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Full text of "Die Fackel"

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► 


rSltA$  VRlGHt  bUNNiNG  1 

BEQUEST 
lUNlVERSlTY  or  MICHIGAN 

^.^         CtENERAL  LIBRARY      ^^ 


3  by  Google 


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Die  Fackel 


Herausgeber  t 


KARL  KRAUS. 


INHALT: 


lA^dr  alte  Tepp.    Vou    I 
TDflecre.    \ nu  Kar!  Haii-  . 

Ö.  Q.  Z.  B.  D.  a.  Von  Karl  Krai 


uih.    —    Staatliche  Kuhb 
Sexuelle  Aufklärung,  v. 


Erscheint  in   swangloeer   Folge. 


Preis  der  einielnen  Nummer  30  h« 


vrtrbsffllßlget  Verleihen  rerbotcii;  gerkhUlclie  Vtcf^ifon; 
forbehaltea. 


vorliegenden,   250.    Nummer     der 
,Fackel*,  mit  der  der  X.  Jahrgang  er- 
öffnet wird,  liegt  das  Inhaltsverzeich- 
nis des  XXX.  Bandes  hei 


In  zweiter  Auflage  erschienen ; 

Sittlichkeitu.  Kriminalität 

i.  Band  der  Aasgewählten  Schriften 


\'(>r) 


Broschiert      —     —  K  7.20        ?ik    3. 

Ganzleinen  —    —    —     „  8.70  7.25 


Bestellungen  auf  das  im  Verlag  der  Buch- 
idlung  L.  Rosner,  Wien  und  T  ig, 
chienene     Werk     nimmf  i-h- 

idlung  sowi'     '       --    ^  p 

fen,  III/..  Hii 


Die  Fackel 

Der  alte  Tepp. 

Der  Abgeordnete  Bielohlawek  hat  Tolstoi  einen 
»alten  Teppen«  genannt.  Das  ist  nicht  zu  entschuldigen. 
Denn  der  Abgeordnete  Bielohlawek  hat  von  Tolstoi 
keine  Ahnung,  zu  golchem  Urteil  aber  könnte  einer 
nur  auf  Orund  genauer  Kenntnis  des  Tolstoischen 
Wirkens  gelangen.  Und  auch  dann  wäre  der  Aus- 
druck unziemlich.  Es  geht  nicht  an,  und  widerspricht 
auch  durchaus  den  parlamentarischen  Sitten,  dem 
Altersschwachsinn  einer  Persönlichkeit  von  europä- 
ischem Ruf  so  respektlos  zu  begegnen  und  eme 
die  Kultur  umfassende  dementia  mit  einem  so  rüden 
Wort  abzutun.  Herr  Bielohlawek  kennt  von  Tolstoi 
wahrscheinlich  nicht  mehr  als  den  einen  Ausspruch, 
den  Herr  Pemerstorfer  zitiert  hat.  Und  gerade  dieser 
Ausspruch  ist  bei  weitem  nicht  das  Unsinnigste,  was 
Tolstoi  in  den  letzten  Jahrzehnten  verkündet  hat. 
Auch  in  der  allgemeinen  Fassung,  und  nicht  blofi 
auf  Rußland  bezogen,  hat  die  Sentenz,  dafi  die 
Wohnung  der  anständigen  Menschen  das  Gefängnis 
sei,  eine  gewisse  Berechtigung.  Man  mufi  nur  von 
der  härenen  Kittel-Ergebenheit,  die  im  Besitz  von 
Millionen  nach  einem  Martyrium  lechzt,  ein  wenig 
absehen,  dann  könnte  Tolstois  Wort  immerhin  die 
Wahrheit  erschliefien,  dafi  weniger  unanständige 
Menschen  im  Qefängnis  sind  als  auf  freiem  Fufi.  Es 
war  also  mindestens  leichtfertig,  auf  diesen  einen 
Ausspruch  ein  Urteil  zu  gründen,  zu  dem  gewifi 
r  ein  gewiegter  Kenner  dessen,  was  uns  der 
tsische  fiTeiland  etwa  seit  der  Kreuzersonate  offenbart 
b,  berufen  wäre.  Herr  Bielohlawek,  der  es  sich 
ast  trotz  allen  liberalen  Dünkelmännern  zum  Yor- 
g  anrechnen  darf,  vom  Mutterwitz   statt  von  der 


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—  2  - 


Bildung  seine  Urteile  zu  beziehen,  hat  sich  ausnahms- 
weise auf  ein  Gebiet  begeben,  auf  dem  nur  den 
Emgeweihten  eine  Meintmg  zusteht  Die  Schützer 
der  Bildung  durfte  es  empören,  daß  über  einen 
Weltweisen,  an  dem  man  mit  dem  Hut  in  der 
Hand  eine  respektable  Absohwäohung  der  Gehirn- 
tätigkeit  feststellen  mufi,  ein  vulgäres  Kraftwort  ge- 
braucht wurde.  Als  vor  ein  paar  Jahren  Tolstoi  seine 
Enthüllimgen  über  Shakespeare  erscheinen  ließ,  durch 
die  es  auch  dem  letzten  Zweifler  offenbar  wurde, 
daß  Shakespeare  ein  alter  Tepp  sei,  hätte  kein  gebil- 
deter Europäer  es  gewagt,  die  Ehrfurcht  vor  Tolstoi 
durch  ein  rohes  Wort  zu  verletzen.  Keiner  hätte  sich 
dazu  hergegeben,  einen  schon  an  der  Schwelle  der  Un- 
sterblichkeit stehenden  Alten,  der  der  Welt  noch  das 
Evangelium  von  der  Nichtigkeit  Shakespeares  und 
anderer  irdischen  Genies  brachte,  auf  den  Mund  zu 
schlagen.  Ich  selbst  habe  damals  den  Verdacht 
imterdrückt,  daß  ein  alter  Tepp  das  Wort  ergriffen 
habe,  den  das  Urchristentum  allem  Erfassen  fremder 
künstlerischer  Welten  wie  auch  längst  der  eigenen  Künst- 
lerschaft entrückt  hat.  Ich  war  so  zurückhaltend,  ihn 
bloß  einen  alten  Schwätzer  zu  nennen.  Aber  ich  bin 
mir  jetzt  dessen  bewußt,  wie  frivol  auch  diese 
Wertung  eines  urchristlichen  Schänders  meines 
Shakespeare-Heiligtums  war,  und  aus  Furcht,  eine 
Ungerechtigkeit  zu  begehen,  würde  ich  mir's  heute 
dreimal  überlegen,  ehe  ich  ein  Bekenntnis  des  Grafen 
Tolstoi  ausschließlich  von  der  pathologischen  Seite 
nähme.  Die  Behauptung,  daß  er  ein  alter  Tepp  sei, 
ist  nicht  nur  eine  herzlose  Ungebühr  gegenüber  einem 
Alten,  nicht  nur  eine  Dreistigkeit  gegenüber  einem 
Weltweisen,  sie  könnte  auch  eine  Unbilligkeit  gegen- 
über einem  alten  Weltweisen  sein,  von  dem  roanja.doch 
nicht  wissen  kann  und  den  noch  keiner  darauf  unter- 
sucht hat,  ob  er  nicht  am  Ende  ein  alter  Mogler  ist. 
Einer,  der  sich  zu  gern  den  »tribus  magnis  impostoribusc 
gesellen  möchte,  ohne  an  ihre  Suggestivkraft  heran- 


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—  8  -- 


lureichen.  Man  konnte  sohliefllioh  auch  aus  der 
geistigen  VerfSassung  derer,  die  eine  Heilsbotschaft 
empfangen,  auf  den  Ernst  des  Evangelisten  schliefien. 
Eine  Welt,  die  au  nichts  besserem  geboren  scheint 
als  aum  Betrogenwerden,  harrt  des  Erlösers;  und  wer 
in  den  Ideenmischmasch  dieser  Zeit  nur  mit  der  An- 
weisung hineinfährt.  Gras  8U  fressen  und  Shakespeare 
fßr  einen  Kretin  su  halten,  mOflte  wirklich  schon 
ein  ausgesuchtes  Pech  haben,  um  nicht  als  Heiliger 
▼erehrt  zu  werden.  Wer  aber  der  Armee  seines  Landes 
keine  schöneren  Siege  wünscht  als  die  Niederli^n, 
da  dem  Mutigen  swar  die  Welt,  aber  dem  Feigen  das 
Himmelreich  gehört,  und  wer  sich  dazu  im  Bflfier- 

Ewand  unter  tennisspielenden  Enkeln  photographieren 
tt,  der  müfite  schon  ein  abgefeimter  l^hwindler 
sein,  wenn  er  nicht  eine  göttliche  Mission  zu  voll- 
enden hätte.  Aber  der  Heiligenschein  trügt  nicht,  ein 
mit  allen  Salben  Geweihter  stößt  auf  ein  günstiges 
Vorurteil,  und  es  ist  ein  wahres  Glück,  daß  die 
Betriebsmittel  dieser  eitlen  Zivilisation  jede  Bitte 
um  ein  Martyrium  in  ein  paar  Stunden  um  die  Welt 
verbreiten  können,  so  dafl,  wenn  es  einst  vollbracht 
sein  sollte,  ein  Golgatha  von  Telegraphenstangen  da- 
für zeugen  wird. 

Jetzt  frage  ich  aber:  Ist  die  Möglichkeit,  dafi 
der  alte  Tolstoi  in  vollster  geistiger  Frische  ein 
biflchen  modelt,  ausreichend,  ihm  die  Sympathien 
einer  organisierten  Betrügerbande,  wie  sie  der  Intellek- 
tualismus darstellt,  zu  gewinnen?  Genügt  es  ihr 
wirklich  schon,  dafi  einer  nicht  glaubt,  was  er  sagt? 
Kommt  es  denn  nicht  darauf  an,  was  er  sagt? 
Ist  jede  Tendenz,  auch  die  feindlichste,  dem  Libera- 
lismus wohlgefällig,  wenn  nur  Aussicht  besteht,  dafi  sie 
unecht  ist?  Wenn  Tolstoi  insgeheim  wirklich  der  un- 
widerruflich letzte  Ohrist  wäre,  und  er  predigte  das  Zin- 
sennehmen, man  könnte  die  fanatische  Parteinahme  des 
Herrn  Benedikt  für  ihn  begreif en.Ob  aber  sein  Urchristen- 
tum  eine  fixe   Idee  oder  eine  Pose  ist,  an  welchen 


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•.   4   - 


Punkten  frage  ich,  berührt  es  die  Kreise  der  ,Neuen 
Freien  Presse'?  Warum  ereifern  sich  die  Händler  und 
Wechsler  fUr  Christi  Sendung?  Wenn  Herr  Benedikt 
an  Tolstoi  glaubt,  so  müflte  er  sioh  ausnahmsweise 
dreimal  bekreuzigen,  sobald  nur  der  Name  in  seiner 
Gegenwart  ausgesprochen  wird.  Revolutionär  sind 
die  Ideenrichtungen  beider.  Aber  was  hat  das 
Zerknirschungsideal  des  russischen  Knechts,  der  das 
Väterchen  im  Himmel  anwinselt,  mit  der  Herrschsucht 
des  liberalen  Gheistes  zu  tun,  der  der  Menschheit  den 
Zinsfuß  auf  den  Nacken  setzt?  Die  Sympathie  wäre 
noch  verständlich,  wenn  unter  den  Entsagungs- 
vorschriften Tolstois  auch  die  strikte  Anweisung  zu 
finden  wäre:  Wenn  Dir  die  rechte  Tasche  ausgeraubt 
wurde,  so  halte  auch  die  linke  hini  So  geistlos  kann 
die  Bildung  doch  nicht  sein,  dafi  sie  sich  wirklich 
verpflichtet  fflhlte,  in  allen  Fällen  blofi  die  Retour- 
kutsche der  Unbildung  abzugeben.  Denn  schliefilich 
steht  diese  den  Verkündungen  des  Grafen  Tolstoi 
näher  als  jene,  steht  ßielohlawek  dem  Urchristentum 
näher  als  Benedikt.  Den  Anfeindungen,  die  die  Wis- 
senschaft im  niederOsterreichisohen  Landtag  erfährt^ 
klatscht  Tolstoi  Beifall.  Dafi  man  Bazillen  zu  Versuchs- 
zwecken züchtet,  erscheint  ihm  ebenso  unbegreiflich  wie 
irgendeinem  christiichsozisJen  Agitator,  den  die  ,Neue 
FVeie  Presse*  darob  verhöhnt.  Er  hält's  mit  den 
Dürrkräutlerinnen  und  verwirft  die  Wissenschaft^  weil 
sie  noch  nie  an  nützliche  Dinge  gedacht  hat,  zum 
Beispiel,  »wie  Beil  und  Besenstiel  am  besten  anzufer- 
tigen sind,  wie  eine  gute  Säge  beschaffen  sein  muft^ 
wie  man  gutes  Brot  backen  kann,  welche  Mehl- 
gattung  sich  dazu  am  besten  eignet  u.  s.  w.«  Un« 
gefähr  sagt  das  der  Bielohlawek  auch,  nur  mit  ein 
bifichen  andern  Worten,  und  er  tut  beinahe  sa 
unrecht,  Tolstoi  einen  alten  Teppen  zu  nennen,  wie 
der  Benedikt,  ihn  in  Schutz  zu  nehmen.  Ich  habe 
die  unbestimmte  E/mpflndung,  dafi  Tolstoi  in  allen 
entscheidenden    Fragen    die     ,Neue    Freie    Presse^ 


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im  Stich  liefle;  er  hfttte  ihr  hdohstens  als  Niohttauoher 
aekandiert,  aber  sie  schon  als  Impf gepier  entt&uscht^ 
denn  es  ist  klar,  dafl  das  erste,  was  man  bei  dner 
ausbrechenden  Bpidemie  eu  veranlassen  hat,  die 
strenge  Beachtung  der  Vorschrift  ist,  dem  Übel  kei- 
nen Widerstand  su  leisten.  Wie  kommt  Sauben^ 
unter  die  Propheten?  Der  LibeMraliamus  ist  weitherug, 
er  tanat  um  das  goldene  Kalb  und  pflQgt  mit  dem 
fremden. 

Wttin  man  —  nach  der  Methode,  die  Herr  Bene- 
dikt einmal  empfahl  —  »einen  Querschnitt  durch 
Tolstoi  machen  könntet,  so  würde  man  yielleicht 
weniger  Christentum  finden,  als  man  erwarten  durfte, 
aber  doch  noch  immer  genug,  um  die  Sympathie- 
kundgebungen des  Ldbenüismus  für  einen  fauz  pas 
zu  h^ten.  So  selig  die  Armen  im  Qeiste  sein  mögen, 
sie  mfiflten  die  Lächerlichkeit  dieses  Bündnisses  er- 
k^inen.  Was  in  aller  Welt  —  in  jener,  von  der 
auch  Tolstois  Reich  ist  —  hat  der  Fortschritt,  der  des 
Schwindelgeistes  und  der  der  Kultur,  mit  dem 
Urchristentum,  demgefühlt^i  oder  dem  gepredigten, 
SU  schaffen?  Bin  Ri^;out  aus  Mystik  und  Mystifika- 
tion könnte  ja  auch  einem  ramnierten  Gteschmack 
behagen,  und  es  mag  den  Psychologen  fesseln,  dafl 
einer  zugleich  ein  Besitaender  und  ein  Besessener 
sein  kann.  Alle  Hochachtung  yor  einem  tanaanden 
Derwisch,  hal  welche  Lust  Fakir  au  sein,  und 
selbst  das  Amok-Laufen  ist  eine  schöne  Beschäf- 
tigung. Aber  unier  allen  die  ZurechnungsfiUiigkeit  aus- 
schließenden Betätigungen  scheint  mir  doch  die  Pro- 
paganda des  Urchristentums  —  ein  Amok-Laufen 
gegen  den  Sinn  des  Lebens  —  die  allerbedenklichste, 
und  so  wahr  es  ist,  dafi  die  Kultur  unseres  Geistes 
von  der  Maschine  verdrängt  wird,  so  wahr  ist  es, 
dafl  der  letzte  Handlanger  der  sogenannten  Zivili- 
sation der  Ailgottheit  näher  steht  als  die  Sorte 
v(m  Fanatikern,  die  auerst  eine  Panik  der  Oeister 
eraeugen    und    dann    als  Notausgang  die    »Rück- 

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—  6  — 


kehr  zur  Naturc  offen  lassen.  Die  Fegefeuerassekuran- 
ten,  die  die  Eirohe  entsendet  und  die  ohnehin  oft 
zudringlicher  sind,  als  es  sich  ziemt,  erleichtem  einem 
wenigstens  die  Lasten  des  Diesseits,  indem  sie  sie  in  eine 
VersiQherungsgebühr  umwandeln.  Aber  die  Tolstoische 
Lehre  erhöht  diese  nicht  nur,  sondern  läfit  sie 
zugleich  die  Prämie  bedeuten.  Sie  schlägt  einem  die 
Himmelstür  vor  der  Nase  zu,  wer  sein  eigenes  Weib 
ansieht,  ihrer  zu  begehren,  hat  schon  mit  ihr  die 
Ehe  gebrochen,  und  es  ist  wahrhaft  trostlos,  dafl 
man  sich  bereits  bei  Lebzeiten  in  den  HOUenraohen 
stürzen  soll,  um  der  ewigen  Seligkeit  zu  entgehen. 
Und  welche  Tantalusqualen,  durch  einen  Altvaterbart, 
der  uns  das  Dasein  mit  der  Eriimerung  an  eine  Liqueur- 
marke  verschönert,  zur  Enthaltsamkeit  gemahnt  zu 
werden  I  Man  hat  ohnehin  sein  liebes  Kreuz  mit  den 
Gottsuchern  sowohl,  wie  mit  jenen,  die  ihn  schon  gefun- 
den haben;  aber  mit  den  Gottsuchern,  die  ihn  leug- 
nen, auszukonunen  ist  verdammt  schwer.  Am  besten, 
man  sagt  sich,  daß  sie  achtzig  Jahre  alt  sind,  und 
dafl  wir,  um  mit  Shakespeare,  der  freilich  ein 
alter  Tepp  war,  zu  sprechen,  von  ihren  Jahren  »nicht 
nur  die  Unvollkommenheiten  längst  eingewurzelter 
Gewohnheiten  erwarten  müssen,  sondern  aufierdem 
noch  den  störrischen  Eigensinn,  den  gebrechliches 
und  reizbares  Alter  mit  sich  brinetc.  Und  dafl  sie 
»nicht  hätten  alt  werden  sollen,  ehe  sie  klug  |(e wor- 
den sind«. 

Nur  der  Liberalismus  ist  aaderer  Meinung.  Ihm 
scheint  nichts  natürlicher,  als  dafl  sich  die  Todes- 
zuckungen der  europäischen  Kultur  imter  dem  harmo- 
nischen Gliederzucken  eines  alten  Quäkers  vollziehen. 
Aber  diese  Anpassung  an  die  Tolstoische  Gedanken  weit 
ist  mehr,  als  man  dem  Fortschritt  zugetraut  hätte.  Nicht 
die  Parteinahme,  nur  die  urchristliche  Opferfähigkeit, 
die  sich  in  ihr  ausdrückt,  müflte  den  Grofigrund- 
besitzer  von  Jasni^a  Poljana  zu  Tränen  rühren.  Das 
hat   er   nicht  erwartet  Zwar  hätte  er  seit  der  Ex* 


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kommuniEierung,  die  immer  eine  Aufnahme  in  den 
Schofi  der  allein  seligmachenden  Presse  bedeutet^ 
darauf  gefaflt  sein  können,  imd  wenngleich  er  in 
Bann  getan  wurde,  weil  ihm  die  Kirche  zu  wenig 
christlich  war,  so  wirkte  das  Ereignis  doch  so 
animierend,  daß  damals  der  liberale  Kursbericht  mit 
dem  Ausruf  begann:  »Tolstoi  hat  sich  angeklagt Ic 
Aber  jetzt  hat  es  nur  des  Zufalls  bedurft,  daß  ein 
Sozialdemokrat  ein  Tolstoisches  Wort  zitierte  und 
ein  Christlichsozialer  infolgedessen  von  Tolstoi  abfiel, 
um  Herrn  Moriz  Benedikt  zu  einem  unumwundenen 
Bekenntnis  seiner  nazarenischen  Weltanschauung  zu 
bestimmen.  Der  Sektirergeist  .der  österreichischen 
Politik  tut  seine  Wunder.  Längst  wird  kein  Soldat 
mehr  im  Kaukasus  oder  in  Przemysl  den  Fahneneid 
yerweigem,  so  wird  man  noch  die  sinnverwirrenden 
Folgen  der  urchristlichen  Propaganda  im  Leitartikel 
der  ,Neuen  Freien  Presse^  zu  spüren  bekomnien. 
Wenn  sich  die  Qracchen  Ober  Aufruhr  beklagen,  so 
ist  das  nicht  grotesker,  als  wenn  die  Aufklärung  die 
Tolstoische  Weltanschauung  lobt.  Im  österreichischen 
Parlament  wird  jetzt  —  dank  dem  Herrn  HUbowitzki, 
dessen  Namen  man  sich  zu  merken  versuchen  wird  — 
zwischen  Zola  imterschieden,  der  blofi  der  gesamten 
Eulturwelt  bekannt  sei,  und  Tolstoi,  »dessen  Werke 
nicht  blofi  von  den  auf  der  höchsten  Kulturstufe  Stehen- 
den hoch  gepriesen  werden,  sondern  selbst  in  die  Hütten 
jenerVollustämme  Afrikas  und  Amerikas  ihren  Eingang 
bereits  gefunden  haben,  denen  erst  seit  Kurzem  das 
Licht  der  Zivilisation  zu  erblicken  beschieden  wurde«. 
Was  blieb  demnach  dem  Präsidenten  anderes  übrig, 
als  sein  Bedauern  über  den  Zwischenruf  des  Hei^ 
Bielohlawek  auszusprechen?  Er  hätte  höchstens 
noch  hinzufügen  können,  dafl  in  den  Hütten 
jener  Yolksstämme  Afrikas  und  Amerikas  die 
Tolstoische  Weltansicht  eines  wahren  Verständnisses 
noch  sicherer  sei  als  bei  den  auf  der  höchsten  Kultur- 
stufe Stehenden,  und  zwar  trotz  der  Zivilisation,  deren 


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—   8   - 


Licht  sie  übrigens  erst  vor  Kurzem  erblickt  haben.  Aber 
der  Vergleich  Tolstois  mit  Zola  entbehrt  nicht  eines 

fewissen  Hintergrunds.  Zola  hat  sich  in  den  Augen 
er  liberalen  Welt  von  dem  Makel  seines  künstle- 
rischen Wertes  durch  sein  Eintreten  für  Dreyfus 
gereinigt,  und  die  Bedeutung  Tolstois  als  Roman- 
schriftsteller müßte  keine  unbestrittene  sein,  der 
Schimpf,  den  ihm  Herr  Bielohlawek  angetan  hat,  er- 
hebt ihn  hoch  über  Dostojewski,  dem  so  etwas 
noch  nicht  passiert  ist.  Zola  mit  der  liberalen  Ejri- 
tik  als  Schweinkerl,  aber  wer  >j  accusec  sagt,  s'ezcuse. 
Und  wer  galt  Herrn  Max  Nordau  nicht  als  Schwein- 
kerl? Nicht  als  Entarteter?  Als  Idiot,  als  Halbnarr, 
Faselhans  oder  alter  Tepp?  Welcher  Große  blieb  vor 
Verkleinerung  bewahrt,  welcher  Alte  vor  Ehr- 
furchtsverletzung,  welcher  Tote  vor  Grabschändung? 
Wo  lebte  oder  starb  ein  Nietzsche,  ein  Plaubert,  em 
Ibsen,  ein  Baudelaire,  ein  Puvis  de  Chavanne, 
ein  Rodin,  ein  Oskar  Wilde,  der  es  nicht  zu 
spüren  bekam,  daß  selbst  die  Distanz,  die  ihn 
von  einem  Nordau  trennt,  überspuckt  werden  kann? 
Tolstoi  einen  alten  Teppen  zu  nennen  ist  ein 
Unterfangen,  das  den  Freisinn  zur  Abwehr  heraus- 
fordert. Er  hat  vor  der  Zeiten  Ungunst  längst  die 
Retirade  bezogen;  aber  wenn  er  hört,  daß  die 
Bildung  in  Gefahr  ist,  gerät  er  aus  dom  Häuschen, 
in  dem  er  sonst  das  Ende  seiner  Tage  abgewartet 
hätte,  —  der  alte  Tepp  I  Hält  noch  den  Schlüssel  zur 
wsdu*en  Erkenntnis  in  der  Hand  und  das  Zeitungs- 
papier, dessen  er  sich  bedient,  und  läuft  auf  die 
Gasse.  Mit  Prügeln  wollen  wir  ihn  zurückjagen.  Denn 
wir  brauchen  seine  Aufklärung  nicht.  Wir  wissen 
schon,  dafi  Herr  Bielohlawek  nicht  berechtigt  war, 
einen  Tolstoi  mit  einem  Wort  abzutun.  Herr  Nordau 
hat  das  ausführlicher  besorgt.  Tolstoi  ist  kein  alter 
Tepp,  sondern:  »Tolstois  Wdtanschauun^,  die  Frucht 
der  verzweiflungsvollen  Denkarbeit  seines  ganzen 
Lebens,  ist   nichts  als   Nebel,  Unverständnis    seiner 


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9    — 


eigenen  Fra^n  und  Antworten  und  hohler  Wort- 
schwaUt  (iBntartungc  Bd.  I,  S.  275).  Toktoi  ein 
alter  Tepp?  Nein,  er  Iftflt  bloft  durch  eine  seiner 
Figuren  eine  »delirierende  Theorie  rom  Lebensgeaetz« 
entwickeln.  (S.  286).  Diese  ist  dem  gesunden  Men- 
schenverstand des  Herrn  Nordau  »sofort  als  das 
erkennbar,  was  sie  ist:  als  Wahnsinne  (S.  287). 
»Kindisch  sind  seine  Beschwerden  und  Spöttereien. 
Er  spricht  von  der  Wissenschaft  wie  der  Blinde  von 
den  Farben  ...  Er  bleicht  Bouvard  und  Pteuchet, 
den  beiden  Idioten  Fmuberts,  die  gänzlich  unwissend, 
ohne  Lehrer  und  Führer,  wahUos  eine  Anzahl  Bücher 
durchblättern,  selbstverständlich  eine  haarsträubende 
Dununheit  nach  der  andern  begehen  und  sich  dann 
berechtigt  glauben,  auf  die  Wissenschaft  zu  schimpten . . . 
Der  Entartete  Flaubert  und  der  Entartete  Tolstoi 
begegnen  sich  hier  in  demselben  Deliriimi«  (S.  288).  Ein 
alter  Tepp?  Nein,  sageichl  Denn  als  Philosophie  gibt 
der  Tolstoismus  ȟber  Welt  und  Leben  mit  einigen 
sinnlosen  oder  widerspruchsvollen  Umschreibungen 
absichtlich  nüfl verstandener  Bibelverse  Aufschlüge 
(S.  201).  Ein  alter  Tepp?  Mehr  Respekt,  wenn  ich 
bitten  darf  I  Tolstois  Mystizismus  ist  »eine  von  Emoti- 
vität  begleitete  krankhafte  Dunkelheit  und  Zusammen- 
hanglosigkeit  des  Denkensc  (S.  293).  Wie,  ein  alter 
Tepp?  Er,  der  »der  blofie  Abklatsch  einer  Menschen- 
gattung ist,  die  in  jedem  Zeitalter  Vertreter  gehabt 
hatc  und  als  deren  Beispiel  »Lombroso  einen  Ver- 
rückten anführt,  der  um  1680  in  Schleswig  lebte  und 
behauptete,  dafi  es  weder  Gott  noch  Hölle  gebe,  daß 
Priester  und  Richter  unnütz  imd  schädlich  seien  und 
die  Ehe  eine  Unsittlichkeit  u.  s.  w.c  (S.  294).  Ein  alter 
Tepp?  HoF  die  Pest  alle  Grobiane I  Aber  »der  geistes- 
klare, gesunde  Turgeniew  hat,  ohne  die  Erfahrungen 
der  Irrenärzte  ssu  kennen,  aus  seiner  natürlichen 
Empfindung  heraus  die  innige  Liebe  Tolstois  zu  dem 
bedrückten  Volke  eine  hvstßrische  genannt ...  Im 
Gegensatze    zum    selbstsüchtigen    Geistesschwachen, 


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—  10  - 

lehrt  Legrain,  haben  wir  den  Geistesschwachen,  der 
menschenliebend  ist,  der  tausend  absurde  Systeme  auf- 
baut, um  das  Glück  der  Menschheit  herbeissuffihren.c 
(S.  297).  Und  Liegrainund  Turgeniew  haben  Recht  und 
weifl  Otoity  selbst  Herr  Nordau  hat  ausnahmsweise 
Recht  I  Und  nur  Herr  Bielohlawek  hat  Unrecht.  Er  wird 
es  sich  künftig  überlegen,  mit  solchen  Worten  herum- 
zuwerfen. Nicht  vergebens  soll  die  ,Neue  Freie  Presse' 
für  die  geistige  Unversehrtheit  Tolstois  ssweimal  täglich 
jene  Lanze  gebrochen  haben,  die  Gottfried  von  Bouillon, 
der  bekanntlich  gesagt  hat,  dafl  der  Zinsfufi  mit  uns 
ist,  in  ihrem  Lager  zurückgelassen  hat.  Denn  zwischen 
Bielohlawek  und  Nordau  ist  doch  ein  fi;ewaltiger 
Unterschied:  der  eine  spricht  im  Dialekt,  der  andere 
im  Jargon.  Wenn  nun  aber  jemand  einwenden  sollte, 
dafl  die  Ehrfurchtbezeigungen  des  Herrn  Nordau  für 
Tolstoi  blofl  in  einem  Buch  stehen  und  dafl  die 
,Neue  Freie  Presse'  noch  nicht  dafür  gesorgt  hat,  in 
ihren  eigenen  Spalten  das  Opfer  des  Herrn  Bielohla- 
wek dem  Schutz  des  Herrn  Nordau  zu  überantworten, 
so  ist  er  ein  unaufmerksamer  Leser  der  ,Neuen 
Freien  Presse'.  Denn  wahrlich,  ich  sage  euch,  Herr 
Nordau  hat  auch  hier  schon  das  Seine  getan,  und 
Herr  Bielohlawek  hätte  sich  ein  Beispiel  daran 
nehmen  können,  wie  respektvoll  der  gesunde  Men- 
schenverstand der  ehrwürdigen  Erscheinung  eines  gro- 
flen  Denkers  gegenübersteht,  von  dem  der  Journäis- 
mus  erwartet,  dafl  er  denmächst  in  vollster  geistiger 
und  körperlicher  Frische  seinen  achtzigsten  Geburts- 
tag feiern  wird.  Denn  es  geschah  im  Jahre  1901  im 
zwölften  Monat,  am  28.  des  Monates,  da  redete  Nor- 
dau zu  den  über  die  ganze  Welt  zerstreuten  Lesern 
der  ,Neuen  Freien  Presse'  und  sprach:  daß  Tolstoi 
für  »Millionen  hochgebildeter  Russenc  nichts  ist  als 
ein  »absurder  Konfusionsrat,  der  nur  lächerlich  wäre, 
wenn  sein  mystisch-anarchistisches  Geschwätz 
Schwachköpfen  nicht  erefährlich  werden  könntet. 

Karl  Kraus. 


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— 11  ~ 


staatliche  Kanstpflege. 

Bei  einigen  Ministern  sprach  kürzlich  eine 
Deputation  von  Malern  und  Bildhauern  vor,  um  die 
Einstellung  von  ein  oder  zwei  Millionen  Kronen  ffir 
den  Ankauf  von  Kunstwerken  in  das  Budget  des 
Staates  su  verlangen.  Die  Deputation  gab  der  Meinung 
Ausdruck,  der  Staat  sei  verpflichtet,  die  Kunst  zu 
fBrdem,  und  die  Minister  gaben  dies  zu  und  ver- 
sprachen,  ihr  Möglichstes  für  die  Kunst  zu  tun. 
Wären  aber  jene  Maler  und  Bildhauer  aufrichtig 
gewesen,  h&tten  sie  sagen  müssen,  es  handle  sich 
uinen  nicht  um  die  Kunst  —  mit  der  weder  sie  noch 
der  Staat  etwas  zu  tun  haben  — ,  es  handle  sich 
einfach  um  die  Versorgung  der  »Künstler«.  Wenn 
der  Staat  —  so  ungefähr  hätten  sie  sprechen  sollen  — 
Kunstschulen  errichtet  und  Künstlerstipendien  stiftet, 
so  verlockt  er  damit  eine  grofie  Anzahl  junger  Leute, 
sich  einem  Handwerk  zu  widmen,  das  nur  eine 
ziemlich  geringe  Anzahl  von  Menschen  zu  ernähren 
vermag.  Und  wie  der  Staat  moralisch  verpflichtet  ist, 
jenen  Universitäts- Absolventen,  die  sich  nicht  anders 
fortbringen,  einen  Beamtensposten  zu  verschaffen,  so 
mufl  er  auch  für  die  vom  Bilder-  und  Galanterie- 
warenmarkt, vom  Porträtbedürfnis  der  Parvenüs  und 
von' der  Plakatindustrie  nicht  absorbierten  überzähligen 
Absolventen  seiner  Kunstschulen  irgendwie  sorgen. 
Da  er  aber  nicht  so  viel  neue  Kmistschulen  errichten 
kann,  dafl  er  sie  alle  als  Kunstprofessoren  unterbringt 
—  was  ein  allzu  aufftlliger  circulus  vitiosus  wäre 
und  schliefilich  den  ganzen  Staat  in  eine  Kunst- 
betriebsanstalt verwandeln  würde  — ,  so  mufl  er  ihnen 
eben  ihre  Bilder  und  Statuen  abkaufen  oder  Aufträge 
erteilen.  Die  dadurch  entstehende  Ansammlung  von 
Konstprodukten  macht  dann  die  Errichtung  neuer 
Kunstmuseen  nötig,  und  dies  ermöglicht  wieder  die 

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•  12  — 


Statuierung    einer    Anzahl    neuer    Posten    für    die 
Absolventen  staatlicher  Kunstschulen. 

Man  mufi  sich  nun  wundern  —  auch  wenn  man 
weifi,  aus  welchem  schier  unentwirrbaren  Knäuel 
von  Dummheiten  sich  der  Geist  der  Demokratie  zu- 
sammensetzt — f  wie  in  einer  Zeit,  in  der  doch  die 
Anschauung  vom  Künstler  als  von  einer  großen 
Ausnahme  der  Natur  sogar  in  weitere  Kreise  ge- 
drungen ist,  dieser  närrische  Versuch  einer  staatlichen 
Massenaufzucht  von  Künstlern  bestehen  kann.  Aber 
derselbe  Schmeck,  der  heute  schreit,  zum  Künstler 
müsse  man  geboren  sein,  er  sei  die  Seltenheit  der 
Seltenheiten,  derselbe  Schmeck  erhitzt  sich  morgen 
für  Verpflichtung  des  Staates  zur  Kunstförderung. 
Es  mag  daher  angezeigt  sein,  auseinanderzusetzen, 
warum  der  Staat  gar  nicht  imstande  ist,  wirkliche 
Kunst  in  irgendeiner  Weise  zu  fördern,  geschweige 
denn  mit  Hilfe  von  Schulen  und  Stipendien  wirkliche 
Künstler  hervorzubringen.  Was  sich  heute  Künstler 
nennen  und  infolge  staatlicher  Fördenmg  und  eines 
gesellschaftlichen  Aberglaubens  die  Nase  bis  zu  den 
Sternen  hoch  tragen  darf,  sind  nämlich  bestenfalls 
Kunstwerker,  d.  h.  Leute,  die  es  durch  einiges  Affen- 
talent und  geduldiges  Sitzfleisch  so  weit  gebracht 
haben,  in  mehr  oder  weniger  freier  Nachahmung 
mehr  oder  weniger  gefällige  Artefakta,  sogenannte 
Kunstwerke  zu  produzieren.  Wenn  ein  Schüler  in 
der  Real-  oder  Gewerbeschule  sich  durch  besonders 
adrettes  und  gewissenhaftes  Nachzeichnen  oder 
Modellieren  hervortut,  also  später  vielleicht  einen 
recht  tüchtigen  Landkarten-Lithographen  oder  Knopf- 
drechsler abgäbe,  dann  wird  er  vom  Herrn  Professor, 
der  das  schön  in  Rundschrift  beschriebene  und  akkurat 
beschnittene  Zeichenblatt  (es  kann  auch  ein  sauber 
in  Ton  geknetetes  Weinlaubrelief  sein)  mit  wohl- 
gefälligem Schmunzeln  betrachtet,  in  aller  Form  er- 
muntert, die  ehrenvolle  Laufbahn  der  Kunst  zu  be- 
treten. Eine  gute  Tante  (die  schon  längst  ein  Genie 


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-  13  — 


in  ihrem  Liebling  vermutete  und  mit  einer  Hofrätin 
befreundet  ist)  schafft  die  nötige  Protektion  und  der 
Familienstolz  und  aukünftige  »Kfinstlerc  bezieht  die 
Akademie,  froh,  sich  mcht  länger  mit  banausischer 
Wissenschaft  abmühen  zu  müssen.  Wer  gerade  kein 
Mikrozephale  ist,  hat  die  paar  Handgriffe  bald  los 
und  macht  in  zwei  Jahren  die  schönsten  Baumland- 
schaften oder  Gipsköpfe.  Dann  wird  der  Jüngling 
zum  Staatsstipendisten  und  kopiert  in  Rom  oder 
Florenz  etliche  alte  Bilder.  Und  wenn  er  schliefllich 
nach  seiner  Rückkehr  alle  Verwandten  und  näheren 
Bekannten .  unter  sanftem  Zwange  durchporträtiert 
hat  und  niemand  mehr  für  gutes  Geld  seine  Lein- 
wänden eintauschen  will,  erwartet  er  mit  Recht  vom 
Staat,  der  ihn  zum  »Künstlertumc  animiert  hat,  daft 
er  ihm  auch  weiterhin  ein  standesgemäfies  Leben 
garantiere. 

Der  Staat  ist  also  bei  der  Vergebung  söge- 
nannter  Künstlerposten,  bei  Ankäufen  und  Aufträgen 
in  einer  moralischen  Zwangslage.  Er  mufl  vor  allem 
die  berücksichtigen,  die  aus  seinen  Schulen  hervor- 
gegangen sind,  und  es  bildet  sich  so  ganz  Ton  selbst 
eine  Art  Inzucht  von  Staatskünstlern.  Solche  werden 
Akademieprofessoren  und  Oaleriedirektoren,  lehren 
die  neuen  Kunstschüler,  was  sie  selbst  als  solche 
gelernt  haben,  und  schlagen  zum  Ankauf  oder  zur 
Ausführung  natürlich  nur  »Kunstwerkec  vor,  die  der 
Tradition  der  Staatskunst  entsprechen.  Bin  Galerie- 
direktor,  der  nur  wirkliche  Kunstwerke  ankaufen, 
der  etwa  gar  auch  das  Ausland  berücksichtigen  will, 
weil  in  manchem  Inland  überhaupt  keine  Kxmst- 
werke  geschaffen  werden,  ein  solcher  Galeriedirektor 
wird  immer  rasch  ^enug  abgesägt.  Ein  unisones  Wut- 
geheul, das  die  »emheimischenc  Staatskünstler  in  den 
immer  willigen  Zeitimgen  loslassen,  —  und  der  kühne 
Galeriedirektor  hat  Mufle,  über  das  Wesen  der  Staats- 
kunst nachzudenken.  Der  wirkliche  Künstler,  der  kein 
Nachahmer,  sondern  ein   Neuschaffer  aus  innerstem 


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—  14  — 


Drang,  ein  Zerstörer  des  Alten  und  ein  ungestfim 
Vorauseilender  ist,  der  wirkliche  Künstler  ist  mit  der 
Kunsttradition  seiner  Zeit  stets  so  sehr  im  Widerspruch^ 
dafi  seine  Schöpfungen  nienvkls  dem  Geschmack  der 
staatlichen  Kunstkommissionen  entsprechen  können. 
Er  kann  frühestens  an  seinem  Lebensende  erkannt 
werden,  er  hat  mit  seinen  Zeitgenossen  nichts  su  tun 
und  würde  durch  staatliche  Förderung  nur  geschädigt 
werden.  Er  liefie  sich  vielleicht,  um  seiner  Not  su 
entrinnen  oder  seine  Individualeitelkeit  zu  befriedigen, 
2ü  Konzessionen  herbei,  die  sein  inneres  KünsÜertum 
vernichten  würden.  Die  eigentliche  Ti:agödie  des 
Künstlers  besteht  nicht  in  äufiern  Nöten.  Mancher 
Künstler  braucht  sogar  die  Not  als  jenen  Druck» 
unter  dem  erst  sein  Tiefstes  und  Wertvollstes  in 
die  Erscheinung  dringt  und  äufiere  Gestalt  erlangt. 
Nimm  diesem  Künstler  die  Not  und  du  nimmst  i£ii 
seinen  Wert  Die  Tragödie  des  Künstlers  besteht  in 
der  Kondeszendenz  zum  Nichtkünstler.  Und  wenn 
der  Staat  ihn  >fördertec,  es  bestünde  die  Gefahr,  daft 
vielleicht  der  einzige  Künstler  eines  Volkes  in  seiner 
Seele  erstickt  würde  und  dann  nichts  anderes  mehr 

#re,  als   die  zwanzigtausend,   die   als  akademische 

.unstler  im  Adrefibucn  stehen. 

Der  Künstler  bedarf  der  staatlichen  Förderung 
nicht  nur  nicht,  diese  ist  sogar  die  schädlichste  Be- 
einflufiung  für  ihn.  Etwas  anderes  war  die  Förderung 
von  Künstlern  durch  Fürsten  von  Geschmack  in  den 
Zeiten,  da  die  Kunst  noch  höfisch  sein  durfte,  weil 
der  Herrscher  noch  nicht  der  erste  Diener  des  Staates 
war.  Die  Zeit  der  höfischen  Kunst  war  vielleicht 
deshalb  die  nofle  Zeit  der  Kunst,  weil  es  die  bittere 
Zeit  des  Volkes  war.  Das  Zeitalter  der  Demokratie, 
die  dem  Volke  die  goldene  Zeit  verheifit,  ist  für 
den  Künster  eine  bittere  Zeit  und  eine  einsame.  Denn 
es  ist  niemand  mehr  da,  der  seine  Gesinnung  be- 
griffe« In  der  Zeit  der  Staatskunst  mufl  der  Begriff 
der   Kunst   notwendig   verloren    gehen.    Wenn   die 


i! 


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—  16  — 


traurigen  Erseugnuse  der  staatlichen  Kunstpflege  al» 
Denkmftler  überall  auf  Plätssen  und  in  Straßenecken 
faerumstehen,  als  Qemälde  in  hundert  Museen 
herumhängen  und  als  Reproduktionen  die  illustrierten 
Blfttter  füllen,  daim  mufl  sich  in  den  Zeitgenossen 
die  Meinung  bilden^  die  Kunst  bestehe  nicht  in  der 
lebendigßn  Person  eines  Künstlers,  sondern  in  diesem 
Gerumpel  von  Leinwand  und  Marmor;  sie  sei  ein 
achtbares  Handwerk,  das  an  staatlichen  Schulen  von 
marastischen  Professoren  gelehrt  werden  könne,  und 
fleifiigen,  geschickten  Leuten  viel  Ehre  und  Ge- 
winn bringe. 

Soll  aber  die  Kunst  nicht  aussterben,  so  muB 
wenigstens  in  Einseinen  sich  die  Erkenntnis  bilden, 
daft  Staat  und  Kunst  zwei  Gegensätze  sind,  daß  die 
Kunst  erst  anfängt,  wo  der  Staat  aufhört,  daß  staat- 
liche Kunstförderung  nur  eine  demokratische  Dumm- 
heit ist  und  die  Kirnst  nicht  in  Kunstwerken,  sondern 
in  lebendigen  Werten,  in  lebendiger  Gesinnung  be- 
steht. Kunstwerke  können,  auch  in  ihrer  höchsten 
Vollendimg,  immer  nur  die  Begleiterscheinung  der 
Kunst,  Nebenprodukte,  Abfälle  sem.  Und  der  Künstler, 
der  weder  ein  verhutzelter  Professor  noch  ein  be- 
geisterter Student,  sondern  ein  Initiator  und  selbst- 
herrlicher Gewaltmensch  ist,  streift  diese  Abfölle  mit 
dem  Pufle  von  sich,  wenn  sie  sich  häufen  und  ihn 
beengen.  Bei  NachaJimungsprodukten  aber,  die  nicht 
einmal  Zeugen  einer  Persönlichkeit  sind,  ist  schade 
um  die  Wedel  und  Tücher,  mit  denen  sie  abgestaubt 
werden. 

Die  einzig  mögliche  staatliche  Kunstp^ege  wäre 
66,  alle  Kunstprofessoren  zu  pensionieren  und  die 
Kunstmuseen  zu  verbrennen.  Dann  wäre  vielleicht 
wieder  Platz  für  Kunst  und  Künstler. 

Karl  Hauer. 


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—  16  — 


Sexuelle  Anfkläning. 

Ein  wenig  besser  wflrd*  er  leben, 
Hatt'st   da   ihm  nicht  den   Schein   de* 

Himmelslichts  g^egeben. 
Er  nennts  Vernunft  und  branchts  allein. 
Nur  tierischer  als  Jedes  Tier  zu  sein. 

Wir  unterscheiden  uns  von  den  Tieren  durch 
Sprache,  aufrechten  Gang  und  einiges  mehr,  besonders 
aber  dadurch^  dafi  unsere  Kinder  eine  sexuelle  Auf- 
klärung brauchen.  Es  scheint,  als  müßten  die 
Menschen  aussterben,  wenn  nicht  sozialpolitische 
Mütter,  eingetrocknete  Lehrer  und  Arzte,  die  nach 
Karbol  riechen,  den  kleinen  Wurm  in  Arbeit  nehmen 
und  ihm  die  Bedeutung  der  Staubgefilfie  bei  den 
Pflanzen  erklären,  auseinandersetzen,  dafi  beim  Band- 
wurm beide  (Geschlechter  in  einem  Leibe  vereinigt, 
bei  den  höheren  Tieren  aber  stets  getrennt  seien, 
dafi  Milch  und  Roggen  der  Fische  zur  Fortpflanzung 
diene  und  nicht  zum  Essen  allein.  »Alsoc,  lautet  die 
Konklusion,  »wirst  du  einsehen,  dafi  auch  wir  uns 
fortpflanzen  müssen  und  wirst  verzeihn,  daß  dies  auf 
so  abscheuliche  Art  xmd  Weise  geschieht.  Wir  tun 
es  selber  nur  ungern,  aber  es  gibt  leider  keine  andere 
Methode.  €  Ein  so  präpariertes  Kind  wird  endlich  vom 
Arzte  überfallen,  der  ihm  den  (Geschlechtsverkehr 
unter  gräfilichen  Drohungen  verekelt,  gerade  zur 
Zeit,  wenn  Mutter  Natur  in  bester  Arbeit  ist,  dem 
blühenden  (Geschöpfe  den  Krönungsmantel  umzu- 
hängen. 

Möglich,  daß  die  Ungunst  der  Verhältnisse  nicht 
duldet,  d^ß  unsere  Kinder  frei  und  duftig  heran- 
wachsen wie  Blumen  imd  Tiere  des  Feldes.  Warum 
aber  mufl  man  sie  mit  einem  Rattenkönig  von  Hygiene, 
Pädagogik,  Naturwissenschaft  und  (Christentum  so 
erbarmungslos  überfallen,  dafi  aus  dem  Königsmantel 
ein  zerrissenes  und  mühsam  geecktes  Bettelgewand 
wird?  Zugegeben,  dafi  der  unbändige  Gescmechts- 
trieb  gezähmt  werden   mufi,  weil  er  soziale  \md  ge- 


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^  IT  — 

sundheitUohe  Gefahren  mit  sich  bringt;  aber  man 
sollte  ihn  nicht  mit  Schlageisen  erwarten,  in  denen 
er  sich  die  Nase  serquetscht,  sondern  mit  den  Rosen- 
ketten ehrfürchtiger  Scheu,  die  er  alleseit  verdient, 
die  ihm  in  besseren  Torchristlichen  Zeiten  nicht  Tor- 
enthalten  wurde. 

»Aber  gerade  dast,  erwidern  zartsinnige  Damen 
und  Herren,  >ist  unser  Bestreben  I  Was  gibt  es 
Heiligeres  als  das  Gesetz  der  Fortpflanzung;  wie 
könnte  man  den  Kindern,  deren  Sexualität  noch 
schläft,  die  Liebe  höher  heben,  als  wenn  man  ihre 
Macht  durch  die  ganze  belebte  Natur  zeigt?€  Sonder- 
bar, daß  grofie  Dichter,  die  früher  gelebt  haben, 
solche  Wissenschaft  durchaus  beiseite  liefien,  wenn 
sie  der  Liebe  ein  Preislied  sangen.  Romeo,  Werther, 
Tristan  behelfen  sich  ohne  Bandwürmer,  Häringe, 
einhäusige  und  zweihäusifi;e  Pflanzen,  und  das  Gast- 
mahl des  Plato  führt  tieifor  in  das  Wesen  der  Liebe 
als  Wilhelm  Bölsche,  der  das  Liebesleben  in  der 
Natur  im  schnodderigen  Berliner  Ton  erklärt.  Mag 
der  Sinn  des  Geschlechtstriebes  in  der  Natur  immer- 
hin die  Sicherung  der  Fortpflanzung  sein:  bei  den 
Menschen  liegt  seine  kulturelle  Bedeutung  anderswo, 
nämlich  in  der  Erotik,  er  ist  eine  Angelegenheit  der 
Seele  geworden,  die  man  nur  im  Menschen  erkennt 
und  nicht  mehr  eine  Angelegenheit  des  Unterleibes, 
wie  die  Spezialisten  für  Geschlechtskrankheiten  an- 
zunehmen scheinen. 

Allerdings  ist  diese  Erkenntnis  in  ihrer  vollen 
Bedeutung  dem  Kinde  verschlossen,  es  wird  nicht 
begreifen  können,  dafi  einer  sich  umbringen  kann 
aus  Liebe  zum  Weib,  es  ist  eine  Erkenntnis,  die 
man  nicht  lernen  kann,  sondern  fühlen  mufi.  Das 
Fortpflanzungsraffinement  in  der  Natur  kann  gelehrt 
werden.  Das  Kind  wird  aber  den  Zusammenhang 
zwischen  den  Staubfi^efäßen  und  dem  durchaus  ver- 
schiedenen menschlichen  Geschlechtsleben  entweder 
nicht   finden    oder   aber,    was  schlimmer   ist,    seine 

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—  18  — 


Ideale  in  falßohe  Riohtung  treiben  lassen,  die  freilich 
unser  biologisch-christliches  Säkulum  besonders  aus- 
zeichnet. Aus  dem  Liebesideal  unserer  Vorfahren  ist 
ein  Viehzuchtsideal  geworden.  Zarathustra  predigt: 
»Ehe,  so  heiße  ich  den  Willen  zu  zweien,  das  Eine 
zu  schaffen,  das  mehr  ist,  als  die  es  schufen,  c  Er 
wird  von  der  Ellen  Key  und  ihrer  Gemeinde  als 
Viehzüchter  mißverstanden  und  einer  der  Ihren  ge- 
nannt. Empfindsame  Mädchen,  die  diesen  Absatz  des 
Zarathustra  gerne  auswendig  lernen,  mögen  zusehen, 
ob  sie  nicht  allzusehr  die  Ehrfurcht  vor  der  Liebes- 

göttin  verletzen,  die  über  allem  thront  und  die  zur 
ienerin  der  Oeres,  die  man  der  Fruchtbarkeit 
Patronin  nennt,  nicht  taugt.  Viel  heiliger  ab  das 
Gesetz  der  Fortpflanzung  ist  das  Gesetz  der  Brunst, 
am  hehrsten  liebt  ein  halbes  Kind,  das  Ton  der  Fort- 
pflanzung nichts  weiß.  Liebe  zum  Kinde,  auch  nur 
zum  erwarteten  Kinde  bricht  natürgemäfl  die  Ur- 
gewalt des  Gefühles  in  einen  Doppelstrom.  Isolde 
stirbt  an  der  Leiche  ihres  Tristan;  mit  ihm  ist  ihre 
Liebe  tot.  Lohengrin  läfit  die  Hoffnung  auf  einen 
Sohn  zurück,  darum  kann  Elsa  ihn  ziehen  lassen:  ihre 
Liebe  lebt  mxd  wartet.  Wenn  man  nun  gar  ein  un- 
erfahrenes Geschöpf  über  den  angeblich  einzigen 
Zweck  der  Liebe  unterrichtet,  bevor  es  von  der 
Sehnsucht  zum  anderen  Geschlecht  noch  einen  Hauch 
verspürt,  dann  kann,  theoretisch  genommen,  ein  \m- 
befangenes,  großes  Gefühl  gar  nicht  mehr  entstehen. 
Das  Geschöpf  wird  von  einer  falschen  Sittlichkeit 
bedrückt,  von  einer  Metaphysik  der  Gteschleohtsliebe. 
Zum  Glück  ist  der  Reichtum  unserer  Seele  so  groft, 
dafi  man  nicht  nur  Vater  und  Mutter  sondern  auch 
das  Studium  der  Naturgeschichte  verläßt,  um  dem 
Geliebten  zu  folgen. 

Das  Storchmärchen  ist  wenigstens  harmlos.  Kein 

kluges  Kind  glaubt   lange  dran.    Das  Märchen  von 

'  der  Fortpflanzung  ist  eine  Viertelwahrheit  und  darum 

schlimmer  als  eine  ganze  Lüge.  Die  naturwissenschaft- 


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19  — 


Kdie  EntrierangdeB  Geschlechtslebens  scheint  uns  Ter- 
werflich.  Wenn  wirklich  eine  künstliche  Aufklärung 
der  firOhen  Jugend  nötig  ist,  empfiehlt  sich  weit  eher 
das  Studimn  der  Geschichte.  Die  erhabenste  Wirkung 
der  Geschichte  ist,  daft  sie  auf  jeder  Seite  die  Grund- 
gewalt der  Liiebe  zeigt.  Sie  müflte  nur  anders  ge- 
Mui  werden^  als  es  heute  geschieht.  Man  soll  nicht 
Antonius,  den  TriumTir,  für  einen  Schw&chlingjer- 
klären,  weil  er  »um  eines  Weibes  willen  eine  Welt 
ferlorc,  sondern  man  soll  ihn  als  großen  Römer 
seigen,  wie  ers  war,  der  vor  der  Gröfie  eines  Weibes 
ins  Knie  sank,  weil  er  ein  Mann  war.  Man  soll  unserer 
Jugend  nicht  ängstlich  verschweigen,  welche  Rolle 
dis  Weib  im  Lel^n  unserer  Gröfiten  gespielt  hat, 
sdl  lehren,  dafi  kein  harmonischer  Charakter  je  se- 
iHldet  ward  ohne  den  Glana  jugendlicher  Küsse,  Sa& 
Bedeutendes  niemals  entstanden  ist  ohne  das  Weib. 
Man  soll  den  Buben  in  der  Schule  durch  eine  wahr- 
hafte Darstellung  der  Geschichte  tiefe  Achtung  yor 
dem  Weibe  einflößen,  den  Mädchen  wird  aus  dem 
Reichen  Studium  henlicher  Stolz  auf  ihr  Geschlecht 
erwachsen.  Man  sollte  meinen,  dafi  gründliches  Studium 
ißr  Geechichte  für  die  Wahrheit  des  Geschlechts- 
lebens und  auf  Hochhaltung  des  erwachenden  Triebes 
besser  vorbereitet  als  die  Anatomie  des  Bandwurms. 
Mit  anderen  Augen  wird  ein  so  gelehrtes  Kind  das 
Verhältnis  seiner  Eltern  ansehen  und  eine  Mutter 
eder  ein  Vater  wird  leichteren  Herzens  zur  Erklänmg 
der  »brutalenc  Tatsachen  schreiten  können,  wo  dies 
notwendig  ist.  Wenn  die  Kinder  aus  der  Schule  die 
Moral  der  Weltgeschichte  nach  Hause  bringen,  anstatt 
der  heuchlerischen  Sittlichkeit,  wird  man  sich  vor 
ihnen  nicht  mehr  entschuldigen  müssen,  dafi  man 
liebt.  Der  Zynismus,  mit  dem  Kinder  von  Alters- 
genossen die  Wahrheit  erfahren,  steht  offenbar  höher 
als  was  sozialpolitische  Mütter  schwatzen,  die  der 
lockigen  Unschuld  Staubgefäße  zeigen,  wenn  die  Kinder 
der  Reife  nahe,    das  Wunderbare  erwarten,  das   sie 


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~  20    - 


ahnen.  Solche  Weiber  sollte  man  eigentlich  verbrennen 
wie  Wetterhexen.  Denn  hätten  sie  nicht  ihrer  eigenen 
Jugend  ruchlos  vergessen,  noch  unter  der  Asche 
mi^te  eine  Erinnerung  'glühen,  dafi  ihnen  Honig  von 
den  Lippen  flöfie  statt  der  grauen  Theorie.  Wären  es 
noch  frommgläubige  Christen,  die  ein  asketisches 
Ideal  im  Busen  nähren,  man  könnte  sie  um  ihres 
Ideales  willen  achten.  So  aber  ist  es  abscheulich, 
wenn  sie  endlich  doch  von  menschlichen  Verhält- 
nissen reden,  die  Jeremiade  des  Geburtsaktes  weit 
auszuspinnen  (Typus:  was  habe  ich  um  dich  leiden 
-müssen!)  und  in  das  fruchtbare  Qemüt  des  Kindes 
Kummer  imd  Sorge  zu  pflanzen,  als  wäre  dies  die 
Wirkung  des  Geschenkes,  um  das  die  Menschen  von 
den  Himmlischen  beneidet  werden.  Soll  das  Kind  für 
seine  Geburt  verantwortlich  gemacht  werden?  Viel- 
leicht gibts  wirklich  vorlaute  Kinder,  die  als  ge- 
bührende Antwort  finden:  du  hättest  dich  sollen 
chloroformieren  lassen.  Könnte  man  nicht  Mütter 
heranbilden,  die  sich  getrauen,  bei  der  Aufklärung 
der  Blinder,  mit  den  Freuden  der  Liebe  zu  beginnen» 
wie  es  bei  ihnen  geschah,  und  sollte  das  sonnige 
Kinderherz  für  solche  Freuden,  die  es  selber  erwarten, 
nicht  mehr  Verständnis  haben  als  für  durchaus 
hysterische  Erinnerung  an  Leiden,  die  ein  gesundes 
Weib  vergisst^ 

Frauen  sind  bildsam.  Wo  aber  finden  wir  die 
Lehrer  der  Geschichte?  Es  ist  beschlossen,  weniger 
von  Schlachten  zu  sagen,  mehr  von  Gesetzen,  Ver- 
trägen, Erfindungen.  Dafi  man  auch  von  Frauen 
mehr  sagen  müfite,  ist  nicht  beschlossen  worden.  Eis 
kommt  viel  darauf  an,  wer  etwas  unternimmt.  Unsere 
Geschichtslehrer  —  mit  wenigen  Ausnahmen  — ^ 
sollen  von  Frauen  lieber  schweigen.  Sie  sind  gute 
Christen  und  wissen  es  nicht  anders,  als  dafi  die 
Liebe  eine  Sünde,  und  die  Sünde  durch  das  Weib  in 
die  Welt  gekommen  sei.  Es  ist  unverständlich,  wie 
im  Gymnasium  hellenische  Kultur  und  Sprache  gelehrt 


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—  21  — 

wird,  ohne  dem  Weibe  und  auch  der  Umingliebe, 
die  doch  nur  eine  Liebe  zum  Weibe  über  d»a  Weib 
hinaus,  nämlich  zum  Weibe  im  Knaben  war,  die 
breiteste  Beachtune  su  schenken.  Die  Philologen 
trauern  darüber,  dafl  die  griechische  Sprache  im 
Gymnasium  dem  Untergange  eeweiht  ist;  sie  sind 
selber  schuld  daran.  Sie  nahen  die  Quelle  aller  Kultur, 
den  herrlichsten  Traum  der  Menschheit  übel  bewahrt. 
Von  Phryne  und  Lal's  kaum  ein  Wort;  aber  sahi- 
reiche Fünfer  für  alle,  die  nicht  pünktlich  wufiten, 
was  cSpco  für  eine  Form  sei.  Einzig  ron  einer  neuen 
Renaissance  des  Hellenismus  ist  das  sexuelle  wie 
jedes  andere  Heil  zu  erwarten.  Aber  es  scheint,  als 
müsse  der  Pan  erst  ganz  und  gar  tot  sein,  ehe  er 
wieder  auferstehen  kann. 

Was  soll  man  gar  Ton  Ärzten  sagen,  die  im 
Anschluß  an  eine  Belehrung  über  Qeschlechtskrank- 
heiten,  Abstinenz  vom  Weibe  predigen.  Hat  das  Weib 
sich  so  sehr  yerändert  seit  der  Zeit  der  Mänaden, 
dafi  Arzte  unangefochten  weiter  lehren  können,  die 
behaupten,  dafi  die  röUige  Geschlechtsreife  erst  mit 
dem  füufundz wanzigsten  Lebensjahr  beginnt,  die 
ernstlich  der  Meinung  sind,  die  Überernährung  der 
wohlhabenden  Stände,  langes  Schlafen  in  weichen 
Betten,  aufreizende  Auslagen  der  inneren  Stadt  seien 
überhaupt  an  dem ,  Rummel  schuld?  Solche  Arzte 
haben  einen  tiefen  Blick  ins  Wesen  der  Natur  getan. 
Sie  verdienen  den  Namen  Nätvforscher. 

Fritz  Witteis. 


Ö.  G.  Z.  B.  D.  Q*) 

So  nannte  sie  sich.  Ich  fand  die  geheimnisvollen  . 
Zeichen  auf  dem  Kuvert  eines  Briefes,    den  mir  die 
Post  brachte.  So  und  nicht  anders  mufl  Belsasar  zu 
Mute  gewesen  sein,    als  ein  Finger  an  der  Wand  au 

*)  Am  dem  ,Slniplicissinius'. 

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—  22  — 


schreiben  begann.  Aber  diese  rätselhafte  Inschrift  zu 
deuten,  hätte  sich  selbst  ein  Daniel  vergebens  be- 
müht. Ö.  G.  Z.  B.  D.  G.  Etwas  stand  mir  bevor. 
Zögernd  besah  ich  den  Brief.  Gewogen  und  zu  leicht 
bemnden?  Immerhin,  dafür  mufl  man  kein  Straf- 
porto zahlen.  Um  dieser  schrecklichen  Ungewifiheit 
ein  Ende  zu  machen,  entschloß  ich  mich  endlich, 
den  Brief  zu  öffnen.  Da  stellte  sich  heraus,  daß  der 
Finger  an  der  Wand  einem  gleichnamigen  Spezialisten 
für  geheime  Krankheiten  gehörte,  der  es  mit  Rück- 
sicht auf  die  öffentliche  Gesundheit  nötie  fand,  den 
Sündern  dieser  Welt  zuzurufen:  Ö.  G.  Z.  B.  D.  G. 
Ununterbrochen  rief  er  es.  In  die  Paläste  der  Reichen 
imd  in  die  Hütten  der  Armen  erschallte  sein  Ruf,  und 
wo  zwei  Obelberatene  daran  waren,  der  Stimme  der 
Natur  zu  folgen,  war  der  Ruf  stärker  als  die  Stimme. 
ö.  G.  Z.  B.  D.  G.  I  Erst  später  wurde  es  mir  offenbar, 
daß  es  sich  um  nichts  geringeres  als  um  die  Gründung 
einer  »Osterreichischen  Gesellschaft  zur  Bekämpfung 
der  Gtoschlechtskrankheitenc  handelte.  Ich  hatte  es 
also  erraten,  denn  mir  war  sogleich  beim  Anblick 
der  vorsichtigen  Chiffre,  die  sich  diese  Eampfgesell- 
schaft  erwählt  hatte,  die  »öffentliche  Geneigtheit  zur 
Bewahrung  des  Geheimnissesc  über  diese  Fragen  ein- 
gefallen, und  ich  war  nur  im  Zweifel,  ob  es  sich 
nicht  auch  um  eine  öffentliche  Gelegenheit  zum  Be- 
weise der  Geistlosigkeit  handeln  könne.  Als  ich 
aber  erfuhr,  daß  der  Verein  die  Veranstaltung  einer 
Enqudte  vorhabe,  da  verlor  ich  die  Spur  meiner 
ursprünglichen  Auffassung  und  dachte  nur  mehr 
an  die  öftere  Geneigtheit  zur  Betätigung  der 
Gschaftlhuberei.  Und  siehe,  auch  diese  Deutung 
brachte  mich  dem  wahren  Sinn  der  Inschrift  nahe. 
Es  handelte  sich  also  um  einen  Verein,  dessen 
Mitglieder  statutengemäß  verpflichtet  waren,  keine 
Geschlechtskrankheit  aufkommen  zu  lassen.  Ich  sym- 
pathisierte umsomehr  mit  den  Bestrebungen  dieses 
Vereines,  als  ich  mich  aus  den  Zeitungsartikeln,  die 


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—  23  — 


der  Vorstand  su  propagaDdistUohen  Zwecken  ver- 
öffenüichte,  davon  überzeugen  konnte,  daft  er  auf 
dem  einaig  riofatigen  Wege  sei,  das  Ziel  der  Aus- 
rottung der  Oeschlechtskrankheiten  endlich  zu  er- 
reichen. Der  VereinsTorstand  ging  von  der  Ansicht 
aus,  dafi  man  ihnen  durch  Enthaltsamkeit  und  tadel- 
losen Lebenswandel  ein  sicheres  Ende  bereiten  könne, 
und  nichts  schien  mir  logischer  und  unanfechtbarer. 
Hatte  man  doch  auf  Grund  wissenschaftlicher  Ex- 
perimente festgestellt,  dafi  die  Ursache  der  Syphilis 
im  Gtoschlechtsyerkehr  zu  suchen  sei.  Nur  Prüderie 
und  falsche  Scham  hätten  den  Vereinsvorstand  davon 
abhalten  können,  der  Welt  das  einzig  unfehlbare 
Mittel  gegen  die  Infektion  zu  offenbaren.  Freilich,  so 
sehr  man  auch  die  Gesinnung  anerkannte,  die  diese 
Aktion  ins  Leben  rief,  so  muflte  man  doch  die  Schwierig- 
keiten bedenken,  die  sich  ihr  in  den  Weg  stellen, 
und  sich  sagen,  dafi  die  Welt  heute  noch  nicht  auf 
der  sittlichen  Höhe  solcher  Anschauungen  steht.  Denn 
die  Menschen  sind  Heuchler  genug,  um  einem  Verein, 
der  so  wertvolle  Erkenntnisse  wie  die  vom  Nutzen 
der  Enthaltsamkeit  propagiert,  bestenfalls  als  unter- 
stützende, aber  nicht  ab  ausübende  Mitglieder  beizu- 
treten. Ich  beurteilte  die  Aussichten  des  Vereins 
nach  meinem  eigenen  Verhalten  und  fürchtete  vom 
ersten  Augenblick  an,  dafi  seine  idealen  Bestrebun- 
gen an  dem  Widerstand  des  Publikums  scheitern 
würden. 

Die  0.  G.  Z.  B.  D.  G.  liefi  sich  aber  nicht  ein- 
schüchtern, und  um  den  weitesten  Kreisen  die  Zweck- 
dienlichkeit der  eingeschlagenen  Methode  zu  beweisen, 
entschloft  sie  sich,  eben  jene  Enqudte  einzuberufen, 
an  der  die  genauesten  und  fachlich  geschultesten 
Kenner  der  Sittlichkeit  dem  Publikum  auf  gütlichem 
Wege  zureden  sollten,  den  Geschlechtskrankheiten 
das  Feld  zu  räumen,  da  ja  doch  an  ein  nachgiebiges 
Zurückweichen  des  Feindes  nicht  zu  denken  sei.  Noch 
weniger  aber  sei  Hilfe  von  der  Wissenschaft  zu  erwarten, 


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-24- 


die  es  vorläufig  yersohmähei  aioh  mit  einem  Gegner 
einzulassen,  der  seine  Macht  auf  der  Basis  der  Un- 
moral behaupte.  Aus  dem  Einladungsschreiben,  das 
ich  erhielt,  entnahm  ich  au  meiner  Genugtuung,  dafi 
man  zwar  Ton  yomherein  darauf  yerzichtet  hatte, 
mich  als  Vereinsmitglied  zu  gewinnen,  aber  den 
gröftten  Wert  darauf  leizrte,  mich  als  Experten  in 
aieser  Frage  zu  hören.  Beides  schmeichelte  meiner 
Eitelkeit,  aber  vor  allem  fühlte  ich,  dafi  man  in  mir 
den  Schriftsteller  sah,  der  das  unvergängliche  Ver- 
dienst hat,  in  einer  Zeit,  die  die  Geschlechtskrank- 
heiten zwar  zu  haben,  aber  nicht  zu  nennen  wagte, 
als  erster  das  Wort  »Syphilisc  ausgesprochen  zu 
haben.  Denn  diese  mit  bis  dahin  als  eine  Krankheit, 
bei  der  Diskretion  Ehrensache  war,  ja  mehr  als  das, 
Hauptsache,  und  die  Zeitungen  schwiegen  von  ihr, 
als  ob  es  sich  um  einen  Aktienschwindel  handelte, 
oder  drückten  sich  so  respektvoll  um  sie,  als 
wäre  die  Erlangung  einer  wirklichen  geheimen  Krank- 
heit mit  dem  Ezzellenztitel  verbunden.  Hatte  man 
also  die  Syphilis  bis  dahin  totgeschwiegen,  so  schien 
es  jetzt,  als  ob  man  sie  eher  durch  »Besprechungc 
bannen  wollte.  Hatte  man  früher  im  Geheimen  ge- 
sündigt, so  wollte  man  jetzt  im  vollsten  Lichte  der 
Öffentlichkeit  enthaltsam  sein.  Die  neue  Methode,  die  zur 
Ausrottung  des  Übels  führen  sollte,  war  die  ungleich 
radikalere.  Wenn's  in  ein  Dach  hineinregnet,  so  wird 
diesem  Mifistand  durch  eine  Demolierune  des  Hauses 
ein  rascheres  Ende  bereitet,  als  durch  die  Vertuschung 
des  Nafiwerdens.  Wenn  man  aber  vorsichtshalber 
auch  die  Bewohner  des  Hauses  aussterben  läftt,  so 
ist  die  Behebung  der  Fatalität  mit  unumstöflliohw 
Sicherheit  gewämleistet.  Der  Vorsatz  nun,  der  Lust- 
seuche nicht  etwa  durch  eine  Bekämpfung  der  Seuche, 
sondern  durch  Scfhutamafiregeln  gegen  die  Lust  den 
Garaus  zu  machen,  hätte  mich  keineswegs  abge- 
schreckt, mich  an  der  BnquAte  zu  betdUgeo,  deren 
Plan   mir  im  Gegenteil  schon  deshalb  sympathisch 


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—  26  — 


war,  weil  ein  Aussterben  der  Menschheit  notwen- 
digiM^rBlse  auch  ein  Ausstetben  der  Dummheit  nach 
sich  sieht,  und  in  weiterer  Folge  dann  auch  jede 
Enqudte  zur  Bekämpfung  der  Geschlechtskrankheiten 
im  Keime  erstickt  wird.  Aber  leider  konnte  ich  mit 
der  Art,  wie  die  ö.  G.  Z.  B.  D.  G.  ihre  Absichten 
propagierte,  ganz  und  gar  nicht  einverstanden  sein. 
Nach  der  taktyoUen  Einführung  auf  den 
Kuverts  der  Ladungen  hatte  man  erwarten  können, 
dafi  die  Vereinsleitung  sich  «mit  der  Empfehlung 
d&r  Ekithaltsamkeit  begnügen  und  den  ohnedies 
genug  verbreiteten  Krankheiten  nicht  auch  noch  in 
einer  das  Schamgefühl  des  Zeitungsleeers  gröblich 
verletzenden  Weise  Reklame  machen  werde.  Man  kann 
es  ja  in  der  Tat  nicht  billigen,  dafi  Spezialftrzte  vom 
journalistischen  Ehrgeiz  befallen  werden  und  gegen 
die  Lues  nur  mehr  jene  Schmierkur  anwenden,  die  an 
und  für  sich  schon  mit  der  Pflicht  ärztlicher  Ver- 
schwiegenheit kollidiert.  Allerdings  fand  ich  in  einem 
Artikel,  den  der  Einberufer  der  Enqudte  als  ein  Mahn- 
wort an  die  Menschheit  veröSSsnUichte,  die  Namen 
jener  Infektionen,  vor  denen  gewarnt  wird,  feinfühlig 
verschwiegen  und  diese  blofi  als  »eine  bestimmte 
Qrvq>pe  von  Krankheiten«  definiert.  Aber  dafür  be- 
klagter sich  der  Verfasser  über  die  Heuchelei  der 
Gesellschaft,  die  sie  aus  lächerlichen  Schicklichkeits- 
rOcksichten  nicht  einmal  mit  ihrem  wahren  Namen  zu 
nennen  wage.  Die  Heuchelei  ist  gewifi  eine  noch  ge- 
fährlichere ansteckende  Krankheit,  der  auch  die  Arzte 
nicht  entgehen,  aber  der  Verfasser  mtnnte  sie  trotz- 
dem, wir  erfuhren  sogar,  dafi  Gelenksentzün- 
dung,  Baochfdlentzflndiiiig  und  Wodienbettfieber 
die  Folgen  einer  anderen  ansteckenden  Krank- 
heit sind,  aber  diese  selbst  muBte  sich  damit  be- 
gnfigeo,  als  »eine  der  uns  hier  interessierenden 
Kraädieiten«  bezeichnet  zu  werden.  Leider  bewahrte 
der  Verfasser  diese  wohltuende  Zurückhaltung  nidxt 
auch  gegenüber  der  zweiten  uns  hier  interessier^iden 


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-  26  — 


Krankheit,  und  da  er  es  für  notwendig  hält,  dafi 
unsere  Gesellschaft,  den  Standpunkt  der  Prüderie  in 
diesen  Dingen  aufgebe,  so  entschloß  er  sich  in  einem 
unüberlegten  Augenblick,  glücklicherweise  erst  ^ans 
zum  Schlufl  des  Artikels,  ihr  wenigstens  den  Namen 
»Syphilisc  zu  verraten.  Diese  Indiskretion  verletzte 
mich  derart,  daß  ich  es  nicht  über  mich  bringen  konnte, 
der  ö.  G.  Z.  B.  D.  G.  meine  Expertise  zur  Verfügung 
zu  stellen.  Der  Verlauf  der  Bnqu6te  war  leider  nur 
zu  sehr  geeignet,  mich  in  meinem  Mißtrauen  zu  be- 
stärken. Ein  Hofschauspieler  hatte  zwar  die  aus- 
drückliche Versicherung  abgegeben,  daB  er  gegen 
das  DecoUet^  einer  Kollegin  Gottseidank  gefeit 
sei,  dafi  ihm  also  die  Schönheit  nichts  anhaben 
könne,  auch  wenn  sie  nichts  anhabe;  ich  freute 
mich,  dafi  die  Propaganda  der  Unterlassung 
wenigstens  in  Theaterkreisen  auf  einiges  Verständ- 
nis stofie,  und  schöpfte  die  Hoffnung,  dafi  am 
Ende  vielleicht  auch  die  Geistlichkeit  sich  für  die 
Abstinenz  gewinnen  liefie,  wenn  etwa  ein  Komödiant 
sich  entschließen  sollte,  einen  Pfarrer  zu  lehreu.  Aber 
sonst  boten  die  Sitzungen  wenig  Erfreuliches.  Zeit- 
weise wurde  man  sogar  über  den  Sinn  der  geheim- 
nisvollen Initialen  wieder  in  die  Irre  geführt,  denn 
manchmal  klangs  wie  öliges  Geschwätz  zur  Be- 
ruhigung des  Gewissens,  und  mit  der  Enthaltsamkeit 
schien  einem  das  Mittel  der  Schadloshaltung  sozu- 
sagen an  die  Hand  gegeben,  der  Finger  an  der  Wand 
schrieb  seine  eigene  Schand,  und  das  traurige 
Zeichen,  in  dem  die  ö.  G.  Z.  B.  D.  G.  zu  siegen 
schien,  hielt  einem  die  pädagogische  Mahnung  gegen- 
wärtig: Öde  Gewohnheiten  zerstören  bald  die  Ge- 
sundheit .  .  .  Dann  aber  kam  das  Thema  jener 
Liebe  an  die  Reihe,  bei  der  nach  der  land- 
läufigen Ansicht  der  eine  Teil  immer  der  Not 
gehorcht  und  nur  der  andere  dem  eigenen  Trieb, 
nämlich  die  Prostitution.  Hier  glaubte  man  jeden 
Augenblick,    der    bekannte   Major   würde    als    deus 


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—  2T  — 


ex  machiaa  erscheinen,  der  auf  deutschen  Sittlioh- 
keitBkongressen  sum  Zwecke  der  Ausrottung  der 
Prostitution  eine  schlechtere  Besahlung  der  Prosti- 
taierten  su  verlangen  pflegt,  wodurch  zwar  die  Not 
yergröflert  wird,  aber  wenigstens  der  eigene  Trieb 
befriedigt  werden  kann.  Zum  Thema  der  »Sexuellen 
Aufklarung«  hätte  ich  selbst  sprechen  sollen.  Ich  zog 
es  vor,  dem  VereinsTorstand  schriftlich  meine  Ab- 
sage zu  erteilen,  und  zwar  schon  deshalb,  weil  ich 
fEIrchten  muflte,  gerade  durch  dieBeantwortung  dieser 
Frage  Anstoß  zu  erregen.  Nichts  liege  mir  femer, 
schrieb  ich,  als  deren  yitale  Bedeutung  zu  unter- 
schätzen. Aber  was  mir  darüber  zu  sagen  notwendig 
scheine,  hätte  ich  oft  genug  schon  gesagt,  und  ich 
könnte  nur  neuerdings  bekennen,    für  wie  dringend 

fdboten  ich  es  halte,  daß  die  Kinder  endlich  die 
Itern  in  die  Geheimnisse  des  Geschlechtslebens  ein- 
fahren. Denn  dunkel  und  verschlungen,  schrieb  ich, 
sind  die  Pfade,  auf  die  es  führt,  und  wie  oft  strauchelt 
ein  Erwachsener! 

Ich  zweifelte  allerdings,  ob  mein  Schreiben  in 
der  Enqu6te  zur  Verlesung  gelangen  würde.  Mit  Un- 
recht würde  man  es  als  den  Ausdruck  einer  zynischen 
Lebensanschauung  auffassen.  Aber  ich  weifi,  dafl  die 
Zukunft  mir  Recht  geben  wird.  Vorausgesetzt  natür- 
lich, dafl  die  Menschheit,  soweit  sie  sich  der  Pro- 
paganda der  Keuschheit  anschliefit,  eine  Zukunft 
noch  hat.  Aber  auch  jetzt  schon  kann  man  an  täg- 
lichen Beispielen  sehen,  wohin  die  Unerfahrenheit 
der  Erwachsenen  führt.  Hätten  die  Mitglieder  der 
Enqudte  sich  von  ihren  Kindern  rechtzeitig  darüber 
aufklären  lassen,  wie  rege  die  Oeschlechtstriebe  im 
Menschen  sind,  sie  wären  nie  auf  die  Idee-  verfallen, 
die  Enqudte  ins  Leben  zu  rufen.  Denn  die  Ent- 
haltsamkeit ist  zwar  nach  Busch  das  Vergnügen  an 
Dbgen,  welche  wir  nicht  kriegen,  aber  Max  und 
Moritz  wissen  sich  zu  helfen,  und  man  glaubt  gar 
nicht,    wie   vergnügungssüchtig    die  Welt    im    AU- 


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—  28  — 


gemeinen  ist.  Sie  kriegt  lieber  Geschlechtskrankheiten, 
als  dafi  sie  auf  deren  Ursache  verzichtet^  denn  sie 
ist  von  jenen  noch  immer  leichter  zu  kurieren,  als 
von  der  Geneigtheit,  sie  sich  unabsichtlich  zuziehen. 
Dafi  die  Gehirnerweichung  mit  der  Syphilis  zusammen- 
hängt, ersieht  sie  ohnedies  aus  den  Sitzungsberichten 
jener  Enqudten,  in  denen  ihr  zum  Schutz  gegen  die 
Gefahr  die  Vermeidung  des  Genusses  empfohlen 
wird.  Sie  läfit  sich  von  Sittlichkeitskongressen 
ebenso  wenig  bange  machen,  wie  von  medi- 
zinischen Versammlungen,  die  sich  als  Sittlichkeits- 
kongresse entpuppen.  Sie  liest  0.  G.  Z.  6.  D.  G. 
und  hofft,  es  werde  ihr  endlich  die  Ortliche 
Gelegenheit  zur  Betätigung  des  Geschlechtstriebes 
verraten  werden.  Denn  diese  ist  es,  die  ihr  so  oft 
durch  einen  Paragraphenzaun  und  durch  die  Dornen- 
hecke der  Moral  unzugänglich  gemacht  wird.  Müfite 
sie  jetzt  auch  aus  Furcht  vor  venerischen  Krank- 
heiten auf  den  Anblick  der  Venus  verzichten,  so 
würde  sie  trübsinnig.  Sie  riskiert  lieber  die  Liebe, 
als  die  Niete  der  Verzweiflung  zu  gewinnen. 
Schlimmeres  kanp  ihr  nicht  geschehen,  als  dafi  sich 
die  Beschäftigung  mit  der  Lues  einigen  strebsamen 
Professoren  aufs  Gehirn  schlägt,  so  dafi  der  Beförde- 
rung zu  Hofräten  nichts  mehr  im  Wege  steht,  und 
sie  gehorcht  dem  Naturwillen,  wenn  es  auch  vor- 
läufig immer  noch  mehr  Orden  für  die  Bekämpfer 
der  Geschlechtskrankheiten  gibt  als  Mittel  zu  deren 
Bekämpfung.  Die  Spezialisten  werden  ihr  vielleicht 
einmal  in  der  Ordinationsstunde  wertvolle  Dienste 
leisten  können.  Wenn  sie  ihr  aber  in  einer  Enqudte 
Enthaltsamkeit  verordnen,  so  ist  im  Himmel  mehr 
Freude  über  einen  Sünder,  der  nicht  bereut,  als 
über  hundert  Gerechte,  die  E^arriere  machen. 

Karl  Kraus. 


, 1  Karl  Kra«!. 

Dnck  von  Jihodt  *  Siagd«  Wien  UI.  Hintere  ZoUanilHlriSe  S. 


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DIE  FACKEL 

:  KARL  KRAUS 

lil    ;fra::i,iu.r;,     i'OlgC    llB    OffifcHg    fOD    18—32 

BKZT7GS.SEDINQUNOEN! 


IS  AbOBnem^Dt  erstreckt  «ich  nicht  auf  elaea  Zeft 
tum.^oddern  Auf  eine  bettiaiinte  Anzahl  ▼»Nummern. 

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ischinsch reibarbeiten    nach    Diktat,    ^ 

tii.nnigen  in  ieder   Art  bliincti   24 

MüiN  ÜCdis.j[^iiri  JG/  sina  wien,  üv.  ocnwinagasse  3 
adressier  en.  Unverlangte  Manuskripte,  denen  1 
frankiertes  Knvert  beiliegt,  werden  nicht  znrückgegret 

Eg  Wird  ersacht,  administrative  Mitteilimgen  nioht  an  dsn  Heraosgebtr 
redaktionelle  nicht  an  den  Verlag  gelanoen  za  lassen. 


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OBSERVER,    Wien,  l.  Concordlaplati  Hr.  4  (Telephon  Bf, 

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ROBERT  SCHEU,  Wien,  IV.  Theresianui 

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HAZIMILIiN  HARDE 

Eine  Erlßdigung.     Rin  Nachrul 


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X.  Jahr. 


e  Fackel 

Herausgeben 

ARL  KHADS. 


"""atikar.  Carl  Kraus.  —  Sittlich- 

uiiener  Brief  an  Herrn  Karl 

aeus  Hein  rieh.  —  Überietzung; 

DieForam-Szeiie.  -  Mencchon- 

Eulenborg. 


llrSoheint   in   zwangloser   Folge. 


'JClultCB. 


WIEN. 


Der  Herausgeber  dankt  für  die  Gi 
die  ihm  aus  dem  Anlaß  der  2i 
Nummer  der  „FACKEL"  zugekomj 

sind. 

In  zweiter  Auflage  erschiei 


Sittlichkeit  u.Kriminali 

I.  Band  der  Ausgewänuen  Schrij 


von 


BroBohiert 
Ganzleinen 


K  7.20 
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iieblellungen  auf  uas  im  Verlag  der  Bü 
handlang  L.  Rosner,  Wien  und  Leipa 
'^^•""^■'"^lene     Werk    nimmt    jede    Bxt 

Jer  Verlag  i|#^^  ,F2^ 


Die  Fackei, 


nn.  251-52  WIEN.  28.  APRIL  1908  X.  JAHR 


Zwischenfalle  im  Vatikan. 

Zuerst   las  man   zwei  Notizen   nebeneinander: 
»Ostern    im   Vatikan«    und     »Ein    Zwischenfall    im 
Vatikan«.    Ein  gesperrt    gedruckter   Name    in    der 
ersten   Notiz    unterrichtete    augenblicklich  darüber, 
wie  die  Ostern   im   Vatikan  gefeiert  wurden.    Der 
Papst  empfing  nämlich    Osterreichische  Pilger,    und 
wer,  glaubt  man,  hat  den  Dolmetsch  gemacht?   Ein 
päpstlicher  geheimer  Kämmerer  natürlich.   Und  wie 
heißt  er?  Lippay.  Oonte  ijippay.  Er  »weilt«  seit  einigen 
Tagen   in  Rom,   um   wieder   ein  Bild    des  Heiligen 
Vaters  zu  malen.  Ich  nahm  also  ursprünglich  an,  daß 
sich  darauf  die  Meldung  von  dem  peinlichen  »Zwischen- 
fall im  Vatikan«  bezog.  Aber  tiefer  unten  war  tatsäch- 
lich von   einer  anderen  Religionsstörung,    die    den 
Gläubigen  Ärgernis  gab,  die  Rede.  Die  zweite  Afifäre 
hat  sich   inzwischen   entwickelt  und  zu  einer  euro- 
päischen Sensation  ausgewachsen.  Die  erste  finde  ich 
schlinmien    Denn  dafl  der  Herr  Professor  Feilbogen, 
dessen  wissenschaftliche  und  bürgerliche  Harmlosig- 
keit  von   der   ruhigeren   klerikalen    Publizistik    an- 
^  itnnt  wird,    dafl  auch   seine  in   der  Sixtinischen 
»eile     überflüssige     Schwägerin,     deren     Unge- 
üeit  im  Empfangen  der  Kommunion  das  Malheur 
schuldet  hat,  nach  Rom  nicht  mit  der  Absicht  kam, 
Sakrileg  zii  begehen,   kann  wohl  nicht  bestritten 
rden.    S   ist   eme   Infamie    sondergleichen,    auf 
.an  Mann,    dem  blofl   die  Taktlosigkeit  zur   Last 
b,   sich    um    den  Einlafi    zur  Ostermesse  bemüht 


-  2   - 


B5U  haben,  oder  der  vielleicht  ^ar  nur  das  Opfer 
weiblicher  Sensationsläufigkeit  ist,  die  Erbitterung 
der  gläubigen  Menschheit  zu  laden.  Dafi  er  die 
Redakteure  des  ^Deutschen  Volksblatts^  um  Ver- 
zeihung bittet  und  reuig  seine  Konvertierung  anbietet, 
und  dafi  das  Professorenkollegium,  dem  er  angehört, 
schleunigst  eine  Kundgebung  gegen  ihn  beschliefit, 
ist  nur  ein  trister  Beweis  dafür,  wie  hierzulande  die 
Politik  den  Charakter  verdirbt.  Und  peinlich  genug 
ist  auch  die  Schilderung,  die  dieser  Romfahrer 
vor  der  Königin  der  Wiener  Journidistik  entwirft. 
Man  vergleiche  nur,  was  Mortimer  der , Neuen  Freien 
Presse^,  und  was  Feilbogen  der  Maria  Stuart  be- 
richtet: 


Die  Osterreiie  nach  Rom  war 
ffir  mich  die  Erfüllung  einer  jahr- 
zehntelangen Sehnsucht  nach  dem 
Erlebnis,  das  antilce  und  künst- 
lerische Rom  aus  eigener  Anschau- 
ung kennen  zu  lernen  . . .  Der  Oster- 
messe des  Papstes  als  Zuschauer 
beizuwohnen,  gilt  als  besonders 
hohes  Erl^nis  und  wird  von 
Fremden  sehr  angestrebt ...  Im 
Augenblicke  unserer  Ankunft  ge- 
rieten wir,  ehe  wir  viel  fiberlegen 
konnten,  in  einen  Zug  hinein,  der 
sich  zwischen  den  Bänken  der 
Kapelle  bewegte  und  uns  nach  vorne 
trug . . .  Von  der  imposanten  Feier- 
lichkeit der  Handlung  inmitten 
eines  wahrhaft  illustren  europäi- 
schen Publikums  und  dem  erdrük- 
kenden  Ehrfurchtsgefflhl,  in  der 
unmittelbaren  NAhe  des  unter  herr- 
lichen Chorgesflngen  pontifizieren- 
den  Oberhauptes  der  weltumfas- 
senden Kirche,  kann  sich  niemand 


In  schnellei^  Lauf 
Durchzog    ich  Frankreich,   das  ge- 
priesene 
Italien  mit  heifiem  Wunsche  suchend. 
Es  war  die  Zeit    des   großen  Kir- 

chenfests, 
Von  Pilgerschaaren'  wimmelten  die 

Wege, 
.  .  .  Mich  selbst 

Ergriff  der  Strom    der  glaubenvol- 
len Menge ... 
Wie  ward  mir,  Königin  I 
...  Ich  hatte  nie  der  Künste  Macht 

gefühlt; 
Es  haßt  die  Kirche,  die  mich  auferzog. 
Der  Sinne  Reiz,  kein  Abbild  duldet 

sie  .  .  . 
Wie  wurde  mir,  als  ich  ins  Innre  nun 
Def  Kirchen  trat  .  .  . 
Als  ich  den   Papst    drauf   sah    in 

seiner  Pracht 
Das  Hochamt  halten  und  die  Völ- 
ker segnen. 
O,  was  ist  Goldes,was  JuwelenSchein 
Womit  der  Erde  Königesich  schmük- 

kenl 
Nur  er  ist  mit  dem  Qöttlichen.um- 

geben. 
Ein  wahrhaft  Reich,    der   Himmel 
ist  sein  Haus, 

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-  8 


eine  Vorstdlung  machen,  der  etwas 
Derartiges  nicht  erlebt  hat.  Und 
sdion  wendete  sich  der  Heilige 
Vater  mir  zu  .  .  . 


Denn  nicht  von  dieser  Welt   sind 
diese  Formen. 

Der    Treffliche    ließ    selber    sich 
herab  •*• 


In  Wahrheit  war  Herr  Dr.  Feilbogea,  der  Pro- 
fessor an  der  Ezportakademie  ist»  wirtsohaftspolitischer 
Stadien  halber  nach  Rom  gekommen,  und  ein  heil- 
kwes  MifiverBtändnis  hat  es  yersohuldety  dafi  er  sich  in 
beruflichem  Übereifer  an  die  Kommunionbank  heran- 
drftngte.  Dies  ist  aber  auch  die  ganze  Schuld,  die  ihn 
tri£Et.  Sein  weiblicher  Anhang  mae  seinen  Irrtum  mifl- 
braucht  und  der  eigenen  Neugierde  dienstbar  gemacht 
haben.  Von  der  Absicht,  ein  Sakrileg  eu  begehen,  kann 
nicht  dieRedesein.  Wenn  die  katholische  Christenheit,  die 
immer  den  größten  Wert  auf  dieVerletzungihrerGtofühle 
1^  durcluius  ein  Ärgernis  nehmen  will,  so  halte  sie 
sich  an  den  anderen  Zwischenfall  im  Vatikan.  Der  Papst 
ist  durch  ^en  Verkehr  mjt  dem  Maler  Lippa^  daran 
gewöhnt,  das  israelitische  Element  in  der  Sixtmischen 
Kapelle  vertreten  zu  sehen;  es  ist  ^anz  ausgeschlossen, 
dafi  ihn  das  Benehmen  der  Familien  Feubogen  und 
Zwack  überraschen  konnte.  Aber  die  wahren  Qläubigen 
werden  die  Ungeschicklichkeit  einer  Frau,  die  in  der 
freudigen  Erwartung  eines  Wiener  Jourtratsches  die 
heilige  Handlung  störte,  viel  glimpflicher  beurtei- 
len als  die  Tatsache,  dafi  der  heilige  Vater  unauf- 
hörlich vom  Conte  Liipschitz  aus  Pilsen  gemalt  wird, 
der  es  noch  dazu  absichtlich  tut.  Auch  dem 
in  der  Andacht  versunkenen  Katholiken  könnte  es 
passieren,  dafi  er  angesichts  der  vatikanischen  Reklame 
eines  absolut  talentlosen  Malers  eine  Geste  macht,  die  in 
der  entstehenden  Verwirrung  als  Ausspucken  gedeutet 
wird.  Selbst  Mortimer,  der  vordem  »nie  der  Künste  Macht 
gefohlt«  hat,  hätte  von  der  »Gestalten  Fülle,  die  ver- 
schwenderisch aus  Wand  und  Decke  quoll«,  nicht  ent- 
iflckt  sein  können,  wenn  sie  schon  damals  der  Herr 
Lippaj  geschaSSen  hätte.  Es  reifit  einem  doch  schliefllich 
die  Geduld,  wenn  man  lesen  mufi,  dafi  sogar  jener 
Papstmesse,   in  der  die  Affäre  Feilbogen  sich  zutrug, 

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—   4   - 


»zahlreiche  Mitglieder  der  Osterreichischen  Aristokratie, 
Qraf  Qoluchowskiy  Fürstin  Orsini,  Gräfin  Mettemich, 
Gräfin  Hoyos  und  Gonte  Lippay  beiwohnten«.  Wenn 
der  dabei  ist,  kann  die  Frau  Zwack  auch  dabei  sein. 
So  mag  sie  gedacht  haben.  Denn  sie  wuflte,  dafl  der 
Papst  abgehärtet  ist. 

Karl  Kraus. 


> 


SitÜicfakeit  nnd  KrimiiiaUtftt 

Indem  ich  eine  in  der  Mflnohener  Halbmonats- 
schrift yMärz^  vom  16.  April  1908  enthaltene 
Besprechung  meines  Werkes  in  der  ^Fackel*  abdrucke, 
begehe  ich  einen  Akt  der  Notwehr.  Keine  Zeit- 
schrift sonst,  kein  Tagesblatt  hat  bis  heute  yon  dem 
Erscheinen  meiner  Ausgewählten  Schriften  Notiz  ge- 
nommen. Der  Publizität  der  wenigen  Besprechungen, 
die  zu  erwarten  sind,  mufl  ich  für  eine  österreichisöhe 
OffenÜibhkeit,  die  sonst  wahrscheinlich  keinen  Ton 
über  meine  Bücher  vernähme,  buchstäblich  Nachdruck 
geben.  Dieses  Beginnen  lockt  mich  umsomehr,  als  es 
zu  Mißverständnissen  Anlafl  gibt.  Es  wird  die  Nach- 
rede der  Eitelkeit,  den  bequemsten  Vorwurf  der 
Flachsichtigen,  reizen,  aber  wohl  auch,  mit  einem 
Blick  auf  <ue  Tatsache,  dafl  der  Verfasser  der  von 
mir  selbst  angeführten  Rezension  ein  Kamerad  ist, 
den  Vorwurf  der  Kameraderie.  Denn  für  das  Urteil 
des  Durchschnitts  bedeutet  es  ein  und  dasselbe,  dafl 
das  Theaterstück  eines  Redakteurs  von  einem  Kollegen 
ffelobt  wird,  und  daß  eine  Sache,  gegen  die  sich 
die  vereinig  Publizistik  aller  Richtungen  verschworen 
hat,  von  emem  Schriftsteller  anerkannt  wird,  der  sich 
zu  ihr  durch  Mitarbeit  bekannt  hat.  Wenn  es  viele 

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nicht  verstehen  werden,  dafi  hier  Befangenheit  erst 
mm  Urteil  berufen  macht,  so  wird  mir  dies  ein  An- 
sporn sein,  nicht  nach  ihrem  Oeschmack  bu  handehi 
and  den  Urteilen,  die  Freunde  über  meine  Bücher 
niederschreiben  möeen,  immersu  die  Wiener  Publi- 
ntftt  zu  ersetzen.  Wer  fi^egenüber  der  Feigheit,  die 
Tor  dem  Werk  »Sittlichkeit  und  Kriminalitätc  Reifi- 
SU8  nimmt,  den  Mut  hat,  su  ihm  zu  stehen,  kann 
sich  auch  dem  törichten  Verdacht  einer  Oefftlligkeits- 
haiidlung  aussetzen,  und  ich  für  meine  Person  sehe 
nicht  ein,  warum  ich  yerpflichtet  sein  sollte,  in  das 
Totschweigen  der  Presse  über  mich  einzustimmen.« 
Da&  die  Wiener  Publizität  ausnahmsweise  von  ihrer  Ge- 
pflogenheit abgehen  werde,  persönliche  Kränkung 
durch  Ignorieren  einer  Sache  zu  r&chen,  an  der  das 
gute  (Gewissen  nicht  yorüber  kann,  habe  ich  nicht 
erwartet.  Wären  es  nicht  Ig;noranten  von  Beruf,  sie 
würden  dem  Erscheinen  dieser  Bücher  einige  Auf- 
merksamkeit schenken.  Wären  sie  nicht  talentlos,  sie 
liefien  wenigstens  ihren  Hafi  sprechen.  So  weil!  ich 
denn,  dafi  ich  nur  von  mir  selbst  und  meinen  Freun- 
den einige  Hilfe  zu  erwarten  habe.  Ich  weiß  aber 
auch,  diä  die  Zeit  kommen  wird,  wo  sich  die  nicht 
schämen  müssen,  die  über  diese  Bücher  in  der  Öffent- 
lichkeit ein  Wort  gesprochen  haben. 


Karl  Kraus,  der  Herausgeber  der  in  Wien  erscheinenden 
Revue  ,Die  Fackel',  welche  —  obwohl  sie  es  als  schärfstes  Spiegel- 
bild österreichischer  Kultur  und  Unkultur  verdiente  —  wie  sles 
Geistige  made  in  Austria  in  Deutschland  nur  wenig  Beachtung 
findet,  hat  sich,  von  Freunden  und  Verehrern  gedrängt,  entschlossen, 
die  in  den  Heften  seiner  Zeitschrift  eingesargte  Stilkunst  und  Gedanken- 
arbeit von  neun  Jahren  auferstehen  zu  lassen,  sie  von  nebenläufiger 
Polemik  und  vom  stofflichen  Interesse  des  Tages  zu  reinigen  und  in 
Buchform  umzugießen.  Diese  Flucht  aus  dem  engen  und  verkleinernden 
Leserhorizont  der  Wiener  Oemfitlichkeit  in  die  breite  Öffentlichkeit  des 
deutschen  Lesepublikums  wird  hoffentlich  recht  vielen  Gelegenheit  geben, 
efaien  Schriftsteller  kennen  zu  lernen,  von  dem  sie  bisher  nur  vom 
Hörensagen  wufiten,  daß  er  ein  boshafter  Witzbold  sei.  Kraus  besitzt 
nämlich  auch  die  Gabe  des  Witzes,  die  sich  für  ihn  als  Danaergeschenk 
erwiesen  hat.    Er  hat  vor  ein  Dutzend  Jahren  in  etlichen  Aufsätzen  und 

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6  — 


Broschflren  eine  Anzahl  guter  und  beißender  Witze  gemacht,  die  —  mit 
Ausnahme  der  Betroffenen  —  von  toute  Vienne  belacht  und  mit  inniger 
Schadenb-eude  genossen  wurden.  Damit  war  er  aber  auch  ein  ffir  allemal 
katalogisiert ;  und  was  immer  er  nun  schreiben  mochte,  man  suchte  nur 
nach  den  Witzen.  Seine  innerliche  und  schriftstellerische  Persönlichkeit 
hat  sich  im  Lauf  der  Zeit  völlig  verwandelt,  er  ist  lAngst  über  .die  SphAre 
bloßer  Witzigkeit  hinausgewachsen,  aber  hierzulande  läßt  man  ihn  nur 
als  Witzbold  gelten.  Er  könnte  plötzlich  die  Weltrdtsel  lösen,  man  hielte 
es  doch  nur  fflr  eine  unnfltze  nnd  unerquickliche  Abschweifung  von  seiner 
eigentlichen  Aufgabe,  ätzende  Witze  zu  machen.  Es  gibt  nun  allerdings 
einen  Witz,  der  aus  tragischem  Grunde  erwächst,  aus  der  Erkenntnis  der 
Ohnmacht  des  Vereinzelten  gegen  die  Obermacht  der  kompakten  Dumm- 
heit, und  solcher  Witz  der  Verzweiflung  wird  zuletzt  so  scharf  und 
schneidend,  daß  seine  Spitze  an  der  Dickhaut  des  Philisters  abbricht. 
Solcher  Witz  ist  dem  Ernste  uf  verwandt  und  so  mit  ihm  verwoben, 
daß  der  Dummkopf  weder  Ernst  noch  Witz  wahrnimmt,  denn  er  faftt 
beides  nur  getrennt.  Und  in  diesem  S'tadium  der  Sachlage  pflegt  das 
liebe  Wiener  Publikum  zu  sagen :  jetzt  ist  er  fibetgeschnappt  .  .  . 

Der  vorliegende  erste  Band  der  Ausgewählten  Schriften^  zeigt 
die  zwei  Hauptvorzflge  von  Kraus  in  bestem  Licht.  Zunächst  die  meister- 
hafte Beherrschung  der  deutschen  Sprache.  Kraus  gehört  zu  den  wenigen 
Schriftstellern,  die  vor  ihrer  Muttersprache  eine  so  hohe  Achtung  haben, 
daß  sie  jede  Flflchtigkeit,  Jede  geringste  Vernachlässigung  des  .sprach- 
lichen Ausdrucks  wie  eine  persönliche  Schmach  empfänden.  Die  ge- 
schmeidige Knappheit  seines  Stils  ist  die  Frucht  eines  fHeißes,  dessen 
Intensität  nur  der  gewissenhafte  Schriftsteller  ahnt^  Dann  die  Wucht 
seiner  vom  Wortwitz  unabhängigen  Satire,  die  überlegen  und  tödlich  ist. 
Kraus  kommt  niemals  mit  Gelehrten-Emst,  er  geht  niemals  von  Theorien, 
immer  vom  Leben,  vom  alltäglichen  Ereignis  aus,  das  in  seiner  Be- 
leuchtung zum  typischen  Fall  wird.  Er  benatzt  als  Waffe  des  Angriffs 
hauptsächlich  des  Gegners  eigenes  Wort  ufld  eigene  Verteidigung  und 
bedarf  keiner  unverständlichen  Terminologie  und  keines  Ballasts  von 
fremder  Wissenschaft.  Diese  zwei  Eigenschaften  dOrften  das  Buch  auch 
dem  sympathisch  machen,  der  mit  den  darin  niedergelegten  Anschauungen 
nicht  in  allen  Punkten  einverstanden  ist.  Karl  Kraus  bemüht  sich  darin 
um  die  Reinigung  unseres  Lebens  von  allerlei  giftigem  Abei'^auben,  und 
Betschwestern  und  Schlafmützen  wird- es  daher  von  vornherein  mißfallen. 
Aber  wer  in  manchen  Fällen  die  Sittlichkeit  der  bestehenden  Sitte 
leugnet,  ist  nicht  notwendig  ein  zügelloser  Libertiner,  er  ist  meist  sogar 
in  höherem  Sinne  ein  Moralist  als  der  eifernde  Konservator  einer  über- 
lebten Moral.  Er  will  an  die  Stelle  eines  toten  Kodex  das '  lebendige 
Verantwortungsgefühl,  an  die  Stelle  äußeren  Zwanges  eine  innere  Freiheit 
setzen;  er  möchte  das  Ethos  mehr  und  mehr  aus  dem  Bann  starrer 
religiöser  und  staatlicher  Gesetzlichkeit  erlösen  und  ins  Individuum  selbst 
verpflanzen.  >Wo  Leben  erstarrt,  türmt  sich  das  Gesetz.'«  (Nietzsche.) 
Und  wo  Sittlichkeit  nichts  anderes  sein  soll  als  ein  Kompromiß  zwfschen 


*)  Kart  Kraus,  SitUichkeit  und  KriminaliUt.  Ausgewählte  Schriften  Bd.  I. 
Buchhandlung  L.  Rotner,  Wien  und  Leipzig  1906. 

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—  7  — 


veralteteil   Sitten    und    abermflchtigen    Geboten    der   Nitur,    ist  sie  nur 
Heuchelei  nnd  Unnatur. 

Wie  nicht  anders  möglich,  ist  es  gerade  der  unzerstörbarste  und 
elementarste  Trieb  des  JMenschen.  der  Qeschlechtstrieb,  der  unter  der 
ioflerllchen  Sittlichiceit  der  Sitte  am  meisten  leidet.  Was  dem  Menschen 
zur  höchsten  Lust  gegeben  ward,  wird  heute  von  Religion  und  Justiz 
oline  Nutzen  und  vemflnftigen  Zweck  nach  Möglichkeit  unterdrQckt. 
Nim  wäre  es  die  gröOte  Torheit,  die  Notwendigkeit  gesetzlicher  Ein- 
dämmung leugnen  zu  wollen.  Dürften  Oberhaupt  Triebe  sich  hemmungs- 
los entfalten,  sie  wflrden  alsbald  allgemeine  Anarchie  herbeifflhren.  Nicht 
die  Sexualjustiz  an  sich  ist  also  verdammenswert  und  schädlich,  sondern 
die  Starrheit  derselben.  Da6  Gebote  und^ Verbote  immer  noch  fq|;tbe- 
steben,  wenn  schon  längst  die  spezielle  Gefahr,  die  sie  bekämpfen,  ent- 
schwunden ist,  dieser  schlechte,  dem  Plufi  der  Entwicklung  hohnsprechende 
Konservatismus  verttfsacht  es,  daß  die  harmloseste  und  lauterste  Lust 
zu  Sünde  und  Verbrechen  werden  kann.  Ein  Junger  Wiener  Schriftsteller, 
Otto  Soyka,  schrieb  einmal  den  schönen  Satz,  der  Menschheit  sei  die 
Geschiechtslust  wohl  als  ein  so  großes  und  ungeheures  Geschenk  der 
Götter  erschienen,  daß  sie  sich  niemals  getraute,  unbekümmert,  herzhaft 
und  mit  gutem  Gewissen  aus  ihrem  Born  zu  schöpfen.  Wie  ein  Über- 
bleibsel aus  den  Urzeiten  der  Furcht  und  des  härtesten  Daseinskampfes, 
wo  alles  Lustvolle  als  etwas  Unwahrscheinliches,  als  eine  schlimme 
Verlockung  mit  Mißtrauen  betrachtet  wurde,  wo  man  den  Göttern  das 
Teuerste  opferte,  um  sich  nur  nicht  zu  glücklich  zu  fühlen,  -  so  mutet 
heute  den  freieren  Geist  diese  immer  noch  bestehende  Scheu  an,  dieses 
schlechte  Gewissen  vor  der  Geschlechtslust,  dieser  Dunstkreis  von  Bos- 
heit, Scham^ptnd  üblem  Geruch  um  sie  herum.  Das  schlechte  Gewissen, 
die  Schmutzriecherei  und  Grausamkeit  äußert  sich  aber  auch  öffentlich^ 
und  in  drei  Formen  besonders  offenbart  diese  böse  Trias  sich  in  ihrer 
ganzen  ScheußlichkeK:  im  heuchlerischen  Muckertum  des  verdorrten 
Zetoten,  in  der  hämischen  Kaltherzigkeit  des  bureaukratischen  Richters 
und  im  giftigen  Neid  des  Philisters,  der  stets  darüber  wacht,  ob  der 
Nachbar  nicht  etwa  genießt,  was  er  aus  Feigheit  entbehrt. 

Diese  obskurantischen  und  lebensfeindlichen  Mächte  sind  es  vor- 
nehmlich, die  Kraus  aufs  Korn  nimmt.  Welchen  Schaden  sie  anrichten,  wie 
sie  gegen  Leben  und  Glück  der  Menschen  wüten,  das  zeigt  er  an  der  Hand 
der  markantesten  Gerichtsfälle  der  letzten  Jahre.  Er  bdeuchtet  den  Geist 
dieser  Mächte  an  ihren  eigenen  Aussprüchen  und  Feststellungen  und  ver- 
hehlt auch  seine  persönliche  Meinung  nicht,  die  manchem  vielleicht  allzu 
sdiroff  und  überhebend  vorkommen  mag,  welche  aber  mit  einer  pole- 
mischen Vehemenz  vorgetragen  wird,  die  einen  artistischen  Genuß  für 
sich  gewährt.  Auch  Qlädiert  Kraus  nicht,  wie  schlecht  informierte  Gegner 
ihm  vorwerien,  für  ein  zügelloses  Ausleben  des  Geschlechtstriebes.  Er 
fordert  im  Gegenteil  in  vieler  Hinsicht  straffere  Gesetze  und  strengere 
Strafen.  Nur  über  die  Rechtsgüter,  deren  Schutz  hiebei  in  Frage  kommt, 
denkt  er  anders  als  die  meisten.  Während  nämlich  moralische  Eiferer 
und  gesetzgebende  Lebensfremdheit  vor  allem  Rechtsgüter  von  mehr 
oder  weniger  imaginärer  Natur  geschützt  sehen  wollen,  Ehre,  Sittlichkeit, 

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--  «  - 


Normalittt,  Seelenheil  und  anderes,  möchte  er  die  wirldichen  Recfats- 
güter  besser  als  bisher  geschützt  wissen:  das  Recht  der  Unmflndigen, 
die  leibliche  Gesundheit,  die  freie  Willensbestimmung  und  allenfalls 
noch  die  öffentliche  Asthetilc.  Verbrechen  an  Kindern,  Schädigung  der 
Gesundheit  und  Zwang  in  jeder  Form  sollen  strenger  als  bisher  bestraft 
werden,  das  Einverständnis  mündiger  und  williger  Menschen  ^ber  sollte 
heute  endlich  als  Privatangelegenheit  gelten  dürfen.  Sonst  wiederholen 
sich  endlos  die  immer  betrüblicher  wirkenden  FflUe,  dafi  Gesetzesüber- 
tretungen und  Oberschreitungen  der  Sitte  in  Geschlechtsdbigen,  die  unter 
anderen  Verhältnissen  niemandem  Schaden  brächten,  namenloses  Unglück 
über  ethisch  durchaus  integre  Menschen  bringen.  Es  sollte  auch^  nicht 
sein,  dafi  einem  des  Mordes  verdächtigen  Menschen  die  Mordabsicht  in 
der  ^eise  nachgewiesen  wird,  daß  man  »erhebt«,  er  habe  einmal  die 
Ehe  gebrochen  oder  »Orgien  gefeiert«.  Und  es  sollte  nicht  sein,  daß 
aus  dem  Unglück  von  Kranken  des  Empfindens  der  Weizen  *der  Er- 
presser emporschießt,  während  ein  Luetiker  ein  blühendes  Geschöpf  ohne 
Furcht  vor  Gesetzen  dem  Siechtum  weihen  und  sich  selbst  vor  der  ge- 
sellschaftlichen Achtung  durch  die  ärztliche  Schweigepflicht  gesichert 
fühlen  darf. 

Katl  Hauer. 


Offener  Brief  an  Herrn  Karl  Spitteler. 

Sehr  geehrter  Herr  Spittelerl 
Sie  haben  im  Verlag  der  ,Süddeut8ohefl  Monats- 
hefte^ eine  Schrift  erscheinen  lassen,  die  den  IHtel 
trägt:  »Meine  Besiehungen  eu  Nietsschec.  Der  Be- 
wegflTund  su  Ihrer'  Schnft  war,  wie  Sie  in  der  Vor* 
rede  sagen,  dieser: 

Es  hat  der  Schwester  Nietzsches,  der  Schriftstellerin  Frau  Förster- 
Nietzsche,  beliebt,  ohne  Not  und  Anlaß  aus  Briefen  ihres  Bruders  und 
Anderer  eine  Art  Suite  zusammenzurunden  und  unter  dem  Titel  »Nietzsche 
und  die  Kritilct  in  der  Zeitschrift  .Morgen'  zu  veröffentlichen,  welche 
sich  zwar  ganz  sanft  und  harmlos  anhört,  deren  Leitmotiv  jedoch,  in 
Worten  ausgedrüclct,  lautet:  »Kommet  und  schauet,  ihr  Völker  alle, 
schauet  und  lachet,  wie  die  zwei  kleHnen  Schweizer  Zeitungsschreiber 
Widmann  und  Spitteler  sich  anmaßten,  den  gewaltigen  Nietzsche  zu  be- 
kritteln, wie  kläglich  sie  sich  dabei  benahmen  und  wie  überlegen,  wie 
gnadenvoll  mein  herrlicher  Bruder.« 

Des  weiteren  gaben  Sie  als  Beweggrund  an, 
dafi  sich  ein  »Knäuel  falscher  Oerüchte«  über  Ihre 
Beziehungen  su  Nietzsche  gebildet  habe:  dafi  be- 
sonders über  eine  geistige  Verwandtschaft  Ihrer  Dich- 
te 


y  Google 


-  9  — 


tune  »Prometheuse  mit  »Zarathustra«  falsche  GerQchte 
im  Umlauf  seien. 

Indem  Sie  selbst  an  mehreren  Stellen  Ihrer 
Sctirift  ausdrücklich  betonen^  dafi  Sie  sich  in  betreff 
des  Literarischen  vollkommen  neutral  verhalten,  und 
keinerlei  persönliche  Ansicht  darüber  äufiern^  wollen, 
ob  der  Zarathustra  tatsächlich  Spuren  der  Beein- 
fluflun^  durch  Ihren  Prometheus  trage,  roufi  wohl 
jeder  Lieser  Ihre  Schrift  als  ein  rein  menschlisches 
Dokument  betrachten. 

Auch  ich  tue  es.  Wenn  mir  daran  liegt,  das 
Ergebnis  meiner  Betrachtung  in  einem  offenen  Briefe 
ausflusprecben,  so  hat  dies  seinen  guten  Orund: 
Friedrich  Nietzsche,  mit  dem  Sie  in  Ihrer  Schrift  wie 
mit  einem  Lebenden  Abrechnung  halten,  ist  tot.  Er 
kann  keine  Antwort  auf  das  geben,  was  Sie  über ' 
und  gegen  ihn  sagen.  Also  möchte  ich  eine  Antwort 
versuchen. 

Sie  schreiben,  wie  schon  angeführt,  dafi  der 
Artikel  der  *  FraiK  Förster-Nietzsche  >ohne  Not  und 
Anlafic  veröffentlicht  worden  sei. 

Dies  ist  auch  meine  Meinung.  Die  Vielschreiberei 
der  Frau  Förster-Nietzsche  geht  Vielen  wider  den 
Qeschmack.  Ich  für  meinen  Teil  finde  sogar,  dafi  die 
Biographie,  die  Frau  Förster- Nietzsche  von  ihrem 
Bruder  geschrieben  hat,  ein  sehr  schlechtes  Buch  ist 
dafi  denen,  die  sich  für  Nietzsche  interessieren,  zehn 
Seiten  trockener  Daten  mehr  Nutzen  gebracht  hätten 
als  die  in  zwei  Bänden  erschienene  Interpretation  des 
Lebens  Nietzsches,  die  sie  uns  gegeben  hat.  Ich  finde 
weiterhin,  dafi  selten  etwas  Überflüssigeres  geschrieben 
worden  ist  als  die  Vorreden,  die  sie  in  den  gesammelten 
Briefen  Nietzsches  in  so  großer  Menge  eingestreut  hat. 

Ich  finde  endlich,  dafi  Frau  Förster- Nietzsche  in 
Dingen  Friedrich  Nietzsches  durchaus  nicht  kompetent 
ist;  und  um  zu  Ihnen  zurückzukehren,  dafi  sie  nicht 
nur  in  Ihrem  Falle,  sondern  auch  sonst  sehr  oft 
»ohne  Not  und  Anlafic  geschrieben  hat,  ^       . 

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—  Io- 
was Frau  Förstor-Nietzsohe  im  ^Moreen'  gegen 
Sie  veröffentlicht  hat^  stammt  aus  dem  Nacnlafl 
Friedrich  Nietzsches.  Die  Veröffentlichung  dieses 
Nachlasses  betreffend,  pflichte  ich  der  Meinung  des 
Herrn  Ernst  Holzer  bei  und  glaube  mit  ihm,  daß  es 
in  jeder  Beziehung,  für  Herausgeber  wie  für  Leser, 
viel  gescheiter  gewesen  ^wäre,  noch  fünfzig  Jahre 
damit  zu  warten.  Für  mich  ist  sicher,  daß  die  Nietzsche- 
Philologen  in  fünfzig  Jahren  eine  viel  klarere,  objek- 
tivere Übersicht  des  Materials  haben  werden  als  es 
irgend  Jemand  heute  möglich  ist.  Denn  sie  werden 
den  großen  Vorteil  einer  weiten  Distanz  für  sich 
haben,  einen  Vorteil,  der  besonders  Frau  Förster- 
Nietzsche  durchaus  fehlt.  Diese  meine  Ansicht  ist  für 
mich  ein  Grund  mehr,  Ihr  abfälliges  Urteil  über  die 
Schwester  Nietzsches  zu  billigen. 

Nun  aber  haben  Sie  sich  in  Ihrer  Schrift  mit 
Frau  Förster-Nietzsche  sehr  wenig  beschäftigt,  um- 
somehr  dafür  mit  Nietzsche  selbst,  der  doch  fus  Toter 
an  der  Veröffentlichung  im  ,Morgen^  «unschuldig  ist. 
Man  kann  Ihnen  nicht  verübeln,  d^fi  Sie  überhaupt 
gesprochen  haben;  indefi  macht  der  Ton  die  Musik, 
und  die  Musik  Ihres  menschlichen  Dokuments  ist 
meinem  Qehör  nach  an  mehreren  Stellen  dishar- 
monisch. 

Obwohl  Sie,  Herr  Spitteler,  öfters  erklären,  dafi 
Sie  mit  dem  Gerücht,  der  »Zarathustrac  sei  von  Ihrem 
»Prometheus«  beeinflufit  worden,  gar  nichts  zu  tun 
haben  wollen,  führen  Sie  doch  auf  Seite  15—19  Ihrer 
Schrift  den  langen  Wahrscheinlichkeitsbeweis,  dafi 
Nietzsche  Ihr  Buch  Prometheus  gekannt  habe.  Ge- 
statten Sie  einen  Auszug: 

Als  Ich,  im  Jahre  1880,  aus  der  Fremde  in  die  Schweiz  zurQclc- 
gelcehrt,  mein  erstes  Werk  (Prometheus  I.  Teil)  herausgab,  und  dieses 
Werk  keine  einzige  Besprechung  erhielt,  da  wollte  es  die  Ironie,  dafi 
unmittelbar  nach  dem  Erscheinen  des  Buches,  also  im  Jänner  1881, 
neben  vereinzelten  SchriftstellSrn,  im  besonderen  einige  ehemalige  Schfiler 
Nietzsches,  sich  fOr  das  Buch  begeisterten.  »Das  mufi  man  unbedhigt 
Nietzsche  zusenden«,    hieß  es,    »das  ist  etwas  fQr  ihn^    Heftig  verbot 

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—  11  — 


ich  das  jedem,  der  mir  davon  sprach,  denn  ich  wollte  lieber  ganz  ver- 
schoUen  bleiben,  als  Nietzsche  die  Pflrsprache,  vielleicht  den  Ruhm  ver- 
danken. Ob  sich  jeder  an  mein  Verbot  gekehrt  hat?  Ob  es  ihm  nicht 
trotzdem  zugeschickt  wurde?  Davon  weifi  ich  nichts,  auch  keiner  meiner 
Bekannten  weifi  etwas  davon.  Wenn  man  mich  aber  fragt,  was  ich  sonst 
ton  der  Möglichkeit  halte,  daß  Nietzsche  schon  damals  oder  bald  darauf 
(also  im  Jahre  1881  oder  1882)  meinen  Prometheus  »durch  einen  merk- 
würdigen Zufall«  könnte  kennen  gelernt  haben,  so  antworte  ich:  ich 
halte  das  nicht  bloß  für  möglich,  sondern  für  wahrscheinlich;  ja,  wenn 
ich  meine  Meinung  ganz  aussprechen  darf,  so  sage  ich,  es  müßte  ein 
merkwürdiger  Zufall  sein,  wenn  Nietzsche  das  Buch  nicht  schon  damals 
(1881  oder  1882)  kennen  gelernt  hätte.  Man  muß  eben  wissen,  daß 
trotz  dem  Stillschweigen  der  Presse  der  »Prometheus«  in  den  höchsten 
Kreisen  der  literaris.chen  und  gelehrten  Welt  der  Schweiz  außerordentliches 
Anisehen  erregte.  Die  Kunde  davon,  daß  sich  ein  erstaunliches,  geheimnis- 
volles Buch  biblischen  Stils  ereignet  habe,  sprach  sich  seit  Februar  1881 
unter  den  bedeutenden  Männern  der  deutschen  Schweiz  herum.  Keller 
besaß  es,  Mayer  besaß  es,  AdoU  Frey  und  Widmann  machten  (vergeb- 
liche) Versuche,  die  Nachricht  von  dem  Phänomen  nach  Deutschland  zu 
verbreiten.  An  den  schweizerischen  Universitäten  war  es  bekannt . . . 
Jakob  Burckhardt,  Professor  in  Basel,  hat  es  von  mir  selber  zugeschickt 
bekommen.  Und  Nietzsche,  Professor  in  Basel,  mit  allen  berühmten 
Männern  der  Schweiz  in  Fühlung,  soUte  nichts  davon  vernommen  haben? 
Ich  habe  schon  mitgeteilt,  daß  zu  den  allerersten  Lesern  und  Bewunderern 
des  Buches  einige  ehemalige  Schüler  und  begeisterte  Jünger  Nietzsches 
gehörten  . . .  Was  ist  nun  wahrscheinlicher?  Daß  diese  Schüler  Nietzsches 
ihrem  Meister  gegenüber  sämtlich  von  dem  merkwürdigen  Buch  ge- 
schwi^en  haben  sollten,  oder  daß  einer  von  ihnen  ihn  im  Oespräch 
darauf  aufmerksam  gemacht  hat?  Ferner  bedeutete  ja  das  Werk  für  den 
Buchhandel  zu  zweien  Malen  eine  Neuigkeit. . . .  Was  ist  nun  wieder 
wahrscheinlicher,  daß  keiner  der  Basler  Buchhändler  das  neue  Buch  Herrn 
Professor  Dr.  Fr.  Nietzsche  zur  Ansicht  ins  Haus  gesandt  hätte,  oder 
daß  einer  von  ihnen  das  tat?  Ich  vermute,  es  wird  wohl  der  oder  jener 
von  ihnen  sich  ebenfalls  gesagt  haben:  >Das  muß  man  Nietzsche  schicken, 
das  ist  etwas  für  ihn«.  Oder  ich  höre  Jakob  Burckhardt,  wie  er  beiläufig 
im  Gespräch  zu  Nietzsche  sagt:  »Sehen  sie  sich  doch  einmal  gelegentlich 
das  an,  wenn  Sie  Zeit  haben!  Vielleicht  gelingt  es  Ihnen,  aus  dem 
Zeug  klug  zu  werden,  ich  kann,  weiß  Gott,  nichts  damit  anfangen«. 
Endlich:  Im  Herbst  1881,' unmittelbar  nach  dem  Erscheinen  des  II.  Teils, 
brachte  der  Bemer  ,Bund*  eine  große  Besprechung  des  Buches ;  Nietzsche 
las  mit  Vorliebe  den  ,Bund*.  In  der  gelesensten  Zeitung  Basels,  den 
.Basier  Nachrichten',  wies  Professor  Stephan  Born,  also  ein  Kollege 
Nietzsches  an  der  Basler  Universität,  mit  auszeichnenden  Worten  auf 
das  Werk  hin.  Darum  noch  einmal:  ich  kann  zwar  keine  Spur  davon 
auffinden,  daß  Nietzsche  den  Prometheus  im  Jahre  1881  oder  1883  zu- 
geschickt erhalten  hätte,  allein  es  wäre  verwunderlich,  wenn  ihm  das 
Buch  damals,  da  es  als  erstaunliche  literarische  Neuigkeit  bei  den  aus- 
erlesensten und  berühmtesten  Persönlichkeiten  der  Schweiz  Aufsehen  er- 
regte, entgangen  wäre. 

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—  12 


..Es  ist  Ihnen,  Herr  Spitteler,  nicht  gelungen, 
mich  yon  Ihrer  unbefangenen  Neutralität  su  über- 
zeugen. Ich  halte  es  im  Gegenteil  für  einen  sehr 
menschlichen  Kniff,  dafi  Sie  Ihre  Neutralität  be- 
tonen, und  doch  zugleich,  in  den  hier  angeführtem 
Stellen,  den  Leser  leise  und  verstohlen  zum  Qläuben, 
dafi  Nietzsche*Zarathustr,a  von  Prometheus  beeinflufit 
sei,  hinführen  wollen. 

Nicht  ohne  Absicht  sprechen  Sie  von  einem 
Buche  »biblischen  Stilsc.  Sie  haben  von  Zara- 
thustra,  Ihrer  Schrift  zufolge,  genau  zwei  Seiten 
gelesen  und  da  vielleicht  biblische  Töne  herausgehört. 
Also:  Prometheus  hat  bibUschen  Stil,  und  Zarathustra, 
der  zwei  Jahre  später  erschienen  ist,  hat  auch  bibli- 
schen Stil . .  . 

Leider  täuschen  Sie  sich  in  der  Sache  selbst 
Ich  setze  Ihnen  dies,  da  Sie  den  Zarathustra  nicht 
kennen,  möglichst  kurz  auseinander.  Einzelne  Formeln, 
die  im  Zarathustra  an  die  Bibel  gemahnen,  erinnern 
ebensogut  an  Homer.  Das  priesterliche  Pathos  gehört 
zum  Wesen  Nietzsches,  der  sich  mit  Stolz  den 
Priester  des  Dionysos  genannt  hat.  Sprachlich  ver- 
wandt ist  dem  Zarathustra  noch  am  ehesten  Hölder- 
lins »Hyperion«.  Was  den  Inhalt  des  Zarathustra  an- 
langt, so  beweise  ich  Ihnen  jederzeit  gern,  dafi  die 
typischen,  nämlich  die  ethischen  Umwertungsideen 
dieses  Buches  schon  in  der  »Geburt  der  Tragödie« 
—  die  zehn  Jahre  vor  Ihrem  Prometheus  erscnienen 
ist  —  unterirdisch,  aber  gut  hörbar  anklingen;  daß 
sie  sich  in  jedem  folgenden  Buch  Nietzsches  immer 
deutlicher  vernehmen  lassen,  bis  me  der  Zarathustra 
in  einer  ungeheuren  Konzentration  zusammenfaflt  und 
laut  und  lebendig  ertönen  läflt.  Die  Zarathustra- 
Sprache,  ihr  ethisches  Pathos,  ist  Nietzsche  auch  in 
den  Büchern  vor  Zarathustra  schon  geläufig.  Und 
ihr  Schwung  wird  umso  priesterlicher,  je  mehr  sich 
Nietzsche  dem  Zeitpunkt  nähert,  wo  er  —  eben  in 
Zarathustra  —  sich  als  Umwerter  und  Oberwinder 
der  Moral  fühlt,  und  mit  der  alten  Moral   auch  eine 


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—  18  — 


alte  Art  der  philosophisohen  Sprache  von  sich  weist, 
Ihr  Prometheus  kommt  sdso  wirklich  nicht  in 
Betracht,  auch  wenn  ihn  Nietzsche  gekannt  hat  Sie 
haben  daher  den  Beweis,  dafi  er  ihn  gekannt  haben 
könnte,  auch  »ohne  Not  und  Anlafi«  geliefert.  Bs 
sind  sehr  oberflächliche  Nietasche-Leser,  die  behaupten, 
>dafl  in  Nietzsches  Zarathustra  sich  unzweifelhaft 
deutliche  Spuren  großer  Beeinflufiung  durch  Prometheus 
erkennen  liefien«.  Diese  Leser  kennen  die  Nietzsche- 
BQcher  vor  Zarathustra  herzlich  schlecht. 

Ein  Kuriosum  komisch -ängstlicher  Verfasser- 
Eitelkeit  liefern  Sie  auf  Seite  40  Ihrer  Schrift: 

Um  ihr  —  der  Frage  nach  der  Beeinflußung  Zarathustras  durch 
Spftteler  —  auch  in  Zukunft  fem  bleiben  zu  können,  will  ich  keine 
e^fene  Oberzeugung  gewinnen;  und  um  zu  keiner  eigenen  Oberzeugung 
gmdtigt  zu  werden,  habe  ich  mh  verboten,  den  Zarathustra  (In  welchen 
ich  einst,  anläßlich  jener  Besprechung,  nur  flüchtig  hhieingeblickt,  um 
ihn  nach  der  Probe  von  zwei  Seiten  wieder  wegzulegen)  nachtrlgUch 
zn  lesen. 

Bs  reist  sehr  zum  Lachen,  Herr  Spitteler,  mit 
welch'  feierlichem  Elmst  Sie  unaufgefordert  das  Ver- 
8pre(dien  geben,  den  Zarathustra  nicht  bu  lesen.  Aber 
wie  soll  dieses  Versprechen  den  Leser  interessieren? 
Sie,  Herr  Spitteler,  werden  sich  doch  nicht  Tor  einem 
guten  Buche  fürchten  ?J  Ihr  schriftstellerischer  Ehrgeis 
wird  doch  durch  das  gute  Buch  eines  anderen  Autors 
nicht  verletzt?! 

Ich  habe  noch  mehr  an  Ihrer  Schrift  gefunden, 
was  mich  menschlich  abgestofien  hat.  Sie  sind  immer- 
fort bemüht,  dankbar  gegen  Nietzsche  zu  erscheinen, 
dafür,  dafi  er  sich  Ihrer  angenommen  hat,  für  Sie 
nach  einem  Verleger  suchen  gegangen  ist  und  Sie 
an  Herrn  Ayenarius,  den  Gründer  des  Kunstwarts,  so 
freundlich  empfohlen  hat.  Aber,  Herr  Spitteler,  ich 
habe  durchwees  die  Empfindung,  dafi  bei  Ihnen  die 
Qehftssigkeit  das  Gefühl  des  Dankes  überschrieen  hat. 
Einmal  schreiben  Sie  recht  gnädig:  »Eines  Freundes 
BlOfie  deckt  man  zuc.  Und  an  emer  anderen  Stelle 
glossieren    Sie    nicht    sehr    zartsinnig,    was    Ihnen 

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14  — 


Nietzsche  über  Ihre  Besprechung  seiner  Bücher  ge- 
schrieben hat: 

JEr  tat  das  in  einer  Form,  die  er  Ironie  zu  nennen  pflegte  (mit 
Worte  »Ironie«  glaubte  er  sich  Oberhaupt  immer  über  äe  Ver- 
legenheiten weghelfen  zu  können,  auch  Über  die  Verlegenheit  von  Wahr- 
heiten, die  ihm  nachträglich  unbequem  geworden  waren),  das  heifit  auf 
deutsdi  gesagt,  in  einer  durch  und  durch  verdrehten  Form. 

So  spricht  kein  Dankbarer,  Herr  Spitteler,  wie 
Sie  hier  sprechen.  Oder  aber,  Sie  haben  seltsame 
Begriffe  von  Dankbarkeit. 

Nun  zum  Letzten  und  Wichtigsten,  was  gegen 
Ihr  menschliches  Dokument  zu  sagen  ist. 

Der  gröflte  Teil  Ihrer  Schrift  beschäftigt  sich 
mit  den  Briefen  und  Karten,  die  Nietzsche  an  Sie 
geschrieben  hat.  Sie  üben  eine  ausführliche  und 
stellenweise  sehr  unfreundliche  Kritik  daran.  Aber 
Sie  vermeiden  es,denLesern  dieseBriefe 
und  Karten  vorzulegen. 

Sollen  sich  die  Leser  Ihrer  Schrift  überhaupt 
ein  eigenes  Urteil  in  der  Sache  bilden  dürfen,  so  ist 
unbed&gt  nötig,  dafi  die  Nietzscheanischen  Schrift- 
stücke  in  ungekürztem  Wortlaut  vorgelegt   werden. 

Es  liegt  dies  in  Ihrem  eigenen  Interesse.  Ein 
mifitrauischer  Leser  könnte  sonst  auf  den  Gedanken 
kommen,  dafi  Sie  diese  Schriftstücke  gar  nicht  mehr 
besitzen  und  sie  nur  aus  einer  dunklen  Erinnerung 
zitieren.  Wäre  diese  Vermutung  richtig,  so  hätte 
der  grOfite  Teil  Ihrer  Schrift  jeden  Wert  verloren. 

Vielleicht  nehmen  Sie  sich  die  Mühe,  derlei 
Vermutungen  als  unsinnig  zu  erweisen. 

Dies  können  Sie  aber  nur,  indem  Sie  die  Briefe 
Nietzsches  der  Öffentlichkeit  vorlegen. 

Hochachtungsvoll 

Karl  Borromaeus  Heinrich. 


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—  15  — 


Übenetanmg  ans  Harden, 

Seit  Jahren  gehen,  die  deutschen  Leser  der 
Zukunft'  des  eigentlichen  Genusses  yerlustig.  Sie 
haben  das  Gefühl,  dafi  hier  die  wertvollsten  bedan- 
ken in  einer  fremden  Sprache  vorgetragen  werden, 
von  der  sie  nur  ahnen  können,  dafi  sie  viel  schöner 
ist  als  die  ihnen  geläufige.  Wiederholt  ist  deshalb  die 
dringende  Bitte  an  mich  ergangen,  ein  Lexikon  an- 
zulegen, welches,  wenngleich  mit  Preisgabe  des  dich- 
terischen Moments,  das  gerade  für  den  politischen 
Leitartikel  unentbehrlich  ist,  über  den  Sinn  der 
einzelnen  Sätze  trockenen  Aufschlufi  gibt.  Ich 
habe  dem  allgemeinen  Drängen  nachgegeben  und 
will  die  Arbeit  durchführen,  soweit  es  mir  bei  dem 
Stand  meiner  Bildung  möglich  ist  und  soweit  neu- 
griechische und  hyperboräische  Sprachelemente, 
die  den  deutschen  Satzbau  erst  zu  seiner  ornamen- 
talen Geltung  bringen,  mir  nicht  unüberwindliche 
Hindemisse  in  den  Weg  legen.  Ich  mufi  mindestens 
für  den  ersten  Versuch  um  Nachsicht  bitten.  Mancher 
Stelle  konnte  ich  nur  mit  einiger  Freiheit  der  Auf- 
fasmiig  beikommen;  manche  blieb  unübersetzbar. 
Anderseits  glaube  ich  nicht  fehl  zu  gehen,  wenn  ich 
gewisse  Bezeichnungen,  die  der  Autor  anzuwenden 
Hebt,  wie  z.  B.  »Fritzenstaat«  oder  >Reussenkaiser« 
als  Telegrammadressen  auffasse  und  in  solchen  Fällen 
die  Klarheit  der  Kürze  vorziehe.  Durchwegs  aber 
möchte  ich  die  Verantwortung  ablehnen,  wenn  etwa 
mit  der  Fremdartigkeit  auch  der  aparte  Reiz  einer 
Wendung  verloren  ginge. 


(28.  Märzb 

Dei^vom  wikrttemberglschen 
Wahlkreis     Biberach    Ab- 
geordnete 

is  18.  April.) 

Der  Abgeordnete  von  Biberadi 

Der  mebiinger  Mfiller 

Der  Abgeordnete  MüUer-Mei- 
ningen 

Der  HeUbronner 

DerAbgeordnete  von  Heilbipnn 

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16 


Freisinnshüuflein 


Die  Freisinnigen 


Qenossenfraktion 


Die  Sozialdemokraten 


WanotbrSu 


Deutscher  Reichstag 


Herr  Gröt>er  runzelt  Aber  dem 
Bartdickicht  die  Stirn 


Herr 'Gröber,  der  einen  dichten 
Bart  hat,  runzelt  die  Stirn 


Wahrscheinlich,  daß  nur  jähe 
Wut  den  schwäbischen  Tort 
gebar 


Wahrscheinlich,  daß  der  schwä- 
bische Abgeordnete  nur  im 
Zorn  Unrecht  tat 


Wie  Herr  Landgerichtsrat 
Gröber,  wenn  er  in  Kät- 
diens  Heimat  auf  der  SeUa 
säße,  darüber  urteilen  würde 


Wie  Herr  Gröber  als  Richter 
in  Heilbronn  darüber  ur> 
teilen  würde 


Die   denunciatio    des    Herrn 
MüUer 


Die   Denunziation  des  Herrn 
Müller 


Habt  Ihr  so  Euer  Leben,  Euer 
Wirken  so  geträumt,  da 
heißes  Sehnen  aus  der 
Dumpfheit  Euch  ins  Weite 
riß? 


Habt  Ihr  Euch  so  die  Er- 
füllung Eurer  Wünsche  ge- 
dacht, als  Ihr  diesen  Beruf 
wähltet? 


Wo  ist  die  Möglichkeit,  immer 
auf  der  Seite  zu  fechten, 
nach  der  des  Wesens  lei- 
denschaftlicher Wille  langt? 


Wo  ist  die  Möglichkeit,  immer 
seine  Oberzeugung  wm 
Ausdruck  zu  bringen?  ,'\ 


Stets  bereit  sein,  vom  Mahl 
ins  Elend  zu  laufen,  wenn 
der  WiUe  zur  Wahrheit 
sich  am  gedeckten  Tisch 
nicht  durchsetzen  kann 


Stets  bereit  sein,  seiner 
Stellung  verlustig  zu  gehen, 
wenn  sie  nicht  die  Gewähr 
der   Unabhängigkeit  bietet 


Selbsterziehung  zur  Mannheit 
frommt  dem  Stand  mehr 
als  emsige  Vereinsmächlerei 


Streben  nach  Selbständigkeit 
nützt  dem  Stand  besser  als 
Vereinsmeierei 


Korypho 


Korfu 


Unterm  Sonnensegel  den  Leh- 
ren alter  Geschichte  nach- 
träumen 


Vor  einem  Zettelkasten* see- 
krank werden 


Die  Stadt  Konstantins 


Konstantinopel 


Den  Sitz  Konstantins  erklet- 
tern 


Den  byzantinischen  Thron  be- 
steigen 

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-    17 


Die    Beute    des    geflfigtlten 
MarkuslAwen  werden 

Von  Venedig  besiegt  werden 

Johannes   Zimiskes,    der    im 
cnbiculum     die     brünstige 
Tbeophano  umarmt,  we^ 
dem  Romaerreicfa  die  Sla- 
vengetahr  ab 

• 

? 

Unter  den  Kalimafkon,   dem 
prächtig  wallenden  Trauer- 
schleier,   verwest  der  Leib 
des   von  grofien    Kriegern 
und  Organisatoren  geschaf- 
fenen Staates 

?  ? 

Von  dem  Basüeus    erbt   der 
Zar   der   Moskowiter,    der 
die  Palaeologentochter  freit, 
den  Stimreif  des  Konstan- 
tinos Monomachos 

?  ?  ? 

Die  Eparchie  Kcrkyra 

Der  Sprengel  Korfu 

King  Edward 

König  Eduard 

Der  Sohn  Umbertos 

Viktor  Emanuel 

Die  monegassische  Hoheit 

Fürst  von  Monaco 

Der  ubiquitAre  Herr  Jacob 

Pichon 

Unde  Sam 

Amerika 

Das  Stemtnbanierrcich 

Die  Vereinigten  Staaten 

Betatigungrecht 

BetAtigungsrecht 

Jünger  des  heiligen  Fiakrius 

Fiaker 

Der  Kongreß  der  von  Bona- 
partes    Tatze    zerstäckten 
Europa 

Der  Wiener  Kongrefl 

In    schlichterer    Lebensmitte 
erzogen 

Einfacher  erzogen 

Chronikon 

Chronik 

Ein  vom  deutschen  Volk  Ab- 
geordneter * 

Ein  deutscher  Abgeordneter 

y  Google 


—  18  — 


Artikel,  in  denen  er  stöhnte 

Artikel,  in  denen  er  klagte 

Ein  Freund  des  King 

Ein  Freund  des  Königs   von 
England 

Bülow  im  Schwiegervaterland 

Bülow  in  Italien 

Der  vom  Sultan  Gesandte 

Der  türkische  Gesandte 

Albanerland 

Albanien 

Die  Reise  ins  Wikingermeer 

Die  Nordlandsreise 

Der  Gottorperhof 

Der  russische  Hof 

Das  Tier  mit  den  zwei  Pigment- 
schichten  unter   der    Cha- 
grinhaut 

Das  Chamäleon 

Die  fflr  den  Kaiser  gedeckte 
'  Tafel  wird  mit  allen  Wun- 
dem südlichen  Lenzes  ge- 
schmückt 

An  der  Hoftafel  wird  junges 
Gemüse  serviert 

Glossen. 

In  einem  Feuilleton  über  die  Aufführung  der 
Bittnerschen  »Roten  Qredc  bedauert  der  Musikreferent 
der  ,ZeitS  dafi  die  Heldin,  die  sich  zum  Schluß  auf 
ein  Schiff  unter  Landsknechte  rettet,  mit  dem  Lieben 
davon  kommt.  Er  schreibt: 

Dieser  Ausgang  ist  ebenso  widerwärtig  als  unbefriedigend,  denn 
wir  tragen  das  Verlangen,  dafi  jener  Leib,  der  mit  seinen  Reizen  so 
viel  des  Unheils  gebracht  hat,  vor  unseren  Augen  vernichtet  werde,  und 
ein  Mitgefühl,  das  wir  der  lebendigen  Gred  versagen  mußten,  hätten 
wir  vielleicht  der  sterbenden  geschenkt.  So  aber  verlassen  wir  das  Haus 
in  einem  Zustande  des  Mißbehagens,  obgleich  wir  den  Abend  hindurch 
viele  günstige  Eindrücke  empfangen  haben. 

Der  Mann,  der  aus  Mitgefühl  so  grausam  ist, 
heifit  R.  V.  Perger  und  war  früher  Direktor  des 
Konseryatoriums.  Jetzt  hat  er  sich  unter  die 
Kritiker   gerettet.     Ein    unbefriedigender   Ausgang; 

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—  19  — 


denn  wir  tragen  das  Verlangen^  daß  der  Qeist,  der 
mit  seiner  Reizlosigkeit  so  viel  des  Unheils  über  die 
Musikjugend  gebracht  hat  u.  s.  w.  Nach  dem  Straf- 
gesetz sind  weder  die  dämonischen  Wirkungen^  die 
one  rote  Gred  ausübt,  noch  die  tödliche  Langweile, 
die  von  der  Leitung  des  Konservatoriums  durch 
Herrn  v.  Perger  ausging,  zu  fassen.  Dennoch  glaube 
ich,  dafi  einem  die  Wahl  nicht  schwer  fallen  wird. 
Denn  wer  würde  nicht  selbst  den  Ruin  durch  eine  rote 
Ored  einem  gesicherten  Dasein  an  der  Seite  des  Herrn 
T.  Perger  vorziehen?  Die  rote  Ored  kommt  kaum 
anfs  Schiff,  und  schon  raufen  die  Landsknechte  um 
ihren  Besitz.  Sie  ist  gewifi  eine  unmoralische  Person, 
aber  man  stelle  sich  vor,  was  die  Landsknechte  täten, 
wenn  Herr  v.  Perger  aufs  Schiff  käme  und  sich 
ans  Steuerruder  setzte.  Da  gäb's  keinen  Streit,  da 
blitzte  keine  Klinge,  da  würde  die  vollste  Oberein- 
stimmung  durch  ein  Schnarchen  ausgedrückt,  das 
hannonischer  tönte  als  selbst  ein  Schülerorchester 
anter  der  Leitung  des  Herrn  v.  Perger,  und  ruhig 
glitte  das  Schiff  seine  Bahn  . . .  Das  ist  eben  der 
Unterschied.  Eine  Person,  die  so  unanständig  ist, 
die  Sinnlichkeit  der  Männer  zu  erregen,  macht  man 
nicht  zur  Heldin  einer  Operl  Oder  wenn  schon,  so 
nmfi  am  Schlufl  ihr  Leib  vernichtet  werden.  Das  ist 
jene  Reinigimg,  die  das  wahre  Drama  bieten  soll 
und  die  doch  auch  im  Leben  die  besseren  Herren 
immer  vornehmen,  nachdem  sie  die  Reize  einer  un- 
anständigen Person  gekostet  haben.  Denn  die  Seelen- 
stimmung, in  der  sich  >omne  animal«  zuweilen  befindet, 
ist  der  Ausdruck  einer  höheren  Gerechtigkeit,  und 
wenn  durchaus  wegen  der  Erregerin  solcher  Depression 
etwas  blitzen  soll,  so  mögen  es  nicht  die  Klingen 
sein,  sondern  die  Ritter.  Herrn  v.  Perger  gebtmrt 
das  Verdienst,  jenen  Zustand,  in  dem  auch  dem  Trouba- 
dour das  Wort  »Schlampen«  einfällt,  zum  ästhetischen 
Prinzip  erhoben  zu  haben.  Nur  vertritt  er  dieses  mit 
einer  Härte,  die  im  Zeitalter  der  Humanität  befrem- 
dend   wirken    mufi.    Toilette    machen,   davonlaufen 


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20- 


und  nie  wieder  auf  der  Strafte  grOften  —  das  sollteidocli 
genügen  I  Wenn  die  sittliche  Empörung  besonders 
groß  isty  könnte  man  die  rote  Gred  etwa  noch  wegen 
heimlioher  Prostitution  anseieen.  Aber  wer  wird  denn 
gleich  den  Leib  vernichten  lassen  und  dabei  noch 
Busehen  wollen?  Ich  weifl  nicht,  ob  die  Reise  der 
Konservatoristinnen,  damals  als  Herr  v.  Perger  Direk- 
tor war,  besonders  viel  Unheil  angerichtet  haben.  Ich 
würde  es  wünschen;  denn  es  ist  immer  ein  tröstlicher 
OedankCy  dafi  es  dem  männlichen  Ernst  nicht  völlig 
gelingt,  das  Leben  mit  Langweile  bu  verkleistern, 
wenn  Frauen  etwas  dawider  haben.  Aber  ich  weift, 
dafi  sich  Herr  v.  Perger  als  Direktor  des  Konserva- 
toriums durch  nichts  ausgezeichnet  hat,  und  ich  finde 
es  unbegreiflich,  dafi  er  sich  als  Musikkritiker  gerade 
durch  Grausamkeit  hervortun  will.  Früher  klappten 
blofi  die  Orohesterübungen  nicht,  wenn  Herr  v.  Perger 
den  Taktstock  in  die  Hand  nahm,  aber  sonst  stand 
er  im  Ruf  eines  umgän^iohen  Mannes;  jetzt  »wirft 
man  zu  einem  Nero  und  öusiris  seinen  Namen«.  Sollte 
er  wider  Erwarten  Gedankenfreiheit  geben,  dann 
werde  ich  von  ihr  in  Bezug  auf  ihn  den  ausgiebig- 
sten Gebrauch  machen! 


Die  Leute  vom  Eisenkartell  haben  sich  mit 
Recht  darüber  aufgehalten,  dafi  der  Maler  Hohen- 
berger,  der  sie  als  Gruppe  verewigen  sollte,  ihre 
Verdienervisagen  von  Kenaissancekostümen  sich 
abheben  liefi.  Da  die  Renaissance  nicht  weten 
Ehrenbeleidigung  klagt,  mufite  Herr  Peilchenfeld  Sa- 

fen.  Das  Bild  war  eine  Privatsache,  und  der 
Künstler,  der  auf  Bestellung  arbeitet,  macht  sich 
lächerlicher  als  den  Bankier,  wenn  er  die  öffentliche 
Ausstellung  solchen  Ulks  mit  heiligem  Ernst  verteidigt. 
Wenn  ein  Gerichtshot  endlich  zurecht  erkennte,  dafi 
die  Eisenwucherer  in  der  Sezession  gehängt  werden 
sollen,  so  wäre  dagegen  nichts  einzuwenden ;  bis  dahin 
aber  dürfen  sie  sicn  gegen   alles,  was  mit  ihnen  in 


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—  21 


effigie  geschieht,  rerwahren.  Zu  Ausbrüchen  des 
Kfinstlerstolses  war  keine  Veranlassung.  Sie  sind 
stets  mit  logischen  Unregelmäßigkeiten  verbunden. 
Als  einer  der  Geldmenschen  sich  darüber  beklagte, 
dafi  er  auf  dem  Bilde  als  Schleppträger  dargestellt 
sei,  wäre  die  Absicht  der  Deeradierung  leicht  beweisbar 
gewesen.  Aber  den  Beweis  durfte  gerade  einer  der  Klä- 
ger nicht  führen,  sonst  wäre  es  wohl  herausgekommen, 
welche  Rolle  er  und  seinesgleichen  am  Hofe  des 
Herrn  Wittgenstein  spielen  und  welche  Direktiven 
der  Maler  vom  Mäcen  empfangen  hat.  Darum  konnte 
Herr  Hohenberger  pathetisch  werden  und  den  schönen 
Satz  aufstellen :  »In  der  Kunst  fi^bt  es  keine  Degradation ! 
Wenn  der  Sonnenthal  oder  der  Lewinsky  einen  Diener 
oder  einen  König  darstellt,  so  ist  das  egal  Ic  So  logisch  ist 
nun  einmal  die  gekränkte  Künstlerwürde.  Wenn  der 
Sonnenthal  einen  Diener  oder  einen  König  gibt,  so 
ist  das  gewifl  egal;  aber  der  Vergleich  könnte  doch 
höchstens  die  Berechtigung  des  Malers  erhärten, 
einen  Diener  oder  einen  König  zu  malen,  nicht  die 
Verpflichtung  des  Modells,  sich  als  Diener  oder  als 
König  malen  zu  lassen.  Nicht  die  Verpflichtung  eines 
zahlenden  Modells.  Weil  es  in  der  Kunst  keine  Degra- 
dation gibt,  so  vergibt  sich  Herr  Hohenberger  gewiß 
nicht  das  geringste,  wenn  er  einen  Eisenwucherer 
konterfeit.  Das  Modell  aber  macht  nicht  die  Ehren 
oder  Herabsetzungen  der  Kunst  mit,  sondern  unterliegt 
nur  der  sozialen  Wertung.  Wird  ein  Wucherer  als 
Könie'^gemalt,  so  ists  eine  Ehre,  wird  ein  König  als 
Wucherer  dargestellt,  eine  Degradation.  Nur  wenn 
das  Modell  selbst  Künstler  wäre,  ginge  ihm  die 
Wirkung  einer  Linie  oder  eines  Flecks  über  die 
stoffliche  Bedeutung.  Aber  es  ist  pure  Heuchelei,  zu 
▼erlangen,  daß  zum  Beispiel  ein  früherer  Bankdirek- 
tor sich  geehrt  fühle,  weil  der  Künstler  aus  Gründen 
der  Lichtverteilung  ihn  so  aufgefaßt  hat,  als  ob  er 
blofl  vier  Millionen  geiAohlen  hätte. 


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—  22  — 


.Wiener  Allgemeine  Zeitung' 
6.  April: 
Lange  Gesichter  gibt  es  zur 
Frist  an  den  verschiedenen  deut- 
schen Höfen  und  Höichen.  Es  ist 
nichts  mit  der  im  größten  BaUett- 
stil  ausgedachten  Qratulationscour 
sämtlicher  deutschen  Reichsfürsten 
unter  dem  Kommando  Kaiser  Wil- 
helms II.  bei  unserem  Kaiser  in 
Wien  .  .  .  Quos  ego !  War  es  doch 
von  allem  Anfang  ersichtlich,  daß 
das  ganze  Massengratulationsprojekt 
von  irgend  einem  egoistischen 
Berliner  Höfling  stammte  . . .  Allein 
Kaiser  Wilhelm  besitzt  politischen 
Takt,  Feingefühl  eines  vornehm 
Denkenden.  So  war  ihm  sofort 
klar,  daß  es  seinem  greisen  und 
treuen  Freund,  der  doch  auch  ein 
deutscher  Fürst  ist,  nicht  angenehm 
sein  könne,  an  die  peinlichste  Zeit 
seines  arbeitsreichen  Lebens  erin- 
nert zu  werden  . . .  Die  Herren  von 
der  Berliner  Kamarilla  haben  es 
diesesmal  gar  zu  plump  und  un- 
schlau angefangen.  Die  Massen- 
invasion deutscher  Fürstlichkeiten 
in  Wien  wfa-d  unterbleiben  ...  Der 
Gewinn  ans  dem  projektierten  duo- 
dezlflntlichen  Fremdenverkehr  in 
Wien  wäre  denn  doch  allzu  teuer 
durch  das  Emporbeschwören  trüber 
Erinnerungen  im  Geiste  jener  er- 
lesenen Persönlichkeit  bezahlt,  deren 
Jubiläum  die  Berliner  KamariUeriche 
mit  seltener  Taktlosigkeit  für  ihre 
Lüsternheiten  zuexploitieren  hofften. 


, Wiener  Allgemeine  Zeitung', 
10.  April: 
Wie  wir  von  infoimierter  Seite 
hören,  scheint  sich  die  Nachricht, 
daß  eine  Anzahl  deutscher  Bundes- 
ffirsten  unter  Führung  des  deut- 
schen Kaisers  in  Wien  erscheinen 
werde,  um  dem  Kaiser  Franz 
Joseph  anUßlich  seines  öOjAhrigen 
Jubiläums  gemeinsam  ihre  Glück- 
wünsche darzubringen,  zu  bestäti- 
gen. Amtlich  ist  jedoch  diesbezüg- 
lich noch  keine  Verständigung  ein- 
gelangt. Aus  diplomatischen  Krei- 
sen erfahren  wir,  daß  die  deut- 
schen Bundesfürsten,  insbesondere 
Kaiser  Wilhelm,  schon  vor  längerer 
Zeit  dem  Wunsch  Ausdruck  gaben, 
eine  solche  solenne  Kundgebung 
zu  veranstalten,  durch  welche  das 
intime  und  herzliche  BundesverhiU- 
nis,  welches  zwischen  dem  Deut- 
schen Reich  und  Österreich-Ungarn 
herrscht,  zum  Ausdruck  gelangen 
sollte.  Diese  Anregung,  welche,  wie 
erwähnt,  von  deutscher  Seite  aus- 
ging, scheint  nunmehr  ihrer  Ver- 
wirklichung entgegenzugehen,  wenn- 
gleich amtliche  Schritte  in  dieser  Rich- 
tung noch  nkht  erfolgt  sind.  Es  wäre 
selbstverständlich  mit  großer  Freude 
zu  begrüßen,  falls  eine  so  markante 
Demonstration  für  das  innige  Verhält- 
nis der  beiden  verbündeten  Reiche, 
wie  es  in  der  von  den  deustchen 
Bundesfürsten  geplanten  Kundge- 
bung zutage  treten  würde,  statt- 
finden sollte. 


In  der  250.  Nummer  der  yPaokal'  hat  die  fol- 
gende Elrklärung  leider  keinen  Plats  mehr  gefundeu : 

Von  dem  ursprfingliohen  Vorsats,  dieses  Hoft 
aussohiieftlich  der  Syphilis  tu.  widmen,  muftte 
ioh  sohon  deshalb  abkommen ,  weil  ja  der  nicht 
weniger  verbreitete  Lippowits  auch  eine  gewisse  Be- 
achtung verdient  und  weil  gerade  jetzt  einige  Aus- 


—  23  - 


sieht  auf  energische  Ausrottung  dieses  Obels  besteht. 
In  der  ^Frankfurter  Zeitung'  yom  8.  April  war  näm- 
lich SU  lesen: 

[Apachen Journalistik.]  Im  ersten  Morgenblatt  vom  8.  Mflrz 
d.  J.  brachten  wir  unter  dem  Titel  *»Eine  Sedenlescrin«  einen  Artikel 
unserer  Pariser  Mitarbeiterin  Anne  Jules  Gase.  Am  14.  N^fßt  erhielten 
wir  von  Frau  Jules  Gase  folgenden  Brief:  »Der  Zufall  spielt  mir  ein- 
übenden widerrechtlichen  Abdruck  meines  Artikels  in  die  Hände,  ohne 
Quellenangabe,  ohne  meinen  Namen  zu  nennen.  Das  ist  doch  unerhört f 
Wollen  Sie  mich  wissen  lassen,  was  ich  zu  tun  habe,  oder  ob  die 
.Frankfurter  Zeitung'  fflr  mich  eintritt.  Das  ist  ja  geradezu  Apachenjour- 
nalistlk  U  Das  Blatt,  das  diesen  widerrechtlichen  Abdruck  gebracht  hatte, 
war  das  ,Neue  Wiener  Journal'  (Herausgeber  J.  Lippowitz).  Wir  pro- 
testierten in  einer  Zuschrift  an  diesen  Herrn  energisch  gegen  das  unserer 
Mitarbeiterin  zugefügte  Untecht  und  erhielten  zu  unserem  Erstannen  am 
25.  Mfirz  von  Herrn  Lippowitz  ein  Antwortschreiben,  das  neben  einer 
ausfälligen  Bemerkung  fiber  den  »unkollegialen«  Ton  unserer  Zuschrift 
folgende  Stelle  enthält:  »Im  vorliegenden  Falle  handelt  es  sich  um  eine 
Arbeit  unserer  ständigen  Pariser  Korrespondentin  Anne  Jules  Gase,  welche 
ans  den  betreffenden  Artikel  »Die  Setienleserinc  selbst  überwiesen  hat. 
Wir  haben  also  allen  Orund,  uns  darüber  zu  wundem,  daß  una  unsere 
Kotrespondentin  einen  Artikel,  der  ihr  noch  dazu  als  Originalartikel 
honoriert  whd,  anbietet,  nachdem  diese  Art>eit  vorher  in  der  ,Frankfurier 
Zeitung'  zum  Abdruck  gelangt  ist.«  Nach  dieser  »Aufklärung«  hätte  also 
Frau  Gase  sich  bei  uns  über  einen  widerrechtlichen  Nachdruck  beschwert 
und  unsere  Hilfe  gegen  diese  Ari  von  Apachenjoumalistik  angerufen, 
gleichzeitig  aber  den  fraglichen  Artikel  zum  Originalpreise  dem  .Neuen 
Wiener  Journal'  Überwiesen.  Einige  Kenntnis  unserer  Pappenheimer  hat 
uns  vor  einer  verfrühten  Entrüstung  Über  Frau  Gase  geschützt.  Wir  sandten 
der  Dame  den  Brief  des  Herrn  J.  Lippowitz  mit  der  Bitte  um  Rückäußerung 
ein  und  erhielten  am  30.  März  folgende  Antwort :  »Nein,  das  geht  dodi 
wirklich  über  alle  Erwartungen.  Ich  bin  starr  1  Diese  dreiste  Lüge  ist 
geradezu  empörend!  Hier  haben  sie  meine  feierliche  Erklärung  über 
den  wahren  Tatbestand  der  Angelegenheit:  Es  ist  mir  gar  nicht  einge- 
fallen, dem  ,Neuen  Wiener  Journal'  den  fflr  die  »Frankfurter  Zeitung*  als 
Originalartikel  eingesandten  Beitrag  »Eine  Seelenleserin«  anzubieten.  Der- 
gleichen »journalistische«  Streiche  liegen  mir  fern  und  gehören  nicht  zu 
der  Schule,  aus  der  ich  stamme.  Als  schlagender  Beweis  aber  für  meine 
Korrektheit  in  dieser  Angelegenheit  dient  doch  die  Tatsache,  dafi  ich 
selber  Ihre  Aufmerksamkeit  auf  diese  Angelegenheit  lenkte.«  Wir  hatten 
auch  keinen  Moment  an  der  Korrektheit  von  Frau  Gase  gezweifelt,  wohl 
aber  war  es  uns  von  vornherein  klar,  daß  Herr  Lippowitz  mit  seiner 
Behauptung  verblüffen  wollte,  wohl  unter  der  Voraussetzung,  daß  Frau 
Gase  als  gelegentliche  Mitarbeiterin  des  ,Neuen  Wiener  Journal'  nicht 
den  Mut  haben  werde,  iiire  Elire  zu  verteidigen  und  ihren  »Brotgeber« 
öffentlich  zu  übedühren.  Herr  Lippowitz  hat  sich  in  dieser  Annahme 
geirrt.  Wir  übergeben  den  ganzen  Akt  der  Öffentlichkeit  und  erklären 
damit  Herrn  Lippowitz  als  für  uns  erledigt.  ^         1    . 

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—  24  - 


Bin  Bezirksrichter  hat  den  Ausspruch  ^etan: 
»Die  sittliche  Gefährdung  ist  genügend  erwiesen, 
wenn  man  beim  Ballett  angestellt  istc  Der  Ausspruch 
entstammt  einem  heillosen  Optimismus.  Denn  die 
sittliche  Gefährdung  ist  leider  ganz  und  gar  nicht 
erwiesenr,  wenn  man  beim  Ballett  angestellt  ist.  Und 
tief  traurig  ist,  dafi  sich  die  Ballerinen  im  ,Extra- 
blatt'  entrüsten,  anstatt  dem  Richter  für  das  Kompli- 
ment zu  danken.  Die  Ballerinen  wollen  aus  der 
Hausbackenheit,  zu  der  sie  ihr  Beruf  verurteilt,  nicht 
herauskommen.  Sie  sind  stolz  darauf,  dem  Leben  so 
fremd  gegenüberzustehen,  wie  ein  Bezirksrichter.  Der 
hat  wahrhaftig  keine  Ahnung  von  diesen  Dingen,  wenn 
er  einer  Angeklagten  sagt:  »Hätten  Sie  Ihre  Tochter 
nicht  mit  acht  Jahren  zum  Ballett  gegeben  I  Das  heifit  ja 
die  sitüiche  Gefährdung  bei  den  Haaren  herbeigezogen. c 
Wenn  eine  Mutter  es  daralif  abgesehen  hätte,  die 
letzten  Funken  sinnlichen  Temperaments  in  ihrer 
Tochter  auszutreten,  sie  täte  nichts  besseres,  als  diese 
mit  acht  Jahren  zum  Ballett  zu  geben.  Auf  solidere 
Art  kann  eine  ihre  Weiblichkeit  nicht  verbrauchen, 
als  durch  den  Tanz.  Das  versteht  freilich  der  Philister 
nicht,  den  ein  fliegender  Rock  ins  Elysium  entrückt, 
und  der  nicht  ahnt,  dafi  ein  Eiszapfen  darin  steckt. 
»Ja,  so  sind  sie,  ja,  so  sind  sie,  die  Damen  vom 
Ballett  !< :  wenn  sie  nicht  einen  Tugendbund  gründen, 
sind  sie  treu.  Es  gibt  keine  Klasse  bürgerlicher  Frauen, 
die  es  ihnen  an  geradezu  lebensfeindlicher  Ehrbarkeit 
gleichtun  könnte.  Sie  verachten  den  Sinnentand.  »Die 
Mitglieder  des  Balletts«,  ruft  eine  Primaballerina, 
»die  es  ehrlich  mit  ihren  künstlerischen  Aufgaben 
nehmen,  haben  zu  yiel  zu  tun,  um  sich  in  Niedrig- 
keiten zu  verlieren,  c  Stolz  bekennt  sie,  sie  für  ihre 
Person  habe  »weder  die  Sittlichkeit  in  Italien  noch 
in  Frankreich  und  auch  nicht  in  Wien  aus  dem 
Gleichgewicht  gebracht«  •  Ballerinen  lieben  nicht, 
sondern  tanzen.  Auch  das  erweckt  manchmal  unsittliche 
Erwartungen,  aber  umso  ehrenvoller  ist  dann**  die 
Enttäuschung,   die   man  den  Männern   zuteil  werden 

üigitized  by  VjOOQl' 


—  26  - 


I&fit  Und  je  mehr  Männer  eine  nicht  interessiert  hat, 
umso  grofiartiger  kommt  sie  sich  vor.  Eher  konnte 
man  Pfaffen  der  Gottlosigkeit  beschuldigen,  als  Bai- 
erinen  der  Unmoral. 

« 
(Hof-  und  Personalnachrichten.)  Ein  Maler, 
der  das  Hauptverdienst  an  der  künstlerischen  Aus- 
gestaltung des  Festsugs  haben  wird,  wird  schon  heute 
in  den  Zeitungen  Professor  genannt.  Ein  Anachronis- 
mus also.  Hoffentlich  werden  solche  Verstoße  gegen 
die  historische  Wahrheit  wenigstens  bei  den  Kostü- 
men vermieden  sein.  —  Handelsminister  Fiedler  hat 
dem  Kikiser  die  Elmennung  von  acht  Ministerialräten 
unterbreitet  und  durch  einen  Hinweis  auf  das  Jubi- 
läum begründet,  worauf  der  Kaiser  bemerkte:  »Ich 
glaube^  die  Herren  nützen  die  Sache  zu  sehr 
ffir  sich  aus.  Eis  sollte  etwas  für  die  unteren 
Rangsklassen  geschehen.c 


Ich  habe  im  ,Neuen  Wiener  Journal*  diese  Notiz 
gefunden: 

(Die  Ermordung  des  Grafen  Potocki)  hat  die  größte  Auf- 
regung hervorgerufen.  Das  größte  Aufsehen  in  allen  Kreisen  der  Be- 
völkerung erregen  auch  die  kfin stierischen  tadellosen  Arbeiten  der  Kunst- 
anstalt >Photographie-Palast<  (II.  Bezirk  u.  s.  w.),  der  es  gelungen  ist,  sich 
mit  Hilfe  ihres  Mottos  »Erstklassige  Leistungen,  Preise  konkurrenzlos« 
das  allgemeine  Vertrauen  zu  erwerben. 

Nun,  photographische  Darstellung  des  Leichen- 
begängnisses eines  ermordeten  Statthalters :  das  wäre 
die  Qrenze,  bis  zu  der  die  Intimität  des  Geschäftssinns 
mit  einem  Ereignis  gehen  könnte.  Hier  aber  ist  der  tote 
Statthalter  als  Sandwichman  verwendet.  Daß  sich  ein 
Journalismus,  dem  solche  Neuerung  geglückt  ist, 
ge^en  das  Wort  »Saubengel«  verwahrt,  ist  immerhin 
ein  Beweis  von  Zartgefühl. 


Ein  Blatt  hat,  weil  die  Dummheit  immer  noch 
überboten  werden  kann,    eine  Rundfrage  Jjach  dem 

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251  ~§2 


-  26  -. 


schönsten  Wiener  Lied  gestellt,    und  eine  Sängerin 
hat  geantwortet,  am  liebsten  sei  ihr  das  Lied: 

Du  guater  Himmelvoder 

I  brauch  kein  Paradies 

I  bleib  viel  lieber  doder 

Weil  mei  Wien  für  mi  's  Himmelreich  is. 

Richtig,  das  ist's  I  Ich  habe  lange  doder  gelebt, 
aber  die  Formel  für  die  Qräfilichkeit  des  Doderseins 
nicht  gefunden.  Das  ist's  also.  Und  ich  frage  ernst- 
hafty  ob  man  in  einer  Stadt  leben  kann,  in  der  sich 
»Vatert  auf  »dac  reimt. 

K.  K. 


Die  Pornm-Ssene.*) 

Wenn  Deutschlands  Genius  ein  Cäsar  ist,  dessen 
großes  Herz  brach  und  dessen  Leichnam  noch  von 
den  Wunden  blutet,  die  die  Verräterwaffe  ihm  ge- 
schlagen hat,  so  ist  Einer  da,  der  auf  offenem  Forum 
sich  mit  dem  löcherigen  Mantel  einer  toten  Pracht 
drapiert.  Einer,  der  mit  kaltem  Pathos,  aufgewärmten 
Reminiszenzen  und  einer  Gebärde  der  Innerlichkeit, 
die  Steine  verhärten  und  Gehirne  erweichen  konnte, 
immerzu  »ausspricht,  was  ist«.  Einer,  der  beinahe 
das  Vaterland  gerettet  hätte,  dessen  publizistisches 
Programm  jedoch  lautet:  >Nun  wirk'  es  fort  —  Un- 
heil, du  bist  im  Zuge,  nimm  welchen  Lauf  du  willst  Ic 
Einer,  der  sich  als  Vollstrecker  eines  politischen 
Testaments  aufspielt,  die  Verschwornen  ein  Grüpp- 
chen  nennt  und  den  Brutus  und  Gassius  blofi  nach- 
weisen kann,  daß  sie  ehrenwerte  Männer  sind.  Aber 
keinen  Augenblick  lang  wäre  das  Volk  von  Rom  im 

*;  Diese  Satire  ist  im  zweiten  April-Heft  der  Zeitschrift  ,März' 
erschienen.  • 

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-  27  — 


Banne  eines  Mark  Anton  gestanden,  der  den  Vor- 
wurf politischer  Zweideutigkeit  durch  die  Behauptung 
hAtte  stfltaen  wollen,  dafi  sie  alle,  alle  normwidrig 
sind,  und  dafi  sumal  Portias  Bettgenofi  in  schwierig^en 
Liagen  seinen  Mann  nicht  gesteift  hat.  Er  hätte  sich 
mit  diesem  Versuch  in  den  Augen  des  letssten 
Plebejers  gerichtet,  er  hätte  den  ganzen  Kredit  ein- 

SbOfit,  den  ihm  die  Erinnerung  verschaffen  mochte, 
fi  Cäsar  ihm  am  Lupercusfeste  dreimal  ein 
Vanilleneis  angeboten  hat  Und  im  günstigsten  Fall 
konnte  er  sich  nur  durch  eine  undeutliche  Ausdrucks- 
weise den  Folgen  seines  Wagnisses  entsiehen.  Wenn 
er  etwa  begonnen  hätte: 

Mitbürger!  Freunde I  Nachfahren  der  im  Tiber- 
beiirk  von  der  Wölfin  Gesäugten  I  hört  mich  anl 
Oäsam  in  die  Grube  zu  senken,  nicht  mit  blinkender 
Rede  ihm  seines  Wirkens  bleibende  Spur  zu  zeichnen, 
bin  ich  vor  euch,  die  der  Volkheit  Wollen  eint,  ge- 
treten. Was  Menschen  Obles  tun,  trägt  ins  Gedenken 
noch  die  Viruskraft,  wenn  mit  dem  längst  verdorrten 
Leib  frommen  Handelns  Erinnerung  die  Scholle  fühl- 
los deckt  (Fühllos?  Die  im  Frühlenz  Erneute  läßt 
menschlicher  Kurzsicht  den  mit  leiser  Tröstung 
sänftigenden  Kinderglauben  der  Wiederkehr).  So  sei 
es  auch  mit  Gäsarnl  Der  edle  Brutus  hat  euch,  da  er 
mit  flinkem  Finger  den  Schwichtigunggrund  gefunden 
wähnte,  gesagt,  dafi  Herrschsucht  ihm,  der  gleiftende 
Wurm,  am  Ziel  noch  ungesättigt,  aus  dem  Auge 
sah.  Wenn  dies  erweislich  wahr  ist,  kein  Rüge- 
wort könnte  den  sichtbaren  Fehl  so  schmerzvoll 
trefibn,  wie  ers  trotz  einem  Tag  vor  Tag  an  die  res 
publica  gebundenen  Daseinsinhät  verdiente.  Und  das 
grause  finde,  das  diesem  Leben  ein  Grüppchen  der 
vom  Volk  Abgeordneten  bereitet  hat,  würde  auch  den 
im  politischen  Handlungdrang  noch  nicht  völlig  ge- 
wirrten Sinn  ein  von  Dike  selbst  befohlenes  Werk 
dünken.  Hier,  mit  des  Gajus  Titus  Amilius  Marcus 
Brutus  Willen  und  der  Andern  (denn  Brutus  ist,  so^ 
weit   das  Urteil    der    im   Geltungbereich  ^der    Sitte 

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28  — 


Wohnenden  zum  Ansehn  hilft,  ein  der  Ehren,  die 
in  der  Siebenhügelstadt  auch  geringern  Könnern  heut 
die  Stirn  beglänzen,  werter  Mann;  und  neben  ihm, 
mit  ihm,  sind  alle,  die  gleiches  Hoffen  bindet,  gleicher 

Erfüllung  wert) 

Zwischenrufe:  »Das  Testament I  Das  Testament  Ic 
wären  schon  an  dieser  Stelle  laut  geworden.  In  dem 
losbrechenden  Lärm  versucht  Redner  vergebens  sich 
unverständlich  zu  machen.  Man  merkt  nur,  wie  er 
sich  um  die  kürzeste  Bezeichnung  der  Stadt  Rom 
herumdrückt,  und  hOrt  eine  Geschichte  von  der  dem 
Hirtengott  bereiteten  Wolfsfeier,  worunter  das  be- 
kannte Lupercusfest  gemeint  sein  Will.  Endlich  ver- 
schafft er  sich  Ruhe,  nennt  Cassius  einen  stillen 
Mächler  und  behauptet,  dafi  das  Plänchen  zur  Be- 
seitigung Oäsars  von  Männern  geschmiedet  sei,  die 
diesen  Namen  nicht  verdienen,  weil  ihnen  ein 
kränkliches  Wesen  eigne,  und  die  politisch  ge- 
fährlich seien,  weil  sie,  denen*  der  Willenskanal 
doch  nicht  völlig  verstopft  ist,  auf  ihren  warmen 
Plätzchen  flink  ein  Weltrühmchen  erhaschen  möchten. 
Da  diese  Anspielungen  niemand  versteht,  halten  alle 
den  Redner  für  den  Ketter  des  Vaterlands  und  ahnen 
nicht,  daS  eine  enttäuscht«  Frau  hinter  ihm  steht, 
eine  von  jenen,  die  in  der  Politik  schon  einmal  ohne 
Dank  sich  betätigt  haben,  als  sie  nämlich  das  Eapitol 
retteten.  Darum  entschUeflt  sich  Mark  Anton  zu 
einer  deutlicheren  Sprache.  Von  einem  der  römischen 
Feldherren  werde  offiziell  zugegeben,  er  habe  seinen 
Burschen  Lucius  »unzüchtig  berührte.  Solch  beschöni- 

Pender  Darstellung  gegenüber  hält  er  es  für  seine 
'flicht,  nicht  nur  anzudeuten,  sondern  auszusprechen^ 
was  ist,  und  nachdem  er  in  Parenthese  bemerkt  hat : 
»Nur  berührt?  Er  hat  ihn  geküfit  und  versucht,  ihm 
•  den  Chiton  herunterzureißen«,  bekennt  er  sich  zu  einer 
Tat,  auf  die  ein  Repräsentant  der  Kultur  seines 
Volkes  wahrhaft  stolz  sein  kann:  »Mein  Handeln  hat 
das  Verfahren  gegen  die  Mifibraucher  der  Dienst- 
gewalt, die  Verführer  junger  Soldaten  erwirkt.  Durch 

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-  29  — 


Zeugen,  die  ich  dem  Oericht,  als  es  mich  vorlud, 
genannt  habe,  ist  die  OberfQhrung  gelungen.  Von 
Dankbarkeit  habe  ich  nichts  gespürte.  Und  leicht  sei  es 
ihm  nicht  geworden.  Der  Gedanke  an  das  Schicksal 
dieser  Mftnner  (Männer?)  liefi  ihn  »manche  Nacht  im 
Fieber«,  das  man  ursprünglich  fQr  eine  Begleit- 
erscheinung der  Pleuritis  melt,  »durchbeben;  der 
grause,  nie  vOllig  wieder  aus  dem  Hirn  zu  tilgende 
Uedanke,  Menschenglück  getötet,  Kindern  das  Bild 
des  Vaters  verleidet  zu  haben.  Doch  mufite  es  sein. 
Quae  medicamenta  non  sanant,  ferrum  sanat«  .  .  . 
Das  Volk  von  Rom  merkt  sofort,  daß  man  es  hier 
mit  einem  WiUensmenschen  von  säkularer  Oröfie  su 
tun  habe,  der  aus  freiem  Antrieb  die  ganze  Arbeit 
su  leisten  imstande  ist,  für  die  ein  Staatsanwalt  be- 
zahlt werden  muß.  Er  kann  sich  gar  nicht  genug  tun 
in  der  Anerkennung  seines  Verdienstes,  in  zwei 
flagranten  Fällen  ein  vergehen  gegen  das  Strafgesetz 
nachgewiesen  zu  haben,  nachdem  in  so  vielen 
anderen  Fällen  blofi  ein  schäbiges .  normwidriges 
Empfinden  und  kein  ausgewachsenes  normwidriges 
Han«leln  an  den  Tag  gekommen  war.  »Daß  Zwei,  die 
allzu  lange  auf  fast  unnahbar  hoher  Stelle  gestanden 
hatten,  vernichtet  werden  konnten  und  allen  Soldaten 
von  berufenen  Warnern  jetzt  die  Lebensgefahr  der 
Männerlockung,  Männerpaarung  gezeigt  wird,    habe 

ich  bewirktlc 

Fünfzehn  Jahrhunderte  später  rief  Hütten:  »Ich 
habs  gewagt  I«,  aber  durch  die  Zeitalter  schwoll  das 
Pathos  der  sittlichen  Überzeugung  dermaßen  an,  daß 
es  sich  schließlich  bei  einem  Berliner  Publizisten,  der 
sich  sonst  nur  auf  den  alten  Bismarck  zu  berufen 
pflegte,  im  Ausruf  Luft  machte :  »Schon  der  alte  Gehlsen 
hat  gesagt,  der  Graf  L.  habe  widernatürliche  Un- 
zucht mit  Männern  getrieben,  c  Deutschland  stand 
damals  auf  der  Höhe  der  kulturellen  Entwicklung, 
die  christliche  Moral  hatte  seit  der  Pilatusfrage  nach 
der  j^ahrheit  ungeheure  Fortschritte  gemacht  und 
war  endlich    bis    zur  Suche    nach    dem  »Erweislich 


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—  30  — 


Wahren«  im  Oeschleohtsleben  des  Nebenmenschen 
gelangt.  Es  war  der  Weg,  an  dessen  Anfang  die 
Worte  »Es  ist  vollbracht!«  und  an  dessen  Ziel  die 
Worte  »Es  ist  erreicht  I«  standen. 

Karl  Kraus. 


Menachenwflrde.  *) 

Die  Stellung  des  Künstlers  zur  Menschheit  ist 
noch  immer  nicht  geklärt.  Entweder  ist  ihre  Würde 
in  seine  Hand  fi;egeben  oder  es  fafit  ihn  ihr  ganzer 
Janmier  an.  Fühlt  er  aber  die  Identität  dieser  beiden 
Möglichkeiten,  so  macht  er  sich  unmöglich.  Ich  habe 
midi  viel  und  eingehend  mit  der  Menschenwürde 
beschäftigt,  habe  in  meinem  Laboratorium  die  ver- 
schiedensten Untersuchungen  darüber  angestellt  und 
mufi  bekennen,  daß  die  Versuche  in  den  meisten 
Fällen  schon  wegen  der  Schwierigkeit  der  Be- 
schaffung des  Materials  kläglich  verlaufen  sind.  Die 
Menschenwürde  hat  die  Eigentümlichkeit,  immer 
dort  zu  fehlen,  wo  man  sie  vermutet,  und  immer 
dort  zu  scheinen,    wo   sie  nicht  ist.    Der  Fähigkeit 

gewisser  Tiere,  die  Gestalt  lebloser  Körper  oder 
flanzen  anzunehmen,  welche  man  Mimikry  nennt 
und  die  die  Natur  erfunden  hat,  damit  sie  ihre  Ver- 
folger zum  Narren  halten  können,  entspricht  beim 
Menschen  die  sogenannte  Würde.  Er  zieht  ein  Kleid 
an  und  stellt  sich  in  Positur.  Der  Hauptmann  von 
Köpenick  aber  war  es,  der  dieser  unterhaltlichen  Schutz- 
vorrichtung selbst  wieder  einen  Possen  gespielt  und 
die  menschliche  Mimikry  entlarvt  hat;  als  er 
mit  Würde  daherkam,  ereab  sich  die  Würde, 
als  er  mit  Trommeln  und  Pfeifen  einzog,  ging  die 
Autorität  flöten,  und  darum  ist  es  begreiflich,  dafi  er 
jetzt  in  einem  Zuchthaus  an  der  Schwindsucht 
sterben  mufi.  Man  sagt,  er  habe  sich  blofi  den 
Scherz  einer  Verkleidung  erlaubt;  aber  in  Wahrheit 
hat  er  mehr*  getan,    er  hat  die  Verkleidung  eines 


*)  Aus  dem  »Simplldssimus'. 

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• 


-  81  — 


Ernstes  enthflUt.  Wenn  ein  Shakespearescher  König 
wahnsinnig  wird,  so  benützt  er  die  Gelegenheit,  um 
Weisheiten  auszusprechen,  die  man  ihm  sonst  übel- 
nähme; man  würde  ihn  für  verrückt  halten.  Auch 
der  Narr  ihm  zur  Seite  genießt  die  Vorteile  seiner 
Stellung:  nähme  man  ihn  ernst,  man  liefie  sich  von 
Ulm  auch  nicht  die  kleinste  Wahrheit  gefallen.  Er 
darf  seinen  König  einen  Narren  nennen,  der  König 
darf  die  Behauptung  wagen,  dafi  man  »dem 
Hund  im  Amt  gehorchte,  und  der  Schuster  in  der 
Uniform  kann  beweisen,  dafi  der  Hund  im  Amt  dem 
Schuster  in  der  Uniform  gehorcht.  Einem  Mann, 
der  lange  Zeit  im  Kostüm  'eines  persischen  Generals 
die  höchsten  E^reise  einer  Residenzstadt  zu  seinem 
eigenen  Besten  gehalten  hatte,  kam  man  endlich 
darauf,  dafi  er  eigentlich  gar  kein  persischer  General 
oder,  wenn  er  einer  sei,  dafi  er  noch  avancieren  müfite, 
um  den  Rang  eines  europäischen  Korporals  zu  erreichen. 
Jener  wahnsinnige  König  hat  sofort  die  Wahrheit 
erkannt;  denn  er  sagte:  »Efuch,  Herr,  halte  ich  als  einen 
meiner  Hundert;  nur  gefällt  mir  der  Schnitt  eures 
Habits  nicht.  Ihr  werdet  sagen,  es  sei  persische 
Tracht;  aber  lafit  ihn  ändern. c  Wenn  er  ihn  nun 
ändern  läfit  und  sich  etwa  zur  Uniform  des  Schweizer 
Admirals  aus  »Pariser  Leben«  entschließen  sollte,  wird 
er  darum  nicht  weniger  beliebt  sein.  Die  Menschenwürde, 
mag  sie  selbst  als  Takowa-Orden  verliehen  oder  als 
päiMtliche  Jubiläumsmedaille  um  den  Hals  gehängt 
werden,  sie  gewährt  in  allen  Formen  Schutz  vor 
Verfolgung  und  bringt  den  Respekt  jener  ein,  die 
noch  nicht  auf  die  Idee  verfallen  sind,  sie  sich  zu 
verschaffen.  Die  Würde,  die  das  wahre  Verdienst 
einst  um  den  VerroittlungspreiS  bekam,  ist  jetzt 
unter  dem  Herstellungspreis  zu  haben.  Vorbei  die 
Zeiten,  da  ein  Gregers  Werle  mit  der  idealen  For- 
derung umherging,  die  Medaillen,  die  die  Bahnhof- 
portiers auf  der  Brust  tragen,  müfiten  revidiert  werden. 
Heute  schafft  der  Besitz  die  Berechtigung.  Früher 
hatten  die  .Hochstapler  von  der  Dummheit  gelebt; 


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—  32  — 


jetet  bereichert  sich  die  Dummheit  auf  Kostea 
der  Hochstapler  und  beutet  sie  in  der  rücksichts- 
losesten Weise  aus.  Denn  die  Menschenwürde 
verleitet  zur  Erzeugung  falscher  Bhrenzeichen 
und  wenn  der  Schwindler  eine  Zumutung  zurück- 
weist, dem  Dummen  gelingt  es  stets  noch,  ihn 
zu  überlisten.  Vor  allem  aber  wollen  die  Leute  einen 
Titel  hören,  unter  dem  sie  sich  nichts  vorstellen 
können.  Man  kann  dem  hochmütigsten  Beamten  den 
FuS  auf  den  Nacken  setzen,  wenn  man  ihm  sagt: 
»Ich  bitte  mir  diesen  Ton  aus,  Sie  scheinen  nicht  zu 
wissen,  daß  ich  Exhibitionist  bin!«  Die  Menschen- 
würde hat  die  Eigenschaft,  sich  selbst  so  zu  imponieren, 
daß  sie  sofort  nachgibt,  wenn  sie  aufbegehrt.  Ich 
kenne  eine  Stadt,  in  der  sie  an  jeder  Straßenecke 
solche  Siege  feiert.  Auch  dort  hat  jetzt  Gottseidank  ein 
Kutscher  die  gleichen  politischen  Rechte  wie  ein 
Bifton,  aber  wenn  er  ihn  zum  Wahllokal  befördert 
hat,  so  sagt  er  zu  ihm :  >Eüß  die  Hand,  Euer  Gnaden  Ic 
Als  der  Staatswagen  dahintorkelte,  riß  das  Volk  die 
Tür  auf.  Aber  es  stellte  sich  heraus,  daß  es  nur 
Wagentürl- Aufmacher  waren.  Man  fragte  sie,  was  sie 
wollten,  und  sie  sagten:  »Euer  Gnaden,  wissen  ehlc 
Sie  wollten  ein  Trinkgeld,  man  gab  ihnen  die 
Menschenwürde,  und  sie  brummten:  »So  a  notiger 
Herr! . .  .€  Ich  habe  eine  wahre  Hochachtung  vor  dem 
Menschenrechte  der  Freiheit,  so  sehr,  daß  ich  der 
Freiheit  das  volle  Recht  auf  die  Menschen  zuerkenne, 
die  sie  verdient  Ich  habe  eine  unbegrenzte  Ehrfurcht 
vor  den  politischen  Rechten ;  wenn  aber  der  Absolutisniufi 
des  Trinkgelds  nicht  abgeschafft  ist,  so  glaubt  das  Volk, 
ein  Achtundvierziger  sei  die  Rufnummer  eines  Fiakers, 
und  ein  Unnummerierter  ist  doch  mehr.  Ich  kenne 
einen  Hoflieferanten,  der  sich  ins  Privatleben  zurück- 
gezogen hat,  nicht  ohne  daß  ihm  der  Verkehr  mit  den 
hohen  Herrschaften,  die  er  bedient  hatte,  zu  Kopf 
^stiegen  wäre.  Er  benimmt  sich  noch  heute  in 
jeder  Lebenslage  so,  als  ob  er  eine  Lieferung  für  die 
Königin  von  Hannover   zu  effektuieren  hätte.    Die 


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—  33  — 

geheimsten  Wfinsohe  und  Besohwerden  des  Bttrger- 
fienens  kommen  ans  Tageslicht,  und  als  er  einmal 
iD  einem  öffentlichen  Lokal  eines  leibhaftigen  Aristo- 
kraten anaichtin:  wurde,  verbeugte  er  sich  und  rief: 
»Zu  Faflen  des  Herrn  Grafen«  zu  FOfienU  Es  war 
mir  wie  die  Vision  eines  unblutig  niedergeworfenen 
Au&tandes.  Ein  radikales  Qemfit  kann  wieder  auf 
Lebensseit  Von  einer  Leitartikelphrase  verwirrt  werden. 
Ich  glaube,  dafi  die  Politik  immer  entweder  daran 
krankt,  dafi  die  Ideen  aus  kleinen  EOpfen  in  kleinere 
Hersen  oder  aus  kleinen  Hersen  in  kleinere  Köpfe 
übergehen«  Der  Mensch  ist  frei  geschaffen,  ist  frei, 
dann  bekommt  er  die  Masern,  dann  die  Würde,  und 
mit  der  weifi  er  schon  gar  nichts  anssufangeo.  Aus- 
genommen, wenn  er  KarteUti<^;er  wird.  Das  ist 
nlmlicfa  die  einzige  Situation,  in  der  der  Philister 
herumgeht,  als  ob  er  der  Mandatar  der  Vorsehung 
wäre.  Weh  dem,  der  ihn  in  dieser  Würde  nicht 
ernst  nimmt,  er  erhebt  sich  mit  einem  »Pardon, 
dann  hab  ich  hier  nichts  mehr  eu  suchen I«,  und  das 
Protokoll,  die  Reinschrift  der  Würde,  ist  fertig.  Wenn 
nicht  hin  und  wieder  ein  Eommis  fixiert  würde,  wir 
wtiftten  nichts  von  den  ehernen  Gesetzen,  die  uns 
an  das  Schicksal  binden.  »Würdec  ist  die  konditionale 
Form  von  dem,  was  einer  ist.  Wenn  aber  Würde  nicht 
wire,  gäbs  keine  Würdelosi^keit.  Sie  provoziert 
die  Oaror,  und  wo  Gaffer  sind,  stockt  der  Verkehr. 
Die  Überwindimg  der  Menschenwürde  ist  die  Vor- 
aussetzung des  Fortschritts.  Ich  habe  sie  in  allen 
Situationen  gesehen.  Sie  glaubte  sich  unbeobachtet,  und 
ich  sah,  wie  ein  Kellner  vor  einem  Trinkgeld,  das  ein  Gast 
auf  dem  Tisch  zurückgelassen  hatte,  sich  verbeu|?te 
nnd  »Ich  danke  vielmsds«  sagte.  Ein  anderes  Mal 
bemerkte  ich,  wie  er  sich  bückte,  um  eines  Kreuzers, 
der  in  einen  Spucknapf  gefallen  war,  habhaft  zu 
werden.  In  einem  doppelten  Symbol  faßte  mich  der 
Menschheit  ganzer  Jammer  an.  Wo  ist  die  Menschen- 
würde? fragte  ich.  Jener  verstand  schlecht,  glaubte, 
ich  verlange  eine  abgegriffene  illustrierte  Zeitung, 
und  sagte:  Bedaure,  sie  ist  in  der  Handl    Google 

Karl  Kraus. 


—  84  — 

Tagebuch. 

Ich  und  meine  Öffentlichkeit  verstehen  uns  sehr 
gut :  sie  hört  nicht,  was  ich  sage,  und  ich  sage  nicht, 
was  sie  hören  möchte. 

Das  Talent  ist  ein  aufgeweckter  Junge.  Die 
Persönlichkeit  schläft  länger,  erwacht  von  selbst  und 
gedeiht  darum  besser. 

Wenn  ich  sicher  wüfite,  dafi  ich  mit  gewissen 
Leuten  die  Unsterblichkeit  zu  teilen  haben  werde, 
so  möchte  ich  doch  eine  separierte  Vergessenheit  vor- 
ziehen. 

Ich  bin  jederzeit  bereit,  was  ich  einem  Freunde 
unter  dem  Siegel  tiefster  Verschwiegenheit  mit- 
teile, zu  veröffentlichen. 

Geheimnisse  vor  Einzelnen  müssen  nicht  Ge- 
heimnisse vor  der  Öffentlichkeit  sein.  Bei  dieser  sind 
sie  besser  aufgehoben,  weil  man  hier  selbst  die  Form 
der  Mitteilung  bestimmt.  Wem  die  Form  den  Inhalt 
bedeutet,  der  gibt  das  Wort  nicht  aus  der  Hand.  Er 
kann  sich  getrost  Geheimniskrämerei  oder  äufierste 
Schamlosigkeit  vorwerfen  lassen,  oder  beides  zugleich. 

• 
Ich  kann  mit  Stolz  sagen,  dafi  ich  Tage  und 
Nächte  daran  gewendet  habe,  nichts  zu  lesen,  und 
dafi  ich  mit  eiserner  Energie  jede  freie  Minute  dazu 
benützte,  mir  nach  und  nach  eine  enzyklopädische 
Unbildung  anzueignen. 

Sittlichkeit  hilft  immer.  Ein  diebisches  Dienst- 
mädchen droht,  sie  werde  der  Polizei  erzählen«  dafi 
die  Dame  Herrenbesuche  empfanere,  und  entgeht  der 
Anzeige.  Die  Moral  ist  ein  Einbruchs  Werkzeug,  das 
den  Vorzug  hat,  dafi  es  nie  am  Tatort  zurück- 
gelassen wird. 

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—  85  — 


Wenn  Frauen,  die  sich  schminken,  minderwertig 
sind,  dann  sindMAnner,  die  Phantasie  haben,  wertlos. 

Kosmetik  ist  die  Lehre  vom  Kosmos  des  Weibes. 

Die  Frauen  haben  wenigstens  Toiletten.  Aber 
womit  decken  die  Männer  ihre  Leere? 

Nacktheit  ist  wahrhaftig  kein  Erotikum,  sondern 
Sache  eines  Anschauungsunterrichts.  Je  weniger 
eine  an  hat,  umsoweniger  kann  sie  der  kultivierten 
Sinnlichkeit  anhaben« 

Kunstwerke  sind  überflüssig.  Es  ist  zwar  not- 
wendig, sie  EU  schaffen,  aber  nicht  sie  zu  zeigen. 
Wer  Kunst  in  sich  hat,  braucht  den  stofflichen  Anlafi 
nicht.  Wer  sie  nicht  hat,  sieht  nur  den  stofflichen 
Anlafi.  Dem  einen  drängt  sich  der  Künstler  auf,  dem 
andern  prostituiert  er  sich.  In  jedem  Fall  sollte  er 
sich  schämen. 

Auch  mir  wird  manchmal  Trost  und  Freude. 
WenA  mir  nämlich  einer  schreibt,  dafi  ich  sie  ihm 
bereitet  habe. 

Preuäen:  Freizügigkeit  mit  Maulkorb.  Öster- 
reich: Isolierzelle,  in  der  man  schreien  darf. 

Die  Ratten  verlassen  das  sinkende  Schiff  und 
haben  sich  vorher  am  Speck  den  Ma^en  verdorben. 
Das  p:ilt  vom  Anhang  und  vom  Stil  eines  deutschen 
Publizisten. 

Um  Verwechslungen  vorzubeugen,  unterscheidet 
der  Wiener:  >ifitc  und  >is<. 

Deutsche  Literaten:  Die  Lorbeem,  von  denen 
der  eine  träumt,  lassen  den  andern  nicht  schlafen. 
Ein    anderer    träumt,    dafi    seine  Lorbeem    wieder 


--  36  - 

einen  andern  nicht  schlafen  lassen,  und  dieser  schläft 
nicht,  weil  der  andere  von  Lorbeern  träumt. 

Die  Schauspielkunst  sollte  sich  wieder  selbst- 
ständig machen.  Der  Darsteller  ist  nicht  der 
Diener  des  Dramatikers,  sondern  der  Dramatiker  ist 
der  Diener  des  Darstellers.  Dazu  ist  freilich 
Shakespeare  su  gut.  Wildenbruch  würde  genügen. 
Die  Btäine  gehört  dem  Schauspieler,  und  der  Drama- 
tiker liefere  blofi  die  Gelegenheit.  Tut  er  mehr,  so 
nimmt  er  dem  Schauspieler,  was  des  Schauspielers 
ist.  Die  Dichtung,  der  das  Buch  gehOrt,  hat  seit 
Jahrhunderten  mit  vollem  Bewufitsein  an  der  Szene 
schmarotzt.  Sie  hat  sich  vor  der  Phantasiearmut  des 
Lesers  geflüchtet  und  spekuliert  auf  die  des  Zuschauers. 
Sie  sollte  sich  endlich  der  populären  Wirkungen  schämen, 
zu  denen  sie  sich  herbeiläfit.  Kein  Theaterpublikum 
hat  noch  einen  Shakespeare  -  Gedanken  erfaflt, 
sondern  es  hat  sich  stets  nur  vom  Rhythmus,  der 
auch  Unsinn  tragen  könnte,  oder  vom  stofflichen 
Gefallen  betäuben  lassen.  »Des  Lebens  Un- 
verstand mit  Wehmut  zu  geniefien,  ist  Tugend  und 
Begriffe:  damit  kann  ein  Tragöde  so  das  "Haus 
erschüttern,  daß  jeder  glaubt,  es  sei  von  Sopho- 
kles und  nicht  von  Wenzel  Scholz.  Heil  Alexander 
Girardi,  der  in  der  Wahl  unliterarischer  Gtolegenheitea 
seine  schöpferische*  Selbstherrlichkeit  betont  I 

Auch  der  Maler  ist  auf  der  Bühne  als  eine  dort 
nicht  beschäftigte  Person  au  behandeln.  Das  literarische 
und  malerische  Theater  ist  ein  amputierter  Leichnam^ 
dem  betrunkene  Mediziner  den  Arm  eines  Affen  und 
das  Bein  eines  Hundes  angesetzt  haben.  Wenn  auf  der 
Bühne  die  Dichter  und  Maler  hausen,  dann  bleibt 
nichts  übrig,  als  Schauspielkunst  in  Bibliotheken 
und  Galerien  zu  suchen.  Vielleicht  haben  sie  die 
Hanswurste  der  Kultur  dort  inzwischen  eingeführt. 

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•^  87 


Bndlich  sollte  einmal  zu  lesen  sein:  Die  Aus- 
Btattung  des  neuen  Stückes  hat  alles  bisher  Ober- 
troffene  geboten. 

Man  gewöhne  sich  daran,  die  Frauen  in  solche 
la  unterscheiden,  die  schon  bewufitlos  sind,  imd 
wiche,  die  erst  dazu  gemacht  werden  müssen.  Jene 
liehen  höher  und  gebieten  dem  Gedanken.  Diese 
sind  interessanter  und  dienen  dßr  Lust.  Dort  ist  die 
Liebe  ein  Opfer;  hier  ein  Akt  der  Feindseligkeit. 

Mit  Frauen  muft  man,  wenn  sie  lange  fort  waren. 
Feste  des  Niohtwiedererkennens  feiern. 

EiT  hat  sie  mit  Lustgas  betäubt,  um  eine  schwere 
Qedankenoperation  an  ihr  vorsimehmen. 

Ihr  (Hite  erlaubt  ihr,  Theater  zu  spielen  —  die 
Bohdme  hätte  ihr  nicht  erlaubt,  verheiratet  zu  sein. 
Also  ist  in  der  Gesellschaft  noch  immer  mehr  Frei- 
heit als  in  der  Bohdme,  die  ihre  imumstöSlichen  Ge- 
setze hat. 

Zwei  haben  nicht  geheiratet  und  leben  seit  da- 
mals in-  einer  Art  gegenseitiger  Witwerschaft. 

Die  Schätzung  einer  Frau  kann  nie  gerecht 
sein;  aber  die  Ober-  oder  Unterschätzung  geschieht 
immer  nach  Verdienst. 

Kann  man  aus  der  Büchse  der  Pandora  auch 
eine  Prise  Schnupftabak  nehmen?  Wohl  bekomm's, 

mein  Freund  1 

« 

HTsterische  soll  man  vorsichtshalber  vor  einer 
Operation,  die  an  einem  andern  ausgeführt  wird, 
narkotisieren.  Und  um  ihnen  jeden  Schmerz  zu 
ersparen,  auch  vor  einer  Operation,  die  an  dem 
andern  nicht  ausgeführt  wird. 


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--88- 


Was  war  doch  der  bayrische  König,  der  allein 
im  Theater  safi,  ein  Freund  der  Geselligkeit  I  Ich 
würde  auch  selbst  spielen. 

Ich  sehe  durch  ein  Fenster  und  der  Horizont 
ist  mir  durch  ein  Laffengesicht  verlegt.  Das  ist 
tragisch.  Ich  habe  nichts  dagegen,  dafi  es  abscheu- 
liche Gesichter  gibt  Aber  warum  hat  es  die  Natur 
mit  den  Gesetzen  der  Optik  so  eingerichtet,  daß  ein 
vorgehaltener  Spazierstock  einen  Menschen  und  — 
was  schlimmer  ist  —  ein  Mensch  einen  Hintergrund 
verdecken  kann?  Wenn  der  optische  Effekt  eines 
Scheusals  nur  den  Raum  einnähme,  den  das  Scheusal 
einnimmt,  man  könnte  zufrieden  sein.  Aber  er  nimmt 
einen  breiteren  Raum  ein.  Das  hat  die  Optik  sohlecht 
gemacht.  Die  Lichtstrahlen  dienen  nur  der  Ver- 
mehrung des  Menschenhasses. 

Höchster  Überschwang  der  Gefühle:  Wenn  Du 
wflfitest,  welche  Freude  Du  mir  mit  Deinem  Kommen 
bereitest  * —  Du  tätest  es  nicht,  ich  weiß,  Du  tätest 
es  nicht! 

Ich  stehe  immer  unter  dem  starken  Eindruck 
dessen,  was  ich  von  einer  Frau  denke. 

Aller  Spott  über  Schauspielereitelkeit,  Applaus- 
bedürfnis und  dergleichen  ist  philiströs.  Die  Theater- 
menschen brauchen  den  Beifall,  um  besser  zuspielen; 
und  dazu  genü|2;t  auch  der  künstliche.  Das  Glücks- 
gefühl, das  mancher  Darsteller  zei^t,  wenn  ihm  diea^ 
plaudieren,  die  er  dafür  bezahlt  nat,  ist  ein  Beweis 
von  EünstlerschafL  Kaum  einer  wäre  ein  grofier 
Schauspieler  geworden,  wenn  der  Glaquechef  ohne 
Hände  auf  die  Welt  gekommen  wäre. 

Talent  haben  —  Talent  sein:  das  wird  immer 
verwechselt. 


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—  39  — 


Wenns  die  Religion  gilt,  so  erzählt  mir  ein 
Qrientreisender,  gibts  keinen  GÜAkschisoh.  Im  Abend- 
knd  kann  man  das  auch  der  lioeralen  Presse  nachsagen. 

Nicht  Jeder,  der  von  einer  Frau  Oeld  nimmt, 
darf  sich  deshalb  einbilden,  ein  Striczi  zu  sein. 

Kein  Zweifel,  der  Hund  ist  treu.  Aber  sollen 
wir  uns  deshalb  ein  Beispiel  an  ihm  nehmen?  Er  ist 
doch  dem  Menschen  treu  und  nicht  dem  Hund. 

Treu  und  Glauben  im  Geschlechtsverkehr  ist 
mne  Börsenusance. 

Im  Dunstkreis  des  Geschmacks  jüdischer  Anek- 
doten war  der  Selbstmord  eine  unbekannte  Pointe. 
Soll  die  gute  Gesellschaft  den  Glauben  an  ihre  Lustig- 
macher  verlieren?  Sie  sagten,  er  müsse  die  Tat  in 
einem  Aufall  von  GeistesgestOrtheit  begangen  haben. 
Aber  am  Ende  war  sie  in  einem  Anfall  von  geistiger 
Klarheit  begangen«  Die  Lustigmacher  überlegen  sichs 
manchmal  anders.  In  solch  einem  könnte  so  viel 
Leben  gewesen  sein,  dafl  er  das  eine  unbedenklich 
hingeben  -durfte.  Das  heißt  gewiß,  ihn  überschätzen; 
aber  nicht  jeder  ist  wert,  überschätzt  zu  werden.  Selbst- 
mord kann  das  Aderlassen  einer  YoUblütnatur  be- 
deuten. Die  gute  Gesellschaft,  die  der  Lederbranche 
näher  steht  als  dieser  AufiTassung,  dürfte  der  ungün- 
sügNk  Konjunktur  die  ganze  Schuld  geben.  Ich  habe 
ihn  nur  von  fern  gekannt,  bin  deshalb  zum  Urteil 
berufen.  Sein  Blick  gefiel  mir,  denn  der  hatte  nichts 
vom  Krämer,  oder  Kunden«  Ich  glaube,  es  war  Einer, 
d^  dem  Leben  nichts  herunterhandelt  und  dem  es 
nichts  herunterhandeln  kann.  Das  schafft  zu  jeder 
Zeit  glatte  Rechnung.  Es  mag  Lederhändler  geben, 
die  sentimentaler  sind.  Aber  wenn  es  ein  Ziel  dieser 
schäbigen  Tage  ist,  mit  Ziegenhäuten  Glück  zu  haben, 
ao  könnte  sich  schon  Einer,  der  kein  Glück  damit 
hatte,  der  Betrachtung  empfehlen.    Und  wi^r  sich  so 

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-  40  - 


ruhiff  den  Mund  von  den  Genüssen  des  l^bens  ab- 
wisont,  um  ihn  für  immer  2u  yerschliefien,  hebt  sieh 
▼on  den  Tafelgenossen  ab;  imd  wer  sich  nur  vom 
Gewimmel  der  Wohlhabenden  unterschied,  denen 
der  Schneider  die  Kultur  und  der  Sportlehrer  die 
Persönlichkeit  beibringt,  den  soll  man  sich  merken. 
Oberhaupt  werde  ich  den  Verdacht  nicht  los,  dafi 
einer  schon  ein  Kerl  sein  mufi,  wenn  ihn  das  heutige 
Leben  bu  Fall  bringen  soll.  Was  Feuer  hat  und  einen 
leichten  Zug,  yerbrennt.  Nur  Männer  ohne  Mark  und 
Weiber  mit  Hirn  sind  der  sozialen  Ordnung  ge- 
wachsen. 

Dafi  eine  Frau  bei  näherer  Betrachtung  yerliert, 
ist  ein  Yorcug,  den  sie  mit  jedem  Kunstwerk  gemein 
hat,  an  dem  man  nicht  gerade  Farbenlehre  studieren 
will.  Nur  Frauen  und  Maler  dürfen  sich  untereinander 
mikroskopisch  messen  und  ihre  Technik  prüfen. 
Wen  die  Nähe  enttäuscht,  der  verdient  es  nicht 
besser.  Solche  Enttäuschungen  lösen  ihm  die  Rosen- 
ketten des  Eros.  Der  Kenner  aber  versteht  es,  sie 
erst  daraus  su  flechten.  Ihn  enttäuscht  nur  die  Frau, 
die  in  der  Entfernung  verliert. 

Es  kann  aber  eine  Wohltat  der  Sinne  sein,  von 
Zeit  2U  Zeit  einem  komplizierten  Räderwerk  nahe- 
zustehen. Die  Anderen  sehen  nur  das  Gehäuse  mit 
dem  schönen  Ziffernblatt ;  und  es  ist  bequem,  zu  er- 
fahren, wie  viel's  geschlagen  hat.  Aber  ich  hibe 
die  Uhr  aufgezogen. 

»Sich  keine  Illusionen  mehr  machenc:  da  begin- 
nen sie  erst. 

Den  Inhalt  einer  Frau  erfaftt  man  bald.  Aber 
bis  man  zur  Oberfläche  vordringt  I 

Man  mufi  das  Temperament  einer  Schönen  so  hal- 
ten, dafi  sich  Laune  nie  als   Falte    festlegen   kann. 


—  41  — 


Du  Bind  OeheimniBse  der  Beeliaohen  Koanetik,  deren 
Anwendung  leider  die  Bifertuoht  yerbietet 

KflDstler  haben  das  Recht,  bescheiden,  und  die 
Pflicht,  eitel  %n  sein. 

Wenn  der  Dieb  in  der  Anekdote  stehlen  geht, 
80  halt  ihm  der  Wächter  das  Licht  Bine  solche 
Situation  ist  auch  den  Frauen  nicht  unerwünscht 

Wer  nicht  will,  hat  schon.  Wer  nicht  will,  wird 
«nt  Das  ist  der  grundlegende  Unterschied  iwischen 
Kann  und  Weib. 

Ihre  Brauen  waren  Gedankenstriche  —  mandi« 
mal  wölbten  sie  sich  su  TMumphbogen  der  Wollust 

Unter  Dankbarkeit  versteht  man  gemeinhin 
die  Bereitwilligkeit,  lebenslänglich  Sall^  auüsu- 
sohmieren,  weil  man  einmal  einen  Ausschlag  ge« 
habt  hat 

Die  Schriftgelehrten  können  noch  immer  nur 
▼on  rechts  nach  links  lesen;  so  kommt  es,  daß  sie 
Leben  als  Nebel  sehen. 

Vervielfältigung  ist  insofern  ein  Fortschritt,  als 
sie  die  Verbreitung  des  Binfältigen  ermöglicht 

Bs  herrscht  Not  an  Kommis.  Alles  drängt  der 
Soiialdemokratie  und  der  Journalistik  lu. 

Der  Zuhälter  ist  eine  soziale  Stütse  der  Frau. 
Verliert  sie  ihn,  so  kann  es  leicht  geschehen,  daß 
sie  herunterkommt. 

Nervenpathologie:  Wenn  einem  nichts  fehlt,  so 
bellt  man  ihn  am  besten  von  diesem  Zustand,  indem 
man  ihm  sagt,  welche  Krankheit  er  hat. 

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—  42  — 


»Der  Besuch  Sr.  Majestät  des  Königs  Friedr 
August  Ton  Sachsen  in  der  Leipsdger  Zementindustrie 
in  Markranstädt.€  Oder:  »Dr.  Peters  verläßt  das  Qe- 
richtsgebäude«  oder  »Präsident  Roosevelt  auf  dem 
Wege  ins  Weifie  Hause.  Was  immer  es  Torstellen 
mag,  die  Leute  sehen  aus,  als  ob  sie  nach  melir- 
monatiger  Bettlägerigkeit  die  ersten  Gehversuche 
machten.  Und  der  Ad^jutant  sieht  dem  König  von 
Sachsen  dabei  genau  auf  die  Füfie  und  sagt:  Eins, 
zwei,  Majestät,  eins,  swei,  immer  los,  immer  rin  ins 
Yergniechenl  Bs  wird  schon  gehen  I  (Er  könnte  auch 
▼ade-mecum,  yade-mecum  sagen,  wie  einst  der 
sächsische  Justisrat,  der  die  Villa  der  Louise 
umschlich.)  Und  das  deutsche  Volk  freut  sich  an 
dem  Schauspiel,  das  in  Wahrheit  auf  einer  groben 
Fälschung  beruht.  ESs  mag  ja  interessant  sein,  lu 
sehen,  wie  die  interessanten  Leute  gehen.  Aber  dann 
halte  man  sich  an  den  Kinematographen.  Ein  einzelnes 
Momentbild  seigt  nicht,  wie  der  Köni^  von  Sachsen 
geht,  sondern  bloß,  dafl  sein  Schuh  eme  Sohle  hat. 
Das  zu  wissen,  scheint  freilich  für  das  deutsche  Volk 
auch  wichtig  zu  sein. 

Wenn  ein  Priester  plötzlich  erklärt,  dafi  er 
nicht  an  das  Paradies  glaube  imd  dafl  er  diese  Er- 
klärung niemals  widerrufen  werde,  dann  ist  die 
übende  JPresse  begeistert,  deren  Redakteure  sich  be- 
kanntlich auch  nicht  ihre  Oberzeugung  nehmen 
lassen.  Aber  würde  nicht  doch  ein  Verlegerpapst 
seinen  Angestellten  sofort  a  divinis  entheben,  der 
sichs  einfaÜen  liefie,  vor  den  Lesern  zu  bekennen, 
er  glaube  an  das  Paradies?  Es  ist  der  widerlichste 
Anblick,  den  die  Neuzeit  bietet:  ein  vemunftbeses- 
sener  Priester  von  Prefikötem  umheult,  denen  er 
Adams  Rippe  zuwirft. 

Die  Modemisten  sind  die  einzigen  strenggläubi- 
en  Katholiken^  die  es  noch  gibt.  Sie  glauben  sogar, 
afi  die  Kirche  an  die  Lehren  glaubt,  die    sie  ver- 

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—  48  — 


köndety  und  glauben»  daß  es  auf  den  Glauben  derer 
aokommey  die  ihn  su  yerbreiten  haben. 

Die  Orthodoxie  der  Vernunft  verdununt  die 
Menschheit  mehr  als  jede  Religion.  Solange  wir  uns 
ein  Paradies  vorstellen  kennen,  geht  es  uns  immer 
noch  besser,  als  wenn  wir  ausscmiefllich  in  der  Wirk- 
lichkeit einer  Redaktion  leben  müssen.  In  ihr  mögen 
wir  die  Oberseugung,  dajß  der  Mensch  vom  Affen 
abstammt,  in  Ehren  halten.  Aber  um  einen  Wahn, 
der  ein  Kunstwerk  ist,  war's  schade. 

Kompilatoren  sind  WissenschafUhuber. 

Beeser,  es  wird  einem  nichts  gestohlen.  Dann 
hat  man  wenigstens  keine  Unannehmlichkeiten  mit 
der  Polisei. 

Bin  Mann,  dem  in  einem  öffentlichen  Lokal  ein 
Winterrock  abhanden  kam,  muflte  oft  cur  Behörde. 
Der  Beamte  sagte  su  ihm:  »Beschreiben  Sie  den 
T&terl«  Hat  man  das  notwendig? 

DaB  Wesen  der  Prostitution  beruht  nicht  darauf, 
<bfl  sie  sichs  gefallen  lassen  müssen,  sondern  dafi  sie 
sichs  mififallbn  lassen  können. 

Nur  der  hebt  eine  Frau  wahrhaft,  der  auch 
eine  Besiehung  2u  ihren  Liebhabern  gewinnt.  Im 
Anfang  bildet  das  immer  die  größte  Sorge.  Aber  man 
gewölmt  sich  an  alles,  und  es  kommt  die  2ieit,  wo 
man  eifersüchtig  wird  und  es  nicht  verträgt,  wenn  ein 
Liebhaber  untreu  wird. 

Die  Frau  spürt  die  Schmusen  nicht,  die  der 
Mann  ihr  sufügt.  Der  Mann  sogar  die. 

Bin  Dichter,  der  liest  Ein  Anblick,  wie  ein 
KeUner,  der  speist 

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^i 


-  44  - 


Er  beherrscht  die  deutsche  Sprache  —  das 
t  vom  Kommis.  Der  Kfinstler  ist  ein  Diener  am 
ort.  \ 


Zu  seiner  Belehrung  sollte  ein  Schriftsteller 
mehr  leben  als  lesen.  Zu  seiner  Unterhaltung  sollte 
ein  Schriftsteller  mehr  schreiben  als  lesen.  Dann 
können  Bücher  entstehen,  die  das  Publikum  cur  Be- 
lehrung und  zur  Unterhaltung  liest. 

»Ich  war  gestern  in  Melk  —  das  war  a  Wetter«, 
sagt  einer  plötslioh  auf«4dr  Eisenbahn  su  mir.  »Der 
Eder  soll  g'storben  sein,  der  kaiserliche  Rat«,  sagt  einer 
plötslich  vom  Nebentisch  bu  mir.  »Grojßer  Mann  ge- 
worden!« sagt  einer  in  etwas  anderm  Tonfall  plötzlich 
auf  der  Elektrischen  zu  mir  und  zeiet  nach  einem, 
der  soeben  ausgestiegen  und  auf  dessen  Be- 
kanntschaft er  offenbar  stolz  ist.  Ich  erfahre  also, 
ohne  daß  ich  es  verlangt  habe,  was  im  Innersten 
dieser  Zei^enossen  vor  sich  geht.  Daft  ich  ihre  äuftere 
Häfilichkeit  schaue,  genügt  mnen  nicht«  In  den  fünf 
Minuten,  die  wir  die  Lebensstrecke  miteinander 
gehen,  soll  ich  auch  darüber  unterrichtet  werden,  was 
sie  bewegt,  beglückt,  enttäuscht.  Das,  und  nur  das 
ist  der  Inhalt  unserer  Kultur:  die  Rapidität,  mit  der 
uns  die  Dummheit  in  ihre  Wirbel  zieht.  Auch  wir 
sind  von  irgend  etwas  bewegt:  aberhastdunicht^esehn 
sind  wir  in  Melk,  an  der  Bahre  des  Eder,  m  der 
Karriere  des  groflen  Mannes.  Nie  würde  unsereinem 
eine  ähnliche  Wirkung  auf  den  Nebenmenschen  ge- 
lingen. Ich  bleibe  gebannt  stehen,  weil  die  Sonne 
blutrot  untergeht  wie  noch  nie,  und  einer  bittet  mich 
um  Feuer.  Ich  beschäftige  mich  gerade  mit  dem 
Problem  der  Gedankenübertragung,  und  hinter  mir 
ruft's:  »Pia — kerl«  Solange  ein  murigenwirt  und  ein 
Schuster  Plakate  bleiben,  wäre  das  Leben  erträglich. 
In  Oottesoamen,  prägen  wir  uns  ihre  Gesichter  ein! 
Aber  plötzlich   stehen  sie  vor  uns,   legen  die  Hand 

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-  45  — 

auf  unsere  Schulter  und  wir 'brechen  susammen  wie 
Don  Juan,  wenn  die  Statue  lebendig  wird. 


Mein  Wunsch,  man  mOge  meine  Sachen  2wei- 
mal  lesen,  hat  grofle  Erbitterung  errefft.  Mit  Unrecht, 
Der  Wunsch  ist  bescheiden.  Ich  venanfs^e  ja  nicht* 
daS  man  sie  einmal  liest. 

Karl  Kraus. 


Bnlenbiirg. 

»Jetat    wird    es    niemand    mehr    wagen,    su 
sagen,   daft  ich  nichts .  gewujßt  habel«     Aus  einem 
MOnchener    Qerichtsaimmer  rief  er   es   sieghaft   in 
die  Welt.  Ja,  er  hat  etwas  ffewuOtl  Im  Jahre  1888 
hat  der  Fürst  Bulenburg  am  Starnbergersee  mit  einem 
Fischerknecht  —   er  hatl^gewufltl   Ihr  glaubt,  daft 
er  aufs    (Geratewohl    die    politische    Gefahr  an   die 
Wand  gemalt  habe?  Er  hats  gewuflti  Er,  der  alles 
weift,  sollte  nicht  eewuftt  haben,  daft  im  Jahre  1888 
am    Stamberger    See   — ?    Er   hats    gewufitl    In 
Deutschland    ist    alles  erweislich   wahr,  fest    steht 
und  treu  die  Wacht  am  Bett,  und    es   braust   ein 
Ruf  wie  Donnerhall:  Er  hats  sewufttl  .  .  .  Und 
nicht   dieser  Herr  Maximilian  Harden,   sondern  der 
Fürst  Bulenburg  ist  fertig.  Nicht  jenen,  diesen  richtet 
die  Lieitartikelwelt.    'Est  hat   awar    in    einem  abge- 
karteten Oerichtsrerfahren  nicht  Gelegenheit  bekom- 
men, als  Zeuge  seine  Kindheitserinneningen  au  fatie- 
reo.  Aber  es  besteht  die  HoShung,  ihn  für  meineidig 
SU  erklären.  Es  war  ein  Gerichtsverfahren,  in  dessen 

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—  46  — 


Verlauf  der  Vorsitsende  vor  den  journalistischen  Ver- 
tretern der  ausgeschlossenen  Öffentlichkeit  das  Wort 
sprach,  diese  VeAandlung  werde  »ein  Markstein  fflr 
Herrn  Harden  bleibenc .  Es  war  ein  Gerichtsverfahren^  an 
dessen  Schlufi  ein  Angeklagter  seinen  Stohs  be* 
kannte,  im  Falle  der  Verurteilung  »dem  Rechte 
zumSie^e  verhelfen  cu  haben  c.  Der  Beleidigte  imd 
der  Beleidiger  gingen  versöhnt  in  den  Gerichtssaal,  beide 
priesen  die  Objektivität  des  Vorsitzenden,  der  gegen 
einen  abwesenden  Fürsten,  also  tatsächlich  ohne  An- 
sehen der  Person,  verhandelte,  und  es  kam  ein  ehren- 
voller Ausgleich  zustande.,  -indem  der  Beklagte 
vorweg  darauf  verzichtete,  die  Bestechung  des  Herrn 
Harden  zu  beweisen,  wogegen  sich  dieser  bereit  er- 
klärte, in  vollem  Umfang  den  Beweis  für  die 
Päderastie  deä  Fürsten  Bulenburg  zu  führen.  Und 
als  der  Fischerknecht  sprach,  »standen  alle  Zu- 
hörer unter  dem  tiefen  Bindrucke  dieser  sich  dra- 
matisch abspielenden  Szene,  und  lebhafte  Bewegung 
Sb  sich  kund«.  Aber  die  Spannung  der  zwischen 
trk-  und  Bernstein  spielenden  Aktion  löste  sich  in 
der  frohen  Hoffnung  auf,  den  Fürsten  Bulenburg  wegen 
Meineids  belan^n  zu  können . . .  Denn  er  hätte 
vor  dem  Berlmer  Landgericht  bekennen  sollen: 
Ja,  ich  gebe  zu,  dafi  im  Jahre  1888  die  Hose  des 
Fischers  Bmst  einen  Bindruck  auf  mich  gemacht  hat. 
Br  schwor  ausdrücklich,  er  habe  »keine  Schmutzereien« 
begangen,  und  dieser  Aussage  steht  der  Bid 
des  Fischers  Brnst  gegenüber,  Bulenburg  habe 
mit  ihm  »Lumpereien«  getrieben.  Bin  erkenntnis- 
voller Druckfehler  in  einer  Wiener  Zeitungsdepesche 
sagtejsogar,  der  Fürst  Bulenburg  sei  in  München  »der 
S^ualität  beschuldigt«  worden.  Wahrhaftig,  das  kann 
in  Deutschland  heute  jedem  passieren.  Jeder  Sexualakt, 
auch  der  normalste,  hat  dort  Meineid,  Zuchthaus, 
Mord  und  Tod  zur  Folge.  Die  Verheerungen  sind 
fürchterlich.  Ganze  Städte  sterben  aus,  wenn  einer 
einmal  in  ein  unrechtes  Bett  gestiegen  ist.  Dort 
ist    Sodom  auf  den  Kopf  gestellt;  denn  es  wirdzer- 

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-47  — 


stOrt,  wenn  auch  nur  einer  gesündigt  hat.  Denn 
dort  irt  es  erlaubt,  Yoi  Gericht  den  l^ualakt  nach 
Art,  Richtung  und  Intensität  su  beweisen.  In  anderen 
Staaten  gäb's  in  solchen  Prozessen  Ober  einen  lumpigen 
oder  schmutzigen  Eingriff  ins  Privatleben  keine  Zeugen- 
aussagen. Oder  die  ^ugen  dflrften  sich  der  Aussage 
entschlagen.  Hätte  sich  freilich  der  Fflrst  Eulenburg 
in  Berlin  der  Aussage  entschlagen  dürfen,  so  wäre  der 
Eindruck  für  ihn  ebenso  »vernichtende  gewesen.  Darum 
tritt  immer  klarer  die  abgrundtiefe  Schmach  einer 
Kriminalität  zutage,  die  den  Wahrheitsbeweis  für 
Niederträchtigkeiten  zuläfit,  wie  sie  Herr  Harden 
▼erfibt  hat.  Oegenüber  einer  Kriminalität, 
die  die  Helferin  der  niederträchtigsten 
Niedertracht  ist,  jener,  die  an  den 
Sexus  greift,  erscheint  der  Meineid  als 
eine  aus  tiefster  Ethik  begründete  Not- 
wehr. Denn  wenn  ein  Erpresser  in  Deutschland 
von  einer  verheirateten  Frau  schreibt,  sie  habe 
ein  Verhältnis  mit  einem*  Offizier,  so  mufi  der 
Offizier  unter  Eid  darüber  aussagen.  Sagt  er  die 
Wahrheit,  so  mufi  er  sich  ersqhiefien.  Sagt  er  die 
Unwahrheit,  so  mufi  er  sich  erschieflen.  Der  Pischer- 
knabe  yom  Starnbergersee  ist  inzwischen  GroSvater 
geworden,  nützt  nichts,  er  mufi  zugeben,  dafi  er  im 
Jahre  1883  — .  Und  der  Fürst  Eulenburg,  der  es 
nicht  zugegeben  hat,  ist  vor  der  im  Rotationslärm 
triumphiereiiden  Sittlichkeit  schon  heute  ein  gerichteter 
Mann.  Herr  Harden  aber  geht  seiner  »Rehabilitierungc 
entgegen.  Denn  es  stellt  sich  heraus,  dafi  er  etwas 
gewußt  hat.  Der  Kürassier  Bollhardt  —  nun,  da  konnte 
die  deutsche  Kultur  zweifeln.  Aber  der  Fischer  Ernst 
und  der  Milchhändler  Riedl?  Zwar,  wer  zuverlässiger 
^f  weifi  man  noch  nicht,  aber  jedenfalls  sind  die 
Deutschen  wieder  einmal  froh,  daß  sie  zwei  solche 
Kerle  haben.  Ich  selbst  muß  zugeben,  dafi  ich  immer 
gefarchtet  habe,  Herr  Harden  werde  nichts  beweisen 
können.  Jetzt  da  er  daran  ist,  etwas  zu  beweisen,  und 
jeder  Drohung  auch  wirklich  die  Enthüllung:  folgen 

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~  48  - 


läfit,  sage  ich:  Wenn  Deutschlands  Dichter  und 
Denker  nach  dieser  Münchener  Affäre,  durch  die  es 
Herrn  Maximilian  Harden  gelungen  ist,  die  sexuellen 
Regungen  des  Fürsten  Eulenburg  aus  dem  Jahrgang  1 888 
▼er  Gericht  zu  stellen,  wenn  sie  jetzt  noch  einmal  die 
Feder  in  die  Hand  nehmen  soUteni  um  einen  Kultur- 
träger zu  yerherrlichen,  dann  ist  ihre  Hand  yon  ihrer 
Feder  beschmutzt,  man  würde  diese  verachten  und  jene 
nicht  mehr  ergreifen!  Wer  in  dem  Ekel  dieser  Wahr* 
heitsforschung  nicht  erstickt,  wer  es  nicht  fühlt,  dafi 
hier  die  Gemeinheit  in  dem  Mafie  wächst,  in  dem  sie 
die  Wahrheit  sagt,  und  daß  auf  geschlechtlichem 
Gebiete  »Lumpereienc  oder  »Schmutzereien«  nie  der 
Täter  und  stets  der  Enthfiller  begeht,  wer  auch  jetzt 
noch  den  hosenlatzspähenden  Nachbarn  für  einen 
Feuergeist,  den  Nachttopfgucker  für  einen  Ober- 
menschen, den  Verbündeten  der  Todfeindin  unserer 
Freiheit,  der  Sexualmoral,  für  einen  Yorkämpfer 
deutscher  Kultur  hält,  den  verachte  ich  tiefer  ids 
Herrn  Maximilian  Harden.  Und  dem  deutschen  Volk, 
das  Gk)ttes  Wunder  preist,  weil  die  Wahrheit  endlich 
ans  Licht  kommt,  und  das  nicht  ermüdet,  die  Dinge 
zu  erfahren,  über  die  es  sich  entrüsten  kann,  stelle 
ich  eine  neue  Nationalhymne  zur  Verfügung: 

Lieb  Vaterland,  halt  hoch  den  Kopf, 
Fest  steht  und  treu  die  Wacht  am  Topf  I 
Durch  Nacht  zum  Licht,  man  prüft  und  sagt: 
Ich  habs  gewagt  1 

Nun  sind  es  fünfundzwanzig  Jahr, 
Und  doch  ist  es  erweislich  wahrl 
Eis  braust  ein  Ruf  aus  Heldenbrust: 
Ich  habs  gewußt  1 

Karl  Krai 


Hcnasg«ber  und  tcnuitvortlidier  Rediktewr:  Ktrl  Krtas. 
Dreck  VM  Jaliod«  k  Sl«0el,  Wko  HI.  Hiatm  ZoUamMnSe  S. 


Herausgeber:  KARL  KRAUS 

imhetnt  In  xiiD^loser  Folg«  In  OmfiBg  toi  IS— 82  BeltoL 

BBZU08-BBDIN0UN0BN: 

«Jcsterreich-Ungani,  36  Nummern,  ponofrei   .   .  K  9.— 

18         »  >  .   .  >  4.50 

dts  Deutsche  Rdch,  36         >  >  »  10.50 

•         >  »       18         «  »5.25 

die  Linder  d.Weltpostv.,36Nummen),po.iv».^.      »  12.— 

»»»  »18  »  »»   6. — 

'bsfl  Abonnamant  «ntreckt  ffcli  nicht  aaf  elnaii  Zelt- 

mom,  loodaro  auf  alne  bestioiiBta  Ancahl  v.  Nummarn. 

Verlag :  Wietii  III.  Hintere  Zollamtsstr.  3. 

Kommissionsverbg  für  Deutschland  : 

Offo   Maier,    Leipzig 

Stepbaaaatrafie  Nr.  12. 

ElaKifcrkaaf  30  Pf.  BeHIo  NW  7,  PriedridittniSt  101,  Bocb- 
bsndlnnK  M.   Llllenthal. 

Ter  Verlag  der  Fackel 


befindet  sich  Jetzt 

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Telephon  Nr.  187. 


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alKaJiscl 

AUERBRUl 

k.d(.Ho;ileFef 

Krondort.    Bj 


Maschinschreibstube  SCRIPTORIl 


WIEN  VII.  KIRCHENGASSB  34. 

tiinsch reibarbeiten    nach    Diktat,    StenogTamm,    Konzept    etc.  | 
tigungcn  in  jeder   '^''*  k;»,»,^«   oi   c:»,,r.^uM    f.;,.  p,\'b,.^»,>>T 


Ihii 
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.NUSKRIPTE    sind    Wien,    IV.   Schwindgasse 
essieren.     Unverlangte     Manuskripte,     denen 
frankiertes  Kuvert  beiliegt,  werden  nicht  zurückgeg^ 

Es  wird  erancbt,  adminigtrative  Mitteilangen  nicht  an  den  Heransgali 
Hj^  redakUonelle  nicht  an  den  Verlag  gelangen  zn  laiaen. 

^■^  Die  FA( 


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ROBERT  SCHEU,  Wien,  IV.  Theresianum 


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K  7.20  -  Mk.H 

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ypv.];,rT  der 9^1 

T.^fl 

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Die  Fackel 

K.  2S3  WIEN.  9.  MAI  1908  X.  JAHR 


Die  deutsche  Schmach. 

Berlin,  4.  Mai:  »Harden  ist 
damit  beschäftigt,  die  sofortige 
Verhaftung  Eulenburgs  an  der 
Hand  des  Gesetzes  zu  begründen. « 

Wenn  ich  mir  von  der  entfesaelteu  Tatsafchen- 
kanaille«  die  durch  die  deutschen  Lande  rast,  Menschen- 
q)fer  fordert  und  mit  ihrem  Brüllen  die  Musik  des 
Gedankens  übertönt,  eine  Gnade  ausbitten  darf,  so 
wäre  es  die:  von  allen  Worten,  die  ich  seit  einem 
Jahrzehnt  gefunden,  und  die  ungehört  verhallt  sind, 
weil  es  der  deutschen  Sprache  bestimmt  ist,  an  den 
Pingen  der  Rotationsmaschine  stumm  zu  verbluten, 
Ton  allen  möge  eines  nur  den  Plug  ins  Weite  nehmen, 
im  Schweben  stolz  wie  der  preußische  Adler,  und 
venn  es  niederfährt,  eine  Majestätsbeleidigung  — : 
Das  Wort  von  den  Deutschen,  die  das  Volk  der 
Bichter  und  Henker  sindl 

Denn  in  Deutschland  gibt  es  keinen   Beruf,   in 

dem  sie  sich  über  allen  bundesstaatlichen  Zwist,  über 

lUe   politische  Parteiung,  über  alle  Verschiedenheit 

von  Kultur  und  Klasse  so  glücklich   vereinten,   und 

keinen  Beruf  gibt  es,  den  sie  alle  so  wenig  verfehlt 

hätten,  wie  diesen.  Ist  einer  Journalist,  so  schafft  ihm 

«ne  Taty   ob   der  anderwärts  einem    Schlächter   die 

len    über    die    Backen  liefen,    den  Ruhm   eines 

achtensiegers.  Ist  einer  ein  Kaiser,  und  weilt  er  fem 

Heimat,  so  versäumt  er  es  doch  nicht,  täglich  seine 

ktiven  an  den  blutigen  Schauplatz  zu  senden.  Und 

lohen   den    Beiden  ist  Friede,   denn  es  gilt  einen 

ipf  gegen  höhere  Güter.  Es  gilt  die  groue  Parade 

oittlichkeit,  bei  der  die  Generale  von  den  Feld- 

^»^   wegen    vorschriftswidriger  Adjustierung   ge- 

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—  2  — 


tadelt  werden.  Es  gilt  das  große  Reinemachen  der 
Bestialität,  und  da  triumphiert  zum  erstenmal  der 
Einheitsgedanke.  Der  Geisteskämpfer  braucht  sich 
nur  unter  die  Strafienrufer  zu  stellen  und  mit  einer 
von  Woche  zu  Woche  gesteigerten  Deutlichkeit  zu 
sagen,  daß  der  sexuelle  Habitus  eines  Flügeladjutanten 
von  der  vorgeschriebenen  Uniform  abweiche,  und  er  geht 
durch  alle  Stadien  eines  patriotischen  Martyriums  als 
literarischer  Heros  leuchtend  hervor.  Aber  wäre  er  zu- 
fällig Käsehändler,  hätte  er  in  seiner  Kneipe  Ent- 
hüllungen aus  dem  Geschlechtsleben  eines  Hochge- 
stellten zum  Besten  gegeben  und  ginge  die  Kunde  von 
Munä  zu  Mund,  er  wäre  fortan  der  berühmteste 
Käsehändler.  Die  Sache  will's  I  Das  öffentliche  Ärgernis, 
das  in  Deutschland  entsteht,  wenn  zwei  Leute  ein 
Geheimnis  miteinander  haben,  macht  den  berühmt, 
der  es  verriet,  und  der  Schweinehund,  der  die  Fenster 
eines  Schlafzimmers  aufgerissen  hat,  gilt  für  einen 
Liehtbringer.  Denn  die  Sittlichkeit,  deren  Gebäude 
auf  dem  Lügengrund  der  Wahrheit  steht,  gehört  zu 
den  landesherrlichen  Gütern  der  Demokratie.  Sie  war 
einst  ein  Vorurteil  der  höheren  Stände,  jetzt  ist  sie 
eine  Oberzeugung  des  Pöbels,  der  sie  als  Waffe  gegen 
die  älteren  Besitzer  nützt.  Es  gibt  keinen  höheren 
Hochgenuß,  als  vor  der  Tür  des  Höhergebornen  keh- 
ren zu  dürfen. 

Und  eine  staatliche  Gerechtigkeit,  die  zu 
solchen  Genugtuungen  hilft,  ist  wahrlich  des  Teufels! 
Der  Grundsatz,  daß  Allen  gleiches  Recht  werde, 
bedeutet  vor  einer  Demokratie,  deren  Trhimphgeheul 
über  jeden  Sündenfall  des  Adels  die  fürchterlichste 
Strafverschärfune  bietet,  den  klaren  Vorsatz  zum 
Justizmord.  Die  Demokratie  feiert  den  großen  Sieg  der 
Gesetzlichkeit,  denn  hier  bekundetder  Knecht,  daß  er  das 
gleiche  Recht  habe  wie  der  Fürst,  und  spuckt  ihn  aus 
Überzeugung  an.  Wie  ein  Hiesl  nach  dem  andern  ersteht, 
um  zu  schwören,  daß  er  vor  fünfundzwanzig  Jahren 
von  einem  Edelmann  »mißbrauchte  worden  sei,  das  ist 
vor  deutschen  Gerichten  ein  »ergreifendes  und  über- 

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8 


seugendes«  Schauspiel.  Fünfundzwanzig  Jahre  haben 
sie's  getragen,  sind  durch  den  Miflbrauchy  den  sie 
mit  ihren  Leibern  vornehmen  ließen,  »vermögende 
und  hochangesehene  Bürger  Starnbergsc  geworden; 
—  plötzlich  sagt  man  ihnen,  es  sei  ein  unsittlicher 
Gewinn,  dem  sie  ihre  Wohlhabenheit  danken,  und 
im  Nu  sind  die  Qerichtsstuben  und  Redaktionen  mit 
bayrischen  Hieseln  gefüllt,  die  sogar  »Detailsc  zu  mel- 
den wissen.  Leugnet  er,  sie  mißbraucht  zu  haben,  so 
sind  ^e  »entrüstet«.  Es  ist  eine  sittliche  Läuterung  der 
soeben  Enthüllten  zu  Enthüllern,  die  ganz  Deutsch- 
land mit  tiefer  Rührung  erfüllt.  Sie  brachen 
unter  der  Wahrheit  zusammen  und  erheben  sich 
zur  Anklage  siegen  den  Mann,  der  sie  durch 
Wohltaten  so  schwer  geschädigt  hat.  Aber  lebten  wir 
in  einer  freudigeren  Welt,  wir  würden  Tränen 
lachen  über  dieses  Haxenschlagender  Gerechtigkeit,  und 
würden  mit  naivem  Staunen  fragen,  welcher  andern 
Verwendung  der  Leib  eines  Knechts  denn  würdig  sei, 
der  sich  fünfundzwanzig  Jahre  an  dem  Glück 
des  Mißbrauchtseins  wärmt,  um  im  erreichten 
Wohlstand  gegen  den  Beglücker  zu  zeugen. 
Der  hätte  am  Ende  sterben  können  und  das  Geheim- 
nis wäre  nie  an  jenen  Tag  gekommen,  dessen  Sonne 
im  Grunewald  über  das  deutsche  Land  aufgeht! 
Noch  den  Leichnam  werden  sie  schütteln,  um  viel- 
leicht doch  ein  bisher  unbekanntes  Detoil  heraus- 
zubekommen . . .  Wo  ist  der  deutsche  Adel? 
Wäre  die  Sittlichkeit  nicht  ein  Fluch,  der  alle  Zungen 
lähmt,  die  Freunde  des  alten  Mannes  müßten  es  durchs 
Land  rufen,  daß  sie  ihm  ihre  Teilnahme  nicht 
entziehen,  und  müßten  gegen  eine  Gerechtigkeit  auf- 
stehen, die  soziale  Privilegien  mit  dem  Haß  des  Pöbels 
ausgleicht.  Gegen  den  Wahn  eines  Rechts,  das  mit 
deichem  Maß  zu  messen  behauptet,  wenn  es  den 
Hohen  wie  den  Niedern  stürzt,  und  den  Unterschied 
der  Fallhöhe  nicht  bedenkt  und  nicht  die  vertau- 
sendfachte Schmerzhaftigkeit  eines  Sturzes,  den 
die  in  den  Niederungen  johlend    erwarten.   So   weit 

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-   4   — 


die  deutsche  Zunge  reicht,  lecken  sie  den  Staub  von 
einem  Ritterstiefel,  um  bei  gelegener  Zeit  ihm  in  '' 
die  Ferse  zu  beifien.  Es  ist  ein  Otterngezücht,  das 
im  Schutz  des  Journalismus  \md  aller  Vorwände  der 
Freiheit  lebt.  Es  ist  das  moralische  Kriechtier  auf 
dem  Boden  der  Tatsachenwelt,  das  zugleich  ein 
Menschen^lQck  vergiftet  und  die  Phantasie  einer 
Gesamtheit  erdrosselt  I 

W^  jetzt  in  Deutschland  geschieht,  ist  ein 
Aufstand  der  Kammerdiener.  So  gut  haben  sie  sich  in 
zufriedenen  Tagen  nie  bewährt,  sich  so  offen  nie  als 
Domestiken  gezeigt,  wie  jetzt,  da  sie  sich  verleugnen 
möchten.  Von  dem  höchsten  Repräsentanten  der  Un- 
kultur bis  hinunter  zu  dem  Journalisten,  der  die  ost- 
elbischen  Familien  geistig  ausschmarotzt  imd  Morits 
und  Rina  zuerst  durch  eme  lächerliche  Kopie  kom- 
promittiert hat,  ehe  er  ihnen  nachsagte,  dafi  sie 
Blutschande  treiben.  Von  dem  Manne,  der  mit 
der  Gebärde  eines  Herodes  den  Staub  aufwirbelt, 
den  seine  Günstlinge  von  den  Schuhen  schütteln 
müssen,  bis  hinunter  zu  seinem  seltsamen  Jochanaan, 
der  den  Koth  aufwirbelt,  den  sie  von  sich  geben,  und 
der  seit  Jahren  abgehärmt  in  einer  Zisterne  haust, 
von  der  man  ursprünglich  glaubte,  sie  sei  ein  Zettel- 
kasten, die  aber  in  Wahrheit  ein  Detektivbureau  ist. 
>Wo  ist  erc  —  ruft  es  immer  wieder  von  unten  — 
»dessen  Sündenbecher  jetzt  voll  ist?«  Und  er  siebt 
einen  in  einem  Nachen  auf  dem  See  von  Stambergf 
wie  er  im  Jahre  1883  zu  den  Jüngern  redete.  Er 
behauptet,  es  sei  erweislich  wahr,  dafi  im  Palaste  die 
Flügel  des  Todesengels  gerauscht  haben.  Sein  Mund 
ist  »wie  der  Purpur,  den  die  Moabiter  in  den  Gruben 
vonMoab  finden«,  nämlich  in  der  Gegend  von  Moabit. 
•Nichts  in  der  Welt  ist  so  rot  wie  sein  Mund.  Aber 
wäre  ich  Salome,  ich  verlangte  sein  Haupt  blofi  um 
zu  sehen,  ob  die  Welt  an  Geist  verlöre,  wenn's  auf 
der  Silberschüssel  liegt. 

