Freiheit hat mich krank gemacht ~- nehmt sie, o
Oötter — denn ich sterbe sonst vor Freiheit! «
In dieser Stunde entschied sich, innerlich wenigstens, das
Schicksal Karl Asenkofers.
Der Sexttalkorrespondent.
Nun wird Herr Harden bald Ruhe von mir haben.
Wenn es ihm nämlich ernst damit ist, die Kulturf'eder
hinzuwerfen und politischer Agitator zu werden (den
Voitragsabend zu 8000 Mark). Ich überlasse ihn den
Fachleuten; wenn ein schlechter Schriftsteller sich
entschliefit, Mechaniker zu werden, hat er von mir
nichts tu fürchten. Zum Rohstoff der Politik soll
man diesem Talent und diesem Charakter den Zu-
tritt nicht wehren. Ihn literarisch zu gestalten, dazu
faats auf die Dauer nicht gereicht. Der tiefgefühlte
Mangel an Persönlichkeit schuf den Zustand einer
geistigen Feuersnot. Die Ochsen rennen aus dem Stall
in den Bra«d, der Publizist rannte aus dem Stoff in die
200
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— 16 —
Bildung. Man hielt sich vor dem Qualm die Nase zu»
Einer hat fünfzehn Jahre von dem Vorurteil gelebt»
dafi ein größeres literarisches Temperament dasu ge-
höre, einen König anzugreifen, als einen Kärrner.
Das Gegenteil ist der Fall. Schliefilich trat der geistige
Bankerott ein. Aber auf der Tribüne kommt nicht
nur die äußere Gröfie des Themas wieder zu Ehren,
sondern verhilft auch der Mut, einen König anzo-
greifen, dessen Beleidigung auf Monate hinaus von
einem Kanzler freigegeben ist, zu Ehre und Gewinn.
Nur dort, wo Herr Harden auf seine literarische
Leistung, also auf seine Tätigkeit in den Fällen Moltke,
Eulenburg, Hohenau, Lynar u. s. w. zurückgreift»
wird er sich noch ein wenig Kontrolle gefallen
lassen müssen. Und zu seinem unglücklichen Ver-
gleich, der angeblichen französischen Ausgabe des
,Simplicissimus^ mit der Handlung eines Menschen,
der »eine schmähliche oder lächerliche Familien-
geschichte in die Zeitung bringtc, habe ich noch
etwas nachzutragen. Herr Harden würde sich natür-
lich dagegen yerwahrejn, dafi er sich selbst mit
diesem Vergleich habe treffen wollen. Und mit Recht.
Er wehrt jedes Kompliment für seinen Eifer in der
Eulenburg^Sache mit dem Einwand ab, er habe sich
im Beweise der Sexualhandlungen des deutschen
Adels nur »von Schritt zu Schritt drängen lassen«.
Er habe sich — auch diesmal versichert er es wieder
— gegen sein persönliches Interesse bemüht, »jede«
laute Ärgernis zu meiden, c Nur den Gebrauch, »den
die Stunde gebieterisch fordertec, habe er von dem
Beweismaterial gemacht, das er, »wie jetzt ja aucb
dem Zweifler erwiesen istc, längst hatte. Der Märtyrer
liefi sich sogar, man denke, »ruhig nachsagen, er habe
kein MateriaU. Wohl das Schimpflichste, was ihm iiu*
sein Gefühl nachgesagt werden konnte. Nein, fem sei e»
von uns, ihm den Wissensschatz zu bestreiten, aus dem
er sein Köstlichstes bestritten hat I Und dafi er persönlidi
von ihm nur den sparsamsten Gebrauch gemacht btt,
dafi er wirklich bemüht war, jedes laute Ärgernis zumei-
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den, ich weift es heute besser denn je. Denn vor mir
liegt ein blauer Zettel. Ein Exemplar jener »Neuen
Gesellschaftlichen KorreFpondenzc, aus der die
Journale in den Eulenburg-Tagen ihre Informationen
geschöpft haben und aus der sie noch heute alle
die peffid beruhigenden Nachrichten über das Be-
finden des angeklagten Fürsten nehmen. Aber wie
wenig haben sie genommen und wie viel wäre zu
haben gewesen I Sie wollten schmähliche oder lächer-
liche Familiengeschichten vielleicht doch nicht' all-
zu breit treten, auf die Gefahr hin, Herrn Harden
EU kränken, der sie — als Stilsachverständi^er beeide
ichs vor jedem Forum — persönlich stilisiert hatte.
So zimperlich wie jene war nun Herr Harden nicht;
er hat manche seiner Sätze wieder an sich genom-
men, sie fast wörtlich in seine eigenen Publikationen
eingereiht, und so bedürfte es vielleicht nicht einmal
meines Gutachtens, um seine Urheberschaft zu beweisen.
Hier eine interessante Probe. Herrn Hardens Art ver»
leugnet sich in der schlichten Nutzarbeit, die er für
die Sexualkorrespondenz leistet, durchaus nicht; nur
trägt er nachher in der ,Zukunft' etwas pastoser auf.
Nene Oesellschaftliche Korrespon-
denz
(Spezial-Nachrichtendienst.
Preis 3 Mark.
Berlin, 10. Juli 1908.)
Was Ist bisher erwiesen? . . .
Den stiidtlschen Hausmeister Franz
Dandl, der früher herrschaftiicher
Diener war, hat Eulenburg um
die Waden gefaßt, später ihm den
Arm um die Schultern gelegt und
ihn wegen seiner schlanken Schön-
heit gelobt Den Matrosen (jetzt
Bergmann) Trost hat Eulenburg
als Gast des Kaisers auf der »Ho-
henzoUern« im Jahre 1898 in eins
der Qesprflche zu ziehen versucht,
mit denen Homosexuelle ihre An-
,Zukunft'
(25. Juli, 1. August 1908)
. . . Bewiesen, daiS der Angeklagte
den Diener Franz Dandl an die Waden
gefaßt, ihm später den Arm um
die Schulter gelegt und seine
schlanke Schönheit gepriesen hat
Als Gast des Kaisers auf der
»Hohenzollem« im Sommer 1898
den Matrosen Trost in eins der
Gespräche zu ziehen versuchte, mit
denen Homosexuelle ihre Anbän-
delungen einzuleiten pflegen, und
sich dem jungen Mann mit einer
Frage näherte, deren unflätiger
WorUaut die öffenüiche Wiedergabe
nach unserem Strafgesetz unmög-
lich macht .... Festgestellt ist
ferner, daß FQrst Eulenburg drei-
mal versucht hat, Jakob Ernst
zum Meineid zu verleiten: durch
y Google
18
nlheningen zu beginnen pflegen,
and Itt dann mit einer Frage an
Ihn herangetreten, deren Unflltig-
keit die Wiedergabe vor gesitteten
Menschen unmöglich macht ....
Festgestellt ist femer, daß Fürst
Eulenburg selbst (durch einen
Brief) und indirelct durch Vermitt-
lung seines früheren Sekretärs
Kistler, der sein Günstling geblie-
ben und Hofrat geworden ist, ver-
sucht hat, den Fischer Ernst zum
Meineid zu verleiten. —
(Eulenburgs Wahrhaftig-
keit.) ... Auf der »Hohenzollem«
will er, bei der zotigen Annäherung an
Trost, morgens um 10 Uhr an-
getrunken gewesen sein und ver-
suchte das mit der Behauptung zu
rechtfertigen: »Auf Befehl Seiner
Majestät gab es dort schon bei
der Morgenmahlzeit starke Ge-
tränke«. Oberhof marschall und
Hausminister Graf August Eulen-
buig hat dann unter seüiem Eid
ausgesagt, morgens werde auf der
»HohenzoUern« nur Thee und
Kaffee gereicht und es sei »abso-
lut ausgeschlossen«, dafi morgens
um 10 Uhr einer der Herren des
Kaiserlichen Gefolges angetrunken
sein könne . . . Den Dandl will er an
die Wade gefaßt haben, weil er
»übel rieche«; doch ist festgestellt,
dafi er den Diener oft angefaßt,
einmal beinahe umarmt und zärt-
lich angeredet hat, von üblem
Gerüche also nicht belästigt gewe-
sen sein kann ....
einen Brief, den der Untefsodraiif»-
richter In Starabeig fand; dwdi
einen zweiten Brief, den Holm
Kistler dem Fischer bringen mofile,
aber nicht zurücklassen durfle;
und durch eine Botschaft, die der
von Philis Gnaden mit rvGU
Orden geschmückte Hofrat inf
seiner Lippe ins Fischer-
haus trug. ~
... Als er den Diener Dandl am
Bein faßte, trieb ihn nldit etwa
sinnliches Wohlgefallen, sonden
der Wunsch, den schlecht rledicii-
den Mann wegzuschieben; als er
ihm später den Arm um die Scfank
tem legte und Dandls scfatecc
Wuchs rühmte, war der Qerad)
wohl verflogen. Auf der »Hohen-
zollem« will er, bei der zottgen
Annäherung an den Matrosen
Trost, morgens um 10 Uhr be-
zecht gewesen sein. »Auf Befehl
Seiner Majestät gab es schon mor-
gens an Bord eine kräftige Mahl-
zeit mit starken Getränken; da
mein Magen mir Mäßigung te
Essen gebot, hielt ich mich manch-
mal an die Getränke.« Obefbof-
marschall Graf August Eulenbmg
beschwört, dafi es morgens zwar,
wie auf alten Schiffen, Fleisch
und Fisch, an Getränken aber na
Tee und ]<affee gebe, nnd erldirt
es für »absolut ausgeschlossen».
dafi ein vom Kaiser eingeladener
Herr der engsten Tafelrunde um
zehn Uhr früh nicht mehr nüchtcn
gewesen sein könne. Oenfigts?
Genügts? Wie man sieht, hat Herr Harden die Ober^
Setzung aus seiner Sprache diesmal selbst und schon eis
paar Wochen vorher besorgt. Immerhin vermag stdi
eine so markante sprachliche Individualität selbst dann
nicht völlig aufzugeben, wenn sie blofi die Tatsachen
serviert, auf die es. ihr ankommt. Worte wie »der
prächtige Starrkopf Dohnac (der Qrobian FQrst Dohna)
oder >die Lehmannkammerc (das Richterkoliegiam
y Google
> lÄ-
unter dem Vorsitz des Herrn Lehmann) sind ver-
räterisch. Vollends Sätze wie: »Er war sein Leben
lang immer krank, wenn es ihm an den Kragen su
gehen drohte. Nach dem Tauschprozefl, nach Dohnas
derb deutlichem Brfef, als Herr von Holstein ihn brief-
lich einen verächtlichen Menschen genannt hatte^
nach dem Berliner und dem Münchener Schöffen-
gerichtsprozefi : immer. Aber er gilt auch jetzt nun
einmal als krank; und hat schon erfahrenere Leute
eingewickelt, als Gerichtsärzte zu sein brauchen.«
Wenn das nicht schon einmal in der ^Zukunft' ge*
standen ist, so könnte es ganz so in der ,Zukunft^
stehen. Es ist der Ton des sachten Warners, es sind
die bedeutenden Wahrheiten des Herrn Harden, es
ist selbst seine Interpunktion. Er hat für die Welt, die
seine Feststellungen für Kulturarbeit hält, doppelt
fearbeitet. Nurdafi er nicht alles, was er für die Sexual-
orrespondenz schrieb und was bloß zur stillen Be-
lehrung der Tagespresse dienen sollte, in seine
Revue übernommen hat. Denn auf dem blauen Zettel
wird uns nicht nur keine Feststellung erspart, son-
dern es wird auch jede Möglichkeit einer neuen
Denunziation, die zu neuer Anklaf!:e führen könnte,
berücksichtigt. Der Hofrat Kistler in München
ist noch nicht verhaftet: »will man wieder war-
ten, bis die Bayern die Initiative ergreifen?« Die
Fürstin Eulenburg ist in einer Moabiter Weinstube
zwischen Anwälten gesehen worden: die Gefahr der
Zeugenbeeinflufiung liegt nahe. Der Fürst darf mit
seinen Angehörigen sprechen: »Caveant consulesi« Ein
Kapitel über Bulenburgs Freunde: Herr Harden teilt mit,
dafi der bekannteste — er nennt den Namen — nicht
nur ein Homosexueller, sondern sogar »nach Vieler
Behauptung ein Zwitter« war. Dessen Neffe habe sich
im seidenen Unterrock seiner Frau erhängt. Neue
Details über Homosexuelle, die man schon kennt,
neue Homosexuelle, von denen man noch nichts ge-
wußt hat. Darunter der Graf Qobineau, mit dem verkehrt
zu haben Herr Hardan für besonders kompromittierend
y Google
- SSO --
hält Zum Sohlu88e eine Mitteilung, von der die Zei-
tungen damals Gebrauch gemacht haben: »Denkea
Siecy sagte der Kaiser cum König von Schweden
über den Grafen W.» »unser Edgar ist auch solche!
Schwein ic, »Wir geben diese so sutreffende wie
drasUfiche Äufierung wiederc, bemerkt die Korres-
pondens des in allen Lebenslagen aufrechten Herrn
Harden, »weil sie beweist, dafl gesunde deutsche
Männer noch den Mut haben, dieses ekelhafte»
heute viel zu oft beschönigte Treiben der Männer-
jäger SU geifiehi«. Kein Zweifel, Herr Harden hatte
Material, die Korrespondenz beweist es. Keio
Zweifel, er hat lautes Ärgernis gemieden, demi
Korrespondenzen sind nur für den Gebrauch der
Presse und nicht des Publikums bestimmt. Aber
selbst wenn er alles ausgesprochen hätte, was ist»
stflnde sein Handeln noch immer über jenem, das
er dem ,Simplioissimus' zum Vorwurf macht, und
er hätte recht, sich gegen einen Vergleich zu wehren.
Denn wahrlich, er hat nicht die eigenen Famiiioi*
geheimnisse preisgegeben, sondern blofl die fremden I
Karl Kraus.
Glossen,
»Ein Nachmittagsschläfchen benötige ich nicht, wohl abs
Site ich durch einige Zeit ruhig im Sessel, wobei ich vcnneide,
die Beine hoch zu halten, weil dies nach einer Mahlzeit Kos-
gesttonen herbeiführen muß. Auch möchte ich noch bemerhes,
daß ich zu Mittag ausgiebig speise, abends aber nur sdir wcnv
zu mir nehme.« Wer hat den Mut zu solchem Subjekttvismis?
Wer darf so vor aller Öffentlichkeit über sein Innenleben Rechcs-
schaft geben? Natürlich ein Schauspieler. Wagt es in Wien da
Schriftsteller, von seiner geistigen Verdauung zu sprechen, so i
dem Lesepublikum übel. Aber wenn unsere Tagespresse sich eii
Feiertagsbauch anmästet, dann interessiert uns selbst die Fia,
wie lange ein Wiener Theaterdirektor schlafen muß, »um ga^
frisch zu sein«. Daß dieses Resultat bei manchen Wiener Pcrsöoli
keitcn tatsichlich erzielt wird, erfahren wir durdi die EiiqBete,
y Google
21
du Weihoidittreportar voAMtaltet hat Wenn Friede den Meascheii
avf Erden winkt, M die {ouraalistlache Höllenbrut loigelasMn.
Die beicannten Persönlichkeiten sitzen beim Frühstück, da rennt
ihnen einer die Tür mit den Fragen ein: »Wie lange sdiUtfen Sie?«
»Was ist fesch?« »Was halten Sie vom Theaterbesuch der Kinder?«
Uod mit jedem Jahr schwindet der Mut zum Hinauswurf. Der
Pdertagsbauch, der außer Annoncen auch die gesamte Kultur der
europäischen Gegenwart frißt, ist unersättlich. Daß sich ernste
deutsche Schriftsteller dazu prostituieren, einer Horde vcm Wiener
Sonntagskaffeehauslesem das geistige Futter zu liefern, und daß
die zartesten Klänge deutscher Lyrik mit Vorliebe in dem Geschrei
der entfessdten Leopoldstadt untergehen wollen, das ist nur du
Zeichen dieser Wdt, deren Ton der Kommis angibt. Aber er ver-
langt mehr. Er will nicht nur, daß die Dichter Seil tanzen, er
will auch, daß die Seiltänzer schreiben. Die Persönlichkeiten
sollen sich auch in Branchen versuchen, die ihnen fremd sind.
Der Bildungshunger der Masse ist unersättlich, und der Reporter
tut, was er kann. Die bekannten Männer sollen zu Weihnachten
nur ruhig erzählen, wie oft sie sich die Nägel putzen. Entziehe sich
keiner der Frage! Er kann der beste Bürgermeister sein: er wird
sdnen Rüffel bekommen, wenn er nicht in der Weihnachtsnummer
des Raubmörderblattes als Plauderer debütiert hat. Denn es ist un-
erläßlich, daß an den hohen Fdei tagen ein Theaterdirektor sich
darüber ausspreche, wie lange er schlafe, ein Bibelforscher darüber,
was fesch sei, und ein Feldzeugmeister darüber, ob man Kinder ins
Theater führen solle. Der Kommis muß das unbedingt wissen,
und der Journalist ist dazu da, seinen Wissensdrang zu stillen. . .
Nun werfe ich aber eine Bombe in die Gemütlichkeit, die auf
Jahrzehnte Verwirrung stiften wird. Ich mache das Publikum
darauf aufmerksam, daß an den authentischen Äußerungen der
bekannten Persönlichkeiten bloß deren Unterschriften glaubhaft sdn
könnten und vielleicht nicht dnmal in jedem Falle diese.
Manchmal setzt der Belästigte seine Unterschrift unter das
fertige Manuskript, das ihm der Reporter hinhält; gelesen hat
er es nicht immer, geschrieben fast nie. Das Publikum hat
nun dn einfaches Mittel, die Sache zu überprüfen. Wenn etwa
Männer wie Bernhard Baumeister und Dr. Karl Lueger mit
literarischen Arbeiten in der Wiener Presse vertreten sind und plötz-
Bch versichern, daß sie »an« etwas vergessen haben, dann kann das
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22
Publikum flberzeugt sein, daB die litenurisdien AiMten in der Re-
daktion entstanden sind. Das ist ein untrfiglicfaes Mittd. Ich
habe es in der letzten Zeit öfter und gerade gegenüber der
Wiener Weihnachtsliteratur angewendet Nur furchte ich, daß das
Publikum von der Presse so weit erzogen ist, selbst »daran
zu vergessen«.
*
Wenn mir eines die Unzufriedenheit mit dem österreichi-
schen Leben verleiden könnte, so ist es die Vorstellungi daß sie
auch dem Herrn Hofrat Burckhard Freude macht Und da muß
ich bekennen, daß ich noch immer lieber einem alten Veteranen,
der einen Säbel haben möchte, den Ernst kulturellen Strebens
glaube, als solch einem Revoluzzer, der alles, was in ihm an dnen
österreichischen Hofrat erinnerte, dem Fortschritt prdsgegeben hat
und nichts davon zurückbehielt, als die Pension. Daß er jetzt anf
der Bühne des Deutschen Volkstheaters sexualfrdheitliche Erkennt-
nisse propagiert und den Familien der Börse zeigt, wie die öster-
rrichischen Komtessen vorschriftswidrig gebären, ist ganz im Stii
jener intellektuellen Aufklärung, der ich aus tiefstem Herzen die
Reaktion in ihrer lebensfeindlichsten Gestalt vorziehe. Im Sozialen
wie im Sexuellen wird die Freiheit mit ihren Feinden fertig,
ohne der Gemeinheit als einer Schiedsrichterin zu bedürfen;
darum muß sie sich vor allem ihrer Freunde erwehren. Herr
Burckhard ist einer von jenen, die sie mit Nachdruck ablehnt Seine
Geschicklichkdt, Probleme so zu verflachen, daß sie schlieBlich der
Aufnahme in einen Volksbildungsverein würdig befunden werden,
ist umso bedenklicher, weil hier die arische Assimilationsfähigkeit
sich der Mittel bedient, über die sonst nur die angeborne Bdrieb-
samkdt veriügt, und weil sie dabei auf den Schein naiver Herz-
haftigkeit nicht verzichtet. Kein Typus des österrdchischen Odstes-
lebens könnte weniger angenehm sein. Juristen, die bloß dasOlfidc
ihrer Ledemheit kennen, mag solche Verve begeistern. Bureaa-
kraten mögen den Mann einen feschen Kerl nennen, Dirndeln mögen
ihn ernst nehmen. Sonst aber ist dn thaufrischer Hofrat Varielf
geschmack. Gegenüber dem Feuergeist von dnem Studenten, der
mit sdnem Spazierstock Rolläden strdft, ist ein Gewölbwäditer
eine ehrwürdige Figur. Ich denke, das Liebesleben unter den
Aristokraten zu enthüllen, ist Herrn Burckhard nicht Heixens-
bedürfnis; er kann auch Einldtungen zu Bucfahändierkatalogcn
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- 28 -
schreiben. Er kann flberhaupt viel mehrmals er ist Man lese feine
Revue des österreichischen Literaturlebens, und man wird sehen,
daB immer noch mehr mögUch ist, als man für möglich hfllt
Versteht sich, ich tat dem Manne unrecht, als ich kürzlich seine
Entschuldigung, er habe auch ihm persönlich antipathische
Autoren gewürdigt, auf mich bezog. Ich habe ihm durch
diese Deutung vielleicht bei seiner Presse geschadet, und nichts
liegt mir ferner, als einem gerade die Position zu untergraben,
die er vermöge seines Naturells verdient. Ich muß ausdrücklich
fesstellen, daß Herr Burckhard mir nicht die Schande angetan hat,
mich neben den von inm der Reihe nach aufgezählten österrei-
chischen Analphabeten auch nur zu nennen. Ich bedaure, daß mir
damals jener unvomehme Verdacht aus der Feder geflossen ist.
Pfui ! Aber damit Herr Burckhard hinter dieser ehrlichen Erklä-
rung nicht am Ende doch ein verhaltenes Gefühl des Qekränkt-
» seins vermute, beeile ich mich, zu beweisen, wie töricht mein
Verdacht war. Es gibt persönliche Antipathien, die dem gerech-
testen Menschen und selbst einem Hofrat beim Verwaltungs-
gerichtshof eine unbefangene literarische Würdigung unmöglich
machen. Ich hatte einfach vergessen, wie oft ich im Laufe der
Jahre Herrn Burckhard bei der Kunst zu schaden versucht habe.
Und jüngst fiel mir ein Blatt in die Hände, aus dem ich ersehe,
daß ich schon vor elf Jahren, im Januar 1898, unfreundlich über
Herrn Burckhards Theaterbefähigung dachte. In einer jener Chroniken,
die ich damals für die »Wage* schrieb, finde ich diese Stellen:
> . . . Wehmfltlg überblickt der Chronist noch einmal die sieben
magern Burgtheaterjahre, die wir soeben fiberstanden haben. Rein, wie Herr
Burckhard kam, geht er ein in den Staatsdienst, in ungetrübter thea>
traliscber Ahnungslosigkeit verlflfit er den Direktionssitz der ersten
deutschen BQhne und wird dem Arme der Justiz flberliefert, die ihn
aber nicht etwa ffir das, was er dem Burgtheaier angetan hat, strafen,
vielmehr liebevoll aufnehmen will, nachdem sie ihn sieben schwere
Jahre vermißt hat. Die Geschichte der Direktion Burckhard wäre als
pikante Beilage zum Amtskalender zu schreiben, in welchem ja auch
sonst gerne schnurrige Einfälle aller Art Aufnahme finden. Sieben Jahr-
gänge Ueß er denselben Fehler unverbessert ; »Max Burckhard — Direk-
tor des k. k. Hofburgtheaters« ; aber dieser Fehler war seltsamer Weise
kein Druckfehler, und nicht die Hof- nnd Staatsdruckerei traf das Ver-
schulden an dem Unsinn. Es ist die Geschichte einer Protektion.
Baron Bezecny ist seit etwa einem Jahrzehnt General-Intendant
der beiden Hofbflhnen, hat sich aber auch früher schon nie um Theater-
angelegenheiten gekümmert. Da er außerdem Gouverneur der Boden-
kreditanstalt ist, vereinigt Bezecny zwei gflnzlich disparate Funktionen
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24 -
in ftelfier fftnd, und da er sich unermfidlldi der Lettuig da Pte&x-
iflttitntec enthfit, kamt er afch ertt In sweitcr Linie der V«raaddiili-
gm^ der Hoftheiter widmen. Da staid denn eines Taget Herr von
Oautsch — er hegte schon damals heimliche Sympathien fflr die Czcdicn
— im Zwiegespräche mit Baron Bezecny. Unser Ministerpräsident hat
sich seit jeher so ausgiebiger Protektion erfreut, dafi er bereits in JnngeB
Jahren daran gehen konnte, selber tn protegieren. »Sie sach«n einea
tüchtigen jungen Menschen ?c si^e Herr von Oautsch. »Naa, Uelier
Bezecny, da habe ich einen Schützling, den Sie sehr gut werden ver-
wenden können.« Ach, Herr von Gautsch hatte sich das so scfa6n g^
dacht. Sein Herzenswunsch, den Ministerial-Vizeselcretär Max Burckbard
in der Hypothekarabteilung der - Bodenkreditanstalt untefgebradit za
sehen, sollte nimmer in Erffillung gehen. Burckbard kun zm Belecai
und wurde von ihm sogleich in ein künstlerisches Gespräch verwickelt.
Der Min isterlal- Vizesekretär, der sich die Auhiahmsprüfung viel rigo-
roser vorgestellt hatte, fand sich vor die Frage gestellt, ob er schon
einmal im Burgtheater gewesen sei, und ob er die Klassiker kene
AU er die sweite Frage bejahte^ erhob sich Bezecny und etklirte, m
sei aullgenommen, setzte ihm noch in Kürze seine Befugnisse annii-«
ander, schärfte ihm ein, keine Neuengagements selbständig abznschUeflca,
und sptach von Tradition, Regiekollegium, Novitäten u. dgl. Der Mini-
sterial^Vizesekretär kam nicht aus dem Staunen heraus, bedankte ddi
und erhielt am nächsten Tage den Kontrakt, der ihn an das B«f-
theater berief. Man weiß, wie sich Burckbard, der als Dh-ekttonssekictär
Proben einer so großen Unbeholfenheit lieferte, daß er bereits nach dra
Monaten zum definitiven Direktor des ersten Kunstinstitutes emamit
werden konnte, in die neuen Verhältnisse hinehigefunden hat. Nach etm
vier Jahren begegnete Gautsch dem Herrn von Bezecny und raadite Qua
bittere Vorwürfe. Dieser lehnte alle Verantwortung ab und beschakUgle
den Minister, sich nicht deutlich genug ausgedrückt zu haben, womf
wieder Oautsch ausrief: »Das soll einer ahnen, dafi Sie audi General-
intendant der Hoftheater sindl« ^- Aber schließlich waren beide dar-
über einig, daß die Sache noch glimpflich abgelaufen sei, der Intendant
versicherte, Burckbard habe ihn damals aus einer großen Verlegenheit
befreit, und der Minister mußte zugeben, daß sein Proteg^ gut unter-
gebracht sei, die Hauptsache bleibe ja doch, daß man ftl>erhanpt pro-
tegiert werde.
Der Fall stimmt aber auch zu ernsteren Betrachtungen. Es geht
nicht länger an, daß Herr von Bezecny in seiner Hand zwei SteJlniigea
vereinigt, weil dies zu fortwährenden Irrtümern führen muß. Wenn e
die ihm unterstehenden Theater mit Juristen bevölkert, wie viele Bühneo-
männer mögen unter seiner Leitung in der Allgemeinen österreichisdr-
Bodenkreditanstalt verschwunden sein? Zur Zeit, als Burdchard df
Direktionsstuhl bestieg, ist vielleicht ein dramaturgisches Talent erfh
Ranges in die Hypothekarabteilung befördert worden, und jedcnfal
hätte sich vor der Berufung des Ausländers Schienther ans B«
theater eine Revision in dem so naheliegenden Finanzinstitute empföhle
Herr Burckbard aber muß seinen Rücktritt als eine BMm
•mptinden Br hatte sich keinen Moment wohl gefühlt, so sehr er ü
y Google
_ 26 —
•tets bittnflbt «v. tin bcitercs Gesicht zu mju:h<n, AnfangUcli Mhtii
wir ihn es mit einet Nachahmong Laubes versuchen. Weil almlidi aoch
Laube anfangs geint haben soü, nimmt er mit Euer falsche RoUcn^
besetzungen vor und tut sich viel auf seine MiBgrüie zugute. Dann
bei^nt er den Qeist des alten Burgtheaters anzurempehi, und legt sich
eine Art zurecht, die durch die Abwechslung zwischen HoftfaeaterwArde
und Drahrertum verblüffen soll. Der alte Offenbach-Tric, der den Priester
der. Oöttm »nur aU'weil tanzen und singen und aU'weil fideU sein
lAfit, versagt seine Wiricung nicht, und Burckhard gewinnt sich durch
sein originelles Auftreten viele Freunde. Mit dem St6Ber möchte er
durch die Wand der Tradition rennen, und er glaubt, die Klassiker auf-
zufrischen, wenn er Sonnenthai ermahnt: >Sie, auf d' Wochen missens
den Kenig Lear spfil'n — da gibts keine Wurschteln 1«, wenn er Herrn
Robert bleutet: »Sie, lieber Robert, net auf'n Oedipus vergessen --
eh' scho' wissenl« oder Iphigenien- Wolter mitten im IHtfzenlied zuruft:
»Tun S' Ihna nix an!« Seinen Schmerz, daß gerade er ausersehen war,
die edelsten klassischen KunstschAtze zu hfiten, sucht er im Tarockspiri
zu betäuben, und aus Verzweiflung wird er schließlich Radfahrer. Weil
er doch immer bemOht ist, mit dem Theater einigermaßen Pfihlung sa
bekomm«!, ermuntert er viele Tarockpartner, sich der Bahne zu widmen,
und um den Nadiwuchs besorgt, gewinnt er zahlreiche Jüngere Rad-
fahrer für das Burgtheater, das mit einem Mal in eine Bicyderemise verwandelt
erscheint Auf Touren, die er endlich auch mit sportkundigen Kritikern
unternimmt, emplAngt er Anregung zur dichterischem Schaffen. Aus dem
Hofbeamten, der mit den Allüren der Ungeniertheit kokettiert, wird ein
freiheitiicher SchriftsteUer, der die Justiz geißelt; er läßt Stücke auf-
fahren, die mit »Halt's MaulU beginnen, und erhebt wuchtige Ankla-
fB« wider die herrschende Gesellschaft, die zumeist in die Worte
auftklingen: »Ihr könnt's mi alle gern haben I< Am Ende hat ihm sein
Liberalismus den Hals gekostet. Als er sich eben anschickte, ein ernster,
vorurteilsloser und denkender Mensch zu werden, ereilte ihn die Kunde,
er sei wieder &tm Staatsdienste zugeteilt.«
Als aber Herr Burckhard dann in Pension ging» hatte er fleh
anter anderm den vollen Bezug der Vorurteilslosigkeit gesichert.
Noch gibt es Kämpfe, in denen die Geister aufeinande^
platzen. Man lese nur:
Im Verlaufe der gestrigen Sitzung des Abgeordnetenhauses
ereignete sich folgender ZwischenfaU: Abgeordneter Pergelt hatte auf
einen Zwischenruf mit den Worten reagiert: »Wir sind auf die Juden
nicht angewiesen, wir schenken euch die Juden I« Hofr^ Kuranda, der
wahrend dieses Teiles der Rede nicht im Saale anwesend war, befand
sich spflter unter Jenen Abgeordneten, welche Dr. Pergelt am Schlüsse
seiner Rede beglückwünschten. Als Abgeordneter Kuraqda nachträglich
von dem erwähnten Ausspruche des Dr. Pergelt erfuhr, begab er sich
Is daat Büfett und stdlte dort den Abgeordneten Petgelt mit folgenden
Wortes wx Rede: »Ich habe dir gratuUextr in Unkenntnis der Worte,
y Google
- 26 —
die du fiber die Jaden gebraucht hast. Ich nehme selbstverständUd
diese Gratulation nicht nur zurück, sondern mufi dir Folgendes tagOL-
Wenn Herr v. Stransky die schärfsten Angriffe gegen die Juden ricbteL
so lassen sie mich ebenso gleichgiltig, als weim ein Mitglied einer
Partei, welche den Judenpunkt im Programm hat, die Juden als Mit-
streiter im nationalen Kampfe von sich weist; aber das hätte ich nidit
erwartet, daß in einem fast solennen Momente der Generalredner der
Deutschen und gerade der Deutschböhmen, ein Mitglied der Dentscheo
Fortschrittspartei und ein so; hochangesehener Mann wie du, in so weg-
werfender Weise die jahrzehntelange Mitstreiterschaft der dentsdi-
böhmischen Judenschaft verleugnet und auf ihre Mithilfe zu verziditen
erklärt, in einer Rede, welche mit dem Appell an alle nichttschechischen B(it-
glieder des Hauses geschlossen hat, die Deutschen in Böhmen in ihrem Kampfe
zu unterstfitzen. Wenn du die Namen auf den herabgerissenen Firmen-
tafeln in Königinhof und in Laibach liest, so Wirst du darauf fast keine
anderen Namen finden als jüdische. Herabgerissen wurden diese Tafefai
wegen des deutschen Bekenntnisses. Für das Deutschtum zu leiden ist
uns erlaubt, der Rechtsschutz, der für die Deutschen gefordert wird,
wird aber den für das Deutschtum leidenden Juden nicht gewährt. Idi
kann nur auf das tiefste bedauern, daß gerade du es warst, der diese
Worte gesprochen hat.« Dr. Pergelt erwiderte, es seien diese Worte in
der Erregung gefallen. Seine Äußerung habe keine beleidigende Absidd
gehabt. Man könne. ihn nicht einer antisemitischen Gesinnung beschuldigen
Ein ehrlicher Meinungswechsel zweier außerordentlicher
Köpfe. Der eine hält das Deutschtum in Österreich, der andere
außer diesem auch noch das Judentum in Österreich und das
Deutschtum der Juden in Österreich hoch. Wenn es nun schon
ein Kunststück ist, sich seit Jahren, wie Herr Pergelt tut, in der
anstrengenden Lage der Deutschen in Österreich zu erbalten, ohne
auf die Ministerbank zu fallen, so ist es noch viel anstrengender,
als jüdischer Hofrat im Eisenbahnministerium, wie Herr Kurandt
tut, für sein Deutschtum zu leiden und alß deutscher Mann
sein Herz auf dem gelben Heck zu haben. Zwei bedeutende
Männer. Der eine bewährt durch die ausdauernde Ruhe der deutsdh
böhmischen Weltanschauung, der andere eines der aufgeregtesten
Temperamente der E|30che. Es war ein fast solenner Moment, als der
Redner, dem vermutlich auch ein Stenograph ins Bfifett gefolgt
war, auf die zerbrochenen Firmentafeln Mosis hinwies und in
einem Tone sprach, als ob die saure Pflicht, für das Deutschfun
zu leiden, mit dem bekannten Vergnügen, auf dem Jüdischen
Friedhof l>egraben zu werden, überzahlt wäre. Herr Pdgdt ent-
schuldigte sich* und tat noch ein Übriges, indem er einem Inter-
viewer seine Entrüstung über »eine derartige, die deutschen Juden
in Böhmen verletzende Interpretation« bekundete Herr Kurandt
y Google
27
ging befriedigt und aufgeregt von dannen. Die Lage der
deutschen Juden in Österreich bat sich seit dantals gebessert Die
Leute, deren Qefrohnheit es ist, Finnentafeln ohne Unterschied
der Konfession berunterzureiBen, sehen ein, daB es noch * einen
höheren Beweis von Toleranz gibt: die Aussprache der Geister.
»Henkel hat, wenige Stunden, nachdem er den Mord verfibt, den
.Walzertraum' im Carltheater besucht! Dieser erst 22 jährige Raub-
mörder mu6 ganz besondere Nerven haben . . .«
Gewiß, ab^ wenn er den Mord nachher verübt bitte
könnte man dasselbe behaupten. Unter den vielen Icaltblütigen
Besuchern des »Walzertraums« muß schließlich und endlich ein*
mal auch ein Mördef vorkommen. Das spricht nur für die Zug-
kraft einer Operette, und man mag es feststellen, auf die Gefahr
hin, den Autoren der »Lustigen Witwe« damit nahezutreten, die
vielldcht schon manchen Raubmörder entzückt hat, aber leider
noch keinen, den man erwischt hat. Daß sich Diebe in Operetten*
Vorstellungen einschleichen, ist ja bekannt. Und selbst die erwischt
man erst, wenn die nächste Operette aufgeführt wird.
•<
»Was Henkel den Tag Aber gemacht, weifi man im Hotel nicht.
Er kam abermals gegen ^ Uhr nach Hause. Als Ihn der HoteUer
fragte, ob er .gedraht' habe, mußte er sich den Ausdruck erst er-
klären lassen und meinte dann: ,nur ein bißchen'.«
Daß solche Details aus der Biographie der Mörder fest-
gehalten werden, ist im vorliegenden Falle nicht unwichtig. Henkel ist
bei der Frage des Hoteliers offenbar erschrocken und hat gemeint,
fener wolle wissen, ob er gemordet habe. Wer »draht« - eines
der sympathischesten Worte der Wiener Menschheit -, schlägt
allerdings die Zeit tot oder reißt etwa noch der Welt eine Haxen
aus. Oder er haut alles z'samm. Aber zu weiteren Gewalttätig-
keiten kommt es nicht. Immerhin mußte die Frage einen nord-
deutschen Mörder in Verlegenheit bringen, und es wäre empfehlens-
wert, daß sich die Hoteliers im Interesse des Fremdenverkehrs
eine mehr internationale Ausdrucksweise angewöhnen. Übrigens
würde man fehlgehen, wenn man glaubte, daß ich mit dieser Be-
mängelung den Mord verteidigen will. Ich will nur sagen, daß ich die
Vergnügungen des Wiener Nachtlebens noch mehr verdamme.
Sie ftehen sicher auf einem geistig niedrigeren Niveau, sind
geräuschvoller und bereichem ihre Veranstalter auf eine w«it
y Google
— 48 —
Die Erde macht mobil, seitdem die Mensdien die »EnAx»-
itng der Luft« versuchen.
•
Es gewährt einige Beruhigung, dies Wfiien der Hat»
gegen die Zivilisation als einen zahmen Protest gegen die
Verheerungen aufzufassen, die diese in der Natur aogeriditet hit
Was hat sie aus den Weibern gemacht! Durch eine grandiose
Huldigung ließe sich die Natur versöhnen, durch ein Opferfof
des Wohltuns zum wohltätigen Zweck. Christliche Liebe vergfsm, .
christlich zu sein ! Heran die Samariterinnen ! Heran die Sa«i- .
riter! Alle, die heute bloß mit Unlust spenden, heran! Mankai
an einem Tage Volker ersetzen. Man kann an einem Tage Reidb»
tfimer sammeln und Städte auferbauen. Ein Tag zur Feier des LcboB
in der ganzen Welt, die eine Totenklage erfQUt!
Karl Kra«t.
Vita naova.
Von Oskar WUde.
Das Meer war stürmisch^ wo ich schweigend stmd»
bis mir der Schaum um Haar und Wangen hing.
So traurig pfiff der Wind — zu Ende ging
des Abends Atem mit purpurnem Brand.
Der laute Schrei der Möwen brach ins Land —
und dann mein Ruf: »Wie schal ist dieses Ding,
das yLeben^ heifit — in diesem engen Ring
voll Qual und Arbeit erntet keine Hand.« —
Noch einmal warfen meine müden Hände
zerrissne Netze aus von alten Küsten —
zum letzten Mal (war dies denn nicht ein Enc
trug meine tote Seele Hoffoungsschauer.
Als achl aus dumpfem Traum und dunkler Tr
aufstiei? ein Qlanz von siegreich weifien Brüsl
Obersetzt von Felix G.
Hcnniaeber and venmivortiiclier Redakteur: Karl Kravi.
Drvck von Jaboda 8c Siegel. Wien, III. Hinlcrc ZiOMmMt 2
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»•■«<»•>■ mttf <•■»•»■<>>■<>»»«<♦>■
IE FACKE
li<*rau8geber
lieint in zwangloser FoIe;« im Umfange von 16 — 32 Seit^
BEZUQSBEDINQUNOEN:
■terreioh-UDgaru, d<3 Nununoni, portufret . .
» Länder d, Weltpostv., 86 Nummeni, portofrei
Abonoemeot erstreckt ilch olcht auf einen Zeitraum,
ndern auf eine bestlrntnte Anzahl von Nummern.
;: Wien, III., Hintere ZoUaxutettraße Nr.
Verlag für DeutaohlaDd:
O m D H
MÜNCHEN, Frans Josef Straße 9.
Ittxelverkauf 30 Pf. Berlin NW 7, PHedrIcfaitraße IC
Buchhandlung M. Lillenfhal.
erschien
Otto jStoessl
JAS LETZTER NAM
München nnd Leipzig t>el QEORO MÜLLER.
Durch alle Buchhandlungen zu beziehen.
Inhalt der vorltren DoppeUNummer 267—68, 17. De-
^orftt. Von Okur W iKfp. — DtT Pairro;. V^n Kp.t\ _jJ
des. —
ebii
t Ai^sisa A>KifM» \^."m
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is Deutsche Briefqeselisc
Unternehinen für Zeitungsai
ERVER,
Ä : »-^' / k J s
*u*^ ^:-^- i..^.^wj
|<?i Veriftf« ,Of^ PACKeL« i
ÜBd Erledigung I Ein Nachrol
»Ppel-Nlällillier (Preis 60 Heller)
t72— 273.
Die Fackel
Herausgeber:
KARL KRAUS
INHALT:
iin
Kraii9. — Das Ebrenkrsiiz.
K^..
Kunst und Moral. Briefe
Oskar
- Oloflsen. Von KarlKraus.
Arad.
'' * Zuschrift.
EliRa
Sprüche
und Widersprüclie
T^vjjng ^ e.
V<.r'cil.
"v
c.i .;iing vorbcha; ^
i
IMNÄCHST
GELANGT ZUR AUSG.
ARL KRA
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ND WIDE
PRVECH E
Verla? ALBERT LANGEN M
Die Fackel
NR. 272-73 15. FEBRUAR 1909 ILJANR
MessiiUL
Als Stiefmutter Erde ihren Kindern dort unten
übel mitspielte, staunte man über nichts mehr
als darüber, daß die Natur mit den Verbrechern ge-
meinsame Sache gegen die Gesellschaft machte. Die
Nachricht, dafi die Verbrecher aus den Gefängnissen
ausgebrochen seien, schien unter jenen, die die Haare
der Menschheit sträuben machten, die stärkste.
Dafi die Gelder der Wohltätigkeit gestohlen, dafi
bis dahin unbescholtene Gauner verlockt wurden,
aus sich selbst auszubrechen, wirkte bei weitem
nicht so beunruhigend wie die Tatsache, dafi Ver-
brecher, die man schon so lange hatte, aus
denGefängnissen entkommen waren. Die Sträf-
linge Yon Messina waren die einxigen Men-
schen, von denen man verlangen konnte, dafi
sie genügend Besinnung und genügend Respekt
vor der staatlichen Autorität haben, um die
destruktiven Tendenxen der Natur nicht zu unter-
stützen. Die Enttäuschung, die sie den euro-
päischen Zeitungslesern bereitet haben, mag tief
sitzen. In allen ICulturzentren regt sich die Besorgnis,
dafi man im Falle eines Erdbebens gegen Eigentums-
delikte nicht geschützt sei. Daraus spricht jener
F^roismus, der bei der Wahl zwischen Leben und
I rse sich zum Verzicht auf das Leben entschlieflt.
I 3 Gesellschaft denkt das »fiat justitia, pereat mun-
i i€ mit äufierster Eonsequenz zu Ende und bis zu dem
1 msche, dafi die letzten Häuser, jene, die einem Erd-
t ^en getrotzt haben, die Geföngnisse sein mögen.
t id wenn dieser Wunsch nicht in Erfüllung gehen
8 *te, dann ist's eine schmackhafte Vorstellung, dafi
2 —
die Leiohoam« der Verbrecher Ketten tragen . . . So
führt eÄdbeben die Gedankenwelt der Brwwhsej»
Luf Sie denken an die Verbrecher Kinder denken «d«
Teufel und fürchten ihn nicht mehr. Die »röfte d« ü^
glückfl befreit sie von der An^st, dafl darüber hin«
Soch etwas geschehen könnte, Die Erwachsenen hjK«
sich die Tafchen zu. Bin Kind f'pde<; yor der Grök
der Vision Worte, wie sie ein Dichter »P'^c^J- »^J
Teufel« säet es. »hat ein Brdbeben angerichtet, dM
wa^ so Ä difi der Teufel selbst dabei .uRruude-
gegangen istl« Karl Kraus.
Das Bhrenkreiu.
In Österreich gibt es für junge MädchM, di«
sich dem Laster in die Arme werfen, eine JUin«
der Strafbarkeit. Man unterscheidet Madchen, w
sich der unbefugten Ausübung der Prostit«*»
schuldig machen, Mädchen, die f&IschUch Mg«*»!
dafi sie unter sittenpoliBeilicher Kontrolle stehen, m
schliefilich Mädchen, die »war «ur Ausübun«; «f
Prostitution, aber nicht »ur Tragung eine« Bhr»-
kreuzes befugt sind. Diese Einteilung wirkt auf a»
ersten Blick yerwirrend, aber sie entspricht durcM»
den tatsächlichen Verhältnissen. Ein M»dc*ien, a"
einem Detektiv bedenklich schien — nichts scheu»
in Wien einem Detektiv bedenklicher als ein MW-
chen — , gab an, sie stehe unter 8ittenpob««boW
KontroUe. Sie hatte sich einen Scher« erlaubt,«»
man ging der Sache nach. Da sich ihre Angabe •■
unrichtig herausstellte, wurde sie wegen »«»«»«'!*■
Ausübung der Prostitution in poli»eiliche UntersucbWI
gesogen. Da sich aber dieser Verdacht als ung
rechtfertigt erwies und sich also herausstellte, d»»"
Mädchen überhaupt nicht Prostitution treibe, so «^
hob die Staatsanwaltschaft die Anklage weg*
Falschmeldung. Das Mädchen hatte sich, wie es »
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üigitized by >
~ 3 ~
der Anklaere hieft, «gegenüber dem Detektir eine
soziale Stellung angemaSt, die ihr nicht zukäme. Sie
trieb weder erlaubte nooh unerlaubte Prostitution, sie
war also eine Schwindlerin, und nur weil sie bei der
Verhandlung auf die Frage des Richters, was sie
sich dabei gedacht habe, die Antwort gab: »Nichtsc,
entging sie der Verurteilung. Um also zu rekapitu-
lieren: Sie hatte behauptet, sie stehe unter sitten-
polizeilicher Kontrolle. Da das eine Unwahrheit
war, wurde sie unter dem Verdachte des unsittlichen
Lebenswandels in Untersuchung gezogen. Sie konnte
nun zwar beweisen, dafi sie nicht unsittlich genug sei,
um einen unsittlichen Lebenswandel zu führen, aber sie
konnte doch wieder nicht beweisen, dafl sie sittlich genug
sei, um unter sittenpolizeilicher Kontrolle zu stehen. So
Mieb nichts übrig, als sie wegen Falschmeldung anzuklä-
ffen, wegen deren jaschlieftlich auch die Mörder in Öster-
reich verurteilt werden, wenn man ihnen den Mord
nicht nachweisen kann. Jetzt gehen wir einen Schritt
weiter. Wenn ein Mädchen zur Ausübung der Prosti-
tution befugt ist, so könnte es Yorkommen, dafl sie es rer-
schweigt und schwindelhafter Weise vorgibt, sie sei
zur Ausübung der Prostitution nicht befugt. Sie
würde sich also einen unsittlichen Lebenswandel an-
maßen, den sie nicht deshalb führt, weil sie dazu be-
rechtigt ist, sondern den sie führt, wiewohl sie dazu
nicht berechtigt ist, während sie in Wahrheit blofi
berechtigt ist, einen unsittlichen Lebenswandel
1SU führen, den zu führen sie berechtigt ist. Solche
Fälle kommen in der Praxis selten vor, und die
Judikatur des Obersten Gerichtshofes ist schwankend.
Am schwierigsten ist aber der Fall, der sich kürzlich
in Wiener-Neustadt zugetragen hat. In einem dortigen
Freudenhause lebt ein Mädchen, das zur Ausübung der
Prostitution befugt ist und bisher noch keinen
Anstand gehabt hat. Sie hat sich nie einen unsitt-
lichen Lebenswandel angemaßt, den sie nicht führt,
und es ist ihr noch nicht einmal nachgewiesen
worden, daß sie f&lschlich angegeben hat, eine Pro-
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— 4
stitution nicht xu treiben, zu der sie befugt ist
Aber der Teufel reitet das bisher unbescholtene
Mädchen, und sie geht eines Abends im Salon mii
einem Militärjubiläumsehrenkreuz an der Brust heroBi.
»Dadurch erregte sie bei den Gästen c, ja ins
glaubt man, hat sie dadurch bei den Gasten erregt?
Nicht das, was man glaubt, sondern im Gegenteil:
Ärgernis. Und wenn ein Freudenmädchen bei des
Gästen eines Bordells Ärgernis erregt, dann ist «
wirklich höchste Zeit, dafl die Staatsanwaltschaft
einschreitet. Tatsächlich wurde das Mädchen wegeo
einer Erregung, zu der sie nicht befugt war, an*
geklagt. Der erste Richter sprach sie frei. Er sagte,
das Militärjubiläurosehrenkreuz sei kein Orden and
das Ärgernis sei bloß ein jsolches Ärgernis, das nm
der Polizei zu ahnden sei. Damit gab er freilich so.
dafi das Mädchen schuldig gewesen wäre, wenn sie
etwa den Takowa-Orden getragen hätte. Es liegt
zwar auf der Hand, dafl das unbefugte Tragen einee
Ordens immer nur einen Journalisten und kein
Freudenmädchen strafbar machen kann, aber in
Wiener-Neustadt scheint die Frauenbewegung berdts
derartige Fortschritte gemacht zu haben, dafi man doit
beide Geschlechter in gleichem Maße der Ordensstrebera
für fähig hält. Immerhin sagte der erste Richter, ein
Jubiläumskreuz sei kein Orden. Aber der Staatsanwalt
war anderer Ansicht, er berief und das Landei^moiit
verurteilte die Angeklagte zu zwanzig Kronen Geld-
strafe. Ein Jubiläumskreuz, sagte das Landesgeridit
sei als Ehrenseichen jedem Orden gleiohsusteDeo.
Als besonders erschwerend nahm der Qerichtdiof
»das Tragen des Kreuzes im Freudenhausec an. Ab
die Angeklagte gefragt wurde, was pie sich datei
gedacht habe, gab sie zur Antwort: »Nichtsc. Abei
diesmal nützte die Antwort nichts. Denn eher nocb
dürfte sich ein anständiges Mädchen die ProstitotioD
anmaflen als eine Prostituierte das Ehrenkrem-
Welche Entschuldigung hatte sie? Ein ZiTÜist, s^e
sie, habe es ihr geschenkt. Er war nobel und ga^
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— 6 —
ihr das Ehrenxeiohen als Sohandlohn. Aber dann hätte
sie es eben in den Strumpf stecken sollen. Das Tragen
eines Ehrenseiohens im Freudenhause steht nur
dessen Gästen zu, und wenn sie dadurch das Ärgernis
der Mädchen erregen sollten, so würden sich die
Mädchen einer strafbaren Handlung schuldig machen.
Qibt aber ein Gast einem Mädchen statt zwanzig
Kronen ein Ehrenkreuz, so darf sie das ^renkreuz
nicht tragen und muß die zwanzig Kronen dem Gericht
bezahlen« Denn die Justiz ist eine Hure,, die sich
nicht blitzen läflt und selbst von der Armut den
Schandlohn einhebt ^^^j ^^^^^
Kunst und Moral.
Briefe roa Oskar Wilde.
Vorbemerkttttg des Übersetzers: Im letzten Dritte! des
Jnni 1890 erschien Wildes >Dprian Qrayc in ,Ltppincott's Magazine';
noch in demselben Monat brachten zahlreiche angesehene Tages-
blitter und 2Mtschriften Besprechungen des Werkes, und in
seinem Briefe vom 13. August spricht Wilde bereits von zwei-
hunderlsechzehn Kritiken, die von seinem Schreibtisch in den
Papierkorb gewandert seien. Nur wenige dieser Beurteiler wagten
das Werk ohne starke Einschr&nkungen zu loben. Die übeigroik
Mehrzahl der Kritiker erhoben ihre Stimmen gegen den Autor in
allen Tonstärken von würdevoller MiBbilligung bis zum wütenden
Oeschrei. Seine künstlerische Erwiderung auf diese Kritiken mag
man in dem Vorwort zu der etwa ein Jahr spater erschienenen Buch-
ausgabe finden. Damak jedoch holte sich Wilde zwei der fti^ten
Sdireier, den der ,St James's Gazette' und den des »Daily Chronide',
heraus und erwies ihnen die Ehre, sie zu widerlegen«
»Ihr Kritiker», schreibt er der ,St James's Gazette**), »beginnt
*) Die Briefe an diese siod bereits in einer deutschen Zeitschrift
eftchknen. Alle anderen erscheinen hier zum erstenmale in deutscher
*'■**** üigit zed by GoOglC
— « —
damit, mich mit lächerlicher Heftigkeit anzugreifen, well die Haupt-
personen meiner Geschichte Oecken seien. Jawohl, sie sind Occkxsi.
Okubt er, daß die Literatur auf den Hund gekommen ht*), all
Thackeay [über das Oeckentum schrieb? Ich halte daffir, daB
Oecken vom künstlerischen ebenso wie vom psychologhcfaen Stand-
punkt höchst interessant sind. Sie scheinen mir für alle Fälle «cft
interessanter als Pedanten, und ich bin der Ansicht, daß LtMd
Henry WottSK ein vortreffliches Korrektiv für das hohle Ideil
bildet, das in den halbtheologischen Romanen unserer Zeit da^
gestellt wird, ~ Ihr Kritiker macht femer unl>estimnite tai
drohende Anspielungen auf meine Grammatik und meine Qel^r*
samkeit Was die Grammatik betrifft, so bin ich der Meinung; dafif
zum mindesten in der Prosa, die Korrektheit stets der kfinsUen-
sehen Wirkung und der musikalischen Kadenz untergeordnet
werden muß. Absonderlichkeiten des Syntax, die im ,Dorian Graf
etwa vorkommen mögen, sind daher wohl beabsichtigt und dieneo
nur zur Betätigung dieser künstlerischen Theorie.« Weiterhin : >Qir'
Kritiker, wenn ich ihm diesen ehrenvollen Titel zuerkennen darf
behauptet, daß die Menschen meiner Erz&hlung kein Vorbiki in
Leben haben, daß sie, um mich seiner starken, wenn auch ziemlidi
plumpen Ausdrucksweise zu bedienen, ,Schundliteratur und Dar-
steUungen des Nichtexistierenden' sind. Ganz richtig. Wenn sie
existierten, so wäre es nicht der Mühe wert, über sie zu scfaxeiben-
Die Aufgabe des Künstlers ist es, zu erfinden, und nidtt, za
registrieren. Es gibt keine solche Menschen. Wenn es deren gäb^
würde ich nicht über sie schreiben. Das Leben verdirbt durdi
seinen Realismus stets der Kunst ihren Gegenstand. Der faddste
Genuß des Dichters ist es, das Nichtexistierende zu gestmltcn«.
Und femer: »Es ist wohlgetan, der Tat Schrauken zu setaen. Ei
ist nicht wohlgelan, der Kunst Schranken zu setzen. Der Knist
gehören alle Dinge, die sind, und alle Dinge, die nicht sind, nod
selbst der Herausgeber einer Londoner Tageszeitung hat nicht r'-n
Recht, die Freiheit der Kunst in der Wahl ihres Gegenstandes i
beschränken«.
Noch einem dritten Blatte erwiderte Wilde: dem ;Sc i
Observer'. Dessen Kritik war allerdings, verglichen mitden andc ,
ziemlich maßvoll und durch Komplimente für den Autor gemildc ;
*) Anspteliiag auf den Doppelshin des Mar fOr »Qacfc«
bfÄuchten Worte« »puppy«, das auch »junger Hand« bedeutet.
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7 —
mber sie scheint Wilde besonders nahe gegangen zu sein, wohl
deshalb, weil der Herausgeber der von ihm sehr geschätzte Dichter
W. E Henley war. In diesem Blatte setzt sich Wilde auch mit
einigen jener Zuschriften aus dem Leserkreise auseinander, die die
englischen Blätter — eine gute und nachahmenswerte Sitte —
immer dann empfangen und abdrucken, wenn irgend eine Sache
die öffentliche Meinung stärker erregt Ich führe neben den Zunft-
kritiken auch diese La<enurteile hier an, zum besseren Verständnis
der Erwiderungen Wildes, und weil ich glaube, daB sie einen
interessanten Beitrag bilden zur Charakteristik des Engländers der
Intelligenzklassen, seiner gesunden Lebensanschauung, seines
prächtigen Humors und seiner Beschränktheit in gewisser Richtung.
t-ines darf billigerweise nicht unbetont bleiben: Wenn wir
Wildes Erwiderungen kennen, so danken wir dies der Ehrlichkeit
eben der 2>itungen, gegen die sie sich wendeten, und die sie un-
verkürzt abdruckten. Die ,St. ]ames's Qazette' hat zum Beispiel selbst
eine Stelle wie diese: >Zu sagen, daß ein Buch wie das meinige
Jns Feuer geworfen werden soUteS ist einßlltig. Das tut man mit
Zeitungen«, nicht unterdrückt. Es gibt Länder, wo das anders ge-
wesen wäre. — Und derselbe ,Daily Chronide', der ;den »Dorian
Oray« am brutalsten angriff, war si^ter das einzige Blatt, das dem
aus dem Gefängnis entlassenen, geächteten Dichter Raum gab für
jene Briefe über den »Fall Martin« und über die Oefängnisreform,
die neben »De Profundis« als ein Denkmai des Menschen Wilde
vor uns stehen. Leo Ron ig.
Kritik des .Dally Chronicle* vom 30. Juni 1890.