Dies  Drama  freilich  hat  einer  geschrieben,  von 
dem  es  bekannt  ist,  dafi  er  normwidrig  war.  Und  dafür 

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~    b 


bat  er  in  der  Tretmühle  arbeiten  müssen.  Aber  der  feige 
Pöbel,  der  sich  dort  und  damals  zum  Richtplats  der 
Sittlichkeit  driUigte,  und  der  einen  gefesselten  Künstler 
bespie,  hat  Anspruch  darauf,  um  vornehmer  Zurück- 
baltnng  willen  gepriesen  zu  werden,  wenn  man  das 
Bacchuale  der  Ordinftrheit  überblickt,  das  jetst 
durch  Deutschland  tobt,  dieweil  ein  sweiundsiebzig- 
j&hriger  Mann  mit  geschwollenen  Beinen  im  Bett 
liegt  Dafi  die  Moralkanaille  sich  gegen  das  Gerücht 
empört,  der  über  Nacht  aus  sozialer  Höhe  gestoflene 
Graf  Lynar  werde  im  Qefänenis  nicht  blofi  mit 
Wasser  und  Brot  ernährt,  und  dafi  sie  sich  nicht 
gegen  das  Gerücht  empört,  das  Gnadengesuch  des 
schwindsüchtigen  Schusters  von  Köpenick  sei  abge- 
wiesen worden,  —  es  ist  ein  Mangel  an  Erbarmen, 
der  eine  Nation  aus  der  Reihe  der  Kultur- 
völker streichen  müfite.  Wie  aber  wird  man  dem 
unbeschreiblichen  Schauspiel  gerecht,  das  sich  jetzt 
zwischen  einem  Krankenbett  und  einem  Kaiserthron 
abspielt  und  dessen  Autor  mit  freudestrahlendem 
Gesicht  die  Tantiemen  einstreicht,  die  die  viehischeste 
Gesinnung  dem  Menschenjammer  abgezapft  hat?  Wie 
fafit  man  es,  dafi  in  dieser  weiten  Arena,  in  der  ein 
Sterbender  ins  Stiergefecht  geschickt  wird,  kein 
deutsches  Herz  still  steht?  Sein  Dichter  das  Volk 
beschwört,  sich  von  dem  Anblick  des  Grauens  ab- 
zuwenden? Sondern  dafi  sich  Dichter  finden, 
die  das  Blutopfer  als  Rehabilitierung  des  Schlächters 
feiern?  Dafi  das  Glücksgefühl,  einen  Fürsten 
bürgerlicher  Verfehlungen  überführt  zu  sehen, 
einen  nationalen  Blutrausch  erzeugt,  in  dem  die 
Wahrheit  und  die  Sittlichkeit  als  besoffenes  Paar 
auf  dem  Marsch  zu  einem  Sterbelager  torkeln? 
Es  ist  über  alle  Mafien  entsetzlich !  Und  keine 
Ruhmestat  deutschen  Namens  wird  je  die  Schande 
wettmachen  können,  die  ihm  soeben  angeheftet 
wurde.  In  Liebenberg  haben  die  Treiber  auf  Befehl 
des  kaiserlichen  Gastes  den  Jagdherrn  umzingelt. 
Preuflische  Geheimpolizisten  brachten  ein  todwundes 

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-  6  - 


Edelwild  zur  Strecke.  Und  ein  deutscher  Geheira- 
publizist  »ist  damit  beschäftigt,  die  sofortige  Ver- 
haftung an  der  Hand  des  Gesetzes  zu  begi^nden«. 
Bei  Gott,  die  Arbeit  eines  Schriftstellers, 
für  die  er  auf  die  Nachwelt  kommen  wird,  wenn 
sie  sich  seiner  Gedankenarmut  und  sprachlichen 
Qual  wider  Erwarten  sperren  sollte!  Denn  was  nützt 
es,  dafi  die  Gemeindevertretung  von  Oharlottenburg 
in  Anerkennung  der  Verdienste,  die  sich  der  Mann 
unaufhörlich  um  das  Vaterland  erwirbt,  beschlossen 
hat,  den  Text  eines  berühmten  Gassenhauers  umzuän- 
dern, und  dafi  sie  einen  Herzenswunsch  des  Gefeierten 
erfüllt  hat,  wenn  jetzt  endlich  gesungen  wird :  »Im  Grune- 
wald, im  Grunewald  wird  die  zwischen  Baumrinde  und 
Mark  gebettete  Masse  vergantet«.  Das  ist  erfreulich,  — 
aber  kein  Dokument  seiner  Sprachkunst,  sondern  nur 
das  Gedenken  seiner  Tatkraft  wird  seinen  Namen 
kommenden  Geschlechtern  überliefern.  In  Deutsch- 
land, wird  es  heifien,  war  es  im  Anfang  des  zwanzig- 
sten Jahrhunderts  möglich,  dafi  ein  Mann,  der  die 
Feder  führte,  nicht  nur  dem  Wüten  einer  para- 
graphierten  Sittlichkeit  Vorschub  geleistet,  sondern 
sich  auch  in  jeder  Woche  der  Erfolge  einer  Razzia 
gerühmt  hat,  an  der  er  zwischen  den  Polizeihunden 
»Edith«  und  »Rufi«  teilnahm.  In  Deutschland  war  es 
möglich,  daß  ein  Schriftsteller  stolz  auf  die  Ergeb- 
nisse von  Untersuchungen  war,  die  er  im  Bunde  mit 
schlichten  Erpressern  aus  dem  Volke,  mit  Milch- 
händlern, Fischerknechten,  Wachtmeistern  und 
Detektivs  vornahm.  Dafi  er  nicht  bloß  ausgesprochen 
hat,  »was  ist«,  sondern  dafi  infolgedessen  auch  geschah, 
was  er  ausgesprochen  hat.  DaS  er  einem  Kläger  das 
Recht  bestritt,  über  »Regungen,  die  nie  über  die 
Schwelle  seines  Bewufitseins  krochen«,  vor  Gericht 
auszusagen,  aber  selbst  immerzu  über  die  Schwelle 
eines  fremden  Bewufitseins  gekrochen  ist;  und 
über  die  Schwelle  fremder  Schlafzimmer.  Dafi  er 
sich  auch  in  der  Gemeinheit  als  den  Vollstrecker 
eines  grofien  politischen  Testaments  gebärdete,   wo- 


—  7    - 


durch  wir  also  erfuhren,  daft  ein  Bismarok  bei  Leb- 
leiten  den  Fürsten  Eulenburg  zwar  für  einen  politi- 
schen Schädling  gehalten  hat,  aber  su  viel  Achtung  vor 
dem  menschlichen  Wert  des  Mannes  hatte,  um  sich 
der  unseligen  Verwirrung  seiner  Geschlechtstriebe 
im  politischen  Kampfe  zu  bedienen  .und  um  eine 
Henkerarbeit  zu  vollziehen,  mit  der  er  den  näch- 
sten besten  journalistischen  Handlanger  hätte  be- 
trauen können.  In  Deutschland  war  es  mög- 
lich, daft  sich  ein  Denunziantentum,  neben  dem 
die  erwiesene  Päderastie  eine  geistige  Leistung 
ist,  als  eine  Tat  der  Feder  ausschrie.  Dafi  einer 
den  Strangulierern  der  ursprünglichsten  Menschenrechte 
geholfen,  aber  in  einem  Winkel  seiner  Zeitschrift 
heuchlerisch  die  Kultur  protegiert  und  sich  von  einem 
gesinnungslosen  Literatenpack  Absolution  geholt  hat; 
daß  er  dem  Kehrbesen  des  Polizeigeistes  kommandierte 
und  sich  für  einen  Märtyrer  des  freien  Wortes  aus- 
gab; dafi  er  sich  einen  Krieger  des  Geistes  nannte 
und  in  jeder  Woche  die  Verurteilungen  und  die  Selbst- 
morde in  der  Armee  zählte,  die  die  Folgen  seines 
Kampfes  waren  .  . .  Dies  wird  *von  der  Kreuzung 
aus  einem  Metzger  und  einer  lächerlichen  Preziösen 
auf  die  Nachwelt  kommen,  wenn  mein  Wort  längst 
im  Lärm  der  Rotationsmaschinen  verhallt  sein  wird. 
Ich  bekenne,  daß  mein  Haß  der  Ausbruch  des  pursten 

N^^d«*^*'  Karl  Kraus. 


Pornographie. 

Die  Wirksamkeit  des  Christentums  hat  zu  einer 
sehr  gefährlichen  Verinnerlichung  des  Menschen  ge- 
führt. Das  Christentum  hat  die  sogenannte  Seele  er- 
funden: ein  unterirdisches,  trübes,  brodelndes  Qewässer, 


—   8   — 


das  alles  verschluckt,  was  von  außen  in  seine  Tiefen 
^It.  Im  System  des  christlichen  Lebens,  in  das  auch 
der  Nichtgiäubige  eingesponnen  ist,  dringt  jegliches 
Erlebnis  nach  innen,  unbekannten  Abrunden  bu, 
imd  dient  nur  dem  Zwecke,  die  Seele  su  nähren.  Im 
vollendeten  Christen  ist  die  Seele  so  übermächtig, 
dafi  ihm  die  natOrliche  Reaktion,  die  Antwort  auf 
einen  Reis  durch  eine  Handlung,  beinahe  versag  ist. 
Das  Reich  der  Tat  hat  keinen  Platis  im  Reich  der 
Seele,  die,  einem  geschwellten  Strome  vergleichbar, 
mit  sich  fortreißt,  woran  .sie  rührt  und  in  einen 
Schlund  versinken  läfit  Scheinbar  spurlos  und  für 
immer.  Aber  diesem  Schlund  der  Seele  entsteigt  alles 
wieder,  was  in  ihm  verschwunden  schien.  Es  ist 
allerdings  nicht  das  'Leben,  das  hier  aus  Grüften  auf- 
ersteht, sondern  ein  Gespenst  des  Lebens,  seltsam 
verwandelt,  entwirklicht  und  von  unirdischer  Farbe. 
Unbedenkliches  Handeln  ist  dem  Christen  verwehrt, 
es  ist  geßhrlich,  es  könnte  die  Versündigung  in  sich 
schliefien  und  das  Heil  der  Seele  verwirken.  Was  sich 
aus  der  Seele  nach^  aufien  durchringt  ist  Begierde 
und  Phantasie.  Die  Seele  saugt  dem  Lebenswillen 
das  Mark  aus  und  verwandelt  ihn  in  ziellose,  phan-- 
tastische  Begehrlichkeit.  Das  Reich  der  Seele  ist 
nicht  von  dieser  Welt,  es  ist  ein  Reich  gedanken- 
blasser Phantasie,  ein  Himmelreich.  Es  scheut  das 
TaJB^eslicht,  es  liebt  dämmerte  Kirchenschiffe  und 
haut  die  Wirklichkeit.  Das  Keich  der  Seele  ist  ein 
Reich  der  Masken,  und  es  ist  manchmal  schwer,  die 
schattenhaften  Schemen  su  erkennen,  die  diesen 
Dunstkreis  durchschweben,  schwer,  zu  erraten,  was  sie 
ursprünglich  waren.  Da  gibt  es  eine  demütige  An- 
betung Qottes,  die  nichts  anderes  ist  als  ein  verlarvter 
Machttrieb,  eine  AbtOtung  des  Leibes,  die  nur  Wol- 
lust, ein  Mitleid,  das  nur  Grausamkeit  ist.  Die  Triebe 
verlieren  ihre  Aktivität  und  gewinnen  ein  tugend- 
haftes Ansehen,  aber  sie  verlieren  nichts  von  ihrer 
Intensität  und  glühen  in  der  Verhaltenheit.  Der 
heidnische  Mensch  war  unbesonnen,    immer  zur  Tat 

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-    9 


genei^  und  vom  Rausch  des  Sich-Verschwendens, 
des  Sioh-Ausströmens  hingerftsen.  Der  Grieche  war 
bunken  auch  ohne  Wein.  Der  christliche  Mensch  ist 
nüchtern  wider  Willen,  immer  von  Bedenken,  von 
seinem  Gewissen  gehemmt  und  neigt  zu  ekstatischen 
Zuständen,  die  ihn  sich  selbst  vergessen  lassen.  Er 
liebt  daher  die  Narkotika  und  den  künstlichen  Rausch. 
Die  Kunst  selbst,  dem  Heiden  ein  AusSuß  und 
heiterer  Rahmen  der  Lebenstrunkenheit,  ist  dem 
Christen  nur  ein  Narkotikum.  Der  Christ  erhebt  die 
Kunst  scheinbar  zum  heiligen  Ernst  und  Selbstzweck, 
aber  sie  ist  ihm  nur  ein  Mittel  der  Betäubung,  eine 
Flucht  vor  dem  bösen  Gewissen.  Genuß  und  Be- 
rauschung sind  dem  Christen  Synonyma. 

Es  ist  nötig,  sich  dies  vor  Augen  zu  halten,  um 
das  Problem  der  Pornographie  zu  verstehen.  Denn 
auch  die  Pornographie  ist  in  ihren  häufigsten  Formen 
ein  Narkotikum,  und  zwar  ein  spezifisch  christliches 
Narkotikum.  Während  die  naive  Geschlechtslust  sich 
am  natürlichen  Rausch  des  Lebenswillens  entzündet 
und  in  der  Geschlechtshandlung  erlöst,  soll  die  Porno- 
graphie jenen  gewaltsamen  Rauschzustand  erzeugen, 
der  ein  Selbstzweck  ist,  der  die  Stimme  des  Gewissens 
verstummen  läßt,  Furcht  und  Kleinmut  erstickt,  die 
verhaflte  Wirklichkeit  wegtaucht  und  die  Phantasie 
beschwingt. .  Das  Kriterium  der  Pornographie  liegt 
nur  in  ihrer  Wirkung,  nicht  im  Gegenstand  ihrer 
Darstellung.  Was  man  als  antike  Pornographie, 
Pomoplaitlk  u.  s.  w.  bezeichnet  —  die  Sammlung 
des  Neapler  Museums  z.  B.  — ,  ist  in  der  Zeit 
seiner  Entstehung  nicht  eigentlich  pornographisch 
in  diesem  Sinne  gewesen,  ebensowenig  wie  ge- 
wisse bekannte  Bild-  und  Literaturwerke  der 
Renaissance.  Derlei  war  nicht  gemacht,  um  eine 
selbständige  Lust  zu  erregen,  sondern  um  zum  Genuß 
der  Wirklichkeit  anzuregen,  um  die  Geschlechtslust 
iu  naiver  Dankbarkeit  zu  verherrlichen  und  diese 
Lust  allenfalls  zu  erhöhen.  Es  war  Spiegel  und  Rahmen 
der   Wirklichkeit   Wechselt    aber    die   Wirklichkeit, 


-  10  - 


dann  wird  auch  die  Darstellung  entschwundener 
Wirklichkeiten  mit  anderen  Augen  betrachtet,  und 
so  ist  es  möglich,  daß  heute,  wo  die  Praxis  der 
christlichen  Sittlichkeit  die  Qeschlechtslust  und  ihren 
Anblick  aus  der  Öffentlichkeit  verbannt  und  2su  einer 
Sache  vielfacher  Verbote  und  seltener  Sensation  ge- 
macht hat,  auch  die  naive  Erotik  der  Antike  und 
Renaissance  ds  Pornographie  wirkt.  Die  Voraussetzung 
der  pornographischen  Wirkung  ist  ein  ^wisser 
Kontrast  zwischen  der  Darstellung  und  der  Kealität 
des  Lebens.  Was  das  reale  Leben  versagt  und  ver- 
wehrt, wirkt  dann  im  Bilde  als  lustvolle  Sensation.  Und 
je  »sittlichere  die  Öffentlichkeit  des  Lebens  ist,  je 
verpönter  die  Geschlechtslust,  desto  lebendiger  ist 
der  Hunger  nach  ihr  und  nach  ihren  Surrogaten. 
Das  einfachste  und  zugleich  vollkommenste  Surrogat 
der  Wirklichkeit  ist  aber  die  Phantasie,  und  deshalb 
war  und  ist  zu  allen  Zeiten  die  geistige  Onanie  (meist 
in  Verbindung  mit  der  körperlichen)  die  unausbleib- 
liche Folge  der  Enthaltsamkeit.  Wo  die  Enthaltsam- 
keit zur  idealen  Lebenspraxis  erhoben  wird,  sind  die 
Formen  dieser  Onanie  am  zahlreichsten  und  raffinier- 
testen. Der  asketische  Heilige  onaniert  in  Form  von 
Visionen,  die  er  »Versuchimgen«  nennt,  der  Moral- 
theolog im  Aufspüren  der  Sünden  gegen  die  Keusch- 
heit und  die  Betschwester  im  Beichten  ihrer  sündigen 
Gedanken.  Die  allgemeinste  Anregung  zur  geistigen 
Onanie  geben  jedoch  die  bildlichen  und  literarischen 
Darstellungen  aus  der  Geschlechtssphäre.  Und  hier 
ist  es  sehr  lehrreich,  zu  sehen,  wie  genitgsam  die 
Phantasie  in  Bezug  auf  solche  Anregungen  ist,  wie 
wenig  es  zu  ihrer  Beschwingung  bedarf,  wenn  die 
Seele  dürstet,  weil  der  Leib  hungert.  Kindern,  Halb- 
erwachsenen und  Frauen  zumal  wird  fast  alles,  worin 
überhaupt  auf  Geschlechtliches  hingewiesen  wird, 
zur  Pornographie.  Das  Alte  Testament  z.  B.  ist 
sicherlich  dasjenige  Buch,  welches  am  häufigsten  als 
imfreiwilliges  Pornographikum  gelesen  wird.  Und  die 
Kunstwerke  und  großen  Literaturdenkmäler  aus  alter 


-  11  - 


und  neuer  Zeit  sind,  soweit  sie  Geschlechtliches  zum 
Oe^enstande  haben,  von  diesem  Schicksal  ebensowenig 
befreit.  Es  gehört  die  ganze  Blindheit  unseres  heutigen 
Pädagogentums  dazu,  zu  glauben,  dafi  Kinder  bei 
der  modernen  Lebensführung,  die  sie  alles  Nackte 
als  unschicklich  empfinden  läfit,  und  bei  dem  System 
des  katechetischen  Moralunterrichts  an  einem  Kunst- 
werke das  Gegenständliche  zu  Gunsten  des  Künstle- 
risch-Ästhetischen übersehen  können.  Selbst  die 
meisten  Erwachsenen  sind  dies  nicht  imstande  und 
eine  Darstellung  des  Nackten  und  erotischer  Be- 
ziehungen wird  von  ihnen  pornographisch  aufgefaßt. 
Um  ein  Kunstwerk  mit  künstlerischen  Augen  zu 
sehen,  dazu  gehört  beinahe  ebensoviel  Schulung,  wie 
um  ein  Kunstwerk  zu  schaffen.  Das  Pornographische 
liegt  nicht  im  Werk,  das  es  auslöst,  sondern  in  der 
Gesinnung  dessen,  der  es  überall  sucht.  Um  es  in 
einer  Formel  zu  sagen:  Die  Pornographie  ist 
ein  Korrelat  der  Sittjichkeit. 

Auch  die  absichtliche  Pornographie  hat  die 
äufierliche  Heiligung  des  Sittlichen  zur  Voraussetzung, 
um  als  Kontrast  des  Sittlichen  zu  wirken.  Wer  nicht 
wenigstens  mit  den  Nerven  an  die  Keuschheit  glaubt, 
für  den  hat  die  Unkeuschheit  keinen  Reiz.  Auf  einen 
Menschen,  der  in  der  Geschlechtslust  etwas  Natür- 
liches sieht  und  im  Leben  selbst  die  volle  Befriedi- 
gung seiner  Sexualwünsche  findet,  kann  die  gewollte 
Pornographie  keine  erotische  Wirkung  üben.  Ihm 
wird  die  absichtliche,  gehäufte  und  übertriebene 
Darstellung  geschlechtlicher  Beziehungen  zwecklos 
und  albern  vorkommen.  Und  würden  alle  unnö- 
tigen Verbote,  würde  alle  Geheimnistuerei  und 
vererbte  Scheu  vor  geschlechtlicher  Freiheit  ver- 
schwinden, so  müfite  auch  die  Pornographie  (und  die 
R:erade  In  strenggläubigen  Kreisen  stark  verbreitete 
Zotenreißerei)  allmählich  verschwinden.  Durch  ihre 
polizeiliche  Verfolgung  wird  sie  aber  nur  gestützt. 
Jedes  Verbot  kommt  der  Phantasie  zugute.  Wenn 
man  die  äufierliche  .Sittlichkeit    erhalten   will,   kann 

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-^  12  — 


man  die  innere  Unreinlichkeit^  geistige  Onanie   und 
Pornographie,  nicht  ausrotten.  Es  wäre  ja  auch  kein 
Platz  für  die  ungeheure  Summe  der  Kräfte,  die  frei 
und  wirksam  würden,  wenn  sie  nicht  in  onanistische 
Phantasien  zerflössen.  Der  Mensch  des  Lebens  ist  ein 
Mensch   der   Tat  und  des  Kampfes,    er  kämpft  auch 
um  seine  Lust.  Er  braucht  das  Ringen  um  das  Weib, 
die  Lust  der  Eroberung.    Seine  Kräfte  wachsen  mit 
den  Hindernissen.  Die  Befriedigung  durch  die  Phan- 
tasie   ist    mühelos.    Die    Phantastik    schwächt    den 
Willen    bis   zur   völligen    Entschlufiunfähigkeit    und 
verleitet  zur  Einsamkeit.  Je  mehr  die  Phantastik  durch 
die  Wirkung  der  Sittlichkeit  umsichgreift,  desto  mehr 
mufi  die  Männlichkeit   abnehmen,    desto   mehr  mufi 
die  Figur    eines    wahren    Mannes  wie   die  eines  ge- 
fährlichen Zerstörers,    eines  wahren   Teufels   wirken. 
Daher   sollte   es   den  Tugendhaften   recht  sein,    daß 
die  Phantasie,  die  das  Brot  der  Guten  ist,   auch  das 
Brot  der  Bösen  geworden  ist.  So  kommt  die  Tugend 
am  besten  davon.  Wenn  auch  die  Bösen    nur    mehr 
mit     der     Phantasie     freveln,     mögen     die     Guten 
ruhig    schlafen.    Es    schadet    der    Gesundheit    der 
Schafe    weniger    als   der    der    Wölfe,     wenn    diese 
die    Schafe    nur    mehr    im    Geist    auffressen.    Die 
Entrüstung    über    die    Pornographie   vonseiten    der 
Sittlichen  ist  nur  eine    erbärmliche    Heuchelei.    Die 
Pornographie  aber  gar  für  ein  angebliches  Oberhand- 
nehmen der  »Unsittlichkeitf  und  für  die  Akquirierung 
von  Geschlechtskrankheiten  verantwortlich  zu  machen, 
ist  bodenlose   Dummheit.    Der   Pornographie   könnte 
es  sogar  noch  am  ehesten  gelingen,  die  Geschlechts- 
krankheiten auszurotten,  denn  durch  geistigen  Koitus 
erwirbt  man  weder  Gonorrhoe   noch  Lues.   Da    man 
aber  auf  solche  Weise  das  Kind  mit  dem  Bade  aus- 
schütten würde,  so  wäre  es  vernünftiger,  die  Sittlich- 
keit auszurotten.    Dann    würde  die  Menschheit  samt 
den  Professoren  endlich  einsehen,  dafi  die  Geschlechts- 
krankheiten keine  Strafe  Gottes    für    Unsittlichkeit, 
sondern    einfach    ein    Unglück,   ein  niederträchtiger 


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—  13  — 


Zufall  in  der  biologischen  Entwicklung  sind,  und 
dafi  man  sie  nicht  mit  Moralsprüchen  und  Gebet- 
büchern, sondern  mit  durchgreifenden  hygienischen 
Mafiregeln  bekämpfen  mufil 

Karl  Hauer. 


Der  SkUve. 

Der  Doktor  Hans  Ferdinand  Werentin  kaufte  sich  einen 
Sklaven.  Er  erstand  ihn  während  seines  Aufenthaltes  in  Cheir  und 
bezahlte  ihn  mit  200  Tomans.  Er  hätte  sich  auch  das  Zehnfache 
ffir  diese  Laune  leisten  können. 

Eine  dgentümliche  Laune  war  es  immerhin.  Die  Werentins 
von  der  Berghofschen  Linie  hatten  alle  ihren  Sparren.  Franz  Xaver 
hatte  es  mit  der  Kunst,  und  der  Doktor  Hans  Ferdinand  brachte 
von  seiner  Orihitreise  einen  eingeborenen  Diener  mit.  Der  Händler 
bot  ihm  eine  junge  Dame  ffir  150  Tomans  an,  er  nannte  sie 
schlicht  »die  Abendsonne  von  Schiras«.  Sie  war  groß  und  schhuik 
und  hatte  schöne  Augen.  Der  Doktor  ffirchtete,  in  seiner  Hdmat 
zuviel  Aulsehen  mit  ihr  zu  erregen.  Audi  war  er  sich  fiber  den 
Verkehrston  mit  der  jungen  Dame  nicht  im  Klaren.  Aber  Assad. 
»die  Blume  von  Sndra«,  war  dn  schlanker  Knabe  von  fünfzehn 
Jahren.  Sdn  Gesicht  war  weiß,  sdne  Glieder  zart,  die  Züge  regel- 
mäßig und  intelligent.  Der  Doktor  kaufte  ihn.  Der  Doktor  hatte 
den  Ruf  dnes  Originals,  und  er  gehörte  zu  den  Leuten,  die  etwas 
für  ihren  Ruf  tun. 

m 

In  der  Hdmat  gab  es  keine  Schwierigkeiten.  Die  Behörde 
erfuhr,  was  sie  wissen  wollte:  die  Rückkehr  des  Doktors  und  die 
Anwesenheit  des  pers&hen  Dieners.  Militärpflichtig  war  der  nicht, 
also  interesderte  er  sie  wdter  in  keinerlei  Weise. 

Der  Doktor  war  dn  aufgeklärter  Mann.  Er  kannte  den 
Katechismus  dieser  Leute  in  dnwandfrder  Weise  auswendig.   Es 

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^  14  - 

steht  geschrieben:  »Die  Unterschiede  innerhalb  der  Menschenrasse 
sind  geringfügig.  Es  sind  nur  Bildungsunterschiede  oder  Kapitals- 
unterschiede.« Da  ist  femer  ein  Absatz  Menschenrechte  und  ein 
Kapitel  Humanität.  Das  war  ihm  alles  gelaufig. 

Und  doch  gab  es  noch  Seltsamkeiten  für  ihn.  Ja, 
seltsam  war  er,  der  Oehorsam  des  Dieners  Assad.  Nie  fragte 
er,  nie  zögerte  er.  Er  war  nur  Werkzeug,  war  ohne  eigene  Pttsön- 
lichkdt,  war  eine  Verstärkung  der  Kräfte  sdnes  Gebieters  und 
nichts  anderes.  Der  Körper  des  Doktors  war  um  eine  Menschen- 
kraft stärker,  sein  Qehim  um  eine  Willenskraft  reicher  geworden. 

Dieser  fremdartige  Oehorsam  eines  Menschen,  eines  Wesens 
seiner  eigenen  Art,  erregte  ihn.  Er  befahl  um  des  Befehlens  willen, 
ohne  einen  anderen  Zweck  zu  haben,  als  diesen  Oehorsam  auszu- 
lösen, den  er  nicht  zu  begreifen  wagte  und  immer  vor  sich  sah. 
Er  erdachte  Auffaüge,  deren  Reiz  ffir  ihn  in  ihrer  Sinnlosigkeit 
lag  und  in  der  Machtprobe,  die  sie  ihm  gaben.  Er  befahl,  um 
nach  der  Vollführung  zu  widerrufen  und  das  Gegenteil  zu  be- 
fehlen. Und  das  erfüllte  seine  Tage,  nahm  völlig  Besitz  von  seinem 
Denken  und  Wollen.  Ein  Ankämpfen  gab  es  nicht.  Der  Katediis- 
mus  des  aufgeklärten  Menschen  enthielt  keine  Bannformel  gegen 
diese  Versuchung. 

Betrat  er  die  Räume,  in  denen  Assad  schaltete,  so  geriet  er 
unweigerlich  in  den  Bann  dieses  bedingungslosen  Gehorsams.  Es 
war  ein  Rausch,  der  sich  seiner  bemäditigte,  ein  lustvolles  Macht- 
gefühl, das  ihn  gefangennahm.  Es  forderte  Betätigung,  neue  Be- 
weise seiner  unbeschränkten  Herrschaft. 

Sein  Wille  war  den  Widerstand  einer  Umgebung  von  Kulhir- 
menschen  gewohnt.  In  dieser  Umgebung  war  er  ein  Wille  von 
normaler  Kraft  und  Richtung.  Jetzt  bewegte  er  sich  in  maßlosen 
Gesten,  weil  der  gewohnte  Widerstand  fehlte ;  wie  ein  Körper,  der 
plötzlich  in  eine  Atmosphäre  ohne  Schwerkraft  geraten  ist.  Er 
suchte  die  Grenzen  seiner  Kraft,  die  notwendige  Hemmung  und 
er  exzedierte  im  Suchen. 

Endlich  schlug  er  zu.  Es  geschah  fast  instinktiv,  gehetzt, 
den  Widerstand  eines  Körpers  ersehnend,  wo  alle  Gesetze  seelischer 
Notwendigkeiten  ihm  versagten.  Für  seinen  Gehorsam  züchtigte  er 
den  Knaben.  Der  schlanke  Körper  wand  sich  in  Schmerz  unter 
seinen  Schlägen,  unter  KUgen  und  Bitten.    Aber  jede  Bewegung 

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-  16  -- 


opießte  die  Qual,  keine  Zuckung  bedeutete  ein  Auflehnen  des 
Gepeinigten. 

Und  der  gebildete  und  selbstbewußte  Mensch  seines  Jahr- 
adintes,  der  er  war,  der  Doktor  Hans  Ferdinand  Werentin,  erbebte 
vor  dem  gemarterten  Knaben  und  vor  der  eigenen,  unheimlichen 
Madit  Zitternd,  nach  Atem  ringend  beugte  er  sich  über  ihn, 
fohlte  die  Zeichen  seiner  Schläge  und  suchte  nach  dem  unerbitt- 
licbcn  Gehorsam  in  den  schönen  Augen  des  andern.  Er  fand 
3m  wieder. 

An  jenem  Abend  wußte  der  Doktor  Werentin,  daß  er  einen 
SUaven  besaß. 

Die  Frau  Rechnungsrat  Werentin  (Talhof'sche  Linie)  sagte 
zur  BauriLtin  Berentin,  ihrer  erbittersten  Feindin,  ihrem  ständigen 
Vcrkdir: 

»Mein  Neffe  ist' das  Ideal  eines  ernsten,  zielbewußten  jungen 
Mannes.  Seine  Sitten  trifft  keiner  von  den  Vorwürfen,  die  man 
gegen  unsere  Jugend  erhebt  Keine  Liaisons,  keine  Beziehungen 
zm*  Halbwelt;  bei  seinem  Einkommen  ist  das  doppelt  anerkennens- 
wert Er  versteht  noch  hauszuhalten.  Sein  Diener  ersetzt  ihm  Wirt- 
schafterin und  Stubenmädchen.  Da  zeigt  sich  der  Mann  von  Orund- 
sitzen  und  Erziehung.  Oute  Vorbilder,  die  hatte  er  in  seiner 
Familie;  das  ist  die  Hauptsache.  Seine  Lebensführung  entspricht 
allen  sittlkben  Forderungen,  die  unsere  Gesellschaft  stellen  kann.« 

Die  Frau  Baurat  hatte  einen  Sohn,  auf  den  das  gespendete 
Lob  gar  nicht  paßte.  Sie  nahm  sich  vor,  der  Sache  auf  den  Grund 
zu  kommen. 

Sie  fragte  viel,  sie  fragte  jedermann.  Sie  verfolgte  jede 
weibUcbe  Spur  in  der  Nähe  der  doktorlichen  Lebensführung.  Sie 
tat  das  Möglidie.  —  Aber  der  Doktor  entsprach  wirklich  allen 
sittlicfaen  Forderungen,  die  von  der  guten  Gesellschaft  gestellt 
vuiden. 

Sie  ist  an  einem  Leberleiden  gestorben.  Ihre  letzten  Worte 
richtete  sie  an  ihren  Sohn  und  die  enthielten  einen  Hinweis  auf 
das  ideale  VorbUd. 

Seit  Wochen  lag  der  Doktor  zu  Bette.  Er  war  kraftlos  und 
abgezehrt.  In  dem  stummen  Kampfe  mit  dem  Diener  war  er  der 
Schwächere  geblieben.  ^        . 

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—  16 


Nur  Herrenrechte  hatte  er  erkaufen  können,  at)er  es  fehlte 
die  alte  Herrenkraft,  sie  zu  brauchen.  Er  litt  an  seinem  Herrentum, 
während  dem  anderen  die  Sklaverei  Lebensluft  war.  Die  Wundmale 
seines  Körpers  heilten  schnell  und  die  Demütigungen  ließen  keine 
Narbe  in  seiner  Seele  zurQck. 

Nach  jeder  dieser  wahnwitzigen  Schauübungen  der  Herren- 
macht hielt  sich  der  Doktor  nur  mit  Mühe  aufrecht.  Er  war  er- 
schöpft, wie  nach  einem  Paroxismus  der  Leidenschaft  und  brauchte 
Tage,  um  sich  zu  erholen.  Der  andere  war  nach  Stunden  wieder 
wie  stets;  sein  Blick  wurde  nicht  trübe,  sein  Körper  fiel  nicht  ab. 
Qleich  blieb  sich  sein  Eifer  und  sein  erbarmungsloser  Oehorsam 
gegen  den  kranken  Oebieter.  Entsprang  er  vielleicht  dem  Glauben 
an  die  absolute  Macht  seines  Herrn,  der  Furchi,  der  könnte  ihn 
nach  Belieben  von  seinem  Bette  aus  niederschießen?  Wäre  es 
nicht  in  der  Heimat  gewesen  und  unter  ihren  Gesetzen,  der 
Doktor  hätte  es  getan.  Aus  dem  Triebe  der  Selbsterhaltung  heraus 
hätte  er  es  wohl  tun  müssen,  aus  dem  Gefühle,  daß  ihm 
Körper  und  Geist  zugrunde  gingen  an  diesem  Feind. 

Er  haßte  den  Sklaven  jetzt  nur  mehr  mit  dem  dumpfen 
Haß  des  Besiegten.  Je  kraftloser  er  wurde,  desto  maßloser  peinigte 
ihn  die  verzehrende  Lust,  seine  Macht  zu  üben,  desto  aufreibender 
wurden  die  Orgien,  die  er  diese  Macht  feiern  ließ,  desto  teurer 
mußte  er  sie  bezahlen. 

Der  Doktor  konnte  das  Bett  nicht  mehr  verlassen.  Überan- 
strengung hatte  der  Arzt  gefunden,  körperlichen  und  geistigen 
Verfall.  Das  Leiden  jener,  die  an  der  Maßlosigkeit  und  Unbe- 
herrschtheit ihrer  Leidenschaften  sterben.  Die  Rechnungsrätin  hat 
das  nie  begriffen. 

Die  Augen  des  Kranken  ruhten  in  Haß  auf  der  elastischen 
Gestalt  des  Sklaven.  Der  wich  nicht  von  seiner  Seite,  stets  bereit, 
aus  Blicken  und  Lippenbewegungen  die  Wünsche  des  Gebieters 
zu  erraten. 

Der  Doktor  starb  an  seinem  Sklaven. 


* 


Otto  Soyka. 


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—  17  — 

Zwei  Zmchriften. 
Antwort  ao  Hmtb  lUrl  Borronuidiit  Helorlch. 

Sie  laden  mich  unter  anderm  ein,  die  Briefe 
Nietzsches  an  mich  su  veröffentlichen,  indem  Sie 
Zweifel  an  deren  Existenz  äufiem. 

Ja,  bin  ich  denn  Oberhaupt  sur  Veröffentlichung 
berechtigt?  Wenn  ich  nicht  faJsch  benachrichtigt  bin, 
so  ist  durch  mehrere  Qerichtsurteile  fOr  Deutschland 
der  Satz  festgestellt  worden:  Das  Recht  der  Ver- 
öffentlichung von  Briefen  kommt  nicht  dem  Empfänger, 
sondern  dem  Absender  und  seinen  Erben  su.  Folglich 
stände  es  im  freien  Belieben  des  streitlustigen 
Nietssche- Archivs  mir  einen  Prosefi  anzuhängen,  ich 
verspüre  aber  weder  ein  Bedürfnis  nach  Prozessen, 
noch  die  Neigung,  mir  von  den  Hütern  des  Nietzsche- 
Archivs  eine  gnädige  Erlaubnis  zu  erwirken. 

Hingegen  erkläre  ich  mich  gewillt,  jedem  an- 
ständigen Menschen,   der   sich  mir  gebührend  vor- 
stellt, die  Briefe  zum  Lesen  vorzuzeigen. 
Hochachtungsvoll 

Carl  Spitteler. 

Sehr  geehrter  Herr  Spitteler, 

Herr  Karl  Kraus  hatte  die  Freundlichkeit,  mir 
Ihre  Antwort  zu  übersenden. 

Es  ist  Ihnen  durchaus  nicht  zu  verdenken,  dafi 
Sie  mit  dem  Nietzsche- Archiv  keinen  Prozefi  wollen. 

Aber:  da  sich  Ihre  Beziehungen  zu  Nietzsche 
auf  einige  Briefe  und  Karten  beschränkten,  und  Sie 
entschlossen  waren,  diese  Korrespondenz  im  Wortlaut 
nicht  zu  veröffentlichen  —  wäre  es  vornehmer  ge- 
wesen, überhaupt  zu  schweigen. 

Sie  haben  ohnehin  in  dieser  Sache  vor 
Nietzsche  viel  voraus:  nämlich,  dafi  Sie  noch  leben. 
Der  Tote  kann  sich  nicht  wehren.  Er  kann  die 
Sache  nicht  von  seinem  Standpunkt  aus  darstellen. 

Darum  tun  in  einem  solchen  Fall  Dokumente 
not,  und  nur  Dokumente.  ügizedby Google 


-  18- 

Und  wenn  Sie  etwas  gegen  Frau  Pörster- 
NietsBSche  auf  dem  Herzen  hatten,  so  konnten  Sie 
dies  Ihre  Leser  auf  andere  Weise  wissen  lassen  als 
in  einseitigem  Kampf  ß:egen  das  Andenken  eines 
Verstorbenen,  der  Ihnen  bei  seinen  Lebzeiten  Qutes 
erwiesen  hat. 

Hochachtungsvoll 

Karl  Borromaeus  Heinrich. 


Vom  russischen  Roman  sagt  Alfred  v.  Berger: 
>  Dieser  tierische  oder  barbarische  Realismus  stobt 
vor  dem'  Menschenleben  wie  ein  Orang-Utan  vor 
einem  Gemälde.  Br  sieht  auf  das  schärfste  und  mit 
minutiöser  Genauigkeit  die  Farbenkleckse,  aus  denen 
das  Gemälde  besteht,  aber  er  ist  unfähig  zu  erfassen, 
was  diese  Farbenkleckse  in  ihrer  Totalität  bedeuten. 
Wenn  Tolstoi  über  Shakespeare  oder  Goethe  spricht, 
mufi  ich,  unbeschadet  aller  Ehrfurcht  vor  dem  großen 
Dichter,  an  diesen  Orang  denken.  Nach  dieser 
Methode  schildert  er  auch  alle  Kulturvorgängec  .  .  . 
Die  Worte  Bergers  sind  zufällignichtinder  ,Neuen  Freien 
Presse'  gestanden.  Sie  sind  einem  Artikel  iGlossen 
zu  russischen  Romanent  entnommen,  der  auch  eine 
aufierordentlich  gelungene  Satire  des  Tolstoi'sohen 
Tonfalls  bringt.  Ich  will  sie  hieher  setzen,  denn  sie 
ist  in  der  ,Osterreichischen  Rundschau'  (16.  November 
1907)  erschienen,  also  bisher  unveröffentlicht: 

. . .  Jakow  Petrowitsch  wurde  von  seinem  Freunde  in  ein 
großes  Gebäude  geffihrt,  in  dessen  erstem  Stockwerk  sich  eine 
Reihe  prächtig  geschmückter  und  glänzend  erleuchteter  Säle  be- 
fand. In  diesen  Sälen  stand  eine  große  Anzahl  von  Tischen,  die 
mit  weißen  Tüchern  bedeckt  waren,  und  rings  um  die  Tische  waren 
Stühle  aufgestellt.  Auf  diesen  Stühlen  saßen  viele  Herren  und 
Damen,  festlich  gekleidet,  als  ob  sie  hierher  gekommen  wären,  um 
irgendeinem  großen  und  geheimnisvollen  feierlichen  Vorgang  bei- 
zuwohnen.  Doch   alsbald  bemerkte  Jakow  Petrowitsch  mit  Ver- 

oogle 


—  19  — 


Hinderung,  daß  nicht  alle  Herren  saßen,  sondern  daß  einige,  die 
ebenfalls  sdiwarze  Fracks  und  weiße  Halsbinden  trugen,  zwischen 
den  an  den  Tischen  sitzenden  Leuten  und  einer  Tfire,  die  in  dnen 
Nebenraum  ffihrte,  eilig  hin  und  her  gingen,  wobei  sie  in  Qesichts- 
ansdruck  und  Benehmen  das  Qef&hl  großer  Wichtigkeit  ihres  Tuns 
zur  Schau  trugen.  Ihr  Tun  bestand  aber  darin,  daß  sie  den  Worten, 
welche  eine  der  an  den  Tischen  sitzenden   Personen  aus  einem 
«eißen  viereckigeii  Blatt  ablas,  mit  großer  Aufmerksamkeit  zu- 
hörten und  sich  hierauf  durch  die  erwähnte  Türe  fortbegaben.  In 
der  Zwischenzeit,  bis  sie  zurückkamen,  war  auf  den  Gesichtern  der 
um  den    Tisch    sitzenden    Personen    ein   Ausdruck    ängstlicher 
Spannung    wahrzunehmen.    Die   zurQckkehrenden    Herren    aber 
brachten  auf  länglichen  metallenen  Platten  dampfende  Gegenstände, 
stellten  diese  auf  die  Tische,  worauf  die  um  den  Tisch  sitzenden 
BoBonen  die  dampfenden  Gegenstände  zerschnitten,  die  einzelnen 
Teile  auf  runde  Platten  legten,  die  sie  vor  sich  stehen  hatten,  sie 
in  noch   kleinere   Stücke  zerschnitten   und  diese  in  den  Mund 
steckten,  wobei  sie  die  Kinnbacken  rhythmisch  bewegten.  Dies 
schien   nicht   leichthin,   sondern    unter    Einhaltung    bestimmter 
Regeln  zu  geschehen.    Als  Jakow  Petrowitsch  einen  der  in  Frack 
gekleideten,  zwischen  den  Tischen  und  dem  Nebenraum  hin  und 
her  gehenden  Herren  um  den  Zweck  seiner  anstrengenden  Tätig- 
keit frag,  erfuhr  er,  daß  er  dies  tue,  um  ebenso,  wie  die  an  den 
llschen    sitzenden  Personen,  dampfende  Gegenstände,  in  kleine 
Stücke  zerschnitten,  in  den  Mund  stecken  zu  können.  Auch  erfuhr 
er,  daß  die  zu  den  Tischen  gebrachten   Gegenstände  Tiere  oder 
Teile  von   Tieren   seien,  welche  nur  zu  dem  Zweck  mit  vieler 
Mühe  und  großen  Kosten  aufgezogen  und  ernährt  werden,  um  in 
getötetem  Zustand  den  um  den  Tisch  sitzenden  Personen  gebracht 
und  von  ihnen  zerstückelt  in  den  Mund  gesteckt  zu  werden.   Die 
Menschen  aber,  welche  sich  mit  dem  Aufziehen   und  Töten  der 
Tiere  beschäftigen,  tun  dies  auch   nur,  um  selbst  getötete  und 
zerstückelte  Tiere  in  den  Mund  stecken  zu  können.  In  dem  Neben- 
num  aber,  in  welchem  große  Hitze  herrschte  und  ein  starker, 
unangenehmer  Geruch  die  Luft  erfüllte,  befanden  sich  viele  weiß- 
gekleidete Personen,  weldie  viele  Stunden  des  Tages  und  der  Nacht 
damit  zubrachten,  mit  den  getöteten  Tieren  allerlei,  wie  es  schien, 
höchst   schwierig  zn  erlernende   Prozeduren  vorzunehmen,  und 
zwar  auch,  wie  Jakob  Petrowitsch  zu  seiner  Verblüffung  vernahm. 


-  20  - 

nur  zu  dem  Zweck,  um  ihrerseits  zerstückelte  tote  Tiere,  nachdem 
diese  in  ähnlicher,  wenn  auch  minder  schwieriger  Weise  zuge- 
richtet worden  waren,  in  den  Mund  stecken  zu  können  . . . 


»Man  ist  um  den  Preis  Künstler,  dafi  man  das, 
was  alle  Nicht-Künstler  Form  nennen,  als  Inhalt, 
als  die  Sache  selbst  empfindet.  Damit  gehört  noian 
freilich  in  eine  verkehrte  Welt.€  Nietssche. 


»Im  gansen  ist  es  recht,  wenn  alles  Grofie  - 
von  vielem  Sinn  für  einen  seltenen  Sinn  —  nur 
kurs  und  dunkel  ausgesprochen  wird,  damit  der  kahle 
Qeist  es  lieber  für  Unsinn  erkläre  als  in  seinen  Leer- 
sinn übersetze.  Denn  die  gemeinen  Oeister  haben 
die  häßliche  Geschidkliohkeit,  im  tiefsten  und  reichsten 
Sp/ucfa  nichts  su  sehen  als  ihre  eigene  alltägliche 
Meinung.  €  Jean  Paul. 


SittUchkeit  nnd  KriminaUtät. 

Ich  verweise  auf  das  Vorwort,  mit  dem  ich  im 
letzten  Heft  die  Aktion  der  Notwehr  eingeleitet  habe, 
und  lasse  den  Abdruck  der  Besprechung  folgen,  die 
ein  mir  unbekannter  Kritiker  in  den  ,61ättern  für 
Bibliophilen«  (Berlin,  Mai  1908)  veröjffentlicht  hat. 
Diesmal  also  Selbstlob  ohne  Kameraderie. 

Der  geistreiche  Herausgeber  der  .Fackel'  reproduziert  hier  die 
schärfsten  und  unterhaltsamsten  Stücke  seiner  Essaikunst.  Man  glaube 
nicht,  daß  es  sich  »nur«  um  eine  brillante  Qlosslerung  von. Lokaltratsch 
oder  Sensationsprozessen  handle..  Hinter  diesem  atemlosen  Stil,  diesen 
wirbelnden  Paradoxen  erbaut  sich  etwas,  das  der  Waschzettel  ausnahms- 
weise mit  rechtem  Namen  zu  nennen  weiß:  eine  Weltanschauung,  d.  h. 
die  gesamte  Wesenheit  einer  Person,  die  in  der  Tat  mehr  Parbnuancen 
zu  sehen  weiß,  als  das  bloße  Lokalkolorit.  Man  wird  finden,  vielleicht 
wo  man's  am  wenigsten  vermutet,  daß  sich  plötzlich  eine  Weite  auftut, 
die  sich' da  hinaus   erstreckt,  wo  wir   alle   nichts   als   Menschen   sind. 

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-  21  - 


Das  erzeugt  ein  Qefflhl,  das  ich  nicht  definieren  kann;  eine  gewisse 
Sidierheit.  ein  Erffilltsein  bei  dem  ewigen  Tasten  nach  Wahlverwandt- 
sduft.  Diese  Befriedigung  ist  die  höchste,  die  uns  ein  Buch  gewähren  Icann. 


EHn  Terkrachter  Offizier  ist  der  Zuhälter  seiner 
Tochter   geworden.    Das    heifit:    er   legt    ihr    kein 
Hindernis  in  den  Weg,  wenn  sie  den  Beruf  erß:reift 
and   ausübt,    zu   dem   sie   eine  innere  Bestimmung 
f&hlt,  und    da  sie  ihn  liebt,  wie  nur  ein  Kind  den 
Vater    lieben    kann,   so   sehafft   sie    dem    Erwerbs- 
unfähigen   eiQ    sorgenfreies    Alter.    Das    Seelenheil 
beider  dürfte  dadurch  erheblich  gefährdet  sein,  aber 
das     ist     wohl   eine  Angelegenheit,     die     nur    die 
beiden  allein  angeht.  Auch  die  Familienkuppelei,  die 
das  Gesetz   schwerer  straft,  ist  eine  Angelegenheit 
des  Privat-  imd  Familienlebens.    Vater  \md  Tochter 
haben  sich  unter  den  fürchterlichen  Seelenqualen,  die 
die  Prostitution    und    deren   Duldung    bereitet,   an* 
dauernd   wohl  gefühlt,  und  alles  wäre  in  schönster 
Ordnung  gewesen,  ttrenn  nicht  eines  Tages,  etwa  nach 
sechs    Jahren,    die   Polizei    auf   das   >Treiben<  auf- 
merksam   geworden   wäre.   Die   Folge   war  die  Ver- 
haftung des  Vaters  und  der  Selbstmord  der  Tochter, 
die  an  dem  Vater  zärtlich  hing.  Die  Polizei  hat  also 
wie's  im  Bericht  hei&t,  »diesem  Ghrofistadtskandal  ein 
Ende   gemachte.  ..   Der  Alte,  der  sich  die^ Erlaubnis 
SU  den  Sexualhandlungen   seiner  Tochter'  abkaufen 
Iftfit,   mufi  einem  nicht  leid  tun;   aber  seine  Lebens- 
haltung hat  kein  öffentliches  Interesse  geschädigt.  Um 
das  hübsche  Mädchen  ist  schade.  Solche  Existenz  ist 
wertvoller  als  die  eines  Polizeikommissärs,  und  wenn 
&  wirkliish  so  wichtig  wäre,  wie  er  sich  macht  Weil 
aber  im  Totentanz  der  Sittlichkeit  immer  die  Dumm- 
heit den  Kotillon  arrangiert,  veröffentlicht  die  ,Neue 
Freie  Presse'  einen   spaltenlangen   Artikel   über  die 
Vorfahren  des  verhafteten  Zuhtiters  mit  interessanten 
Details  über  die  Entwicklung  der  böhmischen  Baum- 
wollindustrie, und  versichert  zum  Schluß,  das  Mädchen 

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-  22  - 


sei  hochanständig  gewesen.  Auf  die  Anfrage  eines 
Mitarbeiters  habe  nämlich  die  Mutter  bestätigt,  dafi 
ihrer  Tochter  Einladungen  auf  Einladungen  suge- 
kommen  seien,  >yon  denen  sie  viele  nicht  annähme. 
Ihre  Tochter  habe  »streng  daraufgesehen,  dafi  niemand 
in  ihren  Schreibtisch  Einblick  nahm.  Besuche  habe 
sie  wenige  empfangene.  Sie  könne  nicht  glauben,  daß 
ihre  Tochter  schlecht  sei.  Denn  sie  »sei  stets  mit 
ihrem  Vater  ausgegangene  .  .  .  Einer  unserer  Mit- 
arbeiter hatte  also  Gelegenheit,  mit  der  Mutter  zu 
sprechen.  Aber  die  Gelegenheitien,  die  der  Vater  ge- 
macht hat,  waren  erfreulicher. 

»Kein  Raum  der  Welt  wird  von  Ifistemer  Indiskretion  beharrlicher 
umlauert  als  der  Bflhnenraum,  und  keines  Menschen  Leben  ist  dem 
Sensationsbedürfnis  so  grausam  preisgegeben,  wie  das  Privatleben  des 
Schauspielers.  Und  wenn  Er  nun  gar  eine  Sie  ist  und  obendrein  ein 
gefeierter  Stern,  dann  ist  kein  Schlüsselloch  klein  genug.  Die  Literatur, 
die  ihre  Stoffe  aus  solchen  nicht  immer  ganz  reinen  Quellen  schöpfte, 
hat  sich,  wie  es  scheint,  überlebt.« 

Das  war  im  ,Neuen  Wiener  Journals  in  einer 
Burgtheaterkritik,  zu  lesen. 


Herr  Roda  Roda,  die  unvermeidliche  Begleit- 
erscheinung der  deutschen  Literatur,  hat  mir  in  der 
,MusketeS  einem  Witzblatt,  das  so  recht  zum  öster- 
reichischen Jammer  gehört,  die  folgenden  Verse  ge- 
widmet: 

Der  Kritiker  Wiens. 

Was  ist  der  Offensive 

Doch  für  ein  seltsamer  Gaudi  I 

Er  sammelt  Seldstmordmotive 

Und  macht  davon  keinen  Gebrauch  1 

Ein  Leser  macht  mir  nun  den  Vorschlag,  so  zu 
antworten : 

Der  literarische  August. 

Wie  witzig  der  Clown  aller  Laffen 
Sich  in  der  , Muskete'  ergießt  I 
Als  ob  sich  ein  Sammler  von  Waffen 
Deshalb  mit  den  Waffen  erschießt! 


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-  28  - 


Und  er  läßt  noch  eine  Ladung  folgen: 

Doch  wenn  auchl  Gesetzt,  daß  Ich's  tite 
So  viel  steht  jedenfaUs  fest: 
Dann  gab  mir  eine  Muskete 
Voll  Roda  Roda  den  Rest. 

O.  A. 


>...  Im  fibrigen  jedoch  mflssen  wir  uns  diesem  Oedipus  gegenüber 
ablehnend  verhalten.  Vielleicht  haben  wir  morgen,  wenn  Herr  M.  im 
.Ruy  Blas'  spielt,  Gelegenheit,  unser  Urteil  zu  modifizieren.« 

»Herrn  M.  liegt  das  Romantische  offenbar  besser  als  das  Griechische, 
and  Vilctor  Hugo  naher  als  Sophokles.  Seine  Manier  ist  dieselbe,  aber 
im  Rahmen  dieser  manirierten  Dichtung  stört  sie  weniger.  Hier  sieht 
seine  Unnatur  oft  wie  Stil  aus  .  .  .< 

> Immerhin  überraschte  Herr  M.  heute,  zumal  in  den  stilleren 
Partien  seiner  Rolle,  so  am  Beginn  des  berühmten  Monologs  und  in 
der  Szene  mit  den  Schauspielern  d  rch  einen  noblen  Verzicht  auf  die 
flun  geläufigen  Mittel  der  Deklamation  .  .  .« 

> Seine  Mimik  ist  nicht  eben  reich,  aber  er  weiß  damit  zu  wirt- 
schaften .  .  .< 

Der  Debütant  heiftt  Mounet-Sully,  der  er- 
fahrene Kritiker  Auernheimer. 


Bülow  und  Münz  hatten  eine  Entrevue  in 
Venedig.  »yDurchlaucht^,  sage  ich,  ,fa8t  hätte  ich  ver- 
gessen, Ihnen  zu  danken  für  das  schöne  Oster- 
eeschenk,  mit  dem  Sie  mich  von  Berlin  aus  bedacht 
naben  —  den  zweiten  Band  Ihrer  Reden/c  Es  ist 
unbekannt,  wer  bei  diesem  Gespräch  den  Dolmetsch 
gemacht  hat.  Der  Fürst  sprach  deutsch,  Herr  Münz 
nicht  italienisch,  also  war  die  Verständigung  schwer. 


Übenetznng  ans  Harden«*) 


Als  der  Maimond  sich  rundete 


Unterm  Wonnemond  ein  borus- 
sisches  Sodom  bezetern 


Im  Mai 


Im  Mai  ein  preußisches  Sodom 
ausrufen 


*)  Siehe  Nr.  251-252. 


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-  24  - 


Der  Lärm,    der    in    den  Brach- 
mond hinaberhallte 

Der  Lärm,  der  bis  in  den  Juni 
reichte 

Schimpf    aus    hundert    Schreib- 
stuben 

Angriffe  von  hundert  BUttern 

Trügerkunst 

Betrügerkunst 

Skandalosa 

Skandalgeschichten 

Seine  Auffassung  nicht  hehlen 

Seine  Auffassung  nicht  verhehlen 

Die  Moabiterbedrftngnis 

Die  Qerichtssaalbedrdngnis 

Die  angekündete  Klage 

Die  angekündigte  Klage 

Der  Liebenberger 

Fürst  Eulenburg 

Nur   auf  diese  Zeugen    durften 
wir    uns    am    Mariahilfplatz 
stützen 

Nur    auf  diese  Zeugen    durften 
wir  uns  vor  dem  Münchener 
Gericht  stützen 

Onans  Schatten  schleicht  durch 
Schulen  und  Internate 


In  Schulen  und  Internaten  wird 
Onanie  getrieben 


Schnellschreiber 


Reporter 


Der    oft    gebüttelte  Milchmann 
Riedel 


Der  Milchhändler  Riedel,  der 
oft  mit  der  Polizei  zu  tun 
hatte 


Schritt  vor  SchriU 


Schritt  für  Schritt 


Die  Kränkelnden 


Die  Päderasten 


Der  Skalde,  Fasanenjäger  und 
Krückensimulant  wird  mit 
seinem  Qirren  dem  Reich 
nicht  mehr  schaden 


Fürst  Eulenburg  mag  dichten, 
auf  die  Fasanenjagd  gehen 
und  Krankheit  simulieren,  er 
wird  mit  seinem  süßUdhen 
Wesen  an  öffentlicher  Stelle 
keinen  Schaden   mehr  stiften 


Vier  Häupter  sanken  bleichend 
vom  Rumpf.  Nur  ein  hehrer 
Held  bleibt  dem  berliner  Preß- 
troß. Er  mag  ihn  wahren 


Vier  Personen    sind    unmöglich 
gemacht.     Noch    Einer,    dt 
die      Berliner      Presse     fi 
einen     Helden     ansieht,    i 
übrig.  Sie  möge  auf  ihn  achi 
geben 


Henmssebcr  nnd  venukvortUcber  Redaklau-:  Karl  Kraut. 
Oracle  von  |ihoda  *  Sitgel.  Wien  III.  Hinlete  ZollantMlraBe  3. 

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DI! 


KARL  KRAUS 

icü&uii  u  iwangioser  folge  Im  Dmfaitj  lon  16 

^6  Nnmmrni. 


»         »»  »         lo  »  >  >n.  — 

Das  AbonntniMit  •rttreckt  tlcb  alcbt  anf  «Into  Z«lt- 
r«iiai«ftODd«ro  anleine  beitlmmte  Antehl  v.Nannieni. 
Verlag:  Wien,  III.  Hintere  ZoUamtsstr.  3. 

.'iiroiasioiisvt  Deutschland : 

Otto   Maier,    Leipzig 

StcpbentttreQe  Nr,  12. 

Ctechwlanf  10  Pf.  Berlin   NW  7,  Prtedrlcbfitrißc  lOi.  Fr.ch 


veriag 


befindet  sich  jetzt 

Wien,  m/2 

Hintere  ZoUamtsstrassB  Nr.  3. 

Telephon  Nr.  187 


rDhnlt  der    v^r!;r^n    Hnp 


I  i'-tn^«j  I  ^.    V  v./!Mtt;*^(^-'^',''''.'^'«.„»'A.  yf-g 


Sad,  Buda; 


ORF 

ienüC. 


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Maschinschreibstube  SCRIPTOI 


^Bchin 


WIEN  VII.  KIRCt"'^ 

iinschreibarbeiten    nach    Diktat,    " 


ANUSKRIPTE    sind    Wien,    IV.   Schwi 
adressieren.     Unverlangte    Manuskripte,     dt 
frankiertes  Kuvert  beiliegt,  werden  nicht  zurüc. 

twird  •rmcht,  adminlitraUva  HitteiliuiOMi  idcht  u  deo  H«ri 
redaktlonelld  nielit  an  den  ¥«rlag  gelaogan  n  Iibs 
^ 

OBSERVER,    Wien,  ■   "— -dlaplati  Rr  '  '"-' 
[dff7.fit!in<«isn?schnittcüberjei.  ..htcThem 


i,e  Humoresken, 


K.  Hl 

H^  ROBERT   SCHEU, 

VA] 


Sache  Verleger 


Im  Verlage  ,Dle  FaCKEL*  sind  •rtchUnea 

durob  allo  ßuchbandluDgen  oder  direkt  zu 

Karl  Kraus: 

Eine  Erledigung.    Ein  Nach 


Preis 


L . ,  -w*  1  ^(B^*  V.1V9«! 


Die  Fac 


Herausgeben 

ARL  KRAUS. 


T: 


r^  iirardi  osd  Kainz.  —  Oloesen. 

-  QottMurteil.  '< 

ti  -  Tasrebuch.   Voi 

r>  Eolenbnrgi  Briefe. 

iiu^e  auB  Harden.  —  Von  dör  deuUcIien" 
Schmaoh.  ^''^^^   u'^^ri  i^r-,  ,.. 


reoheint  in   swangloser   Folge. 


iüRiBIffei  Veridbefl  terboieni  t«1clitiicbc  Verfotfust 
TorfaebtltM. 


üigitized  by  VJ\^^V^X1^ 


r 


zweiter  Auflage  erschieni 


iittlichl(eitu.Kriminalii 

land  der  Ausgewählten  Schrift! 


von 


K  7.20 
„  8.70 


Igen  auf  (uis  iiu  Verlag  der 
T31ung  L.    Rosner,  Wien   und  Leij 
schienene     Werk     nimmt     jede 


»A  VI.i  4  «.^  Kj  y^' 


;wie.   dei'  Verlag 


Die  Fackei; 

Nl.XM-55  WIEN«  21.  MAI  INI  X.JMR 

DaS  der  deutsohe  Kaiser  in  seiner  Ansprache 
das  Wort  »Untertanenc  gebrauchte,  hat  niemand 
Terblfiflt  Blofi  Sosialdemonaten  könnten  daran  An- 
^8  nehmen,  aber  das  Volk  rauft  sich  bei  solchen 
Anlassen  um  dieBhre,  aus  Untertanen  bu  bestehen. 
Vestroys  »Freiheit  im  Krähwinkelc  wird«  jetzt  von 
einem  sosialdemokratischen  Verein  aufgerahrt,  in  der 
irrigen  Annahme,  das  Werk  sei  eine  Satire  auf  die 
Beaktion.  In  Wahrheit  ist  es  eine  Satire  auf  die 
Bevolution.  Es  ist  also  ein  vortrefflicher  Einfall, 
:sie  gerade  jetzt  aufzuführen.  Denn  wir  haben 
•nie  in  einer  untertänigeren  Zeit  gelebt.  Einst  hätte 
das  Volk  die  ewige  Seliekeit  £irum  ffegeben,  so 
Tasoh  wie  möglich  zu  enahren,  was  die  Bundes- 
ffirsten  gefirühstückt  haben.  Jetzt  wird  sein  Tatsachen- 
^hunger  binnen  ein  paar  Stunden  gestillt.  Die  Geistes- 
armut hat  endlich  ein  Vehikel,  mit  dem  sie  rascher 
vorwärts  kommt  als  im  Vormärz:  die  Presse.  Nur 
«darin  besteht  der  Fortschritt.  Die  Gesinnung  ist  die 
gleiche,  wie  in  den  Zeiten,  die  Offenbach  meint, 
"Wenn  er  den  »absoluten  Souverän«    versichern  läfit: 

Ich  bin  satt. 
Meine  Herrn, 
Ich  bin  satt  - 

Kann  man  mehr  noch  begehr'n? 
«nd  gnädig  zugeben: 

Wenn  ich's  sein  Icann, 
Der  Untertan 
Es  auch  sein  kann. 
So  dann  und  wann. 

8  ist  die  Stimmung  des  Wiener  FOrstentags.  >Gham- 
pier  zu  schlürfen  —  haben's  zuschauen  dtUrfenc. 
er  »werden  Leu  wagt  zu  wecken,  der  kriegt's  mit  dem 
)ckenc.  Die  Väter  stehen  von  Früh  bis  Abend  Spalier^ 

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^  2    - 


und'irean^mbeivahommen  jond  den  Kindern  erzählen 
k#xuie^  daft  sie.  den  kaminerdiener^  des  Erbprinzen 
von  Mecklenburg  gesehen  haben^  so  leuchtet's  in 
Aller  Au^en,  und  es  bleibt  eine  Erinnerung  für's  Leben. 
Das  ist  ein  alter  Satirenstoff,  aber  er  wird  nie  aus- 
gehen. Das  war  so,  ist  so  und  wird  so  sein,  durch 
alle  Entwicklung  der  sozialen  und  der  politischen 
Phrase. 

Trotzdem  hat  der  Tag  der  Bundesfürsten  Über- 
raschungen mancher  Art  geboten.  Wenn  man  nämlich 
das  Bild  der  Welt  aus  der  Schmockperspektive  an- 
sieht. Voj^  der  Rede  Wilhelms  II.  hieß  es:  »Volle 
Strahlenbündel  seiner  starken  Beredsamkeit  hat  der 
deutsche  Kaiser  auf  die  Person  des  Kaisers  Franz 
Josef  gerichtete.  Diese  Lichtkur  ist  aber  noch  gar 
nichts  neben  den  anstrengenden  Prozeduren,  die  an 
diesem  Tage  allerorten  vorgenommen  wurden.  In 
Schönbrunn,  jenseits  der  Schloß  brücke,  erzählt  der 
Berichterstatter  der  ,Neuen  Freien  Presse*  (der  diesen 
Vorgang  auch  schon  auf  Hofbällen  beobachtet  haben 
will),  »massierte  sich  das  Publikum,  das  von  den 
frühen  Morgenstunden  an  zusammengeströmt  war«. 
Nun  ja,  wenn  man  lange  steht,  wirkt  ein  wenig 
körperliche  Aufmischung  wohltuend.  Und  nicht  nur 
in  Schönbrunn;  denn  wir  erfahren,  dafi  das  Publikum 
sich  auch  »vor  imd  hinter  dem  äußeren  Burgtor 
massierte.  €  Aber  nicht  nur  das  Publikum  suchte 
sich  aut  diese  Art  vor  dem  Einschlafen  der  Glieder 
zu  schützen.  Man  höre  und  staune:  »Weiter  imten 
massiert  sich  die  glänzende  Schar  der  Obersthof- 
meister, der  Kammervorsteher,  der  Hofdienste,  und 
zu  dem  Goldglanz  der  Uniformen  gesellen  sich  die 
weichen  Farben  der  Toiletten,  in  denen  die  Hofdamen 
der  Erzherzoginnen  erschienen  sind.t  Ob  man  es 
hier  mit  einem  Akt  hygienischer  Vorsicht  oder  mit 
einer  neuen  Form  der  Huldigung  zu  tun  hat,  oder 
bloß  mit  einem  Versuch,  für  die  Sache  der  unter- 
drückten Masseusen  zu  wirken^  ist  ungewiß.   Jeden- 


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-   8  - 


&Ib  war  es  ein  Bild,  wie  es  nur  die  ,Neue  Freie  Presse' 
entwerfen  kann.  Sie  hat  uns  freilich  in  der  Erwartung 
enttäuscht,  eu  erfahren,  ob  sich  auch  die  Bundes- 
fürsten massiert  haben.  Dagegen  läfit  sie  aus  Rüpk- 
sicht  auf  diese  beim  Dejeuner  »Toumedos  ä  l'AUe- 
magnec  auftischen.  Der  patriotische  Küchenchef 
nämlich,  der  1866  nicht  verwinden  kann,  hatte  auf 
die  Karte  geschrieben:  »Tourne  dos  ä  1' Allemagnet. 

« 

Wenn  ein  Peuilletonist  zu  schildern  anfängt,  so 
kann  man  nie  wissen,  obs  der  deutsche  Kaiser  oder 
ein  italienischer  Tenor  wird.  Das  mag  nicht  so  weit 
aoseinanderliegen,  aber  die  Nuance  ist  doch  eine 
Terscbiedene.  Nun  ist  der  Vorrat  an  den  von  Herr- 
schaften abgelegten  Beobachtungen  kein  allzu  großer. 
Die  meisten  der  geschilderten  Persönlichkeiten  müssen 
»dampfenc  oder  »brausenc  »Ein  brausender  Kaiserc^ 
wird  versichert,  sei  »etwas  so  Seltenes,  dafi  Jahr- 
hunderte vergehen  können,  ehe  die  Welt  wieder 
einen  su  schauen  kriegte.  Wenn  man  aber  auch  über 
die  anderen  Bundesfürsten  ein  Feuilleton  zu  schreiben 
hat?  Dann,  in  Gottes  Namen,  »brauste  auch  »im 
König  von  Württemberg  eine  Lebenslüste,  dafi  es 
seine  Art  hat.  Und  wo  alles  braust,  kann  vermutlich 
anch  der  Bürgermeister  von  Hamburg  nicht  ruhig 
bleiben.  Dafi  sich  inswischen  das  Volk  massiert,  ist 
nur  in  Ordnung.  Denn  vom  Stehen  sind  ihm  ohne- 
dies schon  die  Füfie  eingeschlafen,  und  jetzt  soll 
es  auch  noch  die  Beschreibungen  lesen.  V 

Der  Fürstentag  bot  aber  sogar  den  Eingeweih- 
ten Dberraschungen.  In  der  Politik  empfindet  näm- 
lich immer  auch  der  die  Überraschung,  der  sie  in- 
szeniert. In  Berlin  wird  »an  mafigebender  Stellet  dem 
Korrespondenten  »erklärt,  dafi  die  Vorgänge  in  Wien 
in  hiesigen  amtlichen  Kreisen  einen  tiefen  Eindruck 
gemacht  haben,  und  dafi  man,  wie  Baron  Aehrenthal 
an  den   Fürsten    Bülow  geschrieben,    den   heutigen 


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—   4  — 


Tag  auch  hier  als  einen  denkwürdigen  betrachtete 
Besonders  wird  auf  die  »warme  persönliche  Note  in 
den  Ansprachen  der  beiden  Honarchenc  hingewiesen 
und  auch  auf  »die  hohe  AuSEeichnung,  die  dem 
Fürsten  Bülow  2u  teil  geworden  und  die  Baron 
Aehrenthal  in  einem  l^hreiben  von  besonderer 
Herslichkeit  dem  Reichskanzler  mitgeteilt  hat«. 
Man  hatte  in  den  Ämtern  offenbar  gefflrohtet, 
dafi  die  Reden  anders  ausfallen  würden,  ids  sie  auf- 
gesetzt wurden,  und  daft  der  Baron  JUirenthal  dem 
Fürsten  Bfllow  einen  groben  Brief  schreiben  werde .  • . 
Die  Politik  macht  £e  Welt  zur  Einderstube.  Die 
Grotten  wissen  genau,  was  am  Weihnachtsbaum 
hängt,  aber  wenn  die  Tür  geöffnet  wird,  müsaeu  sie 
doch  »Ahl«  sagen.  Sonst  hOren  die  Kleinen  auf, 
ans  Ghristkindl  zu  glauben. 

E.  E. 


Girardi  und  Kainz. 

Herr  Kainz  hat  den  schlechten  Geschmack,  in 
der  Stadt,  in  der  Girardi  den  Valentin  gespielt 
hat,  in  den  Tagen,  da  Girardi  in  Wien  wieder  auf- 
tritt, den  Valentin  zu  spielen.  Ich  habe  nie  verhehlt, 
dafi  ich  den  Mann,  dessen  Atemtechnik  ich  ehrlich 
anstaune  wie  nur  die  Spezialität  eines  Dresseurs, 
Jongleurs  oder  Equilibristen  und  dessen  Fähigkeit 
mir  nach  dem  Variete  zu  schreien  scheint,  für  einen 
der  unglücklichsten  Schauspieler  halte.  Aber  ich  habe 
vielleicht  seinerzeit,  als  Herr  Eainz  dem  Burgtheater 
den  Valentin  antat,  nicht  entschieden  genug  gegen 
diese  Eränkun^  protestiert.  DaB  Herr  Eainz  es  jetzt 
wieder  wagen  konnte,  mit  seinen  Eopflönen  in  dies 
friedlichste  Heiligtum  gjemütvoUer  Darstellung  einzu- 
dringen, dafi  er  dazu  eine  Bühne,  eine  Galerie  und 
eine  Presse  fand,  zeigt,  wie  die  Echtheit  im  Eunst- 

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-   6    - 


empfinden  dieser  Stadt  auf  dem  Erepieretandpunkt 
angelanirt  igt.  Bin  Kritiker  benfltst  die  Gelefrenheity  su 
▼errichem,  der  Mann  sei  swar  »immer  scnlicht  und 
gemQtstief«,  aber  spiesiell  >bei  der  Entfaltung;  von 
Valentins  Dienertreuec  finde  er  »Töne,  die  tief  ins 
Hers  dringent.  Was  mufi  das  für  ein  Hen  seinl  Ein 
andrer  will  gar  eine  »beswingende  und  bsorflckende 
Fülle«  Ton  Gemflt  und  Seele  entdeckt  haben.  Das  hat 
Herrn  Elaina  noch  niemand  nachgesagt  I  Aber  so^riel 
KunstTerstand  besitat  er  gewifi,  sich  für  den  Reaensenten 
zu  schämmi,  der  von  ihm  gesagt  hat,  er  habe 
in  manchen  Saenen»  Girardi  »überragt«.  Diese  Be- 
reitwilligkeit,  am  Mangel  au  vollem  und  an  der 
Fülle  EU  hunffem,  ist  auf  dem  weiten  Erdenrund  nur 
in  dieser  Stadt  anautreffen.  Ich  wünsche  es  ihr  von 
Henen,  daS  sie  den  reichsten  theatralischen  SchOpfer 
ihrer  Qemfltsaone  verliert,  dem  in  kälterem  K&mm 
die  besten  kritischen  Kenner  gehuldigt  haben.  Er 
hat  es  nicht  notwendig,  sich  von  Reportern  den 
Mangel  literarischen  Elvgeiaes  vorwerfen  au  lassen. 
Er  &rf  sich  auch  vor  Un^esoeenheiten  schütaen, 
die  im  Dienste  der  joumalistisdien  Kulissenpolitik 
begangen  werden.  In  Berlin,  der  Zentrale  des  Ute* 
ransdien  Snobismus,  hat  man  noch  immer  mehr  Ver- 
ständnis für  die  Eigenberechtigung  eines  schöpferischen 
Schauspielers.  Mit  dem  Trottelgerede  von  dem  niedrigen 
literarischen  Niveau^  auf  dem  Oirardi  siefft,  verschont 
man  ihn  dort,  weil  man  wcdfii  wie  spärlich  die  drama> 
tischen  Gelegenheiten  sind,  die  auf  der  Höhe  der 
£unst  dieses  Darstellers  stünden.  Wenn  er  sich  von 
einem  Buchbinder  einen  Pappendeckel  liefern  läftt, 
80  bleibt  er  ungebunden;  nie  vermöchte  ein  grofier 
Künstler  uch  selbst  ausauschöpfen,  wenn  er  zugleich 
einer  anderen  künstlerischen  Persönlichkeit  diente.  Soll 
die  Literatur  auf  die  Bühne  gehören,  dann  dient 
ihr  im  besten  Fall  d^  Regisseur,  der  ein  mittel- 
mäSiges  Ensemble  in  der  Hand  hält,  aber  nie  die  dar* 
Stellerische  Individualität  Neunaelmtel  Shakespeare 
wird  an  dem  grollten  Schauspieler  auschanden.  Das 

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-  8  - 


hat  Goethe  erkannt^  aber  ein  Wiener  Reporter  würde 
es  nicht  sue^eben.  Herr  Reinhardt  in  Berlin,  heifit  es, 
habe  eigens  für  Qirardi  einen  Nestroy-Zyklus  arrangieren 
wollen^  und  Girardi  zog  einen  Buohbinder-Zyklus  vor. 
Wer  die  Anklage  liest,  mufi  davon  überzeugt  sein, 
dafi  Girardis  objektiver  Geschmack  die  Wahl  getroffen 
hat.  Dafi  er  Herrn  Buchbinder  fttr  eine  bedeutendere 
Erscheinung  hält  als  Nestroy,  wird  über  allen  Zweifel 

ges^Bllt.  Ich  halte  nun  jenen  für  einen  szenischen 
[andlungsgehilfen  und  diesen  für  den  tiefsten  satiri- 
schen Denker,  den  die  Deutschen  nach  Lichtenberg 
gehabt  haben  (in  seiner  Nähe  den  Namen  Heine  zu 
nennen,  empfinde  ich  als  Blasphemie).  Wie  hat  dieser 
aufierordentliche  Geist  auf  der  Bühne  geschaltet?  Er 
stellte  sich  an  die  Rampe  einer  gleichgiltigen^  fran- 
zösischen Possenhandlung  und  lieft  an  ihr  seine  Lichter 
aufflammen.  Trotzdem  blieb  es  noch  dunkel.  Denn 
seine  Blitze  zwingen  den  Leser  zur  Bewunderung,  im 
Theater  wird  —  durch  die  Nestroy  ähnlichste  Darstel- 
lung —  kaum  mehr  als  das  Ergötzen  an  der  lustigen 
Situation  lebendig.  Philosophischer  Witz,  aphoristisch 
erhöhter  Humor  —  ich  kann  mif*  nicht  denken,  dafi 
selbst  das  aufnahmsfähigere  Publikum  des  Schau- 
spielers Nestroy  auf  der  Höhe  gestanden  hat,  die  von 
einem  Erfassen  solcher  Geistigkeit  vorausgesetzt  wird. 
Wie  gestaltet  Girardi?  Er  ist  nur  Schauspieler.  Er 
nimmt  eine  gleichgiltige  Possenhandlung  und  zeigt 
an  ihr-  seine  Wunder.  Sie  sind  anderer  Art  als  die 
Nestroys,  unvergleichlich  bühnenhafter.  Er  spielt 
an  einem  Schund  sich  selbst.  Es  ist  die  törichteste 
Meinung,  dafi  er  mehr  böte,  wenn  er  Nestroy  spielte, 
weil  er  dann  weder  Nestroy  noch  sich  selbst  spielte. 
Girardi  ist  ein  wienerischer  Typus  für  sich,  der  viel- 
leicht von  der  Raimundseite  kommt  und  sich  gewifi  an 
keinem  Punkt  mit  der  Welt  Nestroys  berührt.  Dafi  er 
die  Aphorismenkette  des  komischen  Raisonneurs,  der 
aus  dem  ureigenen  Nestroy'schen  Geist  redet,  nicht 
abhaspln  könnte,  versteht  sich;  aber  er  wurzelt  auch 
außerhalb  der  breiton  Komik   der  zweiton  Figur  der 


—  7  — 

Nestroy-Welt,  des  Soholzisohen  Typus,  Er  ist  eben 
Girardi  selbst,  der  am  Anfang  einer  Reihe  von 
Komikern  steht.  Da  er  nicht  Possen  schreibt,  mufi  er 
sie  sich  liefern  lassen.  Notwendig  hätte  er  es  nicht;  er 
schafft;  ja  doch  aus  dem  Stegreif.  Aber  es  gehOrt  der 
ganze  literarische  Snobismus  der  Reinhardt-Qesellschaft 
und  ihr  ganses  Nichtverständnis  fQr  theatralische 
Individualitäten  dazu,  Qirardi  einen  Nestroy-Zjklus 
zuzumuten.  Ein  yoUkommener  Routinier  wie  Herr 
Thaller,  der  die  überkommene  Form  des  dünnen 
Sprechkomikers  beherrscht,  ist  als  Weinberl,  Eampl, 
Ultra,  Titus  Feuerfuchs  durchaus  glaubhaft.  Was  sollte 
einer,  der  völlig  anders  ist  als  Nestroy  und  dabei  ein 
Eigener,  mit  diesen  Gestalten  anfangen?  Die  Theater- 
fremdheit hätte  Recht,  wenn  sie  Herrn  Thaller  in  solchen 
Rollen  über  Girardi  stellte,  ganz  so  wie  sie  einst  Herrn 
Schweighofer  gegen  ihn  ausgespielt  hat,  der  auch 
nicht  mehr  war  als  der  gewandte  Faiseur  einer  ge- 
gebenen Tradition.  Girardis  Popularität  ist  auf  den 
ersten  Blick  unbegreiflich.  Die  Eigenen  sind  sonst 
immer  im  Nachteil ;  besonders  in  der  Literatur,  wo  sie 
sich  selbst  statt  der  »Sache«  dienen.  Dafl  Girardi 
trotz  seiner  imerreichten  Feinheit  und  Selbst- 
kerrlichkeit  beliebt  werden  konnte,  beweist,  dafi 
2u  den  Dingen  der  Theaterkunst  das  Publikum 
immerhin  noch  jene  Beziehung  hat,  die  ihm  zu 
den  anderen  Künsten  fehlt.  Die  Journalisten  haben 
2u  nichts  Künstlerischem  eine  Beziehung.  Darum  ist 
es  möglich,  dafi  sie  Girardi  zu  einem  Nestroy-Zyklus 
zureden  und  Herrn  Kainz  in  .einer  Raimund-Rolle  prote- 
gieren. Einen  Valentin  Girardis,  in  dem  dann  ausnahms- 
weise die  schauspielerische  imd  die  dichterische  Per- 
sönlichkeit zusammenfliefien,  können  wir  leider  nicht  an 
jedem  Tag  sehen.  Hat  er  ihn  aber  einmal  gespielt,  so 
bleibra  uns  die  Thränen  für  ein  Jahr  in  den  Augen, 
und  unvergefilich  hallt  die  Aufforderung  des  Todes  in 
uns  weiter.  Springt  Herr  Kainz  ein,  dann  leg'  ich 
meinen  Hobel  hin  und  sag'  der  Welt  adel  ' 

Karl  Kraus. 

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—  »  — 


Ein  Bild  dieser  Welt  In  der  Oeriohtssaalrabrik 
ein  ProEefi  wegen  Verführung  unter  der  Zusa^  der 
Ehe:  »Und  so  entstand  aUrnfthlich  eine  Liebes- 
beriehung,  bei  der  immer  ihre  Ehre  streng  gewahrt 
blieb.t  »Die  Besiehune  zwischen  dem  Paare  blieb 
nun  dieselbe,  an  Inni^eit  naturgemäß  sunehmend, 
aber  doch  in  bestimmten  Qrensen  bleibend.€  Da  — 
in  Steinamanger  ffeschah  es:  er  unternahm  »einen 
Verführungsversuch  in  illoyaler  und  verwegener 
Weisec.  Trotzdem:  »sicher  ist  eines,  dafi das  Mädchen 
unbescholten  heims^ekehrt  war  und  daft  er  sich 
nach  acht  Tagen  mit  ihr  verlobte,  womit  er  ihr  ein 
Zeugnis  gab,  daft  er  sie  der  Achtung  mehr  als  je 
wert  halte.c  Es  versteht  sich  von  selbst,  dafi  er  sie 
anspucken  würde,  wenn  sie  ihm  damals  den  Gefallen 
getan  hätte.  Aber  er  hOrt  nicht  auf,  sie  auf  die  Probe 
zu  stellen,  ob  sie  seiner  Achtung  wert  sei.  Endlich 
brinfft  er  sie  doch  »zu  Fallet.  Nachdem  sie  ihm  einen 
so  klaren  Beweis  niedriger  Gesinnung  ^liefert  hat, 
kann  von  einer  Heirat  füglich  nicht  mehr  die  Rede  sein. 
Trotzdem  »schenkte  sie  ihm  noch  etwas,  nämlich  ein 
Kind.  Er  will  aber  mehr,  nämlich  Geld.  Das  braucht  er 
für  eine  Reise,  um  sich  mit  einer  andern  zu  verheirateiv 
Das  Gericht  verurteilt  ihn.  Mit  Unrecht.  Er  hat  nur 
die  Eonsequenz  aus  einer  Moral  gezogen,  die  in  ihrer 
Terminologie  des  Lebensgenusses  Worte  wie:  »Ehrec, 
»unbescholtene  und  »Achtungt  hat . . .  Überschlagen 
wir  das  unerfreuliche  Zeitungsblatt.  Auf  der  letzten 
Seite  feiert  die  bürgerliche  Gesellschaftsordnung 
Frühlingserwacben.  Denn  dort  wünscht  sich  ein 
»fescher  Engrossistf  mit  einem  vermögenden  Fräulein 
zu  verehelichen  und  erbittet  Anträge  unter  »Mai- 
glOckchent. 

Jetzt  könnte  Herr  Tuselli  seine  Daseinsbe- 
reohtiRung  erweisen.  Wann  sollte  denn  die  Gelegenheit 
zum  Ohrfeigen  gegeben  sein,  wenn  nicht  in  diesem 
Falle?  Die  ,Neue  Freie  Presse^  läfit  sich  aus  Florenz 
depeschieren,   die  ehemalige  Gräfin  Montignoso  sei 


—    9-— 


Ton  einem  Knaben  entbunden  worden:  »das  freudig» 
]Breigni8  wird  aber  noch  g^eim  gehaltene.  Und  dSe 
^Zeit'  setst  bu  ihrer  Depesche  mit  jener  vielaagenden 
Ruhe,  die  selbst  das  flbliohe  »Kommentar  aberflOs- 
«ig€  versohluckti  himsu:  »Die^Hoohseit  der  OrAfin 
Montignoso  mit  dem  Pianisten  Enrioo  Toselli  fand 
am  27.  September  1907  in  London  stott«  Mutter,  Kind 
und  Herr  Lippowiti  befinden  sich  wohl 

Dafl  eine  Qummikrise  in  Rio  de  Janeiro  nicht 
<eine>Qummikrisein  Argentinienc  ist;  dafl  der  Thron- 
f ol^  nicht  gleichseitig  »in  der  deutschen  KOrassier- 
imiformcy  die  weifl  ist,  und  »in  der  bbuen  UUanen- 
uniformc  gesehen  werden  kann;  dafl  aber  die  Be* 
•deutung  des  toten  Ludovic  Hal^ry  nichts  gesagt 
ist^  wenn  man  das  Urteil  Hanslicu  über  »O^heus 
in  der  Unterweltc  sitiert  imd  dafl  dieses  Buch  dem 
Toten  »die  Unsterblichkeit  in  der  Geschichte  der 
Operettec  nicht  sichern  kann,  weil  es  ntmlich  von 
Hektor  Grömieux  ist  —  all  dies  ist  gewifl  belanglos 
vnd  neben  der  js^roflen  Kulturrerpestun^,  die  too 
4er  ,Neuen  Freien  Presse'  ausgeht,  em  kleiner 
JfaageL  Ich  weifl  sufilllig,  von  wem  »Orpheuse 
ist^  aber  wenn  man  mich,  ehe  mich  Leser  autUärten, 
auf  den  Kopf  su  gefragt  hätte,  wo  Rio  de  Janeiro 
liefft  ubd  wie  die  deutsäe  Ktkrassieruniform  aussieht 
imd  ob  man  sie  nicht  auch  als  Uhlanenuniform 
auffassen  kann,  ich  hfttte  den  Frager  ent- 
geistert angestarrt.  Wo  mir  der  Bhrgeis  fehlt, 
au  wissen,  fehlt  mir  auch  die  Pflicht.  Wohl 
aber  intereesiert  es  mich  gelegentlich  —  Ge- 
legeiAeit  wäre  täglich  —  2u  aeigen,  wie  die  Presse 
auf  ihrem  ureigensten  Gebiet,  dem  der  tatsäch- 
lichen Auüichlfisse,  ihren  getreuen  Geistesmob  in 
die  Irre  f&hrt  Und  wie  unerschflttert  der  Glaube  an 
die  OflTenbarungen  einer  Pythia  bleibt,  die  ftr  das 
Geschäft  weiter  nichts  mitbringt  als  ihre  Ignorana. 


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—  10  — 


Gegen  den  groben  Unfug,  die  Operette  des 
Herrn  Julius  Bauer  durch  eine  Serie  Yon  En  suite- 
Durchfällen  in  ein  Jubiläum  zu  bugsieren,  wendet 
sich  mit  Recht  der  Musikreferent  der  ,Arbeiterzei- 
tung^  Trotzdem  kann  er  nicht  umhin,  Herrn  Bauer 
neben  seinem  Librettistenberufe  einen  Schriftsteller 
und  zwar  einen  ungemein  witzigen  zu  nennen,  »einen 
scharfen  und  scharfsinnigen  Kritiker,  der  in  ernsten 
Kunstdingen  sein  vielbeachtetes  Urteil  abgibtc.  Er 
fordert  i&i  auf,  sich  die  unwürdige  journalistische 
Kampagne  für  seinen  Operettenschund  im  Interesse 
der  Standesehre  zu  verbitten.  An  den  »ernsten 
Schriftistellemc  selbst  liege  es,  diesem  Treiben  Einhalt 
zu  gebieten.  Sonst  riskiere  der  Stand  das  Mißtrauen 
des  Publikums  \md  die  »Verdächtigungen  der  publi- 
zistischen Harpjen,  die  uns  unser  tägliches  Brod 
beschmutzenc.Man  schickt  mindieNotizein,alsosoUwoIÜ 
ich  getroffen  sein«  Daß  meine  Verachtung  jenes  geistigen 
Handwerks,  durch  das  sich  ein  »tägliche  Brod  ver- 
dienen läfit,  auch  der  sozialdemokratischen  Journa- 
listik eilt,  daraus  habe  ich  nie  ein  Hehl  gemacht. 
So  viel  Besinnungsfähigkeit  hätte  ich  ihr  aber  trotz- 
dem zugetraut,  dafi  sie  nicht  in  einem  Atem  einen 
Hoohaeitshumoristen  einen  ernsten  Schriftsteller  nennen 
und  über  meine  Tätigkeit  mit  jenem  verunglückten 
Vergleich  zur  Tagesordnimg  übergehen  könne.  Von 
musikalischen  Dingen  verstehe  ich  nichts  und  es 
wäre  immerhin  möglich,  dafi  einer  blofl  deshalb,  weil 
er  Bach  heifit,  noch  nicht  mehr  davon  verstehen  muß 
als  *  ich.  Aber  ich  möchte  es  Leuten,  die  keinen 
geraden  Satz  zustande  brii^n,  doch  dringend  raten, 
von  schriftstellerischen  Dingen  ihre  Meinung  zu 
lassen.  Diesem  und  den  jungwiener  Qenossen.  Was  da 
in  Wien  geistig  herumkrabbelt,  davon  lasse  ich  mir 
wirklich  nicht  einmal  die  Ferse  jucken.  Es  sind 
Läuse  im  deutschen  Blätterwald  oder,  wenn's  hoch 
geht,  Wanzen  aus  Heines  Matratzengruft. 


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— 11  — 


Ein  Schmersensschrei  des  Festeugspräsidenten: 

»Ursprfln^idi  dachten  wir  an  einen  Fassungsraum  sämtlicher  Tri- 
bünen fflr  180.000  Personen.  Da  kamen  die  Behörden  und  reduzierten 
dea  Fassongsraum,  so  dafi  nur  Plätze  für  88.000  Personen  Übrigblieben , . . 
Zur  Zeit  des  Makart'schen  Festzuges  hatte  Wien  eine  Bevölkerung  von 
einer  Million  Seelen.  Damals  gab  es  Tribünen  für  75.000  Menschen. 
Hente,  wo  Wiens  Einwohnerzahl  zwei  Millionen  erreicht,  will  man 
bloß  88.000  Menschen  auf  den  Tribünen  dulden  (< 

Es  ist  unfflaublicii,  wie  einsichtslos  die  Behör- 
den sich  der  ]|&twiokIung  entgegenstellen.  Dafi  mit 
der  Zunahme  der  Bevölkerung  auch  eine  Steigerung 
dea  Bedürfnisses,  einen  Festsug  anssusehen,  Hand  in 
Hand  geht,  ist  klar.  Nur  ein  Qedanke  beherrscht 
heute  die  Bevölkerung:  Dabei  sein!  1908:  Zwei  Hil- 
lionen Seelen  und  ein  Gedanke! 

m  ■ 

Prfthlinga  Brwmohen. 

Einen  Orufi  an  Frank  Wedekind,  geschrieben 
nach  der  ersten  Auffühnmg  der  Dichtung  im  Deutschen 
Yolkstheater,  bittet  mich  ein  junger  Student  su  bestel- 
len. Er  verdient  als  Ruf  des  Dankes  der  in  Finster- 
nissen erkannten  Jugendseele  gehört  au  werden.  Und 
gewift  durch  die  Vermittlung  der  ,FackeP.  »Denn  von 
wo  ausc,  heiflt's  in  dem  Begteitbrief,  »könnte  ich  den 
Dichter  besser  grüflen,  als  von  dem  Orte,  wo  Sie  so 
oft  für  ihn  die  ... .  Waffe  Ihrer  Feder  führten  !c 

Ein  Doraengarten  wächst,  von  Rosenhecken, 
Von  heuchlerisdien,  leuchtenden  umblüht: 
Dort  spielen  Eltern  leichten  Sinns  Verstecken 
Mit  ihrem  Kinde,  das  vom  Suchen  glüht 

Und  blutend  von  der  Dummheit  Peitschenhieben 
Und  unter  unerhörten  Lasten  jg[eht. 
Und  dessen  Fffihlingriiassen,  Frfihlingslieben 
Kein  Menschfacitaffihrer  gfitevoU  verstellt  ^ 

Das  ist  di«  Jugend,  die  wir  alle  trugen    ' 
In  Jenen  gar  nicht  fernen  Knabeojahren, 
Wo  dürre  Lehrer  unsere  Sinne  schlugen, 
Weil  sie  dem  warmen  Leben  nahe  waren, 

Weil  sie  der  Zeugung  Wunder  heißer  priesen 
Als  Zeugniswunder,  als  den  Vorzugsgrad 
Und  uns  zu  Höhen  und  in  Tiefen  wiesen, 
Dfe  eines  Lehrers  Fuß  noch  nie  betrat. 


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—  w  — 


Und  nun  kamst  Du!  Mit  dicbteistarken  Hfinde» 
Rissest  die  LögenhQIle  Du  herab, 
Um  den  Erwachenden  den  Trost  zu  spenden^ 
Den  niemals  so  noch  ein  Erwachter  pib. 

Ich  srfiBe  Dich  aus  meiner  tiefsten  Seele! 
Denn  was  ich  litt  —  bei  Dir  flewanns  Gestalt 
Und  meiner  ersten  Jugend  »Scnukl  und  Fehle« 
Hat  gestern  wieder. mir  ins  Herz  geballt 

Zwar,  Hänscfaen  Rilow  durfte  nidit  er^dnen,. 
Und  Hinsehen  Rilow  hab'  idi  gar  so  lieb; 
Doch  könnt*  ich  über  Mekfaiois  Mutter  weinen^ 
Die  ihrem  Sohne  keine  Mutter  blieb. 

Und  Wendia,  Moritz,  sah  ich,  denen  beiden 

Der  erste  FrOhlingsbraus  das  Leben  schließt 

Und  sah  —  Dich  selbst  mit  einem  Ucheln  scheiden^ 

Das  freilich  mir  nodi  unerreichbar  ist. 

Und  sah  nodi  eins:  Die  Herrn  in  Frack  und  Smoking,, 
Die  Damen  mit  dem  Msten  DecoUeti 
Empfanden  Dein  Gedicht  als  äußerst  shötang 
Oder  ab  angenehmes  frissonner. 

Nun,  ihre  Herzen  haben  dicke  Bäuche 
Und  ihre  Triebe  sind  sdion  etwas  matt 
Und  Jugendldd  und  -Lust  ist  Ihnen  Seudie,. 
Und  Hunger  stört  sie  nicht.  Sie  shid  ja  satt. 

Ich  aber  habe  das  nodi  nicht  vergessen, 
Was  mich  des  Keimens  Tage  dnst  gelehrt. 
Und  wie  ich  mich,  verzwdfehid.  alles  dessen,. 
Was  mich  zu  Boden  drfickte,  nidit  erwehrt. 

Denn  sind  auch  heute  andere  Qualen  da, 

Die  mir  des  Maien  holden  Tag  umnachten. 

So  sind  dodi  jene  noch  mu*  traumhaft  nah, 

Die  vor  der  Liebe  mich  unselig  machten. 

Wien,  10.  Mai  1908.  Oskar  Jellinek 

Eine  andere  Eundeebung  der  Jugend,  eine 
lidealerec,  mehr  aus  dem  ^hulbtloherverlag  beioff|rae« 
Sie  spielte  sich'  während  einer  Vorstellung  yon  »Wil- 
helm Teilt  im  Deutschen  Vclksiheater  ab.  Bin 
Mädchen  sprach  < 

Hochverehrter  Herr  Direktor  1  Durch  Ihren  liebenswfirdigien  Ent- 
schlttfi,  im  JttbiUumsiahre  Sr.  Mtjestit  nnseret  Kaisers  eine  Reihe  voa 
klassischen  Vorstenungen  fflr  Schfller  zn  geben,  haben  Sie  ehiem  grofiea 
Tefl  der  Wiener  Schuljugend  eine  anfierordenüichc  Fieiide  bereitet. 
Noch    stehen    wir   unter   dem   mAchtigtn  Etodmcke   der  BegelstefMg^ 


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—  13  — 


welche  die  Worte  unseres  LlebUngsdichters  in  unserem  Oemflte  hervor^ 
riefen,  und  frohen  Herzens  danken  wir  im  Namen  unserer  Mltschfllerp 
dafl  wir  Qdegenbeit  hatten,  hier  diesen  weihevollen  Worten  lauschen 
lü  können.  Durch  künstlerisches  Wirken  haben  die  hochverehrten  Damen 
and  Herren  die  idealen  Oestalten  unserer  Klassiker  unserem  Verständnis 
nähergebracht.  Wir  haben  den  Geist  des  Edlen  und  Outen,  der  aus  den 
schönen  Worten  unserer  Dichter  weht,  tief  empfunden,  und  wir  geloben« 
uns  dadurch  ein  Beispiel  zu  nehmen,  nur  Wahres  und  sittlich  Gutes  zu 
wollen  zur  Ausbildung  unseres  Charakters.  Die  Liebe  zu  unseren 
deutschen  Dichtem  ist  neu  entfacht  und  gestflrkt,  und  sie  wird  uns  eine 
nie  versiegende  Quelle  der  Kraft  sein,  welche  wir  in  späteren  Jahren 
zom  Helle  unseres,  des  deutschen  Volkes  verwenden  wollen|l 
Aber  noch  aus  einem  anderen  Grunde  danken  wir  Ihnen  hochverehrter 
Herr  Direktor,  aus  vollem  Herzen.  Wir  wissen,  daß  der  Reingewinn 
dieser  Vorstellungen  dem  Ottakringer  Lehrerhilfskomitee  zufließt,  welches 
denselben  zur  Beköstigung  armer  Schulkinder  verwendet.  FQr  die  armen 
hnngemden  Kinder,  denen  der  Segen  Ihres  Wirkens  zugute  kommt, 
dankt  Ihnen  unser  Kindermund  mit  einem  aufrichtigen  Vergelts  Gottl 
Wir  bitten  Sie,  hochverehrter  Herr  Direktor,  diese  Blumen  gütigst  an- 
zunehmen. Die  Kinder  des  Frühlings  seien  Ihnen  ein  Zeichen  un- 
serer Dankbarkeit,  ein  Sinnbild  unserer  Verehrung.  Möchten  Sie  der 
Jugend,  der  Schule  auch  fernerhin  Ihr  Wohlwollen,  Ihre  QQte  erhalten! 

Was  soll  aus  einem  jungen  Mädchen  werden, 
das  sich  an  dieser  Phrasenunzucht  des  Edlen  und  Guten 
heranbildet,  das  in  einer  feierlichen  Ansprache  die 
»Ausbildung  des  Charakt^rsc  gelobt,  die  Blumen 
»Kinder  des  Frahlingsc  nennt,  selbst  zugibt,  dafi  es 
einen  Kindermund  habe,  und  durch  >  denselben c  den 
Herrn  Weisse,  den  Vater  der  Jugend,  zum  Schutze 
nationaler  Interessen  anruft?  Man  müßte  > Schul- 
männer c,  die  ein  armes  Geschöpf  zu  solch  wider- 
natürlicher Betätigung  zwingen,  auf  Erbsen  knieen 
lassen  I  Ist  eine  Vorstellung  von  »Wilhelm  Teile  für 
die  Entwicklung  der  jungen  Mädchen  imerläfilich,  so 
sollten  doch  mindestens  derartige  Possenauftritte 
hinter  den  Koulissen  und  deren  Bekanntmachung 
durch  die  Theaterreklame  erläfilich  sein.  Am  Abend 
spielen  sie  »Frühlings  Erwachene  und  am  Nachmittag 
mufi  Wendla  an  Phrasen  glauben,  die  ihr  der  Lehrer 
Affenschmalz  aufgesetzt  hat. 

Was  aus  einer  Jugend  wird,  die  solche  An- 
sprachen hält?    Wenns   ein  Knabe  ist,    so    wird  er 


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-  14  - 

»Schriftsteller«.  Er  hält  dann  —  wohlgemerkt,  in  einer 
Zeitung,  nicht  vor  dem  Grab  —  einen  Nachruf  für 
einen  verstorbenen  Tbeatersekretär,  in  dem  die  fol- 
genden Sätze  stehen,  die,  hol  mich  der  Teufel,  schon 
einmal  seit  der  Erfindung  der  deutschen  Sprache  in 
Verwendung  gebracht  sein  müssen: 

Ein  Leben,  das  in  strenger  und  von  wirklicher  Liebe  zum  Berufe 
durchdrungener  PfichterfüUung  aufging,  hat  einen  jähen  und  ergreifen- 
den Abschluß  gefunden  ...  Er  stand  nicht  auf  einem  beneidenswerten 
Posten.  In  schwerer  Krise  hat  er  die  Leitung  des  Raimundtlieaters 
übernommen,  bereitwillig  in  die  Bresche  tretend,  die  durch  den  Abgang 
Direictor  Lautenburgs  entstanden  war.  So  gelang  es  ihm,  das  ihm  an- 
vertraute Fahrzeug  zwischen  Klippen  und  Untiefen  hindurch  in  ruhi- 
geres Fahrwasser  zu  lenlcen,  und  es  war  seine  innigste,  leider  die  letzte 
Freude  seines  Lebens,  den  Stern  des  Raimundtheaters  in  freundlicherem 
Lichte  erglänzen  zu'  sehen  ...  So  wenig  er  bestrebt  war,  seine 
Person  in  den  Vordergrund  zu  schieben,  so  sehr  mag  er  sich  darüber 
gefreut  haben,  daß  es  ihm  gegönnt  war  etc.  Er  hat  hier  Freunde 
gefunden,  die  Stadt  und  ihre  Menschen  waren  ihm  unendlich  lieb 
geworden,  und  an  dem  Raimundtheater  'hing  er  bis  zu  seiner 
letzten  Stunde  mit  besorgter  2^rtlichkeit.  Noch  in  seinem  schwe- 
ren Leiden,  vor  einer  lebensgefährlichen  Operation  stehend  etc.  Hei- 
terkeit und  gute  Laune  gaben  seinem  Wesen  das  Gewinnende,  machten 
ihn  zu  einem  guten,  gemütlichen  Gesellschafter.  Im  Dienst  streng  und 
durchaus  gewissenhaft,  war  er  im  persönlichen  Verkehr  liebenswürdig, 
jovial  und  von  aufrichtiger,  oft  herzlicher  Wärme.  Er  hat  sich  in  der 
kurzen  Zeit  seiner  Wirksamkeit  in  Wien  viele  Freunde  gewonnen,  die 
mit  reger  Teilnahme  das  Schicksal  beklagen  werden,  das  ihn  -  nach 
jahrelangem  selbstlosen  Mühen  endlich  zu  persönlichen  Erfolgen  gelangt 
—  rasch  und  unerbittlich  hinweggerafft  hat.  Es  war  ihm  nicht  mehr 
vergönnt,  seine  Aufgabe,  der  er  sich  mit  so  viel  Eifer  und  Hingabe 
gewidmet,  zu  Ende  zu  führen,  das  ihm  anvertraute  Schifflein  in  den 
Hafen  zu  lenken  .  .  . 

Solche  Nachrufe  für  Theatersekretäre  schreiben 
die,  die  einst  solche  Ansprachen  an  Theaterdirektoren 
gehalten  haben. 


Qottesnrteil. 

Hadraar  von  Hornsberg  wurde  in  Eberstorf  auf  der  Burg 
seines  Ohms  erzogen.  Als  er  nicht  mehr  zu  Füßen  der  Frauen 
saß|  sondern  zu  Jagd  und  Fehde  an  seines  Magen  Seite  ritt,  begab 

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—  IB  — 

es  sich  eines  Tages,  d«B  er  durch  die  Galerie  des  Wintbergturme 
ging  und  seine  Base  Gertrud  ihm  entgegen  kam. 

Als  Kinder  hatten  die  zwei  mitsammen  getollt  und  gespielt, 
dann  lernte  sie  zu  Boden  seh'n,  er  trug  den  Blick  umso  freier: 
dss  trennte  sie.  Die  Galerie  war  schmal,  und  als  die  Beiden  an- 
einander vorbei  drängten,  umfaßte  Hadmar  das  Mädchen  und 
kOßte  es.  Die  Wirkung  des  Kusses  war  unermeßlich. 

Das  Mädchen  stieß  ihn  mit  äußeistem  Abscheu  zurück  und 
lief  wie  in  Todeshast  die  Treppe  zum  Innern  Hof  hinab.  Dort  auf 
dem  Rasen  sah  Hadmar  sie  zusammensinken  und  als  er  nach- 
eilte, wand  sich  ihr  Leib  in  Krämpfen,  so  daß  der  erschrockene 
Jüngling  laut  schrie,  worauf  Gesinde  kam  und  Gertrud  ins  Frauen- 
hans getragen  wurde. 

Von  diesem  Tage  an  sprach  Gertrud  wenig,  und  ihrer 
Wangen  Rot  erlosch.  Angstlich  war  sie  bedacht,  den  jungen  Ritter 
zu  meiden  und  verbarig  ihr  Antlitz,  wenn  er  unversehens  vorüt)er 
louD.  Hadmar  seinerseits  konnte  sich  zwar  nicht  erklären,  wie  ein 
Kuß  so  tiefe  Wirkung  fibte,  da  er  aber  sah,  wie  die  Jungfrau  litt, 
merkte  er,  daß  er  an  ihr  schuldig  sei  und  versuchte  mehrmals, 
Verzeihung  zu  erlangen.  Er  kam  jedoch  nie  über  die  ersten  Worte 
hmans,  weil  Gertrude  heftig  zu  zittern  begann,  wenn  er  vor  ihr 
stand.  Also  mied  auch  Hadmar  das  Mädchen  und  hätte  das  Er- 
lebnis vielleicht  veiigessen,  wenn  er  nicht  hätte  fühlen  müssen, 
daß  die  Jungfrau  ihn  mit  Haß  und  Verleumdung  aller  Art  ver- 
folge. Dies  dünkte  Hadmar  eine  unheimliche  Wesensänderung  der 
Kindheitsgespielin,  er  verlor  den  Schlaf  darüber,  und  der  Aufenthalt 
in  Eberstorf  ward  ihm  unleidlich.  Während  er  noch  erwog,  ob  er 
von  seinem  Ohm  Urlaub  beehren  seilte,  um  sich  nach  Homs- 
berg,  der  väterlichen  Veste  zu  begehen,  kam  ihm  der  Eberstorfer 
zuvor  und  entließ  ihn,  ja  er  jagte  ihn  beinahe  davon,  denn  er  sah 
nach  den  vielen  Anklagen,  welchen  der  junge  Hadmar  selten  und 
unkräftig  widersprochen,  in  seinem  Neffen  eher  einen  verkappten 
Verräter  als  einen  treuen  Anverwandten.  Bitteren  Herzens  sprach 
Hadmar  in  dfel-  Stunde  des  Abschieds  zu  Gertrud  und  fragte, 
warum  sie  eines  Kusses  Schuld  so  hoch  werte.  Da  rief  sie: 
»Hadmar,  ich  glaube,  Ihr  träumt.  Wann  hättet  Ihr  mich  je 
geküßt?«  Hadmar  erzählte  das  Begebnis  ausführlich,,  wobei  ihm 
vor  Erstaunen  über  des  Mädchens  Wort  die  Lippen  bebten,  aber 
da  begann  sie  zu  zittern  wie  ^tets,  wenn  er  zu  ihr  sprach  und  er 

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—  16   ~ 


merkte,  daß  sie  nicht  hörte,  was  er  sagte.  Also  verließ  er  sie  und 
die  Burg  seines  Ohms  und  war  ihm  die  Brust  durch  des  Rätsels 
Verdoppelung  erschüttert,  da  sie  ihn  haßte,  weil  er  sie  geküßt 
und  doch  nicht  wußte,  daß  ers  getan. 

Hadmars  Vater  war  ein  trotziger  Ministerial,  ein  Feind  der 
schwäbischen  Eindringlinge,  die  Herzog  Albrecht  ins  Land  brachte; 
den  Abend  seines  Lebens  füllten  blutige  Kämpfe,  in  denen  er 
nicht  unterlag,  weil  er  bei  währender  Fehde  starb.  Hadmar  schloß 
Frieden  mit  dem  Habsburger,  aber  er  mied  den  Hof  zu  Wien, 
woselbst  ihm  als  Sohn  des  alten  Hornsbergers  wenig  Onade  zu 
hoffen  schien.  Unversehens  ward  er  jedoch  durch  herzoglichen 
Befehl  nach  Wien  l>erufen,  der  Herzog  trat  ihm  zürnend  entgegen, 
denn  es  waren  Anzeigen  eingelaufen,  daß  er  gegen  das  geheiligte 
Haupt  konspiriere,  ja'  der  Verschwörer  Rädelsführer  sei,  die  des 
Herzogs  Schwager,  den  König  Wenzel,  auf  den  österreichischen 
Thron  setzen  wollten.  Hadmar  beteuerte  seine  Unschuld,  und  weil 
Beweise  nicht  erbracht  waren,  nicht  einmal  der  verborgene 
Ankläger  sich  zeigte,  begnügte  sich  der  Herzog  mit  Einziehung 
der  Homsberger  Güter  Sallapulka  und  Hötzelsdorf  zur  Warnung 
und  künftigen  Damachachtung. 

Anläßlich  dieses  Aufenthaltes  in  Wien,  trat  der  Magistrat 
an  Hadmar  heran,  ob  er  nicht  die  vom  Herzog  geraubte  Reicfas- 
unmittelbarkeit  durch  Hadmars  Hilfe  wieder  erlangen  könnte^ 
Bevor  der  Ritter  sich  entschied,  waren  diese  Unterhandlungen  bei 
Hofe  bekannt,  diesmal  war  Hermann  von  Landenberg  sein  An- 
kläger, ein  Schwabe,  der  erst  vor  kurzem  mit  schmalem  Beutel 
den  österreichischen  Boden  betreten  und  hier  zu  Ansehen  ge- 
kommen war.  Die  neuerliche  Anklage  brachte  dem  Homsperger 
den  Verlust  des  schönen  Qutes  Kattau,  und  Hadmar  verließ  flucht- 
artig die  Stadt,  in  der  ihm  gänzliche  Verarmung  drohte.  Er  hielt 
sich  still  auf  seiner  Veste,  aber  es  verging  kaum  ein  Jahr,  in  dem 
nicht  Anklagen  die  Ungnade  des  Wiener  Hofes  genährt  hätten, 
wobei  immer  der  Landenberger  als  unerklärlicher  Widersacher 
gegen  Hadmar  stand.  Als  der  Ritter  von  einer  Pilgerfahrt  aus  Rom 
zurückkehrte,  fand  er  gar  seine  Stammburg  ausgeräuchert  und  es 
hieß  zwar,  daß  bäuerliche  Mordbrenner  die  Täter  gewesen  seien, 
aber  der  Name  des  Landenbergers  spukte  in  der  Gegend,  und 
Hadmar  zweifelte  nicht.  Jedermann  wußte,  daß  der  Landenberger 
Hadmars  grimmigster  Feind  war,  aber  niemand  außer  Hadmar 

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—  17  — 


vuBte,  daß  Gertrud,  des  Landetibergers  Weib,  hinter  alldem  stecke 
und  Hadmar  behfelts  fflr  sich;  denn  sollte  er  sagen,  daß  aller  Haß 
aus  eines  geraubten  Kfißleins  Zorn  gewachsen  sei?  Wie  flfichtiges 
Wtld  jagte  Ihn  diese  Frau,  nie  war  ein  Weib  in  Liet)e  treuer  als 
Gertrud  ihm  im  Haß.  Vor  dem  geborstenen  Wartturm,  in  dem 
die  Krähen  nisteten,  tat  Hadmar  einen  Schwur,  ließ  die  Burg 
wieder  aufbauen  und  wohnte  in  einem  Häuschen  daneben,  denn 
er  hatte  gelobet,  die  Burg  seiner  Väter  nicht  eher  zu  be- 
treten, als  bis  er  an  seinem  Erzfeind  gerächt  sei.  Also  rüstete  er 
und  fiberfiel,  nach  ehrlich  angesagter  Fehde  des  Landenbergers 
Fähnlein,  machte  viele  nieder  und  nahm  den  Ritter  Selbsten  ge- 
fangen, nachdem  er  ihm  eine  tiefe  Wunde  geschlagen  hatte. 

Hermann  von  Landenberg  ward  in  ritterlicher  Haft  gehalten, 
aber  seine  Wunde  schloß'  sich  nicht,  er  siechte  dahin.  Hadmar, 
der  unbeweibt  geblieben,  saß  an  seinem  Schmerzenslager,  und  der 
kranke  Ritter,  den  Siechtum  und  naher  Tod  milde  stimmten,  ge- 
stand, was  Hadmar  längst  wußte,  daß  Gertrud  des  unheilvollen 
Hasses  Entfacherin  gewesen  und  Ihn  mit  nimmer  müdem  Schüren 
bis  zur  letzten  Fehde  erhalten  habe.  Hadmar  hing  an  den  Lippen 
des  kranken  Ritters,  er  wollte  immer  mehr  und  mehr  von  Gertrud 
hören,  ob  er  vielleicht  des  alten  Rätsels  Lösung  vernähme,  aber 
des  Kinderknsses  ungeheure  Wirkung  stieg  bis  zum  Himmel  und 
Hadmar  konnte  sie  nimmermehr  ergründen.  Da  hieß  er  den 
Landenberger  sein  Weib  zu  seiner  Pflege  in  die  Gefangenschaft 
zu  bestellen  und  obwohl  ihm  vor  Gertrud  Im  Innersten  graute, 
sah  er  doch  keinen  andern  Weg,  um  das  Geheimnis  seines  und 
ihres  Daseins  zu  lösen. 

Und  Gertrud  kam.  Im  binsenbestreuten  Prunksaal  trat  sie 
Hadmar  gegenüber,  blond,  stahlblauen  Auges,  jung,  fast  kindlich, 
als  wären  diese  zwanzig  Jahre  spurlos  an  ihr  vorbeigeroAnen.  So 
unversehrt  schien  die  Frau,  als  hätte  eine  Vorsehung  die  schlanke 
Jugend  für  späte  Zwecke  bewahren  wollen.  Aber  Hadmar  war  grau. 

»Ich  danke  Euch,  daß  Ihr  gekommen  seid,«  sagte  er. 

»Nicht  Euretwegen  kam  ich,«  entgegnete  die  Frau. 

»Ihr  haßt  mich?«  fragte  der  Ritter. 

»Habt  Ihr  mir  nicht  den  Gemahl  zu  Tode  verwundet?«  rief 
die  Frau. 

Da  überwältigte  Hadmar  der  Schmerz,  denn  er  fühlte  allen 
Haß,  mit  dem  diese  Frau  ihn  alle  seine  Tage  gehetzt,  und  diese 


18  — 


Frau  glich  seinem  fernen  Jugendgespiel.  Er  gedachte  des  Kiesel- 
baches  und  der  blumigen  Au,  des  Schlupfes  hoch  im  Linden- 
Wipfel,  er  dachte  an  alles,  was  einstmals  war,  und  er  rief  zweimal : 
»Gertrud,  Gertrud !«  Sie  wandte  sich  ab.  Hadmar  geriet  in  eifer- 
vollen Zorn  und  beschloß  die  Sache  an  ein  Ende  zu  bringen.  Er 
hielt  ihr  in  eiliger  Rede  die  vielen  Übeln  Dienste  vor,  so  sie  ihm 
schon  in  Eberstorf  und  dann  in  Wien  und  anderwärts  erwiesen, 
faJBte  sie  schließlich  am  Arm  und  sprach  mit  starker  Sthnmc: 
» Alles  dies  um  einen  Kuß!« 

Gertrud  zuckte  unter  dem  Worte  zusammen  nnd  sagte 
tonlos:  »Ich  weiß  nichts  von  einem  Kuß!« 

»Teufelin!«  rief  da  der  Ritter,  indem  er  ihren  Arm  umso 
fester  umklammerte,  »Du  sollst  nicht  von  der  Steile,  ehe  Du  des 
Hasses  Grund  gestehst!«  Gertrud  begann  zu  zittern,  ward  fahl 
und  sank  zu  Boden.  Der  Ritter  erschrak,  ihm  schien,  als  hätte  er 
dies  schon  einmal  erlebt.  Er  legte  die  ohnmächtige  Frau  auf  eine 
Truhe,  rieb  ihr  Hände  und  Wangen  und  bemühte  sich  um  sie 
Sie  faßte  seinen  Kopf,  zog  ihn  zu  sich  und  küßte  ihn  lange, 
wobei  sie  die  Augen  geschlossen  hielt  und  augenscheinlich  schlief. 
Der  Ritter  riß  sich  los  und  verließ  das  Zimmer. 

Am  andern  Tage  war  der  Landenberger  gestorben.  So  mußte 
Hadmar  die  Witwe  mit  dem  Leichnam  ihres  Oemals  entlassen. 
Die  Bestattungsfeier  war  kaum  vorüber,  da  erhielt  Hadmar  strengen 
Befehl,  vor  dem  Richterstuhle  des  Herzogs  Albrecht  in  Wien  zu 
erscheinen.  Es  wollte  ihm  schier  das  Herz  verbrennen,  als  er  in 
Wien  hörte,  er  sei  des  Folgenden  bezichtigt:  er  habe  der  Gattin 
des  verwundeten  Landenbergers  die  Auslieferung  des  Ritters  ange- 
boten, wenn  sie  für  eine  Nacht  Hadmars  Bett  zu  teilen  sich  ent- 
schlösse. Gerirud  habe  kräftig  widerstrebt,  da  aber  der  Landen- 
berger  ihimer  schwächer  wurde,  habe  sie  des  Wüstlings  Begehren 
erfüllt.  Am  selben  Abend  sei  der  Landenberger  verschieden,  und 
Hadmar  habe  ihrs  argliftg  verschwiegen,  so  daß  sie  wider  Wissen 
und  Willen  in  ihres  Oemals  Todesstunde  in  den  Armen  eines 
andern  gdegen  sei.  Darauf  wolle  sie  das  Gottesurteil  der  Feuer- 
probe bestehn. 

Der  Herzog  saß  im  Kreise  seiner  Räte,  ein  rotglühendes 
Eisen  ward  mit  Zangen  hereingetragen,  Gertrud  trat  vor,  den 
rechten  Arm  entblößt,  sie  faßte  das  feurige  Metall  mit  nackter 
Hand  und  legte  es  vor  des  Herzogs  Stuhl  zu  Boden,  sachte  und 

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—  19  — 


olme  mit  der  Wimper  zn  zucken,  daß  jedermann  im  Saale  schwieg 
and  Oottcs  Stimme  zu  vernehmen  meinte. 

Hadmar  sah  dem  alien  zu  als  wie  im  Traum.  Er  leugnete 
niclit,  er  war  mfide  zum  Sterben. 

»Es  ist  nötig,  der  Frau  die  Ehre  wieder  zu  geben«,  sagte 
der  Herzog.  Der  Ehevertrag  wurde  sofort  aufgesetzt,  am  selben 
Nachmittag  fand  die  Trauung  statt.  Vor  der  Kirche  war  ein 
Scbaffot  errichtet,  der  Henker  erwartete  nach  des  Herzogs  Befehl 
den  verbrecherischen*  Ritter.  Hadmar  hatte  sichs  nicht  anders  ver- 
seben.  Gertrud  aber,  die  jetzt  des  Homsbergers  Gattin  war, 
schauderte,  sie  bat  den  Herzog  um  Gnade.  Als  dies  vergebens 
war,  lief  sie  die  Stufen  zum  Blutgerüst  hinan  und  rief  zu  allem 
Volk:  »Idi  habe  gelogen,  Hadmar  ist  unschuldig  und  aller  Ehren  voll  U 

Zweifelnd  sah  der  Herzog  um  sich.  Aber  es  dünkte  Hadmar 
kkhter  zu  sterben,  als  mit  diesem  Weibe  zu  leben.  Er  sagte:  »Um 
mich  zu  retten,  lügt  sie  jetzt.  Bedenkt  die  Feuerprobe.« 

»Die  Feuerprobe!«  schrie  das  Volk. 

Da  zog  Gertrud  einen  Dolch  aus  dem  Gürtel  und  schnitt 
Wunden  in  ihren  rechten  Ann,,  daß  das  Blut  aus  den  Adern 
spritzte:  »Ich  bin  gezeichnet,  mein  Arm  ist  empfindungslos«,  sagte 
sie,  »die  FeuenN-obe  war  Betrug.« 

Sie  erbläßte  und  sank.  Hadmar  kniete  bei  ihr  nieder,  $ie 
nmsdilang  ihn  mit  blutendem  Arme  und  flüsterte  ihm  ins  Ohr 
und  sprach  zu  ihm,  bis  sie  starb. 

^  Fritz  Witteis. 

« 

Der  Sfindenpfuhl.*) 

Die  bürgerliche  Geseilschaft  besteht  aus  zwei 
Arten  von  MäDnem,  aus  solchen^  die  sagen^  irgendwo 
sei  eine  »Lasterhdhlec  ausgehoben  worden^  und 
solchen,  die  bedauern,  die  Adresse  au  spät  erfahren 
SU  haben.  Die  Einteilung  hat  den  Vorzug,  daß  sie 
sich  in  einer  und  derselben  Person  vollzieht,  weil 
nicht  Gegensätze  der  Weltanschauung,  sondern  bloß 
Umstände  und  Rücksichten  für  die  Wahl  des  Stand- 
punktes mafigebend  sind.  Man  würde  aber  fehlgehen, 
wenn    man    glauben   wollte,    daß   die   sittliche  Bnt- 

^  Aus  dem  ,Simplicissinius'. 

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—  20  - 


rüstune  und  die  Begierde  in  übersiohtlicher  Weise 
nebeneinander  gelagert  sind;  sie  greifen  vielmehr  in- 
einander und  sind  unaufhörlich  damit  besohäftiet, 
ihre  Kräfte  gegenseitig  zu  steigern  und  ihr  Objekt 
£u  vergröflem.  Jetzt  sind  es  gerade  1908  Jahre, 
dafl  dieser  eifersüchtige  Kampf  zweier  Lebens- 
prinzipe  andauert,  in  dem  die  Entrüstung  sich  an 
der  Begierde  und  die  Begierde  an  der  Entrüstung 
nährt,  in  dem  die  Welt  immer  moralischer  wird,  je 
unsittlicher,  und  immer  unsittlicher,  je  moralischer 
sie  wird.  Es  würde  am  Ende  gar  keine  Liasterhöhlen 
mehr  geben,  wenn  sie  nicht  ausgehoben  würden, 
denn  bis  zu  dem  Zeitpunkt,  da  eine  ausgehoben 
wird,  ist  sie  ein  friedliches  Bürgerhaus.  Die  Phantasie 
wälzt  sich  auf  Lotterbetten,  und  die  Sittlichkeit  ist 
die  Enttäuschung  darüber,  daß  es  kein  Laster  nbt. 
Sie  schlieflt  mit  Recht  die  Augen  vor  einem  Sünden- 

?fuhl;  denn  wenn  sie  ihn  sähe,  würde  sie  sich  über 
jangweile  beklagen.  Sie  wendet  sich  von  Abgründen 
der  Unmoral,  deren  Qähnen  eine  ansteckende  Wirkung 
hat.  Das  bifichen  Laster,  das  hin  und  wieder  in 
deutschen  Landen  zustande  kommen  mag,  ist  nur 
eine  Folge  der  übertriebenen  Qerüchte,  die  darüber 
verbreitet  werden.  Um  nicht  zu  weit  hinter  ihrem 
Ruf  zurückzubleiben,  tut  die  Unsittlichkeit  manchmal 
so,  als  ob  sie  da  wäre;  die  Blamage  ist  noch  immer 
grofi  genug,  wenn's  an  den  Tag  kommt,  was  an  den 
Tag  gekommen  ist.  Nur  Staatsanwälte  und  Berliner 
Bohemiens  glauben  an  das  Laster.  Wenn  irgendwo 
in  einem  separierten  Zimmer  zwei  Leute  gesessen 
sind,  so  muß  nicht  die  Bibel  gelesen  worden  sein; 
aber  aus  der  Beobachtung,  dafl  das  Zimmer  versperrt 
war,  geht  auch  noch  nicht  hervor,  dafl  eine  schwarze 
Messe  gelesen  wurde.  Blofi  das  Dunkel,  das  heutzu- 
tage über  eine  gottgefällige  Handlung  gebreitet 
werden  mufl,  hat  diesen  Glauben  genährt.  Man  ahnt 
aber  gar  nicht,  wie  sündenrein  das  Leben  verliefe, 
wenn  die  Moral  daran  nicht  Anstofi  nähme.  Seitdem 
ich  einmal  erfahren  habe,    daß   eine   Unschuld   vom 


—  21  ~ 


Lande  durch  die  Bemühungen  einiger  Idealisten  aus  , 
einer  Lasterhöhle  der  Orofistadt  befreit  und  der 
Familie  zurückgegeben  wurde,  und  seitdem  ich  weiß, 
was  dann  weiter  geschah,  wie  das  Mutterauge  sie 
doch  erkannt  und  der  Vater  zur  Blutschande  ge- 
zwungen hat,  und  wie  sie  sich  am  andern  Tage  aus 
den  Familienbanden  in  die  Lasterhöhle  rettete,  die 
nichtsnutzige  Person,  seitdem  weiß  ich,  wie  berechtigt 
der  Abscheu  vor  dem  Laster  ist.  Ach,  die  Perversität 
des  Lebensgenusses  zeigt  uns  in  Haus  und  Gesellschaft 
ihre  abschreckendsten  Formen  und  schafft  das  Be- 
dürfnis, von  Zeit  zu  Zeit  in  ein  Bordell  zu  gehen 
und  sich  wieder  daran  zu  erinnern,  daß  Reinheit  des 
Empfindens  ein  unverlierbares  Gut  ist.  Und  wo 
kommt  denn  noch  heute,  in  dieser  Welt  des  Un- 
friedens, die  bürgerliche  Gesittung  zu  Ehren,  wenn 
nicht  bei  den  paar  Kupplerinnen?  Um  ihretwillen 
müßte  Sodom  vor  der  Zerstörung  bewahrt  bleiben. 
Sie  haben  sich  in  die  Bresche  gestellt  und  standhaft 
der  Unmoral  gewehrt,  die  aus  der  Familie,  aus 
den  Klöstern  und  aus  adeligen  Instituten  in  die 
Bordelle  einzudringen  drohte.  Aber  sie  trotzen  auch 
der  Verleumdung;  denn  eine  Legende  behauptet,  daß 
ihre  Häuser  sich  die  vornehme  Abgeschlossenheit 
zunutze  machen,  um  erotischen  Vergnügungen  als 
Schauplatz  zu  dienen.  Soll  man  sie  ernstlich  gegen 
einen  Vorwurf  verteidigen,  der  der  verdorbenen 
Phantasie  der  bürgerlichen  Gesellschaft  entstammt? 
Die  Kupplerinnen  dienen  einer  schlichten  Naturnot- 
wendigkeit, die  den  sittlichen  Vorzug  hat,  daß  sie 
die  Beteiligten  nicht  für  das  ganze  Leben  aneinander- 
kettet  und  wenigstens  nach  ihrer  Erledigung  jeden 
nach  seiner  Fasson  selig  werden  läßt.  Sie  gewähren  der 
Brotik,  die  eine  abgefeimte  Betrügerin  der  Natur  ist, 
keinen  Unterschleif,  sie  servieren  die  Hausmannskost 
ohne  Gewürze,  sie  weisen  mit  Entrüstung  jede  Extra- 
vaganz zurück,  die  vom  horizontalen  Pfad  der  Tugend 
abweicht.  Wir  leben  ein  jammervolles  Dasein  der 
Illusionen,  und  nur  bei  den  Kupplerinnen  ist  Wahrheit. 


22  — 


Selbst  ihre  Lügen  wurzeln  in  der  Realität  und  sind 
*  noch  immer  verläßlicher  als  unsere  Einbildungen.  Sie 
teilen  die  Erscheinungen  des  Lebens  in  schwarz  und 
blond  oder  in  groß  und  klein  oder  in  stark  und 
schlank,  sie  haben  eine  Ästhetik,  die  in  jedem  Seminar 
tradiert  werden  könnte.  Ihr  Haus  ist  in  allen  Beziehungen 
das  Abbild  einer  verlorenen  sozialen  Ordnung.  Die 
Welt  ist  vom  Wahn  der  Gleichheit  beherrachti 
hier  gibts  noch  Klassengegensätze.  In  der  Welt 
kann  der  Unterschied  zwischen  einer  Adeligen 
und  einer  Bdrgersfrau  mit  Geld  überbrückt  wer- 
den, hier  bezeichnet  das  Geld  die  Rangstufe  und 
keine  adelige  Gesinnung  vermag  den  sozialen  Ab- 
stand zwischen  zwei  Kupplerinnen  wettzumachen. 
Aber  die  Kupplerinnen  sind  nicht  nur  ein  Kitt 
des  gesellschaftlichen  Lebens,  das  in  der  Zeiten  Unrast 
zerfält,  sie  sind  auch  eiäe  Staatsnotwendigkeit, 
an  deren  Erhaltung  die  höchstgestellten  Personen  ein 
Interesse  haben,  und  es  gibt  politische  Gemeinschaften, 
in  denen  man  eher  mit  dem  §  14  regieren  kann,  als 
ohne  die  Frau  Löwy.  Und  da  vo0i  sie  auch  not- 
wendiger braucht  als  einen  voreiligen  Staatsanwalt, 
der  es  auf  ihren  Hausfrieden  abgesehen  hat,  so  kann 
es  geschehen,  daß  sie  diesen  in  der  Karriere  über- 
flügelt. Eine  soziale  Schädlichkeit  der  Kupplerinnen 
wäre  überhaupt  nur  in  ihrer  Geneigtheit  zu  erblicken, 
das  Risiko  der  gesetzlichen  Strafe  zu  ein  bifichen 
Ausbeutung  zu  benützen ;  aber  man  wird  n^'cht  sagen 
können,  daß  sie  mehr  Wucher  treiben  als  unbedingt 
notwendig  ist,  um  sich  in  der  bürgerlichen  Ge- 
sellschaft zu  behaupten.  Solange  die  Kupplerinnen  den 
Staat  nicht  um  die  Steuer  betrügen,  liegt  kein  Grund 
vor,  ihre  Ehrenrechte  anzutasten  und  ihnen  etwa 
auch  jene  Titel  abzuerkennen,  die  zu  führen  sie 
berechtigt  sind;  denn  manchmal  nennen  sie  sich 
Doktorin,  Professorin,  Rätin  oder  dergleichen  und 
heben  sich  schon  dadurch  von  den  vulgären 
Gelegenheitsmacherinnen  ab,  die  infolge  schlech- 
t<3r     Geschäfte     fortwährend     eine    Verfolgung     zu 


-  23 


gewärtigen  haben.  Tatsächlich  gelangen  manche 
Kupplerinnen  zu  hohem  Ansehen  und  bringen  es  so- 
par  zuweilen  zu  einer  präsidierenden  Stellung  in 
einem  Verein  zur  Bekämpfung  des  Mädchenhandels. 
In  jedem  Zweig  der  sozialen  Hilfstätigkeit  sind  sie 
Terireten,  und  als  einmal  an  eine  die  Frage  gestellt 
wurde,  was  denn  ein  halbwüchsiges  Mädchen  bei  ihr 
zu  suchen  habe^  meinte  sie^  zuhause  werde  das  Kind 
nur  veidorben,  weil  die  Mutter  Liebhaber  empfange, 
und  auf  die  Frage,  ob  die  Abwesenheit  des 
Mädchens  zu  so  später  Stunde  nicht  dennoch  auf- 
fällig sei,  hatte  sie  die  selbstbewußte  Antwort: 
»Erlauben  Sie,  Herr  Doktor,  die  Mutter  weifi  doch, 
wo  das  Kind  istlc  Als  sie  später  verhaftet  wurde, 
war  das  Bedauern  ein  allgemeines.  Sie  hatte  viel  für 
die  Witwen  und  Waisen  getan,  und  kein  Polizei- 
beamter war  unbeschenkt  von  ihrer  Schwelle  ge- 
gangen. Man  fragte  sich  auch  mit  Recht,  seit  wann 
es  denn  Sitte  sei,  Wohltäterinnen  bei  Nacht  und 
Nebel  nach  dem  Qefängnis  zu  eskortieren.  Es  war  ein 
Ausnahmsfall.  Die  Behörden  sind  durch  Schaden  klug 
geworden  und  hüten  sich  in  der  Regel  vor  den  ehe- 
dem so  beliebten  Mißgriffen.  Es  mag  noch  hin  und 
wieder  vorkommen,  dafi  statt  einer  anständigen  Frau 
eine  Kupplerin  belästigt  wird,  aber  der  Schrei  der 
Entrüstung,  der  dann  jedesmal  durch  die  Öffentlich- 
keit geht,  mahnt  die  Behörden  zur  Vorsicht.  Es  ver- 
steht sich  von  selbst,  dafi  die  meisten  Kupplerinnen 
Schutzpatroninnen  der  Kirchen  ihrer  Heimat  sind 
und  das  Geld,  das  sie  von  gemeinnützigen  Zwecken 
beziehen,  gemeinnützigen  Zwecken  wieder  zukommen 
lassen.  Der  künstlerische  Geschmack  und  der  religiöse 
Sinn  des  deutschen  Hauses,  die  in  der  bürgerlichen 
Gesellschaft  vielfach  durch  Snobismus  und  Heuchelei 
entstellt  sind,  finden  sich  nur  mehr  bei  ihnen  vertreten. 
Schon  im  Vorzimmer  fällt  einem  das  Muttergottesbild 
auf,  das  man  nicht  in  allen  Bürgerswohnungen  trifft, 
und  während  es  kaum  ein  Familienheim  mehr  gibt,  das 
nicht   den  Ehrgeiz  hätte,  von  Van  der  Velde  einge- 


—  24  — 


richtet  zu  sein,  wird  hier  noch  der  altdeutsche  Stil 
in  Ehren  gehalten.  Eine  stehengebliebene  Pendeluhr 
zeigt,  dafi  dem  Qiücklichen  keine  Stunde  schlägt, 
ein  thöoernes  Schwein  dient  keiner  versteckten  Sym- 
bolik, sondern  der  Sparsamkeit,  und  über  dem  Bett 
hängt  eine  idyllische  Alpenlandschaft,  in  der  die  Kühe 
grasen  und  nie  Stiere  sich's  gut  gehen  lassen.  Auch 
muß  man  sagen,  dafi  die  Kupplerinnen  streng  dynastisch 
fohlen  und  zwar  zumeist  für  das  serbische  Königshaus. 
Sie  datieren  die  Weltgeschichte  von  der  Zeit,  da  die 
Obrenowitsch  noch  in  Blüte  standen,  und  bezeichnen 
den  Königsmord  als  die  Wende  in  der  Entwicklung 
des  Mädchenhandels.  Ergreifend  wirkt  die  aus  tiefer 
Geschichtsauffassung  geschöpfte  Klage,  wenn  Alezan- 
der statt  der  Draga,  die  an  allem  schuld  war,  die 
Finerl  geheiratet  hätte,  die  «er    »durch  uns  kennen 

gelernt  hatc,  alles  wäre  anders  gekommen:  »Da 
ätt'  es  kein  Gemetzel  gegeben  U  Solche  und  hun- 
dert ähnliche  Erkenntnisse  kann  man  aus  dem  Munde 
der  Kupplerinnen  hören,  wenn  man  auf  den  aus* 
sichtslosen  Wahn  verzichtet,  bei  ihnen  Abenteuer 
zu  finden.  Die  gesunde  Ahnungslosigkeit,  mit  der  sie 
dem  Laster  gegenüberstehen,  gleicht  die  übertrie- 
benen Vorsteflungen,  die  die  Welt  von  ihrer  Tätig- 
keit hat,  durch  einen  Humor  aus,  der  besser  ist  ids 
alle  Freuden  der  Sinne.  Die  Naivität,  die  sich  in  einer 
Lasterhöhle  verbirgt,  lebt  selbstzufrieden  dahin  und 
gerät  in  grenzenloses  Staunen,  wenn  es  der  Zufall 
wirklich  einmal  will,  dafi  sie  ausgehoben  wird.  Dann 
aber  hat  der  Humor  ein  Ende,  die  Kupplerinnen 
werden  aus  einem  Erwerb  gestoßen,  mit  dem  alle 
Beteiligten  einverstanden  waren,  und  versinken 
rettungslos'  in  dem  Sündenpfuhl  der  bürgerlichen 
Gesellschaft. 

Karl  Kraus. 


y  Google 


»Keines  der  jetzigen  Kulturvölker  hat  eine  so 
schlechte  Prosa  wie  das  deutsche.  Sieht  man  nach 
den  Gründen,  so  kommt  man  zuletzt  zu  dem  selt- 
samen Ergebnis^  daß  der  Deutsche  nur  die  improvi- 
sierte Prosa  kennt  und  von  einer  anderen  gar  keinen 
Begriff  hat.  Es  klingt  ihm  schier  unbegreiflich,  wenn 
ein  Italiener  sagt,  dal  Prosa  gerade  um  soviel  schwerer 
sei  als  Poesie,  um  wieviel  die  Darstellung  der  nackten 
Schönheit  für  den  Bildhauer  schwerer  sei  als  die  der 
bekleideten  Schönheit.  Um  Vers,  Bild,  Rhythmus 
und  Reim  hat  man  sich  redlich  zu  bemühen  —  das 
begreift  auch  der  Deutsche  — ,  aber  an  einer  Seite 
Prosa  wie  an  einer  Bildsäule  arbeiten? — es  ist 
ihm,  als  ob  man  ihm  etwas  aus  dem  Fabelland  vor- 
erzählte.«  Nietzsche. 


Der  Skeptiker.*) 

Nach  einem  Spruche  Qoethes  antwortet  jedem 
Alter  des  Menschen  eine  gewisse  Philosophie . . .  »Ein 
Skeptiker  zu  werden  hat  der  Mann  alle  Ursache . .  .€ 
Der  Name  des  Skeptikers  ^eift  einen,  allerdings  be- 
stimmenden Zug,  das  Zweifeln,  aus  der  Summe  von 
seelischen  und  physischen  Anzeichen  heraus,  die  das 
Wesen  dieser  Denk-  und  Lebensrichtung,  den  Inhalt 
und  die  Stimmung  ihres  Ausdrucks  ausmachen,  aber 
der  Name  erschöpft  nicht  die  Fülle  ihrer  Äußerung. 
Aus  der  männlichen  Natur  des  Skeptikers  ist  allein 
seine  Gestalt,  sein  Schicksal,  Pathos  und  Wirkung 
seiner  Persönlichkeit  etwa  zu  entwickeln  und  zu  ver- 
stehen. 

Man  betrachte  einen  geistigen,  vom  Leben 
schonungslos     durchgebildeten,    gehärteten,    ausge- 

^)  Die  guten  deutschen  Ausgaben  von  Vauvenargues  und  Laroche- 
fottcauld  (Eugen  Diederichs),  von  Champfort  (R.  Piper  &  Cie.),  die  Aus- 
wahl von  Lichtenbergs  Schriften  (E.  Diederichs)  und  insbesondere  der 
eben  erschienene  erste  Band  einer  vollständigen  Übertragung  der  Essais 
von  Montaigne  (Berlin,  Wiegandt  &  Grieben)  geben  den  Anlafi  zu  diesem 
Versuche  einer  Darstellung  des  Slceptikers.  r^^^^T^ 

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^    254    55 


26  ^ 


schärften,  aber  in  seinem  Wesen  gleichgewichtig  ver- 
harrenden Charakter.  Aus  einer  reichlich  aufnehmen- 
den, von  der  Realität  durchdrungenen  Kindheit  geht 
der  Jüngling  hervor  mit  einem  meist  überschWans- 
lichen  Krattgeföhl,  das  alle  Aufgaben  der  Gesamtheit 
als  persönlichsten  Zweck  an  sich  ziehen  will  in  einem 
ungemew^senen,  weitsichtigen  Selbstgefühl.  Er  bedarf 
der  Erlebnisse  als  seiner  eigentlichen  Nahrung,  denen 
er  sich  nicht  anpassen  kann,  sondern  die  er  will- 
kürlich deutet,  nicht  ohne  dafi  ihre  Grausamkeit  ihn 
immer  wieder  enttäuscht  und  abstößt.  Er  assimiliert 
sie  in  einem  ProzeQ  fortgesetzter  Enttäuschungen. 
Die  Maßlosigkeit  seiner  Absichten,  die  Idealität,  die 
er  allem  beilegt,  gehören  zu  seinem  Schicksal,  die 
Leidenschaft,  ja  der  Selbstbetrug,  die  Welt  nach 
seinem  Bilde  formen  zu  können,  sie  nur  durch  sich 
zu  rechtfertigen,  sind  ihm  gemäß.  Die  tragischen 
Gestalten  der  ikarischen  Jünglinge  treten  in  jeder 
Generation  von  neuem  hervor,  von  den  ergreifendsten 
Dichtungen  erfaßt:  ein  Werther  und  Niels  Lyhne. 
Das  Leben  erzeugte  die  Tragödie  Heinrichs  von  Kleist 
Diese  Jugend  ist  todgeweiht.  Den  Idealisten  überlebt 
der  Skeptiker. 

Der  Mann  hat  Qualen  und  Enttäuschungen  be- 
standen, deren  jede  eine  Wunde  geschlagen,  die 
langsam,  vernarbt  ist,  nicht  ohne  einen  leisen  Schmers, 
eine  Frage  statt  einer  Antwort,  Zweifel  statt  Ver- 
zweiflung zu  hinterlassen.  Er  hat  die  Schauer  des 
Sterbens  physisch  und  geistig  vorempfunden,  den 
Untergang  von  Überzeugungen,  das  Scheitern  von 
Gefühlen,  den  Wechsel  von  Neigungen,  die  Ver- 
änderungen des  Urteils,  die  Vieldeutigkeit  sittlicher 
Begri£fe  erfahren.  Körper  und  Geist  mußten  sich  an  die 
verschiedenen  Klimate  der  menschlichen  Zustände  ge- 
wöhnen und  im  fortwährenden  Wechsel  von  Gelingen, 
Ertragen,  Sichverbergen  und  -offenbaren  bestehen. 
Die  Beweglichkeit  der  Jugend  verliert  sich,  wie  die 
geflügelten  Pflanzensamen  endlich  irgendwo  ruhen. 
Es  gilt,    zu  wurzeln.    Durch  gesammelte  Spannkraft 


-.  27  - 


wird  der  fühlbare  Mangel  an  äußerer  Veränderung 
orsetst.  Standfestigkeit  ist  das  Kennzeichen  dieses 
Charakters,  der  das  Erleben,  die  Ereignisse  nicht 
mehr  aufsucht,  sondern  erwartet,  nicht  mit  ihnen 
davonjagt,  sondern  in  ihrer  Mitte  verharrt.  »En 
vivant,  en  voyant  les  hommes,  i)  faut,  que  le  coeur 
se  brise,  ou  se  bronzec  (Champfort),  Diese  Verhärtung 
bringt  eine  Art  von  Passivität  mit  sich.  Wer  möchte 
die  Bedeutung  der  Neigungen,  die  Macht  der  In- 
stinkte, die  Herrschaft  des  Willens,  alle  Veran- 
lassungen der  Aktivität  noch  herbeiwünschen,  der 
immer  wieder  an  ihre  Grenzen  gemahnt  wurde!  Die 
Aktivität  ist  jetzt  ganz  auf  die  Fähigkeit  des  inneren 
Erlebens,  des  Erkennens,  nicht  auf  das  Sa^en,  sondern 
auf  das  Erwidern  verwiesen,  der  Geist  ist  zu  einer 
feiasten  Wage  der  Erscheinungen  geworden  und  be- 
stimmt sie  mit  einer  annähernden  Objektivität.  Die 
Antwort  auf  jeden  äußern  Anreiz  erfolgt  lebhaft, 
doch  ohne  den  Mann  aufier  sich  selbst  zu  bringen. 
Das  Erlebnis  gilt  nur  mehr  als  ein  Anschein.  Der 
Mann  erntet  die  FrQchte  seiner  einstigen  Niederlagen. 
Eheraals  bestand  seine  Freiheit  in  Hmgabe,  jetzt  in 
der  Wahrung  seines  Selbst.  Das  Pathos  der  Jugend 
lag  darin,  dafi  sie  die  eigene  Kraft  und  die  der  Ge- 
samtheit verkehrt  einschätzte.  Das  Pathos  des  Mannes, 
des  Skeptikers  liegt  in  dem  Wissen  um  die  letzte 
Ohnmacht  aller  selbstischen  Energie,  die  gleichwohl 
als  die  einzige  Lebenswürdigkeit  empfunden  wird. 
Die  unbedingte  Bewegung,  das  vorwaltende  Handeln 
der  Jugend  setzt  eine  so  sichere,  wie  falsche  und  ein- 
fUtige  Wertung  von  Richtung  und  Ziel  voraus,  die 
verharrende,  beobachtende  Ruhe  der  Skepsis  ist  durch 
einen  langsam  erwachten,  zähen  Instinkt  für  das  je- 
weilige Gegenargument  bedingt.  An  Stelle  einer 
Wahrheit  treten  vielfältige  Gegenwahrheiten,  die  Ge- 
sinnung in  Dialektik  verfeinern.  Die  Leidenschaft, 
das  Temperament  sind  von  der  Gefolgschaft  einer 
«nzelnen  Idee  oder  Handlung  losgezählt  und  gehören 
in  einer  Freiheit,  die  berauscht  der  eigenen  Bestimmung 


-   28  - 


inne  wird,  völlig  der  Argumentation.  Früher  mochte 
man  in  der  Welt  mitspielen  und  unterlag  dem  ganzen 
Schicksal  des  dargestellten  Charakters.  Jetzt  erblickt 
man  das  Geschehen  als  Zuschauer  und  lenkt  es  an 
den  Drähten  der  zugleich  imaginierenden  und  über- 
raschten Dialektik.  Dies  gibt  einen  Vorsprung  des 
Skeptikers  vor  jeder  Tat  durch  die  Vorwegnahme 
aller  ihrer  Unzulänglichkeiten^  vor  jedem  Abschluß 
durch  die  Vorwegnahme  des  Qegeneinfalls,  vor  der 
Leidenschaft  durch  die  Antizipation  ihrer  Enttäuschung. 
Der  Skeptiker  führt  mit  lauter  Enttäuschungen  seinen 
Haushalt.  Nur  glaube  man  ihn  nicht  vor  Ver- 
bitterung, Empörung,  Zorn,  Abscheu  bewahrt.  Aber  er 
macht  aus  diesen  Notwendigkeiten  seine  Freiheiten. 
Von  der  Bedingtheit  alles  Qeschehens  tausendfach 
gefesselt,  lernt  er  eben  sie  gebrauchen,  in  der  Ohn- 
macht des  Lebens  die  Kraft  seiner  Anschauung  ge- 
nießen. Die  Macht,  die  dem  Tätigen  in  diesem  kurzen 
Leben  das  einzige  sichtbare  Mafi  seiner  Persönlichkeit 
bietet,  wird  verinnerlicht,  durchgeistigt  durch  eine 
zugleich  entsagende  und  wieder  großartig  aus- 
schreitende Bewußtheit,  die  ihr  Erkennen  mit  keinem 
Tun  vertauschen  möchte.  Das  heroische  Pathos  des 
Skeptikers  liegt  darin,  daß  er  seinem  Erkennen  die 
Würde,  Lust  und  Bedeutung  der  Handlung,  und  zwar 
ganz  aus  eigener  Machtvollkommenheit  verleiht.  Eine 
Illusion,  die  vor  der  Enttäuschung  geschützt  ist,  weil 
sie  sich  ihrer  bedient  und  an  ihr  immer  wieder  er- 
neut wird.  Dabei  geht  schließlich  selbst  der  Wille  zu 
positiver  Lebensgestaltung  lächelnd  unter.  Eine  Er- 
kenntnis, die  ihren  köstlichsten  Anteil  der  Beute 
gerade  aus  der  Torheit,  den  Irrtümern,  der  immer 
wiederkehrenden  Schuld  erhält,  möchte  die  schwersten 
Mängel  nicht  missen,  deren  sie  bedarf,  um  sich  in 
Leiden  und  Lust  zu  erneuen.  Sie  würde  die  Torheit 
erschaffen,  wenn  sie  nicht  bestünde,  das  Schlechte 
erzeugen,  um  sich  darüber  zu  erzürnen,  das  Unzu- 
längliche aufziehen,  um  den  Traum  der  Vollkommen- 
heit zu   erleben.    Sein   Leiden  unter  all  der  Wider- 


-  29  — 


wirtigkeit,  Schwache  und  Narrheit  gibt  dem  Skeptiker 
das  gute  Recht,  sie  zu  bejahen^  da  er  aus  seinen  Bm- 
pöruQgen  sein  einziges  Glück  schöpft.  Man  hört  oft 
die  theoretisch  gerichteten  Ärzte  anschuldigen ,  daß 
sie  über  dem  Erkennen  des  Übels  dessen  Heilung 
veigessen.  Das  ist  ihre  Skepsis.  Die  Krankheit  ist 
ewigj  die  Arznei  macht  einen  einzelnen  Fall  gut. 
Der  Skeptiker  hat  an  dem  erledigten  Einzelfall  weiter 
kein  Interesse,  So  werden  Tat,  Wirkung,  Ruhm  und 
Macht  gegen  den  Genufi  des  Erkennens,  gegen  den 
Reis  der  sich  steigernden  und  am  Widerspruch  be- 
lebenden Dialektik,  ^egen  die  weiten  Ausblicke  der 
Er&hrung,  Freude  wird  gegen  Trost,  Olück  gegen 
Genügen,  Sieg  gegen  Ruhe  drangegeben.  Eine  leiden- 
schaftliche, unbegrenzte  Betrachtung  kennt  keinen 
Wunsch  mehr,  als  sich  selbst.  Diese  bei  gesammelter 
Kraft  scheinbar  umso  widerspruchsvollere  Ruhe,  dieser 
eifrige  Müßiggang  (nach  Nietzsche  »aller  Psychologie 
Anfange),  dies  ständige  Sichfreireden  und  Sichlos- 
denken, diese  Steigerung  des  geistigen  Gtehörs,  des 
psychologischen  Gesichts,  dieses  gelassene  Schauen 
in  alle  Abgründe  der  Existenz  bringt  eine  eigentümliche 
Heiterkeit  hervor.  »Beim  Anblick  alles  dessen,  was 
auf  der  Welt  vorkommt,  müßte  schließlich  auch  der 
größte  Menschenfeind  heiter  werden  und  Heraklit 
vor  Lachen  sterbenc  (Ohampfort).  Der  Humor,  die 
gute  Laune  des  Scharfsinns,  das  durch  die  treffende 
Dialektik  befriedigte  und  befreite  Gemüt  ist  die 
Entschädigung  des  Skeptikers,  wie  denn  der 
Humor  im  Grunde  häufiger  ein  Elrgebnis,  als  eine 
Gabe  ist. 

So  verharrt  der « Skeptiker  kräftig  auf  dem 
tragenden  Erdboden,  durchaus  geistig,  aber  nicht 
eigentlich  spekulativ  —  müßige  Spekulation  haßt  er 
als  Tatsachengeist  wie  einen  Urfeind  —  und  hält 
sich  von  seinen  nächsten  Gefahren:  dem  Zynismus 
und  der  Mystik  in  gutem  Abstand.  Er  wird  unver- 
sehens ein  Beispiel  für  getroste  Lebensführung,  was 
allerdings  ein  Lächeln  abnötigt,   denn  das  Genie  des 


-  30  - 


Erkennens   ist  nicht  lernbar  und  der  unvertretbare 
Wert  der  Erfahrung  liegt  nur  eben  im  Erleiden. 

Bei  der  kleinen  Auslese  der  Geister,  die  aus 
dem  unendlichen  Erleiden  diese  geniale  Erfahrung 
ziehen  und  das  Erleiden  der  Wirklichkeit  £U  ihrem 
Glück  machen,  ist  das  Werk  der  Skeptiker  leicht  zu 
überblicken.  Intensität,  nicht  Ausdehnung,  Verdichtung 
zu  einer  komplexen  Essenz  kommt  ihm  in  allen  seinen 
Äußerungen  zu.  Auf  das  reale  Leben,  Umgang  mit 
Menschen,  Beobachtung  der  Leidenschaften,  Ergrün- 
düng  von  Sitten  und  Gemütszuständen  angewiesen, 
ist  diese  Art  der  Betrachtung  eine  glückliche  und 
einzige  Mischung  von  künstlerischer  Synthese  und 
kritischer  Analyse.  Das  »Als  Ganzes  Sehenc,  das  den 
Künstler  ausmacht,  liegt  auch  dem  Schaffen  des 
Skeptikers  zugrunde,  die  Analyse  gibt  nur  die 
Methode  der  Verarbeitung.  Der  darstellerische  Impuls 
des  Erkennenden,  seine  Fähigkeit,  Analogien  zu 
wittern,  unerwartete  Verwandtschaften  aufzuspüren,  ge- 
heime Motive  zu  entlocken,  ein  vieldeutiges  Erlebnis 
zu  vereinfachen,  ein  scheinbar  einfältiges  geistig  zu 
durchleuchten  und  von  allen  Seiten  strahlend  zu 
zeigen,  macht  jede  Beobachtung  des  Skeptikers  zu- 
gleich giltig  und  überraschend.  In  der  ungelösten 
Verbindung  mit  dem  täglichen  Leben,  in  dem  un- 
willkürlichen Aufsuchen  der  Probleme  in  allen  realen 
Zuständen  wird  der  unleugbare  künstlerische  Ursprung 
der  seelischen  Disposition  deutlich,  die  den  Skeptiker 
bestimmt.  Aber  die  Auswertung  dieses  Materials  ge- 
schieht beschreibend,  nicht  gestaltend,  indem  das 
Unmittelbare  des  Eindrucks  gleichsam  abgedampft 
wird  bis  auf  seine  Elemente.  Diesem  eigentümlichen 
Schwebezustand  zwischen  ästhetischer  Anschauung 
und  ethischer  Formulierung,  zwischen  künstlerischer 
Intuition  und  gedanklicher  Auslösung  verdankt  die 
skeptische  Äufierung  ihren  unnachahmlichen  Charakter 
einer  treffenden  Antwort,  die  nach  einem  Goethe'schen 
Wort  einem  lieblichen  Kusse  gleicht.  So  spotten 
selbst  jene  Schöpfungen  des  skeptischen  Geistes,  die 


-  31  — 


einen  rein  künstlerischen  Ausdruck  gewählt,  mit  der 
reisvoUsten  Willkür  jeder  geschlossenen  Darstellung, 
wie  etwa  Sternes  >En)pfind8ame  Reisec  Auch  die 
Werke  der  »Humoristenc  unterliegen  zumeist  der 
formauflösenden  skeptischen  Laune,  wobei  der  Humor 
etwa  als  überwiegende  Qeftihlseuergie  zur  Gestaltung 
und  rein  künstlerischen  Zusammenfassung  der  An- 
schauung drängt,  bei  einem  endlichen  Sieg  des  Er- 
kennens  und  Durchschauens  aber  sich  zum  Witz, 
zur  launigen  und  abstrakten  Wendung  des  Wortes 
als  höchsten  Restes  verflüchtigt  (bei  Jean  Paul).  So 
erscheinen  die  Obergänge  vom  Skeptiker  zum  Humo- 
risten, wie  die  vom  betrachtenden  zum  gestaltenden 
Künstler,  vom  männlich  irdischen  zum  mystischen 
6^te  überaus  zart  abgestuft. 

Die  Form  der  treffenden  Antwort,  nicht  in  der 
allzu  knappen  Fassung  des  Spruches,  sondern  in  der 
glücklichen  momentanen  Eingebung,  in  welcher  alle 
zuströmenden  Erwägungen  die  Vielseitigkeit  des  er- 
hellten Problems  verraten,  ein  dialogischer,  nahezu 
dramatischer  Charakter  einer  in  ihrer  Wesenheit  ver- 
lautenden geistigen  Situation  macht  die  Aphorismen 
zu  den  hauptsächlichen  Mittlern  der  skeptischen  Dar- 
stellung und  gibt  ihnen  die  zugleich  klare  und  un- 
heimlich weittragende  Lebensstimmung,  die  über 
Jedem  Wort  einen  ungeahnten  Horizont  eröffnet. 

Lichtenberg  und  Montaigne  sind  in  einigem 
Belang  Ausnahmen.  Der  erste  durch  das  Mitspielen 
einer  witzigen  Phantasie,  die  den  Einfällen  ein  . 
barockes  Kostüm  überwirft  und  in  Variationen  über 
ein  Thema  sich  ergeht,  Gleichnisse  leibhaftig  jedem 
Einfall  als  Spiegelungen  gegenüberstellt  und  oft  nicht 
blofi  mit  dem  treffenden  Wort,  sondern  erst  mit  dem 
sinnfälligen  Bilde  sich  beruhigt.  Montaigne  hinwiederum 
ist  einzig  durch  die  idyllische,  ja  epische  Natur  seines 
im  Zuständlichen  behaglich  verweilenden,  die  Fülle 
ordnenden  und  schätzenden  Geistes,  der  die  Lust  des 
Erkennens  nicht  in  der  augenblicklichen  Entladung 
durch  den  Blitz  des  Einfalls  büßt,  sondern^sie  systS- 

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-  32  — 


matischy  durch  eine  scheinbar  spielende  Untersuchung 
erstreckt  und  vertieft,  mit  allen  Organen  auskostet. 
Keiner  bedarf  wie  er,  so  zahlreicher  Hilfen  des  Gte- 
dächtnisseSy  der  Bildung,  eine  überreiche  Anekdotik 
steht  ihm  zu  Dienst,  das  alte  Erbe  der  romanischen 
Erzählerfreude  und  die  Gewohnheit  der  lateinischen 
Kultursprache,  seiner  Wahlmuttersprache,  bleibt  ihm 
unverkümmert. 

Der  Skeptiker  macht  durch  die  eigentümliche 
Weise  seines  Denkens  die  Erscheinungen  leicht  und 
durchgängig,  er  nimmt  dem  Schicksal  seine  Schwere 
und  gibt  ihm  die  Anmut  des  Spiels,  des  gewiohtlosen 
Schwebens.  Der  Glanz  seiner  Heiterkeit  hat  einen 
wunderbar  vertieften  Gehalt :  sie  ist  Wille,  Schicksal, 
Selbsteroberun^.  Man  blickt  durch  alles  Menschliche 
wie  durch  Kristall.  Es  ist  durchsichtig  geworden. 
Die  künstlerische  Gestaltung  gibt  eine  mittelbare 
Erkenntnis,  indem  sie  die  Realität  in  ihren  Wider- 
sprüchen hinstellt  und  die  Wirklichkeit  noch  einmal 
gebiert,  um  sie  zu  erlösen.  Die  Aussage  des  Skeptikers 
gibt  eine  unmittelbare  Erkenntnis,  indem  sie  die 
Wirklichkeit  sowohl  voraussetzt,  als  überwindet,  die 
Erscheinungen  in  ihrer  Gesamtheit  durchdringt  und 
sich  zugleich  von  ihnen  befreit.  Sie  vereinigt  alle 
Menschlichkeiten  in  einem  Brennspiegel,  der  den 
Schein  in  Feuer,  die  Farbe  in  Licht,  das  Erlebnis 
in  Schicksal  verdichtet.  Die  skeptische  Art  der 
Umwandlung  alles  Daseins  in  Erfahrung  ist  so  eigen- 
tümlich, dafi  zuweilen  ein  einziges  Wort  den  Skep- 
tiker besser  kundgibt,  als  jeder  Versuch  einer  Zu- 
sammenfassung dieses  unvererblichen  und  uniehrbaren 
Besitzes,  der  im  Grunde  wieder  geheimnisvoll  und 
undurchdringlich  bleibt,  wie  alles  Naturgewachsene. 
»,Sich     keine     Illusionen     mehr    machen^:    da    be- 

f  innen  sie  erst.f  (Karl  Kraus).  Das  sagt  der  Skeptiker. 
>as  ist  er. 

Otto  Stoessl. 

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-   33     - 

Tagebnch. 

Auch  ein  anständiger  Mensch  kann,  voraus- 
gesetzt, dafi  es  nie  herauskommt,  sich  heutzutage 
einen  geachteten  Namen  schaffen. 

In  Lourdes  kann  man  geheilt  werden.  Welcher 
Zauber  sollte  aber  von  einem  Nervenspezialisten  aus- 
gehen? 

Ich  habe  um  mancher  guten  Entschuldigung 
willen  gesündigt  und  darum  wird  mir  vergeben  werden. 

« 

Selbstbespie^eluhg  ist  erlaubt,  wenn  das  Selbst 
schön  ist.  Aber  sie  erwächst  zur  Pflicht,  wenn  der 
Spiegel  gut  ist. 

Der  persönliche  Umgang  mit  Dichtern  ist  nicht 
inuner  erwünscht.  Vor  allem  mag  ich  die  Som- 
nambulen nicht,  die  immer  auf  die  richtige  Seite  fallen. 

Ihm  gebührt  das  Verdienst,  in  die  Anarchie  des 
Traums  eine  Verfassung  eingeführt  zu  haben.  Aber 
es  geht  darin  zu,  wie  in  Osterreich. 

»Zu  neuen  Taten,  tapferer  Heide,  wie  liebt'  ich 
dich,  ließ*  ich  dich  nicht  It  So  spricht  das  Weib  Wag- 
ners. Dem  Helden  müfite  bei  solcher  Bereitschaft  die 
Lust  an  den  Taten  und  die  Lust  am  Weibe  vergehen. 
Denn  die  Lust  an  den  Taten  entstammt  der  Lust  am 
Weibe.  Nicht  zu  den  Taten  lasse  sie  ihn,  sondern 
zur  Liebe:  dann  kommt  er  zu  den  Taten.  Solcher  Psy- 
chologie aber  entspräche  auch  das  Wort  Wagners, 
wenn  nur  die  Interpunktion  verändert  wäre.  Die 
Alliteration  mag  bleiben.  Man  lese  also:  >Zu  neuen 
Taten,  tapferer  Heide  I  Wie  liebt'  ich  dich,  ließ'  ich 
dich  nicht  . .  .< 

Omne  animal  triste.  Das  ist  die  christliche  Mo- 
raL  Aber  auch  sie  nur  post,  nicht  propter  hoc. 

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^.  34  • 


Die  wahre  Beziehung  der  Geschlechter  ist  es, 
wenn  der  Mann  bekennt:  Ich  habe  keinen  andern 
Gedanken  als  dich  und  darum  immer  neue! 

Zur  Vollkommenheit    fehlt  ihr  nur  ein  Mangel. 

Die  Sündenmoral  ist  darauf  aus,  die  Ursachen, 
auf  die  das  Kinderkriegen  zurückzuführen  ist,  zu  be- 
seitigen. Sie  sagt,  die  Abtreibung  der  Lust  sei  un- 
gefährlich, wenn  sie  unter  allen  Kautelen  der  theo- 
logischen Wissenschaft  durchgeführt  wird. 

(  Was  leicht  ins  Ohr  geht,  geht  leicht  hinaus. 
Was  schwer  ins  Ohr  geht,  geht  schwer  hinaus.  Das 
gilt  vom  Schreiben  noch  mehr  als  vom  Musikmachen. 

Wer  nichts  der  Sprache  vergibt,  vergibt  auch 
nichts  der  Sache. 

Die  alten  Bücher  sind  selten,  die  zwischen  Un- 
verständlichem und  Selbstverständlichem  einen  leben- 
digen Inhalt  bewahrt  haben. 

Auch  die  sprachliche  Trivialität  kann  ein  Ele- 
ment des  künstlerischen  Ausdrucks  sein,  nämlich  des 
Witzes.  Der  Schriftsteller,  der  sich  ihrer  bedient,  ist 
echter  Feierlichkeit  fähig.  Das  Pathos  an  und  für  sich 
ist  ebenso  wertlos  wie  die  Trivialität  als  solche. 

* 

Werdegang  des  Schreibenden:  Im  Anfang  ist 
mans  ungewohnt  und  es  geht  deshalb  wie  geschmiert. 
Aber  dann  wirds  schwerer  und  immer  schwerer,  und 
wenn  man  erst  in  die  Übung  kommt,  dann  wird  man 
mit  manch  einem  Satz  nicht  fertig. 

Die  bange  Frage  steigt  auf,  ob  der  Journalis- 
mus, dem  man  getrost  die  besten  Werke  zur    Beute 

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-  35  - 

hinwirft,  nicht  auch  kommenden  Zeiten  schon  den  Ge« 
schmack  an   der  sprachlichen  Kunst  verdorben  hat. 

T^l^  Exklusive  Kunst  ist  ein  Unding.  Es  heifit 
die  Kunst  dem  Pöbel  ausliefern.  Denn  wenn  der  ganse 
Pöbel  Zutritt  hat,  ist  es  immer  noch  besser,  als  wenn 
nur  ein  Teil  Zutritt  hat.  Ein  jeder  will  dann  exklusiv 
sein,  und  die  Kunst  beginnt  von  der  Nebenwirkung 
des  Bsklusiven  zu  leben.  Es  besteht  der  Verdacht, 
daft  die  ganze  moderne  Kunst  von  Nebenwirkungen 
lebt.  Die  Musik  von  Nebengeräuschen,  die  Schau- 
spielerei von  Mängeln. 

« 

Da  das  Halten  wilder  Tiere  gesetzlich  verboten 
ist,  und  die  Haustiere  mir  kein  Vergnügen  machen, 
80  bleibe  ich  lieber  unverheiratet. 

Die  Gesellschaft  braucht  Frauen,  die  einen 
schlechten  Charakter  haben.  Solche,  die  gar  keinen 
haben,  sind  ein  bedenkliches  Element. 

Das  höchste  Vertrauensamt:  Ein  Beichtvater 
unterlassener  Sünden. 

Ein  Leierkasten  im  Hof  stört  den  Musiker  und 
freut  den  Dichter. 

Viele  haben  den  Wunsch,  mich  zu  erschlagen. 
Viele  den  Wunsch,  mit  mir  ein  Plauderstündchen  zu 
▼erbringen.  Gegen  jene  schützt  mich  das  Gesetz. 

Man  könnte  größenwahnsinnig  werden :  so  wenig 
wird  man  anerkannt  1 

Karl  Kraus. 


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36 


BnlenbiirgB  Briefe. 

Fünf  Jahre  der  Freundschaft,  unter  diesem  Titel  hat  Philipp 
Graf  zu  Eulenburg  seinen  Briefwechsel  mit  Fritz  von  Farenhdd 
herausgegeben.  Das  Buch  wurde  in  wenigen  £xempii#en  gedruckt, 
war  nur  für  Menschen  bestimmt,  die  durch  persönliche  Beziehung 
zu  den  Autoren  für  den  Inhalt  empfänglich  gemacht  waren.  Es 
brachte  Gefühlsregungen  und  Stimmungsbilder,  wie  sie  der  Freund 
dem  Freunde  unmittelbar  nach  ihrer  Entstdiung  bietet,  ehe  er  sie 
mit  logischen  Festungswällen  gegen  feindliche  Kritik  gestehet  hat. 

Jetzt  sind  diese  Briefe  bruchstückweise  in  die  Öffent- 
lichkeit getragen  worden,  um  einer  gierigen  Sensationslust  zu 
dienen  oder  um  in  tendenziöser  Weise  beleuchtet  und  zu  häß- 
lichen Angriffen  ausgebeutet  zu  werden.  Da  hat  nunmehr  die 
Öffentlichkeit  auch  einen  Ansprudi  auf  objektive  Darstellung  und 
Beurteilung  des  Werkes,  und  dieses  selbst  hat  ein  Recht  darauf. 
Und  zweifellos  von  Wert  ist  das  Selbstporträt  des  vielbesprochenen 
Mannes,  das  er  einst  unbewußt  Zug  um  Zug  in  seinen  Briefen 
gezeichnet  hat. 

»Der  Grund  meines  Wunsches,  Ihre  Bekanntschaft  zu  machen, 
hochverehrter  Herr  Baron,  ist  eine  Sammlung  von  Briefen,  die  aus 
Ihrer  Feder  stammend  als  Manuskript  gedruckt  sind,  und  die  idi 
—  möglicher  Weise  ohne  dazu  berechtigt  zu  sein  —  gelesen 
habe.«  Diese  Worte,  die  in  dem  ersten  Briefe  Eulenburgs  an  den 
ihm  unbekannten  Farenheid  enthalten  sind,  beziehen  sich  auf 
Farenheids  >Briefe  an  einen  verstorbenen  Freund«.  Der  Adel  der 
Kunst,  der  Geist  einer  reinen  Freundschaft,  fährt  Eulenburg  fort, 
die  aus  den  Blättern  des  Manuskriptes  zu  ihm  gesprochen  haben, 
erregten  diesen  Wunsch,  dem  Verfasser  persönlich  nahe  zu  treten. 
Fritz  von  Farenheid,  damals  fast  ein  Siebziger,  ist  um  dreißig 
Jahre  älter  als  Eulenburg.  Er  hat  sein  Leben  der  Pflege  der  Kunst 
geweiht.  Dieses  Lebens  Hauptwerk  ist  die  wertvolle  Sammlung  künst- 
lerischer Wiedergaben,  die  er  auf  seinem  Gute  Beynuhnen  erstehen 
ließ.  Sie  hat  ihm  reichlich  Anerkennung  getragen;  die  Akademie 
der  Künste  in  Berlin  ernannte  ihn  zum  Ehrenmitglied,  die  Uni- 
versität zu  Königsberg  verlieh  ihm  die  Doktorswürde.  Die  geistige 
Atmosphäre  dieses  Mannes,  die  auch  durch  seine  Briefe  weht,  ist 
der  Gegenwart  fern.  Die  Schönheit  uncf  das  Ideal  sind  für  ihn 
nicht  bloß  Begriffe,  sondern  fast  plastische  Wesen,  sie  sind  seine 
Hausgötter,  mit  denen  er  im  vertrauten  Umgang  lebt.  In  Eulenburg 

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—  87  — 

Oftennt  er  den  vcnmidten  Odat,  nrit  dem  er  die  Flhigkdt  des- 
itvkn  Empfindens  teilt,  an  dem  er  die  Qenialitft  des  MitgefOhls- 
bewandert  Knnst  und  Philosophie  sind  ffir  Farenheid  ZnOnchts- 
sfittcn  eines  flberreidien  Qeffübks,  das  er  aus  dem  Beitich  de^ 
Menschlichen  gjefiflchtet,  —  gerettet  hat  Er  schreibt:  »Diefcnige* 
Veltanachanung,  welche  das  ganze  Leben  unter  die  BegriÄ  der 
Schönheit  und  der  Lidie  stellt,  wekhe  hi  dem  sehnenden  Anf* 
sireben  nach  der  Schönheit,  der  Idee,  die  Verkttrung  des  Lebens 
findet,  wird  wohl  zu  allen  Zeiten  nur  eine  kleine  Genossenschaft 
bilden«. 

PhiUpp  Enlenbmg  steht  zu  sehr  im  Ld)en  der  Zeit,  um. 
(kn  abeeklSrten  Frieden  des  Fmndes  teilen  zu  können,  kbtr 
adne  Briefe  zeidtnet  etwas  besonderes  aus,  das  sie  auf  dn  Kultur- 
Oman  von  sdtencr  H6he  erhebt:  Das  ist  das  Sudten  nadi  dem . 
Menschen,  die  Sehnsudit  nach  Verstandenadn  und  Liebe.  »Was 
bd  Weitem  am  meisten  mich  bewegt  und  erfüllt,  es  ist  jenes  rdn 
mensdiHche  Empfinden,  das  mir  so  lebenswarm  entgegenqnol^— 
jenes  feine  innige  Verständnis  fflr  alles,  was  mich  bewegt!  Das  ist 
der  Schatz,  den  Sie  mir  bieten,  nidit  das  Oriedientum,  iricht  jene 
Philosophie  der  Glücklichen,  die  einen  in  alle  Ritael  des  Lebens 
mid  des  Todes  verstrickten  Sterblichen  trotz  Aufwand  größter  An- 
stxtngnng  nicht  zu  befreien  vermag.  In  dem  Gefühle  des  Ver- 
standensdns  liegt  dn  nnbeschrdblicher  Zauber,  ehi  Segen,  der  von 
indem  Wdten  kommt,  dn  Segen,  der  höhö*  ist,  als  jede  Be- 
mhqBlung,  die  das  Menschenherz  aus  dem  Sdiatz  sdner  philo- 
SG{Aischen  Weltanschauung  schöpft.  Die  Einsamkdt  des  Herzens 
ist  das  traurigste,  was  wir  armen  Erdgdx>renen  zu  tragen  erhalten. 
Wir  bedürfen  des  ,VefBtandensdns',  Das  ganze  hilflose  Elend  der 
Mcnsdien  liegt  in  dieser  Notwendigkdt  der  Anlehnung,  aber  es. 
hegt  darin  auch  der  ganze  Reichtum  des  Lebens«.  Hier  spricht  dn 
Mensch,  der  die  Gabe  des  Mitfühlens  in  erhöhtem  MaBe  besitzt, 
der  stets  ddi  sdbst  im  andern  wiederfindd,  dem  fremder  Schmeiz 
und  fremde  Freude  Erld>nis  sind.  Er  fthildert  den  Ehidruck,  den 
die  Laokoongruppe  des  Vatikans  auf  ihn  madite:  »—  so  könnte  icb 
den  Laokoon  nicht  ertragen!  Er  hat  mich  dnmal  schon  knmk 
gemacht!  In  früheren  Jahren  hatte  er  mich  nidit  berührt;  andere 
Gestalten  waren  mir  herzbewegender  eischienen.  Damab  atxr 
wurde  idi  durdi  dieses  merkwürdige  Kunstwerk  so  plötelich  und 
so  gewaltte  eisdiüttert,  daß  ich  nicht  fihig  war,  dn  Wort  zta 

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—  88  - 


sagen. . . .  Die  Hoffnangslosigkat,  das  gefesselte,  ohniniditise 
Ringen  im  qualvollen  Leben  -*  wiedergegeben  in  dnem  Bilde,  so 
vollendet,  daß  kein  Mangel  den  Beschauenden  in  dem  Fluge  aeiaes 
pedanicens  hemmt  —  es  erschien  mir,  wie  die  löystallisatioa  der 
Erstarrung  eines  Schmerzes,  der  mich  selbst  bewegte:  das  sanfte 
Bild  der  Kindheit,  des  Todes  konnte  mich  nicht  beruhigen  —  es 
waren  die  Fesseln,  die  er  trug,  welche  mich  in  jene  Trostlosigkeit 
senkten,  die  ich  kaum  zu  Qberwinden  vermochte.  Nein!  idi  könnte 
auch  beule  nidit  den  Laokoon  ertragen  U 

Wäre  das  Buch,  wie  es  heute  zu  wünschen  ist,  dem  Publikum 
zugSnglidi,  viele  würden  eine  aige  Enttäuschung  daran  erleben. 
Diese  beiden  Männer  sind  immer  mit  Menschen  beschäf- 
tigt und  nie  mit  sexuellen  Problemen.  Das  ist  unmodern. 
Ja,  sie  veii^essen  sogar,  das  Kunstwerk  nach  seinem  Oeschlecht  zu 
fragen  und  ihre  Gefühle  beim  Anblick  von  Statuen  sexuell  zu 
differenzieren. 

^  Diese  Briefe,  deren  Gegenstände  Kunst,  Schönheit,  Freund^ 
Schaft  sind,  gehören  einer  anderen  KulturH)häre  an,  als  jene 
der  Interessenten  ist,  von  denen  sie  heute  als  »Material  c  durch- 
stöbert werden.  Dieses  Interesse  steht  kläglich  tief  unter  seinem 
O^enstand.  Es  sei  noch  bemerkt,  daß  es  bisher  ein  Über- 
einkommen der  menschlichen  Gesellschaft  war,  ein  Denken  und 
Empfinden,  wie  es  hier  geboten  wird,  schön,  vornehm  und  edd 
zu  finden.  Man  pflegte  auch  diese  Liebe  zum  Menschen  und  zur 
Kunst  zum  Bes^  zu  zählen,  das  die  Kultur  hochstehenden 
Menschen  erreichbar  macht. 

Der  Ausdruck  leidet  am  Überschwang,  am  Superlativ.  Der 
gute  Geschmack,  der  fünfundzwanzig  Jahre  später  gilt,  wehrt  stdi 
gegen  zu  starke  Worte,  gegen  jedes  Schwelgen  in  Baffen. 

Das  Zuviel  weckt  heute  den  Reflex  des  Mißtrauens  gegen 
das  Gefühl  übeiiiaupt  Aber  —  aus  solchen  Gefühlen  für  einen 
Freund  heraus  hat  Philipp  fulenbuig  später  einmal  den  seltenen 
Heroismus  besessen,  angesichts  rings  lauernder  Gehässigkeit  und 
Radigier  den  Schwur,  diesen  Schwyr  zu  leisten,  der  ihn  ins 
Untersuchungsgefängnis  führte.  Man  kann  sich  eben  heute  bei  der 
Beurteilung  der  Schriften  dieses  Mannes  der  Frage  nach  seiner 
Persönlichkeit  und  Art  nicht  entziehen.  Und  dieser  Persönlichkeit, 
so  un^eügemäß  sie  ist,  wird  man  das  Attribut  der  Vornehmheit 


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—  89  — 


niemais  absprechen  können.  Wie  aber  wird  die  öffentlidie  Meinung: 
dis  Qesamtlnld  eines  Ijd>en8  beurtdlen,  in  dem  Kunst-  und 
Meoacbenliebe  so  stark  zum  Ausdruck  kamen?  Die  Antwort  kann 
mit  Sidieriieit  gegeben  werden.  Man  wird  mit  sexuellen  Maß- 
stibcn  ans  Urteilen  gehen  und  Sexualgutacfaten  einholen.  Der 
Name  des  Doktor  Magnus  Hirschfeld  wird  wieder genannt^als  der 
des  berufenen  Sadiverstindigen.  Und  selten  lag  der  Mißbrauch  der 
SexualitStsmanie  unserer  Zeit  so  Uar  zu  Tage,  wie  in  diesem  Falle,  wo 
das  Leben  eines  Menschen  in  den  Beziehungen  zur  Kunst  und  zu 
voraebmen  Menschen  wukcU,  er  seine  Sexualtftt  als  Last  emp- 
iindet,  nur  bestrebt  ist,  sie  abzutun,  wo  immer,  möglichst  fem 
von  den  Statten  seines  eigensten  Lebens  —  vielleicht  nur,  um 
eben  dieses  Leben  von  ihr  frei  halten.  Eulenburg  wird  das  Opfer 
eines  argen  wissenschaftlichen  Unfugs,  der  heute  in  BKIte  steht. 
Für  gewisse  Beziehungen  der  Menschen  zueinander  hatte 
die  deutsche  Sprache  das  redit  tn-auchbare  Wort  Liebe.  Bei  wissen- 
'^BchafUither  Analyse  der  Erscheinung  stellte  man  zwei  Bestandteile 
in  ihr  fest:  Sejnialitftt  und  Erotik.  Femer  kam  mai^zur  Anschauung, 
dafi  die  Sexualität  das  Primäre  sei,  alle  Erotik  nur  ein  »sekundärer 
01)crbau«.;  Ober  die  Art  des  Zusammenhanges  zwischen  Erotik  und 
Soniaiität  ist  nichts  bekannt;  gewiß  ist  nur,  daß  sie  einander  be- 
dingen. Vielleicht  nur  wie  Nordpol  und  Südpol  eines  Magneten; 
nun  kann  von  dem  Vorhandensein  des  einen  auf  den  andern 
sdilieBen,  man  kann  sie  auch  recht  wohl  als  Gegensätze  bezeichnen. 
Nie  diuite  man  den  einen  für  den  andern  in  die  Rechnung 
einfllhren.  In  modemer  Wissenschaft  aber  wurde  es  üblich,  die 
Begriffe  Erotik  und  Sexualität  beliebig  zu  verwechseln.  Und  dort, 
^  der  Wissenschaftler  besonders  gründlich  sein  will,  streicht  er 
den  »sekundären  Oberbau  €  überhaupt  und  hält  sich  nur  an  die 
Sexualität.  Diese  Wissenschaft  übt  dann  Kritik  am  Liebesieben  der 
^Acnscbheit:  es  ist  ungefähr  dasselbe,  wie  wenn  ein  gewissenhafter 
Knnstkritiker  von  einem  Gemälde  den  sekundären  Oliiitau  der 
^be  abkratzen  würde,  um  sich  an  die  Beurteilung  der  daranter 
Niesenden  primären  Leinwandfaser  zu  halten.' Das  ist  der  Wert,  den 
Scnuügutachten  für  die  Beurteilung  eines  Menschen  haben. 

Aber  l)esonders  ungeeignet  ist  diese  sexuelle  Basis  für  jene 
Votddlgnng  ^gleichgeschlechtlicher  Liebe,  die  mit  dem  Namen  des 
I)(M)r  Magnus  Hirschfeld  verknüpft  ist.  Homosexuelle  Menschenl 
Senielle  Mensciien!   Wie  erbärmlich  wenig  das  ist!    Und  damit, 

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-  40  - 


■linier  diesem  Schlagwort,  ffihrt  man  eine  Vertddigong  vor  einen 
Forum  von  Kuitnrmensdien.  Die  Erotik  wird  für  diese  wissen- 
«chaftlicbe  Strömung  nur  ein  Hilfsmittel,  um  über  sie  liinweg 
*Sexualitftt  nachzuweisen.  Jeder  erotisdie  Freundschaftsbrief  Ooetfacs 
'^konnte  ihn  für  diese  Leute  zum  »Homosexuellen«  stempdn  nnd 
darum  wohl  auch  jeder  sexuelle  Akt  mit  einem  Jungen  Herrn  X. 
für  sie  zum  Ooethe.  Solcher  Unfug  mag  hingehn.  Aber  die  Menscben- 
•opfer  soll  man  dieser  Propaganda  verweigern,  es  soll  nnmdglidi 
sein»  einen  Menschen,  der  ein  Leben  voll  Odst  und  Erotik  führte, 
mit  dem  verhftltnismißig  geringen  Bni^teil  des  Sexualitätsgefaaltes 
:;zu  strangulieren.  Hier  ist  die  Medizin  zur  Charybdis  geworden, 
in  die  menschliches  Empfinden,  das  dem  Strafpamgraphen  aus- 
weicht, unweigerlich  gerät  Und  das  im  Dienste  einer  im  vorhinein 
verlorenen  Sache.  Was  zwecklos  ist,  kann  nur  geduldet,  nicht  be 
-sonders  geachtet  werden.  Und  zwecklos  ist  jede  Sexualität,  die  nicht 
die  Zeugung  will.  Es  ist  unbestreitbar  wahr:  »Für  die  Norm  in 
•der  Sexualität  gibt  es  eine  große  Richtlinie,  sie  heißt  Fortpffan- 
zung«,  und  aljp  andere  ist  ein  Abirren  von  ihr.  Aber  es  gibt 
noch  andere  Richtlinien  im  Bereiche  des  Mensdilichen,  und  eine 
von  ihnen  heißt  Kultur,  für  sie  spielt  die  Erotik  jene  Rolle,  die 
bei  der  FortpfUmzung  der  Sexualität  zufällt:  Befruclitang.  Sie 
-wvkt  im  Geistesleben  von  Mensdi  zu  Mensch,  freilidi  ohne  vor- 
her nach  dem  Geschlecht  gefragt  zu  haben. 

Ob  »homosexuellec  Privatinteressen  geschädigt  werden,  wenn 
»man  den  Primat  der  Sexualität  fallen  läßt?  Wenn  man  sidi  der 
anderen  Richtlinien  erinnert,  das  mensdiliche  Lid)esleben  nidit 
nur  nach  der  zu  leistenden  Zeugungparbdt,  sondern  anch  nadi 
seinen  kulturellen  Wirkungen  in  Kunst  und  Leben  efancfaätzt? 
Das  Gegenteil  ist  offenbar!  Die  Homoerotik  hat  in  der  Kni- 
4ttr  das  Größte  gewirkt  Nennt  man  die  Namen  derer,  die 
unter  ihrem  Antrieb  schufen,  von  Sokrates  zu  Michel  Angdo, 
Shakcspdire  nnd  in  die  neueste  Zeit,  so  kann  man  sich  kaum  des 
Gedankens  erwehren,  daß  dieser  Erotik  eine  stärkere,  kaiturette 
Kraft  innewohnt,  als  jeder  andern.  Diese  Erotik  vermag  es»  die  ihr 
^ngehöiende  Sexualität  vor  dem  Urteil  der  Mensdihdt  za  tngrn, 
so  gut,  zumindest,  wie  die  Heterosexualität  ihre  für  »die  große 
Wcfatlinie  der  Fortpfhuizung«  so  zwecklose  Erotik  trägt  Diese 
^Sexualität  ist  nicht  perverser  vor  der  Kultur,  als  die  Uebesliedg 
:aller  Zeiten  gemessen  ander  Fortpflanzung.  Am  Mafistab  liegt  «! 


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—  41  — 


DculKbe  Ocrithte  vcrdcn  €iiK  tpndilich  iptemmitc  Bcgrifb- 
IxBliiiimuiig  desWortes»Sc]iintttxerei«znniidien  haben.  Wo  beshmt 
bliese?  Bd  dunkeln  Anspielungen  auf  das  Privatleben  politischer 
Ocsner,  betm  FaUensteUen  fQr  verinfitiKte  Zeugen?  Oder  wird 
es  gar  nicht  zu  der  etbymologischen  Betrachtung  kommen  ?  Fflrst 
Enknburg  hat  geschworen  —  wenn  man  den  Darstellungen  der 
Butter  fi^lauben  darf  — ,  das  Gesetz  nicht  übertreten  und  keine 
'Schmutzereien  begangen  zu  haben.  Da  sollte  es  jedem,  der  \iich 
das  Leben  und  Denken  des  Mannes  vor  Augen  hält,  von  vorne- 
herein Uar  sein,  daß  ein  Meineid  nur  im  ersten  Teile  des  Schwurs 
enthalten  sein  kann.  N^elleicht  hat  der  Mann  sich  gegen  den 
Fuagraphen  vergangen;  das  wire  denkbar;  Schmutzereien  begifi- 
gen  hat  er  sicher  nicht! 

Otto  Soyka. 


CberaetEiug  aus  Harden. 


Auf  dem  Qerichtstisch  der  Kruzi- 
fizas 


Auf  dem  Qerichtstisch  das  Kruzi- 
fix 


Ein      Wort    den 
einprägen 


Hirnzentren 


Ein  Wort  sich  merlcen 


Hundertmal  ist  aus  Iceuchender 
Brust  auf  Eissprossen  die 
Furcht  hl  den  Kopf  geldettert, 
nicht  zu  dauern,  bis  all 
dies  Orausig  -  Skurrile  den 
Mitlebenden  erzählt  ist 


Das  Leiden  der  Physis 


Die  Kranlcheit 


Die  schmutzig  graugelben 
Wangen  der  Pre6schakale 
feuchteten  Tränen,  wenn  die 
annoch  pompöseste  der  trois 
soeors  melodramatisch  kam 
oder  das  treue  Gemüt  des 
Robenlyrikers  Sello  unter  dem 
Eisernen  Kreuz  in  unsäg- 
Uchem  Weh  aufwinsette,  wie 
in  Sternbergs  Tagen 


Meine  Kollegen  von  der  Tages- 
presse waren  gerührt,  wenn 
die  Gräfin  Danckelmann  als 
Zeugin  aaftrat  oder  der  Ad- 
vokat Sello,  den  ich  wie 
meine  sämtlichen  früheren  Ad- 
vokaten auch  als  Lyriker  pro- 
tegiert habe  —  während  der 
Jetzige  Dramatiker  ist  — , 
nicht  anders  plaidierte  als  in 
den  Tagen  des  Stemberg- 
Prozesses,  da  mich  seine  Ver- 
teidigung begeisterte 

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—  42  — 


Pflkhtbewufitsein  leacfatet.    der 
stelze   Glanz    einer   Persön- 
lichkeit  aus  dem    über     die 
Schöffen  herragenden  Haupt; 
und   der  Schauer   empfindet: 
Dieser  sucht  und  besinnt  nur 
das  Recht 

DerOberlandesgerichtsrat  Mayer 
in  München  ist  mit  der  Ber- 
liner Schwierigkeit  fertig  ge- 
worden   und   hat    in    Ehren- 
beleidigungssachen zuredit  er- 
kannt,    dafi   der   abwesende 
Fürst  Eulenburg  nach  §  175 
schuldig  sei 

In    dem   rotwangigen  Weifilcopf 
zitterts    vor  verhaltener    Er- 
regung 

Der  Bernstein  ist  aufgeregt 

Der  Antaios,     der    wieder    auf 
heimischem  Boden  ringt 

Bernstein,    der  wieder  in  Mün- 
chen plaidiert 

Ein  gutmütiger  Oberbayer,    der 
Zunge  und  Faust  nicht   gern 
feiern   Iflfit,     Wenn    ihm  ein 
Läuslein  über   die  Leber   ge- 
laufen ist     . 

Der  resolute  Machhflndler  Riedel, 
der  die  Wahrheit  sagen  mufl, 
wenn  ihm  Herr  Harden  über 
eine    tiefer    unten    liegende 
Partie  gelaufen  ist 

Ein  Vergnügen,    dem  Mann  zu 
lauschen.     Hold   wuchs   ihm 
der  Schnabel  nicht;     aber  er 
ziert    sich   auch    nicht    und 
Jedes  Wort  hat  den  Schmack 
des  Erlebten 

Er  ist  ein  Grobian;  aber  wenn 
er  erz^lt,    was  er  vor  fünf- 
undzwanzig Jahren  erlebt  hat, 
so  lauscht  jeder  Schmock  mit 
Vergnügen 

Unser    Richter   sucht    bei     der 
Übertragung  ins  Hochdeutsche 
dem  Wort  seinen   Wesens- 
ruch zu  wahren 

Der    Mayer     sucht     bei     der 
Übertragung  ins  Hochdeutsche 
dem  Wort  seinen  wesentlichen 
Gestank  zu  wahren 

Ungefähr      dreifiigmal      haben 
Polizei  und  Gerichte  ihn  ge- 
gepönt 

Der  Riedel  ist  leider  vorbestraft 

Nicht   für     schlimm    mäkelnde 
Tat 

Nicht   für  entehrende  Handlun- 
gen (z.  B.  sexuelle) 

Des  Sexualtriebes   Befriedigung 
hat    die   junge   Seele   schon 
gekitzelt 

Der  Riedel  war  keine  Unschuld 
mehr 

Er  ging  ins  Zivile 

Er  quittierte 

Der  Feldafinger 

Der  Riedel 

Seit  diesen  Vorgängen    ist   viel 
Wasser  durchs  Würmbett  ge- 
laufen 

Lang,  lang  ist's  her 

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-48  — 


Der    ip   ödt  Thurmstraße   Ge- 
bietende 

Isenbiel 

»Was    gings  Dich    an,    Tropf, 
damischer?«  fragt  Frau  Riedel 

(Oberaus  seltene  Dialektwendung 
der  Grunewaldbauem.  ähnlich 
nur  noch  bei  den  Kuhmägden 
von   MOrzzuschlag,     die    be- 
kanntlich seinerzeit  Aber  den 
Bezirkshauptmann        Hervay 
sagten:     t>Dtt   kann  in    der 
Brautnacht  ein  Mensch  nicht 
von     einer    Jungfer     unter- 
scheiden und  will   im  Mflrz- 
bezirk     hier     der     Höchste 
seint«) 

Die   Angen   mfihen    sich,    dem 
Ausfra^   zu  sagen:    »Redst 
damisch  daher.  Tropf  Du,  eis- 
kalter« 

(Siehe  oben) 

Das       Qehim       assoziiert     im 
Qanfi^OQdnnkel  die  Möglich- 
keiten 

Der     Fischerjackl    hofft    doch 
noch,     dafi     nichts     heraus- 
kommen wird 

Wer  scharf  hinschaut,    ahnt   in 
dem  gangUon  ciliare  dieFurcht, 
hioter     dem      pupillarischen 
Spotbrersttch  die  bange  Frage, 
was  die  nächste  Minute  wohl 
bringen  könne 

Dem  Fischerjackl  wird  entrisch 
zu  Mut 

Der  Zetgfinger 

Der  Zeigefinger 

EHe    Herren,     die    vom    Mann 
heischen,  was  dem  Normalen 
das  Weib  gewahrt 

Die  Homosexuellen 

Vor   Gericht    die   Spinatgarten- 
schande ausspreiten 

Als    päderastischer  Zeuge   von 
Herrn  Harden  geführt  werden 

Das  Ohr   Ufit    von    auflen   her 
kehie  Schallwelle   durch    das 
ovale  Fenster  ins  knöcherne 
Labyrinth 

Man  hört  nichts 

Die  Magennerven   langen   nach 
Futter 

Ich  bin  hungrig 

Das  Gefäß,    dem   ein  Kindlein 
entbunden  werden  tcann,  mag 
Eifersucht  bewachen 

Auf  eine  Frau  kann  man  eifer- 
sQchtig  sein 

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44- 


Die  im  Pflichtbett    lieblos    ge- 
zeugte Brut 

Die  Kinder  verheir4etcr  Homo- 
seznetler 

Die  Oefflhlsdominante  bergen 

Seine  Anlage  verheimlichea 

Die   weit   von    der    Norm    ab- 
biegende   Wesenskurve    ver- 
hallen 

Den  homosexuellen   Trieb   ver- 
bergen 

Der  von  heldischem  Wuchs  im 
Oeneralsrock  nahm  ein  Weib 
und  schuf  Ächzend  im  Schofi 
der  Ungeliebten  die  Frucht 

Graf  Hohenau  verheiratete   sich 
und  wurde  Vater 

Der  krinkelnde,  in  der  schweren 
Schule  der  Verstellung  scheu 
gewordene  Sinn  schweift  über 
das     seiner    Brunst     wider- 
strebende Diesseits  hinaus 

Päderasten  werden  Mystiker 

Der  Gesandtschaftsekretflr  letzt 
sich  an  dem  achtzehnjährigen 
Jakob  Ernst 

Eulenburg   geht    mit  Ernst   efai 
Verhältnis  ein 

Kfisse,  die  von  Oethsemane  her 
unter  Männern  in  Verruf  sind 

Judasküsse  nach  §  175 

Im  Hagestolzenheim,    das   dem 
Tarifeden     einer    Luxusdime 
ähnelt,     neben   dem    breiten 
Himmelbett   das  neuste  Buch 
des  just  in  die  Mode  gelotsten 
Sexualmystagogen  haben 

In  seiner  eleganten  Junggesdlen- 
wohnnng   sich    auch    geistig 
beschäftigen    (Tarifeden    lies 
Tarif-Eden) 

Soll  der  Schoß  deutscher  Frauen 
aus  edel   gezüchtetem,    uner- 
schöpftem Stamm   verdorren, 
weil  dem  Herrn  Gemahl  Ephe- 
benfleisch    besser   schmeckt? 

SoU^  die  deutschen  Hausfrauen 
unbefriedigt   ausgehen,     weil 

schmack  zu  langweilig  sind? 

Die     zurückgesUute     Wahrheit 
stürzt    über   die  Beinpfosten 
der  Mundschleufle 

Der    Fischerjackl    beeüt     sich» 
die  Wahrheit  zu  sagen 

Der  Ruch  der  Mftnnerminne 

Der  Verdacht  der  Homosexuali- 
Ut 

Der  Jttstizrat  fflltelt  die  Wange 

Das  mühsam  in  die  Badcen  ge- 
knitterte Lächeln  barg  kaum 
noch  die  schwarze  Sorge 

Hinter  dem  verlegenen  Lächeln 
des  Flschcfjackl  verriet  sich 
die  Angst 

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—  46  — 


Des   Masyannhochmttt   so    zu 
fitzen,  daft  die  Wunde   dann 
mit  derZrinyrede  abetpflastert 

eben  auf  dem  angamchen  Glo- 
boa  den  Kamm  schwellen  lieft 

Die  Ungarn  zuerst  zu  demütigen 
und    dann    durch    die   Rede 
auf  Zriny    wieder  fibermfltig 
zu  machen 

Britcnfrtnieinromane 

Qouvemantenromane 

Zwei  Interviews  ans   der  ersten 
«Uiddode 

Zwei   Interviews    vom    Anfang 
Mai 

Der  Schinder  ehrlich    reifender 
Mannbeit 

Eulenburg 

Entenbniigs  Stil.  Bne  Beschrdbting  vom  Tode  dd  Königs 
lon  Bqreni,  schlicht  und  kfinstlerisch.  »Der  Mann  sdueibt  nicht 
jcMecfat  Ein  bißchen  schwülstig;  im  Stil  pretiöser  Damen. . . 
Hhncfae  Bilder  sind  abgeguckt;  manche  gehen  nicht  zusammen. 
Und  die  Interpunkäon  ist  merkwürdig  mangelhaft«.  Darum 
streidit  Herr  Harden  wenigstens  das  Genitiv  -  s  aus  dem  Eulen- 
hois^Zitat  heraus.  Es  ist  tootzdem  weitaus  das  Beste,  was  je  in 
der  .Zukunft'  gestanden  hat.  Ein  Beispiel,  wie  Bilder  gut  zusammen- 
fdien,  folgt  aber  sogleich:  Der  geritzte  Magyarenhochmut  mit 
der  dnrch  die  Zrinyiede  flberpfkislerten  Wunde  und  dem  Hahn- 
dien  auf  dem  ungarischen  Globus,  dem  der  Kamm  sdiwillt  . .  . 
»Keine  Persönlichkeit  Kdne  Eigenwärme.  Noch  die  überschwin- 
fOKle,  flbefspruddnde  Rede  fühlt  sich  eiskalt  an;  funkdt  manchmal 
wohl  (von  geliehenem  Glanz),  wärmt  aber  nie.«  Wessen  Stil? 
Enlenbuigs  natüriich!  , 

DerMüncbener  Riditer :  »Endlich  sdie  ich  ihn  also,  von  dem  ich 
so  viel  gehört  habe«.  Stimmung,  in  der  dner  vor  Goethes  Antlitz 
tat  »Wird  er  audi  heute  der  gute  Richter  der  Legende  sein?« 
Er  wird.  »Was  sagen  Sie  zu  unserem  Mayer?«  »Unser  Ober- 
Imdeseaichtsrat«.  Ein  »Musterrichter«.  »Lassen  Sie  mich  nur 
sMdien«,  sagt  Bernstein.  Mayer  ist  »der  Größte  im  Saal.  Auch 
^er  Weiseste.  Der  dcherste  Menschenbehandler.  Ein  Riditer.« 
»Boes  Holbdn  Haltung  und  Haupt«  Ja,  er,  nur  er,  hat  den  Riedd 
^azn  gebracht,  die  »KramiiU«  zuzugd)en,  und  den  Ernst,  daß  der 
Fürst  mit  ihm  »die  Gandi,  die  Lumpod«  gemacht  habe.  Jeder 
im  Saal  »hat  Unvergeßliches  erlebt«.  »Was  sagen  Sie  zu  unserem 
Mayer?«  »Ontnlicre.«  »Heute  noch  wird  er  verhaftet« 

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-  46  - 

Was  ist  bedenklicher?  Wenn  ein  Journalist  seinen  Richter  »un- 
sem  Richter«,  oder  ein  FfinA  seinen  Fiadier  »meinen  Fischer«  nennt? 

Ein  rührender  Zug:  Der  Angeklagte  Stftdele  »tiigt  eine 
Sammetweste.  Wer  löst  die  Rätsel  willkfirlicher  Assoziation?  In 
dieser  wichtigen  Stunde,  vor  der  Entscheidung  eines  Kampfes,  dem 
seit  einem  Jahr  all  meine  Kraft  hingegeben  ist,  klammert  der  über- 
reizte Sinn  sich  an  dies  gieichgiltige  Kleidungsstfick;  muß  ich, 
wider  Willen,  denken:  Solche  Weste  habe  ich  auch; 
und  der  Abende  mich  erinnern,  da  ich  sie,  au  f  n  o  ch  gesunder 
Brust,  trug.  Unbegreiflich  dumm.  Zolas  Saccard  fällt  mir 
ein,  der,  während  ein  Börsenorkan  ihn  aus  Besitz  und  Ansehen 
fegt,  der  in  seinem  Hof  erfrorenen  Kamelie  nachiammert  (Ein  gar 
so  schlechter  Psychologe  war  der  eitle  Spätromantiker  von  Medan 
doch  nicht.)  Nun  spricht  Herr  Städele . . .« 

Noch  ein  rührender  Zug:  In  der  Mittagspause  in  die  Odeon 
Bar.  »Geröstete  Nieren«.  »Aus dem  Gerichtshaus  kommen  wir, 
von  der  Zurichtung  eines  Scharf richterwerkes :  und  schmausen. 
Geröstete  Nieren.  Hastig  und  still . . .« 

Wieder  ein  rührender  Zug:  Mittagspause.  »Im  Hotel  Con- 
tinental fällt  der  Blick  auf  den  Schreibtischkalender.  Einund- 
zwanzigster April:  Huttens  Geburtstag.  ,Da  laß*  ich  Jeden 
reden  und  lügen,  was  er  will.  Hätt'  Wahrheit  ich  gesdiwiegen, 
mir  wären  Hulder  viel.'  Ad  liberos  in  Germania  omnes  hat  sich 
Herr  Ulridi  gewandt;  ob  sein  Leib  auch  siech  war,  aus  nie 
feig  erzitternder  Hand  den  Würfel  geschleudert  An  die  Refni^ 
gung!«  (Trara  —  der  Hütten  ist  da!  Ausgerechnet  an  seinem 
Geburtstag!  Das  hat  unser  Mayer  wieder  gut  gemacht  . . .  Auch 
ich  rufe  in  dieser  Mittagspause  einen  Uhich  an.  Und  dies, 
wiewohl  ich  keine  gerösteten  Nieren  gegessen  habe.) 

Der  weitaus  rührendste  Zug:  Der  fescher  ist  im  Begriffe, 
die  Gaudi  zuzugeben,  weil  ihm  der  Bernstein  mit  dem  Kriminal 
und  unser  Mayer  mit  dem  »letzten  Richter«  zugesetzt  hat  »Idi 
fühle,  wie  mirs  aus  dem  Auge  strömt  Unaufhaltsam.  Die  ange- 
wöhnte Reflexbewegung  (so  möchte  ichs  nennen)  bleibt  aus;  das 
Gcachneuz  ins  Taschentuch  hülfe  ja  nicht  Wie  durch  feuchte 
Schleier  sehe  ich  den  Fischermeister . . .  Und  kann  nur  denken, 
wie  gut  es  war,  das  Gesicht  von  der  Menge  wegzukehren.« 

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—  47  — 

Wis  er  alles  veiß:  Der  Fischer  erzählt  die  Geschichte  von 
den  12.000  Mark.  Dazu  bemerkt  der  Kulturkämpfer  nur  in 
Painthcsc:  »So  wars  nicht  Als  ein  Siamberger,  der  mit  Getreide 
handelt,  die  auf  Emsts  Anwcs^  haftende  Hypothek  gekündigt 
hatte,  vandte  der  Fischerjackl  sich  an  den  Grafen  Euienbuiig,  der, 
angeblidi  von  seiner  Mutter,  ihm  das  Geld  verschaffte;  ohne  jede 
Stcherang;  gegen  drei  Prozent  Zinsen,  deren  Zahlung  nodi  nicht 
aadigewicsen  ist  Die  Mitgift  seiner  Frau»  einer  Waise  aus  Wengen, 
gab  Ernst  in  die  Bank.  Antwortete  auf  die  Frage,  ob  ers  nicht 
vtt  Ratenzahlung  des  Darlehns  benutzen  wolle:  ,Nein;  der 
Zins,  den  die  Bank  mir  zahlt,  ist  um  ein  halbes  Prozent  höher 
als  der,  den  ich  dem  Grafen  zu  zahlen  habe :  also  verdiene  ich, 
venn  ich  das  Darlehn  behalte'.«  So  war's! 

Zeugenbehandlung:  Jakob  Ernst  sagt  aus.  »Der  Rumpf  bebt 
nicbt  Der  braune  Daumen  reibt  die  Innenhaut  des  Zeigfingers, 
dessen  Nachbarn  sich  in  den  Handteller  graben.  Ein  Alltagsmittel, 
nm  die  Nerven  zur  Ruhe  zu  zwingen.  Im  Examen  macht  mans 
so;  beim  Zahnarzt;  auf  dem  Strohstuhl  des  angeklagten  Sünders .. . 
Mich  dauert  der  Mann.  Ich  weiß,  daß  ein  Herzleiden  ihn  quält. 
Was  mag  sein  Innerstes  heute  ausstehen? . . .  Die  Finger  der  rechten 
Hand,  die  Schwurfinger,  krümmen  und  steifen  sich  hastig.  Die 
Sucht,  unbefangen  zu  scheinen,  hat  auch  in  den  Rumpf  Bewegung 
gebracht  Der  windet  sich  wie  in  wirrem  Traum  . . .  Man  hört 
den  Atem.  Des  Fischermeisters  Rechte  krallt  sich,  über  dem 
Herzen,  in  die  Brust  Wie  in  Wehen  schüttelt  er  sich.  Die  Zunge 
strauchelt  im  trockenen  Schlund;  sucht  sich  an  der  Lippenwand 
einzuspeichein  . . .  Noch  einmal  bäumt  sich  die  Kreatur.«  Das 
jüngste  Geddit  tagt. 

Nadi  dem  Urteil:  In  einer  Gesellsdiaft,  »wo  freundliche 
Menschen  mit  Heinzelmännleinflinkheit  den  Teetisch  zurichten. 
Sdilaraffenland.«  Wie  lieb!  »An  den  Wänden  viele  Geweihe. 
Locker«  Speise  auf  der  Tafel.  Danke.  Nur  Tee.  Der  Justizrat 
sieht  um  zehn  Jahre  jünger  aus  « 

Zu  einem  Interviewer:  »Fürst  Eulenburg  log,  als  er  sich 
anbelleckt  nannte«. 

Dem  Diplomaten  Eulenburg  »fehlte  es  an  Sitzfleisch  und 
Ernst«.  Das  soll  aber  kein  Witz  sein!  uigtzedby Google 


—  48 


»Inzwischen  bat  der  Berliner  Unfeersudiui^sviditer  mwt 
'Schriftsatz  von  groBem  Umfang  von  Maximilian  Harden  erhaitoir . 
in  dem  dieser  eine  lange  Liste  von  Personen  anfistellt,  mit  denen 
Forst  Eulentmrg  nachweisbar  bis  in  die  allerletzte  Zdt  tmerianbtai  \ 
Verkehr  gdiabt  habe.« 

Zu  einem  Interviewer:  »Ich  werde  froh  sein,  wenn  ich  mit  , 
•der  eklen  Angelegenheit,  die  sdt  anderthalb  Jahren  all  mdne  ] 
Kraft  in  Anspruch  nimmt,  nichts  fndir  zu  tun  habe  und  zu  dtr  \ 
Betrachtung  politischer  und  kfinstlerischerVot^ginge  zurfidf*  *, 
kehren  kann,  zu  der  stillen  Arbeit,  mit  der  idi  auf  meine  Art  der 
deutschen  Macht  und  Kulturbiiduüg  an  besdieidener Stelle 
dienen  zu  können  glaube.« 

Ah,  das  gibts  nicht!  Das  geht  nicht  mdir!  Bei  der  nidisten 
Besprechung  eines  Kunstwerks  wollen  wir  im  Chorus  rufen; 
Zurflck!  Ein  General  hat  seine  Frau  nicht  befriedigt!  Es  gilt 
«ein  Vergdiäi  nach  §  175  zu  beweisen!  Es  ist  erweislich  wahr, 
daß  Ffirst  Eulenburg  auch  in  Oldenburg ... 

»Ich  hätte«,  sagt  Riedel,  »der  aufredite  Mildimann«,  zu 
einem  Interviewer,  »nichts  gesagt,  wenn  der  Ffirst  nicht  die  Sache 
al^eschworen  und  andere  damit  hineingerissen  hätte.  Und  fetzt 
muß  ich  es  bfißen,  denn  viele  Leute,  und  gerade  die  besseren, 
haben  jetzt  die  Milch  bei  mir  abbestellt!« 

Er  mag  sich  trösten.  Auch  das  Geschäft  mit  dem  Drachengift 
ist  nicht  mdir  das  alte.  Viele  Leute,  und  gerade  die  besseren, 
haben  jetzt  die  ,Zukunff  abbestellt . . .  Zwei  Hausfrauen  sagen :  W» 
gings  Dich  an.  Tropf,  damischer! 

Nun  geht  Deutschhuid  einer  großen  Zeit  entgegen.  Alles 
kommt  an  den  Tag,  was  in  den  preußisdien  Adelsfamilien  sät 
der  Orfindung  des  Reichs  bis  in  die  letzte  Zeit  geschehen  ist 
Alles,  alles,  alles.  Wilhelm  IL  und  Harden  —  seien  wir  Deutsche 
Iroh,  daß  wir  zwei  soldie  Kerle  haben! 

La  verit^  est  en  arche! 

Karl  Kraus. 


:  Karl  Kraai. 
DnMi[  VW  Jaboda  k  Sl«cd.  Wica  lU.  Hüte«  ZaUMlMlni8c  S. 

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DIE  FACKEL 

Herausgeber:  KARL  KRAUS 

«mbeint  In  nru^oser  Folge  Im  Omfang  lon  16— SS  S 

BEZUGS-BBDINOUNOBN: 

für  OestOTdch-Ungaru,  36  Nararaem,  portof^ 
»  >  18         »  » 

>    das  Deutsche  Reich,  3^ 

»         ^  »  >  Ic 

»    die  Linder  d»  WeJtpostv,, :  DIN  um  nieni,pc>noiiCi      »  i:<i.- 
»>>»  »         18  •  p         »6. — 

Das  Abonaemeat  eritreckt  sieb  nicht  auf  alnan  Zeit- 
rmumf  tondera  auf  eine  bestimmte  Anzahl  v.  Nummern. 

Verlag:  Wien,  III.  Hintere  Zollaxntsstr.  3. 

KoTnmissionBvcrlag  für  Deutschland : 

Otfo   Maier,    Leipzig 

Stephanaatraße  Nr.  12. 

Efudfcrkaof  JO  Pf.  Berlia  NW  7,  rrieddcbttrafie  101,  Bocb- 
bindfon^  M.   Lnieotbil. 


Verlag  der  L 

befindet  sicli  Jetzt 

Wien,  ni/i 

Hintere  Zollamtsstrasse  Nr.  3. 

Telephon  Nr.  187 


ibalt    der    vorigen   Nummer 

, Schmach 


all 


CARL  GOLSDORF.J»^U)         ' 

Karlsbad.  Sudspesl  V.  Wjen  VC .    HUffl         /r 

Maschinschreibstube  SCRIPTOI 


WIEN  Vll.  KIRCtlGNGASSe  34. 
chinschreibarbdten    nach    Diktat,   Stenogramm,    Kor 
tigungen  r 


j^_     A  »i.    \>: 


04     Ci j^.-      tr.".^    r>; 


Ilascb 
lANUSKRIPTE    sind    Wien,    IV.   Schwindgai 
dressieren.    Unverlangte    Manuskripte, 
frankiertes  Kuvert  beiliegt,  werden  nicht  zuruc 

Et  wlri  ersiielitp  adminlstratlT»  ttittellangen  nioht  an  dea  Hi 

kredaktionalle  nicht  an  den  Vorlag  gelangen  n  laiieiL 
DIE  Fi 
F  unternehmen  für  ZeitongeausBohnitts 

BSER V ER,    Viaii,  L  lk)neordlapIati  Nr.  4  (Taleph 

versendet  Zeitungsausschnitte  über  jedes  gewünschte  Tberaa^Man  verli 

Sache  Verleger 

resken,  — --^^'^  ^-- ^-^'--« 

ROBERT  SCHEL 


Im  Verlage  »Die  PACKBL'  liad  •reelileBeD 
durob  aU^  Buchbandlungen  oder  su  besie 

Karl  Kraus: 

AXIHILIAN  lARDl 

Eine  Erledigung.  |  Ein  Nacli 


Preis  fj^ 


u    _        >./-»    i^r 


Die  Fackel 

Herausgeben 

ARL  KRADS. 


INHALT: 

Festxug.  Von  den  Oe- 

ktam.  Karl  Kraus.   —  Glosflen.  —   Einf 

Bhrift  uu^  Hawaii.  —  Sittlichkeit  und  Kri 

nalitat.  —  Tagebach.   Von  Karl  Kraus. 


Erdohoint   in   swanglos^i 


Preis  der  einfeinen  Nummer  30  h* 


fewcrtanAftieca  Veridbeo  Terboteai  cericIiUldic  Vcrfi^rttSf 
?orb«h  altes. 


*  MC  '  Uigitizedby  VjV7^^Xi^ 


in  zweiter  Aunage  erscnieni 


Sittlichkeit  u.  Kriminal 


von 


Wählten  Schrü 


K  7.20 
8.70 


»> 


estellungen  auf  das  im  Verlag  der 


handlung  L.    Rosner,  Wien   und 

erschienene     Werk     niiiii  ■'      ''"^'^ 
handli 


Die  Fackel 


RI.2S6 


WIEN,  5.  JUNI  INS 


IL  JAHR 


Der  Pestzng. 

Nun  kommt  also  der  TriumphsBU^  der  Kriecherei 
sustande.  Und  so  entblOfit  scheint    die  Absicht  der 
sich  selbst  huldigenden  Niedrigkeit,  dafl  ihr  Vorwand 
Iftngst  wie  eine  Majestätsbeleidigun^  wirkt.  Der  alte 
Kaiser  wollte   die   umständliche   Eostümierung   der 
Ordenssehnsucht  nicht,  und  will  sie  erst  recht  nicht, 
weil  er  sie  erlauben  mufite.  Seinem  kultivierten  Ge- 
schmack imd   seinem  Wunsch   nach    Ruhe    ist   der 
geräuschvolle  Unfug  in  gleicher  Art  zuwider.  Aber 
die  Kriecherei  hatte  mit  Oberhebune  gedroht,  wenn 
man  sie  nicht  kriechen  liefie,   und  Kaisertreue    und 
Volkswirtschaft  waren  ausgesteckt,  um  zu  erreichen, 
was  den  exekutiv   verehrenden   Patrioten   auf  dem 
Herzen  lag,  weil  es  ihnen  uQch  nicht  auf  der  Brust 
lag.  Kaisertreue  und  Volkswirtschaft:    Gott    erhalte 
diä  Kleingewerbe!  Aber  der  Kaiser    dankt    für   die 
Treue  und  das  Volk   hat   die  Wirtschaft    satt.    Der 
Kaiser  mufi  dabei,  sein  und  will  nicht,  das  Volk  will 
dabei  sein  und  darf  nicht.  Die  kleinen  Leute,  denen 
auf  die   Beine  geholfen    werden    sollte,    haben    das 
Nachsehen,  und  nicht  einmal  das  Zusehen.  Denn  wer 
vermöchte  einen  Tribünensitz  zu  erschwingen?    Ge- 
•^r  Schneider,  mit  dessen  Wohlfahrt  der  Patrio- 
Qus  verknüpft  wurde,  geht  leer  aus,  undhatsichs 
Ende  selbst   zuzuschreiben.    Die    Kostümstoffe 
ieht  man  vom  Juden  und  aus  dem  Ausland,  und 
Br  Zivilkleid  ist  verpfuscht:  die  Knopflöcher  sind 
grofi  und  die  Taschen  zu  klein. 

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—  2  — 


und  ein  Romano  steckt:  er  hat  zugleich  getan,  was  er 
malte.  Aber  diesmal  verliefl  man  sich  darauf,  dafi  schon 
die  Taten  malerisch  wirken.    Dieser   Festzng    siegte 
im  Zeichen  eines  Geistes,  der  sich  bei  der  Vorstellung, 
daß  nach  Frankreich  zwei  Grenadiere  zogen,  an  deren 
Uniform  berauscht.  Vor   einem    Gschnasfest    glaubt 
auch  jeder,  dafi  er  am  meisten  auffallen  werde,  und 
bemüht  sich  um  jeden  Knopf  seines  Narrengewands; 
schließlich  wirkt  nur  die  Masse.  Warum  wird  so  viel 
Schweiß    an    die    historische   Treue    verschwendet? 
Sie    fesselt  blofl    die    Sachverständigkeit,    und     die 
kommt  im  Gewühl  nicht  zum  Urteil.    Wenn  tausend 
blaue  Jacken  mit  grünen  Aufschlägen  über  die  Ring- 
straße ziehen,  jubelt  das  Volk  auch   und   denkt  an 
den    Kaiser   Josef.    Das    »Malerischec    wirkt   nicht 
wegen,  sondern  trotz  der  Echtheit.  Ein  Leuchtbrun- 
nen ist  malerisch.  Wer  ihn  springen  läfit,  weifi  ganz 
gut,  dafi  dem  Gaffer  die  Unzufriedenheit  überstaat- 
liche Dinge  vergeht.     »Guck    —  guck,  da  —    dal« 
das  ist  der  Sinn  eines  Festzugs.  Dazu  bedarfs  weder 
eines  künstlerischen  Ingeniums  noch  der  Mühe  eines 
Uniformforschers.  Ob  das  Kostüm  echt  ist  oder  nicht, 
spielt  keine  Rolle.  Dagegen    ist  es  nicht    zu    unter- 
schätzen, dafi  der  echte  Nachkomme  eines  Starhemberg 
darin  steckt  und  kein  Berufsstatist.  Das  ist  eine  Sen- 
sation, die  mit  künstlerischem  Empfinden  nichts   zu 
schaffen  hat  und  sich  darum  gewifl  in    der   gedank- 
lichen Linie  eines  Festzuges  bewegt  Wenn  man  das 
Glück  hat,  ladelige  Leute  zu  finden,  die  so  populärem 
Interesse    entgegenkommen,    warum    sollte    man    es 
nicht  nützen  ?  Um  einer  Ähnlichkeit  willen  begehrt  zu 
sein,  läßt  feinfühlige  Menschen  oft  erst  den  Unterschied 
fühlen.  Wenn  eine  Adlernase  gesucht  wird,    so  hat 
das  Bewufitsein  etwas  Drückendes,  dafi  man  mit  den 
dazugehörigen  Taten  nicht  dienen  kann.  Hier  hat  es 
offenbar  nicht  gedrückt.    Jeder  fühlte  sich  geehrt, 
seinen    ruhmreichen    Vorfahren    darzustellen.    Und 


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8   — 


mancher  liefi  leutselig  seine  Unterlippe   hängen,    als 
wäre   sie  wirklich  ein  Schirmdach   der  Völker. 

« 

EjS  ist  schwer,  die  Forderung  der  Ähnlichkeit 
mit  der  Bedingun^^  der  Verwandtschaft  in  Einklang 
SU  bringen.  Aber  im  Zweifel  zieht  man  doch  einen 
iwanzigjährigen  Radetzky,  der  anders  aussieht,  einem 
besser  entsprechenden  Magistratsbeamten  vor. 

* 
Das  Malerische  ist  ein  Argument,  das  mit  allen 
ESnwänden  fertig  wird.  Und  es  gibt  Wirkungen  auf 
die  Nerven,  denen  sich  der  oppositionellste  Geist 
nicht  entziehen  kann.  Wenn  alle  Glocken  läuten, 
umarme  ich  den  Klotzberg. 

* 

Ja,  wenn  man  mit  solchen  Mitteln  arbeitet,  dann 
ist's  keine  Kunst,  recht  zu  behalten  I  In  Osterreich 
brennt's  und  man  macht  ein  Feuerwerk  daraus. 

* 

Welch  ein  Theater  I  In  der  Historie  wirkten  die 
Schauspieler  mit,    im  Bauerndrama  die  Schlierseer. 

m 

Empfinden  die  Zuschauer  wirklich  Geschichte? 
Oder  wollen  sie  nur,  dafi  die  (Gesichter  stimmen? 
Der  historische  Sinn   triumphiert  im  Ausruf:  »Aber 

der  ganze  Napoleon  Ic 

« 

Die  Lehre :  In  historischen  Zeiten  trug  man  also 
schöne  Kostüme,  und  die  Huzulen  tragen  keinen  Frack. 

* 

Wer  nicht  hoch  ruft,  weil  er  ein  Komiteemitglied 
für  niedrig  hält,  ist  ein  Vaterlandsverräter. 

So  etwas  ist  nur  in  Wien  möglich  I  Die  Un- 
ordnung war  so  grofi,  dafi  die  Sache  wirklich 
geklappt  hat.    Nur   der  Schlamperei   ist  es  zu  ver- 


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_   4    — 


danken,  dafi  kein  Unglück  geschehen  ist.  Wäre  es 
konsequent  im  Stil  der  Aktionen  des  Komitees  weiter- 
gegangen,  so  hätte  die  Ringstraße  einem  Schlachtfeld 

fleichen    müssen.    Aber    es    herrschte    ein    solcher 
iTirrwarr,   daß   schließlich  der  Zufall  die  Oberhand 
behielt  und  alles  in  schönster  Ordnung  vor  sich  ging. 

Wenn  in  anderen  Städten  die  bürgerliche  Ge- 
sellschaft sich  zu  solchen  Festen  auf  die  Strafte 
wagte,  die  ihre  rings  lauernden  Feinde  wären  recht- 
zeitig zur  Stelle.  Aber  hierzulande  ist  den  Anarchisten 
um  ihre  gesicherte  soziale  Position  bange,  und  von 
den  Einbrechern  hat  einer  behauptet,  daß  sie  zwar 
vollzählig  in  Bereitschaft  waren,  aber  nur  um  sich 
den  Festzug  anzuschauen.  Sogar  das  Wetter,  das 
nicht  unbedingt  gesellschaftsfreundlich  ist,  hatte  das, 
womit  man  hierzulande  die  nachgiebige  Feigheit  be- 
zeichnet: »ein  Einsehen«.  Und  £i  das  Unglück  nun 
einmal  geschehen  und  der  Festzug  ohne  Störung 
verlaufen  ist,  bewahrt  uns  nur  ein  verläßliches  Defizit 
vor  Wiederholungen,  Sonst  könnte  das  Komitee  leicht 
übermütig  werden  und  glauben,  es  werde  immer  ohne 
Katastrophe  abgehen ;  und  man  brauche  nur  öfter  die 
Ringstraße  abzusperren,  um  den  Namen  Klotzberg 
definitiv  auf  die  Nachwelt  zu  bringen. 

* 

Der  historische  Teil  des  Festzugs  umfaßte  vor 
allem  jene  bedeutungsvollen  Augenblicke,  in  denen 
nach  der  Darstellung  der  Lehrbücher  für  Mittel- 
schulen am  Wiener  Hofe  die  Friedenspartei  siegte.  Für 
die  glorreichste  Tat  in  der  österreichischen  Qeschichte 
halten  aber  die  Patrioten  die  Veranstaltung  des  Fest- 
zugs. Die  Verherrlichung  dieser  Tat,  von  ihrer  Ent- 
stehung aus  dem  Wunsche,  den  Lohndienern  der 
Hotels  zu  helfen^  bis  zu  der  in  Österreichs  Annalen 
beispiellosen  Baisse  in  Tribthiensitzen,  wollen  sie 
künftigen  Festzügen  vorbehalten. 


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—    6 


»Die  Qer achte,  daB  TribOnensitze  unter  dem 
normierten  Preise  abgegeben  worden  seien,  erhalten 
sich  allerdings.«  So  hat  zum  Schlüsse  eine  offizielle 
Note  des  Komitees  gesagt,  in  der  der  Ehrengewinn 
des  Tages  ausgewiesen  wurde.  Wenn's  aber  wirklich 
wahr  sein  sollte,  daß  die  Emissäre  des  Komitees  vor 
dem  Lokal  Sitze,  die  100  Kronen  gekostet  haben, 
um  2  anbrachten,  die  Veranstalter  werden  es  nicht 
glauben.  Denn  sie  haben  den  allgemeinen  Klagen, 
dafi  das  Volk  nicht  berücksichtigt  werde,  am  Morien 
des  Festzuges  nachgegeben  und  sich  aus  sozial- 
politischen Gründen  bestimmt  gesehen,  jeden,  der 
den  Pestzug  bequem  sehen  wollte,  gratis  auf  die 
Tribünen  zu  lassen.  Die  vielgeschmähte  Agiotage 
überraschte  durch  das  Angebot,  wer  weniger 
gebe,  und  trieb  die  Preise  in  die  Tiefe,  dafi  es  eine 
Art  hatte.  Es  war  für  viele  Leute  sehr  schwer,  keinen 
Tribünensitz  aufzutreiben.  Da  die  Annoncen,  die  be- 
deutende Preisreduktionen  verhiefien,  keinen  Erfolg 
hatten,  wurden  aus  Kaffeehäusern  im  letzten  Augen- 
blick anständig  gekleidete  Gäste  durch  das  Telephon 
requiriert.  Aber  sie  weigerten  sich,  al^Zuschauer  zu 
statieren.  Und  so  kann  man  mit  Befriedigung  fest- 
stellen, dafi  es  vor  allem  die  breiten  Schichten  der 
Bevölkerung  waren,  die  den  Festzug  sehen  durften. 
Man  macht  jetzt  dem  Komitee  .  den  Vorwurf,  daß 
es  die  besitzenden  Klassen  von  der  Betrachtung  des 
Schauspiels  ausgeschlossen  hat. 

• 

Ich  bin  für  eine  Zersplitterung  der  Dummheit. 
Es  tut  nicht  gut,  wenn  sie  wochenlang  auf  einen 
Punkt  konzentriert  ist. 

Die  unverdiente  Schönheit  dieser  Stadt  I  Die  ihr 
aber  zum  sogenannten  »Ernst  der  Arbeite  zureden, 
sind  so  töricht  wie  ihre  Schmeichler  und  Feuil- 
letonisten.  Nicht  dafi  «ihre  Männer  nicht  arbeiten,  ist 


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—  6 


beklagenswert,  aber  dafi  sie  nicht  denken.  Es  ist  ja 
verdienstlich,  sich  darauf  zu  verlassen,  dafi  der 
Himmel  blau  ist  und  die  Wiese  grün.  Wer  da 
sagt,  davon  könne  man  nicht  leben,  ist  ein  Philister. 
Aber  wer  sagt,  es  sei  traurig,  davon  zu  leben, 
*sagt  die  Wahrheit. 

Die  Vorstellung,  dafi  eine  schöne  Frau  auf 
einer  Tribüne  sitzt,  ist  peinigend.  Sie  hat  nicht  ein- 
mal die  Genugtuung,  dafi  der  Festzug  sie  ansieht. 
Und  um  wieder  ihn  mit  Wohlgefallen  zu  betrachten, 
dazu,  meint  sie  mit  Recht,  sei  man  vom  Ballett  der 
Oper  doch  zu  sehr  verwöhnt.  Auch  seien  die  Plätze 
dort  bequemer.  Aber  leidet  denn  auch  sie  auf  der 
Tribüne,  wenn  mir  ihr  Rücken  weh  tut? 

■♦ 

»Es  hiefi,  dafi  zwischen  dem  historischen  Festzug 
und  den  nationalen  Gruppen  eine  längere  Pause  ein- 
treten werde,  während  welcher  der  Hof  Erfrischungen 
nehmen  soll.  Diese  Annahme  war  jedoch  unrichtig. 
Eine  Pause  im  Festzug  ist  nicht  geplant  Der  Vor- 
beimarsch wii^  ununterbrochen  erfolgen.«  Pardon 
wird  nicht  gegeben.  Und  überhaupt  hätte  das  Ganze 
Wilhelm  dem  Zweiten  gefallen.  Elr  hätte  sich  nie  da- 
gegen gesträubt  I 

» 

Die  österreichischen  Nationalitäten  vereinigen 
sich  zu  einer  Huldigung  und  streiten  deshalb 
um  den  Vorrang  beim  Huldigen. 

Was  man  nicht  durch  einen  Festzug  lernt:  Es 
gibt  Huzulen  in  Österreich  I 

Warum  gehen  die  Männer  mit  roten  Gewändern 
und  die  Männer  mit  Dolchen  im  Bauch,  die  auf  der 
Strafie  die  Kinder  schrecken,  und  die  gramgebeugten 
Männer,  die  Ovationen  darbringen,  warum  gehen  sie 


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-   7   - 


noch  immer  in  Wien  herum?  Wir  sind  ja  endlich 
flavon  überzeug,  daß  sie  mit  uns  einem  und  dem- 
selben Staatsverband  angehören. 

Wie?  Ein  einsiger  Einbruchsdiebstahl  in  ganz 
Wien,  und  an  so  einem  Tag?  Ist  dies  nicht  auch 
ein  Verfallszeichen?  Nein,  es  war  eine  Demonstration 
der  Standesehre.  Hinter  dem  Rücken  der  Wiener  Polizei^ 
die  auf  der  Ringstralto  alle  Hände  voll  zu  tun  hat, 
tut  ein  Einbrecher  nichts. 

« 

Nachdem  beschlossen  war,  die  Festzugsstrafie 
zu  Yerlängem,  las  man:  »Damit  wäre  nun  allerdings 
jenen  Forderungen,  welche  die  ,Neue  Freie  Presse' 
aufgestellt  hat,  in  weitem  Umfang  entsprochen. € 
»Bekanntlich  hat  zuerst  das  ,Deutsche  Volksblatt' 
darauf  hingewiesen . .  .€  »Wir  dürfen  wohl  darauf 
hinweisen,  daß  das  ,Extrablatt'  zu  allererst  den  Ruf 
erhoben  hat:  Platz  fürs  Yolklc  u.  s.  w.  Eine  Einig- 
keity  wem  das  Verdienst  gebührt,  ist  in  solchen  Fäl- 
len nicht  zu  erzielen.  Aber  auch  die  Beobachtung  realer 
Tatsachen  schwankt.  Von  dem  Wagen,  in  dem  eine 
Dame  im  Blumenkorso  fuhr,  las  man  zum  Beispiel  in 
den  verschiedenen  Blättern :  »Ein  Wagen  aus  der  Zeit 
Louis  XVI.«,  »Ein  Wagen  aus  der  Zeit  Louis  XV.«, 
»Bin  Wagen  aus  der  ^eit  Louis  XIV.«  Ein  solche 
Reduktion  wurde  nur  mehr  bei  den  Tribünensitzen  beob- 
achtet. Schliefilich  bekam  diese  jeder  beliebige  Louis 
schlechtweg. 

* 

Das  Exekutivkomitee  hat  insofern  die  Erwar- 
tungen enttäuscht,  als  es  das  österreichische  Natio- 
nalitätenproblem tatsächlich  nicht  gelöst  hat.  Vor 
dem  Eomiteelokal  demonstrierten  die  Dalmatiner, 
weil  sie  mit  den  Schlafplätzen  unzufrieden  waren, 
die  Ruthenen,  weil  sie  überhaupt  keine  Schlafplätze 
hinten,    und    die  Kroaten   wollten  nicht  mitspielen, 


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—  8   — 


weil  sie  in  der  Festschrift  durch  eine  Erinnerung  an 
das  Jahr  48  beleidigt  wurden.  Die  Tschechen  und 
die  Italiener  hatten  von  allem  Anfang  nicht  mitgetan 
und  hätten  erforderlichen  Falles  darum  gestritten,  wer 
zuerst  nicht  mittun  würde.  Der  Stiefvater  der  Völker 
Österreichs,  Herr  Klotzberg,  unterwarf  sich  in  Demut 
und  versprach  —  in  einem  Deutsch,  das  den 
kroatischen  Ansprüchen  vollauf  entgegenkam — eine 
Neuauflage  der  Festschrift;  aber  für  das  leibliche 
Wohl  der  Nationen  hatte  er  nicht  gesorgt.  Die  vier- 
hundert Ruthenen  sind  in  der  Nacht  vor  dem  grofien 
Tag  tatsächlich  erfroren  und  verhungert.  Dafi  sie 
dann  dennoch  im  Festzug  waren,  ist  nur  ein  Beweis 
der  belebenden  Wirkung  des  Patriotismus. 

• 

In  den  Tagen  der  Feste  las  man  einen  gro- 
fien Lokalbericht,  der  diese  Aufschriften  trug:  >Der 
Schauplatz  des  Unglücksc,  »Die  Rettungsaktion€^ 
»Die  Bergung  der  ersten  Totenc,  »Die  Opfere,  »Die 
Leichenschauc,  »Die  Liste  der  Totenc,  »Die  Liste 
der  Verletztenc,  »Der  Bericht  an  den  Magistrate, 
»Was  die  Geretteten  erzählen c.  Ein  Bericht  über 
den  Festzug  wars  also  nicht;  blofl  der  über  die 
Ezplosionskatastrophe  in  Ottakring.  Aber  zu  der- 
gleichen Lappalien  hatte  man  in  Wien  jetzt  keine 
Zeit.  Auch  unwichtige  Details,  die  wirklich  den  Fest- 
zug betrafen,  wurden  übersehen.  Zum  Beispiel: 

»Mehr  als  400  Bauern  aus  Ostgallzien  sind  heute  Mittags  an- 
gekommen, aber  das  Komitee,  das  sie  hieher  bestellt  hatte,  gab  ihnen 
nichts  zu  essen  und  wollte,  daß  sie  im  Prater  auf  dem  nackten  Erdboden 
schlafen.  Sonntag  abends  kamen  sie  in  Lemberg  an,  wo  sie  eine  Probe 
hatten.  Dienstag  Nachmittags  fuhren  sie  von  dort  weg  in  einem  Bum- 
melzug, in  dem  sie  ihre  Notdurft  durch  die  Fenster  verrichten  mußten. 
Gestern  nach  1  Uhr  kamen  sie  in  Wien  an.  Sie  wurden  in  den  Prater 
gebracht,  wo  sie  hinter  der  Rennbahn  in  Zelten  untergebracht  werden 
sollten.  Sie  mußten  bis  nach  5  Uhr  warten,  ehe  sie  etwas  zu  essen 
bekamen.  Was  sie  aber  dann  bekamen,  war  so,  daß  70  Bauern  das 
Essen  überhaupt  zurückwiesen,  well    es  ihnen,    die    wirklich    nicht   an 


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-  9 


allzu  gute  Küche  gewöhnt  sind,  zu  schlecht  war.  Das  Mittagmahl  be- 
stand aus  einer  dünnen  Suppe,  einem  kleinen  Stückchen  harten  Fleisches, 
einer  Kartoffel  und  einem  Stückchen  Brot.  Das  Fleisch  war  zu  hart, 
das  Brot  zu  wenig.  Auch  diejenigen,  die  das  Essen  genommen  hatten, 
klagten,  daß  sie  hungrig  geblieben  seien.  Noch  skandalöser  als  das 
Essen  war  das  Quartler.  Etwa  20  Zelte  waren  errichtet  und  in  jedem 
sollten  25  bis  30  Personen  schlafen.  Um  9  Uhr  Abends  war  blofi  in 
einigen  Zelten  ein  Strohsack,  in  den  meisten  war  gar  nichts,  nicht  ein- 
mal Stroh,  auf  das  sich  die  Festgäste  hätten  legen  können,  auch  nicht 
Decken,  mit  denen  sie  sich  gegen  die  Kälte  schützen  konnten.  Man 
mutete  ihnen  allen  Ernstes  zu,  in  dieser  kalten  Nacht  auf  dem  nackten 
Boden  zu  schlafen.  Es  ist  kein  Wunder;  daß  die  Leute  drohten,  die 
Zelte  zusammenzuschlagen.« 

^      Aber  am  andern  Morgen  ging's  hoch  her. 