Langeweile und Schmutz sind die Hauptzflge der letzten Nummer
von «Lippincott's Magazine*. Das unsaubere, allerdings unleugbar
auch amflsante Element wird durch Oskar Wildes Erzählung »Das
Bildnis des Dorian Gray« beigesteuert. Es ist ein Werk, bei dem die
Aussatzliteratur der französischen D4cadence Pate gestanden hat, ein
ffiftiges Buch, dessen Atmosphäre verpestet ist von den mephitischen
Dünsten seelischer und moralischer Fäulnis, eine mit perversem Behagen
ausgeführte DarsteUung des körperlichen und geistigen Verfalles eines
Jungen, schönen und vornehmen Mannes ^ ein Buch, das furchtbar
und faszinierend sein könnte, wären nicht sehie weibische Frivolität,
seine gesuchte Unaufrichtigkeit, sein theatralischer Zynismus, sebie
seichtgeschwätzfge Philosophie, sein angeschminkter Mystizismus und
jene klebrige Sauce preziös tuender Vulgarität, die Aber den ganzen
«isgeklflgelten Asthetizismus des Herrn Wilde und aber seine auf-
drii^liche, bUlige Wissenschamichkeit gegossen ist. Herr Wilde
sagt, sein Buch habe »eine Moral«. Soweit wir diese Moral heraus-
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— 8 —
linden kCnnen, ist es die, dtfi es der vornehmste
zweck des Menschen ist, seine Natnr dadurch znr VoÜendnng za ent-
wickeln, daß er »stets nach neuen Sensationen sncht«, d^, wenn <fic
Seele erkrankt, das Mittel zu ihrer Heilnng darin besteht, »den Sniaci
nichts zu verweigern« - denn nichts, sagt eine von Wildes Oeslattea,
Lord Henry Wotton, »nichts kann die Seele heilen, als die Sinne.
ebenso wie nichts die Sinne heilen kann, als die Seele«. Der Mensch
ist halb Engel, halb Affe, und Wildes Buch ist nutzlos, wenn es incfct
dazu dient, die »Moral« einzuprägen, da6 man, wenn man sldi za
engelhaft fühlt, nichts besseres tun kann, als eiligst ein Tier ans sich zi
machen. Es gibt nicht eine gute und reine Regung der mensciilldMa
Natur, fast keine Veredelung des Gemütes oder des Instinktes, die im
Laufe der Jahrhunderte durch Zivilisation, Kunst und Religion als Tel
der Scheidewand zwischen Mensch und Tier in uns entwickelt worden.
die nicht im »Dorian Gray« der Lächerlichkeit und der Verachtong picb-
gegeben würde — wenn anders solche starke Wirkungen der wind^gea
Leichtfertigkeit und wortgewandten Anmaßung des Herrn Wilde fttM^
haupt zugeschrieben werden können. Sein gewaltsamer Versncb, aa
Ende des Buches eine »Moral« zusammenzustöppeln, ist vom kflnsikri-
sehen Standpunlct plump und roh, denn der Tod des Dorian Qray fiOl
aus dem Rahmen der ganzen Geschichte heraus. Dorians einziges Be-
dauern ist, daß zügelloses Schwelgen in Jeder Art geheimen und uuicbb-
baren Lasters, in allen Genüssen des Luxus uud der Kunst und — was
die entnervten Modejünglinge, deren Leben der »Dorian Gray« za be-
schreiben vorgibt, noch mehr reizt — in ekelhaftestem Schmutz aad
Unrat ~ sein Bedauern ist also, was? Daß alles dies Linien vorzettifea
Alters und abstoßender Verlebtheit in sein hübsches Gesicht zeiclnKB
könnte, in das Gesicht, dessen rosige Schönheit von der Art ist, die
Jünglinge seiner widerwärtigen Gattung 'den paralytischen Patrizlem do
byzantinischen Kaiserreiches teuer machte. Dorian Gray l>etet alsoi, dii
sein Porträt, gemalt von einem Künstler, der von ihm schwärmt, wfc
Männer von Mädchen schwärmen, die ihre Geliebten shid, daß diese
Porträt an Stelle des Originals alt werden möge. Dies geschieht dcis
auch durch die Einwirkung einer übernatürlichen Macht, deren Aaibelea
durchaus possenhaft ist; Dorian erfreut sich Jahr um Jahr nnvcr-
welklkher Jugend und könnte bis in die Ewigkeit fortfahren, striAot
seine Sinne dazu zu gebrauchen, »seine Seele zu heilen« and ^
englische Gesellschaft mit der moralischen Verpestung zu besudeln, von
der er durchdrungen ist, wenn nicht etwas dazwischen käme. Das fSi
sein plötzlicher Impuls, nicht nur den Maler zu ermorden >- was ktaat-
lerisch damit verteidigt werden könnte, daß es nur eine Weilcresl-
Wicklung seines Lebensprinzipes ist, jede Art von Erlebnis auszukosten —
sondern auch das Bild wütend mit dem Dokh zu durchbohren, weil ei,
obgleich er sich dazu herbeigelassen hatte eme gute Tat zn tun, von
seiner Abscheulichkeit nichts verloren hatte. Dies ist aber ganz vpm-
einbar mit dem kalten, berechnenden, gewissenlosen Charakter des Dori«
Gray, den Wilde ziemlich logisch in sebiem »neaen Hedonismus« efll-
wickelt hat. Der Autor beendigt dann seUie Geschichte damit, daß er
uns erzählt: »Die Dienerschaft eOte herbei, als sie ebien scbwcien Ptf
yGoOgi
~ 9 —
hörte, trod fand das Bild an der Wand in voller Jngendlichlceit strahlend,
während seine greisenhafte Hftfilichkeit aaf den Elenden flbergegangen
war, der mit dnrchbohrtem Herzen auf dem Fnfiboden lag». — Das ist
eine Talmi-Moral, wie denn alles in dem Buche Talmi ist, bis auf das
eine Element, daß Jedes }ange Oemflt, das mit ihm in Berührung kommt,
unheilvoll beeinflussen mufi. Dieses Element ist die mit einschmeichelnder
Logik verfochtene Berechtigung des Appells an die Sinne, »die Seele zu
heilen«, wenn diese Seele unter zu grofler Reinheit und Selbstver-
leugnung leidet.
Wildes Erwiderung.
An den Herausgeber des ^Dailj Ghronicla'.
Geehrter Herr!
(bestatten Sie mir einige Irrtümer zu korrigieren,
die Ihrem Kritiker in seiner Besprechung meiner
Brxäblung »Das Bildnis des Dorian Qrayc unter-
laufen sind«
Ihr Kritiker behauptet vorerst» dafl ich einen
gewaltsamen Versuch mache, am Schlufl meiner Br-
asählung eine Moral »cusammenzustoppeinc. Ich mufi
gestehen, dafi ich nicht ganz genau weift, was unter
»zusammenstoppeln« zu verstehen ist. Es ist jedoch
nicht meine Absicht, hier in eine Untersuchung ein-
zelner Ausdrücke des modernen Journalistenjargons
einzugehen. Ich will lediglich folgendes sagen: Weit
entfernt, irgend eine Moral in meiner Erzählung her-
vorheben zu wollen, war meine einzige Sorge bei
ihrer Verfassung vielmehr nur, die sich von selbst
aufdrängende Moral gegen die künstlerische und
dramatische Wirkung zurückstehen zu lassen.
Als die Idee der Darstellung eines jungen
Mannes, der seine Seele gegen ewige Jugend ver-
kauft — eine Idee, die alt ist in der Literatur, der
ich aber eine neue Form gegeben habe — in mir
auftauchte, fühlte ich sofort, daß es schwer sein
würde, die Moral so im Hintergründe zu halten wie
es vom ästhetiflchen Standpunkt aus nötig ist; und
ich bin noch immer nicht gewifi, ob mir das auch
zufriedenstellend geluneren ist. Ich halte die Moral
für zu offenkundig. Wenn die Erzählung in Buch-
form erscheint, hoffe ich diesen Mangel beseitigen
zu können.
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10
Was nun die Frage betrifft| worin die MoFil
besteht, so behauptet Ihr Kritiker» sie bestehe darin,
dafi, wenn ein Mensch fühle, daft er zu engelhaft
werde, er »eiligst ein Tier aus sich maohen« solku
Ich kann nicht sagen, dafi mir dies eine Moral n
sein scheint Die Moral der Erzählung ist in Wahr-
heit die, daS jede Ausschreitung ebenso wie jede
Selbstverleugnung ihre Strafe nach sich zieht. Diese
Moral ist mit künstlerischer Absicht so verborgen,
dafi sie nirgends als Gesetz ausgesprochen erscheint^
sondern sich nur in den Schicksalen der handelnden
Personen ausdrückt und derart lediglich ein drama*
tisches Element in einem Kunstwerk darstellt, und
nicht den Zweck dieses Kunstwerkes selbst
Ihr Kritiker begeht ferner einen Irrtum, wenn
er sagt, daß es 9unyereinbar mit dem kalten« be-
berechnenden, gewissenlosen Charakter des Doriaa
Orayc sei, das Bild seiner Seele zu zerstören, blot
weil es nichts an seiner Häßlichkeit verlor, als er in
seiner Eitelkeit sich schmeichelte, seine erste gute
Tat getan zu haben« Dorian Gray ist keineswegs ein
kalter, berechnender, gewissenloser Charakter. Br ist
im Gegenteil ungemein impulsiv, töricht romantisdi
und wird sein ganzes Leben hindurch von einen
überempfindlichen Gewissen gequält, das ihm aeioe
Vergnügungen vergällt und ihn ermahnt, daft Jugend
und Genuß nicht alles in der Welt sind« Und germde
um dieses Gewissen los zu werden, das ihm unab-
lässig auf Schritt und Tritt nachgeht, zerstört er dm
Bild. Indem er also versucht, das Gewissen su tdtw,
tötet Dorian Graj sich selbst.
Ihr Kritiker spricht sodann von »aufdringli^^
billiger Wissenschaf tlichkeitc. Nun, was immer e.
wissenschaftlich gebildeter Mann schreiben möge, f
wird er Wissenschaftlichkeit erkennen lassen in d«
Vornehmheit seines Stils und in der sorgAltJge
Wahl seiner Worte. Aber meine Erzählung enthi
keine gelehrten oder pseudo*gelehrten (bespräche, uc
die Bücher, deren darin Erwähnung geschieht, tix
11 -
nur solche, von denen Torausgesetst werden kann^
dafi ein Mann von Bildung sie kennt, wie £um Bei-
spiel das »Satiriconc des Petronius Arbiter oder
Qautiers »Bmaux et Garage s«. BQcher wie Le
Consos »Glericalis Disciplina« sind nicht Gegen-
stand der Wissenschaft, sondern der Liebhaberei. Es
kann niemandem ein Vorwurf daraus gemacht werden,
dafi er sie nicht kennt.
Zum Schlüsse nur noch dies: Die ästhetische
Bewegung: hat gewisse eigenartige, zartduftige, durch
ihren beinahe mystischen Ton faszinierende Farben-
mischungen hervorgebracht. Sie waren und sind
unsere Reaktion gegen die rohen Primärfarben einer
zweifellos ehrbareren, aber sicherlich minder kultivierten
Zeit. Meine Erzählung ist eine Studie dekorativer
Kunst Sie reagiert gegen die rohe Brutalität des
deutlichen Realismus. Sie ist giftig, wenn Sie wollen,
aber Sie kOnnen nicht leugnen, dafi sie auch voll-
kommen ist, und Vollkommenheit ist es, was der
Künstler anstrebt.
Ich bin, geehrter Herr, Ihr hochachtungsvoll
ergebener 0. W.
16, Tite Street, 30. Juni 1890.
In seiner Nummer vom 5. Juli 1890 schreibt der »Scots
Observer«:
Wumm in Dflngerhairfen wählen? Die Wen Ht schön, und die
MajoritSt gesnnd gearteter Männer und ehrenhafter Franen aber die An-
0eiattlten, Umiat&rlichen nnd Gefallenen ist groS. Oslcar Wilde hat
wieder einmal ein Ding geschrieben, das besser ungeschrieben geblieben
wäre. Wohl ist seine Erzählung »Das Bildnis desDorian Oray« originell,
lofcressant, voll Qeist nnd zweifellos das Werk eines begabten Schrift-
•f^Oers; aber sie ist ein Werk falscher Knnst, denn ihr Held Itl ein Teufel ;
wid sie ist ein Werk falscher Mord, denn es geht nicht genügend klar
Aaraus hervor, ob der Autor nicht ein Leben widernatarlichen Lasters
einem Leben der Gesundheit, Reinheit und Kraft vorzieht. Die Erzählung
— die Gegenstände behandelt, welche nur fär die Krhninalgerichtsbar-
Mt Oder fftr die Betprechnng in caitiera geeignet sind — macht dem
Antor eben so wenig Ehre wie dem Verleger. Herr Wilde hat Geist
TiiMt tflnl Sm-t aller wmMi tr nur lAr dekkasiert« Lebemänner und
petrmU Kettnetftfngen schreiben kann, so wäre es, je eher er sich der
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— 12 —
Schneiderei*) (oder einem anderen ehrenhaften Berufe) zuwendet, desto
besser f&r seinen Ruf und für die aU|[enieine Sittlichkeit
Wildes Erwiderung.
An den Herausgeber des ,Soots Observer^.
(beehrter HerrI
In Ihrem Blatte erschien dieser Ta^ eine Kritik
meiner Brs&hlung »Das Bildnis des Denan Qrayc. Dt
diese Kritik mich als Künstler mit grober Unge-
rechtigkeit behandelt, bitte ich Sie, mir fOr mein
Recht auf Erwiderung in Ihren Spalten freundlichst
Raum EU geben.
Obgleich Ihr Kritiker zugesteht, daft die firag-
liehe Erzählung »zweifellos das Werk eines begmbtai
Schriftstellersc ist, »eines Mannes, der Geist, Tideot
und Stil besitzte, so nimmt er doch an, und das
offenbar in allem GSrnste, dafi ich es nur im Hinblick
auf yerbrecherische und ganz ungebildete Lieaer ge-
schrieben habe. Nun glaube ich aber, daft Verbrecher
und ungebildete Menschen überhaupt nichts anderes
lesen alS Zeitungen. Sicherlich kann yon ihnen nicht
Yorausgesetzt werden, daft sie ein Buch wie das
meinige verstehen. Lassen wir sie also beiseite, und
gestatten Sie mir nur über die grofie Frage, warum
ein Dichter überhaupt schreibt, einige wenige Worte
zu sagen.
Das Vergnügen, das es gewährt, ein Kunstwerk
zu schaffen, ist ein rein persönliches, und nur um
dieses Yerenflgens willen schafft der Künstler, fir
arbeitet, alle seine geistigen Kräfte auf den Gegen-
stand konzentriert. Nichts anderes interessimt ihn.
Was die Leute sagen werden, daran denkt er nicht
einmal. Er ist fasziniert durch das (Gebilde xmter
seinen Händen. Alles andere besteht für ihn nid
Ich schreibe, weil es mir den denkbar gröBten kflni
lerischen Genufi gewährt, zu schreiben. Wenn me
Werk den Wenifcen gefällt, bin ich erfreut Wenn i.
ihnen nicht gefiftUt, bm ich nicht betrübt« Und was d
«) AntplelMg Mff WHdet Pnpägßndii Mr eise Reform der KleMa
Annu d. Oben
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- 18 —
Menge betrifft, so hftbe ich kein Verlangen, ein
populärer Schriftsteller bu werden. Es ist viel bu leicht.
Ihr Kritiker begeht den gana unrerBeihlichen
Fehler, den KQnstler mit seinem Gtegenstande bu Ter«
naengen. Für diesen Fehler gibt es Oberhaupt keine
Entschuldigung. Von dem Manne, der die gtöftte Er*
Bcheinung der Weltliteratur seit den Tagen der alten
Griechen darstellt, sagt Keats, dafl es ihm ebensoviel
Freude machte, das BOse dichterisch eu gestalten,
wie das Oute. Empfehlen Sie Ihrem Kritiker, Herr
Redakteur, diesen schönen SatE Keats' recht wohl eu
behersigen« Denn dasselbe gilt ron jedem Künstler.
Dieser steht entfernt von seinem Gegenstände. Er
schafft ihn und betrachtet ihn. Je weiter ratfernt
sein Subjekt von dem Objekt ist, desto freier schafft
er. Ihr Kritiker meint, dafl ich es dem Leser meines
Buches nicht klar genug mache, ob ich die Tugend
dem Laster oder das Laster der Tueend vorziehe.
Er mOge sich gesagt sein lassen, dafl ein Künstler
Oberhaupt keine ethischen Sympathien oder Anti-
pathien hat Laster und Tugenden sind ihm einfach
das, was dem Maler die Karben auf seiner Palette
sind. Nicht mehr und auch nicht weniger. Er findet,
dafl durch ihre Anwendung eine gewisse künstlerische
Wirkung hervorgebracht werden kann, und er bringt
sie hervor. Jago mag: vom moralischen Standpunkt
scheufilich sein, imd Imogen fleckenlos rein. Shake-
speare hatte, wie Keats sagt, ebensoviel Freude an
der Schaffung des einen wie der andern.
Um der dramatischen Entwicklung meiner Ge-
schichte willen war es nOtig, Dorian Gray mit einer
Atmosphäre sittlicher Fäulnis eu umgeben. Andern-
falls hätte die Erzählung keinen Sinn und die
Handlung keinen Ausgang gehabt. Diese Atmo-
sphäre vag und unbestimmt und geheimnisvoll bu
halten, war die künstlerische Abs!cht dessen, der die
Geschichte schrieb. Ich nehme für ihn in Anspruch,
daft ihm diese Absicht gelang. Jeder Mensch sieht
eeioe eigenen Sünden in Dorian Oraj. Welches die
-> 14 ^
SQnden Dorian QnjB sind, weift niemand. Der^ der
sie findet, hat sie mitgebracht
Zum Schlüsse lassen Sie mich Ihnen aageii,
Herr Redakteur, wie tief ich es bedauere, daft Sie
einer solchen Besprechung, wie die, cu deren Zurflck-
Weisung ich mich gedrängt fahle, Aufnahme in Ihr
Blatt gewährt haben. Dafl der Herausgeber der
,Sr. James's Oazette^ Caliban cum Kunstkritiker
macht, ist vielleicht natQrlich. Der Herausgeber des
^Scots Obserrer^ sollte nicht augeben, dafi Thersites
in seinem Blatte Grimassen schneidet Es ist eines
so henrorragenden Schriftstellers unwürdig.
Empfangen Sie u. s« w. O. W.
London, 16, Tite Street, 9. Juli lb90.
Hiezu bemerkt das Blatt:
Es war nicht zu erwarten, dafi Herr Wflde mit seinem Kritiker
aber den Icünstlerlschen Wert seines Werkes derselben Meinung scia
werde. Es sei Ihm zugestanden, daß es ihm gelungen ist, seinen HeldeD
mit Jener Atmosphäre zu umgeben, die er beschreibt. Dtt ist sein Lohn.
Der Kritiker ist nichtsdestoweniger berechtigt, der Ansicht zu sein mid
sie auszudrücken, daß keine noch so geschickte Behandlung diese Atmo-
sphäre für den Leser erträglich machen kann. Das ist seine Strafe.
Zweifellos ist es das Vorrecht des Künstlers, abscheulich zu sein: ab«
er mufi dieses Vorrecht auf seine Gefahr ausüben.
Ein Herr Charles Whibley schreibt einige Tage darauf:
Der alte Streit, hier Objekt, hier Gestaltung, dürfte iortduuen.
solange Künstler und Kritiker denselben Planeten bewohnen. Und di
eine endgiltige Entscheidung dieser Frage die lebhafteste und inter-
essanteste aller Diskussionen vorzeitig abschließen würde, so wolleo wir
hoffen, daß eine solche Entscheidung niemals eintreten wird.
(Es folgt eine längere theoretische Erörterung, in deren Vcrlaif
der Schreiber Maupassants »Bei Amit und Daudets »Sapho« scharf
tadelt und ihnen Dostojewskis »Verbrechen und Sühne« und IHaiibertf
»Madame bovary« als Beispiele künstlerischer Behandlung eines al
stoßenden Stoffes entgegenhält.)
. . Die Kunst ist also unmoralisch. Wenn diese Theorie irsewl
wie feststeht, so scheint mir Ihre Kritik des »Dorian Gray» zu woM
wollend in ihrem Lobe und zu ungerecht in ihrer Verurteilung zu seis
Sie finden in der Erzählung Kunst und keine Moral; ich fbide dart
Massen von Moral und keine Kunst. Vom Anfang bis zum Ende fibcf
ließ WOde seiner Liebe zu Paradoxen die Herrschaft über seinen Sir
für Proportion. Wenn ich den Gcsprichston des Lp^ds Wotton -
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— 15
sicherlieh eines der ermfldendsten Menschen der Literatur -- parodieren
tfirf: Cs gibt nichts so Langweiliges wie ein Epigramm. Und ein
Roman, der aus nichts anderem besteht als aus umgestülpten Gemein-
plätzen und nac^ jtQooSmUca^ gewendeten leeren Phrasen, hat nicht mehr
Recht, künstlerisch genannt zu werden, als ein Gemälde, das nur aus
farbigen Punkten bestünde.*) Unterbricht ehi Künstler den Gang seiner
Erzählung mit ermüdenden Abhandlungen über Juwelen und mit Öden
Möbelkatalogen? Und vermeidet er nicht, wenn er einen zugestandener-
mafien delikaten Gegenstand behandelt, überflüssiges Detail und exotische
Sentimentalität? Wilde hat bewiesen, daß ihm der Takt und die Selbstzucht
fehlen, efaien Helden künstlerisch zu gestalten, der halb Jack der Auf-
Schützer, halb Gaveston**) ist. Die Aufnahme, die sein Buch gefunden
hat, mufi ihm übrigens besonders schmerzlich gewesen sein. Er erhebt
Anspruch auf einen künstlerischen Triumph, und er wurde zum mindesten
von einer religiösen Zeitschrift als Sittenreformator begrüßt. Hat es je
eine unerwünschtere Apotheose gegeben?
*
Wildes Bweite Erwiderung.
Geehrter Henri
In einer Zuschrift, die vor einigen Tagen in
Ihrem Blatte erschien und die das Verhältnis der
Kunst zur Moral behandelt -• eine Zuschrift, die mir
in vieler Hinsicht vortreffl'ch eu sein scheint, ins-
l)esondere in ihrer Betonung der Freiheit des KQostlers,
seinen Stoff nach Gefallen su wählen — , sagt der
Unterseichner, Herr Charles Whibley, es müsse be-
sonders schmerzlich für mich sein, zu sehen, dafl die
ethische Bedeutung des Dorian Gray von den hervor-
ragendsten christlichen Blättern Englands und Amerikas
so stark betont wird, und dafi ich sogar von mehr als
einem von ihnen als Sittenreformator begrüßt werde.
Gestatten Sie mir, nicht nur Herrn Charles
Whibley selbst, sondern auch Ihre zweifellos besorgten
Leser in dieser Hinsicht zu beruhigen. Ich zögere
nicht im Geringsien zu erklären, daß ich eine solche
Kritik als eine sehr willko(nroene Huldigung für mein
Werk betrachte. Denn wenn ein Kunstwerk reich-
*) Herr Whibley wufite wohl noch nichts vom Pointilllsmus,
der damals wohl schon erhinden, aber noch nicht Kunstmode ge-
worden war. Anm. d. Obers.
**) Begabter und übermütiger Günstling Eduards 11,, der ihm
in blinder Liebe zugetan war. Anms. d. Obers.
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- 16 -^
baltig, iebensToU und ToUendet ist, so wwdea die,
die künstlerischen Sinn haben, seine Schönheit fühkoi
während die, auf die das Ethische mehr wirkt als
das Ästhetische, seine sittliche Lehre herausfinden
werden* Es wird den Feigen mit Schrecken erfollen,
und der Unreine wird seine Schande darin sehen«
Es wird jedem das sein^ was er selber ist. In Wahr-
heit ist es der Beschauer und nicht das Leben» was
sich in der Kunst spiegelt
Und so hat denn auch im Falle des Dorian
Gray der rein literarische Kritiker, wie cum Bei^pid
der des »Speaker^ darin ein »ernstes und reisvolles
Kunstwerk« gesehen; der Kritiker, der es in seiner
Besiehung zur Moral betrachtet, wie cum Beispiel
der des «Christlichen Führers' oder der der yChrisl-
lichen Welt^ eine ethische Parabel; das |Licht%
welches, wie man mir sagt, das Organ der englischen
Mystiker ist, betrachtet es als »ein Werk von hoher
spiritualistischer Bedeutung«; die ,St James's Oa*
EetteS die ofTenbar das Organ der LQstlinge au sein
bestrebt ist, sieht darin alle möglichen schrecklichen
Dinge und empfiehlt es der Aufmerkfamkeit des
Staatsanwaltes; und Ihr Herr Charles Whibley sagt
launig, daß er darin »Massen von Moral« finde. &
ist freilich wahr, daß er hinzufügt, er kOnne keine
Kunst darin entdecken; aber man kann billiger-
weise nicht von einem Kritiker verlangen, daft er
ein Kunstwerk von allen Seiten sehe. Auch Oautier
hatte seine Beschränkung, ebenso wie Diderot, und
in dem heutigen England sind die Goethes selten«
Ich kann Herrn Charles Whibley nur die Vereioherung
feben, daß keine Moral- Apotheose, — der er eine**
öchst bescheidenen Beitrag hinsufflgt — eine C
Sache des Harmes für einen EOnstler sein kann.
Ich bin, geehrter Herr Redakteur, Ihr sehr ei
gebener O. W.
16, Tite Street, Chelsea, SO. Juli 1800.
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17 —
Unterm 9. August 1690 •mhicn folgender Brief du Herrn Wh ibley .
Vor nicht viel länger alt einem Monat tat Herr Oikar Wilde
ütn Lesern des ,St. James's Qazette' kund, dafi er infolge seines
Temperaments oder seines Geschmackes oder beider durchaus nicht zu
begreifen vermöge, wie man ein Kunstwerk vom moralischen Gesichtspunkte
ftus beurteilen könne. »Das Gebiet der Kunst und das Gebiet der Ethik«,
schrieb er, »sind vollkommen getrennt und verschieden«. Nun hat aber
Mine Erzfthlung den Beifall einiger berufsmäßig frommer Blätter gefunden,
luid er akzeptiert die Kritik seiner neuen Verbündeten als eine »«ehr
willkommene Hnldij^mg« ffir sein Werk. Wenn seine Erklärung in der
ySt James's Gazette, aufrichtig war, dann müßte er das Urteil eines
Kritikers »der die Kunst in ihrem Verhältnis zur Tugend bet achtet« als
eine sinnlose Anmaßung zurückweisen. Hat er nicht erklärt, daß »kein
Kunstwerk vom moralischen Standpunkt aus kritisiert werden darf«?
»Geschmack und Temperament« des »Künstlers« sind ja notorisch
schwankend and unberechenbar, aber man sollte doch meinen, daß sie
ein paar Wochen ohne Wechsel überdauern könnten. Aber die .Christ-
liche Welt' läßt ihr salbungsvolles Lob auf Herrn Wilde herabträufeln,
und stracks verleugnet er seine teuren Prinzipien und vermengt Ethik
und Ästhetik mit einer Unbekflmmerthelt, die der Mrs. Grundy*) selbfr
Würdig wäre. Wenn es der höchste Ehrgeiz Jedes Künstlers ist, Seite
an Seite mit dem talentierten Autor von »Wir zwei« zur Bewunderung
dller derer, die sittenverbessernde Literatur lieben, auf ein Piedestal
gestellt zu werden, dann hat Herr Wilde sicherlich einen großen Triumph
errungen. Aber sein Erfolg mag billigerweise von jenen angezweifelt
werden, die nicht der Ansicht sind, daß aufdringliche Moral die unent-
behrliche Eigenschaft jedes Kunstwerkes sei.
Es sdieint, daß, um die Vorzüge des »Dorian Gray« vollkommen
würdigen zu können, der »rein literarische Kritiker« mit dem verschmelzen
muß, der »die Kunst in ihrem Verhältnis zur Tugend betrachtet«. Weder
Oautier noch Diderot wären also im Stande, dieser Aufgabe zu genügen.
Ohne die Mithilfe des .Licht' und der .ChrlsUichen Welt'. Und Goethe
ist tot und hat den Dorian Gray nicht gekannt ! Ich weiß nicht, wer
mehr zu bedauern ist, der deutsche Kritiker oder der englische Moralist.
Aber Herr Wilde hat den bedauernswerten Umstand in bestmöglicher
Weise korrigiert : da kein Goethe da ist, um ihm Beifall zu spenden,
ist er unermüdlich in der öffentlichen Belobung seines eigenen Werkes.
Ein Herr J. E. Brown untersucht, ob Wilde Im »Dorian Gray«
mit ftabelals oder mit Swift zu vergleichen sei, und verneint beides. Er
findet ihn näher zu Zola in Bezug auf die Wahl eines abstößenden
Stoffes und in Bezug auf seine moralisierende Absicht, stellt aber Zola
viel höher und führt insbesondere »La Terre« als Beispiel der kraft-
vollen Behandlung eines häßlichen Gegenstandes an. Er fährt dann fort:
Ich bin überzeugt, er meint es gut. Er ist ebenso
*) Etwa: Frau Klatschbase, Sinnbild der urteilslosen Menge.
Anm. d. Obers
18 -
morditcb wi* Zola; einer Ihrer Korrespondenten bat ja, gla&bc kk.
bereits hervorgehoben, dafi die Moral die starke Seite Wildes Ist, and
ich stimme diesem Urteil vollkommen zu. Die Mond Ist In der TM
seine starke Seite, aber ich glaube nicht, dafi die Kunst es ist Dtarin
rag: Zola weit über ihn hinaus. Zola ist eine starke Natur. WQde olckL
Zola meistert seinen Stoff ~ kann man das auch von Wlldc sagen?
Schriftsteller sollten sich in folgender Weise befragen oder sich befr^ccs
lassen: Bist du Rabelaisisch? Dann lache sein lautes, derbes Ladm
Aber alles dies, und Qott befohlen! Bist du Swiftisch? Kannst du «rf
diesem furchtbar gefährlichen Seil tanzen, ohne zu stürzen? Bist da
realistisch, Zolaisch? Ein Mann von dem Bau Zolas kann sidi nS
seinen Bauern in den Morast priapischer Scheußlichkeit legen und sidi
als ein Riese wieder daraus erheben. Nichts davon ist In Ihii etatge-
drungen. Aber schwächere Menschen, welkere Menschen, weichere.
durchlässigere Menschen - ist es geraten fOr sie, dasselbe zn
Künstler müssen auf sidt Acht haben : der Künstler hat ein
Oelflhl, und er mufi es behQten, je ängstlicher, desto besser,
nicht zu den wenigen AUergröBten zählt
Ein mit >H.« unterschriebener Brief polemisiert gegen die von
Charles Whibley in seiner Zuschrift aufgestellte Forderung, der Kritiker
solle nur die künstlerische Gestaltung des Gegenstandes benrteäen nnd
den Gegenstand selbst außer Acht lassen. «H.< erklärt dies für ■••
möglich, da der Gegenstand sich dem Kritiker ebenso anfdrtage wie
seine Behandlung. Dann kommt folgende Stelle:
Nehmen wir an, ein außerordentlich begabter Sänger trüge bei
einem Konzert »God save Ireland« ungemein schön vor. Nadi Hcni
Whibley mOßte die KriUk lauten : »Herr Jones sang eine Ballade, dk
seine herrliche Stimme und seinen wunderbaren Vortrag in
Lichte zeigte. Sein hohes / ist von außerordentlicher Rehiheit, nsd )
tiefen Töne klangen unendlich weich und sonor«.*) — Nach
Ansicht müßte ein richtiger Kritiker sagen: »Dann begann Herr Jones
uns einige miserable Verse Über drei feige Mörder vorzusingen. Jeder
anständige Mensch im Publikum verließ sofort den Saal. Die Konzeit-
leitung verdient schärfsten Tadel, daß sie zugab, daß das Auditoctam
durch diesen schändlichen und verräterischen Vortrag beleidigt werde.«
Zum Schlüsse faßt »H.« sebie Ansicht dahin zusammen, der
Kritiker habe selbstverständlich zuvörderst die Aufgabe, auf Kunstiekkr
tadelnd hinzuweisen, aber das enthebe ihn nicht der Pflicht, »Vcrbicdiea.
Roheit, Radikalismus (sie!) und Obszönität« zu verdammen, wo <
sie finde.
Ein Herr J. Mac Laren Cobban schreibt:
^ »God save Ireland« ist ein irisches Kampflied, das di
politische Mörder glorifiziert, und es ist auf den DurchschnittseQglindi
berechnete grimmigste Ironie von Seite »H.s«, eine solche Kritik i
möglich zu halten. Zu erinnern ist auch, daß WUde Irländer war.
Anm. d. Obers.
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— 19 —
In der Kontroverse, die sich in den Spalten Ihres Blattes ent-
wickelt hat, hat nur einer der Beteiligten den Versuch gemacht, schö-
pferisch zu sein. Dieser eine ist Herr Oskar Wilde, und sein Beitrag zu
der Diskussion besteht nur aus ebiem unverschämten Paradoxon. Die
verschiedenen Kritiker haben einander mit der Ochsenblase lustig und
unermfldlich Ober den Kopf gehauen, dafi es nur so knallte. Wozu der
L4rm? muß man fragen. Denn es will mir scheinen, daß sie alle in
ihrer Weise recht haben; der Unterschied zwischen ihnen beruht ledig-
lich auf dem Unterschied der Gesichtspunkte, und der Streit wurzelt
nur darin» daß jeder von ihnen darauf besteht, nur einen Gesichtspunkt
gelten zu lassen. Das ist aber weder weise noch förderlich. Es gibt,
hat hnmer gegeben und wird zweifellos immer geben, drei Gesichts-
punkte, von denen aus ein Kunstwerk beurteilt wird: 1. Der des
Kflnstlers. 2. Der des Kritikers. 3. Der des Publikums. Der Standpunkt
des Künstlers und der des Publikums waren immer ziemlich stabil; der
des Kritikers schwankt zwischen beiden und nähert sich zuweilen bis
auf eine kaum merkbare Entfernung dem einen oder dem andern. Der
Künstler hat stets das Recht gefordert, seinen Gegenstand zu nehmen,
wo er ihn fand. Das ist sehr berechtigt von seinem Standpunkte aus,
und je mehr er Kftnstler ist, desto mehr findet er, daß das Wichtigste
in seiner Kunst und in der Kunst anderer nicht der Stoff sondern seine
Gestaltung ist: diese ist es, die seine ganze Aufmerksamkeit und seine
ganze Kraft in Anspruch nimmt. Das Publikum seinerseits beurteilt ein
Kunstwerk vollkommen natflrlicherweise nach dem einzigen Werte, den
es schätzen kann, nämlich nach der Wirkung auf sich selbst. Wenn das
Publikum von einem Buch, einem Stfick, einem Bild getroffen, gepackt
wird, wenn es zum Lachen oder Weinen, zum Mitleid oder zum Mora-
lisieren gebracht, wenn es unterhalten oder erregt wird, dann nennt es
das Buch, das Stfick oder das Bild »gut«. Wie das Buch, das StQck,
das Bild es angestellt haben, diese Wirkung hervorzubringen, das weiß
es nicht, und danach fragt es nicht. »Stoff« und »Gestaltung«, alle
die theoretischen Streitfragen der Kunst, sind ihm ebenso gleichgiltig,
und mit vollem Recht; denn Kaufen und Verkaufen, Erfolg und Miß-
erfolg, Liebe und Heirat, das sind die Dinge, die es vor allem beschäf-
tigen, und nicht die Kunst. Zwischen den beiden Extremen, Kflnstler
und Publikum, bewegt sich dann der Beruf skritiker und eüilge wenige
Menschen aus dem Publikum, die ich Amateure nennen will. Diese,
Kritiker und Amateure, haben nicht die intime oder esoterische Sach-
kenntnis des Kflnstlers, aber sie interessieren sich fOr die Kunst, und sie
haben ebien gewissen Geschmack und ein gewisses Urteil, mit deren
Hufe sie als Interpreten zwischen Künstler und Publikum auftreten. Aber
es ist natürlich und unvermeidlich, daß auch sie ihre eigene Meinung
haben. Auch sie haben noch andere Interessen im Leben als die Kunst,
und ihnen wird nicht wie dem Künstler das Gefühl der überragenden
Wichtigkeit der Gestaltung durch den täglichen Kampf mit ihren
Schwierigkeiten aufgezwungen. Wenn ihnen also ein Kunstwerk gefällt oder
mißfällt, so legen sie die Ursachen davon In einer Weise dar, wie es
der Künstler nicht tun würde, und nähern sich dabei bald mehr dem
Standpunkt des Künstlers, bald dem des Publikums, Je nadi ihrem
^ ao -
Temperament, Geschmack und Verstftndnts. Sic brlngea
vor, die, wir dOrfen nicht sagen, der Kunst, aber der
des Künstlers von der Kunst fremd sind; sie erheben Aaldifen
Unmoralitüt, und der Kflnstler ist erstaunt, wenn nicht crzflmt Dean fir
den Künstler als Kflnstler gibt es nur eine Art derUnmoralitift: iditecMi
Kunst, das heiftt, schlechte Gestaltung des Stoffes.
Ich will jedoch nicht mit dem Kritiker reditcB, ob^^idi
er, wie mir scheinen will, mit seinen Erörterungen Aber die Kunst etea
großen Teil der Aufmerksamkeit absorbiert, die besser der Kunit tdbet
zugewendet werden sollte. Denn die Kunst Ist lang, aber di« Krflft
ist länger.
Wildes dritte Erwiderung.
Geehrter Herrl
Ich bin zu meinem Bedauern nicht in dw Lftge,
mich mit Herrn Whibley in eine ZeitungskontroTerse
aber die Kunst einzulassen ; schon, deshalb nicht,
weil ich nicht die Möglichkeit habe zu beurteilen,
inwieweit Herr Whibley die Befähigung zur Diakussion
eines so wichtigen Gegenstandes besitzt« Ich habe
von seiner Zuschrift nur Notiz genommen, weil er
-* wie ich überzeugt bin, ohne jede Absicht — eins
Vermutung über meine persönlichen Gefühle aus-
sprach, die ganz unzutreffend war. Er sagte, es mfisse
Peinlich für mich sein, zu sehen, dafi ein gewisser
'eil der Öffentlichkeit, bestehend aus ihm selbst und
den Kritiken einiger religiöser Zeitschriften, durchaus
das, was er »Massen von MoraU nennt, in meiner
Erzählung »Das Bildnis des Dorian Graye fiaden wollte.
Da mir natürlicherweise daran liegen mußte,
Ihre Leser in einer für den Literarhistoriker so wich*
tigen Sache von der Wahrheit zu unterrichten, legis
icn in Ihren Spalten dar, dafi ich jede solche Kritik
als eine sehr erfreuliche Anerkennung der ethisohen
Schönheit des Buches betrachtete; und ich fügt
hinzu, ich sei vollkommen bereit zuzugeben, daft <
unbillig wäre, von jedem gewöhnlichen Kritiker s
verlangen, dafi er em Kunstwerk von jedem Oesichti
punkte aus zu würdigen wisse. Ich bin nach wi
vor dieser Ansicht. Wenn jemand die kflnstleriscti
Schönheit einer Sache sieht, wird er sich veitnutUc
wenig um ihre moralische Bedeutung kOoimem;. i
- 21 —
aber seine Natur empfftnglicher für die ethischen als
für die ästhetischen W irkuiig^en, so wird er kein Interesse
fOr Stü, Behandlung des Gegenstandes und der-
gleiohen haben. Es bedarf eines Gk>eihe9 um ein
Kunstwerk gans, yollkommen und allseitig bu be-
trachten, und ich stimme Herrn Whibley durchaus
BUy wenn er sagt, es sei schade, dafi (Joethe den
Dorian Gray nicht gelesen hat. Ich bin gans überaeugt^
dafi er davon entattckt gewesen wäre, und ich kann
nur hoiTen, dafi ein schattenhafter Verleger eben jetat
eine Qeisterausgabe davon in den Blysäischen Ge-
filden verteilt, und dafi der Einband des Exemplares,
das Gautier in die Hand bekommt, mit vergoldeten
Affodilen überstreut ist.
Sie konnten die Frage stellen, warum mir daran
liegen sollte, dafi die ethische Schönheit meiner Br-
aählung anerkannt werde. Darauf erwidere ich: ein-
fach deshalb, weil sie existiert, weil sie darin ist.
Die hervorragendste Eigenschaft von »Madame Bo-
▼ary< ist nicht die Morallehre, die darin au finden
ist, ebenso wenig wie die hervorragendste Eigenschaft
des »Salamroboc die Altertumskunde ist, die es ent-
hält Aber Flaubert war vollkommen im Rechte, wenn
er die Unwissenheit derjenigen bewies, die das eine
Werk al^ unmoralisch, das andere als unrichtig beaeich-
neten. Und nicht nur war er im Rechte im gewöhn-
lichen Sinne des Wortes, sondern er war kOostlerisch
im Rechte, was das Entscheidende ist. Der Kritiker
hat das Publikum zu belehren; der Kflnstler hat den
Kritiker au belehren.
Gestatten Sie mir noch eine kleine Richtig-
stellung, und dann nehme ich Abschied von Herrn
Whibley. Er schließt seine Zuschrift mit der
Bemerkung, ich sei unermfldlich in der öffentlichen
Belobung meines Werkes. Ich aweifle nicht, dafi et
mir damit eine Schmeichelei sagen wollte, aber er
überschätat wirklich meine Fähigkeit ebenso wie
meine Lust zur Arbeit. Ich mufi offen gestehen, dafi
ich durch Anlage ebensosehr wie durch Wahl außer«*
- 22 ^
ordentlich träge bin. EultiTierter MOfiigang sch^t
mir die Angemessenste Beschäftigung des Menschen.
ZeitungdlLoniroversen jeder Art sind mir Euwider,
und unter den zweihundertundsechsehn Kritiken des
»Uorian Qrayc^ die von meinem Schreibtisch in den
Papierkorb gewandert sind, habe ich nur von dreien
Oflentlich Notiz genommen. Eine davon war die im
yScols Obierver' erschienene. Ich reagierte darauf,
weil sie dem Autor eine Absicht bei Verfassung des
Baches unterschob, die berichtigt werden mußte. Die
zweite war ein Artikel in der ySt. Jamea's Uaseite'.
Er war beleidigend und ungeschlacht und schien mir
eine bofortige Zurechtweiämig su erheischen. Der Tod
des Artikels war eine Unverschämtheit gegen jedes
Schriftsteller. Die dritte war em schwächlicher An-
griff in einem Blatte, das ,The Daily Chronicle'
heittt. Ich glaube, daß ich an den ,Daily Ctironicie'
schrieb, war eine Handlung puren Obermuts. Ja, gani
sicher war es das. ich weiU absolut nicht mehr, was
in der tLritik stand. Wenn ich nicht irre, hielt es
dort, der Dorian Uray sei giftig, und ich glaube, ich
hielt es für höflich, aus Uründen der Alliteration
darauf hinzuweisen, dafi er auf alle Fälle auch genial
sei. Das war alles. Die übrigen zweihundertdreiaehn
Kritiken habe ich nicht beachtet. Ja, ich habe kaimi
die Hälfte davon gelesen. Es ist sehr betrübhch, aber
man wird selbst des Lobes überdrüssig.
Was nun die Zuschrift des Herrn Brown betrifiEl,
so ist sie nur insoferne interessant, als sie einen be-
weis für die Wahrheit dessen bietet, was ich oben
über die Stellung der beiden Hauptarten der Kritik
zueinander gesagt habe. Herr Brown sagt offen, dafl
er die Moral die »starke Seitec meiner Erzählung
finde. Herr Brown meint es gut und hat eme halbe
Wahrheit gefunden, wenn er es aber dann unter-
nimmt, das Buch vom künstlerischen Standpimkt itt
behandeln, geht er natürlich weit in die Irre. Den
»Doriün Uray« auf eine Linie mit Zolas »La Terra«
zu stellen ntt ebenso töricht, als ob man Muasets
üigitized by VjOOQi'
»Portunioc auf eine Linie mit den MHodnimen des
Adelphttheaters stellen wollte. Herr Brown sollte es
bei der sittlichen Beurteilung bewenden lassen; da
ist er unbeFieerlich.
Herr Cobban beginnt unglOcklich, indem er
meinen Brief, worin ich Herrn Whibley in Besu^ auf
eine Tatsache berichtigte, ein »unverFchänites Para-
doxon« nennt Der Ausdruck »unverschämt« ist nicht
verständlich, und der Ausdruck »Paradoxon« ist
unan|zr«^bracht Es will mir leider scheinen, als ob
da^ Schreiben an Zeitunfren einen serstfirenden
Binfliifi auf den Stil hätte. Die Leute werden heftig;,
flreraten ins Schimpfen und verlieren alles Gefühl für
Proportion, wenn sie die seltsame journalistisch«* Arena
betreten, in welcher stets der Lärmendste das Rennen
jrewinnt. »Unverschämtes Paradoxon« ist nun aller-
dinprs weder heftigt noch beschimpfend, aber es ist
ein Ausdruck, der für m<»inen Brief nicht hätte ge-
braucht werden sollen. Herr Cobban tut jpdoch als-
bald Bufte ftlr das, was offenbar nur ein MißgrifT der
Manieren war, indem er das unverschttmte Paradoxon
als sein eigen adoptiert und auseinandersetst, dafi,
wie ich vorher gesagt hätte, der KOnstler ein Werk
stets nur vom Standpunkt der Schönheit und der
Behandlung der Form betrachte, und dafi die, die
keinen Schönheitssinn hätten, oder deren Schönheits-
sinn durch ethische Anfordenmgen in den Hinter-
fnmd gedrängt werde, ihre Atifmerk«amkeit vor allem
em Stoffe suwendeten und die moralische Wirkung
als d^n Prtifstf^in fflr den Wert des OedicYites oder
des Romanes oder des Bildes ansähen, das sie zu be-
urteilen hätten, während der Z^itungskritiker bald
den einen und bald den andern Standpunkt einnehme,
je nachdem er kultiviert oder unkultiviert sei. Kurs,
Herr Cohhan mtlnst mein unverschämtes Paradoxon
in eine platte Wahrheit um, und ich glaube, er tut
damit ein nfltzliohes Werk. Das englische Publikum
lipbt die Plattheit und sieht es eern, wenn man ihm
die Dinge in platter Weise erklärt. Herr Cobban be*
üigitizedby VjOOQIC ' ;
— 24
dauert^ wi# ioh flbeneugt biii| bereite dea iiiilUung«MD
Ausdruck, mit dem er debütierte» ich will also nichts
mehr darüber sagen. Soweit ich in Betracht kommei
ist ihm vollkomroen vergeben.
Und indem ich nun von dem ,Scot8 Obsenrer*
Abschied nehme, fnhie ich mich gedrän^ Ihnen, Herr
Redakteur, ein offenes Geständnis abzuleiten. Ein
guter Freund von mir, ein geistvoller und hervor-
ragender Schriftsteller, der auch Ihnen persOnliob
nicht unbekannt ist, sprach die Vermutung aus, dafi in
dieser furchtbaren Polemik in Wirklichkeit nur swtt
JPersonen einander gegenüber gei^tanden hätten, und
dafi diese swei Personen der Uerausgeber des ,Scots
Observer' und der Verfasser des »Dorian Oraj« s^en.
Noch heute Abend beim Diner, während wir bei
einer Flasche vortrefflichen Ghiantis safien, behaup-
tete mein Freund gans suversichtlich. dafi Sie unter
angenommenen und geheimnisvollen Namen einfadi
nur den Ansichten der halbgebildeten Klassen unse-
rer Stadt dramatischen Ausdruck ftegeben hättpn,
und dafi die mit »H« gexeichneten Briefe nur Ihre
wittige, wenn auch etwas bittere Karikatur des Phi-
listers darstellten, so, als ob er sie selbst geceichnet
hätte. Ich roufi erestehen, dafi ich selbst etwas Ahn*
liches gedacht habe, als ich >H«8 ersten Brief Imb,
— den, worin er dafür eintritt, dafi der Mafistab für
die Kunst durch die politische Oberaeuf^ung des
Kttnstlers gegeben werden sollte, und dafi, wenn
man mit dem Künstler über die beste Art Irland
schl^'cht SU regieren verschiedener Meinung sei» man
verpflichtet sein solle, sein Werk schlecht au finden.
Es gibt jedoch so unzählig viele Abarten des Phi-
listers, und Nordengland hat einen solchen fest
begründeten Ruf der Ernsthaftigkeit, dafi ich deti
Gedanken als einen des Herausgebers eines schotti-
schen Blattes unwürdigen wieder verwarf. Ich fürchte
aber nun fast, dafi ich darin unrichtig urteilte, un<i
dafi Sie sich die ganze Zeit her damit unterhalten
haben, kleine Puppen su erfinden und sie au lehren
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~ 25 -
fCrofie Worte su gebrauchen. Nun, geehrter Herr»
wenn es so ist, — und mein Freund behauptet es
steif und fest — so gestatten Sie mir, Sie su der
Oeschicklichkeit bu beglQckwflnschen, mit der Sie
sich jenen Mangel an künstlerischem Stil angeeignet
haben, der, wie man mir sagt, unerläfilich ist für
i'ede dramatische und lebenswahre Charakterisierung,
ch gestehe, dafi ich vollständig getäuscht wurde;
aber ich trage Ihnen nichts nach, und da Sie sich
Bweifellos weidlich ins Fäustchen gelacht haben, so
gestatten Sie mir, nun laut in das Lachen mit ein-
sustimmen, wenn es auch ein wenig auf meine
Kosten geschieht. Eine KomOdie ist zu Ende, wenn
das Geheimnis verraten ist Lassen Sie den Vorhang
fallen und legen Sie Ihre Puppen zu Bett. Ich liebe
den Don Quizote, aber ich habe kein Verlangen län-
fter mit Marionetten zu kämpfen, wie geschickt auch
die Meisterhand sei, die die Drähte regiert. Lassen
Sie Rie in die Schublade zurQckkehren, wohin sie
gehören. Zu einer künftigen Obliegenheit mOgen Sie
ihnen neue Etiketten aufkleben und sie zu unserer
Unterhaltung wieder auftreten lassen. Sie bilden eine
treffliche Truppe und machen ihre Kunststück chen
vorzüglich, und wenn sie ein wenig unwirklich sind,
so bin ich nicht derjenige, der gegen Unwirklich*
keit in der Kunst etwas einzuwenden hat. Der Spaft
war wirklich gut. Das emziee, was ich nicht ver-
stehe, ist, warum Sie Ihren Marionetten solche außer-
gewöhnliche und unwahrscheinliche Namen gegeben
nahen.
Ich bin, geehrter Herr, Ihr sehr ergebener
O. W.
16, Tite Street, Ohelsea, 18. August 1890.
^
yGoosIe
3gl
26
OloMen.
Dreiviertel Stunden lang sah ich einen Mann auf der Strafte
in epitq)tischen Kränpfensich winden,eheder Wagen der (ekpbomsck
berufenen Freiwilligen Rettungisgesellschaft kam. Da die Humaatiit
zu Jeder Minute des Tages und der Nacht funktioniert, so Ist et
wahrscheinlich, daß sie damals mehrfach veigeben war. Wahisdieift-
lieh ist aber auch, daß die Aussicht auf den Segen der P^^sse und des
Papstes Saraariterwerke zu beschleunigen vermag. Denn bb Catanis
ist immerhin weiter als bis zum Schwarzenbeiigpiatz, und wiewohi
der Transport auf den italienischen Bahnen gestört war, kam (fie
Barmherzigkeit ans Ziel und wiewohl der telegraphiscbe Verhefar
erschwert war, haben wir überreichliche Kenntnis von den Wunden
jener ausgekochten Nächstenliebe erhalten, die fierr Dr. Cliara
auf den Trümmern der sizilischen Städte verrichtet hat OewiB
wäre diese Rettungsaktion auch unternommen worden, wenn ihre
Veranstalter, vor allem jener Herr, von dem sich das Wort CbaritB
direkt herzuleiten scheint, rechizeilig erfahren hätten, daß die
telegraphische Verbindung zwischen Cattnia und Wien für alk
Zeiten abgebrochen sei. Die Selbstlosigkeit hätte sich auch bell*
tlgt, wenn sie erst nach Wochen Oelegenheit gehabt hätte, in einen
Vortragsabend von sich zu sprechen. Immerbin hätte uns ihr ans-
drücklichcr Verzicht auf den Segen des Papstes und auf }ede Mög-
lichkeit, auch nur in absehbarer Zeit mit einem Orden belohnt za
werden, noch mehr imponiert als ihr Werk. Die Freiwillige Ret-
tungsgesellschaft ist eine Unternehmen, gegen das selbst vom
Standpunkt der Inhumanität nicht das geringste einzuwenden isL
Nur beachte man den Unterschied zwischen ihr und einer Freiwilligen
Feuerwehr. Der Rettungsgesellschaft gegenüber hat man sich so sdir
ein- für allemal auf die Vorstellung des Samaritertums festgdcgt
daß man das unaufhörliche und plötzliche Erscheinen ihres Chefarztes
in der Lokalrubrik der Zeitungen für die Vorzüge ihres Betriebs
hält Der Rettungsbetrieb würde zwar in jedem Fall die öffentliche
Anerkennung verdienen, aber er müßte mit dem Betrieb der Pofsih
burität annähernd gleichen Schritt halten, um sein Verdienst nicht zr
kompromittieren. Allerhand Hochachtung vor den Samaritern, abe
wenn ihre Eile den Eindruck macht, daß nicht sie dem Unglfick
sondern das Unglück ihnen wie gerufen kommt, dann laufen sk
Gefahr, daß man sie für Ästheten hält. Und die Peinlichkett dies»
Eindrucks wird vermehrt, wenn die Ansichten der Veruaglfickten
— 27 ~
aber den Wert der Hilfeldstang geteilt sind. Ans deodivcrgierai*
den Dmtellungen der italienischen Ptase gdit nidit ganz Uar her«
vor, ob der politische Haß oder bloß die Abneigung gegen die Wiener
Mehlspeisen die Begeisterung der Italiener für die Wohltat der
Feldküchen gedflmpft hat Ich stelle es mir ]a besonders griulich
vor, wenn ein Catanier Maccaronl verlangt - was er übrigens
such in erdbebenlosen Zeiten zu jeder Stunde des Tages und
gegenüber jedermann tut — , und Herr Cbaras antwoitet: Be-
daure, kann nicht mehr dienen; oder wenn ein Catanier
Wiener Maccaroni verschmäht und Herr Oharas ihn trotz-
dem fragt: Schon bestellt, bitte? Immerhin, der Chefarzt der
Rettungsgesellschaft mag recht haben, wenn er die Angriffe der
Italienischen Blätter als lügenhaft bezeichnet und den Interviewern
versichert, die Leute hätten die Erzeugnisse der Teldküdien
»geradezu verschlungen«. Aber die Arzte» deren Kollege der Mann
ist, sagen, der Erfolg» daß den Cataniem die Wiener Maocaroni
nicht in der Kehle stecken geblieben sind, sei der Ruhm eines
Kochs, vielleicht der eines Kellners, aber gewiß nicht der eines
Arztes. Und sie nehmen es übel, daß in Sizilien die Wiener
Speisesitten selbst bis zu jenem Punkt konsequent befolgt
wurden, wo das unvermeidliche Trinkgeld die Mühe der
Servierung lohnt
« *
Herrn Dr. Chans gehts gut; aber schon seit mindestens zwei
Wochen war in der Pkesse nicht von Herrn Professor Noorden die
Rede. Darum sei wenigstens hier seines Werkes »Die Zuckerkrafikeit
und ihre Behandlung« (Berlm, \WI) gedacht, und auf die Seiten 206
und 207 verwiesen, wo »allgemeine prognostische Anhaltspunkte«
vemichnet werden. Da es sich um ein wissenschaftliches Werk han-
delt, 80 hat der Vetfasser recht getan, unter den »günstigen« Anhalts-
punkten als IL: »gute äuikre Lebensverhältnisse« anzuführen,
wiüirend er ausdrücklich unter den ungünstigen Anhaltspunkten
als 6.: »ungünstige äufkre Lebensverhältnisse« bezeichnet Leider
hat Herr Noorden es verabsäumt, die besonderen Wirkungen eines
schlechten Ultimo auf die Zuckerkrankheit anzuführen und
die günstigen Folgen eines Konkurses. Es versteht sich von selbst,
daß die Klienten des Herrn Noorden sich ausschließlich aus Jenen
Kreisen rekrutleren, in denen von ungünstigen prognostischen
Anhaltspunkten nicht die Rede sein kann. Selbstredend! Das
9S ~
OeMlilft floriert an tlten Enden, leiidem es sich mit der VIsmb-
schtft tssoziiert hat Ein faober Perzentsatz bei ZudBetfannkiNlt
fflfart zu Stoff wechselpiolottgierungcn, und veDntgut0efat,za Jena
Finanzoperationen, die In den Sanatorien angefahrt werden.
Ernst von Wildenbruefa ist tot, und war gewiß ein cfaies-
werter Mann. Aber aus einer Dankngung seiner Gattin cneke
Idi, daB ihn »das deutsche Volk in Weimar neben unseren Didita«»
forsten bestattet« hat. Die Rücksicht gegenfiber Toten ist eine
Forderung, die man schließlich auch den frflher Vefstorbenoi
gegenüber erfüllen soll. Herr von Wildenbrudi bat ^
»Rabensteinerin« geschrieben. Das läßt sidi nidit aus der
Welt schaffen. Aber seine Angehörigen sollten öffentlich Vcrwalh
rung dagegen einlegen, daß die ,Phonogniphische Zeitodirdf
(Berlin) behauptet, Herr v. Wildenbruefa habe einmal »in cimr
besonderen Dichtung« eine Walze besprodben, und daß sie deren
Vervielfältigung anregt Die Dichtung, die ihm unterschoben wM,
endet nämlich mit den Versen :
Darum erscheint mir der Phonograph
Als der Seele wahrhafter Photograpb,
Der das Verborg'ne zutage bringt
Und das Veigang'ne zu reden zwii^
Vernehmt denn aus dem Klang von diesem Spmch
Die Seele von Ernst von WUdenbrucb.
Im Blätterwald so für midi hinzugehen und niditaabStilblftlai
zu suchen, ist längst nicht mein Pläsier. Ich möchte sagen, es ist
eine Aufgabe, wie wenn man Wasser in ein — nun, wie sagte
die ,Neue Freie Presse* kürzlidi? »Wie wenn man Wasaer in ein
hohles Faß schöpfen wollte«.
♦
Dagegen mag es noch hin und wieder interessant aefai, d
Unabhängigkeit der kritischen Meinung zu t>ewundem. Ein Vniet»
direktor beklagte sich beim Administrator des Blattes tlbcr die nr
günstigen Referate. Die Antwort war: »Wozu Uden Sieöberhav
den Burschen ein, der bei uns das Ressort hat? An mich wcndi
Sie sich das nächste Mall« Jetzt hat der Direktor Ruhe, schreibt sc
Referat und zahlt gern ein paar Qulden für die Erfahrang, i
sehr noch Immer das Lob der ,Neuen Freien Frtm^ demPobUa
— 29
littponiert Die Redaktion wflrde ikrai Kritikern gewiß kein« Mei-
ntmg voiBclireibcn. Sie bewahren ihre Unabhängigkeit, nur dürfen
•ie sie nicht betätigen. Sonst passiert zwischen Morgen- und
Abendbbtt, was kflrzlich, am 20. Jänner, passiert ist Es hatte eine
Matinee ffir die Erdbebenopfer von Messina gegeben. Aber ein
Unglttck kommt teilen allein. Der Musikkritiker schrieb das
Urteil nieder, ein Pianist habe »auf einem von der Bfihne herab
schlecht klingenden Klavier mtt feurigem Schwung zwei Stflcke
von Oiopin und Liszt gespielt«. Das war im Morgenblatt Wer
beschreibt seine Überraschung, als er schon im Abendblatt die
folgende Notiz las: »Bei dem gestern im Theater an der Wien
veranstalteten Konzert des Wiener Tonkfinstlerorchesters erregte
der Ton des herrlichen Steinwayf Iflgels, welcher von der Firma ....
in nnetgennfltzigster Weise kostenlos beigestellt wurde, allseitige
Bewunderung«. Nicht alles wird freilich kostenlos beigestellt. Aber
den Musikkritiker freute seine ganze schöne Unabhängigkeit nicht
mehr. In ein paar Minuten war sie zerstört wie die Stadt, zu deren
Ounsten er das Klavier getadelt hatte. Was ist der Mensch I Ich
liabe das tiefste Mitgefühl für diese armen Teufel von Kunstbürgem,
die auf schwankem Grunde ihre Hütten bauen. Immer wieder
nehmen sie den Kampf mit den Elementen auf, aber ein administra-
tiver Ruck, und der feuerspeiende Benedikt macht allem organi-
schen Leben ein Ende. Es gibt nämlich Erdbebeninteressenten.
« *
•
Wie anders wirkt dies Zeichen auf mich ein. Eine Kata-
strophe kann auch wieder allen Beteiligten Oewinn bringen. Wohl«
tätig ist des Feuers Macht, wenn der Brand eines Teppichhauses
diesem zum Ruhme und den Zeitungen zu Aufträgen ver«
hilft Brennts bei Schein, so ist der Schein des Brandes wochen-
Ung sichtbar, die Presse ist die freie Tochter der Natur, wehe,
wenn sie losgelassen, flackernd steigt die Feuerkolumne und im
Textteil werden die schönsten Brandberichte veröffenilicht. Tief
erschüttert las man und las, bis man allmählich meikte, daB das
Feuer von den Inseratenagenten gelegt und von den Reportern
gelöscht worden war. Man wunderte sich nun nicht mdir,
daB es gelungen war, ^ine Ausbreitung des Brandes auf die
benachbarten Geschäftshäuser zu verhüten: sie hatten nicht
Inseriert Überraschend war immerhin eines. Daß durch ein Brand-
unglück reichlich hereingebracht werden kann, was dtutb
80 —
ein Brandunglück verioren wurde, verstand man. Dafi aber frtdtf
nur die Presse, sondern auch die Feuerwehr xar ffiartmug
des Reldamedurstes herangezogen wird, ist verblfiffend. »Die
Wiener Feuerwehr besitzt von dem Teppidihaus S. Schein {cenaoe
Pläne, und die Funktionäre und Kommandanten der Wiener
Feuerwehr, sämtliche langjährige Kunden dieser Firma, fcewKS
sowohl durch ihre Amtstätigkeit als auch durch ihre hänfigai
Besuche als Kunden alle Räume des Teppich- und MObdhanscs
In« und auswendig, Kenntnisse, die Ihnen natfirlidi in dksea
Falle sehr zu statten kamen.« Daran erkennt man die Vorteik
eitm Einkaufes bei Schein. Wenn man zuOIUr Fenciwcbr-
mann ist und wenns einmal brennt, so hat man es nicht
zu bereuen, daß man dort eingekauft hat. Die LelstungsflUHgUt
der Feuerwehr läßt sich an der Menge der geretteten Warai
messen. Was aber bedeutet sie gegenüber der LeistungsfUiigheit
der Firma? FQr diese sprechen »die großen vernichteten Rob-
materialmengen«. Nicht jede Firma kann von sich sagen, da8
»6 Ballen Wolle für Steppdecken, billiger Qualität, enorme Quan*
titäten der feinsten Daunen ffir Plumeauy und Polster, 16 Ballen
Roßhaar ffir Matratzen und Polstermöbel, sehr große Quantitileo
verkupferter bester Tapeziererstahlfedem für Polstermötid md
zahllose Sorten von Schleißfedem ffir billigere Bettwaren ein Raub
der FUmmen wurden«. War man nicht versichert? Und wie!
»Der gerettete Teil wurde von der Feuerwehr auf die Straße ge-
worfen und von den Versicherungsgesellschaften, die einer Fimia
von dem Renommee des Teppich- und Möbelhauses S. Schein die
Verarbeitung selbst auch nur teilweise naß gewordener oder an-
gerauchter Materialien gar nicht zumuten, In viden Wagenfauha-
gen von der Straße weg in die Lagermagazine geführt, wo diese
Materialien an Händler abgegeben wurden«. Nun handelt es steh nur
noch um solche Waren, »die, ohne beschädigt zu sein, einen Oemch
erhielten, der sich jedoch bereits nahezu verloren iiat«. Da abe
eine Firma von dem Renommee dieser Firma solche Waren reg»
lär nicht verkauft, so bietet sich - nun, was bietet sich, weoa
eine Stätte leeigebrannt ist und wenn der Mensch fröhlicfa dann
zur Annonzentabelle greift? Ein Anblick? Nein, etwas ganz an-
deres. Was Feuers Wut Ihm auch geraubt, ein sQßer Trost isi
ihm geblieben: Es bietet sich eine nicht wiederkehrende Qelc«en
heit zum Einkauf.
• Digitized by CjOOQ IC
-^ 31 -
Die Diskretion der bflrgerlichen Presse beriditet Aber einen
Skandal, den sie sich nicht entgdien lassen Icann, etwa so: »Der
OroBindustrielle hatte eine verhehmtete Frau Icenhen gelernt . . . Der
OroBindnstrielle veranlaßte sie, sich von ihrem Gatten scheiden zu
lassen ... Sie tat es .. . Inzwischen war aber in dem OroBindustrie llen
dne merkwürdige Wandlung vor sich gegangen . . . Der Groß-
industrielle ließ die Dame sitzen . . . Der Oroßindustrlelle ant-
wortete ausweichend . . . Die Dame war lediglich das Opfer einer
llfichtigen Laune des Großindustriellen geworden ... Da ging der
Bruder der Dame, der Chemiker ist, hin und ohrfeigte den Groß*
industriellen . . . Der Chemiker entschuldigte sich beim Kaffee-
sieder wegen des Vorfalls.« So typisch gefaßt, darf der Fall zum
Nachdenken fiber das Seelenleben eines Großindustriellen, das
einen sonst nichts angeht, wohl anregen. Die gute Gesellschaft
erhofft inzwischen von einem Duell die Reparatur der Ehre des
Oroßindustriellen. Das Duell findet statt. Der Großindustrielle
erfreut sich wieder allgemeiner Hochachtung. Niemand kann dem
Oroßindustriellen die Ohrfeige nachsagen. Und die Dame? Ach
was, nach Jahren wird's schon einmal heißen, daß der Groß-
Industrielle sich ffir die geschkigen hat!
In einer durchaus würdigen Besprechung von Thomas
»Moral« hatte der Kritiker des, Neuen Wiener Tagblatts' die Sitze:
. . . Das unterscheidet ihn von unsem Parvenfls der Satire, die plöti-
Uch in ihrem Öden Hirn den Hang zur Weltverbesserung entdeckt haben.
Es gibt keine Torheit, keine Verkehrtheit, keine UcherlJchkeit. keine
Mode, in die sie selbst nicht eingeschlichen sind, keine närrische Clique,
der sie sich nicht angebledert haben — mit einemmal a'ier ein Ruck,
und sie fühlen sich für gesellschaftliche Satire berufen. Ihre Schriften
starren von Eitelkeit, und sie verhöhnen die kleinen Eitelkeiten andrer
Menschen. Doch man fühlt, wie fremd ihnen diese Wege sind; man
fühlt es an ihrer eigenen Überraschung, an der unnatürlichen Wucht,
mit der sie auftreten, um die innere Unsicherheit zu verbergen; man
merkt es an ihrem verdickten Humor, an der erzwungenen Lustigkeit,
an den Schweißtropfen, die von ihren Witzen fallen . . .
Hätte es der Kritiker deutlich gemacht, daß er mich mit
dieser Meinung treffen wolle, so stünde meine bessere Meinung
gegen seine, ich würde nur die Kritik der Eitelkeit unterschreiben
und Utte im Übrigen nichts gegen eine ungerechte Absicht, wenn
sie nur Absicht wäre. Was mich trifft, ist die fehlende Absicht.
Der Kritiker hat die dramatischen Dilettanten gemeint, die uns
neiwstens mit dem Nachvds belisügen« daß «ndi fa giMiciKii
Familien nicht alles so ist. wie es in den Familien des Sdi^tgi"
rings sein sollte. Cr hat allerdings den Fehler ^xgangen, die VM^
Stellung, die heute dn Angriff auf einen nichtgenannten WicBerSa>
tiriker in bdsariigen Dummköpfen erzeugt, nicht rechtzeitig m
unterbinden, und so kam es, daß mir die Stelle vieifMh las
Haus geschickt wurde. Daß idi keinen Humor habe; soldie VfP-
Sicherung entschädigt viele daffir, daß der Vorwurf der OiqiMh
anbiederung selbst sie von meiner Spur ablenkt Aber schiicBlici
muß man ihnen den guten Olauben zubilligen. Sie konntea es
filr die Art halten, einen Schriftsteller anzugnifen, der ^ben ia
der Wiener Fresse nicht deutlicher bezeichnet werden darf. Nn
ist nichts peinlicher als ein Angriff, der einem nidit filt
fühlt natüriich nicht, daß man getroffen ist Aber man fühlt Is
hin, daß man nicht getroffen ist.
« «
Ober die Wiederaufführung von »Fatinitza« sdireibt eia
Theaterkritikert
. . . Also eine veritable Suppie-Renalssance, die ans der Not
der modernen Operette eine Tugend macht Die luilogischa Opeietk
gewinnt in der Zeit der Versuche, das Genre zu »verUelen«, ond man
stfirzt sich in den Unsinn, den eine natflrUch quellende Musik ver-
gessen läfitf statt sich einem Sinn zu bequemen, dem wohl der grAaerea
psychologischen WahrhafUglcelt zuliebe aUe Melodie abhanden gekonanca
ist. Die romantischen Unwahrscheinlichkelten der »Fatinitza«, sie spM
im Krimkrieg, also gewiß ein ülustrativ ergiebiges Müleu, stellen soza-
sagen die Reinkultur des Operettenunsinns dar. Unmotiviertes ere^ct
sich, man singt, ohne vorher zu sagen warum man singt, und es bleibt
lediglich dem Temperament, dem Spielelan der Darsteller (kberlassea,
den Umschwung aller Gefühle zu motivieren, die Folge gesprodieBer
und gesungener Worte zu einer logischen zu machen. Keine Opertttea-
psychologie kann es deuten, warum Jemand, der mit einer Dame soebia
sthT angelegentlich Ober Privataffären gesprochen hat, ihr dieselben An-
gelegenheiten noch einmal in Qesangsform auseinandersetzt, keine Pi|-
chologie wird den Operettengeneral zu einer menschlichen Figur
stalten können, weil, wie der Mann nur zu singen anfängt, alle Wi
haftigkeitsillusion verfliegt. In >Fatinitza< ist eine ganze Armee unwi
lieber Soldaten bemflht, keine logischen Einwände aufkommen zn lasse
Und von einer heiteren, graziösen, originellen Musik bestrahlt, siegt i
Unsinn mühelos . . .<
Das ist seit zehn Jahren ein eigenartiges Schauspiel» %
sich die Wiener Publizistik zu mir stellt Der Heroitdnia. mit dl
sie meinen Namen ai>lehnt, hat etwas Ergreifendca. & wirt
38
gtt keine Kunst, mich zu nennen. Und wie oft bietet sieli nicht
dn AnbiB! Jedes Heft der ,Faekel' bringt neue Ideen, die rieh
fflr das FeuiUeton, für Glossen und. Notizen, für die Kritik von
Kunit und Oesellsdiaft himos abplatten lassen. Es ist oft sehr
schwer, meinen Namen nicht zu nennen, aber die Wimer Presse
weifi sidi zu beherrschen, und das macht ihre OröBe aus. Da
habe ich neulich etwas zur Ästhetik der Operette geschrieben —
hastdünichtgeseh'n, steht es in einer Theatemotiz. Morgen vielleicht
In einem Essay. Erscheint dieser dann in einem Buch, so wird
die Ortginaiitit solcher Ideen gelobt werden, und von meinem
eigenen Buch erfahren ia die Leser nichts. Die Presse ist in der
Tat oft Khon nahe daran, meinen Namen zu nennen, immer glaubt
der Leser, jetzt, in der nächsten Zeile müsse er kommen. Aber
eine eiserne Willenskraft bewahrt die spröde Schöne vor dem
Außosten, und sie knöpft mir bloß das Geld ab. Es ist, als ob
Nachdruck ihr nur ohne Quellenangabe gestattet wäre. Ein Blatt
aber, in dem meine moralsatirische Betrachtung tagtäglich den
Olossenschreibem liilft, tut noch ein übriges. Es streicht sogar meinen
Namen aus dem Inhalt einer deutschen Zeitschrift, den es abdruckt.
Eigentlich behagt mir dieser Zustand. Es wäre Ja scheußlich,
wenn man mich wie alle anderen zeitgenössischen Schriftsteller
mit Reklame dafür entschädigen müßte, daß man keine Ge-
danken von mir nehmen kann.
Wir glauben noch immer, das Unmögliche sei nicht mög-
lidi. Aber neulich lasen wir in einem Blatte, das allerdings erst
erscheint, wenns schon finster wird, ein Referat üba einen Vor-
trag, das die folgende Stelle enthielt:
».. . Und nun entwickeKe der Vortragende eine Historie des Tanzes;
man vernahm erstaunt, daß diese fröhliche graziöse Kunst ebenso eine
Geschichte bat>e, wie eine andere Kunst und daß sie ebenfalls Gegen-
stand ernsten Studiums sein könne. Der erste Tanz, der sogenannte
Pr^mtn^dentanz, entstand su Florena im 15. Jahrhundert; es tanzte ein
Paar durch den Saal, wahrend die abrige Gesellschaft bewundernd zusah.«
Und wann wurde das Schreiben erfunden ? Man wird er-
staunt vernehmen, daß auch diese fröhliche graziöse Kunst ihre
Oeschichte habe, aber bedauern, daß sie nicht ebenfalls Oegenstand
ernsten Studiums sei. Denn der erste Artikel, das sogenannte Feuil-
Icton, entstand zu Wien im 19. Jahrhundert; ehi Schmock
iduieb, während das Publikum bewiMutemd zusah. ^ .
m « oyLiOOgie
-^ 84 -
Der folgende »Offene Brief an Herrn Ludwig Kaipnttis
der von der gfsamten Wiener Presse untefdrflckt worden ii^
wird mir vom Verfasser zugesendet Er ist an einen Wiener Muslfe-
rrporter gerichtet, der kürzlich in einem Konzert demonstikrt
und bald darauf in einem Feuilleton Wildes »Salome« dhoe die
Musik des Herrn Richard Strauß »abstoßend« gefunden hat:
Sic schreiben in den »Signalen* vom 6. Jinncr 1909:
»Noch wflre die Aufführung eines neuen Streichquartetts von Araold
Schönberg zu erwähnen. Ich beschränke mich auf die Konstatienuig, da8 a
zu einem heillosen Skandale kam, wie ein solcher in ehiem Wiener Kon-
zertsaale bisher noch nicht erlebt worden war. Mitten drin in des
einzelnen Sätzen wurde anhaltend und stürmisch geladit und mfitea
drin im letzten Satze schrie man aus Leibeskräften «AnfliOreml
Schluß I Wir lassen uns nicht narren I' Ich mufi zu meinem Leidwesen
konstatieren, daß ich mich zu ähnlichen Rufen hinreißen ließ. Zam
ersten Male in meiner zwanzigjährigen Praxis. Qewiß. ein Kritiker hat
Im Konzertsaale kein MißfaUen zu äußern. Wenn Ich «ts meiner ge-
wohnten Reserve trotzdem heraustrat, so wiU icfa damit nnr den Beweis
liefern, daß ich physische Schmerzen ausstand, und wie ehi arg Oepci>
nlgter, trotz aUer guten Absicht selbst das SchUmmste zu ßberwindeo.
nun doch aufschreien mußte. Indem Ich hier öffenUicfa mich selber
tadle, habe ich auch das Recht gewonnen, fiber meine Angreifer za
lächeln. Diese, ungefähr ein Dutzend an der Zahl, behaupten, dall das
Quartett Schönbergs ein Kunstwerk sei, daß wir anderen es nklit ver-
stehen. Ja daß wir nicht einmal die Beschaffenheit der Soaatenlon
kennen. Nun, ich für mein Teil bin gern bereit, vor Jedem Areopog
die Prüfung aus der Harmonfelehre, Formenlehre und allen andern
musikalischen Disziplinen abzulegen. Ich habe freilich noch nach den
Muster der ,Alten' studiert und könnte mithin mehie Prflfus^r nur bei
den Befolgen! des ,alten Systems* bestehen. ,üas gilt nicht f —
sagt das Dutzend. Auch gut«
Ich gehöre nicht zu dem Dutzend, weldies sagt: »Das gtt
nicht« und will Ihnen das beweisen, indem ich Jeden »Areop^« an-
nehme, er möge nach dem »neuen« oder nach dem »alten System« zn*
sammengesetzt sebi. Im Gegenteil, ich schlage Ihnen für einen der-
artigen »Areopag« die folgenden Herren vor, die hoflentlidi bereit tdi
werden, dieses Amt zu übernehmen: Herrn Professor Robert Pndit
Herrn Prof. Dr. Eusebius Mandyczewsky, Herrn Professor Richard Hei-
berger, Herrn Professor Hermann Qrädener, Herrn Professor Josef Laber
Ich fordere Sie nun auf Qrund Ihrer Erklärung heraus, diese Pißiim
»aus der Harmonielehre, Formenlehre und allen anderen mnsttdischci
Disziplinen«, zu der Sie sich doch wohl unter der Voraassetnm
bereit erklärt haben, daß man sie von Ihnen verlangen kam,
vor diesem »Areopag« abzulegen. Wie Sie es wünschen t — W
oogle
- 86
ftb€rlasst Ihnen, wie Sie sehen werden, auch die Wahl der
Waffen -*, wird die Prikfung nur nach dem »alten Systeme geech^en,
finch dem Sie Ja studiert haben, und ich flberlasse es Ihnen, die Theo»
Ktikcr, die der Fragestellung zugrunde liegen sollen, selbst t» nennen.
Ich stelle nur die folgenden Bedingungen; Die Prüfung findet öffcnt«
Uch statt und die Fragen werde ich selbst an Sie richten. Ob Sie ent-
sprochen haben, mögen die Herren vom »Areopag« beurteilen. Sie haben
nun Gelegenheit, zu erweisen, was Sie behaupten. Entziehen Sie sich
dieser Prüfung aus was immer fflr einem Qrund, so bekräftigen Sie
dadurch zur Evidenz, daß Sie sie zu scheuen haben.
Arnold Schönberg.
Dieser Offene Brief wurde von der Presse, an die er ge-
schickt wurde, einstimmig verschwiegen. Aber der Kandidat
liat die Prfifungsfrist noch nicht versäumt Er sollte sich doch
die Gelegenheit nicht entgehen lassen, das alte Mißtrauen zu zer-
stören und durch einen Durchfall endlich den Befähigungsnachweis
fOr sein musikkritisches Amt zu erbringen.
Einige Kabaret-Pensionisten haben in Oraz gastiert. Sie
nennen sich »Elf Scharfrichter«. Und da b'gab es sich:
». . . Das Qaleriepublikum scheint den Charakter dieser Kflnstler-
vereinlgungen mißverstanden zu haben und erwartete insbesondere das
Erschehien wirklicher Scharfrichter auf der Bflhne. Da es sich enttäuscht
sab, begann es sebiem Unwillen Ausdruck zu geben, zunächst durch
Murren. Als aber Hugo Wolf-Lieder vorgetragen wurden, begann die
Oalerie laut ,Pfuil* zu rufen. . . .<
Nun möchte ich ja gerne der Auffassung beipflichten, daß das
Publikum empört war, weil Hugo Wolf-Lieder von Kabareders gesun-
gen wurden, anstatt von Sängern. Aber sympathischer ist mir doch die
andere Auffassung, daß nämlich das Publikum empört war, weil
die Kabaretiers Hugo Wolf-Lieder sangen, anstatt eine Hmrichtung
vorzunehmen. Man kann nicht genug ZQge aus dem Leben des
Publikums zusammentragen. Einst prügelte es den Schauspieler,
der den Franz Moor spielte, {etzt prfigelt es ihn, wenn er unter
diesem Pseudonym Lieder singt. Als ich einmal mit meiner kleinen
Nichte einer Vorstellung des Lustspiels »Goldfische« beiwohnte,
hörte sie drei Akte lang mit gespannter Aufmerksamkeit zu, bis
ihr endlich die Oeduld riß und sie aus voller Kehle rief: »Wo
sind die Goldfische?« Auf diesem Standpunkt steht heute das
erwachsene Theaterpubhkum. Seine Äußerungen gehören In die
86 ~
Rubrik »Aus Kindmnund«. bnmer ist es in teilnahmsvoller Spftimint.
nnd es vertritt nur nicht, dt8 man Ihm Rltsel zn IQsen s<bt Wem
ein Dramatiker zum Belspfe! im ersten Akt 100.000 Quldenvezxkenka
UBt und den ganzen Abend hindurch von dieser großmfitigen Hand-
lung nicht mehr die Rede Ist, so wird man im verzweifelten Ringes
um die Garderobe die bange Frage hören: »Idi mMif nor
wissen, was mit den 100.000 Oulden geschdien ist!« Wie kann c&
Theaterflsthetik so herzlos sein, von den Direktoren Immer wieder
TU verlangen, daß sie Ibsen spielen ! »Tus nidit I« rief ein braver Mann
von der Oallerie dem Teil zu, al^ er eben auf das Haupt des leiblldMa
Kindes anlegte. Als zber einmal auf der Bfihne des Biugtlieatteis
eine Person in einem französischen Sittenstfidc den Satz ausspradc
»Es ist eine schöne Pflicht der großen Banken, notleidenden Kanflen-
ten beizustehen!«, rief eine Damenstimme aus einer Loge dn lang-
gedehntes, Inhaltsschweres »Bravo!«. Einen Kritiker, der gemia
Bildern spricht, traf dieses Familienschicksai, das wie ein Opera-
gucker ins Parkett fiel, direkt auf den Kopf.
«
Da in früheren Jahren der mir feindselige Kretlnismitt zb
dem Argumente gegriffen hat, daß es meine Beschäftigung sd,
die Druckfehler der Tagespresse zu korrigieren, so will ich diese
Meinung einmal ins Recht setzen und mittdien, daß Ich bd der
Lektflre eines Aufsatzes Aber Edgar Poe Im ,Fremdenblatt' den
folgenden Satz gefunden habe : »Poe, der Instinktmensch, Poe;
der ehrliche Phantast im ehrlichen Trance KIdpert, sdn bertti»
testes Gedieht mit handwerksmäßig kfihler Berechnung«. Nach der
Lektflre dieses Satzes hatte ich sofort euie grauenhafte BDe'sdM
Vi^on. Ich stellte mir den Bildungszuwachs vor, der behn
Normalleser In solchem Falle dntritt Dieser Kidpert beghiot dn
zu interessieren. Wer ist Kidpert? Ein Instinktmensdi^eindirliciMr
Phantast im Stile Poes? Ndn, sagt ein anderer, der Satz ist zwar
unklar, aber darüber kann kein Zwdfel sdn, daß Kidpert k '
Autor ist, sondern bloß der Titel eben jenes Poe'schen Qedidit
Aber er sucht, und findd es in den Werken Poes nIdit. So nu
es doch wohl der Name dnes ollen ehrlichen Phantasten idn, di
das Konversationslexikon aus irgend dnem Grunde nicht nenn
Wer ist Kidpert? Man wdß es nicht ; aber die Firage wird so c
gestdlt werden, daß der Name bidbt Europa wird dch «■ di
Namen gtwMnen und gerade wdl niemand wdß,. wen, er m
üigitized by VjOOQIC
37 —
stellt, werden sich viele dadurch hervortun, daß sie es zu wissen
behaupten. Und wenn man das Problem dieses neuen Ruhmes
behorcht, so muß man sich fragen, wie viele Meinungen in der Welt
durch Druckfehler entstanden sein mögen, und ob nicht die Druck-
fehler überhaupt der verläßlichere Teil dessen sind, was die Tages-
presse bietet. Man sagt viel zu wenig, wenn man einen Autor,
der sich der Druckpresse anvertraut, mit dem Tröste beruhigt,
das Publikum merke Druckfehler nicht. Das Publikum beachtet
gerade sie und zieht aus Ihnen den besten Oewinn an Bildung.
Ich erinnere mich an meine erste kritische Arbeit. Sie erschien
und enthielt den Satz: »Die Inhaltsangabe des ersten Aktes sollte etwas
weniger dürftig sein«. Es war eine schlichte Bemerkung, die der
Redakteur zu dem Zwecke ins Manuskript geschrieben hatte, um mir
eine Ergänzung zu empfehlen. Das Manuskript wurde aber vor-
sdmell gedruckt, und ich glaube, daß die Leser einen starken
Eindruck von dieser kritischen Bemerkung empfangen haben. In
derselben Zeitschrift, die sich damals infolge Ihrer originellen
Druckfehler ein Publikum erobert hatte, erschien einmal die Kritik
einer Burgtheateraufführung, in der die Schauspielerin Stella
Hohenfels nicht mit jener Anerkennung bedacht wurde, die sie
verdiente. Das scheint audi der Redakteur empfunden zu haben.
Denn an die Reihe kritischer Bemerkungen des Autors schloß sich
der Satz: »Wäre mir unangenehm wegen meiner Verbindung mit
Berger«. Ich bin davon überzeugt, daß gerade dieser Satz seine
Wirkung auf die Leser nicht verfehlt hat. Die Druckfehler sind
die Opposition des Setzers gegen Lüge und Unverstand, und der
Setzer ist der erste Leser. Schon deshalb ist es töricht, sie zu
korrigieren. Sie sind das, was von einem Artikel bleibt. Ich warf
einem Moralisten einen »Salto morale« vor. Das gibts nicht, sagte
der Setzer, der den Standpunkt der Intelligenz vertrat, und wollte
einen Salto mortale daraus machen. Ich telegraphierte an die Druckerei,
es solle nicht Salto mortale, sondern Salto morale heißen. Der
Telegraphenbeamte, der der zweite Intelligente Leser war, fragte
mich, ob ich das nicht umgekehrt habe sagen wollen, und als
ich dabei blieb, ergab er sich mit einem Kopfschütteln in
seinen schweren Dienst. Der Leser hat immer recht, also audi der
Setzer. Als ich einmal aus der Sprache des Herrn Harden die
Wendung übersetzen wollte: »Innerer Hader, der sich an die Stelle
des Pestens drängt«, sagte der Setzer nein und behauptete, es
üigitized by VjOOQ IC
88 —
mfisse ifeiBen: Immer der Karden, der didü an die SteHe des
Fedffera drängt Hat er nicht recht gdiabt? Und als einer sidi
vermaB, 2U sagen, daß Poe, der ehrliche Phantast, seht berGlia-
testes Gedicht mit Berechnung klempnert, half Mb der Setzer
und sagte: Kleipert Denn es ist besser, dafi sich bd den LeMcn
des .PremdenbUtts' der Glaube an diesen als ein Mißtrauen gegen
Poe festsetzt.
HC
In Charles ßaudelaires »Tagebüchern« findet sich dk
folgende Stelle:
Jede Zeitung, von der ersten bis 2nr letzten Zelle, ist aidits
als ein Gewebe von Schrecken. Kriege, Verbrechen, Diebstähle, Schaai-
loslgkeiten, Martern, Verbrechen der Ffirsten, Vcrbreciien der Natioaai.
Verbrechen der Einzelnen: ein Rausch von allgemeiner SdieoiSUchkclt
Ich begreife nicht, wie eine reine Hand das anrfihren kann, ohne vor
Ekel zu zucken!
»Es bedarf keines Hinweises«, bemerkt dn deutsches Bhitt m
diesem Zitat, »daß sich Baudelaire auch hier in einer ^lendid
Isolation sondergleichen befindet«. Aber Ich nicht !
Ultimatum: Wenn ich noch einmal in einem Blatte in der
Besprechung eines Oeschwomenurteils den Satz finde, es sd »das
schöne Vorrecht der Richter aus dem Volke, auch dort noch Recht
nnd Billigkeit zu fiben, wo der starre Buchstabe des Gesetzes...«,
haue ich die Zeitungslektflre definitiv hin. Seit Jahren nehme ich
ängstlich ein Abendblatt zur Hand, In welchem unter der Spitz-
marke »Ein Freispruch« immer dieselbe Betrachtung steht. Eine
Abwechslung wird nur darin geboten, daß die Richter aus dem
Volke für die Anwendung des schönen Vorrechts entweder gelobt
oder daß sie ermahnt werden, sich darin zu mäßigen. Aber immer
ist es der gewisse Buchstabe des Gesetzes, der mich anstairt, so
oft ich das Blatt aufschlage. Es ist eine fixe Idee des LIberallsmni,
der starrer Ist als alles Gesetz. Das Leben selbst Ist zum Bucbstabr*
erstarrt, und was bedeutet neben solchem Zustand die Ldcfaenslar
der Gesetzlichkeit f Karl Kraus.
y Google
- 89 —
Abend.
»Nieder tauchte die Sonn' und schattiger wurden die
Pfadec,
Dies las ich heut, am Abend eines Sommertags
Und liefi das alte Buch Homer auf meine Kniee
Hinsinken, also sinnend: Allen Erdenkindern
Mißt diese heitre Sonn' ihr holdes Mafi von Licht,
Bin Schickst reifend nach verschwiegenem Gesetse
Vom Aufgang bis ssum Schatten eines Menschenpfads.
Ich wuchs in Zeiten, trüber als die Nacht,
Ein Jüngling, feind mir selbst und im Gemüt bedrängt,
Nun endlich ruft auch mir die liebe Sonne:
Gibst du, erhellt, dein eignes Licht dem Lichte .
wieder? —
Doch hinter jedem Strauch im Garten wachsen
Schatten,
Was war mein Mafi an Tag gering I Ihr Götter wftgta
Den Menschen, wollt mir diesen späten Strahl nicht
neiden,
Laßt mir den Abend, dem der Morgen war geweigert,
Gönnt mir den Blick der herbstlich tiefen, klaren
Stunden,
Den lotsten Glans, den ich mit fleh'nden Augen halte,
Lafit mir den Abend, seht, die Pfade dunkeln schon.
Otto Stoessl.
Zuschrift:
Weimar d. 21. Jan. 1909. 6ehr geehrter Herr! Verbindlichen
Dank für die liebenswürdige Erwähnung jenes Zitats. Ich möchte
hinzufügen, daß in diesen Worten in der Tat meine bescheidene
Stellung, die Ich stets zu den Lehren meines Bruders einge-
nommen habe, ausgedrückt ist Die Oegner haben hier, wie in
hundert andern Fällen, diese einfache Wahrheit auf den Kopf
gestellt Ich habe midi immer alles Urteils über meinen
finidcr enthalten. Mit vorzüglicher Hochachtung Ihre
• Elisabeth Förster-Nietzsche.
y Google
— 40 —
Sprflche und Widenprflche.*)
Ein Weib, dessen Sinnlichkeit nie aussetit, und
ein Mann, dem ununterbrochen Gedanken kommen:
swei Ideale der Menschlichkeit, die der Menschheit
krankhaft erscheinen.
•
Die Begierde des Mannes ist nichts, was der
Betrachtung lohnt. Wenn sie aber ohne Richtmig
läuft und das Ziel erst sucht, so ist sie wahrlich ein
Greuel vor der Natur.
•
Den VorBUg der Frau, immer erhören au kön-
nen, hat ihr die Natur durch den Nachteil des
Mannes verrammelt.
FOr den Nachteil des Mannes, nicht immer er*
hören su können, wurde er mit der Feinfahligkeit
entschädigt, die Unyollkoromenheit der Natur in je-
dem Falle als eine persönliche Schuld au empfiadeo.
Als die Zugänglichkeit des Weibes noch eine
Tugend war, wuchs dem männlichen Geiste die Kraft
Heute versehrt er sich vor der Scheidemauer einer
verbotenen Welt. Geist und Lust paaren sich wie
ehedem. Aber das Weib hat den Geist an sich ge-
nommen, um dem Draufgänger Lust su machen.
Wie schnell kam der Mann an sein Tagewerk,
als er noch den bis auf Widerruf eröffneten Duroh-
fang benutzen durfte. Der neue Hausherr der
[enschheit duldets nicht.
Griechische Denker nahmen mit Huren von-
*) Unter diesem Titel wird demnächst mein AphorismeatMCfc
im Verlag Albert Langen, Mfinchen erscheinen. Es hat nenn AbteÜBafes:
I. Weib, Phantasie. II. Moral, Christentum. III. Mensch und Nebe»
mensch. IV. Dummheit, Demoicratie, InteUektnalismus. V. Der KflnsÜct
VL Ober Schreiben und Lesen. VII. Länder und Leute. VIII. StfanmunfCf
Worte. IX. Sprflche und Widersprflche. t
üigitizedbyV
yGoOgl
— 41
lieb. Qermanifiche Eommis kOnnen ohne Damen nicht
leben.
Das vom Mann verstofiene Weibchen rächt sich.
Eis ist eine Dame geworden und hat ein M&nnchen
im Haus.
Der christh'che Tierpark: Eine gezähmte Löwin
sitzt im Eäfi^. Viele Löwen stehen draufien und
blicken mit Interesse hinein. Ihre Neugierde wächst
an dem Widerstand der Oittersläbe. Schließlich zer*
brechen sie sie. Händeringend flachten die Wärter. *
Wenn der Geist der Weiber in Betracht kom-
men soll, dann werden wir anfangen, uns fOr die
Sinnlichkeit der Männer zu interessieren. Welch eine
Aussicht I
•
Die Frauenemanzipation macht rapide Fort*
schritte. Nur die LustmOrder gehen nicht mit der
Entwicklung. Ejs gibt noch keinen Eopfaufschlitzer.
Eine, die mit viel Vitriol imageht, wäre auch
imstande zur Tinte zu greifen.
#
Es geht nichts über die Treue einer Frau, die
in allen Lagen an der Oberzeugung festhält, daJB sie
ihren Mann nicht betrüge.
•
Dafi eine einen Buckel hat, dessen mufi sie
sich nicht bewufit sein. Aber dafi sie einen Zwicker
hat, sollte sie doch nicht leugnen.
Der Philister verachtet die Frau, die sich von
ihm hat lieben lassen. Wie gerne möchte man ihm
recht geben, wenn man der Frau Schuld geben könnte t
Die Unsittlichkeit der Maitresse besteht in der
Treue gegen den Besitzer.
Digitized by VjOOQIC
Keine Grense verlookt mehr Bum Sohmuggdn
als die Altersgrenze.
#
Die Moralheuchler sind nicht darum hassens-
werty weil sie anders tun, als sie bekennen, sonders
weil sie anders bekennen als sie tun. Wer die lioral-
heuchelei verdammt^ raufi peinlich darauf bedacht sein,
daB man ihn nicht für einen Freund der Moral halte,
die jene doch wenigstens insgeheim verraten. Nicht der
Verrat an der Moral ist sträflich, sondern die Moral
Sie ist Heuchelei an und für sich. Nicht dafl jene
Wein trinken, sollte enthüllt werden, sondern dafl sie
Wasser predigen. Widersprüche swischen Theorie
und Praxis nachzuweisen ist immer mifilich. Was
bedeutet die Tat aller gegen den Gedanken einet
einzigen? Der Moralist könnte es ernst meinen mit
dem Kampf gegen eine Unmoral, der er selbst sum
Opfer gefallen ist. Und wenn einer Wein predigt^
mag man ihm sogar verseihen, daß er Wasser trinkt
Er ist mit sich im Widerspruch, aber er macht, dat
mehr Wein getrunken wird in der Welt.
In Deutschland bilden zwei einen Verein. Stirbt
der eine, so erhebt sich der andere noch zum Zeichaa
der Trauer von seinem Platze.
Die >Männer der Wissenschaft« I Man sagt ihr
viele nach, aber die meisten mit Unrecht.
Die Religion wird die »gebundene Weltan-
schauung« genannt. Aber sie ist im Weltenraum
gebunden, und der Liberalismus ist frei im Besirh
Die Vorsehung einer gottlosen Zeit ist die Presse
und sie hat sogar den Glauben an eine AUwissenheii
und Allgegenwart zur Oberzeugung erhoben.
Das größte Lokalereignis, das in allen Stftdtei
gleichseitig und unaufhörlich sich begibt, wird air
— 48
wenigsten beachtet: Der Einbruch des Eommis in
das Geistesleben.
Die Mission der Presse ist, Geist su verbreiten
und zugleich die Aufnahmsffthigkeit su zerstören.
Die Medizin: Geld her und Leben I
Ein Agitator ergreift das Wort. Der Künstler
wird vom Wort ergriffen.
*
Das individuelle Leben der Instrumente ist von
übel. Ich kann mir denken, dafi sie eine politische
Oberzeugung haben, aber dafi sie atmen stört mich.
Das Publikum läfit sich nicht alles gefallen. Bs
weist eine unmoralische Schrift mit Empörung zurück,
wenn es ihre kulturelle Absicht merkt.
•
Bin Hausknecht bei Nestroj wird mit der Last
des Lebens fertig und wirft die Langeweile zur Tür
hinaus. Er ist handfester als ein Professor der Philo-
sophie.
«
Stimmung der Wiener: das ewige Stimmen
eines Orchesters.
Wenn man nicht weifi, wovon einer lebt, so ist
das noch der günstigere Fall. Auch dieVolkswirtsohaft
hat ein wenig Phantasie notwendig.
Bin Blitzableiter auf einem Kirchturm ist das
denkbar stärkste Mifitrauensvotum gegen den lieben
Gott.
Nie ist gröflere Ruhe, als wenn ein schlechter
Zeichner Bewegung darstellt. Ein guter kann einen
Lftufer ohne Beine zeichnen.
• Digitizedby Google
— 44 —
Bin annaeliger Hohn, der sich in Interpunktionen
austobt und Rufseichen, Frageseichen und Gedanken-
striche als Peitschen, Schlingen und Spiefte Ter-
wendetl
Nicht immer darf ein Name genaimt werden.
Nicht, daß einer es getan hat, sondern daB es möglich
war, soll gesagt sein.
Der Politiker steckt im Leben, imbekannt wo.
Der Ästhet flieht aus dem Leben, unbekannt wohin.
Im Theater mufi man so sitsen, dafi man das
Publikum als eine schwane Masse sieht Dann kann
es einem so wenig anhaben wie dem Schauspieler.
Nichts ist störender als die Individualitäten der
Menge unterscheiden su können.
•
Die einzige Kunst, über die das Publikum ein
Urteil hat, ist die Theaterkunst. Der einzelne Zu-
schauer, also vor allem der Kritiker, spripht Unsinn,
alle zusammen behalten sie recht Vor der Litwatur
ist es umgekehrt.
Die wahren Schauspieler lassen sich vom Autor
blofi das Stichwort bringen, nicht die Rede. Ihnen ist
das Theaterstück keine Dichtung, sondern ein Spi^raum.
•
Die Hausherrlichkeit des Schauspielers im Theater
erweist sich darin, dafi die Veränderungen, die ei
mit der dichterischen Qestalt vornimmt, dem Brfolg
zum Vorteil gereichen. Die Tantiemen gebühren dem
Schauspieler.
•
Wenn ein Väterspieler als Heinrich IV. in dem
Satz: »Dein Wunsch war des Gedankens Vater,
Heinriche den Vater betont, kann er das Publikum
au Tränen rühren. Der andere, der sinngemäß den
»Wunsche betont, wird vom Publikum blofi nicht
Uigitized by VjV
— 45 —
▼erstanden. Dieses Beispiel zeigt, wie aussichtslos
das Dichterische auf dem Theater gegen das Schau»
spielerische kämpft, um scbliefilich von dessen Siegen
au leben. Das Drama behauptet seine Bühnenhaftig*
keit immer nur trotz oder entgegen dem Gedanken.
Auch am Witz schmeckt ein Theaterpublikum bloft
den stofflichen Reiz. Je mehr Körperlichkeit der
Witz hat, je mehr er dem Publikum etwas zum An-
halten bietet, um so leichter hat er es. Deshalb ist
Nestroys gedanklicher Humor weniger wirksam als
etwa die gleichgültige Situation, die ihm ein fran-
zösisches Muster liefert. Das Wort, dafi »in einem
Luftschloß selbst die Hausmeisterwohnung eine para-
diesische Aussicht hat«, versinkt. Wenn ihm nicht
die vertraute Vorstellung des Hausmeisters zu einiger
Heiterkeit verhilft.
Ich traue der Druckmaschine nicht, wenn ich
ihr mein geschriebenes Wort überliefere. Wie kann
ein Dramatiker sich auf den Mund eines Schauspielers
verlassen I
«
Die Entfernung der schauspielerischen Persön-
lichkeit von der dichterischen zeigt sich am auf-
f&Uigsten, wenn die Figur selbst ein Dichter ist. Man
glaubt ihn dem Schauspieler nicht. Ihm gelingen
Helden oder Bürger.
Ein Schauspieler, der sich für Literatur inter-
essiert? Ein Literat gehört nicht einmal ins Parkett.
«
Die modernen Regisseure wissen nicht, dafi man
auf der Bühne die Finsternis sehen mufi.
Der Naturalismus der Szene läfit wirkliche
Uhren schlagen. Darum vergeht einem die Zeit so
langsam.
Der Schauspieler hat Talent zur Maske. Die
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48 -
Ver&mderUchkeit eiaea weibliohea AnÜitses ist dti
Talent. Schauspieleriaaen, die Ifaskaa maoheOi mni
keine Weiber, sondern Schauspieler*
Man ^bt su, die Kunst der Schauspielerin lei
sublimierte Gesohlechtlichkeit. Aber aufierhalb der
Bühne mufi das Feuer den Dampf wieder in Körper
Terwandelo können.
Nur eine Frau, die sich im Leben gans ausgibt
behält genug fQr die BQhne. Komödiantinnen dm
Lebens sind schlechte Schauspielerinnen.
Man kann eine Schauspielerin entdecken, wem
man sie die natürlichste Situation, in die ein Weib
geraten kann, darstellen läfit.
Das Buch eines Weibes kann gut sein. Aber
ist dann auch da3 Weib ssu loben?
Es kommt gewiß nicht blofl auf das Aufler«
«iner Frau an. Auch die Dessous sind wichtig.
•
Das eben ist der Unterschied der Qeschlechter:
die Männer fallen nicht immer auf einen kleines
Mund herein, aber die Weiber immer noch auf taat
grofie Nase.
Ein Weib, das cur Liebe taugt, wird im Alter
die Ehren einer Kupplerin genieften. Bine frigide
Natur wird blofi Zimmer vermieten.
Hundert Männer werden ihrer Armut inne Tar
einem Weib, das reich wird durch Verschwendung.
Bine neue Erkenntnis muS so gesagt sein, dal
man glaubt, die Spatzen auf dem Dach hätten nur
•durch einen Zufall versäumt, sie au pfeifen.
y Google
47
Bine Antithese sieht blofi wie eine mechanische
Umdrehupe: aus. Aber welch ein Inhalt von Erleben,
Erleiden, Erkennen mufi erworben sein, bis man ein
Wort umdrehen darf I
Der LiberalisAius kredenzt ein Abspülwasser als
Liebenstrank.
Das ist kein rechtes Lumen, das dem Verstände
nicht zum Irrlicht wird.
Der gesunde Menschenverstand sagt, daß er mit
einem Künstler bis zu einem bestimmten Punkt »noch
mitgeht«. Der Künstler sollte auch bis dorthin die
Begleitung ablehnen.
An einem Dichter kann man Symptome beob-
achten, die einen Kommerzienrat für die Intemierung
reif machen wtlrden.
Der Philister möchte immer, daß ihm die Zeit
Tergebt. Dem Künstler besteht sie.
•
Witzblätter sind ein Beweis, dafl der Philister
humorlos ist. Sie gehören zum Ernst des Lebens,
wie der Trank zur Speise. »Geben Sie mir sämtliche
Witzblätter I« befiehlt ein sorgenschwerer Dummkopf
dem Kellner, und plagt sich, dafi ein Lächeln auf
seinem Antlitz erscheine. Aus allen Winkeln des
täglichen Lebens mufi ihm der Humor zuströmen,
den er nicht hat, und er wtirde selbst die Zündholz-
schachtel verschmähen, die nicht einen Witz auf
ihrem Deckblatt führte. Ich las auf einem solchen:
»Handwerksbursche (der sich eine zufällig in ein Ge-
dicht eingewickelte Wurst gekauft hat): ,Sehr guti
Nun ess' ich erst die Wurst für die körperliche und
dann les' ich das Gedicht für die geistige Nahrung!'«
Dergleichen freut den Philister, und ^r empfindet die
Methode des Handwerksburschen nicht einmal als
eine Anspielung.
• Digitizedby Google
48
Warum mutet man einem Musiker nicht wop .
daS er gegen einen Obelstand eine Symphonie rtt-
fasse? Ich mache schon längst keine Progaaaaah
musik mehr.
Gtogen den Fluch des Gtestaltenmüssens ist keia '
Kraut gewachsen.
•
Mein Geist regt sich an den Sümen, meine
Sinne regen sich an dem Geist der Frau. Ihr Körper
gilt nicht.
Sinnlichkeit des Weibes lebt so wenig Tom
Stoff wie männliche KünsÜerschafL Je lumpigor
der Anlafi, desto gröfier die Entfaltung. Der Gast
ist an kein Standesvorurteil gebunden und die Wirf-
lust hat Perspektive.
Ich beherrsche die Sprache nicht; aber die
Sprache beherrscht mich vollkommen. Sie ist mir
nicht die Dienerin meiner Gedanken. Ich lebe in
einer Verbindung mit ihr, aus der ich Gedanken
empfange, und sie kann mit mir machen, was sie
will. Ich pariere ihr aufs Wort. Denn aus dem Wort
springt mir der junge Gedanke entgegen und formt
rückwirkend die Sprache, die ihn schuf. Solche Gnade
der Gedankenträchtigkeit zwingt auf die Knie und
macht allen Aufwand zitternder Sorgiedt zur Pflicht.
Die Sprache ist eine Herrin der Gedanken, und wer
das Verhältnis umzukehren vermag, dem macht ne
sich im Hause nützlich, aber sie sperrt ihm den SchdI.«
«
0 markverzehrende Wonne der Spracherleb^
Die Gefahr des Wortes ist die Lust des GedanI
Was bog dort um die Ecke? Noch nicht ersehen
schon geliebt I Ich stürze mich in dieses Aben
Karl Kra
HcTUUffcbcr nnd veiiutwortlidwr
Dn«k wn JthoöM fr Sicgd. Wien, III.
Karl Kraale
[In
r der Aufsatz: »Eine
ri/ar I f^xfnr Ag»r Aitcctfl
era Jahr - i hat, wurde der Herausgcb-
1. Da c> r den Pro2:eß wrf:rn des \
richtet hat, so ist der Kläger um
*ts gekommen. Deshalb wird sie ,
pi in zwangloaer Fol^e ira UrafaniKe vo; '" ^' " ''e
reich-
Fliänder
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Ge5cbicbfe einer Jugend.
Demnäohst erachemo mi uuterzeichn»
Die weltlichen Gesänye a
fanzelter Gidi von Polykarpn
I
-eifl BTk. ......
_2i^5C. ksrtoi ler
Karl Amc-
Febi
•09
Die Fackel
Herausgeber:
KARL KRAUS
N I-: A L T
ter Altcfiberr
Eine Zu-
— Leben.
Ullü ^5lüL'.^:l. Spiel, Voa ütl< ■.. —
len, Notizen, Aphorismen. Vnn ^ ns^
l^racheint in zwangloser Folge«
PreiB der einzelnen Nammer 30 h.
and gewerbsmäBiges Verleihen verboten ; gerichtlich^
Verfolgung vorbehalten.
WIEN.
E
f Freiwillige ^Rnzd^) -
Werke von S'eterMitem
Wie idi c
ö öt/ic
Was der Tag mir
■ /•/. .;.../.. 1,,v7^,r_.
Gl-/).
Prodromos
Märchen des Lebe:
Die Auswahl aus meinen />
vrifr ÄnffncTt'. Mi'f drm 77;
c rrcnurD i/r
Die Fackel;
M. 274 27. FEBRUAR 1909 ILJAHR
Peter Altenberg.
Zum 9. Mflri.
Er feiert nun wirklichdiesen oft yersprochenen, oft
yerschobenen fQnfzigsten Geburtstag. Aber mag das
Datum schwankend sein wie das Urteil über den Mann,
ja schwankend selbst wie das Urteil des Mannes,
die Gelegenheit, ihn respektvoll su grüfien, möchte
sich einer nicht yersagen, der dabei war, als jener
seine Haare liefi, um einen Kopf zu bekommen.
Und nichts steht heute fester in unserm Geistes-
leben als dies Schwanken, nichts ist klarer umris-
sen als diese knitterige Physiognomie, nichts bietet
besseren Hidt als diese Un Verläßlichkeit. Unter den
vielen, die hier etwas vorstellen^ ist einer, der bedeu-
tet, unter den manchen^ die etwas können, ist einer,
der ist. Unter den zahllosen, die ihre Stoffe aus
der Literatur geholt haben und Migräne bekamen,
als es an die Prüfung durchs Leben ging, ist einer,
der im schmutzigsten Winkel des Lebens L^eratur
Seschaffen hat, gleich unbekümmert um die Regeln
er Literatur und des Lebens. Weifi der liebe Herr-
gott, wie die anderen ihren Tag führen, ehe sie zu
Uiren Büchern gelangen, die Nächte dieses einen
waren allzeit der öffentlichen Besichtigung preis-
g^'-eben, und manch ein champagnertrinkender Pferde-
ji =) dürfte um die Zeugung dessen Bescheid wissen,
^ für alle Zeiten den Werten einer lyrischen Prosa
ZI erechnet bleibt. Dieses Eüosllerleben hatte einen
Z ;, den in seiner Welt die Weiber verloren haben:
1 »ue im Unbestand, rücksichtslose Selbstbewahrung
ii Wegwurf, Unverkäuflichkeit in der Prostitution.
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^ ö
Seitdem und so oft er vom Leben zum SchreiboD
kam, stand das Problem dieser elementaren Ab-
sichtslosigkeit, die heut^ leichtmütig eine Perle und
morgen feierlich eine Schale bietet^ in der Rätselecke
des lesenden Philisters. Die bequemste Lösung war
die Annahme, einer sei ein Poseur, der Eeitlebens
nichts anderes getan hat als die Konvention der Ver-
steilung zu durchbrechen. Oder es sei ein echter
Narr. Denn das Staunen des gesunden Verstandes,
dessen niederträchtige Erhabenheit sich hier toD
entfaltet, sieht blofi die gelockerte Schraube und
fühlt die bewegende Kraft nicht, die den Schades
schuf, um an ihm zu wachsen. Aber wenn die Dich-
ter heute zu nichts anderm taugen, als dafi die
Advokaten an ihnen ihrer Vollsinnigkeit inne wer-
den, so haben sie ihren Zweck erfüllt, und die Advo-
katen sollten darauf verzichten, in das Verständnis
der Dichter weiter eindringen zu wollen, als zun
Beweise ihrer eigenen Daseinsberechtigung notwen-
dig ist. Mag sein, dafi der Altenbergsche Smst diese
Art mechanischer Betrachtung auf Kosten der leben-
digen Persönlichkeit verschuldet hat. Im Alteoberg-
schen Ernst kreischt die Schraube, und verlockt die
Neugierde einer wertlosen Intelli^^enz, die man besser
ihren Weg ziehen liefie. Es ist dieser küustlertschen
Natur zu eigen, das Unscheinbare aus der Hohe
anzurufen, und solche Aufmerksamkeit wird ihr un-
versehens zur Kunst, wenn die Kontraste sich im
Humor verständigen. Er ist Lyriker, wenn er sich
zur unmittelbaren Anschauung seiner kleinen Welt
begibt, und er ist Humorist, wenn er sich ttbar sie
erhebt, um sie zu besprechen. Er ist persönlich und
reizvoll in und über den Dingen, und wir haben
ihm hier und dort Kunstwerke zu danken, die ihm
keiner nachmachen kann, weil er selbst ohne Vorbild
ist. Aus einer Qruadstimmung zwischen Überlegen-
heit und lyrischem Befassen, aus einer umkippenden
Weisheit, die vor einem Kanarienvogel ernster bleibt
y Google
- 3 -
als vor sich selbst^ aus einer Besoheidenheitf die sieh
nur vorschiebt, um die Welt in einer Narrenglatze
sich spiegeln zu lassen, könnte er uns eine »Empfind-
same Keisec beschreiben, die er aus Ersparnisrück-
sichten im Kinematographentheater erlebt. Ich gebe
für die paar Zeilen seiner »Maust oderseines »Lift«, sei-
nes »Spazierstock« oder seines »Oesprächs mit dem
Gutsherrn« sämtliche Romane einer Leihbibliothek her.
Dazu aber auch jenen P. A., der die Distanz zu
seiner Welt durch Lärm ausgleichen möchte. Iph
kann es verstehen, daß einem Künstler die Geduld
reifit und dafi er eines Nachts dazu gelangt, das
Jjeben im Vokativ anzusprechen. Er scheint mir in
solchen Äugenblicken ehrwürdig, aber nicht eben
schöpferisch zu sein. Ich sehe ihn hoch, aber der Ab-
stand, der Humor verlangt, schafft sich ihn von selbst,
wenn der Betrachter pathetisch wird. In dieses
Kapitel scheint mir die Altenbergsche Qastrologie
zu gehören mit jenem Materialismus der Frauen-
seelen und jenem Spiritualismus der Material-
waren, mit der Unerbittlichkeit jenes »erstklas-
sigen« akrobatischen Evolutionsgedankens, dafi der
Affe vom Menschen abstammt. P. A., der vor
einer Almwiese zum Dichter wird, wird vor
einer Preisjodlerin zum Propheten. Er ist ein Seher,
wenn er sieht, aber er ist ein Rufer, wenn er ein
Seher ist. Seihe Schrullen sind schöpferische Hilfen,
wenn sie sich selbst entlarven; sie sind Hindemisse,
wenn sie auf sich bestehen. Die zarteste Künstler-
hand beschwichtigt sie, und zu einer widrigen Un-
sprache lassen sie sich alarmieren. Und das ist der
Humor davon. An ihn hält sich der Philistersiun,
wenn diese Fülle sich selbst zu einer Sonderbarkeit
verkleinert, die mit visionärer Verzückung Küchen-
rezepte verfertigt, tant de bruit pour une oraelette
macht und die Anweisung von sich gibt: 0 nähme
man doch endlich drei Eier II? Qewifi bildet diese aus-
fahrende Sucht, die eine alltägliche Sache blofi ver-
y Google
— 4 —
stärkt} ein Teil von jener Krait^ die eine alltägliche
Sache eu erhöhen vermag, und ich mOchte den
Mißton in der Zigeanermusik dieses Geistes nicht
entbehren. In der restlosen Ehrlicheit, die das Unsag-
bare sagt, ist er wohl liebenswerter als ein Pre-
ziösentum, das vom Sagbaren nur die Form ent-
hüllt, und beschleunigte Herztätigkeit ist es, was
den Menschen wert des Predigers über die Zweifel der
Lehre erhebt. Aber ihr Lärm scheint mir von der Schwer-
hörigkeit des Philisters gefördert und er bedeutet jenen
Trotz, welcher die Eonzession des Künstlers ist, der
keine Eonzessionen macht. Und wie sollte die stärkste
Stimme nicht heiser werden in einem Vaterlande,
in dem der Prophet der Niemand ist, aber der Poet
ein Journalist? Peter Altenbergs Ruhm ist aus dem
sicheren Auslande noch nicht nach Wien gedrangen
und das intellektuelle Gesindel dieser Stadt hat noch
nicht geruht, ihn so ernst zu nehmen wie ihre Jour-
dichter und Journalisten. Dennoch sollte man diesen
Reichtum der Mittel sich nicht auf Kosten des Inhalte
entfalten lassen. Man mflfite eine Zeitung, die die-
sem Temperament die loterpunktionen ihrer Drucker^
zu schrankenloser Verfügung überläßt, boykottieren,
man müfite vor Preisrichtern der Literatur, die eine
Persönlichkeit von solchem Wuchs in der Varietö-
Kritik exzedieren lassen und jahraus jahrein harmo-
nische Plattköpfe dekorieren, auf der Straße aus-
spucken. Kurzum, man müfite alles das tun, wodurch
man den Zorn P. A.'s auf sich laden könnte, den ein-
zigen stadtbekannten Zorn, der um seiner selbst willen
wertvoll ist und auch dort noch berechtigt, wo der Eigen-
tümer fälschlich annimmt, man habe es auf seine Frei-
heit abgesehen. Denn man hat es in Wahrheit darauf
abgeseheo, ihn auf einen Stand zu bringen, auf dem
er die wohlverdiente literarische Anerkennung end*
lieh für die Ehre eintauscht, die Zielscheibe der
Betrunkenheit au sein. Oder gar das Merkziel jener
vollsinnigen Betrachtung, welche die Kunst des
y Google
Mannes als eine Pri^atangelegeiiheit belächelt, aber
vor seinem Nachtleben wie vor einer Praterbude
steht, und die überglücklich ist, wenn sie eine Probe
Altenbergscher Urteilswütigkeit kolportieren kann.