Jubel  ohne  Ende.  Dem  Festzug  folgte  ein  Na- 
tionalitätenfest in  der  Rotunde,  bei  dem  die  Eoroitee- 
mitglieder  vom  Publikum  beschimpft  wurden,  die 
Schlesier  und  Qalizianer  zwangsweise  tanzten  und 
die  Triestiner  die  Irredentisten  prügelten.  Hier  fanden 
sich  endlich  auch  die  lange  gesuchten  Taschendiebe 
ein,  die  beim  Festzug  gefehlt  hatten,  und  die  jetzt 
unter  allgemeinem  Beifall  verhaftet  wurden.  Sie  hatten 
den  Zuschauem  weniger  abgenommen  und  mehr  ge- 
boten als  die  Eomiteemitglieder. 

Was  ist  ein  Nörgler?  Der  an  allem  etwas  aus- 
zusetzen hat,  sogar  am  Festzug.  Und  Leute,  die  im- 
Prinzip  für  Festzüge  sind  und  gerade  an  diesem 
etwas  auszusetzen  haben,  sollte  man  wirklich  des  Lan- 
des verweisen  oder  gar  zwingen,  die  Leitartikel  der 
patriotischen  Wiener  Presse  zu  lesÄi.  Aber  es  ist 
ungerecht,  den  einen  Nörgler  zu  nennen,  der  grund- 
sätzlich gegen  Lärm,  schlechte  Luft  und  Festzüge 
ist  und  diesen  da  nicht  schlechter  findet  als  einen 
andern.  Der  der  Meinung  ist,  daß  ein  Gemenge  aus 
Kitsch   und  historischer  Treue    nicht   den  Aufwand 


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—  10  — 


von  Gschaftlhuberei  lohnt.  Und  dafi,  wer  einen 
Orden  will,  dazu  keinen  Festzug  braucht.  Und  dafi 
überhaupt  ein  Knopfloch  leichter  ausgefüllt  ist  als 
eine  Tribüne. 

Karl  Kraus. 


Lob  der  verkehrten  Lebensweise*). 

Ich  hatte  die  traurigen  Folgen  einer  nornaialen 
Lebensweise,  mit  der  ich  es  eine  Zeitlang  yersuchte, 
nur  zu  bald  an  Leib  und  Qeist  zu  spüren  bekommen 
undbeschlofi,  noch  einmal,  ehe  es  zu  spät  wäre,  ein 
unvernünftiges  Leben  zu  beginnen.  Nun  sehe  ich 
die  Welt  wieder  mit  jenen  umflorten  Blicken,  die 
einem  nicht  nur  über  die  Wirklichkeit  der  irdi- 
schen Dbel  hinweghelfen,'  sondern  welchen  ich 
auch  manch  eine  übertriebene  Vorstellung  von  den 
möglichen  Lebensfreuden  verdanke.  Das  gesunde 
Prinzip  einer  verkehrten  Lebensweise  innerhalb 
einer  verkehrten  Weltordnung  hat  sich  an  mir 
in  jedem  Betracht  bewährt.  Auch  ich  brachte  einmal 
das  Kunststück  zuwege,  mit  der  Sonne  aufzustehen 
und  mit  ihr  schlafen  zu  gehen.  Aber  die  unerträgliche 
Objektivität,  mit  der  sie  alle  meine  Mitbürger  ohne 
Ansehen  der  Person  bescheint,  allen  Mifiwachs  und 
alle  Häfllichkeit,  entspricht  nicht  jedermanns  Naturell, 
und  wer  sich  beizeiten  vor  der  Gefahr  retten  kann, 
mit  klaren  Augen  in  den  Tag  dieser  Erde  zu  sehen, 
der  handelt  klug,  und  er  erlebt  die  Freude,  darob  von 
jenen  gemieden  zu  werden,  die  er  flieht  Denn  als 
der  Tag  sich   noch   in  Morgen    und  Abend   teilte, 

*)  Aus  dem  ,Siniplicissiinus^ 

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—  11 


wars  eine  Lust,  mit  dem  HahDenschrei  sbu  erwachen 
und  mit  dem  Nachtwäohtemif  ins  Bett  su  gehen. 
Aber  dann  kam  die  andere  Einteilung  auf,  es  ward 
Morgenblatt  und  es  ward  Abendblatt,  und  die  Welt 
lag  auf  der  Lauer  der  Ereignisse.  Wenn  man  eine 
Weile  angesehen  hat,  in  wie  beschämender  Art  sich 
diese  vor  der  Neugierde  erniedrigen,  wie  feige  sich 
der  Lauf  der  Welt  den  gesteigerten  Bedürfnissen  der 
Information  anpaßt  und  wie  schliefilich  Zeit  und  Raum 
Erkenntnisformen  des  journalistischen  Subjekts  werden, 
dann  legt  man  sich  aufs  andere  Ohr  und  schläft 
weiter.  »Nehmt,  müde  Au^en,  eures  Vorteils  wahr, 
den  Aufenthalt  der  Schmach  nicht  ansusehn.« 

Darum  schlafe  ich  in  den  Tag  hinein.  Und 
wenn  ich  erwache,  breite  ich  die  ganze  papierene 
Schande  der  Menschheit  vor  mir  aus,  um  zu 
wissen,  was  ich  versäumt  habe,  und  bin  glück- 
lich. Die  Dummheit  steht  zeitlich  auf,  darum 
haben  die  Ereignisse  die  Gewohnheit,  vormittags  zu 
geschehen.  Bis  zum  Abend  kann  immerhin  noch 
Manches  passieren,  aber  im  allgemeinen  fehlt  dem 
Nachmittag  die  lärmende  Betriebsamkeit^  durch  die  sich 
der  menschliche  Fortschritt  bis  zur  Stunde  der 
Fütterung  seines  guten  Rufs  würdig  zeigen  will.  Der 
richtige  Müller  erwacht  erst,  wenn  die  Mühle  stille- 
steht, und  wer  mit  den  Menschen,  deren  Dasein  ein 
Dabeisein  ist,  nichts  gemein  haben  will,  steht  spät  auf. 
Dann  aber  gehe  ich  über  die  Rinestrafie  und  sehe,  wie 
sie  einen  Festzug  vorbereiten,  ^er  Wochen  hallt  der 
Lärm,  wie  eine  Symphonie  über  das  Thema  vom  Geld, 
das  unter  die  Leute  kommt  Die  Menschheit  rüstet  zu 
einem  Feiertag,  die  Ziromermdister  schlagen  Tribünen 
und  die  Preise  auf,  und  wenn  ich  bedenke,  dafi  ich 
all  die  Herrlichkeit  nicht  sehen  werde,  beginnen 
auch  meine  Pulse  Ireudiger  zu  gehen.  Führte 
ich  noch  die  normale  Lebensweise,  so  hätte 
ich    wegen    des    Festzugs    abreisen    müssen;     nun 


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-^  12  — 


kann  ich  dableiben  und  sehe  trotsdem  nichts. 
Ein  alter  König  bei  Shakespeare  winkt  ab:  >Macb6 
kein  Geräusch,  macht  kein  Geräusch;  zieht  den  Vor- 
hang zul  Wir  wollen  des  Morgens  zu  Abend  speisenc. 
Ein  Narr,  der  die  Verkehrtheit  dieser  Welt- 
ordnung bestätigt,  setzt  hinzu:  »Und .  ich  will  am 
Mittag  zu  Bette  gehnc.  Wenn  aber  ich  am  Abend 
frühstücken  werde,  wird  alles  vorbei  sein,  uqd  aus 
den  Zeitungen  erfahre  ich  bequem  die  Zahl  der 
Sonnenstiche. 

Alle  wichtigeren  Unglücksfälle  geschehen  am  Vor- 
mittag. Ich  kenne  sie  nur  vom  Hörensagen  und  be- 
wahre mir  dadurch,  dafi  ich  zu  spät  komme,  den 
Glauben  an  die  Vortreflflichkeit  der  menschlichen 
Einrichtungen.  In  den  Abendblättern  steht  nicht  nur 
was  geschehen  ist,  sondern  auch  wer  dabei  war,  so 
dafi  man  sich  in  eine  sichere  Entfernung  von  einer 
Brandstätte  gerückt  fühlt  und  dennoch  Gelegenheit 
hat,  die  Häupter  seiner  Lieben  zu  zählen,  von 
denen  kein  einziges  fehlt.  Man  mache  sich  die  Ver- 
wandlung des  Weltenraums  in  einen  lokalen  Teil 
zunutze,  so  gut  man  kann,  man  bediene  sich 
eines  Verfahrens,  das  unter  dem  Namen  Zeitung 
eine  Konserve  der  Zeit  herstellt  Die  Welt  ist 
häßlicher  geworden,  seit  sie  sich  täglich  in  einem 
Spiegel  sieht,  darum  wollen  wir  mit  dem  Spiegel- 
bild vorlieb  nehmen,  und  auf  die  Betrachtung 
des  Originals  verzichten.  Es  ist  erhebend,  den  Glauben 
an  eine  Wirklichkeit  zu  verlieren,  die  so  aussieht, 
wie  sie  in  den  Zeitungen  beschrieben  wird.  Wer  den 
halben  Tag  vorschläft,  hat  das  halbe  Leben  ge- 
wonnen. 

^  Alle  besseren  Dummheiten  geschehen  am  Vormit- 
tag; der  Bürger  sollte  erst  erwachen,  wenn  die  Amts- 
stunden zu  Ende  sind.  Er  trete  nach  Tisch  ins  Leben 
hinaus,  wenn  es  frei  von  Politik  ist.  Dafi  auch  die 
Attentate  vormittags  geschehen,   wird  er  allerdings 


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-   13 


nicht  aus  den  Abendblättern  erfahren  können;  denn 
sie  werden  aumeist  auch  vonrden  Korrespondenten  ver- 
schlafen. Es  gibt  eine  Zeitung,  die  einen  Vertreter 
nach  dem  andern  nach  Paris  schickte,  um  die  Atten- 
tate auf  die  Präsidenten  rechtseitig  su  melden;  und 
siehe  da,  ein  Präsident  nach  dem  andern  kam  ums 
Leben,  und  jedesmal  war  der*  Tod  eines  Präsidenten 
der  Zwillingsbruder  des  Scblals  eines  Korrespondent^ . 
Als  die  deutschen  Fürsten  in  unserer  Stadt  weilten, 
wufite  ich  nichts  davon.  Aber  auch  sonst  hatte  dieser 
Zwischenfall  keine  nachteiligen  Folgen  für  mich, 
höchstens,  dafi  es  zum  erstenmal  geschah,  daß  ich. 
zum  Frühstück  mein  gewohntes  Kindfleisch  nicht 
bekam,  also  einer  Neigung  entsagen  mußte,  durch 
die  ich  bis  dahin  meine  Zugehörigkeit  zu  der  Stadt, 
in  der  ich  lebe,  demonstrativ  bekundet  hatte.  Der 
Kellner  entschuldigte  sich  und  verwies  mich  zum 
Trost  auf  die  Festigung  des  Dreibunds,  der  über  lokale 
Interessen  hinaus  der  Oewinn  dieses  Tages  sei. . 
Wenn  ein  Theologe  sich  dazu  durchringt,  nicht 
mehr  an  die  unbefleckte  Empfängnis  zu  glauben,  so 
geschieht  es  am  Vormittag,  wenn  ein  Nuntius  sich 
blamiert,  so  geschieht  es  am  Vormittag,  und  es  ist 
wahrlich  immer  noch  besser,  dafi  ein  Sturm  der  Bauern 
auf  eine  Universität  oder  der  Ruf  »Heraus  mit  dem 
allgemeinen  Wahlrecht  If  uns  den  Schlaf  des  Vor- 
mittags stört  als  die  Ruhe  des  Nachmittags.  Nur 
einmal  kam  ich  zufällig  des  Weges,  wie  ein  Minister 
nach  Tisch  demissionierte.  Aber  wie  unordentlich  ist 
es  auch  damals  zugegangen  I  Die  Polizisten  hieben 
um  drei  Uhr  auf  die  Volksmenge  ein,  die  »Abzug I< 
gerufen  hatte,  und  sagten  schon  um  viertel  vier: 
»Qeht's  z'haus,  Leutein,  der  Badeni  is  auch  schon 
gangen I<  Wie  steht  es  mit  der  Justiz?  Sie  ist  nur 
am  Vormittag  blind,  und  geschieht  ausnahmsweise 
einmal  noch  in  vorgerückter  Stunde  ein  Justizmord, 
80  handelt  es  sich  gewiß  um  einen  besonders  wich- 


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14 


tigen  Fall.  Oder  es  kann  in  deutschen  Landen  vor- 
kommen, dafi  in  einer  geeohlechtlichen  Affäre  die 
Wahrheit  auf  dem  Marsche  ist»  und  zwar  seit  fünf- 
undKwansig  Jahren,  und  dann  mufi  sie  wohl  deu 
Nachmittag  zu  Hilfe  nehmen.  Um  einem  solchen  Er- 
eignis seine  Aufmerksamkeit  zu  versagen,  nützt  es 
auch  nichts,  sich  ins  Schlafzimmer  zurückzuziehen, 
d%sich  bekanntlich  gegenüber  dem  Wahrheitsdraog 
gerade  das  Schlafzimmer  als  der  am  wenigsten 
sichere  Ort  erwiesen  hat.  Gehört  es  aber  sonst 
immerhin  zu  den  Annehmlichkeiten  des  Lebens, 
die  Aktionen  der  staatlichen  Verwaltung  zu  verschla- 
fen, so  mufi  ich  leider  zugeben,  dafi  ich  auf  einem 
Gebiete  mit  meiner  Praxis  überhaupt  kein  Glück 
habe,  und  zwar  im  Reich  der  schönen  Künste.  Denn 
man  hat  zum  Beispiel  festgestellt,  daß  die  meisten 
Theaterdurchfälle  gerade  abends  geschehen.  Dafür 
ist  bei  der  Nacht  auf  allen  Gebieten  öffentlicher 
Betätigung  Ruhe.  Nichts  regt  sich.  Es  gibt  nichts  Neues. 
Nur  die  Kehrichtwalze  zieht  wie  das  Symbol  einer 
verkehrten  Weltordnung  durch  die  Straßen,  damit 
der  Staub  verbreitet  werde,  den  der  Tag  zurück- 
gelassen hat,  und  wenn's  regnet,  so  geht  auch  der 
Spritzwagen  hinterher.  Sonst  ist  Ruhe.  Die  Dummheit 
schläft,  da  gehe  ich  an  die  Arbeit.  Von  fern  klingt 
es  wie  das  Geräusch  von  Druckpressen:  die  Dumm- 
heit schnarcht.  Und  ich  beschleiche  sie  und  ziehe 
aus-der  meuchlerischen  Absicht  noch  Genuß.  Wenn 
am  östlichen  Horizont  der  Kultur  das  erste  Morgen- 
blatt erscheint,  gehe  ich  schlafen  .  .  .  Das  sind  so 
die  Vorteile  der  verkehrten  Lebensweise. 

Karl  Kraus. 


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—  15  — 


Seine  Antwort, 


Herr  K.  hat  mich,  seit  ich 
ihn  als  einen  Mitarbeiter  der  ,Wage' 
kennen  lernte,  mit  Überschwang- 
iicher  Liebe,  Bewunderung,  An- 
betung verfolgt,  das  hat  mich  ge- 
rfihrt  und  ich  habe  den  talentvollen 
jungen  Menschen,  weil  ich  ihn  für 
sauber  hielt,  leider  nicht  wegge- 
stoßen. Wenn  ich  nach  Wien  kam, 
holte  er  mich  vom  Bahnhof  ab,  und 
ließ  mich  nicht  loß,  bis  ich  wieder 
im  Zuge  safi.  Da  er  von  fast  allen, 
die  mir  in  Wien  bekannt  und 
interessant  sind,  verachtet  wurde 
und  wird,  verzichtete  ich,  aus  Mit- 
leid mit  dem  armen  Teufel,  auf  das 
Vergnügen,  diese  Menschen  zu 
sehen.  Wenn  er  nach  Berlin  kam, 
war  er  bei  mir  wie  Kind  im  Hause, 
saß,  ohne  Rücksicht  auf  meine 
knappe  Zeit,  stundenlang,  halbe  Tage 
lang  bei  mir.  Ungefähr  Jede  Ge- 
fälligkeit, die  man  erweisen  kann, 
habe  ich  ihm  erwiesen.  So  habe 
ich  ihm  fürs  erste  oder  fürs  zweite 
Heft  seiner  , Fackel'  (deren  ganzen 
Plan,  innere  und  äußere  Gestaltung 
ich  auf  sein  Bitten  mit  ihm  durch- 
sprach) einen  Artikel  geschrieben, 
nicht  nur  umsonst,  sondern  auch 
in  dem  sicheren  Vorgefühl,  welchen 
Haß  ich  mir  dadurch  in  Wien  zu- 
ziehen würde.  Das  geschah  auch 
noch,  ich  war  verfemt  und  die 
,N.  F.  P.'  lehnte  einen  Aufsatz 
Bjömsons  über  mich  ab.  Für  seinen 
f^zefi  mit  Bahr  habe  ich,  trotz- 
dem ich  Bahr  sehr  schätze  und 
immer  für  einen  unbestechlichen 
Menschen  hielt,  ihm  ein  Gutachten 
geschrieben.  U.  s.  w.  Seine  Bilder, 
Briefe,    Karten    strotzen   von  »Be- 


leb bin  ein  alter  Leser  der  .Zu- 
kunft'. Ein  alter  und  treuloser 
Leser.  Mein  Vorurteil  gegen  Herrn 
Maximilian  Harden  ist  gewiS  unter 
allen  Antipathien,  die  er  sich  seit 
der  Gründung  seiner  Zeitschrift  er- 
worben hat,  die  beachtenswerteste, 
weil  er  mir  persönlich  so  gar  keinen 
Grund  zu  ihr  gegeben  hat.  Das  be- 
lastet in  Wien,  der  Stadt  der  Ver- 
bindungen und  Beziehungen,  die 
sich  die  Niederlassung  des  Herrn 
Harden  redlich  verdient  hätte,  mein 
Schuldkonto.  In  der  Reihe  verlorener 
Freundschaften,  die  dem  Lebens- 
weg des  Herrn  Maximilian  Harden 
unberechtigter  Weise  das  ehrenvolle 
Dunkel  der  Einsamkeit  verliehen 
haben,  bedeutet  mein  schroffer  Ab- 
fall die  bitterste  Enttäuschung.  Bei 
allen  anderen  Verlusten  konnte  er 
die  literarische  Verfeindung  auf  die 
persönliche  reduzieren.  Meine  Un- 
treue nahm  den  anderen  Weg.  Ich 
habe  Herrn  Maximilian  Harden  aus 
blauem  Himmel  angriffen.  Welch' 
tief  unbegründete  Abkehr!  Wie  be- 
reute ich  es,  daß  sie  notwendig 
war,  wie  schämte  sich  mein  Verrat 
des  früheren  Glaubens  1  Ich  erkannte 
damals,  daß  der  Altersunterschied 
zwischen  uns  sich  umsomehr  ver- 
engte, als  ich  mir  erlaubte,  die 
Kriegsjahre  des  Herrn  Harden  nur 
einfach  zu  zählen.  Der  Fünfund- 
zwanzigjährige hatte  neben  dem 
Fünfunddreißtgjährigen  den  Nach- 
teil, aber  zehn  Jahre  später  den 
Vorteil  der  Jugend.  Zuerst  konnte 
er  nicht  sehen,  und  dann  sah  er 
einen  Blinden.  Die  Jugend  sollte 
sich  nur  von  abschreckenden  Bei- 


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-.16  — 


wunderung«  und  Liebe.  Er  nennt 
mich  nach  einem  Wiener  Aufenthalt 
den  Unvergeßlichen  usw.  Daß  mir 
seine  Tätigkeit  mehr  und  mehr  miß- 
fiel, mußte  er  merken.  Seine  ewige 
Bitte:  Ihn  und  seine  »Fackel*  in  der 
»Zukunft*  zu  erwähnen»  konnte  ich 
nicht  erfflllen,  zweimal  mußte  ich 
ihm  Artikel  ablehnen.  Daß  ich  sein 
Vorgehen  gegen  Bahr,    seine  Cam- 

pagne  für  die widrig  fand, 

verhehle  ich  nicht.  Zu  einer  Kritik 
erdreistete  er  sich  zum  ersten  Male, 

als  ich  über    die die   das 

Berliner  Bühnenleften  mit  ihrer 
Geldmacht  vergiftet  hatte,  einige 
unfreundliche  Worte  schrieb.  (Er 
hatte  gemeinen  Privatklatsch  über 
die  . . .  breitgetreten,  war  seit  seinem 
grotesken  Roman  mit  der  .... 
aber  empfindlich  in  diesem  Punkt 
geworden.)  Ich  antwortete  schroff 
und  ließ  ihn  bei  seiner  nächsten  An- 
wesenheit nicht  mehr  zu  mir  kom- 
men. Seitdem  schimpft  er  .  .  .  Ich 
bin  der  Selbe  geblieben,  der  ich 
in  der  Zeit  seiner  Verhimmelung 
war,  habe  nur  gearbeitet.  Sein  Blatt 
habe  ich  seit^  zwei  Jahren  nicht 
mehr  geöffnet,  er  schickt  es  mir 
und  es  bleibt  in  dem  Umschlag 
liegen.  Ekelhaft  war  mir's  längst, 
bevor  er  mich  angriff.  Jetzt  steht 
er  mit  ,N.  F.  P.'  und  ,N.  W.  T.'  in 
Reihe  und  Glied  gegen  mich.  Habeat. 

Maximilian  Harden 

(7.  Juni  1908). 


spielen  erziehen  lassen  und  sich  die 
Vorbüdcr  für  die  Zeit  der  Reife 
aufheben.  Was  ihr  im  weiten  Um- 
iu-eis  deutscher  Kultur  sich  bietet, 
ist  ein  so  sicherer  und  tief 
fundierter  Schwindel,  daß  selbst 
die  Originale  Surrogate  sind. 
Nur  die  Phantasie  wird  mit 
ihnen  fertig,  zieht  sie  dem 
Leben  vor.  Wie  sah  der  große 
Einzelkämpfer  aus,  dessen  Meinung 
gegen  jenen  Strom  schwamm, 
zu  dem  sich  alle  journalisti- 
schen Schlammgewässer  ver- 
einigen? Er  sah  aus,  wie  ich 
mir  ihn  schuf,  und  Herr  Maxi- 
milian Hacden  lieferte  für  meine 
Erfindung  die  Gebärde.  Ich  sah 
seine  Blitze  zucken,  und  hörte 
seine  Donner  krachen;  denn  in 
mir  war  Elektrizität.  Ich  war 
ein  Theatermeister,  den  das  Ge- 
witter, das  er  erzeugt,  erzittern 
macht.  Welchen  Respekt  hatte  ich 
vor  Herrn  Maximilian  Harden,  weil 
seine  Leere  meinem  Ergänzungs- 
trieb entgegenkam.  Solches  Ent- 
gegenkommen wird  zum  Erlebnis, 
bleibt  aber  nur  so  lange  das 
Verdienst  des  Andern,  als  man 
für  die  Werte,  die  man  zu 
vergeben  hat,  nicht  in  sich  selbst 
einen  besseren  Platz  findet.  Dann 
wohnt  in  den  öden  Fensterhöhlen 
das  Grauen. 

Karl  Kraus 

(31.  Oktober  1907). 


Seit  längerer  Zeit  werden  in  den  Kreisen,  die 
sich  für  literarische  Personalien  interessieren,  Wetten 
abgeschlossen :  Wird  er  antworten  oder  wird  er  nicht? 
Ich  entmutigte  die  Hoffenden.  Er  wird  nicht,  sa^te 
ich  allen,   die  mich  fragten   und  die   mit  Recht  an- 


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—  17  — 


nahmen,  dafl  ich  über  die  HenAnungen  des  Herrn 
Maximilian  Harden  besser  informiert  bin  als  er  über 
die  Triebe  des  Grafen  Moltke.  Er  wird  nicht  Denn 
er  ist  vornehm.  Er  hält's  auch  hierin  mit  der  Religion 
der  yNeuen  Freien  Presse*,  welche  die  Abtrünnigen 
mit  dem  dumpf  grollenden  Fluch  dreimal  spaltet: 
Nicht  genannt  soll  er  sein  I  Und  er  ist  noch  viel  vor- 
nehmer. Denn  wer  die  Betten  der  Fürstlichkeiten  zu 
lüften  gewohnt  ist  und  grundsatzlich  nur  die  Kübel 
der  feinsten  Herrschaften  hinausträgt,  wird  nicht  zu 
Leuten  hinabsteigen,  die  weder  für  die  literarisohen 
Aufgaben  eines  Domestiken  Verständnis  noch  Achtung 
vor  dem  Journalisten  haben,  der  seinen  Beruf  so  wenig 
verfehlt  hat.  Jeden  Morgen  beim  Aufräumen  des 
Schlafzimmers  der  Frau  Gräfin  den  Lassalle  zitieren,  aus* 
sprechen,  »was  ist«,  und  der  Nachbarschaft  erzählen, 
daß  der  Herr  Graf  sich  wieder  einmal  gänzlich  ab- 
geneigt gezeigt  hat,  mein  Gott  im  Himmel,  wer  eine 
solche  Leistung  gering  schätzt,  versteht  wirklich 
nichts  von  den  Angelegenheiten  der  großen  Welt. 
Wer  es  ferner  nicht  begreift,  dafi  ein  Nachkomme 
der  Jesaias  und  Hütten  das  Recht  haben  mufl, 
dem  Richter,  der  ihm  pariert,  »eines  Holbein  Hal- 
tung und  Haupt«  nachzurühmen,  und  dem  Richter, 
der  ihn  verurteilt,  die  Zuckerkrankheit  vorzuwerfen, 
dem  ist  nicht  zu  helfen.  Ich,  in  meiner  publizistischen 
Weltabeeschiedenheit,  sage:  In  die  Lücke  des  deut- 
schen Gesetzes,  das  dem  privatesten  Leben  des 
Staatsbürgers  den  Schutz  versagt  hat,  trete  man  ihn, 
dafi  er  darin  ersticke,  den  Kerl,  der  uns  jetzt,  nach 
monatelanger  Qual,  noch  von  der  »schlimmen  Krank* 
heit«  erzählt,  die  jener  Graf  »in  die  Ehe  mitbrachte«. 
Indem  ich  aber  so  spreche,  beweise  ich  nur,  dafi  ich 
ein  armer  Teufel  bin,  dessen  enger  Horizont  die 
^oßen  Aufgaben  der  Politik  nicht  zu  fassen  vermag. 
Es  wäre  roüfiig,  sich  mit  mir  in  eine  Polemik  ein- 
zulassen.   Ich  spüre  ja  doch   nur  den  Gestank,  den 


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—  18  — 


einer  über  das  Vaterland  yerbreitet,  und  merke  nicht, 
dafi  es  fürs  Vaterland  stinkt.  Ich  entsetse  mich  über 
die  kulturelle  Scheufilichkeit,  nein,  über  die  geistige 
Minderwertigkeit  einer  Wabrheitsforschung,  die  mit 
Enthüllergebärden  die  deutsche  Moraljustiz  antreibt, 
in  zwei  Wochen  nachzuholen,  was  sie  in  fünfund- 
zwanzig Jahren  versäumt  hat,  und  die  es  endlich 
dahin  bringt,  dafi  ein  Henkerparagraph  verschärft 
und  ein  friedlicher  Gebirgssee  von  Untersuchungs- 
richtern ausgemessen  wird.  Ich  gedenke  eines  der 
markantesten  Worte  Maximilian  Hardens:  Lieber  ein 
Schweinehund  sein  als  ein  Dummkopf!  und  beklage 
es  tief,  dafi  ihm  die  Entwicklung  der  politischen 
Dinge  die  Wahl  schwerer  gemacht  hat,  als  er  sich* 
ursprünglich  vorgestellt  hatte.  Denn  wer  der  Freiheit 
des  Geschlechtslebens  eine  Schlinge  legt  und  sich  in 
ihr  verfängt,  der  ist  wahrlich  zu  bedauern,  er  über- 
schlägt sich,  weifi  nicht  mehr  aus  noch  ein,  und 
schreibt  schließlich  Artikel,  die  zwar  von  weitem 
nach  erpresserischer  Gesinnung  riechen,  aber  in  der 
Nähe  sich  blofi  als  die  Hilferuf)  eines  ungeschickten 
Angebers  erweisen,  den  die  Konsequenz  einer  ein- 
mal begangenen  Lumperei  um  den  Verstand  gebracht 
hat.  Er  glaubt  noch  ein  Denunziant  zu  sein,  und  er 
ist  schon  längst  der  geistige  Bundesgenosse  des  Herrn 
Riedel,  und  mitleidig  wiederholt  der  Leser  die  Frage: 
Was  gieng^s  dich  an,  Tropf,  damischer !  Er  sehnt  sich 
nach  den  alten  Zeiten,  da  ihm  eine  anonyme  Schmäh- 
karte an  die  Redaktion  des  , Vorwärts*  nachgewiesen 
wurde,  durch  die  er  Otto  Erich  Hartleben  aus  seinem 
Kritikeramte  drängen  wollte,  und  da  er  durch 
das  Wort  vom  Schweinehund  die  peinliche 
Situation  zur  alle:emeinen  Zufriedenheit  klärte.  Jetzt 
zieht  er  aus  Verzweiflung  gegen  die  Schweinehunde 
vom  Leder,  weist  ihnen  täglich  irgend  eine  körper- 
liche Beziehung  zu  den  Fischerknechten  nach,  doch,  ach, 
längst  ist  ihm  selbst  die  geistige  Mutualität  mit  dieser 


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—  19  — 


Sorte  nachgewiesen.  Er  mufi  so  tun,  als  ob  er  eine 
innere  Befriedigung  spürte,  so  oft  ein  bayrischer  Hiesl 
unter  dem  auf  ihn  einstürmenden  Bernstein  end- 
lich zugibt,  der  Fürst  habe  ihn  »die  Qaudi,  die 
Lumperei€  gelehrt.  Und  will  es  das  Unglück,  dafi 
der  Abreißkalender  gerade  Huttens  Qeburtstag  an- 
zeigt, so  ersteht  dem  deutschen  Volk  aus  diesem 
Chaos  von  Wahrhaftigkeit  und  Ekelhaftigkeit  der 
Anblick  einer  Bruderschaft,  bei  der  man  nicht  mehr 
weift,  ob  Bismarck  oder  dem  Riedel  die  Einigung 
Deutachlands  au  danken  und  ob  unter  dem  »auf- 
rechten Milchmann«  nicht  vielleicht  doch  Lassalle  au 
verstehen  ist. 

Er  kann  nicht  mehr  aurück.  Sein  Tagwerk  be- 
ginnt mit  einer  gefährlichen  Drohung  und  endet  mit 
einer  Enthüllung.  Kein  deutscher  Mann,  der^  sich 
beute  als  Ehegatte  schlafen  legt,  kann  wissen,  ob  er 
nicht  morgen  als  »Eiuäde«  aufsteht,  bei  der  Nacht 
kommt  alTes  an  den  Tag,  und  auf  die  Gefahr  hin, 
offene  Hosentüren  einzurennen,  verkündet  der  Retter 
des  Vaterlandes:  »Pardon,  ihr  Tüchtigen,  wird  nicht 
mehr  gegeben  I«  Mindestens  soll  mit  dien  abgerechnet 
werden,  die  sich  der  Wahrheit  auf  ihrem  Marsche  aus 
München  nach  Berlin  entgegengestellt  haben.  Ob 
unter  den  Bedrohten  auch  ich  gemeint  sei  —  denn 
auch  »die  im  schwarzen  Schreiberrock«  sind  in  Aus- 
sicht genommen  — ,  darum  geht  seit  langem  in  lite- 
rarischen Kreisen  die  Wette.  Er  wird  nicht  1  sagte  ich. 
Zwar  habe  ich  Schlimmeres  getan  als  die  Mitglieder 
jenes  Qrüppchens  von  Berliner  »Prefipäderasten«,  auf 
das  der  Normenwächter  nicht  ohne  tiefere  Absicht 
hinweist.  Sie  begnügten  sich,  zu  sagen,  dafi  es  verfehlt 
sei,  die  vermeintliche  Gefahr  eines  politischen  Einflusses 
durch  Anspielungen  auf  die  genitalen  Irrtümer  einiger 
alten  Herren  bannen  zu  wollen.  Ich  habe  diese  Taktik 
als  eine  politische  Tat  gelten  lassen,  und  dann  erst 
gezeigt,  wie  sie  der  Menschheit  ins  Qesicht  schlägt. 


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20  -- 


loh  sagte  :  Der  Eerl  ist  vielleicht  wirklich  ein  Patriot, 
ein  Kiäturmensch  ist  er  gewifi  nicht.  Und  ich  habe 
noch  Schlimmeres  gewagt.  An  einem  Stil,  der  hier 
wirklich  den  Mann  bedeutet,  die  grofie  Unbedeutung 
dieses  literarischen  Charakters  nachgewiesen.  Das  war 
eine  Enthüllung,  die  sich  vor  die  Enthüllungen  des 
Herrn  Maximilian  Harden  stellt ;  von  der  er  spürt,  daß 
sie  ihm  die  gedankenlose  Anerkennung  seiner  Zeit- 
genossen gestört  hat,  und  von  der  ich  weifi,  daß  sie 
seinen  Ruhm  unsterblich  machen  wird.  Anstatt  mir 
nun  dankbar  zu  sein,  weU  seine  literarische  Eigenart 
wenigstens  in  meiner  Eommentierung  auf  die  Nach- 
welt kommen  wird,  hegt  er  unauslöschlichen  Groll 
gegen  mich  und  sagt  jedem,  der  es  hören  will,  ich 
sei  treulosen  Gemütes,  rachsüchtig  und  handle 
blofi  aus  verletzter. Eitelkeit.  Seitdem  ich  mit  besorg- 
ter Iiiiene  die  Schrecken  der  Elephantiasis  an  sei- 
nen Satzgliedern  nachgewiesen  habe,  hat  ßich  sein 
Leiden  nicht  gebessert.  Wie  sollte  man  glauben,  dafi 
er  in  diesem  Zustand  sich  erheben  und  mir  antwor- 
ten könnte,  er  leide  nicht  ?  Ich  habe  in  meiner 
Sünden  Maienblüte  bei  ihm  zu  Mittag  gegessen,  ich 
war  »wie  Kind  im  Hause«,  und  jetzt  greife  ich  ihn 
an.  Beides  ist  sozusagen  erweislich  wahr,  die  Tat 
wie  die  Reue.  Aber  was  sind  alle  Leiden  eines 
kranken  Rippenfells  gegen  den  Alpdruck  einer  hoch- 
gestiegenen literarischen  Jugend,  die  man  einst  be- 
wirtet hat  und  die  einem  jetzt  in  die  Suppe  spuckt? 
In  solchem  Zustand  rafft  man  sich  zu  keiner  Pole- 
mik auf.  Er  wird  nicht  I  Mit  jedem  Satz,  den  er  gegen 
mich  schriebe,  würde  er  meine  Feindseligkeit  gegen 
seinen  Stil  rechtfertigen.  Er,  der  immer  gelitten  hat, 
keinen  seiner  Briefe  je  ohne  das  Postskriptum  liefl, 
daß  er  unsäglich  leide,  die  Fatierung  eines  Einkom- 
mens von  62.000  Mark  nie  ohne  vouständige  Gebro- 
chenheit vollzogen  hat,  in  der  Festung  Weiohsel- 
münde  mehr  als  Dreyfus  litt   und   in  Danzig   sogar 


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—  21  — 


Champagner  trinken  mufite,  um  die  Leiden  der 
Festung  ertragen  zu  können,  er  leidet  jetzt  mehr 
denn  je.  Seinen  Körper  hat  Herr  Schweninger  be- 
handelt, sein  Geist  leidet  unter  meiner  Massage.  Wie 
sollte  sich  der  Unglückliche  zu  einer  Abwehr  auf- 
raffen, der  kürzlich  einen  Leitartikel  mit  diesem  Satz 
begann :  »Vor  hundertzwanzig  Jahren,  als  der  dicke, 
pomphaft  tronende,  aus  unkriegerischem  Festlärm  gern 
in  seichte  Salonmystik  schweifende  Sohn  August  Wil- 
helms just  seine  Eitelkeit  mit  dem  nährkraftlosen 
Erfolg  im  holländischen  Wilhelminenhandel  gefüttert 
hatte,  wurde  eine  Druckschrift  bekannt,  die,  unter 
dem  Titel  ,0onsid^ration8  sur  l'^tat  prösent  du  corps 
politique  de  TEurope*,  schon  fünfzig  Jahre  vorher 
entstimden  wart.  Wer  so  schreibt,  sollte  mir  antwor- 
ten können?  Er  wird  nicht.  Er  weifi,  dafi  ich  ihn 
für  ein  literarisches  Deutschland,  das  die  Größe  des 
Sprechers  nicht  nach  der  Länge  seiner  Stelzen  beur- 
teilt, erledigt  habe.  Er  hat  auch  meinen  Nachruf 
gehört  und  ahnt,  er  könnte,  wenn  er  nur  im  gering- 
sten Miene  macht,  sich  für  scheintot  auszugeben, 
eine  Schändung  seines  literarischen  Grabes  erleben, 
die  das  Mafi  meiner  gewohnten  Pietätlosigkeit  weit 
übersteigt.  Er  wird  sanft  ruhen  und  sich  nicht  mit 
mir  in  einen  Wortwechsel  einlassen.  Tut  er  aber 
doch  so,  als  ob  er  lebte,  so  reicht  in  der  Besinnungs- 
losigkeit des  Schlachtens,  das  er  sich  in  Deutschland 
erlauben  darf,  seine  Klugheit  auch  heute  noch  so  weit, 
die  Grenzen  seiner  polemischen  Möglichkeit  richtig 
abzuschätzen.  Nach  siechen  Fürsten,  die  ihre  Feder 
höchstens  in  einem  gefühlvollen  Briefwechsel  ver- 
sucht haben  und  heute  in  der  Charit^  liegen,  langt 
sein  publizistischer  Mut.  Mich  kennt  er.  Er  hat 
noch  vor  einem  Jahre  vor  Frank  Wedekind,  der  sich 
später  nach  Kräften  um  eine  Versöhnung  unverein- 
barer Gegensätze  bemühte,  seine  höchste  Achtung 
meines  literarischen  Wesens  bekundet.    Die  Versöh- 


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22  — 


nung  mußte  leider  an  der  Ungleichheit  der  gegem- 
seitigen  Schätzung  scheitern.  Wer  aber  fühlte  so  tief 
wie  er  die  Lächerlichkeit  des  Versuchs,  mich  au  einer 
persönlichen  Polemik  herauszufordern?  Nein,  aus  dem 
erhofften  Hahnenkampf  kann  infolge  Unpäßlichkeit  des 
einen  Hahns  nichts  werden.  Er  wird  krähen,  wenn  er  auf 
den  Mist  seiner  Affären  steigt.  Er  wird  möglicherweise 
auch  vom  »feindlichen  Feder völkchenc  sprechen  und 
selig  im  Stolz  einer  Unfähigkeit  sein,  die  zu  Diminutiven 
ihre  Zuflucht  nimmt.  Er  wird  von  einem  Bürschchen 
sprechen,  das  einst  aus  seinem  Schüsselchen  gegessen 
hat.  Vielleicht  in  einem  Wiener  Montagsblättchen,  wenn 
zufällig  einer  auf  die  gute  Idee  kommt,  ihn  zu  fra- 
gen, was  er  gern  sagt.  Beileibe  nicht  in  der  ,Zukunft'. 
Das  könnte  die  Aufmerksamkeit  erregen  und  Moritz 
und  Rina  zur  Bestellung  der  ,FackeP  verleiten. 

Und  so  geschah  es.  Immerhin  ist  es  die 
Antwort  des  Herrn  Harden  auf  meine  Angriffe, 
wenn  sie  auch  blofi  die  Antwort  auf  die  Frage 
eines  Redakteurs  ist.  Er  macht  seinen  Feinden 
mit  Vorliebe  außerhalb  Preußens  den  Prozefl. 
Nur  unterscheidet  sich  mein  Fall  von  dem  des 
Fürsten  Eulenburg  dadurch,  dafi  ich  der  Gerichts- 
verhandlung beiwohnen  und  dem  Zeugen  Harden 
sofort  auf  die  Finger  schlagen  kann,  wenn  er  sie 
zum  Schwur  wider  mich  erhebt.  Für  einen  Augen- 
blick wird  das  Niveau  meines  Hasses  gedrückt.  Mein 
Kampf  gegen  die  Verpestung  Deutschlands,  meine 
Enthüllung  des  Mißverhältnisses  zwischen  einer 
literarischen  Winzigkeit  und  ihrem  Geräusch,  mein 
ganzes  öffentliches  Bemühen  soll  zu  einer  Privat- 
afläre  erniedrigt  werden,  zu  einem  Ringkampf  mit 
Herrn  Harden,  den  jeder  unbefangene  Zuschauer  fü 
einen  Akt  der  Feigheit  halten  könnte.  Ich  mufi  au 
Humanität  darauf  verzichten,  einen  mit  hundert  Eil 
Bildung  beladenen,  auf  Stelzen  daherkommende 
Ritter  mit  dem  Rapier  anzugehen.  Um  es  ihm  leicht« 


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—  23  - 


zu  machen,  soll  ich  ihm  auf  das  mir  fremde   Qebiet 
der  Tatsächlichkeit  folgen.    Ich  bin  dasu  £u    haben, 
aber  man  wird  mir  den  Widerwillen  glauben  müssen, 
erweisliche  Unwahrheiten,  die  ich  längst  verdaut  habe, 
zu  korrigieren.  Immerhin  mufite  ich  darauf  gefaßt  sein, 
daft  er  mir  ein  paar  Zitate  an  den  Kopf  wirft,  wenn 
nicht  aus  den  Korintherbriefen,  so  doch   wenigstens 
aus  meinen  eigenen.    Denn  eine  ausgesprochene  Fä- 
higkeit hat  er :  er  hebt  Briefe  auf.  Ich  vernichte  sie 
blofi  nicht,  mache  aber  von  ihnen    kein    Aufhebens. 
Herr  Harden   wird  nachweisen,    dafi    ich    ihn    einst 
bewundert  habe.  Es  nützt  nichts,    daß  ich    es    nicht 
leugne,    nie  geleugnet  habe   und  ihm  feierlich    ver- 
spreche, dafi  ich  es  nie  leugnen  werde.  Für  alle  Fälle 
ist  es  gut,  dafi  ich  die  Beweise  der  gegenseitigen  Zu- 
neigung nicht  vernichtet  habe,  und  dafi  ich  die  Aus- 
dauer besitze,  aus  dem    Chaos    meines    Archivs    zu 
holen,  was  ich  brauche.  Ich   gebe   zu,    dafi    ich    im 
Kampf  der   Dokumente    den  kürzeren    ziehen    mufl 
und  dafi  meine  Zuneigung  zu  Herrn  Harden  kompromit- 
tierender ist  als  die  seine  zu  mir.  Aber  anderseits  mufi 
lob  doch   wieder    betonen,     dafi     sein    Urteil,     das 
er  als    reifer  Mann   über  mich  gefällt    hat,    rechts- 
verbindlicher ist  als  das  Vorurteil  eines  schwärmeri- 
schen  Neulings,    und  es  besteht   für   Herrn    Harden 
immerhin  die  Gefahr,  dafi  die  literarische  Forschung 
von  ihm  das  Lob  meines  Schaffens  beziehen  könnte, 
während  sie  sicherlich  meine  Begeisterung  für  seine 
Werke  als  die  Meinung  eines  unreifen   Jungen  ver- 
werfen wird.  Der  künstlerische  Vorzug,   den   er   vor 
mir  voraus  hat:  dafi   er    seine    Briefschaften    besser 
ordnet  und  registriert  und  jedem  Gegner  durch  einen 
Handgriff  beweisen  kann,  dafi    man    ihm    vor    zehn 
Jahren    mit    »vorzüglicher    Hochachtung«    geschrie- 
ben hat,  wird  ihm  dabei  nicht  das  geringste  nützen. 
Ich  erspare  ihm  auch  noch  den  Handgriff,  da  ich  sogar 
nie  ein  Hehl  daraus  gemacht  habe,    daß    die    Hoch- 


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—  24 


achtuug  meiner  Briefe  mehr  als  eine  Formalität  war: 
Aber  ich  leide  imter  der  Zudringlichkeit  eines  Men- 
schen, der  nach  Jahren  auf  der  alten  Bewunderung 
besteht,  die  ich  ihm  nach  reiflicher  Überlegung  ent- 
zogen habe.  Nicht  genug,  dafi  Herr  Harden  in  Bekann- 
tenkreisen über  die  Veränderung,  die  mit  mir  vor- 
gegangen ist  —  dafi  sie  i  n  mir  vorgegangen  ist,  hält 
seinesgleichen  für  ausgeschlossen  — ,  sich  bitter  beklagt 
oder  wie  er  sagen  würde,  »stöhnt« ;  daß  er  seinen  Besuchern 
die  »persönlichen  Motive«  auftischt,  die  er  meinen 
Angriffen  zugrundelügen  läfit,  so  flüchtet  er  jetzt  mit 
seinen  Beschwerden  noch  in  die  Öffentlichkeit.  Ich  will 
ihm  entgegenkommen  und  die  Publizität  seiner  Anklage 
vergröfiern.  Schon  um  die  Erfahrung  zu  verdichten, 
dafi  ein  Denunziant  und  Moralphilister  sich  in  keiner 
Lebenslage  verleugnet.  Die  Antwort  des  Herrn  Harden 
liegt  vor,  und  siehe,  sie  ist  ganz  im  Geschmack 
der  Aktionen,  denen  meine  Angriffe  gegolten  haben. 
Während  ich  an  meinem  Schreibtisch  safi,  ist  Herr 
Harden  unter  mein  Bett  gekrochen.  Ich  will  ihn  von 
der  Stelle  jagen.  Wenn  er  unfähig  ist,  meinem  öffent- 
lichen Wirken  Wunden  zu  schlagen,  so  wird  er  siohs 
künftig  überlegen,  Wunden  meines  privaten  Fflhlens 
aufzureißen.  Aber  wahrlich,  man  braucht  nicht  bis 
zu  der  Stelle  zu  gelangen,  wo  ich  sterblich  bin  und 
er  tückisch  wird,  um  eine  Nase  voll  von  diesem 
Charakter  mitzunehmen   und  von  diesem  Geiste. 

Ich  möchte  auf  dieVerstandesarmut  zunächst  auch 
hier  gröfieren  Wert  legen  als  auf  die  Lumperei. 
Jene  hilft  sich,  so  gut  sie  kann.  Sie  sagt,  dafi  ich, 
Karl  Kraus,  einen  Brudermord  begangen  habe.  An 
einem  Bruder,  den  ich  einst  liebte.  Da  ich  nun  weder 
die  Liebe  noch  den  Mord  leugne  und  jene  sogai 
bereue,  so  sagt  sie,  der  Mord  habe  ein  »persönliche' 
Motiv«:  Mein  Bruder  hat  mir  einmal  einen  Apfel 
den  ich  haben  wollte,  nicht  geschenkt.  Ich  hab 
also  aus  Rachsucht  gehandelt.    Ich  empfinde  es  nur 


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—  25  — 


als  eine  Zumutung  von  unbeschreiblicher  Ledernheit, 
die  Legende,  die  der  ermordete  Bruder  in  die  Welt 
setst,  2u  entkräften  und  dokumentarisch  zu  beweisen, 
dafi  ich  den  Apfel  bekommen  habe.  Ich  könnte 
getrost  zugeben,  dafi  ich  ihn  nicht  bekommen  habe, 
und  die  Geistesschwäche  dieses  Motivs  für  einen 
BrudemoLord  zur  Diskussion  stellen.  Aber  nicht  einmal 
solcher  Mühe  müfite  ich  mich  unterziehen.  Denn  der 
Gegner  selbst  scheint  den  Apfel  für  faul  zu  halten 
und  läfit  durchblicken,  dafi  viel  mehr  noch  als  meine 
Rachsucht  meine  Undankbarkeit  zu  beklagen  sei. 
Ich  habe  also  den  Apfel  eigentlich  doch  bekommen. 
Da  er  mir  verweigert  wurde,  beging  ich  einen  Mord, 
und  wiewohl  er  mir  gegeben  wurde,  war  ich  so  un- 
dankbar, einen  Mord  zu  begehen.  Nun  scheint 
es  freilich  notwendig,  sich  endlich  für  den  Undank 
oder  für  die  Rache  zu  entscheiden.  Beides  zu- 
sammen dürfte  nicht  angängig  sein.  Beide  Argumen- 
tationen, jede  für  sich  und  ihre  Verbindung, 
sind  leichtfertiger  auf  die  Dummheit  des  Lesers 
basiert,  als  es  erlaubt  sein  sollte.  Aber  es  glückt 
trotzdem.  Denn  wenn  ich  einen  des  Taschendieb- 
stahls beschuldigen  will  und  vor  versammeltem 
Volke  den  Verdacht  damit  begründe,  dafi  der 
Mann  schielt,  so  wird  vielen  die  Nachweisl)arkeit  des 
Eörperfehlers  so  sehr  imponieren,  dafi  sie  auch  den 
Diebstahl  glauben  werden.  Ich  habe  nach  einem  Apfel 
vergebens  gehascht,  das  ist  meinetwegen  erweislich 
wahr,  und  jeder  ruft:  Aha!  Jetzt  verstehen  wirl 
Aber  es  gehört  schon  eine  Vereinigung  besonderer 
Gharakterschäbigkeit  und  raffinierten  Schwachsinns 
dasu,  das  Bild  der  Situation  so  darzustellen:  Ich,  H., 
habe  demE.  Unfreundlichkeiten  erwiesen,  darum  greift 
er  mich  an,  also  aus  rein  persönlichen  Gründen;  und 
dies,  wiewohl  ich  ihm  Freundlichkeiten  erwiesen 
habe:  ich  hätte  erwarten  können,  daß  er  mich 
aus    persönlichen    Gründen    schonen     würde    .    .    . 


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-  26  • 


Ich  könnte  mich  nun  dantiit  begnOgen,  zu  sagen: 
Aus  Dankbarkeit  cum  Lügner  werden,  hielte  ich 
für  tadelnswerter,  als  aus  Rachsucht  die  Wahr- 
heit zu  sagen.  Aber  ich  werde  mich  sum 
Beweise  herablassen,  dafi  ich  sie  aus  Undank- 
barkeit gesagt  habe.  »Hätf  Wahrheit  ich  geschwie- 
gen c  oder  gesprochen,  in  jedem  Fall  geschah  es 
aus  rein  persönlichen  Gründen.  Anders  versteht«  der 
gesunde  Menschenverstand  nicht  und  sein  publisistj- 
scher  Diener  mutet  ihm  nichts  su,  was  er  nicht  ver- 
steht. Dafi  es  anders  gewesen  sein  könnte,  iat 
unmöglich.  Ich  gebe  däe  Liebe  zu  und  den 
Mord.  Ich  gebe  auch  zu,  daB  Herr  Maximilian 
Harden  »der  Selbe  geblieben  istc  —  meinetwegen 
soe:ar  in  dieser  Schreibart  — ,  derselbe,  der  er  in  der 
Zeit  meiner  Verhimmelung  war.  Dafi  ich  ein 
anderer  geworden  sein  könnte,  dafi  ich  das  Recht  hatte, 
zwischen  zwanzig  und  dreifiig  ein-  anderer  zu  werden, 
das  wird  im  Reiche  der  erweislichen  Wahrheit  nicht 
anerkannt.  Sie  muß  sich,  um  zu  ihrem  Ziel  zu  kommen, 
mit  erweislichen  Lügen  behelfen.  Meine  innere  Entwick- 
lung, die  heute  —  wenn's  niemand  hört  und  sieht— meine 
Todfeinde  in  Staunen  setzt,  wird  nach  wie  vor  offiziell 
auf  die  Verweigerung  eines  Apfels  zurückgeführt. 
Er  wurde  mir  zuerst  bekanntlich  von  der  ,Neuen 
Freien  Presse'  verweigert  und  dann  von  Herrn 
Harden.  Seitdem  schimpfe  ich  . . .  Aus  Juvenal  zitieren 
sie  nicht:  »Facit  indignatio  versumt  oder  »Difficile 
est  satiram  non  scriberet,  um  mein  Verhältnis  zu 
ihnen  dem  Publikum  klarzumachen,  sondern  immer 
nur :  »Eine  illae  lacrimaeU.Habeant.  Aber  ich  mufl leider 
darauf  eingehen.  Ich  muß  die  Legende  der  Rachsucht 
zerstören,  damit  die  Undankbarkeit  übrig  bleibe.  Ich 
mufl  immer  wieder  die  Engagementsanträge,  die  mir 
die  ,Neue  Freie  Presse'  gemacht,  und  die  Gefälligkei- 
ten, die  mir  Herr  Harden  erwiesen  hat,  ankreiden,  da- 
mit auf  die  dümmste  Erklärung  für  meinen  Hafi,  die 


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—  27  — 


der  IntelUgens  verständlichste,  endlich  verzichtet 
werde.  Herrn  Harden  beruhige  ich  mit  der  Ver- 
sioherungy  dafi  ich  jetzt  auch  beim  Anblick 
jener  publizistischen  Leistungen,  durch  die  er  damals 
mein  Entzücken  erregt  hat,  denselben  Brechreiz  ver- 
spüre, den  mir  seine  heutigen  Artikel  verursachen.  Ich 
hatte  viel  nachzuholen.  Aber  es  ging,  und  auch  für  jene 
Lektüre,  die  ich  damals  beschwerdelos  vertrug,  habe 
ich  nachträglich  das  Gefühl,  als  ob  mir  eine  Stelze 
dieses  kühnen  Turners  in  den  Rachen  gesteckt  würde. 
Wenn  ich  den  Artikel,  mit  dem  er  die  ,Zukunft' 
eröffnet  hat:  >yom  Bei  zu  Babel«  mit  meinem 
Eröffiiungsartikel  »Die  Vertreibung  aus  dem  Para- 
dies« —  den  ich  heute  Satz  für  Satz  umbauen  müfite  — , 
vergleiche,  so  verstehe  ich  nicht,  wie  ich  je  an 
Herrn  Maximilan  Harden  etwas  anderes  als  die  Fähig- 
keit bewundern  konnte,  Temperamentsmangel  zu  deko- 
rieren, oder  höchstens  die,  beim  Schwingen  von  Riesen- 
p:ewichten  aus  Papiermache  wirklichzu  schwitzen.  Herr 
Harden  ist  derselbe  geblieben.  Ich  Gottseidank  nicht. 
Aber  auch  ich  »habe  gearbeitet«,  mehr  als  Herr 
Harden.  Besser  als  Herr  Harden.  Und  ich  reinige 
jetzt  meine  Arbeit  vom  Schutt  des  Tages,  und  ent- 
decke, dafi  der  Schutt  mehr  künstlerischen  Gehalt 
hat  all  seine  Edelsteine.  Ich  fühle  meinen  Verrat 
vor  dem  Forum  der  psychologischen  Kritik  gerecht- 
fertigt als  eine  tiefere  Treue  gegen  mich  selbst, 
und  die  Literaturgeschichte  wird  sagen,  er  sei 
eine  Rehabilitierung  für  meine  Liebe.  Nicht  nach  »per- 
sönlichen« Motiven  werden  meine  Richter  forschen; 
nichts  anderes  werden  sie  sich  zu  fragen  haben,  als  die 
Frage,  ob  die  »Persönlichkeit«  reich  genug  war, 
um  sich,  wenn  auch  im  Alter  der  geistigen  Entwicklung, 
so  ausgreifende  Schwankungen  des  Urteils  zu  erlau- 
ben. Der  Tatbestand  reicht  über  Herrn  Harden  weit 
hinaus.  Ich  denunziere  mich.  Zwei  Dritteile  des 
literarischen  Gehaltes  meiner  Arbeit    werfe  ich    frei- 


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—  28 


willig    hin,    ein    Dritteil    der    Meinung.   Damit  mir 
meine  Gegner  nicht  immer  nur   Widersprüche,    son- 
dern einmal  auch  eine  Entwicklung  nachweisen.  Ich 
darf  mich  verleugnen,  und  mit  mir  selbst  vieles,  was 
andere  zur  ,Fackel'  beigetragen  haben,  die  heute  in 
meine  Lebensanschauung  passen  wie  Wagner  in  Paust's 
Entzückung.     Den  ganzen  Plan  der  ,Paökel^,  innere 
und   äußere  Gestaltung,    hat   Herr   Harden  mit  mir 
durchgesprochen;   trotzdem   wurde   ich  ihm  untreu. 
Aber  bin  ich  dem  Plan  der , Fackel',  ihrer  Innern  und 
äußern  Gestaltung,  treu  geblieben?  Ich  bereue  keine 
meiner  Taten ;  ich  verlange  nur,  daß  sie  im  Zusammen- 
hang beurteilt  werden.  Ich  bereue  selbst  meine  Sym- 
pathie für  Herrn  Maximilian  Harden  nicht.    Aber  ich 
mache  ihm  den  Vorwurf  der  Undankbarkeit.  Denn  er  hat 
mich  schmählich  getäuscht.  Er  hat  untreu  an  mir  ge- 
handelt, denn  er  hat  mir  eine  Begeisterung  zerstört.  Ich 
mußte  damals,  als  sich  mein  Temperament  nur  in  den 
schmalen  Grenzen  sozialer  Ethik  echauffieren  konnte 
und   im   Kampf  gegen   die   Korruption   die  Lebens- 
anschauung eines  idealen   Staatsbürgertums  bejahte, 
in  einem  Manne,   der  um   ein   paar   Jahre  früher  in 
der  Presse   ein   Übel  erkannt  hatte,  eine  Ausnahms- 
erscheinung  sehen.    Die    Priorität  mußte  auch  dem 
imponieren,    der    schon    damals    die    Intensität    des 
Kampfes  voraus  hatte,   wie   er   jene  Erkenntnis  der 
intellektuellen  Korruption  voraus  hatte,  die  im  Jour- 
nalismus    —    weit    über     die     volkswirtschaftliche 
und    politische     Gefährlichkeit     —     den     Todfeind 
der    Kultur    sieht.    Die    glückliche    Zufallsstellung, 
in  die*  Herr  Harden    gegen   die    öffentUche  Meinung 
Deutschlands   geraten   war,    mußte    an    eine   junge 
Phantasie    das    Bild    eines  Kämpfers    heranbringen 
und  sie  etwa  auch  zum  Widerstand  gegen  eine  Rai- 
son reizen,  die    ihr   damals  gesagt    hätte,  daß    Her« 
kules  sichs  am  Scheideweg  lange  überlegt   hat   und 
Luther    auch    anders  gekonnt    hätte.   Die    Zeit    zur 


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29  — 


EnttäufichuDg  war  noch  nicht  gekommen;  ich  hätte 
jedem  die  Qurgel  durchgebissen,  der  mir  damals  über 
meinen  Harden  ausgesprochen  hätte,  »was  istt.  Dafi 
er  etwa  ein  Philister  ist,  der  es  glaubt,  oder  ein  E^]on, 
der  es  den  Leuten  einredet:  dafi  einer  um  einen 
Apfel  bereit  war,  eine  Liebe  zu  verraten;  oder  ein 
Antikorruptionist,  der  es  in  Ordnung  findet:  dafi 
einer  für  ein  Mittagessen  in  der  Villa  Harden  eine 
eroberte  Erkenntnis  preisgibt.  Was  will  denn  das 
Pack  von  mir?  Glaubt  es  wirklich,  dafi  die 
Glaten  meines  Hasses  aus  »Motiven«  stammen?  Dann 
wäre  meine  Entzündbarkeit  ein  Wert  für  sich  oder 
meine  Tätigkeit  ein  mechanisches  Euriosum.  Wie, 
dieser  ausgepichte  Meinungswechsler,  der  im  Alter 
von  vierzig  je  nach  Bedarf  die  Homosexualität  ent- 
schuldigt und  bekämpft,  den  Meineid  rechtfertigt  und 
▼erfolgt»  Kolonialminister  in  den  Himmel  hebt  und 
sie  beschimpft,  weil  sie  öffentlich  von  ihm  abrücken, 
der,  gerade  der  wagt  es,  mir  eine  Entwicklung,  die 
sich  aus  Gefühltem  zu  Gedachtem  hindurchge- 
schmerzt hat  und  die  in  ein  inneres  Leben  führt,  von  dem 
sich  freilich  die  Zettelkastenweisheit  nichts  träumen 
Iftfit,  als  die  Rache  eines  refusierten  Besuches  aps- 
sulegen?    Welch    ein  grofizügiger  Dummkopf  I 

Aber  indem  er  meine  Kachsucht  zu  stark  be- 
tont, unterschätzt  er  wahrlich  meine  Undankbarkeit. 
Ja,  er  hat  mir  für  das  zweite  Heft  der  ,Fackel'  einen 
Artikel  geschrieben,  und  nicht  nur  umsonst,  sondern 
auch  vergebens.  Umsonst:  wie  hätte  ich  ihm  ein 
Honorar  anzubieten  gewagt,  da  es  sich  um  eine 
lobende  Einführung  der  ,FackeP  handelte?  Ich  wufite 
nicht,  dafi  er  auf  Bezahlung  hoffte,  als  er  meinen 
Witz  und  meine  Kraft  pries,  und  ich  stelle  das  Honorar 
nachträglich  —  mit  den  in  neun  Jahren  aufgelaufenen 
Zinsen  —  zu  seiner  Verfügung.  Vergebens :  Er  hat  sich 
in  diesem  offenen  Briefe  der  Wiener  Journalistik  in  einer 
Art  angebiedert,  die  schielend  zwischen  mir  und  jener  zu 


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—  80 


vermittelQ  hoffte.  Genützt  hat^s  ihm  nichts,  denn  die 
Verbindung  mit  mir  hat  zu  der  von  ihm  tief  be- 
klagten Verstimmung  der  ,Neuen  Freien  Presse*  ge- 
führt. Aber  auch  bei  mir  hat  es  ihm  nichts  genützt; 
denn  ich  bin  ihm  schon  damals  —  in  jenem  zweiten 
Heft  —  verehrungsvoll  über  den  Mund  gefahren.  Er 
lügt  aber,  wenn  er  behauptet,  dafi  ich  ihm  dauernd 
bei  der  ,Neuen  Freien  Presse'  geschadet  habe.  Er 
lügt,  wenn  er  behauptet,  daß  ich  ihn  in  Wien  durch 
meine  Gesellschaft  dermaßen  fesselte,  daß  er  zu  den 
interessanten  Leuten  nicht  gelangen  konnte.  Er  hatte 
immer  noch  Gelegenheit,  sich  heimlich  zur  .Neuen 
Freien  Presse*  zu  schleichen,  wenngleich  ich  nicht 
in  Abrede  stellen  kann,  daß  er  erst  nach  unserem 
Bruch  bei  Sacher  speiste,  wo  er  an  der  redak- 
tionellen Tafel  zwischen  den  Herren  Bacher  und 
Benedikt  fetiert  wurde.  Er  spricht  die  Wahrheit, 
wenn  er  sagt,  daß  ich  fast  von  allen  Wiener  Leuten, 
mit  denen  er  gern  verkehrt  hätte,  verachtet  wurde 
und  werde.  Verachtet  werde  ich  von  den  Revolver- 
journalisten, den  Bankräubern,  den  Gesellschaftspara- 
siten, den  talentlosen  Literaten  und  überhaupt  von 
all  den  interessanten  Leuten,  von  deren  Verkehr  ich 
Herrn  Harden  eine  2jeitlang  abgehalten  habe.  Nicht 
immer  wäre  mirs  gelungen  und  nicht  immer  tat  ich 
es.  Bei  seinem  ersten  Wiener  Aufenthalt,  vor  mehr 
als  zehn  Jahren,  damals,  als  er  mir  fast  den  ganzen 
Tag  widmete,  war  ich  in  der  schlechten  GeseUschaft 
noch  nicht  verachtet,  damals  war  die  ,Fackel'  noch 
nicht  gegründet  und  Herr  Harden  konnte  sich,  ohne 
beiderseits  Anstoß  zu  erregen,  getrost  zwischen  mir 
und  Herrn  Benedikt  teilen.  Meine  Undankbarkeit  ist 
grenzenlos.  Denn  obschon  ich  ihn  bewundert  habe, 
so  kann  ich  doch  nicht  leugnen,  daß  auch  er  mir 
volle  Anerkennung  widerfahren  ließ  und  bei  jeder 
Gelegenheit  meiner  rühmend  gedachte.  Und  ein  ganz 
so    armer    Teufel  war  ich  damals  nicht  mehr.     Die 


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—  81  — 


»Demolierte  Literaturc  war  erschienen,  hatte 
liemlich  starkes  Aufsehen  gemacht  und  mir  auSer 
imerbetenen  Rezensionen  von  Fritz  Mauthner, 
Friedrich  Uhl,  Conrad  und  anderen  aucH  die  be- 
sondere Anerkennung  des  Herrn  Harden  eingetragen« 
Auch  in  jenem  unbezahlten  Artikel  im  zweiten  Heft 
der  ,Fackel^  nannte  er  sie  eine  »allerliebste  Satirec, 
sprach  darin  von  meinem  »starken  Talent  und  der 
neidens werten  Frische  meines  Witzest,  freute  sich 
»meines  Mutes  und  meiner  jungen,  frischen  Kraft,  die 
sich  im  ersten  Heft  der  ,Fackei'  so  pantherhaft  heftig 
in  Zorn  und  Spott  austobte.  Freilich  wäre  dieses  hohe 
Lob  wertlos,  wenn  es  nur  in  der  Erwartung  eines 
Honorars  geschrieben  war  und  die  wahre  Meinung 
des  Herrn  Harden  über  den  armeh  Teufel,  der 
damals  keines  gezahlt  hat,  erst  jetzt  an  den  Tag 
kommt.  Ich  lebte  in  dem  Qlauben  an  eine  gegen- 
seitige Anerkennung,  wenn  auch  die  meine,  die  des 
um  zehn  Jahre  jaügeren  und  um  hundert  heftigeren 
Naturells,  sicherlich  den  ungestümeren  Ausdruck  fand. 
Wenn  er  nach  Wien  kam,  verständigte  er  mich  recht- 
zeitig von  seiner  Ankunft  und  ließ  mich  nicht  los,  bi^ 
er  wieder  im  Zuge  safi.  Seine  Bilder,  Briefe,  Karten 
strotzen  von  wärmster  Anerkennung  und  Liebe.  Seine 
Bücherwidmungen  lassen  mir  alle  Ehre  widerfahren 
und  in  seinen  Conferencen  war  die  Auskunft  über 
mich  und  meine  literarische  Rolle  recht  schmeichelhaft. 
Ich  kann  mirs  nicht  denken,  dafi  das  herzlichste  Mitleid 
mit  einem  armen  Teufel  eine  jahrelange  Korrespondenz 
und  den  Verzicht  auf  die  schöne  Beziehung  zur 
^Neuen  Freien  Presse*  gelohnt  hat.  Es  ist  mir  pein- 
voU,  mich  auf  das  Niveau  eines  Tatsachenkampfes 
herunterzulassen  und  im  Wust  meiner  Papiere  nach 
Beweisen  dafür  zu  suchen,  daß  ich  Herrn  Harden  meine 
Bewundenmg  nicht  wie  ein  Betteljunge  seine  Schuh- 
riemen  aufdrängte,  und  dafi  er  mir  nicht  Mitleid,  sondern 
Freundschaft  und  hohe  Anerkennung  gezollt  hat.  Es 


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—  32 


ist  mir  widerwärti|2^;  aber  da  man  solche  Wahrheit- 
suoher  nur  mit  Tatsachen  abspeisen  kann,  so  ist 
es  geboten  Jede  einzelne  Behauptung  des  Herrn  Harden 
als  Lüge  *zu  erweisen.  Es  wäre  mir  nicht  im  Schlafe 
bei  der  Lektüre  seines  Sardanapal  -  Artikels  ein- 
gefallen, ihm  seine  einstige  Hochschätsung  meines 
Könnens  zum  Vorwurf  zu  machen.  Aber  weil  er 
mit  meinen  Jugendsünden  renommiert  und  die 
Mutualität  ableugnet,  mufi  ich  zu  den  Dokumenten 
greifen.  Hat  er  also  aus  Mitleid  sich  von  einem  armen 
Teufel  seine  kostbare  Zeit  stehlen  lassen,  oder  hat  er 
vielleicht  gefunden,  daß  meine  Gesellschaft  ihn  für 
den  Umgang  mit  den  Wiener  interessanten  Leuten 
entschädige?  Von  einem  gemeinsamen  Bekannten, 
der  mich  damals  noch  nicht  verachtet  hat,  heifit  es 
am  30.  November  (ohne  Angabe  des  Jahres) : 

.  .  .  schrieb  mir  einen  bösen  Brief :  Ich  hatte  mich  nur  um  Sie 
gekflmmert  ...  Ich  hoffe,  die  zwei  Tage  waren  Ihnen  nicht  unan- 
genehm .  .  .  Wie  sehr  wünsche  ich  Ihnen  Frohsinn  und  Kraft  I  In 
Prag  wird  die  .Fackel'  viel  gelesen.  Und  ich  sagte,  wie  gern  ich  Sie  habe  .  . . 

26.  August  1903. 
.  .  .  Schade,    wir  hätten  auf  Helgoland  3 — 4  schöne   Tage  ver- 
lebt .  .  .    Vor  15.  September  braucht  die  ,Fackel'    nicht    zu   leuchten. 
Dann  umso  heller  .  .  . 

30.  August  1903. 
.  .  .  Vielleicht  geht*s,    dafi  wir  später  mal  auf  ein  zehntägiges 
Billet  zusammen  Paris  sehen?  Das  wäre  herrlich.  .  . 

Nun  ja,  gemeinsame  Reisen.  Aber  in  Berlin,  wo 
man  zu  tun  hat,  wird  man  doch  nur  belästigt.  Stunden- 
lang, halbe  Tage  lang  safi  ich  ihm,  ohne  Rücksicht 
auf  seine  knappe  Zeit,  im  Hause.  Zwar,  eine  Depesche 
nach  Wien  lud  mich,  wenn  ich  die  Absicht  kund- 
gegeben hatte,  nach  Berlin  zu  kommen,  »für  ein  Uhr 
zum  Mittagbrot«.  Aber  dann  war  ich  nicht  fortzubringen: 

7.  März  1900. 
...  Ich  freue  mich  sehr,  wenn  Sie  Icommen,   sehr  sogar.  Wie  wäre 
es,  wenn  wir  hier  (1.  April)  den  Geburtstag  der, Fackel'  feierten?  Dann 
>  kämen  Sie  am  28.  März.  Los  von  Wienl 


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Hotel  Kaiserfaof,  17.  AprU  1903. 

Jouni^  des  dupes.  Der  Mann  unten  sagt  auf  wiederholte  Frage: 
Herr  K.  ist  zu  Haus.  Als  ich  keuchend  vor  Nr.  223  stehe,  ist  die  TOr 
verKhlossen.  Schade  . . « 

17.  Aprfl  1903. 

Ich  lieft  9  frflh  bei  Ihnen  antelephonlcren  und  sagen,  dafi  ich 
Sie  um  12  erwarte,  zu  Mittag  zu  bleiben  bitte,  da  ich  nachmittags  in  die 
Stadt  mOsse.  Es  wurde,  mit  m.  Namen  und  Telephonnr.,  aufgeschrieben 
ofld  teleph.  wiederholt.  Von  12 — 12^/4  wartete  ich,  dann  ging  ich  Ihnen 
entgegen  bis  1/22.  Schade.  Wir  wären  von  12—4  zusammengewesen. 
Nun  ist  alles  umgeworfen  und  ich  Icomme  um  das  Vergnügen,  Sie  noch 
einmal  zu  sehen.  Sie  hätten  hier  Schweninger  für  Ihren  Finger  kon- 
sultieren können  .  .  . 

15.  Oktober  1903. 

...  Die  Aussicht,  Sie  bald  einmal  hier  zu  sehen,  freut  mich 
sehr.  Und  nicht  mhider  die  Damen.  Alles  Gute! 

29.  Oktober  1903. 
...  ich  habe  sehr  bedauert,  dafi  ich  Sie  (Anm.:    im  Hotel)  ver- 
fehlte und  nachher  nicht  mehr  erreichen   konnte.  Sonst   hätte    ich    den 
Tag  frei  gehabt 

Wer  hat  die  Freundschaft  verraten?  Der  sie  ab- 
legte, da  er  sich  ihr  entwachsen  fühlte,  aber  zugibt, 
didl  er  sie  einst  trug?  Oder  der  später  höhnt,  sie 
sei  ein  Narrenkleid  gewesen  ?  Er  beschimpft  die  Preund- 
scHaft ;  ich  bereue  sie  bloß.  Ich  sage,  daß  ich  mit  Herrn 
Harden  befreundet  war,  bis  ichs  nicht  mehr  sein 
konnte.  Er  sagt,  daß  er  aus  Mitleid  mich  ertrug,  bis 
er  Undank  erlebte.  Aber  der  arme  Teufel,  der  sich 
ihm  aufdrängte,  hat  außer  den  gedruckten  Ver- 
sicherungen höchster  Bewunderung  wiederholt  brief- 
liche Beweise  der  Achtung  und  Anerkennung  emp- 
fangen. Ich  finde  nur  ein  paar,  vielleicht  nicht  ein- 
mal die  stärksten. 

30.  März  1899. 
Liebster  Kraus,  .  .  .  eben,  2  Uhr,  kommt  die  .Fackel'.    Tausend 
gute  Wünsche!  Ich  lese  sie  sofort  und  schreibe  Ihnen. 

1.  April  1899. 
.  .  .  Meinen  und  Bertholds   Glückwunsch  zum  trefflichen    ersten 
Heft.     Excelsiorl  .  .  ,     Ich.  mache  Motiz,    sobald    Notizbuch    erscheint. 
Herzlichen  Ostergruß. 


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9.  AprU  1899. 
...  Sie  haben  Recht,    ich    auch  —  und  so  soll's  in  guten  Dra- 
men sein.  Herzlichen  Dank  fflr  Ihren  Brief  und  besten  Glückwunsch  zum 
;großen  Erfolg.  Qu.  fdix  faustumque  sit. 

5.  Mai  1900. 

.  . .  Sehr  freute  ich  mich  aber  ihre  Enthüllung  der  J^finchener  Son- 
nenthalafi&re.  Eine  niedliche  Bande.  Daß  sich  das  Publikum  das  gefallen 
läßt,  ist  das  einzig  Traurige  . . .  Schade,  daß  Sie  nicht  hier  jetzt  (Anm.:  An- 
wesenheit des  Kaisers  von  Österreich)  Ihre  Schmöcke  an  der  Arbeit 
sehen  können.  .  .  .  Schonen  Sie  Ihre  Kraft  I 

12.  Mai  1900. 
(Verteidigt  sich  gegen  die  Beschuldigung  der  .Zeit',  er  unterhalte 

jgatt  Beziehungen  zur  .Neuen  Freien  Presse')  . .  .  Das  ist  Alles.  Oder 
noch  die  Visitenkarte  an  Speidel:  >  sendet  dem  starken  deutschen  Stil- 
meister  herzl.  Glflckwflnsche«.  Und  das  tat  ich,  weil  Sie  gesagt  hatten, 
*r  spreche  gut  über  Sie  .  .  .  Herzlich  grüßt  Sie,  lieber  Karl.  Ihr  H. 

13.  Mai  1900. 

. .  .  Ihre  Abwehr  kontra  »Arbeiterzeitung'  scheint  mir  recht  wirksam. 
Und    sehr    gut    sind    die    Theatersachen  .  .  . 

•  2.  Juni  1900. 

.  .  .  .Arbeiterzeitung'  gegen  Sie  bübisch  gemein.  .  .  .  Freue  mich, 
.daß  wir  über  »Paullne«  einig  sind. 

6.  Juni  1900. 
Herzlichen  Dank,  lieber  Don  Karl,  für  den  Ruf  vom  Semmering. 

Daß  Sie  nach  der  Büberei  gleich  den  Beitrag  von  Liebknecht  hatten, 
war  ein  famoser  Trumpf,  den  ich  gern  in  Ihrer  Hand  sah.  Ich  bin  neu- 
gierig, zu  hören,  was  Sie  über  die  Wahlen  sagen  werden  .  .  . 

24.  Dezember  1900. 

Herzlich  danke  ich  Ihnen  für  das  liebenswürdige  Weihnacht- 
telegramm, das  eben  kam,  als  ich  Ihnen  einen  Gruß  senden  wol'te. 
Wie  mag  es  Ihnen  gehen?  Ist  die  Depression  gewichen  ?  Ich  glaube  es, 
denn  Ihr  »Goethe«  ist  frisch  und  allerliebst.  Von  Herzen  wünsche  ich. 
•das  neue  Jahr  möge  Ihnen  Befreiung  von  Sorgen  und  frohe  Art>eit- 
kraft  bringen.  Sie  sind  jung,  haben  in  ganz  kurzer  Zeit  Außerordent- 
liches erreicht  —  und  werden  nicht  eingesperrt. . .  Es  würde  mich,  uns 
sehr  freuen,  wenn  Sie  vor  meiner  Abschiebung  nochmals  herk&men. 
Herzlichen  Händedruck  und:  Prosit  Neujahr]  Ihr  alter  H. 

9.  Jänner  1901. 

.  .  ,  Ich  freue  mich  auf  die  wiener  Wahl-Fackel  .  .  . 

28.  November  1902. 
.  .  .  Altersunterschied,  mein  Herr.  J'ai  pass^  par  lä ;  deshalb  dflnkt 
«der  leise  Groll,  den  ich  in  Ihren  Worten  spüre,  mich  nicht  gerecht.  .  .  . 


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—  36  - 


Also  ich  hoffe,  Sie  bald  hier  zu  sehen.  Und  zu  hören,  daß  Sie  nicht 
ganz  so  wflthend  auf  mich  sind,  wie  mir's  scheint.  Glauben  Sie  mir's: 
ich  bin  arg  zerbrochen  und  wünsche  Ihnen  vom  Herzen,  diese  Erlebnisse 
möchten  Ihnen  erspart  bleiben. 

Bisniarcktag  1903. 

Herzlichen  Dank  für  Ihren  liebenswürdigen  Zuruf.  Rara  avis. 
Ich  glaubte  schon  an  völlige  Ungnade.  Sprach  neulich  mit  Berger.  der 
b^fi  Stunden  bei  mir  war,  viel  über  Sie... 

Ostern  1903. 

.  .  .  Maxa  war  ganz  stolz  und  gerührt;  drei  Karten:  Schwe- 
ninger.  Kraus,  Mauthner.  Für  vier  Lebensjahre  Alles  Mögliche. 

1.  Mai  1903. 
...  S.  J.,  der  sehr  entzückt   über   Ihr   Beisammensein   schrieb, 
war  bis  1.  5.  bei  der  ,Zeit'  ...    Ich  denke  ernstlich  an    die    ,Facker 
(Anm. :  vermutlich  wegen  eines  versprochenen  Beitrags)  .  .  .  Bald  mehr. 

8.  Mai  1903. 

...  Ich  habe  eine  üble  Nervenerkrankung.  Aber  Sie  haben  mir  ja 
oft  hier  gesagt,  ich  »jammerte  immer«.  Wenn  ich  im  Narrenhaus  sitze, 
wird's  Ihnen  leid  tun.  Behandelt  haben  Sie  mich  ja  neulich  ganz 
human,  wofür  ich  dankbar  bin.  Übrigens  war  dieser  Absatz  der  ,Packer 
besonders  gut  geschrieben.  Aufrichtig  wünsche  ich  Ihnen  gute  Tage; 
und  Nächte. 

10.  Dezember  1903. 

..  .  Die  Weifi-Sache  freilich  stark;  aber  'soll  man  Sachen 
nach  28  Jahren  ausgraben?  .  .  .  Die  ,Fackel'  zeigt,  daß  Sie  frisch 
und  munter  sind.  Das  freut  mich  aufrichtig. 

19.  Dezember  1903. 

Lieber  Herr  K.,  Ihre  Notiz  über  W.  ist  das  Allerliebsteste,  was 
ich  lange  von  Ihnen  las.  Ganz  reizend.  Neulich  war  Berger  bei  mir. 
Wir  sprachen  von  Ihnen  .  .  . 

Daß  ihm  meine  Tätigkeit  mehr  und  mehr  miß- 
fiel, mußte  ich  demnach  merken.  Meine  ewige  Bitte, 
mich  und  die  ,Fackel*  in  der, Zukunft'  zu  erwähnen, 

konnte  er  nicht  erfüllen Ich  weiß  nicht  mehr,  ob 

ich  ihn  darum  gebeten  habe.  Möglich  ist  es,  daß  ich 
ihn  an  eine  Zusage,  es  zu  tun,  erinnert  habe.  Diese 
Zusage  war  freiwillig  gemacht.  Das  scheint  wohl  aus 
dem  Briefe,  den  er  am  Tage  der  ersten  Ausgabe  der 
,FackeP  schrieb  —  1.  April  1899  — ,  hervorzugehen : 
>Ich  mache  Notiz,  sobald  u.  s.  w.<  Warum  sollte 
ich  es  damals  nicht  gewünscht  haben?    Wenn  er  es 


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—    36    — 


nicht  tat,  so  mufi  er  gefürchtet  haben,  was  ich  hoffte: 
dafi  der  ,Fackel'  Eingang  in  Deutschland  verschafFt 
werde.  Wenn  er  es  im  Jahre  1899  nicht  tat  — 
warum  sollte  ich  ihn  1904  erst  dafür  angegriffen 
haben?  Ich  glaube  nicht,  dafi  ich  je  später  auf  den 
Wunsch  zurückkam.  Tat  ich's,  welchem  Esel  würde 
die  Versagung  einer  Notiz-  meine  Angriffe  plausibel 
machen?  Höchstens,  daß  das  Motiv  der  Versagun^  — 
um  auf  ein  >8tarkes  Talente  das  deutsche  Publikum  nicht 
aufmerksam  zu  machen  —  zu  meiner  Erkenntnis  von 
dem  Wesen  des  Mannies  beigetragen  hätte.  Aber  auch 
hier  läfit  sich  eine  Gegenseitigkeit  nicht  in  Abrede 
stellen.  Ich  weiß  nicht,  ob  ich  Herrn  Harden  mit 
der  Bitte,  die, Fackel*  zu  nennen,  zudringlich  wurde. 
Vielleicht  hatte  ich  einmal  wirklich  Anspruch  darauf: 
eine  wichtige  Äußerung  Liebknechts  in  der  ,Fackel* 
hatte  er  ohne  Quellenangabe  zitiert.  Aber  ich  bin  in 
der  angenehmen  Lage,  zu  zeigen,  wie  schwer  es 
Herr  Harden  trug,  in  einer  ihm  wichtigen  Sache  — 
gleichfalls  Liebknecht  betreffend  —  in  der  ,FackeP 
nicht  genannt  zu  werden. 

31.  Dezember  1S99. 
Lieber  Herr  Kraus,  ich  wünsche  Ihnen  ein  gutes  Jahr.  Und,  daß 
Keiner  komme  und  sage:  Siehe,  in  Sachen  Liebknecht,  den  er  all- 
wöchentlich als  Finder  neuer  Weisheit  preist,  hat  auch  er,  der  stets  Aber 
»Totschweigen«  redet,  totgeschwiegen.  Bleiben  Sie  gesund  und  i^uen 
Sie  sich  Ihres  Lebens    Einen  Gruß  von  H. 

Ich  ahnte,  dafi  er  sein  Monopol  als  Antidrey- 
fusard  durch  Liebknechts  ,Fackel*-PubIikation  ge- 
fährdet sah.  Aber  Liebknecht  braucht  nicht  gegen  den 
im  folgenden  bittern  Brief  erhobenen  Vorwurf  ge- 
schützt zu  werden. 

5.  Jänner  1900. 
Lieber  Herr  Kraus,  mir  ist's  nur  spaßhaft.  Seit  Jahren  führe  idi 
diesen  Kampf,  habe  dabei  Abonnenten  (und  Freunde,  wie  Bjömson) 
verloren  und  Beschimpfungen  gewonnen.  Da  gibt  mein  früherer  Freund 
Dr.  Berthold  dem  alten  Liebknecht  meine  Artikel  (Zolas  Fall  u.  s.  w.). 
n  s'emballe,  wiederholt  alle  meine  Argumente,  fügt  Einiges  hinzu,  was 
mir  töricht  scheint,    und  wird  nun  in   der  ,Facker  stets   als  Einer  hin- 


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—  87  — 


^esldlt,  der  den  Mut  gehabt  habe,  der  Katze  die  Schelle  umzuhängen, 
and  der  deshalb  > totgeschwiegen <  werde.  Im  Gründe  ist's  gleich.  Aber 
dnrfte  ich  es  Ihnen  gegenüber  nicht  scherzend  erwähnen?  Hier  hat  man 
viel   darüber    gelacht,     meinen   Todfeind    L.   hi   meiner  Garderobe   zu 


In  der  ^Fackel'  war  blofi  von  der  Verlegenheit 
der  sosialdemokratischen  Presse  die  Rede  gewesen, 
die  Liebknechts  Artikel  totschwieg.  Natürlich  hat 
dieser  nie  die  Informationen  des  Herrn  Harden  ge- 
braucht, ihm  war  es  eine  Angelegenheit  des  Tem- 
peraments. Die  Garderobe  des  Herrn  Harden  hätte 
ihn  gewifl  lächerlich  gemacht  —  ungefähr:  Ein  Rit- 
ter im  Ballerinenkleid.  Aber  Herr  Harden  legte  auf  die 
Anführung  seines  Verdienstes  in  der  ,Fackel'  grofien 
Wert.  Aus  einer  Unterlassung  solcher  Art  leitet  er 
Todfeindschaften  ab.  Dariun  mag  er  glauben,  dafl 
ich  die  angebliche  Ablehnung  zweier  Artikel  aus 
meiner  Feder  nicht  verschmerzen  konnte.  Ich  erin- 
nere mich  nur  an  einen,  gebe  aber  zw^zig  zu.  Die 
Vertei<ügune  wäre  hier  abgeschmackter  als  der  Vor- 
wurf. Wenn  Herr  Harden  mir  Manuskripte  ablehnte,  so 
konnte  mir  dies  höchstens  wieder  seinen  inneren  Wider- 
stand gegen  die  Förderune  eines  von  ihm  anerkannten 
>8tarken  Talents«  deutlich  machen,  also  einen  beruf- 
lichen Zug  von  Mißgunst,  den  man  kaum  an  irgend 
einem  deutschen  Publizisten  vermissen,  ihm  kaiun  übel- 
nehmen wird.  Aber  soll  es  eine  Abkehr  so  vehementer 
Art  wie  die  meine  begründen?  Ich  weifi  nur  davon, 
dafi  ich  ein  einzigesmal,  auf  wiederholte  Aufforderung 
des  Herrn,  ihm  einige  Bemerkungen  sandte,  von  denen 
ich  voraus  wufite,  daß  sie  für  seine  Leserschaft  zu 
starke  Eöst  bedeuten  würden.  Es  machte  mir  damals 
schon  Spafi,  Herrn  Harden  mit  ein  paar  Unmöglich- 
keiten erotischer  Psychologie  zu  versuchen.  Aber  ich 
wollte  auch  seinen  Wunsch  ef füllen  und  schrieb  etwa, 
wenn  ers  nicht  mehr  in  die  nächste  Nummer  nehmen 
könne,  erbäte  ich  sofortige  Rücksendung.  Er  ant- 
wortete —  gewifl  wars  nur  höfliche  Ausflucht  — ,  es 


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—  38 


sei  zu  spät  gewesen.  Wir  blieben  trotzdem  in  freund- 
schaftlichem Verkehr.  Aber  es  nagte^  wie  ich  jetzt 
erfahre,  an  meinem  Herzen.  Wenns  mir  um  die  Mit- 
arbeit an  der  ,Zukunft'  gegangen  wäre,  hätte  ich  in 
fünfjähriger  Beziehung  wohl  öfter  die  Gelegenheit 
gesucht  anzukommen.  Herr  Harden  »mufitet  mir  etwas 
ablehnen.  Einen  Schriftsteller,  dem  er  Geist,  Humor, 
Kraft,  Grazie  mündlich,  brieflich  und  auf  Druckpapier 
nachrühmte,  soll  er  für  unwürdig  gehalten  haben, 
neben  den  Beiträgen  seiner  lyrischen  Advokaten 
Platz  zu  finden.  Das  glaubt  er  selbst  nicht.  Ich  habe 
seit  zwölf  Jahren  keiner  deutschen  Zuschrift  unauf- 
gefordert einen  Beitrag  geschickt.  Wenn  ich  je  für 
ein  anderes  Blatt  neben  der  ,Fackel'  schrieb,  so  to- 
schah  es  auf  Grund  ehrenden  Anerbietens.  Ich 
glaube  nicht,  dafi  selbst  noch  im  Jahre  1903  meine  Zu- 
mutung, mitzuarbeiten,  irgend  ein  deutsches  Blatt 
unglücklich  gemacht  hätte.  Und  kein  Vollsinniger 
wird  glauben,  dafi  die  Verweigerung  eines  Arti- 
kels —  ich  erinnere  mich  nur  an  einen,  aber 
Herr  Harden  scheint  solche  Motive  rechtzeitig 
gesammelt  zu  haben  —  den  Brudermord  verur- 
sacht hat.  Herr  Harden  überschätzt  durchaus  meine 
Rachsucht  auf  Kosten  meiner  Undankbarkeit.  EJr 
hielt  schon  fünf  Jahre  vor  diesem  Ereignis  so  aufier« 
ordentlich  viel  von  mir,  daß  er  spontan  an  Herrn 
Benedikt  eine  Visitkarte  schrieb,  auf  der  er  mich  als 
den  einzig  Berufenen  empfahl,  das  Erbe  des  Satirikers 
Daniel  Spitzer  in  der  ,Neuen  Freien  Presse^  anzu- 
treten. Herr  Benedikt  machte  mir  bald  darauf  den 
Antrag.  Ich  gründete  die  ,FackelS  habe  also  auch 
gegen  ihn  undankbar  gehandelt.  So  treulos  war  ich 
gegen  Herrn  Harden,  der  mich  empfahl,  und  gegen 
die  ,Neue  Freie  Presse',  *die  mich  wollte,  daß  ich  es 
vorzog,  mir  über  beide  klar  zu  werden.  Als  mir  die 
Tätigkeit  des  Herrn  Harden  mehr  und  mehr  zu  mifi- 
fallen  anfing,  schrieb  ich  es.    Er  seinerseits,    der  mit 


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—  89  — 


mir  in  demselben  Fall  war,  schrieb  es  nicht. 
Aber  er  meint,  ich  müsse  es  doch  gemerkt  haben. 
So  hat  er  zum  Beispiel  mein  Vorgehen  gegen  Bahr 
>widrigc  gefmiden.  Er  lieferte  mir  Bwar  ein  Gut- 
achten gegen  ihn,  aber  er  rab  mir  doch  deutlich 
zu  verstehen,  dafi  er  mein  vorgehen  widrig  finde. 
Zum  Beispiel: 

14.  Februar  1901. 
L.  K.  . . .  Gern,  offen  gestanden,  mische  ich  mich  nicht  hinein.  Und 
anders  könnte  ich's  nicht.  Will  Ihr  Anwalt  den  Brief  so,  wie  er  Ist, 
tai  toto  benfltzen,  dann  ist's  mir  recht  .  .  .  Aber  Sie  brauchen  mehr 
Gutachten.  Lammaschl  U.  s.  w.  Die  Mausefallen  in  m.  Brief 
werden  Sie  nicht  übersehen.  Kann  Hofmannsthal  nicht  auch  seine 
Ansicht  sagen?  Mfiller-0. !  Der  wird  auch  was  von  Laube  wissen.  Ihr 
Anwalt  wird  doch  versuchen,  Bukovics  unter  den  Zeugeneid  zu 
kriegen.  Dawäre  Ober  die  >Zumutungenc  (Anm.:  Zumutungen  der 
Kritiker  an  einen  Theaterdirektoi)  wohl  Manches  herauszupressen. 
Nachdem  Ich  mit  Bahr  eben  freundschaftl.  Briefe  gewechselt,  muß  ich  mich 
anständiger  Weise  persönlich  zurückhalten.  Das  kann  auch  ihrer  Sache 
nnr  nützen  ...  Ein  >H.  St.<  heute  im  .Tag'  gegen  Sie,  ohne  Namen, 
perfid,  ä  la  G.  .  .  .  Ich  meine :  es  wäre  gut,  wenn  unter  irgend  e.  ge- 
schickten Vorwand  angesehene,  den  Qeschwornen  sympathische  Leute 
als  Zeugen  über  diese  Art  von  PreBherrschaft  vernommen  werden 
könnten.  Geht's  nicht  —  schade.  Steht  in  Bahrs  alten  Büchern 
nichts  gegen  ähnliche  Korruption?  .  .  Blumenthal  polemisiert 
ja  immer  gege^  B.  Am  Ende?  Schreiben  Sie  doch  an  ihn  (Tiergarten- 
strafi«),  e  r  habe  doch  Kritikeramt,  trotz  Erfolgen,  aufgegeben,  ob  er 
nicht  Inkompatibilität  finde.  Weidmannsheil,  nochmals!  .  .  . 

H^rr  Harden  hat  also  meine  Kampagne  gegen 
die  Vereinigung  des  Ejritiker-  und  Autorenberufs 
widrig  gefunden.  Er  lügt.  In  Wahrheit  nahm  er  Herrn 
Bahr  blofi  gegen  den  Vorwurf  in  Schutz,  dafi  er 
nicht  immer  Originales  drucken  lasse.  (Ein  in  dem 
zitierten  Brief  ausgelassener  Satz  lautet:  >Bahr  ist  doch 
viel  begabter  als  Bracco.  Wie  sollte  er  den  plagiieren  le) 
Dafi  Herr  Harden  die  Aktion  selbst  gut,  heilsam  und 
notwendig  fand,  ist  erwiesen.  Aber  ich  mufite  >merken€, 
dafi  er  sie  miflbilligte;  und  darum  niff  ich  ihn  vier 
Jahre  später  an.  Er  wiederum  merkt,  daß  ich  ihm 
mein  Blatt  noch  heute  schicke.  E!r  lügt  natürlich. 
Meinen  ersten  Angriffen  hat  er  mit  einer  Einstellung 


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-40-, 

des  Tauschexemplars  der  »Zukunft*  geantwortet.  Ich 
habe  die  Komik  dieses  Schrittes  damals  festgestellt. 
Darum  mufite  ich  es  verschmähen,  meiner  Expedition 
den  Auftrag  zu  gleicher  Kinderei  su  erteilen.  Als  ich 
im  folgenden  Jahre  einmal  die  Liste  der  Personen 
durchsah,  die  die  ,Fackel*  durch  Gefälligkeit  be- 
kommen, liefi  ich  natürlich  die  Karte,  auf  der  sein 
Name  stand,  ablegen.  Er  bekommt  die  ,Packel*  seit 
Jahren  nicht.  Wenn  er  sie  trotsdem  lesen  sollte, 
kann  ich  nichts  dafür.  Für  die  Widrigkeiten,  die  ihm 
jetzt  aufstofien,  bitte  ich  ihn  nicht  um  Ent- 
schuldigung. Und  die  früheren  habe  ich  nicht  be- 
merkt. Doch,  eine:  er  fand  meine  Kampagne  für 
die  .  .  .  widrig.  Gemeint  ist  der  Fall  Hervay. 
Nach  meinem  ersten  Artikel  schrieb  er  mir  mit  einem 
Kompliment  seine  Ansicht,  dafi  die  Dame,  die  er 
kannte,  anders  sei,  als  ich  sie  darstelle,  gar  nicht 
fein  und  mondain.  Ich  antwortete,  daß  dies  nichts  an 
meiner  Auffassung  des  Falles  ändern  könnte.  Eis 
komme  darauf  an,  wie  die  Frau  auf  den  öster- 
reichischen Bezirkshauptmann  gewirkt  habe,  der  sie  sein 
»Märchent  nannte.  Je  unbegründeter  eine  solche  Be- 
zeichnimp;  sei,  umso  mehr  sei  meine  Auffassung  am 
Platz.  Nicht  über  die  Frau,  sondern  zur  Psychcuogie 
des  Mannes  hätte  ich  geschrieben  und  über  4ie  Wir- 
kung, der  die  Welt  Mürzzuschlags  erlag.  »Und  schliefl- 
lich  —  vielleicht  hatte  sie  doch  bessere  Unterwäsche 
^^die  Mürzzuschlagerinnen.t  Das  War  meine  letzte 
Korrespondenz  mit  Herrn  Harden,  Sommer  1904.  Mir 

S'ngs  um  eine  Erkenntnis,  ihm  um  eine  Information, 
s  war  die  erste  publizistische  Äußerung,  die  mir 
auch  die  Gegner  gewann.  Jede  Post  brachte  An- 
erkennungen. »Ein  Leser,  der  nicht  sehr  oft  Ihr 
Anhänger  sein  kann,  beglückwünscht  Sie  zu  der 
Einsicht,  zu  dem  Mute  und  zur  Fähiekeit,  im  Kleinen 
das  Große  zu  erkennen,  die  Ihr  Artikel  über  Hervav 
kundgibt c,    schrieb    mir    Professor  Freud,    den    ich 


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41  — 


nicht  kannte.  Eine  tatsächliche  Richtigstellung  schrieb 
mir  Herr  Harden,  den  ich  erkannte.  Sein  eigener 
Artikel  über  die  Sache,  den  ich  heftig  angriff, 
war  damals  noch  nicht  erschienen.  Jener  freund- 
schaftlichen Auseinandersetzung  folgte  nur  mehr  — 
nach  Karlsbad  —  eine  Karte  mit  dem  Bilde  seines 
Tdchterchens : 

20.  Juli  1904. 
Guten  Tag   wiener  Onkel  t    Es     grfißt    Deine    Grunewaldnichte 
Maximiliane  Harden. 

Das  war  —  abgesehen  vom  väterlichen  Stil- 
einfiufi  —  ein  durchaus  erfreulicher  Qrufl.  Seitdem 
habe  ich  nichts  gehört.  Herr  Harden  spricht  von 
einer  »schroffen  Antworte,  die  sein  letztes  Zeichen 
gewesen  sei.  Jene  Karte  kann  er  nicht  meinen^  wiewohl 
sie  sein  letztes  Zeichen  war.  Er  meint  also  ein  anderes, 
das  ich  nicht  empfangen  habe.  »Zu  einer  Kritik  er- 
dreistete   er   sich   zum    ersten    Male,   als    ich    über 

die einige  unfreundliche  Worte  schriebe.  Gemeint 

ist  mein  Ausfall  gegen  ihn  wegen  seines  Artikels  über 
die  eben  verstorbene  Schauspielerin  Jenny  Qrofi.  Diese 
Kritik,  die  zugleich  seine  Haltung  im  Fall  Coburg 
betraf,  erschien  Anfang  Oktober  1904.  Herr  Harden 
»antwortete  schroff  und  lieft  mich  bei  meiner  nächsten 
Anwesenheit  nicht  mehr  zu  sich  kommen«.  Seitdem 
schimpfe  ich.  Herr  Harden  lügt.  Es  ist  die  letzte  in 
der  Reihe  der  erweislichen  Unwahrheiten,  durch  die 
er  meinen  Abfall  praktisch  zu  motivieren  sucht.  Eine 
einfache,  glatte  Lüge.  Der  schroffe  Brief  ist  verloren 
gegangen.  Wenn  Herr  Harden  eine  Abschrift  haben  sollte, 
mOge  er  sie  vorwei&en.  Aber  der  Brief  ging  mit  Recht  ^ 
verloren.  Welchen  Sinn  hätte  er  gehabt?  HättQ  ich  ihn 
erhalten,  wie  sollte  er  meinen  späteren  Angriff  be- 
gründen, da  er  doch  die  Folge  eines  früheren  An- 
griffs ist?  Ich  schimpfte,  er  antwortete  schroff,  seit- 
dem schimpfe  ich.  Das  ist  dümmer,  als  notwendig 
wäre.   Wie   kann    schroffe   Ablehnung   meines  Ver- 


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—  42  — 


kehrs  die  Ursache  meiner  Angriffe  sein^  wenn 
sie  die  Antwort  auf  meine  dreiste  Kritik  bedeu- 
tet ?  Meine  Dreistigkeit  hatte  zugegebenerraafien  einen 
Vorsprung.  Und  wer  wird  mir  zutrauen,  dafi  ich  nach 
einem  heftigen  Ausfall  gegen  Herrn  Harden  und  nach 
einer  schroffen  Antwort  von  seiner  Seite  noch  den  Ver- 
such gemacht  habe,  in  den  Grunewald  einzu- 
dringen und  Herrn  Harden  die  Nachmitti^e  weg- 
zunehmen? Er  >liefi  mich  nicht  mehr  zu  sich  kom- 
menc.  Das  ist  eineLüge,  wenn  es  besagen  soll,  dafi  ich 
kommen  wollte,  aber  eine  Wahrheit,  weil  er  mich  ja 
auch  jetzt  nicht  »zu  sich  kommen  läßt«,  jedenfalls 
eine  Zweideutigkeit.  Ich  soll  nach  meiner  publizi- 
stischen Abweisung  seines  Verhaltens  im  Fall  der  toten 
Jenny  Orofi  noch  auf  den  Verkehr  in  seinem  Hause 
aspiriert  haben :  ich  hatte  ihm  beiläufig  vorgeworfen, 
dafi  er  vom  Leichnam  einer  Frau  Profit  ziehe,  indem 
er  sie  der  VerwertunR  ihres  Leibes  bezichtige  .  .  . 
Ich  habe  seit  dem  Sommer,  der  meinem  Angriff 
vorherging,  weder  von  ihm  noch  hat  er  von  mir 
eine  Zeile,  ein  Lebenszeichen  erhalten,  weder  aus  Wien 
noch  während  einer  späteren  Anwesenheit  in  Berlin. 
Ich  erdreistete  mich  der  Kritik  in  den  Fällen  Orofi 
und  Coburg,  ich  erdreistete  mich  anderer  Kritik  in 
spontaner  Undankbarkeit.  Wer  mich  für  irrsinnig 
hält,  wird  glauben,  dafi  ich  dazwischen  den  Versuch 
machte,  zu  Herrn  Harden  zu  kommen.  Auf  diesen 
Versuch  wäre  eine  schroffe  Antwort  glaubhaft.  Besitzt 
Herr  Harden  ein  Dokument  von  meiner  Hand,  das 
ihm  nach  meinem  Eintreten  in  der  Sache  Qrofi  mei- 
nen Wunsch,  ihn  zu  besuchen,  kundgab,  durch  das 
ich  ihm  etwa  meine  Anwesenheit  in  Berlin  anzeigte? 
Dann  möge  er  es  produzieren.  Tut  ers,  so  beeide  ich, 
dafi  es  gefälscht  ist.  Glaubt  er  trotzdem,  dafi  es  echt 
ist,  so  kann  er  mich,  seiner  Lieblingsneigung  folgend, 
wegen  Meineids  anzeigen.  Sieht  man  nicht  die  Uägliche 
Motivenkleisterung    für    den    unerklärlichen   Spnmg 


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-  43  — 

der  Freundschaft?  Der  Qedankengang  ist:  Ich  habe 
geschimpft,  folglich  läfit  er  mich  nicht  zu  sich  kom- 
men,  folglich  schimpfe  ich.  Aber  so  einfach  ist  die 
Sache  nicht,  und  mein  Rückzug  aus  dem  Grune- 
wald hat  nicht  die  geringste  Ähnlichkeit  mit 
einem  Hinauswurf  aus  dem  »achsenwald.  Ich  habe 
dort  zwar 'manchmal  Vanilleneis  bekommen,  mir  aber 
nie  durch  einen  Vertrauensmifibrauch  den  Zorn  des 
Hausherrn  zugezogen,  und  kein  Qraf  Fincken- 
stein,  Mitglied  des  preußischen  Herrnhauses,  lebt,  der 
behaupten  könnte,  daß  mir  infolge  einer  nicht  ge- 
nehmigten publizistischen  Aktion  das  Haus  verboten 
worden  sei.  Ich  will  Herrn  Harden  verraten,  was  mir 
schon  vor  meinem  öffentlichen  Auftreten  gegen  die 
Sexualschnüffelei,  die  mir  inzwischen  »widrig«  ge- 
worden war,  den  Entschluß  nahegelegt  hat,  den 
Grunewald  nicht  mehr  aufzusuchen.  Es  hängt  wohl 
mit  einem  Vertrauensmifibrauch  zusammen,  aber  mit 
einem,  den  der  Hausherr  am  Gewissen  hatte.  Als  ich  das 
letzte  Mal  über  seine  dringende  Bitte  ohne  Rück- 
sicht auf  seine  knappe  Zeit  bei  ihm  weilte,  sprach 
ich  mit  ihm  über  den  dürftigen  belletristischen  Teil 
der  ,Zukunft'  und  fragte,  warum  seiner  angesehenen 
Revue  nicht  bessere  Beiträge  zukämen.  In  der  letzten 
Nummer  war  nämlich  eine  besonders  schwache  Skizze 
eines  Wiener  Autors  und  liebenswürdigen  Menschen 
(der  inzwischen  gestorben  ist)  erschienen.  Herr 
Barden  erwiderte:  »Sehen  Sie,  und  der  Mann 
beklag  sich  noch,  dafi  ich  ihm  zu  wenig  Honorar 
geschickt  habe«.  Fragte  mich,  indem  er  mir 
einen  grausam  niedrigen  Betrag  nannte,  ob  das  nach 
meiner  Ansicht  denn  nicht  genug  sei.  Vor  der  peinlichen 
Alternative,  meinem  Gastgeber  den  notorischen  Geiz  des 
reichen  Verlegers  der  ,Zukunft'  zu  bestätigen,  oder 
über  das  wirtschaftliche  Interesse  eines  bekannten 
•EU  entscheiden,  sagte  ich :  Diesen  Beitrag  da  halte 
ich  für  wertlos,  nimmt  man  aber  auf  den  Namen  des 


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44  — 


Autors  Rücksicht,  so  scheint  mir  die  Rekriminaiion 
berechtip:t.  Als  ich  einige  Tage  später  in  Wien  mei- 
nen Bekannten  traf,  grüfite  er  unfreundlich.  Auf 
meine  dringende  Frage  nach  der  Ursache  seiner 
Veränderung  wies  er  mir  eine  lange  Abhandlung  des 
Herrn  Harden  vor,  in  der  dieser  mit  einer  Emsig- 
keit, als  ob  es  die  Anlegung  einer  homosexuellen 
Zeugenliste  gälte,  seinen  Honorarsatz  verteidigte 
und  sich  auf  mich  als  Sachverständigen  berief,  dergleich- 
falls  gemeint  habe,  der  Betrag  sei  entsprechend.  Ich 
weiß  heute  nicht  mehr,  ob  ich  Herrn  Harden 
einen  Vorwurf  gemacht  habe,  glaube  es  aber.  Viel- 
leicht schrieb  ich  jene  »schroffe  Antworte,  auf*die  kein 
Besuch  mehr  gefolgt  ist.  Jedenfalls  begann  sich  da- 
mals meine  Speicheldrüse  zu  füllen.  Sie  zögerte 
noch,  und  im  Sommer  wurden  ein  paar  Qrüfie  ge- 
wechselt. Im  Oktober  erfolgte  mein  erster  Angriff. 
Inzwischen  hatte  sich  die  Kluft  zwischen  seinem 
mehr  auf  nationalökonomische  Fragen  und  meinem 
mehr  auf  Dinge  des  inneren  Lebens  gerichteten 
Interesse  geöffnet.  Der  Anstofi,  auszusprechen, 
was  ist,  waren  die  Fälle  Coburg  und  Qrofi.  Ich  hab's 
gewagt,  wiewohl  ich  selbst  ein  unreines  Gewissen 
in  diesem  Punkt  hatte.  Ich  habe  nämlich  »ge- 
meinen Privatklatsch  über  die  ...  breitgetretenc. 
Was  soll  das  heißen?  Wen  meint  der  Herr?  Wann 
habe  ich  dergleichen  getan?  Ich  zerbrecH^  mir 
.den  Kopf  und  erinnere  mich,  dafi  ich  ein- 
mal ein  Feuilleton,  das  Frau  Odilen  geschrieben 
oder  einem  Berliner  Journalisten  in  die  Feder 
diktiert  hatte,  in  der  ,FackeP  berührt  habe. 
Natürlich  so,  dafi  ich  das  Privatleben  der  Schau- 
spielerin gegen  die  publizistische  Ausschrotung  ge- 
schützt, nicht  selbst  der  Sensation  preisgegeben  habe. 
Damals  hatte  ich  nur  den  Standpunkt  gegenüber 
der  journalistischen  Gefahr  bezogen,  mich  noch  nicht  * 
zur  Bejahung  eines  solchen  Privatlebens  an  und  für 


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-  45  - 


sich  durchgerungen.  Später  habe  ich  das  Dasein 
Yon  Freudenspenderinnen,  auch  von  solchen,  die 
nicht  aus  der  Fülle  einer  Natur  schöpfen,  auch 
von  jener  Toten^  gegen  die  sich  Herr  Bar- 
den verging,  für  wertvoller  gehalten,  als  die 
Tätigkeit  eines  Lieitartikelschreibers.  Verunglimpft 
hätte  ich  eine  solche  Frau  nie,  auch  im  Leben 
Qicht.  Was  Herr  Harden  breitgetretenen  Pri«atklatsch 
nennt,  kann  sich  nur  auf  die  gegen  das  Schmocktum 
gekehrte  Zitierung  einiger  Sätze  aus  dem  Feuilleton 
der  Frau  Odilen  beziehen.  Und  wem  —  ratet  — 
verdaiÜLte  ich  die  Kenntnis  des  Feuilletons?  Herrn 
Harden,  der  es  mir,  dicht  besät  mit  hämisch  kom- 
mentierenden Bleistiftnotizen  schickte,  mit  Beweisen 
einer  Orientiertheit  über  die  Herkunft  und  den  Wert 
Ton  Realitäten,  die  auch  in  späteren  Briefen  wieder- 
kehrte und  ein  Material  an  mich  zu  vergeuden  schien, 
für  das  Herr  Lippowitz  dankbar  gewesen  wäre.  Von 
dem  Verkehr  mit  diesem,  der  gewifl  zu  den  intere|- 
santen  Wiener  Leuten  gehört,  die  mich  verachten, 
habe  ich  Herrn  Harden  abgehalten.  Ich  bedaure  es 
und  kann  nur  zu  meiner  Entschuldigung  sagen,  dafi 
ich  ihn  bald  freigegeben  habe.  Er  wurde  ein  Intimus 
des  Korrespondenten,  den  Herr  Lippowitz  in  Berlin 
hat,  und  geht  heute  mit  ihm  und  den  Polizeihunden 
Bdith  und  Rufi  gemeinsam  auf  die  Jagd  nach  Sitt- 
lichkeitsverbrechem.  Ich  habe  ihm  den  Schaden,  den 
er  durch  seine  Verbindimg  mit  der  ,Fackel'  erlit- 
ten hat,  durch  meinen '  Verrat  reichlich  vergütet. 
Ich  gebe  zu,  dafi  ich  damals  sein  Lob  meines 
Witzes  nicht  honoriert  habe,  ich  bedaure  auch,  dafi 
ich  ihn  um  ein  Lob  des  nach  Dreyfus  wieder 
versöhnten  Bjömson,  das  aber  vielleicht  sogar  der 
,Neuen  Freien  Presse'  zu  schwachsinnig  war, 
gebracht  habe.  Qewifi,  ich  habe  seine  Beziehungen 
zu  den  Wiener  Prefileuten  eine  Zeitlang  lahmgelegt 
Aber  heute  ist  längst  alles  wieder  gut  und  die  Meinung, 


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—  46  ~ 


,Neue  Freie  Presse'  und  ,Neue8  Wiener  TagblatV 
hielten  es  mit  mir  gegen  ihn,  ist  gewiß  nur  ein 
Wahn  des  Verängstigten,  der  sich  noch  verfolgt  glaubt, 
da  längst  schon  die  schmierigsten  Hände  hilfreich 
sich    ihm    entgegenstrecken. 

Einer  hat  eine  Wahrheit  gefragt;  aber  das  tat  er 
nur,  weil  man  seinen  Qruß  nicht  erwidert  hat.  Die 
Enthüllung  enthüllt  den  andern.  Wer  die  Wahrheit 
erlitten  hat,  beweise,  dafi  sie  unwahr  ist  oder  er 
schweige,  ehe  er  zu  so  jammervoller  Motivierung  aus- 
holt. Und  wenn  einer  von  der  Hetzjagd  auf  das 
Privatleben  der  deutschen  Generale  noch  so  kaput  ist, 
solch  trostlose  Beweise  geistiger  Ermüdung  dürfte  er 
nicht  von  sich  geben.  Aber  wenn  er,  um  doch  in 
Ehren  zu  bestehen,  sich  von  der  mifiglückten 
Motivensuche  in  mein  Privatleben  zurückzieht,  weil  er 
glaubt,  dafi  der  gewohnte  Weg  zum  Ziel  führen 
könnte,  dann,  sage  ich,  hat  er  mich  überhaupt  nie 
eekannt.  Ob  ich  aus  dem  oder  jenem  aufier  der  Rache 
liegenden  Motiv  so  oder  so  schreibe,  das  mag  er  prüfen 
und  er  mag,  solange  ich  mich  nicht  auf  einen  lästigen 
Dokimientenbeweis  einlasse,  mit  meiner  Entlarvung 
dem  gesunden  Menschenverstand,  der  sichs  längst 
gedacht  hatte,  imponieren.  Zieht  er  aber  zur  Ifir- 
klärung  meines  kritischen  Erdreistens  auch  meinen 
»grotesken  Roman  mit  der...c  heran,  seit  welchem 
ich  empfindlich  in  diesem  Punkt  geworden  sei,  so  hört 
für  mich  die  Geneigtheit  zu  einer  literarischen 
Erledigung  solchen  Einwands  auf.  Denn  hier  ist.der 
Punkt,  wo  ich  noch  heute  empfindlich  bin.  Und  ich 
sage  Herrn  Harden:  Die  ganze  Lächerlichkeit  seiner 
Erwiderung  hat  ihren  Reiz  für  mich  verloren.  Aber  um 
dieses  einen  Satzes  willen  lasse  ich  ihn  nicht  mehr 
los.  Hier  ist  er  in  der  Bahn,  auf  der  er  heute  in 
Deutschland  mit  vollem  Dampf  fährt;  aber  durch 
meine  Reiche  kommt  er  nicht  unbeschädigt.  Hier  ist 
die  Gemeinheit  am  Ende.  Und  sie  zeigt  noch  einmal, 


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—  47  — 


was  sie  kanii.  Jetzt  erst  fühle  ich  ihre  Möglichkei- 
ten, jetat  erst  begreife  ich  den  Plan,  der  ihren  Vor- 
stößen gegen  das  privateste  Erleben  zugrundeliegt :  Die 
Unfähigkeit,  vor  dem  Qeist  zu  bestehen,  vergreift 
sich  am  Geschlecht.  Mein  grotesker  Roman  lag 
Herrn  Harden  nicht  als  Rez^ensionsexemplar  vor,  aber  er 
wußte  von  ihm,  weil  ich  ihn  besuchte,  wenn  ich  auf 
einer  Reise  zu  einem  Sterbebett  in  Berlin  Station 
machte.  Für  die  groteske  Art  dieses  Romans  leben 
Zeugen  wie  Alfre<i  v.  Berger  und  Detlev  v.  Lilien- 
cron.  Deutschlands  großer  Dichter  weiß,  wo  der  Ro- 
man beendet  liegt,  und  hat  das  Qrab  in  seinen 
Schutz  genommen.  Herr  Harden  in  seinen  Schmutz. 
Ich  aber  sage  ihm :  Ein  Roman,  den  der  Andere  gro- 
tesk findet,  kann  mehr  Macht  haben,  eine  Persönhch- 
keit  auszubilden,  als  selbst  das  Erlebnis,  von  einem 
Bismarck  gerufen,  von  einem  Bismarck  hinausgeworfen 
worden  zu  sein.  Aus  den  Erkenntnissen  dieses  grotesken 
Romans  erwuchs  mir  die  Fähigkeit,  einen  Moralpatron  zu 
verabscheuen,  ehe  er  mir  den  grotesken  Roman  be- 
schmutzte. Was  weiß  er  denn  von  diesen  Dingen?  Von 
ihm  hätte  ich  nicht  gelernt,  die  unauslöschliche 
Schmach  dieses  Zeitalters  zu  fühlen,  dessen  Männer  in 
Iris-Beete  spucken.  Bei  dem  Gedankei)  zu  erbleichen, 
welcher  Art  von  Menschheit  Frauenschönheit  als 
OlOcksgeschenk  in  den  Schoß  gefallen  ist.  Herr  Har- 
den ist  tot,  aber  der  groteske  Roman  lebt.  Er  hat  die 
Kraft,  immer  wieder  aufzuleben,  und  ich  glaube,  ich  ver- 
danke ihm  mein  Bestes.  Wenn  ich  gegen  dieses  Heroen- 
gezücht losziehe,  so  ist's  mir,  als  ob  mir  die  Tinte 
noch  beute  aus  leuchtenden  Augen  flöße.  Ich  tauche 
meine  Feder  nicht  in  das  Spülwasser  aristokatischer 
Wirtschaften.  Wäre  ich  einer  von  jenen,  die  heute 
in  Deutschland  imter  einem  ungerufenen  Domestiken 
leiden,  ich  würfe  die  Feder  hin  und  forderte  diesen  vor 
meine  Klinge,  aber  ohne  ihm  meine  Zeugen  zu 
schicken  und  ohne  ihm  Zeit  zu  lassen,    im  Lexikon 


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—  48  — 


nachzuschlagen,  wie  sich  die  Duellregeln  historisch 
entwickelt  haben.  So  gelobe  ich  ihm  dieses :  Für  seine 
Kritik  meines  grotesken  Romans  wird  er  mir  Rede 
stehen.  Nicht  in  seinem  Blatte.  Denn  dies  könnte 
meine  Gegenrede  bewirken,  und  er  ist  von  meiner  Un- 
erschöpflichkeit überzeugt.  Er  wird  nicht.  Aber  letat 
ist  der  Augenblick  gekommen,  wo  sich  dem  Motiv 
des  Undanks  wirklich  das  der  Rachsucht  gesellt 
Die  verjtrete  ich  nicht  publizistisch.  Ich  verspreche 
ihm  nur:  Wenn  er  wieder  einmal  nach  Wien  kommen 
sollte  und  Frauen  vereine  durch  das  Feuerwerk  seiner 
Belesenheit  aufreden  wird,  wenn  er  sich  am  Schlüsse 
des  Vortrags  mit  Fragezetteln  bewerfen  und  seme 
Qedankenabwesenheit  in  Form  von  Geistesgegenwart 
be wundem  läfit,  dann  wird  ihm  diese  Frage  gestellt 
werden:  Halten  Sie  den  für  einen  Schuiten,  d^ 
ohne  Nötigung  an  das  privateste  Fühlen  eines  An- 
deren greift,  und  ohne  das  Bedenken,  selbst  ein  Grab 
zu  beschmutzen?  Und  verdient  nach  Ihrer  Ansicht 
der,  der  solches  tut,  nicht  zwei  Ohrfeigen  ? 
Sollte  Herr  Maximilian  Harden  dann  noch  gestimmt 
sein,  auszusprechen,  was  ist,  so  werden  ihm  bei  Gott 
und  in  Gegenwart  des  Frauenvereines  jene  zwei 
Ohrfeip;en  versetzt  werden.  Er  ahnt  gar  nicht, 
und  niemand  ahnt  es,  welcher  Gesetzesübertretungen 
ich  fähig  bin,  wenn  es  gilt,  einen  grotesken  Roman 
gegen  einen  unberufenen  Rezensenten  zu  schützen! 

Karl  Kraus. 


Herantg^ber  and  YerantvortUdier  Redaktenr:  Karl  Kr  tat. 
Dmck  voo  JihocU  &  Siegd.  Wien  HI.  Hintere  ZolUmtntnBe  3. 


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Die  Fackel 


HS.2M--M 


WIEN,  13.  JULI  1908 


X.JAHR 


Deutschland. 

Der    Prozeß    hätte    vertagt    werden    müssen, 
wenn  jener  Zeuge  nicht  endlich  wäre  zur  Stelle  ge- 
sohafft  worden,  der  vor  fünfundzwanzig  Jahren  durch 
ein  Schlüsselloch  beobachtet  hat,  was  der  Angeklagte 
tet.    Dieser  Zeuge   ist  nicht  etwa  der  Qenius   des 
deutschen  Volkes,  sondern  ein  lebendiger  Starnberger, 
der    auf  eine  Zeugengebühr   Anspruch   hat.    Jener 
Qenius,    der   alles   sieht,    muß  sich   nur   vor   einem 
Spiegel     hüten.      Seine    Häßlichkeit     brächte     ihn 
noch  vor  dem  Ausgang  dieses  Prozesses  zum  Platzen. 
Denn   sein   Blick  tötet  unbedingt,   auch  wenn   der 
Basiliskenschnurrbart  nicht  mehr  die  alte  schreck- 
hafte Form  hat . . .  Wir  wissen  nicht,  was  hinter  den 
▼erschlossenen  Türen  von  Moabit  vor  sich  geht.  Die 
Niedertracht  setzt  sich  diesmal  nicht  in  der  Schweinerei 
fort,  die  leidtragenden  Reporter  stehen  auf  dem  Eor* 
ridor  und  lassen  traurig  die  Zungen  hängen.  Nur  ihre 
Äugten  haben  Gelegenheit,  sich  ein  Urteil  darüber  zu 
bilden,  ob  ein  Zeuge,  der  den  Saal  verläßt,  in  Jugend- 
tagen bloß  seine  Wade  oder  berechtigtere  Interessen 
gegen  den  Fürsten  Eulenburg  geschützt  hat.  Wenn  der 
Vertreter  eines  Blattes  aus  zuverlässiger  Quelle  etwas 
munkeln    hört,  so    sticht  er    die  Konkurrenten  aus. 
r^"'ch8  Schlüsselloch  könnte  man  Authentisches  er- 
ren.  Da  aber  diese  Form  der  Information  nur  zur 
)rführung  des  Angeklagten  und  nicht  zur  Bericht- 
.attung  über  den  Prozeß   zugelassen  wird,   kann 
Ausland  bloß  ahnen,   aber  nicht  wissen,  daß  in 
bit  die  Folter  aus  einem  Fürsten  nicht  schonungs- 
r^  als  aus  einem  Holzknecht  Sexualbekenntnisse 

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2  — 


herausprefit  Ich  habe  mich  an  den  Zentren  gewendet, 
der  vor  fünfundzwanzig  Jahren  Gelegenheit  hatte,  zu 
beobachten,  was  der  Angeklagte  in  einem  yersperrten 
Zimmer  tat.  Mein  SchlQssellochkorrespondent  berichtet 
mir,  Fürst  Eulenbur^  habe  sich  seit  damals  sehr  ver- 
ändert. Er  liege  jetzt  auf  einer  Bahre  und  sei  seit 
einigen  Tagen  sogar  tot.  Tag  für  Tag  wird  seine 
irdische  Hülle  zum  Gerichtstisch  getragen,  denn  die 
Verhandlung  mufi  ihren  Fortgang  nehmen  und  kann 
mit  Rücksicht  auf  die  Geschwornen,  die  nicht  ge- 
wechselt werden  dürfen  und  von  denen  einige  schon 
unwohl  geworden  sind,  nicht  bis  zum  Begräbnis  des 
Fürsten  vertagt  werden.  Tag  für  Tag  wird  darum 
der  tote  Angeklagte  zu  Gericht  getragen.  Hin- 
ter der  Bahre  schreitet  die  Fürstin,  ihr  zur  Seite 
die  beiden  Söhne  des  Angeklagten.  Das  preufiische 
Gericht  nimmt  die  Obduktion  des  Fürsten  Eulenburg 
vor.  Die  Homosexualität  des  Verblichenen,  zu  der  er 
sich  bei  Lebzeiten,  da  es  also  noch  Zeit  war,  nicht 
bekennen  wollte,  wird  jetzt,  nachdem  er  den  einzigen 
mildernden  Umstand  verwirkt  hat,  auf  anatomisohe 
Weise  festgestellt.  Auf  dem  Korridor  triflft  der  Ver- 
treter der  ,B.  Z.  am  Mittag',  ein  Wiener  Kanalräumer, 
die  Anordnungen.  Die  Söhne  des  Fürsten  können 
sich  nur  mit  Mühe  der  herandrängenden  Photo- 
graphen erwehren.  >Der  im  Grunewaldc  und  der  in 
Potsdam  erhalten  täglich  offizielle  Nachrichten  über 
den  Stand  der  Sache,  da  sich  Beiden  die  Staatsan- 
waltschaft in  gleicher  Weise  verpflichtet  fühlt.  Der 
aufrechte  Milchmann  liquidiert  täglich  seine  Zeugen- 
rechnung, da  er  mit  den  siebzig  Markin,  die  er  mit- 
genommen  hat,  in  Berlin  nicht  auskommt.  Der  Zeug^ 
Irnst  ist  vollständig  gebrochen.  In  maflgebenden  Krei- 
sen gibt  man  sich  der  HofTnune  hin,  daß  Fürst  Eulen- 
burg für  den  Augenblick  zum  Leben  erwachen  werde, 
da  das  Urteil  im  Namen  seines  Freundes  verkün- 
det werden  wird. 


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8   - 


Preuftens  Geschichte  ist  die  Geschichte  von  den 
drei  Löchern.  Der  rote  Faden,  der  sich  durch  diese 
sieht,  setzt  bei  einem  Schlüsselloch  an  und  mündet 
in  ein  Knopfloch. 

Die  menschlichen  Handlungen  teilt  man  in 
solche  ein,  die  unter  den  §  175  fallen  und  in  solche^ 
lue  nicht  unter  den  §  175  fallen.  Diese  können  ent- 
weder auch  wieder  homosexueller  Art  sein  oder  an- 
ders. Der  letzte  Fall  ist  selten. 

Die  homosexuellen  Handlungen,  die  nicht  unter 
den  §  175  fallen,  nennt  man  Schmutzereien.  Das 
Ausschnüffeln  dieser  Handlungen  mit  Hilfe  eines 
Detektivbureaus  und  ihre  Anzeige  bei  der  Staats- 
anwaltschaft muß  man,  um  Mißverständnissen  vor- 
subeugen,  anders  nennen. 

Der  österreichische  Paragraph  129  blickt  mit 
Verachtung  auf  den  deutschen  Paragraphen  176. 
So  schwer  ist  er  doch  noch  nie  kompromittiert  wor- 
den I  Nie  hat  er  sich  mit  Politik  abgegeben,  nie 
rieh  für  patriotische  Vorwände  mifibrauchen  lassen, 
öffentliche  Interessen  tastet  er  nicht  an ;  er  ist  so 
anständig,  sich  blofi  um  das  Privatleben  der  Leute 
zu  künomern.  Um  das  Vaterland  in  stürmischen  Zei- 
ten zu  regieren,  dazu  ist  in  Österreich  der  §  14  da. 

• 

Die  Berliner  Presse  hat  sich  also,  weil  ihr  der 
Binlafi  in  den  Gerichtssaal  verwehrt  ist,  auf  ihre 
Wfirde  besonnen  und  solidarisch  erklärt,  daJB  sie  nicht 
mehr  auf  dem  Qang  herumstehen  will.  Sie  streiken, 
weil  man  sie  davor  bewahrt  hat,  Saubengels  zu  sein. 

* 

Die  Berichterstattung  ist  ausgeschlossen,  aber 
nicht  die  Kriecherei  vor  ihr.  Die  Gerichtsfunktionäre 
entschuldigen  sich.  Keiner  versäumt  die  Gelegenheit, 

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~   4   — 


sioh  den  Herren  auf  dem  Korridor  als  einen  auf- 
richtigen Freund  der  Presse  zu  empfehlen,  »für  deren 
bedeutende  Aufgaben  er  das  volle  Verständnis  habe 
und  deren  Mitwirkung  namentlich  bei  der  Justiz  von 
höchster  Wichtigkeit  sei«.  Diesmal  freilich  müsse 
sich  die  Mitwirkung  ausnahmsweise  auf  dem  Korridor 
vollziehen.  Und  selbst  der  Monsieur  Mayer,  der  Mün- 
chener Qeburtshelfer  dieses  schönen  Justizfalles,  be- 
dauert, sich  über  das  schwebende  Verfahren  nicht 
äußern  zu  können. 

Die  Strafrechtslehrer  dagegen  sind  zur  Diskretion 
über  eine  Gerichtsverhandlung,  bei  der  sie  nicht  dabei 
sein  dürfen,  nicht  verpflichtet.  Der  Herr  Professor 
Kahl  wurde  nicht  zugelassen,  er  kann  natürlich  dem 
Vertreter  des  ,Berliner  Tageblatts*  auch  nichts  sagen, 
aber  er  sagt  ihm  doch  schon  am  ersten  Tag,  daß 
der  Purst  Bulenburg  unbedingt  verurteilt  werden 
müsse  und  daß  ihm  auch  kein  mildernder  Umstand 
zugebilligt  werden  könne.  Geheime  Gerichtsverhand- 
lungen unter  dem  Ausschluß  der  Taktlosigkeit  scheint 
es  nämlich  nicht  zu  geben. 

Fürst  Eulenburg  wird  nie  zugeben,  daß  er 
homosexuelle  Handlungen  begangen  habe,  auch  nur 
etwa  solche,  die  nicht  unter  den  §  176  fallen.  Br 
hat  es  nie  zugeben  können.  Er  hat  tatsächlich  unter 
einem  unwiderstehlichen  Zwang  gehandelt,  als  er  den 
Schwur  leistete.  Der  Baron  Rothschild  hat  als  Zeuge 
ausdrücklich  erklärt,  daß  er  ihn  auf  Liebenberg  nie 
besucht  hätte,  wenn  er  geahnt  hätte,  daß  Fürst 
Eulenburg  anormal  veranlc^  sei. 

« 

Herr  Lippowitz  findet  die  Behandlung  des 
Fürsten  zu  milde.  Er  fürchtet,  daß  man  ihm  selbst,  wenn 
er  doch  einmal  wegen  autorrechtlicher  Vergehungen 
gepackt  werden  sollte,  nicht  erlauben  wird,  im  Auto« 
mobil   durch  den   Prater    zu  fahren.    Er   bringt  in 


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6    — 


seioem  Blatte  den  Originalwitz,  die  Verhandlung 
werde  noch  aus  Rücksicht  auf  den  Jour  der  Fürstin 
Eulenburg  vertagt  werden.  Da  es  nicht  genug  Speichel 
in  Deutschland  gibt,  um  die  Gefühle  auszudrücken, 
die  einem  die  Meinung  des  Herrn  Lippowitz  über  die 
Fürstin  Eulenburg  einflößt,  so  ziemt  es  sich  auf  jede 
Kundgebung  zu  verzichten.  Aber  Germanias  Familien- 
leben ist  zerstört  und  sie  blickt  mit  Neid  auf  die 
Haltimg  der  Fürstin  Eulenburg.  Zum  Jour  jener 
anderen  Dame  wird  Herr  Lippowitz  zugelassen,  und 
es  ist  ganz  gut  möglich,  dafi.  er  sich  dort  die  Inspi- 
ration zu  seiner  sympathischen  Bemerkung  geholt  hat. 

« 

Herrn  Hardens  Kampfgenossen: 

»Die  bäuerlichen  Gestalten  Bayerns  scheinen  etwas  mürrisch 
zu  sein.  Sie  scheinen  von  dem  Aufenthalt  in  der  Reichshauptstadt  nicht 
sehr  entzückt  zu  sein.  Sie  diskutieren  darflber,  dafi  man  mit  9  Mark  täglich 
nicht  auskommen  könne,  denn  3  Mark  kostet  das  Logis,  das  Frflhstflck 
14  Pfennig  und  5  Pfennig  Trinkgeld,  und  dann  habe  man  noch  immer  nichts 
gehabt...  Einigen  Zeugen  ist  das  Reisegeld  ausgegangen.  Sie  verlangen 
einen  Vorschuß.  Riedel,  der  sich  auch  zur  Kassa  begeben  hat,  ist  zu- 
rQckgerufen  worden.  Er  hat  seinen  letzten  Wohnsitz  in  Berlin  ver- 
lassen, weil  er  dort  angeblich  von  Ungeziefer  geplagt  wurde.  Er  ist 
davongegangen  und  dem  Logierwirt  schuldig  geblieben  und  hat  ihm 
gesagt,  er  werde  bezahlen,  bis  er  das  Zeugengeld  bekommt.  Heute  er- 
schien der  Logierwirt  des  Riedel  vor  Gericht  und  wendete  sich  an  die 
Verteidiger  Eulenburgs  in  dieser  Sache.  Diese  haben  die  Angelegenheit 
zur  Sprache  gebracht  und  Riedel  zur  Rede  gestellt.  Da  Riedel  gestern 
nach  Beendigung  seiner  Einvernehmung  in  Begleitung  des  Justizrates 
Bernstein  und  eines  Journalisten  im  Automobil  ein  Restaurant  besucht 
hat,  verfügte  heute  das  Gericht,  daß  Riedel  isoliert  werde,  Die  Isolierung 
besteht  darin,  daß  Riedel  auf  einem  Stuhl  vor  der  Tür  des  Gerichts- 
saales sitzt,  umgeben  von  mindestens  zehn  Berichterstattern,  denen  er 
sein  Herz  ausschüttet  <, 

« 

In  seinen  freien  Stunden  ist  dieser  Herr  Bernstein 
ein  Dichter.  Qlücklicherweise  hat  er  in  der  letzten 
Zeit  wenig  freie  Stunden,  und  wenn  er  er  wirklich 
einmal  dazukommt,  mit  der  Muse  Zwiesprache  zu 
halten,  so  wird  ihm  gewifi  gleich  der  Riedel  gemeldet. 
Aber  es  werden  ruhigere  Zeiten  kommen,  und  sollte 
inzwischen  vielleicht  auch  der  Major  Lauff  ein  Opfer 


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6  -. 


der  fürohterlichen  Musterung  geworden  sein^  so  wird 
man  sich  mafigebendenorts  erinnern,  dafi  es  noch 
Dramatiker  in  Deutschland  gibt,  wie  es  noch 
Richter  in  Deutschland  gibt.  Der  Verfasser  von 
»Herthas  Hochzeit«  wird  einen  Qeschmack  nicht  ent- 
täuschen, der  sonst  wieder  nur  auf  nichtdeutsche 
Produkte,  wie  »HQttenbesitzer«  und  »Oharleys  Tantec, 
angewiesen  wäre.  Die  israelitische  Vergangenheit  des 
Herrn  Bernstein  ist  viel  mehr  verjährt  als  die  homo- 
sexuelle des  Ffirsten  Eulenburg,  da  ja  jener  bekannt- 
lich schon  beinahe  so  »bayrisch  wirkt«,  wie  Herr 
Harden  polnisch. 

Der  Hanswurst  ist  aus  dem  deutschen  Drama  noch 
immer  nicht  vertrieben.  Denn  die  Veränderung,  die 
mit  dem  Forsten  Eulenburg  vor  sich  gegangen  ist, 
wird  in  der  ,Neuen  Freien  Presse*  wie  folgt  illustriert : 

>Das  ist  nur  mehr  der  Schatten  dieses  Mannes,  und  die  Ver- 
änderungen sind  derartig,  daß  man  ihn  auf  den  ersten  Blick  nicht  wieder 
erkennt.  .  .  Er  war  immer  noch  ein  vornehmer  stattlicher  Mann,  er  war 
immer  noch  der  FQrst,  wenn  er  in  seinem  eleganten  Winterrock  mit 
dem  glänzend  gebflgelten  Zylinder  auf  dem  Kopfe,  von  der  Krankheit 
am  Gehen  verhindert,  aber  doch  nach  Möglichkeit  aufrecht,  auf  die 
Schultern  seiner  Söhne  gest&tzt,  in  den  Qerichtssaal  halb  schritt,  halb 
getragen  wurde.  Jetzt  aber  liegt  auf  der  Bahre  ein  elender,  hilfloser 
Mensch.  Auch  die  Eleganz  seiner  Kleidung  ist  verschwunden,  der 
Zylinder  von  einst  hat  einem  runden  braunen  Hut  platzgemacht,  der 
vornehme  aristokratisctye  Überzieher   einem   sehr  bOrgerlichen  Paletot.« 

41 

Die  Freundschaft  Wilhelms  IL  ist  ja  gewift  ein 
belastendes  Moment.  Aber  wer  hätte  geglaubt,  daß  sie 
so  unerbittlich  streng  gebüfit  werden  müsse? 

• 

Wenn  einer  vor  den  Geschwomen  steht,  so  gibt 
es  wohl  kein  Faktum  aus  dem  sogenannten  Vorleben, 
mit  dem  man  nicht  augenblicklich  einen  »uneOnsttgen 
Bindruck«  erzeugen  könnte.  Was  sich  im  »vorleben« 
auf  vierzig  Jahre  verteilt,  wirkt,  auf  die  Spanne 
einer  Gerichtsverhandlimg  projiziert,  als  lebende 
Illustration;  was  durch  das  Sieb  der  Zeit  geht,  wirkt 


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—    7    — 


mit  verstärkter  Aktualitäti  so  als  ob  es  während 
der  Untersuchungshaft  geschehen  wäre.  Es  be- 
leuchtet nioht  nur  die  Tat,  mit  der  es  nichts  zu 
schaffen  hat,  sondern  wird  auch  von  der  Tat  beleuchtet, 
und  das  Charakterbild  des  Angeklagten  ist  immer 
von  zwei  Seiten  bespiegelt.  Das  ist  die  Methode, 
die  mit  Qlück  auf  das  unperspektivische  Denken 
judizierender  Durchschnittsköpfe  spekuliert.  Hat  Fürst 
Eulenburg  einmal  eine  Ehrenbeleidigung  begangen, 
weil  er  im  guten  Glauben  an  die  Mitteilungen  einer 
Frau  unwahre  Tatsachen  über  einen  Hofbeamten 
verbreitet  hat,  so  ist  er  ein  zielbewußter  Verleumder, 
der   einen    herzkranken   Unschuldigen    in    den  Tod 

S »trieben  hat.  Der  sterbende  Pierson  soll  den 
amen  Eulenburg  »deutlich  gemurmelt«  haben. 
Aber  ein  herzkranker  Schuldiger  wäre  durch  die 
Verbreitung  wahrer  Tatsachen  ebenso  sicher  und 
vielleicht  noch  rascher  in  den  Tod  zu  treiben.  Wie 
leicht  hätte  etwa  Herr  Harden  einen  herzkranken 
Homosexuellen  durch  die  Enthüllung  erweislicher 
Wahrheit  in  den  Tod  treiben  können.  Dafi  Fürst 
Eulenburg  ein  Heros  war,  sucht  seine  Verteidigung 
nicht  zu  erweisen,  aber  dafi  der  weichherzige  Mann 
auch  nicht  das  Zeug  hatte,  Satanskünste  spielen 
zu  lassen,  das  mufi  jetzt  besonders  gesagt 
werden,  damit  vor  einer  Justiz,  die  über  jedes 
läppische  Detail  in  Staunen  und  »Bewegung«  gerät, 
ein  verlorener  Mensch  nicht  noch  unter  die  An- 
klagebank gedrückt  werde.  Die  längst  erwartete 
Zeitungsroeldung,  dafi  dem  Fürsten  Eulenburg  auch 
ein  Mord  nachzuweisen  sei,  ist  endlich  erschienen, 
denn  es  hat  sich  angeblich  herausgestellt,  dafi  er 
einmal  als  junger  Bursch  mit  dem  Säbel  renommiert 
und  einem  Beleidiger  eine  tödliche  Verletzung  bei- 
gebracht hat.  Man  sollte  es  nicht  glauben,  wie  die 
Delikte  einen  Menschen  förmlich  umdrängen,  der 
sich  einmal  mit  einem  von  ihnen  eingelassen  hati 
Nun,    daß   Herr   Harden    es    sich  an  der  Belastung 

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8   — 


des  fürstlichen  Sexuallebens  nicht  genügen  läfit, 
sondern  zwischen  Anklagebank  und  Qeschwornen- 
bank  vorsichtshalber  auch  noch  Stimmungsmomente 
einschiebt,  ist  mehr  als  ekelhaft.  Die  Artikel,  die 
er  jetzt  in  ganz  leserlichem  Deutsch  für  die  Kolpor- 
tagepresse schreibt  und  durch  die  ein  aus  der  Son- 
nenhöhe Geraffter  noch  sicherer  beschattet  werden 
soll,  setzen  der.  Bestialität  jene  Krone  auf,  die  bis- 
her nur  wie  ein  unsichtbares  Palladium  über  der 
Aktion   des  Herrn  Harden  geschwebt  hat. 

Wenn  >die  Gteschwornen  den  Fürsten  Bulenburg 
verurteilen  werden,  so  werden  sie  ihn  nicht  wegen 
der  falschen  Aussage  verurteilen,  die  er  unter 
einem  fürchterlichen  Zwange  abgelegt  und  zu  der 
ihn  der  Staatsanwalt  förmlich  verleitet  hat.  Nicht 
wegen  des  Schwurs,  der  dem  aus  Gunst  in 
Schmach  g:ehetzten  Manne  eine  Rehabilitierung 
schaffen  sollte  und  in  seiner  rein  dekorativen  Bedeu- 
tung weder  durch  die  Wahrheit  noch  durch  die  Lüge 
die  Klagesache  des  Grafen  Moltke  verwirren  konnte. 
Aber  wenn  sie  ihn  trotzdem  schuldig  finden,  so  wer- 
den sie  ihn  wegen  der  verjährten  oder  nicht  unter 
den  Strafparagraphen  fallenden  homosexuellen  Hand- 
lungen verurteilen.  Denn  zum  Meineid  war  er  ge- 
zwungen, aber  kein  Geschworner  wird  es  sich  einreden 
lassen,  dafi  er  angesichts  der  vielen  Kuhmägde,  die 
am  Starnbergersee  wohnen,  zur  Homosexualität  ge- 
zwungen war. 

OJer  sie  werden  ihn  verurteilen,  weil  der  Fürst 
Dohna-Schlobitten  ihm  einmal  einen  groben  Brief 
geschrieben  hat. 

»Der  Zeuge  Riedel  tritt  unter  großer  Heiterkeit  an  den  Qerichts- 
tisch  und  überreicht  eine  Rechnung,  aus  der  hervorgeht,  daß  er  seine 
Schuld  an  den  Qasthofbesitzer  nunmehr  abgetragen  habe  und,  wie  er 
mit  dem  Ausdruck  der  Befriedigung  hinzusetzt,  sogar  noch  um  fünf 
Mark  billiger  weggekommen  sei.« 


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-  9  — 

Der  Gerichtshof  wird  demnächst  darüber  be- 
raten, ob  es  Herrn  Riedel  gestattet  werden  soll,  einen 
Schuhplattler  zum  Besten  zu  geben.  Es  unterliegt 
keinem  Zweifel,  dafi  eine  solche  Produktion  haxen- 
schlagender Beweise,  schon  deshalb,  weil  sie  auch 
eine  sogenannte  >Qaudi<  bedeutet,  mit  dem  Prozeß- 
gegenständ  mehr  zu  tun  hätte  als  der  Brief  des 
Ptirsten  Dohna.  Vorläufig  aber  vergnügt  sich  die 
Bestialität  auf  ihre  Weise.  Der  Vorsitzende  hält  dem 
Fürsten  jenen  Brief  vor.  Die  folgende  Ansprache  ist 
wörtlich  so   in  den  Blättern  gestanden: 

> Als  wir  hier  sehr  ausfahrlich  über  Ihren  Charakter  sprachen, 
habe  ich  Sie  aufgefordert,  nach  den  guten  auch  die  schlech- 
ten Eigenschaften  Ihres  Wesens  zu  erwähnen.  Sie  haben 
darauf  zweierlei  erwidert:  Erstens  seien  Sie  ein  zu  enthusiastischer 
Freund  gewesen  und  zweitens  hätten  Sie  eine  viel  zu  große  Gutmütig- 
keit betätigt,  die  Ihnen  meistens  nur  Undank  eingetragen  habe.  Das  war 
alles,  was  Sie  von  Ihren  Fehlern  sagten.  Ich  machte  Sie  da- 
rauf aufmerksam,  daß  ich  diese  Eigenschaften  nicht  gerade  zu  denjenigen 
Fehlern  rechnen  kann,  die  Sie  hieher  gebracht  haben  und  daß  wir  etwas 
Aber  Ihre  Wahrheitsliebe  hören  möchten,  die  schon  nach  dem 
bisherigen  Gang  der  Vernehmung  etwas  brüchig  erscheinen  mußte. 
Darflber  sagten  Sie  aber  nichts.  Nun  ist  hier  dieser  Brief...« 

Der  Fürst  Eulenbur^  ist  in  einer  argen  Be- 
drängnis. Verschweigt  er  die  schlechten  Eigenschaften 
seines  Charakters,  so  beweist  er  dadurch,  wie  schlecht 
seine  Eigenschaften  sind.  Offenbar  wollte  er  dieses  kür- 
zere Verfahren  einschlagen,  aber  schon  eine  solche  Ab- 
sicht ist  eben  verdächtig.  Da  ergeht  an  ihn  die  Auffor- 
derung, sich  über  seine  Wahrheitsliebe  zu  äußern. 
Angeklagter,  sind  Sie  wahrheitsliebend  oder  nicht? 
Ja  oder  nein?  Sagt  er  nein,  so  gibt  er  selbst  zu,  daß  er 
ein  Lügner  ist.  Sagt  er  ja,  so  hat  er  die  Unwahrheit 
gesagt,  ist  also  erst  recht  ein  Lügner.  Würde 
er  angeben,  er  sei  ein  zweifelhafter  Charakter, 
so  hielte  Herr  Kanzow,  der  Vorsitzende,  eine 
solche  Aussage  wohl  nicht  für  präzis  genug.  Auch 
die  Angabe,  daß  einer  ein    dunkler   Ehrenmann  sei, 

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—  10  — 


fönde  Herr  Eanzow  noch  immer  zu  allgemein. 
Bezeichnen  Sie  uns  des  Näheren,  in  welcher  Art  sich 
Ihre  Schlechtigkeit  äußert,  ob  Sie  etwa  hinterhältig:, 
tückisch,  eine  Strebernatur  oder  sonst  ein  gemeiner 
Kerl  sind.  Oder:  Es  wird  Ihnen  vorgeworfen,  daß 
Sie  einen  häfilichen  Charakter  haben.  Ist  das 
wahr?  .  .  .  Herr  Kanzow  wird  als  einer  der  tüch- 
tigsten deutschen  Richter  gerühmt  und  ist  auflerdem 
liberaler  Politiker. 

« 

Wenn  Fürsten  fallen,  pifit  der  Pöbel  geschwind 
noch  aufs  Pflaster. 


Ein  Wiener  Kanalräumer,  der  nach  Berlin  aus- 
gewandert ist  und  dort  ein  Mittagsblatt  yerschleifit, 
beherrscht  die  Situation  des  Prozesses.  Er  hat  auf 
seinem  Schreibtisch  —  das  ist  erweislich  wahr  — 
die  scheinbar  scherzhafte  Inschrift  angebracht:  »Ich 
breche  zu  haben  Drecke«  Dieser  Mensch  hält  die  Fä- 
den der  Eulenburg-Sache  in  seiner  angenehmen 
Hand  und  ist  der  Exekutor  der  gröberen  Arbeit,  die 
sein  Freund  Harden  in  der  ,Zukunft^  zu  yerrichten 
sich  scheut.  Das  ist  der  Mensch,  der  die  Erho- 
lungsfahrten des  Fürsten  Eulenburg  beanstandet, 
Vorlebensfakten  für  die  Qeschwornen  appretiert  und 
nur  über  den  Gesundheitszustand  des  Angeklagten 
keine  unfi;ünstigen  Gerüchte  aufkommen  läftt.  Das 
ist  der  Mensch,  der  die  Herren  Riedel  und  Bernstein 
im  Automobil  spazieren  führt  und  deshalb  in  der 
beneideten  Lage  ist,  Deutschland  mit  authentischem 
Dreck  zu  versorgen.  Was  er  als  Originalbericht  über 
die  Zeugenaussage  des  Herrn  Mayer  ausgab,  war  lüler- 
dings  eine  wortwörtliche  Abschrift  -der  Münchener 
Urteilsbegründung,  die  seinerzeit  überall  zu  lesen  war, 
und  die  Wiener  Blätter  ließen  sich  die  Sensation  tele- 
phonieren.  Es  braucht  nicht  eigens  hervorgehoben  zu 
werden,  dafi  der  Mann  auch  Korrespondent  des  Herrn 


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—  11  — 


Lbpowitz  ist.  In  Berlin  vertritt  er  offiziös  die  Meinung 
d^  Herren  Riedel,  Wilhelm  II.  und  Harden. 

• 

Tatsächlich  war  er  in  der  Lage  zu  versichern, 
dafl  die  unbeschränkte  Ausschliefiung  der  Öffent- 
lichkeit -—  »Selbste  fUr  Herrn  Maximilian  Harden  — 
»an  Stellen,  auf  die  auch  ein  Oberstaatsanwalt  mit 
Ehrfurcht  emporzublicken  scheint,  nicht  gebilligt 
wird«.  Tatsächlich  war  er  auch  in  der  Lage,  zu -dro- 
hen, Herr  Harden  werde,  wenn  man  dem  Skandal 
nicht  die  ersehnte  Verbreitung  gebe,  »noch  einmal 
in  einem  anderen  Bundesstaate  sein  Heil  suchen«« 
Dafl  Herr  Harden  unersättlich  ist,  wufite  man.  Aber  die 
Drohung,  die  Ofientlichkeit  des  Skandals  mit  Hilfe 
der  willigen  Justiz  eines  Bundesstaates  herzustellen, 
enthflUt  bereits  ein  vom  Blutrausch  verwüstetes  Qehirn. 
Da8  sich  der  partikularistische  QroU  gegen  Preußen 
auch  weiterhin  den  judiziellen  Wünschen  des  Herrn 
Harden  willfährig  zeigt,  ist  ja  durchaus  möglich.  Das 
kriminalistische  Monstrum,  das  in  Bibern  zur  Welt 
kam,  war  ein  so  aufgelegter  Hohn  auf  die  deutsche  Rechts- 
einheit, dafl  Herr  Harden  vielleicht  wirklich  ein  dami- 
scher Tropf  wäre,  wenn  er  Ober  den  Fall  Eulenburg 
nicht  auch  in  Württemberg  judizieren  ließe.  Der 
Herr  Mayer  hat  bekanntlich  eines  Holbein  Haltung 
bewahrt,  als  das  Beleidigungsgeschäft  der  Herren 
Städele  und  Harden  sich  vor  ihm  etablierte.  Die 
bayrische  Justiz  hat  mit  Vergnügen  die  Gelegenheit 
ergriffen,  sich  als  Revisionsinstanz  über  der  preußi- 
schen aufzuspielen  und  hat  gegen  alles  Recht  eine 
meritorische  Prüfung  der  in  Berlin  abgelehnten  Zeu- 
genschaft der  Ernst  und  Riedel  zugelassen.  Herr 
Städele  hatte,  um  von  der  Anklage  auf  Ehrenbe- 
leidigung freigesprochen  zu  werden,  zu  beweisen,  daß 
Herr  Harden  über  den  Fürsten  Eulenburg  nichts  wußte. 
Oder  Herr  Harden  hatte  zu  beweisen,  daß  er  etwas 
wußte.  In  Osterreich  wäre  ein  solcher  Beweis  Gott- 
seidank nicht  nur  deshalb  imdenkbar,    weil   es   sich 

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—  12  — 


um  Dinge  des  Privatlebens  handelt,  sondern  auch 
schon  deshalb,  weil  der  Beklagte  St.  dem  Kläger 
H.  ein  »Antragsdelikt«  (Beleidigung  des  B.)  vor- 
geworfen hatte.  Eine  solche  —  sachliche  und 
geographische  —  Dislozierung  eines  Wahrheits- 
beweises wäre  bei  uns  unmöglich.  In  Bayern 
war  mehr  möglich,  als  selbst  in  Deutschland  erlaubt 
ist.  Es  konnte  sich  naturgemäß  nur  darum  handeln, 
ob  Herr  Harden  Material  zu  haben  glaubte,  nicht 
ob  dieses  Material  hinreichend  war,  um  die  Homo- 
sexualität des  Fürsten  Eulenburg  zu  beweisen.  Ob 
Herr  Harden  Beweise  angeboten  hatte,  nicht  ob  es 
genügende  Beweise  waren.  Es  waren  also  die  Ber- 
hner  Akten  zu  requirieren,  aus  denen  hervorginf?, 
dafi  Herr  Harden  die  Zeugenschaft  der  beiden  bayrischen 
Hieseln  tatsächlich  angeboten  hatte;  daraufhin  war  der 
Herr  Städele  glatt  schuldig  zu  sprechen.  Seine  Ver- 
urteilung war  von  dem  Inhalt  der  Zeugenschaften 
Ernst  und  Riedel  unabhängig.  Denn  wenn  der  Fischer 
und  der  Milchhändler  auch  beschworen  hätten,  dafl 
zwischen  ihnen  und  dem  Fürsten  nichts  geschehen 
sei,  war  der  Herr  Städele  schuldig.  Damit  wäre  eben 
der  gute  Qlaube,  in  dem  Herr  Harden  seine  Verdäch- 
tigung vorgebracht  haben  konnte,  noch  nicht  entkräftet 
gewesen.  Die  Zeugen  gegen  Eulenburg  durften  nie 
Zeugen  gegen  Städele  sein,  und  es  war  ausschliefilich 
die  Tatsache,  dafi  sie  von  Herrn  Harden  dem  Ber- 
liner Gericht  genannt  wurden,  aktenmäßig  zu  erhärten. 
Aber  der  Herr  Mayer  verhörte  die  Zeugen, 
quetschte  aus  ihnen  heraus,  was  er  mit  dem 
Kolportageton  der  ewigen  Vergeltung  und  den 
Mitteln  der  Folterjustiz  vermochte,  und  führte  einen 
Prozefi  Eulenburg.  Qrotesk  ist,  dafi  die  Urteilsbe- 
gründung des  Münchener  Beleidigungsprozesses  so 
ganz  und  gar  auf  die  Komödie  eingeht,  daß  sie  kaum 
mit  einem  Wort  die  rehabilitierte  Ehre  des  Herrn 
Harden  streift  und  ausschliefilich  die  Beweise  für 
die  Homosexualität  des   Fürsten  Eulenburg  würdigt» 


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—  13  — 


Dieser  wurde  in  München  in  contumaciam  verurteilt 
und  in  Berlin  findet  nur  mehr  eine  Berufungsver- 
handlung  statt.  Herr  Barden  kann  mit  den  Bundes- 
staaten zufrieden  sein.  Bismarck  hat  Deutschlands 
Einheit  geschaffen,  Herr  Harden  löst  sie  wieder  auf. 


»Ernst  war  noch  bis  zum  Mflnchener  Prozeß  ein  gesunder  und 
blühender  Mann;  alle,  die  ihn  früher  gekannt  haben,  können  nicht  genug 
erzählen  von  der  schrecklichen  Veränderung,  die  seitdem  mit  ihm  vor- 
gegangen ist.  Sein  Haar  ist  ergraut,  er  hat  ein  Herzleiden  bekommen, 
aus  dem  gelben  Gesicht  stehen  die  Backenknochen  hervor.  Er  selbst 
erzählt,  wie  er  früher  jeder  Anstrengung  gewachsen  war,  wie  er  sein 
Boot  gerudert,  seine  Netze  ausgelegt  hat,  wie  er  über  die  Berge  ge- 
gangen ist,  ohne  eine  Müdigkeit  zu  kennen;  ,ich  weide  nie  mehr,  wie 
ich  war',  fügt  er  traurig  hinzu.  Man  sucht  ihn  zu  trösten  und  zu  be- 
ruhigen, aber  er  ist  dem  Trost  und  der  Beruhigung  nicht  zugänglich. 
Sein  Schwager,  ein  wackerer  Schuhmacher  aus  Tutzing  am  Starnbergersee, 
der  Ernst  nach  Berlin  begleitet  hat,  um  ihn  gegen  etwaige  Angriffe,  vor 
allem  aber  wohl  um  ihn  gegen  sich  selbst  zu  schützen,  erzählt,  wie  er 
sich  vergeblich  bemüht,  den  Ernst  zu  zerstreuen.  Sie  gehen  zusammen 
ins  Theater,  aber  der  Ernst  sieht  und  hört  nichts  von  der  Vorstellung, 
und  kaum  hat  er  eine  Stunde  gesessen,  so  treibt  es  ihn  wieder  hinaus, 
und  sie  laufen  mitsammen  durch  die  Strafien.  Ernst  war  bisher  ein  an- 
gesehener Mann  in  Starnberg,  wo  er,  wie  der  Schwager  erzählt,  ein 
schönes  Anwesen  besitzt.  Jetzt  redet  das  Volk  allerlei  Anzügliches 
hinter  ihm  drein,  und  man  weiß,  daß  die  oberbayrischen  Bauern  sich 
nicht  gerade  mit  besonderer  Zartheit  auszudrücken  pflegen.  .  .  Dieser 
arme,  gutherzige,  von  Gewissensqualen  gepeinigte,  von  seiner  inneren 
Unruhe  halb  zerstörte  Mensch  ruft  das  Mitleid  aller  derer  hervor,  die 
hier  mit  ihm  sprechen.« 

Welch  ein  Erfolg  der  deutschen  Sittlichkeit! 
Der  Herr  Mayer  in  München  fand  es  in  seiner 
Urteilsbegründung  »ergreifend«,  wie  ihm  dieser  Er- 
folg gelang,  und  den  Herren  Harden  und  Bernstein 
standen  die  Tränen  in  den  Augen.  »Was  sagen 
Sie  zu  unserem  Mayer?«  Jeder  im  Saal  hatte  >Un- 
vergefiliches  erlebt«.  Die  Katharsis,  die  der  Anblick 
eines  sich  befreienden  Gewissens  bewirkt,  büflt  ein 
armer  Teufel  mit  einer  zertrümmerten  Existenz  und 
mit  hervorstehenden  Backenknochen.  Dafür  sieht, 
wie  Herr  Harden  triumphierend  melden  konnte,  »der 
Justizrat  um  zehn  Jahre  jünger  aus«.    Mit    einem 


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—  14  ~ 


Wort)   eine   Bande,   die    einem    annen    Teufel   das 
Blut  abgezapft  hati 

Hoffentlich  ist  der  Verteidigung  des  Fürsten 
Eulenburg  die  interessante  Tatsache  nicht  ent- 
gangen, dafi  Herr  Maximilian  Harden  die  beiden  Aus- 
sagen des  Zeugen  Bulenburg  erst  in  dem  Augenblick 
für  Eide  angesehen  hat,  da  die  Ergebnisse  des  Idün- 
chener  Prozesses  diesen  Aussagen  widersprachen,  also 
Hoffnung  gegeben  war,  eine  Verfolgung  wegen 
Meineids  durchzusetzen.  Herr  Harden,  der  bis  zum 
Münchener  Gerichtstag  in  seinen  Prozessen  den 
Standpunkt  vertrat,  er  habe  dem  Fürsten  Eulenburg 
überhaupt  nichts  nachgesagt  und  es  sei  verfehlt,  seine 
Worte  als  Anspielungen  auf  sexuelle  Dinge  auf- 
zufassen, war  bemüht,  die  Aussagen  des  Fürsten  als 
unverbindliche  Erklärungen  hinzustellen,  die  nichlB 
gegen  ihn,  Harden,  beweisen.  In  einer  Broschüre, 
die  ein  Gefolgsmann  des  Herrn  Harden  nach  dessen 
Verurteilung  erscheinen  ließ,  die  den  stilistischen 
Einflufi  und  in  jeder  Zeile  das  sachliche  Diktat 
des  Herrn  Harden  verrät,  und  die  der  Herausgeber 
der  ,Zukunft'  als  die  richtigste  Zusammenfassung  der 
Prozefiergebnisse  empfohlen  hat,  findet  sich  die 
folgende  Stelle,  die  sich  auf  die  Aussage  Eulenburgs 
im  Brand-Prozeß  bezieht: 

»Als  Eid  ist  diese  Reinigungserklärung  wenigstens  bisher  In  der 
öffentllchlceit  allgemein  aufgefaßt  worden.  In  letzter  Stunde  werde  ich 
von  einem  praktischen  Juristen  darauf  aufmerksam  gemacht,  dafi  diese 
Auslassung  nach  wiederholten  Entscheidungen  des  Reichsgerichts  nicht 
unter  den  Eid  fällt,  sondern  als  nicht  zur  Sache  gehörige,  außer- 
halb des  Eides  und  der  Zeugenpflicht  stehende  Erklärung 
zu  bewerten  ist  .  .  .  Ohrenzeugen  haben  mir  versichert,  dafi  sowohl 
der  Vorsitzende  als  auch  Fürst  Eulenburg  wiederholt  betont  haben,  es 
handle  sich  bei  der  langen  Auslassung  des  Fürsten  um  etwas  nicht 
zur  Sache  Gehöriges.  Mit  dieser  Feststellung  wäre  der  Erklärung  in 
derTatder  Eidescharakter  genommen.  Ungeschickt  wäre  ein  solches 
Verfahren  eben  nicht,  eine  Erklärung  rings  in  der  Öffentlichkeit  als  Eid 

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—  15  — 

nehmen  zu  lassen,  während  sie  in  Wiridichkeit  weiter  nichts  als  eine 
ganz  unverbindliche  Privatäufierung  ist,  bei  der  es  dann 
also  auch  weder  J^eineid  noch  Falscheid  gibt.« 

Ungeschickt  ist  auch  ein  Verfahren  nicht,  eine 
Aussage  rings  in  der  Öffentlichkeit  als  unverbindliche 
Privatäufierung  nehmen  zu  lassen,  um  ihre  Wirkung 
8u  entkräften,  und  sobald  sich  herausstellt,  dafi  sie 
unwahr  ist,  alle  Justizschrecken  gegen  einen  zweifel- 
losen Meineid  zuhilfe  zu  rufen  .  .  .  Ober  die  Aus- 
sage des  Fürsten  im  Moltke-Prozeß  sagt  der  Beauf- 
tragte des  Herrn  Harden,  sie  sei  ebensowenig  präzis 
wie  die  erste.  Und: 

«Mir  ist  es  nun  nicht  gelungen,  logisch  zu  ergründen,  ob 
diese  Rückfrage  des  Fürsten  (,  Halten  Sie  das  vielleicht  für  Iceine  Schmutze- 
rei?') als  unter  dem  ZeugeneidgetaneBehauptunganzusehenist. 
Sachlich  ist  sie  es  ja  zweifellos;  ob  sie  der  Form  nach  dorthin 
gehört,  will  mir  durchaus  zweifelhaft  erscheinen  .  .  .« 

Daraus  geht  auch  hervor,  dafi  Herr  Harden  bis 
zur  Hilfeleistung  des  Herrn  Mayer  in  München  nichts 
»gewufit«,  dafi  er  auf  Orund  va^er  Gerüchte  die 
Kampagne  eröfiFnet  hat,  dafi  er  von  den  Aussagen 
des  Fürsten  Eulenburg  tief  betroffen  war.  Er  hätte 
sich  ja  auch,  wenn  er  schon  damals,  wie  er  nachträg- 
lich lügt,  den  Köcher  voll  Pfeile  gehabt  hätte,  nicht 
so  wehrlos  verurteilen  lassen.  Das  Detektivbureau 
hat  erst  später  gearbeitet.  Die  Aussagen  des  Fürsten 
Eulenburg  waren  bis  zum  Tag  von  München  keine 
Eide.  Dafi  die  Berliner  Qeschwornen  sie  strenger 
auffassen  sollten,  als  Herr  Harden,  wäre  grauenvoll. 

• 

Die  Herren  Günstlinge  lebten  sorglos  dahin  und 
rauflten  glauben,  dafi  Majestät  ihr  Gebaren  verstehe. 
Das  hätte  man  der  Kamarilla  sagen  müssen,  dafi 
Homosexualität  nicht  gewünscht  wirdi  Jetzt  mufi  sie 
die  Unerfahrenheit  eines  andern  büßen. 

« 

Der  aufrechte  Milchmann: 

»Am  18.  Juni  d.  J.  hat  Riedel  noch  einen  Brief  an  den  Fürsten 
geschrieben.    Er  setzte  ihn  in  Kenntnis  von  der  traurigen  Lage,    in  der 

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—  16  — 


€r  sich  befinde.  Er  habe  seine  Milchhandlung  schließen  müssen,  da  er 
infolge  des  Bekanntwerdens  seiner  früheren  Beziehungen  zum  Fürsten 
die  ganze  Kundschaft  verloren  habe.  Das  sei  nicht  seine,  sondern  des 
Fürsten  Schuld,  der  ihn  zu  jenen  Schmutzereien  verleitet  hat.  Der  Fürst 
möchte  ihm  innerhalb  zweier  Wochen  mitteilen,  ob  er  ihn  entschädigen 
wolle.  Wenn  er  nicht  schreibe,  werde  er  mit  seinem  Rechtsanwalt 
sprechen.  Der  Brief  schließt  mit  der  Bemerkung,  daß  der  Fürst  durch 
seine  Handlungsweise  das  ganze  Deutsche  Reich  blamiert  habe.< 

Dieser  Appell  an  das  politische  Gewissen  des 
Fürsten  Bulenburg  war  zwei  Wochen  vor  dem  Pro- 
zeß ergangen.  Gleich  Herrn  Harden  hatte  Herr  Rie- 
del rein  politische  Motive,  gleich  ihm  ließ  er  sich 
»nur  von  Schritt  zu  Schritt  drängenc, 

« 

Mancher  Deutsche  würde  gern  den  Staub  von 
seinen  Füßen  schütteln.  Aber  der  Dreck  geht  nicht 
herunter.  ^ 

Eine  Nation,  welche  den  gräßlichen  Anblick  der 
Konfrontierung  eines  kranken  Greises  mit  den  grau- 
gewordenen Zeugen  seiner  Jugendsünden  ohne  Trauer 
erträgt;  welche  die  Ausstellung  eines  fürstlichen 
Siechenbettes  und  den  Lokalaugenschein  fürstlicher 
Lüste  zur  demokratischen  Forderung  erhebt;  deren 
Interesse  an  dem  Laufe  der  Gerechtigkeit  »sich  ab- 
flaut«, weil  sie  nur  horchen  und  nicht  zusehen  darf; 
und  bei  der  es  »böses  Blut«  macht,  wenn  einem 
aristokratischen  Häftling  die  Arzte  eine  Lufterholung 
durchsetzen:  eine  solche  Nation  sollte  vor  ein  inter- 
nationales Kulturgericht  gestellt  werden,  wo  ihr  das 
Recht  aberkannt  würde,  auf  Goethe  stolz  zu  seinl 
Oder  wo  mindestens  die  Kolonisierung  ihres  Terri- 
toriums durch  westafrikanische  Ein  wanderer  beschlossen 
werden  müßte.  Wer  was  dawider  hat,  zerschmettere  ich. 

* 

> Ernst  und  Riedel  haben  von  einem  Unternehmer  in  Düsscldorl 
das  Angebot  erhalten,  sich  gegen  ein  monatliches  Honorar  von  je 
500  Mark  engagieren  zu  lassen,  um  mit  ihm  von  Stadt  zu  Stadt  zu 
ziehen«. 


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—  17  — 

Da  Ernst  abgelehnt  hat,  soll  der  Unternehmer 
an  ein  anderes  beliebtes  Duettistenpaar  herange- 
treten sein.  • 

In  der  Parole  »Pardon  wird  nicht  gegeben«  hat 
sich  die  aufsehenerregende  Verbindung  vollzogen. 
Herr  Harden,  dessen  Inspirationsbedürftigkeit  vom 
eisernen  Kanzler  auf  den  aufrechten  Milchmann  ge- 
kommen ist,  wird  sich  aber  täuschen,  wenn  er  auf 
Dankbarkeit  rechnet.  Es  ist  eine  Shakespearesche 
Staatsaktion,  die  sich  in  Preufien  abspielt  und  in 
einer  solchen  werden  die  beauftragten  Mörder  von 
den  Königen  immer  um  den  Lohn  betrogen.  Wenn 
Bismarck  den  Fürsten  Eulenburg  für  einen  politischen 
Schädling  gehalten  hat,  so  hat  er  dessen  Beseitigung 
auf  abdominalem  Wege  nie  gewünscht  und  nie  bei 
Herrn  Harden  angeschafft.  Hätte  er  es  getan,  unfehlbar 
wäre  imSachsenwald  dieserDialog  vernommen  worden: 

>In  diesem  Sarg  bring'  ich  dir,  großer  Kanzler, 
Begraben  deine  Furcht:  hier  liegt  entseelt 
Der  Feinde  mächtigster,  die  du  gezählt, 
Philipp  von  Eulenburg,  her  durch  mich  gebracht.  < 

>Harden,  ich  dank  dir  nicht;  du  hast  vollbracht 
Ein  W^  der  Schande,  mit  verruchter  Hand, 
Auf  unser  Haupt  und  dies  berühmte  Land.< 

»Aus  eurem  Mund,  Herr,  tat  ich  diese  Tat.< 

»Der  liebt  das  Gift  nicht,  der  es  nötig  hat. 
So  ich  dich:  ob  sein  Tod  erwünscht  mir  schien, 
Den  Mörder  hass*  ich,  lieb'  ermordet  ihn. 
Nimm  für  die  Mühe  des  Gewissens  Schuld, 
Doch  weder  mein  gut  Wort,  Hoch  hohe  Huld. 
Wie  Kain  wandre  nun  in  nacht' gem  Graun 
Und  laß  dein  Haupt  bei  Tage  nimmer  schaun  !< 

Aber  die  Shakespeare'schen  Mörder    trafen  mit 

einem  Axthieb,  und  hier  hat  einer   Glied   für    Glied 

sein  Opfer  zu  Tode  gequält.  ^^     ,  ^^ 

^  ^  ^  Karl  Kraus. 


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—  18    — 


Der  eiserne  Besen.*) 


O  du  Ausgeburt  der  Hölle  1 
Soll  das  ganze  Haus  ersaufen? 

Der  Zauberlehrling. 


Wo  sind  die  schönea  Zeiten  —  so  seufzte  alt 
und  jung  — ,  da  es  noch  in  den  Zeitungen  hieß : 
Eine  beispiellose  Skandalaffäre  beschäftigt  die 
Stadt  Bettenhausen.  Ein  Assessor  hat  seine  Ge- 
liebte, ein  Mädchen  der  besseren  Bettenhausener 
Gesellschaft,  einer  berüchtigten  Hebamme  überliefert, 
damit  diese  eine  rerbrecherische  Operation  an  ihr 
vornehme;  da  aber  die  Geliebte  eines  Fähnrichs 
gleichfalls  auf  Zureden  ihres  Liebhabers  jene  Hebamme 
aufgesucht  hatte,  während  der  Fähnrich  sich  ins 
Ausland  begab  und  ein  Schutzmann  aus  Verzweif- 
lung darüber,  dafi  er  ihn  nicht  mehr  verhaften  konnte 
und  weil  auch  seine  Geliebte  die  Hebamme  gekannt 
hatte,  sich  erschofl,  da  ferner  auch  zwei  Lehrerinnen 
in  die  Affäre  verwickelt  scheinen  —  —  Wo  sind  die 
schönen  Zeiten  I  Man  hatte  die  sichere  Gewähr,  dafi 
die  Familie  sich  fortpflanze.  Sie  wollte  es  nicht  im- 
mer, aber  sie  konnte  es.  Unter  dem  Titel  »Eine 
Skandalaffäre  in  Bettenhausenc  erfuhr  man,  dafi  es 
noch  so  etwas  wie  ein  gesundes  Liebesleben  gab. 
Der  Unterschied  zwischen  früher  und  später  prägte 
sich  vor  allem  darin  aus,  dafi  man  einst  den  Nach- 
wuchs beseitigte,  während  man  sich  später  nicht 
einmal  mehr   die  Mühe   nahm,   ihn   herbeizuführen. 


*)  Aus  dem  »Slmplidssimus*. 

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—  19  — 

Waren  früher  bloß  die  Folgen  unerwünscht,  so  wehrte 
man  sich  jetzt  auch  gegen  die  Ursachen.  Eine  bei- 
spiellose Skandalaffäre  beschäftigte  wieder  die 
Stadt  Bettenhausen :  Der  Assessor  lebt  mit  dem 
Fähnrich  auf  bestem  Fufie,  dieser  beträgt  ihn  mit 
dem  Schutzmann,  die  beiden  Lehrerinnen  suchen  ihr 
Glück  ^  auf  ihre  Art,  und  die  Hebammen  seufzen 
über  die  schlechten  Zeiten  •  • .  Wenn  ein  Erwerbs- 
zweig durch  den  Umschwung  der  Verhältnisse  lahm- 
gelegt war,  so  war  es  dieser,  und  angesichts  des 
Treibens  der  Erwachsenen  ward  der  Ausruf  berech- 
tigt: Es  gibt  keine  Kinder  mehrl 

Es  hiefie  Eulen  nach  Bettenhausen  tragen,  wollte 
man  noch  ausführlich  darlegen,  dafi  diese  Stadt 
Athenische  Sitten  angenommen  hatte.  Das  Fremd- 
wort, in  dessen  Zauberbann  bald  die  ganze  Bevöl- 
kerung lag,  war  die  »Homosexualität«.  Hätte  der 
Sprachreiniger,  der  aus  einem  Chambre  separ^e  ein 
Sonderzimmer  gemacht  hat,  den  Bettenhausnem  von 
allem  Anfang  die  Homosexualität  in  eine  Gleich- 
geschlechtlichkeit verwandelt,  sie  hätten  sich  viel- 
leicht nie  darauf  eingelassen.  Aber  nun  wars  zu  spät, 
das  Wort  war  einmal  in  die  Debatte  geworfen,  und 
darum  griff  die  Sache  um  sich,  die  man  je  nach 
dem  Grade  der  sittlichen  Entrüstung  eine  Mode  oder 
eine  Seuche  nannte.  Die  tonangebenden  Männer  von 
Bettenhausen  waren  nicht  mehr  einwandfrei,  und  bald 
traute  man  keinem  Fürsten  mehr  über  die  Gasse. 
Hatte  der  Bürger  einst,  wenn  er  bei  einem  Hoch- 
gestellten Audienz  nahm,  aus  Respekt  es  nicht  ge- 
wagt, ihm  beim  Verlassen  des  Saales  den  Rücken 
zu  kehren,  so  unterließ  er  es  jetzt  aus  Vorsicht.  Der 
Verkehr  zwischen  den  mafigebenden  Persönlichkei- 
ten war  früher  so  geregelt,  dafi  man  die  heim- 
lichen Strebungen  hinter  dem  Rücken  des  Vor- 
gesetzten für  Beweise  des  Ehrgeizes  halten  konnte, 
während  jetzt  vielfach  der  Subalterne,  ehe  er  sich 
umdrehen  konnte,  von  einer  Gunst  überrascht  wurde, 

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—  20 


die  nicht  ohne  sinnlichen  Beigeschmack  war.  War 
in  einer  Gerichtsverhandlung  ein  Polizeidirektor  über 
den  Stand  der  Unsittlichkeit  befragt  worden,  so 
benützte  er  die  Verhandlungspause,  um  sich  zu  er- 
schiefien;  denn  es  hatte  sich  inzwischen  heraus- 
gestellt, daß  auch  seine  Empfindungen  wesentlich 
von  jener  Norm  abwichen,  die  der  Angeklagte  ver- 
lassen hatte.  Die  ärztlichen  Sachverständigen  mußten 
wegen  Befangenheit  abgelehnt  werden,  weil  selbst  sie 
in  dem  dringenden  Verdacht  standen,  sich  in  ihrem 
dunklen  Drang  des  rechten  Weges  nicht  immer  be- 
wußt gewesen  zu  sein.  Die  Qeschlechtsbestimmung, 
der  die  Gerichte  von  Bettenhausen  oblagen,  konnte 
infolgedessen  nie  vollständig  gelingen  und  wenn  sich 
die  Richter  zur  Urteilsberatung  zurückzogen,  so  ging 
ein  verständnisinniges  Lächeln  über  die  Gesichter 
der  Leute,  die  im  Auditorium  saßen;  denn  da  sich 
unter  den  Richtern  keine  Frau  befand,  konnte  man  nie 
wissen,  was  im  Beratungszimmer  getrieben  werde. 
Es  war  keine  Lust,  zu  leben.  Man  teilte  die  Men- 
schen bereits  in  solche  ein,  die  homosexuell  waren, 
und  in  solche,  die  dafür  galten.  Vergebens  bemühten 
sich  die  maßgebenden  Paktoren  dem  Rätsel  der  Ver- 
kehrung des  Liebeslebens  von  Bettenhausen  auf  den 
Grund  zu  kommen.  Eine  Version,  die  immerhin  eine 
große  Wahrscheinlichkeit  für  sich  hat,  sei  hier  unter 
allem  Vorbehalt  mitgeteilt.  Die  Männer  von  Betten- 
hausen hatten  gehört,  daß  die  Frauen  auf  der  Hoch- 
zeitsreise beim  Anblick  des  Oolleone,  im  Palazzo 
Pitti  oder  beim  Sonnenuntergang  in  der  Campagna 
die  Frage  zu  stellen  pflegten:  Nu,  Manne,  biste 
glicklich?  Um  dieser  Möglichkeit  zu  entrinnen  und 
weil  auch  die  körperlichen  Vorzüge  der  Frauen  von 
Bettenhausen  den  berechtigten  Anforderungen  nicht 
entsprachen,  retteten  sich  die  Männer  in  eine  Liebes- 
praxis, die  mit  der  Absicht  des  Gesetzgebers  nicht 
völlig  in  Einklang  zu  bringen  war.  Anderseits  war 
es    aber    auch    nicht    zu    leugnen,    daß    sie    selbst 


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21  — 


auf  der  Hochzeitsreise  in  Italien  mehr  schwitzten 
als  unbedingt  notwendig  war,  so  dafi  auch  die 
Frauen  gewisse  Bedenken  gegen  die  Einrichtung 
des    eheUchen    Zusammenlebens    zu  äußern    anfin- 

gen  und  sich  deshalb  mehr  zu  ihresgleichen 
ingezop;en  fühlten.  Man  sagte,  dafi  infolge  der 
allgemeinen  Unsauberkeit  der  Bewohner  von  Betten- 
hausen nach  und  nach  eine  reinliche  Scheidung  der 
Geschlechter  herbeigeführt  wurde. 

Man  war's  eine  Zeitlang  zufrieden;  als  sich  aber 
später  herausstellte,  dafi  das  Familienleben  darunter 
leide,  beschloß  man,  die  Unordnung  niSht  länger  zu 
dulden.  Handelte  es  sich  doch  um  nichts  Geringeres 
als  um  die  Zukunft  der  Nation,  die  gewifi  zu  deren 
edelsten  Gütern  gehört.  Darum  war  es  die  höchste 
Zeit,  die  allerhöchste  Zeit,  daß  ein  Ende  gemacht 
würde.  Einem  schlichten  Schriftsteller  gebührte  das 
Verdienst,  als  erster  auf  diese  Obelstände  hingewiesen 
zu  haben.  Man  holte  den  eisernen  Besen  hervor,  um 
die  Geschlechter  zu  paaren  zu  treiben  und  Ehen 
zustandezubringen,  die  infolge  gegenseitiger  unwider- 
stehlicher Abneigung  bis  dahin  nicht  geschlossen  werden 
konnten.  Man  kommandierte  »Herstellt  Ic  und  »Vor- 
wärts, marschic.  Der  Besen  funktionierte  zur  allge- 
meinen Zufriedenheit.  Seine  Borsten  sträubten  sich 
anfangs  und  standen  in  die  Höhe ;  aber  später  paßten 
sie  sich  der  veränderten  Situation  an.  Wie  man  sieht, 
gab  es  in  Bettenhausen  nur  zwei  Gerechte.  Einen, 
der  die  Wahrheit  suchte,  wo  immer  er  sie  fand,  und 
einen,  der  es  nicht  glauben  konnte. 

Der  eiserne  Besen  konnte  sich  gar  nicht  genug  tun. 
Bald  hatte  er  seine  Schiddigkeit  getan ;  aber  wie  ein 
richtiger  Zauberbesen  hatte  er  nicht  nur  die  hinweg- 
^fegt,  g^en  die  er  angewendet  wurde,  sondern 
auch  viele  von  denen,  die  seiner  Anwendungzustimmten. 
Kaum  hatte  ihn  einer  berührt,  so  hieß  es  auch  schon,  er 
selbst  sei  bekanntlich  auch  so  einer.  Seit  dem  Dahin- 
gaag  des  Meisters,  der  ihn  allein  hätte  richtig  hand- 


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—  22  — 


haben  können,  wuchs  er  jedem,  der  ihn  versuchen 
wollte,  über  den  Kopf.  »Seine  Wort*  und  Werke 
merkt'  ich,  und  den  Brauch,  und  mit  Geistesstärke 
tu'  ich  Wunder  auch.«  Das  glaubte  so  mancher,  aber 
er  konnte  es  nicht,  und  der  Pein  des  Zauberlehrlings 
machte  kein  wiederkommender  Meister  ein  Ende.  Der 
verruchte  Besen  wollte  nicht  hören,  Stock,  der  er  gewe- 
sen, blieb  er  verstockt.  Er  wurde  gespalten.  Aber  siehe 
da,  »beide  Teile  steh'n  in  Eile  schon  als  Knechte  völ- 
lig fertig  in  die  Höhed  Und  zwar  als  zwei  Fischer- 
knechte. »Welch  entsetzliches  Gewässer  Ic  Es  war,  als 
ob  der  Starnbergersee  austräte  und  sich  als  Sintflut 
über  das  Land  er^öße.  Man  stand  einer  noch 
nicht  beobachteten  Erscheinung  gegenüber.  Ja,  sagte 
man  sich,  die  Zustände  waren  doch  früher  da  als  ihre 
Enthüllung,  also  kann  die  Enthüllung  nicht  an  den  Zu- 
ständen schuld  sein  I  Aber  sie  war  es  trotzdem.  Denn 
wenn  es  auch  erweislich  wahr  ist,  daß  schon  längst, 
sozusagen  unbewußt,  jeder  Einwohner  von  Bettenhau- 
sen homosexuell  war,  so  war  es  doch  früher  immerhin 
noch  möglich,  daß  sich  einer  heimlich  zu  einem  Mädchen 
schlich  und  sich  fortpflanzte.  Jetzt  war  die  Erfüllung 
solcher  Staatsbürgerpflicht  unmöglich  gemacht,  denn 
jetzt  hielt  man  sie  bloß  für  einen  Alibi-Beweis  und  jeder 
schämte  sich,  normal  zu  sein,  weil  er  fürchtete, 
durch  eine  normale  Handlung  den  Verdacht  auf  eine 
homosexuelle  Veranlagung  zuTenken.  Das  Leben,  dem 
die  erhofften  Erleichterungen  nie  in  besonderem  Maße 
zuteil  geworden  waren,  war  wesentlich  erschwert; 
denn  die  verschlungenen  Pfade  seiner  Freuden  waren 
markiert  imd  erlaubten  keine  Verirrung,  das  Betreten 
normwidriger  Gebiete  war  bei  Strafe  verboten,  aber 
das  Schlimmste  war,  daß  die  normalen  Anlagen  dem 
Schutze  des  Publikums  empfohlen  wurden.  Einerrief: 
»Ich  habs  gewagt«,  aber  es  war  keine  Lust,  zu  leben. 
Wer  lebte,  ^It  für  homosexuell;  erschoß  er  sich 
aber,  so  war  der  Beweis  gelungen.  Da  in  die  gleiche 
Zeit  die  Entdeckung  des  Unbewußten  fiel,  so  wußte 


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-  23  — 


niemand,  woran  er  war  und  was  hinter  seinem 
Rücken  geschah.  Nur  das  Bewußtsein  der  unteren 
Schichten  der  Bevölkerung  entwickelte  sich  bis  zum 
Qröfienwahn.  Denn  wenn  ehedem  ein  Lakai  die 
Leutseligkeit  einer  Gräfin  genossen  hatte^  so  schlofi 
ihm  die  Erinnerung  an  einen  Lohn,  der  reichlich 
lohnet,  den  Mund.  Im  Verkehr  mit  den  Grafen 
aber  machte  das  Glück  dem  demokratischen  Gefühl 
Platz,  an  einer  strafgesetzwidrigen  Handlung  in 
gleicher  Weise  teil  zu  haben,  was  allmälig  einen 
wirtschaftlichen  Aufschwung  der  niederen  lUassen 
herbeiführen  half.  Auch  machte  diese  schon  das 
Gefühl,  um  große  Dinge  zu  wissen,  redselig,  sie  be- 
gannen sich  an  der  publizistischen  Tätigkeit  zu  beteiligen, 
und  mancher,  der  zum  Schweigen  verurteilt  war, 
brach  wenigstens  auf  dem  Sterbelager  in  den  Ruf 
aus:  »I  waß  was,  -i  waß  was  und  derfsnetderzählnlc 
Manche,  die  noch  bei  Lebzeiten  ihr  Herz  gegen  eine 
Zeugengebühr  ausgeschüttet  hatten,  wurden  von 
Impresarios  eingeladen,  in  einem  Variete  aufzutreten. 
Später  verlor  aber  auch  diese  Pikanterie  ihren  Reiz 
und  bei  der  allgemeinen  Verbreitung  der  Mode 
richteten  die  Impresarios  ihr  Augenmerk  auf  jene 
Bewohner  der  Stadt,  die  noch  normalen  Neigungen 
huldigten.  Sogar  die  sogenannten  »Bohemiengsc  hatten 
alle  ihre  Originalität  eingebüßt.  Während  sie  sich 
früher  aus  Objektivität  beiden  Geschlechtern  zuge- 
wendet hielten,  wußten  sie  jetzt  nicht,  was  sie 
machen  sollten,  in  einer  Zeit,  in  der  schon  jeder  Fa- 
milienvater sich  mit  der  Bisexualität  brüsten  konnte. 
Die  Panik  wuchs,  weil  man  alleTore  des  Sinnenlebens  ver- 
sperrt fand  und  den  Notausgang  nicht  benützen  durfte. 
Der  eiserne  Besen  wütete  und  da  die  meisten  Men- 
schen durch  Selbstmord  endeten,  ehe  sie  sich  nach- 
sagen ließen,  daß  sie  nichts  zur  Entstehung  der 
kommenden  Geschlechter  beigetragen  hatten,  so  starb 
Bettenhausen  aus,  bevor  es  durch  die  natürliche  Ent- 
wicklung der  Dinge  so  weit  gelangt  wäre . .  . 


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—  24 


Nur  zwei  Männer  hatten  sich  allen  Anfech- 
tungen zum  Trotz  als  normal  erwiesen,  einer,  der 
enthüllte  und  einer,  ders  nicht  glaubte.  Sie  retteten  sich 
vor  der  Sintflut  und  dachten  darübernach,  wie  sie  endlich 
die  Zukunft  der  vollständig  vertilgten  Nation  sichern 
könnten.  Ringsumher  lagen  die  Steine,  mit  denen  man 
nach  den  normwidrigen  Einwohnern  von  Bettenhausen 
geworfen  hatte.  Und  noch  einmal  warfen  sie  die 
Steine  hinterwärts  und  ganz  wie  in  der  alten  Sage, 
gaben  sie  dadurch  einem  neuen  Geschlecht  das  Da- 
sein. Nur  daß  sie  eben,  der  neuen  Zeit  gemäfi,  zwei 
Männer  waren,  und  nicht  Mann  und  Frau.  Der 
eine  hiefi  Deukalion  der  Zweite;  der  andere  hiefi 
nicht  Pyrrha,  denn  er  hatte  nichts  Weibliches  an  sich, 
sondern  war  ein  Sieger  und  hieß  Pyrrhus. 

Karl  Kraus. 


Knnstschan. 

Die  Zusammenfassung  geistiger  Gebiete  zu 
organisatorischen  Einheiten  wird  abgelöst  durch  den 
der  Masse  innewohnenden  Instinkt  der  Vereinzelung. 
Dieser  Trieb,  der  aus  der  auferlegten  Unterordnung 
eine  ziellose  Freiheit  sucht,  ist  heute  in  allen  Ge- 
bieten wirksam,  sein  quasi-geistiges  Ideal  läfit  sich 
mit  einem  Worte  nennen:  Demokratisierung. 

Die  Demokratisierung  ist  schon  begrifflich 
ein  relativer  Vorgang,  keine  Form  der  Zusammen- 
fassung, sondern  der  Desorganisation,  wider- 
spricht doch  die  Demokratie  dem  schöpferischen 
Prinzip  aller  Organisation  durch  den  Einzelwillen, 
wie  sie  tatsächlich  in  der  ganzen  Geschichte  niemals 
eigenmächtig  gestalten,  sondern  nur  bestehende  Macht- 

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—  25  — 

gebilde  «ersetzen  und  umwandeln  konnte.  Sie  bleibt 
ein  dauerndes  Ferment,  sie  wirkt  als  kritischer  und 
analytischer,  nicht  als  zeugender  und  synthetischer 
Wert.  Ihre  Lebensäufierimgen  haben  also  eine  ständige 
Bedingtheit,  einen  wechselnden,  keinen  gleichbleiben- 
den  Inhalt,  einen  relativen,  keinen  immanenten 
Charakter. 

Dieses  unorganische  Chaos:  Demokratisierung 
zieht  nun  die  schöpferischen  Kräfte  in  den*Struder. 
Die  Ideale  der  Demokratisierung  (mit  Absicht  wird 
dieses  und  nicht  das  Wort  Demokratie  gewählt, 
welches  einen  dauernden  Zustand  ausdrückt,  der  sich 
niemals  vollendet)  sind  diese:  QrOStmOgliche  Yer- 
besserimg  und  Veredlung  des  Massenlebens  vom 
ökonomischen  ins  seelische,  geistige  Förderung  der 
Gesamtheit,  ihre  Durchdringung  mit  allen  Gütern 
der  Gesittung.  Ihre  Wirklichkeit  ist:  Verkleinerung 
alles  ^Schöpferischen  auf  das  Durcfaschnittsmafi,  Unter- 
werfung aller  Einzelleistung  unter  soziale  Zwecke. 
Der  rationale  Nutzen  wird  überhaupt  Gebieter  alles 
geistigen  WoUens.  Das  ökonomisch-brauchbare.  Sinn- 
lich-förderliche und  Faßbare,  Sozial-gemäße  wird  be- 
jaht, alles  darüber  Hinausgehende,  Individuelle,  Unbe- 
dingte verneint  oder  mit  geheucheltem  Wohlwollen 
recht  eigentlich  ausgehungert.  Die  menschheitlichen 
Energieen  seufzen  unter  der  Bergeslast  einer  sozialen 
Misere,  die  Eins  und  Alles  geworden  ist.  An  diesem 
imendlichen  Hungertuche  ißt  sich  die  Demokratie 
durch  die  Ewigkeit. 

Dabei  verkümmern  die  großen  monumentalen 
Instinkte  der  Kunst,  ihr  Trieb  nach  Herrschaft  und 
nach  Unterordnung  wird  gleicherweise  mißbraucht 
und  entstellt,  er  ersehnt  die  Vereinigung  zu  einer 
politischen,  religiösen,  philosophischen  Gesamtarchi- 
tektur und  findet  überall  das  Chaos  einer  hungernden 
und  mißtönigen  Masse.  Weder  ökonomische,  noch 
geistige  Bedingungen  einer  organisatorischen  künst- 
lerischen   Leistung    bieten    sich    dar,   Vereinzelung, 

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—  26  — 


Verfeinerung  aller  technischen  Mittel,  Atomisierung 
der  Anschauung  selbst  walten  vor  und  machen  die 
Zusammenfassung  immer  seltener  und  schwieriger. 

Die  Demokratisierung  begünstigt  und  fordert 
diese  Verkleinerung,  wie  sie  eben  selbst  Verkleinerung 
ist  Auf  allen  schöpferischen  Gebieten,  in  der  bildenden 
Kunst  SEumal,  löst  eine  unerhörte  Spezialisierung  die 
Leistungen  auf  und  macht  sie  zwar  allgemein  zu- 
gänglich, aber  auch  allgemein  unbedeutend.  Aus  dem 
Uegenstande  der  höchsten  Leidenschaft  wird  einer 
der  täglichen  verzärtelten  Liebhaberei.  Nicht  die 
Unversöhnlichkeit  und  schroffe  Selbstgerechtigkeit 
der  Kunst,  sondern  die  duldsame  Vordringlichkeit  des 
Dilettantismus  ist  willkommen.  Der  Wunsch  all  der 
Beflissenen,  Erzieherischen,  Ernsthaften,  Oefühlvollcn, 
Verständnisreichen,  Mitleidigen,  Ethischen  geht  nach 
der  Verallgemeinerung  jener  Werte,  die  nur  in  ^irer 
Besonderheit  und  eigenwilligen  Unbedingtheit  Sinn 
und  Macht  haben. 

Als  Erfüllungen  dieser  tausendstimmig-einfältigen 
Wünsche  wachsen  Kunstschulen,  Kunstkenner,  Kunst- 
macher aus  dem  dürren  Boden. 

Eben  wie  mit  der  Druckpresse  und  der  soge- 
nannten allgemeinen  Bildung,  mit  der  Möglichkeit 
ungemessener  Vervielfältigung  und  Verbreitung  des 
sprachlichen  Ausdrucks  auch  scheinbar  eine  Fähigkeit 
der  Erzeugung  von  Gedanken  gewonnen  wurde,  die 
in  Wahrheit  den  schöpferischen  Geist  der  Sprache  ver- 
fälschte und  verwüstete,  beginnt  auch  die  Lernbar- 
keit  der  bildenden  Hantierung  einen  bildnerischen 
Journalismus,  eine  Gestaltung  der  künstlerischen  All- 
tagsanschauung  und  Tagesmeinung  zu  ermöglichen. 
Binnen  kurzem  wird  alles,  wie  es  schreiben  und 
sprechen  zu  können  glaubt,  auch  zeichnen,  malen, 
bilden  zu  können  vorgeben,  wodurch  der  Künstler 
selbst  gemach  überflüssig  und  lächerlich  erscheint, 
wie  es  der  Dichter  zum  Beispiel  längst  geworden  ist: 
eine  Art  von  urzeitlichem  Fossil,    das  m  die  heilige 


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—  27  — 


Demokratie  nur  als  antiquarisches  und  dekoratives 
Ungeheuer  paßt. 

Das  Kennwort  des  ganzen  Treibens  ist:  Ge- 
schmack. Das  bedeutet:  Obereinstimmung  des  allge- 
meinen Empfindens  bei  der  Anschauung  des  Künst- 
lerischen, der  Urteilsrichtung  aller  gegenüber  dem 
einzelnen«  Geschmack  heifit:  alles  Gegebene  unter 
einen  Hut  bringen,  alles  Unvereinbare  zusammen- 
stecken, sofern  es  irgend  der  Gesamttendenz  ange- 
paßt werden  kann.  Das  Ungemeine  wird  nicht  als 
solches  und  ganzes  hingenommen,  sondern  so  lange 
mißverstanden  und  umgedeutet,  bis  es  irgendwie  den 
allgemeinen  Mafistab  verträgt.  Der  ureigentlichen, 
schöpferischen  Hervorbringung  ist  aber  ein  gewisser 
Widerspruch  zur  geltenden  Wertung  gemäfi,  alles 
Neue,  Grofie  ist  elementar,  alles  Elementare  aber  in 
seiner  Oberfülle  geschmacklos,  indem  es  dem  Gesamt- 
willen seinen  Eigenwillen  entgegenstellt,  aufzwingt, 
überordnet.  Es  begründet  einen  neuen,  andern  Ge- 
schmack, aber  es  hat  keinen,  es  ist  Ursache,  nicht 
Erzeugnis  des  Geschmacks. 

Die  Demokratisierung  der  Kunst  setzt  nun  diesen 
braven  Gefolgsmann:  Geschmack  zum  Alleinherrscher 
ein  und  tut  sich  auf  sein  lauliches,  mildes,  um- 
fassendes, duldsames ,  elastisches  AUerweltsgefühl 
und  -Verständnis  noch  wunder  was  zugute.  Dieser 
von  Natur  abhängige,  knechtische  Geschmack,  der 
seine  eigene  Richtung  nur  so  lange  wahrt,  bis  er 
durch  die  Ohrfeige  oder  den  Fufitritt  eines  Mächtigen 
eine  andere  bekommt,  soll  dem  Schöpferischen  seine 
Wege  vorschreiben.  Er  läfit  sichs  in  der  Welt  be- 
hagen, die  ein  anderer  als  er  geschaffen  hat,  er  baut 
Häuser,  richtet  sie  ein,  macht  Sessel  und  Gerät, 
Löffel  und  Messer  und  hält  sich  vor  den  gewöhn- 
lichen, verachtetsten  Dingen  nicht  zurück,  da  alles 
zu  verklären,  zu  veredeln,  zum  Kunstwerke  zu  er- 
heben seine  » demokratisierende c  Mission  ist. 

Der   Geschmack    ist    sozusagen    die    lackierte 


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28  — 


Rechtfertigung  der  Masse,  die  ihren  Kirchtag  feiert, 
derweil  die  Katzen  fort  sind.  Durch  ihn  stellt  sie  sich 
ihr  kalligraphiertes  Wohlverhaltungszeugnis  aus  und 
besieht  mit  Staunen  ihren  Kulturwert. 

Ehrfurchtlosigkeit,  Mangel  an  Distanz,  zudring- 
liche Wichtigtuerei  ist  dieses  Geschmacks  »persön- 
liche Notec.  Niemals  ist  die  Lehre:  aus  dem  Leben 
ein  Kunstwerk  zu  schaffen,  höhnischer  mißverstanden 
und  in  wohlfeilere  Dummheit  verkehrt  worden,  als 
heute,  wo  der  »Geschmackc  dem  einzelnen  die 
schöpferische  Willkür  und  sittliche  Aufgabe  des  per- 
sönlichen Lebens  sacht  aus  der  Hand  windet  und  die 
gemeine  Gleichmacherei  einer  künstlerisch  tuenden 
Beflissenheit  an  die  Stellen  schiebt,  die  sonst  dem 
privaten  Wollen  gewahrt  blieben.  Dieser  Geschmack 
guckt  durch  alle  Fenster,  in  alle  Töpfe,  mengt  sich 
in  alle  Geschäfte,  kein  Gerät  ist  ihm  zu  gering,  es 
umzubilden  und  vorgeblich  zu  durchgeistigen.  Er 
bringt  es  zuwege,  die  einfachsten,  noch  ursprünglich 
gebliebenen  Funktionen  zu  verwirren,  schöngeistig 
zu  pathetisieren  und  dabei  zu  ent¥rürdigen,  seine 
Stimmung  in  alles  hineinzutragen  und  die  natürliche 
Stimmung,  die  allem  innewohnt,  zu  vertreiben  und  zu 
verkehren.  Der  Adel  des  täglichen  Lebens  bestand  und 
besteht  in  einer  gewissen  scharavoUen  Abkehr  des  pri- 
vaten Daseins  von  den  notwendig  öffentlichen  Übungen, 
hier  gibt  es  ursprüngliche,  bescheidene  Grund-  und 
Gebrauchsformen,  die  ihrem  funktionellen,  typischen, 
unpersönlichen  Zwecke  sinnvoll  dienen.  Die  Würde 
des  Handwerkers  gestaltete  diese  Gegenstände  mit 
schlichter  Sachlichkeit  und  unvordrin^licher  Präzision. 
Heute  hat  sich  der  Geschmack  mit  dem  größten 
Lärm  auch  dieser  Dinge  bemächtigt  und  über  ihre 
Zwecke  den  seinen  gestellt,  eine  Phantasie,  die  das 
Große  auszusinnen  unfähig,  dem  Kleinsten  auf  den 
Hals  gehetzt,  den  primitiven,  natürlichen  Stil  des 
privaten  Lebens  aufgestört  und  zur  gequälten  Repräsen- 
tation gezwungen,  so  daß  nicht  einmal  Essen  und  Trinken 


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—  29  — 


mehr  sich  bescheiden  darf,  wie  es  sich  gehört.  Das  Hand- 
werk ist  heimgesucht  von  einem  Tausendsassa,  yon 
einem  Affen  der  Kunst:  dem  Qesohmack«  Die  Frucht 
dieses  Alpdrucks  ist  das,  seine  eigene  Gottähnlichkeit  an- 
himmelnde  Kunsthandwerk  von  heute.  Inmitten  der 
Demokratisierung  geht  die  Kunst  selbst  am  Qeschmack 
zugrunde.  Es  sind  die  Satumalien  einer  verwirrten 
Gesellschaft,  wo  der  Herrscher  den  Sklaven  be- 
dienen muß. 

Das  sind  etwa  die  Lehren  der  »Kunstschauc. 

Zwei  Persönlichkeiten  fallen  als  schicksalsvolle 
Repräsentanten  auf. 

Der  eine:  Klimt  unterlag  durchaus  mit  den 

5;län8endsten  Gaben,  mit  der  vornehmsten  Ober- 
einerung  des  Könnens  diesem  Unwesen:  Geschmack 
und  teilt  das  Schicksal  alles  so  Relativen  und  Ge- 
meinsamen: mit  der  Zeit  zu  vergehn.  Es  ist  ein 
Typus,  der  gerade  für  Wien  bezeichnend,  Makarts 
Wesen  und  Mrken  zu  wiederholen  scheint. 

Der  zweite  ist  von  dieser  Demokratisierung 
glücklich  unberührt,  mit  idlen  Urmächten  der  schöp- 
ferischen Natur  eins,  von  instinktivem  Trieb  nach 
höherer  machtvoller  Organisation  beseelt,  die  er  in 
seinem  Werk  ahnt,  ausdrückt,  erfüllt:  Metzner, 
der  Bildhauer. 

Sieht  man  sein  Relief  eines  Bauern,  der  in 
schweren  Holzschuhen  den  Pflug  führt,  an  dem  zwei 
starke  Rosse  ziehen,  so  ist  es,  als  steige  daraus  der 
Urhauch  der  zeugenden  Ackererde  auf  und  als  er- 
wache die  Einfalt  der  immer  erneuten  Fruchtbarkeit 
des  weiten  Landes  selbst,  jenes  Bodens,  aus  dessen 
Furchen  die  schöpferische  Willkür  sich  in  grofien 
Ernten  erneut  und  Glauben,  Denken,  Können  des 
Volks  in  der  Saat  von  Männern  aufersteht.  Sein 
Kaiser  Otto  drückt  diesen  schöpferischen  menschheit- 
lichen G^ist  selbst  gewaltig  einfach  aus  mit  seinem 
Grimm,  seinem  Eisengehalt  von  Willen,  seiner 
Schwertfaust  und  seinem  heimlichen  Lächeln.    Das 

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—  se- 


ist primäre  Kunst,  nicht  —  abgeleiteter  Geschmaok. 
Eine  Kunst,  die  ihre  Hand  fernen,  unbekannten,  an- 
deren Schöpfern  entgegenzustrecken  scheint,  um  ein 
größeres  Ganzes  gemeinsam  zu  erwirken.  Wo  sind 
die  Meister  aller  verschwisterten  bauenden  Kräfte 
der  Menschheit,  diese  Hand  zu  fassen? 

Otto  Stoessl. 


Der  Beamte. 

Je  vorgeschrittener  eine  Zivilisation  ist,  desto  deutlicher  tritt 
aus  der  Erscheinungen  Fülle  eine  typische  Gestalt  hervor,  die  in 
unserti  Tagen  den  ganzen  Qesellschaftsaufbau  stützt  —  der  Beamte. 
Eine  solche  Werbekraft  geht  von  dieser  Gestalt  aus,  daß  man  hier 
das  Sprüchlein  vom  Qolde  anwenden  könnte,  an  dem  alles  hingt, 
zu  dem  alles  drängt;  und  jener  Tag  scheint  nicht  allzufem,  da 
die  Menschheit  beiderlei  Geschlechtes  sich  nur  mehr  nach  Rangs- 
klassen abstufen  wird.  Um  diese  Entwicklung  zu  begreifen,  muß 
man  auf  das  Wesen  des  Beamtenstandes  eingehen. 

Er  lockt  zunächst  durch  die  relativ  höchste  Sicherheit  der 
Existenz,  die  er  bietet,  durch  die  Gewähr  der  Versorgung.  Man 
hat  für  ewige  Zeiten  Ruhe,  braucht  sich  nicht  mehr  im  Daseins- 
kampf zu  strapazieren,  um  am  Ende  seine  gänzliche  Unzulänglich- 
keit darzutun,  hi  diesem  Sinne  kann  man  die  ganze  Institution  und 
Organisation  der  Beamtenhierarchie  als  das  vielleicht  glänzendste 
Abwehr-  und  Schutzmittel  bezeichnen,  das  die  kompakte  Mittel- 
mäßigkeit ihr  Instinkt  eegen  die  Auslese  durch  den  Kampf  ums 
Dasein  finden  ließ.  Diese  Sicherheit  ist  besonders  wichtig  und 
wünschenswert  bei  Famiiiengründung,  die  ja  ihrerseits  die  Stabilität 
der  Existenz  vermehrt.  Man  verdoppelt,  vervielfacht  das  Fundament 
seines  Lebens  und  Wesens,  verbindet  sich  (dies  wenigstens  ist  das 
Ideal)  zu  einem  neuen  Gesellschaftswesen.  Die  Behaglichkeit  des 
Daseins  wird  im  allgemeinen  gesteigert,  auch  in  geschlechtlicher 
Beziehung  ist  ein  Wettbewerb  nicht  mehr  notwendig,  und  indem 
man  all  das  schön  sicher  und  bequem  hat,  wird  man  wirklich  eiii 
»nützliches  Mitglied  der  menschlichen  Gesellschaft«.  Wie  leicht 
begreiflich,  ist  auch  dem  Vorgesetzten  ein  verheirateter  Beamter, 


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—  31  — 

den  er  sidierer  ia  der  Hand  hat,  erwünschter.  Denn  da  ein  solcher 
für  die  Familie  zu  soi^gen  hat,  darf  er  nichts  riskieren  und  ist 
gesdmicid^ier  und  arbeitswilliger  als  ein  anderer.  Und  das  Leben 
läuft  wie  ein  Zug  auf  den  einmal  gelegten  Schienen,  mit  der  vor- 
gescfariebeneo  Geschwindigkeit.  Man  hat  seine  genau  geregelte^ 
Tätigkeit  Tag  für  Tag,  Woche  für  Woche  das  Gleiche.  In  zweifel- 
haften oder  kritischen  Fällen  ist  immer  noch  ein  Höherer  da,  ffir 
den  das  Entscheiden  wieder  nur  eine  Gewohnheit  ist,  die  sich 
selbsttätig  auslast.  Fast  nichts  trübt  diese  gesunde  Regelmäßigkeit 
des  Geschehens.  Man  sieht,  das  mechanische  Gesetz  des  Beharrungs- 
vermögens, der  Trägheit  hat  hier  eine  neue  Verkörperung  gefunden,. 
und  aus  Organismen,  die  den  Geist  in  sich  bilden  und  entwickeln 
sollten,  sind  Mechani»nen  geworden,  die  den  Geist  töten. 

Ein  weiteres  Lockmittel,  das  den  Beamtenstand  so  zug- 
kräftig macht,  ist  die  soziale  Stellung,  die  er  garantiert.  Es  ist  eine 
bewährte  Methode,  die  seit  jeher  von  allen  l^chthabem  —  den 
Größten  wie  den  Kleinsten  —  mit  Erfolg  geübt  wurde,  materielle 
Forderungen  durch  sogenannte  ideelle  Entschädigungen,  die  nichts 
kosten,  zu  befriedigen.  Je  größer  und  mächtiger  eine  Organisation 
ist,  desto  leichter  und  erfolgreicher  kann  sie  diese  Absicht  durch- 
führen. Die  stärkste  ist  der  Staat,  und  die  Entschädigung,  die  er 
seinen  Beamten  für  die  geringen  materiellen  Chancen  bietet,  ist 
das  soziale  Ansehen.  Für  alle,  die  nichts  sind,  ist  hier  die  be- 
quemste Möglichkeit,  etwas  zu  werden,  nämlich  in  den  Augen 
jener,  die  auch  nichts  sind.  Dies  ist  nicht  etwa  bloße  Befriedigung 
der  Eitelkeit,  sondern  das  wichtigste  Surrogat  für  Persönlichkeit. 
In  sich  kann  diese  Sorte  keinen  Wert  finden,  da  ihr  Individual- 
wert  meist  gleich  Null  ist;  sie  ist  daher  auf  jene  Wertschätzung  an- 
gewiesen, die  ihr  von  außen  zukommt,  und  diesen  Maßstab  eignet 
sie  sich  an.  Kräftigst  unterstützt  wird  solches  Trachten  durch  das 
Weib,  das  sich  in  der  heutigen  Gesellschaft  hinsichtlich  der  Ein- 
schätzung des  männlichen  Wertes  eine  sehr  maßgebende  Bedeutung 
zu  verschaffen  gewußt  hat.  Einerseits  begünstigt  der  weibliche 
Instinkt  alles  Unechte,  jeden  Schein,  alle  Surrogate,  sofern  sie 
nicht  die  Männlichkeit  an  sich  betreffen.  Für  wirkliche  Werie  hat 
das  Weib  im  allgemeinen  kein  Verständnis.  Anderseits  hat  es  aber 
auch  das  größte  Interesse,  die  Aussichten  seiner  Versorgung  zu 
fördern  und  darum  bevorzugt  es  den  Beamten,  welcher  derart 
seiner  Bedeutung  und  seines  Wertes  sich  noch  mehr  bewußt  wird.. 

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32  — 


Man  kann  also  Arbeiter,  Diener,  Kommis  sein  —  sofeme  man 
es  aber  als  Beamter  ist,  verleiht  dieZngehdrigkeit  zur  Kaste  dieser 
Betätigung  den  Adelsbrief.  Und  das  ist  nur  billig.  Denn,  verletzt 
man  die  Menschenwürde  eines  gewöhnlichen  Bedienten,  so 
kündigt  dieser  —  er  hat  es  ja  nicht  notwendig.  Der  Beamte  aber 
läßt  sich  erniedrigen  und  treten,  und  sdiweigt.  Die  Eigenart  und 
Bedeutung  dieser  Figur  ergänzt  auf  das  glücklichste  das  Bild  einer 
Gesellschaft,  die  das  Wort:  > Bildung  macht  frei«  ad  absurdum 
geführt  hat  und  den  Wahlspruch:  »Zeit  ist  Geld«  auf  ihrem 
Schilde  trägt.  Es  ist  das  keine  neue  Erscheinung,  und  wer  auf 
historische  Parallelen  Wert  legt,  lese  darüber  in  der  Geschichte 
Karihagos,  Roms  und  Frankreichs  nach;  immer  war  der  Beamte 
der  treue  Begleiter  eines  sozialen  Verwesungsprozesses.  Das  Unikum 
aber  blieb  doch  unserer  Zeit  vorbehalten :  Die  Menge,  die  einem 
Denker  zujauchzt,  der  sein  Evangelium  vom  Willen  zur  Macht 
und  vom  Obermenschen  verkündet,  schwelgt  in  einem  Taumel  von 
Knechtseligkeit,  kennt  nur  den  Willen  zum  Sklaventum. 

Viele  Wege  führen  nach  jenem  Rom,  wo  kein  Hirt  und 
eine  Heerde  sein  wird;  dieser  hier  aber  ist  die  breiteste  Heer- 
straße. Eine  Zeit,  deren  Streben  und  Ideal  der  Beamtenstand  ist, 
hat  sich  selbst  gerichtet.  Sie  ist  für  den  Knopfgießer  reif. 

Artur  Hetz. 


Tugendknrs. 

Die  Einschätzung  menschlicher  Fähigkeiten  wechselt;  auch 
die  Tugend  hat  ihren  Kurswert.  Und  dieses  Kursblatt,  das  öffent- 
liche Meinung  genannt  wird,  zeigt  starke  Schwankungen  in  der 
Notierung  des  menschlichen  Tuns. 

Die  dominierende  Tugend  des  Altertums  war  physische 
Kraft;  sie  wurde  gepriesen,  ihre  Besitzer  hatten  das  Heldentum 
monopolisiert.  Heute?  Kraft  ist  ein  Gebrauchsartikel  geworden, 
der  aus  der  Spannung  des  Dampfes,  der  Elektrizität  im  gewaltigen 
Strome  fließt.  Das  bißchen  Menschenkraft  imponiert  nicht  mehr. 
Wer  je  einen  Dampfhammer  bei  der  Arbeit  gesehen  hat,  kann 
schwerlich  von  homerischen  Hieben  schwärmen.  Einen  Türken  in 
zwei  Teile  spalten,  die  vorschriftsmäßig  zur  Rechten  und  zur  Linken 


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~  83  -^ 


niedersinken  —  eine  Kleinigkeit!  Das  macht  bei  entsprechender 
Einrichtung  ein  winziger  Dynamo.  Die  speziell  menschliche  Kraft 
besitzt  fsL  noch  ihren  Raritätenwert;  bei  Sportwettkftmpfen  ekler  im 
Zirkus;  aber  im  allgemeinen  hat  sie  nach  der  letzten  Volksschul- 
klasse aufgehört,  ffir  den  Zeitgenossen  von  Bedeutung  zu  sein. 

Heute  besteht  im  Reiche  der  Vorzüge  eine  merkwürdige 
Doppelherrschaft.  Die  geistigen  Fähigkeiten,  Intelligenz  und  Talent, 
l>esitzen  eine  Art  Scheinkönigtum.  Erst  ihr  offizielles  Siegel  liefert 
einen  Menschen  der  hergebrachten  Verehrung  und  dem  unaus- 
weichlichen Nachstreben  aus  —  aber  wirklich  regierende  Tugend 
ist  zweifellos  das  Geld.  Und  mit  Recht.  Es  trägt  alle  Lasten,  erfüllt 
alle  Pflichten  einer  Tugend ;  es  schützt  seinen  Besitzer  vor  schlechten 
Situationen,  gibt  dessen  Anhängerschaft  Sicherheit  und 
Macht,  es  ist  selber  reine  Macht,  Macht  zum  täglichen  Gebrauche. 
Mit  all  diesen  Leistungen  ist  es  vollständig  an  die  Stelle  getreten, 
die  früher  von  den  Beuge-  und  Streckmuskeln  der  Arme  und 
Schenkel  eingenommen  wurde.  Aber  wie  sehr  steht  es  in  der  Aner- 
kennung hinter  diesen  zurück!  Geld  ist  eine  offiziell  nicht  aner- 
kannte, eine  arme  Titulartugend  ohne  moralisches  Einkommen. 
Der  praktische  Respekt,  den  es  erzwingt,  wird  mit  Vorbehalt  ge- 
geben. Ehrlich  einbekannte  Verehrung,  Jugendbegeisterung,  beide 
erst  der  eigentliche  Purpur  einer  herrschenden  Tugend,  wird  ihm 
vorenthalten. 

Und  hier  läßt  sich  ein  Wandel  prophezeien.  Auch  die 
Geistesverfassungsfragen  einer  Zeit  sind  in  letzter  Linie  Macht- 
fragen. Die  Macht  der  Vorzüge  des  Geldes  wird  sich  alle  Rechte 
dieser  Vorzüge  erzwingen.  Der  Name  Tugend  ist  ein  solches  Recht. 
Das  Geld  wird  die  Jugendverehrung  und  die  dichterische  Verherr- 
lichung erobern. 

Beide  sind  nur  ein  letztes  Honorar  der  Mitwelt 
für  eine  praktische  Leistung,  für  gewährten  Schutz  und 
Vorteil.  Das  Geld  wird  seinen  moralischen  Rang  erzwingen;  es  ist 
die  verfaerrlichungsrelfe  Tugend  von  morgen. 

Vom  Standpunkt  des  persönlichen  Verdienstes  ist  wenig 
einzuwenden.  Selbsterworbenes  Geld  ist  Intelligenz,  umgesetzte, 
kinetische  Intelligenz.  Und  nichterworbenes?  Die  vielgepriesene 
Kraft  eines  Achilles  war  sicher  kein  größeres  Verdienst,  als  die 
vielmiBgönnte  der  Erben  eines  Vanderbilt. 


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—  34  — 


Es  wird  eine  verläßliche  Tugend  sein,  eine,  deren  Ver- 
erbungstheorie nicht  angreifbar  ist,  solange  sie  das  bfirgerliche 
Gesetzbuch  schützt. 

Die  letzte  Änderung  im  Range  des  Reichtums  vollzieht  sich 
unmerklich.  Die  Phrasen  und  Redewendungen,  die  kleine  Münze 
des  täglichen  Verkehres,  sie  tragen  ohnehin  das  Bild  des  wirklichen 
Regenten  im  Bereiche  menschlicher  Achtung:  Klingende  Münze 
ist  ein  Anerkennungswort  auf  allen  Gebieten,  Gold  ist  der  ehrendste 
Vergleich  für  Stimmen,  Sonnen,  Sterne,  Weine,  Schatz  ist  eine 
selbstverständliche  Bezeichnung  für  die  geliebte  Person.  Nun  wird 
man  mit  derselben  Selbstverständlichkeit  dem  wirklichen  Geld- 
schatze die  Liebe  zuerkennen.  Im  Worte  Geldaristokratie  verliert 
die  erste  Silbe  die  Betonung.  Nicht  mehr  die  Mütter  werden 
rühmen,  nein,  die  Töchter  werden  schwärmen.  Das  ist  stets  ihre 
Betätigung  gewesen,  gegenüber  der  letzten  Neuheit  am  Tugend- 
markt. Das  war  noch  eben  das  Genie,  das  wird  in  kurzem  der 
Reichtum  sein.  Bald  werden  sich  die  Attribute  süß,  entzückend, 
herrlich  an  den  Besitzer  des  Geldes  knüpfen.  Auf  eine  Erbschaft 
zu  warten  wird  ein  geachteter  bürgerlicher  Beruf  bleiben.  Erben 
ein  angebeteter. 

Die  Höchstachtung  der  Menschheit  hat  einen  weiten  Weg 
von  der  physischen  Kraft  zur  geistigen  zurückgelegt.  Er  ist  kaum 
kleiner  als  der  von  der  Persönlichkeit  zu  ihrem  nichtorganischen 
Besitz.  Eine  neue  Tugend  ist  im  Anmarsch,  und  auch  diese  wird 
niemand  aufhalten. 

Otto  Soyka. 

Meine  Bfidier.*) 

Einige  Leser  eriaubten  sich,  den  Abdruck  der  über  »Sittlich- 
keit und  Kriminalität«   veröffentlichten  kritischen  Äußerungen  zu 


*)  Die  Ausgabe  der  beiden  Bände,  die  wahrscheinlich  den  Titel 
> Kultur  und  Presse«  führen  und  als  Bände  II  und  III  (nicht  als  zwei 
Teile  eines  Bandes)  der  Ausgewählten  Schriften  erscheinen  werden,  hat 
sich  verzögert.  Sie  werden  im  Oktober,  bezw.  November  in  den  Buch- 
handel Icommen.  Der  IV.  Band,  der  vor  Weihnachten  erscheint,  führt 
den  Titel  »Gedanken«.  Die  Sammlung  der  seit  1906  erschienenen 
Satiren  und  polemischen  Aufsätze  wird  der  Inhalt  der  folgenden  Bände  sein. 


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—  35 


beanstanden.  Aber  nicht  deshalb  wird  mit  dieser Methodefortgefabren, 
sondern  weil  es  mir  sinnlos  schiene,  auf  die  Publizität  der, Fackel' 
zu  verzichten,  wenn  sich  zeigen  läßt,  was  alles  in  Österreich  über 
meine  Büdier. nicht  geschrieben  wird.  Dieses  Maß  der  Selbsthilfe 
räume  ich  mir  mit  Vergnügen  ein,  ohne  im  Übrigen  für  Form  und  In- 
halt des  mir  gespendeten  Lobs  die  Verantwortung  zu  übernehmen. 
In  der  »Berliner  Oerichts-Zeitung'  (8.  Juli  1908)  schreibt  ein  mir 
unbekannter  Kritiker: 

Sittlichkeit  und  Kriminalität.  Von  Karl  Kraus.  Buchhand- 
lung L.  Rosner,  Wien.  ~  Endlich  einmal  ein  Wiener,  der  ein  muster- 
gfiltiges  Deutsch  schreibt.  Ja,  schon  das  allein  wäre  ein  gewichtiger  Qrund, 
die  LektQre  des  Buches  aufs  wärmste  zu  empfehlen,  wenn  der  Gedanken- 
reichtum und  der  blendende  Stil  des  hochinteressanten  Werkes  nicht 
die  Anschaffung  jedem  Gebildeten  gebieterisch  nahe  legten.  Mit  un- 
erbittlicher Schärfe  hält  der  geistvolle  Autor  unserer  Zeit  einen  Spiegel 
vor.  Seine  Satire  kann  nur  mit  der  Heinrich  Heines  verglichen  werden. 
Nach  meinem  Geschmack  ist  sie  um  vieles  markiger  und  ätzender. 


Tagfebnch. 

Der  moderne  Qeschmack  braucht  die  ausgesuch- 
testen KompliftLationen,  um  zu  entdecken,  dafi  ein 
Wasserglas  in  der  Rundform  am  bequemsten  sei.  Er 
erreicht  das  Sinnvolle  auf  dem  Weg  der  Unbequem- 
lichkeiten. Er  arbeitet  im  Schweifie  seines  Ange- 
sichtSy  um  zuzugeben,  dafi  die  Erde  kein  Würfel, 
sondern  eine  Kugel  sei.  Dies  Indianerstaunen  der 
Zivilisation  über  die  Errungenschaften  der  Natur  hat 
etwas  Rührendes. 

Auch  die  Dummheit  hat  Ehre  im  Leib,  und  sie 
wehrt  sich  sogar  heftiger  gegen  den    Spott,  als    die 

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A 


-  36  — 


Oernemheit  gegen  den  Tadel.  Denn  diese  weift,    daB 
die  Kritik  recht  hat^  jene  aber  glaubt's  nioht. 

In  einem  geordneten  geistigen  Haushalt  sollte 
ein  paar  Mal  im  Jahr  ein  grQndUches  Reinemachen  vor 
der  Schwelle  des  Bewufitseins  stattfinden. 


Schönheitsfehler  sind  die  Hindernisse,  an  denen 
sich  die  Bravour  des  Eros  bewährt.  Blofi  Weiber 
und  Ästheten  machen  eine  kritische  Miene. 

• 

Wer  zu  den  Dingen  in  seinem  Zimmer  eine  per- 
isönliche  Beziehung  gewonnen  hat,  rückt  sie  nicht 
gern  von  der  Stelle.  Ehe  ich  ein  Buch  aus  meiner 
Bibliothek  leihe,  kaufe  ich  lieber  ein  neues.  Sogar 
mir  selbst,  dem  ich  auch  nicht  gern  ein  Buch  aus 
meiner  Bibliothek  leihe.  Ungelesen  an  Ort  und  Stelle, 
gibt  es  mir  mehr  als  ein  gelesenes,  das  nicht  da  ist. 

Es  wäre  eine  interessante  Statistik:  Wieviel 
Leute  durch  Verbote  dazu  gebracht  werden,  sie 
zu  übertreten.  Wieviel  Taten  die  Polgen  der  Strafen 
sind.  Wieviel  Menschen  etwa  von  der  Altersgrenze, 
die  die  Sexualjustiz  festgesetzt  hat,  gereizt  werden, 
sie  zu  überschreiten.  Interessant  wäre  es,  herauszu- 
bringen, ob  mehr  Kinderschändungen  trotz  oder  wegen 
der  Altersgrenze  begangen  werden. 

Die  Strafen  dienen  zur  Abschreckung  derer,  die 
keine  Sünden  begehen  wollen. 

Es  verletzt  in  nichts  den  Respekt  vor  Schopen- 
hauer, wenn  man  die  Wahrheiten  seiner  kleinen 
Schriften  manchmal  als  Geräusch  empfindet.  Wie 
l)lastisch  wirkt  in  seiner  Klage  das  Türeosuschlagenl 

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87  — 


Man  hört  förmlich,  wie  offene  Türen   zugeschlagen 
werden. 

Ein  Soldatenzeichner,  dessen  Figuren  Habtacht 
Tor  dem  Betrachter  stehen.  Und  wenn  er  eine  Armee 
malte,  es  wären  lauter  Einzelne.  Ein  anderer  malt 
einen  Soldaten  und  man  sieht  die  Armee. 

Auf  den  Bildern  derer,  die  ohne  geistigen  Hinter- 
grimd  gestalten  und  denNichtkenner  durch  eine  gewisse 
Ähnlichmacherei  verblüffen,  sollte  der  Vermerk  ste- 
hen :  Nach  der  Natur  kopiert.  Hätten  sie  ein  Wachs- 
figurenkabinet  zu  zeichnen,  so  wüßte  man  zwischen 
den  Figuren  und  den  Besuchern  nicht  zu  unter- 
scheiden. 


Mit  einem  Blick  pin  Weltbild  erfassen,  ist  Kunst. 
Wie  viel  doch  in  ein  Auge  hineingeht! 

* 

Weh  dem  armen  Mädchen,  das  auf  dem  Pfad 
des  Lasters  strauchelt! 

Er  war  so  eifersüchtiger  Natur,  daß  er  die  Qualen 
des  Mannes,  den  er  betrog,  empfand  und  der  Frau 
an  die  Gurgel  fuhr. 

Sich  im  Beisammensein  mit  einer  Frau  vorzu- 
stellen, dafi  man  allein  ist  —  solche  Anstrengung  der 
Phantasie  ist  höchst  ungesund. 

Passende  Wüste  für  Fata  morgana  gesucht. 

Der  Philosoph  denkt  aus  der  Ewigkeit  in  den 
Tag,  der  Dichter  aus  dem  Tag  in  die  Ewigkeit. 


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—  38  — 


Welch  sonderbarer  Aufzug !  Sie  geht  hinter  ihm, 
wie  eine  Leiche  hinter  einem  Leidtragenden. 

« 

In  zweifelhaften  Fällen  entscheide  man  sich  für 
das  Richtige. 

Wie  unperspektivisch  die  Medizin  die  Symptome 
einer  Krankheit  beschreibt!  Sie  passen  immer  auch 
zu  den  eingebildeten  Leiden. 

Wenn  ein  Künstler  Konzessionen  machte  so  er- 
reicht er  oft  nicht  mehr  als  der  Reisende,  der  sich  im 
Ausland  durch  gebrochenes  Deutsch  verständlich  zu 
machen  hofft. 

• 

Wie  unwesentlich  und  ungegenwärtig  dem 
Mann  das  Geschlechtliche  ist,  zeigt  sich  darin,  daft 
selbst  die  Eifersüchtigen  ihre  Frauen  auf  Maskenbällen 
sich  frei  bewegen  lassen.  Sie  haben  vergessen,  wie 
viel  sie  sich  ehedem  mit  den  Frauen  anderer  dort  erlau- 
ben konnten,  und  glauben,  dafi  seit  ihrer  Verheira- 
tung die  allgemeine  Lizenz  aufgehoben  sei.  Ihrer 
Eifersucht  genügen  sie  durch  ihre  Anwesenheit.  Dafi 
diese  ein  Sporn  ist  und  kein  Hemmschuh,  sehen  sie 
nicht.  Keine  eifersüchtige  Frau  würde  ihren  Mann 
auf  die  Redoute  gehen  lassen. 

Das  kurze  Gedächtnis  der  Männer  erklärt  sich 
aus  ihrer  weiten  Entfernung  vom  Geschlecht,  welches 
in  der  Persönlichkeit  verschwindet.  Das  kurze  Gedächt- 
nis der  Frauen  erklärt  sich  aus  ihrer  Nähe  zum  Ge- 
schlecht, in  welchem  die  Persönlichkeit  verschwindet. 

• 

Wenn  ein  Vater,  der  aus  Liebe  geheiratet  hat, 
seinem  Sohn  eine  Eheschließung  verbietet  und  die 
Mutter    sie   befürwortet,    so    geht   es    durchaus   mit 

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39  — 


natürlichen  Dingen  zu.  Denn  die  Mutter  hat  sich 
genug  Natur  bewahrt,  um  eine  Kupplerin  aus  Gefühl 
SU  sein,  und  dem  Vater  ist  nichts  übrig  geblieben  als  die 
Fähigkeit,  die  Rentabilität  menschlicher  Verhältnisse 
abzuschätzen. 

• 

Jemand  gab  zu,  dafi  Hetären  Genies  entzünden: 
aber  Mütter  bestünden  als  unbedingter  Wert.  Das  ist 
wahr,  aber  man  hat  immer  das  Recht,  den  Acker  oder 
die  Landschaft  yorzuziehen. 

* 

Es  kommt  schliefilich  nur  darauf  an,  dafi  man 
überhaupt  über  die  Probleme  des  erotischen  Lebens 
nachdenkt.  Widersprüche,  die  man  zwischen  seinen 
eigenen  Resultaten  finden  mag,  beweisen  nur,  dafi  man 
in  jedem  Falle  recht  hat.  Und  die  Widersprüche 
zwischen  den  eigenen  und  den  Resultaten,  zu  denen 
andere  Denker  gelangt  sind,  entfernen  uns  nicht  so 
weit  von  diesen,  wie  uns  der  Abstand  von  solchen  ent- 
fernt, die  überhaupt  nicht  über  die  Probleme  des  ero- 
tischen Lebens  nachgedacht  haben. 

* 

Nicht  immer  muß,  wer  an  der  Seele  krank  ist, 
den  Unterleibsspezialisten  aufsuchen,  und  nicht  immer 
braucht  man  mit  einer  Darmfistel  zum  Psychologen 
zu  gehen.  Im  Allgemeinen  sind  aber  die  Kompetenzen 
zwischen  den  EUtionalisten  des  Seelenlebens  und 
den  Mystagogen  des  Unterleibes  schwer  abzustecken. 

Dafi  eine  Sache  künstlerisch  ist,  mufi  ihr  nicht 
unbedingt  beim  Publikum  schaden.  Man  überschätzt 
das  Publikum,  wenn  man  glaubt,  es  nehme  die  Vor- 
züglichkeit der  Form  übel.  Es  beachtet  die  Form 
überhaupt  nicht  und  nimmt  getrost  auch  Wertvolles  in 
Kauf,  wenn  nur  der  Stoff  zufällig  einem  gemeinen 
Interesse  entspricht. 

• 

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—  40  — 

Man  glaubt  mit  einem  Mann  su  sprechen  und 
plötzlich  fühlt  man,  daß  sein  Urteil  aus  dem  Uterus 
kommt.  Das  beobachtet  man  häufig,  und  man  sollte 
so  gerecht  sein,  die  Menschen  nicht  nach  den  physio- 
logischen Merkmalen,  die  zufällig  da  sind,  zu  unter- 
scheiden, sondern  nach  denen,  die  fehlen. 

* 

Daß  Bäcker  und  Lehrer  streiken,  hat  einen  Sinn. 
Aber  die  Aufnahme  der  leiblichen  und  geistigen 
Nahrung  verweigern,  ist  grotesk.  Wenn  es  nicht 
etwa  deshalb  geschieht,  weil  man  sie  für  verfälscht 
hält.  Die  lächerlichste  Sache  von  der  Welt  ist  ein 
Bildungshungerstreik.  Ich  stimme  schon  für  die  Sper- 
rung der  Universitäten,  aber  sie  darf  nicht  durch 
einen  Streik  herbeigeführt  werden.  Sie  soll  freiwillig 
gewährt,  nicht  ertrotzt  sein. 

• 

Den  Frauen  gegenüber  ist  man  durch  die  Ge- 
sellschaftsordnung immer  nur  darauf  angewiesen, 
entweder  Bettler  oder  Räuber  zu  sein. 

• 

Die  gefährlichsten  Literaten  sind  die,  denen 
zufällig  etwas  Fremdes  angeflogen  ist  und  die  nichts 
dafür  können,  daß  sie  nicht  immer  originell  sind.  Da 
ist  mir  ein  ehrlicher  Plagiator  viel  lieber. 

Wenn  ein  Wagen  rollt,  legt  der  Hund  trotz  längst 
erkannter  Aussichtslosigkeit  immer  wieder  seine  prin- 
zipielle Verwahrung  ein.  Das  ist  reiner  Idealismus, 
während  die  Unentwegtheit  des  liberalen  Politikers  den 
Staatswagen  nie  ohne  eigensüchtigen  Zweck  umbellt. 

• 

Die  Einteilung  der  Menschheit  in  Sadisten  und 
Masochisten  ist  beinahe  so  albern  wie  die  Einteilung 
in  Esser  und  Verdauen  Von  Abnormitäten  muß  man 
in  jedem  Fall  absehen,  es  gibt  ja  auch  Leute,  die 
besser  verdauen  als  essen  und  umgekehrt.    Und   so 

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—  41  — 


wird  man,  was  den  Masochismus  und  den  Sadismus 
betrififty  getrost  behaupten  können,  dafi  ein  gesunder 
Mensch  über  beide  Perversitäten  verfügt.  Scheufilich 
an  der  Sache  sind  bloß  die  Worte,  besonders  ent- 
würdigend jenes,  das  sich  von  dem  deutschen  Ro- 
manschriftsteller herleitet,  und  es  ist  schwer,  sich 
von  den  Bezeichungen  nicht  den  Geschmack  an  den 
Dingen  verderben  zu  lassen.  Trotzdem  gelingt  es 
einem  Menschen  mit  künstlerischer  Phantasie,  vor 
einer  echten  Frau  zum  Masochisten  zu  werden  und 
an  einer  unechten  zum  Sadisten.  Man  brutalisiert 
dieser  die  gebildete  Unnatur  heraus,  bis  das  Weib 
zum  Vorschein  kommt.  Die  es  schon  ist,  gegen  die 
bleibt  nichts   mehr  zu  tun  übrig,   als  sie   anzubeten. 

• 
Gewiß,  der  Künstler  ist  ein  Anderer.  Aber  gerade 
deshalb  soll  er  es  in  seinem  Äußeren  mit  den  an- 
deren halten.  Er  kann  nur  einsam  bleiben,  wenn  er 
in  der  Menge  verschwindet.  Lenkt  er  die  Betrach- 
tung durch  eine  Besonderheit  auf  sich,  so  macht  er 
sich  gemein  und  führt  die  Verfolger  auf  seine  Spur. 
Eis  istjaauch  töricht,  mit  der  Extraausgabe  einer  Zeitung 
in  ein  Lokal  zu  treten,  denn  man  lockt  sogleich 
hundert  Dummköpfe  auf  sein  Terrain.  Je  mehr  den 
Künstler  alles  dazu  berechtigt,  ein  anderer  zu  sein, 
um  so  notwendiger  ist  es,  daß  er  sich  der  Tracht  der 
Durchschnittsmenschen  als  einer  Mimicry  bediene. 
Auffälliges  Aussehen  ist  die  Zielscheibe  der  Betrun- 
kenheit. Diese,  sonst  verlacht,  dünkt  sich  neben  lang- 
haariger Exzentrizität  noch  planvoll  und  erhaben. 
Ober  den  Mann  in  der  Narrenjacke  lacht  der  Be- 
trunkene, über  den  der  Pöbel  lacht.  Sich  absichtlich 
verwahrlosen,  um  sich  vom  Durchschnitt  abzuheben, 
schmutzige  Wäsche  als  ein  Ehrenzeichen  für  Kunst 
und  Wissenschaft  tragen,  über  die  Verkehrtheit  der 
Gesellschaftsordnung  eine  ungekämmte  Mähne  schüt- 
teln—  ein  Vagantenideal,  das  längst  von  Herrschaften 
abgetragen  ist  und  heute  jedem  Spießbürger  erreich- 


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—  42   -- 


bar!  »Mutter  Landstrafiec  will  yon  solchen  Söhnen 
nichts  mehr  wissen;  denn  auch  sie  ist  heute  schon 
gepflegter.  Die  Boheme  macht  den  Philistern  nicht 
mehr  das  Zugeständnis,  sie  zu  ärgern^  und  die 
wahren  Zigeuner  leben  nach  der  Uhr,  die  nicht  ein- 
mal gestohlen  sein  muß.  Armut  ist  noch  immer  keine 
Schande,  aber  Schmutz  ist  keine  Ehre  mehr. 

Fechten  und  Keulenschwingen  sind  trügerische 
Entfettungskuren.  Sie  schaffen  Hunger  und  Durst. 
Was  den  meisten  Menschen  abgeht  und  was  ihnen 
unfehlbar  helfen  könnte,  ist  die  Möglichkeit,  geistige 
Bewegung  zu  machen. 

« 

Ein  sonderbarer  Ehrgeiz,  einem  Mädchen  der 
erste  zu  sein.  Und  gerade  das  nennt  sich  Genießer 
und  behandelt  eine  Frau  wie  einen  beliebigen 
Labetrunk.  Daß  auch  Frauen  Durst  haben,  wollen 
sie  nicht  gelten  lassen.  Aber  jedenfalls  würde  ich 
mir  die  Flasche  von  einem  Küfer  öffnen  lassen  und 
dann  erst  trinken. 

* 

In  männermordenden  Kämpfen  kann  man  manch- 
mal einer  Frau  einen  Blumenstrauß  zuwerfen,  ohne 
daß  ein  Zuschauer  es  merkt.  Aber  bei  der  zweiten 
Lektüre  offenbart  sich  dem  Feingefühl  ein  Pamphlet 
als  Liebesbrief. 