Dafi hier ein ewig junges Temperament bei der Sache
ist, ob es nun für oder gegen die Sache ist oder beides
zugleich, schätzt keiner. Aber auch die Ansichten
der Natur sind geteilt, auf Schön folgt Regen und
es ist derselbe Ackerboden, der den Vorteil von sol-
chem Widerspruch hat. Dieser Dichter hatte Anhän-
ger, die ihm abtrünnig wurden, weil sie den Zufällen
seiner klimatischen Verhältnisse nicht gewachsen waren.
Nun, wen es trifft, zwischen dem Einerseits einer
höchsten Begeisterung und dem Anderseits einer
tiefsten Verachtung zu leben, der bleibe zuhause, aber
er preise die Allmacht des Schöpfers und rümpfe
nicht die Nase über die Natur. Denn die Natur ist
weise, sie nimmt ihre Donner nicht ernst und ihre
Sonne lacht über die eigene Inkonsequenz. Ach,
wir haben genug Dichter, die mit fünfzig Jahren
dasselbe sichere Urteil bewähren werden wie mit
zwanzig. Qott erhalte sie als ganze. Von Peter Alten-
berg genügen uns ein paar Zeilen.
Karl Kraus.
Einmal las ich in einem Buch von Peter Alten-
berg, ich glaube es war in »Wie ich es sehet, eine
Stelle, wo ein Nachen durch einen engen, mit Rosen
und Ranken Oberhangenen Kanal fährt — seitdem
liebe ich Peter Altenberg.
Detlev Baron Lilienoron.
Alt-Rahlstedt bei Hamburg, 19. 2. 9.
y Google
gl,
Leben.
Zwischen zwei Nächten ein Traum.
Im Dunkel ruht und nächst ans Licht
Ein Baum.
Hat ein wunderbar Gesicht,
Von Sonne in Säften und Ästen,
Von Himmelsbläue und Wolkenwandern
Über dem Haupt
Und glaubt
Und lauscht den Vogelgästen,
Die von Herrlichkeiten sagen.
Alle seine Arme tragen
Von Wunsch und Weh die grüne Last
Und können den Schatz nicht wahren.
Ein Sturmwind kommt gefahren,
Da zuckt und stöhnt ein Baum,
Ein Halm am Saum
Der Unendlichkeiten.
Und in das Wehren und Spreiten
Fährt ein Blitz und loht,
Bleibt und starrt der Tod,
Bläst ein Ding fort wie ehier Feder Flaum.
Ein wunderbar Gesicht:
Es löscht ein Licht
Zwischen zwei Nächten im Traum.
Otto Stoessl.
Spiel.
Von allem Satanswerk auf Erden hatte das Spu
das ärgste Schicksal, denn es wurde als Zer^treuun,
und Erholungsbeschäftigung in die bOrgerliche Lebens
Ordnung eingefügt. Auch die andern SOnden käme
um Purpurmantel und Höllenglanz, sie fristen ei
armseliges Dasein als simple Gesetzesverletzung odi
üigitized by VjOOQIC
— 7
als pathologische Erscheinung. In dieser Stellung
aber haben sie Frieden und müssen nicht, wie das
Spiel, dazu herhalten, den Feierabend eines bis sechs
Uhr tätigen Lebens zu verschönen. Es ist ein kläg-
liches Ding das erlaubte, das Kombinationsspiel. Man
hat den Zufall in einer Schlinge gefangen, ihm die
Krallen beschnitten und ihn in einen Käfig von
Regeln gesetzt. Da macht er seine jämmerlichen
Bewegungsversuche, seine Parodien auf Qunstbezeu-
gungen, und ehrsame Leute erfreuen sich daran. Das
reine Glücksspiel aber ist selbstverständlich unter-
sagt. Hier entzieht sich der Erfolg jeder Berechnung,
hier schaltet ein Unbekanntes mit menschlichen
Wünschen imd das darf nicht geduldet werden. Gibt
es denn sonst unbefugte Einmengungen des Schick-
sals in das menschliche Leben? Gibt es sonst in der
Welt Ereignisse, die sich der Kontrolle und der so-
zialen Ordnung entziehen? Erdbeben et^a, Feuers-
brünste oder gar Todesfälle? Ein grobes Versehen,
wenn es dergleichen gibtl Man hätte es natürlich
längst verbieten sollen. Oder sind diese Unberechen-
barkeiten vielleicht gar nicht so arg, als jene des
Glücksspieles? Mag der Zufall über Tod und Leben
entscheiden, sein keckes Hineinspielen in Geldver-
hältnisse wird man ihm untersagen müssen. Den
Menschen selbst kann er nach Gutdünken vernich-
ten, aber in seine Taschen hat er nicht zu greifen,
denn hier empört sich die gesunde Vernunft geeen
sein unsinniges Walten und gebietet ihm Halt. Und
es ist merkwürdig anzusehen, wie man eifrig bestrebt
ist, die kleinen und kleinsten Zufälligkeiten des
Lebens in Mausefallen einzufangen, während die
Srofie Bestie Zufall die schlauen Fallensteller in ihrem
achen trägt. Ein würdeloses Schauspiel ist diese
hilflose Furcht vor dem Unbekannten, dieses Zappeln
in der Gewalt des Stärkeren; das Unberechenbare
beherrscht das Leben, es ist hoffnungslos, ihm Dämme
zu bauen, die Flut ist stärker. Und Spielen — • das
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— 8 —
heiflt, sich dieser Flut anvertrauen. Qewifl stellt das
Hasardspiel eine der wirklich vornehmen Handlungoi
dar, zu welchen sich die Menschen aufzuschwingoi
vermochten; eine vollständige Hingabe an denZunJl,
ein ehrliches Waffenstrecken vor dem Schicksal. Die
Karte nimmt, die Karte schenkt Geräuschlos, ohne
das Gerassel des kommerziellen Apparates voUsiefat
sich der Wechsel. Hier ist das Walten des Schicksab
mit den allereinfachsten Mitteln, es ist die Reduktion
des Lebenskampfes auf die allereinfachste Form,
Gewinnen oder Verlieren, der Rest von Mflhsal und
Arbeit, von Zuwarten und langwierigem Sorgen ist
Beiwerk, und verschwindet. Das Glflcksspiel ist ein
T6te-ä-T6te mit dem Schicksal, es ist der aufler-
fewOhnliche und direkte Verkehr mit einer hohen,
em Leben vorgesetzten Instanz. Das Zeitalter der
Bureaukratie wehrt sich dagegen, es liebt die Men-
schen, die ihr Dasein fahren wollen, und der Spieler ist
ein Mensch, der sich von seinem Dasein ffihren Iftflt
Man erhebt Vorwfirfe gegen das Spiel. Es sei
eine nichtige Beschäftigung, ohne wertvolles Resultat
Die Nichtigkeit dürfte das Spiel mit manchen anderen
Dingen gemein haben, aber eine Tätigkeit, die den
andern nicht nachsteht, ist es unbedingt. Repräsentiert
es doch den einzigen bedeutenden Nervensport, den
wir kennen. Die Übung von Arm- und Beinmuskula-
tur hat soviel begeisterte Aufmerksamkeit gefunden,
da ist es nur Mangel an Konsequens, den Sportwert
des Spieles nicht anzuerkennen. Es ist eine Art seeU-
soher Freiübungen im Ertragen der Wechselfälle, das
Training der Nerven vor dem Zufall.
Femer wird behauptet, dafi im Spiel nicht d'
Würdigkeit über das Erlangen des Gewinnes en^
scheidet. Wenn dem so ist, so kann man es nur \h
dauern. Die KrOnung des Verdienstes ist sei
wünschenswert Aber solange die soziale Ordnui
selber diesen Wunsch nicht berücksichtigt, solaof
die wohlerwogenen Vorschriften der Vernunft nie
y Google
zu diesem Resultate ftihren, ist es unbillig, vom
Zufall mehr zu verlangen. Eine blinde Absichtlichkeit
darf keinen sehenden Zufall fordern. Es ist durchaus
ungerecht, der Karte jenen Zahlungsauftrag fQrmensch-
liehe Werte zuzuweisen, den man selbst nicht
honorierte.
Das Spiel sei ein gar zu müheloser, ein allzu-
leichter Erwerb. Dafür ist es auch der reinlichste
von allen. Keine Art des Qesohäftes gibt es unter
Menschen, keinen Handel, wo Vorteil und Nachteil
so streng abgewogen, so peiixlich genau ins Oleich-
gewicht gebracht sind, wie beim Spiel. Hier das
Risiko, dort die Chance. Nichts Unbekanntes, keine
Möglichkeit der Täuschung gibt es. Kein Vorwurf
kann entstehen, kein Qefühl des Obervorteiltseins sich
regen. Der Mechanismus des Erwerbens funktioniert
hüllenlos, freigelegt vor aller Augen. Die bunte Ver-
kleidung des Handels mit Waren, des Tausches von
Werten ist abgestreift, und in ihr allein kann sich
ein ungerechtfertigtes Zuviel für einen der Teile ver-
bergen.
Weiterhin hätte das Spiel Existenzen unter-
S'aben, Menschen zu Grunde gerichtet. Das hat seine
ichtigkeit. Aber in dieser seiner Wirkung leistet
das Spiel verhältnismäßig so Geringes, hat es so viele
überlegene Konkurrenten, dafi es füglich aufier Be-
tracht bleiben darf. Es sei daran erinnert, wie das
Leben selbst mit seinen Menschen verfährt, wie viel
Verluste ihnen zuzufügen, sein Ernst sich vorbehält.
Ein Unterschied ist, dafi es beim Spiele bis zur
letzten Minute Erfolge gibt, das Leben aber noch
niemand mit Gewinn verlassen hat.
Unsere Zeit sieht mit erklärter Feindschaft auf
das Spiel. Sie hat so vieles vergeblich ausgerechnet,
sie fährt noch unaufhörlich fort zu rechnen und
wittert in allem Unberechenbaren eine feindliche
Verhöhnung ihres Tuns. Sie möchte gerne das
Spiel assimilieren, seinen Geist in Rechnungen er-
— 10 —
sticken. Mit seinem eigenen Sinn und Wesen weifl
sie nichts anzufangen und hat es in ihrer Weise inter-
pretiert. Sie fafit es als Geschäft auf, und ^egen Ge-
schäfte mit gleicher Chance hat sie ein tiefgehende
Miß rauen. Daher die Verachtung. Sie weist dem Spiel
als blofle Zerstreuung eine dienende Rolle unter den
Beschäftigungen an, sie wacht strenge darüber, dafi
Maß gehalten wird in diesem Genüsse. Eine schOne
sittliche Entrüstung hat sie für die Spielhölle übri^,
der gegenüber sie in den Fabriksräumen, die sie
baute, ihren Arbeitshimmel geschaffen hat. Sie ver-
weigert dem Rechte des Spielers ihren Schuts, sie
erkennt die Spielschuld vor dem Gteseta nicht an,
Sie begünstigt offen den unzweideutigen Betrug, der
damit gegeben ist, daß jemand, der daran denkt, als
Verlierer nicht zu zahlen, von der Möglichkeit su
gewinnen Nutzen zieht. Sie hat damit alles getan,
um das Spiel auf ein tiefes Niveau zu drücken, sie
hat für jede Art von Gesindel eine Lockung in das-
selbe gelegt. Und es ist ein starkes Zeugnis für den
inneren Gehalt des Spikes, wenn es trotz solcher
Maßregeln immer wieder über die Zeit triumphiert
und das bleibt, was sie niemals war: vornehm. Zar
Arbeit konnte man Tiere erziehen, ja selbst Menschen
dressieren. Nieraals zum Spiel; das konnte nur frei ge-
wählt werden. Mühsam mußte man und lange für jene
Wahrheit Anerkennung erkämpfen, daß die Arbeit
nicht schändet, vergeblich aber will man stets ver-
suchen, die andere Wahrheit zu unterdrücken, daß
das Spiel adelt.
Otto Soyka.
y Google
- 11 —
Glossen, Notixen, Aphorismen.
Der Liberalismus hatte gesprochen:
»Schon haben die Männer der Wissenschaft Apparate gebaut,
die selbst in einer Entfernung von vielen tausend Meilen die Erdbewe-
gungen verzeiduen . . .<
Darauf habe ich geantwortet:
»Je gröfier die Entfernung, desto sicherer funktionieren die Appa-
rate. Nur wenn sie sich am Orte des Erdbebens befinden, ist Qefahr
vorhanden, daß sie kaput gehen.«
Das Erdbeben hat das Wort:
»In Reggio und Messina haben gestern und vorgestern neue
heftige Erschfltterungen stattgefunden, welche zwar keinen Schaden ver-
ursachten, aber furchtbaren Schrecken erregten. Zwei Seismologen,
welche in Reggio Beobachtungen anstellten, wurden von den Erschflt-
terungen zu Boden gesdileudert, ihre Instrumente zerbrachen. Die Qe-
lelirten sind der Ansicht . . .<
Die Ansichten sind bis heute unbeschjdigt.
Als ich letzthin der wohltätigen Bemühungen des Herrn
Dr. Charas gedachte, der in Catania die Hungernden gespeist,
sich dann in Rotn aufgehalten und in Wien die Blinden sehend
gemacht hat, ließ ich die Möglichkeit offen, daß die Angriffe der
italienischen Presse auf chauvinistische und nicht auf kulinarische
Vorurteile zturückzufQhren seien. Ich dachte nämlich, daß die Lei-
stung der Wiener Rettungsgesellschaft auf sizilischem Boden in der
Verteilung von Makkaroni bestanden hätte. Nun wetde ich darauf
aufmerksam gemacht, daß ich das Maß jener Wohltätigkeit
unterschätzt und somit auch den Tadel der italienischen Presse
mißverstanden habe. Gegen die Einfuhr von Makkaroni,
die ja als Nudeln durchaus in das Ressort des goldenen
Wiener Herzens fallen, hat man in Sizilien füglich nichts einzu-
wenden gehabt. Aber der Unmut der Bevölkerung, von dem die
italienische Presse erzahlt und von dem Herr Dr. Oharas nichis
wissen will, soll sich eben nicht gegen die Makkaroni, die in der Tat
»geradezu verschlungen« wurden, sondern gegen ein wahrhaft
ffirchterliches Ansinnen gekehrt haben: gegen die Wiener Bohnen.
Da mag man den Unwillen einer durch das Schicksal genug
gereizten Bevölkerung begreifen, und es müßte einen nicht
y Google
12
wundern, wenn die Italiener in solcher Zumutung einen fchid*
liehen Anschlag Österreichs gewittert hätten. Denn es gehört schon
eine tüchtige Portion Größenwahn aus der Wiener Kficlie dazu,
einem fremdländischen Magen jenen Mehlpapp, der hier Oemnse
genannt wird, anzubieten. In der Stadt der Echtheit wird natlir-
lieh streng darauf gesehen, daß das Qemfise nur mit echtem Mdil
zubereitet wird, und die Fremden, die etwa hieherkommen, fragen
in unseren Restaurants vergebens nach jenem Orunzeug, das in
der ganzen Welt als Surrogat ffir unser Mehl auf den Tfacfa
kommt. Die ganze Welt versteht eben nichts von der Küche, und
Wien ist in Wahrheit der Einbrennpunkt der kulinarischen Kultur.
Wer hierzulande dennoch den Mut hat, den ihm vorgesetzten
Kleister zurückzuweisen, und seine Ansprüche schließlidi anf
»kleine Ourken« reduziert, mag sich besorgt erkundigen, ob nkbt
anch die in der Geschwindigkeit >a wengerl eing'stäubt« werden.
Ich kann die Wut der Catanier begreifen. Zuerst das CrdbebeD,
und dann die Hilfe ! Wenn ich unter Trümmern läge und Herr
Oharas brächte mir eingebrannte Fisolen, ich schickte ihn damit
unverzüglich In die Feldküche zurück. Manna in der Wöste, ah
»Einbrenn« zubereitet, ist eine Provokation. Die Antwort könnte
dann hundertmal lauten: »Aber es wird allgemein gelobt«, icb
bliebe unerbittlich, und wenn der Papst mit den Köchen selbst die
Mahlzeit gesegnet hätte, ich würde ostentativ verhungern.
Der Leser erliegt dem Zauber des gedruckten Wortes» aber
er wird dieser Wirkung nicht inne. Sonst wäre es unerkllrlidi,
daß er noch nicht auf die Idee verfallen ist, ein Blatt zu gründen.
Der verbrecherischen Suggestion, die von der Privatmeinung eines
beliebigen Dummkopfes ausgeht, sobald sie in Druck gelegt ist,
ließe sich nur dadurch ein Ende machen, daß alle Leser sich in
Redakteure verwandeln. Dann würden sie sich das Staunoi ab-
gewöhnen. Für ein paar Qulden kann jeder Kommis von jedei
Drucker in jene höchste Macht eingesetzt werden, welche di
Gesellschaft heute zu vergeben hat. Die Banken lassen es sich nid
nehmen, Inserate zu spenden, Theater und Bahnen gewähren Fre
karten, Verleger schicken Rezensionsexemplare. Da in einer OroJ
Stadt jährlich nur fünfzig Sudler auf die gute Idee kommen, di
y Google
- 13 —
Kredit einer Buchdruckerei und den Glauben des Publikums in
Anspruch zu nehmen, so floriert das Geschäft. Erstünden fflnf-
hundert, so würden die Geln-andschatzten bald merken, daß der
täuschende Schein ein Verdienst des Setzers ist. Vor allem merk-
würdig ist, daß so wenige Druckereien selbst die Gelegenheit wahr-
nehmen, Zeitschriften herauszugeben. Die Lettern, auf die es aus-
schließlich ankommt, sind da, und der Vorwand, Freikarten und
Annoncen zu bekommen, wäre in einer Stunde hergestellt. Geradezu
grotesk ist es, daß ein Buchdrucker, der seine Familie ins Theater
oder auf das Land schicken will, in jedem einzelnen Falle erst einen
befreundeten Redakteur in Anspruch nehmen soll, da er doch viel
rascher ein Blatt drucken und sich ein für allemal das Recht auf
Benefizfen sichern könnte. Mir ist weit und breit nur eine einzige
Zeitschrift bekannt, die solcherart dem Haushalt eines Druckers
dient. Früher hatte er sich auch einen Redakteur gehalten, der so
lange im Wege stand, bis er zum Kaiserjubiläum ausgezeichnet
wurde. Aber um Waschzettel und Vordrucke zu übernehmen, dazu
braucht wahrlich keine Druckerei einen kaiserlichen Rat. Und jetzt
erst wird der Leser sehen, was eine Zeitschrift zu leisten imstande
ist. Wie ein Alpdruck lastete die Individualität jenes Mannes auf
ihr. Das wird in einem Aufruf an das Volk durch die Versicherung
angedeutet, das Blatt werde mit diesem Jahre ein »frischeres Aus-
sahen« bekommen. Und dann heißt es wörtlich:
Wir haben vor, die von uns zur Schlichtung des Österreichischen
Völkerstreites stets verfochtene Idee der Autonomie auch In den redak-
tionellen Betrieb einziehen zu lassen. An SteUe einer »Zentralleitung«
haben wir einigen unserer bewährten iVlitarbeiter die selbständige
Leitung der Ressorts : Politik, Volkswirtschaft, Schule, Naturwissenschaft
und Philosophie, Literatur, Kunst und Musik abertragen und hoffen,
durch ein wenn auch nur im kleinen gelungenes Beispiel die Richtigkeit
unser politischen Ideen beweisen zu können. Wir stehen vor groflen
politischen Ereignissen und Kämpfen, die entscheidend auf die Gestaltung
unseres Vaterlandes sein werden. Wir werden In diesen Kämpfen immc.i'
offen und entschieden . . .
Merks, Österreich, und kassiere dir deine Steuern autonomisch
ein! Die Hauptsache ist, daß gedruckt wird. Auf die Zentralleitung
wird gepfiffen.
yGoogl(
274
14 —
*... Eine Zeitschrift aber verdient es, einmal an den Pranger gesteift
zu werden, da sie aus dem verhältnismäßig anständigen Rahmen imscrer
literarischen periodischen Veröffentlichungen ganz herausfällt, und das
ist Maximilian Hardens ,Zukunft'. Nehmen Sie doch einmal ein Hdt
dieser Wochenschrift in die Hand. Es ist so ungefähr das Schlechlesle.
was Sie Oberhaupt finden können; an Minderwertigkeit nicht dnmal dber-
troffen von den Indianer-Schmökern und Hintertreppen-Romanen.
Diese Kritik betrifft nicht etwa den Inhalt der Zukunft*,
sondern bloß ihre Ausstattung. Sie steht im .Graphischen Centzalblatf .
Das Papier holzig, die Typen abgenutzt, der Druck so Uederiidi,
daß eine Seite lichtgrau und die andere wieder so rußig schwarx er-
scheint, daß. wenn man mit dem Finger darüber hinstrefcbt, die
Druckerschwärze in Kometenform Aber die Seite fUegt. Dann die ossai-
bar rohe Weise, das Heft zu beschneiden, so daß auf einer Seite der
Text in einem Abstand von 2 cni vom oberen Rande einsetzt und asf
der Gegenseite eventueU niir in einem solchen von 2 mm. Ja, bdo
Inseratenteil kann man es sogar häufig genug erleben, daß gleich eine
halbe Zeile mit weggeschnitten ist!
Und nun meine Herren, lassen Sie uns doch einmal ein Ueises
Rechenexempel bezflgUch der .Zukunft' ansteUen: Diese Zeitschrift wini
in einer durchschnittlichen Auflage von ungefähr 35.000 ExemitoeB
gedruckt. Das Heft kostet 50 Pfg. Wir nehmen an, daß es die Aboa^
nenten billiger haben und rechnen deshalb nur einen Durchschnittspccis
von 40 Pfg. pro Heft. Das würde einen Umsatz von mehr als 15.000 J4k
ergeben. Von diesem Betrage rechnen wir ab 5000 Mk. fOr den Bncb-
händlerverkehr: bleiben 10.000 Mk. Davon ziehen wir weit» ab
3000 Mk. für die HersteUung des Heftes. Rest: 7000 Mk. Von dies»
wären dann weiterhin noch ig Abzug zu bringen die Honorare, äc
wissen, Harden schreibt seine ,Zukunft' zur Hälfte selbst; es ist also
hoch genug gegriffen, wenn wir fflr jedes Heft 1000 Mk. ansetzen. BleflMi
6000 Mk. Hiervon rechnen wir dann noch einmal 1500 Mk. herunter für an-
verkaufte Exemplare; doch haben wir diese auf der anderen Seite wieder
voU und ganz hinzuzuzählen für Inserate und Extrabeilagen. Es blefticii
also in jedem Falle mindestens 6000 Mk. blanker Reingewinn fdr ein
Heft; das heißt also Jährlich 312.000 Mk. i Meine Herren I FQr 312.000 Mk
jährlichen Reingewinn kann man, wenn man ein Kulturförderer sein
wiU, etwas mehr für die Buchdruckerkunst tun; fflr die Kunst, der es
Harden doch in erster Linie verdankt, daß er weit gekannt, weit g^
rOhmt und weit gefürchtet ist. So, nun hat Herr Harden das Wort W
sagt er doch? ,Icli hab's gewagt, bin unverzagt und wUl des En
erwarten.'«
Daß jetzt auch schon der Outtenberg an der Ehrlicfala
des Hütten zu zweifeln beginnt, das könnte einem alle Freude a
der historischen Bildung verderben. Wenn jener aber glaubt, t
sei eine Lust zu leben, wenn man bloß 312.000 Mark jährlic
y Google
— 15 —
verdient, so irrt er. Die Geister Verden erst wieder wach, wenn
man für das Vaterland eine Konzerttournee unternimmt und für
jeden Vortrag 3000 Mark l>ekommi Dabei hat sich Herr Harden
ursprünglich die Entbehrung auferlegt, bloß 1500 Mark zu verlangen,
über die der Münchner Impresario bei den schlechten Zeiten
nicht hinausgehen konnte. Erst als ein anderer Münchner Im-
presario von dem Plan erfuhr und beherzt depeschierte: ich biete
3000, war er bereit, sich an das teurere Vaterland anzuschließen
und das deutsche Volk zu erhöhten Preisen vor dem Kaiser zu
warnen. Aber auch das deutsche Volk kommt dabei nicht zu kurz.
In Magdeburig zum Beispiel hat der reisende Patriot die vernünf-
tige Einrichtung getroffen, daß vor dem Vortrag > ergebenste Ein-
ladungen« verschickt und jene Einwohner, die eine solche an der
Abendkassa vorweisen, efnes Rabatts von 25 Prozent teilhaftig
werden. Eine Herrn Harden feindliche Zeitung meint, er habe
sich vom ,Simplicis8imus' inspirieren lassen, den er zwar nicht mehr
ganz so gern sieht wie früher, dessen Bild »Komm mit. Kleener
— ickjebe Rabattmarken!« er aber unbedingt gesehen haben müsse.
Mit Unrecht erinnert das Blatt an die Belagerung Magdeburgs
durch Tilly; wir halten bei Hütten. In einem Punkte aber
hat jenes andere Blatt, welches wieder die Erfindung der
Buchdruckerkunst auf Kosten der Kultur überschätzt, deren
entschiedenstem Bahnbrecher Unrecht getan. Es wäre ein
lächerliches Mißverhältnis, wenn Schäbigkeit der Ausstattung
mit einer Noblesse gepaari wäre, die 1000 Mark für jedes
Heft der ,Zukunft' an die Mitarbeiter zahlt. In welcher
Welt lebt denn das »Graphische Centralblatt', und jnit welchen
Augen sieht es, daß es nur das holzige Papier wahrnimmt und
nicht, womit es bedruckt ist? Wenn die kostenlosen Vordrucke
aus soeben erscheinenden Werken und die Selbstanzeigen der
Autoren noch Raum für einen Originalbeitrag lassen, so gehört
die ganze Fachverlorenheit eines graphischen Blattes dazu, zu
glauben, daß für ein Heft der ,Zukunft' mehr als hundert Mark in
Honoraren aufgehen. Es gibt kein zweites Beispiel in der Publizistik,
das eineso praktikable Verbindung wirtschaftlicher Zurückhaltung und
literarischen En^egenkommens vorstellte. Und daß sich mit der Ein-
richtung der Selbstanzeigen auch noch andere Effekte herausschlagen
lassen, hat Herr Harden kürzlich bewiesen, als er die Notiz eines
üigitized by VjOOQIC
— 16 —
Mitarbeiters der ,FackeI' brachte, der sie ihm lange vor da
Sexual-Triumphen geschickt hatte. Allgemein ist die Ansidit ver-
breitet, daß der Herausgeber der ,Zukunff heute für g:ute Namea
selbst Honorar auszuwerfen bereit wäre. Die Auflage — mag aadi
die Schätzung jenes Fachblattes fibertrieben sein — hat sich gcwiB
nicht verringert. Aber ein Erlebnis, das eine heroische Nator imh
warf, ist die Erfahrung, daß Enthüllungen aus dem Ldien bodi-
gestellter Päderasten bloß dem Geschäft nfitzen, aber nidit zb-
gleich auch der Ehre.
Daß die Seele der Schauspielerin ein Defekt ihrer Scfaönfadt
sei, diese Erkenntnis, die hier oft geformt wurde, fliegt jetzt der
deutschen Theaterkritik aus dem Auslande zu. Der ,Frankfnitv
Zeitung' wird aus Italien geschrieben:
»Frau Düse gehört der Vergangenheit ah. Wenigstens In Itaika.
wo man wohl ihr ungewöhnliches Talent zu schätzen wiifite, aber skk
doch stets einen zu starken Sinn für die Form, die schöne Form be-
wahrt hat, um in dem Charakteristischen ä tont prix je die Kunst n
erblicken. Die VorzOge, die man hier von jeher am höchsten eioschitrf
und, wenn nicht alles täuscht in nicht allzu langer 2^it auch in Deatsck-
land wieder zu sehen lernen wird, liegen in einer anderen Riditmi.
als die ist, welche Bleonora Duses unerhörte Kunst notgedrungen cäi-
schlagen mußte. Eine sehr ernste Bahnenzeitschrift, die Maschen, btf
vor kurzem eine Rundfrage erlassen, deren Resultat jetzt vorliegt Em
Rundfrage ist nun nicht gerade eine einwandfreie Sache ; aber die Ant-
worten sind doch fflr den Kenner interessant genug. Die Leser hattes
darüber abzustimmen, welche Schauspielerin Italiens ihrer JVietnung ead}
die talentvollste, welche die schönste und welche die eleganteste sei
Schon die Fragestellung ist delikat genug. Das Resultat aber beweist
eine überraschende Höhe des Geschmacks. Die talentvollste ist danach
Teresa Mariani, die große TragÖdin, die in gewisser Welse mit der Dbsc
verwandt, weniger intensiv als diese, aber um vieles anmotlger and
frauenhafter, nie vergißt, daß die Kunst, daß jede Kunst symbolischo
Charakters ist. Den Preis der Schönheit trug Tina di Lorenzo daT
die auch in Deutschland Bewunderer besitzt. Die eleganteste ist a
dem Urteil der Leser der Maschera Lida Borelli.«
Das ist natürlich Unsinn, denn die talentvollste ist im
auch die schönste und eleganteste und umgekehrt. Und so rieh
es ist, daß die Kunst der Düse eine notgedrungene Kunst ist
unmöglich ist es, daß unerhörte Kunst je notgedrungen sein k
und umgekehrt. Immerhin, es mehren sich die Zeichen, daß
yGoogL
e
17
der Seele aufgeräumt wird. Man ist irgendwie unbefriedigt. Aber
man wird es bleiben. Denn wenn das heutige Leben den Frauen
bloß eine Seele gestattet, wie sollte das heutige Theater ein
Höheres bieten?
Die empfängliche Tageskritik, die einen geistigen Dukaten
sofort in kleine Münze umwechselt und mit frischen Kreuzern so
splendid herumwirft, daß man rein glaubt, es seien Dukaten,
geht jetzt ernstlich daran, vom Theater eine andere Meinung zu
bekommen. Daß eine Schauspielerin, die den Sinnen nichts gibt,
von der Seele beweint wird, daß der Unsinn der Operette roman-
tischer Abkunft sei und dem OeffihI zuspreche, wenn er dem
Verstand widerstrebt, es räuspert sich und spuckt allerorten nach
solcherErkenntnis. Die Forderung aber, daß der Schauspieler wieder
vom Theater Besitz ergreife und daß man ihn mit allen literari-
schen Weisungen ungeschoren lasse, finde ich in einem deutschen
Tagesblatt wie folgt vertreten:
Kann Schauspielkunst sich dämonischer manifestieren, als wenn
sie durch schlechte, unlebendige StQcke wie ein Strom braust, der von
den Quellen des Lebens kommt, und totes Qesteln mit Blüten segnet?
Und können wir die Sehnsucht, die uns ins Theater treibt, in ihrer
Wesenheit deutlicher erfüllen, als wenn uns eine schöpferische Kraft
aus den engen Buchstabenzflunen und dumpfen Wortgebüschen mittel-
mafiiger Autoren plötzlich hinaushebt in reinere, sonnenhelle Lande?
Dann wissen wir: daß wir dieses eine nur wünschen im letzten, für
dies eine uns an den Kassen balgen, in unbequemen Stühlen klemmen,
und unzählbare Abendstunden unseres Lebens hingeben, um dieses
einzige Erlebnis zu erhaschen, dieses llinausgehobenwerden . . . Und
darum ist es gleichgiltig, wie die Stücke heißen, in denen sie auftritt,
ob sie dumm sind oder erhaben, oder beides zusammen. Und wie wir
dem amusischen Schauspieler den Vorwurf als größten entgegen werfen,
daß er immer derselbe ist in allen Rollen, so liaben wir einer Persön-
lichkeit wie der ... . gegenüber den Wunsch, sie möge uns immer
als die gleiche, frische, urtümliche Natur erscheinen, deren prachtvolle
Selbstherrlichkeit wir nicht eingeengt sehen wollen.
Das unterschreibe ich ja alles, oder vielmehr, das alle^
unterschreibt mich, aber welchem weibh'chen Oirardi gilt die gute
Anwendung?
Diese Frau revolutioniert für ihre Person gewissermaßen die
Schulgesetze der Schauspielkunst als dei proteischen, und schmeißt das
dramaturgische Lehrgebäude pedantischer Perücken mit einem Anhauch
ihres elementaren Lachens über den Haufen.
^ le
y Google
18 —
Welche künstlerische Macht ist es, die so alles Urteil tbei
den Haufen witft, daß von einem aufnahmsfllhigen Kritiker nidits
übrig bleibt als ein Schmock?
. . . Kann seid, dies war eine von den Halluzioationen, wie sk die
Götter denen zuweilen senden, die ihre mechanistische Weltanscbauno^
draußen in der Garderobe zu lassen pflegen und gläubigen Herzens in
Parkett sitzen wie im Vorhof eines Mysteriums. Das aber wiU idi
gegen zwanzig Professoren der Philosophie verteidigen, daß ich ludüicr
gesehen habe, wie gegen das Finale des Stßckes aus der Mitte des
beglückten Saales etwas wie ein Gehäuse nach der Bühne sich fatn-
bewegte und, einem gläsernen Sturz nicht unähnlich, sich am dk
lächelnde Frau schloß. Und sie saß darin und sang wie der V^ogel im
Märchen, der erlöst wurde aus quälenden Träumen . . .
Die Dame heißt Pepi Glöckner. Ich ziehe alles zurfick.
♦
In den Zeiten der lustigen Witwenpest war auch die Kinder-
sterblichkeit groß. Einige Wiener Lehrer haben eine Statistik des
Theaterbesuchs der Schuljugend ausgearbeitet. Die > Lustige Witwe«
wurde zwar nicht so oft besucht, wie man vermuten sollte, aber
auch ohne unmittelbare Berührung ist die ansteckende Wn-kung
nachweisbar. In der Statistik werden nämlich einige Titelverstfira-
melungen vermerkt, die sich die Schüler geleistet haben. Die tiiB-
rigste, deren Ursprung die unkundigen Lehrer nicht ahnen, ist das
Bekenntnis, die >ViIja Hospitalis« besucht zu haben. So pdnlidi
nun die Tatsache berühren mag, daß ein junges Qemüt so ver-
leitet wurde, noch gräßlicher ist die Vorstellung, daß ein
junges Oehirn eine beliebige Filia in jene berüchtigte Vilja ver-
wandelt, die als Waldmägdelein des Okkupationsgebietes um
Erwachsenen fünf Jahre lang den Aufenthalt in jedem Naditcafe
verleidet hat.
Es kann eine Bosheit sein, wenn ein Blatt dem Lokil-
redakteur eines andern, der nebenbei auch Vorträge über »Taasenc*
und Efne Nacht« hält, das Lob nachsagt, er sei »ein Pfadtindei
im Labyrinthe orientalischer Märchendichtung«.
«
Wenn es in einem Dampfbad hocharistokratisch zugefal
wendet die Presse eine eigene Terminologie an. Im Mfincbna
Hofbade haben sich ein paar Herren auf ihre Weise vergnügt,
y Google
— 19 --
und ein Wiener ßiatt sagt, daß ihnen »der Boden unter den
JFüßen zu heiß wurde« und daß sie es deshalb vorgezogen
haben, »den Staub Münchens von ihren Schuhen zu schütteln«.
Dampfbad, heißer Boden trotz Schuhen, Staub trotz Dampf-
bad , . . man sieht, wie toll es in der Heißluftkammer der
ioumalistischen Gehirne zugeht. Aber auch besseren Schrift-
stellern kann Hitze zu Kopf steigen. Einer schreibt etwa gegen
die »Nacktkultur«: »Eine merkwürdige Zeit, die unsrigc. Sie
schwitzt Kultur aus allen Poren, aber das erste dürftige Kleidungs-
stück, das der Wilde anzulegen pflegt, wenn er zum Bewußtsein
seiner Nacktheit kommt, möchte sie abschaffen.« Ja, wie denn auch
nicht? Wenn die Zeit schwitzt, ist es doch natürlich, daß sie die
Kleidung ablegt.
Aus Miiwaukec (Wiskonsin, U. S. A.) wird mir eine Zeit-
schrift ,Der Einsame' geschickt, die unter allen in zehn Jahren
entstandenen und vergangenen Nachahmungen der ,f ackel' die weit-
aus sympathischeste vorstellt. Daß sie ganz so unpraktisch ist, wie
das Original, beweist sie dadurch, daß sie selbst die zwanglose folge
und das Erscheinen in Doppelnummein nacliahmt. Aber der
Spiegel ihres Inhalts läßt mich nicht vor meinem Gesicht erschrecken,
das mir durch die antikorruptionistische Fratze meines Wirkens
hierzulande verleidet wurde. Es ist offenbar, daß das Vorbild
keinen anderen Anteil an dem Werke hat, als daß es dem Be-
dürfnis, sich selbst zu regen, einen Stützpunkt gab, und es scheint,
daß das deutsche Geistesleben Nordamerikas für solches Bedürfnis
Platz hat. Zwischen mancherlei Beweisen eines angestrengten
Wollens bricht Unmittelbarkeit, Frische und polemische Jugendlust
durch. Ober ein Interview einer Dame mit Häckel (welch eine
Welt, in der dergleichen möglich ist!) wird ganz Zutreffendes ge-
sagt Mir ist diese Flachsinnsorgie entgangen und darum zitiere
ich gern - mit kleinen Abschleif ungen-, was die deutsch-amerika-
nische Zeitschrift darüber sagt. Einen Satz, der im Eingang steht,
lasse ich stehen, wiewohl ich ihn selbst in diesem Heft ge-
schrieben habe. Ich habe ihn natürlich früher geschrieben als
gelesen, und vielleicht hatte ich ihn schon vor Jahren geschrieben.
y Google
-~ 20 ~-
Aber gerade dieser Satz und dieses Zusammenireffen sind für die
Stilwirkung der »Fackel' bezeichnend:
In der Rätselecke des .Berliner Tageblattes* wurden am 12. De
zember des Vorjahres die letzten Probleme gelöst. »Im HSckd'scfacs
Hause in Jena, Gespräche mit dem Meister«, nennt sich das Zwingt-
sprach, das eine geschäftige Dame, Fräulein Else Roth von Otto, Bit
dem Aufdecker der »Sieben Welträtsel« gepflogen hat und dessen Mfit
extrait sie in fast vier Spalten verspritzt. Sie begnflgt sich nicht mi
der bescheidenen Wallfalirt zu Häckels Hause in der Bergstraße, odi
Exzellenz mufl erscheinen und fiber die letzten Dinge befiied^endcfl
Aufschluß geben. Zwar konstatiert Frl. von Otto in selbstentsagendess
Tone, daß sie sonst stiUschweigend neben Häckel einhergeht und nsr
dl« Saale murmelt; aber heute sind die Rollen vertauscht: Elsa — ach.
nie soUst du mich befragen! — murmelt geheimnisvoll, Hdckel aal-
wortet und nur die Saale schweigt, hurtig die Wogen wegwilzend . .
die freundlich-geschäftige Fragerin aber nennt das gransame Spid »de«
KuUus des Wahren, Outen und Schönen«. Nachdem der Qelehrte höBlcft
konstatiert hat, daß es zwar kein Paradies im Jenseits, aber ein solchrs
in Jena gibt, geht sie sofort scharf ins Zeug und fragt ihn die Oewisseas-
frage, wie er es mit der Religion halte, indem sie ihn um einen kanm
Leitfaden fiber den Monismus als Band zwischen Religion und Wissat-
Schaft bittet. Häckel -- der, nebenbei gesagt, nie den Mut des kon-
sequenten Atheismus gehabt hat und stets bemflht war. neuen Sprwkl
in alte Schlauche zu gießen — antwortet, daß »bei folgerichtiger Auf-
fassung des Monismus tatsächlich die beiden Begriffe von Rel^k»
und Wissenschaft zu einem verschmelzen. Schon Spinoza und Ooefhc
haben dieser klugen Weltanschauung Ausdruck gegeben — Schliefilich
wird sich niemand dem mehr verschließen können.« Aber Elsa Roth fw
Otto posiert den advocatus diaboli: »Sind Exzellenz davon wirklidi so
fest flberzeugt? Meiner Ansicht nach gehen wohl die meisten Mensdiea
deshalb in die Kirche, weil sie es von altersher so gewohnt sind, der
Bureaukrat aber glaubt an den Kirchenregeln festhalten zu mflsseo.
weil seine soziale Stellung es verlangt.« Mit elastischer Nachgiebi^DCl
vollzieht der Oelehrte den Sprung von den letzten Fragen der Wio-
Sophie zur ersten Oesellschaft Berlins, gibt mit hoher Befriedigung ät
tiefe Erkenntnis kund, daß die Dummen in der Mehrzahl sind und die
Oescheidten in der Minderzahl, spricht aber doch schliefiUch seine
Hochachtung aus für die heutige Menschheit, die sich durch eine eis-
heitliche Weltanschauung auf eine höhere Stufe — der Erkenntnis, <*^
Wissens? — nein, der Vollendung erheben wird. Hier kann Frl. x
Otto es sich nicht verbeißen, einzuschalten, daß der eigentliche Rc
den Häckel auf seine Umgebung ausübt, darin besteht, die verschiedenst«
Fragen geistreich zu behandeln, ohne langwellig zu werden. Ab
eine Dame fragt mehr, als hundert Qeistreiche beantworten könnr
> Glauben Sie nicht auch, Exzellenz, daß Jedes einzelne Individuum i
seinem Qemütsleben der Religion anders gegenftbersteht?« »Oewit
sagt Häckel ernst; und er setzt ihr auseinander, daß die verschieden
y Google
-^ 21 —
Religionen >den Menschen in die Poesie einer höheren idealen Welt
versetzen sollen.« (In unserer Philisterwelt ist bekanntlich alles zu einem
bestimmten Sollen da.) »Aber der wirklich moderne Mensch findet nur
In der freien Natur das wirklich Gute, Wahre und Schöne.« Frl. von
Otto nennt dies einen >bcdeutenden geistigen Standpunkt« und konstatiert
bedauernd, daß nicht alle Menschen auf demselben sieben. > Viele be-
dürfen der Kirche, sie ist das Rückgrat, das ihnen einen Halt gibt.«
Darauf Hflckel: »Das verstelle ich nicht!' (Das bezieht sich natürlich auf
die Sache und nicht auf die kristallklaren, fein zugespitzten Apercus der
scharfen Dialektikerin.) Und er stellt fest, daß die Wahrheit nur von der
Wissenschaft gelehrt * wird, »Und wer Wissenschaft und Kunst besitzt,
hat damit auch einen Ersatz für den streng orthodoxen Kirchenglauben
gefunden.« — Was ist Wahrheit! sagt Pilatus, aber Frl. von Otto klappt
bebende das Hörrohr zu und das Sprachrohr auf; mit echt weiblicher
Verdrehung des Streitgegenstandes sagt sie: »Aber die Kirche will
doch keinerlei wissenschaftliche Aufklärung anerkennen<. Dies gibt
Häckel zu und mit vereinigten Kräften wird in wenigen Zeilen der
Widerspruch zwischen Kants reiner und praktischer Vernunft aufgedeckt
und nochmals vernichtet, sozusagen mit zwei Tritten ins Leere; denn
Häckel konstatiert selbst, »daß c*er offenkundige Gegensatz der beiden
Vernünfte schon Im Anfange des 19. Jahrhunderts erkannt und widerlegt
wurde.« Jetzt aber wird es fürchterlich, denn Frl. von Otto ist nicht
mehr zu halten. Sie erzählt, daß der Deutsdie Monistenbund eifrig be>
müht ist, der neuen monistischen Ethik die größte Verbreitung zu
sichern ; fragt, ob man die christtlichen und israelitischen Sagen nidil
als Dichtungen leliren könnte ; konstatiert, daß dies auch für die Kinder
vorteilhaft wäre und das Substanzproblem noch nicht gelöst ist — was
Häckel »lachend« zugibt — und fragt »gespannt«, wie eigentlich die
Aktien des Vereines zur Zertrümmerung der alten Weltanschauung
stehen .... Wer für Häckels Wirken jenen Respekt hat, den das Schaffen
dieses auf naturwissenschaftlichem Gebiete Großen hervorrufen muß, der
hat es wohl schon schmerzlich empfunden, daß er in pseudophilosopiii-
sehen Werken am Sdileier der Maja herumzupft, ohne ihn auch nur
um Millimeterbreite zu lüften. Aber wer es lesen muß, wie dieser Ge-
lehrte in Interviews mit geschäftigen Damen ä la Suttner mit billigen
Redensarten herumwirft, kaum gut genug, um in populären Vorträgen
vorgebracht zu werden; und wer diese lärocken, halbverdaut, wieder-
findet in deutschen Blättern, die vom intelligenteren Teil der Bevölkerung
gelesen werden, der wird solchem billigen Zeugs gegenüber ~ und
wäre er überzeugter Atheist - kaum die Meinung unterdrücken können :
Wenn Gott nicht existierte, man müßt© ihn erfinden!
In dem entzAckenden Buche »Lichtenbergs Mädchen«
(Verlag der ,Süddeutschen Monatshefte'), das die Korrespondenz
tnit Hofrat Meister (herausgegeben von Erich Ebstein) und das
yGoogk
22 —
Faksimile eines Gedichtes bringt und das gewiß weniger Deutsche
gelesen haben als den Briefwechsel von Moritz und Rina, fiade
ich einen Brief, dessen satirische Meinung von stärkstem Interesse
für das heutige Wien sein müßte. Sie trifft die schnöden Umban-
raeister unserer Stadt und befaßt sich mit jener Architektonik des
Überflüssigen ganz und gar in dem Sinne, in weichem heste
Adolf Loos dem heirschenden Geschmack die Indianerfreude u
dem Ornament nachweist. Lichtenbergs Vorliebe für den engb-
schen Stil des Lebens verleugnet sfch hier nicht:
»Ew. Wohlgeb. sende ich hierbey die vorgestreckteB
Bücher i::it gehorsamsten Dank wieder zurück. HE. Prof.
Feder, der ein sehr vertrauter Freund des Ob(er) Commiss(2i|
Maynberg ist, soll gelegentlich einmal meine Meioias
über die Schönheit eines Stadtthors vernehmen, und ob
ich gleich mehrere schöne Thore gesehen, auch selbst des
Bau zweyer beygewohnt habe, dlt ebenfalls mehr gtgcn die
Feinde der Licent-Casse als des Vaterlands angelegt worden süid.
so wolte ich doch gern meine dunckeln, oder höchstens klann
Ideen ein bisgen aus Büchern deutlich machen, und diesen Zweck
habe ich durch Ihre Oütigkeit, so viel als nöthig erreichL Kor
Schade, ich hatte mich auf eine Rede geschickt, die ich, wies zun
Knoten kam, nicht halten konnte. Nemlich die Göttingiscfaen
Thore, (auf diese nemlich war es angesehen), sollen keine Bogec
und kein anderes Gewölbe haben, als den blauen Himmel. Bq
solchen Vorschlägen weint freylich die arcfaitectonische Muse nod
übertragt die Sache dem Mauermeister. Alles, was ich bey der
Sache gethan habe, war zu verhindern, daß keine Würfel auf die
Spitze gestellt wurden, daß keine Ananas auf den ThorpfosieB
einer Stadt blühen mögten; wo die Cartoffeln kaum in der Erde
gerathen. Auch den Artischocken habe ich mich widersezt nod
eben so den Urnen und Blumentöpfen, wo dagegen genttbes.
daß man ja Blumentöpfe da haben wolte, man lieber gelben Lack
und die Viola matronalis in Natura hinstellen mögte, als die
Bildung derselben unsern Künstlern überlassen, die ihren Stil aa
den Fußbänken verdorben und sich daher selten über 6 Zolle über die
Gosse erhöben. Es werden also wohl der Stadt Leu und der Lündwrg-
ische Hengst und zwar von HE. Nahl in Cassel gearbCdtet) acb
einander Wappen weisen und Gesichter schneiden, und |ed€f
y Google
28 —
Pfosten soll aus gekuppelten Dorischen Pfeilern bestehen, just
stark genug, um den blauen Himmel zu tragen. Ich hatte einen
Plan im Kopf, der würklich, recht wenig zu sagen, von der Art
war, von denen man zu sagen pflegt, daß sie sich gewaschen
hätten. Das Thor sollte einen Fronton erhalten, auf dessen schar-
fer Kante ich einen Olobum coelestem und eine Punsch Bowle
nach Art der Wfirfel balancieren wolte, um sie sollte ein Krantz
aus Coquarden, Zwieback und Rosen nebst Citronen Schaale
Bändern geschlungen seyn mit der Ueberschrift Omnibus idem.
Zwischen die Triglyphen hatte ich in die Quadrate Mettwürste,
ebenfalls Zwiebäcke in Pythagorischen Triangeln nebst Pottkuchen
gestellt. In den Fronton nach dem Felde solte Kulenkamps Sil-
houette mit dem Matrikulwerk aufgeschlagen und der deutlichen
Zahl 999 und der Unterschrift kommt 'her zu mir zu stehen
kommen; nach der Stadt zu sohen Stocks und Maynbergs Sil-
houette gestellt wtrden mit der Unterschrift Stocklo et Maynbei^gio
in Philistaea Leinana conss. Im Schlußstein nach .dem Feld hätte
ich eine Fuchsfalle abgebildet, auf dem andern aber gegen die
Stadt einen Fuchs im Taubenhaus, oder auch den Storch, wo er
den Fuchs auf eine Flasche Milch invitiert, in die er mit seinem
dicken Maul nicht hineinkann, oder so etwas. Sagen Sie selbst,
liebster HE. Professor, ob es nicht schändlich ist, in diesen Tagen
des dringenden Genies solche Sachen zu unterdrücken, ja ich
habe sogar gedacht, ob man nicht selbst dem Orönder und Ween-
der Thor Flügeln das Ansehen von einer Fuchsfalle hätte geben
sollen, um einen zudringlichen Postwagen nicht sowohl auszu-
schließen, als vielmehr zu fernerer Behandlung einzuklemmen.
Allein nun Schertz bey Seite, und (den Dank zu Anfang
allein ausgenommen) zur eigentlichen Absicht meines Briefs «
Da in den nächsten Tagen mein Aphorismenbuch er-
scheinen wird, dessen Durcharbeitung und Komposition jene
Plage war, deren Wohltat das Erscheinen leider ein Ende setzt,
so fühle ich mich gedrängt, den Freunden zu danken, die mir
als erste, wertvollste Leser und Hörer durch Urteil, Rat und vielfache
y Google
— 24
Unterstützung in den Korrekturen beigestanden sind: des ^ ii
alphabetischer Folge genannten — Herren Karl Hauer in Mflndie%
Ludwig R. V. Janikowski und Otto Stoessl in Wien. Das Biid
»Sprüche und Widersprüche« erscheint zunächst außerhalb der
Reihe meiner Ausgewählten Schriften, in die ich es gemäß doer
Vereinbarung mit dem Verleger erst nach fünf Jahren anfaehmeB
kann. Die Arbeit an dem Bande »Kultur und Presse« (L Tefl), ök
ich lange aussetzen mußte, wird hoffentlich in diesem Frü^jdr
beendet sein.
Das älteste Wort sei fremd in der Nähe, neu-
geboren und mache Zweifel, ob es lebe. Dann lebt
es. Man hört das Herz der Spraohe klopfen.
Ein Paradoxon entsteht, wenn eine frühreife Er-
kenntnis mit dem Blödsinn ihrer Zeit ausammenpralÜ
Ei sieh, der Verwaltungsrat der Kretinose-
Aktiengesellschaft und der Direktor der vereinigten
Banalitätswerke I
Er starb, von der Äskulapsohlange gebissen.
Bevor man das Leben über sich ergehen läfit,
sollte man sich narkotisieren lassen.
Karl ^
Hcnusgeber and vennhrortlidier RedaMeor: Karl Krai
Druck von Jahod« & Siegel« Wien. III. Hintere ZblUmtntnC
y Google
EN NÄCHSTEN TAGEN
GELANGT ZUR AUSGABE!
RL KRAV:
PRVECH
ND WIDER
PRVECH
Verlag ALBERT LANGEN Münc!
JRCH ALLE BUCHHANDLUNGEN "zu BESTELLE
_ ^ARLGOLSDORF^.
Karlsbad, Badacesl V. Wte^ ' ^^
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Untemohmen für Zeivuüj^i»Äü^
OBSERVFR,
versendet Zdtim^b
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sondern auf eine besllmm
Verlag: Wien, ni., Hl t
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VERLAGSOESELLSCHAFT MÜNCHE
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Veriagsge
Icppel-Nnniiiier (Preis eo Hein
175 — 276. 22. März 1909 X..
lie Fackel
Herausgeber :
ARL KRAUS
INHALT:
le. Von Otto Soyka. — Literatur. Voa
^1 — Erotifche KriBen. Von Pa\]
Flrciiau. — Oloiten. — Sprüche und Wider^
ohe. Von FCiirl Kraus. — Paicin. Von Karl
rom Der Fortschritt. Von
Karl Kraus.
firacheint in zwangloser Polge.|
und gewerbsmäßiges Verteibea verbot i i^iditltc
▼crfolgung voH>eliaJteii.
WIEN.
ioi
GEBEN ERSCHIENEN:
ARL KRA
SPRVECHEI
VND WIDE
PRVECHEI
Verlag ALBtKI t
ICH ÄT^EBI|$Ha45]U.lUr6HH DQBB DIREKT VOtt
Die Fackel
NR. 275-76 22. MARZ 1909 X.JAHR
Die Hnndsgrotte.
>£in Ort verborgen unter faulem Nebel,
Von Sümpfen, die herquellen vom Cocytus,
Aushaucht er lauter heifie gift'ge Dflmpfe.
Es kann Aulumnus keine goldnen Früchte
Hintragen, und der Frühling keine Blumen
Und keine blühnden Zweige voll von Sängern
Der süßen Liebe, keine Nachtigallen.
Hier wohnt das alte Chaos . . .<
Petronius.
Es ist unmöglich, der Justiz Unrecht bu
tun. Aus dem flachtigsten und entstelltesten Gerichts-
saalbericht gewinnt man das richtige Bild einer
Verhandlung. Es mag der Fall sein, dafl kein Wort
80 gesprochen wurde, wie es der Bericht wiedergibt:
die Justiz würde den schärfsten Hafi schon darum
verdienen, weil sie selbst die Wahrheit hinter die
Reklame stellt und ihr der Respekt vor der Tages-
presse den Willen lähmt, falsche Tatsachen durch
eine Berichtigung aus der Welt zu schaffen. Die
polemische Betrachtung aber, die sich mit den Ver-
brechen der Justiz befafit, stützt sich mit Recht auf
das Material der Reportage, nicht nur weil die Un-
widersprochenheit für die Wahrheit zeugt, sondern
weil sie auch für eine Gesinnung zeugt, der noch
schlimmere Wahrheit zuzutrauen wäre. Mein an-
klägerisches Gewissen bliebe ruhig, wenn sich heraus-
stellte, dafi das wahre Bild der Sezualjustiz sich
nicht völlig mit jenem deckt, das ich mir aus
den unwiderlegten Schändlichkeiten des Tages kom-
poniert habe. Ich wüfite, dafi es noch häfilicher ist. Bei
diesem täglichen Koi flikt zwischen dem Leben und
der Borniertheit ist die Unfähigkeit der Bericht-
erstattung eher ein versöhnendes Element. Ob sie
will oder nicht, ob sie kann oder versagt, eine Hand-
— 2
voll Unmenschlichkeit holt sie aus diesem Inferno
doch hervor. Wer nur mit halbem Ohr hinhörty hört
S3nug^ und wer mit einem Stockschnupfen in ein
erichtszimmer tritt, kriegt dennoch eine Nase voO
jener Gerüche, die ein lebensfeindlicher Geist an einen
Ort gebannt hat, damit in dieser pflichtenvollen Welt
wenigstens die Pflicht bu stinken erfüllt werde.
In der Nähe von Bajä ist eine Grotte, in
der giftige Gase aufsteiget. Zur Ergötzung der
Reisenden wu^de dort gezeigt, wie weit ein Hund
hineingeführt werden könne, bis er ohnmächtig
wird; denn die deutschen Reisenden sind wider-
standsfähig und opfern dem Genufi einer Sehens-
würdigkeit gern die Gesundheit eines Hundes.
Die grausame italienische Regierung aber entsog der
heimischen Bevölkerung eine Einnahmsquelle und
verbot das Tierexperiment. Die Einrichtungen der
Staaten nun sind wie Sehenswürdigkeiten, die der
Neugierde höherer Wesen dienen, und diesen übei^
weltlichen Reisenden ist das Vergnügen bis heute
nicht geschmälert worden, zu sehen, wie weitMenschen
in die Hundsgrotte der Justiz geführt werden müssen,
um nicht mehr atmen zu können.
Sagt mir nun einer, so und so hätte sich
der Vorgang nicht abgespielt, so antworte ich, dafl
die Nachricht von einem Sterbefall noch so über-
trieben sein könne, sie sei noch immer nicht, über-
trieben genug, solange sie vom Tod bestätigt
wird. Die Lobredner unserer Justiz haben eine fatus
Ähnlichkeit mit jenem Tröster, der auf die Klage
einer Witwe, ihr Seliger habe an einer schweren
Lungenentzündung gelitten, die beruhigenden Worte
findet, es werde hoffentlich nicht so schlimm gewesen
sein. Was die Gerichtssaalberichte melden, hat sich
möglicherweise nicht immer so schlimm zuRetragen,
aber anders und schlimmer. Die Verkürzung, in der dv
Bericht ein Bild der Verhandlung gibt, ist sein Fehler
und Vorzug. Sein Fehler, weil die Kürze von hundert
Angriffen gegen Menschengefühl und Takt kaum fiinf
— 8 -
berücksichtigt und an diesen möglicherweise durch
Unterstreichung einbringt^ was sie an der Fülle ver-
säumt hat ; weil sie den perspektirenlosen Leser nicht
allein m den Glauben versetzt, dieser Text sei der
Wortlaut, sondern er sei der Inhalt einer fünfstündigen
Verhandlung. Die Verkürzung ist aber wieder ein
Vorzug, indem die Unperspektive der Darstellung
der passende Ausdruck der Unperspektive ist, in
der die Justiz das verhandelte Stück Leben sieht.
Pur den Schall der Lebensfremdheit hat gerade
die Dummheit das beste Ohr, und so unwahr sie
sein mögen, so wahrscheinlich klingen diese lächer-
lichen Bemerkungen, die tagtäglich den überlegenen
Verhandlungsleitern, den neugierigen Votanten und
den achselzuckenden Anklägern in den Mund gelegt
werden. Ich habe um zweifacher Kontrolle willen
vielen Verhandlungen beigewohnt; und ich mufi
bekennen, daß mein allzuscharfes Gehör mir eine Fülle
von Bindrücken gab, aber kein Bild sich entwickeln
liefi, und dafi ich dieses erst in den ungenauen Be-
richten fand, die ich am andern Tage zu Gesicht bekam.
Kein besserer Abdruck einer geistlosen Willkür
wäre herstellbar, und er reicht fast an die Wahr*
heit jenes Berichtes heran, den ich im Voraua
über jede Verhandlung vor einem Sexualsenat
verfassen könnte. Denn er gibt nicht blofi
eine Vorstellung von der Gemütsbeschaffenheit der
Menschen, die über Menschen richten, von einem
Zustand, der Zweifel macht, ob diese Praxis schlechter
8ei oder diese Gesetzlichkeit. Er stellt auch
wieder das Gleichgewicht her zwischen einem gegen-
wärtigen Jammer und der Aussichtslosierkeit aller
Reformen. Denn er vermag in zehn abgerissenen
Sätzen eines Zeugenverhörs das Bild einer mensch-
lichen Gesellschaft zu zeichnen, zu deren Lumpenhülle
eine geflickte Justiz ganz so gehört, wie zu dieser
eine schleifiige Presse. Wenn in einem Bericht von
zehn Zeilen die gegenseitige Zufriedenheit, die diese
Institutionen am Leben erhält, und weiter nichts
— 4 —
2um Ausdruck kommt, dann sagt er die Wahrheit.
Der Bericht über die Verhandlung gegen die
»Hochstaplerin Berta Hannemann« soll nicht zeigen,
daß die Merkmale des Betruges auf die Tat der
Angeklagten passen, sondern er soll zeigen, daft die
Merkmale des Betruges auf eine Weltordnung
passen, die ein schönes Weib unter der falschen Vor-
spiegelung des Paradieses durch die Syphilis in den
Kerker lockt.
Daß sie sich in der Notwehr so weit Tergißt^
von der deutschen Botschaft 23 Kronen und von einem
Oberleutnant 30 Kronen als Vorschuß für eine Reise
zu verlangen, die sie nicht antritt, das bedeutet
gegea den Schwindel, den ihr die Welt vorgemacht
hat, nichts, weniger als nichts, aber immerhin sechs
Monate Kerker. Sie war einst ein vielumgeiltes
Theaterweib und zwischen Petersburg und Buenos*
Ayres warteten viele Botschafter, Oberleutnants und
Staatsanwälte auf den Schluß der Vorstellung. Will
es der Zufall und ein Bankier steckt sie an. Sie
verliert ihre Stimme, sie verliert ihr Engagement, und
die Vertreter der sittlichen Ordnung warten jetzt
nur mehr auf das Ende ihrer Schönheit. Sie könneo
es gar nicht erwarten, und bald werden dieser auf«
geregten Spannung die Oerichtssaalreporter gerecht.
»Ihr feingeschnittenes Profil, die funkelnden schwariAB
Augen«, meint der eine, »lassen trotz der Zerstörung,
die Ausschweifung und Trunksucht in ihren Zügen
angerichtet, die Spuren einstiger Schönheit erkennen«.
Oh, frohlockt ein anderer, »in einem verwaschenen
alten Kattunkleid, das Oesicht verblüht und gelb« steht
sie heute vor dem Erkenntnisgericht Spuren einstige
Schönheit?, beruhigt der Vertreter eines gewisse
Lippowitz jenen Bankier, der den Grund zu ihrer swe
ten Karriere gelegt und ihr eine Sinekure für ein sei
deres Leben verschafft hat : »die Angeklagte ist heul
eine trotz ihrer fünfunddreißig Jahre schon sehr ältlic
aussehende Prau«, »Jugend und Schönheit, mit denf
sie bestach, sind dahin«, triumphiert der Vertret
Digitized by VjOOQl'
— 6
eines antikorruptionistischen Blattes, >und es ist nicht
mehr die sieghafte Verve, mit der sie spielend leicht
ihre Opfer fände. Er würde sich am Ende getrauen,
ähnliches auch jenem Bankier nachzusagen, wenn
er wüfite, wo er wohnt. Immerhin ist es tröstlich,
aus einem unabhängigen Blatte zu erfahren, dafi
»eine schwere, jahrealte Erkrankung des Blutes die
Elastizität der Angeklagten vernichtet hatc. Da man
aber noch immer nicht ganz sicher ist und auch
Männer zu Falle kommen könnten, die den Spuren
einstiger Schönheit errötend folgen, so erklärt der
Staatsanwalt Budinsky, man müsse eine so gefährliche
Person unschädlich machen, und beantragt die Abgabe
an eine Zwansrsarbeitsanstalt. Der Gerichtshof schliefit
sich der Ansicht der Reporter an, beruhigt sich dabei,
dafi sie ohnedies schon verwese, und läfit es beim
Rade bewenden . • .
Nichts vermöchte das Verhältnis der Justiz zum
Leben besser auszudrücken, als die Erstarrung des
journalistischen Wortes zum Klischee. Paragraphe und
Phrasen werden mit einer Materie fertig, an der
Kunst und Psychologie stümpern. Dm Handwerk
schöpft einen Ozean aus, und es bleibt der »Sumpf
der Grofistadtc. Irgendwo haben Freude und Jammer
2U laute Zwiesprache geführt: »Wieder eine Laster-
höhle ausgehoben.c Zwischen Strafregister und Spitz-
marke fristen die Triebe ihr Dasein. »Dann begann
sie ihre Laufbahn als Kurtisane und Betrügerin. € Als
Vorsatz glaubt man es nicht einmal der Justiz oder
der Presse, aber von einer Frau mufi es unbedingt
gelten. Denn sie rühmte sich hoher Bekanntschaften
und »will sogar vorübergehend die Geliebte des serbi-
schen Kronprinzen gewesen seine Man denket Und
selbst dem sozialdemokratischen Berichterstatter
kommt die Sache nicht geheuer vor, da jener
Kronprinz »jetzt mit anderen Dingen beschäftigte
sei. Man spürt deutlich, dafi an dieser Stelle des
Berichtes nur durch einen Zufall die Paranthese
»Bewegungc ausgelassen wurde. Denn nichts
— 6
setzt die Kostgänger der StraQustiz mehr in
Erstaunen, als daß die geschlechtlichen Beziehungen
weiblicher Angeklagten in Sphären reichen sollen,
die ihrer Kontrolle entrückt sind. Dafi die D^
linquentin »den im hiesigen Landesgericht in Unter-
suchungshaft befindlichen Pfandscheinschwindl^ B.
zur Heirat zu bewegen suchtet, scheint allen plau-
sibel, aber ein aufierehelicher Verkehr mit dem
serbischen Kronprinzen — darüber kommt kein VotanI
hinweg. Man kann es als ein wahres Glück bezeichnen,
dafi nicht alle Frauenzimmer, die von den Obreno-
vitsch und Karageorgevitsch um den Schandlohn ge-
prellt wurden, gezwungen waren, die deutsche E^t-
schaft zu betrügen, es wäre sonst des Staunens in
den Wiener Gerichtssälen kein Ende. Solch eine
Abenteurerin richtet genug Schaden an, wenn sie in
die bürgerliche Gesel&chaft einbricht imd für die fir*
regung eines flüchtigen Sinnenkitzels eineVermögens-
leistung begehrt. Noch schlimmeren Schaden, wenn
sie nicht einmal bietet, wofür sie im Voraus Geld
empfangen hat. Bin Opter meldet sich nach dem andern,
sie alle haben annonciert, dafi sie eine Maitresse
brauchen, die Angeklagte hat Reisevorschufi be-
kommen und sich damit begnügt, aufregende Briefe
zu schreiben. Die Angeklagte sagt zu ihrer Verant-
wortung, sie habe tatsächlich die Absicht gehabt, die
Prostitutionsverträge zu erfüllen. Das Gericht aber
weist ihr nach, dafi sie auch dann sich eines Betruges
schuldig gemacht hätte. Denn sie >gab an, sie besitse
eine tadellose Vergangenheit, ein sehr gutes HerSi
offenen und ehrlichen Charaktere. Ist das wahr,
Berta Hannemann ? In einem zweiten Brief schrieb de
wieder, >sie besitze nichts als ihre Jugend und Schön-
heit«. Herzeigen I Aber selbst wenn es wahr ist, über
den Widerspruch der beiden Behauptungen kommt
kein Votant hinweg. Es kamen auch Briefe aus der
Liebeskorrespondenz der Angeklagten zur Verlesung,
in denen sie angab, >dafi sie noch kein Mann be-
rührt habe«. Nun, der Gerichtshof nimmt die ün-
— 7
Wahrheit dieser Behauptung als notorisch an. Man
kennt diese Sorte von Schwindlerinnen; es ist die
weitaus gefährlichste. Und es ist jener Betrug, den
die Männer am schwersten verzeihen, und wenn der
Staatsanwalt ihn auch nicht anklagen kann, als
Illustrationsfaktum tut er seine Schuldigkeit. Der
Gesetzgeber hat dieses Schulsbeispiel einer listigen
Vorstellung, durch welche eine Person in Irrtum ge-
führt und dadurch in ihren Rechten geschädigt wird,
nicht berücksichtigt, und der Gerichtshof ist leider
nicht einmal in der Lage, den Privatbeteiligten auf
den Zivilrechtsweg zu verweisen. Aber die Unglück-
lichen, die das Opfer des Betruges geworden sind,
spüren es, dafi hier die Idealkonkurrenz zweier Tat-
bestände vorliegt: dafi eine keine Jungfrau mehr ist
(lucrum cessans) und dafi sie behauptet hat, es zu
sein, und sich das Gegenteil herausstellt (daranum
emergens). *
Eine Angeklagte, die mit solchen Mitteln ge-
arbeitet hat, die sich durch Trotz dem körperlichen
Verfall und durch List der sozialen Verachtung
zu widersetzen versuchte, raufi sich der Hoffnung
begeben, dafi ihr die irdische Justiz, die in jeder
Lage die Wahrheit und nichts als die Wahrheit for-
dert, auch nur mildernde Umstände zubillige. Von
welcher Verworfenheit zeugt es, einen annoncieren-
den reichsunmittelbaren Fürsten, schöne Männer-
gestalt, der zehn Millionen Mark zu besitzen vorgibt
und die Bekanntschaft einer Dame mit ebensolchem
Vermögen sucht, derart hineinzulegen I Die Bertha
Hannemann besafi keinen Knopf und da der Fürst
Bortia ebensoviel besafi, mufite er die Täuschung
doppelt schmerzlich empfinden. Als sie erfuhr, dafi er
mittellos sei, war sie herzlos (2:enug, die Korrespondenz
abzubrechen. Aber der Fürst war noch nicht enttäuscht,
schrieb glühende Liebesbriefe »in Verzweiflung, dafi
ich mit Ihnen die Verbindung verliere«, und bat, ihm
wenigstens noch einmal zu schreiben, »wenn Sie mir
nicht mehr wünschen«. Was tat sie? Sie nützte diese
— 8 —
Korrespondenz aus^ um von der deutschen Botschaft
zuerst 23 Kronen imd als ihr diese verweigert wurden,
3 Kronen zu erbetteln. Man erkundigte sich beim
reichaunmittelbaren Fürsten. Dieser, vonBertha Uanne-
mann zum Glauben verführt, er besitze zehn Millionen
Mark, brachte eben noch so viel Gteld auf, um zu
depeschieren, er sei einer Schwindlerin zum Opfer
gefallen. >Mir ist wirklich leid, dafi die Geschichte so
endete, hatte er ihr kurz vorher geschrieben, »wir
hätten sehr glücklich sein könnenc. Aber weil sie die
zehn Millionen nicht hatte, die ihm gerade fehlten,
erstattete er die Anzeige bei der Polizei. Der Ober-
leutnant hätte dies wegen der 80 Kronen aUexa
noch nicht getan. Aber ab ihm »die wirkliche Photo-
graphie der Angeklagten gezeigt wurde, war er so
empört, dafi er sich dem Strafverfahren anachlofic.
Der Vorsitzende verliest diese und ähnliche Pert*
Stellungen etwa mit jener Zufriedenheit über eine
harmonische Weltordnung, die einst das Schüpfungs-
protokoU mit dem Bindruck besiegelte: Und er sähe,
dafi es Kut war. Durch das Weib kam das Obel in die
Welt. Aber die Männer sind ganz so, wie sie sein soUeiL
Solange der Mann noch nicht völlig vom Weibe ent-
täuscht ist, schreibt er einen Brief, der die Sätze enthält:
>Liebe Freundin I . . . Sie wechseln zu oft Ihre Pläne, und
kurz vor Ihrer Abreise bekommen Sie ein prächtiges
Bukett vom , Fürsten', sind gerührt, bleiben in Wien
und ich blamiere mich und fahre umsonst nach Fiume!
Nel Scherz bei Seite, das ist nicht nach meinem Ge-
schmack! Warum haben Sie sich denn die Haare
schwarz gefärbt? Die waren doch «goldblond'. Nicht?
Schädel Viele Männer haben ein Faible lür blondi
Haar, so auch ich. Eigentlich eine blöde Einbildun,
was? Im allgemeinen sind aber die blonden Darai>
doch viel sanfter und etwas weniger launenhaft wi
die schwarzen, nicht? In Ihrem vorigen Briefe sagte
Sie, der ,Fürst' möchte Sie gern nackt sehen. Schal
schau I Gar kein übler Geschmack, doch den Anblio
gönnen Sie lieber einem Ihrer Freunde^nicht? . .
Digitized by VjV
— 9 —
Ich habe nämlich in Wien einige Feindinnen^
wissen Sie; da dachte ich mir vielleicht, Sie haben
irgend einen ^Tratsch' gehört, nicht? Eine nannte
mich ,TigerS ein hübsches Prädikat, was? Wahr-
scheinlich war ich ihr zu grausam I... Vielleicht fahren
Sie zuerst nach Budapest, nicht? Eine hübsche Stadt,
manche Teile sogar schöner als Wien ! Und ein lusti^
ges Nachtleben; so eine fesche Zigeunerkapelle, die
lasse ich mir gefallen!... Viel Qlück. Herzliche Orüsse
und einen Abschiedskufi von Ihrem unglücklichen
Jules.« Ein prächtiger Brief, was? Ein imeressanter
Mensch, nicht? Aber bald soll es anders kommen,
und der Tiger erwacht. > Madame I< (Bei dieser An-
rede kann sich der Vorsitzende, der ein Weltmann
ist, einer Kritik nicht enthalten. »Wenn man ,]Madame'
schreibt«, meint er, »ist es immer aus!« Heiterkeit. Die
hoffentlich auch nicht ausblieb, als der Vorsitzende
das reumütige Geständnis der Angeklagten, sie habe
nicht mehr singen können, durch die Feststellung
ergänzte: >Ihre Stimme war schon früher durch eine
Krankheit beeinträchtigt.«) »Madame! Soeben erhalte
ioh Ihre flüchtigen Zeilen. Sie nehiYien sich nicht
einmal die Mühe, mir einen ordentlichen Brief zu
schreiben. Da bin ich ganz anders gewöhnt, ich
könnte Ihnen 16 Seiten lange Briefe von sehr feinen
Damen zeigen, welche sich um meine Uunst bemüh-
ten! Sie glauben mit einem Ihrer schweifwedelnden
Freunde aus Wien zu tun zu haben. Bin kein
Qigerl, das den Weibern nachlauft, wissen Sie; icli
behandle diese Rasse im Gegenteil mit solenner
Verachtung, wie sie es verdient. Ich brauche bei
meiner Lebensweise überhaupt keine ,Liebe', und
wenn ich gerade einmal eine ,Liebe' wollte, so habe
ich hier genug Frauenzimmer, die sich ein Vergnü-
gen draus maohen, wenn ich sie überhaupt ansehe!
Sie haben keine Narhricht! Hai Ha! Sie hätten
damals kommen sollen, als ich Sie haben woUti^;
jetzt kann ich Sie nicht mehr brauchen und will
überhaupt nichts mehr von Ihnen wissen! Ich hab'
üigitized by VjOOQIC
— 10 —
mich genug mit Ihnen früher geärgert und pfeiT
auf 80 ein hers- und gefühlloses (^schöpf I Lesen
Sie die Zeitung, dort steht, daß vor ein Pjblbt Tagen
ein Offizier, den* ich zufällig kenne, das Opfer einer
Damenbekanntschaft wurde, indem eine ,Preuiidin'
8000 K aus seiner Wohnung geraubt hat. So ein
Gewürm sollte man zertreten, durch welches ein
Ehrenmann durchs ganze Leben ruiniert wurde. Ich rate
Ihnen, sich ehrliche Arbeit zu suchen und mich nicht
mehr zu belästigen, sonst zeige ich Sie noch d&
Polizei an. Sie sind eine Komödiantin, nichts weiter I
Hüten Sie sich, sonst könnte es Ihnen noch schlecht
gehen. Sie Schwindlerin I Mit verachtungsvollem
Qrufi Jules.t Das ist der Tiger; aber er hat sie
doch erst angezeigt, als er ihre Photographie sah.
Denn sie war nicht mehr schön genug, um hinaus-
geworfene 30 Kronen verschmerzen zu lassen.
Ein Reigen beschädigter Männlichkeit zieht an
uns vorüber, der sich trotz Spesenverlust und be-
trogener Erwartung noch sehen lassen kann. Solche
Prozesse gegen Weiber, die sich die Haare färben,
den Namen wechseln und das Alter nicht wahrheits^
getreu angeben, sind nützlich, weil im Zuge der
Enthüllungen der wahre Stand der männlichen Ethik
bekannt wird. Es ist ein untrügliches Zeichen einer
Zeit, wie sie die Agenden zwisöhen den Geschlechtem
verteilt hat : ob sich mehr Weiber dem Strafverfahren
gegen einen Mann oder mehr Männer dem Strafver-
fahren gegen ein Weib anschliefien. Unsere bietet
das Schauspiel, wie ein Dutzend Inhaber eines
sittlichen Bewufitseins, ein Dutzend Träger geistiger
Verantwortung und ein Staatsanwalt hinter einem
Geschöpf her sind, dessen ganze Wehrkraft geger
über dem Leben in der Fähigkeit besteht, sich st
rechten Zeit die Röcke aufzuleben. Das Weib vei
letzt durch Gewährung die Ansprüche'' der Moral un
durch Versagung die Ansprüche der Unmoral. Abc
die Moral läßt mit sich reden, sie konzessioniert Preudei
hausen sie erteilt »Erlaubnisscheine«. Die Unmoral i
y Google
— II
unerbittlichi ihre Forderungen sind vollstreckbar und
aus jedem Qerichtszimmer geht sie mit erhobener
Stirne. Was hätte unsere Angeklagte den Wartenden
bieten können ? Vielleicht hielt sie eine sittliche Ober-
legung davon zurück^ jenes gefährliche Geheimnis
an die Männer weiterzugeben, das ihr ein Mann
bedenkenlos anvertraut hatte. Sie wollte sich ihre
paar Gulden auch ohne diese Leistung verdienen,
und konnte glauben, dafi damit die Illusion, die zu
geben sie sich begnügte, nicht überzahlt sei. Schliefi-
lich möchte man, solange die Männer ungestraft die
Frauen anstecken dürfen, wenigstens für ein Gesetz
stimmen, das es den Frauen erlaubt, einen Tribut
von den Männern einzuheben, die durch sie vor
Ansteckung bewahrt bleiben. Solche Entschädigung
sollte rühmlich sein, und weitab von der Möglichkeit,
unter die Strafsanktion des Betruges zu fallen, sollte
jene Vorspiegelung liegen, die den Himmel auf Erden
blofi verspricht, anstatt die Hölle zu gewähren. Es
ist eine erbarmungslose Zeit, in der der Verfall des
Frauenkörpers ein Ziel sozialer Wünsche bildet, und
kein Reporter vermöchte an ihr Spuren einstiger
Schönheit zu entdecken. Aber die namenlose Gemein-
heit, die Wonne und Weh des Geschlechts zu einem
Prozefithema macht, sollte uns erspart bleiben. Die
Humanität möge endlich zu den Menschenopfern
sehen, die der Gerechtigkeit gebracht werden. Das
Experiment der Hundsgrotte werde in allen Staaten
verboten I
Karl Kraus.
Hittelschule.
Sehr viel liebevolles Interesse bringt die Gegenwart der
geistigen Minderwertigkeit entgegen. Das öffentliche Mitleid ist bei
der Not der Dummen angelangt, die moderne Hilfsbereitschaft
12 —
hat die Grenzen des Verstandes überschritten; jene Achtmig vor
dem Schwachen, die sich in der Ära der Humanittt Ansdieo ver-
schaffte, macht längst vor den Geistesschwachen nicht mehr halt
Und als man zur Ansicht kam, daß Geistesarmut nicht scbaadd,
hörte sie auch auf, verschämt zu sein. Sie fordert heute bcrols
laut und herrisch Unterstützung. Die Reform der Schule madii
sie zu ihrer Sache und ruft nach der Erleichterung Im StodiBB,
die ihr naturgemäß das Erstrebenswerteste ist Und gegtnvMg
ist der Geist der Zeit gerne bereit, sich nach den Wfinschen da
Geistlosigkeit der Zeit zu richten.
Der Schule und ihrem Leben gegenüber ist ein Uageodo
Ton, voll Wehleidigkeit und Sentimentalität in Mode gekommcB.
Das Wort Schüler scheint förmlich nach der ZusammensetEm^
mit Selbstmord zu verlangen und die Kandidatur für diesen Selbsi-
mord mit jener andern, für die Matura aufs Innigste verknapp
zu sein. Der zartfühlende. Hebenswürdige und ungemein sjm-
patische Schwachkopf ist zum Repräsentanten unseres SchuleitunB
ausersehen worden. Seine geduldige, erfolglose Arbeit wiiti os
immer wieder zur Würdigung entgegengehalten, auf Schritt und
Tritt begegnen wir in der Literatur seinem blassen, übemichtigeii
Antlitz mit dem stets leidenden und anklagenden Zug. WM es
nicht endlich gelingen, eine Miitelschultype zu finden, die sene
Gefühle nicht verletzt? Die Zahl der Noten mußte um semel-
willen verringert werden; ein Teil jener LeistungsuntetBchiede, die
stets zu seinen Ungunsten bestanden, wird in Hinkunft nidtt
mehr zum Ausdruck kommen. Wird man ihm zuliebe nidit bald
ganz auf die Kritik »Klassifikation« verzichten? Solange sie
besteht, sind »Elternliebe und Kunstinteresse« bd ihm vorStiSnuigeD
nicht sicher, denn hier ist stets die Quelle der viel mtzaiterei
Empfindungen des Ärgers und des Neides für ihn. Die Abstufnq;
der Noten ist ein Behelf für den Lehrer und als solcher vieOeickt
entbehrlich, was bedeutet sie aber nicht alles für den Schülerf ^-^
diesen unbedeutenden Verschiedenheiten fand der Ehi^geiz se
Halt, hier war Gel^enheit zum Wettstreit, es durften Siege
Niederlagen gefeiert werden. Was fand nicht alles Raum zwischen di
wenigen Ziffern! Wieviel vom ernsten Glück und Schmerz des Ld
umspannten sie ! Hier barg sich etwas von jenem schweren f
des Daseins, der ein heißes Glück empfindet, wenn er dn Ki
loch mit einem roten Bändchen schmücken darf, von
üigitized by VjOOQiC
13 —
Schicksalsernst des Beamtenlebens, in welchem das Avancement
über Existenzen entscheidet. Darf und kann die Schule auf diese
Macht verzichten? Kann sie sich den Ehrgeiz weiterhin dienstbar
machen, wenn sie ihm seine Ziele, sein rotes B&ndchen entzieht?
Das Opfer, es wird den Unföhigen gebracht und auf Kosten des
Eifers des Fähigen. Vollständig hat man vergessen, daß die Haupt-
sorge der Schule die Ausbildung eben jenes Schülers zu sein hat,
der ihr keine Sorgen macht. Ein Treibhaus für kümmerliche
Oeistespflänzchen, eine Wohltätigkeitsanstalt für die Bedürftigen
an Verstand darf sie nicht werden. Es gibt nämlich auch
Schüler, die das Lehrziel mühelos erreichen.
Mancherlei an der Schule bedarf der Änderung. Es ist
gewiß nicht vorteilhaft, daß das Recht zu strafen neben der Pflicht
zu unterrichten in der Hand des Lehrers liegt. Schon deshalb nicht,
weil die Fähigkeiten der einzelnen Lehrer in der Ausübung dieses
Rechtes allzu verschieden sind. Der eine stolpert unaufhörlich über
seine Versuche, Disziplin zu halten, der andere ist ein Virtuose, ein
Zauberkünstler des Strafwesens. Die Möglichkeiten von Klassen-
buch, Karzer, Strafarbeit, er läßt sie nur so durcheinanderwirbeln,
vereinigt sie zu den schönsten und seltensten Effekten, gewmnt
ihnen nie geahnte Reize ab und wird dadurch in seiner Art, Schule
zu halten, einseitig, wie jeder Künstler. Wenn das Disziplinarwesen
an jeder Schule einem dazu eigens bestellten Pädagogen unter-
stfinde, der es allein oder im Verein mit dem Direktor zu
überwachen hätte, wäre vieles besser. Es würde vermieden, daß der
Lehrer langwierige Strafuntersuchungen zu führen hat, und daß er
in eigener Sache Richter ist; dem Unterricht wäre viel Zeit ge-
wonnen und seine Würde besser gewahrt als jetzt.
Eine höchst überflüssige Sache ist die Sittennote. Ist sie
ungünstig, so bedeutet das eine Unannehmlichkeit, wie jede deut-
liche Mißbilligung, die man erfährt, ist sie hingegen gut, so ist
das geradezu beschämend. Ein taktvoller I.ehrer wird es gewiß
gerne vermeiden, einen begabten Schüler mit der besten Sitten-
note bloßzustellen. Der einzige Wert dieser Kritik des sittlichen
Betragens liegt darin, daß ein Ventil für etwa vorhandene Gehäs-
sigkeiten des Lehrers geschaffen wird, die sich hier weit harm-
loser manifestieren, als wenn sie bei der Note im Gegenstand
mitsprächen. Bloß der Name der Rubrik führt irre; die
Schule maßt sich auch nur scheinbar eine Klassifikation über
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einen Gegenstand an, den einer Prüfung auszusetzen, Ihr nidit
gestattet ist.
Gerade der Punkt aber, in welchem nichts erlassen
kann, das ist die Arbeit des Schülers, sind die Ansprüche an i
Leistung. Hier stellt die Zeit ihre Forderungen, und sie trdbt sie
auch später im praktischen Leben ein, ohne nach der Zahl der
Unterrichtsstunden von einst zu fragen. Das ist ein gehimloses
Mitleid, das gegen die Beschwerden der Vorübung eifert, die Aal-
gäbe selbst aber nicht erleichtem kann. Es ist unnötig, die Sdiar
der Geistesproletarier von heute noch um solche zu vermehren, dte
im Reich des Geistes den Rang von Proletariern haben. An
welchem Lehifach die Arbeitsfähigkeit des Schülers entwickelt wird,
ob an alten oder neuen Sprachen, das ist von geringer Wichtigkeit;
notwendig ist nur, daß sie geübt wird, und heute: daß sie mdr
geübt wird, als je. Die Entwicklung will aber vor allem eine
ernstere Lehrzeit, eine an Gefahren und Erlebnissen rdcfaere.
Diese wird deshalb weit eher auch dne angenehme sdn. Die
Forderungen, die für das tränenfeuchte Schülerideal der Gegenwart
erhoben werden, widersprechen dieser Notwendigkeit Der Lehrer
kann nicht »der Freund des Schülers« sein ; schon deshalb nicht,
weil der begabtere Schüler sich eine Freundschaft nidit auf-
zwingen läßt. Der Lehrer kann nicht Individualitäten bcrüd^-
sichtigen ; denn dem erwähnten Schüler gegenüber geht das möglicher-
weise über seine Kräfte, und man könnte es diesem auch nidit
verdenken, wenn er sich energisch dag^:en wehren sollte, znm
Überfluß seine Individualität von ungeschickten Händen
betasten zu lassen. Der Lehrer möge der Vertrder der Arbeit
sein und das allein. Sein Gebiet bleibe Wissen und Verstand. Man
braucht sich nicht darum zu sorgen, daß bei größerem Ernst und
strengerer Sachlichkeit die Poesie der Jugend zu kurz komme.
Die läßt sich künstlich nicht erzeugen, aber auch nicht verbannen.
Die wohnt zwischen den Ereignissen und nur die Langewdle tötet
sie. Man verschone den guten Schüler mit der Langewdle der 1
Idchterungen.
Daß man von den Reformen, deren Notwendigkeit fühlt
wird, gerade die Entbürdung zur Verwirklichung ausersehen h
mutet seltsam an. Die anderen Erfordernisse, die Separierung c
Disziplinarwesens, das Aufgeben der SittenkontroUe, die größi
Sachlichkeit, das sind Rechte, die die Zdt geltend macht; und
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ihrer Stelle wird nun ein Qescheirk gegeben. Fast erscheint es wie
eine Bestechung. Als hätte man für den kleinen Mann des Geistes,
den stets Bedürftigen/ etwas getan und sich dafür die Anhänger-
schaft und das Zuwarten seiner Freunde erkauft.
Otto Soyka.
Literatur.
In einer Zeitungsspalte fällt mein Blick auf die typische
Bemerkung, daß die »zwei ersten« Akte gefallen haben, so daß
ich glauben muß, der Rezensent sei gleichzeitig in zwei Theatern
gewesen und er stelle nun fest, daß hier und dort der ernte Akt
gefallen hat. Das ist journalistischer Sprachgebrauch, aber da eine
Zeitung auch das Richtige treffen kann, so fand ich schon in der
benachbarten Spalte eine Nachricht über die »nächsten zwei< Ver-
anstaltungen eines Vereines. Und hier eben zeigt sich, wie nichtig
alle Form ist, wenn der Inhalt von übel. Denn mein split-
terrichterisches Wohlgefallen wurde sogleich erledigt durch die
Enthüllung, daß die erste der nächsten zwei Veranstaltungen ein
»Servaes-Abend« sei. Um Himmelswillen, was ist das ? fragte ich.
Was haben die Leute mit uns vor? Sepraes- Abend - es kann nicht
sein! Oibts denn so etwas? Kann es so etwas geben?
Aber es stand schwarz auf weiß, ein Verein, der den
guten Geschmack hat, sich einen Verein für Kultur zu
nennen, versprach uns einen Servaes-Abend. Wenn man mir die
Frage vorlegte, was denn überhaupt ein Verein sei, so würr ich
antworten, ein Verein sei ein Verein gegen die Kultur. Dieser hier
aber möchte mich durch die Angabe irreführen, er sei ein Verein
für die Kultur. Das gelingt ihm nicht, denn die Rechnung geht
schließlich doch glatt auf, indem ein Verein gegen die Kultur für
die Kultur sich folgerichtig als ein Verein herausstellt. Da ich
nun dem Vereinsleben durchaus fem stehe, da die bloße Vor-
stellung, daß es einen Männergesangverein gibt, mir den Schlaf
raubt und noch kein Turnverein zur Erhöhung meines Lebens-
mutes beigetragen hat, so kann ich darüber nicht ui teilen, ob
der Verein, um den es sich hier handelt, seinen statutenmäßigen
Verpflichtungen betreffs der Kultur gerecht wird. Aber ein bos-
haftes Luder, wie ich bin, habe ich natürlich keine Anerkennung
dafür, daß sich in dieser Wüste allgemeiner Kulturlosigkeit eine
Oase des Snobtums gebildet hat, daß sich endlich wenigstens ein
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paar opfermutige Manner zusammenfinden, um die Kultur f&r
eröffnet zu erklären, ~ vielmehr nähre ich meine teuflische Lust an
dem Gedanken, daß alles verruinieret sein müsse. Es ist in der
Tat schon nicht mehr mit mir auszuhalten. Jetzt hasse ich cfie
Oasen in der Wüste, weil sie mir meine fata morgana zastöicn.
Publikum in jeder form macht mir Verdruß, ich meide
die Konzertsäle, und wenn sich in dnem solchen wirküch
einmal Leute drängen, denen man an der schwergebeugten Nee
ansieht, daß sie den Hingang der Kultur betrauern, Männer, dcreo
Bart noch die Linse von voigestem trägt, deren Qilet aber aas
Sammet und Sehnsuchten >komponiert ist, Weiber, denen man das
Haupt des Jochanaan unter der Bedingung geben m6dite, dafi
sie nicht tanzen, — dann bin Ichs auch nicht zufrieden! Ja, ich hasse
die Häßlichkeit einer genießenden Menge^die nach dem Sonnenbrand
des Arbeitstages die verschossenen Jalousien des Qemfites öffnet, um
Kunstluft hereinzulassen. Aber der ästhetische Mißwachs, der sich
an den Pforten der Kultur drängt, treibt mich in die Flncfat
Wird mir schon totenübel, wenn ich um elf Uhr abends durch
die Augustinerstraße gehe und die Nachklänge einer Wagneroper
aus dem Wigelaweia des Ganges und der Hände einer zum Fraß
strömenden Begeisterung heraushöre, was steht mir erst bevor,
wenn dereinst Herr Richard Strauß seine Versteher findet? Maa
glaubt gar nicht, wie viel Häßlichkeit die angestrengte Besdiäfüguog
mit der Schönheit erzeugt! Und ihre Art ist in allen Stidteo
dieselbe. Überall, wo nur ein findiger Impresario einen Tempd der
Schönheit errichtet, tauchen jetzt diese undefinierbaren Oestaltcn
auf, die man in früheren Zeiten dann und wann im Fieber sah,
aber nunmehr im Gehege des Herrn Reinhardt, in irgendeinem Caf6
des Westens, in den Münchener Künstlerkneipen und in Wiener
Kabarets rudelweise antreffen kann. Plötzlich steht ein Kerl neben
dir, dem Kravatte und Barttracht zu einem seltsamen Ornament
verwoben sind, das Motive aus Altwien und Ninive ver-
einigt. Er sieht Klänge, weil er sie nicht hören kann, er I
Farben, weil er sie nicht sehen kann, er spricht durch die h
und riecht aus dem Mund, seine S^le ist ein Kammerspiel i
man hat nur den Wunsch/ daß ihn so bald als möglich ein B
brauer totschlage. Denn vor diesem kann sich die Kunst retten,
jenem nicht! Das Aufgebot verquollener Scheußlichkeit, das
Jahren hinter den programmatischen Mißverständnissen her ist, nu
y Google
— 17 —
ein Entrinnen unmöglich. Was sich da im Beriiner Westen unter
allen möglichen Marken als neue Gemeinschaft von Assyriern,
Oriechen, Europäern, Kulturmenschen oder Schmarotzern schlecht-
wefir zusammengetan hat, dieses Oewimmet von einsamen Qe-
meinsamen, die nur Theaterreporter von Beruf und Baalspriester aus
Neigung sind, bildet ein so unflätiges Hindernis im Kampf
gegen den Philister, daß man das Ende aller Kunst und ein
Verbot aller Freiheit ersehnt, um ein reines Terrain zu schaffen.
Lieber allgemeine Blindheit als die Herrschaft eines Gesindels,
das mit den Ohren blinzeln kann! Ein Wiener Greisler für
zehn Beriiner Satanisten ! Das Udelquariett gegen einen Verein
für Kultur! Selbst wenn er uns einen Servaes- Abend bringt.
Denn wir wissen ja nicht einmal, was das ffir eih
Abend ist. Wir in Wien schätzen die Institution der Hopfner-
tage und der Riedlnächte, aber wir glauben nicht, daß sich
die Servaes-Abende einbfirgem werden. Was bedeutet das un-
gd>räuchliche Wort Servaes? Ich erinnere mich dunkel, daß es
einst ein Merkwort war, wenn man an ein drolliges Quiproqno
eines Kunstkritikers^ der ,Neuen Freien Presse' erinnern wollte. Da
hatte einer in der Beschreibung des Outtenberg-Denkmals eine
Buchdruckerpresse mit einem Fauteuil verwechselt oder umgekehrt,
— das weiß ich nicht genau, da ich das Denkmal aus Antipathie
gegen den dargestellten Mann und weil es eine Prostitutierten-
gasse verschandelt, nie angesehen habe. Aber ich weiß
genau, daß der Kunstkritiker, der zu aufmerksamer Betrachtung
verpflichtet war, irgend etwas verwechselt hat. Ein anderesmal hat
er in der Beschreibung eines ausgestellten Bildes Wüstensand mit
Schnee verwechselt, was doch so bald keinem Kamel passieren
dürfte. Infolgedessen wurde der Mann nur mehr dazu verwendet,
Berichte über Wohnungseinrichtungen zu stilisieren, die die Firmen
der Administration bezahlten und in denen die rautctiUa genau
bezeichnet waren. Da aber, wie erzählt wird, eine Verwechslung
zwischen den Herren Portois und Fix vorkam, so sei nichts übrig
geblieben, als dem Mann die Literaturkritik zu überantworten.
Hier kann einer machen, was er will, niemand wird daran
Anstoß nehmen. In der Literatur ist jede Verwechslung von
Wüstensand und Schnee, von Fauteuil und Presse, von Portois
und Fix erUubt. Hier kann ein Mensch, der keine bla se
Ahnung von Stil hat, über Werke der Sprache in einem
yGoogL
e
— 18 —
impertinenten Ton aburteilen, fflr den man ihm in jeder bcsBem
Gesellschaft auf den Mund schlüge. Hier dünkt sich ein
Reporter, dem man keinen Oerichtssaalbericht anvertraute, einen
Gott. Es soll vorkommen, daß solche Leute an ausviiüfe
Revuen Beiträge schicken und wenn sie ihnen abgelehnt verdoi,
mit den Waffen ihrer kritischen Hausmacht zu spielen beginneiL
Daß sie dann in ihrem eigenen Gehege sich für alle Zarüdc-
Setzungen, die ihrer Talentlosigkeit widerfahren, für alle Ent-
täuschungen ihres Ehrgeizes, für alle Verbitterung sdudlos hatten,
ist nur zu begreiflich. »Servaes«, das ist die Chiffre, die man
fiberall dort findet, wo sich Mangel an Temperament austoben
und Ledernheit sprudeln möchte. Da erscheint zum Beispiel ein
Roman, zu dessen Empfehlung ich nicht mehr sagen kann, als daß
ich ihn ausgelesen habe: »Sonjas letzter Name«, eine Schelmen-
geschichte von Otto Stoessl. Aber die besten kritischen Köpfe Deutsch
lands (S. Lublinski, Paul Ernst und andere) haben ihn nicht nur
gelesen, sondern auch erhoben. Stünde ich der epischen Kunstfom
nicht wie einem mir Unfaßbaren gegenüber, ich fühlte mich woU
versucht, über die vielerlei seltenen Schönheiten in Sprache nnd
Gestaltung, die ich mir dort angemerkt habe, zu sprechen; über emco
ideenvollen Humor, der sich meinem Gefühl nur in den reflektierenden
Pausen entrückt, in denen er sich nach sich seilet umsieht; nod
über jene herzhafte Entdeckung romantischer Gegenden ia
einer konventionellen Welt, von der dem kritischen Flegel das
Problem der »Unwahrscheinlichkeit« in Händen bleibt Darüber
würde ich etwas sagen und nicht verschweigen, daß es ein Mitart)eiler
der ,Fackel' ist, dem ich solche Freude verdanke. So aber ob-
liegt mir bloß die traurige Pflicht, zu sagen, daß die Mitarbeit
an der, Fackel' einem Künstler bei der Beschränktheit gesdudethat
Es wäre ein beruhigender Gedanke, daß kritischer Unverstand
keine Ranküne braucht, um sich lästig zu machen. Einem Antor,
der heute in Deutschland geachtet wird, kann es ohnedies leicht
zustoßen, daß ihm in Wien ein Ziegelstein auf den Kopf fällt; det
in Wien ärgern sich die Ziegelsteine darüber, daß die Passantr
ihren Weg gehen. Ich bin der einzige, dem es nicht geschehe
kann, weil bekanntlich der Dachdecker den Auftrag gegdy
hat, mich mit stiller Verachtung zu strafen. At)er es könnte immerii
möglich sein, daß es die Dummheit auf jene abgesehen hat, d
mit mir gehen. Damit nun wenigstens der nächste nicht stolpei
y Google
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mnß man solch einen Ziegelstein mit einem Fußtritt aus dem
Wege räumen.
Und wieder habe ich an ihm das Zeichen »Servaes«
gefunden. Was soll das bedeuten? Ich komme schließlich
dahinter, daß es die Signatur einer Qeistlosigkeit ist, die stets
verneint. Dafür kann sie im allgemeinen nichts. Daß sie aber im be-
sondem Falle dieSchöpfungeinesAutors als> Anregung« für die Sudler
feilbietet, daß sie einem Schriftsteller, der jenseits derfeuilletonistischen
Qangbarkeit produziert, seine Werte entwinden möchte und die
»leichte Hand« der Literaturdiebe herbeiwinkt, auf daß eine vorrätige
Idee nach dem Geschmack des Gesindels zubereitet werde, ist beinahe
dolos. Als ob man heutzutage die Diebe rufen müßte! Freilich,
um diesem Verleiter zu folgen, dazu werden sie sich zu vornehm
dünken. Kein Nachahmer hat es nötig, sich von solchem Geist
beraten zu lassen, und ich wette hundert Schelmenromane gegen
einen, daß zum Beispiel Rudolf Lothar es verschmähen wird, eine
Quelle zu benützen, die ihm im Voraus nachgewiesen wurde»
Immerhin ist diese Art öffentlicher Hehlerei ein Novum in der
Literaturkritik, diese Manier, am lichten Sonntag, wo sich die
jungen Literaten auf dem Marktplatz drängen, den Ruf auszu-
stoßen: Haltet den Bestohlenen! Solche Gesinnung ist schlimmer
als Unverstand, der nur die äußere Stofflichkeit benagt.
Diesem kann man das Recht, lästig zu sein, so wenig
absprechen wie jedem andern Zufall. Mein Gott, es gibt
eben Literaturkritiker, die den Wert eines Kunstwerkes des-
halb niit Vorliebe vom stofflichen Gesichtspunkt beurteilen, weil
sie nach den harten Zeiten der Tapezierer-Reklame endlich
freie Hand haben, die Echtheit von Stoffen anzuzweifein.
Ihre kunstkritische Herkunft verleugnen sie auch In der
Literaturkritik nicht: sie prüfen die Leinwand, wenn sie über ein
Gemälde urteilen sollen. Aber sie sind nicht einmal in diesem
Punkte sachverständig.
Glaubt man nach all dem, daß unsere Kritik im Argen liegt?
Dafür gedeiht unsere Produktion. Denn unter dem Namen
Servaes wird nicht nur gerichtet, sondern auch bewiesen, daß man
es selber besser machen könne. Nur so ist die Gründung von
Vereinen für Kultur und die Institution der Servaes-Abende
zu erklären, an denen ja nicht Inserate, sondern Dichtungen vor-
gelesen werden sollen. Wir haben einen Peter AJtenberg, der
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fünfzig Jahre alt wird, die deutsdie Literaturkntfk lelsiet allerorten
den Saint, und unser Intelligenzblatt bringt Feuilletoits und
Romane eines schlechtgefärbten Blaustrumpfs und unser KaHnr-
verein veranstaltet einen Servaes-Abend. Nein, es will mir nidit
sttmmen, daß dieses wundervolle Wort »Abend«, das Zeitencnde
und Sonnenuntergang, Feste und Weihen einllutet und in dem
ein Hauch aller deutschen Diditung atmet, jene sonderbare Ver-
bindung eingehen konnte. Ein schlechtes Beispiel mag einmal die
guten Sitten des Wortes verdorben haben. Nun ja -
Eines Abends noch sehr spöte
Gingen Wassermaus und Kröte
Einen steilen Berg hinan.
Karl Kraus.
Brotische Krisen.
Es handelt sich um »Ssanin«. Und ich sehe nicht dn, wmuB
ich es nicht sagen soll: es ist dn schlechtes Buch, di^di da
schlechtes Buch,
Freilich, es wurde konfisziert, hüben und dr&ben. Nud, auf
die Qdahr hin, daß ich in den Verdacht komme, den Staate-
anwälten gefallen zu wollen: ich lese prinzipiell kdne koii>
fiszierten Bücher. Es ist stets eine Enttäuschung. Die guten Bfidwr
bleiben im großen Ganzen unkonfisziert Diese billigste und
wirksamste Reklame, die dennoch nicht die geringsten Oarantka
bietet, wird hoffentlich die Bedeutung jenes Buches nidit nodi
mehr aufbauschen, als es schon durch die unzähligen Kritiken ge*
schehen ist
Die moderne russische Literatur macht so gute Anläufe;
und da kommt solch ein ordinäres Buch und diskreditiert jene;
die eben daran sind, uns vor Europa dn bißchen zu rehabilitieren
und etwas von unserem Sündenregister strdchen zu beifien. Es
ist dn ärgerlicher Zwischenfall.
Von bleibendem Kulturwert soll dieses Buch sdn; all
Kritiker in Deutschland sind sich darüber einig. Tatsächlich stm
es im Prospekt, und die Einleitung, die diesdben Qualitäten b«
sitzt wie der Prospekt, bestätigt dieses Urteil Abet* dn schleditr
Buch kann kein Dokument einer schlechten Z^it sein*; dn va
fehltes Kunstwerk nicht ein Denkmal einer fehlerhaften Kultu-
epoche; dn im ethischen Sinne (nicht ifn »monilischeii«) stump
üigitized by VjOOQl'i
21
sinniges Uteraturprodukf - icein Zeugnis ablegen. Zur Not
könnte dies nocli beim Mangel an literarisdien Qualitäten der
Fall sein, wäre das Budi naiv - oder überlegen.
Die Kritilc hat femer einen noch größeren Unsinn fest-
gestellt, der freilich auch im Prospekt stand : jener so versöhnend
und doch so sinnlos proklamierte erotische Hexensabbath, den die
russische kampfesüberdrüssige, ideenenttäuschte Jugend auf dem
frischen Grabe der unter Bombengeknatter und »Hände hochlc-
Rufen eingescharrten Revolution aufführte, jener erotische Hexen-
sabbath sei durch Artzybaschews »Ssanin« hervorgerufen. Und das
wird ganz ernsthaft wiederholt. Genau mit demselben Rechte
könnte ich fragen: Welches literarische Werk hat es bewirkt, daß
beispielsweise die Berliner Schuljugend, die Knaben mit
den sporttendenziösen Gesichtern und die Mädels mit den
unschuldig-kurzen Röckchen und den reifen Waden hinter das
große Geheimnis gekommen sind? Als »Ssanin« erschien, war schon
das Fest der russischen Jugend im vollen Gange, man war mitten
drin, und man empfing jenen als willkommenen Gast Sorgte er
doch für die geistige Unterhaltung und machte er doch als über-
l^ener Erwachsener verstohlen gern mit, was höchst spaßhaft
und pikant war. Seine Gedanken und seine Sprache waren grob
genug, um bei dem lärmenden Durcheinander der erotischen
tabula rasa für wahr und originell zu gelten. Als man aber am
folgenden Tage mit einem schwachen, doch freudigen Katzen-
jammer und mit dem Vorgefühl vom Ernst der nun bevor*
stehenden Arbeit und der Zukunft des Vateriandes erwachte, da
sagte man sich •— nicht einmal ärgerlich, soweit war man schon
wieder weg — : der Ssanin von gestern, das war doch ein ekelhafter
Kerl; ein Protz, ein Parvenü. Eigentlich ein Spießer und dann:
Leute, die bei solchen Gelegenheiten sich hervortun und sich
Gehör verschaffen, denen soll man aus dem Wege gehen. Und
wenn man ihm dann nun begegnete, tat man kühl und wollte
sich kaum erinnern.
Dies der wahre Sachverbalt.
Es ist klar, daß der Held Ssanin nicht als russischer Typus
gelten darf, weil er absolut unrussisch ist. Dieser im bösesten
Sinne romanhafte Held, der immer obenauf ist, stets überlegen,
stets recht behält, keine Zweifelsqualen, keine Sehnsuchtslähmung
kennt« mag vielleicht anderswo als Repräsentant starker Männ-
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*^ »75-270
22
lichkeit Geltung haben; als Ausdruck russischer Seele und
sehen Geistes (auch zu Zeiten politisch-sozialer und eroHscfaer
Revolutionen) darf er nie und nimmer sich einschleicfaciL Die
russischen »Helden«, die sind nicht fertige Männer, die propft-
gandieren; sie ringen, geben sich Blößen, madien sich läcfaerUdi
und ringen. Sie haben einen Knacks; nicht den Individuafitit»-
knacks Ibsenscher Menschen, sondern den allgemein *russischcp
Knacks derer von Dostojewski bis auf Tschechow.
So kommt es auch, daß Ssanin gerade das repräsentiert, was
den mssischen Hamletnaturen femli^: Protzentum und Spieß-
bürgertum. Merkmal des Geldes- oder des Geistesparvenu Ist ewige
Furcht: vielleicht werden die andern an seinen Reichtum nicht
glauben - wie er selber im Grunde seines Herzens noch nidit
recht daran glauben will — ; und er reibt es einem Immer unter
die Nase. Also Ssanin mit seinen erotisch-anarchistischen Obei^
Zeugungen und freiheitlichen Forderungen.
Merkmal des Spießers: die Feigheit, das zu tun, was ihn
im Innern imponiert, verlockend erscheint; seine Qeqienster:
der Ruf, die Verantwortung, die Folgen. Ssanin hat eine Sdiwester.
Im Umkreise ist sie die Schönste, die Klflgste, die Stolzeste -
die Begehrenswerteste. Und das ist sie auch dem »finden«
Bruder. Er zerrt an den als unantastbar geltenden erotischa
Fäden, die sich so wundersam zwischen Bruder und Schwester
spinnen und sich zu einem verhängnisvollen Strick verweben, schoii
wenn sie bloßgelegt werden und man ihrer gewahr wird ... Die
Voraussetzung des inneren Blutzusammenhanges und die unhdni-
liche Heimlichkeit der sündhaften Liebe verleihen dem erotischen
Verhältnis zwischen Bruder und Schwester jene Stärke und Tngtk,
denen alle die verfallen, welche diesem Problem in der Kunst oder
im Leben nähergetreten sind. Ssanin hat nun die - ich glaube^
wohltuende Idee, all diese fatalen »Irrungen« der Instinkte als etwas
einfaches, natürliches hinzustellen und alle fatalen Bedenken be'
Seite zu schieben. Ahnlich wie Fjodor SoUogub in einer kidnc
mißglückten Komödie einen lebenslustigen, kraftl)ewuBten Vat
seine Tochter verführen läßt, nachdem er den Bräutigam schwan
artig an die Luft gesetzt hat ; da ist die Charakteristik, der A&
bau, die Intrige auf das Primitivste reduziert. Das Problem : »Ai
was, es ist ja nichts dabei.« So denkt auch Ssanin und hat do<
nicht die Courage, die Konsequenzen zu zidien. Voller Neugicrc
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— 28 -
und Oeilhdt umschleicht er seine Schwester, er geht um sie herum
wie die Katze um den Brei. In einer Sommernacht belauscht er
sie, während sie sich bei offenem Fenster entkleidet (er ist über-
haupt für das Lauschen mit den Augen und den Ohren). Und
als sie im Hemde dasteht und er das Schauspiel beendet sieht,
ruft er sie an und tritt ans Fenster; sie beugt sich zu ihm hin-
über und er wird berauscht beim Anblick ihrer Reize, und stottert
Worte mit heiserer Stimme. Die Schwester wird durch des Bruders
Brunst aufmerksam, dann fühlt sie sich abgestoßen und zuletzt wird
sie nachdenklich. Sie wird zum Weibe, sobald sie sich als Weib
angesehen fühlt. In einer schwachen Stunde läßt sie sich vom
Bruder an sich reißen, endlos küssen, drücken bis zur Besinnungs-
losigkeit. Es bedurfte vielleicht nur einer Arie, wie sie dieser
räsonierende Mann der Tat für alle Lebenslagen bereit hält, und die
Schwester hätte sich ihm hingegeben. Aber der Maulheld, der
die Liebesfreuden propagandiert, ohne die Liebe zu kennen, zieht
nicht die Konsequenz aus seinen Lehren und aus seiner Begierde,
sondern sorgt für eine Partie. Die Schwester heiratet, nachdem sie
mit einem schneidigen Leutnant böse Erfahrungen gemacht, einen
zwar ungeliebten, aber anständigen Menschen. Was ist eigentlich
die Moral davon ? Mich dünkt, daß dieses ganze Getändel gerade
dadurch, daß sich der Bruder zu guterletzt an die Schwester
nicht heranwagt, zu einer Frivolität herabsinkt. - - -
Es handelt sich natürlich nicht um Ssanin. Ein Reisender
in der Ideen-Branche ist mit rechter Krämer-Intimtuerei und Un-
geniertheit in unser Haus gedrungen, da die Tür gerade angelehnt
war, hat seine Musterkarten gelassen und uns einige Artikel auf-
geschwatzt. Da wir uns endlich gesammelt, ihn an die Luft gesetzt
und die Fenster geöffnet haben, werden wir nachdenklich : Leute
von diesem Schlag wissen, was sie tun; sie haben einen feinen
»Ri^her«. V7enn er sich hier mit solcher Ungebundenheit breit
machte, so muß er herausgeschnüffelt haben, daß er hinter 4pr
angelehnten Tür ein psychologisches Interregnum vorfinden würde.
Es gibt erotische Krisen. Ein jeder hat sie zu absolvieren. Die
erste Krise, wenn die erste Vorreife die Ahnungen durchbricht;
die andere, wenn die Vollreife den ersten Knacks verspürt; eine
fernere dann, wenn die Überreife einen verknackst hat. Eine jede
Krise hat ihre Merkmale. Je stärker die Krise, je erschreckender
die Merkmale, desto reicher die Mittel. Nicht jeder ist ver-
le
y Google
— 24 —
pflichtet sie durchzumachen, geschweige denn, sie bevuBt dmi^
zumachen. Aber die erotisch und, im Zusammenhange damit,
sonstwie Begnadeten kennen sie.
Just solche Krisen hat auch die Menschheit, hat auch eise
Rasse durchzumachen. Und Rußland macht jetzt ehie soldie dor^
»Ssanin« und der Wohlgefallen daran tn^en alle Merkmale jcaer
der ersten Vorreife. Aber Rußland wird sich schon hcnuishdiai.
Dieses Land, das manchmal solche beängstigende Sprflnge za
machen beliebt und hie und da die besten Nationen zu überlioieB
droht, wird vielleicht sehr bald eine weitere Krise erreidien ; md
man wird staunen, wie verzwickt sie sein wird. Westen, laß did
begraben, zu solchen Verzwicktheiten hast du viel zu viel Venyinlt!
St. Petersburg. Paul Barchmn.
Glossen.
Eine Tatsache, deren Erfindung mehr för ihre Mögiidikeit
beweist als ihre zufällige Wahrheit bewiese, wurde Jfingst in enier
Zeitung gemeldet. Es seien 48 Passagiere des am 1. März von\^en
abgelassenen Luxuszuges Wien- Nizza bis zum 6. in Pöntalel
eingeschneit gewesen, ohne daß sie Nachricht von ihrem Verfolei>
ben geben konnten, da auch die Telegraphenlinien nach Norden
und Süden zerstört waren. »Erst Samstag kam eine militärisdie
Skipatrouille mit Zeitungen an, in denen zur größten Verwun-
derung der Passagiere vom Schicksal ihres Zuges noch keine
Meldung enthalten war. Auch wollte man nicht begreifen, daß die
25 Kilometer lange Strecke binnen einer Woche nicht ausgeschau-
felt werden konnte.« Zu solchen Meldungen pflegen die Redak-
tionen, die sie übernehmen, zu bemerken: »Die Nachricht klingt
ganz unglaublich. Ihre Bestätigung bleibt wohl abzuwarten«. Am
nächsten Tag erfolgt das Dementi* der Bahndirektion. Ob die
Meldung trotzdem unwahr ist, ist gleichgültig. Das Seelenleboi
dsr Achtundvierzig ist in einem Satze so gut erfaßt, daß man
unbedingt an die Beobachtung eines realen Vorfalles glauben mi
So und nicht anders würden sie sich geberden, wenn sie c
Teufelei der Natur auf einem Schienenstrang aus dem Verkefc
leben ausgeschaltet hätte. Sechs Tage schon von der Welt abi
schnitten, die Vorräte des Speisewagens sind zu Ende, weit und bi
keine Rettung. Da, endlich, naht eine militärische Skipatrouillc. ü
bringt sie? Zeitungen! Mit gierigen Händen langen dieAchtm
üigitized by Vjv
— 26 —
vierzig dantch. Aber als ob die Rettangsgesellscfaaft den hungern-
den Opfern eines Erdbebens Maccaroni aus Papiermache böte,
— die Zeitungen enthalten nichts aber die Katastrophe 1 Man
sucht seinen Namen und findet ihn nicht. Und daffir liegt man
sechs Tage auf der Strecke! Wozu die ganze Schneeverwehung?
Wenn man schon von der Außenwelt abgeschnitten ist, so soll
sie es doch wenigstens erfahren ! Die Achtundvierzig werden an
der journalistischen Vorsehung irre ; sie sterben ohne Trost. Haben
diese Helden in keinem Augenblick an ihre leibliche Rettung
gedacht? Nur mit jener Wehmut, die nach tieferer Enttäuschung
kaum ein Achselzucken für die Dinge des Lebens hat. Die ,Neue
Freie Presse' bnngt nichts. Was kann da noch Schlimmeres kommen ?