Das  Christentum  hat  die  erotische  Mahlzeit  um 
die  Vorspeise  der  Neugier  bereichert  und  durch  die 
Nachspeise  der  Reue  verdorben. 

• 

Es  ist  ein  schmerzliches  Erlebnis,  zu  sehen,  wie 
eine  lebensfähige  Frau  ihren  faulen  Frieden  mit  der 
Welt  macht:  Sie  verzichtet  auf  ihre  Persönlichkeit 
und  bekommt  dafür  die  Galanterien  zugestanden« 


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—  48 


Kinder  spielen  Soldaten.  Das  ist  sinnvoll.  Wa- 
rum aber  spielen  Soldaten  Kinder? 

Nichts  kräfikt  den  Pöbel  mehrmals  herablassend 
2u  sein,  ohne  heraufzulassen. 

• 
Beim  Vergnügen,  das  einer  am  Betrug  empfindet, 
ist  die  Schönheit  der   Frau    eine  angenehme,    wenn 
auch  nicht  notwendige  Begleiterscheinung. 

* 
Der  ist  ein   unkluger  Berater  einer  Frau,    der 

sie  vor  Gefahren  warnt. 

* 

Aus  purer  Romantik  nimmt  sich  manche  Schöne 
einen  Handeljuden.  Denn  sie  hofft  immer,  dann  werde 
der  erotische  Raubritter  auch   nicht   mehr  weit  sein. 

• 

Praterfahrt:  Das  Pferd  hat  die  Welt  vor  sich. 
Dem  Kutscher  ist  die  Welt  so  groß  wie  ein  Pferde- 
hinterer. Dem  Kavalier  ist  die  Weit  so  groß  wie  der 
Rücken  des  Kutschers.  Und  dem  gaffenden  Volk,  dem 
ist  die  Welt  nur  so  grofi  wie  das  Gesicht  des  Kavaliers. 

• 

Drei  Stufen  der  Zivilisation  gibt  es:  Wenn  in 
einem  Anstandsorte  überhaupt  keine  Tafel  angebracht 
ist.  Wenn  eine  Tafel  angebracht  ist,  auf  der  die  Wei- 
sung steht,  dafi  die  Kleider  vor  dem  Verlassen  der 
Anstalt  in  Ordnung  zu  bringen  sind.  Wenn  die  Wei- 
sung ausdrücklich  bemerkt,  dafi  es  aus  Schicklich- 
keitsrücksichten  zu  geschehenhabe.  Auf  dieserhöchsten 
Stufe  der  Zivilisation  stehen  wir. 

Die  Bildung  schlottert  an  seinem  Leib  wie  ein 
Kleid  an  einem  Haubenstock.  Bestenfalls  sind  solche 
Gelehrte  Probiermamsellea  des  Fortschritts. 


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-44  — 


Wem  »glaubenc  nicht  mehr  bedeutet  als 
»nichts  wissen c,  der  mag  über  die  Dogmen  demon- 
stratiy  den  Kopf  schütteln.  Aber  es  ist  jämmerlich, 
sich  zu  einem  Standpunkt  erst  »durchringen <  zu 
müssen,  bei  dem  ein  Hilfslehrer  der  Physik  längst 
angelangt  ist. 

Es  gibt  zwei  Arten  von  Schriftstellern.  Solche, 
die  es  sind,  und  solche,  die  es  nicht  sind.  Bei  den 
ersten  gehören  Inhalt  und  Form  zusammen  wie  Seele 
und  Leib,  bei  den  zweiten  gehören  Inhalt  und  Form 
zusammen  wie  Leib  und  Kleid. 

• 

Unverstandene  Frauen  gibt  es  nicht.  Sie  sind  bloft 
die  Folge  einer  Wortverwechslung,  die  einem  Femi- 
nisten passierte,  weil  sie  nämlich  nicht  verstanden, 
sondern  begriffen  sein  wollen.  Es  gibt  also  doch  un- 
verstandene Frauen. 

• 

So  lange  die  Frauenrechtsbewegung  besteht^  soll- 
ten es  sich  die  Männer  wenigstens  zur  Pflicht  machen, 
die  Qalanterie  einzustellen.  Man  kann  es  heute  gar 
nicht  riskiren,  einer  Frau  auf  der  Straßenbahn  Platz  zu 
machen,  weil  man  nie  wissen  kann,  ob  man  sie 
dadurch  nicht  in  ihren  Ansprüchen  auf  den  gleichen 
Anteil  an  den  Unannehmlichkeiten  des  Daseins  be- 
leidigt. Dagegen  sollte  man  sich  gewöhnen,  gegen 
die  Feministen  in  jeder  Weise  ritterlich  und  zu- 
vorkommend zu  sein. 

• 

Ob  Goethe  oder  Schiller  bei  den  Deutschen  po- 
pulärer sei,  ist  ein  alter  Streit.  Und  doch  hat  Schil- 
ler mit  dem  Wort  »Franz  heifit  die  Eanaillec  nicht 
entfernt  jene  tiefgreifende  Wirkung  geübt,  die  demSatz, 
den  Qoethes  Götz  dem  Hauptmann  zurufen  läfit,  dank 
seiner  allgemeinen  Fassung  beschieden  war.  Da  seit 
Jahrzehnten  kaum  ein  Gerichtstag  vergeht,  ohne  daft 
der  Bericht  von  dem  Angeklagten  zu  sagen  wüßte> 


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-  46  — 


er  habe  an  den  Kläger  »die  bekannte  Aufforderune 
aus  Goethes  Qötsc  gerichtet,  so  ist  es  klar,  dal 
Goethes  Nachruhm  bei  den  Deutschen  fester  gegründet 
ist.  Wie  das  Volk  seine  Geister  ehrt,  geht  aber  nicht 
nur  daraus  heryor,  daß  es  in  Goethes  Werken  sofort 
die  Stelle  entdeckt  hat,  die  der  deutschen  Zunge  am 
schmackhaftesten  vorkommt,  sondern  dafi  heute  kei- 
ner mehr  so  ungebildet  ist,  die  Redensart  zu  gebrau- 
chen, ohne  sich  dafür  auf  Goethe  zu  berufen. 

• 

Der  Momo  ist  ein  unentbehrlicher  pädagogischer 
Behelf  im  deutschen  Familienleben.  Erwachsene 
schreckt  man  damit,  dafi  man  ihnen  droht,  der  Ge- 
richtspsychiater  werde  sie  holen. 

• 

Wenn  man  bedenkt,  dafi  dieselbe  technische 
Errungenschaft  der  Verbreitung  der  »Kritik  der  rei- 
nen Vemunftc  und  den  Berichten  über  eine  Reise 
des  Wiener  Männergesangsvereines  gedient  hat,  dann 
weicht  aller  Unfriede  aus  der  Brust  und  man  preist 
die  Allmacht  des  Schöpfers. 

• 

Wie  viel  Stoff  hätte  ich,  wenns  keine  Ereignisse 
gäbe  I 

• 

Was  doch  die  soziale  Sitte  aus  den  Frauen 
machen  kann !  Nur  ein  Spinnweb  liegt  über  dem 
Krater,  aber  es  gibt  nicht  nach. 

• 

Wenn  eine  Frau  Gescheitheiten  sagt,  so  sage 
sie  sie  mit  yerhülltem  Haupt.  Aber  selbst  dann  ist 
das  Schweigen  eines  schönen  Antlitzes  noch  immer 
anregender. 

* 

Ein  selbstbewuflter  Künstler  hätte  dem  Fiesko 
sugerufen :  Ich  habe  gemalt,  was  du  nur  tatest ! 


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—  46 


Sire,  geben  Sie  wenigstens  bis  auf  Widerruf 
freiwillig  eröffnete  Gedankengänge! 

Polonia  est  omnis  divisa  in  partea  tres. 

Ein  Zitatenprotz  leitete  einen  Nekrolog  mit  den 
Worten  ein:  De  mortuis  nil  admirari. 

Sie  hatte  immerhin  noch  so  viel  SchamgefQhl, 
dafi  sie  errötete,  wenn  man  sie  bei  keiner  Sünde 
ertappte. 

• 

In  Berlin  wächst  kein  Qras  und  in  Wien  ver- 
dorrt es. 

Wie  hier  alles  doch  den  Flug  lähmt!  Aus  Bin- 
fliegern  werden  Einsiedler. 

Es  ist  eine  schreckliche  Situation,  dazuliegen, 
wenn  die  Pferdehufe  der  Dummheit  Über  einen  hin- 
weggegangen sind,  und  weit  und  breit  keine  Hilfe  I 

• 

An  einem  Wintersonntag  nachmittags  in  einem 
Wiener  Kaffeehause,  eingepfercht  zwischen  karten- 
spielenden Vätern,  kreischenden  Weibern  und  witz- 
blattlesenden Kindern,  erfafit  einen  ein  solches  Gefühl 
der  Einsamkeit,  dafi  man  sich  nach  dem  wechselrollen 
Leben  sehnt,  das  um  diese  Stunde  an  der  Adventbai 
herrschen  mag. 

0  über  die  gemeine  Geschäftsmäfiigkeit  der 
Berliner  Prostitution!  Der  Wiener  ist  gewohnt,  für 
drei  Gulden  seelische  Hingabe  und  das  Gefühl  des 
Alleinbesitzes  zu  yerlangen. 

• 

Ich  kannte  einen  Mann,  der  fuhr  beim  Sprechen 
mit  dem  Finger  in  die  Nase  und  nicht  einmal  in 
seine  eigene.  ^ 

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—  47  — 


So  wie  es  immer  noch  neue  Gesichter  gibt, 
wiewohl  sich  der  Inhalt  der  Menschen  wenig  unter- 
scheidet,  so  mufl  es  bei  anidoffem  Qedankenmaterial 
immer  noch  neue  Sätae  geben.  Es  kommt  eben  auch  da 
auf  den  Schöpfer  an,  der  die  Fähigkeit  hat,  die  lei- 
seste Nuance  auszudrOcken. 

• 

Die  einsige  Konssession,  tu  der  ich  mich  etwa 
noch  herbeiließe,  wäre  die,  mich  so  weit  nach  den 
Wünschen  des  Publikums  zu  richten,  daß  ich  das 
Gegenteil  tue.  Aber  ich  tue  es  nicht,  weil  ich  keine 
Konsessionen  mache  und  eine  Sache  selbst  dann 
schreibe,  wenn  sie  das  Publikum  erwartet. 

In  der  literarischen  Arbeit  finde  ich  einen  Genufi 
und  der  literarische  Genufi  wird  mir  zur  Arbeit.  Um 
das  Werk  eines  andern  Geistes  zu  genieflen,  mufi  ich 
mich  erst  kritisch  dazu  anstellen,  also  die  Lektüre  in 
eine  Arbeit  Terwandeha.  Trotzdem  werde  ich  noch 
immer  lieber  und  leichter  ein  Buch  schreiben  als  lesen. 

Der  wahrhaft  und  in  jedem  Augenblick  pro- 
duktive Geist  wird  zur  Lektüre  nicht  leicht  anstellig 
sein.  Er  verhält  sich  zum  Leser  wie  die  Lokomotive 
zum  Yerenügungsreisenden.  Auch  fragt  man  den 
Baum  nicht,  wie  ihm  die  Landschaft  gefällt. 

Wo  nehme  ich  nur   all   die  Zeit  her,  so  viel 

nicht  zu  lesen? 

« 

Einen  Roman  zu  schreiben,  stelle  ich  mir  als 
ein  reines  Vergnügen  vor.  Nicht  ohne  Schwierigkeit 
ist  es  bereits,  einen  Roman  zu  er  leben.  Aber  einen  Roman 
zu  lesen,  davor  hüte  ich  mich,  so  gut  es  irgend  geht. 

• 

Von  einem  Bekannten  hörte  ich,  dafi  er  durch 
Vorlesen  einer  meiner  Arbeiten  eine  Frau  gewonnen 
hat.  Das  rechne  ich  zu  meinen   schönsten  Erfolgen. 

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-  48  — 

Denn   wie  leicht  hätte  ich  selbst  in  diese  Situation 
geraten  können  I 

• 

Wohl  hat  das  Qrinzinger  Bachl  Beethoven  zur 
Pastoral-Symphonie  angeregt.  Das  beweist  aber  niclits 
für  das  urinzinger  Bachl  und  alles  für  Beethoyen. 
Je  kleiner  die  Landschaft,  desto  größer  kann  das 
Kunstwerk  sein,  und  umgekehrt.  Aber  zu  sagen,  die 
Stimmung,  die  der  Bach  einem  beliebigen  Spaziergäneer 
yermittelt,  sei  kongruent  mit  der  Stimmung,  die  aar 
Hörer  von  der  Symphonie  empßlngt,  ist  töricht.  Sonst 
könnte  man  ja  auch  sagen,  der  Geruch  von  faulen 
Äpfeln  gebe  uns  Schillers  Wallenstein. 

• 

Ein  Hungerleider,  der  Anarchist  wird,  ist  ein 
verdächtiger  Werber  für  die  Sache.  Denn  wenn  er 
zu  essen  bekommt,  wird  er  eine  Ordnungsstütze.  Oft 
sogar  ein  Sozialdemokrat.  Nichts  ist  dagegen  sinn- 
loser als  sich  über  die  Söhne  besitzender  Bürger 
lustig  zu  machen,  die  anarchistischen  Ideen  anhängen. 
Sie  können  immerhin  Überzeugungen  haben.  Jeden- 
falls verdächtigt  kein  abgerissenes  Qewand  die  geistige 
Echtheit  ihrer  kommunistischen  Neigungen. 

• 

Die  Sozialdemokraten  lassen  den  Armen  klassen- 
bewuflt  werden  und  überlassen  ihn  dann  der  Pein« 
Dieses  Vorgehen  nennen  sie  Organisierung. 

Dafi  Bildung  der  Inbegriff  dessen  sei,  was  man 
vergessen  hat,  ist  eines  der  schönsten  Worte.  Darüber 
hinaus  ist  Bildung  eine  Krankheit  und  eine  Last  für 
die  Umgebung  des  Gebildeten.  Eine  Qymnasialreform, 
die  auf  die  Abschaffung  der  toten  Sprachen  mit  der 
Begründung  hinarbeitet,  man  brauche  sie  eben  nicht  fürs 
Leben,  ist  lächerlich.  Brauchte  man  sie  fürs  Leben, 
so  müfite  man  sie  eher  abschaffen.  Sie  dienen  freilich 
nicht  dazu,  dafi  man  sich  einst  in  Rom  oder  Athen  durch 
die  Sehenswürdigkeiten  durchfragen  könne.  Aber  sie 

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—  49  — 


pflanzen  in  uns  die  Fähie;keit9  uns  diese  vorzustellen.  Die 
Schule  dient  nicht  der  Anhäufung  praktischen  Wissens. 
Aber  Mathematik  reinigt  die  Oehirnbahnen,  und  wenn 
man  Jahreszahlen  büffeln  mufl,  die  man  nach  dem  Aus- 
tritt sogleich  vergifit,  so  tut  man  trotzdem  nichts  Un- 
nützes. Verfehlt  ist  nur  der  Unterricht  in  der  deut- 
schen Sprache.  Aber. dafür  lernt  man  sie  durch  das 
Lateinische,  das  noch  diesen  besonderen  Wert  hat. 
Wer  gute  deutsche  Aufsätze  macht,  wird  in  der 
Regel  ein  Eommis.  Wer  schlechte  macht  und  dafür 
im  Lateinischen  besteht,  wird  wahrscheinlich  ein 
Schriftsteller.  Was  die  Schule  bewirken  kann,  ist, 
dafi  sie  jenen  Dunst  7on  den  Dingen  schafft,  in  den 
eine  Individualität  hineingestellt  werden  kann.  Weifi 
einer  noch  nach  Jahren,  aus  welchem  klassischen 
Drama  und  aus  welchem  Akt  ein  Zitat  stammt,  so 
hat  die  Schule  ihren  Zweck  verfehlt.  Aber  fühlt  er, 
wo  es  stehen  könnte,  so  ist  er  wahrhaft  gebildet  und 
die  Schule  hat  ihren  Zweck  vollauf  erreicht. 

• 
Nicht  der  Stock  war  abzuschaffen,  sondern  die 
Lehrer,  die  ihn  schlecht  anwenden.  Die  neue  Gym- 
nasialreform  ist,  wie  alles  humanitäre  Flickwerk, 
ein  Sieg  über  die  Phantasie.  Dieselben  Lehrer,  die 
bis  nun  nicht  imstande  waren,  mit  Hilfe  des  Katalogs 
zu  einem  Urteil  zu  gelangen,  werden  sich  jetzt  liebe- 
voll in  die  Schülerindividualität  versenken  müssen. 
Die  Humanität  hat  den  Alpdruck  der  Furcht  vor 
dem  »Drankommenc  beseitigt,  aber  das  gefahrlose 
Schülerleben  wird  unerträglicher  sein  als  das  gefähr- 
liche. Zwischen  vorzüglich  und  ganz  ungenügend  lag 
ein  Spielraum  für  romantische  Erlebnisse.  Ich  möchte 
den  Schweiß  um  die  Trophäen  der  Kindheit  nicht 
von  meiner  Erinnerung  wischen.  Mit  dem  Stachel  ist 
auch  der  Sporn  dahin.  Der  Gymnasiast  lebt 
ehrgeizlos  wie  ein  lächelnder  Weltweiser  und  tritt 
unvorbereitet  in  die  Streberei  des  Lebens,  die  sein 
Charakter    ehedem    schadlos    antizipiert    hatte,    wie 

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-  60  - 


der  geimpfte  Körper  die  Blattorn.  Er  hatte  frOher  alle 
Gefahren  des  Lebens  bis  zum  Selbstmord  verko- 
stet. Anstatt  daft  man  die  Lehrer  verjagt,  die 
ihm  das  Spiel  der  Gefahren  manchmal  aum  Brost 
erwachsen  liefien,  wird  jetzt  der  Ernst  des  geruhigen 
Lebens  verordnet.  Früher  erlebtmi  die  Schüler  die  SohulCi 
jetzt  mjlssen  sie  sich  von  ihr  bild^i  lassen.  Mit  den  Schau- 
ern ist  die  Schönheit  vertrieben  und  der  junge 
Geist  steht  vor  der  Kalkwand  eines  protestantischen 
Himmels.  Die  Schülerselbstmorde,  deren  Moüv  die 
Dummheit  der  Lehrer  und  Eltern  war,  werden  auf- 
hören,  und  als  legitimes  Selbstmordmotiv  bleibt  die 
Langeweile  zurück. 

Die  Humanität  ist  eine  physikalische  Ent- 
täuscfaungy  die  mit  Naturnotwendigkeit  euitritt.  Denn 
der  Liberalismus  stellt  immerzu  sein  Licht  unter  eine 
Glasglocke  und  glaubt,  dafi  es  im  luftleeren  Raum 
brennen  werde.  Eher  brennt  es  noch  im  Sturm  des 
Lebens.  Wenn  der  Sauerstoff  verzehrt  ist,  geht  das  Licht 
aus.  Aber  glücklicherweise  steht  die  Glocke  im 
Phrasenwasser  und  dieses  steift  in  dem  Augenblick, 
da  die  Kerze  erloschen  ist.  Hebt  man  die  Glocke 
ab,  so  verspürt  man  erst  die  wahren  Eigenschaften 
des  Liberalismus.    Er  stinkt  nach  Kohlenwasserstoff. 


Man  meidet  die  Gesellschaft  So  sucht  sie  ein^i 
auf  »neutralem  Bodenc  auf,  setzt  sich  dreist  in  einem 
Lokal  an  unseren  Tisch.  Die  Frage:  »Sie  gestatten 
dochc,  die  nie  einen  fragenden  Ton  hat,  ist  <Se  ärgste 
Perfidie.  Man  wird  mit  der  Schlinge  der  Konvention 
gefangen.  Im  Augenblick  ist  man  in  medias  res  ein- 
geführt. Wird  nach  dem  neuen  Roman  von  Schnitsler 
eefragt,  um  seine  Ansicht  über  das  Wetter  und  um 
die  Sommerpläae.  Der  Feind  rechnet  damit,  daß  man 
nicht  grob  werden,  »kein  Aufsehenc  machen  wird. 
Er  ist  gar  nicht  hochmütig,  sondern  behandelt  mich 


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-  61  - 


wie  seinesgleichen,  und  als  ob  ich  zur  guten  QeselU 
Schaft  gehörte.  Da  sieht  er  sich  plötslich  getäuscht; 
es  zeigt  sich,  daft  ich  keine  tianieren  habe.  Aber  da 
ich  eton  nicht  gewillt  bin,  meinen  Bekanntenkreis 
zu  erweitem,  sondern  zu  verringem,  so  wird  mir  das 
in  meinem  weiteren  Fortkommen  nicht  schaden. 

Wenn  man  mir  persönliche  Antipathien  vorwirft, 
weil  ich  einen  Literaten  für  einen  Pfuscher  erkläre, 
so  unterschätzt  man  meine  Bequemlichkeit  Ich  werde 
doch  nicht  meine  Verachtung  strapazieren,  um  eine 
literarische  Minderwertigkeit  abzutuni 

* 

Das  Gesindel  besichtigt  »Sehenswürdiffkeitenc. 
Noch  immer  wird  also  blofi  gefragt,  ob  das  Grab 
Napoleons  würdig  sei,  vom  Herrn  Schulze  gesehen  zu 
werden,  und  noch  immer  nicht,  ob  Herr  Schulze  des 
Sehens  würdig  sei. 

« 

Ich  las  eine  Beschreibung,  die  E.  Pötzl  von 
einem  niederösterreichischen  SUUitchen  gab,  und 
eine  von  der  Ruhe  der  Inneren  Stadt  am  Tage  des 
Festzuges.  Ich  fand  wieder,  wie  ungewöhnlich  fein 
dieser  EleinkOnstler  ist,  dessen  Enge  erst  stört, 
wenn  er  ihrer  bewufit  wird  und  gegen  die  Aufien- 
welt  sich  wendet.  Bei  seinen  Wiener  Schilderungen, 
die  voll  lyrischer  Prosa  sind,  ist  mir,  als  ob 
ein  Einspännerrofi  an  der  Hippokrene  getrunken 
hätte;  an  seinen  übrigen  Sachen  spürt  man,  daS  der 
Musenquell  in  Böotien  entspringt. 

• 

P.  A.,  der  ein  Fetischist  der  Frauenseele  ist 
und  den  Frauenleib  zu  ienen  Objekten  rechnet,  die 
man  in  der  irdischen  Ausstellimg  nur  ansehen  und 
nicht  berühren  darf,  steht  um  einer  Weisheit  willen, 
die  genug  Humor  hat,  sich  selbst  in  Frage  zu  stellen, 
trotzalledem  über  dem  schreibenden  Haufen.    Wenn 

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-  62  - 


man  den  Durchschnitt  zieht  zwischen  dem^  was  man 
ihn  im  VerkQnderton  tagtäglich  stammeln  läfit^  und 
dem  Kunstwert  seiner  beiläufigen  lyrischen  Be- 
trachtung—  deren  feinste  Proben  er  jetzt  gesammelt 
hat  — f  so  bleibt  erst  recht  ein  Original  übrig.  Kürzlich 
verkündete  er  freilich:  »Eine  getreue  Frauenseele  mufi 
also  mit  einem  Walle  von  Unnahbarkeit  und  Unein- 
nehmbarkeit, von  Würde  und  Seelenadel  geschützt, 
behütet  und  verteidigt  sein,  dafi  Don  Juans  Bück  sich 
senkte  und  scheu  zur  Seite  sich  wendete! .  .  .  Frauen, 
seiet  so,  daß  der  wilde  Krieger  vor  dem  Walle  eures 
Tempels  freiwillig  umkehret  .  , .  Dann  wird  die  Eifer- 
sucht, diese  schrecklichste  Erkrankur.g  der  Mannes- 
seele, gebannt,  verbannt,  besiegt  seinic  Was  hat  er 
denn  ?  I  Das  ist  ja  durchaus  vom  Standpunkt  des  Besitzers 
gesprochen,  der  den  weiblichen  Seelenadel  monopoli- 
sieren möchte,  während  der  Wegnehmer  ihn  vielleicht  so 
gut  wie  der  bekannte  Wanderer  die  Wiese  empfindet. 
Aber  andererseits  —  müßte  der  Dichter  gewiß  auch  zu- 
geben, daß  die  Uneinnehmbaren,  die  sich  hinter  Adel, 
Wall  und  Würde  verschanzen,  »perfide  Heldenreize- 
rinnenc  sind.  Und  eine  Anschauung,  die  die  Wunschfä- 
higkeit  einer  Gewünschten  überhaupt  nicht  gelten  läßt 
und  alles  Unheil  vom  Don  Juan  und  nie  von  der  Frauen- 
seele erwartet,  führt  uns  in  eine  ästhetische  Puppen- 
welt, deren  Friede  von  dem  keuschen  Blick  des  Be- 
trachters abhängt.  Wo  bleibt  da  noch  Raum  für 
Eifersucht?  Es  genügt  eine  Weisung,  die  ausge- 
stellten Gegenstände  nicht  zu  berühren;  und  Erotik 
wäre  die  objektive  Wertung  einer  Rückenlinie,  einer 
Nasenform,  einer  Hand.  Aber  in  unserer  Welt 
werden  die  Puppen  lebendig  oder  hysterisch.  Je  nach 
der  Strenge  der  Vorschriften.  Und  manchmal  hilft 
es  dem  Don  Juan  nicht,  dafi  er  ordnungsgemäß 
den  Blick  senkt  und  scheu  zur  Seite  wendet. 
Schon  hat  die  getreue  Frauenseele  den  wilden  Krieger 
beim  Wickel,  oder  bei  der  Uniform.  Er  kehrt  zum 
Tempel   zurück,   und  alles   ist   verziehen.    Erforder- 


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53 


lichenfalls  dient  auch  die  Würde  als  Lockung  und  der 
Seelenadel  als  Lasso.  Die  Unnahbarkeit  ist  An- 
näherung und  die  Uneinnehmbarkeit  Herausforderung. 
Vorläufig  dürfte  also  der  Vorschlag  des  Dichters 
nicht  den  gewünschten  praktischen  Erfolg  erzielen. 
Und  daß  er  in  einem  Buche  erschienen  ist,  das  den 
Titel  führt  »Felix  Austria:  Österreichische  Dichter 
im  Jubeljahre  1908«^  ist  nicht  günstig.  P.  A.  läßt  sich 
besser  repräsentieren  als  durch  Rezepte  zur  Heilung 
der  Eifersucht,  und  Felix  Austria  wird  nicht  heiraten, 
wenn  sie  sie  befolgt. 

Der  ständige  Mitarbeiter  eines  militärischen 
Witzblattes:  Der  Clown  in  der  Menage. 

• 

Ich  kann  einen  Festzug  oder  eine  gewisse  Sorte 
von  Theaterstücken  wirklich  nur  dann  objektiv  n^h 
dem  ästhetischen  und  kulturellen  Wert  beurteilen, 
wenn  ich  nicht  dabei  war.  Sonst  unterliege  ich  einer 
beliebigen  Nerven  Wirkung,  höre  auf,  kritisch  zu 
sein  und  rede  wie  der  Blinde  von  der  Farbe.  Wie 
leicht  kann  Musik  oder  Qlockenläuten  einen  zur 
Duldung  einer  Geschmacklosigkeit  bringen  1  Um  mir 
also  ein  gerechtes  Urteil  zu  bewahren,  darf  ich  es 
gewissenhafter  Weise  nicht  unterlassen,  dem  Schau- 
spiel fernzubleiben. 

Die  Gewalttätigkeit  des  Daseins  und  die  Unmoti- 
viertheit  aller  menschlichen  Dinge  geht  einem  nie  so 
deutlich  auf,  wie  wenn  man  das  Malheur  hat,  in 
einem  Wagen  zu  sitzen,  der  halten  muß,  weil  ihn 
die  Burgmusik  umbrandet. 

• 

Die  populärsten  Gesichter  in  Wien  sind  die 
zweier  Heurigenwirte.  In  Oberlebensgröfie  sind  sie 
an  jeder  Straßenecke  plakatiert,  und  ihr  Ruhm  hat 
sicher  die  Größe  des  Überlebens.  So  etwa  haben  sich 
die   Deutschen   die  Köpfe  ihrer  Schiller  und  Goethe 

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—  64  - 


eingeprägt.  Aber  das  österreichisohe  Kulturniveau  ist 
wahrlich  ein  höheres.  Denn  zu  Schiller  und  Goethe  be* 
steht  nur  jene  dekorative  Beziehung,  die  das  Geflunker 
von  Bildung  herstellt,  während  gewifi  ein  innerer 
Zusammenhang  zwischen  den  Wienern  und  ihren 
Heroen  besteht.  Großväter  werden  einst  aufhorchenden 
Enkeln  erzählen,  daft  sie  noch  den  Wolf  in  Gersthof 
gesehen  haben,  und  Groftmütter  werden  von  der  Br- 
innerung  verjüngt  sein,  daft  das  Auge  Hartwiegers 
auf  ihnen  geruht  hat. 

• 

Was  ist  alles  Machtbewufitsein  eines  Nero,  was 
ist  aller  Vernichtungsdrang  eines  Tschingiskhan,  was 
ist  die  Machtvollkommenheit  des  jünp;sten  Gerichtes 
gegen  das  HoohgefQhl  eines  Eonzipisten  der  kon* 
skriptionsämtlichen  Abteilung  des  magistratischen 
Bezirksamtes,  der  einen  wegen  Nichtfolgeleistung 
einer  Vorladung  zur  Anmeldung  behufs  Veranlagung 
zur  Bemessung  der  Militärtaze  zu  einer  Geldstrafe 
von  zwei  Kronen  verurteilt  I 

* 

Viele  Leute  möchten  mich  persönlich  kennen 
lernen.  Wenn  aber  einer  ein  Beamter  des  magistrati- 
schen Bezirksamtes  ist,  so  erreicht  er  es.  Ich  verkehre 
seit  Jahren  nur  noch  mit  Beamten  des  magistratisohen 
Bezirksamtes;  habe  aber  wenig  Anregung  davon. 

• 

Wer  Gehirngymnastik  treiben  will,  versuche 
das  Gespräch  einer  Tafelrunde,  dessen  Entfernung  von 
dem  ursprünglichen  Thema  ihm  an  einem  Punkt  be- 
sonders auffällt,  so  schnell  als  möglich  zu  rekon- 
struieren. Man  blättere  in  diesem  Konversationslexikon 
und  man  wird  einen  Zickzackweg  übersehen,  an  dessen 
Anfang  und  Ende  Gegenstände  sind,  die  einen  an 
die  drollige  Zusammennanelosigkeit  der  Aufschriften 
erinnern:  Von  Gothik  bis  Heizanlage  und  von  Newton 
bis  Pazifik. 


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—  56  — 


Im  Kampf  swischen  Natur  und  Sitte  ist  die 
Perversität  eine  Trophäe  oder  eine  Wunde.  Je  nach- 
dem, ob  die  Natur  sie  erbeutet  oder  die  Sitte  sie 
geschlagen  hat. 

• 

Wer  Witz  hat^  kann  nie  einen  Witz  entlehnt 
haben^  auch  wenn  dieser  noch  so  bekannt  wäre.  Es 
kommt  gerade  hier  auf  das  Gewordene  an.  Wer  Zeuge 
der  Geburt  ist^  kann  an  eine  Unterschiebung  nicht 
glauben,  auch  wenn  das  Eind  aufs  Haar  einem  frem- 
den gliche. 

• 

Den  Witz  eines  Witzigen  zitieren  heiflt  blofi 
einen  Pfeil  aufheben.  Wie  er  abgeschossen  wurde, 
kann  das  Zitat  nicht  zeigen. 

Der  Nachahmer  verfolgt  die  Spuren  des  Ori- 
ginals, und  hofft,  irgendwo  müsse  ihm  das  Geheim- 
nis der  Eigenart  aufgehen.  Aber  je  näher  er  diesem 
kommt,  um  so  weiter  entfernt  er  sich  von  der  Mög- 
lichkeit, es  zu  nützen. 

Nicht  ob  das  Resultat  originell,  sondern  ob 
man  selbst  dazu  gelangt  sei,  darauf  kommt  es  an. 
Also  eigentlich  auf  den  Kredit  des  Finders.  Ich  habe 
dies  und  das  in  mir  gefunden  und  fand  es  nachträg- 
lich in  Büchern.  Da  erkannte  ich,  dafi  es  nur  auf  den 
Weg  ankomme  und  nicht  auf  das  Ziel.  Und  fand 
auch  diesen  Gedanken  in  Büchern. 

• 

Zum  Beispiel  fiel  mir  auch  ein:  Schimpf- 
worte sind  nicht  an  und  für  sich  zu  verpönen. 
Nur  wenn  sie  an  und  für  sich  stehen.  Ein 
Stilist  muß  ein  Schimpfwort  so  gebrauchen  kön- 
nen, als  ob  es  nie  zuvor  noch  ein  Kutscher 
gebraucht  hätte.  Die  Unfähigkeit  sucht  unge- 
wohnte    Worte.     Aber    das     Gewöhnlichste     kann 

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—  66  ^ 


getrost  verwendet  werden^  wenn  es  nur  so  gebracht 
wird,  als  ob  es  eben  zum  erstenroale  gebracht  wQrde.  So 
kann  eine  Drohung  mit  Ohrfeigen  nicht  nur  als  der 
organische  Ausdruck  einer  Stimmung,  sondern  soRar 
wie  eine  Novität  wirken  • .  •  Nachdem  ich  dies  nieder- 
geschrieben hatte,  fand  ich  bei  Goethe  den  Satz: 
»Die  originalsten  Autoren  der  neuesten  Zeit  sind  es 
nicht  deswegen,  weil  sie  etwas  Neues  hervorbrin^n, 
sondern  allein,  weil  sie  fähig  sind,  dergleichen  Dmge 
zu  sagen,  als  wenn  sie  vorher  niemals  wären  gesaijgt 
gewesen. c  Und  dann  diesen:  »Alles  Gescheite  ist 
schon  gedacht  worden,  man  muß  nur  versuchen,  es 
noch  emmal  zu  denken.«  Und  diesen  Gedanken  hatte 
schon  La  Bruy^re  ausgesprochen. 

• 
Ich  hatte  diesen  und  Goethes  Maximen  nie  zuvor 
eelesen.  Nun  fand  ich,  dafi  ich  manches  Gescheite  ge- 
dacht habe.  Denn  Goethe  schreibt  zum  Beispiel:  »Es  ist 
nicht  immer  nötig,  dafi  das  Wahre  sich  verkörpere; 
schon  genug,  wenn  es  geistig  umher  schwebt  und  Über- 
einstimmung bewirkt;  wenn  es  wie  Glockenton  ernst- 
freundlich  durch  die  Lüfte  wogt.«  Oder:  »Tief  und 
ernstlich  denkendeMenschen  haben  gegen  das  Publikum 
einen  bösen  Stand««  Oder:  »Die  größte  Achtung, 
die  ein  Autor  für  sein  Publikum  haben  kann,  irt, 
dafi  er  niemals  bringt  was  man  erwartet,  sondern 
was  er  selbst,  auf  der  jedesmaligen  Stufe  eigner 
und  fremder  Bildung  für  recht  und  nützlich  hält.« 
Oder:  »Ein  jeder,  weil  er  spricht,  glaubt  auch  über 
die  Sprache  sprechen  zu  können.«  Und  da  ich  mich 
so  zu  stützen  vermesse,  berufe  ich  mich  auch  auf 
das  Wort:  »Man  sagt,  eitles  Eigenlob  stinket:  das 
mag  sein :  was  aber  fremder  und  ungerechter  Ta 
für  einen  Geruch  habe,  dafür  hat  das  Publik 
keine  Nase.« 

Karl  Krau. 

Henssecbcr  nod  vcranivortliclier  Redakteor:  Karl  Krtni. 
Dnick  von  Jahodi  *  Slesd,  Wien,  III.  HIntcrt  ZollamtsitnBe  3. 


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Der  Verlag  der  Fackel 

befindet  sich  jetzt 

Wien,  m  2 

Hintere  Zollamtsstrasse  Nr.  3. 

Telephon  Nr.  187 


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CARL  GO  LS  DORF  .jattL^ 

Karlsbad.  Budapest  F.  WlenXr^^W^ 

Haschinschreibarbeiten  jeder 

Vervielfältigungen    lief' 


ÄANUSKRIPTB    sind    Wien,   IV.   S 
tdresBieren.    Unverlangte    Manuskripte, 
rankiertesKnvert  beiliegt,  werden  nicht  xurückge^ 

[f  wird  ersucht,  admiAlitriUve  Hittelliiogeii  flicht  aa  C, 

redaktionelle  nlcM  an  den  Verlag  gelangen  zu  i  > 


Unternehmen  für  Zeitongeaatachni' 

DBSERVER,  1 1«.  i 


eriace  ,Üie  PACI^BU  elorf  e 

■^11»»  BuohbaudlungeD  oder  dirr 

Karl  Kraus: 


HAXIMIUiN  HÄRl 

iine  Erledigung.    Ein  Na-'' 


Pi-eiä  er' 


Sairaens  .A.niDir< 


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Herausgeben 


ARL  KRAUS. 


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- — id.    —    Har'^^^-'^^^'kon.    Von    Kacl 
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Alte  Iiiebesliäudel 


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rvj<gAuxis«  * 


Die  Fackel 


m.  261-62 


WIEN.  13.  OKTOBER  1M8 


X.  JAHR 


(Offener  Brief  an  dnt  Publilram.) 

»Den  Oberwinder  will  ich  genießen 
lassen  von  dem  Lebensholze,  das  in 
meines  Gottes  Paradiese  steht.« 

Am  l.  April  1909  wird  aller  menschlichen  Vor- 
aussicht nach  die  ,Fackel'  ihr  Erscheinen  einstellen. 
Den  Weltuntergang  aber  datiere  ich  von  der  EröiT- 
nung  der  Luftschiffahrt. 

Eine  Verzögerung  beider  Ereignisse  aus  äußeren 
Gründen  könnte  an  meiner  Berechtigung  nichtn  än- 
dern, sie  yorherzusagen,  und  nichts  an  der  Erkennt- 
nis, daß  beide  ihre  Wurzel  in  demselben  phänome- 
nalen Übel  haben:  in  dem  fleberhaften  Fortschritt 
der  menschlichen  Dummheit. 

Es  ist  meine  Religion,  zu  glauben,  dafi  Mano- 
meter auf  99  steht.  An  allen  Enden  dringen  die  Gase 
aus  der  Welthirnjauche,  kein  Atemholen  bleibt  der 
Kultur  und  am  Ende  liegt  eine  tote  Menschheit  neben 
ihren  Werken,  die  zu  erßnden  ihr  so  viel  Geist  ge- 
kostet hat,  dafi  ihr  keiner  mehr  übrig  blieb,  sie  zu 
"tzen. 

Wir  waren  kompliziert  genug,  die  Maschine  zu 
uen,  und  wir  sind  zu  primitiv,  uns  von  ihr  be- 
men  zu  lassen.  Wir  treiben  einen  Weltverkehr  auf 
firaalspurigen  Oehirnbahnen. 

Aber  siehe,  die  Natur  hat  sich  ^egen  die  Ver- 
jhe,  eine  weitere  Dimension    für   die   Zwecke   der 

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zivilisatorischen  Niedertracht  zu  mißbrauchen,  auf- 
gelehnt und  den  Pionieren  der  Unkultur  zu  ver- 
stehen gegeben,  daß  es  nioht  nur  Maschinen  gibt^ 
sondern  auch  Stürme !  »Hinausgeworfen  ward  der 
große  Drache,  der  alle  Welt  verführt,  geworfen  ward  er 
auf  die  Erde ...  Er  war  nicht  mächtig  genug,  einen 
Platz  im  Himmel  zu  behaupten,  c  Die  Luft  wollte 
sich  verpesten,  aber  nicht  »erobern«  lassen.  Michael 
stritt  mit  dem  Drachen,  und  Michel  siüii  su. 
Vorläufig  hat  die  Natur  gesiegt.  Aber  sie  wird 
als  die  Klügere  nachgeben  und  einer  ausgehöhl- 
ten Menschheit  den  Triumph  gönnen,  an  der 
Erfüllung  ihres  Lieblingswunsches  zugrundezugehen. 
Bis  zum  Betrieb  der  LuftschifiTahrt  geduldet  sich 
das     Chaos,    dann     kehrt    es    wieder!     Daß   Mont- 

folfieren  vor  hundert  Jahren  aufstiegen,  war  durch 
ie  dichterische  Verklärung,  die  ein  Jean  Paul 
davon  gab,  gerechtfertigt  für  alle  Zeiten;  aber 
kein  Gehirn  mehr,  das  Eindrücke  zu  Bildern  formen 
könnte,  wird  in  den  Tagen  leben,  da  eine  höhen- 
staplerische  Gesellschaft  zu  ihrem  Ziel  gelangen 
und  der  Parvenü  ein  Maßbe^fT  sein  wird.  Es  ist 
ein  metaphysisches  Bubenspiel,  aber  der  Drache, 
den  sie  steigen  lassen,  wird  lebendig.  Man  wird  auf 
die  Oesellschaftsordnung  spucken  können,  und  davon 
würde  sie  unfehlbar  Schaden  nehmen,  wenn  ihr 
nicht  schlimmere  Sendung  zugedacht  wäre  .  .  . 

Die  Natur  mahnt  zur  Besinnung  über  ein 
Leben,  das  auf  Äußerlichkeiten  gestellt  ist.  Eine 
kosmische  Unzufriedenheit  gibt  sich  allenthalben 
kund,  Sommerschnee  und  Winterhitze  demonstrieren 
gegen  den  Materialismus,  der  das  Dasein  zum 
Prokrustesbett  macht,  Krankheiten  der  Seele  als 
Bauchweh  behandelt  und  das  Antlitz  der  Natur  ent- 
stellen möchte,  wo  immer  er  ihrer  Züge  gewahr  wird: 
an  der  Natur,  am  Weibe  und  am  Künstler.  Einer 
Welt,  die  ihren  Untergang  ertrüge,  wenn  ihr  nur 
soine     kinematographische     Vorführung    nicht    ver- 

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sagt  bleibt,  kann  man  mit  dem  Unbegreiflichen  nicht 
bange  machen.  Aber  unsereins  nimmt  ein  Erdbeben 
aTs  Protest  gegen  die  Einrichtungen  der  Demokratie 
ohneweiters  hin  und  zweifelt  keinen  Augenblick  an 
der  Möglichkeit,  dafi  ein  Obermafi  menschlicher 
Dummheit  die  Elemente  empören  könnte. 

Die  Tragik  einer  gefallenen  Menschheit,  die  für 
das  Leben  in  der  Ziviusation  viel  schlechter  taugt 
als  eine  Jungfer  fürs  Bordellwesen,  und  die  sich 
mit  der  Moral  über  die  Syphilis  trösten  möchte,  ist 
verschärft  durch  den  unaufhörlichen  Verzicht  auf 
alle  seelische  Erneuerung.  Ihr  Leib  ist  ethisch  ge- 
schmiert und  ihr  Hirn  ist  eine  camera  obscura,  die  mit 
Druckerschwärze  ausgepicht  ist.  Sie  möchte  vor  der 
Presse,  die  ihr  das  Mark  vergiftet  hat,  in  die 
Wälder  fliehen,  und  findet  keine  Wälder  mehr.  Wo 
einst  ragende  Bäume  den  Dank  der  Erde  zum  Himmel 
hoben,  türmen  sich  Sonntagsauflagen.  Hat  man  nicht 
ausgerechnet,  dafi  eine  amerikanische  Zeitung  für 
eine  einzige  Ausgabe  eine  Papiermasse  braucht,  für 
deren  Herstellung  zehntausend  Bäume  von  zwanzig 
Metern  Höhe  gefällt  werden  müssen?  Es  ist  schneller 
nachgedruckt  als  nachgeforstet.  Wehe,  wenn  es  so 
weit  kommt,  dafi  die  Bäume  bloß  täglich  zweimal, 
aber  sonst  keine  Blätter  tragen  I  »Und  aus  dem 
Rauche  kamen  Heuschrecken  über  die  Erde,  wel- 
chen Macht  gegeben  wurde,  wie  die  Skorpionen 
Macht  haben .  .  .  Menschen  ähnlich  waren  ihre  Ge- 
sichter .  . .  Und  es  wurde  ihnen  geboten,  weder  das 
Qras  auf  der  Erde,  noch  etwas  Grünes,  noch  irgend 
einen  Baum  zu  beschädigen,  sondern  blofi  die  Men- 
schen, die  nicht  haben  das  Siegel  Gottes  an  ihren 
Stirnen.«  Aber  sie  beschädigten  die  Menschen,  und 
schonten  die  Bäume  nicht. 

Da  besinnt  sich  die  Menschheit,  dafi  ihr  der 
Sauerstoff  vom  Liberalismus  entzogen  wurde  und 
rennt  in  den  Sport.  Aber  der  Sport  ist  ein  Adoptiv- 
kind   des    Liberalismus,    er    trägt   schon   auf  eigene 

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Faust  z\ir  Ver<lummunja;  der  Familie  bei.  Kein  Ent- 
rinnen! Auch  wenn  sie  auf  dem  Misthaufen  des 
Lebens  Tennis  spielen,  die  Schmutzflut  kommt  immer 
näher  und  das  Sausen  aller  Fabriken  übertönt  so 
wenig  ihr  Geräusch  wie  die  Klänge  der  Symphonie- 
konzerte,  zu  denen  die  ganz  Verlassenen  ihre  Zu- 
flucht nehmen. 

Inzwischen  tun  die  Politiker  ihre  Pflicht.  Es 
sind  Märtyrer  ihres  Berufs.  Ich  habe  gehört,  daß 
Österreich  Bosnien  annektiert  hat.  Warum  auch  nicht? 
Man  will  alles  beisammen  haben,  wenn  alles  aufhören 
soll.  Immerhin  ist  solch  ein  einigend  Band  eine  ge- 
wagte Unternehmung,  —  in  Amerika,  wo  man  uns  so 
oft  verwechselt  hat,  heißt  es  dann  wieder,  Bosnien 
habe  Österreich  annektiert.  Erst  die  Auflösung  unseres 
Staates,  von  der  in  der  letzten  Zeit  so  viel  die  Rede 
war  und  die  sich  separat  vollziehen  wird,  weil  die 
anderen  Weltgegenden  nicht  in  solcher  Gesellschaft 
zugrundegehen  wollen,  dürfte  allem  müßigen  Qerede 
ein  Ende  machen.  Aber  es  ist  eine  weitblickende 
Politik,  den  Balkan  durcheinanderzubringen.  Dort 
sind  die  Reserven  zur  Herstellung  des  aligemeinen 
Chaos.  Die  Wanzen  mobilisieren  schon  gegen  die 
europäische  Kultur. 

Die  Aufgabe  der  Religion,  die  Menschheit  zu 
trösten,  die  zum  Galgen  geht,  die  Aufgabe  der  Politik, 
sie  lebensüberdrüssig  zu  machen,  die  Aufgabe  der 
Humanität,  ihr  die  Galgenfrist  abzukürzen  und  gleich 
die  Henkermahlzeit  zu  vergiften. 

Durch  Deutschland  zieht  ein  apokalyptischer 
Reiter,  der  für  viere  ausgibt.  Er  ist  Volldampf  voraus 
in  allen  Gassen.  Sein  Schnurrbart  reicht  von  Aufgang 
bis  Niedergang  und  von  Süden  gen  Norden.  »Und 
dem  Reiter  ward  Macht  gegeben,  den  Frieden  von 
der  Erde  zu  nehmen,  und  daß  sie  sich  einander  er- 
würgten.« Und  alles  das  ohne  Absicht  und  nur  aus 
Lust  am  Fabulieren. 

Dann  aber  sehe  ioh  ihn  wieder  als  das  Tier  mit 

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den  zehn  Hörnern  und  den  sieben  Köpfen  und  einem 
Maul  e:leich  dem  Rachen  eines  Löwen.  »Man  betete 
das  THer  an  und  sprach:  Wer  ist  dem  Tiere 
gleich?  Und  wer  vermag  mit  ihm  zu  streiten?  Bin 
Maul  ward   ihm  zugelassen,   groSe  Dinge  zu  reden. c 

Neben  diesem  aber  steht  die  grofie  Hure,  »die 
mit  ihrer  Hurerei  die  Welt  verdarbt.  Indem  sie  sich 
allen^  die  da  wollten,  täglich  zweimal  hingab.  »Von 
dem  Wollustwein  ihrer  Unzucht  haben  alle  Völker 
getrunken,  und  die  Könige  der  Erde  buhlten 
mit  ihr.c 

Wie  werden  die  Leute  aussehen,  deren  Qrofi- 
väter  Zeitgenossen  des  Max  Nordau  gewesen  sind? 
Bei  Tage  Börsengeschäfte  abgewickelt  und  am  Abend 
Feuilletons  gelesen  haben?  Werden  sie  aussehen? ! 
Weh  dir,  dB&  du  der  Elnkel  eines  alten  Lesers  der 
«Neuen  Freien  Presse'  bisti  Aber  so  weit  läSt  es  die 
Natur  nicht  kommen,  die  ihre  Beziehungen  zur  Presse 
streng  nach  deren  Verhalten  gegen  die  Kultur  ein- 
gerichtet hat  Einer  journalisierten  Welt  wird  die 
Schmach  eines  lebensunfähigen  Nachwuchses  erspart 
sein:  das  Geschlecht,  dessen  Fortsetzung  der  Leser  mit 
Spannung  entgegensieht,  bleibt  im  Obersatz.  Die 
Schöpfung  versagt  das  Imprimatur.  Der  intellektuelle 
Wechaelbalg,  den  eine  Ratze  an  innerer  Kultur  be- 
schämen müßte,  wird  abgelegt.  Der  Jammer  ist  so  groß, 
dafl  er  gleich  den  Trost  mitbringt,  es  komme  nicht  so 
weit.  Nein,  der  Bankert  aus  Journalismus  und  Hysterie 
pfluizt  sich  nicht  fort!  Ober  die  Vorstellung,  daß  es 
ein  Verbrechen  sein  soll,  der  heute  vorrätigen 
Menschensorte  die  Frucht  abzutreiben,  lacht  ein 
Totengräber  ihrer  Mißgeburten.  Aber  die  Natur  arbeitet 
schon  darauf  hin,  den  Hebammen  jede  Versuchung 
zu  ersparen  I  Die  Vereinfachung  der  Gehirnwindungen, 
die  ein  Triumph  der  liberalen  Bildung  ist,  wird  die 
Menschen  selbst  zu  jener  geringfügigen  Arbeit 
unfähig  machen,  deren  Leistung  die  Natur  ihnen 
eigens    schmackhaft    gemacht    hat.     So    könnte    di«» 


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Auffdhrungsserie  des  » Walzertraums <  einen  jähen 
Abbruch  erfahren! 

Aber  glaubt  man,  daS  die  Erfolgsziffem  der 
neuen  Ton  werke  ohne  Einflufi  auf  die  Gestaltung  dieser 
Verhältnisse  bleiben  werden?  Dafi  sie  noch  vor  zwanzig 
Jahren  möglich  gewesen  wären?  Eine  Welt  von 
Wohllaut  ist  versunken,  und  ein  krähender  Hahn 
bleibt  auf  dem  Repertoire;  der  Qeist  liegt  auf  dem 
Schindanger,  und  jeder  Dreckhaufen  ist  ein  Kristall- 
palast .  . .  Hat  man  den  Parallelismus  bemerkt, 
mit  dem  jedesmal  ein  neuer  Triumph  der  »Lustigen 
Witwec  und  ein  Erdbeben  gemeldet  werden?  Wir 
halten  bei  der  apokalyptischen  666 .  .  .  Die  mifi- 
handelte  Urnatur  grollt;  sie  empört  sich  dagegen, 
dafi  sie  die  Elektrizität  zum  Betrieb  der  Dumnmeit 
geliefert  haben  soll.  Habt  ihr  die  Unregelmäfiigkeiten 
der  Jahreszeiten  wahrgenommen?  S[ein  Frühling 
kommt  mehr,  seitdem  die  Saison  mit  solcher  Schmach 
erfüllt  isti 

Unsere  Kultur  besteht  aus  drei  Schubfächern, 
von  denen  zwei  sich  schliefien,  wenn  eines  offen  ist, 
nämlich  aus  Arbeit,  Unterhaltung  und  Belehrung. 
Die  chinesischen  Jongleure  bewältigen  das  ganze 
Leben  mit  einem  Finger.  Sie  werden  also  leichtes 
Spiel  haben.  Die  gelbe  Hoffnung  I .  . .  Unseren  An- 
sprüchen auf  Zivilisation  würden  allerdings  die 
Schwarzen  genügen.  Nur,  dafi  wir  ihnen  in  der  Sitt- 
lichkeit über  sind.  In  Illinois  hat  es  eine  weifte 
Frau  mit  einem  Neger  gehalten.  Das  Verhältnis 
blieb  nicht  ohne  Folgen.  > Nachdem  eine  Menge 
Weifier  zahlreiche  Häuser  im  Negerviertel  in  Brand 
gesteckt  und  verschiedene  Geschäfte  erbrochen 
hatten,  ergriffen  sie  einen  Neger,  schössen  zahlreiche 
Kugeln  auf  ihn  ab  und  knüpften  die  Leiche  an 
einem  Baum  auf.  Die  Menge  tanzte  dann  unter  un- 
geheurem Jubelgeschrei  um  die  Leiche  herum,  c  In  der 
Sittlichkeit  sind  wir  ihnen  über. 

Humanität,    Bildung   und     Freiheit    sind    kost- 

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bare  GKiter,  die  mit  Blut,  Verstand  und  Menschen- 
würde nicht  teuer  genug  erkauft  sind.  Nun,  bis  zu 
dem  Chinesentraum  versteige  ich  mich  nicht:  aber 
einem  gelegentlichen  Barbarenangriff  auf  die  Bollwerke 
unserer  Kultur,  Parlamente,  Redaktionen  und  Univer- 
sitäten, könnte  man  zujauchsen,  wenn  er  nicht  selbst 
eine  politische  Sache  wäre,  also  eine  Gemeinheit. 
Als  die  Bauern  eine  Hochschule  stürmten,  wars  nur  der 
andere  Pöbel,  der  seines  Geistes  Losung  durchsetzen 
wollte.  Die  Dringlichkeit,  die  Universitäten  in  Bor- 
delle zu  verwandeln,  damit  die  Wissenschaft  wieder 
frei  werde,  sieht  keine  politische  Partei  ein.  Aber  die 
Professoren  würden  als  Portiers  eine  Anstellung 
finden,  weil  die  Vollbarte  ausgenützt  werden  können 
und  die  Würde  nun  einmal  da  ist,  und  die  Kollegien- 
gelder wären  reichlich  hereingebracht. 

»Den  Verzagten  aber,  und  Ungläubigen,  und 
Verruchten,  •  und  Totschlteem,  und  Götzendienern, 
und  allen  Lügnern,  deren  Teil  wird  sein  in  dem  Pfuhl, 
der  mit  Feuer  und  Schwefel  brennte. 

Was  vermag  nun  ein  Satirenschreiber  vor  einem 
Getriebe,  demohnediesin  jeder  Stunde  ein  Hohngelächter 
der  Hölle  antwortet?  Er  vermag  es  zu  hören, dieweil 
die  anderen  taub  sind.  Aber  wenn  er  nicht  gehört 
wird?  Und  wenn  ihm  selbst  bange  wird? 

Er  versinkt  im  Heute  und  hat  von  einem  Mor- 
gen nichts  zu  erwarten,  weil  es  kein  Morgen 
mehr  gibt,  und  am  wenigsten  eines  für  die  Werke 
des  Geistes.  Wer  heute  noch  eine  Welt  hat,  mit  dem 
mufi  sie  untergehen. 

Umso  sicherer^e  länger  die  äußere  Welt  Stand 
hält.  Der  wahre  Weltuntergang  ist  die  Vernich- 
tung des  Geistes,  der  andere  hängt  von  dem  gleich- 
giltigen  Versuch  ab,  ob  nach  Vernichtung  des 
Geistes  noch  eine  Welt  bestehen  kann. 

Darum  glaube  ich  einige  Berechtigung  zu  dem 
Wahnwitz  zu  haben,  dafi  die  Fortdauer  der  , Fackel* 


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ein  Problem  bedeute,  während  die  Fortdauer  der  Welt 
blofi  ein  Experiment  sei. 

Die  tiefste  Besoheidenheit,  die  vor  der  Welt 
zurücktritt,  ist  in  ihr  als  Gröfienwahn  verrufen.  Wer 
von  sich  selbst  spricht,  weil  kein  anderer  von  ihm 
spricht,  ist  lästig.  Wer  niemand  mit  seiner  Sache  zu 
belasten  wagt  und  sie  selbst  führt,  damit  sie  nur 
einmal  geführt  sei,  ist  anmaflend.  Und  dennoch 
weiß  niemand  besser  als  ich,  dafi  mir  alles  Talent 
fehlt,  mitzutun,  dafi  mich  auf  jedem  Schritt  der  ab- 
solute Mangel  dessen  hemmt,  was  unentbehrlich  ist, 
um  sich  wenigstens  im  Gedächtnis  der  MiÜebenden 
zu  erhalten,  der  Mangel  an  Konkurrenzfähigkeit. 
Aber  ich  weifi  auch,  dafi  der  Gröfienwahn  vor  der 
Bescheidenheit  den  Vorzug  der  Ehrlichkeit  hat  und 
dafi  es  eine  untrügliche  Probe  auf  seine  Be- 
rechtigung gibt:  seinen  künstlerischen  Ausdruck. 
Darüber  zu  entscheiden,  sind  freilich  die  wenigsten 
Leser  sachverständig,  und  man  ist  auch  hier  wieder 
auf  den  Größenwahn  angewiesen.  Er  sprach:  Selbst- 
bespiegelung  ist  erlaubt,  wenn  das  Selbst  schön  ist; 
aber  sie  erwächst  zur  Pflicht,  wenn  der  Spiegel  gut  ist. 
Und  jedenfalls  ist  es  sogar  ehrlicher,  zum  dyonisischen 
Praterausrufer  seiner  selbst  zu  werden,  als  sich  von 
dem  Urteil  der  zahlenden  Kundschaft  abhängig  su 
machen.  Die  Journalisten  sind  so  bescheiden,  die 
Keime  geistiger  Saat  für  alle  Zeiten  totzutreten.  Ich 
bin  gröfien wahnsinnig:  ich  weifi,  dafi  meine  Zeit 
nicht  kommen  wird. 

Meine  Leserl  Wir  gehen  jetzt  ins  zehnte  Jahr 
zusammen,  wir  wollen  nicht  nebeneinander  älter  wer- 
den, ohne  uns  über  die  wichtigsten  Mifiverständnisse 
geeinigt  zu  haben. 

Die  falsche  Verteilung  der  Respekte,  die  die 
Demokratie  durchführte,  hat  auch  das  Publikum  zu 
einer  verehrungswürdigen  Standesperson  gemacht. 
Das  ist  es  nicht.  Oder  ist  es  blofi  für  den  Sprecher, 
dem  es  die  unmittelbare  Wirkung  des  Worts  bestätigt, 


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nicht  für  den  Schreibenden;  für  den  Redner  und 
Theatermann,  nicht  fär  den  Künstler  der  Sprache. 
Der  Journalismus^  der  auch  das  geschriebene  Wort 
an  die  Pflicht  unmittelbarer  Wirkung  band,  hat  die 
Gerechtsame  des  Publikums  erweitert  und  ihm  zu 
einer  geistigen  Tyrannis  Mut  gemacht,  der  sich  jeder 
Künstler  selbst  dann  entziehen  muß,  wenn  er  sie  nur 
in  den  Nerven  hat.  Die  Theaterkunst  ist  die  einzige, 
vor  der  die  Menge  eine  sachverständige  Meinung 
hat  und  gegen  jedes  literarische  Urteil  behauptet. 
Aber  das  Eintrittsgeld,  das  sie  bezahlt,  um  der  Gaben 
des  geschriebenen  Wortes  teilhaft  zu  werden,  berechll^rt 
sie  nicht  zu  Beifalls-  oder  Mißfallsbezeigungen.  Bs 
ist  blofi  eine  lächerliche  Vergünstigung,  die  es  dem 
einseinen  ermöglicht,  um  den  Preis  eines  Schinken- 
brots ein  Werk  des  Geistes  zu  beziehen.  Daß  die 
Masse  der  zahlenden  Leser  den  Gegenwert  der 
schriftstellerischen  Leistung  bietet,  so  wie  die 
Masse  der  zahlenden  Hörer  den  des  Theatergenusses, 
wäre  mir  schon  eine  unerträgliche  Fiktion.  Aber  ge- 
rade sie  schlöfle  ein  Zensurrecht  des  einzelnen  Lesers 
aus  und  ließe  bloß  Kundgebungen  der  gesamten 
Leserschar  zu.  Der  vereinzelte  Zischer  wird  im 
Theater  überstimmt,  aber  der  Briefschreiber  kann 
ohne  akustischen  Widerhall  seine  Dummheit  betä- 
tigen. Worunter  ein  Schriftsteller,  der  mit  allen 
Nerven  bei  seiner  Kunst  ist,  am  tiefsten  leidet,  das 
ist  die  Anmaßung  der  Banalität,  ^  die  sich  ihm  mit 
individuellem  Anspruch  auf  Beachtung  aufdrängt. 
Sie  schafft  ihm  das  furchtbare  Gefühl,  daß  es  Menschen 
gibt^  die  sich  für  den  Erlag  zweier  Nickelmünzen 
an  seiner  Freiheit  verseifen  wollen,  und  seine  Phan- 
tasie öffnet  ihm  den  Prospekt  einer  Welt,  in  der  es 
nichts  gibt  als  solche  Menschen.  Dagegen  empfände  er 
tatsächlich  den  organisierten  Einspruch  der  Masse  als 
eine  logische  Beruhigung,  als  die  Ausübung  eines 
wohlerworbenen  Rechtes,  als  die  kontraktliche  Er- 
füllung   einer    Möglichkeit,    auf   die    er    vorbereitet 

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sein  muSte  und  die  demnach  weder  seinem  Stols 
noch  seinem  Frieden  ein  Feindliches  zumutet.  Wenn 
sich  die  Enttäuschungen,  die  meine  Leser  in  den 
leteten  Jahren  an  mir  erleben,  eines  Tages  in 
einem  Volksgemurmel  Luft  machten,  ich  würde  mich 
in  diesem  eingerosteten  Leben  an  der  Bereicherung 
der  Verkehrsformen  freuen.  Aber  dafi  ein  Chorist 
der  öffentlichen  Meinung  sich  vorschieben  darf, 
meine  Arie  stört  und  dafi  ich  die  Nuancen 
einer  Stupidität  kennen  lernen  mufi,  die  doch  nur 
in  der  Einheit  imposant  wirkt,  ist  wahrhaft  ^äfllidi. 
Es  ist  eine  demokratische  Wohlfahrtsinstitution,  dafi 
der  Leser  seine  Freiheit  gegen  den  Autor  hat  und 
dafi  seine  Privilegien  über  das  Naturrecht  hinaus- 
reichen,  den  Bezug  einer  unangenehmen  Zeitschrift 
aufzugeben;  daS  Menschen,  mit  denen  ich  wirklich 
nicht  mehr  als  Essen  und  Verdauen  und  auch  dies 
nur  ungern  gemeinsam  habe,  es  wagen  dürfen,  mir 
ihr  Mififaüen  an  meiner  »Richtungc  kundzutun  oder 

gr  zu  motivieren.  Es  schafft  blofi  auffenblickli<Ae 
leichterung,  wenn  ich  in  solchem  Pdl  sofort  das 
Abonnement  auf  die  ,FackeP  aufgebe  und  die  Ent- 
ziehung, so  weit  sie  möglich  ist,  durchführen  lasse. 
Deprimierend  bleibt  die  Zähigkeit,  mit  der  diese  Leute 
auf  ihrem  Recht  bestehen,  meine  Feder  als  die 
Dienerin  ihrer  Lebensauffassung  und  nicht  als  die 
Freundin  meiner  eigenen  zu  befrachten;  vernichtend 
wirkt  die  Hoffnung,  die  sie  noch  am  Grabe  ihrer 
Wünsche  aufpflanzen,  das  lästige  Zureden  ihrer  stoff- 
lichen Erwartungen.  Wie  weit  es  erst,  wie  uner- 
mefilich  weit  es  mich  all  den  Sachen  entrückt, 
die  zu  vertreten  oder  zu  zertreten  einst  mir 
inneres  Gebot  war,  ahnt  keiner.  Dem  Publikum 
gilt  die  Sache.  Ob  ich  mich  über  oder  unter 
die  Sache  gestellt  habe,  das  zu  beurteilen,  ist  kein 
Publikum  der  Erde  fähiff,  aber  wenn  es  ver- 
urteilt, dafi  ich  aufierhalb  der  Sache  stehe,  so  ist  es 
berechtigt,  schweigend  seine  Konsequenz   zu  ziehen. 


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Jl  — 


Dtf  ich  die  publiEisttsohe  Daseinsberechtigung  ver- 
lonn  habe,  ist  hoffentlich  der  Fall;  die  Form  perio- 
dischen Ehnscheinens  dient  bloß  meiner  Produktivität, 
die  mir  in  jedem  Monat  ein  Buch  schenkt.  Zieht  mir  der 
redaktionelle  Schein  dauernd  Mifiyerständni/Me  au,  bringt 
er  toir  Querulanten  ins  Haus  und  die  unerträglichen 
Scharen  jener,  denen  Unrecht  geschieht  und  denen 
ich  nicht  helfen  kann,  und  jener,  die  mir  Unrecht 
tun  und  ^nen  ich  nicht  helfen  will|  so  mache  ich 
ihm  üa  Ende.  Jetzt  ist  die  Zeit  zur  Aussprache  ge- 
kommen, aber  ich  bin  immer  noch  nachgiebig  genug, 
den  Laeem  die  Entscheidung  zu  überlassen.  Ich  be- 
trage Ihren  Appetit,  indem  ich  ihre  Erwartung,  Pikan- 
tes für  den  Nachtisch  zu  kriegen,  enttäusche  und 
ihnen  Gedanken  serviere,  die  der  Nachtruhe  gefährlich 
sind,  lilch  selbst  bedrückt  ihr  Alp;  denn  es  ist  nicht 
meine  Art,  ahnungslose  Qäste  zu  mißhandeln.  Aber 
sie  soUei  im  zehnten  Jahre  nicht  sagen,  dafi  sie  un- 
pwamt  hweingefallen  sind.  Wer  dann  noch  mit  dem 
Vorurteil  zu  mir  kommt,  dafi  ich  ein  Enthüller  stoff- 
licher Sensationen  sei,  dafi  ich  berufsmäfiig  die 
Decken  von  den  Häusern  hebe,  um  lichtscheue  Wahr- 
heiten oder  gar  nur  versteckte  Peinlichkeiten  empor- 
Buziehen,  der  hat  das  Kopfweh  seiner  eigenen  Un- 
vorsichtigkeit zuzuschreiben.  Ein  Teil  dieser  Leser 
will  die  Walu'heit  hören  um  ihrer  selbst  willen,  der 
andere  will  Opfer  bluten  sehen.  Das  Instinktleben 
beider  Grup).en  ist  plebejisch.  Aber  ich  täusche  sie, 
weil  meine  Farbe  rot  ist  und  mit  der  Verheifiuns; 
lockt,  zu  erzählen,  wie  sichs  ereignet  hat.  Dafi  ich 
heimlich  in  eine  Betrachtungsweise  abgeglitten  bin,  die 
als  das  einzige  Ereignis  gelten  läßt:  wie  Ichs  erzähle,  — 
das  ist  die  letzte  EnthüUung,  die  ich  meinen  Lesern 
schuldig  bin.  Ich  täuschte,  und  war  allemal  tief  be- 
troffen, allemal  wufite  ich,  dafi  ich  mir  dergleichen 
nicht  zugetraut  hätte,  aber  ich  blieb  dabei,  Aphoris- 
men zu  sagen,  wo  ich  Zustände  enthüllen  sollte.  So 
schmarotze  ich  nur  mehr  an  einem  alten  Renommee. 


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—  12 


Glaubt  einer;  daß  es  auf  die  Uauer  ein  angenehmes 
Bewußtsein  ist?  Nun,  ich  wollte  den  Lesern  helfen 
und  ihnen  den  Weg  zeigen,  der  sur  Bntschldigung 
für  den  Ausfall  an  Sensationen  führt.  Ich  wollte  sie 
EU  einem  Verständnis  für  die  Angelegenheiten  1er 
deutschen  Sprache  erziehen,  zu  jener  Höhe,  auf  der 
inan  das  geschriebene  Wort  als  die  natumotwenüge 
Verkörperung  des  Gedankens  und  nicht  bloß  als  die 
gesellschaftepflichtige  Hülle  der  Meinung  begreift 
Ich  wollte  sie  entjournalisieren.  Ich  riet  imien,  tieine 
Arbeiten  zweimal  zu  lesen,  damit  sie  auch  atwas 
davon  haben.  Sie  waren  entrüstet  und  sah#n  im 
nächsten  Heft  nur  nach,  ob  nicht  doch  etwas  gegen 
die  Zustände  bei  der  Länderbank  darin  stänte  .  .  . 
Nun  wollen  wir  sehen,  wie  lange  das  noch  weiter 
geht.  Ich  sage,  daß  der  einzige  öffentliche  Obelstand, 
den  noch  aufzudecken  sich  lohnt,  die  Dumnlieit  ist. 
Das  Publikum  wünscht  so  allgemeine  Themdn  nicht 
und  schickt  mir  Affären  ins  Haus.  Aber  yde  selten 
ist  es,  daß  das  Interesse  der  Skandalaicht  mit 
meinen  separatistischen  Bestrebungen  zusammentrifft! 
Wenns  einen  Fall  Riehl  gibt,  Verzeiht  mir  das  Publi- 
kum die  Gedanken,  die  ich  mir  dazu  mache,  und 
freut  sich,  daß  es  einen  Fall  Riehl  gibt.  Es  ist  ein 
schmerzliches  Gefühl,  eine  Wohltat  nicht  za  verdiene; 
aber  es  ist  geradezu  tragisch,  sein  eigener  Parasit 
zu  sein. 

Denn  das  ist  es  ja  eben,  daß  von  meinem 
Wachstum,  welches  die  Keihen  meiner  Anhänger  so 
stark  gelichtet  hat,  die  Zahl  meiner  Leser  im  Durch- 
schnitt nicht  berührt  wurde,  imd  daß  ich  zwar  kein 
guter  Geschäftsmann  bin,  so  lange  ich  die  ,Fackel' 
bewahre,  aber  gewiß  ein  schlechter,  wenn  ich  sie  im 
Überdruß  hinwerfe.  Und  weil  es  toll  ist,  auf  die 
Flucht  aus  der  Aktualität  Wiener  Zeitun^leser  mit- 
zunehmen, so  ist  es  anständig,  sie  zeitweise  vor  die 
Frage  zu  stellen,  ob  sie  sich  die  Sache  auch  gründ- 
lich überlegt  haben. 


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-  13 


In  Tabakgeschäften  neben  ^em  Kleinen  Witz- 
blatt liegen  zu  müssen  und  neben  all  dem  tristen 
Pack,  das  mit  talentlosen  Enthüllergebärden  auf 
den  Kunden  wartet,  es  wird  immer  härter  und  es  ist 
eine  Schmach  unseres  Geisteslebens,  an  der  icli  nicht 
allzulange  mehr  Teil  haben  möchte.  Um  den  wenigen, 
die  es  angeht,  zugänglich  zu  sein,  lohnt  es  nicht, 
sich  den  vielen  Suchern  der  Sensation  hinzugeben.  Im 
besten  Falle  dünke  ich  diesen  ein  Ästhet.  Denn  in  den 
allgemeinen,  gleichen  und  direkten  Schafsköpfen  ist 
jeder  ein  Ästhet,  der  nur  durch  staatlichen  Zwang 
zur  Ausübung  des  Wahlrechts  sich  herbeiläßt.  Der 
Ästhet  lebt  fern  von  der  Realität,  sie  aber  haben 
den  Schlüssel  zum  wahren  Leben;  denn  das  wahre 
Leben  besteht  im  Interesse  für  Landtagswahlreform, 
Streikbewegung  und  Handelsvertrag:.  So  sprechen  vor- 
züglich jene  Geister,  die  in  der  Politik  die  Viehtreiber 
von  St.  Marx  vorstellen.  Der  Unterschied :  dem  Ästhe- 
ten löst  sich  alles  in  eine  Linie  auf,  und  dem  Politiker 
in  eine  Fläche.  Ich  glaube,  dafi  das  nichtige  Spiel, 
welches  beide  treiben,  beide  gleich  weit  vom  Leben 
führt,  in  eine  Ferne,  in  der  sie  überhaupt  nicht 
mehr  in  Betracht  kommen,  der  Herr  Hugo  von  Hof- 
mannsthal und  der  Herr  Abgeordnete  Doleschal.  Bs 
ist  tragisch,  für  jene  Partei  reklamiert  zu  werden, 
wenn  man  von  dieser  nichts  wissen  will,  und  zu 
dieser  gehören  zu  müssen,  weil  man  jene  verachtet. 
Aus  der  Höhe  wahrer  Geistigkeit  aber  sieht  man  die 
Politik  nur  mehr  als  ästhetischen  Tand  und  die 
Orchidee  als  eine  Parteiblume.  Es  ist  derselbe  Mangel 
an  Persönlichkeit,  der  die  einen  treibt,  das  Leben  im 
Stoflfe,  und  die  anderen,  das  Leben  in  der  Form  zu 
suchen.  Ich  meine  es  anders  als  beide,  wenn  ich, 
fern  den  Tagen,  da  ich  in  äufieren  Kämpfen  lebte, 
fern  aber  auch  den  schönen  Künsten  des  Friedens,  mir 
heute  den  Gegner  nach  meinem  Pfeil  zurechtschnitze. 

Die  Realität  nicht  suchen  und  nicht  fliehen, 
sondern   erschaffen  und  im  Zerstören   erst  recht  er- 


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—  14 


schaffen:  wie  sollte  man  damit  Gehirne  beglücken, 
durch  deren  Windungen  zweimal  im  Tag  der  Mist 
der  Welt  gekehrt  wird?  Ober  nichts  fühlt  sich  das 
Publikum  erhabener  als  über  einen  Autor^  den  es 
nicht  versteht,  aber  Kommis,  die  sich  hinter  einer 
Budel  nicht  bewährt  hätten  oder  nicht  haben,  sind 
seine  Heiligen.  Den  Journalisten  nahm  ein  Qott, 
zu  leiden,  was  sie  sagen.  Mir  aber  wird  das  Recht 
bestritten  werden,  meiner  tiefsten  Verbitterimg  Worte 
zu  geben,  denn  nur  den  Stimmungen  des  Lesers  darf 
eine  Feder  dienen,  die  für  Leser  schreibt.  Meine  Leser 
sind  jene  Weifien,  die  einen  Neger  lynchen,  wenn 
er  etwas  Natürliches  getan  hat.  Ich  leiste  feier- 
lichen Verzicht  auf  die  Rasse  und  will  lieber  über- 
haupt nicht  gelesen  sein,  als  von  Leuten,  die  mich 
für  ihre  Rückständigkeit  verantwortlich  machen. 
Sie  ist  im  Fortschritt  begriffen:  wie  wird  es 
mir  ergehen?  Die  intellektuelle  Presse  macht  dem 
Schwachsinn  des  Philisters  Mut  und  erhebt  die 
Plattheit  zum  Ideale:  so  sind  die  Folgen  meiner 
Tätigkeit  unabsehbar.  Der  letzte  Tropf,  der  sich  am 
sausenden  Webstuhl  der  Zeit  zu  schaffen  macht, 
wird  mich  als  Müßiggänger  verachten.  Ich  wollte 
nach  Deutschland  gehen,  denn  wenn  man  unter  Öster- 
reichern lebt,  lernt  man  die  Deutschen  nicht  genü- 
gend hassen.  Ich  wollte  meine  Angstrufe  in  Deutsch- 
land ausstofien,  denn  in  Österreich  bezieht  man  sie 
am  Ende  auf  die  Kappen  und  nicht  auf  die  Köpfe.  Aber 
ein  satanischer  Trieb  verlockt  mich,  die  Entwicklung  der 
Dinge  hier  abzuwarten  und  auszuharren,  bis  der  grofte 
Tag  des  Zornes  kommt  und  die  tausend  Jahre  voll- 
endet sind.  Bis  der  Drache  losgelassen  ist  und  mir 
eine  Stimme  aus  den  Wolken  ruft:  »Flieg'n  m'r, 
Euer  Gnaden  ?c 

Karl  Kraus. 


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15 


The  harlot'a  house. 
Von  Oskar  Wilde. 

Im  Qlanz  der  Nacht  zu  uns  her  glitt 
tanzender  Füße  Takt  und  Tritt  — 
der  kam  aus  einem  Hurenhaus  — 

durch  Lärm  und  Lachen  klang  zerhackt 

ein  jauchzender  Dreivierteltakt: 

das  »Treue,  liebe  Herze  von  Strauss; 

und  gleich  phantastischen  Grotesken 
tanzten  in  tollen  Arabesken 
die  Schatten  über  die  Rouleaus. 

Wie  zu  des  Herbstwinds  Melodie 
die  schwarzen  Blätter  jagten  sie 
zu  Hörn  und  Geige  —  atemlos. 

Wie  grauenhafte  Automaten, 

die  Menschenantlitz  haben,  traten 

sie  Hand  in  Hand  an  zur  Quadrille  — 

sie  tanzten  steif  und  feierlich 
die  Sarabande  —  schauerlich 
war  ihr  Gelächter  —  dünn  und  schrill. 

Bin  süfies  Lied  klang  dann  und  wann  — 
und  manchmal  schien  es,  dafi  ein  Mann 
an  einer  Puppe  Brüsten  hing  — 

manchmal  trat  eine  Marionette 
heraus,  im  Mund  die  Zigarette 
und  schien  ganz  wie  ein  lebend  Ding. 


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—  16  — 


Ich  sprach  zu  meinem  Lieb:  Es  droht 

ein  Sturm  —  Staub  wirbelt  dort  —  der  Tod 

drückt  dort  den  Tod  an  seine  Brust, 

Doch  sie  —  sie  hörte  nur  das  Lied  — 
und  trat  ins  Tor,  das  jeder  flieht  — 
die  Liebe  in  das  Haus  der  Lust. 

Da  —  und  ein  Mißton  klang  durchs  Haus, 
das  Licht  verlosch,  der  Tanz  war  aus, 
kein  Schatten  huschte  mehr  im  Wind  — 

und  durch  die  stumme  StraSe  glitt 

mit  silberner  Sandalen  Schritt 

die  Dämmerung  —  wie  ein  scheues  Kind. 

Obersetzt  von  Felix  Orafe. 


Die  Malerischen.*) 

(Phantasien  einer  Italienreise.) 

Zwei  einander  feindliche  Prinzipe  bewegen  unser 
geistiges  Dasein:  der  Sinn  für  das  Malerische  und 
das  Qefalien  am  Nützlichen.  Ich  möchte  hundert 
gegen  eins  wetten,  daß  der  praktische  Mensch,  der 
sozusagen  im  Leben  steht,  also  der  Philister,  dem 
Malerischen  den  Vorzug  gibt,  während  der  Dichter 
sich's  am  Nützlichen  genügen  läßt  Denn  der  Dichter 


*)  Aus  dem  ,Simplicissinius'. 

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—  17 


braucht  die  freie  Bahn  des  äufieren  Lebens,  um  zu 
den  Wundern  zu  gelangen,  die  er  aus  sich  selbst 
holt.  Er  trägt  alle  Himmelssonnen  in  seinem  Herzen, 
imd  um  sie  recht  zu  geniefien,  braucht  er  nur  eine 
Lampe,  die  tadellos  funktioniert.  Dafi  es  Automobil- 
droschken gibt,  die  ihn  schnell  und  bequem  an  den 
Schreibtisch  bringen,  ist  ihm  wichtiger  als  das  Be- 
wußtsein, daß  im  Museum  seiner  Stadt  ein  Correggio 
hängt.  Dem  Philister  dagegen  ist  der  Correggio 
unentbehrlich,  selbst  wenn  er  etwa  nicht  in  der  Lage 
sein  sollte,  ihn  von  einem  echten  Enackfufi  zu 
unterscheiden.  Der  Philister  lebt  in  einer  Gegenwart, 
die  mit  Sehenswürdigkeiten  ausgestattet  ist,  der 
Kiinstler  strebt  in  eine  Vergangenheit,  eingerichtet 
mit  allem  Komfort  der  Neuzeit.  Jener  braucht  sich 
aus  den  Hindernissen  des  äufieren  Lebens  nichts  zu 
machen,  denn  er  hat  kein  inneres  Leben,  das  von 
ihnen  bedroht  würde.  Und  wenn  seine  dicke  Haut 
sie  dennoch  spürt,  so  bleibt  ihm  ja  ein  Trost:  die 
Kunst.  Sie  ist  dem  Philister  der  Aufputz  für  des 
Tages  Müh  und  Plage,  und  er  schnappt  nach  den 
Ornamenten,  wie  der  Hund  nach  der  Wurst.  Die 
Hindernisse  des  äufieren  Lebens  versöhnen  ihn 
durch  ihren  malerischen  Anstrich.  Ich  empfinde  die 
Peitsche  eines  italienischen  Kutschers,  deren  Schall 
das  Angebot  seiner  »Oarrozzac  verstärken  soll,  als 
wahre  Gottesgeifiel.  Ich  möchte  mich  loskaufen  von 
der  Pein,  mit  der  der  öde  Wille  eines  inferioren 
Nebenmenschen  in  meine  geistigen  Kreise  dringt. 
Meinetwegen  könnte  die  Taxe  überschritten  wer- 
den,  die  man  dafür  erlegen  darf,  dafi  man  nicht 
zum  Fahren  aufgefordert  wird.  Auch  empfinde  ich 
die  Herrschaft,  die  die  italienischen  Kinder  über  die 
Strafie  ausüben,  als  unerträgliche  Tyrannis,  wiewohl 
sich  die  künftige  Kutschergeneration  damit  begnügt, 
nach  einer  Zigarette  zu  verlangen,  wenn  ein  Vul^n 
raucht  oder  mindestens  der  Kopf  des  Betrachters. 
Alle  diese  Hindernisse  sind  aber  im  höchsten  Grade 

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—  16  — 


malerisch  und  danach  angetan,  das  Herz  des  sächsi- 
schen Vergnügungsreisenden  zu  erfreuen,  dem  getrost 
die  Bettelkinder  über  die  Gedanken  laufen  mögen, 
wenn  ihm  nur  nicht  die  malerischen  Fliegen  über 
die  Makkaroni  laufen.  Ich  hätte  mir  den  Oolf  von 
Neapel  schöner  vorstellen  können,  als  er  ist,  und 
ohne  die  störenden  Begleitumstände,  die  mir  dort 
unten  die  Hauptsache  verderben  mußten.  Aber  ich 
war  gereist,  um  noch  unbekannte  Quellen  der  Ent- 
täuschung kennen  zu  lernen,  und  kehre  befriedigt 
heim.  Man  hofft,  es  werde  gehen,  wenn  man  die 
Sprache  des  Landes  nicht  versteht,  eine  Zeitlang 
hilft  es,  aber  sobald  die  Menschen  merken,  dafi 
man  auf  den  Lebensgenuß  ausgeht  und  auf  das 
Glück  der  Ruhe,  dann  liest  man  es  von  allen  Mienen 
geläufig:  lasciate  ogni  speranza. 

Was  zurückbleibt,  ist  das  Malerische.  Man  ist  auf 
die  blaue  Grotte  angewiesen.  Kann  aber  eine  Sehens- 
würdigkeit auch  täuschender  nach  einer  bekannten 
Ansichtskarte  hergestellt  werden  ?  Von  diesen  Wänden 
tropft  das  Staunen  sächsischer  Reisender,  und  weil 
dieses  Blau  im  Laufe  der  Zeit  ein  etwas  kitschiges 
Genre  geworden  ist,  darum  bohrt  der  Bootsmann 
gleich  bei  der  Einfahrt  in  seiner  Nase,  um  der 
Sache  wieder  einen  aparteren  Anstrich  zu  geben. 
Aber  was  hilft's?  Irgendwo  hat  sich  ein  Echo  ver- 
fangen, das  Herrjesäsl  ruft,  auch  wenn  man  auf 
einsamem  Kahn  schweigend  dahingleitet,  in  Gottes 
Wunder  versunken,  bis  der  Bootsmann  wieder 
den  Ausweg  gefunden  hat . . .  Übrigens  hatte  ich 
Deutschland  gerade  damals  verlassen,  als  die  Nach- 
richt kam,  daß  ein  paar  hundert  von  jenen  Leuten, 
die  sonst  in  der  blauen  Grotte  schwelgen,  der  Hin- 
richtung der  Grete  Beier  beigewohnt  hatten.  Oh  über 
den  Sinn  für  das  Malerische  I  Der  Unterschied  lag 
nur  in  der  Kleidung  des  Betrachters.  Für  die  Hin- 
richtung der  Grete  Beier  war  ausdrücklich  Frack 
oder    Gehrock    vorgeschrieben,    während    die    blaue 


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—  19  — 


Grotte  auch  im  Lodenanzug  besucht  werden  kann. 
Aber  wer  wird  auf  Aufierlichkeiten  halten?  Die 
Hauptsache  ist,  dafi  in  beiden  Fällen  ein  ehrliches 
Jägersches  Normalhemd  daruutersteckt.  Als  der  Kopf 
eiiies  Mädchens  fiel,  rief  ein  vereinsamtes  Echo 
Herrjesäsl  . . . 

Ein  Psychiater  jedoch  war  anderer  Meinung 
und  sagte,  um  solche  Exemplare  des  homo  sapiens 
wie  Qrete  Beier  sei  es  nicht  schade,  denn  sie  sei 
stark  messalinisch  veranlagt  gewesen  und  auch  ihre 
Reue  habe  keinen  inneren  ethischen  Wert  e:ehabt. 
Der  stark  neronisch  veranlagte  Psychiater  bedauerte 
später,  dafi  seine  private  Äulerung  durch  alle  Blätter 
Deutschlands  kursiert  habe.  Aber  diese  Reue  hatte 
keinen  inneren  ethischen  Wert  und  selbst  die  Gegner  der 
Todesstrafe  an  Psychiatern  meinten,  dafi  es  um  solche 
Exemplare  des  homo  sapiens  nicht  schade  wäre.  Mir 
ist  so  unerbittliche  Nüchternheit  wenig  sympathisch 
und  darum  sage  ich :  Lafit  sie  gehen,  die  Psychiater, 
sie  sind  zwar  nicht  nützlich,  aber  malerisch. 

Sie  gehören  zu  den  vielen  Berufen  des  modernen 
Lebens,  die  unter  solchem  Zwiespalt  der  Bestimmung 
genug  zu  leiden  haben.  Aber  zu  einem  wahrhaft  tragi- 
schen Konflikt  verschärft  er  sich  in  den  Hotelportiers, 
die  zwischen  der  Müfiigkeit  ihres  Amtes  und  der  Be- 
deutung ihres  Kleides  zu  keiner  wahren  Daseinsfreude 
gelangen.  Es  ist  nur  ein  Beispiel  von  den  vielen,  gewifi 
nicht  so  geläufig  wie  etwa  das  der  Staatsanwälte,  aber 
gerade  deshalb  um  so  bemerkenswerter.  Allen  diesen 
Berufen  ist  gemeinsam,  dafi  der  Anblick  des  Repräsen- 
tanten das  Auge  erfreut,  aber  dafi  seine  Tätigkeit  nicht 
im  eigentlichen  Sinne  des  Wortes  als  nutzbringend 
gedacht  werden  kann.  Der  Hotelportier  ist  eine 
Person,  die  namentlich  auf  Reisen  stört.  Er  schiebt 
sich  zwil^chen  den  Reisenden  und  die  Eindrücke, 
ohne  aber  vermittelnd  zu  wirken.  Im  Gegenteil 
entzweit  er  beide  Teile  selbst  dort,  wo  sie  aufeinander 
geradezu  angewiesen  sind.    Indem  er   sich  wie  der 


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20  — 


leibhaftige  Vertreter  des  Herrn  Cook  gebärdet  — 
jener  sagenhaften  Persönlichkeit,  unter  der  man  sich 
etwa  einen  Columbus  von  fünf  Weltteilen  vorstellen 
mag  — ,  dirigiert  er  die  Passagiere  immer  dorthin, 
wohin  sie  eigentlich  nicht  gelangen  wollten.  Ich 
kann  und  will  es  nicht  sagen,  in  wie  viel  unrechte 
Züge  ich  auf  den  Rat  der  Portiers  gestiegen  bin, 
denen  ich  auf  meinen  Reisen  su  begegnen  das  Glück 
hatte.  Was  den  Hotelportier,  der  auf  der  Höhe  der 
Situation  steht,  vor  allem  auszeichnet,  das  ist  die  Prä- 
zision der  falschen  Auskunft.  An  der  Hand  des 
Kursbuches  und  mit  den  Worten:  >Das  werden 
wir  gleich  haben  I<  schickt  er  den  Mann,  der  nach 
Mailand  wollte,  unfehlbar  nach  Brindisi.  Oder  er 
würde  auf  die  Frage,  ob  man  den  Seeweg  nehmen 
könne,  wenn  man  von  Berlin  nach  Frankfurt  wolle, 
gelassen  antworten :  »Ja,  das  könn'  Sie  machen  U  und 
während  dessen  geistesgegenwärtig  einem  andern  Neu- 
gierigen aus  dem  Strafienplan  nachweisen,  daß  er 
von  der  Friedrichstrafie  nicht  direkt  unter  die  Lin- 
den kommen  könne.  Ein  Hotelportier  mufi  eben  alles 
zu  gleicher  Zeit  im  Kopfe  haben*  Man  versuche  es 
aber  einmal,  ihn  nach  der  Beschaffenheit  eines  See- 
bades zu  fragen.  Wer  sich  erst  in  Kopenhagen  ent- 
scheidet, dem  wird  das  Nordseebad  Fanö  wegen 
seines  Waldreichtums  und  die  seeländische  Küste 
wegen  ihres  Strandes  empfohlen  werden.  Wer  frei- 
lich eingesehen  hat,  dafi  er  auf  Reisen  von  den 
Hotelportiers  nichts  profitieren  kann,  erliegt  nur  au 
leicht  der  Versuchung,  ihnen  selbst  etwas  von  den 
Erfahrungen  mitzuteilen,  die  er  schlecht  und  recht 
auf  eigene  Faust  sich  erworben  hat.  Aber  er 
säet  auf  steinigem  Boden.  Enttäuscht  zieht  er  sich 
aus  der  Portierloge  zurück  und  erkennt  die  Nichtig- 
keit menschlichen  Mühens.  Wahrlich,  wemi  Hotel- 
portiers nicht  blofi  einen  dekorativen  Zweck  haben 
sollten,  so  sind  es  scherzhafte  Apparate  zur  Irre- 
führung   des    Publikums.   Sicher    weifi  man  es  aber 


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-  21  — 


nicht.  Das  ist  es  eben.  Man  mOohte  gern  das  Gegen- 
teil Ton  dem  tun,  was  sie  einem  raten,  aber  leider 
ist  auch  auf  diesen  Weg  kein  Verlaft.  Denn  es  kann 
vorkommen,  dafl  ein  Hotelportier  irrtümlich  eine  richtige 
Auskunft  gibt»  und  dann  steht  man  da.  Oh,  es  wird 
sich  einmal  herausstellen,  daft  diese  Männer  in  den 
Portierlogen  geboren  und  gleich  Kant  nie  aus  ihrem 
Geburtsort  herausgekommen  sind.  Wie  hätten  sie 
auch  mit  ihren  geringen  Kenntnissen  vom  Eisen- 
bahnwesen die  Reise  in  die  Städte  machen  können, 
in  deren  Hotels  sie  heute  ihre  eigenartige  Tätigkeit 
entfalten  ?  Sie  sind  schon  auf  dem  Standpunkt  gebo- 
ren, auf  den  unsereins  erst  nach  den  mannigfachen 
Ärgernissen  imd  Enttäuschungen  gelangt :  es  sei  viel 
schöner,  sich  das  Reisen  vorsustelTen. 

Und  mufi  man  denn  wirklich  erst  reisen,  tun  2U 
erfahren,  daft  es  so  viele  Berufe  gibt,  deren  Nützlichkeit 
mit  ihrer  koloristischen  Wirkung  nicht  gleichen  Schritt 
zu  halten  vermag?  Kontrollore  zum  Beispiel  gibt  es 
auch  auf  der  Straftenbahn.  Sie  unterscheiden  sich 
von  den  Kondukteuren  dadurch,  daft  sie  Handschuhe 
tragen,  aber  während  die  Kondukteure  die  Karten 
immerhin  abzwicken,  schauen  sie  sie  bloft  an.  Wozu 
gibt  es  Kontrollore  ?  Der  Kellner,  dem  man  die  Hotel- 
rechnung bezahlt,  ist  gewift  ganz  besonders  rätsel- 
haft. Aber  hat  man  denn  das  Geheimnis  jener  Per- 
sonen ergründet,  die  in  unseren  ureigenen  Stamm- 
lokalen für  nichts  anderes  entlohnt  werden,  als  dafür, 
daft  sie  das  Geld  bekommen?  Sie  sind  in  hohem  Grade 
malerisch.  Und  hat  man  sich  schon  einmal  gefragt, 
was  die  sonderbaren  Männer  zu  bedeuten  haben,  die 
in  einem  Kaffeehaus  oder  Restaurant  plötzlich  vor 
uns  hintreten  und  sich  stumm  verbeugen  ?  Mit  großer 
Mühe  ist  es  mir  gelungen,  herauszubringen,  daß 
es  die  Besitzer  sind.  Aber  diese  Erschließung  hatte 
mit  so  vielen  anderen  tatsächlichen  Wahrheiten  ge- 
meinsam, daft  sie  mich  nicht  befriedigte.  Es  war 
damit  noch  nicht  aufgeklärt,  welche  Bedeutung   die 


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22  — 


Pantomime  jener  Männer  hat.  Denn  dafi  sie  uns 
nichts  nützte  dafi  sie  uns  ssur  Unterbrechung  unserer 
Lektüre,  unserer  Gespräche,  unseres  Nachdenkens 
zwingt,  liegt  auf  der  Hand«  Dieser  Qrufi  nötigt  uns  so- 
gar zu  einem  Gegengrufi,  wir  sind  also  gezwungen, 
eine  Unfreundlichkeit  mit  einer  Freundlichkeit  zu 
erwidern.  Ich  kannte  einen  Oaf^tier,  der  täglich  mit 
einem  B]ick  vor  mich  hintrat,  gegen  den  das  ave 
Caesar,  morituri  te  salutant  eine  leere  Versprechung 
war.  Ob  nun  darin  blofi  eine  unzerstörbare  Br- 
gebenheit  oder  auch  der  stille  Vorwurf  lag,  dafi  das 
Geschäft  nicht  zum  besten  gehe,  nie  vergesse  ich 
diesen  Blick  eines  verendenden  Kaffeesieders.  Wie 
anders  wirkt  der  Hotelier  einer  Sommerfrische 
auf  mich  ein,  dessen  Stummheit  weltmännisches  Ge- 
haben bedeutete,  ohne  dafi  ich  mir  freilich  zu  erklä- 
ren wufite,  warum  es  gerade  vor  mir  prodiiziert 
werde.  Als  ich  mich  aber  einmal  zu  der  unvorsich- 
tigen Bemerkung  hinreifien  liefi,  dafi  das  Rindfleisch 
gut  sei,  vernahm  ich  diese  Ansprache:  »Es  ist  erfreu- 
lich, ein  solches  Lob  aus  so  kompetentem  Munde  zu 
hören,  und  soll  dies  uns  ein  Ansporn  sein,  nicht  zu 
erlahmen,  sondern  unerschrocken  auf  dem  einmal  betre- 
tenen Wege  fortzufahren,  c  Er  ist  also  Peuerwehr- 
obmann,  sagte  ich  mir,  und  die  Perspektive  in  ein 
winterliches  Leben  tat  sich  vor  mir  auf,  wo  es  keine 
Kurgäste  mehr  gibt  und  das  zurückgehaltene  Deutsch- 
tum wieder  in  seine  Rechte  tritt . . .  Ach,  ich  habe  oft 
den  Nutzen  der  Restaurants  und  der  Kaffeehäuser 
gewürdigt,  nie  aber  ist  es  mir  klar  geworden,  wel- 
chen Zweck  die  Restaurateure  und  die  Cafötiers 
haben. 

Wenn  mir  aber  unter  den  idealen  Berufen 
einer  aufstiefi,  mit  dem  ich  mich  um  keinen  Preis 
ausgesöhnt  hätte,  so  war  es  der  des  Kapitäns  auf  unse- 
ren kleinen  Alpenseedampfern,  wiewohl  gerade  dieser 
sich  durch  besondere  Farbenpracht  auszeichnet.  Seit- 
dem ich   einmal  einen  dieser  beherzten  Leute    dabei 


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—  28 


ertappt  habe,  wie  er  sich  Wettergebräuntheit  an- 
schminkte, hat  auch  die  Befehlshabergeste,  mit  der 
sie  den  einen  Mann  an  Bord  zu  rufen  pflegen,  ihren 
Reis  für  mich  verloren.  Sind  alte  Theerjacken,  gewifi ; 
aber  mehr  Kostüm  als  Inhalt.  Die  Welt  ist  eine  Kinder- 
stube,  und  neben  dem  andern  Spielzeug,  das  eine 
schöne  Uniform  hat,  gehören  auch  sie  hinein.  Es 
soll  die  reisenden  Sachsen  verblüffen,  und  für  die 
gibt  es  die  vielen  bunten  Dinge,  die  so  unnütz  sind. 
Für  die  gibt  es  Italien,  das  malerisch  ist  von  oben 
bis  unten.  Auf  allgemeines  Verlangen  entschließe 
ich  mich  endlich  eine  Oarrozza  zu  besteigen.  Wenn 
die  arme  Mähre  überhaupt  nicht  mehr  will,  ruft  der 
Kutscher  im  Tone  der  äußersten  Bewunderung :  Ah  I 
Es  ist  aber  auch  im  höchsten  Grade  malerisch.  Je 
schwieriger,  je  holperiger,  umso  malerischer  wird  es. 
Auf  dem  Weg  des  Lebens  ergeben  sich  Hinder- 
nisse. Und  immer  mehr  Menschen  nehmen  auf 
dem  Kutschbock  Platz,  immer  mehr  Hadernballen 
sollen  aufgeladen  werden,  und  hinten  hängen  die 
lieben  Kleinen,  die  nichts  weiter  wollen  als  eine 
Zigarette.  Und  so  oft  oben  einer  aufsitzt,  meint  der 
Kutscher  entschuldigend :  mio  fratello  I  Das  schlägt 
alle  Einwände,  besiegt  alle  Hindernisse  des  Lebens. 
Immer  wieder  sitzt  mio  fratello  oben  auf.  Die  Familie 
mufi  sehr  zahlreich  sein;  sie  riecht  nicht  gut,  aber 
sie  ist  maleriflch. 

Karl  Kraus. 


Bntwickliing.*) 

Kürzlich  las  ich  einen  Vorschlag  zur  Ab- 
haffung  der  deutschen  Satire.  Hätte  ein  Greisler 
chgewiesen,  dafi  auch  der  gesalzene  Kaviar  keine 
dksnahrung  sei,  ich  wär's  zufrieden  gewesen.  Aber 

^  Aas  dem  ,Simpticissimus'. 

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~  24  — 


er  sagte,  das  Volk  verlange  bessere  Nahrung.  Die 
Satire  auf  yaterländische  Übel  habe  sich  überlebt, 
denn  das  Vaterland  habe  kein  Obel  mehr.  Die  bösen 
Zeiten  der  kulturellen  Zerrissenheit  seien  yorüber  und 
seit  genau  fünf  Jahren  sei  die  Entwicklung  abgeschlos- 
sen. Und  da  es  keinen  Schwindel  und  keine  HUBlichkeit 
mehr  gibt,  so  ist  auch  kein  ersichtlicher  Orund  für 
die  geringste  satirische  Anstrengung  vorhanden.  Also 
ein  Vorschlag  zur  Güte,  der  annehmbar  wäre,  wenn 
er  nicht  selbst  die  Satire  auf  ein  noch  wenig  be- 
bautes Feld  verwiese,  nämlich  auf  die  Dummheit. 

Was  ich  einmal  fürs  Leben  gern  möchte,  das 
ist,  einer  sogenannten  »Entwicklunge  beiwohnen. 
Ich  war  schon  dabei,  wie  Gerüchte  entstanden,  ich 
habe  die  Ausbreitung  mancher  Epidemie  aus  nächster 
Nähe  miterlebt,  aber  das,  was  man  eine  Entwicklung 
nennt,  habe  ich  noch  nie  mit  eigenen  Aueen  ge- 
sehen. Nicht  einmal  die  Entwicklung  eines  ^ndes, 
geschweige  denn  die  eines  Volkes.  Wenn  ich  nach 
fünf  Jahren  in  eiu  Familienhaus  kam,  so  war  es  wohl 
nicht  zu  verkennen,  daft  der  kleine  Rudolf  inzwischen 
gewachsen  war,  aber  ich  fragte  mich  sogleich,  ob 
mir  der  Unterschied  zwischen  einst  und  jetzt  auch 
aufgefallen  wäre,  wenn  ich  die  ganze  Zeit  dabei  ge- 
standen, meine  Hand  auf  seinem  Kopfe  gehalten  oder 
wenigstens  jeden  Morgen  nachgesehen  hätte,  ob  er 
gröfier  geworden  sei.  Ich  glaube,  um  eine  Entwick- 
lung recht  zu  genießen,  mufi  man  sich  von  ihr  über- 
raschen lassen.  Aber  fünf  Jahre  im  Leben  eines 
Volkes  sind  vielleicht  nicht  einmal  so  viel  wie  ein 
Tag  im  Leben  eines  Eandes,  und  wenn  man  dort 
alle  fünf  Jahre  nachsieht,  so  fällt  einem  keine  Ver- 
änderung auf.  Die  Fähigkeit,  eine  Entwicklung  zu 
übersehen,  wächst  mit  der  Entfernung,  in  der  man 
von  ihr  steht,  und  nur  dem  sogenannten  >historischen 
Sinne  ist  es  gegeben,  sie  aus  unmittelbarer  Nähe 
aufzuspüren.  Der  historische  Sinn  ist  aber  eine  Eigen- 
schaft, die  man  gerade  beiden  jüngeren  Zeitgenossen 

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—  25  — 


antrifft,  weil  für  sie  jede  Erfahrung  den  Reiz  des 
Ungewohnten  hat,  jedes  zeitliche  Erlebnis  zum  Er- 
eignis wird  und  jeder  Qlockenschlag  eine  Ewigkeit 
einläntet.  Qewifi  wäre  der  kleine  Rudolf,  von  dessen 
Entwicklung  ich  mir  erst  Rechenschaft  geben  kann, 
wenn  sie  abgeschlossen  sein  wird,  schon  jetzt  im- 
stande, die  Entwicklung  des  deutschen  Volkes  von 
gestern  auf  heute  festzustellen.  Die  Häufigkeit  dieser  Er- 
scheinung ist  selbst  wieder  eine  Tatsache  der  kulturellen 
Entwicklung,  die  man  nicht  übersehen  darf.  Denn  seit- 
dem die  Zeitgeschichte  täglich  zweimal  erscheint, 
ist  jeder  in  die  Lage  versetzt,  Phrasen  zu  gebrauchen, 
die  sonst  erst  nach  einem  Jahrhundert  in  der  Leute 
Mund  kämen.  So  kann  einer  zum  Beispiel  behaupten, 
die  deutsche  Nation  sei  bis  vor  fünf  Jahren  in  der 
Umbildung  begriffen  gewesen,  seit  damals  aber  habe 
sie  pünktlich  die  Verpflichtung  erfüllt,  eine  »aus 
heterogensten  Ständen  plö/^zlich  nach  aufien  eins- 
gewordene Qemeinschaft  innerlich  zur  homogenen 
Kasse  zu  verarbeiten«.  Wer  sollte  leugnen,  dafi 
dies  ein  Ziel  sei,  aufs  innigste  zu  wünschen? 
Wer  außer  den  Satirikern  ist  so  blind,  nicht  zu  sehen, 
dafi  es  über  Nacht  erreicht  wurde?  Jene  glauben 
noch  immer,  an  der  Tafel  einer  Kultur  zu  sitzen,  in 
deren  Hause  Prahlhans  Küchenmeister  ist.  Wie 
Petron  vom  Gastmahl  des  Trimalchio  sagt:  »Nun 
folgte  ein  Gang,  welcher  unserer  Erwartung  nicht 
entsprach,  doch  zog  er  durch  seine  Neuheit  aller 
Augen  auf  sich«,  so  sehen  sie  Wunder  über  Wunder, 
und  sind  unzufrieden.  Ein  »Mischmasch  von  einem 
Spanferkel  und  anderem  Fleische«,  »ein  Hase  mit 
Flügeln,  damit  er  dem  Pegasus  gleiche«,  und  »in 
den  Eicken  des  Aufsatzes  vier  Faune,  aus  deren 
Schläuchen  Brühe  auf  die  Fische  herunterfließt,  die 
in  einem  Meeresstrudel  schwimmen«.  Zum  Lob  der 
Brühe  singt  ein  ägyptischer  Sklave  mit  abscheulicher 
Stimme  ein  Liedchen.  Aber  die  satirischen  Gäste 
finden  sie  trotzdem  nicht  schmackhaft  und  erdreisten 


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26  — 


sich;  all  ihr  Salz  hineinzuschütten.  Und  nachdem  sie 
sich  noch  an  der  protzigen  Aufschrift  des  hundert- 
jährigen Falerners  berauscht  haben,  träumen  sie 
diesen  Traum: 

Die  Entwicklung  ist  eine  0.  m.  b.  H.,  das 
Schicksal  ist  ein  Kaufhaus  des  Westens,  das 
Leben  ist  eine  Stehbierhalle.  Um  die  Seele  des 
Menschen  ringen  Wertheim  und  Tietz.  Zweimal  täg- 
lich löst  eine  Generation  die  andere  ab,  aber  die 
Zeitrechnung  beginnt  mit  der  Einführung  der  ortho- 
zentrischen  Kneifer,  der  Reformglücksehe  und  der 
Eröffnung  der  Halenseer  Terrassen.  Alles,  was  Torher 
geschah,  hat  nur  dazu  gedient,  die  sogenannte  Ent- 
wicklung vorzubereiten,  wenn  es  sich  nicht  etwa 
zum  Beweise  der  Homosexualität  des  Fürsten  Eulen- 
burg heranziehen  läßt.  Nicht  nur  die  Geschichte, 
auch  die  Bibelforschung  hat  wertvolles  Material 
geliefert,  aus  dem  klar  hervorgeht,  wie  seit  Er- 
schaffung der  Welt  alles  auf  eine  Entwicklung 
hingearbeitet  hat,  die  erst  jetzt  abgeschlossen  vor 
uns  liegt.  Schon  die  Häufigkeit  der  Bemerkung  >Und 
der  Herr  spräche  scheint  darauf  hinzudeuten.  >Und 
der  Herr  sprach:  Es  ist  ein  Geschrei  zu  Sodom,  das 
ist  groß  und  ihre  Sünden  sind  schwer  ...  Da  ließ 
der  Herr  Schwefel  regnen  auf  Sodom  . .  .<  Merkwür- 
dig ist  auch  der  Hinweis  auf  die  Affäre  von  Loths 
Töchtern :  »Also  gaben  sie  ihrem  Vater  Wein  zu 
trinken  in  dieser  Nacht . . .  Und  sie  wurden  schwan- 
ger von  ihrem  Vater.  Und  die  älteste  gebar  einen 
Sohn,  den  nannte  ^e  Moab.  Von  dem  kommen  her  die 
Moabiter,  bis  auf  den  heutigen  Tage.  Und  dann  war 
wieder  eine  Leiter  da,  >die  stand  auf  Erden  und  rührete 
mit  der  Spitze  an  den  Himmel,  und  siehe,  die  Engel 
des  Herrn  stiegen  daran  auf  und  niedere,  denn  es  waren 
Flügeladjutanten  Gottes  . . .  Hier  verläßt  der  Traum 
die  logische  Linie  und  ist  plötzlich  an  dem  Punkt, 
wo  die  eigentliche  Entwicklung  ansetzt.  Es  braust 
ein  Ruf  wie  Donnerhall: 


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—  27 


Pauline,  au  au,  au  au,  au  au 
Wie  haben  sie  dir  veriiaun  I 

Fünf  Jahre  später  schon  ist  der  Spieß  umgekehrt: 

Und  er  rief:  Geliebte  Krause  —  immer  mit  der  Hand  lang 
Machen  Se  doch  'ne  kleine  Pause  —  immer  mit  der  Hand  langl 

Die  Entwicklung  ist  im  Zuge,  wir  wissen,  wie 
vieFs  geschlagen  hat.  Zuerst  hiefi  es  blofi:  Wir 
Deutsche  fürchten  Gott,  aber  sonst  nichts  in  der  Weltl 
Bald  aber  wird  schüchtern  hinzugesetzt:  Und  höch- 
stens noch  die  strengen  Masseusen  I  Ea  ist  nicht 
schimpflich,  sich  im  Frieden  schlagen  zu  lassen,  und 
kriegerische  Tüchtigkeit  steht  nach  wie  vor  in 
hohem  Ansehen.  Aber  die  Zeiten  haben  sich  geän- 
dert. Früher  versicherte  die  Schangsonette : 

Ja,  so  ein  Leudenant,  so  fesch  und  sauber. 
Wirkt  auf  ein  Mädchenherz  als  wie  ein  Zauber. 

Jetzt  singt  zwar  noch  immer  eine  ganze  Kom- 
pagnie : 

Ja,  wir  sind  doch  'ne  eigne  Rasse, 
Zivil  ist  ganz  'ne  faule  Klasse  I 

Aber  die  es  singen,  sind  uniformierte  Mädchen . . . 
Die  Satiriker  träumen  weiter.  Von  einer  Politik,  die 
durch  eine  eifrige  Ausnützung  der  Verkehrsmittel,  wie 
Post  und  Telegraph,  sich  in  der  ganzen  Welt  Gel- 
tung verschafft,  da  man  einsehen  gelernt  hat,  dafi 
das  gesprochene  Wort  nicht  ausreicht.  Von  einer 
Justiz,  die  den  Tod  eines  Angeklagten  für  keinen 
Vertagungsgrund  hält,  von  einem  Lauf  der  Gerech- 
tigkeit, bei  dem  zuerst  sie  vor  den  Fürsten  und 
dann  die  Fürsten  vor  ihr  ohnmächtig  werden,  und  über- 
haupt von  all  den  Dingen,  die  man  Schmutzereien  nennt. 
Der  Schlaf  der  Satiriker  wird  unruhig,  aber  sie  haben 
nichts  zu  fürchten,  denn  zu  ihren  Häupten  stehen 
die  Schutzmänner  Michael  und  Gabriel.  Sie  träumen 
von  einer  Welt  der  Speisehäuser,  deren  Portiers  auf 
die  Frage,  was  die  Göttinnen  im  Stiegenraum  mit 
der  Verdauung  zu  tun  haben,  prompt  die  Auskunft 
geben:   Herr,  das    hat   doch    den    Zweck,  um    dem 


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—  28 


Schönheitssinne  Rechnung  zu  tragen  I . . .  Die  Satiriker 
wälzen  sich  auf  ihrem  Lager.  Da  sehen  sie  Böcklins 
Toteninsei  mit  allem  Komfort  der  Neuzeit  ausgestat- 
tet Es  ist  erreicht.  Die  Entwicklung  ist  soeben  auf 
ihrem  Höhepunkt  angelangt,  die  Nation  zur  homo- 
genen Rasse  verarbeitet.  Und  fünfundzwanzig  Jahre  hat 
es  gebraucht,  bis  das  Volk  in  den  Besitz  der  unent- 
behrlichsten Schmutzereien  gelangte,  und  nur  fünf, 
bis  es  die  Kultur  bekam . . .  Die  Satiriker  erwachen. 
Die  Polizeihunde  Edith  und  Ruß  bellten  so  laut. 

Karl  Kraus. 


Zur  Selbsthilfe. 

In  den  Sommertagen  hat  sich  die  reichsdeutsche 
Publizistik  des  öfteren  mit  mir  befafit.  Ein  sehr  gründ- 
liches Harden-Lexikon,  das  ich  im  zweiten  September- 
Heft  des  ,März^  veröffentlicht  habe,  ging  durch  die 
ganze  deutsche  Presse.  Ich  hatte  einen  Franz  Moor- 
Monolog  gehalten  über  die  Frage,  welches  Mittel 
wohl  am  sichersten  töten  würde.  >Ein  Licht  aus- 
geblasen, das  ohnehin  nur  mit  den  letzten  Oltropfen 
noch  wuchert  —  mehr  ists  nicht.«  Ich  fragte  mich: 
»Welche  Gattung  von  Empfindnissen  ich  werde  wählen 
müssen?  Welche  wohl  den  Flor  des  Lebens  am 
grimmigsten  anfeinden?«  Zorn,  Schreck,  Gram, 
Jammer  —  alles  hatte  ich  schon  versucht.  Aber  die 
deutsche  Dummheit  ist  eine  verläfiliche  Stütze.  So 
komm  denn  du  mir  zu  Hilfe,  blühende  ,ZukunfV, 
halte  ihm  in  deinem  Spiegel  das  Bild  seines  Geistes 

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vor .  .  •  So  fall'  ich,  Streich  auf  Streich,  Sturm  auf 
Sturm,  dieses  zerbrechliche  Leben  an,  bis  den  Furien- 
trupp zuletzt  schliefit  —  die  Obersetzunel 

Daft  der  Mann  die  Charit  ähaft  des  Fürsten 
Eulenburg  nicht  überstehen  werde,  dafür  schienen 
manche  Zeichen  zu  sprechen.  Der  Wind  hat  sich 
gedreht,  das  Ollämpchen  ist  im  Verlöschen.  Wäre 
ich  in  Deutschland,  es  brennte  längst  nicht  mehr. 
Was  ich  noch  besorgen  will,  ist  die  Pflicht,  allen  den 
deutschen  Dichtern,  Denkern  und  Wissensfürsten  ins 
Gesicht  zu  treten,  die  ich  auf  den  Spuren  dieses 
Genius  antreffe.  Wer  immer  die  deutsche  Kultur  in 
jenen  dunklen  Spalten  sucht,  in  denen  Herr  Maximilian 
Harden  sie  vertritt,  kann  versichert  sein,  dafi  ich  ihm 
seine  schadhafte  Reputation  wieder  zurechtsetzen 
werde.  Gefolgsmann  des  Helden  zu  sein,  der  in  einer 
anonymen  Korrespondenz  den  gemeinsten  Päderasten« 
klatsch  ablagern  läfit,  ehe  er  ihn  in  seine  Kultur- 
revue  aufnimmt,  soll  manchem  teuer  zu  stehen  kommen. 
Und  mich  wird  keine  politische  Rücksicht  davon  ab- 
halten, den  Prozeft  Harden  zu  seinem  Ende  zu 
führen. 

Schon  vor  der  Zitierung  des  Lexikons  ist  mir 
manche  Zustimmung  aus  dem  publizistischen  Jenseits 
zuteil  geworden.  Die  ,Königsberger  Hartungsche 
ZeitungS  Deutschlands  ältestes  Blatt,  brachte  am  17. 
Juli  diesen  Artikel: 

Kraus  und  Harden. 

Der  Wiener  Schriftsteller  Karl  Kraus  hat  seit  einigen  Wochen 
einen  scharfen  Kampf  gegen  Maximilian  Harden  unternommen.  Er  ist 
bestrebt,  Herrn  Harden,  von  dem  während  des  Feldzuges  Moltke-Eulen- 
bürg  viele  Flitter  seines  Tagesruhmes  gefallen  sind,  die  letzten  Fähnchen 
des  Heroengewandes  abzureißen,  und  man  muß  sagen,  dieser  Karl  Kraus 
ist  wohl  der  gefährlichste  Gegner,  der  Harden  entgegentreten  kann.  Der 
gefährlichste  Gegner  neben  der  Wahrheit,  die  über  kurz  oder  lang  doch 
jeden  Hinterhaltigen  grell  beleuchtet,  jede  Spiegelfechterei  aufdeckt,  jede 
unberechtigte  Größe  ins  Nichts  zurückwirft,  jedes  Pharisäertum  dem 
Spott   überliefert.     Es    ist  nicht   unsere  Aufgabe,    auf   die   gründlichen 


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—  30  — 


Kampfessais,  die  Kraus  in  seiner  .Fackel'  gegen  Harden  veröffentlicht 
hat,  einzugehen.  Es  sei  an  dieser  Stelle  nur  auf  sie  hingewiesen  mit 
der  Bemerkung,  daß  Kraus  Herrn  Harden  stilistisch  bedeutend  überlegen 
ist,  nicht  etwa  darin  (worin  Harden  Meister  ist),  daß  er.  nach  Bedarf, 
jeden  Stil  nachahmt,  sei  es  den  Stil  des  Pathos  oder  den  Stil  von 
>Moritz  und  Rina«  oder  den  von  Harden  am  meisten  geliebten:  den 
der  Pseudo- Wissenschaft,  des  Schwulstes,  der  seh mockariigen  Umschreibung 
von  Begriffen,  deren  direkte  offene  Aussprache  Hardens  > komplizierter« 
Natur  widerstreben  muß.  Der  Stil  von  Kraus  ist  immer  ein  gradliniger 
Stil,  der  nicht  zu  den  Hilfsmitteln  der  Maniriertheit  greift,  um  sich  von 
anderen  auffällig  zu  unterscheiden.  Sein  Stil  ist  geschmeidig,  funkelnd, 
sprachlich  schön,  und  kann  unter  Umständen  wie  ein  Keulenschlag 
wirken.  Allerdings  nur  unter  Umständen.  In  der  Hauptsache  besticht 
und  interessiert  Kraus  nicht  durch  die  Kraft,  sondern  durch  eine  Fülle 
von  Oeist  und  von  karrikierenden  Einfällen.  Wir  hätten  manchmal  ge- 
wünscht, daß  er  Herrn  Harden  mit  mehr  Ethos,  mit  mehr  Entrüstung 
entgegentrete,  aber  doch  ist  es  vielleicht  richtiger,  daß  er  einem  Spiegel- 
feclitenden  Schädling,  einem  modernen  Hütten  und  Vaterlandsretter 
dieser  Art  mit  Ironie,  mit  Verulkung,  mit  überlegenem  Spott  beizu- 
kommen sucht.  Zu  weit  geht  Kraus  unseres  Brachtens  in  der  Entlastung 
Eulenburgs.  Die  Hauptsache  ist  aber,  daß  die  ,Facker-Artikel  (der  letzte, 
> Deutschland«  betitelt,  befaßt  sich  mit  dem  Euleliburgprozeß)  von  einem 
ehrlichen  und  überzeugten  Manne  geschrieben  zu  sein  scheinen,  weshalb 
man  manche  Übertreibungen  und  manche  Eigenbrödeleien  gern  hinnimmt 
Namentlich  wenn  man  bei  der  Lektüre  merkt,  daß  man  es  mit  einem 
kultivierten  und  vielseitigen  Geist  zu  tun  hat,  dem  der  Kampf  Lebens- 
element ist. 

Ein  mir  gleichfalls  völlig  unbekannter  Autor 
schrieb  in  der  ^Welt  am  Montag^  (Berlin,  24.  August) 
über 

Sittlichkeit  und  Kriminalität. 

Der  Herausgeber  der  Wiener  Fackel,  Karl  Kraus,  hat  sich  in  der 
Stadt   des    gemütlichen  Schlendrians    und    der   gröbsten  Prefikorniption 
durch  seine  unerschrockene,  unbestechliche  und  unerbittliche  Feder  zum 
bestgehaßten  Publizisten  der  österreichischen  Kaiserstadt  emporgearbeitet, 
deren  massenhafter  Journalisten-Export  nach  dem  Reich  und  insbesondere 
nach  Berlin  uns  allein  schon  veranlassen  müßte,  der  Kritik  ihres  schärfsten 
Kenners   und  Kollegen    ein   offenes  Ohr   zu  leihen,   zumal  die  Wiene 
Presse    ihm    gegenüber    systematisch    die    Taktik    des    Totschweigen 
anwendet.    Er  ist  mehr  als  ein  witziger  Kopf  und  geistreicher  Qlossei 
Schreiber  zu  Tagesereignissen  und  Wiener  Skandalen,  auch  mehr  als  eL 
bloßer  Stil-  und  Sprachkünstler  von  eigenartiger  Prägung.  Sein  kritische 
Sinn    dringt   tief  in    den  Zusammenhang   der  Dinge   und   sein   bis  zu 
Selbstzerfleischung  ehrlicher  leidenschaftlicher  Wahrheitsdrang,  der  immc 


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—  31 


auf  das  Wesen  und  den  Kern  geht,  so  sehr  seine  sarkastischen  Anti- 
thesen und  Paradoxe  dem  fluchtigen  Leser  als  blendendes  Spiel 
erscheinen,  macht  ihn  zu  einem  starlcen  Kämpfer  für  eine  neue,  freiere 
Weltanschauung  und  ein  modernes  System  der  sittlichen  Welt.  In  be- 
rechtigter Selbstschätzung  ist  dieser  immer  schneidig,  niemals  trocken- 
langweilig dozierende  Fechter  es  müde  geworden,  sich  immer  im  engen 
Rahmen  seiner  Zeitschrift  zu  bewegen  und  bietet  dem  großen  Publikum 
in  anspruchsvollere!  Buchform  eine  Auswahl  seiner  Schriften,  von  denen 
der  vorliegende  erste  Band  auf  etwa  400  Seiten  > Sittlichkeit  und  Kri- 
minalität« behandelt.  (Verlag  L.  Rosner,  Wien.) 

Er  will  dieses  Buch,  das  an  die  stärksten  gerichtlichen  Sen- 
sationen und  Justizskandale  der  letzten  Jahre  kritisch  anknüpft,  als  ein 
persönliches  Bekenntnisbuch  aufgefaßt  wissen.  Und  in  der  Tat  tritt  das 
rein  stoffliche  Interesse  an  all  den  > Fällen«  —  Luise  von  Koburg, ' 
Luise  von  Sachsen,  Girardi  und  Odilon,  die  Prozesse  Beer,  Klein  und 
Riehl  usw.  —  sehr  stark  zurück  hinter  dem  Reiz  der  originellen  und 
immer,  auch  wo '  Widerspruch  nicht  ausbleiben  kann,  anregenden  und 
nachdenklich  stimmenden  Gedanken  des  glossierenden  Autors.  Er  scheut 
vor  keinen  Konsequenzen  seiner  schwer  erkämpften  Überzeugung,  auch 
den  äußersten  nicht,  zurück.  Kein  Jagen  nach  Pikanterien  schädigt  den 
grimmig  ernsten  Grundton  des  Buches,  so  unvcrhüllt  und  bis  zum 
Zynismus  aufrichtig  es  von  geschlechtlichen  Dingen,  spricht.  Wider  die 
sinnenfeindliche  Askese  einer  fiberlebten  Weltansicht,  gegen  die  herzens- 
kalte und  lebensfremde  Art  des  Richters,  gegen  die  engstirnige  Be- 
schränktheit und  Unduldsamken  des  Normalbürgers,  sei  er  auch  ver- 
eideter Parteisozialist,  kämpft  er  mit  gleich  scharfer  Klinge,  mit  gleicher 
Wucht  und  Heftigkeit.  Besonders  haben  es  ihm  noch  die  psychiatrischen 
Sachverständigen  angetan.  Er  >haßt  dies  Handwerk,  weil  es  auf  brüchi- 
gem Wissensgrund  den  Machtwahn  des  Individuums  nährt  und  gleich 
dem  Journalismus  seinen  Mißbrauch  in  sich  trägt«.  Auch  sonst  macht 
der  Hecht  im  Wiener  Karpfenteich  aus  seiner  durchaus  polizeiwidrigen 
Gesinnung  kein  Hehl,  die  über  die  übliche  Simplizissimus-Stimmung 
weit  hinausgeht.  Sein  kampffreudiges  Temperament  liebt  es,  heraus- 
zufordern und  zu  verblüffen.  Keck  schleudert  er  allen  offiziellen  und 
freiwilligen  Hütern  der  Gesellschaftsordnung  die  Brandraketen  seines 
Geistes  ins  feindliche  Lager.  Nach  ihm  sind  die  führenden  Dummköpfe 
der  Menschheit  auf  die  Idee  gekommen,  die  Moral  als  ethisches  Schutz- 
gut zu  heiligen.  »Nun  wütet  sie  in  den  legitimen  Formen  der  Lange- 
weile und  der  Syphilis  gegen  die  Menschheit.  Moral  lähmt,  steigt  ins 
Gehirn,  schlägt  mit  Blindheit,  macht  Natursäfte  vertrocknen,  Arterien 
verkalken.  Aber  nichts  mehr  auf  dieser  Welt  können  wir  anfassen,  kein 
Handwerk  üben,  kein  Problem  lösen,  ohne  daß  sich  der  korrumpierende 
Einfluß  der  Moral  geltend  machte.  Handelt  es  sich  um  eine  Frage  der 
künstlerischen  Entwicklung,  so  sind  wir  moralisch;  handelt  es  sich  um 
praktische  Neuerungen,  so  sind  wir  moralisch;  und  stirbt  einer  am 
Fieber,  so  stecken  wir  ihn  überdies  noch  mit  Moral  an.  Unc|  wir  sind 
so  moralisch,  daß  wir  nicht  ausschließlich  unseren  Priestern    das   Ver- 


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32  — 


gnügen  gönnen,  um  unser  Seelenheil  besorgt  zu  sein,  sondern  dieses 
rechtzeitig  auch  tinseren  Kriminalisten  in  Obhut  geben,  und  daß  wir 
darum  Dinge,  die  eigentlich  nur  vor  den  obersten  Richter  gehören  und 
wahrscheinlich  nicht  einmal  ihn  interessieren,  schon  vorher  in  drei 
Instanzen  zu  vertreten  haben.«  Er  feiert  unumwunden  >die  Qottesgabe 
des  Weibes,  genußspendend  zu  genießen  und  ohne  zu  genießen  Genuß 
zu  spenden«,  »das  Naturrecht  der  Frau,  die  Summe  ihrer  ästhetischen 
Vorzüge  an  wen  sie  will  zu  verschwenden  oder  von  wem  sie  will  sich  in 
eine  geltende  Währung  umsetzen  zu  lassen.  Weil  es  eine  rein  moralische 
Angelegenheit  ist,  mischt  sich  die  Behörde  hinein«.  Er  geißelt  den 
Geschlechtsneid  und  die  Heuchelei,  die  in  diesen  Dingen  eine  so  große 
Rolle  spielen.  > Unheilbar  liegt  die  Menschheit  an  Heuchelei  darnieder, 
und  die  Ärzte  verordnen  Quecksilberkuren.«  Nun  läßt  sich  über  diese 
Fragen  gar  viel  für  und  wider  sagen.  Eine  Abgrenzung  zwischen  der 
Freiheit  des  Einzelnen  und  den  Forderungen  des  Staates,  der  Gesell- 
schaft, des  Gattungsinteresses,  der  Rassenhygiene  muß  nun  einmal  in 
der  Welt  stattfinden.  Aber  sie  muß  von  Zeit  zu  Zeit  neu  vorgenommen 
werden,  und  daß  die  Zukunft  sie  mehr  im  Sinne  Kraus'  nach  der  Seite 
der  freien  Entwicklung  und  Entfaltung  aller  individuellen  Kräfte,  soweit 
sie  nicht  Rechtsgüter  anderer  verletzt,  vornehmen  wird,  als  nach  jener 
geltenden  der  amtlichen  Bevormundung,  Einmischung  und  Beschnüf- 
felung  der  intimsten  Dinge  des  Privatlebens,  ist  sicherlich  anzunehmen. 
Wenige  werden  seine  lapidaren  Sätze  ganz  unterschreiben,  vielleicht  er 
selbst  nicht,  den  zuweilen  seine  Schärfe  und  Frische,  seine  Kampfes- 
freude und  sein  Widerspruchsgeist  zu  Behauptungen  hinreißen,  die  trotz 
der  messerscharfen  formalen  Logik  als  Übertreibungen  wirken  und  wohl 
auch  nur  als  Füchse  mit  brennenden  Schwänzen  ins  Land  der  Philister 
gejagt  werden  sollen,  sie  aus  ihrem  Schlaf  aufzuscheuchen.  Immerhin 
sind  die  Paradoxe  eines  so  kühnen  und  klaren  Geistes  anregender,  als 
die  platten  AUerweltsweisheiten  der  andern,  und  auch  als  die  unehr- 
lichen, überladenen,  schillernden,  dialektischen  Jonglierkünste  Hardens, 
seines  ehemaligen  Intimus,  dessen  unechtes  Wesen  dann  keiner  schärfer 
gekennzeichnet  und  gebrandmarkt  hat.  Ein  heimtückischer  Stflettstoß 
des  tödlich  Gekränkten  war    die    charakteristische    Gegenaktion. 

Leicht  hat  es  sich  der  Wiener  Satiriker  (Harden  empfahl  ihn  einst  der 
.Neuen  Freifen  Presse*  als  Nachfolger  D.  Spitzers)  inmitten  der  leicht  er- 
schlaffenden und  so  angenehm  leichtlebigen  Wiener  Atmosphäre  nicht 
werden  lassen.  Seine  durchsichtig  klare  Sprache  und  sein  knapper  Stil  zeigt 
ehrlich  erarbeitete,  gereifte  Kunst,  die  Kaviar  für  den  Haufen  ist.  Nur 
selbstdenkende,  wirklich  gebildete  reife  Männer  und  Frauen  werden 
auch  Freude  daran  haben,  wenn  sie  —  bei  aller  eigenen  Meinungs- 
freiheit —  eine  ebenso  tiefe  und  grundehrliche,  wie  geistvolle  Schrift- 
steller-Individualität zu  schätzen  wissen.  Manches  Schwüle,  manche  for- 
ciert erscheinende  Wendung  erklärt  sich  aus  dem  Stoff  und  dem  ur- 
sprünglichen Erscheinungsort,  der  auf  Tageswirkung  berechnet  war.  Die 
deutsche  Kulturgeschichte  aber  darf  dies  mutige  und  trutzige  Bekennt- 
nisbuch als  ein  Ereignis  in  ihren  Annalen  verzeichnen.  G.  K. 


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~  33  — 


Auch  die  ^Neue  Freie  Presse'  hat  in  diesem  Sommer 
meinen  Namen  endlich  genannt.  Und  wenn's  auch 
nur  bei  Gelegenheit  der  Veröffentlichung  eines  Schwur- 
gerichtsrepertoires  war,  so  geschah  es  doch  wider 
bessere  Absicht.  Der  schuldtragende  Redakteur  soll 
entlassen  worden  sein. 


Harden-Lexikon.  *} 

In  der  Reihe  der  Obersetzungen,  durch  die  man  die  Master- 
verke  der  fremdsprachigen  Literatur  dem  deutschen  Leserpublikum 
mgänglich  zu  machen  sucht,  hat  bis  heute  eiue  verständnisvoUe 
Bcarbeitnng  der  Prosa  Maximilian  Hardens  gefehlt,  immer  x^ar  es 
nur  ein  kleiner  Kreis  von  Liebhabern,  der  die  Arbeiten  dieses 
interessanten  Schriftstellers,  der  wie  kein  zweiter  den  Ziergarten 
einer  tropischen  Kultur  von  Stilblüten  und  Lesefrüchten  gepflegt 
hat,  durdiaus  zu  genießen  imstande  war.  Die  Schwierigkeiten  des 
sprachlichen  Erfassens  mußten  sich  hier  um  so  schmerzlicher  fühl- 
bar machen,  je  populärer  die  Oegenstände  wurden,  die  unserem 
Antor  am  Herzen  liegen,  und  je  weiter  sich  das  Gebiet  eines  viel- 
seitigen Wissens  auszudehnen  begann,  dem  heute,  wie  man  ohne 
Übertreibung  behaupten  Kann,  zwischen  der  Homosexualität  und 
der  Luftschiffahrt  nichts  Menschliches  fremd  ist.  Die  Erkenntnis, 
daß  heutigen  Tages  jeder,  der  nur  deutsch  schreiben  kann,  seinen 
Zttlauf  findet,  während  hier  eine  wahre  Fülle  geistiger  Schätze 
ungdioben  liegen  muß,  brachte  mich  zu  dem  Entschlüsse,  ein 
Lexikon  anzulegen,  das  deutschen  Lesern  als  ein  Führer  auf  den 
verschlungenen  Pfaden  einer  Prosa  dienen  soll,  deren  Schönheiten 
sie  bis  heute  gewiß  öfter  geahnt  als  genossen  Msben.  Es  ist  hohe 
Zeit,  daß  jene,  die  von  der  geistigen  und  kulturellen  Potenz  des 
Autors  bisher  nur  überzeugt  waren,  sich  von  ihr  auch  angeheimelt 
fühlen.  Gerne  wird  man  mir  eine  Nachsicht  gewähren,  die  einem 
Versuche  auf  unerforschtem  Gebiet  unter  allen  Umständen  zugute 
kommen  muß.    In  der  Obersetzungsprobe,    die  ich  biete,    dürien 

"^  Aus  dem  ,März'. 

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—  34  -" 


selbst  Lücken  nicht  allzu  rigoros  beurteilt  werden.  Mandier  Stelle 
konnte  ich  nur  mit  einiger  Freiheit  der  Auffassung  beikommen; 
manche  blieb  unübersetzbar.  Vorweg  aber  möchte  ich  die  Verant- 
wortung für  die  Möglichkeit  ablehnen,  daß  hier  und  dort  mit  der 
Premdartigkeit  einer  Wendung  auch  deren  künstlerische  Schönheit 
genommen  wäre.  Eine  Übersetzung  aus  dieser  Sprache  wird  wohl 
ihren  Zweck  erfüllt  haben,  wenn  es  ihr,  selbst  unter  Preisgabe  des 
dichterischen  Momentes,  gelungen  ist,  den  Sinn  der  Darstellung 
für  das  Verständnis  zu  retten.  Daß  meine  Obersetzung  die  in 
Deutschland  einzig  autorisierte  ist,  brauche  ich  wohl  nicht  erst 
hervorzuheben. 


Der  Fahrenheidz6gling 


Eiüenburg 


Der  Adlerritter 


Eulenbttfg 


Der  von  den  alten  Feinden  aus 
der  Holzpapierwelt  plötzlich  Qe- 
hatschelte 


Eulenburg,    fflr   den   sich  plötzlich 
die  Presse  wieder  einsetzt 


Die  Legende  der  Qrotta  Azzurra 

Die  Gerächte  Aber  Krupp 

Ein  Thronender 

Ein  Monarch 

Iphigeoiena  Schöpfer,  der  in  langem 
Erleben  nicht  oft  einen  Freund 
gefunden  hat 

Goethe,  der  in  einem  langen  Leben 
nicht  viele  Freunde    gehabt    hat 

Der  brave  Bm 

Shakespeare 

I>er  wilde  Georg 

Riedel 

Er  hat  auf  einem  Bau  gefront 

Er  war  Bauarbeiter 

Der  Stank  verfliegt  schnell 

Das  Gerücht  erweist  sich  als  haltlos 

Wer  dem  verführten  MAdchen  aus 
voUer  Kasse  des  Lebens  Not- 
durft bezahlt 


Der  AushSlter 


Noch  wissen  zwei  zum  Wahrspruch 
berufen«*  MSnner  nicht,  was  in 
der  isarau  geschehen  ist 

VieUeicht  hatte  der  eiskalte  Klüg- 
ling,  dessen  fiberschwingende 
Phantastik  auf  Handwerkskenner 
stets  nur  wie  voilence  ä  froid 
wirken  kann,    der  aber  vor  Er- 


Zwei Geschwornen  scheint  die  Stam- 
berger  Geschichte  noch  immer 
nicht  glaubhaft 

Vielleicht  bitte  Fflrst  Eulenburg  in 
der  größten  Gefahr  doch  nodi  die 
Geschwornen  herumgelcriegt 


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-  35  — 


fahreneren  schon  den  Gefühls- 
menschen, Künstler,  schwärmen- 
den Freund  und  siechen  Am- 
fortas  mit  Qlüclc  gemimt  hat, 
im  dichtesten  Drang  noch  drei, 
vier  Stimmen  gefangen 

Auf  dem  Weg,  der  den  dieser 
politisch,  rechtlich  und  psycholo- 
gisch bedeutsamen  Sache  Frem- 
den die  Fundamente  des  Urteils 
erlcennen  lehrt 

Der  Graf,  den  die  Enthüllung  des 
in  den  Isaranlagen  und  auf  der 
Sendlingertorwache  Erlebten  das 
Kammerhermamt  gelcostet  hat 

Eine,  die  sich  dem  Herd  verlobt  hat 


Sie  küfit  ihn,  dem  Angstschweiß 
die  Haarwurzeln  feuchtet,  mit 
heißer  Lippe  rasch,  wie  einst, 
aufs  Ohr,  während  der  Eheherr 
Zigarren  aus  dem  Rauchzimmer 
holt 


Graf  Wedel 

Eine  Hausfrau 
Charakterbild  einer  Buhlerin 


Ein    von    einem   Tribunen    ange- 
griffener Offizier 


Ein  Kriminalkommissar  bringt  aus 
der  ükermark  das  Ehrenwort 
des  Fürsten  mit:  Verleumdersinn 
erfand  und  verbreitete  die  bösen 
Gerflehte 

Er  säfie  heute  dann  wohl  in  Hfil- 
sens  Loge 

Der  Klavierträger  Schömmer,  den 
ein  Herrn  Phili  eng  befreundeter 
Graf  in  einem  stamberger  Hotel 
zu  Homosexualbefriedigung  ver- 
führt hat  und  der  durchs  Guck- 
loch einer  verschlossenen  Tür  die 
beiden  Grafen  dann  gepaart  sah 


Bin  Offizier,  den  ein  Abgeordneter 
angegriffen  hat 

Fürst  Ettlenburg  gab  einem  Krimtnal- 
kooimissär  sein  Ehrenwort,  daß 
alles  Verleumdung  sei 


Er    wäre    heute     vermutlich    Hof- 
theaterintendant 


Ein  Kampfgenosse  des  Herrn  Harden 


Als%  den  Diener  Dandl  ans  Bein 
faßte 


Datum  in  der  preußischen  Geschichte 

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—  3ß 


Der  verirrte  Oeschlechtstrieb  scheut 
so  Ängstlich  das  Licht,  daß  selbst 
ia  die  Polizeiakten  meist  nur 
Gerflehte  sickern 


Alles  menschliche  Wissen  ist  begrenzt 


Der  kühle  Herr  Canzellarius 


Bülow 


Ein  Totkranker,  den  in  der  näch- 
sten Stunde  die  Sichel  aus  der 
Zeitlichkeit  mähen  wird 

.  .  .  trotzdem  sich  seit  Jahren  ein 
ungeheures,  ungesuchtes  Mate- 
rial aus  hoher  und  höchster 
Uniingschicht  bei  mir  gehäuft 
hat  und  mit  den  Einzelheiten, 
psychologisch  und  pathologisch 
wertvollen,  ganze  Bände  zu  fül- 
len wären 


Ein  Sterbender 


Ich  bin  mir  bewufit,  müne  kulturelle 
Pflicht  eigentlich  versllumt  7u 
haben 


.  .  Drohbriefe  aus  nahen  und  fer- 
nen Städten  (sie  schrecken  mich 
nicht;  mein  Revolver  ist  gut  und 
Idi  habe  dafür  gesorgt,  dafi  am 
Tag  nach  einem  gelungenen  Ober- 
fall alle  Beweismittel  veröffent- 
licht werden) 


Ich  bin  kein  Revolverjournalist ;  aber 
wenn  ich  gereizt  werde,  so  .  .  . 


Einen  unter  Anerkennung  der  reinen 
Motive  verurteilenden  Oerichts- 
spruch  hätte  ich,  wie  die  an- 
deren Opfer  an  Gesundheit  und 
Besitz,  die  dieser  Feldzug  mir 
eingebracht   hat,    hingenommen 

Der  schwache  Widerhall  seines 
Leugnens  kann  die  dröhnende 
Stimme  der  Wahrheit  nicht  über- 
tönen 

Niemand  hat  den  Fischermeister 
bedrängt;  der  Richter  ihm  väter- 
lich zugesprochen  und  Zeit  zur 
Sammlung  angeboten;  der  An- 
walt nicht  eindringlicher  ge- 
mahnt, als  Jeden  Tag  hundert 
Ankläger  und  Verteidiger  tun; 
einmal  nur,  mit  leiser  Stimme, 
ihn  aufgefordert,  nicht  durch 
Verschweigen  des  Wesentlichsten 


Das  versteht  sich  von  selbst 


Er  hat  also   dem  Dandl    doch   ans 
Bein  gegriffen! 


Der  Fischerjackl  hat  unter  Daum- 
sdirauben  freiwillig  die  Wahrheit 
gesagt 


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37 


sich  selbst  ins  Zuchthaus  zu 
bringen  (Seite  169) 
Doch  Philipp  kennt  seinen  Jakol). 
Den  kranken,  schwerhörigen, 
scheuen  Menschen,  dem  die 
Zeugenpflicht  ein  Martyrium  ist, 
der  immer  noch  der  so  lange 
angestaunten  Macht  des  Herrn  zu 
erliegen  fflrchtet  und  keine  Silbe, 
iceine  Vorgangsschildening  her- 
ausbringt, die  nicht  mit  den 
Zangen  der  Inquisition  aus  sei- 
nem dunklen  Hirn  geholt  ward 
(Seite  170) 


Unter  dem  Heumond 


Im  Juli 


Der  Phrasenspuk,     der    so    lange 
schon  da:s  Ohr  tflubt 


.    .    .    betäubt 


Als  Bismarck  ins  Sachsenwaldhaus 
geschickt  war 

Den  Überbleibseln  des  Memalik-i 
Osmanije  eine  Verfassung  ge- 
währen 


Als  Bismarck  demissioniert  hatte 


Padischahim  tschock  jascha 


Der  King 


Vergleiche     Polyglott-Kuntze,    Tür- 
kisch 


Eduard  VII. 


Der  liebste  Kömmling 


Er  wird  in  Ischl  den  GeschAfts- 
ffihrer  der  austro-ungarischen 
Monarchie  sehen 

Den  Makedonenknäuel  entwirren 

Die  ScherifenenttSuschung 

Der  Greis,  der  im  Glanz  hockt 


Der  willkommenste  Besuch 

Er  wird  in  Ischl  den  Kaiser  Franz 
Josef  sehen 


Die  macedonischen  Wirren  beenden 


Der  Sultan 


Menschen,  deren  Lebensflamme 
gestern  ein  Wink  seiner  müden 
Hand  eriöschen  ließ 

Musulmanen 


Menschen,     die    er    gestern    norh 
tuten  lassen  konnte 


Muselmanen 


Abd  ttl  Aziz 


Abdul  Aziz 


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—  38 


Abd  ul  Hamid 


Abd  ul  Kertm 


Abdul  Hamid 
Abdul  Kerim 


Der  schwache  Prasser 

Die  SUdt  Konstantins 

Die  Osmanenflanke  zerstücken 

Der  Mflhre 


Der  genußsüchtige  Schwächling 


Konstantinopel 
Albanien  teilen 


Herr  Philipp  Langmann 


Der  wiener  Ungar 


Ungeschicktes  Lob  für  Herrn  Felix 
Saiten,    der    sich    als    Zionist 
lieber  einen  Pester   Juden   ge- 
nannt hörte 


Über  der  Löwenbucht  verglüht  der 
fünfte  Augusttag 


Marseille,  5.  August 


Auf  dem  Cornicheweg  ists  leerer 
als  sonst  beim  Dämmern  eines 
Sommerabends 


Das  immer  hastige  Leben  der  Pho- 
käerstadt  scheint  in  die  Herz- 
kammer zurückgedrängt 


ich  bin  zum  erstenmal  in  Marseille, 
aber  so  leer  war's  noch  nie 

Marseille  ist  wie  ausgestorben 


Zwischen   der   Rue    Honorat 
der  Cannebt^e  regt  sichs 


und       Meine  Lokalkenntnis  ist  verblüffend 


Der  Fremde  merkt  bald,  daß  im 
Sinus  Galliens  das  Blut  heute 
besonders  schnell  kreist 


(Unverständliche  Stelle,  aus  der 
nicht  hervorgeht,  ob  das  Blut 
im  Meerbusen  oder  das  Wasser 
im  Busen  der  Marseiller  auf- 
geregt war) 


Die    mit    Bouillabaisse    und    Süd- 
wein Genährten 


Die  Bewohner  von  Marseille 


Der  konstanzer  Graf 
Graf  Ferdinand 
Der  alte  Reitersmann 
Ikaros,  den  eines   Gottes  Eifer- 
sucht empfinden  lehrt,  daß  nur 
Wachs,  in  der  Sonnennähe  zer- 
tropfendes, ihm   die   Flügel    an 
den  Rumpf  geklebt  hat 
Der  Krieger  und   Wolkenthron- 
werber 

Der  Luftbeherrscher 
Der  deutsche  Graf 


Verschiedene  Bezeichnungen  für  den 
Grafen  Zeppelin 


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-  119 


Die  Patres  Lana  und  Quzman  .  . . 
Dit  Brüder  Montgolfier,  Etienne 
und  Michel  .  .  .  Niimoirts  sur 
la  mach  ine  a^rostatique  .  .  . 
Pilitre  de  Rozier  .  .  .  Nach  den 
F<:rfahrungen  der  Charlifcrc  er- 
gänzt . . .  Charles  aus  Beaugency, 
Pilätre  aus  Metz,  Blanchard  aus 
dem  Departement  Eure  .  .  . 
Biot,  Gay-Lussac,  Sivel,  Tissan- 
dier,  Hermtte,  Renard,  Glffard: 
bis  zu  Santos-Dumont  und  Le- 
baudy  .  .  .  Der  Fallschirm  .  .  . 
Zigarrenformat. . .  Starres  System 
.  .  Halbstarr  oder  unstarr  .  .  . 
De  la  Vaulx,  Berson  und  Elias 
.  .  .  Giffard  ersann,  um  die  Wi- 
derstandsflflche  zu  verlcleinern. 
das  längliche  Format  und  ffihrte 
den  Dampfmotor  ein ;  Dupuy  de 
Lome  das  Ballonett;  Wölfert 
den  Daimler-Motor ;  Schwarz  die 
AluminiumhOlle ;  Renard  und 
Krebs  .  .  .  Parseval  und  Groß 
.  .  .  Von  Andr^,  dem  Nordpol- 
sucher, Icam  uns  nie  eine  Kunde ; 
die  Patrie  lieft  in  Irland  eine 
Riesenschraube  mit  Zubehör 
fallen ;  der  britische  Nulli  secun- 
dus  zerbröckelte  Qber  der  Pauls- 
kathedrale 


Ich  kenne  mich   m    der   Luftschift- 
fahrt aus 


Unter  den  Lebenden  haben  Edi- 
son, Koch,  Van't  Hoff,  Behring. 
Röntgen  und  mancher  Andere 
der  Menscheit  Nfltzlicheres  ge- 
leistet. FQr  die  moderne  Krieg- 
führung waren  die  Erfindungen 
und  Kombinationen  der  Norden- 
feit. Z^d^,  Romazotti,  Laubeuf 
vielleicht  wichtiger  als  eine  Er- 
leichterung der  Aeronautik 


Ich  kenne  micN  auch  sonst  aus 


Zeppelins  haben  unter  Fritz,  unter 
Melas  bei  Marengo  und  im 
deutschen  Befreiungskrieg  mit- 
gcfochtea 


Ich  wei0  überhaupt  alles 


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—  40 


Fast  auf  den  Tag  ists  fflnf  Viertel- 
Jahrhunderte  her,  dafi  der  Phy- 
siker Charles  auf  dem  Marsfcld 
einen  mit  Wasserstoff  geffiUten 
Ballon  steigen  ließ  .  .  .  Blan- 
chard  kam  1785  mit  seinem 
Luftschiff  von  Dover  nach  Ca- 
lais und  wurde  erst  auf  der 
sechsundsechzigsten  Fahrt  (meist 
war  seine  Frau  als  *Qehllfln 
neben  ihm)  vom  Aeronauten- 
sdiicksal  ereilt 


Wer  sollte  sich  flicht  erinnern?.' 


Man  wird  im  Ballon,  statt  auf 
stählernem  Gleis  Ober  Zossen 
und  Elstcrwerda,  ins  Paradies 
der  Weihnachtstollen  reisen 


Ein  Bild  der  »Zukunft« 


Das  stQrmende  Temperament  der 
großen  Persönlichkeit  sacht  ins 
Schreibstubentempo  zügeln 

Die  Summen,  die  ihm  die  Flut 
jetzt  ins  Schwabenheim  ge- 
sdiwemmt  hat 


Dem  Grafen   Zeppelin    eine    Kom- 
mission beistellen 


Die  Summen,  die  dem  Grafen  Zep- 
pelin jetzt  zugeflossen  sind 


Der  Paktolos  strömt  in  den  Bodensee       Graf  Zeppelin  bekommt   viel  Geld 


Erwins  Kirche 


Wie  ein  Golfstrom  braust  es  er- 
wärmend durch  Aller  Herzen, 
schmilzt  die  Eisrinde  und  schält 
ehrfürchtige  Liebe  aus  dem  Kal- 
ten Wall 


Der  Straßburger  Dom 

(Wahrscheinlich  ist  hier  gemeint' 
daß  man  sich  irgendwo  für  die 
Sache  Zeppelins  erwärmt) 


Aus  dem  Gluthstrom,  der  den 
Kalten  Wall  öberströmtc,  ist 
auch  anderer  Gehalt  zu  schöpfen 
als  das  Tränensalz,  das  feuchten 
Augen  die  Freude  an  schönem 
Tiefblau  gewährte 


Millionen  in  den  Bodensee  werfen, 
um  mit  dem  Opfer  des  Hortes, 
wie  der  Tyrann  von  Samos  m  1 1 
seines  Ringes,  fehidliche  Oe- 
wallen  zu  seh  wichtigen 


Riskieren,  daß  ein  Karpfen  im 
Bodensce  mit  der  Verdauung  des 
Ringes,  wie  der  Leser  mit  des 
Genitivs,  Schwierigkeiten  hat  und 
daß  selbst  den  Rheintöchtcm 
übel  wird 


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-  41 


(In  den  dieser  Obersetzung  zugrunde  Hegenden  Kapiteln  hat  der 
Nonst  so  gewissenhafte  Autor  leider  einige  Druckfehler  übersehen.  Statt 
*EntwicMmigsgang<  und  »Befreiungskrieg«  muß  es  selbstverständlich 
heifien:  Entwicklunggang  und  ßefrelungkrieg.  Erwähnt  sei  noch,  dati 
den  Publikationen  des  Autors  im  Original  unmittelbar  ein  Inseratenteil 
folgt,  zu  dessen  Verständnis  das  Lexikon  nicht  herangezogen  werden 
mufi,  und  in  welchem  zumal  jene  Annonce  einer  populären  Wirkung 
sicher  ist,  die  mit  den  Worten  beginnt:  Allen,  die  sich  malt  und 
elend  ffihlen  .  .  .) 

Die  Matter.*} 

Eine  typische  Erscheinung  im  heutigen  Kulturstaate  sind  die 
Matter.  Sic  fügen  sich  dem  Prinzipe  der  Unterdrückung  der  In- 
divtduth'tit  zu  Gunsten  der  Rentabilität  des  Menschen  so  innig 
an,  daß  es  begreiflich  erscheint,  wenn  jeder  Knecht  der  QesellschaFts- 
oidnung  den  Einfluß  der  Mütter  auf  die  kommende  Oeneration 
mit  pRffischem  Augen  verdrehen  als  einen  segensreichen  preist.  In 
der  Tat  aber  ist  der  mütterliche  Einfluß  auf  die  Kinder,  vor- 
nehmlich auf  die  Töchter,  ein  verderblicher.  Die  Söhne  entziehen 
sich  dank  der  größeren  Freiheit,  die  ihnen  die  Gesellschaft  in 
sexueller  Beziehung  zugesteht,  eher  und  leichter  dieser  üblen  Be- 
einflussung. Die  Töchter  aber  entarten  allmählich  unter  den  Wohl- 
taten der  mütterlichen  Erziehung.  Jede  Äußerung  einer  gesunden 
vfiblichen  Veranlagung,  das  Begehren,  sich  lediglich  der  Lust 
vegen  hinzugeben  und  zu  empfangen,  bemühen  sich  die  Mütter 
bei  ihren  Töchtern  mit  allen  zu  Gebote  stehenden  Mitteln  so  lange 
zn  unterdrücken,  als  es  der  umsichtige  Geschäftsgeist  erfordert, 
der  die  Jungferschaft,  das  heute  noch  immer  hoch* im  Kurse 
stehende  Spekulationsobjekt,  zu  einem  möglichst  guten  Preis  an 
den  Mann  zu  bringen  trachtet.  Von  dem  Eintritte  der  Menstruation 
an  sind  die  Töchter  den  Müttern  völlig  ausgeliefert.  Mit  einem 
Raffinement  der  Diskretion,  das  nur  eine  jahrtausendalte  christliche 
Kultur  gezeitigt  haben  konnte,  veihen  die  Mütter  Ihre  Töchter  in 

*)  Anm.  d.  Herausgeb.:  Nicht  för  alle  Mütter  scheint  mir  diese 
Betrachtung  zu  gelten.  Aber  allen  tut  sie  Unrecht.  Was  sie  darstellt. 
^in<l  Wahrheiten,  und  der  Haß,  den  sie  ausdrückt,  ist  um  des  Ausdrucks 
wfll«!  berechtigt.  .\ber  er  schlagt  die  Mütter  mit  Wahrheiten,  für  welche 
sie  nicht  verantwortiich  sind.  Denn  die  Gesellschaftsordnung  haben  die 
Väter  gemacht,  die  Mütter  kriechen  in  ihr  unter,  so  gut  sie  können. 


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—  42 


alle  Mysterien  der  Liebe  ein,  deren  Erkenntnis  der  trotz  zWrt 
Anfechtungen  immer  noch  gesunde  weibliche  Instinkt  dem  heran- 
reifenden MAdchen  rechtzeitig  und  besser  vermittelt  hätte.  Daß 
die  Sinnlichkeit  der  Mfltter  dabei  auf  ihre  Rechnung  kommt,  liegt 
auf  der  Hand.  Es  ist  nicht  leicht,  sich  auszumalen,  welchen  Genuß 
es  den  alternden,  von  keinem  Manne  mehr  begehrten  Wdbem 
bereitet,  stetig  in  der  Oeschleditssphire  ihrer  Töchter  zu  wühlen. 
Kein  lüsterner  Blick  eines  jungen  Mannes  nach  den  ihm  ver- 
fänglich präsentierten  Reizen  der  Tochter  entgeht  dem  wachsamen 
und  geübten  Mutterauge.  Und  schon  wird  die  Rentabilität  der 
Veräußerung  der  töchterlichen  Unberührtheit  an  den  begehrlichen 
Späher  kalkuliert.  Verspricht  das  Geschäft  Ertrag,  so  beginnt 
jenes  listige  Umstricken  des  auserkorenen  Opfers,  das  jede  Mutter 
der  anderen  als  etwas  Häßliches  vorwirft  und  abzustellen  trachtet, 
um  gegen  eine  kleinere  Konkurrenz  umso  leichter  siegreich  zu 
sein.  Es  ist  erstaunlich,  welche  Routine  von  den  Müttern  bei  dem 
Geschäfte  der  gesellschaftsordnungsmäßigen  Verkuppelung  der 
Töchter  aufgewendet  wird.  Die  Routine  der  Professionskupplerin 
ist  plump  dagegen,  und  die  von  den  Töchtern  unter  mütterlicher 
Anleitung  diskret  durchgeführte  Steigerung  der  wirkenden  Reize 
ist  ungleich  raffinierter  als  die  Praxis  der  Dirnen.  Diesen  aber, 
ihren  besten  Lehrmeisierinnen,  sind  die  Mütter  die  grimmigsten 
Feindinnen.  Wo  sich  die  dem  Weibe  innewohnende  Dimennatur 
offen  als  solche  bekennt,  wird  sie  von  den  Wdbem,  denen  der 
Mut  dieser  Offenheit  fehlt,  verfolgt.  Mit  einem  Pathos,  das  sie 
der  Oerichtssaalberichterstattung  über  geheime  Verhandlung»! 
abgeUuscht  haben,  wettern  die  Mütter  bei  jeder  Gelegenheit, 
mit  begreiflicher  Vorliebe  aber  dem  heiratsfähigen  jungen  Manne 
gegenüber,  gegen  das  »Laster«,  schildern  in  kraasea  Farben 
die  Gefahren  für  Körper  und  Seele,  die  dem  Verkehr  mit  Dirnen 
wie  Gespenster  folgen,  lassen  es  auch  nicht  an  zartsinnigen 
Anspielungen  fehlen  auf  die  reinen  Genüsse  an  der  Seite  einer 
anständigen  Ehefrau,  und  arbeiten  derart  mit  bewußt  lügenhaften, 
schmutzigen  Mitteln  gegen  die  ihnen  so  uribequeme  Konkurrenz 
der  Dirnen,  die  wegen  der  Offenheit  der  Anpreisung  leiblicher 
Genüsse  zu  fixen  und  billigen  Preisen  von  den  Müttern  als  das 
gefährlichste  Hindernis  bei  der  ergiebigen  Verwertung  der  Töchter 
erkannt  wurden.  Wie  ein  Kaufmann  dem  andern  die  geschmähten 


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43 


RekJtmekniffe  abzulauschen  trachtet,  um  sie  selbst  gi^en  ihn  aus- 
zuspielen, so  studieren  die  Mfltter,  in  der  richtigen  Erkenntnis  der 
Oberlegenheit  der  Dirnen,  deren  Art,  um  die  Töchter  mit  dem 
Rflstzeug  der  Halbwelt  so  gut  wie  möglich  auszustatten  und  zum 
Wettbewerb  geeignet  zu  machen.  Das  offene  Auge  gewahrt  auf 
den  ersten  Blick,  wie  rasch  und  sicher  die  Errungenschaften  des 
Dirnentums  durch  Vermittlung  der  spekulativen  Mutter  in  die 
Familie  verpflanzt  und  hier  verderblicher  werden  für  den  erotisch 
veranlagten  Mann  als  dort,  wo  er  dank  der  Offenheit,  mit  der 
ihm  begegnet  wird,  von  Haus  aus  weiß,  worum  es  sich  handelt. 
Durch  die  gesellschaftlich  sanktionierte  Praxis  der  Mfitter 
werden  die  Dirnen  mittelbar  Trägerinnen  der  Idee  des  Bestandes 
der  Familie  und  des  Staates.  Die  Töchter  aber  werden  vergewaltigt, 
dazu  erzogen,  jedes  natürliche  Empfinden  zu  unterdrücken,  Liebe 
nur  auf  mütterliche  Anordnung  zu  empfinden  und  sich  im  Übrigen 
mit  ihrer  Phantasie  zu  behelfen,  die  sie  zwar  in  schwülen  Nächten 
manchen  OenuB  empfinden  IflBt,  Gesundheit  und  Schönheit  aber 
untergräbt.  Endlich  flndet  sich  die  geknebelte  weibliche  Natur 
dank  der  frühzeitig  begonnenen  mütterlichen  Erziehung  in  die 
Situation,  die  von  der  heutigen  Gesellschaft  als  die  einzig  mög- 
liche hingestellt  wird.  Und  die  Töchter,  die  durch  die  mütter- 
licherseits vermittelten  Dimengebrftuche  einen  Mann  zu  dauernder 
Ausnutzung  eingefangen  haben,  werden  Mütter. 

Erbt. 


Zitate. 

»Seine  ExceUenz  wird  gleich  da  sein,  um  1  Uhr 
wird  aber  gegessen  I<  »Beruhigen  Sie  sich,  liebenswür- 
digster aller  Famuli,  ich  will  den  Minister  nur  fragen, 
wie  er  geschlafen  hat,  um  es  nach  Wien  zu  drahten c. 
»Exzellenz  wird  gleich  erscheinen c  . . .  »Eure  Exzellenz 
sieht  gut  aus.  Sie  haben  sich  gründlich  ausgelüftet, 
ehrenwerter  Tittoni  I«  (,Neue  Freie  Presse',  29.  August). 

Ferner  habe  ich  im  Sommer  einen  Zeitungsarti- 
kel gelesen,  der  mit  den  Worten  begann: 

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—  44  — 


Von  einem  Freunde  unseres  Blattes  erhalten  wir  die  folgende 
Zuschrift:  Langsam  dringt  die  Nachricht  hinaus  ins  Orfine,  in  die  fernen 
Qebirgstfiler,  an  die  stillen  Sommerseen,  an  denen  die  Wiener  jetzt  sitzen. 
Wie  es  einst  durch  die  Welt  geklungen  hat:  Der  gro6e  Pan  ist  tot,  so 
Iclingt  es  nicht  viel  leiser  Jetzt  dem  kunstfreudigen  und  -verstlndigen 
Wien  ins  Ohr:   »Kainz  will  vom  Burgtheater  gehen l<  u.  s.  w. 

* 

Der  erofie  Pan  bleibt  uns  erhalten,  dagegen  ißt 
die  Hauptfrage  unserer  Zeit  noch  immer  ungelöst. 
Herr  Gelber  behauptet  es  in  einer  Wiener  Zeitschrift: 

Die  Parlamentsferien  werden  bald  vorüber  sein,  die  Volksvertretung 
wird  wieder  zusammentreten  und  wir  werden  bald  wieder  von  den  gemach- 
ten Wichtigkeiten  hören,  mit  denen  man  das  öffentliche  Oewissen  von 
der  Hauptfrage  unserer  Zeit  abzulenken  sucht.  Nun,  und  da  ist  es  not- 
wendig, abermals  auf  sie  hinzuweisen  und  zu  fragen :  Was  soü  mit 
Wahrmund  geschehen  ? 

« 

Mit  ehrlicher  Begeisterung  aber  haben  die 
Wiener  Familienväter  diesen  Satz  (in  einem  Artikel 
von  0.  Gurlitt  Ober  Konstantinopel)  gelesen: 

Die  Jungfräulichkeit  und  Ihre  Wertschätzung  ist  überall  eine 
Folge  geschlechtlicher  Selbstsucht  des  Mannes,  nämlich  der,  das  Weib 
für  sich  allein  zu  haben. 

Dieser  Satz  stand  aber  nicht  etwa  in  der  ,FackelS 
sondern  in  der  ,Neuen  Freien  Presse*. 

aBSSSBBSBsaaEasasssaBEBSssBaBsssBssBBssBBBBaaBsaa^ 

Blnsendunc  von  Manoskrlpten  od^r  Zeitangnn»- 
schnitten,  Lieferung  von  Material,  Mittollonfen  lTZ9n4 
welcher  Art  nicht  erwünscht« 

Der  Herausgeber  der  «Fackel*  hat  keine  redaktionelle 
Sprechstunde  und  lehnt  die  Ertellnoa  von  Ratschlifen 
and  die  Beurtelluna  von  Talentprohen  ab. 

Beschwerden  administrativer  Nator,  Abonnements- 
auftrife  u«  dai*f  die  statt  an  den  Verlaa»  an  die  Privatadresse 
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Bezugsfrist  den  betreffenden  Teilbetrag  anrück  zu  vi 
langen,  wenn  Ihnen  der  Bexug  der  Zeltschrift  aus  Irgi 
einem  Grunde  nicht  mehr  genehm  ist«  Das  gleit 
Recht  der  Sistierung  eines  Abonnements  behiit  sich  i 
Verlag  vor. 


HwaiufBbq  wttü  mnrtvorUicber  Redaktnir:  Kar!  Kra«i. 
Dnick  Yoo  Jthodt  *  Sfecel,  Wien,  111.  Hintere  ZollftiitsrtnLBe  3. 


Herausgeber:  KARL  KRAUS 

«nekelBt  li  nruigloser  Folge  Im  Umtui  vod  II— B1  Mtea. 
BBZU08-B  VDINOUnOBir ; 

*  18 
.ww — *  .xdch,  36         -  -  .    .  »  IV/../V 

•  »18         «  ►  .   . »   5^ 

indcrdWcItpostv.,  36  Numincni,  portofrei      >  12.— 

»»»  »18  »  »»    6. — 

>af  Aboon«ai«iit  •rstrtckt  fleh  alcbt  auf  «la^o  Zelt- 
rAuin,  iood«m  auf  •!»•  bMClmmt«  Aozatal  v.  Nummern« 

iVerlag:  Wien,  IIT  ^^«tere  ZoUamtMtr.  3. 

Kommissionfiv^iia^  .ar  Deutschland: 

Offo   Maier,    keif>zig 

StephsositraAe  Nr.  12. 

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befindet  sich  Jetzt 

Wien,  in  2 

Hintere  Zollamtsstrasse  Nr.  3. 

Telephon  Nr   187 


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CARL  GOLS 

Kar/sbad,  Budapest  l 


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Ute 


Maniiskripte 

(ancli  in  englischer   nnd   französischer  Sprauü^;    ^d^ 

korrektesten    VerYielfältigüüg    mit   der  Schreibxnaschb 

nommen:  ffl  häffergasse  r 

Der  Verlag  der,Fack< 

befindet  sich  111/2,  Hint.  ZoUamti 

Adminisfi j    Mitteilnv 

..............Jlich    an   die^.. 


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Hardens  Ant^vrort? 


Die  Fackel 


Herausaeber: 


Aiii.  KRAUS. 


INHALT: 


PROZESS  VEITH 


VON 


Ertoheint   in    swanglottr    Folg«. 
Preis  der  eincelnen  Nummer  30  b. 

Md  ftvcrttmlBigct  Veridbea  fcrboteot  rcricfatUdM  Verfolciiaf' 
Torbehaltca. 


WIEN. 

PACKBL*.  IM.  HlDterp  ZollamUatraße  3.] 


In  zweiter  AullageefscBiBi 
Sittlichkeit  u.Kriminaliti 

I.  Band  der  Ausgewählten  Schrift( 


von 


BroBohlert      _     _     _     _    K  7.20        Mk. 
Ganzleinen    —    —    —    —     „  8.70 

Bestellungen  auf  das  im  Verlag  der  Bu^ 
landlung  L   Rosner,  Wien   und  Leips 
erschienene     Werk    nimmt    jede    Bi 
landlung  sowie  der  Verlag  der  .FackI 
Wien,  III/2,  Hint.  Zollamtsstr.  3,  entgegä 

Soeben  erschienen; 

Alte  Liebeshändi 

Von  Fritz  Witteis. 

Elfiff: 


,0    JAHODA    A   STF.av.T. 


Die  Fackel 


WIEN,  26.  OKTOBER  1908 


X.JAHR 


ProseS  Veith. 


»Die  Vorgeschichte  des  Prozesses,  der  im 
Juli  dieses  Jahres  bereits  das  Gericht  be- 
schäftigt hat,  ist  allgemein  belcannt.  Die 
Stieftochter  .Marcell  Veiths  endete  durch 
Selbstmord,  nachdem  ihr  Vater  von  der 
Polizei  festgenommen  worden  war«. 

Der  Zeitungsbericht. 

»Ein  Sitüichiceitsprozeß  ist  die  zielbewußte 
Entwicklung  einer  individuellen  zur  all- 
gemeinen Unsittllchlceit,  von  deren  düsterem 
Grunde  sich  selbst  die  erwiesene  Schuld 
des  Angeklagten  leuchtend  abhebt«. 

Karl  Kraus.  SittUchkeit  und  Kriminalität. 

»Die  nächste  Zeugin,  die  wiederholt  er- 
wähnte Anna  Sachs,  ist  nicht  erschienen; 
es  wird  auf  ihre  Aussage  verzichtet«. 

Der  Zeitungsbericht. 

»Wehe  euch.  Schriftgelehrten  und  Phari- 
säern, ihr  Heuchler,  die  ihr  verzehntet  die 
Minze,  Anis  und  Kfimmel;  und  laßt  da- 
hinten das  Wichtigere  im  Gesetz :  Gerechtig- 
keit, Barmherzigkeit  und  Treue«. 

Ev.  Matthäi  23. 

Bin  sohlafender  Rüpel  regt  sich,  wirft  einen 
L9^ttopf  um,  legt  sich  aufs  andere  Ohr  und  schnarcht 
ter.  Das  sind  die  Moralprozeduren  des  Staates. 
I  einen  rütteln  ihn,  dafi  er  erwache.  Die  andern 
nen  ihn  einen  Schweinkerl.  Vergebens.  Er  schläft 
«   rumort   nur   im    Paulbett,    wenn  ^wieder    die 

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—    2 


Blähungen  der  Sittlichkeit  ihn  befallen.  Dann  nimmt 
die  Qereohtigkeit  ihren  Lauf .  •  • 

0  du  alter  nichtsnuteiger  Lflmmel,  du  ausge- 
schämter Hallodri  dU|  heiliger  Saufaus  und  ehr- 
barer WQstling,  du  nimmst  den  Töchtern  der 
Wollust  die  sauer  erworbenen  Oioschen  ab,  hebst 
den  Zins  von  allen  Schanden  ein,  und  gehst  hin 
und  verklagst  die  Überhandnehmende  Unsittlichkeit  I 
Denn  die  eifersüchtige  Alte,  die  dir  im  Hause  sitet, 
die  Gesellschaft,  ist  dir  hinter  deine  Zärtlichkeiten 
gekommen,  schwingt  den  Pantoffel  Aber  dir  und 
zwingt  dich,  einmal  im  Jahr  ihr  wenigstens  mit 
deiner  Gesinnung  z\x  willen  su  sein,  wenn  du  schon 
deine  Impotene  so  leichtsinnig  aersplittert  hast.  Dann 
schnarchst  du  Anklagen,  rtilpdest  Erlässe  und  lassest 
ein  paar  Moralsprüche  ergehen,  dafi  die  Engel  im 
Himmel  sich  die  Nase  euhalten.  Schlichst  du  nicht 
hinter  der  kleinen  Mizsi  Veith  einher,  du  päpstlicher 
Contef  Hieltest  sie  nicht  vier  Jahre  den  Kavulieren 
feil,  denen  du  die  Kabinette  Offnest,  wenn  sie  regieren 
oder  sich  auf  feinere  Art  amüsieren  wollen  f  Und 
nahmst  ihr  eines  Nachts  den  Champagner  rem 
Munde  und  gabst  ihr  Wasser  su  trinken  I  Und  um- 
kreistest ihren  Leichnam  wie  eine  schwarsgelb  ge- 
fleckte Hyäne  und  schleiftest  ihn  cum  Gerichtstisch, 
wo  er  als  corpus  delicti,  nein,  als  corpus  vile  dem 
Appetit  deiner  Rache  dienen  mufil  0  du  alter 
Tunichtgut,  du  ärarischer  Pförtner  der  Lust,  du 
Schüler  deiner  Hausmeister,  du  Trinkgeldnehmer 
deiner  Huren,  der  du  alles  siehst  und  nichts  gesehen 
haben  willst,  der  du  nichts  siehst  und  alles  gesehen 
haben  willst,  Bordellwirt  zweier  Reiche,  du  in  Kalks- 
•  bu)rg  geborener  und  nach  Budapest  zuständiger,  mehr- 
fach vorbestrafter,  öfter  aus  der  Zivilisation  abge- 
schobener warmer  Betbruder,  du  Voyeur  mit  dem 
ewiff  zugedrückten  und  dem  Auge  des  Gesetzes,  dw 
du  in  Abenteuer  tölpelst,  wenn  es  verlangt  wird,  du 
Mächtiger  über  die  Schwachen  und  Schwacher  vor 
der  Frau  Sachs  I  Wie  oft  habe  ich  dich^packt,  wie 

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ofk  didi  gebeten:  ta's  nicht;  m  nicht  niedertriehtig, 
warn  du  nicht  die  Kraft  hast»  es  bis  ans  Bnde  in 
aein,  wie  jener  preuflisohe  SchiitKnann,  dessen  Beispiel 
dich  Teriockt  hat ;  spiel  dich  nicht  auf  mit  der  Dei^, 
dafl  es  noch  Richter  in  Osterreich  gibt,  so  lange 
ESuropa  das  unerschütterliche  Vertrauen  in  die  Wahr- 
heit hat,  daft  man  sich  in  Osterreich  noch  alles 
lichtMi  kann.  Wie  oft  habe  ich  dich  ^beten:  tu's 
nieht,  und  du  tatest  es  doch  und  schicktest  deine 
Rtehter  Aber  deine  Huren.  Wie  habe  ich  dir  mit 
etilem  Buch  auf  den  Schädel  geschlagen,  dafi  ich 
hcflhm^  die  Unrereinbarkeit  von  Sittlichkeit  und 
Kriminalität  werde  dir  autgehen,  ohne  dait  dir  aus 
der  LektOre  ein  innerer  Schaden  entstände.  Aber  du 
schämst  dich  deiner  Beiden  nicht  und  lachst  des 
Versuchers.  Und  protsest  gar  mit  der  Unschuld  deiner 
PolisisteD.  Denn  sie  sind  swar  durdi  die  Riehl  lu 
Fialle  gebracht  worden,  aber  ihre  Jungfräulichkeit 
blieb  länger  bewahrt  als  selbst  die  der  armen  Miesi. 

Zigeunermusik  umwort  wimmernd  das  Ohr  be* 
sdigter  Pferdehändler  und  ermannt  sich  sofort  su 
mntisrer  Melodie,  wenn  die  rem  k.  u.  k.  Ulanen*- 
regiment  u.  s.  w.  das  Lokal  betreten.  An  den 
Tillchen  sitien  Larren,  die  genug  fühlende  Bruat 
haben,  um  dem  heimischen  Qeschmack  su  gefallen, 
der  immer  etwas  sum  Anhalten  braucht,  weil  ihm 
die  Phantasie  ihre  EBlfe  rersagt  hat.  Das  sind  die 
Buffetdamen.  Die  sich  an  ihrer  Seite  des  Liebens 
freuen,  das  sind  die  Wuraen.  Eros  ist  Vertreter  einer 
Sektfinna  und  dank  einer  aufnmrksamen  Bedienung 
sind  die  Flaschen  rascher  gewechselt  als  geleert  Bin 
ZiMt  Ton  BOrgerssOhnen,  die  im  Taillenrook  wie 
Piqypen  aussehen,  nur  geistig  wenig^  regsam  sind, 
durchschreitet  spähend  den  Qualm,  die  Kellner,  die 
den  fransOsieohen  Adelstitel  MarkOre  führen,  geben 
die  gewfinschten  Auskflnfte.  Artisten,  die  obm  im 
BtaUissement  gearbeitet  haben,  versammeln  sich  su 
jener  i^listresen  Geselligkeit,  die  die  Staatsanwälte 


_     4    — 


für  ein  Lotterleben  halten,  ein  Bankkommis  erklärt 
sich  durch  Zerschmetterung  eines  Trinkglases  mit 
der  Aristokratie  solidarisch,  ein  humpelnder  Wagen- 
türöffner erscheint  und  fragt,  ob  die  Ella  schon 
da  sei,  ein  Dichter  bekommt  einen  Tobsuchts- 
anfall, weil  jemand  die  Existenz  der  Frauenseele  ge- 
leugnet hat,  ein  hagerer  Alter  hastet  durch  das  Liokal. 
Er  sieht  mit  flackerndem  Blick  nach  einer  Ecke,  in 
der  getrunken  wird,  ist  beruhigt,  weil  in  der  andern 
Ecke  der  Polieeikommissär  sitat,  und  kehrt  wieder 
um.  Dieser  Alte  wird  nach  vier  Jahren  in  Haft  ge- 
nommen und  dann  zuschwerem  Kerker  verurteilt  werden. 
Er  hätte  nicht  nach  der  Ecke  sehen  sollen.  Er  habe, 
wird  es  heißen,  die  Gesellschaft  durch  seinen  flackernden 
Blick  gestört.  Er  habe  die  Unmoral  in  das  Nacht- 
cafö  getragen.  Zigeuner,  Pferdehändler,  Marköre  und 
Toilettefrauen  werden  als  Zeugen  wider  ihn  aufstehen, 
und  das  Gericht  wird  blofi  das  Urteil  bestätigen,  das 
die  Nachtkassierin  schon  längst  über  ihn  ^efSUt  hat: 
daß  er  ein  Strizzi  sei.  In  der  Urteilsbegründung  wird 
der  Gerichtshof  ausdrücklich  betonen,  er  wolle  dem 
Nachtcaf^  selbst  nicht  nahetreten,  aber  der  Angeklagte 
habe  durch  seine  geschäftliche  Verbindung  mit  diesem 
das  Delikt  begangen.  Die  Gäste  werden  sagen,  dafi 
sie  es  immer  gesagt  haben,  es  sei  eine  Schande,  dafi 
der  Vater  ihnen  seine  eigene  Tochter  verkupple, 
die  Schande  selbst  wird  sagen,  es  sei  eine 
Schande,  und  sogar  die  Nachtlo^redakteure  werden 
empört  sein,  die  um  die  Mizzi  bei  Lebzeiten  herum- 
gestrichen sind,  als  ob  sie  eine  Wasserleiche  witterten, 
oder  in  der  Hoffnung,  gratis  ihrer  Prostitution  teil- 
haftig zu  werden.  Der  Leiter  eines  bekannten  Er- 
ziehungsheimes, das  Venedig  in  Wien  heifit,  wird  be- 
kunden, man  habe  ihn  sofort  auf  den  Mann  aufmerksam 
gemacht  und  es  sei  diesem  der  Besuch  der  Anstalt  unter- 
sagt worden,  so  dafi  er  sich  nicht  mehr  nach  den  Fort- 
schritten der  Tochter  erkundigen  konnte;  auch  habe 
er  dem  Mädchen  selbst  wiederholt  Vorstellungen 
gemacht.   Die  ,Neue  Freie  Presse^  wird  einen  Leit- 

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—    5 


artikel  bringen^  in  dem  ausgeführt  ist,  dafi  es  ein 
Zeichen  der  Reaktion  sei,  wenn  die  Theatersensur 
den  Werken  unabhängiger  Dichter  Schwierig- 
keiten in  den  Weg  lege,  aber  der  Hochadel  sich 
ung^tört  sinnlichen  Vergnügungen  hingeben  dürfe. 
»Freilich,  als  die  Geigen  klangen  und  die  Champagner- 
propfen  knalltenc,  wird  es  heißen,  »als  helles  Frauen- 
lachen erscholl  und  elegante  Herren  im  Frack  sich 
Iftssig  auf  ihren  Sessel  lurücklehnten  und  den  Dampf 
feiner  Zigaretten  in  die  Luft  bliesen  . .  .c  Aber  jetzt, 
wird  es  heißen,  »sind  diese  Nächte  längst  vergangen, 
die  Geigen  klingen  schrill  und  das  Frauenlachen  grell 
und  geUendc.  Die  liberale  Presse  wird  »Klarheit  und 
Wahrheitc  verlangen,  denn  wir  stecken  tief  im  Vor- 
aiärs,  wenn  es  möglich  ist,  dafi  eine  Buffetdame  mit 
der  Schande  ihres  Leibes,  wird  es  heißen,  ihre  Familie 
ernährt.  Die  Aristokraten  sind  an  allem  schuld,  werden 
die  einen  sagen,  die  Juden  sind  an  allem  schuld,  werden 
die  andern  sagen«  Und  die  Nachtportiers,  die  Hotel- 
Stubenmädchen  und  die  Fiaker  werden  bekimden,  welche 
Schmach  sie  durch  vier  Jahre  gegen  ein  relativ 
gerini^s  Trinkgeld  ertragen  muSten.  Er  hat  —  Nun, 
was  hat  er  denn?  —  Er  hat,  aber  Herr  kaiserlicher 
Rat,  dOs  kamma  ja  gar  nOt  aussprechen!  Er  hat  ganz 
gut  g'wußt,  daß  dös  Madel  —  Nun,  was  hat  sie  denn? 
Na  ja,  sie  hat  halt  einen  Lebenswandel  geführt.  Einen 
Lebenswandel  hat  sie  halt  g'fQhrt . .  .  Und  das  Volk, 
in  dem  ein  gesunder  Kern  steckt,  wird  sich  an  dem 
Wort  Lebenswandel  berauschen,  bis  sie  alle  besoffen 
sind,  und  die  Richter,  sie  hören  es  gerne,  und  die 

Sanae  menschliche  Gesellschaft,  die 'durch  vier  Jahre 
en  sittlichen  Ruf  der  Nachtcafes  verteidigen  mußte, 
wird  einen  Veitstana  aufführen,  bei  dem  em  einziger 
hinfällt  und  die  andern   fröhliche  Urständ  feiern. 

Denn  sie  hat  in  der  Tat  einen  Lebenswandel 
geführt.  Selbständig,  heißt  es,  war  sie  darin  nicht, 
liin  rauher  Stiefvater  hat  sie  frühzeitig  verhindert, 
Telephonistin  au  werden.  Nicht  einmal  in  eine  Zünd- 

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hfllMhftnfabrik  «msatreton  oder  sioh  sur  Tftbak- 
arbtttorin  ftiUBubildeo,  hat  er  ihr  erlaubt  Im  GeMB* 
teil  wurde  sie  von  Jugend  auf  ttienge  daau  angrehattea, 
das  Lfeben  Ton  seiner  heiteren  Seite  su  nehmen  und 
einen  Trieb  au  entwickeln,  der  dem  Weib  als  sdüimm- 
ster  Makel  anhaftet:  den  lifinnam  au  gefallen.  Ihr 
Stiefvater  verlangte  von  ihr,  dafi  sie  hübsch  sei  und 
es  nicht  einmal  verberge.  ISr  erniedrigte  sie  also  daau, 
aus  einem KörperfehlerydessenTrftgerinnendie  mensdi- 
liehe  Qesellschaft  einen  Bettelpfennig  und  ihre  Vor* 
achtung  hinwirfti  Gtowinn  su  sieben.  Wäre  sie  ohne 
Hände  auf  die  Welt  gekommen,  so  wäre   es  sittlich 

Swesen,  davon  au  leben,  wenn  auch  als  Vagaboo- 
ge  strafbar.  Aber  weil  ihre  Hände  schön  waren, 
so  war  sie  ein  unehrlicher  Erflppel,  und  wieder 
vom  Vagantengeseti  bedroht  Der  Vater,  der  dieae 
Hände  nicht  daau  iwang,  sich  in  einem  Comptoir  oder 
einer  Fabrik  lu  schänden  su  arbeiten,  handelte  ver- 
brecherisch an  ihr.  Sie  sank  so  tief,  daß  ihre  Formen 
allmählich  in  einer  Toilette  aur  Ueltung  kamen,  anstatt 
sich  von  einem  Kittel  verhallen  au  lassen.  Solche 
Schaustellung  ist  Prostitution,  und  wer  sich  ihr  ergibt^ 
wird  umsomehr  verachtet,  als  er  dem  empOrten  Be» 
trachter  ein  ästhetisches  Behagen  verursacht,  während 
die  Gebrechen,  die  die  anderen  KrOppel  aeigen,  bloä 
ethische  Empfindungen  wachrufen.  Die  llntsohul- 
digung,  dafi  ein  Weib  fflr  seine  Schönheit  nichts 
kann,  läfit  die  Kultur  nicht  gelten,  weil  sie  tau- 
send Hüllen  bereit  hält,  das  Übel  au  bergen.  Bin 
Vater,  der  die  Schaustellung  fördert  oder  duldet, 
macht  sich  eineff  Verbrechens  schuldig.  Miasi  Veiidi 
wurde  daau  eraogen,  sich  das  Wohlgefallen  und  so- 
mit die  Verachtung  der  bürgerUohen  Gesellschaft  au 
verdienen. 

Manche  geht  in  einem  Konflikt  augrunde, 
der  das  einaige  tragische  Problem  bedeutet,  au  dem 
sich  die  Menschheit  aus  den  Niederungen  der  christ- 
lichen Moral  emporgerungen  hat,  manches  aur  Liebe 
bestimmte    Oesohöpf  wird    das   Opfer    des   groSen 

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—   7    — 


ehrittlicheii  NSohstenhasses.  Sie  setien  sich  allen 
Pfeflen  aus,  die  die  soaiale  Welt  für  ihre  Leug- 
ner bereit  hält,  leisten  der  Natur  Qefolgschaft  und 
geben  in  dem  Vernichtungskriege  unter,  der  das 
hehrste  Schauspiel  dieser  subalternen  Zeit  Torstellt. 
Was  weiß  ein  Staatsanwalt  davon?  Verstände  er  es, 
wenn  ihm  ins  Hirn  gebrannt  wflrde,  daB  das  Huren- 
tum  das  letzte  Heroentum  einer  ausgelaugten  Kultur 
bedeutet?  Oder  es  ist  blofi  eine  soziale  Notwendigkeit, 
md  Hunderttausende  opfern  sich  einem  Beru^  der 
Achtung  verdient  wie  ein  anderer  und  dessen  Ver- 
ächter sich  httten  sollten,  Vergleiche  mit  Wert  und 
Nutaen  ihres  eigenen  Berufes  au  provozieren.  Hundert- 
tausende folgen  keiner  Naturbestimmtmg,  sie  sind  Ver- 
lorene, schreiben  Tagebflcher  und  ihr  Schicksal,  fem 
aUergrofien  Tragik,  weckt  jene  Trauw,  die  die  Unfalls- 
(dironik  füllt  und  die  das  mesquine  Elend  auf  allen 
Straften  erseugt,  wenn  wir  nur  genug  christliche 
liebe  vorrätig  haben,  sie  zu  empfinden.  Vielleicht 
hat  Mizzi  Veith  zu  den  vielen  gehört,  die  man  be- 
dauern, und  nicht  zu  den  wenigen,  die  man  bewun- 
dem sollte.  Dann  hat  sie  doch  einem  Zweck 
gelebt,  der  so  reell  und  lauter,  so  praktisch  und 
ethisch  berechtigt  ist  wie  die  Aufgabe,  die  Ansprüche 
des  Publikums  am  Postschalter  va  befriedigen.  Dann 
bat  sie  nicht  ihrer  eigenen  Notwendigkeit  geholfen, 
aber  der  fremden,  und  ihrer  eigenen  Not.  Dann  hat 
die  Gesellschaft  die  allergeringste  Berechtigung,  einen 
Vater  au  tadeln,  der  bei  der  Berufswam  für  sein 
Kind  dem  gröfiten  Vorteil  der  Familie,  und  dem 
stlrksten  sozialen  Interesse  zugleich  gedient  hat.  So 
wie  ich  das  arme  GtoschOpf,  dessen  toter  Leib 
heute  noch  für  Reklaroezwecke  gut  genug  ist,  in 
Brinnerung  habe,  war  Mizzi  Veith  unter  Larven 
ein  Lärvchen  und  kein  Dämon  trieb  sie  auf  den 
KriegspfSad  gegen  die  christliche  Welt  Sonst  hätte 
wohl  ihre  Natur  auch  nicht  so  lange  dem  Zügel  des 
Vaters  pariert  Immerhin  war  hinreichend  Lust  da, 
lu  leben  und  zu  lachen,  um  den  Sporn  des  Vaters 

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—   8  ~ 


nicht  als  Druck  su  fühlen.  Aber  ich  mufi  mir  ihren 
Fall  stilisieren.  Denn  dieser  nichtsnutsige  Wechsel- 
balg einer  Lebensansicht,  die  sich  ethisch  dünkt, 
seitdem  sie  luetisch  gewerden  ist,  besprenst  mir  blind 
die  Heiligtümer  der  Lust  wie  ihre  Betriebsstätten, 
hetzt  Göttin  und  Dienstmagd  zu  schänden  und  weidet 
so  den  viehischen  Trieb  nach  Sittlichkeit,  dafi  die 
Wiesen  hysterisch  werden  und  die  Natur  das  Schä- 
men erlernt.  Ich  mufi  den  Fall  der  kleinen  Mizzi  Veith 
vergröfiem,  denn  die  moralische  Welt  hat  eine  prin- 
zipielle Gebärde  der  Bestialität  und  statuiert  Exem- 
pel,  wo  kaum  ein  Beispiel  geschah.  Man  könnte  in 
ihre  Tiefebene  steigen,  um  ihren  Mangel  an  Perspek- 
tive zu  beweisen  und  daß  ihre  Dummheit  in  sich 
selbst  gegründet  sei.  Aber  wenn  ich  schon  der  Zeit- 
genosse ihres  Wahnsinns  sein  mufi,  dann  will  ich  mich 
lieber  in  die  Lage  eines  Satumbewohners  versetzen, 
der  zufällig  das  Glück  hat,  als  Vertrauensmann  einer 
geheimen  Verhandlung  vor  dem  Wiener  Landes- 
gericht beizuwohnen. 

Dann  scheint  mir  die  Welt  so  problemarm,  wie 
am  Tage,  bevor  sie  erschaffen  war.  Ihr  einziger  gor- 
discher Knoten  —  aus  einem  Häutchen  gedreht; 
und  darüber  kommt  kein  Alezander  hinweg. 
Wie  sollte  es  einem  verkrachten  päpstlichen  Conte 
gelingen?  Unermüdlich  jagt  er  dem  Phantom  nach, 
das  die  jüdisch-christliche  Lebensmoral  für  alle  Zeiten 
geheiligt  hat.  Ein  Don  Quichote  des  Virginitäts- 
ideals,  der  konsequenteste  Typus  des  Sittenrichters, 
die  Vollendung  in  der  Karikatur,  die  den  Schutz 
der  Jungfräulichkeit  sogar  noch  im  Nachtcaf^  betätigt. 
Dafi  ihn  die  Sittlichkeit,  der  er  alles  und  sogar  sie  selbst 
geopfert  hat,  schliefilich  im  Stich  läfit,  macht  ihn 
zum  christlichen  Märtyrer  des  Christentums.  Dieses 
hat  die  Ghristenverfolgungen  als  eigenes  Rc^erungs- 
prinzip  übernommen  und  übt  es  an  allen  jenen  Be- 
kennem,  die  den  Glauben  auf  die  Spitze  treiben.  Ein 
zerknirschteres  Zugeständnis  an  die  herrschende 
Moral  und  ein  ergreifenderer  Hohn  auf  ihre  Unerbitt- 

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—  9  — 


liohkeit  läßt  sioh  nicht  denken,  als  das  Leben  und 
Bnde  dieses  Vaters,  der  alles  mit  seinem  Kinde  ge- 
schehen lieft,  was  die  menschliche  Gesellschaft  freut, 
ohne  das  letite  Band  zerreiften  zu  lassen,  welches 
mit  ihrer  Achtung  verbindet.  Er  weiß,  wo  Gefahr 
droht;  mag  das  Verderben  mit  hundert  Zungen  dem 
ihm  anvertrauten  Pfand  nahe  sein,  er  wacht  darüber, 
dafi  es  nicht  verloren  gehe.  Wie  ein  Türmer  lugt  er 
in  alle  Richtungen,  wie  ein  Späher  erkundet  er  die 
Situation  in  Feindesland.  Durch  vier  Jahre  steht  er 
auf  der  Hut  und  jeden  Augenblick  glaubt  man, 
jetzt  werde  er  eine  Lache  aufschlagen  über  eine 
Sittlichkeit,  die  ihn  zu  solchem  Dienste  zwingt.  Aber 
er  beherrscht  sich  und  mit  unerschütterlichem  Ernst 
geht  er  an  seine  Aufgabe,  hastet  Nacht  für  Nacht 
durch  Qualm  und  Gewimmel,  ruft  Kellner  und 
Kutscher  zum  Konsilium  und  ist  erst  beruhigt,  wenn 
er  den  Regierungsvertreter  an  seinem  Tische  sieht. 
Eine  widerliche  RolU^  sagt  die  undankbare  Moral, 
da  ihr  dieser  Vater  nach  vier  Jahren  schufirecht 
präsentiert  wird.  Widerlich?  Ein  Vater!  Widerlich 
höchstens,  daS  er  es  war.  Man  hat  keine  Zeit 
SU  Familiengefühlen,  man  hat  sie  in  der  sozialen 
Ordnung  verlottern  lassen.  Sie  sind  so  herunter- 
gekommen, dafi  man  einen  Klassiker  lesen  mufi,  um  sie 
in  ihrer  ersten  Frische  zu  empfinden.  Hier  aber  hat 
einer  sie  im  Nachtcaf^  rehabilitiert.  Wir  erkennen 
»e  wieder;  denn  uns  sind  sie  nicht  im  Strom  der 
Welt,  sondern  in  uns  selbst  abhanden  gekommen. 
Und  wenn  je  Familienbande  für  die  Ewigkeit  ge- 
schmiedet schienen,  so  war  es  die  Zärtlichkeit,  die 
diesen    Zuhälter    und    sein    Kind     verband.     Der- 

51eichen  löst  nur  ein  Polizeiprotokoll  I  Was  mir  die 
ingelegenheit  widerlich  macht,  ist  die  Kompromit- 
tierung des  Freudenlebens  durch  familiäres  Senti- 
ment.  Aber  die  bürgerliche  Gesellschaft  sollte  zu 
dem  Manne  aufblicken,  welcher  den  Gefühlsinhalt, 
der  ihr  längst  zur  Form  erstarrt  war,  neu  belebt  und 
ein  Vorbild  geschaffen  hat  für  ein  väterliches  Pathos, 

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—  10  - 


das  sie  in  dsr  kaufroftnnischen  Prosa  des  Lebens  so 
lange  schon  entbehren  mufite.  Ein  den  Bedarfnissen 
der  Neuzeit  angepafiter  Odoardo  läßt  es  bis  sum 
Äußersten  kommen,  aber  rast  dann  nicht  minder. 
Wir  hören  TOne,  fttr  die  heute  auf  der  deutschen 
FaroilienbUhne  der  Stil  verloren  gegangen  ist.  Nach 
▼ierjährigem  Kokottenleben  tut  eine  den  Ausruf: 
»Vater  I  Du  wirst  mich  ^ewiS  davonjagen,  weil  ich 
das  getan  habeU  Die  Erkenntnis:  »Vater,  was  hab' 
ich  getan  Ic  gellt  durch  die  Affäre,  und  man  erwartet, 
dafi  ein  augeoroliender  Alter  mit  grofier  Gebärde 
aum  Dolch  oder  wenigstens  aum  Sohleier  ereift.  Veiths 
Schmers  t&ber  das  Malheur  seiner  Tochter,  sein 
Zorn  gegen  den  » Verführer c  ist  echt  wie  nur  der 
eines  Verrina.  Und  gana  im  Stil  einer  sentimentalen 
Luise  ist  es,  wenn  das  Mädchen  sich  vor  dem 
Alten  aufs  Bett  wirft  und  ruft:  »Mein  Vater  hat 
mich  nicht  verkuppelt  I  Mit  diesen  Worten  gehe  ich 
SU  Oottlf  Der  Vater  diktiert  ihr  den  Abschiedabrief 
an  den  Oeliebten  »in  die  Feder« :  Ihre  Hand  schrieb, 
was  ihr  Hers  yerdammte  —  fast  mit  diesen  Worten 
sagt  es  der  Staatsanwalt.  Nur  ist  hier  der  Alte  Wurm 
und  Miller  in  einer  Person  und  Ferdinand  der  Ver- 
führer. Fast  hOrt  man  diese  Sätae:  »Der  Segen 
war  fort  aus  meiner  Hütte,  sobald  Sie  einen  Fuft  darein 
setsten.  Sie  haben  das  Elend  unter  mein  Dach  ge* 
rufen,  wo  sonst  nur  die  Freude  au  Hause  war.  Sind 
Sie  noch  nicht  aufrieden?  Wollen  Sie  auch  in  der 
Wunde  noch  wühlen,  die  Ihre  unglückliche  Bekannt- 
schaft meinem  einzigen  Kinde  schlugfc  Die  Antwort: 
»Was  willst  du,  Uraukopf?  Mit  dir  hab'  ich  nichts 
SU  schaffen.  Hast  du  die  Weisheit  deiner  seohaig 
Jahre  su  den  Buhlschaften  deiner  Tochter  geborgt 
und  dies  ehrwürdige  Haar  mit  dem  (bewerbe  eines 
Kupplers  geschändet?«  •  • .  »Die  Zeit  meldet  sich  all- 
gemach bei  mir,  wo  uns  Vätern  die  Kapitale  su 
Statten  kommen,  die  wir  im  Heraen  unsrer  Kinder 
anlegten  -^  Wirst  du  mich  darum  betrügen,  Luise?. . . 
[  0  Tochterl  Tochter!  gefallene,  vielleicht  schon   ver* 


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—  11  — 


loraiie  Toohteric  »loh  will  in  den  Phiit  spriii|[en, 
Vater,  und  im  Hinuntorsinken  Gott  den  Allmächtigen 
um  Erbarmen  bittende  »Hurol  rede  deutlicher ..  .c 
(Spricht  SU  sich  selbst:)  »Geduld,  armer,  unglOcklicber 
Vater  I  Warte  ab,  bis  es  Morgen  wird.  Vielleicht 
kommt  deine  Einsige  dann  ans  Ufer   geschwommen 

Gottl  Gottl  Wenn  ich  mein  Hers  su  abgöttisch 

an  diese  Tochter  hing?  —  Die  Strafe  ist  hart  Ich 
will  nicht  murren,  himmlischer  Vater,  aber  die  Strafe 
ist  hirt.€  Es  ist  das  erste  bOrgerliche  Familien- 
drama, dessen  Gestus  sich  wieder  sehen  lassen  kann, 
und  es  ist  der  erste  Versuch,  eine  seitgeborene 
Handlung  in  feierlichem  Schritt  su  führen.  Der 
flache  Geschmack  unserer  Tage,  der  nur  das  Stoff- 
liche schmeckt,  mag  daran  Anstofi  nehmen.  Aber 
<tor  scheint  mir  den  wahren  Blick  fttr  das  Theater 
des  Lebens  su  haben,  der  heute  imstande  ist,  eine 
sentimentale  Liebhaberin  an  dem  Hersenston  su 
erkennen,  mit  dem  eine  sagt:  »Gib  mir  nicht  fOnfsig 
Mark,  gib  sechsig  Ic 

Inid  dort  trat  ein  Meister  Anton  kopfschüttelnd 
▼on  der  Ssene,  der  die  Welt  nicht  mehr  versteht, 
die  er  so  gut  verstanden  hat.  Denn  ihre  wilden 
Krieger  können  über  alles  leicht  wegkommen,  wenn 
ihnen  nur  die  Hoffnung  auf  den  Sktup  der  Jungfrau 
bleibt.  Der  ihn  gegen  den  Willen  des  Vaters  davontrug, 
ist  der  sympathische  Held  des  Dramas  und  darf  auf 
die  stilvolle  Bemerkung  des  Richters:  »Sie  ist  nicht  un* 
schuldig  gestorben,  da  war  nichts  mehr  su  verkaufenc, 
stols  erwidern:  »Daran  bin  ich  sohuldlc,  worauf  Zeuge 
den  Tag  angibt,  »an  dem  seine  Beziehungen  su  Missi 
Veith  sich  su  intimen  gestaltet  habenc.  Er  hat  sie 
aus  reinen  Motiven  »drangekriegtf  und  ist  deshalb 
der  Vertreter  einer  wahrhaft  sittlichen  Lebensan- 
schauung,  während  der  betrogene  Vater  blofi  der  Ver- 
treter der  starren  Konvention  ist,  welche  die  moralische 
Forderung  überspannt  hat  und  deshalb  von  der  Moral  im 
entscheidenden  Moment  verleugnet  wird.  Der  öffentliche 
Ankläger  feiert  jenen,  dem  das  Auflerordentliche  ge* 

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—  12  - 


langen  ist,  wie  man  einen  Bahnbrechefi  einen  Pfad- 
finder, einen  Eroberer  feiert,  und  der  andere,  der  an 
der  Überlieferung  festhielt,  ist  ein  Auswurf  der 
Menschheit.  So  ist  die  Welt.  Aber  übertragen  wir 
den  Fall  einmal  aus  dem  Familienleben  der  E^utique 
in  die  Boutique  des  Familienlebens.  Die  Presse,  aus 
deren  Annonoenteil  Stammbäume  wachsen,  meldet 
mit  ironischer  Gebärde :  »Ein  anderer  Liebhaber,  der 
sich  erbotig  gemacht  hat,  200.000  Kronen  für  Miesi 
anzulegen,  sei  ron  ihr  abgewiesen  worden,  weil  er 
einen  Kropf  hatte.  Mit  Bedauern  bemerkt  der  An- 
geklagte SU  diesem  Punkte:  ,Und  er  hätte  sie  in 
Gfold  gekleidetPc  Soloher  Schmerz  eines  aus  allen 
honetten  ErwerbsmOglichkeiten  gejagten  Menschen 
weckt  in  den  Gemütern  der  journalistischen  Schadehen 
nur  überlegenen  Hohn.  Man  nenne  mir  aber  die  Leser 
der  ,Neuen  Freien  Presse^  die  Töchter  zu  versorgen 
haben  und  nicht  in  jedem  Falle  einen  gefüllten  Kropf 
einer  leeren  Tasche  Vorzügen.  Dafi  ein  grauslicher 
Rabbiner  dabei  ist  und  zur  Mißheirat  noch  ein  lautes 
vernehmliches  Ja  verlangt  wird,  das  allein,  ihr  Hunde, 
soll  den  ethischen  Wertunterschied  ausmachen?  Dafi 
sich  Herr  Siegfried  Abeles  aus  Deutschbrod  nach 
schwerer  Mühe  und  Einsicht  in  die  Geschäftsbücher  mit 
Fräulein  Rosa  Bachrach  aus  Arad  verlobt  hat,  das 
dünkt  euch  appetitlicher  als  die  Versuche  eines  Aus- 
gestofienen,  seiner  Tochter  ein  annehmbares  Ver- 
hältnis zu  verschaffen?  Und  den  alten  Bachrach,  der 
zu  toben  begänne,  wenn  sein  Roserl  einen  hergelaufenen 
Bocher  anstatt  des  Sohnes  der  Firma  Abeles  begehrte, 
und  der  sie  bis  ins  dritte  Geschlecht  verfluchte,  wenn 
sie  das  wichtigste  Wertobjekt  der  Inventur  ver- 
schleuderte, ihr  würdet  ihn  entschuldigen?  Ihr,  die 
ihr  die  Monogamie  mit  »Einheirate  übersetzt,  mögt 
freilich  vor  krimineller  Verantwortung  geschützt  sein; 
denn  in  euren  Geschäftsbüchern  ist  der  Schandlohn, 
den  ihr  aus  den  Kindern  zieht,  nur  eine  versteckte 
Reserve.  Aber  gerade  deshalb  reicht  euer  Treiben 
an  die  ethische  Lauterkeit  des  Mädchenhandels  nicht 


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13 


heran I  Das  stolze  Wort  des  Kupplers:  »Eine  brave 
Tochter  ist^  die  keine  Mittel  scheut,  um  ihren  Eltern 
Bu  helfen c^  flößt  euem  Staatsanwälten  Entsetzen  ein. 
Sie  sagen:  »Er  leugnet  nicht,  sie  in  die  Lebewelt  ein- 
geführt zu  haben,  um  sie  aushalten  zu  lassen  -  das 
allein  ist  schon  ein  Geständnis  der  Euppeleic.  Der 
Hebe  Staatsanwalt  mag  innerhalb  der  Möglich- 
keiten eines'  aus  dem  sittlichen  Irrsinn  gezeugten 
Gesetzes  Recht  haben.  Wie  stand  der  Angeklagte 
da,  der  »zugeben  mußte,  daß  er  das  Mädchen  in  eine 
Welt  eingeführt  hat,  in  der  man  sich  nicht  langweilt«! 
In  einer  Welt  aber,  in  der  solche  Aussage  em  »Ge- 
ständnis« und  solches  Geständnis  die  Verurteilung 
wegen  Verbrechens  bedeutet,  und  in  der  die  Lange- 
weile ein  Lebensziel  ist,  mag  der  Herr  Bachrach  aus 
Arad  ein  Ethiker  sein;  denn  er  zwingt  seine  Tochter, 
in  dem  Kommis,  den  er  ihr  zuführt,  den  einen  und 
einzigen  Kommis  zu  lieben,  außer  welchem  kein 
anderer  Kommis  ist  auf  Erden,  er  gibt  ihr  nebst  der 
Langeweile  den  lebenslänglichen  Ekel  zur  Mitgift 
und  macht  sie  hysterisch  bis  ins  dritte  und  vierte 
Geschlecht.  Der  Unterschied  zwischen  dem  Leben 
einer  Mizzi  Veith  und  dem  Leben  der  Rose  von  Arad 
ist  der,  daß  vor  den  Kohorten  der  Widerwärtigkeit, 
mit  denen  jene  es  aufnimmt,  ihr  Wahl  und 
Wechsel  bleibt,  während  diese  das  Paar  Schweißfüße, 
das  ihr  die  Vaterliebe  gesellt  hat,  als  ein  Gnaden- 
geschenk des  Schicksals,  als  die  Erfüllung  all  ihrer 
Lebenswünsche  und  als  die  unabänderliche  Fasson 
der  Männlichkeit  betrachten  muß.  Daß  die  so  versorgten 
Jung:frauen  nicht  samt  und  sonders  am  Hochzeitstag  ins 
Wasser  gehen,  zeugt  für  die  gesunde  Prostitutionsfähig- 
keit ihres  Geschlechtes,  der  keine  Familienerziehung 
etwas  anhaben  kann.  Wohl  aber  verdirbt  diese  den 
Charakter  und  macht  ihn  zu  heroischen  Entschlüssen 
unfähig.  Denn  Mizzi  Veith  hatte  den  Geliebten  ihrer 
Wahl  und  nahm  sich  das  Leben,  weil  die  Polizei  ihr 
den  Vater  nahm. 

Was  dieser  da  getan  und  geduldet  hat,  ist  zehn- 


—  14 


tauBendmal  ästhetischer,  ehrlicher,  mit  Menschenwürde 
und  Gottes  willen  vereinbarer»  als  was  an  einem  Tag  zehn- 
tausend bürgerliche  Väter  tun  und  fordern.  Trotzdem 
ist  es  hier,  wie  in  jedem  Fall  einer  sittlichen  Ver- 
fehlung der  Justiz,  notwendig,  die  sogenannte  Schuld- 
frage zu  bejahen,  um  sich  über  die  Unschuld  des 
Angeklagten  klar  zu  werden.  Der  juristische  Be- 
weis war  brüchig,  aber  Veith  hat  Ineinetwegen 
nicht  nur  > Unterschleif c  oder  »Unterschlupf«  gewährt 
oder  wie  der  terminologische  Blödsinn  sonst  heifien 
mag,  den  erwachsene  Richter  in  den  Mund  zu  neh- 
men sich  nicht  scheuen,  er  hat  auch  »Gewinn  aus  der 
Schande  seiner  Tochter«  gezogen.  Er  hat  also  eine 
strafgesetzlich  erlaubte  Handlung,  die  Prostitution 
seiner  Tochter,  geduldet  und  eine  ethische  Handlung, 
die  Unterstützung  eines  Vaters  durch  sein  Kind,  ge- 
fördert. Der  Konnex  einer  erlaubten  und  einer  sittlich 
gebotenen  Handlung  bildet  das  Verbrechen  der 
Kuppelei.  Ich  wohne  nur  mehr  als  Saturnbewohner 
den  irdischen  Affenkomödien  bei,  ich  bringe  die  Em- 
pörung des  Erdensohnes  nicht  mehr  auf,  die 
vieleicht  wirksamer  wäre.  Dafi  die  Sittenpolizei, 
diese  direkt  aus  dem  Chaos  erschaffene  Institution, 
Lizenzen  an  Prostituierte  erteilt  und  die  »Aus- 
übung des  Schandgewerbes«  von  keinem  Be- 
föhigungsnachweis,  wohl  aber  von  der  Zustimmung 
des  Vaters  oder  Vormundes  abhängig  macht,  wir 
hören  es  und  sinds  zufrieden.  Dafi  Töchter  ihre  Väter 
unterstützen,  wenn  diese  erwerbsunfähig  sind,  er- 
scheint uns  natürlich.  Daß  sämtliche  Buffetdamen, 
die  vier  Jahre  lang  sich  die  Konkurrenz  der  Mizzi 
Veith  gefallen  lassen  mußten,  irgendwo  eine  alte 
Gemüsefrau  oder  einen  alten  Landbriefträger  haben, 
dem  sie  monatlich  Geld  schicken,  —  es  schiene  uns 
unchristlich,  wenns  anders  wäre.  Und  dafi  Väter 
nicht  immer  Mitgift  zahlen,  sondern  manchmal  auch 
Mitgift  bekommen,  wir  wissen  es.  Aber  ein 
grenzenloses  Staunen  geht  durch  die  Welt,  wenns 
einmal  in  der  Zeitung  stand,  wenn  wir^s  uns  nicht 

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—  15  — 

icebr  bloß  vorstellen  müssen,  sondern  wenns  uns 
ausdrücklich  gesagt  ward.  Die  Moralbestie  braucht 
»PäUec  cum  Frafi,  an  denen  sie  sich  auf  Jahre  hinaus 
gütlich  tut,  und  dankt  dem  Schöpfer,  wenn  sich 
hinter  einem  die  Kerkertür  schließt,  der  von  seiner 
Tochter,  die  ihn  mit  Schätzen  überhäuft  hätte,  Zigarren 
und  Wäsche  nahm.  Und  ein  verwundertes  Summen 
braust  durch  das  All,  weil  sich  herausgestellt  hat, 
daß  Liebe  käuflich  ist,  und  ein  Schrei  der  Entrüstung, 
weil  ein  Vater  das  zynische  Bekenntnis  ablegte: 
»Mir  wärs  recht  gewesen,  wenn  sie  einen  gefunden 
hätte,  der  sie  versorgt  Ic  Wenn  aber  die  empörte 
Moral  der  Sünde  den  Kücken  zuwendet,  dann  sehen 
wir,  daß  ihre  Kehrseite  der  Konkurrenzneid  ist.  Wie 
sollten  die  Bufletdamen  nicht  sittlich  alteriert  sein, 
wenn  eine  andere  größere  Würzen  fand,  und  wie 
sollten  es  die  Richter  nicht  sein,  wenn  sie  Ver- 
gleiche zwischen  ihrem  Gehalt  und  den  Beträgen 
ziehen,  die  in  der  Welt  auf  mühelose  Art  verdient 
werden  können?  Denn  sie  werden  es  nie  einsehen,  daß 
die  Prostitution  die  Menschheit  weiter  bringt  als  die 
Jurisdiktion,  daß  die  Existenz  der  letzten  »Schand- 
dirnec  kulturvoller  und  sauberer  ist  als  die  eines 
Kriminalisten,  der  sich  nicht  scheut,  das  hundert- 
jährige Pöbelwort  in  einen  Mund  zu  nehmen,  den  er 
sich  vieleicht  noch  nicht  einmal  von  dem  Kuß  einer 
Schanddirne  abgewischt  hat.  Sie  brauchte  vielleicht 
bloß  zu  winken,  und  er  kam,  sie  brauchte  bloß  das 
Zauberwort  zu  sprechen:  Gehst  her,  ölender 
Sklave  1,  und  er  nannte  sie  seine  Herrin.  Sie  dient 
einer  Naturnotwendigkeit,  die  unverwüstlich  ist 
und  keiner  Verbesserung  fähig;  er  aber  prostituiert 
sich  einer  miserablen  Gesetzlichkeit,  die  er  nicht 
fühlt  und  die  er  erfüllen  muß,  weil  er  von  ihr 
lebt.  Es  ist  ein  widerwärtiger  Anblick,  einen  Staats- 
anwalt mit  züchtigen,  verschämten  Wangen  vor 
sich  stehen  zu  sehen,  aber  es  ist  eine  unausprechliche 
Schande,  wenn  einer  einen  Glauben  nachbetet,  den 
er  nicht  glaubt,  und  wenn  er  dazu  mit  der  Enthaltung 

263 


16  — 


von  allem  besseren  Wissen  protzt.  Männer  im  Talar, 
die  einen  Sexualprozefl  für  eine  Gelegenheit  zum 
Beweise  ihrer  Keuschheit  halten,  mit  ihrer  Un- 
eingeweihtheit protzen  und  sich  dagegen  verwahren, 
daß  sie  die  Gebräuche  des  Nachtlebens  kennen,  dessen 
Typen  sie  zu  richten  haben:  das  ist  die  schlimmste 
Perversität,  die  solch  ein  Verfahren  ans  Tageslicht 
bringt  I  Da  wird  salbungsvoll  die  Stimme  eines 
»juristischen  Altvatersc  zitiert,  der  das  schöne  Gesetz 
schöner  interpretiert  und  verlangt  hat,  dafidie  Vermitt- 
lung einer  sexuellen  Gelegenheit  »auch  ohne  gewinn- 
süchtige Absiebte  strafbar  sei.  Hol  mich  der  Teufel, 
dieses  Deliktes  würde  ich  mich  jederzeit  schuldig 
machen,  und  wenn  ich  die  Wahl  hätte,  einen  juristi- 
schen Altvater  zu  achten  oder  einer  jungen  Freun- 
din gefällig  zu  sein,  ich  bedächte  mich  keinen 
Augenblick.  Mein  Reinlichkeits^efühl  ist  so  sehr  ent- 
wickelt und  die  ethischen  Hemmungen  in  mir  sind 
so  stark  ausgebildet,  dafi  ich  es  seinerzeit  ver- 
schmäht habe,  Jurisprudenz  zu  studieren.  Welch  ein 
Geschäft,  das  einen  vollsinnigen  Menschen  zwingt, 
eine  Anklageschrift  zu  verfassen  I  Und  eine  solche, 
in  der  der  Satz  vorkommt:  »In  der  Prostituierten- 
laufbahn der  Mizzi  Veith  lassen  sich  deutlich 
drei  Perioden  unterscheiden.  Die  erste  reicht  vom 
März  1904  bis  Ende  1904.  In  dieser  Zeit  besuchte 
Mizzi  Veith  fast  jede  Nacht  »Venedig  in  Wienc,  das 
Etablissement  Ronacher  und  das  dabei  befindliche 
Nachtcafö  . .  .  Die  zweite  Periode,  die  der  Freund- 
schaft mit  Leopoldine  Jellinek,  reicht  von  Ende  1904 
bis  Mai  1906  ...  In  diese  Periode  fallen  Unterhand- 
lungen mit  einem  Russen,  der  ihr  die  Jungfernschaft 
abkaufen  wollte  u.  s.  w.c  Wenn  einer  blofi  Juristerei 
studiert  hat  und  noch  nicht  zu  dem  Gefühl  gelangt 
ist,  dafi  kein  Hund  so  länger  leben  möchte,  so  ist 
ihm  nicht  zu  helfen,  und  dem  Volk  bleibt  die  Aus- 
sicht, der  Lebensfremdheit  einer  Kaste  noch  femer 
Opfer  zu  bringen  und  dafür  höchstens  durch  ein 
Spektakel   entschädigt    zu    werden.    Jedesmal    hofft 


—  17 


man,  jetat  würden  Männer,  die  Vollbarte  tragen  und 
AnscniAuungen  entwickeln  müssen,  die  in  der  Zeit 
vor  der  Pubertät  obligat  waren,  jetzt  würden  sie  die 
Akten  zuklappen  und  erklären,  daß  sie  das  Kinder- 
spiel satt  haben  und  nicht  mehr  mittun ;  und  jedesmal 
hat  man  vergebens  gehofft.  Mit  dem  gleichen  Ernst, 
der  nicht  nach  rechte  und  nicht  nach  links  blickt 
und  nur  hin  und  wieder  nach  oben,  werden  die 
Ereignisse  in  einem  Ghambre  separöe  abgehandelt, 
als  ob  die  Menschheit  hier  einem  noch  nicht  ent- 
rätselten Geheimnis  der  Schöpfung  zum  erstenmal 
nahe  sei.  Qott  weift  alles,  aber  damit  befriedigt  sich 
ein  dunkler  Drang  nicht,  der  die  letzten  Dinge  er- 
kennen möchte,  und  fragt  den  Hausmeister,  ob  er  »etwas 
bemerkte  hat.  Der  Ton  aller  dieser  Peststellungen,  jede 
Gebärde  des  Richters,  jedes  Eopfschütteln  des  An- 
klägers, Scherz  und  Ernst,  Pikanterie  und  Pathos, 
das  ganze  Schauspiel  und  seine  Resonanz  in  der 
Öffentlichkeit,  all  dies  im  Besonderen  und  Allgemei- 
nen, es  dreht  sich  nach  wie  vor  um  die  Angel  der 
Vorstellung,  daß  der  Koitus  als  solcher  ein  Tatbestand 
sei  und  die  Lust  ein  Verbrechensmerkmal,  und  es  setzt 
den  teuflischen  Ursprung  der  aufterehelichen  Liebe  als 
notorisch  voraus.  Wenn  Aphrodite  selbst  herabstiege, 
vor  einem  Wiener  Qericbt  würden  der  Obletal,  der 
Hlawatschek  und  der  Schabeteberger  befragt  werden, 
ob  sie  etwas  bemerkt  haben . . .  Und  es  ist  ein  alter 
Zauber  der  Heuchelei,  daß  in  ihrem  Reigen  die  Sünde 
selbst  nicht  fehlen  will.  Sie  nimmt  an  ihren  Heim- 
lichkeiten teil  und  ist  die  erste,  die  ihr  bei  den 
Aufklärungen  hilft.  Die  willfährigsten  Zeugen  der 
Moral  sind  die  Pächter  der  Freude,  und  wenn  die 
Gerechtigkeit  sich  an  ehrlicher  Entrüstung  über  eine 
Hure  und  eine  Kupplerin  weiden  will,  so  braucht  sie 
blofi  die  Huren  imd  die  Kupplerinnen  als  Zeugen  zu 
mfen.  Die  Frage,  die  alle  Herzen  öffnet,  heifit:  ob 
»etwas  Unrechtes  geschehen  istc.  Damit  umschreibt 
die  Sittlichkeit  ihr  Entsetzen  darüber,  dafi  einmal  in 
dieser  impotenten  Zeit  etwas  Rechtes  geschehen  sein 

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18  — 


lUMinte.  Die  Pichter  der  Freude  mifiTerstohen  luent 
und  meinen  verlef^n,  es  sei  nichts  Rechtes  gesche- 
hen; nicht  »das  Bigentlichec  Dann  aber  werden  sie 
gesprachig  und  rersichern,  daß  sie  in  ihrem  eigenm 
oavon  natürlich  keine  Unmoralität  nicht  dulden  und 
dafi  sie  schon  seit  Jahren  mit  immer  wachsendem 
Ärgernis  das  Treiben  des  Angeklagten  beobachtet 
haben,  und  überhaupt.  Nur  eine  Ghampagnerkneipen* 
Wirtin,  aus  deren  moralischer  Anstalt  du  Lded  »Die 
Mizsi  und  der  Jean  gehn  miteinanda  drahnc  au  den 
Skernen  dringt,  ist  schweigsam;  denn  siebringt  es  nidit 
flbCMT  die  Lippen.  Aber  ule  Institutionen  der  Unmoral 
sind  plOtslich  anerkannt,  wie  die  Justia  die  Paria- 
mente  anerkennt,  an  die  sie  behufs  Auslieferung  eines 
Abgeordneten  herantritt,  und  die  Tugend  verständifft 
sich  mit  dem  Laster  darüber,  dafi  es  ein  Ausnahnssfdl 
war,  der  Konkurrenaneid  ist  ein  Bundesgenosse  der  BSnt- 
rüstung,  und  in  das  Cafö  Ronacher  war  ein  Wehrwolf 
eingebrochen  und  geendet  sind  die  Nächte  der  Not . . . 
Nicht  immer  freilich  fühlt  sich  das  Laster  durch 
seine  moralische  Mission  geschmeichelt  und  findet  es 
manchmal  sosrar  seiner  unwürdig,  die  Orationen  des 
Qerichtshofes  über  sich  ergehen  su  lassen.  So  bemüht 
sich  die  Justia  seit  Jahren  vergebens  um  dieMöglidi- 
keit,  der  Frau  Sachs  durch  Berufung  aum  Zeugen- 
amt  eine  offiaielle  Ehrung  bu  erweisen.  Ihr  Name 
schwirrt  durch  den  Qerichtssaal,  so  oft  eine  kleine 
Kupplerin  eehängt  werden  soll,  und  von  allen  Mienen 
liest  man  das  Bedauern:  Ja,  wenn  wir  die  aJs  Sach- 
verständige hier  haben  konnten  1  Aber  eher  dürfte 
ein  schwärmerischer  Staatsanwalt  die  Hoffnung  hellen, 
in  einem  politischen  Prozeft  werde  die  Austna  emer 
Vorladung  folgen,  eh'  jener  Traum  in  Erfüllung 
gebt.  Mut  kann  die  Sachs  so  wenig  vor  Gericht 
stellen,  wie  man  einen  Ton  oder  ein  Symbol  vor 
Gericht  stellen  kann.  Darum  müssen  sich  die 
Funktionäre  damit  begnügen,  sie  wie  eine  oberet- 
gerichtliche  Entscheidung  bu  aitieren,  wie  eine  Oe- 
setaesstelle  sv   interpretieren  oder  einfach  auf  ihre 

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19  — 


NotorietAt  hinauwaiaen.  Die  Sachs  in  einer  Euppelei- 
iftobe  vor  Qericht  haben  wollen,  das  kommt  etwa  dem 
Verlangen  eines  Reisenden  gleich,  den  Bädecker  per- 
sönlich BU  sprechen,  wenn  ihm  das  Hotel  nicht  gefkUt. 
Bs  gibt  wahrscheinlich  den  einen  so  wenig  wie  die 
andere,  und  die  Gelegenheit,  die  Frau  Sachs  bei 
Gerioht  au  sehen,  ist  jedenfalls  die  einsige,  die 
sie  nicht  Terroittelt.  Und  kein  maßvoller  Beurteiler, 
dw  Respekt  vor  einer  Staatsnotwendigkeit  hat,  wird 
daran  Anstoß  nehmen.  Nicht  die  Zurückhaltung  Tor 
der  Sachs,  die  eine  viel  wichtigere  und  lebens- 
fiLhigere  Institution  darstellt  als  die  Justia,  sondern 
der  SÜfer  gegen  die  kleinen  Kupplerinnen  wird  ihm 
mn  Oefahl  der  Obelkeit  einflößen.  Er  findet  es  be- 
greiflich, daft  sich  ein  Gerichtshof  der  Zeugenaussage 
der  Frau  Sachs  entschlägt,  weil  sie  ihm  aum  Schaden 
gereichen  konnte,  und  er  sieht  ein,  daft  eine  Ver- 
nehmung Tor  dem  Oberstmarsohallamt  das  Verfahren 
unnötig  rerschleppen  würde.  Nur  die  prinzipielle  Ab- 
n«gung  der  Justiz  gegen  das  Delikt  der  Kuppelei  kann 
er  nicht  begreifen.  Nur  die  Distanzlosigkeit  gegenüber 
dem  »Fallt  nicht  und  die  Entfernung  vom  Leben. 
Nicht  das  Pathos  einer  Betrachtung,  die  immer  eine  eben 
erachaflbne  Welt  voraussetzt,  in  der  das  erste  Animier- 
mldehen  den  ersten  Stammgast  verführt.  Nicht  diese 
Pttbeszenz  einer  Amtlichkeit,  Scham  und  Drang  au* 
gleich,  über  die  Geheinmisse  des  Nachtlebens  endlich 
aufgeklärt  zu  werden.  Ach,  man  mufi  nur  die  raunende 
Vertraulichkeit  erlebt  haben,  mit  der  sie  einem  Ober- 
kellner zusetzt,  sein  Herz  von  dem  Kummer  zu  er- 
leichtern, durch  den  eine  von  der  Poldi  ihm  zugesteckte 
Vbitkarte  sein  Familienglück  beschwert  hat.  Ober- 
kellner und  Polizeibeamte  gehen  rein  aus  dieser  Aff&re 
hervor.  »Aus  meiner  zwölfjährigen  Verbindung  mit 
I^r.B.  weift  ich  ganz  genaue,  ruft  ein  Zeuge  pathetisch, 
»daft  er  weiblichen  Einflüssen  absolut  unzugänglich 
istit  In  der  Residenz  des  Herrn  Harden  wäre  solches 
Leumundszeugnis  einfach  vernichtend;  in  Wien, 
wo   goltaeidank    ein   geregelter  Geschlechtsverkehr 


—  20  — 


herrscht,  weift  man,  daft  es  ein  Zeugnis  für  Fleift  und 
gute  Sitten  eines  Beamten  und  Ehemannes  bedeutet. 
Und  alles  heult  vor  Rührung,  weil  es  dem  Herrn  Policei- 
oberkommiss&r  gelingt,  dank  den  über  seine  Sittlichkeit 
hieramts  gepflogenen  Erhebungen  die  diesbeeügliche 
Verleumdung  su  widerlegen.  Nicht,  weil  er  den  Vorwurf 
des  Amtsmiflbrauchs,  sondern  weil  er  den  Verdacht  der 
Ausschweifung  surückgewiesen  hat.  Keusch  ist  er  wie 
Hermione:  ihr  (}ötter,  blickt  herab  I  Und  die  Öffentlich- 
keit erlebt  die  Freude,  einmal  etwasGenaueres  aus  einem 
geordneten  Familieiüeben  zu  erfahren.  »Mein  Leben 
ist  ein  offenes  Buch,  als  Sohn  eines  Arbeiters  war 
ich  von  Jugend  an  auf  mich  selbst  angewiesen.  loh 
habe  ein  armes  Mädchen,  mit  dem  ich  drei  Jahre 
verlobt  war,  zu  meiner  Frau  gemacht  und  lebe  von 
meinem  Qehalte  in  idealer  Ehe,  der  drei  Kinder  ent- 
sprossen sind.«  Wie  rühmlich  das  alles  aber  auch 
sein  mag,  viel  verdienstlicher  ist  eine  andere  Eigen* 
Schaft,  die  der  Gekränkte  in  öffentlicher  Gerichtsver- 
handlung nicht  oft  genug  hervorheben  kann.  Sein  Alibi 
gegen  den  Vorwurf  ehelicher  Untreue  ist  seine  Grobheit 

flogen  hübsche  junge  Mädchen,  und  auf  die  ist  erstell, 
mmer  wieder  gibt  er  unter  dem  Jubel  der  Öffent- 
lichkeit zum  Besten,  wie  er  »in  schroffer,  ja  unhöf- 
licher Weisec  die  Aimäherung  der  armen  Mizzi  Veith 
zurückgewiesen  habe,  wie  er  noch  in  der  Weihburggasse 
grob  geworden  sei,  wie  er  überhaupt  brüsk  und  barsch 
gegen  Prostituierte  sei,  bei  denen  er  »als  Wauwau 
geltec,  er,  der  bekanntlich  »seit  dem  Jahre  1896  keine 
wie  immer  gearteten  Atiflerehelichen  Beziehungen 
gepflogen«  habe.  Mit  einem  Wort,  ein  Kulturmensch, 
und  des  AvancementB  würdig  wie  nur  einer.  Glück- 
lich der  Staat,  dessen  Sittenpolizei  den  Mädchenhandel 
durch  Grobheit  eindämmt  I  In  Frankreich  zum  Bei- 
spiel hätten  sie  nicht  das  richtige  Verständnis  dafür 
und  würden  bei  solcher  Rehabilitierung  eines  ge- 
kränkten Beamten  nicht  gerührt  sein,  sondern  pfeifen. 
Aber  dort  weift  man  gewift  auch  die  kulturelle  Bedeu- 
tung des  Hausmeisters  nicht  zu  würdigen.  Ich  saheinmal 

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21  — 


Ton  meinem  Fenster,  wie  ein  solcher  eine  Prostituierte 
mit  einer  Reitpeitsche  durch  die  Qasse  jagte.  Er 
berief  sich  darauf,  dafi  ein  Polizist  die  Bewilligung 
erteilt  hfttte.  Diesem  Polizisten  hätte  sich  gewiß  die 
allgemeine  Teilnahme  zugewendet,  wenn  er  f&lschlich 
einer  Beziehung  zu  dem  Mädchen  beschuldigt  worden 
wäre,  und  er  hätte  sich  auf  die  Auspeitschung  berufen 
können  . .  .  Das  Nachspiel  zu  dem  Kuppeleiprozefl 
enthüllt  unsere  Weltanschauung  noch  besser  als 
dieser  selbst.  Und  wenn  die  Grobheit  eines  Oberkom- 
missärs  bloß  ein  Alibi  ist,  so  ist  die  Empfindsamkeit 
eines  Polizeirats  eine  Sensation.  Er  weint,  weil  endlich 
der  Verdacht  ron  ihm  genommen  ist,  mit  der  Mizzi  be- 
kamt gewesen  zu  sein.  Ein  Mann,  der  die  Tiefen  der  Ver- 
brecherseele kennt  und  abgehärtet  genug  ist,  die 
Beschreibung  seiner  kühnsten  kriminalistischen  Lei- 
stungen mit  Vergnügen  im  ,Extrablatt'  zu  lesen, 
weinty  weil  er  nach  bangen  Wochen  von  dem  Makel 
bdOreit  ist,  er  sei  mit  der  Mizzi  Veith  im  Theater  an  der 
Wien  gewesen,  weil  er  unter  einer  Verleumdung  leiden 
mußte,  durch  welche,  wie  er  versichert,  die  kost- 
barsten Güter  der  Menschheit,  nämlich  sein  ehelicher 
Friede  und  seine  Tugend,  gefährdet  worden  seien.  (Weint 
abermals).  Und  »wäre  es  nicht  pathologisch,  zu  glau- 
ben, daß  er  mit  einer  stadtbekannten  Kokotte  sich 
habe  blicken  lassen  ?€  Aber  es  wäre  gewiß  nicht  patho- 
logisch, zu  glauben,  daß  er  sich  mit  stadtbekannten 
Wucherern  blicken  läßt.  Denn  der  Verkehr  mit  diesen 
stört  weder  das  Eheglück  noch  die  Moral.  Ein  stadt- 
bekannter Geldagent  bezeugt,  daß  der  Chef  des  Sicher- 
heitsamtes die  Mizzi  Veith  nicht  gekannt  hat.  Sie  bat 
ihn  darum,  die  Bekanntschaft  zu  vermitteln,  er  aber 
»habe  seine  Hand  nicht  dazu  geboten«  (Bewegung).  Und 
daß  der  Geldagentimstande  gewesen  wäre, die  Bekannt- 
schaft zu  vermitteln,  dünkt  der  Beamtenehre  eine  rühm- 
lichere Enthüllung  als  der  Nachweis  der  Bekanntschaft. 
Nein,  der  Gekränkte  hat  an  jenem  Abend  bei  der 
Hautefinance  soupiert,  er  saß  nicht  mit  der  Prosti- 
tation   im  Theater.   Auch    das   bedeutet    ein    Alibi. 

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22  — 


Aber  wahiüoh,  besser  stOnde  es  nm  diesen  Steat» 
wenn  seine  BiMimten  sich  yon  dem  Verdadity  mit 
den  Popper,  Goldberger  und  Rappaport  gesehen  wor- 
den 8U  sein,  duroh  das  Alibi  retten  könnten,  daft  sie  den 
Abend  bei  Veiths  sugebracht  haben  1  Der  ReinigungSr 
protefi,  der  in  solchem  Falle  geführt  würde,  hätte 
nichts  von  jener  schmalsigen  Pathetik,  die  uns  ab 
Dessert  au  einem  unverdaulichen  Moralgericht  senriert 
worden  ist,  und  die  Tatsache,  daß  das  Sicherheits- 
bureau  am  Schottenring  liegt,  wäre  ein  Zufall  und 
kein  Verhängnis.  Und  sollte  man  nicht  glauben,  dat 
gegen  die  Zumutung  der  Bekanntschaft  mit  einem 
hübschen  Oeschöpf  der  Eid  genügt  hätte?  Die  Erkennt- 
nis, daft  Weiber  lügen  undProstituierte  mit  hochgestell- 
ten Klienten  renommieren,  ist  nicht  so  kostbar,  daft  sie 
uns  erst  durch  eine  umständliche  Sühneproaedur  Ter- 
ndttelt  werden  mufite.  Der  Eid  des  Betroffenen  schlägt 
den  Verdacht  einer  Besiehung  nieder,  die  Zeugen 
beweisen  nur,  daft  die  Behauptung  der  Zusammen- 
kunft erlogen  war.  Und  es  kann  eine  noch  so  sJte 
Erfahrung  sein,  daft  Prostituierte  »sich  mit  Vor- 
liebe an  rolieeibeamte  anlehnenc,  der  Gegenbeweis 
gegen  eine  öffentliche  Zusammenkunft  bewiese  nodi 
nichts  gegen  eine  geheime«  Die  Andichtung  semdleD 
Verkehrs  —  und  um  eine  solche  handeU  es  sidi, 
nicht  um  die  des  sozialen  Verkehrs  —  läftt  sich  nur 
durch  die  eidliche  Aussage  widerlegen.  Das  ist  mit 
dem  für  die  k.  k.  Sittenreinheit  wünschenswerten 
Erfolg  geschehen  und  hätte  hinreichen  sollen.  Das 
Anbot  eines  Alibi  —  es  wäre  denn  die  Bereitwillig- 
keit, seine  Impotena  su  beweisen  —  ist  ein  ebenso 
sinnToUer  Versuch,  wie  wenn  einer  dem  Vorwarf, 
Poker  gespielt  au  haben,  nicht  mit  der  Aufforderung 
begegnen  wollte,  daft  der  Gegner  es  beweise,  sondern 
mit  dem  Anbot  des  Beweises,  daft  er  nie  im 
Leben  Poker  gespielt  habe.  Ein  Kriminalist,  der  be- 
weisen kann,  daft  etwas  nicht  geschehen  ist,  ist  sehens- 
wert und  Terdient  einen  Plats  im  Poliaeimuseum;  und 
es  gehurt  der  ganae  Schwachsinn  joumalistisoher  Lob- 


—  28 


Jmdkr  4asu,den  krimiiialistisohmi  Soharffumiu  praten, 
dttr  »durch  einen  glänzend  kompUsierten,  sohlagendeo 
Gegenbeweis  dieröUige  Haltlosigkeit  der  rorgebraohten 
Beitthuldigungen  erwiesen  htttc.  Die  eidliche  Be- 
kritftigung  hätte  diesen  Tröpfen  wahrscheinlich  nicht 
ffenfl|^  um  den  Klischees  des  Poliseiruhmes  jenes  neue 
hinsuxuiagen,  welches  das  einsige  erfreuliche  Resultat 
dieser  Proiesse  bedeutet:  Dem  Ohef  des  Sicherheits- 
bureaus gebührt  das  Verdienst,  mit  der  Missi  Yeith 
nicht  yerkehrt  su  haben.  Oder:  Der  Polisei  ist  es 
gelungen,  nachsuweisen,  dafl  sie  seit  dem  Fall  Riehl 
keine  wie  immer  gearteten  auflerehelichen  Beuehunffen 
imflogen  hat.  Was  wieder  reichlich  dafOr  entschi- 
digt,  dafl  es  ihr  noch  nicht  gelungen  ist,  die  Adresse 
d«r  Frau  Sadis  ausfindig  su  machen. 

Aber  wenn  manschen  aufafthlt,was  der  Poliaei  alles 
gelangen  ist  und  was  nicht,  dann  steht  eine  Tat  vor  unse- 
ren Augen,  vor  der  die  Reklame  sich  sum  Ruhm  erhöht. 
Der  Selbstmord  der  Missi  Yeith  ist  ihr  gelungen,  wie  ihr 
noch  nichts  gelang.  Bs  ist  pure  Verleumdung,  daß 
ihre  Funktionare  den  Körper  dieses  Mädchens  be- 
rflhrt  haben.  Aber  mit  dmn  Leichnam  stehen  sie  in 
Mner  Beaiehung,  gegen  deren  Vorwurf  kein  Alibi 
hilft  Ihr  eheliches  Qlück  wird  diese  Besiehung  nicht 
gefkhrden,  aber  möge  sie  den  Schlaf  stören,  den  ihr 
eheliches  Olflck  ihnen  übrig  läfiti  Möge  sie's;  idi 
wänsche  es  aus  tiefttem  Hersen.  Denn  sie  haben  einen 
Kuppler  seiner  Strafe  zugefOh^  und  den  Zweck 
aller  kriminalistischen  Mühe,  zu  verhüten  und 
absuschrecken,  in  geradesu  vorbildhafter  Weise  durch- 
gesetst:  Marcell  Veith  wird  sein  Kind  nicht  mehr 
verkuppeln  I  Wenn  man  nun  einwendet,  dafi  dieser 
Bflekt  auch  ohne  letalen  Beigeschmack  zu  ersielen  ge- 
wesen wftre,  so  vergiflt  man,  daft  noch  wichtiger  als 
die  Verhütung  eines  Verbrechens  die  Feststellung 
eines  Verbrechms  ist.  Die  Sittenpolisei  hat,  wie  ihr 
aehwergelorftnkter  Vertreter  vor  Gericht  su^b,  lange 
Jahre  gewuflt,  was  dieser  Conte  Veith  treibe,  afc^r 
sine  gewissenhafte  Behörde  läflt  ein  Kind  so  lange  dem 


-  24  - 


Ruin  preisgeben,  bis  sie  mit  Fug  einem  Vater  die 
Schuld  beimessen  kann.  Erhebungen  sind  wichtiger 
als  Warnungen  und  auf  einen  Tatbestand  kommt  es 
an,  nicht  auf  eine  Rettung.  Bis  man  seiner  Sache 
sicher  ist  und  gegen  ein  Treiben,  das  man  für  ver- 
brecherisch hält,  einschreiten  darf,  hilft  man  sich 
eben  mit  Grobheit  gegen  das  Opfer,  so  gut  man  kann. 
Bs  ist  eine  alte  Polizistenweisheit,  dafi  man  ein  Ver- 
brechen auswachsen  lassen  mufl.  Eine  Warnung  bitte 
den  Verdächtigten  vielleicht  davon  abgehalten,  sein 
Kind  weiter  zu  verkuppeln,  und  dann  hätte  man 
überhaupt  nicht  mehr  einschreiten  können.  Obrieens 
war  der  Hausmeister  noch  nicht  gefragt  worden.  Aber 
die  Sittenpolizei  war  in  all  den  Jahren  nicht  müfii^  ge- 
wesen. Im  Jahre  1904,  so  erzählt  der  Oberkommissär, 
habe  er  Mizzi  Veith  bei  Ronacher  gesehen,  »wie  sie 
champagnisierte  und  vom  Vater  abgeholt  wurdet ; 
er  »hatte  damals  schon  den  Eindruck,  dafi  Marceil 
Veith  seine  Tochter  dem  Laster  zuführec.  1905 
»glaubte  er  in  seinen  Beobachtungen  schon  so  weit 
zu  sein,  um  mit  der  Verhaftung  vorgehen  zu  können«. 
Da  ergibt  sich  »ein  Zwischenfall,  der  ihn  wieder 
davon  abhält«.  Veith  war  nämlich  im  Kaffeehaus 
von  der  Eassierin  ein  Zuhälter  genannt  worden. 
Also  eine  Zeugin  für  den  polizeilichen  Verdacht? 
Mit  nichtenl  Veith  klagte  wegen  Ehrenbeleidi- 
gung und  produzierte  ein  Virginitätszeugnis  seiner 
Tochter.  »Das  machte  mich  stutzig.«  Wie  denn 
auch  anders?  Hieramts  ist  nur  eine  Pforte  der  Lust' 
bekannt,  und  wenn  die  vorschriftsmäfiig  geschlossen 
ist,  zweifelt  ein  Sittenpolizist  nicht,  dafi  »nichts  Un- 
rechtes« geschehen  ist.  Das  Jahr  1906  bricht  heran, 
und  der  Mann  avanciert  zum  Vorstand  einer 
Abteilung  für  Prostitutionswesen.  Was  sich  sonst  be- 
gibt, erzählt  der  Zeuge  nicht.  Aber  1907 1  In  diesem 
Jahr  langt — endlich — eine  anonyme  Anzeige  gegen  den 
Veith  ein.  Der  Oberkommissär,  weist  sie  dem  Kom- 
missär zu,  dieser  aber  meint,  »da  werde  nicht  viel  zu 
machen  sein«.  Trotzdem  wird  ein  Akt  requiriert,  werden 


-  25 


SUiebungen  gepflogen,  und  der  Oberkommissftf  ver- 
riobert  sogar  einmal  gesprächsweise^  dafl  er  von  der 
Richtigkeit  der  Anzeige  überzeugt  sei.  Aber  es  ist  nichts 
SU  machen,  bis  eines  Tages  Veith  glücklicherweise  »un- 
Torsichtig  wirdc  und  Besuche  im  eigenen  Hause  zu- 
läßt Jetzt  kann  der  Hausmeister  gefragt  werden. 
Da  er  ja  sagt,  schreitet  die  Polizei  ein.  Und  zwar 
im  Jahre  lOC^  . .  .  Der  Staatsanwalt  trat  später  von 
der  Anklage,  es  sei  auch  im  Hause  gekuppelt  worden, 
lurück,  und  so  mag  man  sich  heute  vorstellen, 
dafi  die  Polizei  noch  weiter  nach  der  Lehre  Tolstojs 
gelebt  und  dem  Obel  nicht  gewehrt  hätte,  wenn 
die  entscheidende  Recherche  sich  schon  damals 
als  haltlos  erwiesen  hätte.  Veith  wurde  wegen  all  der 
Indizien  verurteilt,  mit  denen  die  Polizei  nichts  an- 
fangen konnte,  bis  sie  jenes  Faktum  ermittelte, 
von  dem  er  loskam.  Das  schafft  einige  Beun- 
mhigung.  Aber  glücklicherweise  weiß  man,  dafi 
SU  den  juristischen  Gesichtspunkten,  die  bei  der 
Formulierung  eines  Tatbestandes  raaflgebend  sind, 
auch  die  Rücksicht  auf  Theresianisten  gehört 
Dafi  der  Staatsanwalt  sogar  die  Unterhändlerschaft 
des  Marceil  Veith  »gar  nicht  beweisen  woUte^r,  hob 
der  Gerichtshof  dankbar  hervor;  es  blieb  ihm  er- 
spart, die  Herren  einzuvernehmen,  denen  die  ver- 
brecherische Absicht  des  Angeklagten  wohl  getan 
hatte.  Nun  war  die  demokratische  Heuchelei,  die  sich 
gegen  die  Konsumenten  der  Prostitution  kehrte, 
gewifi  eine  der  gräulichsten  Erscheinungen  in  diesem 
moralischen  Fiebertraum.  Aber  noch  weit  unappetit- 
licher ist  eine  Gerechtigkeit,  die  den  zahlenden  Teil- 
nehmer an  der  verbrecherischen  Handlung  soear 
Tor  der  Zeugenschaft  bewahrt,  lieber  auf  einen  Tat- 
bestand verzichtet  als  einen  Beweis  zuzulassen,  und 
die  sich  zwar  für  die  Einsicht  gewinnen  läßt, 
dafi  es  notwendig  sei,  sich  eines  Kupplers  zu 
bedienen,  jedoch  nicht  für  die  Erkenntnis  von  der 
Notwendigkeit  des  Kupplers.  Man  mag  den  historischen 
206,  auf  deren  Aussage  das  Gericht  verzichtet  hat. 


26 


dtt  R«oht  «ttf  diu  Privatleben  n^jMtehen-:  tUiatief 
solieint  mir  der  Mann,  der  von  seiner  Toehter  Geld 
nimmt,  nicht  unter  einer  MensohenklaMe  lu  stehen, 
deren  Vertreter  sich  bei  den  Pidiem  beschweren,  dsft 
sie  mit  der  Poldi  Torlieb  nehmen  mufiten,  wenn  die 
ICini  nicht  wollte.  Wehe  der  Unglficklichen,  die  vor 
dieser  Horde  kein  Zuhälter  schütstl  Dafi  die  bOrgerlidie 
Oeselbchaft  mit  Verachtung  auf  ihn  blickt,  ist  be- 
((reiflich ;  denn  er  ist  der  heroische  Widerpart  ihrer  Unter* 
haltungen.  Sie  sind  bloft  schlechtere  Christen,  er  aber  ist 
ein  besserer  Teufel.  Br  ist  der  Antipoliaist,  der  die  Prosti- 
tuierte besser  vor  dem  Staat  schatst,  als  der  Staat  die 
Gesellschaft  Tor  ihr.  Er  ist  der  letste  moralischeRückhalt 
eines  Weibes,  das  an  dw  ijruten  Gesellschaft  au  Schan- 
den  geht  Von  ihr  kann  sie  nur  reich  werden,  von 
ihm  wird  sie  schön.  Wenn  er  sie  ausraubt,  so  hat 
sie  mehr  davon,  als  wenn  die  anderen  sie  beschen- 
ken. Weil  er  »lu  ihr  halte,  ist  er  mißachteter  als  sie 
selbst;  aber  diese  Miflachtung  ist  nur  ein  Mantsi 
des  Neides:  die  Gesellsdiaft  mufl  ihre  Lust  besaUen, 
sie  empfängt  Ware  Iflr  Geld,  aber  das  Weib  emp- 
flingt  iuB  Geld  und  behält  die  Lust,  um  den  Binen 
doppelt  au  beschenken.  Dort  ist  die  Liebe  eine  Oko* 
nomische  Angelegenh^t,  hier  macht  eine  Natur- 
gewalt  die  Rechnung.  Wo  fängt  die  Bthik  an  und  wo 
hört  sie  auf?  Die  Seziehung  des  Adoptivvaters  nr 
Missi  Veith  ist  vielleicht  mehr  Pamilienangriegenh^t 
als  erotisches  Mysterium.  Wer  Geschäftsbücher  fttbrt^ 
ist  ein  Administrator,  kein  Räuber;  dieser  Beschfltser 
hätte  sein  Mädchen  vielleicht  auch  vor  einem  Strissi 
beschütst.  Die  Gesellschaft  mag  den  Geschmack 
miflbilligen,  der  ihn  bei  der  Wahl  des  Berufes  für 
seine  Tochter  geleitet  hat;  in  der  Eonsequens  des 
Schrittes  ist  er  allen  Anforderungen  der  Fannlien- 
moral  gerecht  worden. 

Und  die  Hannele- Visionen,  die  die  Offentliohs 
Meinung  um  den  Fall  gewoben  hat,  aerstieben  vor 
der  Bntdeokunii:,  daft  die  Poliaei  die  Miiai  Veith  ins 
Wasser  getrieben  hat,  als  sie  ihr  den  Vater  nahm,  den 


27  — 


m  ereihren  wollte.  Und  daft  nicht  der  Vater,  sondern 
ein  PoUiiBt  gegen  sie  grob  war.  Ehe  er  ihren  Seihet» 
mord  beging!  Hätte  der  Vater  sie  geetofien,  ge* 
peitscht,  am  Pamilienherd  ger()8tet,  er  wäre  mit  der  Strafe 
der  Verwarnung  davongekommen.  Aber  weil  er  ihren 
Körper  Zärtlichkeiten  aussetste,  kommt  er  auf  ein 
Jahr  ins  Zuchthaus.  In  diesen  Grenzen  des  Irrsinns 
lebt  unsere  Sittlichkeit  Und  infernalisch  ist  die  Bosheit, 
mit  der  sie  dann  noch  den  Mund  einer  Toten  verstopfen 
mOdite«  Wenn  Misai  Veith  vor  Gericht  bekundet, 
didl  ihr  Vater  sie  nicht  verkuppelt  habe  —  man 
halte  sie  fOr  befangen  und  lehne  ihr  Zeugnis  in 
Gottes  Namen  ab.  Wenn  sie  sich  aber  selbst  für  be- 
fisngen  erklärt  und  sagt,  sie  sei  aus  Liebe  su 
ihrem  Vater  ins  Wasser  gegangen,  dann  sollte  man 
S^lauben,  dafl  nur  mehr  ein  von  der  Moral  verbranntes 
Hirn  sich  eines  Zweifels  unterfangen  darf.  »Weil  sie 
den  Lebenswandel  nicht  mehr  ertragen  konnte«, lautet 
der  Blindheit  leteter  Schlufi.  Sie  sehen  nur  noch  mnen 
Leichnam  und  ein  Nachtcafä.  Aber  Miasi  Veith  hat 
sich  nach  der  Verhaftung  ihres  Vaters  ertränkt  und  nidit 
eine  Stunde  früher;  sie  war  frei,  von  dem  Zwang 
einee  Kupplers  erlöst,  konnte  endlich  Tabakarbeiterin 
werden,  und  hat  sich  dennoch  ertränkt.  Nein,  die 
Freude  hätte  sie  noch  lange  gefreut,  und  man 
kann  nicht  einmal  sagen,  dsA  sie  das  Familienleben 
satt  hatte.  Das  Laster  mag  ja  im  allgemeinen  von 
den  MoralbegriflTen  der  bürgerlichen  Gesellschaft 
schon  aiemlich  angefressen  sein,  aber  noch  ist  kein 
Familienerlebnis  imstande,  ihm  die  Lebensfreude  su 
verderben.  Die  Prostitution  mag  ar^  verbürgerlicht 
sein:  so  schlimm  steht  es  noch  nicht  um  sie,  dat 
man  die  Hoffnung  aufgeben  müflte,  das  Dasein  durch 
sie  heiterer  au  gestelten.  Ach,  ein  Verbrechen  ist 
immer  erst  das,  was  nach  vier  Jahren  herauskommt 
und  bis  dahin  allen  Beteiligten  einen  Heidenspaß 
bereitet  hat.  Die  Unsittlichkeit  lebt  so  lange  in 
Frieden,  bis  es  dem  Neid  gefällt,  die  Moral  auf  sie  auf- 
merksam 8U  machen,  und  der  Skandal  beginnt  immer 


—  28 


erst  dann^  wenn  9die  Polisei  ihm  ein  Ende  bereitete. 
Sie  übt  eine  Raison,  der  wir  alle  uns  zu  beugen 
haben.  Nur  manchmal  (gelüstet  uns,  bu  glauben,  dafi 
der  einsige  Bezirk,  durch  den  die  Linie  eines  logischen 
Lebens  geht,  die  Welt  der  besinnungslosen  Huren  sei.  Dafi 
der  einsige  würdige  Betrieb  im  Staate  die  Prosti- 
tution sei,  normal  neben  der  Perversität  des  geistigen, 
planvoll  neben  der  Wirrnis  des  politischen,  reell  neben 
dem  Schwindel  des  sozialen  Betriebes.  Der  Freudenmarkt 
mag  seine  Auswüchse  haben  und  seine  Unordnung,  Miß- 
bräuche und  irdische  Mängel,  seinen  Ekel  und  Verdruß. 
Aber  er  ist  die  einzige  Einrichtung  der  bürgerlichen  Ge- 
sellschaft, die  nicht  von  Qrund  aus  verkommen  ist.  Sollen 
wir  uns  auch4hn  noch  verhunzen  lassen?  Das  Beispiel, 
das  die  bürgerliche  Oesellschaft  an  jedem  Tag 
der  Prostitution  ^bt,  ist  schlimm  genug;  braucht's 
noch  einer  Einmischung  der  Autorität?  Sie  impo- 
niert schlecht.  Denn  schlechter  als  der  Amtsmifibraucb, 
dessen  Vorwurf  die  Polizisten  entkräftet  haben,  ist 
jener  Gebrauch  des  Amtes,  der  vier  Jahre  ein  Ver- 
brechen sich  in  der  Stille  entwickeln  läflt,  um  dann 
mit  mörderischem  Eklat  einen  Erfolg  zu  erzielen. 
Welch  eine  kriminalistische  Ausbeute:  In  der  einen 
Hand  ein  Tatbestand,  in  der  andern  eine  Wasserleiche  I 
Ein  nasses  Abenteuer  der  Moral  1  Macht  nichts,  wir 
schütteln  uns,  und  leben  gesund  weiter.  Es  gur- 
gelt, man  prozessiert  um  eine  Welle  im  Meer,  und 
der  Schlund  schlieflt  sich...  Der  Plumpsack  geht 
um,  schlägt  ein  kleines  Mädchen  tot,  und  legt  sich 
wieder  hin.  Dann  geht  das  Spiel  von  neuem  los.  Das 
sind  die  Moralprozeduren  des  Staates.  Sie  lang- 
weilen mich.  Quousque  tandem,  Oato,  abutere 
patientia  nostra? 

Karl  Kraus. 


Hcrantoebcr  aad  venuitvortlldttr  RedaUnr:  Ktrl  Kr  ins. 
Drndc  von  Jahodt  *  SIcgd,  Wien,  HI.  Hlirtere  ZotlamtnlfiBc  3. 

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DIE 


Henusgeber:  KARL  KRAUS 

Di  ifl  iwtfitl(wr  Folg«  bn  Dafu|  iob  it— U  &<uiui. 

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nommen:  M.  B^  IV.,  Sctaüffergnise  21,  i'    dU 


Maschinschreibarbeiten  jede] 

Vervielfaltigunge  rt    in    i 

Marie    Hoschnai    Wien,    VU.    Mariahükr 


Unternehmen  für  ZeitangianMOhaitto 

OBSERVER,    Wien,  L  Concortlaplüi  ir.  I  (ftlr 
verecndct  Zcitungstosschnittc  über  jedes  gewünschte  Thcmi-^Un  ve: 


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Die  Liebe  zum  Staate.  Von  Bruno  Wolfgang. 

—  OloBsen.  Von  Karl  Kraus. 


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aad  gewerbsmäßiges  Verleihen  verboten ;  gerichtliche 
Verfolgung  vorbehalten. 


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Wi.  264-«  18.  NOVEMBER  1908 


X.JAHR 


PoUtik. 

Mein  Verhältnis  cur  Politik   drückt    sich    etwa 
(in  dem  teilnahmsvollen  Dialog  aus,   den  ich  neulich 
L führte:  >Und  wer  soll  denn  Handelsminister  werden ?€ 
]>Der   jetzige   bleibte.   »Ah^  und   wer  ist    denn   der 
|jetBi|;e?c  .. .  Ebenso  angelegentlich  bin  ich  für  die  aus- 
jwirtige  Politik  interessiert.  Wenn  ich  gar  fOrdie  Span- 
Inungen  eines  Krirainalromanes  su  haben  wäre,  dann 
I  übten  die  Gestionen  der  Diplomatie  einen  noch  größeren 
Reie  auf  mich,  als  sie  ohnedies  tun:  ich  könnte  mich 
nicht  satt  sehen  an  dem  Schauspiel,  wie  die  Staaten 
Ton  einer  internationalen  Verbrecherbande  steckbrief- 
Kch  yerfolet  werden.  Wenn  ich  sage,   dafi  mich    die 
Politik  nicht  interessiert,  so  mögen  es  mir  die  glau- 
ben, die  durch  die  Politik  um  ihren  Verstand  gekom- 
I  voaa  sind.  In  Wahrheit  ist  mir  die  Politik  zwar  nicht 
Beruf,  aber  gerade  deshalb  Problem.    Was    mich  an 
der  Politik   immer  wieder   anzieht  und   beschäftigt, 
ist  die  Tatsache,  dafi  es  Politik  gibt.   Ich   halte   sie- 
für eine  mindestens  ebenso  vortreffliche  Manier,  mit 
dem  Ernst  des  Lebens   fertig   zu   werden,    wie  das 
Tarockspiel,    und   da   es  Menschen    gibt,    die    yom 
Tarockspiel   leben,   so    ist   der   Berufspolitiker   eine 
;     jhaus  plausible  Erscheinung.    Umsomehr,    als    er 
J     ler  nur  auf  Kosten  jener  gewinnt,  die  nicht  mit- 
I      en.   Aber  es  ist   in  Ordnung,  dafi    der   Kiebitz 
)n  mufi,  wenn  das*  geduldige  Zuschauen  seinen 
dinsinhalt  bildet.  Gäbe  es  keine  Politik,  so  hätte  der 
ter   bloß  sein  Innenleben,  also  nichts,   was   ihn 
<      ^en   könnte.     Spannungen    kann    ihm   nur   der 

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—    2 


Rohstoff  de^  Lebens  bieten.  Die  Kunst  läfit  ihn 
darin  im  Stich,  aber  Politik  und  Verbrechen  sind 
Rohstoff.  Je  gröfier  die  Handlung,  desto  geringer 
die  geistige  Anstrengung,  die  Handlung  zu  er- 
fassen. Und  je  gröfier  das  politische  Ereignis  ist, 
umso  auffälliger  tritt  die  geistige  Armut  hervor,  die 
sich  mit  ihm  beschäftigt.  Politik  ist  Buhnenwirkung. 
Wenn  Shakespeare  über  die  Szene  ging,  hat  no(m 
jedem  Publikum  der  Waffenlärm  die  Gedanken  über- 
tönt. Die  Größe  Bismarcks,  der  den  politischen  Stoff 
schöpferisch  gestaltet  —  und  warum  sollte  einem 
Künstler  nicht  ein  Abenteuer  im  Kehricht  zur 
Schöpfung  erwachsen?  — ,  wird  mit  dem  Mafi 
der  theatralischen  Handlung,  des  Effekts  der  Auf- 
tritte und  Abgänge  gemessen.  Und  wenn  wir 
Deutschen  Gott  und  sonst  nichts  in  der  Welt  fürchten, 
so  respektieren  wir  selbst  ihn  nicht  um  seiner  Per- 
sönlichkeit willen,  sondern  wegen  des  Geräusches 
seiner  Donner.  Rhythmus  ist  alles,  nichts  die  Bedeu- 
tung. Als  die  Hinterbliebenen  in  Friedrichsruh  einem 
ungebetenen  Gast  den  Sargdeckel  vor  der  Nase  zu- 
schlugen, war  Gröfie  in  dem  Vorgang,  aber  das 
zuschauende  Volk  spürte  sie  nicht,  denn  es  hatte 
nur  mehr  Auge  und  Ohr  für  Gebärde  und  Tonfall  des 
Mannes,  der  im  Rohstoff  der  Politik  lebt  wie  keiner 
vor  ihm.  Gibt  er  nicht  restlos  alles  dem  Volke? 
Hand  aufs  Herz,  was  ist  dem  Volke  lieber :  »Der 
Müller  und  sein  Kinde  oder  »Wenn  wir  Toten  erwa- 
chenc?  Wer  aufier  den  Politikern  beklagt  denn  die 
Dummheiten  in  der  Politik?  Sind  die  Gescheitheiten 
in  der  Politik  gescheiter  ?  Bietet  das  Schweigen  mehr 
Spannung  als  das  Reden  ?  Ein  Interview,  heißt  es,  und 
sechs  Millionen  hätten  beinahe  in  den  Krieg  ziehen 
müssen  1  Aber  sind  die  Gründe,  aus  denen  sie  es  sonst  tun 
müssen,  einleuchtender?  Ist  das  Mifi  Verhältnis  geringer? 
Nicht,  dafi  diese  Folge  eines  Interviews  eintritt,  son- 
dern daß  es  Folgen  geben  kann,  ist  erheblich.  Daß  es 
Politik  gibt,  ist  erheblich.  Dafi  sich  die  erwachsene 
Menschheit  keinen  besseren  Zeitvertreib  weiß,  als  aul 

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—    3    - 


der  Lauer  ihrer  SpannuD^eu  zu  liegen.  Das  Mifiverhältuiis 
zwischen  Ursache  und  Wirkung  ist  der  ganze  Inhalt 
des  poHtischen  Sports.  Darum  ist  es  töricht,  vom 
politischen  Standpunkt  die  Ursache  anzuklagen.  Je 
größer  die  Gefahr,  desto  reicher  die  Befriedigung  des 
politischen  Interesses,  und  je  größer  das  Ereignis, 
desto  greller  erhellt  es  die  geistige  Leere,  aus 
der  es  geboren  ist.  Ob  ein  Kaiser  mehr  oder  weniger 
spricht,  das  ist  das  Um  und  Auf  unserer  Lebens- 
sorgen. Dies,  und  nur  dies,  ist  mein  politisches  Thema. 
Denn  wenn  wir  einen  Monat  lang  von  nichts  anderem 
sprechen,  so  fehlen  wir  mehr  gegen  die  Kultur,  als 
ein  Gespräch  gegen  die  Politik  gefehlt  hat.  Ich  sehe 
ein,  daß  es  kein  Privatvergnügen  ist,  sondern 
politische  Polgen  hat,  aber  eben  daran  ist  die  Politik 
schuld,  die  man  zum  Schweigen  bringen  muß,  um  die 
Gespräche  eines  Kaisers  ungefährlich  zu  machen.  Politik 
zu  treiben,  wenn  ein  Erlebensdrang  ihren  Stoff  nicht 
zum  Kunstwerk  formt,  ist  das  traurigste  Geschäft 
dieser  Welt.  Aber  eher  könnte  noch  Wilhelm  II.  eine 
persönliche  Beziehung  zu  seinen  Irrtümern  haben  als 
HerrHarden  zu  seinen  Wahrheiten.  Es  ist  die  schlimmste 
Möglichkeit  der  Politik,  daß  ein  politischer  Fehler 
einem  geschlissenen  publizistischen  Ansehen  aufhilft, 
und  die  größte  Gefahr  der  Reden  Wilhelms  II.  sind 
die  Erfolge  des  Herrn  Harden.  Das  Interview  des 
Kaisers  war  von  Übel;  aber  ist  es  nicht  weit  be- 
denklicher, daß  die  deutsche  Nation  plötzlich  er- 
fährt, es  handle  sich  gar  nicht  um  das  Inter- 
view, sondern  um  >die  Interview«  ?  Wenn  Eng- 
land, Prankreich,  Rußland,  Italien  und  Österreich 
sich  zum  Krieg  gegen  Deutschland  verbänden,  es 
wäre  gewiß  eine  bedauerliche  Folge  des  politischen 
Unfugs.  Aber  wäre  es  nicht  entsetzlicher,  wenn  wir 
dann  lesen  müßten,  daß  der  King,  Mariannens  Vor- 
mund, der  Reußenherrscher,  Umbertos  Sproß  und 
der  austrische  Greis  sich  zur  Fehde  gegen  den  das 
deutsche  Reichsgeschäft  Führenden  geeint  haben? 
Die  Folgen  wären  nicht  auszudenken  I .  .  .   Wie  man 

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—    4    — 


sieht,  ist  der  Standpunkt,  von  dem  ich  die  poütiBchen 
Dinge  beurteile,  ein  ziemlich  niedriger.  Mein  Horizont 
ist  89  klein,  daß  Kulissen  darin  ^ar  keinen  Platz 
haben.  Ich  beurteile  den  geistigen  Inhalt  eines 
politischen  Ereignisses  nach  der  Beschaffenheit  der 
Menschen,  die  es  beschäftigt,  den  Wert  des  Samens 
nach  der  Qualität  des  Weizens,  den  er  blühen  macht. 
Und  ich  sehe,  was  Deutschlands  Bierbänke  und  Zei- 
tungsspalten okkupiert  und  dafi  deutsche  Herzen  defi 
voll  sind,  wefi  ein  Mund  übergeht.  Inzwischen  starb  ein 
greller  deutscher  Künstler,  einer  der  größten,  die  je  zu 
deutschen  Herzen  vergebens  gesprochen  haben:  Rudolf 
Wilke,  der  sich  vom  Tod  nicht  um  die  beste  Schaffens- 
fülle betrügen  ließ  und  als  Sterbender  hereinbrachte, 
was  sonst  nicht  oft  dem  blühenden  Leben  beschie- 
den ist.  Der  im  Krankenbett  Zeichnungen  schuf,  die 
in  der  leisesten  Linie  ihres  Hintergrunds  mehr  Be- 
ziehung zum  Leben  haben  als  alle  Handlung,  die 
auf  der  politischen  Szene  spielt,  und  einen  zeitlosen 
Hohn,  der  alle  Lächerlichkeiten  des  Tages  in  die 
Tasche  steckt.  Das  Leben  dieses  Rudolf  Wilke  ist 
den  meisten  Deutschen  entgangen,  weil  die  Stoffe, 
in  denen  es  webte,  ihnen  zu  unscheinbar  waren  imd 
weil  ihre  Gestaltung  des  Anlasses  entbehrte.  So  ist 
ihnen  auch  sein  Sterben  entgangen,  und  ihre  Zei- 
tungen haben  für  den  Tod  eines  Künstlers  nicht 
dreißig  Zeilen  Raum,  und  wenn  das  politische  Leben 
seine  Rechte  fordert,  nicht  drei.  Markerschütternd 
dringt  dies  Schweigen  durch  den  Lärm  des  Tages. 
Es  ist  das  Stigma  der  journalisierten  Zeit:  Weil  das 
Leben  eines  Kaisers  so  aktuell  ist,  muß  der  Tod 
eines  Künstlers  im  Obersatz  bleiben. 

Karl  Kraus. 


y  Google 


—    6   — 


Bin  chinesischer  Philosopli.^) 

Von  Oscar  Wilde. 

Ein  hervorragender  Oxforder  Theologe  sa^te 
einst,  die  einzige  Einwendung,  die  er  gegen  den 
Fortschritt  der  Neuzeit  erhebe,  sei  die,  dafl  dieser 
Fortschritt  vorwärts  schreite  statt  rückwärts,  welche 
Ansicht  einen  gewissen  dichterisch  veranlagten  Stu- 
denten^ so  begeisterte,  dafi  er  sich  sogleich  hin- 
setzte und  einen  Eissay  über  bisher  noch  nicht  ent- 
deckte Analogien  zwischen  der  Entwicklung  des 
menschlichen  Geistes  und  den  Bewegungen  der 
gemeinen  Seekrabbe  schrieb.  Ich  bin  überzeugt,  dafi 
dieses  Blatt  ***)  auch  von  seinen  begeistertsten 
Freunden  nicht  der  Parteigängerschaft  für  die  Ketzerei 
einer  solch  gefährlichen  Rückschrittstheorie  verdächtigt 
werden  wird.  Aber  ich  muß  freimütig  bekennen, 
dafi  die  beifiendste  Satire  auf  unsere  heutige  Zeit, 
die  mir  seit  langem  untergekommen,  in  den  Schriften 
des  gelehrten  Ghuang  Tsu  enthalten  ist,  die  vor 
kurzer  Zeit  durch  Herrn  Herbert  Oiles,  Ihrer  Majestät 
Konsul  zu  Tamsui,  in  die  Vulgärsprache  übersetzt 
worden  sind. 

Die  weite  Verbreitung  allgemeiner  Bildung  im 
Volke  hat  ohne  Zweifei  den  Namen  dieses  ausge- 
zeichneten Denkers  dem  grofien  Publikum  bekannt 
feroacht;  aber  zum  Besten  der  Wenigen  und  Ober- 
ultivierten  fühle  ich  mich  verpflichtet,  hier  festzu- 
stellen, wer  er  war,  und  einen  kurzen  Abriß  seiner 
Philosophie  zu  geben. 

Ghuang  Tsu,  dessen  Name  man  wohl  acht 
haben  mufi  so  auszusprechen,  wie  er  nicht  geschrieben 
wird,  kam  im  vierten  Jahrhundert  vor  Christi  am 
Ufer  des  Gelben  Flusses  im  Lande  der  Blumen  zur 
Welt;  und  Bildnisse  des  wunderbaren  Weisen,  die 
ihn   auf  dem   geflQgelten  Drachen   der  Betrachtung 


•)  Erste 'Obersetzung. 
**)  Darunter  ist  W.  selbst  zu  verstehen. 
***)  The  Speaker.  uigitzedbjlßöOgi  Übers.) 


—  6   — 


sitzend  darstellen,  sind  noch  heute  auf  zierlichen 
Teetassen  und  kunstvollen  Orenschirmen  in  vielen 
unserer  ehrsamsten  Vorstadthäuser  zu  finden.  Der 
wackere  Steuerzahler  und  seine  blühende  Familie 
haben  wohl  oft  über  die  domartige  Stirn  des  Philo- 
sophen gespottet  und  über  die  seltsame  Perspektive 
der  zu  seinen  Füfien  liegenden  Landschaft  gelacht. 
Wenn  sie  aber  wüflten,  wer  er  war,  würden  sie 
zittern.  Denn  Chuang  Tsu  hat  sein  Leben  damit 
verbracht,  die  grofie  Qlaubenslehre  der  Untätigkeit 
zu  predigen  und  die  Nutzlosigkeit  aller  nützlichen 
Dinge  zu  beweisen.  »Tu  nichts,  und  alles  ist  getane, 
war  die  Lehre,  die  er  von  seinem  großen  Meister 
Lao  Tsu  überkommen  hatte.  Die  Handlung  in  Ge- 
danken und  die  Gedanken  in  Abstraktion  aufzu- 
lösen, war  sein  böses  transzendentales  Ziel.  Gleich 
dem  dunklen  primitiven  griechischen  Philosophen 
glaubte  er  an  die  Identität  der  Kontraste;  gleich 
Plato  war  er  Idealist  und  empfand  die  ganze  Ver- 
achtung eines  Idealisten  für  utilitarische  Systeme; 
er  war  Mystiker  gleich  Dyonisius,  Scotus  Erigena 
und  Jakob  Böhme  und  behauptete  mit  ihnen  und  mit 
Philo,  der  Zweck  des  Lebens  sei,  sich  des  Bewufit- 
seins  seiner  selbst  zu  entäufiern  und  das  unbewußte 
Werkzeug  einer  höheren  Erleuchtung  zu  werden. 
Ja,  man  kann  sagen,  dafi  Chuang  Tsu  alle  meta- 
physischen und  mystischen  Philosophiesysteme  Europas 
in  sich  vereinigte,  von  Herakleitus  bis  herab  zu 
riegel.  Es  war  auch  etwas  vom  Quietisten  in  ihm; 
und  in  seiner  Verehrung  des  Nichts  hat  er  bis  zu 
einem  gewissen  Grade  die  seltsamen  Träumer  des 
Mittelalters  vorweggenommen,  die  gleich  Tauler  und 
Meister  Eckart  das  purum  nihil  anbeteten. 

Die  zahlreiche  Mittelklasse  dieses  Landes,  der 
wir,  wie  männiglich  bekannt,  unseren  ganzen  Wohl- 
stand, wenn  nicht  gar  unsere  ganze  Zivilisation  ver- 
danken, zuckt  vielleicht  die  Achseln  über  alles  dies 
und  fragt  mit  einem  gewissen  Rechte,  was  die  Iden- 
tität  der  Kontraste   sie   angehe   und  warum  sie  sich 


des  Selbstbewußtseins  entäußern  sollte,  das  eines 
ihrer  hervortretendsten  Merkmale  ist.  Aber  Chuang 
Tsu  war  etwas  mehr  als  nur  ein  Metaphysiker  und 
Illuminat.  Er  ging  darauf  aus,  die  menschliche  Ge- 
sellschaft, wie  wir  sie  verstehen,  und  wie  die  Mittel- 
klassen sie  verstehen,  zu  zerstören,  und  das  Betrübende 
ist,  daß  er  die  leidenschaftliche  Beredsamkeit  eines 
Rousseau  mit  der  wissenschaftlichen  Geistesschärfe 
eines  Herbert  Spencer  vereinigt.  Er  hat  nicht  ein 
Atom  von  Sentimentalität  in  sich.  Er  bemitleidet 
die  Reichen  mehr  als  die  Armen,  wenn  er  sich  über- 
haupt zum  Mitleid  herbeiläßt,  und  Wohlstand  scheint 
ihm  ein  ebenso  tragisches  Schicksal  wie  Entbehrung. 
Er  hat  nichts  von  der  modernen  Sympathie  mit  den 
Schwächen  der  menschlichen  Natur,  noch  tritt  er 
dafür  ein,  daß  die  Preise  aus  Gründen  der  Moral 
denen  zufallen  sollen,  die  beim  Wettlauf  als  letzte 
ankommen.  Der  Wettlauf  selbst  ist  es,  den  er  tadelt; 
und  was  das  tätige  Mitgefühl  betrifft,  das  heutigen 
Tag^es  der  Beruf  so  vieler  wackerer  Leute  geworden 
ist,  so  hält  er  dafür,  daß  andere  besser  machen  zu 
wollen  ein  so  törichtes  Beginnen  ist,  wie  >das 
Schlagen  einer  Trommel  in  einem  Walde,  um  einen 
Flüchtling  zu  fangenc.  Es  ist  reine  Kraftverschwen- 
dung, sonst  nichts.  Und  ein  vollkommen  sympathi- 
scher Mensch  ist  in  den  Augen  Chuang  Tsus  einfach 
nur  ein  Mensch,  der  sich  unausgesetzt  bemüht,  jemand 
anderer  zu  sein,  und  der  sich  damit  der  einzigen 
möglichen  Entschuldigrung  für  seine  Existenz  begibt. 
Ja,  so  unglaublich  es  scheinen  mag,  dieser 
seltsame  Philosoph  blickte  mit  einem  Seufzer  des 
Bedauerns  auf  ein  goldenes  Zeitalter  zurück,  da  es 
noch  keine  Examina  gab,  keine  beschwerlichen 
Unterrichtssysteme,  keine  Missionare,  keine  Volks- 
küchen, kerne  Staatskirchen,  keine  Wohltätigkeits- 
vereine, keine  lästigen  Ermahnungen  über  die  Pflichten 
gegen  seinen  Nächsten,  und  keine  langweiligen  Pre- 
digten über  irgend  einen  andern  Gegenstand.  In 
jenen    idealen    Tagen,    erzählt    er    uns,    liebten    die 


—   8 


Menschen  einander,  ohne  sich  irgend  einer  Mild- 
tätigkeit dabei  bewußt  au  sein  und  ohne  daß  die 
Zeitungen  darüber  schrieben.  Sie  waren  ehrlich  und 
veröffentlichten  doch  keine  Bücher  über  den  Altruis- 
mus. Da  jeder  sein  Wissen  für  sich  behielt,  entging 
die  Welt  dem  Fluche  des  Skeptizismus,  und  da  jeder 
seine  Tugenden  für  sich  behielt,  mischte  sich  niemand 
in  des  anderen  Angelegenheiten.  Sie  lebten  ein  ein- 
faches und  friedliches  Leben  und  waren  £ufrieden 
mit  der  Nahrung  und  Kleidung,  die  ihnen  erreichbar 
waren.  Ihre  Wohnsitze  lagen  in  Sehweite  voneinander, 
und  die  »Hähne  und  Hunde  des  einen  konnten  in 
dem  anderen  gehört  werden c;  dennoch  wurden  die 
Leute  alt  und  starben,  ohne  einander  je  einen  Besuch 
gemacht  zu  haben.  Es  gab  kein  Geschwätz  über 
gebildete  Menschen  und  keine  Belobung  guter 
Menschen.  Der  unerträgliche  Begriff  der  Verpflichtung 
war  unbekannt.  Die  Taten  der  Menschen  ließen  keine 
Spuren  zurück  und  wurden  nicht  durch  einfältige 
Geschichtsschreiber  zu  einer  Last  für  die  Nach- 
kommen gemacht. 

Da  kam  in  einem  unheilvoUßn  Augenblicke  der 
Philantrop  zum  Vorschein  und  brachte  den  verruchten 
Gedanken  einer  Regierung  mit  sich.  >EjS  hat  einen 
Sinn,  die  Menschen  sich  selbst  zu  überlassenc,  sagt 
Chuang  Tsu,  »aber  es  wird  nie  einen  Sinn  haben, 
die  Menschen  regieren  zu  wollen«.  Alle  Regierungs- 
arten sind  falsch.  Sie  sind  unwissenschaftlich,  denn  sie 
sind  bestrebt,  die  von  der  Natur  geschaffene  Umgebung 
des  Menschen  zu  verändern;  sie  sind  unmoralisch,  denn 
indem  sie  an  dem  Individuum  herummodeln,  züchten 
sie  den  wildesten  Egoismus;  sie  sind  unwissend,  da 
sie  sich  bemühen.  Wissen  zu  verbreiten;  sie  sind 
selbstzerstörend,  denn  sie  haben  die  Anarchie  im 
Gefolge.  »Einst,  in  alter  Zeit«,  erzählt  er  uns,  »lieft 
der  Gelbe  Kaiser  zum  erstenmal  Barmherzigkeit  und 
Nächstenliebe  die  natürliche  Güte  des  menschlichen 
Herzens  verkünsteln  und  verfälschen.  Die  Folge 
davon  war,   dafi  Jao  und  Shun  sich  die  Haare  an 


ihr^i  Beinen  weg:mühteny  um  ihrem  Volke  Nahrung 
SU  geben.  Sie  störten  die  Ordnung  ihrer  Seelen,  um 
Raum  für  künstliche  Tugenden  zu  schaffen.  Sie  er- 
schöpften ihre  Energie,  um  Qesetze  aufzustellen,  die 
sich  nachher  als  ver^hlt  erwiesen.c  >Das  menschliche 
Herz«,  fährt  unser  Philosoph  fort,  »kann  nieder- 
gedrückt oder  emporgehoben  werden«,  und  in  beiden 
Fällen  sind  die  Folgen  verhängnisvoll.  Yao  machte 
die  Menschen  zu  glücklich,  daher  waren  sie  nicht 
zufrieden.  Ohieh  machte  sie  zu  unglücklich,  daher 
waren  sie  unzufrieden.  Dann  begannen  alle  Leute 
über  die  besten  Methoden  nachzudenken,  an  der 
Menschheit  herumzupfuschen.  »Es  ist  offenbar,  daß 
etwas  geschehen  mufl«,  sagten  sie,  und  ein  allgemeiner 
Wettlauf  nach  Wissen  entstand.  Das  Ergebnis  war 
so  schrecklich,  dafi  die  damalige  Regierung  Aus- 
nahmsgesetze einbringen  mußte,  die  zur  Folge  hatten, 
daß  »tugendhafte  Männer  in  Höhlen  Zuflucht  suchten, 
während  die  Staatslenker  zitternd  in  den  Hallen 
ihrer  Vorfahren  saßen«.  Und  als  dann  alles  in  einen 
Zustand  des  vollkommenen  Chaos  geraten  war,  be- 
stiegen die  Sozialreformer  die  Rednertribüne  und 
predigten  Erlösung  von  den  Obeln,  die  sie  und  ihr 
System  hervorgerufen  hatten.  Die  armen  Sozial- 
reformer I  »Sie  kannten  nicht  die  Scham  und  hatten 
das  Erröten  verlernt«  ist  Ghuang  Tsus  Urteil  über  sie. 
Die  wirtschaftliche  Frage  wird  ebenfalls  von 
diesem  schlitzäugigen  Weisen  des  Ausführlichen 
behandelt,  und  er  spricht  über  den  Fluch  des  Kapitals 
so  beredsam  wie  Karl  Marx.  Das  Aufsammeln  von 
Reichtum  ist  nach  ihm  der  Ursprung  alles  Obels. 
Es  macht  den  Starken  gewalttätig  und  den  Schwachen 
unehrlich.  Es  schafft  den  kleinen  Dieb  und  setzt  ihn 
in  einen  Bambuskäfig;  es  schafft  den  großen  Dieb 
und  setzt  ihn  auf  einen  Thron  von  weißem  Nephrit. 
Es  ist  der  Yater  des  Wettbewerbes,  und  der  Wett- 
bewerb ist  die  Verschwendung  ebenso  wie  die  Zer- 
störung der  menschlichen  Kraft.  Die  Einrichtung  der 
Natur  ist  Ruhe,  Wiederholung  und  Friede.    Mühsal 


—  10  — 


und  Kampf  sind  die  Produkte  einer  künstlichen  Qe- 
sellschaft,  die  auf  dem  Kapital  beruht,  und  je  reicher 
diese  Qesellschaft  ist,  desto  gründlicher  bankerott  ist 
sie  in  Wirklichkeit,  denn  sie  hat  weder  genügende 
Belohnung  für  die  Guten,  noch  genügende  Bestra- 
fung für  die  Schlechten.  Und  auch  das  darf  nicht 
außer  Acht  gelassen  werden,  dafi  die  Belohnungen 
dieser  Welt  den  Menschen  ebenso  entwürdigen  wie 
ihre  Bestrafungen.  Die  Zeit  ist  verfault  bis  zum 
Grunde  durch  ihre  Anbetung  des  Erfolges.  Und  was 
die  Bildung  betrifft,  so  kann  wahre  Weisheit  weder 
gelehrt,  noch  gelernt  werden.  Sie  ist  ein  Geistes- 
zustand, den  derjenige  erreicht,  der  in  Eintracht  mit 
der  Natur  lebt.  Alles  Wissen  ist  seicht,  wenn  wir  es 
mit  dem  Ozean  dessen  yer|2:Ieiehen,  was  wir  nicht 
wissen,  und  nur  das,  was  wir  nie  wissen  .können,  ist 
▼on  Wert.  Die  menschliche  Gesellschaft  bringt  Be- 
trüger hervor,  und  die  Bildung  macht  einen  Betrüger 
geschickter  als  den  anderen.  Das  ist  das  einzige  Re- 
sultat des  Schulsystems.  Und  von  welcher  philoso- 
phischen Bedeutung  kann  die  Bildung  sein,  wenn  sie 
bloß  dazu  führt,  jeden  Menschen  verschieden  von 
seinem  Nächsten  zu  machen?  Wir  gelangen  schliefi- 
lieh  zu  einem  Chaos  der  Meinungen,  zweifeln  an 
allem  und  verfallen  in  die  niedrige  Gewohnheit  des 
Disputierens;  und  nur  die  geistig  Verlorenen  dispu- 
tieren. Nehmen  wir  das  Beispiel  von  Hui  Tsu.  »EJr 
war  ein  Mann  mit  vielen  Gedanken;  seine  Werke 
würden  fünf  Wagen  füllen.  Aber  seine  Lehren  waren 
paradox,  c  Er  sagte,  daß  das  Ei  Federn  enthalte,  weil 
das  Huhn  Federn  habe ;  dafi  ein  Hund  auch  ein  Schaf 
sein  könne,  da  alle  Namen  willkürlich  seien;  dafi  es 
einen  Moment  gebe,  wo  der  abgeschnellte  Pfeil  weder 
in  Bewegung  noch  in  Ruhe  sei;  dafi,  wenn  man 
einen  Stab  von  einem  Fufi  Länge  nehme  und  jeden 
Tag  die  Hälfte  davon  abschneide,  man  niemals  zu 
Ende  komme;  und  dafi  ein  braunes  Pferd  und  eine 
braune  Kuh  drei  seien,  denn  jedes  für  sich  genom* 
men  seien  sie  zwei,  und   zusammengenommen    seien 


—  11 


sie  eins,  und  swei  und  eins  gäben  drei.  »Er  glich 
einem  Mann,  der  mit  seinem  eigenen  Sohatten  um 
die  Wette  läuft  und  der  laut  schreit,  um  das  Echo 
SU  ersticken.  Wozu  war  er  nütze  ?c 

Mit  der  Moral  ist  es  natürlich  ein  ander  Dins:. 
Sie  kam  aus  der  Mode,  sagt  Ghuang  Tsu,  als  die 
Leute  anfingen  zu  moralisieren.  Die  Menschen  hörten 
damit  auf,  unbefangen  zu  sein  und  aus  natürlichem 
Antrieb  zu  handeln.  Sie-  wurden  geckenhaft  und  ge- 
künstelt und  waren  so  verblendet  ein  bestimmtes 
Ziel  im  Leben  zu  verfolgen.  Dann  kamen  Regierun- 
gen und  Philantropen,  dieser  zweifache  Fluch  der 
^it.  Jene  versuchten  die  Menschen  zur  Güte  zu 
zwingen  und  zerstörten  damit  ihre  natürliche  Güte; 
diese  waren  eine  Schar  zudringlicher  Vielgeschäf- 
tiger, die  Verwirruniz:  hervorriefen,  wohin  sie  kamen. 
Sie  waren  dumm  genug  Prinzipien  zu  haben,  und 
unglücklich  genug,  danach  zu  handeln.  Sie  nahmen 
alle  ein  schlechtes  Ende  und  zeigten,  dafl  allgemei- 
ner Altruismus  ebenso  schädlich  in  seinen  Folgen  ist 
wie  allgemeiner  Egoismus.  Sie  »stellten  den  Menschen 
mit  der  Mildtätigkeit  ein  Bein  und  fesselten  sie  dann 
nGiit  der  Liebe  zu  dem  Nächsten.«  Das  Ergebnis  von 
alledem  war,  da&  die  Welt  ihr  Gleichgewicht  verlor 
und  sich  seit  der  Zeit  taumelnd  fortbewegt. 

Wer  also  ist,  nach  Ghuang  Tsu,  der  vollkom- 
mene Mensch,  und  wie  ist  seine  Art  zu  leben?  Der 
rollkommene  Mensch  tut  nichts  als  das  Weltall  be- 
trachten. Er  hat  keinerlei  bestimmte  Meinung.  »In 
Bewegung  gleicht  er  dem  Wasser.  In  der  Ruhe  gleicht 
er  einem  Spiegel.  Und  gleich  dem  EJcho  antwortet 
er  nur,  wenn  er  angerufen  wird.«  Er  überlä&t  die 
Dinge  der  Aufienwelt  sich  selbst.  Nichts  Körperliches 
kann  ihn  verwunden;  nichts  Geistiges  kann  ihn  be- 
drücken. Sein  seelisches  Gleichgewicht  gibt  ihm  die 
Herrschaft  über  die  Welt.  Er  weifi,  dafi  »gerade  so 
wie  die  beste  Sprache  die  ist,  die  nicht  gesprochen 
wird,  die  beste  Tat  die  ist,  die  nicht  getan  wird«. 
Er  ist  passiv   und    nimmt    die  Gesetze    des   Lebens 

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12 


ohne  Widerspruch  hin.  Er  ruht  in  Untätigkeit  und 
sieht  SU,  wie  die  Welt  von  selbst  tugendhaft  wird. 
Er  bemüht  sich  nicht  »seine  guten  Tat(3n  herbeizu- 
führenc.  Er  verschwendet  sich  nie  in  Anstrengung. 
Er  kümmert  sich  nicht  um  moralische  Unterschei- 
dungen. Er  weifi,  daft  die  Dinge  sind,  was  sie  sind, 
und  dafi  ihre  Folgen  sein  werden,  was  sie  sein  wer- 
den. Seine  Seele  ist  »der  Spiegel  des  Weltalls«,  und 
sein  Gemüt  ist  stets  voll  Frieden. 

Alles  dies  ist  natürlich  aufierordentlich  gefähr- 
lich, aber  wir  dürfen  nicht  vergessen,  daft  Chuang^ 
Tsu  vor  mehr  als  aweitausend  Jahren  lebte  und  nicht 
das  Qlttck  hatte,  unsere  unvergleichliche  Zivilisation 
kennen  su  lernen.  Dennoch  ist  es  möglich,  dafi  er, 
wenn  er  jetat  wieder  auf  die  Erde  käme  und  uns 
besuchte,  einiges  zu  unserem  Minister  für  Irland, 
Mr.  Balfour,  über  seine  Ausnahmsgesetse  und  seine 
Miftregierung  in  Irland  zu  sagen  hätte;  er  würde 
vielleicht  über  unseren  philantropischen  Eifer  lächeln 
und  über  manche  unserer  Wohlfahrtseinrichtungen 
den  Kopf  schütteln ;  unser  Schulsystem  würde  ihm 
vielleicht  nicht  imponieren,  noch  würde  unsere  Jagd 
nach  dem  Reichtum  seine  Bewunderung  erregen;  er 
würde  sich  vielleicht  über  unsere  Ideale  wundem  und 
betrübt  sein  über  das,  was  wir  erreicht  haben.  Es 
ist  vielleicht  gut,  dafi  Ghuang  Tsu  nicht  wiederkeh- 
ren kann. 

Indessen  besitzen  wir,  dank  dem  Übersetzer,  zu 
unserem  Tröste  sein  Werk,  das  ein  höchst  anziehen- 
des und  erquickendes  Buch  ist.  Chuang  Tsu  ist  einer 
der  Darwinianer  vor  Darwin.  Er  verfolgt  die  Ent- 
stehung des  Menschen  vom  Ursprung  aus  uad  er- 
kennt seine  Einheit  mit  der  Natur.  Als  Anthropologe 
ist  er  ungemein  interessant,  und  er  J)eschreibt  unse- 
ren auf  Bäumen  lebenden  Urahn,  wie  er  sich  vor 
den  Tieren  fürchtet,  die  stärker  sind  als  er,  und  wie 
er  nur  einen  Verwandten  kennt,  die  Mutter,  mit  all 
der  wissenschaftlichen  Genauigkeit  eines  modernen 
Universitätsprofessors.  Gleich  Plato   bedient   er  sich 


y  Google 


—  13  — 

des  Dialoges  fflr  seine  Darstellungen  und  »legt  die 
Worte  in  den  Mund  anderer  Leutet,  wie  er  uns  sagt, 
>um  dadurch  eine  gröflere  Weite  des  Blickes  zu  ge- 
winnenc.  Als  Geschichtenerzähler  ist  er  prächtig.  Die 
Erzählung  von  dem  Besuche  des  ehrwfirdieen  Gon* 
fuzius  bei  dem  groSen  Räuber  Gh^  ist  außerordent- 
lich lebendig  und  geistyoll,  und  es  ist  unmöglich, 
nicht  über  den  schließlichen  Verdrufl  des  Weisen  zu 
lachen,  dessen  moralisierende  Plattheiten  durch  den 
erfolgreichen  Räuber  in  all  ihrer  Unfruchtbarkeit 
enthüllt  werden.  Selbst  in  seinen  metaphysischen 
Schriften  ist  Ghuang  Tsu  ungemein  humorvoll.  Er 
personifiziert  seine  abstrakten  Begriffe  und  läßt  sie 
vor  uns  dramatische  Szenen  aufführen.  Der  Qeist  der 
Wolken  begegnete  auf  seinem  Fluge  ostwärts  durch 
die  Weiten  des  Raumes  dem  Prinzipe  des  Lebens. 
Dieses  hüpfte  herum  und  schlug  an  seine  Rippen ; 
worauf  der  Qeist  der  Wolken  sagte :  »Wer  bist  du, 
alter  Mann,  und  was  tust  du  hier?€  »loh  gehe  spa- 
zieren«, erwiderte  das  Prinzip  des  Lebens,  ohne  inne- 
zuhalten, denn  alle  Tätigkeiten  sind  unaufhörlich. 
»Ich  möchte  dich  etwas  fragen«,  sagte  der  Geist  der 
Wolken.  »So?«  erwiderte  das  Prinzip  des  Lebens  in 
mißbilligendem  Tone,  und  nun  folgt  ein  wundervol- 
les Gespräch,  nicht  unähnlich  dem  Dialog  zwischen 
der  Sphynx  und  der  Ghimära  in  dem  seltsamen  Drama 
Flauberts.  Auch  sprechende  Tiere  erscheinen  in 
Ghuang  Tsus  Parabeln  und  Erzählungen,  und  in 
Mythe,  Gedicht  und  Märchen  findet  seine  eigenartige 
Philosophie  künstlerischen  Ausdruck. 

Natürlich  ist  es  sehr  traurig,  wenn  einem  gesagt 
wird,  daß  es  unsittlich  ist,  bewiät  gut  zu  sein,  und 
daß  etwas  zu  tun  die  schlimmste  Art  des  Müßig- 
ganges ist.  Tausende  vortrefflicher  imd  gewissenhaf- 
ter rhilantropen  würden  an  den  Bettelstab  kommen, 
wenn  der  Grundsatz  allgemeine  Geltung  erlangte, 
daß  niemand  sich  um  Dinge  kümmern  soll,  die  ihn 
nichts  angehen.  Die  Lehre  von  der  Nutzlosigkeit 
alier  nützlichen  Dinge  würde  nicht  nur  die  kommer- 

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—  14  ~ 

zidlle  Oberlegenheit  unseres  Landes  gefthrden,  son- 
dern könnte  rielen  erfolgreichen  und  ehrenfesten 
Mitgliedern  des  kaufmännischen  Standes  grofien 
Schaden  verursachen.  Was  sollte  aus  unseren  Volks- 
predigern und  unseren  Salon-Evangelisten  werden, 
wenn  wir  ihnen  in  den  Worten  OhuangTsus  sagten: 
> Moskitos  halten  den  Menschen  die  ganze  Nacht  wach 
durch  ihre  Stiche,  und  ebenso  treibt  uns  dieses 
Qerede  von  Wohltun  und  der  Pflicht  gegen  seinen 
Nächsten  fast  zur  Verzweiflung.  Ihr  Herren,  trachtet 
die  Welt  in  ihrer  ursprünglichen  Einfalt  zu  erhalten, 
und  wie  der  Wind  wehet,  wo  es  ihm  gefällt,  so 
lasset  die  Tugend  sich  selbst  entwickeln.  Wozu  die- 
ser unnütze  Kraftaufwand?«  Und  was  würde  das 
Schicksal  der  Regierungen  und  Berufspolitiker  sein, 
wenn  wir  zu  der  Oberzeugung  kämen,  dafi  es  keinen 
Sinn  hat,  die  Menschen  regieren  zu  wollen?  Es  ist 
klar,  dafi  Ohuang  Tsu  ein  sehr  gefährlicher  Schriftr 
steller  ist,  und  die  Veröffentlichung  seines  Buches  in 
England,  zweitausend  Jahre  nach  seinem  Tode,  ist 
offenbar  verfrüht  und  kann  leicht  sehr  vielen  durch- 
aus ehrenhaften  und  arbeitsamen  Menschen  grofle 
Pein  bereiten.  Es  mag  ja  sein,  dafi  das  Ideal  der 
Selbstkultur  und  Selbstentwickelung,  welches  das 
Ziel  seines  Lebensplanes  und  die  Grundlage  seines 
philosophischen  Systems  bildet,  ein  Ideal  ist,  das 
einer  Zeit  wie  der  unsrigen  sehr  not  täte,  wo  die 
meisten  Leute  so  beflissen  sind  ihre  Nächsten  zu 
verbessern,  dafi  ihnen  tatsächlich  keine  Zeit  bleibt 
sich  selbst  zu  verbessern.  Aber  wäre  es  weise,  das 
auszusprechen?  Es  will  mir  scheinen,  dafi,  wenn  wir 
die  Berechtigung  auch  nur  eines  der  destruktiven 
Prinzipien  Ohuang  Tsus  zugäben,  wir  damit  auf  un- 
sere nationale  Gewohnheit  der  Selbstverherrlichimg 
hemmend  wirken  würden;  und  das  einzi|;e,  was  den 
Menschen  über  die  Dummheiten  tröstet,  die  er  begeht, 
ist,  dafi  er  sich  fortwährend  Lob  dafür  spendet,  dafi 
er  sie  begeht.  Vielleicht  gibt  es  aber  doch  eini^ 
Wenige,  die  des  seltsamen  Enthusiasmus  unserer  Zeit 

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—  16 


für^ydie  krampfhaften  PAostrengungen  des  Oeistes 
tiberdrfissig  geworden  sind.  Diesen  und  allen  ihnen 
yerwandten  Naturen  wird  Chuang  Tsu  willkommen 
sein.  Aber  mögen  sie  ihn  nur  lesen.  Mögen  sie  sich 
hüten  Ton  ihm  2U  sprechen.  Er  würde  störend  bei 
Diners  wirken  und  unerträglich  in  Teegesellschaften 
sein,  imd  sein  ganses  Leben  war  ein  Protest  geeen 
das  Tribünenrednertum.  Der  wahre  Weise  kennt  den 
Ruhm  nicht;  der  glückliche  Mensch  kennt  die  Tätig- 
keit nicht;  der  vollkommene  Mensch  kennt  sich  selbst 
micht  Das  sind  die  Grundsätze  Obuang  Tsus. 

(Dcntscfa  von  Leo  RonJg.) 


Über  die  Jnngfrauachaft.  Von  Shakeapeare.^ 

>Denkt  Ihr  über  das  Wesen  der  Jungfrau- 
schaft nach?« 

>Ja,  eben.  Ihr  seid  so  ein  Stück  von  Soldaten; 
kifit  mich  Euch  eine  Frage  tun.  Die  Männer  sind  der 
Jungfrauschaft  feind:  wie  können  wir  sie  vor  ihnen 
verrammeln  ?« 

>Haltet  sie  drauftenic 


*)  Diese  grofiartigen  Tiraden,  die  Shakespeare  einem  Spitzbuben 
in  den  Mund  legen  mufite,  stehen  in  dem  Lustspiel  »Ende  gut,  Alles 
l^€.  Den  hier  mitgeteilten  Text  habe  ich  aus  den  Obersetzungen 
Tieclcs  und  Heinrich  Voss*  zusammengestellt,  wie  denn  überhaupt  meine 
Zitierung  Shalcespeare'scher  Sfltze  immer  eine  Komposition  von  Teilen 
ist.  die  mir  da  und  dort  den  Gedanken  am  Shakespeareschesten  aus- 
zudrücken scheinen.  So  ergibt  sich  oft  durch  Vergleichung  das  intime 
Verständnis  eines  Urtextes,  den  ich  nicht  zu  lesen  vermag.  (Ahnlich 
verhält  es  sich  mit  meiner  Anwendung  von  Bibelworten.)  Dieses  Verfahren, 
an  noch  nicht  geflügelten  Worten  geübt,  ist  immerhin  pietätvoller  als 
die  Rdcüfizierung  längst  geläufiger  Schlegel-Tieckscher  Spracbschön- 
heiten,  die  pedantischen  Revisoren  neuestens  beliebt  hat.  Die  Flügel, 
die  ein  Wort  bekommen  hat,  ihm  brechen  —  das  vermag  nur  ein 
philologisches  Gewissen.  Bemerkenswert  ist  übrigens,  dafi  die  Worte 
>lst  die  Jungfrauschaft  aufgesprengt ....  eure  Bürgt,  in  mancher  Aus- 
gabe auch  die  Stelle  »Die  Zeit  taugt  ....  was  damit«  bei  Tieck  fehlt. 

Anm.  d.  Herausgebers. 

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—  16 


»Aber  sie  stürmen;  und  unsere  Jungfrauachaft, 
wenn  auch  in  der  Verteidigung  tapfer,  ist  dennoch 
schwach.  Lehrt  uns  einen  kunstgerechten  Wider- 
stand Ic 

>E!s  gibt  keinen.  Die  Männer,  sich  vor  euch 
lagernd,  unterminieren  euch  und  sprengen  euch  auf.« 

>Der  Himmel  bewahre  unsere  arme  Jungfrau- 
schaft vor  Minierem  und  Aufsprengern  I  Gibts  keine 
Kriegskunst,  wie  Jungfrauen  Männ^  aufsprengen 
könnten  ?< 

>Ist  die  Jungfrauschaft  aufgesprengt,  so  springt 
der  Mann  \un  so  hurtiger  auf;  meiner  Seel',  sprengt 
ihr  ihn  wieder  herunter,  so  verliert  ihr  durch  die 
Bresche,  die  ihr  selber  gemacht  habt,  eure  Burg.  — 
Läßt  sich  denn  ein  vernünftiger  Qrund  im  Natur- 
recht  nachweisen,  die  Jungfrauschaft  su  bewahren? 
Verlust  der  Jungfrauschaft  ist  vielmehr  verständi- 
ger Zuwachs ;  und '  noch  nie  ward  eine  Jungfrau 
geboren,  dafi  nicht  vorher  eine  Jungfrauschaft  ver- 
loren ^ard.  Das,  woraus  ihr  K^madit  seid,  ist  Stoff, 
um  Jungfrauen  draus  zu  machen.  Eure  Jungfrausohaft, 
einmal  verloren,  kann  sehnmal  wieder  ersetzt  werden ; 
immer  erhalten,  ist  sie  immer  verloren;  sie  ist  eine 
zu  frostige  Gefährtin ;  fort  damit  U 

>Ich  will  sie  doch  noch  ein  wenig  festhalten, 
sollt'  ich  auch  darüber  als  Jungfrau  sterben.« 

> Dafür  läfit  sich  wenig  sagen;  es  ist  gegen  die 
Ordnung  der  Natur.  Die  Partei  der  Jungfrauschaft 
nehmen,  heifit,  seine  Mutter  anklagen,  und  das  ist 
ein  handgreiflicher  Ungehorsam.  Wie  einer,  der  sich 
aufhängt,  ist  solch  eine  Jungfrauschaft;  sie  gleicht 
einem  Selbstmörder  und  sollte  an  der  Heerstrafie 
begraben  werden,  fern  von  aller  geweihten  Erde,  als 
eine  tollkühne  Prevlerin  gegen  die  Natur.  Die  Jung- 
frauschaft brütet  Grillen,  wie  ein  Käse  Maden,  ver- 
zehrt sich  selbst  bis  auf  die  Kruste,  nährt  sich  vom 
Eingeweide  und  stirbt  an  der  Stillung  des  eigenen 
Hungers.  Überdies  ist  die  Jungfrauschaft  wunder- 
lich, stolz,  müfiig,  aus  Selbstliebe   zusammengesetzt, 


17 


welches  die  rerpönteste  Sünde  in  den  sehn  (Geboten 
ist.  Behaltet  sie  nicht;  Ihr  könnt  gar  nicht  anders, 
als  dabei  rerlieren;  fort  damit  I  Leiht  sie  aus,  im 
Laufe  eines  Jahres  habt  Ihr  Zwei  fOr  Eins;  das  ist 
ein  habscher  Zins,  und  das  Grundstock  hat  nicht 
▼iel  gelitten.  Port  damit  I< 

»Was  aber  tun,  um  sie  su  rerlieren  nach  eig- 
Htm  Gefallen  ?c 

»Laflt  sehen  1  ei  nun,  leiden  Tielmehr,  um  dem 
lu  gefalleo,  dem  sie  nicht  KefftUt.  Es  ist  eine  Ware, 
die  durchs  Liiegen  allen  Olana  Terliert;  je  länger 
aufbewahrt,  je  weniger  wert:  Fort  damit,  so  lanee 
sie  noch  rerkäuflich  ist.  Nfitst  die  Zeit  der  Nach- 
frage I  Die  Jungfrauschaft,  wie  eine  welke  Hofdame, 
trl^  eine  altmodische  Haube,  ein  Hofkleid,  dem 
keiner  mehr  den  Hof  macht;  recht  wie  Hutsohleife 
und  Zahnstocher,  die  man  nicht  mehr  trägt.  Die  Zeit 
taugt  Eurem  Wein  besser,  als  Eurer  Wange;  und 
Eure  Jungfrauschaft,  Eure  alternde  JunglErauschaft, 
ist  wie  eine  welke  Dattel.  Sie  sieht  ledern  aus  und 
schmeckt  noch  lederner,  wenn  man  sich  flberwindet, 
sie  au  kosten;  meiner  SeeF,  sie  gleicht  einer  alten 
Dattel;  sie  war  vormals  besser;  sie  ist  eben  blofl 
noch  eine  alte  runaelige  Dattel ;  wollt  Ihr  was  damit?« 


Tagebneh.*) 

Die  menschlichen  Einrichtungen  müssen  erst  so 
▼onkommen  werden,  dait  wir  ungestört  darüber  nach* 
denken  kOnnen,  wie  unvollkommen  die  göttlichen  sind. 


Alles    schwelgende    Geniefien    in    Küche    und 
KeDer,  alle  Kennerschaft  in  Liebe  und  Leben  beruht 


*)  Aus  dem  .Simplicissimus'. 

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—  15  — 


nicht  auf  der  Fähigkeit  analytischen  Prüfens,  sondern 
auf  der  phantastiscnen  Verwendung  der  Erkenntnis: 
Man  weifi  nicht,  wovon  man  fett  wird. 


Es  gibt  keine  Wollust,  die  an  das  Hochgeffihl 
künstlerischer  Zeueung  heranreicht,  und  es  gibt  keine 
Trauer,  die  dem  Zustand  vergleichbar  ist,  in  den  der 
Künstler  nach  getanem  Werk  versinkt  Die  Selbst- 
sicherheit des  Unbewufitseins  schafft  jedesmal  ihr 
erstes  Werk,  und  darum  jedesmal  ihr  bestes.  Ist  es 
getan,  so  sieht  die  Unsicherheit  des  Bewufitseins,  daft 
es  das  letete  sei,  und  darum  das  schlechteste.  Solcher 
Mutlosigkeit  imponiert  jedes  kritische  Bubenwort 
Bin  Urteil,  das  dem  künstlerischen  Schaffen  blofl  in 
die  Ernüchterung  und  nicht  in  den  Oenuft  foleen 
kann,  ist  ein  wwrer  Fluch.  Die  wissen  von  der  Wol- 
lust nichts,  die  in  ihr  blofi  den  Zustand  sehen,  der 
der  Trauer  vorangeht. 

Wer  Meinungen  von  sich  gibt,  darf  sich  auf 
Widersprüchen  nicht  ertappen  lassen.  Wer  Gedanken 
äufiert,  denkt  auch  zwischen  den  Widersprüchen.  Es 
ist  ein  unglücklicher  Hang  unserer  Tage,  Gedanken 
mit  Meinungen  zu  verwechseln.  Wir  fragen  nach  der 
Nutzanwendung  eines  lyrischen  Gedichtes  und  nageln 
Goethe  auf  den  Widerspruch  zwischen  einer  Morgen- 
stimmung und  einer  Abendstimmung  fest. 

Ansichten  pflanzen  sich  durch  Teilung,  Gedan- 
ken durch  Ejiospung  fort. 

Daß  sie  das  Feuilleton  lebensfähig  erhalten,  ist 
das  höchste  Kompliment,  das  mau  heute  den  Litera- 
ten machen  kann.  Wie  aber  klingt  es,  wenn  man 
ihnen  sagt,  dafi  sie  das  Leben  feuiUetonf&hig  erhalten  f 

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—  10 


Heine  ist  ein  Moses,  der  mit  dem  Stab  auf  den 
Felsen  der  deutschen  Sprache  schlug.  Aber  Qesobwin- 
digkeit  ist  keine  Zauberei,  das  Wasser  flofi  nicht  aus 
dem  Felsen,  sondern  ^  er  hatte  es  mit  der  anderen 
Hand  herangebracht,  "und  es  war  eau  de  Cologne. 


Die  Prostitution  des  Leibes  teilt  mit  dem  Jour- 
aalismus  die  Fähigkeit,  nicht  empfinden  eu  müssen, 
hat  aber  vor  ihm  die  Fähigkeit  vonaus,  empfinden 
tu  können. 

• 

Der  Journalismus  denkt  ohne  die  Lust  des  Den- 
kens. Der  in  seiüen  Bezirk  verbannte  Künstler  gleicht 
einer  Eur  Prostimtion  gezwungenen  Hetäre,  nur  dafi 
diese  schadlos  auch  dem  Zwang  erliegt.  Der  Zwang 
lur  Lust  kann  ihr  Lust  bedeuten,  jenem  nur  Unlust. 


Zur  Orientierung  in  Fragen  der  Politik  genügen 
Operettenerinnerungen.  Was  sich  etwa  zu  Ungunsten 
der  absolutistischen  Regierungsform  sagen  Iwt,  hat 
einem  die  Figur  eines  Königs  Bob^che,  eines  Erb- 
prinsen  Kasimir  oder  eines  Generals  Kantsohukoff 
beigebracht.  Wenn  die  Forderung  der  Phraseure,  dafi 
die  Kunst  sich  mit  den  öffentlichen  Angelegenheiten 
befasse,  überhaupt  einen  Sinn  hüben  soll,  so  kann 
sie  sich  nur  auf  die  Operettenproduktion  beziehen. 
Diese  trifft  mit  Recht  der  Vorwurf,  dafi  sie  die  ein- 
zigen menschlichen  Angelegenheiten,  die  nicht  ernst 
sa  nehmen  sind,  nämlicn  die  öffentlichen,  seit  Jahr- 
sehnten vernachlässigt  hat.  Denn  die  Kunstform  der 
Operette  ist  jene,  die  dem  Wesen  aller  politischen 
EmtwicklunRen  angepafit  ist,  weil  sie  der  Dummheit 
die  erlösende  Unwahrscheinlichkeit  gibt.  Daß  sich 
sonst  die  künstlerische  Gestaltung  auf  die  neuge- 
backenen Ereignisse  werfe,  ist  ein  törichtes  Verlan- 
gen, und  selbst  die  Satire  verschmäht  sie,  deim  diese 


—  20  — 

kann  swar  die  Lächerlichkeiten  der  Politik  erfassen, 
aber  die  Lächerlichkeiten  innerhalb  der  Politik 
vollsiehen  säch  unter  dem  Niveau  einer  im  höheren 
Sinne  witrigen  Betrachtung. 

Die  moderne  Tänzerin  kann  schon  Beethoven 
tansen.  Nur  der  Ballettonkel  ist  in  seiner  Entwicklung 
zurückgeblieben. 

Nichts  ist*  sinnloser  als  der  Ruf  nach  trikotfreien 
Tänzerinnen.  Es  ist  die  Forderung  jenes  Literatur- 
vegetariertums,  das  Kunst  und  Natur  so  gründlich 
mißversteht  und  indem  es  sie  identifiziert,  Wirkun- 
gen herbeiführt,  die  es  abschaffen  möchte.  Der  un- 
geschminkte Schauspieler  spielt  als  Bleichgesicht  vor 
Indianern,  der  ungeschminkte  Dialekt  ist  affektiert 
und  die  Nacktheit  der  Tänzerin  ist  ein  Kostüm. 

Gegenüber  dem  Schriftsteller  ist  der  Vorwurf 
der  Eitelkeit  nicht  am  Platze.  Wenn  er  es  nieder- 
schreibt, dafi  er  sich  für  einen  bedeutenden  Autor 
halte,  so  kann  er  es  in  diesem  einen  Satz  beweiaen, 
während  den  Musiker  schon  der  Versuch  zu  solcher 
Programmusik  Lügen  strafen  müflte. 

* 

Nichts  ist  den  Kommis  teurer  als  ihr  Ehrenwort 
Aber  bei  Abnahme  einer  gröfieren  Partie  wird  Rabatt 
gewährt. 

Wer  da  gebietet,  dafi  eine  Xanthippe  begehrens- 
werter sei  als  ein  Alcibiades,  ist  ein  Schwein,  das 
immer  nur  an  den  Geschlechtsunterschied  denkt 

• 

Mir  träumte,  es  gäbe  in  Deutschland  einen 
Kämpfer  des  Geistes,  der  strich  alle  s-Laate  aus  den 
zusammengesetaten  Wörtern.  Er  sprach  von  Belei- 
digungklagen und  Verhandlungterminen,  von  Gewohn- 


—  21 


heitverbrechen  und  von  UnauohtTermittlungyersuohen. 
Die  Torsohmähten  8-LAute,  die  sonst  lieb  Kind  bei 
der  deutschet  Zunge  waren,  beschlossen,  sich  zu 
riehen.  Und  als  jener  einmal  einem  alten  Manne  die 
geschlechtlichen  Verirrungnaohweise  aus  dessen  JOng- 
lingtagen  vorBählte,  da  vereinigten  sie  sich  zu  einem 
Zischchorus,  wie  er  in  Deutschland  noch  nicht  gehört 
worden  war.  Und  da  gab  es  keinen  Schwichtigung- 
Rrund .  .  .  Als  ich  aber  erwachte,  merkte  ich,  dkfi  es 
Zukunftmusik  war. 

• 

Ich  kannte  einen  Helden,  der  an  Siegfried  durch 
die  dicke  Haut  erinnerte  und  au  Achill  durch  die 
Beschaffenheit  seiner  Ferse. 


In  Bchtemaoh  im  Luxemburgischen  finden  noch 
heute  sogenannte  Springprosessionen  statt.  Weil  n&m- 
lich  einst  das  Vieh  von  der  Tanzkrankheit  befallen 
war,  gelobten  die  dortigen  Bauern,  anstatt  der  Tiere 
zu  Ehren  des  heiligen  Willibrord  zu  springen.  Heute 
kennen  weder  Menschen  noch  Vieh  mehr  die  Ursache 
der  sonderbaren  Zeremonie,  aber  jene  bleiben  ihr 
treu,  und  wenn  sich  die  Macht  der  Gewohnheit  wei- 
ter an  den  Echtemachem  bewährt,  so  wird  vielleicht 
einmal  wieder  das  Vieh  es  sein,  das  zu  Ehren  des 
heiligen  Willibrord  springt.  Menschen  sind  es  heute 
noch,  an  die  fünfzehntausend,  die  um  Pfingsten  >drei 
Schritte  vor,  zwei  Schritte  zurück«  springen.  Die 
Geistlichkeit  springt  nicht  mit,  sondern  schaut  zu. 
Ganz  befriedig^  sie  das  Schauspiel  nicht;  denn  sie 
sihe  es  noch  lieber,  wenn  es  zwei  Schritte  vor  und 
drei  zuräckginge. 

• 

Die  Unsittlichkeit  tritt  immer  in  Elrscheinung 
und  wirkt  dennoch  nicht  abschreckend«  Um  so  be- 
trQbÜcher  ist  es,  daß  die  Sittlichkeit,  die  im  Staate 
waltet,  nicht  sichtbar  wird  und  darum  nicht  vor- 
bildlich wirken  kann.  Wenn  man  sie  nicht  hin   imd 

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22 


wieder  in  Form  der  Erpressung  zu  spüren   bekäme, 
man  wüfite  rein  nicht«  dafi  sie  auf  der  Welt  ist. 

• 
Eine  Wirtschaftspolitik,  die  dem  Kleingewerbe 
zuliebe  die  Einfuhr  hygienischer  Schuhe  bek&mpft, 
hält  die  Hühneraugen  für  einen  integrierenden  Be- 
standteil des  Fußes,  und  nur  weil  diese  beim  Fort- 
schreiten unbequem  werden,  und  weil  sie  weifi,  wo 
das  Kleingewerbe  der  Schuh  drückt,  warnt  sie  ^or 
dem  Fortschriit. 

• 

Die  Demokratie  teilt  die  Menschen  in  Arbeiter 
und  Faulenzer.  Für  Solche,  die  keine  Zeit  zur  Arbeit 
haben,  ist  sie  nicht  eingerichtet 

Lang;eweile  und  Unbequemlichkeit  sind  die  Pole, 
zwischen  denen  das  Entzücken  an  den  Frauen  schwankt. 
In  ihrer  äufiersten  Konsequenz  sind  sie  entweder  bärm- 
herzige Schwestern  oder  unbarmherzige  Schwestern. 

• 

Der  Erotiker:  Er  hatte  an  ihr  eine  Ähnlich- 
keit entdeckt.  Die  kultivierte  er,  safi  täglich  an  ihrem 
Lager  und  schob  ihr  die  Nase  zurecht,  um  die  Ähn- 
lichkeit herzustellen.  Der  Ästhetiker :  Er  hatto  an  ihr 
eine  Verschiedenheit  entdeckt.  Die  kultivierte  er,  safi 
täglich  an  ihrem  Lager  und  pries  die  Heiligkeit  der 
Nase  um  ihrer  selbst  willen.  Dieser  dankt  dem 
Schöpfer;  jener  macht  ihm  Konkurrenz. 

Es  müssen  nicht  unbedingt  die  Vorzüge  des 
männlichen  Charakters  oder  Qeistes  sein,  die  die 
Frauen  zur  Untreue  veranlassen.  Was  betrogen  wird, 
ist  ausschliefilich  die  Lächerlichkeit  der  offiziellen 
Stellung,  die  der  Besitzer  einnimmt.  Und  dagegen 
bieten  selbst  körperliche  Vorzüge  nicht  immer 
einen  Schutz. 


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—  28 


So  will  es  die  Qesellschaftsordnung:  Wenn 
irgendwo  ein  Mord  geschehen  ist,  wo  Ewei  Leute  zu 
einem  OeschlechtsaRt  zupammengetroffen  sind,  so 
werden  sie  lieber  jenen  Verdacht  ertragen,  als  sich 
der  infamierenden  Harmlosigkeit  dieser  Absicht  zu 
beschuldigen. 

Die  Sitte  verlangt,  dafi  ein  Lustmörder  den 
Mord  zugebe,  aber  nicht  die  Lust. 

• 

Sorrent,  im  August:  Ich  habe  nun  seit  zwei 
Wochen  kein  deutsches  Wort  gehört  und  kein 
italienisches  Terstanden.  So  läfit  sich's  mit  den 
Menschen  leben,  alles  geht  wie  am  Schnürchen  und 
jedes  aufreibende  Mifiverständnis  ist  ausgeschlossen. 

Es  gibt  eine  niedrige  Leichtgläubigkeit  des 
Vertrauens  und  eine  höhere  Leichtgläubigkeit  der 
Skepsis.  Der  eine  wird  betrogen,  der  andere  ist 
Manns  genug,  sich  selbst  zu  betrügen.  Jener  ist  der 
gefoppte  Bauer,  dieser  ist  ein  Wissender,  der  sich 
vom  Wissen  nicht  das  Spiel  verderben  läfit,  wenn  er 
sich  über  die  eigene  Schulter  guckt . . .  Ich  wollte 
ihre  Unterschrift  auf  einer  Ansichtskarte.  Ich  bat 
einen  Freund,  sie  zu  fälschen.  Wenn  er  dann  noch 
dazu  schriebe,  dafi  sie  echt  sei,  wOrde  ich's  sicher 
glauben. . .  Von  meiner  Leichtgläubigkeit  hätte  ich 
mir  früher,  da  ich  noch  glaubte,  keine  Vorstellung 
machen  könnea  Jetzt  bin  ich  oft  verblüfft  von  den 
Überraschungen,  die  ich  mir  bereite,  und  von  meinem 
Oberraschtsein.  Seitdem  mein  Mifltrauen  gewachsen 
ist,  weifi  ich,  wieviel  ich  mir  zumuten  kann. 

Wenn  ich  einen  Kutscher  schimpfen  höre,  so 
kann  es  mich  zu  einem  Gedicht  anregen.  Aber  wie 
unmusikalisch  wird  mir,  wenn  mich  ein  Musiker 
anspricht  I 

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~  24  — 


Zum  Teufel  mit  dem  Oeschwäts  über  die 
sexuelle  Aufklärung  der  Jugend  I  Sie  erfolgt  nooh 
immer  besser  durch  den  Mitschfller,  der  im  Lesebuch 
das  Wort  >Horen«  anstreicht,  als  durch  den  Lehrei; 
der  die  Sache  als  eine  staatliche  Einrichtung  er- 
klärt, die  so  nützlich  sei  und  so  komplisiert,  wiedis 
Steuerzahlen. 

Die  Liebe  als  Naturwissenschaft!  Das  Verbot 
der  Lust  bleibt  aufrecht  und  nun  wird  uns  auch  die 
Romantik  des  Verbots  verboten.  Wir  aber  bitten: 
Wenn  schon  Christentum,  dann  lieber  mit  Weihrauch, 
Orgelklängen  und  Dunkel. 

• 

Wie  lernt  die  Menschheit  schwimmen?  Man 
sagt  ihr,  wo  die  gefährlichen  Stellen  sind,  und  daft 
es  durch  Verbindung  Ton  Wasserstoff  mit  Sauer- 
stoff entstehe. 

Ich  mag  mich  drehen  und  wenden,  wie  ich  will, 
überall  zeigt  mir  das  Leben  seine  Verluste,  da  es 
entweder  &s  Malerische  dem  Nützlichen  oder  das 
Nützliche  dam  Malerischen  aufgeopfert  hat 

• 

Halte  deine  Leidenschaften  im  Zaum,  aber  hüte 
dich,  deiner  Vernunft  die  Zügel  schiefien  zu  lassen. 

Wahrheit  ist  ein  ungeschickter  Dienstbote,  der 
beim  Beinmachen  die  Teller  zerschlägt 

• 
Willst  du  ein  klares  Urteil  über  deine  Freunde 
gewinnen,  so  frage  deine  Träume. 

« 
Wenn   eine  Frau  auf  das  Wunderbare  wartet, 
so  ist  es  ein  rerfehltes  Rendezvous:  das  Wunderbare 
hat  auf  die  Frau  gewartet  Die  Unpünktlichen! 

• 
Der  Obermensch  ist  ein   verfrühtes  Ideal,  das 
den  Menschen  voraussetzt. 


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—  26  — 


Der  achtstündige  Arbeitetag:  das  übrige  gehört 
der  Kultur.  Und  ihr  glaubt,  dafi  sie  auf  das  Oeschäft 
emgehen  wird? 

• 

Man  verachte  die  Leute,  die  keine  Zeit  haben. 
Man  beklage  die  Menschen,  die  keine  Arbeit  haben. 
Aber  die  Männer,  die  keine  Zeit  zur  Arbeit  haben, 
(fie  beneide  manl 

Alles  Leben  in  Staat  und  Gesellschaft  beruht 
auf  der  stillschweigenden  Voraussetzung,  daS  der 
Mensch  nicht  nach&nkt.  Ein  Kopf,  der  nicht  in  jeder 
l^ge  einen  aufnahmsfUiieen  Hohliaum  darstellt,  hat 
66  gar  schwer  in  der  Welt. 

• 

Wenn  die  Aufforderung  eines  Kutschers,  mit 
ihm  zu  fahren^  nur  auf  den  Wunsch  in  uns  stiefte, 
mit  ihm  nicht  zu  fahren,  wftre  das  Leben  leiohl. 
Aber  sie  stOfit  manchmal  auf  bessere  Gedanken  und 
zerstört  sie.  Wer  denkt  denn  auch  immer  nur  daran, 
nicht  zu  fahren? 

• 

Der  Scharfsinn  der  Polizei  ist  die  Qabe,  alle 
Menschen  eines  Diebstahls  für  fähig  zu  halten,  und 
das  Olück,  dafi  sich  die  Unschuld  mancher  nicht  er- 
weisen läfit. 

Nie  habe  ich  den  Sinn  des  Wortes:  »Kamele 
schlucken  und  Mücken  seigen«  besser  erfaßt  als  in 
Itafien,  wo  liebeToUe  Wirte  ein  Moskitonetz  über 
unsere  Betten  breiten. 

Dagegen  haben  die  Hamburger  Betten  eine  hohe 
Kante.  Beim  Aufistehen  ma^  es  schmerzen,  aber 
man  i^t  sicher,  dafi  man  bei  stürmischer  See  nicht 
herausfällt.  Das  Volk  bewahrt  der  Kajüte  diese  Er- 
innerung; die  Seekrankheit  pflanzt  sich  auf  dem  Lande 

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—  26  — 


durch  Tischlergenerationen  fort.  Fürst  Bismarck  frei- 
lich führt  in  seinen  Gedanken  und  Erinnerungen  ein 
anderes  Beispiel  für  einen  sinnentrückten  Brauch 
an :  Den  russischen  Wachtposten,  der  auf  dem  Fleck 
steht,  wo  vor  hundert  Jahren  die  Kaiserin  ein  frühes 
Qänseblümchen  entdeckt  hat.  Und  es  war  vornehm 
gedacht,  dafi  man  den  Wachtposten  nicht  abziehen 
liefi,  als  man  seine  Bestimmung  ergründet  hatte. 
Kein  Soldat  mufi  sich  schämen,  die  llrinnerung  an 
ein  Qänseblümchen  zu  bewachen.  Aber  da  das  Ge- 
heimnis der  Hamburger  Betten  gelüftet  ist,  wird 
die  Tradition,  der  man  dort  opfert,  nicht  Ton  langem 
Bestand  sein.  Denn  nichts  ist  beim  Aufstehen  sohmen- 
hafter  als  die  Erinnerung,  dafi  die  Hamburger  ein 
Volk  von  Seefahrern  sind. 

• 

Der  Nationalismus,  das  ist  die  Liebe,  die  mich 
mit  den  Dummköpfen  meines  Landes  verbindet,  mit 
den  Beleidigern  meiner  Sitten  uud  mit  den  Schän- 
dern meiner  Sprache. 

• 

Man  mag  dem  Traum  für  das  bifichen  Klarheit, 
das  er  einem  hin  und  wieder  schenkt,  dankbar  sein.  Mir 
träumte  von  einer  aufgedunsenen  Raupe,  die  ich 
töten  wollte.  Ich  stach  nach  ihr,  aber  sie  lebte,  und 
drehte  mir  lachend  den  Kopf  zu  und  sagte:  Ich 
komme  wieder. 

• 

Man  mufi  oft  erst  nachdenken,  worüber  man  sich 
freut;  aber  man  weifi  immer,  worüber  man  traurig  ist 

Die  Welt  ist  das  einzige  Gefängnis,  in  dem  Ein- 
zelhaft vorzuziehen  ist. 

• 

Die  neuen  Seelenforscher  sagen,  dafi  alles  und 
jedes  auf  geschlechtliche  Ursachen  zurückzuführen 
sei.  Zum  Beispiel  könnte  man  ihre  Methode  als 
Beichtvater-Erotik  erklären. 


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—  27  — 


Wie?  die  Menschheit  vertrottelt  zugunsten  des 
maschinellen  Fortschrittes,  und  wir  sollten  uns  diesen 
nicht  einmal  zunutze  machen?  Sollten  mit  der 
Dummheit  Zwiesprache  halten,  wenn  wir  ihr  in  einem 
Automobil  entfliehen  können? 

• 

Wie  die  Mörder  bei  Shakespeare,  so  treten  jetzt 
der  Reihe  nach  Literaten  auf,  die  Shakespeare  mor- 
den wollen.  Es  sind  komische  Figuren  wie  jene  und 
sie  bleiben  unbedankt  wie  jene.  Nur  die  Leistungs- 
fähigkeit ist  eine  geringere,  und  zum  Schlüsse  liegen 
sie  vollends  da,  wie  die  Gemordeten  bei  Shakespeare. 

Die  Behörden  werden  im  Verkehr  mit  dem 
Publikum  erst   dann  einen   höflichen  Ton    anschla- 

g9n,  wenn  das  Publikum  sich  entschliefit,  in  die 
edaktionen  der  Tagespresse  einzutreten.  Die  Re- 
dakteure aber  werden  erst  dann  gegen  das  Publikum 
aufrichtig  sein,  wenn  es  zum  Eintritt  in  die  Bureau- 
kratie  entschlossen  ist. 

Als  mir  da  neulich  einer  unserer  jungen  Dichter 
vorgestellt  wurde,  rutschte  mir  die  Frage  heraus, 
bei  welcher  Bank  er  dichte.  Es  geschah  wirklich 
unwillkürlich  und  ich  wollte  den  jungen  Mann  nicht 
beleidigen. 

• 

Am  unverständlichsten  reden  die  Leute  daher, 
denen  die  Sprache  zu  nichts  weiter  dient  als  sich 
verständlich  zu  machen. 

Ich  lehne  es  ab,  in  der  Musik  aufzugehen.  Die 
es  ist,  mufi  in  mir  aufgehen. 

• 

Viele  Frauen  möchten  mit  Männern  träumen, 
ohne  mit  ihnen  zu  schlafen.  Man  mache  sie  auf  das 
Unmögliche  dieses  Vorhabens  nachdrOcklich  auf- 
merksun. 


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28  — 


Zuerst  sieht  man  eine  Frau,  der  andere  Ähnlich 
s^ien.  Dann  eine,  die  ähnlich  sieht.  Sohliefittch  ab^ 
ist  keine  mehr  da  und  man  sieht  alles  von  selbst. 

• 

Die  Aufnahmsfi&higkeit  des  produktiven  Men- 
schen ist  gering.  Der  lesende  Dichter  macht  sich 
verdächtig. 

Wenn  es  einmal  gegenüber  den  äufleren  Bin- 
drücken heifit:  Zuzug  fernzuhalten,  dann  ist's  ein 
Beweis,  daß  die  Gedanken  nicht  streiken. 

• 

Ich  sah  einen  Dichter  auf  der  Wiese  nach  einem 
Schmetterling  jagen.  Er  le^e  das  Netz  auf  eine 
Bank,  auf  der  ein  Knabe  em  Buch  las.  Bis  ist  ein 
Unglück,  dafi  die  Fimktionen  sonst  anders  verteilt  sind. 


Nichts  isttraurip^er  als  Niedrigkeit,  die  ihren  Lohn 
t  erzielt  hat.    Sie  bilde  sich  ^--^'-''-^—^   -— »-* 
ein,  dafi  sie  Gemeinheit  Tart  pour 


nicht  erzielt  hat.    Sie  bilde  sich  nachträglich   nicht 
Einheit  Tart  pour  Tart  sei. 


Eine  Frau  wird  doch  nicht  so  viel  Rücksicht 
auf  die  Gesellschaft  nehmen,  dafi  sie  den  Ehebruch 
immer  wirklich  begeht,  den  ihr  die  Leute  jeweils 
nachsagen  ? 

Es  genügt,  eine  Frau  anzusehen,  tun  eine  tiefe 
Verachtung  nlr  ihre  Liebhaber  zu  gewinnen.  Nie 
aber  möchte  ich  sie  mit  der  Verantwortung  ftir  diese 
belasten. 

Nichts  ist  engherziger  als  Chauvinismus  oder 
Rassenhafi.  Mir  sind  alle  Menschen  gleich,  überall 
gibts  Schafsköpfe  und  für  alle  habe  ich  die  gleiche 
Verachtung.  Nur  keine  kleinlichen  Vorurteile  I 

• 

An  den  Italienern  habe  ich  beobachtet,  dat  sie 
nicht  nur  in  allen  Lebensverrichtungen  dem  bei  canto 
obliegen,   sondern  dafi  auch  der  Elmst  ihres  Lebens 

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20 


der  Operettenernst  ist.  Daß  sie  im  Theater  bei  den 
Strophen  vom  Ghin-chin-chinaman  „bis^  rafen,  bis 
dem  SADgw  die  Kehle  platst,  würde  nichts  schaden. 
Aber  auch  ihr  Leben  fließt  dahin,  wie  die  Handlung 
der  »Geishacy  und  es  scheint  durchaus  so  dargestellt, 
daß  es  die  preußischen  Zuschauer  kapieren  und  ihr 
Vergnügen  daran  haben.  Ich  glaube  nicht,  daß  jene 
in  der  Frauenpsychologie  ül^r  die  Erkenntnis  la 
donna  h  mobile  hinausgekommen  sind.  Und  wagte 
es  einer  zu  bestreiten,  würde  gewiß  ein  anderer  ent- 
gegnen:  e  pur  si  muovel 

* 
Ich  habe  mich  im  Laufe  der  Jahre  zum  Streber 
nach  gesellschaftlichen  Nachteilen  entwickelt.  Ich 
lauere,  spüre,  jage,  wo  ich  eine  Bekanntschaft  ab- 
stoßen, eine  einflußreiche  Verbindung  verlieren  könnte. 
Vielleicht  bringe  ichs  doch  noch  zu  einer  Position. 

Eine  Notlöffe  ist  immer  verzeihlich.  Wer  aber 
ohneZwang  die  Wahrheitsagt,  verdient  keineNachsicht. 

* 

Der  Ernst  des  Lebens  ist  das  Spielzeug  der  Er- 
wachsenen. Nur,  daß  er  sich  mit  den  sinnvollen 
Dingen,  die  eine  Kinderstube  füllen,  nicht  ver- 
gleichen laßt. 

Der  Journalismus  dient  nur  scheinbar  dem  Tage. 
In  Wahrheit  zerstört  er  die  geistige  Empfänglichkeit 
der  Nachwelt. 

Persönlichkeiten  sind  übel  daran.  Die  Menge 
sieht  nur  die  Fläche,  auf  der  sich  die  Widersprüche 
zeichnen.  Aber  diese  sprechen  fOr  eine  Höhe,  in  der 
ihr  Tref^unkt  liegt. 

Man  muß  alle  Schriftsteller  zweimal  lesen,  die 
guten  und  die  schlechten.  Die  einen  wird  man  er- 
kennen, die  anderen  entlarven. 


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—  80  — 


Bs  beweist  immerhin  eine  gesunde  Konstitution^ 
wenn  sich  unter  der  Einwirkung  der  Strahlen  einer 
Persönlichkeit  die  Weltanschauung  eu  schälen  be- 
ginnt. 

Bs  gibt  Eweierlei  Kunstgeniefier.  Die  einen 
loben  das  Gute,  weil  es  gut,  und  tadeln  das  Schlechte, 
weil  es  schlecht  ist.  Die  anderen  tadeln  das  Gute, 
weil  es  gut,  und  loben  das  Schlechte,  weil  es 
schlecht  ist.  Die  Unterscheidung  diesei  Arten  ist 
umso  einfacher,  als  die  erste  nicht  yorkonunt.  Man 
könnte  sich  also  leicht  auskennen,  wenn  nicht  eine 
dritte  Kategorie  hinzuträte.  Bs  sind  solche,  die  das 
Oute  loben,  trotzdem  es  gut,  und  das  Schlechte 
tadeln,  trotzdem  es  schlecht  ist.  Diese  gefährliche 
Art  hat  die  ganze  Unordnung  in  künstlerischen 
Dingen  verschuldet.  Ihr  Instinkt  weist  sie  an,  das 
Unrichtige  zu  treffen,  aber  vorsätzlich  treffen  sie  das 
Richtige.  Sie  haben  Gründe,  die  außerhalb  des  künst- 
lerischen Empfindens  liegen.  Ohne  den  Snobismus, 
der  ihn  erhebt,  könnte  der  Künstler  eher  leben  als 
ohne  die  Dummheit,  die  ihn  herabsetzt. 

« 

Das  Christentum  hat  die  Zollschranken  awischea 
Geist  und  Geschlecht  aufgehoben.  Aber  die  Durch- 
setzung des  Sexuallebens  mit  dem  Gedanken  ist  eine 
dürftige  Entschädigung  für  die  Durchsetzung  des 
Gedankenlebens  mit  dem  Sexuellen. 

Journalist  heifit  einer,  der  das,  was  der  Leser 
sich  ohnehin  schon  gedacht  hat,  in  einer  Form  aus- 
spricht, in  der  es  eben  doch  nicht  jeder  Kommis 
vermöchte. 

Sozialpolitik  ist  der  verzweifelte  Bntschlufi,  ao 
einem  Krebskranken  eine  Hühneraugenoperation  vor- 
zunehmen. 

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—  31  — 

Wenn .  der  Dachstuhl  brennt,  nfitst  es  weder 
SU  beten,  noch  den  Fufiboden  zu  scheuern.  Immerhin 
ist  das  Beten  praktischer. 

• 

Als  die  Sonne  tagelang  mit  den  Wolken  balete, 
war's  wie  der  Kampf  awischen  dem  gelben  Panther 
und  dem  schwarzen  Stier.  Der  Spannung  solchen 
Schauspiels  können  die  Wahrheiten  des  Barometers 
nichts  anhaben.  ^ 

Wozu  sollte  ein  Künstler  den  andern  erfassen? 
WQrdigt  der  Vesuv  den  Aetna?  Es  könnte  sich 
höchstens  eine  feminine  Beziehung  eifersüchtigen 
Vergleichens  ergeben:  Wer  speit  besser? 

Der  Leser  läflt  es  sich  gern  gefallen,  dafi  der 
Autor  ihn  an  Bildung  beschämt.  Es  imponiert  einem 
Jeden^  daft  er  nicht  gewuflt  hat,  wie  Korfu  auf  al- 
banisch heifit.  Denn  von  nun  an  weift  er  es  und  kann 
sich  vor  den  anderen,  die  es  noch  immer  nicht  wis- 
sen, auszeichnen.  Bildung  ist  die  einzige  Prämisse, 
die  das  Publikum  nicht  übel  nimmt,  und  der  Ruhm 
des  Tages  ist  jenem  Autor  sicher,  der  den  Leser  in 
diesem  Punkte  bloflstellt.  Wehe  dem  Andern  aber, 
der  Fähigkeiten  voraussetzt,  die  nicht  nachgeholt 
werden  können  oder  deren  Verwendung  mit  Un- 
bequemlichkeiten verbunden  isti  Daß  ein  Autor  mehr 
gewußt  hat  als  ein  Leser,  ist  in  Ordnung.  Aber  daft 
er  mehr  gedacht  hat,  wird  ihm  so  leicht  nicht  ver- 
ziehen. Das  Publikum  darf  nicht  dümmer  sein.  Es 
ist  sogar  gescheiter  als  der  gebildete  Autor,  denn  es 
erfährt  aus  einer  Zeitschrift,  wie  Korfu  auf  albanisch 
heiftt,  während  jener  erst  ein  Lexikon  befragen  mufite. 

• 

Das  dramatische  Kunstwerk  hat  auf  der  Bühne 
ziohts  zu  suchen.  Die  theatralische  Wirkung  eines 
Dramas  soll  bis  zum  Wunsch  reichen,  es  aufge- 
führt zu  sehen:  ein  Mehr  zerstört  die  künstlerische 
Wirkung.  Die  beste  Vorstellung  ist  jene,  die  sich 
der  Leser  von  der  Welt  des  Dramas  macht. 

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32 


Bsist  erlaubt,  im  Quell  der  deutschen  Sprache  em 
Fufibad  9SU  nehmen.  So  sollte  ein  Labetrunk  verboten  sein. 

« 

Was  die  Lues  übriggelassen  hat,  wird  von  der 
Presse  verwüstet  werden.  Bei  den  Gehirnerweichungen 
der  Zukunft  wird  sich  die  Ursache  nicht  mehr  mit 
Sicherheit  feststellen  lassen. 

• 

Der  Philosoph  L.  St.  aus  Ungarn:  Kein  Führer, 
aber  der  Primas  unter  den  Denkern.  Br  wird  an  den 
Tisch  gerufen  und  geigt  den  Leuten  die  Philosophie 

ins  Ohr. 

« 

Da  ich  die  Nachrichten  der  Tagespresse  nur  so 
überfliege,  geschah  es  mir,  dalt  ich  swei  benachbarte 
Oberschriften  durcheinanderwarf:  »Besuch  Iswolskis 
in  österreichc  und  »Raubversuch  in  einem  Trüdler- 
ladenc. 

Das  deutschliberale  Pathos  ist  eine  Mischung 
aus  voraussetBungsloser  Forschung  und  freiwilliger 
Feuerwehr. 

Bs  gibt  Leute,  die  in  öffentlichen  LokalMi  nur 
deshalb  geduldet  werden,  weil  sie  nicht  beiahlen. 
Man  nennt  sie  Journalisten. 

• 
Privatbahnen  gewähren  keinen  Vorteil.    Wenn 
man  einem  Stationsvorstand  der  Südbahn  Bsel  sMgt, 
wird  man  auch  wegen  AmtsehrenbeleidiguBgangeUi^. 

« 
Gern   käme  ich  um  die  Eonsession  cum  Hand- 
betrieb einer  Guillotine  ein.   Aber  die  Erwerbsteuerl 

« 

Wenn  mich  Einer  ansprechen  will,  hoffe  ich 
noch  bis  sum  lotsten  Augenblick,  dafi  die  Puroht, 
kompromittiert  su  werden,  ihn  davon  abhalten  wird. 
Manche  sind  unerschrocken. 


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—  38  — 


Der  Spiegel  dient  bloft  der  Eitelkeit  des  Mannes; 
die  Frau  braucht  ihn,  um  sich  ihrer  Persönlichkeit 
zu  versichern. 

• 

Ist  eine  Frau  im  Zimmer,  ehe  Einer  eintritt^  der 
sie  wahrnimmt?  Gibt  es  das  Weib  an  sich? 

Mit  Frauen  führe  ich  gern  einen  Monolog.  Aber 
die  Zwiesprache  mit  mir  selbst  ist  anregender. 

• 

Ein  Weib  ohne  Spiegel  und  ein  Mann  ohne 
Selbstbewufitsein  —  wie  sollten  die  sich  durch  die 
Welt  schlagen? 

* 

Ein  Aphorismus  braucht  nicht  wahr  zu  sein, 
aber  er  soll  die  Wahrheit  fiberflögeln.  Er  mufl  gleich- 
sam mit  einem  Satz  über  sie  hinauskommen. 

Karl  Kraus. 


Der  Germanist. 

Heute  ist  das  ehedem  veracbtete  Handwerk  des  Totengräbers 
ztt  einem  Ehrenamte  geworden,  weil  es  in  einer  demokratisdien 
Weltordnung  etwas  anderes  bedeutet  als  die  wirkliche  Leichenbestat- 
tung.  vielmehr  mit  den  geistig  Toten,  mit  den  symbolisch  Ver- 
storbenen, mit  den  Nichtumzubringenden  zu  schaffen  hat,  mit 
den  sogenannten  Unsterblichen,  die  auf  jedem  Gebiete  des  öffent- 
lichen Lebens  als  mißliche  Verkehrshindernisse  die  allgemeine 
Bewegung  vordringlich  stören,  indem  sie  als  monumentale  Auto- 
ritäten im  W^e  liegen.  Die  Bestattung  dieser  vielseitig  und  viel- 
deutig Toten  bringt  ein  Geschäft  von  erhöhter  Tragweite  mit 
sich,  wozu  auch  tiefere  Bildung  verlangt  wird«  Solche  fossile 
Trümmer  aus  dem  verffigbaren  Welträume,  den  die  gewaltig  an- 
wachsende Bewegung  immer  dringlicher  benötigt,  beiseite  zu  schaf- 
fen, auf  abgelegene  Friedhöfe  zu  bringen  und  unter  Verwendung 
von  Ruhm  und  Dankbarkeit  beizusetzen,  wird  ein  diplomatischer 
Beruf,  zumal  der  Verkehr  mit  Toten  besondere  Manieren  und 
Vorsichten  verlangt.  Die  alten  Simpeln  geringgeachteten  sind  heute 

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—  84  — 


nur  mehr  die  armseligen  Verwandten  der  neuen,  zu  Ehren  gekom- 
menen Totengrftber,  welche  als  W^;macher  und  Befreier  eine 
einzige  Bedeutung  gewonnen  haben. 

Der  Demokratie  kommt  es  auf  dn  Ehrengrab,  ein  Denkmal, 
eine  Gesamtausgabe,  einen  Nachruf,  eine  StniJBentafel  mehr 
oder  weniger  nicht  an,  Hauptsache  ist,  daß  der  amtlich  eingesetzte 
Totengräber  dem  allgemeinen  Bedürfnis  nach  Platz  durch  bereit- 
willige Unsterblicherklärung  von  Toten  oder  Todeserklärung  vob 
Unsterblichen  möglichst  genügetut,  die  Zahl  seiner  Opfer  bestimmt 
sein  Ansehen,  ich  spreche  hier  nicht  von  den  Psychiatern,  sonders 
von  den  Germanisten.  Ihre  Funktion  der  Totenbeschau  und  B^ 
stattung  teilen  sie  mit  manchen  anderen  Berufen,  im  Besonderoi 
fällt  ihnen  das  dichterische  Verkehrshindernis  zu,  nicht  nur  die 
Sorge  um  das  Begraben,  sondern  auch  um  die  jeweils  zu  ent- 
scheidende Vorfrage,  ob  einer  lebendig  oder  tot  sei.  Sie  vereini- 
gen auf  diese  Art  das  Amt  des  Richters,  Nachrichters  und  Toten- 
gräbers. Denn  die  Demokratie  hat  durch  die  Errungenschaft  der 
Stellvertretung,  durch  die  Idee  der  unbedingten  Vertrettnrkdt,  auf 
welcher  ja  auch  das  aligemeine  Wahlrecht  beruht,  geistige  Ver- 
einigungen des  bisher  Unvereinbaren  ermöglicht  Da  niemand  alles 
verstehen  und  keiner  beurteilen  kann,  was  der  andere  versteht, 
werden  fallweise  Leute  namhaft  gemacht,  die  nach  ihrem  Berufe 
für  die  einzelnen  Zweige  des  öffentlichen  Unverständnisses  auf- 
zukommen haben,  sozusagen  Stellvertreter  des  allgemdnen  Irrtums 
und  Statthalter  des  ewigen  Unsinns.  Jeder  nimmt  in  seinem 
bescheidenen  Wirkungskreise  nach  bestem  Willen  sein  Teil  von 
Unfähigkeit  auf  die  Schultern  und  bewegt  damit  das  Gemeinwesen 
vorwärts,  wie  sich  eben  der  Fortschritt  der  Menschheit  von  Irrtum 
zu  Irrtum  unaufhaltsam  vollzieht  Man  neunt  diese  dauernde  Bewegung 
nach  der  Richtung  des  jeweils  Dümmsten  auch  Entwicklung.  Dea 
Germanisten  ist  die  stetige  Fürsorge  um  freie  Bahn  für  den  literari- 
schen Verkehr  überantwortet.  Sie  haben  die  Poesie,  die  lebendige  und 
die  tote,  berühmte  und  unberühmte  aus  dem  Weg  zu  räumen,  spielt 
sich  dieses  Laster  doch  wie  so  manches  andere  Verkefarshindemts 
geradezu  als  Selbstzweck  auf.  Dichten  ist  bekanntlich  eine  besondere 
Form  des  menschlichen  Sprechens,  welches  gelernt  und  gelehrt 
werden  muß.  Schon  darum  sind  die  Sprachlehrer  die  berufenen 
und  einzigen  Vorgesetztender  Dichter.  Aber  das  Spradilehren  kann 
gelernt  und  gelehrt  werden,  das  Dichten  nicht  Hieraus  ergibt  skfa 

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vom  Standpunkte  des  öffentlichen  Berecbtigiingswesens  eine  fühl- 
bare nnd  bedauerliche  Lücke:  die  Sprachlehrer  sind  durch  Zeug- 
nisK  zur  Ausübung  des  Sprachldirens  beflhigt,  nicht  aber  die 
Dichter  zur  Ausübung  des  Dichtens.  Während  man  also  auf  der 
einen  Seite  den  Zuzug  nicht  akademisch  Befugter  fernhalten  kann, 
Mngf.  sich  auf  der  andern  ein  Au^;ebot  nicht  Berechtigter  zu 
den  vollen  Schüsseln  der  Anerkennung.  Da  aber  die  Demokratie 
nur  Ehre  gönnt,  vem  sie  gebührt,  hat  sie  die  vollen  Schüsseln  der 
Anerkennung  den  Sprachlehrern  hingeschoben  und  diese  mit  der 
Cerechten  Ausspeisung  der  Dichter  betraut,  sofern  noch  von  den 
Gerichten  etwas  übrig  bleibt 

Man  kann  billig  ermessen,  wie  wertvoll  und  wichtig  in 
jedem  Sinne  durch  die  Ordnung  der  Dinge  das  Sprachlemen  und 
-lehren  geworden  ist  Daher  kommt  es  auch,  daß  die  berühmtesten 
Sprachlehrer  nicht  sprechen,  oder  in  Anbetracht  der  Schriftlichkeit 
des  modernen  Verfahrens,  auch  nicht  schreiben  können;  werden 
sie  doch  vorerst  durch  das  Sprachlernen,  nachmals  durch  das 
Sprachlehren  völlig  in  Anspruch  genommen.  Hingegen  schwatzen 
die  Dichter  ungelehrt  und  ohne  Zeugniszwang  in  allen  Mundarten 
nnd  vermehren  die  Verwirrung  und  Mannigfaltigkeit  der  Sprache 
in  jeder  Richtung  auf  das  unleidlichste. 

Die  armen  Sprachlehrer  haben  genug  zu  tun,  ewig  reinzu- 
machen, was  die  Poesie  allezeit  verunreinigt.  Die  Dichter  haben 
leicht  schaffen:  Die  Sprachlehrer  haben  das  Nachsehn!  Ihnen 
obliegt  dann  das  ganze  ungeheure  Material,  alles  was  gesprochen, 
geschrieben,  gelernt,  gelehrt,  verbessert,  herausg^eben,  aufgelegt, 
Eesiebt,  gelesen,  gesprachlehri,  gelesartet  werden  kann,  eine  Viel- 
seitigkeit, die  ohne  ausgebreitete  Registratur  nicht  zu  bewältigen 
wäre  und  eine  Behandlung  von  so  unzähligen  Aktenstücken 
voraussetzt,  wie  sie  kein  Dichter  je  aufweisen  könnte. 

Der  eingetragene,  gebuchte,  in  das  jeweilen  maßgebende 
Fach  gereihte  Inhalt  heißt  von  Stund  ab:  Dichtung.  Somit  fällt 
einerseits  alles,  was  jemals  dergestalt  geordnet,  unter  diesen, 
anderseits  alles,  was  noch  nicht  so  behandelt  worden,  außer  diesen 
Begriff.  Nur  durch  so  sinnreiche  Vorkehrung  läßt  sich  eine 
eigentliche  Prüfung  der  Dichter  ersetzen,  indem  ihre  aktenmäßige 
Einreihung  platzgreift.  Für  diese  entscheidet  wiederum  natürlich 
die  Priorität  des  Einlaufe 

Wer  früh  genug  gedichtet,  hat  gut  genug  gedichtet  und  wer 

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36 


es  lang  genug  getrieben,  dem  braucht  für  seinen  Ruhm  nicht 
bange  zu  sein. 

Die  öffentliche  Tätigkeit  der  Sprachlehrer  besteht  nun  darin, 
von  ihrer  privaten  Rechenschaft  abzulegen,  ungefragt«  aber  unver- 
drossen jedes  Aktenstück  zur  Kenntnis  zu  bringen,  das  sie  be- 
handelt, jedes  ihrerseits  zu  besprechen,  das  ein  fachgenosse  pro- 
duziert hat,  die  durch  Heiß  und  Eifer  germanistischer  Vorfahren, 
durch  sinnreiche  Druckfehler  und  irrige  Abschriften  entstandenea 
Lesarten  zu  vergleichen,  festzustellen  und  so  ein  Material  zusammen- 
zutragen, das  sich  zur  Literatur  der  Diditer  so  verhält,  wie  der 
Stefansdom  zu  einer  Hundehütte.  Schon  durch  ihren  Fleiß 
erheben  sich  die  Germanisten  in  sittlicher  Würde  turmhoch 
über  die  simple  Frivolität  der  Dichter,  die  gar  noch  zu  »arbeiten« 
vorgeben.  Ja,  man  könnte  von  einem  echten,  ganzen  Germanisten 
mit  Fug  sagen:  sein  Leben  wird  eine  Interpolation,  sein  Charakter 
eine  Lesart,  die  Dichter  sprechen,  die  Germanisten  aber  —  lehren 
Sprache.  Was  Wunder,  daß  die  dankbaren  Mitbürger  ihnen  ge- 
wisse, ihren  Beruf  angehende  Ehrenämter,  sozusagen  geistige 
Armenratsstellen  anvertrauen.  Man  ernennt  die  Germanisten  zu 
Preisrichtern  des  dichterischen  Wettbewerbs.  Dies  hängt  zusammen 
mit  dem  eingangs  erwähnten  Verfahren  der  poetischen  Todeser- 
klärung und  erfolgt  in  der  Absicht,  schon  bei  Lebzeiten  gewisse 
Berühmtheiten  zu  schaffen  und  dadurdi  aus  dem  Wege  zu  räomen. 
Die  Sprachlehrer  unterziehen  sich  ihrer  hohen  Aufgabe  nach  festen 
sittlichen  Normen:  als  das  beste  Werk  gilt  1.  das  unschftdlidttte, 
das,  worüber  man  am  meisten  spricht  und  das  durch  unanfechtbares 
demokratisches  Weiheurteil  der  Majorität  die  erste  Stelle  eriangt 
hat;  2.  das  »berücksichtigenswerteste«,  das  heißt  die  Hervorbringnng 
jenes  Verfassers,  der  die  meisten  unversoigten  Kinder,  einfluß- 
reichen Gönner,  journalistischen  Beziehungen  und  sonstige  hin- 
längliche Armutszeugnisse  aufweisen  kann. 

So  ist  durch  die  amtliche  und  außeramtliche  Stellung  der 
Germanisten  für  das  rechtzeitige  Erkennen  und  Wegschaffen  der 
Dichter,  für  deren  zeitlich  und  räumlich  geordnete  Beisetzung  in 
der  Registratur  —  die  mit  vollem  Recht  das  Gedächtnis  ersetzei 
muß,  da  der  Schwachsinn  freie  Bahn  braucht  — ,  so  ist  für  die 
ehrbare  und  zweckmäßige  Bestattung  der  Poesie  auf  abseitigeD 
Friedhöfen  nach  allen  Regeln  der  Volkswohlfahri  und  Verkehrs- 
sicherheit gesorgt. 

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—  37  — 


Auch  die  Dichter  haben  sich  darein  gefügt,  freilich  soll 
dnnuü  einer  dem  Ehrenbegräbnis  seiner  Werke  durch  die  Ger- 
manisten eine  schlichte  Verbrennung  vorgezogen  haben,  doch  ent- 
sdieiden  darüber  souverän  die  Hinterbliebenen  und  die  Sprach- 
lehrer flberleben  immer  die  Literatur,  sogar  die  Sprache. 

Otto  Stoessl. 


Der  neue  Ruhm. 

Die  Zahl  der  Berühmtheiten  unserer  Tage  nähert  sich  in 
den  einzelnen  Ländern  immer  mehr  dem  Resultate  der  Volks- 
xihlung.  Es  ist  unserer  Gegenwart  endlich  gelungen,  den  oft 
zitierten  Dornenpfad  des  Ruhmes  in  einen  l>equemen  Spazierweg 
für  jedermann  umzugestalten,  und  eine  bunte  i^enge  von  Men- 
schen wälzt  sich  die  neue  Chaussee  entlang.  Zum  guten  Tone  der 
Zeit  gehört  es,  in  irgend  einer  Kunst  Hervorragendes  geleistet 
zu  haben.  Wer  nicht  literarische  Lorbeeren  pflücicen  kann,  nennt 
eine  pt^rsönliche  Note  im  Denken  sein  eigen,  oder  eine  zarte 
Nuance  im  Ton,  oder  eine  unvergleichliche  Feinheit  im  Ausdruck, 
oder  er  leistet  wenigstens  in  der  Art,  das  alles  zu  entbehren,  höchst 
Beachtenswertes. 

Beachtet  zu  werden,  ist  eine  Anforderung,  die  mit  naiver 
Selbstverständlichkeit  vom  kleinen  Mann  des  Geistes  an  die  öff(*nt- 
lichkdt  gestellt  wird.  Diese  wird  mit  Gesuchen  um  »Kenntnis- 
nahme« überlaufen.  Die  literarische  und  künstlerische  Kritik  wird 
immer  mehr  zum  Vorschußverein,  und  Frau  Fama  ist  bedeutend 
ieistungsfähiger  geworden,  seitdem  sie  an  Stelle  der  Posaune  die 
Rotationsdruckerpresse  benützt  und  statt  hundert  Zungen  einige 
hunderttausend  Stahlfedern  im  Dienst  hat  Und  so  kam  man  in 
die  Lage,  den  Ruhm,  einen  seltenen  und  kostbaren  Artikel  frü- 
herer Zeit,  in  großen  Quantitäten  herzustellen  und  Anteile  von 
ihm  für  minimale  Anzahlung  auszugeben. 

Dieses  Verfahren  hat  Ähnlichkeit  mit  schwindelhaften  Ope- 
rationen schlechter  Banken.  Denn  der  Ruhm,  wie  ihn  die  ^X'elt- 
geschichte  bewahrt  und  zeigt,  ist  aus  Arbeit  entstanden,  ist  niciits 
anderes  als  umgesetzte  Arbeit  selbst.  Wenn  eine  Zeit,  wie  die 
unsere,  in  unbegrenztem  Maße  Ruhmesnoten  ausgibt,  ohne  im 
entferntesten  für  diese  Anweisungen  Deckung  in  reellen  Ari)eits- 


—  88  — 


werten  zu  haben,  so  werden  diese  Anweisungen  bedeutungslose 
Zettel  und  jene  tragen  eben  den  Schaden,  die  die  edite  Anwart- 
schaft auf  das  Kapital  der  öffentlichen  Anerkennung  besitzen. 

Echter  Ruhm  war  stets  nur  ein  Schatten,  den  vollbrachte 
menschliche  Handlungen  in  das  Gedächtnis  von  Mit-  und  Nach- 
welt warfen.  Unsere  Zeit  hat  neben  so  vielen  industriellen  Gedan- 
ken auch  den  gehabt,  diesen  Schatten  künstlich  zu  erzeugen,  ohne 
die  Leistungen  und  Mühen,  die  ihn  hervorriefen.  Verhieß  dodi 
die  künstliche  Herstellung  von  Ruhm  ein  glänzendes  Geschäft  za 
werden,  da  eben  dieser  Schatten  zu  allen  Zeiten  sehr  begehrt  war 
und  nicht  etwa  die  oft  recht  anstrengende  Tätigkeit,  der  er  ent- 
sprang. Und  man  brachte  in  der  Retorte  der  Journale  wirklich 
etwas  zustande,  das  dem  Ruhm  recht  ähnlich  sieht.  Eine  Art 
Homunkulus  von  Ruhm  ist  es,  ein  billiges  Fabrikat;  dieser  neue 
Ruhm  ist  nicht  eben  dauerhaft,  es  mangelt  ihm  auch  etwas  am 
besonderen  Aroma,  aber  zu  einem  recht  angenehmen  Rausche 
verhilft  er  doch  und  unser  modernes  Leben  zeigt  Unzählige,  die 
diesem  Genüsse  leidenschaftlich  fröhnen. 

Jeder  liebevoUe  Vater  ist  in  der  Lage,  seinem  Söhnchen 
zum  fünfzehnten  Geburtstage  einen  netten,  kleinen  Knabenruhm 
zu  kaufen.  Die  Gedichte  des  Jungen  genügen  meist  vollkommen 
dazu,  wenn  das  aber  nicht  der  Fall  sein  sollte,  so  lassen  sich  die 
verbesserten  Hausarbeiten  zu  einem  gut  aussehenden  Bänddien 
zusammenfügen.  Der  Beitrag  zu  den  Druckkosten  ist  selbst  fär 
kleinbürgerliche  Verhältnisse  leicht  zu  erschwingen.  In  Bekannten- 
kreisen wird  das  Büchlein  viel  besprochen,  bei  einer  Tante  Ucgt 
es  im  Salon,  die  andere  mutf  es,  der  erwachsenen  Tochter  wegen, 
unter  Schloß  und  Riegel  halten.  Es  gibt  zwar  immer  dnzefaie 
Schulkameraden,  die  boshafte  Rezensionen  schreiben,  aber  dafür 
loben  andere,  die  nicht  dieselbe  Anstalt  besuchen,  umsomebr. 
Das  ist  immerhin  noch  harmloser  als  der  nur  zweideutige  Miß- 
erfolg einer  durchaus  reifen  und  ernst  zu  nehmenden  Taientlos^- 
keit  Krüppel  können  sich  heute  kaum  eine  bessere  Pflege  wünschen, 
als  jene  durch  die  deutsche  Kritik.  Da  wird  sorgfältig  nntersudit 
und  mit  Jubel  wird  verkündet,  daß  ein  oder  das  andere  Glied 
nicht  krumm  ist.  Da  wird  an  Aufmunterung  nicht  gespart,  mflb- 
selig  wird  mit  Krücken  auf  die  Beine  gebracht,  was  von  selbst 
nie  stehen  könnte.  Die  Atmosphäre  in  der  deutschen  Kritik  hat 
heute  Spitalsteniperatur.    Talente,  die  gerade  gewachsen  sind  und 


S9  - 


sich  kräftig  bewegen  wollen,  sitoßtn  allerorten  an.  Was  sollte  man 
diesen  gegenüber  auch  mit  den  ängstlich  bereitgehaltenen  Krflcken 
tun,  wenn  man  sie  glficklicherweise  nicht  ebensogut  zum  Drein- 
sdiiagen  benützen  könnte? 

Der  Ruhm  ist  zum  festgesetzten  Normalpreis  zu  haben, 
and  wer  den  Kurs  nicht  beachtet  und  zu  viel  bietet,  der  läuft 
Gefahr,  nicht  ernst  genommen  zu  werden.  So  kommt  es,  daß 
auch  die  Wohlhabenden  des  Geistes  nur  kleine  Münze  in  Verkehr 
bringen.  Stimmungsmalerei  und  Detail  florieren.  Die  Starken  unter 
den  Erzählern  holt  sich  das  deutsche  Publikum  lieber  aus  Rußland 
md  Frankreich,  die  Phantasicvollen  aus  England.  Der  deutsche 
Uterat  aber  hat  in  erster  Linie  seine  lyrischen  Pflichten  zu  erfüllen 
und  im  Detail  seine  Kunst  zu  zeigen.  Das  ist  das  traditionelle 
Püetentum,  das  deutsche  Gauen  bevölkert.  Ein  Unglück  ist  es 
MHch  nicht,  »im  Gegenteil,  es  wird  auf  diese  Weise  wirklich  eine 
neue  Seite  der  Welt  erschlossen,  in  die  sich  auch  der  noch  mit 
Veignügen  einlebt,  der  über  dem  Moos,  trotz  seiner  Zierlichkeit, 
den  Eichbaum  nicht  vergißt,  auf  dem  es  wächst,  und  über  dem 
Eichbattm  nicht  den  Wald,  zu  dem  er  gehört.  Schlimm  ist  nur, 
daß  die  Grenze  leicht  überschritten  und  das  Maß  verrückt  wird, 
und  das  geschieht  immer,  früher  oder  spater.  Weil  das  Moos  sich 
viel  ansehnlicher  ausnimmt,  wenn  der  Maler  sich  um  den  Baum 
nicht  bekümmert,  und  der  Baum  ganz  anders  hervortritt,  wenn 
der  Wald  verschwindet,  so  entsteht  ein  allgemeiner  Jubel,  und 
Kräfte,  die  eben  für  das  Kleinleben  der  Natur  ausreichen  und  sich 
auch  instinktiv  die  Aufgabe  nicht  höher  stellen,  werden  weit  über 
andere  erhoben,  die  den  Mückentanz  schon  darum  nicht  schildern, 
weil  er  neben  dem  Planetentanz  gar  nicht  sichtbar  ist.«  Diese 
Worte,  mit  denen  im  Jahre  1858  Friedrich  Hebbel  zu  ähnlichen 
Verhältnissen  Stellung  nahm,  gelten  uneingeschränkt  für  unsere 
Tage. 

Freilich  nimmt  die  Nachwelt  mit  derben  Strichen  ihre 
Korrekturen  vor  und  der  Zensurstift  der  Kulturgeschichte  ist 
erbarmungslos.  Man  lese  einmal  die  literarischen  Notizen,  die  in 
zurückliegenden  Jahrgängen  einer  Revue  enthalten  sind.  Welcher 
Lärm  um  Autoren  und  Werke,  die  prompt  vergessen  wurden! 
Herr  N.  ist  ein  Wunderkind  für  die  Eltern,  der  große  Mann  für 
die  Gattin  gewesen,  und  das  alles,  weil  er  seinen  Teil  von  der 
Oberprodnktion  an  Ruhm  abbekam,  und  Herr  N.  ist  zeitlebens 


—  40  — 


so  stolz  und  zufrieden  gewesen  wie  die  Frau  jenes  Weisen,  die 
gfauiht,  ihre  Lampe  sei  Oold,  und  in  diesem  Glauben  selig  IMt 
und  verschied.  Wer  wollte  so  grausam  sein,  diesen  idyllischen 
Zu&tand  zu  stören? 

Zwei  Dinge  sprechen  für  ein  Ehnchränken  des  modernen 
Ruhmesvertriebes.  Einmal:  daß  Herr  N.  jemand  besseren  den 
Platz  fortnehmen  könnte,  und  femer:  das  gut  begründete,  durdi- 
aus  unanfechtbare  Recht  des  Publikums,  von  Herrn  N.  nichts 
zu  hören.  Das  scheint  mir  ein  angebomes  Recht  von  hddister 
Wichtigkeit,  von  der  Existenz  des  Herrn  N.  nichts,  aber  gar  m'chts 
zu  wissen.  Und  doch  ist  nur  verboten,  in  menschltcfaes  Fleisch 
Fremdkörper,  etwa  Messer  oder  Bleikugeln  einzutreiben.  In  mensch- 
liche Gehirne  mit  Hammerscfalägen  die  Keile  der  Reklame  zn 
pressen,  ist  derzeit  gestattet. 

Otto  Soyka. 


Dift  Liebe  sum  Staate. 

Ich  bin  als  Mensch  auf  die  Welt  gekommen,  jetzt  bin  ich 
Staatsbeamter.  Ich  fühle,  daß  ich  zu  einer  Klasse  von  merkwürdigen 
Wesen  gehöre,  die  von  der  großen  und  schönen  Welt  dentli<A 
geschieden  smd.  Mir  ist,  als  befände  ich  mich  auf  einer  Insel  der 
Seligen,  die  vom  Drange  jeglicher  Leidenschaft  befreit,  einer  selbst- 
gewählten Gottheit  dienen. 

Diese  Gottheit  ist  der  Staat. 

Der  Mensch  hat  sich  seit  der  Erfindung  des  Staates  immer 
Gedanken  gemacht,  was  der  Staat  eigentlich  seL  Die  Alten  hatten 
eine  hohe  Auffassung  vom  Staate,  sie  konnte  sich  aber  ~  wie 
alles  Hohe  —  nicht  behaupten.  Der  Begriff  des  mittelalterlichen 
Polizeistaates  wurde  geboren,  machte  Karriere  und  wurde  eine 
moralische  Person  mit  allerhand  schrecklichen  Befugnissen,  die  im 
Busen  des  Bürgers  zunächst  Angst,  dann  Ehrfurcht  und  schließikfa 
den  staatserhaltenden  Bedientensinn  erzeugen. 

Ich  besitze  diesen  Bedientensinn,  weil  ich  din^cfa  mdirere 
Eide  mündlich  und  schriftlich  dazu  verpflichtet  bin.  Da  ich  aoBer- 
dem  in  der  Schule  gelernt  habe,  daß  Eide  zu  halten  sind,  füge 
ich  mich  und  glaube  ohne  Selbstüberhebung  sagen  zn  können, 
daß  ich  ein  guter,  treuer  Beamter  bin,  der  seinen  Herrn,  den  Staat 
liebt  und  für  ihn  nidit  nur  zu  sterben,  sondern  auch  zu  leben 


—  41 


bcrdt  ist  Der  Offizier  ist  bloß  bereit  fflr  den  Staat  zu  stoben. 
Aber  er  kann  alt  wie  Methusalem  und  sogar  Oberleutuant  werden, 
ohne  jemals  in  die  Lage  zu  kommen,  von  seiner  Bereitwilligkeit 
Oebreuch  zu  machen.  Das  kränkt  ihn  natfirlich  sehr.  Denn  die 
Eisenbraut  wird  im  Laufe  der  Jahre  zu  einer  dfirren,  alten  Jungfer, 
die,  außer  bei  einer  friedlichen  SoklatenmiBhandlung,  Ihr  Lebtag 
kdnea  Mann  erkannt  hat  Der  2:ivilbeamte  ist  bereit  ffir  den  Staat 
zu  leben.  Aber  auch  er  kommt  niemals  in  die  Lagie.  Und  auch 
ihn  kränkt  dies  sehr. 

Trotzdem  bin  ich  ein  guter  Staatsbeamter.  Ich  liebe  den 
Staat.  Oder  besser  gesagt,  ich  möchte  ihn  lieben,  wenn  ich  könnte. 
Ich  kann  es  einzig  und  allein  aus  dem  Orunde  nicht,  weil  ich 
flidit  weiß,  was  der  Staat  ist  Die  alten  und  neuen  Definitionen, 
die  ich  einst  lernen  mußte,  habe  ich  längst  vergessen.  Es  bleibt 
mir  nichts  übrig,  als  fflr  meinen  persönlichen  Bedarf  eine  halb- 
vecjs  anschauliche  Vorstellung  vom  Staate  zu  gewinnen,  eine  Art 
begrifflichen  Kleiderstockes,  auf  den  ich  dann  all  die  schönen, 
varmen  Gefühle  aufhängen  kann,  die  zu  pflegen  dem  Bürger 
fflicht  und  Freude  ist. 

Bei  meinen  redlichen  Bestrebungen,  meinen  Brotherrn  zu 
erkennen,  bin  ich  von  dem  Satze  Wilhem  Busch's  ausgegangen: 
>Gnes  weiß  man  stets  hienieden,  nämlich  wenn  man  unzufrieden«. 

Also  ich  bin  unzufrieden.  Warum?  Ich  bin  in  den  besten 
Jabren.  Ich  bin  kräftig  und  arbeitsfreudig.  Ich  habe  die  allge- 
meinen menschlichen  und  vermöge  meiner  Bildung  noch  einige 
private  Bedürfnisse.  Das  Mittel  zur  Bedürfnisbefriedigung  Ist  das 
sogenannte  OekL  Dieses  fließt  aus  der  Arbeit  Ich  arbeite.  Aber 
der  Staat  entlohnt  mich  nur  zu  einem  Viertel  mit  Geld.  Drei 
Viertel  sind  Ehre,  die  sich  an  Nährwert  mit  der  Haut  einer  Knack* 
wmst  nicht  verigldchen  kann.  Ich  kann  meine  Gläubiger  nicht  mit 
der  Ehrfurcht  bezahlen,  die  idi  dem  Staate  schuldig  bin.  So  muß 
idi  an  jedem  Zwanzigsten  meine  Uhr  versetzen.  So  muß  ich  meine 
zerrissenen  Schuhe  mit  Englischpflaster  verkleben.  So  muß  ich 
Heischselcheigehilfen,  Ofensetzer,  Kellner  und  Hausmeister  beneiden. 
Und  ich  fühle  mit  Ingrimm,  wie  die  spitzen  Stellen  meines  Skeletts 
sich  gegen  den  lächeriichen  Schwindel  meiner  weißgewaachenen 
Haut  empören. 

Ich  führe  also  ein  sogenanntes  Hundeleben. 

Nidits  ist  natürlicher,  als  nach  den  Ursachen  dieser  mein 


~-  42  — 

persönliches  Wohlbefinden  störenden  Erscheinung  zu  forschen. 
Zunächst  prüfe  ich  mich  selbst.  Ich  finde  bei  aller  Bescheidenheit, 
daß  ich  tüchtig  arbeite  und  dem  Staat  ein  schönes  Stuck  Geld 
verdiene. 

Behutsam  fasse  ich  den  Gedanken:  Vielleicht  liegt  es  am 
Staate.  Mir  wäre  geholfen,  wenn  er  mich  besser  bezahlen  wollte. 
Warum  tut  er  es  nicht?  Ich  will  zu  ihm  gehen  und  ihn  bitten. 
Jeder  Handlanger  geht  zu  seinem  Arbeitgeber,  der  Ladenschwengel 
zum  Prinzipal,  der  Comptoirist  zum  Chef,  der  Lehrling  zum 
Meister:  ich  werde  zum  Staat  gehen.  Ich  habe  einmal  gehört,  daß 
sogar  ein  als  gemeiner  Ausbeuter  verschrieener  Chef  namens  Kohn 
seinen  Bediensteten  eine  Aufbesserung  gewährt  hat. 

Vertrauensvoll  suche  ich  den  Staat.  Doch  ich  stoße  auf  un- 
geahnte Schwierigkeiten.  Wo  ist  der  Staat?  Auf  roten  Lehnstfihlen 
sitzen  dicke  Herren  mit  schwarzen  Baden.  Sie  heißen  Hofräte  und 
sind  sehr  mächtig.  Aber  sie  sind  nicht  der  Staat.  Ihre  Macht  ist 
zu  Ende,  wenn  es  gilt,  einem  armen  Teufel  ein  menschenwürdiges 
Dasein  zu  verschaffen. 

Ich  gehe  von  Hofrat  zu  Hofrat.  Sie  alle  zucken  die  Achseln. 
Ich  diene  ja  dem  Staate,  nicht  den  Hofräten.  Zum  Teufel  also, 
zeigt  mir  den  Staat!  Man  deutet  schielend  nach  oben.  Oben  sitzen 
andere  Gestalten,  die  wieder  nach  unten  deuten.  Ich  stehe  da  und 
suche  meinen  Herrn  wie  ein  verlaufener  Hund. 

Wo  ist  der  Staat? 

Ein  gestaltloses,  dunkles  Riesengebilde,  das  mit  winzigen, 
wackelnden  Köpfen  und  wippenden  Achseln  besät  ist.  Wo  ich  sie 
anbohre,  diese  wesenlose  Masse,  dieses  starre  System,  das  nie  ein 
Sturm  zerreißt,  ich  stoße  auf  ein  kaltes,  lebloses  Nichts,  einen 
wackelnden  Hofratsschädel.  Der  große  Staat  versteckt  sich  vor  dem 
kleinen  Bittenden.  Das  tat  auch  eine  Zeit  lang  der  obenerwähnte 
Kohn.  Man  nannte  ihn  einen  schamlosen  Ausbeuter. 

Ich  greife  mir  an  den  Kopf  und  denke  nach,  obwohl  ich 
damit  meine  Kompetenz  bedenklich  überschreite.  Ein  geheimes 
Grauen  erfaßt  mich.  Ich  fühle  mich  einem  uqbekannten,  unhefm- 
liehen  Wesen  ausgeliefert.  Ich  kann  es  nicht  sehen,  nicht  fassen, 
nicht  begreifen.  Aber  ich  fühle,  es  ist  da.  Es  saugt  an  meiner 
Lebenskraft.  Es  ist  grausam  und  eiskalt.  Es  scheint  mir  Wahnsinn, 
_  zu  hoffen,  daß  aus  dieser  toten  Masse  jemals  ein  Funke  wohl- 
"ender  Menschlichkeit   auf  mich    niederleuchten   könnte.    I<* 


^  43 


fange  an  mich  zu  fürchten,  wie  ein  Kind,  dem  man  vom  schwarzen 
Mann  erzählt  hat  Der  schwarze  Mann,  das  ist  der  Staat.  Er  ist 
schwarz  an  Haupt  und  Oliedem.  Ich  möchte  davonlaufen,  bis  an 
das  Ende  der  Welt.  Aber  ich  fahle,  daß  ich  es  nicht  kann,  daß 
ich  gebunden  bin. 

Ich  spinne  mich  ein  in  meine  Grübeleien. 

Es  ist  ein  unbekannter  Machthaber  da,  dem  ich  Untertan 
bin.  Viele  andere  sind  ihm  gleichfalls  Untertan.  Warum  lieben  ihn 
alle?  Warum  lieben  sie  ein  Gespenst,  das  uns  haßt  und  uns  weder 
leben  noch  sterben  läßt?  Sie  beten  an,  sie  tanzen  wie  Götzen- 
diener um  ihren  Vitzliputzli  und  sie  zeigen  jeden  bei  der  Polizei 
an,  der  nicht  mittanzt. 

Der  Staat  gleicht  einem  sehr  sinnreichen,  sehr  komplizierten 
Mechanismus,  vor  dem  ein  Idiot  steht.  Wir  sehen  und  betasten 
das,  was  uns  zunächst  liegt,  aber  wir  sehen  das  Ganze  nicht,  das 
Ineinandergreifen  der  tausend  Räder,  Stangen  und  Zähne.  Der 
Idiot  hat  keine  Ahnung,  daß  man  zugrunde  geht,  wenn  man  in 
die  Maschine  gerät  Es  ist  anderseits  wieder  gut,  ein  Idiot  zu  sein, 
dann  furchtet  man  die  Gefahr  nicht 

Der  Vergleich  ist  gut,  aber  seine  Umkehrung  ist  besser. 
Der  Idiot  ist  der  Staat,  er  ist  ein  Klumpen  ohne  jede  Spur  von 
Oeist;  und  ihm  ist  der  sinnreichste  Organismus  dieser  Welt,  der 
Mensch,  in  die  plumpen  Hände  gegeben.  Er  weiß  nicht  daß  dies 
Spielzeug,  welches  er  sinnlos  zwischen  den  blöden  Fäusten  zer- 
inalmt,  millionenmal  mehr  wiegt  als  sein  lebloses  Dasein. 

Doch  wie  erkläre  ich  dann  die  hündische  Ergebenheit  der 
Menschen  gegen  den  Staat? 

Der  Zufall  heß  mich  jüngst  ein  Symbol  finden. 

Das  Volk  feierte  ein  patriotisches  Fest  und  gab  seiner  Be- 
geisterung über  das  tausendjährige  Bestehen  des  Staates  durch  Be- 
leuchten der  Fenster  Ausdruck.  Ich  ging  durchweine  kleine  Straße, 
wo  nur  arme  Leute  wohnten.  Sie  hatten  ihre  Fenster  geschmückt, 
so  gut  es  ging.  Schwarz-gelbe  Pyramiden  trugen  brennende  Kerzen, 
die  zitternd  in  die  große  Nacht  hinausleuchteten.  Ich  betrachtete 
die  Kerzen  näher.  Sie  waren  aus  billigem  Unschlitt  und  rochen 
übel.  Die  I^ramiden  bestanden  aus  zwei  Teilen.  Als  Umhüllung 
schwarzgelbes  Papier.  Darunter  als  fester  Grund,  leere  Bierflaschen, 
in  deren  Hals  die  Kerzen  eingezwängt  waren. 

Dies  schien  mir  das  Wesen  der  bürgerlichen  Liebe  zu  offen- 


—  44 


baren.  Wenig  und  billiges  Licht  mit  aUerhtttd  Nebengerikiien. 
Die  schwarzgelbe  Außenseite  ist  Papier,  ein  Idciit  entzündiidKr 
StofL  Dahinter  aber  als  Orund  und  Zweck  zugleich  —  Bier. 

Bei  noch  näherer  Betrachtung  bemerkte  ich  anSatlem,  di0 
die  Bierflaschen  leer  waren,  leer  wie  die  Köpfe  und  leer  wie  ihre 
Begeisterung. 

Das  Ergebnis  meines  Nachdenkens  war  also  gleich  NuH 
Wenn  ich  eigensinnig  wäre,  könnte  ich  behaupten,  der  Staat  be 
stehe  nicht.  Und  doch,  er  besteht  Die  Schäbigkeit  meiner  Lebem- 
führung  läßt  es  mich  täglich  empfinden.  Ich  habe  das  dunUe 
OefOhl,  daß  mein  Herr,  der  Staat,  der  Hflter  der  Moral,  sich  ra 
seinen  Handlungen  einer  bedenklichen  Unmoralität  schuldig  macht 

Aber  ich  beherrsche  dieses  dunkle  Gefühl,  denn  es  ist  nicht 
der  Zweck  dieser  Betrachtung,  der  Liebe  jener,  die  da  lieben 
wollen.  Eintrag  zu  tun.  Mögen  sie  sterben,  wenn  sie  lieben.  Dodi 
vom  Herzen  wünsche  ich,  sie  mögen  nie  jenem  verruchten  Staats* 
diener  gleich  werden,  der  von  seinem  Brotgeber  sagte»  wenn  eiae 
physische  Person  mit  der  Moral  des  Staates  ausgestattet  wiie, 
könnte  mit  diesem  Individuum  kein  anständiger  Mensch  verkehreo. 

Ich  verdamme  diese  Äußerung«  Aber  wenn  ich  ein  König 
in  unserem  gesegneten  Jahrhundert  wäre,  würde  ich  es  nicht  wagen 
zu  behaupten:  Tetat  c'est  moi.  Denn  mehr  ate  die  Unwahiheit 
dieser  Worte  würde  mich  das  Bewußtsein  schmerzen,  mir  adbst 
eine  Ehrenkränkung  zugefügt  zu  haben. 

Bruno  Wolfgang. 


QloMen. 

Das  Abenteuer  des  deutschen  Kaisers  bringt  jene  Sommer- 
episode  in  Erinnerung,  die  zwar  keine  politische  Sensation  wir, 
aber  doch  allenthalben  peinlich  berührte,  und  über  welche  nnfcr 
der  Spitzmarke  »Kaiser  Wilhelm  und  der  Wiener«  in  der  dm 
Wiener  nahestehenden  Presse  berichtet  wnrde.  Der  Kaiser  lernte 
auf  seiner  Sommerrdse  irrtümlich  den  Wiener  kennen,  er  hatte 
ihn  für  den  Sohn  eines  Oenenükonsuls  gehalten  und  sagte:  »Nadh 
dem  ich  dem  Herrn  schon  einmal  die  Hand  geschüttelt  habe, 
müssen  Ste  mir  ihn  auch  vorstellen«.  Später  war  der  Kaiser  tm- 
nahmsweise  »äußerst  gesprächig«.  In  welcher  Sprache  er  mit  dem 
Wiener  sprach,  wissen  wir  nicht  Die  Wiener,  die  über  die  gm« 


_  45  - 

Weit  zerstreut  sind,  sprechen  alle  Sprachen.  Aber  wenn  man  dem 
Wiener  glaaben  darf,  war  es  die  Spreche  des  Wieneri.  Denn  der 
Kaiser  fragte  ihn,  wie  sich  Weinfi:artner  in  der  Hofoper  dnsrführt 
liabe  and  wie  er  »sich  dort  mache«.  Sonst  war  der  Bericht  so 
geschickt  abgefaßt,  daß  er  zugleich  der  Individualität  des  Wieners 
nnd  der  des  Kaisers  Rechnung  trug.  Da  der  Kaiser  nämlich  die 
Besichtigung  seiner  Jacht  den  Passagieren  des  Vergnfigungsdampiera 
frocestellt  hatte,  so  machte  die  ganze  Gesellschaft  »selbstredend« 
von  dieser  Erlaubnis  Gebrauch.  Nachdem  er  aber  speziell  den 
Wunsch  geäußert  hatte,  den  Wiener  kennen  zu  lernen,  so  geschah 
äts  >selbstredend€  sofort.  Später  dinierte  der  Wiener  an  der  Seite 
des  Kaisers.  Es  war  ein  großes  Glück,  wie  es  noch  keinem  Wiener 
passiert  ist  und  in  der  Erinnerung  der  Wiener  Jouib  noch  lange 
fortleben  wu-d.  Der  Wiener  hätte  selbsta^end  beim  Diner  nicht 
zu  sprechen  gewagt,  aber  selbst  redend  half  ihm  der  Kaiser  Aber 
die  Verlegenheit  hinweg. 

# 

Herr  M.  G.  Saphir,  das  geistige  Rinnsal  des  alten  Wien, 
der  Quell  iener  journalistischen  Witzigkeit,  die  vom  Mangel  an 
Charakter  lebt  und  den  Kommis  vor  der  Persönlichkeit  auszeichnet, 
jener  Qeistesart,  die  die  Verheerungen  einer  tiefen  Witzarmut  ohne 
Hemmung  zeigt,  Herr  Saphir  also  wurde  im  letzten  Sommer  von 
seinen  dankbaren  Nachkommen  in  der  Wiener  Presse  umständlich 
Sefeiert.   Dabei  entschlüpfte  einem  diese  Erinnerung: 

>. . .  Sich  gefürchtet  machen  und  dadurch  einen  Zwang  der  Abhängig- 
icelt  fiben,  das  sagte  dem  Zuge  seines  innersten  Wesens  sogar  mehr  zu 
—  wahrend  Bäucile  die  ihm  passendere  mUdere  Tonart  gewählt  hatte, 
um  donelben  Zielen  mit  denselben  Mitteln,  anch  dem  des  Abhängig- 
nachens  zuzustreben  —  und  am  meisten  bekamen  das  natflilich  die 
Theaterdlrektionen  und  die  Leiter  sonstiger  Vergnfigungs-  und  Genusses- 
statten  zu  verspüren,  weU  ja  diese  das  einzige  Terrain  waren,  wo  die 
.öffentliche  Meinung'  des  Vormärz  etwas  dreinzureden  hatte.  Die 
Direktoren  des  Theaters  an  der  Wien  und  in  der  Leopoldstadt,  der 
^  Pokomy  und  Carl,  wufiten  ein  Liedchen  davon  zu  singen  —  jener 
gar.  Denn  ihm,  der  von  einer  naiven  Oenerosität  und  Orofizügigkeit  in 
kfiostlerischen  Dingen  war  —  er  richtete  sich  auch  schließlich  dadurch 
n  Gnmde  —  hatte  Saphir  seine  besondere  Gunst  in  einigermaßen  be- 
denklicher Weise  zugewendet.  Er  gab  seine  Vorlesungen  Jahre  hindurch 
sosBchliefilich  im  Theater  an  der  Wien.  Dabei  mußte  ihm  nicht  nur  das 
Theater  unentgeltlich  zur  Verfügung  gestellt  werden,  ohne  daß  ihm  selbst 
die  Kosten  der  Tagesregie,  wie  Beleuchtung,  Orchester,  Billeteure  usw., 
an|[erechnet  werden  durften;  anch  mit  Anforderungen  in  anderer  Weise 
ließ  sich  Pokomy  von  ihm  in  Anspmch  nehmen   und   es    bfldete    sich 


yGoogl 


e 


-  46 


daraus  mit  der  Zeit,  wie  das  schon  zu  geschehen  pflegt,  ein  Qewohnheits- 
recht,  dessen  geringste  Außerachtlassung  wie  ein  Vertragsbruch  mit 
schwerer  Ahndung  bedroht  war.  So  kam  es  dahin,  dafi  Wien  eines  Tages 
von  der  Sensation  überrascht  wurde,  Saphir  halte  seine  nächste  Vorlesung 
nicht  mehr  an  der  Wien,  sondern  in  der  Leopoldstadt.  Und  wie  bis 
dahin  das  Theater  an  der  Wien  auf  Kosten  des  Konlcurrenten  an  der 
Donau  Ober  den  grünen  Klee  gelobt  worden  war,  so  geschah  jetzt  das 
Umgekehrte,  in  so  exzessiver,  leidenschaftlich  feindseliger  und  herans- 
fordemder  Weise,  daß  der  gemißhandelte  Direktor,  eine  stille,  bis  zum 
Obermaß  friedfertige  Natur,  aus  sich  selbst  herausfuhr  und  in  einer 
öffentlichen  Erklärung  sein  ganzes  Verhältnis  zu  Saphir  und  die  Ursacbeo 
der  nunmehrigen,  ihm  an  die  persönliche  Ehre  greifenden  Anfeindung 
unumwunden  und  rückhaltlos  darlegte..  .< 

Ähnliche  Vorfälle  sind  heutigen  Tages  natürlich  nicht  mehr 
mögh'ch.  Denn  kein  Theaterdirektor  würde  es  wagen,  den  ihm  vor 
die  Brust  gehaltenen  Revolver  wegzustoßen  und  etwa  der  Residenz 
eine  Geschichte  zu  erzählen,  wie  man  Librettist  wird.  Die;  Reaktion 
des  enthüllten  Rezensenten  wäre  mindestens  ebenso  »leidenschaft- 
lich« wie  die  des  Herrn  Saphir.  Die  Empörung  der  gekränkten 
Gewinnsucht,  die  in  diesen  Kreisen  noch  immer  Leidenschaft  g^ 
nannt  wird,  böte  sich  aber  in  einer  Weise  dar,  hinter  der  die  kldn- 
kalibrigen  Verhältnisse  der  Saphir-Zeit  weit  zurückbleiben,  und  der 
Theaterdirektor  hätte  den  Korpsgeist  eines  anerkannten  Standes 
herausgefordert  Immerhin  ist  die  Pietät  der  Nachkommen  b^ 
greiflich.  Herr  Saphir  war  der  Erfinder  des  Systems,  das  die 
Theaterwelt  in  Kontribution  setzt.  Er  war  der  Urgroßparasit, 
von  dem  die  Enkel  bewundernd  erzählen»  daß  es  ihm  ge- 
lungen sei,  zur  Mitwirkung  an  seinen  schäbigen  Deklamations- 
abenden eine  Haizinger,  eine  Rettich,  eine  Louise  Neunumn  zu 
pressen:  heutzutag  muß  einer  mit  der  Niese  vorliebnehmen. 
Aber  solche  Erinnerungen  sind  sicherlich  lesenswert  Wir  erfahren 
wenigstens,  wie  verschweint  das  Geistesleben  selbst  dazumal  schon 
dank  dem  journalistischen  Einfluß  war.  Die  Beliebtheit  dieses 
Herrn  Saphir,  dessen  Einfälle  ein  Aufstoßen  und  dessen  Poesie 
Schnackerl  waren,  kannte  keine  Grenze.  Wie  ein  loser  Falter 
flatterte  der  Urschmock  auf  den  Altwiener  Festen  von  Blume  zu 
Blume,  ließ  sein  Farbenschmalz  bewundem,  Frauengunst  hob  ihn 
empor  und  Regierungen  gaben  ihm  die  Ehre,  ihn  fallen  zulassen. 
Er  rcvolverte  zwischen  Wien,  Berlin  und  München,  bespie  das 
Privatleben  der  Sängerinnen  und  bewahrte  eine  kritische  Autorität 
gegen  den  stärksten  Geist,  den  Österreich  je  erlebt  bat, 
gegen    einen   Nestroy.    Das  Publikum    schwankte    nidit    einen 


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47 


Augenblick,  welcher  Art  von  Witz  es  den  Vorzug  geben  sollte. 
Den  Nestroy  Verstandes  nur, als  er  einmal  auf  seinem  Rock  statt  der 
Knöpfe  die  kleiner  gewordenen  Kaisersemmeln  angebracht  hatte. 
Herrn  Saphir  verstand  es  immer.  Er  legte  dem  Wiener  Publikum 
keine  Gedanken  in  den  Weg  und  störte  es  durch  keine  Gesinnung. 

Da  der  Festzug  über  die  Ringstraße  gehen  sollte,  war  es  eine 
der  bangen  Sorgen  des  Komitees,  ob  nicht  der  Kopf  mit  dem  Ende 
karambolieren  würde.  Die  Mittel»  über  welche  das  Komitee  damals 
verfügte  -  Leichtsinn  und  Loyalität  -  gestatteten  die  Erwägung, 
durch  eine  Verlängerung  der  Ringstraße  den  räumlichen  An- 
sprüchen des  Festzuges  gerecht  zu  werden.  Unbegreiflicherweise 
ließ  man  dieses  Projekt,  das  die  Schulden  des  Komitees  um  ein 
Unbeträchtliches  vermehrt  hätte,  wieder  fallen  und  begnügte  sich 
mit  der  Heranziehung  schon  vorhandener  Straßenlinien.  Aber  jetzt 
erfährt  die  Öffentlichkeit,  daß  zu  den  Stationen,  die  der  Festzug 
beziehen  mußte,  um  nicht  vor  dem  Abgang  der  letzten  Gruppen 
US  Ziel  zu  gelangen,  auch  der  Platz  vor  dem  Justizpalast  gehört 
hat.  In  der  allgemeinen  Begeisterung  blieb  dieser  praktische  Einfall 
des  Komitees  bis  jetzt  ungewürdigt.  Aber  in  Wahrheit  steht  ein 
wesentlicher  Teil  des  Festzugs  noch  heute  vor  dem  Justizgebiude 
und  wartet  vergebens  auf  die  Möglichkeit,  von  der  Stelle  zu  rücken. 
Man  benützt  die  Gelegenheit,  um  von  der  benachbarten  Instanz 
den  Wert  der  Waffen,  der  Kostüme  und  der  Loyalität  abschätzen 
zu  lassen.  Die  Lieferanten  bestehen  darauf.  Sind  sie  es  doch,  denen 
durch  die  Veranstaltung  geholfen  werden  sollte  und  denen  zuliebe 
sidi  der  Kaiser  schließlich  die  Geduld  abtrotzen  ließ,  das  Spektakel 
anzusehen.  Bis  zu  welchen  Differenzen  zwischen  Patriotismus  und 
Zahlungsfähigkeit  sich  aber  all  der  Glanz  herabgelassen  hat,  be- 
weist eine  Anekdote,  die  durch  die  Zeituncren  geht: 

». . .  Za  den  Verpflichtungen  des  Festzugskomilees  gehört  eine  Schuld- 
post  von  37  Kronen  für  Schabstroh,  das  ein  Leopoldstddter  Fourage- 
händler  lieferte,  der  bis  heute  keine  Zahlung  erhielt.  Die  Geschichte 
dieses  Strohkaufes  ist  bemerkenswert.  Die  für  die  Tiroler  bestimmten 
Praterbaracken  des  Roten  Kreuzes  wurden  im  letzten  Momente  an  die 
Prauen  und  Kinder  des  Festzuges  vergeben.  Am  Vortag  des  Festzuges 
wurde  nun  dem  Vorsitzenden  des  Andreas  Hofer-Denkmalkomitees,  Ge- 
meinderat A.,  die  Ankunft  einer  grofien  Zahl  von  Tirolern,  auch  Frauen, 
mitgeteilt.  Alle  diese  Personen  sollten  in  Zelten  in  der  Krieau  nächtigen. 
Herr  A.  eüte  zum  Bürgermeister  und  erzwang  sich  trotz  des  Wider- 
standes des  Ratsdieners  den  Einb'itt.  Dr.  Liieger  gestattete,  dafi  das  alte 

le 


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48  — 


LeopoldstAdUr  Oemeindehaus  den  Tirolern  als  Nachtquartier  elngerSanit 
werde.  In  aller  Eile  fanden  dort  die  Vorbereitungen  statt.  lazwisdien 
hatte  man  die  Frauen  der  Gruppe  in  einem  Stellwagen  nach  dem  allge- 
meinen »Franenlager'  in  die  Baracken  des  Roten  Kreuzes  befördert.  Um 
Q  Uhr  abends  kam  der  Stellwagea  mit  allen  Frauen  wieder  xurflek.  Die 
Baracken  waren  bereits  flberfällt  und  kein  Platz  für  die  Tirolerinnen  mehr 
aufzutreiben  gewesen.  Um  Vi  10  Uhr  abends  gelang  es  Herrn  A.,  zur 
Unterbringung  seiner  Landsleute  einen  Restaurationssaal  in  der  Leopold- 
stadt ausfindig  zu  machen.  Vom  Händler  N.  wurden  40  Schab  Stroh 
geholt,  und  Herr  A.  legte  in  Qemeüischaft  mit  einem  südtischen 
StraBenarbeiter  selbst  Hand  an,  um  das  Stroh  mit  Leintflchem  zu  Aber- 
ziehen. Um  1/2 11  Uhr  nachts  kormten  endlich  die  mflden  Tiroler 
Bauerinnen  den  Saal  beziehen,  in  dem  sie  auf  dem  Boden  schliefen,  der  blofi 
mit  Stroh  bedeckt  war.  Das  Stroh  ist  Jedoch  bis  Jetzt  noch  nicht  bezahlt . . .  • 

Nun  entsteht  für  die  Patrioten  die  Frage,  wie  nun  die 
KoiAen  des  Festzugs  hereinbringen  solle.  Die  Frage,  wie  man  den 
Festzug  veranstalte,  war  gfewiB  wichtiger.  Aber  da  sie  mit  Erfolg 
gelöst  wurde,  erscheint  es  immerhin  notwendig,  auch  der  anderen 
näherzutreten.  Das  Komitee  hat  den  Ausweg  gefunden,  Staat  und 
Gemeinde  mit  der  Bitte  anzugehen,  seine  Schulden  zu  flber- 
nehmen.  Fürwahr,  kein  übler  Ausweg,  und  er  mußte  vor  allem 
den  Akteuren  des  Festzugs  probabel  scheinen,  den  millionetireichen 
Aristokraten,  denen  man  doch  nicht  zumuten  konnte,  das  Vergnügen, 
in  der  Rüstung  ihrer  Ahnherren  an  einem  Sommertag  auf  der 
Ringstraße  zu  spazieren,  extra  zu  bezahiea.  Das  bitte  man  ihnen 
früher  sagen  müssen.  Es  wurde  aber  nicht  auf  Teilung  sebuidigt, 
und  so  kann  auch  keine  Rede  davon  sein,  daß  sie  das  I>efizit 
tragen.  Darum  wird  nichts  anderes  übrig  bleiben,  als  das  Publikum 
zu  bemühen.  Ein  Tlieater  ist  verkracht,  weil  keine  Leute  hinein- 
gegangen sind,  und  darum  müssen  diese  zahlen.  Mitten  sie 
damals  gezahlt,  müßten  sie  es  jetzt  nicht  tun.  Es  ist  eine  Form, 
die  Wiener  nachträglich  zur  Beteiligung  am  Festzug  heranzuziefaeu. 
Freilich  eine  Form,  die  zwar  die  Schulden  tilgt,  aber  die  Schuki- 
post  des  Skandals  offen  lißt.  Und  wer  geduldig  seine  Steuern  an 
Staat  and  Gemeinde  entrichten  wird,  wiewohl  er  weiß,  daß  er  damit 
das  Gelüste  einiger  Ordensstreber  sühnen  muß,  wird  zu  einer  ff~^ 
terlichen  Entdeckung  helfen:  Das  Schabstroh  in  den  Gehirne 
auch  noch  aicht  t)ezahlt! 

Nach  einem  Spielerprozeß:  Dit  Könige  lagen  unten; 
Bttben  sind  obenauf. 

Karl  Kra^ 


DmA  von  Jahod«  St  Siegel.  Wl«i,  III.  Hintere  ZoUtmtMtnfieLd. 


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Die  Fackel 


Nl  267-68  17.  DEZEMBER  1906  X.JAHR 


Sonneti 

written   in   Holy  Weck  at  Qenoa. 
Von  Oskar  Wilde. 

Mein  Schritt  ging  durch  Scogliettos  Einsamkeit; 
▼iel  goldne  Früchte  —  überhängend  —  glühten 
gleich  Leuchtern  heiler  als  der  Tag  —  und  Blüten 
warf  ein  erschreckter  Vogel  wie  ein  Kleid 

von  Schnee  auf  mich  —  zu  meinen  Füfien  blühten 
Narsissen,  bleich  in  süßer  Herrlichkeit  — 
Ab,  dies  war  Leben:  als  die  Wellen  weit 
in  Sonne  lachend  nach  dem  Lande  sprühten. 

Von  ferne  kam  des  jungen  Priesters  Singen: 
Oh  kommt  und  bringt  all  eure  Blumen  her, 
Jesus,  der  Sohn  Marias,  liegt  erschlagen  — 

Mein  Gottl  in  diesen  griechisch  heitern  Tagen 
vergafi  ich  Deinen  Schmerz  und  all  die  Dinge: 
den  Kranz,  das  Kreuz,  die  Krieger  und  den  Speer. 

Übersetzt  von  Felix  Ortfe. 


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—    2    — • 
Der  Patriot.*) 

Dies  ist  ein  Borsch, 
Der,  einst  gelobt  um  Gradheit,  sich  befleißt 
Jetzt  plumper  Unverschämtheit  und  sein  Wesen 
Zu  fremdem  Schein  zwflngt:  der  kann  nicht  schmeicheln,  der!  — 
Ein  ehrlich,  grad  Gemüt  —  spricht  nur  die  Wahrheit  t  — 
Will  man  es  sich  gefallen  lassen,  gut;  — 
Wo  nicht,  so  ist  er  grade.    —  Diese  Art 
Von  Schelmen  kenn'  ich,  die  in  solcher  Gradheit 
Mehr  Arglist  hQllen  und  verschmitzte  Zwecke, 
Als  zwanzig  fflgsam  untertän'ge  Schranzen, 
Die  schmeichelnd  ihre  Pflicht  noch  überbieten. 

Shakespeare. 

In  den  bangen  Tagen,  die  jüngst  das  deutsche 
Vaterland  durchlebt  hat,  weil  die  Lust  2um 
Fabulieren  die  Fähigkeit  zum  Regieren  ernst- 
lich in    Frage   zu   stellen  schien,  ist  es  doch  einer 

*)  Herr  Maximilian  Harden  hatte  nach  der  Affäre  des  englischen 
Interviews  in  Berlin  einen  Vortrag  gehalten,  in  welchem  er  nebenbei 
auch  gegen  den  ,Simplicis8imus'  auftrat  und  die  Tendenzlüge  von  dessen 
»französischer  Ausgabe <  weitergab.  Ludwig  Thoma  antwortete  im 
.Berliner  Tageblatt'  und  erbot  sich,  als  Herr  Harden  dabei  blieb,  zu  einem 
dokumentarischen  Gegenbeweis.  Die  Berliner  .Zeit  am  Montag'  (23.  No- 
vember) schrieb:  »In  seinem  Antwortartikel  gegen  Ludwig  Thoma  ver- 
sichert Harden  treuherzig,  daß  er  ,das  Blatt  nicht  mehr  ganz  so  gern 
wie  früher  sehe'.  Woran  mag  das  liegen?  Man  revidiert  eüi  wenig  den 
Zettelkasten  des  Gedächtnisses  und  entsinnt  sich  des  Umstandes, 
dafi  der  ,Simplicissimus'  seit  geraumer  Zeit  einen  Mann  zum  Mitarbeiter 
hat,  den  Max  partout  nicht  leiden  mag.  Es  ist  dies  der  Österreicher 
Karl  Kraus,  der  in  Wien  die  , Facker  herausgibt  und  in  diesem  Oigan 
sowohl  wie  in  einigen  Sonderschriften  die  publizistische  Persönlichkeit 
Herrn  Hardens,  den  er  sehr  genau  kennt,  mit  den  Röntgenstrahlen  eines 
scharfen  Kritikergeistes  nach  jeder  Richtung  hin  durchleuchtete.  So  kam 
es,  dafi  Herr  Harden  vor  weiteren  Kreisen  in  erbarmungswürdiger  Blöfie 
erschien.  Als  nun  Karl  Kraus  diese  Kreise  noch  weiter  zu  ziehen  be- 
gann, und  Ludwig  Thoma  ihm  den  ,Simplicissimus'  und  auch  den 
pMärz'  erschloß,  da  begann  sich  in  Herrn  Harden  jener  geheimnisvolle 
Prozeß  vorzubereiten,  den  er  in  seiner  Erwiderung  an  Thoma  mit  den 
treuherzigen  Worten  kennzeichnet,  daß  er  das  Blatt  »nicht  mehr  ganz 
so  gern  sehe  wie  früher'.  Man  kanns  begreifen  I«  Diese  Deutung  einet 
patriotischen  Grolls  ließ  mich  das  Vergnügen  eines  Eintretens  in 
die  Sache  als  Pflicht  empfinden  und  den  hier  folgenden  Aufsatz 
entstehen,  der  soeben  auch  im  zweiten  Dezember-Hefte  des  .MArz*  er- 
schienen ist. 

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—    3    — 


Beruhigung  froh  geworden:  Fest  steht  und  treu 
Herr  Maximilian  Harden.  Denn  wenn  auch  Deutsch- 
lands Gewissen  nicht  mehr  zwischen  den  Wipfeln 
des  Sachsenwaldes  webt,  so  macht  es  dafür  den 
Grunewald  sur  Sehenswürdigkeit,  und  wenn  Deutsch- 
lands politische  Weisheit  nicht  mehr  einer  Schöpfer- 
kraft entstammt,  so  ist  sie  eine  jener  Anlagen, 
die  dem  Schutze  des  Publikums  empfohlen  sind. 
Uns  lebt  ein  eiserner  Journalist.  Das  ist  einer, 
der  wie  Lassalle  ausspricht,  was  ist,  und  wie 
Bismarck,  was  sein  sollte.  Der  Einfachheit  hal- 
ber aber  läfit  er  gleich  Bismarck  selbst  sprechen, 
und  weil  es  keine  Möglichkeit  einer  politischen 
Situation  gibt,  über  welche  sich  dieser  mit  ihm 
nicht  beraten  hätte,  so  gewöhnen  sich  die  Deutschen 
in  einen  Zustand,  dank  dem  sie  den  Hingang 
des  eisernen  Kanzlers  überhaupt  nicht  mehr  spüren. 
Ob  freilich  Bismarck,  als  er  die  Flasche  Steinberger 
Kabinet  mit  Herrn  Harden  teilte,  mehr  den  Gast  ehren 
oder  den  Spender  kränken  wollte,  ist  bis  heute  nicht  fest- 
gestellt, und  es  ist  nur  sicher,  dafi  er  mit  der  Verab- 
reichung der  Tasse  Vanilleeis  eine  demonstrative 
Auszeichnung  der  publizistischen  Eigenart  des  Herrn 
Harden  im  Sinne  hatte.  Diese  Gelegenheiten  böten 
aber  für  die  Fülle  politischer  Vertraiüichkeit,  die  der 
Hausherr  dem  schüchternen  Gast  aufgenötigt  hat, 
keinen  Raum,  und  so  bleibt  nichts  übrig  als  die 
Vermutung,  dafi  Fürst  Bismarck  nach  dem  Hausverbot, 
welches  von  Friedrichsruh  an  Herrn  Harden  ergan- 

gm  war,  ihn  im  Grunewald  aufgesucht  und  ihm  jene 
ismarck- Worte  zugetragen  hat,  deren  Echtheit  uns 
im  Zeitalter  der  Surrogate  immer  aufs  neue  frappiert. 
Da  aber  Bismarck  yiel  mehr  gesprochen  haben  muß, 
als  Herr  Harden  verrät,  und  die  letzten  Lebensjahre 
des  Fürsten  kaum  ausgereicht  hätten,  auch  nur  so 
viel  zu  sagen,  als  Herr  Harden  gehört  haben  will, 
so  mufl  man  zu  der  Erklärung  greifen,  dafi  selbst 
der  Tod  den  Kanzler  nicht  davon  abgehalten  hat, 
mit  dem  Altreichsjournalisten  jene  trauliche   Zwie- 

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—    4     — 

sprach  zu  pflegen,  die  ihm  nun  einmal  zur  Qepfio- 
genheit  geworden  war.  Und  so  erleben  wir  Deut- 
schen,  die  Otott,  aber  sonst  nichts  in  der  Welt 
fürchten,  das  grausige  Schauspiel,  wie  ein  Toter  die 
Ruhe  eines  Lebendigen  stört,  glauben  zuweilen,  dafi 
der  Tote  im  Grunewald  sitzt  und  der  Lebende  im 
Sachsenwald  liegt,  und  aus  der  Verwirrung  der  Sinne 
hilft  uns  nur  die  Anwendung  eines  weisen  Spruches: 
Wenn  ein  Sarg  und  ein  Zettelkasten  zusammenstoßen, 
und  es  klingt  hohl,  so  mufi  nicht  immer  der  Sarg 
daran  schuld  sein. 

Trotz  alledem  wird  es  dem  Andenken  Bismarcks, 
der  bloß  ein  Mißvergnügter  war,  nicht  gelingen,  die 
Taten  des  Herrn  Harden,  der  ein  Patriot  ist«  zu 
kompromittieren.  Denn  es  gibt  gottseidank  noch  einen 
Fürsten,  der  der  Lebensanschauimg  des  Herausgebers 
der  ,Zukunft'  näher  steht  als  Bismarck,  und  das  ist 
der  Fürst  Eulenburg.  Man  kann  es  ja  heute  sagen, 
dafi  die  Kränklichkeit  dieses  Staatsmannes  dw 
Individualität  des  Herrn  Maximilian  Harden  einen 
weit  größeren  Dienst  erwiesen  hat  als  der  Tod 
des  Fürsten  Bismarck.  Nur  ein  Jahr  lang  stand  Herr 
Harden  im  Banne  der  Normwidrigkeit  jenes  Mannes, 
dem  er  bis  dahin  nichts  weiter  vorzuwerfen  hatte, 
als  daß  er  in  den  Zeiten  politischer  Not  beinahe  so 
schlechte  Gedichte  gemacht  hat  wie  die  lyrischen 
Mitarbeiter  der  ,Zukunft^  Aber  wir  wissen,  was 
dann  weiter  geschah,  wie  die  Wahrheit  nach 
fünfundzwanzig  Jahren  an  den  Tag  kam,  und  wie 
die  deutsche  Nation  sich  freute,  weil  sie  zwei  solche 
Kerle  wie  den  Riedel  und  den  Ernst  hatt«. 
Durch  alle  diese  Aktionen,  zu  deren  geistiger  Deckung 
die  Inspiration  eines  Bismarck  nicht  ausgereicht 
hätte  und  deshalb  vernünftigerweise  ein  Detektiv- 
bureau herangezogen  wurde,  zieht  sich  wie  ein 
schwarz- weiß-roter  Faden  der  Patriotismus  des  Herrn 
Maximilian  Harden.  Nicht  um  ein  erotisches  Privat- 
vergnügen oder  gar  die  Sensationslust  unbeteiligter 
Abonnenten  zu  befriedigen,  nein,    für  dad  Vaterland 

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-  5 


hat  er  sich  unter  den  Betten  der  Adlervillen  und  der 
Starnberger  Hotels  gewälzt.  Ein  Conimis  Yoyeur 
ist  durch  Deutschland  gezogen,  aber  er  hat  das  Er- 
lebte, Erlauschte,  Erlogene  mit  staatsretterischer 
Oebärde  offeriert.  Wer  sollte  glauben,  dafi  es  ihm 
darauf  ankam,  dem  Skandal  zu  opfern,  ihm,  der  den 
Skandal  nicht  scheute,  um  dem  Vaterland  zu  opfern, 
und  der  um  der  Ehre  willen  selbst  einen  Mehr- 
gewinn seines  Blattes  nicht  gescheut  hat?  Dafi  ihm 
der  Skandal  nicht  Selbstzweck  war,  sondern  blofi  die 
notwendigsten  Mittel  zum  Zweck  hereinbrachte,  beweist 
er  gerade  jetzt,  da  er  der  Politik  der  offenen  Hosen- 
türen endlich  entsagt  hat  und  den  Fürsten  Eulenburg 
einen  lahmen  Mann  sein  läflt.  Und  in  der  Tat,  seit  dem 
Augenblick,  da  dieser  den  Diener  Dandl  —  Herr  Har- 
den  verzichtet  heute  auf  solche  Alliterationen  —  an  die 
Wade  fafite,  hat  kein  politisches  Ereignis  so  sehr  die 
Wachsamkeit  des  Vaterlandsfreundes  herausgefordert 
und  so  dringend  an  die  Pflicht  auszusprechen,  was 
ist,  gemahnt  als  das  kaiserliche  Interview.  Wenn 
man  den  Opfermut,  mit  dem  er  sich  auf  ein  steuerloses 
Schiff  stellt,  unbefangen  betrachtet,  mufi  man 
sogar  zu  der  Meinung  neigen,  dafi  für  Herrn 
Harden  heute  die  Frage,  ob  der  Wille  eines  Monarchen 
auf  die  bekannten  ministeriellen  Bekleidungsstücke 
verzichten  darf,  eine  wichtigere  Sorge  bedeutet  als 
selbst  die  Frage,  ob  Graf  Moltke  mit  Unter- 
hosen sich  ins  Ehebett  gelegt  hat.  Ja,  hol  mich 
der  Teufel,  Herr  Harden  scheint  überzeugt  zu  sein, 
daB  ein  Eigenwille  dem  Reiche  gröfieren  Schaden 
zufügt  als  eine  Willfährigkeit,  die  den  Einflufi  einer 
normwidrigen  Hofgesellschaft  duldet.  Das  ist  nur 
konsequent.  Herr  Harden  hat  den  Kaiser  von  sei- 
nem Umgang  befreit,  jetzt  ist  es  an  ihm,  den  Kaiser 
vor  den  Gefahren  des  Alleinseins  zu  warnen.  Was 
immer  er  aber  für  das  Wohl  des  Landes  unternehmen 
maiz:,  er  ist  mit  der  gleichen  Ehrlichkeit  eines  Kent 
bei  der  Sache.  Der  kann  nicht  schmeicheln,  derl  Ob 
er  nach  Schranzen  sticht  od^r  königlichem  Zorn  die 

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—   6   — 


Brust  darbietet,  ob  er  Männerstols  vor  Königsthronen 
offeriert  oder  Eönigsstolz  vor  Männerliebe  behütet,  er 
handelt  stets  in  Wahrnehmung  berechtigter  Interessen. 
Und  nicht  etwa  solcher,  wie  sie  das  Reichsgericht  in 
wiederholten  Entscheidungen  anerkannt  hat:  die  einsig 
berechtigten  Interessen  eines  Publizisten  seien  die 
seines  geschäftlichen  Vorteils. 

Was  aber  ist  ein  Patriot?  Wir  wollen  eine  Ent^ 
Scheidung  der  allerhöchsten  Instanz  provozieren,  des 
kulturellen  Schamgefühls.  Diese  Instanz  hatte  mit  Herrn 
Harden  noch  nichts  zu  schaffen,  sie  ist  unbefangen. 
Sie  sagt:  So  wie  das  religiöse  Oefühl  der  meisten 
Frommen  sich  erst  bekundet,  wenn  es  verletzt  wird, 
so  liegt  auch  der  Patriotismus  der  meisten  Patrioten 
auf  der  Lauer  der  Gelegenheit,  gekränkt  zu  sein. 
Der  Sprachgebrauch,  der  davon  spricht,  dafi  einer, 
der  leicht  zu  beleidigen  ist,  »gerne  beleidigt  ist,  hat 
Recht.  Das  religiöse  und  das  patriotische  Gefühl 
lieben  nichts  so  sehr  wie  ihre  Kränkung.  Will  nun 
Herr  Maximilian  Harden  als  ein  echter  Patriot  da- 
stehen, von  dem  die  schwarz-weifi-rote  Farbe  auch 
dann  nicht  heruntergeht,  wenn  man  ihn  in  seine 
eigene  schmutzige  Wäsche  nimmt,  so  mufi  er  vor 
allem  die  Gelegenheit  suchen,  die  Verletzung  seines 
patriotischen  Gefühls  durch  andere  zu  beklagen.  Der 
wahre  Patriot  liebt  zwar  das  Vaterland,  aber  er  würde 
selbst  das  Vaterland  opfern,  um  jene  hassen  zu  dürfen, 
die  das  Vaterland  nicht  lieben  oder  nicht  auf  dieselbe 
Art  lieben  wie  er.  Der  wahre  Patriot  ist  immer  ein 
Denunziant  der  Vaterlandslosen,  sowie  der  wahre 
Christ  ein  Denunziant  der  Gottlosen  ist.  Den  Hut 
vor  der  Monstranz  zu  ziehen,  ist  bei  weitem  kein  so 
schönes  Verdienst  wie  ihn  jenen  vom  Kopfe  zu  schlagen, 
die  kurzsichtig  oder  andersgläubig  sind.  Zwischen 
Monstranz  und  Demonstration  lie^  ein  Spielraum  für 
populäre  Möglichkeiten,  den  kein  Demagoge  des 
Glaubens  und  kein  Pfaffe  der  Politik  je  ungenützt  ließ. 
Herr  Harden  hat  das  wirksamste  Mittel  gefunden,  um 
seinen  Patriotismus  vor  Allen  gläubigen  Gemütern  zu 


—   7 


legitimieren.  Denn  es  waren  Zweifel  auffi^taucht.  Die 
Normwidrigkeit  deutscher  Höflinge  in  Ehren,  aber 
man  hatte  sich  öfter  gefragt,  ob  ein  Patriotismus  sich 
in  der  Wahl  seiner  Mittel  nicht  doch  vergriffen  habe, 
der  dem  Blick  der  schadenfrohen  Nachbarn  eine  so 
abscheuliche  Perspektive  dnrch  das  Loch  der  Vogesen 
eröffnet  hat.  Da  besteigt  Herr  Harden  mit  einem  un- 
widerleglichen Argument  ssum  Beweise  seiner  vater- 
landsfreundlichen Gesinnung  die  Tribüne :  Der  ,Sim- 
plicissimusS  ruft  er,  hat  eine  französische  Ausgabel 
Und  durch  sie  könnte  der  Erbfeind  ein  ungünstiges 
Bild  von  dem  Geistesleben  deutscher  Offiziere  be- 
kommen. Das  sei  der  bare  Landesverrat.  Denn  so 
notwendig  es  war,  Europa  über  die  Geschlechtssitten 
der  deutschen  Armee  reinen  Wein  einzuschenken, 
so  indiskret  ist  es,  über  das  Bildungsniveau  des  Re- 
serveleutnants Mitteilungen  ins  Ausland  gelangen  zu 
lassen. 

Als  ich  dieses  Argument  für  die  Echtheit 
eines  Patriotismus,  dem  auch  ich  bis  dahin  miß- 
traut hatte,  vernahm,  war  meine  Freude  grofi. 
Schon  deshalb,  weil  Herr  Maximilian  Harden,  der 
der    Rede    mächtiger  ist  als    der    Schrift,    es    vor- 

Eezogen  hatte,  den  Beweis  seiner  patriotischen 
leistungsfähigkeit  einem  Auditorium  statt  einer 
Leserschar  zuzumuten.  Denn  wäre  dieser  Beweis 
in  der  ,Zukunft'  geführt  worden,  so  hätte  ich 
die  Mühe  der  Übersetzung  in  unsere  Sprache  gehabt, 
und  von  dieser  Aufgabe  könnte  ich  nur  sagen,  dafi  ich 
es  mir  immerhin  leichter  und  dankbarer  vorstelle,  den 
Text  des  ,Simplicissimus'  ins  Französische  zu  übersetzen. 
Geschähe  es  doch  I  Ich  bin  ein  schlechter  Verteidiger 
gegen  den  Vorwurf,  dafi  einer  Landesverrat  begehe, 
wenn  er  Humor  verbreitet  oder  wenn  er  eine  künst- 
lerische Sprachleistung  Lesern  zugänglich  macht, 
deren  Sprache  für  künstlerische  Leistungen  eigens 
erschaffen  ist.  Ich  kann  das  Pathos  nicht  aufbringen, 
Herrn  Harden  einer  Verleumdung  zu  beschuldigen, 
wenn  er  fälschlich  behauptet  hat,  der  ,Simplicissimu8' 

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—   8   — 


Teranstalte  eine  französische  Ausgabe.  Ich  habe  weder 
fOr  die  Ausfuhrverbote  des  Geistes  noch  für  die  Zoll- 
schranken der  Kultur  jenes  Verständnis,  das  not- 
wendig wäre^  um  die  Behauptungen  des  Herrn  Bar- 
den als  ehrverletzend  zu  empfinden.  Ich  mußte  seine 
Entrüstung  teilen,  um  ihre  Ursache  mit  Vehemenz  zu 
bestreiten,  und  ich  müfite  einen  vaterländischen  Stolz 
begreifen,  der  seinen  Manschettenknöpfen  einen  Sieges- 
lauf um  die  Welt  ersehnt,  aber  seinen  Satiren  das 
»made  in  Germanyc  verübelt.  Sie  sollen  im  Lande 
bleiben  und  sich  redlich  von  den  Übels! änden  der 
Heimat  nähren.  Aber  das  ist  schliefilich  der  Mahnruf 
aller  kritischen  Nachtwächter,  die  es  noch  nie  ver- 
standen haben,  daß  man  von  der  Kunst  auch  etwas 
anderes  beziehen  könne  als  Tendenzen  und  stoffliche 
Reize.  Und  ich  sehe  nicht  ein,  warum  ich  einem 
eine  Unwahrheit  nachweisen  soll,  wenn  ich  ihn  einer 
Unwahrhaftigkeit  beschuldigen  kann.  Ich  würde 
Herrn  Maximilian  Harden  die  kitschige  Gemeinheit 
seines  Arguments  mit  demselben  Hochmut  vor 
die  Füfie  werfen,  wenn  die  französische  Ausgabe 
des  ,Simplicissimus'  bestünde,  wenn  sie  sich  nicht 
auf  die  Obersetzung  der  paar  Illustrationswitze 
reduzierte,  mit  der  deutsche  Satiriker  ihren  fran- 
zösischen Kunstgenossen  gefällig  sein  wollten  und 
die  auf  660  Exemplaren  einer  angeklebten  Schleife 
das  deutsche  Ansehen  im  Ausland  gefährdet 
Gäb's  eine  richtige  französische  Ausgabe,  ich 
würde  trotzdem  die  äußerste  Geringschätzung 
für  einen  Agitator  übrig  haben,  der  den  Blick  der 
Weinreisenden  von  seiner  eigenen  politischen  Schande 
abzulenken  sucht,  indem  er  vor  ihnen  die  künstlerische 
Ehre  des  Andern  in  eine  politische  Schande  verwandelt 
In  den  Kehricht  des  deutschen  Geistes  mit  ihml  Und 
dafi  er  nie  wieder  mit  vorgeschützten  Kulturinteressen 
uns  belästige,  uns,  denen  vor  Europa  eine  Produziening 
Zeichnerischer  Kunstwerke  wahrlich  besser  anstünde 
als  die  literarischen  Offenbarungen  sexueller  Spionage. 
Hätten    wir    die    Wahl,     einer     kultivierten    Welt 

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9    — 


die  Satiren  der  Heine  und  Gulbransson  oder  den 
speckigen  Ernst  eines  Leitartiklers  zu  unterbreiten, 
die  Lumpenhülle  der  Kunst  eines  Rudolf  Wilke  oder 
den  stilistischen  Prunk,  in  dem  die  schäbigsten  Wahr- 
heiten unserer  Publizistik  einherstolzieren,  einen  Thöny- 
schen  Leutnant  oder  einen  Harden'schen  Flügeladju- 
tanten — ,  ich  wüfite  bei  solcher  Wahl,  welches  Er- 
zeugnis deutschen  Geistes  ich  getrost  ins  Ausland 
schicken  wollte,  um  dessen  Achtung  zu  gewinnen, 
und  ich  wüfite,  in  welchem  Falle  ich  ein  Patriot 
wäre  I 

Beklagen  wir  es,  dafi  solche  Entscheidung  nie 
ermöglicht  wurde.  Der  ,Simplicissimus^  hat,  wie  wir 
durch  die  Aufklärung  LudwigThomas  gehört  haben,  die 
geschäftlich  verlockendsten  Anerbietungen  abgelehnt, 
und  so  erfahren  die  Franzosen,  die  uns  ihre  Witz- 
blätter in  hunderttausenden  Exemplaren  herüber- 
schicken, aus  unserem  Geistesleben  leider  nur  dann  etwas, 
wenn  Herr  Harden  in  einem  seiner  Sexualprozesse 
beweisen  will,  was  er  nicht  behauptet  hat,  oder  be- 
hauptet, was  er  nicht  beweisen  kann.  So  bleibt  CF. 
ausschliefilich  Herrn  Harden  vergönnt,  zu  tun,  was 
er  dem  ,Simplicissimus'  nachsagt:  die  Scham  seines 
Volkes  zu  entblößen,  um  seine  Einnahmsmöglich- 
keit zu  vergrößern.  So  bleibt  es  Herrn  Harden 
vorbehalten,  seine  Angriffe  auf  die  hintere  Linie 
der  deutschen  Schlachtordnung  im  Angesicht  des 
Auslandes  zu  verüben  und  den  Interviewern  des 
,Matin'  in  spaltenlanger  Rede  zu  versichern,  dafi 
er  Material  gehabt  habe,  Material  habe  und 
noch  haben  werde,  *  bis  der  Termin  des  jüngsten 
Gerichtes  anbricht.  Er  mag  sich  für  einen  deutschen 
Patrioten  halten,  weil  die  Franzosen  blofi  seine 
Reden  und  nicht  auch  seine  Schriften  zu  übersetzen 
vermocht  haben,  und  wir  wiederum  wüfiten  nichts 
von  der  unpatriotischen  Gesinnung  des  ,Simplicis8i- 
mus',  wenn  Herr  Harden  es  vorgezogen  hätte,  darüber 
sn  schreiben,  anstatt  zu  sprechen.  Aber  er  wollte  ver- 
standen werden,    er  wollte  jene  Instinkte  gewinnen, 

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—  10  — 


lu  denen  man  auf  stilistisohen  Stehen  nicht  gelangen 
kann.  Nicht  populär  su  sein,  dieses  Schicksal  teilt  der 
Umworter  aller  Worte  mit  jenen,  die  die  Menge 
mit  Gedanken  in  Versuchung  führen.  Will  Herr 
Harden  lügen,  wie  ihm  der  Schnabel  gewachsen  ist, 
dann  steigt  er  auf  das  Podium  und  heimst  für  den 
Verzicht  auf  die  höhere  Bildung  und  auf  das  Recht, 
den  November  Nebelmond  und  den  König  von  Eng- 
land Kmg  zu  nennen,  jene  Lorbeern  ein,  die  er  seit 
den  Tagen  von  Moabit  so  schwer  entbehrt  hat.  Hätte 
er  in  seiner  .Zukunft'  etwa  beteuert,  daß  der  ,Sim- 
plicissimusS  Mariannens  lüsternem  Blick  die  Scham  ger- 
manischen Wesens,  des  vom  Dünkel  der  Qewaffnetan 
mählich  nur  in  die  Zucht  des  Pritzenstaates  gekirrten, 
mit  flinkem  Pinger  entblößt  habe  .  . .  ach,  ich  hätte 
mich  erbarmen  und  wieder  einmal  aussprechen 
müssen,  was  ist.  Ich  freue  mich  also,  dafi  Herr 
Harden  es  uns  diesmal  so  leicht  gemacht  hat,  die 
Schwäche  seiner  ethischen  Hemmungen  zu  empfin- 
den. Wenn  er  erweislich  Wahres  sagt,  kommen  wir 
ihm  nur  schwer  darauf;  wenn  er  lügt,  gewinnt  er 
uns  sofort.  Aber  wer  einmal  lügt,  glaubt  einem  andern 
nicht,  und  wenn  der  auch  die  Wahrheit  spricht. 
Was  Herr  Harden  vorgebracht  hatte,  wurde  von 
Thoma  glatt  in  Abrede  gestellt,  er  selbst  hätte  also 
zugeben  müssen,  dafi  >der  Stank  schnell  verflogt. 
Aber  man  müßte  »seines  Wesens  Ruch«  nicht 
kennen,  wenn  man  es  verwunderlich  finden  sollte,  dafi 
er  nun  erst  mit  der  Pestigkeit  eines  Qalilei  an  seiner 
Entdeckung  festzuhalten  begann.  Und  es  gibt  doch  eine 
französische  Ausgabel  Er  hat  eine  gesehen!  Waren 
nicht  hundert  Lügen  gegen  eine  Wahrheit  zu  wetten, 
daß  Herr  Harden  sich  auf  die  Friedensnummer, 
die  unter  dem  Titel  »Paix  ä  la  Prancec  im  Jahre 
1906  erschien,  berufen  würde?  Thoma  war  abge- 
führt; denn :  >die  Behauptung,  es  habe  nie  eine 
französischen  Ausgabe  des  ,Simplicissimus^  gegeben, 
ist  also  unrichtige.  Ist  sie's?,  muß  man  sofort  im 
feinpolemischen  Pragestil  des  Herrn  Harden   hinzu- 


—  11  — 


setzen.  Die  Entblößung  der  deutschen  Armee  vor 
dem  Ausland  beweist  er  folgerichtig  durch  jene 
Publikation  des  ySiroplicissimus',  die  eine  Pro- 
paganda  der  Abrüstung  bezweckt  hat.  Einer 
behauptet^  dafi  ich  meine  Hausfrau  verraten  habe, 
weil  ich  meiner  Nachbarin  erzählte,  dafi  sie  Wan- 
zen beherberge,  und  meint,  es  gehe  nicht  an, 
die  eig:ene  Hausfrau  in  den  Augen  der  Nachbarin 
herabzusetzen.  Ich  antworte,  dafi  ich  dergleichen 
nie  getan  habe.  So?,  sagt  er,  zufällig  kann  ich  be- 
weisen, dafi  du  einmal  bei  der  Nachbarin  warst.  Und 
das  stimmt  wirklich,  denn  das  war  damals,  als  ich  sie 
für  eine  gemeinsame  Aktion  gegen  das  Teppichklopfen 
gewinnen  wollte  .  . .  Herr  Harden  ist  ein  Ehrenmann 
mit  logischen  Unterbrechungen.  Und  er  wird  so  lange 
bei  seinem  Argument  bleiben,  als  dessen  Billigkeit 
ihn  mit  dessen  Nichtigkeit  versöhnt  und  in  den  Augen 
deutscher  Spiefier  zum  ehrlichen  Manne  macht.  Denn 
es  mufi  ein  verflucht  angenehmes  Gefühl  sein,  das 
Odium  eines  Polizeihundes,  der  auf  homosexuelle 
Tiergartenabenteuer  geht,  mit  dem  Ruf  eines  Wach* 
ters  am  Rhein  vertauschen  zu  dürfen,  der  anschlägt, 
wenn  ein  Satiriker  vorbei  will. 

Zum  heuchlerischen  Alarm  ist  da  und  dort 
Gelegenheit;  aber  so  sehr  es  der  Bürger  liebt,  wenn 
ihm  die  Moral  gerettet  wird,  noch  mehr  staunt  er 
die  Bravour  des  Tapferen  an,  der  ihm  das  Vaterland 
rettet.  Und  das  zweite  Problem  ist  umso  interessanter,  als 
es  neben  der  politischen  Spannung  auch  wieder  Ge- 
legenheit für  eine  moralische  Kunstfertigkeit  bietet. 
Die  ahnungslosen  Deutschen  sitzen  in  einem  Biergarten, 
da  steigt  Herr  Harden  auf  einen  Sessel  und  wird  seine 
Leistungsfähigkeit  zeigen;  vorerst  aber  bittet  er  die 
Herrschaften  >um  ein  kleines  Trinkgeld  oder  Douceurc ; 
—  die  französische  Obersetzung  ist  bei  der  Ansprache 
der  Trapezkünstler  üblich,  wird  ihnen  aber  nicht 
weiter  übelgenommen.  Und  Herr  Harden  versichert 
den  angenehm  überraschten  Biertrinkern,  dafi  ihn 
die  »Täte    des   ,SimplicissimusS    der  den  650  Exem- 


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—  12  — 


pliuren  eine  Schleife  mit  fünf  französischen  Zeilen 
beigeheftet  hat,  »unverzeihlich  dünkt,  so  unverzeihlich 
wie  das  Handeln  eines,  der  eine  schmähliche  oder 
lächerliche  Familiengeschichte  in  die  Zeitung: 
bringt . . .  Süd  oder  Nord:  die  Deutschen  sollen 
sich  als  einer  Familie  angehörig  fühlen  und  die 
Darstellung  der  traurigen  oder*  lächerlichen  Miftstände, 
die  im  Familienhaus  leider  noch  fühlbar  sind,  nicht 
selbst  den  Fremden  zum  Kauf  anbieten  c.  Die  Besucher 
sind  entzückt,  geben  ein  Trinkgeld  und  kein  Douceur, 
und  alle  stehen  im  Bann  einer  erstklassigen  akroba- 
tischen Leistung,  die  den  patriotischen  Bauchauf- 
schwung mit  dem  großen  salto  morale  vereinigt. 
Nur  einer  im  Hintergrund  ruft :  Eulenburg  1 . .  llr 
wUl  damit  sagen,  daß  er  den  Artisten  schon  von 
früher  her  kennt  und  dafi  ihm  die  Methode,  mit 
der  Moral  Politik  zu  machen,  schon  einmal  Übel- 
keit erregt  hat.  Er  will  sein  Mißbehagen  aus- 
drücken, dafi  Herr  Harden  die  Erinnerung  an  eine 
Produktion  heraufbeschwört,  die  ihm  beinahe  den 
Hals  gekostet  hätte.  Denn  dafi  einer  ein  Jahr  lang 
nichts  anderes  tat,  als  die  Geheimnisse  fremder  Betten 
zu  lüften  und  den  Familienfrieden  derer  von  Sokrates 
bis  Lynar  zu  zerstören,  war  eine  stärkere  Oesin- 
nungsprobe,  als  ein  durchschnittlicher  Moralheuch- 
ler eigentlich  nötig  hat.  Aber  dafi  er  es  dann  als 
eine  unverzeihliche  Handlung  brandmarkt,  schmäh- 
liche oder  lächerliche  Familiengeschichten  in  die 
Zeitung  zu  bringen,  ist  bereits  eine  Fleifiauf^be  dw 
Scheinheiligkeit.  Freilich  wünscht  er  nicht,  dafi 
man  die  sittlichen  Wirkungen  seiner  Aktion  mit 
der  Erschütterung  des  deutscheu  Ansehens  durch 
die  Übersetzung  der  Simplicissimus  -  Witze  ver- 
gleiche. Hat  Herr  Harden  »sein  Beweismaterial 
in  einer  Weltverkehrssprache  veröffentlichte?  Das 
hat  er,  wenn  man  von  den  Interviews  in  der 
französischen  Presse  absieht,  weiß  Gott  nicht  getan, 
und  trotzdem  ist  »durch  sein  Reinigungswerk  das 
deutsche  Ansehen  wesentlich  gebesserte  worden.  Die 


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-   18  — 


Welt  hat  also  davon  erfahren,  es  hat  ihr  imponiert, 
und  es  kommt  offenbar  auf  den  Kredit  dessen  an, 
der  ein  Reinigungswerk  vornimmt.  Der  ySimplicissimus' 
kann  sich  gewifl  nicht  auf  ein  anerkennendes  Schreiben 
des  deutschen  Botschafters  in  den  Vereinigten 
Staaten,  des  Barons  Speck  v.  Sternburg  berufen. 
Herr  Harden  kann  es.  Denn  der  Baron  Speck  hat 
ihm  bestätigt,  dafi  alle  führenden  Männer  in  den 
Vereinigten  Staaten  des  Lobes  voll  waren.  Er  ist 
tot,  er  starb  bald,  nachdem  er  Herrn  Harden  seine  An- 
erkennung ausgesprochen  hatte.  Er  teilte  das  Schicksal 
aller  bedeutenden  Männer,  die  sich  auf  ihre  Vertraulich- 
keit mit  Herrn  Harden  etwas  zugute  taten.  Qui  mange 
du  pape,  en  meurt.  Aber  essen  die  Leser  von  diesem 
Speck?  Möglich,  daß  der  Tote  Herrn  Harden  gelobt 
hat.  Aber  selbst  wenn  wir  diesen  Botschafter  hörten, 
es  fehlte  uns  der  Glaube.  Dean  es  kommt  auch  beim 
Ansehen  des  Herrn  Harden  im  Ausland,  wie  in  allen 
Lebensproblemen,  weniger  auf  das  erweislich  Wahre, 
als  auf  die  innere  Wahrscheinlichkeit  an. 

Wie  umständlich  muß  heute  ein  deutscher 
Patriot  seine  Ehrlichkeit  beweisen,  damit  sie  die 
Welt  nicht  glaubt  I  Man  verdächtigt  die  Motive 
des  Herrn  Harden,  die  ihre  Ursprünglichkeit  an 
der  Stirne  tragen.  Man  ist  nicht  einmal  vorweg 
davon  überzeugt,  dafi  er  in  die  Volksversammlung 
kam,  um  den  künstlerischen  Wert  des  .Simplicis- 
simus'  zu  loben,  und  dafi  ihm  >erst  während  er 
sprach,  einfiel,  dafi  dieses  Lob  als  ein  auch  der 
Qeschäftspolitik  des  Blattes  geltendes  gedeutet  wer- 
den könntec.  Weil  ihm  dies  erst  während  er  sprach, 
aufällig  einfiel,  deshalb,  nur  deshalb  sagte  er,  »dafi 
er  das  Blatt  nicht  mehr  ganz  so  gern  wie  früher  sehec, 
und  brachte  auch  die  französische  Ausgabe  zur  Sprache. 
Anstatt  dafi  man  nun  der  spontanen  Natur  des  Herrn 
Harden,  deren  Unberechenbarkeit  heute  nur  noch  im 
Wesen  einer  einzigen  Persönlichkeit  in  Deutschland 
ihresgleichen  hat,  Gerechtigkeit  widerfahren  läfit, 
anstatt  dafi  man  zugleich  eine  Besonnenheit  anei  kennt, 

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-14- 

durch  die  sich  auch  ein  Temperament  im  letsten  Augen- 
blick Zügel  anzulegen  vermag,  behaupten  die  Feinde, 
der  Tadel  des  ^Simplicissimus'  sei  nicht  von  der 
Gerechtigkeit  der  Liebe,  sondern  das  Lob  sei 
von  der  Taktik  des  Hasses  diktiert,  und  der 
Wandel  in  der  Ansicht  des  Herrn  Harden  sei 
nicht  dem  verletzten  patriotischen  Qeftthl  zuzu- 
schreiben, sondern  der  verletzten  Eitelkeit.  Daft 
die  Welt  das  Strahlende  zu  schwärzen  liebt,  ist  be- 
kannt, aber  es  ist  besonders  undankbar  von  der 
Welt,  wenn  sie  diese  Praxis  gegenüber  einem  Manne 
betätigt,  der  sich  so  gern  an  die  Welt  wendet. 
Müssen  solche  Erlebnisse  nicht  schiiefilich  ziur  Ver- 
einsamung der  Agitatoren  führen?  Mit  ungerechter 
Rauhheit  sehen  wir  da  ein  Berliner  Blatt  in  em  naives 
Seelenleben  greifen,  wenn  es  dreist  behauptet,  der 
Wandel  in  der  Ansicht  des  Herrn  Harden  über  den 
,8iraplicis8imus*  sei  auf  meine  Mitarbeit  am  ,Simpl]- 
cissimus^  zurückzuführen  . . .  Wärs  möglich?  Wäre 
ich  wirklich  schuld?  Aber  da  es  behauptet  wird, 
so  fühlt  mein  Magen  auch  noch  eine  moralische  Ver- 
pflichtung, sich  bei  der  patriotischen  Zubereitimg 
einer  Ranküne  mit  allen  anderen  deutschen  Magen 
umzudrehen. 

Wenn  ich  schuld  bin,  mufi  ichs  auf  mich 
nehmen,  und  tue  es  vor  der  ganzen  Öffentlichkeit 
mit  jener  freudigen  Bereitschaft,  die  Herr  Hardeo 
an  mir  schon  gewohnt  ist.  Dafi  ich  blofl  als  Mitarbeiter 
des  von  ihm  beschimpften  ,Simplicissimus^  das  Wort 
führe,  mag  er  behaupten,  wenn  er  sich  seinerseits 
darauf  verlegen  will,  die  Motive  einer  Aussprache 
zu  verdächtigen.  Ich  würde  mich  zu  meiner  Kon- 
sequenz so  gut  bekennen,  wie  zu  jenem  Widerspruch, 
dessen  die  aufrechten  Männer  mich  damals  beschuldigt 
haben,  als  ich  nach  einer  Polemik  gegen  den  ,Simplioi88i- 
mus'  mich  durch  Mitarbeit  zu  ihm  bekannte.  Was  ioh 
einmal  —  mit  höherer  Achtung  vor  dessen  künsileri* 
schem  Wert  als  Herr  Harden  — -  gegen  den 
,SimpUois8imu8'  einzuwenden    hatte,  das    hat    noieine 

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—  15  — 

Subjektivität  eingewendet,  die  von  Zugeständnissen 
an  den  Qesohmack  des  Publikums  nichts  wissen 
will  und  deren  luxuriöses  Recht  ich  mir  nur 
selbst  zugestehen  darf.  Keinen  besseren  Beweis  seines 
Verständnisses  für  solch  unerbittliche  Kunstauffas- 
sung konnte  der  ,Simplic]ssimus^  erbringen^als  durch 
Einladung  eines  Autors,  dessen  Beiträge  sicherlich 
kein  Zugeständnis  an  den  Geschmack  des  Publikums 
bedeuten,  und  in  keinem  ehrlicheren  Krieg  der  Meinun- 
gen ist  je  ein  ehrlicherer  Friede  geschlossen  worden. 
Wenn  er  aber  den  unehrlichen  Krieg  des  Herrn  Maxi- 
milian Harden  gegen  den  »Simplicissimus'  eröffnet  hat, 
so  lasse  ich  es  mir  gefallen,  dafi  man  meinen  Angriff 
auf  den  Angreifer  als  die  Erfüllung  einer  Bündnis- 
pflioht  deutet.  Ich  habe  oft  genug  bewiesen,  dafi  ich 
keines  anderen  Winks  bedarf,  um  gegen  diese  publi- 
sistische  Macht  mobil  zu  sein,  als  einer  Lektüre  der 
,Zukunft^  und  wer  mich  kennt,  wird  mir  glauben, 
dafi  ein  patriotisches  Bekenntnis  des  Herrn  Maximilian 
Harden  durchaus  genügt  hat,  um  mich  in  den  alten 
Zustand  der  Feindseligkeit  zu  versetzen.  Vollends  im 
Angesicht  des  Versuchs,  die  Tribüne  zu  erobern  und 
zum  Paradeplatz  für  eine  Qesinnung  zu  machen, 
deren  populäres  Verständnis  die  Sprache  des  Literaten 
so  lange  gehemmt  hat.  Dafi  Herr  Harden  die  Zeit 
für  solche  Veränderung  seiner  Operationsbasis  ge- 
kommen sieht  imd  dafi  er  so  verpönte  Hilfsmittel  nicht 
verschmäht,  ist  ein  Beweis,  wie  hoch  er  den  Verlust 
an  publizistischer  Ehre  einschätzt,  den  er  erlitten, 
und  wie  sehr  die  Eulenbure-Kampagne  sein  Ansehen 
im  Inland  herabgesetzt  hat.  Wahrlich,  grofi  ist 
der  Schaden,  der  sich  auf  allen  Seiten  ergibt. 
Und  wenn  wir  an  Frankreich  fünf  Milliarden 
Simplicissimus- Witze  bezahlten,  die  Niederlage  könnte 
nicht  gröfier  sein.  Deutschland  steht  vor  der  Welt 
als  ein  Staat  da,  dessen  Mannschaft  durch  Selbstmord 
dezimiert  und  infolfice  gewisser  Schwierigkeiten  der 
Fortpflanzung  nicht  ergänzt  wird.  Dem  Riedel,  dem 
»aufrechten  Milchmann c,  haben   die  besseren    Leute 


—  16  — 


die  Milch  abbestellt.  Und  einem  aufrechten  Publi- 
sisten  bleibt  nichts  übrig,  als  ein  Patriot  su 
werden. 

Karl  Kraus. 


Kameraderie. 

Gemeine  Menschen  machen  selbst  eine  aus- 
nahmsweise edle  Handlung  gemein,  während  der 
Hohe  sogar  Böses  adelt,  das  er  verüben  mufi.  Den 
Mafistab  für  die  sittliche  Beurteilung  gibt  nicht  die 
Tat,  nur  der  Täter.  Deshalb  hält  der  vulgäre  Irrtum 
sich  gerade  an  die  deutliche,  in  ihren  Polgen  schein- 
bar leicht  SU  messende  Tat.  Er  stellt  dem  bestim- 
menden Wesen  der  handelnden  Charaktere,  das  er 
nicht  ohneweiters  enträtseln  will,  noch  kann,  eine 
Mauer  moralischer  Majoritätsbeschlüsse  gegenüber. 
Dieses  Mifitrauen  der  Gemeinheit  belauert  doppelt 
wachsam  jeden  Versuch  einer  freien  geistigen 
Organisation  und  lügt  dem  unbekümmerten  Trieb 
den  niedrigsten  Zweck  an,  weil  es  die  natürliche 
Feindschaft  höherer  Menschenvereinigungen  wittert 
und  fürchtet.  Ein  typisches  Beispiel  hiefür  möchte 
der  gehässige  Sinn  der  Formel  »Kameraderiec  ab- 
geben. Das  Wort  ist  die  Verhöhnung  eines  an  sich 
edlen  Instinkts:  der  Freundschaft,  der  Hilfbereit- 
schaft  innerlich  Verwandter,  geistig  Zugehöriger, 
eine  so  unvorsichtige  Verdächtifsrung,  dafi  man  billig 
fragen  könnte,  warum  nicht  jede  Sammlung  von 
Menschen  zu  bestimmten  Handlungen  und  Pflichten 
schon  mit  ihrem  Namen  ihren  Spott,  ihre  sittliche 
Verneinung  aussagt,  warum  sich  nicht  schon  an 
weit   umfassendere  Bindungen  von  Anbeginn  an  die 


—  17  — 


Sereohtere  Gtohäasigkeit  knüpft,  etwa  an  den  Staat, 
ie  Kirche,  Armee,  Oewerk-  und  Eonsumrereine. 
Müßte  dann  yon  rechtswegen  nicht  jeder  Beruf 
schon  mit  seinem  Namen  alles  Obie  anschuldigen, 
das  er  enthalten  und  gelegentlich  ausbilden  mag? 
Aufler  dem  Wort  »Pfaflfec  bekommt  nicht  leicht 
eines  den  Geburtsfehler  so  üblen  Nebensinnes  mit, 
wie  die  >Kameraderie<.  Die  Sprache,  welche  immerhin 
ein  tieferes  Gewissen  der  schaffenden  Menschlichkeit 
bedeutet  und  wahrt,  versagt  sich  mit  Recht  solcher 
Verallgemeinerung,  es  widerstrebt  ihr,  das  Wort 
»Freundschaftf  durch  eine  schielende  Verdächtigung 
zu  entstellen,  so  mufl  ein  fremdes  erborg  werden, 
um  für  den  Instinkt  der  Gemeinheit,  der  sein  Eben- 
bild und  Gleichnis  in  allem  Tun  wittert,  einen  Aus- 
druck hersugeben,  worin  alle  Absichten  engerer 
Verknüpfung  von  Menschen  unter  Einem  als  bösartig 
angezeigt  werden.  Was  sich  in  Berufen  zu  bestimmten, 
sichtbaren  Wirkunaren,  zu  Machtorganisationen  mit 
offenkundigen  Zwecken  verdichtet,  entgeht  dem 
Unglimpf,  was  seine  wahren  oder  vorgeblichen 
Motive  auf  der  Stirne  geschrieben  trägt,  braucht 
ihre  Mißdeutung    nicht    zu    fürchten,    wenn    es   sie 

gleich  hundertmal  in  aller  Gelassenheit  verkehrt, 
öfort  aber  stürzt  sich  das  Übelwollen  der  Masse 
und  mit  unfehlbarer  Gewalt  auf  Verhältnisse,  die, 
unabhängig  von  äufieren  Gründen  durch  innere  Not- 
wendigkeit zustande  gebracht,  inneren  Gesetzen,  den 
Willensrichtungen  und  Gemütsforderungen  gehorchen 
und  nach  verschiedenen  Seiten  gleichsam  eine  Aus- 
strahlung geistiger  Kräfte  entsenden,  die  nach  der 
Art  der  Genossen  fruchtbar  oder  verderblich,  immer 
aber  von  äufieren  Bedingungen  halbwegs  befreit, 
ihre  Wirkung  ausüben.  Der  geheimnisvollen  An- 
ziehung, Gewandtheit  und  Macht  solcher  Wahl- 
gemeinschaften  begegnet  die  grofie  Masse,  der  das 
Argument  nicht  gehört,  mit  Hohn,  einerlei,  ob  sie 
das  beste  Gewächs  ausrottet,  das  ihr  Boden  trägt, 
oder  das  geile  Unkraut.  Dem  angeblichen  Urteil  der 

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—  18 


Meng«  letat  der  Binfleln«  billig  lein  Vorurteil  gegeo- 
flber,  ihr  Vorurteil  kann  er  nur  mit  der  EUarheit  des 
Urteils  erwidern. 

EjS  ist  die  tiefste  Weisheit  der  Natur,  dafi  sie 
ihre  Gebilde  durch  den  Kampf,  ihre  Fruchtbarkeit 
durch  das  stete  Widerspiel  erhält,  worin  jede  Be- 
wegung ihren  GtogensatE  lugleich  entfesselt  und 
besiegt,  erzeugt  und  braucht,  sich  in  ihm  auflöst 
und  neu  gebiert.  So  läflt  sie  dem  Machtinstinkt  des 
Ichs  ein  tiefes,  seelisches  GemeinsohaftsbedQrfnis, 
den  groben  Zweckvereinigungen  der  Oesellsobaft 
sarte,  willkürliche  Wahlgemeinschaften  antworten: 
Freundschaft,  Liebe. 

Die  subtilste  Wahlgemeinschaft,  die  Freund- 
schaft, wird  in  ihrem  (^fühlswert  gans  durch  die 
Auslese  des  Genossen  bestimmt,  ihr  Zweck  bleibt 
verinnerlicht.  Darum  sind  alle  Handlungen,  die  der 
Freundschaft  entspringen,  so  recht  unmeflbar  und 
fragwürdig.  Jeder  Selbstbetrug  bringt  serstörende 
Folgen.  Das  Vertrauen  wird  allzuleicht  enttäuscht^ 
die  Kraft  des  Gefühls  erschwert  die  Dauer,  seine 
Besonderheit  und  Willkür  läßt  keine  allgemeine 
Glaubwürdigkeit  su.  Gibt  es  eine  zartere  Hutnonie, 
ein  feineres  Gleichgewicht? 

Man    wendet   das  Wort   Kameraderie    an,    wo 
.solche  seelische  Verbindungen  über  das  engste  Mai) 
individueller  Zugehörigkeit  hinausgreifen,  einen  ranzen 
Ring  von  Gleichgesinnten  erfassen  und  ihre  ICräfte 
dem  Ziele  gegenseitiger  Eirhöhung  dienstbar  machen. 
Was  dem  Einzelnen  gern  zugestanden  wird,  dafl  er 
nach  allem  Vermögen  schlecht  und  recht  auf  seinen 
Vorteil   bedacht   sei,  bleibt  der  Kameradschaft  ver- 
übelt.  Sie  bringt  nämlich  dieses  mit  sich:  der  Ejrei 
ihrer   Zugehörigen   schätzt  das   Gemeinsame  so  in 
ständig,   dafl  er  selbst  die  widersprechenden  indivi 
duellen    Hemmungen    überwindet,    er    miflt    jedei 
Einzelnen   so  viel  Wert  bei,   dall   er   dessen  An« 
kennung  wie  seine  eigene  empfindet  und  zur  eigene 
Sache  macht,  jeder  handelt  in  uubewuflter  oder  a^ 

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19 


sichtlicher  Obereinstimmung  mit  den  übrieen  so,  daß 
er  jedem  Genossen  dieser  Wahlgemeinschaft  das  beste 
Gelingen  seiner  persönlichen  Bestrebungen  mit  allen 
Mitteln  zu  ermöglichen  sucht,  nicht  ohne  ein  Gleiches 
Ton  ihm  vorausiusetzen,  zu  verlangen,  zu  erreichen. 
Jeder  ist  jedem  in  diesem  Verhältnis  zugleich  unter- 
und  übergeordnet. 

Ein  geheimnisvoller  Zusammenhang  scheinbar 
unabhängiger  Menschen  übt  seine  Macht  spontan 
aus,  er  wirkt  nach  allen  Richtungen,  wirbt  Teil- 
nehmer selbst  ohne  es  zu  wissen,  das  Beispiel  ver- 
lockt Unschlüssige,  reizt  zur  Nachahmung,  zusehends 
entwickelt  sich  eine  bestimmende  Bewegung. 

Es  ist ,  das  rechte  Beispiel  für  die  Gewalt  des 
Persönlichen,  das.  Verwandtes  an  sich  ziehend,  die 
eigene  Art  potenziert.  Die  Gefahr  der  Verallgemeinerung 
solcher,  ursprünglich  individuell  bedin^r  und  ge- 
färbter Zugehörigkeiten  ist  erheblich,  denn  mit  der 
Verbreitung  tritt  eine  Verflachung  der  Ideen,  eine 
Vergröberung  der  Zwecke  und  Mittel  ein,  es  ent- 
wickeln sich  Meinunes-,  Geschmackskonventionen, 
kurz  die  Masse  schleicht  sich  in  den  Kreis  ein,  den 
sie  vorerst  geschmäht,  sie  löst  ihn  auf;  indem  sie 
ihm  den  Schafsgehorsam  zollt,  macht  sie  ihn  selbst 
'  zum  Leithammel  Die  Nahrung,  die  sie  solcher  neuen 
schöpferischen  Organisation  dankt,  verschlingt  sie 
gierig,  trotzdem  sie  sie  durch  Mifltrauen,  Verleumdung 
und  Hohn  beschmutzt  hat. 

Aber  um  diese  unvermeidliche  Entwicklung 
braucht  sich  der  ursprüngliche  Trieb  nicht  zu  kümmern, 
der  sein  höheres  Recht  wahren  darf.  Der  Spott,  der 
^ie  Einzelnen  treffen  soll,  fällt  auf  die  Menge  zurück, 
die  von  ihnen  besiegt  wird. 

Es  gilt,  den  Instinkt  selbst  zu  erwägen  und 
dienstbar  zu  machen,  die  No^endigkeit  zur  Freiheit 
zu  erheben  und  vor  sich  selbst  zu  rechtfertigen.  Die 
Masse,  die  sich  der  verächtlichen  Eameraderie  nicht 
erweCiren  kann,  mag  der  gerechten  ruhig  unterworfen 
werden.   Aber   die   Eameraderie  sollte   sich  auf  sich 


—  20 


selbst  besinnen,  sich  zu  sich  selbst  bekennen:  es  ist 
die  vornehmste  Eigenschaft  des  Geistes,  allenthalben 
den  Geist  zu  ahnen,  das  Bedeutende  wie  mit  einer 
Springwurzel  aus  dem  Versteck  aufzuspüren  und 
unter  Tausenden  sein  Zeichen  zu  erkennen.  Es  ist 
Beruf  und  Pflicht  des  Geistes,  dem  Geist  anzugehören 
und  zu  helfen  und  dabei  sich  selbst  die  höchste 
Rechtfertigung  zu  gewinnen.  Es  ist  nahezu  das 
einzige  zuverläfiige  Zeugnis  für  eines  Mannes  Wert, 
wenn  er  mit  dem  Bewüfitsein  der  eigenen  auch  das 
fremder  Bedeutung  vereinigt,  wenn  er  neben  dem 
einfachen  Instinkt  der  Icherhaltung  den  feineren, 
selteneren  einer  gerechten  Würdigung  des  fremden, 
edlen  Selbst  bewahrt.  Es  bleibt  die  einziee  Aufgabe, 
die  ein  unabhängiger  schöpferischer  Mensch  an- 
erkennen mag,  der  ^leichgiltigen  Zwangsgesellschafb 
ringsum  eine  absichtsvolle,  freie,  aus  unabhängiger 
Wahl  aneinandergeschlossene,  durchgeformte  und  be- 
stimmte Vereinigung  entgegenzubilden,  die  durch 
sich  selbst  eine  höhere  Art  erwirkt,  welche  den  Ein- 
zelnen über  sein  gegebenes  Mafi  hinaushebt.  Es  ist 
die  einzige  Entwicklung,  die  ihren  Mann  verdient. 
Freilich  gehört  ein  gewisser  Mut  dazu,  soviel  Zu- 
trauen nicht  bloß  zu  sich,  sondern  zu  fremden 
Menschen,  Ideen,  Leistungen  zu  haben,  nichts  kann 
tiefer  erschüttern,  als  ein  Irrtum  in  dieser  Grund- 
frage. Aber  Geist  ist  eben  Mut  schlechthin. 

Die  Rechtfertigung  des  eigenen  Wesens  durch 
solche  Wahlgemeinschaft  bedeutet  einen  Gewinn, 
der  selbst  mit  Enttäuschungen  nicht  zu  teuer  bezaüblt 
wird,  Oberhaupt  welche  Angst  vor  bösen  Erfahrungen! 
Als  wären  sie  nicht  die  einzige  Währung,  mit  der 
wir  die  Launen,  Abenteuer,  Zügellosigkeiten,  Genüsse, 
all  die  Jahreszeitenwechsel,  den  Sternenhimmel 
unserer  Geistigkeit  bez^len  müssen! 

Das  Vertrauen  zu  Menschen,  die  Ehrerbietung 
vor  solchen,  die  ich  als  grofi  erkenne,  mein  unbe- 
irrtes  Zeugnis  für  sie,  erhebt  mich  selbst,  dag^^en 
schränkt  mich  die  Unfähigkeit  der  Hingabe  an  fremde 


—  21  — 


Ideen  und  fremden  Wert,  die  Feigheit,  mich  in  mich 
selbst  und  swar  in  die  leerste,  kümmerlichste  Sekurität 
der  ungestörten  Ezistens  zu  flüchten,  aufs  engste 
ein.  Den  Gemeinschaftsinstinkt  zu  einer  Freiheit  und 
Sicherheit  der  Wahl  auszubilden,  ist  die  einzige 
Pflicht  eben  des  individuellen  Geistes  und  das  einzige 
gerechte  Maß  seiner  Beurteilung.  Das  hat  natürlich 
nichts  mit  der  notwendigen  und  selbstgerechten  Ein- 
samkeit zu  schaffen,  in  der  jeder  lebt,  auch  ohne  sie 
erst  bewufit  zu  erwirkeUi  denn  es  gibt  Zustände  und 
Handlungen,  Absichten  und  Äufierungen  auch  des 
geistigen  Lebens,  die  schlechthin  und  notwendig 
sozial  sind,  Beziehungen  verlangen  und  erzeugen, 
während  nebenher,  darüberhin  der  ganze  ungeminderte 
Horizont  der  Einsamkeit  sich  wölbt. 

Diese  eigentümliche  Notwendigkeit  innerer  Be- 
siehungen, einer  willkürlichen  Sozialität  befreit  den 
Einzelnen  selbst  bei  übernommener  Bindung.  Irgend- 
wie ist  seine  Leistung  der  von  ihm  bejahten,  auf- 
gesuchten, geförderten,  verwandt.  Was  einer  draußen 
irgendwo  entdeckt,  an  sich  zieht,  liebt,  wird  seine 
Ergänzung  und  sein  Triumph. 

Nichts  Böses  und  Widerwärtiges  liegt  in  der 
Natur  solcher  Gemeinschaftsbildungen  und  Äußerun- 
gen, die  erst  durch  Einzelne  und  ihren  Unwert 
verdächtig,  schlecht  werden  können.  Alle  grofien 
Menschen  haben  Verwandte  vereinigt,  mit  unver- 
gleichlicher Gabe  der  Anziehung  festgehalten  und 
jedem  sein  Äufierstes  und  Bestes  entlockt,  so  dafl 
jeder  dem  Genie  zumindest  mit  einem  Strahl  des 
Genies  erwiderte.  Durch  die  Eameraderie  Richard 
Wagners  ist  Nietzsches  Geist  entbunden  worden, 
dessen  Freiheit  eben  den  Gemeinschaftsinstinkt 
heiligte,  da  er  ihn  überwand.  Die  Welt  einfacherer 
Sitten  hat  solche  Wahlorganisationen  selbstverständ- 
lich gefunden  und  geachtet,  nicht  verleumdet.  Man 
lese  etwa  die  ehrerbietige  Schilderung  der  germani- 
schen Gefolgschaft  bei  Tacitus.  Die  Sage,  die  den 
geheimnisvoUen    Grundcharakter    menschlicher    Zu- 


22 


sammenhänge  durch  längstrergangene,  rom  Glaiu 
der  Ewigkeit  umleuchtete  Begebenheiten  vergegen- 
wärtigt, hat  alle  schöpferischen  Gestalten  der  Ge- 
schichte in  einen  Kreis  gleichgesinnter,  hilfreicher 
Oeföhrten  gestellt  und  die  Einsamkeit  jedes  Gko- 
fien  erst  recht  vertieft,  indem  sie  sein  Mafl  an 
der  Gemeinschaft  der  Besten  zeigt. 

Wir  wollen  den  Mut  haben,  uns  ebensowohl  su 
uns  selbst,  wie  zu  denen  zu  bekennen,  die  wir  wie 
uns  selbst  bejahen,  zu  fördern,  was  wir  dessen  fOr 
würdig  halten,  wie  auch  ein  gleiches   anzunehmen. 

Was  die  tägliche  Gemeinheit  in  aller  Unschuld 
und  Schuld  selbstverständlich  yerübt,  ohne  jegliche 
Skrupel,  ja  nicht  einmal  durch  ein  schlichtes  QefQhl 
gerechtfertigt,  aus  niedrigstem  Trieb,  das  unwürdigste« 
auch  nur,  was  ihr  gleicht  und  gemäfi  ist,  durchsu- 
setzen,  wird  dem  strengen,  unabhängigen  Urteil,  der 
gewissenhaften  Einsicht,  der  Freiheit  des  Einzelnen 
zur  Pflicht  Der  Feindschaft,  Rohheit  und  Unfähig- 
keit zu  begegnen  gewärtig,  sollte  er  der  immer  bereiten 
Organisation  der  Dummheit  nicht  die  naire  und  stolse 
Wahlgemeinschaft  der  Begabung,  des  reinsten  Willens 
entgegensetzen?  Er  sollte  nicht  getrost  seine 
Eameraderie  mit  dem  Werte  der  Kameraden  be- 
gründen ?  Unsere  Handlungen  sind  genau  soviel  wert, 
wie  wir  selbst.  Wir  müssen  ihnen  vertrauen,  denn 
der  Maßstab  für  unser  Tun  liegt  in  uns.  Wir  dürfen 
ihn  nicht  aus  der  Hand  geben. 

Ihr  sollt  unsere  Taten  an  ims  erkennen. 

Otto  Stoessl. 


Selbatbeapiegelnng. 

Daß  ich  den  Vorwurf  der  Selbstbespiemlung 
als  die  Feststellung  eines  mir  bekannten  Wesens« 
zuges  hinnehme  und  nicht  mit  Zerknirschung,  son- 
dern mit  einer  Fortsetzung  des  Ärgernisses  erwidere, 

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—  28  — 


daran  sollten  8iob  meine  Leser  nachgerade  gewohnt 
haben.  Natürlich  tue  ichs  nicht  ihnen  su  Trotz,  und 
nicht  einmal  mir  su  Liebe«  Mit  dem  Abdruck  der 
Urteile,  die  im  Ausland  über  m^ine  Bücher  erscheinen, 
will  ich  keinen  kränken  und  keinem  gefällig  sein, 
sondern  nur  als  Vertreter  des  österreichischen  Geistes- 
lebens der  Qefahr  vorbeugen,  dafi  e?  einmal  heifien 
könnte,  hierzulande  habe  überhaupt  niemand  über 
mein  Wirken  gesprochen.  Dafür  sollte  mir  die  Wiener 
Qeistigkeit  dankbar  sein,  dafi  ich  ihr  eine  Mühe  ab- 
nehme und  einen  Ruf  bewahre.  Daß  aber  auch  die 
Freude  über  ein  anerkennendes  Wort  seiner  Wieder- 
holung zugrundeliegt,  warum  sollte  ichs  leugnen? 
Wer  das  Lob  der  Menge  gern  vermifit,  wird  sich  die 
Gelegenheit,  sein  eigener  Anhänger  zu  werden,  nicht 
versagen.  Die  Phantasie  hat  ein  Recht,  im  kärg- 
lichsten Schatten  eines  Baumes  zu  schwelgen,  aus 
dem  sie  einen  Wald  macht,  und  es  ^ibt  keinen 
Iftcherlicheren  Vorwurf  als  den  der  Eitelkeit,  wenn  sie 
sich  ihrer  selbst  bewufit  ist.  Ich  bin  so  frei,  alles 
Olück  der  Koterien  mir  selbst  zu  bereiten.  Der 
böswilligste  Tropf  wird  nicht  glauben,  dafi  ich 
Wert  darauf  lege,  ein  Liebling  der  Wiener  Kritik  zu 
sein,  und  dafi  ich  mich  beklage^  weil  ichs  nicht 
bin«  Aber  festzustellen,  dafi  diese  ihre  täglich  wach- 
sende Achtung  hinter  einer  feigen  Konvention  ver- 
birgt und  sich  mundtot  macht,  wenn  sie  sprechen 
möchte,  gehört  zu  den  Aufgaben,  die  mir  gerade 
dann  obliegen,  wenn  man  mich  blofi  für  einen  Auf- 
seher über  die  korrupten  Machenschaften  einer  Stadt 
hält.  Was  hätte  ich  denn  von  diesem  Schweifen, 
wenn  ichs  nicht  hörbar  machte?  Es  wäre  eine  faule 
Retourkutsche,  nichts  darüber  zu  sprechen! 

Aber  die  Zitierung  ausländischer  Urteile  entspringt 
auch  einer  allgemein  kunstkritischen  Einsicht.  Sie  be- 
zeichnen nämlich  samt  und  sonders  die  Distanz,  in  der 
fernstehende  Leser  sich  zu  einer  Produktion  befinden,  die 
von  aktuellen  oder  zufälligen,  fast  immer  unschein- 
baren Anlässen  zu  perspektivischer  Gestaltung  empor- 


—  24  — 


dringt.  In  der  Stadt,  in  der  diese  Arbeiten  entstan- 
den sind,  kennt  man  die  Anlässe  bu  gut,  um  die 
Gestaltung  eu  verstehen.  Dieser  Unterschied  scheint 
dafQr  zu  sprechen,  dafi  auch  hier  yon  einer  vermin- 
derten Aktualität  ein  erhöhtes  Verständnis  abhängen 
werde. 

Zu  einer  ähnlichen  Hoffnung  berechtigt  das 
Eopfschütteln,  mit  dem  kürzlich  meiner  Publikation 
>Persönliches€  selbst  solche  Leser  begeraet  sind,  die 
einem  Autor,  .  der  sein  Tagebuch  als  Zeitschrift 
herausgibt,  ein  für  allemal  das  Recht  auf  Über- 
raschungen zubilligen.  Von  dem  Durchschnittsleser, 
der  nur  den  stofflichen  Anstofi  dieser  aphoristischen 
Bemerkungen  spürt,  aber  ihn  nicht  erfährt,  von  dem  er- 
warte ich  natürlich  nichts  anderes  als  die  Frage,  »gegen 
wenc  sie  sich  richten.  Ich  antworte  ihm:  Gegen  mich, 
ausschliefilich  gegen  michl  Aber  das  Recht  auf 
Selbstmord  will  er  mir  nur  dann  einräumen,  wenn 
ich  ihm  auch  das  Motiv  angebe.  Sie  lesen: 
Er...,  und  fragen:  Wer?  Lesern,  die  ein  Liebes- 
gedicht für  die  Empfehlung  einer  Adresse  und 
die  satirische  Gestaltung  eines  Typus  für  einen 
Angriff  halten,  kann  ichs  und  möchte  ichs  nicht  recht 
machen.  Andere  wieder  kennen  den  zufälligen  An- 
laß meiner  Selbstzerfleischung:  ihr  stoffliches  Interesse 
an  dem  Fall  wird  so  sehr  befriedigt,  dafi  sie  darüber 
die  Perspektive  vergessen,  und  wären  sie  auch  sonst 
imstande,  sie  zu  würdigen.  Daß  ein  Dramatiker  das 
Recht  hat,  die  gleichgiltigste  Lebensfigur  zu  über- 
schätzen und  zugleich  ihre  Besonderheiten  zu  ver- 
werten, wenn  sie  ihm  für  die  Herausarbeitung  des 
Typischen  dienlich  scheinen,  räumen  solche  Leser  wohl 
im  Prinzip  ein.  Aber  gegebenenfalls  benehmen  sie  sich 
wie  vor  einem  Schlüsselstück:  sie  sehen  nur  das 
Porträt,  der  ihnen  bekannten  Person,  übersehen  den 
Kunstwert,  der  die  Erinnerung  an  ein  gleichgiltiges 
BAodell  weit  hinter  sich  läfit,  und  meinen,  es  sei 
diesem  »zu  viel  Ehret  widerfahren.  Nur  jene  werden 
dem  Ausdruck  eines  Zornes  oder  einer  Liebe  gerecht, 

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—  25  - 


die  von  dem  Anlafl  Oberhaupt  keine  Ahnung  haben. 
Sie  verlangen  nicht,  daß  einer  eine  Königin  besinge 
oder  einen  König  verlache,  sie  würdigen  das  Gedicht, 
SU  dem  eine  Närrin  oder  ein  Narr  hergehalten  hat.  Das 
Recht,  sich'  vom  kleinsten  Anstofi  erregen  zu  lassen, 
darf  schliefilich  keinem  empfindenden  Menschen  be- 
stritten werden;  aber  den  Anstofi  zu  prüfen,  wenn  die 
Erregung  gut  war,  ist  eine  Methode,  die  jedem  künstle- 
rischen Tun  denQaraus  macht.  Wer  Aphorismen,  deren 
Berechtigung  um  ihrer  selbst  willen  schon  die  deut- 
liche Variation  desselben  Gedankens  erkennen  läfit  und 
deren  Eigenwert  nur  erhöht  scheint,  wenn  ihr  Tempo 
noch  vom  Erlebnis  beflügelt  wird,  für  eine  Polemik 
hält,  mag  jedes  dramatische  Werk,  dessen  Beziehun- 

feil  ihm  zufällig  bekannt  sind,  für  ein  Schlüsselstück 
alten.  Er  hat  die  Prämisse  und  glaubt  gerade  des- 
halb, dafl  sie  anderen  fehlen  werde.  Aber  in  jenen 
Aphorismen  war  für  die  Fremden  nichts  voraus- 
gesetzt, nur  für  die  Eingeweihten.  Und  wo  eine 
Zeile  Polemik  zu  viel  wäre,  dort  können  vier- 
zehn Seiten  Satire  wenig  genug  sein.  Polemik 
setzt  Notorietät  des  Obels  voraus  (Harden)  oder 
sie  wird  als  Verteidigungsmittel  begreiflich.  Po- 
lemik verlangt,  dafi  die  Gestalt  mit  der  Person 
kongruent  sei.  Aber  die  Lust  an  der  satirischen 
Qestoltung  von  Erlebnissen,  die  objektiv  nur  wenig 
bedeuten  mögen,  habe  ich  mir  nie  durch  die  Furcht 
benehmen  lassen,  das  Objekt  bekannt  oder  beliebt 
zu  machen,  und  es  bleibt  meine  Art,  dem  kleinsten 
Anstofi  zu  viel  Ehre  zu  erweisen. 

Wem  so  subjektive  Willkür  nicht  beliebt,  mag 
den  Autor  meiden;  aber  er  hat  nicht  in  jedem 
einzelnen  Falle  das  Recht,  ihn  um  SPiiner  Konse- 
quenz willen  zu  tadeln.  Dafi  ich  vollends  Persön- 
liches persönlich  durche:estalte,  sollte  keinen  über- 
raschen, und  mir  zu  verübeln,  dafi  ich  mich  in  den 
Mittelpunkt  meiner  eigenen  Erlebnisse  stelle,  ist 
ein  Ungebühr,  die  ich  nicht  verdient  habe.  Der 
langohrige  treue  Leser,  der  mir  vorrechnet,  wie  oft  »ichc 

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—  26 


und  »meine  in  einer  Publikation  yorkorameni  deren 
publisistiBohe  Berechtigung  ich  nicht  Esel  genug  bni 
2U  behaupten,  hat  ja  von  seinem  Standpunkt  gani 
recht.  Nur  begreife  ich  nicht,  daß  er  dann  so  indiskret 
ist,  in  das  Tagebuch  eines  andern  hineinzusehen.  Dafi 
ich  so  anmaßend  bin,  es  drucken  zu  lassen,  recht- 
fertigt solche  Neugierde  noch  lange  nicht.  Betrach- 
tungen über  die  »Lage«  wird  man  darin  nicht 
finden.  Die  Nutzarbeit  des  Putzens  einer  Reichs- 
fassade  kann  man  von  mir  auch  nicht  erwarten. 
An  solchem  Werk  wäre  freilich  kein  »Ich«  beteiligt. 
Aber  mir  fernstehende  und  fernlebende  Menschen 
messen  den  Wert  literarischen  Schaffens  nicht  an 
dem  stofilichen  Oehalt,  der  hierzulande  meine  einzige 
Daseinsborechtigune  ausmacht,  sondern  erkennen 
jenen,  weil  dieser  ihrem  Verständnis  entrückt  ist. 

Karl  Kraus. 

Über  »Sittlichkeit  und  KriminalitAt«  sind  in  der 
letzten  Zeit  mehrere  deutsche  Urteile  erschienen.  Aus  einem  Artikd 
des  Berliner  Professors  Bruno  Meyer  im  Oktoberheft  der  Zeit- 
schrift ,Sexual-Probleme'  seien  die  folgenden  Steilen  zitiert: 

>Das  Buch  verlockt  mehr  zu  einer  Betrachtung  unter  dem  ästheti- 
schen oder  stilistischen  Gesichtspunkte,  der  an  dieser  Stelle  der  unter- 
geordnete ist,  als  unter  dem  sachlichen,  in  dem  an  dieser  Stelle  wiederum 
ein  wesentlicher  Unterschied  in  der  Anschauungsweise  mit  dem  Ver- 
fasser nicht  bestehen  kann.  Seine  Darstellung  ist  im  höchsten  Qrade 
originell  und  vielfach  überaus  anziehend.  Es  ist  der  Ton  Jener  fast  ver- 
zweifelten schwarzseherischen  Polemik  gegen  die  öffentlichen  Zustände. 
die  man  in  Osterreich  gewohnt  ist,  und  die  vielfältig  an  einen  der 
feinsten  Feuilletonisten,  Ferdinand  Kflmberger,  erinnert .  .  . 

Sein  Grundgedanke,  den  er  in  diesem  Sammelwerke  in  An- 
knüpfung an  eine  Reihe  auffälliger  Gerichtsverhandlungen  durchführt,  ist 
der,  daß  unsere  Strafjustiz  —  in  dieser  Beziehung  sind  wir  im  Deutschen 
Reiche  mit  Ost  erreich  durchaus  in  derselben  Verdammnis  —  sich  unzu- 
lässigerweise um  die  ausschliefilich  sogenannte  »Sittlichkeit«,  d.  h.  die 
moralische  Haltung  in  geschlechtlicher  Beziehung  nach  der  einmal  fflr 
giltig  angenommenen  Moral,  bekümmert  und  dadurch  mehr  Schaden  als 
Nutzen  stiftet.  .  .  . 

Es  sind  das  entscheidende  Grundgedanken,  die  an  dieser  Stelle 
als  Leitsätze  gelten  können,  und  die  in  so  schlagender  und  spitziger, 
durchaus  geistreicher  Weise  an  einer  Fülle  lehrreicher  ElnzelfäUe  durch- 
geführt zu  sehen,  für  den  noch  nicht  auf  diesem  Stundpunkte  Stehenden 

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27  — 


flberaus  lehrreich,  fOr  den  schon  von  Ihm  Ausgehenden  interessant  und 
amüsant  ist.  Mehrere  der  hier  besonders  ausführlich  behandelten  Fälle 
haben  ja  weit  über  die  Grenzen  Österreichs  Aufsehen  erregt,  und  man 
sieht  daher  gern,  wie  diese  Dinge  von  unabhängig  Denkenden  in  ihrem 
Ursprungslande  angesehen  werden.  .  .  .< 


Aus  der  ,Zeit  am  Montag'  (Berlin,  2.  November): 

».  .  .  Wenn  Sie  sich  über  die  von  Ihnen  mit  fassungslosem 
Entsetzen  wahrgenommenen  wunderlichen  Beziehungen  zwischen  > Sitt- 
lichkeit und  Kriminalität«  gründlich  orientieren  wollen,  so  lesen  Sie 
ehimal  das  Buch,  das  der  Wiener  Schriftsteller  Karl  Kraus  —  der 
durch  einen  erheblichen  Mangel  an  sentimentaler  Qemütsschlamperei 
seine  Wienerische  Bodenständigkeit  allerdings  schnöde  verleugnet  - 
unter  diesem  Titel  herausgegeben  hat.  Da  werden  Sie  erkennen,  mit 
welchem  Eifer  unsere  Rechtspflege  bei  »Sittlichkeits« -fragen  drauf  und 
dran  ist,  die  ganze  Verlogenheit  unserer  »Kultur«  in  Verdikten  wieder- 
zttspiegeln,  die  einer  späteren  Periode  wirklicher  Kultur  nicht  weniger 
unfafilich  erscheinen  werden,  als  uns  die  Greuel  der  Inquisition.  Lesen 
Sie  das  Buch,  aber  hüten  Sie  sich  —  wenn  Ihnen  Ihre  Ruhe  lieb 
ist  —  die  Nutzanwendungen  des  Autors  zu  ziehen,  den  die  Braven 
und  Satten  sehier  Heimat  wegen  seiner  unbequemen  Unerschrockenheit 
nicht  minder  hassen,  wie  ihn  die  Schmöcke  boykottieren,  weil  er  ein 
Eigener  ist.« 


In  den  Anthropophyteia-Jahrbachem  1908,  p.  388/9  schreibt 
Alfred  Kind  (Berlin): 

»Außer  Karl  Kraus  wüfite  ich  keinen  deutschen  Journalisten,  der 
für  die  sexuelle  Frage  als  ernsthaft  lesenswert  in  Betracht  käme.  Karl 
Kraus  ist  aber  nicht  blofi  lesenswert;  er  mufi  unbedingt  gelesen  werden. 
Hier  ist  Versäumnis  unmittelbarer  Schaden. 

Wonach  streben  wir  denn  mit  unserer  neumodischen  Sezual- 
iorschung?  Der  Jesuitismus  hat  uns  die  unbefangene  Sinnenfreudigkeit 
versiegelt,  und  Krafft-Ebing  hat  das  Placet  seiner  PseudoWissenschaft 
darauf  gesetzt.  Der  Pfiff  ist  so  genial,  dafi  schon  jeder  Sitzredakteur  es 
gderot  hat,  mit  priapischer  Entrüstung  und  Irrenhaus-Phrasen  nach 
starken  Aufierungen  der  menschlichen  Liebe  zu  werfen.  Die  Anthro- 
pophyteia-Jahrbücher  sammeln  in  aller  Stille  Material  aus  der  ganzen 
Welt,  um  methodisch  zu  beweisen,  dafi  die  jesuitische  Normalfigur  eine 
faiustdicke  Lüge  und  nebenbei  ein  schlaues  Geschäftchen  ist,  und  dafi 
Krafft-Ebing  dem  Bombastus  Paracelsus  zwar  stark  auf  die  Hacken  ge- 
treten, im  übrigen  aber  niemals  einen  gesunden  Menschen  nach  seiner 
Erotik  befragt  hat. 

Karl  Kraus,  dem  Satiriker  des  Tages,  steht  es  frei,  das  Ergebnis 
unserer  Untarsuchungen  ohne  gelehrte  Beweise,  allein  aus  kraftvollem 


—  28 


Instinkt,  vorweg  zu  nehmen.  Br  wird  damit  zum  aktuellen  Wortfahrer 
einer  kleinen  Minorität,  nicht  von  Deutschen,  sondern  von  Kultur- 
menschen schlechthin.  Diese  Minorität  findet  das  Wahlverwandte  bei 
ihm  künstlerisch  zum  Ausdruck  gebracht ;  demonstriert  an  einer  Auslese 
jener  Affären,  die  den  Zeitungen  ein  willkommener  Anlafi  zur  Exhibitkni 
der  eigenen  Lüsternheit  zu  sein  pflegen. 