Nun ja, »auch wollte man nicht begreifen«, daß die Strecke
nach einer Woche noch nicht ausgeschaufelt war.
•
Ein Leser der Wiener Tagespresse wollte eine Vorstellung
des »Tass0€ besuchen. Um sich aber schon vorher ein Urteil zu
bilden, hat er sämtliche Kritiken gelesen. Nun flüchtet er zu mir,
will durchaus Antwort auf die Frage des Pilatus und unterbreitet
mir die folgende Zusammenstellung:
,'Neues Wiener TagbUtt'.
»Herr Qerasch hat gestern sehr
gefallen«.
,Zeif.
>Er sieht sehr gut aus«.
.Neues Wiener Tagblatt'.
»Er gibt ihn warm im Ton«.
,Neues Wiener Tagblatt'.
»Er gibt ihn (Tasso) mit edier
Verzichtleistung auf alles schau-
spielerische Zuviel«.
.Deutsches Volksblatt'.
»Sein wunderbares Organ«.
.Österr. Vollcszeitung*.
»Der vierte Akt gelingt Herrn
Gerasch nicht«.
.Deutsches Volksblatt'.
»Die Rolle, die Herr Kainz mit
seinen Mätzchen und seiner Un-
natur verdarb«.
.Österr. Volkszeitung'.
»Frau Hohenfels und Herr Hart-
mann waren Olympier, die sich
bei Sterblichen zu^aste luden«.
Uigitized by VjOOQl"'
.Freradenblatt*.
»Herr Oerasch ist kein Tasso für
Wien«.
.Neues Wiener Journal',
»Uninteressant in der Äußeren
Erscheinung«.
.Premdenblatt'.
»Herr Gerasch ist nicht warm«.
.Neues Wiener Journal'.
»Er fiberlud sie (die Rolle) mit
aUem Gepränge komödiantischer
AuBerlichkeiten«.
.Fremdenblatt'.
»Sein kaltes geUendes Organ«.
.Extrablatt'.
»Die Steigerung im vierten Akte
gelang überraschend«.
.Neues Wiener Tagblatt'.
»Nicht so hinreißend und phos-
phoreszierend wie Herr Kainz«.
.Arbeiterzeitung*.
»Die ewige Ariensucht
Hohenfels«*
der
- 26 -
Eine schöne Bescberang ! Ich habe dazu nur zu
daß ich Meinungsverschiedenheii bei gleichem Mangel an loditi-
dualität in der Tat empörend finde.
Sprüche und Wldersprflche.*)
Der Mann hat den Wildstrom weiblicher Snn-
lichkeit kanalisiert. Nun überschwemmt er nicht mehr
das Land. Aber er befruchtet es auch nicht mehr.
•
Wenn die Natur vor Verfolgung sicher sehi
will; rettet sie sich in die Schweinerei.
Im Orient haben die Frauen gröfiere Freiheit
Sie dürfen geliebt werden.
•
Es gibt einen dunklen Weltteili der Entdecker
aussendet. #
Es ist gauE ausgeschlossen^ dafi, wie die Dinge
heute liegen^ ein wiederkehrender Qoethe nicht wegen
unerlaubter Reversion ausgewiesen würde.
•
Auf einem Kostümfest hofft jeder der Auffal*
lendste eu sein; aber es fällt nur der auf, der nicht
kostümiert ist. Sollte das nichteinen Vergleich g^ben?
•
Die Persönlichkeit hat ein Recht eu irren. Der
Philister kann irrtümlich recht haben.
•
Bei gleicher Geistlosigkeit kommt es auf den
Unterschied der Körperfülle an. Ein Dummkopf sollt
nicht zu viel Raum einnehmen.
♦ *
An dem -deutschen Kaffee habe ich eine übei
trieben e Nachgiebigkeit gegenüber der Milch beot
*) Diese Aphorismen, zuerst im »Simplicissimus' erschienen, sli
in verschiedenen Abteilungen des Buches >Sprache und Widf
Sprüche« (Verlag Albert Langen, München) enthalten.
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— 27 —
achtet. Er erbleicht, wenn sie nur in seine Nähe
kommt. Das könnte auch ein Bild von der Beziehung
der Qeschlechter in diesem Lande sein.
•
Der Friseur ersählt Neuigkeiten, v enn er bloß
frisieren soll. Der Journalist ist fccistreich, wenn er
blofi Neuigkeiten erzählen soll. Das sind zwei, die
höher hinaus wollen.
•
Nicht auf alle Qrüfie mufi man antworten. Vor
allem nicht auf solche, die blofi eine Bitte um Qunst
ausdrücken. Der Qruß an einen Kritiker ist der Qrufi
der Furcht, er ist nicht höher zu werten als der
Fiakergruß, der ein Grufi der HofTnung ist: die
Grüßenden wünschen sich selbst einen guten Tag.
Man soll die Gesinnung, die eine Freundlichkeit zu
gewinnsüchtigen Zwecken mißbraucht, nicht auch noch
mit einer körperlichen Unbequemlichkeit belohnen.
Gesellschaft: Es war alles da, was da sein muß
und was sonst nicht wüßte, w^ozu das Dasein ist,
wenn es nicht eben dazu wäre, daß man da ist.
•
Es ist ein Unglück, daß in der Welt mehr
Dummheit ist, als die Schlechtigkeit braucht, und
mehr Schlechtigkeit, als die Dummheit erzeugt.
•
Das ist der Triumph der Sittlichkeit: Bin Dieb,
der in ein Schlafzimmer gedrungen ist, behauptet,
sein Schamgefühl sei verletzt worden, und erpreßt
die Unterlassung der Anzeige.
•
Jedes Gespräch über das Geschlecht ist eine ge-
schlechtliche Handlung. Den Vater, der seinen Sohn
aufklärt, dieses Ideal der Aufklärung, umgibt eine
Aura ron Biiitschande.
Daß eine Kokotte nach sozialen Ehren strebt,
ist eine traurige Erniedrigung; aber sie entschädigt
sich wenigstens durch Ijeimliche Freuden. Viel ver-
werflicher ist die Praxis jener Frauen, die durch den
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28
Schein eines Freudenlebens über ihre heimliche Ehr-
barkeit EU täuschen wissen. Sie schmarotsen an einer
sozialen Verachtung, die sie sich nicht Terdi^at
haben; und das ist die schlimraste Art von Streb€»ei.
•
Wie wenig Verlaß ist auf eine Frau, die skdi
auf einer Treue ertappen läfit ! Sie ist heute dir,
morgen einem andern treu^
•
Mancher rächt an einer Frau durch (Gemeinheit,
was er durch Torheit an ihr gesündigt hat
•
Man kann eine Frau wohl in flagranti ertappen,
aber sie wird noch immer Zeit genug haben, es in
Abrede zu stellen.
*
Perversität ist entweder eine Schuld der Zeu-
gung oder ein Recht der Oberzeugung.
•
Wohltätige Weiber: solche, denen es nicht
mehr gegeben ist, wohlzutun.
•
Man tut ein gutes Werk, wenn man dem Luxus
des Nebenmenschen zu Hilfe kommt. Es ist eine
üble Anwendung der Wohltätigkeit, die Bestrebungen
der Pauvretö zu unterstützen.
•
Es gibt Menschen, welchen es gelingt, di%
Vorteile der Welt mit den Benefizien des Verfolgt-
leins zu vereinigen.
•
Die stärkste Kraft reicht nicht an die Energie
heran, mit der manch einer seine Schwäche ver-
teidigt.
•
Die wahre Treue gibt eher einen Freund prc
als einen Feind.
Ich kann mich 90 bald nicht von dem Eindrud
befreien, den ich auf eine Frau gemacht habe.
y Google
29
Das ist noch immer nicht die richtige Einsam-
keit| in der man mit sich beschäftigt ist.
*
An einem Ideal sollte nichts erreichbar sein als
eis\ Martyrium.
Wer offene Türen einrennt, braucht nicht zu
fürchten, daft ihm die Fenster eingeschlagen werden.
•
Das Geheimnis des Agitators ist, sich so dumm
SU machen, wie seine Zuhörer sind, damit sie glau«
ben, sie seien so gescheit wie er.
*
Ein guter Autor wird immer fürchten, dafi das
Publikum am Ende merke, welche Gedanken ihm zu
spät eingefallen sind. Aber das Publikum ist darin
viel nachsichtiger als man glaubt, und merkt auch
die Gedanken nicht, die da sind.
Einen Aphorismus zu schreiben, wenn man es
kann, ist oft schwer.' Viel leichter ist es, einen
Aphorismus zu schreiben, wenn man es nicht kann.
Es ' gibt Schriftsteller, die schon in zwanzig
Seiten ausdrücken können, wozu ich manchmal sogar
zwei Zeilen brauche.
m
Man darf auf dem Theater die Natur einer Per-
sönlichkeit nicht mit der Natürlichkeit einer Person
verwechseln.
Nicht alles, was totgeschwiegen wird, lebt
*
Die Kritik beweist nicht immer ihren gewohn-
ten Scharfblick; sie ignoriert oft die wertlosesten
Erscheinungen.
In der Literatur gibt es zwei verschiedene Ähn-
lichkeiten. Wenn man findet, dafi ein Autor einen
— 30 -
andern sum Verwandten, und wenn man entdeckt,
dafl er ihn blofi zum Bekannten hat.
Ein schöpferischer Kopf sagt auch das aus
eigenem, was ein anderer vor ihm gesagt hat. Daf&r
kann ein anderer Qedanken nachahmeni die einem
schöpferischen Kopf erst später einfallen werden.
•
Eigene Gedanken müssen nicht immer neu sein.
Aber wer einen neuen Qedanken hat, kann ihn leicht
von einem andern haben.
•
Die Wissenschaft überbrückt nicht die Abgründe
des Denkens, sie steht blofi als Warnungstafel daTor.
Die Dawiderhandelnden haben es sich selbst luxu-
»ohreiben.
•
Wahn verpflichtet durchs Leben wanken — das
könnte immer noch ein aufrechterer Gang sein ab
der eines Wissenden, der sich an den Abgründen
entlang tastet.
•
Die Unsterblichkeit ist das einxige, was keinen
Aufschub verträgt.
*
Hüte dich vor den Frauen 1* Du kannst dir eine
Weltanschauung holen, die dir das Mark aerfr^ssen
wird.
•
Qual de« Lebens — LuBt des Denkens.
•
Wenns nur endlich finster wäre in der Natur I
Dies elende Zwielicht wird uns noch allen die Augen
verderben.
« « Karl Kraus.
Pascin«
Ich würde es dem Zeichner Pascin von Hei
zen gönnen, dafl das, was ich hier über ih
schreibe, für nicht gar so wenig Menschen In
teresse hätte. Indessen würde es mich^ selbst ai
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— 81
Oesohmaok des Publikums irre machen^ wenn dieses für
einen so erstaunlich tiefen, kühnen und durchaus
singulären Künstler auch nur eine leise Sympathie
bezeugte ... In der Tat ist es recht unanständig, zu
sagen, dafi man in der Kunst Pascins Qenufi findet;
denn hier wie immer wird man unserm künstleri-
schen Entzücken ein stoffliches imterschieben.
Nun hat freilich bei Pascin auch das Stoffliche
an und für sich schon psychologische Bedeutung;
und seine Kunst wird vollkommen unzugänglich blei-
ben für alle, die entweder nicht reich oder nicht
ehrlich genug sind, um — wenigstens in sogenann-
ten dunklen Augenblicken — auf dem untersten
Grunde ihrer Seele schlummernde Möglichkeiten des
Tierischen, oder auch nur die leisen Schatten solcher
Möglichkeiten herumkriechen zu sehen.
#
Bin besonderer Qrund, warum es Pascin gar
nicht gelingt, das sonst den erotischen Darstellungen
heimlich nicht abgeneigte Publikum für sich zu ent-
zünden, scheint mir darin zu liegen, dafi ihm das
keuchende Pathos im Erotischen gänzlich fremd ist.
Ach, »er geht nirgends aufs Qanzec I In der Gebärde,
überhaupt in der ganzen Erfindung seiner Figuren
und Situationen liegt nirgends etwas Entschlossenes
und Definitives — überall nur jener andeutende, letzte
feine Rest psychologischer Regung; nirgends heftige
Bewegung, sondern höchstens ein leiser Wille dazu.
•
Pascin ist der Darsteller psychologisch-erotischer
Grenzgebiete. Von den meisten erotischen Künstlern
unterscheidet er sich dadurch, dafi er nie illustriert.
Er ist ein viel zu guter Psychologe, um Vorgänge
illustrieren zu müssen. In einer matt herabhängenden
langen mageren Hand vermag er das Erschauern
aller Perversitäten auf einmal auszudrücken. Er
zeichnet nur irgend ein schiefgezogenes Auge, und
läftt uns so schon einen tieferen Blick in Abgründe tun
als ein anderer, der diese Abgründe selbst darstellt.
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Ich protestiere daher naohdrfioklich gegen ooe
Meinung, die, soviel ich weifi^ sehr verbreitet u^ —
nämlich dagegen, dafi Pasoin einem »schauerlicheo
Realismusc huldige. Diese Meinung des Publikums
hängt natürlich wieder mit seiner öden Verwechslung
des Dargestellten und der Darstellung susammeo.
Ich empfinde im Gegenteil die Kunst .Pasciiis ab
durchaus mystisch.
An jeder Figur oder Situation führt Pasoin nur
soviel aus, als unbedingt nötig ist, die Idee der
Figur oder Situation wiederzugeben. Vieles liegt bei
ihm überhaupt schon auf der Qrense swischeo
Mensch und reinem Symbol eines Triebes, swisdieD
animal und dem reinen Ausdruck, der Idee des ani-
mal. Ich erinnere mich an jenes awisehengeschlechi-
liche nackte Riesen-Monstrum im Kinderwagen, das nur
glotzt . . . glotzt wie tausend eklige Tiere aus einem
tausend Jahre lang versumpften Brunnen. Die Hftfl-
lichkeit dieses Monstrums übertrifft weitaus aUe
Wirklichkeit; sie ist realistisch unmöglich, auch be
den Hallstättern, und mufi als das abstrahierte Symbol
irgend eines grausigen Sexualtriebes aufgefafit werden.
•
Ebenso fremd wie Pascin das stoffliche Pathos
in der Erotik bleibt, ist ihm das Pathos auch in der
künstlerischen Ausführung. Alles ist leicht, oart und
nachlässig hingeworfen, oft nur spärlich skUuiert
Pascin hat unendlich viel Sinn für Nuancen. Das
bedingt an und für sich eine zarte Technik.
•
Reine Komik, befreiendes Lachen finden wir
nie bei Pascin. Auch hier wehrt er sich gegen das
Pathos — ich meine gegen das Pathos der Heit«p-
keit. Komische Linien haben bei ihm stets e
Richtung ins Grausige oder in eine degeneric
Müdigkeit. Die reine Komik würde eine derb
Technik verlangen, als er anwenden will. Wc
er eine rumänische Kupplerin zeichnet, wie
ihrer Tochter das Haar bindet, läflt er aus d
vergrößerten Weiß ihrer Augen, aus der Spanni
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— 88 —
ihrer knöcherigen Hand die sexuelle Wollust der
Kupplerin fiebern. Seine Kunst erlaubt ihm, realisti-
scheren Vorgängen aus dem Wege zu gehen.
Pascin ist Meister in der Erregung des Grauens.
Mein tiefstes Grauen hat er mit einigen Zeichnungen
geweckt, auf denen die dargestellten Menschen in
unendlicher Müdigkeit und Apathie nur dasitzen und
warten, immer nur warten ... Er hat Typen ge-
zeichnet, die auch zum Sterben zu müd sind. Ein
kleiner, knochiger, verrunzelter Hund, der auf diesen
Zeichnungen nie fehlt, verstärkt noch, durch die
tierische Perversität seines Blickes, den ungeheuren
Eindruck vollkommenster Verlassenheit.
Auch zu solchen Darstellungen würde eine
kräftige Technik nicht passen; nur die feinsten
Striche und die abgetöntesten Farben vermögen die
Idee zu retten.
Manchmal hat Pascin mitten unter viehisch
wüste und verwüstete Balkanweiber irgend ein Mäd-
chen mit ausnehmend hübschem Gesicht gezeichnet,
das in naiver und unschuldiger Miene eine kindlich
fromme Perversität zum Ausdruck bringt. Diese
künstlerische Laune Pascins hat mir von jeher ge-
fallen. Ich glaube nämlich, daß er sich damit über
das Publikum moquierte, indem er ihm lächelnd
sagte: »Seht, ich könnte sogar etwas Süfies zeichnen Ic
Zur Ehre des Publikums sei festgestellt, dafi es
sich von diesen sporadischen Launen Pascins nicht
hinreiflen ließ. Diese Launen waren zu selten, als dafi
eine dauernde Neigimg darauf hätte basieren können.
München. Karl Borromaeus Heinrich.
Der Portschritt.*)
Ich habe mir eine Zeitungsphrase einfallen
lassen, die eine lebendige Vorstellung gibt. Sie
*) Aus dem .Simplidssimus'. uigtzedby Google
— 84 —
lautet: Wir stehen im Zeichen des Fortschritts. Jetst
erst erkenne ich den Fortschritt als das, was er ist^ —
als eine Wandeldekoration. Wir bleiben vorwärta und
schreiten auf demselben Fleck. Der Fortschritt i^t
ein Standpunkt und sieht wie eine Bewegung aus. Nur
manchmal krümmt sich wirklich etwas vor meioen
Augen : das ist ein Drache, der einen goldenen Hort
bewacht. Öderes bewegt sich nachts durch die Straften:
das ist die Kehrichtwalze^ die den Staub des Tages auf-
wirbelt, damit er sich an anderer Stelle wieder senke.
Wo immer ich gine:, ioh mufite ihr begegnen. Oing
ich zurück, so kam sie mir von der anderen Seite
entgegen, und ich erkannte, daS eine Politik gegen
den Fortschritt nutzlos sei, denn er ist die unent-
rinnbare Entwicklung des Staubes. Das Sehicknl
schwebt in einer Wolke, und der Fortschritt, der
dich einholt, wenn du ihm auszuweichen hoffet,
kommt als Qott aus der Maschine daher. Er sehleidit
und erreicht den flüchtigen Fufi und nimmt dabei
so viel Staub von deinem Weg, als zu seiner Ver-
breitung notwendig ist, auf dafi alle Lungen seiner
teilhaft werden, denn die Maschine dient der groften
fortschrittlichen Idee der Verbreitung des Staubes.
Vollends aber ging mir der Sinn des Fortschritts auf,
als es regnete. Es regnete unaufhörlich und die
Menschheit dürstete nach Staub. Es gab keinen und
die Walze konnte ihn nicht aufwirbeln. Aber hinter
ihr ging ein radikaler Spritzwagen einher, der sich
durch den Regen nicht abhalten lieft, den Staub zu
verhindern, der sich nicht entwickeln konnte. Das
war der Fortschritt.
Wie enthüllt er sich dem Tageslicht? In welcher
Gestalt zeigt er sich, wenn wir ihn uns als einen
flinkeren Diener der Zeit denken? Denn wir haben
uns zu solcher Vorstellung verpflichtet, wir möchten
des Fortschritts inne werden, und es fehlt uns bloS die
Wahrnehmung von etwas, wovon wir überzeugt sind.
Wir sehen von allem, was da geht und läuft und
fährt, nur Füfte, Hufe, Räder. Die Spuren verwischen
— 86 —
sich. Hier lief ein Börsengalopin, dort jagte ein
apokalyptischer Reiter. Vergebens . . . Wir können yon
Schmockwitz nach Schweif wedel telephonisch sprechen,
und wissen noch nicht, wie der Foitschritt aussieht I
Wir wissen bloß, dafi er auf die Qualität der Fern-
gespräche keinen Einflufi genommen hat, und wenn
wir einmal so weit halten werden, dafi man zwischen
Wien und Berlin Gedanken übertragen wird, so wird
es nur an den Gedanken liegen, wenn wir diese Ein-
richtung nicht in ihrer Vollkommenheit bewundern
können. Die Menschheit wirtschaftet drauf los;
sie braucht ihr geistiges Kapital für ihre Erfindungen
auf und behält nichts für deren Betrieb. Der Fort-
schritt aber ist schon deshalb eine der sinnreichsten
Erfindungen, die ihr gelungen sind, weil zu seinem
Betrieb nur der Glaube notwendig ist, und so haben
jene Vertreter des Fortschritts gewonnenes Spiel, die
einen unbeschränkten Kredit m Anspruch nehmen.
Besehen wir das Weltbild im Spiegel der Zeitung,
so erweist sich der Fortschritt als die Methode» uns
auf raschestem Wege alle Rückständigkeiten erfahren
zu lassen, die in der weiten Welt vor sich gehen.
Was mir aber den größten Respekt abnötigt, ist die
Möglichkeit, bedeutende zeitgeschichtliche Tatsachen
auf photographischem Wege dem Gedächtnis jener
Nachwelt zu überliefern, die am Morgen des folgenden
Tages beginnt und am Abend zu Ende ist. Der Fort-
schritt ist ein Momentphotograph. Ohne ihn wäre
jener Augenblick unwiederbringlich verloren, in dem
der König von Sachsen vom Besuche einer Sodawasser-
fabrik sich zu seinem Wagen begab. Wie sieht das
aus?^ fragte man sich. Wie macht er das? Wie geht
der König? Er setzt einen Fuß vor den andern, und
der Momentphotograph hat es festgehalten. Aber dieser
vermag vom Schreiten nur einen Schritt zu erhaschen,
darum wird das Gehen zum Gehversuch, und der
Adjutant, der auf die Füfie des Königs sieht, scheint
die Schritte zu zählen, damit keiner ausgelassen wird:
Eins, zwei; eins, zwei ... So weiß man immerhin, wie
— 36 —
die Sohle des Königs von Sachsen beschaffen ist; aber
auch das mag dem deutschen Volke genügen. Mehr
bietet die Momentphotographie, wenn sie sich »in
den Dienst des Sports stellte, und ohne sie wäre der
Sport am Ende gar kein Vergnügen. Eine Schlitten-
fahrt— hei, das macht Spafil »Prinz Eitel Friedrich
bremste. Und was tut Prinz August Wilhelm? »Prini
August Wilhelm hilft als galanter Gatte seiner Ge-
mahlin vom Schlitten.c Ist das Bild das offisielle
Dementi eines Gerüchtes, dafi Prinz August Wilhelm
ungalant sei und bei Schlittenfahrten seine Gemahlin
allein aussteigen lasse? Hat sich solcher Argwohn im
Gefühlsleben des deutschen Volkes eingenistet? Neini
das deutsche Volk liebt es zu hören, dafi Prinz
August Wilhelm als galanter Gatte seiner Gemahlin
vom Schlitten helfe, auch wenn es nie daran ge*
zweifelt hat und das Gegenteil nicht behauptet
wurde. Wäre das Gegenteil behauptet worden, lo
könnte man sagen, es sei kleinlich, solche Gerüchte
zu widerlegen. Das deutsche Volk glaubt sie ohne-
dies nicht. Es glaubt nur, was es sieht. Darum
glaubt es an die Galanterie des Prinzen August
Wilhelm, wenn es eine Probe zu sehen bekommt Es will
sehen, wie sich dieser Prinz benimmt, wenn er mit seiner
Gemahlin aus dem Schlitten steigt. Da es nun unmOglidi
ist, das deutsche Volk in seiner Gesamtheit zur Be-
sichtigung des Vorgangs zuzulassen und die Ver-
sicherung der Berichterstatter nicht genügt, so stellt
sich die Momentphotographie in den Dienst des Sports.
Quälend wäre aber auch die Ungewißheit, ob der
Badische Finanzminister anders geht, wenn er das
Reichsschatzamt verläßt, als der Hessische Ministe
der Finanzen, oder ob Taft, die Grüße der Volkf
menge erwidernd, den Mund weiter öffnet, als Rooee
velt in diesem Falle gewohnt war. Das ebe
ist der Fortschritt, daß solches Interesse heut
schnellere Befriedigung findet als ehedem, ja da'
sogar die schnellere Befriedigung solches Intere«
heute erzeugen kann. Einst war der Geist auf Buche
- 37 —
angewiesen und der Atem auf Wälder. Wo sollen
wir heute in Ruhe unsere Zeitung lesen? Die Papier-
industrie blüht, aber sie gibt keinen Schatten. Und
die Rotationsmaschine schleicht nachts durch die
Strafien, wirbelt den Staub des Tages auf und setzt
ihn für den kommenden Tag wieder ab.
Als ich ein Knabe war, sah ich den Fortschritt
in der Qestalt eines deutsch-fortschrittlichen Abge-
ordneten. Er vertrat die Freiheit, er vertrat die
böhmischen Landgemeinden, er vertrat die Stiefel-
absätze. Was wollte ich mehr? Ich hörte zum ersten-
mal, die Deutschen in Osterreich seien von den
Tschechen »vergewaltigte worden. Ich verstand kein
Wort davon, aber ich weinte vor Erregung. Es war
eine Phrase, die mir einen Lebensinhalt offenbarte.
Später, als die Vergewaltigung in eine Keilerei aus-
artete, sah ich selbst in dieser keine Äußerung natürlicher
Kräfte, sondern die Folge einer Phrase. Da die
Politik nicht mehr mein Gefühl ansprach, erkannte
ich, dafi sie nicht zu meinem Verstände spreche.
Politik ist Teilnahme, ohne zu wissen wofür. Wenn
sie aber nicht einmal mehr das ist, so kann es leicht
geschehen, daß sich uns der Fortschritt als die Welt-
anschauung des Obmannes der freiwilligen Feuer-
wehr von Pardubitz enthüllt. Aus solcher Ent-
täuschung gewöhnte ich mich, das Prinzip der kultu-
rellen Entwicklung nur mehr in jenen Regionen
des Lebens zu suchen, die dem Sprachenstreit ent-
rückt sind. Ich fand den Fortschritt in allen, ohne
in einer einzigen seine Physiognomie zu finden. Ich
glaubte, ich sei in eine Maskenleihanstalt geraten.
Jetzt war er ein Ausgleicher im sozialen Bankrott,
jetzt ein Schaffner an jenem Zug des Herzens, der
Hoheiten talwärts führt; hier Wahlagitator, dort
Kuppler; bald Nervenarzt, bald Kolporteur. Rechts von
mir sagte einer, der keine gerade Nase hatte: Ich sitze
mit vier Reichsrittern, drei Markgrafen, zwei Fürsten
und einem Herzog im Verwaltungsrat der Konserven-
fabrik . . . Das war der Fortschritt. Links von mir sagte
— 88 -
eine Dame^ die Boutons trug: Man kann die Neunte
Symphonie am billigsten im Arbeiterkoneert hör^
aber man mufi sich dazu schäbig anziehen . . . Das war
der Portschritt.
Dann sah ich ihn als Ingenieur am Werke. Wir
verdanken ihm, daß wir schnell vorwärts kommen.
Aber wohin kommen wir? Ich selbst begnügte mich,
es als das dringendste Bedürfnis zu empfinden,
zu mir zu kommen. Darum lobte ich den Fortschritt und
wollte in einer Stadt nicht fürder leben, in der mir
Hindernisse und Sehenswürdigkeiten den Weg zum
Innenleben verstellen. Eines Tages begann ich aber
neuen Mut zu schöpfen, weil das Qerücht zu mir drang,
in Wien sei eine Automobildroschke zu sehen gewesen.
Die wird wohl schwer zu haben sein, dachte ich, aber
wenn ich sie doch einmal erwische, so wird es ein änderet
Leben werden 1 Im Sausewind an den Individualitäten
vorbei, die mich an jeder Strafienecke belästigen,
— das allein ist schon ein anregendes Erlebnis. Ich
machte mich auf, den Fortschritt zu suchen, und fand
ihn auf seinem Standplatz. Die Automobildroschke
stand da als eine Verlockung zu einem Leben ohne
Hindernisse, der jeder Wiener aus dem Wege ging.
Aber wenn er geahnt hätte, dafl auch sie ihm idl
den Reiz des Umständlichen bieten konnte, den zu
entbehren ihm so schwer fällt, er hätte eine Fahrt
riskiert, umso mehr als der Chauffeur durch die Frage
>Fahr'n m'r Euer Gnaden« das sympathische Bestreben
verriet, an die Tradition anzuknüpfen und über den
Mangel an Pferden taktvoll hinwegzutäuschen. Ich,
ein Freund des Fortschritts, liefl mich nicht lange
bitten, und ich kann heute sagen, daß jeder Wien« es
bedauern kann, meinem Beispiel nicht gefolgt zo
sein. Alle Befürchtungen, es könnte am Ende glatt
gehen, sind überflüssig und getrost darf man sich dem
neuen Fahrzeug anvertrauen. Vor allem gab ra vieles
zu sehen. Denn zehn unbeschäftigte Kutscher halfen
dem Chauffeur, den Wagen flott zu machen, und
hier zeigte es sich, dafl unser Fortschritt nicht durch
— 89
die Feindschaft des Alten gehemmt wird, sondern im
Oegenteil durch dessen Unterstützung. Ein Wasserer
eilt herbei, um nach dem Rechten zu sehen. Er will
nach alter Gewohnheit den Wagen waschen, ehe
man fährt. Aber als er dann auch den Pferden den
Puttersack reichen wollte, stellte es sich heraus, dafl
keine da waren. Man konnte sie also nicht einmal
abdecken und, schlimmer als das, man hatte nichts
bei der Hand, um den Taxameter zuzudecken. Nach-
dem sich der Wasserer, der die Welt nicht mehr
verstand, kopfschüttelnd entfernt hatte, setzte sich
trotzalledem wie durch ein Wunder das Automobil
iD Bewegung, nicht ohne dafi es mir aufgefallen wäre,
^e der Chauffeur mit einem fremden Mann |2:e-
heimnisvoU einige Worte wechselte. Als ich am Ziel
ausstieg, sah ich denselben Mann wieder mit dem
Chauffeur sprechen. Er war vorausgeeangen und hatte
das Automobil erwartet. Ich beruh i/arte mich bei dem
Gedanken, dafi es ein Vertreter der Firma sein könnte,
die es erzeugt hatte, und fand sogar Gefallen an der
Vorstellung, daß ich — als Vertreter des Portschritts
— ausersehen war, die Probefahrt zu bestehen. Den
Ovationen der Menge, die sich inzwischen angesammelt
hatte, entzog ich mich, indem ich zu dem benach-
barten Standplatz ging, um die Rückfahrt in einem
Einspänner anzutreten. Der Standplatz war aber leer,
weil sämtliche Kutscher zu dem Automobil geeilt
waren. Nur einer war auf seinem Bock, der aber
schlief und als ihm ein Polizist, den ich schon auf-
geweckt hatte, dieses Benehmen verwies, murmelte er
aus dem Schlaf die Worte : »Jetzt kOnnts mi alle mit-
ananda — < Er meinte hauptsächlich den Portschritt.
Nun erst war ich begierig ihn kennen zu lernen.
Ich reiste, und wirklich, ich habe ihn oft genug in
jener Tätigkeit gesehen, zu der er sich hierzulande
nun einmal nicht schicken wollte, als Förderer des
Fremdenverkehrs. Ich kam schnell vorwärts, aber
zumeist auf falschem Wecre, und so wurde ich
in der Vermutung bestärkt, der Fortschritt sei
— 40 —
ein Hotelportier. Und überall schien um
Ehrgeizes willen jedes bessere Streben der Mec
heit zu stocken. Es war, als ob nicht ein Ziel die SltV-
der Welt geboten, sondern die Eile das Ziel bedc
hätte. Die Ftiße waren weit voran, doch der Eo
blieb zurück und das Herz ermattete. Weil aber mj^
der Fortschritt vor sich selbst anlangte und schlief*
lieh auf Erden nicht mehr ein und aus wußte, legte er
sich eine neue Dimension bei. Er begann Luftschiffe
zu bauen, aber an Garantien der Festigkeit konnte
er es mit jenen, die bloß Luftschlösser bauen, nkiA'
aufnehmen. Denn diese haben die Phantasie, mit det
sie selbst dann noch wirtschaften können, wenn aHai
schiefgeht. Was immer aber der Fortschritt weiter be>
ginnen mag, ich glaube, er wird sich bei den Eata*
Strophen des Menschengeistes nicht anstelliger zeigefi^
als ein Seismolog bei einem Erdbeben. Er wird iui%
wie hoch er sich auch versteige, keine Himmeisleitier
errichten. Wenn er jedoch als Roter Radler Briefe be^
fördert, könnte er immerhin von den Dienstmännem
als Satan verschrien werden. Auch mag er dazu helfen^ -
daß die Eifersucht der Weltstädte wachse und sie M
Kraftleistungen sporne. Etwa so: Berlin hat heute
schon fünfhundert Messerstecher, Wien ist ein Kräh-
winkel dagegen; wenn man dort wirklich einen eni»
mal braucht, ist keiner dal... Schließlich Qberlebl
sich auch diese Mode. Nur der Tod stirbt nicht «iift.
Denn der Fortschritt ist erfinderisch und dank ihm
bedeutet das Leben nicht mehr eine Kerkerhaft^
sondern Hinrichtung mit Elektrizität. Wer es nicht ortl
darauf ankommen lassen will, den ganssen Komfort d«r-'^
Neuzeit zu erproben, der hat rechtzeitig Gelegei..
von jener primitiven Erfindung Gebrauch zu macl
die ihm die erbarmungsvoUe Natur an die "
gegeben hat: von der Schnur, mit der der M
auf die Welt kommt 1
Karl Kra
^ •
HeraBSseber and venuicfrortllclier Redäktenr: Karl Kraai.
Drack Ton Jahoda 8t Sicael, Wien, UI. Hinteit ZoOaiiriatnBt 9.
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^» alkalischer
Kartebad^
_ . JAUERBRUNN
CARL GOLSDORF«jg^luiJc.Ho/<lePeran^
Unternehmen für Zeitungsaaiiclmitte
SERVER, Wlei ordl&plaU Nr. 4 (Telephoo Ir. 12
t2^tun(^asschnitteüber jal^.^f. v. wuschte Thema. Min verlang Prospekte,|
f r: KÄ«L KRAUS.
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Inhalt der voriger
rg. Von Karl Krau
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Herausgeber:
KARL KRAUS
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Krans. Zum zehnten Jahrestag des Erscheinens der iF4|
^cheu. — Die Memoiren
. .X . <. I. . — Beim Tode M&tkowtkyB. — I>i|
der Macht. Von Karl Hauer. — Osterreicl
Der farblose Kriep
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mane. Von Otto Stoessl. — Tag^ebuch. Von
Offecer Brief an r'«'' 'Feraasgeber der ,Facke|
V »n Karl Bon Heinrich.
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VerfolfJ'iing VOrbchfll^en.
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üigitized by ^^JK^fKJSj^lK.
KARL KRAV3
SPRVECHE
VND WIDER
SPRVECHÜ
Verlag ALBERT U
ULr RTir.KnAKHT nM/ic<v nr
Die Fackel
Nk. 277-78 31. MÄRZ 1909 X.JAHR
KARI/ KRAUS.
Zum zehnten Jahrestag des Erscheinens der
,Paokel' (1899—1909).
Von Robert Scheu.
Die Persönlichkeit eines Menschen ist ein fester
Bezirk, eine eherne Schranke, über deren Peripherie
kein noch so heifies Bemühen, kein Flug der Be-
geisterung, keine Investition von Bildung und Er-
fahrung hinausführt. Eine Persönlichkeit »entpuppte
sich, aber sie entsteht nicht. An dieser meiner azio-
matischen Oberzeugung könnte ich irre werden, wenn
ich mir die Entwicklung Karl Kraus vergegen-
wärtige. Wer hätte damals, vor etwa fünfzehn Jahren,
in dem vergnügt dreinblickenden blonden Knaben-
kopf diese vulkanische Persönlichkeit mit ihren
Leidensmöglichkeiten, die verzehrende Flamme, den
unersättlichen Vernichtungstrieb, die leidenschaftliche
Oeistigkeit ahnen dürfen? Ist das wirklich derselbe
Mensch? Hat er schon damals gelitten, als er noch
im vertrautesten Umgang mit jenen Menschen stand,
welche ihn später zu solchen Visionen des Hasses
inspirierten? Er schien sich zu jener Zeit recht be-
haglich zu fühlen, während er sich — wahrscheinlich
instinktiv — an seinen künftigen Opfern nährte. Und
doch hat er später Proben eines überraschenden Ge-
dächtnisses gegeben, welche die Annahme einer
naiven Hingabe an seinen damaligen Verkehr nicht
gut zulassen. Hat er etwa die Musih zu dem Text
erst später gemacht oder Unbewußtes nachträglich
analysiert? Es gibt Naturen, welche naiv erleben
und hinterher von analytischen Dramen geschüttelt
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werden. Problem der »Rachec Elr schrieb schon
damals witzige Wochenübersichten und Plaudereien
und auffallend treffende literarische Kritiken, die
ein bemerkenswertes Arsenal von Geschossen, abet
keinen Hauptgedanken erraten liefien und übrigeoM
alle Welt amüsierten. . . .
Er rüstete, das war klar, aber gegen wenf
Plötzlich — die Kralle — »Demolierte Literaturc.
Man sah auf. Ein Glutregen von Bosheiten und
zum erstenmal — Profil. Zwar noch immer der
Witz Jahresregent, aber er fängt an, etwas zu sagen.
Grofie Spannung. Dieser Mensch wird vielleicht noch
ein Schicksal • . .
Und es kam Eines Tages, soweit das
Auge reicht, alles — rot. Einen solchen Tag hat
Wien nicht wieder erlebt. War das ein Geraune, ein
Geflüster, ein Hautrieseln I Auf den Straßen, auf der
Tramway, im Stadtpark, alle Menschen lesend aus
einem roten Heft ... Es war narrenhaft. Das Bro-
schürchen, ursprünglich bestimmt, in einigen hundert
Exemplaren in die Provinz zu flattern, mußte in
wenigen Tagen in- Zehntausenden von Elxemplaren
nachgedruckt werden. Und dieses ganze Heft, mit
Pointen so dicht besät, dafl man es, wie die ,Arbeiter-
Zeitung' sagte, behutsam lesen mußte, um tPJne
der blitzenden Perlen zu verlieren, war von einen
Menschen geschrieben.
In dieser ersten Nummer war der ganze Akkord
schon angeschlagen: Bekämpfung der Gh'quen, der
Nonvaleurs, der nahen, lebendigen T^annen an Stelle
der so beliebten Zeitungspolemik gegen abstrakte
oder wehrlose Gegner. »Greifen Sie den Ackerbau-
minister anl« hatte der Herausgeber der ,Wage',
seinem kriegslustigen Mitarbeiter ins Ohr geraunt.
Von dem war keine Revanche zu befürchten und
es machte sich doch riesig tapfer. Karl Kraus
wählte sich einen gefährlicheren Gegner: die .Neue
Freie Presse^ der er mit einer beispiellosem
y Google
- 3 -
Vehemens an den Leib fuhr. Es war wie im Russisch-
Japanischen Krieg: schon die Kriegserklärung sprengte
die großen Schlachtschiffe in die Luft.
Eine einzige Frage schwirrte damals durch
Wien : wird er noch einmal in seinem Leben fünfzig
Zeilen schreiben können oder wird er jetzt erschöpft
zusammenbrechen? Waren es die Zinsen oder das
Kapital? Es waren die Zinseszinsen. Wirklich
erschien dreimal im Monat, nunmehr ein volles
Jahrzehnt, das rote Ungetüm, allemal ein Gegen-
stand fieberhafter Neugierde. Die ,Facker bestritt
eine Zeitlang das ganze Geistesleben. Sie ver-
dunkelte Theater, Politik und Literatur, sie war
selbst Alles in Allem. Wen wird es morgen treffen?
war die ständige Frage in der Zeit dieser gedruck-
ten Schreckensherrschaft. Die ,Fackel^ gehörte zum
Strafienbild. Drollig war es, die jeweils gewürdigten
Personen auf der Tramway oder verstohlen unter
einem Haustor in das Blatt vertieft zu treffen, wo
sie, ziemlich »angegriffent aussehend, sich dem un-
gestörten Genuß ihrer Charakterisierung hingaben.
Der Hofrat, der mit der ,Packel' in .der Tasche ko-
kettierte, wurde eine Figur. Man grtifite damals :
>wie stehen Sie mit Kraus?« Ein ziemlich wenig
beachteter, ganz unbedeutender Literat vertraute mir
gelegentlich an, er gewärtige Tag für Tag in der
,Fackel' seine »Vernichtung«. Der Ärmste wußte
nicht, daß er nie etwas anderes als »vernichtet« war.
Aber in der Tat, es gibt eine Reihe von Leuten,
welche erst durch einen Angriff in der ,Fackel' der
Öffentlichkeit bekannt und im Verhältnis zu ihrem
bisherigen Schattendasein berühmt wurden. Bei vie-
len wurde der Schmerz, in der ,Fackel' havariert
worden zu sein, durch das Vergnügen gemildert,
dafi es einem guten Freund nicht besser erging. Es
lohnte sich fast, einmal hingerichtet zu werden, wenn
man um diesen Preis der Zuschauer vieler anderer
Exekutionen wurde. Manche Existenz, manche Repu-
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tation wurde durch einen einzigen Federstrich von
Kraus, manchmal durch einen RelatiTsats, abgesetzt
Leute, die bis dahin prinzipiell Gedrucktes nicht
kauften, holten sich aus der ,FackeP ihre Bildung.
Andererseits wuchs eine Generation auf, eine
ganz eigene Rasse, welche die ,Facker statt als
[edizin als Nahrung zu sich nahm. Jun^e Leute
hatten ihre > Fackelzeit« so gut wie ihre »Burg-
theaterzeit«. Sie kombinierten womöglich. Auf der
Galerie des Burgtheaters sah man die lockigen
Jungen, vor dem Aufgehen des Vorhangs in diese
Lektüre vertieft. Im Gymnasium verschaffte es An-
sehen bei den Mitschülern und Mißtrauen bei den
Professoren, wenn man 'in diesem Verdacht stand.
Kein Zweifel, einen großen Anteil an dem wun-
derbaren Erfolg der ,Fackel' hatte — aufierdem, dafl
sie dem Leser einen Rausch der geistigen Oberlegen-
heit verschaffte und fabelhaft lustig zu lesen war —
die Befriedißjung, welche sie der Grausamkeit
gewährte. Kraus hatte damals noch eine fröhliche,
gesunde Grausamkeit, die er später verlor, oder rich-
tiger, gegen sich selber kehrte, vergeistigte. Selt-
sames Schicksal 1 In jener Periode, da er vorwiegend
Gesellschaftskritik betrieb, war es das den L^em
bereitete formelle Vergnügen, welches von dem
hohen sachlichen Wert seines Kampfes ablenkte;
damals erdrückte die Form den Stoff. In seiner spä-
teren Periode, wo er immer mehr den künstlerischen
und geistigen Gehalt aus den Erscheinungen abzieht
und die Form ihm wirklich heilig wird, vergißt man
umgekehrt über dem Stoff den Schriftsteller. So wird
er beide Male nicht so verstanden, wie er es bean-
spruchen darf. Für das zweite Mißverständnis ist
allerdings das Publikum weniger verantwortlich, da
es einmal gewohnt war, in der ,FackeP einen be-
stimmten Inhalt zu suchen.
Uie Gemütsunterlage des Fackelerfolges bei
ihrem Erscheinen war die aufgespeicherte Oppo-
y Google
sition gegen die ,Neue Freie Presße'^ welche
Kraus erst ins yoUe Bewufitsein rückte. Tiefe
Psychologen haben gemeint^ Kraus habe seine
ganze Ranküne gegen dieses Blatt daraus ge-
schöpft, dafl er nicht als Redakteur engagiert
worden sei. Es ist das jene Gattung Menschen,
welche als Historiker den Ausbruch eines Krieges auf
ein unterlassenes Triokgeld zurückführen. Nach An-
sicht dieser Köpfe kann man Todfeinde durch ein
rechtzeitiges Buckerl tbesch wichtigen und zu lebens-
länglichen Freunden umwandeln. Ziemlich allgemein
glaubt man einem Menschen etwas Herabsetzendes
nachzusagen, wenn man erzählt, er sei da und dort
abgelehnt worden, wo er sich um Aufnahme in einen
Kreis beworben hat. Als ob es nicht tausendmal
lebendiger für den Charakter und die Per^nlich-
keit eines Menschen zeugte, wenn die Anderen ihn
als nicht zugehörig erkennen, als ob das, was uns
geschieht, nicht erst recht unsere tiefste Wirkung
und eigentliche Tat wäre. In der Einschätzung, die
wir uns selbst geben, zeigt sich bestenfalls die Per-
spektive, in der wir uns erscheinen; diese kann auch
eine Unterschätzung enthalten. In der Stellung,
welche die Andern zu uns einnehmen, liegt aber zu-
mindest Instinkt und sie erweisen ups manchmal
die Ehre, uns für ihre Gemeinschaft zu gut zu fin-
den. Abgesehen davon hat sich die Sache gar nie
zugetragen.
Es ist nicht zuviel gesagt, wenn man behauptet,
Karl Kraus habe die ,Neüe Freie Presse' erst entdeckt.
Lange nach Kraus haben andere, welche mit Ignorie-
rung des Preßproblems politische, kulturelle ,und
künstlerische Aufgaben verfolgten, erkannt, dafi es
ohne Preßreform überhaupt keine Reforn^ gibt, weil
die Presse immer die Macht besitzt, die Aufmerksam-
keit nach Gefallen zu dirigieren, die führenden Per-
sonen kalt zu stellen, und dort, wo sie schon nicht
die Kinder vertauschen kann, wenigstens falsche Er-
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— « —
seuger unterzuschieben. Der Effekt ist der nämliche :
Vater und Kind, sind getrennt, und erkennen sich
Tielieicht niemals wieder. Andererseits kann sich troU
des furchtbarsten Mifibrauchs, zu dem die Prefimacfat
gelegentlich verführt, doch niemand entschiiefien« ihre
Notwendigkeit und UnersetzUchkeit schlankweg su
bestreiten. Es ist ein matter Trost in diesem Dilemma,
dafi die gröfiten Persönlichkeiten den Haft der seit-
genössischen Presse ausgehalten und siegreich fiber-
standen haben; denn er wird^ aufgehoben durch die
Betrachtung, dafi sie dieser Gegnerschaft auch immer
sicher zu sein hatten und. dail hier ein Reibongs-
koeffizient in die Welt gekommen ist, von dem gemie
die höheren Menschen betroffen werden. Will man
selbst resignierend zugestehen, dafi die Presse, wie
sie ist, nur der Exponent der bestehenden Macht- mid
Tatsachenverhältnisse ist, so kann man sich doch der
Erkenntnis nicht verschliefien, dafi deren Schwere und
Druck zugenommen hat, seit sich die Gesellschaft
eine eigene Punktion daraus gemacht hat, die Dinge
durch die Berichterstattung zu annullieren. Ist dies
das Wesen oder nur eine Entartung der Presse? Das
ist die Schicksalsfrage. Vielleicht haben wir es nur
mit der typischen Erscheinung zu tun, daft in dem
ungeheueren Organismus des modernen sozialen Liebens
die Macht der jeweils ausführenden Funktionäre weit
über jenes Mafi hinauswächst, welches ihnen von
der Organisation selbst zugedacht ist; in Osterreich
zumal ist das Obel, jedes Lbel verschärft durch den
monopolistischen Charakter^ den hierzulande alle Art
Macht und Besitz gewinnt. Einen Kampf der Ge-
sellschaft gegen ihre Organe hat es immer ge-
geben, aber niemals hat er eine solche schicksals-
volle Bedeutung erlangt wie in der Gegenwart, wo
die Gliederung aller sozialen Funktionen den jeweils
an der Klinke befindlichen Funktionär zum Herrn
der Welt macht. Heute hat es ein Delcass^ in dei
Hand, den Weltkrieg zu entflammen, morgen viel-
y Google
leicht ein zufälliger Telegraphist. An allen Qelenken
und Schrauben der Maschinerie sitzen die Zufalls-
Machthaber und die Maschine heifil Staat, Gesell-
schaft. Karl Kraus hat die zufälligen Besitzer der
Druckerschwärze entdeckt und auf die kolossale
Macht hingewiesen, die sie besitzen.
Es ist dies nur ein Teil jenes allgemeinen
Kampfes gegen die Maschinerie, den als immanente
Aktualität der modernen Welt erraten zu haben,
keine schlechte Witterung verrät. »Organisiert die
Welt« ist ein herrliches Wort, aber auch dieses hat
seine Selbstaufhebung in sich. Indem sich die
Welt organisiert, liefert sie sich aus. Die
Fäden der sozialen Organisationen vierteilen — Per-
sönlichkeiten. Karl Kraus ibt gegen alle Organisation
und Technik von einer ganz grandiosen Ranküne
erfüllt und bekommt dadurch einen Stich im
Reaktionäre. Er nimmt das in Kauf. Die Lösung des
Problems liegt gewifi nicht in der Verhöhnung der
Organisationen, wie sie Karl Kraus so vorzüglich
gelingt, sondern in etwas Neuem, Zukünftigem,
welches eben den Inhalt künftiger Geschichte bilden
wird. Bis dahin aber ist es wertvoll, wenn die
Position der Persönlichkeit verteidigt wird, und ich
wüßte keine klügere Taktik als die kühne Aus-
spielung einer starken Subjektivität. Ein gewisses
Korrektiv der geschilderten Gefahr liegt darin, dafl
sich die Organe der Gesamtheit gegenseitig in Schach
halten: dies ist auch, um wieder von der Presse zu
reden, in den übrigen Kulturländern der Fall, wo
sich allenthalben einige einflufireiche Blätter unge-
fähr das Gleichgewicht halten und eine immerhin
erträgliche Oligarchie bilden; in Ost erreich aber ist
das intellektuelle Leben, und um dieses handelt es sich,
von einer Zeitung monarchisch beherrscht, welche
noch dazu die Suggestion ausübt, daß sie die Intel-
lektuellen vertritt, und das ist in seinen Konse-
quenzen unerträglich. Karl Kraus hatte niemals die
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Absicht, die Presse zu bessern. Er stellte sichs nur
£ur Aufgabe, ihre Suggestion zu durchbrechen. Das
ist natürlich nur eine Interimsarbeit. Die Zeit wird
kommen, wo die Gesellschaft die Macht der Presse
ebenso konstitutionell regulieren wird, wie die Macht
des Staatsoberhauptes. Derzeit läfit sie jene k dis-
cretion schalten. Wie, wenn eines Tages die Gesell-
schaft auf den Gedanken verfiele, die Vertretungs-
befugnis der Presse zu prüfen? Man hat noch lange
nicht alle Eonsequenzen aus der Konstitution ge-
zogen 1 Das allgemeine Wahlrecht führt, genau be-
sehen, zu der Forderung, dafi, nachdem nun alle
im Lande vertreten sind, niemand mehr das Recht
hat, sich für einen befugten Vertreter einer Mehr-
heit auszugeben, der nicht in der Lage ist, sein
Mandat nachzuweisen. Die gegenwärtige Macht
der Presse beruht zum Teil auf diesem Zwitterzustand.
Sie genießt alle Vorteile der Subjektivität, ins-
besondere die UnVerantwortlichkeit, derzufolge es
das Recht jedes Blattes wäre, zu verschweigen, was
ihm beliebt, — gleichzeitig wird aber die Fiktion
festgehalten, daß man im Namen irgend einer Ge-
samtheit das Wort führt. Diese aber, das »Volk^,
die » Intelligenz c, oder wie das vorgeschobene Ding
heißt, haben weder das Recht noch ein Mittel, dieses
fingierte Mandat zu bestreiten! Wie, wenn die Gte-
sellschaft, in deren Namen die Presse richtet, ein-
mal darauf dränge, daß ihr Einfluß geregelt und
systemisiert wird? Wenn sie, gerade in Anerkennung
des hohen »Amtes^, auch einen Mißbrauch der Amts-
gewalt konstituierte?
Die Gesellschaft gibt die Berichterstattung, auf
welche sie gewiß ein heiliges Recht hat, derzeit noch
frei, sei es, daß sie ihre Wichtigkeit nicht erkennt«
sei es, daß sie zu ihr volles Vertrauen hat. Die
Presse weiß es aber lange schon, daß die Bericht-
erstattung wichtiger ist als die Ereignisse, \md
macht sich diese Entdeckung ohneweiters zunutze.
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— 9 -
Die ,Neue Freie Presse' insbesondere hat davon
einen so beherzten oder richtiger so exzessiven Qebrauch
femacht) daß man von der Wiederaufrichtung der
'reßzensur sprechen kann, worunter man aber
nicht etwa die an der Presse geübtOi sondern die
heute schon unendlich gefährlichere und aktuellere:
von der Presse geübte Zensur zu verstehen hat. Sie
macht sich schlankweg zum Herrn der Ereignisse
und hat es soweit gebrachti geradezu Verwaltungs-
befugnisse zu arrogieren. Sie zensuriert längst nicht
mehr blofi den Wert literarischer und künstlerischer
Erscheinungen, sondern sie zensuriert die Zahl der
irgendwo versammelten Personen. Sie tötet und erweckt
zum Leben, sie verhängt Boykotte, die bis in den privaten
Verkehr und in das intimste Geschäftsleben reichen,
und bald wird es sein, wie im Jesuitenstaat, wo das
Erklingen von Glocken den Ehepaaren die Stunden
der erlaubten Begattung verkündigte. Die ,Neue
Freie Presse' leistet sich den Hohn, die von ihr
Totgeschwiegenen wörtlich zu zitieren und andere
Autoren unterzuschieben. Oder sie begrüfltes mit einem
>Endlich hat sich Einer gefunden, der . . .€, wenn
der Plagiator das Wort ergreift, während sie den
Autor des Originals niemals kennen mochte. Die
Magna Charta der ,Neuen Freien Presse* ist der
Absolutismus der Bosheit, gemildert durch einen
administrativen Tarif. Ein früherer Herausgeber hat
es einmal rund herausgesagt: »Hier haben Sie den
Kopf des Blattes: ,Neue Freie Presset Das muß stehen
bleiben; alles andere ist gegen bar zu haben. € Unter
dem neuen Regime wurde das Hausgesetz: »Alles,
was bezahlt ist, bringen wirc, dahin verschärft, dafl
von nun an nur, was bezahlt ist, gebracht wird. Das
ist die sogenannte »Benedikt'sche Formeh.
Das Betrübendste ist, dafl selbst solche
Blätter, welohe ursprünglich als Opposition zu ihr
gegründet wurden, mit a^r Zeit von ihr redigiert
werden. Heute ist beispielsweise »«.oH ^[q ,Arbeiter-
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— 10 —
Zeitung^, welche nach ihrem einstigen Programm
die ganze Journalistik durch ihr blofles Dasein zur
Wahrheit zwingen sollte und wirklich eine Zeit hatte,
wo sie macht v^oll schrieb, nur mehr eine Filiale
der ,Neuen Freien Presse*. Das muß nun frei-
lich tiefere Gründe haben, deren Erforschung
Aufgabe eines österreichischen Historikers sein
wird. Am Ende ist die ,Neue Freie Presse' der
wirkliche, berufene Exponent dieser Kultur? Ais wir
jünger waren, meinten wir in unserer Naivet&t
ernstlich, man müsse der ,Neuen Freien Presse* oder
etwa der , Arbeiter-Zeitung' nur ein ideales Programm
zeigen und sie würden mit Enthusiasmus echte Werte
vertreten. Heute wissen wir, dafl sie es weder können
noch wollen können. Karl Kraus, der niemals im
Namen irgendeiner Korporation oder gar einer
Majorität auftrat, leistete nun gerade als Person das,
was die Gesellschaft sich später einmal als Kon-
stitution des geistigen Lebens erringen wird müssen.
Er nahm sich der unmündigen Gesellschaft an und
setzte der suggestiven Macht der Presse seine
Kritik und seine Suggestion entgegen. Es ging
nicht anders, er mußte sie jahrelang Tag um Tag
unter Kontrolle stellen, bis das Publikum einiger-
maßen geschult war. Dieser Kampf ist eine geschicht-
liche Tat, ein Kulturwerk hohen Ranges, eine, was
aufgewendeten Mut und Geist betrifft, schier über-
menschliche Leistung, für welche es keinen hin-
reichenden Dank geben kann. In diesem Kampf, der
mit intimster Kenntnis des Gegners geführt wurde,
mit einer Wachsamkeit und Unermüdlichkeit, die
immer neue spannende Wendungen erfand, in diesem
eigentlichen und wahren »Kulturkämpfe erwuchs
ihm ein ungeahntes Pathos, und es zeigte sich, daß
Kraus nicht nur Geist, viel Geist, sondern auch ein
Herz besaß.
Aber die Presse war nafüj^iloh nur eine jener Insti-
tutionen, die er j^ri^^^ioctej und wenn er sie am härte-
y Google
— 11 ~-
sten anfaftte, so tat er es, weil er sie für den konzen-
triertesten Ausdruck der öffentlichen Zustände hielt.
BSr verfolgte aber daneben die kleinen Dummheiten
des Tages und spendete den tiefsten Trost, den es
nach Hujsmans' Ausspruch gibt: den Pessimismus.
Dieser Pessimismus war von der befreienden Art.
Das deprimierendste Ereignis, der Druck wider-
wärtiger aber mächtiger Personen, die Schwächen der
Bureaukratie, die Widersinniekeit von Einrichtungen
— wenn er sie darstellte, fühlte man eine künstlerisch
•rlösende Wirkung. Man hatte die Empfindung, er
sei mächtig genug, uns von diesen Leiden zu be-
freien. So entstand später der lächerliche Vorwurf,
•r habe die Welt doch nicht gebessert, alles sei beim
Alten geblieben. In der Tat, es ist wirklich unver-
zeihlich: Kraus war so pflichtvergessen, die Korrup-
tion weiter bestehen zu lassen.
Und doch, er tat weit mehr, als man von
ihm erwartete oder verlangte. Der Witz, umdessent-
willen er gesucht wurde, erhob sich immer mehr zur
organischen Waffe, hinter der Kralle war eine Tatze.
Er hatte ein Herz für Schönheit und Genie und
für den bleichen Angeklagten vor den Schranken
des Gerichts. Er brüllte wie ein Löwe, als ein Richter
•inen armen Burschen wegen eines gewalttätigen
Diebstahls einer Börse zu lebenslänglichem Kerker
verurteilte. So furchtbar, wie im Fall Kraft-Peigl hat
man Kraus nie wieder gesehen. Das war Konvent!
Dann wieder prägte er Worte, in welchen sich sein
Witz zu lapidarer Größe steigerte: »Lynch- Justiz
für die Justiz-Lyncherc — »Irrenhaus österreichc.
Was immer er vertrat, und wenn es auch unhaltbare
Dinge waren, stets wußte er sich den Anschein des
letzten, definitiven Standpunktes zu geben, welcher
jede weitere Debatte ausschloß. Hatte er aber die
Oberzeugung, sich vergriffen zu haben, dann war es
ihm geradezu eine Lust, sich selbst zu desavouieren.
Durfte er doch, gleich seinem Geistesverwandtea
y Google
— 12
Lichtenberg ron rioh sagen, er sei oft wegen
begangener Fehler getadelt worden , die seine
Tadler nicht Kraft und Wits genug hatten, au
begehen!
Nun ja, er war auch Journalist. Er war es von
Qeblüt wie Marat, der kochend und schäumend
herumging und schreiben muftte. Die Dinge, die
Ereignisse, die Menschen wirken auf ihn wie Peitschen-
hiebe. Er ist nicht wie Heinrich Heine, der vergnügt
ausruft: Wieder ein Narr, — der mufl raiiir viele Gold-
stücke von Hoffmann und Campe einbringen, er sei
mir willkommen I Seine Narren machen ihm keinen
vergnügen Tag, sondern er wird aschfahl über eine
Zeitungsnotia, er zittert vor Erregung und Ekel und
kann über eine Menschenfratze so bestürzt sein, wie
ein Patriot alten Schlags über eine Niederlage des
Vaterlandes. Er schreibt aus keinem System heraus,
tritt an alle Dinge rein kasuistisch heran und ent-
deckt sein System viel später. Als GLefredakteur
nimmt er einfach Alles, was gut ist, — und es paftt,
wirkt aktuell. Er erzeugt die Aktualität. Seine Mit-
arbeiter staunen, wie er durch das Wegstreichen
eines Wortes glänzende Wirkungen erzielt. Mit
welcher Qestaltungskraft er aus ganz kleinen Vor-
fällen des Tages, einer eingesendeten Notiz, eine
Geschichte macht I Ein ganzes Dutzend von Courte-
lines gehen nur so mit drein. Schlieftlich hat das Papier
der ,Fackel' sich so mit Geist durchtränkt, daß die
wörtliche Reproduktion einer Zeitungsnotiz mit ge-
sperrten Lettern als zwerchfellerschütternde Satire
wirkt, bloß weil sie die Perspektive der ,Fackel'
erhalten hat.
Dem großen Publikum hat Kraus am besten
behagty solange er mit den Waffen und dem
Ressentiment einer intensiven Geistigkeit den
Kampf gegen Presse, Bureaukratie^Universitätsmis^re,
Wucher und veraltete Gesetze führte, Schma-
rotzer und Nullen entlarvte und Tageslächer-
y Google
— 13
lichkeiten ziselierte. Kein Zweifel, es wäre eine
Lebensaufgabe gewesen und er hätte sie ein Leben
lang durchführen können, ohne das Publikum zu
ermüden; kein Zweifel, wir alle haben es so erwartet
und wären umso lieber darauf eingegangen, als im
Rahmen der gesellschaftskritischen , Fackel' gelegent-
lich höchst bedeutungsvolle Ausführungen über
Literatur, Theater und die anderen Künste Raum
fanden. Wäre Kraus nicht Gesellschaftskritiker, so
müfite sein tiefes Kunsturteil noch mehr auffallen.
Seine Autorität ist darin — ohne daß es der Öffent-
lichkeit voll zum Bewußtsein kommt, gewissermaßen
kryptogam — ganz außerordentlich. Ein Lob aus
seiner Feder, zwei, drei Zeilen, machen literarischen
Ruhm. Da hat er Witterung, die »Eingeweide riechtc.
Hier zeigt es sich auch, daß er gar nicht Rationalist
ist, als was er vielen wegen seiner zersetzenden
Kritik gesellschaftlicher Zustände erscheinen mag.
Hier ist er, was man immer von ihm verlangt, daß
er sein soll: positiv. Hier ist er, was man gleich-
falls von ihm verlangt: liebevoll und zärtlich. Hier
ist er sogar treu. Seine Lieblinge sind in guter Hut.
An ihnen wird er zum Verschwender, da ist er weich
und feurig und was man will. Wie er seinen Alten-
berg, seinen Girardi, seinen Matkowsky, seinen
Baumeister mit Blumen überschüttet, ist einfach
rührend. Die großen Verachtenden sind auch die
großen Verehrenden.
Aber die , Fackel* veränderte ihren Inhalt, ihre
Gestalt. In Wien beeilt man sich, die Leute tot zu
sagen. Der Tod der ,FackeP wurde sogar ausdrück-
lich plakatiert. Der Österreicher rächt sich an allem,
was ihm irgend einmal imponiert hat; auch, was ihn
angeregt, was ihn mitgerissen hat. Nirgends wird
man so schnell für abgetan und ausgelebt erklärt.
Was war in Wirklichkeit mit Kraus geschehen? Er
war von der Gesellschaftskritik zur Kulturkritik
weitergeschritten. Der Marsch vollzog sich sehr eigen-
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— 14 —
artig. Er ging über die Nerven. K[rau8 hatte einoi
neuen groSen Gegenstand entdeckt, der nie xuTor
die Feder eines Publizisten in Bewegung gesetzt hat:
Die Rechte der Nerven. Er fand, dafi sie ein
ebenso würdiger Gegenstand einer begeisterten Ver-
teidigung seien wie Eigentum, Haus und Hof, Partei und
Staatsgrundgesetz. Er wurde der Anwalt der Nerven
und nahm den Kampf gegen die kleinen Belästiger
des Alltags auf, aber der Gegenstand wuchs ihm
unter den Händen, er wurde zum Problem des Privat-
lebens. Es zu verteidigen gegen Polizei, Presse,
Moral und Begriffe, schließlich überhaupt gegen den
Nebenmenschen, immer neue Feinde zu entdecken,
wurde sein Beruf. Darin blieb er sich treu bis auf
den heutigen Tag. Er verfocht eine neue Gruppierung
der Begriffe, indem er nachwies, wie vieles unter dem
irreführenden Gesichtspunkt der Moral geht, was viel
ökonomischer als Individualrecht verteidigt werden
kann, und leistete eine langwierige, mühsame, ver-
wickelte Aufklärungsarbeit. So kam er in das Laby-
rinth der feineren geistigen Konflikte, welche man
bisher nicht gewohnt war, in einer programmatischen
Zeitschrift ausgeführt zu sehen. Ja, wenn es auf Grund
irgend einer Partei oder eines Systems gewesen wärel
Aber es geschah nur auf Grund der Persönlichkeit
Dieselbe Eigentümlichkeit seines Geistes, sein tiefstes
Wesen, welches ihn zum Journalisten machte, führte
ihn schliefilich davon wieder ab: es besteht darin,
die Dinge unmittelbar, ohne irgendeine Zwischen-
instanz auf seine Persönlichkeit wirken zu lassen.
Ist der Gegenstand ein populärer, so ist man Jour-
nalist im grollen Sinn. Wird der Gegenstand differen-
zierter, geistiger, so wird man — Aphorist Die Kon-
flikte, die ihn von da an reizen, liegen auf jenen*
großen Gebiet» wo die gesellschaftliche Ordnunf^
sich mit dem Innenleben berührt, also einem Gebietj
welches vorwiegend der künstlerischen Bearb^tong
unterliegt. Infolgedessen ist es nieht so leicht, in einei
y Google
- IB ~
Formel zu aagen^ was Kraus eigentlich vertritt. Er selber
könnte seine Weltanschauung nicht so zusammen*
fassen, dafl sie auf einem Meldezettel Platz hätte. Fär
die gegenwärtige Ordnung der Din^e ist er absolut
nicht eingenommen. Er ist auch nicht blofi kritisch.
Utopien sind aber gleichfalls nicht seine Sache. Er
entwirft keine Qesellschaftsordnung und keine Gesetze.
Er ist kein Sozialdemokrat, kein Anarchist, aber am
allerwenigsten Bourgeois. Und doch ist eine mächtige
treibende Kraft da, hinter der unbedingt etwas Posi-
tives steht. Die Sache läßt sich vielleicht ganz ein-
fach sagen: er ergreift die Partei der Naturmacht
gegen das Getriebe des Alltags. Hat die Natur einen
solchen Streiter nötig? Merkwürdigerweise: ja. Die
zwei größten Naturmächte: Genie und Geschlecht
mOssen tatsächlich »vertretene werden. Die Kunst
tut nichts anderes. Neu ist nur, dafi es ein Journalist
tut. Und doch ist es logisch. Die Natur hat immer
den Tag, dioJetztzeitt zum Gegner. Sie kann daher
neben Dramendichtern auch sehr gut einen solchen
Streiter brauchen, der sie mit Tagesmitteln gegen
den Tag bewaffnet. Die konventionelle Ordnung
ist von zwei ständigen Revolutionen bedroht: vom
Geschlecht und vom Genie. Will man ein einziges
Wort — von der Schönheit. Die Schönheit ist die
gewaltigste aller revolutionären Mächte. Die Gesell-
schaft kann nicht furchtbarer kritisiert werden als
vom Standpunkt der Schönheit, Alle die unendlichen
Verzweigungen der Korruption sind nichts anderes
als Verbrechen an der Schönheit, lassen sich irgend-
wie darauf zurückführen. Es liegt etwas Erd-
erschüttemdes in der Schönheit und etwas rasend Auf-
reizendes in dem, der sich unter ihre Fittiche stellt.
Hier verknotet sich Sozialpolitik und Sexualpolitik
bei Kraus, von jener ausgehend landet er bei dieser.
Dies das Leitmotiv, welches sich immer gebieterischer
ins Bewußtsein drängt. So wuchs er seinem neuen
groften Problem entgegen: Sittlichkeit und Krimi-
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— IG —
nalität. Die Aufsätze, seither in einem Bande ge-
sammelt, haben uns erst die Augen geöffoet. Eine
Zeitlang schien es, als habe er sich aus Liebhaberei
auf ein Nebengeleise begeben. Die Übersicht belehrt
uns, dafi er auch hier einen Marsch vollssogen hat,
dessen taktischer Sinn sich erst dem rückschauenden
Blick enthüllt. An hundert kleinen Tagesbegeben-
heiten, zumeist Gerichtsfällen, wird ein unheilvolles
Mißverständnis in der Behandlung der sexuellen
Frage enthüllt. Der Gedanke, dafi der Staat, die Ge-
setze und ihre Organe sich notwendig und regelmäfiig
vergreifen, wenn sie an die Naturgewalt der Sexuali-
tät herantreten, wird mit einer Vielseitigkeit der
Darstellung und mit einem Reichtum der Eixempli-
ßkation belegt, der einer -wissenschaftlichen Quellen-
arbeit Ehre machen würde. Gleichzeitig wird Kraus
zum Künstler von einer unerschöpflichen Produkti-
vität in der Darstellung der komischen Konsequenzen
dieses Mifiverständnisses und MifigrifTes. Die Polizei
kommt dabei schlecht weg. Sie hat überhaupt in
Kraus einen schrecklichen Antipoden, einen wahren
Racheengel gefunden.
Im Kampf zwischen staatlicher Flickarbeit und
der Naturgewalt der Sexualität erscheint ihm das
Weib als Vertreter der inkommensurablen Macht,
bei deren Bezähmung die Satzung teils lächerlich,
teils widerwärtig, manchmal beides zugleich wird. Für
das Weib hat Karl Kraus eine innige Zärtlichkeit. Es
ist seine große Liebe und wenn er für bedrängte
Frauen eintritt, kann sein Pathos eine pracht-
volle Höhe erreichen. Darin lehnt er jede soziale
Betonung grundsätzlich ab. Er tritt für das
Weib ein, weil es ein Weib ist. Er hat den
Gedanken, dafi die Moral mit der Erotik nichts
zu schaffen hat, am kühnsten, nachdrücklichsten und
konsequentesten verfolgt. Er ist unermüdlich in der
Darstellung des pyramidalen Nonsens, brav, anständig
charaktervoll ohneweiters gleichzusetzen mit keusch
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— 17 ,—
oder gar enthaltsam« Diese Gleichung hat sich in die
feinsten Fugen der Sprache eingenistet und muß
geradezu ausgeschwefelt werden. Nun ist gewiß die
Erotik ein wesentlicher Faktor einer Persönlichkeit.
Nach Nietzsche reichen Art und Charakter der Sexuali-
tät bis in die höchsten Gipfel der Persönlichkeit. Es
fragt sich nur, welche Seiten der Sexualität Wir zu
bejahen und welche zu verneinen haben. Kraus geht
in der strengen Scheidung zwischen Erotik und der
fibrigen Persönlichkeit bis an die äußerste Grenze des
Möglichen, Wie weit er darin Recht hat, ist eine
Frage für sich. Daß er aber die Verfechter der Ver-
quickung bis aufs Blut zu verfolgen versteht, muß
man ihm lassen. Es erregte Verblüffung, als Kraus
mit souveräner Verachtung der öffentlichen Meinung
daran ging, das Hurentum vom Schimpf zu erlösen,
ja die Prostitution selbst als natürliche — nicht
soziale — Kategorie proklamierte.
Er wurde dabei zum Romantiker und geriet
in einen eigentümlichen Zwiespalt. Während er über die
Feministen die Lauge seines Spottes ausgoß, wurde
er selbst zugunsten des weiblichen Geschlechts un-
gerecht gegen den Mann. Das macht, er ist den
Frauen gegenüber zu viel Liebhaber, es fehlt ihm
zur Obersicht über das weibliche Geschlecht selbst
ein Ingrediens, welches seine Weibanschauung erst
rund machen würde. In ihm steckt kein Hausvater
und nicht eine Faser von einem Patriarchen, darum
ist ihm auch die Mutter uninteressant Er ist immer
Page. Aber die Halbwelt ist doch nur die halbe Welt.
Seine Art, das Weib zu sehen, hängt vielleicht
damit zusammen, daß ihm der staatenbildende
Instinkt fehlt, der auf der Kontinuität der Geschlechter
beruht und im Familiensinn seinen Ausdruck findet.
Seine Abneigung gegen die Politik kommuniziert mit
seiner Gleichgiltigkeit gegen die Mutter durch ver-
borgene Kanäle der Persönlichkeit.
Sieht man von diesem notwendigen Einwand
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ab, 80 mufi man Eugestehen, daft Kraus d«ii Frauen
reiche Bntschädigung zu bieten hat. Kraus rettet die
Frauen umgekehrt als es üblich ist. Nicht, indem er sie
von dem Vorwurf der Sinnlichkeit reinwäscht oder auf
mildernde Umstände plaidiert, sondern indem er die
Sinnlichkeit selbst preist und besingt. EHne viel
wirksamere und geistreichere Rettung jedenfalls,
welche sich die Frauen gefallen lassen können. Er
akzeptiert alle Argumente der Weiberfeinde und
Weibyerächter, nur sind alle diese Argumente flkr
ihn solche der Liebe. Auch er meint, daft die Frauen
unlogisch, eigensinnig, oberflächlich und ungebildet
sind. Aber er findet das bezaubernd. Übrigens gelingt
es ihm, von dieser Seite in die Poesie des Weibes
einzudringen und wie sich allmählich seine Brotik
vergeistigt und raffiniert, so landet er schliefllich bei
einem geistigen Frauenwesen, nur freilich ist dieser
Geist von ganz anderer Quelle und Artung als etwa
der des Mannes oder einer Hysterikerin oder eines
Blaustrumpf;^.
Dafi seine Zärtlichkeit fQr das Weib in tiefere
Schichten seiner Persönlichkeit hinabreicht, das seigt
sich an dem Haft, zu dem sie ihn gelegentlich be-
fähigt. Die erste Abwendung von Maximilian
Ha r den kündigt Kraus an, fds Harden in diesem
Punkt, im Weiberpunkt sein Mißtrauen reizt. Von da an
geht es aber dann reiflend weiter. So weh hat Kraus
niemandem noch getan I Die Schläge, die er seinem Ber-
liner > Rivalen c versetzte, waren so furchtbar, unwider-
stehlich und rasch, daß der Angegriffene trotz seiner
großen publizistischen Mittel geradezu den Eindruck der
Wehrlosigkeit machte. Er verfolgte den Mann bis zu
den Schatten und gab ihn auch dort nicht frei. Wo
hat es je eine solche Polemik, eine ähnliche Attacke
gegeben? Hier darf man selbst die gröfiten Beispiele
heranziehen, ohne dafi Kraus durch den Veraeich
verdunkelt wird. Die Verfolgung Platens durch Heine
macht eher einen dürftigen und willkürlichen Bin-
y Google
— 19 —
<iruok, wenn sie mit dieser elementaren, furiosen,
niederschmetternden Abrechnung, diesem schnau-
benden >Esse delendumc parsdlel gestellt wird.
Lassalles Julian Schmidt mag auf die Zeitgenossen
entfernt so gewirkt haben. »Wienc siegte glänzend
über »Berlinc« Es war grausig schön. Harden er-
wachte eines Morgens und war unberühmt. Wo ist
er? fragte man sich, die Augen reibend. Der aber
war, wie bei einem Dynamitattentat, restlos dahin. . . .
Was kann Kraus noch werden und wo ist der
Königsgedanke seines SchafTens? Ich sagte es schon:
die Schönheit, Man könnte aber auch sagen: sein
fifanzes Leben, so mannigfach verschlungen, gilt einem
ideal: der Persönlichkeit. Er betrauert sie, wenn
sie geknechtet ist und richtet sie auf, wo er sie be-
drängt findet.
Kein modemer Qeist hat den Sturz der Per-
sönlichkeit in der modernen Welt tiefer und bren-
nender empfunden als Karl Kraus. Er hat diese Krise
erraten und mit den allarmierendsten Worten yerküu-
di|^. Er hat dafür ein geradezu erleuchtetes Bewuflt-
sein. Ihm sind die Möglichkeiten der Persönlichkeit
bekannt und darum ihre Gefahren. Den wenigsten
Zeitgenossen dürfte auch nur eine Ahnung davon
dämmern, was da vorgeht. Eine entsetzliche Verarmung
des Menschengeschlechts. Wir werden arm. Das ist's,
wovor ihm graut. Hier rechtzeitig zu warnen, die
Verarmung nachzuweisen, das ist seine Lebens-
aufgabe. Alles was er dazu tut, ist nur Waffe, Rüst-
zeug, Konsequenz. Diese grausige Furcht peitscht
ihn zur vehementen Kritik der Kultur, während
sich andererseits die Kultur selbst in ihm mit unheim-
licher Rapidität entwickelt. Es reifit ihn vom Heute
zum Morgen, läfit ihn das, was er heute noch
goutiert, morgen öchon verstoßen. Er konsumiert
alles, was in seinen Bereich kommt, mit
unheimlicher Schnelligkeit und dabei ist es seine
Formel, dafi er nichts übergehen kann und darf. Er
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mufi alles an sich nehmen, dann aber erlöst er sich
davon ganz und vollkommen. Daher wunderliche Wider-
sprüche in seiner Lebensführung, welche seinen
Freunden nicht immer paßt. Was ihm bestimmt ist,
zu bekämpfen, mufi er vorher suchen; es ist aber
umgekehrt, wie die Leute glauben. Man sagt, er
verrate seine Freunde. Umgekehrt, er mufi durch
seine Feinde hindurchgehen. Das ist tragisch, aber
es ist seine Formel. In seiner gallopierenden Kon-
sumtion liegt aber unstreitig auch das Bedeutende,
das Dämonische an ihm. Es macht ihn sensiÜT gegen
alles Verbrauchte und Triviale. Die Trivialität, die
feste Schablone tut ihm weh wie glühendes Eisen.
Wie er es versteht, auf ein Durchschnittspublikum
diese seine Stimmung zu übertragen, ist ein Rätsel
Aber ihm gelingt's. Er vermag es, irgend eine
Tagesmeinung mit einer solchen Gtobärde der V^-
achtung abzutun, daß sie wie ein ausgespuckter
Standpunkt erledigt ist. Es gelingt ihm, das Volks^
tümliche zu verhöhnen und damit populär zu werden.
Er ist nämlich wirklich populär, er ist den Wienern
unentbehrlich.
In dem Kampf um und für die Persönlichkeit
stößt er auf die Demokratie. Von der hat er nie
etwas gehalten. Er hat es unglaublich beherzt heraus*
gesag:t. In seinem Kampf gegen die gesellschaftlich^!
Mißstände gerät er mit ihr beinahe wider Willen in
ein Freundschaftsverhältnis, aber er hat die Seelen-
stärke, alle Bundesgenossen zurückzustoßen. Er hätte
sichs leichter machen können. Es gab eine Zeit, wo
man ihm von gewisser Seite stark den Hof machte.
Er winkte ab. Er will wirklich keine Bundesgenosset
Jeder, scheint es ihm, kompromittiert. Jedei
>Komitee€ ist ihm ein Gräuel, eine Yerwässerung,
eine Verkehrung ins Gegenteil. Er hat den Willei
zur Einsamkeit. Es führt ihn dazu, die Politik fibw-
haupt zu negieren. Jedes wie immer geart€$te Kol-
lektiv-Wirken erscheint ihm als Degradierung. DJ
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Politik ist ihm absolut problematisch, geradezu un-
verständlich. Ich gebe ihm darin nicht recht, aber
ich erinnere mich, dafi Karl Kraus noch jedesmal,
wenn ich glaubte, er sei um eine Strecke zurück,
um eben diese Strecke voraus war. Pest steht, daß
für einen Geist, der unmittelbar wirken kann, die
Politik ein Umweg ist. Wenn aber Kraus in Bismarck
beispielsweise einen Kopf sieht, dessen künst-
lerische Materie gleichsam nur zufällig die Politik
war, so beweist er damit nur, daß ihm das Leben
von Massen, Völkern, Organismen und deren Ex-
ponenten unendlich ferne liegt. Die Politik als gleich-
berechtigte Welt mit ihren wunderbaren zwingenden
Gesetzen, dieses grofie Fatum ist für ihn nichts als
ein Monstrimi. Dieser Welt nahe zu treten, scheint
ihm versagt zu sein. Aber liegt die Schuld an ihm?
Unser Staat ist so atomisiert, dafi sich tatsächlich
Individuen in der Luft bilden. Schwebende Geister,
kolossal anziehende Erscheinungen, wie sie vielleicht
nirgends sonst auf der Welt vorkommen; hohe Kul-
turen ohne reale Unterlage. Aber die Frage ist, ob
es das geben darf; ob es aufier denjenigen, welche
aus ihrer Isoliertheit ein Programm machen, irgend-
eine Fruchtbarkeit geben kann, losgelöst von Boden,
Nation, Territorium, Staat. Hier beginnt das Proble-
matische an Karl Kraus, freilich auch das Einzig-
artige einer Erscheinung, die in England, Frankreich,
selbst Peutschland nicht möglich wäre. Fragt sich nur,
wie es endet, ob der tragische Unterton solcher Per-
sönlichkeiten nicht eben doch politische Ursachen
hat« Daß sichs Kraus zur besonderen Ehre anrechnet,
und daraus neue exotische Farben für seine Palette
gewinnt, ändert nichts an der Tatsache, dafi ein
solches Empfinden uferlos ist.
Jedenfalls begünstigt diese Geistesstimmung
seine schon berührte Eip:enart: allen Dingen un-
mittelbar gegenübertreten zu können. Zwischen sich
und den Dingen keinen wie immer gearteten Ver-
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mittler ku haben, kein Syttero, keine Partei, kone
Abstraktion, keinen Standpunkt, kein Vorurteü, keine
Nation, kein Vaterland, keine »Bildungc, und dabei
doch eine leidenschaftlich bebende Vollblutpereön-
lichkeit sein — das muß eine ganz neue Musik und
eine Form der höchsten Unmittelbarkeit geben. Karl
Kraus hat sie in seinen Aphorismen gefunden
und erobert. Es ist in diesen »Sprüchen und
Widersprüche nc etwas Ton der Stimmung, wie sie
Otto Stoessl für den Skeptiker definiert: »dessen
Pathos darin liegt, nichts pathetisch zu sehen, son-
dern allen Dingen ihre Schwere zu nehmen, indem
er ihnen seinen Geist einhaucht, dessen zartes er-
greifendes Lächeln aus der groben Welt widerstrahlt,
die er ansieht, der nicht gestaltet, sondern nur eben
anschaut und mit leisem Liebhabergeist das bittere
Leben doppelt liebt, weil er es in all seiner Prag-
wOrdigkeit und Biöfie erkennte Diese Aphorismen
wölben sich wie ein goldig-blauer Septemberhimmel
nach langen bangen Stürmen. Die Sprachkunst wird
stoffrei, materienfrei, leichtbeschwingt, hellklingend.
Der Stil ist konzentriert und bietet sich dem Studium
in Reinkultur dar. Diesen Stil meinte manch einer
aus dem Handgelenk nachmachen zu können. Da
zeigte sichs ungefähr, wie schwer das ist, so eine
kleine Glosse von dreißig Zeilen zu schreiben, ohne
dafi der Leser früher durchgeht. Die Kunst, mit der
Sprache so zu fesseln, daß der Leser mit steigender
Lust und Spannung ins Labyrinth läuft und alle auch
schweren Anforderungen gerneauf sich nimmt — das hat
ihm noch keiner abgeguckt Das Geheimnis li^
vielleicht darin, dafi Kraus selber einem Sprach-
labyrinth träumerisch - trunken nachwandelt; die
Sprache ist für ihn ein Garten voll unverhofiTter
Rosen, die aus allen Lauben hervorbrechen. Er hat
Aufsätze geschrieben, Essays, gipfelnd in einem
klirrenden Witz, deren Bau und Konstruktion nicht
zu ergründen und doch artistisch -gedanklich voU-
y Google
88 -
9ndet ist. Ihn leitet^ Bcheints, dieselbe geheimnis-
Tolle Macht wie den Lyriker. Darum gibt es bei
ihm keine toten Stellen, keine Lacunen, sondern ein
unwiderstehliches Weitergleiten, wie es etwa bei
der Wieland'schen Prosa ku verspüren ist, wo sich
das Umblättern so ganz und gar im Husch und von
selber macht. In seinen Aphorismen tritt uns diese
Sprach -Produktivität ganz leibhaftig entgegen.
Karl Kraus darf nun endlich erwarten, dafi er seinem
zuständigen Richter nicht mehr entzogen wird; er
ist nunmehr in der Gesellschaft angelangt, auf die
er ein Recht hat: in der Gesellschaft der Denker
und großen Herren vom Geist. Er kann somit auf
seinen wirklichen Geschmack ohne die Würze der
Tagesaktualität genossen werden. Bei allem selbst-
ständigen Leben der einzelnen Aphorismen liegt in
der Komposition dieses merkwürdigen Buches eine
Wechselwirkung und innere Verkettung der Gedanken
und eine jubelnde Steigerung, welche sie wiefder zu
einer höheren Einheit verknüpft. Man darf neugierig
sein, ob gegenüber diesem Buch, dessen geisti-
ger Schatz sicherlich heimlich auf^e^iffen werden
wird, die österreichischen >Intellektuellen€ die
Frechheit haben werden, zu — schweigen! In
den Aphorismen erkenne ich einen vollendeten Frei-
geist, der alle Schlacken von sich abgetan, einen
unverhofften, edlen Abschlufi eines stürmischen Jahr-
zehnts.
Kolossaler Marsch einer Persönlichkeit: beginnt
damit, seine Mitbürger durch gelungene Scherze über
die Tagesereignisse zu amüsieren, gibt seinen Waffen
allmälig Objekt und Richtung, stellt sich in den
Dienst der gesellschaftlichen Gerechtigkeit, erhebt
sich zum grollen hinreißenden Journalisten, wird
zum Kulturkritiker und Sachwalter des Individuums,
dann der Persönlichkeit und des Genies, wirft von
einem bestimmten Zeitpunkt an alle Eroberungen,
Freunde, errungenen Positionen wie einen Pappenstiel
y Google
— 24 —
von sich und zieht sich auf den Qeist zurück und
wird zum Künstler feinster Weltbetrachtung. Ihn be-
gleiten auf diesem Wege Hafl gegen Trivialität, gegen
Schmarotzertum, Demokratie und Popularität — Liete
zum Weib, zur Persönlichkeit und Einsamkeit, wäh-
rend er immer mehr und mehr davon abkommt, /ür
Menschen und Dinge einzutreten und leidenschaftlich
sein Eigenstes sucht, um es endlich nach vielen
Schmerzen und seltenen Triumphen zu finden und
als klingendes Gedankengold herauszuzahlen^ endend
wie er begonnen, mit neuen Verheißungen und viel-
sagenden V ersprechen
Die Memoiren der Odilon.
Anadyomene, mit einer Krücke dem Meer ent-
stiegen — so erschien sie mir auch in gesunden
Tagen. Erst ihre Krankheit, deren aphrodisischen Ur-
sprung sie selbst bekennt, beglaubigt sie als Weib.
Ihre Stimme war nicht wie Sirenensang, den zu hören
man stirbt; doch es klang auch kein tragischer Orgel-
ton darin und keine Glocke zur christlichen Nacht.
Das Weib im Zustand der Zivilisation, aber ohne das
Heimweh der Hysterie und ohne Widerspruch gegen
die Gefängnisvorschriften. Kaum dafi ein Dämmer
jener Nervennot, aus der das Gefühl der heutigen
Schauspielerin schöpft, die Ahnung eines elemen-
taren Lebens weckte. Hier war nicht das, was dem
Weib Persönlichkeit gibt, das tiefe Nichts, die zau-
berische Hülle aller Werte, die der Mann ver-
leiht und die ihn bereichern : Hingabe, die Rückgabe
ist. Diese Faszinationen haben nichts, was den
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Bürger aus dem Weg der Korrektheit reiften
könnte, aber einen Künstler möchten sie serstören;
diese Betrügereien vollziehen sich innerhalb der
Gesellschaftsordnung, aber einen Mann von Gnaden
der Natur könnten sie um den Verstand bringen. Das
ist die Mission solcher Frauen, von denen man nicht
wüfite, WOEU sie geboren werden, wenn sie nicht zu-
guterletzt eine Erkenntnis stärkten: dafi die Kultur
das Chaos wiederhergestellt hat, aus dem die Welt
erschaffen wurde . . . Die »interessante Franc und
die erotische Posse bezeichnen die geistigen Grenzen
der christlichen Geschlechtsfreiheit; nichts ist un-
interessanter als jene und nichts trauriger als diese.
In ihnen huldigt die Übertretung dem Verbot; das
Mafi dessen, was gewagt wird, ist das Maft dessen,
was nicht gewährt ist, und so wahr Freiheit die
Feindin des Zwanges ist, so ist Frechheit die Ver-
bündete des Respekts. Innerhalb der geistigen Ord-
nung aber, die die Persönlichkeiten bricht, da sie sie
nicht biegen kann, hat der Gaukler Talent den weitesten
Spielraum. Talent ist geschlechtslos und daher welt-
läufig. Es täuscht über allen Zwiespalt eines Lebens, das
dieGeschlechter gegeneinander stellt, es ist eine Verstän-
digung von Mann zu Weib. Sinnengenuft und Rausch
des künstlerischen Schaffens tun uns nichts mehr zu
leide; es sind die Sonnwendfeuer des Talents, die des
Schein eines Waldbrandes geben. Talent ist der Selbst-
betrug, mit dem sich das Leben über seine Verar-
mung tröstet. Und durch nichts verarmt es mehr
als durch die Entschädigung. Kraft ist schöpferisch,
aber Routine, die Kraft ersetzt, kann nicht einmal
Routine erschaffen. . • Sonst kann sie alles. Denn das
Wesen des Talentes ist, zu können, was es nicht
mufi. Ein Talent der Liebe, ein Talent der Bühne,
am zweifachen Spiel gehindert, wird unschwer zum
Talent der Feder. Versagt die rechte Hand, so schreibt die
linke. Sie schreibt Memoiren eines Talents, die ebenso
jedes andere Talent schreiben könnte, ohne erlebt zu
y Google
— 26 —
haben, was sich schreiben läfit Erinnerungen an die
Tage, da eine Stadt vor Frau Helene Odilen auf dem
Kopf stand und es ohne RQcksicht darauf tun konnte,
dafi ein wertvoller Inhalt in Verwirrung gerate.
Mir klafft kein Rifi zwischen der peinlichen
Sensation dieses Buches und dem Eünstlemihm dieses
Lebens. Und schwer wird es mir, die Autorin nicht
^egen die enttäuschten Verehrer der Schauspielerin
in Schutz zu nehmen. Denn die Frage »Ist das
wirklich notwendig gewesen?€, die sich schmerslich
bewegten Feuilletonisten entringt, darf frank bejaht
werden. Man müsse nicht die Odilen gewesen sein,
sagen sie, »die grofie Mondäne, die Veriührerin einer
Städte, um ein solches Buch zu schreiben, das nichts
enthalte als Elatschau» Garderobe und Schlafzimmer; um
es in einem saloppen Komödiantenjargon zu schreiben
und in einem gleichgiltigen Ton, der nichts inter-
essant zu machen wisse. Ich sage, man mufi dazu
die Odilen gewesen seini Liegt die Enttäuschung
der Verehrer in der Erkenntnis, dafi die Dame keine
hinreichend geschickte Feuilletonistin ist? Sie scheint
tiefer zu wurzeln; denn der Tadel resolviert zu der Er*
klärung, an dem banalen Buche sei »nichts sonderbar, als
das Wesen einer Frau, die uns daraus entgegentritt:
kalt, indezent, rücksichtslos und ohne Tiefet. Dieses
Buch sei danach angetan, »das Bild der einst strahlen-
den Odilen zu zerstOrenc. Man siebt, wie verzwickt
der psychische Sachverhalt ist. Denn die Autorschaft
der Frau Odilen zugegeben, bleibt nichts übrig als
die Vermutung, dafi ihre Persönlichkeit in dem
Augenblick kläglich zusammengeschrumpft ist, als
ihr ein Verleger den Antrag stellte, ihre Memoiren
zu schreiben, — oder die Annahme, dafi es einst der
faule Zauber einer strahlenden Routine war, der eine
kalte, indezente und seichte Natur zur Verführerin
einer ganzen Stadt machte. Ich entscheide mich für
die Annahme und verwerfe die Vermutung. Jene
Geschicklichkeit konnte die Literaten täuschen, so-
y Google
— 2T —
lange sie auf der Szene zu Hause war. In die
Literatur übersiedelt, erregt sie das Bedenken der
Fachleute. Eine rechte Frau mag in einem un-
gefügen Satz eines Briefes die Gestaltungskraft von
zehn Schriftstellern beschämen, aber sie wäre nie
imstande, ihre Memoiren herauszugeben. Es ist ein
unnatürlicher Tod der Weiblichkeit, die im Bett
stirbt, wenn eine sich entschliefit, zur Feder
zu greifen. Dieser Selbstmord soll als Versuch der
Rettung aus einem unbefriedigten Dasein nicht
unterschätzt werden. Aber ein Weib schreibt immer
sein Obduktionsprotokoll. Und glaubt man, dafi das
Leben einer Frau, die eines Tages der Literatur ver-
fällt, je etwas anderes war, als ein Leben aus zweiter
Hand? Nur die Blindheit nimmt eine Wesensänderung
wahr, und nur die Taubheit hört aus den Memoiren
der Frau Odilen eine andere Sprache als aus ihren
Bühnengrestaltungen. Wer bei dem »gefühllosen,
gleichgültigen, einförmigen Tone ihres Buches sich
nicht an die Glanzzeit der Frau Odilen erinnert, um
eine Konsequenz festzustellen, sondern um über die
seltsame Verwandlung eines Charakters nachzudenken,
der macht mit Unrecht die Autorin für seine
Enttäuschung verantwortlich. Madame Sans-
QAne in Wort oder Schrift, ich höre nur eine
Stimme, und sie klingt mir immer noch wie der Ton
einer stattlichen Sparbüchse, einer, die klappert und
schüttert, ohne sich je zu vergeuden, und die unter
Kuratel zu stellen, blofi dem Scharfsinn einer öster-
reichischen Behörde einfallen konnte. Aber es ist
schliefilich kein Wunder, dafi in einem Staat, dessen
Finanzminister frei herumlaufen und dessen Abge-
ordnete davon leben, dafi sie mit fremdem Geld ver-
schwenderisch umgehen, die Kapitalisten zu Märtyrern
der behördlichen Aufsicht werden. Daß sich diese
eine Frau als Opfer ausersehen hat, die in ihrer ganzen
Lebensführung den holden Schwachsinn ihres Ge-
sohleohts verleugnet, beweist die glückliche Hand, die
yGoogk
— 28 —
dieser Staat wie in allen höheren Kulturproblemen auck
bei der KuratelsverhäDgung bewährt« Die Art, wie Pran
Odilen nooh heute mit ihren Liebhabern abzurechnen
Terstehty stärkt den Verdacht, dafi hier ein mündiger
Verstand unter der Kuratel des Blödsinns gehalten
wird. Dafi Frau Odilen als Schriftstellerin noch
nicht die blendende Routine hat^ mit der sie als
Lebenskünstlerin und Star der Bühne über den
Mangel an Persönlichkeit su täuschen wufite, ist ein
Vorwurf, den nur die kollegiale Unduldsamkeit
erheben kann« Aber daß ein Weib den Ehrg^is
hat, mit fier Feder seinen Mann bu stellen, ist keine
Kritik am Buch, sondern am Weib. Das ist keine
Schwachsinnige, das ist kein Weib, die solche Probea
einer Erinnerungsfähigkeit ablegt
Solange eine nicht schreibt, bewahrt sie den
Schein der Geschlechtswirkungf und der Zusatz jener
widerwärtigen Oeistigkeit, der sie später zur Schrift-
stellerin befähigt, mag gar die verdächtige Mixtur
herstellen, welche die Toren betört. Aber eben diese
Intelligenz ist es, die im rechten Augenblick alle die
schlechten Eigenschaften mobilisiert, die im Friedens-
stand zum Reiz des Weibes versammelt sind« Die
Anmut ist eine Maske, die das Weib vor dem wahres
Antlitz trägt. Fällt die Maske — nichts aufier ihr ver-
mag zu »fallenc — , so steht eine fragwürdige Mensch-
lichkeit vor deinen Augen. Bist du nicht im Zauber-
bann, so kann die Erhitzung deines Nachbarn dick
nicht von der Vision abbringen, dafi die Luxusdarae,
die da oben ihr Spiel treibt, ein flotter Weinreisender
im Unterrock ist oder ein Börsenagent mit Jupons.
Und läfit sie selbst die Maske fallen, gibt, sie den
Schein schöpferischen Frauentums auf, uro eineMeinung
zu vertreten, um zu agitieren, zu reden, zu schreiben,
so erwächst der Eindruck zu schreckerregender Voll-
ständigkeit. Sie braucht sich dann von keinem
Feuiüetonisten entmutieren zu lassen, der Eihrgeis
allein beglaubigt ihre Zugehörigkeit, und das ange-
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— 2Ö —
borne Talent ssur Routine führt sie bald Über die
Schwierigkeiten des Anfangs. Und sie hat ein Recht
darauf, dafi man ihr die Abscheulichkeiten eines
Klatsohromans genau so verüble, wie jedem Reporter,
der die wahre oder fingierte Kenntnis des Privat-
lebens stadtbekannter Personen zu einer publizisti-
schen Sensation ausschrotet. Denn das ist der ehr-
liche Erfolg der Frauenemanzipation, dafi man einem
Weib, welches sich einem schmierigen Handwerk
des Mannes gewachsen zeigt, heutzutage nicht
mehr die verdiente Geringschätzung vorenthalten
darf. Freilich mufi hier das Recht der Frau noch
immer in einem Punkte zu kurz kommen« Man
darf einer, die ehrenrührige Eingriffe in ein Privat-
leben begeht, wohl von der Gesinnung zumessen, die
man einem Redakteur in solchem Falle widerfahren
läflt; aber das unsäglich ekle Erlebnis, eine Frau,
die Memoiren geschrieben hat, vor den Geschwornen zu
sehen, wird der erpichteste Frauenrechtler nicht her-
beisehnen, und kein Feminist wird wünschen, dafi
man an einem Weibe jene Selbsthilfe betätige, die
man gegen den Verbreiter der sexuellen Intimitäten
in der richtigen Erkenntnis anwendet, daß die
judizielle Genugtuung nicht zureiche. Es ist gewifi
wieder ein Unrecht, dafi man hier durch die Bevor-
zugung der männlichen Sudler begeht. Aber der
äuflere Schein, der dafür spricht, dafi es Männer sind,
während die Journalistinnen noch immer keine Hosen
tragen, mufi die Wahl entscheiden. Wenn auch in
Wahrheit durchwegs nur die Weibernaturen in der
Journalistik auf den trostlosen Gedanken verfallen,
durch Preisgabe wahrer oder erdichteter Tatsachen
des Privatlebens eine Rache zu üben, so ist doch
die Hose für den Entschlufi mafigebend, sie zu
spannen. Kein Mensch, und wäre er in seinem
Innersten beleidigt worden, wird einen Weiberrock
aufheben, um eine unzärtliche Gesinnung zu betätigen.
Diese Zurücksetzung müssen sich nirn einmal die
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schreibenden Weiber gegenüber den weibisolieB
Schreibern gefallen lassen. Aber weil sie ihrer gans «nd
Sar sicher sein können, sollte umso nachdrücklicher
er Versuch unternommen werden, sie durch Worte
einEuschüchtern. Denn das Handwerk der Kolportage
von Bettgeheimnissen mag einen goldenen Boden
haben: wenn es ein Weib betreibt, so ist es eine
Beleidung des eigenen Geschlechtes, wie sie schimpf-
licher nicht gedacht werden kann. Für diese, nicht
für die Beleidigung der Männer, deren Leben das
Unglück hatte, von einer künftigen Memoiren-
schreiberin gekreuzt zu werden, gilt es eine Sühne
zu schaffen. Es wäre lächerlich, einen Menschen wie
Alexander Girardi, der mit einem Wort einen Reich-
tum der Liebe spendet und gewinnt, gegen die Herzens-
leere dieser Enthüllungen in Schutz zu nehmen, die
nebst ihrer garstigen Absicht nichts enthüllen,
als gerade die wertvollsten menschlichen und künst-
lerischen Eigenschaften des Betroffenen. Aber man
Würdesich versucht fühlen, sich selbst des unsympathi-
schesten Opfers dieser Ranküne anzunehmen und
einen Geldbaron gegen den Verdacht einer reinen
Liebe zu schützen, aus deren »Glückstraumc
Frau Odilen durch drei Tausender herausgerissen
wurde, wie anderseits gegen die öffentliche
Rechnungslegung, zu der sie sich gegenüber dem
»Unwürdigenc sehliefliioh doch bereit findet. Sie
alle aber gegen die Zumutung zu schützen, ihre
Bettgenossenschaft kulturhistorisch gewürdigt z«
sehen.
Es ist ein Buch, das wirklich notwendig war,
um der Öffentlichkeit und deren Wortführern über
die Armut ihrer Illusionen die Augen zu öffnen, die
fast so billig herzustellen sind, wie die Bühnen-
toiletten der Frau Odilon. Durch die rücksichtslose
Preisangabe für diese und durch das Preisgeben der
uninteressantesten Geheimnisse hat sich die Verfafflerin
in einem Teil der Presse das Lob »Rousseau'sohen
y Google
- 81 —
Wahrheitsmutesc zugezogen. Gefährlicher ist eine
Kritik, die Frau Odilon jahrelang als dämonisches
Weib anerkannt hat und jetzt die Bände über dem
Kopf zusammenschlägt, weil sich der Zauber als
eine sublimierte Mischung aus den Interessen eines
Reporters und den Berechnungen eines Theateragenten
herausstellt. Dafi Charlotte von Stein nach der
Schätzung beeideter literarhistorischer Sachver-
ständiger keine Wertsache war, wird an ihrem
Liebhaberwert für die Subjektivität eines Goethe
nichts ändern; man wird höchstens in der Ober-
zeugung bestärkt werden, dafi die Literaturforschung
keine Wertsache ist. Aber die Objektivierung der
Frau Odilon ist durch ihren Willensakt herbeigeführt
worden, sie hat sich selbst enthüllt, sie hat ge-
schrieben. Die schmerzliche Enttäuschung der Wiener
Kulturforscher ist so töricht wie die Oberlegenheit
der deutschen Literaturhistoriker.
Freilich mufl es ihrer Vorstellung von
einem Mondänentum arg zusetzen, weim sie Frau
Odilon erzählen hören, wie sie in ihrer Jugend
»ein paar Dachteln« bekommen habe, wie ihr dann
»das Herz pumperte«, als sie zum erstenmal auf den
Presseball ging; wenn sie hören, wie sie sich ein
»armes Waserl« nennt, »^ut is' gangen« ruft,
ein Erlebnis »bis zum I-Tüpferl durchmacht«,
»pumperlgesund« nachhausekommt, von ihrem »Hirn-
kastei« spricht, von einem Autor, »dem es das
Beischel umdreht«, von dem »krauperten Baar«
Lenbachs, von dem »Gerstl«, das ihrem Mann aus-
geht, von den »Spompanadeln«, die sie, und von
den »Mafökchen«, die er auf Reisen macht, von dem
»Riesenschinakel«, auf dem sie nach Amerika fährt,
von den »Fressalien« an Bord, einigemal vom »Speiben«,
und nur zur Abwechslung davon, dafi sie einmal »ganz
betropetzt« war und dafi ein Kollege, als er von der
»Benehmität« einer Kollegin hörte, die Bemerkung
machte: » Ae solchene wären Sie?« Sonst aber durchaus
üigitized by VjOOQl'
— 32
eine sprachliche Melange aus Grinzing und Hopp^
garten, ein Jargon^ der zugleich harb und »niuaclüig
kusohligc ist und neben dem Ruf »Kruzifix noch
einmal Ic nur die Beteuerung vermissen lä£t: »Ich denk,
mich laust der Affelc , . . Mir könnten solche Aufie-
rungen das Bild einer Qöttin nicht alterieren. Das Vor-
bild der Iphigenie bevorzugte — Dank sei einem Pro-
fessor für die Enthüllung — das Wort »Drecke, und jene
andere Charlotte, die das vollendetste Nachbild der
Iphigenie geschaffen hat, die große Wolter, befliß sich
in Umgang und Briefen des rüdesten Jargons. I^e
wären f reiUch nicht imstande gewesen, Bücher daraus
zu machen. Die Ausdrucksweise der Salondame mag
ein lesendes Parterre enttäuschen; in die Linie ihres
Wesens fügt sich mir der geistige Stil. DaS ihre
Erinnerung an einen berühmten Kollegen sich darauf
beschränkt, dafl er einmal plötzlich von der Szene
verschwunden sei, und in dem Satze gipfelt: »Des
Rätsels einfachste Lösimg hätte die verschwiegene
Toilettefrau geben können c, wäre schliefilich noch
ein naturalistischer Zug, der zwar dem mondänen
Ruf einer Bühnenkünstlerin abträglich ist, aber sonst
von einem erfreulichen Humor zeugt; — wozu schriebe
man denn Memoiren, wenn sie nicht auch diese
letzten Geheimnisse der Zeitgenossen ergründen dürften?
Und dafl sie selbst auf dem Amerikadampfer »gleich
nach der Suppe unter den Klängen eines Straufi'schen
Walzers aus dem Saal tänzeln mußte und unter nodi
ganz anderen Klängen dann in die Kabine walztec,
wäre auch noch harmlos, wenn solche Elrinnerung
nicht den penetranten Verdacht weckte, sie stehe
in den Memoiren eines reisenden Männergesang-
vereins. Aber die geistigen Übelkeiten, die uns —
wenigstens in der ersten Hälfte des Buches — auf-
getischt werden, sind in Wahrheit das, was eine
beliebte Schauspielerin zu einer der unsympathischesten
Erscheinungen der deutschen Literatur gemacht hat Die
Grundgesinnung, die alle Andern mit Druckerschwärze
y Google
33 -
beschmieren möchte, weil man selbst der Schminke
entsagen mufl^in Ehren I Dafl Frau Odilen Kolleginnen
auch dort kompromittiert, wo sie nichts davon hat,daflsie
Jugendfreunde verhöhnt, weil sie ihr aus Eifersucht eine
ruhmlose Laufbahn prophezeiten, Schneider durch üble
Nachrede schädigt, Gatten des Diebstahls ver-
dAchtigt — Verbitterung mag die Arroganz solchen
Schaugerichts über eine private Welt erklären. Aber
daß sie sich dazu versteigt, uns die Hämorrhoiden
eines Gtemahls vorzusetzen und ähnliche Miseren
der Ehe, die sie schliefilich der goldenen Ader eines
Milliopärs geneigt machten, das ist mehr, als das
Mitleid selbst gestatten kann. Widerlich auch die
Art, wie sich die Lebensroutine einer Liebhaberia
als die Ahnungslosigkeit einer Naiv-Sentimentalen
vermummt. Frau Odilen ist in ein neues Fach über-
gegangen. Zerknirscht nennt sie es einen »Fehltritte,
als sie einen Rennstallbesitzer mit einem Trainer be-
trog, und bezeichnet sich hiebei als ein Opfer des bösen
»Galeottoc, der's nun einmal wahr haben wollte.
Von der ersten Zusammenkunft mit dem Finanz-^
baron »träumt sie mit geschlossenen Augen c. Nach-
träglich! »Wie ich unter einem Verwand in sein
Palais gekommen war. Wie wir von gleichgiltigen
Dingen gesprochen, wie aber die Augen die Herzen
nicht Lügen strafen gekonnt . . . Und wie es schliefl-
lioh geschah . . . Damals hätte ich es in alle Welt
hinausjubeln wollen . . .c So romantisch ist das
Leben, und es gehört Rousseau'scher Wahrheits-
mut dazu, es auch so darzustellen. Und ein unerbitt-
liches Ethos ist notwendig, damit eine Frau in
f;laubhafter Weise »Unpünktlichkeitc als jene mann-
iche Untugend schildere, die ihr die Ehe verfällt
habe, und damit eine Schauspielerin, die sich fort-
während über. eine Rejane, eine Sandrock, eine Sorma
zu stellen vermißt, der größten Persönlichkeit des
österreichischen Theaters »Eitelkeitc vorwerfen könne.
Wenn es aber die Dekorierung ihrer Erlebnisse gilt,
y Google*^"'
278
— 84 —
ist solöh eine interessante Frau einer Sinnigkeit
und Eitschigkeit fähig, die man ihr gar nicht so-
trauen sollte. Zur Erinnerung an ihre erste Eollegen-
liebe zitiert sie schlicht das tiefe Wort aus dem
Zigeunerbaron: »Wer uns getraut? Sag an — sag
dul< Als sie einmal in Ems dem alten Kaiser Wif
heim begegnete, sprach er seu ihr: >Sie werden mich
doch nicht für so unhöflich halten, dafi ich einer
Dame rorangehe? Also, darf ich bitten 7c Sie aber
ging, »gerührt von dieser auf der Welt einsig da-
stehenden Liebenswürdigkeit, stumm ihres Wegesc,
Und um nicht immer wieder die Folgen einer stOr-
misohen Amerikafahrt beschreiben zu müssen, deutet
sie einmal mit diskretem Humor an: »Er zählt die
Häupter seiner Lieben — Statt hundert waren's siebenc
Interessante Frauen haben vor den Frauen Toraua^
dafi sie denken können, was die uninteressanten
Männer schon gedacht haben. Sie können alao
Zeitungsklisohees denken. Sie freuen sich nicht etwa
über die Blumen, die ihnen bei einem Wiederauftreten
gereicht wurden, sondern sie konstatieren, dafi ihre
Garderobe »in einen Blumenhain verwandelte war. Se
eine feiert nicht Weihnachten, sondern sie sagt:
»Wieder steuerten wir auf das schöne Weihnachtsfest
los, an dem sich Alt und Jung, Qrofl und Klein so
recht vom Herzen freuen soUenc. Freilich rutscht ihr
gleich darauf der Satz heraus: »Das dachte sicher
auch der Herr y.Qomperz, als er mir seine (beschenke
überbrachte«. (Gomperz ist der Name eines Licht-
gottes, der Frau Odilen durch alle Fährnisse dieser
Welt von Schwarzalben geleitet.) Sie geht nach Paris^
also »nach diesem reizenden, schändlichen Seinebabelc.
Sie geht nach Venedig, also »nach dieser allerliebsten
Bijoustadt«. Aber wenn es auch viele herrliche Städte
gibt, »'s gibt nur a Kaiserstadt, 'sgibt nur a Wien Ic. Da
sich immerhin auch anderswo leben läfit, so bieten uns die
Memoiren der Odilen eine Fülle ethnographischer Auf-
schlüsse. Zum Beispiel: »Geht man durch die Straften
Roms spazieren, sieht man alte Bilder, alte Gobelins, alte
— 36 —
Spiteen^ altes Qold, altes Silber, alte Bauten. Alles
ist alt, und je älter das ist, desto mehr wird dafür
bezahlt. Eine einzige Ausnahme macht der Mensch —
da ist es gerade umgekehrt, t Anders New- York.
Frau Odilen beschlofl, »das Land der Yankeesc zu
besuchen. »Ein Gastspiel in einem mir ganz unbe-
kannten Weltteil Ic Da ist nati\rlich das Lampenfieber
noch viel gröfier. Aber es steht dafür. Die amerikani-
schen Eisenbahnen zum Beispiel: »Bei allem Komfort
wird deshalb der Bequemlichkeit nicht vergessene^
Sehr anschaulich tritt uns das Bild der Metropole
entgegen: »Was Beleuchtung anbelangt, so steht
New- York einzig da und Paris und London können
sich mit ihm nicht messen. Amerika ist das Land
der Reklame . . • Die Beleuchtung in den Dienst der
Reklame gestellt, das war's, was mir sofort in die
Augen fiel^ An jeder Straflenecke usw.« Die Ver-
pflegunfi;: »So gefressen — pardon — gegessen hatte
ich noch nie zuvor«. Im Theater gibts das »Weifie
Röfll« und »der Giesecke« hält eine Ansprache an
Frau Odilen, die aus der Loge antwortet. New- York
hat ferner die Wolkenkratzer, man besucht das größte
Warenhaus zum Wannemaker, ein Kleid um 600
Dollars ist eine »Mezije«, und seit der Entdeckung
Amerikas durch Oonried ist kein Gast so gefeiert
worden, wie Frau Odilen . . . Aber hat nicht auch
Mitterwurzer in New- York gastiert? Gewifi, aber er
war — unpünktlich. Er kam vor dem Termin» und die
Folgen: leere Häuser und kein Erfolg. Wie sie
doch die Männer kennt I Dieser Mitterwurzer war
»ein Idealmensch, aber fürs Geschäft ganz und
^r nicht« ... Im New-Yorker Ghinesenviertel
jedoch bemerkt Frau Odilen »Damen«, die sie in
Anführungszeichen setzen mufl; denn es sind solche,,
die mit den Ghinesenonkeln Champagner trinken und
ihnen »noch dazu das nötige Kleingeld ablotsen«. Tout
commecheznouSf ruftsie,dieGhinesen sterben nicht aust
Aber diese Mädchen leben für die Freude und
wenn die Freude auch nur kurz währt, so schreiben
- 3Ö —
sie wenigstens hinterdrein keine Memoiren. Und
keine würde behaglich schildern, wie sie die Psychiater
herbeigewinkt hat, um Einen, der sie liebte, ins Irren-
haus zu liefern. Die Stelle des Buches »In schmerz-
licher Erwartung safien wir nun bei Sretlin, doch
Stunde um Stunde verrann, ohne dafi Girardi käme,
diese Stelle ist der dunkelste Fleck in einem Privat-
leben, bei dessen Enthüllung Frau Odilen noch
schonungsloser voriring als beim Verrat fremder Ge-
heimnisse. Sie, die kein Hehl daraus machte daS
sie selbst einmal den Schwachsinn der Irrenärste fOr
ihre Zwecke miflbrauchen wollte, macht es einem
schwer, auf ihre Hilferufe herbeisueilen, da heute an
ihrer geistigen Freiheit die psychiatrischen Panghunde
serren. Und ich möchte es so gerni Der Glans der
Frau Odilen mufl mich nicht geblendet haben, damit
ich ihrem Elend beistünde, und so gern, möchte ich
die häßliche Hälfte des Buches vergessen, um der
andern Teilnahme zu schenken. Denn diese Ab-
rechnung mit der österreichischen Gerechtigkeit,
deren erhabenes Justament auf alles mensclüiche
Fühlen tritt, ist gut 1 Was die Frau hier sagt, ist gut
gesagt; also mufi sie mit jedem Wort recht haben.
Hier ist die Reporterin erledigt, hier schreibt ein Weib,
was selbst ein Weib schreiben darf. Hier wird nicht
geklatscht, sondern geklagt, und auch ein Weib darf
-schreien, wenn ihr ein Büttel an die Gurgel fährt
Hätte sie nicht die unerträgliche Sensation ihrer
Vorlebensstudie auf dem Gewissen, achtungsvollstes
Erbarmen wäre diesem durch alle Instanzen des
Heilbetruges und Rechtsverschubs gehetzten Jamm^
sicher. Aber dieses Kapitel ist für sich so stark, dafl
man der Armen die Hilfe gegen die Zudringlichkeit
nicht versagen darf, mit der die österreichische Amts-
welt ihre Fürsorge an ihr erprobt. Wenn der
zehnte Teil dessen wahr ist, was Frau Odilon hier
erzählt — die Wahrheit dessen, was sie aus dem
Privatleben ihrer Nächsten holt, vermehrtihre Schuld — ,
dann ist diese kompakte Sozietät von Amtshintem .
— 87 —
wirklich wert, dafi sie bei wiederkehrender Qelegen-
heit die serbischen Wanzen fressen. Eine Justiz,
die den Wauwau spielt, und »Bitte sehr, bitte
gleich Ic sagt, wenn eine einSufireiche Person sich
für das Opfer verwendet, eine Kommission von Rich-
tern, Psychiatern und sonstigen Funktionären von
malerischem Ansehen, die sich im Vorzimmer der
Frau Schratt versammelt und sofort in die alte Ton-
art zurückfällt, wenn die GOnnerin aus irgendeiiiem
Qrund die Hand von dem Schützling zieht — wie
weit halten wir ? Wie weit wird sich dieses Komplott
von altgedienter Roheit und unverwüstlicher Streberei
noch gegen die feineren Lebensformen vorwagen?'