Im  Vordergrunde  der  Qeschlechtsethik  findet  man  bei  Karl  Kraus 
eine  unbedingte  und  minneritterliche  Wertschätzung  des  Weibes;  ein 
Hauch  von  Ovid  und  Sacher-Masoch  umschwebt  sie.  Wer  vom  Weibe 
ebenso  erfüllt  ist,  wie  Karl  Kraus,  wird  wissen,  dafi  diese  glflcklidic 
Mischung  des  Temperaments  bedeutet:  Anerkennung  der  erotischen 
Selbständigkeit  des  Weibes  und  ihres  ebenbürtigen,  weil  freien,  Wahl- 
rechtes in  der  Liebe.« 


Bflcher. 

In  dem  Buche  »Karl  Asenkofer,  Geschichte  einer 
Jugend«^  von  Karl  Borromäus  Heinrich  ist  die  Geschichte 
eines  Menschen  enthalten.  Das  ist  zweierlei,  eine  Geschichte  und 
ein  Mensch,  und  kann  sehr  wenig  sein  oder  sehr  viel  Nichts  Un- 
gewöhnliches, Seltsames  findet  sich  in  den  ftußeren  Begebenheiten 
dieser  Jugend  und  sie  sind  auch  nicht  mehr  als  die  Kulisse,  vor 
der  sich  die  Entwicklung  eines  Innenlebens  abspielt.  Dieses  aber 
ist  ungewöhnlich  in  seiner  eigreifenden  Intensität  und  dramatischen 
Bewegtheit;  und  fast  seltsam  wirkt  daneben  die  alltägliche  Deko- 
ration, mit  ihren  Möglichkeiten,  sich  selber  einzudenken  und  wie- 
derzufinden. 

Karl  Asenkofer  ist  eines  armen  Mannes  Sohn,  drückende 
Not  lastet  auf  dieser  Jugend,  sie  ist  das  erste  Erlebnis.  Selbst- 
geschaffener religiöser  Zwang  ist  das  zweite.  Zwischen  diesen 
starren  Uferwänden  eingeengt  nimmt  der  Strom  dieses  Lebens  sei- 
nen Lauf.  Es  ist  eine  Hochflut  des  Lebensgefühls,  die  steh  Bahn 
brechen  möchte.  Denn  da  ist  einer,  dem  das  Erleben  ein  so  mädi- 
tiger  Genuß  ist,  daß  er  mit  unnennbarer  Sehnsucht  ins  Unbe- 
kannte, Neue  strebt,  um  ihn  wieder  und  wieder  zu  kosten.  Selt- 
sam, fast  beängstigend  ist  es,  zu  sehen,  wie  die  gehemmte  Strö- 
mung stärker  und  stärker  wird,  ihre  inneren  Energien  sich  ins 
Ungemessene  erhöhen.  Der  Jüngling  krankt  an  diesem  Übermaß 


Albert  Langen,  München   1907. 


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2Ö  — 


latenter  Seelenlcräfte,  ihr  Ausbnidi  führt  ihn  zu  einer  schweren 
Krise,  fast  zur  Seibstvernichtung.  Das  ist  der  Inhalt  der  Geschichte, 
die  in  dem  Buche  steht.  Sie  ist  in  knappen,  starken  Worten,  in 
einer  Sprache  von  zwingender  Anschaulichkeit  erzählt 

Die  Art  des  Menschen  aber,  der  uns  hier  entgegentritt,  die 
Art  —  im  Outen  und  im  Bösen  —  kann  nicht  mit  wenigen  Wor- 
ten gekennzeichnet  werden.  Vielleicht,  wenn  der  Name  Mensch 
eine  Substanz  bedeutete,  die  den  vernunftbegabten  Wesen 
in  verschiedenem  Maße  zugemessen  wurde,  könnte  man  ihn  als 
Träger  eines  konzentrierteren  Menschentums  bezeichnen.  Sicher 
aber  wurde  das  Versprechen,  das  einmal  ein  anderer  gab,  »einen 
Menschen  in  seiner  ganzen  Natnrwahrheit  zu  zeichnen«,  hier  ein- 
gelöst, und  es  wurde  diesmal  kein  Schriftsteller,  kein  Mitglied 
einer  bestimmten  Gesellschaft,  sondern  ein  Mensch  gezeichnet. 

Mit  rücksichtsloser  Wahrheit  ist  das  Wesen  einer  Menschen- 
seele hier  offenbart;  in  seiner  ganzen  Größe,  in  seiner  ganzen 
Schwäche  steht  es  da.  Und  man  zweifelt  an  seinem  Rechte,  wahr- 
zunehmen und  zu  folgen,  wenn  ein  Mensch,  wie  es  hier  geschieht, 
sein  Innerstes  und  Bestes  dem  Auge  des  andern  preisgibt.  Und 
doch  ist  nichts  Keuscheres  denkbar,  als  diese  Nacktheit,  nichts 
Stolzeres,  als  diese  Preisgabe.  Seltsam  ist  es  dann,  zu  erkennen, 
daß  auch  dieses  Buch,  voll  Güte  und  Liebe  für  alle  anderen,  daß 
es  in  letzter  Linie  ein  Rechtfertigungsbuch  ist  und  Sühne  bringt 
für  ungetilgte  Schuld. 

Karl  Asenkofer  hat  nie  nach  sich  selber,  hat  immer  nur 
nach  den  anderen  gesucht.  Er  selbst  war  sich  gegeben  vom  ersten 
Augenblicke  seines  Bewußtseins  an.  Er  sagte  ja  und  nein  zu  Men- 
schen und  Dingen,  und  sah.  Von  einer  Entwicklung  im  gewöhn- 
lichen Sinne  war  nicht  die  Rede.  Er  nahm  nur  von  neuen  Teilen 
des  Lebens  für  seine  Liebe  Besitz.  An  Liebe  ist  er  überreich;  er 
braucht  auch  Gegenstände  für  sie.  Einmal  tritt  ein  Lehrer  in  der 
Volksschule  dem  Knaben  gütig  entgegen:  »von  diesem  Momente 
an  flutete  ein  heißer  Liebesstrom  von  meinem  Pulte  zum  Katheder«, 
schreibt  er.  Ein  heißer  Liebesstrom  flutet  auch  von  ihm  zu  seinen 
Dtem,  mit  unaussprechlicher  Kraft  umfängt  er  die  Gestalt  der 
Mutter  mit  seiner  Liebe.  Eltern,  Freunde,  Geschwister,  alle  liebt 
er,  und  alle  lieben  ihn.  Sie  wissen  es  von  einander  und  fügen  sich 
Schmerz  zu;  aber  in  dem  Buche  steht  nur,  daß  er  es  gewesen 
ist,  der  den  anderen  Schmerz  zufügte. 

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—  30  — 


Dem  Knaben  und  dem  Jüngling  ist  fast  jeder  Qenuß  ver- 
sagt, als  der,  ffir  andere  zu  empfinden.  Und  schrankenlos  gibt  er 
sich  diesem  hin.  Was  immer  in  den  Bereich  seines  Lebens  kommt, 
er  nährt  damit  sein  Oefahi.  Er  steigert  stets  seine  Bhigkdt,  zu 
lieben,  er  häuft  gewaltige  Kräfte  der  Leidenschaft  an.  Er  weiß  es 
dabei  gamicht,  daß  sein  Fühlen  längst  überstark  geworden  ist 
und  daß  es  in  den  Wegen  menschlichen  Liebesverkehres  eine  arge 
Verwüstung  anrichten  muß.  Maßlos  scheint  seine  Eifeisudit,  sein 
Bedürfnis  nach  Neigung  zu  sein;  aber  es  ist  nur  Schein,  er  hat 
ein  i^aß  dafür:  sich  selber. 

Es  ist  schwer,  wohl  unm^Vglich,  die  Geschichte,  wie  Karl 
Asenkofer  lebte  und  fühlte,  unpersönlich  zu  werten.  Sie  ist  eine 
der  stärksten  Sympathiewerbungen,  die  unsere  Literatur  besitzt, 
und  in  Ton  und  Art  vielleicht  die  vornehmste  von  allen. 

Manches  wäre  noch  über  den  Künstler,  über  seine  stille 
Kraft  in  der  Darbietung,  über  seine  Art  zu  sehen,  zu  sagen.  Aber 
das  meiste  davon  ist  in  dem  über  den  Men&chen  Gesagten  sdion 
vorweg  genommen.  Friedrich  Hebbel  spricht  es  einmal  aus,  daß 
der  Dichter  eine  Voraussetzung  habe:  den  Menschen.  Hier  hat 
der  Mensch  eine  Folge:  den  Dichter. 


>Oedipus«,  Roman  von  Willi  Speyer*)  ist  ein  Buch  vom 
Leben  und  vom  Tode,  das  mit  einem  Siege  des  Lebens  schließt. 
Also  verlangt  es  nach  einer  Fortsetzung,  oder  nach  mehreren. 

Hier  sind  Bilder  von  schönen,  hellen  Menschen,  die  sich 
zwischen  schönen  Dingen  bewegen,  und  Menschen  sind  das,  die  ein 
Feind  umschleicht  und  belauert:  das  Denken  an  den  Sinn  des 
Lebens,  das  Denken  an  das  Woher  und  Wohin. 

In  Wirklichkeit  ist  nur  einer  in  dem  Buche,  einer,  den  die 
Schatten  des  Trübsinns  >rubelos  jagen«,  bis  an  das  Heiligtum, 
über  dessen  Schwelle  sie  ihm  nicht  folgen  können.  Dieses 
Heiligtum  ist  ihm  das  mütterliche  Weib. 

Dieser  eine  ist  ein  schlanker  feiner  Knabe  von  fünfzehn 
Jahren,  stolz  und  rein,  der  Erbe  von  Gedankenqualen  der  Väter. 
Er  sucht  nach  sich  selber.  Die  Menschen,  die  er  trifft,  sind  schemen- 
gleich und  oft  scheinen  sie  nur  Geschöpfe  seiner  Phantasie  zu  sein. 


*)  Bruno  Cassir«.  Berlin  1907. 


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—  81  - 


Er  Hebt  und  haflt  nicht,  er  durchkämpft  tdnen  innern  Kampf  und 
macht  dabd  die  Gebärden  des  Liebenden  nnd  Hassenden.  Die  Be- 
gebenbeltcn  der  Dichtung,  denn  eine  solche  ist  es,  sind  traumhaft 
verschleiert.  In  manchen  Szenen  bricht  dann  das  helle  Licht  des 
Tages  durch  den  Nebel.  Es  ist  kein  Alltag,  und  die  Szene  wird 
nicht  von  gewöhnlichen  Menschen  gespielt.  Aber  sie  setzt  dennoch 
mit  der  vollen  Kraft  und  dem  vollen  Reiz  der  Wirklichkeit  ein. 
Knabentreiben  ist  es,  das  in  seiner  herben  Frische  hier  die  Wirk- 
lichkeit darstellt. 

Mit  den  Worten  des  Oedipus  hat  Otfrieds  Vater  den  Neu- 
gebomen begrüßt:  »Weh',  was  ist  ein  Mensch!  Wer  über  diesem 
brütet,  stirbt.«  Dann  hat  er  nach  dem  ersten  Zeichen  der  Vernunft 
bei  seinem  Knaben  geforscht  und  sich  den  Tod  gegeben,  als  dieses 
erste  ein  Zeichen  des  Wahnsinns  war.  Er  floh  vor  der  Verant- 
wortung, gezeugt  zu  haben.  %  Und  der  Knabe  findet  aus  seinen 
Gedanken  den  Weg  des  Oedipus  zur  mütterlichen  Frau. 

Traumvoll  ist  das  Leben  zwischen  Geburt  und  Wieder- 
Reburt:  >Ruhe  nur  gibt  die  Geliebte,  zu  der  der  Mann  sich  bittend 
wendet.  Durch  sie  wird  er  von  seinem  Traumdasein  zur  Wirk- 
lichkeit geboren  .  . .«  Das  ist  Leitmotiv,  Inhalt  und  Sinn. 

Hier  ist  die  Befreiung  eines  Gefesselten  aus  einer  Gedanken- 
schlinge, die  ihn  würgt.  Und  in  großen  Zügen  steht  hier  ge- 
schrieben, wie  einer  sich  die  Tatsachenwelt  zur  Heimat  gewann, 
ein  Vornehmer  aus  anderen  Reichen. 

Fieberphantasien,  Träume  und  plastische  Wirklichkeiten  in 
bunter  Folge.  Ob  sie  sich  auch  zum  Ganzen  einen?  Der  Dichter 
verfllhrt  hier  mit  diesen  Elementen,  wie  etwa  ein  Maler  mit  Licht 
und  Schatten,  er  sucht  nach  der  Wirkung,  indem  er  sie  neben- 
einander stellt.  Aber  er  bietet  nichts  Bedeutungsloses.  In  dem 
Momente,  wo  er  den  Boden  der  Wirklichkeit  wiederfindet,  stellt 
sich  auch  die  Unbedrücktheit  und  Sicherheit  des  Künstlers  ein. 
Hier  ist  selbstfrohe  Gestaltungskraft  am  Werke. 

Otto  Soyka. 


»Auf  Erden,  ein  Zeit-  und  Reisebuch  in  fünf  Passionen« 
heißt  dn  Gedichtband  von  Alfons  Paquet  in  Frankfurt,  der  bei 
Eugen  Diederichs  in  Jena  verlegt  ist.  Als  ich  ihn  aufschlug,  fiel 
mein  Blick  auf  diese  wunderschönen  Zeilen: 

^       le 


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82  — 


Dl«  begraben«  Matter. 

Wir  haben  heute  den  Leib  begraben,  der  uns  einst  geboren  hat; 

Wir  haben  heute  die  Mutter  versenkt  in  den  trockenen  scholligen  Boden 

Und  Schollen  hinterher  geschaufelt  (sie  schlugen  auf  wie  Fäuste 

Ober  dem  seligen  schmalen  Frauenantlitz,  über  den  geschlossenen  Augen. 

Ober  dem  Frauenleibe,  dem  wir  viele  Maiblumen   mitgaben). 

Warum  Tränen,  ihr  Schwestern?  Warum  den  gebeugten  Nacken,  Vater? 

Sind  wir  Sträflinge?    Sind  wir  etwa  durch  ein  Joch  gegangen? 

Ihr  Besucher,  wollet  nicht  weinen. 

Und  du,  mein  Qeist,  der  du  aus  dem  Bette  auf;>tehst. 

Unruhig  umherzugehen  im  eklen  Dunkel: 

Lafi  uns  schlafen,  laß  uns  den  Stachel  aus  der  Seele  reifien  und  schwören : 

Nicht  der  Mutter  zu  rufen,  die  nun  schreitet  in  der  Morgen  frische; 

Nicht  das  ferne  Frohgespräch   der  Abgeschiedenen  zu  stören. 


Von  den  fröhlichen  Menschen. 

Zum  Teufel  mit  allea  Forderungen,  die  von 
Menschen  an  den  Menschen  gestellt  werden!  Früher 
hieß  es:  sei  tugendhaft,  gerecht,  mitleidig,  weise; 
heute  hört  man  wohl  auch:  sei  stark,  rticksichtslos, 
schön.  Es  ist  aber  noch  nicht  gelungen,  auch  nur 
für  eine  einzige  dieser  Forderungen  eine  Begründung 
zu  finden,  die  allen  Menschen  einleuchten  müfite, 
und  die  berühmten  Lehrer  der  Menschheit,  auf  die 
man  sich  bei  solchen  Forderungen  beruft,  haben 
sich  immer  nur  als  sehr  anmaßliche,  von  Einbil- 
dungen geplagte  Leute  entpuppt,  die  uns  weder 
etwas  erklären,  noch  uns  helfen  können,  wenn  wir 
uns  nicht  selber  helfen. 

Das  Leben  selbst  fordert  nur  eines  von  uns: 
sei  fröhlichl  Und  dies  heifit  nichts  anderes  als: 
grüble    nicht    über    das    Leben,    sondern  freue  dich 

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—  88  - 


desselben.  Alles  andere  ist  Wahnl  Oereohtigkeit  ist 
yielleicht  nur  Gberhebung,  Mitleid  nur  Schwäche, 
Weisheit  nur  Einbildung,  Schönheit  nur  ein  äußerer 
Firnis,  Stärke  nur  grobes  Wüten.  An  der  Fröhlich- 
keit oder  Traurigkeit  aber  kann  nichts  Falsches, 
Zweifel)iaftes  oder  Schwankendes  sein.  Wenn  ich 
fröhlich  oder  traurig  bin,  so  bin  ich  es  zweifels- 
ohne« Und  wie  es  auf  Erden  nichts  Zwiespältigeres, 
nichts  Zerrisseneres  gibt,  als  den  traurigen  Menschen, 
so  fpht  es  auch  keine  höhere  Harmonie  als  den 
fröhlichen  Menschen. 

Wenn  wir  den  Wert  einer  Zeit  oder  Umgebung 
danach  bemessen,  ob  sie  angetan  sind,  fröhliche 
Menschen  su  erzeugen  und  zu  begünstigen,  oder  ob 
sie  angetan  sind,  die  Fröhlichkeit  zu  beschränken 
und  zu  unterdrücken,  dann  ist  jede  Zeit,  in  der  der 
sogenannte  Ernst  des  Lebens  vorherrscht,  in  der 
alles  in  praktische  Zwecke  eingespannt  und  vom 
Kampf  um  die  blofie  Existenz  verdüstert  ist,  eine 
schlimme  Zeit.  Wenn  wir  Fröhlichkeit  und  Kultur 
als  dasselbe,  als  die  zwei  untrennbaren  Erscheinungs- 
formen der  Harmonie  des  Lebens  betrachten,  dann 
ist  eine  unfröhliche  Zeit  nur  die  Yorform  oder  die 
Yerfallsform  einer  Kultur,  ein  Obergang  oder  ein 
Untergang,  Nur  darf  man  den  Fröhlichkeitsgehalt 
einer  Epoche  nicht  mit  wehleidigem  Herzen  prüfen, 
aus  geschichtlichen  Tatsachen  allein  läöt  sich  überhaupt 
nicht  auf  die  Vorherrschaft  von  Heiterkeit  oder  Ernst 
schließen.  Und  dem  kurzsichtigen  Blick  eines  Histo- 
rikers mag  oft  eine  Zeit  besonders  düster  und  von 
Schrecken  erfüllt  vorkommen,  während  der  Sehende 
in  den  hinterlassenen  Geistesspuren  gerade  dieser 
Epoche,  deren  ganze  sogenannte  Geschichte  Krieg, 
Rache,  Mord  und  Grausamkeit  bilden,  eine  besonders 
strahlende  Heiterkeit,  eine  unbändige,  überquellende 
Lebenslust  entdeckt.  Die  Grausamkeit  des  Griechen- 
tums war  eine  furchtbare,  Homers  Gesang  besteht 
aus  Schlachten,  Morden  und  Foltern,  aber  welch  eine 
kindliche,  herzerquickende  Fröhlichkeit  leuchtet  aus 

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34 


diesem  Gesang  hervor  I  Welch  späterer  Ausflufl  einer 
Volksseele  kann  sich  damit  vergleichen? 

Die  Fröhlichkeit  hat  gans  und  gar  nichts  mit 
der  sogenannten  Humanität  su  tun,  diese  ist  viel- 
mehr in  vieler  Besiehung  recht  eigentlich  ihr  Gegen- 
satss.  Humanität  in  unserem  Sinne  war  ursprünglich 
ein  Produkt  der  Not,  ein  ökonomisches  Prinsip.  Die 
Humanität  beginnt,  wenn  der  Mensch  vor  allem  auf 
seinen  Wert  als  Arbeitstier  hin  abgeschätst  wird, 
und  sie  verzärtelt  nach  und  nach  die  lebendigsten, 
die  lustauslösenden  Triebe,  sie  verbindet  sich  mit 
einem  Gefühl  der  Furcht  vor  jeder  starken  Lust 
(Gewissen),  sie  macht  wehleidig  und  legt  sich  wie 
Reif  über  die  naive  Fröhlichkeit. 

Mit  der  Humanität  beginnt  der  leidige  ESmst 
des  Lebens,  die  Trübsal  des  Daseins.  Mit  der  Huma- 
nität beginnen  auch  die  Rechte  auf  Kosten  des 
Rechts,  der  natürlichen  Macht  des  Oberlegenen. 
Recht  ist  von  Hause  aus  natürliches  Vorrecht,  und 
alle  Würde  ist  von  Hause  aus  die  Würde  eines  Vor- 
rechtes. Mit  Rechten  und  Würden  aber,  die  sich  auf 
alle  verteilen,  mit  Menschenrecht  und  Menschen- 
würde müssen  Recht  und  Würde  faktisch  sum  Teufel 
gehen.  Wo  begegnen  wir  heute  —  da  jeder  auf  seine 
Menschenwürde  pocht  —  wahrhafter  Würde  ?  Würde 
ist  natürlicher  Wert,  Würde  setzt  ein  frohes  Gemüt 
voraus  oder  wenigstens  Sicherheit  und  Glauben  an 
sich  selbst.  Es  ist  einer  der  stärksten  Einwände  gegen 
unsere  Zeit,  dafl  man  heute  allgemein  die  Würde  — 
das  Wertbewuötsein,  den  Ausdruck  frohgemuter 
Sicherheit  —  mit  dem  Ernst  verwechselt,  der  der 
Ausdruck  der  Furcht,  der  sinnenden  Besorgtheit  ist. 

Die  innere  Möglichkeit  der  Fröhlichkeit  ist 
jedem  Menschen  ohne  Ausnahme  gegeben*  Erst  das 
Verlassen  der  natürlichen  sozialen  Schichtung  und 
die  Verlockungen  einer  falschen  Freiheit  berau- 
ben den  Menschen  dieser  Möglichkeit  Wer  nicht 
an  der  Stelle  steht,  die  seine  Natur  ihm  an* 
weist,  wer  frei  sein  will,    ohne    sich    selbst    beherr- 

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—  36  — 


gehen  tu  können,  der  wird  notwendigerweise 
Bum  unfröhlichen  Menschen.  Die  Freuden,  die  ein 
solcher  sucht,  sind  in  Wirklichkeit  Betäubungen 
seiner  inneren  Freudlosigkeit.  Freudlosigkeit  ist  nach 
einem  schönen  Worte  Nietsssches  die  Mutter  der  Aus- 
schweifung. Fröhlichkeit  ist  Wohlsein  von  innen  aus, 
ein  Gefühl  innerer  und  äußerer  Harmonie. 

Es  ribt  eine  Fröhlichkeit  der  Bescheidenheit 
und  Verehrung  und  es  gibt  eine  Fröhlichkeit  der 
Überlegenheit  und  des  Wohlwollens.  Die  eine  er- 
wächst aus  der  Lust,  eingereiht  zu  sein  in  eine  feste, 
natürliche  Ordnung,  gelenkt  zu  werden  von  Führern, 
2U  denen  man  mit  gutem  Vertrauen  aufblicken  kann, 
und  benützt  zu  werden  zum  sichtbaren  Wohl  eines 
Gktnzen.  Die  andere  Fröhlichkeit  erwächst  aus  der 
Lust,  zu  ordnen,  zu  lenken,  zu  schaffen.  Der  Glaube 
an  die  Führung  und  der  Glaube  an  sich  selbst  finden 
in  der  Fröhlichkeit  ihren  Ausdruck.  Es  besteht  eine 
tiefe  Kluft  zwischen  Mensch  und  Mensch,  die  Fröhlich- 
keit allein  vermag  sie  zu  überbrücken.  Und  dafi  es 
ein  natürliches  Oben  und  Unten  gebe,  ist  wiederum 
ihre  Voraussetzung.  Die  eine  Art  Mensch  kann  nur 
fröhlich  sein,  wenn  sie  sich  begrenzt  fühlt,  wenn  sie 
ihren  guten  Willen  und  ihre  kleine  Nützlichkeit  ge- 
schützt und  behütet  weifi  vor  dem  unzähmbaren 
Wilden,  vor  dem  ewigen  Barbaren  in  ihm  selbst: 
dies  ist  der  Zustand,  den  das  Volk  sich  wünscht,  um 
guter  Dinge  zu  sein,  —  das  Volk,  solange  es  noch 
nicht  von  Demagogen  verführt  und  verhetzt  ist.  Die 
höhere  Art  des  Menschen,  die  schaffende,  kann  nur 
fröhlich  sein,  wenn  sie  sich  unbegrenzt  nach  außen 
fühlt,  denn  sie  hat  ihre  Grenzen  in  sich,  sie  reprä- 
sentiert den  gebändigten  Menschen,  den  Menschen 
der  Selbstzucht. 

Die  Hauptquelle  allgemeiner  Unfröhlichkeit,  all- 
gemeinen seelischen  Unbehagens  ist  Freiheit,  mit 
der  man  Jiichts  zu  beginnen  weifi.  Die  gröfite  Last, 
die  auf  eme  Seele  gelegt  werden  kann,  ist  Selbst- 
bestimmungsrecht.   Und  das  gröfite  Verbrechen  der 

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36 


Machthaber  unserer  Zeit  besteht  darin,  dafi  sie»  um 
ihre  Machte  der  sie  innerlich  nicht  gewachsen  sind, 
äufierlich  zu  behaupten,  denen  ein  Selbstbestimmungs- 
recht  geben,  die  diese  Last  nicht  tragen  können, 
weil  sie  nicht  mündig,  nicht  geschult,  nicht  kulti- 
viert genug  sind:  dem  Volk,  den  Frauen,  der  Jugend. 

Man  wird  einmal  vcm  Wahn  der  demokratischen 
Prinzipien  erwachen  und  mit  verwunderten  Augen  er- 
kennen, was  man  für  Wahrheit  und  Vernunft  gehalten 
hat.  Denn  mit  dem  gleichen  Recht  für  alle  wird  das 
natürliche  Gleichgewicht  einer  Gemeinschaft  auf^ 
hoben,  und  alles  in  dieser  Gemeinschaft  gerät  uia 
Rollen.  Niemand  fühlt  sich  mehr  fest  und  an  seiner 
Stelle,  niemand  fühlt  sich  mehr  eingegliedert  in  ein 
organisches  System;  alles  wird  unsicher,  schwankend, 
ein  Für-Sich  ohne  zwingenden  Zusammenhang  mit 
seiner  Umgebung;  nichts  wird  mehr  von  heiUunm^i 
Notwendigkeiten  bewegt.  Eine  erkünstelte,  steten 
Veränderungen  unterworfene  Ordnung  (der  sogenannte 
soziale  Fortschritt)  tritt  an  Stelle  der  natürlichen 
und  unveränderlichen  Ordnung  der  patriarchalischen 
Gemeinschaft.  Es  gibt  kein  wirkliches  Ober  und 
Unter  mehr,  keinen  Zusammenschluß  zu  organischen 
und  daher  lebensfähigen  sozialen  Gebilden,  keine 
soziale  Synthese. 

Der  Fortschritt  der  Demokratie  ist  für  den  von 
Gegenwartsphrasen  nicht  verdummten  Beobachter  ein 
Prozeß  der  Auflösung,  des  fortschreitenden  Ausein- 
anderfallens,  der  Atomisierung  des  sozialen  Lebens: 
eine  soziale  Diathese.  Die  Anbetung  des  letzten 
Zerfallsproduktes,  des  Atoms  oder  Individuums,  ist 
nicht  etwa  —  wie  man  heute  vielfach  glaubt  — 
eine  Reaktion  gegen  die  demokratische  Nivellierung, 
sondern  vielmehr  deren  logische  und  letzte  Kon- 
sequenz. Im  losgelösten,  selbstherrlichen  und  unver- 
antwortlichen Individuum  des  christlich-demokrati- 
schen End-Ideals  ist  jede  Möglichkeit  einer  Kultur 
des  Genius  und  jede  Möglichkeit  der  Fr&hlichkeit 
erstorben.    Denn   Genie    und    Fröhlichkeit   sind   im 

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~  37  — 


tieftten  Grunde  eines  und  dasselbe:  der  lebendige 
ZuBEDEimenhang  des  Einzelnen  mit  allem,  was  ihn 
umgibt.  Fröhlichkeit  ist  Harmonie,  Dreieinigkeit  von 
(Jememschaft,  Individuum  und  Natur,  Heiligkeit  der 
Ordnung,  Glaube  an  die  Ordnung.  Seelische  Ver- 
dOsterung  ist  Disharmonie,  Auseinanderstreben  von 
Individuum  und  Gemeinschaft,  von  Leben  und  Natur, 
Unbeständigkeit  der  Ordnung,  Neuerungssucht  und 
Kritixismus.  Dies  aUbs  sind  aber  Kennzeichen  des 
modernen  Lebens,  und  gerade  die  besten  Menschen 
leiden  am  meisten  unter  der  allgemeinen  seelischen 
VerdQsterung,  die  heute  wie  ein  giftiger  Nebel  über 
dem  Lieben  lagert.  Die  Menschen,  die  mit  der 
reichsten  innerlichen  Möglichkeit,  fröhlich  zu  sein, 
ausgestattet  sind,  müssen  heute  die  Yerdüstertsten 
und  Yerbittertsten  sein.  Die  Obersten  und  Untersten 
sind  heute  die  Kränksten,  nur  das  menschliche 
Mittelgut  ist  noch  halbwegs  verschont,  aber  von 
Oben  und  Unten  wird  das  Krebs^eschwür  der  Zeit 
sich  bis  zur  Mitte  durchfressen:  vielleicht  ist  es  ein 
Gesundungsprozefi.  Vielleicht  kommt  ein  Anfang 
nach  einem  Bndel  • 

Dem  Volke  Selbstbestimmungsrecht  geben,  heifit 
das  Volk  unfehlbar  zum  Gesindel  machen,  denn 
mit  der  Freiheit  wächst  die  Begehrlichkeit  ins  Un- 
gemessene. Ein  Volk  ist  eine  Masse  von  natür- 
lichem Zusammenhang  und  natürlicher  Struktur, 
eine  Masse,  in  der  Zufriedenheit  und  Fröhlichkeit 
herrschen  kann;  eine  ungegliederte  Masse  aber, 
die  blofi  durch  Begehrlichkeit  und  Unzufrie- 
denheit zusammenhängt,  eine  Masse,  in  der  die 
mit  dem  Selbstbestimmungsrecht  Unreifer  unausbleib- 
lich verknüpfte  materielle  und  seelische  Verlotterung 
jeden  Keim  der  Fröhlichkeit  erstickt,  eine  solche 
Masse  ist  ein  Gesindel.  Das  Merkzeichen  des  Ge- 
sindels ist,  daß  es  nicht  fröhlich  sein  kann.  Was  beim 
Gesindel  Fröhlichkeit  heifit,  verdient  diesen  Namen 
idcht  Das  Gesindel  kennt  kein  Wohlgefühl  aus  sich 
heraus,  es  braucht  stets  einen  äufiem  Anlafi  oder 

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—  88 


eine  Betäubung,  um  sich  wohl  zu  fohlen.  Es  kann 
sich  »diebisch  freuen c,  wenn  seine  Begehrlichkeit  för 
einen  Augenblick  gestillt  wird,  es  kann  sich  »kanni- 
balisch wohlfühlenc,  wenn  seine  stets  wache  Schaden- 
freude sich  ergötzen  darf,  und  es  kann  »ausgelassen 
vergnügte  sein,  wenn  es  gaffend  eine  Sensation  mit- 
macht, oder  wenn  Trunkenheit  es  seine  geheime 
Trauer  vergessen  läfit,  wenn  es  von  der  Trauer  einen 
Augenblick  ausgelassen  wird«  Niemals  aber  kann 
das  Gesindel  innerlich  fröhlich  sein.  Schon  sein  Blick 
zeigt  dies,  hinter  dem  stets  der  mifiverstehende  Neid 
hervorlugt.  Es  kann  sich  den  Höherstehenden  nur 
als  den  Geniefienden  vorstellen,  als  den  Menschen, 
der  das  besitzt  und  geniefit,  was  es  begehrend  ent- 
behrt. Ein  schauerlicher  Irrtum  des  Gtesindelgeistesi 
Und  das  heute  in  sehr  hohe  Regionen  reichende  Par- 
venutum  gibt  diesem  schauerlichen  Irrtum  einen 
noch  schauerlicheren  Anschein  von  Wahrheit.  Trotz- 
dem gibt  es  kein  härteres,  kein  entsagungsreicheres 
Leben  als  das  eines  von  der  Natur  zum  Lenker,  zum 
Voranschreitenden  bestimmten  Menschen,  als  das 
Leben  eines  Sich- Verantwortlichen!  Sein  Glück  be- 
ruht in  nichts  weniger  als  in  materiellen  Genüssen. 
Darin  beruht  gerade  das  Glück  des  kleinen  Menschen, 
der  frei  von  grofier  Verantwortung  seine  Arbeit 
leistet  und  dafür  eine  frohe  Behaglichkeit  geniefien 
darf.  Fluch  dem  gewissenlosen  Demagogentum,  das 
ihm  diese  Behaglichkeit  vergällt  und  die  Zufrieden- 
heit raubt  I  Fluch  denen,  die  ihm  schon  das  Früh- 
stück mit  dem  Morgenblatt  vergiften,  und  die  ihm 
den  Feierabend  durch  eine  politische  Versammlung 
wegstehlen  I 

Ist  die  demagogische  Verhetzung  des  Volkes 
das  tragischeste  Schauspiel  der  neuen  Zeit,  so  ist 
die  unter  der  Patronanz  gehimloser  Männer  sich 
breitmachende  sogenannte  Frauenbewegung  das 
groteskeste  Schauspiel  dieser  Tage.  Die  Frau  war  bis- 
her für  den  Mann  der  vornehmste  Quell  der  Fröhlich- 
keit, denn  die  Frau  ist  in  höherem  Grade  als  der  Ma^n 

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eia  Gefäfi  veredelter  Natürlichkeit  Die  Erhaltung  und 
Veredelung  der  weiblichen  Natürlichkeit  ist  eine  der 
▼omehmsten  Aufgaben  wirklicher  Kultur,  denn  diese 
Natürlichkeit  ist  der  Jungbrunnen  der  Menschheit. 
Und  wenn  der  Qeist  des  Mannes  sich  nicht  mehr 
an  der  Natur  des  Weibes  beleben  und  erholen  kann, 
dann  altert  die  Menschheit  und  wird  greisenhaft 
und  unfruchtbar. 

Dafi  man  nun  die  Frau,  die  so  recht  dazu  be- 
stimmt ist,  durch  FrOhlichsein  froh  zu  machen,  mit 
sozialen  und  politischen  Rechten  beglücken  will, 
darin  seigt  sich  in  grotesker  Weise  der  ganze  Jam- 
mer einer  um  alle  Vernunft,  um  allen  natürlichen 
Instinkt  gekommenen  Zeit.  Aber  die  Fröhlichkeit  der 
Frau  wird  schon  vor  dem  Sieg  der  Frauenbewegung 
sterben,  denn  schon  vor  diesem  Sieg  wird  es  keine 
Männer  mehr  geben,  für  die  und  durch  die  die  Frauen 
fröhlich  sein  könnten  .  .  . 

So  bliebe  noch  die  Kunst  als  Quelle  der  Fröhlich- 
keit. Damit  aber  die  Kunst  eine  Quelle  des  Frohsinns 
sei,  mufi  Frohsinn  die  Quelle  der  Kunst  sein.  Die 
Kunst,  die  in  ihren  großen  Zeiten  eine  Folge,  ein 
Ausfluß,  eine  Begleiterscheinung  der  Fröhlichkeit  war, 
soll  in  unserer  Zeit  die  wunderwirkende  Bringerin, 
die  Erzeugerin  der  Fröhlichkeit  sein,  die  nicht  von 
Natur  aus  in  den  Menschen  ist.  Wunderlichster  Irr- 
tum einer  kranken  ZeitI  Daher  wird  heute  soviel 
Kunst  gemacht  und  als  berauschendes  Narkotikum 
konsumiert.  Ehemals  aber  war  viel  ungemachte  Kunst, 
viel  ungesuchte  Anmut  und  Oröfie,  viel  heiteres  Linien- 
spiel und  viel  Musik.  Es  war  in  den  Dingen,  in  den 
Menschen  und  im  Leben  selbst !  Einst  war  die  Kunst 
)m  zierender  Rahmen  der  Lebensfröhlichkeit,  heute 
3t  sie  eine  vom  Zusammenhang  mit  dem  Leben  los- 
getrennte Berauschungsmaschinerie  .  .  . 

Der  fröhliche  Mensch  ist  heute  nicht  nur  kein 
'üel  der  Bewunderung,  er  wird  sogar  mit  Mifitrauen, 
&  mit  Verachtung  betrachtet.  Er  wird  nicht  ernst 
:enommen,  weil  er  über  dem  Ernste  seiner  Zeit  steht. 

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—  40  — 


^ 


Am  meisten  wird  heute  —  wie  im  Rom  der  Verfalls- 
zeit oder  wie  bei  den  Indianern  —  der  Mensch  d^ 
starren  Maske,  der  Mimiker  seelischer  Unbeweglich- 
keit,  der  stoische  Mensch  bewundert  Der  Mensch 
der  Ataraxia  gilt  heute  als  höchster  Typus,  dem 
heimlich  oder  offen,  bewuflt  oder  unbewufit  alle 
nachstreben.  Das  moderne  Leben  untergräbt  alle 
Wurzeln  der  Fröhlichkeit,  denn  es  ist  em  System 
der  Verwüstung  aller  natürlichen  Ordnung.  Die 
Predigt  der  Demokratie,  die  Politisierung  der  Massen 
durch  Demagogie  von  unten  und  Abwälzung  der 
Verantwortung  yon  oben,  die  Verödung  des  Geistes 
durch  die  Erzeugnisse  der  Schnellpressen  und  fort- 
schreitende Machinalisierung  des  ganzen  Lebens, 
Dberproduktion  und  Industrialisierung  der  Kunst 
neben  .  überhebendem  Ästhetentum,  Verbrauch  der 
Kräfte  durch  ein  wahnwitziges  Zuviel  an  unnützer 
Arbeit,  die  von  Männern  geförderte  Frauenemanzi- 
pation: dies  alles  sind  ebenso  viele  Ertötungen  von 
Möglichkeiten  des  Frohsinns.  Was  dieser  Zeit  am 
meisten  abgeht,  ist  ein  homerisches  Gelächter 
über  siel 

München.  Karl  Hauer. 


Tagebach.*) 

Eine  umfassende  Bildung  ist  eine  gut  dotierte 
Apotheke;  aber  es  besteht  keine  Sicherheit,  dafl  nicht 
für  Schnupfen  Oyankali  gereicht  wird. 

• 

Im  Anfang  war  das  Rezensionsexemplar,  und 
einer  bekam  es  vom  Verleger  zugeschickt.  Dann 
schrieb  er  eine  Rezension.  Schließlich  schrieb  er  ein 
Buch,  welches  der  Verleger  annahm  und  als  Resen- 
sionsexemplar  weitergab.  Der  nächste,  der  es  bekam, 
tat  desgleichen.  So  ist  die  moderne  Literatur  ent- 
standen. 


*)  Aus  dem  .Simplicissimus*. 

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—  41  — 


Ein  guter  Sohciftsteller  erhält  beiweitem  nicht 
so  viel  anonyme  Schmähbriefe,  als  man  gemeinhin 
annimmt.  Auf  hundert  Esel  kommen  nicht  zehn,  die 
es  zugeben,  und  höchstens  einer,  ders  niederschreibt. 

• 

Ein  Snob  ist  unrerläfilich.  Denn  das  Werk,  das 
er  lobt,  kann  gut  sein. 

Die  Zeitungen  haben  zum  Leben  annähernd 
dasselbe  Verhältnis,  wie  die  Kartenaufschlägerinnen 
fiur  Metaphysik. 

Die  verkommenste  Existenz  ist  die  eines  Men- 
schen, der  nicht  die  Berechtigung  hat,  ein  Schand- 
fleck seiner  Familie  und  ein  Auswurf  der  Gesell- 
schaft zu  sein. 

Man  mufi  jedesmal  so  schreiben,  als  ob  man 
zum  ersten  und  zum  letzten  Male  schriebe.  So  viel 
sagen,  als  obs  ein  Abschied  wäre,  und  so  gut,  als 
bestände  man  ein  Debüt. 

« 
Feuilletonisten  und  Friseure  haben  gleich  viel 
mit  den  Köpfen  zu  schaffen. 

« 
Zuerst  riecht  der  Hund,  dann  hebt  er  selbst  das 
Bein.  Gtegen  diesen  Mangel  an  Originalität  kann  man 
füglich  nichts  einwenden.   Aber  dafi  der  Literat  zu- 
erst liest,  ehe  er  schreibt,  ist  trostlos. 

♦ 
Wenn  man  es  nicht  kann,  dann  ist  ein  Roman 
leichter  zu  schreiben  als  ein  Aphorismus. 

* 
Heine  hat  das  Höchste  geschaffen,  was  mit  der 
Sprache  zu  schaffen  ist.   Höher  steht,   was  aus    der 
Sprache  geschaffen  wird. 

• 
Der  Qeist  enttäuscht  im  persönlichen  Verkehr, 
aber    die    Dimimheit    ist    immer    produktiv.    Läfit 

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—  42  — 


man  sie  auf  den  Qeist  einwirket)  so  kann  sie  eine 
yoUständige  Ermüdung  eraeugen,  während  dieser  auf 
die  Dummheit  keinerlei  belebenden  Btnflufi  hat. 
Wie  man  im  Gespräch  mit  einem  Schwachkopf  kör- 
perlich yerfällt^  wie  die  Gesichtsfarbe  fahl  und  die 
Haut  schlaff  wird,  das  sollte  ein  medizinisches  Pro- 
blem sein.  Man  hat  yielleicht  um  ein  Pfund  abgenom- 
men, und  das  ist,  wie  jede  forcierte  Abmagerungskur, 
bedenklich. 

Die  Einsamkeit  wäre  ein  idealer  Zustand,  wenn 
man  sich  die  Menschen  aussuchen  könnte,  die  man 
meidet. 

Ein  ganzer  Kerl  ist  einer,  der  die  Lumpereien 
nie  begehen  wird,  die  man  ihm  zutraut.  Ein  halber, 
dem  man  die  Lumpereien  nie  zugetraut  hätte,  die 
er  begeht. 

Die  anständigen  Frauen  empfinden  es  als  die 
gröfite  Dreistigkeit,  wenn  man  ihnen  unter  das 
Bewufitsein  greift. 

Die  blofie  Mahnung  an  die  Richter,  nach  bestem 
Wissen  und  Gewissen  zu  urteilen,  genügt  nicht.  Es 
müfiten  auch  Vorschriften  erlassen  werden,  wie  klein 
das  Wissen  und  wie  grofi  das  Gewissen  sein  darf. 

* 

Ein  Bettler  wurde  verurteilt,  weil  er  auf 
einer  Bank  gesessen  und  traurig  dreingeschaut  hatte. 
In  dieser  Weltordnung  machen  sich  die  Männer 
verdächtig,  die  traurig,  und  die  Weiber,  die  lustig 
dreinschauen.  Immerhin  zieht  sie  die  Bettler  den 
Freudenmädchen  vor.  Denn  die  Freudenmädchen  sind 
unehrliche  Krüppel,  die  aus  dem  Körperfehler  der 
Schönheit  Gewinn  ziehen. 

• 

Im  Wörterbuch  steht,  dafi  »Aphroditec  entwe- 
der die  Göttin  der  Liebe  oder  einen  Wurm  bedeutet 


I 


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—  48  « 


Sodomie  ist  verboten,  das  Abschlachten  von 
Tieren  ist  erlaubt.  Aber  hat  man  noch  nicht  bedacht^ 
dafi  es  ein  sodomitischer  Lustmord  sein  könnte? 

* 
Emanzipierte  Weiber  gleichen  Fischen,  die  ans 
Land  gekommen  sind,    um   der   Angelrute   zu   ent- 
gehen. Faule  Fische  fängt  der  faulste  Fischer  nicht. 

• 
Erfahrungen  sind  Ersparnisse,   die  ein  Geizhals 
beiseite  legt.  Weisheit  ist  eine   Erbschaft,    mit  der 
ein  Verschwender  nicht  fertig  wird. 

• 
Der  Mensph  denkt,  aber  der  Nebenmensch  lenkt. 
Er  denkt  nicht  einmal  so  viel,  daß    er   sich  denken 
könnte,  dafi  ein  anderer  denken  könnte.  ^ 

• 
Der  Klügere  gibt  nach,  aber  nur  einer  von  jenen,, 
die  durch  Schaden  klug  geworden  sind. 

« 
Wenn  wir  einen  Fehler  längst  abgelegt  haben, 
werfen  uns  die  Oberflächlichen  den  Fehler  und   die 
Gründlichen  Inkonsequenz  vor. 

• 
*     Man  träumt  oft,  dafi  man  fliegen  könne.   Jetzt 
träumt  die  Menschheit;  aber  sie  spricht  zu  viel  aus 
dem  Schlafe.  «.    . 

Ein  Leierkasten  spielt  zu  jedem  Schmerz  die 
Melodie.  ^ 

Tugend  und  Laster  sind  verwandt  wie  Kohle 
und  Diamant. 

Sie  richten,  damit  sie   nicht   gerichtet   werden. 

Christlicher  Umlaut. 
Seit  die  Lust  aus  der  Welt  entschwand  und  die  Last 

ihr  beschieden, 
Lebt  sie  am  Tag  mit  der  Last,  flieht  sie  des  Nachts 

zu  der  List. 

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—  44  — 


Kurz  vor  dem  EinBchlafen  kann  maa  sich  allerlei 
Fratzen  in  die  Luft  zeichnen.  Das  sind  die  hypn»- 
gogischen  Gesichte.  Wem  die  leibhaftigen  Menschen 
als  solche  erscheinen,  der  ist  nah  daran,  aus  dem 
Leben  zu  scheiden. 

Karl  Kraus. 


Pflr  das  KincL 

Daß  wir  im  Jahrhundert  des  Kindes  leben,  muß  jeder 
merken,  der  eine  Nase  hat.  Es  riecht  nach  dem  Kinde.  Aus  dem 
Treiben  geschäftiger  Agitatoren  steigt  ein  Dunst  von  Kautschuk 
und  nassen  Windeln.  Es  ist  nicht  jedermanns  Sache,  diesen  Kultur- 
parfum  mit  der  vorgeschriebenen  Rfihrung  einzuziehen.  Man  muß 
kein  Menschenfeind  sein,  um  diesen  Geruch  widerlich  zu  finden. 
Doch  wenn  schon  jener  Vater  sonderbar  wirkt,  der  in  iffisdier 
Liebe  die  Pfirsichrundung  seines  Kindes  küßt,  um  wie  vid  merk- 
würdiger erscheint  das  Gebaren  einer  Gesellschaft,  welche  diesen 
Körperteil  zur  Sonne  ihres  ziellosen  Daseins  macht. 

Sie  meint  den  Weg  zur  Natur  zurückgefunden  zu  haben, 
indem  sie  sich  ausdauernd  um  das  Kind  bemüht  WShrend  sie 
Kinderseelen  wie  Spargel  zieht,  beh:achtet  sie  im  Spiegel  selbst- 
gefällig ihr  alterndes  Gesicht  und  glaubt  auf  den  Wangen  das 
blühende  Rot  ihrer  Jugend  wiederzufinden.  Aber  in  Wahrheit  ist 
der  von  unendlichem  Qeschwfttz  begleitete  Schutz  der  Schwachen 
eines  der  vielen  Symptome  der  Schwäche  und  Kraftlosigkeit  unserer 
Zeit  Es  ist  Täuschung,  darin  Gesundheit  und  Natürlichkeit  zu  er- 
blicken. Ein  kraftvolles  Zeitalter  durfte  es  wagen,  seine  mißratenen 
Kinder  im  Taygetus  auszusetzen.  Ein  mürbes  Greisengeschtedit 
päppelt  elende  Fleischklümpchcn  zu  jammerexistenzen  auf,  die  ihren 
fluchenden  Erzeugern  fluchen.  Es  steckt  viel  von  der  Lüge,  die 
alle  Welt  erfüllt,  in  dieser  so  gesunden,  natürlichen  und  sittlich 
reinen  Bewegung  für  das  Kind. 

Wenn  die  Freude,  mit  welcher  der  Eintritt  eines  Kindes  In 
das  Leben  von  den  Eltern  begrüßt  wird,  den  einzigen  Schutz 
seines  Daseins  bildete,  würde  die  Zahl  der  Kindesmorde  ins  Unge* 
messene  steigen.  Daß  der  Kindesmord  selbst  von  einem  lebens- 
fremden Strafgesetz  dem  gemeinen  Morde  an  erwachsenen  Personen 
nicht  durchaus  gleichgestellt  werden  konnte,  spricht  deutlich  für 

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—  46  - 

die  Absurdifit,  die  in  einer  fibertrieben  Wertschätzung  des  Kindes 
liegt.  Es  ist  absurd,  das  Kind  dem  reifen  Menschen  gleichzuhalten; 
es  aber  höher  zu  bewerten,  ist  barer  Unsinn.  Für  das  Kind  soigen 
und  den  Erwachsenen  verhungern  lassen,  heißt  das  Roß  beim 
Sdiwanz  aufzäumen.  Und  die  medizinische  Auskunft:  »Das  Leben 
der  Mutter  mußte  geopfert  werden,  um  das  Kind  zu  erhalten«,  ist 
das  Bekenntnis  eines  Verbrechens,  weit  schwerer  als  Kindesmord; 
denn  es  ist  gemeiner  Mord,  wenn  weise  Frauen  und  Männer  zu 
Gunsten  des  Kindes  über  das  Leben  der  Mutter  verfügen. 

Die  Kinder,  soweit  sie  sich  nicht  rechtzeitig  kunstvoll  ver- 
meiden ließen,  wachsen  und  blühen.  Für  die  Eltern  sind  sie  eine 
Quelle  vieler  Freuden  und  Leiden.  Insbesondere  bilden  sie  —  das 
ist  die  Regel  —  ein  Einigungsmoment  von  großer  Stärke,  wenn 
ach  das  Gesetz  der  gegenseitigen  Abstossung,  das  allen  Körpern 
innewohnt,  in  den  Eltern  geltend  macht.  Sie  können  aber  auch  — 
das  ist  häufige  Ausnahme  -—  zur  unerträglichen  Fessel  werden, 
wenn  die  Gegensätze  zwischen  den  Eltern  mit  unwiderstehlicher 
Macht  zur  Trennung  drängen.  Wenn  die  büigerliche  Moral  auf 
dem  Schein  besteht,  dessen  Wahrung  ihr  Lebenszweck  ist,  wenn 
sie  mit  der  Würde,  die  nur  innerster  Verlogenheit  entstammt, 
darauf  bebarrt,  daß  die  Eltern  ihr  Lebensglück  den  Kindern  opfern, 
so  ist  dies  unnatürlich,  grausam  und  verbrecherisch,  trotz  allem 
Gackern  besorgter  Schwiegermütter,  Onkel  und  Tanten. 

Wenn  femer  jene  Enthusiasten,  die  es  gelüstet,  an  des 
Jahrhunderts  Neige  die  traditioneilen  Palmenzweige  mit  Windeln 
zu  vertauschen,  dadurch  die  gangbare  Sittlichkeit  zu  kräftigen  ver- 
meinen, mögen  sie  bedenken,  daß  sie,  bei  Licht  betrachtet,  eine 
Kcht  bedenkliche  Sache  unterstfitzen  und  ihrer  eigenen  Moral  ins 
Gesicht  schlagen.  Für  sie  müßte  das  Kind  das  Produkt  fluch- 
vfirdigen  Beginnens  sein,  die  fleischgewordene  Sünde,  der  geborene 
Verbrecher,  zum  Leben  durch  den  Nabelstrang  verurteilt.  Seine 
Hilflosigkeit  der  Protest  der  entrüsteten  Natur  gegen  die  unan- 
ständigen Dinge,  die  bei  der  Erzeugung  vor  sich  gingen  und  die 
der  Bflrger  nachher  nur  mit  Schauder  nennt.  Vielleicht  ersteht 
nns  einmal  der  Prophet,  welcher  der  Logik  in  diesem  Punkte  zum 
Siege  verfailft.  und  die  kfinftige  Generation  stopft  ihre  Kinder  nach 
Urväter-Sitte  wieder  in  den  Flammenbauch  des  Moloch.  Immerhin 
«I  die  Zeit  größer,  die  ihre  Kinder  tötet,  als  jene,  die  sie  zu  Ge- 
mischtwarenhändlem,  Amtsdienem  und  Hausmeistern  erzieht. 

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-  46  - 

Wer  sind  jene  Obereifrigen,  welche  unserem  Jahriiiuidot 
den  Kautschukstempel  des  Kindes  aufprägen  wollen?  Natfirtick 
jene,  welche  Kinder  haben?  Weit  gefehlt.  Wenn  sieb  Menscfaci 
recht  emsig  um  etwas  bekümmern,  ist  hundert  gegen  eins  zi 
wetten,  daß  es  sie  nichts  angeht.  FOr  das  Kind  sind  außer  der 
Kirche,  die  bekanntlich  einen  guten  Magen  hat,  allerlei  mfifiise 
Damen,  die  mit  den  Kindern  nichts  als  den  Mangel  eines  Bosob 
gemein  haben.  Sie  wollen  unser  Jahrhundert  kindlich  machen  «nd 
es  wird  bloß  kindisch.  Alte  Jungfern,  unfruchtbare  Franen, 
Varietäten  der  allgemein  verbreiteten  Wohltätigkeitshytnen.  Sie 
wollen  die  Ammen  der  Zukunft  sein  und  ver^gessen,  daß  dk 
Ammen  der  Gegenwart  sich  an  dem  realen  Leben  hervomgend 
betätigt  haben,  ehe  sie  hingingen,  die  Kinder  anderer  zu  saagcB. 

Bruno  Wolf  gang. 

Glossen. 

Ein  Feuilletonist  schreibt  über  das  Buch  des  Tierfaändkn 
Hagenbeck  »Von  Tieren  und  Menschen«  und  verherrlicht  die 
Mission,  wertvolle  Engagements  für  Schaubuden  und  zoologische 
Gärten  abzuschließen,  als  eine  Spielart  menschlichen  Genies.  Die 
delikate  Art,  mit  der  der  alte  Hagenbeck  dieser  Mission  oblag,  sott 
ihn  bei  den  Tieren  beliebt  und  den  Menschen  wohlgefill^ 
gemacht  haben,  und  die  Feuilletonisten  wiederum  finden,  er  habe 
ein  »liebes  Buch«  geschrieben.  Aus  solchem  Lob  sden  hier  cia 
paar  Sätze  zitiert: 

»  .  .  .  Gewöhnlich  fängt  man  aber  die  Jungen  Tiere.  Die  Hagenbeck- 
Jäger  wissen,  wann  die  Wurfzeiten  der  Tiere  sind,  und  haben  nai 
leichteres  Spiel.  Entweder  werden  die  Eltern  weggeschossen  und  die 
Waisen  dann  einfach  in  die  Gefangenschaft  geführt,  oder  die  alten  Tiere 
werden  gehetzt,  was  man  bei  wilden  Pferden,  Zebras,  Antilopen  vA 
Erfolg  veranstaltet.  Die  Herde  nimmt  Reißaus,  aber  die  zarten  Jangai 
können  das  rasende  Tempo  nicht  lange  halten,  bleiben  atemlos  imidL 
und  sind  gleichsam  mit  Händen  zu  greifen.  Die  edle  und  vor  Hagenbecks 
Wirken  in  Europa  selten  gesehene  Elenantilope  wird  so  gehetzt.  Währeni 
die  alten  Tiere  davonsprengen,  bleiben  die  jungen  stehen,  »von  etnea 
klebrigen  Angstschweiß  voUkommen  bedeckt  und  jämmerlich  schieicad«. 
Jetzt  werden  sie  von  den  nachstürmenden  Reitern  am  Schwanz  gepecki 
und  zu  Boden  gerissen.  Man  fesselt  ihre  Hinterbeine  und  hflUt  die  im 
Angst  und  Erschöpfung  bebenden  Tiere  in  warme  Decken.  Die  metsta 
von  ihnen  sterben  aber  schon  eine  Viertelstunde  nachher  an  HerzschUf 
infolge   der   ausgestandenen    Aufregung  ....   Der  beständige   vertmle 

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—  47 


Umgang  mit  den  Tieren  macht  ihn  (Hagenbeck)  zu  ihrem   besten  Ver- 
steher  und  damit  auch  zu  ihrem  besten  Freund.« 


Ein  Wiener  Kaffeehausstammgast,  der  auch  mit  vielen 
Künstlern  persönlich  bekannt  war,  feierte  neulich  seinen  siebzigsten 
Geburtstag.  Darüber  wurde  in  den  Wiener  Zeitungen  geschrieben, 
und  in  den  Vomotizen  wie  in  den  Berichten  war  der  Name  des 
Jubilars  nie  ohne  das  Attribut  angeführt:  »Eine  der  bekanntesten 
Persönlichkeiten  der  letzten  Jahrzehnte  des  vorigen  Jahrhunderts.« 
Als  aber  gar  ein  Kaffeesieder  selbst  seinen  fünfzigsten  Geburts- 
tag feierte,  war  der  Aufregung  kein  Ende.  Was  bei  dieser  Feier, 
so  versicherte  ein  Berichterstatter,  »an  Größe  und  Glanz  der  Ver- 
sammlung und  an  herzlicher,  fiberschwänglicher  Begeisterung  für 
das  Geburtstagskind  zu  spüren  war,  das  läßt  sich  wirklich  nicht 
schildern«.  Noch  lange  Zeit  nach  dem  Festbankett  »bildete  der 
Verlauf  desselben  das  Tagesgespräch  in  allen  Kreisen  unserer 
Stadt«.  Freilich  handelte  es  sich  auch  um  einen  der  bedeutendsten 
Nachtcafetiers  der  Epoche,  um  eine  Persönlichkeit,  die  nicht  nur 
wegen  ihrer  Charaktereigenschaften  für  eine  ganze  Generation 
von  Nachtcafetiers  vorbildlich  geworden  ist,  sondern  die  auch  w^en 
der  Einrichtung,  daß  die  Huren  erst  um  zwei  Uhr  das  Lokal 
betreten  dürfen,  sich  in  bürgerlichen  Kreisen  des  größten  Ansehens 
erfreut,  um  einen  Mann  also,  den  man  nicht  so  mir  nichts  dir 
nichts  persönlich  zum  Tisch  rufen  kann,  wenn  man  sich  wegen 
einer  schmutzigen  Serviette  beschweren  wollte.  Das  Ist  alles  wahr 
und  muß  von  jedem  objektiven  Kulturhistoriker  zugegeben  werden. 
Immerhin  bleibt  die  Frage  offen,  ob  Beethoven  annähernd  so 
herzliche  Anerkennung  gefunden  und  ob  sich  dreihundert  Vertreter 
des  Wiener  Bürgertums  um  die  Ehre  beworben  haben,  Grillparzer 
zu  seinem  Geburtstag  zu  gratulieren  und  ihre  Namen  bei  diesem 
AnUuse  In  die  Zeitung  zu  bringen.  In  unserem  Fall  haben  sich 
Redakteure,  Vertreter  des  Wiener  Geisteslebens,  verpflichtet  gefühlt, 
selbst  die  Sache  in  die  Hand  zu  nehmen  und  ein  Komitee  zu 
bilden,  an  dessen  Spitze  ein  Graf  und  k.  k.  Bezirkshauptmann 
stand.  Ein  Oberst,  ein  k.  k.  Oberintendant,  ein  k.  k.  Intendant, 
ein  Sektionsrat,  drei  Hauptleute,  zwei  Polizeioberkommissäre,  drei 
Bezirksräte,  drei  kaiserliche  Räte,  Volkssänger,  Präsidenten  von  Schrift- 
stellergenossenschaften, Hoteliers,  eine  Abordnung  des  Nibelungen- 
vereines »Bechelaren«,  Vertreter  aller  anderen  Stände  und  Berufe, 

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—  48    — 

»darunter  sehr  viele  Damen  aus  den  besten  Kreisen  der  Gesell- 
schaft«, und  ein  Kirchenverwalter  wetteiferten,  die  Verdienste  des 
Nachtaifetiers  in  Bankettreden  hervorzuheben.  Hiebei  kam,  so 
hören  wir,  »das  Oemüt  auf  seine  Rechnung  durch  die  alle 
Anwesenden  rührende  Szene,  wie  der  Chef  seinem  ersten  Markör 
Jean  für  alle  Liebe  und  Treue  dankte  und  ihn  am  Schlüsse  herzlich 
küßte«.  Aber  man  war  sich  auch  der  politischen  Bedeutung  des 
i^oments  bewußt,  als  der  Cafetier  sich  erhob  und  erklärte,  daß 
er  die  ihm  bereitete  Ovation  »als  einen  Beweis  der  Einigkeit  im 
Wiener  Bürgerstande  betrachte«.  Indem  das  Bürgertum  seine 
Cafetiers  ehrt,  ehrt  es  sich  selbst,  und  es  ist  erfreulich,  daß  von 
der  Gewohnheit,  die  Verdienste  bedeutender  Männer  erst  nach 
ihrem  Tode  anzuerkennen,  in  besonders  berücksichtigenswerten 
Fällen  Abstand  genommen  wird.  Der  Kirchen  Verwalter  speziell 
betonte,  das  Nachtcaf6  des  Gefeierten  sei  »zum  zweiten  Wahrzeichen 
Wiens  geworden«,  und  gratulierte  deshalb  namens  des  alten  Steffel, 
»unter  dessen  Schutze«  es  dazu  geworden  sei  . . .  Bis  hieher 
hatte  ich  gelesen  und  beschlossen,  einer  Stadt  mit  so  ausge- 
sprochen katholischem  Charakter  der  Rücken  zu  kehren.  Da  fiel 
mein  Blick  auf  einen  Zeitungsausschnitt,  den  ich  mir  bewahrt 
habe.  In  Berlin  hatte  ein  Restaurateur  den  Erlös  eines  Tages  den 
Opfern  einer  Grubenkatastrophe  zugewendet  und  ein  Interviewer 
beeilte  sich,  die  Ansichten  eines  Wiener  Gastwirts  über  diesen 
Fall  zu  publizieren.  Dieser,  ein  Herr  Hopfner,  meinte,  er  könnte 
auf  seine  Tageseinnahme  nicht  verzichten,  sie  wäre  überhaupt 
nur  dann  ergiebig,  »wenn  er  einen  Hopfner-Tag  veranstalten 
würde«.  Dieses  Wort,  so  dunkel  es  ist  —  schon  der  Begriff  einer 
»Hopfnercremetorte«  wirkt  verwirrend  — ,  läßt  mich  dennoch  das 
Wiener  Leben  von  einer  anderen  Seite  ansehen.  Es  zerfällt  einfach  in 
Hopfner-Tage  und  in  Riedl-Nächte.  Man  kann  sich's  einteilen.  Und 
solange  wir  noch  Persönlichkeiten  haben,  die  entweder  wegen 
ihrer  Popularität  beliebt  oder  wegen  ihrer  Beliebtheit  populär 
sind,  und  solang'  der  alte  Steffel  auf  seine  Nachbarschaft  sta 
ist  und  wenn's  zwei  Uhr  wird,  bloß  »Ah,  da  schau  i  ja«  sag 
ist  kein  Grund  zur  Traurigkeit  absolut  in  keiner  Beziehung  nid 

vorhanden. 

Karl  Krauai 


j 


ticnuugeber  tuid  tenuitwortnclifr  Redakteur:  Kurt  Kraab 
Drack  von  Jahoda  fli  Siegel.  Wien,  III.  Hintere  ZollaaiMnac  3.      !■ 


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Karl  Borromäus  Jieinpicii^ 

KARL  flSCNKOI 

Geschiebte  einer  Jugenc^ 

Zu  beziehen  durch  den  Verlag  Albert  LAosen,  .\. 
alle  Buchhandlungen. 

Im  VarlAf«  ,Dle  PACKBL*  ilad  •rtclÜMM 

und  duroh  alle  Buchhandlungen  oder  direkt  tu   ^  - 

KARL  KRAUS: 

Kaxiiiiilian  Harde]  _ 

Eine  Erledigung  1    Ein  Nachruf    !  Hardens  k\X\si 


Preis  60  Pf.  =  60  h 


Preis  60  Pf. 


PROZESS  YEITU 


Herausgeber  und  veiant* 
Dnick  voü  Jthodt  fii  Siegel, 


1  uwo. 


X.  Ji 


iDie  Fackel 

Herausaeber: 

KARL  KRAUS 


'NHALT: 

ihr  Läuse'  .    —   Jubel   und 

ler.  V</  Mlesa  SolemniB 

^ica.  Von    Karl  Borromäus  Heinrich.  —  Der 
ialkor*'Äii"nnTi*lp7>f        Yf\n      Karl     K  » •"  "  *- 
lliloMen  r  1haul> 


Brecheint   in    zwangloser   Folge. 


*eiff  der  einzelnen  Nummer  30  h. 

Uüd  gewerbsmäßiges  Verleihen  verboten  ^  gerichtlic 
Verfolgung  vorbehalten. 


WIEN. 

'^ACKEL'  III.  Hintere  Zollamtssfraße  dj 


zweiter  Auflage  erschienen] 

Sittlichkeit  und  Krlmlnalltl 

L  Band  der  Ausgewählten  Schrifti 

von 

KARL  KRAUS 


Broschiert    — 
Ganzleinen  — 


—  K  7.20  =  Mk.  e  — 

—  .   8.70  =     ,     7J25 


Bestellungen  auf  das  im  Verlag   der  BuchhandJi 
^  Rosner,  Wien  und  Leipzig,  ersdiienene  Werk  nii 
ede   Buchhandlung,  sowie  der  Verlag  der  »Fackc 
:  Wien»  IU/2,  Hintere  Zollamtsstraße  3»  entgegc 


Soeben  erschien: 

HUBERT  WILM: 

Ein   PflRKMflRCHEM 

::  SIEBEfl  ZEICHhüflQEn  :: 

Liebhaber  wertvoller  und  seltener  Kunstwerke  seien 
schon  jetzt  auf  diese  Neuerscheinung  aufmerksam 
gemacht.  Die  sieben  -  farbigen  -  mit  den  vornehmsten 
Mitteln  moderner  Technik  reproduzierten  Zeichnungen 
sind  vom  Künstler  handschriftlich  signiert  und  wurden 
einer  elegantep  Mappe  im  Formate  45X52  cm  vereii 
Die  einmalige  numerierte  Ruflage  beträgt  200  Ejcemplar^ 

Der  Subskriptionspreis  einer  Mappe  1^1  30  tA^rU. 

a  AusfOhrlich«  ProspeHtg  auf  Verla 


Die  Fackel 

Ni.  269  31.  DEZEMBER  1908  X.JAHR 


Mehr  L&tt8et 

lo  einen  hohlen  Kopf  geht  viel  Wissen.  Der 
Wert  der  Bildung  offenbart  sich  am  deutlichsten, 
wenn  die  Gebildeten  £u  einem  Problem,  das  außer- 
halb ihrer  Bildungsdomäne  liegt,  das  Wort  er- 
greifen. Sie  haben  es  nicht,  also  müssen  sie  es  er- 
greifen. Herr  Professor  Franz  v.  Lisst  ist  wahr- 
Bcheinlich  ein  tüchtiger  Kriminalist,  er  dürfte  auch 
ein  tüchtiger  Politiker  sein.  Aber  es  ist  von  Obel,  daß 
erneuestens  den  Ehrgeiz  hat,  anderen  Leuten  zuzu- 
reden, daS  sie  auch  Politiker  werden  sollen.  Zu  einer 
theoretischen  Auseinandersetzungdarüber  langt's  nicht. 
Herr  ▼.  Liszt  erläßt  in  der  ,Neuen  Freien  Presse'  eine 
Art  Aufruf  zur  »Politisierung  der  Gebildetere.  Die 
Jugend  vor  allem,  die  sich  offenbar  noch  nicht 
genug  im  Straßengraben  gewälzt  hat,  soll  »politisierte 
werden.  Achtung  vor  der  Vereinsmeierei  I  ruft  Herr 
V.  Liszt;  sie  verdiene  den  »Spott  der  Ästheten« 
tttcht,  denn  sie  sei  es,  die  die  »politische  Kleinarbeit« 
leiste.  Zu  welchem  ^oßen  Zweck?  Wenn  Herr 
Y.  Liszt  ahnte,  daB  es  Lebenswünsche  gibt,  die  erst 
in  Erfüllung  gehen  können,  wenn  die  Politiker  und  die 
Asthetenauf  demselben  Schindanger  zusammenkommen, 
er  würde  so  feine  Unterscheidungen  nicht  machen. 
Bis  dahin  mag  man  die  Forderung  des  Herrn  v.  Liszt 
für  berechtigt  halten.  Politischer  Indifferentismus  ist 
unter  allen  Umständen  beklagenswert.  Es  handelt 
'  h  ja  im  Sinne  einer  Desinfektion  der  Kultur 
rum,  die  Ansteckungskeime  der  Bildung  und  der 
litik  abzutöten,  und  da  ist  es  wohl  am  prak- 
chesten,  wenn  man  die  Gebildeten  so  schnell  wie 
}glich  politisiert . . .  Welche  der  beiden  Tendenzen, 
*  der  Demokratisierung  innewohnen —  fragte  jüngst 

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—    2    — 

ein  anderer  Gelehrter,  Herr  v.  Ooropers,  in  der  ^Neueo 
Freien  Presse'  —  wird  obsiegen?  Die  fortschrittsfeind- 
liche,  nämlich  die  Unterdrückung  der  Persönlichkeit, 
oder  die  fortschrittsfreundliche,  uämlich  die  Schaffung 
neuer  Bildangszentren?  Ich  denke,  beide.  Wenn  einer 
Lause  hat,  so  ist  es  klar,  dafl  die  Abnahme  der 
Reinlichkeit  mit  der  Zunahme  der  Läuse  gleichen 
Schritt  hält.  Sollte  aber  dieser  Prosefi  unaufhaltsam 
sein,  so  finde  ich  den  Ruf  nach  gründlicher  Ver- 
lausung immerhin  begreiflich. 

^  ^  Karl  Kraus. 

Jubel  und  Jammer.*) 

Ein  Wiener  Brief. 

Herr,  erlöse  uns  von  unserer  Not  und  mach 
unserm  Jubel  ein  Ende!  rief  der  Österreicher  am 
Ausgange  des  Jahres  1908  und  sank  ermattet  in  das 
Faulbett  der  Geschichte.  Arm  am  Beutel,  krank  am 
Hersen  schleppt'  er  seine  langen  Tage,  aber  anders 
als  dem  Schatzgräber  Goethes  ward  ihm  ein  Zauber- 
wort: Frohe  Feste  —  Saure  Wochen  I .  . 

Nun  stehen  wir  da,  die  wir  keinen  Orden  be- 
kommen haben,  und  finden,  es  sei  nicht  der  MOhe 
wert  gewesen.  Haben  wir  dazu  einen  Festsug  veran- 
stalten müssen?  Es  hat  eine  Zeit  gegeben,  wir 
alle  haben  sie  erlebt,  in  der  die  Auszeichnung,  keinen 
Orden  su  bekommen,  müheloser  erreicht  wurde  als 
heute,  wo  sich  einer  schon  durch  ein  besonderes  Ver- 
dienst oder  durch  eine  besondere  Blamage  hervortun 
mufl,  um  ihrer  teilhaft  zu  werden.  Es  ist  hart.  Und 
wer  vermöchte  sich  in  die  Lage  eines  Kaiser jubiläums- 
huldigungsfestzugsexekutivkomiteepräsidenten  zu  ver- 
setzen, der  mit  diesem  Titel  vorlieb  nehmen  muft  und 
der  am  2.  Dezember  das  Nachsehen  hat,  wiewohl  er 
im  Amtsblatt  der  kaiserlichen  ,Wiener  Zeitung'  nach« 
gesehen  hat?  0  Jahr  der  Träume,  o  Tag  des  Erwachens I 
^u  spät  erkennt  der  Mensch,  dafi  er  geirrt  hat,  solang 

^  Aus  dtm  .SlmpUdMlmiisV 

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—    8 


er  strebte.  Denn  am  Ende  seines  Weges  steht  die 
Weisheit,  dafi  viel  eher  noch  als  ein  Festzug  dessen 
Unterlassung  zu  jenen  Verdiensten  gehört,  die  einen 
Orden  nach  sich  ziehen.  Weil  aber  die  Probe  auf  das 
Gegenteil  nicht  gemacht  wurde,  wird  er  ewig  im 
Dunkeln  tappen,  nämlich  aus  jenen  Regionen  der 
Gunst,  in  die  er  vergebens  hineingekrochen  ist,  nicht 
mehr  herausfinden.  Aber  er  hat  dieses  Los  seiner 
eigenen  Unvorsichtigkeit  zuzuschreiben.  Denn  zwi> 
sehen  einem  Festzug  und  einem  Orden  ist  kein  Ver- 
hältnis. Einen  Festzug  kann  man  im  äußersten  Falle 
gegen  den  Willen  eines  Kaisers  durchsetzen,  nie  und 
nimmer  aber  einen  Orden.  Das  ist  ein  Unterschied, 
den  jedes  Kind  kennt,  und  vor  allem  jene  Kinder, 
welchen  der  Kaiser  die  Wohltätigkeit  des  Jubiläums- 
jahres zugewendet  wissen  wollte.  Darum  keine  über- 
triebene Humanität  für  die  Ärmsten  der  Armen, 
derer  in  diesem  Jahre  niemand  gedacht  hat,  ich  meine 
fDr  die  Mitglieder  des  Festzugskomitees.  Die  Gerechtig- 
keit nimmt  ihren  Lauf,  für  handelsrechtliche  Delikte 
gibt  es  keine  Amnestie,  und  warum  mußten  sie  auch 
noch  die  Blumen  vom  Kaiserzelt  schuldig  bleiben? 

Es  ist  ja  grausam.  Könnte  man  die  Mengen  von 
Schweiß,  Loyalität  und  sonstigen  Ausscheidungen,  die 
dieses  Jahr  zwischen  Preßburg  und  Passau  ergeben 
bat,  in  einem  einzigen  Bückling  aufwenden,  der 
Himmel  selbst  müßte  ein  Einsehen  haben  und  alle 
Dekorationen  der  Milchstraße  verleihen  I  Aber  so  ward 
ein  großer  Aufwand  unnütz  vertan,  und  gerade  die 
am  meisten  gerobotet  hatten,  kamen  zu  kurz.  Was 
sind  denn  das  für  Zustände?  Wer  keinen  Orden  ver- 
dient hat,  bekommt  ihn  nicht?  Das  ist  vielleicht  die 
alte  Osterreichische  Schlamperei ;  aber  es  ist  ein  neuer 
Ton  in  diesem  Jahrmarkt  der  Menschenwürde. 

Nur  der  Humorist  ist  für  ihn  dankbar.  Denn  er 
war  längst  einer  Realität  überdrüssig,  in  der  just  die 
abgebrauchteste  Charge,  der  Titeljäger,  den  Spott  am 
längsten  überlebt  hat.  Die  Lächerlichkeit  einesjStrebens, 
das  sich  sein  Ziel  nicht  verdient,  sondern  verleihen 


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—    4    — 


läfitydie  Gemeinheit  einer  Ehre,  die  ins  Himraelreicb 
kommt,  wenn  sie  durch  ein  Knopfloch  geht,  die  Leer« 
einer  Eitelkeit,  die  nicht  vom  Wert^  sondern  Tom 
Ansehen  lebt:  sie  finden  noch  immer  ihre  Kunden, 
und  wänn's  einen  Orden  mit  Nachsicht  der  Menschen- 
rechte zu  erlangen  gälte,  unsere  Zeitgenossen  liefen 
sich  die  Fülle  wund.  Was  sie  zur  Qesellschaft  zu- 
sammenschließt, sind  Bänder,  und  ihre  Ausge- 
schlossenen sind  Märtyrer,  die  kein  Kreuz  bekommen 
haben.  Es  ist  das  alte  Lied  der  Dummheit,  die  sich 
noch  sehen  lassen  möchte,  wenn  ihr  in  Anerkennung 
ihrer  Verdienste  um  den  Weltuntergang  ein  Stern 
auf  den  Kopf  fiele.  Darum  dankt  der  Humor  för  den 
neuen  Ton.  Uns,  die  das  Getriebe  in  einem  Jubiläums- 
jahr nicht  mehr  zu  Vergleichen  anregen  und  die  nicht 
einmal  das  Gedränge  um  einen  Futtertrog  zu  patri- 
otischen Erinnerungen  stimmen  könnte,  hat  diese  Zeit 
eine  neue  Spielart  beschert:  den  gefoppten  Streber, 
jenen,  der  die  Taxe  der  Menschenwürde  im  vcniuis 
erlegt  und  dennoch  den  Orden  nicht  bekommen  *hat; 
der  sich  für  das  Vaterland  auf  den  Kopf  spucken  liefi 
und  schließlich  als  Idealist  aus  der  Affäre  hervorgeht. 
Einer,  der  sich  auf  dem  Altar  der  Vaterlandsliebe  ge- 
opfert hat,  dem  es  aber  nichts  nützte,  weil  der  Altar 
nicht  bezahlt  war, 

Gut  und  Blutl  erscholl  es  ein  Jahr  lang  in 
Osterreich.  Das  Gut  mufite  vor  dem  Handelsgericht 
eingeklagt  werden,  und  das  Blut  wurde  auf  der  Ring- 
straße vergossen,  als  sie  auf  den  Einfall  kamen,  cUe 
Nacht  eines  Landes  durch  Kerzen  und  Lampions  zu 
erhellen.  Das  Schauspiel  wird  allen  Betrachtern  un- 
vergeßlich bleiben.  Denn  um  zu  sehen,  wie  am  Abend 
des  L  Dezember  Wien  seit  zehn  Jahren  wieder  ein- 
mal anständig  beleuchtet  war,  rückten  anderthalb 
Millionen  Menschen  aus.  Bei  ungenügender  Straßen- 
beleuchtung bleiben  ebensoviele  in  den  Häusern,  und 
infolgedessen  geschieht  auf  der  StraBe  kein  Unglück. 
Aber  die  beste  Beleuchtung  kann  ein  Unglück  nicht 
verhindern,  wenn  alle  auf  einmal  neugierig  sind,  sie 


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—    6   — 


SU  sehen.  Das  Sohicksal  seigte  sich  der  wohltfttigen 
Derise  »Fürs  Kindlc  eingedenk;  es  wurden  viel 
weniger  Kindsköpfe  zerquetscht^  als  man  erwartet 
hatte,  und  die  meisteu,  vom  Säugltng  im  Kinderwagen 
bis  zum  Oemeinderat,  kamen  mit  dem  Lebetf  davon. 
Nur  wenige  starben.  Die  es  taten,  saete  die  Polizei, 
hatten  es  sich  selbst  zuzuschreiben.  Sie  waren,  wie 
die  Obduktion  ergab,  von  schwächlicher  Gesundheit, 
und  im  Besitz  einer  solchen  setzt  man  sich  nicht  den 
Gefahren  der  patriotischen  Begeisterung  ausi  Ver- 
letzungen haben  bloß  105  Leute  davongetragen,  und 
vermutlich  solche,  denen  eine  Inklination  zu  Rippen- 
brflehen polizeiärztlich  nachgewiesen  werden  könnte. 
Dafi  sonst  nichts  geschah,  beweist  tatsächlich  die 
Gesundheit  einer  Bevölkerung,  die  in  vollster  körper- 
licher Frische  ihr  Re^ierungsjubiläum  beging.  Und 
nichts  geht  Aber  das  Bild  eines  geordneten  Familien- 
lebens, das  selbst  noch  in  dem  Chaos  der  drängenden 
Massen  einen  rührenden  Zufj;  heimischer  Gemütsart 
offenbarte:  Vater  —  tot,  Mutter  —  Nervenchok, 
Tante  —  Quetschung  des  Kniegelenks,  Tochter  — 
Hautabschürfung.  »Pfüat  enk  Gott,  Kinder c,  sprach 
ein  lebensmüder  Wiener  zu  den  Seinen,  >i  geh  jubi- 
lieren !c  Das  Motiv  ist  unbekannt  Der  Polizeibericht 
aber  gedachte  nur  der  Bresthaften  und  verschwieg, 
daß  unter  den  Toten  dieses  Jubeltages  auch  Selbst- 
mörder waren . . .  Und  nachdem  das  Unglück  ge- 
schehen war,  »fanden  sich  zahlreiche  Neugierige  ein, 
um  die  Unglücksstätte  zu  besichtigenc,  und  da  war 
das  Unglück  gegen  die  Provokationen  der  Neugierde 
bereits  so  abgestumpft,  dafi  es  sich  mit  der  stillen 
Verachtung  begnügte. 

Ob  in  Wien  oder  in  Prag  gejubelt  wird,  immer 
gibt's  Tote.  Hier  durch  einen  Freudengrufi,  dort  durch 
eine  Salve.  Die  Nationen  raufen  um  den  Vorrang  bei 
einer  Huldigung.  Hier  sind  Pylonen  aufgerichtet, 
dort  ein  Galgen.  Die  Zeitungen  halten  es  mit  der 
doppelten  Buchführung:  neben  einer  Liste  der  illu- 
minierenden Firmen  ein  Verzeichnis  der  Verwundeten, 


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—  6   — 


neben  einem  Verzeichnis  der  bei  der  PestvorBtellung 
Anwenenden  eine  Liste  der  Toten*  Die  Politik  sieht 
im  Henker  den  kommenden  Mann,  und  den  Reigen 
der  Feste  schließt  ein  Batlabille  der  Inseratenagenten 
ab  .  • .  Der  Humor  aber  ist  im  Gedränge  ohnmächtig 
p:eworden.  Dann  wehrt  er  mit  zitternden  Fäusten  die 
Schmach  ab,  die  den  Frieden  eines  Alters  urabrtillt. 
Er  wirft  einen  Rückblick  in  Österreichs  Zukunft  und 
fleht:  Herr,  mach  unserra  Jubel  ein  Endel 

Karl   Kraus. 


Missa  Solemnis  Tragica.*) 
Von  Karl  Borromius  Heinrich. 

Der  junge  Philosoph  sperrte  sich  zehn  Tage  lang  in  »an 
Zimmer  und  schrieb  den  zweiten  Teil  seines  Buches:  »Der  jtmge 
Mensch  und  die  Institutionen  der  Gesellschaft.«  Der  Inhalt  dieses 
zweiten  Teiles  stand  seit  langem  unverrückliar  in  seinem  Kopfe 
fest.  Was  er  jetzt  zu  tun  hatte,  war  also  nur  mehr  eine  tedmisdR 
Arbeit,  die  ihm  leicht  von  der  Hand  ging.  Er  gab  aber  seto 
ganzes  Wesen  hinein.  Alles  was  er  an  Erfahrungen  hinter  sidi 
hatte,  sprach  er  hier  aus.  Viele  seiner  Leiden  schrieb  er  »der  Ge- 
sellschaft« zu.  Die  Schrift  spiegelte  den  ganzen  Haß  und  den 
ganzen  Hohn  wieder,  auf  den  er  sich  während  des  letzten  Jahres 
so  leidenschaftlich  konzentriert  hatte. 

Dieses  geistige  Wiedererleben  seiner  Vergangenheit  kooole 
nicht  ohne  Nachteil  für  ihn  bleiben.  Mit  Entsetzen  erkannte  er 
dabei  aufs  neue,  und  in  einer  Form  von  grausiger  Prägnanz,  seine 
absolute  Beziehungslosigkeit  zu  allem,  was  Mensch  heißt.  Lebte  er 
nicht  dahin  wie  einer,  der  sich  im  tiefsten  Walde  verirrt  hat  und 


*)  Unter  dem  Titel  >Qeschichte  einer  moralischen 
Krankheit«  wird  der  Autor  eine  Fortsetzung  des  ueulldi  t>esprocbeiieB 
Romans  >Karl  Asenkofer,  Geschichte  einer  Jagend«  im  Verlage  voe 
Albert  Langen  in  München  erscheinen  lassen.  Aus  dem  Manuskript  da 
Werket    -   aus  dessen  Schluß  —  wird  hier  ein  Abschnitt  verAffeotUcfat 


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dessen  Webschreie  ungehört  verhallten  im  verschwiegenen  Dunkel  der 
Tannen?  War  das  noch  ein  Leben?  mußte  er  sich  erschüttert  fragen. 
So  genet  er  denn  in  eine  Verdüsterung,  wie  er  sie  noch  nie 
erlebt  hatte.  Es  war  ein  Unglück,  daß  sein  Gönner  gerade  jetzt 
verreist  war.  Vielleicht  wollte  das  Schicksal,  daß  er  allein  mit  sich 
fertig  werde.  Niemand  stand  ihm  in  so  schweren  Tagen  bei. 

In  der  Nacht  des  zehnten  Tages  schloß  er,  von  tiefstem 
Qram  erfüllt,  sein  Buch  mit  jenem  berüchtigten  Satze,  den  man 
füglich  als  Motto  und  Inhaltsangabe  zugleich,  als  Leit-  und  Schluß- 
motiv des  ganzen  Werkes  bezeichnen  kann: 

>. . .  Ein  junger  Mensch  von  heute,  der  nicht  mehr  Offizier 
und  Korpsstudent  oder  noch  nicht  Sozialist  werden  will,  lebt, 
da  die  zweitausendjährige  Kultur  des  Christentums  nunmehr 
zusammenbricht  und  alle  bürgerlichen  Ideale  verfault  sind,  in 
einer  unerhörten  Rat-  und  Führerlosigkeit  dahin;  von  der  Kultur 
der  Vergangenheit  genießt  er  im  besten  Falle  eine  rein  intellektuelle 
mit  systematischer  Oedächtnisqual  verbundene  Erinnerung,  dank 
der  vollkommensten  Unfähigkeit  jener  angeblichen  Erzieher,  der 
Philologen,  die,  mit  geringen  Ausnahmen,  nicht  mehr  Vertreter 
der  Humanität  sind,  sondern  nur  unterrichten,  um  zu  leben  und 
so  der  instinktiven  Verachtung  der  Eltern  immer  mehr  anheim- 
fallen; die  dem  jungen  Menschen  also  den  Weg  in  die  Ver- 
gangenheit zeigen  sollen,  wissen  ihn  selber  nicht ;  Wegweiser  in 
die  Zukunft  sucht  er  vergebens;  in  Ermangelung  aller  positiven 
Werte  wird  er  dann  zu  dem  Anarchisten  wider  Willen,  als 
den  ich  ihn  hier,  nicht  ohne  Schmerz  und  mit  wenig  Aussicht 
auf  Besserung,  dargestellt  habe.« 

Karl  Asenkofer  fühlte  sich  selbst  als  den  Typus  dieses  jungen 
Menschen  von  heute.  Sein  Schmerz  ging  daher  über  seine  Person 
hinaus,  in  einer  philosophischen  Größe,  und  umfaßte  in  jener 
Nacht  mit  einer  unendlichen  Gebärde  alle  jene,  die  Gleiches  mit 
ihm  litten!  Draußen  begann  es  heftig  zu  regnen  und  (^in  wilder 
Shum  ging  durch  die  Gassen. 

Da  trieb  es  Karl  Asenkofer  fort  ins  Freie.  Er  wanderte  dem 
kleinen  Berge  zu,  der  sich  nahe  bei  der  Stadt  erhob.  Auf  seinem 
Qipfel  stand  er  stundenlang  in  Sturm  und  Regen,  er,  ein  schmächtiger 
Mensch,  preisgegeben  dem  Toben  der  Natur . . . 

»Muß  ich  mich  also  töten?«  . .  dies  war  die  fürchterliche 
Frage,  die  er  an  das  Schicksal  stellte.    Aber  der  Sturm  überschrie 


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—   8   - 


sdne  Selbstverwünschungen.    Wehe  ihm,  in  dieser  Zelt  des  Rfidi- 
falißi  wenn  seine  Seele  ietzt  nicht  bald  Rettung  und  Wcf  fsnd!  . . 

Das  Wetter  schlug  wieder  um.  Und  Karl  Asenkofer  «änderte 
in  diesen  Tagen  der  großen  letzten  und  entscheidenden  ftsge 
durch  die  Berge  der  Umgebung,  um  sich  vorerst  von  der  Spanunqg 
und  Selbstkonzentration  zu  erhoieni  aus  der  heraus  sein  Werk 
geboren  war. 

Es  war  ein  eigentümliches  OefQhl  fnr  ihn«  daß  nun  die 
Außenwelt  allmählich  wieder  Macht  fiber  ihn  gewann,  daA  tf 
anfing,  wieder  etwas  zu  bemerken.  Er  verfiel  in  tiefe  Rfihmng. 
Mit  einer  religiösen  Zärtlichkeit  sah  er  zur  milden  und  gicicb- 
mäßigen  Sonne  dieses  Spätsommers  empor. . . . 

Es  schritten  glatzköpfige  Bürger,  die  diese  letzten  wannen 
Strahlen  auf  ihren  viereckigep  Häuptern  sammelten,  an  ihm  vorüber 
und  grüßten  ihn.  Er  dankte  ihnen,  ohne  ihnen  ihre  ZutFaulicfaheit 
sonderlich  übelzunehmen.  Nur  gegen  den  Wortschwall  setoer  Haus- 
wirtin blieb  er  unerbittlich;  er  zählte  jeweils  bis  dreißig,  wenn  sie 
sprach  und  verließ  sie  dann,  ohne  ein  W(m1  zu  sprechen. 

Im  Übrigen  aber  war  Waffenstillstand  in  seiner  Stimmang 
und  er  schwelgte  in  der  Oewißheit,  daß,  wenn  er  jetzt  ein  Ende 
machen  wolle,  er  nicht  »hinsterben  werde,  wie  ein  Rix,  keine 
Spur  nachlassend  von  seiner  lebendigen  Wirkung«. 

Einmal,  als  er  in  solch  ungehemmter  Zuversicht  aedis 
Stunden  durch  die  Wälder  gezogen  war  und  eben  am  Rande  des 
Gehölzes  stand,  von  wo  aus  er  die  Stadt,  tief  zu  seinen  Füßen 
sich  baden  sah  in  der  langsam  zerfließenden  Abendsonne  —  dt 
schaute  er  in  einer  ungeheuren  Vision  sein  ganzes  junges  Dasein, 
wie  es  verflossen  war,  von  der  ersten  bewußten  Stunde  bis  heule. 
Und  in  die  ganze  dunkle  Waghalsigkeit  und  Fragwürdigkeit  dieaa 
Menschenlebens  schien  ihm  mit  einem  i\Aale  Licht  und  Wärme  zu 
kommen,  Versöhnung  und  Gläubigkeit.  Er  vermochte  sich  dis 
Gefühl  nicht  zu  deuten,,  aber  es  überfiel  ihn  mit  einer  ganz  na- 
widerstehlichen  Macht.  Er  streckte  die  Arme  aus  und  murmelte 
unter  Tränen:  »Tod,  Tod,  wo  ist  dein  Stachel!« 

Er  konnte  sich  dieser  Tränen  nicht  erwehren:  denn  a 
flössen  aus  der  innerlichsten,  verzweifelten  Empörung  seiner  See 
die  er  nun  schon  so  Unge  und  so  sehr  mit  Leid  überhäuft  hat 
daß  sie  darunter  ersticken  mußte.   Sic  erstickte  unter  jener  hart 


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!SeS!SESSSZ*! 


gniiiMincn,  unfirtritillcben  Selbstkritik»  die  —  ohne  ihn  früher  zum 
MAOflc  sni  machen  **  doch  tlles  Juj!:endlicfae  in  ihm  begrub;  — 
imter  der,  im  Vergleich  zu  fidnen  Jahren,  unnatörllchen  Oröße 
der  fibernommenen  Aufgabe  . . .,  unter  der  tiefen  Feindschaft,  die 
er  zuerst  zwischen  sich  und  seine  Familie,  dann  zwischen  sich  und 
die  ganze  Welt  gelegt  hatte . . .  und  endlich  unter  der  ganzen 
Zusammensetzung  seines  Charaktets,  dieser  erschrecklichen  Mischung 
aus  Stolz  und  Armut,  Herrschsucht  und  Askese,  die  sein  ver- 
feinerter Geschmack  als  unedel  empfand  und  die  er  mit  Oewalt- 
mittein  veredeln  wollte. 

All  dies  mußte  einmal  zu  einer  Exploaion  führen. 

Ach,  und  es  war  ein  Wunder,  daß  er  nicht  schon  unter- 
lagen war,  daß  ihn  sein  Wille  zur  Höhe  mit  einer  rührenden 
Zähigkeit  so  lang  in  einem  Kampfe  aufrecht  erhalten  hatte,  dessen 
wesentliches  Ziel  doch  ihm  selbst  noch  verborgen  war! 

Möchten  es  erlösende  Tränen  sein,  die  er  jetzt  weinte!  Denn 
auch  so  erhob  sich  vor  seiner  Seele  noch  immer  die  große  letzte 
und  entscheidende  Frage,  ob  sie  ihn  zum  Leben  oder  zum  Tode 
erlösten  . . . 

Als  er  an  diesem  heiligen  Tage  in  seine  Behausung  zurück- 
kam, fand  er  auf  seinem  Tisch  einen  Brief  vor,  der  von  einer 
feinen  dünnen  Feder,  aber  mit  sehr  großen,  selbstbewußten  Buch- 
itaben geschrieben  war,  und  der  lautete  wie  folgt: 
Sehr  geehrter  Herr! 
Wie  Sie  vielleicht  wissen,  wohnen  in  diesem  Hause  lauter 
alte  Damen  und  nur  zwei  männliche  Wesen,  nämlich  Sie  und 
ich.  Wenn  Sie's  noch  nicht  wissen  sollten  ^  ich  wohne  ein 
Stockwerk  über  Ihnen. 

Nun  haben  Sie  gestern  den  Hausflur  mit  einer  rauchenden 
Zigarette  betreten.  Dies  ist  natürlich  Ihr  gutes  Recht.  Ich  aber 
kann  den  Tabakrauch  nicht  vertragen,  so  wenig,  daß  ich  davon 
krank  werde.  Auch  habe  ich  in  diesem  Haus  nur  Logis 
genommen,  weil  ich  unter  den  alten  Damen  keine  Raucher 
vermutete. 

Ich  bitte  Sie,  mich  nicht  mißzuverstehen,  wenn  ich  Sie 
höflich  bitte,  während  der  paar  Sekunden,  die  Sie  brauchen, 
um  den  Hausflur  zu  durchschreiten,  das  Rauchen  gütigst  zu 
ttuterUnsen. 


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—  10  — 

Sollten  Sie  diese  kleine  Bitte  nicht  gewähren  können, 
müßte  ich  hier  ausziehen;. dies  wäre  einerseits  sehr  unbequem 
und  andererseits  ist  es  sehr  fraglich,  ob  es  in  dieser  Sfaidt  noch 
ein  Nichtraucherhaus  gibt. 

Zwar  könnte  ich  mich  in  mein  väterliches  Schloß  zurfi^- 
ziehen;  aber  mein  frfiherer  Kammerdiener,  der  dort  lebt,  ist 
ebenfalls  Raucher;  ihn,  der  seit  vierzig  Jahren  im  Hause  dient, 
zu  entlassen,  brächte  ich  aber  nicht  übers  Herz.  Ihm  seinen 
Knaster  zu  verbieten,  ebensowenig.  Ich  riskiere  lieber,  mit  meiner 
Bitte  lächerlich  vor  Ihnen  zu  erscheinen. 
In  Hochachtung 

Theodor  Freiherr  von  Rudlüng. 
Vielleicht  machen  Sie  mir  im  Laufe  des  morgigen  Vor- 
mittags einen  kleinen  Besuch,  damit  Sie  den  Menschen  kennen 
lernen,  der  so  unbescheiden  ist,  Sie   mit  diesem  Brief  zu  be- 
lästigen. — 

Karl  Asenkofer  lächelte  und  war  ohne  Weiteres  einverstanden 
mit  dem  Vorschlag  des  Herrn  von  Rudlfmg.  Auch  den  Besach 
wollte  er  ihm  machen ;  es  war  ihm  jetzt  ganz  angenehm,  durch 
eine  neue  Bekanntschaft  etwas  zerstreut  zu  werden,  namentlich  weil 
er  Nachrichten  von  Baron  Dossenheim  voller  Ungeduld  erwaitete. 
In  dessen  Haus  hatte  er  ja  schon  vor  acht  Tagen  sein  Buch  abgegeben. 
Er  klopfte  also  kurz  vor  Mittag  an  der  Türe  im  erstes 
Stock.  Eine  zusammengeschrumpfte  alte  Frau  öffnete  ihm,  sichtlich 
bemüht,  jedes  Geräusch  dabei  zu  vermeiden,  nahm  ihm  in  voll- 
kommener Schweigsamkeit  Hut  und  Mantel  ab  und  machte  ihm, 
wiederum  geräuschlos,  die  Tür  zu  einem  Empfangszimmer  auf. 
»Einen  Augenblick!«  flüsterte  sie  und  verschwand. 

Karl  Asenkofer  sah  sich  mit  einiger  Befangenheit  im  Hmxaer 
um.  Es  war  sehr  geräumig  und  enthielt  wenig  Möbel;  diese  waren 
in  einem  ungemein  ernsten  empireartigen  Stile  gehalten.  Plötzlidi 
zuckte  Karl  Asenkofer  erschreckt  zusammen.  Er  glaubte,  eine 
Vision  der  HäBlichkeit  zu  haben.  Er  strich  sich  über  die  Augen, 
wie  um  den  Eindruck  wegzuwischen,  sah  scharf  hin  und  entdeckte 
zu  seinem  ,  Abscheu,  daß  dort,  am  Kamin,  zwei  gräßliche  0^ 
schöpfe,  ein  Hund  und  ein  Mensch,  eng  zusammengekauert  und 
bewegungslos  am  Boden  hockten. 

Der  Hund  war  ein  grauschwarzer,  struppiger  und  ganz  ud- 
möglicher  Bastard,  eine  Mischung  aus  allen  Rassen,  mit  nnsagbar 


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—  11 


kldnoi  verrunzelten  Angen.  Er  klappte  das  Manl  an!  und  zu,  ala 
ob  er  bellen  wollte;  offenbar  war  er  stumm.  Indessen  sah  das  Tier 
im  Vergleich  zu  dem  Monstrum,  das  neben  ihm  kauerte,  noch 
menschlich  aus.  Ein  gelbbrauner  Kropf  hing  diesem,  in  der  Form 
einer  gewaltigen  Birne,  tief  auf  die  Brust  herab.  Sein  Gesicht« 
überhaupt  seine  ganze  Haut,  schien  aus  Leder  zu  sein.  Die  Haare 
gingen  fast  auf  die  Nase  herunter,  er  zog  an  ihnen  mit  unge- 
heuren, tiptschen  Händen.  Er  grinste  Karl  Asenkofer  mit  ekel* 
erregender  Freundlichkeit  an  und  stieß  dumpfe  Laute  aus. 

Der  also  Überraschte  wandte  sich  eben  wieder  zum  Gehen, 
um  diesem  Anblick  zu  entkommen.  Da  trat  Herr  von  Rudifing  ein. 

»Ach,  entschuldigen  Sie!«,  rief  er,  als  er  der  zwei  Geschöpfe 
am  Kamin  gewahr  wurde.  »Entschuldigen  Sie  vielmals,  ich  wußte 
nicht,  daß  sie  sich  gerade  hierher  verkrochen  haben.  Entschuldigen 
Siel«  Und  er  winkte  dem  seltsamen  Paar,  das  mühselig,  Hund 
und  Mensch  auf  allen  Vieren  zur  TOr  hinauskroch. 

Karl  Asenkofer  war  noch  immer  sprachlos.  Er  betrachtete 
den  Menschen,  der  vor  ihm  stand.  Man  konnte  ihn  für  sechzehn 
und  dann  wieder  für  vierzig  halten.  Schlank  und  groß,  aber  sehr 
zart  gebaut.  Sein  Gesicht  war  außerordentlich  schön,  jedoch  fast 
blutleer.  Beinahe  weißblonde  Haare,  tiefliegende  leidende  Augen, 
eine  typisch-aristokratische  Nase  und  ein  fein  geschwungener 
Mund  mit  ungemein  dünnen  Lippen.  So  sah  Herr  von  Rudifing 
aus.  Er  reichte  Karl  Asenkofer  die  Hand,  eine  Unge  schmale 
Hand,  und  entschuldigte  sich  wiederholt 

Endlich  fand  Karl  Asenkofer  die  Sprache  wieder  und  ent- 
schuldigte sich  nun  seinerseits,  daß  er  vor  den  sichtlich  harm- 
losen Geschöpfen  so  viel  Schrecken  gezeigt  habe.  Der  Herr  von 
Rudifing  bat  ihn,  sich  zu  setzen.  Er  selbst  ließ  sich  in  einem  der 
hoben  Stühle  nieder,  schlug  die  Füße  übereinander,  neigte  den 
Kopf  etwas  vor  und  wollte  eben  etwas  sagen.  Da  platzte  Karl 
Asenkofer  —  der  ihn  nicht  aus  den  Augen  verlor  und  fand,  daß 
jede  seiner  Bew^;ungen  wie  gemeißelt  aussah  —  mit  der  Frage 
heraus:  »Wie  alt  sind  Sie  eigentlich,  Herr  von  Rudifing?« 

Jener  lächelte  gewissermaßen  verzeihend:  »Ich  bin  ungefähr 
zwölfhundert  Jahre  alt«,  sagte  er,  »geboren  wurde  ich  allerdings 
vor  sechzehn  Jahren.  Ich  bin  der  letzte  Nachkomme  derer  von 
Rudifing.  Der  erste  bekannte  Rudifinger  war  mit  Karl  dem 
Großen  verwandt.« 


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12  — 


Karl  Asenkofer  bereute  seine  Frage.  »Wie  kommen  Sie 
eigenüicfa  zu  so  merkwürdigen  Haustieren?«  forschte  er. 

»Der  Kretin  mit  dem  Kropf  ist  wahrscheinlich  mdn  Stief- 
bruder. Wenigstens  hat  die  Magd,  die  ihn  geboren  hat,  meinen 
Vater  als  Erzeuger  angegeben.  Verifizieren*  ließ  es  sich  nicht  Die 
Magd  ist  auch  blöd,  und  mein  Vater  war  drei  Monate  vor  der 
Geburt  gestorben.  Der  Hund  ist  ins  Schloß  zugeUiufen  und  hat 
sich  sofort  mit  dem  Kretin  befreundet  Als  ich  von  zu  Hanse 
wegzog»  rannten  sie  mir  nach.  Ich  hatte  nicht  das  Herz,  sie 
davonzujagen.« 

»Entschuldigen  Sie!«  stotterte  Karl  Asenkofer  verwirrt  »idi 
konnte  nicht  wissen  . . .« 

»Aber  natürlich;  nein  — .  Sie  studieren  wohl  hier?« 

»Ja.  Darf  ich  fragen,  was  Sie  treiben,  Herr  von  Rudifing.« 

»Ich  warte.  Seit  einigen  Jahren  warte  ich,  eigentlich  schon 
mein  ganzes  Leben.  Vielleicht  könnte  ich  Offizier  werden  ^  aher 
ich  rauche  nicht  und  triöke  nicht.  Man  würde  wohl  tudi 
schwitzen.  Ich  kann  aber  den  Schweiß  nicht  leiden.  Es  ist  on- 
rdnlich.  Also  warte  ich  einfach.« 

»Haben  Sie  zu  gar  nichts  Neigung?« 

»Ich  habe  alles  in  mir,  von  Geburt  aus.  Und  zu  erwvbeo 
habe  ich  auch  nichts.  Ich  bin  reich  genug  ...  So  oder  so,  idi 
sehe,  daß  alle  Neigung  der  anderen  nach  Dingen  geht,  die  id 
schon  habe.  Was  soll  man  tun!«  Er  sah  traurig  in  die  Ecke. 

»Aber  Sie  könnten  doch  Politik  treiben,  Sie  köonten 
Diplomat  werden!« 

»Wozu!  Meine  Väter  konnten  das  noch  machen.  Ahcr 
heute  ist  ja  alles  anders. geworden;  es  handelt  sich  jetzt  nur  mehr 
um  Industrie  und  Kolonialwaren.  Ich  verstehe  und  mag  das 
nicht  . . .  Vielleicht  wäre  ich  Arzt  geworden  oder  Krankenpfleger. 
Aber  die  meisten  Kranken  sind  doch  unreinlich.  Da  laufe  ick 
davon.« 

»Aber  wenn  Sie  gerne  helfen,  können  Sie  doch  zn  den 
Armen  gehen,  Liebeswerke  tun!« 

»|a,  ich  helfe  gern.  Aber  gerade  das  ist  mein  größtes  Ui 
glück.  Schon  so  manchem  wollte  ich  helfen.  Aber  die  meiste 
Armen  riechen  Ja  aus  dem  Mund.  Da  werfe  ich  dann  sdinell  ei 
Almosen  hin  und  drücke  mich.  Ich  kann  also  nicht  einmal  Woli 
t&ter  von  Beruf  werden.« 


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—  18 


»Was  für  ein  Leben!«  murmelte  Karl  Asenkofer  traurig, 
»Was  f&r  ein  hartes  Leben !  —  « 

»Ja,  gar  kein  Ziel.  Ich  muß  einfach  warten.  Ich  warte  schon 
seit  einigen  Jahren.« 

»Was  für  ein  Leben!  Und  immer  sollen  Sie  mit  diesen 
beiden  .  .  pardon,  mit  Ihrem  Herrn  Stiefbruder  und  seinem  Hund 
zusammenleben !« 

»Nun  ja,  nun  ja  .  .  .  beide  sind  übrigens  reinlich,  der 
KreKn  und  der  Hund.  Die  Magd  war  nicht  reinlich.  Der  Kretin 
wird  also  seine  Tugend  von  unserem  Vater  haben.« 

»Wenn  Sie  gar  kein  Ziel  haben«,  fuhr  es  Karl  Asenkofer  her- 
aus, »gar  kein  Ziel  und  nur  immer  warten  .  .  .  worauf  warten  Sie 
denn,  um  Ootteswillen,  worauf  .  .  .« 

»Auf  das  Ende  .  .  .«  antwortete  der  junge  Baron  mit  einem 
schmerzlichen  Lächeln. 

»Welches  Schicksal !  •  .  Welche  Bosheit  des  Schicksals!  .  .< 
Und  Karl  Asenkofer  dachte,  daß  die  Existenz  jenes  Menschen 
wahrhaftig  der  gemeinste  Witz  sei,  den  sich  die  Vorsehung 
erlaubt  habe.  Es  herrschte  Stillschweigen  zwischen  den  zwei  jungen 
Menschen.  Der  junge  Baron  faßte  sich  zuerst  und  begann  von  den 
und  jenen  Kleinigkeiten  zu  sprechen.  Aber  Karl  Asenkofer  war  in 
tiefste  Betrübnis  gesunken  und  setzte  ihm  Schweigen  entgegen. 

»Sie  sind  ja  noch  unglücklicher  als  ich?«  begann  er  endlich. 

Jener  warf  mit  einem  Male  stolz  den  Kopf  zurück  und  be- 
trachtete Karl  Asenkofer  von  oben  herab  —  als  ob  In  seiner  Frage 
eine  Frechheit  liege. 

»Verzeihung!«,  rief  er  halblaut,  »in  Dingen  des  Unglücks 
hält  niemand  mit  mir  den  Vergleich  aus.  Mein  Unglück  baut  sich  auf 
dner  Tradition  von  zwölfhundert  Jahren  auf  .  .  Ich  bin  das  kul- 
tivierteste Unglück,  das  es  gegenwärtig  auf  Erden  gibt!  .  .« 

Karl  Asenkofer  war  so  in  Mitleid  befangen,  daß  er  diese 
Abweisung  vollkommen  überhörte. 

»Auch  ich  habe  kein  Ziel«  —  fuhr  er  fort. 

»—  Oh !«  rief  Baron  Rudifing,  »das  ist  doch  stark.  Sie  können 
sidi  wirklich  nicht  mit  mir  vergleichen!  Hören  Sie,  Sie  haben 
noch  kein  Ziel,  Herr  Asenkofer,  ich  habe  aber  kein  Ziel  mehr. 
Veretehen  Sie  den  Unterschied  nicht  ?« 

Karl  Asenkofer  schwieg  verdutzt  auf  diesen  heftigen  Aus- 


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14 


brach  des  Baron  Rudifing.  Langsam  überlegte  er,  wie  diese  letztes 
Worte  gemeint  waren. 

»Ihr  Ziel !«  fuhr  der  Baron  fort,  »Ihr  Ziel,  das  ist  sehr  ein- 
fach. Ihr  Ziel  muü  sein,  die  zwölf  Jahrhunderte  Kultur  emzuholen, 
die  ich  vor  Ihnen  voraus  habe.  Sie  haben  eher  zu  viel  Ziele  als  zu 
wenig  .  .  .« 

Alimählich  begriff  ihn  Karl  Asenkofer  und  errötete  ober 
und  über.  Am  liebsten  wäre  er  sofort  weggegangen.  Dieser  Mensch 
war  junger  als  er;  wie  kam  er  dazu,  ihm  Lehren  zu  geben. 

Als  ob  der  Baron  seinen  Gedanken  erraten  hätte, 
begann  er  jetzt,  ruhigeren  Tones,  Karl  Asenkofer  zu  beschwichtigen : 
»Ich  bin  Ihnen  dankbar,  daß  Sie  meinetwegen  nicht  mehr  im 
Hausflur  rauchen  wollen.  Und  Sie  brauchen  sich  nicht  zu  schämen, 
ich  bin  doch  um  so  viel  älter  als  Sie!  Seien  Sie  nicht  beleidigt ! 
.  .  .  ich  habe  ja  nur  den  Trost,  daß  mein  Unglück  aus  der 
Tradition,  aus  der  übergroßen  Verfeinerang  meines  Oescfalechtes 
fließt  .  .  .  Nein,  verzeihen  Sie  mir,  Ihre  Jugend  ist  doch  etvas^ 
was  Sie  vor  mir  voraushaben  ...  Sie  brauchen  noch  nicht  zu  sterben, 
Sie  sind  noch  so  jung,  so  jung  .  .  .< 

Karl  Asenkofer  hatte  ihm  schon  längst  verziehen.  Das  Ab- 
sonderliche des  Erlebnisses  hatte  ihn  aber  in  Verwirrung  geworfen. 
Er  schüttelte  traurig  den  Kopf.    Sie  schwiegen  eine  lange  Weile. 

»Herr,  erbarme  dich  unser !«  schluchzte  der  Baron  von  Rndl- 
fing.  Der  Hund  scharrte  heulend  an  der  Tür  und  der  Kretin 
stieß  dumpfe  Laute  aus. 

Karl  Asenkofer  schüttelte  traurig  den  Kopf  und  vcrliefi 
das  Gemach. 

Andern  Tags  stürzte  seine  Hauswirtin  ins  Zimmer:  »Wissen's 
schon,  Herr  Dokter,  der  spinnerte  Baron  im  ersten  Stock  hat  sich 
vergift',  mit  samt  sein  Hund  und  sein  Kropfeten!« 

Karl  Asenkofer,  der  am  ganzen  Leibe  zitterte,  wies  sie 
schnell  hinaus. 

Dann  aber  sank  er  in  die  Knie  und  verhüllte  sein  Gesteht 
mit  den  Händen:  »Was  soll  man  tun,  rang  es  sich  aus  ihm,  waa  soll 
man  tun?  .  .  .< 

».  .  .  wenn  es  sogar  für  die  Güte,  für  die  Zudit  des 
Menschen,    wenn  es  auch  für  seinen  Adel  eine  bestii^te  Grenze 


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15 


gibt,  die  nicht  überachritlcn  werden  darf  —  wie  das  Leben  und  der 
Tod  dieses  Menschen  zeigt  .  .  .  was  soll  man  tun  ...  er  besaß 
doch  alles.  Vergangenheit.  Tradition.  Kultur  und  Reichtum  .  .  ja, 
-was  soll  man  tun !  .  .< 

Und  in  diesem  Augenblicke  überfiel  ihn,  gleichsam  mit  der 
^ucht  eines  epileptischen  Anfalls,  die  tiefste  und  letzte  Einsicht 
—  seine  Seele  selbst  begann  durch  ihn  zu  sprechen  (halb  klang  es 
wie  ein  Fluch,  halb  wie  ein  Gebet): 

»Gebt  mir,  oh  Götter  —  schrie  seine  Seele  —  gebt  einen 
Menschen,  einen  Zwang,  eine  Idee,  gebt  ein  Evangelium  und 
Credo,  woran  ich  glauben  kanni . . 

. . .  Nehmt  mir  den  Intellekt,  o  Götter,  schlagt  mich  mit 
Blindheit,  werft  mich  in  ein  Gefängnis  des  Geistes  und  laßt  mich 
an  etwas  glauben!  . . 

. . .  Die  Freiheit  hat  mich  krank  gemacht  ~-  nehmt  sie,  o 
Oötter  —  denn  ich  sterbe  sonst  vor  Freiheit! « 

In  dieser  Stunde  entschied  sich,  innerlich  wenigstens,  das 
Schicksal  Karl  Asenkofers. 


Der  Sexttalkorrespondent. 

Nun  wird  Herr  Harden  bald  Ruhe  von  mir  haben. 
Wenn  es  ihm  nämlich  ernst  damit  ist,  die  Kulturf'eder 
hinzuwerfen  und  politischer  Agitator  zu  werden  (den 
Voitragsabend  zu  8000  Mark).  Ich  überlasse  ihn  den 
Fachleuten;  wenn  ein  schlechter  Schriftsteller  sich 
entschliefit,  Mechaniker  zu  werden,  hat  er  von  mir 
nichts  tu  fürchten.  Zum  Rohstoff  der  Politik  soll 
man  diesem  Talent  und  diesem  Charakter  den  Zu- 
tritt nicht  wehren.  Ihn  literarisch  zu  gestalten,  dazu 
faats  auf  die  Dauer  nicht  gereicht.  Der  tiefgefühlte 
Mangel  an  Persönlichkeit  schuf  den  Zustand  einer 
geistigen  Feuersnot.  Die  Ochsen  rennen  aus  dem  Stall 
in  den  Bra«d,  der  Publizist  rannte  aus  dem  Stoff  in  die 

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—  16  — 

Bildung.  Man  hielt  sich  vor  dem  Qualm  die  Nase  zu» 
Einer  hat  fünfzehn  Jahre  von  dem  Vorurteil  gelebt» 
dafi  ein  größeres  literarisches  Temperament  dasu  ge- 
höre, einen  König  anzugreifen,  als  einen  Kärrner. 
Das  Gegenteil  ist  der  Fall.  Schliefilich  trat  der  geistige 
Bankerott  ein.  Aber  auf  der  Tribüne  kommt  nicht 
nur  die  äußere  Gröfie  des  Themas  wieder  zu  Ehren, 
sondern  verhilft  auch  der  Mut,  einen  König  anzo- 
greifen, dessen  Beleidigung  auf  Monate  hinaus  von 
einem  Kanzler  freigegeben  ist,  zu  Ehre  und  Gewinn. 
Nur  dort,  wo  Herr  Harden  auf  seine  literarische 
Leistung,  also  auf  seine  Tätigkeit  in  den  Fällen  Moltke, 
Eulenburg,  Hohenau,  Lynar  u.  s.  w.  zurückgreift» 
wird  er  sich  noch  ein  wenig  Kontrolle  gefallen 
lassen  müssen.  Und  zu  seinem  unglücklichen  Ver- 
gleich, der  angeblichen  französischen  Ausgabe  des 
,Simplicissimus^  mit  der  Handlung  eines  Menschen, 
der  »eine  schmähliche  oder  lächerliche  Familien- 
geschichte in  die  Zeitung  bringtc,  habe  ich  noch 
etwas  nachzutragen.  Herr  Harden  würde  sich  natür- 
lich dagegen  yerwahrejn,  dafi  er  sich  selbst  mit 
diesem  Vergleich  habe  treffen  wollen.  Und  mit  Recht. 
Er  wehrt  jedes  Kompliment  für  seinen  Eifer  in  der 
Eulenburg^Sache  mit  dem  Einwand  ab,  er  habe  sich 
im  Beweise  der  Sexualhandlungen  des  deutschen 
Adels  nur  »von  Schritt  zu  Schritt  drängen  lassen«. 
Er  habe  sich  —  auch  diesmal  versichert  er  es  wieder 
—  gegen  sein  persönliches  Interesse  bemüht,  »jede« 
laute  Ärgernis  zu  meiden,  c  Nur  den  Gebrauch,  »den 
die  Stunde  gebieterisch  fordertec,  habe  er  von  dem 
Beweismaterial  gemacht,  das  er,  »wie  jetzt  ja  aucb 
dem  Zweifler  erwiesen  istc,  längst  hatte.  Der  Märtyrer 
liefi  sich  sogar,  man  denke,  »ruhig  nachsagen,  er  habe 
kein  MateriaU.  Wohl  das  Schimpflichste,  was  ihm  iiu* 
sein  Gefühl  nachgesagt  werden  konnte.  Nein,  fem  sei  e» 
von  uns,  ihm  den  Wissensschatz  zu  bestreiten,  aus  dem 
er  sein  Köstlichstes  bestritten  hat  I  Und  dafi  er  persönlidi 
von  ihm  nur  den  sparsamsten  Gebrauch  gemacht  btt, 
dafi  er  wirklich  bemüht  war,  jedes  laute  Ärgernis  zumei- 

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17 


den,  ich  weift  es  heute  besser  denn  je.  Denn  vor  mir 
liegt  ein  blauer  Zettel.  Ein  Exemplar  jener  »Neuen 
Gesellschaftlichen  KorreFpondenzc,  aus  der  die 
Journale  in  den  Eulenburg-Tagen  ihre  Informationen 
geschöpft  haben  und  aus  der  sie  noch  heute  alle 
die  peffid  beruhigenden  Nachrichten  über  das  Be- 
finden des  angeklagten  Fürsten  nehmen.  Aber  wie 
wenig  haben  sie  genommen  und  wie  viel  wäre  zu 
haben  gewesen  I  Sie  wollten  schmähliche  oder  lächer- 
liche Familiengeschichten  vielleicht  doch  nicht'  all- 
zu breit  treten,  auf  die  Gefahr  hin,  Herrn  Harden 
EU  kränken,  der  sie  —  als  Stilsachverständi^er  beeide 
ichs  vor  jedem  Forum  —  persönlich  stilisiert  hatte. 
So  zimperlich  wie  jene  war  nun  Herr  Harden  nicht; 
er  hat  manche  seiner  Sätze  wieder  an  sich  genom- 
men, sie  fast  wörtlich  in  seine  eigenen  Publikationen 
eingereiht,  und  so  bedürfte  es  vielleicht  nicht  einmal 
meines  Gutachtens,  um  seine  Urheberschaft  zu  beweisen. 
Hier  eine  interessante  Probe.  Herrn  Hardens  Art  ver» 
leugnet  sich  in  der  schlichten  Nutzarbeit,  die  er  für 
die  Sexualkorrespondenz  leistet,  durchaus  nicht;  nur 
trägt  er  nachher  in  der  ,Zukunft'  etwas  pastoser  auf. 


Nene  Oesellschaftliche  Korrespon- 
denz 

(Spezial-Nachrichtendienst. 

Preis  3  Mark. 

Berlin,  10.  Juli  1908.) 

Was  Ist  bisher  erwiesen?  .  .  . 
Den  stiidtlschen  Hausmeister  Franz 
Dandl,  der  früher  herrschaftiicher 
Diener  war,  hat  Eulenburg  um 
die  Waden  gefaßt,  später  ihm  den 
Arm  um  die  Schultern  gelegt  und 
ihn  wegen  seiner  schlanken  Schön- 
heit gelobt  Den  Matrosen  (jetzt 
Bergmann)  Trost  hat  Eulenburg 
als  Gast  des  Kaisers  auf  der  »Ho- 
henzoUern«  im  Jahre  1898  in  eins 
der  Qesprflche  zu  ziehen  versucht, 
mit  denen  Homosexuelle  ihre  An- 


,Zukunft' 
(25.  Juli,  1.  August  1908) 
.  . .  Bewiesen,  daiS  der  Angeklagte 
den  Diener  Franz  Dandl  an  die  Waden 
gefaßt,  ihm  später  den  Arm  um 
die  Schulter  gelegt  und  seine 
schlanke  Schönheit  gepriesen  hat 
Als  Gast  des  Kaisers  auf  der 
»Hohenzollem«  im  Sommer  1898 
den  Matrosen  Trost  in  eins  der 
Gespräche  zu  ziehen  versuchte,  mit 
denen  Homosexuelle  ihre  Anbän- 
delungen einzuleiten  pflegen,  und 
sich  dem  jungen  Mann  mit  einer 
Frage  näherte,  deren  unflätiger 
WorUaut  die  öffenüiche  Wiedergabe 
nach  unserem  Strafgesetz  unmög- 
lich macht  ....  Festgestellt  ist 
ferner,  daß  FQrst  Eulenburg  drei- 
mal versucht  hat,  Jakob  Ernst 
zum  Meineid  zu   verleiten:    durch 


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18 


nlheningen  zu  beginnen  pflegen, 
and  Itt  dann  mit  einer  Frage  an 
Ihn  herangetreten,  deren  Unflltig- 
keit  die  Wiedergabe  vor  gesitteten 
Menschen  unmöglich  macht  .... 
Festgestellt  ist  femer,  daß  Fürst 
Eulenburg  selbst  (durch  einen 
Brief)  und  indirelct  durch  Vermitt- 
lung seines  früheren  Sekretärs 
Kistler,  der  sein  Günstling  geblie- 
ben und  Hofrat  geworden  ist,  ver- 
sucht hat,  den  Fischer  Ernst  zum 
Meineid  zu  verleiten.  — 

(Eulenburgs  Wahrhaftig- 
keit.) ...  Auf  der  »Hohenzollem« 
will  er,  bei  der  zotigen  Annäherung  an 
Trost,  morgens  um  10  Uhr  an- 
getrunken gewesen  sein  und  ver- 
suchte das  mit  der  Behauptung  zu 
rechtfertigen:  »Auf  Befehl  Seiner 
Majestät  gab  es  dort  schon  bei 
der  Morgenmahlzeit  starke  Ge- 
tränke«. Oberhof  marschall  und 
Hausminister  Graf  August  Eulen- 
buig  hat  dann  unter  seüiem  Eid 
ausgesagt,  morgens  werde  auf  der 
»HohenzoUern«  nur  Thee  und 
Kaffee  gereicht  und  es  sei  »abso- 
lut ausgeschlossen«,  dafi  morgens 
um  10  Uhr  einer  der  Herren  des 
Kaiserlichen  Gefolges  angetrunken 
sein  könne  . . .  Den  Dandl  will  er  an 
die  Wade  gefaßt  haben,  weil  er 
»übel  rieche«;  doch  ist  festgestellt, 
dafi  er  den  Diener  oft  angefaßt, 
einmal  beinahe  umarmt  und  zärt- 
lich angeredet  hat,  von  üblem 
Gerüche  also  nicht  belästigt  gewe- 
sen sein  kann  .... 


einen  Brief,  den  der  Untefsodraiif»- 
richter  In  Starabeig  fand;  dwdi 
einen  zweiten  Brief,  den  Holm 
Kistler  dem  Fischer  bringen  mofile, 
aber  nicht  zurücklassen  durfle; 
und  durch  eine  Botschaft,  die  der 
von  Philis  Gnaden  mit  rvGU 
Orden  geschmückte  Hofrat  inf 
seiner  Lippe  ins  Fischer- 
haus trug.  ~ 

...  Als  er  den  Diener  Dandl  am 
Bein  faßte,  trieb  ihn  nldit  etwa 
sinnliches  Wohlgefallen,  sonden 
der  Wunsch,  den  schlecht  rledicii- 
den  Mann  wegzuschieben;  als  er 
ihm  später  den  Arm  um  die  Scfank 
tem  legte  und  Dandls  scfatecc 
Wuchs  rühmte,  war  der  Qerad) 
wohl  verflogen.  Auf  der  »Hohen- 
zollem« will  er,  bei  der  zottgen 
Annäherung  an  den  Matrosen 
Trost,  morgens  um  10  Uhr  be- 
zecht gewesen  sein.  »Auf  Befehl 
Seiner  Majestät  gab  es  schon  mor- 
gens an  Bord  eine  kräftige  Mahl- 
zeit mit  starken  Getränken;  da 
mein  Magen  mir  Mäßigung  te 
Essen  gebot,  hielt  ich  mich  manch- 
mal an  die  Getränke.«  Obefbof- 
marschall  Graf  August  Eulenbmg 
beschwört,  dafi  es  morgens  zwar, 
wie  auf  alten  Schiffen,  Fleisch 
und  Fisch,  an  Getränken  aber  na 
Tee  und  ]<affee  gebe,  nnd  erldirt 
es  für  »absolut  ausgeschlossen». 
dafi  ein  vom  Kaiser  eingeladener 
Herr  der  engsten  Tafelrunde  um 
zehn  Uhr  früh  nicht  mehr  nüchtcn 
gewesen  sein  könne.  Oenfigts? 


Genügts?  Wie  man  sieht,  hat  Herr  Harden  die  Ober^ 
Setzung  aus  seiner  Sprache  diesmal  selbst  und  schon  eis 
paar  Wochen  vorher  besorgt.  Immerhin  vermag  stdi 
eine  so  markante  sprachliche  Individualität  selbst  dann 
nicht  völlig  aufzugeben,  wenn  sie  blofi  die  Tatsachen 
serviert,  auf  die  es.  ihr  ankommt.  Worte  wie  »der 
prächtige  Starrkopf  Dohnac  (der  Qrobian  FQrst  Dohna) 
oder    >die  Lehmannkammerc  (das  Richterkoliegiam 


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>  lÄ- 


unter  dem  Vorsitz  des  Herrn  Lehmann)  sind  ver- 
räterisch. Vollends  Sätze  wie:  »Er  war  sein  Leben 
lang  immer  krank,  wenn  es  ihm  an  den  Kragen  su 
gehen  drohte.  Nach  dem  Tauschprozefl,  nach  Dohnas 
derb  deutlichem  Brfef,  als  Herr  von  Holstein  ihn  brief- 
lich einen  verächtlichen  Menschen  genannt  hatte^ 
nach  dem  Berliner  und  dem  Münchener  Schöffen- 
gerichtsprozefi :  immer.  Aber  er  gilt  auch  jetzt  nun 
einmal  als  krank;  und  hat  schon  erfahrenere  Leute 
eingewickelt,  als  Gerichtsärzte  zu  sein  brauchen.« 
Wenn  das  nicht  schon  einmal  in  der  ^Zukunft'  ge* 
standen  ist,  so  könnte  es  ganz  so  in  der  ,Zukunft^ 
stehen.  Es  ist  der  Ton  des  sachten  Warners,  es  sind 
die  bedeutenden  Wahrheiten  des  Herrn  Harden,  es 
ist  selbst  seine  Interpunktion.  Er  hat  für  die  Welt,  die 
seine  Feststellungen  für   Kulturarbeit    hält,    doppelt 

fearbeitet.  Nurdafi  er  nicht  alles,  was  er  für  die  Sexual- 
orrespondenz  schrieb  und  was  bloß  zur  stillen  Be- 
lehrung der  Tagespresse  dienen  sollte,  in  seine 
Revue  übernommen  hat.  Denn  auf  dem  blauen  Zettel 
wird  uns  nicht  nur  keine  Feststellung  erspart,  son- 
dern es  wird  auch  jede  Möglichkeit  einer  neuen 
Denunziation,  die  zu  neuer  Anklaf!:e  führen  könnte, 
berücksichtigt.  Der  Hofrat  Kistler  in  München 
ist  noch  nicht  verhaftet:  »will  man  wieder  war- 
ten, bis  die  Bayern  die  Initiative  ergreifen?«  Die 
Fürstin  Eulenburg  ist  in  einer  Moabiter  Weinstube 
zwischen  Anwälten  gesehen  worden:  die  Gefahr  der 
Zeugenbeeinflufiung  liegt  nahe.  Der  Fürst  darf  mit 
seinen  Angehörigen  sprechen:  »Caveant  consulesi«  Ein 
Kapitel  über  Bulenburgs  Freunde:  Herr  Harden  teilt  mit, 
dafi  der  bekannteste  —  er  nennt  den  Namen  —  nicht 
nur  ein  Homosexueller,  sondern  sogar  »nach  Vieler 
Behauptung  ein  Zwitter«  war.  Dessen  Neffe  habe  sich 
im  seidenen  Unterrock  seiner  Frau  erhängt.  Neue 
Details  über  Homosexuelle,  die  man  schon  kennt, 
neue  Homosexuelle,  von  denen  man  noch  nichts  ge- 
wußt hat.  Darunter  der  Graf  Qobineau,  mit  dem  verkehrt 
zu  haben  Herr  Hardan  für  besonders  kompromittierend 


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-  SSO  -- 

hält  Zum  Sohlu88e  eine  Mitteilung,  von  der  die  Zei- 
tungen damals  Gebrauch  gemacht  haben:  »Denkea 
Siecy  sagte  der  Kaiser  cum  König  von  Schweden 
über  den  Grafen  W.»  »unser  Edgar  ist  auch  solche! 
Schwein ic,  »Wir  geben  diese  so  sutreffende  wie 
drasUfiche  Äufierung  wiederc,  bemerkt  die  Korres- 
pondens  des  in  allen  Lebenslagen  aufrechten  Herrn 
Harden,  »weil  sie  beweist,  dafl  gesunde  deutsche 
Männer  noch  den  Mut  haben,  dieses  ekelhafte» 
heute  viel  zu  oft  beschönigte  Treiben  der  Männer- 
jäger SU  geifiehi«.  Kein  Zweifel,  Herr  Harden  hatte 
Material,  die  Korrespondenz  beweist  es.  Keio 
Zweifel,  er  hat  lautes  Ärgernis  gemieden,  demi 
Korrespondenzen  sind  nur  für  den  Gebrauch  der 
Presse  und  nicht  des  Publikums  bestimmt.  Aber 
selbst  wenn  er  alles  ausgesprochen  hätte,  was  ist» 
stflnde  sein  Handeln  noch  immer  über  jenem,  das 
er  dem  ,Simplioissimus'  zum  Vorwurf  macht,  und 
er  hätte  recht,  sich  gegen  einen  Vergleich  zu  wehren. 
Denn  wahrlich,  er  hat  nicht  die  eigenen  Famiiioi* 
geheimnisse  preisgegeben,  sondern  blofl  die  fremden  I 

Karl  Kraus. 


Glossen, 

»Ein  Nachmittagsschläfchen  benötige  ich  nicht,   wohl  abs 
Site  ich  durch  einige  Zeit  ruhig  im  Sessel,  wobei  ich  vcnneide, 
die  Beine  hoch  zu  halten,  weil  dies  nach  einer  Mahlzeit  Kos- 
gesttonen herbeiführen   muß.    Auch  möchte  ich  noch  bemerhes, 
daß  ich  zu  Mittag  ausgiebig  speise,  abends  aber  nur  sdir  wcnv 
zu  mir  nehme.«    Wer  hat  den  Mut  zu  solchem  Subjekttvismis? 
Wer  darf  so  vor  aller  Öffentlichkeit  über  sein  Innenleben  Rechcs- 
schaft  geben?    Natürlich  ein  Schauspieler.  Wagt  es  in  Wien  da 
Schriftsteller,  von  seiner  geistigen  Verdauung  zu  sprechen,  so  i 
dem  Lesepublikum  übel.  Aber  wenn  unsere  Tagespresse  sich  eii 
Feiertagsbauch  anmästet,  dann  interessiert  uns  selbst  die  Fia, 
wie  lange  ein  Wiener  Theaterdirektor  schlafen  muß,  »um  ga^ 
frisch  zu  sein«.  Daß  dieses  Resultat  bei  manchen  Wiener  Pcrsöoli 
keitcn  tatsichlich  erzielt  wird,  erfahren  wir  durdi  die  EiiqBete, 


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du  Weihoidittreportar  voAMtaltet  hat  Wenn  Friede  den  Meascheii 
avf  Erden  winkt,  M  die  {ouraalistlache  Höllenbrut  loigelasMn. 
Die  beicannten  Persönlichkeiten  sitzen  beim  Frühstück,  da  rennt 
ihnen  einer  die  Tür  mit  den  Fragen  ein:  »Wie  lange  sdiUtfen  Sie?« 
»Was  ist  fesch?«  »Was  halten  Sie  vom  Theaterbesuch  der  Kinder?« 
Uod  mit  jedem  Jahr  schwindet  der  Mut  zum  Hinauswurf.  Der 
Pdertagsbauch,  der  außer  Annoncen  auch  die  gesamte  Kultur  der 
europäischen  Gegenwart  frißt,  ist  unersättlich.  Daß  sich  ernste 
deutsche  Schriftsteller  dazu  prostituieren,  einer  Horde  vcm  Wiener 
Sonntagskaffeehauslesem  das  geistige  Futter  zu  liefern,  und  daß 
die  zartesten  Klänge  deutscher  Lyrik  mit  Vorliebe  in  dem  Geschrei 
der  entfessdten  Leopoldstadt  untergehen  wollen,  das  ist  nur  du 
Zeichen  dieser  Wdt,  deren  Ton  der  Kommis  angibt.  Aber  er  ver- 
langt mehr.  Er  will  nicht  nur,  daß  die  Dichter  Seil  tanzen,  er 
will  auch,  daß  die  Seiltänzer  schreiben.  Die  Persönlichkeiten 
sollen  sich  auch  in  Branchen  versuchen,  die  ihnen  fremd  sind. 
Der  Bildungshunger  der  Masse  ist  unersättlich,  und  der  Reporter 
tut,  was  er  kann.  Die  bekannten  Männer  sollen  zu  Weihnachten 
nur  ruhig  erzählen,  wie  oft  sie  sich  die  Nägel  putzen.  Entziehe  sich 
keiner  der  Frage!  Er  kann  der  beste  Bürgermeister  sein:  er  wird 
sdnen  Rüffel  bekommen,  wenn  er  nicht  in  der  Weihnachtsnummer 
des  Raubmörderblattes  als  Plauderer  debütiert  hat.  Denn  es  ist  un- 
erläßlich, daß  an  den  hohen  Fdei  tagen  ein  Theaterdirektor  sich 
darüber  ausspreche,  wie  lange  er  schlafe,  ein  Bibelforscher  darüber, 
was  fesch  sei,  und  ein  Feldzeugmeister  darüber,  ob  man  Kinder  ins 
Theater  führen  solle.  Der  Kommis  muß  das  unbedingt  wissen, 
und  der  Journalist  ist  dazu  da,  seinen  Wissensdrang  zu  stillen. . . 
Nun  werfe  ich  aber  eine  Bombe  in  die  Gemütlichkeit,  die  auf 
Jahrzehnte  Verwirrung  stiften  wird.  Ich  mache  das  Publikum 
darauf  aufmerksam,  daß  an  den  authentischen  Äußerungen  der 
bekannten  Persönlichkeiten  bloß  deren  Unterschriften  glaubhaft  sdn 
könnten  und  vielleicht  nicht  dnmal  in  jedem  Falle  diese. 
Manchmal  setzt  der  Belästigte  seine  Unterschrift  unter  das 
fertige  Manuskript,  das  ihm  der  Reporter  hinhält;  gelesen  hat 
er  es  nicht  immer,  geschrieben  fast  nie.  Das  Publikum  hat 
nun  dn  einfaches  Mittel,  die  Sache  zu  überprüfen.  Wenn  etwa 
Männer  wie  Bernhard  Baumeister  und  Dr.  Karl  Lueger  mit 
literarischen  Arbeiten  in  der  Wiener  Presse  vertreten  sind  und  plötz- 
Bch  versichern,  daß  sie  »an«  etwas  vergessen  haben,  dann  kann  das 


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Publikum  flberzeugt  sein,  daB  die  litenurisdien  AiMten  in  der  Re- 
daktion entstanden  sind.  Das  ist  ein  untrfiglicfaes  Mittd.  Ich 
habe  es  in  der  letzten  Zeit  öfter  und  gerade  gegenüber  der 
Wiener  Weihnachtsliteratur  angewendet  Nur  furchte  ich,  daß  das 
Publikum  von  der  Presse  so  weit  erzogen  ist,  selbst  »daran 
zu  vergessen«. 

* 

Wenn  mir  eines  die  Unzufriedenheit  mit  dem  österreichi- 
schen Leben  verleiden  könnte,  so  ist  es  die  Vorstellungi  daß  sie 
auch  dem  Herrn  Hofrat  Burckhard  Freude  macht  Und  da  muß 
ich  bekennen,  daß  ich  noch  immer  lieber  einem  alten  Veteranen, 
der  einen  Säbel  haben  möchte,  den  Ernst  kulturellen  Strebens 
glaube,  als  solch  einem  Revoluzzer,  der  alles,  was  in  ihm  an  dnen 
österreichischen  Hofrat  erinnerte,  dem  Fortschritt  prdsgegeben  hat 
und  nichts  davon  zurückbehielt,  als  die  Pension.  Daß  er  jetzt  anf 
der  Bühne  des  Deutschen  Volkstheaters  sexualfrdheitliche  Erkennt- 
nisse propagiert  und  den  Familien  der  Börse  zeigt,  wie  die  öster- 
rrichischen  Komtessen  vorschriftswidrig  gebären,  ist  ganz  im  Stii 
jener  intellektuellen  Aufklärung,  der  ich  aus  tiefstem  Herzen  die 
Reaktion  in  ihrer  lebensfeindlichsten  Gestalt  vorziehe.  Im  Sozialen 
wie  im  Sexuellen  wird  die  Freiheit  mit  ihren  Feinden  fertig, 
ohne  der  Gemeinheit  als  einer  Schiedsrichterin  zu  bedürfen; 
darum  muß  sie  sich  vor  allem  ihrer  Freunde  erwehren.  Herr 
Burckhard  ist  einer  von  jenen,  die  sie  mit  Nachdruck  ablehnt  Seine 
Geschicklichkdt,  Probleme  so  zu  verflachen,  daß  sie  schlieBlich  der 
Aufnahme  in  einen  Volksbildungsverein  würdig  befunden  werden, 
ist  umso  bedenklicher,  weil  hier  die  arische  Assimilationsfähigkeit 
sich  der  Mittel  bedient,  über  die  sonst  nur  die  angeborne  Bdrieb- 
samkdt  veriügt,  und  weil  sie  dabei  auf  den  Schein  naiver  Herz- 
haftigkeit  nicht  verzichtet.  Kein  Typus  des  österrdchischen  Odstes- 
lebens  könnte  weniger  angenehm  sein.  Juristen,  die  bloß  dasOlfidc 
ihrer  Ledemheit  kennen,  mag  solche  Verve  begeistern.  Bureaa- 
kraten  mögen  den  Mann  einen  feschen  Kerl  nennen,  Dirndeln  mögen 
ihn  ernst  nehmen.  Sonst  aber  ist  dn  thaufrischer  Hofrat  Varielf 
geschmack.  Gegenüber  dem  Feuergeist  von  dnem  Studenten,  der 
mit  sdnem  Spazierstock  Rolläden  strdft,  ist  ein  Gewölbwäditer 
eine  ehrwürdige  Figur.  Ich  denke,  das  Liebesleben  unter  den 
Aristokraten  zu  enthüllen,  ist  Herrn  Burckhard  nicht  Heixens- 
bedürfnis;  er  kann    auch    Einldtungen   zu  Bucfahändierkatalogcn 


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schreiben.  Er  kann  flberhaupt  viel  mehrmals  er  ist  Man  lese  feine 
Revue  des  österreichischen  Literaturlebens,  und  man  wird  sehen, 
daB  immer  noch  mehr  mögUch  ist,  als  man  für  möglich  hfllt 
Versteht  sich,  ich  tat  dem  Manne  unrecht,  als  ich  kürzlich  seine 
Entschuldigung,  er  habe  auch  ihm  persönlich  antipathische 
Autoren  gewürdigt,  auf  mich  bezog.  Ich  habe  ihm  durch 
diese  Deutung  vielleicht  bei  seiner  Presse  geschadet,  und  nichts 
liegt  mir  ferner,  als  einem  gerade  die  Position  zu  untergraben, 
die  er  vermöge  seines  Naturells  verdient.  Ich  muß  ausdrücklich 
fesstellen,  daß  Herr  Burckhard  mir  nicht  die  Schande  angetan  hat, 
mich  neben  den  von  inm  der  Reihe  nach  aufgezählten  österrei- 
chischen Analphabeten  auch  nur  zu  nennen.  Ich  bedaure,  daß  mir 
damals  jener  unvomehme  Verdacht  aus  der  Feder  geflossen  ist. 
Pfui !  Aber  damit  Herr  Burckhard  hinter  dieser  ehrlichen  Erklä- 
rung nicht  am  Ende  doch  ein  verhaltenes  Gefühl  des  Qekränkt- 
» seins  vermute,  beeile  ich  mich,  zu  beweisen,  wie  töricht  mein 
Verdacht  war.  Es  gibt  persönliche  Antipathien,  die  dem  gerech- 
testen Menschen  und  selbst  einem  Hofrat  beim  Verwaltungs- 
gerichtshof eine  unbefangene  literarische  Würdigung  unmöglich 
machen.  Ich  hatte  einfach  vergessen,  wie  oft  ich  im  Laufe  der 
Jahre  Herrn  Burckhard  bei  der  Kunst  zu  schaden  versucht  habe. 
Und  jüngst  fiel  mir  ein  Blatt  in  die  Hände,  aus  dem  ich  ersehe, 
daß  ich  schon  vor  elf  Jahren,  im  Januar  1898,  unfreundlich  über 
Herrn  Burckhards  Theaterbefähigung  dachte.  In  einer  jener  Chroniken, 
die  ich  damals  für  die  »Wage*  schrieb,  finde  ich  diese  Stellen: 

>  .  .  .  Wehmfltlg  überblickt  der  Chronist  noch  einmal  die  sieben 
magern  Burgtheaterjahre,  die  wir  soeben  fiberstanden  haben.  Rein,  wie  Herr 
Burckhard  kam,  geht  er  ein  in  den  Staatsdienst,  in  ungetrübter  thea> 
traliscber  Ahnungslosigkeit  verlflfit  er  den  Direktionssitz  der  ersten 
deutschen  BQhne  und  wird  dem  Arme  der  Justiz  flberliefert,  die  ihn 
aber  nicht  etwa  ffir  das,  was  er  dem  Burgtheaier  angetan  hat,  strafen, 
vielmehr  liebevoll  aufnehmen  will,  nachdem  sie  ihn  sieben  schwere 
Jahre  vermißt  hat.  Die  Geschichte  der  Direktion  Burckhard  wäre  als 
pikante  Beilage  zum  Amtskalender  zu  schreiben,  in  welchem  ja  auch 
sonst  gerne  schnurrige  Einfälle  aller  Art  Aufnahme  finden.  Sieben  Jahr- 
gänge Ueß  er  denselben  Fehler  unverbessert ;  »Max  Burckhard  —  Direk- 
tor des  k.  k.  Hofburgtheaters« ;  aber  dieser  Fehler  war  seltsamer  Weise 
kein  Druckfehler,  und  nicht  die  Hof-  nnd  Staatsdruckerei  traf  das  Ver- 
schulden an  dem  Unsinn.  Es  ist  die  Geschichte  einer  Protektion. 

Baron  Bezecny  ist  seit  etwa  einem  Jahrzehnt  General-Intendant 
der  beiden  Hofbflhnen,  hat  sich  aber  auch  früher  schon  nie  um  Theater- 
angelegenheiten gekümmert.  Da  er  außerdem  Gouverneur  der  Boden- 
kreditanstalt ist,  vereinigt  Bezecny  zwei  gflnzlich   disparate   Funktionen 

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24  - 


in  ftelfier  fftnd,  und  da  er  sich  unermfidlldi  der  Lettuig  da  Pte&x- 
iflttitntec  enthfit,  kamt  er  afch  ertt  In  sweitcr  Linie  der  V«raaddiili- 
gm^  der  Hoftheiter  widmen.  Da  staid  denn  eines  Taget  Herr  von 
Oautsch  —  er  hegte  schon  damals  heimliche  Sympathien  fflr  die  Czcdicn 
—  im  Zwiegespräche  mit  Baron  Bezecny.  Unser  Ministerpräsident  hat 
sich  seit  jeher  so  ausgiebiger  Protektion  erfreut,  dafi  er  bereits  in  JnngeB 
Jahren  daran  gehen  konnte,  selber  tn  protegieren.  »Sie  sach«n  einea 
tüchtigen  jungen  Menschen  ?c  si^e  Herr  von  Oautsch.  »Naa,  Uelier 
Bezecny,  da  habe  ich  einen  Schützling,  den  Sie  sehr  gut  werden  ver- 
wenden können.«  Ach,  Herr  von  Gautsch  hatte  sich  das  so  scfa6n  g^ 
dacht.  Sein  Herzenswunsch,  den  Ministerial-Vizeselcretär  Max  Burckbard 
in  der  Hypothekarabteilung  der  -  Bodenkreditanstalt  untefgebradit  za 
sehen,  sollte  nimmer  in  Erffillung  gehen.  Burckbard  kun  zm  Belecai 
und  wurde  von  ihm  sogleich  in  ein  künstlerisches  Gespräch  verwickelt. 
Der  Min isterlal- Vizesekretär,  der  sich  die  Auhiahmsprüfung  viel  rigo- 
roser vorgestellt  hatte,  fand  sich  vor  die  Frage  gestellt,  ob  er  schon 
einmal  im  Burgtheater  gewesen  sei,  und  ob  er  die  Klassiker  kene 
AU  er  die  sweite  Frage  bejahte^  erhob  sich  Bezecny  und  etklirte,  m 
sei  aullgenommen,  setzte  ihm  noch  in  Kürze  seine  Befugnisse  annii-« 
ander,  schärfte  ihm  ein,  keine  Neuengagements  selbständig  abznschUeflca, 
und  sptach  von  Tradition,  Regiekollegium,  Novitäten  u.  dgl.  Der  Mini- 
sterial^Vizesekretär  kam  nicht  aus  dem  Staunen  heraus,  bedankte  ddi 
und  erhielt  am  nächsten  Tage  den  Kontrakt,  der  ihn  an  das  B«f- 
theater  berief.  Man  weiß,  wie  sich  Burckbard,  der  als  Dh-ekttonssekictär 
Proben  einer  so  großen  Unbeholfenheit  lieferte,  daß  er  bereits  nach  dra 
Monaten  zum  definitiven  Direktor  des  ersten  Kunstinstitutes  emamit 
werden  konnte,  in  die  neuen  Verhältnisse  hinehigefunden  hat.  Nach  etm 
vier  Jahren  begegnete  Gautsch  dem  Herrn  von  Bezecny  und  raadite  Qua 
bittere  Vorwürfe.  Dieser  lehnte  alle  Verantwortung  ab  und  beschakUgle 
den  Minister,  sich  nicht  deutlich  genug  ausgedrückt  zu  haben,  womf 
wieder  Oautsch  ausrief:  »Das  soll  einer  ahnen,  dafi  Sie  audi  General- 
intendant der  Hoftheater  sindl«  ^-  Aber  schließlich  waren  beide  dar- 
über einig,  daß  die  Sache  noch  glimpflich  abgelaufen  sei,  der  Intendant 
versicherte,  Burckbard  habe  ihn  damals  aus  einer  großen  Verlegenheit 
befreit,  und  der  Minister  mußte  zugeben,  daß  sein  Proteg^  gut  unter- 
gebracht sei,  die  Hauptsache  bleibe  ja  doch,  daß  man  ftl>erhanpt  pro- 
tegiert werde. 

Der  Fall  stimmt  aber  auch  zu  ernsteren  Betrachtungen.     Es  geht 
nicht  länger  an,  daß  Herr  von  Bezecny  in  seiner  Hand  zwei  SteJlniigea 
vereinigt,  weil  dies  zu  fortwährenden  Irrtümern  führen  muß.    Wenn  e 
die  ihm  unterstehenden  Theater  mit  Juristen  bevölkert,  wie  viele  Bühneo- 
männer  mögen  unter  seiner  Leitung  in  der  Allgemeinen  österreichisdr- 
Bodenkreditanstalt  verschwunden  sein?    Zur    Zeit,    als   Burdchard  df 
Direktionsstuhl  bestieg,   ist  vielleicht  ein    dramaturgisches  Talent  erfh 
Ranges  in   die   Hypothekarabteilung   befördert    worden,    und  jedcnfal 
hätte   sich   vor   der  Berufung   des    Ausländers  Schienther   ans    B« 
theater  eine  Revision  in  dem  so  naheliegenden  Finanzinstitute  empföhle 

Herr  Burckbard   aber   muß  seinen   Rücktritt    als   eine   BMm 
•mptinden    Br  hatte  sich  keinen  Moment  wohl  gefühlt,  so  sehr  er  ü 


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_  26  — 


•tets  bittnflbt  «v.  tin  bcitercs  Gesicht  zu  mju:h<n,  AnfangUcli  Mhtii 
wir  ihn  es  mit  einet  Nachahmong  Laubes  versuchen.  Weil  almlidi  aoch 
Laube  anfangs  geint  haben  soü,  nimmt  er  mit  Euer  falsche  RoUcn^ 
besetzungen  vor  und  tut  sich  viel  auf  seine  MiBgrüie  zugute.  Dann 
bei^nt  er  den  Qeist  des  alten  Burgtheaters  anzurempehi,  und  legt  sich 
eine  Art  zurecht,  die  durch  die  Abwechslung  zwischen  HoftfaeaterwArde 
und  Drahrertum  verblüffen  soll.  Der  alte  Offenbach-Tric,  der  den  Priester 
der.  Oöttm  »nur  aU'weil  tanzen  und  singen  und  aU'weil  fideU  sein 
lAfit,  versagt  seine  Wiricung  nicht,  und  Burckhard  gewinnt  sich  durch 
sein  originelles  Auftreten  viele  Freunde.  Mit  dem  St6Ber  möchte  er 
durch  die  Wand  der  Tradition  rennen,  und  er  glaubt,  die  Klassiker  auf- 
zufrischen, wenn  er  Sonnenthai  ermahnt:  >Sie,  auf  d' Wochen  missens 
den  Kenig  Lear  spfil'n  —  da  gibts  keine  Wurschteln  1«,  wenn  er  Herrn 
Robert  bleutet:  »Sie,  lieber  Robert,  net  auf'n  Oedipus  vergessen  -- 
eh'  scho'  wissenl«  oder  Iphigenien- Wolter  mitten  im  IHtfzenlied  zuruft: 
»Tun  S'  Ihna  nix  an!«  Seinen  Schmerz,  daß  gerade  er  ausersehen  war, 
die  edelsten  klassischen  KunstschAtze  zu  hfiten,  sucht  er  im  Tarockspiri 
zu  betäuben,  und  aus  Verzweiflung  wird  er  schließlich  Radfahrer.  Weil 
er  doch  immer  bemOht  ist,  mit  dem  Theater  einigermaßen  Pfihlung  sa 
bekomm«!,  ermuntert  er  viele  Tarockpartner,  sich  der  Bahne  zu  widmen, 
und  um  den  Nadiwuchs  besorgt,  gewinnt  er  zahlreiche  Jüngere  Rad- 
fahrer für  das  Burgtheater,  das  mit  einem  Mal  in  eine  Bicyderemise  verwandelt 
erscheint  Auf  Touren,  die  er  endlich  auch  mit  sportkundigen  Kritikern 
unternimmt,  emplAngt  er  Anregung  zur  dichterischem  Schaffen.  Aus  dem 
Hofbeamten,  der  mit  den  Allüren  der  Ungeniertheit  kokettiert,  wird  ein 
freiheitiicher  SchriftsteUer,  der  die  Justiz  geißelt;  er  läßt  Stücke  auf- 
fahren, die  mit  »Halt's  MaulU  beginnen,  und  erhebt  wuchtige  Ankla- 
fB«  wider  die  herrschende  Gesellschaft,  die  zumeist  in  die  Worte 
auftklingen:  »Ihr  könnt's  mi  alle  gern  haben  I<  Am  Ende  hat  ihm  sein 
Liberalismus  den  Hals  gekostet.  Als  er  sich  eben  anschickte,  ein  ernster, 
vorurteilsloser  und  denkender  Mensch  zu  werden,  ereilte  ihn  die  Kunde, 
er  sei  wieder  &tm  Staatsdienste  zugeteilt.« 

Als  aber  Herr  Burckhard  dann  in  Pension  ging»  hatte  er  fleh 
anter  anderm  den  vollen  Bezug  der  Vorurteilslosigkeit  gesichert. 


Noch  gibt  es  Kämpfe,  in  denen  die  Geister  aufeinande^ 
platzen.  Man  lese  nur: 

Im  Verlaufe  der  gestrigen  Sitzung  des  Abgeordnetenhauses 
ereignete  sich  folgender  ZwischenfaU:  Abgeordneter  Pergelt  hatte  auf 
einen  Zwischenruf  mit  den  Worten  reagiert:  »Wir  sind  auf  die  Juden 
nicht  angewiesen,  wir  schenken  euch  die  Juden  I«  Hofr^  Kuranda,  der 
wahrend  dieses  Teiles  der  Rede  nicht  im  Saale  anwesend  war,  befand 
sich  spflter  unter  Jenen  Abgeordneten,  welche  Dr.  Pergelt  am  Schlüsse 
seiner  Rede  beglückwünschten.  Als  Abgeordneter  Kuraqda  nachträglich 
von  dem  erwähnten  Ausspruche  des  Dr.  Pergelt  erfuhr,  begab  er  sich 
Is  daat  Büfett  und  stdlte  dort  den  Abgeordneten  Petgelt  mit  folgenden 
Wortes  wx  Rede:    »Ich  habe  dir  gratuUextr   in  Unkenntnis  der  Worte, 


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-  26  — 


die  du  fiber  die  Jaden  gebraucht  hast.  Ich  nehme  selbstverständUd 
diese  Gratulation  nicht  nur  zurück,  sondern  mufi  dir  Folgendes  tagOL- 
Wenn  Herr  v.  Stransky  die  schärfsten  Angriffe  gegen  die  Juden  ricbteL 
so  lassen  sie  mich  ebenso  gleichgiltig,  als  weim  ein  Mitglied  einer 
Partei,  welche  den  Judenpunkt  im  Programm  hat,  die  Juden  als  Mit- 
streiter im  nationalen  Kampfe  von  sich  weist;  aber  das  hätte  ich  nidit 
erwartet,  daß  in  einem  fast  solennen  Momente  der  Generalredner  der 
Deutschen  und  gerade  der  Deutschböhmen,  ein  Mitglied  der  Dentscheo 
Fortschrittspartei  und  ein  so; hochangesehener  Mann  wie  du,  in  so  weg- 
werfender Weise  die  jahrzehntelange  Mitstreiterschaft  der  dentsdi- 
böhmischen  Judenschaft  verleugnet  und  auf  ihre  Mithilfe  zu  verziditen 
erklärt,  in  einer  Rede,  welche  mit  dem  Appell  an  alle  nichttschechischen  B(it- 
glieder  des  Hauses  geschlossen  hat,  die  Deutschen  in  Böhmen  in  ihrem  Kampfe 
zu  unterstfitzen.  Wenn  du  die  Namen  auf  den  herabgerissenen  Firmen- 
tafeln  in  Königinhof  und  in  Laibach  liest,  so  Wirst  du  darauf  fast  keine 
anderen  Namen  finden  als  jüdische.  Herabgerissen  wurden  diese  Tafefai 
wegen  des  deutschen  Bekenntnisses.  Für  das  Deutschtum  zu  leiden  ist 
uns  erlaubt,  der  Rechtsschutz,  der  für  die  Deutschen  gefordert  wird, 
wird  aber  den  für  das  Deutschtum  leidenden  Juden  nicht  gewährt.  Idi 
kann  nur  auf  das  tiefste  bedauern,  daß  gerade  du  es  warst,  der  diese 
Worte  gesprochen  hat.«  Dr.  Pergelt  erwiderte,  es  seien  diese  Worte  in 
der  Erregung  gefallen.  Seine  Äußerung  habe  keine  beleidigende  Absidd 
gehabt.  Man  könne. ihn  nicht  einer  antisemitischen  Gesinnung  beschuldigen 

Ein  ehrlicher  Meinungswechsel  zweier  außerordentlicher 
Köpfe.  Der  eine  hält  das  Deutschtum  in  Österreich,  der  andere 
außer  diesem  auch  noch  das  Judentum  in  Österreich  und  das 
Deutschtum  der  Juden  in  Österreich  hoch.  Wenn  es  nun  schon 
ein  Kunststück  ist,  sich  seit  Jahren,  wie  Herr  Pergelt  tut,  in  der 
anstrengenden  Lage  der  Deutschen  in  Österreich  zu  erbalten,  ohne 
auf  die  Ministerbank  zu  fallen,  so  ist  es  noch  viel  anstrengender, 
als  jüdischer  Hofrat  im  Eisenbahnministerium,  wie  Herr  Kurandt 
tut,  für  sein  Deutschtum  zu  leiden  und  alß  deutscher  Mann 
sein  Herz  auf  dem  gelben  Heck  zu  haben.  Zwei  bedeutende 
Männer.  Der  eine  bewährt  durch  die  ausdauernde  Ruhe  der  deutsdh 
böhmischen  Weltanschauung,  der  andere  eines  der  aufgeregtesten 
Temperamente  der  E|30che.  Es  war  ein  fast  solenner  Moment,  als  der 
Redner,  dem  vermutlich  auch  ein  Stenograph  ins  Bfifett  gefolgt 
war,  auf  die  zerbrochenen  Firmentafeln  Mosis  hinwies  und  in 
einem  Tone  sprach,  als  ob  die  saure  Pflicht,  für  das  Deutschfun 
zu  leiden,  mit  dem  bekannten  Vergnügen,  auf  dem  Jüdischen 
Friedhof  l>egraben  zu  werden,  überzahlt  wäre.  Herr  Pdgdt  ent- 
schuldigte sich*  und  tat  noch  ein  Übriges,  indem  er  einem  Inter- 
viewer seine  Entrüstung  über  »eine  derartige,  die  deutschen  Juden 
in  Böhmen  verletzende  Interpretation«   bekundete   Herr   Kurandt 


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27 


ging  befriedigt  und  aufgeregt  von  dannen.  Die  Lage  der 
deutschen  Juden  in  Österreich  bat  sich  seit  dantals  gebessert  Die 
Leute,  deren  Qefrohnheit  es  ist,  Finnentafeln  ohne  Unterschied 
der  Konfession  berunterzureiBen,  sehen  ein,  daB  es  noch  *  einen 
höheren  Beweis  von  Toleranz  gibt:  die  Aussprache  der  Geister. 


»Henkel  hat,  wenige  Stunden,  nachdem  er  den  Mord  verfibt,  den 
.Walzertraum'  im  Carltheater  besucht!  Dieser  erst  22 jährige  Raub- 
mörder mu6  ganz  besondere  Nerven  haben  .  .  .« 

Gewiß,  ab^  wenn  er  den  Mord  nachher  verübt  bitte 
könnte  man  dasselbe  behaupten.  Unter  den  vielen  Icaltblütigen 
Besuchern  des  »Walzertraums«  muß  schließlich  und  endlich  ein* 
mal  auch  ein  Mördef  vorkommen.  Das  spricht  nur  für  die  Zug- 
kraft einer  Operette,  und  man  mag  es  feststellen,  auf  die  Gefahr 
hin,  den  Autoren  der  »Lustigen  Witwe«  damit  nahezutreten,  die 
vielldcht  schon  manchen  Raubmörder  entzückt  hat,  aber  leider 
noch  keinen,  den  man  erwischt  hat.  Daß  sich  Diebe  in  Operetten* 
Vorstellungen  einschleichen,  ist  ja  bekannt.  Und  selbst  die  erwischt 

man  erst,  wenn  die  nächste  Operette  aufgeführt  wird. 

•< 

»Was  Henkel  den  Tag  Aber  gemacht,  weifi  man  im  Hotel  nicht. 
Er  kam  abermals  gegen  ^  Uhr  nach  Hause.  Als  Ihn  der  HoteUer 
fragte,  ob  er  .gedraht'  habe,  mußte  er  sich  den  Ausdruck  erst  er- 
klären lassen  und  meinte  dann:  ,nur  ein  bißchen'.« 

Daß  solche  Details  aus  der  Biographie  der  Mörder  fest- 
gehalten werden,  ist  im  vorliegenden  Falle  nicht  unwichtig.  Henkel  ist 
bei  der  Frage  des  Hoteliers  offenbar  erschrocken  und  hat  gemeint, 
fener  wolle  wissen,  ob  er  gemordet  habe.  Wer  »draht«  -  eines 
der  sympathischesten  Worte  der  Wiener  Menschheit  -,  schlägt 
allerdings  die  Zeit  tot  oder  reißt  etwa  noch  der  Welt  eine  Haxen 
aus.  Oder  er  haut  alles  z'samm.  Aber  zu  weiteren  Gewalttätig- 
keiten kommt  es  nicht.  Immerhin  mußte  die  Frage  einen  nord- 
deutschen Mörder  in  Verlegenheit  bringen,  und  es  wäre  empfehlens- 
wert, daß  sich  die  Hoteliers  im  Interesse  des  Fremdenverkehrs 
eine  mehr  internationale  Ausdrucksweise  angewöhnen.  Übrigens 
würde  man  fehlgehen,  wenn  man  glaubte,  daß  ich  mit  dieser  Be- 
mängelung den  Mord  verteidigen  will.  Ich  will  nur  sagen,  daß  ich  die 
Vergnügungen  des  Wiener  Nachtlebens  noch  mehr  verdamme. 
Sie  ftehen  sicher  auf  einem  geistig  niedrigeren  Niveau,  sind 
geräuschvoller   und   bereichem   ihre   Veranstalter   auf  eine  w«it 


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—  48  — 


Die  Erde  macht  mobil,  seitdem  die  Mensdien  die  »EnAx»- 
itng  der  Luft«  versuchen. 

• 

Es  gewährt  einige  Beruhigung,  dies  Wfiien  der  Hat» 
gegen  die  Zivilisation  als  einen  zahmen  Protest  gegen  die 
Verheerungen  aufzufassen,  die  diese  in  der  Natur  aogeriditet  hit 
Was  hat  sie  aus  den  Weibern  gemacht!  Durch  eine  grandiose 
Huldigung  ließe  sich  die  Natur  versöhnen,  durch  ein  Opferfof 
des  Wohltuns  zum  wohltätigen  Zweck.  Christliche  Liebe  vergfsm, . 
christlich  zu  sein !  Heran  die  Samariterinnen !  Heran  die  Sa«i- . 
riter!  Alle,  die  heute  bloß  mit  Unlust  spenden,  heran!  Mankai 
an  einem  Tage  Volker  ersetzen.  Man  kann  an  einem  Tage  Reidb» 
tfimer  sammeln  und  Städte  auferbauen.  Ein  Tag  zur  Feier  des  LcboB 
in  der  ganzen  Welt,  die  eine  Totenklage  erfQUt! 

Karl    Kra«t. 


Vita  naova. 
Von  Oskar  WUde. 

Das  Meer  war  stürmisch^  wo  ich  schweigend  stmd» 
bis  mir  der  Schaum  um  Haar  und  Wangen  hing. 
So  traurig  pfiff  der  Wind  —  zu  Ende  ging 
des  Abends  Atem  mit  purpurnem  Brand. 

Der  laute  Schrei  der  Möwen  brach  ins  Land  — 
und  dann  mein  Ruf:  »Wie  schal  ist  dieses  Ding, 
das  yLeben^  heifit  —  in  diesem  engen  Ring 
voll  Qual  und  Arbeit  erntet  keine  Hand.«  — 

Noch  einmal  warfen  meine  müden  Hände 
zerrissne  Netze  aus  von  alten  Küsten  — 
zum  letzten  Mal  (war  dies  denn  nicht  ein  Enc 
trug  meine  tote  Seele  Hoffoungsschauer. 
Als  achl  aus  dumpfem  Traum  und  dunkler  Tr 
aufstiei?  ein  Qlanz  von  siegreich  weifien  Brüsl 

Obersetzt  von  Felix  G. 

Hcnniaeber  and  venmivortiiclier  Redakteur:  Karl  Kravi. 
Drvck  von  Jaboda  8c  Siegel.  Wien,  III.  Hinlcrc  ZiOMmMt  2 

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IE  FACKE 

li<*rau8geber 

lieint  in  zwangloser  FoIe;«  im  Umfange  von   16 — 32  Seit^ 

BEZUQSBEDINQUNOEN: 

■terreioh-UDgaru,  d<3  Nununoni,  portufret    .    . 

» Länder  d,  Weltpostv.,  86  Nummeni,  portofrei 

Abonoemeot  erstreckt  ilch  olcht  auf  einen  Zeitraum, 
ndern     auf     eine     bestlrntnte     Anzahl     von    Nummern. 

;:  Wien,  III.,  Hintere  ZoUaxutettraße  Nr. 

Verlag  für  DeutaohlaDd: 
O   m   D   H 

MÜNCHEN,  Frans  Josef  Straße  9. 


Ittxelverkauf   30    Pf.    Berlin    NW  7,   PHedrIcfaitraße   IC 
Buchhandlung  M.  Lillenfhal. 


erschien 


Otto  jStoessl 

JAS  LETZTER  NAM 

München  nnd  Leipzig  t>el  QEORO  MÜLLER. 

Durch    alle  Buchhandlungen   zu  beziehen. 


Inhalt  der  vorltren  DoppeUNummer   267—68,  17.  De- 

^orftt.    Von    Okur    W  iKfp.    —    DtT  Pairro;.    V^n   Kp.t\  _jJ 


des.   — 

ebii 


t  Ai^sisa  A>KifM»      \^."m 


^ 


is  Deutsche  Briefqeselisc 


Unternehinen  für  Zeitungsai 

ERVER, 


Ä    :    »-^'  /  k  J  s 


*u*^    ^:-^-    i..^.^wj 


|<?i  Veriftf«  ,Of^  PACKeL«   i 


ÜBd  Erledigung  I    Ein  Nachrol 


»Ppel-Nlällillier    (Preis  60  Heller) 


t72— 273. 


Die  Fackel 


Herausgeber: 


KARL  KRAUS 


INHALT: 


iin 

Kraii9.  —  Das  Ebrenkrsiiz. 

K^.. 

Kunst  und  Moral.    Briefe 

Oskar 

-  Oloflsen.  Von  KarlKraus. 

Arad. 

''      *    Zuschrift. 

EliRa 

Sprüche 

und  Widersprüclie 

T^vjjng                           ^  e. 

V<.r'cil. 

"v 

c.i    .;iing  vorbcha;  ^ 

i 


IMNÄCHST 


GELANGT  ZUR  AUSG. 

ARL  KRA 

PRVECH 
ND  WIDE 
PRVECH  E 


Verla?  ALBERT  LANGEN  M 


Die  Fackel 

NR.  272-73  15.  FEBRUAR  1909  ILJANR 


MessiiUL 

Als  Stiefmutter  Erde  ihren  Kindern  dort  unten 
übel  mitspielte,  staunte  man  über  nichts  mehr 
als  darüber,  daß  die  Natur  mit  den  Verbrechern  ge- 
meinsame Sache  gegen  die  Gesellschaft  machte.  Die 
Nachricht,  dafi  die  Verbrecher  aus  den  Gefängnissen 
ausgebrochen  seien,  schien  unter  jenen,  die  die  Haare 
der  Menschheit  sträuben  machten,  die  stärkste. 
Dafi  die  Gelder  der  Wohltätigkeit  gestohlen,  dafi 
bis  dahin  unbescholtene  Gauner  verlockt  wurden, 
aus  sich  selbst  auszubrechen,  wirkte  bei  weitem 
nicht  so  beunruhigend  wie  die  Tatsache,  dafi  Ver- 
brecher, die  man  schon  so  lange  hatte,  aus 
denGefängnissen  entkommen  waren.  Die  Sträf- 
linge Yon  Messina  waren  die  einxigen  Men- 
schen, von  denen  man  verlangen  konnte,  dafi 
sie  genügend  Besinnung  und  genügend  Respekt 
vor  der  staatlichen  Autorität  haben,  um  die 
destruktiven  Tendenxen  der  Natur  nicht  zu  unter- 
stützen. Die  Enttäuschung,  die  sie  den  euro- 
päischen Zeitungslesern  bereitet  haben,  mag  tief 
sitzen.  In  allen  ICulturzentren  regt  sich  die  Besorgnis, 
dafi  man  im  Falle  eines  Erdbebens  gegen  Eigentums- 
delikte nicht  geschützt  sei.  Daraus  spricht  jener 
F^roismus,  der  bei  der  Wahl  zwischen  Leben  und 
I  rse  sich  zum  Verzicht  auf  das  Leben  entschlieflt. 
I  3  Gesellschaft  denkt  das  »fiat  justitia,  pereat  mun- 
i  i€  mit  äufierster  Eonsequenz  zu  Ende  und  bis  zu  dem 
1  msche,  dafi  die  letzten  Häuser,  jene,  die  einem  Erd- 
t  ^en  getrotzt  haben,  die  Geföngnisse  sein  mögen. 
t  id  wenn  dieser  Wunsch  nicht  in  Erfüllung  gehen 
8    *te,  dann  ist's  eine  schmackhafte  Vorstellung,  dafi 


2    — 


die  Leiohoam«  der  Verbrecher  Ketten  tragen . . .  So 
führt  eÄdbeben  die  Gedankenwelt  der  Brwwhsej» 
Luf  Sie  denken  an  die  Verbrecher  Kinder  denken  «d« 
Teufel  und  fürchten  ihn  nicht  mehr.  Die  »röfte  d«  ü^ 
glückfl  befreit  sie  von  der  An^st,  dafl  darüber  hin« 
Soch  etwas  geschehen  könnte,  Die  Erwachsenen  hjK« 
sich  die  Tafchen  zu.  Bin  Kind  f'pde<;  yor  der  Grök 
der  Vision  Worte,  wie  sie  ein  Dichter  »P'^c^J-  »^J 
Teufel«  säet  es.  »hat  ein  Brdbeben  angerichtet,  dM 
wa^  so  Ä  difi  der  Teufel  selbst  dabei  .uRruude- 
gegangen  istl«  Karl  Kraus. 

Das  Bhrenkreiu. 

In  Österreich  gibt  es  für  junge  MädchM,  di« 
sich  dem  Laster  in  die  Arme  werfen,  eine  JUin« 
der  Strafbarkeit.  Man  unterscheidet  Madchen,  w 
sich  der  unbefugten  Ausübung  der  Prostit«*» 
schuldig  machen,  Mädchen,  die  f&IschUch  Mg«*»! 
dafi  sie  unter  sittenpoliBeilicher  Kontrolle  stehen,  m 
schliefilich  Mädchen,  die  »war  «ur  Ausübun«;  «f 
Prostitution,  aber  nicht  »ur  Tragung  eine«  Bhr»- 
kreuzes  befugt  sind.  Diese  Einteilung  wirkt  auf  a» 
ersten  Blick  yerwirrend,  aber  sie  entspricht  durcM» 
den  tatsächlichen  Verhältnissen.  Ein  M»dc*ien,  a" 
einem  Detektiv  bedenklich  schien  —  nichts  scheu» 
in  Wien  einem  Detektiv  bedenklicher  als  ein  MW- 
chen  — ,  gab  an,  sie  stehe  unter  8ittenpob««boW 
KontroUe.  Sie  hatte  sich  einen  Scher«  erlaubt,«» 
man  ging  der  Sache  nach.  Da  sich  ihre  Angabe  •■ 
unrichtig  herausstellte,  wurde  sie  wegen  »«»«»«'!*■ 
Ausübung  der  Prostitution  in  poli»eiliche  UntersucbWI 
gesogen.  Da  sich  aber  dieser  Verdacht  als  ung 
rechtfertigt  erwies  und  sich  also  herausstellte,  d»»" 
Mädchen  überhaupt  nicht  Prostitution  treibe,  so  «^ 
hob  die  Staatsanwaltschaft  die  Anklage  weg* 
Falschmeldung.    Das  Mädchen  hatte  sich,  wie  es  » 

>y  Google 


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~    3    ~ 


der  Anklaere  hieft,  «gegenüber  dem  Detektir  eine 
soziale  Stellung  angemaSt,  die  ihr  nicht  zukäme.  Sie 
trieb  weder  erlaubte  nooh  unerlaubte  Prostitution,  sie 
war  also  eine  Schwindlerin,  und  nur  weil  sie  bei  der 
Verhandlung  auf  die  Frage  des  Richters,  was  sie 
sich  dabei  gedacht  habe,  die  Antwort  gab:  »Nichtsc, 
entging  sie  der  Verurteilung.  Um  also  zu  rekapitu- 
lieren: Sie  hatte  behauptet,  sie  stehe  unter  sitten- 
polizeilicher Kontrolle.  Da  das  eine  Unwahrheit 
war,  wurde  sie  unter  dem  Verdachte  des  unsittlichen 
Lebenswandels  in  Untersuchung  gezogen.  Sie  konnte 
nun  zwar  beweisen,  dafi  sie  nicht  unsittlich  genug  sei, 
um  einen  unsittlichen  Lebenswandel  zu  führen,  aber  sie 
konnte  doch  wieder  nicht  beweisen,  dafl  sie  sittlich  genug 
sei,  um  unter  sittenpolizeilicher  Kontrolle  zu  stehen.  So 
Mieb  nichts  übrig,  als  sie  wegen  Falschmeldung  anzuklä- 
ffen, wegen  deren  jaschlieftlich  auch  die  Mörder  in  Öster- 
reich verurteilt  werden,  wenn  man  ihnen  den  Mord 
nicht  nachweisen  kann.  Jetzt  gehen  wir  einen  Schritt 
weiter.  Wenn  ein  Mädchen  zur  Ausübung  der  Prosti- 
tution befugt  ist,  so  könnte  es  Yorkommen,  dafl  sie  es  rer- 
schweigt  und  schwindelhafter  Weise  vorgibt,  sie  sei 
zur  Ausübung  der  Prostitution  nicht  befugt.  Sie 
würde  sich  also  einen  unsittlichen  Lebenswandel  an- 
maßen, den  sie  nicht  deshalb  führt,  weil  sie  dazu  be- 
rechtigt ist,  sondern  den  sie  führt,  wiewohl  sie  dazu 
nicht  berechtigt  ist,  während  sie  in  Wahrheit  blofi 
berechtigt  ist,  einen  unsittlichen  Lebenswandel 
1SU  führen,  den  zu  führen  sie  berechtigt  ist.  Solche 
Fälle  kommen  in  der  Praxis  selten  vor,  und  die 
Judikatur  des  Obersten  Gerichtshofes  ist  schwankend. 
Am  schwierigsten  ist  aber  der  Fall,  der  sich  kürzlich 
in  Wiener-Neustadt  zugetragen  hat.  In  einem  dortigen 
Freudenhause  lebt  ein  Mädchen,  das  zur  Ausübung  der 
Prostitution  befugt  ist  und  bisher  noch  keinen 
Anstand  gehabt  hat.  Sie  hat  sich  nie  einen  unsitt- 
lichen Lebenswandel  angemaßt,  den  sie  nicht  führt, 
und  es  ist  ihr  noch  nicht  einmal  nachgewiesen 
worden,  daß  sie  f&lschlich  angegeben  hat,  eine  Pro- 

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—    4 


stitution  nicht  xu  treiben,  zu  der  sie  befugt  ist 
Aber  der  Teufel  reitet  das  bisher  unbescholtene 
Mädchen,  und  sie  geht  eines  Abends  im  Salon  mii 
einem  Militärjubiläumsehrenkreuz  an  der  Brust  heroBi. 

»Dadurch  erregte  sie  bei  den  Gästen c,  ja  ins 

glaubt  man,  hat  sie  dadurch  bei  den  Gasten  erregt? 
Nicht  das,  was  man  glaubt,  sondern  im  Gegenteil: 
Ärgernis.  Und  wenn  ein  Freudenmädchen  bei  des 
Gästen  eines  Bordells  Ärgernis  erregt,  dann  ist « 
wirklich  höchste  Zeit,  dafl  die  Staatsanwaltschaft 
einschreitet.  Tatsächlich  wurde  das  Mädchen  wegeo 
einer  Erregung,  zu  der  sie  nicht  befugt  war,  an* 
geklagt.  Der  erste  Richter  sprach  sie  frei.  Er  sagte, 
das  Militärjubiläurosehrenkreuz  sei  kein  Orden  and 
das  Ärgernis  sei  bloß  ein  jsolches  Ärgernis,  das  nm 
der  Polizei  zu  ahnden  sei.  Damit  gab  er  freilich  so. 
dafi  das  Mädchen  schuldig  gewesen  wäre,  wenn  sie 
etwa  den  Takowa-Orden  getragen  hätte.  Es  liegt 
zwar  auf  der  Hand,  dafl  das  unbefugte  Tragen  einee 
Ordens  immer  nur  einen  Journalisten  und  kein 
Freudenmädchen  strafbar  machen  kann,  aber  in 
Wiener-Neustadt  scheint  die  Frauenbewegung  berdts 
derartige  Fortschritte  gemacht  zu  haben,  dafi  man  doit 
beide  Geschlechter  in  gleichem  Maße  der  Ordensstrebera 
für  fähig  hält.  Immerhin  sagte  der  erste  Richter,  ein 
Jubiläumskreuz  sei  kein  Orden.  Aber  der  Staatsanwalt 
war  anderer  Ansicht,  er  berief  und  das  Landei^moiit 
verurteilte  die  Angeklagte  zu  zwanzig  Kronen  Geld- 
strafe. Ein  Jubiläumskreuz,  sagte  das  Landesgeridit 
sei  als  Ehrenseichen  jedem  Orden  gleiohsusteDeo. 
Als  besonders  erschwerend  nahm  der  Qerichtdiof 
»das  Tragen  des  Kreuzes  im  Freudenhausec  an.  Ab 
die  Angeklagte  gefragt  wurde,  was  pie  sich  datei 
gedacht  habe,  gab  sie  zur  Antwort:  »Nichtsc.  Abei 
diesmal  nützte  die  Antwort  nichts.  Denn  eher  nocb 
dürfte  sich  ein  anständiges  Mädchen  die  ProstitotioD 
anmaflen  als  eine  Prostituierte  das  Ehrenkrem- 
Welche  Entschuldigung  hatte  sie?  Ein  ZiTÜist,  s^e 
sie,  habe  es  ihr  geschenkt.   Er  war  nobel    und  ga^ 

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—    6    — 

ihr  das  Ehrenxeiohen  als  Sohandlohn.  Aber  dann  hätte 
sie  es  eben  in  den  Strumpf  stecken  sollen.  Das  Tragen 
eines  Ehrenseiohens  im  Freudenhause  steht  nur 
dessen  Gästen  zu,  und  wenn  sie  dadurch  das  Ärgernis 
der  Mädchen  erregen  sollten,  so  würden  sich  die 
Mädchen  einer  strafbaren  Handlung  schuldig  machen. 
Qibt  aber  ein  Gast  einem  Mädchen  statt  zwanzig 
Kronen  ein  Ehrenkreuz,  so  darf  sie  das  ^renkreuz 
nicht  tragen  und  muß  die  zwanzig  Kronen  dem  Gericht 
bezahlen«  Denn  die  Justiz  ist  eine  Hure,,  die  sich 
nicht  blitzen  läflt  und  selbst  von  der  Armut  den 
Schandlohn  einhebt  ^^^j  ^^^^^ 


Kunst  und  Moral. 
Briefe  roa  Oskar  Wilde. 

Vorbemerkttttg  des  Übersetzers:  Im  letzten  Dritte!  des 
Jnni  1890  erschien  Wildes  >Dprian  Qrayc  in  ,Ltppincott's  Magazine'; 
noch  in  demselben  Monat  brachten  zahlreiche  angesehene  Tages- 
blitter  und  2Mtschriften  Besprechungen  des  Werkes,  und  in 
seinem  Briefe  vom  13.  August  spricht  Wilde  bereits  von  zwei- 
hunderlsechzehn  Kritiken,  die  von  seinem  Schreibtisch  in  den 
Papierkorb  gewandert  seien.  Nur  wenige  dieser  Beurteiler  wagten 
das  Werk  ohne  starke  Einschr&nkungen  zu  loben.  Die  übeigroik 
Mehrzahl  der  Kritiker  erhoben  ihre  Stimmen  gegen  den  Autor  in 
allen  Tonstärken  von  würdevoller  MiBbilligung  bis  zum  wütenden 
Oeschrei.  Seine  künstlerische  Erwiderung  auf  diese  Kritiken  mag 
man  in  dem  Vorwort  zu  der  etwa  ein  Jahr  spater  erschienenen  Buch- 
ausgabe finden.  Damak  jedoch  holte  sich  Wilde  zwei  der  fti^ten 
Sdireier,  den  der  ,St  James's  Gazette'  und  den  des  »Daily  Chronide', 
heraus  und  erwies  ihnen  die  Ehre,  sie  zu  widerlegen« 

»Ihr Kritiker»,  schreibt  er  der  ,St  James's  Gazette**),  »beginnt 

*)  Die  Briefe  an  diese  siod  bereits  in  einer  deutschen  Zeitschrift 
eftchknen.     Alle  anderen  erscheinen  hier  zum  erstenmale  in  deutscher 

*'■****  üigit  zed  by  GoOglC 


—  «  — 


damit,  mich  mit  lächerlicher  Heftigkeit  anzugreifen,  well  die  Haupt- 
personen meiner  Geschichte  Oecken  seien.  Jawohl,  sie  sind  Occkxsi. 
Okubt  er,  daß  die  Literatur  auf  den  Hund  gekommen  ht*),  all 
Thackeay  [über  das  Oeckentum  schrieb?  Ich  halte  daffir,  daB 
Oecken  vom  künstlerischen  ebenso  wie  vom  psychologhcfaen  Stand- 
punkt höchst  interessant  sind.  Sie  scheinen  mir  für  alle  Fälle  «cft 
interessanter  als  Pedanten,  und  ich  bin  der  Ansicht,  daß  LtMd 
Henry  WottSK  ein  vortreffliches  Korrektiv  für  das  hohle  Ideil 
bildet,  das  in  den  halbtheologischen  Romanen  unserer  Zeit  da^ 
gestellt  wird,  ~  Ihr  Kritiker  macht  femer  unl>estimnite  tai 
drohende  Anspielungen  auf  meine  Grammatik  und  meine  Qel^r* 
samkeit  Was  die  Grammatik  betrifft,  so  bin  ich  der  Meinung;  dafif 
zum  mindesten  in  der  Prosa,  die  Korrektheit  stets  der  kfinsUen- 
sehen  Wirkung  und  der  musikalischen  Kadenz  untergeordnet 
werden  muß.  Absonderlichkeiten  des  Syntax,  die  im  ,Dorian  Graf 
etwa  vorkommen  mögen,  sind  daher  wohl  beabsichtigt  und  dieneo 
nur  zur  Betätigung  dieser  künstlerischen  Theorie.«  Weiterhin :  >Qir' 
Kritiker,  wenn  ich  ihm  diesen  ehrenvollen  Titel  zuerkennen  darf 
behauptet,  daß  die  Menschen  meiner  Erz&hlung  kein  Vorbiki  in 
Leben  haben,  daß  sie,  um  mich  seiner  starken,  wenn  auch  ziemlidi 
plumpen  Ausdrucksweise  zu  bedienen,  ,Schundliteratur  und  Dar- 
steUungen  des  Nichtexistierenden'  sind.  Ganz  richtig.  Wenn  sie 
existierten,  so  wäre  es  nicht  der  Mühe  wert,  über  sie  zu  scfaxeiben- 
Die  Aufgabe  des  Künstlers  ist  es,  zu  erfinden,  und  nidtt,  za 
registrieren.  Es  gibt  keine  solche  Menschen.  Wenn  es  deren  gäb^ 
würde  ich  nicht  über  sie  schreiben.  Das  Leben  verdirbt  durdi 
seinen  Realismus  stets  der  Kunst  ihren  Gegenstand.  Der  faddste 
Genuß  des  Dichters  ist  es,  das  Nichtexistierende  zu  gestmltcn«. 
Und  femer:  »Es  ist  wohlgetan,  der  Tat  Schrauken  zu  setaen.  Ei 
ist  nicht  wohlgelan,  der  Kunst  Schranken  zu  setzen.  Der  Knist 
gehören  alle  Dinge,  die  sind,  und  alle  Dinge,  die  nicht  sind,  nod 
selbst  der  Herausgeber  einer  Londoner  Tageszeitung  hat  nicht  r'-n 
Recht,  die  Freiheit  der  Kunst  in  der  Wahl  ihres  Gegenstandes  i 
beschränken«. 

Noch  einem  dritten  Blatte  erwiderte  Wilde:  dem  ;Sc  i 
Observer'.  Dessen  Kritik  war  allerdings,  verglichen  mitden  andc  , 
ziemlich  maßvoll  und  durch  Komplimente  für  den  Autor  gemildc    ; 

*)  Anspteliiag  auf  den   Doppelshin   des  Mar  fOr     »Qacfc« 

bfÄuchten  Worte«  »puppy«,  das  auch  »junger  Hand«  bedeutet. 

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7   — 


mber  sie  scheint  Wilde  besonders  nahe  gegangen  zu  sein,  wohl 
deshalb,  weil  der  Herausgeber  der  von  ihm  sehr  geschätzte  Dichter 
W.  E  Henley  war.  In  diesem  Blatte  setzt  sich  Wilde  auch  mit 
einigen  jener  Zuschriften  aus  dem  Leserkreise  auseinander,  die  die 
englischen  Blätter  —  eine  gute  und  nachahmenswerte  Sitte  — 
immer  dann  empfangen  und  abdrucken,  wenn  irgend  eine  Sache 
die  öffentliche  Meinung  stärker  erregt  Ich  führe  neben  den  Zunft- 
kritiken auch  diese  La<enurteile  hier  an,  zum  besseren  Verständnis 
der  Erwiderungen  Wildes,  und  weil  ich  glaube,  daB  sie  einen 
interessanten  Beitrag  bilden  zur  Charakteristik  des  Engländers  der 
Intelligenzklassen,  seiner  gesunden  Lebensanschauung,  seines 
prächtigen  Humors  und  seiner  Beschränktheit  in  gewisser  Richtung. 

t-ines  darf  billigerweise  nicht  unbetont  bleiben:  Wenn  wir 
Wildes  Erwiderungen  kennen,  so  danken  wir  dies  der  Ehrlichkeit 
eben  der  2>itungen,  gegen  die  sie  sich  wendeten,  und  die  sie  un- 
verkürzt abdruckten.  Die  ,St.  ]ames's  Qazette'  hat  zum  Beispiel  selbst 
eine  Stelle  wie  diese:  >Zu  sagen,  daß  ein  Buch  wie  das  meinige 
Jns  Feuer  geworfen  werden  soUteS  ist  einßlltig.  Das  tut  man  mit 
Zeitungen«,  nicht  unterdrückt.  Es  gibt  Länder,  wo  das  anders  ge- 
wesen wäre.  —  Und  derselbe  ,Daily  Chronide',  der  ;den  »Dorian 
Oray«  am  brutalsten  angriff,  war  si^ter  das  einzige  Blatt,  das  dem 
aus  dem  Gefängnis  entlassenen,  geächteten  Dichter  Raum  gab  für 
jene  Briefe  über  den  »Fall  Martin«  und  über  die  Oefängnisreform, 
die  neben  »De  Profundis«  als  ein  Denkmai  des  Menschen  Wilde 
vor  uns  stehen.  Leo  Ron  ig. 

Kritik  des  .Dally  Chronicle*  vom  30.  Juni  1890. 

Langeweile  und  Schmutz  sind  die  Hauptzflge  der  letzten  Nummer 
von  «Lippincott's  Magazine*.  Das  unsaubere,  allerdings  unleugbar 
auch  amflsante  Element  wird  durch  Oskar  Wildes  Erzählung  »Das 
Bildnis  des  Dorian  Gray«  beigesteuert.  Es  ist  ein  Werk,  bei  dem  die 
Aussatzliteratur  der  französischen  D4cadence  Pate  gestanden  hat,  ein 
ffiftiges  Buch,  dessen  Atmosphäre  verpestet  ist  von  den  mephitischen 
Dünsten  seelischer  und  moralischer  Fäulnis,  eine  mit  perversem  Behagen 
ausgeführte  DarsteUung  des  körperlichen  und  geistigen  Verfalles  eines 
Jungen,  schönen  und  vornehmen  Mannes  ^  ein  Buch,  das  furchtbar 
und  faszinierend  sein  könnte,  wären  nicht  sehie  weibische  Frivolität, 
seine  gesuchte  Unaufrichtigkeit,  sein  theatralischer  Zynismus,  sebie 
seichtgeschwätzfge  Philosophie,  sein  angeschminkter  Mystizismus  und 
jene  klebrige  Sauce  preziös  tuender  Vulgarität,  die  Aber  den  ganzen 
«isgeklflgelten  Asthetizismus  des  Herrn  Wilde  und  aber  seine  auf- 
drii^liche,  bUlige  Wissenschamichkeit  gegossen  ist.  Herr  Wilde 
sagt,  sein  Buch  habe  »eine  Moral«.    Soweit   wir   diese   Moral  heraus- 

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—    8    — 


linden  kCnnen,  ist  es  die,  dtfi  es  der  vornehmste 
zweck  des  Menschen  ist,  seine  Natnr  dadurch  znr  VoÜendnng  za  ent- 
wickeln, daß  er  »stets  nach  neuen  Sensationen  sncht«,  d^,  wenn  <fic 
Seele  erkrankt,  das  Mittel  zu  ihrer  Heilnng  darin  besteht,  »den  Sniaci 
nichts  zu  verweigern«  -  denn  nichts,  sagt  eine  von  Wildes  Oeslattea, 
Lord  Henry  Wotton,  »nichts  kann  die  Seele  heilen,  als  die  Sinne. 
ebenso  wie  nichts  die  Sinne  heilen  kann,  als  die  Seele«.  Der  Mensch 
ist  halb  Engel,  halb  Affe,  und  Wildes  Buch  ist  nutzlos,  wenn  es  incfct 
dazu  dient,  die  »Moral«  einzuprägen,  da6  man,  wenn  man  sldi  za 
engelhaft  fühlt,  nichts  besseres  tun  kann,  als  eiligst  ein  Tier  ans  sich  zi 
machen.  Es  gibt  nicht  eine  gute  und  reine  Regung  der  mensciilldMa 
Natur,  fast  keine  Veredelung  des  Gemütes  oder  des  Instinktes,  die  im 
Laufe  der  Jahrhunderte  durch  Zivilisation,  Kunst  und  Religion  als  Tel 
der  Scheidewand  zwischen  Mensch  und  Tier  in  uns  entwickelt  worden. 
die  nicht  im  »Dorian  Gray«  der  Lächerlichkeit  und  der  Verachtong  picb- 
gegeben  würde  —  wenn  anders  solche  starke  Wirkungen  der  wind^gea 
Leichtfertigkeit  und  wortgewandten  Anmaßung  des  Herrn  Wilde  fttM^ 
haupt  zugeschrieben  werden  können.  Sein  gewaltsamer  Versncb,  aa 
Ende  des  Buches  eine  »Moral«  zusammenzustöppeln,  ist  vom  kflnsikri- 
sehen  Standpunlct  plump  und  roh,  denn  der  Tod  des  Dorian  Qray  fiOl 
aus  dem  Rahmen  der  ganzen  Geschichte  heraus.  Dorians  einziges  Be- 
dauern ist,  daß  zügelloses  Schwelgen  in  Jeder  Art  geheimen  und  uuicbb- 
baren  Lasters,  in  allen  Genüssen  des  Luxus  uud  der  Kunst  und  —  was 
die  entnervten  Modejünglinge,  deren  Leben  der  »Dorian  Gray«  za  be- 
schreiben vorgibt,  noch  mehr  reizt  —  in  ekelhaftestem  Schmutz  aad 
Unrat  ~  sein  Bedauern  ist  also,  was?  Daß  alles  dies  Linien  vorzettifea 
Alters  und  abstoßender  Verlebtheit  in  sein  hübsches  Gesicht  zeiclnKB 
könnte,  in  das  Gesicht,  dessen  rosige  Schönheit  von  der  Art  ist,  die 
Jünglinge  seiner  widerwärtigen  Gattung  'den  paralytischen  Patrizlem  do 
byzantinischen  Kaiserreiches  teuer  machte.  Dorian  Gray  l>etet  alsoi,  dii 
sein  Porträt,  gemalt  von  einem  Künstler,  der  von  ihm  schwärmt,  wfc 
Männer  von  Mädchen  schwärmen,  die  ihre  Geliebten  shid,  daß  diese 
Porträt  an  Stelle  des  Originals  alt  werden  möge.  Dies  geschieht  dcis 
auch  durch  die  Einwirkung  einer  übernatürlichen  Macht,  deren  Aaibelea 
durchaus  possenhaft  ist;  Dorian  erfreut  sich  Jahr  um  Jahr  nnvcr- 
welklkher  Jugend  und  könnte  bis  in  die  Ewigkeit  fortfahren,  striAot 
seine  Sinne  dazu  zu  gebrauchen,  »seine  Seele  zu  heilen«  and  ^ 
englische  Gesellschaft  mit  der  moralischen  Verpestung  zu  besudeln,  von 
der  er  durchdrungen  ist,  wenn  nicht  etwas  dazwischen  käme.  Das  fSi 
sein  plötzlicher  Impuls,  nicht  nur  den  Maler  zu  ermorden  >-  was  ktaat- 
lerisch  damit  verteidigt  werden  könnte,  daß  es  nur  eine  Weilcresl- 
Wicklung  seines  Lebensprinzipes  ist,  jede  Art  von  Erlebnis  auszukosten  — 
sondern  auch  das  Bild  wütend  mit  dem  Dokh  zu  durchbohren,  weil  ei, 
obgleich  er  sich  dazu  herbeigelassen  hatte  eme  gute  Tat  zn  tun,  von 
seiner  Abscheulichkeit  nichts  verloren  hatte.  Dies  ist  aber  ganz  vpm- 
einbar  mit  dem  kalten,  berechnenden,  gewissenlosen  Charakter  des  Dori« 
Gray,  den  Wilde  ziemlich  logisch  in  sebiem  »neaen  Hedonismus«  efll- 
wickelt  hat.  Der  Autor  beendigt  dann  seUie  Geschichte  damit,  daß  er 
uns  erzählt:    »Die  Dienerschaft  eOte  herbei,  als  sie  ebien  scbwcien  Ptf 


yGoOgi 


~    9    — 


hörte,  trod  fand  das  Bild  an  der  Wand  in  voller  Jngendlichlceit  strahlend, 
während  seine  greisenhafte  Hftfilichkeit  aaf  den  Elenden  flbergegangen 
war,  der  mit  dnrchbohrtem  Herzen  auf  dem  Fnfiboden  lag».  —  Das  ist 
eine  Talmi-Moral,  wie  denn  alles  in  dem  Buche  Talmi  ist,  bis  auf  das 
eine  Element,  daß  Jedes  }ange  Oemflt,  das  mit  ihm  in  Berührung  kommt, 
unheilvoll  beeinflussen  mufi.  Dieses  Element  ist  die  mit  einschmeichelnder 
Logik  verfochtene  Berechtigung  des  Appells  an  die  Sinne,  »die  Seele  zu 
heilen«,  wenn  diese  Seele  unter  zu  grofler  Reinheit  und  Selbstver- 
leugnung leidet. 

Wildes  Erwiderung. 
An  den  Herausgeber  des  ^Dailj  Ghronicla'. 
Geehrter  Herr! 

(bestatten  Sie  mir  einige  Irrtümer  zu  korrigieren, 
die  Ihrem  Kritiker  in  seiner  Besprechung  meiner 
Brxäblung  »Das  Bildnis  des  Dorian  Qrayc  unter- 
laufen sind« 

Ihr  Kritiker  behauptet  vorerst»  dafl  ich  einen 
gewaltsamen  Versuch  mache,  am  Schlufl  meiner  Br- 
asählung  eine  Moral  »cusammenzustoppeinc.  Ich  mufi 
gestehen,  dafi  ich  nicht  ganz  genau  weift,  was  unter 
»zusammenstoppeln«  zu  verstehen  ist.  Es  ist  jedoch 
nicht  meine  Absicht,  hier  in  eine  Untersuchung  ein- 
zelner Ausdrücke  des  modernen  Journalistenjargons 
einzugehen.  Ich  will  lediglich  folgendes  sagen:  Weit 
entfernt,  irgend  eine  Moral  in  meiner  Erzählung  her- 
vorheben zu  wollen,  war  meine  einzige  Sorge  bei 
ihrer  Verfassung  vielmehr  nur,  die  sich  von  selbst 
aufdrängende  Moral  gegen  die  künstlerische  und 
dramatische  Wirkung  zurückstehen  zu  lassen. 

Als  die  Idee  der  Darstellung  eines  jungen 
Mannes,  der  seine  Seele  gegen  ewige  Jugend  ver- 
kauft —  eine  Idee,  die  alt  ist  in  der  Literatur,  der 
ich  aber  eine  neue  Form  gegeben  habe  —  in  mir 
auftauchte,  fühlte  ich  sofort,  daß  es  schwer  sein 
würde,  die  Moral  so  im  Hintergründe  zu  halten  wie 
es  vom  ästhetiflchen  Standpunkt  aus  nötig  ist;  und 
ich  bin  noch  immer  nicht  gewifi,  ob  mir  das  auch 
zufriedenstellend  geluneren  ist.  Ich  halte  die  Moral 
für  zu  offenkundig.  Wenn  die  Erzählung  in  Buch- 
form erscheint,  hoffe  ich  diesen  Mangel  beseitigen 
zu  können. 

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10 


Was  nun  die  Frage  betrifft|  worin  die  MoFil 
besteht,  so  behauptet  Ihr  Kritiker»  sie  bestehe  darin, 
dafi,  wenn  ein  Mensch  fühle,  daft  er  zu  engelhaft 
werde,  er  »eiligst  ein  Tier  aus  sich  maohen«  solku 
Ich  kann  nicht  sagen,  dafi  mir  dies  eine  Moral  n 
sein  scheint  Die  Moral  der  Erzählung  ist  in  Wahr- 
heit die,  daS  jede  Ausschreitung  ebenso  wie  jede 
Selbstverleugnung  ihre  Strafe  nach  sich  zieht.  Diese 
Moral  ist  mit  künstlerischer  Absicht  so  verborgen, 
dafi  sie  nirgends  als  Gesetz  ausgesprochen  erscheint^ 
sondern  sich  nur  in  den  Schicksalen  der  handelnden 
Personen  ausdrückt  und  derart  lediglich  ein  drama* 
tisches  Element  in  einem  Kunstwerk  darstellt,  und 
nicht  den  Zweck  dieses  Kunstwerkes  selbst 

Ihr  Kritiker  begeht  ferner  einen  Irrtum,  wenn 
er  sagt,  daß  es  9unyereinbar  mit  dem  kalten«  be- 
berechnenden, gewissenlosen  Charakter  des  Doriaa 
Orayc  sei,  das  Bild  seiner  Seele  zu  zerstören,  blot 
weil  es  nichts  an  seiner  Häßlichkeit  verlor,  als  er  in 
seiner  Eitelkeit  sich  schmeichelte,  seine  erste  gute 
Tat  getan  zu  haben«  Dorian  Gray  ist  keineswegs  ein 
kalter,  berechnender,  gewissenloser  Charakter.  Br  ist 
im  Gegenteil  ungemein  impulsiv,  töricht  romantisdi 
und  wird  sein  ganzes  Leben  hindurch  von  einen 
überempfindlichen  Gewissen  gequält,  das  ihm  aeioe 
Vergnügungen  vergällt  und  ihn  ermahnt,  daft  Jugend 
und  Genuß  nicht  alles  in  der  Welt  sind«  Und  germde 
um  dieses  Gewissen  los  zu  werden,  das  ihm  unab- 
lässig auf  Schritt  und  Tritt  nachgeht,  zerstört  er  dm 
Bild.  Indem  er  also  versucht,  das  Gewissen  su  tdtw, 
tötet  Dorian  Graj  sich  selbst. 

Ihr  Kritiker  spricht  sodann  von  »aufdringli^^ 
billiger  Wissenschaf tlichkeitc.  Nun,  was  immer  e. 
wissenschaftlich  gebildeter  Mann  schreiben  möge,  f 
wird  er  Wissenschaftlichkeit  erkennen  lassen  in  d« 
Vornehmheit  seines  Stils  und  in  der  sorgAltJge 
Wahl  seiner  Worte.  Aber  meine  Erzählung  enthi 
keine  gelehrten  oder  pseudo*gelehrten  (bespräche,  uc 
die  Bücher,   deren  darin  Erwähnung  geschieht,   tix 


11  - 


nur  solche,  von  denen  Torausgesetst  werden  kann^ 
dafi  ein  Mann  von  Bildung  sie  kennt,  wie  £um  Bei- 
spiel das  »Satiriconc  des  Petronius  Arbiter  oder 
Qautiers  »Bmaux  et  Garage s«.  BQcher  wie  Le 
Consos  »Glericalis  Disciplina«  sind  nicht  Gegen- 
stand der  Wissenschaft,  sondern  der  Liebhaberei.  Es 
kann  niemandem  ein  Vorwurf  daraus  gemacht  werden, 
dafi  er  sie  nicht  kennt. 

Zum  Schlüsse  nur  noch  dies:  Die  ästhetische 
Bewegung:  hat  gewisse  eigenartige,  zartduftige,  durch 
ihren  beinahe  mystischen  Ton  faszinierende  Farben- 
mischungen hervorgebracht.  Sie  waren  und  sind 
unsere  Reaktion  gegen  die  rohen  Primärfarben  einer 
zweifellos  ehrbareren,  aber  sicherlich  minder  kultivierten 
Zeit.  Meine  Erzählung  ist  eine  Studie  dekorativer 
Kunst  Sie  reagiert  gegen  die  rohe  Brutalität  des 
deutlichen  Realismus.  Sie  ist  giftig,  wenn  Sie  wollen, 
aber  Sie  kOnnen  nicht  leugnen,  dafi  sie  auch  voll- 
kommen ist,  und  Vollkommenheit  ist  es,  was  der 
Künstler  anstrebt. 

Ich  bin,  geehrter  Herr,  Ihr  hochachtungsvoll 
ergebener  0.  W. 

16,  Tite  Street,  30.  Juni  1890. 


In  seiner  Nummer  vom  5.  Juli  1890  schreibt  der  »Scots 
Observer«: 

Wumm  in  Dflngerhairfen  wählen?  Die  Wen  Ht  schön,  und  die 
MajoritSt  gesnnd  gearteter  Männer  und  ehrenhafter  Franen  aber  die  An- 
0eiattlten,  Umiat&rlichen  nnd  Gefallenen  ist  groS.  Oslcar  Wilde  hat 
wieder  einmal  ein  Ding  geschrieben,  das  besser  ungeschrieben  geblieben 
wäre.  Wohl  ist  seine  Erzählung  »Das  Bildnis  desDorian  Oray«  originell, 
lofcressant,  voll  Qeist  nnd  zweifellos  das  Werk  eines  begabten  Schrift- 
•f^Oers;  aber  sie  ist  ein  Werk  falscher  Knnst,  denn  ihr  Held  Itl  ein  Teufel ; 
wid  sie  ist  ein  Werk  falscher  Mord,  denn  es  geht  nicht  genügend  klar 
Aaraus  hervor,  ob  der  Autor  nicht  ein  Leben  widernatarlichen  Lasters 
einem  Leben  der  Gesundheit,  Reinheit  und  Kraft  vorzieht.  Die  Erzählung 
—  die  Gegenstände  behandelt,  welche  nur  fär  die  Krhninalgerichtsbar- 
Mt  Oder  fftr  die  Betprechnng  in  caitiera  geeignet  sind  —  macht  dem 
Antor  eben  so  wenig  Ehre  wie  dem  Verleger.  Herr  Wilde  hat  Geist 
TiiMt  tflnl  Sm-t  aller  wmMi  tr  nur  lAr  dekkasiert«  Lebemänner  und 
petrmU  Kettnetftfngen  schreiben  kann,  so  wäre  es,  je  eher  er  sich  der 

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—   12  — 


Schneiderei*)  (oder  einem  anderen  ehrenhaften  Berufe)  zuwendet,   desto 
besser  f&r  seinen  Ruf  und  für  die  aU|[enieine  Sittlichkeit 

Wildes  Erwiderung. 
An  den  Herausgeber  des  ,Soots  Observer^. 
(beehrter  HerrI 

In  Ihrem  Blatte  erschien  dieser  Ta^  eine  Kritik 
meiner  Brs&hlung  »Das  Bildnis  des  Denan  Qrayc.  Dt 
diese  Kritik  mich  als  Künstler  mit  grober  Unge- 
rechtigkeit behandelt,  bitte  ich  Sie,  mir  fOr  mein 
Recht  auf  Erwiderung  in  Ihren  Spalten  freundlichst 
Raum  EU  geben. 

Obgleich  Ihr  Kritiker  zugesteht,  daft  die  firag- 
liehe  Erzählung  »zweifellos  das  Werk  eines  begmbtai 
Schriftstellersc  ist,  »eines  Mannes,  der  Geist,  Tideot 
und  Stil  besitzte,  so  nimmt  er  doch  an,  und  das 
offenbar  in  allem  GSrnste,  dafi  ich  es  nur  im  Hinblick 
auf  yerbrecherische  und  ganz  ungebildete  Lieaer  ge- 
schrieben habe.  Nun  glaube  ich  aber,  daft  Verbrecher 
und  ungebildete  Menschen  überhaupt  nichts  anderes 
lesen  alS  Zeitungen.  Sicherlich  kann  yon  ihnen  nicht 
Yorausgesetzt  werden,  daft  sie  ein  Buch  wie  das 
meinige  verstehen.  Lassen  wir  sie  also  beiseite,  und 
gestatten  Sie  mir  nur  über  die  grofie  Frage,  warum 
ein  Dichter  überhaupt  schreibt,  einige  wenige  Worte 
zu  sagen. 

Das  Vergnügen,  das  es  gewährt,  ein  Kunstwerk 
zu  schaffen,  ist  ein  rein  persönliches,   und  nur  um 
dieses  Yerenflgens  willen  schafft  der  Künstler,    fir 
arbeitet,  alle  seine  geistigen  Kräfte  auf  den  Gegen- 
stand konzentriert.    Nichts   anderes  interessimt  ihn. 
Was  die  Leute  sagen  werden,  daran  denkt  er  nicht 
einmal.    Er  ist  fasziniert  durch  das  (Gebilde   xmter 
seinen  Händen.    Alles  andere  besteht  für  ihn  nid 
Ich  schreibe,  weil  es  mir  den  denkbar  gröBten  kflni 
lerischen  Genufi  gewährt,  zu  schreiben.   Wenn  me 
Werk  den  Wenifcen  gefällt,  bin  ich  erfreut  Wenn  i. 
ihnen  nicht  gefiftUt,  bm  ich  nicht  betrübt«  Und  was  d 

«)  AntplelMg  Mff  WHdet  Pnpägßndii  Mr  eise  Reform  der  KleMa 

Annu  d.  Oben 

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-  18  — 


Menge  betrifft,  so  hftbe  ich  kein  Verlangen,  ein 
populärer  Schriftsteller  bu  werden.  Es  ist  viel  bu  leicht. 

Ihr  Kritiker  begeht  den  gana  unrerBeihlichen 
Fehler,  den  KQnstler  mit  seinem  Gtegenstande  bu  Ter« 
naengen.  Für  diesen  Fehler  gibt  es  Oberhaupt  keine 
Entschuldigung.  Von  dem  Manne,  der  die  gtöftte  Er* 
Bcheinung  der  Weltliteratur  seit  den  Tagen  der  alten 
Griechen  darstellt,  sagt  Keats,  dafl  es  ihm  ebensoviel 
Freude  machte,  das  BOse  dichterisch  eu  gestalten, 
wie  das  Oute.  Empfehlen  Sie  Ihrem  Kritiker,  Herr 
Redakteur,  diesen  schönen  SatE  Keats'  recht  wohl  eu 
behersigen«  Denn  dasselbe  gilt  ron  jedem  Künstler. 
Dieser  steht  entfernt  von  seinem  Gegenstände.  Er 
schafft  ihn  und  betrachtet  ihn.  Je  weiter  ratfernt 
sein  Subjekt  von  dem  Objekt  ist,  desto  freier  schafft 
er.  Ihr  Kritiker  meint,  dafl  ich  es  dem  Leser  meines 
Buches  nicht  klar  genug  mache,  ob  ich  die  Tugend 
dem  Laster  oder  das  Laster  der  Tueend  vorziehe. 
Er  mOge  sich  gesagt  sein  lassen,  dafl  ein  Künstler 
Oberhaupt  keine  ethischen  Sympathien  oder  Anti- 
pathien hat  Laster  und  Tugenden  sind  ihm  einfach 
das,  was  dem  Maler  die  Karben  auf  seiner  Palette 
sind.  Nicht  mehr  und  auch  nicht  weniger.  Er  findet, 
dafl  durch  ihre  Anwendung  eine  gewisse  künstlerische 
Wirkung  hervorgebracht  werden  kann,  und  er  bringt 
sie  hervor.  Jago  mag:  vom  moralischen  Standpunkt 
scheufilich  sein,  imd  Imogen  fleckenlos  rein.  Shake- 
speare hatte,  wie  Keats  sagt,  ebensoviel  Freude  an 
der  Schaffung  des  einen  wie  der  andern. 

Um  der  dramatischen  Entwicklung  meiner  Ge- 
schichte willen  war  es  nOtig,  Dorian  Gray  mit  einer 
Atmosphäre  sittlicher  Fäulnis  eu  umgeben.  Andern- 
falls  hätte  die  Erzählung  keinen  Sinn  und  die 
Handlung  keinen  Ausgang  gehabt.  Diese  Atmo- 
sphäre vag  und  unbestimmt  und  geheimnisvoll  bu 
halten,  war  die  künstlerische  Abs!cht  dessen,  der  die 
Geschichte  schrieb.  Ich  nehme  für  ihn  in  Anspruch, 
daft  ihm  diese  Absicht  gelang.  Jeder  Mensch  sieht 
eeioe  eigenen  Sünden  in  Dorian  Oraj.    Welches  die 


->  14  ^ 


SQnden  Dorian  QnjB  sind,  weift  niemand.  Der^  der 
sie  findet,  hat  sie  mitgebracht 

Zum  Schlüsse  lassen  Sie  mich  Ihnen  aageii, 
Herr  Redakteur,  wie  tief  ich  es  bedauere,  daft  Sie 
einer  solchen  Besprechung,  wie  die,  cu  deren  Zurflck- 
Weisung  ich  mich  gedrängt  fahle,  Aufnahme  in  Ihr 
Blatt  gewährt  haben.  Dafl  der  Herausgeber  der 
,Sr.  James's  Oazette^  Caliban  cum  Kunstkritiker 
macht,  ist  vielleicht  natQrlich.  Der  Herausgeber  des 
^Scots  Obserrer^  sollte  nicht  augeben,  dafi  Thersites 
in  seinem  Blatte  Grimassen  schneidet  Es  ist  eines 
so  henrorragenden  Schriftstellers  unwürdig. 

Empfangen  Sie  u.  s«  w.  O.  W. 

London,  16,  Tite  Street,  9.  Juli  lb90. 

Hiezu  bemerkt  das  Blatt: 

Es  war  nicht  zu  erwarten,  dafi  Herr  Wflde  mit  seinem  Kritiker 
aber  den  Icünstlerlschen  Wert  seines  Werkes  derselben  Meinung  scia 
werde.  Es  sei  Ihm  zugestanden,  daß  es  ihm  gelungen  ist,  seinen  HeldeD 
mit  Jener  Atmosphäre  zu  umgeben,  die  er  beschreibt.  Dtt  ist  sein  Lohn. 
Der  Kritiker  ist  nichtsdestoweniger  berechtigt,  der  Ansicht  zu  sein  mid 
sie  auszudrücken,  daß  keine  noch  so  geschickte  Behandlung  diese  Atmo- 
sphäre für  den  Leser  erträglich  machen  kann.  Das  ist  seine  Strafe. 
Zweifellos  ist  es  das  Vorrecht  des  Künstlers,  abscheulich  zu  sein:  ab« 
er  mufi  dieses  Vorrecht  auf  seine  Gefahr  ausüben. 

Ein  Herr  Charles  Whibley  schreibt  einige  Tage  darauf: 
Der  alte  Streit,  hier  Objekt,  hier  Gestaltung,  dürfte  iortduuen. 
solange  Künstler  und  Kritiker  denselben  Planeten  bewohnen.  Und  di 
eine  endgiltige  Entscheidung  dieser  Frage  die  lebhafteste  und  inter- 
essanteste aller  Diskussionen  vorzeitig  abschließen  würde,  so  wolleo  wir 
hoffen,  daß  eine  solche  Entscheidung  niemals  eintreten  wird. 

(Es  folgt  eine  längere  theoretische  Erörterung,   in  deren  Vcrlaif 
der   Schreiber  Maupassants   »Bei  Amit   und   Daudets    »Sapho«  scharf 
tadelt  und  ihnen  Dostojewskis  »Verbrechen  und  Sühne«  und  IHaiibertf 
»Madame  bovary«    als  Beispiele   künstlerischer  Behandlung  eines   al 
stoßenden  Stoffes  entgegenhält.) 

.  .  Die  Kunst  ist  also  unmoralisch.  Wenn  diese  Theorie  irsewl 
wie  feststeht,  so  scheint  mir  Ihre  Kritik  des  »Dorian  Gray»  zu  woM 
wollend  in  ihrem  Lobe  und  zu  ungerecht  in  ihrer  Verurteilung  zu  seis 
Sie  finden  in  der  Erzählung  Kunst  und  keine  Moral;  ich  fbide  dart 
Massen  von  Moral  und  keine  Kunst.  Vom  Anfang  bis  zum  Ende  fibcf 
ließ  WOde  seiner  Liebe  zu  Paradoxen  die  Herrschaft  über  seinen  Sir 
für  Proportion.    Wenn    ich   den    Gcsprichston   des   Lp^ds    Wotton  - 

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—  15 


sicherlieh  eines  der  ermfldendsten  Menschen  der  Literatur  --  parodieren 
tfirf:  Cs  gibt  nichts  so  Langweiliges  wie  ein  Epigramm.  Und  ein 
Roman,  der  aus  nichts  anderem  besteht  als  aus  umgestülpten  Gemein- 
plätzen und  nac^  jtQooSmUca^  gewendeten  leeren  Phrasen,  hat  nicht  mehr 
Recht,  künstlerisch  genannt  zu  werden,  als  ein  Gemälde,  das  nur  aus 
farbigen  Punkten  bestünde.*)  Unterbricht  ehi  Künstler  den  Gang  seiner 
Erzählung  mit  ermüdenden  Abhandlungen  über  Juwelen  und  mit  Öden 
Möbelkatalogen?  Und  vermeidet  er  nicht,  wenn  er  einen  zugestandener- 
mafien  delikaten  Gegenstand  behandelt,  überflüssiges  Detail  und  exotische 
Sentimentalität?  Wilde  hat  bewiesen,  daß  ihm  der  Takt  und  die  Selbstzucht 
fehlen,  efaien  Helden  künstlerisch  zu  gestalten,  der  halb  Jack  der  Auf- 
Schützer,  halb  Gaveston**)  ist.  Die  Aufnahme,  die  sein  Buch  gefunden 
hat,  mufi  ihm  übrigens  besonders  schmerzlich  gewesen  sein.  Er  erhebt 
Anspruch  auf  einen  künstlerischen  Triumph,  und  er  wurde  zum  mindesten 
von  einer  religiösen  Zeitschrift  als  Sittenreformator  begrüßt.  Hat  es  je 
eine  unerwünschtere  Apotheose  gegeben? 

* 

Wildes  Bweite  Erwiderung. 
Geehrter  Henri 

In  einer  Zuschrift,  die  vor  einigen  Tagen  in 
Ihrem  Blatte  erschien  und  die  das  Verhältnis  der 
Kunst  zur  Moral  behandelt  -•  eine  Zuschrift,  die  mir 
in  vieler  Hinsicht  vortreffl'ch  eu  sein  scheint,  ins- 
l)esondere  in  ihrer  Betonung  der  Freiheit  des  KQostlers, 
seinen  Stoff  nach  Gefallen  su  wählen  — ,  sagt  der 
Unterseichner,  Herr  Charles  Whibley,  es  müsse  be- 
sonders schmerzlich  für  mich  sein,  zu  sehen,  dafl  die 
ethische  Bedeutung  des  Dorian  Gray  von  den  hervor- 
ragendsten christlichen  Blättern  Englands  und  Amerikas 
so  stark  betont  wird,  und  dafi  ich  sogar  von  mehr  als 
einem  von  ihnen  als  Sittenreformator  begrüßt  werde. 

Gestatten  Sie  mir,  nicht  nur  Herrn  Charles 
Whibley  selbst,  sondern  auch  Ihre  zweifellos  besorgten 
Leser  in  dieser  Hinsicht  zu  beruhigen.  Ich  zögere 
nicht  im  Geringsien  zu  erklären,  daß  ich  eine  solche 
Kritik  als  eine  sehr  willko(nroene  Huldigung  für  mein 
Werk  betrachte.    Denn  wenn  ein  Kunstwerk  reich- 

*)  Herr  Whibley  wufite  wohl  noch  nichts  vom  Pointilllsmus, 
der  damals  wohl  schon  erhinden,  aber  noch  nicht  Kunstmode  ge- 
worden war.  Anm.  d.  Obers. 

**)  Begabter  und  übermütiger  Günstling  Eduards  11,,  der  ihm 
in   blinder  Liebe   zugetan  war.  Anms.  d.  Obers. 

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-  16  -^ 


baltig,  iebensToU  und  ToUendet  ist,  so  wwdea  die, 
die  künstlerischen  Sinn  haben,  seine  Schönheit  fühkoi 
während  die,  auf  die  das  Ethische  mehr  wirkt  als 
das  Ästhetische,  seine  sittliche  Lehre  herausfinden 
werden*  Es  wird  den  Feigen  mit  Schrecken  erfollen, 
und  der  Unreine  wird  seine  Schande  darin  sehen« 
Es  wird  jedem  das  sein^  was  er  selber  ist.  In  Wahr- 
heit ist  es  der  Beschauer  und  nicht  das  Leben»  was 
sich  in  der  Kunst  spiegelt 

Und  so  hat  denn  auch  im  Falle  des  Dorian 
Gray  der  rein  literarische  Kritiker,  wie  cum  Bei^pid 
der  des  »Speaker^  darin  ein  »ernstes  und  reisvolles 
Kunstwerk«  gesehen;  der  Kritiker,  der  es  in  seiner 
Besiehung  zur  Moral  betrachtet,  wie  cum  Beispiel 
der  des  «Christlichen  Führers'  oder  der  der  yChrisl- 
lichen  Welt^  eine  ethische  Parabel;  das  |Licht% 
welches,  wie  man  mir  sagt,  das  Organ  der  englischen 
Mystiker  ist,  betrachtet  es  als  »ein  Werk  von  hoher 
spiritualistischer  Bedeutung«;  die  ,St  James's  Oa* 
EetteS  die  ofTenbar  das  Organ  der  LQstlinge  au  sein 
bestrebt  ist,  sieht  darin  alle  möglichen  schrecklichen 
Dinge  und  empfiehlt  es  der  Aufmerkfamkeit  des 
Staatsanwaltes;  und  Ihr  Herr  Charles  Whibley  sagt 
launig,  daß  er  darin  »Massen  von  Moral«  finde.  & 
ist  freilich  wahr,  daß  er  hinzufügt,  er  kOnne  keine 
Kunst  darin  entdecken;  aber  man  kann  billiger- 
weise nicht  von  einem  Kritiker  verlangen,  daft  er 
ein  Kunstwerk  von  allen  Seiten  sehe.  Auch  Oautier 
hatte  seine  Beschränkung,  ebenso  wie  Diderot,  und 
in  dem  heutigen  England  sind  die  Goethes  selten« 
Ich  kann  Herrn  Charles  Whibley  nur  die  Vereioherung 

feben,  daß  keine  Moral- Apotheose,  —  der  er  eine** 
öchst  bescheidenen  Beitrag  hinsufflgt  —  eine  C 
Sache  des  Harmes  für  einen  EOnstler  sein  kann. 

Ich  bin,  geehrter  Herr  Redakteur,  Ihr  sehr  ei 
gebener  O.  W. 

16,  Tite  Street,  Chelsea,  SO.  Juli  1800. 

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17  — 


Unterm  9.  August  1690  •mhicn  folgender  Brief  du  Herrn  Wh  ibley . 

Vor  nicht  viel  länger  alt  einem  Monat  tat  Herr  Oikar  Wilde 
ütn  Lesern  des  ,St.  James's  Qazette'  kund,  dafi  er  infolge  seines 
Temperaments  oder  seines  Geschmackes  oder  beider  durchaus  nicht  zu 
begreifen  vermöge,  wie  man  ein  Kunstwerk  vom  moralischen  Gesichtspunkte 
ftus  beurteilen  könne.  »Das  Gebiet  der  Kunst  und  das  Gebiet  der  Ethik«, 
schrieb  er,  »sind  vollkommen  getrennt  und  verschieden«.  Nun  hat  aber 
Mine  Erzfthlung  den  Beifall  einiger  berufsmäßig  frommer  Blätter  gefunden, 
luid  er  akzeptiert  die  Kritik  seiner  neuen  Verbündeten  als  eine  »«ehr 
willkommene  Hnldij^mg«  ffir  sein  Werk.  Wenn  seine  Erklärung  in  der 
ySt  James's  Gazette,  aufrichtig  war,  dann  müßte  er  das  Urteil  eines 
Kritikers  »der  die  Kunst  in  ihrem  Verhältnis  zur  Tugend  bet  achtet«  als 
eine  sinnlose  Anmaßung  zurückweisen.  Hat  er  nicht  erklärt,  daß  »kein 
Kunstwerk  vom  moralischen  Standpunkt  aus  kritisiert  werden  darf«? 
»Geschmack  und  Temperament«  des  »Künstlers«  sind  ja  notorisch 
schwankend  and  unberechenbar,  aber  man  sollte  doch  meinen,  daß  sie 
ein  paar  Wochen  ohne  Wechsel  überdauern  könnten.  Aber  die  .Christ- 
liche Welt'  läßt  ihr  salbungsvolles  Lob  auf  Herrn  Wilde  herabträufeln, 
und  stracks  verleugnet  er  seine  teuren  Prinzipien  und  vermengt  Ethik 
und  Ästhetik  mit  einer  Unbekflmmerthelt,  die  der  Mrs.  Grundy*)  selbfr 
Würdig  wäre.  Wenn  es  der  höchste  Ehrgeiz  Jedes  Künstlers  ist,  Seite 
an  Seite  mit  dem  talentierten  Autor  von  »Wir  zwei«  zur  Bewunderung 
dller  derer,  die  sittenverbessernde  Literatur  lieben,  auf  ein  Piedestal 
gestellt  zu  werden,  dann  hat  Herr  Wilde  sicherlich  einen  großen  Triumph 
errungen.  Aber  sein  Erfolg  mag  billigerweise  von  jenen  angezweifelt 
werden,  die  nicht  der  Ansicht  sind,  daß  aufdringliche  Moral  die  unent- 
behrliche Eigenschaft  jedes  Kunstwerkes  sei. 

Es  sdieint,  daß,  um  die  Vorzüge  des  »Dorian  Gray«  vollkommen 
würdigen  zu  können,  der  »rein  literarische  Kritiker«  mit  dem  verschmelzen 
muß,  der  »die  Kunst  in  ihrem  Verhältnis  zur  Tugend  betrachtet«.  Weder 
Oautier  noch  Diderot  wären  also  im  Stande,  dieser  Aufgabe  zu  genügen. 
Ohne  die  Mithilfe  des  .Licht'  und  der  .ChrlsUichen  Welt'.  Und  Goethe 
ist  tot  und  hat  den  Dorian  Gray  nicht  gekannt !  Ich  weiß  nicht,  wer 
mehr  zu  bedauern  ist,  der  deutsche  Kritiker  oder  der  englische  Moralist. 
Aber  Herr  Wilde  hat  den  bedauernswerten  Umstand  in  bestmöglicher 
Weise  korrigiert :  da  kein  Goethe  da  ist,  um  ihm  Beifall  zu  spenden, 
ist  er  unermüdlich  in  der  öffentlichen  Belobung  seines  eigenen  Werkes. 


Ein  Herr  J.  E.  Brown  untersucht,  ob  Wilde  Im  »Dorian  Gray« 
mit  ftabelals  oder  mit  Swift  zu  vergleichen  sei,  und  verneint  beides.  Er 
findet  ihn  näher  zu  Zola  in  Bezug  auf  die  Wahl  eines  abstößenden 
Stoffes  und  in  Bezug  auf  seine  moralisierende  Absicht,  stellt  aber  Zola 
viel  höher  und  führt  insbesondere  »La  Terre«  als  Beispiel  der  kraft- 
vollen Behandlung  eines  häßlichen  Gegenstandes  an.  Er  fährt  dann  fort: 

Ich   bin    überzeugt,   er   meint   es   gut.     Er   ist   ebenso 

*)  Etwa:    Frau   Klatschbase,    Sinnbild   der   urteilslosen  Menge. 

Anm.  d.  Obers 


18  - 


morditcb  wi*  Zola;  einer  Ihrer  Korrespondenten  bat  ja,  gla&bc  kk. 
bereits  hervorgehoben,  dafi  die  Moral  die  starke  Seite  Wildes  Ist,  and 
ich  stimme  diesem  Urteil  vollkommen  zu.  Die  Mond  Ist  In  der  TM 
seine  starke  Seite,  aber  ich  glaube  nicht,  dafi  die  Kunst  es  ist  Dtarin 
rag:  Zola  weit  über  ihn  hinaus.  Zola  ist  eine  starke  Natur.  WQde  olckL 
Zola  meistert  seinen  Stoff  ~  kann  man  das  auch  von  Wlldc  sagen? 
Schriftsteller  sollten  sich  in  folgender  Weise  befragen  oder  sich  befr^ccs 
lassen:  Bist  du  Rabelaisisch?  Dann  lache  sein  lautes,  derbes  Ladm 
Aber  alles  dies,  und  Qott  befohlen!  Bist  du  Swiftisch?  Kannst  du  «rf 
diesem  furchtbar  gefährlichen  Seil  tanzen,  ohne  zu  stürzen?  Bist  da 
realistisch,  Zolaisch?  Ein  Mann  von  dem  Bau  Zolas  kann  sidi  nS 
seinen  Bauern  in  den  Morast  priapischer  Scheußlichkeit  legen  und  sidi 
als  ein  Riese  wieder  daraus  erheben.  Nichts  davon  ist  In  Ihii  etatge- 
drungen. Aber  schwächere  Menschen,  welkere  Menschen,  weichere. 
durchlässigere  Menschen  -  ist  es  geraten  fOr  sie,  dasselbe  zn 
Künstler  müssen  auf  sidt  Acht  haben :  der  Künstler  hat  ein 
Oelflhl,  und  er  mufi  es  behQten,  je  ängstlicher,  desto  besser, 
nicht  zu  den  wenigen  AUergröBten  zählt 

Ein  mit  >H.«  unterschriebener  Brief  polemisiert  gegen  die  von 
Charles  Whibley  in  seiner  Zuschrift  aufgestellte  Forderung,  der  Kritiker 
solle  nur  die  künstlerische  Gestaltung  des  Gegenstandes  benrteäen  nnd 
den  Gegenstand  selbst  außer  Acht  lassen.  «H.<  erklärt  dies  für  ■•• 
möglich,  da  der  Gegenstand  sich  dem  Kritiker  ebenso  anfdrtage  wie 
seine  Behandlung.  Dann  kommt  folgende  Stelle: 

Nehmen  wir  an,  ein  außerordentlich  begabter  Sänger  trüge  bei 
einem  Konzert  »God  save  Ireland«  ungemein  schön  vor.  Nadi  Hcni 
Whibley  mOßte  die  KriUk  lauten :  »Herr  Jones  sang  eine  Ballade,  dk 
seine  herrliche  Stimme  und  seinen  wunderbaren  Vortrag  in 
Lichte  zeigte.  Sein  hohes  /  ist  von  außerordentlicher  Rehiheit,  nsd  ) 
tiefen  Töne  klangen  unendlich  weich  und  sonor«.*)  —  Nach 
Ansicht  müßte  ein  richtiger  Kritiker  sagen:  »Dann  begann  Herr  Jones 
uns  einige  miserable  Verse  Über  drei  feige  Mörder  vorzusingen.  Jeder 
anständige  Mensch  im  Publikum  verließ  sofort  den  Saal.  Die  Konzeit- 
leitung  verdient  schärfsten  Tadel,  daß  sie  zugab,  daß  das  Auditoctam 
durch  diesen  schändlichen  und  verräterischen  Vortrag  beleidigt  werde.« 

Zum   Schlüsse   faßt   »H.«    sebie  Ansicht   dahin   zusammen,   der 
Kritiker  habe  selbstverständlich  zuvörderst  die  Aufgabe,  auf  Kunstiekkr 
tadelnd  hinzuweisen,  aber  das  enthebe  ihn  nicht  der  Pflicht,  »Vcrbicdiea. 
Roheit,  Radikalismus  (sie!)   und  Obszönität«   zu  verdammen,  wo  < 
sie  finde. 

Ein  Herr  J.  Mac  Laren  Cobban  schreibt: 


^  »God  save  Ireland«  ist  ein  irisches  Kampflied,  das  di 
politische  Mörder  glorifiziert,  und  es  ist  auf  den  DurchschnittseQglindi 
berechnete  grimmigste  Ironie  von  Seite  »H.s«,  eine  solche  Kritik  i 
möglich  zu  halten.  Zu  erinnern  ist  auch,  daß  WUde  Irländer  war. 

Anm.  d.  Obers. 

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—  19  — 


In  der  Kontroverse,  die  sich  in  den  Spalten  Ihres  Blattes  ent- 
wickelt hat,  hat  nur  einer  der  Beteiligten  den  Versuch  gemacht,  schö- 
pferisch zu  sein.  Dieser  eine  ist  Herr  Oskar  Wilde,  und  sein  Beitrag  zu 
der  Diskussion  besteht  nur  aus  ebiem  unverschämten  Paradoxon.  Die 
verschiedenen  Kritiker  haben  einander  mit  der  Ochsenblase  lustig  und 
unermfldlich  Ober  den  Kopf  gehauen,  dafi  es  nur  so  knallte.  Wozu  der 
L4rm?  muß  man  fragen.  Denn  es  will  mir  scheinen,  daß  sie  alle  in 
ihrer  Weise  recht  haben;  der  Unterschied  zwischen  ihnen  beruht  ledig- 
lich auf  dem  Unterschied  der  Gesichtspunkte,  und  der  Streit  wurzelt 
nur  darin»  daß  jeder  von  ihnen  darauf  besteht,  nur  einen  Gesichtspunkt 
gelten  zu  lassen.  Das  ist  aber  weder  weise  noch  förderlich.  Es  gibt, 
hat  hnmer  gegeben  und  wird  zweifellos  immer  geben,  drei  Gesichts- 
punkte, von  denen  aus  ein  Kunstwerk  beurteilt  wird:  1.  Der  des 
Kflnstlers.  2.  Der  des  Kritikers.  3.  Der  des  Publikums.  Der  Standpunkt 
des  Künstlers  und  der  des  Publikums  waren  immer  ziemlich  stabil;  der 
des  Kritikers  schwankt  zwischen  beiden  und  nähert  sich  zuweilen  bis 
auf  eine  kaum  merkbare  Entfernung  dem  einen  oder  dem  andern.  Der 
Künstler  hat  stets  das  Recht  gefordert,  seinen  Gegenstand  zu  nehmen, 
wo  er  ihn  fand.  Das  ist  sehr  berechtigt  von  seinem  Standpunkte  aus, 
und  je  mehr  er  Kftnstler  ist,  desto  mehr  findet  er,  daß  das  Wichtigste 
in  seiner  Kunst  und  in  der  Kunst  anderer  nicht  der  Stoff  sondern  seine 
Gestaltung  ist:  diese  ist  es,  die  seine  ganze  Aufmerksamkeit  und  seine 
ganze  Kraft  in  Anspruch  nimmt.  Das  Publikum  seinerseits  beurteilt  ein 
Kunstwerk  vollkommen  natflrlicherweise  nach  dem  einzigen  Werte,  den 
es  schätzen  kann,  nämlich  nach  der  Wirkung  auf  sich  selbst.  Wenn  das 
Publikum  von  einem  Buch,  einem  Stfick,  einem  Bild  getroffen,  gepackt 
wird,  wenn  es  zum  Lachen  oder  Weinen,  zum  Mitleid  oder  zum  Mora- 
lisieren gebracht,  wenn  es  unterhalten  oder  erregt  wird,  dann  nennt  es 
das  Buch,  das  Stfick  oder  das  Bild  »gut«.  Wie  das  Buch,  das  StQck, 
das  Bild  es  angestellt  haben,  diese  Wirkung  hervorzubringen,  das  weiß 
es  nicht,  und  danach  fragt  es  nicht.  »Stoff«  und  »Gestaltung«,  alle 
die  theoretischen  Streitfragen  der  Kunst,  sind  ihm  ebenso  gleichgiltig, 
und  mit  vollem  Recht;  denn  Kaufen  und  Verkaufen,  Erfolg  und  Miß- 
erfolg, Liebe  und  Heirat,  das  sind  die  Dinge,  die  es  vor  allem  beschäf- 
tigen, und  nicht  die  Kunst.  Zwischen  den  beiden  Extremen,  Kflnstler 
und  Publikum,  bewegt  sich  dann  der  Beruf skritiker  und  eüilge  wenige 
Menschen  aus  dem  Publikum,  die  ich  Amateure  nennen  will.  Diese, 
Kritiker  und  Amateure,  haben  nicht  die  intime  oder  esoterische  Sach- 
kenntnis des  Kflnstlers,  aber  sie  interessieren  sich  fOr  die  Kunst,  und  sie 
haben  ebien  gewissen  Geschmack  und  ein  gewisses  Urteil,  mit  deren 
Hufe  sie  als  Interpreten  zwischen  Künstler  und  Publikum  auftreten.  Aber 
es  ist  natürlich  und  unvermeidlich,  daß  auch  sie  ihre  eigene  Meinung 
haben.  Auch  sie  haben  noch  andere  Interessen  im  Leben  als  die  Kunst, 
und  ihnen  wird  nicht  wie  dem  Künstler  das  Gefühl  der  überragenden 
Wichtigkeit  der  Gestaltung  durch  den  täglichen  Kampf  mit  ihren 
Schwierigkeiten  aufgezwungen.  Wenn  ihnen  also  ein  Kunstwerk  gefällt  oder 
mißfällt,  so  legen  sie  die  Ursachen  davon  In  einer  Weise  dar,  wie  es 
der  Künstler  nicht  tun  würde,  und  nähern  sich  dabei  bald  mehr  dem 
Standpunkt  des  Künstlers,   bald   dem   des  Publikums,   Je  nadi   ihrem 


^  ao  - 


Temperament,   Geschmack   und  Verstftndnts.    Sic  brlngea 

vor,   die,   wir  dOrfen   nicht  sagen,  der  Kunst,   aber   der 

des  Künstlers  von  der  Kunst  fremd  sind;  sie  erheben  Aaldifen 

Unmoralitüt,  und  der  Kflnstler  ist  erstaunt,  wenn  nicht  crzflmt  Dean  fir 

den  Künstler  als  Kflnstler  gibt  es  nur  eine  Art  derUnmoralitift:  iditecMi 

Kunst,  das  heiftt,  schlechte  Gestaltung  des  Stoffes. 

Ich  will  jedoch  nicht  mit  dem  Kritiker  reditcB,  ob^^idi 

er,  wie  mir  scheinen  will,  mit  seinen  Erörterungen  Aber  die  Kunst  etea 
großen  Teil  der  Aufmerksamkeit  absorbiert,  die  besser  der  Kunit  tdbet 
zugewendet  werden  sollte.  Denn  die  Kunst  Ist  lang,  aber  di«  Krflft 
ist  länger. 

Wildes  dritte  Erwiderung. 
Geehrter  Herrl 
Ich  bin  zu  meinem  Bedauern  nicht  in  dw  Lftge, 
mich  mit  Herrn  Whibley  in  eine  ZeitungskontroTerse 
aber  die  Kunst   einzulassen ;    schon,  deshalb   nicht, 
weil  ich  nicht  die  Möglichkeit  habe  zu  beurteilen, 
inwieweit  Herr  Whibley  die  Befähigung  zur  Diakussion 
eines  so  wichtigen  Gegenstandes   besitzt«    Ich    habe 
von  seiner  Zuschrift  nur  Notiz  genommen,    weil   er 
-*  wie  ich  überzeugt  bin,  ohne  jede  Absicht  —  eins 
Vermutung  über   meine   persönlichen    Gefühle   aus- 
sprach, die  ganz  unzutreffend  war.  Er  sagte,  es  mfisse 
Peinlich  für  mich  sein,  zu  sehen,  dafi   ein  gewisser 
'eil  der  Öffentlichkeit,  bestehend  aus  ihm  selbst  und 
den  Kritiken  einiger  religiöser  Zeitschriften,  durchaus 
das,  was  er    »Massen  von  MoraU  nennt,   in    meiner 
Erzählung  »Das  Bildnis  des  Dorian  Graye  fiaden  wollte. 
Da  mir  natürlicherweise    daran   liegen    mußte, 
Ihre  Leser  in  einer  für  den  Literarhistoriker  so  wich* 
tigen  Sache  von  der  Wahrheit  zu  unterrichten,  legis 
icn  in  Ihren  Spalten  dar,  dafi  ich  jede  solche  Kritik 
als  eine  sehr  erfreuliche  Anerkennung  der  ethisohen 
Schönheit  des  Buches   betrachtete;    und   ich    fügt 
hinzu,  ich  sei  vollkommen  bereit  zuzugeben,  daft  < 
unbillig  wäre,  von  jedem   gewöhnlichen  Kritiker  s 
verlangen,  dafi  er  em  Kunstwerk  von  jedem  Oesichti 
punkte  aus  zu  würdigen  wisse.    Ich    bin    nach    wi 
vor  dieser  Ansicht.    Wenn  jemand    die  kflnstleriscti 
Schönheit  einer  Sache  sieht,  wird  er  sich  veitnutUc 
wenig  um  ihre  moralische  Bedeutung  kOoimem;.  i 


-  21  — 


aber  seine  Natur  empfftnglicher  für  die  ethischen  als 
für  die  ästhetischen  W  irkuiig^en,  so  wird  er  kein  Interesse 
fOr  Stü,    Behandlung   des    Gegenstandes   und   der- 

gleiohen  haben.  Es  bedarf  eines  Gk>eihe9  um  ein 
Kunstwerk  gans,  yollkommen  und  allseitig  bu  be- 
trachten, und  ich  stimme  Herrn  Whibley  durchaus 
BUy  wenn  er  sagt,  es  sei  schade,  dafi  (Joethe  den 
Dorian  Gray  nicht  gelesen  hat.  Ich  bin  gans  überaeugt^ 
dafi  er  davon  entattckt  gewesen  wäre,  und  ich  kann 
nur  hoiTen,  dafi  ein  schattenhafter  Verleger  eben  jetat 
eine  Qeisterausgabe  davon  in  den  Blysäischen  Ge- 
filden verteilt,  und  dafi  der  Einband  des  Exemplares, 
das  Gautier  in  die  Hand  bekommt,  mit  vergoldeten 
Affodilen  überstreut  ist. 