Wenn es wahr ist, daß ein Gerichtspsychiater der
Frau, der er die Zärtlichkeit ihres Verlobten als eine
Absicht auf ihr Geld plausibel machen wollte —
denn um die Behütung des Geldes handelt es sich
in dieser Staatsaktion — , dafi er ihr ins Ge-
sicht die Worte gesprochen hat: »Ich weifi nicht,
Eädige Frau, ob Sie sich besinnen können, dafi wir
Inner einen gewissen körperlichen Widerwillen
gegen Gelähmte haben Ic, wenn wirklich ein Arzt das
gesagt hat, so verdient er, dafi ein gefühlvoller Polizei-
hund ihn zerbeifie. Weni) es aber wahr ist, dafi man
Frau Odilon die Herausgabe des Schmuckes verweigern
wollte, den sie in ihrer erfolereichsten Rolle trug und mit
dem sie sich jetzt für das Foyer ihres Theaters porträ-
tieren lassen sollte, dann staunt man wirklich, dafi
im mechanischen Betrieb der Borniertheit noch so
viel Spielraum für eine erfinderische Tücke bleibt.
Warum so viel Aktenpapier beschmiert wird, um
einen Skandal zu verlängern, der ohnedies schon zum
jüngsten Kuratelgericht aufstinkt, versteht kein Mensch.
Wie sich diese kranke Frau durch Europa schlf>ppt,.
um von den Enttäuschungen der Medizin in die
Terzweiflungen einer Wunderkur zu fallen, istgräfi-
lich. Müssen zu der spekulativen Anwendung
der Un Wissenschaft und des Glaubens noch jene
Segnungen der Jurisprudenz treten, die auch ein ge-
Uigitized by VjOOQl'i
- »8 -
fiunder Körper nicht verträgt? Iq der Judengasse
der europäischen Zivilisation stehen, swischen Pur^
kersdorf und Lourdes, vor Sanatorien und Grotten,
die Händler der hygienischen Hoffnung und fangen
den Kunden in ihren Laden, aus dem sie ihn ge-
lähmt entlassen. Mufl dieses Strafienbild dundi
Richter, Kuratoren und Gutachter ergänst wer-
den ? Ein Gerichtspsychiater fragt mehr, ids
hundert Weise beantworten können, und wenn eine
Schwachsinnige nicht über die ungarische Ehegeseti-
gebung Bescheid weift, so bleibt sie dem Kuratel-
verhängnis ausgeliefert. »Als Schauspielerin lebte
ich mein Lebenc, ruft sie, »und kümmerte mich nie
um Gesetze, Beamte, Psychiater und Kuratoren.
Aber auf einmal falle ich in diese Sauce. Wie ich
gesund war, lieft man mich nach meiner Fasson
selig werden, und jetzt, in meinen kranken Tagen,
soll ich eine Gelehrte und gescheiter sein als die Richter,
Advokaten und Ärzte Ic Eine Frau, die das sagt,
kann es schlieftlich noch mit einem Dutzend von
dieser Sorte aufnehmen. Das Drängen, sich endlich
zum Schwachsinn zu bekennen, entstammt der
echt österreichischen Überzeugung, daft man sich
hierzulande alles »richtenc kann und dafi bei
einigem guten Willen eines Mündels die Ge-
richte vor »Scherereienc bewahrt bleiben. Wir aber
wünschen den Skandal nicht mehrl Da Frau
Odilon nicht will, verschone man sie. Wem
sie ihr Geld schenken mag, ist schlieftlich ihre
Sache. Wer immer es bekommt, dem hat sie's lieber
gegeben als dem unbekannten Erben, dem es der
österreichische Staat reserviert. Der Vorwurf der
Gewinnsucht, den sie gegen ihren Kurator erhebt,
mag ungerecht sein. Aber es ist mindestens Zeit»
dafi er abtrete, sobald ein anderer Anwalt erklärt,
daft er die Sache gratis macht. Wenn ein Kurator
seine Schutzbefohlene nicht wegen Ehrenbeleidigung
klagen kann, so muft er abtreten, wenn sie ihn be-
leidigt. Er darf als Kurator das Wort nicht hinnehmen:
y Google
— 39
»Meine eigenen Möbelstücke läßt man verstauben,
und außer meinem Kurator sind's nur noch die Motten
und Schaben, die aus meiner Kuratel Vorteil ziehen, c
Und ein Kuratelgericht hat eine Schwachsinnige
laufen zu lassen, der das treffende Wort gelang:
»Wenn eine Künstlerin nicht mehr spielen kann,
kommt sie mir wie ein Fisch vor, der aus dem Meer
in ein Lavoir Wasser geworfen wird. Mein Leben
war die Bühne, und von den Brettern sagt man, dafi
sie die Welt bedeuten; aber schmeißen Sie einmal
den Pochmann aus seinem Lavoir ins Meer, passen
Sie auf, wie er ertrinkt Ic Jedenfalls aus dem Lavoir
mit ihm I Es ist genug I Schon spüre ich, dafi sich hinter
dieser zärtUchen Sorge für ein Kapital etwas von der
alten Ranküne gegen eine Lebensführung verbirgt,
die dieses Kapital erwerben half, und das könnte
der Ranküne übel bekommen!
Nur dieses Land, das seine Skandale auch kalt
genießen kann und wenn sie zur Rubrik erstarren,
erträgt durch Jahre den lächerlichen Anblick, wie
Diafoirus, Harpagon und Tartüffe sich zum Wohltun
vereinigen. Frau Odilen empfindet es als Plage; aber
sie kann auf den Schutz einer Öffentlichkeit nicht
rechnen, die ihren Lieblingen kein Privatleben gönnt
und sie wenigstens dauernd in der Gerichtssaalrubrik
sehen will, wenn sie sie schon in der Theaterrubrik
nicht mehr findet. Diese Teilnahme begleitet Frau
Odilen durch die unwürdige Sensation ihrer Ent-
hüllungen und verläfit sie in ihrem ehrlichen Kampf.
Die Verfasserin der Memoiren hat nichts von der
Gerechtigkeit und alles von der Heuchelei zu er-
warten, und die sittliche Rolle, die sie sich gegen-
tber ihrer Vergangenheit zurecht legt, mag selbst
ihren Wächtern wohlgefällig sein. Die Bewußtheit,
die dem Leben und der Kunst dieser Frau wie ein
Talisman eignet, hat sie aus der Wildnis sinnlicher
Gewalten in die Region zivilisierter Lustbarkeit ge-
leitet; aber sie bewahrt sie auch vor dem Verdacht
des Schwachsinns. Möge sie sie jetzt der Pflicht
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- 40 -
inne werden lassen^ ihre geistige Freiheit ohne Haft
gegen jene su erkämpfen, die an ihrer Entmündigung
unschuldig sind, und ohne eine sittliche Verteidigung
ihrer Vergangenheit. Das schafft eine klare Situation,
man stellt sich zwischen eine Frau und ein Dutzend
Büttel, und es wäre zu schön, wenn dann von den
Erlebnissen, die sie selbst verraten hat, ein einsiges
auch nur ein einziger ihr vorzuwerfen wagtet
Karl Kraus.
Beim Tode Hatkowskys^.
Nnn wird es dunkler sein.
Welcli eine Flamme flell
War unser Tag nur Schein?
Das Wesen war sein Spiel.
Entband sein Lflcheln nicht
mit giacklicher Qebfirde
verhaltnes Sonnenlicht
aus dieser harten Erde?
Entschfittelte sein Zorn
die alte Riesenglut,
die treibend unterm Kon
der Menschenäcker ruht?
Trug er in unser Spiel
Sicht jede Welt hinein?
Welch eine Flamme flell
Kun wird es dunkler sein.
^ VwK ^on Julius Bab, die In der ,Schanbihne* ttelwa.
Digitized by VjOOQI€
41
Die Verteilimg der Macht
Die Quelle aller Menschenroacht ist nicht, wie
die Speichellecker der Masse behaupten, das Volk,
sondern der Glaube des geistigen Menschen an sich
selbst. Die sogenannte Macht der Menge ist, wenn
sie nicht vom Geist gelenkt wird, lediglich eine zer-
störende Elementargewalt. Sie hat immer einen ge-
meinen Notstand zur Voraussetzung, durch den sie
erst geschaffen und in Bewegung gesetzt wird. Die
Macht der Menge ist imstande, das Joch unver-
nünftiger Tyrannei abzuschütteln oder, von Mangel
§etrieben, schlecht behüteten Besitz an sich zu reißen,
ie ist immer nur Auflehnung oder Beraubung und
weiß die erlangte Freiheit und den erlangten Besitz
weder zu nützen noch zu halten. Die Menge kann
nicht aus und für sich besteben, sie sinkt unweigerlich
stets wieder in die Knechtschaft zurück und für ihre
Macht zeugen immer bloß Spuren der Verwüstung.
Die materiellen Kräfte können nur unter der Führung
des Geistes schöpferisch wirken, und jener Augen-
blick, als die Erkenntnis der Möglichkeit geistiger
Macht wie ein Blitz die Seele des Menschen durch-
strahlte und entzündete, war der höchstgemute und
folgenreichste aller irdischen Augenblicke und die
wahre Geburtsstunde der Menschheit. Der Menschheit
und Gottes. Denn so leuchtend und erhaben erschien
dem Menschen das Attribut geistiger Machtwirksam-
keit, daß er lange nicht wagte, dies Ungeheure sich
selbst beizulegen. Er stellte es außer sich, hob es in
Sternenferne empor und wurde selbst ein Beispiel
der Unterwerfung unter den Geist. Im Namen Gottes
regierte zuerst der Geist des Menschen auf Erden.
Die ursprünglichste Form geistiger Herrscher-
gewalt war das Priester königt um. Und die Gottesidee
war zugleich der feste Anker hohepriesterlicher
Autorität und die befreiende Schwinge des geistigen
Macbtwillens. Je sicherer der Priester seines An-
sehens und seiner Heiligkeit beim Volke wurde, desto
y Google
— 42 —
gewisser wurde er auch des eigenen Glaubens an
seinen Beruf, Hirt zu sein über die Menschenherde.
Dies nämlich ist der tiefste Glaube, der erst aum
wahren Priester macht. Das innerste Geheimnis des
Hohenpriestertums ist dies eine: daß der Glaube an
Gott für den befreiten Geist nur der königliche
Mantel ist, in den der Glaube an seinen Herrscher-
beruf sich hüllt. Der moderne demokratische Stumpf-
sinn freilich vermag in dieser kühnsten Eonseption
geistigen Herrscherwillens, im Priester des eso-
terischen Wissens, nur den »betrügerischen Pfaffen€
zu sehen.
Uro aber solche Macht dauernd und unge-
schmälert zu erhalten, ist rastlose Wachsamkeit und
stete Willensemeuerung der geistigen Gewalthaber
Yonnöten. Jedwede Erschlaffung ihrer innem Energie
bedeutet unerbittlich auch den Verfall ihrer Macht durch
das Schwergewicht der dann sogleich und automatiach
wirksam werdenden materiellen Kräfte. Sobald dieee
Kräfte nicht mehr planvoll bewegt werden, wenden
sie sich planlos gegen ihre Beweger. Der geistige
Herrscher wird also von seinem besonderen Selbst-
erhaltungstrieb auf ein hartes und asketisches Leben
hingewiesen, asketisch im amoralischen, spartanischen
Sinne, auf ein Leben gesunder Abhärtung, stolzer
Selbstzucht und geistiger Freiheit. Niemals darf der
Herrschende der Knecht von Leidenschaften und Be-
dürfnissen sein.
Neben dem herrschenden Priestertum entstand,
als Vollstrecker seines Willens und Beschützer des
Volkes vor äußeren Gefahren, eine Kaste, die durdi
den nahen Anblick der Macht und mehr vielleidit
noch durch die impetuosen Instinkte, die ihr erblich
innewohnten und durch ihren Beruf noch ver-
schärft wurden, allmählich selbst nach der Macht
lüstern wurde: die Kriegerkaste oder das kriegm-
sehe Königtum. Die Zunahme kriegerischer Untw-
nehmungen — durch Bedrohung von auflen, Auf-
y Google
— 48 —
lehnung im Innern, Expansionsbedürfnis, BedOrfnis
nach Sklaven usw. hervorgerufen — stärkte diese
sekundäre, ursprOnelich nur als Exekutive gedachte
Machtquelle auf Kosten der priesterlichen Macht.
Und obgleich das militärische Königtum noch lange
Zeit hindurch dem Hohenpriestertum untergeordnet
bliebi war in kriegerischen Perioden dennoch die
allmähliche Verwandlung des theokratischen Staates
in einen militärisch-aristokratischen unvermeidlich.
Der Kampf um die Macht zwischen Priestertum und
Rittertum ^ bildet den Hauptinhalt der sogenannten
Weltgeschichte bis in die neuere Zeit. Im Mittelalter
erscheinen diese beiden Machtfaktoren in zwei große,
alles absorbierende Verbände zusammengefaßt: in den
weltlichen Staat und in die Kirche. In Kaiser und Papst
bekriegten sich der homo bellicosus und der homo
oontemplativus. Daß es auch kontemplative Kaiser
•und kriegerische Päpste gab, ändert nichts an ihrer
repräsentativen Idee. Die rechte Waffe des Papstes
war der Glaube an die Macht des Geistes, die rechte
Waffe des Kaisers war das Schwert. Und gelegent-
liche Verbündungen der beiden Parteien oder ein-
zelner ihrer Teile und gelegentliche längere Waffen-
stillstände beeinträchtigen kaum das grandiose Bild
eines jahrhundertelangen, mit beispielloser Zähigkeit
Eefahrten Kampfes um die Weltherrschaft. Aber
einer der Gegner vermochte den anderen endgiltig
niederzuringen. Der weltliche Staat konnte die wie
eine fressende Flechte in ihm eingenistete Kirche
nicht aus seinem Leibe reißen, und die Kirche konnte
es nicht verhindern, daß weltliches Gehaben und
weltliche Üppigkeit ihr Wesen verfälschten und ihr
Ansehen untergruben. Und während diese beiden
Gewalten sich bekämpften und schwächten, wuchs
eine dritte Gewalt und wurde stark und. stärker.
Das weltliche Königtum hat leibhaftere und
kostspieligere Bedürfnisse als das spartanisch-asketi-
sche Priestertum. Was von Rittersart ist, liebt stän-
y Google
— 44 —
digen Prunk und unbedenkliche Verschwendung. Der
siegreiche Krieger dürstet nach Festen, der Kampf
stachelt die Lebenslust und der Krieg rerschlingt
Güter um Güter. Der Wert des Besitzes steigt in
dem Mafie, als Werte verwüstet und vergeudet werden.
Und je grimmer Staat und Kirche sich befehden, desto
mächtiger macht das Kapitü sich geltend. Bin dritter
Stand, der homo possidens, wächst heran und pocht
als werteschaffendes und wertehäufendes Bürgertum
auf seinen Anteil an der Macht. Die langsame, aber
stetige Entwicklung der kapitalistischen Macht, der
Machtzuwachs des Bürgertums auf Kosten der Aristo-
kratie bildet die Geschichte der Neuzeit. Die Macht
der Aristokratie wurde durch die Revolution ge-
brochen. Von ihr ab war der Militärdienst nicht mehr
Beruf und Privileg des Adels, sondern allgemeine
Volkspflicht. Die Abu)ht des Priestertums wurde durch
die Preisgabe der Wissenschaft gebrochen. Die Wissen«
Schaft wurde aus einer Magd der Kirche ein Spreng-
stoff in den Händen Geistloser. Bin Hilfslehrer der
Physik ist heute, wie Karl Kraus mit furchtbarer
Ironie sagt, jedem Verkünder Gottes über. Aber
Wissenschaft und Wissen sind zweierlei, und der Geist
ist wahrhaftig nicht bei den Hilfslehrern der Physik.
Bs ist für ihn überhaupt kein Raum mehr auf Brden,
und was heute Geist heißt, sind nur zerschüffene und
zerriebene Reste jenes Geistes, der einmal auf Brden
herrschte. Heute heiTScht nicht der Geist sondern der
Leib. Oder vielmehr: heute herrscht nichts und
niemand, sondern alles und jedes ist beherrscht vom
Verlangen nach Besitz und leiblicher Befriedigung.
Der Plutokratie kann nur eine Gewalt sich entgegen-
stellen: die geeinte Masse. Und dieser wird es ge-
lingen, die letzten Unterschiede von Mensch und
Mensch auszuwischen und jenen Brei darzustellen,
der infolge seiner Homogeneität und Dünnflüssig-
keit so gleichmäßig über die ganze Brdkugel zer-
rinnen wird, dafi ein ideales physikalisches Gleich-
y Google
- 46 -
gewicht jede psychische Intervention überflüssig
macht . . .
Theokratie, Aristokratie, Plutokratie, Demokratie.
Herrschaft des Geistes, Gewalt der Kraft, Einfluß des
Besitzes, Gewicht der Masse: das ist der sogenannte
Gang der Weltgeschichte oder der allmähliche Sieg
der Menschenrechte oder der Portschritt der Ent-
wicklung. Man könnte es aber auch den allmählichen
Zerfall der Geistesherrschaft oder das Ersticken des
Geistes unter der Last der Pöbelgesinnung nennen.
Karl Hauer.
Örterreich-Serbieii.
Die ,Vossische Zeitung' hat in ihrer Abendausgabe vom
20. März unter dem Titel »Frühere und jetzige Ansichten des
Ministers Milowanowitsch« einen Artiicel veröffentlicht, der in viele,
deutsche und österreichische Blätter überging und auf telegraphi-
schem Weg sogar in ein Wiener Blatt gelangte. Er lautet:
Es kommt häufig vor, daß Staatsmänner ihre Ansichten wechseln,
aber es ist keine aflt (gliche Tatsache, daß ein aktiver Politiker nach
wenigen Jahren genau das Gegenteil von dem sagt, was er früher als
seine innerste Herzens mein ung zum besten gab. In dieser Lage befindet
sich der gegenwärtige Minister des Äußeren Milowanowitsch. Man kennt
ihn als Verfechter schneidiger, gegen Österreich-Ungarn gerichteter Noten,
als Politiker, der sich in' seiner Rede vom 3. Jänner 19üQ auf den An-
kläger der stets ländergierigen Donaumonarchie hinausspielte. Wie anders
schrieb der Mann, als er noch in Opposition gegen König Milan stand,
an dessen Sturz arbeitete und sich bemühte, Österreich-Ungarn von der
Unterstützung des vorletzten Obrenowitsch abzubringen! Im April 1900
veröffentlichte er in der in Wien erscheinenden, von Karl Kraus ge-
leiteten .Fackel' einen Artikel, in dem er sich zu der Ansicht bekannte,
die erst [üngst wieder von dem ehemaligen serbischen Ministerpräsidenten
Wladan Qeorgiewltsch afisgesprochen wurde, daß es für das serbische
Volk am besten wäre, wenn es unter den Fittichen Österreich-Ungarns
völlig geeinigt würde. Die Kernsätze des Aufsatzes des Herrn Dr.
Milowanowitsch lauten: (Folgt das Zitat.)
Wie sich doch die Zeiten ändern! Ob Milowanowitsch sich als
Minister König Peters noch daran erinnert, was ihm im Kampfe gegen
Milan Obrenowitsch als Heil seines Vaterlandes vorschwebte? Dann
müßte er eine ganz andere Politik befolgen als die des Kampfes gegen
die österreichisch-ungarische Monarchie.
Digitized*by^OOQlC
46 —
Da nun die »Vossische Zeitung' den Namen des
Autors jenes Artikels erfahren hat, der in Nr. 38 der ,Fadcel'
(Mitte April 1900) unter dem Titel »Ooluchowski und Milan« ver-
öffentlicht und damals bloß »von einem Freunde Östeneicfas am
serbischen Hofe« gezeichnet war, so liegt kein Orund vor, hier
den Namen nicht auszusprechen. Wären die Gründe für die Ver-
schweigung nicht längst obsolet, so geschähe es auch heute nicht.
Minister Milowanowitsch war damals unter den Verurtdlten des
Attentatsprozesses und konnte sich bei Lebzeiten eines Obreno-
witsch zur Autorschaft des vortrefflichen und außerordentlich
heftigen Aufsatzes nicht bekennen. Sie war aber in politischen
Kreisen bekannt. Der Aufsatz sei hier bis zu der Stelle wieder-
gegeben, da die Charakteristik des Königs Mibm beginnt. Die Er-
eignisse, die seit der Zitierung durch die ,Vossische Zeitung' ein-
getreten sind, lassen den »Widerspruch«, den sdiließlich neun
Jahre erklären würden, vielleicht dodi nicht zu auffllllig erscheinen.
Werter Herr, Ihre Sendung ist glücklich angelangt, trotz den
Argusaugen unserer Zensur, und die Lektüre Ihrer schönen und mutigen
Artikel über die serbischen Angelegenheiten war sowohl für mich als auch
für aU die Freunde, denen ich die wertvoUe ^ackel'-KoUektion anver-
trauen konnte, eine Genugtuung, ein wahrhafter Qenuß. — Ich persön-
lich war von jeher Austrophile und einer der überseugtesten Mitarbeiter
des verstorbenen Pirotschanatz, des Gründers der serbischen Fortschritts-
partei. Nach der Ernüchterung und den Enttäuschungen des Berliner
Vertrages, nach der Inauguration der neuen Orientpolitik der öster-
reichisch-ungarischen Monarchie, die jetzt mit offenem Visier als Ruß-
lands Rivale in den Balkanstaaten auftrat, hatte sich jene neue politi-
sche Partei, die in ihren Reihen die besten Geister Serbiens vereinigte,
entschlossen, mit allen Traditionen der Nationalpolitik zu brechen und
(las intime Einvernehmen, die vollkommene Solidarität der Ansichten
und der Interessen Serbiens mit der Habsburger-Monarchie in Ihr Pro-
gramm aufzunehmen. Die Idee Pirotschanatz', für die er seine politi-
schen Freunde zu gewinnen wuOte, war, daß es nach den Bestimmungen
des Berliner Vertrages, hinter denen immer das Gespenst von San
Stefano auftauchte, ein Anachronismus sein würde, an eine Herstellung
der nationalen Einheit gegen den Willen Österreich-Ungarns oder auch
nur trotz ihm zu denken, und daß wir in Zukunft vielmehr unsere
ganze Hoffnung auf die Habsburger - Monarchie setzen und begreifen
müßten, daß unsere nationalen Träume in dieser oder jener Form nur
unter ihrer Ägide ihre mehr oder minder vollkommene Verwirklichung
finden könnten. Es dürfte Sie vielleicht überraschen, wenn ich Ihnen
sage, daß ich — trotz alldem, was sich im Laufe der letzten zwanzig
Jahre abgespielt hat und selbst trotz dem letzten Fehler, der, ungeheuer-
y Google
47
ücher und unsinniger als alle anderen der ötterreichiscben OrientpoUtik.
uns zu dem jüngsten Bubenstück des Königs Milan mit all seinen mi-
seligen und verderblichen Konsequenzen verholten hat — nicht ganz
daran verzweifle, daß die Zukunft Pirotschanatz Recht geben wird. Und
was diese Hoffnung in mir wieder aufleben läfit, das sind die Oerüchtc,
die bis ins Wartezimmer des Hofes zu Belgrad dringen : daß die Stellmig
des Grafen Ooluchowski erschüttert sei, und daß dieser Minister, dessen
Unfähigkeit, die Geschicke der Monarchie in so bewegten Zeiten zu
leiten, notorisch ist, binnen kurzem von der ungeheueren Last seiner
Vergehen erdrückt werden wird. Gebe es Gott, sowohl im Interesse
Österreichs als zum Heile unseres unglücklichen Landes, daß diese Ge-
rüchte sich so bald als möglich bestätigen . . .
D«r farblose Kri^.
Der Apparat des modernen Krie|B;e8 ist das Werk
der seltensten Vollkommenheit. Die Technik des Zer-
stOrens ist der des Schaffens weit vorausgeeilt, die
Summe von Geist imd Arbeit, die in Organisation
und Ausrüstung der Wehrmacht zum Ausdruck
kommt, hat kaum ihresgleichen im Bereiche der Kultur.
Besäße die Institution keinen praktischen Wert, als
vollendetes Produkt menschlichen Verstandes allein
müßte man ihr Daseinsberechtigung zusprechen. Ge-
rade diese kunstvollste und befriedigendste Schöpfung
des Geistes findet niemanden bereit, sie objektiv zu
würdigen, und jedes Urteil, das laut wird, ist von
irgend einem Zweckstandpunkt aus gesprochen. Nur
hier, wo Furcht und Argwohn dem Geiste keine Ruhe-
pausen gönnten und wo der Haß sein Ansporn war,
konnte ein so wundervolles Kompositum von Mensch
und Technik entstehen, das alle natürlichen Unzu*
länglichkeiten der Rasse zielbewußt zu korrigieren
scheint. Die Entwicklung der Kriegstechnik gestattet
unter anderem einen interessanten Schluß auf die dem
Menschen eigene Fähigkeit, zu hassen. Jene Geschöpfe,
die dem Haß am fernsten stehen, sind zweifellos die-
y Google
— 48 -
selben, bei denen sich jeder Keim von Wut und
Feindschaft sofort in Klauenhiebe und Bisse um-
setzen darf. Tiger und Schlangen sind gewilB die
gutartigsten Wesen, deren Inneres nichts von Feind-
seligkeit weifi. Den Hafi kennt vermutlich die Taube
am besten. Kruppsche Kanonen und Stahlmantei-
geschosse konnten nur von einer hochentwickelten
Taubenart erfunden werden.
Bei der Verbesserung aller zum Kampfe dienenden
Mittel ist heute nur eine Stelle, die der Fortschritt
nicht berührte. Alles, Waffen, Kleidung, Vorschriften,
es wurde geändert, ist verstandesmäßiger, zweck-
dienlicher geworden. Nur eines blieb. Das sind die
altehrwürdigen Kriegs- und Schlachtgefühle, die
seelischen Monturstücke, die nun einmal zur Aus-
rüstung des Mannes zu gehören scheinen. Da
mufi stets eine gewaltige Ration von Begeisterung
vorhanden sein, eine ansehnliche Menge von rühren-
den Gefühlen und schönen Überzeugungen, die alle
als unantastbar p;elten wollen. Der moderne Krieger
schleppt noch immer den Qlauben im Tornister
mit, für die bessere Sache zu kämpfen, Haus und
Herd, Weib und Kind zu verteidigen, für Symbole
aller Art zu streiten. Ja, er trägt so viele Fahnen,
daß fast die Gefahr vorhanden ist, er könne das Tragen
der Waffen vernachlässigen. Und allgemein herrscht
der Aberglaube, dafi dieser eiserne Vorrat von Ge-
fühlen eben mitgeführt werden mufi, um die Kampfes-
tüchtigkeit zu nähren. Das ist ein Irrtum. Dringend
würde sich schon heute eine zeitgemäfiere, praktischere
Kriegsausrüstung für die Gemüter empfehlen; die
noch geltende ist für Säbel und Lanze, für Balliste
und Sturmbock komponiert, sie pafit nicht mehr zum
Infanterie^ewehr und zur Feldkanone M. 5. Was hat
die Begeisterung im modernen Kriege zu suchen?
Als das Kriegführen noch im Dreinschlagen bestand,
da hatte sie ihren Zweck. Begeisterte Hiebe waren
stärkere Hiebe, die Begeisterimg setzte sich in Arbeit
y Google
49 —
uro, war nach Kilogrammetern zu messen. Sie be-
deutete ein Mehr an Kraft für die Armee und zwar
einer Kraft, deren Herstellung im Vergleich zu der
aus Fleisch und Konserven erheblich billiger war.
Aber heute? Soll der Mann mit Begeisterung zielen,
mit Begeisterung den Hahn drücken, begeistert
jede Deckung benützen? Das wäre durchaus
verfehlt und würde die TrefTresultate bedeutend
vermindern. Und das eben ist die Lehre der Zeit für
den bürgerlichen Beruf und für jede erfolgreiche
Tätigkeit gewesen: Ruhe, Sachlichkeit, Pflichtgefühl.
Kein Rausch, kein Zuviel an Wollen und Versuchen
verspricht Erfolg. Die Zeiten des Affektes sind vor-
über, und wo immer ernste Arbeit geleistet wird,
wird sie nüchtern geleistet. Es ist ein schwerer
Fehler, der Kriegsarbeit eine Ausnahmsstellung zu-
zuweisen, auf die Errungenschaften von Nüchternheit
und Pflichtbewufitsein bei der Erziehung des Soldaten
zeitweise zu verzichten und den traditionellen Rauschzu-
stand anzustreben. Auch der Beruf des Krieges erfordert
heute jenen ganzen Mann, der seine Gedanken auf
ihn und nur auf ihn, nicht aber auf ideale Dinge
richtet, mögen diese nun an sich vorhanden und sehr
wertvoll sein oder nicht. Das bürgerliche Leben lehrt
die Erfüllung von Pflichten. Die grofien Leistungen
unserer Zeit haben ihren Ursprung fernab von allen
Symbolen und aller Begeisterung in der Pflicht. Es
ist unsinnig, für den Krieg ein Gedankenreich zu
schaffen, wo die Pflichten an zweiter Stelle und
aller mögliche, ehrwürdige Hausrat an erster steht.
In jener ist der heute lebende Mensch zuhause,
hier hat er gelernt, seinen Mann zu stellen, und er
wird ihn im Kriege stellen, wenn er merkt, dafi er
nicht plötzlich in fremden Regionen lebt, sondern es
mit nichts anderem zu tun' hat, als mit der alten,
wohlbekannten, nüchternen Pflicht. Soll gerade die
Armee für das Zuviel an Nüchternheit in allen
andern Lebenskreisen schadlos halten? Oberall sonst:
y Google
50
Zahlen, hier allein Gefühl. Mit einem Sohlase steht
der Mann in einer andern Zeit. Die poetiscme Eän-
kleidung und der ganze Rausch, sie bergen die
große Gefahr eines Mißverständnisses in sich, das
folgenschwer werden kann. Sie könnten leicht eu der
Annahme verleiten, es genüge, Paradegefühle mit sich
zu führen, jene andere geistige Montur aber, die sonst
im Lebenskampf getragen wird, eben die der Pflicht,
sei nicht erforderlich nir den Krieg. Nichts ist be-
denklicher, als dem Soldaten die Situation als fremd-
artig und ungewöhnlich darzustellen, den Krieg als
einen Ausnahmszustand, der neue und unerhörte An-
forderungen an ihn stellt. Krieg und Frieden dürften
ihm nicht als Gegensätze erscheinen, denn sie haben
das Gemeinsame der Arbeit für ihn. Es ist höchst
unnötig, ihn außer mit Musik auch noch mit Hoch-
gefühl marschieren zu lassen, weit wichtiger wäre
es, ihm zu Bewußtsein zu bringen, dafi der Kampf
und die Selbstverteidigung keine Steuer sind, die
ihm eine Regierung auferlegte, dafi diese Steuer
von alters her auf jedem lebenden Wesen lastet
und die Form, in der sie heute entrichtet werden
kann (Einschränkung auf die körperlich geeigneten
Personen und bei diesen auf eine bestimmte Anzahl
von Jahren) bereits eine der wertvollsten Errungen-
schaften des Staates, eine der wichtigsten Entlastungen
für seine Angehörigen bedeutet.
Man bemüht sich in der Regel einer Armee
Gutes nachzusagen, indem man ihre Gefühle lobt;
man vergifit dabei häufig genug ihren eigentlichen
Wert: die Arbeitsleistung, die von ihr repräsentiert
wird. Jahrzehntelang hat diese Organisation die
Arbeitsleistung von Hunderttausenden in sich auf-
genommen ; und ein Teil von diesen, der an Intelligenz
und Arbeitswilligkeit keiner anderen GesellschaftskUsse
nachsteht, hat die Arbeitskraft des ganzen Lebens '
in ihr niedergelegt. Diese ganze Summe einer ernsten
Arbeit der Jahrzehnte ist in der Armee auf
y Google
— 51 —
ge^eichert. Wie kann es dazu kommen, dafi man das
übersieht und plötzlich anfängt, Rauschzustände gegen
einander abzuwägen und nicht Arbeitswerte? Dafi
man zum Beispiel die Möglichkeit erörtert, dieser stillen
Arbeit könnte durch eine andere, die sich geräusch-
voll und fieberhaft in wenigen Monaten vollzieht,
an der eine weit geringere Zahl von Menschen be-
teiligt ist, auch nur annähernd die Wage gehalten
werden?
Eine solche kindliche Verkennung von Arbeits-
wert, und Arbeitskraft wird sich diese Zeit nirgends
sonst zu Schulden kommen lassen, wo ihr die Arbeit
in einem minder bunten Qewande entgegentritt. Denn
diese Verkennung schliefit ein heute beispielloses
Unverständnis für Arbeit und ihren Wert in sich.
Das eben ist die Folge des Fehlers, dafi man den
Krieg und alles mit ihm Zusammenhängende gar
nicht im Lichte der Gegenwart sieht, sondern in
einem mystischen Dunkel vergangener Zeit, und daß
man, zögernd auch auf ihn die Lehren und das
Wissen unserer Zeit zu erstrecken, mit veralteten
Maflstäben an seine Beurteilung herangeht. Man mag
die Vergangenheit ungern schwinden sehen, mag die
bisherige Auffassung des Kriegswesens als letzten
Rest schönerer Zeiten bewundem, in denen die Er-
eignisse mehr Qlanz und Farbe hatten. Wer heut
den Erfolg will, wird auch die Gesetze dieses Heute
studieren müssen. Die Bilderbogen des Krieges haben
sich stark verändert, seitdem in Europa die letzten
Schlachten geschlagen worden sind, es wäre an
der Zeit, auch an den psychologischen Bilderbogen,
die noch die alte Malerei tragen, die notwendigen
Korrekturen vorzunehmen.
Otto Soyka.
>
y Google
-^ 52 -
Anakreontisches LiedeL
Immer bleibst du, wer du bist,
Nimm das Leben, wie es ist.
Wo du Rosen siehst im Garten,
Brich sie, und laß sie nicht warten.
Und im Sommervollmondschein
Laß dein Mädchen nicht allein.
Trinke in der Preundeskette,
Trink mit ihnen um die Wette,
Trinke bis ans Morgenrot,
Trinke bis an deinen Tod.
Diese Regeln sind nicht zierlich,
Aber auch nicht unmanierlich.
Jedenfalls, und das bleibt wahr.
Wer nicht bechert, bleibt ein Narr,
Wer nicht küßt Marie, Susanne,
Heute Bertha, morgen Anne,
Wer die Rosen läßt verwehn,
Eh er ihren Duft genossen.
Mag getrost zur Hölle gehn —
Denn der Himmel bleibt verschlossen
Allen denen, die auf Erden
Unbefriedigt müpsen sterben.
Immer bleibst du, wer du bist.
Nimm das Leben, wie es ist.
Detlev von Liliencron.
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- 68 —
Jngendromane.
Dafl dem Esel Disteln besser schmecken, als
Himmelsschlüssel und Märzenbecher ist von seinem
Standpunkt durchaus begreiflich. Und wer sich von
eines Grautieres Geschmack die eigene Nahrung
ordinieren läßt, . . .
Der Yah-Ruf ist eine Kritik, aber er wird
immer auch zur Parole. Denn selbst die einsil-
bigste Dummheit mufi noch nachgeahmt werden.
In dem Rezensentengeschrei ist letzthin ein ernst-
liches Widerstreben gegen Primeln und Märzenbecher
zum Ausdruck gekommen. Das graue Elend hat sich
gegen die Jugend gewehrt, die Kritik hat sich gegen
die Jugendromane ausgesprochen. Immer wieder müsse
nan — Rezensenten sind auch »mant — diese
Dichter von der Jugend erzählen hören. In der ganzen
Literatur halle es von Kinderstubengeschrei, Knaben*
torheit imd Entwicklungsschmerzen und ein besonders
Tiefer meinte, die Schuld daran liege wohl in der
mächtigen Bewegung unserer Tage »für das Kinde
Wie viel wichtiger seien doch die Schicksale und
Kämpfe des Mannes und was dergleichen Stoßseufzer
nach den Disteln mehr waren.
Nichtsdestoweniger erdreistet sich die Kunst, nur
die Nahrung zu nehmen, die ihr zusagt. Das ist das
naive Problem des »Stoffesc in der Dichtung. Das
>Was€ ist eine höchst persönliche, geheimnisvolle und
selbstverständliche Sache jedes Einzelnen, nur das
»Wiet entscheidet über sein Recht und Unrecht. Die
siegende Notwendigkeit macht die einzige Moral des
künstlerischen Zwanges aus. Es gibt keinen guten
oder schlechten Stofif der Poesie an sich. Und viel-
leicht war es die großartige Instinktgebundenheit der
Kunst, die uns zur Einsicht verhalf, daß es auch
keine an sich gute oder schlechte Handlung gibt,
y Google
— 54 —
«ondern dafi jede erst durch die Persönlichkeit ihr
Wertzeichen erhält. Die einzige Unsittlichkeit der
Kunst ist das vergebliche Wollen und erst beim frag-
würdigen Werke gibt es eine gerechte Frage naä
dem Stoffe.
Freilich enth< das Leben selbst, die Quelle und
Ifahrung und Bedingung jedes Gestaltens, gewisse
•ich immittelbar bietende Motive, deren Ergiebigkeit
unbedingt nach der schöpfenden Hand verlangt Vet-
möge ihrer Sinnfälligkeit und Gegebenheit üben sie
den stärksten Reiz, aus ihrer typischen Masse
das Besondere, aus ihrer Allgemeinbedeutung das
ludividuelle zu lösen.
Zu diesen ökumenischen Motiven gehören vor-
^glich die Probleme der Lebensalter selbst, die ganz
geheimnisvoll mit der Natur der dichterischen Formea
▼erwachsen sind. Schon in der äufierlichen Unter-
scheidung: Epos und Drama, erkennt man Unter-
schiede von Lebensstufen selbst Der jedem Alt^
innewohnende Rythmus, das jeweils veränderte Mai
von Instinkt und Bewußtheit bedingt diese Ausdrucks-
flormen. Die dialektische Gegensätzlichkeit des Lebens,
die dramatische Nötigung zum Austrag entspricht
dem Mannesalter. Das unendlich wechselnde Vorüber-
fliehen von Ereignissen und Figuren an den wahlles
aufnehmenden, lustvoll geduldigen Sinnen ist der
epischen Natur der Jugend geroäfi.
Wie selbstverständlich, dafi der epische Dichter
vor allem die epische Zeit erfafit. Die Erlebnisse der
Jugend, das ungeheuere Anwachsen der Tag um
Tag sich steigernden Erscheinungswelt, die Macht
und Willkür ihrer Deutung, das Zusammendrängen
einer unermeßlichen Erfahrungsreihe in einen knap^
sten Zeitraum, die allmähliche innere Erleuchtung
und Ordnung der Bilder zu Wesenheiten, Gliede-
rungen, Notwendigkeiten, dies alles ist eine so groft-
mrtige Gegebenheit des Schicksals, daft der Dichter
an der Betrachtung der Jugend des Weltgeschehens
y Google
— 55 —
selber und an der bewußten Nachschöpfung des Jugend-
erlebens des Mafies der Realitäten selbst inne wird.
Es ist der eigentliche Zauber des Epischen:
Alles menschliche Treiben und Qetriebenwerden, Tun
und Leiden in seinem Neben- und Ineinander wird
freudig umfaßt und alles Dunkle, Grauen, Tod und
Chaos erscheint als lustvolle Buntheit. DieKonfltkte,
und führten sie bis zur Vernichtung, erneuen sich in
unerschöpflicher Wiedergeburt, die Pein der Erfah-
rungen hat nur die freudige Folge immer wieder
erweckter Anschaulichkeit. Im Epos triumphiert alle
Vielstimmigkeit und Unverwüstlichkeit der Existens.
Und dies alles ist Wesen und Vorrecht der Jugend.
Ihr allein ist die wunderbare Widerruflichkeit und
Wandelbarkeit der Anschauung und Wertung gegönnt,
nur Ton ihrer Schultafel wird jedes bittere Erkennen
hurtig ausgelöscht, während der nächste Eindruck
eine neue geduldige, reine Fläche findet, sich
darauf einzuzeichnen. Das treueste Gedächtnis ge-
hört dem flüchtigsten Gemüte an, welches aus
jeder Nahrung Gewinn zieht, aus Träumen Wahr-
heiten, Hoffnungen aus Enttäuschungen, Erfüllung
aus Verzichten, heiliges Ungenügen aus allem
Erreichten • schöpft. Wenn es Sache des Dichters ist,
aus einer kleinen Wirklichkeit eine grofte, aus einem
Tropfen von Erlebnis ein Weltmeer von Inhalt, aus
einem gelegentlichen Eindruck eine Ewigkeit Ton
Stimmung, aus einem vereinzelten Samenkorn von
(Geschehen einen Baumriesen von Schicksal er-
wachsen zulassen, so gehört all diese geniale Willkür
der Jugend zu, als der einzigen Epoche, wo jeder
Mensch, Freiheit, Unbewachtheit und Gesundheit
vorausgesetzt, sich schöpferisch, also genial bewährt.
So scheint die Jugend allein und unbedingt dem
Dichter inmitten der rationalen Dürre, auf die er-
wachende Frage nach seinem Wert und Sinn die
heitere Bejahung zurückzugeben, deren er bedarf.
In ihr findet er die geheimnisvolle Rechtfertigung
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66
seiner Funktion, seine menschheitliche Billigung.
Ist dieses Alter der willkürlichen und selbstherrlichen
Wertungen um, so beginnt der törichteste Eirnst des
Lebens, der das gewaltige Spiel des Schaffens um
seiner selbst willen zu nehmen unfähig, fordert statt
Bu empfangen und mit Nutzbarkeiten und Zwecken
durch das Inkommensurable pflügt.
Kein Lebensalter hat einen so weiten Horizont
wie die Jugend und keinem hat wie sie die Flügel,
ihn ganz zu durchmessen. Dichtung und Dichter
werden in ihr eins und mit der Sehnsucht nach der
Jugend strebt die Seele des Schaffenden gleichsam
nach ihrem natürlichen Leibe, nach ihrer wesenhaften
Erfüllung zurück.
Nun ist das mit dem Namen »Jahrhundert des
Kindesc stigmatisierte Zeitalter freilich auf dem
besten Wege, der Jugend ihre Seele, der Dichtung
ihr Paradies zu verleiden. Das kindische Treibender
Erwachsenen droht nachgerade mit einer Sentimen-
talität, die Rohheit und Dummheit selbst ist, das
Kindliche auszurotten, es beleuchtet elektrisch die
Märchendämmerung der Kinderstube imd nötigt der
Phantasie innerer Gesichte seine eigenen Brillen auf,
durch welche die Jugend künstlerische Bilderbücher
SU würdigen bekommt. Dem geheimnisvollen Ringen
der Seele mit den drohenden Qewalten der Sprache
und der Wirklichkeit antwortet das idiotische Lallen
und Nachäffen der herablassenden Erwachsenheit,
welche den Schritt des Frühlings hygienisch gängelt
und die herrlichen Schluchten des Erlebens elmet.
Human sollen die notwendigen Schrecknisse des
Heranwachsens vermieden, aus dem Urwald ein ärm-
licher Qarten zugerodet und eine chinesische Mauer
vor die Unendlichkeit der Welt gebaut werden, se
dafi all die wahrhaften Ungeheuer, denen das Kind
allein mit dem gerechten Entsetzen der Intuition
gegenübersteht, zu kümmerlichen Popanzen ein-
dorren. Mit- und wehleidig verdirbt die reife Torh^t
^^^ Digitized by VjOOQ IC
das erhabene Grauen des Erlebens zum Ammen-
märchen und ist drauf und dran, aus der Geschichte
des menschlichen Daseins den ersten und letzten
Traum zu vertreiben. Die geistige Unzucht des
Bationalismus demokratisiert jene letzte sagenhafte
Welt der adeligen Kämpfe, Vorrechte und Freiheiten
und unterwirft sie der eklen Humanitätsfolter der
Bewußtheit, Zweckmäßigkeit und Spitalssterilität.
Welch ein Trost, dafi es noch Bazillen gibtl Die
Bürgschaften der Hygiene breiten das graue Leichen-
tuch der Sekurität über ein kindisches Jahrhundert.
Sicherlich ist es ein Zeichen dieser Zeit, dafi
die Jugend als epischer Urstoff noch einmal mit
solcher Vielstimmigkeit von allen Seiten her auf-
klingt, wie ein letzter Ruf, eine Frage des Schicksals.
Noch einmal wenden die Dichter ihren Blick nach
dem Morgenrot. Indessen weiden die Esel im Spitals-
garten und treten die letzten Primeln und Märzen-
becher als unnütze Gewächse mit Füfien.
Otto Stoessl.
Tagebach.
Mir träumte neulich, die Völker Europas
wahrten ihre heiligsten Güter gegen die schwarz-
gelbe Gefahr.
Sollte man, bangend in der Schlachtordnung des
bürgerlichen Lebens, nicht die Gelegenheit ergreifen
und in den Krieg desertieren?
*
Es liegt nahe, für ein Vaterland zu sterben, in
welchem man nicht leben kann. Aber da würde ich
als Patriot den Selbstmord einer Niederlage vorziehen.
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— 68 —
Bildung ist das, was die meisten empfaDgen,
viele weitergeben und wenige haben.
•
Es kommt nur darauf an, sich zu konzentrieren,
dann findet man das Beste. Man kann aus dem
Kaffeesatz weissagen, ja man kann sogar im Anblick
einer Frau auf Gedanken kommen.
•
Ober Zeit und Raum wird so gesehrieben, ah
ob es Dinge wären, die im praktischen Lieben noch
nie eine Anwendung gefunden haben.
•
Philosophie ist oft nicht mehr als der Mut, in
einen Irrgarten einzutreten. Wer aber dann auch
die Eingangspforte vergifit, kann leicht in den Ruf
eines selbständigen Denkers kommen.
•
Wer von Berufswegen über die .Gründe des
Seins nachdenkt, mufi nicht einmal so viel zustande-
bringen, um seine Füfie daran zu wärmen. Aber
beim Schuhflicken ist schon manch einer den Gründen
des Seins nahegekonnnen.
•
Moral ist die Tendenz, das Bad mit dem Kinde
auszuschütten.
«
Dafi Hunger und Liebe die Wirtschaft der Welt
besorgen, will sie noch immer nicht rückhaltlos zu-
geben. Denn sie läfit wohl die Köchin das grofie Wort
führen, aber das Freudenmädchen nimmt sie bloft
als Aushilfsperson ins Haus.
•
Die Kinder würden es nicht verstehen, warum
die Erwachsenen sich gegen die Lust wehren; und
die Greise verstehen es wieder nicht.
y Google
— 69 —
Wenn sich die Sünde rorwagt^ wird sie Ton
der Polizei verboten. Wenn sie sich rerkrieoht, wird
ihr ein Erlaubnisschein erteilt.
Ich kannte einen Don Juan der Enthaltsamkeit,
dessen Leporello nicht einmal imstande war, eine
Liste der unnahbaren Weiber zusammenzustellen.
•
Moderne Musik : Im weiten Reich der Melodien-
losigkeit ist es schwer, als Plagiator erkannt zu werden.
Wenn ein Denker mit der Aufstellung eines
Ideals beginnt, dann fühlt sich jeder gern getrofiTen.
Ich habe den UntermenBchen beschrieben — war
sollte da mitgehen?
•
Ein Qedankenstrich ist zumeist ein Strich durch
den Gedanken.
Als ich las, wie ein Nachahmer das Original
pries, war es mir, als ob eine Qualle an Land ge-
kommen wäre, um sich über den Aufenthalt im Ozean
günstig zu äufiern.
Er hatte so eine Art, sich in den Hintergrund
zu drängen, dafi es allgemein Ärgernis erregte.
•
Ich stelle mir vor, dafi ein unvorsichtiger Kon-
sistorialrat bei der Liebe Pech hat und sich die
Masern zuzieht.
Als die Wohnungsmieter erfahren hatten, dafi
die Hausbesitzerin eine Kupplerin sei, wollten sie
alle kündigen. Sie blieben aber im Hause, als jene
ihnen versicherte, dafi sie ihr Qeschäft verändert
habe und nur mehr Wucher treibe.
y Google
— 60 -
Der SkepÜBisifius hat sich vom >Que sais-jefc
bis zum »Weift ich?« entwickelt.
•
Ein modernes Kind lacht den Vater aus, der
ihm Ton Drachen erzählt. Es ist notwendig, daS daa
Gruseki ein obligater (Gegenstand wird; sonst lernen
sie es nie.
Mit Leuten, die das Wort »effektive gebrauchen,
Terkehre ich grundsätzlich nicht.
•
Es tut mir im Herzen weh, wenn ich sehe, daft
der Nutzen des Verrats an mir geringer ist als der
Schaden meiner Verbindung,
Wenn einer keine Jungfrau bekommen hat, ist
er ein gefallener Mann, er ist fürs ganze Leben
ruiniert und hat mindestens Anspruch auf Alimente.
Schein hat mehr Buchstaben als Sein.
Frage deinen Nächsten nur über Dinge, die du
selbst besser weifit. Dann könnte sein Rat wertvoll sein.
Ein Plagiator sollte den Autor hundertmal ab-
schreiben müssen.
Allerorten entflieht man dem Druck des
Philisteriums. Ich kannte eine, die heimlich vom
Theater durchgegangen ist, um nachhause zu kommen.
Die Zerstörung Sodoms war ein Exempel. Man
wird durch alle Zeiten vor einem Erdbeben Sünden
begehen.
Der Teufel ist ein Optimist, wenn er glaubt,
dafi er die Menschen schlechter machen kann.
y Google
— 61 —
Es muft einmal in der Welt eine unbefleckte
Empfängnis der Wollust gegeben haben!
•
Wer weifi, was bei uns zuhause vorgeht, wenn
niemand im Zimmer ist? Man kann freilich nicht
wissen, ob es Geister gibt. Denn sie sind eben in
dem Augenblick, wo dfui Wissen beginnt, auch schon
vertrieben.
Die Sprache sed die Wünschelrute, die gedankliche
Quellen findet.
Einer, der immer Aphorismen schreiben könnte
und sich in Aufsätzen zersplittern mufi I
Der Ekel findet mich unerträglich. Aber wir
werden erst auseinandergehen, wenn auch ich von
ihm genug bekomme.
Karl Kraus.
Offener Brief an den Herausgeber der ,PackeP.
Ich habe schon immer das Bedürfnis gefühlt,
die tiefe Dankbarkeit, di» mich gegen die , Fackel^
beseelt, auch einmal in der Öffentlichkeit auszusprechen.
Und ich hätte es schon längst getan, wenn nicht
Krankheit und widrige Umstände denen zu Hilfe
gekommen wären, die sich heute dazu beglück-
wünschen, Sie und Ihr Werk nunmehr zehn Jahre
lang treu und unverbrüchlich totgeschwiegen zu haben.
Freilich mag mancher der Gratulanten seufzen:
»Zehn Jahre totgeschwiegen und noch nicht tot!<...
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— 02
Und es ertönt ein gellendes Schweigen an der toII-
besetzten Tafel der Reporter.
Ich aber, Herr Kraus, bitte Sie um Entschuldi-
gung, dafi ich, wo jene schon zehn Jahre schweigen,
heute zum erstenmal über Ihre Sache rede.
Hier in der ,Fackel^ sind wir ja gottlob unter
uns. Und manchen, der im Wolfspelz hier hereinkam,
haben Sie, da er sich als Schaf entpuppte, wieder
hinausgetrieben. Die Luft ist also rein. Wir sind zu
Hause, und ich kann meine Gefühle äufiem, ohne
fürchten zu müssen, dafi ungebetene Qäste mich
hören. Und eine Fackel erleuchtet wie immer das
Transparent über unserer Türe — in deutlichen
Lettern erglänzt die liebe Inschrift: Odi profanum
irulgus et arceo . . .
Wie ich dieses Haus liebe I Wie von Herzen ich
es liebe I Erinnern Sie sich noch, wertgesch&tzter
Freiyid, wie ich hier zum erstenmale Zuflucht fand? —
Es ist eine schwere Erinnerung . . .
Damals war es, als das deutsche Volk Tor
Freude grunzte, weil es mit seinem Rüssel an gräf-
lichen Ehebetten schnuppem durfte. Und diese, schon
seit ihrer Gründung pensionsberechtigte Nation von
Militäranwärtern, Assistenten und anderen Dienstboten
erschauerte in Triumphgefühlen, als endlich ein
wirklicher Fürst ins Gefängnis geschleift wurde.
Wenn er auch schon halbtot war — es war ein Fürst,
ein Fürst. Und der demokratische Pöbel forderte, dafi
das Gesetz alle gleich gemein behandle . . . Dank-
bar schlugen alle Herzen dem Harden entgegen.
Nie habe ich deutlicher empfunden, dafi mir
Gott wohl will und dafi ich von ihm besonders
begnadet bin. Denn gerade zu dieser Zeit, als ich
aufschluchzte vor Empörung über einen solchen An-
schlag gegen die Freiheit des Privatlebens und er-
glühte vor Scham, einer Nation anzugehören, die ihn
guthiefi — gerade damals fand ich die ,Fackel'.
Das bedeutete wahrlich ein tiefes Erlebnis. Und
y Google
63
seitdem weifi ich Horden und dem deutschen Volk
Dank für die Schande.
Denn ein ungeheurer Ekel und Zorn waren die
stoffliche Vorbedingung zu einer so machtvolle»
Polemik wie die es ist, die Sie, Karl Kraus, gegen
Barden geführt haben. In dieser Polemik wurde
die Vornehmheit Ihrer Gesinnung nur Ton der edlea
Kunst Ihrer Sprache übertroffen. In der Tat ist meine
Meinung, dafi die deutsche Literatur keine polemisch«
Leistung aufzuweisen hat, die an künstlerischem
Werte der Ihrigen auch nur gleichkäme. Selbst
Schopenhauer hat, um von den welthistorischen
Sprachkünstlem zu reden, nicht besser polemisiert
Das Entzücken, mit dem ich damals die ,Facker las,
war noch größer als meine Wut über die Kultur-
schmach der Deutschen.
Jemand, den Sie auch kennen und der Ihne»
wfthrend Ihrer Harden-Polemik auf eine noble Weis«
Reverenz erwiesen hat, sagte mit Recht: wenn Sie der-
gleichen in Frankreich geschrieben hätten, wäre dieses
Land der geborenen Sprachkenner in Ekstase geraten.
In dieser Polemik offenbarte sich mir auch
deutlich Ihre einzigartige Stellung in der Literatur.
Die Literatur hat keinen Platz für das, was für den
Taggeschrieben wird. Sie haben über den Tag, gegen de»
Tag geschrieben, niemals für den Tag. Die Aktualität war
Ihnen nie Selbstzweck ; Sie haben über die Aktualität
geschrieben, weil sie Ihren moralischen und künstleri-
schen Ewigkeitswerten auf eine Sie empörende Weise
widersprach. Was man für den Tag schreibt, vergeht;
auch wenn man dabei — was sehr selten ist — den Stoff
in eine gute Form meistert. Was man gegen den Tag
schreibt, besteht. Ihre Harden-Polemik, Ihre Schrift
Aber den Veith-Prozefi und soviel anderes gehören
lur Literatur und haben mit dem Journalismus nichts
gemeinsam. Dies für alle, die Sie etwa verwechseln
und Ihren Feldzug gegen den Journalismus entwerte»
■lochten.
y Google
^^ ^) -ö^^^t VJI.
— 64 —
Und nachdem ich Ihrem Kampf für die Sezitti>**
freiheit während der Prozesse des Harden mit m
inniger Vreade beigewohnt hatte^ habe ioh aBu Ihren
früheren Kämpfen nachgespürt.
Ich lube alle Jahrgänge der ^PackeP in einem
Zuge und mit steigender Dankbarkeit dm^geleeen.
Man kamt nicht sagen, daß mich der aktuelle AnlaS
au Ihren Polemiken dabei gefesselt hätte; denn der
lag weit zurück und oft kannte ioh ihn gar nicht.
Aber was Sie sa^n, interessierte mich; denn ich
bewunderte, wie Sie es sagten.
Freilich, lieber Freund, müssen Sie mir erlauben,
Ihnen nicht nur meine ästhetische Freude auszu-
sprechen, sondern auch meine Sympathie im Bach*
liehen. Wenigstens in einer Beziehung müssen Sie
mir dies erlauben! Ich liebe die Frauen. Und von
gestern auf heut hat mir geträumt, dafi mich alle
die Frauen, denen während der letzten zehn Jahre
die Schändlichkeit einer Sexualjustiz in Gericht und
Gesellschaft die Ehre abgesprochen hat, mich bitten,
Sie in ihrem Namen heute besonders herriich zu
grüfien. Denn Sie allein haben die Ehre dieser arm^i
Opfer verteidigt. Es sind Frauen aus Gefängnissen
darunter. Seien Sie, Herr Kraus, ihnen gegenüber
nicht ein unerbittlicher Artist, dem die traurigen
Erlebnisse dieser Frauen nur Stoff * zur künstleri-
schen Gestaltung waren! Seien Sie menschlich und
empfangen Sie ihre GrüBe huldvoll! Und nehmen
Sie auch meine und die Glückwünsche einer Freundin,-
die ihnen sagen läßt, dafi Sie der ritterlichste Schrift^
steller sind, den sie jemals gelesen hat.
Ihr dankbarster Leser
Karl Borromaeus Heinri<
München, Ende März 1909.
Heraiu£et>er ond vcrantvortlicbo- Redaktenr: Karl Kr tut.
Druck von fahoda 8c Slecel, Wi«, III. Hintere ZoUamt»tnfle S.
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CARL GÖLSDORF.j(i^k.uJc.HorileParan^
d, Budapest V. h-len PC ^^^!^^ KrondorF. Berlin.
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OBSERVER, fj«ji, L CoDwrdUpIiti Nr. 4 (Telephon Rr. «80
versendet Zeitungsausschnitte Ober jedes g;ewanschteTheraa.Man verlange Prospekte
Heransrcber: KARL KRAUS.
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sondern auf eine beatlmmte Ani^ahl von Nummern.
Verlag: Wies, III., Hintere Zollamtastraße Nr. 3.
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Das nächste Heft dürfte erst
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