Sie  konnten  die  Frage  stellen,  warum  mir  daran 
liegen  sollte,  dafi  die  ethische  Schönheit  meiner  Br- 
aählung  anerkannt  werde.  Darauf  erwidere  ich:  ein- 
fach deshalb,  weil  sie  existiert,  weil  sie  darin  ist. 
Die  hervorragendste  Eigenschaft  von  »Madame  Bo- 
▼ary<  ist  nicht  die  Morallehre,  die  darin  au  finden 
ist,  ebenso  wenig  wie  die  hervorragendste  Eigenschaft 
des  »Salamroboc  die  Altertumskunde  ist,  die  es  ent- 
hält Aber  Flaubert  war  vollkommen  im  Rechte,  wenn 
er  die  Unwissenheit  derjenigen  bewies,  die  das  eine 
Werk  al^  unmoralisch,  das  andere  als  unrichtig  beaeich- 
neten.  Und  nicht  nur  war  er  im  Rechte  im  gewöhn- 
lichen Sinne  des  Wortes,  sondern  er  war  kOostlerisch 
im  Rechte,  was  das  Entscheidende  ist.  Der  Kritiker 
hat  das  Publikum  zu  belehren;  der  Kflnstler  hat  den 
Kritiker  au  belehren. 

Gestatten  Sie  mir  noch  eine  kleine  Richtig- 
stellung, und  dann  nehme  ich  Abschied  von  Herrn 
Whibley.  Er  schließt  seine  Zuschrift  mit  der 
Bemerkung,  ich  sei  unermfldlich  in  der  öffentlichen 
Belobung  meines  Werkes.  Ich  aweifle  nicht,  dafi  et 
mir  damit  eine  Schmeichelei  sagen  wollte,  aber  er 
überschätat  wirklich  meine  Fähigkeit  ebenso  wie 
meine  Lust  zur  Arbeit.  Ich  mufi  offen  gestehen,  dafi 
ich  durch  Anlage  ebensosehr  wie  durch  Wahl  außer«* 


-  22  ^ 


ordentlich  träge  bin.  EultiTierter  MOfiigang  sch^t 
mir  die  Angemessenste  Beschäftigung  des  Menschen. 
ZeitungdlLoniroversen  jeder  Art  sind  mir  Euwider, 
und  unter  den  zweihundertundsechsehn  Kritiken  des 
»Uorian  Qrayc^  die  von  meinem  Schreibtisch  in  den 
Papierkorb  gewandert  sind,  habe  ich  nur  von  dreien 
Oflentlich  Notiz  genommen.  Eine  davon  war  die  im 
yScols  Obierver'  erschienene.  Ich  reagierte  darauf, 
weil  sie  dem  Autor  eine  Absicht  bei  Verfassung  des 
Baches  unterschob,  die  berichtigt  werden  mußte.  Die 
zweite  war  ein  Artikel  in  der  ySt.  Jamea's  Uaseite'. 
Er  war  beleidigend  und  ungeschlacht  und  schien  mir 
eine  bofortige  Zurechtweiämig  su  erheischen.  Der  Tod 
des  Artikels  war  eine  Unverschämtheit  gegen  jedes 
Schriftsteller.  Die  dritte  war  em  schwächlicher  An- 
griff in  einem  Blatte,  das  ,The  Daily  Chronicle' 
heittt.  Ich  glaube,  daß  ich  an  den  ,Daily  Ctironicie' 
schrieb,  war  eine  Handlung  puren  Obermuts.  Ja,  gani 
sicher  war  es  das.  ich  weiU  absolut  nicht  mehr,  was 
in  der  tLritik  stand.  Wenn  ich  nicht  irre,  hielt  es 
dort,  der  Dorian  Uray  sei  giftig,  und  ich  glaube,  ich 
hielt  es  für  höflich,  aus  Uründen  der  Alliteration 
darauf  hinzuweisen,  dafi  er  auf  alle  Fälle  auch  genial 
sei.  Das  war  alles.  Die  übrigen  zweihundertdreiaehn 
Kritiken  habe  ich  nicht  beachtet.  Ja,  ich  habe  kaimi 
die  Hälfte  davon  gelesen.  Es  ist  sehr  betrübhch,  aber 
man  wird  selbst  des  Lobes  überdrüssig. 

Was  nun  die  Zuschrift  des  Herrn  Brown  betrifiEl, 
so  ist  sie  nur  insoferne  interessant,  als  sie  einen  be- 
weis für  die  Wahrheit  dessen  bietet,  was  ich  oben 
über  die  Stellung  der  beiden  Hauptarten  der  Kritik 
zueinander  gesagt  habe.  Herr  Brown  sagt  offen,  dafl 
er  die  Moral  die  »starke  Seitec  meiner  Erzählung 
finde.  Herr  Brown  meint  es  gut  und  hat  eme  halbe 
Wahrheit  gefunden,  wenn  er  es  aber  dann  unter- 
nimmt, das  Buch  vom  künstlerischen  Standpimkt  itt 
behandeln,  geht  er  natürlich  weit  in  die  Irre.  Den 
»Doriün  Uray«  auf  eine  Linie  mit  Zolas  »La  Terra« 
zu   stellen   ntt  ebenso  töricht,  als   ob   man  Muasets 

üigitized  by  VjOOQi' 


»Portunioc  auf  eine  Linie  mit  den  MHodnimen  des 
Adelphttheaters  stellen  wollte.  Herr  Brown  sollte  es 
bei  der  sittlichen  Beurteilung  bewenden  lassen;  da 
ist  er  unbeFieerlich. 

Herr  Cobban  beginnt  unglOcklich,  indem  er 
meinen  Brief,  worin  ich  Herrn  Whibley  in  Besu^  auf 
eine  Tatsache  berichtigte,  ein  »unverFchänites  Para- 
doxon« nennt  Der  Ausdruck  »unverschämt«  ist  nicht 
verständlich,  und  der  Ausdruck  »Paradoxon«  ist 
unan|zr«^bracht  Es  will  mir  leider  scheinen,  als  ob 
da^  Schreiben  an  Zeitunfren  einen  serstfirenden 
Binfliifi  auf  den  Stil  hätte.  Die  Leute  werden  heftig;, 
flreraten  ins  Schimpfen  und  verlieren  alles  Gefühl  für 
Proportion,  wenn  sie  die  seltsame  journalistisch«*  Arena 
betreten,  in  welcher  stets  der  Lärmendste  das  Rennen 
jrewinnt.  »Unverschämtes  Paradoxon«  ist  nun  aller- 
dinprs  weder  heftigt  noch  beschimpfend,  aber  es  ist 
ein  Ausdruck,  der  für  m<»inen  Brief  nicht  hätte  ge- 
braucht werden  sollen.  Herr  Cobban  tut  jpdoch  als- 
bald Bufte  ftlr  das,  was  offenbar  nur  ein  MißgrifT  der 
Manieren  war,  indem  er  das  unverschttmte  Paradoxon 
als  sein  eigen  adoptiert  und  auseinandersetst,  dafi, 
wie  ich  vorher  gesagt  hätte,  der  KOnstler  ein  Werk 
stets  nur  vom  Standpunkt  der  Schönheit  und  der 
Behandlung  der  Form  betrachte,  und  dafi  die,  die 
keinen  Schönheitssinn  hätten,  oder  deren  Schönheits- 
sinn durch  ethische  Anfordenmgen  in  den  Hinter- 
fnmd  gedrängt  werde,  ihre  Atifmerk«amkeit  vor  allem 
em  Stoffe  suwendeten  und  die  moralische  Wirkung 
als  d^n  Prtifstf^in  fflr  den  Wert  des  OedicYites  oder 
des  Romanes  oder  des  Bildes  ansähen,  das  sie  zu  be- 
urteilen hätten,  während  der  Z^itungskritiker  bald 
den  einen  und  bald  den  andern  Standpunkt  einnehme, 
je  nachdem  er  kultiviert  oder  unkultiviert  sei.  Kurs, 
Herr  Cohhan  mtlnst  mein  unverschämtes  Paradoxon 
in  eine  platte  Wahrheit  um,  und  ich  glaube,  er  tut 
damit  ein  nfltzliohes  Werk.  Das  englische  Publikum 
lipbt  die  Plattheit  und  sieht  es  eern,  wenn  man  ihm 
die  Dinge  in  platter  Weise  erklärt.  Herr  Cobban  be* 

üigitizedby  VjOOQIC  '         ; 


—  24 


dauert^  wi#  ioh  flbeneugt  biii|  bereite  dea  iiiilUung«MD 
Ausdruck,  mit  dem  er  debütierte»  ich  will  also  nichts 
mehr  darüber  sagen.  Soweit  ich  in  Betracht  kommei 
ist  ihm  vollkomroen  vergeben. 

Und  indem  ich  nun  von  dem  ,Scot8  Obsenrer* 
Abschied  nehme,  fnhie  ich  mich  gedrän^  Ihnen,  Herr 
Redakteur,  ein  offenes  Geständnis  abzuleiten.  Ein 
guter  Freund  von  mir,  ein  geistvoller  und  hervor- 
ragender Schriftsteller,  der  auch  Ihnen  persOnliob 
nicht  unbekannt  ist,  sprach  die  Vermutung  aus,  dafi  in 
dieser  furchtbaren  Polemik  in  Wirklichkeit  nur  swtt 
JPersonen  einander  gegenüber  gei^tanden  hätten,  und 
dafi  diese  swei  Personen  der  Uerausgeber  des  ,Scots 
Observer'  und  der  Verfasser  des  »Dorian  Oraj«  s^en. 
Noch  heute  Abend  beim  Diner,  während  wir  bei 
einer  Flasche  vortrefflichen  Ghiantis  safien,  behaup- 
tete mein  Freund  gans  suversichtlich.  dafi  Sie  unter 
angenommenen  und  geheimnisvollen  Namen  einfadi 
nur  den  Ansichten  der  halbgebildeten  Klassen  unse- 
rer Stadt  dramatischen  Ausdruck  ftegeben  hättpn, 
und  dafi  die  mit  »H«  gexeichneten  Briefe  nur  Ihre 
wittige,  wenn  auch  etwas  bittere  Karikatur  des  Phi- 
listers darstellten,  so,  als  ob  er  sie  selbst  geceichnet 
hätte.  Ich  roufi  erestehen,  dafi  ich  selbst  etwas  Ahn* 
liches  gedacht  habe,  als  ich  >H«8  ersten  Brief  Imb, 
—  den,  worin  er  dafür  eintritt,  dafi  der  Mafistab  für 
die  Kunst  durch  die  politische  Oberaeuf^ung  des 
Kttnstlers  gegeben  werden  sollte,  und  dafi,  wenn 
man  mit  dem  Künstler  über  die  beste  Art  Irland 
schl^'cht  SU  regieren  verschiedener  Meinung  sei»  man 
verpflichtet  sein  solle,  sein  Werk  schlecht  au  finden. 
Es  gibt  jedoch  so  unzählig  viele  Abarten  des  Phi- 
listers, und  Nordengland  hat  einen  solchen  fest 
begründeten  Ruf  der  Ernsthaftigkeit,  dafi  ich  deti 
Gedanken  als  einen  des  Herausgebers  eines  schotti- 
schen Blattes  unwürdigen  wieder  verwarf.  Ich  fürchte 
aber  nun  fast,  dafi  ich  darin  unrichtig  urteilte,  un<i 
dafi  Sie  sich  die  ganze  Zeit  her  damit  unterhalten 
haben,  kleine  Puppen  su  erfinden  und  sie  au  lehren 

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~  25  - 


fCrofie  Worte  su  gebrauchen.  Nun,  geehrter  Herr» 
wenn  es  so  ist,  —  und  mein  Freund  behauptet  es 
steif  und  fest  —  so  gestatten  Sie  mir,  Sie  su  der 
Oeschicklichkeit  bu  beglQckwflnschen,  mit  der  Sie 
sich  jenen  Mangel  an  künstlerischem  Stil  angeeignet 
haben,  der,  wie  man   mir  sagt,   unerläfilich    ist   für 

i'ede  dramatische  und  lebenswahre  Charakterisierung, 
ch  gestehe,  dafi  ich  vollständig  getäuscht  wurde; 
aber  ich  trage  Ihnen  nichts  nach,  und  da  Sie  sich 
Bweifellos  weidlich  ins  Fäustchen  gelacht  haben,  so 
gestatten  Sie  mir,  nun  laut  in  das  Lachen  mit  ein- 
sustimmen,  wenn  es  auch  ein  wenig  auf  meine 
Kosten  geschieht.  Eine  KomOdie  ist  zu  Ende,  wenn 
das  Geheimnis  verraten  ist  Lassen  Sie  den  Vorhang 
fallen  und  legen  Sie  Ihre  Puppen  zu  Bett.  Ich  liebe 
den  Don  Quizote,  aber  ich  habe  kein  Verlangen  län- 
fter  mit  Marionetten  zu  kämpfen,  wie  geschickt  auch 
die  Meisterhand  sei,  die  die  Drähte  regiert.  Lassen 
Sie  Rie  in  die  Schublade  zurQckkehren,  wohin  sie 
gehören.  Zu  einer  künftigen  Obliegenheit  mOgen  Sie 
ihnen  neue  Etiketten  aufkleben  und  sie  zu  unserer 
Unterhaltung  wieder  auftreten  lassen.  Sie  bilden  eine 
treffliche  Truppe  und  machen  ihre  Kunststück chen 
vorzüglich,  und  wenn  sie  ein  wenig  unwirklich  sind, 
so  bin  ich  nicht  derjenige,  der  gegen  Unwirklich* 
keit  in  der  Kunst  etwas  einzuwenden  hat.  Der  Spaft 
war  wirklich  gut.  Das  emziee,  was  ich  nicht  ver- 
stehe, ist,  warum  Sie  Ihren  Marionetten  solche  außer- 
gewöhnliche und  unwahrscheinliche  Namen  gegeben 
nahen. 

Ich  bin,  geehrter  Herr,  Ihr  sehr  ergebener 

O.  W. 

16,  Tite  Street,  Ohelsea,  18.  August  1890. 


^ 


yGoosIe 


3gl 


26 


OloMen. 

Dreiviertel  Stunden  lang  sah  ich  einen  Mann  auf  der  Strafte 
in  epitq)tischen  Kränpfensich  winden,eheder  Wagen  der  (ekpbomsck 
berufenen  Freiwilligen  Rettungisgesellschaft  kam.  Da  die  Humaatiit 
zu  Jeder  Minute  des  Tages  und  der  Nacht  funktioniert,  so  Ist  et 
wahrscheinlich,  daß  sie  damals  mehrfach  veigeben  war.  Wahisdieift- 
lieh  ist  aber  auch,  daß  die  Aussicht  auf  den  Segen  der  P^^sse  und  des 
Papstes  Saraariterwerke  zu  beschleunigen  vermag.  Denn  bb  Catanis 
ist  immerhin  weiter  als  bis  zum  Schwarzenbeiigpiatz,  und  wiewohi 
der  Transport  auf  den  italienischen  Bahnen  gestört  war,  kam  (fie 
Barmherzigkeit  ans  Ziel  und  wiewohl  der  telegraphiscbe  Verhefar 
erschwert  war,  haben  wir  überreichliche  Kenntnis  von  den  Wunden 
jener  ausgekochten  Nächstenliebe  erhalten,  die  fierr  Dr.  Cliara 
auf  den  Trümmern  der  sizilischen  Städte  verrichtet  hat  OewiB 
wäre  diese  Rettungsaktion  auch  unternommen  worden,  wenn  ihre 
Veranstalter,  vor  allem  jener  Herr,  von  dem  sich  das  Wort  CbaritB 
direkt  herzuleiten  scheint,  rechizeilig  erfahren  hätten,  daß  die 
telegraphische  Verbindung  zwischen  Cattnia  und  Wien  für  alk 
Zeiten  abgebrochen  sei.  Die  Selbstlosigkeit  hätte  sich  auch  bell* 
tlgt,  wenn  sie  erst  nach  Wochen  Oelegenheit  gehabt  hätte,  in  einen 
Vortragsabend  von  sich  zu  sprechen.  Immerbin  hätte  uns  ihr  ans- 
drücklichcr  Verzicht  auf  den  Segen  des  Papstes  und  auf  }ede  Mög- 
lichkeit, auch  nur  in  absehbarer  Zeit  mit  einem  Orden  belohnt  za 
werden,  noch  mehr  imponiert  als  ihr  Werk.  Die  Freiwillige  Ret- 
tungsgesellschaft  ist  eine  Unternehmen,  gegen  das  selbst  vom 
Standpunkt  der  Inhumanität  nicht  das  geringste  einzuwenden  isL 
Nur  beachte  man  den  Unterschied  zwischen  ihr  und  einer  Freiwilligen 
Feuerwehr.  Der  Rettungsgesellschaft  gegenüber  hat  man  sich  so  sdir 
ein-  für  allemal  auf  die  Vorstellung  des  Samaritertums  festgdcgt 
daß  man  das  unaufhörliche  und  plötzliche  Erscheinen  ihres  Chefarztes 
in  der  Lokalrubrik  der  Zeitungen  für  die  Vorzüge  ihres  Betriebs 
hält  Der  Rettungsbetrieb  würde  zwar  in  jedem  Fall  die  öffentliche 
Anerkennung  verdienen,  aber  er  müßte  mit  dem  Betrieb  der  Pofsih 
burität  annähernd  gleichen  Schritt  halten,  um  sein  Verdienst  nicht  zr 
kompromittieren.  Allerhand  Hochachtung  vor  den  Samaritern,  abe 
wenn  ihre  Eile  den  Eindruck  macht,  daß  nicht  sie  dem  Unglfick 
sondern  das  Unglück  ihnen  wie  gerufen  kommt,  dann  laufen  sk 
Gefahr,  daß  man  sie  für  Ästheten  hält.  Und  die  Peinlichkett  dies» 
Eindrucks  wird  vermehrt,  wenn  die  Ansichten  der  Veruaglfickten 


—  27  ~ 


aber  den  Wert  der  Hilfeldstang  geteilt  sind.  Ans  deodivcrgierai* 

den  Dmtellungen  der  italienischen  Ptase  gdit  nidit  ganz  Uar  her« 

vor,  ob  der  politische  Haß  oder  bloß  die  Abneigung  gegen  die  Wiener 

Mehlspeisen  die  Begeisterung  der  Italiener  für  die  Wohltat  der 

Feldküchen  gedflmpft  hat  Ich  stelle  es  mir  ]a  besonders  griulich 

vor,  wenn  ein  Catanier  Maccaronl   verlangt  -  was  er  übrigens 

such  in  erdbebenlosen  Zeiten  zu   jeder  Stunde  des  Tages  und 

gegenüber  jedermann   tut   — ,   und  Herr  Cbaras  antwoitet:  Be- 

daure,    kann   nicht   mehr    dienen;    oder    wenn    ein    Catanier 

Wiener   Maccaroni    verschmäht   und   Herr    Oharas    ihn    trotz- 

dem  fragt:  Schon   bestellt,  bitte?  Immerhin,  der  Chefarzt  der 

Rettungsgesellschaft  mag  recht  haben,  wenn   er  die  Angriffe  der 

Italienischen  Blätter  als  lügenhaft  bezeichnet  und  den  Interviewern 

versichert,    die    Leute  hätten  die    Erzeugnisse  der  Teldküdien 

»geradezu  verschlungen«.  Aber  die  Arzte»  deren  Kollege  der  Mann 

ist,  sagen,  der  Erfolg»  daß  den  Cataniem  die  Wiener  Maocaroni 

nicht  in  der  Kehle  stecken  geblieben  sind,  sei  der  Ruhm  eines 

Kochs,  vielleicht  der  eines  Kellners,  aber  gewiß  nicht  der  eines 

Arztes.  Und  sie  nehmen    es  übel,  daß  in  Sizilien  die  Wiener 

Speisesitten    selbst   bis    zu    jenem   Punkt   konsequent    befolgt 

wurden,    wo    das     unvermeidliche   Trinkgeld    die   Mühe    der 

Servierung  lohnt 

«  * 

Herrn  Dr.  Chans  gehts  gut; aber  schon  seit  mindestens  zwei 
Wochen  war  in  der  Pkesse  nicht  von  Herrn  Professor  Noorden  die 
Rede.  Darum  sei  wenigstens  hier  seines  Werkes  »Die  Zuckerkrafikeit 
und  ihre  Behandlung«  (Berlm,  \WI)  gedacht,  und  auf  die  Seiten  206 
und  207  verwiesen,  wo  »allgemeine  prognostische  Anhaltspunkte« 
vemichnet  werden.  Da  es  sich  um  ein  wissenschaftliches  Werk  han- 
delt, 80  hat  der  Vetfasser  recht  getan,  unter  den  »günstigen«  Anhalts- 
punkten als  IL:  »gute  äuikre  Lebensverhältnisse«  anzuführen, 
wiüirend  er  ausdrücklich  unter  den  ungünstigen  Anhaltspunkten 
als  6.:  »ungünstige  äufkre  Lebensverhältnisse«  bezeichnet  Leider 
hat  Herr  Noorden  es  verabsäumt,  die  besonderen  Wirkungen  eines 
schlechten  Ultimo  auf  die  Zuckerkrankheit  anzuführen  und 
die  günstigen  Folgen  eines  Konkurses.  Es  versteht  sich  von  selbst, 
daß  die  Klienten  des  Herrn  Noorden  sich  ausschließlich  aus  Jenen 
Kreisen  rekrutleren,  in  denen  von  ungünstigen  prognostischen 
Anhaltspunkten  nicht  die   Rede  sein   kann.   Selbstredend!    Das 


9S  ~ 


OeMlilft  floriert  an  tlten  Enden,  leiidem  es  sich  mit  der  VIsmb- 
schtft  tssoziiert  hat  Ein  faober  Perzentsatz  bei  ZudBetfannkiNlt 
fflfart  zu  Stoff wechselpiolottgierungcn,  und  veDntgut0efat,za  Jena 
Finanzoperationen,  die  In  den  Sanatorien  angefahrt  werden. 

Ernst  von  Wildenbruefa  ist  tot,  und  war  gewiß  ein  cfaies- 
werter  Mann.  Aber  aus  einer  Dankngung  seiner  Gattin  cneke 
Idi,  daB  ihn  »das  deutsche  Volk  in  Weimar  neben  unseren  Didita«» 
forsten  bestattet«  hat.  Die  Rücksicht  gegenfiber  Toten  ist  eine 
Forderung,  die  man  schließlich  auch  den  frflher  Vefstorbenoi 
gegenüber  erfüllen  soll.  Herr  von  Wildenbrudi  bat  ^ 
»Rabensteinerin«  geschrieben.  Das  läßt  sidi  nidit  aus  der 
Welt  schaffen.  Aber  seine  Angehörigen  sollten  öffentlich  Vcrwalh 
rung  dagegen  einlegen,  daß  die  ,Phonogniphische  Zeitodirdf 
(Berlin)  behauptet,  Herr  v.  Wildenbruefa  habe  einmal  »in  cimr 
besonderen  Dichtung«  eine  Walze  besprodben,  und  daß  sie  deren 
Vervielfältigung  anregt  Die  Dichtung,  die  ihm  unterschoben  wM, 
endet  nämlich  mit  den  Versen : 

Darum  erscheint  mir  der  Phonograph 
Als  der  Seele  wahrhafter  Photograpb, 

Der  das  Verborg'ne  zutage  bringt 
Und  das  Veigang'ne  zu  reden  zwii^ 
Vernehmt  denn  aus  dem  Klang  von  diesem  Spmch 
Die  Seele  von  Ernst  von  WUdenbrucb. 

Im  Blätterwald  so  für  midi  hinzugehen  und  niditaabStilblftlai 
zu  suchen,  ist  längst  nicht  mein  Pläsier.  Ich  möchte  sagen,  es  ist 
eine  Aufgabe,  wie  wenn  man  Wasser  in  ein  —  nun,  wie  sagte 
die  ,Neue  Freie  Presse*  kürzlidi?  »Wie  wenn  man  Wasaer  in  ein 
hohles  Faß  schöpfen  wollte«. 

♦ 

Dagegen  mag  es  noch  hin  und  wieder  interessant  aefai,  d 
Unabhängigkeit  der  kritischen  Meinung  zu  t>ewundem.  Ein  Vniet» 
direktor  beklagte  sich  beim  Administrator  des  Blattes  tlbcr  die  nr 
günstigen  Referate.  Die  Antwort  war:  »Wozu  Uden  Sieöberhav 
den  Burschen  ein,  der  bei  uns  das  Ressort  hat?  An  mich  wcndi 
Sie  sich  das  nächste  Mall«  Jetzt  hat  der  Direktor  Ruhe,  schreibt  sc 
Referat  und  zahlt  gern  ein  paar  Qulden  für  die  Erfahrang,  i 
sehr  noch  Immer  das  Lob  der  ,Neuen  Freien  Frtm^  demPobUa 


—  29 


littponiert  Die  Redaktion  wflrde  ikrai  Kritikern  gewiß  kein«  Mei- 
ntmg  voiBclireibcn.  Sie  bewahren  ihre  Unabhängigkeit,  nur  dürfen 
•ie  sie  nicht  betätigen.  Sonst  passiert  zwischen  Morgen-  und 
Abendbbtt,  was  kflrzlich,  am  20.  Jänner,  passiert  ist  Es  hatte  eine 
Matinee  ffir  die  Erdbebenopfer  von  Messina  gegeben.  Aber  ein 
Unglttck  kommt  teilen  allein.  Der  Musikkritiker  schrieb  das 
Urteil  nieder,  ein  Pianist  habe  »auf  einem  von  der  Bfihne  herab 
schlecht  klingenden  Klavier  mtt  feurigem  Schwung  zwei  Stflcke 
von  Oiopin  und  Liszt  gespielt«.  Das  war  im  Morgenblatt  Wer 
beschreibt  seine  Überraschung,  als  er  schon  im  Abendblatt  die 
folgende  Notiz  las:  »Bei  dem  gestern  im  Theater  an  der  Wien 
veranstalteten  Konzert  des  Wiener  Tonkfinstlerorchesters  erregte 
der  Ton  des  herrlichen  Steinwayf Iflgels,  welcher  von  der  Firma .... 
in  nnetgennfltzigster  Weise  kostenlos  beigestellt  wurde,  allseitige 
Bewunderung«.  Nicht  alles  wird  freilich  kostenlos  beigestellt.  Aber 
den  Musikkritiker  freute  seine  ganze  schöne  Unabhängigkeit  nicht 
mehr.  In  ein  paar  Minuten  war  sie  zerstört  wie  die  Stadt,  zu  deren 
Ounsten  er  das  Klavier  getadelt  hatte.  Was  ist  der  Mensch  I  Ich 
liabe  das  tiefste  Mitgefühl  für  diese  armen  Teufel  von  Kunstbürgem, 
die  auf  schwankem  Grunde  ihre  Hütten  bauen.  Immer  wieder 
nehmen  sie  den  Kampf  mit  den  Elementen  auf,  aber  ein  administra- 
tiver Ruck,  und  der  feuerspeiende  Benedikt  macht  allem  organi- 
schen Leben  ein  Ende.    Es  gibt   nämlich  Erdbebeninteressenten. 

«  * 

• 

Wie  anders  wirkt  dies  Zeichen  auf  mich  ein.  Eine  Kata- 
strophe kann  auch  wieder  allen  Beteiligten  Oewinn  bringen.  Wohl« 
tätig  ist  des  Feuers  Macht,  wenn  der  Brand  eines  Teppichhauses 
diesem  zum  Ruhme  und  den  Zeitungen  zu  Aufträgen  ver« 
hilft  Brennts  bei  Schein,  so  ist  der  Schein  des  Brandes  wochen- 
Ung  sichtbar,  die  Presse  ist  die  freie  Tochter  der  Natur,  wehe, 
wenn  sie  losgelassen,  flackernd  steigt  die  Feuerkolumne  und  im 
Textteil  werden  die  schönsten  Brandberichte  veröffenilicht.  Tief 
erschüttert  las  man  und  las,  bis  man  allmählich  meikte,  daB  das 
Feuer  von  den  Inseratenagenten  gelegt  und  von  den  Reportern 
gelöscht  worden  war.  Man  wunderte  sich  nun  nicht  mdir, 
daB  es  gelungen  war,  ^ine  Ausbreitung  des  Brandes  auf  die 
benachbarten  Geschäftshäuser  zu  verhüten:  sie  hatten  nicht 
Inseriert  Überraschend  war  immerhin  eines.  Daß  durch  ein  Brand- 
unglück   reichlich    hereingebracht    werden    kann,    was    dtutb 


80  — 


ein  Brandunglück  verioren  wurde,  verstand  man.  Dafi  aber  frtdtf 
nur  die  Presse,  sondern  auch  die  Feuerwehr  xar  ffiartmug 
des  Reldamedurstes  herangezogen  wird,  ist  verblfiffend.  »Die 
Wiener  Feuerwehr  besitzt  von  dem  Teppidihaus  S.  Schein  {cenaoe 
Pläne,  und  die  Funktionäre  und  Kommandanten  der  Wiener 
Feuerwehr,  sämtliche  langjährige  Kunden  dieser  Firma,  fcewKS 
sowohl  durch  ihre  Amtstätigkeit  als  auch  durch  ihre  hänfigai 
Besuche  als  Kunden  alle  Räume  des  Teppich-  und  MObdhanscs 
In«  und  auswendig,  Kenntnisse,  die  Ihnen  natfirlidi  in  dksea 
Falle  sehr  zu  statten  kamen.«  Daran  erkennt  man  die  Vorteik 
eitm  Einkaufes  bei  Schein.  Wenn  man  zuOIUr  Fenciwcbr- 
mann  ist  und  wenns  einmal  brennt,  so  hat  man  es  nicht 
zu  bereuen,  daß  man  dort  eingekauft  hat.  Die  LelstungsflUHgUt 
der  Feuerwehr  läßt  sich  an  der  Menge  der  geretteten  Warai 
messen.  Was  aber  bedeutet  sie  gegenüber  der  LeistungsfUiigheit 
der  Firma?  FQr  diese  sprechen  »die  großen  vernichteten  Rob- 
materialmengen«. Nicht  jede  Firma  kann  von  sich  sagen,  da8 
»6  Ballen  Wolle  für  Steppdecken,  billiger  Qualität,  enorme  Quan* 
titäten  der  feinsten  Daunen  ffir  Plumeauy  und  Polster,  16  Ballen 
Roßhaar  ffir  Matratzen  und  Polstermöbel,  sehr  große  Quantitileo 
verkupferter  bester  Tapeziererstahlfedem  für  Polstermötid  md 
zahllose  Sorten  von  Schleißfedem  ffir  billigere  Bettwaren  ein  Raub 
der  FUmmen  wurden«.  War  man  nicht  versichert?  Und  wie! 
»Der  gerettete  Teil  wurde  von  der  Feuerwehr  auf  die  Straße  ge- 
worfen und  von  den  Versicherungsgesellschaften,  die  einer  Fimia 
von  dem  Renommee  des  Teppich-  und  Möbelhauses  S.  Schein  die 
Verarbeitung  selbst  auch  nur  teilweise  naß  gewordener  oder  an- 
gerauchter Materialien  gar  nicht  zumuten,  In  viden  Wagenfauha- 
gen  von  der  Straße  weg  in  die  Lagermagazine  geführt,  wo  diese 
Materialien  an  Händler  abgegeben  wurden«.  Nun  handelt  es  steh  nur 
noch  um  solche  Waren,  »die,  ohne  beschädigt  zu  sein,  einen  Oemch 
erhielten,  der  sich  jedoch  bereits  nahezu  verloren  iiat«.  Da  abe 
eine  Firma  von  dem  Renommee  dieser  Firma  solche  Waren  reg» 
lär  nicht  verkauft,  so  bietet  sich  -  nun,  was  bietet  sich,  weoa 
eine  Stätte  leeigebrannt  ist  und  wenn  der  Mensch  fröhlicfa  dann 
zur  Annonzentabelle  greift?  Ein  Anblick?  Nein,  etwas  ganz  an- 
deres. Was  Feuers  Wut  Ihm  auch  geraubt,  ein  sQßer  Trost  isi 
ihm  geblieben:  Es  bietet  sich  eine  nicht  wiederkehrende  Qelc«en 
heit  zum  Einkauf. 

•  Digitized  by  CjOOQ IC 


-^  31    - 

Die  Diskretion  der  bflrgerlichen  Presse  beriditet  Aber  einen 
Skandal,  den  sie  sich  nicht  entgdien  lassen  Icann,  etwa  so:  »Der 
OroBindustrielle  hatte  eine  verhehmtete  Frau  Icenhen  gelernt . . .  Der 
OroBindnstrielle  veranlaßte  sie,  sich  von  ihrem  Gatten  scheiden  zu 
lassen ...  Sie  tat  es .. .  Inzwischen  war  aber  in  dem  OroBindustrie llen 
dne  merkwürdige  Wandlung  vor  sich  gegangen  . . .  Der  Groß- 
industrielle  ließ  die  Dame  sitzen  . . .  Der  Oroßindustrlelle  ant- 
wortete ausweichend  . . .  Die  Dame  war  lediglich  das  Opfer  einer 
llfichtigen  Laune  des  Großindustriellen  geworden ...  Da  ging  der 
Bruder  der  Dame,  der  Chemiker  ist,  hin  und  ohrfeigte  den  Groß* 
industriellen  . . .  Der  Chemiker  entschuldigte  sich  beim  Kaffee- 
sieder  wegen  des  Vorfalls.«  So  typisch  gefaßt,  darf  der  Fall  zum 
Nachdenken  fiber  das  Seelenleben  eines  Großindustriellen,  das 
einen  sonst  nichts  angeht,  wohl  anregen.  Die  gute  Gesellschaft 
erhofft  inzwischen  von  einem  Duell  die  Reparatur  der  Ehre  des 
Oroßindustriellen.  Das  Duell  findet  statt.  Der  Großindustrielle 
erfreut  sich  wieder  allgemeiner  Hochachtung.  Niemand  kann  dem 
Oroßindustriellen  die  Ohrfeige  nachsagen.  Und  die  Dame?  Ach 
was,  nach  Jahren  wird's  schon  einmal  heißen,  daß  der  Groß- 
Industrielle  sich  ffir  die  geschkigen  hat! 

In  einer  durchaus  würdigen  Besprechung  von  Thomas 
»Moral«  hatte  der  Kritiker  des, Neuen  Wiener  Tagblatts'  die  Sitze: 

. . .  Das  unterscheidet  ihn  von  unsem  Parvenfls  der  Satire,  die  plöti- 
Uch  in  ihrem  Öden  Hirn  den  Hang  zur  Weltverbesserung  entdeckt  haben. 
Es  gibt  keine  Torheit,  keine  Verkehrtheit,  keine  UcherlJchkeit.  keine 
Mode,  in  die  sie  selbst  nicht  eingeschlichen  sind,  keine  närrische  Clique, 
der  sie  sich  nicht  angebledert  haben  —  mit  einemmal  a'ier  ein  Ruck, 
und  sie  fühlen  sich  für  gesellschaftliche  Satire  berufen.  Ihre  Schriften 
starren  von  Eitelkeit,  und  sie  verhöhnen  die  kleinen  Eitelkeiten  andrer 
Menschen.  Doch  man  fühlt,  wie  fremd  ihnen  diese  Wege  sind;  man 
fühlt  es  an  ihrer  eigenen  Überraschung,  an  der  unnatürlichen  Wucht, 
mit  der  sie  auftreten,  um  die  innere  Unsicherheit  zu  verbergen;  man 
merkt  es  an  ihrem  verdickten  Humor,  an  der  erzwungenen  Lustigkeit, 
an  den  Schweißtropfen,  die  von  ihren  Witzen  fallen  .  . . 

Hätte  es  der  Kritiker  deutlich  gemacht,  daß  er  mich  mit 
dieser  Meinung  treffen  wolle,  so  stünde  meine  bessere  Meinung 
gegen  seine,  ich  würde  nur  die  Kritik  der  Eitelkeit  unterschreiben 
und  Utte  im  Übrigen  nichts  gegen  eine  ungerechte  Absicht,  wenn 
sie  nur  Absicht  wäre.  Was  mich  trifft,  ist  die  fehlende  Absicht. 
Der  Kritiker  hat  die  dramatischen  Dilettanten  gemeint,  die  uns 


neiwstens  mit  dem  Nachvds  belisügen«  daß  «ndi  fa  giMiciKii 
Familien  nicht  alles  so  ist.  wie  es  in  den  Familien  des  Sdi^tgi" 
rings  sein  sollte.  Cr  hat  allerdings  den  Fehler  ^xgangen,  die  VM^ 
Stellung,  die  heute  dn  Angriff  auf  einen  nichtgenannten  WicBerSa> 
tiriker  in  bdsariigen  Dummköpfen  erzeugt,  nicht  rechtzeitig  m 
unterbinden,  und  so  kam  es,  daß  mir  die  Stelle  vieifMh  las 
Haus  geschickt  wurde.  Daß  idi  keinen  Humor  habe;  soldie  VfP- 
Sicherung  entschädigt  viele  daffir,  daß  der  Vorwurf  der  OiqiMh 
anbiederung  selbst  sie  von  meiner  Spur  ablenkt  Aber  schiicBlici 
muß  man  ihnen  den  guten  Olauben  zubilligen.  Sie  konntea  es 
filr  die  Art  halten,  einen  Schriftsteller  anzugnifen,  der  ^ben  ia 
der  Wiener  Fresse  nicht  deutlicher  bezeichnet  werden  darf.  Nn 
ist  nichts  peinlicher  als  ein  Angriff,  der  einem  nidit  filt 
fühlt  natüriich  nicht,  daß  man  getroffen  ist  Aber  man  fühlt  Is 
hin,  daß  man  nicht  getroffen  ist. 

«  « 

Ober  die  Wiederaufführung  von  »Fatinitza«  sdireibt  eia 
Theaterkritikert 

.  . .  Also   eine  veritable   Suppie-Renalssance,   die   ans   der  Not 
der  modernen  Operette   eine  Tugend   macht    Die   luilogischa   Opeietk 
gewinnt  in  der  Zeit  der  Versuche,   das  Genre  zu  »verUelen«,  ond   man 
stfirzt  sich    in    den   Unsinn,    den   eine   natflrUch    quellende  Musik  ver- 
gessen läfitf  statt  sich  einem  Sinn  zu  bequemen,  dem  wohl  der  grAaerea 
psychologischen  WahrhafUglcelt  zuliebe  aUe  Melodie  abhanden  gekonanca 
ist.    Die  romantischen  Unwahrscheinlichkelten  der  »Fatinitza«,  sie  spM 
im  Krimkrieg,   also  gewiß  ein  ülustrativ  ergiebiges  Müleu,  stellen  soza- 
sagen  die  Reinkultur  des  Operettenunsinns  dar.    Unmotiviertes   ere^ct 
sich,  man  singt,  ohne  vorher  zu  sagen  warum  man  singt,  und  es  bleibt 
lediglich   dem  Temperament,    dem  Spielelan   der   Darsteller   (kberlassea, 
den  Umschwung  aller  Gefühle   zu  motivieren,   die   Folge   gesprodieBer 
und  gesungener  Worte  zu  einer  logischen  zu  machen.  Keine  Opertttea- 
psychologie  kann  es  deuten,  warum  Jemand,  der  mit  einer  Dame  soebia 
sthT  angelegentlich  Ober  Privataffären  gesprochen  hat,  ihr  dieselben  An- 
gelegenheiten noch  einmal  in  Qesangsform  auseinandersetzt,  keine  Pi|- 
chologie  wird   den   Operettengeneral   zu   einer   menschlichen  Figur 
stalten  können,  weil,  wie  der  Mann  nur  zu  singen  anfängt,   alle  Wi 
haftigkeitsillusion  verfliegt.  In  >Fatinitza<  ist  eine  ganze  Armee  unwi 
lieber  Soldaten  bemflht,  keine  logischen  Einwände  aufkommen  zn  lasse 
Und  von  einer  heiteren,  graziösen,  originellen  Musik  bestrahlt,  siegt  i 
Unsinn  mühelos  .  .  .< 

Das  ist  seit  zehn  Jahren  ein  eigenartiges  Schauspiel»  % 
sich  die  Wiener  Publizistik  zu  mir  stellt  Der  Heroitdnia.  mit  dl 
sie  meinen  Namen  ai>lehnt,  hat  etwas  Ergreifendca.    &  wirt 


38 


gtt  keine  Kunst,  mich  zu  nennen.  Und  wie  oft  bietet  sieli  nicht 
dn  AnbiB!  Jedes  Heft  der  ,Faekel'  bringt  neue  Ideen,  die  rieh 
fflr  das  FeuiUeton,  für  Glossen  und. Notizen,  für  die  Kritik  von 
Kunit  und  Oesellsdiaft  himos  abplatten  lassen.  Es  ist  oft  sehr 
schwer,  meinen  Namen  nicht  zu  nennen,  aber  die  Wimer  Presse 
weifi  sidi  zu  beherrschen,  und  das  macht  ihre  OröBe  aus.  Da 
habe  ich  neulich  etwas  zur  Ästhetik  der  Operette  geschrieben  — 
hastdünichtgeseh'n,  steht  es  in  einer  Theatemotiz.  Morgen  vielleicht 
In  einem  Essay.  Erscheint  dieser  dann  in  einem  Buch,  so  wird 
die  Ortginaiitit  solcher  Ideen  gelobt  werden,  und  von  meinem 
eigenen  Buch  erfahren  ia  die  Leser  nichts.  Die  Presse  ist  in  der 
Tat  oft  Khon  nahe  daran,  meinen  Namen  zu  nennen,  immer  glaubt 
der  Leser,  jetzt,  in  der  nächsten  Zeile  müsse  er  kommen.  Aber 
eine  eiserne  Willenskraft  bewahrt  die  spröde  Schöne  vor  dem 
Außosten,  und  sie  knöpft  mir  bloß  das  Geld  ab.  Es  ist,  als  ob 
Nachdruck  ihr  nur  ohne  Quellenangabe  gestattet  wäre.  Ein  Blatt 
aber,  in  dem  meine  moralsatirische  Betrachtung  tagtäglich  den 
Olossenschreibem  liilft,  tut  noch  ein  übriges.  Es  streicht  sogar  meinen 
Namen  aus  dem  Inhalt  einer  deutschen  Zeitschrift,  den  es  abdruckt. 
Eigentlich  behagt  mir  dieser  Zustand.  Es  wäre  Ja  scheußlich, 
wenn  man  mich  wie  alle  anderen  zeitgenössischen  Schriftsteller 
mit  Reklame  dafür  entschädigen  müßte,  daß  man  keine  Ge- 
danken von  mir  nehmen  kann. 

Wir  glauben  noch  immer,  das  Unmögliche  sei  nicht  mög- 
lidi.  Aber  neulich  lasen  wir  in  einem  Blatte,  das  allerdings  erst 
erscheint,  wenns  schon  finster  wird,  ein  Referat  üba  einen  Vor- 
trag, das  die  folgende  Stelle  enthielt: 

».. .  Und  nun  entwickeKe  der  Vortragende  eine  Historie  des  Tanzes; 
man  vernahm  erstaunt,  daß  diese  fröhliche  graziöse  Kunst  ebenso  eine 
Geschichte  bat>e,  wie  eine  andere  Kunst  und  daß  sie  ebenfalls  Gegen- 
stand ernsten  Studiums  sein  könne.  Der  erste  Tanz,  der  sogenannte 
Pr^mtn^dentanz,  entstand  su  Florena  im  15.  Jahrhundert;  es  tanzte  ein 
Paar  durch  den  Saal,  wahrend  die  abrige  Gesellschaft  bewundernd  zusah.« 

Und  wann  wurde  das  Schreiben  erfunden  ?  Man  wird  er- 
staunt vernehmen,  daß  auch  diese  fröhliche  graziöse  Kunst  ihre 
Oeschichte  habe,  aber  bedauern,  daß  sie  nicht  ebenfalls  Oegenstand 
ernsten  Studiums  sei.  Denn  der  erste  Artikel,  das  sogenannte  Feuil- 
Icton,   entstand  zu   Wien    im  19.  Jahrhundert;   ehi    Schmock 

iduieb,  während  das  Publikum  bewiMutemd  zusah.  ^       . 

m  «  oyLiOOgie 


-^  84  - 

Der  folgende  »Offene  Brief  an  Herrn  Ludwig  Kaipnttis 
der  von  der  gfsamten  Wiener  Presse  untefdrflckt  worden  ii^ 
wird  mir  vom  Verfasser  zugesendet  Er  ist  an  einen  Wiener  Muslfe- 
rrporter  gerichtet,  der  kürzlich  in  einem  Konzert  demonstikrt 
und  bald  darauf  in  einem  Feuilleton  Wildes  »Salome«  dhoe  die 
Musik  des  Herrn  Richard  Strauß  »abstoßend«  gefunden  hat: 

Sic  schreiben  in  den  »Signalen*  vom  6.  Jinncr  1909: 

»Noch  wflre  die  Aufführung  eines  neuen  Streichquartetts  von  Araold 
Schönberg  zu  erwähnen.  Ich  beschränke  mich  auf  die  Konstatienuig,  da8  a 
zu  einem  heillosen  Skandale  kam,  wie  ein  solcher  in  ehiem  Wiener  Kon- 
zertsaale bisher  noch  nicht  erlebt  worden  war.  Mitten  drin  in  des 
einzelnen  Sätzen  wurde  anhaltend  und  stürmisch  geladit  und  mfitea 
drin  im  letzten  Satze  schrie  man  aus  Leibeskräften  «AnfliOreml 
Schluß  I  Wir  lassen  uns  nicht  narren  I'  Ich  mufi  zu  meinem  Leidwesen 
konstatieren,  daß  ich  mich  zu  ähnlichen  Rufen  hinreißen  ließ.  Zam 
ersten  Male  in  meiner  zwanzigjährigen  Praxis.  Qewiß.  ein  Kritiker  hat 
Im  Konzertsaale  kein  MißfaUen  zu  äußern.  Wenn  Ich  «ts  meiner  ge- 
wohnten Reserve  trotzdem  heraustrat,  so  wiU  icfa  damit  nnr  den  Beweis 
liefern,  daß  ich  physische  Schmerzen  ausstand,  und  wie  ehi  arg  Oepci> 
nlgter,  trotz  aUer  guten  Absicht  selbst  das  SchUmmste  zu  ßberwindeo. 
nun  doch  aufschreien  mußte.  Indem  Ich  hier  öffenUicfa  mich  selber 
tadle,  habe  ich  auch  das  Recht  gewonnen,  fiber  meine  Angreifer  za 
lächeln.  Diese,  ungefähr  ein  Dutzend  an  der  Zahl,  behaupten,  dall  das 
Quartett  Schönbergs  ein  Kunstwerk  sei,  daß  wir  anderen  es  nklit  ver- 
stehen. Ja  daß  wir  nicht  einmal  die  Beschaffenheit  der  Soaatenlon 
kennen.  Nun,  ich  für  mein  Teil  bin  gern  bereit,  vor  Jedem  Areopog 
die  Prüfung  aus  der  Harmonfelehre,  Formenlehre  und  allen  andern 
musikalischen  Disziplinen  abzulegen.  Ich  habe  freilich  noch  nach  den 
Muster  der  ,Alten'  studiert  und  könnte  mithin  mehie  Prflfus^r  nur  bei 
den  Befolgen!  des  ,alten  Systems*  bestehen.  ,üas  gilt  nicht  f  — 
sagt  das  Dutzend.  Auch  gut« 

Ich  gehöre  nicht  zu  dem  Dutzend,  weldies  sagt:  »Das  gtt 
nicht«  und  will  Ihnen  das  beweisen,  indem  ich  Jeden  »Areop^«  an- 
nehme, er  möge  nach  dem  »neuen«  oder  nach  dem  »alten  System«  zn* 
sammengesetzt  sebi.  Im  Gegenteil,  ich  schlage  Ihnen  für  einen  der- 
artigen »Areopag«  die  folgenden  Herren  vor,  die  hoflentlidi  bereit  tdi 
werden,  dieses  Amt  zu  übernehmen:  Herrn  Professor  Robert  Pndit 
Herrn  Prof.  Dr.  Eusebius  Mandyczewsky,  Herrn  Professor  Richard  Hei- 
berger,  Herrn  Professor  Hermann  Qrädener,  Herrn  Professor  Josef  Laber 
Ich  fordere  Sie  nun  auf  Qrund  Ihrer  Erklärung  heraus,  diese  Pißiim 
»aus  der  Harmonielehre,  Formenlehre  und  allen  anderen  mnsttdischci 
Disziplinen«,  zu  der  Sie  sich  doch  wohl  unter  der  Voraassetnm 
bereit    erklärt    haben,    daß    man    sie    von    Ihnen    verlangen    kam, 

vor    diesem     »Areopag«    abzulegen.    Wie   Sie  es   wünschen  t  —   W 

oogle 


-  86 


ftb€rlasst  Ihnen,  wie  Sie  sehen  werden,  auch  die  Wahl  der 
Waffen  -*,  wird  die  Prikfung  nur  nach  dem  »alten  Systeme  geech^en, 
finch  dem  Sie  Ja  studiert  haben,  und  ich  flberlasse  es  Ihnen,  die  Theo» 
Ktikcr,  die  der  Fragestellung  zugrunde  liegen  sollen,  selbst  t»  nennen. 
Ich  stelle  nur  die  folgenden  Bedingungen;  Die  Prüfung  findet  öffcnt« 
Uch  statt  und  die  Fragen  werde  ich  selbst  an  Sie  richten.  Ob  Sie  ent- 
sprochen haben,  mögen  die  Herren  vom  »Areopag«  beurteilen.  Sie  haben 
nun  Gelegenheit,  zu  erweisen,  was  Sie  behaupten.  Entziehen  Sie  sich 
dieser  Prüfung  aus  was  immer  fflr  einem  Qrund,  so  bekräftigen  Sie 
dadurch  zur  Evidenz,  daß  Sie  sie  zu  scheuen  haben. 

Arnold  Schönberg. 
Dieser  Offene  Brief  wurde  von  der  Presse,  an  die  er  ge- 
schickt wurde,  einstimmig  verschwiegen.  Aber  der  Kandidat 
liat  die  Prfifungsfrist  noch  nicht  versäumt  Er  sollte  sich  doch 
die  Gelegenheit  nicht  entgehen  lassen,  das  alte  Mißtrauen  zu  zer- 
stören und  durch  einen  Durchfall  endlich  den  Befähigungsnachweis 
fOr  sein  musikkritisches  Amt  zu  erbringen. 

Einige  Kabaret-Pensionisten  haben  in  Oraz  gastiert.  Sie 
nennen  sich  »Elf  Scharfrichter«.  Und  da  b'gab  es  sich: 

». . .  Das  Qaleriepublikum  scheint  den  Charakter  dieser  Kflnstler- 
vereinlgungen  mißverstanden  zu  haben  und  erwartete  insbesondere  das 
Erschehien  wirklicher  Scharfrichter  auf  der  Bflhne.  Da  es  sich  enttäuscht 
sab,  begann  es  sebiem  Unwillen  Ausdruck  zu  geben,  zunächst  durch 
Murren.  Als  aber  Hugo  Wolf-Lieder  vorgetragen  wurden,  begann  die 
Oalerie  laut   ,Pfuil*  zu  rufen.  .  .  .< 

Nun  möchte  ich  ja  gerne  der  Auffassung  beipflichten,  daß  das 
Publikum  empört  war,  weil  Hugo  Wolf-Lieder  von  Kabareders  gesun- 
gen wurden,  anstatt  von  Sängern.  Aber  sympathischer  ist  mir  doch  die 
andere  Auffassung,  daß  nämlich  das  Publikum  empört  war,  weil 
die  Kabaretiers  Hugo  Wolf-Lieder  sangen,  anstatt  eine  Hmrichtung 
vorzunehmen.  Man  kann  nicht  genug  ZQge  aus  dem  Leben  des 
Publikums  zusammentragen.  Einst  prügelte  es  den  Schauspieler, 
der  den  Franz  Moor  spielte,  {etzt  prfigelt  es  ihn,  wenn  er  unter 
diesem  Pseudonym  Lieder  singt.  Als  ich  einmal  mit  meiner  kleinen 
Nichte  einer  Vorstellung  des  Lustspiels  »Goldfische«  beiwohnte, 
hörte  sie  drei  Akte  lang  mit  gespannter  Aufmerksamkeit  zu,  bis 
ihr  endlich  die  Oeduld  riß  und  sie  aus  voller  Kehle  rief:  »Wo 
sind  die  Goldfische?«  Auf  diesem  Standpunkt  steht  heute  das 
erwachsene  Theaterpubhkum.    Seine  Äußerungen  gehören  In  die 


86  ~ 


Rubrik  »Aus  Kindmnund«.  bnmer  ist  es  in  teilnahmsvoller Spftimint. 
nnd  es  vertritt  nur  nicht,  dt8  man  Ihm  Rltsel  zn  IQsen  s<bt  Wem 
ein  Dramatiker  zum  Belspfe!  im  ersten  Akt  100.000  Quldenvezxkenka 
UBt  und  den  ganzen  Abend  hindurch  von  dieser  großmfitigen  Hand- 
lung nicht  mehr  die  Rede  Ist,  so  wird  man  im  verzweifelten  Ringes 
um  die  Garderobe  die  bange  Frage  hören:  »Idi  mMif  nor 
wissen,  was  mit  den  100.000 Oulden  geschdien  ist!«  Wie  kann  c& 
Theaterflsthetik  so  herzlos  sein,  von  den  Direktoren  Immer  wieder 
TU  verlangen,  daß  sie  Ibsen  spielen !  »Tus  nidit  I«  rief  ein  braver  Mann 
von  der  Oallerie  dem  Teil  zu,  al^  er  eben  auf  das  Haupt  des  leiblldMa 
Kindes  anlegte.  Als  zber  einmal  auf  der  Bfihne  des  Biugtlieatteis 
eine  Person  in  einem  französischen  Sittenstfidc  den  Satz  ausspradc 
»Es  ist  eine  schöne  Pflicht  der  großen  Banken,  notleidenden  Kanflen- 
ten  beizustehen!«,  rief  eine  Damenstimme  aus  einer  Loge  dn  lang- 
gedehntes,  Inhaltsschweres  »Bravo!«.  Einen  Kritiker,  der  gemia 
Bildern  spricht,  traf  dieses  Familienschicksai,  das  wie  ein  Opera- 
gucker  ins  Parkett  fiel,  direkt  auf  den  Kopf. 

« 
Da  in  früheren  Jahren  der  mir  feindselige  Kretlnismitt  zb 
dem  Argumente  gegriffen  hat,  daß  es  meine  Beschäftigung  sd, 
die  Druckfehler  der  Tagespresse  zu  korrigieren,  so  will  ich  diese 
Meinung  einmal  ins  Recht  setzen  und  mittdien,  daß  Ich  bd  der 
Lektflre  eines  Aufsatzes  Aber   Edgar  Poe  Im  ,Fremdenblatt'  den 
folgenden  Satz  gefunden  habe :    »Poe,  der  Instinktmensch,    Poe; 
der  ehrliche  Phantast  im  ehrlichen  Trance  KIdpert,  sdn  bertti» 
testes  Gedieht  mit  handwerksmäßig  kfihler  Berechnung«.  Nach  der 
Lektflre  dieses  Satzes  hatte  ich  sofort  euie  grauenhafte  BDe'sdM 
Vi^on.    Ich   stellte   mir  den   Bildungszuwachs  vor,   der  behn 
Normalleser  In  solchem  Falle  dntritt  Dieser  Kidpert  beghiot  dn 
zu  interessieren.  Wer  ist  Kidpert?  Ein  Instinktmensdi^eindirliciMr 
Phantast  im  Stile  Poes?  Ndn,  sagt  ein  anderer,  der  Satz  ist  zwar 
unklar,  aber  darüber  kann  kein  Zwdfel  sdn,  daß   Kidpert  k ' 
Autor  ist,  sondern  bloß  der  Titel  eben  jenes  Poe'schen  Qedidit 
Aber  er  sucht,  und  findd  es  in  den  Werken  Poes  nIdit.  So  nu 
es  doch  wohl  der  Name  dnes  ollen  ehrlichen  Phantasten  idn,  di 
das  Konversationslexikon  aus  irgend  dnem  Grunde  nicht  nenn 
Wer  ist  Kidpert?  Man  wdß  es  nicht ;  aber  die  Firage  wird  so  c 
gestdlt  werden,  daß  der  Name  bidbt  Europa  wird  dch  «■  di 
Namen  gtwMnen  und  gerade  wdl  niemand  wdß,.  wen,  er  m 

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37  — 


stellt,  werden  sich  viele  dadurch  hervortun,   daß  sie  es  zu  wissen 
behaupten.  Und  wenn  man   das   Problem   dieses  neuen  Ruhmes 
behorcht,  so  muß  man  sich  fragen,  wie  viele  Meinungen  in  der  Welt 
durch  Druckfehler  entstanden  sein  mögen,  und  ob  nicht  die  Druck- 
fehler überhaupt  der  verläßlichere  Teil  dessen  sind,  was  die  Tages- 
presse bietet.  Man    sagt   viel  zu  wenig,  wenn  man  einen  Autor, 
der  sich  der  Druckpresse   anvertraut,  mit  dem  Tröste  beruhigt, 
das  Publikum  merke  Druckfehler  nicht.   Das   Publikum  beachtet 
gerade  sie  und  zieht  aus  Ihnen  den  besten  Oewinn  an  Bildung. 
Ich  erinnere  mich  an  meine  erste  kritische  Arbeit.   Sie  erschien 
und  enthielt  den  Satz:  »Die  Inhaltsangabe  des  ersten  Aktes  sollte  etwas 
weniger  dürftig  sein«.    Es  war  eine  schlichte  Bemerkung,  die  der 
Redakteur  zu  dem  Zwecke  ins  Manuskript  geschrieben  hatte,  um  mir 
eine  Ergänzung  zu  empfehlen.  Das  Manuskript  wurde  aber  vor- 
sdmell  gedruckt,  und  ich  glaube,  daß  die  Leser  einen  starken 
Eindruck  von  dieser  kritischen  Bemerkung  empfangen  haben.   In 
derselben  Zeitschrift,  die  sich  damals    infolge  Ihrer  originellen 
Druckfehler  ein  Publikum  erobert  hatte,  erschien  einmal  die  Kritik 
einer   Burgtheateraufführung,   in  der    die    Schauspielerin    Stella 
Hohenfels  nicht   mit  jener  Anerkennung  bedacht   wurde,  die  sie 
verdiente.  Das  scheint   audi  der  Redakteur  empfunden  zu  haben. 
Denn  an  die  Reihe  kritischer  Bemerkungen  des  Autors  schloß  sich 
der  Satz:  »Wäre  mir  unangenehm  wegen  meiner  Verbindung  mit 
Berger«.    Ich  bin  davon  überzeugt,  daß  gerade  dieser  Satz  seine 
Wirkung  auf  die  Leser  nicht  verfehlt  hat.  Die    Druckfehler  sind 
die  Opposition  des  Setzers  gegen  Lüge  und  Unverstand,  und  der 
Setzer  ist  der  erste  Leser.    Schon  deshalb  ist  es  töricht,  sie  zu 
korrigieren.  Sie  sind  das,  was  von  einem  Artikel  bleibt.   Ich  warf 
einem  Moralisten  einen  »Salto  morale«  vor.  Das  gibts  nicht,  sagte 
der  Setzer,  der  den  Standpunkt  der  Intelligenz  vertrat,  und  wollte 
einen  Salto  mortale  daraus  machen.  Ich  telegraphierte  an  die  Druckerei, 
es  solle  nicht  Salto  mortale,  sondern  Salto  morale  heißen.    Der 
Telegraphenbeamte,   der  der  zweite  Intelligente  Leser  war,  fragte 
mich,  ob  ich  das  nicht   umgekehrt  habe  sagen  wollen,  und  als 
ich  dabei  blieb,   ergab   er   sich   mit    einem    Kopfschütteln    in 
seinen  schweren  Dienst.  Der  Leser  hat  immer  recht,  also  audi  der 
Setzer.    Als  ich  einmal  aus  der  Sprache  des  Herrn  Harden  die 
Wendung  übersetzen  wollte:  »Innerer  Hader,  der  sich  an  die  Stelle 
des  Pestens  drängt«,  sagte  der  Setzer  nein   und  behauptete,  es 

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88  — 


mfisse  ifeiBen:  Immer  der  Karden,  der  didü  an  die  SteHe  des 
Fedffera  drängt  Hat  er  nicht  recht  gdiabt?  Und  als  einer  sidi 
vermaB,  2U  sagen,  daß  Poe,  der  ehrliche  Phantast,  seht  berGlia- 
testes  Gedicht  mit  Berechnung  klempnert,  half  Mb  der  Setzer 
und  sagte:  Kleipert  Denn  es  ist  besser,  dafi  sich  bd  den  LeMcn 
des  .PremdenbUtts'  der  Glaube  an  diesen  als  ein  Mißtrauen  gegen 
Poe  festsetzt. 

HC 

In  Charles  ßaudelaires  »Tagebüchern«  findet  sich  dk 
folgende  Stelle: 

Jede  Zeitung,  von  der  ersten  bis  2nr  letzten  Zelle,  ist  aidits 
als  ein  Gewebe  von  Schrecken.  Kriege,  Verbrechen,  Diebstähle,  Schaai- 
loslgkeiten,  Martern,  Verbrechen  der  Ffirsten,  Vcrbreciien  der  Natioaai. 
Verbrechen  der  Einzelnen:  ein  Rausch  von  allgemeiner  SdieoiSUchkclt 
Ich  begreife  nicht,  wie  eine  reine  Hand  das  anrfihren  kann,  ohne  vor 
Ekel  zu  zucken! 

»Es  bedarf  keines  Hinweises«,  bemerkt  dn  deutsches  Bhitt  m 
diesem  Zitat,  »daß  sich  Baudelaire  auch  hier  in  einer  ^lendid 
Isolation  sondergleichen  befindet«.  Aber  Ich  nicht ! 

Ultimatum:  Wenn  ich  noch  einmal  in  einem  Blatte  in  der 
Besprechung  eines  Oeschwomenurteils  den  Satz  finde,  es  sd  »das 
schöne  Vorrecht  der  Richter  aus  dem  Volke,  auch  dort  noch  Recht 
nnd  Billigkeit  zu  fiben,  wo  der  starre  Buchstabe  des  Gesetzes...«, 
haue  ich  die  Zeitungslektflre  definitiv  hin.  Seit  Jahren  nehme  ich 
ängstlich  ein  Abendblatt  zur  Hand,  In  welchem  unter  der  Spitz- 
marke »Ein  Freispruch«  immer  dieselbe  Betrachtung  steht.  Eine 
Abwechslung  wird  nur  darin  geboten,  daß  die  Richter  aus  dem 
Volke  für  die  Anwendung  des  schönen  Vorrechts  entweder  gelobt 
oder  daß  sie  ermahnt  werden,  sich  darin  zu  mäßigen.  Aber  immer 
ist  es  der  gewisse  Buchstabe  des  Gesetzes,  der  mich  anstairt,  so 
oft  ich  das  Blatt  aufschlage.  Es  ist  eine  fixe  Idee  des  LIberallsmni, 
der  starrer  Ist  als  alles  Gesetz.  Das  Leben  selbst  Ist  zum  Bucbstabr* 
erstarrt,  und  was  bedeutet  neben  solchem  Zustand  die  Ldcfaenslar 
der  Gesetzlichkeit  f  Karl  Kraus. 


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-  89  — 

Abend. 

»Nieder  tauchte  die  Sonn'  und  schattiger  wurden  die 

Pfadec, 
Dies  las  ich  heut,  am  Abend  eines  Sommertags 
Und  liefi  das  alte  Buch  Homer  auf  meine  Kniee 
Hinsinken,  also  sinnend:  Allen  Erdenkindern 
Mißt  diese  heitre  Sonn'  ihr  holdes  Mafi  von  Licht, 
Bin  Schickst  reifend  nach  verschwiegenem  Gesetse 
Vom  Aufgang  bis  ssum  Schatten  eines  Menschenpfads. 
Ich  wuchs  in  Zeiten,  trüber  als  die  Nacht, 
Ein  Jüngling,  feind  mir  selbst  und  im  Gemüt  bedrängt, 
Nun  endlich  ruft  auch  mir  die  liebe  Sonne: 
Gibst  du,  erhellt,  dein  eignes  Licht  dem  Lichte . 

wieder?  — 
Doch  hinter  jedem  Strauch  im  Garten  wachsen 

Schatten, 
Was  war  mein  Mafi  an  Tag  gering  I  Ihr  Götter  wftgta 
Den  Menschen,  wollt  mir  diesen  späten  Strahl  nicht 

neiden, 
Laßt  mir  den  Abend,  dem  der  Morgen  war  geweigert, 
Gönnt  mir  den  Blick  der  herbstlich  tiefen,    klaren 

Stunden, 
Den  lotsten  Glans,  den  ich  mit  fleh'nden  Augen  halte, 
Lafit  mir  den  Abend,  seht,  die  Pfade  dunkeln  schon. 

Otto  Stoessl. 


Zuschrift: 

Weimar  d.  21.  Jan.  1909.  6ehr  geehrter  Herr!  Verbindlichen 
Dank  für  die  liebenswürdige  Erwähnung  jenes  Zitats.  Ich  möchte 
hinzufügen,  daß  in  diesen  Worten  in  der  Tat  meine  bescheidene 
Stellung,  die  Ich  stets  zu  den  Lehren  meines  Bruders  einge- 
nommen habe,  ausgedrückt  ist  Die  Oegner  haben  hier,  wie  in 
hundert  andern  Fällen,  diese  einfache  Wahrheit  auf  den  Kopf 
gestellt  Ich  habe  midi  immer  alles  Urteils  über  meinen 
finidcr  enthalten.  Mit  vorzüglicher  Hochachtung  Ihre 

•  Elisabeth  Förster-Nietzsche. 


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—  40  — 


Sprflche  und  Widenprflche.*) 

Ein  Weib,  dessen  Sinnlichkeit  nie  aussetit,  und 
ein  Mann,  dem  ununterbrochen  Gedanken  kommen: 
swei  Ideale  der  Menschlichkeit,  die  der  Menschheit 
krankhaft  erscheinen. 

• 

Die  Begierde  des  Mannes  ist  nichts,  was  der 
Betrachtung  lohnt.  Wenn  sie  aber  ohne  Richtmig 
läuft  und  das  Ziel  erst  sucht,  so  ist  sie  wahrlich  ein 
Greuel  vor  der  Natur. 

• 

Den  VorBUg  der  Frau,  immer  erhören  au  kön- 
nen, hat  ihr  die  Natur  durch  den  Nachteil  des 
Mannes  verrammelt. 

FOr  den  Nachteil  des  Mannes,  nicht  immer  er* 
hören  su  können,  wurde  er  mit  der  Feinfahligkeit 
entschädigt,  die  Unyollkoromenheit  der  Natur  in  je- 
dem Falle  als  eine  persönliche  Schuld  au  empfiadeo. 

Als  die  Zugänglichkeit  des  Weibes  noch  eine 
Tugend  war,  wuchs  dem  männlichen  Geiste  die  Kraft 
Heute  versehrt  er  sich  vor  der  Scheidemauer  einer 
verbotenen  Welt.  Geist  und  Lust  paaren  sich  wie 
ehedem.  Aber  das  Weib  hat  den  Geist  an  sich  ge- 
nommen, um  dem  Draufgänger  Lust  su  machen. 

Wie  schnell  kam  der  Mann  an  sein  Tagewerk, 
als  er  noch  den  bis  auf  Widerruf  eröffneten  Duroh- 

fang   benutzen    durfte.     Der    neue    Hausherr    der 
[enschheit  duldets  nicht. 

Griechische   Denker    nahmen    mit  Huren  von- 


*)  Unter  diesem  Titel  wird  demnächst  mein  AphorismeatMCfc 
im  Verlag  Albert  Langen,  Mfinchen  erscheinen.  Es  hat  nenn  AbteÜBafes: 
I.  Weib,  Phantasie.  II.  Moral,  Christentum.  III.  Mensch  und  Nebe» 
mensch.  IV.  Dummheit,  Demoicratie,  InteUektnalismus.  V.  Der  KflnsÜct 
VL  Ober  Schreiben  und  Lesen.  VII.  Länder  und  Leute.  VIII.  StfanmunfCf 
Worte.  IX.  Sprflche  und  Widersprflche.  t 

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yGoOgl 


—  41 


lieb.  Qermanifiche  Eommis  kOnnen  ohne  Damen  nicht 
leben. 

Das  vom  Mann  verstofiene  Weibchen  rächt  sich. 
Eis  ist  eine  Dame  geworden  und  hat  ein  M&nnchen 
im  Haus. 

Der  christh'che  Tierpark:  Eine  gezähmte  Löwin 
sitzt  im  Eäfi^.  Viele  Löwen  stehen  draufien  und 
blicken  mit  Interesse  hinein.  Ihre  Neugierde  wächst 
an  dem  Widerstand  der  Oittersläbe.  Schließlich  zer* 
brechen  sie  sie.  Händeringend  flachten  die  Wärter.  * 

Wenn  der  Geist  der  Weiber  in  Betracht  kom- 
men soll,  dann  werden  wir  anfangen,  uns  fOr  die 
Sinnlichkeit  der  Männer  zu  interessieren.  Welch  eine 
Aussicht  I 

• 

Die  Frauenemanzipation  macht  rapide  Fort* 
schritte.  Nur  die  LustmOrder  gehen  nicht  mit  der 
Entwicklung.  Ejs  gibt  noch  keinen  Eopfaufschlitzer. 

Eine,  die  mit  viel  Vitriol  imageht,  wäre  auch 
imstande  zur  Tinte  zu  greifen. 

# 

Es  geht  nichts  über  die  Treue  einer  Frau,  die 
in  allen  Lagen  an  der  Oberzeugung  festhält,  daJB  sie 
ihren  Mann  nicht  betrüge. 

• 

Dafi  eine  einen  Buckel  hat,  dessen  mufi  sie 
sich  nicht  bewufit  sein.  Aber  dafi  sie  einen  Zwicker 
hat,  sollte  sie  doch  nicht  leugnen. 

Der  Philister  verachtet  die  Frau,  die  sich  von 
ihm  hat  lieben  lassen.  Wie  gerne  möchte  man  ihm 
recht  geben,  wenn  man  der  Frau  Schuld  geben  könnte  t 

Die  Unsittlichkeit  der  Maitresse  besteht  in  der 
Treue  gegen  den  Besitzer. 

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Keine  Grense  verlookt  mehr  Bum  Sohmuggdn 
als  die  Altersgrenze. 

# 

Die  Moralheuchler  sind  nicht  darum  hassens- 
werty  weil  sie  anders  tun,  als  sie  bekennen,  sonders 
weil  sie  anders  bekennen  als  sie  tun.  Wer  die  lioral- 
heuchelei  verdammt^  raufi  peinlich  darauf  bedacht  sein, 
daB  man  ihn  nicht  für  einen  Freund  der  Moral  halte, 
die  jene  doch  wenigstens  insgeheim  verraten.  Nicht  der 
Verrat  an  der  Moral  ist  sträflich,  sondern  die  Moral 
Sie  ist  Heuchelei  an  und  für  sich.  Nicht  dafl  jene 
Wein  trinken,  sollte  enthüllt  werden,  sondern  dafl  sie 
Wasser  predigen.  Widersprüche  swischen  Theorie 
und  Praxis  nachzuweisen  ist  immer  mifilich.  Was 
bedeutet  die  Tat  aller  gegen  den  Gedanken  einet 
einzigen?  Der  Moralist  könnte  es  ernst  meinen  mit 
dem  Kampf  gegen  eine  Unmoral,  der  er  selbst  sum 
Opfer  gefallen  ist.  Und  wenn  einer  Wein  predigt^ 
mag  man  ihm  sogar  verseihen,  daß  er  Wasser  trinkt 
Er  ist  mit  sich  im  Widerspruch,  aber  er  macht,  dat 
mehr  Wein  getrunken  wird  in  der  Welt. 

In  Deutschland  bilden  zwei  einen  Verein.  Stirbt 
der  eine,  so  erhebt  sich  der  andere  noch  zum  Zeichaa 
der  Trauer  von  seinem  Platze. 

Die  >Männer  der  Wissenschaft«  I  Man  sagt  ihr 
viele  nach,  aber  die  meisten  mit  Unrecht. 

Die  Religion  wird  die  »gebundene  Weltan- 
schauung« genannt.  Aber  sie  ist  im  Weltenraum 
gebunden,   und  der  Liberalismus  ist  frei  im  Besirh 

Die  Vorsehung  einer  gottlosen  Zeit  ist  die  Presse 
und  sie  hat  sogar  den  Glauben  an  eine  AUwissenheii 
und  Allgegenwart  zur  Oberzeugung  erhoben. 

Das  größte  Lokalereignis,  das  in  allen  Stftdtei 
gleichseitig  und  unaufhörlich  sich  begibt,  wird  air 


—  48 


wenigsten  beachtet:    Der  Einbruch  des  Eommis  in 
das  Geistesleben. 

Die  Mission  der  Presse  ist,  Geist  su  verbreiten 
und  zugleich  die  Aufnahmsffthigkeit  su  zerstören. 

Die  Medizin:  Geld  her  und  Leben I 

Ein  Agitator  ergreift  das  Wort.    Der  Künstler 

wird  vom  Wort  ergriffen. 

* 

Das  individuelle  Leben  der  Instrumente  ist  von 
übel.  Ich  kann  mir  denken,  dafi  sie  eine  politische 
Oberzeugung  haben,  aber  dafi  sie  atmen  stört  mich. 

Das  Publikum  läfit  sich  nicht  alles  gefallen.  Bs 
weist  eine  unmoralische  Schrift  mit  Empörung  zurück, 
wenn  es  ihre  kulturelle  Absicht  merkt. 

• 

Bin  Hausknecht  bei  Nestroj  wird  mit  der  Last 
des  Lebens  fertig  und  wirft  die  Langeweile  zur  Tür 
hinaus.  Er  ist  handfester  als  ein  Professor  der  Philo- 
sophie. 

« 

Stimmung  der  Wiener:  das  ewige  Stimmen 
eines  Orchesters. 

Wenn  man  nicht  weifi,  wovon  einer  lebt,  so  ist 
das  noch  der  günstigere  Fall.  Auch  dieVolkswirtsohaft 
hat  ein  wenig  Phantasie  notwendig. 

Bin  Blitzableiter  auf  einem  Kirchturm  ist  das 
denkbar  stärkste  Mifitrauensvotum  gegen  den  lieben 
Gott. 

Nie  ist  gröflere  Ruhe,  als  wenn  ein  schlechter 
Zeichner  Bewegung  darstellt.  Ein  guter  kann  einen 
Lftufer  ohne  Beine  zeichnen. 

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—  44  — 


Bin  annaeliger  Hohn,  der  sich  in  Interpunktionen 
austobt  und  Rufseichen,  Frageseichen  und  Gedanken- 
striche als  Peitschen,  Schlingen  und  Spiefte  Ter- 
wendetl 

Nicht  immer  darf  ein  Name  genaimt  werden. 
Nicht,  daß  einer  es  getan  hat,  sondern  daB  es  möglich 
war,  soll  gesagt  sein. 

Der  Politiker  steckt  im  Leben,  imbekannt  wo. 
Der  Ästhet  flieht  aus  dem  Leben,  unbekannt  wohin. 

Im  Theater  mufi  man  so  sitsen,  dafi  man  das 
Publikum  als  eine  schwane  Masse  sieht  Dann  kann 
es  einem  so  wenig  anhaben  wie  dem  Schauspieler. 
Nichts  ist  störender  als  die  Individualitäten  der 
Menge  unterscheiden  su  können. 

• 

Die  einzige  Kunst,  über  die  das  Publikum  ein 
Urteil  hat,  ist  die  Theaterkunst.  Der  einzelne  Zu- 
schauer, also  vor  allem  der  Kritiker,  spripht  Unsinn, 
alle  zusammen  behalten  sie  recht  Vor  der  Litwatur 
ist  es  umgekehrt. 

Die  wahren  Schauspieler  lassen  sich  vom  Autor 
blofi  das  Stichwort  bringen,  nicht  die  Rede.  Ihnen  ist 
das  Theaterstück  keine  Dichtung,  sondern  ein  Spi^raum. 

• 

Die  Hausherrlichkeit  des  Schauspielers  im  Theater 
erweist  sich  darin,  dafi  die  Veränderungen,  die  ei 
mit  der  dichterischen  Qestalt  vornimmt,  dem  Brfolg 
zum  Vorteil  gereichen.  Die  Tantiemen  gebühren  dem 
Schauspieler. 

• 

Wenn  ein  Väterspieler  als  Heinrich  IV.  in  dem 
Satz:  »Dein  Wunsch  war  des  Gedankens  Vater, 
Heinriche  den  Vater  betont,  kann  er  das  Publikum 
au  Tränen  rühren.  Der  andere,  der  sinngemäß  den 
»Wunsche  betont,  wird    vom   Publikum   blofi   nicht 

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—  45  — 


▼erstanden.  Dieses  Beispiel  zeigt,  wie  aussichtslos 
das  Dichterische  auf  dem  Theater  gegen  das  Schau» 
spielerische  kämpft,  um  scbliefilich  von  dessen  Siegen 
au  leben.  Das  Drama  behauptet  seine  Bühnenhaftig* 
keit  immer  nur  trotz  oder  entgegen  dem  Gedanken. 
Auch  am  Witz  schmeckt  ein  Theaterpublikum  bloft 
den  stofflichen  Reiz.  Je  mehr  Körperlichkeit  der 
Witz  hat,  je  mehr  er  dem  Publikum  etwas  zum  An- 
halten bietet,  um  so  leichter  hat  er  es.  Deshalb  ist 
Nestroys  gedanklicher  Humor  weniger  wirksam  als 
etwa  die  gleichgültige  Situation,  die  ihm  ein  fran- 
zösisches Muster  liefert.  Das  Wort,  dafi  »in  einem 
Luftschloß  selbst  die  Hausmeisterwohnung  eine  para- 
diesische Aussicht  hat«,  versinkt.  Wenn  ihm  nicht 
die  vertraute  Vorstellung  des  Hausmeisters  zu  einiger 
Heiterkeit  verhilft. 

Ich  traue  der  Druckmaschine  nicht,  wenn  ich 
ihr  mein  geschriebenes  Wort  überliefere.  Wie  kann 
ein  Dramatiker  sich  auf  den  Mund  eines  Schauspielers 

verlassen  I 

« 

Die  Entfernung  der  schauspielerischen  Persön- 
lichkeit von  der  dichterischen  zeigt  sich  am  auf- 
f&Uigsten,  wenn  die  Figur  selbst  ein  Dichter  ist.  Man 
glaubt  ihn  dem  Schauspieler  nicht.  Ihm  gelingen 
Helden  oder  Bürger. 

Ein  Schauspieler,  der  sich  für  Literatur  inter- 
essiert? Ein  Literat  gehört  nicht  einmal  ins  Parkett. 

« 

Die  modernen  Regisseure  wissen  nicht,  dafi  man 
auf  der  Bühne  die  Finsternis  sehen  mufi. 

Der  Naturalismus  der  Szene  läfit  wirkliche 
Uhren  schlagen.  Darum  vergeht  einem  die  Zeit  so 
langsam. 

Der  Schauspieler   hat   Talent   zur  Maske.     Die 

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48  - 


Ver&mderUchkeit  eiaea  weibliohea  AnÜitses  ist  dti 
Talent.  Schauspieleriaaen,  die  Ifaskaa  maoheOi  mni 
keine  Weiber,  sondern  Schauspieler* 

Man  ^bt  su,  die  Kunst  der  Schauspielerin  lei 
sublimierte  Gesohlechtlichkeit.  Aber  aufierhalb  der 
Bühne  mufi  das  Feuer  den  Dampf  wieder  in  Körper 
Terwandelo  können. 

Nur  eine  Frau,  die  sich  im  Leben  gans  ausgibt 
behält  genug  fQr  die  BQhne.  Komödiantinnen  dm 
Lebens  sind  schlechte  Schauspielerinnen. 

Man  kann  eine  Schauspielerin  entdecken,  wem 
man  sie  die  natürlichste  Situation,  in  die  ein  Weib 
geraten  kann,  darstellen  läfit. 

Das  Buch  eines  Weibes  kann  gut  sein.  Aber 
ist  dann  auch  da3  Weib  ssu  loben? 

Es  kommt  gewiß  nicht  blofl  auf  das  Aufler« 
«iner  Frau  an.  Auch  die  Dessous  sind  wichtig. 

• 

Das  eben  ist  der  Unterschied  der  Qeschlechter: 
die  Männer  fallen  nicht  immer  auf  einen  kleines 
Mund  herein,  aber  die  Weiber  immer  noch  auf  taat 
grofie  Nase. 

Ein  Weib,  das  cur  Liebe  taugt,  wird  im  Alter 
die  Ehren  einer  Kupplerin  genieften.  Bine  frigide 
Natur  wird  blofi  Zimmer  vermieten. 

Hundert  Männer  werden  ihrer  Armut  inne  Tar 
einem  Weib,  das  reich  wird  durch  Verschwendung. 

Bine  neue  Erkenntnis  muS  so  gesagt  sein,  dal 
man  glaubt,  die  Spatzen  auf  dem  Dach  hätten  nur 
•durch  einen  Zufall  versäumt,  sie  au  pfeifen. 


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47 


Bine  Antithese  sieht  blofi  wie  eine  mechanische 
Umdrehupe:  aus.  Aber  welch  ein  Inhalt  von  Erleben, 
Erleiden,  Erkennen  mufi  erworben  sein,  bis  man  ein 
Wort  umdrehen  darf  I 

Der  LiberalisAius  kredenzt  ein  Abspülwasser  als 
Liebenstrank. 

Das  ist  kein  rechtes  Lumen,  das  dem  Verstände 
nicht  zum  Irrlicht  wird. 

Der  gesunde  Menschenverstand  sagt,  daß  er  mit 
einem  Künstler  bis  zu  einem  bestimmten  Punkt  »noch 
mitgeht«.  Der  Künstler  sollte  auch  bis  dorthin  die 
Begleitung  ablehnen. 

An  einem  Dichter  kann  man  Symptome  beob- 
achten, die  einen  Kommerzienrat  für  die  Intemierung 
reif  machen  wtlrden. 

Der  Philister  möchte  immer,  daß  ihm  die  Zeit 
Tergebt.  Dem  Künstler  besteht  sie. 

• 

Witzblätter  sind  ein  Beweis,  dafl  der  Philister 
humorlos  ist.  Sie  gehören  zum  Ernst  des  Lebens, 
wie  der  Trank  zur  Speise.  »Geben  Sie  mir  sämtliche 
Witzblätter  I«  befiehlt  ein  sorgenschwerer  Dummkopf 
dem  Kellner,  und  plagt  sich,  dafi  ein  Lächeln  auf 
seinem  Antlitz  erscheine.  Aus  allen  Winkeln  des 
täglichen  Lebens  mufi  ihm  der  Humor  zuströmen, 
den  er  nicht  hat,  und  er  wtirde  selbst  die  Zündholz- 
schachtel verschmähen,  die  nicht  einen  Witz  auf 
ihrem  Deckblatt  führte.  Ich  las  auf  einem  solchen: 
»Handwerksbursche  (der  sich  eine  zufällig  in  ein  Ge- 
dicht eingewickelte  Wurst  gekauft  hat):  ,Sehr  guti 
Nun  ess'  ich  erst  die  Wurst  für  die  körperliche  und 
dann  les'  ich  das  Gedicht  für  die  geistige  Nahrung!'« 
Dergleichen  freut  den  Philister,  und  ^r  empfindet  die 
Methode  des  Handwerksburschen  nicht  einmal  als 
eine  Anspielung. 

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48 


Warum  mutet  man    einem    Musiker   nicht   wop . 
daS  er  gegen  einen  Obelstand  eine  Symphonie  rtt- 
fasse?  Ich   mache   schon   längst   keine  Progaaaaah 
musik  mehr. 

Gtogen  den  Fluch  des  Gtestaltenmüssens  ist  keia ' 
Kraut  gewachsen. 

• 

Mein  Geist  regt  sich  an  den  Sümen,  meine 
Sinne  regen  sich  an  dem  Geist  der  Frau.  Ihr  Körper 
gilt  nicht. 

Sinnlichkeit  des  Weibes  lebt  so  wenig  Tom 
Stoff  wie  männliche  KünsÜerschafL  Je  lumpigor 
der  Anlafi,  desto  gröfier  die  Entfaltung.  Der  Gast 
ist  an  kein  Standesvorurteil  gebunden  und  die  Wirf- 
lust hat  Perspektive. 

Ich  beherrsche  die  Sprache  nicht;  aber  die 
Sprache  beherrscht  mich  vollkommen.  Sie  ist  mir 
nicht  die  Dienerin  meiner  Gedanken.  Ich  lebe  in 
einer  Verbindung  mit  ihr,  aus  der  ich  Gedanken 
empfange,  und  sie  kann  mit  mir  machen,  was  sie 
will.  Ich  pariere  ihr  aufs  Wort.  Denn  aus  dem  Wort 
springt  mir  der  junge  Gedanke  entgegen  und  formt 
rückwirkend  die  Sprache,  die  ihn  schuf.  Solche  Gnade 
der  Gedankenträchtigkeit  zwingt  auf  die  Knie  und 
macht  allen  Aufwand  zitternder  Sorgiedt  zur  Pflicht. 
Die  Sprache  ist  eine  Herrin  der  Gedanken,  und  wer 
das  Verhältnis  umzukehren  vermag,  dem  macht  ne 
sich  im  Hause  nützlich,  aber  sie  sperrt  ihm  den  SchdI.« 

« 

0  markverzehrende  Wonne  der  Spracherleb^ 
Die  Gefahr  des  Wortes  ist  die  Lust  des  GedanI 
Was  bog  dort  um  die  Ecke?  Noch  nicht  ersehen 
schon  geliebt  I   Ich  stürze  mich  in  dieses  Aben 

Karl  Kra 


HcTUUffcbcr  nnd  veiiutwortlidwr 
Dn«k  wn  JthoöM  fr  Sicgd.  Wien,  III. 


Karl  Kraale 


[In 


r  der  Aufsatz:  »Eine 


ri/ar    I  f^xfnr      Ag»r     Aitcctfl 


era  Jahr  -  i  hat,  wurde  der  Herausgcb- 

1.     Da   c>  r  den    Pro2:eß    wrf:rn  des  \ 

richtet  hat,    so  ist  der  Kläger  um 
*ts  gekommen.  Deshalb  wird  sie  , 


pi  in  zwangloaer  Fol^e  ira  UrafaniKe  vo;     '"     ^' "  ''e 

reich- 
Fliänder 

iDfls  Abonnement  erstreckt  sich  nicht  auf  einen  Zeltreii 
sondern     auf     eine     bestimmte    Anzahl    von    Nummer 

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^11. 


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Karlsbad,  ö. 


Die  Deutsche  Briefgesells 


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l^apl  Bopromäus  Jiei 

RL  flSCNKOn 

Ge5cbicbfe  einer  Jugend. 


Demnäohst  erachemo  mi  uuterzeichn» 

Die  weltlichen  Gesänye  a 
fanzelter  Gidi  von  Polykarpn 


I 

-eifl     BTk.     ...... 

_2i^5C.     ksrtoi  ler 


Karl  Amc- 


Febi 


•09 


Die  Fackel 


Herausgeber: 


KARL  KRAUS 


N  I-:  A  L  T 


ter  Altcfiberr 


Eine  Zu- 
—   Leben. 

Ullü  ^5lüL'.^:l.         Spiel,    Voa  ütl<  ■..  — 

len,  Notizen,  Aphorismen.  Vnn  ^  ns^ 


l^racheint  in   zwangloser  Folge« 


PreiB  der  einzelnen  Nammer  30  h. 

and  gewerbsmäBiges  Verleihen  verboten  ;  gerichtlich^ 
Verfolgung  vorbehalten. 


WIEN. 


E 


f Freiwillige  ^Rnzd^)  - 


Werke  von  S'eterMitem 


Wie  idi  c 


ö    öt/ic 


Was  der   Tag  mir 


■  /•/. .;.../..        1,,v7^,r_. 


Gl-/). 


Prodromos 


Märchen  des  Lebe: 


Die  Auswahl  aus  meinen  /> 


vrifr   ÄnffncTt'.     Mi'f   drm    77; 


c     rrcnurD    i/r 


Die  Fackel; 

M.  274  27.  FEBRUAR  1909  ILJAHR 


Peter  Altenberg. 

Zum  9.  Mflri. 

Er  feiert  nun  wirklichdiesen  oft  yersprochenen,  oft 
yerschobenen  fQnfzigsten  Geburtstag.  Aber  mag  das 
Datum  schwankend  sein  wie  das  Urteil  über  den  Mann, 
ja  schwankend  selbst  wie  das  Urteil  des  Mannes, 
die  Gelegenheit,  ihn  respektvoll  su  grüfien,  möchte 
sich  einer  nicht  yersagen,  der  dabei  war,  als  jener 
seine  Haare  liefi,  um  einen  Kopf  zu  bekommen. 
Und  nichts  steht  heute  fester  in  unserm  Geistes- 
leben als  dies  Schwanken,  nichts  ist  klarer  umris- 
sen als  diese  knitterige  Physiognomie,  nichts  bietet 
besseren  Hidt  als  diese  Un Verläßlichkeit.  Unter  den 
vielen,  die  hier  etwas  vorstellen^  ist  einer,  der  bedeu- 
tet, unter  den  manchen^  die  etwas  können,  ist  einer, 
der  ist.  Unter  den  zahllosen,  die  ihre  Stoffe  aus 
der  Literatur  geholt  haben  und  Migräne  bekamen, 
als  es  an  die  Prüfung  durchs  Leben  ging,  ist  einer, 
der  im  schmutzigsten  Winkel  des   Lebens   L^eratur 

Seschaffen  hat,  gleich  unbekümmert  um  die  Regeln 
er  Literatur  und  des  Lebens.  Weifi  der  liebe  Herr- 
gott, wie  die  anderen  ihren  Tag  führen,  ehe  sie  zu 
Uiren  Büchern  gelangen,  die  Nächte  dieses  einen 
waren  allzeit  der  öffentlichen  Besichtigung  preis- 
g^'-eben,  und  manch  ein  champagnertrinkender  Pferde- 
ji  =)  dürfte  um  die  Zeugung  dessen  Bescheid  wissen, 
^  für  alle  Zeiten  den  Werten  einer  lyrischen  Prosa 
ZI  erechnet  bleibt.  Dieses  Eüosllerleben  hatte  einen 
Z  ;,  den  in  seiner  Welt  die  Weiber  verloren  haben: 
1  »ue  im  Unbestand,  rücksichtslose  Selbstbewahrung 
ii     Wegwurf,  Unverkäuflichkeit  in  der  Prostitution. 

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^  ö 


Seitdem  und  so  oft  er  vom  Leben  zum  SchreiboD 
kam,  stand  das  Problem  dieser  elementaren  Ab- 
sichtslosigkeit,  die  heut^  leichtmütig  eine  Perle  und 
morgen  feierlich  eine  Schale  bietet^  in  der  Rätselecke 
des  lesenden  Philisters.  Die  bequemste  Lösung  war 
die  Annahme,  einer  sei  ein  Poseur,  der  Eeitlebens 
nichts  anderes  getan  hat  als  die  Konvention  der  Ver- 
steilung zu  durchbrechen.  Oder  es  sei  ein  echter 
Narr.  Denn  das  Staunen  des  gesunden  Verstandes, 
dessen  niederträchtige  Erhabenheit  sich  hier  toD 
entfaltet,  sieht  blofi  die  gelockerte  Schraube  und 
fühlt  die  bewegende  Kraft  nicht,  die  den  Schades 
schuf,  um  an  ihm  zu  wachsen.  Aber  wenn  die  Dich- 
ter heute  zu  nichts  anderm  taugen,  als  dafi  die 
Advokaten  an  ihnen  ihrer  Vollsinnigkeit  inne  wer- 
den, so  haben  sie  ihren  Zweck  erfüllt,  und  die  Advo- 
katen sollten  darauf  verzichten,  in  das  Verständnis 
der  Dichter  weiter  eindringen  zu  wollen,  als  zun 
Beweise  ihrer  eigenen  Daseinsberechtigung  notwen- 
dig ist.  Mag  sein,  dafi  der  Altenbergsche  Smst  diese 
Art  mechanischer  Betrachtung  auf  Kosten  der  leben- 
digen Persönlichkeit  verschuldet  hat.  Im  Alteoberg- 
schen  Ernst  kreischt  die  Schraube,  und  verlockt  die 
Neugierde  einer  wertlosen  Intelli^^enz,  die  man  besser 
ihren  Weg  ziehen  liefie.  Es  ist  dieser  küustlertschen 
Natur  zu  eigen,  das  Unscheinbare  aus  der  Hohe 
anzurufen,  und  solche  Aufmerksamkeit  wird  ihr  un- 
versehens zur  Kunst,  wenn  die  Kontraste  sich  im 
Humor  verständigen.  Er  ist  Lyriker,  wenn  er  sich 
zur  unmittelbaren  Anschauung  seiner  kleinen  Welt 
begibt,  und  er  ist  Humorist,  wenn  er  sich  ttbar  sie 
erhebt,  um  sie  zu  besprechen.  Er  ist  persönlich  und 
reizvoll  in  und  über  den  Dingen,  und  wir  haben 
ihm  hier  und  dort  Kunstwerke  zu  danken,  die  ihm 
keiner  nachmachen  kann,  weil  er  selbst  ohne  Vorbild 
ist.  Aus  einer  Qruadstimmung  zwischen  Überlegen- 
heit und  lyrischem  Befassen,  aus  einer  umkippenden 
Weisheit,  die  vor  einem  Kanarienvogel  ernster  bleibt 


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-    3    - 


als  vor  sich  selbst^  aus  einer  Besoheidenheitf  die  sieh 
nur  vorschiebt,  um  die  Welt  in  einer  Narrenglatze 
sich  spiegeln  zu  lassen,  könnte  er  uns  eine  »Empfind- 
same Keisec  beschreiben,  die  er  aus  Ersparnisrück- 
sichten  im  Kinematographentheater  erlebt.  Ich  gebe 
für  die  paar  Zeilen  seiner  »Maust  oderseines  »Lift«,  sei- 
nes »Spazierstock«  oder  seines  »Oesprächs  mit  dem 
Gutsherrn«  sämtliche  Romane  einer  Leihbibliothek  her. 
Dazu  aber  auch  jenen  P.  A.,  der  die  Distanz  zu 
seiner  Welt  durch  Lärm  ausgleichen  möchte.  Iph 
kann  es  verstehen,  daß  einem  Künstler  die  Geduld 
reifit  und  dafi  er  eines  Nachts  dazu  gelangt,  das 
Jjeben  im  Vokativ  anzusprechen.  Er  scheint  mir  in 
solchen  Äugenblicken  ehrwürdig,  aber  nicht  eben 
schöpferisch  zu  sein.  Ich  sehe  ihn  hoch,  aber  der  Ab- 
stand, der  Humor  verlangt,  schafft  sich  ihn  von  selbst, 
wenn  der  Betrachter  pathetisch  wird.  In  dieses 
Kapitel  scheint  mir  die  Altenbergsche  Qastrologie 
zu  gehören  mit  jenem  Materialismus  der  Frauen- 
seelen und  jenem  Spiritualismus  der  Material- 
waren, mit  der  Unerbittlichkeit  jenes  »erstklas- 
sigen« akrobatischen  Evolutionsgedankens,  dafi  der 
Affe  vom  Menschen  abstammt.  P.  A.,  der  vor 
einer  Almwiese  zum  Dichter  wird,  wird  vor 
einer  Preisjodlerin  zum  Propheten.  Er  ist  ein  Seher, 
wenn  er  sieht,  aber  er  ist  ein  Rufer,  wenn  er  ein 
Seher  ist.  Seihe  Schrullen  sind  schöpferische  Hilfen, 
wenn  sie  sich  selbst  entlarven;  sie  sind  Hindemisse, 
wenn  sie  auf  sich  bestehen.  Die  zarteste  Künstler- 
hand beschwichtigt  sie,  und  zu  einer  widrigen  Un- 
sprache  lassen  sie  sich  alarmieren.  Und  das  ist  der 
Humor  davon.  An  ihn  hält  sich  der  Philistersiun, 
wenn  diese  Fülle  sich  selbst  zu  einer  Sonderbarkeit 
verkleinert,  die  mit  visionärer  Verzückung  Küchen- 
rezepte verfertigt,  tant  de  bruit  pour  une  oraelette 
macht  und  die  Anweisung  von  sich  gibt:  0  nähme 
man  doch  endlich  drei  Eier  II?  Qewifi  bildet  diese  aus- 
fahrende Sucht,  die  eine  alltägliche  Sache  blofi  ver- 


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—    4     — 


stärkt}  ein  Teil  von  jener  Krait^  die  eine  alltägliche 
Sache  eu  erhöhen  vermag,  und  ich  mOchte  den 
Mißton  in  der  Zigeanermusik  dieses  Geistes  nicht 
entbehren.  In  der  restlosen  Ehrlicheit,  die  das  Unsag- 
bare sagt,  ist  er  wohl  liebenswerter  als  ein  Pre- 
ziösentum,  das  vom  Sagbaren  nur  die  Form  ent- 
hüllt, und  beschleunigte  Herztätigkeit  ist  es,  was 
den  Menschen  wert  des  Predigers  über  die  Zweifel  der 
Lehre  erhebt.  Aber  ihr  Lärm  scheint  mir  von  der  Schwer- 
hörigkeit des  Philisters  gefördert  und  er  bedeutet  jenen 
Trotz,  welcher  die  Eonzession  des  Künstlers  ist,  der 
keine  Eonzessionen  macht.  Und  wie  sollte  die  stärkste 
Stimme  nicht  heiser  werden  in  einem  Vaterlande, 
in  dem  der  Prophet  der  Niemand  ist,  aber  der  Poet 
ein  Journalist?  Peter  Altenbergs  Ruhm  ist  aus  dem 
sicheren  Auslande  noch  nicht  nach  Wien  gedrangen 
und  das  intellektuelle  Gesindel  dieser  Stadt  hat  noch 
nicht  geruht,  ihn  so  ernst  zu  nehmen  wie  ihre  Jour- 
dichter  und  Journalisten.  Dennoch  sollte  man  diesen 
Reichtum  der  Mittel  sich  nicht  auf  Kosten  des  Inhalte 
entfalten  lassen.  Man  mflfite  eine  Zeitung,  die  die- 
sem Temperament  die  loterpunktionen  ihrer  Drucker^ 
zu  schrankenloser  Verfügung  überläßt,  boykottieren, 
man  müfite  vor  Preisrichtern  der  Literatur,  die  eine 
Persönlichkeit  von  solchem  Wuchs  in  der  Varietö- 
Kritik  exzedieren  lassen  und  jahraus  jahrein  harmo- 
nische Plattköpfe  dekorieren,  auf  der  Straße  aus- 
spucken. Kurzum,  man  müfite  alles  das  tun,  wodurch 
man  den  Zorn  P.  A.'s  auf  sich  laden  könnte,  den  ein- 
zigen stadtbekannten  Zorn,  der  um  seiner  selbst  willen 
wertvoll  ist  und  auch  dort  noch  berechtigt,  wo  der  Eigen- 
tümer fälschlich  annimmt,  man  habe  es  auf  seine  Frei- 
heit abgesehen.  Denn  man  hat  es  in  Wahrheit  darauf 
abgeseheo,  ihn  auf  einen  Stand  zu  bringen,  auf  dem 
er  die  wohlverdiente  literarische  Anerkennung  end* 
lieh  für  die  Ehre  eintauscht,  die  Zielscheibe  der 
Betrunkenheit  au  sein.  Oder  gar  das  Merkziel  jener 
vollsinnigen    Betrachtung,    welche    die    Kunst    des 


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Mannes  als  eine  Pri^atangelegeiiheit  belächelt,  aber 
vor  seinem  Nachtleben  wie  vor  einer  Praterbude 
steht,  und  die  überglücklich  ist,  wenn  sie  eine  Probe 
Altenbergscher  Urteilswütigkeit  kolportieren  kann. 
Dafi  hier  ein  ewig  junges  Temperament  bei  der  Sache 
ist,  ob  es  nun  für  oder  gegen  die  Sache  ist  oder  beides 
zugleich,  schätzt  keiner.  Aber  auch  die  Ansichten 
der  Natur  sind  geteilt,  auf  Schön  folgt  Regen  und 
es  ist  derselbe  Ackerboden,  der  den  Vorteil  von  sol- 
chem Widerspruch  hat.  Dieser  Dichter  hatte  Anhän- 
ger, die  ihm  abtrünnig  wurden,  weil  sie  den  Zufällen 
seiner  klimatischen  Verhältnisse  nicht  gewachsen  waren. 
Nun,  wen  es  trifft,  zwischen  dem  Einerseits  einer 
höchsten  Begeisterung  und  dem  Anderseits  einer 
tiefsten  Verachtung  zu  leben,  der  bleibe  zuhause,  aber 
er  preise  die  Allmacht  des  Schöpfers  und  rümpfe 
nicht  die  Nase  über  die  Natur.  Denn  die  Natur  ist 
weise,  sie  nimmt  ihre  Donner  nicht  ernst  und  ihre 
Sonne  lacht  über  die  eigene  Inkonsequenz.  Ach, 
wir  haben  genug  Dichter,  die  mit  fünfzig  Jahren 
dasselbe  sichere  Urteil  bewähren  werden  wie  mit 
zwanzig.  Qott  erhalte  sie  als  ganze.  Von  Peter  Alten- 
berg genügen  uns  ein  paar  Zeilen. 

Karl  Kraus. 


Einmal  las  ich  in  einem  Buch  von  Peter  Alten- 
berg, ich  glaube  es  war  in  »Wie  ich  es  sehet,  eine 
Stelle,  wo  ein  Nachen  durch  einen  engen,  mit  Rosen 
und  Ranken  Oberhangenen  Kanal  fährt  —  seitdem 
liebe  ich  Peter  Altenberg. 

Detlev  Baron  Lilienoron. 

Alt-Rahlstedt  bei  Hamburg,  19.  2.  9. 


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gl, 


Leben. 

Zwischen  zwei  Nächten  ein  Traum. 

Im  Dunkel  ruht  und  nächst  ans  Licht 

Ein  Baum. 

Hat  ein  wunderbar  Gesicht, 

Von  Sonne  in  Säften  und  Ästen, 

Von  Himmelsbläue  und  Wolkenwandern 

Über  dem  Haupt 

Und  glaubt 

Und  lauscht  den  Vogelgästen, 

Die  von  Herrlichkeiten  sagen. 

Alle  seine  Arme  tragen 

Von  Wunsch  und  Weh  die  grüne  Last 

Und  können  den  Schatz  nicht  wahren. 

Ein  Sturmwind  kommt  gefahren, 

Da  zuckt  und  stöhnt  ein  Baum, 

Ein  Halm  am  Saum 

Der  Unendlichkeiten. 

Und  in  das  Wehren  und  Spreiten 

Fährt  ein  Blitz  und  loht, 

Bleibt  und  starrt  der  Tod, 

Bläst  ein  Ding  fort  wie  ehier  Feder  Flaum. 

Ein  wunderbar  Gesicht: 

Es  löscht  ein  Licht 

Zwischen  zwei  Nächten  im  Traum. 

Otto  Stoessl. 


Spiel. 

Von  allem  Satanswerk  auf  Erden  hatte  das  Spu 
das  ärgste  Schicksal,  denn  es  wurde  als  Zer^treuun, 
und  Erholungsbeschäftigung  in  die  bOrgerliche  Lebens 
Ordnung  eingefügt.  Auch  die  andern  SOnden  käme 
um  Purpurmantel  und  Höllenglanz,  sie  fristen  ei 
armseliges  Dasein  als  simple  Gesetzesverletzung  odi 

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—  7 


als  pathologische  Erscheinung.  In  dieser  Stellung 
aber  haben  sie  Frieden  und  müssen  nicht,  wie  das 
Spiel,  dazu  herhalten,  den  Feierabend  eines  bis  sechs 
Uhr  tätigen  Lebens  zu  verschönen.  Es  ist  ein  kläg- 
liches Ding  das  erlaubte,  das  Kombinationsspiel.  Man 
hat  den  Zufall  in  einer  Schlinge  gefangen,  ihm  die 
Krallen  beschnitten  und  ihn  in  einen  Käfig  von 
Regeln  gesetzt.  Da  macht  er  seine  jämmerlichen 
Bewegungsversuche,  seine  Parodien  auf  Qunstbezeu- 
gungen,  und  ehrsame  Leute  erfreuen  sich  daran.  Das 
reine  Glücksspiel  aber  ist  selbstverständlich  unter- 
sagt. Hier  entzieht  sich  der  Erfolg  jeder  Berechnung, 
hier  schaltet  ein  Unbekanntes  mit  menschlichen 
Wünschen  imd  das  darf  nicht  geduldet  werden.  Gibt 
es  denn  sonst  unbefugte  Einmengungen  des  Schick- 
sals in  das  menschliche  Leben?  Gibt  es  sonst  in  der 
Welt  Ereignisse,  die  sich  der  Kontrolle  und  der  so- 
zialen Ordnung  entziehen?  Erdbeben  et^a,  Feuers- 
brünste oder  gar  Todesfälle?  Ein  grobes  Versehen, 
wenn  es  dergleichen  gibtl  Man  hätte  es  natürlich 
längst  verbieten  sollen.  Oder  sind  diese  Unberechen- 
barkeiten vielleicht  gar  nicht  so  arg,  als  jene  des 
Glücksspieles?  Mag  der  Zufall  über  Tod  und  Leben 
entscheiden,  sein  keckes  Hineinspielen  in  Geldver- 
hältnisse wird  man  ihm  untersagen  müssen.  Den 
Menschen  selbst  kann  er  nach  Gutdünken  vernich- 
ten, aber  in  seine  Taschen  hat  er  nicht  zu  greifen, 
denn  hier  empört  sich  die  gesunde  Vernunft  geeen 
sein  unsinniges  Walten  und  gebietet  ihm  Halt.  Und 
es  ist  merkwürdig  anzusehen,  wie  man  eifrig  bestrebt 
ist,  die  kleinen  und  kleinsten  Zufälligkeiten  des 
Lebens    in   Mausefallen    einzufangen,    während    die 

Srofie  Bestie  Zufall  die  schlauen  Fallensteller  in  ihrem 
achen  trägt.  Ein  würdeloses  Schauspiel  ist  diese 
hilflose  Furcht  vor  dem  Unbekannten,  dieses  Zappeln 
in  der  Gewalt  des  Stärkeren;  das  Unberechenbare 
beherrscht  das  Leben,  es  ist  hoffnungslos,  ihm  Dämme 
zu  bauen,  die  Flut  ist  stärker.    Und    Spielen  — •  das 

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—   8   — 


heiflt,  sich  dieser  Flut  anvertrauen.  Qewifl  stellt  das 
Hasardspiel  eine  der  wirklich  vornehmen  Handlungoi 
dar,  zu  welchen  sich  die  Menschen  aufzuschwingoi 
vermochten;  eine  vollständige  Hingabe  an  denZunJl, 
ein  ehrliches  Waffenstrecken  vor  dem  Schicksal.  Die 
Karte  nimmt,  die  Karte  schenkt  Geräuschlos,  ohne 
das  Gerassel  des  kommerziellen  Apparates  voUsiefat 
sich  der  Wechsel.  Hier  ist  das  Walten  des  Schicksab 
mit  den  allereinfachsten  Mitteln,  es  ist  die  Reduktion 
des  Lebenskampfes  auf  die  allereinfachste  Form, 
Gewinnen  oder  Verlieren,  der  Rest  von  Mflhsal  und 
Arbeit,  von  Zuwarten  und  langwierigem  Sorgen  ist 
Beiwerk,  und  verschwindet.  Das  Glflcksspiel  ist  ein 
T6te-ä-T6te  mit  dem   Schicksal,   es   ist    der    aufler- 

fewOhnliche  und  direkte  Verkehr  mit  einer  hohen, 
em  Leben  vorgesetzten  Instanz.  Das  Zeitalter  der 
Bureaukratie  wehrt  sich  dagegen,  es  liebt  die  Men- 
schen, die  ihr  Dasein  fahren  wollen,  und  der  Spieler  ist 
ein  Mensch,  der  sich  von  seinem  Dasein  ffihren  Iftflt 
Man  erhebt  Vorwfirfe  gegen  das  Spiel.  Es  sei 
eine  nichtige  Beschäftigung,  ohne  wertvolles  Resultat 
Die  Nichtigkeit  dürfte  das  Spiel  mit  manchen  anderen 
Dingen  gemein  haben,  aber  eine  Tätigkeit,  die  den 
andern  nicht  nachsteht,  ist  es  unbedingt.  Repräsentiert 
es  doch  den  einzigen  bedeutenden  Nervensport,  den 
wir  kennen.  Die  Übung  von  Arm-  und  Beinmuskula- 
tur hat  soviel  begeisterte  Aufmerksamkeit  gefunden, 
da  ist  es  nur  Mangel  an  Konsequens,  den  Sportwert 
des  Spieles  nicht  anzuerkennen.  Es  ist  eine  Art  seeU- 
soher  Freiübungen  im  Ertragen  der  Wechselfälle,  das 
Training  der  Nerven  vor  dem  Zufall. 

Femer  wird  behauptet,  dafi  im  Spiel  nicht  d' 
Würdigkeit  über  das  Erlangen  des  Gewinnes  en^ 
scheidet.  Wenn  dem  so  ist,  so  kann  man  es  nur  \h 
dauern.  Die  KrOnung  des  Verdienstes  ist  sei 
wünschenswert  Aber  solange  die  soziale  Ordnui 
selber  diesen  Wunsch  nicht  berücksichtigt,  solaof 
die  wohlerwogenen  Vorschriften   der  Vernunft  nie 


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zu  diesem  Resultate  ftihren,  ist  es  unbillig,  vom 
Zufall  mehr  zu  verlangen.  Eine  blinde  Absichtlichkeit 
darf  keinen  sehenden  Zufall  fordern.  Es  ist  durchaus 
ungerecht,  der  Karte  jenen  Zahlungsauftrag  fQrmensch- 
liehe  Werte  zuzuweisen,  den  man  selbst  nicht 
honorierte. 

Das  Spiel  sei  ein  gar  zu  müheloser,  ein  allzu- 
leichter Erwerb.  Dafür  ist  es  auch  der  reinlichste 
von  allen.  Keine  Art  des  Qesohäftes  gibt  es  unter 
Menschen,  keinen  Handel,  wo  Vorteil  und  Nachteil 
so  streng  abgewogen,  so  peiixlich  genau  ins  Oleich- 
gewicht gebracht  sind,  wie  beim  Spiel.  Hier  das 
Risiko,  dort  die  Chance.  Nichts  Unbekanntes,  keine 
Möglichkeit  der  Täuschung  gibt  es.  Kein  Vorwurf 
kann  entstehen,  kein  Qefühl  des  Obervorteiltseins  sich 
regen.  Der  Mechanismus  des  Erwerbens  funktioniert 
hüllenlos,  freigelegt  vor  aller  Augen.  Die  bunte  Ver- 
kleidung des  Handels  mit  Waren,  des  Tausches  von 
Werten  ist  abgestreift,  und  in  ihr  allein  kann  sich 
ein  ungerechtfertigtes  Zuviel  für  einen  der  Teile  ver- 
bergen. 

Weiterhin    hätte    das   Spiel  Existenzen   unter- 

S'aben,  Menschen  zu  Grunde  gerichtet.  Das  hat  seine 
ichtigkeit.  Aber  in  dieser  seiner  Wirkung  leistet 
das  Spiel  verhältnismäßig  so  Geringes,  hat  es  so  viele 
überlegene  Konkurrenten,  dafi  es  füglich  aufier  Be- 
tracht bleiben  darf.  Es  sei  daran  erinnert,  wie  das 
Leben  selbst  mit  seinen  Menschen  verfährt,  wie  viel 
Verluste  ihnen  zuzufügen,  sein  Ernst  sich  vorbehält. 
Ein  Unterschied  ist,  dafi  es  beim  Spiele  bis  zur 
letzten  Minute  Erfolge  gibt,  das  Leben  aber  noch 
niemand  mit  Gewinn  verlassen  hat. 

Unsere  Zeit  sieht  mit  erklärter  Feindschaft  auf 
das  Spiel.  Sie  hat  so  vieles  vergeblich  ausgerechnet, 
sie  fährt  noch  unaufhörlich  fort  zu  rechnen  und 
wittert  in  allem  Unberechenbaren  eine  feindliche 
Verhöhnung  ihres  Tuns.  Sie  möchte  gerne  das 
Spiel   assimilieren,   seinen  Geist  in  Rechnungen  er- 


—  10  — 


sticken.  Mit  seinem  eigenen  Sinn  und  Wesen  weifl 
sie  nichts  anzufangen  und  hat  es  in  ihrer  Weise  inter- 
pretiert. Sie  fafit  es  als  Geschäft  auf,  und  ^egen  Ge- 
schäfte mit  gleicher  Chance  hat  sie  ein  tiefgehende 
Miß  rauen.  Daher  die  Verachtung.  Sie  weist  dem  Spiel 
als  blofle  Zerstreuung  eine  dienende  Rolle  unter  den 
Beschäftigungen  an,  sie  wacht  strenge  darüber,  dafi 
Maß  gehalten  wird  in  diesem  Genüsse.  Eine  schOne 
sittliche  Entrüstung  hat  sie  für  die  Spielhölle  übri^, 
der  gegenüber  sie  in  den  Fabriksräumen,  die  sie 
baute,  ihren  Arbeitshimmel  geschaffen  hat.  Sie  ver- 
weigert dem  Rechte  des  Spielers  ihren  Schuts,  sie 
erkennt  die  Spielschuld  vor  dem  Gteseta  nicht  an, 
Sie  begünstigt  offen  den  unzweideutigen  Betrug,  der 
damit  gegeben  ist,  daß  jemand,  der  daran  denkt,  als 
Verlierer  nicht  zu  zahlen,  von  der  Möglichkeit  su 
gewinnen  Nutzen  zieht.  Sie  hat  damit  alles  getan, 
um  das  Spiel  auf  ein  tiefes  Niveau  zu  drücken,  sie 
hat  für  jede  Art  von  Gesindel  eine  Lockung  in  das- 
selbe gelegt.  Und  es  ist  ein  starkes  Zeugnis  für  den 
inneren  Gehalt  des  Spikes,  wenn  es  trotz  solcher 
Maßregeln  immer  wieder  über  die  Zeit  triumphiert 
und  das  bleibt,  was  sie  niemals  war:  vornehm.  Zar 
Arbeit  konnte  man  Tiere  erziehen,  ja  selbst  Menschen 
dressieren.  Nieraals  zum  Spiel;  das  konnte  nur  frei  ge- 
wählt werden.  Mühsam  mußte  man  und  lange  für  jene 
Wahrheit  Anerkennung  erkämpfen,  daß  die  Arbeit 
nicht  schändet,  vergeblich  aber  will  man  stets  ver- 
suchen, die  andere  Wahrheit  zu  unterdrücken,  daß 
das  Spiel  adelt. 

Otto  Soyka. 


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-  11  — 


Glossen,  Notixen,  Aphorismen. 

Der  Liberalismus  hatte  gesprochen: 

»Schon  haben  die  Männer  der  Wissenschaft  Apparate  gebaut, 
die  selbst  in  einer  Entfernung  von  vielen  tausend  Meilen  die  Erdbewe- 
gungen verzeiduen  .  .  .< 

Darauf  habe  ich  geantwortet: 

»Je  gröfier  die  Entfernung,  desto  sicherer  funktionieren  die  Appa- 
rate. Nur  wenn  sie  sich  am  Orte  des  Erdbebens  befinden,  ist  Qefahr 
vorhanden,  daß  sie  kaput  gehen.« 

Das  Erdbeben  hat  das  Wort: 

»In  Reggio  und  Messina  haben  gestern  und  vorgestern  neue 
heftige  Erschfltterungen  stattgefunden,  welche  zwar  keinen  Schaden  ver- 
ursachten, aber  furchtbaren  Schrecken  erregten.  Zwei  Seismologen, 
welche  in  Reggio  Beobachtungen  anstellten,  wurden  von  den  Erschflt- 
terungen zu  Boden  gesdileudert,  ihre  Instrumente  zerbrachen.  Die  Qe- 
lelirten  sind  der  Ansicht .  .  .< 

Die  Ansichten  sind  bis  heute  unbeschjdigt. 


Als  ich  letzthin  der  wohltätigen  Bemühungen  des  Herrn 
Dr.  Charas  gedachte,  der  in  Catania  die  Hungernden  gespeist, 
sich  dann  in  Rotn  aufgehalten  und  in  Wien  die  Blinden  sehend 
gemacht  hat,  ließ  ich  die  Möglichkeit  offen,  daß  die  Angriffe  der 
italienischen  Presse  auf  chauvinistische  und  nicht  auf  kulinarische 
Vorurteile  zturückzufQhren  seien.  Ich  dachte  nämlich,  daß  die  Lei- 
stung der  Wiener  Rettungsgesellschaft  auf  sizilischem  Boden  in  der 
Verteilung  von  Makkaroni  bestanden  hätte.  Nun  wetde  ich  darauf 
aufmerksam  gemacht,  daß  ich  das  Maß  jener  Wohltätigkeit 
unterschätzt  und  somit  auch  den  Tadel  der  italienischen  Presse 
mißverstanden  habe.  Gegen  die  Einfuhr  von  Makkaroni, 
die  ja  als  Nudeln  durchaus  in  das  Ressort  des  goldenen 
Wiener  Herzens  fallen,  hat  man  in  Sizilien  füglich  nichts  einzu- 
wenden gehabt.  Aber  der  Unmut  der  Bevölkerung,  von  dem  die 
italienische  Presse  erzahlt  und  von  dem  Herr  Dr.  Oharas  nichis 
wissen  will,  soll  sich  eben  nicht  gegen  die  Makkaroni,  die  in  der  Tat 
»geradezu  verschlungen«  wurden,  sondern  gegen  ein  wahrhaft 
ffirchterliches  Ansinnen  gekehrt  haben:  gegen  die  Wiener  Bohnen. 
Da  mag  man  den  Unwillen  einer  durch  das  Schicksal  genug 
gereizten    Bevölkerung  begreifen,    und    es    müßte    einen   nicht 


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12 


wundern,  wenn  die  Italiener  in  solcher  Zumutung  einen  fchid* 
liehen  Anschlag  Österreichs  gewittert  hätten.  Denn  es  gehört  schon 
eine  tüchtige  Portion  Größenwahn  aus  der  Wiener  Kficlie  dazu, 
einem  fremdländischen  Magen  jenen  Mehlpapp,  der  hier  Oemnse 
genannt  wird,  anzubieten.  In  der  Stadt  der  Echtheit  wird  natlir- 
lieh  streng  darauf  gesehen,  daß  das  Qemfise  nur  mit  echtem  Mdil 
zubereitet  wird,  und  die  Fremden,  die  etwa  hieherkommen,  fragen 
in  unseren  Restaurants  vergebens  nach  jenem  Orunzeug,  das  in 
der  ganzen  Welt  als  Surrogat  ffir  unser  Mehl  auf  den  Tfacfa 
kommt.  Die  ganze  Welt  versteht  eben  nichts  von  der  Küche,  und 
Wien  ist  in  Wahrheit  der  Einbrennpunkt  der  kulinarischen  Kultur. 
Wer  hierzulande  dennoch  den  Mut  hat,  den  ihm  vorgesetzten 
Kleister  zurückzuweisen,  und  seine  Ansprüche  schließlidi  anf 
»kleine  Ourken«  reduziert,  mag  sich  besorgt  erkundigen,  ob  nkbt 
anch  die  in  der  Geschwindigkeit  >a  wengerl  eing'stäubt«  werden. 
Ich  kann  die  Wut  der  Catanier  begreifen.  Zuerst  das  CrdbebeD, 
und  dann  die  Hilfe !  Wenn  ich  unter  Trümmern  läge  und  Herr 
Oharas  brächte  mir  eingebrannte  Fisolen,  ich  schickte  ihn  damit 
unverzüglich  In  die  Feldküche  zurück.  Manna  in  der  Wöste,  ah 
»Einbrenn«  zubereitet,  ist  eine  Provokation.  Die  Antwort  könnte 
dann  hundertmal  lauten:  »Aber  es  wird  allgemein  gelobt«,  icb 
bliebe  unerbittlich,  und  wenn  der  Papst  mit  den  Köchen  selbst  die 
Mahlzeit  gesegnet  hätte,  ich  würde  ostentativ  verhungern. 


Der  Leser  erliegt  dem  Zauber  des  gedruckten  Wortes»  aber 
er  wird  dieser  Wirkung  nicht  inne.    Sonst  wäre  es  unerkllrlidi, 
daß  er  noch  nicht  auf  die  Idee  verfallen  ist,  ein  Blatt  zu  gründen. 
Der  verbrecherischen  Suggestion,  die  von  der  Privatmeinung  eines 
beliebigen  Dummkopfes  ausgeht,   sobald  sie  in  Druck  gelegt  ist, 
ließe  sich  nur  dadurch  ein  Ende  machen,   daß  alle  Leser  sich  in 
Redakteure  verwandeln.    Dann  würden  sie  sich   das  Staunoi  ab- 
gewöhnen.   Für  ein  paar  Qulden  kann  jeder  Kommis  von  jedei 
Drucker  in  jene  höchste  Macht  eingesetzt  werden,    welche  di 
Gesellschaft  heute  zu  vergeben  hat.  Die  Banken  lassen  es  sich  nid 
nehmen,  Inserate  zu  spenden,  Theater  und  Bahnen  gewähren  Fre 
karten,  Verleger  schicken  Rezensionsexemplare.  Da  in  einer  OroJ 
Stadt  jährlich  nur  fünfzig  Sudler  auf  die  gute  Idee  kommen,   di 


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-  13  — 

Kredit  einer  Buchdruckerei  und  den  Glauben  des  Publikums  in 
Anspruch  zu  nehmen,  so  floriert  das  Geschäft.  Erstünden  fflnf- 
hundert,  so  würden  die  Geln-andschatzten  bald  merken,  daß  der 
täuschende  Schein  ein  Verdienst  des  Setzers  ist.  Vor  allem  merk- 
würdig ist,  daß  so  wenige  Druckereien  selbst  die  Gelegenheit  wahr- 
nehmen, Zeitschriften  herauszugeben.  Die  Lettern,  auf  die  es  aus- 
schließlich ankommt,  sind  da,  und  der  Vorwand,  Freikarten  und 
Annoncen  zu  bekommen,  wäre  in  einer  Stunde  hergestellt.  Geradezu 
grotesk  ist  es,  daß  ein  Buchdrucker,  der  seine  Familie  ins  Theater 
oder  auf  das  Land  schicken  will,  in  jedem  einzelnen  Falle  erst  einen 
befreundeten  Redakteur  in  Anspruch  nehmen  soll,  da  er  doch  viel 
rascher  ein  Blatt  drucken  und  sich  ein  für  allemal  das  Recht  auf 
Benefizfen  sichern  könnte.  Mir  ist  weit  und  breit  nur  eine  einzige 
Zeitschrift  bekannt,  die  solcherart  dem  Haushalt  eines  Druckers 
dient.  Früher  hatte  er  sich  auch  einen  Redakteur  gehalten,  der  so 
lange  im  Wege  stand,  bis  er  zum  Kaiserjubiläum  ausgezeichnet 
wurde.  Aber  um  Waschzettel  und  Vordrucke  zu  übernehmen,  dazu 
braucht  wahrlich  keine  Druckerei  einen  kaiserlichen  Rat.  Und  jetzt 
erst  wird  der  Leser  sehen,  was  eine  Zeitschrift  zu  leisten  imstande 
ist.  Wie  ein  Alpdruck  lastete  die  Individualität  jenes  Mannes  auf 
ihr.  Das  wird  in  einem  Aufruf  an  das  Volk  durch  die  Versicherung 
angedeutet,  das  Blatt  werde  mit  diesem  Jahre  ein  »frischeres  Aus- 
sahen« bekommen.  Und  dann  heißt  es  wörtlich: 

Wir  haben  vor,  die  von  uns  zur  Schlichtung  des  Österreichischen 
Völkerstreites  stets  verfochtene  Idee  der  Autonomie  auch  In  den  redak- 
tionellen Betrieb  einziehen  zu  lassen.  An  SteUe  einer  »Zentralleitung« 
haben  wir  einigen  unserer  bewährten  iVlitarbeiter  die  selbständige 
Leitung  der  Ressorts :  Politik,  Volkswirtschaft,  Schule,  Naturwissenschaft 
und  Philosophie,  Literatur,  Kunst  und  Musik  abertragen  und  hoffen, 
durch  ein  wenn  auch  nur  im  kleinen  gelungenes  Beispiel  die  Richtigkeit 
unser  politischen  Ideen  beweisen  zu  können.  Wir  stehen  vor  groflen 
politischen  Ereignissen  und  Kämpfen,  die  entscheidend  auf  die  Gestaltung 
unseres  Vaterlandes  sein  werden.  Wir  werden  In  diesen  Kämpfen  immc.i' 
offen  und  entschieden  .  .  . 

Merks,  Österreich,  und  kassiere  dir  deine  Steuern  autonomisch 
ein!  Die  Hauptsache  ist,  daß  gedruckt  wird.  Auf  die  Zentralleitung 
wird  gepfiffen. 


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274 


14  — 


*...  Eine  Zeitschrift  aber  verdient  es,  einmal  an  den  Pranger  gesteift 
zu  werden,  da  sie  aus  dem  verhältnismäßig  anständigen  Rahmen  imscrer 
literarischen  periodischen  Veröffentlichungen  ganz  herausfällt,  und  das 
ist  Maximilian  Hardens  ,Zukunft'.  Nehmen  Sie  doch  einmal  ein  Hdt 
dieser  Wochenschrift  in  die  Hand.  Es  ist  so  ungefähr  das  Schlechlesle. 
was  Sie  Oberhaupt  finden  können;  an  Minderwertigkeit  nicht  dnmal  dber- 
troffen  von  den  Indianer-Schmökern  und  Hintertreppen-Romanen. 

Diese  Kritik  betrifft  nicht  etwa  den  Inhalt  der  Zukunft*, 
sondern  bloß  ihre  Ausstattung.  Sie  steht  im  .Graphischen  Centzalblatf . 

Das  Papier  holzig,  die  Typen  abgenutzt,  der  Druck  so  Uederiidi, 
daß  eine  Seite  lichtgrau  und  die  andere  wieder  so  rußig  schwarx  er- 
scheint, daß.  wenn  man  mit  dem  Finger  darüber  hinstrefcbt,  die 
Druckerschwärze  in  Kometenform  Aber  die  Seite  fUegt.  Dann  die  ossai- 
bar  rohe  Weise,  das  Heft  zu  beschneiden,  so  daß  auf  einer  Seite  der 
Text  in  einem  Abstand  von  2  cni  vom  oberen  Rande  einsetzt  und  asf 
der  Gegenseite  eventueU  niir  in  einem  solchen  von  2  mm.  Ja,  bdo 
Inseratenteil  kann  man  es  sogar  häufig  genug  erleben,  daß  gleich  eine 
halbe  Zeile  mit  weggeschnitten  ist! 

Und  nun  meine  Herren,  lassen  Sie  uns  doch  einmal  ein  Ueises 
Rechenexempel  bezflgUch  der  .Zukunft'  ansteUen:  Diese  Zeitschrift  wini 
in  einer  durchschnittlichen  Auflage  von  ungefähr  35.000  ExemitoeB 
gedruckt.  Das  Heft  kostet  50  Pfg.  Wir  nehmen  an,  daß  es  die  Aboa^ 
nenten  billiger  haben  und  rechnen  deshalb  nur  einen  Durchschnittspccis 
von  40  Pfg.  pro  Heft.  Das  würde  einen  Umsatz  von  mehr  als  15.000  J4k 
ergeben.  Von  diesem  Betrage  rechnen  wir  ab  5000  Mk.  fOr  den  Bncb- 
händlerverkehr:  bleiben  10.000  Mk.  Davon  ziehen  wir  weit»  ab 
3000  Mk.  für  die  HersteUung  des  Heftes.  Rest:  7000  Mk.  Von  dies» 
wären  dann  weiterhin  noch  ig  Abzug  zu  bringen  die  Honorare,  äc 
wissen,  Harden  schreibt  seine  ,Zukunft'  zur  Hälfte  selbst;  es  ist  also 
hoch  genug  gegriffen,  wenn  wir  fflr  jedes  Heft  1000  Mk.  ansetzen.  BleflMi 
6000  Mk.  Hiervon  rechnen  wir  dann  noch  einmal  1500  Mk.  herunter  für  an- 
verkaufte  Exemplare;  doch  haben  wir  diese  auf  der  anderen  Seite  wieder 
voU  und  ganz  hinzuzuzählen  für  Inserate  und  Extrabeilagen.  Es  blefticii 
also  in  jedem  Falle  mindestens  6000  Mk.  blanker  Reingewinn  fdr  ein 
Heft;  das  heißt  also  Jährlich  312.000  Mk.  i  Meine  Herren  I  FQr  312.000  Mk 
jährlichen  Reingewinn  kann  man,  wenn  man  ein  Kulturförderer  sein 
wiU,  etwas  mehr  für  die  Buchdruckerkunst  tun;  fflr  die  Kunst,  der  es 
Harden  doch  in  erster  Linie  verdankt,  daß  er  weit  gekannt,  weit  g^ 
rOhmt  und  weit  gefürchtet  ist.  So,  nun  hat  Herr  Harden  das  Wort  W 
sagt  er  doch?  ,Icli  hab's  gewagt,  bin  unverzagt  und  wUl  des  En 
erwarten.'« 

Daß  jetzt  auch  schon  der  Outtenberg  an  der  Ehrlicfala 
des  Hütten  zu  zweifeln  beginnt,  das  könnte  einem  alle  Freude  a 
der  historischen  Bildung  verderben.  Wenn  jener  aber  glaubt,  t 
sei  eine  Lust  zu  leben,    wenn    man   bloß  312.000  Mark  jährlic 


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—  15  — 


verdient,  so  irrt  er.  Die  Geister  Verden   erst  wieder  wach,   wenn 
man  für  das  Vaterland  eine  Konzerttournee  unternimmt   und  für 
jeden  Vortrag  3000  Mark  l>ekommi  Dabei  hat  sich  Herr  Harden 
ursprünglich  die  Entbehrung  auferlegt,  bloß  1500  Mark  zu  verlangen, 
über   die  der  Münchner  Impresario   bei   den   schlechten    Zeiten 
nicht  hinausgehen  konnte.    Erst  als   ein   anderer   Münchner   Im- 
presario von  dem  Plan  erfuhr  und  beherzt  depeschierte:  ich  biete 
3000,  war  er  bereit,  sich  an  das  teurere  Vaterland  anzuschließen 
und    das    deutsche  Volk  zu  erhöhten  Preisen  vor  dem  Kaiser  zu 
warnen.  Aber  auch  das  deutsche  Volk  kommt  dabei  nicht  zu  kurz. 
In  Magdeburig  zum  Beispiel  hat  der  reisende  Patriot  die  vernünf- 
tige Einrichtung  getroffen,  daß  vor  dem  Vortrag  >  ergebenste  Ein- 
ladungen« verschickt  und  jene  Einwohner,  die  eine  solche  an  der 
Abendkassa  vorweisen,  efnes  Rabatts   von   25  Prozent   teilhaftig 
werden.  Eine  Herrn  Harden   feindliche  Zeitung   meint,   er   habe 
sich  vom  ,Simplicis8imus' inspirieren  lassen,  den  er  zwar  nicht  mehr 
ganz  so  gern  sieht  wie  früher,  dessen  Bild   »Komm  mit.  Kleener 
—  ickjebe  Rabattmarken!«  er  aber  unbedingt  gesehen  haben  müsse. 
Mit  Unrecht  erinnert  das  Blatt   an   die    Belagerung  Magdeburgs 
durch  Tilly;   wir   halten    bei    Hütten.   In   einem    Punkte    aber 
hat    jenes    andere    Blatt,    welches    wieder    die    Erfindung    der 
Buchdruckerkunst    auf    Kosten    der    Kultur    überschätzt,    deren 
entschiedenstem     Bahnbrecher     Unrecht    getan.    Es     wäre     ein 
lächerliches   Mißverhältnis,   wenn    Schäbigkeit    der    Ausstattung 
mit  einer   Noblesse    gepaari   wäre,    die    1000    Mark    für  jedes 
Heft    der    ,Zukunft'    an     die    Mitarbeiter    zahlt.     In     welcher 
Welt  lebt  denn  das  »Graphische   Centralblatt',   und  jnit  welchen 
Augen  sieht  es,  daß  es  nur  das  holzige  Papier  wahrnimmt   und 
nicht,  womit  es  bedruckt  ist?  Wenn    die   kostenlosen   Vordrucke 
aus  soeben  erscheinenden   Werken   und  die    Selbstanzeigen   der 
Autoren  noch  Raum  für  einen  Originalbeitrag  lassen,  so  gehört 
die  ganze  Fachverlorenheit  eines   graphischen  Blattes   dazu,   zu 
glauben,  daß  für  ein  Heft  der  ,Zukunft'  mehr  als  hundert  Mark  in 
Honoraren  aufgehen.  Es  gibt  kein  zweites  Beispiel  in  der  Publizistik, 
das  eineso  praktikable  Verbindung  wirtschaftlicher  Zurückhaltung  und 
literarischen  En^egenkommens  vorstellte.  Und  daß  sich  mit  der  Ein- 
richtung der  Selbstanzeigen  auch  noch  andere  Effekte  herausschlagen 
lassen,  hat  Herr  Harden  kürzlich  bewiesen,  als  er  die  Notiz  eines 

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—  16  — 


Mitarbeiters  der  ,FackeI'  brachte,  der  sie  ihm  lange  vor  da 
Sexual-Triumphen  geschickt  hatte.  Allgemein  ist  die  Ansidit  ver- 
breitet, daß  der  Herausgeber  der  ,Zukunff  heute  für  g:ute  Namea 
selbst  Honorar  auszuwerfen  bereit  wäre.  Die  Auflage  —  mag  aadi 
die  Schätzung  jenes  Fachblattes  fibertrieben  sein  —  hat  sich  gcwiB 
nicht  verringert.  Aber  ein  Erlebnis,  das  eine  heroische  Nator  imh 
warf,  ist  die  Erfahrung,  daß  Enthüllungen  aus  dem  Ldien  bodi- 
gestellter  Päderasten  bloß  dem  Geschäft  nfitzen,  aber  nidit  zb- 
gleich  auch  der  Ehre. 


Daß  die  Seele  der  Schauspielerin  ein  Defekt  ihrer  Scfaönfadt 
sei,  diese  Erkenntnis,  die  hier  oft  geformt  wurde,  fliegt  jetzt  der 
deutschen  Theaterkritik  aus  dem  Auslande  zu.  Der  ,Frankfnitv 
Zeitung'  wird  aus  Italien  geschrieben: 

»Frau  Düse  gehört  der  Vergangenheit  ah.  Wenigstens  In  Itaika. 
wo  man  wohl  ihr  ungewöhnliches  Talent  zu  schätzen  wiifite,  aber  skk 
doch  stets  einen  zu  starken  Sinn  für  die  Form,  die  schöne  Form  be- 
wahrt hat,  um  in  dem  Charakteristischen  ä  tont  prix  je  die  Kunst  n 
erblicken.  Die  VorzOge,  die  man  hier  von  jeher  am  höchsten  eioschitrf 
und,  wenn  nicht  alles  täuscht  in  nicht  allzu  langer  2^it  auch  in  Deatsck- 
land  wieder  zu  sehen  lernen  wird,  liegen  in  einer  anderen  Riditmi. 
als  die  ist,  welche  Bleonora  Duses  unerhörte  Kunst  notgedrungen  cäi- 
schlagen  mußte.  Eine  sehr  ernste  Bahnenzeitschrift,  die  Maschen,  btf 
vor  kurzem  eine  Rundfrage  erlassen,  deren  Resultat  jetzt  vorliegt  Em 
Rundfrage  ist  nun  nicht  gerade  eine  einwandfreie  Sache ;  aber  die  Ant- 
worten sind  doch  fflr  den  Kenner  interessant  genug.  Die  Leser  hattes 
darüber  abzustimmen,  welche  Schauspielerin  Italiens  ihrer  JVietnung  ead} 
die  talentvollste,  welche  die  schönste  und  welche  die  eleganteste  sei 
Schon  die  Fragestellung  ist  delikat  genug.  Das  Resultat  aber  beweist 
eine  überraschende  Höhe  des  Geschmacks.  Die  talentvollste  ist  danach 
Teresa  Mariani,  die  große  TragÖdin,  die  in  gewisser  Welse  mit  der  Dbsc 
verwandt,  weniger  intensiv  als  diese,  aber  um  vieles  anmotlger  and 
frauenhafter,  nie  vergißt,  daß  die  Kunst,  daß  jede  Kunst  symbolischo 
Charakters  ist.  Den  Preis  der  Schönheit  trug  Tina  di  Lorenzo  daT 
die  auch  in  Deutschland  Bewunderer  besitzt.  Die  eleganteste  ist  a 
dem  Urteil  der  Leser  der  Maschera  Lida  Borelli.« 

Das  ist  natürlich  Unsinn,  denn  die  talentvollste  ist  im 
auch  die  schönste  und  eleganteste  und  umgekehrt.  Und  so  rieh 
es  ist,  daß  die  Kunst  der  Düse  eine  notgedrungene  Kunst  ist 
unmöglich  ist  es,  daß  unerhörte  Kunst  je  notgedrungen  sein  k 
und  umgekehrt.   Immerhin,  es  mehren  sich  die  Zeichen,  daß 


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der  Seele  aufgeräumt  wird.  Man  ist  irgendwie  unbefriedigt.  Aber 
man  wird  es  bleiben.  Denn  wenn  das  heutige  Leben  den  Frauen 
bloß  eine  Seele  gestattet,  wie  sollte  das  heutige  Theater  ein 
Höheres  bieten? 

Die  empfängliche  Tageskritik,  die  einen  geistigen  Dukaten 
sofort  in  kleine  Münze  umwechselt  und  mit  frischen  Kreuzern  so 
splendid  herumwirft,  daß  man  rein  glaubt,  es  seien  Dukaten, 
geht  jetzt  ernstlich  daran,  vom  Theater  eine  andere  Meinung  zu 
bekommen.  Daß  eine  Schauspielerin,  die  den  Sinnen  nichts  gibt, 
von  der  Seele  beweint  wird,  daß  der  Unsinn  der  Operette  roman- 
tischer Abkunft  sei  und  dem  OeffihI  zuspreche,  wenn  er  dem 
Verstand  widerstrebt,  es  räuspert  sich  und  spuckt  allerorten  nach 
solcherErkenntnis.  Die  Forderung  aber,  daß  der  Schauspieler  wieder 
vom  Theater  Besitz  ergreife  und  daß  man  ihn  mit  allen  literari- 
schen Weisungen  ungeschoren  lasse,  finde  ich  in  einem  deutschen 
Tagesblatt  wie  folgt  vertreten: 

Kann  Schauspielkunst  sich  dämonischer  manifestieren,  als  wenn 
sie  durch  schlechte,  unlebendige  StQcke  wie  ein  Strom  braust,  der  von 
den  Quellen  des  Lebens  kommt,  und  totes  Qesteln  mit  Blüten  segnet? 
Und  können  wir  die  Sehnsucht,  die  uns  ins  Theater  treibt,  in  ihrer 
Wesenheit  deutlicher  erfüllen,  als  wenn  uns  eine  schöpferische  Kraft 
aus  den  engen  Buchstabenzflunen  und  dumpfen  Wortgebüschen  mittel- 
mafiiger  Autoren  plötzlich  hinaushebt  in  reinere,  sonnenhelle  Lande? 
Dann  wissen  wir:  daß  wir  dieses  eine  nur  wünschen  im  letzten,  für 
dies  eine  uns  an  den  Kassen  balgen,  in  unbequemen  Stühlen  klemmen, 
und  unzählbare  Abendstunden  unseres  Lebens  hingeben,  um  dieses 
einzige  Erlebnis  zu  erhaschen,  dieses  llinausgehobenwerden  .  .  .  Und 
darum  ist  es  gleichgiltig,  wie  die  Stücke  heißen,  in  denen  sie  auftritt, 
ob  sie  dumm  sind  oder  erhaben,  oder  beides  zusammen.  Und  wie  wir 
dem  amusischen  Schauspieler  den  Vorwurf  als  größten  entgegen  werfen, 
daß  er  immer  derselbe  ist  in  allen  Rollen,  so  liaben  wir  einer  Persön- 
lichkeit wie  der  ...  .  gegenüber  den  Wunsch,  sie  möge  uns  immer 
als  die  gleiche,  frische,  urtümliche  Natur  erscheinen,  deren  prachtvolle 
Selbstherrlichkeit  wir  nicht  eingeengt  sehen  wollen. 

Das  unterschreibe  ich  ja  alles,  oder  vielmehr,  das  alle^ 
unterschreibt  mich,  aber  welchem  weibh'chen  Oirardi  gilt  die  gute 
Anwendung? 

Diese  Frau  revolutioniert  für  ihre  Person  gewissermaßen  die 
Schulgesetze  der  Schauspielkunst  als  dei  proteischen,  und  schmeißt  das 
dramaturgische  Lehrgebäude  pedantischer  Perücken  mit  einem  Anhauch 
ihres  elementaren  Lachens  über  den  Haufen. 

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18  — 


Welche  künstlerische  Macht  ist  es,  die  so  alles  Urteil  tbei 
den  Haufen  witft,  daß  von  einem  aufnahmsfllhigen  Kritiker  nidits 
übrig  bleibt  als  ein  Schmock? 

. . .  Kann  seid,  dies  war  eine  von  den  Halluzioationen,  wie  sk  die 
Götter  denen  zuweilen  senden,  die  ihre  mechanistische  Weltanscbauno^ 
draußen  in  der  Garderobe  zu  lassen  pflegen  und  gläubigen  Herzens  in 
Parkett  sitzen  wie  im  Vorhof  eines  Mysteriums.  Das  aber  wiU  idi 
gegen  zwanzig  Professoren  der  Philosophie  verteidigen,  daß  ich  ludüicr 
gesehen  habe,  wie  gegen  das  Finale  des  Stßckes  aus  der  Mitte  des 
beglückten  Saales  etwas  wie  ein  Gehäuse  nach  der  Bühne  sich  fatn- 
bewegte  und,  einem  gläsernen  Sturz  nicht  unähnlich,  sich  am  dk 
lächelnde  Frau  schloß.  Und  sie  saß  darin  und  sang  wie  der  V^ogel  im 
Märchen,  der  erlöst  wurde  aus  quälenden  Träumen  .  .  . 

Die  Dame  heißt  Pepi  Glöckner.  Ich  ziehe  alles  zurfick. 

♦ 

In  den  Zeiten  der  lustigen  Witwenpest  war  auch  die  Kinder- 
sterblichkeit groß.  Einige  Wiener  Lehrer  haben  eine  Statistik  des 
Theaterbesuchs  der  Schuljugend  ausgearbeitet.  Die  >  Lustige  Witwe« 
wurde  zwar  nicht  so  oft  besucht,  wie  man  vermuten  sollte,  aber 
auch  ohne  unmittelbare  Berührung  ist  die  ansteckende  Wn-kung 
nachweisbar.  In  der  Statistik  werden  nämlich  einige  Titelverstfira- 
melungen  vermerkt,  die  sich  die  Schüler  geleistet  haben.  Die  tiiB- 
rigste,  deren  Ursprung  die  unkundigen  Lehrer  nicht  ahnen,  ist  das 
Bekenntnis,  die  >ViIja  Hospitalis«  besucht  zu  haben.  So  pdnlidi 
nun  die  Tatsache  berühren  mag,  daß  ein  junges  Qemüt  so  ver- 
leitet wurde,  noch  gräßlicher  ist  die  Vorstellung,  daß  ein 
junges  Oehirn  eine  beliebige  Filia  in  jene  berüchtigte  Vilja  ver- 
wandelt,  die  als  Waldmägdelein  des  Okkupationsgebietes  um 
Erwachsenen  fünf  Jahre  lang  den  Aufenthalt  in  jedem  Naditcafe 
verleidet  hat. 

Es  kann  eine  Bosheit  sein,  wenn  ein  Blatt  dem  Lokil- 
redakteur  eines  andern,  der  nebenbei  auch  Vorträge  über  »Taasenc* 
und  Efne  Nacht«  hält,  das  Lob  nachsagt,  er  sei  »ein  Pfadtindei 
im  Labyrinthe  orientalischer  Märchendichtung«. 

« 
Wenn  es  in  einem    Dampfbad     hocharistokratisch   zugefal 
wendet  die  Presse  eine  eigene  Terminologie  an.    Im  Mfincbna 
Hofbade  haben  sich  ein  paar   Herren  auf  ihre  Weise   vergnügt, 


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—  19  -- 


und  ein  Wiener  ßiatt  sagt,  daß  ihnen  »der  Boden  unter  den 
JFüßen  zu  heiß  wurde«  und  daß  sie  es  deshalb  vorgezogen 
haben,  »den  Staub  Münchens  von  ihren  Schuhen  zu  schütteln«. 
Dampfbad,  heißer  Boden  trotz  Schuhen,  Staub  trotz  Dampf- 
bad ,  .  .  man  sieht,  wie  toll  es  in  der  Heißluftkammer  der 
ioumalistischen  Gehirne  zugeht.  Aber  auch  besseren  Schrift- 
stellern kann  Hitze  zu  Kopf  steigen.  Einer  schreibt  etwa  gegen 
die  »Nacktkultur«:  »Eine  merkwürdige  Zeit,  die  unsrigc.  Sie 
schwitzt  Kultur  aus  allen  Poren,  aber  das  erste  dürftige  Kleidungs- 
stück, das  der  Wilde  anzulegen  pflegt,  wenn  er  zum  Bewußtsein 
seiner  Nacktheit  kommt,  möchte  sie  abschaffen.«  Ja,  wie  denn  auch 
nicht?  Wenn  die  Zeit  schwitzt,  ist  es  doch  natürlich,  daß  sie  die 
Kleidung  ablegt. 


Aus  Miiwaukec  (Wiskonsin,  U.  S.  A.)  wird  mir  eine  Zeit- 
schrift ,Der  Einsame'  geschickt,  die  unter  allen  in  zehn  Jahren 
entstandenen  und  vergangenen  Nachahmungen  der  ,f  ackel'  die  weit- 
aus sympathischeste  vorstellt.  Daß  sie  ganz  so  unpraktisch  ist,  wie 
das  Original,  beweist  sie  dadurch,  daß  sie  selbst  die  zwanglose  folge 
und  das  Erscheinen  in  Doppelnummein  nacliahmt.  Aber  der 
Spiegel  ihres  Inhalts  läßt  mich  nicht  vor  meinem  Gesicht  erschrecken, 
das  mir  durch  die  antikorruptionistische  Fratze  meines  Wirkens 
hierzulande  verleidet  wurde.  Es  ist  offenbar,  daß  das  Vorbild 
keinen  anderen  Anteil  an  dem  Werke  hat,  als  daß  es  dem  Be- 
dürfnis, sich  selbst  zu  regen,  einen  Stützpunkt  gab,  und  es  scheint, 
daß  das  deutsche  Geistesleben  Nordamerikas  für  solches  Bedürfnis 
Platz  hat.  Zwischen  mancherlei  Beweisen  eines  angestrengten 
Wollens  bricht  Unmittelbarkeit,  Frische  und  polemische  Jugendlust 
durch.  Ober  ein  Interview  einer  Dame  mit  Häckel  (welch  eine 
Welt,  in  der  dergleichen  möglich  ist!)  wird  ganz  Zutreffendes  ge- 
sagt Mir  ist  diese  Flachsinnsorgie  entgangen  und  darum  zitiere 
ich  gern  -  mit  kleinen  Abschleif ungen-,  was  die  deutsch-amerika- 
nische Zeitschrift  darüber  sagt.  Einen  Satz,  der  im  Eingang  steht, 
lasse  ich  stehen,  wiewohl  ich  ihn  selbst  in  diesem  Heft  ge- 
schrieben habe.  Ich  habe  ihn  natürlich  früher  geschrieben  als 
gelesen,  und  vielleicht  hatte  ich  ihn  schon  vor  Jahren  geschrieben. 


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-~  20  ~- 


Aber  gerade  dieser  Satz  und  dieses  Zusammenireffen  sind  für  die 
Stilwirkung  der  »Fackel'  bezeichnend: 

In  der  Rätselecke  des  .Berliner  Tageblattes*  wurden   am  12.  De 
zember  des  Vorjahres   die  letzten  Probleme   gelöst.     »Im  HSckd'scfacs 
Hause  in  Jena,    Gespräche    mit  dem  Meister«,    nennt  sich   das  Zwingt- 
sprach,  das  eine   geschäftige  Dame,    Fräulein  Else  Roth  von  Otto,    Bit 
dem  Aufdecker  der  »Sieben  Welträtsel«  gepflogen  hat  und  dessen  Mfit 
extrait  sie  in  fast   vier  Spalten   verspritzt.     Sie  begnflgt    sich   nicht  mi 
der  bescheidenen  Wallfalirt  zu  Häckels  Hause   in    der  Bergstraße,    odi 
Exzellenz    mufl  erscheinen   und  fiber  die  letzten  Dinge    befiied^endcfl 
Aufschluß  geben.    Zwar  konstatiert  Frl.  von  Otto  in  selbstentsagendess 
Tone,  daß  sie  sonst   stiUschweigend   neben  Häckel  einhergeht  und  nsr 
dl«  Saale  murmelt;  aber  heute  sind  die  Rollen  vertauscht:  Elsa  —  ach. 
nie  soUst  du  mich  befragen!    —    murmelt   geheimnisvoll,    Hdckel  aal- 
wortet  und  nur  die  Saale  schweigt,  hurtig  die  Wogen  wegwilzend  .  . 
die  freundlich-geschäftige  Fragerin  aber  nennt  das  gransame  Spid  »de« 
KuUus  des  Wahren,  Outen  und  Schönen«.  Nachdem  der  Qelehrte  höBlcft 
konstatiert  hat,  daß  es  zwar  kein  Paradies  im  Jenseits,  aber  ein  solchrs 
in  Jena  gibt,  geht  sie  sofort  scharf  ins  Zeug  und  fragt  ihn  die  Oewisseas- 
frage,  wie  er  es  mit  der  Religion  halte,  indem  sie  ihn  um  einen  kanm 
Leitfaden  fiber  den  Monismus  als  Band  zwischen  Religion  und  Wissat- 
Schaft  bittet.     Häckel  --  der,    nebenbei  gesagt,    nie  den  Mut  des  kon- 
sequenten Atheismus  gehabt  hat  und  stets  bemflht  war.    neuen  Sprwkl 
in  alte  Schlauche  zu  gießen  —  antwortet,    daß   »bei  folgerichtiger  Auf- 
fassung des  Monismus  tatsächlich  die  beiden  Begriffe    von  Rel^k» 
und  Wissenschaft  zu  einem  verschmelzen.    Schon  Spinoza  und  Ooefhc 
haben  dieser  klugen  Weltanschauung  Ausdruck  gegeben  —  Schliefilich 
wird  sich  niemand  dem  mehr  verschließen  können.«  Aber  Elsa  Roth  fw 
Otto  posiert  den  advocatus  diaboli:  »Sind  Exzellenz  davon  wirklidi  so 
fest  flberzeugt?  Meiner  Ansicht  nach  gehen  wohl  die  meisten  Mensdiea 
deshalb  in  die  Kirche,    weil  sie  es  von  altersher  so  gewohnt  sind,  der 
Bureaukrat  aber  glaubt  an   den  Kirchenregeln  festhalten  zu  mflsseo. 
weil  seine  soziale  Stellung  es  verlangt.«  Mit  elastischer  Nachgiebi^DCl 
vollzieht   der  Oelehrte   den  Sprung   von  den  letzten  Fragen    der  Wio- 
Sophie  zur  ersten  Oesellschaft  Berlins,    gibt  mit  hoher  Befriedigung  ät 
tiefe  Erkenntnis  kund,  daß  die  Dummen  in  der  Mehrzahl  sind  und  die 
Oescheidten   in   der   Minderzahl,    spricht   aber   doch   schliefiUch   seine 
Hochachtung   aus  für  die  heutige  Menschheit,    die  sich  durch  eine  eis- 
heitliche  Weltanschauung  auf  eine  höhere  Stufe  —  der  Erkenntnis,  <*^ 
Wissens?  —  nein,  der  Vollendung  erheben  wird.  Hier  kann  Frl.  x 
Otto  es  sich   nicht  verbeißen,    einzuschalten,    daß  der   eigentliche  Rc 
den  Häckel  auf  seine  Umgebung  ausübt,  darin  besteht,  die  verschiedenst« 
Fragen  geistreich   zu  behandeln,   ohne  langwellig  zu  werden.    Ab 
eine  Dame   fragt   mehr,    als   hundert  Qeistreiche   beantworten    könnr 
>  Glauben  Sie  nicht  auch,  Exzellenz,  daß  Jedes  einzelne  Individuum  i 
seinem  Qemütsleben    der  Religion   anders   gegenftbersteht?«     »Oewit 
sagt  Häckel  ernst;  und  er  setzt  ihr  auseinander,   daß  die  verschieden 


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-^  21  — 


Religionen    >den  Menschen   in  die  Poesie    einer   höheren   idealen  Welt 
versetzen  sollen.«  (In  unserer  Philisterwelt  ist  bekanntlich  alles  zu  einem 
bestimmten  Sollen  da.)  »Aber  der  wirklich  moderne  Mensch  findet  nur 
In  der  freien  Natur    das  wirklich  Gute,   Wahre  und  Schöne.«     Frl.  von 
Otto  nennt  dies  einen  >bcdeutenden  geistigen  Standpunkt«  und  konstatiert 
bedauernd,  daß  nicht  alle  Menschen  auf  demselben  sieben.     > Viele  be- 
dürfen   der  Kirche,    sie  ist   das  Rückgrat,    das  ihnen    einen  Halt  gibt.« 
Darauf  Hflckel:   »Das  verstelle  ich  nicht!'   (Das  bezieht  sich  natürlich  auf 
die  Sache  und  nicht  auf  die  kristallklaren,  fein  zugespitzten  Apercus  der 
scharfen  Dialektikerin.)  Und  er  stellt  fest,  daß  die  Wahrheit  nur  von  der 
Wissenschaft  gelehrt  *  wird,     »Und  wer  Wissenschaft  und  Kunst  besitzt, 
hat  damit  auch  einen  Ersatz  für  den  streng  orthodoxen  Kirchenglauben 
gefunden.«  —  Was  ist  Wahrheit!  sagt  Pilatus,  aber  Frl.  von  Otto  klappt 
bebende  das  Hörrohr   zu  und  das  Sprachrohr  auf;    mit  echt  weiblicher 
Verdrehung  des  Streitgegenstandes    sagt    sie:     »Aber   die    Kirche    will 
doch    keinerlei    wissenschaftliche    Aufklärung  anerkennen<.     Dies    gibt 
Häckel    zu  und   mit   vereinigten  Kräften    wird    in    wenigen  Zeilen   der 
Widerspruch  zwischen  Kants  reiner  und  praktischer  Vernunft  aufgedeckt 
und  nochmals  vernichtet,    sozusagen    mit  zwei  Tritten  ins  Leere;    denn 
Häckel  konstatiert  selbst,    »daß  c*er  offenkundige  Gegensatz  der  beiden 
Vernünfte  schon  Im  Anfange  des  19.  Jahrhunderts  erkannt  und  widerlegt 
wurde.«  Jetzt  aber   wird  es  fürchterlich,    denn  Frl.  von  Otto   ist   nicht 
mehr  zu  halten.   Sie  erzählt,  daß  der  Deutsdie  Monistenbund  eifrig  be> 
müht    ist,    der    neuen    monistischen   Ethik   die   größte   Verbreitung   zu 
sichern ;    fragt,    ob  man  die  christtlichen    und  israelitischen  Sagen  nidil 
als  Dichtungen  leliren  könnte ;  konstatiert,  daß  dies  auch  für  die  Kinder 
vorteilhaft  wäre  und  das  Substanzproblem  noch  nicht  gelöst  ist  —  was 
Häckel  »lachend«  zugibt    —   und  fragt  »gespannt«,    wie   eigentlich  die 
Aktien    des    Vereines    zur    Zertrümmerung     der    alten    Weltanschauung 
stehen  ....  Wer  für  Häckels  Wirken  jenen  Respekt  hat,  den  das  Schaffen 
dieses  auf  naturwissenschaftlichem  Gebiete  Großen  hervorrufen  muß,  der 
hat  es  wohl  schon  schmerzlich  empfunden,  daß  er  in  pseudophilosopiii- 
sehen  Werken    am  Sdileier    der  Maja   herumzupft,    ohne  ihn    auch  nur 
um  Millimeterbreite  zu  lüften.    Aber  wer  es  lesen  muß,  wie  dieser  Ge- 
lehrte in  Interviews    mit   geschäftigen  Damen  ä  la  Suttner    mit  billigen 
Redensarten  herumwirft,    kaum  gut  genug,    um   in  populären  Vorträgen 
vorgebracht  zu  werden;    und  wer   diese  lärocken,   halbverdaut,    wieder- 
findet in  deutschen  Blättern,  die  vom  intelligenteren  Teil  der  Bevölkerung 
gelesen    werden,    der   wird    solchem    billigen  Zeugs    gegenüber   ~  und 
wäre  er  überzeugter  Atheist  -  kaum  die  Meinung  unterdrücken  können : 
Wenn  Gott  nicht  existierte,  man  müßt©  ihn  erfinden! 


In  dem  entzAckenden  Buche  »Lichtenbergs  Mädchen« 
(Verlag  der  ,Süddeutschen  Monatshefte'),  das  die  Korrespondenz 
tnit  Hofrat  Meister  (herausgegeben  von  Erich  Ebstein)    und    das 


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22  — 


Faksimile  eines  Gedichtes  bringt  und  das  gewiß  weniger  Deutsche 
gelesen  haben  als  den  Briefwechsel  von  Moritz  und  Rina,  fiade 
ich  einen  Brief,  dessen  satirische  Meinung  von  stärkstem  Interesse 
für  das  heutige  Wien  sein  müßte.  Sie  trifft  die  schnöden  Umban- 
raeister  unserer  Stadt  und  befaßt  sich  mit  jener  Architektonik  des 
Überflüssigen  ganz  und  gar  in  dem  Sinne,  in  weichem  heste 
Adolf  Loos  dem  heirschenden  Geschmack  die  Indianerfreude  u 
dem  Ornament  nachweist.  Lichtenbergs  Vorliebe  für  den  engb- 
schen  Stil  des  Lebens  verleugnet  sfch  hier  nicht: 

»Ew.  Wohlgeb.  sende  ich  hierbey  die  vorgestreckteB 
Bücher  i::it  gehorsamsten  Dank  wieder  zurück.  HE.  Prof. 
Feder,  der  ein  sehr  vertrauter  Freund  des  Ob(er)  Commiss(2i| 
Maynberg  ist,  soll  gelegentlich  einmal  meine  Meioias 
über  die  Schönheit  eines  Stadtthors  vernehmen,  und  ob 
ich  gleich  mehrere  schöne  Thore  gesehen,  auch  selbst  des 
Bau  zweyer  beygewohnt  habe,  dlt  ebenfalls  mehr  gtgcn  die 
Feinde  der  Licent-Casse  als  des  Vaterlands  angelegt  worden  süid. 
so  wolte  ich  doch  gern  meine  dunckeln,  oder  höchstens  klann 
Ideen  ein  bisgen  aus  Büchern  deutlich  machen,  und  diesen  Zweck 
habe  ich  durch  Ihre  Oütigkeit,  so  viel  als  nöthig  erreichL  Kor 
Schade,  ich  hatte  mich  auf  eine  Rede  geschickt,  die  ich,  wies  zun 
Knoten  kam,  nicht  halten  konnte.  Nemlich  die  Göttingiscfaen 
Thore,  (auf  diese  nemlich  war  es  angesehen),  sollen  keine  Bogec 
und  kein  anderes  Gewölbe  haben,  als  den  blauen  Himmel.  Bq 
solchen  Vorschlägen  weint  freylich  die  arcfaitectonische  Muse  nod 
übertragt  die  Sache  dem  Mauermeister.  Alles,  was  ich  bey  der 
Sache  gethan  habe,  war  zu  verhindern,  daß  keine  Würfel  auf  die 
Spitze  gestellt  wurden,  daß  keine  Ananas  auf  den  ThorpfosieB 
einer  Stadt  blühen  mögten;  wo  die  Cartoffeln  kaum  in  der  Erde 
gerathen.  Auch  den  Artischocken  habe  ich  mich  widersezt  nod 
eben  so  den  Urnen  und  Blumentöpfen,  wo  dagegen  genttbes. 
daß  man  ja  Blumentöpfe  da  haben  wolte,  man  lieber  gelben  Lack 
und  die  Viola  matronalis  in  Natura  hinstellen  mögte,  als  die 
Bildung  derselben  unsern  Künstlern  überlassen,  die  ihren  Stil  aa 
den  Fußbänken  verdorben  und  sich  daher  selten  über  6  Zolle  über  die 
Gosse  erhöben.  Es  werden  also  wohl  der  Stadt  Leu  und  der  Lündwrg- 
ische  Hengst  und  zwar  von  HE.  Nahl  in  Cassel  gearbCdtet)  acb 
einander  Wappen    weisen    und    Gesichter  schneiden,   und  |ed€f 


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28  — 


Pfosten  soll  aus  gekuppelten  Dorischen  Pfeilern  bestehen,  just 
stark  genug,  um  den  blauen  Himmel  zu  tragen.  Ich  hatte  einen 
Plan  im  Kopf,  der  würklich,  recht  wenig  zu  sagen,  von  der  Art 
war,  von  denen  man  zu  sagen  pflegt,  daß  sie  sich  gewaschen 
hätten.  Das  Thor  sollte  einen  Fronton  erhalten,  auf  dessen  schar- 
fer Kante  ich  einen  Olobum  coelestem  und  eine  Punsch  Bowle 
nach  Art  der  Wfirfel  balancieren  wolte,  um  sie  sollte  ein  Krantz 
aus  Coquarden,  Zwieback  und  Rosen  nebst  Citronen  Schaale 
Bändern  geschlungen  seyn  mit  der  Ueberschrift  Omnibus  idem. 
Zwischen  die  Triglyphen  hatte  ich  in  die  Quadrate  Mettwürste, 
ebenfalls  Zwiebäcke  in  Pythagorischen  Triangeln  nebst  Pottkuchen 
gestellt.  In  den  Fronton  nach  dem  Felde  solte  Kulenkamps  Sil- 
houette mit  dem  Matrikulwerk  aufgeschlagen  und  der  deutlichen 
Zahl  999  und  der  Unterschrift  kommt 'her  zu  mir  zu  stehen 
kommen;  nach  der  Stadt  zu  sohen  Stocks  und  Maynbergs  Sil- 
houette gestellt  wtrden  mit  der  Unterschrift  Stocklo  et  Maynbei^gio 
in  Philistaea  Leinana  conss.  Im  Schlußstein  nach  .dem  Feld  hätte 
ich  eine  Fuchsfalle  abgebildet,  auf  dem  andern  aber  gegen  die 
Stadt  einen  Fuchs  im  Taubenhaus,  oder  auch  den  Storch,  wo  er 
den  Fuchs  auf  eine  Flasche  Milch  invitiert,  in  die  er  mit  seinem 
dicken  Maul  nicht  hineinkann,  oder  so  etwas.  Sagen  Sie  selbst, 
liebster  HE.  Professor,  ob  es  nicht  schändlich  ist,  in  diesen  Tagen 
des  dringenden  Genies  solche  Sachen  zu  unterdrücken,  ja  ich 
habe  sogar  gedacht,  ob  man  nicht  selbst  dem  Orönder  und  Ween- 
der  Thor  Flügeln  das  Ansehen  von  einer  Fuchsfalle  hätte  geben 
sollen,  um  einen  zudringlichen  Postwagen  nicht  sowohl  auszu- 
schließen, als  vielmehr  zu  fernerer  Behandlung  einzuklemmen. 
Allein  nun  Schertz  bey  Seite,  und  (den  Dank  zu  Anfang 
allein  ausgenommen)  zur  eigentlichen  Absicht  meines  Briefs « 


Da  in  den  nächsten  Tagen  mein  Aphorismenbuch  er- 
scheinen wird,  dessen  Durcharbeitung  und  Komposition  jene 
Plage  war,  deren  Wohltat  das  Erscheinen  leider  ein  Ende  setzt, 
so  fühle  ich  mich  gedrängt,  den  Freunden  zu  danken,  die  mir 
als  erste,  wertvollste  Leser  und  Hörer  durch  Urteil,  Rat  und  vielfache 


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—  24 


Unterstützung  in  den  Korrekturen  beigestanden  sind:  des  ^  ii 
alphabetischer  Folge  genannten  —  Herren  Karl  Hauer  in  Mflndie% 
Ludwig  R.  V.  Janikowski  und  Otto  Stoessl  in  Wien.  Das  Biid 
»Sprüche  und  Widersprüche«  erscheint  zunächst  außerhalb  der 
Reihe  meiner  Ausgewählten  Schriften,  in  die  ich  es  gemäß  doer 
Vereinbarung  mit  dem  Verleger  erst  nach  fünf  Jahren  anfaehmeB 
kann.  Die  Arbeit  an  dem  Bande  »Kultur  und  Presse«  (L  Tefl),  ök 
ich  lange  aussetzen  mußte,  wird  hoffentlich  in  diesem  Frü^jdr 
beendet  sein. 


Das  älteste  Wort  sei  fremd  in  der  Nähe,  neu- 
geboren und  mache  Zweifel,  ob  es  lebe.  Dann  lebt 
es.  Man  hört  das  Herz  der  Spraohe  klopfen. 


Ein  Paradoxon  entsteht,  wenn  eine  frühreife  Er- 
kenntnis mit  dem  Blödsinn  ihrer  Zeit  ausammenpralÜ 


Ei  sieh,  der  Verwaltungsrat  der  Kretinose- 
Aktiengesellschaft  und  der  Direktor  der  vereinigten 
Banalitätswerke  I 

Er  starb,  von  der  Äskulapsohlange  gebissen. 


Bevor  man  das  Leben  über  sich  ergehen  läfit, 
sollte  man  sich  narkotisieren  lassen. 

Karl  ^ 


Hcnusgeber  and  vennhrortlidier  RedaMeor:  Karl  Krai 
Druck  von  Jahod«  &  Siegel«  Wien.  III.  Hintere  ZblUmtntnC 


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GELANGT  ZUR  AUSGABE! 


RL  KRAV: 
PRVECH 
ND  WIDER 
PRVECH 


Verlag  ALBERT  LANGEN  Münc! 

JRCH  ALLE  BUCHHANDLUNGEN  "zu  BESTELLE 


_    ^ARLGOLSDORF^. 

Karlsbad,  Badacesl  V.  Wte^    '  ^^ 


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Untemohmen  für  Zeivuüj^i»Äü^ 

OBSERVFR, 

versendet  Zdtim^b 


(T7i-_      I      n_..>.Ji>..i>is 


T^  I  TD    TR  ^^  O  1 


BEZU08BED 


sondern     auf     eine     besllmm 

Verlag:  Wien,  ni.,  Hl  t 

Verlag  \ 

VERLAGSOESELLSCHAFT  MÜNCHE 
München»  Franz  JosefstraRe  v 


Inhalt  der  v 

ruar:  Messnia.  Vt 


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SÜBSKRIPTIONS-FTN!  P^ 

Fnde  M^rz  erschr 'nl  hol  der  untcrzeU' 
Iröif  Kunstblättc 

:r  PHömx 


Heine  {\\\\\\C\. 
jintin  So 


Veriagsge 


Icppel-Nnniiiier  (Preis  eo  Hein 

175 — 276.       22.  März  1909  X.. 


lie  Fackel 

Herausgeber : 

ARL  KRAUS 


INHALT: 


le.    Von    Otto    Soyka.    —    Literatur.    Voa 
^1  —    Erotifche   KriBen.     Von    Pa\] 

Flrciiau.   —   Oloiten.  —  Sprüche  und  Wider^ 
ohe.     Von  FCiirl  Kraus.  —   Paicin.   Von   Karl 
rom  Der   Fortschritt.   Von 

Karl  Kraus. 


firacheint  in   zwangloser   Polge.| 


und  gewerbsmäßiges  Verteibea  verbot  i  i^iditltc 
▼crfolgung  voH>eliaJteii. 


WIEN. 


ioi 


GEBEN  ERSCHIENEN: 


ARL  KRA 
SPRVECHEI 
VND  WIDE 
PRVECHEI 


Verlag  ALBtKI    t 


ICH  ÄT^EBI|$Ha45]U.lUr6HH  DQBB  DIREKT  VOtt 


Die  Fackel 

NR.  275-76  22.  MARZ  1909  X.JAHR 


Die  Hnndsgrotte. 

>£in  Ort  verborgen  unter  faulem  Nebel, 
Von  Sümpfen,  die  herquellen  vom  Cocytus, 
Aushaucht  er  lauter  heifie  gift'ge  Dflmpfe. 
Es  kann   Aulumnus   keine  goldnen  Früchte 
Hintragen,  und  der  Frühling  keine  Blumen 
Und  keine  blühnden  Zweige  voll  von  Sängern 
Der  süßen  Liebe,  keine  Nachtigallen. 
Hier  wohnt  das  alte  Chaos  .  .  .< 

Petronius. 

Es  ist  unmöglich,  der  Justiz  Unrecht  bu 
tun.  Aus  dem  flachtigsten  und  entstelltesten  Gerichts- 
saalbericht gewinnt  man  das  richtige  Bild  einer 
Verhandlung.  Es  mag  der  Fall  sein,  dafl  kein  Wort 
80  gesprochen  wurde,  wie  es  der  Bericht  wiedergibt: 
die  Justiz  würde  den  schärfsten  Hafi  schon  darum 
verdienen,  weil  sie  selbst  die  Wahrheit  hinter  die 
Reklame  stellt  und  ihr  der  Respekt  vor  der  Tages- 
presse den  Willen  lähmt,  falsche  Tatsachen  durch 
eine  Berichtigung  aus  der  Welt  zu  schaffen.  Die 
polemische  Betrachtung  aber,  die  sich  mit  den  Ver- 
brechen der  Justiz  befafit,  stützt  sich  mit  Recht  auf 
das  Material  der  Reportage,  nicht  nur  weil  die  Un- 
widersprochenheit für  die  Wahrheit  zeugt,  sondern 
weil  sie  auch  für  eine  Gesinnung  zeugt,  der  noch 
schlimmere  Wahrheit  zuzutrauen  wäre.  Mein  an- 
klägerisches Gewissen  bliebe  ruhig,  wenn  sich  heraus- 
stellte, dafi  das  wahre  Bild  der  Sezualjustiz  sich 
nicht  völlig  mit  jenem  deckt,  das  ich  mir  aus 
den  unwiderlegten  Schändlichkeiten  des  Tages  kom- 
poniert habe.  Ich  wüfite,  dafi  es  noch  häfilicher  ist.  Bei 
diesem  täglichen  Koi  flikt  zwischen  dem  Leben  und 
der  Borniertheit  ist  die  Unfähigkeit  der  Bericht- 
erstattung eher  ein  versöhnendes  Element.  Ob  sie 
will  oder  nicht,  ob  sie  kann  oder  versagt,  eine  Hand- 


—    2 


voll  Unmenschlichkeit   holt   sie  aus   diesem  Inferno 
doch  hervor.  Wer  nur  mit  halbem  Ohr  hinhörty  hört 

S3nug^  und  wer  mit  einem  Stockschnupfen  in  ein 
erichtszimmer  tritt,  kriegt  dennoch  eine  Nase  voO 
jener  Gerüche,  die  ein  lebensfeindlicher  Geist  an  einen 
Ort  gebannt  hat,  damit  in  dieser  pflichtenvollen  Welt 
wenigstens   die  Pflicht  bu  stinken  erfüllt  werde. 

In  der  Nähe  von  Bajä  ist  eine  Grotte,  in 
der  giftige  Gase  aufsteiget.  Zur  Ergötzung  der 
Reisenden  wu^de  dort  gezeigt,  wie  weit  ein  Hund 
hineingeführt  werden  könne,  bis  er  ohnmächtig 
wird;  denn  die  deutschen  Reisenden  sind  wider- 
standsfähig und  opfern  dem  Genufi  einer  Sehens- 
würdigkeit gern  die  Gesundheit  eines  Hundes. 
Die  grausame  italienische  Regierung  aber  entsog  der 
heimischen  Bevölkerung  eine  Einnahmsquelle  und 
verbot  das  Tierexperiment.  Die  Einrichtungen  der 
Staaten  nun  sind  wie  Sehenswürdigkeiten,  die  der 
Neugierde  höherer  Wesen  dienen,  und  diesen  übei^ 
weltlichen  Reisenden  ist  das  Vergnügen  bis  heute 
nicht  geschmälert  worden,  zu  sehen,  wie  weitMenschen 
in  die  Hundsgrotte  der  Justiz  geführt  werden  müssen, 
um  nicht  mehr  atmen  zu  können. 

Sagt  mir  nun  einer,  so  und  so  hätte  sich 
der  Vorgang  nicht  abgespielt,  so  antworte  ich,  dafl 
die  Nachricht  von  einem  Sterbefall  noch  so  über- 
trieben sein  könne,  sie  sei  noch  immer  nicht,  über- 
trieben genug,  solange  sie  vom  Tod  bestätigt 
wird.  Die  Lobredner  unserer  Justiz  haben  eine  fatus 
Ähnlichkeit  mit  jenem  Tröster,  der  auf  die  Klage 
einer  Witwe,  ihr  Seliger  habe  an  einer  schweren 
Lungenentzündung  gelitten,  die  beruhigenden  Worte 
findet,  es  werde  hoffentlich  nicht  so  schlimm  gewesen 
sein.  Was  die  Gerichtssaalberichte  melden,  hat  sich 
möglicherweise  nicht  immer  so  schlimm  zuRetragen, 
aber  anders  und  schlimmer.  Die  Verkürzung,  in  der  dv 
Bericht  ein  Bild  der  Verhandlung  gibt,  ist  sein  Fehler 
und  Vorzug.  Sein  Fehler,  weil  die  Kürze  von  hundert 
Angriffen  gegen  Menschengefühl  und  Takt  kaum  fiinf 


—  8     - 


berücksichtigt  und  an  diesen  möglicherweise  durch 
Unterstreichung  einbringt^  was  sie  an  der  Fülle  ver- 
säumt hat ;  weil  sie  den  perspektirenlosen  Leser  nicht 
allein  m  den  Glauben  versetzt,  dieser  Text  sei  der 
Wortlaut,  sondern  er  sei  der  Inhalt  einer  fünfstündigen 
Verhandlung.  Die  Verkürzung  ist  aber  wieder  ein 
Vorzug,  indem  die  Unperspektive  der  Darstellung 
der  passende  Ausdruck  der  Unperspektive  ist,  in 
der  die  Justiz  das  verhandelte  Stück  Leben  sieht. 
Pur  den  Schall  der  Lebensfremdheit  hat  gerade 
die  Dummheit  das  beste  Ohr,  und  so  unwahr  sie 
sein  mögen,  so  wahrscheinlich  klingen  diese  lächer- 
lichen Bemerkungen,  die  tagtäglich  den  überlegenen 
Verhandlungsleitern,  den  neugierigen  Votanten  und 
den  achselzuckenden  Anklägern  in  den  Mund  gelegt 
werden.  Ich  habe  um  zweifacher  Kontrolle  willen 
vielen  Verhandlungen  beigewohnt;  und  ich  mufi 
bekennen,  daß  mein  allzuscharfes  Gehör  mir  eine  Fülle 
von  Bindrücken  gab,  aber  kein  Bild  sich  entwickeln 
liefi,  und  dafi  ich  dieses  erst  in  den  ungenauen  Be- 
richten fand,  die  ich  am  andern  Tage  zu  Gesicht  bekam. 
Kein  besserer  Abdruck  einer  geistlosen  Willkür 
wäre  herstellbar,  und  er  reicht  fast  an  die  Wahr* 
heit  jenes  Berichtes  heran,  den  ich  im  Voraua 
über  jede  Verhandlung  vor  einem  Sexualsenat 
verfassen  könnte.  Denn  er  gibt  nicht  blofi 
eine  Vorstellung  von  der  Gemütsbeschaffenheit  der 
Menschen,  die  über  Menschen  richten,  von  einem 
Zustand,  der  Zweifel  macht,  ob  diese  Praxis  schlechter 
8ei  oder  diese  Gesetzlichkeit.  Er  stellt  auch 
wieder  das  Gleichgewicht  her  zwischen  einem  gegen- 
wärtigen Jammer  und  der  Aussichtslosierkeit  aller 
Reformen.  Denn  er  vermag  in  zehn  abgerissenen 
Sätzen  eines  Zeugenverhörs  das  Bild  einer  mensch- 
lichen Gesellschaft  zu  zeichnen,  zu  deren  Lumpenhülle 
eine  geflickte  Justiz  ganz  so  gehört,  wie  zu  dieser 
eine  schleifiige  Presse.  Wenn  in  einem  Bericht  von 
zehn  Zeilen  die  gegenseitige  Zufriedenheit,  die  diese 
Institutionen   am    Leben   erhält,   und    weiter  nichts 


—    4    — 

2um  Ausdruck  kommt,  dann  sagt  er  die  Wahrheit. 
Der  Bericht  über  die  Verhandlung  gegen  die 
»Hochstaplerin  Berta  Hannemann«  soll  nicht  zeigen, 
daß  die  Merkmale  des  Betruges  auf  die  Tat  der 
Angeklagten  passen,  sondern  er  soll  zeigen,  daft  die 
Merkmale  des  Betruges  auf  eine  Weltordnung 
passen,  die  ein  schönes  Weib  unter  der  falschen  Vor- 
spiegelung des  Paradieses  durch  die  Syphilis  in  den 
Kerker  lockt. 

Daß   sie  sich  in  der  Notwehr  so  weit  Tergißt^ 
von  der  deutschen  Botschaft  23  Kronen  und  von  einem 
Oberleutnant  30  Kronen  als  Vorschuß  für  eine  Reise 
zu   verlangen,     die  sie   nicht  antritt,     das  bedeutet 
gegea  den  Schwindel,  den  ihr  die  Welt  vorgemacht 
hat,  nichts,  weniger  als  nichts,  aber  immerhin  sechs 
Monate    Kerker.    Sie    war    einst   ein    vielumgeiltes 
Theaterweib  und  zwischen  Petersburg  und  Buenos* 
Ayres  warteten  viele  Botschafter,  Oberleutnants  und 
Staatsanwälte  auf  den  Schluß  der  Vorstellung.    Will 
es   der  Zufall   und  ein   Bankier  steckt  sie  an.    Sie 
verliert  ihre  Stimme,  sie  verliert  ihr  Engagement,  und 
die  Vertreter   der    sittlichen   Ordnung   warten  jetzt 
nur  mehr  auf  das  Ende  ihrer  Schönheit.   Sie  könneo 
es  gar  nicht  erwarten,   und  bald  werden  dieser  auf« 
geregten  Spannung  die  Oerichtssaalreporter  gerecht. 
»Ihr  feingeschnittenes  Profil,  die  funkelnden  schwariAB 
Augen«,  meint  der  eine,  »lassen  trotz  der  Zerstörung, 
die  Ausschweifung  und  Trunksucht  in  ihren  Zügen 
angerichtet,  die  Spuren  einstiger  Schönheit  erkennen«. 
Oh,   frohlockt  ein  anderer,    »in   einem  verwaschenen 
alten  Kattunkleid,  das  Oesicht  verblüht  und  gelb«  steht 
sie  heute  vor  dem  Erkenntnisgericht  Spuren  einstige 
Schönheit?,   beruhigt   der  Vertreter  eines   gewisse 
Lippowitz  jenen  Bankier,  der  den  Grund  zu  ihrer  swe 
ten  Karriere  gelegt  und  ihr  eine  Sinekure  für  ein  sei 
deres  Leben  verschafft  hat :  »die  Angeklagte  ist  heul 
eine  trotz  ihrer  fünfunddreißig  Jahre  schon  sehr  ältlic 
aussehende  Prau«,  »Jugend  und  Schönheit,  mit  denf 
sie  bestach,   sind   dahin«,  triumphiert  der  Vertret 

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—    6 


eines  antikorruptionistischen  Blattes,  >und  es  ist  nicht 
mehr  die  sieghafte  Verve,  mit  der  sie  spielend  leicht 
ihre  Opfer  fände.  Er  würde  sich  am  Ende  getrauen, 
ähnliches  auch  jenem  Bankier  nachzusagen,  wenn 
er  wüfite,  wo  er  wohnt.  Immerhin  ist  es  tröstlich, 
aus  einem  unabhängigen  Blatte  zu  erfahren,  dafi 
»eine  schwere,  jahrealte  Erkrankung  des  Blutes  die 
Elastizität  der  Angeklagten  vernichtet  hatc.  Da  man 
aber  noch  immer  nicht  ganz  sicher  ist  und  auch 
Männer  zu  Falle  kommen  könnten,  die  den  Spuren 
einstiger  Schönheit  errötend  folgen,  so  erklärt  der 
Staatsanwalt  Budinsky,  man  müsse  eine  so  gefährliche 
Person  unschädlich  machen,  und  beantragt  die  Abgabe 
an  eine  Zwansrsarbeitsanstalt.  Der  Gerichtshof  schliefit 
sich  der  Ansicht  der  Reporter  an,  beruhigt  sich  dabei, 
dafi  sie  ohnedies  schon  verwese,  und  läfit  es  beim 
Rade  bewenden  .  • . 

Nichts  vermöchte  das  Verhältnis  der  Justiz  zum 
Leben  besser  auszudrücken,  als  die  Erstarrung  des 
journalistischen  Wortes  zum  Klischee.  Paragraphe  und 
Phrasen  werden  mit  einer  Materie  fertig,  an  der 
Kunst  und  Psychologie  stümpern.  Dm  Handwerk 
schöpft  einen  Ozean  aus,  und  es  bleibt  der  »Sumpf 
der  Grofistadtc.  Irgendwo  haben  Freude  und  Jammer 
2U  laute  Zwiesprache  geführt:  »Wieder  eine  Laster- 
höhle ausgehoben.c  Zwischen  Strafregister  und  Spitz- 
marke fristen  die  Triebe  ihr  Dasein.  »Dann  begann 
sie  ihre  Laufbahn  als  Kurtisane  und  Betrügerin. €  Als 
Vorsatz  glaubt  man  es  nicht  einmal  der  Justiz  oder 
der  Presse,  aber  von  einer  Frau  mufi  es  unbedingt 
gelten.  Denn  sie  rühmte  sich  hoher  Bekanntschaften 
und  »will  sogar  vorübergehend  die  Geliebte  des  serbi- 
schen Kronprinzen  gewesen  seine  Man  denket  Und 
selbst  dem  sozialdemokratischen  Berichterstatter 
kommt  die  Sache  nicht  geheuer  vor,  da  jener 
Kronprinz  »jetzt  mit  anderen  Dingen  beschäftigte 
sei.  Man  spürt  deutlich,  dafi  an  dieser  Stelle  des 
Berichtes  nur  durch  einen  Zufall  die  Paranthese 
»Bewegungc      ausgelassen     wurde.      Denn     nichts 


—    6 


setzt  die  Kostgänger  der  StraQustiz  mehr  in 
Erstaunen,  als  daß  die  geschlechtlichen  Beziehungen 
weiblicher  Angeklagten  in  Sphären  reichen  sollen, 
die  ihrer  Kontrolle  entrückt  sind.  Dafi  die  D^ 
linquentin  »den  im  hiesigen  Landesgericht  in  Unter- 
suchungshaft befindlichen  Pfandscheinschwindl^  B. 
zur  Heirat  zu  bewegen  suchtet,  scheint  allen  plau- 
sibel, aber  ein  aufierehelicher  Verkehr  mit  dem 
serbischen  Kronprinzen  —  darüber  kommt  kein  VotanI 
hinweg.  Man  kann  es  als  ein  wahres  Glück  bezeichnen, 
dafi  nicht  alle  Frauenzimmer,  die  von  den  Obreno- 
vitsch  und  Karageorgevitsch  um  den  Schandlohn  ge- 
prellt wurden,  gezwungen  waren,  die  deutsche  E^t- 
schaft  zu  betrügen,  es  wäre  sonst  des  Staunens  in 
den  Wiener  Gerichtssälen  kein  Ende.  Solch  eine 
Abenteurerin  richtet  genug  Schaden  an,  wenn  sie  in 
die  bürgerliche  Gesel&chaft  einbricht  imd  für  die  fir* 
regung  eines  flüchtigen  Sinnenkitzels  eineVermögens- 
leistung  begehrt.  Noch  schlimmeren  Schaden,  wenn 
sie  nicht  einmal  bietet,  wofür  sie  im  Voraus  Geld 
empfangen  hat.  Bin  Opter  meldet  sich  nach  dem  andern, 
sie  alle  haben  annonciert,  dafi  sie  eine  Maitresse 
brauchen,  die  Angeklagte  hat  Reisevorschufi  be- 
kommen und  sich  damit  begnügt,  aufregende  Briefe 
zu  schreiben.  Die  Angeklagte  sagt  zu  ihrer  Verant- 
wortung, sie  habe  tatsächlich  die  Absicht  gehabt,  die 
Prostitutionsverträge  zu  erfüllen.  Das  Gericht  aber 
weist  ihr  nach,  dafi  sie  auch  dann  sich  eines  Betruges 
schuldig  gemacht  hätte.  Denn  sie  >gab  an,  sie  besitse 
eine  tadellose  Vergangenheit,  ein  sehr  gutes  HerSi 
offenen  und  ehrlichen  Charaktere.  Ist  das  wahr, 
Berta  Hannemann  ?  In  einem  zweiten  Brief  schrieb  de 
wieder,  >sie  besitze  nichts  als  ihre  Jugend  und  Schön- 
heit«. Herzeigen  I  Aber  selbst  wenn  es  wahr  ist,  über 
den  Widerspruch  der  beiden  Behauptungen  kommt 
kein  Votant  hinweg.  Es  kamen  auch  Briefe  aus  der 
Liebeskorrespondenz  der  Angeklagten  zur  Verlesung, 
in  denen  sie  angab,  >dafi  sie  noch  kein  Mann  be- 
rührt  habe«.   Nun,    der   Gerichtshof  nimmt  die  ün- 


—    7 


Wahrheit  dieser  Behauptung  als  notorisch  an.  Man 
kennt  diese  Sorte  von  Schwindlerinnen;  es  ist  die 
weitaus  gefährlichste.  Und  es  ist  jener  Betrug,  den 
die  Männer  am  schwersten  verzeihen,  und  wenn  der 
Staatsanwalt  ihn  auch  nicht  anklagen  kann,  als 
Illustrationsfaktum  tut  er  seine  Schuldigkeit.  Der 
Gesetzgeber  hat  dieses  Schulsbeispiel  einer  listigen 
Vorstellung,  durch  welche  eine  Person  in  Irrtum  ge- 
führt und  dadurch  in  ihren  Rechten  geschädigt  wird, 
nicht  berücksichtigt,  und  der  Gerichtshof  ist  leider 
nicht  einmal  in  der  Lage,  den  Privatbeteiligten  auf 
den  Zivilrechtsweg  zu  verweisen.  Aber  die  Unglück- 
lichen, die  das  Opfer  des  Betruges  geworden  sind, 
spüren  es,  dafi  hier  die  Idealkonkurrenz  zweier  Tat- 
bestände vorliegt:  dafi  eine  keine  Jungfrau  mehr  ist 
(lucrum  cessans)  und  dafi  sie  behauptet  hat,  es  zu 
sein,  und  sich  das  Gegenteil  herausstellt  (daranum 
emergens).    * 

Eine  Angeklagte,  die  mit  solchen  Mitteln  ge- 
arbeitet hat,  die  sich  durch  Trotz  dem  körperlichen 
Verfall  und  durch  List  der  sozialen  Verachtung 
zu  widersetzen  versuchte,  raufi  sich  der  Hoffnung 
begeben,  dafi  ihr  die  irdische  Justiz,  die  in  jeder 
Lage  die  Wahrheit  und  nichts  als  die  Wahrheit  for- 
dert, auch  nur  mildernde  Umstände  zubillige.  Von 
welcher  Verworfenheit  zeugt  es,  einen  annoncieren- 
den reichsunmittelbaren  Fürsten,  schöne  Männer- 
gestalt, der  zehn  Millionen  Mark  zu  besitzen  vorgibt 
und  die  Bekanntschaft  einer  Dame  mit  ebensolchem 
Vermögen  sucht,  derart  hineinzulegen  I  Die  Bertha 
Hannemann  besafi  keinen  Knopf  und  da  der  Fürst 
Bortia  ebensoviel  besafi,  mufite  er  die  Täuschung 
doppelt  schmerzlich  empfinden.  Als  sie  erfuhr,  dafi  er 
mittellos  sei,  war  sie  herzlos  (2:enug,  die  Korrespondenz 
abzubrechen.  Aber  der  Fürst  war  noch  nicht  enttäuscht, 
schrieb  glühende  Liebesbriefe  »in  Verzweiflung,  dafi 
ich  mit  Ihnen  die  Verbindung  verliere«,  und  bat,  ihm 
wenigstens  noch  einmal  zu  schreiben,  »wenn  Sie  mir 
nicht  mehr  wünschen«.  Was  tat  sie?  Sie  nützte  diese 


—   8   — 


Korrespondenz  aus^  um  von  der  deutschen  Botschaft 
zuerst  23  Kronen  imd  als  ihr  diese  verweigert  wurden, 
3  Kronen  zu  erbetteln.    Man    erkundigte    sich  beim 
reichaunmittelbaren  Fürsten.  Dieser,  vonBertha  Uanne- 
mann  zum  Glauben  verführt,  er  besitze  zehn  Millionen 
Mark,   brachte  eben  noch  so  viel  Gteld  auf,   um  zu 
depeschieren,  er  sei  einer    Schwindlerin   zum    Opfer 
gefallen.  >Mir  ist  wirklich  leid,  dafi  die  Geschichte  so 
endete,  hatte   er  ihr  kurz  vorher  geschrieben,   »wir 
hätten  sehr  glücklich  sein  könnenc.  Aber  weil  sie  die 
zehn  Millionen  nicht  hatte,  die  ihm  gerade  fehlten, 
erstattete  er  die  Anzeige  bei  der  Polizei.   Der  Ober- 
leutnant   hätte   dies    wegen    der   80   Kronen    aUexa 
noch  nicht  getan.  Aber  ab  ihm  »die  wirkliche  Photo- 
graphie der  Angeklagten  gezeigt  wurde,   war  er  so 
empört,  dafi  er  sich  dem  Strafverfahren    anachlofic. 
Der  Vorsitzende   verliest  diese   und  ähnliche   Pert* 
Stellungen  etwa  mit  jener  Zufriedenheit  über  eine 
harmonische  Weltordnung,  die  einst  das  Schüpfungs- 
protokoU  mit  dem  Bindruck  besiegelte:  Und  er  sähe, 
dafi  es  Kut  war.  Durch  das  Weib  kam  das  Obel  in  die 
Welt.  Aber  die  Männer  sind  ganz  so,  wie  sie  sein  soUeiL 
Solange  der  Mann  noch  nicht  völlig  vom  Weibe  ent- 
täuscht ist,  schreibt  er  einen  Brief,  der  die  Sätze  enthält: 
>Liebe  Freundin  I . . .  Sie  wechseln  zu  oft  Ihre  Pläne,  und 
kurz  vor  Ihrer  Abreise  bekommen  Sie  ein  prächtiges 
Bukett  vom  ,  Fürsten',  sind  gerührt,  bleiben  in  Wien 
und  ich  blamiere  mich  und  fahre  umsonst  nach  Fiume! 
Nel  Scherz  bei  Seite,  das  ist  nicht  nach  meinem  Ge- 
schmack!  Warum  haben  Sie  sich  denn  die  Haare 
schwarz  gefärbt?  Die  waren  doch  «goldblond'.  Nicht? 
Schädel   Viele  Männer  haben  ein  Faible  lür  blondi 
Haar,  so  auch  ich.  Eigentlich  eine  blöde  Einbildun, 
was?  Im  allgemeinen  sind  aber  die  blonden  Darai> 
doch  viel  sanfter  und  etwas  weniger  launenhaft  wi 
die  schwarzen,  nicht?  In  Ihrem  vorigen  Briefe  sagte 
Sie,  der  ,Fürst'  möchte  Sie  gern  nackt  sehen.  Schal 
schau  I  Gar  kein  übler  Geschmack,  doch  den  Anblio 
gönnen   Sie  lieber  einem  Ihrer  Freunde^nicht?  .  . 

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—   9   — 


Ich  habe  nämlich  in  Wien  einige  Feindinnen^ 
wissen  Sie;  da  dachte  ich  mir  vielleicht,  Sie  haben 
irgend  einen  ^Tratsch'  gehört,  nicht?  Eine  nannte 
mich  ,TigerS  ein  hübsches  Prädikat,  was?  Wahr- 
scheinlich war  ich  ihr  zu  grausam I...  Vielleicht  fahren 
Sie  zuerst  nach  Budapest,  nicht?  Eine  hübsche  Stadt, 
manche  Teile  sogar  schöner  als  Wien !  Und  ein  lusti^ 
ges  Nachtleben;  so  eine  fesche  Zigeunerkapelle,  die 
lasse  ich  mir  gefallen!...  Viel  Qlück.  Herzliche  Orüsse 
und  einen  Abschiedskufi  von  Ihrem  unglücklichen 
Jules.«  Ein  prächtiger  Brief,  was?  Ein  imeressanter 
Mensch,  nicht?  Aber  bald  soll  es  anders  kommen, 
und  der  Tiger  erwacht.  > Madame I<  (Bei  dieser  An- 
rede kann  sich  der  Vorsitzende,  der  ein  Weltmann 
ist,  einer  Kritik  nicht  enthalten.  »Wenn  man  ,]Madame' 
schreibt«,  meint  er,  »ist  es  immer  aus!«  Heiterkeit.  Die 
hoffentlich  auch  nicht  ausblieb,  als  der  Vorsitzende 
das  reumütige  Geständnis  der  Angeklagten,  sie  habe 
nicht  mehr  singen  können,  durch  die  Feststellung 
ergänzte:  >Ihre  Stimme  war  schon  früher  durch  eine 
Krankheit  beeinträchtigt.«)  »Madame!  Soeben  erhalte 
ioh  Ihre  flüchtigen  Zeilen.  Sie  nehiYien  sich  nicht 
einmal  die  Mühe,  mir  einen  ordentlichen  Brief  zu 
schreiben.  Da  bin  ich  ganz  anders  gewöhnt,  ich 
könnte  Ihnen  16  Seiten  lange  Briefe  von  sehr  feinen 
Damen  zeigen,  welche  sich  um  meine  Uunst  bemüh- 
ten! Sie  glauben  mit  einem  Ihrer  schweifwedelnden 
Freunde  aus  Wien  zu  tun  zu  haben.  Bin  kein 
Qigerl,  das  den  Weibern  nachlauft,  wissen  Sie;  icli 
behandle  diese  Rasse  im  Gegenteil  mit  solenner 
Verachtung,  wie  sie  es  verdient.  Ich  brauche  bei 
meiner  Lebensweise  überhaupt  keine  ,Liebe',  und 
wenn  ich  gerade  einmal  eine  ,Liebe'  wollte,  so  habe 
ich  hier  genug  Frauenzimmer,  die  sich  ein  Vergnü- 
gen draus  maohen,  wenn  ich  sie  überhaupt  ansehe! 
Sie  haben  keine  Narhricht!  Hai  Ha!  Sie  hätten 
damals  kommen  sollen,  als  ich  Sie  haben  woUti^; 
jetzt  kann  ich  Sie  nicht  mehr  brauchen  und  will 
überhaupt  nichts  mehr  von  Ihnen  wissen!    Ich  hab' 

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—  10  — 


mich  genug  mit  Ihnen  früher  geärgert  und  pfeiT 
auf  80  ein  hers-  und  gefühlloses  (^schöpf  I  Lesen 
Sie  die  Zeitung,  dort  steht,  daß  vor  ein  Pjblbt  Tagen 
ein  Offizier,  den*  ich  zufällig  kenne,  das  Opfer  einer 
Damenbekanntschaft  wurde,  indem  eine  ,Preuiidin' 
8000  K  aus  seiner  Wohnung  geraubt  hat.  So  ein 
Gewürm  sollte  man  zertreten,  durch  welches  ein 
Ehrenmann  durchs  ganze  Leben  ruiniert  wurde.  Ich  rate 
Ihnen,  sich  ehrliche  Arbeit  zu  suchen  und  mich  nicht 
mehr  zu  belästigen,  sonst  zeige  ich  Sie  noch  d& 
Polizei  an.  Sie  sind  eine  Komödiantin,  nichts  weiter  I 
Hüten  Sie  sich,  sonst  könnte  es  Ihnen  noch  schlecht 
gehen.  Sie  Schwindlerin  I  Mit  verachtungsvollem 
Qrufi  Jules.t  Das  ist  der  Tiger;  aber  er  hat  sie 
doch  erst  angezeigt,  als  er  ihre  Photographie  sah. 
Denn  sie  war  nicht  mehr  schön  genug,  um  hinaus- 
geworfene 30  Kronen  verschmerzen  zu  lassen. 

Ein  Reigen  beschädigter  Männlichkeit  zieht  an 
uns  vorüber,    der  sich  trotz  Spesenverlust  und  be- 
trogener Erwartung  noch  sehen  lassen  kann.   Solche 
Prozesse  gegen  Weiber,    die  sich  die  Haare   färben, 
den  Namen  wechseln  und  das  Alter  nicht  wahrheits^ 
getreu  angeben,    sind   nützlich,    weil  im  Zuge  der 
Enthüllungen  der  wahre  Stand  der  männlichen  Ethik 
bekannt  wird.    Es  ist  ein  untrügliches  Zeichen  einer 
Zeit,  wie  sie  die  Agenden  zwisöhen  den  Geschlechtem 
verteilt  hat :   ob  sich  mehr  Weiber  dem  Strafverfahren 
gegen  einen  Mann  oder  mehr  Männer  dem  Strafver- 
fahren gegen  ein  Weib   anschliefien.    Unsere   bietet 
das    Schauspiel,     wie    ein   Dutzend   Inhaber    eines 
sittlichen  Bewufitseins,  ein  Dutzend  Träger  geistiger 
Verantwortung  und  ein  Staatsanwalt  hinter  einem 
Geschöpf  her  sind,    dessen  ganze  Wehrkraft  geger 
über  dem  Leben  in  der  Fähigkeit  besteht,   sich  st 
rechten  Zeit  die  Röcke  aufzuleben.    Das  Weib  vei 
letzt  durch  Gewährung  die  Ansprüche''  der  Moral  un 
durch  Versagung  die  Ansprüche  der  Unmoral.  Abc 
die  Moral  läßt  mit  sich  reden,  sie  konzessioniert  Preudei 
hausen  sie  erteilt  »Erlaubnisscheine«.  Die  Unmoral  i 


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—  II 


unerbittlichi  ihre  Forderungen  sind  vollstreckbar  und 
aus  jedem  Qerichtszimmer  geht  sie  mit  erhobener 
Stirne.  Was  hätte  unsere  Angeklagte  den  Wartenden 
bieten  können  ?  Vielleicht  hielt  sie  eine  sittliche  Ober- 
legung  davon  zurück^  jenes  gefährliche  Geheimnis 
an  die  Männer  weiterzugeben,  das  ihr  ein  Mann 
bedenkenlos  anvertraut  hatte.  Sie  wollte  sich  ihre 
paar  Gulden  auch  ohne  diese  Leistung  verdienen, 
und  konnte  glauben,  dafi  damit  die  Illusion,  die  zu 
geben  sie  sich  begnügte,  nicht  überzahlt  sei.  Schliefi- 
lich  möchte  man,  solange  die  Männer  ungestraft  die 
Frauen  anstecken  dürfen,  wenigstens  für  ein  Gesetz 
stimmen,  das  es  den  Frauen  erlaubt,  einen  Tribut 
von  den  Männern  einzuheben,  die  durch  sie  vor 
Ansteckung  bewahrt  bleiben.  Solche  Entschädigung 
sollte  rühmlich  sein,  und  weitab  von  der  Möglichkeit, 
unter  die  Strafsanktion  des  Betruges  zu  fallen,  sollte 
jene  Vorspiegelung  liegen,  die  den  Himmel  auf  Erden 
blofi  verspricht,  anstatt  die  Hölle  zu  gewähren.  Es 
ist  eine  erbarmungslose  Zeit,  in  der  der  Verfall  des 
Frauenkörpers  ein  Ziel  sozialer  Wünsche  bildet,  und 
kein  Reporter  vermöchte  an  ihr  Spuren  einstiger 
Schönheit  zu  entdecken.  Aber  die  namenlose  Gemein- 
heit, die  Wonne  und  Weh  des  Geschlechts  zu  einem 
Prozefithema  macht,  sollte  uns  erspart  bleiben.  Die 
Humanität  möge  endlich  zu  den  Menschenopfern 
sehen,  die  der  Gerechtigkeit  gebracht  werden.  Das 
Experiment  der  Hundsgrotte  werde  in  allen  Staaten 
verboten  I 

Karl  Kraus. 


Hittelschule. 

Sehr  viel  liebevolles  Interesse  bringt  die  Gegenwart  der 
geistigen  Minderwertigkeit  entgegen.  Das  öffentliche  Mitleid  ist  bei 
der  Not  der  Dummen  angelangt,  die  moderne  Hilfsbereitschaft 


12  — 


hat  die  Grenzen  des  Verstandes  überschritten;  jene  Achtmig  vor 
dem  Schwachen,  die  sich  in  der  Ära  der  Humanittt  Ansdieo  ver- 
schaffte, macht  längst  vor  den  Geistesschwachen  nicht  mehr  halt 
Und  als  man  zur  Ansicht  kam,  daß  Geistesarmut  nicht  scbaadd, 
hörte  sie  auch  auf,  verschämt  zu  sein.  Sie  fordert  heute  bcrols 
laut  und  herrisch  Unterstützung.  Die  Reform  der  Schule  madii 
sie  zu  ihrer  Sache  und  ruft  nach  der  Erleichterung  Im  StodiBB, 
die  ihr  naturgemäß  das  Erstrebenswerteste  ist  Und  gegtnvMg 
ist  der  Geist  der  Zeit  gerne  bereit,  sich  nach  den  Wfinschen  da 
Geistlosigkeit  der  Zeit  zu  richten. 

Der  Schule  und  ihrem  Leben  gegenüber  ist  ein  Uageodo 
Ton,  voll  Wehleidigkeit  und  Sentimentalität  in  Mode  gekommcB. 
Das  Wort  Schüler  scheint  förmlich  nach  der  ZusammensetEm^ 
mit  Selbstmord  zu  verlangen  und  die  Kandidatur  für  diesen  Selbsi- 
mord  mit  jener  andern,  für  die  Matura  aufs  Innigste  verknapp 
zu  sein.    Der  zartfühlende.  Hebenswürdige  und  ungemein  sjm- 
patische  Schwachkopf  ist  zum  Repräsentanten  unseres  SchuleitunB 
ausersehen  worden.    Seine  geduldige,  erfolglose  Arbeit  wiiti  os 
immer  wieder  zur  Würdigung  entgegengehalten,  auf  Schritt  und 
Tritt  begegnen  wir  in  der  Literatur  seinem  blassen,  übemichtigeii 
Antlitz  mit  dem  stets  leidenden  und  anklagenden  Zug.    WM  es 
nicht  endlich  gelingen,  eine  Miitelschultype  zu  finden,   die  sene 
Gefühle  nicht  verletzt?    Die  Zahl  der  Noten  mußte  um  semel- 
willen  verringert  werden;  ein  Teil  jener  LeistungsuntetBchiede,  die 
stets  zu  seinen  Ungunsten  bestanden,  wird  in  Hinkunft  nidtt 
mehr  zum  Ausdruck  kommen.   Wird  man  ihm  zuliebe  nidit  bald 
ganz    auf    die  Kritik    »Klassifikation«    verzichten?    Solange   sie 
besteht,  sind  »Elternliebe  und  Kunstinteresse«  bd  ihm  vorStiSnuigeD 
nicht  sicher,  denn  hier  ist  stets  die  Quelle  der  viel  mtzaiterei 
Empfindungen  des  Ärgers  und  des  Neides  für  ihn.  Die  Abstufnq; 
der  Noten  ist  ein  Behelf  für  den  Lehrer  und  als  solcher  vieOeickt 
entbehrlich,  was  bedeutet  sie  aber  nicht  alles  für  den  Schülerf  ^-^ 
diesen  unbedeutenden  Verschiedenheiten  fand  der  Ehi^geiz  se 
Halt,  hier  war  Gel^enheit  zum  Wettstreit,  es  durften  Siege 
Niederlagen  gefeiert  werden.  Was  fand  nicht  alles  Raum  zwischen  di 
wenigen  Ziffern!  Wieviel  vom  ernsten  Glück  und  Schmerz  des Ld 
umspannten  sie !   Hier  barg  sich  etwas  von  jenem  schweren  f 
des  Daseins,  der  ein  heißes  Glück  empfindet,  wenn  er  dn  Ki 
loch    mit   einem   roten    Bändchen    schmücken   darf,    von 

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13  — 


Schicksalsernst  des  Beamtenlebens,  in  welchem  das  Avancement 
über  Existenzen  entscheidet.  Darf  und  kann  die  Schule  auf  diese 
Macht  verzichten?  Kann  sie  sich  den  Ehrgeiz  weiterhin  dienstbar 
machen,  wenn  sie  ihm  seine  Ziele,  sein  rotes  B&ndchen  entzieht? 
Das  Opfer,  es  wird  den  Unföhigen  gebracht  und  auf  Kosten  des 
Eifers  des  Fähigen.  Vollständig  hat  man  vergessen,  daß  die  Haupt- 
sorge der  Schule  die  Ausbildung  eben  jenes  Schülers  zu  sein  hat, 
der  ihr  keine  Sorgen  macht.  Ein  Treibhaus  für  kümmerliche 
Oeistespflänzchen,  eine  Wohltätigkeitsanstalt  für  die  Bedürftigen 
an  Verstand  darf  sie  nicht  werden.  Es  gibt  nämlich  auch 
Schüler,  die  das  Lehrziel  mühelos  erreichen. 

Mancherlei  an  der  Schule  bedarf  der  Änderung.  Es  ist 
gewiß  nicht  vorteilhaft,  daß  das  Recht  zu  strafen  neben  der  Pflicht 
zu  unterrichten  in  der  Hand  des  Lehrers  liegt.  Schon  deshalb  nicht, 
weil  die  Fähigkeiten  der  einzelnen  Lehrer  in  der  Ausübung  dieses 
Rechtes  allzu  verschieden  sind.  Der  eine  stolpert  unaufhörlich  über 
seine  Versuche,  Disziplin  zu  halten,  der  andere  ist  ein  Virtuose,  ein 
Zauberkünstler  des  Strafwesens.  Die  Möglichkeiten  von  Klassen- 
buch, Karzer,  Strafarbeit,  er  läßt  sie  nur  so  durcheinanderwirbeln, 
vereinigt  sie  zu  den  schönsten  und  seltensten  Effekten,  gewmnt 
ihnen  nie  geahnte  Reize  ab  und  wird  dadurch  in  seiner  Art,  Schule 
zu  halten,  einseitig,  wie  jeder  Künstler.  Wenn  das  Disziplinarwesen 
an  jeder  Schule  einem  dazu  eigens  bestellten  Pädagogen  unter- 
stfinde, der  es  allein  oder  im  Verein  mit  dem  Direktor  zu 
überwachen  hätte,  wäre  vieles  besser.  Es  würde  vermieden,  daß  der 
Lehrer  langwierige  Strafuntersuchungen  zu  führen  hat,  und  daß  er 
in  eigener  Sache  Richter  ist;  dem  Unterricht  wäre  viel  Zeit  ge- 
wonnen und  seine  Würde  besser  gewahrt  als  jetzt. 

Eine  höchst  überflüssige  Sache  ist  die  Sittennote.  Ist  sie 
ungünstig,  so  bedeutet  das  eine  Unannehmlichkeit,  wie  jede  deut- 
liche Mißbilligung,  die  man  erfährt,  ist  sie  hingegen  gut,  so  ist 
das  geradezu  beschämend.  Ein  taktvoller  I.ehrer  wird  es  gewiß 
gerne  vermeiden,  einen  begabten  Schüler  mit  der  besten  Sitten- 
note bloßzustellen.  Der  einzige  Wert  dieser  Kritik  des  sittlichen 
Betragens  liegt  darin,  daß  ein  Ventil  für  etwa  vorhandene  Gehäs- 
sigkeiten des  Lehrers  geschaffen  wird,  die  sich  hier  weit  harm- 
loser manifestieren,  als  wenn  sie  bei  der  Note  im  Gegenstand 
mitsprächen.  Bloß  der  Name  der  Rubrik  führt  irre;  die 
Schule  maßt  sich  auch    nur  scheinbar  eine  Klassifikation  über 


14  — 


einen   Gegenstand  an,   den  einer  Prüfung  auszusetzen,  Ihr   nidit 
gestattet  ist. 

Gerade  der  Punkt  aber,  in  welchem  nichts  erlassen 
kann,  das  ist  die  Arbeit  des  Schülers,  sind  die  Ansprüche  an  i 
Leistung.  Hier  stellt  die  Zeit  ihre  Forderungen,  und  sie  trdbt  sie 
auch  später  im  praktischen  Leben  ein,  ohne  nach  der  Zahl  der 
Unterrichtsstunden  von  einst  zu  fragen.  Das  ist  ein  gehimloses 
Mitleid,  das  gegen  die  Beschwerden  der  Vorübung  eifert,  die  Aal- 
gäbe  selbst  aber  nicht  erleichtem  kann.  Es  ist  unnötig,  die  Sdiar 
der  Geistesproletarier  von  heute  noch  um  solche  zu  vermehren,  dte 
im  Reich  des  Geistes  den  Rang  von  Proletariern  haben.  An 
welchem  Lehifach  die  Arbeitsfähigkeit  des  Schülers  entwickelt  wird, 
ob  an  alten  oder  neuen  Sprachen,  das  ist  von  geringer  Wichtigkeit; 
notwendig  ist  nur,  daß  sie  geübt  wird,  und  heute:  daß  sie  mdr 
geübt  wird,  als  je.  Die  Entwicklung  will  aber  vor  allem  eine 
ernstere  Lehrzeit,  eine  an  Gefahren  und  Erlebnissen  rdcfaere. 
Diese  wird  deshalb  weit  eher  auch  dne  angenehme  sdn.  Die 
Forderungen,  die  für  das  tränenfeuchte  Schülerideal  der  Gegenwart 
erhoben  werden,  widersprechen  dieser  Notwendigkeit  Der  Lehrer 
kann  nicht  »der  Freund  des  Schülers«  sein ;  schon  deshalb  nicht, 
weil  der  begabtere  Schüler  sich  eine  Freundschaft  nidit  auf- 
zwingen läßt.  Der  Lehrer  kann  nicht  Individualitäten  bcrüd^- 
sichtigen ;  denn  dem  erwähnten  Schüler  gegenüber  geht  das  möglicher- 
weise über  seine  Kräfte,  und  man  könnte  es  diesem  auch  nidit 
verdenken,  wenn  er  sich  energisch  dag^:en  wehren  sollte,  znm 
Überfluß  seine  Individualität  von  ungeschickten  Händen 
betasten  zu  lassen.  Der  Lehrer  möge  der  Vertrder  der  Arbeit 
sein  und  das  allein.  Sein  Gebiet  bleibe  Wissen  und  Verstand.  Man 
braucht  sich  nicht  darum  zu  sorgen,  daß  bei  größerem  Ernst  und 
strengerer  Sachlichkeit  die  Poesie  der  Jugend  zu  kurz  komme. 
Die  läßt  sich  künstlich  nicht  erzeugen,  aber  auch  nicht  verbannen. 
Die  wohnt  zwischen  den  Ereignissen  und  nur  die  Langewdle  tötet 
sie.  Man  verschone  den  guten  Schüler  mit  der  Langewdle  der  1 
Idchterungen. 

Daß  man  von  den  Reformen,  deren  Notwendigkeit  fühlt 
wird,  gerade  die  Entbürdung  zur  Verwirklichung  ausersehen  h 
mutet  seltsam  an.  Die  anderen  Erfordernisse,  die  Separierung  c 
Disziplinarwesens,  das  Aufgeben  der  SittenkontroUe,  die  größi 
Sachlichkeit,  das  sind  Rechte,  die  die  Zdt  geltend  macht;  und 

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—  15  — 

ihrer  Stelle  wird  nun  ein  Qescheirk  gegeben.  Fast  erscheint  es  wie 
eine  Bestechung.  Als  hätte  man  für  den  kleinen  Mann  des  Geistes, 
den  stets  Bedürftigen/  etwas  getan  und  sich  dafür  die  Anhänger- 
schaft und  das  Zuwarten  seiner  Freunde  erkauft. 

Otto  Soyka. 

Literatur. 

In  einer  Zeitungsspalte  fällt  mein  Blick  auf  die  typische 
Bemerkung,  daß  die  »zwei  ersten«  Akte  gefallen  haben,  so  daß 
ich  glauben  muß,  der  Rezensent  sei  gleichzeitig  in  zwei  Theatern 
gewesen  und  er  stelle  nun  fest,  daß  hier  und  dort  der  ernte  Akt 
gefallen  hat.  Das  ist  journalistischer  Sprachgebrauch,  aber  da  eine 
Zeitung  auch  das  Richtige  treffen  kann,  so  fand  ich  schon  in  der 
benachbarten  Spalte  eine  Nachricht  über  die  »nächsten  zwei<  Ver- 
anstaltungen eines  Vereines.  Und  hier  eben  zeigt  sich,  wie  nichtig 
alle  Form  ist,  wenn  der  Inhalt  von  übel.  Denn  mein  split- 
terrichterisches  Wohlgefallen  wurde  sogleich  erledigt  durch  die 
Enthüllung,  daß  die  erste  der  nächsten  zwei  Veranstaltungen  ein 
»Servaes-Abend«  sei.  Um  Himmelswillen,  was  ist  das  ?  fragte  ich. 
Was  haben  die  Leute  mit  uns  vor?  Sepraes- Abend  -  es  kann  nicht 
sein!  Oibts  denn  so  etwas?  Kann  es  so  etwas  geben? 

Aber  es  stand  schwarz  auf  weiß,  ein  Verein,  der  den 
guten  Geschmack  hat,  sich  einen  Verein  für  Kultur  zu 
nennen,  versprach  uns  einen  Servaes-Abend.  Wenn  man  mir  die 
Frage  vorlegte,  was  denn  überhaupt  ein  Verein  sei,  so  würr  ich 
antworten,  ein  Verein  sei  ein  Verein  gegen  die  Kultur.  Dieser  hier 
aber  möchte  mich  durch  die  Angabe  irreführen,  er  sei  ein  Verein 
für  die  Kultur.  Das  gelingt  ihm  nicht,  denn  die  Rechnung  geht 
schließlich  doch  glatt  auf,  indem  ein  Verein  gegen  die  Kultur  für 
die  Kultur  sich  folgerichtig  als  ein  Verein  herausstellt.  Da  ich 
nun  dem  Vereinsleben  durchaus  fem  stehe,  da  die  bloße  Vor- 
stellung, daß  es  einen  Männergesangverein  gibt,  mir  den  Schlaf 
raubt  und  noch  kein  Turnverein  zur  Erhöhung  meines  Lebens- 
mutes beigetragen  hat,  so  kann  ich  darüber  nicht  ui teilen,  ob 
der  Verein,  um  den  es  sich  hier  handelt,  seinen  statutenmäßigen 
Verpflichtungen  betreffs  der  Kultur  gerecht  wird.  Aber  ein  bos- 
haftes Luder,  wie  ich  bin,  habe  ich  natürlich  keine  Anerkennung 
dafür,  daß  sich  in  dieser  Wüste  allgemeiner  Kulturlosigkeit  eine 
Oase  des  Snobtums  gebildet  hat,  daß  sich  endlich  wenigstens  ein 

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paar  opfermutige  Manner  zusammenfinden,  um  die  Kultur  f&r 
eröffnet  zu  erklären,  ~  vielmehr  nähre  ich  meine  teuflische  Lust  an 
dem  Gedanken,  daß  alles  verruinieret  sein  müsse.  Es  ist  in  der 
Tat  schon  nicht  mehr  mit  mir  auszuhalten.    Jetzt  hasse  ich  cfie 
Oasen  in  der  Wüste,  weil  sie  mir  meine  fata  morgana  zastöicn. 
Publikum    in    jeder    form    macht    mir    Verdruß,    ich    meide 
die    Konzertsäle,     und    wenn    sich   in  dnem  solchen   wirküch 
einmal  Leute  drängen,  denen  man  an  der  schwergebeugten   Nee 
ansieht,  daß  sie  den  Hingang  der  Kultur  betrauern,  Männer,  dcreo 
Bart  noch  die  Linse  von  voigestem  trägt,  deren  Qilet    aber   aas 
Sammet  und  Sehnsuchten  >komponiert  ist,  Weiber,  denen  man  das 
Haupt  des  Jochanaan  unter  der  Bedingung  geben  m6dite,  dafi 
sie  nicht  tanzen,  —  dann  bin  Ichs  auch  nicht  zufrieden!  Ja,  ich  hasse 
die  Häßlichkeit  einer  genießenden  Menge^die  nach  dem  Sonnenbrand 
des  Arbeitstages  die  verschossenen  Jalousien  des  Qemfites  öffnet,  um 
Kunstluft  hereinzulassen.  Aber  der  ästhetische  Mißwachs,  der  sich 
an  den  Pforten  der  Kultur  drängt,  treibt  mich  in  die  Flncfat 
Wird  mir  schon  totenübel,  wenn  ich  um  elf  Uhr  abends  durch 
die  Augustinerstraße  gehe  und  die  Nachklänge  einer  Wagneroper 
aus  dem  Wigelaweia  des  Ganges  und  der  Hände  einer  zum  Fraß 
strömenden  Begeisterung  heraushöre,  was  steht  mir  erst  bevor, 
wenn  dereinst  Herr  Richard  Strauß  seine  Versteher  findet?    Maa 
glaubt  gar  nicht,  wie  viel  Häßlichkeit  die  angestrengte  Besdiäfüguog 
mit   der  Schönheit  erzeugt!    Und  ihre  Art  ist  in  allen  Stidteo 
dieselbe.  Überall,  wo  nur  ein  findiger  Impresario  einen  Tempd  der 
Schönheit  errichtet,  tauchen  jetzt  diese  undefinierbaren  Oestaltcn 
auf,  die  man  in  früheren  Zeiten  dann  und  wann  im   Fieber  sah, 
aber  nunmehr  im  Gehege  des  Herrn  Reinhardt,  in  irgendeinem  Caf6 
des  Westens,  in  den  Münchener  Künstlerkneipen   und  in  Wiener 
Kabarets  rudelweise  antreffen  kann.  Plötzlich  steht  ein  Kerl  neben 
dir,   dem  Kravatte  und  Barttracht  zu  einem  seltsamen  Ornament 
verwoben    sind,    das    Motive    aus    Altwien    und    Ninive    ver- 
einigt. Er  sieht  Klänge,   weil   er   sie   nicht   hören  kann,  er  I 
Farben,  weil  er  sie  nicht  sehen  kann,   er  spricht  durch  die  h 
und  riecht  aus  dem  Mund,  seine  S^le  ist  ein  Kammerspiel   i 
man  hat  nur  den  Wunsch/  daß  ihn  so  bald  als  möglich  ein  B 
brauer  totschlage.  Denn  vor  diesem  kann  sich  die  Kunst  retten, 
jenem  nicht!  Das  Aufgebot  verquollener  Scheußlichkeit,  das 
Jahren  hinter  den  programmatischen  Mißverständnissen  her  ist,  nu 


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—  17  — 


ein  Entrinnen  unmöglich.  Was  sich  da  im  Beriiner  Westen  unter 
allen  möglichen  Marken  als  neue  Gemeinschaft  von  Assyriern, 
Oriechen,  Europäern,  Kulturmenschen  oder  Schmarotzern  schlecht- 
wefir  zusammengetan  hat,  dieses  Oewimmet  von  einsamen  Qe- 
meinsamen,  die  nur  Theaterreporter  von  Beruf  und  Baalspriester  aus 
Neigung  sind,  bildet  ein  so  unflätiges  Hindernis  im  Kampf 
gegen  den  Philister,  daß  man  das  Ende  aller  Kunst  und  ein 
Verbot  aller  Freiheit  ersehnt,  um  ein  reines  Terrain  zu  schaffen. 
Lieber  allgemeine  Blindheit  als  die  Herrschaft  eines  Gesindels, 
das  mit  den  Ohren  blinzeln  kann!  Ein  Wiener  Greisler  für 
zehn  Beriiner  Satanisten !  Das  Udelquariett  gegen  einen  Verein 
für  Kultur!  Selbst  wenn  er  uns  einen  Servaes- Abend  bringt. 

Denn  wir  wissen  ja  nicht  einmal,  was  das  ffir  eih 
Abend  ist.  Wir  in  Wien  schätzen  die  Institution  der  Hopfner- 
tage und  der  Riedlnächte,  aber  wir  glauben  nicht,  daß  sich 
die  Servaes-Abende  einbfirgem  werden.  Was  bedeutet  das  un- 
gd>räuchliche  Wort  Servaes?  Ich  erinnere  mich  dunkel,  daß  es 
einst  ein  Merkwort  war,  wenn  man  an  ein  drolliges  Quiproqno 
eines  Kunstkritikers^  der  ,Neuen  Freien  Presse'  erinnern  wollte.  Da 
hatte  einer  in  der  Beschreibung  des  Outtenberg-Denkmals  eine 
Buchdruckerpresse  mit  einem  Fauteuil  verwechselt  oder  umgekehrt, 
—  das  weiß  ich  nicht  genau,  da  ich  das  Denkmal  aus  Antipathie 
gegen  den  dargestellten  Mann  und  weil  es  eine  Prostitutierten- 
gasse  verschandelt,  nie  angesehen  habe.  Aber  ich  weiß 
genau,  daß  der  Kunstkritiker,  der  zu  aufmerksamer  Betrachtung 
verpflichtet  war,  irgend  etwas  verwechselt  hat.  Ein  anderesmal  hat 
er  in  der  Beschreibung  eines  ausgestellten  Bildes  Wüstensand  mit 
Schnee  verwechselt,  was  doch  so  bald  keinem  Kamel  passieren 
dürfte.  Infolgedessen  wurde  der  Mann  nur  mehr  dazu  verwendet, 
Berichte  über  Wohnungseinrichtungen  zu  stilisieren,  die  die  Firmen 
der  Administration  bezahlten  und  in  denen  die  rautctiUa  genau 
bezeichnet  waren.  Da  aber,  wie  erzählt  wird,  eine  Verwechslung 
zwischen  den  Herren  Portois  und  Fix  vorkam,  so  sei  nichts  übrig 
geblieben,  als  dem  Mann  die  Literaturkritik  zu  überantworten. 

Hier  kann  einer  machen,  was  er  will,  niemand  wird  daran 
Anstoß  nehmen.  In  der  Literatur  ist  jede  Verwechslung  von 
Wüstensand  und  Schnee,  von  Fauteuil  und  Presse,  von  Portois 
und  Fix  erUubt.  Hier  kann  ein  Mensch,  der  keine  bla  se 
Ahnung    von    Stil    hat,    über   Werke    der    Sprache    in    einem 


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impertinenten  Ton  aburteilen,  fflr  den  man  ihm  in  jeder  bcsBem 
Gesellschaft  auf  den  Mund  schlüge.  Hier  dünkt  sich  ein 
Reporter,  dem  man  keinen  Oerichtssaalbericht  anvertraute,  einen 
Gott.  Es  soll  vorkommen,  daß  solche  Leute  an  ausviiüfe 
Revuen  Beiträge  schicken  und  wenn  sie  ihnen  abgelehnt  verdoi, 
mit  den  Waffen  ihrer  kritischen  Hausmacht  zu  spielen  beginneiL 
Daß  sie  dann  in  ihrem  eigenen  Gehege  sich  für  alle  Zarüdc- 
Setzungen,  die  ihrer  Talentlosigkeit  widerfahren,  für  alle  Ent- 
täuschungen ihres  Ehrgeizes,  für  alle  Verbitterung  sdudlos  hatten, 
ist  nur  zu  begreiflich.  »Servaes«,  das  ist  die  Chiffre,  die  man 
fiberall  dort  findet,  wo  sich  Mangel  an  Temperament  austoben 
und  Ledernheit  sprudeln  möchte.  Da  erscheint  zum  Beispiel  ein 
Roman,  zu  dessen  Empfehlung  ich  nicht  mehr  sagen  kann,  als  daß 
ich  ihn  ausgelesen  habe:  »Sonjas  letzter  Name«,  eine  Schelmen- 
geschichte  von  Otto  Stoessl.  Aber  die  besten  kritischen  Köpfe  Deutsch 
lands  (S.  Lublinski,  Paul  Ernst  und  andere)  haben  ihn  nicht  nur 
gelesen,  sondern  auch  erhoben.  Stünde  ich  der  epischen  Kunstfom 
nicht  wie  einem  mir  Unfaßbaren  gegenüber,  ich  fühlte  mich  woU 
versucht,  über  die  vielerlei  seltenen  Schönheiten  in  Sprache  nnd 
Gestaltung,  die  ich  mir  dort  angemerkt  habe,  zu  sprechen;  über  emco 
ideenvollen  Humor,  der  sich  meinem  Gefühl  nur  in  den  reflektierenden 
Pausen  entrückt,  in  denen  er  sich  nach  sich  seilet  umsieht;  nod 
über  jene  herzhafte  Entdeckung  romantischer  Gegenden  ia 
einer  konventionellen  Welt,  von  der  dem  kritischen  Flegel  das 
Problem  der  »Unwahrscheinlichkeit«  in  Händen  bleibt  Darüber 
würde  ich  etwas  sagen  und  nicht  verschweigen,  daß  es  ein  Mitart)eiler 
der  ,Fackel'  ist,  dem  ich  solche  Freude  verdanke.  So  aber  ob- 
liegt mir  bloß  die  traurige  Pflicht,  zu  sagen,  daß  die  Mitarbeit 
an  der, Fackel'  einem  Künstler  bei  der  Beschränktheit  gesdudethat 
Es  wäre  ein  beruhigender  Gedanke,  daß  kritischer  Unverstand 
keine  Ranküne  braucht,  um  sich  lästig  zu  machen.  Einem  Antor, 
der  heute  in  Deutschland  geachtet  wird,  kann  es  ohnedies  leicht 
zustoßen,  daß  ihm  in  Wien  ein  Ziegelstein  auf  den  Kopf  fällt;  det 
in  Wien  ärgern  sich  die  Ziegelsteine  darüber,  daß  die  Passantr 
ihren  Weg  gehen.  Ich  bin  der  einzige,  dem  es  nicht  geschehe 
kann,  weil  bekanntlich  der  Dachdecker  den  Auftrag  gegdy 
hat,  mich  mit  stiller  Verachtung  zu  strafen.  At)er  es  könnte  immerii 
möglich  sein,  daß  es  die  Dummheit  auf  jene  abgesehen  hat,  d 
mit  mir  gehen.   Damit  nun  wenigstens  der  nächste  nicht  stolpei 


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mnß  man  solch  einen  Ziegelstein  mit  einem  Fußtritt  aus  dem 
Wege  räumen. 

Und  wieder  habe  ich  an  ihm  das  Zeichen  »Servaes« 
gefunden.  Was  soll  das  bedeuten?  Ich  komme  schließlich 
dahinter,  daß  es  die  Signatur  einer  Qeistlosigkeit  ist,  die  stets 
verneint.  Dafür  kann  sie  im  allgemeinen  nichts.  Daß  sie  aber  im  be- 
sondem  Falle  dieSchöpfungeinesAutors  als>  Anregung«  für  die  Sudler 
feilbietet,  daß  sie  einem  Schriftsteller,  der  jenseits  derfeuilletonistischen 
Qangbarkeit  produziert,  seine  Werte  entwinden  möchte  und  die 
»leichte  Hand«  der  Literaturdiebe  herbeiwinkt,  auf  daß  eine  vorrätige 
Idee  nach  dem  Geschmack  des  Gesindels  zubereitet  werde,  ist  beinahe 
dolos.  Als  ob  man  heutzutage  die  Diebe  rufen  müßte!  Freilich, 
um  diesem  Verleiter  zu  folgen,  dazu  werden  sie  sich  zu  vornehm 
dünken.  Kein  Nachahmer  hat  es  nötig,  sich  von  solchem  Geist 
beraten  zu  lassen,  und  ich  wette  hundert  Schelmenromane  gegen 
einen,  daß  zum  Beispiel  Rudolf  Lothar  es  verschmähen  wird,  eine 
Quelle  zu  benützen,  die  ihm  im  Voraus  nachgewiesen  wurde» 
Immerhin  ist  diese  Art  öffentlicher  Hehlerei  ein  Novum  in  der 
Literaturkritik,  diese  Manier,  am  lichten  Sonntag,  wo  sich  die 
jungen  Literaten  auf  dem  Marktplatz  drängen,  den  Ruf  auszu- 
stoßen: Haltet  den  Bestohlenen!  Solche  Gesinnung  ist  schlimmer 
als  Unverstand,  der  nur  die  äußere  Stofflichkeit  benagt. 
Diesem  kann  man  das  Recht,  lästig  zu  sein,  so  wenig 
absprechen  wie  jedem  andern  Zufall.  Mein  Gott,  es  gibt 
eben  Literaturkritiker,  die  den  Wert  eines  Kunstwerkes  des- 
halb niit  Vorliebe  vom  stofflichen  Gesichtspunkt  beurteilen,  weil 
sie  nach  den  harten  Zeiten  der  Tapezierer-Reklame  endlich 
freie  Hand  haben,  die  Echtheit  von  Stoffen  anzuzweifein. 
Ihre  kunstkritische  Herkunft  verleugnen  sie  auch  In  der 
Literaturkritik  nicht:  sie  prüfen  die  Leinwand,  wenn  sie  über  ein 
Gemälde  urteilen  sollen.  Aber  sie  sind  nicht  einmal  in  diesem 
Punkte  sachverständig. 

Glaubt  man  nach  all  dem,  daß  unsere  Kritik  im  Argen  liegt? 
Dafür  gedeiht  unsere  Produktion.  Denn  unter  dem  Namen 
Servaes  wird  nicht  nur  gerichtet,  sondern  auch  bewiesen,  daß  man 
es  selber  besser  machen  könne.  Nur  so  ist  die  Gründung  von 
Vereinen  für  Kultur  und  die  Institution  der  Servaes-Abende 
zu  erklären,  an  denen  ja  nicht  Inserate,  sondern  Dichtungen  vor- 
gelesen werden  sollen.    Wir  haben  einen  Peter  AJtenberg,  der 

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fünfzig  Jahre  alt  wird,  die  deutsdie  Literaturkntfk  lelsiet  allerorten 
den  Saint,  und  unser  Intelligenzblatt  bringt  Feuilletoits  und 
Romane  eines  schlechtgefärbten  Blaustrumpfs  und  unser  KaHnr- 
verein  veranstaltet  einen  Servaes-Abend.  Nein,  es  will  mir  nidit 
sttmmen,  daß  dieses  wundervolle  Wort  »Abend«,  das  Zeitencnde 
und  Sonnenuntergang,  Feste  und  Weihen  einllutet  und  in  dem 
ein  Hauch  aller  deutschen  Diditung  atmet,  jene  sonderbare  Ver- 
bindung eingehen  konnte.  Ein  schlechtes  Beispiel  mag  einmal  die 
guten  Sitten  des  Wortes  verdorben  haben.  Nun  ja  - 

Eines  Abends  noch  sehr  spöte 

Gingen  Wassermaus  und  Kröte 

Einen  steilen  Berg  hinan. 

Karl  Kraus. 

Brotische  Krisen. 

Es  handelt  sich  um  »Ssanin«.  Und  ich  sehe  nicht  dn,  wmuB 
ich  es  nicht  sagen  soll:  es  ist  dn  schlechtes  Buch,  di^di  da 
schlechtes  Buch, 

Freilich,  es  wurde  konfisziert,  hüben  und  dr&ben.  Nud,  auf 
die  Qdahr  hin,  daß  ich  in  den  Verdacht  komme,  den  Staate- 
anwälten  gefallen  zu  wollen:  ich  lese  prinzipiell  kdne  koii> 
fiszierten  Bücher.  Es  ist  stets  eine  Enttäuschung.  Die  guten  Bfidwr 
bleiben  im  großen  Ganzen  unkonfisziert  Diese  billigste  und 
wirksamste  Reklame,  die  dennoch  nicht  die  geringsten  Oarantka 
bietet,  wird  hoffentlich  die  Bedeutung  jenes  Buches  nidit  nodi 
mehr  aufbauschen,  als  es  schon  durch  die  unzähligen  Kritiken  ge* 
schehen  ist 

Die  moderne  russische  Literatur  macht  so  gute  Anläufe; 
und  da  kommt  solch  ein  ordinäres  Buch  und  diskreditiert  jene; 
die  eben  daran  sind,  uns  vor  Europa  dn  bißchen  zu  rehabilitieren 
und  etwas  von  unserem  Sündenregister  strdchen  zu  beifien.  Es 
ist  dn  ärgerlicher  Zwischenfall. 

Von  bleibendem  Kulturwert  soll  dieses  Buch  sdn;  all 
Kritiker  in  Deutschland  sind  sich  darüber  einig.  Tatsächlich  stm 
es  im  Prospekt,  und  die  Einleitung,  die  diesdben  Qualitäten  b« 
sitzt  wie  der  Prospekt,  bestätigt  dieses  Urteil  Abet*  dn  schleditr 
Buch  kann  kein  Dokument  einer  schlechten  Z^it  sein*;  dn  va 
fehltes  Kunstwerk  nicht  ein  Denkmal  einer  fehlerhaften  Kultu- 
epoche;  dn  im  ethischen  Sinne  (nicht  ifn  »monilischeii«)  stump 

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sinniges  Uteraturprodukf  -  icein  Zeugnis  ablegen.  Zur  Not 
könnte  dies  nocli  beim  Mangel  an  literarisdien  Qualitäten  der 
Fall  sein,  wäre  das  Budi  naiv  -  oder  überlegen. 

Die  Kritilc  hat  femer  einen  noch  größeren  Unsinn  fest- 
gestellt, der  freilich  auch  im  Prospekt  stand :  jener  so  versöhnend 
und  doch  so  sinnlos  proklamierte  erotische  Hexensabbath,  den  die 
russische  kampfesüberdrüssige,  ideenenttäuschte  Jugend  auf  dem 
frischen  Grabe  der  unter  Bombengeknatter  und  »Hände  hochlc- 
Rufen  eingescharrten  Revolution  aufführte,  jener  erotische  Hexen- 
sabbath  sei  durch  Artzybaschews  »Ssanin«  hervorgerufen.  Und  das 
wird  ganz  ernsthaft  wiederholt.  Genau  mit  demselben  Rechte 
könnte  ich  fragen:  Welches  literarische  Werk  hat  es  bewirkt,  daß 
beispielsweise  die  Berliner  Schuljugend,  die  Knaben  mit 
den  sporttendenziösen  Gesichtern  und  die  Mädels  mit  den 
unschuldig-kurzen  Röckchen  und  den  reifen  Waden  hinter  das 
große  Geheimnis  gekommen  sind?  Als  »Ssanin«  erschien,  war  schon 
das  Fest  der  russischen  Jugend  im  vollen  Gange,  man  war  mitten 
drin,  und  man  empfing  jenen  als  willkommenen  Gast  Sorgte  er 
doch  für  die  geistige  Unterhaltung  und  machte  er  doch  als  über- 
l^ener  Erwachsener  verstohlen  gern  mit,  was  höchst  spaßhaft 
und  pikant  war.  Seine  Gedanken  und  seine  Sprache  waren  grob 
genug,  um  bei  dem  lärmenden  Durcheinander  der  erotischen 
tabula  rasa  für  wahr  und  originell  zu  gelten.  Als  man  aber  am 
folgenden  Tage  mit  einem  schwachen,  doch  freudigen  Katzen- 
jammer und  mit  dem  Vorgefühl  vom  Ernst  der  nun  bevor* 
stehenden  Arbeit  und  der  Zukunft  des  Vateriandes  erwachte,  da 
sagte  man  sich  •—  nicht  einmal  ärgerlich,  soweit  war  man  schon 
wieder  weg  — :  der  Ssanin  von  gestern,  das  war  doch  ein  ekelhafter 
Kerl;  ein  Protz,  ein  Parvenü.  Eigentlich  ein  Spießer  und  dann: 
Leute,  die  bei  solchen  Gelegenheiten  sich  hervortun  und  sich 
Gehör  verschaffen,  denen  soll  man  aus  dem  Wege  gehen.  Und 
wenn  man  ihm  dann  nun  begegnete,  tat  man  kühl  und  wollte 
sich  kaum  erinnern. 

Dies  der  wahre  Sachverbalt. 

Es  ist  klar,  daß  der  Held  Ssanin  nicht  als  russischer  Typus 
gelten  darf,  weil  er  absolut  unrussisch  ist.  Dieser  im  bösesten 
Sinne  romanhafte  Held,  der  immer  obenauf  ist,  stets  überlegen, 
stets  recht  behält,  keine  Zweifelsqualen,  keine  Sehnsuchtslähmung 
kennt«  mag  vielleicht  anderswo  als  Repräsentant  starker  Männ- 

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*^  »75-270 


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lichkeit  Geltung  haben;  als  Ausdruck  russischer  Seele  und 
sehen  Geistes  (auch  zu  Zeiten  politisch-sozialer  und  eroHscfaer 
Revolutionen)  darf  er  nie  und  nimmer  sich  einschleicfaciL  Die 
russischen  »Helden«,  die  sind  nicht  fertige  Männer,  die  propft- 
gandieren;  sie  ringen,  geben  sich  Blößen,  madien  sich  läcfaerUdi 
und  ringen.  Sie  haben  einen  Knacks;  nicht  den  Individuafitit»- 
knacks  Ibsenscher  Menschen,  sondern  den  allgemein  *russischcp 
Knacks  derer  von  Dostojewski  bis  auf  Tschechow. 

So  kommt  es  auch,  daß  Ssanin  gerade  das  repräsentiert,  was 
den  mssischen  Hamletnaturen  femli^:  Protzentum  und  Spieß- 
bürgertum. Merkmal  des  Geldes-  oder  des  Geistesparvenu  Ist  ewige 
Furcht:  vielleicht  werden  die  andern  an  seinen  Reichtum  nicht 
glauben  -  wie  er  selber  im  Grunde  seines  Herzens  noch  nidit 
recht  daran  glauben  will  — ;  und  er  reibt  es  einem  Immer  unter 
die  Nase.  Also  Ssanin  mit  seinen  erotisch-anarchistischen  Obei^ 
Zeugungen  und  freiheitlichen  Forderungen. 

Merkmal  des  Spießers:  die  Feigheit,  das  zu  tun,  was  ihn 
im    Innern    imponiert,   verlockend    erscheint;   seine  Qeqienster: 
der  Ruf,  die  Verantwortung,  die  Folgen.  Ssanin  hat  eine  Sdiwester. 
Im  Umkreise  ist  sie  die  Schönste,  die  Klflgste,  die  Stolzeste  - 
die    Begehrenswerteste.    Und    das    ist    sie     auch   dem   »finden« 
Bruder.    Er  zerrt  an  den  als  unantastbar   geltenden    erotischa 
Fäden,  die  sich  so  wundersam  zwischen  Bruder  und  Schwester 
spinnen  und  sich  zu  einem  verhängnisvollen  Strick  verweben,  schoii 
wenn  sie  bloßgelegt  werden  und  man  ihrer  gewahr  wird  ...  Die 
Voraussetzung  des  inneren  Blutzusammenhanges  und  die  unhdni- 
liche  Heimlichkeit  der  sündhaften  Liebe  verleihen  dem  erotischen 
Verhältnis  zwischen  Bruder  und  Schwester  jene  Stärke  und  Tngtk, 
denen  alle  die  verfallen,  welche  diesem  Problem  in  der  Kunst  oder 
im  Leben  nähergetreten  sind.    Ssanin  hat  nun  die  -    ich  glaube^ 
wohltuende  Idee,  all  diese  fatalen  »Irrungen«  der  Instinkte  als  etwas 
einfaches,  natürliches  hinzustellen  und  alle  fatalen  Bedenken  be' 
Seite  zu  schieben.   Ahnlich  wie  Fjodor  SoUogub  in  einer  kidnc 
mißglückten  Komödie  einen  lebenslustigen,   kraftl)ewuBten  Vat 
seine  Tochter  verführen  läßt,  nachdem  er  den  Bräutigam  schwan 
artig  an  die  Luft  gesetzt  hat ;  da  ist  die  Charakteristik,  der  A& 
bau,  die  Intrige  auf  das  Primitivste  reduziert.  Das  Problem :  »Ai 
was,  es  ist  ja  nichts  dabei.«  So  denkt  auch  Ssanin  und  hat  do< 
nicht  die  Courage,  die  Konsequenzen  zu  zidien.  Voller  Neugicrc 

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—  28  - 


und  Oeilhdt  umschleicht  er  seine  Schwester,  er  geht  um  sie  herum 
wie  die  Katze  um  den  Brei.  In  einer  Sommernacht  belauscht  er 
sie,  während  sie  sich  bei  offenem  Fenster  entkleidet  (er  ist  über- 
haupt für  das  Lauschen  mit  den  Augen  und  den  Ohren).  Und 
als  sie  im  Hemde  dasteht  und  er  das  Schauspiel  beendet  sieht, 
ruft  er  sie  an  und  tritt  ans  Fenster;  sie  beugt  sich  zu  ihm  hin- 
über und  er  wird  berauscht  beim  Anblick  ihrer  Reize,  und  stottert 
Worte  mit  heiserer  Stimme.  Die  Schwester  wird  durch  des  Bruders 
Brunst  aufmerksam,  dann  fühlt  sie  sich  abgestoßen  und  zuletzt  wird 
sie  nachdenklich.  Sie  wird  zum  Weibe,  sobald  sie  sich  als  Weib 
angesehen  fühlt.  In  einer  schwachen  Stunde  läßt  sie  sich  vom 
Bruder  an  sich  reißen,  endlos  küssen,  drücken  bis  zur  Besinnungs- 
losigkeit. Es  bedurfte  vielleicht  nur  einer  Arie,  wie  sie  dieser 
räsonierende  Mann  der  Tat  für  alle  Lebenslagen  bereit  hält,  und  die 
Schwester  hätte  sich  ihm  hingegeben.  Aber  der  Maulheld,  der 
die  Liebesfreuden  propagandiert,  ohne  die  Liebe  zu  kennen,  zieht 
nicht  die  Konsequenz  aus  seinen  Lehren  und  aus  seiner  Begierde, 
sondern  sorgt  für  eine  Partie.  Die  Schwester  heiratet,  nachdem  sie 
mit  einem  schneidigen  Leutnant  böse  Erfahrungen  gemacht,  einen 
zwar  ungeliebten,  aber  anständigen  Menschen.  Was  ist  eigentlich 
die  Moral  davon  ?  Mich  dünkt,  daß  dieses  ganze  Getändel  gerade 
dadurch,  daß  sich  der  Bruder  zu  guterletzt  an  die  Schwester 
nicht  heranwagt,  zu  einer  Frivolität  herabsinkt.  -   -   - 

Es  handelt  sich  natürlich  nicht  um  Ssanin.  Ein  Reisender 
in  der  Ideen-Branche  ist  mit  rechter  Krämer-Intimtuerei  und  Un- 
geniertheit in  unser  Haus  gedrungen,  da  die  Tür  gerade  angelehnt 
war,  hat  seine  Musterkarten  gelassen  und  uns  einige  Artikel  auf- 
geschwatzt. Da  wir  uns  endlich  gesammelt,  ihn  an  die  Luft  gesetzt 
und  die  Fenster  geöffnet  haben,  werden  wir  nachdenklich :  Leute 
von  diesem  Schlag  wissen,  was  sie  tun;  sie  haben  einen  feinen 
»Ri^her«.  V7enn  er  sich  hier  mit  solcher  Ungebundenheit  breit 
machte,  so  muß  er  herausgeschnüffelt  haben,  daß  er  hinter  4pr 
angelehnten  Tür  ein  psychologisches  Interregnum  vorfinden  würde. 

Es  gibt  erotische  Krisen.  Ein  jeder  hat  sie  zu  absolvieren.  Die 
erste  Krise,  wenn  die  erste  Vorreife  die  Ahnungen  durchbricht; 
die  andere,  wenn  die  Vollreife  den  ersten  Knacks  verspürt;  eine 
fernere  dann,  wenn  die  Überreife  einen  verknackst  hat.  Eine  jede 
Krise  hat  ihre  Merkmale.  Je  stärker  die  Krise,  je  erschreckender 
die  Merkmale,    desto  reicher  die  Mittel.     Nicht   jeder  ist  ver- 

le 


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—  24  — 

pflichtet  sie  durchzumachen,  geschweige  denn,  sie  bevuBt  dmi^ 
zumachen.  Aber  die  erotisch  und,  im  Zusammenhange  damit, 
sonstwie  Begnadeten  kennen  sie. 

Just  solche  Krisen  hat  auch  die  Menschheit,  hat  auch  eise 
Rasse  durchzumachen.  Und  Rußland  macht  jetzt  ehie  soldie  dor^ 
»Ssanin«  und  der  Wohlgefallen  daran  tn^en  alle  Merkmale  jcaer 
der  ersten  Vorreife.  Aber  Rußland  wird  sich  schon  hcnuishdiai. 
Dieses  Land,  das  manchmal  solche  beängstigende  Sprflnge  za 
machen  beliebt  und  hie  und  da  die  besten  Nationen  zu  überlioieB 
droht,  wird  vielleicht  sehr  bald  eine  weitere  Krise  erreidien ;  md 
man  wird  staunen,  wie  verzwickt  sie  sein  wird.  Westen,  laß  did 
begraben,  zu  solchen  Verzwicktheiten  hast  du  viel  zu  viel  Venyinlt! 
St.  Petersburg.  Paul  Barchmn. 

Glossen. 

Eine  Tatsache,  deren  Erfindung  mehr  för   ihre  Mögiidikeit 
beweist  als  ihre  zufällige  Wahrheit  bewiese,  wurde  Jfingst  in  enier 
Zeitung  gemeldet.  Es  seien  48  Passagiere  des  am  1.  März  von\^en 
abgelassenen  Luxuszuges  Wien-  Nizza   bis  zum  6.   in   Pöntalel 
eingeschneit  gewesen,  ohne  daß  sie  Nachricht  von  ihrem  Verfolei> 
ben  geben  konnten,  da  auch  die  Telegraphenlinien  nach  Norden 
und  Süden  zerstört  waren.  »Erst  Samstag   kam   eine   militärisdie 
Skipatrouille  mit  Zeitungen  an,    in   denen   zur  größten  Verwun- 
derung der  Passagiere   vom  Schicksal   ihres   Zuges   noch    keine 
Meldung  enthalten  war.  Auch  wollte  man  nicht  begreifen,  daß  die 
25  Kilometer  lange  Strecke  binnen  einer  Woche  nicht  ausgeschau- 
felt werden  konnte.«  Zu  solchen  Meldungen  pflegen  die  Redak- 
tionen, die  sie  übernehmen,  zu  bemerken:   »Die  Nachricht  klingt 
ganz  unglaublich.  Ihre  Bestätigung  bleibt  wohl  abzuwarten«.  Am 
nächsten  Tag  erfolgt  das  Dementi* der  Bahndirektion.    Ob  die 
Meldung  trotzdem  unwahr  ist,  ist  gleichgültig.    Das   Seelenleboi 
dsr  Achtundvierzig  ist  in  einem  Satze  so   gut   erfaßt,   daß    man 
unbedingt  an  die  Beobachtung  eines  realen  Vorfalles  glauben  mi 
So  und  nicht  anders  würden   sie   sich   geberden,   wenn  sie  c 
Teufelei  der  Natur  auf  einem  Schienenstrang  aus  dem  Verkefc 
leben  ausgeschaltet  hätte.  Sechs  Tage  schon  von   der  Welt  abi 
schnitten,  die  Vorräte  des  Speisewagens  sind  zu  Ende,  weit  und  bi 
keine  Rettung.  Da,  endlich,  naht  eine  militärische  Skipatrouillc.  ü 
bringt  sie?  Zeitungen!  Mit  gierigen  Händen  langen  dieAchtm 

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—  26  — 


vierzig  dantch.  Aber  als  ob  die  Rettangsgesellscfaaft  den  hungern- 
den Opfern  eines  Erdbebens  Maccaroni  aus  Papiermache  böte, 
—  die  Zeitungen  enthalten  nichts  aber  die  Katastrophe  1  Man 
sucht  seinen  Namen  und  findet  ihn  nicht.  Und  daffir  liegt  man 
sechs  Tage  auf  der  Strecke!  Wozu  die  ganze  Schneeverwehung? 
Wenn  man  schon  von  der  Außenwelt  abgeschnitten  ist,  so  soll 
sie  es  doch  wenigstens  erfahren !  Die  Achtundvierzig  werden  an 
der  journalistischen  Vorsehung  irre ;  sie  sterben  ohne  Trost.  Haben 
diese  Helden  in  keinem  Augenblick  an  ihre  leibliche  Rettung 
gedacht?  Nur  mit  jener  Wehmut,  die  nach  tieferer  Enttäuschung 
kaum  ein  Achselzucken  für  die  Dinge  des  Lebens  hat.  Die  ,Neue 
Freie  Presse'  bnngt  nichts.  Was  kann  da  noch  Schlimmeres  kommen  ? 
Nun  ja,  »auch  wollte  man   nicht  begreifen«,    daß   die   Strecke 

nach  einer  Woche  noch  nicht  ausgeschaufelt  war. 

• 
Ein  Leser  der  Wiener  Tagespresse  wollte  eine  Vorstellung 
des  »Tass0€  besuchen.  Um  sich  aber  schon  vorher  ein  Urteil  zu 
bilden,  hat  er  sämtliche  Kritiken  gelesen.  Nun  flüchtet  er  zu  mir, 
will  durchaus  Antwort  auf  die  Frage  des  Pilatus  und  unterbreitet 
mir  die  folgende  Zusammenstellung: 

,'Neues  Wiener  TagbUtt'. 
»Herr   Qerasch  hat  gestern  sehr 
gefallen«. 

,Zeif. 
>Er  sieht  sehr  gut  aus«. 

.Neues  Wiener  Tagblatt'. 
»Er  gibt  ihn  warm  im  Ton«. 
,Neues  Wiener  Tagblatt'. 
»Er  gibt   ihn    (Tasso)  mit  edier 
Verzichtleistung    auf    alles    schau- 
spielerische Zuviel«. 

.Deutsches  Volksblatt'. 
»Sein  wunderbares  Organ«. 
.Österr.  Vollcszeitung*. 
»Der   vierte    Akt  gelingt  Herrn 
Gerasch  nicht«. 

.Deutsches  Volksblatt'. 
»Die  Rolle,   die  Herr  Kainz  mit 
seinen    Mätzchen    und    seiner  Un- 
natur verdarb«. 

.Österr.   Volkszeitung'. 
»Frau  Hohenfels  und  Herr  Hart- 
mann  waren    Olympier,    die    sich 
bei  Sterblichen  zu^aste  luden«. 

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.Freradenblatt*. 

»Herr  Oerasch  ist  kein  Tasso  für 
Wien«. 

.Neues  Wiener  Journal', 

»Uninteressant  in  der  Äußeren 
Erscheinung«. 

.Premdenblatt'. 

»Herr  Gerasch  ist  nicht  warm«. 

.Neues  Wiener  Journal'. 

»Er  fiberlud  sie  (die  Rolle)  mit 
aUem  Gepränge  komödiantischer 
AuBerlichkeiten«. 

.Fremdenblatt'. 

»Sein   kaltes  geUendes  Organ«. 
.Extrablatt'. 

»Die  Steigerung  im  vierten  Akte 
gelang  überraschend«. 

.Neues  Wiener  Tagblatt'. 

»Nicht  so  hinreißend  und  phos- 
phoreszierend wie  Herr  Kainz«. 


.Arbeiterzeitung*. 
»Die     ewige     Ariensucht 
Hohenfels«* 


der 


-  26  - 

Eine  schöne  Bescberang !  Ich  habe  dazu  nur  zu 
daß  ich  Meinungsverschiedenheii  bei  gleichem  Mangel   an  loditi- 
dualität  in  der  Tat  empörend  finde. 


Sprüche  und  Wldersprflche.*) 

Der  Mann  hat  den  Wildstrom  weiblicher  Snn- 
lichkeit  kanalisiert.  Nun  überschwemmt  er  nicht  mehr 
das  Land.  Aber  er  befruchtet  es  auch  nicht  mehr. 

• 

Wenn  die  Natur  vor  Verfolgung  sicher  sehi 
will;  rettet  sie  sich  in  die  Schweinerei. 

Im  Orient  haben  die  Frauen  gröfiere  Freiheit 
Sie  dürfen  geliebt  werden. 

• 
Es  gibt  einen  dunklen  Weltteili  der  Entdecker 
aussendet.  # 

Es  ist  gauE  ausgeschlossen^  dafi,  wie  die  Dinge 
heute  liegen^  ein  wiederkehrender  Qoethe  nicht  wegen 
unerlaubter  Reversion  ausgewiesen  würde. 

• 

Auf  einem  Kostümfest  hofft  jeder  der  Auffal* 
lendste  eu  sein;  aber  es  fällt  nur  der  auf,  der  nicht 
kostümiert  ist.  Sollte  das  nichteinen  Vergleich  g^ben? 

• 
Die  Persönlichkeit  hat  ein  Recht  eu  irren.   Der 
Philister  kann  irrtümlich  recht  haben. 

• 
Bei  gleicher  Geistlosigkeit  kommt  es   auf  den 
Unterschied  der  Körperfülle  an.  Ein  Dummkopf  sollt 

nicht  zu  viel  Raum  einnehmen. 

♦  * 

An  dem  -deutschen  Kaffee    habe  ich  eine  übei 

trieben e  Nachgiebigkeit  gegenüber  der  Milch  beot 

*)  Diese  Aphorismen,  zuerst  im  »Simplicissimus'  erschienen,  sli 
in  verschiedenen  Abteilungen  des  Buches  >Sprache  und  Widf 
Sprüche«  (Verlag  Albert  Langen,  München)  enthalten. 

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—  27  — 

achtet.  Er  erbleicht,  wenn  sie  nur  in  seine  Nähe 
kommt.  Das  könnte  auch  ein  Bild  von  der  Beziehung 
der  Qeschlechter  in  diesem  Lande  sein. 

• 

Der  Friseur  ersählt  Neuigkeiten,  v  enn  er  bloß 
frisieren  soll.  Der  Journalist  ist  fccistreich,  wenn  er 
blofi  Neuigkeiten  erzählen  soll.  Das  sind  zwei,  die 
höher  hinaus  wollen. 

• 

Nicht  auf  alle  Qrüfie  mufi  man  antworten.  Vor 
allem  nicht  auf  solche,  die  blofi  eine  Bitte  um  Qunst 
ausdrücken.  Der  Qruß  an  einen  Kritiker  ist  der  Qrufi 
der  Furcht,  er  ist  nicht  höher  zu  werten  als  der 
Fiakergruß,  der  ein  Grufi  der  HofTnung  ist:  die 
Grüßenden  wünschen  sich  selbst  einen  guten  Tag. 
Man  soll  die  Gesinnung,  die  eine  Freundlichkeit  zu 
gewinnsüchtigen  Zwecken  mißbraucht,  nicht  auch  noch 
mit  einer   körperlichen  Unbequemlichkeit  belohnen. 

Gesellschaft:  Es  war  alles  da,  was  da  sein  muß 
und  was  sonst  nicht  wüßte,  w^ozu  das  Dasein  ist, 
wenn  es  nicht  eben  dazu  wäre,  daß  man  da  ist. 

• 

Es  ist  ein  Unglück,  daß  in  der  Welt  mehr 
Dummheit  ist,  als  die  Schlechtigkeit  braucht,  und 
mehr  Schlechtigkeit,  als  die  Dummheit  erzeugt. 

• 

Das  ist  der  Triumph  der  Sittlichkeit:  Bin  Dieb, 
der  in  ein  Schlafzimmer  gedrungen  ist,  behauptet, 
sein  Schamgefühl  sei  verletzt  worden,  und  erpreßt 
die  Unterlassung  der  Anzeige. 

• 

Jedes  Gespräch  über  das  Geschlecht  ist  eine  ge- 
schlechtliche Handlung.  Den  Vater,  der  seinen  Sohn 
aufklärt,  dieses  Ideal  der  Aufklärung,  umgibt  eine 
Aura  ron  Biiitschande. 

Daß  eine  Kokotte  nach  sozialen  Ehren  strebt, 
ist  eine  traurige  Erniedrigung;  aber  sie  entschädigt 
sich  wenigstens  durch  Ijeimliche  Freuden.  Viel  ver- 
werflicher ist  die  Praxis  jener  Frauen,  die  durch  den 

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28 


Schein  eines  Freudenlebens  über  ihre  heimliche  Ehr- 
barkeit EU  täuschen  wissen.  Sie  schmarotsen  an  einer 
sozialen  Verachtung,  die  sie  sich  nicht  Terdi^at 
haben;  und  das  ist  die  schlimraste  Art  von  Streb€»ei. 

• 
Wie  wenig  Verlaß  ist  auf  eine  Frau,  die   skdi 
auf  einer  Treue  ertappen  läfit !    Sie   ist    heute   dir, 
morgen  einem  andern  treu^ 

• 
Mancher  rächt  an  einer  Frau  durch  (Gemeinheit, 
was  er  durch  Torheit  an  ihr  gesündigt  hat 

• 
Man  kann  eine  Frau  wohl  in  flagranti  ertappen, 
aber  sie  wird  noch  immer  Zeit  genug  haben,   es   in 
Abrede  zu  stellen. 

* 
Perversität  ist  entweder  eine  Schuld    der  Zeu- 
gung oder  ein  Recht  der  Oberzeugung. 

• 

Wohltätige    Weiber:    solche,    denen    es    nicht 
mehr  gegeben  ist,  wohlzutun. 

• 
Man  tut  ein  gutes  Werk,  wenn  man  dem  Luxus 
des  Nebenmenschen   zu   Hilfe    kommt.    Es  ist  eine 
üble  Anwendung  der  Wohltätigkeit,  die  Bestrebungen 
der  Pauvretö  zu  unterstützen. 

• 
Es    gibt    Menschen,    welchen    es    gelingt,   di% 
Vorteile   der  Welt  mit  den  Benefizien  des   Verfolgt- 
leins  zu  vereinigen. 

• 
Die  stärkste  Kraft  reicht  nicht  an  die  Energie 
heran,  mit  der   manch    einer    seine   Schwäche   ver- 
teidigt. 

• 
Die  wahre  Treue  gibt  eher  einen  Freund  prc 
als  einen  Feind. 

Ich  kann  mich  90  bald  nicht  von  dem  Eindrud 
befreien,  den  ich  auf  eine  Frau  gemacht  habe. 


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29 


Das  ist  noch  immer  nicht  die  richtige  Einsam- 
keit|  in  der  man  mit  sich  beschäftigt  ist. 

* 

An  einem  Ideal  sollte  nichts  erreichbar  sein  als 
eis\  Martyrium. 

Wer  offene  Türen  einrennt,  braucht  nicht  zu 
fürchten,  daft  ihm  die  Fenster  eingeschlagen  werden. 

• 

Das  Geheimnis  des  Agitators  ist,  sich  so  dumm 
SU  machen,  wie  seine  Zuhörer  sind,  damit  sie  glau« 
ben,  sie  seien  so  gescheit  wie  er. 

* 

Ein  guter  Autor  wird  immer  fürchten,  dafi  das 
Publikum  am  Ende  merke,  welche  Gedanken  ihm  zu 
spät  eingefallen  sind.  Aber  das  Publikum  ist  darin 
viel  nachsichtiger  als  man  glaubt,  und  merkt  auch 
die  Gedanken  nicht,  die  da  sind. 

Einen  Aphorismus  zu  schreiben,  wenn  man  es 
kann,  ist  oft  schwer.'  Viel  leichter  ist  es,  einen 
Aphorismus  zu  schreiben,  wenn  man  es  nicht  kann. 

Es '  gibt  Schriftsteller,  die  schon  in  zwanzig 
Seiten  ausdrücken  können,  wozu  ich  manchmal  sogar 
zwei  Zeilen  brauche. 

m 

Man  darf  auf  dem  Theater  die  Natur  einer  Per- 
sönlichkeit nicht  mit  der  Natürlichkeit  einer  Person 
verwechseln. 

Nicht  alles,  was  totgeschwiegen  wird,  lebt 
* 

Die  Kritik  beweist  nicht  immer  ihren  gewohn- 
ten  Scharfblick;  sie  ignoriert  oft  die  wertlosesten 
Erscheinungen. 

In  der  Literatur  gibt  es  zwei  verschiedene  Ähn- 
lichkeiten. Wenn  man  findet,    dafi    ein  Autor   einen 


—  30  - 

andern  sum  Verwandten,  und  wenn    man    entdeckt, 
dafl  er  ihn  blofi  zum  Bekannten  hat. 

Ein  schöpferischer  Kopf  sagt  auch  das  aus 
eigenem,  was  ein  anderer  vor  ihm  gesagt  hat.  Daf&r 
kann  ein  anderer  Qedanken  nachahmeni  die  einem 
schöpferischen  Kopf  erst  später  einfallen  werden. 

• 

Eigene  Gedanken  müssen  nicht  immer  neu  sein. 
Aber  wer  einen  neuen  Qedanken  hat,  kann  ihn  leicht 

von  einem  andern  haben. 

• 

Die  Wissenschaft  überbrückt  nicht  die  Abgründe 
des  Denkens,  sie  steht  blofi  als  Warnungstafel  daTor. 
Die  Dawiderhandelnden  haben  es  sich  selbst  luxu- 
»ohreiben. 

• 
Wahn  verpflichtet  durchs  Leben  wanken  —  das 
könnte  immer  noch  ein  aufrechterer  Gang    sein  ab 
der  eines    Wissenden,   der   sich   an  den  Abgründen 
entlang  tastet. 

• 
Die  Unsterblichkeit  ist  das  einxige,  was  keinen 
Aufschub  verträgt. 

* 
Hüte  dich  vor  den  Frauen  1*  Du  kannst  dir  eine 
Weltanschauung  holen,    die  dir  das  Mark  aerfr^ssen 
wird. 

• 
Qual  de«  Lebens  —  LuBt  des  Denkens. 

• 
Wenns  nur  endlich  finster  wäre  in  der  Natur  I 
Dies  elende  Zwielicht  wird  uns  noch  allen  die  Augen 
verderben. 

«  «  Karl  Kraus. 

Pascin« 

Ich  würde  es  dem  Zeichner  Pascin  von  Hei 
zen  gönnen,  dafl  das,  was  ich  hier  über  ih 
schreibe,  für  nicht  gar  so  wenig  Menschen  In 
teresse  hätte.  Indessen    würde    es    mich^  selbst   ai 

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—  81 


Oesohmaok  des  Publikums  irre  machen^  wenn  dieses  für 
einen  so  erstaunlich  tiefen,  kühnen  und  durchaus 
singulären  Künstler  auch  nur  eine  leise  Sympathie 
bezeugte  ...  In  der  Tat  ist  es  recht  unanständig,  zu 
sagen,  dafi  man  in  der  Kunst  Pascins  Qenufi  findet; 
denn  hier  wie  immer  wird  man  unserm  künstleri- 
schen Entzücken  ein  stoffliches  imterschieben. 

Nun  hat  freilich  bei  Pascin  auch  das  Stoffliche 
an  und  für  sich  schon  psychologische  Bedeutung; 
und  seine  Kunst  wird  vollkommen  unzugänglich  blei- 
ben für  alle,  die  entweder  nicht  reich  oder  nicht 
ehrlich  genug  sind,  um  —  wenigstens  in  sogenann- 
ten dunklen  Augenblicken  —  auf  dem  untersten 
Grunde  ihrer  Seele  schlummernde  Möglichkeiten  des 
Tierischen,  oder  auch  nur  die  leisen  Schatten  solcher 
Möglichkeiten  herumkriechen  zu  sehen. 

# 

Bin  besonderer  Qrund,  warum  es  Pascin  gar 
nicht  gelingt,  das  sonst  den  erotischen  Darstellungen 
heimlich  nicht  abgeneigte  Publikum  für  sich  zu  ent- 
zünden, scheint  mir  darin  zu  liegen,  dafi  ihm  das 
keuchende  Pathos  im  Erotischen  gänzlich  fremd  ist. 
Ach,  »er  geht  nirgends  aufs  Qanzec  I  In  der  Gebärde, 
überhaupt  in  der  ganzen  Erfindung  seiner  Figuren 
und  Situationen  liegt  nirgends  etwas  Entschlossenes 
und  Definitives  —  überall  nur  jener  andeutende,  letzte 
feine  Rest  psychologischer  Regung;  nirgends  heftige 
Bewegung,  sondern  höchstens  ein  leiser  Wille  dazu. 

• 

Pascin  ist  der  Darsteller  psychologisch-erotischer 
Grenzgebiete.  Von  den  meisten  erotischen  Künstlern 
unterscheidet  er  sich  dadurch,  dafi  er  nie  illustriert. 
Er  ist  ein  viel  zu  guter  Psychologe,  um  Vorgänge 
illustrieren  zu  müssen.  In  einer  matt  herabhängenden 
langen  mageren  Hand  vermag  er  das  Erschauern 
aller  Perversitäten  auf  einmal  auszudrücken.  Er 
zeichnet  nur  irgend  ein  schiefgezogenes  Auge,  und 
läftt  uns  so  schon  einen  tieferen  Blick  in  Abgründe  tun 
als  ein  anderer,  der  diese  Abgründe  selbst  darstellt. 

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Ich  protestiere  daher  naohdrfioklich  gegen  ooe 
Meinung,  die,  soviel  ich  weifi^  sehr  verbreitet  u^  — 
nämlich  dagegen,  dafi  Pasoin  einem  »schauerlicheo 
Realismusc  huldige.  Diese  Meinung  des  Publikums 
hängt  natürlich  wieder  mit  seiner  öden  Verwechslung 
des  Dargestellten  und  der  Darstellung  susammeo. 
Ich  empfinde  im  Gegenteil  die  Kunst  .Pasciiis  ab 
durchaus  mystisch. 

An  jeder  Figur  oder  Situation  führt  Pasoin  nur 
soviel  aus,  als  unbedingt  nötig  ist,  die  Idee  der 
Figur  oder  Situation  wiederzugeben.  Vieles  liegt  bei 
ihm  überhaupt  schon  auf  der  Qrense  swischeo 
Mensch  und  reinem  Symbol  eines  Triebes,  swisdieD 
animal  und  dem  reinen  Ausdruck,  der  Idee  des  ani- 
mal.  Ich  erinnere  mich  an  jenes  awisehengeschlechi- 
liche  nackte  Riesen-Monstrum  im  Kinderwagen,  das  nur 
glotzt . . .  glotzt  wie  tausend  eklige  Tiere  aus  einem 
tausend  Jahre  lang  versumpften  Brunnen.  Die  Hftfl- 
lichkeit  dieses  Monstrums  übertrifft  weitaus  aUe 
Wirklichkeit;  sie  ist  realistisch  unmöglich,  auch  be 
den  Hallstättern,  und  mufi  als  das  abstrahierte  Symbol 

irgend  eines  grausigen  Sexualtriebes  aufgefafit  werden. 

• 

Ebenso  fremd  wie  Pascin  das  stoffliche  Pathos 
in  der  Erotik  bleibt,  ist  ihm  das  Pathos  auch  in  der 
künstlerischen  Ausführung.  Alles  ist  leicht,  oart  und 
nachlässig  hingeworfen,  oft  nur  spärlich  skUuiert 
Pascin  hat  unendlich  viel  Sinn  für  Nuancen.  Das 
bedingt  an  und  für  sich  eine  zarte  Technik. 

• 

Reine  Komik,   befreiendes  Lachen   finden  wir 
nie  bei  Pascin.    Auch  hier  wehrt  er  sich  gegen  das 
Pathos  —  ich  meine  gegen   das  Pathos   der  Heit«p- 
keit.    Komische  Linien    haben    bei  ihm    stets    e 
Richtung   ins   Grausige    oder    in   eine    degeneric 
Müdigkeit.    Die    reine   Komik    würde   eine    derb 
Technik   verlangen,    als   er   anwenden    will.    Wc 
er    eine     rumänische   Kupplerin    zeichnet,    wie 
ihrer  Tochter    das    Haar   bindet,    läflt  er    aus   d 
vergrößerten  Weiß  ihrer  Augen,  aus  der  Spanni 

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—  88  — 


ihrer  knöcherigen  Hand  die  sexuelle  Wollust  der 
Kupplerin  fiebern.  Seine  Kunst  erlaubt  ihm,  realisti- 
scheren Vorgängen  aus  dem  Wege  zu  gehen. 

Pascin  ist  Meister  in  der  Erregung  des  Grauens. 
Mein  tiefstes  Grauen  hat  er  mit  einigen  Zeichnungen 
geweckt,  auf  denen  die  dargestellten  Menschen  in 
unendlicher  Müdigkeit  und  Apathie  nur  dasitzen  und 
warten,  immer  nur  warten  ...  Er  hat  Typen  ge- 
zeichnet, die  auch  zum  Sterben  zu  müd  sind.  Ein 
kleiner,  knochiger,  verrunzelter  Hund,  der  auf  diesen 
Zeichnungen  nie  fehlt,  verstärkt  noch,  durch  die 
tierische  Perversität  seines  Blickes,  den  ungeheuren 
Eindruck  vollkommenster  Verlassenheit. 

Auch  zu  solchen  Darstellungen  würde  eine 
kräftige  Technik  nicht  passen;  nur  die  feinsten 
Striche  und  die  abgetöntesten  Farben  vermögen  die 
Idee  zu  retten. 

Manchmal  hat  Pascin  mitten  unter  viehisch 
wüste  und  verwüstete  Balkanweiber  irgend  ein  Mäd- 
chen mit  ausnehmend  hübschem  Gesicht  gezeichnet, 
das  in  naiver  und  unschuldiger  Miene  eine  kindlich 
fromme  Perversität  zum  Ausdruck  bringt.  Diese 
künstlerische  Laune  Pascins  hat  mir  von  jeher  ge- 
fallen. Ich  glaube  nämlich,  daß  er  sich  damit  über 
das  Publikum  moquierte,  indem  er  ihm  lächelnd 
sagte:  »Seht,  ich  könnte  sogar  etwas  Süfies  zeichnen Ic 

Zur  Ehre  des  Publikums  sei  festgestellt,  dafi  es 
sich  von  diesen  sporadischen  Launen  Pascins  nicht 
hinreiflen  ließ.  Diese  Launen  waren  zu  selten,  als  dafi 
eine  dauernde  Neigimg  darauf  hätte  basieren  können. 

München.  Karl  Borromaeus  Heinrich. 

Der  Portschritt.*) 
Ich    habe    mir    eine   Zeitungsphrase   einfallen 
lassen,    die   eine   lebendige   Vorstellung    gibt.    Sie 

*)  Aus  dem  .Simplidssimus'.  uigtzedby Google 


—  84  — 


lautet:  Wir  stehen  im  Zeichen  des  Fortschritts.  Jetst 
erst  erkenne  ich  den  Fortschritt  als  das,  was  er  ist^  — 
als  eine  Wandeldekoration.  Wir  bleiben  vorwärta  und 
schreiten  auf  demselben  Fleck.  Der  Fortschritt  i^t 
ein  Standpunkt  und  sieht  wie  eine  Bewegung  aus.  Nur 
manchmal  krümmt  sich  wirklich  etwas  vor  meioen 
Augen :  das  ist  ein  Drache,  der  einen  goldenen  Hort 
bewacht.  Öderes  bewegt  sich  nachts  durch  die  Straften: 
das  ist  die  Kehrichtwalze^  die  den  Staub  des  Tages  auf- 
wirbelt, damit  er  sich  an  anderer  Stelle  wieder  senke. 
Wo  immer  ich  gine:,  ioh  mufite  ihr  begegnen.  Oing 
ich  zurück,  so  kam  sie  mir  von  der  anderen  Seite 
entgegen,  und  ich  erkannte,  daS  eine  Politik  gegen 
den  Fortschritt  nutzlos  sei,  denn  er  ist  die  unent- 
rinnbare Entwicklung  des  Staubes.  Das  Sehicknl 
schwebt  in  einer  Wolke,  und  der  Fortschritt,  der 
dich  einholt,  wenn  du  ihm  auszuweichen  hoffet, 
kommt  als  Qott  aus  der  Maschine  daher.  Er  sehleidit 
und  erreicht  den  flüchtigen  Fufi  und  nimmt  dabei 
so  viel  Staub  von  deinem  Weg,  als  zu  seiner  Ver- 
breitung notwendig  ist,  auf  dafi  alle  Lungen  seiner 
teilhaft  werden,  denn  die  Maschine  dient  der  groften 
fortschrittlichen  Idee  der  Verbreitung  des  Staubes. 
Vollends  aber  ging  mir  der  Sinn  des  Fortschritts  auf, 
als  es  regnete.  Es  regnete  unaufhörlich  und  die 
Menschheit  dürstete  nach  Staub.  Es  gab  keinen  und 
die  Walze  konnte  ihn  nicht  aufwirbeln.  Aber  hinter 
ihr  ging  ein  radikaler  Spritzwagen  einher,  der  sich 
durch  den  Regen  nicht  abhalten  lieft,  den  Staub  zu 
verhindern,  der  sich  nicht  entwickeln  konnte.  Das 
war  der  Fortschritt. 

Wie  enthüllt  er  sich  dem  Tageslicht?  In  welcher 
Gestalt  zeigt  er  sich,  wenn  wir  ihn  uns  als  einen 
flinkeren  Diener  der  Zeit  denken?  Denn  wir  haben 
uns  zu  solcher  Vorstellung  verpflichtet,  wir  möchten 
des  Fortschritts  inne  werden,  und  es  fehlt  uns  bloS  die 
Wahrnehmung  von  etwas,  wovon  wir  überzeugt  sind. 
Wir  sehen  von  allem,  was  da  geht  und  läuft  und 
fährt,  nur  Füfte,  Hufe,  Räder.  Die  Spuren  verwischen 


—  86  — 


sich.  Hier  lief  ein  Börsengalopin,  dort  jagte  ein 
apokalyptischer  Reiter.  Vergebens . . .  Wir  können  yon 
Schmockwitz  nach  Schweif  wedel  telephonisch  sprechen, 
und  wissen  noch  nicht,  wie  der  Foitschritt  aussieht  I 
Wir  wissen  bloß,  dafi  er  auf  die  Qualität  der  Fern- 
gespräche keinen  Einflufi  genommen  hat,  und  wenn 
wir  einmal  so  weit  halten  werden,  dafi  man  zwischen 
Wien  und  Berlin  Gedanken  übertragen  wird,  so  wird 
es  nur  an  den  Gedanken  liegen,  wenn  wir  diese  Ein- 
richtung nicht  in  ihrer  Vollkommenheit  bewundern 
können.  Die  Menschheit  wirtschaftet  drauf  los; 
sie  braucht  ihr  geistiges  Kapital  für  ihre  Erfindungen 
auf  und  behält  nichts  für  deren  Betrieb.  Der  Fort- 
schritt aber  ist  schon  deshalb  eine  der  sinnreichsten 
Erfindungen,  die  ihr  gelungen  sind,  weil  zu  seinem 
Betrieb  nur  der  Glaube  notwendig  ist,  und  so  haben 
jene  Vertreter  des  Fortschritts  gewonnenes  Spiel,  die 
einen  unbeschränkten  Kredit  m  Anspruch  nehmen. 
Besehen  wir  das  Weltbild  im  Spiegel  der  Zeitung, 
so  erweist  sich  der  Fortschritt  als  die  Methode»  uns 
auf  raschestem  Wege  alle  Rückständigkeiten  erfahren 
zu  lassen,  die  in  der  weiten  Welt  vor  sich  gehen. 
Was  mir  aber  den  größten  Respekt  abnötigt,  ist  die 
Möglichkeit,  bedeutende  zeitgeschichtliche  Tatsachen 
auf  photographischem  Wege  dem  Gedächtnis  jener 
Nachwelt  zu  überliefern,  die  am  Morgen  des  folgenden 
Tages  beginnt  und  am  Abend  zu  Ende  ist.  Der  Fort- 
schritt ist  ein  Momentphotograph.  Ohne  ihn  wäre 
jener  Augenblick  unwiederbringlich  verloren,  in  dem 
der  König  von  Sachsen  vom  Besuche  einer  Sodawasser- 
fabrik sich  zu  seinem  Wagen  begab.  Wie  sieht  das 
aus?^ fragte  man  sich.  Wie  macht  er  das?  Wie  geht 
der  König?  Er  setzt  einen  Fuß  vor  den  andern,  und 
der  Momentphotograph  hat  es  festgehalten.  Aber  dieser 
vermag  vom  Schreiten  nur  einen  Schritt  zu  erhaschen, 
darum  wird  das  Gehen  zum  Gehversuch,  und  der 
Adjutant,  der  auf  die  Füfie  des  Königs  sieht,  scheint 
die  Schritte  zu  zählen,  damit  keiner  ausgelassen  wird: 
Eins,  zwei;  eins,  zwei ...  So  weiß  man  immerhin,  wie 


—  36  — 


die  Sohle  des  Königs  von  Sachsen  beschaffen  ist;  aber 
auch  das  mag  dem  deutschen  Volke  genügen.  Mehr 
bietet  die  Momentphotographie,  wenn  sie  sich  »in 
den  Dienst  des  Sports  stellte,  und  ohne  sie  wäre  der 
Sport  am  Ende  gar  kein  Vergnügen.  Eine  Schlitten- 
fahrt—  hei,  das  macht  Spafil  »Prinz  Eitel  Friedrich 
bremste.  Und  was  tut  Prinz  August  Wilhelm?  »Prini 
August  Wilhelm  hilft  als  galanter  Gatte  seiner  Ge- 
mahlin vom  Schlitten.c  Ist  das  Bild  das  offisielle 
Dementi  eines  Gerüchtes,  dafi  Prinz  August  Wilhelm 
ungalant  sei  und  bei  Schlittenfahrten  seine  Gemahlin 
allein  aussteigen  lasse?  Hat  sich  solcher  Argwohn  im 
Gefühlsleben  des  deutschen  Volkes  eingenistet?  Neini 
das  deutsche  Volk  liebt  es  zu  hören,  dafi  Prinz 
August  Wilhelm  als  galanter  Gatte  seiner  Gemahlin 
vom  Schlitten  helfe,  auch  wenn  es  nie  daran  ge* 
zweifelt  hat  und  das  Gegenteil  nicht  behauptet 
wurde.  Wäre  das  Gegenteil  behauptet  worden,  lo 
könnte  man  sagen,  es  sei  kleinlich,  solche  Gerüchte 
zu  widerlegen.  Das  deutsche  Volk  glaubt  sie  ohne- 
dies nicht.  Es  glaubt  nur,  was  es  sieht.  Darum 
glaubt  es  an  die  Galanterie  des  Prinzen  August 
Wilhelm,  wenn  es  eine  Probe  zu  sehen  bekommt  Es  will 
sehen,  wie  sich  dieser  Prinz  benimmt,  wenn  er  mit  seiner 
Gemahlin  aus  dem  Schlitten  steigt.  Da  es  nun  unmOglidi 
ist,  das  deutsche  Volk  in  seiner  Gesamtheit  zur  Be- 
sichtigung des  Vorgangs  zuzulassen  und  die  Ver- 
sicherung der  Berichterstatter  nicht  genügt,  so  stellt 
sich  die  Momentphotographie  in  den  Dienst  des  Sports. 
Quälend  wäre  aber  auch  die  Ungewißheit,  ob  der 
Badische  Finanzminister  anders  geht,  wenn  er  das 
Reichsschatzamt  verläßt,  als  der  Hessische  Ministe 
der  Finanzen,  oder  ob  Taft,  die  Grüße  der  Volkf 
menge  erwidernd,  den  Mund  weiter  öffnet,  als  Rooee 
velt  in  diesem  Falle  gewohnt  war.  Das  ebe 
ist  der  Fortschritt,  daß  solches  Interesse  heut 
schnellere  Befriedigung  findet  als  ehedem,  ja  da' 
sogar  die  schnellere  Befriedigung  solches  Intere« 
heute  erzeugen  kann.  Einst  war  der  Geist  auf  Buche 


-  37  — 


angewiesen  und  der  Atem  auf  Wälder.  Wo  sollen 
wir  heute  in  Ruhe  unsere  Zeitung  lesen?  Die  Papier- 
industrie blüht,  aber  sie  gibt  keinen  Schatten.  Und 
die  Rotationsmaschine  schleicht  nachts  durch  die 
Strafien,  wirbelt  den  Staub  des  Tages  auf  und  setzt 
ihn  für  den  kommenden  Tag  wieder  ab. 

Als  ich  ein  Knabe  war,  sah  ich  den  Fortschritt 
in  der  Qestalt  eines  deutsch-fortschrittlichen  Abge- 
ordneten. Er  vertrat  die  Freiheit,  er  vertrat  die 
böhmischen  Landgemeinden,  er  vertrat  die  Stiefel- 
absätze. Was  wollte  ich  mehr?  Ich  hörte  zum  ersten- 
mal, die  Deutschen  in  Osterreich  seien  von  den 
Tschechen  »vergewaltigte  worden.  Ich  verstand  kein 
Wort  davon,  aber  ich  weinte  vor  Erregung.  Es  war 
eine  Phrase,  die  mir  einen  Lebensinhalt  offenbarte. 
Später,  als  die  Vergewaltigung  in  eine  Keilerei  aus- 
artete, sah  ich  selbst  in  dieser  keine  Äußerung  natürlicher 
Kräfte,  sondern  die  Folge  einer  Phrase.  Da  die 
Politik  nicht  mehr  mein  Gefühl  ansprach,  erkannte 
ich,  dafi  sie  nicht  zu  meinem  Verstände  spreche. 
Politik  ist  Teilnahme,  ohne  zu  wissen  wofür.  Wenn 
sie  aber  nicht  einmal  mehr  das  ist,  so  kann  es  leicht 
geschehen,  daß  sich  uns  der  Fortschritt  als  die  Welt- 
anschauung des  Obmannes  der  freiwilligen  Feuer- 
wehr von  Pardubitz  enthüllt.  Aus  solcher  Ent- 
täuschung gewöhnte  ich  mich,  das  Prinzip  der  kultu- 
rellen Entwicklung  nur  mehr  in  jenen  Regionen 
des  Lebens  zu  suchen,  die  dem  Sprachenstreit  ent- 
rückt sind.  Ich  fand  den  Fortschritt  in  allen,  ohne 
in  einer  einzigen  seine  Physiognomie  zu  finden.  Ich 
glaubte,  ich  sei  in  eine  Maskenleihanstalt  geraten. 
Jetzt  war  er  ein  Ausgleicher  im  sozialen  Bankrott, 
jetzt  ein  Schaffner  an  jenem  Zug  des  Herzens,  der 
Hoheiten  talwärts  führt;  hier  Wahlagitator,  dort 
Kuppler;  bald  Nervenarzt,  bald  Kolporteur.  Rechts  von 
mir  sagte  einer,  der  keine  gerade  Nase  hatte:  Ich  sitze 
mit  vier  Reichsrittern,  drei  Markgrafen,  zwei  Fürsten 
und  einem  Herzog  im  Verwaltungsrat  der  Konserven- 
fabrik . . .  Das  war  der  Fortschritt.  Links  von  mir  sagte 


—  88  - 


eine  Dame^  die  Boutons  trug:  Man  kann  die  Neunte 
Symphonie  am  billigsten  im  Arbeiterkoneert  hör^ 
aber  man  mufi  sich  dazu  schäbig  anziehen . . .  Das  war 
der  Portschritt. 

Dann  sah  ich  ihn  als  Ingenieur  am  Werke.  Wir 
verdanken  ihm,  daß  wir  schnell  vorwärts  kommen. 
Aber  wohin  kommen  wir?  Ich  selbst  begnügte  mich, 
es  als  das  dringendste  Bedürfnis  zu  empfinden, 
zu  mir  zu  kommen.  Darum  lobte  ich  den  Fortschritt  und 
wollte  in  einer  Stadt  nicht  fürder  leben,  in  der  mir 
Hindernisse  und  Sehenswürdigkeiten  den  Weg  zum 
Innenleben  verstellen.  Eines  Tages  begann  ich  aber 
neuen  Mut  zu  schöpfen,  weil  das  Qerücht  zu  mir  drang, 
in  Wien  sei  eine  Automobildroschke  zu  sehen  gewesen. 
Die  wird  wohl  schwer  zu  haben  sein,  dachte  ich,  aber 
wenn  ich  sie  doch  einmal  erwische,  so  wird  es  ein  änderet 
Leben  werden  1  Im  Sausewind  an  den  Individualitäten 
vorbei,  die  mich  an  jeder  Strafienecke  belästigen, 
—  das  allein  ist  schon  ein  anregendes  Erlebnis.  Ich 
machte  mich  auf,  den  Fortschritt  zu  suchen,  und  fand 
ihn  auf  seinem  Standplatz.  Die  Automobildroschke 
stand  da  als  eine  Verlockung  zu  einem  Leben  ohne 
Hindernisse,  der  jeder  Wiener  aus  dem  Wege  ging. 
Aber  wenn  er  geahnt  hätte,  dafl  auch  sie  ihm  idl 
den  Reiz  des  Umständlichen  bieten  konnte,  den  zu 
entbehren  ihm  so  schwer  fällt,  er  hätte  eine  Fahrt 
riskiert,  umso  mehr  als  der  Chauffeur  durch  die  Frage 
>Fahr'n  m'r  Euer  Gnaden«  das  sympathische  Bestreben 
verriet,  an  die  Tradition  anzuknüpfen  und  über  den 
Mangel  an  Pferden  taktvoll  hinwegzutäuschen.  Ich, 
ein  Freund  des  Fortschritts,  liefl  mich  nicht  lange 
bitten,  und  ich  kann  heute  sagen,  daß  jeder  Wien«  es 
bedauern  kann,  meinem  Beispiel  nicht  gefolgt  zo 
sein.  Alle  Befürchtungen,  es  könnte  am  Ende  glatt 
gehen,  sind  überflüssig  und  getrost  darf  man  sich  dem 
neuen  Fahrzeug  anvertrauen.  Vor  allem  gab  ra  vieles 
zu  sehen.  Denn  zehn  unbeschäftigte  Kutscher  halfen 
dem  Chauffeur,  den  Wagen  flott  zu  machen,  und 
hier  zeigte  es  sich,  dafl  unser  Fortschritt  nicht  durch 


—  89 


die  Feindschaft  des  Alten  gehemmt  wird,  sondern  im 
Oegenteil  durch  dessen  Unterstützung.  Ein  Wasserer 
eilt  herbei,  um  nach  dem  Rechten  zu  sehen.  Er  will 
nach  alter  Gewohnheit  den  Wagen  waschen,  ehe 
man  fährt.  Aber  als  er  dann  auch  den  Pferden  den 
Puttersack  reichen  wollte,  stellte  es  sich  heraus,  dafl 
keine  da  waren.  Man  konnte  sie  also  nicht  einmal 
abdecken  und,  schlimmer  als  das,  man  hatte  nichts 
bei  der  Hand,  um  den  Taxameter  zuzudecken.  Nach- 
dem sich  der  Wasserer,  der  die  Welt  nicht  mehr 
verstand,  kopfschüttelnd  entfernt  hatte,  setzte  sich 
trotzalledem  wie  durch  ein  Wunder  das  Automobil 
iD  Bewegung,  nicht  ohne  dafi  es  mir  aufgefallen  wäre, 
^e  der  Chauffeur  mit  einem  fremden  Mann  |2:e- 
heimnisvoU  einige  Worte  wechselte.  Als  ich  am  Ziel 
ausstieg,  sah  ich  denselben  Mann  wieder  mit  dem 
Chauffeur  sprechen.  Er  war  vorausgeeangen  und  hatte 
das  Automobil  erwartet.  Ich  beruh i/arte  mich  bei  dem 
Gedanken,  dafi  es  ein  Vertreter  der  Firma  sein  könnte, 
die  es  erzeugt  hatte,  und  fand  sogar  Gefallen  an  der 
Vorstellung,  daß  ich  —  als  Vertreter  des  Portschritts 
—  ausersehen  war,  die  Probefahrt  zu  bestehen.  Den 
Ovationen  der  Menge,  die  sich  inzwischen  angesammelt 
hatte,  entzog  ich  mich,  indem  ich  zu  dem  benach- 
barten Standplatz  ging,  um  die  Rückfahrt  in  einem 
Einspänner  anzutreten.  Der  Standplatz  war  aber  leer, 
weil  sämtliche  Kutscher  zu  dem  Automobil  geeilt 
waren.  Nur  einer  war  auf  seinem  Bock,  der  aber 
schlief  und  als  ihm  ein  Polizist,  den  ich  schon  auf- 
geweckt hatte,  dieses  Benehmen  verwies,  murmelte  er 
aus  dem  Schlaf  die  Worte :  »Jetzt  kOnnts  mi  alle  mit- 
ananda — <  Er  meinte  hauptsächlich  den  Portschritt. 
Nun  erst  war  ich  begierig  ihn  kennen  zu  lernen. 
Ich  reiste,  und  wirklich,  ich  habe  ihn  oft  genug  in 
jener  Tätigkeit  gesehen,  zu  der  er  sich  hierzulande 
nun  einmal  nicht  schicken  wollte,  als  Förderer  des 
Fremdenverkehrs.  Ich  kam  schnell  vorwärts,  aber 
zumeist  auf  falschem  Wecre,  und  so  wurde  ich 
in    der    Vermutung    bestärkt,    der    Fortschritt    sei 


—  40  — 


ein  Hotelportier.  Und  überall  schien  um 
Ehrgeizes  willen  jedes  bessere  Streben  der  Mec 
heit  zu  stocken.  Es  war,  als  ob  nicht  ein  Ziel  die  SltV- 
der  Welt  geboten,  sondern  die  Eile  das  Ziel  bedc 
hätte.  Die  Ftiße  waren  weit  voran,  doch  der  Eo 
blieb  zurück  und  das  Herz  ermattete.  Weil  aber  mj^ 
der  Fortschritt  vor  sich  selbst  anlangte  und  schlief* 
lieh  auf  Erden  nicht  mehr  ein  und  aus  wußte,  legte  er 
sich  eine  neue  Dimension  bei.  Er  begann  Luftschiffe 
zu  bauen,  aber  an  Garantien  der  Festigkeit  konnte 
er  es  mit  jenen,  die  bloß  Luftschlösser  bauen,  nkiA' 
aufnehmen.  Denn  diese  haben  die  Phantasie,  mit  det 
sie  selbst  dann  noch  wirtschaften  können,  wenn  aHai 
schiefgeht.  Was  immer  aber  der  Fortschritt  weiter  be> 
ginnen  mag,  ich  glaube,  er  wird  sich  bei  den  Eata* 
Strophen  des  Menschengeistes  nicht  anstelliger  zeigefi^ 
als  ein  Seismolog  bei  einem  Erdbeben.  Er  wird  iui% 
wie  hoch  er  sich  auch  versteige,  keine  Himmeisleitier 
errichten.  Wenn  er  jedoch  als  Roter  Radler  Briefe  be^ 
fördert,  könnte  er  immerhin  von  den  Dienstmännem 
als  Satan  verschrien  werden.  Auch  mag  er  dazu  helfen^  - 
daß  die  Eifersucht  der  Weltstädte  wachse  und  sie  M 
Kraftleistungen  sporne.  Etwa  so:  Berlin  hat  heute 
schon  fünfhundert  Messerstecher,  Wien  ist  ein  Kräh- 
winkel dagegen;  wenn  man  dort  wirklich  einen  eni» 
mal  braucht,  ist  keiner  dal...  Schließlich  Qberlebl 
sich  auch  diese  Mode.  Nur  der  Tod  stirbt  nicht  «iift. 
Denn  der  Fortschritt  ist  erfinderisch  und  dank  ihm 
bedeutet  das  Leben  nicht  mehr  eine  Kerkerhaft^ 
sondern  Hinrichtung  mit  Elektrizität.  Wer  es  nicht  ortl 
darauf  ankommen  lassen  will,  den  ganssen  Komfort  d«r-'^ 
Neuzeit  zu  erproben,  der  hat  rechtzeitig  Gelegei.. 
von  jener  primitiven  Erfindung  Gebrauch  zu  macl 
die  ihm  die  erbarmungsvoUe  Natur  an  die  " 
gegeben  hat:  von  der  Schnur,  mit  der  der  M 
auf  die  Welt  kommt  1 

Karl   Kra 

^ • 

HeraBSseber  and  venuicfrortllclier  Redäktenr:  Karl  Kraai. 
Drack  Ton  Jahoda  8t  Sicael,  Wien,  UI.  Hinteit  ZoOaiiriatnBt  9. 


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Inhalt  der  voriger 

rg.  Von  Karl  Krau 


«-M^.»        ^T    4  )7  I'nVxr,.oH 


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I  Kunstointicrn 
(R   PHÖMIX-. 


der  unterzeichneten 


Itdem  jÄciLäl 

hließt  frcr  10.  Jahrsfan 


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Der  Verlos  der, Fl 

WIEN.  ill.  Hinter 


chienen  am  j.  Aj 


Kdl-Mmiiiiier  (Pnis  so  hiiis 


277—278. 


>09 


X.  Jahr 


Die  Fackel 

Herausgeber: 

KARL  KRAUS 


INHALT: 

Krans.  Zum  zehnten  Jahrestag  des  Erscheinens  der  iF4| 

^cheu.    —   Die  Memoiren 
.  .X .  <.  I.  .  —  Beim  Tode  M&tkowtkyB.  —  I>i| 
der  Macht.   Von    Karl    Hauer.  —  Osterreicl 
Der   farblose    Kriep 


kkreontisches  Liedel.     Von  D< 

mane.  Von  Otto  Stoessl.  —  Tag^ebuch.  Von 
Offecer  Brief  an  r'«''  'Feraasgeber  der  ,Facke| 

V  »n   Karl  Bon  Heinrich. 


Brecheint   in    zwangloser   Polgi 


iidnick  und  gewerbsmäßiges  Verleihen  vertoien  f  geridtt 

VerfolfJ'iing  VOrbchfll^en. 


.-  WH 


üigitized  by  ^^JK^fKJSj^lK. 


KARL  KRAV3 
SPRVECHE 

VND  WIDER 
SPRVECHÜ 


Verlag  ALBERT  U 


ULr  RTir.KnAKHT  nM/ic<v   nr 


Die  Fackel 

Nk.  277-78  31.  MÄRZ  1909  X.JAHR 


KARI/  KRAUS. 

Zum  zehnten  Jahrestag  des  Erscheinens  der 

,Paokel'  (1899—1909). 

Von  Robert  Scheu. 

Die  Persönlichkeit  eines  Menschen  ist  ein  fester 
Bezirk,  eine  eherne  Schranke,  über  deren  Peripherie 
kein  noch  so  heifies  Bemühen,  kein  Flug  der  Be- 
geisterung, keine  Investition  von  Bildung  und  Er- 
fahrung hinausführt.  Eine  Persönlichkeit  »entpuppte 
sich,  aber  sie  entsteht  nicht.  An  dieser  meiner  azio- 
matischen  Oberzeugung  könnte  ich  irre  werden,  wenn 
ich  mir  die  Entwicklung  Karl  Kraus  vergegen- 
wärtige. Wer  hätte  damals,  vor  etwa  fünfzehn  Jahren, 
in  dem  vergnügt  dreinblickenden  blonden  Knaben- 
kopf diese  vulkanische  Persönlichkeit  mit  ihren 
Leidensmöglichkeiten,  die  verzehrende  Flamme,  den 
unersättlichen  Vernichtungstrieb,  die  leidenschaftliche 
Oeistigkeit  ahnen  dürfen?  Ist  das  wirklich  derselbe 
Mensch?  Hat  er  schon  damals  gelitten,  als  er  noch 
im  vertrautesten  Umgang  mit  jenen  Menschen  stand, 
welche  ihn  später  zu  solchen  Visionen  des  Hasses 
inspirierten?  Er  schien  sich  zu  jener  Zeit  recht  be- 
haglich zu  fühlen,  während  er  sich  —  wahrscheinlich 
instinktiv  —  an  seinen  künftigen  Opfern  nährte.  Und 
doch  hat  er  später  Proben  eines  überraschenden  Ge- 
dächtnisses gegeben,  welche  die  Annahme  einer 
naiven  Hingabe  an  seinen  damaligen  Verkehr  nicht 
gut  zulassen.  Hat  er  etwa  die  Musih  zu  dem  Text 
erst  später  gemacht  oder  Unbewußtes  nachträglich 
analysiert?  Es  gibt  Naturen,  welche  naiv  erleben 
und  hinterher  von  analytischen  Dramen   geschüttelt 

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—   2   — 


werden.  Problem  der  »Rachec  Elr  schrieb  schon 
damals  witzige  Wochenübersichten  und  Plaudereien 
und  auffallend  treffende  literarische  Kritiken,  die 
ein  bemerkenswertes  Arsenal  von  Geschossen,  abet 
keinen  Hauptgedanken  erraten  liefien  und  übrigeoM 
alle  Welt  amüsierten. . . . 

Er  rüstete,  das  war  klar,  aber  gegen  wenf 
Plötzlich  —  die  Kralle  —  »Demolierte  Literaturc. 
Man  sah  auf.  Ein  Glutregen  von  Bosheiten  und 
zum  erstenmal  —  Profil.  Zwar  noch  immer  der 
Witz  Jahresregent,  aber  er  fängt  an,  etwas  zu  sagen. 
Grofie  Spannung.  Dieser  Mensch  wird  vielleicht  noch 
ein  Schicksal  • .  . 

Und  es   kam Eines  Tages,   soweit   das 

Auge  reicht,  alles  —  rot.  Einen  solchen  Tag  hat 
Wien  nicht  wieder  erlebt.  War  das  ein  Geraune,  ein 
Geflüster,  ein  Hautrieseln  I  Auf  den  Straßen,  auf  der 
Tramway,  im  Stadtpark,  alle  Menschen  lesend  aus 
einem  roten  Heft ...  Es  war  narrenhaft.  Das  Bro- 
schürchen,  ursprünglich  bestimmt,  in  einigen  hundert 
Exemplaren  in  die  Provinz  zu  flattern,  mußte  in 
wenigen  Tagen  in-  Zehntausenden  von  Elxemplaren 
nachgedruckt  werden.  Und  dieses  ganze  Heft,  mit 
Pointen  so  dicht  besät,  dafl  man  es,  wie  die  ,Arbeiter- 
Zeitung'  sagte,  behutsam  lesen  mußte,  um  tPJne 
der  blitzenden  Perlen  zu  verlieren,  war  von  einen 
Menschen  geschrieben. 

In  dieser  ersten  Nummer  war  der  ganze  Akkord 
schon  angeschlagen:  Bekämpfung  der  Gh'quen,  der 
Nonvaleurs,  der  nahen,  lebendigen  T^annen  an  Stelle 
der  so  beliebten  Zeitungspolemik  gegen  abstrakte 
oder  wehrlose  Gegner.  »Greifen  Sie  den  Ackerbau- 
minister anl«  hatte  der  Herausgeber  der  ,Wage', 
seinem  kriegslustigen  Mitarbeiter  ins  Ohr  geraunt. 
Von  dem  war  keine  Revanche  zu  befürchten  und 
es  machte  sich  doch  riesig  tapfer.  Karl  Kraus 
wählte  sich  einen  gefährlicheren  Gegner:  die  .Neue 
Freie     Presse^     der     er     mit     einer     beispiellosem 


y  Google 


-  3  - 

Vehemens  an  den  Leib  fuhr.  Es  war  wie  im  Russisch- 
Japanischen  Krieg:  schon  die  Kriegserklärung  sprengte 
die  großen  Schlachtschiffe  in  die  Luft. 

Eine  einzige  Frage  schwirrte  damals  durch 
Wien :  wird  er  noch  einmal  in  seinem  Leben  fünfzig 
Zeilen  schreiben  können  oder  wird  er  jetzt  erschöpft 
zusammenbrechen?  Waren  es  die  Zinsen  oder  das 
Kapital?  Es  waren  die  Zinseszinsen.  Wirklich 
erschien  dreimal  im  Monat,  nunmehr  ein  volles 
Jahrzehnt,  das  rote  Ungetüm,  allemal  ein  Gegen- 
stand fieberhafter  Neugierde.  Die  ,Facker  bestritt 
eine  Zeitlang  das  ganze  Geistesleben.  Sie  ver- 
dunkelte Theater,  Politik  und  Literatur,  sie  war 
selbst  Alles  in  Allem.  Wen  wird  es  morgen  treffen? 
war  die  ständige  Frage  in  der  Zeit  dieser  gedruck- 
ten Schreckensherrschaft.  Die  ,Fackel^  gehörte  zum 
Strafienbild.  Drollig  war  es,  die  jeweils  gewürdigten 
Personen  auf  der  Tramway  oder  verstohlen  unter 
einem  Haustor  in  das  Blatt  vertieft  zu  treffen,  wo 
sie,  ziemlich  »angegriffent  aussehend,  sich  dem  un- 
gestörten Genuß  ihrer  Charakterisierung  hingaben. 
Der  Hofrat,  der  mit  der  ,Packel'  in  .der  Tasche  ko- 
kettierte, wurde  eine  Figur.  Man  grtifite  damals : 
>wie  stehen  Sie  mit  Kraus?«  Ein  ziemlich  wenig 
beachteter,  ganz  unbedeutender  Literat  vertraute  mir 
gelegentlich  an,  er  gewärtige  Tag  für  Tag  in  der 
,Fackel'  seine  »Vernichtung«.  Der  Ärmste  wußte 
nicht,  daß  er  nie  etwas  anderes  als  »vernichtet«  war. 
Aber  in  der  Tat,  es  gibt  eine  Reihe  von  Leuten, 
welche  erst  durch  einen  Angriff  in  der  ,Fackel'  der 
Öffentlichkeit  bekannt  und  im  Verhältnis  zu  ihrem 
bisherigen  Schattendasein  berühmt  wurden.  Bei  vie- 
len wurde  der  Schmerz,  in  der  ,Fackel'  havariert 
worden  zu  sein,  durch  das  Vergnügen  gemildert, 
dafi  es  einem  guten  Freund  nicht  besser  erging.  Es 
lohnte  sich  fast,  einmal  hingerichtet  zu  werden,  wenn 
man  um  diesen  Preis  der  Zuschauer  vieler  anderer 
Exekutionen  wurde.  Manche  Existenz,  manche  Repu- 

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4     — 


tation  wurde  durch  einen  einzigen  Federstrich  von 
Kraus,  manchmal  durch  einen  RelatiTsats,  abgesetzt 
Leute,  die  bis  dahin  prinzipiell  Gedrucktes  nicht 
kauften,  holten  sich  aus  der  ,FackeP  ihre  Bildung. 

Andererseits  wuchs  eine  Generation   auf,    eine 

ganz  eigene  Rasse,  welche  die  ,Facker  statt  als 
[edizin  als  Nahrung  zu  sich  nahm.  Jun^e  Leute 
hatten  ihre  > Fackelzeit«  so  gut  wie  ihre  »Burg- 
theaterzeit«. Sie  kombinierten  womöglich.  Auf  der 
Galerie  des  Burgtheaters  sah  man  die  lockigen 
Jungen,  vor  dem  Aufgehen  des  Vorhangs  in  diese 
Lektüre  vertieft.  Im  Gymnasium  verschaffte  es  An- 
sehen bei  den  Mitschülern  und  Mißtrauen  bei  den 
Professoren,  wenn  man  'in  diesem  Verdacht  stand. 
Kein  Zweifel,  einen  großen  Anteil  an  dem  wun- 
derbaren Erfolg  der  ,Fackel'  hatte  —  aufierdem,  dafl 
sie  dem  Leser  einen  Rausch  der  geistigen  Oberlegen- 
heit  verschaffte  und  fabelhaft  lustig  zu  lesen  war  — 
die  Befriedißjung,  welche  sie  der  Grausamkeit 
gewährte.  Kraus  hatte  damals  noch  eine  fröhliche, 
gesunde  Grausamkeit,  die  er  später  verlor,  oder  rich- 
tiger, gegen  sich  selber  kehrte,  vergeistigte.  Selt- 
sames Schicksal  1  In  jener  Periode,  da  er  vorwiegend 
Gesellschaftskritik  betrieb,  war  es  das  den  L^em 
bereitete  formelle  Vergnügen,  welches  von  dem 
hohen  sachlichen  Wert  seines  Kampfes  ablenkte; 
damals  erdrückte  die  Form  den  Stoff.  In  seiner  spä- 
teren Periode,  wo  er  immer  mehr  den  künstlerischen 
und  geistigen  Gehalt  aus  den  Erscheinungen  abzieht 
und  die  Form  ihm  wirklich  heilig  wird,  vergißt  man 
umgekehrt  über  dem  Stoff  den  Schriftsteller.  So  wird 
er  beide  Male  nicht  so  verstanden,  wie  er  es  bean- 
spruchen darf.  Für  das  zweite  Mißverständnis  ist 
allerdings  das  Publikum  weniger  verantwortlich,  da 
es  einmal  gewohnt  war,  in  der  ,FackeP  einen  be- 
stimmten Inhalt  zu  suchen. 

Uie    Gemütsunterlage    des    Fackelerfolges    bei 
ihrem  Erscheinen    war    die    aufgespeicherte    Oppo- 


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sition  gegen  die  ,Neue  Freie  Presße'^  welche 
Kraus  erst  ins  yoUe  Bewufitsein  rückte.  Tiefe 
Psychologen  haben  gemeint^  Kraus  habe  seine 
ganze  Ranküne  gegen  dieses  Blatt  daraus  ge- 
schöpft, dafl  er  nicht  als  Redakteur  engagiert 
worden  sei.  Es  ist  das  jene  Gattung  Menschen, 
welche  als  Historiker  den  Ausbruch  eines  Krieges  auf 
ein  unterlassenes  Triokgeld  zurückführen.  Nach  An- 
sicht dieser  Köpfe  kann  man  Todfeinde  durch  ein 
rechtzeitiges  Buckerl  tbesch wichtigen  und  zu  lebens- 
länglichen Freunden  umwandeln.  Ziemlich  allgemein 
glaubt  man  einem  Menschen  etwas  Herabsetzendes 
nachzusagen,  wenn  man  erzählt,  er  sei  da  und  dort 
abgelehnt  worden,  wo  er  sich  um  Aufnahme  in  einen 
Kreis  beworben  hat.  Als  ob  es  nicht  tausendmal 
lebendiger  für  den  Charakter  und  die  Per^nlich- 
keit  eines  Menschen  zeugte,  wenn  die  Anderen  ihn 
als  nicht  zugehörig  erkennen,  als  ob  das,  was  uns 
geschieht,  nicht  erst  recht  unsere  tiefste  Wirkung 
und  eigentliche  Tat  wäre.  In  der  Einschätzung,  die 
wir  uns  selbst  geben,  zeigt  sich  bestenfalls  die  Per- 
spektive, in  der  wir  uns  erscheinen;  diese  kann  auch 
eine  Unterschätzung  enthalten.  In  der  Stellung, 
welche  die  Andern  zu  uns  einnehmen,  liegt  aber  zu- 
mindest Instinkt  und  sie  erweisen  ups  manchmal 
die  Ehre,  uns  für  ihre  Gemeinschaft  zu  gut  zu  fin- 
den. Abgesehen  davon  hat  sich  die  Sache  gar  nie 
zugetragen. 

Es  ist  nicht  zuviel  gesagt,  wenn  man  behauptet, 
Karl  Kraus  habe  die  ,Neüe  Freie  Presse'  erst  entdeckt. 
Lange  nach  Kraus  haben  andere,  welche  mit  Ignorie- 
rung des  Preßproblems  politische,  kulturelle  ,und 
künstlerische  Aufgaben  verfolgten,  erkannt,  dafi  es 
ohne  Preßreform  überhaupt  keine  Reforn^  gibt,  weil 
die  Presse  immer  die  Macht  besitzt,  die  Aufmerksam- 
keit nach  Gefallen  zu  dirigieren,  die  führenden  Per- 
sonen kalt  zu  stellen,  und  dort,  wo  sie  schon  nicht 
die  Kinder  vertauschen  kann,  wenigstens  falsche  Er- 

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—  «  — 


seuger  unterzuschieben.  Der  Effekt  ist  der  nämliche : 
Vater  und  Kind,  sind  getrennt,  und  erkennen  sich 
Tielieicht  niemals  wieder.  Andererseits  kann  sich  troU 
des  furchtbarsten  Mifibrauchs,  zu  dem  die  Prefimacfat 
gelegentlich  verführt,  doch  niemand  entschiiefien«  ihre 
Notwendigkeit  und  UnersetzUchkeit  schlankweg  su 
bestreiten.  Es  ist  ein  matter  Trost  in  diesem  Dilemma, 
dafi  die  gröfiten  Persönlichkeiten  den  Haft  der  seit- 
genössischen  Presse  ausgehalten  und  siegreich  fiber- 
standen haben;  denn  er  wird^ aufgehoben  durch  die 
Betrachtung,  dafi  sie  dieser  Gegnerschaft  auch  immer 
sicher  zu  sein  hatten  und.  dail  hier  ein  Reibongs- 
koeffizient  in  die  Welt  gekommen  ist,  von  dem  gemie 
die  höheren  Menschen  betroffen  werden.  Will  man 
selbst  resignierend  zugestehen,  dafi  die  Presse,  wie 
sie  ist,  nur  der  Exponent  der  bestehenden  Macht-  mid 
Tatsachenverhältnisse  ist,  so  kann  man  sich  doch  der 
Erkenntnis  nicht  verschliefien,  dafi  deren  Schwere  und 
Druck  zugenommen  hat,  seit  sich  die  Gesellschaft 
eine  eigene  Punktion  daraus  gemacht  hat,  die  Dinge 
durch  die  Berichterstattung  zu  annullieren.  Ist  dies 
das  Wesen  oder  nur  eine  Entartung  der  Presse?  Das 
ist  die  Schicksalsfrage.  Vielleicht  haben  wir  es  nur 
mit  der  typischen  Erscheinung  zu  tun,  daft  in  dem 
ungeheueren  Organismus  des  modernen  sozialen  Liebens 
die  Macht  der  jeweils  ausführenden  Funktionäre  weit 
über  jenes  Mafi  hinauswächst,  welches  ihnen  von 
der  Organisation  selbst  zugedacht  ist;  in  Osterreich 
zumal  ist  das  Obel,  jedes  Lbel  verschärft  durch  den 
monopolistischen  Charakter^  den  hierzulande  alle  Art 
Macht  und  Besitz  gewinnt.  Einen  Kampf  der  Ge- 
sellschaft gegen  ihre  Organe  hat  es  immer  ge- 
geben, aber  niemals  hat  er  eine  solche  schicksals- 
volle Bedeutung  erlangt  wie  in  der  Gegenwart,  wo 
die  Gliederung  aller  sozialen  Funktionen  den  jeweils 
an  der  Klinke  befindlichen  Funktionär  zum  Herrn 
der  Welt  macht.  Heute  hat  es  ein  Delcass^  in  dei 
Hand,    den  Weltkrieg  zu  entflammen,     morgen  viel- 


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leicht  ein  zufälliger  Telegraphist.  An  allen  Qelenken 
und  Schrauben  der  Maschinerie  sitzen  die  Zufalls- 
Machthaber  und  die  Maschine  heifil  Staat,  Gesell- 
schaft. Karl  Kraus  hat  die  zufälligen  Besitzer  der 
Druckerschwärze  entdeckt  und  auf  die  kolossale 
Macht  hingewiesen,  die  sie  besitzen. 

Es  ist  dies  nur  ein  Teil  jenes  allgemeinen 
Kampfes  gegen  die  Maschinerie,  den  als  immanente 
Aktualität  der  modernen  Welt  erraten  zu  haben, 
keine  schlechte  Witterung  verrät.  »Organisiert  die 
Welt«  ist  ein  herrliches  Wort,  aber  auch  dieses  hat 
seine  Selbstaufhebung  in  sich.  Indem  sich  die 
Welt  organisiert,  liefert  sie  sich  aus.  Die 
Fäden  der  sozialen  Organisationen  vierteilen  —  Per- 
sönlichkeiten. Karl  Kraus  ibt  gegen  alle  Organisation 
und  Technik  von  einer  ganz  grandiosen  Ranküne 
erfüllt  und  bekommt  dadurch  einen  Stich  im 
Reaktionäre.  Er  nimmt  das  in  Kauf.  Die  Lösung  des 
Problems  liegt  gewifi  nicht  in  der  Verhöhnung  der 
Organisationen,  wie  sie  Karl  Kraus  so  vorzüglich 
gelingt,  sondern  in  etwas  Neuem,  Zukünftigem, 
welches  eben  den  Inhalt  künftiger  Geschichte  bilden 
wird.  Bis  dahin  aber  ist  es  wertvoll,  wenn  die 
Position  der  Persönlichkeit  verteidigt  wird,  und  ich 
wüßte  keine  klügere  Taktik  als  die  kühne  Aus- 
spielung einer  starken  Subjektivität.  Ein  gewisses 
Korrektiv  der  geschilderten  Gefahr  liegt  darin,  dafl 
sich  die  Organe  der  Gesamtheit  gegenseitig  in  Schach 
halten:  dies  ist  auch,  um  wieder  von  der  Presse  zu 
reden,  in  den  übrigen  Kulturländern  der  Fall,  wo 
sich  allenthalben  einige  einflufireiche  Blätter  unge- 
fähr das  Gleichgewicht  halten  und  eine  immerhin 
erträgliche  Oligarchie  bilden;  in  Ost  erreich  aber  ist 
das  intellektuelle  Leben,  und  um  dieses  handelt  es  sich, 
von  einer  Zeitung  monarchisch  beherrscht,  welche 
noch  dazu  die  Suggestion  ausübt,  daß  sie  die  Intel- 
lektuellen vertritt,  und  das  ist  in  seinen  Konse- 
quenzen unerträglich.    Karl  Kraus  hatte  niemals  die 

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—   8   — 


Absicht,  die  Presse  zu  bessern.  Er  stellte  sichs  nur 
£ur  Aufgabe,  ihre  Suggestion  zu  durchbrechen.  Das 
ist  natürlich  nur  eine  Interimsarbeit.  Die  Zeit  wird 
kommen,  wo  die  Gesellschaft  die  Macht  der  Presse 
ebenso  konstitutionell  regulieren  wird,  wie  die  Macht 
des  Staatsoberhauptes.  Derzeit  läfit  sie  jene  k  dis- 
cretion  schalten.  Wie,  wenn  eines  Tages  die  Gesell- 
schaft auf  den  Gedanken  verfiele,  die  Vertretungs- 
befugnis der  Presse  zu  prüfen?  Man  hat  noch  lange 
nicht  alle  Eonsequenzen  aus  der  Konstitution  ge- 
zogen 1  Das  allgemeine  Wahlrecht  führt,  genau  be- 
sehen, zu  der  Forderung,  dafi,  nachdem  nun  alle 
im  Lande  vertreten  sind,  niemand  mehr  das  Recht 
hat,  sich  für  einen  befugten  Vertreter  einer  Mehr- 
heit auszugeben,  der  nicht  in  der  Lage  ist,  sein 
Mandat  nachzuweisen.  Die  gegenwärtige  Macht 
der  Presse  beruht  zum  Teil  auf  diesem  Zwitterzustand. 
Sie  genießt  alle  Vorteile  der  Subjektivität,  ins- 
besondere die  UnVerantwortlichkeit,  derzufolge  es 
das  Recht  jedes  Blattes  wäre,  zu  verschweigen,  was 
ihm  beliebt,  —  gleichzeitig  wird  aber  die  Fiktion 
festgehalten,  daß  man  im  Namen  irgend  einer  Ge- 
samtheit das  Wort  führt.  Diese  aber,  das  »Volk^, 
die  » Intelligenz c,  oder  wie  das  vorgeschobene  Ding 
heißt,  haben  weder  das  Recht  noch  ein  Mittel,  dieses 
fingierte  Mandat  zu  bestreiten!  Wie,  wenn  die  Gte- 
sellschaft,  in  deren  Namen  die  Presse  richtet,  ein- 
mal darauf  dränge,  daß  ihr  Einfluß  geregelt  und 
systemisiert  wird?  Wenn  sie,  gerade  in  Anerkennung 
des  hohen  »Amtes^,  auch  einen  Mißbrauch  der  Amts- 
gewalt konstituierte? 

Die  Gesellschaft  gibt  die  Berichterstattung,  auf 
welche  sie  gewiß  ein  heiliges  Recht  hat,  derzeit  noch 
frei,  sei  es,  daß  sie  ihre  Wichtigkeit  nicht  erkennt« 
sei  es,  daß  sie  zu  ihr  volles  Vertrauen  hat.  Die 
Presse  weiß  es  aber  lange  schon,  daß  die  Bericht- 
erstattung wichtiger  ist  als  die  Ereignisse,  \md 
macht  sich  diese  Entdeckung  ohneweiters  zunutze. 

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—  9   - 


Die  ,Neue  Freie  Presse'  insbesondere  hat  davon 
einen  so  beherzten  oder  richtiger  so  exzessiven  Qebrauch 

femacht)  daß  man  von  der  Wiederaufrichtung  der 
'reßzensur  sprechen  kann,  worunter  man  aber 
nicht  etwa  die  an  der  Presse  geübtOi  sondern  die 
heute  schon  unendlich  gefährlichere  und  aktuellere: 
von  der  Presse  geübte  Zensur  zu  verstehen  hat.  Sie 
macht  sich  schlankweg  zum  Herrn  der  Ereignisse 
und  hat  es  soweit  gebrachti  geradezu  Verwaltungs- 
befugnisse zu  arrogieren.  Sie  zensuriert  längst  nicht 
mehr  blofi  den  Wert  literarischer  und  künstlerischer 
Erscheinungen,  sondern  sie  zensuriert  die  Zahl  der 
irgendwo  versammelten  Personen.  Sie  tötet  und  erweckt 
zum  Leben,  sie  verhängt  Boykotte,  die  bis  in  den  privaten 
Verkehr  und  in  das  intimste  Geschäftsleben  reichen, 
und  bald  wird  es  sein,  wie  im  Jesuitenstaat,  wo  das 
Erklingen  von  Glocken  den  Ehepaaren  die  Stunden 
der  erlaubten  Begattung  verkündigte.  Die  ,Neue 
Freie  Presse'  leistet  sich  den  Hohn,  die  von  ihr 
Totgeschwiegenen  wörtlich  zu  zitieren  und  andere 
Autoren  unterzuschieben.  Oder  sie  begrüfltes  mit  einem 
>Endlich  hat  sich  Einer  gefunden,  der  .  .  .€,  wenn 
der  Plagiator  das  Wort  ergreift,  während  sie  den 
Autor  des  Originals  niemals  kennen  mochte.  Die 
Magna  Charta  der  ,Neuen  Freien  Presse*  ist  der 
Absolutismus  der  Bosheit,  gemildert  durch  einen 
administrativen  Tarif.  Ein  früherer  Herausgeber  hat 
es  einmal  rund  herausgesagt:  »Hier  haben  Sie  den 
Kopf  des  Blattes:  ,Neue  Freie  Presset  Das  muß  stehen 
bleiben;  alles  andere  ist  gegen  bar  zu  haben. €  Unter 
dem  neuen  Regime  wurde  das  Hausgesetz:  »Alles, 
was  bezahlt  ist,  bringen  wirc,  dahin  verschärft,  dafl 
von  nun  an  nur,  was  bezahlt  ist,  gebracht  wird.  Das 
ist  die  sogenannte    »Benedikt'sche  Formeh. 

Das  Betrübendste  ist,  dafl  selbst  solche 
Blätter,  welohe  ursprünglich  als  Opposition  zu  ihr 
gegründet  wurden,  mit  a^r  Zeit  von  ihr  redigiert 
werden.  Heute  ist  beispielsweise  »«.oH  ^[q  ,Arbeiter- 

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—  10  — 


Zeitung^,  welche  nach  ihrem  einstigen  Programm 
die  ganze  Journalistik  durch  ihr  blofles  Dasein  zur 
Wahrheit  zwingen  sollte  und  wirklich  eine  Zeit  hatte, 
wo  sie  macht  v^oll  schrieb,  nur  mehr  eine  Filiale 
der  ,Neuen  Freien  Presse*.  Das  muß  nun  frei- 
lich tiefere  Gründe  haben,  deren  Erforschung 
Aufgabe  eines  österreichischen  Historikers  sein 
wird.  Am  Ende  ist  die  ,Neue  Freie  Presse'  der 
wirkliche,  berufene  Exponent  dieser  Kultur?  Ais  wir 
jünger  waren,  meinten  wir  in  unserer  Naivet&t 
ernstlich,  man  müsse  der  ,Neuen  Freien  Presse*  oder 
etwa  der  ,  Arbeiter-Zeitung'  nur  ein  ideales  Programm 
zeigen  und  sie  würden  mit  Enthusiasmus  echte  Werte 
vertreten.  Heute  wissen  wir,  dafl  sie  es  weder  können 
noch  wollen  können.  Karl  Kraus,  der  niemals  im 
Namen  irgendeiner  Korporation  oder  gar  einer 
Majorität  auftrat,  leistete  nun  gerade  als  Person  das, 
was  die  Gesellschaft  sich  später  einmal  als  Kon- 
stitution des  geistigen  Lebens  erringen  wird  müssen. 
Er  nahm  sich  der  unmündigen  Gesellschaft  an  und 
setzte  der  suggestiven  Macht  der  Presse  seine 
Kritik  und  seine  Suggestion  entgegen.  Es  ging 
nicht  anders,  er  mußte  sie  jahrelang  Tag  um  Tag 
unter  Kontrolle  stellen,  bis  das  Publikum  einiger- 
maßen geschult  war.  Dieser  Kampf  ist  eine  geschicht- 
liche Tat,  ein  Kulturwerk  hohen  Ranges,  eine,  was 
aufgewendeten  Mut  und  Geist  betrifft,  schier  über- 
menschliche Leistung,  für  welche  es  keinen  hin- 
reichenden Dank  geben  kann.  In  diesem  Kampf,  der 
mit  intimster  Kenntnis  des  Gegners  geführt  wurde, 
mit  einer  Wachsamkeit  und  Unermüdlichkeit,  die 
immer  neue  spannende  Wendungen  erfand,  in  diesem 
eigentlichen  und  wahren  »Kulturkämpfe  erwuchs 
ihm  ein  ungeahntes  Pathos,  und  es  zeigte  sich,  daß 
Kraus  nicht  nur  Geist,  viel  Geist,  sondern  auch  ein 
Herz  besaß. 

Aber  die  Presse  war  nafüj^iloh  nur  eine  jener  Insti- 
tutionen, die  er  j^ri^^^ioctej  und  wenn  er  sie  am  härte- 


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—  11  ~- 


sten  anfaftte,  so  tat  er  es,  weil  er  sie  für  den  konzen- 
triertesten  Ausdruck  der  öffentlichen  Zustände  hielt. 
BSr  verfolgte  aber  daneben  die  kleinen  Dummheiten 
des  Tages  und  spendete  den  tiefsten  Trost,  den  es 
nach  Hujsmans'  Ausspruch  gibt:  den  Pessimismus. 
Dieser  Pessimismus  war  von  der  befreienden  Art. 
Das  deprimierendste  Ereignis,  der  Druck  wider- 
wärtiger aber  mächtiger  Personen,  die  Schwächen  der 
Bureaukratie,  die  Widersinniekeit  von  Einrichtungen 
—  wenn  er  sie  darstellte,  fühlte  man  eine  künstlerisch 
•rlösende  Wirkung.  Man  hatte  die  Empfindung,  er 
sei  mächtig  genug,  uns  von  diesen  Leiden  zu  be- 
freien. So  entstand  später  der  lächerliche  Vorwurf, 
•r  habe  die  Welt  doch  nicht  gebessert,  alles  sei  beim 
Alten  geblieben.  In  der  Tat,  es  ist  wirklich  unver- 
zeihlich: Kraus  war  so  pflichtvergessen,  die  Korrup- 
tion weiter  bestehen  zu  lassen. 

Und  doch,  er  tat  weit  mehr,  als  man  von 
ihm  erwartete  oder  verlangte.  Der  Witz,  umdessent- 
willen  er  gesucht  wurde,  erhob  sich  immer  mehr  zur 
organischen  Waffe,  hinter  der  Kralle  war  eine  Tatze. 
Er  hatte  ein  Herz  für  Schönheit  und  Genie  und 
für  den  bleichen  Angeklagten  vor  den  Schranken 
des  Gerichts.  Er  brüllte  wie  ein  Löwe,  als  ein  Richter 
•inen  armen  Burschen  wegen  eines  gewalttätigen 
Diebstahls  einer  Börse  zu  lebenslänglichem  Kerker 
verurteilte.  So  furchtbar,  wie  im  Fall  Kraft-Peigl  hat 
man  Kraus  nie  wieder  gesehen.  Das  war  Konvent! 
Dann  wieder  prägte  er  Worte,  in  welchen  sich  sein 
Witz  zu  lapidarer  Größe  steigerte:  »Lynch- Justiz 
für  die  Justiz-Lyncherc  —  »Irrenhaus  österreichc. 
Was  immer  er  vertrat,  und  wenn  es  auch  unhaltbare 
Dinge  waren,  stets  wußte  er  sich  den  Anschein  des 
letzten,  definitiven  Standpunktes  zu  geben,  welcher 
jede  weitere  Debatte  ausschloß.  Hatte  er  aber  die 
Oberzeugung,  sich  vergriffen  zu  haben,  dann  war  es 
ihm  geradezu  eine  Lust,  sich  selbst  zu  desavouieren. 
Durfte  er    doch,    gleich  seinem    Geistesverwandtea 


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—  12 


Lichtenberg  ron  rioh  sagen,  er  sei  oft  wegen 
begangener  Fehler  getadelt  worden ,  die  seine 
Tadler  nicht  Kraft  und  Wits  genug  hatten,  au 
begehen! 

Nun  ja,  er  war  auch  Journalist.  Er  war  es  von 
Qeblüt  wie  Marat,  der  kochend  und  schäumend 
herumging  und  schreiben  muftte.  Die  Dinge,  die 
Ereignisse,  die  Menschen  wirken  auf  ihn  wie  Peitschen- 
hiebe. Er  ist  nicht  wie  Heinrich  Heine,  der  vergnügt 
ausruft:  Wieder  ein  Narr, —  der  mufl  raiiir  viele  Gold- 
stücke von  Hoffmann  und  Campe  einbringen,  er  sei 
mir  willkommen  I  Seine  Narren  machen  ihm  keinen 
vergnügen  Tag,  sondern  er  wird  aschfahl  über  eine 
Zeitungsnotia,  er  zittert  vor  Erregung  und  Ekel  und 
kann  über  eine  Menschenfratze  so  bestürzt  sein,  wie 
ein  Patriot  alten  Schlags  über  eine  Niederlage  des 
Vaterlandes.  Er  schreibt  aus  keinem  System  heraus, 
tritt  an  alle  Dinge  rein  kasuistisch  heran  und  ent- 
deckt sein  System  viel  später.  Als  GLefredakteur 
nimmt  er  einfach  Alles,  was  gut  ist,  —  und  es  paftt, 
wirkt  aktuell.  Er  erzeugt  die  Aktualität.  Seine  Mit- 
arbeiter staunen,  wie  er  durch  das  Wegstreichen 
eines  Wortes  glänzende  Wirkungen  erzielt.  Mit 
welcher  Qestaltungskraft  er  aus  ganz  kleinen  Vor- 
fällen des  Tages,  einer  eingesendeten  Notiz,  eine 
Geschichte  macht  I  Ein  ganzes  Dutzend  von  Courte- 
lines gehen  nur  so  mit  drein.  Schlieftlich  hat  das  Papier 
der  ,Fackel'  sich  so  mit  Geist  durchtränkt,  daß  die 
wörtliche  Reproduktion  einer  Zeitungsnotiz  mit  ge- 
sperrten Lettern  als  zwerchfellerschütternde  Satire 
wirkt,  bloß  weil  sie  die  Perspektive  der  ,Fackel' 
erhalten  hat. 

Dem  großen  Publikum  hat  Kraus  am  besten 
behagty  solange  er  mit  den  Waffen  und  dem 
Ressentiment  einer  intensiven  Geistigkeit  den 
Kampf  gegen  Presse,  Bureaukratie^Universitätsmis^re, 
Wucher  und  veraltete  Gesetze  führte,  Schma- 
rotzer    und     Nullen     entlarvte     und    Tageslächer- 


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—  13 


lichkeiten  ziselierte.  Kein  Zweifel,  es  wäre  eine 
Lebensaufgabe  gewesen  und  er  hätte  sie  ein  Leben 
lang  durchführen  können,  ohne  das  Publikum  zu 
ermüden;  kein  Zweifel,  wir  alle  haben  es  so  erwartet 
und  wären  umso  lieber  darauf  eingegangen,  als  im 
Rahmen  der  gesellschaftskritischen , Fackel'  gelegent- 
lich höchst  bedeutungsvolle  Ausführungen  über 
Literatur,  Theater  und  die  anderen  Künste  Raum 
fanden.  Wäre  Kraus  nicht  Gesellschaftskritiker,  so 
müfite  sein  tiefes  Kunsturteil  noch  mehr  auffallen. 
Seine  Autorität  ist  darin  —  ohne  daß  es  der  Öffent- 
lichkeit voll  zum  Bewußtsein  kommt,  gewissermaßen 
kryptogam  —  ganz  außerordentlich.  Ein  Lob  aus 
seiner  Feder,  zwei,  drei  Zeilen,  machen  literarischen 
Ruhm.  Da  hat  er  Witterung,  die  »Eingeweide  riechtc. 
Hier  zeigt  es  sich  auch,  daß  er  gar  nicht  Rationalist 
ist,  als  was  er  vielen  wegen  seiner  zersetzenden 
Kritik  gesellschaftlicher  Zustände  erscheinen  mag. 
Hier  ist  er,  was  man  immer  von  ihm  verlangt,  daß 
er  sein  soll:  positiv.  Hier  ist  er,  was  man  gleich- 
falls von  ihm  verlangt:  liebevoll  und  zärtlich.  Hier 
ist  er  sogar  treu.  Seine  Lieblinge  sind  in  guter  Hut. 
An  ihnen  wird  er  zum  Verschwender,  da  ist  er  weich 
und  feurig  und  was  man  will.  Wie  er  seinen  Alten- 
berg, seinen  Girardi,  seinen  Matkowsky,  seinen 
Baumeister  mit  Blumen  überschüttet,  ist  einfach 
rührend.  Die  großen  Verachtenden  sind  auch  die 
großen  Verehrenden. 

Aber  die  , Fackel*  veränderte  ihren  Inhalt,  ihre 
Gestalt.  In  Wien  beeilt  man  sich,  die  Leute  tot  zu 
sagen.  Der  Tod  der  ,FackeP  wurde  sogar  ausdrück- 
lich plakatiert.  Der  Österreicher  rächt  sich  an  allem, 
was  ihm  irgend  einmal  imponiert  hat;  auch,  was  ihn 
angeregt,  was  ihn  mitgerissen  hat.  Nirgends  wird 
man  so  schnell  für  abgetan  und  ausgelebt  erklärt. 
Was  war  in  Wirklichkeit  mit  Kraus  geschehen?  Er 
war  von  der  Gesellschaftskritik  zur  Kulturkritik 
weitergeschritten.  Der  Marsch  vollzog  sich  sehr  eigen- 

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—  14  — 


artig.  Er  ging  über  die  Nerven.  K[rau8  hatte  einoi 
neuen  groSen  Gegenstand  entdeckt,  der  nie  xuTor 
die  Feder  eines  Publizisten  in  Bewegung  gesetzt  hat: 
Die  Rechte  der  Nerven.  Er  fand,  dafi  sie  ein 
ebenso  würdiger  Gegenstand  einer  begeisterten  Ver- 
teidigung seien  wie  Eigentum,  Haus  und  Hof,  Partei  und 
Staatsgrundgesetz.  Er  wurde  der  Anwalt  der  Nerven 
und  nahm  den  Kampf  gegen  die  kleinen  Belästiger 
des  Alltags  auf,  aber  der  Gegenstand  wuchs  ihm 
unter  den  Händen,  er  wurde  zum  Problem  des  Privat- 
lebens.  Es  zu  verteidigen  gegen  Polizei,  Presse, 
Moral  und  Begriffe,  schließlich  überhaupt  gegen  den 
Nebenmenschen,  immer  neue  Feinde  zu  entdecken, 
wurde  sein  Beruf.  Darin  blieb  er  sich  treu  bis  auf 
den  heutigen  Tag.  Er  verfocht  eine  neue  Gruppierung 
der  Begriffe,  indem  er  nachwies,  wie  vieles  unter  dem 
irreführenden  Gesichtspunkt  der  Moral  geht,  was  viel 
ökonomischer  als  Individualrecht  verteidigt  werden 
kann,  und  leistete  eine  langwierige,  mühsame,  ver- 
wickelte Aufklärungsarbeit.  So  kam  er  in  das  Laby- 
rinth der  feineren  geistigen  Konflikte,  welche  man 
bisher  nicht  gewohnt  war,  in  einer  programmatischen 
Zeitschrift  ausgeführt  zu  sehen.  Ja,  wenn  es  auf  Grund 
irgend  einer  Partei  oder  eines  Systems  gewesen  wärel 
Aber  es  geschah  nur  auf  Grund  der  Persönlichkeit 
Dieselbe  Eigentümlichkeit  seines  Geistes,  sein  tiefstes 
Wesen,  welches  ihn  zum  Journalisten  machte,  führte 
ihn  schliefilich  davon  wieder  ab:  es  besteht  darin, 
die  Dinge  unmittelbar,  ohne  irgendeine  Zwischen- 
instanz  auf  seine  Persönlichkeit  wirken  zu  lassen. 
Ist  der  Gegenstand  ein  populärer,  so  ist  man  Jour- 
nalist im  grollen  Sinn.  Wird  der  Gegenstand  differen- 
zierter, geistiger,  so  wird  man  —  Aphorist  Die  Kon- 
flikte, die  ihn  von  da  an  reizen,  liegen  auf  jenen* 
großen  Gebiet»  wo  die  gesellschaftliche  Ordnunf^ 
sich  mit  dem  Innenleben  berührt,  also  einem  Gebietj 
welches  vorwiegend  der  künstlerischen  Bearb^tong 
unterliegt.  Infolgedessen  ist  es  nieht  so  leicht,  in  einei 


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-  IB  ~ 


Formel  zu  aagen^  was  Kraus  eigentlich  vertritt.  Er  selber 
könnte  seine  Weltanschauung  nicht  so  zusammen* 
fassen,  dafl  sie  auf  einem  Meldezettel  Platz  hätte.  Fär 
die  gegenwärtige  Ordnung  der  Din^e  ist  er  absolut 
nicht  eingenommen.  Er  ist  auch  nicht  blofi  kritisch. 
Utopien  sind  aber  gleichfalls  nicht  seine  Sache.  Er 
entwirft  keine  Qesellschaftsordnung  und  keine  Gesetze. 
Er  ist  kein  Sozialdemokrat,  kein  Anarchist,  aber  am 
allerwenigsten  Bourgeois.  Und  doch  ist  eine  mächtige 
treibende  Kraft  da,  hinter  der  unbedingt  etwas  Posi- 
tives steht.  Die  Sache  läßt  sich  vielleicht  ganz  ein- 
fach sagen:  er  ergreift  die  Partei  der  Naturmacht 
gegen  das  Getriebe  des  Alltags.  Hat  die  Natur  einen 
solchen  Streiter  nötig?  Merkwürdigerweise:  ja.  Die 
zwei  größten  Naturmächte:  Genie  und  Geschlecht 
mOssen  tatsächlich  »vertretene  werden.  Die  Kunst 
tut  nichts  anderes.  Neu  ist  nur,  dafi  es  ein  Journalist 
tut.  Und  doch  ist  es  logisch.  Die  Natur  hat  immer 
den  Tag,  dioJetztzeitt  zum  Gegner.  Sie  kann  daher 
neben  Dramendichtern  auch  sehr  gut  einen  solchen 
Streiter  brauchen,  der  sie  mit  Tagesmitteln  gegen 
den  Tag  bewaffnet.  Die  konventionelle  Ordnung 
ist  von  zwei  ständigen  Revolutionen  bedroht:  vom 
Geschlecht  und  vom  Genie.  Will  man  ein  einziges 
Wort  —  von  der  Schönheit.  Die  Schönheit  ist  die 
gewaltigste  aller  revolutionären  Mächte.  Die  Gesell- 
schaft kann  nicht  furchtbarer  kritisiert  werden  als 
vom  Standpunkt  der  Schönheit,  Alle  die  unendlichen 
Verzweigungen  der  Korruption  sind  nichts  anderes 
als  Verbrechen  an  der  Schönheit,  lassen  sich  irgend- 
wie darauf  zurückführen.  Es  liegt  etwas  Erd- 
erschüttemdes  in  der  Schönheit  und  etwas  rasend  Auf- 
reizendes in  dem,  der  sich  unter  ihre  Fittiche  stellt. 
Hier  verknotet  sich  Sozialpolitik  und  Sexualpolitik 
bei  Kraus,  von  jener  ausgehend  landet  er  bei  dieser. 
Dies  das  Leitmotiv,  welches  sich  immer  gebieterischer 
ins  Bewußtsein  drängt.  So  wuchs  er  seinem  neuen 
groften  Problem  entgegen:  Sittlichkeit  und  Krimi- 

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—  IG  — 


nalität.  Die  Aufsätze,  seither  in  einem  Bande  ge- 
sammelt, haben  uns  erst  die  Augen  geöffoet.  Eine 
Zeitlang  schien  es,  als  habe  er  sich  aus  Liebhaberei 
auf  ein  Nebengeleise  begeben.  Die  Übersicht  belehrt 
uns,  dafi  er  auch  hier  einen  Marsch  vollssogen  hat, 
dessen  taktischer  Sinn  sich  erst  dem  rückschauenden 
Blick  enthüllt.  An  hundert  kleinen  Tagesbegeben- 
heiten, zumeist  Gerichtsfällen,  wird  ein  unheilvolles 
Mißverständnis  in  der  Behandlung  der  sexuellen 
Frage  enthüllt.  Der  Gedanke,  dafi  der  Staat,  die  Ge- 
setze und  ihre  Organe  sich  notwendig  und  regelmäfiig 
vergreifen,  wenn  sie  an  die  Naturgewalt  der  Sexuali- 
tät herantreten,  wird  mit  einer  Vielseitigkeit  der 
Darstellung  und  mit  einem  Reichtum  der  Eixempli- 
ßkation  belegt,  der  einer  -wissenschaftlichen  Quellen- 
arbeit Ehre  machen  würde.  Gleichzeitig  wird  Kraus 
zum  Künstler  von  einer  unerschöpflichen  Produkti- 
vität in  der  Darstellung  der  komischen  Konsequenzen 
dieses  Mifiverständnisses  und  MifigrifTes.  Die  Polizei 
kommt  dabei  schlecht  weg.  Sie  hat  überhaupt  in 
Kraus  einen  schrecklichen  Antipoden,  einen  wahren 
Racheengel  gefunden. 

Im  Kampf  zwischen  staatlicher  Flickarbeit  und 
der  Naturgewalt  der  Sexualität  erscheint  ihm  das 
Weib  als  Vertreter  der  inkommensurablen  Macht, 
bei  deren  Bezähmung  die  Satzung  teils  lächerlich, 
teils  widerwärtig,  manchmal  beides  zugleich  wird.  Für 
das  Weib  hat  Karl  Kraus  eine  innige  Zärtlichkeit.  Es 
ist  seine  große  Liebe  und  wenn  er  für  bedrängte 
Frauen  eintritt,  kann  sein  Pathos  eine  pracht- 
volle Höhe  erreichen.  Darin  lehnt  er  jede  soziale 
Betonung  grundsätzlich  ab.  Er  tritt  für  das 
Weib  ein,  weil  es  ein  Weib  ist.  Er  hat  den 
Gedanken,  dafi  die  Moral  mit  der  Erotik  nichts 
zu  schaffen  hat,  am  kühnsten,  nachdrücklichsten  und 
konsequentesten  verfolgt.  Er  ist  unermüdlich  in  der 
Darstellung  des  pyramidalen  Nonsens,  brav,  anständig 
charaktervoll  ohneweiters  gleichzusetzen  mit  keusch 

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—   17  ,— 

oder  gar  enthaltsam«  Diese  Gleichung  hat  sich  in  die 
feinsten  Fugen  der  Sprache  eingenistet  und  muß 
geradezu  ausgeschwefelt  werden.  Nun  ist  gewiß  die 
Erotik  ein  wesentlicher  Faktor  einer  Persönlichkeit. 
Nach  Nietzsche  reichen  Art  und  Charakter  der  Sexuali- 
tät bis  in  die  höchsten  Gipfel  der  Persönlichkeit.  Es 
fragt  sich  nur,  welche  Seiten  der  Sexualität  Wir  zu 
bejahen  und  welche  zu  verneinen  haben.  Kraus  geht 
in  der  strengen  Scheidung  zwischen  Erotik  und  der 
fibrigen  Persönlichkeit  bis  an  die  äußerste  Grenze  des 
Möglichen,  Wie  weit  er  darin  Recht  hat,  ist  eine 
Frage  für  sich.  Daß  er  aber  die  Verfechter  der  Ver- 
quickung  bis  aufs  Blut  zu  verfolgen  versteht,  muß 
man  ihm  lassen.  Es  erregte  Verblüffung,  als  Kraus 
mit  souveräner  Verachtung  der  öffentlichen  Meinung 
daran  ging,  das  Hurentum  vom  Schimpf  zu  erlösen, 
ja  die  Prostitution  selbst  als  natürliche  —  nicht 
soziale  —  Kategorie  proklamierte. 

Er  wurde  dabei  zum  Romantiker  und  geriet 
in  einen  eigentümlichen  Zwiespalt.  Während  er  über  die 
Feministen  die  Lauge  seines  Spottes  ausgoß,  wurde 
er  selbst  zugunsten  des  weiblichen  Geschlechts  un- 
gerecht gegen  den  Mann.  Das  macht,  er  ist  den 
Frauen  gegenüber  zu  viel  Liebhaber,  es  fehlt  ihm 
zur  Obersicht  über  das  weibliche  Geschlecht  selbst 
ein  Ingrediens,  welches  seine  Weibanschauung  erst 
rund  machen  würde.  In  ihm  steckt  kein  Hausvater 
und  nicht  eine  Faser  von  einem  Patriarchen,  darum 
ist  ihm  auch  die  Mutter  uninteressant  Er  ist  immer 
Page.  Aber  die  Halbwelt  ist  doch  nur  die  halbe  Welt. 
Seine  Art,  das  Weib  zu  sehen,  hängt  vielleicht 
damit  zusammen,  daß  ihm  der  staatenbildende 
Instinkt  fehlt,  der  auf  der  Kontinuität  der  Geschlechter 
beruht  und  im  Familiensinn  seinen  Ausdruck  findet. 
Seine  Abneigung  gegen  die  Politik  kommuniziert  mit 
seiner  Gleichgiltigkeit  gegen  die  Mutter  durch  ver- 
borgene Kanäle  der  Persönlichkeit. 

Sieht  man  von   diesem    notwendigen  Einwand 

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—  18  — 


ab,  80  mufi  man  Eugestehen,  daft  Kraus  d«ii  Frauen 
reiche  Bntschädigung  zu  bieten  hat.  Kraus  rettet  die 
Frauen  umgekehrt  als  es  üblich  ist.  Nicht,  indem  er  sie 
von  dem  Vorwurf  der  Sinnlichkeit  reinwäscht  oder  auf 
mildernde  Umstände  plaidiert,  sondern  indem  er  die 
Sinnlichkeit  selbst  preist  und  besingt.  EHne  viel 
wirksamere  und  geistreichere  Rettung  jedenfalls, 
welche  sich  die  Frauen  gefallen  lassen  können.  Er 
akzeptiert  alle  Argumente  der  Weiberfeinde  und 
Weibyerächter,  nur  sind  alle  diese  Argumente  flkr 
ihn  solche  der  Liebe.  Auch  er  meint,  daft  die  Frauen 
unlogisch,  eigensinnig,  oberflächlich  und  ungebildet 
sind.  Aber  er  findet  das  bezaubernd.  Übrigens  gelingt 
es  ihm,  von  dieser  Seite  in  die  Poesie  des  Weibes 
einzudringen  und  wie  sich  allmählich  seine  Brotik 
vergeistigt  und  raffiniert,  so  landet  er  schliefllich  bei 
einem  geistigen  Frauenwesen,  nur  freilich  ist  dieser 
Geist  von  ganz  anderer  Quelle  und  Artung  als  etwa 
der  des  Mannes  oder  einer  Hysterikerin  oder  eines 
Blaustrumpf;^. 

Dafi  seine  Zärtlichkeit  fQr  das  Weib  in  tiefere 
Schichten  seiner  Persönlichkeit  hinabreicht,  das  seigt 
sich  an  dem  Haft,  zu  dem  sie  ihn  gelegentlich  be- 
fähigt. Die  erste  Abwendung  von  Maximilian 
Ha r den  kündigt  Kraus  an,  fds  Harden  in  diesem 
Punkt,  im  Weiberpunkt  sein  Mißtrauen  reizt.  Von  da  an 
geht  es  aber  dann  reiflend  weiter.  So  weh  hat  Kraus 
niemandem  noch  getan  I  Die  Schläge,  die  er  seinem  Ber- 
liner > Rivalen  c  versetzte,  waren  so  furchtbar,  unwider- 
stehlich und  rasch,  daß  der  Angegriffene  trotz  seiner 
großen  publizistischen  Mittel  geradezu  den  Eindruck  der 
Wehrlosigkeit  machte.  Er  verfolgte  den  Mann  bis  zu 
den  Schatten  und  gab  ihn  auch  dort  nicht  frei.  Wo 
hat  es  je  eine  solche  Polemik,  eine  ähnliche  Attacke 
gegeben?  Hier  darf  man  selbst  die  gröfiten  Beispiele 
heranziehen,  ohne  dafi  Kraus  durch  den  Veraeich 
verdunkelt  wird.  Die  Verfolgung  Platens  durch  Heine 
macht  eher  einen   dürftigen   und  willkürlichen  Bin- 


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—  19  — 

<iruok,  wenn  sie  mit  dieser  elementaren,  furiosen, 
niederschmetternden  Abrechnung,  diesem  schnau- 
benden >Esse  delendumc  parsdlel  gestellt  wird. 
Lassalles  Julian  Schmidt  mag  auf  die  Zeitgenossen 
entfernt  so  gewirkt  haben.  »Wienc  siegte  glänzend 
über  »Berlinc«  Es  war  grausig  schön.  Harden  er- 
wachte eines  Morgens  und  war  unberühmt.  Wo  ist 
er?  fragte  man  sich,  die  Augen  reibend.  Der  aber 
war,  wie  bei  einem  Dynamitattentat,  restlos  dahin. .  .  . 

Was  kann  Kraus  noch  werden  und  wo  ist  der 
Königsgedanke  seines  SchafTens?  Ich  sagte  es  schon: 
die  Schönheit,  Man  könnte  aber  auch  sagen:  sein 
fifanzes  Leben,  so  mannigfach  verschlungen, gilt  einem 
ideal:  der  Persönlichkeit.  Er  betrauert  sie,  wenn 
sie  geknechtet  ist  und  richtet  sie  auf,  wo  er  sie  be- 
drängt findet. 

Kein  modemer  Qeist  hat  den  Sturz  der  Per- 
sönlichkeit in  der  modernen  Welt  tiefer  und  bren- 
nender empfunden  als  Karl  Kraus.  Er  hat  diese  Krise 
erraten  und  mit  den  allarmierendsten  Worten  yerküu- 
di|^.  Er  hat  dafür  ein  geradezu  erleuchtetes  Bewuflt- 
sein.  Ihm  sind  die  Möglichkeiten  der  Persönlichkeit 
bekannt  und  darum  ihre  Gefahren.  Den  wenigsten 
Zeitgenossen  dürfte  auch  nur  eine  Ahnung  davon 
dämmern,  was  da  vorgeht.  Eine  entsetzliche  Verarmung 
des  Menschengeschlechts.  Wir  werden  arm.  Das  ist's, 
wovor  ihm  graut.  Hier  rechtzeitig  zu  warnen,  die 
Verarmung  nachzuweisen,  das  ist  seine  Lebens- 
aufgabe. Alles  was  er  dazu  tut,  ist  nur  Waffe,  Rüst- 
zeug, Konsequenz.  Diese  grausige  Furcht  peitscht 
ihn  zur  vehementen  Kritik  der  Kultur,  während 
sich  andererseits  die  Kultur  selbst  in  ihm  mit  unheim- 
licher Rapidität  entwickelt.  Es  reifit  ihn  vom  Heute 
zum  Morgen,  läfit  ihn  das,  was  er  heute  noch 
goutiert,  morgen  öchon  verstoßen.  Er  konsumiert 
alles,  was  in  seinen  Bereich  kommt,  mit 
unheimlicher  Schnelligkeit  und  dabei  ist  es  seine 
Formel,  dafi  er  nichts  übergehen  kann  und  darf.  Er 

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—  20 


mufi  alles  an  sich  nehmen,  dann  aber  erlöst  er  sich 
davon  ganz  und  vollkommen.  Daher  wunderliche  Wider- 
sprüche in  seiner  Lebensführung,  welche  seinen 
Freunden  nicht  immer  paßt.  Was  ihm  bestimmt  ist, 
zu  bekämpfen,  mufi  er  vorher  suchen;  es  ist  aber 
umgekehrt,  wie  die  Leute  glauben.  Man  sagt,  er 
verrate  seine  Freunde.  Umgekehrt,  er  mufi  durch 
seine  Feinde  hindurchgehen.  Das  ist  tragisch,  aber 
es  ist  seine  Formel.  In  seiner  gallopierenden  Kon- 
sumtion liegt  aber  unstreitig  auch  das  Bedeutende, 
das  Dämonische  an  ihm.  Es  macht  ihn  sensiÜT  gegen 
alles  Verbrauchte  und  Triviale.  Die  Trivialität,  die 
feste  Schablone  tut  ihm  weh  wie  glühendes  Eisen. 
Wie  er  es  versteht,  auf  ein  Durchschnittspublikum 
diese  seine  Stimmung  zu  übertragen,  ist  ein  Rätsel 
Aber  ihm  gelingt's.  Er  vermag  es,  irgend  eine 
Tagesmeinung  mit  einer  solchen  Gtobärde  der  V^- 
achtung  abzutun,  daß  sie  wie  ein  ausgespuckter 
Standpunkt  erledigt  ist.  Es  gelingt  ihm,  das  Volks^ 
tümliche  zu  verhöhnen  und  damit  populär  zu  werden. 
Er  ist  nämlich  wirklich  populär,  er  ist  den  Wienern 
unentbehrlich. 

In  dem  Kampf  um  und  für  die  Persönlichkeit 
stößt  er  auf  die  Demokratie.  Von  der  hat  er  nie 
etwas  gehalten.  Er  hat  es  unglaublich  beherzt  heraus* 
gesag:t.  In  seinem  Kampf  gegen  die  gesellschaftlich^! 
Mißstände  gerät  er  mit  ihr  beinahe  wider  Willen  in 
ein  Freundschaftsverhältnis,  aber  er  hat  die  Seelen- 
stärke, alle  Bundesgenossen  zurückzustoßen.  Er  hätte 
sichs  leichter  machen  können.  Es  gab  eine  Zeit,  wo 
man  ihm  von  gewisser  Seite  stark  den  Hof  machte. 
Er  winkte  ab.  Er  will  wirklich  keine  Bundesgenosset 
Jeder,  scheint  es  ihm,  kompromittiert.  Jedei 
>Komitee€  ist  ihm  ein  Gräuel,  eine  Yerwässerung, 
eine  Verkehrung  ins  Gegenteil.  Er  hat  den  Willei 
zur  Einsamkeit.  Es  führt  ihn  dazu,  die  Politik  fibw- 
haupt  zu  negieren.  Jedes  wie  immer  geart€$te  Kol- 
lektiv-Wirken erscheint  ihm  als  Degradierung.     DJ 

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—  21 


Politik  ist  ihm  absolut  problematisch,  geradezu  un- 
verständlich. Ich  gebe  ihm  darin  nicht  recht,  aber 
ich  erinnere  mich,  dafi  Karl  Kraus  noch  jedesmal, 
wenn  ich  glaubte,  er  sei  um  eine  Strecke  zurück, 
um  eben  diese  Strecke  voraus  war.  Pest  steht,  daß 
für  einen  Geist,  der  unmittelbar  wirken  kann,  die 
Politik  ein  Umweg  ist.  Wenn  aber  Kraus  in  Bismarck 
beispielsweise  einen  Kopf  sieht,  dessen  künst- 
lerische Materie  gleichsam  nur  zufällig  die  Politik 
war,  so  beweist  er  damit  nur,  daß  ihm  das  Leben 
von  Massen,  Völkern,  Organismen  und  deren  Ex- 
ponenten unendlich  ferne  liegt.  Die  Politik  als  gleich- 
berechtigte Welt  mit  ihren  wunderbaren  zwingenden 
Gesetzen,  dieses  grofie  Fatum  ist  für  ihn  nichts  als 
ein  Monstrimi.  Dieser  Welt  nahe  zu  treten,  scheint 
ihm  versagt  zu  sein.  Aber  liegt  die  Schuld  an  ihm? 
Unser  Staat  ist  so  atomisiert,  dafi  sich  tatsächlich 
Individuen  in  der  Luft  bilden.  Schwebende  Geister, 
kolossal  anziehende  Erscheinungen,  wie  sie  vielleicht 
nirgends  sonst  auf  der  Welt  vorkommen;  hohe  Kul- 
turen ohne  reale  Unterlage.  Aber  die  Frage  ist,  ob 
es  das  geben  darf;  ob  es  aufier  denjenigen,  welche 
aus  ihrer  Isoliertheit  ein  Programm  machen,  irgend- 
eine Fruchtbarkeit  geben  kann,  losgelöst  von  Boden, 
Nation,  Territorium,  Staat.  Hier  beginnt  das  Proble- 
matische an  Karl  Kraus,  freilich  auch  das  Einzig- 
artige einer  Erscheinung,  die  in  England,  Frankreich, 
selbst  Peutschland  nicht  möglich  wäre.  Fragt  sich  nur, 
wie  es  endet,  ob  der  tragische  Unterton  solcher  Per- 
sönlichkeiten nicht  eben  doch  politische  Ursachen 
hat«  Daß  sichs  Kraus  zur  besonderen  Ehre  anrechnet, 
und  daraus  neue  exotische  Farben  für  seine  Palette 
gewinnt,  ändert  nichts  an  der  Tatsache,  dafi  ein 
solches  Empfinden  uferlos  ist. 

Jedenfalls  begünstigt  diese  Geistesstimmung 
seine  schon  berührte  Eip:enart:  allen  Dingen  un- 
mittelbar gegenübertreten  zu  können.  Zwischen  sich 
und   den  Dingen   keinen    wie  immer  gearteten  Ver- 

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—  22  — 


mittler  ku  haben,  kein  Syttero,  keine  Partei,  kone 
Abstraktion,  keinen  Standpunkt,  kein  Vorurteü,  keine 
Nation,  kein  Vaterland,  keine  »Bildungc,  und  dabei 
doch  eine  leidenschaftlich  bebende  Vollblutpereön- 
lichkeit  sein  —  das  muß  eine  ganz  neue  Musik  und 
eine  Form  der  höchsten  Unmittelbarkeit  geben.  Karl 
Kraus  hat  sie  in  seinen  Aphorismen  gefunden 
und  erobert.  Es  ist  in  diesen  »Sprüchen  und 
Widersprüche nc  etwas  Ton  der  Stimmung,  wie  sie 
Otto  Stoessl  für  den  Skeptiker  definiert:  »dessen 
Pathos  darin  liegt,  nichts  pathetisch  zu  sehen,  son- 
dern allen  Dingen  ihre  Schwere  zu  nehmen,  indem 
er  ihnen  seinen  Geist  einhaucht,  dessen  zartes  er- 
greifendes Lächeln  aus  der  groben  Welt  widerstrahlt, 
die  er  ansieht,  der  nicht  gestaltet,  sondern  nur  eben 
anschaut  und  mit  leisem  Liebhabergeist  das  bittere 
Leben  doppelt  liebt,  weil  er  es  in  all  seiner  Prag- 
wOrdigkeit  und  Biöfie  erkennte  Diese  Aphorismen 
wölben  sich  wie  ein  goldig-blauer  Septemberhimmel 
nach  langen  bangen  Stürmen.  Die  Sprachkunst  wird 
stoffrei,  materienfrei,  leichtbeschwingt,  hellklingend. 
Der  Stil  ist  konzentriert  und  bietet  sich  dem  Studium 
in  Reinkultur  dar.  Diesen  Stil  meinte  manch  einer 
aus  dem  Handgelenk  nachmachen  zu  können.  Da 
zeigte  sichs  ungefähr,  wie  schwer  das  ist,  so  eine 
kleine  Glosse  von  dreißig  Zeilen  zu  schreiben,  ohne 
dafi  der  Leser  früher  durchgeht.  Die  Kunst,  mit  der 
Sprache  so  zu  fesseln,  daß  der  Leser  mit  steigender 
Lust  und  Spannung  ins  Labyrinth  läuft  und  alle  auch 
schweren  Anforderungen  gerneauf  sich  nimmt — das  hat 
ihm  noch  keiner  abgeguckt  Das  Geheimnis  li^ 
vielleicht  darin,  dafi  Kraus  selber  einem  Sprach- 
labyrinth träumerisch  -  trunken  nachwandelt;  die 
Sprache  ist  für  ihn  ein  Garten  voll  unverhofiTter 
Rosen,  die  aus  allen  Lauben  hervorbrechen.  Er  hat 
Aufsätze  geschrieben,  Essays,  gipfelnd  in  einem 
klirrenden  Witz,  deren  Bau  und  Konstruktion  nicht 
zu   ergründen    und   doch  artistisch -gedanklich    voU- 


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88  - 


9ndet  ist.  Ihn  leitet^  Bcheints,  dieselbe  geheimnis- 
Tolle  Macht  wie  den  Lyriker.  Darum  gibt  es  bei 
ihm  keine  toten  Stellen,  keine  Lacunen,  sondern  ein 
unwiderstehliches  Weitergleiten,  wie  es  etwa  bei 
der  Wieland'schen  Prosa  ku  verspüren  ist,  wo  sich 
das  Umblättern  so  ganz  und  gar  im  Husch  und  von 
selber  macht.  In  seinen  Aphorismen  tritt  uns  diese 
Sprach -Produktivität  ganz  leibhaftig  entgegen. 
Karl  Kraus  darf  nun  endlich  erwarten,  dafi  er  seinem 
zuständigen  Richter  nicht  mehr  entzogen  wird;  er 
ist  nunmehr  in  der  Gesellschaft  angelangt,  auf  die 
er  ein  Recht  hat:  in  der  Gesellschaft  der  Denker 
und  großen  Herren  vom  Geist.  Er  kann  somit  auf 
seinen  wirklichen  Geschmack  ohne  die  Würze  der 
Tagesaktualität  genossen  werden.  Bei  allem  selbst- 
ständigen Leben  der  einzelnen  Aphorismen  liegt  in 
der  Komposition  dieses  merkwürdigen  Buches  eine 
Wechselwirkung  und  innere  Verkettung  der  Gedanken 
und  eine  jubelnde  Steigerung,  welche  sie  wiefder  zu 
einer  höheren  Einheit  verknüpft.  Man  darf  neugierig 
sein,  ob  gegenüber  diesem  Buch,  dessen  geisti- 
ger Schatz  sicherlich  heimlich  auf^e^iffen  werden 
wird,  die  österreichischen  >Intellektuellen€  die 
Frechheit  haben  werden,  zu  —  schweigen!  In 
den  Aphorismen  erkenne  ich  einen  vollendeten  Frei- 
geist, der  alle  Schlacken  von  sich  abgetan,  einen 
unverhofften,  edlen  Abschlufi  eines  stürmischen  Jahr- 
zehnts. 

Kolossaler  Marsch  einer  Persönlichkeit:  beginnt 
damit,  seine  Mitbürger  durch  gelungene  Scherze  über 
die  Tagesereignisse  zu  amüsieren,  gibt  seinen  Waffen 
allmälig  Objekt  und  Richtung,  stellt  sich  in  den 
Dienst  der  gesellschaftlichen  Gerechtigkeit,  erhebt 
sich  zum  grollen  hinreißenden  Journalisten,  wird 
zum  Kulturkritiker  und  Sachwalter  des  Individuums, 
dann  der  Persönlichkeit  und  des  Genies,  wirft  von 
einem  bestimmten  Zeitpunkt  an  alle  Eroberungen, 
Freunde,  errungenen  Positionen  wie  einen  Pappenstiel 


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—  24  — 


von  sich  und  zieht  sich  auf  den  Qeist  zurück  und 
wird  zum  Künstler  feinster  Weltbetrachtung.  Ihn  be- 
gleiten auf  diesem  Wege  Hafl  gegen  Trivialität,  gegen 
Schmarotzertum,  Demokratie  und  Popularität  —  Liete 
zum  Weib,  zur  Persönlichkeit  und  Einsamkeit,  wäh- 
rend er  immer  mehr  und  mehr  davon  abkommt,  /ür 
Menschen  und  Dinge  einzutreten  und  leidenschaftlich 
sein  Eigenstes  sucht,  um  es  endlich  nach  vielen 
Schmerzen  und  seltenen  Triumphen  zu  finden  und 
als  klingendes  Gedankengold  herauszuzahlen^  endend 
wie  er  begonnen,  mit  neuen  Verheißungen  und  viel- 
sagenden  V  ersprechen 


Die  Memoiren  der  Odilon. 

Anadyomene,  mit  einer  Krücke  dem  Meer  ent- 
stiegen —  so  erschien  sie  mir  auch  in  gesunden 
Tagen.  Erst  ihre  Krankheit,  deren  aphrodisischen  Ur- 
sprung sie  selbst  bekennt,  beglaubigt  sie  als  Weib. 
Ihre  Stimme  war  nicht  wie  Sirenensang,  den  zu  hören 
man  stirbt;  doch  es  klang  auch  kein  tragischer  Orgel- 
ton darin  und  keine  Glocke  zur  christlichen  Nacht. 
Das  Weib  im  Zustand  der  Zivilisation,  aber  ohne  das 
Heimweh  der  Hysterie  und  ohne  Widerspruch  gegen 
die  Gefängnisvorschriften.  Kaum  dafi  ein  Dämmer 
jener  Nervennot,  aus  der  das  Gefühl  der  heutigen 
Schauspielerin  schöpft,  die  Ahnung  eines  elemen- 
taren Lebens  weckte.  Hier  war  nicht  das,  was  dem 
Weib  Persönlichkeit  gibt,  das  tiefe  Nichts,  die  zau- 
berische Hülle  aller  Werte,  die  der  Mann  ver- 
leiht und  die  ihn  bereichern :  Hingabe,  die  Rückgabe 
ist.    Diese    Faszinationen    haben    nichts,    was    den 

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26  — 


Bürger  aus  dem  Weg  der  Korrektheit  reiften 
könnte,  aber  einen  Künstler  möchten  sie  serstören; 
diese  Betrügereien  vollziehen  sich  innerhalb  der 
Gesellschaftsordnung,  aber  einen  Mann  von  Gnaden 
der  Natur  könnten  sie  um  den  Verstand  bringen.  Das 
ist  die  Mission  solcher  Frauen,  von  denen  man  nicht 
wüfite,  WOEU  sie  geboren  werden,  wenn  sie  nicht  zu- 
guterletzt  eine  Erkenntnis  stärkten:  dafi  die  Kultur 
das  Chaos  wiederhergestellt  hat,  aus  dem  die  Welt 
erschaffen  wurde  .  .  .  Die  »interessante  Franc  und 
die  erotische  Posse  bezeichnen  die  geistigen  Grenzen 
der  christlichen  Geschlechtsfreiheit;  nichts  ist  un- 
interessanter als  jene  und  nichts  trauriger  als  diese. 
In  ihnen  huldigt  die  Übertretung  dem  Verbot;  das 
Mafi  dessen,  was  gewagt  wird,  ist  das  Maft  dessen, 
was  nicht  gewährt  ist,  und  so  wahr  Freiheit  die 
Feindin  des  Zwanges  ist,  so  ist  Frechheit  die  Ver- 
bündete des  Respekts.  Innerhalb  der  geistigen  Ord- 
nung aber,  die  die  Persönlichkeiten  bricht,  da  sie  sie 
nicht  biegen  kann,  hat  der  Gaukler  Talent  den  weitesten 
Spielraum.  Talent  ist  geschlechtslos  und  daher  welt- 
läufig. Es  täuscht  über  allen  Zwiespalt  eines  Lebens,  das 
dieGeschlechter  gegeneinander  stellt,  es  ist  eine  Verstän- 
digung von  Mann  zu  Weib.  Sinnengenuft  und  Rausch 
des  künstlerischen  Schaffens  tun  uns  nichts  mehr  zu 
leide;  es  sind  die  Sonnwendfeuer  des  Talents,  die  des 
Schein  eines  Waldbrandes  geben.  Talent  ist  der  Selbst- 
betrug, mit  dem  sich  das  Leben  über  seine  Verar- 
mung tröstet.  Und  durch  nichts  verarmt  es  mehr 
als  durch  die  Entschädigung.  Kraft  ist  schöpferisch, 
aber  Routine,  die  Kraft  ersetzt,  kann  nicht  einmal 
Routine  erschaffen. .  •  Sonst  kann  sie  alles.  Denn  das 
Wesen  des  Talentes  ist,  zu  können,  was  es  nicht 
mufi.  Ein  Talent  der  Liebe,  ein  Talent  der  Bühne, 
am  zweifachen  Spiel  gehindert,  wird  unschwer  zum 
Talent  der  Feder.  Versagt  die  rechte  Hand,  so  schreibt  die 
linke.  Sie  schreibt  Memoiren  eines  Talents,  die  ebenso 
jedes  andere  Talent  schreiben  könnte,  ohne  erlebt  zu 


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—  26  — 


haben,  was  sich  schreiben  läfit  Erinnerungen  an  die 
Tage,  da  eine  Stadt  vor  Frau  Helene  Odilen  auf  dem 
Kopf  stand  und  es  ohne  RQcksicht  darauf  tun  konnte, 
dafi  ein  wertvoller  Inhalt  in  Verwirrung  gerate. 

Mir  klafft  kein  Rifi  zwischen  der  peinlichen 
Sensation  dieses  Buches  und  dem  Eünstlemihm  dieses 
Lebens.  Und  schwer  wird  es  mir,  die  Autorin  nicht 
^egen  die  enttäuschten  Verehrer  der  Schauspielerin 
in  Schutz  zu  nehmen.  Denn  die  Frage  »Ist  das 
wirklich  notwendig  gewesen?€,  die  sich  schmerslich 
bewegten  Feuilletonisten  entringt,  darf  frank  bejaht 
werden.  Man  müsse  nicht  die  Odilen  gewesen  sein, 
sagen  sie,  »die  grofie  Mondäne,  die  Veriührerin  einer 
Städte,  um  ein  solches  Buch  zu  schreiben,  das  nichts 
enthalte  als  Elatschau»  Garderobe  und  Schlafzimmer;  um 
es  in  einem  saloppen  Komödiantenjargon  zu  schreiben 
und  in  einem  gleichgiltigen  Ton,  der  nichts  inter- 
essant zu  machen  wisse.  Ich  sage,  man  mufi  dazu 
die  Odilen  gewesen  seini  Liegt  die  Enttäuschung 
der  Verehrer  in  der  Erkenntnis,  dafi  die  Dame  keine 
hinreichend  geschickte  Feuilletonistin  ist?  Sie  scheint 
tiefer  zu  wurzeln;  denn  der  Tadel  resolviert  zu  der  Er* 
klärung,  an  dem  banalen  Buche  sei  »nichts  sonderbar,  als 
das  Wesen  einer  Frau,  die  uns  daraus  entgegentritt: 
kalt,  indezent,  rücksichtslos  und  ohne  Tiefet.  Dieses 
Buch  sei  danach  angetan,  »das  Bild  der  einst  strahlen- 
den Odilen  zu  zerstOrenc.  Man  siebt,  wie  verzwickt 
der  psychische  Sachverhalt  ist.  Denn  die  Autorschaft 
der  Frau  Odilen  zugegeben,  bleibt  nichts  übrig  als 
die  Vermutung,  dafi  ihre  Persönlichkeit  in  dem 
Augenblick  kläglich  zusammengeschrumpft  ist,  als 
ihr  ein  Verleger  den  Antrag  stellte,  ihre  Memoiren 
zu  schreiben,  —  oder  die  Annahme,  dafi  es  einst  der 
faule  Zauber  einer  strahlenden  Routine  war,  der  eine 
kalte,  indezente  und  seichte  Natur  zur  Verführerin 
einer  ganzen  Stadt  machte.  Ich  entscheide  mich  für 
die  Annahme  und  verwerfe  die  Vermutung.  Jene 
Geschicklichkeit  konnte  die  Literaten  täuschen,  so- 


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—  2T  — 


lange  sie  auf  der  Szene  zu  Hause  war.  In  die 
Literatur  übersiedelt,  erregt  sie  das  Bedenken  der 
Fachleute.  Eine  rechte  Frau  mag  in  einem  un- 
gefügen Satz  eines  Briefes  die  Gestaltungskraft  von 
zehn  Schriftstellern  beschämen,  aber  sie  wäre  nie 
imstande,  ihre  Memoiren  herauszugeben.  Es  ist  ein 
unnatürlicher  Tod  der  Weiblichkeit,  die  im  Bett 
stirbt,  wenn  eine  sich  entschliefit,  zur  Feder 
zu  greifen.  Dieser  Selbstmord  soll  als  Versuch  der 
Rettung  aus  einem  unbefriedigten  Dasein  nicht 
unterschätzt  werden.  Aber  ein  Weib  schreibt  immer 
sein  Obduktionsprotokoll.  Und  glaubt  man,  dafi  das 
Leben  einer  Frau,  die  eines  Tages  der  Literatur  ver- 
fällt, je  etwas  anderes  war,  als  ein  Leben  aus  zweiter 
Hand?  Nur  die  Blindheit  nimmt  eine  Wesensänderung 
wahr,  und  nur  die  Taubheit  hört  aus  den  Memoiren 
der  Frau  Odilen  eine  andere  Sprache  als  aus  ihren 
Bühnengrestaltungen.  Wer  bei  dem  »gefühllosen, 
gleichgültigen,  einförmigen  Tone  ihres  Buches  sich 
nicht  an  die  Glanzzeit  der  Frau  Odilen  erinnert,  um 
eine  Konsequenz  festzustellen,  sondern  um  über  die 
seltsame  Verwandlung  eines  Charakters  nachzudenken, 
der  macht  mit  Unrecht  die  Autorin  für  seine 
Enttäuschung  verantwortlich.  Madame  Sans- 
QAne  in  Wort  oder  Schrift,  ich  höre  nur  eine 
Stimme,  und  sie  klingt  mir  immer  noch  wie  der  Ton 
einer  stattlichen  Sparbüchse,  einer,  die  klappert  und 
schüttert,  ohne  sich  je  zu  vergeuden,  und  die  unter 
Kuratel  zu  stellen,  blofi  dem  Scharfsinn  einer  öster- 
reichischen Behörde  einfallen  konnte.  Aber  es  ist 
schliefilich  kein  Wunder,  dafi  in  einem  Staat,  dessen 
Finanzminister  frei  herumlaufen  und  dessen  Abge- 
ordnete davon  leben,  dafi  sie  mit  fremdem  Geld  ver- 
schwenderisch umgehen,  die  Kapitalisten  zu  Märtyrern 
der  behördlichen  Aufsicht  werden.  Daß  sich  diese 
eine  Frau  als  Opfer  ausersehen  hat,  die  in  ihrer  ganzen 
Lebensführung  den  holden  Schwachsinn  ihres  Ge- 
sohleohts  verleugnet,  beweist  die  glückliche  Hand,  die 


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—  28  — 

dieser  Staat  wie  in  allen  höheren  Kulturproblemen  auck 
bei  der  KuratelsverhäDgung  bewährt«  Die  Art,  wie  Pran 
Odilen  nooh  heute  mit  ihren  Liebhabern  abzurechnen 
Terstehty  stärkt  den  Verdacht,  dafi  hier  ein  mündiger 
Verstand  unter  der  Kuratel  des  Blödsinns  gehalten 
wird.  Dafi  Frau  Odilen  als  Schriftstellerin  noch 
nicht  die  blendende  Routine  hat^  mit  der  sie  als 
Lebenskünstlerin  und  Star  der  Bühne  über  den 
Mangel  an  Persönlichkeit  su  täuschen  wufite,  ist  ein 
Vorwurf,  den  nur  die  kollegiale  Unduldsamkeit 
erheben  kann«  Aber  daß  ein  Weib  den  Ehrg^is 
hat,  mit  fier  Feder  seinen  Mann  bu  stellen,  ist  keine 
Kritik  am  Buch,  sondern  am  Weib.  Das  ist  keine 
Schwachsinnige,  das  ist  kein  Weib,  die  solche  Probea 
einer  Erinnerungsfähigkeit  ablegt 

Solange   eine   nicht   schreibt,   bewahrt  sie  den 
Schein  der  Geschlechtswirkungf  und  der  Zusatz  jener 
widerwärtigen  Oeistigkeit,  der  sie  später  zur  Schrift- 
stellerin befähigt,  mag  gar  die  verdächtige  Mixtur 
herstellen,  welche  die  Toren  betört.  Aber  eben  diese 
Intelligenz  ist  es,  die  im  rechten  Augenblick  alle  die 
schlechten  Eigenschaften  mobilisiert,  die  im  Friedens- 
stand zum  Reiz  des  Weibes  versammelt  sind«     Die 
Anmut  ist  eine  Maske,  die  das  Weib  vor  dem  wahres 
Antlitz  trägt.  Fällt  die  Maske  —  nichts  aufier  ihr  ver- 
mag zu  »fallenc  — ,  so  steht  eine  fragwürdige  Mensch- 
lichkeit vor  deinen  Augen.  Bist  du  nicht  im  Zauber- 
bann,  so  kann  die  Erhitzung  deines  Nachbarn  dick 
nicht  von  der  Vision  abbringen,  dafi  die  Luxusdarae, 
die  da  oben  ihr  Spiel  treibt,  ein  flotter  Weinreisender 
im  Unterrock  ist  oder  ein  Börsenagent  mit  Jupons. 
Und  läfit  sie  selbst   die  Maske  fallen,   gibt,  sie  den 
Schein  schöpferischen Frauentums  auf, uro  eineMeinung 
zu  vertreten,  um  zu  agitieren,  zu  reden,  zu  schreiben, 
so  erwächst  der  Eindruck  zu  schreckerregender  Voll- 
ständigkeit.   Sie   braucht    sich    dann    von    keinem 
Feuiüetonisten   entmutieren  zu    lassen,    der   Eihrgeis 
allein  beglaubigt  ihre  Zugehörigkeit,  und  das  ange- 

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—  2Ö  — 


borne  Talent  ssur  Routine  führt  sie  bald  Über  die 
Schwierigkeiten  des  Anfangs.  Und  sie  hat  ein  Recht 
darauf,  dafi  man  ihr  die  Abscheulichkeiten  eines 
Klatsohromans  genau  so  verüble,  wie  jedem  Reporter, 
der  die  wahre  oder  fingierte  Kenntnis  des  Privat- 
lebens stadtbekannter  Personen  zu  einer  publizisti- 
schen Sensation  ausschrotet.  Denn  das  ist  der  ehr- 
liche Erfolg  der  Frauenemanzipation,  dafi  man  einem 
Weib,  welches  sich  einem  schmierigen  Handwerk 
des  Mannes  gewachsen  zeigt,  heutzutage  nicht 
mehr  die  verdiente  Geringschätzung  vorenthalten 
darf.  Freilich  mufi  hier  das  Recht  der  Frau  noch 
immer  in  einem  Punkte  zu  kurz  kommen«  Man 
darf  einer,  die  ehrenrührige  Eingriffe  in  ein  Privat- 
leben begeht,  wohl  von  der  Gesinnung  zumessen,  die 
man  einem  Redakteur  in  solchem  Falle  widerfahren 
läflt;  aber  das  unsäglich  ekle  Erlebnis,  eine  Frau, 
die  Memoiren  geschrieben  hat,  vor  den  Geschwornen  zu 
sehen,  wird  der  erpichteste  Frauenrechtler  nicht  her- 
beisehnen, und  kein  Feminist  wird  wünschen,  dafi 
man  an  einem  Weibe  jene  Selbsthilfe  betätige,  die 
man  gegen  den  Verbreiter  der  sexuellen  Intimitäten 
in  der  richtigen  Erkenntnis  anwendet,  daß  die 
judizielle  Genugtuung  nicht  zureiche.  Es  ist  gewifi 
wieder  ein  Unrecht,  dafi  man  hier  durch  die  Bevor- 
zugung der  männlichen  Sudler  begeht.  Aber  der 
äuflere  Schein,  der  dafür  spricht,  dafi  es  Männer  sind, 
während  die  Journalistinnen  noch  immer  keine  Hosen 
tragen,  mufi  die  Wahl  entscheiden.  Wenn  auch  in 
Wahrheit  durchwegs  nur  die  Weibernaturen  in  der 
Journalistik  auf  den  trostlosen  Gedanken  verfallen, 
durch  Preisgabe  wahrer  oder  erdichteter  Tatsachen 
des  Privatlebens  eine  Rache  zu  üben,  so  ist  doch 
die  Hose  für  den  Entschlufi  mafigebend,  sie  zu 
spannen.  Kein  Mensch,  und  wäre  er  in  seinem 
Innersten  beleidigt  worden,  wird  einen  Weiberrock 
aufheben,  um  eine  unzärtliche  Gesinnung  zu  betätigen. 
Diese    Zurücksetzung  müssen  sich   nirn   einmal  die 

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—  30  — 


schreibenden    Weiber    gegenüber    den     weibisolieB 
Schreibern  gefallen  lassen.  Aber  weil  sie  ihrer  gans  «nd 

Sar  sicher  sein  können,  sollte  umso  nachdrücklicher 
er  Versuch  unternommen  werden,  sie  durch  Worte 
einEuschüchtern.  Denn  das  Handwerk  der  Kolportage 
von  Bettgeheimnissen  mag  einen  goldenen  Boden 
haben:  wenn  es  ein  Weib  betreibt,  so  ist  es  eine 
Beleidung  des  eigenen  Geschlechtes,  wie  sie  schimpf- 
licher nicht  gedacht  werden  kann.  Für  diese,  nicht 
für  die  Beleidigung  der  Männer,  deren  Leben  das 
Unglück  hatte,  von  einer  künftigen  Memoiren- 
schreiberin  gekreuzt  zu  werden,  gilt  es  eine  Sühne 
zu  schaffen.  Es  wäre  lächerlich,  einen  Menschen  wie 
Alexander  Girardi,  der  mit  einem  Wort  einen  Reich- 
tum der  Liebe  spendet  und  gewinnt,  gegen  die  Herzens- 
leere dieser  Enthüllungen  in  Schutz  zu  nehmen,  die 
nebst  ihrer  garstigen  Absicht  nichts  enthüllen, 
als  gerade  die  wertvollsten  menschlichen  und  künst- 
lerischen Eigenschaften  des  Betroffenen.  Aber  man 
Würdesich  versucht  fühlen,  sich  selbst  des  unsympathi- 
schesten Opfers  dieser  Ranküne  anzunehmen  und 
einen  Geldbaron  gegen  den  Verdacht  einer  reinen 
Liebe  zu  schützen,  aus  deren  »Glückstraumc 
Frau  Odilen  durch  drei  Tausender  herausgerissen 
wurde,  wie  anderseits  gegen  die  öffentliche 
Rechnungslegung,  zu  der  sie  sich  gegenüber  dem 
»Unwürdigenc  sehliefliioh  doch  bereit  findet.  Sie 
alle  aber  gegen  die  Zumutung  zu  schützen,  ihre 
Bettgenossenschaft  kulturhistorisch  gewürdigt  z« 
sehen. 

Es  ist  ein  Buch,  das  wirklich  notwendig  war, 
um  der  Öffentlichkeit  und  deren  Wortführern  über 
die  Armut  ihrer  Illusionen  die  Augen  zu  öffnen,  die 
fast  so  billig  herzustellen  sind,  wie  die  Bühnen- 
toiletten der  Frau  Odilon.  Durch  die  rücksichtslose 
Preisangabe  für  diese  und  durch  das  Preisgeben  der 
uninteressantesten  Geheimnisse  hat  sich  die  Verfafflerin 
in  einem  Teil  der  Presse  das  Lob  »Rousseau'sohen 


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-  81  — 


Wahrheitsmutesc  zugezogen.  Gefährlicher  ist  eine 
Kritik,  die  Frau  Odilon  jahrelang  als  dämonisches 
Weib  anerkannt  hat  und  jetzt  die  Bände  über  dem 
Kopf  zusammenschlägt,  weil  sich  der  Zauber  als 
eine  sublimierte  Mischung  aus  den  Interessen  eines 
Reporters  und  den  Berechnungen  eines  Theateragenten 
herausstellt.  Dafi  Charlotte  von  Stein  nach  der 
Schätzung  beeideter  literarhistorischer  Sachver- 
ständiger keine  Wertsache  war,  wird  an  ihrem 
Liebhaberwert  für  die  Subjektivität  eines  Goethe 
nichts  ändern;  man  wird  höchstens  in  der  Ober- 
zeugung bestärkt  werden,  dafi  die  Literaturforschung 
keine  Wertsache  ist.  Aber  die  Objektivierung  der 
Frau  Odilon  ist  durch  ihren  Willensakt  herbeigeführt 
worden,  sie  hat  sich  selbst  enthüllt,  sie  hat  ge- 
schrieben. Die  schmerzliche  Enttäuschung  der  Wiener 
Kulturforscher  ist  so  töricht  wie  die  Oberlegenheit 
der  deutschen  Literaturhistoriker. 

Freilich  mufl  es  ihrer  Vorstellung  von 
einem  Mondänentum  arg  zusetzen,  weim  sie  Frau 
Odilon  erzählen  hören,  wie  sie  in  ihrer  Jugend 
»ein  paar  Dachteln«  bekommen  habe,  wie  ihr  dann 
»das  Herz  pumperte«,  als  sie  zum  erstenmal  auf  den 
Presseball  ging;  wenn  sie  hören,  wie  sie  sich  ein 
»armes  Waserl«  nennt,  »^ut  is'  gangen«  ruft, 
ein  Erlebnis  »bis  zum  I-Tüpferl  durchmacht«, 
»pumperlgesund«  nachhausekommt,  von  ihrem  »Hirn- 
kastei« spricht,  von  einem  Autor,  »dem  es  das 
Beischel  umdreht«,  von  dem  »krauperten  Baar« 
Lenbachs,  von  dem  »Gerstl«,  das  ihrem  Mann  aus- 
geht, von  den  »Spompanadeln«,  die  sie,  und  von 
den  »Mafökchen«,  die  er  auf  Reisen  macht,  von  dem 
»Riesenschinakel«,  auf  dem  sie  nach  Amerika  fährt, 
von  den  »Fressalien«  an  Bord,  einigemal  vom  »Speiben«, 
und  nur  zur  Abwechslung  davon,  dafi  sie  einmal  »ganz 
betropetzt«  war  und  dafi  ein  Kollege,  als  er  von  der 
»Benehmität«  einer  Kollegin  hörte,  die  Bemerkung 
machte:  » Ae  solchene  wären  Sie?«  Sonst  aber  durchaus 

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—  32 


eine  sprachliche  Melange  aus  Grinzing  und  Hopp^ 
garten,  ein  Jargon^  der  zugleich  harb  und  »niuaclüig 
kusohligc  ist  und  neben  dem  Ruf  »Kruzifix  noch 
einmal Ic  nur  die  Beteuerung  vermissen  lä£t:  »Ich  denk, 
mich  laust  der  Affelc  , .  .  Mir  könnten  solche  Aufie- 
rungen  das  Bild  einer  Qöttin  nicht  alterieren.  Das  Vor- 
bild der  Iphigenie  bevorzugte  —  Dank  sei  einem  Pro- 
fessor für  die  Enthüllung  —  das  Wort  »Drecke,  und  jene 
andere  Charlotte,  die  das  vollendetste  Nachbild  der 
Iphigenie  geschaffen  hat,  die  große  Wolter,  befliß  sich 
in  Umgang  und  Briefen  des  rüdesten  Jargons.  I^e 
wären  f reiUch  nicht  imstande  gewesen,  Bücher  daraus 
zu  machen.  Die  Ausdrucksweise  der  Salondame  mag 
ein  lesendes  Parterre  enttäuschen;  in  die  Linie  ihres 
Wesens  fügt  sich  mir  der  geistige  Stil.  DaS  ihre 
Erinnerung  an  einen  berühmten  Kollegen  sich  darauf 
beschränkt,  dafl  er  einmal  plötzlich  von  der  Szene 
verschwunden  sei,  und  in  dem  Satze  gipfelt:  »Des 
Rätsels  einfachste  Lösimg  hätte  die  verschwiegene 
Toilettefrau  geben  können  c,  wäre  schliefilich  noch 
ein  naturalistischer  Zug,  der  zwar  dem  mondänen 
Ruf  einer  Bühnenkünstlerin  abträglich  ist,  aber  sonst 
von  einem  erfreulichen  Humor  zeugt; — wozu  schriebe 
man  denn  Memoiren,  wenn  sie  nicht  auch  diese 
letzten  Geheimnisse  der  Zeitgenossen  ergründen  dürften? 
Und  dafl  sie  selbst  auf  dem  Amerikadampfer  »gleich 
nach  der  Suppe  unter  den  Klängen  eines  Straufi'schen 
Walzers  aus  dem  Saal  tänzeln  mußte  und  unter  nodi 
ganz  anderen  Klängen  dann  in  die  Kabine  walztec, 
wäre  auch  noch  harmlos,  wenn  solche  Elrinnerung 
nicht  den  penetranten  Verdacht  weckte,  sie  stehe 
in  den  Memoiren  eines  reisenden  Männergesang- 
vereins. Aber  die  geistigen  Übelkeiten,  die  uns  — 
wenigstens  in  der  ersten  Hälfte  des  Buches  —  auf- 
getischt werden,  sind  in  Wahrheit  das,  was  eine 
beliebte  Schauspielerin  zu  einer  der  unsympathischesten 
Erscheinungen  der  deutschen  Literatur  gemacht  hat  Die 
Grundgesinnung,  die  alle  Andern  mit  Druckerschwärze 


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33  - 

beschmieren  möchte,  weil  man  selbst  der  Schminke 
entsagen  mufl^in  Ehren  I  Dafl  Frau  Odilen  Kolleginnen 
auch  dort  kompromittiert,  wo  sie  nichts  davon  hat,daflsie 
Jugendfreunde  verhöhnt,  weil  sie  ihr  aus  Eifersucht  eine 
ruhmlose  Laufbahn  prophezeiten,  Schneider  durch  üble 
Nachrede  schädigt,  Gatten  des  Diebstahls  ver- 
dAchtigt  —  Verbitterung  mag  die  Arroganz  solchen 
Schaugerichts  über  eine  private  Welt  erklären.  Aber 
daß  sie  sich  dazu  versteigt,  uns  die  Hämorrhoiden 
eines  Gtemahls  vorzusetzen  und  ähnliche  Miseren 
der  Ehe,  die  sie  schliefilich  der  goldenen  Ader  eines 
Milliopärs  geneigt  machten,  das  ist  mehr,  als  das 
Mitleid  selbst  gestatten  kann.  Widerlich  auch  die 
Art,  wie  sich  die  Lebensroutine  einer  Liebhaberia 
als  die  Ahnungslosigkeit  einer  Naiv-Sentimentalen 
vermummt.  Frau  Odilen  ist  in  ein  neues  Fach  über- 
gegangen. Zerknirscht  nennt  sie  es  einen  »Fehltritte, 
als  sie  einen  Rennstallbesitzer  mit  einem  Trainer  be- 
trog, und  bezeichnet  sich  hiebei  als  ein  Opfer  des  bösen 
»Galeottoc,  der's  nun  einmal  wahr  haben  wollte. 
Von  der  ersten  Zusammenkunft  mit  dem  Finanz-^ 
baron  »träumt  sie  mit  geschlossenen  Augen c.  Nach- 
träglich! »Wie  ich  unter  einem  Verwand  in  sein 
Palais  gekommen  war.  Wie  wir  von  gleichgiltigen 
Dingen  gesprochen,  wie  aber  die  Augen  die  Herzen 
nicht  Lügen  strafen  gekonnt .  .  .  Und  wie  es  schliefl- 
lioh  geschah  .  .  .  Damals  hätte  ich  es  in  alle  Welt 
hinausjubeln  wollen  .  .  .c  So  romantisch  ist  das 
Leben,  und  es  gehört  Rousseau'scher  Wahrheits- 
mut dazu,  es  auch  so  darzustellen.  Und  ein  unerbitt- 
liches Ethos  ist  notwendig,  damit  eine  Frau  in 
f;laubhafter  Weise  »Unpünktlichkeitc  als  jene  mann- 
iche  Untugend  schildere,  die  ihr  die  Ehe  verfällt 
habe,  und  damit  eine  Schauspielerin,  die  sich  fort- 
während über. eine  Rejane,  eine  Sandrock,  eine  Sorma 
zu  stellen  vermißt,  der  größten  Persönlichkeit  des 
österreichischen  Theaters  »Eitelkeitc  vorwerfen  könne. 
Wenn  es  aber  die  Dekorierung  ihrer  Erlebnisse  gilt, 


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278 


—  84  — 

ist  solöh  eine  interessante  Frau  einer  Sinnigkeit 
und  Eitschigkeit  fähig,  die  man  ihr  gar  nicht  so- 
trauen  sollte.  Zur  Erinnerung  an  ihre  erste  Eollegen- 
liebe  zitiert  sie  schlicht  das  tiefe  Wort  aus  dem 
Zigeunerbaron:  »Wer  uns  getraut?  Sag  an  —  sag 
dul<  Als  sie  einmal  in  Ems  dem  alten  Kaiser  Wif 
heim  begegnete,  sprach  er  seu  ihr:  >Sie  werden  mich 
doch  nicht  für  so  unhöflich  halten,  dafi  ich  einer 
Dame  rorangehe?  Also,  darf  ich  bitten  7c  Sie  aber 
ging,  »gerührt  von  dieser  auf  der  Welt  einsig  da- 
stehenden Liebenswürdigkeit,  stumm  ihres  Wegesc, 
Und  um  nicht  immer  wieder  die  Folgen  einer  stOr- 
misohen  Amerikafahrt  beschreiben  zu  müssen,  deutet 
sie  einmal  mit  diskretem  Humor  an:  »Er  zählt  die 
Häupter  seiner  Lieben  —  Statt  hundert  waren's  siebenc 
Interessante  Frauen  haben  vor  den  Frauen  Toraua^ 
dafi  sie  denken  können,  was  die  uninteressanten 
Männer  schon  gedacht  haben.  Sie  können  alao 
Zeitungsklisohees  denken.  Sie  freuen  sich  nicht  etwa 
über  die  Blumen,  die  ihnen  bei  einem  Wiederauftreten 
gereicht  wurden,  sondern  sie  konstatieren,  dafi  ihre 
Garderobe  »in  einen  Blumenhain  verwandelte  war.  Se 
eine  feiert  nicht  Weihnachten,  sondern  sie  sagt: 
»Wieder  steuerten  wir  auf  das  schöne  Weihnachtsfest 
los,  an  dem  sich  Alt  und  Jung,  Qrofl  und  Klein  so 
recht  vom  Herzen  freuen  soUenc.  Freilich  rutscht  ihr 
gleich  darauf  der  Satz  heraus:  »Das  dachte  sicher 
auch  der  Herr  y.Qomperz,  als  er  mir  seine  (beschenke 
überbrachte«.  (Gomperz  ist  der  Name  eines  Licht- 
gottes, der  Frau  Odilen  durch  alle  Fährnisse  dieser 
Welt  von  Schwarzalben  geleitet.)  Sie  geht  nach  Paris^ 
also  »nach  diesem  reizenden,  schändlichen  Seinebabelc. 
Sie  geht  nach  Venedig,  also  »nach  dieser  allerliebsten 
Bijoustadt«.  Aber  wenn  es  auch  viele  herrliche  Städte 
gibt,  »'s  gibt  nur  a  Kaiserstadt,  'sgibt  nur  a  Wien Ic.  Da 
sich  immerhin  auch  anderswo  leben  läfit,  so  bieten  uns  die 
Memoiren  der  Odilen  eine  Fülle  ethnographischer  Auf- 
schlüsse. Zum  Beispiel:  »Geht  man  durch  die  Straften 
Roms  spazieren,  sieht  man  alte  Bilder,  alte  Gobelins,  alte 


—  36  — 


Spiteen^  altes  Qold,  altes  Silber,  alte  Bauten.  Alles 
ist  alt,  und  je  älter  das  ist,  desto  mehr  wird  dafür 
bezahlt.  Eine  einzige  Ausnahme  macht  der  Mensch  — 
da  ist  es  gerade  umgekehrt,  t  Anders  New- York. 
Frau  Odilen  beschlofl,  »das  Land  der  Yankeesc  zu 
besuchen.  »Ein  Gastspiel  in  einem  mir  ganz  unbe- 
kannten Weltteil  Ic  Da  ist  nati\rlich  das  Lampenfieber 
noch  viel  gröfier.  Aber  es  steht  dafür.  Die  amerikani- 
schen Eisenbahnen  zum  Beispiel:  »Bei  allem  Komfort 
wird  deshalb  der  Bequemlichkeit  nicht  vergessene^ 
Sehr  anschaulich  tritt  uns  das  Bild  der  Metropole 
entgegen:  »Was  Beleuchtung  anbelangt,  so  steht 
New- York  einzig  da  und  Paris  und  London  können 
sich  mit  ihm  nicht  messen.  Amerika  ist  das  Land 
der  Reklame  .  .  •  Die  Beleuchtung  in  den  Dienst  der 
Reklame  gestellt,  das  war's,  was  mir  sofort  in  die 
Augen  fiel^  An  jeder  Straflenecke  usw.«  Die  Ver- 
pflegunfi;:  »So  gefressen  —  pardon — gegessen  hatte 
ich  noch  nie  zuvor«.  Im  Theater  gibts  das  »Weifie 
Röfll«  und  »der  Giesecke«  hält  eine  Ansprache  an 
Frau  Odilen,  die  aus  der  Loge  antwortet.  New- York 
hat  ferner  die  Wolkenkratzer,  man  besucht  das  größte 
Warenhaus  zum  Wannemaker,  ein  Kleid  um  600 
Dollars  ist  eine  »Mezije«,  und  seit  der  Entdeckung 
Amerikas  durch  Oonried  ist  kein  Gast  so  gefeiert 
worden,  wie  Frau  Odilen  . . .  Aber  hat  nicht  auch 
Mitterwurzer  in  New- York  gastiert?  Gewifi,  aber  er 
war  —  unpünktlich.  Er  kam  vor  dem  Termin»  und  die 
Folgen:  leere  Häuser  und  kein  Erfolg.  Wie  sie 
doch  die  Männer  kennt  I  Dieser  Mitterwurzer  war 
»ein  Idealmensch,  aber  fürs  Geschäft  ganz  und 
^r  nicht«  ...  Im  New-Yorker  Ghinesenviertel 
jedoch  bemerkt  Frau  Odilen  »Damen«,  die  sie  in 
Anführungszeichen  setzen  mufl;  denn  es  sind  solche,, 
die  mit  den  Ghinesenonkeln  Champagner  trinken  und 
ihnen  »noch  dazu  das  nötige  Kleingeld  ablotsen«.  Tout 
commecheznouSf ruftsie,dieGhinesen  sterben  nicht  aust 
Aber  diese  Mädchen  leben  für  die  Freude  und 
wenn  die  Freude  auch  nur  kurz  währt,  so  schreiben 


-  3Ö  — 


sie  wenigstens  hinterdrein  keine  Memoiren.  Und 
keine  würde  behaglich  schildern,  wie  sie  die  Psychiater 
herbeigewinkt  hat,  um  Einen,  der  sie  liebte,  ins  Irren- 
haus zu  liefern.  Die  Stelle  des  Buches  »In  schmerz- 
licher Erwartung  safien  wir  nun  bei  Sretlin,  doch 
Stunde  um  Stunde  verrann,  ohne  dafi  Girardi  käme, 
diese  Stelle  ist  der  dunkelste  Fleck  in  einem  Privat- 
leben, bei  dessen  Enthüllung  Frau  Odilen  noch 
schonungsloser  voriring  als  beim  Verrat  fremder  Ge- 
heimnisse. Sie,  die  kein  Hehl  daraus  machte  daS 
sie  selbst  einmal  den  Schwachsinn  der  Irrenärste  fOr 
ihre  Zwecke  miflbrauchen  wollte,  macht  es  einem 
schwer,  auf  ihre  Hilferufe  herbeisueilen,  da  heute  an 
ihrer  geistigen  Freiheit  die  psychiatrischen  Panghunde 
serren.  Und  ich  möchte  es  so  gerni  Der  Glans  der 
Frau  Odilen  mufl  mich  nicht  geblendet  haben,  damit 
ich  ihrem  Elend  beistünde,  und  so  gern,  möchte  ich 
die  häßliche  Hälfte  des  Buches  vergessen,  um  der 
andern  Teilnahme  zu  schenken.  Denn  diese  Ab- 
rechnung mit  der  österreichischen  Gerechtigkeit, 
deren  erhabenes  Justament  auf  alles  mensclüiche 
Fühlen  tritt,  ist  gut  1  Was  die  Frau  hier  sagt,  ist  gut 
gesagt;  also  mufi  sie  mit  jedem  Wort  recht  haben. 
Hier  ist  die  Reporterin  erledigt,  hier  schreibt  ein  Weib, 
was  selbst  ein  Weib  schreiben  darf.  Hier  wird  nicht 
geklatscht,  sondern  geklagt,  und  auch  ein  Weib  darf 
-schreien,  wenn  ihr  ein  Büttel  an  die  Gurgel  fährt 
Hätte  sie  nicht  die  unerträgliche  Sensation  ihrer 
Vorlebensstudie  auf  dem  Gewissen,  achtungsvollstes 
Erbarmen  wäre  diesem  durch  alle  Instanzen  des 
Heilbetruges  und  Rechtsverschubs  gehetzten  Jamm^ 
sicher.  Aber  dieses  Kapitel  ist  für  sich  so  stark,  dafl 
man  der  Armen  die  Hilfe  gegen  die  Zudringlichkeit 
nicht  versagen  darf,  mit  der  die  österreichische  Amts- 
welt ihre  Fürsorge  an  ihr  erprobt.  Wenn  der 
zehnte  Teil  dessen  wahr  ist,  was  Frau  Odilon  hier 
erzählt  —  die  Wahrheit  dessen,  was  sie  aus  dem 
Privatleben  ihrer  Nächsten  holt,  vermehrtihre  Schuld — , 
dann   ist  diese  kompakte  Sozietät  von  Amtshintem . 


—  87  — 

wirklich  wert,  dafi  sie  bei  wiederkehrender  Qelegen- 
heit  die  serbischen  Wanzen  fressen.  Eine  Justiz, 
die  den  Wauwau  spielt,  und  »Bitte  sehr,  bitte 
gleich Ic  sagt,  wenn  eine  einSufireiche  Person  sich 
für  das  Opfer  verwendet,  eine  Kommission  von  Rich- 
tern, Psychiatern  und  sonstigen  Funktionären  von 
malerischem  Ansehen,  die  sich  im  Vorzimmer  der 
Frau  Schratt  versammelt  und  sofort  in  die  alte  Ton- 
art zurückfällt,  wenn  die  GOnnerin  aus  irgendeiiiem 
Qrund  die  Hand  von  dem  Schützling  zieht  —  wie 
weit  halten  wir  ?  Wie  weit  wird  sich  dieses  Komplott 
von  altgedienter  Roheit  und  unverwüstlicher  Streberei 
noch  gegen  die  feineren  Lebensformen  vorwagen?' 
Wenn  es  wahr  ist,  daß  ein  Gerichtspsychiater  der 
Frau,  der  er  die  Zärtlichkeit  ihres  Verlobten  als  eine 
Absicht  auf  ihr  Geld  plausibel  machen  wollte  — 
denn  um  die  Behütung  des  Geldes  handelt  es  sich 
in  dieser  Staatsaktion  — ,  dafi  er  ihr  ins  Ge- 
sicht die  Worte  gesprochen  hat:  »Ich  weifi  nicht, 
Eädige  Frau,  ob  Sie  sich  besinnen  können,  dafi  wir 
Inner  einen  gewissen  körperlichen  Widerwillen 
gegen  Gelähmte  haben  Ic,  wenn  wirklich  ein  Arzt  das 
gesagt  hat,  so  verdient  er,  dafi  ein  gefühlvoller  Polizei- 
hund ihn  zerbeifie.  Weni)  es  aber  wahr  ist,  dafi  man 
Frau  Odilon  die  Herausgabe  des  Schmuckes  verweigern 
wollte,  den  sie  in  ihrer  erfolereichsten  Rolle  trug  und  mit 
dem  sie  sich  jetzt  für  das  Foyer  ihres  Theaters  porträ- 
tieren lassen  sollte,  dann  staunt  man  wirklich,  dafi 
im  mechanischen  Betrieb  der  Borniertheit  noch  so 
viel  Spielraum  für  eine  erfinderische  Tücke  bleibt. 
Warum  so  viel  Aktenpapier  beschmiert  wird,  um 
einen  Skandal  zu  verlängern,  der  ohnedies  schon  zum 
jüngsten  Kuratelgericht  aufstinkt,  versteht  kein  Mensch. 
Wie  sich  diese  kranke  Frau  durch  Europa  schlf>ppt,. 
um  von  den  Enttäuschungen  der  Medizin  in  die 
Terzweiflungen  einer  Wunderkur  zu  fallen,  istgräfi- 
lich.  Müssen  zu  der  spekulativen  Anwendung 
der  Un Wissenschaft  und  des  Glaubens  noch  jene 
Segnungen  der  Jurisprudenz  treten,  die  auch  ein  ge- 

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-  »8  - 


fiunder  Körper  nicht  verträgt?  Iq  der  Judengasse 
der  europäischen  Zivilisation  stehen,  swischen  Pur^ 
kersdorf  und  Lourdes,  vor  Sanatorien  und  Grotten, 
die  Händler  der  hygienischen  Hoffnung  und  fangen 
den  Kunden  in  ihren  Laden,  aus  dem  sie  ihn  ge- 
lähmt entlassen.  Mufl  dieses  Strafienbild  dundi 
Richter,  Kuratoren  und  Gutachter  ergänst  wer- 
den ?  Ein  Gerichtspsychiater  fragt  mehr,  ids 
hundert  Weise  beantworten  können,  und  wenn  eine 
Schwachsinnige  nicht  über  die  ungarische  Ehegeseti- 
gebung  Bescheid  weift,  so  bleibt  sie  dem  Kuratel- 
verhängnis ausgeliefert.  »Als  Schauspielerin  lebte 
ich  mein  Lebenc,  ruft  sie,  »und  kümmerte  mich  nie 
um  Gesetze,  Beamte,  Psychiater  und  Kuratoren. 
Aber  auf  einmal  falle  ich  in  diese  Sauce.  Wie  ich 
gesund  war,  lieft  man  mich  nach  meiner  Fasson 
selig  werden,  und  jetzt,  in  meinen  kranken  Tagen, 
soll  ich  eine  Gelehrte  und  gescheiter  sein  als  die  Richter, 
Advokaten  und  Ärzte  Ic  Eine  Frau,  die  das  sagt, 
kann  es  schlieftlich  noch  mit  einem  Dutzend  von 
dieser  Sorte  aufnehmen.  Das  Drängen,  sich  endlich 
zum  Schwachsinn  zu  bekennen,  entstammt  der 
echt  österreichischen  Überzeugung,  daft  man  sich 
hierzulande  alles  »richtenc  kann  und  dafi  bei 
einigem  guten  Willen  eines  Mündels  die  Ge- 
richte vor  »Scherereienc  bewahrt  bleiben.  Wir  aber 
wünschen  den  Skandal  nicht  mehrl  Da  Frau 
Odilon  nicht  will,  verschone  man  sie.  Wem 
sie  ihr  Geld  schenken  mag,  ist  schlieftlich  ihre 
Sache.  Wer  immer  es  bekommt,  dem  hat  sie's  lieber 
gegeben  als  dem  unbekannten  Erben,  dem  es  der 
österreichische  Staat  reserviert.  Der  Vorwurf  der 
Gewinnsucht,  den  sie  gegen  ihren  Kurator  erhebt, 
mag  ungerecht  sein.  Aber  es  ist  mindestens  Zeit» 
dafi  er  abtrete,  sobald  ein  anderer  Anwalt  erklärt, 
daft  er  die  Sache  gratis  macht.  Wenn  ein  Kurator 
seine  Schutzbefohlene  nicht  wegen  Ehrenbeleidigung 
klagen  kann,  so  muft  er  abtreten,  wenn  sie  ihn  be- 
leidigt. Er  darf  als  Kurator  das  Wort  nicht  hinnehmen: 


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—  39 


»Meine  eigenen  Möbelstücke  läßt  man  verstauben, 
und  außer  meinem  Kurator  sind's  nur  noch  die  Motten 
und  Schaben,  die  aus  meiner  Kuratel  Vorteil  ziehen,  c 
Und  ein  Kuratelgericht  hat  eine  Schwachsinnige 
laufen  zu  lassen,  der  das  treffende  Wort  gelang: 
»Wenn  eine  Künstlerin  nicht  mehr  spielen  kann, 
kommt  sie  mir  wie  ein  Fisch  vor,  der  aus  dem  Meer 
in  ein  Lavoir  Wasser  geworfen  wird.  Mein  Leben 
war  die  Bühne,  und  von  den  Brettern  sagt  man,  dafi 
sie  die  Welt  bedeuten;  aber  schmeißen  Sie  einmal 
den  Pochmann  aus  seinem  Lavoir  ins  Meer,  passen 
Sie  auf,  wie  er  ertrinkt  Ic  Jedenfalls  aus  dem  Lavoir 
mit  ihm  I  Es  ist  genug  I  Schon  spüre  ich,  dafi  sich  hinter 
dieser  zärtUchen  Sorge  für  ein  Kapital  etwas  von  der 
alten  Ranküne  gegen  eine  Lebensführung  verbirgt, 
die  dieses  Kapital  erwerben  half,  und  das  könnte 
der  Ranküne  übel  bekommen! 

Nur  dieses  Land,  das  seine  Skandale  auch  kalt 
genießen  kann  und  wenn  sie  zur  Rubrik  erstarren, 
erträgt  durch  Jahre  den  lächerlichen  Anblick,  wie 
Diafoirus,  Harpagon  und  Tartüffe  sich  zum  Wohltun 
vereinigen.  Frau  Odilen  empfindet  es  als  Plage;  aber 
sie  kann  auf  den  Schutz  einer  Öffentlichkeit  nicht 
rechnen,  die  ihren  Lieblingen  kein  Privatleben  gönnt 
und  sie  wenigstens  dauernd  in  der  Gerichtssaalrubrik 
sehen  will,  wenn  sie  sie  schon  in  der  Theaterrubrik 
nicht  mehr  findet.  Diese  Teilnahme  begleitet  Frau 
Odilen  durch  die  unwürdige  Sensation  ihrer  Ent- 
hüllungen und  verläfit  sie  in  ihrem  ehrlichen  Kampf. 
Die  Verfasserin  der  Memoiren  hat  nichts  von  der 
Gerechtigkeit  und  alles  von  der  Heuchelei  zu  er- 
warten, und  die  sittliche  Rolle,  die  sie  sich  gegen- 
tber  ihrer  Vergangenheit  zurecht  legt,  mag  selbst 
ihren  Wächtern  wohlgefällig  sein.  Die  Bewußtheit, 
die  dem  Leben  und  der  Kunst  dieser  Frau  wie  ein 
Talisman  eignet,  hat  sie  aus  der  Wildnis  sinnlicher 
Gewalten  in  die  Region  zivilisierter  Lustbarkeit  ge- 
leitet; aber  sie  bewahrt  sie  auch  vor  dem  Verdacht 
des    Schwachsinns.   Möge    sie  sie  jetzt  der  Pflicht 

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-  40  - 

inne  werden  lassen^  ihre  geistige  Freiheit  ohne  Haft 
gegen  jene  su  erkämpfen,  die  an  ihrer  Entmündigung 
unschuldig  sind,  und  ohne  eine  sittliche  Verteidigung 
ihrer  Vergangenheit.  Das  schafft  eine  klare  Situation, 
man  stellt  sich  zwischen  eine  Frau  und  ein  Dutzend 
Büttel,  und  es  wäre  zu  schön,  wenn  dann  von  den 
Erlebnissen,  die  sie  selbst  verraten  hat,  ein  einsiges 
auch  nur  ein  einziger  ihr  vorzuwerfen  wagtet 

Karl  Kraus. 


Beim  Tode  Hatkowskys^. 

Nnn  wird  es  dunkler  sein. 
Welcli  eine  Flamme  flell 


War  unser  Tag  nur  Schein? 
Das  Wesen  war  sein  Spiel. 

Entband  sein  Lflcheln  nicht 
mit  giacklicher  Qebfirde 
verhaltnes  Sonnenlicht 
aus  dieser  harten  Erde? 

Entschfittelte  sein  Zorn 
die  alte  Riesenglut, 
die  treibend  unterm  Kon 
der  Menschenäcker  ruht? 

Trug  er  in  unser  Spiel 
Sicht  jede  Welt  hinein? 

Welch  eine  Flamme  flell 
Kun  wird  es  dunkler  sein. 


^  VwK  ^on  Julius  Bab,  die  In  der  ,Schanbihne*  ttelwa. 

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41 


Die  Verteilimg  der  Macht 

Die  Quelle  aller  Menschenroacht  ist  nicht,  wie 
die  Speichellecker  der  Masse  behaupten,  das  Volk, 
sondern  der  Glaube  des  geistigen  Menschen  an  sich 
selbst.  Die  sogenannte  Macht  der  Menge  ist,  wenn 
sie  nicht  vom  Geist  gelenkt  wird,  lediglich  eine  zer- 
störende Elementargewalt.  Sie  hat  immer  einen  ge- 
meinen Notstand  zur  Voraussetzung,  durch  den  sie 
erst  geschaffen  und  in  Bewegung  gesetzt  wird.  Die 
Macht  der  Menge  ist  imstande,  das  Joch  unver- 
nünftiger Tyrannei  abzuschütteln  oder,  von  Mangel 
§etrieben,  schlecht  behüteten  Besitz  an  sich  zu  reißen, 
ie  ist  immer  nur  Auflehnung  oder  Beraubung  und 
weiß  die  erlangte  Freiheit  und  den  erlangten  Besitz 
weder  zu  nützen  noch  zu  halten.  Die  Menge  kann 
nicht  aus  und  für  sich  besteben,  sie  sinkt  unweigerlich 
stets  wieder  in  die  Knechtschaft  zurück  und  für  ihre 
Macht  zeugen  immer  bloß  Spuren  der  Verwüstung. 
Die  materiellen  Kräfte  können  nur  unter  der  Führung 
des  Geistes  schöpferisch  wirken,  und  jener  Augen- 
blick, als  die  Erkenntnis  der  Möglichkeit  geistiger 
Macht  wie  ein  Blitz  die  Seele  des  Menschen  durch- 
strahlte und  entzündete,  war  der  höchstgemute  und 
folgenreichste  aller  irdischen  Augenblicke  und  die 
wahre  Geburtsstunde  der  Menschheit.  Der  Menschheit 
und  Gottes.  Denn  so  leuchtend  und  erhaben  erschien 
dem  Menschen  das  Attribut  geistiger  Machtwirksam- 
keit, daß  er  lange  nicht  wagte,  dies  Ungeheure  sich 
selbst  beizulegen.  Er  stellte  es  außer  sich,  hob  es  in 
Sternenferne  empor  und  wurde  selbst  ein  Beispiel 
der  Unterwerfung  unter  den  Geist.  Im  Namen  Gottes 
regierte  zuerst  der  Geist  des  Menschen  auf  Erden. 

Die  ursprünglichste  Form  geistiger  Herrscher- 
gewalt war  das  Priester königt um.  Und  die  Gottesidee 
war  zugleich  der  feste  Anker  hohepriesterlicher 
Autorität  und  die  befreiende  Schwinge  des  geistigen 
Macbtwillens.  Je  sicherer  der  Priester  seines  An- 
sehens und  seiner  Heiligkeit  beim  Volke  wurde,  desto 


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—  42  — 


gewisser  wurde  er  auch  des  eigenen  Glaubens  an 
seinen  Beruf,  Hirt  zu  sein  über  die  Menschenherde. 
Dies  nämlich  ist  der  tiefste  Glaube,  der  erst  aum 
wahren  Priester  macht.  Das  innerste  Geheimnis  des 
Hohenpriestertums  ist  dies  eine:  daß  der  Glaube  an 
Gott  für  den  befreiten  Geist  nur  der  königliche 
Mantel  ist,  in  den  der  Glaube  an  seinen  Herrscher- 
beruf sich  hüllt.  Der  moderne  demokratische  Stumpf- 
sinn freilich  vermag  in  dieser  kühnsten  Eonseption 
geistigen  Herrscherwillens,  im  Priester  des  eso- 
terischen Wissens,  nur  den  »betrügerischen  Pfaffen€ 
zu  sehen. 

Uro  aber  solche  Macht  dauernd  und  unge- 
schmälert zu  erhalten,  ist  rastlose  Wachsamkeit  und 
stete  Willensemeuerung  der  geistigen  Gewalthaber 
Yonnöten.  Jedwede  Erschlaffung  ihrer  innem  Energie 
bedeutet  unerbittlich  auch  den  Verfall  ihrer  Macht  durch 
das  Schwergewicht  der  dann  sogleich  und  automatiach 
wirksam  werdenden  materiellen  Kräfte.  Sobald  dieee 
Kräfte  nicht  mehr  planvoll  bewegt  werden,  wenden 
sie  sich  planlos  gegen  ihre  Beweger.  Der  geistige 
Herrscher  wird  also  von  seinem  besonderen  Selbst- 
erhaltungstrieb auf  ein  hartes  und  asketisches  Leben 
hingewiesen,  asketisch  im  amoralischen,  spartanischen 
Sinne,  auf  ein  Leben  gesunder  Abhärtung,  stolzer 
Selbstzucht  und  geistiger  Freiheit.  Niemals  darf  der 
Herrschende  der  Knecht  von  Leidenschaften  und  Be- 
dürfnissen sein. 

Neben  dem  herrschenden  Priestertum  entstand, 
als  Vollstrecker  seines  Willens  und  Beschützer  des 
Volkes  vor  äußeren  Gefahren,  eine  Kaste,  die  durdi 
den  nahen  Anblick  der  Macht  und  mehr  vielleidit 
noch  durch  die  impetuosen  Instinkte,  die  ihr  erblich 
innewohnten  und  durch  ihren  Beruf  noch  ver- 
schärft wurden,  allmählich  selbst  nach  der  Macht 
lüstern  wurde:  die  Kriegerkaste  oder  das  kriegm- 
sehe  Königtum.  Die  Zunahme  kriegerischer  Untw- 
nehmungen   —    durch    Bedrohung  von    auflen,  Auf- 


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—  48  — 


lehnung  im  Innern,  Expansionsbedürfnis,  BedOrfnis 
nach  Sklaven  usw.  hervorgerufen  —  stärkte  diese 
sekundäre,  ursprOnelich  nur  als  Exekutive  gedachte 
Machtquelle  auf  Kosten  der  priesterlichen  Macht. 
Und  obgleich  das  militärische  Königtum  noch  lange 
Zeit  hindurch  dem  Hohenpriestertum  untergeordnet 
bliebi  war  in  kriegerischen  Perioden  dennoch  die 
allmähliche  Verwandlung  des  theokratischen  Staates 
in  einen  militärisch-aristokratischen  unvermeidlich. 
Der  Kampf  um  die  Macht  zwischen  Priestertum  und 
Rittertum  ^  bildet  den  Hauptinhalt  der  sogenannten 
Weltgeschichte  bis  in  die  neuere  Zeit.  Im  Mittelalter 
erscheinen  diese  beiden  Machtfaktoren  in  zwei  große, 
alles  absorbierende  Verbände  zusammengefaßt:  in  den 
weltlichen  Staat  und  in  die  Kirche.  In  Kaiser  und  Papst 
bekriegten  sich  der  homo  bellicosus  und  der  homo 
oontemplativus.  Daß  es  auch  kontemplative  Kaiser 
•und  kriegerische  Päpste  gab,  ändert  nichts  an  ihrer 
repräsentativen  Idee.  Die  rechte  Waffe  des  Papstes 
war  der  Glaube  an  die  Macht  des  Geistes,  die  rechte 
Waffe  des  Kaisers  war  das  Schwert.  Und  gelegent- 
liche Verbündungen  der  beiden  Parteien  oder  ein- 
zelner ihrer  Teile  und  gelegentliche  längere  Waffen- 
stillstände beeinträchtigen  kaum  das  grandiose  Bild 
eines  jahrhundertelangen,  mit  beispielloser  Zähigkeit 

Eefahrten  Kampfes  um  die  Weltherrschaft.  Aber 
einer  der  Gegner  vermochte  den  anderen  endgiltig 
niederzuringen.  Der  weltliche  Staat  konnte  die  wie 
eine  fressende  Flechte  in  ihm  eingenistete  Kirche 
nicht  aus  seinem  Leibe  reißen,  und  die  Kirche  konnte 
es  nicht  verhindern,  daß  weltliches  Gehaben  und 
weltliche  Üppigkeit  ihr  Wesen  verfälschten  und  ihr 
Ansehen  untergruben.  Und  während  diese  beiden 
Gewalten  sich  bekämpften  und  schwächten,  wuchs 
eine  dritte  Gewalt  und  wurde  stark  und. stärker. 

Das  weltliche  Königtum  hat  leibhaftere  und 
kostspieligere  Bedürfnisse  als  das  spartanisch-asketi- 
sche Priestertum.   Was  von  Rittersart  ist,  liebt  stän- 


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—  44  — 


digen  Prunk  und  unbedenkliche  Verschwendung.  Der 
siegreiche  Krieger  dürstet  nach  Festen,  der  Kampf 
stachelt  die  Lebenslust  und  der  Krieg  rerschlingt 
Güter  um  Güter.  Der  Wert  des  Besitzes  steigt  in 
dem  Mafie,  als  Werte  verwüstet  und  vergeudet  werden. 
Und  je  grimmer  Staat  und  Kirche  sich  befehden,  desto 
mächtiger  macht  das  Kapitü  sich  geltend.  Bin  dritter 
Stand,  der  homo  possidens,  wächst  heran  und  pocht 
als  werteschaffendes  und  wertehäufendes  Bürgertum 
auf  seinen  Anteil  an  der  Macht.  Die  langsame,  aber 
stetige  Entwicklung  der  kapitalistischen  Macht,  der 
Machtzuwachs  des  Bürgertums  auf  Kosten  der  Aristo- 
kratie bildet  die  Geschichte  der  Neuzeit.  Die  Macht 
der  Aristokratie  wurde  durch  die  Revolution  ge- 
brochen. Von  ihr  ab  war  der  Militärdienst  nicht  mehr 
Beruf  und  Privileg  des  Adels,  sondern  allgemeine 
Volkspflicht.  Die  Abu)ht  des  Priestertums  wurde  durch 
die  Preisgabe  der  Wissenschaft  gebrochen.  Die  Wissen« 
Schaft  wurde  aus  einer  Magd  der  Kirche  ein  Spreng- 
stoff in  den  Händen  Geistloser.  Bin  Hilfslehrer  der 
Physik  ist  heute,  wie  Karl  Kraus  mit  furchtbarer 
Ironie  sagt,  jedem  Verkünder  Gottes  über.  Aber 
Wissenschaft  und  Wissen  sind  zweierlei,  und  der  Geist 
ist  wahrhaftig  nicht  bei  den  Hilfslehrern  der  Physik. 
Bs  ist  für  ihn  überhaupt  kein  Raum  mehr  auf  Brden, 
und  was  heute  Geist  heißt,  sind  nur  zerschüffene  und 
zerriebene  Reste  jenes  Geistes,  der  einmal  auf  Brden 
herrschte.  Heute  heiTScht  nicht  der  Geist  sondern  der 
Leib.  Oder  vielmehr:  heute  herrscht  nichts  und 
niemand,  sondern  alles  und  jedes  ist  beherrscht  vom 
Verlangen  nach  Besitz  und  leiblicher  Befriedigung. 
Der  Plutokratie  kann  nur  eine  Gewalt  sich  entgegen- 
stellen: die  geeinte  Masse.  Und  dieser  wird  es  ge- 
lingen, die  letzten  Unterschiede  von  Mensch  und 
Mensch  auszuwischen  und  jenen  Brei  darzustellen, 
der  infolge  seiner  Homogeneität  und  Dünnflüssig- 
keit so  gleichmäßig  über  die  ganze  Brdkugel  zer- 
rinnen wird,    dafi   ein  ideales  physikalisches   Gleich- 


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-  46  - 

gewicht    jede    psychische    Intervention    überflüssig 
macht  .  .  . 

Theokratie,  Aristokratie,  Plutokratie,  Demokratie. 
Herrschaft  des  Geistes,  Gewalt  der  Kraft,  Einfluß  des 
Besitzes,  Gewicht  der  Masse:  das  ist  der  sogenannte 
Gang  der  Weltgeschichte  oder  der  allmähliche  Sieg 
der  Menschenrechte  oder  der  Portschritt  der  Ent- 
wicklung. Man  könnte  es  aber  auch  den  allmählichen 
Zerfall  der  Geistesherrschaft  oder  das  Ersticken  des 
Geistes  unter  der  Last  der  Pöbelgesinnung  nennen. 

Karl  Hauer. 
Örterreich-Serbieii. 

Die  ,Vossische  Zeitung'  hat  in  ihrer  Abendausgabe  vom 
20.  März  unter  dem  Titel  »Frühere  und  jetzige  Ansichten  des 
Ministers  Milowanowitsch«  einen  Artiicel  veröffentlicht,  der  in  viele, 
deutsche  und  österreichische  Blätter  überging  und  auf  telegraphi- 
schem Weg  sogar  in  ein  Wiener  Blatt  gelangte.  Er  lautet: 

Es  kommt  häufig  vor,  daß  Staatsmänner  ihre  Ansichten  wechseln, 
aber  es  ist  keine  aflt  (gliche  Tatsache,  daß  ein  aktiver  Politiker  nach 
wenigen  Jahren  genau  das  Gegenteil  von  dem  sagt,  was  er  früher  als 
seine  innerste  Herzens  mein  ung  zum  besten  gab.  In  dieser  Lage  befindet 
sich  der  gegenwärtige  Minister  des  Äußeren  Milowanowitsch.  Man  kennt 
ihn  als  Verfechter  schneidiger,  gegen  Österreich-Ungarn  gerichteter  Noten, 
als  Politiker,  der  sich  in' seiner  Rede  vom  3.  Jänner  19üQ  auf  den  An- 
kläger der  stets  ländergierigen  Donaumonarchie  hinausspielte.  Wie  anders 
schrieb  der  Mann,  als  er  noch  in  Opposition  gegen  König  Milan  stand, 
an  dessen  Sturz  arbeitete  und  sich  bemühte,  Österreich-Ungarn  von  der 
Unterstützung  des  vorletzten  Obrenowitsch  abzubringen!  Im  April  1900 
veröffentlichte  er  in  der  in  Wien  erscheinenden,  von  Karl  Kraus  ge- 
leiteten .Fackel'  einen  Artikel,  in  dem  er  sich  zu  der  Ansicht  bekannte, 
die  erst  [üngst  wieder  von  dem  ehemaligen  serbischen  Ministerpräsidenten 
Wladan  Qeorgiewltsch  afisgesprochen  wurde,  daß  es  für  das  serbische 
Volk  am  besten  wäre,  wenn  es  unter  den  Fittichen  Österreich-Ungarns 
völlig  geeinigt  würde.  Die  Kernsätze  des  Aufsatzes  des  Herrn  Dr. 
Milowanowitsch  lauten:  (Folgt  das  Zitat.) 

Wie  sich  doch  die  Zeiten  ändern!  Ob  Milowanowitsch  sich  als 
Minister  König  Peters  noch  daran  erinnert,  was  ihm  im  Kampfe  gegen 
Milan  Obrenowitsch  als  Heil  seines  Vaterlandes  vorschwebte?  Dann 
müßte  er  eine  ganz  andere  Politik  befolgen  als  die  des  Kampfes  gegen 
die  österreichisch-ungarische  Monarchie. 

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46  — 


Da  nun  die  »Vossische  Zeitung'  den  Namen  des 
Autors  jenes  Artikels  erfahren  hat,  der  in  Nr.  38  der  ,Fadcel' 
(Mitte  April  1900)  unter  dem  Titel  »Ooluchowski  und  Milan«  ver- 
öffentlicht und  damals  bloß  »von  einem  Freunde  Östeneicfas  am 
serbischen  Hofe«  gezeichnet  war,  so  liegt  kein  Orund  vor,  hier 
den  Namen  nicht  auszusprechen.  Wären  die  Gründe  für  die  Ver- 
schweigung nicht  längst  obsolet,  so  geschähe  es  auch  heute  nicht. 
Minister  Milowanowitsch  war  damals  unter  den  Verurtdlten  des 
Attentatsprozesses  und  konnte  sich  bei  Lebzeiten  eines  Obreno- 
witsch  zur  Autorschaft  des  vortrefflichen  und  außerordentlich 
heftigen  Aufsatzes  nicht  bekennen.  Sie  war  aber  in  politischen 
Kreisen  bekannt.  Der  Aufsatz  sei  hier  bis  zu  der  Stelle  wieder- 
gegeben, da  die  Charakteristik  des  Königs  Mibm  beginnt.  Die  Er- 
eignisse, die  seit  der  Zitierung  durch  die  ,Vossische  Zeitung'  ein- 
getreten sind,  lassen  den  »Widerspruch«,  den  sdiließlich  neun 
Jahre  erklären  würden,  vielleicht  dodi  nicht  zu  auffllllig  erscheinen. 

Werter  Herr,  Ihre  Sendung  ist  glücklich  angelangt,  trotz  den 
Argusaugen  unserer  Zensur,  und  die  Lektüre  Ihrer  schönen  und  mutigen 
Artikel  über  die  serbischen  Angelegenheiten  war  sowohl  für  mich  als  auch 
für  aU  die  Freunde,  denen  ich  die  wertvoUe  ^ackel'-KoUektion  anver- 
trauen konnte,  eine  Genugtuung,  ein  wahrhafter  Qenuß.  —  Ich  persön- 
lich war  von  jeher  Austrophile  und  einer  der  überseugtesten  Mitarbeiter 
des  verstorbenen  Pirotschanatz,  des  Gründers  der  serbischen  Fortschritts- 
partei. Nach  der  Ernüchterung  und  den  Enttäuschungen  des  Berliner 
Vertrages,  nach  der  Inauguration  der  neuen  Orientpolitik  der  öster- 
reichisch-ungarischen Monarchie,  die  jetzt  mit  offenem  Visier  als  Ruß- 
lands Rivale  in  den  Balkanstaaten  auftrat,  hatte  sich  jene  neue  politi- 
sche Partei,  die  in  ihren  Reihen  die  besten  Geister  Serbiens  vereinigte, 
entschlossen,  mit  allen  Traditionen  der  Nationalpolitik  zu  brechen  und 
(las  intime  Einvernehmen,  die  vollkommene  Solidarität  der  Ansichten 
und  der  Interessen  Serbiens  mit  der  Habsburger-Monarchie  in  Ihr  Pro- 
gramm aufzunehmen.  Die  Idee  Pirotschanatz',  für  die  er  seine  politi- 
schen Freunde  zu  gewinnen  wuOte,  war,  daß  es  nach  den  Bestimmungen 
des  Berliner  Vertrages,  hinter  denen  immer  das  Gespenst  von  San 
Stefano  auftauchte,  ein  Anachronismus  sein  würde,  an  eine  Herstellung 
der  nationalen  Einheit  gegen  den  Willen  Österreich-Ungarns  oder  auch 
nur  trotz  ihm  zu  denken,  und  daß  wir  in  Zukunft  vielmehr  unsere 
ganze  Hoffnung  auf  die  Habsburger  -  Monarchie  setzen  und  begreifen 
müßten,  daß  unsere  nationalen  Träume  in  dieser  oder  jener  Form  nur 
unter  ihrer  Ägide  ihre  mehr  oder  minder  vollkommene  Verwirklichung 
finden  könnten.  Es  dürfte  Sie  vielleicht  überraschen,  wenn  ich  Ihnen 
sage,  daß  ich  —  trotz  alldem,  was  sich  im  Laufe  der  letzten  zwanzig 
Jahre  abgespielt  hat  und  selbst  trotz  dem  letzten  Fehler,  der,  ungeheuer- 


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47 


ücher  und  unsinniger  als  alle  anderen  der  ötterreichiscben  OrientpoUtik. 
uns  zu  dem  jüngsten  Bubenstück  des  Königs  Milan  mit  all  seinen  mi- 
seligen  und  verderblichen  Konsequenzen  verholten  hat  —  nicht  ganz 
daran  verzweifle,  daß  die  Zukunft  Pirotschanatz  Recht  geben  wird.  Und 
was  diese  Hoffnung  in  mir  wieder  aufleben  läfit,  das  sind  die  Oerüchtc, 
die  bis  ins  Wartezimmer  des  Hofes  zu  Belgrad  dringen :  daß  die  Stellmig 
des  Grafen  Ooluchowski  erschüttert  sei,  und  daß  dieser  Minister,  dessen 
Unfähigkeit,  die  Geschicke  der  Monarchie  in  so  bewegten  Zeiten  zu 
leiten,  notorisch  ist,  binnen  kurzem  von  der  ungeheueren  Last  seiner 
Vergehen  erdrückt  werden  wird.  Gebe  es  Gott,  sowohl  im  Interesse 
Österreichs  als  zum  Heile  unseres  unglücklichen  Landes,  daß  diese  Ge- 
rüchte   sich    so    bald    als    möglich  bestätigen  .  .  . 


D«r  farblose  Kri^. 

Der  Apparat  des  modernen  Krie|B;e8  ist  das  Werk 
der  seltensten  Vollkommenheit.  Die  Technik  des  Zer- 
stOrens  ist  der  des  Schaffens  weit  vorausgeeilt,  die 
Summe  von  Geist  imd  Arbeit,  die  in  Organisation 
und  Ausrüstung  der  Wehrmacht  zum  Ausdruck 
kommt,  hat  kaum  ihresgleichen  im  Bereiche  der  Kultur. 
Besäße  die  Institution  keinen  praktischen  Wert,  als 
vollendetes  Produkt  menschlichen  Verstandes  allein 
müßte  man  ihr  Daseinsberechtigung  zusprechen.  Ge- 
rade diese  kunstvollste  und  befriedigendste  Schöpfung 
des  Geistes  findet  niemanden  bereit,  sie  objektiv  zu 
würdigen,  und  jedes  Urteil,  das  laut  wird,  ist  von 
irgend  einem  Zweckstandpunkt  aus  gesprochen.  Nur 
hier,  wo  Furcht  und  Argwohn  dem  Geiste  keine  Ruhe- 
pausen gönnten  und  wo  der  Haß  sein  Ansporn  war, 
konnte  ein  so  wundervolles  Kompositum  von  Mensch 
und  Technik  entstehen,  das  alle  natürlichen  Unzu* 
länglichkeiten  der  Rasse  zielbewußt  zu  korrigieren 
scheint.  Die  Entwicklung  der  Kriegstechnik  gestattet 
unter  anderem  einen  interessanten  Schluß  auf  die  dem 
Menschen  eigene  Fähigkeit,  zu  hassen.  Jene  Geschöpfe, 
die  dem  Haß  am  fernsten  stehen,  sind  zweifellos  die- 


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—  48  - 


selben,  bei  denen  sich  jeder  Keim  von  Wut  und 
Feindschaft  sofort  in  Klauenhiebe  und  Bisse  um- 
setzen darf.  Tiger  und  Schlangen  sind  gewilB  die 
gutartigsten  Wesen,  deren  Inneres  nichts  von  Feind- 
seligkeit weifi.  Den  Hafi  kennt  vermutlich  die  Taube 
am  besten.  Kruppsche  Kanonen  und  Stahlmantei- 
geschosse  konnten  nur  von  einer  hochentwickelten 
Taubenart  erfunden  werden. 

Bei  der  Verbesserung  aller  zum  Kampfe  dienenden 
Mittel  ist  heute  nur  eine  Stelle,  die  der  Fortschritt 
nicht  berührte.  Alles,  Waffen,  Kleidung,  Vorschriften, 
es  wurde  geändert,  ist  verstandesmäßiger,  zweck- 
dienlicher geworden.  Nur  eines  blieb.  Das  sind  die 
altehrwürdigen  Kriegs-  und  Schlachtgefühle,  die 
seelischen  Monturstücke,  die  nun  einmal  zur  Aus- 
rüstung des  Mannes  zu  gehören  scheinen.  Da 
mufi  stets  eine  gewaltige  Ration  von  Begeisterung 
vorhanden  sein,  eine  ansehnliche  Menge  von  rühren- 
den Gefühlen  und  schönen  Überzeugungen,  die  alle 
als  unantastbar  p;elten  wollen.  Der  moderne  Krieger 
schleppt  noch  immer  den  Qlauben  im  Tornister 
mit,  für  die  bessere  Sache  zu  kämpfen,  Haus  und 
Herd,  Weib  und  Kind  zu  verteidigen,  für  Symbole 
aller  Art  zu  streiten.  Ja,  er  trägt  so  viele  Fahnen, 
daß  fast  die  Gefahr  vorhanden  ist,  er  könne  das  Tragen 
der  Waffen  vernachlässigen.  Und  allgemein  herrscht 
der  Aberglaube,  dafi  dieser  eiserne  Vorrat  von  Ge- 
fühlen eben  mitgeführt  werden  mufi,  um  die  Kampfes- 
tüchtigkeit zu  nähren.  Das  ist  ein  Irrtum.  Dringend 
würde  sich  schon  heute  eine  zeitgemäfiere,  praktischere 
Kriegsausrüstung  für  die  Gemüter  empfehlen;  die 
noch  geltende  ist  für  Säbel  und  Lanze,  für  Balliste 
und  Sturmbock  komponiert,  sie  pafit  nicht  mehr  zum 
Infanterie^ewehr  und  zur  Feldkanone  M.  5.  Was  hat 
die  Begeisterung  im  modernen  Kriege  zu  suchen? 
Als  das  Kriegführen  noch  im  Dreinschlagen  bestand, 
da  hatte  sie  ihren  Zweck.  Begeisterte  Hiebe  waren 
stärkere  Hiebe,  die  Begeisterimg  setzte  sich  in  Arbeit 


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49  — 


uro,  war  nach  Kilogrammetern  zu  messen.  Sie  be- 
deutete ein  Mehr  an  Kraft  für  die  Armee  und  zwar 
einer  Kraft,  deren  Herstellung  im  Vergleich  zu  der 
aus  Fleisch  und  Konserven  erheblich  billiger  war. 
Aber  heute?  Soll  der  Mann  mit  Begeisterung  zielen, 
mit  Begeisterung  den  Hahn  drücken,  begeistert 
jede  Deckung  benützen?  Das  wäre  durchaus 
verfehlt  und  würde  die  TrefTresultate  bedeutend 
vermindern.  Und  das  eben  ist  die  Lehre  der  Zeit  für 
den  bürgerlichen  Beruf  und  für  jede  erfolgreiche 
Tätigkeit  gewesen:  Ruhe,  Sachlichkeit,  Pflichtgefühl. 
Kein  Rausch,  kein  Zuviel  an  Wollen  und  Versuchen 
verspricht  Erfolg.  Die  Zeiten  des  Affektes  sind  vor- 
über, und  wo  immer  ernste  Arbeit  geleistet  wird, 
wird  sie  nüchtern  geleistet.  Es  ist  ein  schwerer 
Fehler,  der  Kriegsarbeit  eine  Ausnahmsstellung  zu- 
zuweisen, auf  die  Errungenschaften  von  Nüchternheit 
und  Pflichtbewufitsein  bei  der  Erziehung  des  Soldaten 
zeitweise  zu  verzichten  und  den  traditionellen  Rauschzu- 
stand anzustreben.  Auch  der  Beruf  des  Krieges  erfordert 
heute  jenen  ganzen  Mann,  der  seine  Gedanken  auf 
ihn  und  nur  auf  ihn,  nicht  aber  auf  ideale  Dinge 
richtet,  mögen  diese  nun  an  sich  vorhanden  und  sehr 
wertvoll  sein  oder  nicht.  Das  bürgerliche  Leben  lehrt 
die  Erfüllung  von  Pflichten.  Die  grofien  Leistungen 
unserer  Zeit  haben  ihren  Ursprung  fernab  von  allen 
Symbolen  und  aller  Begeisterung  in  der  Pflicht.  Es 
ist  unsinnig,  für  den  Krieg  ein  Gedankenreich  zu 
schaffen,  wo  die  Pflichten  an  zweiter  Stelle  und 
aller  mögliche,  ehrwürdige  Hausrat  an  erster  steht. 
In  jener  ist  der  heute  lebende  Mensch  zuhause, 
hier  hat  er  gelernt,  seinen  Mann  zu  stellen,  und  er 
wird  ihn  im  Kriege  stellen,  wenn  er  merkt,  dafi  er 
nicht  plötzlich  in  fremden  Regionen  lebt,  sondern  es 
mit  nichts  anderem  zu  tun'  hat,  als  mit  der  alten, 
wohlbekannten,  nüchternen  Pflicht.  Soll  gerade  die 
Armee  für  das  Zuviel  an  Nüchternheit  in  allen 
andern  Lebenskreisen  schadlos  halten?  Oberall  sonst: 


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50 


Zahlen,  hier  allein  Gefühl.  Mit  einem  Sohlase  steht 
der  Mann  in  einer  andern  Zeit.  Die  poetiscme  Eän- 
kleidung  und  der  ganze  Rausch,  sie  bergen  die 
große  Gefahr  eines  Mißverständnisses  in  sich,  das 
folgenschwer  werden  kann.  Sie  könnten  leicht  eu  der 
Annahme  verleiten,  es  genüge,  Paradegefühle  mit  sich 
zu  führen,  jene  andere  geistige  Montur  aber,  die  sonst 
im  Lebenskampf  getragen  wird,  eben  die  der  Pflicht, 
sei  nicht  erforderlich  nir  den  Krieg.  Nichts  ist  be- 
denklicher, als  dem  Soldaten  die  Situation  als  fremd- 
artig und  ungewöhnlich  darzustellen,  den  Krieg  als 
einen  Ausnahmszustand,  der  neue  und  unerhörte  An- 
forderungen an  ihn  stellt.  Krieg  und  Frieden  dürften 
ihm  nicht  als  Gegensätze  erscheinen,  denn  sie  haben 
das  Gemeinsame  der  Arbeit  für  ihn.  Es  ist  höchst 
unnötig,  ihn  außer  mit  Musik  auch  noch  mit  Hoch- 
gefühl marschieren  zu  lassen,  weit  wichtiger  wäre 
es,  ihm  zu  Bewußtsein  zu  bringen,  dafi  der  Kampf 
und  die  Selbstverteidigung  keine  Steuer  sind,  die 
ihm  eine  Regierung  auferlegte,  dafi  diese  Steuer 
von  alters  her  auf  jedem  lebenden  Wesen  lastet 
und  die  Form,  in  der  sie  heute  entrichtet  werden 
kann  (Einschränkung  auf  die  körperlich  geeigneten 
Personen  und  bei  diesen  auf  eine  bestimmte  Anzahl 
von  Jahren)  bereits  eine  der  wertvollsten  Errungen- 
schaften des  Staates,  eine  der  wichtigsten  Entlastungen 
für  seine  Angehörigen  bedeutet. 

Man  bemüht  sich  in  der  Regel  einer  Armee 
Gutes  nachzusagen,  indem  man  ihre  Gefühle  lobt; 
man  vergifit  dabei  häufig  genug  ihren  eigentlichen 
Wert:  die  Arbeitsleistung,  die  von  ihr  repräsentiert 
wird.  Jahrzehntelang  hat  diese  Organisation  die 
Arbeitsleistung  von  Hunderttausenden  in  sich  auf- 
genommen ;  und  ein  Teil  von  diesen,  der  an  Intelligenz 
und  Arbeitswilligkeit  keiner  anderen  GesellschaftskUsse 
nachsteht,  hat  die  Arbeitskraft  des  ganzen  Lebens  ' 
in  ihr  niedergelegt.  Diese  ganze  Summe  einer  ernsten 
Arbeit    der  Jahrzehnte     ist     in     der    Armee     auf 


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—  51  — 


ge^eichert.  Wie  kann  es  dazu  kommen,  dafi  man  das 
übersieht  und  plötzlich  anfängt,  Rauschzustände  gegen 
einander  abzuwägen  und  nicht  Arbeitswerte?  Dafi 
man  zum  Beispiel  die  Möglichkeit  erörtert,  dieser  stillen 
Arbeit  könnte  durch  eine  andere,  die  sich  geräusch- 
voll und  fieberhaft  in  wenigen  Monaten  vollzieht, 
an  der  eine  weit  geringere  Zahl  von  Menschen  be- 
teiligt ist,  auch  nur  annähernd  die  Wage  gehalten 
werden? 

Eine  solche  kindliche  Verkennung  von  Arbeits- 
wert, und  Arbeitskraft  wird  sich  diese  Zeit  nirgends 
sonst  zu  Schulden  kommen  lassen,  wo  ihr  die  Arbeit 
in  einem  minder  bunten  Qewande  entgegentritt.  Denn 
diese  Verkennung  schliefit  ein  heute  beispielloses 
Unverständnis  für  Arbeit  und  ihren  Wert  in  sich. 
Das  eben  ist  die  Folge  des  Fehlers,  dafi  man  den 
Krieg  und  alles  mit  ihm  Zusammenhängende  gar 
nicht  im  Lichte  der  Gegenwart  sieht,  sondern  in 
einem  mystischen  Dunkel  vergangener  Zeit,  und  daß 
man,  zögernd  auch  auf  ihn  die  Lehren  und  das 
Wissen  unserer  Zeit  zu  erstrecken,  mit  veralteten 
Maflstäben  an  seine  Beurteilung  herangeht.  Man  mag 
die  Vergangenheit  ungern  schwinden  sehen,  mag  die 
bisherige  Auffassung  des  Kriegswesens  als  letzten 
Rest  schönerer  Zeiten  bewundem,  in  denen  die  Er- 
eignisse mehr  Qlanz  und  Farbe  hatten.  Wer  heut 
den  Erfolg  will,  wird  auch  die  Gesetze  dieses  Heute 
studieren  müssen.  Die  Bilderbogen  des  Krieges  haben 
sich  stark  verändert,  seitdem  in  Europa  die  letzten 
Schlachten  geschlagen  worden  sind,  es  wäre  an 
der  Zeit,  auch  an  den  psychologischen  Bilderbogen, 
die  noch  die  alte  Malerei  tragen,  die  notwendigen 
Korrekturen  vorzunehmen. 

Otto   Soyka. 


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-^  52  - 

Anakreontisches  LiedeL 

Immer  bleibst  du,  wer  du  bist, 
Nimm  das  Leben,  wie  es  ist. 
Wo  du  Rosen  siehst  im  Garten, 
Brich  sie,  und  laß  sie  nicht  warten. 
Und  im  Sommervollmondschein 
Laß  dein  Mädchen  nicht  allein. 
Trinke  in  der  Preundeskette, 
Trink  mit  ihnen  um  die  Wette, 
Trinke  bis  ans  Morgenrot, 
Trinke  bis  an  deinen  Tod. 
Diese  Regeln  sind  nicht  zierlich, 
Aber  auch  nicht  unmanierlich. 
Jedenfalls,  und  das  bleibt  wahr. 
Wer  nicht  bechert,  bleibt  ein  Narr, 
Wer  nicht  küßt  Marie,  Susanne, 
Heute  Bertha,  morgen  Anne, 
Wer  die  Rosen  läßt  verwehn, 
Eh  er  ihren  Duft  genossen. 
Mag  getrost  zur  Hölle  gehn  — 
Denn  der  Himmel  bleibt  verschlossen 
Allen  denen,  die  auf  Erden 
Unbefriedigt  müpsen  sterben. 
Immer  bleibst  du,  wer  du  bist. 
Nimm  das  Leben,  wie  es  ist. 

Detlev  von  Liliencron. 

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-  68  — 


Jngendromane. 

Dafl  dem  Esel  Disteln  besser  schmecken,  als 
Himmelsschlüssel  und  Märzenbecher  ist  von  seinem 
Standpunkt  durchaus  begreiflich.  Und  wer  sich  von 
eines  Grautieres  Geschmack  die  eigene  Nahrung 
ordinieren  läßt,  .  .  . 

Der  Yah-Ruf  ist  eine  Kritik,  aber  er  wird 
immer  auch  zur  Parole.  Denn  selbst  die  einsil- 
bigste Dummheit  mufi  noch  nachgeahmt  werden. 
In  dem  Rezensentengeschrei  ist  letzthin  ein  ernst- 
liches Widerstreben  gegen  Primeln  und  Märzenbecher 
zum  Ausdruck  gekommen.  Das  graue  Elend  hat  sich 
gegen  die  Jugend  gewehrt,  die  Kritik  hat  sich  gegen 
die  Jugendromane  ausgesprochen.  Immer  wieder  müsse 
nan  —  Rezensenten  sind  auch  »mant  —  diese 
Dichter  von  der  Jugend  erzählen  hören.  In  der  ganzen 
Literatur  halle  es  von  Kinderstubengeschrei,  Knaben* 
torheit  imd  Entwicklungsschmerzen  und  ein  besonders 
Tiefer  meinte,  die  Schuld  daran  liege  wohl  in  der 
mächtigen  Bewegung  unserer  Tage  »für  das  Kinde 
Wie  viel  wichtiger  seien  doch  die  Schicksale  und 
Kämpfe  des  Mannes  und  was  dergleichen  Stoßseufzer 
nach  den  Disteln  mehr  waren. 

Nichtsdestoweniger  erdreistet  sich  die  Kunst,  nur 
die  Nahrung  zu  nehmen,  die  ihr  zusagt.  Das  ist  das 
naive  Problem  des  »Stoffesc  in  der  Dichtung.  Das 
>Was€  ist  eine  höchst  persönliche,  geheimnisvolle  und 
selbstverständliche  Sache  jedes  Einzelnen,  nur  das 
»Wiet  entscheidet  über  sein  Recht  und  Unrecht.  Die 
siegende  Notwendigkeit  macht  die  einzige  Moral  des 
künstlerischen  Zwanges  aus.  Es  gibt  keinen  guten 
oder  schlechten  Stofif  der  Poesie  an  sich.  Und  viel- 
leicht war  es  die  großartige  Instinktgebundenheit  der 
Kunst,  die  uns  zur  Einsicht  verhalf,  daß  es  auch 
keine   an  sich  gute    oder  schlechte  Handlung  gibt, 


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—  54  — 


«ondern  dafi  jede  erst  durch  die  Persönlichkeit  ihr 
Wertzeichen  erhält.  Die  einzige  Unsittlichkeit  der 
Kunst  ist  das  vergebliche  Wollen  und  erst  beim  frag- 
würdigen Werke  gibt  es  eine  gerechte  Frage  naä 
dem  Stoffe. 

Freilich  enth&lt  das  Leben  selbst,  die  Quelle  und 
Ifahrung  und  Bedingung  jedes  Gestaltens,  gewisse 
•ich  immittelbar  bietende  Motive,  deren  Ergiebigkeit 
unbedingt  nach  der  schöpfenden  Hand  verlangt  Vet- 
möge  ihrer  Sinnfälligkeit  und  Gegebenheit  üben  sie 
den  stärksten  Reiz,  aus  ihrer  typischen  Masse 
das  Besondere,  aus  ihrer  Allgemeinbedeutung  das 
ludividuelle  zu  lösen. 

Zu  diesen  ökumenischen  Motiven  gehören  vor- 
^glich  die  Probleme  der  Lebensalter  selbst,  die  ganz 
geheimnisvoll  mit  der  Natur  der  dichterischen  Formea 
▼erwachsen  sind.  Schon  in  der  äufierlichen  Unter- 
scheidung: Epos  und  Drama,  erkennt  man  Unter- 
schiede von  Lebensstufen  selbst  Der  jedem  Alt^ 
innewohnende  Rythmus,  das  jeweils  veränderte  Mai 
von  Instinkt  und  Bewußtheit  bedingt  diese  Ausdrucks- 
flormen.  Die  dialektische  Gegensätzlichkeit  des  Lebens, 
die  dramatische  Nötigung  zum  Austrag  entspricht 
dem  Mannesalter.  Das  unendlich  wechselnde  Vorüber- 
fliehen  von  Ereignissen  und  Figuren  an  den  wahlles 
aufnehmenden,  lustvoll  geduldigen  Sinnen  ist  der 
epischen  Natur  der  Jugend  geroäfi. 

Wie  selbstverständlich,  dafi  der  epische  Dichter 
vor  allem  die  epische  Zeit  erfafit.  Die  Erlebnisse  der 
Jugend,  das  ungeheuere  Anwachsen  der  Tag  um 
Tag  sich  steigernden  Erscheinungswelt,  die  Macht 
und  Willkür  ihrer  Deutung,  das  Zusammendrängen 
einer  unermeßlichen  Erfahrungsreihe  in  einen  knap^ 
sten  Zeitraum,  die  allmähliche  innere  Erleuchtung 
und  Ordnung  der  Bilder  zu  Wesenheiten,  Gliede- 
rungen, Notwendigkeiten,  dies  alles  ist  eine  so  groft- 
mrtige  Gegebenheit  des  Schicksals,  daft  der  Dichter 
an  der  Betrachtung  der  Jugend  des  Weltgeschehens 


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—  55  — 


selber  und  an  der  bewußten  Nachschöpfung  des  Jugend- 
erlebens des  Mafies  der  Realitäten  selbst  inne  wird. 
Es  ist  der  eigentliche  Zauber  des  Epischen: 
Alles  menschliche  Treiben  und  Qetriebenwerden,  Tun 
und  Leiden  in  seinem  Neben-  und  Ineinander  wird 
freudig  umfaßt  und  alles  Dunkle,  Grauen,  Tod  und 
Chaos  erscheint  als  lustvolle  Buntheit.  DieKonfltkte, 
und  führten  sie  bis  zur  Vernichtung,  erneuen  sich  in 
unerschöpflicher  Wiedergeburt,  die  Pein  der  Erfah- 
rungen hat  nur  die  freudige  Folge  immer  wieder 
erweckter  Anschaulichkeit.  Im  Epos  triumphiert  alle 
Vielstimmigkeit  und  Unverwüstlichkeit  der  Existens. 
Und  dies  alles  ist  Wesen  und  Vorrecht  der  Jugend. 
Ihr  allein  ist  die  wunderbare  Widerruflichkeit  und 
Wandelbarkeit  der  Anschauung  und  Wertung  gegönnt, 
nur  Ton  ihrer  Schultafel  wird  jedes  bittere  Erkennen 
hurtig  ausgelöscht,  während  der  nächste  Eindruck 
eine  neue  geduldige,  reine  Fläche  findet,  sich 
darauf  einzuzeichnen.  Das  treueste  Gedächtnis  ge- 
hört dem  flüchtigsten  Gemüte  an,  welches  aus 
jeder  Nahrung  Gewinn  zieht,  aus  Träumen  Wahr- 
heiten, Hoffnungen  aus  Enttäuschungen,  Erfüllung 
aus  Verzichten,  heiliges  Ungenügen  aus  allem 
Erreichten  •  schöpft.  Wenn  es  Sache  des  Dichters  ist, 
aus  einer  kleinen  Wirklichkeit  eine  grofte,  aus  einem 
Tropfen  von  Erlebnis  ein  Weltmeer  von  Inhalt,  aus 
einem  gelegentlichen  Eindruck  eine  Ewigkeit  Ton 
Stimmung,  aus  einem  vereinzelten  Samenkorn  von 
(Geschehen  einen  Baumriesen  von  Schicksal  er- 
wachsen zulassen,  so  gehört  all  diese  geniale  Willkür 
der  Jugend  zu,  als  der  einzigen  Epoche,  wo  jeder 
Mensch,  Freiheit,  Unbewachtheit  und  Gesundheit 
vorausgesetzt,  sich  schöpferisch,  also  genial  bewährt. 
So  scheint  die  Jugend  allein  und  unbedingt  dem 
Dichter  inmitten  der  rationalen  Dürre,  auf  die  er- 
wachende Frage  nach  seinem  Wert  und  Sinn  die 
heitere  Bejahung  zurückzugeben,  deren  er  bedarf. 
In  ihr  findet  er  die   geheimnisvolle  Rechtfertigung 

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66 


seiner  Funktion,  seine  menschheitliche  Billigung. 
Ist  dieses  Alter  der  willkürlichen  und  selbstherrlichen 
Wertungen  um,  so  beginnt  der  törichteste  Eirnst  des 
Lebens,  der  das  gewaltige  Spiel  des  Schaffens  um 
seiner  selbst  willen  zu  nehmen  unfähig,  fordert  statt 
Bu  empfangen  und  mit  Nutzbarkeiten  und  Zwecken 
durch  das  Inkommensurable  pflügt. 

Kein  Lebensalter  hat  einen  so  weiten  Horizont 
wie  die  Jugend  und  keinem  hat  wie  sie  die  Flügel, 
ihn  ganz  zu  durchmessen.  Dichtung  und  Dichter 
werden  in  ihr  eins  und  mit  der  Sehnsucht  nach  der 
Jugend  strebt  die  Seele  des  Schaffenden  gleichsam 
nach  ihrem  natürlichen  Leibe,  nach  ihrer  wesenhaften 
Erfüllung  zurück. 

Nun  ist  das  mit  dem  Namen  »Jahrhundert  des 
Kindesc  stigmatisierte  Zeitalter  freilich  auf  dem 
besten  Wege,  der  Jugend  ihre  Seele,  der  Dichtung 
ihr  Paradies  zu  verleiden.  Das  kindische  Treibender 
Erwachsenen  droht  nachgerade  mit  einer  Sentimen- 
talität, die  Rohheit  und  Dummheit  selbst  ist,  das 
Kindliche  auszurotten,  es  beleuchtet  elektrisch  die 
Märchendämmerung  der  Kinderstube  imd  nötigt  der 
Phantasie  innerer  Gesichte  seine  eigenen  Brillen  auf, 
durch  welche  die  Jugend  künstlerische  Bilderbücher 
SU  würdigen  bekommt.  Dem  geheimnisvollen  Ringen 
der  Seele  mit  den  drohenden  Qewalten  der  Sprache 
und  der  Wirklichkeit  antwortet  das  idiotische  Lallen 
und  Nachäffen  der  herablassenden  Erwachsenheit, 
welche  den  Schritt  des  Frühlings  hygienisch  gängelt 
und  die  herrlichen  Schluchten  des  Erlebens  elmet. 
Human  sollen  die  notwendigen  Schrecknisse  des 
Heranwachsens  vermieden,  aus  dem  Urwald  ein  ärm- 
licher Qarten  zugerodet  und  eine  chinesische  Mauer 
vor  die  Unendlichkeit  der  Welt  gebaut  werden,  se 
dafi  all  die  wahrhaften  Ungeheuer,  denen  das  Kind 
allein  mit  dem  gerechten  Entsetzen  der  Intuition 
gegenübersteht,  zu  kümmerlichen  Popanzen  ein- 
dorren. Mit-  und  wehleidig  verdirbt  die  reife  Torh^t 

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das  erhabene  Grauen  des  Erlebens  zum  Ammen- 
märchen und  ist  drauf  und  dran,  aus  der  Geschichte 
des  menschlichen  Daseins  den  ersten  und  letzten 
Traum  zu  vertreiben.  Die  geistige  Unzucht  des 
Bationalismus  demokratisiert  jene  letzte  sagenhafte 
Welt  der  adeligen  Kämpfe,  Vorrechte  und  Freiheiten 
und  unterwirft  sie  der  eklen  Humanitätsfolter  der 
Bewußtheit,  Zweckmäßigkeit  und  Spitalssterilität. 
Welch  ein  Trost,  dafi  es  noch  Bazillen  gibtl  Die 
Bürgschaften  der  Hygiene  breiten  das  graue  Leichen- 
tuch der  Sekurität  über  ein  kindisches  Jahrhundert. 
Sicherlich  ist  es  ein  Zeichen  dieser  Zeit,  dafi 
die  Jugend  als  epischer  Urstoff  noch  einmal  mit 
solcher  Vielstimmigkeit  von  allen  Seiten  her  auf- 
klingt, wie  ein  letzter  Ruf,  eine  Frage  des  Schicksals. 
Noch  einmal  wenden  die  Dichter  ihren  Blick  nach 
dem  Morgenrot.  Indessen  weiden  die  Esel  im  Spitals- 
garten und  treten  die  letzten  Primeln  und  Märzen- 
becher als  unnütze  Gewächse  mit  Füfien. 

Otto  Stoessl. 


Tagebach. 

Mir  träumte  neulich,  die  Völker  Europas 
wahrten  ihre  heiligsten  Güter  gegen  die  schwarz- 
gelbe Gefahr. 

Sollte  man,  bangend  in  der  Schlachtordnung  des 
bürgerlichen  Lebens,  nicht  die  Gelegenheit  ergreifen 
und  in  den  Krieg  desertieren? 

* 

Es  liegt  nahe,  für  ein  Vaterland  zu  sterben,  in 
welchem  man  nicht  leben  kann.  Aber  da  würde  ich 
als  Patriot  den  Selbstmord  einer  Niederlage  vorziehen. 

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—  68  — 

Bildung  ist  das,  was  die  meisten  empfaDgen, 
viele  weitergeben  und  wenige  haben. 

• 

Es  kommt  nur  darauf  an,  sich  zu  konzentrieren, 
dann  findet  man  das  Beste.  Man  kann  aus  dem 
Kaffeesatz  weissagen,  ja  man  kann  sogar  im  Anblick 
einer  Frau  auf  Gedanken  kommen. 

• 

Ober  Zeit  und  Raum  wird  so  gesehrieben,  ah 
ob  es  Dinge  wären,  die  im  praktischen  Lieben  noch 
nie  eine  Anwendung  gefunden  haben. 

• 

Philosophie  ist  oft  nicht  mehr  als  der  Mut,  in 
einen  Irrgarten  einzutreten.  Wer  aber  dann  auch 
die  Eingangspforte  vergifit,  kann  leicht  in  den  Ruf 
eines  selbständigen  Denkers  kommen. 

• 

Wer  von  Berufswegen  über  die  .Gründe  des 
Seins  nachdenkt,  mufi  nicht  einmal  so  viel  zustande- 
bringen, um  seine  Füfie  daran  zu  wärmen.  Aber 
beim  Schuhflicken  ist  schon  manch  einer  den  Gründen 
des  Seins  nahegekonnnen. 

• 

Moral  ist  die  Tendenz,  das  Bad  mit  dem  Kinde 
auszuschütten. 

« 

Dafi  Hunger  und  Liebe  die  Wirtschaft  der  Welt 
besorgen,  will  sie  noch  immer  nicht  rückhaltlos  zu- 
geben. Denn  sie  läfit  wohl  die  Köchin  das  grofie  Wort 
führen,  aber  das  Freudenmädchen  nimmt  sie  bloft 
als  Aushilfsperson  ins  Haus. 

• 

Die  Kinder  würden  es  nicht  verstehen,  warum 
die  Erwachsenen  sich  gegen  die  Lust  wehren;  und 
die  Greise  verstehen  es  wieder  nicht. 


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—  69  — 

Wenn  sich  die  Sünde  rorwagt^  wird  sie  Ton 
der  Polizei  verboten.  Wenn  sie  sich  rerkrieoht,  wird 
ihr  ein  Erlaubnisschein  erteilt. 

Ich  kannte  einen  Don  Juan  der  Enthaltsamkeit, 
dessen  Leporello  nicht  einmal  imstande  war,  eine 
Liste  der  unnahbaren  Weiber  zusammenzustellen. 

• 

Moderne  Musik :  Im  weiten  Reich  der  Melodien- 
losigkeit  ist  es  schwer,  als  Plagiator  erkannt  zu  werden. 

Wenn  ein  Denker  mit  der  Aufstellung  eines 
Ideals  beginnt,  dann  fühlt  sich  jeder  gern  getrofiTen. 
Ich  habe  den  UntermenBchen  beschrieben  —  war 
sollte  da  mitgehen? 

• 

Ein  Qedankenstrich  ist  zumeist  ein  Strich  durch 
den  Gedanken. 

Als  ich  las,  wie  ein  Nachahmer  das  Original 
pries,  war  es  mir,  als  ob  eine  Qualle  an  Land  ge- 
kommen wäre,  um  sich  über  den  Aufenthalt  im  Ozean 
günstig  zu  äufiern. 

Er  hatte  so  eine  Art,  sich  in  den  Hintergrund 
zu  drängen,  dafi  es  allgemein  Ärgernis  erregte. 

• 

Ich  stelle  mir  vor,  dafi  ein  unvorsichtiger  Kon- 
sistorialrat  bei  der  Liebe  Pech  hat  und  sich  die 
Masern  zuzieht. 

Als  die  Wohnungsmieter  erfahren  hatten,  dafi 
die  Hausbesitzerin  eine  Kupplerin  sei,  wollten  sie 
alle  kündigen.  Sie  blieben  aber  im  Hause,  als  jene 
ihnen  versicherte,  dafi  sie  ihr  Qeschäft  verändert 
habe  und  nur  mehr  Wucher  treibe. 


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—  60  - 


Der  SkepÜBisifius  hat  sich  vom  >Que  sais-jefc 
bis  zum  »Weift  ich?«  entwickelt. 

• 

Ein  modernes  Kind  lacht  den  Vater  aus,  der 
ihm  Ton  Drachen  erzählt.  Es  ist  notwendig,  daS  daa 
Gruseki  ein  obligater  (Gegenstand  wird;  sonst  lernen 
sie  es  nie. 

Mit  Leuten,  die  das  Wort  »effektive  gebrauchen, 
Terkehre  ich  grundsätzlich  nicht. 

• 

Es  tut  mir  im  Herzen  weh,  wenn  ich  sehe,  daft 
der  Nutzen  des  Verrats  an  mir  geringer  ist  als  der 
Schaden  meiner  Verbindung, 

Wenn  einer  keine  Jungfrau  bekommen  hat,  ist 
er  ein  gefallener  Mann,  er  ist  fürs  ganze  Leben 
ruiniert  und  hat  mindestens  Anspruch  auf  Alimente. 

Schein  hat  mehr  Buchstaben  als  Sein. 

Frage  deinen  Nächsten  nur  über  Dinge,  die  du 
selbst  besser  weifit.  Dann  könnte  sein  Rat  wertvoll  sein. 

Ein  Plagiator  sollte  den  Autor  hundertmal  ab- 
schreiben müssen. 

Allerorten  entflieht  man  dem  Druck  des 
Philisteriums.  Ich  kannte  eine,  die  heimlich  vom 
Theater  durchgegangen  ist,  um  nachhause  zu  kommen. 

Die  Zerstörung  Sodoms  war  ein  Exempel.  Man 
wird  durch  alle  Zeiten  vor  einem  Erdbeben  Sünden 
begehen. 

Der  Teufel  ist  ein  Optimist,  wenn  er  glaubt, 
dafi  er  die  Menschen  schlechter  machen  kann. 


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—  61  — 

Es  muft  einmal  in  der  Welt  eine  unbefleckte 
Empfängnis  der  Wollust  gegeben  haben! 

• 

Wer  weifi,  was  bei  uns  zuhause  vorgeht,  wenn 
niemand  im  Zimmer  ist?  Man  kann  freilich  nicht 
wissen,  ob  es  Geister  gibt.  Denn  sie  sind  eben  in 
dem  Augenblick,  wo  dfui  Wissen  beginnt,  auch  schon 
vertrieben. 

Die  Sprache  sed  die  Wünschelrute,  die  gedankliche 
Quellen  findet. 

Einer,  der  immer  Aphorismen  schreiben  könnte 
und  sich  in  Aufsätzen  zersplittern  mufi  I 

Der  Ekel  findet  mich  unerträglich.  Aber  wir 
werden  erst  auseinandergehen,  wenn  auch  ich  von 
ihm  genug  bekomme. 

Karl  Kraus. 


Offener  Brief  an  den  Herausgeber  der  ,PackeP. 

Ich  habe  schon  immer  das  Bedürfnis  gefühlt, 
die  tiefe  Dankbarkeit,  di»  mich  gegen  die  ,  Fackel^ 
beseelt,  auch  einmal  in  der  Öffentlichkeit  auszusprechen. 
Und  ich  hätte  es  schon  längst  getan,  wenn  nicht 
Krankheit  und  widrige  Umstände  denen  zu  Hilfe 
gekommen  wären,  die  sich  heute  dazu  beglück- 
wünschen, Sie  und  Ihr  Werk  nunmehr  zehn  Jahre 
lang  treu  und  unverbrüchlich  totgeschwiegen  zu  haben. 

Freilich  mag  mancher  der  Gratulanten  seufzen: 
»Zehn  Jahre  totgeschwiegen  und  noch  nicht  tot!<... 

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—  02 


Und  es  ertönt  ein  gellendes  Schweigen  an  der  toII- 
besetzten  Tafel  der  Reporter. 

Ich  aber,  Herr  Kraus,  bitte  Sie  um  Entschuldi- 
gung, dafi  ich,  wo  jene  schon  zehn  Jahre  schweigen, 
heute  zum  erstenmal  über  Ihre  Sache  rede. 

Hier  in  der  ,Fackel^  sind  wir  ja  gottlob  unter 
uns.  Und  manchen,  der  im  Wolfspelz  hier  hereinkam, 
haben  Sie,  da  er  sich  als  Schaf  entpuppte,  wieder 
hinausgetrieben.  Die  Luft  ist  also  rein.  Wir  sind  zu 
Hause,  und  ich  kann  meine  Gefühle  äufiem,  ohne 
fürchten  zu  müssen,  dafi  ungebetene  Qäste  mich 
hören.  Und  eine  Fackel  erleuchtet  wie  immer  das 
Transparent  über  unserer  Türe  —  in  deutlichen 
Lettern  erglänzt  die  liebe  Inschrift:  Odi  profanum 
irulgus  et  arceo  .  .  . 

Wie  ich  dieses  Haus  liebe  I  Wie  von  Herzen  ich 
es  liebe  I  Erinnern  Sie  sich  noch,  wertgesch&tzter 
Freiyid,  wie  ich  hier  zum  erstenmale  Zuflucht  fand?  — 
Es  ist  eine  schwere  Erinnerung  . . . 

Damals  war  es,  als  das  deutsche  Volk  Tor 
Freude  grunzte,  weil  es  mit  seinem  Rüssel  an  gräf- 
lichen Ehebetten  schnuppem  durfte.  Und  diese,  schon 
seit  ihrer  Gründung  pensionsberechtigte  Nation  von 
Militäranwärtern,  Assistenten  und  anderen  Dienstboten 
erschauerte  in  Triumphgefühlen,  als  endlich  ein 
wirklicher  Fürst  ins  Gefängnis  geschleift  wurde. 
Wenn  er  auch  schon  halbtot  war  —  es  war  ein  Fürst, 
ein  Fürst.  Und  der  demokratische  Pöbel  forderte,  dafi 
das  Gesetz  alle  gleich  gemein  behandle  . . .  Dank- 
bar schlugen  alle  Herzen  dem  Harden  entgegen. 

Nie  habe  ich  deutlicher  empfunden,  dafi  mir 
Gott  wohl  will  und  dafi  ich  von  ihm  besonders 
begnadet  bin.  Denn  gerade  zu  dieser  Zeit,  als  ich 
aufschluchzte  vor  Empörung  über  einen  solchen  An- 
schlag gegen  die  Freiheit  des  Privatlebens  und  er- 
glühte vor  Scham,  einer  Nation  anzugehören,  die  ihn 
guthiefi  —  gerade  damals  fand  ich  die  ,Fackel'. 

Das  bedeutete  wahrlich  ein  tiefes  Erlebnis.  Und 


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63 


seitdem  weifi   ich  Horden  und  dem  deutschen  Volk 
Dank  für  die  Schande. 

Denn  ein  ungeheurer  Ekel  und  Zorn  waren  die 
stoffliche  Vorbedingung  zu  einer  so  machtvolle» 
Polemik  wie  die  es  ist,  die  Sie,  Karl  Kraus,  gegen 
Barden  geführt  haben.  In  dieser  Polemik  wurde 
die  Vornehmheit  Ihrer  Gesinnung  nur  Ton  der  edlea 
Kunst  Ihrer  Sprache  übertroffen.  In  der  Tat  ist  meine 
Meinung,  dafi  die  deutsche  Literatur  keine  polemisch« 
Leistung  aufzuweisen  hat,  die  an  künstlerischem 
Werte  der  Ihrigen  auch  nur  gleichkäme.  Selbst 
Schopenhauer  hat,  um  von  den  welthistorischen 
Sprachkünstlem  zu  reden,  nicht  besser  polemisiert 
Das  Entzücken,  mit  dem  ich  damals  die  ,Facker  las, 
war  noch  größer  als  meine  Wut  über  die  Kultur- 
schmach der  Deutschen. 

Jemand,  den  Sie  auch  kennen  und  der  Ihne» 
wfthrend  Ihrer  Harden-Polemik  auf  eine  noble  Weis« 
Reverenz  erwiesen  hat,  sagte  mit  Recht:  wenn  Sie  der- 
gleichen in  Frankreich  geschrieben  hätten,  wäre  dieses 
Land  der  geborenen  Sprachkenner  in  Ekstase  geraten. 

In  dieser  Polemik  offenbarte  sich  mir  auch 
deutlich  Ihre  einzigartige  Stellung  in  der  Literatur. 
Die  Literatur  hat  keinen  Platz  für  das,  was  für  den 
Taggeschrieben  wird.  Sie  haben  über  den  Tag,  gegen  de» 
Tag  geschrieben,  niemals  für  den  Tag.  Die  Aktualität  war 
Ihnen  nie  Selbstzweck ;  Sie  haben  über  die  Aktualität 
geschrieben,  weil  sie  Ihren  moralischen  und  künstleri- 
schen Ewigkeitswerten  auf  eine  Sie  empörende  Weise 
widersprach.  Was  man  für  den  Tag  schreibt,  vergeht; 
auch  wenn  man  dabei  —  was  sehr  selten  ist  —  den  Stoff 
in  eine  gute  Form  meistert.  Was  man  gegen  den  Tag 
schreibt,  besteht.  Ihre  Harden-Polemik,  Ihre  Schrift 
Aber  den  Veith-Prozefi  und  soviel  anderes  gehören 
lur  Literatur  und  haben  mit  dem  Journalismus  nichts 
gemeinsam.  Dies  für  alle,  die  Sie  etwa  verwechseln 
und  Ihren  Feldzug  gegen  den  Journalismus  entwerte» 
■lochten. 


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^^  ^)  -ö^^^t  VJI. 


—  64  — 


Und  nachdem  ich  Ihrem  Kampf  für  die  Sezitti>** 
freiheit  während  der  Prozesse  des  Harden  mit  m 
inniger  Vreade  beigewohnt  hatte^  habe  ioh  aBu  Ihren 
früheren  Kämpfen  nachgespürt. 

Ich  lube  alle  Jahrgänge  der  ^PackeP  in  einem 
Zuge  und  mit  steigender  Dankbarkeit  dm^geleeen. 
Man  kamt  nicht  sagen,  daß  mich  der  aktuelle  AnlaS 
au  Ihren  Polemiken  dabei  gefesselt  hätte;  denn  der 
lag  weit  zurück  und  oft  kannte  ioh  ihn  gar  nicht. 
Aber  was  Sie  sa^n,  interessierte  mich;  denn  ich 
bewunderte,  wie  Sie  es  sagten. 

Freilich,  lieber  Freund,  müssen  Sie  mir  erlauben, 
Ihnen  nicht  nur  meine  ästhetische  Freude  auszu- 
sprechen, sondern  auch  meine  Sympathie  im  Bach* 
liehen.  Wenigstens  in  einer  Beziehung  müssen  Sie 
mir  dies  erlauben!  Ich  liebe  die  Frauen.  Und  von 
gestern  auf  heut  hat  mir  geträumt,  dafi  mich  alle 
die  Frauen,  denen  während  der  letzten  zehn  Jahre 
die  Schändlichkeit  einer  Sexualjustiz  in  Gericht  und 
Gesellschaft  die  Ehre  abgesprochen  hat,  mich  bitten, 
Sie  in  ihrem  Namen  heute  besonders  herriich  zu 
grüfien.  Denn  Sie  allein  haben  die  Ehre  dieser  arm^i 
Opfer  verteidigt.  Es  sind  Frauen  aus  Gefängnissen 
darunter.  Seien  Sie,  Herr  Kraus,  ihnen  gegenüber 
nicht  ein  unerbittlicher  Artist,  dem  die  traurigen 
Erlebnisse  dieser  Frauen  nur  Stoff  *  zur  künstleri- 
schen Gestaltung  waren!  Seien  Sie  menschlich  und 
empfangen  Sie  ihre  GrüBe  huldvoll!  Und  nehmen 
Sie  auch  meine  und  die  Glückwünsche  einer  Freundin,- 
die  ihnen  sagen  läßt,  dafi  Sie  der  ritterlichste  Schrift^ 
steller  sind,    den  sie  jemals  gelesen  hat. 

Ihr  dankbarster  Leser 

Karl  Borromaeus  Heinri< 
München,  Ende  März  1909. 


Heraiu£et>er  ond  vcrantvortlicbo-  Redaktenr:  Karl  Kr  tut. 
Druck  von  fahoda  8c  Slecel,  Wi«,  III.  Hintere  ZoUamt»tnfle  S. 


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äj^Wi^    nafürliohep 

^Ä  alKallsGher 

AUERBRUNN 

CARL  GÖLSDORF.j(i^k.uJc.HorileParan^ 

d,  Budapest  V.  h-len  PC ^^^!^^     KrondorF.  Berlin. 


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OBSERVER,    fj«ji,  L  CoDwrdUpIiti  Nr.  4  (Telephon  Rr.  «80 

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Heransrcber:  KARL  KRAUS. 

'^  im  Umfango  v 

Xummorn.  |>or!ofr«^'i 

"     .iit  i 

Das  Abonnenieiit  erstreckt  efeb  nicht  eiif  einen  Zeltran 
sondern     auf    eine     beatlmmte    Ani^ahl    von    Nummern. 

Verlag:  Wies,  III.,  Hintere  Zollamtastraße  Nr.  3. 

Verlag  für  I)eiitt>chlnnd 

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MQnchenp  Franz  Josefstraße  9. 


Der  i 


^ÜBSKRIPTIONS-EINLADürf^- 

n  erscheint  be!  drr  tintetrekhnctcn  Ver!ag^^ft<;r  :  aus 

Ai   Kunstblättern   er'  '  erk 

DER    PHÖNIX-.    Di  n 


1 -1  .-<»        /-I  1  .-!.-' r.  t'i '^         /A    1 -V   '•-..-•-  .1,         ,  rf 


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WIEN,  III.  Hintc»  ^"i'""" 

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Das  nächste  Heft  dürfte  erst 
= =  Mai  erscheinen. 


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